„ Die Stadt Lukka, “die ſich unmittelbar den „ Baͤdern von Lukka “anſchließt, und auch gleich¬ zeitig geſchrieben worden, gebe ich hier keineswegs als ein Einzelbild, ſondern als den Abſchluß einer Lebensperiode, der zugleich mit dem Abſchluß einer Weltperiode zuſammentrifft. Die Engliſchen Frag¬ mente, die ich hinzufuͤge, ſind zum Theil vor zwey Jahren fuͤr die „ allgemeinen politiſchen Annalen, “die ich damals mit Lindner herausgab, nach Zeit¬ beduͤrfniſſen geſchrieben worden, und ihre Nuͤtzlich¬VI keit beachtend, habe ich ſie jetzt den Reiſebildern, als Ergaͤnzung einverleibt. Fuͤr den Beſitzer der erſten Auflage bildet daher dieſes Buch vielleicht einen willkommenen Nachtrag.
Daß ich die Correktur des Drucks nicht ſelbſt beſorge und alle Mißgeſchicklichkeiten, die dadurch entſtehen koͤnnten, nicht vertreten moͤchte, bemerke ich zu beſonderer Erwaͤgung.
Ich wuͤnſche, daß der geneigte Leſer den Zweck der Mittheilung bey den Engliſchen Fragmenten nicht verkennen moͤge. Vielleicht liefere ich, in zeitgemaͤßer Folge, noch einige Kunden dieſer Art. Unſere Literatur iſt nicht allzureichlich damit verſe¬ hen. Obgleich England von deutſchen Novellen¬ dichtern oft geſchildert wird, ſo iſt doch Willibald Alexis der einzige, der die dortigen Lokalitaͤten und Coſtume mit treuen Farben und Umriſſen zu ge¬ ben wußte. Ich glaube er iſt nicht einmal im Lande ſelbſt geweſen, und er kennt deſſen Phyſio¬ nomie nur durch jene wunderſame Intuizion, dieVII einem Poeten die Anſchauung der Wirklichkeit ent¬ behrlich macht. So ſchrieb ich ſelbſt vor elf Jah¬ ren den „ William Ratcliff, “worauf ich hier um ſo mehr zuruͤckweiſen moͤchte, da nicht bloß eine treue Schilderung Englands, ſondern auch die Keime meiner ſpaͤtern Betrachtungen uͤber dieſes Land, das ich damals noch nie geſehen, darinn enthalten ſind. Das Stuͤck findet ſich in den „ Tragoͤdien, nebſt einem lyriſchen Intermezzo, von H. Heine. Berlin 1823, bey F. Duͤmm¬ ler. “
Was Reiſebeſchreibung betrifft, ſo giebt es au¬ ßer Archenholz und Goͤde, gewiß kein Buch uͤber England, das uns die dortigen Zuſtaͤnde beſſer ver¬ anſchaulichen koͤnnte, als die, dieſes Jahr, bey Franckh in Muͤnchen erſchienenen „ Briefe eines Verſtorbenen. Ein fragmenta¬ riſches Tagebuch aus England, Wales, Ir¬ land und Frankreich, geſchrieben in den Jah¬ ren 1828 und 1829. “VIII
Es iſt dieſes noch in mancher anderen Hinſicht ein vortreffliches Buch, und verdient in vollem Maße das Lob, das ihm Goͤthe und Varnhagen v. Enſe, in den berliner Jahrbuͤchern fuͤr wiſſen¬ ſchaftliche Critik, geſpendet haben. —
Hamburg, den 15. November 1830.
Heinrich Heine. [1](Italien.)
Lachen muß ich immer uͤber die Englaͤnder, die dieſen ihren zweiten Dichter (denn nach Shakeſpear gebuͤhrt Byron die Palme) ſo jaͤmmerlich ſpießbuͤrgerlich beurtheilen, weil er ihre Pedanterie verſpottete, ſich ihren Kraͤhwinkelſitten nicht fuͤgen, ihren kalten Glauben nicht theilen wollte, ihre Nuͤchternheit ihm ekelhaft war, und er ſich uͤber ihren Hoch¬ muth und ihre Heucheley beklagte. Viele machen ſchon ein Kreuz, wenn ſie nur von ihm ſprechen, und ſelbſt die Frauen, obgleich ihre Wangen von Enthuſiasmus gluͤhen, wenn ſie ihn leſen, nehmen oͤffentlich heftig Partey gegen den heimlichen Liebling — Briefe eines Verſtorbenen. Ein fragmentariſches Tagebuch aus England. Muͤnchen 1830.[3]
Die umgebende Natur wirkt auf den Menſchen — warum nicht auch der Menſch auf die Natur, die ihn umgiebt? In Italien iſt ſie leidenſchaftlich wie das Volk, das dort lebt; bei uns in Deutſch¬ land iſt ſie ernſter, ſinniger und geduldiger. Hatte einſt wie die Menſchen auch die Natur mehr in¬ neres Leben? Die Gemuͤthskraft eines Orpheus, ſagt man, konnte Baͤume und Steine nach begei¬ ſterten Rythmen bewegen. Koͤnnte noch jetzt der¬ gleichen geſchehen? Menſchen und Natur ſind pflegmatiſch geworden und gaͤhnen ſich einander an. Ein koͤnigl. Preuß. Poet wird nimmermehr, mit1 *4den Klaͤngen ſeiner Leyer, den Templower Berg oder die Berliner Linden zum Tanzen bringen koͤnnen.
Auch die Natur hat ihre Geſchichte und das iſt eine andere Naturgeſchichte als wie die, welche in Schulen gelehrt wird. Irgend eine von jenen grauen Eydechſen, die ſchon ſeit Jahrtauſenden in den Felſenſpalten des Apennins leben, ſollte man als ganz außerordentliche Profeſſorinn bey einer unſerer Univerſitaͤten anſtellen, und man wuͤrde ganz außerordentliche Dinge zu hoͤren bekommen. Aber der Stolz einiger Herren von der juriſtiſchen Fakultaͤt wuͤrde ſich gegen eine ſolche Anſtellung auflehnen. Hegt doch einer von ihnen ſchon jetzt eine geheime Eiferſucht gegen den armen Fido Sa¬ vant, fuͤrchtend daß dieſer ihn einſt im gelehrten Apportiren erſetzen koͤnnte.
Die Eydechſen mit ihren klugen Schwaͤnzchen und ſpitzfuͤndigen Aeuglein, haben mir wunderbare Dinge erzaͤhlt, wenn ich einſam zwiſchen den Fel¬5 ſen der Apenninen umherkletterte. Wahrlich, es giebt Dinge zwiſchen Himmel und Erde, die nicht bloß unſere Philoſophen, ſondern ſogar die gewoͤhn¬ lichſten Dummkoͤpfe nicht begreifen.
Die Eydechſen haben mir erzaͤhlt, es gehe eine Sage unter den Steinen, daß Gott einſt Stein werden wolle, um ſie aus ihrer Starrheit zu erloͤſen. Eine alte Eydechſe meinte aber, dieſe Steinwerdung wuͤrde nur dann ſtatt finden, wenn Gott bereits in alle Thier - und Pflanzenarten ſich verwandelt und ſie erloͤſt habe.
Nur wenige Steine haben Gefuͤhl, und nur im Mondſchein athmen ſie. Aber dieſe wenige Steine, die ihren Zuſtand fuͤhlen, ſind ſchrecklich elend. Die Baͤume ſind viel beſſer daran, ſie koͤnnen weinen. Die Thiere aber ſind am meiſten beguͤnſtigt, denn ſie koͤnnen ſprechen, jedes nach ſeiner Art und die Menſchen am beſten. Einſt, wenn die ganze Welt erloͤſt iſt, werden alle ande¬6 ren Erſchaffniſſe ebenfalls ſprechen koͤnnen, wie in jenen uralten Zeiten, wovon die Dichter ſingen.
Die Eydechſen ſind ein ironiſches Geſchlecht, und bethoͤren gern die anderen Thiere. Aber ſie waren gegen mich ſo demuͤthig, ſie ſeufzten ſo ehrlich, ſie erzaͤhlten mir Geſchichten von Atlantis, die ich naͤchſtens aufſchreiben will, zu Nutz und Frommen der Welt. Es ward mir ſo innig zu Muthe bey den kleinen Weſen, die gleichſam die geheimen Annalen der Natur aufbewahren. Sind es etwa verzauberte Prieſterfamilien, gleich denen des alten Egyptens, die ebenfalls naturbelauſchend in labyrinthiſchen Felſengrotten wohnten? Auf ihren Koͤpfchen, Leibchen und Schwaͤnzchen bluͤhen ſo wunderbare Zeichenbilder, wie auf egyptiſchen Hieroglyphenmuͤtzen und Hierophantenroͤcken.
Meine kleinen Freunde haben mich auch eine Zeichenſprache gelehrt, vermittelſt welcher ich mit der ſtummen Natur zu ſprechen vermag. Dieſes erleichtert mir oft die Seele, beſonders gegen Abend,7 wenn die Berge in ſchaurig ſuͤßen Schatten gehuͤllt ſtehen, und die Waſſerfaͤlle rauſchen, und alle Pflanzen duften, und haſtige Blitze hin und her zucken. —
O Natur! du ſtumme Jungfrau! wohl ver¬ ſtehe ich dein Wetterleuchten, den vergeblichen Re¬ deverſuch, der uͤber dein ſchoͤnes Antlitz dahinzuckt, und du dauerſt mich[ſo] tief, daß ich weine. Aber alsdann verſtehſt du auch mich, und du heiterſt dich auf, und lachſt mich an aus goldnen Augen. Schoͤne Jungfrau, ich verſtehe deine Sterne und du verſtehſt meine Thraͤnen!
Nichts in der Welt will ruͤckwaͤrts gehen, ſagte mir ein alter Eydechs, Alles ſtrebt vorwaͤrts, und am Ende wird ein großes Naturavanzement ſtatt¬ finden. Die Steine werden Pflanzen, die Pflan¬ zen werden Thiere, die Thiere werden Menſchen und die Menſchen werden Goͤtter werden.
Aber, rief ich, was ſoll denn aus dieſen guten Leuten aus den armen alten Goͤttern werden?
Das wird ſich finden, lieber Freund, antwor¬ tete jener; wahrſcheinlich danken ſie ab, oder wer¬ den auf irgend eine ehrende Art in den Ruheſtand verſetzt.
9Ich habe von meinem hieroglyphenhaͤutigen Naturphiloſophen noch manches andre Geheimniß erfahren; aber ich gab mein Ehrenwort, nichts zu enthuͤllen. Ich weiß jetzt mehr als Schelling und Hegel.
Was halten Sie von dieſen beiden? frug mich der alte Eydechs mit einem hoͤhniſchen Laͤcheln, als ich mal dieſe Namen gegen ihn erwaͤhnte.
Wenn man bedenkt, antwortete ich, daß ſie bloß Menſchen und keine Eydechſen ſind, ſo muß man uͤber das Wiſſen dieſer Leute ſehr erſtaunen. Im Grunde lehren ſie eine und dieſelbe Lehre, die Ihnen wohlbekannte Identitaͤtsphiloſophie, nur in der Darſtellungsart unterſcheiden ſie ſich. Wenn Hegel die Grundſaͤtze ſeiner Philoſophie aufſtellt, ſo glaubt man jene huͤbſchen Figuren zu ſehen, die ein geſchickter Schulmeiſter, durch eine kuͤnſt¬ liche Zuſammenſtellung von allerley Zahlen, zu bilden weiß, dergeſtalt, daß ein gewoͤhnlicher Be¬ ſchauer nur das Oberflaͤchliche, nur das Haͤuschen10 oder Schiffchen oder abſolute Soldaͤtchen ſieht, das aus jenen Zahlen formirt iſt, waͤhrend ein den¬ kender Schulknabe in der Figur ſelbſt vielmehr die Aufloͤſung eines tiefen Rechenexempels erkennen kann. Die Darſtellungen Schellings gleichen mehr jenen indiſchen Thierbildern, die aus allerley ande¬ ren Thieren, Schlangen, Voͤgeln, Elephanten und dergleichen lebendigen Ingredienzen, durch aben¬ theuerliche Verſchlingungen, zuſammengeſetzt ſind. Dieſe Darſtellungsart iſt viel anmuthiger, heiterer, pulſirend waͤrmer, alles darinn lebt, ſtatt daß die abſtrakt hegelſchen Chiffern uns ſo grau, ſo kalt und todt anſtarren.
Gut, gut, erwiederte der alte Eydechſerich, ich merke ſchon was Sie meinen; aber ſagen Sie mir, haben dieſe Philoſophen viele Zuhoͤrer?
Ich ſchilderte ihm nun, wie in der gelehrten Caravanſerai zu Berlin die Kameele ſich ſammeln um den Brunnen hegelſcher Weißheit, davor nie¬ derknien, ſich die koſtbaren Schlaͤuche aufladen11 laſſen, und damit weiter ziehen durch die Maͤrkſche Sandwuͤſte. Ich ſchilderte ihm ferner, wie die neuen Athener um den Springquell des ſchelling¬ ſchen Geiſtestranks ſich draͤngen, als waͤr es das beſte Bier, Breyhahn des Lebens, Geſoͤffe der Unſterblichkeit. —
Den kleinen Naturphiloſophen uͤberlief der gelbe Neid, als er hoͤrte, daß ſeine Collegen ſich ſo großen Zuſpruchs erfreuen, und aͤrgerlich frug er: welchen von beiden halten Sie fuͤr den groͤßten? Das kann ich nicht entſcheiden, gab ich zur Ant¬ wort, eben ſo wenig wie ich entſcheiden koͤnnte, ob die Schechner groͤßer ſey als die Sonntag, und ich denke —
Denke! rief der Eydechs mit einem ſchar¬ fen, vornehmen Tone der tiefſten Geringſchaͤtzung, denken! wer von Euch denkt? Mein weiſer Herr, ſchon an die dreytauſend Jahre mache ich Unterſuchungen uͤber die geiſtigen Funkzionen der Thiere, ich habe beſonders Menſchen, Affen und12 Schlangen zum Gegenſtand meines Studiums ge¬ macht, ich habe ſo viel Fleiß auf dieſe ſeltſamen Geſchoͤpfe verwendet, wie Lyonnet auf ſeine Wei¬ denraupen, und als Reſultat aller meiner Beob¬ achtungen, Experimente und anatomiſchen Verglei¬ chungen, kann ich Ihnen beſtimmt verſichern: kein Menſch denkt, es faͤllt nur dann und wann den Menſchen etwas ein, ſolche ganz unverſchuldete Einfaͤlle nennen ſie Gedanken, und das Aneinan¬ derreihen derſelben nennen ſie Denken. Aber in meinem Namen koͤnnen Sie es wiederſagen: kein Menſch denkt, kein Philoſoph denkt, weder Schel¬ ling noch Hegel denkt, und was gar ihre Philo¬ ſophie betrifft, ſo iſt ſie eitel Luft und Waſſer, wie die Wolken des Himmels; ich habe ſchon un¬ zaͤhlige ſolcher Wolken, ſtolz und ſicher, uͤber mich hin ziehen ſehen, und die naͤchſte Morgenſonne hat ſie aufgeloͤſt in ihr urſpruͤngliches Nichts; — es giebt nur eine einzige wahre Philoſophie, und13 dieſe ſteht, in ewigen Hieroglyphen, auf meinem eigenen Schwanze.
Bei dieſen Worten, die mit einem dedaignan¬ ten Pathos geſprochen wurden, drehte mir der alte Eydechs den Ruͤcken, und indem er langſam fortſchwaͤnzelte, ſah ich darauf die wunderlichſten Charaktere, die ſich in bunter Bedeutſamkeit bis uͤber den ganzen Schwanz hinabzogen.
Auf dem Wege zwiſchen den Baͤdern von Lukka und der Stadt dieſes Namens, unweit von dem großen Kaſtanienbaume, deſſen wildgruͤne Zweige den Bach uͤberſchatten, und in Gegenwart eines alten, weißbaͤrtigen Ziegenbocks, der dort einſiedleriſch weidete, wurde das Geſpraͤch gefuͤhrt, das ich im vorigen Capitel mitgetheilt habe. Ich ging nach der Stadt Lukka, um Franſcheska und Mathilde zu ſuchen, die ich unſerer Verabredung gemaͤß, ſchon vor acht Tagen dort treffen ſollte. Ich war aber, zur beſtimmten Zeit, vergebens hin¬ gereiſt, und ich hatte mich jetzt zum zweitenmahle auf den Weg gemacht. Ich ging zu Fuße, laͤngs15 den ſchoͤnen Bergen und Baumgruppen, wo die goldnen Orangen, wie Sterne des Tages, aus dem dunklen Gruͤn hervorleuchteten, und Guirlanden von Weinreben, in feſtlichen Windungen, ſich mei¬ lenweit hinzogen. Das ganze Land iſt dort ſo gartenhaft und geſchmuͤckt, wie bei uns die laͤnd¬ lichen Scenen, die auf dem Theater dargeſtellt werden; auch die Landleute ſelbſt gleichen jenen bunten Geſtalten, die uns dann als ſingende, laͤchelnde und tanzende Staffage ergoͤtzen. Nir¬ gends Philiſtergeſichter. Und gibt es hier auch Philiſter, ſo ſind es doch italieniſche Orangenphi¬ liſter und keine plump deutſchen Kartoffelphiliſter. Pitoresk und idealiſch wie das Land ſind auch die Leute, und dabey traͤgt jeder Mann einen ſo indi¬ viduellen Ausdruck im Geſicht, und weiß in Stel¬ lung, Faltenwurf des Mantels, und noͤthigenfalls in Handhabung des Meſſers, ſeine Perſoͤnlichkeit geltend zu machen. Dagegen bey uns zu Lande lauter Menſchen mit allgemeinen, gleichfoͤrmlichen16 Phiſionomien; wenn ihrer zwoͤlf beyſammen ſind bilden ſie ein Dutzend, und wenn einer ſie dann angreift rufen ſie die Polizey.
Auffallend war mir, im Lukkeſiſchen, wie im groͤßten Theile Toskanas, tragen die Frauenzimmer große ſchwarze Filzhuͤte mit herabwallend ſchwarzen Straußfedern; ſogar die Strohflechterinnen tragen dergleichen ſchwere Hauptbedeckung. Die Maͤnner hingegen tragen meiſtens einen leichten Strohhut, und junge Burſchen erhalten ſolchen zum Geſchenk von einem Maͤdchen, das ihn ſelbſt verfertigt, ihre Liebesgedanken und vielleicht auch manchen Seufzer hineingeflochten. So ſaß einſt Fran¬ ſcheska unter den Maͤdchen und Blumen des Ar¬ nothals, und flocht einen Hut, fuͤr ihren caro Cecco, und kuͤßte jeden Strohhalm, den ſie dazu nahm, und trillerte ihr huͤbſches Occhie, Stelle mortale; — das lockigte Haupt, das den huͤb¬ ſchen Hut nachher ſo huͤbſch trug, hat jetzt eine Tonſur, und der Hut ſelbſt haͤngt, alt und ab¬17 genutzt, im Winkel eines truͤben Abbateſtuͤbchens zu Bologna.
Ich gehoͤre zu den Leuten, die immer gern einen kuͤrzeren Weg nehmen, als die Landſtraße bietet, und denen es alsdann wohl begegnet, daß ſie ſich auf engen Holz - und Felſenpfaden verirren. Das geſchah auch hier, und ich habe, zu meiner Reiſe nach Lukka, gewiß doppelt ſo viel Zeit ge¬ braucht als gewoͤhnliche Landſtraßmenſchen. Ein Sperling, den ich um den Weg frug, zwitſcherte und zwitſcherte, und konnte mir doch keinen rechten Beſcheid geben. Vielleicht auch wußte er ihn ſelbſt nicht. Den Schmetterlingen und Libellen, die auf großen Glockenblumen ſaßen, konnte ich kein Wort abgewinnen; ſie waren ſchon davon geflattert, ehe ſie noch meine Fragen vernommen, und die Blu¬ men ſchuͤttelten ihre tonloſen Glockenhaͤupter. Manch¬ mal weckten mich die wilden Myrten, die, mit fei¬ nen Stimmchen, aus der Ferne kicherten. Haſtig erklomm ich dann die hoͤchſten Felſenſpitzen, und218rief: Ihr Wolken des Himmels! Segler der Luͤfte! ſagt mir, wo geht der Weg nach Fran¬ ſcheska? Iſt ſie in Lukka? Sagt mir was thut ſie? was tanzt ſie? Sagt mir alles, und wenn Ihr mir alles geſagt habt, ſo ſagt es mir noch¬ mals!
Bey ſolcher Ueberfuͤlle von Thorheit konnte es wohl geſchehen, daß ein ernſter Adler, den mein Ruf aus ſeinen einſamen Traͤumen aufgeſtoͤrt, mich mit geringſchaͤtzendem Unmuthe anſah. Aber ich verzieh's ihm gerne; denn er hatte niemals Fran¬ ſcheska geſehen, und daher konnte er noch immer ſo erhabenmuͤthig auf ſeinem feſten Felſen ſitzen, und ſo ſeelenfrey zum Himmel emporſtarren, oder ſo impertinent ruhig auf mich herabglotzen. So ein Adler hat einen unertraͤglich ſtolzen Blick, und ſieht einen an, als wollte er ſagen: Was biſt du fuͤr ein Vogel? Weißt du wohl, daß ich noch immer ein Koͤnig bin, eben ſo gut wie in jenen Heldenzeiten, als ich Jupiters Blitze trug und19 Napoleons Fahnen ſchmuͤckte? Biſt du etwa ein gelehrter Papagoy, der die alten Lieder auswendig gelernt hat und pedantiſch nachplappert? Oder eine vermuͤffte Turteltaube, die ſchoͤn fuͤhlt und miſerabel gurrt? Oder eine Almanachsnachtigall? Oder ein abgeſtandener Gaͤnſerich, deſſen Vorfah¬ ren das Capitol gerettet? Oder gar ein ſerviler Haushahn, dem man, aus Ironie, das Emblem des kuͤhnen Fliegens, naͤmlich mein Miniaturbild, um den Hals gehaͤngt hat, und der ſich deßhalb ſo maͤchtig ſpreitzt, als waͤre er nun ſelbſt ein Ad¬ ler? Du weißt, lieber Leſer, wie wenig Urſache ich habe, mich beleidigt zu fuͤhlen, wenn ein Adler dergleichen von mir dachte. Ich glaube, der Blick, den ich ihm zuruͤckwarf, war noch ſtolzer als der ſeinige, und wenn er ſich bey dem erſten beſten Lorbeerbaume erkundigt hat, ſo weiß er jetzt, wer ich bin.
Ich war wirklich im Gebirge verirrt, als ſchon die Daͤmmerung hereinbrach, und die bunten2 *20Waldlieder allmaͤlig verſtummten und die Baͤume immer ernſthafter rauſchten. Eine erhabene Heim¬ lichkeit und innige Feyer zog, wie der Odem Got¬ tes, durch die verklaͤrte Stille. Hie und da, aus dem Boden, blickte ein ſchoͤnes dunkles Auge zu mir herauf, und verſchwand im ſelben Augenblick. Zaͤrtliches Fluͤſtern taͤndelte mir ums Herz, und unſichtbare Kuͤſſe beruͤhrten luftig meine Wangen. Das Abendroth umhuͤllte die Berge wie mit Pur¬ purmaͤnteln, und die letzten Sonnenſtralen beleuch¬ teten ihre Gipfel, daß es ausſah, als waͤren ſie Koͤnige mit goldenen Kronen auf den Haͤuptern. Ich aber ſtand, wie ein Kaiſer der Welt, in der Mitte dieſer gekroͤnten Vaſallen, die ſchweigend mir huldigten.
Ich weiß nicht, ob der Moͤnch, der mir unfern Lukka begegnete, ein frommer Mann iſt. Aber ich weiß, ſein alter Leib ſteckt arm und nackt in einer groben Kutte, jahraus jahrein; die zerriſſenen San¬ dalen koͤnnen ſeine bloßen Fuͤße nicht genug ſchuͤ¬ tzen, wenn er, durch Dorn und Geſtrippe, die Felſen hinauf klimmt, um droben, in den Berg¬ doͤrfern, Kranke zu troͤſten oder Kinder beten zu lehren; — und er iſt zufrieden, wenn man ihm dafuͤr ein Stuͤckchen Brod in den Sack ſteckt, und ihm ein Bischen Stroh gibt, um darauf zu ſchlafen.
„ Gegen den Mann will ich nicht ſchreiben, “ſprach ich zu mir ſelbſt. „ Wenn ich wieder zu Hauſe in Deutſchland, auf meinem Lehnſeſſel, am22 kniſternden Oefchen, bei einer behaglichen Taſſe Thee, wohlgenaͤhrt und warm ſitze, und gegen die katholiſchen Pfaffen ſchreibe — gegen den Mann will ich nicht ſchreiben. “—
Um gegen die katholiſchen Pfaffen zu ſchrei¬ ben, muß man auch ihre Geſichter kennen. Die Originalgeſichter ſieht man aber nur in Italien. Die deutſchen katholiſchen Prieſter und Moͤnche ſind bloß ſchlechte Nachahmungen, oft ſogar Paro¬ dien der italieniſchen; eine Vergleichung derſelben wuͤrde eben ſo ausfallen, als wenn man roͤmiſche oder florentiniſche Heiligenbilder vergleichen wollte mit jenen heuſchrecklichen, frommen Fratzen, die etwa dem ſpießbuͤrgerlichen Pinſel eines nuͤrrenber¬ ger Stadtmalers, oder gar der lieben Einfalt eines Gemuͤthsbefliſſenen aus der langhaarig kriſtlich neudeutſchen Schule, ihr trauriges Daſeyn ver¬ danken.
Die Pfaffen in Italien haben ſich ſchon laͤngſt mit der oͤffentlichen Meinung abgefunden, das Volk23 dort iſt laͤngſt daran gewoͤhnt, die geiſtliche Wuͤrde von der unwuͤrdigen Perſon zu unterſcheiden, jene zu ehren, wenn auch dieſe veraͤchtlich iſt. Eben der Contraſt, den die idealen Pflichten und An¬ ſpruͤche des geiſtlichen Standes und die unabweis¬ lichen Beduͤrfniſſe der ſinnlichen Natur bilden muͤſ¬ ſen, jener uralte, ewige Conflikt zwiſchen dem Geiſte und der Materie, macht die italieniſchen Pfaffen zu ſtehenden Charakteren des Volks-Hu¬ mors, in Satyren, Liedern und Novellen. Aehn¬ liche Erſcheinungen zeigen ſich uns uͤberall, wo ein aͤhnlicher Prieſterſtand vorhanden iſt, z. B. in Hindoſtan. In den Komoͤdien dieſes urfrommen Landes, wie wir ſchon in der Sakontala bemerkt und in der neulich uͤberſetzten Vaſantaſena beſtaͤ¬ tigt finden, ſpielt immer ein Bramine die komiſche Rolle, ſo zu ſagen den Prieſtergrazioſo, ohne daß dadurch die Ehrfurcht, die man ſeinen Opferver¬ richtungen und ſeiner privilegirten Heiligkeit ſchul¬ dig iſt, im mindeſten beeintraͤchtigt wird, — eben24 ſo wenig wie ein Italiener mit minderer Andacht bey einem Prieſter Meſſe hoͤrt oder beichtet, den er noch Tags zuvor betrunken im Straßenkothe gefunden hat. In Deutſchland iſt das anders, der katholiſche Prieſter will da nicht bloß ſeine Wuͤrde durch ſein Amt, ſondern auch ſein Amt durch ſeine Perſon repraͤſentiren; und weil er es vielleicht Anfangs mit ſeinem Berufe wirklich ganz ernſthaft gemeint hat, und er nachher, wenn ſeine Keuſchheits und Demuthsgeluͤbde etwas mit dem alten Adam kollidiren, ſie dennoch nicht oͤffentlich verletzen will, beſonders auch weil er unſerem Freunde Krug in Leipzig keine Bloͤße geben will, ſo ſucht er wenigſtens den Schein eines heiligen Wandels zu bewahren. Daher Scheinheiligkeit, Heucheley und gleißendes Froͤmmeln bey deutſchen Pfaffen; bey den italieniſchen hingegen viel mehr Durchſichtigkeit der Maske, und eine gewiſſe feiſte Ironie und behagliche Weltverdauung.
Doch was helfen ſolche allgemeine Reflexionen! 25Sie koͤnnen dir wenig nutzen, lieber Leſer, wenn du etwa Luſt haͤtteſt gegen das katholiſche Pfaffen¬ thum zu ſchreiben. Zu dieſem Zwecke muß man, wie geſagt, mit eignen Augen die Geſichter ſehen, die dazu gehoͤren. Wahrlich, es iſt nicht einmal hinreichend, wenn man ſie im koͤniglichen Opern¬ hauſe zu Berlin geſehen hat. Der vorige Gene¬ ralintendant that zwar immer das Seinige, um den Kroͤnungszug in der Jungfrau von Orleans ſo taͤuſchend treu als moͤglich darzuſtellen, ſeinen Landsleuten die Idee einer Prozeſſion zu veran¬ ſchaulichen und ihnen Pfaffen von allen Couleuren vor Augen zu bringen. Doch das getreueſte Co¬ ſtume kann nicht die Originalgeſichter erſetzen, und vertroͤdelte man ſogar noch extra 100,000 Thaler fuͤr goldne Biſchofsmuͤtzen, feſtonnirte Chorhemden, buntgeſtickte Meßgewaͤnder, und aͤhnlichen Kram — ſo wuͤrden doch die proteſtantiſch vernuͤnftigen Na¬ ſen, die unter jenen Biſchofsmuͤtzen hervorproteſti¬ ren, die duͤnnen denkglaͤubigen Beine, die aus2 **26den weißen Spitzen dieſer Chorhemden herausgucken, die aufgeklaͤrten Baͤuche, denen jene Meßgewaͤnder viel zu weit, Alles wuͤrde unſer Einen daran er¬ innern, daß keine katholiſche Geiſtliche, ſondern berliner Weltliche uͤber die Buͤhne wandeln.
Ich habe oft daruͤber nachgedacht, ob der Ge¬ neralintendant jenen Zug nicht viel beſſer darſtellen und uns das Bild einer Prozeſſion viel treuer vor Augen bringen koͤnnte, wenn er die Rollen der katholiſchen Pfaffen nicht mehr von den gewoͤhn¬ lichen Statiſten, ſondern von jenen proteſtantiſchen Geiſtlichen ſpielen ließe, die in der theologiſchen Fakultaͤt, in der Kirchenzeitung und auf den Kan¬ zeln am orthodoxeſten gegen Vernunft, Weltluſt, Geſenius und Teufelthum zu predigen wiſſen. Es wuͤrden dann Geſichter zum Vorſchein kommen, deren pfaͤffiſches Gepraͤge gewiß jenen Rollen viel taͤuſchender entſpraͤche. Iſt es doch eine bekannte Bemerkung, daß die Pfaffen in der ganzen Welt, Rabinen, Muftis, Dominikaner, Conſiſtorialraͤthe,27 Popen, Bonzen, kurz das ganze diplomatiſche Corps Gottes, im Geſichte eine gewiſſe Familien¬ aͤhnlichkeit haben, wie man ſie immer findet bey Leuten, die ein und daſſelbe Gewerbe treiben. Schneider, in der ganzen Welt, zeichnen ſich aus durch Zartheit der Glieder, Metzger und Soldaten tragen wieder uͤberall denſelben farouſchen Anſtrich, Juden haben ihre eigenthuͤmlich ehrliche Miene, nicht weil ſie von Abraham, Iſaak und Jakob abſtammen, ſondern weil ſie Kaufleute ſind, und der Frankfurter chriſtliche Kaufmann ſieht dem frankfurter juͤdiſchen Kaufmanne eben ſo aͤhnlich, wie ein faules Ey dem andern. Die geiſtlichen Kaufleute, ſolche die von Religionsgeſchaͤften ihren Unterhalt gewinnen, erlangen daher auch im Ge¬ ſichte eine Aehnlichkeit. Freylich, einige Nuͤanzen entſtehen durch die Art und Weiſe wie ſie ihr Ge¬ ſchaͤft treiben. Der katholiſche Pfaffe treibt es mehr wie ein Commis, der in einer großen Hand¬ lung angeſtellt iſt; die Kirche, das große Haus,28 deſſen Chef der Pabſt iſt, giebt ihm beſtimmte Beſchaͤftigung und dafuͤr ein beſtimmtes Salair; er arbeitet laͤſſig, wie jeder, der nicht fuͤr eigne Rechnung arbeitet und viele Collegen hat, und im großen Geſchaͤftstreiben leicht unbemerkt bleibt — nur der Credit des Hauſes liegt ihm am Her¬ zen, und noch mehr deſſen Erhaltung, da er bey einem etwaigen Bankerotte ſeinen Lebensunterhalt verloͤre. Der proteſtantiſche Pfaffe hingegen iſt uͤberall ſelbſt Prinzipal, und er treibt die Reli¬ gionsgeſchaͤfte fuͤr eigene Rechnung. Er treibt keinen Großhandel wie ſein katholiſcher Gewerbe¬ genoſſe, ſondern nur einen Kleinhandel; und da er demſelben allein vorſtehen muß, darf er nicht laͤſſig ſeyn, er muß ſeine Glaubensartikel den Leu¬ ten anruͤhmen, die Artikel ſeiner Conkurrenten herabſetzen, und als aͤchter Kleinhaͤndler ſteht er in ſeiner Ausſchnittbude, voll von Gewerbsneid gegen alle großen Haͤuſer, abſonderlich gegen das große Haus in Rom, das viele tauſend Buchhalter29 und Packknechte beſoldet und ſeine Faktoreyen hat in allen vier Welttheilen.
Solches hat nun freylich auch ſeine phyſionomi¬ ſche Wirkungen, aber dieſe ſind doch nicht vom Par¬ terre aus bemerkbar, die Familienaͤhnlichkeit in den Geſichtern katholiſcher und proteſtantiſcher Pfaffen bleibt doch in ihren Hauptzuͤgen unveraͤndert, und wenn der Generalintendant die obenerwaͤhnten Herren gut bezahlt, ſo werden ſie ihre Rolle, wie immer, recht taͤuſchend ſpielen. Auch ihr Gang wird zur Illuſion beytragen; obgleich ein feines, geuͤbtes Auge wohl merkt, daß er ſich von dem Gange katholiſcher Prieſter und Moͤnche eben¬ falls durch feine Nuͤanzen unterſcheidet.
Ein katholiſcher Pfaffe wandelt einher als wenn ihm der Himmel gehoͤre; ein proteſtantiſcher Pfaffe hingegen geht herum als wenn er den Himmel gepachtet habe.
Es war ſchon Nacht als ich die Stadt Lukka erreichte.
Wie ganz anders erſchien ſie mir die Woche vorher, als ich am Tage, durch die wiederhallend oͤden Straßen wandelte, und mich in eine jener verwunſchenen Staͤdte verſetzt glaubte, wovon mir einſt die Amme ſo viel erzaͤhlt. Da war die ganze Stadt ſtill wie das Grab, alles war ſo verblichen und verſtorben, auf den Daͤchern ſpielte der Sonnenglanz, wie Goldflitter auf dem Haupte einer Leiche, hie und da aus den Fenſtern eines altverfallenen Hauſes hingen Epheuranken, wie vertrocknet gruͤne Thraͤnen, uͤberall glimmernder31 Moder und aͤngſtlich ſtockender Tod, die Stadt ſchien nur das Geſpenſt einer Stadt, ein ſteiner¬ ner Spuk am hellen Tage. Da ſuchte ich lange vergebens die Spur eines lebendigen Weſens. Ich erinnere mich nur, vor einem alten Pallazzo lag ein ſchlafender Bettler mit ausgeſtreckt offner Hand. Auch erinnere ich mich, oben am Fenſter eines ſchwaͤrzlich morſchen Haͤuslein ſah ich einen Moͤnch, der den rothen Hals mit dem feiſten Glatzenhaupt recht lang aus der braunen Kutte hervorreckte, und neben ihm kam ein vollbuſig nacktes Weibsbild zum Vorſchein; unten, in die halb offne Hausthuͤre ſah ich einen kleinen Jungen hineingehen, der als ein ſchwarzer Abbate gekleidet war, und mit beiden Haͤnden eine maͤchtig gro߬ baͤuchige Weinflaſche trug. — In demſelben Au¬ genblick laͤutete unfern ein feines ironiſches Gloͤck¬ lein, und in meinem Gedaͤchtniſſe kicherten die Novellen des Boccaccio. Dieſe Klaͤnge konnten aber keineswegs das ſeltſame Grauen, das meine32 Seele durchſchauerte, ganz verſcheuchen. Es hielt mich vielleicht um ſo gewaltiger befangen, da die Sonne, ſo warm und hell, die unheimlichen Ge¬ baͤude beleuchtete; und ich merkte wohl, Geſpenſter ſind noch furchtbarer, wenn ſie den ſchwarzen Mantel der Nacht abwerfen, und ſich im hellen Mittagslichte ſehen laſſen.
Als ich jetzt, acht Tage ſpaͤter, wieder nach Lukka kam, wie erſtaunte ich uͤber den veraͤnderten Anblick dieſer Stadt! Was iſt das? rief ich, als die Lichter mein Auge blendeten und die Men¬ ſchenſtroͤme durch die Gaſſen ſich waͤlzten. Iſt ein ganzes Volk als naͤchtliches Geſpenſt aus dem Grabe geſtiegen, um im tollſten Mummenſchanz das Leben nachzuaͤffen? Die hohen, truͤben Haͤuſer ſind mit Lampen verziert, uͤberall aus den Fen¬ ſtern haͤngen bunte Teppiche, die morſchgrauen Waͤnde faſt bedeckend, und daruͤber lehnen ſich holde Maͤdchengeſichter, ſo friſch, ſo bluͤhend, daß ich wohl merke, es iſt das Leben ſelbſt, das ſein33 Vermaͤhlungsfeſt mit dem Tode feyert und Schoͤn¬ heit und Jugend dazu eingeladen hat. Ja, es war ſo ein lebendes Todtenfeſt, ich weiß nicht wie es im Kalender genannt wird, auf jeden Fall ſo ein Schindungstag irgend eines geduldigen Mar¬ tyrers, denn ich ſah nachher einen heiligen Todten¬ ſchaͤdel und noch einige Extra-Knochen, mit Blu¬ men und Edelſteinen geziert, und unter hochzeitli¬ cher Muſik herumtragen. Es war eine ſchoͤne Prozeſſion.
Voran gingen die Kapuziner, die ſich von den anderen Moͤnchen durch lange Baͤrte auszeichneten, und gleichſam die Sapeurs dieſer Glaubensarmee bildeten. Darauf folgten Kapuziner ohne Baͤrte, worunter viele maͤnnlich edle Geſichter, ſogar manch jugendlich ſchoͤnes Geſicht, das die breite Tonſur ſehr gut kleidete, weil der Kopf dadurch wie mit einem zierlichen Haarkranz umflochten ſchien, und ſammt dem bloßen Nacken recht anmuthig aus der braunen Kutte hervortrat.
334Hierauf folgten Kutten von anderen Farben, ſchwarz, weiß, gelb, panaché, auch herabgeſchla¬ gene dreyeckige Huͤthe ‚ kurz all jene Kloſterkoſtuͤme, womit wir durch die Bemuͤhungen unſeres Gene¬ ralintendanten laͤngſt bekannt ſind. Nach den Moͤnchsorden kamen die eigentlichen Prieſter, weiße Hemde uͤber ſchwarze Hoſen, und farbige Kaͤpp¬ chen; hinter ihnen kamen noch vornehmere Geiſt¬ liche, in buntſeidne Decken gewickelt, und auf dem Haupte eine Art hoher Muͤtzen, die wahrſcheinlich aus Egypten ſtammen, und die man auch aus dem Denonſchen Werke, aus der Zauberfloͤte und aus dem Belzoni kennen lernt; es waren altge¬ diente Geſichter, und ſie ſchienen eine Art von alter Garde zu bedeuten. Zuletzt kam der eigent¬ liche Stab, ein Thronhimmel und darunter ein alter Mann mit einer noch hoͤheren Muͤtze, und in einer noch reicheren Decke, deren Zipfel von zwei eben ſo gekleideten alten Maͤnnern, nach Pa¬ genart, getragen wurden.
35Die vorderen Moͤnche gingen mit gekreuzten Armen, ernſthaft ſchweigend; aber die mit den hohen Muͤtzen ſangen einen gar ungluͤcklichen Ge¬ ſang, ſo naͤſelnd, ſo ſchluͤrfend, ſo kollerend, daß ich uͤberzeugt bin: waͤren die Juden die groͤßere Volksmenge, und ihre Religion waͤre die Staats¬ religion, ſo wuͤrde man obiges Geſinge mit dem Namen „ Mauſcheln “bezeichnen. Gluͤcklicherweiſe konnte man es nur zur Haͤlfte vernehmen, indem hinter der Prozeſſion, mit lautem Trommeln und Pfeifen, mehrere Compagnien Militaͤr einherzogen, ſo wie uͤberhaupt an beiden Seiten neben den wallenden Geiſtlichen, auch immer je zwey und zwey Grenadiere marſchierten. Es waren faſt mehr Soldaten als Geiſtliche; aber zur Unterſtuͤtzung der Religion gehoͤren heut zu Tage viel Bajo¬ nette, und wenn gar der Segen gegeben wird, dann muͤſſen in der Ferne auch die Kanonen be¬ deutungsvoll donnern.
Wenn ich eine ſolche Prozeſſion ſehe, wo3 *36unter ſtolzer Militaͤr-Eskorte, die Geiſtlichen ſo gar truͤbſeelig und jammervoll einherwandeln, ſo ergreift es mich immer ſchmerzhaft, und es iſt mir als ſaͤhe ich unſeren Heiland ſelbſt, umringt von Lanzentraͤgern, zur Richtſtaͤtte abfuͤhren. Die Sterne zu Lukka dachten gewiß wie ich, und als ich ſeufzend nach ihnen hinaufblickte, ſahen ſie mich ſo uͤbereinſtimmend an mit ihren frommen Augen, ſo hell, ſo klar. Aber man bedurfte nicht ihres Lichtes, tauſend und abertauſend Lampen und Kerzen und Maͤdchengeſichter flimmerten aus allen Fenſtern, an den Straßenecken ſtanden lo¬ dernde Pechkraͤnze aufgepflanzt, und dann hatte auch jeder Geiſtliche noch ſeinen beſonderen Ker¬ zentraͤger zur Seite. Die Kapuziner hatten mei¬ ſtens kleine Buben, die ihnen die Kerze trugen, und die jugendlich friſchen Geſichtchen ſchauten bisweilen recht neugierig vergnuͤgt hinauf nach den alten, ernſten Baͤrten; ſo ein armer Kapuziner kann keinen großen Kerzentraͤger beſolden, und37 der Knabe, den er das Ave Maria lehrt, oder deſſen Muhme ihm beichtet, muß bey Prozeſſionen wohl gratis dieſes Amt uͤbernehmen, und es wird darum gewiß nicht mit geringerer Liebe verrichtet. Die folgenden Moͤnche hatten nicht viel groͤßere Buben, einige vornehmere Orden hatten ſchon er¬ wachſene Rangen, und die hochmuͤthigen Prieſter hatten wirkliche Buͤrgersleute zu Kerzentraͤgern. Aber endlich gar der Herr Erzbiſchof — denn das war wohl der Mann, der in vornehmer De¬ muth unter dem Thronhimmel ging und ſich die Gewandzipfel von greiſen Pagen nachtragen ließ — dieſer hatte an jeder Seite einen Lakeyen, die beide in blauen Livreen mit gelben Treſſen prang¬ ten, und zeremonioͤs, als ſervirten ſie bey Hof, die weißen Wachskerzen trugen.
Auf jeden Fall ſchien mir ſolche Kerzentraͤgerey eine gute Einrichtung, denn ich konnte dadurch um ſo heller die Geſichter beſehen, die zum Ka¬ tholizismus gehoͤren. Und ich habe ſie jetzt geſehen,38 und zwar in der beſten Beleuchtung. Und was ſah ich denn? Nun ja, der klerikale Stempel fehlte nirgends. Aber dieſes abgerechnet, waren die Geſichter unter einander eben ſo verſchieden, wie andre Geſichter. Das eine war blaß, das andre roth, dieſe Naſe erhob ſich ſtolz, jene war niedergeſchlagen, hier ein funkelnd ſchwarzes dort ein ſchimmernd graues Auge — aber in allen die¬ ſen Geſichtern lagen die Spuren derſelben Krank¬ heit, einer ſchrecklichen, unheilbaren Krankheit, die wahrſcheinlich Urſache ſeyn wird, daß mein Enkel, wenn er hundert Jahr ſpaͤter die Prozeſſion in Lukka zu ſehen bekommt, kein einziges von jenen Geſichtern wieder findet. Ich fuͤrchte, ich bin ſelbſt angeſteckt von dieſer Krankheit, und eine Folge derſelben iſt jene Weichheit, die mich wun¬ derbar beſchleicht, wenn ich ſo ein ſieches Moͤnchs¬ geſicht betrachte, und darauf die Symptome jener Leiden ſehe, die ſich unter der groben Kutte ver¬ ſtecken: — gekraͤnkte Liebe, Podagra, getaͤuſchter39 Ehrgeitz, Ruͤckendarre, Reue, Hamorrhoiden, die Herzwunden die uns vom Undank der Freunde, von der Verlaͤumdung der Feinde, und von der eignen Suͤnde geſchlagen worden, alles dieſes und noch viel mehr, was eben ſo leicht unter einer groben Kutte wie unter einem feinen Modefrack ſeinen Platz zu finden weiß. O! es iſt keine Ue¬ bertreibung, wenn der Poet in ſeinem Schmerze ausruft: das Leben iſt eine Krankheit, die ganze Welt ein Lazareth!
„ Und der Tod iſt unſer Arzt — “Ach! ich will nichts boͤſes von ihm reden, und nicht Andre in ihrem Vertrauen ſtoͤren; denn da er der einzige Arzt iſt, ſo moͤgen ſie immerhin glauben er ſey auch der beſte, und das einzige Mittel, das er anwendet, ſeine ewige Erdkur, ſey auch das beſte. Wenigſtens kann man von ihm ruͤhmen, daß er immer gleich bey der Hand iſt, und trotz ſeiner großen Praxis nie lange auf ſich warten laͤßt, wenn man ihn verlangt. Manchmal folgt er ſeinen40 Pazienten ſogar zur Prozeſſion, und traͤgt ihnen die Kerze. Es war gewiß der Tod ſelbſt, den ich an der Seite eines blaſſen, bekuͤmmerten Prieſters gehen ſah; in duͤnnen zitternden Knochenhaͤnden trug er dieſem die flimmernde Kerze, nickte dabey gar gutmuͤthig beſaͤnftigend mit dem aͤngſtlich kah¬ len Koͤpfchen, und ſo ſchwach er ſelbſt auf den Beinen war, ſo unterſtuͤtzte er doch noch zuweilen den armen Prieſter, der bey jedem Schritte noch bleicher wurde und umſinken wollte. Er ſchien ihm Muth einzuſprechen: warte nur noch einige Stuͤndchen, dann ſind wir zu Hauſe, und ich loͤſche die Kerze aus, und ich lege dich aufs Bett, und die kalten, muͤden Beine koͤnnen aus¬ ruhen, und du ſollſt ſo feſt ſchlafen, daß du das wimmernde Sankt Michaelsgloͤckchen nicht hoͤren wirſt.
„ Gegen den Mann will ich auch nicht ſchrei¬ ben “dacht ich, als ich den armen, bleichen Prie¬ ſter ſah, dem der leibhaftige Tod zu Bette leuchtete.
41Ach! man ſollte eigentlich gegen niemanden in dieſer Welt ſchreiben. Jeder iſt ſelbſt krank genug in dieſem großen Lazareth, und manche polemiſche Lektuͤre erinnert mich unwillkuͤrlich an ein widerwaͤrtiges Gezaͤnk, in einem kleineren La¬ zareth zu Krakau, wobey ich mich als zufaͤlliger Zuſchauer befand, und wo entſetzlich anzuhoͤren war, wie die Kranken ſich einander ihre Gebrechen ſpottend vorrechneten, wie ausgedoͤrrte Schwind¬ ſuͤchtige den aufgeſchwollenen Waſſerſuͤchtling ver¬ hoͤhnten, wie der Eine lachte uͤber den Naſenkrebs des Andern, und dieſer wieder uͤber Maulſperre und Augenverdrehung ſeiner Nachbaren, bis am Ende die Fiebertollen nackt aus den Betten ſpran¬ gen, und den andern Kranken die Decken und Laken von den wunden Leibern riſſen, und nichts als ſcheußliches Elend und Verſtuͤmmlung zu ſehen war.
Jener ſchenkte nunmehr auch der uͤbrigen Goͤtterver¬ ſammlung, Rechtshin, lieblichen Nektar dem Miſchkrug emſig ent¬ ſchoͤpfend. Doch unermeßliches Lachen erſcholl den ſeeligen Goͤttern, Als ſie ſahn, wie Hefaͤſtos im Saal ſo gewandt um¬ herging. Alſo den ganzen Tag bis ſpaͤt zur ſinkenden Sonne Schmauſten ſie; und nicht mangelt ihr Herz des gemein¬ ſamen Mahles, Nicht des Saitengetoͤns von der lieblichen Leyer Apollons, Noch des Geſangs der Muſen mit holdantwortender Stimme. (Vulgata)
Da ploͤtzlich keuchte heran ein bleicher, blut¬ triefender Jude, mit einer Dornenkrone auf dem43 Haupte, und mit einem großen Holzkreuz auf der Schulter; und er warf das Kreuz auf den hohen Goͤttertiſch, daß die goldnen Pokale zitterten, und die Goͤtter verſtummten und erblichen, und immer bleicher wurden, bis ſie endlich ganz in Nebel zerrannen.
Nun gabs eine traurige Zeit, und die Welt wurde grau und dunkel. Es gab keine gluͤcklichen Goͤtter mehr, der Olymp wurde ein Lazareth wo geſchundene, gebratene und geſpießte Goͤtter lang¬ weilig umherſchlichen, und ihre Wunden verban¬ den und triſte Lieder ſangen. Die Religion ge¬ waͤhrte keine Freude mehr, ſondern Troſt; es war eine truͤbſelige, blutruͤnſtige[Delinquentenreligion].
War ſie vielleicht noͤthig fuͤr die erkrankte und zertretene Menſchheit? Wer ſeinen Gott leiden ſieht, traͤgt leichter die eignen Schmerzen. Die vorigen heiteren Goͤtter, die ſelbſt keine Schmerzen fuͤhlten, wußten auch nicht wie armen gequaͤlten Menſchen zu Muthe iſt, und ein armer gequaͤlter44 Menſch koͤnnte auch, in ſeiner Noth, kein rechtes Herz zu ihnen faſſen. Es waren Feſttagsgoͤtter, um die man luſtig herum tanzte, und denen man nur danken konnte. Sie wurden deßhalb auch nie ſo ganz von ganzem Herzen geliebt. Um ſo ganz von ganzem Herzen geliebt zu werden — muß man leidend ſeyn. Das Mitleid iſt die letzte Weihe der Liebe, vielleicht die Liebe ſelbſt. Von allen Goͤttern, die jemals gelebt haben, iſt daher Chriſtus derjenige Gott, der am meiſten geliebt worden. Beſonders von den Frauen — —
Dem Menſchengewuͤhl entfliehend, habe ich mich in eine einſame Kirche verloren, und was du, lieber Leſer, eben geleſen haſt, ſind nicht ſo ſehr meine eignen Gedanken, als vielmehr einige unwillkuͤhrliche Worte, die in mir laut geworden, waͤhrend ich, dahingeſtreckt auf einer der alten Betbaͤnke, die Toͤne einer Orgel durch meine Bruſt ziehen ließ. Da liege ich, mit phantaſie¬ render Seele, der ſeltſamen Muſik noch ſeltſamere45 Texte unterdichtend; dann und wann ſchweifen meine Blicke durch die daͤmmernden Bogengaͤnge, und ſuchen die dunkeln Klangfiguren, die zu jenen Orgelmelodien gehoͤren. Wer iſt die Verſchleyerte, die dort kniet vor dem Bilde einer Madonna? Die Ampel, die davor haͤngt, beleuchtet grauen¬ haft ſuͤß die ſchoͤne Schmerzenmutter einer gekreu - zigten Liebe, die Venus doloroſa; doch kuppleriſch geheimnißvolle Lichter fallen zuweilen, wie verſtolen, auf die ſchoͤnen Formen der verſchleyerten Bete¬ rin. Dieſe liegt zwar regungslos auf den ſteiner¬ nen Altarſtufen, doch in der wechſelnden Beleuch¬ tung bewegt ſich ihr Schatten, laͤuft manchmal zu mir heran, zieht ſich wieder haſtig zuruͤck, wie ein ſtummer Mohr, der aͤngſtliche Liebesbote in einem Harem — und ich verſtehe ihn. Er ver¬ kuͤndet mir die Gegenwart ſeiner Herrinn, der Sultaninn meines Herzens.
Es wird aber allmaͤhlig immer dunkler im lee¬ ren Hauſe, hie und da huſcht eine unbeſtimmte46 Geſtalt den Pfeilern entlang, dann und wann ſteigt leiſes Murmeln aus einer Seitenkapelle, und ihre langen, langgezogenen Toͤne ſtoͤhnt die Orgel, wie ein ſeufzendes Rieſenherz —
Es war aber als ob jene Orgeltoͤne niemals aufhoͤren, als ob jene Sterbelaute, jener lebende Tod ewig dauern wollte, ich fuͤhlte ſo unſaͤgliche Beklommenheit, ſo namenloſe Angſt, als waͤre ich ſcheintodt begraben worden, ja als waͤre ich, ein Laͤngſtverſtorbener, aus dem Grabe geſtiegen, und ſey, mit unheimlichen Nachtgeſellen, in die Ge¬ ſpenſterkirche gegangen, um die Todtengebete zu hoͤren, und Leichenſuͤnden zu beichten. Manchmal war mir, als ſaͤhe ich ſie wirklich neben mir ſitzen, in geiſterhaftem Daͤmmerlichte, die abgeſchiedene Gemeinde, in verſchollen altflorentiniſchen Trach¬ ten, mit langen, blaſſen Geſichtern, goldbeſchla¬ gene Gebetbuͤcher in duͤnnen Haͤnden, heimlich wispernd, und melancholiſch einander zunickend. Der wimmernde Ton eines fernen Sterbegloͤckchens47 mahnte mich wieder an den kranken Prieſter, den ich bey der Prozeſſion geſehen, und ich ſprach zu mir ſelber: der iſt jetzt auch geſtorben, und kommt hierher um die erſte Nachtmeſſe zu leſen und da beginnt erſt recht der traurige Spuk. Ploͤtzlich aber erhob ſich, von den Stufen des Altars, die holde Geſtalt der verſchleyerten Beterinn —
Ja, ſie war es, ſchon ihr lebendiger Schatten verſcheuchte die weißen Geſpenſter, ich ſah jetzt nur ſie, ich folgte ihr raſch zur Kirche hinaus, und als ſie vor der Thuͤre den Schleyer zuruͤck¬ ſchlug, ſah ich in Franſcheskas bethraͤntes Antlitz. Es glich einer ſehnſuͤchtig weißen Roſe, angeperlt vom Thau der Nacht und beglaͤnzt vom Strahl des Mondes. Franſcheska liebſt du mich? Ich frug viel und ſie antwortete wenig. Ich begleitete ſie nach dem Hotel Crotſche di Malta, wo ſie und Mathilde logirten. Die Straßen waren leer geworden, die Haͤuſer ſchliefen mit geſchloſſenen Fenſteraugen, nur hie und da, durch die hoͤlzernen48 Wimpern, blinzelte ein Lichtchen. Oben am Him¬ mel aber trat ein breiter hellgruͤner Raum aus den Wolken hervor, und darin ſchwamm der Halb¬ mond, wie eine ſilberne Gondel in einem Meer von Smaragden. Vergebens bat ich Franſcheska nur ein einziges Mahl hinauf zu ſehen zu unſe¬ rem alten, lieben Vertrauten; ſie hielt aber das Koͤpfchen traͤumend geſenkt. Ihr Gang, der ſonſt ſo heiter dahinſchwebend, war jetzt wie kirchlich gemeſſen, ihr Schritt war duͤſter katholiſch, ſie be¬ wegte ſich wie nach dem Takte einer feyerlichen Orgel, und wie in fruͤheren Naͤchten die Suͤnde, ſo war ihr jetzt die Religion in die Beine gefah¬ ren. Unterwegs vor jedem Heiligenbilde bekreuzte ſie ſich Haupt und Buſen; vergebens verſuchte ich ihr dabey zu helfen. Als wir aber auf dem Markte, der Kirche Sant Mitſchiele vorbeykamen, wo die marmorne Schmerzensmutter mit den vergoldeten Schwertern im Herzen und mit der Laͤmpchenkrone auf dem Haupte, aus der dunkeln Niſche hervor¬49 leuchtete, da ſchlang Franſcheska ihren Arm um meinen Hals, kuͤßte mich, und fluͤſterte: Cecco, Cecco, caro Cecco!
Ich nahm dieſe Kuͤſſe ruhig in Empfang, ob¬ gleich ich wohl wußte, daß ſie im Grunde einem bologneſiſchen Abbate, einem Diener der roͤmiſch katholiſchen Kirche, zugedacht waren. Als Pro¬ teſtant machte ich mir kein Gewiſſen daraus, mir die Guͤter der katholiſchen Geiſtlichkeit zuzueignen, und auf der Stelle ſaͤkulariſirte ich die frommen Kuͤſſe Franſcheskas. Ich weiß, die Pfaffen wer¬ den hieruͤber wuͤthend ſeyn, ſie ſchreyen gewiß uͤber Kirchenraub, und wuͤrden gern das franzoͤſi¬ ſche Sakrilegiengeſetz auf mich anwenden. Leider muß ich geſtehen, daß beſagte Kuͤſſe das einzige waren, was ich in jener Nacht erbeuten konnte. Franſcheska hatte beſchloſſen dieſe Nacht nur zum Heile ihrer Seele, kniend und betend, zu benutzen. Vergebens erboth ich mich ihre Andachtsuͤbungen zu theilen; — als ſie ihr Zimmer erreichte, ſchloß450ſie mir die Thuͤre vor der Naſe zu. Vergebens ſtand ich draußen noch eine ganze Stunde, und bat um Einlaß, und ſeufzte alle moͤglichen Seuf¬ zer, und heuchelte fromme Thraͤnen, und ſchwor die heiligſten Eide — verſteht ſich, mit geiſtlichem Vorbehalte, ich fuͤhlte wie ich allmaͤhlig ein Jeſuit wurde, ich wurde ganz ſchlecht und erbot mich endlich ſogar, katholiſch zu werden fuͤr dieſe einzige Nacht —
Franſcheska! rief ich, Stern meiner Gedan¬ ken! Gedanke meiner Seele! vita della mia vita! meine ſchoͤne, oftgekuͤßte, ſchlanke, katholiſche Franſcheska! fuͤr dieſe einzige Nacht, die du mir noch gewaͤhrſt, will ich ſelbſt katholiſch werden — aber auch nur fuͤr dieſe einzige Nacht! O, die ſchoͤne, ſeelige, katholiſche Nacht! Ich liege in deinen Armen, ſtrengkatholiſch glaube ich an den Himmel deiner Liebe, von den Lippen kuͤſſen wir uns das holde Bekenntniß, das Wort wird Fleiſch, der Glaube wird verſinnlicht, in Form und Ge¬51 ſtalt, welche Religion! Ihr Pfaffen! jubelt un¬ terdeſſen Eur Kyrie Eleiſon, klingelt, raͤuchert, laͤutet die Glocken, laßt die Orgel brauſen, laßt die Meſſe von Paleſtrina erklingen — das iſt der Leib! — ich glaube, ich bin ſeelig, ich ſchlafe ein — aber ſobald ich des anderen Morgens erwache, reibe ich mir den Schlaf und den Katholizismus aus den Augen, und ſehe wieder klar in die Sonne und in die Bibel, und bin wieder proteſtantiſch vernuͤnftig und nuͤchtern, nach wie vor.
4 *Als am anderen Tage die Sonne wieder herz¬ lich vom Himmel herablachte, erloſchen gaͤnzlich die truͤbſeligen Gedanken und Gefuͤhle, die von der Prozeſſion des vorhergehenden Abends in mir erregt worden, und mir das Leben wie eine Krank¬ heit und die Welt wie ein Lazareth anſehen ließen.
Die ganze Stadt wimmelte von heiterem Volk. Geputzt bunte Menſchen, dazwiſchen huͤpfte hie und da ein ſchwarz Pfaͤfflein. Das brauſte und lachte und ſchwatzte, man hoͤrte faſt nicht das Glockengebimmel, das zu einer großen Meſſe ein¬ lud, in die Cathedrale. Dieſe iſt eine ſchoͤne, ein¬ fache Kirche, deren buntmarmorne Façade mit53 jenen kurzen, uͤber einander gebauten Saͤulchen geziert iſt, die uns ſo witzig truͤbe anſehen. In¬ wendig waren Pfeiler und Waͤnde mit rothem Tuche uͤberkleidet, und heitere Muſik ergoß ſich uͤber die wogende Menſchenmenge. Ich fuͤhrte Signora Franſcheska am Arm, und als ich ihr beim Eintritt das Weihwaſſer reichte, und durch die ſuͤßfeuchte Fingerberuͤhrung unſere Seelen elek¬ triſirt wurden, bekam ich auch zu gleicher Zeit einen elektriſchen Schlag ans Bein, daß ich vor Schreck faſt hinpurzelte uͤber die knienden Baͤu¬ rinnen, die ganz weiß gekleidet und mit langen Ohrringen, und Halsketten von gelbem Golde belaſtet, in dichten Haufen den Boden bedeckten. Als ich mich umſah, erblickte ich ein ebenfalls kniendes Frauenzimmer, das ſich faͤcherte, und hinter dem Faͤcher erſpaͤhte ich Myladys kichernde Augen. Ich beugte mich zu ihr hinab, und ſie hauchte mir ſchmachtend ins Ohr: delightfull! Um Gottes willen! fluͤſterte ich ihr zu, bleiben54 Sie ernſthaft, lachen Sie nicht; ſonſt werden wir wahrhaftig hinausgeſchmiſſen!
Aber da half kein Bitten und Flehen. Zum Gluͤck verſtand man unſre Sprache nicht. Denn als Mylady aufſtand, und uns durch das Ge¬ draͤnge zum Hauptaltar folgte, uͤberließ ſie ſich ihren tollen Launen, ohne die mindeſte Ruͤckſicht, als ſtuͤnden wir allein auf den Apenninen. Sie moquirte ſich uͤber alles, ſogar die armen gemal¬ ten Bilder an den Waͤnden waren vor ihren Pfei¬ len nicht ſicher.
Sieh da! rief ſie, auch Lady Eva, Geborne von Rippe, wie ſie mit der Schlange diskurirt! Es iſt ein guter Einfall des Malers, daß er der Schlange einen menſchlichen Kopf mit einem menſchlichen Geſichte gab; es waͤre jedoch noch weit ſinnreicher geweſen, wenn er dieſes Verfuͤh¬ rungsgeſicht mit einem militaͤriſchen Schnurbart verziert haͤtte. Sehen Sie, Doktor, dort den Engel, welcher der hochgebenedeiten Jungfrau55 ihren geſegneten Zuſtand verkuͤndigt und dabey ſo ironiſch laͤchelt? Ich weiß was dieſer Ruffiano denkt! Und dieſe Maria, zu deren Fuͤßen die heilige Allianz des Morgenlandes, mit Gold - und Weihrauchgaben, niederkniet, ſieht ſie nicht aus wie die Catalani?
Signora Franſcheska, welche von dieſem Ge¬ ſchwaͤtz, wegen ihrer Unkenntniß des Engliſchen, nichts verſtand als das Wort Catalani, bemerkte haſtig: daß die Dame, wovon unſre Freundinn ſpreche, jetzt wirklich den groͤßten Theil ihrer Re¬ nommee verloren habe. Unſre Freundinn aber ließ ſich nicht ſtoͤren und kommentirte auch die Paſſionsbilder, bis zur Kreuzigung, einem uͤber¬ aus ſchoͤnen Gemaͤlde, worauf unter anderen drey dumme unthaͤtige Geſichter abgebildet waren, die dem Gottesmaͤrtyrthum gemaͤchlich zuſahen, und von denen Mylady durchaus behauptete, es ſeyen die bevollmaͤchtigten Commiſſarien von Oeſtreich, Rußland und Frankreich.
56Indeſſen, die alten Freskos, die zwiſchen den rothen Decken der Waͤnde zum Vorſchein kamen, vermochten einigermaßen mit ihrem inwohnenden Ernſte die brittiſche Spottluſt abzuwehren. Es waren darauf Geſichter aus jener heldenmuͤthigen Zeit Lukkas, wovon in den Geſchichtsbuͤchern Machiavells, des romantiſchen Salluſts, ſo viel die Rede iſt, und deren Geiſt uns aus den Ge¬ ſaͤngen Dantes, des katholiſchen Homers, ſo feu¬ rig entgegenweht. Wohl ſprechen aus jenen Mie¬ nen die ſtrengen Gefuͤhle und barbariſchen Gedan¬ ken des Mittelalters; wenn auch auf manchem ſtummen Juͤnglingsmunde das laͤchelnde Bekennt¬ niß ſchwebt, daß damals nicht alle Roſen ſo ganz ſteinern und umflort geweſen ſind, und wenn auch durch die fromm geſenkten Augenwimpern mancher Madonna aus jener Zeit ein ſo ſchalkhafter Lie¬ beswink blinzelt, als ob ſie uns gern noch ein zweites Chriſtkindlein ſchenken moͤchte. Jedenfalls iſt es aber ein hoher Geiſt, der uns aus jenen57 altflorentiniſchen Gemaͤlden anſpricht, es iſt das eigentlich Heroiſche, das wir auch in den marmor¬ nen Goͤtterbildern der Alten erkennen, und das nicht, wie unſre Aeſthetiker meinen, in einer ewi¬ gen Ruhe ohne Leidenſchaft, ſondern in einer ewi¬ gen Leidenſchaft ohne Unruhe beſteht. Auch durch einige ſpaͤtere Oehlbilder, die im Dome von Lukka haͤngen, zieht ſich, vielleicht als tradizioneller Nach¬ hall, jener altflorentiniſche Sinn. Beſonders fiel mir auf eine Hochzeit zu Canan, von einem Schuͤler des Andrea del Sarto, etwas hart ge¬ malt und ſchroff geſtaltet. Der Heiland ſitzt zwi¬ ſchen der weichen ſchoͤnen Braut und einem Pha¬ riſaͤer, deſſen ſteinernes Geſetztafelgeſicht ſich wun¬ dert uͤber den genialen Propheten, der ſich heiter miſcht in die Reihen der Heiteren, und die Ge¬ ſellſchaft mit Wundern regalirt, die noch groͤßer ſind als die Wunder des Moſes; denn dieſer konnte, wenn er noch ſo ſtark gegen den Felſen ſchlug, nur Waſſer hervorbringen, jener aber58 brauchte nur ein Wort zu ſprechen, und die Kruͤge fuͤllten ſich mit dem beſten Wein. Viel weicher, faſt venezianiſch kolorirt, iſt das Gemaͤlde von ei¬ nem Unbekannten, das daneben haͤngt, und worinn der freundlichſte Farbenſchmelz von einem durchbe¬ benden Schmerze gar ſeltſam gedaͤmpft wird. Es ſtellt dar wie Maria ein Pfund Salbe nahm, von ungefaͤlſchter koͤſtlicher Narde, und damit die Fuͤße Jeſu ſalbte, und ſie mit ihren Haaren trocknete. Chriſtus ſitzt da, im Kreiſe ſeiner Juͤnger, ein ſchoͤner, geiſtreicher Gott, menſchlich wehmuͤthig fuͤhlt er eine ſchaurige Pietaͤt gegen ſeinen eignen Leib, der bald ſo viel dulden wird, und dem die ſalbende Ehre, die man den Geſtorbenen erweißt, ſchon jetzt gebuͤhrt und ſchon jetzt wiederfaͤhrt; er laͤchelt geruͤhrt hinab auf das kniende Weib, das getrieben von ahnender Liebesangſt, jene barmher¬ zige That verrichtet, eine That, die nie vergeſſen wird, ſo lange es leidende Menſchen giebt, und die zur Erquickung aller leidenden Menſchen durch59 die Jahrtauſende duftet. Außer dem Juͤnger, der am Herzen Chriſti lag, und der auch dieſe That verzeichnet hat, ſcheint keiner von den Apoſteln ihre Bedeutung zu fuͤhlen, und der mit dem ro¬ then Barte ſcheint ſogar, wie in der Schrift ſteht, die verdrießliche Bemerkung zu machen: warum iſt dieſe Salbe nicht verkauft um dreyhundert Gro¬ ſchen, und den Armen gegeben? Dieſer oͤkono¬ miſche Apoſtel iſt eben derjenige, der den Beutel fuͤhrt, die Gewohnheit der Geldgeſchaͤfte hat ihn abgeſtumpft gegen alle uneigennuͤtzigen Narden¬ duͤfte der Liebe, er moͤchte Groſchen dafuͤr ein¬ wechſeln zu einem nuͤtzlichen Zweck, und eben er, der Groſchenwechſler, er war es, der den Heiland verrieth — um dreyzig Silberlinge. So hat das Evangelium auch ſymboliſch, in der Geſchichte des Banquiers unter den Apoſteln, die unheimliche Verfuͤhrungsmacht, die im Geldſacke lauert, offen¬ bart, und vor der Treuloſigkeit der Geldgeſchaͤfts¬ leute gewarnt. Jeder Reiche iſt ein Judas Iſcharioth.
60Sie ſchneiden ja ein verbiſſen glaͤubiges Geſicht, theurer Doktor, fluͤſterte Mylady, ich habe Sie eben beobachtet, und verzeihen Sie mir, wenn ich Sie etwa beleidige, Sie ſahen aus wie ein guter Chriſt.
Unter uns geſagt, das bin ich; ja, Chriſtus — Glauben Sie vielleicht ebenfalls, daß er ein Gott ſey?
Das verſteht ſich, meine gute Mathilde. Es iſt der Gott, den ich am meiſten liebe — nicht weil er ſo ein legitimer Gott iſt, deſſen Vater ſchon Gott war und ſeit undenklicher Zeit die Welt beherrſchte: ſondern weil er, obgleich ein geborener Dauphin des Himmels, dennoch, demo¬ kratiſch geſinnt, keinen hoͤfiſchen Ceremonialprunk liebt, weil er kein Gott einer Ariſtokratie von geſchorenen Schriftgelehrten und gallonirten Lan¬ zenknechten, und weil er ein beſcheidener Gott des Volks iſt, ein Buͤrger-Gott, un bon dieu citoyen. Wahrlich, wenn Chriſtus noch kein61 Gott waͤre, ſo wuͤrde ich ihn dazu waͤhlen, und viel lieber als einem aufgezwungenen abſoluten Gotte, wuͤrde ich ihm gehorchen, ihm, dem Wahlgotte, dem Gotte meiner Wahl.
Der Erzbiſchof, ein ernſter Greis, las ſelber Meſſe, und ehrlich geſtanden, nicht bloß ich, ſon¬ dern einigermaßen auch Mylady, wir wurden heimlich beruͤhrt von dem Geiſte, der in dieſer heiligen Handlung wohnt, und von der Weihe des alten Mannes, der ſie vollzog; — iſt ja doch jeder alte Mann, an und fuͤr ſich, ein Prie¬ ſter und die Ceremonien der katholiſchen Meſſe ſind ſie doch ſo uralt, daß ſie vielleicht das Ein¬ zige ſind, was ſich aus dem Kindesalter der Welt erhalten hat, und als Erinnerung an die erſten Vorfahren aller Menſchen unſere Pietaͤt in An¬ ſpruch nimmt. Sehen Sie, Mylady, ſagte ich,63 jede Bewegung, die Sie hier erblicken, die Art des Zuſammenlegens der Haͤnde und des Ausbrei¬ tens der Arme, dieſes Knixen, dieſes Haͤndewa¬ ſchen, dieſes Beraͤuchertwerden, dieſer Kelch, ja die ganze Kleidung des Mannes, von der Mythra bis zum Saume der Stohla, Alles dieſes iſt alt¬ egyptiſch und Ueberbleibſel eines Prieſterthums, von deſſen wunderſamem Weſen nur die aͤlteſten Urkunden etwas weniges berichten, eines fruͤheſten Prieſterthums, das die erſte Weisheit erforſchte, die erſten Goͤtter erfand, die erſten Symbole be¬ ſtimmte, und die junge Menſchheit —
Zuerſt betrog, ſetzte Mylady bitteren Tones hinzu, und ich glaube, Doktor, aus dem fruͤheſten Weltalter iſt uns nichts uͤbrig geblieben als einige triſte Formeln des Betrugs. Und ſie ſind noch immer wirkſam. Denn ſehen Sie dort die ſtock¬ finſteren Geſichter? und gar jenen Kerl, der dort auf ſeinen dummen Knien liegt und mit ſeinem aufgeſperrten Maule ſo ultradumm ausſieht?
64Um des lieben Himmels willen! beguͤtigte ich leiſe, was iſt daran gelegen, daß dieſer Kopf ſo wenig von der Vernunft erleuchtet iſt? Was geht das uns an? Was irritirt Sie dabey? Sehen Sie doch taͤglich Ochſen, Kuͤhe, Hunde, Eſel, die eben ſo dumm ſind, ohne daß Sie durch ſol¬ chen Anblick aus Ihrem Gleichmuth aufgeſtoͤrt und zu unmuthigen Aeußerungen angeregt werden?
Ach, das iſt was Anderes, fiel mir Mylady in die Rede, dieſe Beſtien tragen hinten Schwaͤnze, und ich aͤrgre mich eben, daß ein Kerl, der eben ſo beſtialiſch dumm iſt, dennoch hinten keinen Schwanz hat.
Ja, das iſt was andres, Mylady.
Nach der Meſſe gabs noch allerley zu ſchauen und zu hoͤren, beſonders die Predigt eines großen, vierſtaͤmmigen Moͤnchs, deſſen befehlend kuͤhnes, altroͤmiſches Geſicht gegen die grobe Bettelkutte gar wunderſam abſtach, ſo daß der Mann ausſah wie ein Imperator der Armuth. Er predigte von Himmel und Hoͤlle, und gerieth zuweilen in die wuͤthendſte Begeiſtrung. Seine Schilderung des Himmels war ein bischen barbariſch uͤberladen, und es gab da viel Gold, Silber, Edelſteine, koͤſtliche Speiſen, und Weine von den beſten Jahrgaͤngen; dabey machte er ein ſo verklaͤrt ſchluͤrfendes Geſicht, und er ſchob ſich vor Wonne566in der Kutte hin und her, wenn er, unter den Englein mit weißen Fluͤglein ſich ſelber dachte als ein Englein mit weißen Fluͤglein. Minder ergoͤtz¬ lich, ja ſogar ſehr praktiſch ernſthaft war ſeine Schilderung der Hoͤlle. Hier war der Mann weit mehr in ſeinem Ellemente. Er eiferte beſonders uͤber die Suͤnder, die nicht mehr ſo recht kriſtlich ans alte Feuer der Hoͤlle glauben, und ſogar waͤhnen, ſie habe ſich in neuerer Zeit etwas abge¬ kuͤhlt und werde naͤchſtens ganz und gar erloͤſchen. „ Und waͤre auch, “rief er, „ die Hoͤlle am Erloͤ¬ ſchen, ſo wuͤrde ich, ich mit meinem Athem, die letzten glimmenden Kohlen wieder anfachen, daß ſie wieder auflodern ſollten zu ihrer alten Flam¬ mengluth. “ Hoͤrte man nun die Stimme, die gleich dem Nordwind dieſe Worte hervorheulte, ſah man dabey das brennende Geſicht, den rothen, buͤffelſtarken Hals, und die gewaltigen Faͤuſte des Mannes, ſo hielt man jene hoͤlliſche Drohung fuͤr keine Hyperbel.
67I like this man, ſagte Mylady.
Da haben Sie Recht, antwortete ich, auch mir gefaͤllt er beſſer als mancher unſerer ſanften, homoͤopathiſchen Seelenaͤrzte, die $$\frac{1}{10,000}$$ Ver¬ nunft in einem Eimer Moralwaſſer ſchuͤtten, und uns damit des Sonntags zur Ruhe predigen.
Ja, Doktor, fuͤr ſeine Hoͤlle habe ich Reſpekt; aber zu ſeinem Himmel hab ich kein rechtes Ver¬ trauen. Wie ich mich denn uͤberhaupt in Anſe¬ hung des Himmels ſchon ſehr fruͤh in geheimen Zweifel verfing. Als ich noch klein war, in Du¬ blin, lag ich oft auf dem Ruͤcken im Gras, und ſah in den Himmel, und dachte nach: ob wohl der Himmel wirklich ſo viele Herrlichkeiten enthalten mag, wie man davon ruͤhmt? Aber, dacht ich, wie kommts, daß von dieſen Herrlich¬ keiten niemals etwas herunterfaͤllt, etwa ein bril¬ lantener Ohrring, oder eine Schnur Perlen oder wenigſtens ein Stuͤckchen Ananaskuchen, und daß immer nur Hagel oder Schnee oder gewoͤhnlicher5 *68Regen uns von oben herabbeſchert wird? Das iſt nicht ganz richtig, dacht ich —
Warum ſagen Sie das, Mylady? Warum dieſe Zweifel nicht lieber verſchweigen? Unglaͤu¬ bige, die keinen Himmel glauben, ſollten nicht Proſeliten machen; minder tadelnswerth, ſogar lobenswerth iſt die Proſelitenmacherey derjenigen Leute, die einen ſuͤperben Himmel haben, und deſſen Herrlichkeiten nicht ſelbſtſuͤchtig allein genie¬ ßen wollen, und deßhalb ihre Nebenmenſchen ein¬ laden dran Theil zu nehmen, und ſich nicht eher zufrieden geben, bis dieſe ihre guͤtige Einladung angenommen.
Ich habe mich aber immer gewundert, Doktor, daß manche reiche Leute dieſer Gattung, die wir, als Praͤſidenten, Vicepraͤſidenten, oder Sekretaͤre von Bekehrungsgeſellſchaften, eifrigſt bemuͤht ſehen, etwa einen alten verſchimmelten Betteljuden him¬ melfaͤhig zu machen und ſeine einſtige Genoſſen¬ ſchaft im Himmelreich zu erwerben, dennoch nie69 dran denken, ihn ſchon jetzt auf Erden an ihren Genuͤſſen Theil nehmen zu laſſen, und ihn z. B. nie des Sommers auf ihre Landhaͤuſer einladen, wo es gewiß Leckerbiſſen giebt, die den armen Schelm eben ſo gut ſchmecken wuͤrden, als genoͤſſe er ſie im Himmel ſelbſt.
Das iſt erklaͤrlich, Mylady, die himmliſchen Genuͤſſe koſten ſie nichts, und es iſt ein doppeltes Vergnuͤgen, wenn wir ſo wohlfeilerweiſe unſre Nebenmenſchen begluͤcken koͤnnen. Zu welchen Genuͤſſen aber kann der Unglaͤubige jemanden einladen?
Zu nichts, Doktor, als zu einem langen ruhi¬ gen Schlafe, der aber zuweilen fuͤr einen Ungluͤck¬ lichen ſehr wuͤnſchenswerth ſeyn kann, beſonders wenn er vorher mit zudringlichen Himmelseinla¬ dungen gar zu ſehr geplagt worden.
Dieſes ſprach das ſchoͤne Weib mit ſtechend bitteren Akzenten, und nicht ganz ohne Ernſt ant¬ wortete ich ihr: Liebe Mathilde, bey meinen70 Handlungen auf dieſer Welt kuͤmmert mich nicht einmal die Exiſtenz von Himmel und Hoͤlle, ich bin zu groß und zu ſtolz, als daß der Geitz nach himmliſchen Belohnungen, oder die Furcht vor hoͤlliſchen Strafen mich leiten ſollten. Ich ſtrebe nach dem Guten, weil es ſchoͤn iſt und mich un¬ widerſtehlich anzieht, und ich verabſcheue das Schlechte, weil es haͤßlich und mir zuwider iſt. Schon als Knabe, wenn ich den Plutarch las — und ich leſe ihn noch jetzt alle Abend im Bette und moͤchte dabey manchmal aufſpringen, und gleich Extra-Poſt nehmen und ein großer Mann werden — ſchon damals gefiel mir die Erzaͤhlung von dem Weibe, das durch die Straßen Alexan¬ driens ſchritt, in der einen Hand einen Waſſer¬ ſchlauch, in der andern eine brennende Fackel tra¬ gend, und den Menſchen zurief, daß ſie mit dem Waſſer die Hoͤlle ausloͤſchen und mit der Fackel den Himmel in Brand ſtecken wolle, damit das Schlechte nicht mehr aus Furcht vor Strafe un¬71 terlaſſen, und das Gute nicht mehr aus Begierde nach Belohnung ausgeuͤbt werde. Alle unſre Hand¬ lungen ſollen aus dem Quell einer uneigennuͤtzi¬ gen Liebe hervorſprudeln, gleichviel ob es eine Fortdauer nach dem Tode giebt oder nicht.
Sie glauben alſo auch nicht an Unſterblich¬ keit. O Sie ſind ſchlau, Mylady! Ich daran zweifeln? Ich, deſſen Herz in die entfernteſten Jahrtauſende der Vergangenheit und der Zukunft immer tiefer und tiefer Wurzel ſchlaͤgt, ich, der ich ſelbſt einer der ewigſten Menſchen bin, jeder Athemzug ein ewiges Leben, jeder Gedanke ein ewiger Stern — ich ſollte nicht an Unſterblichkeit glauben?
Ich denke, Doktor, es gehoͤrt eine[betraͤtchliche] Porzion Eitelkeit und Anmaßung dazu, nachdem wir ſchon ſo viel Gutes und Schoͤnes auf dieſer Erde genoſſen, noch obendrein vom lieben Gott die Unſterblichkeit zu verlangen! Der Menſch, der Ariſtokrat unter den Thieren, der ſich beſſer duͤnkt,72 als alle ſeine Mitgeſchoͤpfe, moͤchte ſich auch dieſes Ewigkeitsvorrecht, am Throne des Weltkoͤnigs, durch hoͤfiſche Lob - und Preisgeſaͤnge und knien¬ des Bitten auswirken. — O, ich weiß was die¬ ſes Zucken mit den Lippen bedeutet, unſterblicher Herr!
Signora bat uns mit ihr nach dem Kloſter zu gehn, worin das wunderthaͤtige Kreuz, das Merk¬ wuͤrdigſte in ganz Toskana, bewahrt wird. Und es war gut, daß wir den Dom verließen, denn Myladys Tollheiten wuͤrden uns doch zuletzt in Verlegenheiten geſtuͤrzt haben. Sie ſprudelte von witziger Laune; lauter lieblich naͤrriſche Gedanken, ſo uͤbermuͤthig wie junge Kaͤtzchen, die in der Mayſonne herumſpringen. Am Ausgang des Doms tunkte ſie den Zeigefinger dreymahl ins Weihwaſſer, beſprengte mich jedesmahl und murmelte: Dem Zefardeyim Kinnim; welches nach ihrer Behaup¬ tung die arabiſche Formel iſt, womit die Zaube¬5 **74rinnen einen Menſchen in einen Eſel verwan¬ deln.
Auf der Piazza vor dem Dome manoeuvrirte eine Menge Militaͤr, beynah ganz oͤſtreichiſch uni¬ formirt und nach deutſchem Commando. Wenig¬ ſtens hoͤrte ich die deutſchen Worte: Praͤſentirts Gewehr! Fuß Gewehr! Schulters Gewehr! Rechtsum! Halt! Ich glaube bey allen Italie¬ nern, wie noch bey einigen andern europaͤiſchen Voͤlkern, wird auf Deutſch kommandirt. Sollen wir Deutſchen uns etwas darauf zu Gute thun? Haben wir in der Welt ſo viel zu befehlen, daß das Deutſche ſogar die Sprache Befehlens geworden? Oder wird uns ſo viel befohlen, daß der Gehorſam am beſten die deutſche Sprache verſteht?
Mylady ſcheint von Paraden und Revuͤen keine Freundinn zu ſeyn. Sie zog uns mit ironiſcher Furchtſamkeit von dannen. Ich liebe nicht, ſprach ſie, die Naͤhe von ſolchen Menſchen mit Saͤbeln75 und Flinten, beſonders wenn ſie in großer An¬ zahl, wie bey außerordentlichen Manoeuvern, in Reih und Glied aufmarſchiren. Wenn nun einer von dieſen tauſenden ploͤtzlich verruͤckt wird, und mit der Waffe, die er ſchon in der Hand hat, mich auf der Stelle niederſticht? Oder wenn er gar ploͤtzlich vernuͤnftig wird und nachdenkt: „ was haſt du zu riskiren? zu verlieren? ſelbſt wenn ſie dir das Leben nehmen? Mag auch jene andre Welt, die uns nach dem Tode verſprochen wird, nicht ſo ganz brillant ſeyn, wie man ſie ruͤhmt, mag ſie noch ſo ſchlecht ſeyn, weniger als man dir jetzt giebt, weniger als ſechs Kreuzer per Tag, kann man dir auch dort nicht geben — drum mach dir den Spaß und erſtich jene kleine Englaͤnderin mit der impertinenten Naſe! “ Bin ich da nicht in der groͤßten Lebensgefahr? Wenn ich Koͤnig waͤre, ſo wuͤrde ich meine Soldaten in zwey Claſſen theilen. Die Einen ließe ich an Unſterb¬ lichkeit glauben, um in der Schlacht Muth zu76 haben und den Tod nicht zu fuͤrchten, und ich wuͤrde ſie bloß im Kriege gebrauchen. Die andern aber wuͤrde ich zu Paraden und Revuͤen beſtim¬ men, und damit es ihnen nie in den Sinn komme, daß ſie nichts riskiren, wenn ſie des Spaßes wegen jemanden umbraͤchten, ſo wuͤrde ich ihnen bey To¬ desſtrafe verbieten an Unſterblichkeit zu glauben, ja, ich wuͤrde ihnen ſogar noch etwas Butter zu ihrem Kommisbrod geben, damit ſie das Leben recht lieb gewinnen. Erſtern hingegen, jenen unſterblichen Helden, wuͤrde ich das Leben ſehr ſauer machen, damit ſie es recht verachten lernen und die Muͤndung der Kanonen fuͤr einen Ein¬ gang in eine beſſere Welt anſehen.
Mylady, ſprach ich, Sie waͤren ein ſchlechter Regent. Sie wiſſen wenig vom Regieren und von der Politik verſtehen Sie gar nichts. Haͤtten Sie die politiſchen Annalen geleſen —
Ich verſtehe dergleichen vielleicht beſſer als Sie, theurer Doktor. Schon fruͤh ſuchte ich mich dar¬77 uͤber zu unterrichten. Als ich noch klein war, in Dublin —
Und auf dem Ruͤcken lag, im Gras — und nachdachte, oder auch nicht, wie in Ramsgate —
Ein Blick, wie leiſer Vorwurf der Undankbar¬ keit, fiel aus Myladys Augen, dann aber lachte ſie wieder, und fuhr fort: Als ich noch klein war, in Dublin, und auf einem Eckchen von dem Schemel ſitzen konnte, worauf Mutters Fuͤße ruh¬ ten, da hatte ich immer allerley zu fragen, was die Schneider, die Schuſter, die Baͤcker, kurz was die Leute in der Welt zu thun haben? Und die Mutter erklaͤrte dann: die Schneider machen Kleider, die Schuſter machen Schuhe, die Baͤcker backen Brod — Und als ich nun frug: was thun denn die Koͤnige? da gab die Mutter zur Antwort: die regieren. Weißt du wohl, liebe Mutter, ſagte ich da, wenn ich Koͤnig waͤre, ſo wuͤrde ich mahl einen ganzen Tag gar nicht regie¬ ren, bloß um zu ſehen, wie es dann in der Welt78 ausſieht. Liebes Kind, antwortete die Mutter, das thun auch manche Koͤnige, und es ſieht auch dann danach aus.
Wahrhaftig, Mylady, Ihre Mutter hatte Recht. Beſonders hier in Italien giebt es ſolche Koͤ¬ nige, und man merkt es wohl in Piemont und Neapel —
Aber, lieber Doktor, es iſt ſo einem italieni¬ ſchen Koͤnig nicht zu verargen, wenn er manchen Tag gar nicht regiert, wegen der allzugroßen Hitze. Es iſt nur zu befuͤrchten, daß die Carbonari ſo einen Tag benutzen moͤchten; denn in der neueſten Zeit iſt es mir beſonders aufgefallen, daß die Re¬ volutionen immer an ſolchen Tagen ausgebrochen ſind, wo nicht regiert wurde. Irrten ſich ein¬ mahl die Carbonari, und glaubten ſie, es waͤre ſo ein unregierter Tag, und gegen alle Erwar¬ tung wurde dennoch regiert, ſo verloren ſie die Koͤpfe. Die Carbonari koͤnnen daher nie vorſichtig genug ſeyn, und muͤſſen ſich genau die rechte Zeit79 merken. Dagegen aber iſt es die hoͤchſte Politik der Koͤnige, daß ſie es ganz geheim halten, an welchen Tagen ſie nicht regieren, daß ſie ſich an ſolchen Tagen wenigſtens einige Mahl auf den Regierſtuhl ſetzen, und etwa Federn ſchneiden, oder Briefkouverts verſiegeln oder weiße Blaͤtter liniiren, Alles zum Schein, damit das Volk drau¬ ßen, das neugierig in die Fenſter des Palais hin¬ einguckt, ganz ſicher glaube es werde regiert.
Waͤhrend ſolche Bemerkungen aus Myladys feinem Muͤndchen hervorgaukelten, ſchwamm eine laͤchelnde Zufriedenheit um die vollen Roſenlippen Franſcheskas. Sie ſprach wenig. Ihr Gang war jedoch nicht mehr ſo ſeufzend entſagungsſelig, wie am verfloſſenen Abend, ſie trat vielmehr ſieg¬ reich einher, jeder Schritt ein Trompetenton; es war indeſſen mehr ein geiſtlicher Sieg, als ein weltlicher, der ſich in ihren Bewegungen kund gab, ſie war faſt das Bild einer triumphirenden Kirche, und um ihr Haupt ſchwebte eine unſicht¬80 bare Glorie. Die Augen aber, wie aus Thraͤnen hervorlachend, waren wieder ganz weltkindlich, und in dem bunten Menſchenſtrom, der uns vorbey flutete, iſt auch kein einziges Kleidungsſtuͤck ihrem Forſcherblick entgangen. Ekko! war dann ihr Ausruf, welcher Shawl! der Markeſe ſoll mir eben ſolchen Kaſchemir zu einem Turbane kaufen, wenn ich die Roxelane tanze. Ach! er hat mir auch ein Kreuz mit Diamanten verſprochen!
Armer Gumpelino! zu dem Turbane wirſt du dich leicht verſtehen, jedoch das Kreuz wird dir noch manche ſaure Stunde machen; aber Signora wird dich ſo lange quaͤlen und auf die Folter ſpannen, bis du dich endlich dazu bequemſt.
Die Kirche, worinn das wunderthaͤtige Kreuz von Lukka zu ſehen iſt, gehoͤrt zu einem Kloſter, deſſen Namen mir dieſen Augenblick nicht im Ge¬ daͤchtniſſe.
Bey unſerem Eintritt in die Kirche, lagen vor dem Hauptaltare ein Dutzend Moͤnche auf den Knien, in ſchweigendem Gebet. Nur dann und wann, wie im Chor, ſprachen ſie einige abgebro¬ chene Worte, die in den einſamen Saͤulengaͤngen etwas ſchauerlich wiederhallten. Die Kirche war dunkel, nur durch kleine gemalte Fenſter fiel ein buntes Licht auf die kahlen Haͤupter und braunen Kutten. Glanzloſe Kupferlampen beleuchteten ſpaͤr¬682lich die geſchwaͤrzten Freskos und Altarbilder, aus den Waͤnden traten hoͤlzerne Heiligenkoͤpfe, grell bemalt und bey dem zweifelhaften Lichte wie leben¬ dig grinſend — Mylady ſchrie laut auf, und zeigte zu unſeren Fuͤßen einen Grabſtein, worauf in relief das ſtarre Bild eines Biſchofs mit My¬ thra und Hirtenſtab, gefalteten Haͤnden und abge¬ tretener Naſe. Ach! fluͤſterte ſie, ich ſelbſt trat ihm unſanft auf die ſteinerne Naſe, und nun wird er mir dieſe Nacht im Traume erſcheinen und da giebts eine Naſe.
Der Sakriſtan, ein bleicher, junger Moͤnch, zeigte uns das wunderthaͤtige Kreuz, und erzaͤhlte dabey die Mirakel, die es verrichtet. Launiſch, wie ich bin, habe ich vielleicht kein unglaͤubiges Geſicht dazu gemacht; ich habe dann und wann Anfaͤlle von Wunderglauben, beſonders wo, wie hier, Ort und Stunde denſelben beguͤnſtigt. Ich glaube dann, daß alles in der Welt ein Wunder ſey, und die ganze Weltgeſchichte eine Legende.
83War ich angeſteckt von dem Wunderglauben Fran¬ ſcheskas, die das Kreuz mit wilder Begeiſterung kuͤßte? Verdrießlich wurde mir die eben ſo wilde Spottluſt der witzigen Brittinn. Vielleicht ver¬ letzte mich ſolche um ſo mehr, da ich mich ſelbſt nicht davon frey fuͤhlte, und ſie keineswegs als etwas Lobenswerthes erachtete. Es iſt nun mahl nicht zu laͤugnen, daß die Spottluſt, die Freude am Widerſpruch der Dinge, etwas Boͤs¬ artiges in ſich traͤgt, ſtatt daß der Ernſt mehr mit den beſſeren Gefuͤhlen verwandt iſt — die Tugend, der Freiheitsſinn und die Liebe ſelbſt ſind ſehr ernſthaft. Indeſſen, es giebt Herzen, worin Scherz und Ernſt, Boͤſes und Heiliges, Glut und Kaͤlte ſich ſo abentheuerlich verbinden, daß es ſchwer wird daruͤber zu urtheilen. Ein ſolches Herz ſchwamm in der Bruſt Mathildens; manchmahl war es eine frierende Eisinſel, aus deren glattem Spiegelboden die ſehnſuͤchtig gluͤhendſten Palmen¬ waͤlder hervorbluͤhten, manchmahl war es wieder ein6 *84enthuſiaſtiſch flammender Vulkan, der ploͤtzlich von einer lachenden Schneelavine uͤberſchuͤttet wird. Sie war durchaus nicht ſchlecht, bey all ihrer Ausgelaſſenheit, nicht einmal ſinnlich; ja, ich glaube von der Sinnlichkeit hatte ſie nur die wi¬ tzige Seite aufgefaßt, und ergoͤtzte ſich daran wie an einem naͤrriſchen Puppenſpiele. Es war ein humoriſtiſches Geluͤſte, eine ſuͤße Neugier, wie ſich der oder jener bunte Kautz in verliebten Zuſtaͤnden gebehrden wuͤrde. Wie ganz anders war Fran¬ ſcheska! In ihren Gedanken, Gefuͤhlen war eine katholiſche Einheit. Am Tage war ſie ein ſchmach¬ tend blaſſer Mond, des Nachts war ſie eine gluͤ¬ hende Sonne — Mond meiner Tage! Sonne meiner Naͤchte! ich werde dich niemals wieder¬ ſehen!
Sie haben Recht, ſagte Mylady, ich glaube auch an die Wunderthaͤtigkeit eines Kreuzes. Ich bin uͤberzeugt, wenn der Markeſe an den Brillan¬85 ten des verſprochenen Kreuzes nicht zu ſehr kni¬ ckert, ſo bewirkt es gewiß bey Signoren ein bril¬ lantes Wunder; ſie wird am Ende noch ſo ſehr davon geblendet werden, daß ſie ſich in ſeine Naſe verliebt. Auch habe ich oft gehoͤrt von der Wun¬ derthaͤtigkeit einiger Ordenskreuze, die einen ehr¬ lichen Mann zum Schufte machen konnten.
So ſpoͤttelte die huͤbſche Frau uͤber Alles, ſie kokettirte mit dem armen Sakriſtan, machte dem Biſchof mit der abgetretenen Naſe noch drollige Exkuͤſen, wobey ſie ſich ſeinen etwaigen Gegenbe¬ ſuch hoͤflichſt verbat, und als wir an den Weih¬ keſſel gelangten, wollte ſie mich durchaus wieder in einen Eſel verwandeln.
War es nun wirkliche Stimmung, die der Ort einfloͤßte, oder wollte ich dieſen Spaß, der mich im Grunde verdroß, ſo ſcharf als moͤglich ableh¬ nen, genug ich warf mich in das gehoͤrige Pathos und ſprach:86 Mylady, ich liebe keine Religionsveraͤchterin¬ nen. Schoͤne Frauen, die keine Religion haben, ſind wie Blumen ohne Duft; ſie gleichen jenen kalten, nuͤchternen Tulpen, die uns aus ihren chineſiſchen Porzelantoͤpfen ſo porzelanhaft anſehen, und wenn ſie ſprechen koͤnnten, uns gewiß ausein¬ ander ſetzen wuͤrden, wie ſie ganz natuͤrlich aus einer Zwiebel entſtanden ſind, wie es hinreichend ſey, wenn man hienieden nur nicht uͤbel riecht, und wie uͤbrigens, was den Duft betrifft, eine vernuͤnftige Blume gar keines Duftes bedarf.
Schon bey dem Wort Tulpe gerieth Mylady in die heftigſten Bewegungen, und waͤhrend ich ſprach, wirkte ihre Idioſynkraſie gegen dieſe Blu¬ me ſo ſtark, daß ſie ſich verzweiflungsvoll die Oh¬ ren zuhielt. Zur Haͤlfte war es wohl Comoͤdie, zur Haͤlfte aber auch wohl pikirter Ernſt, daß ſie mich mit bitterem Blicke anſah und aus Her¬ zensgrund ſpottſcharf mich frug: Und Sie, theure87 Blume, welche von den vorhandenen Religionen haben Sie?
Ich, Mylady, ich habe ſie alle, der Duft meiner Seele ſteigt in den Himmel und betaͤubt ſelbſt die ewigen Goͤtter!
Indem Signora unſer Geſpraͤch, das wir groͤ¬ ſtentheils auf Engliſch fuͤhrten, nicht verſtehen konnte, gerieth ſie, Gott weiß wie! auf den Ge¬ danken, wir ſtritten uͤber die Vorzuͤglichkeit unſerer reſpektiven Landsleute. Sie lobte nun die Eng¬ laͤnder eben ſo wie die Deutſchen, obgleich ſie im Herzen die erſteren fuͤr nicht klug und die letzteren fuͤr dumm hielt. Sehr ſchlecht dachte ſie von den Preußen, deren Land, nach ihrer Geographie, noch weit uͤber England und Deutſchland hinaus¬ liegt, beſonders ſchlecht dachte ſie vom Koͤnige von Preußen, dem großen Federigo, den ihre Feindin, Signora Seraphina, in ihrem Benefizballette89 vorig Jahr getanzt hatte; wie denn ſonderbar genug, dieſer Koͤnig, naͤmlich Friedrich der Große, auf den italieniſchen Theatern und im Gedaͤchtniſſe des italieniſchen Volks noch immer lebt.
Nein, ſagte Mylady, ohne auf Signoras ſuͤßes Gekoſe hinzuhoͤren, nein, dieſen Menſchen braucht man nicht erſt in einen Eſel zu verwan¬ deln; nicht nur, daß er jede zehn Schritte ſeine Geſinnung wechſelt, und ſich beſtaͤndig widerſpricht, wird er jetzt ſogar ein Bekehrer, und ich glaube gar er iſt ein verkappter Jeſuit. Ich muß, mei¬ ner Sicherheit wegen, jetzt devote Geſichter ſchnei¬ den, ſonſt giebt er mich an bey ſeinen Mitheuch¬ lern in Chriſto, bey den heiligen Inquiſizions¬ dilettanten, die mich in Effigie verbrennen, da ihnen die Polizey noch nicht erlaubt, die Perſo¬ nen ſelbſt ins Feuer zu werfen. Ach, ehrwuͤrdiger Herr! glauben Sie nur nicht, daß ich ſo klug ſey wie ich ausſehe, es fehlt mir durchaus nicht an Religion, ich bin keine Tulpe, bey Leibe keine90 Tulpe, nur um des Himmels Willen keine Tulpe, ich will lieber alles glauben! Ich glaube jetzt ſchon das Hauptſaͤchlichſte, was in der Bibel ſteht, ich glaube, daß Abraham den Iſaak, und Iſaak den Jakob, und Jakob wieder den Juda gezeugt hat, ſo wie auch, daß dieſer wieder ſeine Schnur Ta¬ mar auf der Landſtraße erkannt hat. Ich glaube auch, daß Loth mit ſeinen Toͤchtern zu viel ge¬ trunken. Ich glaube, daß die Frau des Potiphar den Rock des frommen Joſephs in Haͤnden behal¬ ten. Ich glaube, daß die beiden Alten, die Su¬ ſannen im Bade uͤberraſchten, ſehr alt geweſen ſind. Außerdem glaub ich noch, daß der Erzvater Jakob erſt ſeinen Bruder und dann ſeinen Schwie¬ gervater betrogen, daß Koͤnig David dem Uria eine gute Anſtellung bey der Armee gegeben, daß Salomo ſich tauſend Weiber angeſchafft und nach¬ her gejammert es ſey alles eitel. Auch an die zehn Gebothe glaube ich und halte ſogar die mei¬ ſten; ich laß mich nicht geluͤſten meines Naͤchſten91 Ochſen, noch ſeiner Magd, noch ſeiner Kuh, noch ſeines Eſels. Ich arbeite nicht am Sabath, dem ſiebenten Tage, wo Gott geruht; ja, aus Vor¬ ſicht, da man nicht mehr genau weiß, welcher die¬ ſer ſiebente Ruhetag war, thue ich oft die ganze Woche nichts. Was aber gar die Gebothe Chriſti betrifft, ſo uͤbte ich immer das wichtigſte, naͤmlich daß man ſogar ſeine Feinde lieben ſoll — denn ach! diejenigen Menſchen, die ich am meiſten ge¬ liebt habe, waren immer, ohne daß ich es wußte, meine ſchlimmſten Feinde.
Um Gottes Willen, Mathilde, weinen Sie nicht! rief ich als wieder ein Ton der ſchmerzhaf¬ teſten Bitterkeit aus der heiterſten Neckerey, wie eine Schlange aus einem Blumenbeete, hervor¬ ſchoß. Ich kannte ja dieſen Ton, wobey das wi¬ tzige Criſtallherz der wunderbaren Frau zwar im¬ mer gewaltig, aber nicht lange erzitterte, und ich wußte, daß er eben ſo leicht, wie er entſteht, auch wieder verſcheucht wird, durch die erſte beſte la¬92 chende Bemerkung, die man ihr mittheilte, oder die ihr ſelbſt durch den Sinn flog. Waͤhrend ſie gelehnt an das Portal des Kloſterhofes, die gluͤ¬ hende Wange an die kalten Steine preßte, und ſich mit ihren langen Haaren die Thraͤnenſpur aus den Augen wiſchte, ſuchte ich ihre gute Laune wieder zu erwecken, indem ich, in ihrer eignen Spottweiſe, die arme Franſcheska zu myſtifiziren ſuchte, und ihr die wichtigſten Nachrichten mit¬ theilte uͤber den ſiebenjaͤhrigen Krieg, der ſie ſo ſehr zu intereſſiren ſchien, und den ſie noch im¬ mer unbeendigt glaubte. Ich erzaͤhlte ihr viel Intereſſantes von dem großen Federigo, dem wi¬ tzigen Kamaſchengott von Sansſouci, der die preu¬ ßiſche Monarchie erfunden, und in ſeiner Jugend recht huͤbſch die Floͤte bließ, und auch franzoͤſiſche Verſe gemacht hat. Franſcheska frug mich, ob die Preußen oder die Deutſchen ſiegen werden? Denn, wie ſchon oben bemerkt, ſie hielt erſtere fuͤr ein ganz anderes Volk, und es iſt auch ge¬93 woͤhnlich, daß in Italien unter dem Namen Deut¬ ſche nur die Oeſtreicher verſtanden werden. Sig¬ nora wunderte ſich nicht wenig, als ich ihr ſagte, daß ich ſelbſt lange Zeit in der Capitale della Prussia gelebt habe, naͤmlich in Berelino, einer Stadt, die ganz oben in der Geographie liegt, unſern vom Eispol. Sie ſchauderte, als ich ihr die Gefahren ſchilderte, denen man dort zu¬ weilen ausgeſetzt iſt, wenn einem die Eisbaͤren auf der Straße begegnen. Denn, liebe Fran¬ ſcheska, erklaͤrte ich ihr, in Spitzbergen liegen gar zu viele Baͤren in Garniſon, und dieſe kommen zuweilen auf einen Tag nach Berlin, um etwa aus Patriotismus den Baͤr und den Baſſa zu ſe¬ hen, oder einmahl bey Beyerman, im Caffé royal, gut zu eſſen und Champagner zu trinken, was ihnen oft mehr Geld koſtet, als ſie mitgebracht; in welchem Falle einer von den Baͤren ſolange dort angebunden wird, bis ſeine Cammeraden zuruͤck¬ kehren und bezahlen, woher auch der Ausdruck94 „ einen Baͤren anbinden “entſtanden iſt. Viele Baͤren wohnen in der Stadt ſelbſt, ja man ſagt Berlin verdanke ſeine Entſtehung den Baͤren, und hieße eigentlich Baͤrlin. Die Stadtbaͤren ſind aber uͤbrigens ſehr zahm und einige darunter ſo gebildet, daß ſie die ſchoͤnſten Tragoͤdien ſchreiben und die herrlichſte Muſik komponiren. Die Woͤlfe ſind dort ebenfalls haͤufig, und da ſie, der Kaͤlte wegen, warſchauer Schafpelze tragen, ſind ſie nicht ſo leicht zu erkennen. Schneegaͤnſe flattern dort umher und ſingen Bravourarien, und Renn¬ thiere rennen da herum als Kunſtkenner. Uebri¬ gens leben die Berliner ſehr maͤßig und fleißig, und die meiſten ſitzen bis am Nabel im Schnee und ſchreiben Dogmatiken, Erbauungsbuͤcher, Re¬ ligionsgeſchichten fuͤr Toͤchter gebildeter Staͤnde, Kathechismen, Predigten fuͤr alle Tage im Jahr, Elohagedichte, und ſind dabey ſehr moraliſch, denn ſie ſitzen bis am Nabel im Schnee.
95Sind die Berliner denn Chriſten? rief Sig¬ nora voller Verwundrung.
Es hat eine eigne Bewandtniß, mit ihrem Chriſtenthum. Dieſes fehlt ihnen im Grunde ganz und gar, und ſie ſind auch viel zu vernuͤnf¬ tig, um es ernſtlich auszuuͤben. Aber da ſie wiſ¬ ſen, daß das Chriſtenthum im Staate noͤthig iſt, damit die Unterthanen huͤbſch demuͤthig gehorchen, und auch außerdem nicht zu viel geſtohlen und ge¬ mordet wird, ſo ſuchen ſie mit großer Beredſam¬ keit wenigſtens ihre Nebenmenſchen zum Chriſten¬ thume zu bekehren, ſie ſuchen gleichſam Rempla¬ çants in einer Religion, deren Aufrechthaltung ſie wuͤnſchen und deren ſtrenge Ausuͤbung ihnen ſelbſt zu muͤhſam wird. In dieſer Verlegenheit benutzen ſie den Dienſteifer der armen Juden, dieſe muͤſſen jetzt fuͤr ſie Chriſten werden, und da dieſes Volk, fuͤr Geld und gute Worte alles aus ſich machen laͤßt, ſo haben ſich die Juden ſchon ſo ins Chriſtenthum hineinexerzirt, daß ſie ordent¬96 lich ſchon uͤber Unglauben ſchreyen, auf Tod und Leben die Dreyeinigkeit verfechten, in den Hunds¬ tagen ſogar daran glauben, gegen die Razionali¬ ſten wuͤthen, als Miſſionaͤre und Glaubensſpione im Lande herumſchleichen und erbauliche Traktaͤt¬ chen verbreiten, in den Kirchen am beſten die Au¬ gen verdrehen, die ſcheinheiligſten Geſichter ſchnei¬ den, und mit ſo viel hohem Beyfalle froͤmmeln, daß ſich ſchon hie und da der Gewerbsneid regt, und die aͤlteren Meiſter des Handwerks ſchon heim¬ lich klagen: das Chriſtenthum ſey jetzt ganz in den Haͤnden der Juden.
Wenn mich Signora nicht verſtand, ſo wirſt du, lieber Leſer, mich gewiß beſſer verſtehen. Auch Mylady verſtand mich, und dies Verſtaͤnd¬ niß weckte wieder ihre gute Laune. Doch als ich — ich weiß nicht mehr ob mit ernſthaftem Geſichte — der Meinung beypflichten wollte, daß das Volk einer beſtimmten Religion beduͤrfe, konnte ſie wieder nicht umhin, mir in ihrer Weiſe entge¬ gen zu ſtreiten.
Das Volk muß eine Religion haben! rief ſie. Eifrig hoͤre ich dieſen Satz predigen von tauſend dummen und abertauſend ſcheinheiligen Lippen —
Und dennoch iſt es wahr, Mylady. Wie die798Mutter nicht alle Fragen des Kindes mit der Wahrheit beantworten kann, weil ſeine Faſſungs¬ kraft es nicht erlaubt, ſo muß auch eine poſitive Religion, eine Kirche vorhanden ſeyn, die alle uͤberſinnlichen Fragen des Volks, ſeiner Faſſungs¬ kraft gemaͤß, recht ſinnlich beſtimmt beantworten kann.
O weh! Doktor, eben Ihr Gleichniß bringt mir eine Geſchichte ins Gedaͤchtniß, die am Ende nicht guͤnſtig fuͤr Ihre Meinung ſprechen wuͤrde. Als ich noch klein war, in Dublin —
Und auf dem Ruͤcken lag —
Aber, Doktor, man kann doch mit Ihnen kein vernuͤnftig Wort ſprechen. Laͤcheln Sie nicht ſo unverſchaͤmt und hoͤren Sie: Als ich noch klein war, in Dublin, und zu Mutters Fuͤßen ſaß, frug ich ſie einſt: was man mit den alten Voll¬ monden anfange? Liebes Kind, ſagte die Mut¬ ter, die alten Vollmonde ſchlaͤgt der liebe Gott mit dem Zuckerhammer in Stuͤcke, und macht99 daraus die kleinen Sterne. Man kann der Mut¬ ter dieſe offenbar falſche Erklaͤrung nicht verdenken, denn mit den beſten aſtronomiſchen Kenntniſſen haͤtte ſie doch nicht vermocht, mir das ganze Sonne -, Mond - und Sterneſyſtem aus einander zu ſetzen, und die uͤberſinnlichen Fragen beantwor¬ tete ſie ſinnlich beſtimmt. Es waͤre aber doch beſſer geweſen, ſie haͤtte die Erklaͤrung fuͤr ein reiferes Alter verſchoben, oder wenigſtens keine Luͤge ausgedacht. Denn als ich mit der kleinen Lucie zuſammen kam und der Vollmond am Him¬ mel ſtand, und ich ihr erklaͤrte, wie man bald kleine Sterne draus machen werde, lachte ſie mich aus, und ſagte, daß ihre Großmutter, die alte O' Meara ihr erzaͤhlt habe: die Vollmonde wuͤr¬ den in der Hoͤlle als Feuermelonen verzehrt, und da man dort keinen Zucker habe, muͤſſe man Pfeffer und Salz drauf ſtreuen. Hatte Lucie vorher uͤber meine Meinung, die etwas naiv evan¬ geliſch war, mich ausgelacht, ſo lachte ich noch7*100mehr uͤber ihre duͤſter katholiſche Anſicht, vom Auslachen kam es zu ernſtem Streit, wir pufften uns, wir kratzten uns blutig, wir beſpuckten uns polemiſch, bis der kleine O'Donnel aus der Schule kam, und uns aus einander riß. Dieſer Knabe hatte dort beſſeren Unterricht in der Himmels¬ kunde genoſſen, verſtand ſich auf Mathematik, und belehrte uns ruhig uͤber unſere beiderſeitigen Irrthuͤmer und die Thorheit unſeres Streits. Und was geſchah? Wir beiden Maͤdchen unterdruͤckten vor der Hand unſeren Meynungsſtreit, und ver¬ einigten uns gleich, um den kleinen ruhigen Ma¬ thematikus durchzupruͤgeln.
Mylady, ich bin verdrießlich, denn Sie haben Recht. Aber es iſt nicht zu aͤndern, die Menſchen werden immer ſtreiten uͤber die Vorzuͤglichkeit der¬ jenigen Religionsbegriffe, die man ihnen fruͤh bey¬ gebracht, und der Vernuͤnftige wird immer doppelt zu leiden haben. Einſt war es freylich anders, da ließ ſich keiner einfallen, die Lehre und die Feyer101 ſeiner Religion beſonders anzupreiſen, oder gar ſie jemanden aufzudringen. Die Religion war eine liebe Tradizion, heilige Geſchichten, Erinnerungs¬ feyer und Myſterien, uͤberliefert von den Vorfah¬ ren, gleichſam Familienſakra des Volks, und ei¬ nem Griechen waͤre es ein Greuel geweſen, wenn ein Fremder, der nicht von ſeinem Geſchlechte, eine Religionsgenoſſenſchaft mit ihm verlangt haͤtte; noch mehr wuͤrde er es fuͤr eine Unmenſchlichkeit gehalten haben, irgend jemand, durch Zwang oder Liſt, dahinzubringen, ſeine angeborene Religion aufzugeben und eine fremde dafuͤr anzunehmen. Da kam aber ein Volk aus Egypten, dem Vater¬ land der Krokodille und des Prieſterthums, und außer den Hautkrankheiten und den geſtohlenen Gold - und Silbergeſchirren, brachte es auch eine ſogenannte poſitive Religion mit, eine ſogenannte Kirche, ein Geruͤſte von Dogmen, an die man glauben, und heiliger Ceremonien, die man feyern mußte, ein Vorbild der ſpaͤteren Staatsreligio¬102 nen. Nun entſtand „ die Menſchenmaͤkeley “das Proſelitenmachen, der Glaubenszwang, und all jene heiligen Greul, die dem Menſchengeſchlechte ſo viel Blut und Thraͤnen gekoſtet.
Goddamm! dieſes Uruͤbelvolk!
O, Mathilde, es iſt laͤngſt verdammt, und ſchleppt ſeine Verdammnißqualen durch die Jahr¬ tauſende. O, dieſes Egypten! ſeine Fabrikate tro¬ tzen der Zeit, ſeine Pyramiden ſtehen noch immer unerſchuͤtterlich, ſeine Mumien ſind noch ſo unzer¬ ſtoͤrbar wie ſonſt, und eben ſo unverwuͤſtlich iſt jene Volkmumie, die uͤber die Erde wandelt, ein¬ gewickelt in ihren uralten Buchſtabenwindeln, ein verhaͤrtet Stuͤck Weltgeſchichte, ein Geſpenſt, das zu ſeinem Unterhalte mit Wechſeln und alten Ho¬ ſen handelt — Sehen Sie, Mylady, dort jenen alten Mann, mit dem weißen Barte, deſſen Spitze ſich wieder zu ſchwaͤrzen ſcheint, und mit den geiſterhaften Augen —
103Sind dort nicht die Ruinen der alten Roͤmer¬ graͤber?
Ja, eben da ſitzt der alte Mann, und vielleicht, Mathilde, verrichtet er eben ſein Gebet, ein ſchau¬ riges Gebet, worinn er ſeine Leiden bejammert, und Voͤlker anklagt, die laͤngſt von der Erde ver¬ ſchwunden ſind, und nur noch in Ammenmaͤhrchen leben — er aber, in ſeinem Schmerze, bemerkt kaum, daß er auf den Graͤbern derjenigen Feinde ſitzt, deren Untergang er vom Himmel erfleht.
Ich ſprach im vorigen Capitel von den poſiti¬ ven Religionen nur in ſo fern ſie als Kirchen, unter den Namen Staatsreligionen, noch beſonders vom Staate privilegirt werden. Es giebt aber eine fromme Dialektik, lieber Leſer, die dir aufs buͤndigſte beweiſen wird, daß ein Gegner des Kirch¬ thums einer ſolchen Staatsreligion auch ein Feind der Religion und des Staats ſey, ein Feind Got¬ tes und des Koͤnigs, oder, wie die gewoͤhnliche Formel lautet: ein Feind des Throns und des Al¬ tars. Ich aber ſage dir, das iſt eine Luͤge, ich ehre die innere Heiligkeit jeder Religion und unterwerfe105 mich den Intereſſen des Staates. Wenn ich auch dem Antropomorphismus nicht ſonderlich huldige, ſo glaube ich doch an die Herrlichkeit Gottes, und wenn auch die Koͤnige ſo thoͤrigt ſind, dem Geiſte des Volks zu widerſtreben, oder gar ſo unedel ſind, die Organe deſſelben durch Zuruͤckſetzungen und Verfolgungen zu kraͤnken: ſo bleibe ich doch, meiner tiefſten Ueberzeugung nach, ein Anhaͤnger des Koͤnigthums, des monarchiſchen Princips. Ich haſſe nicht den Thron, ſondern nur das windige Adelgeziefer, das ſich in die Ritzen der alten Throne eingeniſtet, und deſſen Charakter uns Mon¬ tesquieu ſo genau ſchildert mit den Worten: „ Ehr¬ geiz im Bunde mit dem Muͤſſiggange, die Ge¬ meinheit im Bunde mit dem Hochmuthe, die Be¬ gierde, ſich zu bereichern ohne Arbeit, die Abnei¬ gung gegen die Wahrheit, die Schmeicheley, der Verrath, die Treuloſigkeit, der Wortbruch, die Verachtung der Buͤrgerpflichten, die Furcht vor Fuͤrſtentugend und das Intereſſe an Fuͤrſtenlaſter! “ 106Ich haſſe nicht den Altar, ſondern ich haſſe die Schlangen, die unter dem Geruͤlle der alten Al¬ taͤre lauern; die argklugen Schlangen, die unſchul¬ dig wie Blumen zu laͤcheln wiſſen, waͤhrend ſie heimlich ihr Gift ſpritzen in den Kelch des Lebens, und Verlaͤumdung ziſchen in das Ohr des from¬ men Beters, die gleißenden Wuͤrmer mit weichen Worten —
Eben weil ich ein Freund des Staats und der Religion bin, haſſe ich jene Mißgeburt, die man Staatsreligion nennt, jenes Spottgeſchoͤpf, das aus der Buhlſchaft der weltlichen und der geiſtlichen Macht entſtanden, jenes Maulthier, das der Schimmel des Antichriſts mit der Eſelinn Chriſti gezeugt hat. Gaͤbe es keine ſolche Staats¬ religion, keine Bevorrechtung eines Dogmas und eines Cultus, ſo waͤre Deutſchland einig und ſtark und ſeine Soͤhne waͤren herrlich und frey. So107 aber iſt unſer armes Vaterland zerriſſen durch Glaubenszwieſpalt, das Volk iſt getrennt in feind¬ liche Religionspartheyen, proteſtantiſche Untertha¬ nen hadern mit ihren katholiſchen Fuͤrſten oder umgekehrt, uͤberall Mißtrauen ob Kryptokatholizis¬ mus oder Kryptoproteſtantismus, uͤberall Verketze¬ rung, Geſinnungsſpionage, Pietismus, Myſtizis¬ mus, Kirchenzeitungsſchnuͤffeleyen, Sektenhaß, Be¬ kehrungsſucht, und waͤhrend wir uͤber den Himmel ſtreiten, gehen wir auf Erden zu Grunde. Ein Indifferentismus in religioͤſen Dingen waͤre viel¬ leicht allein im Stande uns zu retten, und durch Schwaͤcherwerden im Glauben koͤnnte Deutſchland politiſch erſtarken.
Fuͤr die Religion ſelber, fuͤr ihr heiliges We¬ ſen, iſt es eben ſo verderblich, wenn ſie mit Pri¬ vilegien bekleidet iſt, wenn ihre Diener vom Staate vorzugsweiſe dotirt werden, und zur Erhaltung die¬ ſer Dotazionen ihrerſeits verpflichtet ſind, den Staat zu vertreten, und ſolchermaßen eine Hand die an¬108 dere waͤſcht, die geiſtliche die weltliche, und umge¬ kehrt, und ein Wiſchwaſch entſteht, der dem lieben Gott eine Thorheit und den Menſchen ein Greul iſt. Hat nun der Staat Gegner, ſo werden dieſe auch Feinde der Religion, die der Staat bevorrech¬ tet und die deßhalb ſeine Alliirte iſt; und ſelbſt der harmloſe Glaͤubige wird mißtrauiſch, wenn er in der Religion auch politiſche Abſicht wittert. Am widerwaͤrtigſten aber iſt der Hochmuth der Prieſter, wenn ſie fuͤr die Dienſte, die ſie dem Staate zu leiſten glauben, auch auf deſſen Unterſtuͤtzung rech¬ nen duͤrfen, wenn ſie fuͤr die geiſtige Feſſel, die ſie ihm, um die Voͤlker zu binden, geliehen haben, auch uͤber ſeine Bajonette verfuͤgen koͤnnen. Die Reli¬ gion kann nie ſchlimmer ſinken als wenn ſie ſolcher¬ maßen zur Staatsreligion erhoben wird, es geht dann gleichſam ihre innere Unſchuld verloren, und ſie wird ſo oͤffentlich ſtolz, wie eine deklarirte Maͤ¬ treſſe. Freilich werden ihr dann mehr Huldigungen und Ehrfurchtsverſicherungen dargebracht, ſie feyert109 taͤglich neue Siege, in glaͤnzenden Prozeſſionen, bey ſolchen Triumphen tragen ſogar bonapartiſtiſche Ge¬ nerale ihr die Kerzen vor, die ſtolzeſten Geiſter ſchwoͤren zu ihrer Fahne, taͤglich werden Unglaͤu¬ bige bekehrt und getauft — aber dies viele Waſſer¬ aufgießen macht die Suppe nicht fetter, und die neuen Rekruten der Staatsreligion gleichen den Soldaten, die Fallſtaf geworben — ſie fuͤllen die Kirche. Von Aufopfrung iſt gar nicht mehr die Rede, wie Kaufmannsdiener mit ihren Muſterkar¬ ten, ſo reiſen die Miſſionaͤre mit ihren Tractaͤtchen und Bekehrungsbuͤchlein, es iſt keine Gefahr mehr bey dieſem Geſchaͤfte, und es bewegt ſich ganz in merkantiliſch oͤkonomiſchen Formen.
Nur ſo lange die Religionen mit anderen zu rivaliſiren haben, und weit mehr verfolgt werden als ſelbſt verfolgen, ſind ſie herrlich und ehrenwerth, nur da giebts Begeiſterung, Aufopferung, Maͤrtyrer und Palmen. Wie ſchoͤn, wie heilig lieblich, wie heimlich ſuͤß, war das Chriſtenthum der erſten Jahr¬110 hunderte, als es ſelbſt noch ſeinem goͤttlichen Stif¬ ter glich im Heldenthum des Leidens. Da wars noch die ſchoͤne Legende von einem heimlichen Gotte, der in ſanfter Juͤnglingsgeſtalt unter den Palmen Palaͤſtinas wandelte, und Menſchenliebe predigte, und jene Freiheit - und Gleichheitslehre offenbarte, die auch ſpaͤter die Vernunft der groͤßten Denker als wahr erkannt hat, und die, als franzoͤſiſches Evangelium, unſere Zeit begeiſtert. Mit jener Re¬ ligion Chriſti vergleiche man die verſchiedenen Chri¬ ſtenthuͤmer, die in den verſchiedenen Laͤndern als Staatsreligionen konſtituirt worden, z. B. die roͤ¬ miſch apoſtoliſch katholiſche Kirche, oder gar jenen Katholizismus ohne Poeſie, den wir als High Church of England herrſchen ſehen, jenes klaͤglich morſche Glaubensſkelet, worin alles bluͤhende Leben erloſchen iſt! Wie den Gewerben iſt auch den Religionen das Monopolſyſtem ſchaͤdlich, durch freye Conkurenz bleiben ſie kraͤftig, und ſie werden erſt dann zu ih¬ rer urſpruͤnglichen Herrlichkeit wieder erbluͤhen, ſo¬111 bald die politiſche Gleichheit der Gottesdienſte, ſo zu ſagen die Gewerbefreyheit der Goͤtter eingefuͤhrt wird.
Die edelſten Menſchen in Europa haben es laͤngſt ausgeſprochen, daß dieſes das einzige Mittel iſt, die Religion vor gaͤnzlichem Untergang zu be¬ wahren; doch die Diener derſelben werden eher den Altar ſelbſt aufopfern, als daß ſie von dem was darauf geopfert wird, das Mindeſte verlieren moͤch¬ ten; eben ſo wie der Adel eher den Thron ſelbſt und Hochdenjenigen, der hochdarauf ſitzt, dem ſicher¬ ſten Verderben uͤberlaſſen wuͤrde, als daß er mit ernſtlichem Willen die ungerechteſte ſeiner Gerecht¬ ſame aufgaͤbe. Iſt doch das affektirte Intereſſe fuͤr Thron und Altar nur ein Poſſenſpiel, das dem Volke vorgegaukelt wird! Wer das Zunftgeheimniß belauert hat, weiß, daß die Pfaffen viel weniger als die Layen den Gott reſpektiren, den ſie zu ih¬ rem eignen Nutzen, nach Willkuͤhr, aus Brod und Wort zu kneten wiſſen, und daß die Adligen viel112 weniger als es ein Roturier vermoͤchte, den Koͤnig reſpektiren, und ſogar eben das Koͤnigthum, dem ſie oͤffentlich ſo viele Ehrfurcht zeigen, und dem ſie ſo viel Ehrfurcht bey Anderen zu erwerben ſuchen, in ihrem Herzen verhoͤhnen und verachten: — wahr¬ lich, ſie gleichen jenen Leuten, die dem gaffenden Publikum, in den Marktbuden, irgend einen Her¬ kules oder Rieſen, oder Zwerg, oder Wilden, oder Feuerfreſſer, oder ſonſtig merkwuͤrdigen Mann fuͤr Geld zeigen, und deſſen Staͤrke Erhabenheit, Kuͤhn¬ heit, Unverletzlichkeit, oder, wenn er ein Zwerg iſt, deſſen Weisheit, mit der uͤbertriebenſten Ruhmre¬ digkeit auspreiſen, und dabey in die Trompete ſto¬ ßen, und eine bunte Jacke tragen, waͤhrend ſie dar¬ unter, im Herzen, die Leichtglaͤubigkeit des ſtaunen¬ den Volkes verlachen und den armen Hochgeprieſe¬ nen verſpotten, der ihnen aus Gewohnheit des taͤg¬ lichen Anblicks ſehr unintereſſant geworden, und deſſen Schwaͤchen und nur andreſſirte Kuͤnſte ſie all zu genau kennen.
113Ob der liebe Gott es noch lange dulden wird, daß die Pfaffen einen leidigen Popanz fuͤr ihn ausgeben und damit Geld verdienen, das weiß ich nicht; — wenigſtens wuͤrde ich mich nicht wundern, wenn ich mahl im Hamb. Unpart. Correſpondenten laͤſe: daß der alte Jehova jedermann warne, kei¬ nem Menſchen, es ſey wer es wolle, nicht einmal ſeinem Sohne, auf ſeinen Namen Glauben zu ſchenken. Ueberzeugt bin ich aber, wir werden's mit der Zeit erleben, daß die Koͤnige ſich nicht mehr hergeben wollen zu einer Schaupuppe ihrer adligen Veraͤchter, daß ſie die Etiquetten brechen, ihren mar¬ mornen Buden entſpringen, und unwillig von ſich werfen den glaͤnzenden Plunder, der dem Volke imponiren ſollte, den rothen Mantel, der ſcharfrich¬ terlich abſchreckte, den diamantenen Reif, den man ihnen uͤber die Ohren gezogen, um ſie den Volks¬ ſtimmen zu verſperren, den goldnen Stock, den man ihnen als Scheinzeichen der Herrſchaft in die Hand gegeben — und die befreyten Koͤnige, wer¬8114den frey ſeyn wie andre Menſchen, und frey un¬ ter ihnen wandeln, und frey fuͤhlen und frey heu¬ rathen, und frey ihre Meinung bekennen, und das iſt die Emanzipazion der Koͤnige.
Was bleibt aber den Ariſtokraten uͤbrig, wenn ſie der gekroͤnten Mittel ihrer Subſiſtenz beraubt werden, wenn die Koͤnige ein Eigenthum des Volks ſind, und ein ehrliches und ſicheres Regi¬ ment fuͤhren, durch den Willen des Volks, der alleinigen Quelle aller Macht? Was werden die Pfaffen beginnen, wenn die Koͤnige einſehen, daß ein bischen Salboͤhl keinen menſchlichen Kopf guillotinenfeſt machen kann, eben ſo wie das Volk taͤglich mehr und mehr einſieht, daß man von Oblaten nicht ſatt wird? Nun freilich, da bleibt der Ariſtokratie und der Cleriſey nichts uͤbrig als ſich zu verbuͤnden, und gegen die neue Weltord¬ nung zu kabaliren und zu intriguiren.
8 *116Vergebliches Bemuͤhen! Eine flammende Rie¬ ſinn, ſchreitet die Zeit ruhig weiter, unbekuͤmmert um das Geklaͤffe biſſiger Pfaͤffchen und Junkerlein da unten. Wie heulen ſie jedesmahl, wenn ſie ſich die Schnautze verbrannt an einem Fuße jener Rieſinn, oder wenn dieſe ihnen mahl unverſehens auf die Koͤpfe trat, daß das obſcure Gift her¬ ausſpritzte! Ihr Grimm wendet ſich dann um ſo tuͤckiſcher gegen einzelne Kinder der Zeit, und, ohnmaͤchtig gegen die Maſſe, ſuchen ſie an Indi¬ viduen ihr feiges Muͤthchen zu kuͤhlen.
Ach! wir muͤſſen es geſtehen, manch armes Kind der Zeit fuͤhlt darum nicht minder die Stiche, die ihm lauernde Pfaffen und Junker im Dun¬ keln beyzubringen wiſſen, und ach! wenn auch eine Glorie ſich zieht um die Wunden des Siegers, ſo bluten ſie dennoch, und ſchmerzen dennoch! Es iſt ein ſeltſames Martyrthum, das ſolche Sie¬ ger in unſeren Tagen erdulden, es iſt nicht abge¬117 than mit einem kuͤhnen Bekenntniſſe, wie in fruͤ¬ heren Zeiten, wo die Blutzeugen ein raſches Scha¬ fott fanden oder den jubelnden Holzſtoß. Das Weſen des Martyrthums, alles Irdiſche aufzu¬ opfern fuͤr den himmliſchen Spaß, iſt noch immer daſſelbe; aber es hat viel verloren von ſeiner in¬ nern Glaubensfreudigkeit, es wurde mehr ein re¬ ſignirendes Ausdauern, ein beharrliches Ueberdul¬ den, ein lebenslaͤngliches Sterben, und da geſchieht es ſogar, daß in grauen kalten Stunden auch die heiligſten Maͤrtyrer vom Zweifel beſchlichen werden. Es giebt nichts Entſetzlicheres als jene Stunden, wo ein Markus Brutus zu zweifeln begann an der Wirklichkeit der Tugend fuͤr die er alles geopfert! Und ach! jener war ein Roͤmer und lebte in der Bluͤthenzeit der Stoa; wir aber ſind modern weicheren Stoffes, und dazu ſehen wir noch das Gedeihen einer Philoſophie, die aller Begeiſterung nur eine relative Bedeutung zu¬118 ſpricht, und ſie ſomit in ſich ſelbſt vernichtet, oder ſie allenfalls zu einer ſelbſtbewußten Donquixoterie neutraliſirt!
Die kuͤhlen und klugen Philoſophen! Wie mit¬ leidig laͤcheln ſie herab auf die Selbſtquaͤlereyen und Wahnſinnigkeiten eines armen Don Quixote, und in all ihrer Schulweisheit merken ſie nicht, daß jene Donquixoterie dennoch das Preiſenswer¬ theſte des Lebens, ja das Leben ſelbſt iſt, und daß dieſe Donquixoterie die ganze Welt, mit allem was darauf philoſophirt, muſizirt, ackert und gaͤhnt, zu kuͤhnerem Schwunge befluͤgelt! Denn die große Volksmaſſe, mitſammt den Philoſophen, iſt, ohne es zu wiſſen, nichts anders als ein koloſſaler Sancho Panſa, der, trotz all ſeiner nuͤchternen Pruͤgelſcheu und hausbackner Verſtaͤndigkeit, dem wahnſinnigen Ritter in allen ſeinen gefaͤhrlichen Abentheuern folgt, gelockt von der verſprochenen Belohnung, an die er glaubt, weil er ſie wuͤnſcht, mehr aber noch getrieben von der myſtiſchen Gewalt, die der En¬119 thuſiasmus immer ausuͤbt auf den großen Haufen — wie wir es in allen politiſchen und religioͤſen Re¬ voluzionen, und vielleicht taͤglich im kleinſten Er¬ eigniſſe ſehen koͤnnen.
So, z. B. du, lieber Leſer, biſt unwillkuͤhrlich der Sancho Panſa des verruͤckten Poeten, dem du, durch die Irrfahrten dieſes Buches, zwar mit Kopfſchuͤtteln folgſt, aber dennoch folgſt.
Seltſam! „ Leben und Thaten des ſcharfſinni¬ gen Junkers Don Quixote von La Mancha, be¬ ſchrieben von Miguel de Cervantes Saavedra “war das erſte Buch, das ich geleſen habe, nachdem ich ſchon in ein verſtaͤndiges Knabenalter getreten, und des Buchſtabenweſens einigermaßen kundig war. Ich erinnere mich noch ganz genau jener kleinen Zeit, wo ich mich eines fruͤhen Morgens von Hauſe wegſtahl, und nach dem Hofgarten eilte, um dort ungeſtoͤrt den Don Quixote zu leſen. Es war ein ſchoͤner Maytag, lauſchend im ſtillen Morgenlichte lag der bluͤhende Fruͤhling, und ließ ſich loben von der Nachtigall, ſeiner ſuͤßen121 Schmeichlerinn, und dieſe ſang ihr Loblied ſo kareſſirend weich, ſo ſchmelzend enthuſiaſtiſch, daß die verſchaͤmteſten Knospen aufſprangen, und die luͤ¬ ſternen Graͤſer und die duftigen Sonnenſtralen ſich haſtiger kuͤßten, und Baͤume und Blumen ſchauer¬ ten, vor eitelem Entzuͤcken. Ich aber ſetzte mich auf eine alte moſige Steinbank in der ſogenann¬ ten Seufzerallee unfern des Waſſerfalls, und er¬ goͤtzte mein kleines Herz an den großen Aben¬ theuern des kuͤhnen Ritters. In meiner kindiſchen Ehrlichkeit nahm ich alles fuͤr baaren Ernſt; ſo laͤcherlich auch dem armen Helden von dem Ge¬ ſchicke mitgeſpielt wurde, ſo meinte ich doch, das muͤſſe ſo ſeyn, das gehoͤre nun mahl zum Helden¬ thum, das Ausgelachtwerden eben ſo gut wie die Wunden des Leibes, und jenes verdroß mich eben ſo ſehr, wie ich dieſe in meiner Seele mitfuͤhlte. Ich war ein Kind und kannte nicht die Ironie, die Gott in die Welt hineingeſchaffen, und die8 **122der große Dichter, in ſeiner gedruckten Kleinwelt nachgeahmt hatte — und ich konnte die bitterſten Thraͤnen vergießen, wenn der edle Ritter, fuͤr all ſeinen Edelmuth, nur Undank und Pruͤgel genoß; und da ich, noch ungeuͤbt im Leſen, jedes Wort laut ausſprach, ſo konnten Voͤgel und Baͤume, Bach und Blumen alles mit anhoͤren, und da ſolche unſchuldige Naturweſen, eben ſo wie die Kinder, von der Weltironie nichts wiſſen, ſo hiel¬ ten ſie gleichfalls alles fuͤr baaren Ernſt, und weinten mit uͤber die Leiden des armen Ritters, ſogar eine alte ausgediente Eiche ſchluchzte, und der Waſſerfall ſchuͤttelte heftiger ſeinen weißen Bart, und ſchien zu ſchelten auf die Schlechtig¬ keit der Welt. Wir fuͤhlten, daß der Heldenſinn des Ritters darum nicht mindere Bewundrung verdient, wenn ihm der Loͤwe ohne Kampfluſt den Ruͤcken kehrte, und daß ſeine Thaten um ſo prei¬ ſenswerther, je ſchwaͤcher und ausgedorrter ſein Leib, je morſcher die Ruͤſtung, die ihn ſchuͤtzte, und je123 armſeliger der Klepper, der ihn trug. Wir ver¬ achteten den niedrigen Poͤbel, der den armen Hel¬ den ſo pruͤgelroh behandelte, noch mehr aber den hohen Poͤbel, der, geſchmuͤckt mit buntſeidnen Maͤnteln, vornehmen Redensarten und Herzogs¬ titeln, einen Mann verhoͤhnte, der ihm an Gei¬ ſteskraft und Edelſinn ſo weit uͤberlegen war. Dulcineas Ritter ſtieg immer hoͤher in meiner Achtung, und gewann immer mehr meine Liebe je laͤnger ich in dem wunderſamen Buche las, was in demſelben Garten taͤglich geſchah, ſo daß ich ſchon im Herbſte das Ende der Geſchichte erreichte, — und nie werde ich den Tag vergeſſen, wo ich von dem kummervollen Zweykampfe las, worinn der Ritter ſo ſchmaͤhlig unterliegen mußte! Es war ein truͤber Tag, haͤßliche Nebelwolken zogen dem grauen Himmel entlang, die gelben Blaͤtter fielen ſchmerzlich von den Baͤumen, ſchwere Thraͤnentropfen hingen an den letzten Blumen, die gar traurig welk die ſterbenden Koͤpfchen ſenk¬124 ten, die Nachtigallen waren laͤngſt verſchollen, von allen Seiten ſtarrte mich an das Bild der Ver¬ gaͤnglichkeit, — und mein Herz wollte ſchier bre¬ chen, als ich las, wie der edle Ritter betaͤubt und zermalmt am Boden lag, und ohne das Viſir zu erheben, als wenn er aus dem Grabe geſprochen haͤtte, mit ſchwacher kranker Stimme zu dem Sie¬ ger hinaufſprach: „ Dulcinea iſt das ſchoͤnſte Weib der Welt und ich der ungluͤcklichſte Ritter auf Erden, aber es ziemt ſich nicht, daß meine Schwaͤche dieſe Wahrheit verlaͤugne — ſtoßt zu mit der Lanze, Ritter! “
Ach! dieſer leuchtende Ritter vom ſilbernen Monde, der den muthigſten und edelſten Mann der Welt beſiegte, war ein verkappter Barbier!
Das iſt nun lange her. Viele neue Lenze ſind unterdeſſen hervorgebluͤht, doch mangelte ihnen immer ihr maͤchtigſter Reitz, denn ach! ich glaube nicht mehr den ſuͤßen Luͤgen der Nachtigall, der Schmeichlerinn des Fruͤhlings, ich weiß wie ſchnell ſeine Herrlichkeit verwelkt, und wenn ich die juͤngſte Roſenknospe erblicke, ſehe ich ſie im Geiſte ſchmerz¬ roth aufbluͤhen, erbleichen und von den Win¬ den verweht. Ueberall ſehe ich einen verkappten Winter.
In meiner Bruſt aber bluͤht noch jene flam¬ mende Liebe, die ſich ſehnſuͤchtig uͤber die Erde[e]mporhebt, abentheuerlich herumſchwaͤrmt in den126 weiten, gaͤhnenden Raͤumen des Himmels, dort zuruͤckgeſtoßen wird von den kalten Sternen, und wieder heimſinkt zur kleinen Erde, und mit Seuf¬ zen und Jauchzen geſtehen muß, daß es doch in der ganzen Schoͤpfung nichts Schoͤneres und Beſ¬ ſeres giebt als das Herz der Menſchen. Dieſe Liebe iſt die Begeiſterung, die immer goͤttlicher Art, gleichviel ob ſie thoͤrigte oder weiſe Handlun¬ gen veruͤbt — Und ſo hat der kleine Knabe kei¬ neswegs unnuͤtz ſeine Thraͤnen verſchwendet, die er uͤber die Leiden des naͤrriſchen Ritters vergoß, eben ſo wenig wie ſpaͤterhin der Juͤngling, als er manche Nacht im Studierſtuͤbchen weinte uͤber den Tod der heiligſten Freyheitshelden, uͤber Koͤnig Agis von Sparta, uͤber Cajus und Tiberius Grac¬ chus von Rom, uͤber Jeſus von Jeruſalem, und uͤber Robespierre und Saint Juſt von Paris. Jetzt, wo ich die Toga virilis angezogen, und ſelbſt ein Mann ſeyn will, hat das Weinen ein Ende, und es gilt zu handeln wie ein Mann,127 nachahmend die großen Vorgaͤnger und wills Gott! kuͤnftig ebenfalls beweint von Knaben und Juͤng¬ lingen. Ja, dieſe ſind es, auf die man noch rechnen kann in unſerer kalten Zeit; denn dieſe werden noch entzuͤndet von dem gluͤhenden Hauche, der ihnen aus den alten Buͤchern entgegenweht, und deßhalb begreifen ſie auch die Flammenherzen der Gegenwart. Die Jugend iſt uneigennuͤtzig im Denken und Fuͤhlen, und denkt und fuͤhlt de߬ halb die Wahrheit am tiefſten, und geizt nicht wo es gilt eine kuͤhne Theilnahme an Bekenntniß und That. Die aͤlteren Leute ſind ſelbſtſuͤchtig und kleinſinnig; ſie denken mehr an die Intereſſen ihrer Capitalien als an die Intereſſen der Menſch¬ heit; ſie laſſen ihr Schifflein ruhig fortſchwimmen im Rinnſtein des Lebens, und kuͤmmern ſich wenig um den Seemann, der auf hohem Meere gegen die Wellen kaͤmpft; oder ſie erkriechen, mit klebrigter Beharrlichkeit die Hoͤhe des Buͤrgermei¬ ſterthums oder der Praͤſidentſchaft ihres Clubs,128 und zucken die Achſel uͤber die Heroenbilder, die der Sturm hinabwarf von der Saͤule des Ruhms, und dabey erzaͤhlen ſie vielleicht: daß ſie ſelbſt in ihrer Jugend ebenfalls mit dem Kopf gegen die Wand gerennt ſeyen, daß ſie ſich aber nachher mit der Wand wieder verſoͤhnt haͤtten, denn die Wand ſey das Abſolute, das Geſetzte, das an und fuͤr ſich Seyende, das weil es iſt, auch ver¬ nuͤnftig iſt, weßhalb auch derjenige unvernuͤnftig iſt, welcher einen allerhoͤchſt vernuͤnftigen, unwi¬ derſprechbar ſeyenden, feſtgeſetzten Abſolutismus nicht ertragen will. Ach! dieſe Verwerflichen, die uns in eine gelinde Knechtſchaft hineinphiloſophi¬ ren wollen, ſind immer noch achtenswerther als jene Verworfenen, die bey der Vertheidigung des Despotismus, ſich nicht einmahl auf vernuͤnftige Vernunftgruͤnde einlaſſen, ſondern ihn geſchichts¬ kundig als ein Gewohnheitsrecht verfechten, woran ſich die Menſchen im Laufe der Zeit allmaͤhlig129 gewoͤhnt haͤtten, und das alſo rechtsguͤltig und geſetzkraͤftig unumſtoͤßlich ſey.
Ach! ich will nicht wie Ham die Decke auf¬ heben von der Schaam des Vaterlandes, aber es iſt entſetzlich, wie man's bey uns verſtanden hat, die Sklaverey ſogar geſchwaͤtzig zu machen, und wie deutſche Philoſophen und Hiſtoriker ihr Ge¬ hirn abmartern, um jeden Despotismus, und ſey er noch ſo albern und toͤlpelhaft, als vernuͤnftig oder als rechtsguͤltig zu vertheidigen. Schweigen iſt die Ehre der Sklaven, ſagt Tazitus; jene Philoſo¬ phen und Hiſtoriker behaupten das Gegentheil und zeigen auf die Ehrenbaͤndchen in ihrem Knopfloch.
Vielleicht habt Ihr doch Recht, und ich bin nur ein Donquichote und das Leſen von allerley wunderbaren Buͤchern hat mir den Kopf verwirrt, eben ſo wie den Junker von La Mancha, und Jean Jaques Rouſſeau war mein Amadis von Gallien, Mirabeau war mein Roldan oder Agra¬9130manth, und ich habe mich zu ſehr hineinſtudiert in die Heldenthaten der franzoͤſiſchen Paladine und der Tafelrunde des Nazionalkonvents. Freylich, mein Wahnſinn und die fixen Ideen, die ich aus jenen Buͤchern geſchoͤpft, ſind von entgegengeſetzter Art, als der Wahnſinn und die fixen Ideen des Manchaners; dieſer wollte die untergehende Ritter¬ zeit wieder herſtellen, ich hingegen will Alles, was aus jener Zeit noch uͤbrig geblieben iſt, jetzt vollends vernichten, und da handeln wir alſo mit ganz verſchiedenen Anſichten. Mein College ſah Windmuͤhlen fuͤr Rieſen an, ich hingegen kann in unſeren heutigen Rieſen nur pralende Wind¬ muͤhlen ſehen, jener ſah lederne Weinſchlaͤuche fuͤr maͤchtige Zauberer an, ich aber ſehe in unſeren jetzigen Zauberern nur den ledernen Weinſchlauch, jener hielt Bettlerherbergen fuͤr Caſtele, Eſeltreiber fuͤr Cavaliere, Stalldirnen fuͤr Hofdamen, ich hingegen halte unſre Caſtele nur fuͤr Lumpenher¬ bergen, unſre Cavaliere nur fuͤr Eſelstreiber, unſere131 Hofdamen nur fuͤr gemeine Stalldirnen, wie jener eine Puppenkomoͤdie fuͤr eine Staatsakzion hielt, ſo halte ich unſre Staatsakzionen fuͤr leidige Pup¬ penkomoͤdien — doch eben ſo tapfer wie der tap¬ fere Manchaner ſchlage ich drein in die hoͤlzerne Wirthſchaft. Ach! ſolche Heldenthat bekoͤmmt mir oft eben ſo ſchlecht wie ihm, und ich muß, eben ſo wie er, viel erdulden fuͤr die Ehre meiner Dame. Wollte ich ſie verlaͤugnen, aus eitel Furcht oder ſchnoͤder Gewinnſucht, ſo koͤnnte ich behaglich leben in dieſer ſeyenden vernuͤnftigen Welt, und ich wuͤrde eine ſchoͤne Maritorne zum Altare fuͤhren, und mich einſegnen laſſen von feiſten Zauberern, und mit edlen Eſeltreibern banquettiren, und ge¬ fahrloſe Novellen und ſonſtige kleine Sklaͤvchen zeugen! Statt deſſen, geſchmuͤckt mit den drey Farben meiner Dame, muß ich beſtaͤndig auf der Menſur liegen, und mich durch unſaͤgliches Drang¬ ſal durchſchlagen, und ich erfechte keinen Sieg, der mich nicht auch etwas Herzblut koſtet. Tag9 *132und Nacht bin ich in Noͤthen; denn jene Feinde ſind ſo tuͤckiſch, daß manche, die ich zu Tode ge¬ troffen, ſich noch immer ein Air gaben als ob ſie lebten, und in alle Geſtalten ſich verwandelnd, mir Tag und Nacht verleiden konnten. Wie viel Schmerzen habe ich, durch ſolchen fatalen Spuk, ſchon erdulden muͤſſen! Wo mir etwas Liebes bluͤhte, da ſchlichen ſie hin, die heimtuͤckiſchen Geſpenſter, und knickten ſogar die unſchuldigſten Knospen. Ueberall, und wo ich es am wenigſten vermuthen ſollte, entdecke ich am Boden ihre ſilbrigte Schleimſpur, und nehme ich mich nicht in Acht, ſo kann ich verderblich ausgleiten, ſogar im Hauſe der naͤchſten Lieben. Ihr moͤgt laͤcheln, und ſolche Beſorgniß fuͤr eitel Einbildungen, gleich denen des Don Quixote, halten. Aber eingebil¬ dete Schmerzen thun darum nicht minder weh, und bildet man ſich ein etwas Schirling genoſſen zu haben, ſo kann man die Auszehrung bekom¬ men, auf keinen Fall wird man davon fett. Und133 daß ich fett geworden ſey, iſt eine Verlaͤumdung, wenigſtens habe ich noch keine fette Sinekur erhal¬ ten, und ich haͤtte doch die dazu gehoͤrigen Ta¬ lente. Auch iſt von dem Fett der Vetterſchaft nichts an mir zu verſpuͤren. Ich bilde mir ein, man habe alles moͤgliche angewendet um mich ma¬ ger zu halten; als mich hungerte da fuͤtterte man mich mit Schlangen, als mich duͤrſtete da traͤnkte man mich mit Wermuth, man goß mir die Hoͤlle ins Herz, daß ich Gift weinte und Feuer ſeufzte, man kroch mir nach bis in die Traͤume meiner Naͤchte — und da ſehe ich ſie die grauenhaften Larven, die noblen Lakayengeſichter mit fletſchenden Zaͤhnen, die drohenden Banquiernaſen, die toͤdt¬ lichen Augen, die aus den Kaputzen hervorſtechen, die bleichen Manſchettenhaͤnde mit blanken Meſ¬ ſern —
Auch die alte Frau, die neben mir wohnt, meine Wandnachbarin, haͤlt mich fuͤr verruͤckt, und behauptet ich ſpraͤche im Schlafe das wahnſinnigſte134 Zeug, und die vorige Nacht habe ſie deutlich ge¬ hoͤrt, daß ich rief: „ Dulcinea iſt das ſchoͤnſte Weib der Welt und ich der ungluͤcklichſte Ritter auf Erden, aber es ziemt ſich nicht, daß meine Schwaͤche dieſe Wahrheit verlaͤugne — ſtoßt zu mit der Lanze, Ritter! “
(November 1830.)
Ich weiß nicht welche ſonderbare Pietaͤt mich davon abhielt, einige Ausdruͤcke, die mir bey ſpaͤ¬ terer Durchſicht der vorſtehenden Blaͤtter etwas allzuherbe erſchienen, im mindeſten zu aͤndern. Das Manuſkript war ſchon ſo gelb verblichen, wie ein Todter, und ich hatte Scheu es zu ver¬ ſtuͤmmeln. Alles verjaͤhrt Geſchriebene hat ſolch inwohnendes Recht der Unverletzlichkeit, und gar dieſe Blaͤtter, die gewiſſermaßen einer dunkeln Vergangenheit angehoͤren. Denn ſie ſind faſt ein Jahr vor der dritten bourboniſchen Hedſchira ge¬136 ſchrieben, zu einer Zeit, die weit herber war als der herbſte Ausdruck, zu einer Zeit, wo es den Anſchein gewann, als koͤnnte der Sieg der Frey¬ heit noch um ein Jahrhundert verzoͤgert werden. Es war wenigſtens bedenklich, wenn man ſah, wie unſere Ritter ſo ſichere Geſichter bekamen, wie ſie die verblaßten Wappen wieder friſchbunt anſtreichen ließen, wie ſie mit Schild und Speer zu Muͤnchen und Potsdam turnierten, wie ſie ſo ſtolz auf ihren hohen Roſſen ſaßen, als wollten ſie nach Quedlinburg reiten, um ſich neu auflegen zu laſſen bey Gottfried Baſſen. Noch unertraͤg¬ licher waren die triumphirend tuͤckiſchen Aeugelein unſerer Pfaͤffelein, die ihre langen Ohren ſo ſchlau unter der Kaputze zu verbergen wußten, daß wir die verderblichſten Kniffe erwarteten. Man konnte gar nicht vorher wiſſen, daß die edlen Ritter ihre Pfeile ſo klaͤglich verſchießen wuͤrden, und meiſtens anonym, oder wenigſtens im Da¬ vonjagen, mit abgewendetem Geſichte, wie flie¬137 hende Baſchkiren. Eben ſo wenig konnte man vorher wiſſen, daß die Schlangenliſt unſerer Pfaͤffe¬ lein ſo zu Schanden werde — ach! es iſt faſt Mitleiden erregend, wenn man ſieht, wie ſchlecht ſie ihr beſtes Gift zu brauchen wiſſen, da ſie uns, aus Wuth, in großen Stuͤcken den Arſenik an den Kopf werfen, ſtatt ihn lothweis und liebevoll in unſere Suppen zu ſchuͤtten, wenn man ſieht, wie ſie aus der alten Kinderwaͤſche die verjaͤhrten Win¬ deln ihrer Feinde hervorkramen, um Unrath zu erſchnuͤffeln, wie ſie ſogar die Vaͤter ihrer Feinde aus dem Grabe hervorwuͤhlen, um nachzuſehen, ob ſie etwa beſchnitten waren — O der Thoren! die da meinen entdeckt zu haben, der Loͤwe gehoͤre eigentlich zum Katzengeſchlecht, und die mit dieſer naturgeſchichtlichen Entdeckung noch ſo lang her¬ umziſchen werden, bis die große Katze das ex ungue leonem an ihrem eignen Fleiſche bewaͤhrt! O der obſcuren Wichte, die nicht eher erleuchtet werden, bis ſie ſelbſt an der Laterne haͤngen! 138Mit den Gedaͤrmen eines Eſels moͤchte ich meine Leyer beſaiten, um ſie nach Wuͤrden zu beſingen, die geſchorenen Dummkoͤpfe!
Eine gewaltige Luſt ergreift mich! Waͤhrend ich ſitze, und ſchreibe, erklingt Muſik unter mei¬ nem Fenſter, und an dem elegiſchen Grimm der langezogenen Melodie, erkenne ich jene marſeiller Hymne, womit der ſchoͤne Barbaroux und ſeine Gefaͤhrten die Stadt Paris begruͤßten, jener Kuh¬ reigen der Freyheit, bey deſſen Toͤnen die Schwei¬ tzer in den Tuilerien das Heimweh bekamen, jener triumphirende Todesgeſang der Gironde, das alte, ſuͤße Wiegenlied —
Welch ein Lied! Es durchſchauert mich mit Feuer und Freude, und entzuͤndet in mir die gluͤ¬ henden Sterne der Begeiſterung und die Raketen des Spottes. Ja, dieſe ſollen nicht fehlen, bey dem großen Feuerwerk der Zeit. Klingende Flam¬ menſtroͤme des Geſanges ſollen ſich ergießen von der Hoͤhe der Freyheitsluſt, in kuͤhnen Kaskaden,139 wie ſich der Ganges herabſtuͤrzt vom Himalaya! Und du, holde Satyra, Tochter der gerechten Themis und des bocksfuͤßigen Pan, leih mir deine Huͤlfe, Du biſt ja muͤtterlicher Seite dem Tita¬ nengeſchlechte entſproſſen, und haſſeſt gleich mir die Feinde deiner Sippſchaft, die ſchwaͤchlichen Uſur¬ patoren des Olymps. Leih mir das Schwert dei¬ ner Mutter, damit ich ſie richte, die verhaßte Brut, und gieb mir die Pickelfloͤte deines Vaters, damit ich ſie zu Tode pfeife —
Schon hoͤren ſie das toͤdtliche Pfeifen, und es ergreift ſie der paniſche Schrecken, und ſie entflie¬ hen wieder, in Thiergeſtalten, wie damals, als wir den Pelion ſtuͤlpten auf den Oſſa —
Aux armes citoyens!
Man thut uns armen Titanen ſehr Unrecht, als man die duͤſtre Wildheit tadelte, womit wir, bey jenem Himmelsſturm, herauftobten — ach, da unten im Tartaros, da war es grauenhaft und dunkel, und da hoͤrten wir nur Cerberusgeheul140 und Kettengeklirr, und es iſt verzeihlich, wenn wir etwas ungeſchlacht erſchienen, in Vergleichung mit jenen Goͤttern comme il faut, die fein und geſit¬ tet, in den heiteren Salons des Olymps, ſo viel lieblichen Nektar und ſuͤße Muſenkonzerte genoſſen.
Ich kann nicht weiter ſchreiben, denn die Muſik unter meinem Fenſter berauſcht mir den Kopf, und immer gewaltiger greift herauf der Refrain:
Aux armes citoyens!
1828.
[142]Gluͤckſeliges Albion! luſtiges Alt-England! warum ver¬ ließ ich Dich? — Um die Geſellſchaft von Gentlemen zu fliehen, und unter Lumpengeſindel der Einzige zu ſeyn, der mit Bewußtſeyn lebt und handelt? Die ehrlichen Leute von W. Alexis.[143]
— — — Der gelbe Mann ſtand neben mir auf dem Verdeck, als ich die gruͤnen Ufer der Themſe erblickte, und in allen Winkeln meiner Seele die Nachtigallen erwachten. „ Land der Freyheit, “rief ich, „ ich gruͤße dich! — Sey mir gegruͤßt, Frey¬ heit, junge Sonne der verjuͤngten Welt! Jene aͤl¬ tere Sonnen, die Liebe und der Glaube, ſind welk und kalt geworden, und koͤnnen nicht mehr leuch¬ ten und waͤrmen. Verlaſſen ſind die alten Myr¬ tenwaͤlder, die einſt ſo uͤberbevoͤlkert waren, und nur noch bloͤde Turteltauben niſten in den zaͤrtlichen Buͤſchen. Es ſinken die alten Dome, die einſt von144 einem uͤbermuͤthig frommen Geſchlechte, das ſeinen Glauben in den Himmel hineinbauen wollte, ſo rieſenhoch aufgethuͤrmt wurden; ſie ſind morſch und verfallen und ihre Goͤtter glauben an ſich ſelbſt nicht mehr. Dieſe Goͤtter ſind abgelebt, und un¬ ſere Zeit hat nicht Phantaſie genug neue zu ſchaf¬ fen. Alle Kraft der Menſchenbruſt wird jetzt zu Freyheitsliebe und die Freyheit iſt vielleicht die Re¬ ligion der neuen Zeit, und es iſt wieder eine Re¬ ligion, die nicht den Reichen gepredigt wurde, ſon¬ dern den Armen, und ſie hat ebenfalls ihre Evan¬ geliſten, ihre Martyrer und ihre Iſchariots! “
„ Junger Enthuſiaſt, “ſprach der gelbe Mann, „ Sie werden nicht finden, was Sie ſuchen. Sie moͤgen Recht haben, daß die Freyheit eine neue Religion iſt, die ſich uͤber die ganze Erde verbrei¬ tet. Aber wie einſt jedes Volk, indem es das Chri¬ ſtenthum annahm, ſolches nach ſeinen Beduͤrfniſſen und ſeinem eigenen Charakter modelte, ſo wird je¬ des Volk von der neuen Religion, von der Frey¬145 heit, nur dasjenige annehmen was ſeinen Lokalbe¬ duͤrfniſſen und ſeinem Nationalcharakter gemaͤß iſt. “
„ Die Englaͤnder ſind ein haͤusliches Volk, ſie leben ein begrenztes, umfriedetes Familienleben; im Kreiſe ſeiner Angehoͤrigen ſucht der Englaͤnder jenes Seelenbehagen, das ihm ſchon durch ſeine angebo¬ rene geſellſchaftliche Unbeholfenheit außer dem Hauſe verſagt iſt. Der Englaͤnder iſt daher mit jener Freyheit zufrieden, die ſeine perſoͤnlichſten Rechte verbuͤrgt und ſeinen Leib, ſein Eigenthum, ſeine Ehe, ſeinen Glauben und ſogar ſeine Grillen un¬ bedingt ſchuͤtzt. In ſeinem Hauſe iſt niemand freier als ein Englaͤnder, um mich eines beruͤhmten Aus¬ drucks zu bedienen, er iſt Koͤnig und Biſchof in ſeinen vier Pfaͤhlen, und nicht unrichtig iſt ſein gewoͤhnlicher Wahlſpruch: my house is my castle. “
„ Iſt nun bey den Englaͤndern das meiſte Be¬ duͤrfniß nach perſoͤnlicher Freyheit, ſo moͤchte wohl der Franzoſe im Nothfall dieſe entbehren koͤnnen, wenn man ihm nur jenen Theil der allgemeinen10146Freyheit, den wir Gleichheit nennen, vollauf genie¬ ßen laſſen. Die Franzoſen ſind kein haͤusliches Volk, ſondern ein geſelliges, ſie lieben kein ſchwei¬ gendes Beyſammenſitzen, welches ſie une conversa¬ tion anglaise nennen, ſie laufen plaudernd vom Kaffeehaus nach dem Caſſino, vom Caſſino nach den Salons, ihr leichtes Champagnerblut und angebo¬ renes Umgangstalent treibt ſie zum Geſellſchaftsle¬ ben, und deſſen erſte und letzte Bedingung, ja deſ¬ ſen Seele iſt: die Gleichheit. Mit der Ausbildung der Geſellſchaftlichkeit in Frankreich mußte daher auch das Beduͤrfniß der Gleichheit entſtehen, und wenn auch der Grund der Revolution im Budget zu ſuchen iſt, ſo wurde ihr doch zuerſt Wort und Stimme verliehen, von jenen geiſtreichen Roturiers, die in den Salons von Paris mit der hohen No¬ bleſſe ſcheinbar auf einem Fuße der Gleichheit leb¬ ten, und doch dann und wann, ſey es auch nur durch ein kaum bemerkbares, aber deſto tiefer ver¬ letzendes Feudallaͤcheln, an die große, ſchmachvolle147 Ungleichheit erinnert wurden; — und wenn die Canaille roturière ſich die Freyheit nahm, jene hohe Nobleſſe zu koͤpfen, ſo geſchah dieſes vielleicht we¬ niger um ihre Guͤter als um ihre Ahnen zu erben, und ſtatt der buͤrgerlichen Ungleichheit eine adliche Gleichheit einzufuͤhren. Daß dieſes Streben nach Gleichheit das Hauptprinzip der Revolution war, duͤrfen wir um ſo mehr glauben, da die Franzoſen ſich bald gluͤcklich und zufrieden fuͤhlten unter der Herrſchaft ihres großen Kaiſers, der, ihre Unmuͤndigkeit beachtend, all ihre Freyheit unter ſeiner ſtrengen Curatel hielt, und ihnen nur die Freude einer voͤlligen, ruhmvol¬ len Gleichheit uͤberließ. “
„ Weit geduldiger als der Franzoſe ertraͤgt da¬ her der Englaͤnder den Anblick einer bevorrechteten Ariſtokratie; er troͤſtet ſich, daß er ſelbſt Rechte be¬ ſitzt, die es jener unmoͤglich machen, ihn in ſeinen haͤuslichen Comforts und in ſeinen Lebensanſpruͤ¬ chen zu ſtoͤren. Auch traͤgt jene Ariſtokratie nicht jene Rechte zur Schau, wie auf dem Continente.
10*148In den Straßen und oͤffentlichen Vergnuͤgungsſaͤlen Londons ſieht man bunte Baͤnder nur auf den Hauben der Weiber und goldne und ſilberne Ab¬ zeichen nur auf den Roͤcken der Lakaien. Auch jene ſchoͤne, bunte Livree, die bey uns einen bevorrechte¬ ten Wehrſtand ankuͤndigt, iſt in England nichts weniger als eine Ehrenauszeichnung; wie ein Schau¬ ſpieler ſich nach der Vorſtellung die Schminke ab¬ wiſcht, ſo eilt auch der engliſche Offizier, ſich ſeines rothen Rocks zu entledigen, ſobald die Dienſtſtunde voruͤber iſt, und im ſchlichten Rock eines Gentle¬ man iſt er wieder ein Gentleman. Nur auf dem Theater zu St. James gelten jene Decorationen und Koſtume, die aus dem Kehricht des Mittelal¬ ters aufbewahrt worden; da flattern die Ordens¬ baͤnder, da blinken die Sterne, da rauſchen die ſei¬ denen Hoſen und Atlasſchleppen, da knarren die goldnen Sporen und altfranzoͤſiſchen Redensarten, da blaͤht ſich der Ritter, da ſpreizt ſich das Fraͤu¬ lein. — Aber was kuͤmmert einen freyen Englaͤnder149 die Hofkomoͤdie zu St. James! wird er doch nie davon belaͤſtigt und verwehrt es ihm ja niemand, wenn er in ſeinem Hauſe ebenfalls Komoͤdie ſpielt, und ſeine Hausofficianten vor ſich knieen laͤßt, und mit dem Strumpfband der Koͤchin taͤndelt — honny soit qui mal y pense. “
„ Was die Deutſchen betrifft, ſo beduͤrfen ſie weder der Freyheit noch der Gleichheit. Sie ſind ein ſpeculatives Volk, Ideologen, Vor - und Nach¬ denker, Traͤumer, die nur in der Vergangenheit und in der Zukunft leben, und keine Gegenwart haben. Englaͤnder und Franzoſen haben eine Gegenwart, bei ihnen hat jeder Tag ſeinen Kampf und Gegen¬ kampf und ſeine Geſchichte. Der Deutſche hat nichts, wofuͤr er kaͤmpfen ſollte, und da er zu muth¬ maßen begann, daß es doch Dinge geben koͤnne, deren Beſitz wuͤnſchenswerth waͤre, ſo haben wohl, weiſe ſeine Philoſophen ihn gelehrt, an der Exiſtenz ſolcher Dinge zu zweifeln. Es laͤßt ſich nicht laͤug¬ nen, daß auch die Deutſchen die Freyheit lieben.
150Aber anders wie andere Voͤlker. Der Englaͤnder liebt die Freyheit wie ſein rechtmaͤßiges Weib, er beſitzt ſie, und wenn er ſie auch nicht mit abſon¬ derlicher Zaͤrtlichkeit behandelt, ſo weiß er ſie doch im Nothfall wie ein Mann zu vertheidigen, und wehe dem rothgeroͤckten Burſchen, der ſich in ihr heiliges Schlafgemach draͤngt — ſey es als Gallant oder als Scherge. Der Franzoſe liebt die Freyheit wie ſeine erwaͤhlte Braut. Er gluͤht fuͤr ſie, er flammt, er wirft ſich zu ihren Fuͤßen mit den uͤber¬ ſpannteſten Betheuerungen, er ſchlaͤgt ſich fuͤr ſie auf Tod und Leben, er begeht fuͤr ſie tauſenderley Thorheiten. Der Deutſche liebt die Freyheit wie ſeine alte Großmutter. “
Gar wunderlich ſind doch die Menſchen! Im Vaterlande brummen wir, jede Dummheit, jede Verkehrtheit dort verdrießt uns, wie Knaben moͤch¬ ten wir taͤglich davon laufen in die weite Welt; ſind wir endlich wirklich in die weite Welt gekom¬ men, ſo iſt uns dieſe wieder zu weit, und heimlich151 ſehnen wir uns oft wieder nach den engen Dumm¬ heiten und Verkehrtheiten der Heimath, und wir moͤchten wieder dort in der alten, wohlbekannten Stube ſitzen, und uns, wenn es anginge, ein Haus hinter den Ofen bauen, und warm drin hocken, und den allgemeinen Anzeiger der Deutſchen leſen. So ging es auch mir auf der Reiſe nach England. Kaum verlor ich den Anblick der deutſchen Kuͤſte, ſo erwachte in mir eine kurioſe Nachliebe fuͤr jene teutoniſchen Schlafmuͤtzen - und Peruͤckenwaͤlder, die ich eben noch mit Unmuth verlaſſen, und als ich das Vaterland aus den Augen verloren hatte, fand ich es im Herzen wieder.
Daher mochte wohl meine Stimme etwas weich klingen, als ich dem gelben Mann antwortete: „ Lieber Herr, ſcheltet mir nicht die Deutſchen! Wenn ſie auch Traͤumer ſind, ſo haben doch manche un¬ ter ihnen ſo ſchoͤne Traͤume getraͤumet, daß ich ſie kaum vertauſchen moͤchte gegen die wachende Wirk¬ lichkeit unſerer Nachbaren. Da wir alle ſchlafen152 und traͤumen, ſo koͤnnen wir vielleicht die Freyheit entbehren; denn unſere Tyrannen ſchlafen ebenfalls und traͤumen blos ihre Tyrannei. Nur damals ſind wir erwacht, als die katholiſchen Roͤmer unſere Traumfreyheit geraubt hatten; da handelten wir und ſiegten und legten uns wieder hin und traͤumten. O Herr! ſpottet nicht unſerer Traͤumer, dann und wann, wie Somnambuͤle ſprechen ſie Wunderbares im Schlafe, und ihr Wort wird Saat der Frey¬ heit. Keiner kann abſehen die Wendung der Dinge. Der ſpleenige Britte, ſeines Weibes uͤberdruͤſſig, legt ihr vielleicht einſt einen Strick um den Hals, und bringt ſie zum Verkauf nach Smithfield. Der flatterhafte Franzoſe wird ſeiner geliebten Braut vielleicht treulos und verlaͤßt ſie, und taͤnzelt ſin¬ gend nach den Hofdamen (courtisanes) ſeines koͤ¬ niglichen Palaſtes (palais royal). Der Deutſche wird aber ſeine alte Großmutter nie ganz vor die Thuͤre ſtoßen, er wird ihr immer ein Plaͤtzchen am Heerde goͤnnen, wo ſie den horchenden Kindern153 ihre Maͤhrchen erzaͤhlen kann. — Wenn einſt, was Gott verhuͤte, in der ganzen Welt die Freyheit ver¬ ſchwunden iſt, ſo wird ein deutſcher Traͤumer ſie in ſeinen Traͤumen wieder entdecken. “
Waͤhrend nun das Dampfboot, und auf dem¬ ſelben unſer Geſpraͤch, den Strom hinaufſchwamm, war die Sonne untergegangen, und ihre letzten Strahlen beleuchteten das Hoſpital zu Greenwich, ein impoſantes palaſtgleiches Gebaͤude, das eigent¬ lich aus zwei Fluͤgeln beſteht, deren Zwiſchenraum leer iſt, und einen mit einem artigen Schloͤßlein gekroͤnten, waldgruͤnen Berg den Vorbeifahrenden ſehen laͤßt. Auf dem Waſſer nahm jetzt das Ge¬ wuͤhl der Schiffe immer zu, und ich wunderte mich, wie geſchickt dieſe großen Fahrzeuge ſich einander ausweichen. Da gruͤßt im Begegnen manch ernſt¬ haft freundliches Geſicht, das man nie geſehen hat, und vielleicht auch nie wieder ſehen wird. Man faͤhrt ſich ſo nahe vorbei, daß man ſich die Haͤnde reichen koͤnnte zum Willkomm und Abſchied zu154 gleicher Zeit. Das Herz ſchwillt beim Anblick ſo vieler ſchwellenden Segel, und wird wunderbar auf¬ geregt, wenn vom Ufer her das verworrene Sum¬ men und die ferne Tanzmuſik und der dumpfe Ma¬ troſenlaͤrm herandroͤhnt. Aber im weißen Schleyer des Abendnebels verſchwimmen allmaͤhlig die Con¬ touren der Gegenſtaͤnde, und ſichtbar bleibt nur ein Wald von Maſtbaͤumen, die lang und kahl empor¬ ragen.
Der gelbe Mann ſtand noch immer neben mir, und ſchaute ſinnend in die Hoͤhe, als ſuche er im Nebelhimmel die bleichen Sterne. Noch immer in die Hoͤhe ſchauend, legte er die Hand auf meine Schulter, und in einem Tone, als wenn geheime Gedanken unwillkuͤrlich zu Worten werden, ſprach er: „ Freyheit und Gleichheit! man findet ſie nicht hier unten und nicht einmal dort oben. Dort jene Sterne ſind nicht gleich, einer iſt groͤßer und leuch¬ tender als der andere, keiner von ihnen wandelt frey, alle gehorchen ſie vorgeſchriebenen, eiſernen155 Geſetzen — Sclaverey iſt im Himmel wie auf Erden. “
„ Das iſt der Tower! “rief ploͤtzlich einer un¬ ſerer Reiſegefaͤhrten, indem er auf ein hohes Ge¬ baͤude zeigte, das, aus dem nebelbedeckten London, wie ein geſpenſtiſch dunkler Traum, hervorſtieg.
Ich habe das Merkwuͤrdigſte geſehen, was die Welt dem ſtaunenden Geiſte zeigen kann, ich habe es geſehen und ſtaune noch immer — noch immer ſtarrt in meinem Gedaͤchtniſſe dieſer ſteinerne Wald von Haͤuſern und dazwiſchen der draͤngende Strom lebendiger Menſchengeſichter mit all ihren bunten Leidenſchaften, mit all ihrer grauen¬ haften Haſt der Liebe, des Hungers und des Haſ¬ ſes — ich ſpreche von London.
Schickt einen Philoſophen nach London; bei Leibe keinen Poeten! Schickt einen Philoſo¬157 phen hin und ſtellt ihn an eine Ecke von Cheap¬ ſide, er wird hier mehr lernen, als aus allen Buͤ¬ chern der letzten leipziger Meſſe; und wie die Men¬ ſchenwogen ihn umrauſchen, ſo wird auch ein Meer von neuen Gedanken vor ihm aufſteigen, der ewige Geiſt, der daruͤber ſchwebt, wird ihn anwehen, die verborgenſten Geheimniſſe der geſell¬ ſchaftlichen Ordnung werden ſich ihm ploͤtzlich offen¬ baren, er wird den Pulsſchlag der Welt hoͤrbar vernehmen und ſichtbar ſehen — denn wenn Lon¬ don die rechte Hand der Welt iſt, die thaͤtige, maͤchtige rechte Hand, ſo iſt jene Straße, die von der Boͤrſe nach Downingſtreet fuͤhrt, als die Pulsader der Welt zu betrachten.
Aber ſchickt keinen Poeten nach London! Die¬ ſer baare Ernſt aller Dinge, dieſe koloſſale Ein¬ foͤrmigkeit, dieſe maſchinenhafte Bewegung, dieſe Verdrießlichkeit der Freude ſelbſt, dieſes uͤbertrie¬ bene London erdruͤckt die Phantaſie und zerreißt das Herz. Und wolltet Ihr gar einen deutſchen158 Poeten hinſchicken, einen Traͤumer, der vor jeder einzelnen Erſcheinung ſtehen bleibt, etwa vor einem zerlumpten Bettelweib oder einem blanken Gold¬ ſchmiedladen — o! dann geht es ihm erſt recht ſchlimm, und er wird von allen Seiten fortgeſcho¬ ben oder gar mit einem milden God damn! nie¬ dergeſtoßen. God damn! das verdammte Stoßen! Ich merkte bald, dieſes Volk hat Viel zu thun. Es lebt auf einem großen Fuße, es will, obgleich Futter und Kleider in ſeinem Lande theurer ſind als bei uns, dennoch beſſer gefuͤttert und beſſer gekleidet ſeyn als wir; wie zur Vornehmheit gehoͤrt, hat es auch große Schulden, dennoch aus Gro߬ pralerei wirft es zuweilen ſeine Guineen zum Fen¬ ſter hinaus, bezahlt andere Voͤlker, daß ſie ſich zu ſeinem Vergnuͤgen herumboxen, giebt dabey ihren reſpektiven Koͤnigen noch außerdem ein gutes Douceur — und deshalb hat John Bull Tag und Nacht zu arbeiten, um Geld zu ſolchen Ausgaben anzuſchaffen, Tag und Nacht muß er ſein Gehirn159 anſtrengen zur Erfindung neuer Maſchinen, und er ſitzt und rechnet im Schweiße ſeines Angeſichts, und rennt und laͤuft, ohne ſich viel umzuſehen, vom Hafen nach der Boͤrſe, von der Boͤrſe nach dem Strand, und da iſt es ſehr verzeihlich, wenn er an der Ecke von Cheapſide einen armen deut¬ ſchen Poeten, der einen Bilderladen angaffend ihm in dem Wege ſteht, etwas unſanft auf die Seite ſtoͤßt. „ God damn! “
Das Bild aber, welches ich an der Ecke von Cheapſide angaffte, war der Uebergang der Fran¬ zoſen uͤber die Bereſina.
Als ich, aus dieſer Betrachtung aufgeruͤttelt, wieder auf die toſende Straße blickte, wo ein buntſcheckiger Knaͤul von Maͤnnern, Weibern, Kindern, Pferden, Poſtkutſchen, darunter auch ein Leichenzug, ſich brauſend, ſchreiend, aͤchzend und knarrend dahinwaͤlzte: da ſchien es mir, als ſey ganz London ſo eine Bereſinabruͤcke, wo jeder in wahnſinniger Angſt, um ſein Bischen Leben160 zu friſten, ſich durchdraͤngen will, wo der kecke Reuter den armen Fußgaͤnger niederſtampft, wo derjenige, der zu Boden faͤllt, auf immer verloren iſt, wo die beſten Kameraden fuͤhllos einer uͤber die Leiche des andern dahineilen, und Tauſende, die, ſterbensmatt und blutend, ſich vergebens an den Planken der Bruͤcke feſtklammern wollten, in die kalte Eisgrube des Todes hinabſtuͤrzen.
Wie viel heiterer und wohnlicher iſt es dage¬ gen in unſerem lieben Deutſchland! Wie traum¬ haft gemach, wie ſabathlich ruhig bewegen ſich hier die Dinge! Ruhig zieht die Wache auf, im ruhigen Sonnenſchein glaͤnzen die Uniformen und Haͤuſer, an den Flieſen flattern die Schwalben, aus den Fenſtern laͤcheln dicke Juſtizraͤthinnen, auf den hallenden Straßen iſt Platz genug: die Hunde koͤnnen ſich gehoͤrig anriechen, die Men¬ ſchen koͤnnen bequem ſtehen bleiben und uͤber das Theater diskuriren und tief, tief gruͤßen, wenn irgend ein vornehmes Luͤmpchen oder Viceluͤmpchen,161 mit bunten Baͤndchen auf dem abgeſchabten Roͤck¬ chen, oder ein gepudertes, vergoldetes Hofmar¬ ſchaͤlkchen gnaͤdig wiedergruͤßend vorbeytaͤnzelt!
Ich hatte mir vorgenommen uͤber die Großar¬ tigkeit Londons, wovon ich ſo viel gehoͤrt, nicht zu erſtaunen. Aber es ging mir wie dem armen Schulknaben, der ſich vornahm, die Pruͤgel, die er empfangen ſollte, nicht zu fuͤhlen. Die Sache beſtand eigentlich in dem Umſtande, daß er die gewoͤhnlichen Hiebe mit dem gewoͤhnlichen Stocke, wie gewoͤhnlich, auf dem Ruͤcken erwartete, und ſtatt deſſen eine ungewoͤhnliche Tracht Schlaͤge, auf einem ungewoͤhnlichen Platze, mit einem duͤn¬ nen Roͤhrchen empfing. Ich erwartete große Pa¬ laͤſte und ſah nichts als lauter kleine Haͤuſer. Aber eben die Gleichfoͤrmigkeit derſelben und ihre unabſehbare Menge imponirt ſo gewaltig.
Dieſe Haͤuſer von Ziegelſteinen bekommen durch feuchte Luft und Kohlendampf gleiche Farbe, naͤm¬ lich braͤunliches Olivengruͤn; ſie ſind alle von der¬11162ſelben Bauart, gewoͤhnlich zwey oder drey Fenſter breit, drey hoch, und oben mit kleinen rothen Schornſteinen geziert, die wie blutig ausgeriſſene Zaͤhne ausſehen, dergeſtalt, daß die breiten, regel¬ rechten Straßen, die ſie bilden, nur zwey unend¬ lich lange kaſernenartige Haͤuſer zu ſeyn ſcheinen. Dieſes hat wohl ſeinen Grund in dem Umſtande, daß jede engliſche Familie, und beſtaͤnde ſie auch nur aus zwey Perſonen, dennoch ein ganzes Haus, ihr eignes Caſtell, bewohnen will, und reiche, Spekulanten, ſolchem Beduͤrfniß entgegenkommend, ganze Straßen bauen, worin ſie die Haͤuſer ein¬ zeln wieder verhoͤkern. In den Hauptſtraßen der City, demjenigen Theil Londons, wo der Sitz des Handels und der Gewerke, wo noch alterthuͤmliche Gebaͤude zwiſchen den neuen zerſtreut ſind, und wo auch die Vorderſeite der Haͤuſer mit ellenlan¬ gen Namen und Zahlen, gewoͤhnlich goldig und relief bis ans Dach bedeckt ſind: da iſt jene cha¬ rakteriſtiſche Einfoͤrmigkeit der Haͤuſer nicht ſo auf¬163 fallend, um ſo weniger, da das Auge des Frem¬ den unaufhoͤrlich beſchaͤftigt wird, durch den wun¬ derbaren Anblick neuer und ſchoͤner Gegenſtaͤnde, die an den Fenſtern der Kauflaͤden ausgeſtellt ſind. Nicht bloß dieſe Gegenſtaͤnde ſelbſt machen den groͤßten Effekt, weil der Englaͤnder Alles, was er verfertigt, auch vollendet liefert, und jeder Luxus¬ artikel, jede Aſtrallampe und jeder Stiefel, jede Theekanne und jeder Weiberrock uns ſo finished und einladend entgegenglaͤnzt: ſondern auch die Kunſt der Aufſtellung, Farbenkontraſt und Man¬ nigfaltigkeit giebt den engliſchen Kauflaͤden einen eignen Reiz; ſelbſt die alltaͤglichſten Lebensbeduͤrf¬ niſſe erſcheinen in einem uͤberraſchenden Zauber¬ glanze, gewoͤhnliche Eßwaaren locken uns durch ihre neue Beleuchtung, ſogar rohe Fiſche liegen ſo wohlgefaͤllig appretirt, daß uns der regenbogen¬ farbige Glanz ihrer Schuppen ergoͤtzt, rohes Fleiſch liegt wie gemalt auf ſaubern, bunten Porzellan¬ tellerchen mit lachender Peterſilie umkraͤnzt, ja11 *164Alles erſcheint uns wie gemalt und mahnt uns an die glaͤnzenden und doch ſo beſcheidenen Bilder des Franz Mieris. Nur die Menſchen ſind nicht ſo heiter, wie auf dieſen hollaͤndiſchen Gemaͤlden, mit den ernſthafteſten Geſichtern verkaufen ſie die luſtigſten Spielſachen, und Zuſchnitt und Farbe ihrer Kleidung iſt gleichfoͤrmig wie ihre Haͤuſer.
Auf der entgegengeſetzten Seite Londons, die man das Weſtende nennt, the west end of the town, und wo die vornehmere und minder beſchaͤf¬ tigte Welt lebt, iſt jene Einfoͤrmigkeit noch vor¬ herrſchender; doch giebt es hier ganze lange, gar breite Straßen, wo alle Haͤuſer groß wie Palaͤſte, aber aͤußerlich nichts weniger als ausgezeichnet ſind, außer daß man hier, wie an allen nicht ganz ordi¬ naͤren Wohnhaͤuſern Londons, die Fenſter der er¬ ſten Etage mit eiſengittrigen Balkonen verziert ſieht und auch au rez de chaussée ein ſchwarzes Gitterwerk findet, wodurch eine in die Erde gegra¬ bene Kellerwohnung geſchuͤtzt wird. Auch findet165 man in dieſem Theile der Stadt große Squares: Reihen von Haͤuſern gleich den obenbeſchriebenen, die ein Viereck bilden, in deſſen Mitte ein von ſchwarzem Eiſengitter verſchloſſener Garten mit irgend einer Statue befindlich iſt. Auf allen die¬ ſen Plaͤtzen und Straßen wird das Auge des Fremden nirgends beleidigt von baufaͤlligen Huͤtten des Elends. Ueberall ſtarrt Reichthum und Vor¬ nehmheit, und hineingedraͤngt in abgelegene Gaͤ߬ chen und dunkle, feuchte Gaͤnge wohnt die Armuth mit ihren Lumpen und ihren Thraͤnen.
Der fremde, der die großen Straßen Londons durchwandert und nicht juſt in die eigentlichen Poͤbelquartiere geraͤth, ſieht daher Nichts oder ſehr Wenig von dem vielen Elend, das in Lon¬ don vorhanden iſt. Nur hie und da, am Ein¬ gange eines dunklen Gaͤßchens, ſteht ſchweigend ein zerfetztes Weib, mit einem Saͤugling an der abgehaͤrmten Bruſt, und bettelt mit den Augen. Vielleicht wenn dieſe Augen noch ſchoͤn ſind, ſchaut166 man einmal hinein — und erſchrickt ob der Welt von Jammer, die man darin geſchaut hat. Die gewoͤhnlichen Bettler ſind alte Leute, meiſtens Mohren, die an den Straßenecken ſtehen, und, was im kothigen London ſehr nuͤtzlich iſt, einen Pfad fuͤr Fußgaͤnger kehren und dafuͤr eine Kupfer¬ muͤnze verlangen. Die Armuth in Geſellſchaft des Laſters und des Verbrechens ſchleicht erſt des Abends aus ihren Schlupfwinkeln. Sie ſcheut das Tageslicht um ſo aͤngſtlicher, je grauenhafter ihr Elend kontraſtirt mit dem Uebermuthe des Reich¬ thums, der uͤberall hervorprunkt; nur der Hunger treibt ſie manchmal um Mittagszeit aus dem dun¬ keln Gaͤßchen, und da ſteht ſie mit ſtummen, ſpre¬ chenden Augen und ſtarrt flehend empor zu dem rei¬ chen Kaufmann, der geſchaͤftig-geldklimpernd vor¬ uͤbereilt, oder zu dem muͤßigen Lord, der, wie ein ſatter Gott, auf hohem Roß einherreitet und auf das Menſchengewuͤhl unter ihm dann und wann einen gleichguͤltig vornehmen Blick wirft,167 als waͤren es winzige Ameiſen, oder doch nur ein Haufen niedriger Geſchoͤpfe, deren Luſt und Schmerz mit ſeinen Gefuͤhlen Nichts gemein hat — denn uͤber dem Menſchengeſindel, das am Erdboden feſtklebt, ſchwebt Englands Nobility, wie Weſen hoͤherer Art, die das kleine England nur als ihr Abſteigequartier, Italien als ihren Sommergarten, Paris als ihren Geſellſchaftsſaal, ja die ganze Welt als ihr Eigenthum betrachten. Ohne Sorgen und ohne Schranken ſchweben ſie dahin, und ihr Gold iſt ein Talisman, der ihre tollſten Wuͤnſche in Erfuͤllung zaubert.
Arme Armuth! wie peinigend muß dein Hun¬ ger ſeyn, dort wo Andere im hoͤhnenden Ueber¬ fluſſe ſchwelgen! Und hat man dir auch mit gleichguͤltiger Hand eine Brodkruſte in den Schoß geworfen, wie bitter muͤſſen die Thraͤnen ſeyn, womit du ſie erweichſt! Du vergifteſt dich mit deinen eig¬ nen Thraͤnen. Wohl haſt du Recht, wenn du dich zu dem Laſter und dem Verbrechen geſellſt. Aus¬168 geſtoßene Verbrecher tragen oft mehr Menſchlich¬ keit im Herzen, als jene kuͤhlen, untadelhaften Staatsbuͤrger der Tugend, in deren bleichen Her¬ zen die Kraft des Boͤſen erloſchen iſt, aber auch die Kraft des Guten. Und gar das Laſter iſt nicht immer Laſter. Ich habe Weiber geſehen, auf deren Wangen das rothe Laſter gemahlt war und in ihrem Herzen wohnte himmliſche Reinheit. Ich habe Weiber geſehen — ich wollt 'ich ſaͤhe ſie wieder! —
Unter den Bogengaͤngen der Londoner Boͤrſe hat jede Nation ihren angewieſenen Platz, und auf hochgeſteckten Taͤfelchen lieſt man die Namen: Ruſſen, Spanier, Schweden, Deutſche, Malteſer, Juden, Hanſeaten, Tuͤrken u. ſ. w. Vormals ſtand jeder Kaufmann unter dem Taͤfelchen, wor¬ auf der Name ſeiner Nation geſchrieben. Jetzt aber wuͤrde man ihn vergebens dort ſuchen; die Menſchen ſind fortgeruͤckt, wo einſt Spanier ſtan¬ den, ſtehen jetzt Hollaͤnder, die Hanſeaten traten an die Stelle der Juden, wo man Tuͤrken ſucht,11 **170findet man jetzt Ruſſen, die Italiener ſtehen, wo einſt die Franzoſen geſtanden, ſogar die Deutſchen ſind weiter gekommen.
Wie auf der Londoner Boͤrſe, ſo auch in der uͤbrigen Welt ſind die alten Taͤfelchen ſtehen ge¬ blieben, waͤhrend die Menſchen darunter wegge¬ ſchoben worden und andere an ihrer Stelle gekom¬ men ſind, deren neue Koͤpfe ſehr ſchlecht paſſen zu der alten Aufſchrift. Die alten ſtereotypen Charakteriſtiken der Voͤlker, wie wir ſolche in ge¬ lehrten Kompendien und Bierſchenken finden, koͤn¬ nen uns nichts mehr nutzen und nur zu troſtloſen Irrthuͤmern verleiten. Wie wir unter unſern Au¬ gen in den letzten Jahrzehnten den Charakter unſe¬ rer weſtlichen Nachbaren ſich allmaͤhlich umgeſtalten ſahen, ſo koͤnnen wir, ſeit Aufhebung der Kon¬ tinentalſperre, eine aͤhnliche Umwandlung jenſeits des Kanales wahrnehmen. Steife, ſchweigſame Englaͤnder wallfahren ſchaarweis nach Frankreich,171 um dort ſprechen und ſich bewegen zu lernen, und bey ihrer Ruͤckkehr ſieht man mit Erſtaunen, daß Ihnen die Zunge geloͤſt iſt, daß ſie nicht mehr wie ſonſt zwey linke Haͤnde haben, und nicht mehr mit Beefſteak und Plumppudding zufrieden ſind. Ich ſelbſt habe einen ſolchen Englaͤnder geſehen, der in Taviſtock-Tavern etwas Zucker zu ſeinem Blumenkohl verlangt hat, eine Ketzerey gegen die ſtrenge anglikaniſche Kuͤche, woruͤber der Kellner faſt ruͤcklings fiel, indem gewiß ſeit der roͤmiſchen Invaſion der Blumenkohl in England nie anders als in Waſſer abgekocht und ohne ſuͤße Zuthat verzehrt worden. Es war derſelbe Englaͤnder, der, obgleich ich ihn vorher nie geſehen, ſich zu mir ſetzte und einen ſo zuvorkommend franzoͤſiſchen Discours anfing, daß ich nicht umhin konnte, ihm zu geſtehen, wie ſehr es mich freue, einmal einen Englaͤnder zu finden, der nicht gegen den Fremden zuruͤckhaltend ſey, worauf er, ohne Laͤ¬172 cheln, eben ſo freymuͤthig entgegnete, daß er mit mir ſpraͤche, um ſich in der franzoͤſiſchen Sprache zu uͤben.
Es iſt auffallend, wie die Franzoſen taͤglich nachdenklicher, tiefer und ernſter werden, in eben dem Maaße, wie die Englaͤnder dahin ſtreben, ſich ein legeres, oberflaͤchliches und heiteres We¬ ſen anzueignen; wie im Leben ſelbſt, ſo auch in der Literatur. Die Londoner Preſſen ſind vollauf beſchaͤftigt mit faſhionablen Schriften, mit Roma¬ nen, die ſich in der glaͤnzenden Sphaͤre des High Life bewegen oder daſſelbe abſpiegeln, wie z. B. Almalks, Vivian Grey, Tremaine, the Guards, Flirtation, welcher letztere Roman die beſte Bezeich¬ nung waͤre fuͤr die ganze Gattung, fuͤr jene Ko¬ ketterie mit auslaͤndiſchen Manieren und Redens¬ arten, jene plumpe Feinheit, ſchwerfaͤllige Leichtig¬ keit, ſaure Suͤßeley, gezierte Rohheit, kurz fuͤr das ganze unerquickliche Treiben jener hoͤlzernen173 Schmetterlinge, die in den Saͤlen Weſt-Londons herumflattern.
Dagegen welche Literatur bietet uns jetzt die franzoͤſiſche Preſſe, jene aͤchte Repraͤſentantin des Geiſtes und Willens der Franzoſen! Wie ihr großer Kaiſer die Muße ſeiner Gefangenſchaft dazu anwandte, ſein Leben zu diktiren, uns die geheimſten Rathſchluͤſſe ſeiner goͤttlichen Seele zu offenbaren, und den Felſen von St. Helena in einen Lehrſtuhl der Geſchichte zu verwandeln, von deſſen Hoͤhe die Zeitgenoſſen gerichtet und die ſpaͤ¬ teſten Enkel belehrt werden: ſo haben auch die Franzoſen ſelbſt angefangen, die Tage ihres Mi߬ geſchicks, die Zeit ihrer politiſchen Unthaͤtigkeit ſo ruͤhmlich als moͤglich zu benutzen; auch ſie ſchrei¬ ben die Geſchichte ihrer Thaten; jene Haͤnde, die ſo lange das Schwerdt gefuͤhrt, werden wieder ein Schrecken ihrer Feinde, indem ſie zur Feder greifen, die ganze Nation iſt gleichſam beſchaͤftigt174 mit der Herausgabe ihrer Memoiren, und folgt ſie meinem Rathe, ſo veranſtaltet ſie noch eine ganz beſondere Ausgabe ad usum Delphini, mit huͤbſch colorirten Abbildungen von der Einnahme der Baſtille, dem Tuilerienſturm u. drgl. m.
Habe ich aber oben angedeutet, wie heut zu Tage die Englaͤnder leicht und frivol zu werden ſuchen, und in jene Affenhaut hineinkriechen, die jetzt die Franzoſen von ſich abſtreifen, ſo muß ich nachtraͤglich bemerken, daß ein ſolches Streben mehr aus der Nobility und Gentry, der vorneh¬ men Welt, als aus dem Buͤrgerſtande hervorgeht. Im Gegentheil, der gewerbtreibende Theil der Na¬ tion, beſonders die Kaufleute in den Fabrikſtaͤdten und faſt alle Schotten, tragen das aͤußere Gepraͤge des Pietismus, ja ich moͤchte ſagen Puritanis¬ mus, ſo daß dieſer gottſelige Theil des Volkes mit den weltlichgeſinnten Vornehmen auf dieſelbe Weiſe kontraſtirt wie die Kavaliere und Stutz¬ koͤpfe, die Walter Scott in ſeinen Romanen ſo175 wahrhaft ſchildert. Man erzeigt dem ſchottiſchen Barden zu viele Ehre, wenn man glaubt, ſein Genius habe die aͤußere Erſcheinung und innere Denkweiſe dieſer beiden Partheyen der Geſchichte nachgeſchaffen, und es ſey ein Zeichen ſeiner Dich¬ tergroͤße, daß er, vorurtheilsfrei wie ein richtender Gott, beyden ihr Recht anthut und beyde mit gleicher Liebe behandelt. Wirft man nur einen Blick in die Betſtuben von Liverpool oder Man¬ cheſter, und dann in die faſhionablen Saloons von Weſt-London, ſo ſieht man deutlich, daß Walter Scott blos ſeine eigene Zeit abgeſchrieben und ganz heutige Geſtalten in alte Trachten ge¬ kleidet hat. Bedenkt man gar, daß er von der einen Seite ſelbſt als Schotte, durch Erziehung und Nationalgeiſt, eine puritaniſche Denkweiſe eingeſogen hat, auf der andern Seite, als Tory, der ſich gar ein Sproͤßling der Stuarts duͤnkt, von ganzer Seele recht koͤniglich und adelthuͤmlich geſinnt ſeyn muß, und daher ſeine Gefuͤhle und176 Gedanken beyde Richtungen mit gleicher Liebe umfaſſen, und zugleich durch deren Gegenſatz neu¬ traliſirt werden: ſo erklaͤrt ſich ſehr leicht ſeine Unpartheilichkeit bey der Schilderung der Ariſto¬ kraten und Demokraten aus Cromwell's Zeit, eine Unpartheylichkeit, die uns zu dem Irrthume ver¬ leitete, als duͤrften wir in ſeiner Geſchichte Napo¬ leons eine eben ſo treue fair play-Schilderung der franzoͤſiſchen Revolutionshelden von ihm er¬ warten.
Wer England aufmerkſam betrachtet, findet jetzt taͤglich Gelegenheit, jene beiden Tendenzen, die frivole und puritaniſche, in ihrer widerwaͤrtig¬ ſten Bluͤthe, und, wie ſich von ſelbſt verſteht, in ihrem Zweykampf zu beobachten. Eine ſolche Ge¬ legenheit gab ganz beſonders der famoͤſe Proceß des Herrn Wakefield, eines luſtigen Kavaliers, der gleichſam aus dem Stegreif die Tochter des rei¬ chen Herrn Tourner, eines Liverpooler Kaufmanns, entfuͤhrt, und zu Gretna Green, wo ein Schmied177 wohnt, der die ſtaͤrkſten Feſſeln ſchmiedet, gehei¬ rathet hatte. Die ganze kopfhaͤngeriſche Sipp¬ ſchaft, das ganze Volk der Auserleſenen Gottes, ſchrie Zeter uͤber ſolche Verruchtheit, in den Bet¬ ſtuben Liverpools erflehte man die Strafe des Him¬ mels uͤber Wakefield und ſeinen bruͤderlichen Hel¬ fer, die der Abgrund der Erde verſchlingen ſollte wie die Rotte des Korah, Dathan und Abiram, und um der heiligen Rache noch ſicherer zu ſeyn, wurde zu gleicher Zeit in den Gerichtsſaͤlen Lon¬ dons der Zorn der Kings-Bench, des Großkanz¬ lers und ſelbſt des Oberhauſes auf die Entweiher des heiligſten Sakramentes herabplaidirt — waͤhrend man in den faſhionablen Saloons uͤber den kuͤhnen Maͤdchenraͤuber gar tolerant zu ſcherzen und zu lachen wußte. Am ergoͤtzlichſten zeigte ſich mir dieſer Kontraſt beyder Denkweiſen, als ich einſt in der großen Oper neben zwey dicken Mancheſternen Damen ſaß, die dieſen Verſammlungsort der vor¬12178nehmen Welt zum Erſtenmahle in ihrem Leben beſuchten, und den Abſcheu ihres Herzens nicht ſtark genug kund geben konnten, als das Ballet begann, und die hochgeſchuͤrzten ſchoͤnen Taͤnzerin¬ nen ihre uͤppiggrazioͤſen Bewegungen zeigten, ihre lieben, langen, laſterhaften Beine ausſtreckten, und ploͤtzlich bachantiſch den entgegenhuͤpfenden Taͤnzern in die Arme ſtuͤrzten; die warme Muſik, die Urkleider von fleiſchfarbigem Tricot, die Natu¬ ralſpruͤnge, Alles vereinigte ſich, den armen Da¬ men Angſtſchweiß auszupreſſen, ihre Buſen erroͤ¬ theten vor Unwillen, shocking! for shame, for shame! aͤchzten ſie beſtaͤndig, und ſie waren ſo ſehr von Schrecken gelaͤhmt, daß ſie nicht einmal das Perſpektiv vom Auge fortnehmen konnten, und bis zum letzten Augenblicke, bis der Vorhang fiel, in dieſer Situation ſitzen blieben.
Trotz dieſen entgegengeſetzten Geiſtes - und Lebensrichtungen, findet man doch wieder im eng¬ liſchen Volke eine Einheit der Geſinnung, die179 eben darin beſteht, daß es ſich als ein Volk fuͤhlt; die neueren Stutzkoͤpfe und Kavaliere moͤgen ſich immerhin wechſelſeitig haſſen und verachten, den¬ noch hoͤren ſie nicht auf, Englaͤnder zu ſeyn; als ſolche ſind ſie einig und zuſammen gehoͤrig, wie Pflanzen, die aus demſelben Boden hervor¬ gebluͤht und mit dieſem Boden wunderbar verwebt ſind. Daher die geheime Uebereinſtimmung des ganzen Lebens und Webens in England, das uns beim erſten Anblick nur ein Schauplatz der Ver¬ wirrung und Widerſpruͤche duͤnken will. Ueber¬ reichthum und Miſere, Orthodoxie und Unglauben, Freiheit und Knechtſchaft, Grauſamkeit und Milde, Ehrlichkeit und Gaunerey, dieſe Gegenſaͤtze in ihren tollſten Extremen, daruͤber der graue Nebel¬ himmel, von allen Seiten ſummende Maſchinen, Zahlen, Gaslichter, Schornſteine, Zeitungen, Porterkruͤge, geſchloſſene Maͤuler, alles dieſes haͤngt ſo zuſammen, daß wir uns keins ohne das andere denken koͤnnen, und was vereinzelt unſer12 *180Erſtaunen oder Lachen erregen wuͤrde, erſcheint uns als ganz gewoͤhnlich und ernſthaft in ſeiner Vereinigung.
Ich glaube aber, ſo wird es uns uͤberall ge¬ hen, ſogar in ſolchen Laͤndern, wovon wir noch ſeltſamere Begriffe hegen, und wo wir noch rei¬ chere Ausbeute des Lachens und Staunens erwar¬ ten. Unſere Reiſeluſt, unſere Begierde fremde Laͤnder zu ſehen, beſonders wie wir ſolche im Knabenalter empfinden, entſteht uͤberhaupt durch jene irrige Erwartung außerordentlicher Kontraſte, durch jene geiſtige Maskeradeluſt, wo wir Men¬ ſchen und Denkweiſe unſerer Heimath in jene fremde Laͤnder hineindenken, und ſolchermaßen un¬ ſere beſten Bekannten in die fremden Koſtuͤme und Sitten vermummen. Denken wir z. B. an die Hottentotten, ſo ſind es die Damen unſerer Va¬ terſtadt, die ſchwarz angeſtrichen und mit gehoͤriger Hinterfuͤlle in unſerer Vorſtellung umhertanzen, waͤhrend unſere jungen Schoͤngeiſter als Buſch¬181 klepper auf die Palmbaͤume hinaufklettern; denken wir an die Bewohner der Nordpollaͤnder, ſo ſehen wir dort ebenfalls die wohlbekannten Geſichter, unſere Muhme faͤhrt in ihrem Hundeſchlitten uͤber die Eisbahn, der duͤrre Herr Konrektor liegt auf der Baͤrenhaut und ſaͤuft ruhig ſeinen Morgen¬ thran, die Frau Acciſe-Einnehmerinn, die Frau Inſpektorinn und die Frau Infibulationsraͤthinn hocken beiſammen und kauen Talglichter u. ſ. w. Sind wir aber in jene Laͤnder wirklich gekommen, ſo ſehen wir bald, daß dort die Menſchen mit Sitten und Koſtuͤm gleichſam verwachſen ſind, daß die Geſichter zu den Gedanken und die Kleider zu den Beduͤrfniſſen paſſen, ja daß Pflanzen, Thiere, Menſchen und Land ein zuſammenſtim¬ mendes Ganze bilden.
Armer Walter Scott! Waͤreſt du reich ge¬ weſen, du haͤtteſt jenes Buch nicht geſchrieben, und waͤreſt kein armer Walter Scott geworden! Aber die Curatores der Conſtable'ſchen Maſſe ka¬ men zuſammen, und rechneten und rechneten, und nach langem Subtrahiren und Dividiren ſchuͤttel¬ ten ſie die Koͤpfe — und dem armen Walter Scott blieb nichts uͤbrig als Lorbeeren und Schul¬ den. Da geſchah das Außerordentliche: der Saͤn¬183 ger großer Thaten wollte ſich auch einmahl im Heroismus verſuchen, er entſchloß ſich zu einer Cessio bonorum, der Lorbeer des großen Unbe¬ kannten wurde taxirt, um große bekannte Schul¬ den zu decken — und ſo entſtand, in hungriger Geſchwindigkeit, in bankrotter Begeiſterung, das Leben Napoleons, ein Buch, das von den Beduͤrf¬ niſſen des neugierigen Publicums im Allgemeinen, und des engliſchen Miniſteriums insbeſondere, gut bezahlt werden ſollte.
Lobt ihn, den braven Buͤrger! lobt ihn, ihr ſaͤmmtlichen Philiſter des ganzen Erdballs! lob ihn, du liebe Kraͤmertugend, die Alles aufopfert, um die Wechſel am Verfalltage einzuloͤſen — nur Mir muthet nicht zu, daß auch ich ihn lobe.
Seltſam! der todte Kaiſer iſt im Grabe noch das Verderben der Britten, und durch ihn hat jetzt Britanniens groͤßter Dichter ſeinen Lorbeer verloren!
Es war Britanniens groͤßter Dichter, man184 mag ſagen und einwenden, was man will. Zwar die Kritiker ſeiner Romane maͤkelten an ſeiner Groͤße und warfen ihm vor: er dehne ſich zu ſehr ins Breite, er gehe zu ſehr ins Detail, er ſchaffe ſeine großen Geſtal¬ ten nur durch Zuſammenſetzung einer Menge von klei¬ nen Zuͤgen, er beduͤrfe unzaͤhlig vieler Umſtaͤndlich¬ keiten, um die ſtarken Effecte hervorzubringen — Aber die Wahrheit zu ſagen, er glich hierinn einem Millionaͤr, der ſein ganzes Vermoͤgen in lauter Scheidemuͤnze liegen hat, und immer drei bis vier Wagen mit Saͤcken voll Groſchen und Pfenningen herbeifahren muß, wenn er eine große Summe zu bezahlen hat, und der dennoch, ſobald man ſich uͤber ſolche Unart und das muͤhſame Schleppen und Zaͤhlen beklagen will, ganz richtig entgegnen kann: gleichviel wie, ſo gaͤbe er doch immer die verlangte Summe, er gaͤbe ſie doch, und er ſey im Grunde eben ſo zahlfaͤhig, und auch wohl eben ſo reich wie etwa ein Anderer, der nur blanke Goldbarren liegen hat, ja er habe185 ſogar den Vortheil des erleichterten Verkehrs, in¬ dem jener ſich auf dem großen Gemuͤſemarkte, mit ſeinen großen Goldbarren, die dort keinen Curs haben, nicht zu helfen weiß, waͤhrend jedes Kram¬ weib mit beiden Haͤnden zugreift, wenn ihr gute Groſchen und Pfenninge geboten werden. Mit dieſem populaͤren Reichthume des brittiſchen Dich¬ ters hat es jetzt ein Ende, und er, deſſen Muͤnze ſo courant war, daß die Herzoginn und die Schnei¬ dersfrau ſie mit gleichem Intereſſe annahmen, er iſt jetzt ein armer Walter Scott geworden. Sein Schickſal mahnt an die Sage von den Berg - Elfen, die neckiſch wohlthaͤtig, den armen Leuten Geld ſchenken, das huͤbſch blank und gedeihlich bleibt, ſo lange ſie es gut anwenden, das ſich aber unter ihren Haͤnden in eitel Staub verwan¬ delt, ſobald ſie es zu nichtswuͤrdigen Zwecken mi߬ brauchen. Sack nach Sack oͤffnen wir Walter Scotts neue Zufuhr, und ſiehe da! ſtatt der bli¬ tzenden, lachenden Groͤſchlein finden wir nichts186 als Staub und wieder Staub. Ihn beſtraften die Berg-Elfen des Parnaſſus, die Muſen, die, wie alle edelſinnigen Weiber, leidenſchaftliche Napoleoniſtinnen ſind, und daher doppelt empoͤrt waren uͤber den Mißbrauch der verliehenen Gei¬ ſtesſchaͤtze.
Werth und Tendenz des Scottſchen Werks ſind in allen Zeitſchriften Europa's beleuchtet wor¬ den. Nicht blos die erbitterten Franzoſen, ſondern auch die beſtuͤrzten Landsleute des Verfaſſers haben das Verdammungsurtheil ausgeſprochen. In dieſen allgemeinen Weltunwillen mußten auch die Deut¬ ſchen einſtimmen; mit ſchwerverhaltenem Feuer¬ eifer ſprach das Stuttgarter Literaturblatt, mit kalter Ruhe aͤußerten ſich die Berliner Jahrbuͤcher fuͤr wiſſenſchaftliche Kritik, und der Recenſent, der jene kalte Ruhe um ſo wohlfeiler erſchwang, je weniger theuer ihm der Held des Buches ſeyn muß, charakteriſirt daſſelbe mit den trefflichen Worten:187 „ In dieſer Erzaͤhlung iſt weder Gehalt noch Farbe, weder Anordnung noch Lebendigkeit zu finden. Verworren in oberflaͤchlicher, nicht in tiefer Verwirrung, ohne Hervortreten des Eigen¬ thuͤmlichen, unſicher und wandelbar, zieht der gewaltige Stoff traͤge voruͤber; kein Vorgang er¬ ſcheint in ſeiner beſtimmten Eigenheit, nirgends werden die ſpringenden Punkte ſichtbar, kein Er¬ eigniß wird deutlich, keines tritt in ſeiner Noth¬ wendigkeit hervor, die Verbindung iſt nur aͤußer¬ lich, Gehalte und Bedeutung kaum geahnet. In ſolcher Darſtellung muß alles Licht der Geſchichte erloͤſchen, und ſie ſelbſt wird zum, nicht wunder¬ baren, ſondern gemeinen Maͤhrchen. Die Ueber¬ legungen und Betrachtungen, welche ſich oͤfters dem Vortrag einſchieben, ſind von einer entſpre¬ chenden Art. Solch duͤnnlicher philoſophiſcher Bereitung iſt unſre Leſewelt laͤngſt entwachſen. Der duͤrftige Zuſchnitt einer am Einzelnen haften¬ den Moral reicht nirgend aus. — — “188Dergleichen und noch ſchlimmere Dinge, die der ſcharfſinnige Berliner Recenſent, Varnhagen von Enſe, ausſpricht, wuͤrde ich dem Walter Scott gern verzeihen. Wir ſind alle Men¬ ſchen, und der beſte von uns kann einmal ein ſchlechtes Buch ſchreiben. Man ſagt alsdann, es ſey unter aller Kritik, und die Sache iſt abge¬ macht. Verwunderlich bleibt es zwar, daß wir in dieſem neuen Werke nicht einmal Scotts ſchoͤ¬ nen Styl wiederfinden. In die farbloſe, wochen¬ taͤgliche Rede werden vergebens hie und da etliche rothe, blaue und gruͤne Worte eingeſtreut, verge¬ bens ſollen glaͤnzende Laͤppchen aus den Poeten die proſaiſche Bloͤße bedecken, vergebens wird die ganze Arche Noaͤ gepluͤndert, um beſtialiſche Ver¬ gleichungen zu liefern, vergebens wird ſogar das Wort Gottes citirt, um die dummen Gedanken zu uͤberſchilden. Noch verwunderlicher iſt es, daß es dem Walter Scott nicht einmal gelang, ſein angeborenes Talent der Geſtaltenzeichnung auszu¬189 uͤben, und den aͤußern Napoleon aufzufaſſen. Wal¬ ter Scott lernte nichts aus jenen ſchoͤnen Bildern, die den Kaiſer in der Umgebung ſeiner Generale und Staatsleute darſtellen, waͤhrend doch jeder, der ſie unbefangen betrachtet, tief betroffen wird von der tragiſchen Ruhe und antiken Gemeſſenheit jener Geſichtszuͤge, die gegen die modern aufgereg¬ ten, pittoresken Tagsgeſichter ſo ſchauerlich erhaben contraſtiren, und etwas herabgeſtiegen Goͤttliches beurkunden. Konnte aber der ſchottiſche Dichter nicht die Geſtalt, ſo konnte er noch viel weniger den Charakter des Kaiſers begreifen, und gern verzeih ich ihm auch die Laͤſterung eines Gottes, den er nicht kennt. Ich muß ihm ebenfalls ver¬ zeihen, daß er ſeinen Wellington fuͤr einen Gott haͤlt, und bei der Apotheoſe deſſelben ſo ſehr in Andacht geraͤth, daß er, der doch ſo ſtark in Vieh¬ bildern iſt, nicht weiß, womit er ihn vergleichen ſoll.
Bin ich aber tolerant gegen Walter Scott, und verzeihe ich ihm die Gehaltloſigkeit, Irrthuͤ¬190 mer, Laͤſterungen und Dummheiten ſeines Buches, verzeih ich ihm ſogar die lange Weile, die es mir verurſacht — ſo darf ich ihm doch nimmer¬ mehr die Tendenz deſſelben verzeihen. Dieſe iſt nichts Geringeres als die Exculpation des engli¬ ſchen Miniſteriums in Betreff des Verbrechens von St. Helena. „ In dieſem Gerichtshandel zwiſchen dem engliſchen Miniſterium und der oͤffentlichen Meinung, “wie der Berliner Rec. ſich ausdruͤckt, „ macht Walter Scott den Sachwalter, “er verbin¬ det Advocatenkniffe mit ſeinem poetiſchen Talente, um den Thatbeſtand und die Geſchichte zu verdre¬ hen, und ſeine Clienten, die zugleich ſeine Patrone ſind, duͤrften ihm wohl, außer ſeinen Sporteln, noch extra ein Douceur in die Hand druͤcken.
Die Englaͤnder haben den Kaiſer blos ermor¬ det, aber Walter Scott hat ihn verkauft. Es iſt ein rechtes Schottenſtuͤck, ein aͤcht ſchottiſches Na¬ tionalſtuͤckchen, und man ſieht, daß ſchottiſcher Geiz noch immer der alte, ſchmutzige Geiſt iſt, und ſich191 nicht ſonderlich veraͤndert hat ſeit den Tagen von Naſeby, wo die Schotten ihren eigenen Koͤnig, der ſich ihrem Schutze anvertraut, fuͤr die Summe von 400,000 Pf. St. an ſeine engliſchen Henker verkauft haben. Jener Koͤnig iſt derſelbe Karl Stuart, den jetzt Caledonias Barden ſo herrlich beſingen, — der Englaͤnder mordet, aber der Schotte verkauft und beſingt.
Das engliſche Miniſterium hat ſeinem Advoka¬ ten zu obigem Behufe das Archiv des foreign of¬ fice geoͤffnet, und dieſer hat, im neunten Bande ſeines Werks, die Actenſtuͤcke, die ein guͤnſtiges Licht auf ſeine Parthey und einen nachtheiligen Schatten auf deren Gegner werfen konnten, ge¬ wiſſenhaft benutzt. Deshalb gewinnt dieſer neunte Band, bey all ſeiner aͤſthetiſchen Werthloſigkeit, worinn er den vorgehenden Baͤnden nichts nachgibt, dennoch ein gewiſſes Intereſſe: man erwartet be¬ deutende Actenſtuͤcke, und da man deren keine fin¬ det, ſo iſt das ein Beweis, daß deren keine vor¬192 handen waren, die zu Gunſten der engliſchen Mi¬ niſter ſprechen — und dieſer negative Inhalt des Buches iſt ein wichtiges Reſultat.
Alle Ausbeute, die das engliſche Archiv liefert, beſchraͤnkt ſich auf einige glaubwuͤrdige Communi¬ cationen des edeln Sir Hudſon Lowe und deſſen Myrmidionen und einige Ausſagen des General Gourgaud, der, wenn ſolche wirklich von ihm ge¬ macht worden, als ein ſchamloſer Verraͤther ſeines kai¬ ſerlichen Herrn und Wohlthaͤters ebenfalls Glauben verdient. Ich will das Factum dieſer Ausſagen nicht unterſuchen, es ſcheint ſogar wahr zu ſeyn, da es der Baron Stuͤrmer, einer von den drei Statiſten der großen Tragoͤdie, conſtatirt hat; aber ich ſehe nicht ein, was im guͤnſtigſten Falle dadurch bewieſen wird, außer daß Sir Hudſon Lowe nicht der ein¬ zige Lump auf St. Helena war. Mit Huͤlfsmit¬ teln ſolcher Art und erbaͤrmlichen Suggeſtionen behandelt Walter Scott die Gefangenſchaftsgeſchichte Napoleons, und bemuͤht ſich, uns zu uͤberzeugen:193 daß der Exkaiſer — ſo nennt ihn der Exdichter — nichts Kluͤgeres thun konnte, als ſich den Eng¬ laͤndern zu uͤbergeben, obgleich er ſeine Abfuͤhrung nach St. Helena voraus wiſſen mußte, daß er dort ganz ſcharmant behandelt worden, indem er vollauf zu eſſen und zu trinken hatte, und daß er endlich, friſch und geſund, und als ein guter Chriſt, an einem Magenkrebſe, geſtorben.
Walter Scott, indem er ſolchermaßen den Kaiſer vorausſehen laͤßt, wie weit ſich die Gene¬ roſitaͤt der Englaͤnder erſtrecken wuͤrde, naͤmlich bis St. Helena, befreyt ihn von dem gewoͤhnlichen Vorwurf: die tragiſche Erhabenheit ſeines Ungluͤcks habe ihn ſelbſt ſo gewaltig begeiſtert, daß er civi¬ liſirte Englaͤnder fuͤr perſiſche Barbaren und die Beefſteakkuͤche von St. James fuͤr den Heerd eines großen Koͤnigs anſah — und eine heroiſche Dummheit beging. Auch macht Walter Scott den Kaiſer zu dem groͤßten Dichter, der jemals auf dieſer Welt gelebt hat, indem er uns ganz13194ernſthaft inſinuirt, daß alle jene denkwuͤrdigen Schriften, die ſeine Leiden auf St. Helena berich¬ ten, ſaͤmmtlich von ihm ſelbſt dictirt worden.
Ich kann nicht umhin, hier die Bemerkung zu machen, daß dieſer Theil des Walter Scott'¬ ſchen Buches, ſo wie uͤberhaupt die Schriften ſelbſt, wovon er hier ſpricht, abſonderlich die Me¬ moiren von O'Meara, auch die Erzaͤhlung des Capitain Maitland, mich zuweilen an die poſſen¬ hafteſte Geſchichte von der Welt erinnert, ſo daß der ſchmerzlichſte Unmuth meiner Seele ploͤtzlich in muntre Lachluſt uͤbergehen will. Dieſe Ge¬ ſchichte iſt aber keine andere als „ die Schickſale des Lemuel Guilliver, “ein Buch, woruͤber ich einſt als Knabe ſo viel gelacht, und worin gar ergoͤtzlich zu leſen iſt: wie die kleinen Lilliputaner nicht wiſſen, was ſie mit dem großen Gefangenen anfangen ſollen, wie ſie tauſendweiſe an ihm her¬ umklettern und ihn mit unzaͤhligen duͤnnen Haͤr¬ chen feſt binden, wie ſie mit großen Anſtalten ihm195 ein eigenes großes Haus errichten, wie ſie uͤber die Menge Lebensmittel klagen, die ſie ihm taͤglich verabreichen muͤſſen, wie ſie ihn im Staatsrath anſchwaͤrzen und beſtaͤndig jammern, daß er dem Lande zu viel koſte, wie ſie ihn gern umbringen moͤchten, ihn aber noch im Tode fuͤrchten, da ſein Leichnam eine Peſt hervorbringen koͤnne, wie ſie ſich endlich zur glorreichſten Großmuth entſchließen und ihm ſeinen Titel laſſen, und nur ſeine Augen ausſtechen wollen u. ſ. w. Wahrlich, uͤberall iſt Lilliput, wo ein großer Menſch unter kleine Men¬ ſchen geraͤth, die unermuͤdlich und auf die klein¬ lichſte Weiſe ihn abquaͤlen, und die wieder durch ihn genug Qual und Noth ausſtehen; aber haͤtte der Dechant Swift in unſerer Zeit ſein Buch geſchrieben, ſo wuͤrde man in deſſen ſcharfgeſchlif¬ fenem Spiegel nur die Gefangenſchaftsgeſchichte des Kaiſers erblicken, und bis auf die Farbe des Rocks und des Geſichts die Zwerge erkennen, die ihn gequaͤlt haben.
13 *196Nur der Schluß des Maͤhrchens von St. Helena iſt anders, der Kaiſer ſtirbt an einem Magenkrebs, und Walter Scott verſichert uns, das ſey die alleinige Urſache ſeines Todes. Darin will ich ihm auch nicht widerſprechen. Die Sache iſt nicht unmoͤglich. Es iſt moͤglich, daß ein Mann, der auf der Folterbank geſpannt liegt, ploͤtzlich ganz natuͤrlich an einem Schlagfluß ſtirbt. Aber die boͤſe Welt wird ſagen: die Folterknechte haben ihn hingerichtet. Die boͤſe Welt hat ſich nun einmal vorgenommen, die Sache ganz anders zu betrachten, wie der gute Walter Scott. Wenn dieſer gute Mann, der ſonſt ſo bibelfeſt iſt, und gern das Evangelium citirt, in jenem Aufruhr der Elemente, in jenem Orcane, der beym Tode Na¬ poleons ausbrach, nichts anders ſieht als ein Er¬ eigniß, daß auch beym Tode Cromwells ſtatt fand: ſo hat doch die Welt daruͤber ihre eigenen Gedan¬ ken. Sie betrachtet den Tod Napoleons als die entſetzlichſte Unthat, losbrechendes Schmerzgefuͤhl197 wird Anbetung, vergebens macht Walter Scott den Advocatum Diaboli, die Heiligſprechung des todten Kaiſers ſtroͤmt aus allen edeln Herzen, alle edeln Herzen des europaͤiſchen Vaterlandes verach¬ ten ſeine kleinen Henker und den großen Barden, der ſich zu ihrem Complizen geſungen, die Muſen werden beſſere Saͤnger zur Feyer ihres Lieblings begeiſtern, und wenn einſt Menſchen verſtummen ſo ſprechen die Steine, und der Martyrfelſen St. Helena ragt ſchauerlich aus den Meereswellen, und erzaͤhlt den Jahrtauſenden ſeine ungeheure Ge¬ ſchichte.
Schon der Name Old Bailey erfuͤllt die Seele mit Grauen. Man denkt ſich gleich ein großes, ſchwarzes, mißmuͤthiges Gebaͤude, einen Palaſt des Elends und des Verbrechens. Der linke Fluͤgel, der das eigentliche Newgate bildet, dient als Criminalgefaͤngniß, und da ſieht man nur eine hohe Wand von wetterſchwarzen Qua¬ dern, worin zwei Niſchen mit eben ſo ſchwarzen allegoriſchen Figuren, und, wenn ich nicht irre, ſtellt eine von ihnen die Gerechtigkeit vor, indem,199 wie gewoͤhnlich, die Hand mit der Wage abge¬ brochen iſt, und Nichts als ein blindes Weibsbild mit einem Schwerte uͤbrig blieb. Ungefaͤhr gegen die Mitte des Gebaͤudes iſt der Altar dieſer Goͤt¬ tin, naͤmlich das Fenſter, wo das Galgengeruͤſt zu ſtehen kommt, und endlich rechts befindet ſich der Criminalgerichtshof, worin die vierteljaͤhrlichen Seſſionen gehalten werden. Hier iſt ein Thor, das gleich den Pforten der Danteſchen Hoͤlle die Inſchrift tragen ſollte:
Durch dieſes Thor gelangt man auf einen klei¬ nen Hof, wo der Abſchaum des Poͤbels verſam¬ melt iſt, um die Verbrecher durchpaſſiren zu ſehen; auch ſtehen hier Freunde und Feinde derſelben, Verwandte, Bettelkinder, Bloͤdſinnige, beſonders alte Weiber, die den Rechtsfall des Tages abhan¬ deln, und vielleicht mit mehr Einſicht als Richter200 und Jury, trotz all' ihrer kurzweiligen Feierlichkeit und langweiligen Jurisprudenz. Hab 'ich doch draußen vor der Gerichtsthuͤre eine alte Frau geſehen, die im Kreiſe ihrer Gevatterinnen den armen ſchwarzen William beſſer vertheidigte, als drinnen im Saale deſſen grundgelehrter Advocat — wie ſie die letzte Thraͤne mit der zerlumpten Schuͤrze aus den rothen Augen wegwiſchte, ſchien auch Williams ganze Schuld vertilgt zu ſeyn.
Im Gerichtsſaale ſelbſt, der nicht beſonders groß, iſt unten, vor der ſogenannten Bar (Schran¬ ken) wenig Platz fuͤr das Publikum; dafuͤr giebt es aber oben, an beyden Seiten, ſehr geraͤumige Gallerien mit erhoͤheten Baͤnken, wo die Zuſchauer, Kopf uͤber Kopf, geſtapelt ſtehen.
Als ich Old Bailey beſuchte, fand auch ich Platz auf einer ſolchen Gallerie, die mir von einer alten Pfoͤrtnerin gegen Gratification eines Schil¬ lings erſchloſſen wurde. Ich kam in dem Augen¬ blick, wo die Jury ſich erhob, um zu urtheilen:201 ob der ſchwarze William des angeklagten Verbre¬ chens ſchuldig oder nicht ſchuldig ſey.
Auch hier, wie in den andern Gerichtshoͤfen Londons, ſitzen die Richter in blauſchwarzer Toga, die hellviolett gefuͤttert iſt, und ihr Haupt bedeckt die weißgepuderte Perucke, womit oft die ſchwar¬ zen Augenbraunen und ſchwarzen Backenbaͤrte gar drollig contraſtiren. Sie ſitzen an einem langen gruͤnen Tiſche, auf erhabenen Stuͤhlen, am ober¬ ſten Ende des Saales, wo an der Wand mit goldenen Buchſtaben eine Bibelſtelle, die vor un¬ gerechtem Richterſpruch warnt, eingegraben ſteht. An beyden Seiten ſind Baͤnke fuͤr die Maͤnner der Jury, und Plaͤtze zum Stehen fuͤr Klaͤger und Zeugen. Den Richtern gerade gegenuͤber iſt der Platz der Angeklagten; dieſe ſitzen nicht auf einem Armeſuͤnderbaͤnkchen, wie bey den oͤffentli¬ chen Gerichten in Frankreich und Rheinland, ſon¬ dern aufrecht ſtehen ſie hinter einem wunderlichen Brette, das oben wie ein ſchmalgebogenes Thor202 ausgeſchnitten iſt. Es ſoll dabey ein kuͤnſtlicher Spiegel angebracht ſeyn, wodurch der Richter im Stande iſt, jede Miene der Angeklagten deutlich zu beobachten. Auch liegen einige gruͤne Kraͤuter vor letzteren, um ihre Nerven zu ſtaͤrken, und das mag zuweilen noͤthig ſeyn, wo man angeklagt ſteht auf Leib und Leben. Auch auf dem Tiſche der Richter ſah ich dergleichen gruͤne Kraͤuter und ſogar eine Roſe liegen. Ich weiß nicht wie es kommt, der Anblick dieſer Roſe hat mich tief bewegt. Die rothe bluͤhende Roſe, die Blume der Liebe und des Fruͤhlings, lag auf dem ſchreck¬ lichen Richtertiſche von Old Bailey! Es war im Saale ſo ſchwuͤl und dumpfig. Es ſchaute Alles ſo unheimlich muͤrriſch, ſo wahnſinnig ernſt. Die Menſchen ſahen aus als kroͤchen ihnen graue Spinnen uͤber die bloͤden Geſichter. Hoͤrbar klirr¬ ten die eiſernen Wagſchalen uͤber dem Haupte des armen ſchwarzen Williams.
Auch auf der Gallerie bildete ſich eine Jury. 203Eine dicke Dame, aus deren rothaufgedunſenem Geſicht die kleinen Aeuglein wie Gluͤhwuͤrmchen hervorglimmten, machte die Bemerkung, daß der ſchwarze William ein ſehr huͤbſcher Burſche ſey. Indeſſen ihre Nachbarin, eine zarte, piepſende Seele in einem Koͤrper von ſchlechtem Poſtpapier, behauptete: Er truͤge das ſchwarze Haar zu lang und zottig, und blitze mit den Augen wie Herr Kean im Othello — „ dagegen, “fuhr ſie fort, „ iſt doch der Thomſon ein ganz anderer Menſch, mit hellem Haar und glatt gekaͤmmt nach der Mode, und er iſt ein ſehr geſchickter Menſch, er blaͤſ't ein Bischen die Floͤte, er malt ein Bischen, er ſpricht ein Bischen Franzoͤſiſch “— „ Und ſtiehlt ein Bischen “fuͤgte die dicke Dame hinzu. „ Ei was ſtehlen, “verſetzte die duͤnne Nachbarin, „ das iſt doch nicht ſo barbariſch wie Faͤlſchung; denn ein Dieb, es ſey denn er habe ein Schaf geſtohlen, wird nach Botany Bay transportirt, waͤhrend der Boͤſewicht, der eine Handſchrift verfaͤlſcht hat,204 ohne Gnad und Barmherzigkeit gehenkt wird. “ „ Ohne Gnad und Barmherzigkeit! “ſeufzte neben mir ein magerer Mann in einem verwirrten ſchwar¬ zen Rock, „ Haͤngen! kein Menſch hat das Recht einen andern umbringen zu laſſen, am allerwenig¬ ſten ſollten Chriſten ein Todesurtheil faͤllen, da ſie doch daran denken ſollten, daß der Stifter ihrer Religion, unſer Herr und Heiland, unſchuldig verurtheilt und hingerichtet worden! “ „ Ei was, “rief wieder die duͤnne Dame, und laͤchelte mit ihren duͤnnen Lippen, „ wenn ſo ein Faͤlſcher nicht gehenkt wuͤrde, waͤre ja kein reicher Mann ſeines Vermoͤgens ſicher, z. B. der dicke Jude in Lom¬ bard Street, Saint Swinthins Lane, oder unſer Freund Herr Scott, deſſen Handſchrift ſo taͤu¬ ſchend nachgemacht worden. Und Herr Scott hat doch ſein Vermoͤgen ſo ſauer erworben, und man ſagt ſogar, er ſey dadurch reich geworden, daß er fuͤr Geld die Krankheiten Anderer auf ſich nahm, ja die Kinder laufen ihm jetzt noch auf der Straße205 nach, und rufen: ich gebe Dir ein Sixpens, wenn Du mir mein Zahnweh abnimmſt, wir geben Dir einen Schilling, wenn Du Gottfriedchens Buckel nehmen willſt “— „ Kurios! “fiel ihr die dicke Dame in die Rede, „ es iſt doch kurios, daß der ſchwarze William und der Thomſon fruͤherhin die beſten Spießgeſellen geweſen ſind, und zuſam¬ men gewohnt und gegeſſen und getrunken haben, und jetzt Edward Thomſon ſeinen alten Freund der Faͤlſchung anklagt! Warum iſt aber die Schwe¬ ſter von Thomſon nicht hier, da ſie doch ſonſt ihrem ſuͤßen William uͤberall nachgelaufen? “ Ein junges ſchoͤnes Frauenzimmer, uͤber deſſen holdem Geſichte eine dunkle Betruͤbniß verbreitet lag, wie ein ſchwarzer Flor uͤber einem bluͤhenden Roſen¬ ſtrauch, fluͤſterte jetzt eine ganz lange, verweinte Geſchichte, wovon ich nur ſo viel verſtand, daß ihre Freundinn, die ſchoͤne Mary, von ihrem Bru¬ der gar bitterlich geſchlagen worden und todtkrank zu Bette liege. „ Nennt ſie doch nicht die ſchoͤne206 Mary!” brummte verdrießlich die dicke Dame, „ viel zu mager, ſie iſt viel zu mager, als daß man ſie ſchoͤn nennen koͤnnte, und wenn gar ihr William gehenkt wird —”
In dieſem Augenblick erſchienen die Maͤnner der Jury, und erklaͤrten: Daß der Angeklagte der Faͤlſchung ſchuldig ſey. Als man hierauf den ſchwarzen William aus dem Saale fortfuͤhrte, warf er einen langen, langen Blick auf Edward Thomſon.
Nach einer Sage des Morgenlandes war Sa¬ tan einſt ein Engel, und lebte im Himmel mit den andern Engeln, bis er dieſe zum Abfall ver¬ leiten wollte, und deßhalb von der Gottheit hin¬ untergeſtoßen wurde in die ewige Nacht der Hoͤlle. Waͤhrend er aber vom Himmel hinabſank, ſchaute er immer noch in die Hoͤhe, immer nach dem Engel, der ihn angeklagt hatte; je tiefer er ſank, deſto entſetzlicher und immer entſetzlicher wurde ſein Blick — Und es muß ein ſchlimmer Blick207 geweſen ſeyn; denn jener Engel, den er traf ‚ wurde bleich, niemals trat wieder Roͤthe in ſeine Wangen, und er heißt ſeitdem der Engel des Todes.
Bleich wie der Engel des Todes wurde Edward Thomſon.
In Bedlam habe ich vorigen Sommer einen Philoſophen kennen gelernt, der mir, mit heim¬ lichen Augen und fluͤſternder Stimme, viele wich¬ tige Aufſchluͤſſe uͤber den Urſprung des Uebels gegeben hat. Wie mancher andere ſeiner Collegen meinte auch er, daß man hierbey etwas Hiſtori¬ ſches annehmen muͤſſe. Was mich betrifft, ich neigte mich ebenfalls zu einer ſolchen Annahme, und erklaͤrte das Grunduͤbel der Welt aus dem Umſtand: daß der liebe Gott zu wenig Geld erſchaffen habe.
209„ Du haſt gut reden, “antwortete der Philo¬ ſoph, „ der liebe Gott war ſehr knapp bey Caſſa, als er die Welt erſchuf. Er mußte das Geld dazu vom Teufel borgen, und ihm die ganze Schoͤpfung als Hypothek verſchreiben. Da ihm nun der liebe Gott von Gott und Rechtswegen die Welt noch ſchuldig iſt, ſo darf er ihm auch aus Delicateſſe nicht verwehren, ſich darin herum zu treiben und Verwirrung und Unheil zu ſtiften. Der Teufel aber iſt ſeinerſeits wieder ſehr ſtark dabey intereſſirt, daß die Welt nicht ganz zu Grunde und folglich ſeine Hypothek verloren gehe; er huͤtet ſich daher es allzu toll zu machen, und der liebe Gott, der auch nicht dumm iſt, und wohl weiß, daß er im Eigennutz des Teufels ſeine geheime Garantie hat, geht oft ſo weit, daß er ihm die ganze Herrſchaft der Welt anvertraut, d. h. dem Teufel den Auf¬ trag giebt, ein Miniſterium zu bilden. Dann geſchieht, was ſich von ſelbſt verſteht, Samiel erhaͤlt das Commando der hoͤlliſchen Heerſchaaren,14210Belzebub wird Kanzler, Vizliputzli wird Staats¬ ſekretair, die alte Großmutter bekommt die Kolo¬ nien u. ſ. w. Dieſe Verbuͤndeten wirthſchaften dann in ihrer Weiſe, und indem ſie, trotz des boͤſen Willens ihrer Herzen, aus Eigennutz gezwun¬ gen ſind, das Heil der Welt zu befoͤrdern, ent¬ ſchaͤdigen ſie ſich fuͤr dieſen Zwang dadurch, daß ſie zu den guten Zwecken immer die niedertraͤch¬ tigſten Mittel anwenden. Sie trieben es juͤngſt¬ hin ſo arg, daß Gott im Himmel ſolche Greuel nicht laͤnger anſehen konnte, und einem guten Engel den Auftrag gab ein neues Miniſterium zu bilden. Dieſer ſammelte nun um ſich her alle guten Geiſter. Freudige Waͤrme durchdrang wie¬ der die Welt, es wurde Licht, und die boͤſen Geiſter entwichen. Aber ſie legten doch nicht ru¬ hig die Klauen in den Schoos; heimlich wirken ſie gegen alles Gute, ſie vergiften die neuen Heil¬ quellen, ſie zerknicken haͤmiſch jede Roſenknoſpe des neuen Fruͤhlings, mit ihren Amendements zer¬211 ſtoͤren ſie den Baum des Lebens, chaotiſches Ver¬ derben droht, Alles zu verſchlingen, und der liebe Gott wird am Ende wieder dem Teufel die Herr¬ ſchaft der Welt uͤbergeben muͤſſen, damit ſie, ſey es auch durch die ſchlechteſten Mittel, wenigſtens erhalten werde. Siehſt du, das iſt die ſchlimme Nachwirkung einer Schuld. “
Dieſe Mittheilung meines Freundes in Bedlam erklaͤrte vielleicht den jetzigen engliſchen Miniſter¬ wechſel. Erliegen muͤſſen die Freunde Cannings, die ich die guten Geiſter Englands nenne, weil ihre Gegner deſſen Teufel ſind; dieſe, den dum¬ men Teufel Wellington an ihrer Spitze, erheben jetzt ihr Siegesgeſchrei. Schelte mir keiner den armen Georg, er mußte den Umſtaͤnden nachgeben. Man kann nicht laͤugnen, daß nach Cannings Tode die Whigs nicht im Stande waren, die Ruhe in England zu erhalten, da die Maßregeln, die ſie deshalb zu ergreifen hatten, beſtaͤndig von den Tories vereitelt wurden. Der Koͤnig, dem14 *212die Erhaltung der oͤffentlichen Ruhe, d. h. die Sicherheit ſeiner Krone, als das Wichtigſte er¬ ſcheint, mußte daher den Tories ſelbſt wieder die Verwaltung des Staates uͤberlaſſen. — Und, O! ſie werden jetzt wieder, nach wie vor, alle Fruͤchte des Volksfleißes in ihren eigenen Saͤckel hineinver¬ walten, ſie werden als regierende Kornjuden die Preiſe ihres Getreides in die Hoͤhe treiben, John Bull wird vor Hunger mager werden, er wird endlich fuͤr einen Biſſen Brod ſich leibeigen ſelbſt den hohen Herren verkaufen, ſie werden ihn vor den Pflug ſpannen und peitſchen, er wird nicht einmal brummen duͤrfen, denn auf der einen Seite droht ihm der Herzog von Wellington mit dem Schwerte, und auf der andern Seite ſchlaͤgt ihn der Erzbiſchof von Canterbury mit der Bibel auf den Kopf — und es wird Ruhe im Lande ſeyn.
Die Quelle jener Uebel iſt die Schuld, the213 national debt, oder wie Cobbet ſagt, the kings debt. Cobbet bemerkt naͤmlich mit Recht: waͤh¬ rend man allen Inſtituten den Namen des Koͤnigs voranſetzt, z. B. the kings army, the kings navy, the kings courts, the kings prisons etc., wird doch die Schuld, die eigentlich aus jenen Inſtituten hervorging, niemals the kings debt genannt, und ſie iſt das Einzige, wobey man der Nation die Ehre erzeigt, etwas nach ihr zu benennen.
Der Uebel groͤßtes iſt die Schuld. Sie be¬ wirkt zwar, daß der engliſche Staat ſich erhaͤlt, und daß ſogar deſſen aͤrgſte Teufel ihn nicht zu Grunde richten; aber ſie bewirkt auch, daß ganz England eine große Tretmuͤhle geworden, wo das Volk Tag und Nacht arbeiten muß, um ſeine Glaͤubiger zu fuͤttern, daß England vor lauter Zahlungsſorgen alt und grau und aller heiteren Jugendgefuͤhle entwoͤhnt wird, daß England, wie214 bey ſtarkverſchuldeten Menſchen zu geſchehen pflegt, zur ſtumpfſten Reſignation niedergedruͤckt iſt, und ſich nicht zu helfen weiß — obgleich 900,000 Flinten und eben ſo viel Saͤbel und Bajonette im Tower zu London aufbewahrt liegen.
Als ich noch ſehr jung war, gab es drey Dinge, die mich ganz vorzuͤglich intereſſirten, wenn ich Zeitungen las. Zuvoͤrderſt, unter dem Artikel „ Großbritannien, “ſuchte ich gleich: ob Richard Martin keine neue Bittſchrift, fuͤr die mildere Behandlung der armen Pferde, Hunde und Eſel dem Parlamente uͤbergeben. Dann, unter dem Artikel „ Frankfurt, “ſuchte ich nach, ob der Herr Doctor Schreiber nicht wieder beym Bundestag fuͤr die großherzoglich heſſiſchen Domaͤ¬216 nenkaͤufer eingekommen. Hierauf aber fiel ich gleich uͤber die Tuͤrkey her, und durchlas das lange Con¬ ſtantinopel, um nur zu ſehen, ob nicht wieder ein Großvezier mit der ſeidenen Schnur beehrt worden.
Dieſes letztere gab mir immer den meiſten Stoff zum Nachdenken. Daß ein Despot ſeinen Diener ohne Umſtaͤnde erdroſſeln laͤßt, fand ich ganz natuͤrlich. Sah ich doch einſt in der Me¬ nagerie, wie der Koͤnig der Thiere ſo ſehr in maje¬ ſtaͤtiſchen Zorn gerieth, daß er gewiß manchen unſchuldigen Zuſchauer zerriſſen haͤtte, waͤre er nicht in einer ſichern Conſtitution, die aus eiſernen Stangen verfertigt war, eingeſperrt geweſen. Aber was mich Wunder nahm, war immer der Um¬ ſtand, daß nach der Erdroſſelung des alten Herrn Großveziers ſich immer wieder Jemand fand, der Luſt hatte, Großvezier zu werden.
Jetzt, wo ich etwas aͤlter geworden bin, und mich mehr mit den Englaͤndern als mit ihren217 Freunden, den Tuͤrken, beſchaͤftige, ergreift mich ein analoges Erſtaunen, wenn ich ſehe, wie nach dem Abgang eines engliſchen Premier-Miniſters gleich ein anderer ſich an deſſen Stelle draͤngt, und dieſer Andere immer ein Mann iſt, der auch ohne dieſes Amt zu leben haͤtte, und auch (Wel¬ lington ausgenommen) nichts weniger als ein Dummkopf iſt. Schrecklicher als durch die ſeidene Schnur endigen ja alle engliſchen Miniſter, die laͤnger als ein Semeſter dieſes ſchwere Amt ver¬ waltet. Beſonders iſt dieſes der Fall ſeit der fran¬ zoͤſiſchen Revolution; Sorg und Noth haben ſich vermehrt in Downingſtreet, und die Laſt der Ge¬ ſchaͤfte iſt kaum zu ertragen.
Einſt waren die Verhaͤltniſſe in der Welt weit einfacher, und die ſinnigen Dichter verglichen den Staat mit einem Schiffe und den Miniſter mit deſſen Steuermann. Jetzt aber iſt Alles compli¬ cirter und verwickelter, das gewoͤhnliche Staats¬ ſchiff iſt ein Dampfboot geworden, und der Mini¬14 **218ſter hat nicht mehr ein einfaches Ruder zu regie¬ ren, ſondern als verantwortlicher Enginer ſteht er unten zwiſchen dem ungeheuern Maſchinenwerk, unterſucht aͤngſtlich jedes Eiſenſtiftchen, jedes Raͤd¬ chen, wodurch etwa eine Stockung entſtehen koͤnnte, ſchaut Tag und Nacht in die lodernde Feuer-Eſſe, und ſchwitzt vor Hitze und Sorge — ſintemalen durch das geringſte Verſehen von ſeiner Seite der große Keſſel zerſpringen, und bey dieſer Gelegen¬ heit Schiff und Mannſchaft zu Grunde gehen koͤnnte. Der Capitaͤn und die Paſſagiere ergehen ſich unterdeſſen ruhig auf dem Verdecke, ruhig flattert die Flagge auf dem Seitenmaſt, und wer das Boot ſo ruhig dahin ſchwimmen ſieht, ahnet nicht, welche gefaͤhrliche Maſchinerie und welche Sorge und Noth in ſeinem Bauche verborgen iſt.
Fruͤhzeitigen Todes ſinken ſie dahin, die armen verantwortlichen Enginers des engliſchen Staats¬ ſchiffes. Ruͤhrend iſt der fruͤhe Tod des großen Pitt, ruͤhrender der Tod des groͤßeren Fox. Per¬219 cival waͤre an der gewoͤhnlichen Miniſterkrankheit geſtorben, wenn nicht ein Dolchſtoß ihn ſchneller abgefertigt haͤtte. Dieſe Miniſterkrankheit war es ebenfalls, was den Lord Caſtlereagh ſo zur Ver¬ zweiflung brachte, daß er ſich die Kehle abſchnitt zu North-Cray in der Grafſchaft Kent. Lord Liverpool ſank auf gleiche Weiſe in den Tod des Bloͤdſinns. Canning, den goͤttergleichen Canning, ſahen wir vergiftet von hochtorieſchen Verlaͤumdun¬ gen, gleich einem kranken Atlas, unter ſeiner Weltbuͤrde niederſinken. Einer nach dem An¬ dern werden ſie eingeſcharrt in Weſtminſter, die armen Miniſter, die fuͤr Englands Koͤnige Tag und Nacht denken muͤſſen, waͤhrend dieſe, gedan¬ kenlos und wohlbeleibt, dahinleben bis ins hoͤchſte Menſchenalter.
Wie heißt aber die große Sorge, die Eng¬ lands Miniſtern Tag und Nacht im Gehirne wuͤhlt und ſie toͤdtet? Sie heißt: the debt, die Schuld.
Schulden, eben ſo wie Vaterlandsliebe, Reli¬220 gion, Ehre u. ſ. w. gehoͤren zwar zu den Vorzuͤ¬ gen des Menſchen — denn die Thiere haben keine Schulden — aber ſie ſind auch eine ganz vorzuͤg¬ liche Qual der Menſchheit, und wie ſie den Ein¬ zelnen zu Grunde richten, ſo bringen ſie auch ganze Geſchlechter ins Verderben, und ſie ſcheinen das alte Fatum zu erſetzen in den Nationaltragoͤ¬ dien unſerer Zeit. England kann dieſem Fatum nicht entgehen, ſeine Miniſter ſehen die Schreck¬ niſſe herannahen, und ſterben mit der Verzweif¬ lung der Ohnmacht.
Waͤre ich koͤniglich preußiſcher Oberlandescalcu¬ lator oder Mitglied des Geniecorps, ſo wuͤrde ich, in gewohnter Weiſe, die ganze Summe der eng¬ liſchen Schuld in Silbergroſchen berechnen, und genau angeben, wie vielmal man damit die große Friedrichſtraße oder gar den ganzen Erdball bede¬ cken koͤnnte. Aber das Rechnen war nie meine Force, und ich moͤchte lieber einem Englaͤnder das fatale Geſchaͤft uͤberlaſſen, ſeine Schulden aufzuzaͤh¬221 len, und die daraus entſtehende Miniſternoth her¬ auszurechnen. Dazu taugt Niemand beſſer als der alte Cobbet, und aus der letzten Nummer ſeines Regiſters liefre ich folgende Eroͤrterungen.
„ Der Zuſtand der Dinge iſt folgender:
1) Dieſe Regierung, oder vielmehr dieſe Ari¬ ſtokratie und Kirche, oder auch, wie ihr wollt, dieſe Regierung borgte eine große Summe Gel¬ des, wofuͤr ſie viele Siege, ſowohl Land - als Seeſiege, gekauft hat — eine Menge Siege, von jeder Sorte und Groͤße.
2) Indeſſen muß ich zuvor bemerken, aus wel¬ cher Veranlaſſung und zu welchem Zwecke man dieſe Siege gekauft hat: die Veranlaſſung (occasion) war die franzoͤſiſche Revolution, die alle ariſto¬ kratiſchen Vorrechte und geiſtlichen Zehn¬ ten niedergeriſſen hatte; und der Zweck war die Verhuͤtung einer Parlamentsreform in England, die wahrſcheinlich ein aͤhnliches Niederreißen aller222 ariſtokratiſchen Vorrechte und geiſtlichen Zehnten zur Folge gehabt haͤtte.
3) Um nun zu verhuͤten, daß das Beyſpiel der Franzoſen nicht von den Englaͤndern nachgeahmt wuͤrde, war es noͤthig die Franzoſen anzugreifen, ſie in ihren Fortſchritten zu hemmen, ihre neuer¬ langte Freyheit zu gefaͤhrden, ſie zu verzweifelten Handlungen treiben, und endlich die Revolution zu einem ſolchen Schreckbilde, zu einer ſolchen Voͤlker¬ ſcheuche zu machen, daß man ſich unter dem Namen der Freyheit nichts als ein Aggregat von Schlechtig¬ keit, Greuel und Blut vorſtellen, und das engli¬ ſche Volk, in der Begeiſterung ſeines Schreckens, dahin gebracht wuͤrde, ſich ſogar ordentlich zu ver¬ lieben in jene greuelhaft-despotiſche Regierung, die einſt in Frankreich bluͤhte, und die jeder Englaͤnder von jeher verabſcheute, ſeit den Tagen Alfreds des Großen bis herab auf Georg den Dritten.
4) Um jene Vorſaͤtze auszufuͤhren, bedurfte man der Mithuͤlfe, verſchiedener fremder Natio¬223 nen; dieſe Nationen wurden daher mit engliſchem Gelde unterſtuͤtzt (subsidized); franzoͤſiſche Emi¬ granten wurden mit engliſchem Gelde unterhalten; kurz, man fuͤhrte einen zwey und zwanzigjaͤhrigen Krieg, um jenes Volk niederzudruͤcken, das ſich gegen ariſtokratiſche Vorrechte und geiſt¬ liche Zehnten erhoben hatte.
5) Unſere Regierung alſo erhielt „ unzaͤhlige Siege “uͤber die Franzoſen, die, wie es ſcheint, immer geſchlagen worden; aber dieſe unſere un¬ zaͤhligen Siege waren gekauft, d.h. ſie wurden erfochten von Miethlingen, die wir fuͤr Geld dazu gedungen hatten, und wir hatten in unſerem Solde zu einer und derſelben Zeit ganze Schaaren von Franzoſen, Hollaͤndern, Schweizern, Italie¬ nern, Ruſſen, Oeſterreichern, Bayern, Heſſen, Hannoveranern, Preußen, Spaniern, Portugieſen, Neapolitanern, Malteſern, und Gott weiß! wie viele Nationen noch außerdem.
6) Durch ſolches Miethen fremder Dienſte224 und durch Benutzung unſerer eigenen Flotte und Landmacht kauften wir ſo viele Siege uͤber die Franzoſen, welche arme Teufel kein Geld hatten, um ebenfalls dergleichen einzuhandeln, ſo daß wir endlich ihre Revolution uͤberwaͤltigten, die Ariſto¬ kratie bey ihnen bis zu einer gewiſſen Stufe wie¬ derherſtellten, jedoch um Alles in der Welt Wil¬ len die geiſtlichen Zehnten nicht ebenfalls reſtauri¬ ren konnten.
7) Nachdem wir dieſe große Aufgabe gluͤcklich vollbracht und auch dadurch jede Parlamentsreform in England hintertrieben hatten, erhob unſere Re¬ gierung ein bruͤllendes Siegesgeſchrei, wobey ſie ihre Lunge nicht wenig anſtrengte, und auch laut¬ moͤglichſt unterſtuͤtzt wurde von jeder Creatur in dieſem Lande, die auf eine oder die andere Art von den oͤffentlichen Taxen lebte.
8) Beinahe ganze zwey Jahre dauerte der uͤberſchwengliche Freudenrauſch bey dieſer damals ſo gluͤcklichen Nation; zur Feyer jener Siege225 draͤngten ſich Jubelfeſte, Volksſpiele, Triumphbo¬ gen, Luſtkaͤmpfe und dergleichen Vergnuͤgungen, die mehr als eine viertel Million Pfund Sterlinge koſteten, und das Haus der Gemeinen bewilligte einſtimmig eine ungeheure Summe (ich glaube drei Million Pfund Sterling) um Triumphboͤgen, Denkſaͤulen und andere Monumente zu errichten, und damit die glorreichen Ereigniſſe des Krieges zu verewigen.
9) Beſtaͤndig, ſeit dieſer Zeit, hatten wir das Gluͤck, unter der Regierung eben derſelben Perſo¬ nen zu leben, die unſere Angelegenheiten in beſag¬ tem glorreichen Kriege gefuͤhrt hatten.
10) Beſtaͤndig, ſeit dieſer Zeit, lebten wir in einem tiefen Frieden mit der ganzen Welt; man kann annehmen, daß dieſes noch jetzt der Fall iſt, ungeachtet unſerer kleinen zwiſchenſpieligen Rau¬ ferey mit den Tuͤrken; und daher ſollte man den¬ ken, es koͤnne keine Urſache in der Welt geben, weßhalb wir jetzt nicht gluͤcklich ſeyn ſollten: wir15226haben ja Frieden, unſer Boden bringt reichlich ſeine Fruͤchte, und, wie die Weltweiſen und Ge¬ ſetzgeber unſerer Zeit eingeſtehen, wir ſind die aller¬ erleuchtetſte Nation auf der ganzen Erde. Wir haben wirklich uͤberall Schulen, um die heran¬ wachſende Generation zu unterrichten; wir haben nicht allein einen Rector oder Vicar, oder Curaten in jedem Kirchſprengel des Koͤnigreichs, ſondern wir haben in jedem dieſer Kirchſprengel vielleicht noch ſechs Religionslehrer, wovon jeder von einer andern Sorte iſt als ſeine vier Collegen, dergeſtalt, daß unſer Land hinlaͤnglich mit Unterricht jeder Art verſorgt iſt, kein Menſch dieſes gluͤcklichen Landes im Zuſtande der Unwiſſenheit leben wird, — und daher unſer Erſtaunen um ſo groͤßer ſeyn muß, wie irgend Jemand, der ein Premier-Mi¬ niſter dieſes gluͤcklichen Landes werden ſoll, dieſes Amt als eine ſo ſchwere und ſchwierige Laſt anſieht.
11) Ach, wir haben ein einziges Ungluͤck, und227 das iſt ein wahres Ungluͤck: wir haben naͤmlich einige Siege gekauft — ſie waren herrlich — es war ein gutes Geſchaͤft — ſie waren drey oder viermal ſo viel werth als wir dafuͤr gaben, wie Frau Tweazle ihrem Manne zu ſagen pflegt, wenn ſie vom Markte nach Hauſe kommt — es war große Nachfrage und viel Begehr nach Sie¬ gen — kurz wir konnten nichts Vernuͤnftigeres thun, als uns zu ſo billigem Preiſe mit einer ſo großen Portion Ruhm zu verſehen.
12) Aber, ich geſtehe es bekuͤmmerten Her¬ zens, wir haben, wie manche andere Leute, das Geld geborgt, womit wir dieſe Siege gekauft, als wir dieſer Siege bedurften, deren wir jetzt auf keine Weiſe wieder los werden koͤnnen, eben ſo wenig wie ein Mann ſeines Weibes los wird, wenn er einmal das Gluͤck gehabt hat, ſich die holde Beſcheerung aufzuladen.
13) Daher geſchieht's, daß jeder Miniſter, der unſere Angelegenheiten uͤbernimmt, auch ſorgen15 *228muß fuͤr die Bezahlung unſerer Siege, worauf eigentlich noch kein Pfennig abbezahlt worden.
14) Er braucht zwar nicht dafuͤr zu ſorgen, daß das ganze Geld, welches wir borgten, um Siege dafuͤr zu kaufen, ganz auf einmal, Capital und Zinſen, bezahlt werde; aber fuͤr die regelmaͤ¬ ßige Auszahlung der Zinſen muß er, leider Gottes! ganz beſtimmt ſorgen; und dieſe Zinſen, zuſammengerechnet mit dem Solde der Armee und anderen Ausgaben, die von unſeren Sie¬ gen herruͤhren, ſind ſo bedeutend, daß ein Menſch ziemlich ſtarke Nerven haben muß, wenn er das Geſchaͤftchen uͤbernehmen will, fuͤr die Bezahlung dieſer Summen zu ſorgen.
15) Fruͤherhin, ehe wir uns damit abgaben, Siege einzuhandeln, und uns allzureichlich mit Ruhm zu verſorgen, trugen wir ſchon eine Schuld von wenig mehr als zweyhundert Millio¬ nen, waͤhrend alle Armengelder in England und Wales zuſammen nicht mehr als zwey Mil¬229 lionen jaͤhrlich betrugen, und waͤhrend wir noch nichts von jener Laſt hatten, die unter dem Na¬ men dead weight uns jetzt aufgebuͤrdet iſt, und ganz aus unſerm Durſt nach Ruhm hervorge¬ gangen.
16) Außer dieſem Gelde, das von Creditoren geborgt worden, die es freywillig hergaben, hat unſere Regierung, aus Durſt nach Siegen, auch indirect bey den Armen eine große Anleihe ge¬ macht, d. h. ſie ſteigerte die gewoͤhnlichen Taxen bis auf eine ſolche Hoͤhe, daß die Armen weit mehr als jemals niedergedruͤckt wurden, und daß ſich die Anzahl der Armen und Armengelder er¬ ſtaunlich vergroͤßerte.
17) Die Armengelder ſtiegen von zwey Mil¬ lionen jaͤhrlich auf acht Millionen; die Ar¬ men haben nun gleichſam ein Pfandrecht, eine Hypothek auf das Land; und hier ergiebt ſich alſo wieder eine Schuld von ſechs Millionen, welche man hinzurechnen muß zu jenen anderen230 Schulden, die unſere Paſſion fuͤr Ruhm und der Einkauf unſerer Siege verurſacht hat.
18) The dead weight beſteht aus Leibrenten, die wir unter dem Namen Penſionen einer Menge von Maͤnnern, Weibern und Kindern verabrei¬ chen, als eine Belohnung fuͤr die Dienſte, welche jene Maͤnner beym Erlangen unſerer Siege gelei¬ ſtet haben, oder geleiſtet haben ſollen.
19) Das Capital der Schuld, welche dieſe Regierung contrahirt hat, um ſich Siege zu ver¬ ſchaffen, beſteht ungefaͤhr in folgenden Summen:
d. h. Eilfhundert und fuͤnfundzwanzig Millionen zu fuͤnf Prozent iſt der Betrag jener jaͤhrlichen ſechs und funfzig Millionen; ja, dieſes iſt ungefaͤhr der jetzige Betrag, nur daß die Armengelder-Schuld nicht in den Rechnun¬ gen, die dem Parlamente vorgelegt werden, auf¬ gefuͤhrt iſt, indem ſie das Land gleich direct in den verſchiedenen Kirchſpielen bezahlt. Will man daher jene ſechs Millionen von den ſechsundvierzig Millionen abziehen, ſo ergiebt ſich, daß die Staats¬ ſchuldglaͤubiger und das dead weight-Volk wirk¬ lich alles Uebrige verſchlingen.
20) Indeſſen, die Armengelder ſind eben ſo gut eine Schuld wie die Schuld der Staats¬ ſchuldglaͤubiger, und augenſcheinlich aus derſelben Quelle entſprungen. Von der ſchrecklichen Laſt der Taxen werden die Armen zu Boden gedruͤckt; jeder Andere wird zwar auch davon gedruͤckt, aber Jeder, außer den Armen, wußte dieſe Laſt mehr oder weniger von ſeinen Schultern abzuwaͤlzen,232 und ſie fiel endlich mit fuͤrchterlichem Gewichte ganz auf die Armen, und dieſe verloren ihre Bierfaͤſſer, ihre kupfernen Keſſel, ihre zinnernen Teller, ihre Wanduhr, ihre Betten und bis auf ihr Handwerksgeraͤthe, ſie verloren ihre Kleider, und mu߬ ten ſich in Lumpen huͤllen, ſie verloren das Fleiſch von ihren Knochen — Sie konnten nicht weiter aufs Aeußerſte getrieben werden, und von dem, was man ihnen genommen, gab man ihnen wieder etwas zuruͤck unter dem Namen von vermehrten Armengeldern. Dieſe ſind daher eine wahre Schuld, ein wah¬ res Pfandrecht auf das Land. Die Intereſſen dieſer Schuld koͤnnen zwar zuruͤckgehalten werden, aber wenn dieſes geſchieht, wuͤrden die Perſonen, die ſolche zu fordern haben, in Maſſe herbeykom¬ men, und ſich fuͤr den Betrag, gleichviel in wel¬ cher Waͤhrung, bezahlt machen. Dieſes iſt alſo eine wahre Schuld, und eine Schuld, die man bey Heller und Pfennig bezahlen wird, und233 zwar, ich bemerke es ausdruͤcklich, wird man ihr ein Vorrecht vor allen anderen Schulden geſtatten.
21) Es iſt alſo nicht noͤthig, ſich ſehr zu wun¬ dern, wenn man die Noth derjenigen ſieht, die ſolche Geſchaͤfte uͤbernehmen! Es iſt zu verwun¬ dern, daß ſich uͤberhaupt Jemand zu einer ſolchen Uebernahme verſteht, wenn ihm nicht anheimge¬ ſtellt wird, nach Gutduͤnken eine radicale Umwand¬ lung des ganzen Syſtems vorzunehmen.
22) Hier giebt's keine Moͤglichkeit der Aus¬ huͤlfe, wenn man die jaͤhrliche Ausgabe der Staats¬ glaͤubiger-Schuld und der dead weight-Schuld herabzuſetzen ſucht; um ſolches Herabſetzen der Schuld, ſolche Reduction dem Lande anzumuthen, um zu verhindern, daß ſie große Umwaͤlzungen hervorbringe, um zu verhindern, daß nicht eine halbe Million Menſchen in und um London da¬ durch vor Hunger ſterben muͤſſen: da iſt noͤthig, daß man zuvor weit verhaͤltnißmaͤßigere Reductio¬ nen anderswo vornehme, ehe man die Re¬234 duction jener obigen zwey Schulden oder ihrer In¬ tereſſen verſuchen wollte.
23) Wie wir bereits geſehen haben, die Siege wurden gekauft, in der Abſicht, um Parlaments¬ reform in England zu verhindern, und die ariſto¬ kratiſchen Vorrechte und geiſtlichen Zehnten aufrecht zu erhalten; es waͤre daher eine himmelſchreiende Greuelthat, entzoͤgen wir ihre rechtmaͤßigen Zinſen jenen Leuten, die uns das Geld geborgt, oder entzoͤgen wir gar ihre Bezahlung denjenigen Leu¬ ten, die uns die Haͤnde vermiethet, wodurch wir die Siege erlangt haben; es waͤre eine Greuel¬ that, die Gottes Rache auf uns laden wuͤrde, wenn wir dergleichen thaͤten, waͤhrend die ein¬ traͤglichen Ehrenaͤmter der Ariſtokratie, ihre Pen¬ ſionen, Sinekuren, koͤniglichen Schenkungen, Mi¬ litaͤrbelohnungen und endlich gar die Zehnten des Clerus unangetaſtet blieben!
24) Hier, hier alſo liegt die Schwierigkeit: Wer Miniſter wird, wird Miniſter eines Landes,235 das eine große Paſſion fuͤr Siege gehabt, auch ſich hinlaͤnglich damit verſehen und ſich unerhoͤrt viel militaͤriſchen Ruhm verſchafft — aber leider dieſe Herrlichkeiten noch nicht bezahlt hat, und nun dem Miniſter uͤberlaͤßt, die Rechnung zu berichti¬ gen, ohne daß dieſer weiß, woher er das Geld nehmen ſoll.
Das ſind Dinge, die einen Miniſter ins Grab druͤcken, wenigſtens des Verſtandes berauben koͤn¬ nen. England iſt mehr ſchuldig, als es bezahlen kann. Man ruͤhme nur nicht, daß es Indien und reiche Kolonien beſitzt. Wie ſich aus den letzten Parlamentsdebatten ergibt, zieht der engli¬ ſche Staat keinen Heller eigentlicher Einkuͤnfte aus ſeinem großen, unermeßlichen Indien, ja er muß dorthin noch einige Millionen Zuſchuß bezah¬ len. Dieſes Land nutzt England blos dadurch, daß einzelne Britten, die ſich dort bereichert, durch ihre Schaͤtze die Induſtrie und den Geldumlauf des Mutterlandes befoͤrdern, und tauſend Andere236 durch die indiſche Compagnie Brod und Verſor¬ gung gewinnen. Die Kolonien ebenfalls liefern dem Staate keine Einkuͤnfte, beduͤrfen des Zu¬ ſchuſſes, und dienen zur Befoͤrderung des Handels und zur Bereicherung der Ariſtokratie, deren Ne¬ poten als Gouverneure und Unterbeamte dahin geſchickt werden. Die Bezahlung der National¬ ſchuld faͤllt daher ganz allein auf Großbritannien und Irland. Aber auch hier ſind die Reſourcen nicht ſo betraͤglich wie die Schuld ſelbſt. Wir wollen ebenfalls hier Cobbet ſprechen laſſen:
„ Es gibt Leute, die, um eine Art Aushuͤlfe anzugeben, von den Reſourcen des Landes ſprechen. Dies ſind die Schuͤler des ſeligen Col¬ quhoun, eines Diebesfaͤngers, der ein großes Buch geſchrieben, um zu beweiſen, daß unſere Schuld uns nicht im Mindeſten beſorgt machen darf, in¬ dem ſie ſo klein ſey in Verhaͤltniß zu den Re¬ ſourcen der Nation; und damit ſeine klugen Leſer eine beſtimmte Idee von der Unermeßlichkeit dieſer237 Reſourcen bekommen moͤgen, machte er eine Ab¬ ſchaͤtzung von Allem, was im Lande vorhanden iſt, bis herab auf die Kaninchen, und ſchien ſogar zu bedauern, daß er nicht fuͤglich die Ratten und Maͤuſe mitrechnen konnte. Den Werth der Pferde, Kuͤhe, Schafe, Ferkelchen, Federvieh, Wildpret, Kaninchen, Fiſche, den Werth der Hausgeraͤthe, Kleider, Feuerung, Zu¬ cker, Gewuͤrze, kurz von Allem im Lande macht er ein Aeſtimatum; und dann, nachdem er das Ganze aſſummirt, und den Werth der Laͤndereien, Baͤume, Haͤuſer, Minen, den Ertrag des Graſes, des Korns, die Ruͤben und das Flachs hinzuge¬ rechnet und eine Summe von Gott weiß wie vie¬ len tauſend Millionen herausgebracht hat, grinſt er in pfiffig prahleriſch ſchottiſcher Manier, unge¬ faͤhr wie ein Truthahn, und hohnlachend fragt er Leute meines Gleichen: mit Reſourcen, wie dieſe, fuͤrchtet Ihr da noch einen Nationalban¬ kerott?
238„ Dieſer Mann bedachte nicht, daß man Haͤu¬ ſer noͤthig hat, um darin zu leben, die Laͤn¬ dereien, damit ſie Futter liefern, die Kleider, da¬ mit man ſeine Bloͤße bedecke, die Kuͤhe, damit ſie Milch geben, den Durſt zu loͤſchen, das Horn¬ vieh, Schafe, Schweine, Gefluͤgel und Kaninchen, damit man ſie eſſe, ja, der Teufel hole dieſen wi¬ derſinnigen Schotten! dieſe Dinge ſind nicht dafuͤr da, daß ſie verkauft und die Nationalſchulden damit bezahlt werden. Wahrhaftig er hat noch den Taglohn der Arbeitsleute zu den Reſourcen der Nation gerechnet! Dieſer dumme Teufel von Diebesfaͤnger, den ſeine Bruͤder in Schottland zum Doctor geſchlagen, weil er ein ſo vorzuͤgliches Buch geſchrieben, er ſcheint ganz vergeſſen zu ha¬ ben, daß Arbeitsleute ihren Taglohn ſelbſt beduͤr¬ fen, um ſich dafuͤr etwas Eſſen und Trinken zu ſchaffen. Er konnte eben ſo gut den Werth des Blutes in unſeren Adern abſchaͤtzen, als ein239 Stoff, wovon man allenfalls Blutwuͤrſte machen koͤnnte! “
So weit Cobbet. Waͤhrend ich ſeine Worte in deutſcher Sprache niederſchreibe, bricht er leib¬ haftig ſelbſt wieder hervor in meinem Gedaͤchtniſſe, und wie vorig Jahr bey dem laͤrmigen Mittag¬ eſſen in Crown and Anchor Tavern, ſehe ich ihn wieder mit ſeinem ſcheltend rothen Geſichte und ſeinem radicalen Laͤcheln, worin der giftigſte To¬ deshaß gar ſchauerlich zuſammenſchmilzt mit der hoͤhniſchen Freude, die den Untergang der Feinde ganz ſicher vorausſieht.
Tadle mich Niemand, daß ich Cobbet citire! Man mag ihn immerhin der Unredlichkeit, der Scheltſucht und eines allzu ordinaͤren Weſens be¬ ſchuldigen; aber man kann nicht laͤugnen, daß er viel beredſamen Geiſt beſitzt, und daß er ſehr oft, und in obiger Darſtellung ganz und gar, Recht hat. Er iſt ein Kettenhund, der jeden, den er240 nicht kennt, gleich wuͤthend anfaͤllt, oft den beſten Freund des Hauſes in die Waden beißt, immer bellt, und eben wegen jenes unaufhoͤrlichen Bel¬ lens nicht gehoͤrt wird, wenn er einmal einem wirklichen Diebe entgegenbellt. Deshalb halten es jene vornehmen Diebe, die England pluͤndern, nicht einmal fuͤr noͤthig, dem knurrenden Cobbet einen Brocken zuzuwerfen, und ihm damit das Maul zu ſtopfen. Dieſes wurmt den Hund am bitterſten, und er fletſcht die hungrigen Zaͤhne.
Alter Cobbet! Hund von England! ich liebe dich nicht, denn fatal iſt mir jede gemeine Na¬ tur; aber du dauerſt mich bis in tiefſter Seele, wenn ich ſehe, wie du dich von deiner Kette nicht losreißen und jene Diebe nicht erreichen kannſt, die lachend vor deinen Augen ihre Beute fortſchleppen, und deine vergeblichen Spruͤnge und dein ohn¬ maͤchtiges Geheul verſpotten.
Einer meiner Freunde hat die Oppoſition im Parlamente ſehr treffend mit einer Oppoſitions¬ kutſche verglichen. Bekanntlich iſt das eine oͤffent¬ liche Stage-Kutſche, die irgend eine ſpeculirende Geſellſchaft auf ihre Koſten inſtituirt, und zwar zu ſo ſpottwohlfeilen Preiſen fahren laͤßt, daß die Reiſenden ihr gern den Vorzug geben vor den ſchon vorhandenen Stage-Kutſchen. Dieſe letztern muͤſ¬ ſen dann ebenfalls ihre Preiſe herunterſetzen, um Paſſagiere zu behalten, werden aber bald von der neuen Oppoſitionskutſche uͤberboten oder vielmehr unterboten, ruiniren ſich durch ſolche Concurrenz,16242und muͤſſen am Ende ihr Fahren ganz einſtellen. Hat aber die Oppoſitionskutſche auf ſolche Art das Feld gewonnen, und iſt ſie jetzt auf einer beſtimm¬ ten Tour die einzige, ſo erhoͤht ſie ihre Preiſe, oft ſogar den Preis der verdraͤngten Kutſche uͤberſtei¬ gend, und der arme Reiſende hat nichts gewonnen, hat oft ſogar verloren, und zahlt und flucht, bis eine neue Oppoſitionskutſche wieder das vorige Spiel erneut, und neue Hoffnungen und neue Taͤuſchungen entſtehen.
Wie uͤbermuͤthig wurden die Whigs, als die Stuart'ſche Parthey erlag und die proteſtantiſche Dynaſtie den engliſchen Thron beſtieg! Die Tories bildeten damals die Oppoſition, und John Bull, der arme Staatspaſſagier, hatte Urſache, vor Freude zu bruͤllen, als ſie die Oberhand gewannen. Aber ſeine Freude war von kurzer Dauer, er mußte jaͤhr¬ lich mehr und mehr Fuhrlohn ausgeben, es wurde viel bezahlt und ſchlecht gefahren, die Kutſcher wurden obendrein ſehr grob, es gab nichts als243 Ruͤtteln und Stoͤße, jeder Eckſtein drohte Umſturz — und der arme John dankte Gott, ſeinem Schoͤpfer, als unlaͤngſt die Zuͤgel des Staatswagens in beſ¬ ſere Haͤnde kamen.
Leider dauerte die Freude wieder nicht lange, der neue Oppoſitionskutſcher fiel todt vom Bock herab, der andere ſtieg aͤngſtlich herunter als die Pferde ſcheu wurden, und die alten Wagenlenker, die alten Reuter mit goldenen Sporen, haben wie¬ der ihre alten Plaͤtze eingenommen, und die alte Peitſche knallt.
Ich will das Bild nicht weiter zu Tode hetzen und kehre zuruͤck zu den Worten Whigs und To¬ ries, die ich oben zur Bezeichnung der Oppoſitions¬ partheyen gebraucht habe, und einige Eroͤrterung dieſer Namen iſt vielleicht um ſo fruchtbarer, je mehr ſie ſeit langer Zeit dazu gedient haben, die Begriffe zu verwirren.
Wie im Mittelalter die Namen Guibellinen und Guelfen durch Umwandlungen und neue Er¬16 *244eigniſſe, die vagueſten und veraͤnderlichſten Bedeu¬ tungen erhielten, ſo auch ſpaͤterhin in England die Namen Whigs und Tories, deren Entſtehungsart man kaum noch anzugeben weiß. Einige behaup¬ ten, es ſeyen fruͤherhin Spottnamen geweſen, die am Ende zu honetten Partheynamen wurden, was oft geſchieht, wie z. B. der Geuſenbund ſich ſelbſt nach dem Spottnamen les geux taufte, wie auch ſpaͤterhin die Jakobiner ſich ſelbſt manchmal Sans¬ kuͤlotten benannten, und wie die heutigen Servi¬ len und Obſcuranten ſich vielleicht einſt ſelbſt dieſe Namen als ruhmvolle Ehrennamen beilegen — was ſie freilich jetzt noch nicht koͤnnen. Das Wort „ Whig “ſoll in Irland etwas unangenehm Sauer¬ toͤpfiſches bedeutet haben, und dort zuerſt zur Ver¬ hoͤhnung der Presbyterianer oder uͤberhaupt der neuen Secten gebraucht worden ſeyn. Das Wort „ Tory, “welches zu derſelben Zeit als Partheybe¬ nennung aufkam, bedeutete in Irland eine Art ſchaͤbiger Diebe. Beide Spottnamen kamen in245 Umlauf zur Zeit der Stuarts, waͤhrend der Strei¬ tigkeiten zwiſchen den Secten und der herrſchenden Kirche.
Die allgemeine Anſicht iſt: die Parthey der Tories neige ſich ganz nach der Seite des Thrones und kaͤmpfe fuͤr die Vorrechte der Krone; wohin¬ gegen die Parthey der Whigs mehr nach der Seite des Volks hinneige und deſſen Rechte beſchuͤtze. Indeſſen dieſe Annahmen ſind vague und gelten zumeiſt nur in Buͤchern. Jene Benennungen koͤnnte man vielmehr als Coterienamen anſehen. Sie bezeichnen Menſchen, die bey gewiſſen Streit¬ fragen zuſammenhalten, deren Vorfahren und Freunde ſchon bey ſolchen Anlaͤſſen zuſammenhielten, und die, in politiſchen Stuͤrmen, Freude und Ungemach und die Feindſchaft der Gegenparthey gemeinſchaftlich zu tragen pflegten. Von Prinzipien iſt gar nicht die Rede, man iſt nicht einig uͤber gewiſſe Ideen, ſondern uͤber gewiſſe Maßregeln in der Staatsverwaltung, uͤber Ab¬ ſchaffung oder Beybehaltung gewiſſer Mißbraͤuche, uͤber246 gewiſſe Bills, gewiſſe erbliche Questions — gleich¬ viel aus welchem Geſichtspuncte, meiſtens aus Ge¬ wohnheit. — Die Englaͤnder laſſen ſich nicht durch die Partheynamen irre machen. Wenn ſie von Whigs ſprechen, ſo haben ſie nicht dabey einen be¬ ſtimmten Begriff, wie wir z. B. wenn wir von Liberalen ſprechen, wo wir uns gleich Menſchen vorſtellen, die uͤber gewiſſe Freyheitsrechte herzinnig einverſtanden ſind — ſondern ſie denken ſich eine aͤußerliche Verbindung von Leuten, deren Jeder, nach ſeiner Denkweiſe beurtheilt, gleichſam eine Parthey fuͤr ſich bilden wuͤrde, und die nur, wie ſchon oben erwaͤhnt iſt, durch aͤußere Anlaͤſſe, durch zufaͤllige Intereſſen, durch Freundſchafts - und Feind¬ ſchaftsverhaͤltniſſe gegen die Tories ankaͤmpfen. Hierbey duͤrfen wir uns ebenfalls keinen Kampf ge¬ gen Ariſtokraten in unſerem Sinne denken, da dieſe Tories in ihren Gefuͤhlen nicht ariſtokratiſcher ſind als die Whigs, und oft ſogar nicht ariſtokra¬ tiſcher als der Buͤrgerſtand ſelbſt, der die Ariſtokra¬247 tie fuͤr eben ſo unwandelbar haͤlt wie Sonne, Mond und Sterne, der die Vorrechte des Adels und des Clerus nicht bloß als ſtaatsnuͤtzlich, ſondern als eine Naturnothwendigkeit anſieht, und vielleicht ſelbſt fuͤr dieſe Vorrechte mit weit mehr Eifer kaͤm¬ pfen wuͤrde als die Ariſtokraten ſelbſt, eben weil er feſter daran glaubt als dieſe, die zumeiſt den Glauben an ſich ſelbſt verloren. In dieſer Hinſicht liegt uͤber dem Geiſt der Englaͤnder noch immer die Nacht des Mittelalters, die heilige Idee von der buͤrgerlichen Gleichheit aller Menſchen hat ſie noch nicht erleuchtet, und manchen buͤrgerlichen Staats¬ mann in England, der torieſch geſinnt iſt, duͤrfen wir deshalb bey Leibe nicht ſervil nennen und zu jenen wohlbekannten ſervilen Hunden zaͤhlen, die frey ſeyn koͤnnten, und dennoch in ihr altes Hun¬ deloch zuruͤckgekrochen ſind und jetzt die Sonne der Freyheit anbellen.
Um die engliſche Oppoſition zu begreifen, ſind daher die Namen Whigs und Tories voͤllig nutz¬248 los, mit Recht hat Francis Burdett beym An¬ fange der Sitzungen voriges Jahr beſtimmt ausge¬ ſprochen, daß dieſe Namen jetzt alle Bedeutung verloren; und Thomas Lethbridge, den der Schoͤp¬ fer der Welt und des Verſtandes nicht mit allzu¬ viel Witz ausgeruͤſtet, hat damals dennoch einen ſehr guten Witz, vielleicht den einzigen ſeines Le¬ bens, uͤber dieſe Aeußerung Burdetts geriſſen, naͤmlich: he has untoried the tories and unwig¬ ged the wigs.
Bedeutungsvoller ſind die Namen reformers oder radical reformers, oder kurzweg radicals. Sie werden gewoͤhnlich fuͤr gleichbedeutend gehal¬ ten, ſie zielen auf daſſelbe Gebrechen des Staates, auf dieſelbe heilſame Abhuͤlfe und unterſcheiden ſich nur durch mehr oder minder ſtarke Faͤrbung. Jenes Gebrechen iſt die bekannte ſchlechte Art der Volksrepraͤſentation, wo ſogenannte rotten boroughs, verſchollene, unbewohnte Ortſchaften, oder beſſer geſagt die Oligarchen, denen ſie gehoͤren, das249 Recht haben, Volksrepraͤſentanten ins Parlament zu ſchicken, waͤhrend große, bevoͤlkerte Staͤdte, namentlich viele neuere Fabrikſtaͤdte, keinen einzi¬ gen Repraͤſentanten zu waͤhlen haben; die heilſame Abhuͤlfe dieſes Gebrechens iſt die ſogenannte Par¬ lamentsreform. Nun freylich, dieſe betrachtet man nicht als Zweck, ſondern als Mittel. Man hofft, daß das Volk dadurch auch eine beſſere Vertretung ſeiner Intereſſen, Abſchaffung ariſtokratiſcher Mi߬ braͤuche und Huͤlfe in ſeiner Noth gewinnen wuͤrde. Es laͤßt ſich denken, daß die Parlaments¬ reform, dieſe gerechte, billige Anforderung, auch unter den gemaͤßigten Menſchen, die nichts weni¬ ger als Jacobiner ſind, ihre Verfechter findet, und wenn man ſolche Leute reformers nennt, betont man dieſes Wort ganz anders, und himmelweit iſt es alsdann unterſchieden von dem Worte ra¬ dical, auf dem ein ganz anderer Ton gelegt wird, wenn man z. B. von Hunt oder Cobbett, kurz von jenen heftigen, fletſchenden Revolutionaͤren250 ſpricht, die nach Parlamentsreform ſchreyen, um den Umſturz aller Formen, den Sieg der Hab¬ ſucht und voͤllige Poͤbelherrſchaft herbeyzufuͤhren. Die Nuͤanzen in den Geſinnungen der Koryphaͤen dieſer Parthey ſind daher unzaͤhlig. Aber, wie geſagt, die Englaͤnder kennen ſehr gut ihre Leute, der Namen taͤuſcht nicht das Publikum, und die¬ ſes unterſcheidet ſehr genau, wo der Kampf nur Schein und wo er Ernſt iſt. Oft lange Jahre hindurch iſt der Kampf im Parlamente nicht viel mehr als ein muͤßiges Spiel, ein Tournier, wo man fuͤr die Farbe kaͤmpft, die man ſich aus Grille gewaͤhlt hat; giebt es aber einmal einen ernſten Krieg, ſo eilt Jeder gleich unter die Fahne ſeiner natuͤrlichen Parthey. Dieſes ſahen wir in der Canningſchen Zeit. Die heftigſten Gegner vereinigten ſich, als es Kampf der poſitivſten In¬ tereſſen galt; Tories, Whigs und Radicalen ſchaar¬ ten ſich, wie eine Phalanx, um den kuͤhnen, buͤrgerlichen Miniſter, der den Uebermuth der Oli¬251 garchen zu daͤmpfen verſuchte. Aber ich glaube dennoch, mancher hochgeborne Whig, der ſtolz hinter Canning ſaß, wuͤrde gleich zu der alten Foxhunter-Sippſchaft uͤbergetreten ſeyn, wenn ploͤtzlich die Abſchaffung aller Adelsrechte zur Spra¬ che gekommen waͤre. Ich glaube (Gott verzeih mir die Suͤnde) Francis Burdett ſelbſt, der in ſeiner Jugend zu den heftigſten Radikalen gehoͤrte, und noch jetzt nicht zu den milderen Reformers gerechnet wird, wuͤrde ſich bey einem ſolchen An¬ laſſe ſehr ſchnell neben Sir Thomas Lethbridge geſetzt haben. Dieſes fuͤhlen die plebeiſchen Ra¬ dikalen ſehr gut, und deshalb haſſen ſie die ſoge¬ nannten Whigs, die fuͤr Parlamentsreform ſpre¬ chen, ſie haſſen ſie faſt noch mehr wie die eigent¬ lich hochfeindſeligen Tories.
In dieſem Augenblick beſteht die engliſche Op¬ poſition mehr aus eigentlichen Reformern als aus Whigs. Der Chef der Oppoſition im Unterhauſe, the leader of the opposition, gehoͤrt unſtreitig252 zu jenen letztern. Ich ſpreche hier von Broug¬ ham.
Die Reden dieſes muthigen Parlamentshelden leſen wir taͤglich in den Zeitblaͤttern, und ſeine Geſinnungen duͤrfen wir daher als allgemein bekannt vorausſetzen. Weniger bekannt ſind die perſoͤnlichen Eigenthuͤmlichkeiten, die ſich bey die¬ ſen Reden kund geben; und doch muß man erſtere kennen, um letztere vollgeltend zu begreifen. Das Bild, das ein geiſtreicher Englaͤnder von Broughams Erſcheinung im Parlamente entwirft, mag daher hier ſeine Stelle finden:
„ Auf der erſten Bank, zur linken Seite des Sprechers, ſitzt eine Geſtalt, die ſo lange bey der Studirlampe gehockt zu haben ſcheint, bis nicht bloß die Bluͤthe des Lebens, ſondern die Lebenskraft ſelbſt zu erloͤſchen begonnen; und doch iſt es dieſe ſcheinbar huͤlfloſe Geſtalt, die alle Augen des ganzen Hauſes auf ſich zieht, und die, ſo wie ſie ſich in ihrer mechaniſchen, automati¬253 ſchen Weiſe zum Aufſtehen bemuͤht, alle Schnell¬ ſchreiber hinter uns in fluchende Bewegung ſetzt, waͤhrend alle Luͤcken auf der Gallerie, als ſey ſie ein maſſives Steingewoͤlbe, ausgefuͤllt werden und durch die beyden Seitenthuͤren noch das Gewicht der draußenſtehenden Menſchenmenge hereindraͤngt. Unten im Hauſe ſcheint ſich ein gleiches Intereſſe kund zu geben; denn ſo wie jene Geſtalt ſich lang¬ ſam in einer vertikalen Kruͤmmung, oder vielmehr in einem vertikalen Zickzack ſteif zuſammengefuͤgter Linien, auseinander wickelt, ſind die paar ſonſti¬ gen Zeloten auf beyden Seiten, die ſich ſchreyend entgegendaͤmmen wollten, ſchnell wieder auf ihre Sitze zuruͤckgeſunken, als haͤtten ſie eine verbor¬ gene Windbuͤchſe unter der Robe des Sprechers bemerkt.
Nach dieſem vorbereitenden Geraͤuſch und waͤh¬ rend der athemloſen Stille, die darauf folgte, hat ſich Henry Brougham langſam und bedaͤchtigen Schrittes dem Tiſche genaͤhert, und bleibt dort254 zuſammengebuͤckt ſtehen — die Schultern in die Hoͤhe gezogen, der Kopf vorwaͤrts gebeugt, ſeine Oberlippe und Naſenfluͤgel in zitternder Bewegung, als fuͤrchte er ein Wort zu ſprechen. Sein Aus¬ ſehen, ſein Weſen gleicht faſt einem jener Predi¬ ger, die auf freyem Felde predigen — nicht einem modernen Manne dieſer Art, der die muͤßige Sonntagsmenge nach ſich zieht, ſondern einem ſolchen Prediger aus alten Zeiten, der die Rein¬ heit des Glaubens zu erhalten und in der Wild¬ niß zu verbreiten ſuchte, wenn ſie aus der Stadt und ſelbſt aus der Kirche verbannt war. Die Toͤne ſeiner Stimme ſind voll und melodiſch, doch ſie erheben ſich langſam, bedaͤchtig, und wie man zu glauben verſucht iſt, auch ſehr muͤhſam, ſo daß man nicht weiß, ob die geiſtige Macht des Man¬ nes unfaͤhig iſt, den Gegenſtand zu beherrſchen, oder ob ſeine phyſiſche Kraft unfaͤhig iſt, ihn aus¬ zuſprechen. Sein erſter Satz, oder vielmehr die erſten Glieder ſeines Satzes — denn man findet255 bald, daß bey ihm jeder Satz in Form und Gehalt weiter reicht, als die ganze Rede mancher anderen Leute — kommen ſehr kalt und unſicher hervor, und uͤberhaupt ſo entfernt von der eigent¬ lichen Streitfrage, daß man nicht begreifen kann, wie er ſie darauf hinbiegen wird. Jeder dieſer Saͤtze, freylich, iſt tief, klar, an und fuͤr ſich ſelbſt befriedigend, ſichtbar mit kuͤnſtlicher Wahl aus den gewaͤhlteſten Materialien deduzirt, und moͤgen ſie kommen aus welchem Fache des Wiſ¬ ſens es immerhin ſeyn mag, ſo enthalten ſie doch deſſen reinſte Eſſenz. Man fuͤhlt, daß ſie alle nach einer beſtimmten Richtung hingebogen wer¬ den, und zwar hingebogen mit einer ſtarken Kraft; aber dieſe Kraft iſt noch immer unſichtbar wie der Wind, und wie von dieſem, weiß man nicht wo¬ her ſie kommt und wohin ſie geht.
Wenn aber eine hinreichende Anzahl von die¬ ſen Anfangsſaͤtzen vorausgeſchickt ſind, wenn jeder Huͤlfsſatz, den menſchliche Wiſſenſchaft zur Feſt¬256 ſtellung einer Schlußfolge bieten kann, in Dienſt genommen worden, wenn jeder Einſpruch durch einen einzigen Stoß erfolgreich vorgeſchoben iſt, wenn das ganze Heer politiſcher und moraliſcher Wahrheiten in Schlachtordnung ſteht — dann bewegt es ſich vorwaͤrts zur Entſcheidung, feſt zuſammengeſchloſſen wie eine macedoniſche Pha¬ lanx, und unwiderſtehlich wie Hochlaͤnder, die mit gefaͤlltem Bajonette eindringen.
Iſt ein Hauptſatz gewonnen mit dieſer ſchein¬ baren Schwaͤche und Unſicherheit, wohinter ſich aber eine wirkliche Kraft und Feſtigkeit verborgen hielt, dann erhebt ſich der Redner, ſowohl koͤr¬ perlich als geiſtig, und mit kuͤhnerem und kuͤrze¬ rem Angriff erficht er einen zweyten Hauptſatz. Nach dem zweyten erkaͤmpft er einen dritten, nach dem dritten einen vierten, und ſo weiter, bis alle Principien und die ganze Philoſophie der Streitfrage gleichſam erobert ſind, bis jeder im Hauſe, der Ohren zum Hoͤren und ein Herz zum257 Fuͤhlen hat, von den Wahrheiten, die er eben vernommen, ſo unwiderſtehlich, wie von ſeiner eigenen Exiſtenz, uͤberzeugt iſt, ſo daß Brougham, wollte er hier ſtehen bleiben, ſchon unbedingt als der groͤßte Logiker der St. Stephanskapelle gelten koͤnnte. Die geiſtigen Huͤlfsquellen des Mannes ſind wirklich bewunderungswuͤrdig, und er erinnert faſt an das altnordiſche Maͤhrchen, wo einer im¬ mer die erſten Meiſter in jedem Fache des Wiſſens getoͤdtet hat und dadurch der Alleinerbe ihrer ſaͤmmtlichen Geiſtesfaͤhigkeiten geworden iſt. Der Gegenſtand mag ſeyn wie er will, erhaben oder gemeinplaͤtzig, abſtruſe oder praktiſch, ſo kennt ihn dennoch Heinrich Brougham, und er kennt ihn ganz aus dem Grunde. Andre moͤgen mit ihm wetteifern, ja einer oder der andre mag ihn ſogar uͤbertreffen in der Kenntniß aͤußerer Schoͤnheiten der alten Literatur, aber niemand iſt tiefer als er durchdrungen von der herrlichen und gluͤhenden Philoſophie, die gewiß als ein koſtbarſter Edelſtein17258hervorglaͤnzt aus jenen Schmuckkaͤſtchen, die uns das Alterthum hinterlaſſen hat. Brougham ge¬ braucht nicht die klare, fehlerfreye und dabey etwas hofmaͤßige Sprache des Cicero; eben ſo wenig ſind ſeine Reden in der Form denen des Demo¬ ſthenes aͤhnlich, obgleich ſie etwas von deſſen Farbe an ſich tragen; aber ihm fehlen weder die ſtreng¬ logiſchen Schluͤſſe des roͤmiſchen Redners noch die ſchrecklichen Zornworte des Griechen. Dazu kommt noch, daß keiner beſſer, als er es verſteht, das Wiſſen des Tages in ſeinen Parlamentsreden zu benutzen, ſo daß dieſe zuweilen, abgeſehen von ihrer politiſchen Tendenz und Bedeutung, ſchon als bloße Vorleſungen uͤber Philoſophie, Literatur und Kuͤnſte, unſre Bewunderung verdienen wuͤrden.
Es iſt indeſſen gaͤnzlich unmoͤglich, den Cha¬ rakter dieſes Mannes zu analyſiren, waͤhrend man ihn ſprechen hoͤrt. Wenn er, wie ſchon oben er¬ waͤhnt worden, das Gebaͤude ſeiner Rede auf einen guten philoſophiſchen Boden und in der259 Tiefe der Vernunft gegruͤndet hat; wenn er noch¬ mals zu dieſer Arbeit zuruͤckgekehrt, Senkblei und Richtmaß anlegt, um zu unterſuchen, ob alles in Ordnung iſt, und mit einer Rieſenhand zu pruͤfen ſcheint, ob alles auch ſicher zuſammenhaͤlt; wenn er die Gedanken aller Zuhoͤrer mit Argumenten feſtgebunden, wie mit Seilen, die keiner zu zer¬ reißen im Stande iſt — dann ſpringt er gewaltig auf das Gebaͤude, das er ſich gezimmert hat, es erhebt ſich ſeine Geſtalt und ſein Ton, er be¬ ſchwoͤrt die Leidenſchaften aus ihren geheimſten Winkeln, und uͤberwaͤltigt und erſchuͤttert die maulaufſperrenden Parlamentsgenoſſen und das ganze, droͤhnende Haus. Jene Stimme, die erſt ſo leiſe und anſpruchslos war, gleicht jetzt dem betaͤubenden Brauſen und den unendlichen Wogen des Meeres; jene Geſtalt, die vorher unter ihrem eigenen Gewichte zu ſinken ſchien, ſieht jetzt aus, als haͤtte ſie Nerven von Stahl, Sehnen von Kupfer, ja als ſey ſie unſterblich und unveraͤn¬17 *260derlich wie die Wahrheiten, die ſie eben ausge¬ ſprochen; jenes Geſicht, welches vorher blaß und kalt war wie ein Stein, iſt jetzt belebt und leuch¬ tend, als waͤre der innere Geiſt noch maͤchtiger, als die geſprochenen Worte; und jene Augen, die uns anfaͤnglich mit ihren blauen und ſtillen Krei¬ ſen ſo demuͤthig anſahen, als wollten ſie unſre Nachſicht und Verzeihung erbitten, aus denſelben Augen ſchießt jetzt ein meteoriſches Feuer, das alle Herzen zur Bewunderung entzuͤndet. So ſchließt der zweyte, der leidenſchaftliche oder deklamatori¬ ſche Theil der Rede.
Wenn er das erreicht hat, was man fuͤr den Gipfel der Beredſamkeit halten moͤchte, wenn er gleichſam umher blickt, um die Bewunderung, die er hervorgebracht, mit Hohnlaͤcheln zu betrachten, dann ſinkt ſeine Geſtalt wieder zuſammen und auch ſeine Stimme faͤllt herab bis zum ſonderbar¬ ſten Fluͤſtern, das jemals aus der Bruſt eines Menſchen hervorgekommen. Dieſes ſeltſame Her¬261 abſtimmen, oder vielmehr Fallenlaſſen des Aus¬ drucks, der Gebehrde und der Stimme, welches Brougham in einer Vollkommenheit beſitzt, wie es bey gar keinem anderen Redner gefunden wird, bringt eine wunderbare Wirkung hervor; und jene tiefen, feyerlichen, faſt hingemurmelten Worte, die jedoch bis auf den Anhauch jeder einzelnen Sylbe vollkommen vernehmbar ſind, tragen in ſich eine Zaubergewalt, der man nicht widerſtehen kann, ſelbſt wenn man ſie zum erſtenmale hoͤrt und ihre eigentliche Bedeutung und Wirkung noch nicht kennen gelernt hat. Man glaube nur nicht etwa, der Redner oder die Rede ſey erſchoͤpft. Dieſe gemilderten Blicke, dieſe gedaͤmpften Toͤne bedeuten nichts weniger als den Anfang einer Perorazio, womit der Redner, als ob er fuͤhle, daß er etwas zu weit gegangen, ſeine Gegner wieder beſaͤnftigen will. Im Gegentheil, dieſes Zuſammenkruͤmmen des Leibes iſt kein Zeichen von Schwaͤche, und dieſes Fallenlaſſen der Stimme iſt kein Vorſpiel262 von Furcht und Unterwuͤrfigkeit: es iſt das loſe, haͤngende Vorbeugen des Leibes, bey einem Rin¬ ger, der die Gelegenheit erſpaͤht, wo er ſeinen Gegner deſto gewaltſamer umwinden kann, es iſt das Zuruͤckſpringen des Tigers, der gleich darauf mit deſto ſicherern Krallen auf ſeine Beute los¬ ſtuͤrzt, es iſt das Zeichen, daß Heinrich Broug¬ ham ſeine ganze Ruͤſtung anlegt und ſeine maͤch¬ tigſte Waffe ergreift. In ſeinen Argumenten war er klar und uͤberzeugend; in ſeiner Beſchwoͤrung der Leidenſchaften war er zwar etwas hochmuͤthig, doch auch maͤchtig und ſiegreich; jetzt aber legt er den letzten, ungeheuerſten Pfeil auf ſeinen Bogen — er wird fuͤrchterlich in ſeinen Invektiven. Wehe dem Manne, dem jenes Auge, das vorher ſo ruhig und blau war, jetzt entgegenflammt aus dem geheimnißvollen Dunkel dieſer zuſammengezog¬ nen Brauen! Wehe dem Wicht, dem dieſe halb¬ gefluͤſterten Worte ein Vorzeichen ſind von dem Unheil, das uͤber ihn heranſchwebt!
263Wer als ein Fremder vielleicht heute zum er¬ ſtenmal die Gallerie des Parlamentes beſucht, weiß nicht, was jetzt kommen wird. Er ſieht blos einen Mann, der ihn mit ſeinen Argumenten uͤberzeugt, mit ſeiner Leidenſchaft erwaͤrmt hat, und jetzt mit jenem ſonderbaren Fluͤſtern einen ſehr lahmen, ſchwaͤchlichen Schluß anzubringen ſcheint. O Fremdling! waͤreſt du bekannt mit den Erſcheinungen dieſes Hauſes und auf einem Sitze, wo du alle Parlamentsglieder uͤberſehen koͤnnteſt, ſo wuͤrdeſt du bald merken, daß dieſe in Betreff eines ſolchen lahmen, ſchwaͤchlichen Schluſſes durchaus nicht deiner Meinung ſind. Du wuͤrdeſt manchen bemerken, den Partheyſucht oder Anma¬ ßung in dieſes ſtuͤrmiſche Meer, ohne gehoͤrigen Ballaſt und das noͤthige Steuerruder, hineinge¬ trieben hat, und der nun ſo furchtſam und aͤngſt¬ lich umherblickt, wie ein Schiffer auf dem chine¬ ſiſchen Meere, wenn er an einer Seite des Ho¬ rizontes jene dunkle Ruhe entdeckt, die ein ſicheres264 Vorzeichen iſt, daß von der andern Seite, ehe eine Minute vorgeht, der Typhon heranweht mit ſeinem verderblichen Hauche; — du wuͤrdeſt irgend einen kleinen Mann bemerken, der faſt greinen moͤchte und an Leib und Seele ſchauert wie ein kleines Voͤgelchen, das in die Zaubernaͤhe einer Klapperſchlange gerathen iſt, ſeine Gefahr entſetz¬ lich fuͤhlt und ſich doch nicht helfen kann und mit jaͤmmerlich naͤrriſcher Miene dem Untergange ſich darbietet; — du wuͤrdeſt einen langen Antagoni¬ ſten bemerken, der ſich mit ſchlotternden Beinen an der Bank feſtklammert, damit der heranzie¬ hende Sturm ihn nicht fortfegt; — oder du be¬ merkſt ſogar einen ſtattlichen, wohlbeleibten Repraͤ¬ ſentanten irgend einer fetten Grafſchaft, der beyde Faͤuſte in das Kiſſen ſeiner Bank hineingraͤbt, voͤllig entſchloſſen, im Fall ein Mann von ſeiner Wichtigkeit aus dem Hauſe geſchleudert wuͤrde, dennoch ſeinen Sitz zu bewahren und unter ſich von dannen zu fuͤhren.
265Und nun kommt es: — die Worte, welche ſo tiefgefluͤſtert und gemurmelt wurden, ſchwellen an ſo laut, daß ſie ſelbſt den Jubelruf der eignen Parthey uͤbertoͤnen, und nachdem irgend ein un¬ gluͤckſeliger Gegner bis auf die Knochen geſchun¬ den, und ſeine verſtuͤmmelten Glieder durch alle Redefiguren durchgeſtampft worden, dann iſt der Leib des Redners wie niedergebrochen und zerſchla¬ gen von der Kraft ſeines eignen Geiſtes, er ſinkt auf ſeinen Sitz zuruͤck und der Beyfalllaͤrm der Verſammlung kann jetzt unaufhaltbar hervorbrechen. “
Ich habe es nie ſo gluͤcklich getroffen, daß ich Brougham waͤhrend einer ſolchen Rede im Par¬ lamente ruhig betrachten konnte. Nur ſtuͤckweis oder Unwichtiges hoͤrte ich ihn ſprechen, und nur ſelten kam er mir dabey ſelbſt zu Geſicht. Im¬ mer aber — das merkte ich gleich — ſobald er das Wort nahm, erfolgte eine tiefe, faſt aͤngſtliche Stille. Das Bild, das oben von ihm entworfen17 **266worden, iſt gewiß nicht uͤbertrieben. Seine Ge¬ ſtalt, von gewoͤhnlicher Manneslaͤnge, iſt ſehr duͤnn, ebenfalls ſein Kopf, der mit kurzen, ſchwar¬ zen Haaren, die ſich der Schlaͤfe glatt anlegen, ſpaͤrlich bedeckt iſt. Das blaſſe, laͤngliche Geſicht erſcheint dadurch noch duͤnner, die Muskeln deſ¬ ſelben ſind in krampfhafter, unheimlicher Bewe¬ gung, und wer ſie beobachtet, ſieht des Redners Gedanken, ehe ſie geſprochen ſind. Dieſes ſchadet ſeinen witzigen Einfaͤllen; denn fuͤr Witze und Geldborger iſt es heilſam, wenn ſie uns unange¬ meldet uͤberraſchen. Obgleich ſein ſchwarzer An¬ zug, bis auf den Schnitt des Fracks, ganz gent¬ lemaͤnniſch iſt, ſo traͤgt ſolcher doch dazu bey, ihm ein geiſtliches Anſehen zu geben. Vielleicht be¬ kommt er dieſes noch mehr durch ſeine oft ge¬ kruͤmmte Ruͤckenbewegung und die lauernde, iro¬ niſche Geſchmeidigkeit des ganzen Leibes. Einer meiner Freunde hat mich zuerſt auf dieſes „ Kleri¬ kaliſche “in Broughams Weſen aufmerkſam ge¬267 macht, und durch die obige Schilderung wird dieſe feine Bemerkung beſtaͤtigt. Mir iſt zuerſt das „ Advokatiſche “im Weſen Broughams aufgefallen, beſonders durch die Art, wie er beſtaͤndig mit dem vorgeſtreckten Zeigefinger demonſtrirt, und mit vor¬ gebeugtem Haupte ſelbſtgefaͤllig dazu nickt.
Am bewunderungswuͤrdigſten iſt die raſtloſe Thaͤtigkeit dieſes Mannes. Jene Parlamentsreden haͤlt er, nachdem er vielleicht ſchon acht Stunden lang ſeine taͤglichen Berufsgeſchaͤfte, naͤmlich das Advoziren in den Gerichtsſaͤlen, getrieben, und vielleicht die halbe Nacht an Aufſaͤtzen fuͤr das Edinburgh Review oder an ſeinen Verbeſſerungen des Volksunterrichts und der Criminalgeſetze gear¬ beitet hat. Erſtere Arbeiten, der Volksunterricht, werden gewiß einſt ſchoͤne Fruͤchte hervorbringen. Letztere, die Criminalgeſetzgebung, womit Broug¬ ham und Peel ſich jetzt am meiſten beſchaͤftigen, ſind vielleicht die nuͤtzlichſten, wenigſtens die drin¬ gendſten; denn Englands Geſetze ſind noch grau¬268 ſamer als ſeine Oligarchen. Der Proceß der Koͤ¬ nigin begruͤndete zuerſt Broughams Celebritaͤt. Er kaͤmpfte wie ein Ritter fuͤr dieſe hohe Dame, und wie ſich von ſelbſt verſteht, wird Georg IV. nie¬ mals die Dienſte vergeſſen, die er ſeiner lieben Frau geleiſtet hat. Deßhalb, als vorigen April die Oppoſition ſiegte, kam Brougham dennoch nicht ins Miniſterium, obgleich ihm, als leader of the opposition, in dieſem Falle, nach altem Brauch, ein ſolcher Eintritt gebuͤhrte.
Wenn man mit dem duͤmmſten Englaͤnder uͤber Politik ſpricht, ſo wird er doch immer etwas Ver¬ nuͤnftiges zu ſagen wiſſen. Sobald man aber das Geſpraͤch auf Religion lenkt, wird der geſcheidteſte Englaͤnder nichts als Dummheiten zu Tage foͤr¬ dern. Daher entſteht wohl jene Verwirrung der Begriffe, jene Miſchung von Weisheit und Unſinn, ſobald im Parlamente die Emanzipazion der Ka¬ tholiken zur Sprache kommt, eine Streitfrage, wo¬ rin Politik und Religion collidiren. Selten in ih¬ ren parlamentariſchen Verhandlungen iſt es den Englaͤndern moͤglich ein Prinzip auszuſprechen, ſie270 discutiren nur den Nutzen oder Schaden der Dinge, und bringen Facta, die Einen pro, die Anderen contra, zum Vorſchein.
Mit Factis aber kann man zwar ſtreiten, doch nicht ſiegen, da gibt es nichts als ein materielles Hin - und Herſchlagen, und das Schauſpiel eines ſolchen Streites gemahnt uns an wohlbekannte pro patria-Kaͤmpfe deutſcher Studenten, deren Reſul¬ tat darauf hinauslaͤuft, daß ſo und ſo viel Gaͤnge gemacht worden, ſo und ſo viel Quarten und Terzen gefallen ſind, und nichts damit bewieſen worden.
Im Jahr 1827, wie ſich von ſelbſt ver¬ ſteht, haben wieder die Emanzipazioniſten gegen die Oranienmaͤnner in Weſtminſter gefochten, und wie ſich von ſelbſt verſteht, es iſt nichts dabei her¬ ausgekommen. Die beſten Schlaͤger der Emanzi¬ pazioniſten waren Burdett, Plunket, Brougham und Canning. Ihre Gegner, Herrn Peel ausge¬ nommen, waren wieder die bekannten, oder beſſer geſagt, die unbekannten Fuchsjaͤger.
271Von jeher ſtimmten die geiſtreichſten Staats¬ maͤnner Englands fuͤr die buͤrgerliche Gleichſtellung der Katholiken, ſowohl aus Gruͤnden des innigſten Rechtsgefuͤhls als auch der politiſchen Klugheit. Pitt ſelbſt, der Erfinder des ſtabilen Syſtems, hielt die Parthey der Katholiken. Gleichfalls Burke, der große Renegat der Freyheit, konnte nicht ſo weit die Stimme ſeines Herzens unterdruͤcken, daß er gegen Irland gewirkt haͤtte. Auch Canning, ſogar damals, als er noch ein toryſcher Knecht war, konnte nicht ungeruͤhrt das Elend Irlands betrachten, und wie theuer ihm deſſen Sache war, hat er zu einer Zeit, als man ihn der Lauigkeit bezuͤchtigte, gar ruͤhrend naiv ausgeſprochen. Wahr¬ lich, ein großer Menſch kann, um große Zwecke zu erreichen, oft gegen ſeine Ueberzeugung handeln und zweideutig oft von einer Parthey zur andern uͤbergehen; — man muß alsdann billig bedenken, daß derjenige, der ſich auf einer gewiſſen Hoͤhe be¬ haupten will, ebenſo den Umſtaͤnden nachgeben muß,272 wie der Hahn auf dem Kirchthurm, den, obgleich er von Eiſen iſt, jeder Sturmwind zerbrechen und herabſchleudern wuͤrde, wenn er trotzig unbeweglich bliebe und nicht die edle Kunſt verſtaͤnde ſich nach jedem Winde zu drehen. Aber nie wird ein gro¬ ßer Menſch ſo weit die Gefuͤhle ſeiner Seele verlaͤugnen koͤnnen, daß er das Ungluͤck ſeiner Landsleute mit indifferenter Ruhe anſehen und ſogar vermehren koͤnnte. Wie wir unſere Mutter lieben, ſo lieben wir auch den Boden, worauf wir geboren ſind, ſo lieben wir die Blumen, den Duft, die Sprache und die Menſchen, die aus dieſem Boden hervor¬ gebluͤht ſind, keine Religion iſt ſo ſchlecht und keine Politik iſt ſo gut, daß ſie im Herzen ihrer Bekenner ſolche Liebe erſticken koͤnnte; obgleich ſie Proteſtanten und Tories waren, konnten Burke und Canning doch nimmermehr Parthey nehmen gegen das arme, gruͤne Erin: Irlaͤnder, die ſchreck¬ liches Elend und namenloſen Jammer uͤber ihr273 Vaterland verbreiten, ſind Menſchen — wie der ſelige Caſtlereagh.
Daß die große Maſſe des engliſchen Volkes ge¬ gen die Katholiken geſtimmt iſt, und taͤglich das Parlament beſtuͤrmt, ihnen nicht mehr Rechte ein¬ zuraͤumen, iſt ganz in der Ordnung. Es liegt in der menſchlichen Natur eine ſolche Unterdruͤckungs¬ ſucht, und wenn wir auch, was jetzt beſtaͤndig ge¬ ſchieht, uͤber buͤrgerliche Ungleichheit klagen, ſo ſind alsdann unſere Augen nach oben gerichtet, wir ſe¬ hen nur diejenigen, die uͤber uns ſtehen, und deren Vorrechte uns beleidigen; abwaͤrts ſehen wir nie bei ſolchen Klagen, es kommt uns nie in den Sinn, diejenigen, welche durch Gewohnheitsunrecht noch unter uns geſtellt ſind, zu uns heraufzuziehen, ja uns verdrießt es ſogar, wenn dieſe ebenfalls in die Hoͤhe ſtreben, und wir ſchlagen ihnen auf die Koͤpfe. Der Kreole verlangt die Rechte des Eu¬ ropaͤers, ſpreizt ſich aber gegen den Mulatten, und18274ſpruͤht Zorn, wenn dieſer ſich ihm gleichſtellen will. Ebenſo handelt der Mulatte gegen den Meſtizen und dieſer wieder gegen den Neger. Der Frank¬ furter Spießbuͤrger aͤrgert ſich uͤber Vorrechte des Adels; aber er aͤrgert ſich noch mehr, wenn man ihm zumuthet, ſeine Juden zu emanzipiren. Ich habe einen Freund in Polen, der fuͤr Freyheit und Gleichheit ſchwaͤrmt, aber bis auf dieſe Stunde ſeine Bauern noch nicht aus ihrer Leibeigenſchaft entlaſſen hat.
Was den engliſchen Clerus betrifft, ſo bedarf es keiner Eroͤrterung, weßhalb von dieſer Seite die Katholiken verfolgt werden. Verfolgung der An¬ dersdenkenden iſt uͤberall das Monopol der Geiſt¬ lichkeit, und auch die anglicaniſche Kirche behaup¬ tet ſtreng ihre Rechte. Freilich, die Zehnten ſind ihr die Hauptſache, ſie wuͤrde durch die Emanzipa¬ zion der Katholiken einen großen Theil ihres Ein¬ kommens verlieren, und Aufopferung eigener In¬ tereſſen iſt ein Talent, das den Prieſtern der Liebe275 eben ſo ſehr abgeht, wie den ſuͤndigen Layen. Dazu kommt noch, daß jene glorreiche Revolution, welcher England die meiſten ſeiner jetzigen Frei¬ heiten verdankt, aus religioͤſem, proteſtantiſchem Eifer hervorgegangen: ein Umſtand, der den Eng¬ laͤndern gleichſam noch beſondere Pflichten der Dankbarkeit gegen die herrſchende proteſtantiſche Kirche auferlegt, und ſie dieſe als das[Hauptboll¬ werk] ihrer Freyheit betrachten laͤßt. Manche aͤngſt¬ liche Seelen unter ihnen moͤgen wirklich den Ka¬ tholicismus und deſſen Wiedereinfuͤhrung fuͤrchten, und an die Scheiterhaufen von Smithfield denken — und ein gebranntes Kind ſcheut das Feuer. Auch gibt es aͤngſtliche Parlamentsglieder, die ein neues Pulvercomplot befuͤrchten — diejenigen fuͤrchten das Pulver am meiſten, die es nicht erfunden ha¬ ben — und da wird es ihnen oft, als fuͤhlten ſie, wie die gruͤnen Baͤnke, worauf ſie in der St. Stephanskapelle ſitzen, allmaͤhlig warm und waͤr¬ mer werden, und wenn irgend ein Redner, wie18 *276oft geſchieht, den Namen Guy Fawkes erwaͤhnt, rufen ſie aͤngſtlich: hear-him! hear-him! Was endlich den Rector von Goͤttingen betrifft, der in London eine Anſtellung als Koͤnig von England hat, ſo kennt jeder ſeine Maͤßigkeitspolitik: er er¬ klaͤrt ſich fuͤr keine von beiden Partheyen, er ſieht gern, daß ſie ſich bei ihren Kaͤmpfen wechſelſeitig ſchwaͤchen, er laͤchelt nach herkoͤmmlicher Weiſe, wenn ſie friedlich bei ihm kouren, er weiß Alles und thut Nichts, und verlaͤßt ſich im ſchlimmſten Fall auf ſeinen Oberſchnurren Wellington.
Man verzeihe mir, daß ich in flipprigem Tone eine Streitfrage behandle, von deren Loͤſung das Wohl Englands und daher vielleicht mittelbar das Wohl der Welt abhaͤngt. Aber eben, je wichtiger ein Gegenſtand iſt, deſto luſtiger muß man ihn behandeln; das blutige Gemetzel der Schlachten, das ſchaurige Sichelwetzen des Todes waͤre nicht zu ertragen, erklaͤnge nicht dabei die betaͤubende tuͤrkiſche Muſik mit ihren freudigen Pauken und277 Trompeten. Das wiſſen die Englaͤnder, und daher bietet ihr Parlament auch ein heiteres Schauſpiel des unbefangenſten Witzes und der witzigſten Un¬ befangenheit, bei den ernſthafteſten Debatten, wo das Leben von Tauſenden und das Heil ganzer Laͤnder auf dem Spiel ſteht, kommt doch keiner von ihnen auf den Einfall ein deutſch ſteifes Land¬ ſtaͤndegeſicht zu ſchneiden, oder franzoͤſiſch pathetiſch zu declamiren, und wie ihr Leib, ſo gebaͤhrdet ſich alsdann auch ihr Geiſt ganz zwanglos, Scherz, Selbſtperſiflage, Sarcasmen, Gemuͤth und Weis¬ heit, Malice und Guͤte, Logik und Verſe ſprudeln hervor im bluͤhendſten Farbenſpiel, ſo daß die An¬ nalen des Parlaments uns noch nach Jahren die geiſtreichſte Unterhaltung gewaͤhren. Wie ſehr con¬ traſtiren dagegen die oͤden, ausgeſtopften, loͤſchpa¬ piernen Reden unſerer ſuͤddeutſchen Kammern, de¬ ren Langweiligkeit auch der geduldigſte Zeitungsle¬ ſer nicht zu uͤberwinden vermag, ja deren Duft ſchon einen lebendigen Leſer verſcheuchen kann, ſo278 daß wir glauben muͤſſen, jene Langweiligkeit ſey geheime Abſicht, um das große Publicum von der Lectuͤre jener Verhandlungen abzuſchrecken, und ſie dadurch trotz ihrer Oeffentlichkeit, dennoch im Grunde ganz geheim zu halten.
Iſt alſo die Art wie die Englaͤnder im Par¬ lamente die katholiſche Streitfrage abhandeln, we¬ nig geeignet, ein Reſultat hervorzubringen, ſo iſt doch die Lectuͤre dieſer Debatten um ſo intereſſan¬ ter, weil Facta mehr ergoͤtzen als Abſtractionen, und gar beſonders amuͤſant iſt es, wenn fabelgleich irgend eine Parallelgeſchichte erzaͤhlt wird, die den gegenwaͤrtigen, beſtimmten Fall witzig perſiflirt, und dadurch vielleicht am gluͤcklichſten illuſtrirt. Schon bei den Debatten uͤber die Thronrede, am 3. Februar 1825, vernahmen wir im Oberhauſe eine jener Parallelgeſchichten, wie ich ſie oben be¬ zeichnet, und die ich woͤrtlich hierherſetze: (vid. Parliamentary history and review during the session of 1825 – 1826. Pag. 31.)279 „ Lord King bemerkte, daß wenn auch Eng¬ land bluͤhend und gluͤcklich genannt werden koͤnne, ſo befaͤnden ſich doch ſechs Millionen Katholiken in einem ganz andern Zuſtande, jenſeits des ir¬ laͤndiſchen Canals, und die dortige ſchlechte Re¬ gierung ſey eine Schande fuͤr unſer Zeitalter und fuͤr alle Britten. Die ganze Welt, ſagte er, iſt jetzt zu vernuͤnftig, um Regierungen zu entſchuldi¬ gen, welche ihre Unterthanen wegen Religionsdif¬ ferenzen bedruͤcken oder irgend eines Rechtes berau¬ ben. Irland und die Tuͤrkei koͤnnte man als die einzigen Laͤnder Europa's bezeichnen, wo ganze Menſchenclaſſen ihres Glaubens wegen unterdruͤckt und gekraͤnkt werden. Der Großſultan hat ſich bemuͤht, die Griechen zu bekehren, in derſelben Weiſe wie das engliſche Gouvernement die Bekeh¬ rung der irlaͤndiſchen Katholiken betrieben, aber ohne Erfolg. Wenn die ungluͤcklichen Griechen uͤber ihre Leiden klagten, und demuͤthigſt baten, ein Bischen beſſer als mahomedaniſche Hunde be¬280 handelt zu werden, ließ der Sultan ſeinen Gro߬ vezier holen, um Rath zu ſchaffen. Dieſer Gro߬ vezier war fruͤherhin ein Freund und ſpaͤterhin ein Feind der Sultanin geweſen. Er hatte dadurch in der Gunſt ſeines Herrn ziemlich gelitten, und in ſeinem eigenen Divan, von ſeinen eigenen Be¬ amten und Dienern, manchen Widerſpruch ertra¬ gen muͤſſen (Gelaͤchter). Er war ein Feind der Griechen. Dem Einfluß nach die zweite Perſon im Divan, war der Reis Effendi, welcher den ge¬ rechten Forderungen jenes ungluͤcklichen Volkes freundlich geneigt war. Dieſer Beamte, wie man wußte, war Miniſter der aͤußern Angelegenheiten, und ſeine Politik verdiente und erhielt allgemeinen Beifall. Er zeigte in dieſem Felde außerordent¬ liche Liberalitaͤt und Talente, er that viel Gutes, verſchaffte der Regierung des Sultans viel Popu¬ laritaͤt, und wuͤrde noch mehr ausgerichtet haben, haͤtten ihn nicht ſeine minder erleuchteten Collegen in allen ſeinen Maßregeln gehemmt. Er war in281 der That der einzige Mann von wahrem Genie im ganzen Divan (Gelaͤchter), und man achtete ihn als eine Zierde tuͤrkiſcher Staatsleute, da er auch mit poetiſchen Talenten begabt war. Der Kiaya-Bey oder Miniſter des Innern und der Kapi¬ tan Paſcha waren wiederum Gegner der Griechen; aber der Chorfuͤhrer der ganzen Oppoſition gegen die Rechtsanſpruͤche dieſes Volks war der Ober¬ mufti, oder das Haupt des Mahomedaniſchen Glau¬ bens (Gelaͤchter). Dieſer Beamte war ein Feind jeder Veraͤnderung. Er hatte ſich regelmaͤßig wi¬ derſetzt bey allen Verbeſſerungen im Handel, bey allen Verbeſſerungen in der Juſtiz, bey jeder Ver¬ beſſerung in der auslaͤndiſchen Politik (Gelaͤchter). Er zeigte und erklaͤrte ſich jedesmal als der groͤßte Verfechter der beſtehenden Mißbraͤuche. Er war der vollendetſte Intriguant im ganzen Divan (Ge¬ laͤchter). In fruͤherer Zeit hatte er ſich fuͤr die Sultanin erklaͤrt, aber er wandte ſich gegen ſie, ſobald er befuͤrchtete, daß er dadurch ſeine Stelle282 im Divan verlieren koͤnne, er nahm ſogar die Parthey ihrer Feinde. Einſt wurde der Vorſchlag gemacht, einige Griechen in das Corps der regu¬ lairen Truppen oder Janitſcharen aufzunehmen; aber der Obermufti erhob dagegen ein ſo heilloſes Zetergeſchrei — aͤhnlich unſerem No popery-Ge¬ ſchrei — daß diejenigen, welche jene Maßregel ge¬ nehmigt, aus dem Divan ſcheiden mußten. Er gewann ſelbſt die Oberhand, und ſobald dies ge¬ ſchah, erklaͤrte er ſich fuͤr eben dieſelbe Sache, wo¬ gegen er vorhin am meiſten geeifert hatte (Ge¬ laͤchter). Er ſorgte fuͤr des Sultans Gewiſſen und fuͤr ſein eigenes; doch will man bemerkt ha¬ ben, daß ſein Gewiſſen niemals mit ſeinen In¬ tereſſen in Oppoſition war (Gelaͤchter). Da er aufs Genaueſte die tuͤrkiſche Conſtitution ſtudirt, hatte er ausgefunden, daß ſie weſentlich mahome¬ daniſch ſey (Gelaͤchter), und folglich allen Vor¬ rechten der Griechen feindſelig ſeyn muͤſſe. Er hatte deshalb beſchloſſen, der Sache der Intoleranz283 feſt ergeben zu bleiben, und war bald umringt von Mollahs, Imans und Derwiſchen, welche ihn in ſeinen edeln Vorſaͤtzen beſtaͤrkten. Um das Bild dieſer Spaltung im Divan zu vollenden, ſey noch erwaͤhnt, daß deſſen Mitglieder uͤbereinkamen, ſie wollten bey gewiſſen Streitfragen einig, und bey andern wieder entgegengeſetzter Meinung ſeyn, ohne ihre Vereinigung zu brechen. Nachdem man nun die Uebel, die durch ſolch einen Divan entſtanden, geſehen hat, nachdem man geſehen, wie das Reich der Muſelmaͤnner zerriſſen worden, durch eben ihre Intoleranz gegen die Griechen und ihre Uneinig¬ keit unter ſich ſelbſt: ſo ſollte man doch den Him¬ mel bitten das Vaterland vor einer ſolchen Cabi¬ netsſpaltung zu bewahren. “
Es bedarf keines ſonderlichen Scharfſinns, um die Perſonen zu errathen, die hier in tuͤrkiſche Namen vermummt ſind; noch weniger iſt es von Noͤthen, die Moral der Geſchichte in trocknen Worten herzuſetzen. Die Kanonen von Navarino284 haben ſie laut genug ausgeſprochen, und wenn einſt die hohe Pforte zuſammenbricht — und brechen wird ſie trotz Peras bevollmaͤchtigten Lakayen, die ſich dem Unwillen der Voͤlker entgegenſtaͤmmen — dann mag John Bull in ſeinem Herzen bedenken: mit veraͤndertem Namen ſpricht von dir die Fabel. Etwas der Art mag England ſchon jetzt ahnen, indem ſeine beſten Publiziſten ſich gegen den In¬ terventionskrieg erklaͤren, und ganz naiv darauf hindeuten, daß die Voͤlker Europa's mit gleichem Rechte ſich der irlaͤndiſchen Katholiken annehmen, und der engliſchen Regierung eine beſſere Behand¬ lung derſelben abzwingen koͤnnten. Sie glauben hiermit das Interventionsrecht widerlegt zu haben, und haben es nur noch deutlicher illuſtrirt. Frei¬ lich haͤtten Europa's Voͤlker das heiligſte Recht, ſich fuͤr die Leiden Irlands, mit gewaffneter Hand, zu verwenden, und dieſes Recht wuͤrde auch aus¬ geuͤbt werden, wenn nicht das Unrecht ſtaͤrker waͤre. Nicht mehr die gekroͤnten Haͤuptlinge, ſondern die285 Voͤlker ſelbſt ſind die Helden der neuern Zeit, auch dieſe Helden haben eine heilige Allianz geſchloſſen, ſie halten zuſammen, wo es gilt fuͤr das gemein¬ ſame Recht, fuͤr das Voͤlkerrecht der religioͤſen und politiſchen Freyheit, ſie ſind verbunden durch die Idee, ſie haben ſie beſchworen und dafuͤr geblutet, ja ſie ſind ſelbſt zur Idee geworden — und des¬ halb zuckt es gleich ſchmerzhaft durch alle Voͤlker¬ herzen, wenn irgendwo, ſey es auch im aͤußerſten Winkel der Erde, die Idee beleidigt wird.
Der Mann hat das Ungluͤck uͤberall Gluͤck zu haben, wo die groͤßten Maͤnner der Welt Ungluͤck hatten, und das empoͤrt uns und macht ihn ver¬ haßt. Wir ſehen in ihm nur den Sieg der Dumm¬ heit uͤber das Genie — Arthur Wellington trium¬ phirt, wo Napoleon Bonaparte untergeht! Nie ward ein Mann ironiſcher von Fortuna beguͤnſtigt, und es iſt als ob ſie ſeine oͤde Winzigkeit zur Schau geben wollte, indem ſie ihn auf das Schild des Sieges emporhebt. Fortuna iſt ein Weib,287 und nach Weiberart grollt ſie vielleicht heimlich dem Manne, der ihren ehemaligen Liebling ſtuͤrzte, obgleich deſſen Sturz ihr eigner Wille war. Jetzt, bey der Emanzipazion der Katholiken, laͤßt ſie ihn wieder ſiegen, und zwar in einem Kampfe, worin Georg Canning zu Grunde ging. Man wuͤrde ihn vielleicht geliebt haben, wenn der elende Lon¬ donderry ſein Vorgaͤnger im Miniſterium geweſen waͤre; jetzt aber war er der Nachfolger des edlen Canning, des vielbeweinten, angebeteten, großen Canning — und er ſiegt wo Canning zu Grunde ging. Ohne ſolches Ungluͤck des Gluͤcks wuͤrde Wellington vielleicht fuͤr einen großen Mann paſ¬ ſiren, man wuͤrde ihn nicht haſſen, nicht genau meſſen, wenigſtens nicht mit dem heroiſchen Maa߬ ſtabe, womit man einen Napoleon und einen Can¬ ning mißt, und man wuͤrde nicht entdeckt haben, wie klein er iſt als Menſch.
Er iſt ein kleiner Menſch, und noch weniger als klein. Die Franzoſen haben von Polignac288 nichts Aergeres ſagen koͤnnen, als: er ſey ein Wellington ohne Ruhm. In der That, was bleibt uͤbrig, wenn man einem Wellington die Feldmarſchalluniform des Ruhmes auszieht?
Ich habe hier die beſte Apologie des Lord Wellington — im engliſchen Sinne des Wortes — geliefert. Man wird ſich aber wundern, wenn ich ehrlich geſtehe, daß ich dieſen Helden einſt ſo¬ gar mit vollen Segeln gelobt habe. Es iſt eine gute Geſchichte, und ich will ſie hier erzaͤhlen:
Mein Barbier in London war ein Radikaler, genannt Miſter White, ein armer kleiner Mann in einem abgeſchabten ſchwarzen Kleide, das einen weißen Wiederſchein gab; er war ſo duͤnn, daß die Façade ſeines Geſichtes nur ein Profil zu ſeyn ſchien, und die Seufzer in ſeiner Bruſt ſichtbar waren noch ehe ſie aufſtiegen. Er ſeufzte naͤmlich immer uͤber das Ungluͤck von Alt-England und uͤber die Unmoͤglichkeit jemals die Nazionalſchuld zu bezahlen.
289„ Ach! “— hoͤrte ich ihn gewoͤhnlich ſeufzen — „ was brauchte ſich das engliſche Volk darum zu bekuͤmmern wer in Frankreich regierte und was die Franzoſen in ihrem Lande trieben? Aber der hohe Adel und die hohe Kirche fuͤrchteten die Frey¬ heitsgrundſaͤtze der franzoͤſiſchen Revoluzion, und um dieſe Grundſaͤtze zu unterdruͤcken, mußte John Bull ſein Blut und ſein Geld hergeben, und noch obendrein Schulden machen. Der Zweck des Krieges iſt jetzt erreicht, die Revoluzion iſt unter¬ druͤckt, den franzoͤſiſchen Freyheitsadlern ſind die Fluͤgel beſchnitten, der hohe Adel und die hohe Kirche koͤnnen jetzt ganz ſicher ſeyn, daß keiner derſelben uͤber den Canal fliegt, und der hohe Adel und die hohe Kirche ſollten jetzt wenigſtens die Schulden bezahlen, die fuͤr ihr eignes Intereſſe, und nicht fuͤr das arme Volk gemacht worden ſind. Ach! das arme Volk — “
Immer wenn er an „ das arme Volk “kam, ſeufzte Miſter White noch tiefer, und der Refrain19290war dann, daß das Brod und der Porter ſo theuer ſey, und daß das arme Volk verhungern muͤſſe, um dicke Lords, Jagdhunde und Pfaffen zu fuͤttern, und daß es nur Eine Huͤlfe gaͤbe. Bey dieſen Worten pflegte er auch das Meſſer zu ſchleifen, und waͤhrend er es uͤber das Schleifleder hin und herzog, murmelte er ingrimmig langſam: „ Lords, Hunde, Pfaffen! “
Gegen den Duke of Wellington kochte aber ſein radikaler Zorn immer am heftigſten, er ſpukte Gift und Galle ſobald er auf dieſen zu ſprechen kam, und wenn er mich unterdeſſen einſeifte, ſo geſchah es mit ſchaͤumender Wuth. Einſt wurde ich ordentlich bange, als er mich juſt nahe beym Halſe barbirte, waͤhrend er ſo heftig gegen Wel¬ lington loszog, und beſtaͤndig dazwiſchen murmelte: „ haͤtte ich ihn nur ſo unterm Meſſer, ich wuͤrde ihm die Muͤhe erſparen ſich ſelbſt die Kehle abzu¬ ſchneiden, wie ſein Amtsbruder und Landsmann Londonderry, der ſich die Kehle abgeſchnitten zu291 Nordkray in der Grafſchaft Kent — Gott ver¬ damm ihn. “
Ich fuͤhlte ſchon wie die Hand des Mannes zitterte, und aus Furcht, daß er in der Leiden¬ ſchaft ſich ploͤtzlich einbilden koͤnnte, ich ſey der Duke of Wellington, ſuchte ich ſeine Heftigkeit herabzuſtimmen, und ihn unter der Hand zu be¬ ſaͤnftigen. Ich nahm ſeinen Nazionalſtolz in An¬ ſpruch, ich ſtellte ihm vor, daß Wellington den Ruhm der Englaͤnder befoͤrdert, daß er immer nur eine unſchuldige Maſchine in dritten Haͤnden geweſen ſey, daß er gern Beefſteaks eſſe, und daß er endlich — Gott weiß! was ich noch mehr von Wellington ruͤhmte, als mir das Meſſer an der Kehle ſtand.
Was mich am meiſten aͤrgert, iſt der Gedanke, daß Arthur Wellington eben ſo unſterblich wird wie Napoleon Bonaparte. Iſt doch, in aͤhnlicher19 *292Weiſe, der Name Pontius Pilatus eben ſo un¬ vergeßlich geblieben, wie der Name Chriſti. Wel¬ lington und Napoleon! Es iſt ein wunderbares Phenomen, daß der menſchliche Geiſt, ſich beyde zu gleicher Zeit denken kann. Es giebt keine groͤ¬ ßern Contraſte als dieſe beyden, ſchon in ihrer aͤußeren Erſcheinung. Wellington, das dumme Geſpenſt, mit einer aſchgrauen Seele in einem ſteifleinenen Koͤrper, ein hoͤlzernes Laͤcheln in dem frierenden Geſichte — daneben denke man ſich das Bild Napoleons, jeder Zoll ein Gott!
Nie ſchwindet dieſes Bild aus meinem Ge¬ daͤchtniſſe. Ich ſehe ihn immer noch hoch zu Roß, mit den ewigen Augen in dem marmornen Imperatorgeſichte, ſchickſalruhig hinabblickend auf die vorbeydefilirende Guarden — er ſchickte ſie damals nach Rußland, und die alten Grenadiere ſchauten zu ihm hinauf, ſo ſchauerlich ergeben, ſo mitwiſſend ernſt, ſo todesſtolz —
Te, Caesar, morituri salutant!
293Manchmal uͤberſchleicht mich geheimer Zweifel, ob ich ihn wirklich ſelbſt geſehen, ob wir wirklich ſeine Zeitgenoſſen waren, und es iſt mir dann als ob ſein Bild, losgeriſſen aus dem kleinen Ramen der Gegenwart, immer ſtolzer und herriſcher zuruͤck¬ weiche in vergangenheitliche Daͤmmerung. Sein Name ſchon klingt uns wie eine Kunde der Vor¬ welt, und eben ſo antik und heroiſch wie die Na¬ men Alexander und Caͤſar. Er iſt ſchon ein Lo¬ ſungswort geworden unter den Voͤlkern, und wenn der Orient und der Occident ſich begegnen, ſo ver¬ ſtaͤndigen ſie ſich durch dieſen einzigen Namen.
Wie bedeutſam und magiſch alsdann dieſer Name erklingen kann, das empfand ich aufs Tiefſte, als ich einſt im Hafen von London, wo die indi¬ ſchen Docks ſind, an Bord eines Oſtindienfahrers ſtieg, der eben aus Bengalen angelangt war. Es war ein rieſenhaftes Schiff und zahlreich bemannt mit Hindoſtanern. Die grotesken Geſtalten und Gruppen, die ſeltſam bunten Trachten, die raͤth¬294 ſelhaften Mienen, die wunderlichen Leibesbewegun¬ gen, der wildfremde Klang der Sprache, des Ju¬ bels und des Lachens, dabey wieder der Ernſt auf einigen ſanftgelben Geſichtern, deren Augen, wie ſchwarze Blumen, mich mit abentheuerlicher Wehmuth anſahen — alles das erregte in mir ein Gefuͤhl wie Verzauberung, ich war ploͤtzlich wie verſetzt in Schehezerade's Maͤhrchen, und ich meinte ſchon, nun muͤßten auch breitblaͤttrige Pal¬ men und langhaͤlſige Kameele und goldbedeckte Elephanten und andre fabelhafte Baͤume und Thiere zum Vorſchein kommen. Der Superkargo, der ſich auf dem Schiffe befand, und die Sprache jener Leute eben ſo wenig verſtand als ich, konnte mir, mit aͤchtbrittiſcher Beſchraͤnktheit, nicht genug erzaͤhlen, was das fuͤr ein naͤrriſches Volk ſey, faſt lauter Mahometaner, zuſammengewuͤrfelt aus allen Laͤndern Aſiens, von der Grenze Chinas bis ans arabiſche Meer, darunter ſogar einige pech¬ ſchwarze, wollhaarige Afrikaner.
295Des dumpfen abendlaͤndiſchen Weſens ſo ziem¬ lich uͤberdruͤſſig, ſo recht Europa-muͤde wie ich mich damals manchmal fuͤhlte, war mir dieſes Stuͤck Morgenland, das ſich jetzt heiter und bunt vor meinen Augen bewegte, eine erquickliche La¬ bung, mein Herz erfriſchten wenigſtens einige Trop¬ fen jenes Trankes, wonach es in truͤbhannoͤvriſchen oder koͤniglich preußiſchen Winternaͤchten ſo oft ge¬ ſchmachtet hatte, und die fremden Leute mochten es mir wohl anſehen, wie angenehm mir ihre Erſcheinung war, und wie gern ich ihnen ein Lie¬ beswoͤrtchen geſagt haͤtte. Daß auch ich ihnen recht wohl gefiel, war den innigen Augen anzu¬ ſehen, und ſie haͤtten mir ebenfalls gern etwas Liebes geſagt, und es war eine Truͤbſal, daß Kei¬ ner des Andern Sprache verſtand. Da endlich fand ich ein Mittel, ihnen meine freundſchaftliche Geſinnung auch mit einem Worte kund zu geben, und ehrfurchtsvoll und die Hand ausſtreckend, wie zum Liebesgruß, rief ich den Namen: Mahomet!
296Freude uͤberſtralte ploͤtzlich die dunklen Geſich¬ ter der fremden Leute, ſie kreuzten ehrfurchtsvoll die Arme, und zum erfreuenden Gegengruß, riefen ſie den Namen: Bonaparte!
Wenn mir mahl die Zeit der muͤßigen Unter¬ ſuchungen wiederkehrt, ſo werde ich langweiligſt gruͤndlich beweiſen: daß nicht Indien, ſondern Egypten jenes Kaſtenthum hervorgebracht hat, das, ſeit zwey Jahrtauſenden, in jede Landestracht ſich zu vermummen, und jede Zeit in ihrer eigenen Sprache zu taͤuſchen wußte, das vielleicht jetzt todt iſt, aber den Schein des Lebens erheuchelnd, noch immer boͤsaͤugig und unheilſtiftend unter uns wandelt, mit ſeinem Leichendufte unſer bluͤhendes298 Leben vergiftet, ja, als ein Vampyr des Mittel¬ alters, den Voͤlkern das Blut und das Licht aus den Herzen ſaugt. Dem Schlamme des Nil - Thals entſtiegen nicht bloß die Krokodille, die ſo gut weinen koͤnnen, ſondern auch jene Prieſter, die es noch beſſer verſtehen, und jener privilegirt erbliche Kriegerſtand, der in Mordgier und Ge¬ fraͤßigkeit die Krokodille noch uͤbertrifft.
Zwey tiefſinnige Maͤnner, deutſcher Nazion, entdeckten den heilſamſten Gegenzauber wider die ſchlimmſte aller egyptiſchen Plagen, und durch ſchwarze Kunſt — durch die Buchdruckerey und das Pulver — brachen ſie die Gewalt jener geiſt¬ lichen und weltlichen Hierarchie, die ſich aus einer Verbuͤndung des Prieſterthums und der Krieger¬ kaſte, naͤmlich der ſogenannten katholiſchen Kirche und des Feudaladels, gebildet hatte, und die ganz Europa weltlich und geiſtlich knechtete. Die Dru¬299 ckerpreſſe zerſprengte das Dogmengebaͤude, worin der Großpfaffe von Rom die Geiſter gekerkert, und Nordeuropa athmete wieder frey, entlaſtet von dem naͤchtlichen Alp jener Kleriſey, die zwar in der Form von der egyptiſchen Standeserblich¬ keit abgewichen war, im Geiſte aber dem egypti¬ ſchen Prieſterſyſteme um ſo getreuer bleiben konnte, da ſie ſich nicht durch natuͤrliche Fortpflanzung, ſondern unnatuͤrlich, durch mamelukenhafte Rekru¬ tirung, als eine Corporazion von Hageſtolzen, noch ſchroffer darſtellte. Eben ſo ſehen wir, wie die Kriegerkaſte ihre Macht verliert, ſeit die alte Handswerksroutine nicht mehr von Nutzen iſt bey der neuen Kriegsweiſe; denn von dem Poſaunen¬ tone der Kanonen werden jetzt die ſtaͤrkſten Burg¬ thuͤrme niedergeblaſen, wie weiland die Mauern von Jericho, der eiſerne Harniſch des Ritters ſchuͤtzt gegen den bleyernen Regen eben ſo wenig wie der leinene Kittel des Bauers; das Pulver300 macht die Menſchen gleich, eine buͤrgerliche Flinte geht eben ſo gut los wie eine adliche Flinte — das Volk erhebt ſich.
Die fruͤheren Beſtrebungen, die wir in der Geſchichte der lombardiſchen und toskaniſchen Re¬ publiken, der ſpaniſchen Communen, und der freyen Staͤdte in Deutſchland und andren Laͤndern erkennen, verdienen nicht die Ehre, eine Volkser¬ hebung genannt zu werden; es war kein Streben nach Freyheit, ſondern nach Freyheiten, kein Kampf fuͤr Rechte, ſondern fuͤr Gerechtſame; Cor¬ porazionen ſtritten um Privilegien, und es blieb alles in den feſten Schranken des Gilden - und Zunftweſens. Erſt zur Zeit der Reformazion wurde der Kampf von allgemeiner und geiſtiger Art, und die Freyheit wurde verlangt, nicht als ein hergebrachtes ſondern als ein urſpruͤngliches, nicht als ein erworbenes ſondern als ein angebo¬301 renes Recht. Da wurden nicht mehr alte Perga¬ mente, ſondern Prinzipien vorgebracht; und der Bauer in Deutſchland und der Puritaner in Eng¬ land beriefen ſich auf das Evangelium, deſſen Ausſpruͤche damals an Vernunft Statt galten, ja noch hoͤher galten, naͤmlich als eine geoffenbarte Vernunft Gottes. Da ſtand deutlich ausgeſpro¬ chen: daß die Menſchen von gleich edler Geburt ſind, daß hochmuͤthiges Beſſerduͤnken verdammt werden muß, daß der Reichthum eine Suͤnde iſt, und daß auch die Armen berufen ſind zum Genuſſe, in dem ſchoͤnen Garten Gottes, des ge¬ meinſamen Vaters.
Mit der Bibel in der einen Hand und mit dem Schwerte in der anderen, zogen die Bauern durch das ſuͤdliche Deutſchland, und der uͤppigen Buͤrgerſchaft im hochgethuͤrmten Nuͤremberg ließen ſie ſagen: es ſolle kuͤnftig kein Haus im Reiche ſtehen bleiben, das anders ausſaͤhe als ein Bauern¬302 haus. So wahr und tief hatten ſie die Gleich¬ heit begriffen. Noch heutigen Tags, in Franken und Schwaben, ſchauen wir die Spuren dieſer Gleichheitslehre, und eine grauenhafte Ehrfurcht, vor dem heiligen Geiſte uͤberſchleicht den Wan¬ derer, wenn er im Mondſchein die dunkeln Burg¬ truͤmmer ſieht aus der Zeit des Bauernkriegs. Wohl dem, der, nuͤchternen Sinns, nichts ande¬ res ſieht, iſt man aber ein Sonntagskind — und das iſt jeder Geſchichtskundige — ſo ſieht man auch die hohe Jagd, die der deutſche Adel, der roheſte der Welt, gegen die Beſiegten geuͤbt, man ſieht wie tauſendweis die Wehrloſen todtgeſchlagen, gefoltert, geſpießt und gemartert wurden, und aus den wogenden Kornfeldern ſieht man ſie geheim¬ nißvoll nicken die blutigen Bauernkoͤpfe, und druͤ¬ ber hin hoͤrt man pfeifen eine entſetzliche Lerche, rachegellend, wie der Pfeifer vom Helfenſtein.
Etwas beſſer erging es den Bruͤdern in Eng¬303 land und Schottland; ihr Untergang war nicht ſo ſchmaͤhlig und erfolglos, und noch jetzt ſehen wir dort die Fruͤchte ihres Regiments. Aber es gelang ihnen keine feſte Begruͤndung deſſelben, die ſaube¬ ren Cavaliere herrſchen wieder nach wie vor, und ergoͤtzen ſich an den Spaßgeſchichten von den al¬ ten ſtarren Stutzkoͤpfen, die der befreundete Barde, zu ihrer muͤßigen Unterhaltung ſo huͤbſch beſchrie¬ ben. Keine geſellſchaftliche Umwaͤlzung hat in Großbritannien ſtattgefunden, das Geruͤſte der buͤr¬ gerlichen und politiſchen Inſtituzionen blieb unzer¬ ſtoͤrt, die Kaſtenherrſchaft und das Zunftweſen hat ſich dort bis auf den heutigen Tag erhalten, und obgleich getraͤnkt von dem Lichte und der Waͤrme der neuern Civiliſazion, verharrt England in einem mittelalterlichen Zuſtande, oder vielmehr im Zu¬ ſtande eines faſhionablen Mittelalters. Die Con¬ zeſſionen, die dort den liberalen Ideen gemacht worden, ſind dieſer mittelalterlichen Starrheit nur muͤhſam abgekaͤmpft worden; und nie aus einem304 Prinzip, ſondern aus der faktiſchen Nothwendig¬ keit, ſind alle modernen Verbeſſerungen hervorge¬ gangen, und ſie tragen alle den Fluch der Halb¬ heit, die immer neue Drangſal und neuen Todes¬ kampf und deſſen Gefahren noͤthig macht. Die religioͤſe Reformazion iſt in England nur halb vollbracht, und zwiſchen den kahlen vier Gefaͤng¬ nißwaͤnden der biſchoͤflich anglikaniſchen Kirche, befindet man ſich noch viel ſchlechter, als in dem weiten, huͤbſch bemalten und weichgepolſterten Gei¬ ſteskerker des Katholizismus. Mit der politiſchen Reformazion iſt es nicht viel beſſer gegangen, die Volksvertretung iſt ſo mangelhaft als moͤglich: wenn die Staͤnde ſich auch nicht mehr durch den Rock trennen, ſo trennen ſie ſich doch noch immer durch verſchiedenen Gerichtsſtand, Patronage, Hof¬ faͤhigkeit, Praͤrogative, Gewohnheitsvorrechte, und ſonſtige Fatalien; und wenn Eigenthum und Per¬ ſon des Volks nicht mehr von ariſtokratiſcher Will¬ kuͤhr, ſondern vom Geſetze abhaͤngen, ſo ſind doch305 dieſe Geſetze nichts anderes als eine andere Art von Zaͤhnen, womit die ariſtokratiſche Brut ihre Beute erhaſcht, und eine andere Art von Dolchen, womit ſie das Volk meuchelt. Denn wahrlich, kein Tyrann vom Continente wuͤrde aus Willkuͤhr¬ luſt ſo viel Taxen erpreſſen, als das engliſche Volk von Geſetzwegen bezahlen muß, und kein Tyrann war jemals ſo grauſam wie Englands Criminal¬ geſetze, die taͤglich morden, fuͤr den Betrag eines Schillings, und mit Buchſtabenkaͤlte. Wird auch, ſeit kurzem manche Verbeſſerung dieſes truͤben Zuſtandes in England vorbereitet, werden auch der weltlichen und geiſtlichen Habſucht hie und da Schranken geſetzt, wird auch jetzt die große Luͤge einer Volksvertretung einigermaßen beguͤtigt, indem man hie und da einem großen Fabrikorte die ver¬ wirkte Wahlſtimme von einem rotten borrough uͤbertraͤgt, wird gleichfalls hie und da die harſche Intoleranz gemildert, indem man auch einige an¬ dere Sekten bevorrechtet — ſo iſt dieſes alles doch20306nur leidige Altflickerey, die nicht lange vorhaͤlt, und der duͤmmſte Schneider in England kann vorausſehen, daß uͤber kurz oder lang das alte Staatskleid in truͤbſeligen Fetzen aus einander reißt.
„ Niemand flickt einen Lappen von neuem Tu¬ che an ein altes Kleid; denn der neue Lappen reißt doch vom alten, und der Riß wird aͤrger. Und niemand faſſet Moſt in alte Schlaͤuche; an¬ ders zerreißt der Moſt die Schlaͤuche, und der Wein wird verſchuͤttet, und die Schlaͤuche kommen um. Sondern man ſoll Moſt in neue Schlaͤuche faſſen. “
Die tiefſte Wahrheit erbluͤht nur der tiefſten Liebe, und daher die Uebereinſtimmung in den Anſichten des aͤlteren Bergpredigers, der gegen307 die Ariſtokratie von Jeruſalem geſprochen, und jener ſpaͤteren Bergprediger, die von der Hoͤhe des Convents zu Paris ein dreyfarbiges Evange¬ lium herabpredigten, wonach nicht bloß die Form des Staates, ſondern das ganze geſellſchaftliche Leben, nicht geflickt, ſondern neu umgeſtaltet, neu begruͤndet, ja neu geboren werden ſollte.
Ich ſpreche von der franzoͤſiſchen Revoluzion, jener Weltepoche, wo die Lehre der Freyheit und Gleichheit ſo ſiegreich emporſtieg aus jener allge¬ meinen Erkenntnißquelle, die wir Vernunft nen¬ nen, und die, als eine unaufhoͤrliche Offenbarung, welche ſich in jedem Menſchenhaupte wiederholt und ein Wiſſen begruͤndet, noch weit vorzuͤglicher ſeyn muß, als jene uͤberlieferte Offenbarung, die ſich nur in wenigen Auserleſenen bekundet, und von der großen Menge nur geglaubt werden kann. Dieſe letztgenannte Offenbarungsart, die ſelbſt ari¬20 *308ſtokratiſcher Natur iſt, vermochte nie die Privile¬ gienherrſchaft, das bevorrechtete Kaſtenweſen, ſo ſicher zu bekaͤmpfen, wie es die Vernunft, die demokratiſcher Natur iſt, jetzt bekaͤmpft. Die Re¬ voluzionsgeſchichte iſt die Kriegsgeſchichte dieſes Kampfes, woran wir alle mehr oder minder Theil genommen; es iſt der Todeskampf mit dem Egyp¬ tenthum.
Obgleich die Schwerter der Feinde taͤglich ſtumpfer werden, obgleich wir ſchon die beſten Poſizionen beſetzt, ſo koͤnnen wir doch nicht eher das Triumpflied anſtimmen, als bis das Werk vollendet iſt. Wir koͤnnen nur in den Zwiſchen¬ naͤchten, wenn Waffenſtillſtand, mit der Lanterne aufs Schlachtfeld hinausgehn, um die Todten zu beerdigen. — Wenig fruchtet die kurze Leichen¬ rede! Die Verlaͤumdung, das freche Geſpenſt, ſetzt ſich auf die edelſten Graͤber —
309Ach! gilt doch der Kampf auch jenen Erbfein¬ den der Wahrheit, die ſo ſchlau den guten Leu¬ mund ihrer Gegner zu vergiften wiſſen, und die ſogar jenen erſten Bergprediger, den reinſten Frey¬ heitshelden, herabzuwuͤrdigen wußten; denn als ſie nicht laͤugnen konnten, daß er der groͤßte Menſch ſey, machten ſie ihn zum kleinſten Gotte. Wer mit Pfaffen kaͤmpft, der mache ſich darauf gefaßt, daß der beſte Lug und die triftigſten Verlaͤumdun¬ gen ſeinen armen guten Namen zerfetzen und ſchwaͤrzen werden. Aber gleich wie man jene Fahnen, die in der Schlacht am meiſten von den Kugeln zerfetzt und von Pulverdampf geſchwaͤrzt worden, hoͤher ehrt als die blankſten und geſuͤnde¬ ſten Rekrutenfahnen, und wie man ſie endlich als Nazionalreliquien in den Domen aufſtellt: ſo werden einſt die Namen unſerer Helden, jemehr ſie zerfetzt und angeſchwaͤrzt worden, um ſo enthu¬ ſiaſtiſcher verehrt werden, in der heiligen Genofeva¬ kirche der Freyheit.
310Wie die Helden der Revoluzion, ſo hat man die Revoluzion ſelbſt verlaͤumdet, und ſie als ein Fuͤrſtenſchreckniß und eine Volkſcheuche dargeſtellt in Libellen aller Art. Man hat in den Schulen all die ſogenannten Greuel der Revoluzion von den Kindern auswendig lernen laſſen, und auf den Jahr¬ maͤrkten ſah man, einige Zeit, nichts anderes als grellkolorirte Bilder der Guillotine. Es iſt freylich nicht zu laͤugnen, dieſe Maſchine, die ein franzoͤſi¬ ſcher Arzt, ein großer Welt-Orthopaͤde, Monſieur Guillotin, erfunden hat, und womit man die dummen Koͤpfe von den boͤſen Herzen ſehr leicht trennen kann, dieſe heilſame Maſchine hat man etwas oft angewandt, aber doch nur bey unheil¬ baren Krankheiten, z. B. bey Verrath, Luͤge und Schwaͤche, und man hat die Patienten nicht lang gequaͤlt, nicht gefoltert, und nicht geraͤdert, wie einſt tauſende und aber tauſende Rotuͤriers und Vilains, Buͤrger und Bauern, gequaͤlt, gefoltert und geraͤdert wurden, in der guten alten Zeit.
311Daß die Franzoſen mit jener Maſchine ſogar das Oberhaupt ihres Staates amputirt, iſt freylich ent¬ ſetzlich, und man weiß nicht, ob man ſie deshalb des Vatermords oder des Selbſtmords beſchuldigen ſoll; aber bey milderungsgruͤndlicher Betrachtung finden wir, daß Ludwig von Frankreich minder ein Opfer der Leidenſchaften als vielmehr der Be¬ gebenheiten geworden, und daß diejenigen Leute die das Volk zu ſolchem Opfer draͤngten und die ſelbſt, zu allen Zeiten, in weit reichlicherem Maaße, Fuͤrſtenblut vergoſſen haben, nicht als laute Klaͤ¬ ger auftreten ſollten. Nur zwey Koͤnige, beide vielmehr Koͤnige des Adels als des Volkes, hat das Volk geopfert, nicht in Friedenszeit, nicht niedriger Intereſſen wegen, ſondern in aͤußerſter Kriegsbedraͤngniß, als es ſich von ihnen verrathen ſah, und waͤhrend es ſeines eignen Blutes am wenigſten ſchonte; aber gewiß mehr als tauſend Fuͤrſten fielen meuchlings, und der Habſucht oder frivoler Intereſſen wegen, durch den Dolch, durch312 das Schwert und durch das Gift des Adels und der Pfaffen. Es iſt als ob dieſe Kaſten den Fuͤrſtenmord ebenfalls zu ihren Privilegien rech¬ neten, und deßhalb den Tod Ludwig XVI. und Carl I. um ſo eigennuͤtziger beklagten. O, daß die Koͤnige endlich einſaͤhen, daß ſie, als Koͤnige des Volkes, im Schutze der Geſetze, viel ſicherer leben koͤnnen, als unter der Guarde ihrer adligen Leibmoͤrder!
Aber nicht bloß die Helden der Revoluzion und die Revoluzion ſelbſt, ſondern ſogar unſer ganzes Zeitalter hat man verlaͤumdet, die ganze Liturgie unſerer heiligſten Ideen hat man parodirt, mit unerhoͤrtem Frevel, und wenn man ſie hoͤrt oder lieſ't, unſere ſchnoͤden Veraͤchter, ſo heißt das Volk die Canaille, die Freyheit heißt Frech¬313 heit, und mit himmelnden Augen und frommen Seufzern, wird geklagt und bedauert, wir waͤren frivol und haͤtten leider keine Religion. Heuchle¬ riſche Duckmaͤuſer, die unter der Laſt ihrer gehei¬ men Suͤnden niedergebeugt einher ſchleichen, wa¬ gen es, ein Zeitalter zu laͤſtern, das vielleicht das heiligſte iſt von allen ſeinen Vorgaͤngern und Nachfolgern, ein Zeitalter, das ſich opfert fuͤr die Suͤnden der Vergangenheit und fuͤr das Gluͤck der Zukunft, ein Meſſias unter den Jahrhunder¬ ten, der die blutige Dornenkrone und die ſchwere Kreuzlaſt kaum ertruͤge, wenn er nicht dann und wann ein heiteres Vaudeville traͤllerte und Spaͤße riſſe uͤber die neueren Phariſaͤer und Saduzaͤer. Die koloſſalen Schmerzen waͤren nicht zu ertragen ohne ſolche Witzreißerey und Perſiflage! Der Ernſt tritt um ſo gewaltiger hervor, wenn der Spaß ihn angekuͤndigt. Die Zeit gleicht hierin ganz ihren Kindern unter den Franzoſen, die ſehr21314ſcherzliche, leichtfertige Buͤcher geſchrieben, und doch ſehr ſtreng und ernſthaft ſeyn konnten, wo Strenge und Ernſt nothwendig wurden; z. B. Dú Clos und gar Louvet de Couvrai, die beide, wo es galt, mit Maͤrtyrerkuͤhnheit und Aufopfe¬ rung fuͤr die Freyheit ſtritten, uͤbrigens aber ſehr frivol und ſchluͤpfrig ſchrieben, und leider keine Religion hatten.
Als ob die Freyheit nicht eben ſo gut eine Religion waͤre, als jede andere! Da es die unſ¬ rige iſt, ſo koͤnnten wir, mit demſelben Maaße meſſend, ihre Veraͤchter fuͤr frivol und irreligios erklaͤren.
Ja, ich wiederhole die Worte, womit ich dieſe Blaͤtter eroͤffnet: die Freyheit iſt eine neue Reli¬ gion, die Religion unſerer Zeit. Wenn Chriſtus auch nicht der Gott dieſer Religion iſt, ſo iſt er doch ein hoher Prieſter derſelben, und ſein Name315 ſtrahlt beſeligend in die Herzen der Juͤnger. Die Franzoſen ſind aber das auserleſene Volk der neuen Religion, in ihrer Sprache ſind die erſten Evange¬ lien und Dogmen verzeichnet, Paris iſt das neue Jeruſalem, und der Rhein iſt der Jordan, der das geweihte Land der Freyheit trennt von dem Lande der Philiſter.
21*(Geſchrieben den 29. Nov. 1830.)
Es war eine niedergedruͤckte, arretirte Zeit in Deutſchland, als ich den zweiten Band der Rei¬ ſebilder ſchrieb und waͤhrend des Schreibens dru¬ cken ließ. Ehe er aber erſchien, verlautete ſchon etwas davon im Publikum, es hieß mein Buch wolle den eingeſchuͤchterten Freyheitsmuth wieder aufmuntern, und man treffe ſchon Maßregeln, es ebenfalls zu unterdruͤcken. Bey ſolchem Geruͤchte317 war es rathſam, das Werk um ſo ſchneller zu foͤr¬ dern und aus der Preſſe zu jagen. Da es eine gewiſſe Bogenzahl enthalten mußte, um den An¬ ſpruͤchen einer hochloͤblichen Cenſur zu entgehen: ſo glich ich in jener Noth dem Benvenuto Cellini, als er beym Guß des Perſeus nicht Erz genug hatte, und zur Fuͤllung der Form, alle zinnerne Teller, die ihm zur Hand lagen, in den Schmelz¬ ofen warf. Es war gewiß leicht das Zinn, beſon¬ ders das zinnerne Ende des Buches, von dem beſſeren Erze zu unterſcheiden; doch, wer das Handwerk verſtand, verrieth den Meiſter nicht.
Wie aber alles in der Welt wiederkehren kann, ſo geſchieht es auch, daß ſich zufaͤlligerweiſe bey dieſen „ Nachtraͤgen “eine aͤhnliche Bedraͤngniß ereignet, und ich habe wieder eine Menge Zinn in den Guß werfen muͤſſen, und ich wuͤnſche, daß man meine Zinngießereyen nur der Zeitnoth zu¬ ſchreibe.
318Ach! iſt ja das ganze Buch aus der Zeitnoth hervorgegangen, eben ſo wie die fruͤheren Schrif¬ ten aͤhnlicher Richtung; die naͤheren Freunde des Verfaſſers, die ſeiner Privatverhaͤltniſſe kundig ſind, wiſſen ſehr gut wie wenig ihn die eigne Selbſt¬ ſucht zur Tribuͤne draͤngt, und wie groß die Opfer ſind, die er bringen muß, fuͤr jedes freye Wort, das er ſeitdem geſprochen — und wills Gott! noch ſprechen wird. Jetzt iſt das Wort eine That, deren Folgen ſich nicht abmeſſen laſſen; kann doch keiner genau wiſſen, ob er nicht gar am Ende als Blutzeuge auftreten muß fuͤr das Wort.
Seit mehreren Jahren warte ich vergebens auf das Wort jener kuͤhnen Redner, die einſt in den Verſammlungen der deutſchen Burſchenſchaft ſo oft ums Wort baten, und mich ſo oft durch ihre rhetoriſchen Talente uͤberwunden, und eine ſo vielverſprechende Sprache geſprochen; ſie waren319 ſonſt ſo vorlaut, und ſind jetzt ſo nachſtill. Wie ſchmaͤhten ſie damals die Franzen und das wel¬ ſche Babel und den undeutſchen, frivolen Vater¬ landsverraͤther, der das Franzenthum lobte. Jenes Lob hat ſich bewaͤhrt in der großen Woche.
Ach, die große Woche von Paris! Der Frey¬ heitsmuth, der von dort heruͤberwehte nach Deutſch¬ land, hat freylich hie und da die Nachtlichter umgeworfen, ſo daß die rothen Gardinen an eini¬ gen Thronen in Brand geriethen, und die gold¬ nen Kronen heiß wurden unter den lodernden Schlafmuͤtzen; — aber die alten Haͤſcher, denen die Reichspolizey anvertraut, ſchleppen ſchon die Loͤſcheymer herbey, und ſchnuͤffeln jetzt um ſo wach¬ ſamer, und ſchmieden um ſo feſter die heimlichen Ketten, und ich merke ſchon, unſichtbar woͤlbt ſich eine noch dichtere Kerkermauer um das deutſche Volk.
Armes, gefangenes Volk! verzage nicht in dei¬320 ner Noth — O, daß ich Katapulta ſprechen koͤnnte! O, daß ich Falarika hervorſchießen koͤnnte aus meinem Herzen!
Von meinem Herzen ſchmilzt die vornehme Eisrinde, eine ſeltſame Wehmuth beſchleicht mich — iſt es Liebe und gar Liebe fuͤr das deutſche Volk? Oder iſt es Krankheit? — meine Seele bebt, und es brennt mir im Auge, und das iſt ein unguͤnſtiger Zuſtand fuͤr einen Schriftſteller, der den Stoff beherrſchen und huͤbſch objektiv blei¬ ben ſoll, wie es die Kunſtſchule verlangt, und wie es auch Goethe gethan — er iſt achtzig Jahr dabey alt geworden, und Miniſter und wohlha¬ bend — armes deutſches Volk! das iſt dein groͤßter Mann!
Es fehlen mir noch einige Oktavſeiten und ich will deshalb noch eine Geſchichte erzaͤhlen — ſie ſchwebt mir ſchon ſeit geſtern im Sinne — es iſt321 eine Geſchichte aus dem Leben Karl V. Doch iſt es ſchon lange her, ſeit ich ſie vernahm, und ich weiß die beſonderen Umſtaͤnde nicht mehr ganz genau. So was vergißt ſich leicht, wenn man kein beſtimmtes Gehalt dafuͤr bezieht, daß man die alten Geſchichten alle halbe Jahre vom Hefte ablieſt. Was iſt aber auch daran gelegen, wenn man die Ortsnamen und Jahrzahlen der Geſchich¬ ten vergeſſen hat; wenn man nur ihre innere Bedeutung, ihre Moral, im Gedaͤchtniſſe behal¬ ten. Dieſe iſt es eigentlich, die mir im Sinne klingt und mich wemuͤthig bis zu Thraͤnen ſtimmt. Ich fuͤrchte, ich werde krank.
Der arme Kaiſer war von ſeinen Feinden ge¬ fangen genommen, und ſaß in ſchwerer Haft. Ich glaube es war in Tyrol. Da ſaß er, in ein¬ ſamer Betruͤbniß, verlaſſen von allen ſeinen Rit¬ tern und Hoͤflingen, und keiner kam ihm zu Huͤlfe. Ich weiß nicht, ob er ſchon damals jenes322 kaͤſebleiche Geſicht hatte, wie es auf den Bildern von Holbein abkonterfeit iſt. Aber die menſchen¬ verachtende Unterlippe trat gewiß noch gewaltſamer hervor als auf jenen Bildern. Mußte er doch die Leute verachten, die, im Sonnenſchein des Gluͤ¬ ckes, ihn ſo ergeben umwedelt, und ihn jetzt allein ließen in dunkler Noth. Da oͤffnete ſich ploͤtzlich die Kerkerthuͤre, und herein trat ein ver¬ huͤllter Mann, und wie dieſer den Mantel zuruͤck¬ ſchlug, erkannte der Kaiſer ſeinen treuen Kunz von der Roſen, den Hofnarren. Dieſer brachte ihm Troſt und Rath, und es war der Hofnarr.
O, deutſches Vaterland! theures deutſches Volk! ich bin dein Kunz von der Roſen. Der Mann, deſſen eigentliches Amt die Kurzweil und der dich nur beluſtigen ſollte in guten Tagen, er dringt in deinen Kerker zur Zeit der Noth; hier unter dem Mantel bringe ich dir dein ſtarkes Zepter und die323 ſchoͤne Krone — erkennſt du mich nicht, mein Kaiſer? Wenn ich dich nicht befreyen kann, ſo will ich dich wenigſtens troͤſten, und du ſollſt je¬ manden um dir haben, der mit dir ſchwatzt uͤber die bedraͤnglichſte Drangſal, und dir Muth ein¬ ſpricht, und dich lieb hat, und deſſen beſter Spaß und beſtes Blut zu deinen Dienſten ſteht. Denn du, mein Volk, biſt der wahre Kaiſer, der wahre Herr der Lande — dein Wille iſt ſouverain und viel legitimer als jenes purpurne Tel est notre plaisir, das ſich auf ein goͤttliches Recht beruft, ohne alle andre Gewaͤhr als die Salbadereyen ge¬ ſchorener Gaukler — dein Wille, mein Volk, iſt die alleinig rechtmaͤßige Quelle aller Macht. Wenn du auch in Feſſeln danieder liegſt, ſo ſiegt doch am Ende dein gutes Recht, es naht der Tag der Be¬ freyung, eine neue Zeit beginnt — mein Kaiſer, die Nacht iſt voruͤber und draußen gluͤht das Mor¬ genroth.
324Kunz von der Roſen, mein Narr, du irrſt dich, ein blankes Beil haͤltſt du vielleicht fuͤr eine Sonne, und das Morgenroth iſt nichts als Blut.
Nein, mein Kaiſer, es iſt die Sonne, obgleich ſie im Weſten hervorſteigt — ſeit ſechstauſend Jah¬ ren ſah man ſie immer aufgehen im Oſten, da wird es wohl Zeit, daß ſie mahl eine Veraͤndrung vornehme in ihrem Lauf.
Kunz von der Roſen, mein Narr, du haſt ja die Schellen verloren von deiner rothen Muͤtze, und ſie hat jetzt ſo ein ſeltſames Anſehen, die rothe Muͤtze.
Ach, mein Kaiſer, ich habe ob Eurer Noth ſo wuͤthend ernſthaft den Kopf geſchuͤttelt, daß die naͤrriſchen Schellen abfielen von der Muͤtze; ſie iſt aber darum nicht ſchlechter geworden.
325Kunz von der Roſen, mein Narr, was bricht und kracht da draußen?
Seyd ſtill! das iſt die Saͤge und die Zimmer¬ mannsaxt, und bald brechen zuſammen die Pfor¬ ten Eures Kerkers, und ihr ſeyd frey, mein Kaiſer!
Bin ich denn wirklich Kaiſer? Ach, es iſt ja der Narr, der es mir ſagt!
O, ſeufzt nicht, mein lieber Herr, die Ker¬ kerluft macht Euch ſo verzagt; wenn Ihr erſt wieder Eure Macht errungen, fuͤhlt Ihr auch wieder das kuͤhne Kaiſerblut in Euren Adern, und Ihr ſeyd ſtolz wie ein Kaiſer, und uͤbermuͤthig, und genaͤdig, und ungerecht, und laͤchelnd, und undankbar, wie Fuͤrſten ſind.
326Kunz von der Roſen, mein Narr, wenn ich wieder frey werde, was willſt du dann an¬ fangen?
Ich will mir dann neue Schellen an meine Muͤtze naͤhen.
Und wie ſoll ich deine Treue belohnen?
Ach! lieber Herr, laßt mich nicht umbringen.
Seite 60. Zeile 7 von oben, vor den Worten „ Glauben ſie “und Seite 71. Zeile 7. von oben, vor den Worten „ O Sie ſind ſchlau “beginnt jedesmal ein neuer Satz.
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