Sie fuͤrchten, daß man dem Wort Humani - taͤt einen Fleck anhaͤngen werde*)S. das Ende des vorigen Briefes. A. d. H.; koͤnnten wir nicht das Wort aͤndern? Menſchheit, Menſchlichkeit, Menſchenrechte, Menſchenpflichten, Menſchenwuͤr - de, Menſchenliebe?
Menſchen ſind wir alleſammt, und tragen ſofern die Menſchheit an uns, oder wir gehoͤren zur Menſchheit. Lei -A 36der aber hat man in unſerer Sprache dem Wort Menſch, und noch mehr dem barm - herzigen Wort Menſchlichkeit ſo oft eine Nebenbedeutung von Niedrigkeit, Schwaͤche und falſchem Mitleid angehaͤngt, daß man jenes nur mit einem Blick der Verachtung, dies mit einem Achſelzucken zu begleiten gewohnt iſt. „ Der Menſch! “*)Adelung hat ſogar dem verbannenswuͤrdi - gen Ausdruck „ das Menſch “einen langen Artikel einraͤumen muͤſſen. A. d. H. ſagen wir jammernd oder verachtend und glauben einen guten Mann aufs lindeſte mit dem Ausdruck zu entſchuldigen: „ es habe ihn die Menſchlichkeit uͤbereilet. “ Kein Vernuͤnftiger billigt es, daß man den Charakter des Geſchlechts, zu dem wir ge - hoͤren, ſo barbariſch hinabgeſetzt hat; man hat hiemit unweiſer gehandelt, als wenn7 man den Namen ſeiner Stadt oder Lands - mannſchaft zum Eckelnamen machte. Wir alſo wollen uns huͤten, daß wir zu Befoͤr - derung ſolcher Menſchlichkeit keine Briefe ſchreiben.
Der Name Menſchenrechte kann ohne Menſchenpflichten nicht genannt werden; beide beziehen ſich auf einander, und fuͤr beide ſuchen wir Ein Wort.
So auch Menſchenwuͤrde und Men - ſchenliebe. Das Menſchengeſchlecht, wie es jetzt iſt und wahrſcheinlich lange noch ſeyn wird, hat ſeinem groͤßeſten Theil nach keine Wuͤrde; man darf es eher bemitlei - den, als verehren. Es ſoll aber zum Charakter ſeines Geſchlechts, mit - hin auch zu deſſen Werth und Wuͤrde gebildet werden. Das ſchoͤne Wort Men - ſchenliebe iſt ſo trivial worden, daß man meiſtens die Menſchen liebt, um keinenA 48unter den Menſchen wirkſam zu lieben. Alle dieſe Worte enthalten Theilbegriffe unſeres Zwecks, den wir gern mit Einem Ausdruck bezeichnen moͤchten.
Alſo wollen wir bei dem Wort Hu - manitaͤt bleiben, an welches unter Al - ten und Neuern die beſten Schriftſteller ſo wuͤrdige Begriffe geknuͤpft haben. Hu - manitaͤt iſt der Charakter unſres Ge - ſchlechts; er iſt uns aber nur in Anla - gen angebohren, und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber ſoll er das Ziel unſres Beſtrebens, die Summe unſrer Uebungen, unſer Werth ſeyn: denn eine Angelitaͤt im Menſchen kennen wir nicht, und wenn der Daͤmon, der uns regiert, kein humaner Daͤmon iſt, werden wir Plagegeiſter der Menſchen. Das Goͤttliche in unſerm Geſchlecht iſt9 alſo Bildung zur Humanitaͤt; alle großen und guten Menſchen, Geſetzgeber, Erfinder, Philoſophen, Dichter, Kuͤnſtler, jeder edle Menſch in ſeinem Stande, bei der Erziehung ſeiner Kinder, bei der Be - obachtung ſeiner Pflichten, durch Beiſpiel, Werk, Inſtitut und Lehre hat dazu mitge - holfen. Humanitaͤt iſt der Schatz und die Ausbeute aller menſchlichen Bemuͤhungen, gleichſam die Kunſt unſres Geſchlech - tes. Die Bildung zu ihr iſt ein Werk, das unablaͤßig fortgeſetzt werden muß; oder wir ſinken, hoͤhere und niedere Staͤnde, zur rohen Thierheit, zur Brutalitaͤt zuruͤck.
Sollte das Wort Humanitaͤt alſo un - ſre Sprache verunzieren? Alle gebildete Nationen haben es in ihre Mundart auf - genommen; und wenn unſre Briefe einem Fremden in die Hand kaͤmen, muͤßten ſieA 510ihm wenigſtens unverfaͤnglich ſcheinen: denn Briefe zu Befoͤrderung der Brutalitaͤt wird doch kein Ehrliebender Menſch wollen geſchrieben haben.
Gern nehme ich mit Ihnen das Wort Humanitaͤt in unſre Sprache, wenig - ſtens im Kreiſe unſrer Geſellſchaft auf; der Begriff, den es ausdruͤckt, noch mehr aber deſſen Geſchichte ſcheint ihm das Buͤrgerrecht zu geben.
So lange der Menſch, dies wunderbare Raͤthſel der Schoͤpfung, ſich ſeinem ſichtba - ren Zuſtande nach betrachtete, und ſich da - bei mit dem was in ihm lag, mit ſeinen Anlagen und Willenskraͤften oder gar mit aͤußern Gegenſtaͤnden der daurenden Na -12 tur verglich, ſo ward er auf das Gefuͤhl der Hinfaͤlligkeit, der Schwaͤche und Krankheit zuruͤckgeſtoßen; daher in meh - reren morgenlaͤndiſchen Schriften dieſer Begriff dem Namen unſres Geſchlechts urſpruͤnglich beigeſellet iſt. Der Menſch iſt von Erde, eine zerbrechliche, von einem fluͤchtigen Othem durchhauchte Leim - huͤtte; ſein Leben iſt ein Schatte, ſein Loos iſt Muͤhe auf Erden.
Schon dieſer Begriff fuͤhrte zur Menſchlichkeit, d. i. zum erbarmenden Mitgefuͤhl des Leidens ſeiner Nebenmen - ſchen, zur Theilnahme an den Unvollkom - menheiten ihrer Natur, mit dem Beſtre - ben, dieſen zuvorzukommen oder ihnen ab - zuhelfen. Die Morgenlaͤnder ſind ſo reich an Sittenſpruͤchen und Einkleidungen, die dies Menſchengefuͤhl als Pflicht einſchaͤr - fen oder als eine unſerm Geſchlecht unent -13 behrliche Tugend empfehlen, daß es ſehr ungerecht waͤre, ihnen Humanitaͤt abzu - ſprechen, weil ſie dies Wort nicht be - ſaßen.
Die Griechen hatten fuͤr den Menſchen einen edleren Namen: ανϑϱωπος ein Auf - waͤrtsblickender, der ſein Antlitz und Auge aufrecht empor traͤgt, oder wie Plato es noch kuͤnſtlicher deutet, Einer, der, in - dem er ſieht, auch uͤberzaͤhlt und rechnet. Sie konnten indeſſen eben ſo wenig um - hin, in dieſem aufrechtblickenden, Vernunft - artigen Geſchlecht alle die Maͤngel zu be - merken, die zum bedaurenden Mitgefuͤhl, alſo zur Humanitaͤt und zur Geſellung fuͤhren. In Homer und allen ihren Dich - tern kommen die zaͤrtlichſten Klagen uͤber das Loos der Menſchheit vor. Erinnern Sie ſich der Worte Apolls, wenn er die armen Sterblichen beſchreibt,
14In demſelben Ton ſingen ihre lyriſche Dichter.
15Naͤchſt der Selbſterhaltung ward es al - ſo die erſte Pflicht der Menſchheit, den Schwaͤchen unſerer Nebengeſchoͤpfe beizu - ſpringen und ſie gegen die Uebel der Na - tur oder die rohen Leidenſchaften ihres eig - nen Geſchlechts in Schutz zu nehmen. Dahin ging die Sorge ihrer Geſetzgeber und Weiſen, daß ſie in Worten und Ge - braͤuchen den Menſchen dieſe unentbehrli - chen heiligen Pflichten gegen ihre Mitmen - ſchen anempfahlen, und dadurch das aͤlteſte Menſchen - und Voͤlkerrecht gruͤnde - ten. Religion wars, vom Morde ſich zu enthalten, dem Schwachen beizuſpringen, dem Irrenden den rechten Weg zu zeigen, des Verwundeten zu pflegen, den Todten zu begraben. In Religion wurden die Pflichten des Ehebundes, der Eltern gegen die Kinder, der Kinder gegen die Eltern, des Einheimiſchen gegen die Fremden ein -16 gehuͤllet, und allmaͤlig dies Erbarmen auch auf Feinde verbreitet*)Heyne hat dieſen Zweck alter griechiſcher Inſtitute in mehreren ſeiner opuſcul. aca - demic. vortreflich gezeiget. A. d. H.. Was Poeſie, und Geſetzgebende Weisheit begonnen hatten, entwickelte die Philoſophie endlich; und wir haben es inſonderheit der Sokratiſchen Schule zu danken, daß in Form ſo man - nichfaltiger Lehrgebaͤude die Kenntniß der Natur des Menſchen, ſeiner weſentlichen Beziehungen und Pflichten das Studium der erleſenſten Geiſter ward. Was Sokrates bei den Griechen that, brachten bei andern Voͤl - kern Andre zu Stande; Confucius z. B. iſt der Sokrates der Sineſer, Menu der Indier worden; denn uͤberhaupt ſind die Geſetze der Menſchenpflicht keinem Volkder17der Erde unbekannt geblieben. In jeder Staatsverfaſſung aber hat ſie nach Lage und Zeit das ſogenannte Beduͤrfniß des Staats Theils befoͤrdert, Theils aufgehalten und verderbet.
Unter den Roͤmern alſo, denen das Wort Humanitaͤt eigentlich gehoͤrt, fand der Begriff Anlaß gnug, ſich beſtimmter auszubilden. Rom hatte harte Geſetze ge - gen Knechte, Kinder, Fremde, Feinde; die obern Staͤnde hatten Rechte gegen das Volk, u. f. Wer dieſe Rechte mit groͤße - ſter Strenge verfolgte, konnte gerecht ſeyn, er war aber dabei nicht menſch - lich. Der Edle, der von dieſen Rechten, wo ſie unbillig waren, von ſelbſt nachließ, der gegen Kinder, Sklaven, Niedre, Frem - de, Feinde nicht als Roͤmiſcher Buͤrger oder Patricier, ſondern als Menſch handelte, der war humanus, humaniſſimus, nicht etwa inDritte Samml. B18Geſpraͤchen nur und in der Geſellſchaft, ſondern auch in Geſchaͤften, in haͤuslichen Sitten, in der ganzen Handlungsweiſe. Und da hiezu das Studium und die Liebe der griechiſchen Weltweisheit viel that, daß ſie den rauhen, ſtrengen Roͤmer nachgebend, ſanft, gefaͤllig, billigdenkend machte, konnte den bildenden Wiſſenſchaften ein ſchoͤnerer Name gegeben werden, als daß man ſie menſchliche Wiſſenſchaften nannte? Gewiß war von ihnen die Philoſophie nicht ausgeſchloſſen*)Erneſti Rede de humanitatis diſciplina iſt hieruͤber bekannt. A. d. H.; vielmehr war ſie dieſer bildenden Wiſſenſchaften Erzieherinn und Geſellinn, bald ihre Mutter, bald ihre Tochter geweſen.
Da bei den Roͤmern alſo die Huma - nitaͤt zuerſt als eine Bezaͤhmerinn harter19 buͤrgerlicher Geſetze und Rechte, als die ei - gentliche Tochter der Philoſophie und bil - denden Wiſſenſchaften einen Namen ge - wonnen hat, der ſich mit dieſen nachher weiter vererbte: ſo laſſen Sie uns ja Na - men und Sache ehren. Auch in den aber - glaͤubigſten, dunkelſten Zeiten erinnerte der Name humaniora an den ernſten und ſchoͤ - nen Zweck, den die Wiſſenſchaften befoͤr - dern ſollten; dieſen wollen wir, da wir menſchliche Wiſſenſchaften doch nicht wohl ſagen koͤnnen, mit und ohne dem Wort Humanitaͤt, nie vergeſſen, nie auf - geben. Wir beduͤrfen deſſen eben ſo wohl als die Roͤmer.
Denn blicken Sie jetzt weiterhin in die Geſchichte; es kam eine Zeit, da das Wort Menſch (homo) einen ganz andern Sinn bekam, es hieß ein Pflichttraͤger, ein Unterthan, ein Vaſall, ein Die -B 220ner*)Daher noch der Ausdruck: er iſt ein homo! Du homo! „ u. f. “ A. d. H.. Wer dies nicht war, der genoß keines Rechts, der war ſeines Lebens nicht ſicher; und die, denen jene dienende Men - ſchen zugehoͤrten, waren Uebermen - ſchen. Der Eid, den man ihnen ablegte, hieß Menſchenpflicht (homagium) und wer ein freier Mann ſeyn wollte, mußte durch den Mann-Rechtsbrief bewei - ſen, daß er kein homo, kein Menſch ſei. Wundern Sie ſich nun, daß dem Wort Menſch in unſrer Sprache ein ſo niedriger Begriff anklebt? ſeiner Abſtammung ſelbſt heißt es ja nichts anders als ein verachte - ter Mann, Menniſk ', ein Maͤnnlein**)Weder Wachter noch Adelung haben dieſen Urſprung der Endung im Wort Men - niſk bemerkt; er ſcheint aber der wahre: denn wenn man das Wort Menſch nach. 21Auch Leute, Leutlein wurden nur als Anhaͤngſel des Landes betrachtet, das ſie bebauen mußten, auf welchem ſie ſtarben. Der Fuͤrſt, der Edle war Herr und Eigen - thuͤmer uͤber Land und Leute; und ſeine Seckeltraͤger, Canzliſten, Capellane, Vaſal - len und Clienten waren homines, Men - ſchen oder Menſchlein, mit mancher - lei Nebenbeſtimmungen, die ihnen blos das Verhaͤltniß gab, nach welchem ſie Ihm angehoͤrten*)S. hieruͤber Du Fresne Gloſſar. artic. Homo: Homines denariales, chartularii, fiſcales, eccleſiaſtici, de corpore, pertinen - tes, commendati, caſati, feudales, exerci - tales, ligii, de manu mortua, de ſuis ma - nibus, de manupaſtu etc. . Laſſen Sie uns ja zum**)Niederſaͤchſiſcher, d. i. der alten und aͤchten Art ausſpricht, ſo heißt es Menſ-ch (Mensk) d. i. ein elender unbewehrter Mann, ein Maͤnnlein. A. d. H.B 322Begriff der Humanitaͤt bei Griechen und Roͤmern uͤbergehen: denn bei dieſem bar - bariſchen Menſchenrecht wird uns angſt und bange.
Das Hauptgut wollen wir ja nicht ver - geſſen, das uns die tiefere Betrachtung der Menſchennatur fuͤr alle Zeiten erwor - ben hat; es iſt die Erkenntniß unſrer Kraͤfte und Anlagen, unſres Be - rufes und unſrer Pflicht. Eben in dem, wodurch der Menſch von Thieren ſich unterſcheidet, liegt ſein Charakter, ſein Adel, ſeine Beſtimmung; er kann ſich da - von ſo wenig als von der Menſchheit ſelbſt losſagen. Dies iſt das wahre ſtudi - um humanitatis, in welchem uns Griechen und Roͤmer vortreflich vorgegangen ſind; Schande, wenn wir ihnen nachbleiben wollten!
B 424Der Menſch hat einen Willen, er iſt des Geſetzes faͤhig: ſeine Vernunft iſt ihm Geſetz. Ein heiliges, unverbruͤchliches Ge - ſetz, dem er ſich nie entziehen darf, dem er ſich nie entziehen ſoll. Er iſt nicht etwa nur ein mechaniſches Glied der Naturkette; ſondern der Geiſt, der die Natur beherrſcht, iſt Theilweiſe in ihm. Jener ſoll er fol - gen; die Dinge um ihn her, inſonderheit ſeine eigne Handlungen ſoll er dem allge - meinen Principium der Welt gemaͤß anord - nen. Hierinn iſt er keinem Zwange unter - worfen, ja er iſt keines Zwanges faͤhig. Er conſtituiret ſich ſelbſt; er conſtituirt mit andern ihm Gleichgeſinnten nach heiligen, unverbruͤchlichen Geſetzen eine Geſellſchaft. Nach ſolchen iſt er Freund, Buͤrger, Ehe - mann, Vater; Mitbuͤrger endlich der gro - ßen Stadt Gottes auf Erden, die nur Ein Geſetz, Ein Daͤmon, der Geiſt einer25 allgemeinen Vernunft und Huma - nitaͤt beherrſchet, ordnet, lenket.
Doch warum ſpreche ich? und laſſe nicht lieber den menſchenfreundlichen Kaiſer ſpre - chen, der in ſeinen Betrachtungen uͤber ſich ſelbſt mehr als in ſeiner Sta - tue vor dem Capitol als Geſetzgeber der Welt dem Menſchengeſchlecht ſanftmuͤthig - groß gebietet.
Mark-Antonin uͤber ſich ſelbſt.
„ Von Apollonius habe ich gelernt, frei zu ſeyn, und ohne Wankelmuth unbeweglich; auf nichts anders, auch mit dem kleinſten Seitenblick hinzuſehen, als auf die Ver - nunft; immer Derſelbe zu ſeyn, unter den heftigſten Schmerzen, beym Verluſt eines Kindes, in langwierigen Krankheiten. Wie in einem lebendigen Muſter habe ich an ihm deutlich erſehen, wie Derſelbe MannB 526ſehr ſtrenge und doch auch nachgebend ſeyn koͤnne. Ich habe von ihm gelernt, wie man von Freunden ſogenannte Gefaͤlligkei - ten annehmen koͤnne, daß man ihnen we - der verhaftet werde, noch ſolche Gefuͤhllos zuruͤckweiſen duͤrfe. “
„ Vom Sextus lernte ich Wohlwollen; ich empfing das Muſter einer vaͤterlichen Hausverwaltung, und den Sinn, nach der Natur zu leben. Ich lernte, ernſt ſeyn ohne Steifheit, mich in Freunde ſchicken ohne Laune, Unwiſſende und vom Wahn Ge - leitete dulden. An ihm ſah ich, was Ge - faͤlligkeit gegen Jedermann ſey: denn ſein Umgang war angenehmer als alle Schmei - chelei, und doch blieb er zu eben der Zeit bei allen in Achtung. “
„ Von meinem Bruder Severus lernte ich Verwandte, Recht und Wahrheit lie - ben. Durch ihn lernte ich einen Thraſea,27 Helvidius, Cato, Dion und Bru - tus kennen: ich empfing die Idee eines Staats, der nach gleichen Geſetzen und Rechten verwaltet wird, einer Regierung, die der Freiheit ihrer Unterthanen die hoͤch - ſte Achtung erweiſet. Von ihm lernte ich ſtandhaft und ohne Scheu die Philoſophie hochſchaͤtzen, gutthaͤtig ſeyn auf die beſte reichſte Weiſe, jederzeit das Beſte hoffen, und auf die Liebe der Freunde trauen; es ihnen geſtehen, worinn man mit ihnen un - zufrieden ſei; was man wolle oder nicht wolle, ſie nicht errathen laſſen, ſondern es ihnen klar ſagen. “
„ Haben wir den Verſtand mit einan - der gemein, ſo iſt uns auch die Vernunft gemein, durch die wir vernuͤnftig ſind. Iſt dieſes: ſo iſt uns auch die Vernunft gemein, die vorſchreibt, was wir zu thun und nicht zu thun haben. Iſt dies, ſo28 haben wir auch ein gemeinſchaftliches Ge - ſetz. Iſt das, ſo ſind wir Buͤrger und nehmen an Einem gemeinſchaftlichen Staate Theil. Dieſer Staat iſt die Welt: denn was fuͤr einen andern Staat koͤnnte je - mand nennen, an dem das ganze Menſchen - geſchlecht Theil nehme? Aus dieſem ge - meinſchaftlichen Staat alſo haben wir alle denſelben Verſtand, dieſelbe Vernunft, die - ſelbe Geſetzgebende Vernunft: denn woher haͤtten wir ſie ſonſt? Wie das Irrdiſche an mir, das Feuchte, das Luftige, das Feurige jedes aus der Quelle ſeines Ele - ments kommt, und dahin gehoͤret: ſo muß auch der Verſtand irgend woher ſeyn und dazu gehoͤren. “
„ Was Dir fuͤglich iſt, o Weltall, iſt auch mir bequem. Nichts kommt mir zu fruͤhe, nichts zu ſpaͤt, was dir recht iſt. Alles iſt mir Frucht, o Natur, was Deine29 Horen mir bringen. Aus dir kommt alles, in dir iſt alles, in dich kehrt alles zuruͤck. Wenn jener ſagte: o du geliebte Ce - crops-Stadt, ſollte ich nicht ſagen: o du geliebte Gottes-Stadt! “
„ Der Geiſt des Weltalls iſt ein Ge - meinheit-Stifter. Das Schlechtere hat er des Beſſern wegen hervorgebracht, das Beſ - ſere harmoniſch zu einander geordnet. Du ſieheſt, wie er unter-wie er zuſammenord - nete, wie er jedem Dinge nach Wuͤrde das ſeinige zutheilte, und die edelſten Weſen zum einſtimmigen Wohlwollen, zum Gleichſinn gegen einander verknuͤpft hat. “
„ Steheſt du des Morgens ungern auf, ſo ermuntere dich mit dem Gedanken: ich erwache zum Werk des Menſchen! Sollte ich mit Unwillen dran gehen, Das zu thun, deßhalb ich gebohren, dazu ich in30 die Welt kommen bin? „ Die Ruhe iſt aber angenehm. “ Biſt du zum Genießen geboh - ren? oder nicht vielmehr zum Thun, zum Wirken? Sieheſt du nicht, wie Gewaͤchſe, Voͤgel, Ameiſen, Spinnen, Bienen die Welt auf ihrem Platze mitzieren? und du, ein Menſch, wollteſt deinen Menſchenberuf nicht erfuͤllen? Du eilſt nicht zu dem, was deine Natur von dir fodert? Du liebſt dich alſo nicht ſelbſt, da du deine Natur, und ihr Ge - ſetz nicht liebeſt. Andre, die ihre Kunſt lie - ben, zehren ſich in Ausuͤbung derſelben ab, ſie vergeſſen Speiſe und Trank; du aber ſchaͤtzeſt deine Menſchennatur geringer, als der Drechsler die Drehekunſt, der Taͤnzer die Tanzkunſt, der Geizige das Geld, der Ehr - ſuͤchtige ein wenig Ehre. Scheinen Dir Ar - beiten zum gemeinen Wohlſeyn zu ge - ringe, als daß ſie gleichen Fleißes beduͤrf - ten? “
31„ Siehe zu, daß du nicht verkaiſert werdeſt: nimm die Tinctur nicht an. Denn das geſchieht leicht! Erhalte dich einfach, gut, unverfaͤlſcht, ernſthaft, Prachtlos, Rechtliebend, Gottverehrend, ſanftmuͤthig, liebend die Deinigen, tapfer zu jedem wohl - anſtaͤndigen Werk. Kaͤmpfe, daß du Der bleibeſt, zu dem dich die Philoſophie machen wollte. Verehre die Goͤtter, erhalte die Men - ſchen. Kurz iſt das Leben; und es giebt nur Eine Frucht des irrdiſchen Lebens: ein heili - ges Gemuͤth und zum Wohl der Geſellſchaft dienende Werke. “
„ Glaube nicht, daß wenn dir etwas ſchwer duͤnkt, es dem Menſchen unmoͤg - lich ſey; und was dem Menſchen je moͤglich war, das halte auch dir moͤglich. “
„ Gegen unvernuͤnftige Thiere, uͤberhaupt auch bei allen vorkommenden Vernunftloſen Dingen und Geſchaͤften betrage dich als ei -32 ner, der Vernunft hat, großmuͤthig und frei. Gegen Menſchen aber, als gegen vernuͤnf - tige Weſen, betrage dich mit gemeinſchaftli - cher, geſelliger Vernunft. “
„ Die Menſchen ſind um einander willen da. Belehre ſie alſo, oder ertrage ſie. “
„ Fange endlich einmal an ein Menſch zu ſeyn; huͤte dich aber eben ſo wohl, den Men - ſchen zu ſchmeicheln, als uͤber ſie zu zuͤrnen. Beides iſt wider die Pflicht der Geſellſchaft; beides iſt ſchaͤdlich. “
„ Welche Macht und Wuͤrde hat der Menſch! Nichts zu thun, als was die Gott - heit ſelbſt billigen wuͤrde; und alles aufzu - nehmen, was ihm Gott anweiſet. “
„ Menſch! Du wareſt in dieſem großen Staate Gottes ein Mitbuͤrger; was kuͤm - mert es dich, daß du es nur fuͤnf Jahre lang wareſt? Was nach Geſetzen geſchieht, thut Niemandem unrecht. Was iſt denn Schreck -liches33liches darinn, daß dich nicht ein Tyrann, noch ein ungerechter Richter ſondern die Na - tur wegruft, die dich in dieſen Staat ein - fuͤhrte? eben wie den Schauſpieler, den der Praͤtor dung, der Praͤtor auch von der Schaubuͤhne entlaͤßt. — „ Aber die fuͤnf Acte des Stuͤcks ſind von mir noch nicht geendet; ſondern nur drei. „ Wohl! Im Leben ſind drei Acte auch ein Stuͤck. Was ein Ganzes ſeyn ſoll, beſtimmet der, der einſt Compoſiteur, jetzt Aufloͤſer des Spiels iſt. Du biſt keins von beiden. Geh 'alſo zufrie - den fort; auch Er entlaͤßt dich zufrieden. “
— So ſpricht Mark-Antonin auf allen Blaͤttern. Wir wollen nicht ſagen: „ Hei - liger bitte fuͤr uns; ſondern: menſchlicher Kaiſer, ſei uns ein Muſter. “
So pries ein Roͤmiſcher Dichter, Lu - krez, Einen ſeiner Lieblinge der Vorwelt, und er hat mehrere derſelben als Genien unſres Geſchlechts, als Goͤtter und Sterne an den Himmel geſetzt, weil ſie Lebens - weisheit und Humanitaͤt unter den Menſchen gegruͤndet oder befoͤrdert haben. Keiner ſeiner edeln Mitbuͤrger iſt ihm hie - bei in Wort und That nachgeblieben.
C 440Viele Oden des Horaz, noch mehr aber ſeine Sermonen und ſogenannte Satyren ſind feine Bearbeitungen der Menſch - heit; ſie haben alle, wenigſtens mittelbar, zum Zweck, einen Umriß in das rohe Ge - bilde des Lebens zu bringen, die Ideen und Sitten jener Perſon, dieſer Staͤnde nach dem Richtmaas des Wahren und Guten, des Anſtaͤndigen und Schoͤnen zu ordnen. Perſius, Juvenal, Lucan und andre wir - ken dahin, jeder nach ſeiner Weiſe; vor allen aber bezeichnet Virgil, wo er kann, ſeine Geſaͤnge mit einem zarten Druck der Menſchenliebe. Unmoͤglich iſts, daß ein Mann oder Juͤngling, dem das Innere dieſer Heiligthuͤmer aufgeſchloſſen wird, ſein Inneres nicht durchdrungen und zu einer Form gebildet fuͤhlte, die ihm vielleicht wenige neuere Schriften gewaͤhren. Es iſt, als ob jenen großen Autoren die Menſchheit41 reiner vorſtand, oder als ob ſie mehr Kraft gehabt haͤtten, auch unter allen Unarten der Zeit, ihre wahre Geſtalt lebhafter an - zuerkennen, ſtaͤrker und reiner zu ſchildern; wozu denn, nebſt vielem andern, auch ihre Sprache und der Begriff beitrug, den ſie ſich von Poeſie machten.
Doch nicht bei Poeſie allein blieb dieſe Bildung ſtehen; Trotz alles Harten und Druͤckenden zeigt ſie ſich auch in der Roͤ - miſchen Geſchichte. Man leſe im Cor - nelius des Atticus, in Salluſt Catili - na's, in Tacitus Agrikola's Leben, vor allen aber den letzten, den wegen ſeiner dunkeln Haͤrte ſo beruͤchtigten Tacitus; und man muͤßte ein entſchiedner Barbar ſeyn, wenn man in ihnen die tiefen Zuͤge aͤchter Humanitaͤt nicht bemerkte. Tacitus beſchreibt die Graͤuelvollſten Zeiten, die laſterhaftſten Charaktere; er deckt einenC 542Abgrund von Sitten und einer Regierungs - form auf, vor dem man ſchaudert; zeige man in ihm aber ein einziges Gemaͤhlde ſolcher Unthaten und verderbten Seelen, das er nicht in das Licht geſtellt haͤtte, dahin es gehoͤret! Livia, Tiber, Sejan, Caligula, Claudius, und wie die Unmen - ſchen weiter heiſſen; gegentheils jede unter - druͤckte Sproſſe des Guten, die ſich auf dieſem abſcheulichen Boden zeigte, alle ſind von ihm, wenn auch nur mit Einem Wort, in Einem Zuge, dem unpartheiiſchen Mit - oder Gegengefuͤhl nahe gebracht; ſie ſtehen auf ewig in der Claſſe menſchlicher, halb - und unmenſchlicher Weſen, wo ſie ſtehen ſollten. Wer uns keine Um - ſchreibung, ſondern eine Ueberſetzung die - ſes Geſchichtſchreibers ganz in ſeinen Um - riſſen, in ſeiner Phyſiognomie gaͤbe, koͤnnte nicht anders, als den Sinn der Menſch -43 heit auch fuͤr unſre Zeit tauſendfach er - wecken und bilden.
Laſſen Sie uns alſo glauben, daß Jung und Alt in beiden Geſchlechtern, wenn es die Schriften der Alten in ihrem Geiſt lie - ſet, nicht anders als zur Humanitaͤt bear - beitet werden koͤnne. Die barbariſche Rin - de des Herkommens, die uns von auſſen angeſetzt iſt, muß einigermaaßen gebrochen werden, wenn wir andre Menſchen zu ei - ner andern aͤußerſt verderbten Zeit maͤnn - licher denken, wuͤrdiger ſprechen hoͤren. Wir werden, aus unſerm Todesſchlafe ge - weckt, und lernen in ſtrengern Umriſſen kennen:
Die Griechen hatten das Wort Humani - taͤt nicht; ſeit aber Orpheus ſie durch den Klang ſeiner Leyer aus Thieren zu Men - ſchen gemacht hatte, war der Begrif die - ſes Worts die Kunſt ihrer Muſen. Ich bin weit entfernt, die Griechiſchen Sitten und Verfaſſungen zu jeder Zeit und allenthalben als Muſter zu preiſen; das kann indeſſen nicht gelaͤugnet werden, daß das emollit mores nec ſinit eſſe feros mittelbar oder unmittelbar der Endzweck geweſen, auf den ihre edelſten Dichter, Geſetzgeber und Weiſe wirkten. Von Ho -46 mer bis auf Plutarch und Longin iſt ihren be - ſten Schriften bei einer großen Beſtimmtheit der Begriffe eine ſo reizende Cultur der Seele eingepraͤget, daß, wie ſich an ihnen die Roͤmer bildeten, ſie auch uns kaum ungebildet laſſen moͤgen.
Einzelne Blaͤtter, die mir uͤber die Humanitaͤt einiger Griechiſchen Dichter und Philoſophen in die Haͤnde gekommen ſind, ſollen Ihnen zu einer andern Zeit zukommen; jetzt bemerke ich nur, daß wenn in ſpaͤtern Zeiten bei irgend einem Schriftſteller, er ſei Geſchaͤfts - mann, Arzt, Theolog oder Rechtslehrer, eine feinere, ich moͤchte ſagen, claſſiſche Bildung ſich aͤußerte, dieſe meiſtens auch auf claſſiſchem Boden, in der Schule der Griechen und Roͤmer erworben, der Sproͤß - ling ihres Geiſtes geweſen. Wie die Grie - chiſche Kunſt unuͤbertroffen, und in Abſicht47 der Reinheit ihrer Umriſſe, des Großen, Schoͤnen und Edlen ihrer Geſtalten, allen Zeiten das Muſter geblieben: faſt alſo iſts auch, Weniges ausgenommen, mit den Vorſtellungsarten des menſchlichen Geiſtes. Was wir kraus ſagen und verwickelt den - ken, gaben ſie hell und rein an den Tag; ein kleiner Satz, eine ſchlichtvorgetragene Erfahrung enthaͤlt bei ihnen, wenn mans zu finden weiß, oft mehr als unſre verworrenſte Deductionen, die Probleme neuere Staats - kunſt verwickelt vortraͤgt, ſind in der Grie - chiſchen Geſchichte hell und klar auseinan - dergeſetzt, und durch die Erfahrung laͤngſt entſchieden. Die Kritik des Geſchmacks endlich, ja die reinſte Philoſophie des Le - bens, woher ſtammen ſie als von den Grie chen? In den ſchoͤnſten Seelen dieſer Na - tion bildeten ſie ſich; hie und da hat ſich ihr Geiſt ſchweſterlichen Seelen mitgetheilet. 48So lange uns alſo die Griechen nicht ge - raubt, und da ſie bisher dem Sturz der Zeiten, der Vertilgung wilder Barbaren und Schwaͤrmer entronnen ſind, wird wahre Humanitaͤt nie von der Erde vertilgt werden.
Immer wird mir wohl, wenn ich auch in unſern Zeiten einen reinen Nachklang der Weisheit Griechiſcher und Roͤmiſcher Mu - ſen hoͤre. Eine Ausgabe, eine Ueberſetzung, eine wahre Erlaͤuterung dieſes oder jenes Dichters, Philoſophen und Geſchichtſchrei - bers halte ich fuͤr ein Bruchſtuͤck des gro - ßen Gebaͤudes der Bildung unſres Ge - ſchlechts fuͤr unſre und die zukuͤnftige Zei - ten. Eine verſtaͤndige Stimme, die uͤber unſre jetzige Weltlage aus alter Erfahrung ſpricht, iſt mir mehr, als ob ein Barde weiſſagte.
Aus Ihren Briefen, meine Freunde, ziehe ich mir folgendes:
1. Das weiche Mitgefuͤhl mit den Schwaͤchen unſres Geſchlechts, das wir gewoͤhnlicher Weiſe Menſchlichkeit nen - nen, macht die ganze Humanitaͤt nicht aus. Zu rechter Zeit, am rechten Ort ziert es den Menſchen allerdings; da Sympathie in reinem Verſtande, d. i. eine lebhafte, ſchnelle Verſetzung in den Zuſtand des Fehlenden, Irrenden, Leidenden, Gequaͤl - ten, der zarteſte Kitt der Vereinigung aͤhn - licher Geſchoͤpfe, und unter Menſchen das lindeſte Band ihrer Verbindung iſt. NichtsDritte Samml. D50ſtoͤßt mehr zuruͤck, als Gefuͤhlloſe, ſtolze Haͤrte. Ein Betragen, als ob man hoͤhe - ren Stammes und ganz andrer, oder gar eigner Art ſei, erbittert Jeden, und ziehet dem Uebermenſchen das unvermeidliche Ue - bel zu, daß ſein Herz ungebrochen, leer, und ungebildet bleibt, daß Jedermann zu - letzt ihn haſſet oder verachtet.
So nothwendig indeſſen eine menſchli - che Lindigkeit und Milde gegen die Fehler und Leiden unſrer Nebengeſchoͤpfe bleibt: ſo muß ſie doch, wenn ſie zu weich und ausſchließend wird, den Charakter er - ſchlaffen, und kann eben dadurch die haͤr - teſte Grauſamkeit werden. Ohne Gerech - tigkeit beſtehet Billigkeit nicht; eine Nach - ſicht ohne Einſicht der Schwaͤchen und Fehler iſt eine Verzaͤrtelung, die eiternde Wunden mit Roſen bedeckt, und eben da - durch Schmerzen und Gefahr mehrt.
512. Auch iſt Humanitaͤt Ihnen nicht bloß jene leichte Geſelligkeit, ein ſanftes Zuvorkommen im Umgange, ſo viel Reize dies auch dem taͤglichen Leben ge - waͤhret. Vielmehr iſt ſie, ſubjectiv be - trachtet,
3. Ein Gefuͤhl der menſchlichen Natur in ihrer Staͤrke und Schwaͤ - che, in Maͤngeln und Vollkommen - heiten, nicht ohne Thaͤtigkeit, nicht ohne Einſicht. Was zum Charakter un - ſres Geſchlechts gehoͤrt, jede moͤgliche Aus - bildung und Vervollkommung deſſelben, dies iſt das Objekt, das der humane Mann vor ſich hat, wornach er ſtrebet, wozu er wir - ket. Da unſer Geſchlecht ſelbſt aus ſich machen muß, was aus ihm werden kann und ſoll: ſo darf keiner, der zu ihm gehoͤrt, dabei muͤſſig bleiben. Er muß am Wohl und Weh des Ganzen Theil nehmen, undD 252ſeinen Theil Vernunft, ſein Penſum Thaͤ - tigkeit mit gutem Willen dem Genius ſei - nes Geſchlechts opfern.
4. Zum Beſten der geſammten Menſch - heit kann niemand beitragen, der nicht aus ſich ſelbſt macht, was aus ihm wer - den kann und ſoll; jeder alſo muß den Garten der Humanitaͤt zuerſt auf dem Beet, wo er als Baum gruͤnet, oder als Blume bluͤhet, pflegen und warten. Wir tragen alle ein Ideal in und mit uns, was Wir ſeyn ſollten, und nicht ſind; die Schlacken, die wir ablegen, die Form, die wir erlan - gen ſollen, kennen wir alle. Und da, was wir werden ſollen, wir nicht anders als durch uns und andre, von ihnen erlangend, auf ſie wirkend, werden koͤnnen: ſo wird nothwendig unſre Humanitaͤt mit der Hu - manitaͤt andrer Eins, und unſer ganzes Leben eine Schule, ein Uebungsplatz der -53 ſelben. Was wahrhaftig, was ehrbar, was gerecht, was keuſch, was lieblich iſt, was wohllautet, iſt etwa eine Tu - gend, iſt etwa ein Lob, deſſen beflei - ßigt euch, ſagt ſelbſt ein Apoſtel.
5. Alle Einrichtungen der Menſchen, alle Wiſſenſchaften und Kuͤnſte koͤnnen, wenn ſie rechter Art ſind, keinen andern Zweck haben, als uns zu humaniſiren, d. i. den Unmenſchen oder Halbmenſchen zum Menſchen zu machen, und unſerm Ge - ſchlecht zuerſt in kleinen Theilen die Form zu geben, die die Vernunft billigt, die Pflicht fodert, nach der unſer Beduͤrfniß ſtrebet. Daß die Wiſſenſchaften, die man humaniora nennt, zum leeren Zeitvertreib oder zu eitelm Putz ausgeartet ſind, iſt ein Mißbrauch, den ſchon ihr Name ſtrafet. Urſpruͤnglich war dies nicht alſo. VollendsD 354Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, die den ange - bohrnen Stolz, die freche Anmaaßung, das blinde Vorurtheil, die Unvernunft und Un - ſittlichkeit ſtaͤrken, verſchleiern, ſchmuͤcken, beſchoͤnen, ſollte man brutaliſirende Kuͤnſte und Wiſſenſchaften nennen, werth von Sklaven getrieben zu werden, damit auf ihnen die menſchliche Thierheit ruhe.
Es freuet mich, daß Sie den Dichter, der den unmenſchlichen Achill beſang, aus der Reihe humaniſirender Weiſen nicht ausſchließen wollen; das Theater der Alten und ihre Geſetzgebung wird davon gewiß auch nicht ausgeſchloſſen ſeyn. Das Gemuͤth laͤutert, hebet und ſtaͤrkt ſich durch die Betrachtung: „ wir ſind Menſchen. Nichts mehr, aber auch nichts minderes, als dieſer Name ſaget. “
Fragment eines Geſpraͤches des Lords Shaftesburi.
Theokles. Kann eine Freundſchaft ſo heroiſch ſeyn, als die gegen das menſch - liche Geſchlecht? Halten Sie die Liebe ge - gen Freunde uͤberhaupt und gegen unſer Vaterland fuͤr nichts? Oder glauben Sie, daß die beſondre Freundſchaft ohne ſol - che erweiterte Neigung und ohne das Ge -D 456fuͤhl der Verbindlichkeit gegen die Geſell - ſchaft beſtehen koͤnne?
Philokles. Daß man Verbindlich - keiten gegen das menſchliche Geſchlecht habe, wird niemand leugnen, der auf den Namen eines Freundes Anſpruch macht. Schwerlich wuͤrde ich dem nur den Na - men Menſch zugeſtehen, der nie Jeman - den Freund genannt oder nie ſelbſt Freund geheißen hat. Aber wer ſich als ein wah - rer Freund bewaͤhrt, der iſt Menſch ge - nug und wird es der Geſellſchaft an ſich nicht fehlen laſſen. Fuͤr meine Perſon ſehe ich ſo wenig Großes und Liebenswuͤrdiges an dem menſchlichen Geſchlecht, und habe eine ſo gleichguͤltige Meinung von dem großen Haufen der Geſellſchaft, daß ich mir ſehr wenig Vergnuͤgen von der Liebe zu beiden verſprechen kann.
57Th. Rechnen Sie denn Guͤte und Dankbarkeit unter die Handlungen der Freundſchaft und des Wohlwollens?
Ph. Ohne Zweifel; ſie ſind ja die vor - nehmſten.
Th. Geſetzt alſo der Verpflichtete ent - deckte Fehler an ſeinem Wohlthaͤter, wuͤrde dies jenen von ſeiner Dankbarkeit los - ſprechen?
Ph. Nicht im geringſten.
Th. Oder macht es die Ausuͤbung der Dankbarkeit weniger angenehm?
Ph. Mich duͤnkt vielmehr das Gegen - theil. Denn wenn mirs an allen andern Mitteln der Vergeltung fehlte, ſo wuͤrde ich mich freuen, wenigſtens dadurch meine Dankbarkeit gegen meinen Wohl - thaͤter ſicher zeigen zu koͤnnen, daß ich ſeine Fehler als ein Freund ertruͤge.
D 558Th. Und was die Guͤte betrift, ſagen Sie mir, mein Freund, ſollen wir denn blos denen Gutes thun, die es verdienen? Etwa bloß einem guten Nachbar oder Verwandten, einem guten Vater, Kinde oder Bruder? Oder lehrt Natur, Ver - nunft und Menſchlichkeit uns nicht viel - mehr, einem Vater bloß weil er Vater, einem Kinde bloß weil es Kind iſt, Gutes zu thun? Und ſo in jedem Verhaͤltniß des menſchlichen Lebens.
Ph. Ich glaube, das letzte iſt das richtigſte.
Th. O Philokles! Bedenken Sie alſo, was Sie ſagten, da Sie die Liebe gegen das menſchliche Geſchlecht der menſchlichen Gebrechen wegen verwarfen, und den gro - ßen Haufen ſeines elenden Zuſtandes we - gen verachteten. Sehen Sie nun, ob dieſe Geſinnung mit der Menſchlichkeit beſtehen59 kann, die Sie ſonſt ſo hoch ſchaͤtzen und ausuͤben. Wo kann Edelmuth ſtatt finden, wenn nicht hier? Wo koͤnnen wir je Freundſchaft beweiſen, wenn nicht an die - ſem Hauptgegenſtande derſelben? Gegen wen werden wir treu und dankbar ſeyn, wenn nicht gegen das menſchliche Geſchlecht und gegen die Geſellſchaft, welcher wir ſo ſtark verpflichtet ſind? Welche Gebrechen oder Fehler koͤnnen eine ſolche Unterlaſſung entſchuldigen, oder in einem dankbaren Herzen je das Vergnuͤgen vermindern, wel - ches aus liebevoller Erwiederung empfan - gener Wohlthaten entſpringt? Koͤnnen Sie, bloß aus guter Lebensart, aus ei - nem natuͤrlichguten Temperament Vergnuͤ - gen daran finden, Hoͤflichkeit, Gefaͤlligkeit, Dienſtfertigkeit zu beweiſen, Gegenſtaͤnde des Mitleidens ſelbſt aufſuchen und wo es in Ihrer Macht ſteht, ſelbſt Unbekannten60 dienen; kann es auch in fremden Laͤndern oder, wenns Auswaͤrtige betrifft, auch hier Sie entzuͤcken, allen die es beduͤrfen, auf die leutſeligſte, freundſchaftlichſte Art zu helfen, zu rathen, beizuſtehen; und ſollte Ihr Vaterland oder was noch mehr iſt, Ihr ganzes Geſchlecht weniger Wohlwollen von Ihnen fodern koͤnnen, weniger Ach - tung von Ihnen verdienen, als Einer von jenen Gegenſtaͤnden, die Ihnen von unge - faͤhr in den Wurf kommen? —
Ph. Ich befuͤrchte, daß ich auf dieſe Art nie ein Freund oder Liebhaber werde. Eine Liebe gegen eine einzelne Perſon kann ich ſo ziemlich faſſen; aber dieſe zuſammen - geſetzte, allgemeine Art von Liebe, (ich ge - ſtehe es, Theokles,) iſt mir zu hoch. Ich kann das Individuum, aber nicht die ganze Gattung, ich kann nichts lieben, wovon ich nicht irgend ein ſinnliches Bild habe.
61Th. Wie, Philokles? Sie koͤnnten nie anders lieben, als auf dieſe Art? War Palaͤmons Charakter Ihnen gleich - guͤltig, da er Sie zu dem langen Brief - wechſel vermochte, der Ihrer neuerlichen perſoͤnlichen Bekanntſchaft voranging?
Ph. Ich kann dies nicht laͤugnen; und jetzt, duͤnkt mich, verſtehe ich Ihr Geheim - niß, und begreife wie ich mich dazu vor - bereiten muß. Denn eben wie ich damals als ich Palaͤmon zu lieben anfing, mich ge - noͤthigt ſah, mir eine Art von materiellem Gegenſtande zu bilden und immer ein ſol - ches Bild im Kopf hatte, ſo oft ich an ihn dachte: eben ſo muß ichs in dieſem Falle zu machen ſuchen —
Th. Mich duͤnkt, Sie koͤnnten immer ſo viel Gefaͤlligkeit gegen das menſchliche Geſchlecht haben, als gegen die alten Roͤ - mer, in welche Sie, aller ihrer Fehler un -62 geachtet, doch immer verliebt geweſen ſind, beſonders unter der Vorſtellung eines ſchoͤnen Juͤnglings, der Genius des Volks genannt.
Ph. Waͤre mirs moͤglich, meiner Seele ein ſolches Bild einzudruͤcken, es moͤchte nun das menſchliche Geſchlecht oder die Natur bedeuten, ſo wuͤrde das ver - muthlich auf mich wirken, und mich zum Liebhaber nach Ihrer Art machen. Noch beſſer aber, wenn Sie es ſo veranſtalten koͤnnten, daß die Liebe zwiſchen uns wech - ſelſeitig wuͤrde; wenn Sie mich uͤberreden koͤnnten, zu glauben, dieſer Genius ſei nicht gleichguͤltig gegen meine Liebe und faͤhig ſie zu erwiedern —
Th. Gut! ich nehme die Bedingung an. Morgen, wenn die oͤſtliche Sonne, wie die Dichter ſagen, mit ihren erſten Stralen den Gipfel jenes Huͤgels vergol -63 det, dann wollen wir, wenns Ihnen be - liebt, mit Huͤlfe der Nymphen des Hains dieſer unſrer Liebe nachſpuͤren, erſt den Genius des Orts anrufen, und dann ver - ſuchen, ob wir nicht wenigſtens eines ſchwachen, fernen Anblicks des hoͤchſten Genius und der erſten Urſchoͤnheit gewuͤrdigt werden. Sollte es Ihnen gluͤcken, nur Einmal dieſe zu ſehen: ſo ſtehe ich da - fuͤr, alle jene widrige Zuͤge und Haͤßlich - keiten ſowohl der Natur als des menſchlichen Geſchlechts werden Augenblicks verſchwin - den. Ihr Herz wird ganz mit der Liebe erfuͤllt werden, die ich Ihnen wuͤnſche.
So weit dies Geſpraͤch. Wie Theo - kles ſeinen Zweck bewirkt habe, moͤgen Sie in der vortreflichen Rhapſodie: die Mo -64 raliſten beim edeln Shaftesburi ſelbſt leſen*)Meiner Geſinnung nach iſt es Eines der ſchoͤnſten Verdienſte Spaldings, daß Er, zu jener Zeit 1745. in ſeiner Lage uns Shaftesburi's Moraliſten bekannt machte. Mehr als dreißig Jahre nachher iſt zuerſt die Ueberſetzung des ganzen Shaftes - buri gefolget. Shaftesburi philoſo - phiſche Werke, Leipzig. 1776-79. A. d. H..
Mit Recht nennen Sie Shaftesburi einen edeln Schriftſteller; ob ihn gleich hie und da, ſein Stand, ich moͤchte ſagen, ſeine Lordſchaft uͤbereilte. Sein zuwei - len Zwangvoller Styl, manche Spaͤſſe, die er ſich uͤber die Geiſtlichkeit erlaubte, ſein Einfall, „ Witz und Humor zum Pruͤfſtein aller, auch der ernſteſten Wahrheit zu ma - chen, “haben Tadler und Widerleger gnug gefunden; uͤber ſeinen Kunſt-Geſchmack waͤre auch Manches zu ſagen. Die beſſere philoſophiſche Seele aber, die in ihm wohnte, ſein honeſtum und decorum in der Moral, hundert feine Bemerkungen uͤberDritte Samml. E66Grundſaͤtze, Sitten, Compoſition und Le - bensweiſe ſind nach allem Tadel unwider - legt geblieben. Ich kann mir nicht vor - ſtellen, daß ein unbefangener honetter Mann dieſen Schriftſteller ohne innige Ach - tung aus der Hand legen ſollte; und fuͤr Juͤnglinge wuͤnſchte ich in unſrer Sprache zum uͤberſetzten Shaftesburi eine Zugabe, „ wie Shaftesburi zu leſen und was in ihm zu berichtigen ſeyn moͤchte. “ Wie Leibnitz, ſo hielten Di - derot, Leßing, Mendelsſohn, von dieſem Virtuoſo der Humanitaͤt viel; auf die beſten Koͤpfe unſres Jahrhunderts, auf Maͤnner, die ſich fuͤrs Wahre, Schoͤne und Gute mit entſchiedner Redlichkeit bemuͤh - ten, hat er auszeichnend gewirket.
Und doch, m. F. duͤnkt mir ſein Syſtem der Moral unzureichend, ſofern es ſich bloß auf das decorum et honeſtum als auf ein67 Gefuͤhl gruͤndet. Es kommen ſtarke Stel - len daruͤber, auch als Pflicht, als Geſetz betrachtet, in ihm vor; im Ganzen aber, ſcheint mirs, hat er, um ſeine Moral lie - benswuͤrdig zu machen, mit der menſchli - chen Natur etwas zu ſehr getaͤndelt. Hier muß man hinter allem doch endlich mit der Stoiſchen Philoſophie zum alten Wort Gottes zuruͤckgehen: „ Du ſollt! du ſollt nicht! “ſofern uns dies nicht Con - venienz, Geſchmack und Vergnuͤgen, ſon - dern Pflicht und Vernunft vorhaͤlt.
Neulich kam mir ein Lehrgedicht zu Handen, wo mir zuerſt folgende Stelle in die Augen fiel:
Der Dichter nennt Baco, Grotius, Puffendorf u. a. mit verdientem Ruhm: er gehet die Pflichten durch, gegen Seele und Leib, gegen Gott und andre. Ueber Irrthum und Unwiſſenheit, Klugheit undE 472Thorheit, uͤber die Verbindlichkeit zur Wiſ - ſenſchaft und zu allgemeinen Begriffen, uͤber Erfahrung, Vernunft, Geſchichte, Fabel, Selbſterkenntniß, als Mittel zu Beſſerung des Verſtandes und Willens, enthaͤlt ſein Gedicht ſchoͤne Stellen. Deß - gleichen uͤber einzelne Pflichten, die Maͤ - ßigkeit, Sittſamkeit, Gnuͤgſamkeit, Ver - bindlichkeit zur Arbeit, uͤber Pflichten in Gluͤck und Ungluͤck, uͤber die Dankbarkeit gegen Gott, das Vertrauen auf die Vor - ſehung, uͤber geſellige Huͤlfe, Sanftmuth, Großmuth, Wahrheitliebe, Freigebigkeit u. f.; wobei ſowohl die entgegenſtehenden Laſter, als die Grenzen der Tugend be - merkt oder geſchildert werden. Es ſind Lehren in ihm, die der Jugend Gedaͤcht - nißſpruͤche werden ſollten, indem ſie die Grundveſten aller moraliſchen Wahrheit enthalten: z. B.
73Zu wuͤnſchen waͤre es, daß der Verfaſſer ſich durchaus auf dieſem ſtrengen Pfade gehalten haͤtte. Da er aber das ſogenannte Syſtem der Vollkommenheiten als Grund der Moral annimmt: ſo wird ſein Gebaͤude hie und da ſchwankend. Aller - dings vervollkommt uns die Ausuͤbung der Pflicht; nicht aber muͤſſen wir ſie thun, um uͤber Gewinn an Vollkommenheiten zu markten. Das Gebot heißt: Du ſollt! nicht: Du wirſt! welches bloß eine hoͤfli - che Bettelei waͤre.
Sie halten vielleicht dies ſchoͤne Lehr - gedicht fuͤr ein Manuſcript; leider iſts ſeit ſeiner Bekanntmachung im Jahr 1758. fuͤr Viele ein Manuſcript geblieben. Es heißt „ Lichtwehrs Recht der Ver - nunft, “und ſcheint unſrer poetiſchen Welt ſo veraltet, wie Hallers, Hage - dorns, Kaͤſtners, Uz, Witthofs,75 ja uͤberhaupt die Lehrgedichte. Unſer Publikum iſt jung; es liebt Taͤndeleien der Jugend.
Die Blaͤtter uͤber die Humanitaͤt Ho - mers, die Sie zu ſehen wuͤnſchen, nehme ich aus einer unvollendeten, groͤßern Schrift, die ihr Verfaſſer Jonien ge - nannt hat, deren weitern Inhalt ich aber hier nicht zu verrathen habe.
Ueber die Humanitaͤt Homers in ſeiner Iliade.
Wir kommen allmaͤlich wieder in die Zeiten zuruͤck, da man von Homers Roh - heit nicht gnug reden konnte. In Frank -77 reich warf man ihm vormals nur Mangel an Geſchmack vor; in Deutſchland ſcheint es ein Lieblingsgeſichtspunkt zu werden, in den Sitten ſeiner Helden, mithin wohl gar in Homer ſelbſt Mangel an Bildung, an moraliſchem Geſchmack zu finden und dies unſterbliche Gedicht endlich nur als die „ hiſtoriſche Tradition wil - der Zeiten “zu behandeln, die, wie man ſich ausdruͤckt, Homers gluͤhende Einbil - dungskraft aufnahm und veſtſtellte. So viel Wahres dieſer Geſichtspunkt in man - chem Betracht zeigen mag, ſo zeigt er ge - wiß nicht alles Wahre, und ſein Weniges gewiß nicht auf die nuͤtzlichſte Weiſe. Dazu gehoͤrt keine Kunſt, hie und da Ueberein - ſtimmung der Zeiten, die er beſang, mit Voͤlkern, die auf einer, wie uns duͤnkt, niedrigern Stuffe der Cultur leben, zu fin - den, dieſe gefundene Aehnlichkeit zu uͤber -78 treiben, und dabei das Auge vor allem ſittlichen Gefuͤhl, inſonderheit aber vor der Kunſt und Weisheit zuzuſchließen, die Ho - mer unſtreitig auf die Compoſition ſeines Gedichts gewandt hat.
Bei jeder Kunſtcompoſition fragt man: wozu hat ſie der Kuͤnſtler componiret? was war dabei ſeine Idee? und wie ſetzte er die Theile ſeines Werks zuſammen? Sind Homers Rhapſodieen die rohe Stim - me eines griechiſchen Barden, der einem rohen Volk Maͤhrchen aus roheren Zeiten vorſingt, um dieſe mit ihren Unfoͤrmlichkei - ten ja nicht untergehen zu laſſen; warum wandte man Jahrtauſende hindurch auf ihn ſo viele Muͤhe? Waren die Griechen, die Roͤmer, und unter andern Nationen die feinſten Denker, waren unter den Grie - chen Geſetzgeber, Kuͤnſtler, Weiſe, Dichter nicht aberglaͤubig und bloͤdſinnig, daß ſie79 aus einer Tradition vergangener Unmenſch - lichkeiten ſo viel Weſens machten, und ei - nen unreinen Schlam in ſo viel Baͤche ableiteten? Das hieße ja die Unmenſch - heit oder Halbmenſchheit um ſo gefaͤhrli - cher veſthalten, weil ſie mit Homers Far - ben geſchmuͤckt war.
Fragt man bei jeder Geſchichte, bei je - dem Drama: „ wer ſpricht dies? wenn? „ wozu ſpricht er's in welchem Charakter „ handelt er? wozu ſtellte ihn der Geſchicht - „ ſchreiber oder Dichter auf? “wie? und bei der groͤßeſten Compoſition der Welt wollte man nicht alſo fragen?
Was beſingt Homer? nicht den Tro - janiſchen Krieg, nicht eine Geſchichte alter Zeiten als ſolche; auch nicht Achilles Ge - ſchichte; ſondern
80wahrlich, das heißt doch den Unmuth Achills, er moͤge gerecht oder ungerecht ſeyn, nicht unbedingt preiſen. Sogleich bezeichnet ihn der Dichter, als eine ver - derbliche Plage der Goͤtter, die um ſo bedaurenswuͤrdiger war, weil ſie bloß aus einem unſeligen Zwiſt entſtand, den ſein Held mit dem Koͤnige Agamem - non hatte —
Und wer iſt Schuld an dieſem Zwiſte? Homer eroͤfnet ſein Gedicht mit einer Er - zaͤhlung, die keinen Leſer oder Zuhoͤrer im Zweifel laſſen kann. Ein Vater, ein PrieſterApolls,
81Apolls, ein Schonenswuͤrdiger, unantaſtba - rer Greis kommt unter dem Schutz ſeines Gottes, um ſeine geraubte Tochter zu bit - ten. Er ſpricht weder Mitleid noch Er - barmen an; er will ſie nur, und zwar uͤber - reichlich loskaufen. Seine kurze Bitte iſt ſo geziemend, ſo artig; und welche harte, ungeziemende Antwort giebt der Koͤnig der Griechen dem flehenden Alten.
Nicht den Vater, den Fremden, den Bit - tenden, den Greis beleidigt dieſe Antwort allein; ſie beleidigt den Gott in ſeinem Prieſter und iſt wirklich die Rede eines uͤbermuͤthigen Atriden.
Nun ſteigt der Gott vom Olymp; die Pfeile fliegen, die Menſchen ſterben, die Holzſtoͤße flammen; Achill, den die Noth des Heers jammert, ruft die Verſammlung zuſammen, um die Urſache auszukunden, warum ein Gott auf ſie alle jetzt alſo er - grimmt ſei? Kann Achill edler auf den Schauplatz gebracht werden, als alſo? Der Hirte der Voͤlker war durch ſeinen83 Trotz ihr Verderben worden; ſein koͤnigli - ches Herz machte ſich keinen Vorwurf, ob Er vielleicht an ihrem Untergange Schuld ſey, noch ſuchte er Mittel dagegen; den großherzigen Achill allein kuͤmmert die Sa - che des Ganzen.
Als ſolcher erſcheint er ſofort in ſeinen Reden, unbefangen, wie es die Großher - zigkeit iſt, und gerade. Da der weiſeſte Seher ſich nicht erkuͤhnt zu ſprechen, weil er ſich vor dem Unwillen des Maͤchtigſten, deſſen Gemuͤthsart ihm bekannt iſt, fuͤrchtet, nimmt ihn Achill fuͤr das gemeine Beſte in Schutz; worauf denn der Uebermuth des Koͤnigs zuerſt auf den Seher, ſogleich nach einer ſehr billigen Rede des Achilles auf dieſen herfaͤllt. Und da Achill nicht ge - ſchaffen war, ſich vor der Verſammlung oder ſonſt ſchmaͤhen, beleidigen, das Seine ſich rauben zu laſſen, am wenigſten aberF 284vom ſtolzen Duͤnkel eines uͤbermuͤthigen Atriden; ſo entbrennet der Zwiſt, ſo folgt die Erbitterung, bei der, (ich wage es zu ſagen) Achill auch im wildeſten Feuer ge - recht bleibet. Pallas erſcheint ihm zu rech - ter Zeit, ihn bei der blonden Haarlocke zu ergreifen; und als der unbeſonnene Fuͤrſt, auch nachdem er Zeit zu beſſerer Ueberle - gung gehabt hatte, ſein unbefugtes Macht - wort vollfuͤhret, und ihm ſein Eigenthum, ſeine geliebte Briſeis raubet, betraͤgt ſich Achill gegen die Herolde mit einer hohen Maͤßigung. Ungern wie Briſeis dahingeht, ſehn wir ſie hingehn, und ſetzen uns mit dem Gekraͤnkten weinend ans Ufer. Da hoͤren wir ihn der Mutter klagen, und theilen mit ihr den Jammer um einen ſo herrlichen Sohn, den bei einem kurzen Le - ben, ohne ſeine Schuld, dieſe oͤffentliche Beleidigung, dieſer Gram, dieſer Unmuth85 treffen muͤßte. Mit Freuden ſehen wir den Vater der Goͤtter den großen Wink thun, und den Gekraͤnkten in Schutz nehmen.
Wenn nun, ganze Geſaͤnge der Iliade hindurch, unſchuldige, tapfre, edle Maͤnner, wenn liebe Soͤhne, junge Gatten, bluͤhende Juͤnglinge fallen; wer iſt an ihrem Tode, wer an der Trauer, den Thraͤnen, dem Verluſt ihrer Eltern und Gatten und Braͤute Schuld? Achilles nicht; er ſtreitet bloß nicht mit, und kann und darf als ein oͤf - fentlich und ungerecht Gekraͤnkter, nicht mitſtreiten. Unmuthig ſitzt er in ſeinem Zelt, und ſeine Myrmidonen murren zuletzt um ihn her, daß er ſie nicht zum Streit fuͤhre. Der uͤbermuͤthige Koͤnig allein iſts, der dadurch die Voͤlker ſtuͤrzt, daß er nicht nur jenen Helden beleidigte, ſondern ſogleich auch, im Wahn ſeines Ruhms, zu zeigen,F 386daß er Achills nicht beduͤrfe, ſeine geliebten Voͤlker zur Schlachtbank hinfuͤhrt.
Unglaublich iſts, wenn man es nicht ſaͤhe, mit welcher moraliſchen Zartheit Ho - mer dies alles einleitet und beſchreibet. Eben dieſelbe Mutter des Beleidigten, die den hoͤchſten Gott anfleht, hatte dem Dich - ter Raum gemacht, einen falſchen Traum vom Himmel kommen zu laſſen, der dem Koͤnige einbilde, Er koͤnne jetzt, dem Achill zum Trotz, Troja im Hui erobern.
Dagegen erhebt ſich nun freilich der alte Neſtor
Und ſogleich ſteht der Koͤnig von ſei - nem Sitz auf, ſtuͤtzet ſich auf ſeinen uͤber Alles geprieſenen Scepter, hat ſogar eine herrliche Liſt erdacht, die Anhaͤnglichkeit der Griechen an Ihn, an ſeinen Bruder Menelaus, und deſſen Weib, Helena zu pruͤfen, uͤberzeugt, daß ſie ſich ihm nicht anders als zum Opfer geben wuͤrden. Die koͤnigliche[Perſuaſion] mißraͤth; der kluge Ulyſſes, mit dem noch unveralteten Scep - ter Agamemnons in der Fauſt kann ſie kaum wieder zu ihren verlaſſenen Sitzen bringen; wo denn Therſites aufſteht, und Er allein, auf die unſchicklichſte Art der Sache Achills erwaͤhnet.
So Mancherlei uͤber dieſen haͤßlich - laͤcherlichen Therſit geſchrieben worden; ſo ſieht Jedermann das vor Augen, daß den Edelſten der Schlechtſte, den Herrlichſten der Haͤßlichſte allein und aufs Nie -F 488drigſte vertheidigt. Jeder goͤnnet dieſem die Schlaͤge des Ulyſſes; es iſt aber große Weisheit des Homers, daß er ſie dem Therſites zukommen laͤßt, indeß alle Fuͤr - ſten des Heers, deren keiner Agamemnons Betragen gegen Achill loben konnte, dazu ſchwiegen. Allen bekommt dies Schwei - gen, die ganze Iliade hindurch, ſehr un - wohl; ihren Voͤlkern aber noch uͤbler.
Es wird in einem andern Kapitel da - von die Rede ſeyn, wie Homer, der uͤber - haupt keinen Groll gegen ein menſchliches Geſchoͤpf, geſchweige gegen den Koͤnig ſei - ner Griechen heget, den Agamemnon al - lenthalben nicht nur geſchont, ſondern, wo er irgend konnte, koͤniglich und feſtlich aus - geſchmuͤckt habe. Zum Treffen laͤßt er ihn ziehen:
89Er laͤßet ihn den tapferſten Kriegern, ei - nem Diomedes ſogar, Verweiſe geben; doch das Alles thut nichts zur Sache. Nach vielen erlittenen Niederlagen muß der alte Neſtor mit dem Bekaͤnntniß doch heraus:
Er ſchlaͤgt zur Ausſoͤhnung Geſchenke und ſchmeichelnde Worte vor; Achilles ſchlaͤgt ſie aus und muß ſie ausſchlagen; ja waͤre Agamemnon ſelbſt in ſein Zelt gekommen, er haͤtte einen boͤſen Weg da - raus gefunden. Nun hatte dieſer Raum ſeine Wunder der Tapferkeit und Ober - herrſchaft zu erweiſen, die aber alle dahin - ausgingen, daß nach Niederlagen von al - len Seiten, die Mauer der Griechen er - ſtuͤrmt ward und Hektor, ans Schiff des Proteſilaus greifend, ausrief: „ bringt91 Feuer! “— Hier war das Ziel. Nicht Agamemnons Geſchenke, noch eines ſchlauen Ulyſſes Reden; Achilles eigner Entſchluß, mit welchem ſich ſeines Freundes Patro - klus Thraͤnen verbanden, hemmte die aͤu - ßerſte Gefahr des Heeres. Jetzt gab Achill dem Patroklus ſeine Waffen, mit dem gemeſſenen Befehl, wie weit er gehen ſollte. Als Patroklus dieſen uͤberſchritten hatte und den Feinden erlag, als Hektor in die Waffen Achills zu ſeinem eignen Verderben gekleidet daſtand, und die Nach - richt vom Tode des Freundes, endlich auch ſeine kaum noch erbeutete Leiche ins Lager kam: da war aller Groll dahin; im Him - mel und auf der Erde war Friede. In neue Waffen gekleidet, erſcheint er in der Verſammlung; und wie klein iſt gegen ihn Agamemnon, ob er ſich gleich noch jetzt, zur Entſchuldigung ſeines Fehlers, in einem92 Maͤhrchen von der Ate, dem Jupiter gleichſtellt. Wie groß dagegen iſt Achilles und wie zart! zart in den Klagen um ſei - nen Freund, in den Klagen an ſeine Mut - ter; groß in der Verſoͤhnung mit ſeinem Feinde, in der Anordnung des Begraͤbniſ - ſes ſeines Freundes,
Groß endlich in den Kampfſpielen, in der Ueberwindung ſein ſelbſt, da er den Leich - nam Hektors zuruͤckgiebt, in der Behand - lung Priamus dabei, groß von Anfange des Gedichts bis zu Ende. Scherzend ſpricht er zu Priamus:
Dies iſt das letztemal, da Agamemnons in der Ilias gedacht wird; wie tief ſteht er unter Achill, in deſſen Zelte ſein Feind ru - hig ſchlaͤft.
Ich weiß wohl, daß man die gedrohete Mißhandlung am Leichnam Hektors dem Achilles hoch aufnimmt; aber preiſet ſie Homer? und verhindern ſie die Goͤtter nicht ſelbſt, denen Achilles ſogleich wie ein94 Kind gehorchet? Und was hatte Hektor mit Patroklus Leiche im Sinn, uͤber die ein ſo hitziger Kampf war? —
Man iſt gewohnt, Achill und Hektor zum Nachtheil des Erſten zu vergleichen; nach welchem Maasſtabe? Nicht nur waren es verſchiedene Charaktere, und zu Achills Charakter gehoͤrte, was er war, untrennbar; ſondern Hektor war auch ein Trojaner. Daß in Troja, dem alten aſia - tiſchen Koͤnigsſitze, ein groͤßerer Reichthum, eine weichere Lebensart herrſchte, als in den meiſten griechiſchen Staaten ſeyn konn - te, zeigt ſich in mehreren Stellen der Iliade; der Charakter des erſten Trojaners mußte dieſem Zuſtande gemaͤß ſeyn. Der Spie - gel Homers, in welchem ſich alle Dinge der Welt gleich klar und rein darſtellen, zeigt alle Geſtalten gleich menſchlich und milde. Bei voͤlligen Gegenſaͤtzen ſcheint95 eine Vergleichung kaum moͤglich; und doch wirft Homer auf alle, wo irgend er kann, den milden Stral der Menſchheit.
Sein Gedicht endet, ehe Troja erobert wird, ehe wir alſo die Graͤuelthaten der Griechen in dieſer eroberten Stadt gewahr werden. Selbſt ſein Held hatte das gute Schickſal, die ſchreckliche Folge ſeiner Tap - ferkeit nicht zu erleben; er fiel, wie wir aus andern wiſſen, im Thore von Troja. Und bei Homer, ſobald Achill mit ſeinen neuen Waffen dahergeht, geht er zum Tode. Dies weiſſagt ihm ſeine Mutter, ſeine weinenden Roſſe, der ſterbende Hektor, und er ſelbſt weiß es. Sein Leben iſt an Patroklus Leben geknuͤpft; Ein Huͤgel ſoll ſie decken, und eine goldne Urne beider Aſche am Troiſchen Strande vereinen.
Was uͤberhaupt der Glaube an ein Schickſal, was die Thaten der Goͤtter, ihre96 Huͤlfe und Feindſchaft gegen Voͤlker und Menſchen, in die Compoſition Homers an Ruhe, Milde und hohe Ergebenheit brin - gen, iſt unſaͤglich. Man nehme dieſe goͤttliche Farce, wie manche ſie genannt haben, (μωϱον) aus ſeiner Iliade; und das Ganze wird widrig oder platt, wie faſt alle politiſche Geſchichte. Und doch iſt alles Zuwirken der Goͤtter bei ihm ſo menſch - lich, ſo natuͤrlich! Nirgend ein zerſtoͤren - des Wunder; allenthalben nur der Gang des Menſchengemuͤths, der Menſchenkraͤfte, ſofern er ans Zufaͤllige, ans Unvorgeſehene, ans Unendliche reichet. Was zumal die Goͤtter uͤber die Sterblichen, und uͤber Achills Roſſe ſprechen, die einem Sterbli - chen dienen, iſt Seelezerſchneidend.
Menſchlicher Homer, wie liebe ich dich in allen deinen Formen und Geſtalten! Auch Paris, auch die Suͤnderin Helenahaſt97haſt du nicht verſchmaͤhet, und beide in das ſchoͤnſte Licht geſtellt, in welchem ſie ſtehen konnten. Nicht vergeſſen ſind ihre Bruͤder Caſtor und Pollux; ihr Menelaus, ſamt Ulyß, ſind mit allen Wuͤrden geſchmuͤckt, deren ſie auf der Ebne vor Troja faͤhig waren. So Ajax, Diomed, Idomeneus, Neſtor; jeder erſcheint an ſeinem Orte, zu ſeiner Zeit in der Rennbahn des Ruhmes. Kurz oder lange leuchtet ſein Schein; aber er geht nach Verdienſt auf und nieder.
Drei Lehren druͤckſt du ſchweigend vor allen uns ins Herz:
Dies lehrt uns mit ſeinem Uebermuth der praͤchtige Agamemnon in der ganzen Iliade. Er graͤnzt an alle Ausſchweifungen, die Ariſtoteles Ethik kannte, an die Hab - begierde (Akolaſie) den Neid, die Schaamloſigkeit und Beifallge - bung, die Pralſucht; doch graͤnzt er nur daran, denn der weiſe Homer hat ihn vor jedem Zuge des Veraͤchtlichen bewah - ret. Er iſt und bleibt bei ihm ein un - ſtraͤflicher Koͤnig. Achilles dagegen be - ſitzt den Kern deſſen, was die Griechen Tugend nannten, Großherzigkeit (μεγαλοψυχια) und edlen Stolz, ho - hes Selbſtgefuͤhl und die aͤußerſte Wahrheitliebe. Er iſt freigebig und auf eine anſtaͤndige Art praͤchtig, hoͤflich in ſeinem Zelt und bis zur Schaam beſcheiden; dabei gebildeter als alle Griechen: denn er war Chirons Zoͤgling99 und ergoͤtzte mitten im Unmuth ſein ſchwer - beladnes Herz durch Toͤne. Der waͤrmſte Freund ſeines Freundes, an Staͤrke, Tapferkeit, Schoͤnheit und Ruhmliebe uͤber alle Griechen erhaben. Und an dieſem Gottgeliebten Sohn einer Goͤttinn und ei - nes Helden zeigt uns Homer μηνιν
2. die erſchreckliche Plage des har - ten, obwohl gerechten Unmuths. Achill konnte ihm nicht entweichen: denn der Vorfall, der ihn dazu reizte, drang auf ihn, ohne daß er ihn ſuchte. Er kann, die ganze Iliade hindurch, als Achill nicht an - ders handeln, als er handelt. Das Unan - genehme aber dieſes Unmuths fuͤr ihn und fuͤr andre entwickelt der Saͤnger durch Worte aus des guten Phoͤnix, ja aus Achills eignem Munde und durch Erfolge in lauter lebendigen Situationen. Sogar das herbeieilende letzte Schickſal des Edel -G 2100zuͤrnenden ſehen wir in dieſe Reihe der Dinge verflochten, in dieſen ihm unver - meidlichen Unfall. Konnte ein zarterer Punct des menſchlichen Herzens und Le - bens zarter behandelt werden, als es der Dichter gethan hat? Gemeine Seelen wiſſen nichts vom edeln, goͤttlichen Unmuth; wie manchem groͤßeren Gemuͤth aber iſt er die Klippe des Gluͤcks, ſeiner Brauchbar - keit fuͤrs gemeine Weſen, des haͤuslichen und taͤglichen Wohlſeyns, ja endlich des Lebens ſelbſt worden! Mehr als Ein Ge - kraͤnkter hat die Klagen angeſtimmt, die Achill am Ufer des Meers ſeiner Mutter zuſeufzte; er konnte aber keinen andern Troſt hoͤren, als jenem die Goͤttin ſelbſt zu geben vermochte.
3. Endlich, welch eine boͤſe Sache iſt der Krieg! Und wie mißlich iſt jede Re - gierungsart unter den Menſchen, ſo un -101 umgaͤnglich ſie iſt im Kriege und Frieden! Beides hat uns Homer ſo vorzuͤglich und hell dargelegt, daß wir auch hier den Mei - ſter ſehen, der in die roheſten Dinge Weis - heit und Menſchlichkeit brachte.
Dieſe Lehre laͤßt Homer den alten Pe - leus ſeinem Achilles auf den Zug vor Troja mitgeben und die ganze Iliade iſt eigent - lich ein Lob der Philophroſyne d. i. gefaͤlliger, Menſchenfreundlicher Geſinnung: Unmuth iſt dem Homer eine Plage des Le - bens, ſelbſt wenn es ein gerechter,[goͤtt -]103 licher Unmuth (μηνις) waͤre. Er frißt am Herzen, und naget ab die Bluͤthe des Le - bens; bei den menſchlichſten Geſinnungen wird der Gekraͤnkte wider ſeinen Willen ein Unmenſch. Die aͤlteſte griechiſche Phi - loſophie ging dahinaus, das Gemuͤth der Menſchen vor jedem Aeußerſten zu bewah - ren; die aͤlteſte Philoſophie der Griechen aber war bei den Dichtern. Mit Recht - ſchaffenheit, Ruhm und Geſundheit ein heiteres, frohes Leben fuͤhren zu koͤnnen, ſtelleten ſie als den hoͤchſten Wunſch der Sterblichen dar, und warnten vor jedem Uebermaaße, vor jeder zu hart angeſeſſenen Neigung. Wie klar muß es in der Seele Homers geweſen ſeyn, da er, ſein ganzes Gedicht hindurch, gleichſam die Waage Jupiters in der Hand haltend, die Nei - gungen und Charaktere der Menſchen gegen einander im Streit und in Folgen abwog!
G 4104Der Schild Achilles zeigt bei ihm, wie er ſich die Welt dachte; unbefangen ſah er ihre mancherlei, einander oft nahe entge - gengeſetzten Scenen; froͤhliche und traurige, ruhige und ſtuͤrmiſche Scenen, und ſchil - dert ſie, wie dort Vulkan ſie hammerte, glaͤnzend und unvergaͤnglich. Wem Homers Muſe den Nebel vom Auge nimmt, ge - winnet uͤber die Dinge der Welt gewiß eine große, weiſe und am Ende froͤliche Ausſicht.
Wie Achill mit ſeiner Leyer den Un - muth ſich zu zerſtreuen ſuchte: ſo war es das Amt der lyriſchen Dichter der Menſchen Herz zur Maͤßigung in Gluͤck und Ungluͤck zu ſtimmen und es zur Freu - de, Freundſchaft und Heiterkeit zu ermun - tern. Leider ſind die meiſten derſelben un - tergegangen; die uͤbriggebliebenen Reſte aber zeigen dieſe Beſtimmung. Pindar105 ſelbſt, ob er gleich laute Siege beſingt, hat ſo manchen Spruch in ſeinen Geſaͤngen, der zur Maͤßigung im Gluͤck, zum behut - ſamen Gebrauch des Lebens einladet; ſo manchen, der dem Unmuthe zuvorzukom - men ſucht, oder nach Erfahrungen deſ - ſelben die Seele des Kaͤmpfers edel erquicket.
Das feine Echo der Griechen, (wie Einer unſerer Freunde ihn nannte) Horaz thut ein Gleiches. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß er in ſeiner wohlgefaͤlligen, einſchmei - chelnden Art auch uns eigen werden koͤnn - te; vielleicht iſt dies aber unmoͤglich: denn die Meiſten ſeiner Oden ſind zu kuͤnſtlich eingelegte Muſiviſche Arbeit.
Mehrere derſelben, wiſſen Sie, ſind nach dem Lateiniſchen in Muſik geſetzt; ich woll - te, daß auch aus den fuͤr uns nicht ganz brauchbaren Oden alle rein-menſchlicheG 5106Strophen, alle beruhigende, troͤſtende, auf - heiternde Spruͤche und Empfindungen la - tein componirt wuͤrden. Stellen aus Vir - gil deßgleichen. Ich erinnere mich aus Luther, daß ihm einige Worte der ſterben - den Dido in der Muſik einen unvergeßba - ren Eindruck gemacht hatten; wem wuͤr - den nicht jene ewigen Spruͤche der Alten, mit welchen ſie im einfachſten, kraͤftigſten Ausdruck das Menſchengemuͤth ſtaͤrken, ei - nen nach - und wiedertoͤnenden Eindruck geben? Durch Muſik iſt unſer Geſchlecht humaniſirt worden; durch Muſik wird es noch humaniſiret. Was dem Unmuthigen, dem Lichtlos-Verſtockten die Rede nicht ſagen darf: ſagen ihm vielleicht Worte auf Schwingen lieblicher Toͤne.
Wenn dies von Geſaͤngen der Alten gilt, ſollte es nicht vielmehr von Sprachen gel - ten, deren Genius uns vertraulicher und107 naͤher Laute des Troſtes und der Weisheit zuliſpelt? Kein Zweifel. In den Dichtern der Italiener, Spanier, Gallier ſchlummern Toͤne, die, wenn ſie durch Muſik und Anwen - dung zur Weisheit des Lebens wuͤrden, Voͤl - ker und Staͤnde menſchlich machen muͤßten.
Auch in unſern lyriſchen Dichtern ſind Strophen, die der Sokratiſchen Schule wuͤrdig ſind; warum leben ſie ſo wenig im Ohr der Nation? warum ſchlafen ſie mit ihren Erfindern vergeſſen im Staube? Die Urſache iſt leicht zu finden: „ weil nur ein ſo kleiner Theil unſrer Nation cultivirt iſt, und bei einem andern die ſcheinbare Cultur zu einem falſchen Schmuck frem - der Ueppigkeit geworden iſt. “ Wir wollen es uns nicht bergen; man ſpricht viel von Cultur und Aufklaͤrung; man affectirt und fuͤrchtet ſie ſo gar, vielleicht weil man an ſich ſelbſt weiß, daß ſie nicht tief gehet,108 daß ſie ſelten von rechter Art iſt. Denn wirklich gebildete Gemuͤther, (in dem Verſtande, wie Griechen und Roͤmer dies Wort uns zugebracht haben,) koͤnnen am Nutzen der aͤchten Bildung nicht zweifeln.
Doch wo gerathe ich hin? Laſſen Sie uns ſchnell zu unſrer Materie, zu dem unver - faͤnglichen Wunſch nach Compoſitionen ſchoͤner Stellen aus lateiniſchen Dichtern zuruͤckkehren. Oft, gar oft wenn ich geiſtliche Muſiken uͤber lateiniſche Moͤnchsworte hoͤrte, regte ſich das Ver - langen in mir, auch altroͤmiſche Stellen mit ſolcher Muſik begleitet zu hoͤren; und als in Reichardts Todtenfeier auf Frie - derich nach Luccheſini's Worten alt Roͤ - miſche Tugenden, Eine nach der Andern, auf des Unſterblichen Grab auch in Toͤnen ſich zudraͤngten, ward der Wunſch aufs neue in mir lebendig. Strophen aus109 Horaz, (z. B. B. 1. Ode 7. V. 21-32. B. 2. Ode 10. V. 13-24. ) oder ganze Stuͤcke mit Zweckmaͤßiger Abwechſelung, (wie vielleicht B. 1. Ode 9. 24. 26. B. 2. Ode 3. 11. 14. 16. 19. 20. B. 3. Ode 2. 9. 21. B. 4. Ode 7. Epode 7.) wuͤrden der Muſik nothwendig den eigenthuͤmlichen Schwung geben, der ihr bei unſern ver - brauchten Sylbenmaaßen zu finden oft ſchwer wird. Der Hoͤrer wuͤrde dadurch gewiſſermaaßen in die Roͤmiſche Welt, oder wenigſtens in Zeiten ſeiner Jugend ver - ſetzt, in welchen er Horaz zuerſt lieben lernte.
Wie gluͤcklich war uͤberhaupt dieſer Dichter! Nicht nur im Leben, ſondern auch in der Reihe von Wirkungen, die ihm nach ſeinem Tode das Schickſal an - wies. Die lyriſchen Dichter der Griechen ſind untergegangen; Er faſt allein hat uns110 mehrere Formen ihrer Gedanken, ihrer Em - pfindungen, ihres Ausdrucks, ihrer Syl - benmaaße in ſeinen Nachbildungen geret - tet; und was damit fuͤr ein Schatz geret - tet ſei, hat die Zeitfolge erwieſen. Die Pindariſche Form, die Form der griechi - ſchen Scholien und Choͤre war und blieb den Sprachen Europa's unanwendbar; in der Horaziſchen Form erhob ſich die Ode, ſelbſt zu einer Zeit, da die Nationalſpra - chen der Europaͤiſchen Voͤlker ungebildet dalagen. In allen Laͤndern ſchloſſen ſich die Geiſter des Geſanges dem Venuſini - ſchen Schwan an, und druͤckten zuerſt in der geliehenen lateiniſchen Sprache Geſin - nungen aus, die ſie in ihrer Landesſprache noch nicht auszudruͤcken vermochten. Wie niedrig iſts, was Balde u. a. Deutſch ſan - gen; wie edler, wo ſie das von Horaz geheiligte Werkzeug der Sprache anwen - den konnten! Ohne ihn haͤtten wir keinen111 Sarbievius, deſſen Oden, von Goͤtz u. a. wiederum in unſre Sprache uͤbertragen, immer noch den Roͤmiſch-Griechiſchen Geiſt athmen. Gehen Sie in dieſem Geſichts - punkt die Sammlungen durch, die Gru - ter u. a. von den lateiniſchen Dichtern der Italiaͤner, Gallier, Belgen, Deutſchen, Daͤnen, Schotten, Eng - laͤnder u. f. gegeben haben; unter vielem Wortgeklingel werden Sie unſtreitig wahre delicias finden. Jeder edlere Dichter ver - gaß gleichſam den Lauf der Dinge um ihn her; uͤber die Vorurtheile ſeines Landes, ſeiner Secte, ſeines Ordens hinausgeſetzt, mußte er gleichſam mit dem Roͤmiſchen Dichter auch Roͤmiſch denken. Was ſpaͤ - terhin in unſrer Sprache eben auch durch die Horaziſche Form geweckt und in ihr vorgetragen ſei, darf ich Ihnen aus Klop - ſtock, Goͤtz, Uz, Ramler u. a. nicht112 anfuͤhren. Horaz iſt Saͤnger der Hu - manitaͤt gleichſam Vorzugsweiſe, die Form ſeiner Gedanken iſt das erwaͤhlte Lieblingsmaaß der lyriſchen Muſe worden. O daß wir alſo ſchon Stellen, wie ſolche: Vitae ſumma breuis — nil deſperandum — Tu ne quaeſieris — felices ter et amplius — quod ſi Threicio — linquenda tellus — ae - quam memento — rebus anguſtis — eheu fugaces — tecum vivere amem, tecum obeam libens — in lateiniſcher Sprache componirt hoͤrten!
Hier Eine von Sarbievs unſchaͤtzba - ren Oden auch in der Form des Roͤmers:
Ein zweites Fragment aus der Handſchrift Ionien handelt Von der Humanitaͤt Homers in Anſehung des Krieges und der Kriegfuͤhrenden ſeiner Iliade. Laſſen Sie es jetzt ſtatt meines Briefes gelten.
Selbſt in dem Heldengedicht, das groͤß - tentheils Thaten der Krieger beſingt, dachte Homer uͤber Krieg und Frieden menſch - lich. Nicht nur, daß er jenen ſo oft den Thraͤnenreichen, Maͤnnerfreſſen -115 den, verderblichen, harten, boͤſen Krieg nennet; er laͤßt keine Gelegenheit vorbei, ihn ſeiner Natur nach, mit allen begleitenden Uebeln, durch Thatſachen zu ſchildern.
I. Die Iliade beginnt mit einem Greiſe, der um ſeine geraubte, liebe Tochter vergebens flehet; und bald wird es nicht verſchwiegen, daß die Griechen alle benach - barte Kuͤſten und Inſeln gepluͤndert, daß ſie die neun Jahre her großentheils vom Raube gelebt haben. Schon faulet das Holz an ihren Schiffen, die Seile vermo - dern;
Ihre Weiber daheim und unerzogene Kinder Schmachten, ſie wiederzuſehn — daher denn, als Agamemnon ihnen den Vorſchlag that, nach neun Jahren vergeb - licher Arbeit wieder die Schiffe zu beſtei - gen undH 2116— zu fliehn zum werthen Geburtsland; ſo hatte er kaum das Wort geſprochen, als die Verſammlung es in freudigem Ernſt befolgte:
Nur durch vieles Zureden und durch den gebietenden Stab des Koͤnigs konnte die Kriegsſatte Schaar wieder in die Verſamm - lung, durch neue dringende Vorſtellungen von Schande, Ruhm und Hoffnung wie - der ins Feld gebracht werden.
2. Denn es hatte ſich zur Laſt des Krie - ges auch die Plage der Peſt gefunden; eben ſie unterlaͤßt Homer nicht im Anfange der Iliade ſchreckhaft zu zeichnen.
117Denn wem iſt unbekannt, daß anſtecken - de Krankheiten, das gewoͤhnliche Gefolge aller Kriegsheere ſind, und elender metzeln, als das Schwert des Feindes?
3. Als die Goͤttinn endlich im Buſen der Griechen die Streitluſt wieder erweckt, Daß ſie nach unablaͤſſigem Kampf und Schlach - ten ſich ſehnen, und ihnen der Krieg wiederum viel ſuͤßer duͤnkt,
— als vormals Ihnen die Ruͤckfahrt ſchien zum werthen Lande der Heimath,H 3118will der Dichter dem blutigen Gefechte noch durch eine billige Auskunft zuvor - kommen. Menelaus und Paris, de - ren Sache es eigentlich allein iſt, um de - ren willen Menſchen hingeopfert werden, ſollen durch einen Zweikampf den Zwiſt entſcheiden.
4. Da dies Mittel aber nicht gelang, und die Heere gegen einander ziehen muͤſ - ſen, von wem laͤßt ſie der Dichter empoͤ - ren? Die Trojer von Mars, den ſein Vater, Jupiter, ſelbſt ſpaͤterhin alſo an - redet:
119Die Griechen regt Pallas auf, und mit beiden Aufregern ſind
Sind dieſe Namen hier allegoriſche Kunſt - werke? Geſpenſter ſinds, die Homer eben deßwegen ſchreckhaft einfuͤhret, weil durch Perſonen, die in beſtimmten Umriſ - ſen erſcheinen, die Wirkung nicht hervor - zubringen war, die er hervorbringen wollte. So ſcheint er zu andrer Zeit den Zorn, die Schadenfreude, das ſchrecklicher - greifende Todesverhaͤngniß zu perſo - nificiren; zu gleichem Endzweck, unſere Begriffe naͤmlich zu verwirren durch dieſe unumſchriebene Wortlarven. Der Zorn iſt ihm wie ein Rauch, und die Zwie - tracht erhebt ſich gleicher Geſtalt zwiſchen Himmel und Erde. — Von allen Kuͤnſt - ler-Ideen weggeſehen, wie wahr und wie121 graͤßlich! Aus einem Nichts entſpringet die Zwietracht und wird in kurzem uner - meßlich. Nie umſchrieben in ihrem Weſen kommt ſie vielleicht aus Einer Kammer hervor und durcheilt Staaten, durcheilt Heere, ſaͤet Verderben und Streitgier um - her, immer das Haupt in hohen, unabſeh - lichen Wolken verborgen. Selten wiſſen die Menſchen, weßhalb ſie ſtreiten; je laͤn - ger aber, deſto hartnaͤckiger hadern ſie: denn von Schritt zu Schritt waͤchſt die unerſaͤttliche Eris.
Da ſich Homers Iliade einem großen Theil nach mit dieſem Gemetzel beſchaͤf - tigt: ſo wird das Menſchengemuͤth des Dichters hier vorzuͤglich fuͤhlbar. Seine Todte laͤßt er nie als Thiere fallen; er be - zeichnet, ſo viel er kann, in einigen Ver - ſen als Menſchenfreund ihr trauriges Schickſal. Dieſer wird nie mehr zu ſei - nen geliebten Eltern, zu ſeinen Bruͤdern, ſeiner Gattinn, ſeinen Kindern wiederkeh - ren; jener hat Reichthum, Wohlſtand, eine gluͤckliche Ruhe verlaſſen, die er nie mehr genießen wird. Einen andern zeichnet er als Kuͤnſtler, als einen geſchick - ten, ſchoͤnen, Gottbegabten Mann; ſeine Kunſt iſt dahin, ſeine Schoͤnheit verwelket,123 der Goͤtter Gaben werden mit der Aſche begraben. Jenen hat falſche Hoffnung, eine truͤgliche Weiſſagung ins Feld gelockt; der Tod ergreift ihn, ſchwarze Nacht um - huͤllet ſein Auge. Und ferner. Mehrere dieſer Erinnerungen ſind ſo zart, daß ſie Inſchriften zu den Grabmaͤlern der Erſchlagenen ſeyn koͤnnten, wenn arme Kriegserſchlagene Grabmal und Urne erhielten.
6. Merkwuͤrdig iſt hiebei, daß Homer dieſes zaͤrtliche Andenken am meiſten den Trojanern ſchenket. Er ein Grieche, der den Ruhm griechiſcher Helden verewigen wollte, war zugleich ein Aſiat, ein Jonier, ein Menſch, und ich moͤchte ſagen ein Be - daurer des Trojaniſchen Schickſals. Weit entfernt von der barbariſchen Kleinmuth, ſeine Feinde verunglimpfend zu beluͤgen, zeichnet er ihr zarteres Gemuͤth, die groͤ -124 ßere Weichlichkeit ihres Klima, ihre Fami - lienneigungen, ihre Kuͤnſte, ihr Wohlbeha - gen zu Friedenszeiten, in Zuͤgen, an denen ſich offenbar das Auge des Dichters ſelbſt ergoͤtzte. Die armen Trojaner ſind ihm eine Heerde Schaafe, die von Woͤlfen an - gefallen wird; unter ihnen ſind viele frem - de Bundsgenoſſen, die am Schickſal der bedraͤngten Koͤnigsſtadt nur aus nachbar - lichem Mitleid Theil nehmen. Uns den inneren Wohlſtand Troja's zu zeigen, un - ſer Herz fuͤr die Bedraͤngten mitfuͤhlend zu machen, fuͤhrt er ſeinen edlen Hektor im Anfange des Treffens in die Stadt zuruͤck. Er zeigt uns Priamus und ſeiner Soͤhne Wohnungen, zeigt uns die Helena ſelbſt in einer zwar erniedrigten, aber nicht unwuͤr - digen Geſtalt; ſo die Aelteſten der Stadt, ſo endlich Andromache und ihr Kind. Ruͤh - render iſt wohl kein Abſchied geſchildert125 worden, als den Hektor von ihnen beiden nahm; und es iſt eine Ueberkritik der Grammatiker, daß in der Andromache Rede einige Verſe zu allgemein und zu viel ſeyn ſollen. Bei dem Dichter ſpricht ſie im Namen aller Trojaniſchen Frauen, fuͤr ſie und ihre verwaiſeten, gefangenen Kinder. Auch hat ſich Homer wohl gehuͤ - tet, uns die Unthaten ſelbſt zu erzaͤhlen, die dieſer traurige Abſchied nur vorahnet, ob ſich gleich der Grund ſeiner ganzen Odyſſee, die ungluͤckliche Ruͤckfahrt der Griechen, großen Theils auf ſie bezog. Weder mit der Graͤuelthat des Ajax vor dem Bilde der Pallas, noch mit des Pria - mus, der Polyxena und Andrer unwuͤrdi - gem Morde hat ſeine Muſe ſich befleckt; die Kuͤnſtler und tragiſchen Dichter nah - men ihre Vorſtellung dieſer Scenen aus andern ſogenannten cykliſchen Dichtern. 126Hektors letzter Gang nach Troja iſt bei Homer in jedem Schritte groß und heilig. Der Edle will die zornige Goͤttinn verſoͤh - nen und ſeine geliebte Vaterſtadt entſuͤn - digen; daher er auch den Miſſethaͤter Pa - ris ins Feld fodert, bis am Skaͤiſchen Thore endlich, an dieſem Ungluͤcksorte, der traurige Abſchied die Scene endet — —
Homer war keiner von denen, die ih - rem Lieblingshelden die ganze Welt auf - opfern. Seinen Achilles kleidet er in Gottaͤhnliche Groͤße; Hektor dagegen in alle Wuͤrde und Zierde des Vertheidigers ſeiner Geburtsſtadt. Beide Helden konn - ten in dem Menſchenverderblichen Kriege nicht auf Einmal glaͤnzen; indeß Jener alſo einige Tage ruhet, laͤßet er dieſen ſein Gluͤck aufs hoͤchſte treiben; bis er durch Anlegung der Waffen Achills die Nemeſis reizet, und dem Tode ein Opfer127 daſteht. So uͤbertrieb Patroklus ſeine Be - ſtimmung und ſank; nicht von Hektor, ſondern zuerſt von Apollo ſelbſt Ruͤckwaͤrts getroffen, daß Achills Waffen von ihm fielen. So ſollte, hinter Homers Iliade, Achilles, da ſein Ziel erreicht war, auch ſinken. Das Schickſal aller Dreien, der edelſten Maͤnner, iſt in einander verwebt, und der Tod Eines ein Verkuͤndiger vom Tode des Andern. Im Leben und Tode ehrt Jupiter den Hektor. Da er vom Zorn der Juno ihn nicht erretten kann, opfert er ſeinen eignen geliebten Sohn Sarpedon mit ihm zugleich auf, und ſei - nen Leichnam entzieht er der Rache Achills auf die edelſte Weiſe.
Und wie den Hektor, ſo hat Homer den alten Priamus und alle ſeine Kin - der geehret. Deiphobus iſt vom Apoll begeiſtert, wie keiner im griechiſchen Heere;128 ſelbſt Paris Vorzuͤge werden bei al - lem Tadel, der ihm gebuͤhrt, nicht ver - ſchwiegen.
7. Warum unterſagt Priamus bei dem Begraͤbniß der Erſchlagenen ſeinem Heer die weinende Trauerklage? Offenbar lag dies Verbot in der Situation der Troja - ner. Sie, eine Verſammlung Aſiatiſcher, weicherer Voͤlker, an die laut-weinende Trauerklage mehr noch als die Griechen gewoͤhnet, ſie, die in der Naͤhe ihrer Ver - wandten, Kinder und Weiber, vor Troja's Mauern ihre naͤchſten Freunde und Lands - leute beſtatten, und in ihrem Tode ihr eignes Schickſal vorausſahen, ſie hatten ein ſolches Verbot noͤthiger als die haͤrteren Griechen, die der angreifende Theil waren, und fern von den Ihrigen nur ihre Mitſtreiter be - gruben. Um Patroklus Leiche weinen die Griechen, inſonderheit die Myrmidonen,am129am heftigſten Achilles; auch Briſeis weint und die uͤbrigen Weiber, letztere aber Um Patroklus zum Schein, im Grund 'um eigenes Elend.
8. Noch mehr zeigt die Menſchlichkeit Homers ſich in der Weisheit, mit der er uͤber das Schickſal des Krieges dachte. Alles Kriegsungluͤck laͤßt er durch Fehler entſtehen, durch Fehler und Lei - denſchaften der Goͤtter und Menſchen. Das alte Troja wird vom Jupiter dem Eigen - ſinn eines unverſoͤhnlichen Weibes aufge - opfert, die eine Reihe ihrer Lieblingsſtaͤdte hingeben will, wenn Jupiter hier nur ih - ren Willen erfuͤllet. Die keuſcheſte, ſtolzeſte Goͤttinn erroͤthet nicht, ihre Umarmung zum Netz des Betruges zu machen, aus tiefem Groll lieblos Liebe zu heucheln, mit ge - borgtem Schmuck an offnem Tage aus derDritte Samml. I130Gattin eine beruͤckende Buhlerin zu wer - den, nur damit Einige Trojaner mehr blu - ten, indeß ihr beſtochener Kaͤmmerling, der Schlaf, dem Schickſalwaͤgenden Gott die Augen zuſchließt. Das Aeußerſte der Rache eines Weibes! Gegen Troja ſtehen zwo Weiber, fuͤr Troja zwei Maͤnner; wer zwei - felt, wenn es auf Haß ankommt, welche Par - thei zum Ziel gelangen werde? Ging es in den hartnaͤckigſten Kriegen der Erde je anders?
In der menſchlichen Scene hangen, wie vorher gezeigt worden, der Griechen Unfaͤlle bei Homer lediglich vom Stolz und Wahn des Koͤniges ab, dem keiner der Rathge - benden Fuͤrſten ſich zu widerſetzen ge - traute. Ein falſcher Traum iſt ſeine be - lehrende Gottheit; ſonſt erſcheinet ihm keine, (deren mehrere doch andern erſchei - nen) waͤhrend der ganzen Iliade. Dieſer falſche Traum heißt Duͤnkel, dem Aga -131 memnon, ſchon ſeinem Namen nach ein Jupiter auf Erden, zum Verderben ſeines Volkes gehorchet. Den aͤlteſten Rathge - ber beſticht er damit, daß der Traum in ſeiner Geſtalt erſchienen ſei; andre Fuͤrſten ſchweigen, oder wetteifern thoͤricht mit Achilles Ruhme. So kommt durch Einen, durch Wenige das ganze Heer an den Rand des Abgrundes. Zu ſpaͤt wird geſprochen, zu ſpaͤt geweinet; und unter dieſem allen iſt und bleibt Agamemnon der ſorgſamſte Hirte der Voͤlker. O Homer, ſo oft ich von neuem Deine Iliade leſe, finde ich in ihr neue Zuͤge der ordnenden Weisheit, Klugheit und Menſchenliebe, mit der du wilde Verhaͤltniſſe eines rohen Zeit - alters erzaͤhleſt. Und keine Lehre, keine Warnung entfließt deinen Lippen, als ob ſie die deinige waͤre; jedes Laſter, jede Thorheit, jede Leidenſchaft ſelbſt lehret und warnet.
I 2132„ Die Natur hat mir Geſchmack an der Einfalt gegeben und ich bemuͤhe mich, die - ſen Geſchmack durch das Leſen der Alten vollkommner zu machen.
O mein Freund, wie ſchoͤn iſt die Ein - falt! Wie uͤbel haben wir gethan, uns davon zu entfernen!
Wollen Sie hoͤren, was der Schmerz einem Vater eingiebt, der jetzt ſeinen Sohn verlohren hat? Hoͤren Sie den Priamus. Wollen Sie wiſſen, wie ſich ein Vater ausdruͤckt, der dem Moͤrder ſeines Sohns fußfaͤllig flehet? Hoͤren Sie eben den Priamus zu den Fuͤßen des Achilles.
Was iſt in dieſen Reden? Kein Witz, aber ſo viel Wahrheit, daß man faſt glau - ben ſollte, man wuͤrde eben ſo wohl als133 Homer darauf gefallen ſeyn. Wir aber, die wir die Schwierigkeit und das Ver - dienſt, ſo einfaͤltig zu ſeyn, ein wenig ken - nen, moͤgen dieſe Stellen nur leſen, moͤgen ſie mit Bedacht leſen, und hernach alle unſre Schreibereien nehmen und ins Feuer werfen. Das Genie laͤßt ſich fuͤhlen, aber nicht nachahmen. “—
Was Diderot hier von Homers Ein - falt ſagt, moͤchte ich von ſeiner Humani - taͤt ſagen. Man leſe ſeine Beſchreibun - gen des Todes der Erſchlagnen, man leſe Hektors Abſchied von ſeinem Weibe und Kinde, man bemerke jeden Zug, mit dem der Dichter des Achills erwaͤhnet, inſon - derheit wenn er ihn ſelbſt redend einfuͤh - ret, auch was er hie und da uͤber das Gluͤck und Ungluͤck des menſchli - chen Lebens, uͤber Reichthum, Ehre, Adel der Seele und des Geſchlechts,I 3134uͤber Gerechtigkeit, Tapferkeit, Ge - duld, Weisheit, Maͤßigung, Sanft - muth, Gaſtfreundſchaft, Verſchwie - genheit, Treue, Wahrheit, uͤber die Verehrung der Goͤtter, die Erge - bung in den Willen des Schickſals, und die ihnen entgegengeſetzten Thorheiten und Laſter einſtreuet; welch eine Schule der Humanitaͤt iſt in ihm!
Leßings Emilia Galotti hat mich wie - der einmal ins Theater gelockt; wie zufrie - den ja geſaͤttigt bin ich hinausgegangen! Ein Theaterſtuͤck muß geſehen, nicht gele - ſen werden: denn wenn es iſt, was es ſeyn ſoll, ſo iſt ja eben auf die Vorſtel - lung alles berechnet. Ich kann mir nicht einbilden, daß wenn Stuͤcke dieſer Art, (aber auch keine andre als ſolche) woͤchent - lich nur Einmal, auf die leidlich-vollkom - menſte Weiſe gegeben wuͤrden, und dieſe Stuͤcke lauter Staͤnde und Situationen un - ſrer Welt, wie dieſes, enthielten, das Publi - cum ungebildet, unerleuchtet bleiben koͤnnte.
I 4136Bei der zweiten Ausgabe des Dide - rotſchen Theaters bezeugte Leßing dieſem Schriftſteller oͤffentlich ſeine Dankbarkeit als dem Manne, der an der Bildung ſei - nes Geſchmacks großen Antheil habe. Denn, faͤhrt er fort, es mag mit dieſem auch beſchaffen ſeyn, wie es will: ſo bin ich mir doch zu wohl bewußt, daß er ohne Diderots Muſter und Lehren eine ganz andre Richtung wuͤrde bekommen haben. Vielleicht eine eignere; aber doch ſchwer - lich eine, mit der am Ende mein Verſtand zufriedener geweſen waͤre. “ Und ſetzt ſo - dann weiter den Einfluß ins Licht, den Di - derots Stuͤcke, inſonderheit ſein Haus - vater auf das Deutſche Theater gehabt habe.
Sie wiſſen, wieviel Diderot darauf hielt, daß Staͤnde aufs Theater gebracht werden ſollten, und was Leßing in ſeiner Dramaturgie dabei zu erinnern fand. Na -137 tuͤrlich koͤnnen Staͤnde ohne beſtimmte Cha - raktere auf dem Theater keine Wirkung thun; aber bilden ſich die Charaktere der Menſchen nicht in und nach Staͤnden? und welcher Stand haͤtte auf den Charakter mehr Einfluß, als der Stand eines Prinzen? Hier hatte alſo Leßing ein weites Feld, das phi - loſophiſche Allgemeine, dadurch Ariſtoteles die Poeſie von der nackten Ge - ſchichte unterſcheidet, als Philoſoph und Dichter zu bearbeiten. Er zeigt den Cha - rakter des Prinzen in ſeinem Stande, den Stand in ſeinem Charakter, beide von mehreren Seiten, in mehreren Situationen. Nicht nur bringt er den Prinzen in ſeiner gegenwaͤrtigen Gemuͤthsſtimmung mit den verſchiedenſten Perſonen, Maͤnnern und Weibern, mit Kuͤnſtler und Canzler, Kam - merherr und Kammerdiener, mit einer Geliebten, die er jetzt nicht geliebt haben,I 5138und einer andern, die jetzt von ihm eben nicht geliebt ſeyn will, mit dem Vater, der Mutter, dem Braͤutigam derſelben, ja mit ſich ſelbſt in Geſpraͤch und Handlung; er unterlaͤßt auch keine Gelegenheit, in jeder dieſer Situationen eigentlich nach dem Ringe zu rennen, und wenn mir der Aus - druck erlaubt iſt, das Prinzliche dabei zu charakteriſiren. Niemand wird unver - ſchaͤmt gnug ſeyn, deßhalb das Stuͤck eine Satyre auf die Prinzen zu nennen: denn nur dieſer Prinz, ein Italiaͤniſcher, jun - ger, eben zu vermaͤhlender Prinz iſts, der ſich dieſe Spaͤße giebt und bei Marinelli andre zulaͤßt. Auch iſt ſein Stand, ſeine Wuͤrde, ſelbſt ſein perſoͤnlicher Charakter in Allem zart gehalten, und mit wahrer Freundlichkeit geſchonet. Am Ende des Stuͤcks aber, wenn der Prinz ſein veraͤcht - liches Werkzeug ſelbſt verachtend von ſich139 weiſet, und dabei ausruft: „ Gott! Gott! iſt es zum Ungluͤcke ſo mancher nicht genug, daß Fuͤrſten Menſchen ſind; muͤſſen ſich auch noch Teufel in ihren Freund ver - ſtellen? “und die unſchuldige Braut dabei im Blut liegt, der Vater, ihr Moͤrder, ſich eben vor dieſen Fuͤrſten, als vor ſeinen Richter ſtellt, Marinelli, der Unterhaͤndler dieſes Gewerbes, ſich noch bedenkt, den Dolch aufzuheben; wer iſt, dem, wenn in ſolcher Situation der Vorhang ſinkt, nicht noch andre Gedanken, außer dem, den der Prinz ſagt, in die Seele ſtroͤmen? Noth - wendig fragt man ſich, wie wird das Ge - richt uͤber den alten Odoardo ablaufen? wie lange wird Marinelli entfernt ſeyn? d. i. wie bald wird er, wenn ſein Dienſt abermals brauchbar iſt, wiederkehren? u. f.
140Es iſt vielleicht das hoͤchſte Verdienſt der Poeſie, inſonderheit des Drama, Staͤnde und Charaktere aller Art (wenn mir das niedrige Gleichniß erlaubt iſt) an dem fein - ſten Spieß, aufs langſamſte am Feuer eig - ner Thorheiten, Neigungen und Leiden - ſchaften umzuwenden. In der Seele des Zuſchauers werden dieſe Staͤnde und Cha - raktere dadurch gahr, oder, mit einem edleren Ausdruck, geruͤndet. Man ſie - het, was an der Figur Ernſt oder Scherz, Wort oder That iſt; man blickt auf den Grund hinunter, und greift das Beſtaͤn - dige oder Unſtatthafte ihres Charakters, ihre Verſatilitaͤt und innere Ehrlichkeit gleichſam mit Haͤnden.
Die alte Tragoͤdie ging darauf hinaus, durch Darſtellung unerwartet-ſchrecklicher Koͤnigsunfaͤlle und Kataſtrophen die Ur - theile der Menſchen zu berichtigen, ihre141 Grundſaͤtze zu ſichern, und das poco piu und poco meno der Leidenſchaften, der Furcht und des Mitleids, dem Zuſchauer auf aͤchter Waage vorzuwaͤgen. Die neuere Tragoͤdie, wenn ſie gleich ihren Bogen nicht ſo ſcharf ſpannen und ihre Kaͤule ſo raſch ſchwingen kann, als die alte, hat dennoch mit ihr Einerlei Endzweck. Sie ſpricht zum innerſten Gefuͤhl, zur treueſten Ehrlichkeit des Menſchen; die Uebelthat kann ſie auch jenſeit der Geſetze verfolgen, ſo wie das Luſtſpiel die Thorheit auch jen - ſeit der Geſetze ſtraft. Beide ſind Spre - cherinnen vor dem erhabenſten Richterſtuhl unſres Geſchlechts, vor der Humanitaͤt ſelbſt, und ventiliren, beſcheinigen und ge - genbeſcheinigen vor ihr auf die ſchaͤrfſte, freieſte Weiſe.
Leßing kannte dieſen Proceß uͤber die innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs142 genaueſte; ſein Tellheim iſt ein von al - len Seiten gepruͤfter, militairiſcher Cha - rakter; alles, was um ihn ſteht, was ihm begegnet, ſichtet ihn das ganze Stuͤck hin - durch moraliſch. Wen ſolche Komoͤdien und Trauerſpiele nicht bearbeiten koͤnnen, der moͤchte durch Worte ſchwerlich zu be - arbeiten ſeyn.
Man ruͤckt Leßingen vor, daß er die zarteſte Weiblichkeit, das uͤber allen Aus - druck Reizende je ne[ſais] quoi des ſchoͤnen Geſchlechts nicht gekannt, und ſolches eben ſo wohl in der Emilie, als der Minna, der Recha als der Orſina verfehlt habe. Sie ſind, ſagt man, bei ihm Kinder oder Maͤnner, Helden oder ſchwache Geſchoͤpfe. — — Ich kann uͤber dieſen Punkt nicht entſcheiden. Sollte es aber keinen Unter - ſchied geben, wie ein weiblicher Charakter im Roman und auf der Buͤhne erſcheinen143 darf? Das neuere Theater iſt bei allen Voͤlkern Europa's, vorzuͤglich Spaniern und Franzoſen, aus romanhaften Erzaͤh - lungen und Sitten entſtanden; ſollte es dieſe nicht ablegen duͤrfen? ja ſollte es ſie endlich nicht ablegen muͤſſen, da dieſe fremde Schminke aus der wirklichen Welt Theils ſchon verbannet iſt, Theils in Man - chem offenbar ihrer Verbannung zueilet? Das Theater der Alten kannte dieſe ro - mantiſche Schminke nicht, und doch waren ihre Weiber Weiber.
Wie dem auch ſei, in dieſem Stuͤck getraute ich mir den Charakter der Emilie, Orſina, geſchweige der Claudia voͤllig ver - theidigen zu koͤnnen; ja es bedarf dieſer Vertheidigung nicht, da ſich hier Alles in der Sphaͤre eines Prinzen, um ſeine Per - ſon, um ſeine Liebe, Treue und Affection drehet. Wer kennt die Uebermacht dieſes144 Standes beim ſchoͤnen Geſchlechte nicht? und wer darf es der Emilie in dieſen Augenblicken einer ſolchen Situation ver - argen, wenn ſie den Dolch ihres Vaters einer kuͤnftigen Gefahr vorziehet? Das flatternde Voͤgelchen, (verzeihen Sie das Naturhiſtoriſche Gleichniß) fuͤrchtet nicht etwa nur den anziehenden Hauch der na - hen großen glaͤnzenden Schlange; es fuͤh - let denſelben ſchon, ſieht ihren auf ſie ge - richteten Blick — oder ohne Gleichniß, ſie glaubt ſich ſchon umſchlungen von tauſend feinen Netzen liebenswuͤrdiger Eigenſchaf - ten, weiß, wie der Prinz ihre Empfindun - gen der Religion ſelbſt vorm Altar ſtoͤrte, und wagt wie eine Heilige den Sprung in die Fluth. Wie Verſtandvoll hat Le - ßing das Herz der Emilie mit Religion verwebet, um auch hier die Staͤrke und Schwaͤche einer ſolchen Stuͤtze zu zeigen! Wie145Wie uͤberlegt laͤßt er den Prinzen ſie am heiligen Ort aufſuchen, ſie in der Kapelle vor aller Welt anreden, und ſtellt die ſchwache Mutter, den ſtrengen, grollhaften Fuͤrſtenfeind, Odoardo neben ſie. Ihr Tod iſt lehrreich-ſchrecklich, ohne aber daß da - durch die Handlung des Vaters zum ab - ſoluten Muſter der Beſonnenheit werde. Nichts weniger! Der Alte hat eben ſo wohl, als das erſchrockene Maͤdchen in der betaͤubenden Hofluft den Kopf verloh - ren; und eben dieſe Verwirrung, die Ge - fahr ſolcher Charaktere in ſolcher Naͤhe wollte der Dichter ſchildern.
So erlaube ich auch der Orſina, (die nothwendig mit Maͤßigung geſpielt werden muß) ihre Verhoͤnung des Marinelli, ſelbſt ihre hoͤlliſche Phantaſie im ſiebenden Auf - tritte des vierten Acts. Wenn ſie nicht den Mund oͤfnet, wer ſoll ihn oͤffnen? UndDritte Samml. K146ſie darfs, die geweſene Gebieterin eines Prinzen, die in ſeiner Sphaͤre an Willkuͤhr gewoͤhnt iſt. Als eine Beleidigte, Verach - tete muß ſie anjetzt uͤbertreiben, und bleibt in der groͤßeſten Tollheit die redende Ver - nunft ſelbſt, ein Meiſterwerk der Erfindung.
So auch das Uebereilen des Plans, das Hineintappen des Prinzen, und vor Allem, ſeine unbeſcholtene Rechtfertig - keit, Alles veranlaßt, gebilligt, und am Ende doch, nachdem der Plan verungluͤckt, nichts befohlen, nichts gethan zu haben. In wenigen Tagen, fuͤrchte ich, hat er ſich ſelbſt ganz rein gefunden, und in der Beichte ward er gewiß abſolviret. Bei der Ver - maͤhlung mit der Fuͤrſtin von Maſſa war Marinelli zugegen, vertrat als Kammer - herr vielleicht gar des Prinzen Stelle, ſie abzuholen. Appiani dagegen iſt todt; Odoardo hat ſich in ſeiner Emilie ſieben -147 fach das Herz durchboret, ſo daß es kei - nes Bluturtheiles weiter bedarf. Schreck - lich! —
Als ich voll dieſes Eindrucks nach Hauſe kam, fiel Diderot mir in die Hand, und zwar folgende Stelle:
„ Der Schauplatz iſt der einzige Ort, wo ſich die Thraͤnen des Tugendhaften und des Boͤſen vermiſchen. Hier laͤßt ſich der Boͤſe wider Ungerechtigkeiten aufbringen, die er ſelbſt begangen haͤtte; hier hat er bei Ungluͤcksfaͤllen Mitleiden, die er ſelbſt veranlaßt haͤtte; hier ergrimmt er gegen Perſonen von ſeinem eigenen Charakter. Aber der Eindruck iſt geſchehen, und er bleibt, auch wider unſern Willen; der Boͤſe gehet alſo aus dem Schauplatze, weit we - niger geneigt uͤbels zu thun, als wenn ihm ein ernſter und ſtrenger Redner eine Straf - predigt gehalten haͤtte.
K 2148„ Der Dichter, der Romanſchreiber, der Schauſpieler dringen verſtohlner Weiſe ans Herz, und treffen es um ſo gewiſſer und ſtaͤrker, je weniger es den Streich ver - muthet, je mehr Bloͤße es folglich giebt. Die Ungluͤcksfaͤlle, durch die man mich ruͤhrt, ſind erdichtet: was thut das? Sie ruͤhren mich doch. Jede Zeile in dem Ehrlichen Manne, der ſich der Welt entzogen, im Dechant von Killerine, im Cleveland erregt in mir ein zaͤrtliches Theilnehmen an den Un - gluͤcksfaͤllen der Tugend, und koſtet mich Thraͤnen. — Koͤnnte es eine unſeligere Kunſt geben, als die, die mich zum Mit - ſchuldigen des Laſterhaften machte? Aber wo iſt auch eine ſchaͤtzbarere Kunſt als die, die mich unvermerkt fuͤr das Schickſal des rechtſchaffenen Mannes einnimmt, die mich aus der ruhigen und ſuͤßen Faſſung, in149 der ich mich befand, reißet, um mich mit ihm umherzutreiben, mich in die Hoͤlen zu verſetzen, in die er fluͤchten muß, mich zum Mitgenoſſen der Unfaͤlle zu machen, durch die es dem Dichter beliebt, ſeine Beſtaͤn - digkeit auf die Probe zu ſtellen.
Wie ſehr erſprießlich wuͤrde es fuͤr die Menſchen ſeyn, wenn ſich alle Kuͤnſte der Nachahmung einen gemeinſchaftlichen Ge - genſtand waͤhlten und ſich einmal mit den Geſetzen dahin verbaͤnden, uns die Tugend liebenswuͤrdig und das Laſter verhaßt zu machen! Des Philoſophen Pflicht iſt es, ſie dazu einzuladen; er muß ſich an den Dichter, an den Mahler, an den Tonkuͤnſt - ler wenden und ihnen auf das nachdruͤck - lichſte zurufen: „ o ihr von hoͤheren Faͤhig - keiten, warum hat euch der Himmel be - gabt? “— Wird er gehoͤrt, ſo werden gar bald die Mauern unſrer Pallaͤſte nichtK 3150mehr von Gemaͤhlden der ſchaͤndlichſten Wohlluſt bedeckt ſeyn; unſre Stimmen wer - den nicht laͤnger die Verkuͤndigerinnen des Laſters ſeyn; und Geſchmack und Tugend werden dabei gewinnen.
„ Ich habe manchmal gedacht, daß man gar wohl die wichtigſten Stuͤcke der Moral auf dem Theater abhandeln koͤnnte, ohne dadurch dem feurigen und reiſſenden Fort - gange der dramatiſchen Handlung zu ſchaden.
„ Nicht Worte, ſondern Eindruͤcke will ich aus dem Schauplatze mitnehmen. Das vortreflichſte Gedicht iſt dasjenige, deſſen Wirkung am laͤngſten in mir dauert.
„ O dramatiſche Dichter! Der wahre Beifall, nach dem ihr ſtreben muͤßt, iſt nicht das Klatſchen der Haͤnde, das ſich ploͤtzlich nach einer ſchimmernden Zeile hoͤ - ren laͤßt, ſondern der tiefe Seufzer, der151 nach dem Zwange eines langen Stillſchwei - gens aus der Seele dringt und ſie erleich - tert. Ja es giebt einen noch heftigern Eindruck, den ſich aber nur die vorſtellen koͤnnen, die fuͤr ihre Kunſt gebohren ſind, und es vorauswiſſen, wie weit ihre Zaube - rei gehen kann: dieſen naͤmlich, das Volk in einen Stand der Unbehaͤglichkeit zu ſetzen; ſo daß Ungewißheit, Bekuͤmmerniß, Verwirrung in allen Gemuͤthern herrſchen, und eure Zuſchauer den Ungluͤcklichen glei - chen, die in einem Erdbeben die Mauern ihrer Haͤuſer wanken ſehen, und die Erde ihnen einen veſten Tritt verweigern fuͤh - len. “— —
Als Swift uͤber Gullivers Reiſen bruͤ - tete, ſchrieb er an Pope:” ich habe ganze Nationen, ganze Profeſſionen und Zuͤnfte immer gehaſſet; meine Liebe gehet nur auf einzelne Perſonen. Z. B. ich haſſe die Zunft der Rechtsgelehrten, aber ich liebe den Rath N. den Richter N N. So habe ichs, (von meiner eignen Profeſſion nichts zu ſagen) mit den Aerzten, mit den Solda - ten, den Englaͤndern, Schotten, Franzoſen u. f. Vornehmlich aber haſſe und verab - ſcheue ich das Geſchoͤpf, der Menſch ge - nannt, obſchon ich den Johann, den Pe - ter, Thomas u. f. von Herzen liebe. An153 dieſes Syſtem habe ich mich (unter uns geſagt) nun viele Jahre her gehalten, und werde mich immer daran halten. Ich habe Materialien zu einer Abhandlung geſamm - let, welche zeigen ſoll, daß man den Men - ſchen unrecht durch ein vernuͤnftiges Thier definirt, und daß man bloß ein Vernunftfaͤhiges Thier ſetzen ſollte. Auf dies ſtarke und feſte Fundament der Miſanthropie, (wie wohl nicht nach Ti - mons Manier) gruͤndet ſich das ganze Gebaͤude meiner Reiſen; und ich werde nimmer ruhig ſeyn, bis alle ehrliche Leute hieruͤber meiner Meinung ſind. Die Sache iſt ſo klar, daß ſie keinen Widerſpruch lei - det; ja ich will Hundert gegen Eins ſetzen, daß Sie und ich in dem Puncte uͤberein - ſtimmen. “
Dieſe Uebereinſtimmung war ein freund - ſchaftlicher Wahn, oder ein Compliment,K 5154das der von ſeiner Meinung durchdrun - gene Swift ſich ſelbſt machte. Pope ſchien ihm Recht zu geben, aͤußerte aber zugleich, daß er Maximen ſchreiben wollte, die Rochefoucaults Grundſaͤtzen ins - geſammt entgegengeſetzt waͤren; wogegen Swift in noch haͤrteren Ausdruͤcken den Rochefoucault, als ſeinen Liebling, in welchem er ſeinen ganzen Character gefun - den, heftig in Schutz nimmt.
Bei Swift naͤmlich war dieſe Men - ſchenfeindſchaft nicht witzige Laune, ſon - dern ein bittrer Ernſt, wie ſeine Schrif - ten, wie ſein Leben es zeiget. Er hatte einen ſo tiefen Groll gegen die menſchliche Geſellſchaft gefaßt, daß ſelbſt ſeine Men - ſchenfreundſchaft, ſeine ſtrenge Sorge fuͤr die von der Natur und dem Staat ver - wahrloſeten Ungluͤcklichen ſich in dies rauhe Gewand kleidete; er ſchien ein Zuchtmei -155 ſter, auch wenn er ein wohlwollender Freund war.
Es hieße, Worte verſchwenden, wenn man uͤber das von Swift aufgeſtellte Paradoxon in der Form diſputiren wollte; jedermann ſiehet, was in ihm wahr oder uͤbertrieben ſei.
Eine andre oft aufgeworfene Frage: ob es beſſer ſei, von den Menſchen zu gut oder zu ſchlimm zu denken? d. i. den Men - ſchen zu ſchmeicheln, oder ſie mit Schaͤrfe zu behandeln? fuͤhrt, wie mich duͤnkt, ihre Aufloͤſung auch mit ſich. Man muß keins von Beiden, und eben hierinn beſtehet die Philoſophie und Kunſt des Lebens. Alle Uebertreibungen ſind eben ſo unwahr, als ſchaͤdlich; meiſtens fallen ſie auch zuſam - men und loͤſen einander auf. Young z. B. der in ſeiner Schrift uͤber die Ori - ginalwerke den armen Swift heftig und156 in der Geſtalt des Menſchenfreundes ſelbſt Menſchenfeindlich angriff, hat ſich gegen das von ihm verehrte Geſchlecht eben ſo verſuͤndigt, da er ihm in ſeinem jetzi - gen Zuſtande die Wuͤrde des Seraphs an - ſchmeicheln, als Swift, da er es zum Yahoc erniedrigen wollte. Jener, um ſein Syſtem zu verfolgen, ward gezwungen, den Lorenzo zu einem Teufel zu machen, damit der erdichtete Engel in ſein Licht traͤte; dieſer muſte ſeine vernuͤnftigen Pferde mit allen Vollkommenheiten ſchmuͤcken, die er doch nur im Menſchengeſchlecht kannte. Dem guten Rouſſeau iſt es in ſeinen Uebertreibungen nicht anders gegangen; in der Phantaſie ein Idealiſt fuͤrs Gute mußte er in einzelnen Urtheilen und im Betragen des Lebens ein leidendes Kind werden.
157Zwiſchen zwei Aeußerſten giebt es kei - nen andern Weg der Vernunft und Recht - ſchaffenheit, als die Mittelſtraße. Man ſage ſo viel Gutes, man ſchreibe ſo viel Boͤſes vom Menſchen, als man wolle; lediglich kommts auf den Gebrauch an, den man von beiderlei Urtheilen macht; wie man ſie durch thaͤtige Guͤte, und Weisheit zuſammen vereinet.
Das edlere Schauſpiel der Griechen hatte zum Zweck, zwiſchen beiden Extre - men eine weiſe und tugendhafte Mitte im Menſchen zu beveſtigen; o haͤtten wir Me - nanders und Philemons Schauſpiele! Die uͤbriggebliebenen wenigen Stellen und Spruͤche zeigen, daß in ihnen der Menſch von allen Seiten betrachtet und zur Lehre aufgeſtellet worden, wie es denn auch Te - renz, der halbirte Menander klar an den Tag leget:
Dritte Samml. L158Endlich den Hauptſpruch:
Neben den Griechen iſt ſchwer zu ſtehen, und doch haben auch Wir Stuͤcke, die ne - ben ihnen ſtehen koͤnnen und duͤrfen.
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