Br. 91. Sechstes Fragment. Wie - derauflebung der Alten. Was den mittleren Zeiten gefehlt und die Erweckung der Alten mit ſich gebracht habe? Regel und Richt - maas. Warum die Galanterie der mittleren Zeiten in Liebe, Ehre und Andacht ein falſcher Geſchmack ſei? Wozu durch Er - weckung der Alten der Grund geleget worden? S. 1.
- 92. Einwendungen gegen die geglaubte Wirkung der alten Schriftſteller zu Erweckung des Genie, zu Laͤu -II terung des Geſchmacks, zu Mit - theilung einer guten Denkart. Wie wenig echte Kenner des Al - terthums es gebe. S. 15.
Br. 93. Beantwortung der Einwendungen. Was die Alten thun ſollen und nicht thun wollen. Nachſchrift. S. 24.
- 94. Was die Jugend an den Alten zu lernen habe, Compoſition und die Regel des Anſtaͤndigen. S. 34.
- 95. Siebentes Fragment. Schrift und Buchdruckerei. Was die Einfuͤhrung der Schrift auf die Poeſie der Griechen und der le - bendige Vortrag auf ihre Proſe gewirket. Andre Geſtalt der Schriftſtellerei bei den Roͤmern als bei uns. Mangel der Buͤ - chermaterialien in den mittleren Zeiten. Was die Erfindung des Papiers bewirket? Was die Buch - druckerei gegeben und genommen habe? S. 41.
- 96. Fortſetzung. Warnungen und Rath - ſchlaͤge. Ein Bund der Guten gegen den Misbrauch der Buch - druckerei und Kupferſtecherkunſt. S. 56.
IIIBr. 97. Achtes Fragment. Reforma - tion, Handel und Wiſſenſchaf - ten. Große Veraͤnderungen durch dieſelbe. Scheidung der Voͤlker. Neue Geſtalt der Poeſie in den proteſtantiſchen Laͤndern. Wa - rum es keine perſoͤnliche Helden - gedichte mehr gebe? Neugegeb - ner Umriß des Lobes und Ta - dels. S. 63.
- 98. Unterſchied der Poeſie aus Re - flexion und der reinen Fabel - poeſie an Engliſchen Dichtern gezeiget. Chaucer, Spen - ſer, Shakeſpeare, Milton, Cowley, Waller, Pope, Young, Thomſon. Ihre Verdienſte und Charaktere. S. 78.
- 99. Von der einkleidenden Proſe der Englaͤnder. Urſprung derſelben, ihrer Wochenſchriften und Ro - mane. Urſprung ihrer humoriſti - ſchen Charaktere und Schreib - art. Addiſon, Swift, Fiel - ding, Richardſon, Sterne. Ob die Griechen den Roman ge - kannt haben? S. 98.
IVBr. 100. Uebergang zu Deutſchen Werken des Geſchmacks. S. 107.
- 101. Warum wir ſo lange zuruͤckblie - ben? und ſo viel nachahmten? Lob der Nachahmung. Ihr ho - hes Ziel. S. 109.
- 102. Ob der Deutſche Charakterlos ſei? Charakter der Deutſchen von den aͤlteſten Zeiten her in Tha - ten und Schriften, ſelbſt in ih - ren Fehlern. Dieſer Charakter in ihren Dichtern gezeiget. Bro - ckes, Hagedorn, Haller, u. f. — Kleist, Leßing und Gleim. Klopſtock, Uz und andre lyriſche Dichter. Wie - land und Geßner. S. 118.
- 103. Einwendungen gegen die gut - muͤthige Lehrhaftigkeit der Deut - ſchen. S. 133.
- 104. Ob die Poeſie der Deutſchen Formlos ſei? Vorzug unſrer Sprache in Annaͤherung zur Form der Alten. Ramler, Klop - ſtock, Gerſtenberg, Goͤtz, Leßing u. a. — Goethe. — Ob jede fremde Form fuͤr unsV ſei? Probe an der Italiaͤniſchen Oper, und der Engliſchen Ko - moͤdie. Zachariaͤ. S. 136.
Br. 105. Ob man den Deutſchen Mangel an Kritik zuzuſchreiben habe? Charakter der Kritik der Deut - ſchen. Leibnitz, A. G. Baum - garten. Wernike. Bodmer und Breitinger. Haller und die wiſſenſchaftliche Kritik, die er eingeleitet. Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften. Litera - turbriefe. Mangel weiterer Nach - richten. S. 147.
- 106. Auch zur Kritik iſt Genius noͤthig. Zerriſſene Faͤden zwi - ſchen uns und den Bemuͤhungen andrer Nationen. Ob die Deut - ſche Poeſie eine Kinderpoeſie ſei? Gut, wenn ſie es waͤre. Was von der politiſchen Poeſie zu halten? S. 162.
- 107. Neuntes Fragment. Reſul - tat der Vergleichung der Poeſie verſchiedener Voͤlker alter und neuer Zeit. Die Poeſie iſt ein Proteus unter den Nationen. VINichtiger Rangſtreit zwiſchen den Alten und Neuern. Schwie - rigkeit der Vergleichung. Daß jede Nation ihre Dichter werth halten muͤſſe. Was die Deut - ſchen von den Ihrigen zu lernen haben. Verſchiedene Methoden der Claſſification der Dichter. Fortgang im großen Gange der Zeiten und Voͤlker. S. 172.
Was der Poeſie des Mittelalters fehlte, war nicht Stoff und Inhalt, nicht guter Wille und Endzweck; es fehlte ihr nicht an Idealen, auf welche ſie hinarbeitete und ſich bemuͤhte; aber Geſchmack, innere Norm und Regel fehlte ihr. Keine aͤußere Form des Sonnets, MadrigalsAchte Samml. A2oder der Stanze, der Reim am wenigſten, keine Scholaſtik, ſelbſt die Arabiſche Phi - loſophie nicht, ſie mochte aus Spanien, Afrika oder Palaͤſtina kommen, konnte ihr dieſe Regel gewaͤhren; nur Ein Mittel war dazu, die Wiedererweckung der Alten.
Immer hatten dieſe, auch in den dun - kelſten Jahrhunderten einige Liebhaber, ſo - gar Nachahmer gefunden, ob man von ihnen gleich nur Wenige kannte und dieſe Wenigen in einer finſtern Luft durch einen haͤßlichen Nebel anſah. Bekanntlich war Petrarka Einer der Erſten, der ſich durch unablaͤßigen Fleiß eine faſt claſſiſche Denk - art angebildet hatte, ohne welche er ſeine liebliche Vulgarpoëſie ſchwerlich haͤtte erſchaffen moͤgen. Ihm folgten mehrere Liebhaber und Bewunderer der Alten, bis nach einer langen Morgenroͤthe endlich hel -3 ler Tag anbrach. Von Orient aus kamen die vertriebenen griechiſchen Muſen nach Italien; mit einem wunderbaren Enthu - ſiasmus fuͤr die Sprache, die Werke und Wiſſenſchaften der Griechen wurden ſie aufgenommen und Alles belebte ſich neu. Laß es ſeyn, das fortan, inſonderheit im naͤchſten Jahrhundert, die Landesſprache keine Dichter bekam, wie Dante und Petrarca geweſen waren; beide, inſon - derheit der letzte, hatte in ſeiner Art die Bluͤthe hinweggebrochen; ſo daß kein Nach - ahmer ihn uͤbertreffen konnte. Dafuͤr aber oͤffnete ſich eine Ausſicht, die zehn - tauſend Petrarchiſten nicht haͤtten eroͤfnen moͤgen. Poliziano, Pico, Bembo, Caſtiglione, Caſa, und ſo viel andre Geſchichtſchreiber, Dichter, Philoſophen und Philologen ſchrieben nicht nur claſ - ſiſch Latein; ſondern einige derſelben dach -A 24ten auch claſſiſch, und erwaͤgten die Werke der Alten. Die Strozza, San - nazar, Fracaſtor, Vida, und ſo viele, viele andre ſchrieben nicht etwa nur ele - gante lateiniſche Verſe; man las, man uͤberſetzte die Alten; Machiavell u. a. dachten ihnen maͤnnlich nach. Kuͤnſtler er - ſchienen, die im Geſchmack der Griechen und Roͤmer verzierten, baueten, bildeten, mahlten; das himmliſche Genie Raphael erſchien, von einer Griechiſchen Muſe mit einem Engel erzeuget Da erklang ein Lied im hoͤheren Tone; es fing wirklich eine neue Denkart, mit einer neuen Zeit an: denn auch die Buchdruckerkunſt war erfunden, eine neue Welt war entdeckt, die Reformation entſtand. U. f.
Es hieße klein und eingeſchraͤnkt den - ken, wenn man dieſe neue Gedankenform blos nach dem beurtheilte, was ſie damals5 hervorgebracht hat, nicht nach dem leben - digen Samen, der in ihr zu kuͤnftigen Her - vorbringungen dalag. Sei es, daß die erſten Nachahmungen der Alten zu ſkla - viſch waren, daß die erſte Kritik ſich zu ſehr an Worte hielt und daruͤber oft den Geiſt nicht erreichte. Sei es, daß kein lateiniſcher Dichter dieſes gluͤcklichen Jahr - hunders Einem alten Dichter gleich kaͤme; was ſchadets? Die erſten gedruckten Aus - gaben alter Autoren waren auch die voll - kommenſten nicht; indeſſen kamen ſie weit umher und machten die Grundlage nicht nur zu beſſern Auflagen, ſondern auch zu vielen, vielen neuen Gedanken. Ohne Wiedererweckung der Alten waͤre keine neue Philoſophie und Beredſamkeit, keine Kritik, Kunſt und Dichtkunſt entſtanden; Europa ſaͤße noch in der Daͤmmerung und labte ſich an abentheuerlichen Ritterromanen. 6Das Licht der Alten iſts, das die Schat - ten verjagt und die Daͤmmerung aufgeklaͤrt hat; mit ihnen haben wir empfangen, was allein den Geſchmack ſichert, Verhaͤlt - niß, Regel, Richtmaas, Form der Geſtalten im weiten Reiche der Na - tur und Kunſt, ja der geſammten Menſchheit.
Warum z. B. iſt die bloße Galan - terie der Liebe ein falſcher, mithin auch ein unpoetiſcher Geſchmack? Weil ſie etwas Unwahres in ſich haͤlt, das der reinen Sprache des Herzens und Geiſtes, wie es die Poeſie ſeyn ſoll, unwerth iſt. Jene Galanterie giebt Dingen einen Werth, den ſie unſrer eignen Ueberzeugung nach nicht haben; ſie mahlt Schoͤnheit und Liebe mit falſchen Reizen, und vergiſſet daruͤber der herzergreifenden Wahrheit. Aus Man - gel des Gefuͤhls uͤbertreibt ſie; ſie ſpielt7 mit Bildern, und Wendungen, mit Witz und Worten. — — Echte Poeſie alſo und eine falſche Galanterie ſind unvereinbar. Moͤge ein verdorbner Geſchmack der Zeit, moͤge die Mode ſie dafuͤr erkennen; der Zeitgeſchmack geht voruͤber, die Mode wird laͤcherlich; und ſpaͤterhin macht die falſche Schminke das ſchoͤne Geſicht ſogar haͤß - lich. —
Warum iſt die uͤbertriebne Ritter - wuͤrde ein falſcher Geſchmack? Weil ſie als bloßes Ritual Herz - und Seelenlos, ſteif und laͤcherlich iſt. Feierlichkeiten wird ein Werth gegeben, den ſie nicht haben; Misverhaͤltniſſe werden mit einem Schaum - golde uͤberdeckt; Geiſtloſe Haͤrte wird als ein Ideal der Maͤnnlichkeit geprieſen. Die Zeit kommt und ſtreicht mit rauher Hand das Schaumgold hinweg; ſie ruͤckt die Staͤnde anders und ſofort iſt jene Misge -8 ſtalt unter einem eiſernen Harniſch ſicht - bar. Alles Geklirr an Mann und Roß kann uns, wo Verſtand, Zweck, Ebenmaas, Guͤte des Herzens fehlt, kein Klang einer himmliſchen Muſe werden. —
Warum iſt jene uͤbertriebene An - dacht, jenes Haſchen nach dem Unendli - chen, das Calculiren der Gottheit in un - nennbaren Gefuͤhlen ein falſcher Geſchmack? Weil ſie eine Uebervernunft ſind, die weder in Sprache noch Kunſt einen Aus - druck findet. Das Unermeßliche hat kein Maas; das Unendliche hat keinen Aus - druck. Je laͤnger Du alſo an dieſen Tie - fen ſchwindelſt, deſto mehr verwirret ſich deine Zunge, wie ſich dein Haupt verwirrte; du ſagſt nichts, wenn du etwas Unaus - ſprechliches ſagen wollteſt. — Schwieg nicht jener Entzuͤckte von dem, was er im dritten Himmel geſehen hatte? Alle wahre9 Gottbegeiſterte ſchwiegen vom Unausſprech - lichen, und ſagten was ſie in der Sprache der Menſchen, zumal in den Grenzen einer Kunſt ſagen konnten. Der Aus - druck, der der Religion geziemt, iſt nicht Schwaͤrmerei, ſondern Einfalt und Wahr - heit.
Iſt Alles, was uns Umriß lehret, was unſrer Natur die ihr angemeßne Schran - ken zeigt, und ſie auf wirklichen Begriff, auf Wahrheit der Empfindung zuruͤckfuͤhret, ein goͤttliches Geſchenk; wie ſehr thut die - ſes, recht verſtanden und angewandt, die Poeſie, die Kritik, die Philoſophie und Denkart der Alten.
Dieſe z. B. weiß nichts von jener Hoͤf - lichkeit eines uͤbertreibenden, falſchen Witzes, der Galanterie und Courtoiſie ſeyn ſoll; am Hofe der griechiſchen und roͤmi - ſchen Muſen hatte dieſe Kunſt keinen Werth. 10Sie weiß nichts von jenem leeren Pomp, der dem Heiden und Gott den Menſchen auszieht; die heroiſche Poeſie der Alten iſt menſchlich. Wozu endlich ward von den kluͤgſten Voͤlkern die Mythologie, wo nicht erfunden, ſo wenigſtens an den ſchoͤn - ſten Stellen gebraucht? Dem was keine Geſtalt hat, eine fuͤr uns lehrreiche und angenehme Geſtalt zu geben, den Abglanz der blendenden Sonne im Spiegel des Meers oder in den Farben des Regenbo - gens zu zeigen. Uns ſind im Grunde alle Einkleidungen, wo und wenn ſie erfunden wurden, gleich; wir wollen ſie zwar nicht unzeitig vermiſchen, aber alle mit Verſtand gebrauchen. Ariſtoteles, Horaz, und Quintilian ſind uns nicht etwa uͤber die Mythologie der Griechen allein; uͤber die Mythologie jeder Nation und Reli - gion ſind ihre Grundſaͤtze Geſetz und Regel.
11Alles alſo was den Geſchmack der Alten unter uns befoͤrdert, ſei uns werth, Aus - gaben, Ueberſetzungen, Commentare, Nach - ahmungen; unter dieſen Nachahmungen auch die neuere lateiniſche Poeſie zu nennen, ſcheue ich mich nicht. Sie war immer ein Zeichen, daß man die Alten kannte und liebte, daß man uͤber neuere Gegenſtaͤnde im Sinne der Alten dachte, daß man ihr Richtmaas an dieſe neuen Gegenſtaͤnde zu legen wagte. Sie hat viel Gutes gewirket. Latein ſagte man, was man in der Landesſprache nicht ſagen konnte oder dorfte; nachahmend ſprach man gleich - ſam den Alten nach, und ſagte ihnen ſeine Lection auf; man freuete ſich, daß man ſie aus ihnen gelernt und unge - faͤhrdet aufſagen konnte. Ueber die Vor - urtheile ſeiner Zeit, ſeines Ordens, Volks und Standes hob mancher ſich, ohne daß12 ers wußte, auf Schwingen irgend eines alten Dichters empor; oder wenn er hiezu nicht Kraft gnug hatte, kam er doch nach - ahmend dem Geſchmack und beſſern Ver - ſtaͤndniß des Dichters, in deſſen Weiſe er ſchrieb, naͤher und ward, auch nachlallend, mit ihm vertrauter. Endlich ſchloß ſich durch die neuere lateiniſche Poeſie eine Geſellſchaft zuſammen, von der vorher noch keine Zeit gewußt hatte; in Italien, Spanien, Portugall, Frankreich, den bri - tanniſchen Inſeln, den nordiſchen Koͤnig - reichen, in Liefland, Pohlen, Preuſſen, Ungarn, in Deutſchland, Holland u. f. hat man lateiniſch nicht nur verſificiret, ſondern hie und da gewiß auch gedichtet. Italien, Frankreich, Deutſchland, Pohlen, vor allen Holland hat Maͤnner gehabt, die mit dem Latein wie mit ihrer Mutter - ſprache umzugehen wußten und in ihm Ge -13 dichte gaben, die in jeder Landesſprache Aufmerkſamkeit gebieten wuͤrden. Selbſt die vortreflichen, die der Sprache und Poe - ſie ihrer Nation eine beſſere Geſtalt gaben, hatten dieſe meiſtens im Lateiniſchen zuerſt verſucht, wie auſſer den Italiaͤnern die Beiſpiele Miltons, Cowleys, Gro - tius, Heinſius, Opitz u. f. zeigen. Faſt alle Reformatoren Erasmus, Lu - ther, Zwingli, Melanchthon, Ca - merarius, Beza u. f. waren Liebhaber der Alten, Liebhaber der Griechiſchen und Lateiniſchen Dichtkunſt. Die gebildetſten Staatsmaͤnner, wie Thomas Morus, de Thou, Hopital u. f. Botſchafter, Paͤpſte, Cardinaͤle waren lateiniſche Dich - ter. Ein Helikon vereinigte ſie und weckte Stimmen vom Aetna bis zum Hekla, vom Ausfluß des Tago bis zur Weichſel und der Duͤna.
14Ich will mich nicht auf den Gemein - platz einlaſſen, daß alle echte Kritik und Philoſophie der Neueren nur eine palingene - ſirte Pflanze der Alten ſei: denn woher hatten neben den Weltbekannten Commen - tatoren, Erasmus, Grotius, Hein - ſius, Boileau, Gravina, der edle Shaftesburi und die wenigen ſonſt, die ins Herz der Kritik drangen, ihre Weis - heit? als von den Alten. Eine Spani - ſche, Deutſche, Irlaͤndiſche Kritik giebt es nicht; aber eine Griechiſche und Roͤmiſche Kritik giebt es. Mit ihr faͤngt die Cultur aller Europaͤiſchen Landesſprachen in Poeſie und Proſe, ja durchaus das Beſtreben nach einem beſſern Geſchmack in ganz Europa an; den Beweis hievon liefert die Geſchichte.
Es thut mir leid, daß ich Ihrem Frag - ment einige Einwendungen entgegenſetzen muß; wozu aber waͤre die Heuchelei auch im Lobe des Geſchmacks der Alten noͤthig?
Zuerſt giebt ihr Fragment es ſelbſt zu, daß auch vor der ſogenannten Erwek - kung der Alten in jedem Fach große Maͤn - ner, Denker und Dichter gelebt haben; und eben ſo wenig wird bezweifelt werden koͤnnen, daß ſeit dieſer Entdeckung große Maͤnner gelebt und geſchrieben haben, die von den Alten wenig oder nichts wußten. Ich darf von den erſten nur Dante, von16 den letzten nur Shakeſpeare anfuͤhren; wie viel andre moͤchten zu nennen ſeyn! Die groͤßten Erfindungen ſind in den Zei - ten gemacht, die wir barbariſche, rohe Zeiten nennen; vielleicht haben in ihnen auch die groͤßeſten Maͤnner gelebet. Da - mals ſtanden die Koͤpfe noch nicht ſo dicht an einander; jeder hatte zum eignen Den - ken freien Raum; um ſie war Daͤmmerung; deſto munterer aber wirkten ſie, und dorf - ten in der Mittagsſonne der Alten eben noch nicht erblinden. Wie Ein Roger Baco vor hundert Commentatoren des Ariſtoteles gilt: ſo giebt es romantiſche Gedichte der mittleren, ſelbſt der neueren Zeit, bei denen man den Geſchmack der Alten gern vergißt und in ihnen wie im Feenreich luſtwandelt. Ich erinnere Sie an ſo manche Romane, die uns der Graf Treßan und ſeine Gehuͤlfen gegeben, jaſeit17ſeit Wiederauflebung der Wiſſenſchaften an die groͤßeſten Lichter aller cultivirten Nationen. Woher nahmen Arioſt und die ihm vorgingen, woher Spenſer, Shakeſpeare und zwar in ſeinen ruͤh - rendſten Stuͤcken Form und Inhalt? Nicht aus den Alten, ſondern aus der Denk - art des Volks und ſeinem Ge - ſchmack in ihren und den mittleren Zeiten. Glauben Sie, daß Shakeſpe - are, auch wenn er die Alten mehr ge - kannt haͤtte, als er ſie kannte, ihnen aͤngſt - licher nachgegangen waͤre? Wie leicht konnte er ſie kennen lernen, da ſchon ſo manche in Engliſchen Ueberſetzungen neben ihm exſiſtirten! Er ließ dieſe den Ben Jonſon ſtudiren und hielt ſich an das Maͤhrchen, an die Novelle der mittleren Zeit, aus denen er ſeine dramatiſche Schoͤpfung her - vorrief. Seitdem haben die Britten denAchte Samml. B18Aeſchylus, Sophokles, Euripides geleſen, commentirt, uͤberſetzt und emen - diret; aus dem Allen aber iſt kein zweiter Shakeſpeare worden.
Zweitens. Zu viele Proben haben es erwieſen, daß die Alten kennen und nachahmen, uns ihnen noch nicht gleich ſtelle, da ihre gelehrteſten Kenner oft die ungluͤcklichſten Schoͤpfer geweſen. Wie ging es dem Triſſino mit ſeinem befrei - ten Italien? dem Gravina und Maffei mit ihren Drama's im Geſchmack der Al - ten? Die gelehrten Kenner der Alten, Caſa, Bembo u. f. uͤberſtiegen den Pe - trarka nicht; den Chiabrera, Redi, Filicaja, Lemene vermochte ihre Kaͤnnt - niß der Alten und ihre Gelehrſamkeit ſogar vor dem boͤſen Geſchmack ihrer Zeit nicht zu ſichern. Unter den Englaͤndern war Cow - ley mit den Alten ſehr bekannt; er ſchrieb19 und dichtete ſelbſt lateiniſch; ſeine proſai - ſchen Aufſaͤtze ſind mit der Beſcheidenheit und Wuͤrde eines Roͤmers geſchrieben; und welches ſonderbare Phantom bildete ſich dieſer gelehrte Dichter an Pindar ein! In wie boͤſem Geſchmack erſchuf er jene Oden - gattung, die ſeinen Landsleuten wirklich ein Verderb des Geſchmacks ward! — Alſo hilft auch hier das Alter fuͤr Thorheit nicht; jeder Neuere behaͤlt ſeine natuͤrliche Groͤße, falls er in ſeinem Studiumauch den Griechiſchen und Roͤmiſchen Helikon auf ein - ander thuͤrmte und ſich droben hinauf ſtellte.
Drittens. Nun kann ich zwar gegen die ſchoͤne lateiniſche Schreibart vieler Neueren in Poeſie und Proſe nichts ein - wenden und finde in ihnen fuͤr mich ein großes Vergnuͤgen; fuͤr ſich ſelbſt aber was thaten dieſe Schriftſteller mehr, als daß ſie ihre Pflicht erfuͤllten? Muß Jeder, derB 220in einer Sprache ſchreibt, in ihr gut zu ſchreiben ſuchen: ſo waͤre es ja dreifache Schande, die Sprache, in welcher jene Roͤmer ſchrieben, ſchlecht zu behandeln. Wer in ihr nicht ſchreiben kann, wie er ſoll, ſchreibe, wenn ers vermeiden kann, in ihr gar nicht; hat er in ihr leidlich oder gut geſchrieben, ſo iſts ihm nicht mehr Lob, als Jedem andern, der in ſeiner Sprache gut ſpricht, oder einem Floͤten - ſpieler, der ſeine Floͤte gut ſpielet. — Wenn Schriftſteller durch eine ſogenannte ſchoͤne Schreibart, die bei keinem Vernuͤnfti - gen von einer guten Denkart getrennet werden kann, wenn vor Allen lateiniſche Schoͤnſchreiber ſich von einer guten Denk - art durch dieſe Sprache freigeſprochen glauben; wo ſind wir denn mit der Regel der Alten? Dieſer ſcriptor denkt an Worte; an Sachen und Gruͤnde wenig. Ueberſetzt21 ſein Latein in eine gemeine Sprache; und ihr findet die trivialſten Dinge in einem Ton geſagt, vor dem die demuͤthige Lan - desſprache beinah verſtummet. Dort ging das gelehrte Kind in einem Gaͤngelwagen oder vielmehr der Gaͤngelwagen (ambitus verborum) ging ſtatt des gelehrten Kin - des und nahm es mit; dem rund - viereck - ten Vehikul entnommen, wie erbaͤrmlich iſt ſeine Geſtalt, wie ſchwach und duͤrftig! Und doch machte man ſo oft die Erfah - rung, daß unter allen literariſch - Stolzen es faſt keine ſtolzeren, als die Latein - ſchreiber gebe. Sie ſind die alten Ba - rone, deren Diplom ruͤckwaͤrts uͤber das Chriſtenthum, deren Unſterblichkeit vor - waͤrts uͤber den juͤngſten Tag der Landes - ſprache hinausreicht. Sie ſchreiben nicht fuͤr ihre Nation in der ſogenannten Vul - gar - oder Poͤbelſprache; ſondern fuͤr Welt22 und Nachwelt in der einzig-unver - gaͤnglichen Goͤtterſprache. Wie wohl wird dem Leſer in der Geſchichte der Lite - ratur, wenn nach zu Grabe getragenen Schoppen (Scioppiorum) die Periode der eigentlichen Wiſſenſchaften (Scien - zen) anfaͤngt, in welcher man ſich nicht mehr uͤber Worte und Autoritaͤten Schop - piſch zankte. — —
Endlich. Wahre Kenner der Alten hat es immer nur wenige gegeben! Die Kritik der Sylben und Worte iſt eine un - entbehrliche, nuͤtzliche Kunſt; ſie erfodert Genie, Tact, und vor andern viel Kaͤnnt - niſſe, Fleiß und Uebung; daß ſie aber die Kaͤnntniß der Alten noch nicht ſei, von der das Fragment eine Palingeneſie der Dinge herzuleiten ſcheinet, dies iſt wohl Sonnenklar. Kritiker, wie Ruhnken an Hemſterhuis ſchildert, ſind ſelten; auch23 von denen, die die Alten mit Geiſt leſen, waͤhlt Jeder ſich gern ſeinen Alten, den er uͤber Alle hinausſetzt, nach welchem er dann, auch mit Fehlern und Schwaͤchen, ſeine Denkart praͤget. Eine Reihe von Beiſpielen waͤre anzufuͤhren, aus welchen erhellen wuͤrde, wie ſelten wir in den Al - ten ſie ſelbſt, wie noch ſeltner wir in ihnen ihr Hoͤchſtes, das〈…〉〈…〉 der Griechen - und Roͤmerwelt, ihre Re - gel des Geſchmacks im Wahren, Guten und Schoͤnen ſtudiren. Am oͤfterſten ſchauen wir ſie wie Narciſſe an, denken daran, was Wir uͤber Sie zu ſagen haben, und bewundern unſre Geſtalt in dem fluͤſſigen Spiegel der alten heiligen Quelle. Statt an ihnen gehen zu lernen, verlieren manche durch ſie den geſunden Brauch ihrer eignen Glieder.
Ihre Einwendungen koͤnnte ich mit Spruͤch - woͤrtern beantworten, z. B. Rom iſt nicht in Einem Jahr gebaut. Je ſchwe - rer die Kunſt, deſto mehr Pfuſcher. Je organiſirter der Koͤrper, deſto boͤſer ſeine Faͤulung u. dgl. Ich will aber mit Gruͤnden antworten; in der Hauptſache ſind wir Eins.
Daß zu allen Zeiten und unter allen Voͤlkern Talente ans Licht kommen, iſt eine Erfahrung, die eben ja jeder Bemuͤ - hung um Ausbildung der Talente zum Grunde liegt. Nicht in Athen und25 Rom allein wurden daͤmoniſche, goͤtt - liche Maͤnner gebohren; ſie bedorften auch von dorther keiner Beurkundung, daß ſie ſolche waren. Die Gabe der Muſe iſt eine angebohrne Himmelsgabe, die kaum mit Muͤhe vergraben werden kann. Großer Leidenſchaften und Vorſtellungen faͤhig, ſehen Einige nichts als dieſe Bilder, ſprechen in Leidenſchaft, laben ſich in Toͤnen des Wohl - lauts und fuͤhlen ſich geſchaffen, die Ge - muͤther andrer mit dem, was ſie erfreuet und anregt, auch zu erfreuen und anzu - regen. Wenn Poeſie noch nicht erfunden waͤre, wuͤrden ſolche Menſchen ſie erfin - den, und erfinden ſie taͤglich.
Aber wie ſehr Talente dieſer Art unter dem Druck einer ſchlechten Sprache und einer ſinnloſen Mitwelt leiden, zeigt eben ja die Geſchichte ſowohl der rohen, als der mittleren dunkeln Zeiten. 26Giebt es eine Kunſt der Sprache; was vermag ohne Werkzeuge der Kuͤnſtler?
Ueberdem, wie ſchwer wirds eben dem feurigſten Kopf, ſich innerhalb der Gren - zen zu halten, in denen das Wahre, Gute und Schoͤne Eins iſt und eben auf dieſe, die Einzige Weiſe, in Form und Inhalt, dadurch was man ſagt, und wie man es ſagt, ewig zu werden. Ihm alſo ſowohl als denen fuͤr die er arbeitet, iſt Lehre noͤthig, eine Diſciplin, die uns fuͤr andre, andre fuͤr uns zubereite, beide vor Ausſchweifungen ſichre, und dem ar - beitenden Genius leere Verſuche, von denen er mit Reue zuruͤckkommen muͤßte, erſpare. Oft iſt das Genie ein Edelſtein, der tief im Schacht liegt, in einer harten Rinde begraben; die Rinde muß geſprengt, der Edelſtein von der Hand des Kuͤnſtlers bearbeitet werden u. f. — Wem gab27 nun die Natur das eigentliche Kunſtta - lent in groͤßerm Maaße, als den Grie - chen? Auf der ganzen Erde keinem Volke wie ihnen. Gleichſam vom Inſtinct gelei - tet erfanden ſie jeder Geſtalt und Wiſſen - ſchaft Maas, Ziel und Umriß. Nicht nur das zu Viele, das Ungehoͤrige ſonder - ten ſie ab, ſondern auch dem Bleibenden, der Geſtalt ſelbſt, gaben ſie Fuͤlle, Le - ben und Anmuth.
Wollen aber Griechen und Roͤmer, ſo - fern ſie Griechen und Roͤmer ſind, hiemit eine Monarchie errichten? wollen ſie Na - tionalcharaktere unterdruͤcken, lebende Spra - che verdraͤngen, oder verſchlimmern? Nichts von Allem! Aufmunterung, Ord - nung, Verbeſſerung iſt ihr einziger Zweck; man darf alſo von ihnen nicht mehr fodern, als ſie zu leiſten vermoͤgen. Sie wollen Kraͤfte wecken, aber nicht ge -28 ben; ſie ſind Vorbilder, keine Schoͤpfer. Da indeſſen im Reich der Gedanken von Aufmunterung, zumal durch thaͤtige Vorbilder, von Ordnung und Erzie - hung viel abhangt: ſo iſt die Herrſchaft, die jeder Verſtaͤndige den Alten freiwillig einraͤumt, zwar keine Monarchie, aber ein Rath der Beſſeren zum Beſten.
Laſſen Sie alſo die wuͤrdigſten Schrif - ten zuweilen von den unwuͤrdigſten Haͤn - den behandelt werden, was ſchadets? Geht nicht auch das Gold durch die Haͤnde nie - driger Bearbeiter und Sammler? verlohr der Diamant dadurch, daß ihn die Duͤrf - tigkeit ſelbſt aufgrub? Wenn unter dem Text eines alten Autors ſich in den Noten oft uͤber Nichts ein ſchreckliches Gezaͤnk erhebt: ſo laſſet uns vom blutigen Spiel dieſer Gladiatoren, die ſich zu Ehren des Verſtorbenen neben ſeinem Grabe wuͤrgen,29 hinwegſehn und ſie fuͤr das halten, was ſie ſind, Sklaven. Die Worte des Autors werden uns werther, wenn wir uns uͤber die Waſſer der Suͤndfluth, die unten den Text uͤberſchwemmet hat, zum Gipfel em - porheben und da den friedlichen Oelzweig finden. —
Da endlich der Geiſt, den wir aus den Schriften der Alten ziehn ſollen, ge - ſunder Verſtand und ein geſundes Herz, die wahre Philoſophie und Richtung des Lebens, bona Mens und Humanitaͤt iſt: ſo iſt die Einfuͤhrung dieſer Gottheiten fuͤr uns und unſre Nach - kommen ein Werk von fortdauren - der, wachſender Wirkung. Zuerſt mußten dieſe Schriften gefunden, verviel - faͤltiget, erklaͤrt, erlaͤutert, von Fehlern gereinigt, verſtanden werden, ehe ihr beſſe - rer, ihr weiſerer Gebrauch in jeder An -30 wendung ein Hauptzweck werden konnte. Hie und da iſt er es ſchon geworden; er wirds noch mehr werden. Die Zeit der Solipſorum geht zu Ende; zu Einem ge - meinen Beſten arbeiten wir Alle.
Jener Amerikaner glaubte, daß in jedem Brief ein Geiſt eingeſchloſſen ſei; ich wollte, daß ich dieſem Briefe einen Geiſt einſchlieſ - ſen koͤnnte, den Geiſt der Alten. Hoͤren Sie daruͤber einen apokryphiſchen Schrift - ſteller.
„ Gerade, als ob unſer Lernen blos ein Erinnern waͤre, weiſet man uns immer auf die Denkmahle der Alten, den Geiſt blos durch das Gedaͤchtniß zu bil - den. Wir wiſſen ſelbſt nicht recht, was wir in den Griechen und Roͤmern bis zur Abgoͤtterei bewundern. “
„ Gleich einem Manne, der ſein leiblich Angeſicht im Spiegel beſchaut, nachdem er ſich aber beſchauet hat, von Stundan davongeht und vergiſſet, wie er geſtaltet32 war, eben ſo gehen wir mit den Alten um. Gar anders ſitzt ein Mahler zu ſei - nem eignen Bilde. “
„ Da ich blos dem Geiſt der Alten nach - ſpuͤre: ſo geht mich das Schulmeiſtergeſicht nichts an, womit die ** ihren Autor Leſern und Zuhoͤrern vereckeln. Ich will ſehr zufrieden ſeyn, wenn ich mein Grie - chiſch nur ungefaͤhr ſo verſtehe, wie Ueber - bringer dieſes ſeine Mutterſprache. Wer die Alten ohne die Natur zu kennen ſtu - dirt, lieſet Noten ohne Text, und an Pe - trons Ausgabe in groß Quart uͤber ein klein Fragment ſich wenigſtens zu einem Doctor. Wer kein Fell uͤberm Auge hat, fuͤr den hat Homer keine Decke. Wer aber den hellen Tag noch nie geſehen, an dem werden weder Didymus noch Eu - ſtathius Wunder thun. — — Der Zorn benimmt mir alle Ueberlegung, wenn ichdaran33daran gedenke, wie ſolch eine edle Gabe Gottes, als die Wiſſenſchaften ſind, ver - wuͤſtet, von ſtarken Geiſtern zerriſſen, von faulen Moͤnchen zertreten werden, und wie es moͤglich, daß junge Leute in die alte Fee, Gelehrſamkeit, ohne Zaͤhne und Haare (etwa falſche) verliebt ſeyn koͤnnen. “
So ſpricht ein Eifrer fuͤr den guten Gebrauch der Alten; und wie viel mehr koͤnnte man davon ſagen! Aber wie Je - mand iſt, ſo thut er; wie wir ſelbſt denken, ſo nutzen wir die Alten.
Die Nachſchrift Ihres Briefes hat mir eine alte Wunde aufgeriſſen, die ziemlich verharſcht war, naͤmlich, wie wir, inſon - derheit mit unſrer Jugend, die Alten leſen? „ Das Salz der Gelehrſamkeit, ſagt Ihr Apokryphus iſt ein gut Ding; wenn aber das Salz tumm wird, womit ſoll man ſalzen? “— Bloße Gelehrſamkeit zer - ſtreuet und ermuͤdet; alles macht ſie zu nack - tem, vielleicht unnoͤthigem Wiſſen von Wor - ten, Stellen und Gebraͤuchen; ſie wirft die Seele hin und her. Das Gemuͤth der Jugend will geſammlet, will auf den35 Kern gerichtet, will fuͤrs Leben gebildet und geſtaͤrkt ſeyn.
Ich begreife ſelbſt, was fuͤr eine ſchwere Aufgabe es iſt, ſo viele, ſo mannichfaltige Schriftſteller der Griechen und Roͤmer, Dichter, Redner, Geſchichtſchreiber und Philoſophen mit unſrer Jugend nutzbar zu leſen; der Grundſatz indeſſen, nach wel - chem ſie geleſen werden muͤſſen, iſt außer Zweifel. Es iſt der Sinn der Alten ſelbſt, das Gefuͤhl vom Wahren, Gu - ten und Schoͤnen, dieſe alle zu Einem Syſtem verbunden, in Eine Geſtalt geordnet. Man nenne dieſe Geſtalt das Anſtaͤndige, das ſich Geziemende, honeſtum, decorum,〈…〉〈…〉,〈…〉〈…〉 oder wie man wolle; ſie iſt ein unterſcheidender Zug der Compoſition und Denkart der Alten in ihren beſten Schriftſtellern und wuͤrdigſten Maͤnnern, auf welchenC 236das Auge der Jugend ſich vorzuͤglich hef - ten muͤßte.
In der Compoſition der Alten naͤm - lich hat Alles Zweck, Plan und Ordnung. Nichts ſtehet am unrechten Ort, nichts iſt muͤßig und unſchicklich dahin geworfen; und im Ganzen herrſcht, wo es irgend ſeyn kann, lebendige Darſtellung und Handlung. Die griechiſche Sprache z. B. iſt von der Bildung der Worte an bis zum Bau ihrer Sylbenmaaße und Perioden ein Muſter des Wohlklanges, der Zuſammenfuͤgung, der Bedeutſamkeit und Grazie des Aus - drucks; die lateiniſche Sprache eifert ihr nach. Wie in Statuen und Gebaͤuden die Kunſt der Alten Einfalt und Wuͤrde, Bedeutung und Anmuth zu vereini - gen wußte; ſo vereinigen es die Meiſter - werke ihrer Sprache. Wer in Homer und Pindar, in Herodot, Plato,37 Cicero, Livius und Horaz dieſe Schicklichkeit und Congruenz der Theile zur Eurythmie des Ganzen weder zu finden, noch anſchaulich zu machen weiß, der iſt des Geiſtes, in dem ſie arbeiteten und dachten, nicht inne geworden. In wenige Werke der Neueren hat ſich dieſer organiſche Geiſt ergoſſen; wo er erſcheint, macht er ein Werk ſeiner Natur nach unſterblich. Ein - falt alſo und Wuͤrde, Bedeutſamkeit und Wohlordnung haben wir von den Alten zu lernen, um unſrer Denkart und Spra - che im Kleinſten und Groͤßeſten eine ſolche Geſtalt zu geben.
Aber das Anſtaͤndige der Alten er - ſtrecket ſich weiter, indem Charaktere, Sitten, Grundſaͤtze und Meinungen nicht etwa nur zu ſchildern, ſondern darzu - ſtellen und zu verknuͤpfen der Zweck ihrer erleſenſten Werke war. Die Tugend iſt ein38〈…〉〈…〉, ein Anſtaͤndiges und Vortref - liches, das mit Liebe geſucht werden will und nur durch unablaͤßige Uebung erlangt wird. Ihre beſten Schriftſteller jeglicher Art zeigen darauf als auf das Zuͤnglein der Waage menſchlicher Handlungen und den edelſten Kampfpreis des menſchlichen Lebens. Licht und Schatten ſtellen ſie dar; ſie contraſtiren und gruppiren Geſtalten, Sinnesarten und Meinungen ohne jene neuere uͤberſpannende Heuchelei, die im Grunde jede Anwendung verwirret und zuletzt die ganze Sittlichkeit aufhebt. Ha - ben wir das Gefuͤhl des Anſtaͤndigen, des Großen, Schoͤnen, Anmuthigen und Edlen verlohren, was haͤlt uns zuruͤck, daß wir nicht aͤrger als Thiere wer - den? Veraͤchtlicher ſind wir gewiß. Dies Gefuͤhl moraliſcher Schicklichkeit, Wuͤrde und Grazie durch Leſung der Alten in39 in uns zu wecken und zu erhalten, iſt um ſo noͤthiger, da in der gegenwaͤrtigen Welt eine Convenienz in niedertraͤchtigen, frechen Meinungen, die fuͤr Grundſaͤtze gelten, und im offenen Gebrauch ſind, daſſelbe ganz zu erſticken drohen. Daß ſich zwi - ſchen uns und Jenen einige aͤußere Um - ſtaͤnde veraͤndert haben, und ſowohl der Heroismus als der Patriotismus eine andre Geſtalt gewonnen, darf jenem Gefuͤhl, dem Charakter der Menſch - heit, nicht ſchaden. Wir koͤnnen edlere Heroë ſeyn, als Achill, ſchoͤnere Pa - trioten als Horatius Cocles.
Hier alſo liegt meines Erachtens die Regel; ſie iſt eine logiſche, poetiſche, ethiſche Regel. Barbaren kennen ſie nicht; losgebundene Willkuͤhr verachtet ſie, zer - ſtreuende Gelehrſamkeit geht voruͤber. Wer ſie fand, wer in ſeiner Jugend nach ihr40 gebildet wurde, der kann ſie nicht vergeſ - ſen; ſie hat ſich ſeinem Gemuͤth einge - druͤckt, als das Herz ſeines Herzens, als die Seele ſeiner Seele. Id facere laus eſt, quod decet, non quod licet. Quod decet honeſtum eſt et quod honeſtum eſt decet.
Als bei den Griechen die Schrift noch nicht, oder wenig im Gebrauch war, er - klang die Sprache als ein lebendiges Wort; die Stimme des Dichters und ſei - nes Saͤngers war eine Aufbewahrerinn aller menſchlichen Empfindungen und Ge - danken. Daher die Geſtalt der aͤlteſten42 Poeſie in ihrem Reichthum an Bildern und Toͤnen, in ihrer Naturpracht und Na - turſchoͤnheit; aber auch in ihrer Wandel - barkeit, ihrer Ungewißheit, ihren Fehlern und Maͤngeln.
Mit Einfuͤhrung der Schrift ging der groͤßeſte Theil dieſes alten Worts zu Grabe; nur Weniges von ihm ward auf - behalten und allmaͤhlich geregelt. Mit Ein - fuͤhrung der Schrift kam Proſe auf, Ge - ſchichte und Beredſamkeit wurden ausgebildet; und wenn ſich jetzt die Poeſie neben ihnen hervorthun wollte, ſo lief ſie Gefahr, ſtolz, aufgeblaſen, und wo ſie vom lebendigen Vortrage ganz entfernt war, unverſtaͤndlich und ſchwindelnd zu werden. Eben nur der lebendige Vortrag hatte ſie ehmahls im Kreiſe einer ſchoͤ - nen Anſchaulichkeit erhalten; auf dem Theater, (die Choͤre ausgenommen,) erhielt43 er ſie noch lange in dieſem gluͤcklichen Kreiſe.
Da indeſſen bei einem ſo lebhaften Volk, wie die Griechen waren, auch das Geſchriebene zum lebendigen Vortrage geſchrieben war, indem Herodot z. B. einige Buͤcher ſeiner Geſchichte zu Olympia wie ein Gedicht vorlas, und in den grie - chiſchen Republiken die oͤffentliche Bered - ſamkeit jeder Art des Vortrages, ſelbſt der Philoſophie den Ton angab: ſo mußte nothwendig auch in Schriften der Grie - chen ſich lange Zeit jene alte, wenn ich ſo ſagen darf, poetiſche Weiſe erhalten: zu ſchreiben als ob man ſpraͤche. Schreibend trug man vor; man ſchrieb gleichſam laut und oͤffentlich, als ob zu jedem Buch ein Vorleſer, wie ſein Genius gehoͤrte. Ohne Zweifel iſt dieſes die Urſache, warum in der Proſe der griechiſche Periode44 ſo kuͤnſtlich und ſchoͤn, wie in keiner an - dern Sprache ausgebildet worden; der offne Mund der Griechen, die Poeſie die ihm vorging und der oͤffentliche Redevortrag, der den Rhapſodieen der Poeſie folgte, hatten ihn geformet.
Bei den Roͤmern nicht anders: denn auch bei ihnen herrſchte die Beredſam - keit, und der oͤffentliche Vortrag. Ihre Gedichte laſen ſie oͤffentlich vor; aus Perſius, Juvenal, Plinius u. a. wiſſen wir, mit welcher Sorgfalt, mit wel - chem Aufwande von Kunſt, zuletzt von Ziererei und Thorheit.
Bei Griechen und Roͤmern war das Buͤcherweſen anders wie bei uns be - ſtellt. Man las viel weniger: große Bi - bliotheken waren ſelten und die Buͤcher - materialien koſtbar. Man ſchrieb alſo auch weniger. In Rom ſchrieb nicht jeder Sklave45 und Buͤrger; ſondern nur die zur Gelehr - ſamkeit oder zu Geſchaͤften Erzogene; Men - ſchen von gutem Ton, Feldherren, Staats - maͤnner, Kaiſer. Man hielt das Schrei - ben fuͤr etwas Edles, und aufs beſte zu ſchreiben fuͤr einen Ruhm, der laͤnger als ein Triumph waͤhrte.
Man nahm ſich daher im Schreiben eine beſtimmte Bahn; Zeitgenoſſen und Freunde theileten ſich in dieſes oder jenes Feld der Bearbeitung, und wie die Roͤmi - ſche Sprache imperatoriſch gebot, ſo liebte ſie auch in der Schreibart die Kuͤrze, die Beſtimmtheit. Oft kehrte man den Styl um und loͤſchte aus; man glaͤttete und zierte wie die Schreibtafel, ſo auch die Gedanken.
Der muͤhſamere Weg, wie man damals zu Buͤchern kommen konnte, machte Buͤ - cher auch werther; bei einem hoͤheren Be -46 grif von dem, was ſie enthielten, wandte man auch mehr Fleiß auf das, was ſie enthalten ſollten. Welchen Werth legte Horaz auf ſeine wenigen Schriften! lange polirt ließ er Ein kleines Buch nach dem andern erſcheinen, das bei uns wie ein Tropfe in den Ocean fließen wuͤrde. Hoͤchſt ausgearbeitet ſind Virgils Werke; und dennoch war ihm die Aeneis nicht ausge - arbeitet gnug. Er wollte, daß ſie ihn nicht uͤberlebte. So ſorgfaͤltig hervorgetrieben ſind faſt alle Schriften, inſonderheit die Gedichte der Roͤmer. Mit drei kleinen Buͤchern ſeiner Elegieen wollte Properz vor der Proſerpina erſcheinen; in ſie alle Schoͤnheiten der griechiſchen Elegie gebracht zu haben, dieſe Ehre war der Zweck ſei - nes Lebens. Setzet ihn, ſetzet Horaz und wen ihr wollet, in unſre Buͤcherrei - chen Zeiten; ſchwerlich haͤtten ſie mit ſo47 viel Zuverſicht, mit ſo umfaſſendem, tief - dringendem Fleiße gedichtet. Bis zu Boë - thius und Auſonius hin iſt faſt jedes kleinſte Roͤmiſche Werk ein Moſaik, ein gearbeitetes Freſko - oder Miniatur - gemaͤhlde.
Jedermann iſt bekannt, daß in den mittleren Zeiten die Barbarei eines Theils auch vom Mangel an Buͤchern und Schreibmaterialien herkam. Wie man - che ſchoͤne Schrift der Alten ward von den Moͤnchen unwiderbringlich verloͤſcht, da - mit ſie auf das dadurch gewonnene Perga - ment ihre Chorgeſaͤnge und Homilien ſchrei - ben konnten. Heil dem Erfinder des Lum - penpapiers; wo er begraben liege, Heil ihm! Mehr als alle Monarchen der Erde hat er fuͤr unſre Literatur gethan, de - ren ganzer Betrieb von Lumpen ausgeht und ſo oft in Maculatur endet! Wie der48 Sonnenſchein die Fliegen, ſo hat Er Schriftſteller geweckt und die Soſien be - reichert.
Denn man bemerke. Eben in dem Jahrhunderte, in dem das Lumpenpapier in Gebrauch kam, traten auch jene laͤnge - ren Romane hervor, die vorher Jahr - hunderte lang kurze Volksmaͤhrchen oder Lieder und Fabeln geweſen waren. Wie ent - fernt z. B. hatte Karl der groſſe vom Erzbiſchof Turpin, Koͤnig Artus von Gottfried von Monmouth, Wolf - Dietrich von Eſchilbach und jeder an - dre Romanheld von ſeinem Chronik - oder Romanſchreiber gelebet! Keiner von dieſen Schreibern erfand die Fabel, die er in die Buͤcherſprache brachte; ſie war laͤngſt im Munde der Saͤnger oder des Volks ge - weſen und in ihm vielfach veraͤndert wor - den. Jetzt nahm ſie der Genius der Un -ſterb -49ſterblichkeit auf: denn das Lumpenpapier war erfunden. Allgemach lernte man le - ſen, da man ſonſt den Saͤnger und Fabel - erzaͤhler nur hatte hoͤren koͤnnen.
So vermehrten ſich Chroniken, Romane, allmaͤlich auch Abſchriften der Alten. Waͤre die Erfindung des Lumpenpapiers fruͤher gekommen, wie viel weniger waͤre unter - gegangen! wie viel Schaͤtzbares haͤtten wir ihr zu danken! Und noch ſind wir ihr ſo - wohl durch Ueberſchreibung aus aͤlteren Pergamenten, als durch die von ihr veran - laßte Umarbeitungen alter Sagen und ſonſt, Viel ſchuldig.
Was indeſſen ehemals das Aegyptiſche Schilf (〈…〉〈…〉) gethan hatte, daß es naͤm - lich die Griechiſchen Rhapſoden allmaͤlich verſtummen machte und ſtatt ihrer leben - digen Geſaͤnge Buͤcher (〈…〉〈…〉) in die Hand gab; das thaten mit der Zeit auchAchte Samml. D50die Baumwoll - und Lumpenſchrif - ten. Provenzalen und Trobadoren, Fabel - und Minneſinger ſchwiegen allmaͤlich: denn man ſaß und las. Je mehr ſich Schrif - ten vermehrten, deſto mehr verminderten ſich ganz eigenthuͤmliche, freie Gedanken; endlich ward der menſchliche Geiſt ganz in Lumpen gekleidet. Auf dieſe ward geſchrie - ben, was man leſen und nicht leſen wollte; mochte es am Ende ſich ſelbſt leſen! —
Nun trat die Buchdruckerei hin - zu, und gab beſchriebenen Lumpen Fluͤ - gel. In alle Welt fliegen ſie; mit jedem Jahr, mit jeder Tagesſtunde vom erſten erwachenden Morgenſtral an wachſen die - ſer literariſchen Fama die Schwingen, bis an den Rand der Erde. Jenes Orakel: „ wenn Menſchen ſchweigen, ſo werden die Steine ſchreien, “iſt erfuͤllt; woruͤber Menſchenſtimmen ſchweigen, dar -51 uͤber ſprechen und ſchreien gegoſſene Buch - ſtaben, merkantiliſche Hefte.
Nach ſo vielen andern eine Lobrede der Buchdruckerei zu halten, waͤre ein ſehr unnoͤthiges Werk; wir wiſſen alle, was wir an ihr haben. Nur durch ſie, erſt durch ſie iſt zuſammenhangende und ver - glichene Erfahrung des menſchlichen Ge - ſchlechts, Kritik, Geſchichte, und eine Welt der Wiſſenſchaften worden.
Aber auch was wir an ihr nicht ha - ben, iſt zu bemerken: was ſie naͤmlich nicht geben kann, ja worinn ſie ſtoͤret. Eignen Geiſt naͤmlich kann ſie nicht geben; lebhaf - teren, tieferen Genuß an der Quelle des Wahren, Guten und Schoͤnen mag ſie durch die unzaͤhlbare Concurrenz fremder Gedanken hier befoͤrdern, dort aber auch hindern.
D 252Mit der Buchdruckerei naͤmlich kam Alles an den Tag; die Gedanken aller Nationen, alter und neuer, floſſen in ein - ander. Wer die Stimmen zu ſondern und Jede zu rechter Zeit zu hoͤren wußte, fuͤr den war dies große Odeum ſehr lehrreich; andre ergriff die Buͤcherwuth; ſie wurden verwirrte Buchſtabenmaͤnner und zuletzt ſelbſt in Perſon gedruckte Buchſtaben.
Von Anbeginn iſt dies nicht alſo ge - weſen. Urſpruͤnglich dachte der Menſch, er handelte und genoß, er ſprach und hoͤrte. Wenn er ſchreiben konnte, ſchrieb er, nur aber was zu ſchreiben war; nicht ward er ſelbſt, ohne zu ſehen und zu hoͤren, ein ſchreibender Buchſtab; jetzt — — —
Iſt deſſen die menſchliche Natur faͤhig? kann ſie es ertragen? verwirren ſich in dieſem gedruckten Babel nicht alle Gedan - ken? Und wenn dir jetzt taͤglich nur zehn53 Tages - und Zeitſchriften zufliegen und in jedem nur fuͤnf Stimmen zutoͤnen; wo haſt du am Ende deinen Kopf? wo behaͤltſt du Zeit zu eignem Nachdenken und zu Ge - ſchaͤften? Offenbar hats unſre gedruckte Lite - ratur darauf angelegt, den armen menſch - lichen Geiſt voͤllig zu verwirren, und ihm alle Nuͤchternheit, Kraft und Zeit zu einer ſtillen und edlen Selbſtbildung zu rauben. Selbſt in der Geſellſchaft ſind die menſch - lichen Stimmen verhallet; Romane ſpre - chen und Journale.
Diderot hat irgendwo die Frage an ſich gethan, die wohl jeder thut, wenn er aufs Land oder auf eine Reiſe gehet: „ welche Buͤcher er als Freunde mit ſich nehmen moͤchte? “ Wie im Leben ſo hat auch im Leſen der Mann von Herz nur wenige gepruͤfte Freunde; und bei eigner Compoſition bleibet er gern allein.
54Wuͤrden Homer und Sophokles, Horaz, Dante und Petrarca, wuͤr - den Shakeſpeare und Milton ihre Werke im Kreiſe unſrer Buͤcher - und Leſe - welt gemacht haben? Schwerlich.
Denn unverkennbar iſts, daß jemehr durch die Buchdruckerei die Werke aller Nationen allen gemein wurden, der ruhige Gang eigenthuͤmlicher Compoſition großen - theils aufgehoͤrt hat. Wer fuͤrs Publicum ſchreibt, ſchreibt ſelten mehr ganz fuͤr ſich als den innerſten Richter; daher Paſcal und Roußeau unter ſo vielen Autoren ſo wenige Menſchen fanden. Wird nun das Publikum gar wie ein blinder Mauleſel gelenkt, und ſchmeichelt der Schriftſteller der Zunft, die es aͤffet und leitet: „ wie biſt du vom Himmel gefallen, du ſchoͤner Morgenſtern? “moͤchte man ſo - dann jedem Schriftſteller ſagen, der aus55 Noth oder Feigheit dem haͤßlichen Goͤtzen, Modegeſchmack, dienet.
„ Schreibe! “ſprach jene Stimme und der Prophet antwortete: fuͤr wen? Die Stimme ſprach: „ ſchreibe fuͤr die Todten! fuͤr die, die du in der Vorwelt lieb haſt. “— „ Werden ſie mich leſen? “— „ Ja: denn ſie kommen zuruͤck, als Nachwelt. “—
„〈…〉〈…〉,〈…〉〈…〉! „ Enthalte dich, dul - de! “ Sind wir denn mit der Literatur aller Welt vermaͤhlet? Iſt kein Riegel zu finden, der uns gegen das Andringen ſchwarzer Buchſtaben ſchuͤtze? kein Seil zu finden, das uns am Maſtbaum halte, indem wir mitten durch den Geſang Derer, die da wiſſen, was war, iſt und ſeyn wird, gerade hin durchfahren? Gehoͤrt fremden Meinungen unſer Geſchmack und Verſtand, unſer Wille und Gewiſſen? Ge - hoͤren den Seele-Verkaͤufern unſere Seelen?
57Wahr iſts. Mit der Buchdruckerei hat ſich im Reich der Gedanken Vieles geaͤn - dert, und es kann wohl ſeyn, daß wenn die Wiſſenſchaften durch ſie ſteigen, der Geſchmack ſich durch ſie verwirren, Genie, und Sitten endlich vielleicht gar zu Grunde gehen muͤßten, wenn ſich nicht ein huͤlf - reicher Genius des menſchlichen Geſchlechts annaͤhme. Laſſen Sie uns aber an die - ſem huͤlfreichen Genius nicht zweifeln.
Ehe Buchdruckerei da war, ging jede Europaͤiſche Nation in einem engeren Be - zirk von Ideen umher; ihr Charakter war vielleicht veſter. Durch Reiſen und Leſen iſt allem Boͤſen und Guten fremder Na - tionen die Thuͤr geoͤfnet, und wenn es ſich durch den Namen Geſchmack, „ neuer, fremder Geſchmack “Aufmerkſamkeit erwerben kann, ſo hat es ohne weitere Ueberlegung die Menge fuͤr ſich. Welchen58 Thorheiten haben wir nicht nachgeahmt? welchen werden wir noch nachahmen! Nicht etwa nur im Spaniſchen, Engliſchen, Fran - zoͤſiſchen, Griechiſchen, Ebraͤiſchen, ſelbſt im Arabiſchen, Tatariſchen, Sineſiſchen Geſchmack haben wir Deutſche geſungen und gedichtet. Die Sprache aller Wiſſen - ſchaften, Bilder und Ausdruͤcke der ver - ſchiedenſten Voͤlker ſind in unſre Poeſie, in jeden Vortrag, der das Volk angehen ſoll, gefloſſen, ſo daß von jener Tonhal - tenden, gleichmuͤthigen Denk - und Schreib - art, in welche Griechen und Roͤmer das We - ſen der Schreibart ſetzten, wenige einen Be - griff zu haben ſcheinen. Aus allen Voͤlkern wird fuͤr alle Voͤlker, aus allen Sprachen fuͤr alle Sprachen geſchrieben; die ſubtilſte Abſtraction und die niedrigſte Popularitaͤt, finden in demſelben Buch, oft auf derſel - ben Seite neben einander Raum. Wenn59 wir das Richtmaas, das Emanuel John - ſon an einige Engliſche, von ihm ge - nannte metaphyſiſche Dichter ange - legt hat, an jede Production unſrer Spra - che anlegen wollten, wo ſtuͤnden Wir?
Vor der Buchdruckerei war es moͤglich, dieſe und jene Schrift vor dieſen und jenen Augen zu verbergen; kaum iſt dieſes jetzt mehr moͤglich. Alles lieſet Alles, es moͤge von ihm verſtanden werden, oder nicht; nach der verbotnen Speiſe luͤſtet man am meiſten. Und da die Thorheit Derer, die dies zu fruͤhe, zu viele, zu vermiſchte Le - ſen auf die unvorſichtigſte Art befoͤrdern, mit dem Eigennutz, dem Stolz, der Eitel - keit, dem Erwerb andrer im veſteſten und ſchaͤdlichſten Bunde ſtehet; ſo kann nur Eine Macht in der Welt dieſen Unfug hemmen. Es iſt beſſere Erziehung, die ihre Zoͤglinge nicht erſt durch Schaden60 klug werden laͤßt; und ein ſtiller Bund aller Guten unter einander, nichts Un - wuͤrdiges zu verbreiten, oder zu loben. Moͤge Gift miſchen, wer da will, und das am feinſten gemiſchte Gift die lauteſten Ausrufer finden; von uns ſei der Giftmi - ſcher, ſo wie der Ausrufer verachtet. Mit der Verwirrung des Geſchmacks und dem Deſpotismus fabricirender Schriftſtellerei iſts ſo weit gekommen, daß da das Schlechteſte ohn alles Erroͤthen auf die un - verſchaͤmteſte Weiſe gelobt werden darf, dieſer unverſchaͤmte Deſpotismus ſich ſelbſt ſeinen Fall bereitet. Er muß ſich ſelbſt einen Widerſtand erwecken, der ihn ein - ſchraͤnke und bezaͤume; oder wir gehen durch unſre Licenz zu Grunde: denn da durch die Buchdruckerei die Kritik ſelbſt feil geworden iſt; ſo hat ſie auch bei den Niedrigſten ihr Anſehen verlohren. 61Ihre Faſcen gelten ſo wenig mehr als ihr Lorbeer.
Ich komme zuruͤck auf meinen Bund der Freunde. Wie die Buchdruckerei, ſo wird die Kupferſtecherkunſt gemißbraucht; jene hat den Geſchmack in Werken des Geiſtes, dieſe in Werken der Kunſt bei - nahe zu Grunde gerichtet. Nur Ein Mittel iſt gegen ſie wirkſam, entſchloſſene aͤußerſte Verachtung. Niemand kaufe ein Buch, das ſchlechter Kupferſtiche wegen da iſt; niemand beſudle mit dieſen Ver - derberinnen des Geſchmacks ſeine Waͤnde: denn ſo wie durch ſchlechte Buͤcher gute verhindert werden, ſo wird durch ſchlechte Kupferſtiche die wahre Kunſt getoͤdtet. Aegyptiſche Schwarzkuͤnſtler wol - len wir die heiſſen, die dieſe beiden großen Erfindungen unſrer Nation zu62 einem niedrigen Erwerb entweihet ha - ben, und Schwarzkuͤnſtlerknechte diejenigen, die ihnen zu ihrer ſchaͤnd - lichen Fabrikwaare artiſtiſch oder litera - riſch helfen.
Großen Begebenheiten ſind immer Revo - lutionen des Geſchmacks gefolget. Ohne in die Geſchichte der Griechen und Roͤmer, der Moͤnchs - und Ritterzeiten zuruͤck gehen zu duͤrfen, ſehen wir dies inſonderheit in den Jahrhunderten, die der Reformation vorangingen und ihr folgten.
64Europa ward allgemach ruhiger. Staͤdte, Handel, Gewerbe, mit ihnen auch einige Kuͤnſte fingen an zu bluͤhen; nach und nach verfeinte ſich der Geſchmack mit ihnen. Dante, Petrarca, Boccaz erſchienen; es erwachten die Alten in ihren Graͤbern. Conſtantinopel ward erobert; die Griechen flohen nach Italien; und es entſtand ein Enthuſiasmus ohne Seinesgleichen. Die ſchoͤnen Kuͤnſte und die Literatur der Alten war, wiefern es die Zeit geſtattete und angab, auf ihrem hoͤchſten Gipfel.
Die Entdeckung fremder Welttheile, ein veraͤnderter Zuſtand der Finanzen, des Krieges, der Staͤnde folgte; die Buch - druckerei kam in Gang; ihr folgten neue, zumal Naturwiſſenſchaften; dies Alles laͤu - tete der Poeſie der mittleren Zeiten voͤllig zu Grabe. Die Entdeckung fremder Welt - theile mochten ſpaͤterhin Camoens, Er -cilla65cilla u. a. ſingen; der Gegenſtand war groß und neu; Wunder der Natur, unge - ſehene Dinge wurden beſchrieben; in Wiſ - ſenſchaften kam ein neues Univerſum zum Anblick; und doch thaten die Geſaͤnge von ihnen bei weitem nicht die Wirkung, die einſt vielleicht ein kleiner Fabelgeſang ge - than hatte. In dem Verhaͤltniß, als hie und da der Reichthum, die Pracht und Freigebigkeit alter großer Familien ſank, erloſch auch der Glanz ihrer alten Thaten; mit ihren Hofhaltungen gingen auch ihre Lobgeſaͤnge hinunter. —
Die Reformation endlich und die Phi - loſophie, die ihr folgte, ſchuffen der Poeſie voͤllig eine andre Zeit. Jahrhunderte lang hatte man Klagen angeſtimmt uͤber den verderbten Zuſtand der Cleriſei und aller Staͤnde; die Zeit war gekommen, da die Erbitterung aufs hoͤchſte ſtieg, und nichtAchte Samml. E66minder in Verſen als in Proſe ihre ſchar - fen Pfeile abſchoß. Eine Menge Satyren dieſes Inhalts, zum Theil voll Geiſt und Herz, erſchienen; Schade, daß ſie ſich mit der Zeit ſelbſt uͤberlebt haben: denn dau - rende Geſaͤnge konnten ſie nicht bleiben. Die Reformation ſelbſt iſt weniger eines heroiſchen Lob - als eines philoſophiſchen Lehrgedichts faͤhig; die Verdienſte der Re - formatoren zeigen ſich wuͤrdiger in ihren Lebensbeſchreibungen und eignen Schriften als in Heldengeſaͤngen und Oden. Ueber - haupt verjagte das neue Licht und die zu - gleich mit ihm aufkommende Streittheolo - gie aller chriſtlichen Partheien in Europa ſowohl die Schatten des Aberglaubens, als manche ſchoͤne Einkleidungen, die fuͤr die Einfalt der mittleren Zeiten ſehr weiſe erſonnen waren.
67Hier beginnet nun eine große Schei - dung der Voͤlker. Nationen, die ihrem alten Lehrſyſtem zugethan blieben, hielten auch an ihrer alten Dichterweiſe, z. B. Italiaͤner, Spanier und andre Katholiſche Voͤlker. Je fruͤher ſie zum guten Geſchmack gelangt waren, je vielſeitiger er ſich bei ihnen eingewurzelt hatte, je groͤßere Vor - bilder ſie beſaßen: deſto veſter hingen ſie an ihren Stanzen und Reimen. Italien ließ ſich ſeinen Dante und Petrarka; Spanien ſeinen Lope, Garcilaſſo u. f. nicht nehmen; auch hat ſich ſeitdem das Aeußere ihrer Poeſie voͤllig erhalten, ob - gleich deßwegen, wie man oft glaubt, der Geiſt dieſer Nationen ſeitdem nicht ſtill - ſtand. Die alten Formen duͤnkten ihnen gut; und ſie goſſen darein, wenn der Ge - nius ſie antrieb, neue Gedanken.
E 268In der proteſtantiſchen Welt dagegen kam eine neue Poeſie auf. Nicht etwa nur Gegenſtaͤnde der Religion wurden durch das Medium der neuen Aufklaͤrung geſehen, ſondern die geſammte Vorwelt ward durch eben dieſes Medium betrachtet. In Spanien und Italien haͤtten Shake - ſpeare, Milton, Buttler u. f. nicht ſchreiben koͤnnen, wie ſie ſchrieben; eine Freimuͤthigkeit im Denken, die ein Vor - bote der Philoſophie war, hatte ſich in den proteſtantiſchen Laͤndern uͤber Manches ſchon verbreitet; andern Gegenſtaͤnden nahte ſie ſich nach eben der Regel. Unvermerkt alſo nahm die Poeſie der neuen Glaubens - Verwandten eine philoſophiſche Huͤlle um ſich, die der Sinnlichkeit vielleicht ſchadete, dem menſchlichen Geiſt aber nothwendig war. Ein Italiaͤner z. B. wird in den meiſten Oden der Englaͤnder durchaus nichts69 lyriſches finden, da ihnen, ſeinem Ohr und Auge nach, Wohlklang, Fortleitung und Beſtandheit der Bilder, Zuſammen - hang der Empfindung, kurz Melodie und Harmonie fehlet. W. Jones zergliedert hinter ſeinem Commentar uͤber die Poeſie der Morgenlaͤnder den Anfang von Mil - ton's Paradieſe und kann in ihm nach morgenlaͤndiſcher Weiſe nichts poëtiſches finden. Vielen Deutſchen Dichtern wuͤrde es nicht beſſer ergehen: denn offenbar ſind die meiſten nur durch Reflexion Dich - ter. In den aͤltern Zeiten, in denen man ſich der Natur freier hingab, dieſe in ſich ſtehen und auf ſich unbefangen wirken ließ, oder ſie, ſo gut mans vermochte, zur Kunſt umſchuf, war und blieb man ein Natur - faͤnger, der auf gleichgeſtimmte Gemuͤ - ther ſeine Wirkung nicht verfehlte. In mancher alten Engliſchen Ballade iſt viel -70 leicht mehr freier Wohlklang und poëtiſcher Geiſt, als in Young und Pope mit ein - ander. Durch Reflexion ſind dieſe Poëten; eine denkende iſt die Brittiſche Muſe.
Seit der Reformation und dem hell - aufgegangnen Licht der Wiſſenſchaften ge - langen alſo keine perſoͤnlichen Hel - dengedichte mehr, mit dem Wunder - baren der alten Zeit bekleidet. Arioſt konnte die Maͤhrchen, die man ehemals geglaubt hatte, ſeinen Italiaͤnern zierlich in Stanzen kleiden; ihm und ihnen waren ſie Zeitkuͤrzende Maͤhrchen, die niemand glauben ſollte. Uns kann Wieland die Geſchichte Huons mit allem Zauber der Feenwelt darſtellen; in ſeinem Maͤhrchen iſt Oberon eine ſo wahre Perſon wie Huon und Karl der große. Wenn aber Taſſo eine fuͤr wahr gehaltne Reli -71 gion mit in ſeine Dichtung miſchte: ſo ſtehen beide ſchon nicht auf Einem Grunde; ſelbſt dem Katholiſchen Glauben nach wird er in dieſen zwiſchen Wahrheit und Trug gemiſchten Scenen eine ſchwaͤchere Wir - kung hervorbringen, als die ein reines Maͤhrchen hervorbraͤchte. Proteſtanten wer - den den Milton wie einen Bramante und Michael Angelo bewundern; ſchwer - lich aber ſein Gedicht mit ſo ungeſtoͤrtem Glauben leſen, wie ſie ein reines Maͤhr - chen leſen wuͤrden; das Religions-Syſtem ſchadet ſeinem Gedichte. — Hiſtoriſche Epopeen haben daher in der neueren Zeit faſt keine Wirkung gethan, weil ihnen als Gedichten durchaus der Glaube fehlet. Das Zeitalter der Eliſabeth, ob ſie gleich ſelbſt eine Dichterinn war und Schmeicheleien ſehr liebte, ward nur in Sonnetten be - ſungen, oder in Allegorieen; Cromwell72 und die Wiederherſtellung Karls II. nur in Oden geprieſen. Auch mit groͤße - ren Talenten als Chapelain hatte, waͤre ſeine Jeanne d' Arc ſo wenig die blei - bende National-Heldinn einer Epopee ge - worden, als wenig es Voltaire's Hein - rich der vierte worden iſt. Nur in Stel - len kann ſeine Henriade etwa als ein phi - loſophiſches Lehrgedicht gelten: der Streit zwiſchen Dichtung und Geſchichte iſt und bleibt in ihr widrig. Auch kein Held der Deutſchen hat hinter Ottnitt, Diet - rich von Bern, dem Koͤnige Giebich und dem Zwergenkoͤnige Laurin den Epi - ſchen Lorbeer erlangen moͤgen, weder Hein - rich der Befreier Deutſchlands, noch Ma - ximilian, Guſtav Adolph u. f. Durch eine aufrichtige Beſchreibung ihrer Thaten werden ſie mehr geehrt, als durch eine mit Wahrheit gemiſchte Fabel, der am Ende73 Niemand glaubet. Wir ſind aus dieſer Daͤmmerung hinaus, und wollen durchaus Maͤhrchen als Maͤhrchen, Geſchichte als Geſchichte leſen. Ein Theil der platoni - ſchen Geſetzgebung in Anſehung der Dich - ter iſt alſo ohne Hinaustreibung derſelben blos und allein durch die linde Hand der Zeit bewirkt worden; eine verwirrte Mi - ſchung der Fabel und Wahrheit widerſtehet unſerm Gedankenkreiſe.
Was vom Lobe geſagt iſt, gilt auch vom Tadel; die echte Muſe haſſet auch in ihm alles zu Bittere, geſchweige die Verlaͤumdung. Warum fallen perſoͤnliche Satyren ſobald in Vergeſſenheit oder Ver - achtung? Ihrer Ungerechtigkeit und Ueber - treibung, kurz des unedlen Gemuͤths we - gen, das der Begeiſtrung einer Muſe nicht werth war. Es giebt z. B. kaum ein witzigeres, ein lehrreicheres Gedicht gegen74 die Schwaͤrmerei, als Butlers Hudi - bras iſt; auch hat es zur damaligen Zeit ſeinen Zweck mehr erreicht, als wenn der Dichter auf den koͤniglichen Maͤrty - rer das froͤmmſte Heldengedicht geſchrieben haͤtte; wer indeſſen wird es jetzt ohne eini - gen Ueberdruß, wenigſtens ohne den Wunſch leſen, daß ſein Verfaſſer die Gabe der Muſe, die er beſaß, edler angewandt haͤt - te? — Swift, vielleicht der ſtrengſte Ver - ſtandesmann, den England unter ſeine Schriftſteller zaͤhlet, der unbeſtochenſte Rich - ter in Sachen des Geſchmacks und der Schreibart, gab ſich von boͤſen Zeitverbin - dungen gelockt, ins Feld der Satyre; — wer aber iſt, der von Anfange bis zu Ende ſeines Lebens ihn deßwegen nicht bitter beklaget? So treffend ſeine Streiche, ſo vernuͤnftig ſeine Raſerei in Einkleidungen und Gleichniſſen ſeyn mag, wie anders ſind75 ſeine Saͤtze und Spruͤche, wo er reine Vernunft redet! Alles, was die Eng - laͤnder Humour nennen, iſt Uebertrei - bung; ein verzeihlicher Fehler der Natur, der hie und da zur Schoͤnheit werden kann, nur aber zu einer National - und Zeit - ſchoͤnheit. Die Alten kannten das Rei - zende eines kleinen Eigenſinnes auch; ſie waren aber weit entfernt, die ganze Ge - ſtalt eines Menſchen als Unform dieſem Einen Zuge aufzuopfern. Nur dahin iſt Humour zu ſparen, wohin er gehoͤret; und die gemeine humoriſtiſche Poeſie hat das Ungluͤck, daß ſie ſich mit der Stunde ſelbſt uͤberlebet.
Was vom Lobe und Tadel gilt, gilt auch von der ſogenannten poetiſchen Beſchreibung. Alle Poeſie iſt von der Zeit abgedankt oder wird von ihr abge - dankt werden, die durch Bilder und Gleich -76 niſſe die Sache ſelbſt, die durch Farben und Zierrath das Bild verdunkelt. So manche poetiſche Landbeſchreibung der Englaͤnder ſteht da, daß ſie uns mit ſehen - den Augen blind mache; ſo manche andre, daß wir bei Umſchreibungen bekann - ter Gegenſtaͤnde oder Begriffe gar nichts denken ſollen. Die meiſten meta - phyſiſchen Gedichte aller Nationen hat ein neues Syſtem der Folgezeit ſanft in Vergeſſenheit gebracht; die Dichtkunſt vollends, die unter dem Vorwande, neue Erfindungen zu ſchildern, und das Woͤr - terbuch neuer Kuͤnſte und Handwerke poë - tiſch zu ergaͤnzen ſich anmaaßt, ſie gehoͤrt voͤllig unter die unfreien Kuͤnſte. Der Muſe ſind beſſere Schilderungen angewieſen, als die, worinn ſie der Handwerker ſelbſt durch eine ſchlichte Erzaͤhlung bei Vorzei - gung der Inſtrumente uͤbertreffen moͤchte.
77Endlich das Unmoraliſche des Dich - ters. Hier hat die Zeit gewaltſam den Vorhang aufgezogen und in ihrem ſtren - gen Gericht keiner falſchen Grazie geſcho - net. Wo ſind die — — —? Wo ſind ſie? Wer will, wer mag ſie leſen? Und nicht auf unzuͤchtige Dichter allein geht dies Ur - theil des Rhadamanthus, ſondern auch auf jeden widernatuͤrlichen, wahre Ver - haͤltniſſe des Lebens zerſtoͤrenden Dichter. Wie manches Beiſpiel haben wir auch hier - uͤber ſchon erlebet! Dies Licht, dieſen Tag haben Reformation, Philoſophie und der unbeſtechliche Zeuge in uns, das reine Menſchengefuͤhl verbreitet.
Der Unterſchied, den das Fragment zwi - ſchen Poeſie aus Reflexion und (wie ſoll ich ſie nennen?) der reinen Fabel - poeſie macht, iſt mir aus der Geſchichte der Zeiten, auf die das Fragment weiſet, ganz erklaͤrlich worden. So lange naͤmlich der Dichter nichts ſeyn wollte, als Min - ſtrel, ein Saͤnger, der uns die Begeben - heit ſelbſt phantaſtiſch vors Auge bringt und ſolche mit ſeiner Harfe faſt unmerk - lich begleitet, ſo lange ladet der gleichſam blinde Saͤnger uns zum unmittelbaren Anſchauen derſelben ein. Nicht auf ſich79 will er die Blicke ziehen, weder auf ſein graues Haar, noch auf ſein Gewand, noch auf den Schmuck ſeiner Harfe; er ſelbſt iſt in der Viſion der Welt gegenwaͤrtig, die er uns ins Gemuͤth ruft.
Dies war der Ton aller Romanzen - und Fabelſaͤnger der mittleren Zeit, und (um bei der Engliſchen Geſchichte zu blei - ben, aus der das Fragment Beiſpiele ho - let) es war noch der Ton Gottfried Chaucers, Edmund Spenſers und ihres Gleichen. Der erſte in ſeinen Can - terbury-Tales erzaͤhlt voͤllig noch als ein Troubadour; er hat eine Reihe ergoͤz - zender Maͤhrchen zu ſeinem Zweck der Zeit - kuͤrzung und Lehre, charakteriſtiſch fuͤr alle Staͤnde und Perſonen, die er erzaͤhlend einfuͤhrt, geordnet; Er ſelbſt erſcheint nicht eher, als bis an ihn zu erzaͤhlen die Reihe kommt, da er denn ſeinem Charakter nach80 als ein Dritter auftritt. So Spenſer, obgleich Er ſchon weit kuͤnſtlicher ſinget, indem er die Geſtalten ſeiner Welt ſchon emblematiſch ordnet. Der Fehler, den man ihm zur Laſt gelegt hat,*)Warton on Spenſer's Fairy-Queen u. a. Wenn wir den gelehrten Fleiß betrachten, den die Englaͤnder auf ihre alten Dichter z. B. Warton auf Spenſer, Tyrwhit auf Chaucer, Percy auf die Balladen, und ſo viele, viele der beleſenſten Maͤnner auf ih - ren Shakeſpeare und ihr altes Theater gewandt haben; und ſodann Uns betrachten — was ſagen wir? daß jedes ſeiner Buͤcher ein fuͤr ſich beſtehendes Ganze ſei, iſt ja eben die Natur und der Zweck ſeiner Erzaͤhlung; uͤbrigens hat er ſeine Ritter - und Feengeſtalten viel vorſichtiger, als Arioſt geordnet. — —
Zur81Zur Zeit der Reformation verſchwand mit der Welt ſolcher Geſaͤnge, der Ritter - und Feenwelt, auch die Art ihrer Dar - ſtellung; die Dichter waren nicht mehr einfache Saͤnger fremder Begebenheiten, ſondern gelehrte Maͤnner, die uns das Gebaͤude ihres eignen Kopfs zur Schau bringen wollten, indem ſie daſſelbe wohl durchdacht niederſchrieben, damit wirs leſen. Dies giebt allem eine andre Art und Geſtalt. Laſſen Sie mich zu dem Zweck einige Engliſche Dichter Partheilos durchgehn.
Von Shakeſpeare fangen wir an. Er ſtehet zwiſchen der alten und neuen Dichtkunſt, als ein Inbegriff beider da. Die Ritter und Feenwelt, die ganze Eng - liſche Geſchichte, und ſo manch anderes intereſſantes Maͤhrchen lag vor ihm auf - geſchlagen; er braucht, erzaͤhlt, handeltAchte Samml. F82ſie ab, ſtellet ſie dar mit aller Lieblichkeit eines alten Novellen - und Fabeldichters. Seine Ritter und Helden, ſeine Koͤnige und Staͤnde treten in der ganzen Pracht ihrer und ſeiner Zeit vor, die in ſo man - chen Geſinnungen, und dem ganzen Ver - haͤltniß der Staͤnde gegen einander uns jetzt wie eine aus den Graͤbern erſtehende Welt vorkommt. Wie oft muͤſſen wir uͤber die wunderſame Einfalt und Befangenheit jener Zeiten laͤcheln! In dem Allen iſt er ein darſtellender Minſtrel, der Perſonen, Auftritte, Zeiten giebt, wie ſie ſich ihm gaben, und zu ſeinem Zweck dienten. Nun aber wenn er in dieſen Scenen der alten Welt uns die Tiefen des menſchlichen Her - zens eroͤfnet, und im wunderbarſten, jedoch durchaus charakteriſtiſchen Ausdruck eine Philoſophie vortraͤgt, die alle Staͤnde und Verhaͤltniſſe, alle Charaktere und Situa -83 tionen der Menſchheit beleuchtet, ſo milde beleuchtet, daß allenthalben das Licht aus ihnen ſelbſt zuruͤckzuſtrahlen ſcheinet: da iſt er nicht nur ein Dichter der neuern Zeit, ſondern ein Spiegel fuͤr theatraliſche Dichter aller Zeiten. Laßt dem alten gu - ten W. Shakeſpeare alles was ihm und ſeinen Zeiten gehoͤrt; gebt uns aber mit ſeiner unendlichen Beſcheidenheit, die nir - gend in Perſon repraͤſentirt, in welchen Geſtalten es ſei, ſo viel innere Charakte - riſtik, ſo viel tiefe und ſchneidende Wahr - heit, als Er aus ſeiner alten Welt uns darbrachte.
Mit Milton faͤngt ſich die neuere Engliſche Dichtkunſt an; mich duͤnkt, er zeige die Summe deſſen, was Reflexion in der Dichtkunſt zu leiſten vermoͤge. Der ungluͤckliche blinde Mann war in Zei - ten gefallen, in uͤble Zeiten
F 284fall'n on evil days,On evil days though fall'n and evil tongues,In darkneſs and with dangers com - paſſ'd round,And ſolitude; yet not alone —
Er rief ſeine Urania vom Himmel, die ihn im naͤchtlichen Schlummer oder am fruͤhen Morgen beſuchte und ſeinen Geſang beherrſchte. Dem gelehrten, ſtarkmuͤthi - gen Mann ſtand bei einer großen Kaͤnnt - niß der alten und Italiaͤniſchen Dichter auch eine Welt voll Sachen, inſonderheit aber ſeine Sprache dergeſtalt zu Gebot, daß er bei ſeinem erwaͤhlten Thema, an wel - chem Er ſich etwas ſehr Großes dachte, in jedem Wort und Laut, in jeder Zuſammen - ſtellung und Verknuͤpfung der Worte ſich eine eigene alt - neue claſſiſche Sprache nach Muſtern der Alten als Philoſoph und85 Meiſter ausſchuf. Sein großes Gedicht ſollte kein Maͤhrchen der alten Zeit, ſon - dern in Form der Erzaͤhlung ein heiliges Gedicht uͤber Himmel und Hoͤlle, uͤber Paradies, Unſchuld und Suͤnde, mithin eine Ausſicht uͤber unſer ganzes Geſchlecht werden. Nicht wollte er etwa blos Zeit - kuͤrzend vergnuͤgen, ſondern belehrend er - bauen, und ſeine Encyklopaͤdie von Wahr - heiten in einer heiligen Sprache veſtſtellend verewigen. Daher waͤhlte er weder Chau - cers Reime, noch Spenſers Stanzen; den praͤchtigen Jambus waͤhlte er, der in manchem Engliſchen Pſalm und alten Volksgeſange wie zur Trompete ertoͤnt, auch in Shakeſpear's tragiſchen Stuͤk - ken auf der Buͤhne viel Wirkung gethan hatte. Er brauchte ihn aber nicht wie Shakeſpear leicht und flieſſend; ſondern, dem Inhalt ſeines Gedichts und ſeinem86 Geiſt angemeſſen, wie in heroiſchem Schritt, obwohl abwechſelnd und mannigfaltig, den - noch eintoͤnig, praͤchtig und edel. Weder Young, noch Thomſon, weder Glo - ver noch Akenſide haben ihn hierinn erreichet. Jede Cadenz, jedes Bild und Gleichniß, jede ungewohnte Redart iſt von dem blinden Mann ſorgfaͤltig ausgedacht und an ihre Stelle geordnet. Vielleicht giebts keinen Engliſchen Dichter, der die viel - und einſylbigen Woͤrter dieſer faſt einſylbigen Sprache angenehmer zu wech - ſeln und die barbariſche Diſſonanz ſeiner Zeiten
— the barbarous diſſonance of Bacchus and his revelers
kunſtvoller von ſich zu treiben gewußt haͤtte, als Milton. Und wie in ſeinen beiden Paradieſen ward er in ſeinem Ly - cidas und Comus, in ſeinem Allegro87 und Penſeroſo, ſelbſt im Samſon und andern Gedichtarten in Anſehung der Spra - che und Anordnung der Gedanken, inſon - derheit in ſeinem muſikaliſchen Versbau, ein von ſeiner Nation noch unerreichtes Muſter. So lange die Engliſche Sprache lebt, wird Milton der Anfuͤhrer ihres Chorgeſangs in Jamben, der erzaͤh - lenden Naturbeſchreibung in eben dieſem Sylbenmaaße, und im Ausdruck des Affects jener monodiſchen Klage bleiben, die ſeine Nation nach ihm ſo viel - fach gebraucht hat. In jeder Zeile des Geſanges iſt Er der Vater eines poë - tiſchen Numerus und Rhythmus, den der blinde Barde mit Ueberlegung erfand und ſeiner unharmoniſchen Sprache mit ſehr harmoniſchem Ohr gleichſam aufzwang.
Neben Milton lebte Cowley, ein gleichfalls gelehrter, von ihm aber ſehr88 verſchiedener Dichter. Geuͤbt in der Spra - che der Roͤmer, durchdrungen von der Schoͤnheit der Natur, deren Pflanzen und Baͤume er mit liebendem Fleiß beſang; noch mehr durchdrungen von der prakti - ſchen Philoſophie der Alten (wovon ſeine ſchoͤnen Verſuche in Verſen und Proſe zei - gen,) hatte er dennoch das Ungluͤck, mit ſeiner ſogenannten Pindariſchen Ode ein glaͤnzend boͤſes Beiſpiel aufzuſtellen, dem man nur zu oft nachgefolgt iſt. Pindar naͤmlich in ſeiner Ode iſt nie trunken; jedes Bild, jede mythologiſche Geſchichte, ja jeder Spruch in ihm ſtehet umſchrieben da, und der ganze Gang des Geſanges iſt weiſe geordnet. Der boͤſe Geſchmack, der zu Cowley's Zeiten, inſonderheit an Hofe herrſchte, verfuͤhrte ihn, ſowohl in ſeinen Anakreontiſchen als Pindariſchen Oden ſtatt des Ausdrucks der Empfindung89 Pfeile des Witzes zu werfen, und hiezu Versart und Reim anzuwenden. Unter ſeinen witzigen ſind oft auch große Ge - danken, ja verſchiedne Oden waͤren ohne dieſe geſuchte Manier Muſter ſchoͤner Phantaſieen: denn es iſt in ihnen viele Wiſſenſchaft und viel Scharfſinn. Die Ode Cowley's iſt nachher von andern, Maſon, Grey, Akinſide u. f. ſittſa - mer, wohl auch gelehrter gemacht worden; ich zweifle aber, ob auch harmoniſcher im Sinne der Alten. Sie iſt und bleibt ein gothiſches Gebaͤude, unzuſammenhaͤngend und unuͤberſehbar in ihren Theilen, uͤber - trieben in Bildern, mit Zierrath uͤberla - den, in der Abwechslung des Rhythmus ungleich und unharmoniſch. Seitdem ſich gar die Laune oder Satyre derſelben be - dient hat, mißgoͤnnet man ihr den Name Ode ganz; Brittiſches Capriccio ſollte ſie90 heiſſen. — Cowley war alſo ſelbſt im Fehlerhaften ein Dichter aus Reflexion, oft nur ein witziger Dichter; demohnge - achtet aber iſt er ein guter Geſellſchafter, von dem man angenehm lernet.
Mit Cowley lebte Waller, und gab einer andern Manier den Namen, die den franzoͤſiſchen Artigkeiten nahe kommt; aber warum iſt ſie nur artig? Galanterie iſt eine Modeſchoͤnheit; ſie aͤndert ſich mit den Zeiten. Auch ſind von Waller faſt nur noch die Stuͤcke beliebt, die Empfindung verrathen. Von Prior, Littleton und wer auf eben dem Wege ging, gilt daſ - ſelbe. Die faſhionable Poetry der Eng - laͤnder hat ſich in Ausdruͤcken und Wen - dungen dergeſtalt wiederholet, daß man nicht nur bei jedem Reim den folgenden, ſondern oft auch bei der erſten Zeile des Stuͤcks die letzte zuvor weiß.
91Mit dem verderbten Hofe Karls II. ging die Herrſchaft des ſpielenden Witzes zu Ende; die brittiſche Muſe ward, was ſie Anfangs geweſen war, eine denkende Muſe.
Ich uͤbergehe die Beitraͤge Den - hams, Roskommons, Dorſet, Garths, zu Gruͤndung eines beſſern Ge - ſchmacks; Dryden voran, Pope nach ihm zeigten, worinn die Poeſie der Neue - ren am natuͤrlichſten beſtehe, naͤmlich in verſificirtem geſundem Verſtande. Beide Dichter, (mit ihnen Gay, Par - nell, Prior u. a.) haben faſt alle Ein - kleidungen verſucht, deren ihre Sprache faͤhig war; ſie konntens aber nicht weiter bringen, als geſunden Verſtand in nach - geahmten, hie und da ſelbſt erfundnen Einfaſſungen zu reimen. Pope brachte es darinn aufs hoͤchſte. In ſeiner unſang -92 baren Sprache hat er in Engliſcher Ma - nier das gethan, was Metaſtaſio in einer Sprache, die ganz Geſang iſt, auf eine ungleich angenehmere Weiſe that; er brachte naͤmlich alle ſchoͤne Sentenzen, philoſophiſche Grundſaͤtze und Lebensregeln aufs kuͤrzeſte und zierlichſte in Reime und wird darinn ſchwerlich uͤbertroffen werden. Zehn Dichter hatten ihm hierinn vorgear - beitet; er kam zu rechter Zeit und brach die Blume. Bolingbrocke, Shaftes - buri, King und Leibnitz gaben ihm zu ſeinem Eſſai on Man Philoſophie in die Hand; er reimte ihre Syſteme ſo gut er konnte und hat ſie faſt durchgehends vor - treflich gereimet. Auch Charaktere reimte er meiſtens in Gegenſaͤtzen, ſcharf und ſchneidend, inſonderheit wo der Affect ihm die Feder ſchaͤrfte; alſo daß Pope's Ge - dichte fuͤr eine gereimte Bluͤthenſammlung93 aller Moral, auch vieler Weltkaͤnntniß und Weltklugheit dienen koͤnnen. Hoͤher hin - aus aber reichte ſein Genius nicht. Von Horaz liebenswuͤrdiger Satyre, geſchwei - ge von ſeiner praktiſchen Welt - und Le - bensweisheit hatte Pope's Gemuͤthsart keinen Begriff; und man muß durchaus Englaͤnder ſeyn, um in ſeinem Homer den alten oder gar den beſſern Homer zu finden. Die von ihm den Roͤmern nach - geahmten Stuͤcke zeigen den fuͤrchterlichen Unterſchied, der zwiſchen ihrer und unſrer, wenigſtens ihrer und Pope's Poeſie war. Ihre Muſe geht im natuͤrlichen Gange der Sprache edeldenkend melodiſch einher; die Popiſche Muſe geht Zwangvoll und ge - brechlich, oft ſogar unedel daher, uͤber - und uͤber bedeckt mit einem Geklingel von Reimen.
94Noch zwei vorzuͤgliche Dichter folgen auf Pope, Young und Thomſon. Je - ner, der durchaus ein Original ſeyn wollte, wetteiferte in ſeinen Nachtgedanken mit Shakeſpear, Milton, Pope und allen Lehrdichtern der Welt, in ſeinen Satyren mit Swift, (den er ſehr unwerth behan - delt,) mit Pope und allen Satyrendich - tern, in ſeinen Trauerſpielen mit Sha - keſpeare, Otway u. f. Ein kuͤhner Verſuch, original zu ſeyn, mit welchem er aber doch am Ende nichts als Ser - mons, Predigten zu Stande brachte, er mochte ſie Nachtgedanken, oder Oden, Satyren oder Trauerſpiele uͤberſchreiben. Seine hoͤchſte und liebſte Figur in den Nachtgedanken heißt Parenthyrſus, (Uebertreibung) die zwar allenthalben die witzigſten Tiraden, Eine aus der An - dern hervortreibt und unſaͤglich viel ſchoͤne95 Sachen ſaget, am Ende aber doch nichts thut, als den menſchlichen Verſtand uͤber ſeine natuͤrliche Hoͤhe ſchrauben. Mich wundert, daß man Young je fuͤr einen tiefſinnigen Dichter gehalten hat; ein aͤußerſt witziger, parenthyrſiſch - beredter, nach Ori - ginalitaͤt aufſtrebender Dichter iſt er auf allen Seiten. Reich an Gedanken und Bil - dern, wußte er in ihnen weder Ziel noch Maas; wie er auf Popes ſcherzhaften Rath in Thomas von Aquino die Eng - liſche Theologie ſtudirte, ſo wuͤrde er dieſe allenfalls auch im Koran ſtudirt haben. Wenige Dichter ſind daher mit ſo viel Vor - ſichtigkeit, wie Er, zu leſen; in ſeinen Nachtgedanken, wie der Name ſagt, iſt er als ein Denker zu pruͤfen und jede Co - quetterie des Witzes fuͤr das zu halten, was ſie iſt, wenn ſie auch die heiligſten Sachen betraͤfe.
96Thomſon, wie unſer Geßner und Kleiſt, ein liebenswuͤrdiger Name. Er - funden hatte er ſeine Gedichtart nicht, ob ſein Verehrer Aikin ihm gleich dieſen Ruhm zuſchreibt; in Milton u. a. lag ſie, vielleicht in einem Keime, der kuͤnftig einer noch ſchoͤneren Entwickelung faͤhig iſt, laͤngſt da. Thomſon aber hat den Keim uͤberlegend erzogen; deſſen gebuͤhret ihm die Ehre. Zu gut wußte er ſelbſt, daß Jahrszeiten ſich in Worten und ein - foͤrmigen Jamben nicht mahlen laſſen; er behandelt alſo ſein Thema, wie er die Freiheit, die Burg der Traͤgheit und andre Gegenſtaͤnde behandelte, phi - loſophiſch. Schildernde Lehrgedichte ſind ſeine Jahreszeiten: denn mit Empfindung zur Lehre muß eine Gegend geſchildert wer - den, wenn ſie als Poeſie in die Seele des Hoͤrenden wirken ſoll; eine Kunſt, die alleNach -97Nachahmer Thomſons nicht eben verſtan - den haben moͤgen. Er verſtand ſie, und ſo wird aus dem, was ich beigebracht habe, ziemlich klar, daß die Poeſie der Englaͤnder von Miltons Zeiten an eine reflecti - rende Poeſie geweſen. Die Italiaͤniſche ſinget; die franzoͤſiſche Proſa-Poeſie rai - ſonnirt und erzaͤhlet, die Engliſche in ihrer aͤußerſt unmuſikaliſchen Sprache denket.
Das wahre Feld der Engliſchen Poeſie haben Sie nicht beruͤhret; es iſt die ein - kleidende Proſe. Sobald Chaucers Reime und die alten Balladen abgekommen waren, man auch merkte, daß Spen - ſers Stanzen dieſer Sprache eben ſo ſchwer als langweilig werden muͤßten, ſuchte man nach dem Beiſpiel Frankreichs die leichteſte Auskunft, Proſe.
Auch hier gab den Englaͤndern ein Eng - laͤnder, Shakeſpeare Art und Weiſe. Er hatte Charaktere und Leidenſchaften ſo tief aus dem Grunde geſchildert, die ver -99 ſchiedenen Staͤnde, Alter, Geſchlechter und Situationen der Menſchen ſo weſentlich und energiſch gezeichnet, daß ihm der Wech - ſel des Ortes und der Zeit, Griechenland, Rom, Sicilien und Boͤhmen durchaus keine Hinderniſſe in den Weg legten, und er mit der leichteſten Hand dort und hier hervorgerufen hatte, was er wollte. In jedem ſeiner dramatiſchen Stuͤcke lag alſo nicht nur ein Roman, ſondern auch ein in ſeiner Art aufs vollkommenſte nicht et - wa beſchriebener ſondern dargeſtellter phi - loſophiſcher Roman fertig, in dem die tiefſten Quellen des Anmuthigen, Ruͤh - renden, wie andern Theils des Laͤcherlichen, Ergetzlichen geoͤfnet und angewandt waren. Sobald alſo jene alten Ritter - und Lie - besgeſchichten, von denen zuletzt Philipp Sidney's Arkadia ſehr beruͤhmt war, einer neueren Denkart Platz machten: ſoG 2100konnte man in England kaum andre als Romane in Shakeſpear's Manier, d. i. Philoſophiſche Romane erwarten.
Der Weg zu ihnen war freilich ein be - ſchwerlicher Weg; er ging durch Politik und Geſchichte. Da England das erſte Land in Europa war, in welchem der dritte Stand uͤber Angelegenheiten des Reichs mitſprechen dorfte und von den Zei - ten der Eliſabeth an es ein ſo bewerbſa - mer Handelsſtaat geworden war: ſo gin - gen die eigenthuͤmlichen Sitten ſeiner Ein - wohner natuͤrlicher Weiſe freier aus einander. Nicht alles war und blieb blos Koͤnig, Baron, Ritter, Prieſter, Moͤnch, Sklave. Jeder Stand zeichnete ſich in ſeinen Sitten ungeſtoͤrt aus, und dorfte nicht eben, um der Verachtung zu entgehen, Sitten und Sprache ſeiner hoͤ - hern Mitſtaͤnde nachahmen; kurz, er dorfte101 ſich auch in ſeinem humour zeigen. Ohne Zweifel iſt dies der Grund, warum die Englaͤnder dieſe Eigenſchaft ſo eifrig zu einem Zuge ihres Nationalcharakters gemacht haben; ihr humour naͤmlich war ein Sohn der Freimuͤthigkeit und eines eignen Betragens in allen Staͤnden. Witz, Eigenſinn, gute und boͤſe Laune, tolle Einfaͤlle u. f. haben andre Nationen wie ſie, oft beſſer als ſie; nur keine Na - tion, (ehemals vielleicht die Hollaͤnder und einige Deutſche Reichsſtaͤdte ausgenom - men,) glaubte ſie ſo offenbar aͤuſſern zu muͤſſen, weil jede andre Nation das Ge - ſetz der Gleichſtellung mit andern zu hoch hielt. Wie aber der Italiaͤner ſeinen Ca - pricci, der Franzoſe ſeiner Gaskonade freien Lauf laͤßt, ſo gab der Englaͤnder ſeinem traͤgeren humour nach; ein großes Feld fuͤr Komoͤdien und Romane —
102Wie die Parlamente in England das oͤffentliche Reden in Gang brachten: ſo die oͤffentlichen Blaͤtter das Schreiben uͤber Meinungen und Charaktere. Zeitungen und Pamphlets, Wochenblaͤtter und Monatſchriften hatten Einkleidungen und Schreibart dem Engliſchen Roman gleichſam zugebildet, daher es kein Wun - der iſt, daß der Franzoͤſiſche, Spaniſche und Italiaͤniſche Roman eine ganz andre Straße nahm. Inſonderheit iſt der Engli - ſche Roman den Triumvirn der Engliſchen Proſe, Swift, Addiſon und Steele den groͤßeſten Dank ſchuldig Der erſte ſchrieb ſeine Sprache in der hoͤchſten Ge - nauigkeit (Proprietaͤt,) die er in einer Men - ge von Einkleidungen zu erhalten wußte. Sein Roman der Menſchenfeindſchaft, Gul - liver, iſt vielleicht vom menſchenfreund - lichſten, aber kranken, tiefverwundeten und103 ſeines Geſchlechts uͤberdruͤßigen Denker ge - ſchrieben. Der gluͤckliche Addiſon war von einer froheren Gemuͤthsart. Er und ſein Gehuͤlfe, Steele, beſaßen eben die goldne Mittelmaͤßigkeit, die zu guten Proſe-Schriftſtellern gehoͤret. Als Maͤn - ner von Geſchmack und von Weltkenntniß hatten ſie das Richtmaas in ſich, fuͤr die Menge zu ſchreiben, in keine Materie zu tief zu dringen und zu rechter Zeit ein Ende zu finden. Sie haben der Engliſchen Proſe Curs gemacht und ihr das Mittelmaas gegeben, uͤber und unter welchem man nicht ſchreibet.
Nun konnten alſo nach und nach (viele andre Vorarbeiten ungerechnet) die drei gluͤcklichen Romanhelden auftreten, Fiel - ding, Richardſon, Sterne, die zu ihrer Zeit Epoche machten. So verſchie - den ihre Manier iſt, ſo wenig ſchließen ſie104 andre gluͤckliche Formen aus, wie Smol - lets, Goldſmiths, Cumberlands und in andern Nationen andre ſchaͤtzbare Originale zeigen. Keine Gattung der Poe - ſie iſt von weiterem Umfange, als der Ro - man; unter allen iſt er auch der verſchie - denſten Bearbeitung faͤhig: denn er enthaͤlt oder kann enthalten nicht etwa nur Geſchichte und Geographie, Philoſophie und die Theorie faſt aller Kuͤnſte, ſondern auch die Poeſie aller Gattungen und Arten — in Proſe. Was irgend den menſchlichen Verſtand und das Herz intereſſiret, Leiden - ſchaft und Charakter, Geſtalt und Gegend, Kunſt und Weisheit, was moͤglich und denkbar iſt, ja das Unmoͤgliche ſelbſt kann und darf in einen Roman gebracht wer - den, ſobald es unſern Verſtand oder un - ſer Herz intereſſiret. Die groͤßeſten Diſpa -105 raten laͤßt dieſe Dichtungsart zu: denn ſie iſt Poeſie in Proſe.
Man ſagt zwar, daß in ihren beſten Zeiten die Griechen und Roͤmer den Ro - man nicht gekannt haben; dem ſcheint aber nicht alſo. Homers Gedichte ſelbſt ſind Romane in ihrer Art; Herodot ſchrieb ſeine Geſchichte, ſo wahr ſie ſeyn mag, als einen Roman; als einen Roman hoͤr - ten ſie die Griechen. So ſchrieb Xeno - phon die Cyropaͤdie und das Gaſtmahl; ſo Plato mehrere ſeiner Geſpraͤche; und was ſind Lucians wunderbare Reiſen? Wie jeder andern haben alſo auch der ro - mantiſchen Einkleidung die Griechen Ziel und Maas gegeben. Daß mit der Zeit der Roman einen groͤßeren Umfang, eine reichere Mannichfaltigkeit bekommen, iſt natuͤrlich. Seitdem hat ſich das Rad der Zeiten ſo oft umgewaͤlzt und mit neuen106 Begebenheiten auch neue Geſtalten der Dinge zum Anſchauen gebracht; wir ſind mit ſo vielen Weltgegenden und Nationen bekannt worden, von denen die Griechen nicht wußten; durch das Zuſammentreffen der Voͤlker haben ſich ihre Vorſtellungen an einander ſo abgerieben, und uͤberhaupt iſt uns der Menſchen Thun und Laſſen ſelbſt ſo ſehr zum Roman worden, daß wir ja die Geſchichte ſelbſt beinah nicht anders als einen philoſophiſchen Roman zu leſen wuͤnſchen. Waͤre ſie immer auch nur ſo lehrreich vorgetragen, als Fieldings, Richardſons, Sterne's Romane! —
Viel denkende Dichter hat alſo England in Poeſie und Proſe hervorgebracht, und die Nation iſt auf ſie unermeßlich ſtolz; die Dichter ſelbſt aber ſtarben meiſtens eines elenden, wohl gar des Hungertodes.
Der poetiſche Himmel Britanniens hat mich erſchreckt. Wo ſind unſre Shake - ſpeare, unſre Swifts, Addiſons, Fieldings, Sterne? Wo iſt jene Menge von Edlen, die vorangingen oder wenigſtens mit am Werk waren, die Philipp Sid - ney, Walter Raleigh, Baco, Ros - common, Dorſet, Algernon Sid - ney, Shaftesburi, Halifax, Som - mers, Bolingbrocke, Littleton, Wal - pole u. f.? Wir wachten auf, da es allent - halben Mittag war und bei einigen Natio - nen ſich gar ſchon die Sonne neigte. Kurz, wir kamen zu ſpaͤt.
108Und weil wir ſo ſpaͤt kamen, ahmten wir nach: denn wir fanden viel Vortref - liches nachzuahmen. Franzoſen, Spaniern, Italiaͤnern, Britten, ſelbſt Hollaͤndern ahm - ten wir nach; und wußten nie recht, wozu und weßwegen? Unſer verdiente Opitz war mehr Ueberſetzer, als Dichter. In Weck - herlin u. a. iſt der groͤßeſte Theil fremdes Gut. So ſind wir fortgeſchritten; und wer ahmt uns nach? Wenn in Italien die Muſe ſingend converſirt, wenn ſie in Frank - reich artig erzaͤhlt und vernuͤnftelt, wenn ſie in Spanien ritterlich imaginirt, in Eng - land ſcharf - oder tiefſinnig denket; was thut ſie in Deutſchland? Sie ahmt nach. Nachahmung waͤre alſo ihr Charakter, eben weil ſie zu ſpaͤt kam. Die Originalfor - men waren alle verbraucht und vergeben.
So uͤbel ſtehet's nicht mit der Deutſchen Muſe, wie Sie fuͤrchten. Es iſt vielleicht der Hauptfehler unſrer Nation, daß ſie aus zu großer Gefaͤlligkeit gegen Fremde ſich ſelbſt nicht kennet und achtet.
Wahr iſts, wir kamen ſpaͤt; deſto juͤn - ger aber ſind wir. Wir haben noch viel zu thun, indeß andre ruhn, weil ſie das Ihrige geleiſtet haben.
Und waren wir in jenen Zeiten muͤßig? Nichts weniger; durch andre, vielleicht wichtigere Geſchaͤfte wurden wir von einer Bahn zuruͤckgehalten, die uns immer noch110 blieb. Fuͤr ganz Europa ſtanden wir da - mahls vor den Riß, ſowohl gegen Roms Deſpotie, als gegen eindringende Hunnen und Tataren. Daß Europa nicht zum Kalmuckenlande oder zur Tuͤrkei ward, haben Deutſche verhindert; Raum zu dem friedlichen Garten, den die Muſen lieben, haben ſie mit ihrem Blut erfochten.
Unſre Sprache iſt im Beſitz aͤlterer Poeſie, als deren ſich Spanier, Italiaͤner, Franzoſen und Britten ruͤhmen koͤnnen;*)S. Schilte[rs]theſaur. A. d. H. einzig nur unſre Verfaſſung war Schuld, daß wir Jahrhunderte lang dies Feld un - gebauet ließen. Wir zogen nach Italien, und ſonſt in der Welt umher; haben aber doch, ſelbſt in dieſen fuͤrchterlichen Zeiten, fuͤr ganz Europa manches Nuͤtzliche erfun - den. Endlich, da die Reformation aus111 unſrer Mitte hervorbrach, und uns nach vielem andern Ungemach mit dem dreiſſig - jaͤhrigen Kriege eine faſt allgemeine Ver - wuͤſtung und die ſo gefaͤhrliche Bekannt - ſchaft mit fremden Nationen auf den Hals zog; — muͤſſen wir, wenn wir die Ge - ſchichte Deutſchlands durchgehn, uns nicht wundern, daß noch ſo viel ward, als ge - worden iſt?
Denn nun reiſeten die Fuͤrſten, die Edeln. Sie ſtaunten das Ausland an, und ſprachen, laſen, ſchrieben fremde Spra - chen. Und unſre gutherzigen Dichter freue - ten ſich jeder neuen Sonne, die aufging, fanden ſich geehrt, wenn ſie Geſaͤnge auch nur zueignen durften, ohne daß ſie ge - leſen wurden. In Siebenbuͤrgen dichtete der gute Opitz, Weckherlin in Eng - land und Frankreich, Flemming am Caſpiſchen Meer Deutſche Gedichte; nie -112 mand dankte es ihnen, daß ſie es thaten. Und wer verdankte es dem Andreas Gryphius, dem von Lohenſtein, daß ſie unter ihrer Buͤrde buͤrgerlicher Geſchaͤfte fuͤr Sprache und Poeſie das thaten, was ſie gethan haben?
Dank alſo auch dem guten von Logau, daß er in den wilden Zeiten des dreiſſig - jaͤhrigen Krieges ſeine dreitauſend Sinn - und andre Gedichte aufſchrieb, ob er gleich ein Deutſcher Baron war. Dank einem Dietrich von dem Werder, daß er den Taſſo uͤberſetzte, und gleichwohl Hof - marſchall ſeyn konnte, ja gar ein Regi - ment commandirte. Dank — o wie tief haben wir Deutſche anfangen, aus wel - cher druͤckenden Barbarei uns hervorarbei - ten muͤſſen, die uns noch allenthalben ſo - gar als Ehre, als Vorzug, als Stam - mes - und Nationalruhm anklebt! „ Wel -cher113cher Mann von Ahnen wird ein Poete, ein Savant, ein Philoſophe ſeyn wollen, wenn er auch ein Taſſo, ein Baco, ein Shaftesburi werden koͤnnte? “— Solon und Alexander, Caͤſar und Auguſtus, ſo viele Fuͤrſten und Edle in Italien, Spanien, Frankreich, England dachten anders.
„ Weil wir alſo ſpaͤt kamen, ſo ahm - ten wir freilich viel nach: denn wir fan - den viel Vortrefliches nachzuahmen. “ Dies war Natur der Sache, nichts mehr und nichts minder; wer zuletzt kommt, thaͤte ſehr unrecht, wenn er nicht nachahmte. So folg - ten die Roͤmer den Griechen, den Roͤmern die Moͤnche, Moͤnchen und Arabern die Pro - venzalen, den Provenzalen mittel - oder un - mittelbar alle gebildete Nationen Europa's; warum ſollten dieſen nicht die Deutſchen folgen? Alle Kunſt iſt Nachahmung; nurAchte Samml. H114durch Nachahmung iſt der Menſch zur Kunſt gelanget; nur durch ſie iſt er Menſch worden. Waͤre alſo auch Nachahmung der Charakter unſrer Nation, und wir ahmten nur mit Beſonnenheit nach: ſo gereichte dieſes Wort uns zur Ehre. Wenn wir von allen Voͤlkern ihr Beſtes uns eigen machten: ſo waͤren wir unter ihnen das, was der Menſch gegen alle die Neben - und Mitgeſchoͤpfe iſt, von denen er Kuͤnſte gelernt hat. Er kam zuletzt, ſah Jedem ſeine Art ab, und uͤbertrift oder regiert ſie alle.
Zu dieſem Zweck haben wir ein vor - trefliches Mittel in unſrer Gewalt, unſre Sprache; ſie kann uns das ſeyn, was dem Kunſt-nachahmenden Menſchen die Hand iſt. Man ruͤhmt den Sklavoni - ſchen Sprachen nach, daß ſie zur Nachbil - dung fremder Idiome in jeder Wendung,115 in jedem Uebergange geſchickt ſeyn; die deutſche Sprache hat dieſe Faͤhigkeit vor allen Toͤchtern der lateiniſchen, ſelbſt vor der Engliſchen Sprache. Alle dieſe ſind von Zwitternatur; aus ihren engeren oder weiteren Schranken koͤnnen ſie nicht hin - aus, um ſich einer fremden Sprache nur einigermaaſſen zu bequemen. Vor allen iſt die Franzoͤſiſche Sprache die gebunden - ſte, die gleichſam gar nicht uͤberſetzen, gar nicht nachbilden kann; eine ewig Unge - treue, muß ſie alles nur auf ihre, d. i. auf eine ſehr mangelhafte Weiſe ſagen. Die Deutſche Sprache, unvermiſcht mit andern, auf ihrer eignen Wurzel bluͤhend und eine Stiefſchweſter der vollkommen - ſten, der griechiſchen Sprache, hat eine unglaubliche Gelenkigkeit, ſich dem Aus - drucke, den Wendungen, dem Geiſt, ſelbſt den Sylbenmaaßen fremder Nationen, ſo -H 2116gar Griechen und Roͤmern anzuſchlieſſen und zu fuͤgen. Unter der Bearbeitung jedes eigenthuͤmlichen Geiſtes wird ſie gleichſam eine neue, ihm eigne Sprache.
Mithin halte ichs nicht nur fuͤr keine Schande, wenn man uns Nachahmung vorwirft; vielmehr vermehrt es den Reich - thum unſrer Gedanken und Wendungen, unſrer Vorſtellungs - und Sprachweiſen, wenn wir, wie keine andre Nation thun kann, die Geſtalt fremder Idiome mit uͤberlegendem Verſtande und weiſer Hand nachbilden. Moͤge Hagedorn dem Ho - raz, dem Pope, Chaulieu und vielen andern, die er nicht verſchwiegen, moͤge Gleim dem Anakreon und wenn man will, auch dem Aeſop, Phaͤdrus, Tyr - taͤus, Moncrif, Bernard u. f. nach - geahmt haben; ahmten ſie als Maͤnner nach, alſo daß ihre Nachbildung in unſrer117 Sprache ein Werk war, um ſo beſſer; ſo haben ſie ihre Nation mit vortreflichen Denkweiſen mehrerer Geiſter und Voͤlker bereichert. Einem reichen Dichter unſrer Sprache hat man nachgerechnet, daß er in Homers, Pindars, Xenophons, Lucians, Arioſts, Cervantes, Po - pe, Fieldings, Sterne, ſogar des Koͤniges Davids und der Sultanin Sche - herazade Art und Manier Pſalmen und Maͤhrchen, Helden - und Lehrgedichte, Epi - ſche Geſaͤnge und Romane geſchrieben, ge - dichtet und geſungen habe. Deſto beſſer! Um ſo reicher ſind wir durch ihn worden. Die Ananas, die tauſend feine Gewuͤrze in ihrem Geſchmack vereint, traͤgt nicht umſonſt eine Krone.
Und waͤre es denn wahr, daß die Deut - ſchen ſo ganz Charakterlos nachahmen? Das mindeſte Gefuͤhl des Genius unſrer Sprache und unſrer Schriften zeigt etwas anders von den uraͤlteſten Zeiten her.
Leſet Otfried, leſet das alte Siegs - lied unter Ludwig; der gutmuͤthige und biedre Charakter der Nation iſt ſchon durchaus kennbar. Er iſts in den lateini - ſchen Schriftſtellern der mittleren Zeiten, wie in unſern altdeutſchen Spruͤchwoͤrtern, Apophthegmen und Reimen. Allenthalben findet ihr Altdeutſchen Witz und119 Verſtand in den kuͤrzeſten ungekuͤn - ſtelten Worten. Wer am Charakter der Deutſchen Nation zweifelt, darf irgend nur ein Woͤrter - oder Spruͤchwoͤrterbuch, Agrikola, Frank, Zinkgraͤf, Leh - mann, oder eine Sammlung von Geſchich - ten, Lehrſpruͤchen, Liedern, Fabeln und Erzaͤhlungen durchgehen. In Trimberg, Kaiſersberg, Brandt, Luther, Rol - lenhagen, Opitz, Logau, Dach, Tſcherning u. f. ſpricht dieſer Ver - ſtand - und Lehrreiche Genius auf allen Seiten. Vergleicht unſre Deutſche Minneſinger mit den Provenzalen. Nicht nur von Seiten der Sitte gewinnen die unſern, ſondern oft auch in Ruͤckſicht der innigen Empfindung. In Suͤden, wenn ihr wollt, iſt mehr Luſtigkeit und Frech - heit; hier mehr Liebe und Ehre, Beſchei - denheit und Tugend, Verſtand und Herz.
120Rechtliche Ehrlichkeit alſo, Richtigkeit in Gedanken, Staͤrke im Willen und Aus - druck, dabei Gutmuͤthigkeit, Bereitſchaft zu helfen und zu dienen; dies iſt die Gemuͤthsart unſres Volks, die es auch im Nachahmen, ſelbſt im ungeſchickten Nachahmen des Fremden nie verlaͤugnen konnte. Denn woher fiel das Nachahmen der Deutſchen oft ſo ungeſchickt aus? Weil ſie es allenthalben zu ehrlich meinten, ſo wurden ſie oft getaͤuſcht und betrogen. Die ganze Nachahmungsſucht der Deut - ſchen ruͤhrt von ihrer Gutmuͤthigkeit her. Sie dachten zu beſcheiden von ſich, und wollten immer lernen, auch wo ſie allenfalls lehren konnten. Der uͤble Ge - ſchmack, in den ſie ſich zu Hofmanns - waldau und Lohenſteins, zu Talan - ders, Weiſe und Menantes Zeiten ſtuͤrzten, ruͤhrte von ihrer gutmuͤthigen Ge -121 faͤlligkeit gegen die ſogenannten Leute von Welt, gegen ihre Großen und Hofleute her, die in dieſem uͤbeln Ge - ſchmack das Paradies fanden. Beſſers, Koͤnigs, Heraͤus, Neukirchs Canzlei - poeſieen gingen auf eben dieſem plattge - tretenen Hofwege ins Verderben.
Sobald aber der Deutſche Verſtand wieder zu Kraͤften kommen konnte, zeigte ſich ſogleich unſere Gemuͤthsart wieder; Ueberlegung, Biederkeit und Herz. Wel - che kindliche Gutmuͤthigkeit herrſcht z. B. in Brockes Schriften! Wie ein Liebha - ber an der Geliebten haͤngt er an einer Blume, an einer Frucht, an einem Gar - tenbeet, einem Thautropfen! Mit uͤber - ſtroͤmender Wortfuͤlle mahlt er ſeinen Ge - genſtand voll Liebe und Bewunderung, um ja keine andre als gutmuͤthige Em - pfindungen zu erregen. Gegen Cowleys122 Beſchreibung von Pflanzen und Blumen werden wir unſern Brockes nicht tauſchen.
Die Poeſie der Niederſachſen ging auf eben dem Wege fort. Hagedorn iſt ihr ſchoͤner claſſiſcher Gipfel. Lege man mir Waller, Denham, Gay, Roscom - mon, Dorſet und noch eine Reihe ſol - cher Helden zuſammen; Hagedorn bleibt mir. Wir haben in ihm die Bluͤthe von hundert lehrreichen, angenehmen, mora - liſchen, froͤhlichen Dichtern.
Ihm gegenuͤber ſteht Haller, der eine Alpen-Laſt der Gelehrſamkeit auf ſich trug. Was von Haller mit Pope ver - glichen werden kann, iſt uͤber Pope; was aus Pope's lebendiger Welt an ſeinen Satyren und Charakteren in ſeinem Reim - geklingel daſteht, wuͤrde Haller redlicher aufgeſtellt haben. Bewahre uns die Muſe vor Dichtern, bei denen Verſtand ohne123 Herz, oder Herz ohne Verſtand iſt. Zwei Popiſche Gedichte wuͤnſchte ich indeſſen meinem Vaterlande wohl eigen, ſeinen Verſuch uͤber den Menſchen und uͤber die Kritik. Ich habe nicht den mindeſten Zweifel, daß wir beide beſſer, als Pope ſie ſchrieb, zu ihrer Zeit bekom - men werden. Unſres Hallers Gedichte ſind ein Richtmaas der Sitten, ſo wie der Wiſſenſchaft und Gedenkart. Man kann von ihnen und den Werken mehrerer Deutſcher Dichter ſagen, daß kein falſcher Gedanke (Religionsvorſtellungen etwa aus - genommen) in ihnen ſei; welches man von wenig auslaͤndiſchen Dichtern ſagen moͤchte. Wie Hallers Ode auf die Ewigkeit iſt, erſcheint nichts Aehnliches in Pope.
Und noch hatte Haller außer ſeinen großen Verdienſten um mehrere Wiſſen - ſchaften ein Gluͤck, deſſen ſich der Englaͤn -124 der nicht ruͤhmen konnte, er ward wie Opitz der Vater eines beſſeren Geſchmacks in Deutſchland, da Pope nichts anders als Drydens und mehrerer Vorgaͤnger feinerer Nachgaͤnger war. —
Ohne Zweifel erwarten Sie nicht, daß ich jede gutmuͤthige Bemuͤhung der Deut - ſchen nach Jahren durchgehen ſoll, wie ſie z. B. den Verſtand und Witz ihrer Lan - desleute bald beluſtigten, bald erwei - terten, oder dazu hieher und dorther bei - trugen. Jeder that was er thun konnte; und Gellerts, Cramers, der beiden Schlegels, Rabners, u. a. guter Wille wird dabei gewiß aufwiegen koͤnnen, was die Richer, la Motte, und J. B. Roußeau, oder die King's, Philipp's u. f. auswaͤrts geleiſtet haben. In ihrer Lage ſind mir die Namen Lange und125 Pyra werther, als hundert ſchreibſelige Namen ſpaͤterer Zeiten.
Kleiſt kommt; und wer verkennete an ihm ſein Deutſches Herz, ſeinen edeln Charakter? Als Kuͤnſtler der Poeſie, dazu in mancherlei Arten, moͤchte ich lieber Thomſon ſeyn, Thomſon inſonderheit ſeit er Italien geſehen hatte; aber als Menſch und Dichter gilt es keine Frage. Kleiſts Herz lebt in ſeinen Gedichten, in ſeinem Fruͤhlinge, in mehreren ſeiner Oden, in ſeinem Geburts - und Gra - besliede, in ſeiner Sehnſucht nach Ruhe, in Cißides und Paches. Nach ſeinem Seneka wollen wir ihn nicht meſſen; aber den edlen Geiſt, das patrio - tiſch-menſchliche Gemuͤth, das mitten un - ter Kriegesſcenen in dieſe kleinen Gedichte wie in ein Aſylum floh und jetzt darinn, wie in einer zerſtuͤckten Urne ſein ewiges126 Denkmal findet, wollen wir werth halten und lieben.
Ihm fuͤge ich Leßing und Gleim bei. Des Erſten Genius lebt in jeder Zeile ſeiner Schriften, zumal in ſeinem Nathan; und in Gleims Schriften ſchlaͤget gewiß ein Herz vom wahreſten Deutſchen Charakter. Zu ſeinen Kriegs - liedern war Leßing der Vorredner; in ſeinen Fabeln, Liedern, und mehreren ſei - ner Gedichte verbinden ſich Muth und Treue, Freundesgefuͤhl, Einfalt und Staͤrke. Klopſtocks Ode an Gleim iſt ein Bild des Dichters und ſeiner Gedichte.
Man iſt gewohnt, Klopſtock den Deut - ſchen Milton zu nennen; ich wollte, daß beide nie zuſammen genannt wuͤrden, und wohl gar daß Klopſtock den Milton nie gekannt haben moͤchte. Beide Dichter haben heilige Gedichte geſchrieben; ihre127 Muſe aber iſt nicht dieſelbe. Wie Moſes und Chriſtus, wie das alte und neue Teſtament ſtehen ſie einander gegenuͤber. Miltons Gedicht ein auf alten Saͤulen ruhendes durchdachtes Gebaͤude; Klop - ſtocks Gedicht ein Zaubergemaͤhlde, das in den zarteſten Menſchenempfindungen und Menſchenſcenen von Gethſemane aus uͤber Erd 'und Himmel ſchwebet. Die Muſe Miltons iſt eine maͤnnliche Muſe, wie ſein Jambus; die Muſe Klopſtocks eine zaͤrtere Muſe, die in Erzaͤhlungen, Elegieen und Hymnen unſre ganze Seele, den Mit - telpunkt ihrer Welt durchſtroͤmet. In An - ſehung der Sprache hat Klopſtock auf ſeine Nation mehr gewirkt, als Milton vielleicht auf die Seinige wirken konnte; wie er denn auch ungleich vielſeitiger als der Britte uͤber dieſelbe gedacht hat. Eine ſeiner Oden im Geſchmack des Horaz iſt nach128 dem Richtmaas der Alten mehr werth, als ſaͤmmtliche hochaufgethuͤrmte Brittiſche Odengebaͤude. — Daß Klopſtock zu ſei - nem Hermann einen Gluck fand, daß er durch ſeine Geſaͤnge ihn und andre ſeines Geiſtes zu dieſer Gattung einfacher Muſik weckte, gehoͤret mit zu den gluͤckli - chen Begegniſſen ſeines Lebens; dem blin - den Barden in Britannien ward mit ſei - nem Lycidas und Samſon dies Gluͤck nicht. Wenn uͤberhaupt die Muſe der Ton - kunſt in der Einfalt und Wuͤrde, die ihr gebuͤhret, zu uns zuruͤckzukehren wuͤrdigte; weſſen Worte wuͤrden ſie freundlicher her - nieder zaubern, als Klopſtocks? —
Wollten wir die goldnen philoſophiſchen Oden unſres Uz gegen die Oden des Cow - ley; Hagedorn gegen Waller; Cro - negks beſſere Gedichte gegen Prior; Witthof (in ſeiner erſten Ausgabe) gegenAken -129Akenſide; Gerſtenberg ſelbſt gegen Otway und Waller vertauſchen? Ich bleibe bei meinen Landesleuten; bei weni - germ Glanze der Kunſt iſt in ihnen mehr Gemuͤth, mehr wahre Empfindung. In allen Liedern, die von unſrer Jugend geſungen werden, ſo verſchieden der Ge - nius der Dichter ſei, in Claudius, Hoͤlty, Stolberg, Jakobi, Voß, Schiller iſt der Charakter unſrer Nation, Gemuͤth, kennbar. —
Selbſt die Art, wie ſich die Deutſchen fremder Erſcheinungen angenommen haben, zeigt die Herzlichkeit ihres Charakters. Wo iſt dem Milton und Oßian waͤr - mer gehuldigt worden, als in Deutſchland? Stand in England jemand auf, der ſich des Galiſchen Saͤngers angenommen haͤtte, wie Denis? den er beſeelt haͤtte, wie z. B. Koſegarten und mehrere unſererAchte Samml. I130Landsleute? Nehmet eine ausgewaͤhlte Sammlung Deutſcher Lieder und ſtellet ſie der beſten Engliſchen entgegen; an inne - rem Werthe, wohin wird die Waage ſin - ken? Ihre Geſaͤnge der Empfindung ſind meiſtens Schottiſche Lieder.
Gern nenne ich noch zuſammen Wie - land und Geßner. Den erſten hat man ſehr unzeitig mit Voltaire verglichen, mit Voltaire, der bei dem helleſten Kopf und der ſchlaueſten Gewandtheit doch nur ein witziger Satyr war, und zwar im Grunde nur in Einer Manier des Witzes, die er tauſendfach zu veraͤndern und nach dem Geſchmack ſeines Zeitalters, ja wo moͤg - lich jeder Perſon in demſelben zu modifici - ren wußte. Die Muſe unſres Landsman - nes iſt ein reinerer Genius, der in jeder Geſtalt, die er annimmt, gewiß einen edleren Zweck hatte, als uns blos witzig131 zu amuſiren. Ein echter Juͤnger jener alten gaya ciencia, ob er uns nach Delphi oder Tarent, nach Sicilien oder Sa - lerno, ins Faß des Diogenes oder an die Tafelrunde, nach Bagdad oder ins Feenland geleite. Der Geiſt der So - kratiſchen Schule verließ ihn ſelten: denn ſeine oft mißverſtandene Philoſophie iſt am Ende doch Weisheit des Lebens.
Warum iſt Geßner von allen Natio - nen, die ihn kennen lernten, mit Liebe empfangen worden? Er iſt bei der feinſten Kunſt Einfalt, Natur und Wahr - heit. In Darſtellung einer reinen Huma - nitaͤt ſollte ihn ſelbſt das Sylbenmaas nicht binden; wie auf einem Faden, der in der Luft ſchwebt, laͤßet er ſich in ſeiner poëtiſchen Proſe oder proſaiſchen Poeſie jetzt auf bluͤhende Fluren hinab, jetzt ſchwin - get er ſich in die goldnen Wolken derI 2132Abend - und Morgenroͤthe, bleibet aber im - mer in unſerm blauen Horizont geſellig, froh und gluͤcklich. Mit Kindern ward er ein Kind, mit den erſten Menſchen Einer der erſten Schuldloſen Menſchen, liebend mit den Liebenden und ſelbſt geliebt von der ganzen Natur, die ihm in ſeiner Un - ſchuld ihren Schleier wegzog. Gerade der einfachſte Dichter, deſſen ganze Manier Verbergung der Kunſt war, iſt unſer be - ruͤhmteſter Dichter worden, und hat man - che Auslaͤnder mit dem ſuͤßen Wahne ge - taͤuſcht, als ſei alle unſre Poeſie reine Humanitaͤt, Einfalt, Liebe und Wahrheit.
Bei der gutmuͤthigen Lehrhaftigkeit, die Sie den Deutſchen zuſchreiben, vergeſſen Sie, daß Form das Weſen der Poeſie iſt; und wer begreift ſchwerer, was Form ſei, wer kann ſich in ſie minder fuͤgen, geſchweige ſich dieſelbe an - und zubilden, als ein Deutſcher? Unſer Leben, unſre ganze Verfaſſung iſt ja Unform.
Ihr gelehrter Opitz uͤberſetzte aus allen Sprachen; aber wie ſchwer! wie einfoͤr - mig! Leſen Sie ſeine Antigone, ſeine Trojanerinnen, ſeinen Apoll und134 Daphne, (eine Italiaͤniſche Oper,) ſeine Sonnette und Sinngedichte; wie ſchwer, und einfoͤrmig!
Zweitens. Kritik muß die Poeſie als Kunſt ausbilden; was iſt aber Kritik bei den Deutſchen? Eine verpachtete Bude, eine verachtete Laͤſterſchule. Was iſt vom Geſchmack einer Nation zu halten, die auf ihren Richterſtuͤhlen des Geſchmacks Na - menloſe feile Lictoren verehret? Was iſt von ihrer Gutmuͤthigkeit zu halten, wenn ſie falſch Maas und Gewicht des Urtheils oͤffentlich duldet?
Endlich ſcheinets, daß die Deutſche Poeſie auf die von Ihnen angezeigte Weiſe eine Kinderpoeſie ſei und ſeyn werde. Sie unterhaͤlt uns mit ſchoͤnen Bildern und Abſtractionen; oder zaubert uns in ein Arkadien voll Unſchuld, Liebe und Ein - falt, das nirgend iſt, als in der Phan -135 taſie der Dichter. Es iſt alſo leicht zu begreifen, daß Maͤnner von Geſchaͤften und reell-denkende Menſchen ſich mit Fantaſtereien ſolcher Art wenig abgeben werden. Sie ſind Spielwerke der Weiber und Kinder, uͤberhaupt aber eccentriſcher, muͤßiger Menſchen.
Form iſt Vieles bei der Kunſt; aber nicht Alles. Die ſchoͤnſten Formen des Alter - thums belebet ein Geiſt, ein großer Ge - danke, der die Form zur Form macht, und ſich in ihr wie in ſeinem Koͤrper offen - baret. Nehmt dieſe Seele hinweg; und die Form iſt eine Larve.
Vollends poëtiſche Form iſt vom Ge - danken und von der Empfindung dergeſtalt abhaͤngig, daß ohne dieſe ſie wie ein ſchoͤn - gezimmerter Block daſtehet: denn Poeſie wirkt durch Rede. Rede aber enthaͤlt nicht nur, ſondern ſie iſt eine Folge von137 Gedanken. Ohne dieſe iſt das ſchoͤnſte Sonnet ein Klinggedicht; nichts weiter. Soll ich waͤhlen, Gedanken ohne Form, oder Form ohne Gedanken: ſo waͤhle ich das Erſte. Die Form kann meine Seele ihnen leicht geben.
Und waͤren die Deutſchen denn von jeher ſo Formlos geweſen? Bei den Min - neſingern finde ich dies nicht; bei Reineke dem Fuchs noch minder. Ihre alten Lie - der, Spruͤche und Erzaͤhlungen haben eine ſo gedrungene, oft ſo geiſtige Form, daß es ſchwer ſeyn wuͤrde, ein Wort hinzuzu - thun oder hinwegzunehmen. Opitzens Manier iſt freilich einfoͤrmig; Dank ihm aber fuͤr dieſe Einfoͤrmigkeit, die zum Zweck hatte, uns bei der Skanſion der Syl - benmaaße veſtzuhalten. Haͤtte er ſich wie ſeine Vorgaͤnger an der bloßen Decla - mation gereimter Verſe begnuͤgt: ſo waͤre138 er freilich abwechſelnder worden; er haͤtte uns aber auch auf den Irrweg aller der Nationen gefuͤhrt, die bis auf den heuti - gen Tag noch keine echte Quantitaͤt der Sylben haben. Unſre Sprache gebietet gleichſam Form, mehr als irgend eine andre; die Franzoͤſiſche, die Engliſche Spra - che ſind, mit ihr verglichen, in der Poeſie Formlos: denn nur Willkuͤhr und Ueber - einkunft hat bei ihnen hier dieſe Art des Reims, dort jene Regel des Geſchmacks feſtgeſtellt, die der Sprache ſelbſt nach un - beſtimmt waren. Unſre Sprache ſtrebt der ſchwerſten, zugleich aber auch der ſchoͤnſten und beſtimmteſten Form nach, der Form der Alten.
Zuerſt verſuchten wir dieſes lyriſch; wer iſt, der eine Ode Uz, Klopſtocks, Ramlers Formlos nennen doͤrfte? Der letzgenannte Dichter hat in dem, was Form139 der Sprache iſt, in Oden, Liedern, Can - taten, Idyllen und Sinngedichten ſo viel geleiſtet, und an den beliebteſten Formen eigner und fremder Werke ſo oft gebeſſert, daß des Boileau Feile gegen die ſeinige ein ſtumpfes Werkzeug ſcheinet. Klop - ſtocks kleinſte Ode, Gerſtenbergs klein - ſtes Gedicht iſt eine lebendige Form; und wer hat uns mehrere, und angenehmere Formen gegeben, als unſer Goͤtz? den man den vielfoͤrmigen nennen koͤnnte. Auf jedem Huͤgel des Helikons ſuchte ſeine Muſe die zarteſten Blumen, und band ſie auf die vielfachſte zierlichſte Weiſe in Kraͤnze und Straͤuschen. Sanft ruhe die Aſche dieſes waͤhrend ſeines Lebens unbe - kannt gebliebenen Dichters! mit jedem Fruͤhlinge bluͤhe fortan ſein Andenken auf.
Sind Kleiſts ſaͤmmtliche kleine Ge - dichte ohne Form? Sind Wielands Er -140 zaͤhlungen, vom leichteſten Maͤhrchen bis zu ſeinem Agathon und Oberon hinauf Formlos? Leßings Stuͤcke vom Epi - gramm und Liede bis zu ſeiner Minna und Emilie, Philotas und Nathan, jede Fabel und Parabel, ja ich moͤchte ſagen, jedes Urtheil und Fragment dieſes ſcharfſinnigen Weiſen hat Form und iſt Form, auch wo er vielleicht irret, auch wo er nur lernte.
Ein andrer Dichter hat ſich der Form der Alten auf einem neuen Wege genahet. Durch eine Theilnahmloſe genaue Schil - derung der Sichtbarkeit und durch eine thaͤtige Darſtellung ſeiner Charaktere, Goe - the. Sein Berlichingen iſt ein Deut - ſches Stuͤck, groß und unregelmaͤßig wie das Deutſche Reich iſt; aber voll Charaktere, voll Kraft und Bewegung. In jedem ſei - ner ſpaͤteren Stuͤcke hat er eine einzelne141 gewaͤhlte Form im leichteſten Umriß zu ih - rer Art vollendet. So ſein Clavigo, ſeine Stella, ſein Egmont, Taſſo und jene ſchoͤne Griechiſche Form, Iphigenia in Tauris. In ihr hat er wie Sophokles den Euri - pides uͤberwunden. Auch aus dem Reich der Unformen rief er Formen hervor, wie ſein Fauſt, ſein Kophtha; auch andre Ge - dichtarten ſind nach Form der Alten gluͤck - lich von ihm bearbeitet worden. Wer nach dieſen und andern Productionen auch in Ueberſetzungen aus fremden Sprachen die Poeſie der Deutſchen Formlos nen - nen will, der zeige mir unter Italiaͤnern, Spaniern, Franzoſen und Englaͤndern beſ - ſere Formen. Wenn an mehrere ihrer Dichter das Richtmaas gelegt wuͤrde, das Leßing in einigen Stuͤcken an Corneille und Voltaire legte; wo bliebe Form und Umriß?
142Bei dem Allen aber komme ich auf den Anfang meines Briefes zuruͤck: Form iſt nicht Alles in der Dichtkunſt; auch muß man einer Nation Formen nicht aufdrin - gen, die ihr durchaus fremd ſind. Was in der Welt ſchadete es uns, wenn wir keine Italiaͤniſche Oper oder keine Engli - ſche Komoͤdie haͤtten? Dieſe mit allen ihren humoriſtiſchen Launen und Charakteren iſt bei uns in der Natur nicht da; und ich ſehe kein Uebel darinn, daß ſie fehle; auch iſt die ganze Wirthſchaft dieſer Komoͤdie keine Deutſche Haushaltung. Wer ver - baͤnde uns alſo fremde Caricaturen anzu - ſtaunen, und aus ihnen ein erzwungenes Vergnuͤgen zu ſchoͤpfen? So die kleine Italiaͤniſche Oper; ſie will in Italien ge - ſungen und geſpielt ſeyn. Wo ſie dies nicht werden kann, was iſt natuͤrlicher, als daß, Trotz der beſten Muſik, ein frem -143 des Volk, an ihrem fremden oft unbe - deutenden Inhalt, an Raͤnken, und Scher - zen, die bei ihm nicht in Gebrauch ſind, keinen Geſchmack findet? Der angenehme Muͤßiggang, das dolce far niente, bei dem man ſich oͤffentlich auch an Poſſen, als an Kunſtſtuͤcken vergnuͤgt und die Zeit hintaͤndelt, iſt unter unſerm haͤrtern Him - mel nicht zu Hauſe. Wer aus einem muͤh - ſeligen Leben ins Schauſpiel tritt, will ſich nicht blos an der Form als an einem Kunſtſtuͤck freuen, ſondern durch etwas Innigeres geweckt ſeyn. Viele Kunſtpro - ducte fremder Nationen ſind Kinder der Ueppigkeit und eines Verderbens der Sit - ten, von dem gluͤcklicher Weiſe manche Provinz unſrer arbeitſeligen Nation noch nicht weiß; ſollen wir ihr dieſe Producte mit den Urſachen wuͤnſchen, die ſie erzeug - ten? und den Geſchmack an ihnen ver -144 breiten? Fuͤhret einen geſunden jungen Mann, ein geſundes keuſches Maͤdchen, in die Kammer des abgelebten Luͤſtlings oder der feilen Unzucht; werden ſie, denen ein beſſerer Trieb im Herzen ſchlaͤgt, oder ſich in leiſen Wuͤnſchen reget, an den fre - chen Reizungsmitteln dieſer Ausgearteten und Abgeſtorbenen Vergnuͤgen finden? oder ſie mit Entzuͤcken anſehn? Schonet der Unſchuld unſrer Nation, wenn ihr ſie auch eine dumme Unſchuld nennen ſolltet; beim belohnenden Gefuͤhl ihrer Geſundheit will ſie gern mancher luͤſternen Form entbehren. Jedes Volk hat ſeinen Kreis des Wohl - anſtaͤndigen in ſittlichen Begriffen und Gefuͤhlen, aus welchem es keine erjagte Licenz eines fremden Volks reißen muß.
Daß uͤbrigens die feine Komoͤdie bei uns manche Schwierigkeiten findet, iſt un - laͤngbar, aber auch ſehr erklaͤrlich. Erziehetdie145die Nation, und ſie wird auch an feine - ren Zuͤgen der Sittlichkeit Geſchmack fin - den. Da jetzt Alles ſich leſend vergnuͤ - gen will, meiſtens aber das Schlechtſte lie - ſet; waͤren nicht hundert Mittel da, dieſe Leſereien aufs Beſſere zu leiten? Bedienet Euch nur einiger dieſer Mittel, und das Verderben iſt noch abwendbar. Sehr un - deutſch waͤre es, wenn bei uns die Mo - ralitaͤt ein verſpotteter Name wuͤrde; der alten Sitte nach gehoͤrt ſie mit zu un - ſerm Charakter und kann uns durch nichts erſetzt werden. Uns fehlet Witz und leichte Natur, uns fehlt ein ſchoͤner Himmel, die Unmoralitaͤten nur einigermaaſſen luſtig und leidlich zu machen; Deutſche Ueppig - keit war daher von jeher grob, weil ſie in unſer Klima, in unſre Lebensart und uͤberhaupt zum Deutſchen Charakter nicht gehoͤret.
Achte Samml. K146Laſſen Sie mich dieſen Brief noch mit dem Andenken eines froͤhlichen Dichters ſchlieſſen, der uns unvergeſſen ſeyn ſollte, Zachariaͤ. Seine comiſchen Epopeen, ſeine lyriſchen und muſicaliſchen Gedichte enthalten in einer leichten Form ſo viel Schoͤnes, und bei einer gluͤcklichen Na - tur ein ſo geſelliges Leben, daß ich ſie ſtatt mancher neueren Ziererei jungen Leuten in die Hand wuͤnſchte. Und nun zur Kritik der Deutſchen.
Mangel an Kritik ſollte die Krankheit nicht ſeyn, an der der Deutſche litte; unſre Langſamkeit, unſre ruhige Ueberlegung macht uns, daͤchte ich, zu gebohrnen Kunſt - richtern.
Geſunder Verſtand war von jeher das Lob, nach welchem der Deutſche ſtrebte. Hundert Spruͤchwoͤrter und Redarten unſ - rer Sprache zeigen, daß wir auch im gemei - nen Leben es auf ein Richtmaas der Sit - ten treu und ehrlich anlegten.
Und wir hatten Muth, unſer Urtheil zu ſagen. Die Reformation, die vonK 2148Deutſchland ausging, war eine laut - und ſcharfgeſagte Kritik uͤber eine Menge da - mals geltenden Unfugs. So lange dieſe Streitigkeiten dauerten, uͤbten wir Kritik Angrifs - und Vertheidigungsweiſe; andre Nationen folgten uns nach.
Und zwar thaten wir dies, (wenige vielleicht noͤthige Faͤlle ausgenommen) mit einer Beſcheidenheit, in der uns andre Na - tionen eben nicht nachfolgten. Unter allen Reformatoren der Philoſophie z. B. war Leibnitz der beſcheidenſte Reformator. Alle Syſteme der Alten, glaubte er, ließen ſich vereinigen, weil in Jedem Etwas Wahres und Vorzuͤgliches ſei; eine ſolche friedliche Vereinigung war von Jugend auf der Lieblingsplan unſres Weiſen. Mit unuͤberwindlicher Gelaſſenheit ſtellete er ſeine Meinungen mit den Meinungen Des-Cartes, Shaftesburi, Locke,149 Newton's zuſammen; vor ſo partheiiſchen Ohren der letzte Streit gefuͤhrt ward, blieb ſeine Kritik dennoch eben ſo veſt als be - ſcheiden. Ich bewundere die Geduld, die er ſich zu Vereinigung der Kirchen in Be - antwortung theologiſcher Zweifel nahm; er antwortete Jedem, wie Ers faſſen und ertragen konnte.
Mit Leibnitz ſtarb dieſer Geiſt philo - ſophiſcher, friedlicher Kritik nicht aus; auch Wolf und ſeine Schuͤler erwieſen ihn ſelbſt gegen ihre bitterſten Feinde. Allen Freunden der Leibnitziſchen Denkart iſt eine geſunde Kritik heilig, weil ſie ſich in der Mathematik an Genauigkeit der Begriffe und des Ausdrucks gewoͤhnt ha - ben und keine menſchliche Wiſſenſchaft ver - achten. Der friedliche Alexander Gott - lieb Baumgarten ward mit ſeiner ſel - tenen faſt aͤngſtlichen Praͤciſion, ohne daß150 ers wußte und wollte, der Vater einer Schule aͤchter Kritik, auch der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und Kuͤnſte in Deutſchland. Lambert und Kant haben ihre Archi - tektonik und Kritik an ſeinen Lehrbuͤchern geſchaͤrfet. —
Wie nun? und dennoch haͤtte Ihr Vorwurf Grund, daß eben in dieſem Felde, der Region des Geſchmacks und Vortra - ges in Deutſchland eine partheiiſche Kritik mit falſchem Maas und Gewicht handle? Sie klagen die Gutmuͤthigkeit unſrer Na - tion an, die ſich Alles gefallen laſſe, Alles ertrage und dulde. — Mich duͤnkt, die Geſchichte der Zeit gebe hieruͤber einige Auskunft.
Als Opitz, Logau, Tſcherning u. f. im beſſern Geſchmack zu ſchreiben anfingen, warfen ſie ſich nicht zu Richtern jedes fremden Geſchmacks auf; ihre Werke151 waren Kritik; die Anweiſungen, die Opitz und ſeine Nachfolger gaben, betrafen mei - ſtens nur Sprache und Verskunſt.
Und ſie haben hierinn auf eine fried - liche Art viel geleiſtet. Wenn ich Schot - tels, Stielers, Friſch, Boͤdikers, Wachters, Haltaus u. a. ſtille Ver - dienſte um unſre Sprache mit den hefti - gen und Nutzloſen Streitigkeiten unwiſſen - der Schriftſteller in den folgenden Zeiten vergleiche: ſo ſehe ich dort fleißige Ameiſen und Bienen zuſammentragen, hier laute Weſpen ſchwirren und ſtechen. Es iſt wahr, man lobte ſich damals etwas zu viel unter einander; die Glieder der Frucht - bringenden Geſellſchaft, des Blumen - und Schwanen-Ordens u. f. munterten ſich einander durch gegenſeitiges, oft zu reiches Lob auf. War dies indeſſen nicht ſehr ver - zeihlich? Nach ſo langen Truͤbſalen theo -152 logiſcher Streitigkeiten und des dreiſſig - jaͤhrigen Krieges freueten ſich dieſe alten Kinder, daß ſie auch eine Sprache haͤtten, in der ſie ſchreiben und reimen koͤnnten; und iſt nicht viel, viel Gutes durch die Mitglieder dieſer Geſellſchaften bewirkt worden? Wie viele ſchreiben denn jetzt in Proſe, wie Zinkgraͤf, Opitz, Hars - doͤrfer, Riſt, Lohenſtein u. a. ſchrie - ben? — Laſſet uns doch die guten Bemuͤ - hungen unſrer Vorfahren nicht verkennen! auch uͤber uns wird man einſt als uͤber Vorfahren richten.
Es iſt ſchon bemerkt worden, daß an der franzoͤſiſchen Sprachenmengerei und an dem Italiaͤniſch-falſchen Geſchmack, der im Anfange unſres jetzt abgehenden Jahrhunderts einriß, eigentlich die Deut - ſchen Hoͤfe Schuld waren. Ihnen be - quemten ſich die Schriftſteller; und auch153 Leibnitz, der zu Fortbildung der Deut - ſchen Sprache ſo vortrefliche Grundſaͤtze nicht nur hatte, ſondern auch bei der Aka - demie in Gang bringen wollte, auch Er ſchrieb ein Deutſch, das ſeiner Zeit gemaͤß war. Noch mehr frohnten Chriſtian Thomaſius, Tenzel u. a dieſem Ge - ſchmack, der damals fuͤr Artigkeit galt; daher Thomaſius die geſunde Kritik, die er an die Rechtswiſſenſchaft, und an - dre Scienzen wandte, auf den Geſchmack nicht anwenden konnte. Canitz, als Hof - mann, gab nur durch ſeine Gedichte, de - ren wenigſte leider zu uns gekommen ſind, ein beſſeres Muſter.
Der Erſte, der mit ſcharfen Pfeilen auf den Lohenſteiniſchen Geſchmack losging, war meines Wiſſens Wernike, ein Preuße. In England und Frankreich an einen beſ - ſern Geſchmack gewoͤhnt, wollte er ſowohl154 durch ſeine Sinngedichte, (Ueberſchriften) als durch die Anmerkungen, mit denen er ſie begleitete, dieſen auch den Deutſchen zu koſten geben. Nicht mit vielem Erfolg: denn ſeine Ueberſchriften waren hart, und die Anmerkungen doch nur Spoͤttereien. Sollte man an Jene, die Ueberſchriften naͤmlich, das Maas der Griechen und Roͤ - mer legen, wie viel Ueberwitz, wie man - cher falſche, erzwungene Zierrath muͤßte hinweggethan werden, auf welchen er doch, wie die verſchiedenen Ausgaben derſelben zeigen, ſelbſt den muͤhſamſten Fleiß gewen - det. Alſo war auch ſein Geſchmack bei weitem nicht rein und vollendet.
Die Hofverſe dauerten fort, bis fern von Hoͤfen in ſeinem Garten Brockes die Natur und eben ſo fern von Hoͤfen Bodmer und Breitinger Sitten mahl - ten. Immer bleibt Deutſchland dieſen Re -155 formatoren des Geſchmacks, ſo wie den Hamburgiſchen Patrioten Dank ſchul - dig; ſie thaten, was ſie zu ihrer Zeit thun konnten. Breitingers Dichtkunſt und Abhandlungen zeigen durchaus einen Ken - ner der Alten, der ſeinen Geſchmack an ihnen bewaͤhrt hat; auch Bodmers Be - muͤhungen aus neueren ſowohl auslaͤndi - ſchen, als unſrer alten Deutſchen Sprache uns einen groͤßeren Reichthum an Gedan - ken, Bildern, Fabeln, Einkleidungen und Ausdruͤcken als Kunſtrichter und Dich - ter zuzufuͤhren, haben ihren Zweck nicht verfehlet. Er hat viel aufgeregt, und ſich faſt uͤber Vermoͤgen bemuͤhet, indem er bis in ſein greiſes Alter wie der friſcheſte Juͤngling an jedem neuen Product unſrer Sprache Theil nahm.
Warum aber mußte dieſe Kritik, die doch Philoſophie iſt, und ein beſſerer Ge -156 ſchmack am Schoͤnen und Guten durch einen unwuͤrdigen Federkrieg eingefuͤhrt werden? That nicht auch Gottſched was er thun konnte? Die Weiſeſten in dieſem Streit, Haller und Hagedorn, ſchwie - gen. Der Erſte hat auch als Proſaiſt ſo viel Verdienſt um den beſſern Geſchmack im Vortrage der Wiſſenſchaften, daß ihm auch die Deutſche Kritik vielleicht den Er - ſten Kranz reichet. Mitten unter ſtuͤrmi - ſchen Faktionen brachte er ein ſchmales Blatt Deutſcher Kritik unter den Schutz einer Societaͤt der Wiſſenſchaften ſelbſt und gruͤndete ihm dadurch nicht nur Unpartheilichkeit, Billigkeit und Gleich - muth, ſondern auch Theilnahme am Fort - gange des menſchlichen Geiſtes in allen Weltgegenden und Sprachen. Seitdem ſind die Goͤttingiſchen gelehrten An - zeigen nicht nur Annalen, ſondern auch157 Befoͤrderinnen und, ohne ein Tribunal zu ſeyn, conſulariſche Faſten und Huͤlfsquellen der Wiſſenſchaft worden, zu denen man, wenn manche einſeitige Kritik verſtummt iſt, wie durch Lybiſche Wuͤſten zum ſtillen Kaͤnntnißgebenden Ora - kel der Wiſſenſchaft reiſet, und dabei im - mer noch Hallers und ſeiner Nachfolger Namen ſegnet.
Die Trommete war erklungen; es war beſtimmt, daß der beſſere Geſchmack der Deutſchen im Schlachtgetuͤmmel empfan - gen und gebohren werden ſollte. Wo zwei ſtreiten, gewinnet der Dritte. Nikolai ſchrieb ſeine Briefe uͤber den Zuſtand der ſchoͤnen Wiſſenſchaften in Deutſchland, mit Ueberſicht der Fehler von beiden Seiten: denn ſchon hatten waͤhrend dieſes langen Streits mehrere Schrifſteller von Genie das, woruͤber man ſtritt, durch die That158 entſchieden. Leßing war Einer von ihnen. Seine mancherlei Vorzuͤge an Kaͤnntniſſen, Geſchmack und Schreibart gaben ihm ohne ſein Wollen das natuͤrliche und erworbene Recht, durch ein Weniges, der Anfang zu Vielem zu ſeyn, das wohl nicht ſein Plan war. Durch Nicolai, Mendel - ſohn und Ihn fing die Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, durch Ihn, Mendelſohn und Nicolai fingen die Literaturbriefe an; unſtreitig mit einem Urtheil von feinerer Beſtimmtheit, in einem groͤßeren Umfang von Ideen und einer ſchaͤrferen Unpartheilichkeit als jene Par - theien geaͤußert hatten. Der Bibliothek nahm ſich, nachdem ihre Urheber vom Werk abtraten, ein Schriftſteller an, der als Dramatiſcher und Lyriſcher Dichter unſrer Nation werth geworden iſt, Weiße. Winkelmann, Hagedorn, Heyne,159 Garve u. a. machten ſie, eine Reihe von Jahren hindurch, (in den neueſten Jahren kenne ich ſie nicht) zu einer Leiterin des guten Geſchmacks, die uns zugleich das Merkwuͤrdigſte fremder Nationen bekannt machte. Die Literaturbriefe, zu welchem nach Leßings Entfernung Abbt beitrat, thaten dadurch einen merklichen Schritt weiter, daß ſie bei ſtrengem Tadel ſelbſt oft eigene beſſere Ideen entwickelten und in der gewaͤhlten Form einer Privatcorre - ſpondenz keine Orakel der Welt ſeyn woll - ten. Leßing inſonderheit war ein beſcheid - ner, gegen andre, auch wo er es nicht ſeyn dorfte, ein nachgebender Mann und Mendelſohn, wenn ihn die Juͤnger der zehnten neueren Philoſophie als Philoſo - phen ganz zum Kinde werden gemacht ha - ben, wird in der philoſophiſchen Kritik160 Deutſchlands lange noch als ein ſchaͤtzba - rer, verdienter Name gelten.
Was nach dieſen Zeiten geſchehen ſei, weiß ich nicht; da ich außer einem kleinen Blatt gewoͤhnlich kein kritiſches Deutſches Journal leſe. Vernommen habe ich, daß man ſeitdem alles umfaſſet und dazu aus allen Ecken Kunſtrichter verſammelt habe; wie ſie gerichtet haben, wie ſie richten und richten werden, iſt mir voͤllig fremde. Zu beklagen waͤre es freilich, wenn auf die - ſem Wege alle Kritik in Deutſchland Ge - wicht und Glauben verlohren haͤtte, wel - ches ich aber weder hoffe noch glaube. Laß es ſeyn, daß zuweilen unbaͤrtge Juͤng - linge, denen, von denen ſie gelernt hat - ten, das Kinn raſiren, um doch auch an ihnen beruͤhmt zu werden; jeder honette Mann, der da ſieht, wie mit ſeinem Nach - bar gehandelt wird und wer alſo handelt,wird161wird ſich allmaͤhlich aus dieſen anonymi - ſchen Becken-Stuben zuruͤckziehen, und ſo thut auch hier die Zeit ihr Werk; ſie uͤbt eine ſcharfe Kritik an der Kritik der Zeiten.
Wir, meine Freunde, die wir nicht zu Dictatoren der ſinkenden Republik we - gen beſtellet ſind, wollen von uns ſelbſt, von den Alten, von unſern Freunden und Feinden und von Jedem lernen, der Gruͤn - de giebt und mit offnem Viſier redet.
Auch die Kritik iſt ohne Genius nichts. Nur ein Genie kann das Andre beurthei - len und lehren. Nur der, der ſelbſt Kaͤnnt - niſſe hat und Kraͤfte zeigt, kann Kraͤfte wecken und Kaͤnntniſſe befoͤrdern.
Seit geraumer Zeit, wie unbekannt ſind wir z. B. mit den ſchaͤtzbarſten Pro - dukten des Auslandes ſelbſt im Felde der Kritik geblieben! Leßing uͤberſetzte War - tons Verſuch uͤber Pope; der zweite Theil, im Jahr 1782 erſchienen, iſt uns auch nicht im Auszuge bekannt worden.
163Eſchenburg gab in ſeinem Britti - ſchen Muſeum ein paar Abhandlungen aus Wartons Geſchichte der Eng - liſchen Dichtkunſt; einen Auszug des gan - zen Werks, ſo wie andrer nuͤtzlichen Werke uͤber dieſen Gegenſtand, konnte er nicht ge - ben: denn ſein Muſeum ſelbſt verſchloß ſich.
Blankenburg gab den Anfang von Johnſons Lebensbeſchreibungen der Eng - liſchen Dichter, ein Werk voll Kritik, lehr - reich auch fuͤr uns Deutſche, obgleich nichts weniger als unpartheilich; die Fort - ſetzung unterblieb.
Eſchenburg gab uns Browns Buch uͤber die Verbindung der Poeſie und Mu - ſik; Browns wichtigeres Werk uͤber die Sitten, das bereits im Jahr 1757. her - auskam und als ein ſchreckender Spiegel viel Aufſehen erregte, iſt noch nicht uͤber - ſetzt worden.
L 2164So viel intereſſante Aufſaͤtze aus Hen - ry's, aus Littletons Geſchichte, manche auch fuͤr uns merkwuͤrdige Abhandlung aus den Societaͤten der Alterthumsforſcher, imgleichen von Dublin, Edinburg, Mancheſter, den Transactionen u. f. ſind da, als ob ſie fuͤr uns nicht waͤren. Auch mit Georg Forſter wie viel iſt uns in dieſem Betracht geſtorben! Ein boͤſer Genius ſcheint ſein Spiel zu ha - ben, indem er (und wogegen?) den Faden zu zerreiſſen ſucht, der uns mit den Ge - danken andrer Nationen verknuͤpfet. Wir ſollen auf unſerm eignen Grunde meta - phyſiciren, oder uns damit bemuͤhen, wo - mit ſich andre laͤngſt bemuͤhet haben.
Hierhin ſollte die Kritik wirken! uns ins Univerſum ſaͤmmtlicher gebildeten Na - tionen verſetzen, und auf unſerm einſamen Gange von ihnen uns Licht und Huͤlfe165 zufoͤrdern. Ueberhaupt glaube ich, daß dem Charakter unſrer Nation nach die Kritik durchaus belehrend, foͤrdernd, gut - muͤthig, human ſeyn muͤßte; nur auf dieſem Wege kann ſie etwas und wuͤrde gewiß viel erreichen. Unſrer gelehrten Re - publik mangelt aͤußere Aufmunterung und Achtung; wollte ſie ſich zum Spott der Unwiſſenden, und zur allgemeinen Verach - tung machen, indem ſie ſich ſelbſt verſpot - tet, wuͤrget und auffrißt?
Gnug von der Kritik. Sie aͤuſſerten den merkwuͤrdigen Gedanken, daß die Poe - ſie der Deutſchen eine Kinderpoëſie ſei; ich hoffe, ſie ſoll es bleiben. So ihr (im guten Verſtande) nicht werdet wie die Kinder: ſo iſt weder Tempe noch Elyſium fuͤr euch.
Vor allen Dingen verſchonen Sie die Poeſie mit Staatsmaͤnnern, die uͤber ſie166 richten; das Reich der Poeſie iſt nicht die Staatswelt.
Wenn Sophokles ſeinen Oedipus mit der Scene des flehenden Volks eroͤf - net; die Peſt wuͤthet; ein geheimes Ver - brechen ruht auf dem Vaterlande; Juͤng - linge und Greiſe jammern: ſo iſt dieſe Situation ganz menſchlich. Ob Oedipus oder Lajus regiere, kuͤmmert mich nicht; daß aber um Eines Verbrechers willen das ganze Volk leide, dieſe Scene eroͤfnet ein Trauerſpiel wuͤrdig.
Wenn Ariſtophanes Scenen der Menſchheit darſtellt, weßwegen Friede ge - macht werden muͤſſe: ſo iſt dies ein Ge - genſtand der Muſe. Ob aber Kreon der Wurſtmacher, oder Kreon der Riemen - ſchneider das Volk lenke; dieſe politiſche Wichtigkeit iſt der poetiſchen Muſe ſehr gleichguͤltig.
167Nichts verunreinigt den heiligen Quell mehr, als politiſcher Partheigeiſt; er macht die Muſe zur Luͤgnerin, partheiiſch, uͤber - treibend, am jetzigen Augenblick als an einer Ewigkeit hangend, und ihm damit die Ewigkeit ertheilend. Die Tochter des Him - mels wird unter den Haͤnden der Politik eine kurzſichtige, leidenſchaftliche Verlaͤum - derin, ein Kind der Erde. Die politiſche Poeſie der Englaͤnder ſei davon ein Bei - ſpiel. Warum hat Butler den Ruhm nicht erlangt, den ſein Hudibras ſo ſehr verdienet? Das Witzreiche Gedicht iſt fuͤr ein bloßes Geſpoͤtt zu lang, fuͤr die darinn enthaltene Lehre und Warnung zu ſehr mit Zeit-Anſpielungen uͤberhaͤuft, zu politiſch. Jenes gewaltige Vernunft - Genie, Swift, was hat ihn fuͤr den groͤßeſten Theil der Nachwelt unbrauchbar gemacht? Die politiſchen Umſtaͤnde, aus168 welchen er ſein Geſpinnſt zog, und in wel - che er ſeine koͤſtlichen Gedanken webte. Die Politik der damaligen Zeit iſt ein Traum worden; es macht uns Muͤhe, je - den ſeiner tiefen bleibenden Gedanken von einem verlebten Traume zu ſondern. Wer lieſet jetzt Churchills Gedichte? und wer wird Peter Pindar mit reinem Vergnuͤgen leſen, wenn unſere Zeit vor - bei iſt? Beklagen wird man ſo viel ver - ſchwendete goldne Talente.
Mit Unwillen hoͤre ichs alſo, wenn man unſrer Nation einen Swift wuͤn - ſchet, einen Bedaurens - und Hochachtungs - wuͤrdigen Mann, der nur durch Misfaͤlle ward, was er geworden iſt, und vom Gluͤck begleitet ein Genius der Gerechtig - keit und der Klugheit geworden waͤre. Und ein Swift in Deutſchland? —
169Hinweg alſo Politik aus dem Gebiet der Muſen! und verwuͤnſcht ſei jede After - Muſe, die der Politik froͤhnet. Treue und Glauben, Unſchuld der Sitten, Biederkeit und Einfalt — das ſeyn unſre Kaſtaliden! alles andre iſt vergaͤngliche Thorheit. Zur Italiaͤniſchen acutezza, zur Spaniſchen grandezza, zur Franzoͤſiſchen legereté, zum Brittiſchen high-ſpirit wird ſich der Deut - ſche nie hinauf ſchwingen; was er aber iſt und von jeher geweſen, davon iſt ſeine eigne Geſchichte eine durch Jahrhunderte erprobte Stimme der Wahrheit. Was alle Dichter ſingen, wohin ſie wider Wil - len ſtreben, was ihnen am meiſten gluͤckt, was bei denen, die ſie leſen und hoͤren, die groͤßeſte Wirkung hervorbringt, das iſt Charakter der Nation, wenn er auch als eine unbehauene Statue noch im Mar - morblock dalaͤge. Dies iſt Vernunft,170 reine Humanitaͤt, Einfalt, Treue und Wahrheit. Wohl uns, daß uns dies ſittliche Gefuͤhl ward, daß dieſer Cha - rakter gleichſam von unſrer Sprache un - abtrennlich iſt, ja daß uns nichts gelingen will, wenn wir aus ihm ſchreiten. Lehr - geld in erzwungenen Nachaͤffungen haben wir gnug gegeben.
Mit dieſem Charakter wieviel koͤnnen wir entbehren! Wenn andre Nationen ſich im Geſchmack hie und dorthin verirrten, ſo wird unſre Regel feſtſtehn, die im Mannichfaltigſten die wahreſte Einfalt ſucht und uns die Poeſie ſeyn laͤßt, was ſie ſeyn ſoll, ein Spiegel der Na - tur und Sitten, Humanitaͤt im gefaͤl - ligſten reinſten Gewande, Philoſophie des Lebens. Dies war einſt Orpheus und Apollo's Kunſt.
Die Poeſie iſt ein Proteus unter den Voͤlkern; ſie verwandelt ihre Geſtalt nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten, nach dem Temperament und Klima, ſogar nach dem Accent der Voͤlker.
172Wie Nationen wandern, wie ſich die Sprachen miſchen und aͤndern, wie neue Gegenſtaͤnde die Menſchen ruͤhren, wie ihre Neigungen eine andre Richtung, ihre Uebungen ein andres Ziel nehmen, wie in der Zuſammenſetzung der Bilder und Be - griffe, neue Vorbilder auf ſie wirken, ſelbſt wie die Zunge, dies kleine Glied, ſich anders beweget und das Ohr ſich an an - dre Toͤne gewoͤhnt: ſo veraͤndert ſich die Dichtkunſt nicht nur bei verſchiedenen Na - tionen, ſondern auch bei demſelben Volke. Die Poeſie zu Homers Zeiten war bei den Griechen ein andres Ding als zu Longins Zeiten, ſelbſt dem Begriff nach. Ganz ein andres wars, was ſich der Roͤ - mer und der Moͤnch, der Araber und der Kreuzritter, oder was nach wiedergefun - denen Alten der Gelehrte, und in ver - ſchiednen Zeitaltern verſchiedner Nationen173 der Dichter und das Volk ſich an Poeſie denken. Der Name ſelbſt iſt ein abge - zogner, ſo vielfaſſender Begriff, daß wenn ihm nicht einzelne Faͤlle deutlich unterge - legt werden, er wie ein Trugbild in den Wolken verſchwindet. Sehr leer war da - her der Streit uͤber den Vorzug der Alten oder der Neuern, bei welchem man ſich wenig Beſtimmtes dachte.
Er ward noch leerer dadurch, daß man keinen oder einen falſchen Maasſtab der Vergleichung annahm: denn was ſollte hier uͤber den Rang entſcheiden? Die Kunſt der Poeſie, als Object? wie viel feine Beſtimmungen gehoͤrten dazu, das Hoͤchſte der Vollkommenheit in jeder Art und Gattung nach Ort und Zeit, nach Zweck und Mitteln auszufinden, und auf jedes Verglichene unpartheiiſch anzuwen - den! Oder ſollte die Kunſt des Dichters174 nach dem Subject betrachtet werden, wie viel Dieſer vor Jenem gluͤckliche Gaben der Natur, eine guͤnſtigere Lage der Um - ſtaͤnde, mehreren Fleiß in Nutzung deſſen, was vor ihm geweſen war, und um ihn lag, ein edleres Ziel, einen weiſeren Ge - brauch ſeiner Kraͤfte dies Ziel zu erreichen zu ſeinem Eigenthum machte; welch ein andres Meer der Vergleichung! So man - chen Maasſtab der Dichter Einer Na - tion oder verſchiedener Voͤlker man auf - geſtellt hat, ſo manche vergebliche Arbeit hat man uͤbernommen. Jeder ſchaͤtzt und ordnet ſie nach ſeinen Lieblingsbegriffen, nach der Art, wie Er ſie kennen lernte, nach der Wirkung, die Der und Jener auf ihn machte. Der gebildete Menſch traͤgt, wie ſein Ideal der Vollkommenheit, ſo auch ſeinen Maasſtab dieſe zu erreichen in ſich, den er nicht gern mit einem fremden vertauſchet.
175Keiner Nation doͤrfen wirs alſo ver - argen, wenn ſie vor allen andern ihre Dichter liebt und ſie gegen fremde nicht hingeben moͤchte; ſie ſind ja ihre Dichter. In ihrer Sprache haben ſie gedacht, im Kreiſe ihrer Gegenſtaͤnde imaginirt; ſie fuͤhlten die Beduͤrfniſſe der Nation, in welcher ſie erzogen wurden, und kamen dieſen zu Huͤlfe. Warum ſollte die Nation alſo nicht auch mit ihnen fuͤhlen, da Ein Band der Sprache, Gedanken, Be - duͤrfniſſe und Empfindungen ſie veſt an einander knuͤpfet.
Italiaͤner, Franzoſen und Englaͤnder ſchaͤtzen ihre Dichter, oft mit ungerechter Verachtung andrer Voͤlker partheiiſch hoch; der einzige Deutſche hat ſich verfuͤhren laſſen, das Verdienſt fremder Voͤlker, in - ſonderheit der Englaͤnder und Franzoſen, unmaͤßig zu uͤbertreiben und daruͤber ſich176 ſelbſt zu vernachlaͤßigen. Zwar einem Young, (denn von Shakeſpeare, Mil - ton, Thomſon, Fielding, Goldſmith, Sterne iſt hier nicht die Rede) goͤnne ich ſeine vielleicht etwas uͤberſpannte Ver - ehrung bei uns gern, da er durch Eberts Ueberſetzung eingefuͤhrt ward; eine Ueber - ſetzung, die nicht nur alles Verdienſt eines Originals hat, ſondern auch die Uebertrei - bungen ihres Engliſchen Originals durch den Bau einer harmoniſchen Proſe und durch die reichen moraliſchen Anmerkungen aus andern Nationen gleichſam zurecht fuͤ - get und mildert. Sonſt aber wird es den Deutſchen immer den Vorwurf einer unent - ſchloſſenen Lauigkeit zuziehn, daß die rein - ſten Dichter ihrer Sprache in Schulen und bei Erziehung der Jugend uͤberhaupt ſo vergeſſen und hintangeſetzt werden, wie keine benachbarte Nation es thut. Wo -durch177durch ſoll ſich unſer Geſchmack, unſre Schreibart bilden? wodurch unſre Spra - che beſtimmen und regeln, als durch die beſten Schriftſteller unſrer Nation? Ja wo - durch ſollen wir Patriotismus und Liebe zu unſerm Vaterlande erlangen, als durch ſeine Sprache, durch die vortreflichſten Ge - danken und Empfindungen, die in ihr aus - gedruͤckt, die wie ein Schatz in ſie gelegt ſind. Gewiß irrten wir nicht nach einem Jahrtauſend, in dem unſre Sprache ge - ſchrieben iſt, in manchen Wortfuͤgungen noch jetzt zweifelnd umher, wenn wir von Jugend auf unſre beſten Schriftſteller kenn - ten und ſie uns zu Fuͤhrern waͤhlten.
Indeſſen ſoll keine Liebe zu unſrer Na - tion uns hindern, allenthalben das Gute zu erkennen, das nur im großen Gange der Zeiten und Voͤlker fort - ſchreitend bewirkt werden konnte. Je -Achte Samml. M178ner Sultan freuete ſich uͤber die vielen Religionen, die in ſeinem Reich, jede auf ihre Weiſe Gott verehrten; es kam ihm wie eine ſchoͤne, bunte Aue vor, auf der mancherlei Blumen bluͤhten. So iſts mit der Poeſie der Voͤlker und Zeiten auf un - ſerm Erdrunde; in jeder Zeit und Sprache war ſie der Inbegriff der Fehler und Voll - kommenheiten einer Nation, ein Spiegel ihrer Geſinnungen, der Ausdruck des Hoͤch - ſten, nach welchem ſie ſtrebte (oratio ſen - ſitiva animi perfecta.) Dieſe Gemaͤhlde, (minder und mehr vollkommene, wahre und falſche Ideale) gegen einander zu ſtel - len, giebt ein lehrreiches Vergnuͤgen. In dieſer Galerie verſchiedner Denkarten, An - ſtrebungen und Wuͤnſche lernen wir Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem taͤuſchenden Troſtloſen Wege ihrer politiſchen und Kriegsgeſchichte. In die -179 ſer ſehen wir ſelten mehr von einem Volke, als wie es ſich regieren und toͤdten ließ; in jener lernen wir, wie es dachte, was es wuͤnſchte und wollte, wie es ſich er - freute, und von ſeinen Lehrern oder von ſeinen Neigungen gefuͤhrt ward Freilich aber mangeln uns noch viel Huͤlfsmittel zu dieſer Ueberſicht in die Seelen der Voͤl - ker. Griechen und Roͤmer beiſeite geſetzt, hangen uͤber dem Mittelalter, aus wel - chem bei uns Europaͤern doch Alles hervor - ging, noch dunkle Wolken. Meinhards ſchwacher Verſuch uͤber die Italiaͤ - niſchen Dichter iſt nicht einmal bis auf Taßo forgeſetzt, geſchweige Etwas aͤhn - liches bei andern Nationen ausgefuͤhrt worden. Ein Verſuch uͤber die Spa - niſchen Dichter iſt mit dem gelehrten Kenner dieſer Literatur, dem Herausgeber des Velasquez, Diez, geſtorben.
M 2180Auf drei Wegen kann man ſich eine Ueberſicht dieſes Blumen - und Fruchtrei - chen Feldes menſchlicher Gedanken verſchaf - fen, und jeder iſt betreten worden.
Eſchenburgs beliebte Beiſpielſamm - lung waͤhlet, ſeiner Theorie gemaͤß, den Weg der Gattungen und Arten; fuͤr Juͤnglinge ein lehrreicher Weg bei einem geſchickten Fuͤhrer: denn oft kann ihn Ein Name, der ſehr verſchiedene Dinge be - zeichnet, ganz irre leiten. Homers, Vir - gils, Arioſts, Miltons, Klopſtocks Werke tragen Einen Namen der Epopee, und ſind doch ſelbſt nach dem Kunſtbegriff, der in den Werken liegt, geſchweige nach dem Geiſt, der ſie beſeelet, ganz verſchie - dene Productionen. Sophokles, Cor - neille und Shakeſpeare haben als Trauerſpieldichter nur den Namen gemein; der Genius ihrer Darſtellungen iſt ganz181 verſchieden. So bei allen Gattungen der Dichtkunſt, bis zum Epigramm hinun - ter. —
Andre haben die Dichter nach Empfin - dungen geordnet, da denn inſonderheit Schiller*)S. die Horen, November December 1795. Januar 1796. viel Feines und Vortrefliches geſagt hat. Allein, wie ſehr laufen die Empfindungen in einander! welcher Dich - ter bleibt Einer Empfindungsart dergeſtalt treu, daß ſie ſeinen Charakter, zumal in verſchiednen Werken bezeichnen koͤnnte? Oft ruͤhret er ein Saitenſpiel von vielen, ja von allen Toͤnen, die ſich eben durch Disharmonieen heben. Die Welt der Em - pfindungen iſt ein Geiſter - oft ein Atomen - reich; nur die Hand des Schoͤpfers ver - mag daraus Geſtalten zu ordnen.
182Die Dritte, wenn ich ſo ſagen darf, Naturmethode iſt, jede Blume an ihrem Ort zu laſſen, und dort ganz wie ſie iſt, nach Zeit und Art, von der Wurzel bis zur Krone zu betrachten. Das demuͤthig - ſte Genie haſſet Rangordnung und Verglei - chung. Es will lieber der Erſte im Dorf ſeyn, als der Zweite nach Caͤſar. Flechte, Moos, Farrenkraut und die reichſte Ge - wuͤrzblume; jedes bluͤhet an ſeiner Stelle in Gottes Ordnung.
Man hat die Dichtkunſt ſubjectiv und objectiv, nach den Gegenſtaͤnden, die ſie ſchildert, und nach den Empfindungen, mit denen ſie Gegenſtaͤnde darſtellt, geord - net; ein wahrhafter und nuͤtzlicher Geſichts - punkt, der auch zu Charakteriſirung ein - zelner Dichter z. B. Homers und Oßi - ans, Thomſons und Kleiſts u. a. der rechte ſcheinet. Homer naͤmlich erzaͤhlt183 die Geſchichten ſeiner Vorwelt ohne merk - liche beſondre Theilnehmung; Oßian ſin - get ſie aus ſeinem verwundeten Herzen, aus ſeiner traurig-froͤhlichen Erinnerung. Thomſon ſchildert Jahrszeiten, wie die Natur ſie giebt; Kleiſt ſinget ſeinen Fruͤh - ling, mit oft einbrechenden Gedanken an ſich und ſeine Freunde als eine Rhapſodie von Anſichten mit Empfindungen beſeelet. Indeſſen auch dieſer Unterſchied bezeichnet Dichter und Zeiten der Dichtkunſt ſehr leiſe: denn auch Homer nimmt Theil an ſeinen Gegenſtaͤnden, als Grieche, als Er - zaͤhler, wie in den mittleren Zeiten die Balladenſaͤnger und Fabliers, wie in neue - ren Zeiten Arioſt und Spenſer, Cer - vantes und Wieland. Ein Mehreres zu thun waͤre außer ſeinem Beruf gewe - ſen und haͤtte ſeine Erzaͤhlung geſtoͤret. In Anordnung und Bezeichnung ſeiner184 Geſtalten aber ſingt auch Homer auf die hoͤchſte Weiſe menſchlich; wo es uns nicht alſo ſcheinet, liegt der Unterſchied an der Denkart der Zeiten und iſt ſehr erklaͤrbar. Ich getraue mich, in den Griechen jede reine menſchliche Geſinnung, vielleicht im ſchoͤnſten Maas und Ausdruck, aufzufin - den; nur alles an Ort und Stelle. Ari - ſtoteles Poëtik hat Fabel, Charak - tere, Leidenſchaften, Geſinnungen unuͤbertreflich geordnet.
Zu allen Zeiten war der Menſch der - ſelbe; nur er aͤußerte ſich jedesmal nach der Verfaſſung, in der er lebte. Sehr mannichfaltig iſt die Poeſie der Griechen und Roͤmer! in ihren Wuͤnſchen und Kla - gen, in ihren Beſchreibungen voll Luſt und Freude. So die Poeſie der Moͤnche, der Araber, der Neueren. Den großen Unterſchied, der zwiſchen dem Morgen -185 und Abendlande, zwiſchen Griechen und uns eintrat, hat keine neue Kategorie, ſondern die Vermiſchung der Voͤlker, der Religionen und Sprachen, endlich der Fortgang der Sitten, der Erfindungen, der Kaͤnntniße und Erfahrungen, bewirket; ein Unterſchied, der ſchwerlich mit Einem Wort auszudruͤcken ſeyn moͤchte. Wenn ich bei einigen Neuern das Wort Dich - ter aus Reflexion gebrauchte, ſo war auch dies unvollkommen: denn ein Dichter aus bloßer Reflexion iſt eigentlich kein Dichter.
Der Poeſie Grund und Boden iſt Einbildungskraft und Gemuͤth, das Land der Seelen. Ein Ideal der Gluͤckſeligkeit, der Schoͤnheit und Wuͤrde, das in deinem Herzen ſchlummert, wecket ſie auf durch Worte und Charaktere; ſie iſt der Sprache, der Sinne und des Ge -186 muͤths vollkommenſter Ausdruck. Kein Dichter kann dem Geſetz entgehen, das in ihr liegt; er zeigt, was er hat und nicht habe.
Auch kann man in ihr Ohr und Auge nicht ſondern. Die Poeſie iſt keine bloße Malerei oder Statuiſtik, die Gemaͤhlde wie ſie ſind, ohne Abſicht darſtellen koͤnnte; ſie iſt Rede und hat Abſicht. Auf den innern Sinn wirket ſie, nicht auf das aͤußere Kuͤnſtlerauge; und zu jenem innern Sinn gehoͤrt bei einem gebildeten oder zu bildenden Menſchen Gemuͤth, morali - ſche Natur, mithin bei dem Dichter vernuͤnftige und humane Abſicht. Die Rede hat etwas Unendliches in ſich; ſie macht tiefe Eindruͤcke, die ja eben die Poeſie durch ihre harmoniſche Kunſt verſtaͤrket. Nie kann alſo der Dichter blos ein Mahler ſeyn wollen. Er iſt Kuͤnſtler187 vermoͤge der eindringenden Rede, die das Object, das ſie mahlt, oder darſtellt, auf einen geiſtigen, moraliſchen, gleich - ſam unendlichen Grund, ins Gemuͤth, in die Seele mahlet.
Sollte alſo nicht auch bei dieſer, wie bei allen Reihen fortgeſetzter Naturwir - kungen ein Fortgang unumgaͤnglich ſeyn? Ich zweifle daran, (den Fortgang recht verſtanden,) gar nicht. In Sprache und Sitten werden Wir nie Griechen und Roͤ - mer werden; wir wollen es auch nicht ſeyn. Ob aber der Geiſt der Poeſie durch alle Schwingungen und Eccentricitaͤten, in denen er ſich bisher Nationen und Zei - tenweiſe periodiſch bemuͤhet hat, nicht dahin ſtrebe, immer mehr und mehr, ſo wie jede Grobheit des Gefuͤhls, ſo auch jeden fal - ſchen Schmuck abzuwerfen und den Mittel - punkt aller menſchlichen Bemuͤhungen zu188 ſuchen, naͤmlich die echte, ganze, mo - raliſche Natur des Menſchen, Phi - loſophie des Lebens? dieſes wird mir durch Vergleichung der Zeiten ſehr glaub - haft. Auch in Zeiten des groͤßeſten Unge - ſchmacks koͤnnen wir uns nach der großen Regel der Natur ſagen: tendimus in Ar - cadiam, tendimus! Nach dem Lande der Einfalt, der Wahrheit und Sitten geht unſer Weg.
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