Neulich lernt 'ich in der Geſellſchaft un - ſrer Unſichtbar-ſichtbaren*)Daß dieſes keine Schwedenborgſche Geiſterverſammlung oder eine andre geheime Geſellſchaft ſei, iſt aus dem letzten Briefe des zweiten Theils dieſer Sammlung klar. Die Sichtbar unſichtbaren, und Unſicht - bar-ſichtbaren ſind nichts mehr und min - der als gedruckte Schriften. A. d. H. einen beſondern Mann kennen, der ſich Realis de Vienna nannte. Er nahm es als Deut - ſcher mit allen Auslaͤndern um den Preis der Wiſſenſchaften, und des Verſtandes aufA 36und tadelte mehrere Schriftſteller Deutſch - lands, daß ſie die Ehre ihres Vaterlandes zu ſehr verkannt, Fremde zu ſehr gelobt, ihnen nachgeahmt, geſchmeichelt haben — — Doch Sie ſollen ſeine Behauptungen ſelbſt hoͤren:
„ Deutſchlands Vorzug beſtehet in dieſen vier Stuͤcken, daß es nach der langen Nacht der dicken Unwiſſenheit die erſten, die meiſten, die hoͤchſten Erfinder gehabt, und in 900 Jahren mehr Verſtand erwie - ſen, als die uͤbrigen 4 Meiſtervoͤlker zuſam - men in 4000 Jahren. Man kann mit Wahrheit ſagen, Gott habe die Welt durch zwei Voͤlker klug machen wollen, vor Chriſti Geburt durch die Griechen, nach Chriſto durch die Deutſchen. Die Griechiſche Weisheit kann man das alte Vernunft - teſtament, die Deutſche das neue nen - nen. “
7„ Durch zwei Stuͤcke wird vornaͤmlich ein Volk herrlich, durch Ehrliebe und Verſtand zuſammen; Tapferkeit und alles andre, was dazu hilft, muß durch jene zwei eingerichtet werden; aus ihnen kommt Reichthum und Macht, aus allen mit einander endlich Ruhm, den alle Welt ſucht. Die Deutſchen ſind aus Mangel der Großmuͤthigkeit und Landesliebe, die uͤbrigen Europaͤer, (außer den beruͤhmten fuͤnf Hauptvoͤlkern,) aus Mangel der Er - finder und großen Weltweiſen zuruͤckge - blieben.
„ Verachtung kommt aus Feigheit, Nie - dertracht oder Dummheit; jede allein kann arm, ohnmaͤchtig und verachtet machen. Verſtand aber allein, oder Großmuͤthigkeit allein machen nicht beruͤhmt; ſie muͤſſen zuſammen ſeyn. “
A 48„ Aus Wahn von der auslaͤndiſchen Klugheit fließt die Deutſche Niedertraͤchtig - keit; oder iſt ſie ſchon in uns, ſo wird ſie graͤulich vermehrt und verhaͤrtet. Hierauf folgt die unſinnige Aefferei; hieraus die Verſtandes-Verfinſterung, Jugend - und Zeitverluſt, die Schwindelreiſen, die Geld - verſchleuderung und Deutſche Armuth, frem - der Nationen Reichthum, ihre Macht, Stolz, Trotz, ihre Verlaͤumdungen und der Deutſchen Verachtung, das Maͤhrchen von der Deutſchen Dummheit, unſre Bettelei, daß wir der Auslaͤnder Lohnſoldaten hei - ßen, ſtetiges Kriegen und Blutvergießen, da wir auf unſre eigne Unkoſten gepeitſchet werden, Verluſt ſo vieler Laͤnder und Staͤdte, Verluſt der Deutſchen Vertraulich - keit, Aufrichtigkeit, Gluͤckſeligkeit, mit Ver - tauſchung der hochgeachteten fremden Sit - ten, Luͤderlichkeit und Blindheit. Alles9 dies haͤngt an einander am Maͤhrchen von der auslaͤndiſchen Klugheit und Deutſchen Einfalt. “
„ Dies Maͤhrchen ſcheuet man ſich ins Licht zu ſetzen wegen der angeerbten ſkla - viſchen Niedertracht, wegen Mangel der Wahrheitliebe, Seltenheit des geſunden Ur - theils, endlich aus Mangel der Geſchicht - kenntniß. Man begnuͤgt ſich mit Wider - ſprechen, Wehklagen, Seufzen und Bet - teln: „ die Auslaͤnder moͤchten uns doch mit in ihre Geſellſchaft nehmen, wir ge - hoͤrten auch unter die fuͤnf klugen Jung - fern, u. f. “ Dies beweiſet man, ſtatt Erfin - der anzufuͤhren, mit Schulmeiſtern, Pfar - rern, Sprachkuͤnſtlern und geduldig ſchwiz - zendem Volk, welche Fleiß fuͤr Verſtand halten; mit Stopplern und Ausziehern, woraus eben die Auslaͤnder unſre Dumm - heit beweiſen wollen. Wir haben nichtA 510einmal das Herz unſre Erfindungen wider die Auslaͤnder zu vertheidigen; ſobald ſich derſelben eine einer zuſchreibt, ſo iſts da - mit aus, ſie iſt verlohren. “
„ Was geht mich ein hochbegabt Volk oder der tugendhafteſte Menſch der Welt an, wenn er mich ſchaͤndet? Ich habe die Briefe von ſeiner Tugend, wenn er mich verlaͤumdet. Tugend muß man zwar auch am Feinde loben, wo es der Wahrheit Ehre fodert; ſonſt aber muß man von ſei - nes Feindes Tugend ſtillſchweigen, ſonder - lich wo ſein Lob uns Schaden bringt. Doch wird ein Tugendhafter hochbegabte Leute nimmer ſchimpfen. “
„ Beſcheidenheit wird nur gegen ehrliche Leute erfordert; Irrende muß man unter - richten, nicht ſchimpfen mit harten Wor - ten; Bosheit aber muß mit Beſchaͤmung geſtraft werden, Unterricht hat da keine11 Statt. Will man vorſetzliche Bosheit ehr - erbietig unterrichten, den Wolf bitten, die Schaafe nicht zu freſſen, ſo wird Bosheit durch die Ehre geſtaͤrkt, und andre zu glei - cher Bosheit gereizt; bonis nocet, malis qui parcit.
Wie unzeitige Barmherzigkeit der aͤrgſte Grimm iſt: ſo ſtiftet unzeitige Ehrerbietung weit mehr Ungluͤck als unnoͤthiger, allzu - großer Zorn. Der Paͤbſtler moͤrderiſcher Eifer hat mit Geißeln, Martern, Brennen die Welt nicht ſo verderbt, als die heim - liche Herrſchſucht der beſcheidnen Hoͤflichen, der heiligen Heuchler tuͤckiſche oder dumme Sanftmuth. Wie die abgedroſchne Predigt von der Freiheit eine Eitelkeit iſt: ſo iſts mit dem Senf der Beſcheidenheit ein herber Betrug, daran ein Aufrichtiger ſich nicht kehret. Den Betruͤger einen Betruͤger zu nennen, gehoͤrt nicht nur zur12 Aufrichtigkeit, ſondern auch mit zur Frei - heit; es iſt eine nothwendige Sache. “
„ Unſre Ehrenretter, wenn ſie am eifrig - ſten ſind, werfen den Franzoſen die laͤcher - lichſten Kindereien vor, die gar nichts be - deuten. Alſo, wenn ſie ihnen heftig wehe thun, und ſie mit Vorhaltung grober Feh - ler recht demuͤthigen wollen, ſo zaͤhlen ſie her, wie hie und da ein Franzos Witten - berg, Altorf, Roſtock nicht gekannt und dieſe Staͤdte fuͤr Perſonen gehalten. Nun iſt zwar der Fehler grob genug; im - mittelſt weil ſolche Unwiſſenheit aus Stolz und Verachtung unſer herruͤhrt, warum wollen wir damit ihre Dummheit bewei - ſen? Ihre Sachen wieder verachten, nicht bewundern, anbeten, geſchweige fuͤr Millio - nen kaufen, ihnen Urtheil - und Sinnigkeit - fehler, Erfindungsmangel und Dieberei vor - halten, war die rechte Rache; dieſe kann13 demuͤthigen. Wie werden wir ſie damit demuͤthigen, woraus ſie Ehre ſuchen, naͤm - lich aus Verachtung der Deutſchen Sachen, woran wir ſelbſt Schuld ſind, weil wir unſre Sachen ſelbſt verachten. “
„ Die Auslaͤnder halten's fuͤr den aͤrg - ſten Spott uns etwas nachzuthun, das her - nach an ihnen unſer hieße, vielweniger werden ſie es mit Pralerei thun und uns dabei herausſtreichen. Nehmen ſie etwas von uns an, ſo thun ſie es verſtohlen, ſchaͤ - men ſich der Annehmung und Nachahmung, und laͤugnen, daß es unſer ſei mit Zorn und Gift. Und der Deutſchen Ehre ſoll die Affenkunſt der Nachahmung ſeyn und bleiben?
„ Lernen iſt eigentlich der Kinder Amt und Eigenſchaft; daher Kinder der Strafe unterworfen ſind; ſie muͤſſen gehorchen. Erwachſnen Leuten iſts gar unanſtaͤndig,14 lernen ſollen, was ſie ſelbſt koͤnnen ſollten; weit unanſtaͤndiger aber iſt einem ganzen Volk, einem andern Volk zu gehorchen. Nachahmen gehoͤrt entweder zum Lernen oder zur Knechtſchaft.
Der Schuͤler iſt allezeit unterm Lehr - meiſter, der Erfinder hat die Ehre vorm Nachmacher; Erfindung macht Naturherrn, Nachahmung Naturknechte.
„ Wenn ein ganz Haus mit allen Haus - genoſſen alt und jung ſich gegen ſeinen Nachbar ſo anſtellte; der Mann ahmete dem Nachbar, die Frau der Nachbarin, Toͤchter, Soͤhne, Knechte, Maͤgde ahmten den Toͤchtern, Soͤhnen, Knechten, Maͤgden des Nachbars nach, wuͤrde nicht die ganze Stadt ſagen: das Haus iſt voll Narren, die drinn wohnen, ſind alle unſinnig? Und trieben ſie die Haſerei nur aus Unbedacht - ſamkeit, wuͤrden nicht alle Kinder auf der15 Gaſſe von dieſen tollen Klugen als Nichts - wuͤrdigen zu reden wiſſen? Was wuͤrde man aber ſprechen, wenn dieſe Nachahmer den Erſten noch Geld dazu geben, daß ſie derſelben Narren ſeyn duͤrften? Von einem ganzen Lande nun iſt es noch niedri - ger. “— —
In dem Ton ſprach Realis de Vi - enna weiter. Er zeigte, daß die Nachah - mung zumal der Franzoſen den Deutſchen ſchaͤdlich und verderblich ſei; durch ſie ver - ſaure und verroſte der Verſtand, man ver - ſuche nichts und verzage an eignen Kraͤf - ten. Mit Nachahmung ſeyn die Welſch - Franzoͤſiſchen Laſter zu uns gekommen. Wir haͤtten das Nachahmen nicht noͤthig; ja man muͤßte den Deutſchen auch in nuͤtzli - chen Dingen die Aefferei nicht zulaſſen, weil keine Grenze beſtimmt werden koͤnne, was? wie viel? wie weit nachzuaͤffen ſei?
16Der Deutſche ſei beim Nachahmen unge - ſchickt u. f. — Was duͤnkt Ihnen, zu dieſem Autor?
Realis de Vienna iſt keine erdichtete Perſon. Er lebte zu Anfange unſres Jahr - hunderts, da die Cultur der hoͤheren Wiſ - ſenſchaften durch Leibnitz auch in Deutſch - land neuen Platz gewann; zugleich aber hatte ſie damals mit dem elendeſten Pe - dantismus der Hof - und Schulhaſen (wie Realis ſie nennt,) zu ſtreiten. An Hoͤfen bluͤhete eine franzoͤſiſche Galanterie, von der wir uns kaum noch einen Begriff machen koͤnnen; einige Schulpedanten woll - ten den Hofgecken nachahmen; ſo entſtand die Talandriſche, die Menantiſche, die Wei -Vierte Samml. B18ſiſche Schreibart. Der Verdienſtreiche Chriſtian Thomaſius ſelbſt konnte ſich dieſem ſinkenden Boden nicht entziehen, und ward in Manchem ein Hofphilo - ſoph, allerdings nicht im beſten Geſchmack. Die Literaturgeſchichte, die damals auch im Gange war, hinkte dem allgemeinen Ge - ſchmack nach, ſchmeichelte den Auslaͤndern; der Schall von Ludwig 14. hatte die Welt erfuͤllet, und in den Deutſchen Glok - ken ſauſete er in maſſiverem Ton um ſo laͤnger nach.
Da erkuͤhnte ſich nun dieſer Realis de Vienna den Hof - und Schulfuͤchſen Deutſcher Nation entgegen zu ſprechen, und ſchrieb eine Pruͤfung des Europaͤiſchen Verſtandes durch die Welt - weiſe Geſchichte. 19Er ſchrieb ſie; ich zweifle, daß ſie je ge - druckt worden. Das Manuſcript muß ſon - derbare Schickſale gehabt haben: denn in der vorliegenden Schrift: „ Nachricht von Realis de Vienna Pruͤfung “werden ſonderbare Umſtaͤnde lautbar. Die Handſchrift, (ſo ſagt der Verfaſſer) ſei 21. Jahre umhergegangen, ſeitdem ſie Prof. Adam Rechenberg in Leipzig, (Chri - ſtian Thomaſens Schwager,) dem Buch - fuͤhrer im Jahr 1693 entfuͤhret. Dieſer habe ſie unter ſeinen Bekannten herumge - ſchickt, andre auch von dieſer Sache zu ſchreiben angereizt, endlich ſie Reimannen uͤbergeben, der den Kern ſeiner Literatur - geſchichte Deutſchlandes ganz, aber aͤußerſt Kraftlos und unvollſtaͤndig aus dieſem Werk genommen, und nur die elenden kin - diſchen Schalen dazu gethan habe. U. f. Auch Kaſimirs Kanonik, glaubt er,B 220ſei aus ſeiner ſogenannten Vernunfterſtat - tung gezogen u. f.
So anmaaſſend dies alles klingt, um ſo mehr verdiente das Werk und die Be - hauptung des Verfaſſers Aufmerkſamkeit und Pruͤfung. Was er uͤber Reimanns Geſchichte, uͤber Thomaſius Hofphiloſo - phie, uͤber den Streit zwiſchen Leibnitz und Newton, uͤber den Urſprung der Journale, die Sprachenmiſcherei, uͤber die Nachahmungsſucht und Demuth der Deut - ſchen geſagt hat, iſt jetzt unſer aller Ur - theil. Die Zeit hat daruͤber entſchieden, und dieſer unbekannte Gabriel Wag - ner*)Dies war Realis wahrer Name. In Joͤ - chers Lexicon findet man ihn; die Anzeige der Unternehmungen des Mannes aber iſt kaum beruͤhret. A. d. H., (ein Magiſter der Philoſophie aus21 Quedlinburg, der viele Univerſitaͤten beſucht hatte und in ſeinem Leben zu nichts kom - men konnte,) iſt in mehreren Urtheilen ſei - ner Zeit ſo maͤchtig vorgeſchritten, daß man es bewundert, wie ſehr die Stimme der Wahrheit oft aufgehalten werden koͤnne, und wie langſam die Zeit ſchleiche. Seine Pruͤfung des Europaͤiſchen Ver - ſtandes, (der Beſchreibung nach ein aus - fuͤhrliches Werk,) muß ſeinem Inhalt nach um ſo merkwuͤrdiger ſeyn, da er nicht etwa nur die Hof - und Schulfuͤchſereien verach - tet, ſondern auch den reellen Wiſſenſchaf - ten, der Mathematik, Philoſophie, den hoͤ - heren und nuͤtzlichen Erfindungen der Voͤl - ker ſeine Aufmerkſamkeit geſchenkt zu ha - ben ſcheinet. Wenn alſo ſeine unterdruͤckte Handſchrift ſich irgendwo noch auffaͤnde; (und ich zweifle daran um ſo weniger, da ſie durch viele Haͤnde gegangen iſt, undB 322wahrſcheinlich mehrere Abſchriften veran - laßt hat:) ſo waͤre, mit Auslaſſung alles deſſen, was fuͤr uns nicht mehr dienet, eine gelaͤuterte Bekanntmachung derſelben zu wuͤnſchen. In der Nachricht, die vor mir liegt, wurde das Werk bei Froboͤſen in Greifswalde liegend angezeigt und je - dermann aufgefodert, es mit Verlag oder andrer Huͤlfe zu befoͤrdern; die damaligen Lichter Deutſchlands mochten dieſer Be - foͤrderung nicht hold ſeyn, und ſo blieb es begraben. Mir waͤre es kein unangeneh - mes Poſtpacket, wenn mir eine Fee dies irgendwo gewiß todtliegende Mſcr. oder eine Nachricht davon zuſchickte.
Denn außer dieſer Pruͤfung des Europaͤiſchen Verſtandes, gedenkt der Verf. noch einer andern Schrift: „ Geheimſtube oder Velleden - blaͤtter “231692. in vier Buͤchern entworfen, deren In - halt in Manchem ſonderbar genug iſt.
A. Die Vernunft-Erſtattung, (die Europaͤer von der Viehheit, Quackerei und Aberglauben wieder zur Menſchheit zu brin - gen und ihnen die fuͤnf Sinne zu erſtat - ten.) Statt der Kapitel zeichne ich bloß einige Grundſaͤtze aus.
1. Es giebt Gewißheit; der Menſch kann viel Wahrheit wiſſen.
2. Alle Gewißheit und Klarheit kommt aus reinmathematiſchem Grunde.
3. Zur Wahrheitforſchung brauchts keiner erſten allgemeinen Wahrheitquelle. (keines principii primi.)
4. Wahrheit iſt heilſamer als Erdich - tungen. (Dieſe Aufgabe, ſagt Wagner, mit ihren Beifuͤgungen ziehet ungewoͤhnli - che neue Saͤtze nach ſich, und iſt der Grund faſt einer neuen Weltweisheit, die denB 424Des-Cartes, Hobbes, Spinoza, Puffendorf, Leibnitz verbeſſert.)
5. Aus Wahrheit folgt nimmer Un - wahrheit; aus dieſer nimmer Wahrheit.
6. Alle Unwahrheit kann widerlegt wer - den, ſie ſei ſo ſubtil ſie wolle.
7. Der Wahrheit Thuͤr, Urſprung und Boten ſind die Sinne.
8. Es iſt nur Eine Vernunft.
9. Vernunft irrt nimmer. Klugheit und Wahrheitfindung entſpringen beide aus der Natur Guͤtigkeit und Uebung; nicht aus Lehrſaͤtzen und Unterricht. Dieſe ſind ein aͤußerlich geringer Vortheil und Erleich - terung dazu, geben aber weder Wahrheit noch Verſtand. Wenn man ſie fuͤr unent - behrlich ausgiebt, ſind ſie der Schulfuͤchſerei Merkmal.
10. Der Menſch iſt nicht vernuͤnftig, doch nicht ohne Vernunft.
2511. Des Menſchen Vorzug vorm Vieh iſt allein die Vernunftdaͤmmerung.
12. Der Wille beherrſcht den Menſchen in Allem; die Vernunftdaͤmmerung in nichts.
13. Sinne verfuͤhren; Aufrichtigkeit und Vernunftdaͤmmerung ſind die innern Mit - tel zur Wahrheit.
14. Die Natur iſt nicht verderbt, nicht Gottes Feindin. Sie iſt Gottes Buch, der Vernunftſchein Gottes Licht; nach ihnen muß man alles erklaͤren.
15. Aberglaube iſt kein Mittel zur Wahrheit.
16. Naturkuͤnſte machen aufrichtig; Schulkuͤnſte ſtolz und grauſam.
17. Man ſoll alles, ſo viel moͤglich, nach der Natur erklaͤren.
18. Luſt zu Naturſachen iſt ein Merk - mal der Großmuͤthigkeit.
B 52619. Stolz und Dummheit ſind aller Laſter und alles Ungluͤcks Urſach.
20. Weisheit beſteht nicht in Eigennutz; ihr Ziel iſt eigentlich allein Wahrheit. (Ob aber Aufrichtigkeit allein mit Wahrheit ohne Nutz zufrieden ſeyn ſoll? und ob Wahrheit ohne allen Nutz ſeyn koͤnne? ſei eine andre Frage.)
21. Alle Weisheit beruhet auf vier Wiſ - ſenſchaften; alles andre, was zu ſelbigen nicht gehoͤrt, gehoͤrt zur Schulfuͤchſerei.
22. Die Deutſchen Handkuͤnſte zeigen Verſtand; die auslaͤndiſchen Fleiß, Geduld, Geiz und Stolz.
23. Ein Unchriſt iſt kein Ungoͤtter. (Atheiſt.)
24. Viele Leute, inſonderheit die Ge - lehrten merken ihre eigne Bosheit nicht, vielweniger ihre Dummheit.
2725. Einer ſiehet oft mehr als alle Schu - len und das ganze Land.
26. Lehre artet den Verſtand; den Wil - len greift ſie nicht an.
27. Lehren iſt noͤthig, auch beim Stoi - ſchen Glauben.
28. Der Mathematiſche Lehrweg iſt nicht der beſte; der Werkkuͤnſtige Lehrweg allein findet die Wahrheit.
29. Sittenlehrige Abſichten verderben die Naturkundigung.
30. Die Reiſen in barbariſche Laͤnder ſind nuͤtzlicher als in die Hafenlaͤnder zu den freundlichen Moͤrdervoͤlkern.
II. Der Naturglaube.
III Der Schulen Papſtthum.
IV. Umbildung der Staatskunſt, nach folgenden Grundſaͤtzen.
1. Gegen Natur - und Staatskuͤnſte ſind alle andre Kuͤnſte Kinderpoſſen: die28 Naturkundigung iſt aller andern Kuͤnſte Meer und Kaiſerin.
2. Aeußerliches oder Hofſittenwerk iſt Wahnwerk, ein frei willkuͤhrlich Werk; was man fuͤr ſchoͤn und haͤßlich ſetzt, iſt ſchoͤn und haͤßlich.
3. Das Maͤhrchen von der Auslaͤnder Klugheit und Deutſchen Dummheit iſt allein aus der Deutſchen Geduld, und der Aus - laͤnder Pralerei entſtanden.
4. Man kann faſt ſagen, daß weder Liebe, Geld noch Stolz ſo ſtark ſei, als der Deutſchen Geduld und Demuth. Der Ge - muͤths-Unadel loͤſcht in uns die Menſch - heit, die allgemeine Empfindniß, Selbſtliebe und Selbſterhaltung ganz aus.
5. Angenommene Großmuͤthigkeit wuͤrde das ganze Maͤhrchen in zehn Jahren um - kehren.
296. Verſtandes-Ehre geht uͤber alle Eh - re, iſt aller andern Ehre Grund, alſo nicht in den Wind zu ſchlagen.
7. Eines Volks Ehre haͤngt großen Theils an ſeiner Mutterſprache; dieſe iſt der Landesehre Fuhrwerk. Ueber ſie muß man ſchaͤrfer halten, uͤber ihre Reinigkeit mehr eifern, als uͤber der zarteſten Liebſten Ehre.
8. Mit Landsleuten muß mans, als mit Verwandten ſeines Geſchlechts, nicht genau nehmen; gegen Auslaͤnder alles hoch ſpan - nen. U. f.
Ein Wort noch von der Deutſchen grandezza, vor welcher der Gegner unſres Realis ſeine Landsleute warnen wollte. Realis ſagt dagegen:
„ Die Deutſchen, die gutherzigen Zigeu - ner, die armen Affen, die ewigen Schuͤler, von der grandezza wollen abhalten, iſt aͤr -30 ger als die Schaafe vom Grimm, die Pferde vom Fleiſchfreſſen abmahnen. Mahne die Spanier von der grandezza, die Italier von der Herrſchſucht, die Franzoſen von der Pralerei ab; mit den Deutſchen darfſt du dich nicht bemuͤhen. Der Mangel noͤ - thiger grandezza oder Ehrliebe iſt eben die vornehmſte Urſach des uͤbeln Deutſchen Na - mens. “
„ In Deutſchland wohnt aller Verſtand außer Schulen; bei den Auslaͤndern zuwei - len in Schulen. Bei dieſen ſind oft die Gelehrten die kluͤgſten; in Deutſchland iſts umgekehrt. Das Volk iſt ſinnreich, faſt allein, obwohl nicht allezeit; die Vornehmen ſind ſchulfuͤchſiſch, prangen mit ſtatu quo, und ſind ſelten klug.
Ich lege das Buch bei, und bitte, daß ſie die Jahrzahl nicht unbemerkt laſſen. Es iſt 1715 gedruckt; mich wundert, daß31 da die Schriften, die es ankuͤndigt, zwan - zig Jahre vorher geſchrieben waren, Leib - nitz unſers ſonderbaren Autors nirgend erwaͤhnet.
Verzeihen Sie, daß ich Ihren Realis de Vienna nicht auf einen ſo tragiſchen Fuß nehme, als er in den Bedraͤngniſſen ſeines muͤhſeligen Lebens den Ton an - ſtimmte. Sollten wir umſonſt ein Jahr - hundert ſpaͤter leben, in welchem ſich man - ches entwickelt hat, das Er nicht wiſſen konnte?
Man ſagt gewiſſen Landsleuten nach, daß ehe ſie ihre Landsmannſchaft nennen, ſie ein Entſchuldigungscompliment vorbrin - gen, daß ſie die ſeyn, die ſie ſind. Unſer Autor wird das fuͤr niedertraͤchtig halten; wenn es indeß gegen ſtolze Nationalver -wandte33wandte geſagt wuͤrde, ſo moͤchte hinter die - ſer Demuth ein Spott liegen, dem ich faſt beitraͤte. Unter allen Stolzen halte ich den Nationalſtolzen, ſo wie den Geburts - und Adelſtolzen fuͤr den groͤßeſten Narren.
Was iſt Nation? Ein großer, ungejaͤ - teter Garte voll Kraut und Unkraut. Wer wollte ſich dieſes Sammelplatzes von Thor - heiten und Fehlern ſo wie von Vortreflich - keiten und Tugenden ohne Unterſcheidung annehmen, und wenn es eine bloße Mei - nung von Seelenkraͤften oder Verdienſten gilt, fuͤr dieſe Dulcinea gegen andre Na - tionen den Speer brechen? Laſſet uns, ſo viel wir koͤnnen, zur Ehre der Nation bei - tragen; auch vertheidigen ſollen wir ſie, wo man ihr Unrecht thut, (in welchem Falle damals unſer Verfaſſer war;) ſie aber ex profeſſo preiſen, das halte ich fuͤr einen Selbſtruhm ohne Wirkung.
Vierte Samml. C34Wir Deutſchen wollten uns mit den Griechen vergleichen? Und welches waͤre der genaubeſtimmte, der unverfaͤlſchbare Maasſtab? Und wer waͤre der unpartheii - ſche Richter?
So auch mit andern Nationen. Die Natur hat ihre Gaben verſchieden ausge - theilt; auf unterſchiedlichen Staͤmmen, nach Klima und Pflege wachſen verſchiedne Fruͤchte. Wer vergliche dieſe unter einan - der? oder erkennete einem Holzapfel vor der Traube den Preis zu?
Vielmehr wollen wir uns wie der Sul - tan Solymann freuen, daß auf der bun - ten Wieſe des Erdbodens es ſo mancher - lei Blumen und Voͤlker giebt, daß dieſſeit und jenſeit der Alpen ſo verſchiedene Bluͤ - then bluͤhn, ſo mancherlei Fruͤchte reifen! Wir wollen uns freuen, daß die große Mutter der Dinge, die Zeit, jetzt dieſe,35 jetzt andre Gaben aus ihrem Fuͤllhorn wirft, und allmaͤlich die Menſchheit von allen Sei - ten bearbeitet.
Denn es ſcheint ſo wohl geiſtige als phyſiſche Nothwendigkeit zu ſeyn, daß aus der Menſchen-Natur mit der immer veraͤn - derten Zeitfolge alles hervorgelockt werde, was ſich aus ihr hervorlocken laͤßt. Mit - hin muͤſſen mit der Zeit Contrarietaͤten ans Licht kommen, die ſich endlich doch auch in Harmonie aufloͤſen.
Offenbar iſts die Anlage der Natur, daß wie Ein Menſch, ſo auch Ein Geſchlecht, alſo auch Ein Volk von und mit dem an - dern lerne, unaufhoͤrlich lerne, bis alle endlich die ſchwere Lection gefaßt haben: „ kein Volk ſei von Gott einzig auser - waͤhltes Volk der Erde; die Wahrheit muͤſſe von allen geſucht, der Garte des gemeinen Beſtens von allen gebauet wer -C 236den. Am großen Schleier der Minerva ſollen alle Voͤlker, jedes auf ſeiner Stelle, ohne Beeintraͤchtigung, ohne ſtolze Zwie - tracht wirken. “
Den Deutſchen iſts alſo keine Schande, daß ſie von andern Nationen, alten und neuen, lernen. Das alte Vernunftteſta - ment, wie der Autor die Weisheit der Grie - chen nennt, iſt gewiß nicht verjaͤhrt, noch durch die Weisheit der Neuern unkraͤftig gemacht worden.
So darf ſich auch kein Volk Europa's vom andern abſchlieſſen, und thoͤricht ſa - gen: „ bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit. “ Der menſchliche Verſtand iſt wie die große Weltſeele; ſie erfuͤllt alle Gefaͤße, die ſie aufzunehmen vermoͤgen; belebend, ja ſelbſt neuorganiſirend dringt ſie aus allen in alle Koͤrper.
37Haͤtte Realis noͤthig gehabt, den Deut - ſchen ſo oft unzeitige Geduld, ja Nieder - traͤchtigkeit Schuld zu geben, wenn die Großmuth, die er zu ihrem Vorzuge ma - chen will, ihr eigenſter Charakter waͤre? Kann Jahrhunderte lang ein Volk ſeinen Charakter dergeſtalt verkennen, daß es bei - nah immer im entgegengeſetzten handelt? Laſſet uns nicht ſagen; „ Hinderniſſe haben ihn unterdruͤckt. “ Im weiten Inbegriff der Zeit kennt ein Volk keine unuͤberſteig - liche Hinderniſſe; es muß zu dem gelangen, was es ſeyn ſoll.
Kaͤme das Mſcr., wovon wir reden, in unſre Hand; ſo wuͤrde es dadurch am meiſten belehrend, was wir nach Ablauf eines Jahrhunderts in ihm ausſtreichen oder hinzuſetzen muͤßten. Wir wuͤrden ſe - hen, wohin ſein Verfaſſer den Kranz fuͤr Deutſchland geſteckt? und wiefern es waͤh -C 338rend deſſen dieſen oder einen beſſern er - reicht habe?
Das gefaͤllt mir an unſerm Autor, daß er, wenn auch mit Uebertreibung, die Schul - wiſſenſchaften von den Lebenswiſſenſchaften, die Naturkuͤnſte von Wortkuͤnſten, den tuͤch - tigen Verſtand in Wirklichkeiten vom blo - ßen Faſſoniren der Begriffe abſondert. Waͤre dieſer Geſichtspunkt in ſeinem Werk ſcharf genommen und veſtgehalten; ſo haͤt - ten wir in ihm Materialien zu einer Ge - ſchichte des praktiſchen Deutſchen Verſtandes, wie wir ſie im ganzen ver - floſſenen Jahrhunderte nur hie und da Theilweiſe erhalten haben*)Die Materie iſt hiemit nicht geendet; ſie hat noch einige Briefe erhalten, die ſpaͤterhin werden mitgetheilt werden. A. d. H..
Waͤhrend Sie, m. Fr., um den Ruhm der Nationen wetteiferten, war ich in der Verſammlung der bluͤhendſten Voͤlker der Erde. Alle ſtanden friedlich neben einan - der; jedes Geſchlecht, jede Art, jede Gat - tung in ihrem eignen Reiz und Charak - ter. Keine neidete, verfolgte die andre; unter dem blauen Bogen des weiten Him - mels genoſſen alle das goldene Licht der Sonne, die Balſamkraͤfte der erquickenden Luft, des Thaues und Regens. Als ich mit ſuͤßem Staunen ſie anſah, ſang eine Stimme:
C 440Und eine andre Stimme antwortete:
Und es war, als verſammleten ſich die Genien der verſchiedenen Erdezonen. Eine Stimme ſprach:
Eine Schweſterſtimme nahm das Wort auf:
Hier unterbrach eine ſichtbare Scene die Unſichtbaren. Ein Juͤngling trat aus der Laube hervor, und umwand das Haupt ſeines Lehrers mit einem Kranz von Blu - men, die alle ihm geweiht waren, und in der Geſchichte der Pflanzen ſeinen unſterb - lichen Namen tragen. Er begleitete ſie mit Worten der innigſten Herzensverehrung in den erleſenſten Bildern und zog ſich be - ſcheiden zuruͤck.
Und von neuem erwachten Geſaͤnge von der Vermaͤhlung und der nach Jahrszei - ten geordneten Entwicklung der Blu -45 men. Menſchenfreundliche Genien ſangen alſo:
Eben als ich noch wuͤnſchte, daß die Un - ſichtbaren dieſe Worte in aller Frohnher - ren Herz ſingen moͤchten, weckte mich ein ſanfterer Laut. Er ſang die allmaͤlich an - brechende Zeit des Blumenfruͤhlings:
Liebetrunken ſchlug die Nachtigall ein - zelne Toͤne in dieſe Beſchreibung. Und ſie fuhr fort, als eine andre Stimme die Ver - maͤhlung der Blumen von denen Geſchlech - tern beſang,
— bei denen dieſelbe Korolle
In dem ambroſiſchen Bette voll Honigs und ſtaͤrkender Duͤfte Mit den befruchtenden Maͤnnern die weibliche Zeugungskraft einſchloß,51 bis zu jenen getrennten Geſchlechtern, wo oft
Ernſter wurden jetzo die Toͤne; liebreich - warnend und troͤſtend ſangen die Genien von ſchaͤdlichen und heilenden Kraͤu - tern:
D 252Eben ſo menſchenfreundlich nannte die Stimme die bekannteſten heilenden Kraͤu - ter:
Der Inhalt dieſer Geſaͤnge duͤnkt mir ſo ſchoͤn, daß ich Sie nicht zu ermuͤden fuͤrchte,55 wenn ich Sie noch einmal davon unter - halte. Auf Wieſen und Auen, in Gaͤrten und Feldern bluͤhet der Menſchen Geſund - heit, Nahrung und Gluͤck; da erholet, da erquickt ſich die Seele. Ihr Realis hat Recht: „ Luſt zu Naturſachen iſt ein Merk - mal der Großmuͤthigkeit. Naturkuͤnſte ma - chen aufrichtig; Schulkuͤnſte ſtolz und grau - ſam. “
Von den heilenden Kraͤutern Deutſchlands wandte ſich der Genius des Menſchenge - ſchlechts zu Pflanzen, die die Natur jeder Zone, ihr angemeſſen, ſchenkte. Sie gab
Der Genius ſchien eine Biene zu wer - den, die um ihre ſuͤßeſten Blumen umher - fliegt:
Aus der Laube erſcholl die Stimme:
Und der Genius antwortete:
Jetzt erhob ſich Linneus Urberg der Schoͤpfung vor mir, auf welchem vom Gipfel an bis zur niedrigſten Tiefe alle Gewaͤchſe bluͤhen, deren Fruchtſtaub ſeit - dem uͤber die ganze Erde verweht iſt:
60Lauter konnte der Geſang nicht werden. Ich befand mich auf Amboina mitten im Paradieſe der Flora, im Dufte der Blu - men, im Luſtgeſchrei der Affen und Papa - geyen. Da ſang aus der Laube die mil - dere Stimme:
Und eine andre Stimme:
Stimmen beſangen Kaunitz, Laudons Gaͤrten, und eine holdere Stimme:
Eine andre Stimme nannte Gaͤrten, Wo in Amerika's Buͤſchen die Deutſche Nachtigal floͤtet;E 268Unerwartet brachte endlich die Stimme des Dichters mich zu mir ſelbſt wieder:
So loͤſete ſich der Zauber. Ich kenne den Dichter nicht; koͤnnte ich aber eine Geſtalt an mich nehmen, ſo wuͤrde ich in Vir - gils oder Kleiſts freundlicher Geſtalt vor ihn treten und ſagen: „ Mann oder Juͤngling, du biſt werth, unſer Genoſſe zu ſeyn, ja eine neue Stuffe zu betreten, auf der die Wiſſenſchaft der Natur ſich mitE 370der Kunſt des Geſanges verbindet. Denn Dich umwehet der Geiſt der Schoͤpfung; du weißt nicht nur Namen ihrer Kinder, ſondern fuͤhleſt dich auch in ſie, und haſt ein Herz fuͤr die Freuden und Leiden der Menſchheit. Die Sprache ſtehet dir zu Gebot; die Wechſelſcenen der Natur wer - den Dich immer mehr zu wechſelnden Toͤ - nen begeiſtern. Auf! und erweitre das Feld Deines Hymnus. Die Kraͤnze, da - mit Du Deinen Lehrer ſchmuͤckteſt, erwar - ten auch dich:
So wuͤrde ich zu ihm reden, uͤberzeugt, daß durch das Studium und durch den71 Geſang der Natur, der menſchliche Geiſt er - weitert, das menſchliche Herz unſchuldiger, ruhiger, wohlthaͤtiger werde.
Unbezweifelt iſts, das durch das Studium und durch den Geſang der Natur das menſchliche Gemuͤth milder werde. Wer uns eine Botaniſche Philoſophie in einem ſchoͤnen Lehrgedicht gaͤbe, welchen Reichthum haͤtte er vor ſich! Ihm ſtuͤnde die geſammte Mythologie, die Aeſopiſche Fabel, die Idyllen der Alten, und von den Neuern Reiſebeſchreibungen, Geſchich - te, Philoſophie, endlich die Naturwiſſenſchaft ſelbſt zur Seite.
Was haben die Alten in ihren Georgi - cis geſucht, als unter mancherlei Einklei - dungen den Menſchen menſchlich zu ma -73 chen, und ihn allmaͤlich zu Beobachtung der Natur, zur Ordnung, zum Fleiß und Wohlſeyn zu erheben? Auch dem Vir - gil in ſeinen Georgicis koͤnnen wir dieſen wenigſtens mittelbaren Zweck nicht abſpre - chen. Er, der außer dem Kriegsgluͤck der Roͤmer gewiß noch ein ander Gluͤck der Landbeſitzer und Landbewohner kannte, wollte durch ſein ſchoͤnes, in vielen Stellen ſo menſchliches Gedicht eben auch Dies be - foͤrdern.
Die Aeſopiſche Fabel fuͤhret uns ganz aufs Land. Hier ſprechen Baͤume, Thiere, Menſchen; Naturwahrheit iſts, was ſie ſa - gen. Und wenn Leßing die Thiere wegen ihrer Charakter-Beſtandheit als eigentliche Fabelactoren gerechtfertigt hat; wem bliebe mehr Beſtandheit als dem Baum, der Pflanze, der Blume, der ganzen Natur - ordnung in ihrem unermeßlich-langſamenE 574Fortſchritt? Hier alſo iſt, recht gebraucht, Weisheit und Klugheit der Natur zu ler - nen; hier oder nirgend. Immer werden uns die ſchoͤnen Pflanzen - und Baumfa - beln, inſonderheit des Orients reizen, wo ſie in ihrer ſtummen Sprache uns ewige ſuͤße Naturwahrheit ſagen.
Die Mythologie iſt eine belebte Welt. Nur mit Entzuͤcken kann ich daran denken, wie viel Geiſt, Sinn und Gemuͤth man in fluͤchtige Erſcheinungen, in wandelbare Ge - ſtalten der Natur gelegt hat, allen Men - ſchen zur Anſicht, und dem menſchlichern Menſchen zur Bildung und Lehre. Wer irgend eine ſchoͤne Dichtung der alten My - thologie und Naturlehre uns neu ins Ge - muͤth zu rufen weiß, hat eine Blume vom Kranz der Mutter der Goͤtter ge - pfluͤckt und in unſre Gaͤrten verpflanzet.
75Das Idyll der Alten, (ein unbeſtimm - ter Name,) hat mit dem Verfolg der Zei - ten ſich gleichſam willkuͤhrlich zu Land - Schaͤfer-Hirten-Fiſchergedichten, kurz in Geſellſchaften zuruͤckgezogen, in denen ohne politiſche Kunſt die unſchuldige Natur re - gieret. Manche von Bions, Moſchus, Theokrits Geſaͤngen gehoͤren dahin; und die neuere Poeſie, wenn ſie der politiſchen Welt und der wohlluͤſtigen Kreiſe ſatt war, hat ihr Daſeyn dahin verleget. Virgil, deſſen meiſte Eclogen bloße Nachbildungen ſind, entbrach ſich nicht, in ſeinem Tity - rus, Pollio, Silen dieſe reizende Dichtung als eine Einfaſſung hoͤherer Vor - ſtellungen zu gebrauchen.
Daher als in den mittleren Zeiten die Poeſie wieder auflebte, erinnerte ſie ſich bald ihres ehemaligen wahren Geburts - landes unter Pflanzen und Blumen. Die76 Provenzal - und Romantiſchen Dichter lieb - ten dergleichen Beſchreibungen; bei Spen - ſer z. B. ſind es noch immer anmuthige Stanzen, die uns ſchoͤne Wuͤſteneien ſamt ihren Gewaͤchſen und Blumen ſchildern. Mit außerordentlicher Liebe und einem Ue - berfluß der Phantaſie ſind Cowley's ſechs Buͤcher von Pflanzen, Kraͤutern und Baͤumen geſchrieben; ein neuerer Britte, der den Botaniſchen Garten*)The Botanic Garden containing the Lo - ves of the Plants, with Philoſophical No - tes, Lond. 1788. nach Linneus Geſchlechter-Syſtem, in ihm alſo vorzuͤglich die Liebe der Pflanzen beſang, ſcheint, nach Proben zu urtheilen, auch viel Artiges gereimt zu haben. Unter Deut - ſchen Dichtern hat von unſerm alten Brockes Geßner mit Recht geſagt: „ er77 hat die Natur in ihren mannichfaltigen Schoͤnheiten bis auf das kleinſte Detail genau beobachtet: ſein zartes Gefuͤhl wuͤrde durch die kleinſten Umſtaͤnde geruͤhrt; ein Graͤschen mit Thautropfen an der Sonne hat ihn begeiſtert; ſeine Gemaͤlde ſind oft zu weitſchweifig, oft zu erkuͤnſtelt; aber ſeine Gedichte ſind doch ein Magazin von Gemaͤlden und Bildern, die gerade aus der Natur genommen ſind. Sie erinnern uns an Schoͤnheiten, an Umſtaͤnde, die wir oft ſelbſt bemerkt haben und jetzt wieder ganz lebhaft denken. “ Hallers Alpen, Kleiſts, Geßners Gedichte, Thom - ſons Jahrszeiten ſprechen fuͤr ſich ſelbſt.
Einer der Genannten hatte, als er ſein Gedicht uͤber Pflanzen und Baͤume ſchrieb, ſich aufs Land zuruͤckgezogen, und ſetzte ſich daſelbſt als einem Lebenden folgende Grabſchrift:
78Ein ſanfterer Naturdichter wuͤrde lebend und ſterbend ſagen: et ego in Arcadia!
In einer freundſchaftlichen Verſammlung hoͤrte ich neulich eine Vorleſung uͤber Wahn und Wahnſinn der Men - ſchen, deren Abſchrift ich mir erbat und Ihnen jetzt ſtatt meines Briefes mit - theile.
Ueber Wahn und Wahnſinn der Menſchen.
Eine Vorleſung.
Ohne Zweifel haben Sie, m. H., bei der Zergliederung menſchlicher Koͤrper die vielen, unendlichfeinen Striche bemerkt,die81die im Gehirn dergeſtalt durch einander laufen, daß ſie das Meſſer des Zergliede - rers nicht mehr verfolgen kann. Eben ſo fein und vielleicht noch feiner laufen in der menſchlichen Seele die Linien des Wah - nes und der Wahrheit durch einander, daß man nach der ſorgfaͤltigſten Pruͤfung kaum an ſich ſelbſt weiß, wo Eins ſich vom Andern ſcheide.
Wenn alles das Wahn iſt, was wir ohne deutliche Gruͤnde auf guten Glauben annehmen: ſo iſt der groͤßeſte Theil unſrer Erfahrungen, unſre fruͤhgelernte Kenntniſſe, unſre fruͤherworbne Gewohnheiten, und Neigungen auf Wahn gegruͤndet. Sie be - ruhen entweder auf dem Zeugniß unſrer Sinne, oder anderer Menſchen, denen wir glauben, die wir unvermerkt, uns ſelbſt un - bewußt, nachahmen, endlich am meiſten auf unſrer eignen Bequemlichkeit und Diſpoſi -Vierte Samml. F82tion, lieber ſo als anders zu handeln. So beveſtigt ſich in uns allmaͤlich eine Ge - denk - eine Handlungsweiſe, deren Urſprung in einzelnen Faͤllen wir ſelten er - forſchen moͤgen. Nur wenigen ſehr hellen und reinen Seelen iſts gegeben, uͤber die wichtigſten Striche ihrer Denkart ſich un - partheiiſch zu pruͤfen, Wahrheit und Irr - thum, Vorurtheil und Gewißheit in ihnen ſtrenge zu unterſcheiden, und ſodann dem unſchuldigen oder gar nothwendigen Wahn zwar ſein Gebiet zu laſſen, mit nichten ihn aber zum Geſetzgeber jeder menſchlichen Wahrheit, mit nichten ihn zum Richter je - der fremden Denk - und Sinnesart zu er - heben.
Dieſe ſeltnen, vom Himmel privilegir - ten Seelen ſind diejenigen, die man allein tolerant nennen kann; ſie ſchonen den Wahn des andern auch in Faͤllen, in denen83 er ihrem eignen liebſten Wahn entgegen - ſtehet. Sie ſind die duldſamſten Freunde, die lehrreichſten Geſellſchafter: denn auch uͤber die verwickelſten Aufgaben der Men - ſchengeſchichte laͤßt ſich mit ihnen ohne Haß und Zorn diſputiren. Der gemeine Haufe der Menſchen iſt nur ſolange Freund gegen einander, als ſein Lieblingswahn ge - foͤrdert oder wenigſtens nicht beleidigt wird.
Und wie ſonderbar, wie abentheuerlich dieſer Lieblingswahn ſeyn koͤnne, lernt man zuweilen mit der groͤßeſten Verwunderung eben da einſehen, wo man dergleichen bei ſonſt ſo richtigen Begriffen und Grundſaͤz - zen je kaum vermuthet haͤtte. Der Glaube an Geſpenſter und an andre Dinge dieſer Art iſt wohl der verzeihlichſte in ſolchem geheimen Wahnregiſter, da ſich in ihm oft wunderlichere Artikel finden. GemeiniglichF 284haͤlt ihr Beſitzer dieſe, als ſein eigenſtes Eigenthum theuer und werth; unvermerkt entwiſchen ſie ihm nur, wenn nicht etwa gewaltige Leidenſchaften, außerordentliche Zeitumſtaͤnde und Situationen ſie mit Ge - walt erpreſſen und herausfordern. Dann ſtreitet er aber auch fuͤr ſie, eben weil ſie Schwaͤchen ſeiner Natur, Gebilde ſeiner Phantaſie ſind, als fuͤr ſeine liebſten Kin - der. Wer um die wichtigſte Wahrheit mit ihm ficht, wird nie ſo ſehr ſein Gegner ſeyn, als wer gegen eine Lieblingsmeinung, die wie ein Polypus in ſein Herz gewach - ſen iſt, einige Befremdung aͤußert. Gehen Sie, m. H., in Ihren Gedanken die Zahl Derer durch, die Sie in Anſehung ihres Innern am naͤchſten gekannt haben; Sie werden ſich ſonderbarer Wahngeſtalten erinnern.
85Das Gebiet des Wahnes erſtreckt ſich inſonderheit auf Dinge, die den Menſchen zunaͤchſt angehen, auf ſeine Perſon und Geſtalt, auf ſeinen Stand, ſeine Nation, ſeinen Zweck und Charakter. Wie es z. B. Perſonen giebt, die im Innern ein ganz anderes Bild von ſich umhertragen, als die ſie ſind; ſie erſchrecken vor ihrer aͤu - ßern Geſtalt im Spiegel als vor der Ge - ſtalt eines fremden Weſens; ſo giebt es deren noch weit mehrere, die in Anſehung ihres Innern ein fremdes Bild mit ſich tragen. Ein beruͤhmter Koͤnig unſres Jahr - hunderts war in ſeiner Phantaſie immer nur Oberſter eines Regiments, und wars mit Luſt; alle koͤnigliche Pflichten erfuͤllte er als eine fremde Perſon, als ein ſtren - ger Amtmann. Unzaͤhliche Wunderlichkei - ten floſſen daher, die ohne dies Bild einer fremden, ihm einwohnenden WahngeſtaltF 386unerklaͤrlich blieben, durch ſie aber ſich alle erklaͤren. Was uns die Berichte der Aerzte von Krankheiten der Einbildungskraft er - zaͤhlen, da jener ſich ſeine Fuͤße als Stroh - halme, dieſer ſein Geſaͤß glaͤſern dachte, ein dritter die Welt zu uͤberſchwemmen fuͤrchtete, ſobald er ſein Waſſer ließe, alle dieſe Geſchichten oder Maͤhrchen ſagen im Grunde weniger, als die Erfahrungen manches Wahns, den man bei den ver - nuͤnftigſten Menſchen zuweilen wahrnimmt. Einige Gattungen deſſelben pflanzen ſich in Familien fort, und miſchen ſich als ein Erbtheil von Vater und Mutter auf die ſonderbarſte Weiſe. Andre haften an Staͤn - den, Aemtern, Lebensarten, Zuͤnften, und bekommen den Ehrennamen eſprit de corps, Gefuͤhl ſeines Standes, Familien - ehre. Die feinſten aber hangen von in - dividuellen Umſtaͤnden und Erfahrungen ab;87 ſie ſind Abdruͤcke von der eigenſten Beſchaf - fenheit des Koͤrpers und der Seele des Waͤhnenden, ſamt den Situationen, die vorzuͤglich auf ihn wirkten, kurz, beve - ſtigte Luftgebilde ſeiner fruͤhen Jugend. Daher ſind ſie theoretiſch oder praktiſch; ſelten aber eins ohne das an - dre. Denn der Menſch iſt nie ſo vergnuͤgt, als wenn er nach Wahn handeln kann, zumal nach einem von andern verdammten, von ihm ſelbſt geformten, Lieblingswahne. Da lebt er recht in ſeinem Element und iſt ſeiner Kunſt Meiſter.
Sie merken leicht, m. H., in welchen Staͤnden dieſe Wahnbilder am ſichtbarſten ſeyn muͤſſen; in ſolchen naͤmlich, die ſich am freieſten aͤußern duͤrfen. Wer vor an - dern Scheu haben, wer aus Beruf und Noth auf dem gebahnten Wege angenom - mener Meinungen oder richtiger BegriffeF 488bleiben muß; der giebt ſich Muͤhe, ſonder - bare Eigenheiten ſeines Kopfs und Her - zens zu unterdruͤcken, wenigſtens verſchließt er ſie in der innerſten Kammer, und reitet auf ſeinem Steckenpferde nicht eben an hellem lichten Tage, nicht auf dem Markte. Wer ſich dagegen alles erlaubt und dabei ſein Perſonale aͤußerſt hoch haͤlt, der kann mit dieſen Originalpoeſieen ſeines Weſens oft nicht laut genug hervortreten; er er - findet deren eine Reihe, mit der Zeit aus bloßer Willkuͤhr und glaubt ſich gar dazu in die Welt gepflanzt, andere damit zu vergnuͤgen. Die ſogenannten ſtarken Charaktere, große Geiſter, ex pro - feſſo vornehme Leute u. f. liefern in ihrer Geſchichte davon wunderbare Bei - ſpiele. Die alten Roͤmiſchen Caͤſars, eine Reihe Regenten, Helden, Religionsſtifter, Schwaͤrmer, Dichter, Philoſophen hatten89 ſonderbare Wahngeſtalten im Kopf, die ſie gewoͤhnlich andern aufzwingen wollten, und damit oft zum Ziele kamen.
Denn leider iſt bekannt, daß es faſt nichts anſteckenderes in der Welt als Wahn und Wahnſinn gebe. Die Wahrheit muß man durch Gruͤnde muͤhſam erforſchen; den Wahn nimmt man durch Nachahmung, oft unvermerkt, aus Gefaͤlligkeit, durch das bloße Zuſammenſeyn mit dem Waͤhnenden, durch Theilnehmung an ſeinen uͤbrigen gu - ten Geſinnungen, auf guten Glauben an. Wahn theilt ſich mit, wie ſich das Gaͤh - nen mittheilt, wie Geſichtszuͤge und Stim - mungen in uns uͤbergehen, wie Eine Saite der andern harmoniſch antwortet. Kommt nun noch die Beſtrebſamkeit des Waͤhnen - den dazu, uns die Lieblingsmeinungen ſei - ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen, und er weiß ſich dabei recht zu nehmen;F 590wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht gern zuerſt unſchuldig mitwaͤhnen, bald maͤchtig glauben und auf andre mit eben der Beſtrebſamkeit ſeinen Glauben fort - pflanzen? Durch guten Glauben haͤngt das Menſchen-Geſchlecht an einander; durch ihn haben wir wo nicht alles ſo doch das Nuͤtzlichſte und Meiſte gelernt; und ein Waͤhnender, ſagt man, iſt deßhalb ja noch kein Betruͤger. Der Wahn, eben weil er Wahn iſt, gefaͤllt ſich ſogern in Geſellſchaft; in ihr erquicket er ſich, da er fuͤr ſich ſelbſt ohne Grund und Gewißheit waͤre; zu die - ſem Zweck iſt ihm auch die ſchlechteſte Ge - ſellſchaft die beſte.
Nationalwahn iſt ein furchtbarer Name. Was in einer Nation einmal Wur - zel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet und hochhaͤlt; wie ſollte das nicht Wahr - heit ſeyn? wer wuͤrde daran nur zweifeln? 91Sprache, Geſetze, Erziehung, taͤgliche Le - bensweiſe — alle beveſtigen es, alle weiſen darauf hin; wer nicht mitwaͤhnet, iſt ein Idiot, ein Feind, ein Ketzer, ein Fremd - ling. Gereicht uͤberdem, wie es gewoͤhn - lich iſt, der Wahn zur Bequemlichkeit eini - ger, der geehrteſten, oder wohl gar, dem Wahn nach, zum Nutzen aller Staͤnde; haben ihn die Dichter beſungen, die Phi - loſophen demonſtrirt, iſt er vom Munde des Geruͤchts als Ruhm der Nation aus - poſaunt worden; wer wird ihm widerſpre - chen wollen? wer nicht lieber aus Hoͤflich - keit mitwaͤhnen? Selbſt durch loſe Zwei - fel des Gegenwahnes wird ein angenom - mener Wahn nur beveſtigt. Die Charak - tere verſchiedener Voͤlker, Sekten, Staͤnde und Menſchen ſtoßen gegen einander; eben deſtomehr ſetzt jeder ſich auf ſeinem Mit - telpunkt veſt. Der Wahn wird ein Natio -92 nalſchild, ein Standeswappen, eine Ge - werksfahne.
Schrecklich iſts, wie veſt der Wahn an Worten haftet, ſobald er ihnen einmal mit Macht eingepraͤgt wird. Ein gelehrter Juriſt hat bemerkt, was an dem Wort Blut, Blutſchande, Blutsfreunde, Blutgericht fuͤr eine Reihe ſchaͤdlicher Wahn - bilder hange; mit dem Wort Erb, Ei - genthum, Beſitzthum u. f. iſts oft nicht anders. Zu unſern Zeiten haben wirs erlebt, was die Wortſchaͤlle Rechte, Menſchheit, Freiheit, Gleichheit bei einem lebhaften Volk fuͤr einen Tau - mel erregt; was in und außer ſeinen Grenzen die Sylben Ariſtokrat, De - mokrat fuͤr Zank und Verdacht, fuͤr Haß und Zwietracht angerichtet haben. Zu an - dern Zeiten war es das Wort Religion, Vernunft, Offenbarung, ſeligma -93 chender Glaube, Gewiſſen, Cove - nant, the Cauſes ſake u. f. Unſchuldige Farben, die Gruͤnen und Blauen, die Schwarzen und Weißen; Loſungs - worte, mit denen man keinen Begriff verband, Zeichen, die gar nichts ſagten, haben, ſobald es Partheien galt, im Wahn - ſinn Gemuͤther verwirrt, Freundſchaften und Familien zerriſſen, Menſchen gemor - det, Laͤnder verheeret. Die Geſchichte iſt voll ſolcher Abadonniſcher Namen, ſo daß man ein Woͤrterbuch des Wahnes und Wahnſinnes der Menſchen aus ihr ziehen, und dabei oft die ſchnell - ſten Abwechſelungen, die groͤbſten Gegen - ſaͤtze bemerken wuͤrde.
Wahn und Wahnſinn ſind uͤberhaupt nicht ſo weit von einander, als man glaubt. So lange der Wahn ſich in einem Winkel der Seele aufhaͤlt, und nur wenige Ideen94 angreift, behaͤlt er dieſen Namen; verbrei - tet er ſeine Herrſchaft weiter und macht ſich durch lebhaftere Handlungen ſichtbar; ſo nennt man ihn Wahnſinn. Wer kann nun jeder Zeit das Mehr und Weniger beſtimmen? zumal ſowohl bei einzelnen Menſchen als bei ganzen Voͤlkern nach Umſtaͤnden und Perioden nichts als Con - vention die Waage in der Hand hat und Namen vertheilet. Die groͤßeſten Veraͤnderungen der Welt ſind von Halb - wahnſinnigen bewirkt worden, und zu mancher ruͤhmlichen Handlung, zu man - chem ſcharf verfolgten Geſchaͤfte des Le - bens gehoͤrte wirklich eine Art bleibenden Wahnſinns.
„ Bewahre uns Gott, werden Sie ſagen, m. H., vor ſolcher Anſicht der menſchli - chen Dinge! Unſre Erde wuͤrde ja damit ein Irrenhaus, und unſre Geſchichte ein95 Krankenregiſter. “— Sollte ſie in ganzen Perioden anders zu betrachten ſeyn? und iſt es nicht nuͤtzlich, daß man ſie alſo betrachtet?
Denn nun wird man zuerſt, wenn auch in dem Zeitraum, in dem wir leben, Namen aufkommen, uͤber welche Menſchen einander haſſen und morden, eben durch die Geſchichte voriger Zeiten aufmerkſam gemacht, zu pruͤfen, was hinter den Namen ſei? Man wird ſie weder Gedankenlos nachbeten, noch fuͤrchtend ſo anſtaunen, als ob mit ihnen das Ende der Welt gekom - men ſei; am wenigſten wird man im blin - den Taumel mit Einer der ſtreitenden Par - theien haſſen, zuͤrnen, verlaͤumden, verfol - gen. Die Geſchichte belehrt uns, daß der - gleichen Zufaͤlle des menſchlichen Geiſtes tauſend - und tauſendmale bereits, nur un - ter andern Namen und Zeitumſtaͤnden, ihr Spiel und Ende gehabt haben; man wird96 alſo auf ſeiner Hut ſeyn, unſchaͤdlichen Wahn dulden, ſchaͤdlichen Wahn auswei - chen; mit nichten aber weder dieſen noch jenen erbittern und reizen. Denn eben durch dies Erbittern und Reizen, (dies zeigt die Geſchichte) wird der Wahn Wahn - ſinn. Dadurch aber habe ich weder dem Kranken, noch mir geholfen: es ſei denn, daß ich ihn wirklich toll machen wollte.
Eben auch die Geſchichte lehrt zwei - tens, daß weder Gewalt noch Ueberredung, am wenigſten mit Ueberredung verſchleierte Gewalt und mit Gewalt unterſtuͤtzte Ueberre - dung den Wahn der Menſchen auszutilgen oder zurecht zu bringen vermoͤge. Durch Waffen werden Irrthuͤmer weder beſtritten, noch ausgerottet; der ſchlechteſte Wahn hingegen duͤnkt ſich eine Martyrer-Wahr - heit, ſobald er mit Blute gefaͤrbt daſtehet. Eben97Eben durch dergleichen gewaltſame Schleich - mittel ſind Irrthuͤmer, die ſich ſelbſt bald uͤberlebt haͤtten, Meinungen, von denen die Betrogenen in kurzem zuruͤckgekommen waͤ - ren, ſchaͤdlich verewiget worden. Nie hat die reine Wahrheit mit ſchlauer Politik etwas zu ſchaffen gehabt, ſo wenig die Politik es je zum Zweck gehabt hat, reine Wahrheit zu befoͤrdern. Jede geht ihren Gang, und nur Kinder laſſen ſich von po - litiſchen Wahrheitphraſen dieſer oder jener Parthei, oder wie die Griechen ſagen, von der Svada mit der Geißel in der Hand taͤuſchen.
Drittens. Das einzige Mittel, wie man dem Wahn beikommen kann, iſt, daß man ihm nicht beizukommen ſcheine. Man ſchuͤtze ſich vor ihm und laſſe ihn ſeines We - ges wandern; oder man zerſtreue ihn und bringe ihn ohne gewaltſame UeberredungVierte Samml. G98unvermerkt auf andre Gedanken. Die Zeit allein kann ihn heilen. Man hat mehrere Beiſpiele, daß mitleidige Krankenwaͤrter von der Krankheit ſelbſt angeſteckt wurden; nichts aber theilet ſich leichter mit, als Krankheiten der Seele. Wer geſund iſt, ſuche geſund zu bleiben; alle Anſteckungen werden nur dadurch eingeſchraͤnkt, daß man ſie iſoliret.
Viertens. Freie Unterſuchung der Wahrheit von allen Seiten iſt das einzige Gegenmittel gegen Wahn und Irrthum, von welcher Art ſie ſeyn moͤgen. Laſſet den Waͤhnenden ſeinen Wahn, den anders Meinenden ſeine Meinung vertheidigen; das iſt, ihre Sache. Wuͤrden beide auch nicht gebeſſert, ſo entſpringt fuͤr den Unbe - fangenen aus jedem beſtrittenem Irrthum gewiß ein neuer Grund, eine neue Anſicht der Wahrheit. Daß man doch ja nicht99 glaube, Wahrheit koͤnne je durch bewaffne - ten Wahn gefangen, oder gar ewig im Gefaͤngniß veſtgehalten werden! Sie iſt ein Geiſt und theilt ſich Geiſtern mit, faſt ohne Koͤrper. Oft darf ihr Ton an Einem Weltende geregt werden, und er erklingt in entlegenen Laͤndern; immer aber laͤutert ſich der Strom des menſchlichen Erkenntniſſes durch Gegenſaͤtze, durch ſtarke Contraſte. Hier reißt er ab, dort ſetzt er an; und zu - letzt gilt ein lange und vielgelaͤuterter Wahn den Menſchen fuͤr Wahrheit.
Seneka ſandte ſeinem Freunde Lucil faſt in jedem ſeiner Briefe einen Denkſpruch zum Geſchenk; was ſoll ich Ihnen fuͤr die mitgetheilte Vorleſung ſenden? Soll ich Sie nach Arioſt*)Orlando furioſo, Cant. XXIV. Str. 75. 77. 79. 81. A. d. H. in jenes Mond-Thal fuͤhren, wo Aſtolf ſo viele Reſultate des menſchlichen Wahnes und Wahnſinnes er - blickte?
Lieber bleiben wir auf der Erde, und wollen, auch mitten unter gefaͤrbten Ne - beln des Wahnes und Wahnſinns die Burg der Wahrheit ſuchen.
Nicht alles iſt Wahn und Traum im Gebiet der Menſchheit; es giebt fuͤr uns inſonderheit im Praktiſchen, im Moraliſchen eine gewiſſe, ſichere Wahrheit. Ihre Stimme ſpricht auch mitten im politiſchen Geraͤuſch; ſie ſpricht fuͤr jeden, der ſie hoͤren will, in ſeinem innerſten Herzen und ſtraft jede Syrenenſtimme gefaͤlliger Meinungen Luͤge. Auch in den dunkelſten Zeiten ſchien ihr Licht in reinere Seelen; auch in der groͤßeſten Verwirrung der Welthaͤndel warG 3102ſie dem Unbefangenen ein ſicheres Richt - maas.
Koͤnnen Sie ſich z. B. verworrenere Zeiten als die Zeiten der Ligue und der Religionsgaͤhrungen in Frankreich denken? Und ſiehe, nebſt vielen andern hellen und aufrichtigen Geiſtern erſchien und ſchrieb in ihnen der Praͤſident de Thou ſeine Geſchichte. Wollen Sie bei dem lan - gen Werk in einem kuͤrzern Inbegriff be - merken, wie hoch er ſich uͤber Wahn und Vorurtheile ſeines Standes, ſeiner Geburt, ſeines Landes, ſeiner Secte, ſeiner Zeit hinwegſchwang: ſo leſen Sie nur die Stel - len, die von der Spaniſchen Inquiſition weggeſtrichen wurden, die Laͤſterſchriften, die Scioppius und Machault gegen ihn ſchrieben, und ſeine linde Antwort da - gegen im Gedicht an die Nachwelt,103 Poſteritati*)Alles dies findet man im 7ten Theil der Londner Ausgabe von Thuans Geſchichte beiſammen. Auch die commentarios de vita ſua, in denen nebſt andern das Gedicht Poſte - ritati vorkommt. Die hier frei uͤberſetzte Ode Veritati ſteht Tom. I. voran ſeiner Geſchichte. In Gruters deliciis Poëtar. Gallor. fehlen Thuans beſte Stuͤcke gaͤnzlich. A. d. H.. Er, der den groͤßeren Sieg erkaͤmpft hatte, vom Wahne frei zu ſeyn, erhielt auch den viel leichteren, den Ver - laͤumdungen, den Verfolgungen des Wahns ſich klug zu entziehen oder beherzt entgegen zu treten. Davon ſind ſeine Briefe, davon die von ihm ſelbſt uͤber ſein Leben gege - bene Rechenſchaft Zeuge. Hoͤren Sie die wahre Dedication ſeiner Geſchichte, ſein Gebet an die Wahrheit.
G 4104Gewiß, eine Fabel muß im Kreiſe der Geſellſchaft erfunden werden. So er - fand Aeſop die Seinen; ſie flogen ihm gleichſam, wie der Hauch lebendiger Ge - genſtaͤnde, aus Veranlaſſungen zu; darum iſt der Geiſt in ihnen auch jetzo noch le - bendig. So ſind des la Fontaine, Gleims, und aller guten Fabeldichter Erzaͤhlungen entſtanden; ſelbſt wenn ſie alte Erfindungen aufnahmen, verjuͤngten ſie dieſe, und erzaͤhlten ſie jetzt fuͤr ihre Geſellſchaft. Wer ſich hinſetzt und eine trockene Lehre, einen duͤrren Sittenſpruch110 in eine Schale naͤhet, dem iſt die wahre Fabelmuſe nie erſchienen.
Als neulich in einer Geſellſchaft von den unverſtandenen Namen Ariſtokrat, Demokrat u. f. geſprochen und diſputirt war, trat wie ein freundlicher Genius Ei - ner aus der Geſellſchaft zur Koͤnigin des Feſtes, ruͤhrte ihre Scherpe an, und ſagte dieſe
Kaum war das Maͤhrchen geendiget, als Die, an welche es gerichtet war, auf - ſtand und mit Genehmigung Aller die weiſſe Scherpe, als ein Zeichen des Friedens im Saale der Geſellſchaft aufhing. Mit gu - ter Wirkung: denn wenn im Taumel der Worte nachher die genannten Friedensſtoͤ - rer jemanden nur auf die Lippe traten;Vierte Samml. H114ſogleich ward auf die Scherpe gewieſen. Die drei Faͤden ſprachen ihre ſtumme Lehre und der Ton der guten Geſellſchaft ſtellte ſich wieder her.
Gilt dies vom Schickſal einzelner Men - ſchen, wie viel mehr vom Schickſal der Voͤlker und Reiche!
Eben habe ich die Geſchichte des Herzogs von Bourgogne, EnkelsH 2116Ludwigs 14., Vaters Ludwigs 15. mit ſon - derbaren Empfindungen geleſen*)Vie du Dauphin, Pere de Louis XV. ecrites ſur les memoires de la Cour, en - richés des ecrits du même Prince, p. l'Abbè Proyart, Lion 1782. .
Sie wiſſen, daß dieſer Prinz ein Zoͤg - ling Fenelons war; die Unarten, die das koͤnigliche Kind an ſich hatte, als Fe - nelon zu ihm kam, werden auch in dieſer Geſchichte nicht verſchwiegen. Leſen Sie nun, wie Fenelon ſich dabei benahm, und was fuͤr einen vortreflichen, nicht nur Hoffnungs - ſondern wirklich Fruchtreichen Charakter er aus dem Prinzen gebildet; und ein ſuͤßes Erſtaunen wird Sie ergrei - fen. Sie ſehen hier den Prinzen unge - ſchmeichelt, in ſeinem ganzen Leben und Weſen, bei Hofe, im Felde, im Cabinett,117 zu Hauſe, gegen den Koͤnig, gegen ſeine Gemahlin, gegen Hofleute, Erzieher, Leh - rer, Hausgenoſſen handeln. Handeln; nicht nur ſprechen oder denken. Und allent - halben iſt er ſich gleich; allenthalben bleibt er die edle, ſtandhafte, in groͤßeſter Stille wirkende Seele. Es iſt, als ob Fenelons Geiſt ihn nicht umſchwebe, ſondern erfuͤllt habe; Fenelons Denkart iſt in die ſeinige verwebet.
Sage nun jemand, daß Erziehung, wenn ſie rechter Art iſt, nichts fruchte! Der Menſch iſt ja alles durch Erziehung; oder vielmehr er wirds, bis ans Ende ſei - nes Lebens. Nur kommt es darauf an, wie er erzogen werde? Bildung der Denk - art, der Geſinnungen und Sitten iſt die einzige Erziehung, die dieſen Namen verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre. Und wohl dem Prinzen, dem ein FenelonH 3118zum Erzieher ward! Wohl jedem Erzie - her, dem Fenelon zum Muſter dienet!
Sage jemand, daß bei Prinzen keine Erziehung moͤglich ſei. Am Hofe Lud - wigs 14., des eigenſinnigſten Koͤnigs, mit - ten unter Schmeicheleien, Verderbniſſen und Verfuͤhrungen der Zeit, an einem Kinde von auffahrendem, gebieteriſchen, Geburtsſtolzen, launiſchen Charakter war ſie moͤglich, und erprobte ſich in den ver - worrenſten Verhaͤltniſſen, in den ſchwerſten Scenen.
Sage jemand endlich, daß Prinzen kei - ner Dankbarkeit, keiner Freundſchaft faͤhig ſind. Auch unter dem aͤußerſten Haß Ludwigs 14. gegen Fenelon blieb der Her - zog und Dauphin ſeinem Freunde treu bis ans Ende ſeines Lebens.
Und dieſer ſchonte ihn auf keine Weiſe. Sie finden einige Briefe Fenelons in dieſer119 Sammlung; die uͤbrigen (unerſetzlicher Ver - luſt!) verbrannte Ludwig mit eigner Hand nach ſeines Enkels Tode; vermuthlich, weil er ſich ſelbſt bei ſeinem Haß gegen dieſen wuͤrdigen Mann ſo ſehr im Unrecht fand, und mit den Briefen ſein eignes Unrecht zu vertilgen glaubte. Denn nie verſoͤhnte ſich Ludwig mit Fenelon, auch nicht auf den Brief, den dieſer ihm ſterbend ſchrieb. Der Monarch wollte den Erzbiſchof nicht unrechtmaͤßiger Weiſe gehaßt haben.
Gut, daß der Monarch die Papiere des Prinzen mit jenen Briefen, (deren keine Zeile Er ſchreiben konnte,) nicht auch verbrannte. Sie ſind in langen Stellen hier gedruckt; Fenelons Geiſt athmet in jedem Grundſatz, ſo wie in der ganzen, ſehr reinen und edeln Schreibart. Nur ſiehet man auch, daß ein Prinz dieſe Grund - ſaͤtze gedacht habe; ſie ſind, wenn ich ſoH 4120ſagen darf, gedruͤckter, beſchraͤnkter, als ſie in Fenelons Seele bluͤhten; aber Ehren - voll, ſchoͤn, koͤniglich, fuͤrſtlich.
Ausziehen will ich nichts aus dieſen Maximen. Dem Geiſt des Zeitalters und der Denkart Fenelons gemaͤß ehren ſie die Staͤnde ungemein, machen die Religion zur Baſis der Reichsverfaſſung, und ſind dem Proteſtantismus nicht guͤnſtig. Da - gegen enthalten ſie von den unerlaßbaren Pflichten aller Staͤnde und des Regenten ſelbſt alle die Grundſaͤtze, die wir in Fe - nelons vortreflichen Rathſchlaͤgen an einen Koͤnig finden. Wenn dieſe viel eigentlicher das livre d'or ſind, als was gewoͤhnlich den Namen fuͤhret: ſo kann man die Aufſaͤtze des Dauphins ohne Schmeichelei dem Buch des Marc-Aurels an die Seite ſetzen, nicht als das Werk eines Mannes, ſondern als die Voruͤbung121 eines Juͤnglings; nicht als Syſtem, ſon - dern nach Zweck und Abſicht.
Und wie er ſchrieb, ſo handelte der koͤnigliche Juͤngling. Sobald er, welches ihm ſehr ſchwer ward, das Zutrauen Lud - wigs gewann, veranlaſſete er Berichte aus allen Provinzen des Landes nach Punkten, die er ſelbſt aufgeſetzt hatte, die allenthalben ins Einzelne gingen und zeigten, daß der Kronerbe alle Bedruͤckniſſe des Reichs in allen Staͤnden Claſſenweiſe kannte. Als Feldherr hatte er im Kriege ſie kennen gelernt, und er beſaß gerade den eiſernen Fleiß, die unerſchuͤtterliche Ste - tigkeit des Willens, dieſen Uebeln auf den Grund zu kommen und ihnen einmal, we - nigſtens Theilweiſe, abzuhelfen.
Die Berichte liefen ein, zwei und vierzig Baͤnde in Folio; und die Be - ſchwerden, die Maͤngel und MißbraͤucheH 5122uͤberſtiegen den Begriff des Redacteurs, des bekannten Grafen Boulainvilliers ſo weit, daß er ſie ſich dem Prinzen nicht vorzulegen getraute. Dieſer aber las doch, las dabei die eingeſchickten einzelnen Kla - gen, Beſchwerden und Verbeſſerungsvor - ſchlaͤge, mit dem großen Grundſatz: „ daß „ wenn in einem ganzen Bande chimaͤriſcher „ Speculationen ſich auch nur Eine nuͤtz - „ liche Beobachtung faͤnde, man die Zeit „ nicht bedauern muͤſſe, die man aufs Le - „ ſen verwandt hat. “ Die Mittel, dieſen Verderbniſſen abzuhelfen reiften in der ſtillen Seele des Prinzen — —
Und nun? Trauren Sie, meine Freunde; die muntre Gemahlin des Prinzen, die er zaͤrtlich liebte, ſtirbt, von den Aerzten hin - gerichtet; innerhalb ſechs Tagen ſtirbt der Prinz ihr nach, im dreiſſigſten Jahr ſeines bluͤhenden Lebens. Leſen Sie die Geſchichte123 ſeiner Krankheit, den Eigenſinn Ludwigs dabei, das Ende des Prinzen; unwiſſend Ihrer wird eine Thraͤne in Ihr Auge treten, und was wird dabei Ihr Wort ſeyn? Fenelon ſagte, als er die traurige Nach - richt vernahm: „ Meine Bande ſind geloͤ - ſet; nichts haͤlt mich mehr an der Erde. “ Ludwig dagegen ſagte „ ich preiſe Gott fuͤr die Gnade, die er ihm geſchenkt hat, ſo heilig zu ſterben, als er lebte. “ Der Koͤ - nig ertrug, (ſo ſagt ein Geſchichtſchreiber,) alles als Chriſt, glaubte daß Gott das Reich um der Suͤnden willen ſeines Koͤni - ges ſtrafe, betete ſeinen Richter an, und keine Klage entfuhr ihm —
Wir, die wir keine Koͤnige ſind, duͤrfen keine ſo erhabne Gleichguͤltigkeit aͤußern. Wir koͤnnen aufrichtig und herzlich bedau - ern, daß die Vorſehung dem zu Grunde gerichteten Reich einen ſo gepruͤften, ſo124 veſten, ſo thaͤtigen Koͤnig, auch nur auf funfzehn oder zwanzig Jahre zu ſchenken nicht genehmigte. Haͤtte er in dieſen nur den hundertſten Theil ſeiner reifgewordenen Entſchluͤſſe ausgefuͤhrt, und nur den tau - ſendſten Theil der Uebel, deren er ſich erbarmte, gehoben; wie anders waͤre der Zuſtand und die Geſchichte Frankreichs ſeit einem Jahrhunderte geworden! — Nun aber kam nach wenigen Jammervollen Jahren ſtatt unſres Bourgogne der Held aller Ausſchweifungen Orleans, und ſtatt des Staatsklugen Fenelons der ruchloſeſte der Menſchen, Du Bois ans Ruder. Die ewige Unmuͤndigkeit Ludwig des Vielgeliebten folgte, und wie es ſeitdem in Frankreich beſchaffen ge - weſen, iſt Welt - und Staatskundig. Die Memoirs von St. Simon, Du Clos, Richelieu, du Terray u. f. fuͤhren uns125 in einen ſo tiefen Abgrund von ungebun - dener Luͤderlichkeit, und frevelhafter Unord - nung, daß Jude, Chriſt, Heide und Tuͤrk uͤber das Reſultat aͤußerſt beſorgt und zu - gleich ſehr einig ſeyn mußten — —
Was iſt hierauf zu ſagen? Gegen die Vorſehung zu murren, waͤre albern: denn wenn wir ſie auch zur eigenthuͤmlichen Schutzgoͤttinn Frankreichs und der Bour - bons perſonificirten, ja ihr dabei die Waage des Jupiters auf Ida ſelbſt in die Hand gaͤben; in die Eine Schaale legt ſie die Graͤuel der alten veſtgewurzelten Reichs - verwaltung, einen ungeheuren Berg; in die andre Schaale den jungen, von ihr gelieb - ten Kronerben. „ Was kann Er zu dieſem Gebirge thun? wird er nach wenigen Jah - ren es vielleicht noch thun wollen? Er entſchlafe alſo, den Tod eines Heiligen, eines von Gott geliebten, und es gehe der126 Ordnung der Dinge nach, nach welcher der fortgerollte Schneeball waͤchſt, bis er ſchmilzt, die Graͤuel ſich thuͤrmen, bis ſie das Gleichgewicht verlieren.
Wir ſind alſo auch des Glaubens vom großen Ludwig, „ qui ſouffrit tout en Chre - „ tien, il crut, que Dieu puniſſoit le Ro - „ yaume des faults de ſon Roi: il adora ſon „ Juge; nulle plainte ne lui echappa; “erinnern uns dabei aber jenes alten Ju - dengottes, der mit unkoͤniglichem Bedau - ren ſprach: Dich jammert des Kuͤrbis; und mich ſollte nicht jammern u. f. Leſen Sie die Worte ſelbſt im unruhigen emigrirten Propheten. Jonas 4, 10-12.
127Eine Ode von Sarbievius.
Die Griechiſche Philomele iſt noch nicht verſtummt; auch hat ſie ihren Schmerz noch nicht vergeſſen. Sie klagt das Unrecht, das ihr von Menſchen geſchah und erweicht mit ihrem Geſange das Herz, ſich von gleichem Unrecht zu enthalten.
Als ihre Schweſter, die Schwalbe, ſie aus der Einſamkeit des Waldes in die Ge - ſellſchaft, in die Haͤuſer der Menſchen ſchmeichelnd einlud:
Vierte Samml. I130Am liebſten nimmt dieſe alte Philomele an den ſtummen Klagen der Menſchen Theil, die ſich ihrer Einſamkeit nahen. Sie bemerkt die Minen ihres verſchwiege - nen Grams, den ſie ſelbſt einſt ihrer Schwe - ſter nur in ſtummen Bildern entdecken konnte; ſeit ihr die Goͤtter ihre Stimme wiedergaben, gebraucht ſie dieſelbe alſo am131 liebſten zum Troſt des Sprachloſen Kummers der Menſchheit.
Einen ihrer Geſaͤnge belauſchte ich neu - lich zu einer Zeit, da Nachtigallen ſonſt ſchweigen, und theile Ihnen ſolchen, wie ihn ein Freund aufſchrieb, mit:
Waͤren Kraͤnze der Belohnung in meiner Hand: ſo ſollten mir außer den Einrich - tungen, die das Beduͤrfniß fodert, beſon - ders auch die Bemuͤhungen werth ſeyn, die den gehaͤſſigen Wahn der Menſchen un - vermerkt zerſtreuen, und geſellige Humani - taͤt befoͤrdern. Nichts iſt dem Wohlſeyn der lebendigen Schoͤpfung ſo ſehr entgegen, als das Stocken ihrer Saͤfte; nichts bringt den Menſchen tiefer hinab, als ein trauri - ger Stillſtand ſeiner Gedanken, ſeiner Be - ſtrebungen, Hoffnungen und Wuͤnſche.
Alſo auch die Schriftſteller, die uns von der Stelle bringen, die das plus ultra aufI 5138leichte und ſchwerere Weiſe ausuͤben, geſetzt, daß ſie auch keine neuen großen Reſultate erjagten, waͤren mir ſehr gefaͤllig. Ein Menſch, der ſich um Wahrheit bemuͤhet, iſt immer Achtenswerth, wer bei unſchuldi - gen Beſtrebungen nur Zwecke hat, iſt nie veraͤchtlich, geſetzt, daß dieſe auch bei wei - tem nicht Endzwecke waͤren. Denn was iſt Endzweck in der Welt? wo liegt das Ende? Jedes gute Beſtreben aber hat ſeinen Zweck in ſich.
Moͤgen die Philoſophen alter und neuer Zeiten keine einzige Wahrheit ausgemacht haben, (welches doch ohne Wortſpiel nicht behauptet werden kann) gnug, ſie beſtreb - ten ſich um Wahrheit. Sie erweckten den menſchlichen Verſtand, hielten ihn im Gange, fuͤhrten ihn weiter; alles, was er auf die - ſem Gange erfunden und geuͤbt hat, haben wir alſo der Philoſophie zu danken, wenn139 ſie gleich ſelbſt nichts haͤtte erfinden koͤnnen und moͤgen. Der philoſophiſche Geiſt iſt ſchaͤtzbar; die ausgemachte Meiſter-und Zunftphiloſophie bei weitem nicht ſo ſehr, ja ſie iſt dem Fortdringen oft ſchaͤdlich.
Inſonderheit iſt der philoſophiſch - moraliſche Geiſt, der die Sitten der Menſchen betrachtet, ihre Farben ſcheidet, und wenn ich ſo ſagen darf, ihr Inneres auswaͤrts kehrt, eine wahre Gabe des Him - mels, ein unſerm Geſchlecht unentbehrliches Gut. Stimme man nicht das alte Lied an: „ Menſchen ſind Menſchen! ſie ſind, „ was ſie waren, und werden bleiben was „ ſie ſind. Hat alle Moralphiloſophie ſie „ gebeſſert? “ Denn dieſem faulen truͤbſin - nigen Wahn ſtehet mit nichten die Wahr - heit zur Seite. Wenn wir auch nicht zum Ziel gelangten, muͤſſen wir deßhalb nicht in die Rennbahn? Ja wenn das Ziel der140 Vollkommenheit auch nicht zu erreichen waͤre, und je naͤher wir ihm zu kommen ſcheinen, immer weiter von uns ruͤckte, haben wir deßhalb nicht Schritte gethan? haben wir uns nicht beweget? Was waͤre das Menſchengeſchlecht, wenn keine Ver - nunft, keine Moralphiloſophie von ihm geuͤbt waͤre?
Vor andern ſcheinen mir die Morali - ſten Wuͤnſchenswerth, die uns mit uns ſelbſt in ernſte Unterhandlung zu bringen vermoͤgen, und uns auf eine ſcherzende Weiſe durchgreifende Wahrheit ſagen. Ich laſſe der Akademie und Stoa ihren heiligen Werth; Plato und Mark-Aurel nebſt ihren Genoſſen werden dem Menſchen, dem ſeine Bildung Ernſt iſt, immer und immer Schutzgeiſter, Fuͤhrer, warnende Freunde bleiben; wenn aber z. B. Horaz auf eine ernſthaftſcherzende Weiſe ſich ſelbſt zum141 Gegenſtande der Moral macht, wenn er an ſich und an ſeine Freunde im Ton der Vertraulichkeit mit leichter Hand das ſchaͤrf - ſte Richtmaas leget, und die Heuchelei, den Aberglauben, den Sittenſtolz, den Wahn und Duͤnkel von uns lieber fortlaͤchelt als fortgeiſſelt, wenn er an ſich und andern zeigt, daß man nicht im Aether hoher Maximen ſchweben, ſondern auf der Erde bleiben und taͤglich in Kleinigkeiten auf ſeiner Hut ſeyn muͤſſe, um nicht mit der Zeit ein Unmenſch zu werden; wer kann dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er, damit ſeine zarten Sittengemaͤlde der Nach - welt werth wuͤrden, auf ſie als auf wirk - liche Kunſtwerke gewandt hat? Dieſe Kunſt - werke ſind nicht nur lebendig, ſondern auch belebend; ihr moraliſcher Geiſt geht in uns uͤber; wir lernen an ihnen nicht dichten, ſondern denken und handeln.
142Jedem, der ſich mit Horaz fuͤr andre wuͤrdig beſchaͤftigen konnte, moͤchte ich, wenn Verdienſt ſich beneiden ließe, ſein Verdienſt beneiden. Auch unſer Deutſche Ueberſetzer der Briefe und Satyren dieſes Dichters, Wieland, hat vorzuͤglich durch den Com - mentar derſelben, jedem feineren Menſchen eine belehrende Schule der Urbanitaͤt eroͤf - net. Was Shaftesburi in ſeinen Schriften fuͤr den Roͤmiſchen Dichter uͤber - haupt iſt, deſſen moraliſche Kritik ſich bei ihm allenthalben aͤußert; das iſt unſer Ueberſetzer im ſchwereren Einzelnen, fuͤr Juͤnglinge ſowohl als fuͤr Maͤnner.
Nach der langen Nacht der Barbarei brach endlich auch unter den Europaͤiſchen Voͤlkern fuͤr die feinere Moral eine Mor - genroͤthe an. Die Provenzalen und Ro - mandichter der mittleren Zeiten waren ihre Vorboten; Weiber und Maͤnner aus allen,143 auch den vornehmſten Staͤnden, ſuchten die Philoſophie des Lebens wieder in die Welt einzufuͤhren, und ſtreueten ihr wenigſtens Blumen. Sie erſchien endlich, dieſe Phi - loſophie, unter mehreren Nationen; und jeder Tritt ſoll uns heilig ſeyn, wo ſie ge - wandelt. Sollte das boͤſe Schickſal es wollen, daß ganze Laͤnder Europa's, (ver - huͤte es der gute Genius der Menſchheit!) wieder in die Barbarei verſaͤnken: ſo wol - len wir, die an den Graͤnzen des Abgrun - des ſtehen, die Namen und Schriften De - rer, die einſt der Humanitaͤt dienten, um ſo heiliger bewahren. Sie ſind uns als - dann Reſte einer verſunkenen Welt, Reli - quien zerſtoͤrter Heiligthuͤmer.
Du guter Montaigne, ihr Dichter und Schriftſteller voriger ruhiger oder ſtuͤr - miſcher Zeiten Frankreichs, und ihr, die ihr guter Genius bei Zeiten hinweg rief,144 Rouſſeau, Buffon, D'Alembert, Diderot, Mably, Du-Clos; was ihr und eure Genoſſen der Menſchheit Gu - tes erwieſen, iſt ein Gewinn fuͤr alle Voͤlker.
Die Britten haben durch das was ſie humour nennen, die Fehler des humour's ſelbſt dargeſtellt, und dadurch die Unregel - maͤßigkeiten, das Ausſchweifende und Ueber - triebne in menſchlichen Charakteren dem Gelaͤchter Preisgeben, dem moraliſchen Ur - theil ins Licht ſetzen wollen. Da uns Deutſchen dieſer humour, (leider oder Gott - lob?) fehlet, indem unſre Thoren meiſtens nur abgeſchmackte Thoren ſind: ſo iſts fuͤr uns, in dieſen fremden Spiegel zu ſehen, gewiß keine unnuͤtze Beſchaͤftigung. Der Fluͤgelmann exercir[t]vorſpringend, damit der Soldat im Gliede, und der ſteife Re - krut exerciren lerne.
Aeußerſt145Aeußerſt Deutſch waͤre es aber, wenn wir dieſe Uebertreibungen fuͤr Schoͤnheit nehmen und Shakſper's, Addiſon's, Swift's, Fielding's, Smollet's Sterne's humoriſtiſche Figuren als Vor - bilder des moraliſchguten Geſchmacks an - ſehen wollten. Dichter und Ueberſetzer waͤren an dieſem Stumpfſinn wenigſtens ſehr unſchuldig.
Dank alſo auch jedem guten Ueber - ſetzer guter brittiſchen Humoriſten. Und wir wiſſen alle, wem wir in Deutſchland vorzuͤglich hiebei Dank zu ſagen haben, dem Ueberſetzer Yoriks, Sterne, Fiel - ding's, Smollets, Goldſmith's, Cumberlands, u. f. Die Bode'ſchen Ueberſetzungen der empfindſamen Rei - ſen, des Triſtram-Shandy, Tho - mas Jones, Humphrey Klinkers, des Landprieſters von Wackefield,Vierte Samml. K146des Weſtindiers ſind in Aller Haͤn - den.
Fuͤr unſer Nordiſches, angeſtrengtes und bedruͤcktes Leben ſind uͤberhaupt alle Schriften wohlthaͤtig, in denen unſer Geiſt abgeſpannt, erweitert und milde gemacht wird. Immerdar ſich zu ſpornen, andre zu treiben und von ihnen ſich bedraͤngt zu fuͤhlen, iſt der Zuſtand eines Tageloͤhners, geſetzt daß wir ihn auch mit dem Titel eines Strebens nach hoͤchſter Vollkom - menheit in unablaͤßigem Eifer aus - ſchmuͤcken wollten. Die menſchliche Natur erliegt unter einer raſtloſen Anſtrengung; waͤhrend der Ruhe, waͤhrend des Spiels Zwangloſer Uebungen gewinnt ſie Mun - terkeit und Kraͤfte. Selten geht der un - ablaͤßige Eifer anders wohin aus, als auf Schwaͤrmerei und Uebertreibung, die durch nichts zurecht gebracht werden kann, als147 durch eine Darſtellung deſſen was ſie iſt, durch eine leichte froͤliche Nachahmung ih - rer eignen Charaktere. Da lacht der Thor, falls er noch lachen kann, uͤber ſich ſelbſt; und im leichteſten Spiel findet man, wie Leibnitz meint, die ernſteſte Wahrheit.
K 2148Statt einer langen Anmerkung erlaube der Leſer mir hier eine Stelle mitten unter fremden Briefen.
Der Mann, an den zu Ende des vor - ſtehenden Briefes mit dem verdienten Lobe gedacht war, war mein Freund, und er iſt nicht mehr. Eben da ich dieſen Brief zum Druck uͤberſehe, wird ſeine Leiche begraben; aber ein Theil ſeines Geiſtes, und ſeine redliche Muͤhe wird, hoffe ich, in unſrer Sprache noch fortleben, ſo wie ſein An - denken im Herzen ſeiner Freunde.
149Bode war mehr als Ueberſetzer; er war ein ſelbſtdenkender, ein im Urtheil ge - pruͤfter Mann, ein redlicher Freund, im Umgange ein geiſtiger, froher Geſellſchaf - ter. Und doch war ſein Charakter noch ſchaͤtzbarer, als ſein Geiſt; ſeine biedern Grundſaͤtze waren mir immer noch werther, als die ſinnreichſten Einfaͤlle ſeines mun - tern Umganges. Er hatte viel erlebt, viel erfahren; in ſeinen mannichfaltigen Ver - bindungen hatte er Menſchen aus allen Staͤnden von Seiten kennen gelernt, von denen wenige andre ſie kennen lernen, und wußte ſie zu ſchaͤtzen und zu ordnen.
Die Schwaͤrmerei haſſete er in jeder Maske, und war ein Freund ſo wie der gemeinen Wohlfahrt, ſo auch des wahren Menſchenverſtandes. Der betruͤgenden Heu - chelei entgegenzutreten war ihm keine Muͤhe verdrießlich; gern opferte er dieſem Ge -K 3150ſchaͤfte Zeit, Koſten und Seelenkraͤfte auf, die er ſonſt abwechſelnder, vielleicht auch eintraͤglicher haͤtte anwenden moͤgen. Viele ſeiner Freunde in mehreren Provinzen Deutſchlands kennen ihn von dieſer Seite; und wer einer ſtandhaften Muͤhe in redli - cher Abſicht Gerechtigkeit wiederfahren laͤßt, wird das Verdienſt eines Mannes ehren, der in ſeinem ſehr verbreiteten Kreiſe vie - lem Boͤſen widerſtand, und in ſeiner Art, (nicht politiſch!) ein Franklin war, der durch die Mittel, die in ſeiner Hand la - gen, der Menſchheit nichts als Gutes ſchaffen wollte, und gewiß viel Gutes ge - ſchafft hat. Großmuth war der Grund ſeines Charakters, den er in einzelnen Faͤllen mehrmals erwieſen; nach ſolchem nahm er ſich inſonderheit der Verlaſſenen, junger Leute, vergeſſener Armen, der Ge - kraͤnkten, der Irrenden an, und war, faſt151 uͤber ſeine Kraͤfte, ein ſtiller Wohlthaͤter der Menſchheit.
Auch ſeine Ueberſetzungen hatten dieſen Zweck, und ſein Fleiß dabei war unermuͤ - det. Er bewarb ſich bei ihnen ſowohl um die Eigenthuͤmlichkeit des Gedankens, als des Ausdrucks; mithin arbeitete er in bei - den Sprachen. Er, Leßings Freund und bei einer Schrift ſein Mituͤberſetzer, wollte nie ein Sprachverderber, wohl aber mit Urtheil und Pruͤfung ein Erweiterer der Sprache werden. Die falſchen Nachah - mungen in ſeiner Manier haſſete er eben ſowohl als die Nachaͤffungen der Charak - tere, die er dem Deutſchen Publikum ver - ſtaͤndlich machte; er uͤberſah und uͤberſetzte ſein Buch als ein Mann von geſundem Verſtande.
Ein ſchaͤtzbares Geſchenk, das er uns haͤtte geben koͤnnen, waͤre die Beſchrei -K 4152bung ſeines eignen Lebens geweſen. Schonend und bieder ſagte er aber: „ Von meiner Seite wuͤrde es anmaaſſend ſchei - nen; andre wuͤrde es compromittiren. Ich will in Friede ſchlafen. “
Und ſo ſchlafe er denn in Friede! Sein Ende kam, wie ſeine Freunde es wuͤnſch - ten, ohne langwierige Krankheit; faſt bis an ſeinen Tod hin war er unverdroſſen ge - ſchaͤftig. Viele Gute halten ihn werth. Unweit dem Kuͤnſtler Kranach liegt er begraben.
Als ich in Ihren Briefen die Fragmente uͤber die Humanitaͤt Homers in der Iliade las, fiel mir ein Schriftſtel - ler ein, der vor Jahren nicht recht nach meinem Sinne geweſen war, Thomas Gordon uͤber den Tacitus*)Das Engliſche Original kenne ich nicht. Die Franzoͤſiſche Ueberſetzung heißt: Discours hiſtoriques, critiques et politiques ſur Ta - cite p. Gordon. Amſt. 1742. Die Deutſche hat den unfoͤrmlichen Titel: Die Ehre der Freiheit der Roͤmer und Britten nach Gor - dons Staatsklugen Betrachtungen uͤber den Tacitus. Nuͤrnberg, 1764. A. d. H.. InK 5154der Jugend muß man keine politiſche Be - trachtungen, weder Gordon noch Taci - tus leſen; ſie machen uns eine zu ernſte, zu ſaure Mine. Man ſiehet die Welt alsdann noch gern von der froͤhlichen Seite an und haſſet den gruͤbelnden Tadel.
Ueber den Tacitus aͤnderte ſich mein Urtheil, als ich ihn in reifern Jahren las. Ich kam davon zuruͤck, daß er ein Sauer - topf ſei, der uͤble Geruͤchte und politiſche Gruͤbeleien zuſammengemiſcht haͤtte, (ein gemeines, aber aͤußerſt falſches Urtheil;) wie ſehr wuͤnſchte ich, Ihnen auch den Areopagiten Gordon, frei von ſeinen Schlacken, (Brittiſchen Vergleichungen und Epanorthoſen) bloß als einen lichten und leichten Verſuch uͤber die Humanitaͤt des Tacitus zuſenden zu koͤnnen! Nicht leicht hat ein Schriftſteller ſo viele Gemuͤ - ther tiefer an ſich gezogen, als dieſer Roͤ -155 mer; wer ihn ſtudirte, ward mit Geiſt und Sinn der Seine. Daher ſo viele Com - mentatoren des Tacitus; je redlicher es je - mand meinte, je mehr er die politiſche Welt aus eigner Erfahrung kennen gelernt hatte, deſto mehr liebte er den alten Ge - ſchichtſchreiber und ward gar ſelbſt ſein Commentator.
Was Gordon uͤber des Tacitus Cha - rakter, uͤber ſeine Denkart, ſeine Beſchrei - bungen, ſeine Grundſaͤtze, ſeine Moral, endlich uͤber ſeine Schreibart behauptet, ſagt eher zu wenig, als zu viel; ſo man - ches auch die lateiniſchen Styliſten, ſelbſt der gute Lord Monboddo dagegen ein - zuwenden haben moͤchten*)Vor der Zweibruͤcker Ausgabe des Tacitus iſt Crollius lange Vorrede uͤber dieſe Materie ſehr ſchaͤtzbar. A. d. H. Nach allen156 Voruͤbungen, die wir im Deutſchen als Verſuche ſeiner Ueberſetzung gemacht haben, wuͤnſche ich eine wahre Ueberſetzung deſſelben; mich duͤnkt, unſre Sprache ſei dazu vor allen andern faͤhig.
Als Proben von der edlen Denkart des Tacitus fuͤhrt Gordon ſchoͤne Stellen an, z. B. wie Hermanns Gemahlin, durch Ver - rath gefangen, unter andern edeln Frauen vor Germanikus gefuͤhrt wird: „ Segeſts „ Tochter, doch gleichgeſinnter dem Gemahl „ als dem Vater. Auch uͤberwunden kannte „ ſie keine Thraͤnen, kein flehendes Wort; „ ſie hatte die Haͤnde uͤber ihren ſchwan - „ gern Leib zuſammengeſchlagen und ſah „ auf ihn nieder. “ Wie Germanikus dem Teutoburger Walde nahend, in welchem die Gebeine des Varus und ſeiner Legio - nen noch unbegraben lagen, nun herzlich verlangt, dem erſchlagenen Heerfuͤhrer und157 ſeinem Heer der Menſchheit letzte Pflicht zu leiſten. „ Da jammern alle, die mitwa - ren, uͤber Verwandte, Freunde, uͤber Kriegs - unfaͤlle, uͤber der Menſchen Schickſal. Sie kommen an den traurigen Ort; ſie ſehen Varus Lager, die Ueberbleibſel derer, die zuruͤckgedraͤngt Rettung hatten ſuchen wol - len, endlich das Feld voll weißer Gebeine, wie ſie geflohen und geſtanden, aus einan - dergeſprengt und an einander gedraͤngt geweſen waren; neben an lagen zerbrochene Spieße, und Pferdeglieder; an Baumſtaͤm - men waren angenagelte Koͤpfe; nahan im Walde ſtanden die barbariſchen Altaͤre, auf welchen Tribunen und Centurionen ge - blutet hatten. Und die dieſer Schlacht, die der Gefangenſchaft entkommen waren, erzaͤhlten: „ Hier fielen die Anfuͤhrer der „ Legionen, dort wurden die Adler erbeu - „ tet; hier bekam Varus ſeine erſte Wunde;158 „ dort gab er ſich mit ungluͤcklicher Rechte „ ſelbſt den Tod. Auf dieſer Hoͤhe ſtand „ Hermann und ſprach den Seinigen Muth „ zu; hier die Galgen, woran er die Ge - „ fangenen knuͤpfen, dort wo er die Adler „ und Feldzeichen verhoͤnen ließ. “ Nach ſechs Jahren alſo begrub eine Roͤmiſche Armee ihre drei Legionen, und keiner kannte, wen er begrub, ob ſeinen Ver - wandten, ob einen Fremden? Jeder ward als Blutsfreund, als Verbuͤndeter beſtattet, mit deſto groͤßerem Zorn gegen den Feind, aufgebracht und traurig. “
So fuͤhrt Gordon die ſchoͤne Stelle uͤber Tiberius an: „ Seine Unthaten und Laſter wurden ihm ſelbſt zur Marterſtrafe: denn vergebens habe der weiſeſte Alte nicht geſagt, daß wenn man ſolcher Unmenſchen Inneres aufſchlieſſen koͤnnte, und Striemen und Wunden der Seele auch ſichtbar waͤ -159 ren, wie Wunden des Koͤrpers, man ihr Gemuͤth nicht anders, als von Grauſam - keit, Wohlluſt, und uͤbeln Rathgebern zer - fleiſcht erblicken koͤnnte. “
Dergleichen Stellen fuͤhrt Gordon meh - rere an. Aber was ſind ſie außer dem Zuſammenhange der Geſchichte, die ihnen eigentlich Urkunde und Beleg iſt? Die letzte Stelle z. B. beziehet ſich auf des Ti - berius meiſterhaften, kurzen Brief an den Roͤmiſchen Rath: „ was ich Euch ſchreiben ſoll, meine Herren, oder wie ich ſchreiben oder was ich Euch jetzt nicht ſchreiben ſoll; alle Teufel moͤgen mich holen, (die mich taͤglich und ſtuͤndlich plagen,) wenn ich das weiß! “ Da konnte Tacitus hin - zuſetzen: „ weder Gluͤck, noch Einſamkeit konnten den Tiberius ſchuͤtzen, daß er die Quaal ſeiner Bruſt, und die Strafe, die er an ſich ſelbſt litt, nicht ſelbſt bekennte. “
160Soll ich Ihnen von Gordon mehr erzaͤh - len? Nur ſeine Capitel will ich herſchrei - ben. „ Von Caͤſars unrechtmaͤßigem Beſitz der Herrſchaft, und warum deſſen Name weniger als des Ca - tilina Name gehaͤſſig iſt? Von Oc - tavius-Auguſtus Raͤnken, ſeinem rachſuͤchtigen Gemuͤth, ſeinem Mein - eide, Grauſamkeiten, und den Be - gebenheiten, die zu ſeinem großen Namen beitrugen. Von der Liebe des Volks und Rathes, die er ſich zu erwerben ſuchte. Von der Ehre, mit welcher ihm die Dichter ge - ſchmeichelt. Von dem falſchen Glanz, den ſeine Nachfolger ihm verſchafft haben. Vom Kaiſerregi - ment. Vom Majeſtaͤtsgeſetz. Von Anklagen und Angebern. Von der allgemeinen Entehrung der Gemuͤ -ther,161ther, und von der Schmeichelei, die eine unumſchraͤnkte Regierung be - gleiten. Vom Geiſt der Hoͤfe. Ueber Armeen und Eroberungen. Ueber die Kaiſer, deren Geſchichte Taci - tus beſchreibt, uͤber ihre Miniſter, ihre Ungluͤcksfaͤlle, und die Urſa - chen ihres Sturzes. Ueber die Be - ſtechung der Miniſter. Von Finan - zen, Volk, Adel, dem Aberglau - ben der Regenten u. f. —
Ein ganzes Staatsſyſtem mit zahlrei - chen Beiſpielen und Spruͤchen aus Tacitus belegt; zwar nicht im ſcharfſinnigen Welt - geſchmack des Machiavells, deſto mehr aber, und bis zum Uebermaaße, mit aller Waͤrme eines ehrlichen, das Beſte wollenden Mannes gezeichnet. Dide - rot rechnete Gordon unter ſeine liebſten Schriftſteller; ſchaden wenigſtens wird erVierte Samml. L162Niemanden, und muntert ſehr zum eignen, verſtaͤndigen Leſen des Tacitus an. Haͤtte er damit nicht ſeinen Zweck erreichet?
O daß wir den Tacitus ganz haͤtten! Warum muͤſſen ſeine Jahrbuͤcher gerade mit dem Tode des edlen Thraſea, ſeine Ge - ſchichtbuͤcher eben vor Veſpaſian aufhoͤren? Seiner Germania wegen iſt Deutſchland ihm beſondern Dank ſchuldig; und vielleicht hat keine Europaͤiſche Nation mehr Urſache als ſie, in Tacitus Manier ihre Geſchichte nach der vortreflichen Grundlage, die er von Deutſchland ſelbſt gemacht, fortzuſchreiben. Schenkte uns indeſſen nur ein zweites Klo - ſter Corvei den ganzen Tacitus und in Ab - ſicht Deutſchlandes ſeinen Geſellen, den Plinius wieder!
Wie? wenn ich Ihnen fuͤr Ihren Schot - tiſchen Gordon einen Deutſchen Commen - tator des Tacitus nennte, der Jenem an der Seite zu ſtehen wohl werth, aber deſto unbekannter, deſto ungeſchaͤtzter iſt? Die bloßen Grammatiker haben von ſeinen An - merkungen uͤber dieſen Roͤmer ſehr zuruͤck - ſetzend geſprochen; ſie ſind aber voll Kennt - niß der Geſchichte, voll Lebens - und Ge - ſchaͤftserfahrung, dabei mit ſo Deutſcher Treue und Biederkeit, vor mehr als hun - dert Jahren geſchrieben, daß ſie fuͤr uns endlich doch ein lehrreiches Buch werden koͤnnten. Es ſind die ſogenannten politiſchenL 2164Anmerkungen uͤber Tacitus vom Moͤmpelgardſchen Geheimenrath Forſt - ner*)Chriſtoph. Forſtneri notae politicae ad C. Tacitum. Argent. 1650. .
Moſer hat ſich um dieſen Mann ver - dient gemacht, daß er ſeine Lebensgeſchich - te, ſo gut er ſie haben konnte, in ſein pa - triotiſches Archiv aufnahm. Eine Reihe Briefe deſſelben kennen Sie aus einer an - dern nuͤtzlichen Sammlung**)le Brets Magazin zur Geſchichte. A. d. H.. Wie? wenn Jemand, jedoch mit Auswahl und Zuſammenſtellung, Forſtners Gedanken uͤber Tacitus uͤberſetzte, und Friedrich Carl Moſer ſie auch nur mit Wenigem commentirte; ſo kaͤme dieſer Reichthum beſcheidener, gepruͤfter Gedanken doch ei - nigermaaßen in Umlauf.
165Ueberhaupt warum liegen die Betrach - tungen verdienter Deutſcher Staatsmaͤnner voriger Zeiten bei uns ſo tief im Dunkel? Englaͤnder, Franzoſen und Italiaͤner haben die Ihrigen ſchoͤn aufgeputzt; Wir ſtehen hierinn faſt hinter Polen und Ungarn. Und doch iſt das Geſchaͤft - und Gedanken - reich verdienter, Sachkundiger Maͤnner einer Nation gleichſam der Stamm, ohne welchen ſie kaum eine Nation, geſchweige ein durchdachter, durch empfundener Staats - koͤrper genannt zu werden verdienet. Die geographiſchen Graͤnzen allein machen das Ganze einer Nation nicht aus; ein Reichs - tag der Fuͤrſten, eine gemeinſchaftliche Sprache der Voͤlker bewirken es auch nicht allein; ja letztere iſt in Deutſchland den Provinzen nach ſo verſchieden; (große Striche ſprechen ganz und gar eine fremde Sprache, ganze Claſſen der Menſchen neh -L 3166men an Gedanken gar keinen Theil,) daß, wenn man dies alles zuſammenhaͤlt, man es den Magiſtern nicht uͤbel nehmen kann, wenn ſie pro gradu noch bis jetzt uͤber das Thema diſputiren: „ welche Regimentsver - faſſung Deutſchland habe? oder ob die Deutſchen eine Nation ſeyn? “ Die ſpot - tenden Urtheile der Auslaͤnder hieruͤber, auch wenn ſie unſerm Fleiß, unſrer Treue, unſrem Biederſinn Gerechtigkeit wiederfah - ren laſſen, ſind bekannt. Sollte es alſo nicht der geringſte Dank ſeyn, den man dem verſtorbenen Diener erweiſet, daß man mit ſeinen Dienſtleiſtungen auch die Gedanken, deren er ſich dabei erkuͤhn - te, der Nachwelt nicht entziehe? Wenig - ſtens bilden ſodann doch die treuen Die - ner eine Kette, die Jahrhunderte durch - reicht, und an die ſich neue treue Die - ner anſchließen moͤgen. Das Jahrhun -167 dert der Reformation erlaubte ſich noch, auch uͤber vaterlaͤndiſche Sachen laut zu denken; ſeitdem ward Alles Rang, Form und Stand, oder ging, ſobald es ein eig - ner Gedanke ſchien, in die Archivgraͤ - ber.
Daher dann, daß uns eine Geſchichte Deutſchlandes ſo lange gefehlt hat, und in manchen Theilen noch lange fehlen wird. Daher, daß unſer Sleidan keine Aus - gabe wie der Franzoͤſiſche Thuan erlebt hat, und unſre Mevii, Verſtandreich wie ſie ſind, den Montesquieu's, Claren - don's, Sarpi's andrer Nationen an Ruhm, Glanz, allgemeiner Bekanntſchaft und Schaͤtzung wohl nachſtehen muͤſſen. Daher, daß die Mozambano's, die a Lapide unter beſonderm Schutz, immer alſo halbpartheiiſch ſchreiben, wohl gar in fremde Laͤnder gehn, oder Fremde ſeynL 4168mußten. Daher endlich, daß die beſten Schriften dieſes Faches in Deutſchland Vergleichungsweiſe wenig oder keine Wir - kung thun: dem oft iſt mit jeder dritten Meile das politiſche Intereſſe der Deut - ſchen Provinzen geaͤndert.
Weit entfernt bin ich, hiemit eine Staatskluͤgelei nach Deutſchland zu wuͤn - ſchen, die Gottlob unſer Charakter nicht iſt, und die jedem Volk verderblich gewe - ſen. Raiſonnirte Geſchichte aber, raiſonnirte Erfahrungen des Le - bens aus allen Staͤnden, in allen Ver - haͤltniſſen und Aemtern muß Jedermann wuͤnſchen. Durch die Vernunft lebt der Menſch, ob er gleich vom Brote lebet; die oft theuer erworbene Summe von Gedan - ken und Erfahrungen unſres Lebens iſt auch ein Beſitz, und jedes Glied des Staats gehoͤrt dem Ganzen nicht nur durch169 das, was es mechaniſch that, ſondern auch durch das, was es bei dieſem mechaniſchen Thun dachte. Schweigen verſtaͤndige Leute, ſo redet der Thor; der ſpricht ſodann deſto unbeſonnener und lauter.
Mich duͤnkt, in Deutſchland war zu neueren Zeiten Moſer der Erſte, der in dieſer Art freimuͤthiger und beſcheidner Biederkeit ein Beiſpiel gab. Stellet man ihn mit aͤltern Deutſchen ſogenannten Staatsmaͤnnern, Kulpis, Reinkingk, Veit Seckendorf zuſammen, welch ein Unterſchied! gewiß nicht zu ſeinem Nach - theil. Sein Herr und Diener, ſeine Beherzigungen, Reliquien, pa - triotiſche Briefe, ſein Schutt zur Wegebeſſerung und was fuͤr Einklei - dungen er ſonſt gewaͤhlet, ſind einestheils mit einer ſo treffenden Wahrheit, andern - theils mit einer Herzlichkeit geſchrieben, alsL 5170ob der Verfaſſer einmal Luthers Freund und Amanuenſis geweſen waͤre. Zuͤge der Beredſamkeit ſind in ihm, deren ſich mancher brittiſche Parlamentsredner nicht ſchaͤmen duͤrfte; und Alles huͤllet ſich end - lich in den Mantel der Deutſchen Beſchei - denheit und Demuth. Sein patrioti - ſches Archiv enthaͤlt treffliche Sachen; ſo wie durchaus keiner ſeiner Aufſaͤtze von Geiſt und Herz leer iſt. Die meiſten der - ſelben, weil ſie Deutſche Dinge betreffen, leſen ſich, als ob ſie heute geſchrieben waͤren.
Schon am Ende des vorigen Jahrhun - derts entſtanden periodiſche Schrif - ten, mancherlei Inhalts; im jetzigen mehrten ſich dieſe nicht nur im Ganzen, ſie vervielfachten ſich auch in einzelnen Provinzen bis zu woͤchentlichen Blaͤt - tern und Beitraͤgen, die in Deutſch - land ein ſehr guter Saame geworden ſind. 171Moͤſers patriotiſche Phantaſieen ſind aus Beitraͤgen zum Osnabruͤckiſchen Wochenblatt entſtanden; und was andre Zeitſchriften hier, dort, und da, in den germaniſchen Waͤldern fuͤr Nutzen geſtiftet haben, iſt weniger Landkundig, als wahr und ruͤhmlich. Laß es hie und da auch Mißbraͤuche dieſes Vehikuls gegeben ha - ben und geben; Mißbrauch hebt die gute Sache nicht auf. Viele unſrer Deutſchen Journale ſind ein Fundbuch trefflicher Materialien; ja in Deutſchland faſt das einzige Mittel, wodurch Provinzen und Staͤnde einander kennen lernen. Mancher boͤſe Pflichttraͤger, der ſich gleich Jenem im Evangelium weder vor Gott noch Menſchen fuͤrchtet, ſcheuet ſich wenigſtens vor der Schande eines Journals —
Ungleich hoͤher und weit voran alle die - ſem ſtuͤnde die Geſchichte, wenn ſie jeder172 Provinz unſres Landes mit Geſchmack, Verſtand und Patriotismus bereits einhei - miſch geworden waͤre. Wollten wir uns von einigen derſelben nach und nach nicht ausfuͤhrlicher unterhalten? Wenn irgend eine Wiſſenſchaft, ſo iſt ja die Geſchichte ein Studium der Humanitaͤt, ein Werkzeug des aͤchteſten Vaterlandsgeiſtes.
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