Wir haben bisher die Erde als einen Wohnplatz des Menſchengeſchlechts uͤberhaupt betrachtet und ſodann die Stelle zu bemerken geſucht, die der Menſch in der Reihe der Lebendigen auf ihr einnimmt. Laſſet uns jetzt, nachdem wir die Jdee ſeiner Natur uͤberhaupt feſtgeſtellet haben, die verſchiednen Erſcheinungen betrachten, in denen er ſich auf dieſem runden Schauplatz zeiget.
Aber wer giebt uns einen Leitfaden in dieſem Labyrinth? welchen ſichern Fußtritten doͤrfen wir folgen? Wenigſtens ſoll kein truͤgendes Prachtkleid einer angemaasten Allwiſſen - heit die Maͤngel verhuͤllen, die der Geſchichtſchreiber der Menſchheit und noch vielmehr der Philoſoph dieſer Geſchich - te nothwendig mit ſich traͤget: denn nur der Genius unſres Geſchlechts uͤberſiehet deſſelben ganze Geſchichte. Wir fan -A 2gen4gen von den Verſchiedenheiten in der Organiſation der Voͤl - ker an, wenn auch aus keinem andern Grunde, ſo daher, weil man ſogar ſchon in den Lehrbuͤchern der Naturgeſchichte dieſe Verſchiedenheiten bemerket.
Noch iſt es keinem Seefahrer gelungen, auf der Axe unſrer Erde zu ſtehna)Die Hoffnungen unſers Landsmanns, Samuel Engels, hier - uͤber ſind bekannt, und einer der neueſten Abentheurer nach Nor - den, Pages, ſcheint die geglaubte Unmoͤglichkeit derſelben aber - mals zu vermindern. und vielleicht vom Nordpol her einigen naͤ - hern Aufſchluß der Conſtruction ihres Ganzen zu holen; in - deſſen ſind wir ſchon weit uͤber die bewohnbare Erde hinuͤber - gelangt und haben Gegenden beſchrieben, die man den kal - ten und nackten Eisthron der Natur nennen moͤchte. Hier ſind die Wunderdinge unſrer Erdſchoͤpfung geſehen, die keinAnwoh -5Anwohner des Aequators glauben wuͤrde, jene ungeheuren Maſſen ſchoͤngefaͤrbter Eisklumpen, jene praͤchtigen Nord - lichter, wunderbare Taͤuſchungen des Auges durch die Luft und bey der großen Kaͤlte von oben die oft warmen Erdkluͤf - teb)S. Phipps Reiſen, Cranz Geſchichte von Groͤnland u. f.. Jn ſteilen, zerfallnen Felſen ſcheint ſich der hervor - gehende Granit viel weiter hinauf zu erſtrecken, als ers beym Suͤdpol thun konnte, ſo wie uͤberhaupt dem groͤßten Theil nach die bewohnbare Erde auf dem nordlichen Hemiſphaͤr ru - het. Und da das Meer der erſte Wohnplatz der Lebendigen war: ſo kann man das nordliche Meer mit der großen Fuͤlle ſeiner Bewohner noch jetzt als eine Gebaͤhrmutter des Lebens und die Ufer deſſelben als den Rand betrachten, auf dem ſich in Mooſen, Jnſekten und Wuͤrmern die Organiſation der Erdgeſchoͤpfe anfaͤngt. Seevoͤgel begruͤſſen das Land, das noch weniges eignes Gefieder naͤhret: Meerthiere und Am - phibien kriechen hervor, um ſich am ſeltnen Stral der laͤndli - chen Sonne zu waͤrmen. Mitten im regſten Getuͤmmel des Waſſers zeigt ſich gleichſam die Grenze der lebendigen Er - deſchoͤpfung.
Und wie hat ſich die Organiſation des Menſchen auf die - ſer Grenze erhalten? Alles, was die Kaͤlte an ihm thun konnte,A 3war,6war, daß ſie ſeinen Koͤrper etwas zuſammendruͤckte und den Umlauf ſeines Bluts gleichſam verengte. Der Groͤnlaͤnder bleibt meiſtens unter fuͤnf Fuß und die Eskimo's, ſeine Bruͤ - der, werden kleiner, je weiter nach Norden ſie wohnena)S. Cranz, Ellis, Egede, Roger Curtis Nachricht von der Kuͤſte Labrador u. f.. Da aber die Lebenskraft von innen herauswirkt: ſo erſetzte ſie ihm an warmer und zaͤher Dichtigkeit, was ſie ihm an emporſtrebender Laͤnge nicht geben konnte. Sein Kopf ward in Verhaͤltniß des Koͤrpers groß, das Geſicht breit und platt, weil die Natur, die nur in der Maͤßigung und Mitte zwi - ſchen zwei Extremen ſchoͤn wirket, hier noch kein ſanftes Oval ruͤnden und inſonderheit die Zierde des Geſichts und wenn ich ſo ſagen darf den Balken der Waage, die Naſe, noch nicht hervortreten laſſen konnte. Da die Backen die groͤßere Brei - te des Geſichts einnahmen, ſo ward der Mund klein und rund: die Haare blieben ſtraͤubig, weil weiche und ſeidene Haare zu bilden, es an feinem, emporgetriebenen Saft fehl - te: das Auge blieb unbeſeelt. Gleichergeſtalt formten ſich ſtarke Schultern und breite Glieder, der Leib ward blutreich und fleiſchig; nur Haͤnde und Fuͤße blieben klein und zart, gleichſam die Sproſſen und aͤußerſten Theile der Bildung. Wie die aͤußere Geſtalt, ſo verhaͤlt ſich auch von innen dieReiz7Reizbarkeit und Oekonomie der Saͤfte. Das Blut fließt traͤger und das Herz ſchlaͤgt matter; daher hier der ſchwaͤ - chere Geſchlechtstrieb, deſſen Reize mit der zunehmenden Waͤrme anderer Laͤnder, ſo ungeheuer wachſen. Spaͤt er - wachet derſelbe: die Unverheiratheten leben zuͤchtig und die Weiber muͤſſen zur beſchwerlichen Ehe faſt gezwungen wer - den. Sie gebaͤhren weniger, ſo daß ſie die vielgebaͤhrenden luͤſternen Europaͤer mit den Hunden vergleichen: in ihrer Ehe, ſo wie in ihrer ganzen Lebensart herrſcht eine ſtille Sittſamkeit, ein zaͤhes Einhalten der Affekten. Unfuͤhlbar fuͤr jene Reizungen, mit denen ein waͤrmeres Klima auch fluͤchtigere Lebensgeiſter bildet, leben und ſterben ſie ſtill und vertraͤglich, gleichguͤltig-vergnuͤgt und nur aus Nothdurft thaͤtig. Der Vater erzieht ſeinen Sohn mit und zu jener gefaßten Gleichguͤltigkeit, die ſie fuͤr die Tugend und Gluͤck - ſeligkeit des Lebens achten und die Mutter ſaͤugt ihr Kind lange und mit aller tiefen, zaͤhen Liebe der Mutterthiere. Was ihnen die Natur an Reiz und Elaſticitaͤt der Fibern verſagt hat, hat ſie ihnen an nachhaltender, daurender Staͤr - ke gegeben und ſie mit jener waͤrmenden Fettigkeit, mit jenem Reichthum an Blut, der ihren Aushauch ſelbſt in eingeſchloßnen Gebaͤuden erſtikkend warm macht, um - kleidet.
Mich8Mich duͤnkt, es iſt niemand, der hiebei nicht die ein - foͤrmige Hand der organiſirenden Schoͤpferin, die in allen ih - ren Werken gleichartig wirkt, gewahr werde. Wenn die menſchliche Laͤnge zuruͤckbleibt: ſo bleibt es in jenen Gegen - den die Vegetation noch vielmehr: wenige, kleine Baͤume wachſen: Mooſe und Geſtraͤuche kriechen an der Erde. Selbſt die mit Eiſen beſchlagne Meßſtange kuͤrzete ſich im Froſt; und es ſollte ſich nicht die menſchliche Fiber kuͤrzen? Trotz ih - res inwohnenden organiſchen Lebens. Dies kann aber nur zuruͤckgedraͤngt und gleichſam in einen kleinern Kreis der Bil - dung eingeſchloſſen werden; abermals eine Analogie der Wir - kung bey allen Organiſationen. Die aͤußern Glieder der Seethiere und andern Geſchoͤpfe der kalten Zone ſind klein und zart: die Natur hielt, ſo viel moͤglich, alles zuſammen in der Region der innern Waͤrme: die Voͤgel daſelbſt wur - den mit dichten Federn, die Thiere mit einer ſie umhuͤllen - den Fettigkeit belegt, wie hier der Menſch mit ſeiner blutrei - chen, waͤrmenden Huͤlle. Auch von außen hat ihnen, und zwar aus Einem und eben demſelben Principium aller Orga - niſationen auf der Erde, die Natur das verſagen muͤſſen, was dieſer Complexion nicht diente. Wuͤrze wuͤrden ihren zur innern Faͤulung geneigten Koͤrper hinrichten, wie das ihnen zugebrachte Tollwaſſer der Brantwein ſo viele hinge - richtet hat: das Klima hat ſie ihnen alſo verſagt und zwingtſie9ſie dagegen in ihrem duͤrftigen Aufenthalt und bei der großen Liebe zur Ruhe, die ihr innerer Bau befoͤrdert, von außen zur Thaͤtigkeit und Leibesbewegung; auf welche alle ihre Ge - ſetze und Einrichtungen gebauet ſind. Die wenigen Kraͤu - ter, die hier wachſen, ſind blutreinigend und alſo gerade fuͤr ihr Beduͤrfniß: die aͤußere Luft iſt in hohem Grad dephlogi - ſtiſirta)S. Wilſon's Beobachtungen uͤber den Einfluß des Klima auf Pflanzen und Thiere Leipz. 81. Cranz Hiſtor. von Groͤnland Th. 2. S. 275., ſo daß ſie ſelbſt bei todten Koͤrpern der Faͤulung widerſtehet und ein langes Leben foͤrdert. Gifttragende Thie - re duldet die trockne Kaͤlte nicht und gegen die beſchwerlichen Jnſekten ſchuͤtzt ſie ihre Unempfindlichkeit, der Rauch und der lange Winter. So entſchaͤdigt die Natur und wirkt har - moniſch in allem was ſie wirket.
Es wird nicht noͤthig ſeyn, nach Beſchreibung dieſer er - ſten Nation uns bei denen ihr aͤhnlichen eben ſo ausfuͤhrlich zu verweilen. Die Eskimoh's in Amerika ſind, wie an Sitten und Sprache, ſo auch an Geſtalt der Groͤnlaͤnder Bruͤder. Nur da dieſe Elenden als baͤrtige Fremdlinge von den unbaͤrtigen Amerikanern hoch hinaufgedraͤngt ſind: ſo muͤſſen ſie groͤßtentheils auch fluͤchtiger und muͤhſeliger leben; ja ſie werden, hartes Schickſal! zu Winters Zeit in ihrenHoͤlenJdeen, II. Th. B10Hoͤlen oft gezwungen, vom Saugen ihres eignen Blutes ſich zu naͤhrena)S. Roger Curtis Nachricht von Labrador in Forſter und Spren - gels Beitraͤgen zur Voͤlkerkunde, Th. I. S. 105. u. f.. Hier und an einigen andern Orten der Erde ſitzt die harte Nothwendigkeit auf dem hoͤchſten Thron, ſo daß der Menſch beinah die Lebensart des Baͤrs ergreifen mußte. Und dennoch hat er ſich uͤberall als Menſch erhal - ten: denn auch in Zuͤgen der ſcheinbar groͤßeſten Jnhumani - taͤt dieſer Voͤlker iſt, wenn man ſie naͤher erwaͤgt, Huma - nitaͤt ſichtbar. Die Natur wollte verſuchen, welcher gewalt - ſamen Zuſtaͤnde unſer Geſchlecht faͤhig waͤre und es hat ſeine Probe beſtanden.
Die Lappen bewohnen Vergleichungsweiſe ſchon einen mildern Erdſtrich, wie ſie auch ein milderes Volk ſindb)Bekanntermaaſſen fand Sainovic die Lapplaͤndiſche der Ungri - ſchen Sprache aͤhnlich. S. Sainovic. demonſtratio, idioma Un - garor. et Lappon. idem eſſe, Havn. 1770.. Die Groͤße der menſchlichen Geſtalt nimmt zu: die runde Plattigkeit des Geſichts nimmt ab: die Backen ſenken ſich: das Auge wird dunkelgrau: die ſchwarzen, ſtracken Haare faͤrben ſich gelbbraun: mit ſeiner aͤuſſern Bildung thut ſich auch die innere Organiſation des Menſchen von einander, wie dieKnoſpe,11Knoſpe, die ſich dem Stral der mildern Sonne entfaltetc)S. von den Lappen Hoͤchſtroͤm, Leem, Klingſtedt, Geor - gi Beſchreibung der Nationen des rußiſchen Reichs u. f.. Der Berglappe weidet ſchon ſein Rennthier, welches weder der Groͤnlaͤnder noch Eskimoh thun konnten; er gewinnet an ihm Speiſe und Kleid, Haus und Decke, Bequemlich - keit und Vergnuͤgen, da der Groͤnlaͤnder am Rande der Er - de dies alles meiſtens im Meere ſuchen muſte. Der Menſch bekommt alſo ſchon ein Landthier zu ſeinem Freunde und Die - ner, bei dem er Kuͤnſte und eine haͤuslichere Lebensweiſe ler - net. Es gewoͤhnet ſeine Fuͤße zum Lauf, ſeine Arme zur kuͤnſtlichen Fahrt, ſein Gemuͤth zur Liebe des Beſitzes und eines veſtern Eigenthums, ſo wie es ihn auch bei der Liebe zur Freiheit erhaͤlt und ſein Ohr zu der ſcheuen Sorgſamkeit gewoͤhnet, die wir bey mehrern Voͤlkern dieſes Zuſtandes bemerken werden. Schuͤchtern wie ſein Thier horcht der Lapplaͤnder und faͤhrt beim kleinſten Geraͤuſch auf: er liebt ſeine Lebensart und blickt, wenn die Sonne wiederkehrt, zu den Bergen hinauf, wie ſein Rennthier dahin blickt: er ſpricht mit ihm und es verſteht ihn: er ſorgt fuͤr daſſelbe, wie fuͤr ſeinen Reichthum und ſein Hausgeſinde. Mit dem erſten zaͤhmbaren Landthier alſo, das die Natur dieſen Ge - genden geben konnte, gab ſie dem Menſchen auch einen Handleiter zur menſchlichern Lebensweiſe.
B 2Ueber12Ueber die Voͤlker am Eismeer im weiten rußiſchen Reich haben wir außer ſo vielen neuern, allgemeinbekannten Reiſen, die ſie beſchreiben, ſelbſt eine Sammlung von Gemaͤhlden derſelben, deren Anblick mehr ſagt, als meine Beſchreibung ſagen koͤnntea)Georgi Beſchreibung der Nationen des rußiſchen Reichs, Pe - tersburg 1776.. So vermiſcht und verdraͤngt manche die - ſer Voͤlker wohnen: ſo ſehen wir auch die von der verſchie - denſten Abkunft unter Ein Joch der nordiſchen Bildung ge - druckt und gleichſam an Eine Kette des Nordpols geſchmie - det. Der Samojede hat das runde, breite, platte Geſicht, das ſchwarze, ſtraͤubige Haar, die unterſetzte, blutreiche Statur der noͤrdlichen Bildung; nur ſeine Lippe wird aufge - worfner, die Naſe offner und breiter, der Bart vermindert ſich und wir werden oͤſtlich hin auf einem ungeheuren Erd - ſtrich ihn immer mehr vermindert ſehen. Der Samojede iſt alſo gleichſam der Neger unter den Nordlaͤndern und ſei - ne große Reizbarkeit der Nerven, die fruͤhe Mannbarkeit der Samojedinnen im eilften, zwoͤlften Jahrb)S. Klingſtedt Memoires ſur les Samojedes et fur les Lappons. , ja wenn die Nachricht wahr iſt, der ſchwarze Ring um ihre Bruͤſte, nebſt andern Umſtaͤnden macht ihn, ſo kalt er wohne, dem Neger noch gleicher. Jndeſſen iſt er, Trotz ſeiner feinen und hitzigen Natur, die er wahrſcheinlich als Nationalcha -rakter13rakter mitbrachte und die ſelbſt vom Klima nicht hat bemei - ſtert werden koͤnnen, doch im Ganzen ſeiner Bildung ein Nordlaͤnder. Die Tunguſenc)S. uͤber alle dieſe Nationen Georgi Beſchreib. der Nat. des ruß. Reichs, Pallas, des aͤltern Gmelins Reiſen u. f. Aus Pallas Reiſen und Georgi's Bemerkungen ſind die Merk - wuͤrdigkeiten der verſchiednen Voͤlker herausgehoben und be - ſonders herausgegeben, Frkf. u. Leipz. 1773 ‒ 77., die ſuͤdlicher wohnen, aͤhneln ſchon dem mongoliſchen Voͤlkerſtamm, von dem ſie dennoch in Sprache und Geſchlecht ſo getrennt ſind, wie der Samojede und Oſtiak von den Lappen und Groͤnlaͤndern: ihr Koͤrper wird wohlgewachſen und geſchlanker, ihr Auge auf mongoliſche Art klein, die Lippe duͤnn, das Haar wei - cher; das Geſicht indeſſen behaͤlt noch ſeine platte Nordbil - dung. Ein gleiches iſts mit den Jakuten und Jukagiren, die in die Tatariſche, wie jene in die mongoliſche Bildung uͤberzugehen ſcheinen, ja mit den tatariſchen Staͤmmen ſelbſt. Am ſchwarzen und kaſpiſchen Meer, am Kaukaſus und Ural, alſo zum Theil in den gemaͤßigtſten Erdſtrichen der Welt geht die Bildung der Tataren ins Schoͤnere uͤber. Jhre Geſtalt wird ſchlank und hager: der Kopf zieht ſich aus der plumpen Ruͤnde in ein ſchoͤneres Oval: die Farbe wird friſch: wohlgegliedert und trocken tritt die Naſe hervor: das Auge wird lebhaft, das Haar dunkelbraun, der Gang munter:B 3die14die Mine gefaͤlligbeſcheiden und ſchuͤchtern; je naͤher alſo den Ge - genden, wo die Fuͤlle der Natur in lebendigen Weſen zunimmt, wird auch die Menſchenorganiſation verhaͤltnißmaͤßiger und fei - ner. Je noͤrdlicher herauf oder je weiter in die kalmuckiſchen Steppen hinein, deſto mehr platten oder verwildern ſich die Ge - ſichtszuͤge auf nordiſche oder kalmuckiſche Weiſe. Allerdings kommt hiebey auch vieles auf die Lebensart des Volks auf die Beſchaffenheit ſeines Bodens, auf ſeine Abkunft und Mi - ſchung mit andern an. Die Gebuͤrgtatarn erhalten ihre Zuͤ - ge reiner, als die in Steppen und Ebnen wohnen: Voͤlker - ſchaften, die den Doͤrfern und Staͤdten nahe ſind, mildern und miſchen auch mehr ihre Sitten und Zuͤge. Je weniger ein Volk verdraͤngt wird, je mehr es ſeiner einfachen, rau - hen Lebensart treu bleiben muß; deſto mehr erhaͤlt es auch ſeine Bildung. Man wird alſo, da auf dieſer großen, zum Meer abhangenden Tafel der Tatarei, ſo viele Streifereien und Umwaͤlzungen vorgegangen ſind, die mehr in einander gemengt haben, als Gebuͤrge, Wuͤſten und Stroͤme abſon - dern konnten, auch die Ausnahmen von der Regel bemerken; und ſodann beſtaͤtigen dieſe die Regel: denn unter die Nor - diſche, Tatariſche und Mongoliſche Bildung iſt alles getheilet.
Da viele Wahrſcheinlichkeiten es geben, daß um dieſen Erd-Ruͤcken das menſchliche Geſchlecht ſeinen erſten Wohnplatz gefunden: ſo iſt man geneigt, auf demſelben auch die ſchoͤnſte Menſchengattung zu ſuchen; wie ſehr truͤgt uns aber dieſe Erwartung! Die Bildung der Kalmucken und Mongolen iſt bekannt: ſie hat nebſt der mittlern Groͤße we - nigſtens in Reſten das platte Geſicht, den duͤnnen Bart, die braune Farbe des nordlichen Klima; zeichnet ſich aber dabei durch die gegen die Naſe ſchiefablaufenden, flach aus - gefuͤllten Augenwinkel: durch ſchmale, ſchwarze, weniggebog - ne Augbranen, durch eine kleine, platte, gegen die Stirn zu breite Naſe, durch abſtehende große Ohren, krumme Schenkel und Beine und das weiße, ſtarke Gebiß ausa)S. Pallas Sammlungen uͤber die mongoliſchen Voͤlkerſchaften, Th. I. S. 98. 171. u. f. Georgi Beſchreib. der Nat. des ruß. Reichs Th. 4. Petersb. 1780. Schnitſchers Nachricht von den ajukiſchen Kalmucken in Muͤllers Sammlung zur ruß. Geſch. B. 4 St. 4. Schloͤtzers Auszug aus Schobers memorabili - bus Ruſſico-Aſiatic, in den Muͤllerſchen Samml. B. 7. St. 1. u. f., das nebſt der ganzen Geſichtsbildung ein Raubthier unterden16den Menſchen zu charakteriſiren ſcheinet. Woher nun dieſe Bildung? Die gebognen Kniee und Beine finden am erſten ihren Grund, in der Lebensweiſe des Volkes. Von Kind - heit auf rutſchen ſie auf ihren Beinen oder hangen auf dem Pferde; in Sitzen oder Reiten theilt ſich ihr Leben und die einzige Stellung, die dem menſchlichen Fuß ſeine gerade ſchoͤ - ne Geſtalt giebt, der Gang, iſt ihnen, bis auf wenige Schrit - te ſogar fremde. Sollte nun nicht auch mehreres von ihrer Lebensart in ihre Bildung uͤbergegangen ſeyn? Das abſte - hende thieriſche Ohr, das gleichſam immer lauſcht und hor - chet, das kleine ſcharfe Auge, das in der weiteſten Ferne den kleinſten Rauch oder Staub gewahr wird, der weiße hervorblaͤckende, Knochen-benagende Zahn, der dicke Hals und die zuruͤckgebogne Stellung ihres Kopfs auf demſelben; ſind dieſe Zuͤge nicht gleichſam zur Beſtandheit gediehene Ge - behrden und Charaktere ihrer Lebensweiſe? Setzen wir nun noch hinzu, daß wie Pallas ſagt, ihre Kinder oft bis ins zehnte Jahr im Geſicht unfoͤrmlich, aufgedunſen und von einem kakochymiſchen Anſehen ſind, bis ſie durch das Aus - wachſen wohlgebildeter werden: bemerken wir, daß große Strecken von ihren Gegenden keinen Regen, wenig oder wenigſtens kein reines Waſſer haben, und daß ihnen von Kindheit auf das Baden beinah eine ganz fremde Sache werde: denken wir uns die Salzſeen, den Salzboden, dieSalz -17Salzmorraͤſte, an denen ſie wohnen, deren kaliſchen Ge - ſchmack ſie auch in Speiſen und ſogar in dem Strom von Theewaſſer lieben, mit dem ſie taͤglich ihre Verdauung ſchwaͤ - chen: fuͤgen wir auf der Erdhoͤhe die ſie bewohnen, die feine - re Luft, die trocknen Winde, die kaliſchen Ausduͤnſtungen, den langen Winter im Anblick des Schnees und im Rauch ihrer Huͤtte und noch eine Reihe kleinerer Umſtaͤnde hinzu; ſollte es nicht wahrſcheinlich ſeyn, daß vor Jahrtauſenden ſchon, da vielleicht einige dieſer Urſachen noch viel ſtaͤrker wirk - ten, eben hieraus ihre Bildung entſtanden und zur erblichen Natur uͤbergegangen waͤre? Nichts erquickt unſern Koͤrper mehr und macht ihn gleichſam ſproßender und veſter, als das Waſchen und Baden im Waſſer, zumal mit Gehen, Laufen, Ringen und andrer Leibesuͤbung verbunden. Nichts ſchwaͤcht den Koͤrper mehr, als das warme Getraͤnk, das ſie ohne Maas in ſich ſchluͤrfen und das ſie uͤberdem noch mit zuſammenziehenden kaliſchen Salzen wuͤrzen. Daher, wie ſchon Pallas angemerkt hat, die ſchwaͤchliche, weibiſche Geſtalt der Mongolen und Buraͤten, daß fuͤnf und ſechs derſelben mit allen Kraͤften nicht ausrichten, was ein Ruſſe zu thun vermag: daher ihr beſonders leichter Koͤrper, mit dem ſie auf ihren kleinen Pferden gleichſam nur fliegen und ſchweben; daher endlich auch die Kakochymie, die auf ihre Kinder uͤbergehen konnte. Selbſt einige angrenzende Tata -Jdeen, II. Th. Criſche18riſche Staͤmme werden mit Zuͤgen der Mongoliſchen Bil - dung gebohren, die ſie aber verwachſen; daher wahrſchein - lich einige Urſachen klimatiſch ſeyn muͤſſen, die mehr oder minder durch Lebensart und Abſtammung in den Gliederbau des Volks eingepfropft und vererbt ſind. Wenn Ruſſen oder Tataren ſich mit den Mongolen miſchen, ſollen ſchoͤne Kinder gebohren werden; ſo wie es denn auch unter ihnen nur auf mongoliſche Weiſe, ſehr zarte und proportionirte Geſtalten geben ſolla)Pallas in den Sammlungen zur Geſch. der mongol. Voͤlker - ſchaften, Reiſen Th. I. S. 304. II. u. f.. Auch hier iſt ſich alſo die Natur in ihrer Organiſation treu geblieben: Nomadiſche Voͤlker un - ter dieſem Himmel, auf dieſem Erdſtrich, bei ſolcher Lebens - weiſe muſten zu ſolchen leichten Raubgeiern werden.
Und weit umher erſtrecken ſich Zuͤge ihrer Bildung: denn wohin ſind dieſe Raubvoͤgel nicht geflogen? mehr als einmal hat uͤber einem Welttheil ihr ſiegender Zug geſchwe - bet. Jn vielen Laͤndern Aſiens haben ſich alſo Mongolen niedergelaſſen und ihre Bildung durch die Zuͤge andrer Voͤl - ker veredelt. Ja fruͤher als dieſe Kriegsuͤberſchwemmungen, waren jene uralten Wanderungen von dieſem fruͤhbewohnten hoͤchſten Ruͤcken der Erde in viele umliegende Laͤnder. Viel -leicht19leicht alſo ſchon daher traͤgt die oͤſtliche Weltgegend bis zu den Kamtſchadalen hinauf, ſo wie uͤber Tibet hin laͤngs der Halbinſel jenſeit des Ganges Zuͤge Mongoliſcher Bildung. Laſſet uns dieſen Erdſtrich uͤberſehen, der uns manches ſon - derbare zeiget.
Die meiſten Kuͤnſteleien der Sineſen an ihrem Koͤrper betreffen Mongoliſche Zuͤge. Bei jenen Voͤlkern bemerkten wir die ungeſtalten Fuͤße und Ohren; wahrſcheinlich gab, da eine falſche Cultur dazu kam, eine aͤhnliche Ungeſtalt zu jenem widernatuͤrlichen Fußzwange, zu jenen abſcheuli - chen Verzerrungen der Ohren, die vielen Voͤlkern dieſes Erdſtrichs gewoͤhnlich ſind, Anlaß. Man ſchaͤmte ſich ſei - ner Bildung und wollte veraͤndern; traf aber auf Theile, die, da ſie der Veraͤnderung nachgaben, ſich als die haͤßlichſte Schoͤnheit zuletzt vererbten. Die Sineſen tragen, ſofern es die große Verſchiedenheit ihrer Provinzen und ihrer Lebensart zulaͤßt, offenbar noch Zuͤge der oͤſtlichen Bildung, die auf der mongoliſchen Erdhoͤhe nur am ſtaͤrkſten ins Auge faͤllt. Das breite Geſicht, die kleinen ſchwarzen Augen, die ſtum - pfe Naſe, der duͤnne Bart hat ſich in einem andern Lande nur zu einer weichern, rundern Geſtalt klimatiſiret; und der Sineſiſche Geſchmack ſcheint eben ſo ſehr eine Folge uͤbel - geordneter Organe, wie ihre Regierungsform und WeisheitC 2Deſpo -20Deſpotismus und Rohigkeit mit ſich traͤget. Die Japo - neſen, ein Volk von Sineſiſcher Cultur, wahrſcheinlich aber von Mongoliſcher Herkunfta)Allgem. Samml. der Reiſen Th. II. S. 595. Charlevoix. Von den Sineſen f. Olof Toree Reiſe nach Surate und Chi - na S. 68. Allgem. Reiſen Th. 6. S. 130., ſind faſt durchgehends uͤbel gewachſen, von dickem Kopf, kleinen Augen, ſtum - pfen Naſen, platten Backen, faſt ohne Bart und meiſtens von ſchiefen Beinen; ihre Regierungsform und Weisheit iſt voll gewaltſamen Zwanges, nur ihrem Lande durchaus be - quemet. Eine dritte Art Deſpotismus herrſcht im Tibet, deſſen Gottesdienſt ſich weit hinan in die barbariſchen Step - pen ziehet.
Die oͤſtliche Bildungb)Die aͤltern Nachrichten beſchreiben die Tibetaner als ungeſtalt. S. allgem. Reiſen B. 7. S. 382. Nach neuern (Pallas Nord-Beitr. B. 4. S. 280.) wird dieſes gemildert, welche Milderung auch die Lage ihres Erdſtrichs zu beguͤnſtigen ſcheinet. Wahrſcheinlich ſind ſie ein roher Uebergang zur Jndoſtaniſchen Bildung. ziehet ſich mit den Gebuͤrgen auf die Halbinſel jenſeit des Ganges herunter, wo mit den Bergen ſich auch wahrſcheinlich die Voͤlker hinaberſtreckten. Das Koͤnigreich Aſſam, das an die Tatarei grenzt, bezeich -net21net ſich, wenn man den Berichten der Reiſendena)S. allgem. Reiſen B. 10. S. 557. aus Tavernier. trauen darf, inſonderheit noͤrdlich durch ſeine haͤufigen Kroͤpfe und platte Naſen. Der unfoͤrmliche Schmuck an den verlaͤnger - ten Ohren, die grobe Nahrung und Nacktheit in einem ſo milden Erdſtrich ſind Charaktere der Barbarei eines rohen Volkes. Die Arrakaner mit weitoffnen Naſen, einer fla - chen Stirn, kleinen Augen und bis zu den Schultern hinab - gezwaͤngten Ohren zeigen eben dieſe Misbildung des oͤſtlichen Erdſtrichsb)Allgem. Reiſen B. 10. S. 67. aus Ovington. . Die Barmen in Ava und Peru haſſen den Bart bis auf ſein kleinſtes Haar, wie ihn die Tibetaner und andre hoͤhere Nationen haſſen: ſie wollen von ihrer tatari - ſchen Unbaͤrtigkeit auch durch eine reichere Natur nicht weg - gebracht ſeyn. So gehets, jedoch nach der Verſchiedenheit der Klimate und Voͤlker, bis in die Jnſeln herunter.
Nordwaͤrts hinauf nicht anders bis zu den Koraͤten und Kamtſchadalen am Ufer der oͤſtlichen Welt. Die Sprache der letzten ſoll mit der Sineſiſch-Mongoliſchen noch einige Aehnlichkeit haben, ob ſie gleich in alten Zeiten von dieſen Voͤlkern getrennt ſeyn muͤſſen, da ſie den Gebrauch des Ei -C 3ſensc)S. Marsden Beſchreibung von Sumatra S. 62. Allgem. Rei - ſen Th. II. S. 487. u. f.22ſens noch nicht kannten; ihre Bildung verlaͤngnet noch nicht ihren Weltſtricha)Allgem. Reiſen Th. 20. S. 289. aus Steller.. Schwarz iſt ihr Haar, ihr Geſicht breit und flach, Naſe und Augen tief eingedruͤckt; und ih - ren Geiſtescharakter, eine ſcheinbare Anomalie in dieſem kal - ten unwirthbaren Klima, werden wir dennoch demſelben an - gemeſſen finden. Die Koraͤken, die Tſchuchtſchi, die Ku - rilen und weitern oͤſtlichen Jnſulaner endlichb)S. Georgi Beſchr. der Nat. des ruß. Reichs Th. 3. ſind, wie mich duͤnkt, allmaͤliche Uebergaͤnge aus der Mongoliſchen in die Amerikaniſche Form; und wenn wir die nordweſtlichen Enden dieſes Welttheils, die uns groͤßtentheils noch unbe - kannt ſind, wenn wir den innern Theil von Jedſo und die große Strecke uͤber Neumexico hin. die uns noch ſo leer wie das innere Afrika iſt, werden kennen lernen: ſo duͤnkt mich, werden wir der letzten Reiſe Cooks zufolgec)S. Ellis Nachricht von der Cookſchen dritten Reiſe S. 114. Tagebuch der Entdeckungsreiſe uͤberſ. von Forſter S. 231. Womit man die aͤltern Nachrichten von den Jnſeln zwiſchen Aſien und Amerika zu vergleichen hat. S. neue Nachricht von den neuentdeckten Jnſeln Hamb. und Leipz. S. 1776. Die Nachrichten in Pallas Nordiſchen Beitraͤgen, Muͤllers rußi - ſchen Sammlungen, den Beitraͤgen zur Voͤlker - und Laͤnder - kunde u. f., ziemlich of - fenbare Schattierungen ſich in einander verlieren ſehen.
Solch23Solch einen weiten Strich hat die zum Theil verzerrte, uͤberall aber mehr oder minder unbaͤrtige oͤſtliche Bildung; und daß ſie nicht Abſtammung von Einem Volk ſei, zeigen die mancherlei Sprachen und Sitten der Nationen. Was waͤre alſo ihre Urſache? was z. B. hat ſo verſchiedne Voͤlker be - waffnet, gegen den Bart zu ſtreiten, oder ſich die Ohren zu zerren, oder ſich die Naſe und Lippen zu durchboren? Mich duͤnkt, eine urſpruͤngliche Unfoͤrmlichkeit muß zum Grunde gelegen haben, die nachher eine barbariſche Kunſt zu Huͤlfe rief und endlich eine alte Sitte der Vaͤter wurde. Die Ab - artung der Thiere zeigt ſich, ehe ſie die Geſtalt ergreift, an Haar und Ohren; weiter hinab an den Fuͤßen, ſo wie ſie auch im Geſicht zuerſt das Kreuz deſſelben, das Profil aͤn - dert. Wenn die Genealogie der Voͤlker, die Beſchaffen - heit dieſer weitentlegnen Erdſtriche und Laͤnder, am meiſten aber die Abweichungen der innern Phyſiologie der Voͤlkerſchaf - ten mehr unterſucht ſeyn wird: ſo werden wir auch hieruͤber naͤhere Aufſchluͤſſe erhalten. Und ſollte der der Wiſſenſchaf - ten und Nationen kundige Pallas nicht der Erſte ſeyn, der uns hieruͤber ein ſpecilegium anthropologicum gaͤbe?
Mitten im Schoos der hoͤchſten Gebuͤrge liegt das Koͤ - nigreich Kaſchmire, verborgen wie ein Paradies der Welt. Fruchtbare und ſchoͤne Huͤgel ſind mit hoͤhern und hoͤhern Bergen umſchloſſen, deren letzte ſich mit ewigem Schnee bedeckt, zu den Wolken erheben. Hier rinnen ſchoͤ - ne Baͤche und Stroͤme: das Erdreich ſchmuͤckt ſich mit ge - ſunden Kraͤutern und Fruͤchten: Jnſeln und Gaͤrten ſtehen im erquickenden Gruͤn; mit Viehweiden iſt alles uͤberdeckt; giftige und wilde Thiere ſind aus dieſem Paradieſe verban - net. Man koͤnnte, wie Bernier ſagt, dieſe die unſchuldi - gen Berge nennen, auf denen Milch und Honig fließt und die Menſchengattung daſelbſt iſt der Natur nicht unwerth. Die Kaſchmiren werden fuͤr die geiſtreichſten und witzigſten Jndier gehalten, zur Poeſie und Wiſſenſchaft, zu Hand - thierungen und Kuͤnſten gleich geſchickt, die wohlgebildetſten Menſchen und ihre Weiber oft Muſter der Schoͤnheita)Allgem. Reiſen Th. II. S. 116. 117. aus Bernier..
Wie25Wie gluͤcklich koͤnnte Jndoſtan ſeyn, wenn nicht Men - ſchenhaͤnde ſich vereinigt haͤtten, den Garten der Natur zu verwuͤſten und die unſchuldigſte der Menſchengeſtalten mit Aberglauben und Unterdruͤckung zu quaͤlen. Die Hindus ſind der ſanftmuͤthigſte Stamm der Menſchen. Kein Leben - diges beleidigen ſie gern: ſie ehren was Leben bringt und naͤhren ſich mit der unſchuldigſten Speiſe, der Milch, dem Reis, den Baumfruͤchten, den geſunden Kraͤutern, die ihnen ihr Mutterland darbeut. Jhre Geſtalt, ſagt ein neuer Reiſenderb)Makingtoſn travels Vol. I. p. 321., iſt gerade, ſchlank und ſchoͤn, ihre Glieder fein proportionirt, ihre Finger lang und zarttaſtend, ihr Geſicht offen und gefaͤllig, die Zuͤge deſſelben ſind bey dem weiblichen Geſchlecht die zarteſten Linien der Schoͤnheit, bei dem maͤnnlichen einer maͤnnlich-ſanften Seele. Jhr Gang und ihr ganzes Tragen des Koͤrpers iſt im hoͤchſten Grad anmuthig und reizend. „ Die Beine und Schenkel, die in allen nordoͤſtlichen Laͤndern litten oder Affenartig verkuͤrzt waren, verlaͤngern ſich hier und tragen eine ſprießende Men - ſchenſchoͤnheit. Selbſt die Mogoliſche Bildung, die ſich mit dieſem Geſchlecht vermaͤhlte, hat ſich in Wuͤrde undFreund -Jdeen, II. Th. D26Freundlichkeit verwandelt. Und wie die Leibesgeſtalt, iſt auch die urſpruͤngliche Geſtalt ihres Geiſtes; ja ſofern man ſie ohne den Druck des Aberglaubens oder der Sklaverei be - trachtet, ihre Lebensweiſe. Maͤßigkeit und Ruhe, ein ſanf - tes Gefuͤhl und eine ſtille Tiefe der Seele bezeichnen ihre Ar - beit und ihren Genuß, ihre Sittenlehre und Mythologie, ihre Kuͤnſte und ſelbſt ihre Duldſamkeit unter dem aͤußerſten Joch der Menſchheit. Gluͤckliche Laͤmmer, warum konntet ihr nicht auf eurer Aue der Natur ungeſtoͤrt und ſorglos weiden?
Die alten Perſer waren ein haͤßliches Volk von den Gebuͤrgen, wie noch ihre Reſte, die Gauren, zeigena)Chardin Voyages en Perſe Vol. III. Chap. XI. ſeq. Jn le Brun (Bruyns) Voyages en Perſe T. I. Chap. 42. n. 86 ‒ 88. ſtehen Perſer, die man mit denen darauf folgenden Schwarzen n. 89. 90. den rohen Samojeden Chap. 2. n. 7. 8. dem wilden Suͤd-Neger n. 197. und dem ſanften Benjanen n. 109. ver - gleichen mag.. Da aber ſchwerlich ein Land in Aſien ſo vielen Einbruͤchen ausgeſetzt iſt als Perſien, und gerade unter dem Abhange wohlgebildeter Voͤlker lag, ſo hat ſich hier eine Bildung zu - ſammengeſetzt, die bei den edleren Perſern Wuͤrde undSchoͤn -27Schoͤnheit verbindet. Hier liegt Tſchirkaßien, die Mutter der Schoͤnheit; zur andern Seite des Kaſpiſchen Meers wohnen Tatariſche Staͤmme, die ſich in ihrem ſchoͤnen Kli - ma auch ſchon zur Wohlgeſtalt gebildet und haͤufig hinabge - breitet haben. Zur Rechten liegt Jndien und ſowohl aus ihm als aus Tſchirkaßien haben erkaufte Maͤdchen das Ge - bluͤt der Perſer verſchoͤnet. Jhre Gemuͤthsart iſt dieſem Veredlungsplatz des menſchlichen Geſchlechts gemaͤß worden: denn jener leichte und durchdringende Verſtand, jene frucht - bare und lebhafte Einbildungskraft der Perſer, ſammt ihrem biegſamen hoͤflichen Weſen, ihrem Hange zur Eitelkeit, zur Pracht und zur Freude, ja zur romantiſchen Liebe ſind vielleicht die erle - ſenſten Eigenſchaften zum Gleichgewicht der Neigungen und Zuͤ - ge. Statt jener barbariſchen Zierrathen, mit denen ungeſtalte Nationen die Ungeſtalt ihres Koͤrpers bedecken wollten und ver - mehrten, kamen hier ſchoͤnere Gewohnheiten auf, die Wohlgeſtalt des Koͤrpers zu erheben. Der Waſſerloſe Mogole muſte unrein leben; der weiche Jndier badet; der wohlluͤſtige Perſer ſalbet. Der Mogole klebte auf ſeinen Ferſen oder hing auf ſeinem Pferde; der ſanfte Jndier ruhet; der romantiſche Perſer theilt ſeine Zeit in Ergoͤtzungen und Spiele. Er faͤrbt ſein Augenbran: er kleidet ſich in eine den Wuchs erhebende Klei - dung. Schoͤne Wohlgeſtalt! ſanftes Gleichgewicht der Nei -D 2gungen28gungen und Seelenkraͤfte, warum konnteſt du dich nicht dem ganzen Erdball mittheilen?
Daß einige Tatariſche Staͤmme urſpruͤnglich zu den ſchoͤngebildeten Voͤlkern der Erde gehoͤren und nur in den Nordlaͤndern oder auf den Steppen verwildert ſind, haben wir bereits bemerket; beide Seiten des Kaſpiſchen Meers zeigen dieſe ſchoͤnere Bildung. Die Usbeckerinnen werden groß, wohlgebildet und angenehm beſchriebena)Allgem. Reiſen Th. 7. S. 316. 18.: ſie ziehen mit ihren Maͤnnern ins Gefecht: ihr Auge, ſagt die Be - ſchreibung, iſt groß, ſchwarz und lebhaft, das Haar ſchwarz und fein: die Bildung des Mannes hat Anſehen und eine Art feiner Wuͤrde. Ein gleiches Lob wird den Buckharen ge - geben und die Schoͤnheit der Tſirkaßerinnen, der ſchwarzſeid - ne Faden ihres Augenbrans, ihr feuriges ſchwarzes Auge, die glatte Stirn, der kleine Mund, das geruͤndete Kinn ſind weit umher bekannt und geprieſenb)S. einige Gemaͤlde bei le Brun; Voyages au Levant T. I. Chap. X. n. 34 ‒ 37. . Man ſollte glauben, daß in dieſen Gegenden die Zunge der Waage menſchlicher Bildung in der Mitte geſchwebet und ihre Schaalen nach Griechenland und Jndien oͤſt - und weſtlich fortgebreitet habe. Gluͤck -29Gluͤcklich fuͤr uns, daß Europa dieſem Mittelpunkt ſchoͤner Formen nicht ſo gar fern lag und daß manche Voͤlker, die dieſen Welttheil bewohnen, die Gegenden zwiſchen dem ſchwarzen und kaſpiſchen Meer auch entweder inne gehabt oder langſam durchzogen haben. Wenigſtens ſind wir alſo keine Antipoden des Landes der Schoͤnheit.
Alle Voͤlker, die ſich auf dieſen Erdſtrich ſchoͤner Men - ſchenbildung draͤngten und auf ihm verweilten, haben ihre Zuͤge gemildert. Die Tuͤrken, urſpruͤnglich ein haͤßliches Volk, veredelten ſich zu einer anſehnlichern Geſtalt, da ih - nen als Ueberwindern weiter Gegenden jede Nachbarſchaft ſchoͤner Geſchlechter zu Dienſt ſtand; auch die Gebote des Korans, der ihnen das Waſchen, die Reinigkeit, die Maͤſ - ſigung anbefahl und dagegen wohlluͤſtige Ruhe und Liebe er - laubte, haben wahrſcheinlich dazu beigetragen. Die Ebraͤer, deren Vaͤter ebenfalls aus der Hoͤhe Aſiens kamen und die lange Zeit, bald ins duͤrre Aegypten, bald in die Arabiſche Wuͤſte verſchlagen, nomadiſch umherzogen; ob ſie gleich auch in ihrem engen Lande, unter dem druͤckenden Joch des Geſetzes ſich nie zu einem Jdeal erheben konnten, das freiere Thaͤtigkeit und mehrere Wohlluſt des Lebens fodert: ſo tra - gen ſie dennoch, auch jetzt in ihrer weiten Zerſtreuung und langen, tiefen Verworfenheit das Gepraͤge der AſiatiſchenD 3Bildung30Bildung. Auch die harten Araber gehen nicht leer aus: denn obgleich ihre Halbinſel mehr zum Lande der Freiheit als der Schoͤnheit von der Natur gebildet worden und weder die Wuͤſte noch das Nomadenleben die beſten Pflegerinnen der Wohlgeſtalt ſeyn koͤnnen: ſo iſt doch dieſes harte und tapfe - re, zugleich ein wohlgebildetes Volk, deſſen weite Wirkung auf drei Welttheile wir in der Folge ſehen werdena)Gemaͤlde von ihnen ſ. bei Niebuhr Th. 2. Le Brun voyages au Levant n. 90. 91. .
Endlich fand an den Kuͤſten des mittellaͤndiſchen Meersb)Gemaͤlde ſ. bei le Brun, Voyage au Levant Chap. 7. n. 17 ‒ 20. in Choiſeul Gouffier Voyage pittoresque u. f. Die Denkmaͤ - ler der alten Griechiſchen Kunſt gehen uͤber alle dieſe Gemaͤlde. die menſchliche Wohlgeſtalt eine Stelle, wo ſie ſich mit dem Geiſt vermaͤhlen und in allen Reizen irrdiſcher und himmli - ſcher Schoͤnheit nicht nur dem Auge, ſondern auch der See - le ſichtbar werden konnte; es iſt das dreifache Griechenland in Aſien und auf den Jnſeln, in Graͤcia ſelbſt und auf den Kuͤſten der weitern Abendlaͤnder. Laue Weſtwinde faͤchelten das Gewaͤchs, das von der Hoͤhe Aſiens allmaͤlich herver - pflanzt war und durchhauchten es mit Leben: Zeiten undSchick -31Schickſale kamen hinzu, den Saft deſſelben hoͤher zu trei - ben und ihm die Krone zu geben, die noch jedermann in je - nen Jdealen griechiſcher Kunſt und Weisheit mit Freuden anſtaunet. Hier wurden Geſtalten gedacht und geſchaffen, wie ſie kein Liebhaber Tſirkaßiſcher Schoͤnen, kein Kuͤnſtler aus Jndien oder Kaſchmire entwerfen koͤnnen. Die menſch - liche Geſtalt gieng in den Olympus und bekleidete ſich mit goͤttlicher Schoͤnheit.
Weiterhin nach Europa verirre ich mich nicht. Es iſt ſo Formenreich und gemiſcht: es hat durch ſeine Kunſt und Cultur ſo vielfach die Natur veraͤndert, daß ich uͤber ſeine durch einander gemengte, feine Nationen nichts Allgemei - nes zu ſagen wage. Vielmehr ſehe ich vom letzten Ufer des Erdſtrichs den wir durchgangen ſind, nochmals zuruͤck und nach Einer oder zwo Bemerkungen gehen wir in das ſchwar - ze Afrika uͤber.
Zuerſt faͤllt jedermann ins Auge, daß der Strich der wohlgebildetſten Voͤlker ein Mittelſtrich der Erde ſei, der wie die Schoͤnheit ſelbſt, zwiſchen zweien Aeußerſten lieget. Er hat nicht die zuſammendruͤckende Kaͤlte der Samojeden, noch die doͤrrenden Salzwinde der Mogolen; und auf der andern Seite iſt ihm die brennende Hitze der AfrikaniſchenSand -32Sandwuͤſten, ſo wie die feuchten und gewaltſamen Abwech - ſelungen des Amerikaniſchen Klima eben ſo fremde. Weder auf dem Gipfel der Erdhoͤhe liegt er, noch auf dem Abhange zum Pol hin; vielmehr ſchuͤtzen ihn auf der Einen Seite die hohen Mauern der Tatariſchen und Mogoliſchen Gebuͤrge, da auf der andern ihn der Wind des Meeres kuͤhlet. Regelmaͤſ - ſig wechſeln ſeine Jahrszeiten ab, aber noch ohne die Gewalt - ſamkeit, die unter dem Aequator herrſchet; und da ſchon Hippo - krates bemerkt hat, daß eine ſanfte Regelmaͤßigkeit der Jahrszeiten auch auf das Gleichgewicht der Neigungen groſ - ſen Einfluß zeiget: ſo hat ſie ſolchen in den Spiegel und Ab - druck unſrer Seele nicht minder. Die raͤuberiſchen Tuku - mannen, die auf den Bergen oder in der Wuͤſte umherſchwei - fen, bleiben auch im ſchoͤnſten Klima ein haͤßliches Volk; ließen ſie ſich zur Ruhe nieder und theilten ihr Leben in einen ſanftern Genuß und in eine Thaͤtigkeit, die ſie mit andern gebildetern Nationen verbaͤnde: ſie wuͤrden, wie an der Sitte derſelben, ſo mit der Zeit auch an den Zuͤgen ihrer Bildung Antheil nehmen. Die Schoͤnheit der Welt iſt nur fuͤr den ruhigen Genuß geſchaffen; mittelſt ſeiner allein theilt ſie ſich dem Menſchen mit und verkoͤrpert ſich in ihm.
Zweitens. Erſprießlich iſts fuͤr das Menſchengeſchlecht geweſen, daß es in dieſen Gegenden der Wohlgeſtalt nicht nur anfing, ſondern daß auch von hieraus die Cultur am wohlthaͤ -thig -33tigſten auf andre Nationen gewirkt hat. Wenn die Gott - heit nicht unſre ganze Erde zum Sitz der Schoͤnheit machen konnte: ſo ließ ſie wenigſtens durch die Pforte der Schoͤnheit das Menſchengeſchlecht hinauftreten und mit lang 'eingepraͤg - ten Zuͤgen derſelben die Voͤlker nur erſt allmaͤlich andre Ge - genden ſuchen. Auch war es Ein und daſſelbe Principium der Natur, das eben die wohlgebildeten Nationen zugleich zu den wohlthaͤtigſten Wirkerinnen auf andre machte; ſie gab ihnen nemlich die Munterkeit, die Elaſticitaͤt des Geiſtes, die ſowohl zu ihrer Leibesgeſtalt, als zu dieſer wohlthaͤtigen Wir - kung auf andre Nationen gehoͤrte. Die Tunguſen und Es - kimohs ſitzen ewig in ihren Hoͤlen und haben ſich weder in Liebe noch Leid um entfernte Voͤlker bekuͤmmert. Der Neger hat fuͤr die Europaͤer nichts erfunden; er hat ſich nie in den Sinn kommen laſſen, Europa weder zu begluͤcken, noch zu bekriegen. Aus den Gegenden ſchoͤngebildeter Voͤlker haben wir unſre Religion, Kunſt, Wiſſenſchaft, die ganze Geſtalt unſrer Cultur und Humanitaͤt, ſo viel oder wenig wir deren an uns haben. Jn dieſem Erdſtrich iſt alles erfunden, alles durchdacht und wenigſtens in Kinderproben ausgefuͤhrt, was die Menſch - heit verſchoͤnern und bilden konnte. Die Geſchichte der Cultur wird dieſes unwiderſprechlich darthun und mich duͤnkt, es beweiſets unſre eigne Erfahrung. Wir nordiſchen Eu - ropaͤer waͤren noch Barbaren, wenn nicht ein guͤtiger HauchJdeen, II. Th. Edes34des Schickſals uns wenigſtens Bluͤthen vom Geiſt dieſer Voͤlker heruͤber geweht haͤtte, um durch Einimpfung des ſchoͤnen Zweiges in wilde Staͤmme mit der Zeit den unſern zu veredeln.
Billig muͤſſen wir, wenn wir zum Lande der Schwarzen uͤbergehn, unſre ſtolzen Vorurtheile verlaͤugnen und die Or - ganiſation ihres Erdſtrichs ſo unpartheiiſch betrachten, als ob ſie die einzige in der Welt waͤre. Mit eben dem Recht, mit dem wir den Neger fuͤr einen verfluchten Sohn des Chams und fuͤr ein Ebenbild des Unholds halten, kann er ſeine grauſame Raͤuber fuͤr Albinos und weiße Satane er - klaͤren, die nur aus Schwachheit der Natur ſo entartet ſind, wie, dem Nordpol nahe, mehrere Thiere in Weiß ausar - ten. Jch, koͤnnte er ſagen, ich der Schwarze bin Urmenſch. Mich hat der Quell des Lebens, die Sonne, am ſtaͤrkſten ge - traͤnkt, bei mir und uͤberall um mich her hat er am lebendigſten, am tiefſten gewirket. Sehet mein Gold - mein FruchtreichesLand,35Land, meine himmelhohen Baͤume, meine kraͤftigen Thiere! alle Elemente wimmeln bei mir von Leben und ich ward der Mittelpunkt dieſer Lebenswirkung. “ So koͤnnte der Neger ſagen und wir wollen alſo mit Beſcheidenheit auf ſein ihm eigenthuͤmliches Erdreich treten.
Sogleich beym Jſthmus ſtoͤßet uns eine ſonderbare Na - tion auf, die Aegypter. Groß, ſtark, fett von Leibe, (mit wel - cher Fettigkeit ſie der Nil ſegnen ſoll) dabei von grobem Knochengebilde und gelbbraun; indeſſen ſind ſie geſund und fruchtbar, leben lange und ſind maͤßig. Jetzt faul, einſt waren ſie arbeitſam und fleißig; offenbar hat auch ein Volk von dieſen Knochen und dieſer Bildunga)S. die Statuͤen ihrer alten Kunſt, ihre Mumien und die Zeich - nungen derſelben auf den Mumienkaſten. dazu gehoͤrt, daß alle die geprieſnen Kuͤnſte und Anſtalten der alten Aegypter zu Stande kommen konnten. Eine feinere Nation haͤtte ſich dazu ſchwerlich bequemet.
Die Einwohner Nubiens und der weiter hinaufliegen - den innern Gegenden von Afrika kennen wir noch wenig; wenn indeſſen den vorlaͤufigen Nachrichten Bruͤceb)Buffon ſupplemens à l'hiſtoire naturelle T. IV. p. 495. 4. Lobo zuE 2trauen36trauen iſt, ſo wohnen auf dieſer ganzen Erdhoͤhe keine Ne - gergeſchlechter, die er nur den oͤſt - und weſtlichen Kuͤſten dieſes Welttheils als den niedrigſten und heißeſten Gegenden zueignet. Selbſt unter dem Aequator, ſagt er, gebe es auf dieſer ſehr gemaͤſſigten und regenhaften Erdhoͤhe nur weiße oder gelbbraune Menſchen. “ So merkwuͤrdig dieſes Fa - ctum waͤre, den Urſprung der Negerſchwaͤrze zu erklaͤren: ſo zeigt, woran uns beynahe noch mehr gelegen iſt, auch die Form der Nationen dieſer Gegenden eine allmaͤliche Fortruͤk - kung zur Negerbildung. Wir wiſſen, daß die Abeßinier urſpruͤnglich Arabiſcher Herkunft ſind und beide Reiche auch oft und lange verbunden geweſen: indeſſen, wenn wir nach den Bildniſſen derſelben bei Ludolfc)Ludolf. hiſt. Aethiop. hin und wieder. u. a. urtheilen doͤrfen, welche haͤrtere Geſichtszuͤge erſcheinen hier, als in der Ara - biſchen und weitern Aſiatiſchen Geſtalt! Sie naͤhert ſich der Negerform, obwohl noch von fern; und die großen Ab - wechſelungen des Landes an hohen Bergen und den ange -nehm -b)Lobo ſagt wenigſtens, daß auch die Schwarzen daſelbſt weder haͤßlich noch dumm, ſondern geiſtig, zart und von gutem Ge - ſchmack ſind. (Relation hiſtorique d'Abiſſinie p. 85.) Da alle Nachrichten aus dieſen Gegenden alt und ungewiß ſind: ſo waͤre die Ausgabe von Bruͤce Reiſen, wenn er ſolche bis nach Abeßinien gethan hat, ſehr zu wuͤnſchen.37nehmſten Ebnen, die Abwechſelungen des Klima mit Sturm - winden, Hitze, Kaͤlte, und der ſchoͤnſten Zeit, nebſt noch einer Reihe andrer Urſachen ſcheinen dieſe hart zuſammenge - ſetzten Zuͤge zu erklaͤren. Jn einem verſchiednen Welttheil muſte ſich auch eine verſchiedne-Menſchengeſtalt erzeugen, deren Charakter viel ſinnliche Lebenskraft, eine große Dauer, aber auch ein Uebergang zum Aeuſſerſten in der Bildung, welches allemal thieriſch iſt, zu ſeyn ſcheinet. Die Cultur und Regierungsform der Abeſſinier iſt ihrer Geſtalt ſowohl als der Beſchaffenheit ihres Landes gemaͤß, ein rohes Ge - miſch von Chriſten - und Heidenthum, von freyer Sorglo - ſigkeit und von barbariſchem Deſpotismus.
Auf der andern Seite von Afrika kennen wir die Ber - bers oder Brebers gleichergeſtalt zu wenig, um von ihnen urtheilen zu koͤnnen. Jhr Aufenthalt auf den Atlas-Ge - buͤrgen und ihre harte, muntre Lebensweiſe hat ihnen die wohlgewachſne, leichte und hurtige Geſtalt erhalten, die ſie auch von den Arabern unterſcheideta)Hoͤſt Nachrichten von Marokos S. 141. vgl. mit 132. u. f.. Sie ſind alſo noch nichts minder als ein Volk von Negerbildung, ſo wenig es die Mauren ſind: denn dieſe letzten ſind mit andern Voͤlkern vermiſchte Arabiſche Geſchlechter. Ein ſchoͤnes Volk, ſagtE 3ein38ein neuer Beobachtera)Schotts Nachrichten uͤber den Zuſtand vom Senega in den Bei - traͤg. z. Voͤlker - und Laͤnderkunde Th. I. S. 47., von ſeinen Geſichtszuͤgen, laͤng - lich runden Geſichten, ſchoͤnen großen feurigen Augen, laͤng - lichten und nicht breiten, nicht platten Naſen, von ſchoͤnem, etwas in Locken fallenden, ſchwarzen Haar, alſo auch mit - ten in Afrika eine Aſiatiſche Bildung.
Vom Gambia und Senegaſtrom fangen eigentlich die Negergeſchlechter an, doch auch hier noch mit allmaͤligen Uebergaͤngenb)S. Schotts Nachr. vom Senega S. 50. Allgem. Reiſen Th. 3 ‒ 5. Die Jalofer oder Wulufs haben noch nicht die platten Naſen und dicken Lippen der gemeinen Ne - gers; ſie ſowohl als die kleinern, behendern Fuli's, die nach einigen Beſchreibungen in Freude, Tanz und in der gluͤcklichſten Ordnung leben, ſind in ihrem ſchoͤnen Glieder - bau, in ihrem ſchlichten nur wenig wollichten Haar, in ih - ren offnen laͤnglichen Geſichtern noch Bilder der Schoͤnheit gegen jene Mandigoer und die weiter hinabwohnenden Ne - gervoͤlker. Jenſeit des Senega alſo fangen erſt die dicken Lip - pen und platten Naſen der Negergeſtalt an, die ſich mit noch ungezaͤhlten Varietaͤten kleiner Voͤlkerſchaften uͤber Guinea, Loango, Kongo, Angola tief hinab verbreiten. Auf Kongo und Angola z. E. faͤllt die Schwaͤrze in die Olivenfarbe:das39das krauſe Haar wird roͤthlich: die Augapfel werden gruͤn: das Aufgeworfne der Lippen mindert ſich und die Statur wird kleiner. An der gegenſeitigen Kuͤſte Zanquebar findet ſich eben dieſe Olivenfarbe, nur bei einer groͤßern Geſtalt und regelmaͤßigern Bildung wieder. Die Hottentotten und Kaffern endlich ſind Ruͤckgaͤnge der Neger - in eine andre Bildung. Die Naſe jener faͤngt an, etwas von der ge - quetſchten Plattigkeit, die Lippe von ihrer geſchwollnen Dicke zu verlieren: das Haar iſt die Mitte zwiſchen der Wolle der Neger und dem Haar andrer Voͤlker: ihre Farbe iſt gelb - braun: ihr Wuchs wie der meiſten Europaͤer, nur mit klei - nern Haͤnden und Fuͤßena)Sparmanns Reiſen S. 172.. Kennten wir nun noch die zahlreichen Voͤlkerſchaften, die uͤber ihren duͤrren Gegenden im Jnnerſten von Afrika bis nach Abeßinien hinauf wohnen und bei welchen, nach manchen Anzeigen an den Grenzen, Fruchtbarkeit des Landes, Schoͤnheit, Staͤrke, Cultur und Kunſt zunehmen ſollen: ſo koͤnnten wir die Schattierungen des Voͤlkergemaͤldes in dieſem großen Welttheil vollenden und wuͤrden vielleicht nirgend eine Luͤcke finden.
Aber wie arm ſind wir uͤberhaupt an geltenden Nach - richten aus dieſem Strich der Erde! Kaum die Kuͤſten des Landes kennen wir und auch dieſe oft nicht weiter, als dieEuro -40Europaͤiſchen Kanonen reichen. Das Jnnere von Afrika hat von neuern Europaͤern niemand durchreiſet, wie es doch die Arabiſchen Karawanen ſo oft thuna)S. Schotts Nachrichten vom Senega S. 49. 50.; was wir von ihm wiſſen, ſind Sagen aus dem Munde der Schwarzen oder ziemlich alte Nachrichten einiger gluͤcklichen oder ungluͤckli - chen Abentheurerb)Zimmermanns Vergleichung der bekannten und unbekannten Theile, eine Abhandlung voll Gelehrſamkeit und Urtheil, in der Geogr. Geſch. des Menſchen B. 3. S. 104. u. f.. — Zudem ſcheint auch bei den Na - tionen, die wir ſchon kennen koͤnnten, das Auge der Euro - paͤer viel zu tyranniſch-ſorglos zu ſeyn, um bei ſchwarzen elenden Sklaven Unterſchiede der Nationalbildung ausfor - ſchen zu wollen. Man betrachtet ſie wie Vieh und bemerkt ſie im Kauf nur nach den Zaͤhnen. Ein Herrnhutiſcher Miſ - ſionariusc)Oldendorps Mißionsgeſchichte auf St. Thomas S. 270. u. f. hat aus einem andern Welttheil her uns ſorg - faͤltigere Unterſcheidungen von Voͤlkerſchaften der Neger ge - geben, als ſo manche Afrikaniſche Reiſende, die an die Kuͤ - ſte ſtreiften. Welch ein Gluͤck waͤre es fuͤr Natur - und Menſchenkunde, wenn eine Geſellſchaft Menſchen von For - ſters Geiſt, von Sparrmanns Geduld und von den Kaͤnnt - niſſen beider, dies unentdeckte Land durchzoͤgen! Die Nach - richten, die man von den Menſchenfreſſeriſchen Jaga's und Anziken giebt, ſind gewiß uͤbertrieben, wenn man ſie aufalle41alle Voͤlker des innern Afrika verbreitet. Die Jaga's ſchei - nen eine verbuͤndete Raͤubernation, gleichſam ein kuͤnſtliches Volk zu ſeyn, das als ein Gemenge und Auswurf mehrerer Voͤlker Freibeuter auf dem feſten Lande macht und zu dem Ende in rohen grauſamen Gewohnheiten lebeta)S. Provarts Geſchichte von Loango, Kakongo u. f. Leipz. 1770. Dieſer deutſchen Ueberſetzung iſt eine gelehrte Sammlung der Nachrichten uͤber die Jaga's beigefuͤget.. Die An - ziken ſind Gebuͤrgvoͤlker, vielleicht die Mogolen und Kal - mucken dieſer Gegend; wie manche gluͤckliche und ruhige Nation aber mag am Fuß der Mondgebuͤrge wohnen! Eu - ropa iſt nicht werth, ihr Gluͤck zu ſehen, da es ſich an die - ſem Welttheil unverzeihlich verſuͤndigt hat und noch immer verſuͤndigt. Die ruhighandelnden Araber durchziehen das Land und haben weit umher Colonien gepflanzet.
Doch ich vergeſſe, daß ich von der Bildung der Neger, als von einer Organiſation der Menſchheit zu reden hatte; und wie gut waͤre es, wenn die Naturlehre auf alle Varietaͤ - ten unſres Geſchlechts ſo viel Aufmerkſamkeit verwendet haͤt - te, als auf dieſe! Jch ſetze einige Reſultate ihrer Beobach - tungen her.
1. DieJdeen, II. Th. F421. Die ſchwarze Farbe der Neger iſt nicht wunderba - rer in ihrer Art, als die weiße, braune, gelbe, roͤthliche andrer Nationen. Weder das Blut, noch das Gehirn, noch der Same der Neger iſt ſchwarz, ſondern das Netz un - ter der Oberhaut, das wir alle haben und das auch bei uns, wenigſtens an einigen Theilen und unter manchen Umſtaͤnden mehr oder minder gefaͤrbt iſt. Camper hat dies erwieſena)Siehe Campers kleine Schriften Th. 1. S. 24. u. f. und nach ihm haben wir alle die Anlage, Neger zu werden. Selbſt bei den kalten Samojeden iſt der Streif um die Bruͤ - ſte der Weiber bemerkt worden; der Keim der Negerſchwaͤrze konnte in ihrem Klima blos nicht weiter entwickelt werden.
2. Es kommt alſo nur auf die Urſache an, die ihn hier entwickeln konnte und da zeigt die Analogie ſogleich aber - mals, daß Luft und Sonne einen großen Antheil daran ha - ben muͤſſen. Denn was macht uns braun? was unterſchei - det beinah in jedem Lande die beiden Geſchlechter? was hat die Portugieſiſchen Staͤmme, die Jahrhunderte lang in Afri - ka gewohnt haben, den Negern an Farbe ſo aͤhnlich ge - macht? ja was unterſcheidet in Afrika die Negerſtaͤmme ſelbſt ſo gewaltig? das Klima, im weiteſten Verſtande des Wortes, ſo daß auch Lebensart und Nahrungsmittel darunter gehoͤren. Genau in der Gegend, wo der Oſtwind uͤber das ganze veſte Land hin die groͤßte Hitze bringt, wohnen die ſchwaͤrzeſtenNeger -43Negerſtaͤmme, wo die Hitze abnimmt oder wo Seewinde ſie kuͤhlen, bleichet ſich auch die Schwaͤrze ins Gelbe. Auf kuͤhlen Hoͤhen wohnen weiße oder weißliche Voͤlker; in nie - dern, eingeſchloſſenen Gegenden kocht auch die Sonne mehr das Oel aus, das unter der Oberhaut den ſchwarzen Schein giebet. Erwaͤgen wir nun, daß dieſe Schwarzen Jahrtau - ſende lang in ihrem Welttheil gewohnt, ja durch ihre Lebens - art ſich demſelben ganz einverleibet haben; bedenken wir, daß manche Umſtaͤnde, die jetzt weniger wirken, in fruͤhern Zeitaltern, da alle Elemente noch in ihrer erſten rohen Staͤr - ke waren, auch ſtaͤrker gewirkt haben muͤſſen und daß in Jahrtauſenden gleichſam das ganze Rad der Zufaͤlle umlaͤuft, das, jetzt oder dann, alles entwickelt, was auf der Erde entwickelt werden kann: ſo wird uns die Kleinigkeit nicht wundern, daß die Haut einiger Nationen geſchwaͤrzt ſei. Die Natur hat mit ihren fortgehenden, geheimen Wirkun - gen andre, viel groͤßere Abartungen bewirkt, als dieſe.
3. Und wie bewirkete ſie dieſe kleine Veraͤnderung? Mich duͤnkt, die Sache ſelbſt zeigets. Es iſt ein Oel, wo - mit ſie dieſe Netzhaut faͤrbte: der Schweiß der Neger und ſelbſt der Europaͤer in dieſen Gegenden faͤrbet ſich oft gelb: die Haut der Schwarzen iſt ein dicker, weicher Sammet, nicht ſo geſpannt und trocken wie die Haut der Weißen;F 2alſo44alſo hat die Sonnenwaͤrme ein Oel aus ihrem Jnnern ge - kocht, das ſo weit hervortrat, als es konnte, das ihre Haut erweichte und das Netz unter derſelben faͤrbte. Die mei - ſten Krankheiten dieſes Erdſtrichs ſind Gallenartig; man leſe die Beſchreibung derſelbena)S. Schotts Obſervations on the Synochus atrabilioſa, im Auszuge: Goͤtting. Magaz. Jahr 3. St. 6. S. 729. u. f. und die gelbe oder ſchwar - ze Farbe wird uns phyſiologiſch und pathologiſch nicht frem - de duͤnken.
4. Das Wollenhaar der Neger erlaͤutert ſich eben da - her. Da die Haare nur vom feinen Saft der Haut leben und ſogar widernatuͤrlich in der Fettigkeit ſich erzeugen: ſo kruͤmmen ſie ſich nach der Menge ihres Nahrungsſaftes und ſterben, wo dieſer fehlet. Bei der groͤbern Organiſation der Thiere wird alſo in Laͤndern, wo ihre Natur leidet, mit - hin den zuſtroͤmenden Saft nicht verarbeiten kann, aus der Wolle ein ſtraͤubiges Haar; die feinere Organiſation des Menſchen, die fuͤr alle Klimate ſeyn ſollte, konnte umge - kehrt, durch den Ueberfluß dieſes Oels, das die Haut feuch - tet, das Haar zur Wolle veraͤndern.
5. Ein mehreres aber als dies alles will die eigne Bil - dung der Glieder des menſchlichen Koͤrpers ſagen; und michduͤnkt45duͤnkt auch dieſe iſt in der Afrikaniſchen Organiſation erklaͤr - lich. Die Lippen, die Bruͤſte und die Geſchlechtsglieder ſtehen, ſo manchen phyſiologiſchen Erweiſen nach, in einem genauen Verhaͤltniß und da die Natur dieſe Voͤlker, denen ſie edlere Gaben entziehen mußte, dem einfachen Principium ihrer bildenden Kunſt zufolge, mit einem deſto reichern Maas des ſinnlichen Genuſſes auszuſtatten hatte, ſo muſte[ſich]die - ſes phyſiologiſch zeigen. Die aufgeworfne Lippe wird auch bei weißen Menſchen in der Phyſiognomik fuͤr das Zeichen eines ſehr ſinnlichen, ſo wie ein ſeiner Purpurfaden derſelben fuͤr das Merkmal eines feinen und kalten Geſchmackes ge - halten, andre Erfahrungen zu geſchweigen; was Wunder alſo, daß bei dieſen Nationen, denen der ſinnliche Trieb ei - ne der Hauptgluͤckſeligkeiten ihres Lebens iſt, ſich auch von demſelben aͤußere Merkmale zeigen? Ein Negerkind wird weiß gebohren: die Haut um die Naͤgel, die Bruſtwarzen und die Geſchlechtstheile faͤrben ſich zuerſt, ſo wie der An - lage nach ſich eben dieſer Conſenſus der Glieder unter andern Voͤlkern findet. Hundert Kinder ſind dem Neger eine Klei - nigkeit und jener Alte bedauerte mit Thraͤnen, daß er deren nur ſiebenzig habe.
6. Mit dieſer Oelreichen Organiſation zur ſinnlichen Wohlluſt mußte ſich auch das Profil und der ganze Bau desF 3Koͤr -46Koͤrpers aͤndern. Trat der Mund hervor: ſo ward eben dadurch die Naſe ſtumpf und klein: die Stirn wich zuruͤck und das Geſicht bekam von fern die Aehnlichkeit der Confor - mation zum Affenſchaͤdel. Hiernach richtete ſich die Stellung des Halſes, der Uebergang zum Hinterkopf, der ganze ela - ſtiſche Bau des Koͤrpers, der bis auf Naſe und Haut zum thieri - ſchen ſinnlichen Genuß gemacht iſta)Daß der Neger die Mittelpunkte der Bewegung naͤher beiſam - men habe, folglich auch elaſtiſcher im Koͤrper ſei, als der Eu - ropaͤer, ſoll Camper in den harlemſchen Actis erwieſen haben.. Wie in dieſem Welt - theil, als im Mutterlande der Sonnenwaͤrme, die Saft - reichſten hoͤchſten Baͤume ſich erzeugen, wie in ihm Heerden der groͤßeſten, munterſten, kraͤftigſten Thiere und inſonder - heit die ungeheure Menge Affen ihr Spiel haben, ſo daß in Luft und Stroͤmen, im Meer und im Sande alles von Leben und Fruchtbarkeit wimmelt: ſo konnte auch die ſich or - ganiſirende menſchliche Natur, ihrem animaliſchen Theil nach, nicht anders als dieſem uͤberall einfachen Principium der bildenden Kraͤfte folgen. Die feinere Geiſtigkeit, die dem Geſchoͤpf unter dieſer gluͤhenden Sonne, in dieſer von Leidenſchaften kochenden Bruſt verſagt werden mußte, ward ihm durch einen Fibernbau, der an jene Gefuͤhle nicht den - ken ließ, erſtattet. Laſſet uns alſo den Neger, da ihm in der Organiſation ſeines Klima kein edleres Geſchenk werdenkonnte,47konnte, bedauern, aber nicht verachten; und die Mut - ter ehren, die auch beraubend zu erſtatten weiß. Sorg - los verlebt er ſein Leben in einem Lande, das ihm mit uͤberfließender Freigebigkeit ſeine Nahrung darbeut. Sein geſchlanker Koͤrper plaͤtſchert im Waſſer, als ob er fuͤrs Waſ - ſer gemacht ſei: er klettert und laͤuft, als ob jedes ſeine Luft - uͤbung waͤre; und eben ſo geſund und ſtark, als er munter und leicht iſt, ertraͤgt er durch ſeine andre Conſtitution alle Unfaͤlle und Krankheiten ſeines Klima, unter denen ſo viele Europaͤer erliegen. Was ſollte ihm das quaͤlende Gefuͤhl hoͤherer Freuden, fuͤr die er nicht gemacht war? Der Stof dazu war in ihm da; aber die Natur wendete die Hand und erſchuf das daraus, was er fuͤr ſein Land und fuͤr die Gluͤck - ſeligkeit ſeines Lebens noͤthiger brauchte. Sie haͤtte kein Afrika ſchaffen muͤſſen; oder in Afrika mußten auch Ne - ger wohnen.
Nichts iſt ſchwerer unter gewiſſen Hauptzuͤgen zu charakte - riſiren, als die im Schoos des Oceans zerſtreueten Laͤnder. Denn48Denn da ſie von einander entfernt ſind und meiſtens von ver - ſchiednen Ankoͤmmlingen aus naͤhern und entferntern Gegen - den, ſpaͤter oder fruͤher bewohnt wurden und jede derſelben gewiſſermaaſſen eine eigne Welt ausmacht: ſo ſtellen ſie in der Kunde der Nationen dem Geiſt ein ſo buntes Gemaͤlde dar, als ſie dem Auge auf der Landcharte geben. Jndeſſen laſſen ſich doch auch hier in dem was Organiſation der Na - tur iſt, uie die Hauptzuͤge verlaͤugnen.
1. Auf den meiſten der Aſiatiſchen Jnſeln giebts eine Art Negergeſchlechter, die die aͤlteſten Einwohner des Lan - des zu ſeyn ſcheinena)Sprengels Geſchichte der Philippinen, Forſters Nachr. von Borneo u. a. Jnſeln in den Beitraͤgen zur Voͤlker - und Laͤnder - kunde Th. 2. S. 57. 237. u. f. Allgem. Reiſen Th. II. S. 393. Le Gentils Reiſen in Ebelings Samml. Th. 4. S. 70.. Sie ſind, obgleich nach der Ver - ſchiedenheit der Gegend, in der ſie leben, mehr oder min - der ſchwarz von Farbe, mit krauſem wolligen Haar; hie und da kommen auch die aufgeworfnen Lippen, die flache Naſe, die weißen Zaͤhne zum Vorſchein und was merkwuͤr - dig iſt, findet ſich auch mit dieſer Bildung das Tempera - ment der Neger wieder. Eben die rohe, geſunde Staͤrke,der49der Gedankenloſe Sinn, die geſchwaͤtzige Wohlluſt, die wir bei den Schwarzen des feſten Landes wahrnahmen, zeigt ſich auch bei den Negrillo's auf den Jnſeln; nur allenthalben gemaͤß ihrem Klima und ihrer Lebensweiſe. Viele dieſer Voͤlker ſtehen noch auf der unterſten Stuffe der Ausbildung, weil ſie von ſpaͤtern Ankoͤmmlingen, die jetzt die Ufer und Ebnen bewohnen, auf die Gebuͤrge gedraͤngt ſind; daher man auch wenig treue und ſichre Nachricht von denſelben beſitzetb)S. Reiſen um die Welt Th. I. S. 554. Leipz. 1775..
Woher nun dieſe Aehnlichkeit der Negerbildung auf ſo entfernten Jnſeln? Gewiß nicht, weil Afrikaner, zumal in ſo fruͤhen Zeiten Colonien hieher ſandten, ſondern weil die Natur uͤberall gleichfoͤrmig wirket. Auch dies iſt die Ge - gend des heißeſten Klima, nur von der Meeresluft gekuͤhlt; warum ſollte es alſo nicht auch Negrillo's der Jnſeln geben koͤnnen, wie es Neger des veſten Landes gab? zumal ſie, als die erſten Einwohner der Jnſeln auch das tiefſte Gepraͤ - ge der bildenden Natur dieſes Erdſtrichs an ſich tragen muͤſ - ſen. Hieher gehoͤren alſo die Jgolotes auf den PhilippinenundJdeen, II. Th. G50und aͤhnliche Schwarzen auf den meiſten andern Jnſeln; auch die Wilden, die Dampier auf der weſtlichen Seite von Neu-Holland als einen der elendeſten Menſchenſtaͤmme be - ſchreibet, gehoͤren hieher, wie es ſcheint, die unterſte Claſſe dieſer Bildung auf einer der wuͤſteſten Strecken der Erde.
2. Jn ſpaͤtern Zeiten haben ſich auf dieſen Jnſeln an - dre Voͤlker niedergelaſſen, die alſo auch eine weniger auffal - lende Bildung zeigen. Hieher gehoͤren nach Forſtera)Beitr. zur Voͤlkerkunde Th. 2. S. 238. die Badſchu auf Borneo, die Alfuhri auf einigen der Moluk - ken, die Subado's auf Magindano, die Einwohner der Diebsinſeln, der Carolinen und der weitern ſuͤdlichen im ſtillen Meer. Sie ſollen große Uebereinſtimmung in der Sprache, Farbe, Bildung und Sitten haben: ihr Haar iſt lang und ſchlicht und aus den neuern Reiſen iſt bekannt, zu welcher Reizvollen Schoͤnheit ſich dieſe Menſchengeſtalt auf Otaheiti und andern nahegelegnen Jnſeln vervollkommet habe. Jndeſſen iſt dieſe Schoͤnheit nochganz ſinnlich und in der etwas ſtumpfen Naſe der Otahiterinnen ſcheinet der letzte Druck oder Eindruck des formenden Klima merkbar.
3. Noch513. Noch ſpaͤtere Ankoͤmmlinge auf vielen dieſer Jnſeln ſind Malayen, Araber, Sineſer, Japoneſen u. f. die alſo auch von ihren Staͤmmen noch deutlichere Spuren an ſich tragen. Kurz man kann dieſen Sund von Jnſeln als einen Sammelplatz von Formen anſehen, die ſich nach dem Cha - rakter, den ſie an ſich trugen, nach dem Lande, das ſie be - wohnten, nach der Zeit und Lebensweiſe, in der ſie daſelbſt waren, ſehr verſchieden ausgebildet haben; ſo daß man oft in der groͤßten Naͤhe die ſonderbarſte Verſchiedenheit antrift. Die Neuhollaͤnder, die Dampier ſahe und die Einwohner der Jnſel Mallikollo ſcheinen von der groͤbſten Bildung zu ſeyn, uͤber die ſich die Einwohner der neuen Hebriden, die Neukaledo - nier, Neuſeelaͤnder u. f. allmaͤlich heben. Der Ulyßes die - ſer Gegenden, Reinhold Forſtera)Forſters Bemerkungen auf ſeiner Reiſe um die Welt Berl. 1783. Hauptſt. 6., hat uns die Arten und Abarten des Menſchengeſchlechts daſelbſt ſo gelehrt und Verſtandreich geſchildert, daß wir aͤhnliche Beitraͤge zur philoſophiſch-phyſiſchen Geographie auch uͤber andre Striche der Erde als Grundſteine zur Geſchichte der Menſch - heit zu wuͤnſchen haben. Jch wende mich alſo zum letzten und ſchwerſten Welttheil.
Es iſt bekannt, daß Amerika durch alle Himmelsſtriche laͤuft und nicht nur Waͤrme und Kaͤlte in den hoͤchſten Graden, ſon - dern auch die ſchnelleſten Abwechſelungen der Witterung, die hoͤchſten und ſteilſten Hoͤhen mit den weiteſten und flachſten Ebnen verbindet. Es iſt ferner bekannt, daß da dieſer lang - geſtreckte Welttheil bei großen Buchten zur rechten Seite eine Kette von Gebuͤrgen hat, die von Suͤden nach Norden ſtreicht, daher das Klima deſſelben, ſo wie ſeine lebendigen Pro - ducte mit der alten Welt wenig Aehnliches haben. Alles dies macht uns auch auf die Menſchengattung daſelbſt, als auf die Geburt eines entgegengeſetzten Hemiſphaͤrs aufmerkſam.
Auf der andern Seite aber giebt es eben auch die Lage von Amerika, daß dieſer ungeheure, von der andern Welt ſo weit getrennete Erdſtrich, nicht eben von vielen Seiten her bevoͤlkert ſeyn kann. Von Afrika, Europa und dem ſuͤdlichen Aſien ſcheiden ihn weite Meere und Winde; nur Ein Uebergang aus der alten Welt iſt ihm nahe geworden an ſeiner Nordweſtlichen Seite. Die vorige Erwartung ei -ner53ner großen Vielfoͤrmigkeit wird alſo hiedurch gewiſſermaaſ - ſen vermindert: denn wenn die erſten und meiſten Ein - wohner aus Einer und derſelben Gegend kamen und ſich, vielleicht nur mit wenigen Vermiſchungen andrer Ankoͤmm - linge, allmaͤlich herunterzogen und endlich das ganze Land fuͤllten: ſo wird, Trotz aller Klimate, die Bildung und der Charakter der Einwohner eine Einfoͤrmigkeit zeigen, die nur wenig Ausnahmen leidet. Und dies iſts, was ſo viele Nachrichten von Nord - und Suͤdamerika ſagen: daß nehm - lich, ohngeachtet der großen Verſchiedenheit der Himmels - ſtriche und Voͤlker, die ſich oft auch durch gewaltſame Kunſt von einander zu trennen ſuchten, auf der Bildung des Men - ſchengeſchlechts im Ganzen ein Gepraͤge der Einfoͤrmigkeit liege, die ſelbſt nicht im Negerlande ſtatt findet. Die Or - ganiſation der Amerikaner iſt alſo gewiſſermaaſſen eine rei - nere Aufgabe, als die Bildung irgend eines andern gemiſch - teren Erdſtrichs; und die Aufloͤſung des Problems kann nir - gend als von der Seite des wahrſcheinlichen Ueberganges ſelbſt anfangen.
Die Nationen, an die Cook in Amerika ſtreiftea)W. Ellis Nachr. von Cooks dritten Reiſe S. 114. f., waren von der mittlern Groͤße bis zu ſechs Fuß. Jhre FarbeG 3geht54geht ins Kupferrothe, die Form ihres Geſichts ins Viereck - te, mit ziemlich vorragenden Backenbeinen und wenig Bart. Das Haar iſt lang und ſchwarz: der Bau der Glieder ſtark und nur die Fuͤße unfoͤrmlich. Wer nun die Nationen im oͤſtlichen Aſien und auf den nahegelegnen Jnſeln inne hat, der wird Zug fuͤr Zug den allmaͤlichen Uebergang bemerken. Jch ſchließe dieſen nicht auf Eine Nation ein: denn wahr - ſcheinlich gingen mehrere, auch von verſchiednen Staͤmmen hinuͤber; nur oͤſtliche Voͤlker warens, wie ihre Bildung, ſelbſt ihre Unfoͤrmlichkeit, am meiſten aber ihr Putz und ih - re willkuͤhrlichen Sitten beweiſen. Werden wir einſt die ganze Nordweſtliche Kuͤſte von Amerika, die wir jetzt nur in ein paar Anfurten kennen, uͤberſehen und von den Einwoh - nern daſelbſt ſo treue Gemaͤlde haben, als Cook z. B. uns vom Anfuͤhrer in Unalaska u. f. gegeben: ſo wird ſich meh - reres erklaͤren. Es wird ſich ergeben, ob tiefer hinab auf der großen Kuͤſte, die wir noch nicht kennen, auch Japaner und Sineſen uͤbergegangen und was es mit dem Maͤhrchen von einer geſitteten baͤrtigen Nation auf dieſer Weſtſeite fuͤr Bewandniß habe. Freilich waͤren die Spanier von Mexico aus die naͤchſten zu dieſen ſchaͤtzbaren Entdeckungen, wenn ſie mit den zwei groͤßeſten Seenationen Europa's, den Eng - laͤndern und Franzoſen, den ruͤhmlichen Eroberungsgeiſt fuͤr die Wiſſenſchaften theilten. Moͤge indeß wenigſtens Lar -manns55manns Reiſe auf die noͤrdliche Kuͤſte und die Bemuͤhungen der Englaͤnder von Kanada aus uns viel Neues und Gu - tes lehren.
Es iſt ſonderbar, daß ſich ſo viele Nachrichten damit tragen, wie die weſtlichſten Nationen in Nordamerika zu - gleich die geſittetſten ſeyn ſollen. Die Aſſinipuelen hat man wegen ihrer großen ſtarken, behenden Geſtalt und die Chriſtinoh's wegen ihrer geſpraͤchichen Munterkeit geruͤh - meta)Allgem. Reiſen Th. 16. S. 646.. Wir kennen indeß dieſe Nationen und uͤberhaupt alle Savanner nur als Maͤhrchen; von den Nadoweßiern an geht eigentlich die gewiſſere Nachricht. Mit ihnen, ſo wie mit den Tſchiwipaͤern und Winobagiern hat uns Car - verb)Ebelings Samml. von Reiſebeſchr. Th. I. Hamb. 1780., mit den Tſcheraki's, Tſchikaſah's und Muskogen Adairc)Adair Geſch. Nordamerik. Jndian. Bresl. 1782., mit den ſogenannten fuͤnf Nationen Colden, Rogers, Timberlake, mit denen nach Norden hinauf die Franzoͤſiſchen Mißionare bekannt gemacht und bei allen Ver - ſchiedenheiten derſelben, wem iſt nicht ein Eindruck geblie - ben von einer herrſchenden Bildung, wie von Einem Haupt - charakter? Dieſer beſtehet naͤmlich in der geſunden und ge - haltnen Staͤrke, in dem barbariſchſtolzen Freiheit - und Kriegs -muth,56muth, der ihre Lebensart und ihr Hausweſen, ihre Erzie - hung und Regierung, ihre Geſchaͤfte und Gebraͤuche zu Kriegs - und Friedenszeiten bildet. Jn Laſtern und Tugen - den ein Einziger Charakter auf unſrer runden Erde!
Und wie kamen ſie zu dieſem Charakter? Mich duͤnkt, auch hier erklaͤrt ihr allmaͤlicher Uebergang aus Nordaſien und die Beſchaffenheit dieſer neuen Weltgegend ſehr vieles. Als rohe und harte Nationen kamen ſie heruͤber: zwiſchen Stuͤrmen und Gebuͤrgen waren ſie gebildet; als ſie nun die Kuͤſte uͤberſtanden hatten und das große, freie, ſchoͤnere Land vor ſich fanden, muſte ſich nicht auch ihr Charakter mit der Zeit zu dieſem Lande bilden? Zwiſchen großen Seen und Stroͤmen, in dieſen Waͤldern, auf dieſen Wieſen form - ten ſich andre Nationen, als dort auf jenem rauhen und kal - ten Abhange zum Meer. Wie Seen, Gebuͤrge und Stroͤ - me ſich theilten, theilten ſich die Voͤlkerſchaften: Staͤmme mit Staͤmmen geriethen in heftige Kriege, daher auch bei denen ſonſt gleichmuͤthigſten Nationen jener Kriegshaß der Voͤlker unter einander ein herrſchender Zug wurde. Zu krie - geriſchen Staͤmmen bildeten ſie ſich alſo und verleibten ſich allen Gegenſtaͤnden des Landes ein, das ihnen ihr großer Geiſt gegeben. Sie haben die Schamanenreligion der Nordaſiaten, aber auf Amerikaniſche Weiſe. Jhre geſundeLuft,57Luft, das Gruͤn ihrer Wieſen und Waͤlder, das erquickende Waſſer ihrer Seen und Stroͤme begeiſterte ſie mit dem Hauch der Freiheit und des Eigenthums in dieſem Lande. Von welchem Haufen elender Ruſſen haben ſich alle Siberiſche Nationen bis nach Kamtſchatka hin unterjochen laſſen! Die - ſe feſtere Barbaren wichen zwar; aber ſie dieneten nie.
Wie ihr Charakter, ſo laͤſſet ſich auch ihr ſonderbarer Geſchmack an der Verkuͤnſtelung ihres Koͤrpers aus dieſem Urſprunge erklaͤren. Alle Nationen in Amerika vertilgen den Bart; ſie muͤſſen alſo urſpruͤnglich aus Gegenden ſeyn, die wenig Bart zeugten, daher ſie von der Sitte ihrer Vaͤter nicht abweichen wollten. Der oͤſtliche Theil von Aſien iſt dieſe Gegend. Auch in einem Klima alſo, das reichern Saft zu ihm hervortreiben mochte, haſſeten ſie denſelben und haſſen ihn noch, daher ſie ihn von Kindheit auf ausraufen. Die Voͤlker des Aſiatiſchen Nordens hatten runde Koͤpfe und oͤſtlicher gieng die Form ins Viereckte uͤber; was war natuͤr - licher, als daß ſie auch von dieſer Vaͤterbildung nicht ab - laſſen wollten und alſo ihr Geſicht formten? Wahrſcheinlich fuͤrchteten ſie das ſanftere Oval als eine weibiſche Bildung: ſie blieben alſo auch durch gewaltſame Kunſt beim zuſammen - gedruͤckten Kriegsgeſicht ihrer Vaͤter. Die nordiſchen Ku - gelkoͤpfe formten es rund, wie die Bildung des hoͤherenJdeen, II. Th. HNor -58Nordens war: andre formten es viereckt oder druͤckten den Kopf zwiſchen die Schultern, damit das neue Klima weder ihre Laͤnge noch Geſtalt veraͤndern moͤchte. Kein andrer Erdſtrich als das oͤſtliche Aſien zeigt Proben ſolcher gewalt - ſamen Verzierungen, und wie wir ſahen, wahrſcheinlich auch in der naͤmlichen Abſicht, das Anſehen des Stammes in fernen Gegenden zu erhalten; ſelbſt dieſer Geiſt der Ver - zierung ging alſo vielleicht ſchon mit hinuͤber.
Endlich kann uns am wenigſten die Kupferrothe Farbe der Amerikaner irren: denn die Farbe der Geſchlechter fiel ſchon im oͤſtlichen Aſien ins braunrothe, und wahrſcheinlich wars die Luft eines andern Welttheils, die Salben und an - dre Dinge, die hier die Farbe erhoͤhten. Jch wundre mich ſo wenig, daß der Neger ſchwarz und der Amerikaner roth iſt, da ſie, als ſo verſchiedne Geſchlechter, in ſo verſchiednen Himmelsſtrichen Jahrtauſende lang gewohnt haben, daß ich mich vielmehr wundern wuͤrde, wenn auf einer runden Erde alles Schneeweiß oder braun waͤre. Sehen wir nicht bei der groͤbern Organiſation der Thiere ſich in verſchied - nen Gegenden der Welt ſo gar veſte Theile veraͤndern? und was hat mehr zu ſagen, eine Veraͤnderung der Glieder des Koͤrpers in ihrer ganzen Proportion und Haltung; oder ein etwas mehr und anders gefaͤrbtes Netz unter der Haut?
Laſſet59Laſſet uns nach dieſer Voreinleitung die Voͤlker Amerika's hinunter begleiten und ſehen, wie ſich die Einfoͤrmigkeit ih - res urſpruͤnglichen Charakters ins Mannichfaltige miſcht und doch nie verlieret.
Die noͤrdlichſten Amerikaner werden als klein und ſtark beſchrieben; in der Mitte des Landes wohnen die groͤßeſten und ſchoͤnſten Staͤmme; die unterſten im flachen Florida muͤſſen jenen ſchon an Staͤrke und Muth weichen. Auffal - lend iſt es, ſagt Georg Forſtera)Goͤtting. Magazin 1783. S. 929., daß bei aller charakte - riſtiſchen Verſchiedenheit der mancherlei Nordamerikaner, die im Cookſchen Werk abgebildet ſind, doch im Ganzen ein allgemeiner Charakter im Geſicht herrſchet, der mir be - kannt war und den ich, wie ich mich recht erinnerte, auch wirklich im Peſcheraͤh im Feuerlande geſehen hatte. “
Von Neu-Mexico wiſſen wir wenig. Die Spanier fanden die Einwohner dieſes Landes wohlgekleidet, fleißig, ſauber, ihre Laͤndereien gut bearbeitet, ihre Staͤdte von Stein gebauet. Arme Nationen, was ſeyd ihr jezt, wenn ihr euch nicht, wie die los bravos gentes auf die Gebuͤrge gerettet habet? Die Apalachen bewieſen ſich als ein kuͤhnesH 2ſchnel -60ſchnelles Volk, dem die Spanier nichts anhaben konnten. Und wie vorzuͤglich ſpricht Pagèsa)Pagès Voyage autour du monde Par. 1783. p. 17. 18. 26. 40. 52. 54. etc. von den Chaktas, Adaiſ - ſes und Tega's!
Mexico iſt jezt ein trauriges Bild von dem, was es un - ter ſeinen Koͤnigen war; kaum der zehnte Theil ſeiner Ein - wohner iſt uͤbrigb)Storia antica del Meſſico: Auszug in den Goͤtting. gelehrten Anzeigen 1781. Zugabe 35. 36. und ein reicherer im Kielſchen Magazin B. 2. St. 1. S. 38. f.. Und wie iſt ihr Charakter durch die ungerechteſte der Unterdruͤckungen veraͤndert! Auf der ganzen Erde, glaube ich, giebts keinen tiefern, gehaltnern Haß, als den der leidende Amerikaner gegen ſeinen Unterdruͤcker, den Spanier naͤhret: denn ſo ſehr Pagès z. E.c)S. 88. u. f. die meh - rere Milde ruͤhmt, die jetzt die Spanier gegen ihre Unter - druͤckten beweiſen, ſo kann er doch auf andern Blaͤttern die Traurigkeit der Unterjochten und die Wildheit, mit der die freien Voͤlker verfolgt werden, nicht verbergen. Die Bildung der Mexicaner wird ſtark Olivenfarb, ſchoͤn und angenehm beſchrieben: ihr Auge iſt groß, lebhaft, funkelnd: ihreSin -61Sinne friſch, ihre Beine munter; nur ihre Seele iſt ermattet durch Knechtſchaft.
Jn der Mitte von Amerika, wo von naſſer Hitze alles erliegt und die Europaͤer das elendeſte Leben fuͤhren, erlag doch die biegſame Natur der Amerikaner nicht. Waffera)Allgem. Reiſen Th. 15. S. 263. u. f., der den Seeraͤubern entflohen, ſich eine Zeitlang unter den Wilden in Terra firma aufhielt, beſchreibt ſeine gute Auf - nahme unter ihnen, nebſt ihrer Geſtalt und Lebensweiſe alſo: „ Die Groͤße der Maͤnner war 5 bis 6 Fuß, von ſtarken Knochen, breiter Bruſt, ſchoͤnem Verhaͤltniß: kein Kruͤp - pel und Unfoͤrmlicher war unter ihnen. Sie ſind geſchmei - dig, lebhaft und ſchnelle Laͤufer. Jhre Augen lebhaftgrau, ihr Geſicht rund, die Lippen duͤnn, der Mund klein, das Kinn wohlgebildet. Jhr Haar iſt lang und ſchwarz: das Kaͤmmen deſſelben iſt ihr oͤfteres Vergnuͤgen. Jhre Zaͤhne ſind weiß und wohlgeſetzt: ſie ſchmuͤcken und mahlen ſich wie die meiſten Jndianer. “— Sind das die Leute, die man uns als ein entnervtes, unreifes Gewaͤchs der Menſch - heit hat vorſtellen wollen? und dieſe wohnten in der entner - vendſten Gegend des Jſthmus.
Fermin, ein treuer Naturforſcher, beſchreibt die Jndier in Surinam, als wohlgebildete und ſo reinliche Menſchen,H 3als62als es irgend auf Erden gebea)Fermins Beſchreib. von Surinam Th. 1. S. 39. 41.. „ Sie baden ſich, ſobald ſie aufſtehn und ihre Weiber reiben ſich mit Oel, theils zur Erhaltung der Haut, theils gegen den Stich der Moskitos. Sie ſind von einer Zimmerfarbe. welche ins Roͤthliche faͤllt; werden aber ſo weiß als wir gebohren. Kein Hinkender oder Verwachsner iſt unter ihnen. Jhre langen pechſchwarzen Haare werden erſt im hoͤchſten Alter weiß. Sie haben ſchwarze Augen, ein ſcharfes Geſicht, wenig oder keinen Bart, deſſen geringſtem Merkmal ſie durch Ausreißen zu - vorkommen. Jhre weißen ſchoͤnen Zaͤhne bleiben bis ins hoͤchſte Alter geſund und auch ihre Weiber, ſo zaͤrtlich ſie zu ſeyn ſcheinen, ſind von ſtarker Geſundheit. “ Man leſe Bankrofts Beſchreibungb)Bankrofts Naturgeſch. von Guiana Br. 3. von den tapfern Caribben, den traͤgen Worrows, den ernſthaften Accawaws, den geſelligen Arrowauks u. f.; mich duͤnkt, ſo wird man die Vorurtheile von der ſchwachen Geſtalt und dem nichtswuͤrdigen Charak - ter dieſer Jndianer ſelbſt in der heißeſten Weltgegend aufgeben.
Gehen wir ſuͤdlich in die ungezaͤhlten Voͤlkerſchaften Braſiliens hinunter, welche Menge von Nationen, Spra - chen und Charakteren findet man hier! die indeß alte undneue63neue Reiſende ziemlich gleichartig beſchrieben habena)Acunja, Gumilla, Lery, Marggraf, Condamine u. f.. „ Nie grauet ihr Haar, ſagt Lery, ſie ſind ſtets munter und lu - ſtig, wie ihre Gefilde immer gruͤnen.” Die tapfern Tapi - nambos zogen ſich, um dem Joch der Portugieſen zu ent - kommen, in die undurchſuchten und unabſehlichen Waͤlder wie mehrere ſtreitbare Nationen. Andre, die die Mißionen in Paraguai an ſich zu ziehen wuſten, muſten mit ihrem folgſamen Charakter faſt bis zu Kindern ausarten; auch die - ſes aber war Natur der Sache und weder ſie noch ihre mu - thige Nachbarn koͤnnen deswegen fuͤr keinen Abſchaum der Menſchheit geltenb)Dobritzhoffer Geſch. der Abiponer, Wien 1783. Beſchrei - bungen mehrerer Voͤlker ſehe man in des P. Gumilla Orinoco illuſtrado u. f..
Aber wir naͤhern uns dem Thron der Natur und der aͤrgſten Tyrannei, dem Silber - und Graͤuelreichen Pe - ru. Hier ſind die armen Jndianer wohl aufs tiefſte unter - druͤckt und wer ſie unterdruͤckt, ſind Pfaffen und unter den Weibern weibiſch gewordne Europaͤer. Alle Kraͤfte dieſer zarten, einſt ſo gluͤcklichen Kinder der Natur, als ſie unter ihren Jnkas lebten, ſind jetzt in das Einige Vermoͤgen zu - ſammengedraͤngt, mit verhaltnem Haß zu leiden und zudulden.64dulden. „ Beim erſten Anblick, ſagt der Gouverneur in Braſilien, Pintoa)Robertſons Geſch. von Amerika B. 1. S. 537., ſcheint ein Suͤdamerikaner ſanftmuͤ - thig und harmlos; betrachtet man ihn genauer, ſo entdeckt man in ſeinem Geſicht etwas Wildes, Argwoͤhniſches, Duͤ - ſteres, Verdruͤßliches. “ Ob ſich nicht alles dieſes aus dem Schickſal des Volks erklaͤren ließe? Sanftmuͤthig und harm - los waren ſie, da ihr zu ihnen kamet; und das ungebildete Wilde in den gutartigen Geſchoͤpfen zu dem, was in ihm lag, haͤttet veredeln ſollen. Jetzt, koͤnnet ihr etwas anders erwarten, als daß ſie argwoͤhniſch und duͤſter, den tiefſten Verdruß unausloͤſchlich in ihrem Herzen naͤhren? Es iſt der in ſich gekruͤmmte Wurm, der uns haͤßlich vorkommt, weil wir ihn mit unſerm Fuß zertreten. Jn Peru iſt der Neger - ſklave ein herrliches Geſchoͤpf gegen den unterdruͤckten Ar - men, dem das Land zugehoͤret.
Doch nicht allenthalben iſts ihnen entriſſen und gluͤckli - cher Weiſe ſind die Cordilleras und die Wuͤſten in Chili da, die ſo viel tapfern Nationen noch Freiheit geben. Da ſind z. E. die unuͤberwundnen Malochen, die Puelchen und Arau - ker, und die patagoniſchen Tehuelhets oder das große ſuͤdli - che Volk, ſechs Fuß hoch, groß und ſtark. „ Jhre Ge - ſtalt iſt nicht unangenehm, ſie haben ein rundes, etwas fla -ches65ches Geſicht, lebhafte Augen, weiße Zaͤhne und ein langes ſchwarzes Haar. Jch ſah einige, ſagt Commerſona)Journal encyclop. 1772. Mehrere Zeugniſſe gegen einander ge - halten ſ. in Zimmermanns Geſchichte der Menſchheit Th. 1. S. 59. und Robertſon's Geſch. von Amerika Th. 1. S. 540., mit einem nicht ſehr dichten, aber langhaarigen Knebelbart: ihre Haut iſt erzfaͤrbig, wie bei den meiſten Amerikanern. Sie irren in den weiten Ebnen des ſuͤdlichen Amerika herum, mit Weib und Kindern beſtaͤndig zu Pferde und folgen dem Wildpret.” Falkner und Vidaureb)Falkners Beſchreib. von Patagonien, Gotha 1775. Vidaure Geſch. des Koͤnigr. Chili in der Ebelingſchen Samml. von Reiſen Th. 4. S. 108. haben uns von ih - nen die beſte Nachricht gegeben und hinter ihnen iſt nichts uͤbrig, als der arme kalte Rand der Erde das Feuerland und in ihm die Peſcherays, vielleicht die niedrigſte Gattung der Menſchenc)S. Forſters Reiſen Th. 2. S. 392. Cavendiſch, Bou - gainville u. a.. Klein und haͤßlich und von unertraͤglichem Geruch: ſie naͤhren ſich mit Muſcheln, kleiden ſich in See - hundsfelle, frieren Jahruͤber im entſetzlichſten Winter und ob ſie gleich Waͤlder gnug haben: ſo mangelts ihnen dochſowohlJdeen, II. Th. J66ſowohl an dichten Haͤuſern als an waͤrmendem Feuer. Gut, daß die ſchonende Natur gegen den Suͤdpol die Erde hier ſchon aufhoͤren ließ; tiefer hinab, welche armſelige Bilder der Menſchheit haͤtten ihr Leben im Gefuͤhlraubenden Froſt dahingetraͤumet!
Dies waͤren alſo einige Hauptzuͤge von Voͤlkern aus Amerika; und was folgte aus ihnen fuͤrs Ganze?
Zuerſt, daß man ſo ſelten als moͤglich von Nationen eines Welttheils, das ſich durch alle Zonen erſtrecket, ins Allgemeine hin reden ſollte. Wer da ſagt: Amerika ſei warm, geſund, naß, niedrig, fruchtbar, der hat Recht; und ein andrer, der das Gegentheil ſagt, hat auch Recht, nehmlich fuͤr andre Jahrszeiten und Oerter. Ein Gleiches iſts mit den Nationen: denn es ſind Menſchen eines gan - zen Hemiſphaͤrs in allen Zonen. Oben und unten ſind Zwerge, und nahe bei den Zwergen Rieſen: in der Mitte wohnen mittelmaͤßige, wohl - und minder wohlgebildete Voͤl - ker, ſanft und kriegeriſch, traͤge und munter, von allerlei Lebensarten und von allen Charakteren.
Zwei -67Zweitens. Jndeſſen hindert nichts, daß dieſer vielaͤ - ſtige Menſchenſtamm mit allen ſeinen Zweigen nicht aus Ei - ner Wurzel entſtanden ſeyn koͤnne, folglich auch Einartigkeit in ſeinen Fruͤchten zeige. Und dies iſts, was man mit der herrſchenden Geſichtsbildung und Geſtalt der Amerikaner ſa - gen wolltea)Robertſons Geſch. von Amerika Th. 1. S. 539.. Ulloa bemerkt in der mittlern Gegend be - ſonders die kleine mit Haaren bewachſne Stirn, kleine Augen, eine duͤnne, nach der Oberlippe gekruͤmmte Naſe, ein brei - tes Geſicht, große Ohren, wohlgemachte Schenkel, kleine Fuͤße, eine unterſetzte Geſtalt; und dieſe Zuͤge gehen uͤber Mexico hinuͤber. Pinto ſetzt hinzu, daß die Naſe etwas flach, das Geſicht rund, die Augen ſchwarz oder Kaſtanien - braun, klein aber ſcharf und die Ohren vom Geſicht ſehr ent - fernt ſeynb)Eben daſ. S. 537.; welches ſich ebenfalls in Abbildungen ſehr entlegner Voͤlker zeiget. Dieſe Hauptphyſiognomie, die ſich nach Zonen und Voͤlkern im Feinern veraͤndert, ſcheint wie ein Familienzug auch in den verſchiedenſten noch kennbar und weiſet allerdings auf einen ziemlich einfoͤrmigen Urſprung. Waͤren Voͤlker aus allen Welttheilen, zu ſehr verſchied - nen Zeiten nach Amerika gekommen; mochten ſie ſich vermi - ſchen oder unvermiſcht bleiben, ſo haͤtte die Diverſitaͤt der Menſchengattung allerdings groͤßer ſeyn muͤſſen. BlaueJ 2Augen68Augen und blonde Haare findet man im ganzen Welttheil nicht: die blauaͤugigen Ceſaren in Chili und die Akanſas in Florida ſind in der neuern Zeit verſchwunden.
Drittens. Soll man nach dieſer Geſtalt einen gewiſ - ſen Haupt - und mittlern Charakter der Amerikaner angeben: ſo ſcheints Gutherzigkeit und kindliche Unſchuld zu ſeyn, die auch ihre alte Einrichtungen, ihre Geſchicklichkeiten und we - nigen Kuͤnſte, am meiſten ihr erſtes Betragen gegen die Eu - ropaͤer beweiſen. Aus einem barbariſchen Lande entſproſſen und ununterſtuͤtzt von irgend einer Beihuͤlfe der cultivirten Welt gingen ſie ſelbſt, ſo weit ſie kamen und liefern auch hier in ihren ſchwachen Anfaͤngen der Cultur ein ſehr lehrrei - ches Gemaͤhlde der Menſchheit.
Es waͤre ſchoͤn, wenn ich jetzt durch eine Zauberruthe alle bisher gegebnen unbeſtimmten Wortbeſchreibungena)Wer mehrere Nachrichten von einzelnen Zuͤgen begehret, wird ſolche in Buffons Naturgeſchichte, Band 6. Mart. Ausg. und in Blumenbachs gelehrter Schrift de varietate gen. hu - mani finden. in Ge -maͤhlde69maͤhlde verwandeln und dem Menſchen von ſeinen Mitbruͤ - dern auf der Erde eine Gallerie gezeichneter Formen und Ge - ſtalten geben koͤnnte. Aber wie weit ſind wir noch von der Erfuͤllung dieſes anthropologiſchen Wunſches! Jahrhunderte lang hat man die Erde mit Schwert und Kreuz, mit Koral - len und Brantweinfaͤſſern durchzogen; an die friedliche Reißfeder dachte man nicht und auch dem großen Heer der Reiſenden iſts kaum eingefallen, daß man mit Worten keine Geſtalt mahle, am wenigſten die feinſte, verſchiedenſte, im - mer abweichende aller Geſtalten. Lange gieng man aufs Wunderbare hinaus und dichtete; nachher wollte man hie und da, ſelbſt wo man Zeichnungen gab, verſchoͤnern, ohne zu bedenken, daß kein wahrer Zoolog verſchoͤnere, wenn er fremde Thiergeſtalten mahlet. Und verdiente etwa die menſch - liche Natur allein jene genaue Aufmerkſamkeit nicht, mit der man Thiere und Pflanzen zeichnet? Jndeß da in den neueſten Zeiten der edle Bemerkungsgeiſt auch fuͤr unſer Ge - ſchlecht wirklich ſchon erwacht iſt und man von einigen, wie wohl nur von wenigen Nationen Abbildungen hat, gegen die in aͤltern Zeiten de Bry, Bruyn, geſchweige die Miſ - ſionare nicht beſtehena)Nicht als ob ich die Bemuͤhungen dieſer Maͤnner nicht ſchaͤtzte; indeſſen duͤnken mich Bruyn's (le Brun) Abbildungen ſehrfranzoͤ -: ſo waͤre es ein ſchoͤnes Geſchenk,J 3wenn70wenn Jemand, der es kann, die hie und da zerſtreueten treuen Gemaͤlde der Verſchiedenheit unſres Geſchlechts ſamm - lete und damit den Grund zu einer ſprechenden Naturlehre und Phyſiognomik der Menſchheit legte. Philoſophiſcher koͤnnte die Kunſt ſchwerlich angewandt werden und eine anthro - pologiſche Charte der Erde, wie Zimmermann eine zoologiſche verſucht hat, auf der nichts angedeutet werden muͤßte, als was Diverſitaͤt der Menſchheit iſt, dieſe aber auch in allen Er - ſcheinungen und Ruͤckſichten; eine ſolche wuͤrde das philan - thropiſche Werk kroͤnen.
a)franzoͤſiſch und derer de Bry Gemaͤlde, die nachher in ſchlech - tern Nachſtichen beinah in alle ſpaͤtere Buͤcher uͤbergegangen ſind, nicht avthentiſch. Nach Forſters Zeugniß hat auch Hodges noch die Otahitiſchen Gemaͤlde idealiſiret. Jndeſſen waͤre es zu wuͤnſchen, daß nach den Anfaͤngen, die wir haben, die ge - naue und gleichſam Natur-hiſtoriſche Kunſt in Abbildung der Menſchengeſchlechter fuͤr alle Gegenden der Welt ununterbro - chen dauren moͤge. Niebuhr, Parkinſon, Cook, Hoͤſt Georgi, Marion u. a. rechne ich zu dieſen Anfaͤngen; die letzte Reiſe Cooks ſcheint nach dem Ruhm, den man ihren Gemaͤhlden giebt, eine neue hoͤhere Periode anzufangen, der ich in andern Welttheilen die Fortſetzung und eine gemeinnuͤtzi - gere Bekanntmachung wuͤnſche.
Das bisher entworfene Gemaͤlde der Nationen ſoll nichts als der Vorgrund ſeyn, uͤber welche[m]wir einige Bemerkungen weiter auszeichnen; ſo wie auch die Gruppen deſſelben nichts ſeyn wollen, als was die templa des Augurs am Himmel waren, bezirkte Raͤume fuͤr unſern Blick, Huͤlfsmittel fuͤr unſer Gedaͤchtniß. Laſſet uns ſehen, was ſich in ihnen zur Philoſophie unſres Geſchlechts darbeut.
Sind in der Natur keine zwei Blaͤtter eines Baums ein - ander gleich: ſo ſinds noch weniger zwei Menſchengeſichte und zwei menſchliche Organiſationen. Welcher unendlichenJdeen, II. Th. KVer -74Verſchiedenheit iſt unſer kunſtreiche Bau faͤhig! Seine ve - ſten Theile loͤſen ſich in ſo feine, vielfach verſchlungene Fi - bern auf, daß ſie kein Auge verfolgen mag: dieſe werden von einem Leim gebunden, deſſen zarte Miſchung aller be - rechnenden Kunſt entweichet; und noch ſind dieſe Theile das wenigſte, was wir an uns haben; ſie ſind nichts als Gefaͤſ - ſe, Huͤllen und Traͤger des in viel groͤßerer Menge vorhan - denen vielartigen, vielbegeiſterten Safts, durch den wir ge - nießen und leben. „ Kein Menſch, ſagt Hallera)Vorrede zu Buffons Allgem. Nat. Geſch. Th. 3., iſt im innern Bau dem andern ganz aͤhnlich: er unterſcheidet ſich im Lauf ſeiner Nerven und Adern in Millionen von Millionen Faͤl - len, daß man faſt nicht im Stande iſt, aus den Verſchiedenheiten dieſer feinen Theile das auszufinden, worinn ſie uͤbereinkom - men. “ Findet nun ſchon das Auge des Zergliederers dieſe zahlloſe Verſchiedenheit; welche groͤßere muß in den unſicht - baren Kraͤften einer ſo kuͤnſtlichen Organiſation wohnen! ſo daß jeder Menſch zuletzt eine Welt wird, zwar eine aͤhnliche Erſcheinung von auſſen; im Jnnern aber ein eignes Weſen, mit jedem andern unausmeßbar.
Und da der Menſch keine unabhaͤngige Subſtanz iſt, ſondern mit allen Elementen der Natur in Verbindung ſte - het; er lebt vom Hauch der Luft, wie von den verſchieden - ſten Kindern der Erde, den Speiſen und Getraͤnken: erverar -75verarbeitet Feuer, wie er das Licht einſaugt und die Luft ver - peſtet: wachend und ſchlafend in Ruhe und in Bewegung traͤgt er zur Veraͤnderung des Univerſum bei und ſollte er von demſelben nicht veraͤndert werden? Es iſt viel zu wenig, wenn man ihn dem ſaugenden Schwamm, dem glimmenden Zunder vergleicht; eine zahlloſe Harmonie, ein lebendiges Selbſt iſt er, auf welches die Harmonie aller ihn umgeben - den Kraͤfte wirket.
Der ganze Lebenslauf eines Menſchen iſt Verwand - lung; alle ſeine Lebensalter ſind Fabeln derſelben und ſo iſt das ganze Geſchlecht in einer fortgehenden Metamorphoſe. Bluͤthen fallen ab und welken; andre ſprießen hervor und knoſpen: der ungeheure Baum traͤgt auf einmal alle Jahrs - zeiten auf ſeinem Haupte. Hat ſich nun, nach dem Calcul der Ausduͤnſtung allein, ein achzigjaͤhriger Mann wenigſtens vier und zwanzigmal am ganzen Koͤrper erneueta)Nach Bernoulli ſ. Haller. Phyſiol. T. VIII. L. 30. wo man einen Wald von Bemerkungen uͤber die Veraͤnderungen des menſchlichen Lebens findet.; wer mag den Wechſel der Materie und ihrer Formen durch das ganze Menſchenreich auf der Erde in allen Urſachen der Ver - aͤnderung verfolgen? da kein Punkt auf unſrer vielartigen Kugel, da keine Welle im Strom der Zeit einer andern gleichK 2iſt.76iſt. Die Bewohner Deutſchlands waren vor wenigen Jahrhun - derten Patagonen und ſie ſinds nicht mehr; die Bewohner kuͤnf - tiger Klimate werden uns nicht gleichen. Steigen wir nun in jene Zeiten hinauf, da Alles auf der Erde ſo anders geweſen zu ſeyn ſcheinet, in jene Zeit z. E., da die Elephanten in Siberien und Nord-Amerika lebten, da die großen Thiere vorhanden waren, deren Gebeine ſich am Ohioſtrom finden u. f.; wenn damals Menſchen in dieſen Gegenden lebten, wie andere Menſchen warens, als die jetzt daſelbſt leben! Und ſo wird die Menſchengeſchichte zuletzt ein Schauplatz von Verwandlungen, den nur Der uͤberſiehet, der ſelbſt alle dieſe Gebilde durchhaucht und ſich in ihnen allen freuet und fuͤhlet. Er fuͤhret auf und zerſtoͤret, verfeint Geſtalten und aͤndert ſie ab, nachdem er die Welt um ſie her verwandelt. Der Wandrer auf der Erde, die ſchnell voruͤbergehende Ephe - mere, kann nichts als die Wunder dieſes großen Geiſtes auf einem ſchmalen Streif anſtaunen, ſich der Geſtalt freuen, die ihm im Chor der Andern ward, anbeten und mit dieſer Geſtalt verſchwinden. „ Auch ich war in Arkadien! “iſt die Grabſchrift aller Lebendigen in der ſich immer verwandeln - den, wiedergebaͤhrenden Schoͤpfung.
Da indeſſen der menſchliche Verſtand in aller Vielartigkeit Einheit ſucht und der goͤttliche Verſtand, ſein Vorbild, mit demzahl -77zahlloſeſten Mancherlei auf der Erde uͤberall Einheit ver - maͤhlt hat: ſo duͤrfen wir auch hier aus dem ungeheuren Reich der Veraͤnderungen auf den einfachſten Satz zuruͤck - kehren: nur Ein 'und dieſelbe Gattung iſt das Men - ſchengeſchlecht auf der Erde.
Wie viele Fabeln der Alten von menſchlichen Ungeheu - ern und Mißgeſtalten haben ſich durch das Licht der Geſchich - te bereits verlohren! und wo irgend die Sage noch Reſte davon wiederholet, bin ich gewiß, daß auch dieſe bey hel - lerm Licht der Unterſuchung ſich zur ſchoͤnern Wahrheit auf - klaͤren werden. Den Orang-Utang kennet man jetzt und weiß, daß er weder zur Menſchheit, noch zur Sprache ein Recht hat; durch eine ſorgfaͤltigere Nachricht von den Orang - Kubub und Orang-Guhua)Noch Marsden denkt an dieſelbe in ſeiner Beſchreibung von Sumatra; aber auch nur aus Sagen. Ueber die geſchwaͤnzten Menſchen hat Monboddo in ſeinem Werk vom Urſprung und Fortgange der Sprache (Th. I. S. 219. u. f.) alle Traditionen zuſammengetrieben, deren er habhaft werden konnte. Hr. Prof. Blumenbach (de gener. hum. varietate) hat gezeigt, aus welcher Quelle ſich die Abbildungen des geſchwaͤnzten Waldmen - ſchen fortgeerbt haben. auf Borneo, Sumatra und den Nikobar-Jnſeln werden ſich auch die geſchwaͤnzten Waldmenſchen verlieren. Die Menſchen mit den verkehrtenK 3Fuͤßen78Fuͤßen auf Malakkaa)Noch Sonnerat denkt ihrer (Voyage aux Indes T. II. p. 103.) aber auch nur aus Sagen. Die Zwerge auf Madagaskar ſind nach Flacourt von Commerſon erneuert; von neuern Rei - ſenden aber verworfen worden. Ueber die Hermaphroditen in Florida ſ. Heyne kritiſche Abhandlung in den Comment. So - cietat. Reg. Goetting. per ann. 1778. p. 993. , die wahrſcheinlich rachitiſche Zwerg - nation auf Madagaskar, die weiblichgekleideten Maͤnner in Florida u. f. verdienen eine gleiche Berichtigung, wie ſolche bisher ſchon die Albino's, die Dondo's, die Patagonen, die Schuͤrzen der Hottentottinnenb)S. Sparrmanns Reiſen S. 177. erhalten haben. Maͤn - ner, denen es gelingt, Maͤngel aus der Schoͤpfung, Luͤgen aus unſerm Gedaͤchtniß und Entehrungen aus unſrer Na - tur zu vertreiben, ſind im Reich der Wahrheit das, was die Heroen der Fabel fuͤr die erſte Welt waren; ſie vermin - dern die Ungeheuer auf Erden.
Auch die Angrenzung der Menſchen an die Affen wuͤnſch - te ich nie ſo weit getrieben, daß indem man eine Leiter der Dinge ſucht, man die wirklichen Sproſſen und Zwiſchenraͤu - me verkenne, ohne die keine Leiter ſtatt findet. Was z. E. koͤnnte wohl der rachitiſche Satyr in der Geſtalt des Kamt - ſchadalen, der kleine Sylvan in der Groͤße des Groͤnlaͤnders oder der Pongo beim Patagonen erklaͤren? da alle dieſe Bil -dungen79dungen aus der Natur des Menſchen folgen, auch wenn kein Affe auf Erden waͤre. Und gienge man gar noch wei - ter, gewiſſe Unfoͤrmlichkeiten unſres Geſchlechts genetiſch von Affen herzuleiten: ſo duͤnkt mich, dieſe Vermuthung ſei eben ſo unwahrſcheinlich als entehrend. Die meiſten dieſer ſcheinbaren Affen-Aehnlichkeiten ſind in Laͤndern, in denen es nie Affen gegeben, wie der zuruͤckgehende Schaͤdel der Kalmucken und Mallikoleſen, die abſtehenden Ohren der Pevas und Amikuanes, die ſchmalen Haͤnde einiger Wilden in Carolina u. f. zeigen. Auch ſind dieſe Dinge, ſobald man uͤber den erſten ſpielenden Trug des Auges hinweg iſt, ſo wenig wirklich Affenartig, daß ja Kalmucke und Neger voͤllige Menſchen auch der Bildung des Haupts nach bleiben und der Mallikoleſe Faͤhigkeiten aͤußert, die manche andre Natio - nen nicht haben. Wahrlich Affe und Menſch ſind nie Ein 'und dieſelbe Gattung geweſen und ich wuͤnſchte jeden kleinen Reſt der Sage berichtigt, daß ſie irgendwo auf der Erde in gewoͤhnlicher fruchtbarer Gemeinſchaft leben. Jedem Ge - ſchlecht hat die Natur gnug gethan und ſein eignes Erbe ge - gebena)Jn den Auszuͤgen aus dem Tagebuch eines neuen Reiſenden nach Aſien (Leipz. 1784.) S. 256. wird dieſes noch behauptet; aber wiederum nur aus Sagen.. Den Affen hat ſie in ſoviel Gattungen und Spielarten vertheilt und dieſe ſo weit verbreitet, als ſie ſieverbrei -80verbreiten konnte; Du aber Menſch, ehre dich ſelbſt. We - der der Pongo, noch der Longimanus iſt dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Jhn alſo ſollt du nicht unterdruͤcken, nicht morden, nicht ſtehlen: denn er iſt ein Menſch, wie du biſt; mit dem Affen darfſt du keine Bruͤ - derſchaft eingehn.
Endlich wuͤnſchte ich auch die Unterſcheidungen, die man aus ruͤhmlichem Eifer fuͤr die uͤberſchauende Wiſſen - ſchaft, dem Menſchengeſchlecht zwiſchengeſchoben hat, nicht uͤber die Grenzen erweitert. So haben einige z. B. vier oder fuͤnf Abtheilungen deſſelben, die urſpruͤnglich nach Ge - genden oder gar nach Farben gemacht waren, Racen zu nennen gewaget; ich ſehe keine Urſache dieſer Benennung. Race leitet auf eine Verſchiedenheit der Abſtammung, die hier entweder gar nicht ſtatt findet, oder in jedem dieſer Weltſtriche unter jeder dieſer Farben die verſchiedenſten Ra - cen begreift. Denn jedes Volk iſt Volk: es hat ſeine Na - tional-Bildung, wie ſeine Sprache; zwar hat der Him - melsſtrich uͤber alle bald ein Gepraͤge, bald nur einen linden Schleier gebreitet, der aber das urſpruͤngliche Stammgebil - de der Nation nicht zerſtoͤret. Bis auf Familien ſogar ver - breitet ſich dieſes und ſeine Uebergaͤnge ſind ſo wandelbar als unmerklich. Kurz, weder vier oder fuͤnf Racen, nochaus -81ausſchließende Varietaͤten giebt es auf der Erde. Die Far - ben verlieren ſich in einander: die Bildungen dienen dem genetiſchen Charakter; und im Ganzen wird zuletzt alles nur Schattierung eines und deſſelben großen Gemaͤldes, das ſich durch alle Raͤume und Zeiten der Erde verbreitet. Es ge - hoͤret alſo auch nicht ſowohl in die ſyſtematiſche Naturge - ſchichte, als in die phyſiſch-geographiſche Geſchichte der Menſchheit.
Sehet jene Heuſchrecken der Erde, die Kalmucken und Mogolen; ſie gehoͤren in keinen andern Weltſtrich, als in ihre Steppen, auf ihre Bergea)Nach einzelnen Gegenden ſ. Pallas und andre obengenannte. Von der Lebensart einer Kalmucken-Horde am Jaik wuͤrde G. Opitzens Leben und Gefangenſchaft unter ihnen ein ſehr mah - leriſches Gemaͤlde ſeyn, wenn es nicht mit ſo vielen Anmerkungen des Herausgebers verziert und romantiſirt waͤre.. Auf ſeinem kleinen Pfer -deJdeen, II. Th. L82de durchfliegt der leichte Mann ungeheure Strecken und Wuͤ - ſten: er weiß dem Roß Kraͤfte zu geben, wenn es erliegt und wenn Er verſchmachtet, muß eine geoͤfnete Ader am Halſe des Pferdes ihm Kraͤfte geben. Kein Regen faͤllt auf man - che dieſer Gegenden, die nur der Thau erquickt und eine noch unerſchoͤpfte Fruchtbarkeit der Erde mit neuem Gruͤn beklei - det: manche weite Strecke kennt keinen Baum, keine ſuͤße Quelle. Da ziehn nun dieſe wilden und unter ſich ſelbſt die geordnetſten Staͤmme im hohen Graſe umher und weiden ihre Heerden: die Mitgenoſſen ihrer Lebensart, die Pferde, kennen ihre Stimme und leben wie ſie in Friede. Mit Ge - dankenloſer Gleichguͤltigkeit ſitzt der muͤßige Kalmucke da und uͤberblickt ſeinen ewigheitern Himmel und durchhorcht ſeine unabſehbare Einoͤde. Jn jedem andern Strich der Erde ſind die Mogolen verartet oder veredelt; in ihrem Lande ſind ſie, was ſie ſeit Jahrtauſenden waren und werden es bleiben, ſo - lange ſich ihr Erdſtrich nicht durch Natur oder durch Kunſt aͤndert.
Der Araber in der Wuͤſtea)Auſſer den aͤltern zahlreichen Reiſen nach Arabien ſ. Voyages de Pages T. II. p. 62 ‒ 87. ; er gehoͤrt in dieſelbe mit ſeinem edlen Roß, mit ſeinem geduldigen aushaltenden Ka -meel83meel. Wie der Mogole auf ſeiner Erdhoͤhe, in ſeiner Step - pe umherzog, ziehet der wohlgebildetere Beduin auf ſeiner weiten Aſiatiſch-Afrikaniſchen Wuͤſte umher, auch ein No - made, nur ſeiner Gegend. Mit ihr iſt ſeine einfache Klei - dung, ſeine Lebensweiſe, ſeine Sitte und Charakter harmo - niſch und nach Jahrtauſenden noch erhaͤlt ſein Gezelt die Weiſe der Vaͤter. Liebhaber der Freiheit, verachten ſie Reichthuͤmer und Wohlluͤſte, ſind leicht im Lauf, fertig auf ihren Roſſen, die ſie wie ihres Gleichen pflegen, und eben ſo fertig, zu ſchwingen die Lanze. Jhre Geſtalt iſt hager und nervicht, ihre Farbe braun, ihre Knochen ſtark: uner - muͤdlich, Beſchwerden zu ertragen, und durch die Wuͤſte zuſammengeknuͤpft, ſtehen ſie alle fuͤr Einen, kuͤhn und un - ternehmend, treu ihrem Wort, gaſtfreundlich und edel. Die Gefahrvolle Lebensart hat ſie zur Behutſamkeit und zum ſcheuen Argwohn, die einſame Wuͤſte zum Gefuͤhl der Rache, der Freundſchaft, des Enthuſiasmus und des Stol - zes gebildet. Wo ſich ein Araber zeige, am Euphrat oder am Nil, am Libanon oder am Senega, ſelbſt bis in Zanquebar und auf den Jndiſchen Meeren, zeiget er ſich, wenn nicht ein fremdes Klima ihn in Colonien langſam veraͤnderte, noch in ſeinem urſpruͤnglichen Arabiſchen Charakter.
L 2Der84Der Kalifornier am Rande der Welt, in ſeinem un - fruchtbaren Lande, bei ſeiner duͤrftigen Lebensart, bei ſeinem wechſelnden Klima; er klagt nie uͤber Hitze und Kaͤlte, er entgeht dem Hunger, wenn auch auf die ſchwerſte Weiſe, er lebt in ſeinem Lande gluͤcklich. „ Gott allein weiß, ſagt ein Miſſionara)Nachrichten von Californien Mannh. 1773 hin und wieder., wie viel tauſend Meilen ein Kalifornier, der achzig Jahr alt worden, in ſeinem Leben herumgeirret hat, bis er ſein Grab findet. Viele von ihnen aͤndern ihr Nacht - quartier vielleicht hundertmal in einem Jahre, daß ſie kaum dreimal nach einander auf dem naͤmlichen Platz und in der naͤmlichen Gegend ſchlafen. Sie werfen ſich nieder, wo ſie die Nacht uͤberfaͤllt, ohn alle Sorge wegen ſchaͤdlichen Un - geziefers oder Unſauberkeit des Erdbodens. Jhre ſchwarz - braune Haut iſt ihnen ſtatt des Rockes und Mantels. Jhre Hausgeraͤthe ſind Bogen und Pfeil, ein Stein ſtatt des Meſſers, ein Bein oder ſpitziges Holz, Wurzeln auszugra - ben, eine Schildkroͤtſchaale ſtatt der Kinderwiege, ein Darm oder eine Blaſe, Waſſer zu holen, und endlich, wenn das Gluͤck gut iſt, ein aus Aloe-Garn wie ein Fiſchernetz ge - ſtrickter Sack, ihren Proviant und ihre Lumpen umherzu - ſchleppen. Sie eſſen Wurzeln und allerlei kleine Samen ſo - gar von duͤrrem Heu, die ſie mit Muͤhe ſammlen und beiHun -85Hungersnoth ſelbſt ſogar wieder aus ihrem Koth aufleſen. Alles was Fleiſch iſt und nur Gleichheit mit demſelben hat bis auf Fledermaͤuſe, Raupen und Wuͤrme iſt ihre feſt - liche Speiſe und ſogar die Blaͤtter einiger Stauden, einiges junge Holz und Geſchoß, Leder, Riemen und weiche Beine ſind von ihren Lebensmitteln nicht ausgeſchloſſen, wenn ſie die Noth dazu treibet. Und dennoch ſind dieſe Armſe - ligen geſund: ſie werden alt und ſtark, ſo daß es ein Wun - der iſt, wenn Einer unter ihnen und dieſes gar ſpaͤt, grau wird. Sie ſind allezeit wohlgemuthet: ein ewiges Lachen und Scherzen regiert unter ihnen: wohlgeſtalt, flink und gelenkig: ſie koͤnnen mit den zwei vordern Zehen Steine und andre Dinge vom Boden aufheben, gehen bis ins hoͤchſte Alter kerzengerade: ihre Kinder ſtehen und gehen, ehe ſie ein Jahr alt ſind. Des Schwaͤtzens muͤde, legen ſie ſich nie - der und ſchlafen, bis ſie der Hunger oder die Luſt zum Eſſen aufweckt: ſobald ſie erwacht ſind, geht das Lachen, Schwaͤz - zen und Scherzen wiederum an; ſie ſetzen es fort auf ihren Wegen, bis endlich der abgelebte Kalifornier ſeinen Tod mit gleichguͤltiger Ruhe erwartet. Die in Europa wohnen, faͤhrt der erwaͤhnte Mißionar fort, koͤnnen zwar die Californier ihrer Gluͤckſeligkeit halber beneiden; aber keine ſolche in Cali - fornien genießen, als etwa durch eine vollkommene Gleichguͤl - tigkeit, viel oder wenig auf dieſer Welt zu beſitzen und ſich demL 3Wil -86Willen Gottes in allen Zufaͤllen des Lebens zu unter - werfen. “
So koͤnnte ich fortfahren und von mehrern Nationen der verſchiedenſten Erdſtriche, von den Kamtſchadalen bis zu den Feuerlaͤndern, klimatiſche Gemaͤhlde liefern; wozu aber dieſe abgekuͤrzten Verſuche, da bei allen Reiſenden, die treu ſahen oder menſchlich theilnahmen, jeder kleine Zug ihrer Beſchreibung klimatiſch mahlet. Jn Jndien, auf dieſem großen Marktplatz handelnder Voͤlker iſt der Araber und Si - neſe, der Tuͤrk und Perſer, der Chriſt und Jude, der Ma - laye und Neger, der Japaner und Gentu kennbara)S. Makingtoſh travels T. II. p. 27. ; auch auf der fernſten Kuͤſte traͤgt jeder den Charakter ſeines Erd - ſtrichs und ſeiner Lebensweiſe mit ſich. Aus dem Staube aller vier Welttheile, ſagt die alte bildliche Tradition, ward Adam gebildet und es durchhauchten ihn Kraͤfte und Geiſter der weiten Erde. Wohin ſeit Jahrtauſenden ſeine Soͤhne zogen und ſich einwohnten: da wurzelten ſie als Baͤume und gaben dem Klima gemaͤß Blaͤtter und Fruͤchte. — Laſſet uns einige Folgen hieraus ziehen, die manche ſonſt auffallen - de Sonderbarkeit der Menſchengeſchichte zu erklaͤren ſcheinen.
Zuerſt87Zuerſt erhellet, warum alle ihrem Lande zugebildete ſinnliche Voͤlker dem Boden deſſelben ſo treu ſind und ſich von ihm unabtrennlich fuͤhlen. Die Beſchaffenheit ihres Koͤrpers und ihrer Lebensweiſe, alle Freuden und Geſchaͤfte, an die ſie von Kindheit auf gewoͤhnt wurden, der ganze Ge - ſichtskreis ihrer Seele iſt klimatiſch. Raubet man ihnen ihr Land: ſo hat man ihnen alles geraubet.
„ Von dem betruͤbten Schickſal der ſechs Groͤnlaͤnder erzaͤhlet Cranza)Geſch. von Groͤnland S. 355., die man auf der erſten Reiſe nach Daͤn - nemark brachte, hat man angemerkt, daß ſie, ohnerachtet aller freundlichen Behandlung und guten Verſorgung mit Stockfiſch und Thran, dennoch oft mit betruͤbten Blicken und unter jaͤmmerlichem Seufzen gen Norden nach ihrem Vaterlande geſehen und endlich in ihren Kajaken die Flucht ergriffen haben. Durch einen ſtarken Wind wurden ſie an das Ufer von Schonen geworfen und nach Koppenhagen zu - ruͤckgebracht, worauf zween von ihnen vor Betruͤbniß ſtar - ben. Von den uͤbrigen ſind ihrer zween nochmals entflohen und iſt nur der Eine wieder eingehohlt worden, welcher, ſo oft er ein kleines Kind an der Mutter Halſe geſehen, bitter -lich88lich geweinet: (woraus man geſchloſſen, daß er Frau und Kinder haben muͤſſe, denn man konnte nicht mit ihnen ſpre - chen, noch ſie zur Taufe praͤpariren). Die zween letzten haben zehn bis zwoͤlf Jahr in Daͤnnemark gelebt und ſind bei Coldingen zum Perlenfiſchen gebraucht, aber im Winter ſo ſtark angeſtrengt worden, daß der Eine daruͤber geſtorben, der letzte nochmals entflohen und erſt dreißig bis vierzig Mei - len weit vom Lande eingehohlt worden, worauf er ebenfalls aus Betruͤbniß ſein Leben geendet. “
Alle Zeugen von menſchlicher Empfindung koͤnnen die verzweifelnde Wehmuth nicht ausdruͤcken, mit welcher ein erkaufter oder erſtohlner Negerſklave die Kuͤſte ſeines Vater - landes verlaͤßt, um ſie nie wieder zu erblicken in ſeinem Le - ben. „ Man muß genaue Aufſicht haben, ſagt Roͤmera)Roͤmers Nachrichten von der Kuͤſte Guinea, S. 279., daß die Sklaven weder im Fort noch auf dem Schiff Meſſer in die Haͤnde bekommen; bei der Ueberfahrt nach Weſtindien hat man gnug zu thun, ſie bei guter Laune zu erhalten. Deßhalb iſt man mit Europaͤiſchen Leiern verſehen: man nimmt auch Trummeln und Pfeifen mit und laͤßt ſie tanzen, verſichert ſie, daß ſie nach einem ſchoͤnen Lande gefuͤhrt wer - den, wo ſie viel Frauen, gute Speiſen erhalten ſollen undder -89dergleichen. Und dennoch hat man betruͤbte Beiſpiele er - lebt, daß die Schifleute von ihnen uͤberfallen und ermordet worden, da ſie denn nachher das Schiff ans Land treiben laſſen. “— Und wie viel traurigere Beiſpiele hat man er - lebt vom verzweifelnden Selbſtmorde dieſer ungluͤcklichen Ge - raubten! Sparrmann erzaͤhltb)Sparmanns Reiſen S. 73. Der Menſchenfreundliche Rei - ſende hat viele traurige Nachrichten von der Behandlung und dem Fange der Sklaven eingeſtreuet S. S. 195. 612. u. f. aus dem Munde eines Beſitzers ſolcher Sklaven, daß ſie des Nachts in eine Art von Raſerei verfallen, die ſie antreibt, an irgend jemand oder gar an ſich ſelbſt einen Mord zu begehen: „ denn das ſchwermuͤthige Andenken an den ſchmerzhaften Verluſt ihres Vaterlandes und ihrer Freiheit erwacht am meiſten des Nachts, wenn das Geraͤuſch des Tages es nicht zu zerſtreu - en vermag. “— Und was fuͤr Recht hattet ihr Unmenſchen, euch dem Lande dieſer Ungluͤcklichen nur zu nahen, geſchwei - ge es ihnen und ſie dem Lande durch Diebſtal, Liſt und Grauſamkeit zu entreißen? Seit Jahrtauſenden iſt dieſer Welttheil der ihre, ſo wie ſie ihm zugehoͤren: ihre Vaͤter hatten ihn um den hoͤchſten und ſchwerſten Preis erkauft, um ihre Negergeſtalt und Negerfarbe. Bildend hatte dieAfri -Jdeen, II. Th. M90Afrikaniſche Sonne ſie zu Kindern angenommen und ihr Sie - gel auf ſie gepraͤget; wohin ihr ſie fuͤhrt, zeihet euch dieſes als Menſchendiebe, als Raͤuber.
Zweitens. Grauſam alſo ſind die Kriege der Wilden um ihr Land und um die ihnen entriſſenen oder beſchimpften und gequaͤlten Soͤhne deſſelben, ihre Mitbruͤder. Daher z. B. der verhaltne Haß der Amerikaner gegen die Europaͤer, auch wenn dieſe leidlich mit ihnen umgehn: ſie fuͤhlens un - vertilgbar: „ ihr gehoͤret nicht hieher! das Land iſt unſer. “ Daher die Verraͤthereien aller ſogenannten Wilden, auch wenn ſie von der Hoͤflichkeit der Europaͤer ganz beſaͤnftigt ſchienen. Jm erſten Augenblick, da ſie zu ihrem angeerb - ten Nationalgefuͤhl erwachten, brach die Flamme aus, die ſich mit Muͤhe ſo lang unter der Aſche gehalten hatte; grau - ſam wuͤtete ſie umher und ruhte oft nicht eher, bis die Zaͤh - ne der Eingebohrnen der Auslaͤnder Fleiſch fraßen. Uns ſcheint dieſes abſcheulich, woruͤber auch wohl kein Zweifel bleibt; indeſſen waren die Europaͤer die erſten, die ſie zu dieſer Unthat zwangen: denn warum kamen ſie zu ihrem Lan - de? warum fuͤhrten ſie ſich in demſelben als fodernde, ge - waltthaͤtige, uͤbermaͤchtige Deſpoten aufa)S. des ungluͤcklichen Marions Voyage à la mer du Sud, An -merk.. Jahrtauſendewaren91waren ſich die Einwohner deſſelben das Univerſum: von ih - ren Vaͤtern hatten ſie es geerbt und von ihnen zugleich die grauſame Sitte geerbt, was ihnen ihr Land, was ſie dem Lande entreißen oder darin beeintraͤchtigen will, auf die grau - ſamſte Weiſe zu vernichten. Feind und Fremder iſt ihnen alſo Eins: ſie ſind wie die Muſcipula, die in ihren Boden gewurzelt, jedes Jnſekt ergreift, das ſich ihr nahet: das Recht, ungebetne oder beleidigende Gaͤſte zu verzehren iſt die Acciſe ihres Landes, ein ſo cyklopiſches Regal als irgend ei - nes in Europa.
Endlich erinnere ich noch an jene freudigen Scenen, wenn ein alſo entfremdeter Sohn der Natur etwa wieder die Kuͤſte ſeines Vaterlandes erblickte und dem Schoos ſeiner Mutter-Erde wieder geſchenkt ward. Als der Foleiiſche edle Prieſter Job-Ben-Salomona)Allgemeine Reiſen Th. 3. S. 127. u. f. wieder nach Afrika kam, em - pfieng ihn jeder Fuli mit bruͤderlicher Jnbrunſt “ihn, den zweiten Menſchen ihres Landes, der je aus der Sklaverei zu -M 2ruͤck -a)merk. des Herausgebers. Reinhold Forſters Vorrede zum Tagebuch der letzten Cookſchen Reiſe, Berlin 1781. und die Nachrichten vom Betragen der Europaͤer ſelbſt.92ruͤckgekehrt waͤre. “ Und wie ſehnte ſich dieſer dahin! wie wenig fuͤlleten alle Freundſchaften und Ehrenbezeugungen Englands, die er als ein aufgeklaͤrter, wohldenkender Mann, dankbar erkannte, ſein Herz aus! Er war nicht eher ruhig, als bis er des Schiffes gewiß war, das ihn zuruͤckfuͤhren ſollte. Und dieſe Sehnſucht haͤngt nicht am Stande, noch an den Bequemlichkeiten des Geburts-Landes. Der Hot - tentotte Koree legte ſeinen metallnen Harniſch und alle ſeine Europaͤiſche Vorzuͤge ab, zuruͤckkehrend zur harten Lebensart der Seinena)Allgem. Reiſen Th. 5. S. 145. Andre Beyſpiele f. bei Rouſ - ſeau in den Anm. zum Diſcours ſur l'inegalité parmi les hommes. . Faſt aus jedem Erdſtrich ſind Proben der Art vorhanden und die unfreundlichſten Laͤnder ziehen ihre Eingebohrnen mit den ſtaͤrkſten Banden. Eben die uͤber - wundnen Beſchwerlichkeiten, zu denen Koͤrper und Seele von Jugend auf gebildet worden, ſinds, die den Eingebohrnen die klimatiſche Vaterlandsliebe einfloͤſſen, von welcher der Bewohner einer Voͤlkerbedraͤngten fruchtbaren Ebene ſchon weniger und der Einwohner einer Europaͤiſchen Hauptſtadt beinahe nichts mehr empfindet. — Doch es iſt Zeit, das Wort Klima naͤher zu unterſuchen und da einige in der Phi - loſophie der Menſchengeſchichte ſo viel darauf gebauet; an - dre hingegen ſeinen Einfluß beinah ganz beſtritten haben: ſo wollen auch wir nur Probleme geben.
Die beiden veſteſten Punkte unſrer Kugel ſind die Pole; ohne ſie war kein Umſchwung, ja wahrſcheinlich keine Kugel ſelbſt moͤglich. Wuͤßten wir nun die Geneſis der Pole und kennten die Geſetze und Wirkungen des Magnetismus unſrer Erde auf ihre verſchiedne Koͤrper; ſollten wir damit nicht den Grundfaden gefunden haben, den die Natur in Bildung der Weſen nachher mit anderen hoͤheren Kraͤften mannichfaltig durchwebte? Da uns aber, ohngeachtet ſo zahlreicher und ſchoͤner Verſuche, hievon im groſſen Ganzen noch wenig be - kannt iſta)S. Brugmann uͤber den Magnetismus: Satz 24 ‒ 31.: ſo ſind wir auch in Betracht der Baſis aller Klimate nach der Weltgegend des Pols hin, noch im Dun - keln. Vielleicht, daß einſt der Magnet im Reich der phyſi - ſchen Kraͤfte wird, was er uns eben ſo unerwartet auf Meer und Erde ſchon ward — —
Der Umſchwung unſrer Kugel um ſich und um die Sonne bietet uns eine naͤhere Bezeichnung der Klimate dar;M 3aber94aber auch hier iſt die Anwendung ſelbſt allgemein-anerkannter Geſetze ſchwer und truͤglich. Die Zonen der Alten haben ſich durch die neuere Kenntniß fremder Welttheile nicht beſtaͤtigt, wie ſie denn auch, phyſiſch betrachtet, auf Unkunde derſelben gebauet waren. Ein Gleiches iſts mit der Hitze und Kaͤlte nach der Menge der Sonnenſtralen und dem Winkel ihres Auffalls berechnet. Als mathematiſche Aufgabe iſt ihre Wirkung mit genauem Fleiß beſtimmt worden; der Mathe - matiker ſelbſt aber wuͤrde es fuͤr einen Misbrauch ſeiner Re - gel anſehen, wenn der philoſophiſche Geſchichtſchreiber des Klima darauf Schluͤſſe ohne Ausnahmen bautea)S. Kaͤſtners Erlaͤuterung der Halleyiſchen Methode, die Waͤr - me zu berechnen, hamb. Magaz. S. 429. u. f.. Hier giebt die Naͤhe des Meers, dort ein Wind, hier die Hoͤhe oder Tiefe des Landes, an einem vierten Ort nachbarliche Berge, am fuͤnften Regen und Duͤnſte dem allgemeinen Ge - ſetz eine ſo neue Local-Beſtimmung, daß oft die nachbarlich - ſten Orte das gegenſeitigſte Klima empfinden. Ueberdem iſt aus neueren Erfahrungen klar, daß jedes lebendige Weſen eine eigne Art hat, Waͤrme zu empfangen und von ſich zu treiben, ja daß je organiſcher der Bau eines Geſchoͤpfs wird und je mehr es eigne thaͤtige Lebenskraft aͤuſſert, um ſo mehr auch ein Vermoͤgen aͤuſſert, relative Waͤrme und Kaͤlte zuerzeu -95erzeugena)S. Crells Verſuche uͤber das Vermoͤgen der Pflanzen und Thie - re, Waͤrme zu erzeugen und zu vernichten Helmſt. 1778. Craw - ford's Verſuche uͤber das Vermoͤgen der Thiere, Kaͤlte hervor - zubringen Philoſ. transact. Vol. 71. P. 2. XXXI. . Die alten Saͤtze, daß der Menſch nur in einem Klima leben koͤnne, das die Hitze des Bluts nicht uͤberſteiget, ſind durch Erfahrungen widerlegt; die neuern Syſteme hin - gegen vom Urſprung und der Wirkung animaliſcher Waͤrme ſind lange noch nicht zu der Vollkommenheit gediehen, daß man auf irgend eine Weiſe an eine Klimatologie nur des menſchlichen Baues, geſchweige aller menſchlichen Seelen - vermoͤgen und ihres ſo willkuͤhrlichen Gebrauchs denken koͤn - te. Freilich weiß jedermann, daß Waͤrme die Fibern aus - dehne und erſchlaffe, daß ſie die Saͤfte verduͤnne und die Aus - duͤnſtung foͤrdere, daß ſie alſo auch die feſten Theile mit der Zeit ſchwammig und locker zu machen vermoͤge u. f.; das Geſetz im Ganzen bleibt ſicherb)S. Gaubius Pathologie, Cap. V. X. etc. eine Logik aller Pathologieen., auch hat man aus ihm und ſeinem Gegenſatz, der Kaͤlte, mancherlei phyſiologiſche Phaͤnomene ſchoͤn erklaͤrtc)S. Montesquieu, Caſtillon, Falconer; eine Menge ſchlechterer Schriften, Eſprit des nations, Phyſique de l'hiſtoi - re etc. zu geſchweigen.; allgemeine Folgerungen aber,die96die man aus Einem ſolchen Principium oder gar nur aus ei - nem Theil deſſelben, der Erſchlaffung, der Ausduͤnſtung z. E. auf ganze Voͤlker und Weltgegenden, ja auf die feinſten Verrichtungen des menſchlichen Geiſtes und die zufaͤlligſten Einrichtungen der Geſellſchaft machen wollte; je ſcharfſinni - ger und ſyſtematiſcher der Kopf iſt, der dieſe Folgerungen durchdenkt und reihet, deſto gewagter ſind ſie. Sie werden beinah Schritt vor Schritt durch Beyſpiele aus der Geſchich - te oder ſelbſt durch phyſiologiſche Gruͤnde widerlegt; weil immer zuviel und zum Theil gegenſeitige Kraͤfte neben einan - der wirken. Selbſt dem großen Montesquieu hat man den Vorwurf gemacht, daß er ſeinen klimatiſchen Geiſt der Ge - ſetze auf das truͤgliche Experiment einer Schoͤps-Zunge ge - bauet habe. — Freilich ſind wir ein bildſamer Thon in der Hand des Klima; aber die Finger deſſelben bilden ſo man - nichfalt, auch ſind die Geſetze, die ihm entgegen wirken ſo vielfach, daß vielleicht nur der Genius des Menſchenge - ſchlechts das Verhaͤltniß aller dieſer Kraͤfte in eine Gleichung zu bringen vermoͤchte.
Nicht Hitze und Kaͤlte iſts allein, was aus der Luft auf uns wirket; vielmehr iſt ſie nach den neuern Bemerkungen ein großes Vorrathshaus andrer Kraͤfte, die ſchaͤdlich undguͤnſtig97guͤnſtig ſich mit uns verbinden. Jn ihr wirkt der elektriſche Feuerſtrom, dies maͤchtige und in ſeinen animaliſchen Einfluͤſ - ſen uns noch faſt unbekannte Weſen: denn ſo wenig wir die innern Geſetze ſeiner Natur kennen: ſo wenig wiſſen wir, wie der menſchliche Koͤrper es aufnimmt und verarbeitet. Wir leben vom Hauch der Luft; allein der Balſam in ihr, unſre Lebensſpeiſe, iſt uns ein Geheimniß. Fuͤgen wir nun die mancherlei, beinah unnennbaren Localbeſchaffenheiten ihrer Beſtandtheile nach den Ausduͤnſtungen aller Koͤrper ihres Gebietes hinzu; erinnern wir uns der Beiſpiele, wie oft durch einen unſichtbaren, boͤſen Samen, dem der Arzt nur den Namen eines Miasma zu geben wußte, die ſonderbarſten, oft fuͤrchterliche und in Jahrtauſenden unaustilgbare Dinge entſtanden ſind: denken wir an das geheime Gift, das uns die Blattern, die Peſt, die Luſtſeuche, die mit manchem Zeit - alter verſchwindenden Krankheiten gebracht hat und erinnern uns, wie wenig wir, nicht etwa den Hermattan und Sam - miel, den Sirocco und den Nordoſtwind der Tatarei, ſon - dern nur die Beſchaffenheit und Wirkung unſrer Winde ken - nen; wie viel mangelnde Vorarbeiten werden wir inne, ehe wir an eine phyſiologiſch-pathologiſche, geſchweige an eine Klimatologie aller menſchlichen Denk - und Empfindungs - kraͤfte kommen koͤnnen. Auch hier indeſſen bleibt jedemJdeen, II. Th. Nſcharf -98ſcharfſinnigen Verſuche ſein Kranz und die Nachwelt wird unſrer Zeit edle Kraͤnze zu reichen habena)S. Gmelin uͤber die neuern Entdeckungen in der Lehre von der Luft, Berl. 1784..
Endlich die Hoͤhe oder Tiefe eines Erdſtrichs, die Be - ſchaffenheit deſſelben und ſeiner Produkte, die Speiſen und Getraͤnke, die der Menſch genießt, die Lebensweiſe, der er folgt, die Arbeit, die er verrichtet, Kleidung, gewohnte Stel - lungen ſogar, Vergnuͤgen und Kuͤnſte, nebſt einem Heer and - rer Umſtaͤnde, die in ihrer lebendigen Verbindung viel wir - ken; alle ſie gehoͤren zum Gemaͤhlde des vielveraͤndernden Klima. Welche Menſchenhand vermag nun dieſes Chaos von Urſachen und Folgen zu einer Welt zu ordnen, in der je - dem einzelnen Dinge jeder einzelnen Gegend ſein Recht geſche - he und keins zu viel oder zu wenig erhalte? Das Einzige und Beſte iſt, daß man nach Hippokrates Weiſeb)S. Hippocrat. de aëre, locis et aquis, vorzuͤglich den zweyten Theil der Abhandlung. Fuͤr mich der Hauptſchriftſteller uͤber das Klima. mit ſeiner ſcharfſehenden Einfalt einzelne Gegenden klimatiſch bemerke und ſodann langſam, langſam allgemeine Schluͤſſe folgere. Natur -99Naturbeſchreiber und Aerzte ſind hier phyſicians, Schuͤler der Natur und des Philoſophen Lehrer; denen wir ſchon man - chen Beytrag einzelner Gegenden zur allgemeinen Lehre der Klimate und ihrer Einwirkung auf den Menſchen auch fuͤr die Nachwelt zu danken haben. — Da hier aber von keinen ſpeciellen Bemerkungen die Rede ſeyn kann: ſo wollen wir nur in einigen allgemeinen Anmerkungen unſern Gang ver - folgen.
1. Da unſre Erde eine Kugel und das veſte Land ein Gebuͤrge uͤber dem Meer iſt: ſo wird durch vieler - lei Urſachen auf ihr eine klimatiſche Gemeinſchaft be - foͤrdert, die zum Leben der Lebendigen gehoͤret. Nicht nur Tag und Nacht und der Reihentanz abwechſelnder Jahrs - zeiten veraͤndern das Klima eines jeden Erdſtrichs periodiſch: ſondern der Streit der Elemente, die Gegenwirkung der Erde und des Meers, die Lage der Berge und Ebnen, die periodi - ſchen Winde, die aus der Bewegung der Kugel, aus der Ver - aͤnderung der Jahres - und Tageszeiten und aus ſo viel klei - nern Urſachen entſpringen, unterhalten dieſe Geſundheitbrin - gende Vermaͤhlung der Elemente, ohne welche alles in Schlummer und Verweſung ſaͤnke. Es iſt Eine Atmoſphaͤre, die uns umgiebt, Ein Elektriſches Meer, in dem wir leben; beide aber (und wahrſcheinlich der magnetiſche Strom mitN 2ihnen)100ihnen) ſind in einer ewigen Bewegung. Das Meer dunſtet aus; die Berge ziehen an und gießen Regen und Stroͤme zu beiden Seiten hinunter. So loͤſen die Winde einander ab: ſo erfuͤllen Jahre oder Jahrreihen die Summe ihrer klimati - ſchen Tage. So heben und tragen einander die verſchiednen Gegenden und Zeiten; alles auf unſrer Kugel ſteht in ge - meinſamer Verbindung. Waͤre die Erde platt oder haͤtte ſie die Winkelgeſtalt, von der die Sineſen traͤumten; freilich ſo koͤnnte ſie in ihren Ecken die klimatiſchen Ungeſtalten naͤhren, von denen jetzt ihr regelmaͤßiger Bau und ſeine mittheilende Bewegung nichts weiß. Um den Thron Jupiters tanzen ih - re Horen im Reihentanz und was ſich unter ihren Fuͤßen bil - det, iſt zwar nur eine unvollkommene Vollkommenheit, weil Alles auf die Vereinigung verſchiedenartiger Dinge gebauet iſt; aber durch eine innre Liebe und Vermaͤhlung mit einander wird allenthalben das Kind der Natur gebohren, ſinnliche Regel - maͤßigkeit und Schoͤnheit.
2. Das bewohnbare Land unſrer Erde iſt in Ge - genden zuſammengedraͤngt, wo die meiſten lebendigen Weſen in der ihnen gnuͤgſamſten Form wirken; dieſe Lage der Welttheile hat Einfluß auf ihrer aller Klima. Warum faͤngt im ſuͤdlichen Hemiſphaͤr die Kaͤlte ſchon ſo nahe der Linie an? der Naturphiloſoph antwortet: “weil daſelbſtſo101ſo wenig Land iſt; daher die kalten Winde und Eisſchollen des Suͤdpols weit hinauf ſtroͤmen; “wir ſehen alſo unſer Schick - ſal, wenn das ganze veſte Land der Erde in Jnſeln umherge - worfen waͤre. Jetzt waͤrmen ſich drei zuſammenhangende Welttheile an einander; das vierte, das ihnen entfernt liegt, iſt auch aus dieſer Urſache kaͤlter und im Suͤdmeer faͤngt, bald jenſeit der Linie, mit dem Mangel des Landes auch Mis - geſtalt und Verartung an. Wenigere Geſchlechter vollkom - menerer Landthiere ſollten alſo daſelbſt leben; das Suͤdhemi - ſphaͤr war zum großen Waſſerbehaͤltniß unſrer Kugel beſtimmt, damit das Nordhemiſphaͤr ein beſſeres Klima genoͤſſe. Auch geographiſch und klimatiſch ſollte das Menſchengeſchlecht ein zuſammenwohnendes, nachbarliches Volk ſeyn, das ſo wie Peſt, Krankheiten und klimatiſche Laſter auch klimatiſche Waͤr - me und andre Wohlthaten einander ſchenkte.
3. Durch den Bau der Erde an die Gebuͤrge ward nicht nur fuͤr das große Mancherlei der Leben - digen das Klima derſelben zahllos veraͤndert: ſondern auch die Ausartung des Menſchengeſchlechts verhuͤtet, wie ſie verhuͤtet werden konnte. Berge waren der Erde noͤthig; aber nur Einen Bergruͤcken der Mogolen und Tibe - taner giebts auf derſelben; die hohen Cordilleras und ſo viel andre ihrer Bruͤder ſind unbewohnbar. Auch oͤde WuͤſtenN 3wurden102wurden durch den Bau der Erde an die Gebuͤrge ſelten: denn die Berge ſtehn wie Ableiter des Himmels da und gießen ihr Fuͤllhorn aus in befruchtenden Stroͤmen. Die oͤden Ufer endlich, der kalte oder feuchte Meeresabhang iſt allenthalben nur ſpaͤter entſtandenes Land, welches alſo auch die Menſch - heit erſt ſpaͤter und ſchon wohlgenaͤhrt an Kraͤften beziehen dorfte. Das Thal Quito war gewiß eher bewohnt als das Feuerland; Kaſchmire eher als Neuholland oder Nova-Zem - bla. Die mittlere groͤßeſte Breite der Erde, das Land der ſchoͤnſten Klimate zwiſchen Meer und Gebuͤrgen war das Er - ziehungshaus unſres Geſchlechts und iſt noch jetzt der bewohn - teſte Theil der Erde —
Nun iſt keine Frage, daß wie das Klima ein Jnbegrif von Kraͤften und Einfluͤſſen iſt, zu dem die Pflanze wie das Thier beytraͤgt und der allen Lebendigen in einem wechſelſeiti - gen Zuſammenhange dienet, der Menſch auch darinn zum Herrn der Erde geſetzt ſei, daß er es durch Kunſt aͤndre. Seitdem er das Feuer vom Himmel ſtal und ſeine Fauſt das Eiſen lenkte, ſeitdem er Thiere und ſeine Mitbruͤder ſelbſt zu - ſammenzwang und ſie ſowohl als die Pflanze zu ſeinem Dienſt erzog: hat er auf mancherlei Weiſe zur Veraͤnderung deſſel - ben mitgewirket. Europa war vormals ein feuchter Wald und andre jetzt cultivirte Gegenden warens nicht minder: esiſt103iſt gelichtet und mit dem Klima haben ſich die Einwohner ſelbſt geaͤndert. Ohne Policei und Kunſt waͤre Aegypten ein Schlamm des Nils worden; es iſt ihm abgewonnen und ſo - wohl hier als im weitern Aſien hinauf hat die lebendige Schoͤ - pfung ſich dem kuͤnſtlichen Klima bequemet. Wir koͤnnen alſo das Menſchengeſchlecht als eine Schaar kuͤhner, obwohl kleiner Rieſen betrachten, die allmaͤlich von den Bergen her - abſtiegen, die Erde zu unterjochen und das Klima mit ihrer ſchwachen Fauſt zu veraͤndern. Wie weit ſie es darinn ge - bracht haben moͤgen, wird uns die Zukunft lehren.
4. Jſts endlich erlaubt, uͤber eine Sache, die ſo ganz auf einzelnen Faͤllen des Orts und der Geſchichte ruhet, etwas allgemeines zu ſagen: ſo ſetze ich veraͤndert einige Cautelen her, die Baco zu ſeiner Geſchichte der Revolutionen giebeta)Baco de augm. ſcient. I. 3.. Die Wirkung des Klima erſtreckt ſich zwar auf Koͤrper aller - lei Art, vorzuͤglich aber auf die zaͤrtern, die Feuchtigkeiten, die Luft und den Aether. Sie verbreitet ſich vielmehr auf die Maſſen der Dinge, als auf die Jndividuen; doch auch auf dieſe durch jene. Sie geht nicht auf Zeitpunkte ſondern herrſcht in Zeitraͤumen, wo ſie oft ſpaͤt und ſodann vielleicht durch geringe Umſtaͤnde offenbar wird. Endlich: das Klimazwin -104zwinget nicht, ſondern es neiget: es giebt die unmerkliche Diſpoſition, die man bei eingewurzelten Voͤlkern im ganzen Gemaͤlde der Sitten und Lebensweiſe zwar bemerken, aber ſehr ſchwer, inſonderheit abgetrennt, zeichnen kann. Viel - leicht findet ſich einmal ein eigner Reiſender, der ohne Vor - urtheile und Uebertreibungen fuͤr den Geiſt des Klima reiſet. Unſre Pflicht iſt jetzt, vielmehr die lebendigen Kraͤfte zu be - merken, fuͤr die jedes Klima geſchaffen iſt und die ſchon durch ihr Daſeyn es mannichfalt modificiren und aͤndern.
Wer zum erſtenmal das Wunder der Schoͤpfung eines lebendigen Weſens ſaͤhe: wie wuͤrde er ſtaunena)S. Harvei de generat. animal. c. f. Wolfs theor. generat. u. f.! Aus Kuͤ - gelchen, zwiſchen welchen Saͤfte ſchießen, wird ein lebender Punkt und aus dem Punkt erzeugt ſich ein Geſchoͤpf der Er - de. Bald wird das Herz ſichtbar und faͤngt an, ſo ſchwach und unvollkommen es ſei, zu ſchlagen; das Blut, das vor dem Herzen da war, faͤngt an ſich zu roͤthen: bald erſcheinet das Haupt: bald zeigen ſich Augen, Mund, Sinne und Glie - der. Noch iſt keine Bruſt da und ſchon iſt Bewegung in ih -ren105ren innern Theilen: noch ſind die Eingeweide nicht gebildet und das Thier oͤfnet den Schnabel. Das kleine Gehirn iſt außerhalb dem Kopf, das Herz noch außer der Bruſt, wie ein Spinnengewebe ſind Ribben und Beine; bald zeigen ſich Fluͤ - gel, Fuͤße, Zehen, Huͤften und nun wird das Lebendige weiter genaͤhret. Was blos war, bedecket ſich: die Bruſt, das Hirn ſchließen ſich zu; Magen und Eingeweide hangen noch hinun - ter. Auch dieſe bilden ſich endlich, je mehr die Materie verzehrt wird: die Haͤute ziehn ſich zuſammen und hinauf: der Un - terleib ſchließt ſich: das Thier iſt bereitet. Es ſchwimmt jetzt nicht mehr, ſondern es liegt: bald wachet, bald ſchlaͤft es: es regt ſich, es ſchlaͤft, es ruft, es ſuchet Ausgang und kommt, in allen Theilen ganz und voͤllig, ans Licht der Welt. Wie wuͤr - de der, der dies Wunder zum erſtenmal ſaͤhe, es nennen? Da iſt, wuͤrde er ſagen, eine lebendige, organiſche Kraft; ich weiß nicht, woher ſie gekommen? noch was ſie in ihrem Jn - nern ſei? aber daß ſie da ſei, daß ſie lebe, daß ſie organiſche Theile ſich aus dem Chaos einer homogenen Materie zueigne, das ſehe ich, das iſt unlaͤugbar.
Bemerkte er ferner und ſaͤhe, daß jeder dieſer organiſchen Theile gleichſam actu, in eigner Wirkung gebildet werde: das Herz erzeuge ſich nicht anders, als durch eine Zuſammenſtroͤ - mung der Kanaͤle, die ſchon vor ihm waren: ſobald der Ma -Jdeen, II. Th. Ogen106gen ſichtbar werde, habe er Materie der Verdauung in ſich. So alle Adern, alle Gefaͤße: das Enthaltne war vor dem Enthaltenden, das Fluͤßige vor dem Veſten, der Geiſt vor dem Koͤrper da, in welchen jener ſich nur kleidet. Bemerkte er diesa)Wolfs theor. generat. S. 169. b. 180 ‒ 216.; was wuͤrde er ſagen, als, daß die unſichtbare Kraft nicht willkuͤhrlich bilde, ſondern daß ſie ſich ihrer innern Natur nach gleichſam nur offenbare. Sie wird in einer ihr zuge - hoͤrigen Maſſe ſichtbar und muß, wie und woher es auch ſei, den Typus ihrer Erſcheinung in ihr ſelbſt haben. Das neue Geſchoͤpf iſt nichts als eine wirklich gewordene Jdee der ſchaffenden Natur, die immer nur thaͤtig denket.
Fuͤhre er fort und bemerkte, daß was dieſe Schoͤpfung befoͤrdert, muͤtterliche oder Sonnenwaͤrme ſei, daß das Ei der Mutter aber, aller vorhandenen Materie und Waͤrme unge - achtet ohne Belebung des Vaters keine lebendige Frucht gebe; was wuͤrde er muthmaaſſen, als: das Principium der Waͤrme koͤnne mit dem Principium des Lebens, das es befoͤrdert, zwar verwandt ſeyn, eigentlich aber muͤſſe in der Vereinigung zweier lebendigen Weſen die Urſache liegen, die dieſe organiſche Kraft in Wirkſamkeit ſetzt, dem todten Chaos der Materie lebendige Form zu geben. So ſind wir, ſo ſind alle lebende Weſen ge - bildet: jedes nach der Art ſeiner Organiſation; alle aber nachdem107dem unverkennbaren Geſetz Einer Analogie, die durch alles Lebendige unſrer Erde herrſchet.
Endlich, wenn er erfuͤhre, daß dieſe lebendige Kraft das ausgebildete Geſchoͤpf nicht verlaſſe ſondern ſich in ihm thaͤtig zu offenbaren fortfahre; zwar nicht mehr ſchaffend, denn es iſt erſchaffen, aber erhaltend, belebend, naͤhrend. Sobald es auf die Welt tritt, verrichtet es alle Lebensverrichtungen, zu welchen, ja zum Theil in welchen es gebildet ward: der Mund oͤfnet ſich, wie Oefnung ſeine erſte Gebehrde war, und die Lunge ſchoͤpft Athem: die Stimme ruft, der Magen verdauet, die Lippen ſaugen: es waͤchſt, es lebt, alle innern und aͤußern Theile kommen einan - der zu Huͤlfe: in einer gemeinſchaftlichen Thaͤtigkeit und Mit - leidenheit ziehen ſie an, werfen aus, verwandeln in ſich, hel - fen einander in Schmerzen und Krankheit auf tauſendfaͤltig - wunderbare, unerforſchte Weiſe. Was wuͤrde, was koͤnnte jeder, der dies zuerſt bemerkte, ſagen, als: die eingebohrne, genetiſche Lebenskraft iſt in dem Geſchoͤpf, das durch ſie ge - bildet worden, in allen Theilen und in jedem derſelben nach ſeiner Weiſe, d. i. organiſch noch einwohnend. Allenthal - ben iſt ſie ihm aufs vielartigſte gegenwaͤrtig; da es nur durch ſie ein lebendiges Ganze iſt, was ſich erhaͤlt, waͤchſt und wirket.
Und dieſe Lebenskraft haben wir alle in uns: in Geſund - heit und Krankheit ſtehet ſie uns bei, aßimilirt gleichartigeO 2Theile,108Theile, ſondert die Fremden ab, ſtoͤßt die feindlichen weg, ſie ermattet endlich im Alter und lebt in einigen Theilen noch nach dem Tode. Das Vernunftvermoͤgen unſrer Seele iſt ſie nicht: denn dieſes hat ſich den Koͤrper, den es nicht kennet, und ihn nur als ein unvollkommenes, fremdes Werkzeug ſeiner Gedanken braucht, gewiß nicht ſelbſt gebildet. Verbunden iſt es indeß mit jener Lebenskraft, wie alle Kraͤfte der Natur in Verbindung ſtehen: denn auch das geiſtige Denken hangt von der Organiſation und Geſundheit des Koͤrpers ab und alle Begier - den und Triebe unſres Herzens ſind von der animaliſchen Waͤrme untrennbar. — — Alle dies ſind facta der Natur, die keine Hypotheſe umſtoßen, kein ſcholaſtiſches Wort vernichten kann: ihre Anerkennung iſt die aͤlteſte Philoſophie der Erde, wie ſie auch wahrſcheinlich die letzte ſeyn wirda)Hippokrates, Ariſtoteles, Galen, Harvei, Boile, Stahl, Glißon, Gaubius, Albin und ſo viel andre der groͤßten Beob - achter oder Weltweiſen des menſchlichen Geſchlechts haben, ge - zwungen von Erfahrungen, dies thaͤtige Lebensprincipium ange - nommen und nur mit mancherlei Namen benannt oder einige der - ſelben es von angrenzenden Kraͤften nicht gnug geſondert.. So gewiß ichs weiß, daß ich denke und kenne doch meine denkende Kraft nicht: ſo gewiß empfinde und ſehe ichs, daß ich lebe, wenn ich gleich auch nie weiß, was Lebenskraft ſei. Angebohren, organiſch, genetiſch iſt dies Vermoͤgen: es iſt der Grund meiner Natur -Kraͤfte,109Kraͤfte, der innere Genius meines Daſeyns. Aus keiner an - dern Urſache iſt der Menſch das vollkommenſte Weſen der Er - deſchoͤpfung, als weil die feinſten organiſchen Kraͤfte, die wir kennen, bei ihm in den feinſten Werkzeugen der Organiſation einwohnend wirken. Er iſt die vollkommenſte animaliſche Pflanze, ein eingebohrner Genius in einer menſchlichen Bildung.
Sind unſre Grundſaͤtze bisher richtig geweſen, wie ſie ſich denn auf unſtreitige Erfahrungen gruͤnden: ſo kann auch keine Verartung unſres Geſchlechts vorgehen, ohne eigentlich durch dieſe organiſchen Kraͤfte. Wie auch das Klima wirke; jeder Menſch, jedes Thier, jede Pflanze hat ihr eignes Klima: denn alle aͤußern Einwirkungen nimmt jedes nach ſeiner Weiſe auf und verarbeitet ſie organiſch. Auch in der kleinſten Fiber leidet der Menſch nicht wie ein Stein, nicht wie eine Waſſer - blaſe. Laſſet uns einige Stuffen oder Schattierungen dieſer Verartung bemerken.
Die erſte Stuffe der Verartung des menſchlichen Ge - ſchlechts zeiget ſich in den aͤußern Theilen; nicht als ob dieſe fuͤr ſich litten oder wirkten: ſondern weil die uns einwohnende Kraft von innen heraus wirket. Durch den wunderbarſtenO 3Mecha -110Mechanismus ſtrebt ſie aus dem Koͤrper zu treiben, was ihr hinderlich und fremd iſt; die erſten Veraͤnderungen ihres or - ganiſchen Baues muͤſſen alſo an den Grenzen ihres Reichs ſichtbar werden und ſo betreffen die auffallendſten Varietaͤten des Menſchengeſchlechts nichts als Haut und Haare. Die Natur ſchuͤtzte ihr inneres weſentliches Gebilde und ſchaffte die beſchwerende Materie ſo weit hinaus als ſie es zu thun vermochte.
Grif die veraͤndernde aͤußere Macht weiter: ſo zeigen ſich ihre Wirkungen auf keinen andern Wegen als auf denen die lebendige Kraft ſelbſt wirket, auf den Wegen der Nah - rung und Fortpflanzung. Der Neger wird weiß geboh - ren; die Theile, die ſich bei ihm zuerſt ſchwaͤrzena)S. 45. des vorhergehenden 6ten Buchs., ſind ein offenbares Kennzeichen, daß das Miasma ſeiner Veraͤnderung, das die aͤußere Luft nur entwickelt, genetiſch wirke. Nun zeigen uns die Jahre der Mannbarkeit ſowohl, als eine Schaar von Erfahrungen an Kranken, welch ein weites Reich die Kraͤfte der Nahrung und Fortpflanzung im menſchlichen Koͤrper haben. Die entferntſten Glieder ſtehn durch ſie mit einander in Verbindung; und eben dieſe Glieder ſinds, die bei der Verartung der Voͤlker auch gemeinſchaftlich leiden. Außer der Haut und den Geſchlechts-Theilen ſind daher Oh - ren, Hals und die Stimme, die Naſe, die Lippen, das Hauptu. f.111u. f. genau die Region, in welcher ſich die meiſten Veraͤnde - rungen zeigen.
Endlich, da die Lebenskraft alle Theile zur Gemeinſchaft bindet und die Organiſation ein vielverſchlungener Kreis iſt, der eigentlich nirgend Anfang und Ende findet: ſo wird be - greiflich, daß die innigſte Hauptveraͤnderung zuletzt auch in den veſteſten Theilen ſichtbar werden muͤſſe, die vermoͤge der innern leidenden Kraft vom Schaͤdel bis zum Fuß in ein andres Verhaͤltniß treten. Schwer gehet die Natur an dieſe Verwandlung: auch bei Misgeburten, wo ſie in ihrem Kunſt - werk gewaltſam geſtoͤrt wird, hat ſie wunderbare Wege der Erſtattung, wie ein geſchlagner Feldherr eben im Ruͤckzuge die meiſte Weisheit zeiget. Jndeſſen zeigen die verſchiednen Bildungen der Voͤlker, daß auch dieſe, die ſchwerſte Ver - wandlung beim Menſchengebilde moͤglich war: denn eben die tauſendfache Zuſammenſetzung und feine Beweglichkeit unſrer Maſchiene, ſammt den unnennbar-mannichfaltigen Maͤchten die auf ſie wirken, machten ſie moͤglich. Aber auch dieſe ſchwere Verwandlung ward nur von innen heraus bewirket. Jahrhunderte lang haben Nationen ihre Koͤpfe geformt, ihre Naſen durchbort, ihre Fuͤße gezwungen, ihre Ohren verlaͤn - gert; die Natur blieb auf ihrem Wege und wenn ſie eine Zeitlang folgen, wenn ſie den verzerreten Gliedern Saͤfte zu -fuͤhren112fuͤhren mußte, wohin ſie nicht wollte; ſo bald ſie konnte, ging ſie ins Freie wieder und vollendete ihren vollkommenern Ty - pus. Ganz anders, ſobald die Misbildung genetiſch war und auf Wegen der Natur wirkte; hier vererbten ſich Mis - bildungen, ſelbſt an einzelnen Gliedern. Sage man nicht, daß Kunſt oder die Sonne des Negers Naſe geplattet habe. Da die Bildung dieſes Theils mit der Conformation des gan - zen Schaͤdels, des Kinns, des Halſes, des Ruͤckens zuſam - menhaͤngt und das ſproßende Ruͤckenmark gleichſam der Stamm des Baums iſt, an dem ſich die Bruſt und alle Glie - der bilden: ſo zeigt die vergleichende Anatomie gnugſama)S. Soͤmmering uͤber die koͤrperliche Verſchiedenheit des Moh - ren vom Europaͤer. Mainz 1784., daß die Verartung die ganze Geſtalt angegriffen und ſich kei - ner dieſer veſten Theile aͤndern konnte, ohne daß das Ganze veraͤndert wurde. Eben daher gehet die Negergeſtalt auch erblich uͤber und kann nur genetiſch zuruͤckveraͤndert werden. Setzet den Mohren nach Europa; er bleibt, was er iſt: ver - heirathet ihn aber mit einer Weißen und Eine Generation wird veraͤndern, was Jahrhunderte hindurch das bleichende Klima nicht wuͤrde gethan haben. So iſts mit den Bildun - gen aller Voͤlker; die Weltgegend veraͤndert ſie aͤuſſerſt lang - ſam: durch die Vermiſchung mit fremden Nationen ver -ſchwin -113ſchwinden in wenigen Geſchlechtern alle Mogoliſchen, Sine - ſiſchen, Amerikaniſchen Zuͤge.
Gefaͤllt es meinen Leſern, auf dieſem Wege fortzugehen: ſo laſſet uns ihn noch einige Schritte verfolgen.
1. Jedem Bemerkenden muß es aufgefallen ſeyn, daß in den unzaͤhlbar-verſchiednen Geſtalten der Menſchen gewiſſe Formen und Verhaͤltniſſe nicht nur wieder kommen, ſondern auch ausſchließend zu einander gehoͤ - ren. Bei Kuͤnſtlern iſt dies eine ausgemachte Sache und in den Statuen der Alten ſiehet man, daß ſie dieſe Propor - tion oder Symmetrie, wie ſie es nannten, nicht etwa nur in die Laͤnge und Breite der Glieder, ſondern auch in die har - moniſche Bildung derſelben zur Seele des Ganzen ſetzten. Die Charaktere ihrer Goͤtter und Goͤttinnen, ihrer Juͤnglin - ge und Helden waren in ihrer ganzen Haltung ſo beſtimmt, daß man ſie zum Theil ſchon aus einzelnen Gliedern kennet und ſich keinem Gebilde ein Arm, eine Bruſt, eine Schulter geben laͤßt, die fuͤr ein andres gehoͤret. Der Genius eines einzeln-lebendigen Weſens lebt in jeder dieſer Geſtalten, die er wie eine Huͤlle nur durchhaucht und ſich im kleinſten Maas der Stellung und Bewegung, aͤhnlich dem Ganzen, cha -Jdeen, II. Th. Prakteri -114rakteriſiret. Unter den Neuern hat der Polyklet unſres Va - terlandes Albrecht Duͤrera)Albrecht Duͤrers 4 Buͤcher von menſchlicher Proportion. Nuͤrn - berg 1528. das Maas verſchiedner Pro - portionen des menſchlichen Koͤrpers ſorgfaͤltig unterſucht und jedem Auge wird dabei offenbar, daß die Bildung aller Thei - le ſich mit den Verhaͤltniſſen aͤndre. Wie nun? wenn wir Duͤrers Genauigkeit mit dem Seelengefuͤhl der Alten ver - baͤnden und die Verſchiedenheit menſchlicher Hauptformen und Charaktere in ihrem zuſammenſtimmenden Gebilde ſtu - dirten? Mich duͤnkt, die Phyſiognomik traͤte damit auf den alten natuͤrlichen Weg, auf den ſie ihr Name weiſet; nach welchem ſie weder eine Etho - noch Technognomik, ſondern die Auslegerin der lebendigen Natur eines Menſchen, gleichſam die Dolmetſcherin ſeines ſichtbargewordenen Genius ſeyn ſoll. Da ſie in dieſen Schranken der Analogie des Gan - zen, das auch im Antlitz das ſprechendſte iſt, ſtets treu bleibt: ſo muß die Pathognomik ihre Schweſter, die Phyſiologie und Semiotik ihre Mithelferin und Freundin werden: denn die Geſtalt des Menſchen iſt doch nur eine Huͤlle des innern Triebwerks, ein zuſammenſtimmendes Ganze, wo jeder Buch - ſtab zwar zum Wort gehoͤrt, aber nur das ganze Wort einen Sinn giebt. Jm gemeinen Leben brauchen und uͤben wir die Phyſiognomik alſo: der geuͤbte Arzt ſiehet, welchen Krank -heiten115heiten der Menſch ſeinem Bau und Gebilde nach unterworfen ſeyn koͤnne und das phyſiognomiſche Auge, ſelbſt der Kinder, bemerkt die natuͤrliche Art ([φυση]) des Menſchen in ſeinem Gebilde, d. i. die Geſtalt, in der ſich ſein Genius offenbaret.
Ferner. Sollten ſich nicht dieſe Formen, dieſe Harmonieen zuſammentreffender Theile bemerken und als Buchſtaben gleichſam in ein Alphabet bringen laſ - ſen? Vollſtaͤndig werden dieſe Buchſtaben nie werden: denn das iſt auch kein Alphabet irgend einer Sprache; zur Cha - rakteriſtik der menſchlichen Natur aber in ihren Hauptgeſtalten wuͤrde durch ein ſorgſames Studium dieſer lebendigen Saͤu - lenordnungen unſres Geſchlechts gewiß ein weites Feld geoͤf - net. Schraͤnkte man ſich dabei nicht auf Europa ein und naͤhme noch weniger unſer gewohntes Jdeal zum Muſter aller Geſundheit und Schoͤnheit; ſondern verfolgte die lebendige Natur uͤberall auf der Erde, in welchen Harmonieen zuſam - menſtimmender Theile ſie ſich hie und da mannichfaltig und immer ganz zeige; ohne Zweifel wuͤrden zahlreiche Entdeckun - gen uͤber den Concentus und die Melodie lebendiger Kraͤfte im Bau des Menſchen der Lohn dieſer Bemerkungen werden. Ja vielleicht wuͤrde uns dies Studium des natuͤrlichen Conſenſus der Formen im menſchlichen Koͤrper weiter fuͤhren als die ſo oft und faſt immer mit Undank bearbeitete Lehre der Comple -P 2xionen116xionen und Temperamente. Die ſcharfſinnigſten Beobachter kamen in dieſer nicht weit, weil zu dem Mannichfaltigen, das bezeichnet werden ſollte, ihnen ein beſtimmtes Alphabet der Bezeichnung fehltea)Sehr ſimplificirt finde ich dieſe Lehre in Mezgers vermiſchten Schriften Th. 1. Auch Platner nebſt andern haben darinn ihre anerkannten Verdienſte..
2. So wie nun bei einer ſolchen bildlichen Geſchich - te der Formung und Verartung des Menſchenge - ſchlechts die lebendige Phyſiologie allenthalben die Fackel vortragen muͤßte: ſo wuͤrde in ihr auch Schritt vor Schritt die Weisheit der Natur ſichtbar, die nicht anders als nach Einem Geſetz der tauſendfach erſtattenden Guͤte, Formen bil - det und abaͤndert. Warum z. B. ſonderte die ſchaffende Mutter Gattungen ab? Zu keinem andern Zweck, als daß ſie den Typus ihrer Bildung deſto vollkommener machen und erhalten koͤnnte. Wir wiſſen nicht, wie manche unſrer jetzigen Thiergattungen in einem fruͤhern Zuſtande der Erde naͤher an einander gegangen ſeyn moͤgen; aber das ſehen wir, ihre Grenzen ſind jetzt genetiſch geſchieden. Jm wil - den Zuſtande paaret ſich kein Thier mit einer fremden Gat - tung und wenn die zwingende Kunſt der Menſchen oder deruͤppige117uͤppige Muͤßiggang, an dem die gemaͤſteten Thiere Theil neh - men, auch ihren ſonſt ſichern Trieb verwildern: ſo laͤßt doch in ihren unwandelbaren Geſetzen die Natur von der uͤppigen Kunſt ſich nicht uͤberwinden. Entweder iſt die Vermiſchung ohne Frucht, oder die erzwungene Baſtardart pflanzt ſich nur unter den naͤchſten Gattungen weiter. Ja bei dieſen Ba - ſtardarten ſelbſt ſehen wir die Abweichung nirgend als an den aͤußerſten Enden des Reichs der Bildung, genau wie wir ſie bei der Verartung des Menſchengeſchlechts beſchrieben haben; haͤtte der innere, weſentliche Typus der Bildung Misgeſtalt bekommen muͤſſen: ſo waͤre kein lebendiges Geſchoͤpf ſubſi - ſtent worden. Weder ein Centaur alſo, noch ein Satyr, we - der die Seylla noch die Meduſe kann nach den innern Geſe - tzen der ſchaffenden Natur und des genetiſchen weſentlichen Typus jeder Gattung ſich erzeugen.
3. Das feinſte Mittel endlich, dadurch die Natur Vielartigkeit und Beſtandheit der Formen in ihren Gat - tungen verband, iſt die Schoͤpfung und Paarung zweier Geſchlechter. Wie wunderbar-fein und geiſtig miſchen ſich die Zuͤge beider Eltern in dem Angeſicht und Bau ihrer Kin - der! als ob nach verſchiedenen Verhaͤltnißen ihre Seele ſich in ſie gegoſſen und die tauſendfaͤltigen Naturkraͤfte der Orga - niſation ſich unter dieſelben vertheilt haͤtten. Daß Krankhei -P 3ten118ten und Zuͤge der Bildung, daß ſogar Neigungen und Diſpo - ſitionen ſich forterben, iſt Weltbekannt; ja oft kommen wun - derbarer Weiſe die Geſtalten lange verſtorbener Vorfahren aus dem Strom der Generation wieder. Eben ſo unlaͤugbar, obgleich ſchwer zu erklaͤren iſt der Einfluß muͤtterlicher Ge - muͤths - und Leibeszuſtaͤnde auf den Ungebohrnen, deſſen Wir - kung manches traurige Beiſpiel Lebenslang mit ſich traͤget. — — Zwei Stroͤme des Lebens hat alſo die Natur zuſammengelei - tet, um das werdende Geſchoͤpf mit einer ganzen Naturkraft auszuſtatten, die nach den Zuͤgen beider Eltern jetzt in ihr ſelbſt lebe. Manches verſunkne Geſchlecht iſt durch Eine geſunde und froͤhliche Mutter wieder emporgehoben: mancher entkraͤf - tete Juͤngling mußte im Arm ſeines Weibes erſt ſelbſt zum lebenden Naturgeſchoͤpf erweckt werden. Auch in der genia - liſchen Bildung der Menſchheit alſo iſt Liebe die maͤchtigſte der Goͤttinnen: ſie veredelt Geſchlechter und hebt die geſunk - nen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Fun - ken das Licht des menſchlichen Lebens, hier truͤber dort heller, glaͤnzet. Nichts widerſtrebet hingegen dem bildenden Genius der Naturen mehr, als jener kalte Haß oder jene widrige Convenienz, die aͤrger als Haß iſt. Sie zwingt Menſchen zu - ſammen, die nicht fuͤr einander gehoͤren und verewigt elende, mit ſich ſelbſt disharmoniſche Geſchoͤpfe. Kein Thier ver - ſank je ſo weit, als in dieſer Entartung der Menſch verſinket.
V.Jrre ich nicht, ſo iſt mit dem, was bisher wenigſtens andeu - tend geſagt worden, der Anfang einer Grenzlinie zu Ueber - ſicht dieſes Streits gezogen worden. Niemand z. B. wird verlangen, daß in einem fremden Klima die Roſe eine Lilie, der Hund ein Wolf werden ſoll: denn die Natur hat genaue Grenzen um ihre Gattungen gezogen und laͤßt ein Geſchoͤpf lieber untergehen, als daß es ihr Gebilde weſentlich verruͤcke oder verderbe. Daß aber die Roſe verarten, daß der Hund etwas Wolfartiges an ſich nehmen koͤnne; dies iſt der Ge - ſchichte gemaͤß und auch hier gehet die Verartung nicht anders vor, als durch ſchnelle oder langſame Gewalt auf die gegen - wirkende organiſchen Kraͤfte. Beide Streitfuͤhrende Maͤchte ſind alſo von großer Wirkung; nur jede wirket auf eigne Art. Das Klima iſt ein Chaos von Urſachen, die einander ſehr un - gleich, alſo auch langſam und verſchiedenartig wirken, bis ſie etwa zuletzt in das Jnnere eindringen und dieſes durch Ge - wohnheit und Geneſis ſelbſt aͤndern; die lebendige Kraft wi - derſtehet lange, ſtark, einartig und nur ihr ſelbſt gleich; da ſieindeſſen120indeſſen doch nicht unabhaͤngig von aͤußern Leidenſchaften iſt, ſo muß ſie ſich ihnen auch mit der Zeit bequemen.
Statt eines weitern Zwiſts im Allgemeinen wuͤnſchte ich alſo lieber eine belehrende Unterſuchung im Einzelnen, zu der uns das Feld der Geographie und Geſchichte eine große Erndte darbeut. Wir wiſſen z. E. wenn dieſe Portugieſiſche Colo - nien nach Afrika, jene Spaniſchen, Hollaͤndiſchen, Engliſchen, Deutſchen nach Oſtindien und Amerika gewandert ſind, was an einigen derſelben die Lebensart der Eingebohrnen, an an - dern die fortgeſetzte Lebensweiſe der Europaͤer fuͤr Wirkung gehabt u. f. Haͤtte man dieſes alles genau unterſucht: ſo ſtiege man zu aͤltern Uebergaͤngen z. B. der Malayen auf den Jnſeln, der Araber in Afrika und Oſtindien, der Tuͤrken in ihren eroberten Laͤndern, ſodann zu den Mogolen, Tatarn und endlich zu dem Schwarm von Nationen, die in der großen Voͤlkerwanderung Europa uͤberdeckten. Nirgend vergaͤße man, aus welchem Klima ein Volk kam, welche Lebensart es mitbrachte, welches Land es vor ſich fand, mit welchen Voͤlkern es ſich vermiſchte, welche Revolutionen es in ſeinem neuen Sitz durchlebt hat. Wuͤrde dieſer unterſuchende Calcul durch die gewiſſern Jahrhunderte fortgeſetzt: ſo ließen ſich vielleicht auch Schluͤße auf jene aͤltern Voͤlkerzuͤge machen, die wir nur aus Sagen alter Schriftſteller oder aus Uebereinſtimmungender121der Mythologie und Sprache kennen: denn im Grunde ſind alle oder doch die meiſten Nationen der Erde fruͤher oder ſpaͤ - ter gewandert. Und ſo bekaͤmen wir, mit einigen Charten zur Anſchauung, eine phyſiſch-geographiſche Geſchichte der Abſtammung und Verartung unſres Geſchlechts nach Klimaten und Zeiten, die Schritt vor Schritt die wich - tigſten Reſultate gewaͤhren muͤßte.
Ohne dem forſchenden Geiſt, der dieſe Arbeit unternaͤh - me, vorzugreifen, ſetze ich aus der neuern Geſchichte einige wenige Erfahrungen her: kleine Exempel meiner vorherge - henden Unterſuchung.
1. Alle zu ſchnelle, zu raſche Uebergaͤnge in ein entgegengeſetztes Hemiſphaͤr und Klima ſind ſelten ei - ner Nation heilſam worden: denn die Natur hat nicht vergebens ihre Grenzen zwiſchen weitentfernten Laͤndern ge - zogen. Die Geſchichte der Eroberungen ſowohl als der Han - delsgeſellſchaften, am meiſten aber der Mißionen muͤßte ein trauriges und zum Theil laͤcherliches Gemaͤhlde geben, wenn man dieſen Gegenſtand mit ſeinen Folgen auch nur aus eig - nen Relationen der Uebergegangenen unpartheiiſch hervor - holte. Mit grauſendem Abſcheu lieſet man die Nachrichten von manchen Europaͤiſchen Nationen, wie ſie, verſunken in die frechſte Ueppigkeit und den fuͤhlloſeſten Stolz an Leib und Seele entarten und ſelbſt zum Genuß und Erbarmen keineJdeen, II. Th. QKraͤfte122Kraͤfte mehr haben. Aufgeblaͤhete Menſchenlarven ſind ſie, denen jedes edle, thaͤtige Vergnuͤgen entgeht und in deren Adern der vergeltende Tod ſchleichet. Rechnet man nun noch die Ungluͤckſeligen dazu, denen beide Jndien Haufenweiſe ihre Grabſtaͤte wurden, lieſet man die Geſchichte der Krankhei - ten fremder Welttheile, die die Engliſchen, Franzoͤſiſchen und Hollaͤndiſchen Aerzte beſchreiben und ſchauet denn in die from - men Mißionen, die ſich ſo oft nicht von ihrem Ordenskleide, von ihrer Europaͤiſchen Lebensweiſe trennen wollten, welche lehrreichen Reſultate, die leider! auch zur Geſchichte der Menſchheit gehoͤren, dringen ſich uns auf!
2. Selbſt der Europaͤiſche Fleiß geſitteter Colo - nieen in andern Welttheilen vermag nicht immer die Wirkung des Klima zu aͤndern. Jn Nord-Amerika, be - merkt Kalma)Goͤttingiſche Samml. von Reiſen Th. 10. 11. hin und wieder., kommen die Europaͤiſchen Geſchlechter eher zu reifen Jahren, aber auch eher zum Alter und Tode als in Europa. Es iſt nichts ſeltnes, ſagt er, kleine Kinder zu ſe - hen, die auf die vorgelegten Fragen bis zur Verwunderung lebhaft und fertig antworten; aber auch die Jahre der Euro - paͤer nicht erreichen. Achzig oder neunzig Jahr ſind fuͤr ei - nen in Amerika gebohrnen Europaͤer ein ſeltnes Beiſpiel, da doch die erſten Einwohner oft ein hohes Alter erlebten: auch die in Europa gebohrnen werden gemeiniglich viel aͤlter, alsdie123die von Europaͤiſchen Eltern in Amerika erzeugten. Die Wei - ber hoͤren fruͤher auf Kinder zu gebaͤhren, einige ſchon im dreiſſigſten Jahr: auch bemerkt man bei allen Europaͤiſchen Colonien, daß die dort oder hier gebohrnen fruͤhe und vor der Zeit ihre Zaͤhne verlieren, da die Amerikaner ſchoͤne, weiße und unbeſchaͤdigte Zaͤhne bis an ihr Ende behalten. „ Mit Unrecht hat man dieſe Stellen auf die Ungeſundheit des alten Amerika gegen ſeine eignen Kinder gezogen; nur gegen Fremd - linge wars dieſe Stiefmutter, die, wie es auch Kalm erklaͤrt, mit andrer Conſtitution und Lebensweiſe in ſeinem Schoos leben.
3. Man denke nicht, daß die Kunſt der Men - ſchen mit ſtuͤrmender Willkuͤhr einen fremden Erdtheil ſogleich zu einem Europa umſchaffen koͤnne, wenn ſie ſeine Waͤlder umhauet und ſeinen Boden cultiviret: denn die ganze lebendige Schoͤpfung iſt im Zuſammenhange und dieſer will nur mit Vorſicht geaͤndert werden. Eben der Kalm berichtet aus dem Munde alter amerikaniſcher Schweden, daß durch die ſchnelle Ausrottung der Waͤlder und Bebau - ung des Landes nicht nur das eßbare Gevoͤgel, das ſonſt in unzaͤhlicher Menge auf Waſſern und in Waͤldern lebte, die Fiſche, von denen ſonſt Fluͤſſe und Baͤche wimmelten, die Seen, Baͤche, Quellen und Stroͤme, der Regen, das dichte, hohe Gras in den Waͤldern u. f. ſich ſehr vermindert; ſon - dern daß dieſe Ausrottung auch auf das Lebensalter, die Ge -Q 2ſund -124ſundheit und Jahrszeiten zu wirken ſcheine. Die Amerika - ner, ſagt er, die bei Ankunft der Europaͤer ein Alter von hun - dert und mehrern Jahren zuruͤckgelegt, erreichen jetzt oft kaum das halbe Alter ihrer Vaͤter; woran nicht blos der Menſchen - toͤdtende Branntwein und ihre veraͤnderte Lebensweiſe, ſon - dern wahrſcheinlich auch der Verluſt ſo vieler wohlriechenden Kraͤuter und kraͤftigen Pflanzen Schuld ſei, die jeden Morgen und Abend einen Geruch gaben, als ob man ſich in einem Blumengarten faͤnde. Der Winter ſei damals zeitiger, kaͤl - ter, geſunder und beſtaͤndiger geweſen; jetzt treffe der Fruͤh - ling ſpaͤter ein, und ſei, wie die Jahrszeiten uͤberhaupt, un - beſtaͤndiger und abwechſelnder. ” So erzaͤhlt Kalm und wie local man die Nachricht einſchraͤnke, doͤrfte ſie doch immer zeigen, daß die Natur ſelbſt im beſten Werk, das Menſchen thun koͤnnen, dem Anbau eines Landes, zu ſchnelle, zu ge - waltſame Uebergaͤnge nicht liebe. Die Schwaͤche der ſoge - nannten cultivirten Amerikaner in Mexico, Peru, Paraguai, Braſilien; ſollte ſie nicht unter andern auch daher kommen, daß man ihnen Land und Lebensart veraͤndert hat, ohne ihnen eine Europaͤiſche Natur geben zu koͤnnen oder zu wollen? Alle Nationen, die in den Waͤldern und nach der Weiſe ihrer Vaͤ - ter leben, ſind muthig und ſtark, ſie werden alt und gruͤnen wie ihre Baͤume; auf dem gebaueten Lande, dem feuchten Schatten entzogen, ſchwinden ſie traurig dahin: Seele undMuth125Muth iſt in ihren Waͤldern geblieben. Man leſe z. B. die ruͤhrende Geſchichte der einſamen bluͤhenden Familie, die Dobritzhofera)Dobritzhofers Geſchichte der Abiponer Th. 1. S. 114. aus ihrer Wildniß zog: Mutter und Toch - ter ſtarben bald dahin und beide riefen in Traͤumen ihren zu - ruͤckgebliebenen Sohn und Bruder ſo lange nach ſich, bis er ohne Weh und Krankheit die Augen zuſchloß. Nur dadurch wird es begreiflich, wie Nationen, die erſt tapfer, munter, herz - haft waren, in kurzer Zeit ſo weich werden konnten, wie ſie die Jeſuiten in Paraguai und die Reiſenden in Peru ſchil - dern: eine Weichheit, die dem Leſenden Schmerz erreget. Fuͤr die Folge der Jahrhunderte mag dieſe Ueberſtrengung der Natur an einigen Orten ihre guten Wirkungen habenb)S. Williamſons Verſuch, die Urſachen des veraͤnderten Klima zu erklaͤren: Berlin. Samml. Th. 7., ob ich gleich, wenn ſie allenthalben moͤglich waͤre, auch hieran zweifle; fuͤr die erſten Geſchlechter aber ſowohl der Cultivatoren als der Cultivirten ſcheint dieſes nicht alſo: denn die Natur iſt allent - halben ein lebendiges Ganze und will ſanft befolgt und gebeſſert, nicht aber gewaltſam beherrſchet ſeyn. Aus allen Wilden, die man ploͤtzlich ins Gedraͤng der Hauptſtaͤdte Europa's brachte, iſt nichts worden: von dem glaͤnzenden Thurmknopf, auf den man ſie ſetzte, ſehnten ſie ſich wieder in ihre Ebne und kamen meiſtens ungeſchickt und verderbet zu ihrer alten, ihnen nun auch unge -Q 3nieß -126nießbaren Lebensweiſe wieder. Ein gleiches iſts mit der gewalt - ſamen Umbildung der wilden Klimate durch Europaͤiſche Haͤnde.
O Soͤhne des Daͤdalus, ihr Kreiſel des Schickſals auf der Erde, wie viele Gaben waren in eurer Hand, auf menſchli - che und ſchonende Art den Voͤlkern Gluͤck zu erzeigen; und wie hat eine ſtolze, trotzige Gewinnſucht euch faſt allenthal - ben auf einen ſo andern Weg gelenket! Alle Ankoͤmmlinge fremder Laͤnder, die ſich mit den Eingebohrnen zu nationali - ſiren wußten, genoſſen nicht nur ihre Liebe und Freundſchaft, ſondern fanden am Ende auch, daß die klimatiſche Lebensart derſelben ſogar unrecht nicht ſei; aber wie wenige gab es ſol - cher! wie ſelten verdiente ein Europaͤer den Lobſpruch der Ein - gebohrnen:” er iſt ein vernuͤnftiger Menſch, wie wir ſind!” Und ob ſich die Natur an jedem Frevel, den man ihr anthut, nicht raͤche? Wo ſind die Eroberungen, die Handlungsplaͤtze und Jnvaſionen voriger Zeiten, ſobald das ungleichartige Volk ins entfernte, fremde Land, nur raubend oder verwuͤ - ſtend ſtreifte? Verwehet oder weggezehrt hat ſie der ſtille Hauch des Klima und dem Eingebohrnen ward es leicht, dem Wur - zelloſen Baum den letzten Druck zu geben. Dagegen das ſtille Gewaͤchs, das ſich den Geſetzen der Natur bequemte, nicht nur ſelbſt fortdauert ſondern auch die Samenkoͤrner der Cultur auf einer neuen Erde wohlthaͤtig fortbreitet. Das folgende Jahr - tauſend mag es entſcheiden, was unſer Genius andern Klimaten, was andre Klimate unſerm Genius genutzt oder geſchadet haben?
Wie einem der von den Wellen des Meers eine Schiffahrt in die Luft thun ſoll: ſo iſt mir, da ich jetzt nach den Bil - dungen und Naturkraͤften der Menſchheit auf ihren Geiſt komme und die veraͤnderlichen Eigenſchaften deſſelben auf unſerm weiten Erdrunde aus fremden, mangelhaften und zum Theil unſichern Nachrichten zu erforſchen wage. Der Meta - phyſiker hat es hier leichter. Er ſetzt einen Begrif der Seele veſt und entwickelt aus ihm, was ſich entwickeln laͤßt, wo und in welchen Zuſtaͤnden es ſich auch finde. Dem Philoſophen der Geſchichte kann keine Abſtraction, ſondern Geſchichte al - lein zum Grunde liegen und er laͤuft Gefahr, truͤgliche Re - ſultate zu ziehen, wenn er die zahlloſen facta nicht wenigſtens in einiger Allgemeinheit verbindet. Jndeſſen verſuche ich den Weg und kreuze, ſtatt des uͤberfliegenden Schiffes, lieber an den Kuͤſten: d. i. ich halte mich an gewiſſe oder fuͤr gewiß geachtete facta, von denen ich meine Muthmaaßungen ſondre und uͤberlaſſe es Gluͤcklichern, ſie beſſer zu ordnen und zu gebrauchen.
Jdeen, II. Th. RI. 130Alle Nationen, die kranken Albinos etwa ausgenommen, ha - ben ihre fuͤnf oder ſechs menſchliche Sinne; die Unfuͤhlbaren des Diodorus oder die taub - und ſtummen Voͤlker ſind in der neuern Menſchengeſchichte eine Fabel. Jndeß, wer auf die Verſchiedenheit der aͤußern Empfindungen auch nur unter uns Acht hat und ſodenn an die zahlloſe Menge denkt, die in allen Klimaten der Erde lebet, der wird ſich hiebei wie vor einem Weltmeer finden, auf dem ſich Wogen in Wogen verlieren. Jeder Menſch hat ein eignes Maas, gleichſam eine eigne Stimmung aller ſinnlichen Gefuͤhle zu einander, ſo daß bei außerordentlichen Faͤllen oft die wunderbarſten Aeußerungen zum Vorſchein kommen, wie einem Menſchen bei dieſer oder bei jener Sache ſei. Aerzte und Philoſophen haben daher ſchon ganze Sammlungen von eigenthuͤmlich-ſonderbaren Em - pfindungen d. i. Jdioſynkraſien gegeben, die oft ſo ſeltſam als unerklaͤrlich ſind. Meiſtens merken wir auf ſolche nur inKrank -131〈…〉〈…〉132〈…〉〈…〉133〈…〉〈…〉134〈…〉〈…〉135dert den Umlauf der Saͤfte und erhaͤlt den elaſtiſchen Ton der Glieder. Die Voͤlker der reichſten Erdſtriche leben maͤßig: ſie haben keinen Begrif, daß ein widernatuͤrliches Reizen der Nerven und eine taͤgliche Verſchlaͤmmung der Saͤfte das Ver - gnuͤgen ſeyn koͤnne, dazu ein Menſch erſchaffen worden; die Staͤmme der Braminen haben in ihren Vaͤtern von Anfange der Welt her weder Fleiſch noch Wein gekoſtet. Da es nun bei Thieren ſichtbar iſt, was dieſe Lebensmittel aufs ganze Em - pfindungsſyſtem fuͤr Macht haben; wie viel ſtaͤrker muß dieſe Macht bei der feinſten Blume aller Organiſationen, der Menſch - heit wirken. Maͤßigkeit des ſinnlichen Genußes iſt ohne Zweifel eine kraͤftigere Methode zur Philoſophie der Huma - nitaͤt als tauſend gelernte kuͤnſtliche Abſtractionen. Alle grob - fuͤhlenden Voͤlker in einem wilden Zuſtande oder harten Kli - ma leben gefraͤßig, weil ſie nachher oft hungern muͤſſen: ſie eſſen auch meiſtens, was ihnen vorkommt. Voͤlker von fei - nerm Sinn lieben auch feinere Vergnuͤgen. Jhre Mahl - zeiten ſind einfach und ſie genießen taͤglich dieſelben Speiſen; dafuͤr aber waͤhlen ſie wohlluͤſtige Salben, feine Geruͤche, Pracht, Bequemlichkeit und vor allem iſt ihre Blume des Vergnuͤgens, die ſinnliche Liebe. Wenn blos von Feinheit des Organs die Rede ſeyn ſoll: ſo iſt kein Zweifel, wohin ſich der Vorzug neige? denn kein geſitteter Europaͤer wird zwi - ſchen dem Fett - und Thranmahle des Groͤnlaͤnders und denSpece -136Specereien des Jndiers waͤhlen. Jndeſſen waͤre die Frage, wem wir, Trotz unſrer Cultur in Worten, dem groͤßeſten Theil nach naͤher ſeyn moͤchten, ob jenem oder dieſem? Der Jndier ſetzt ſeine Gluͤckſeligkeit in leidenſchaftloſe Ruhe, in einen un - zerſtoͤrbaren Genuß der Heiterkeit und Freude: er athmet Wohlluſt: er ſchwimmt in einem Meer ſuͤßer Traͤume und erquickender Geruͤche; unſre Ueppigkeit hingegen, um deren willen wir alle Welttheile beunruhigen und berauben, was will, was ſuchet ſie? Neue und ſcharfe Gewuͤrze fuͤr eine geſtumpfte Zunge, fremde Fruͤchte und Speiſen, die wir in einem uͤber - fuͤllenden Gemiſch oft nicht einmal koſten, berauſchende Ge - traͤnke, die uns Ruhe und Geiſt rauben; was nur erdacht werden kann, unſre Natur aufregend zu zerſtoͤren, iſt das taͤg - liche große Ziel unſres Lebens. Dadurch unterſcheiden ſich Staͤnde: dadurch begluͤcken ſich Nationen — Begluͤcken? Weßhalb hungert der Arme und muß bei ſtumpfen Sinnen in Muͤhe und Schweis das elendeſte Leben fuͤhren? Damit ſeine Großen und Reichen ohne Geſchmack und vielleicht zu ewiger Nahrung ihrer Brutalitaͤt taͤglich auf feinere Art ihre Sinne ſtumpfen. „ Der Europaͤer ißt alles”, ſagt der Jn - dier und ſein feinerer Geruch hat ſchon vor den Ausduͤnſtun - gen deſſelben einen Abſcheu. Er kann ihn nach ſeinen Be - griffen nicht anders als in die verworfne Caſte claßificiren, der, zur tiefſten Verachtung, alles zu eſſen erlaubt ward. Auchin137in vielen Laͤndern der Mahomedaner heißen die Europaͤer und nicht blos aus Religionshaß, unreine Thiere.
Schwerlich hat uns die Natur die Zunge gegeben, daß einige Waͤrzchen auf ihr das Ziel unſres muͤhſeligen Lebens oder gar des Jammers andrer Ungluͤcklichen wuͤrden. Sie uͤber - kleidete ſie mit einem Gefuͤhl des Wohlgeſchmacks, theils, da - mit ſie uns die Pflicht, den wuͤtenden Hunger zu ſtillen, ver - ſuͤßte und uns mit gefaͤlligern Banden zur beſchwerlichen Ar - beit zoͤge; theils aber auch ſollte das Gefuͤhl dieſes Organs der pruͤfende Waͤchter unſrer Geſundheit werden und den ha - ben an ihm alle uͤppige Nationen laͤngſt verlohren. Das Vieh kennet, was ihm geſund iſt und waͤhlt mit ſcheuer Vor - ſicht ſeine Kraͤuter; das Giftige und Schaͤdliche beruͤhret es nicht und taͤuſcht ſich ſelten. Menſchen, die unter den Thie - ren lebten, konnten die Nahrungsmittel, wie ſie, unterſcheiden; ſie verlohren dies Kriterium unter den Menſchen, wie jene Jndier ihren reinern Geruch verlohren, da ſie ihre einfachen Speiſen aufgaben. Voͤlker, die in geſunder Freiheit leben, haben noch viel von dieſem ſinnlichen Fuͤhrer. Nie oder ſel - ten irren ſie ſich an Fruͤchten ihres Landes; ja durch den Ge - ruch ſpuͤrt der Nord-Amerikaner ſogar ſeine Feinde aus und der Antille unterſcheidet durch ihn die Fußtritte verſchiedner Nationen. So koͤnnen ſelbſt die ſinnlichſten, ThierartigenJdeen, II. Th. SKraͤfte138Kraͤfte des Menſchen wachſen, nachdem ſie gebauet und ge - uͤbt werden; der beſte Anbau derſelben indeſſen iſt Proportion ihrer aller zu einer wahrhaft-menſchlichen Lebensweiſe, daß keine herrſche und ſich keine verliere. Dies Verhaͤltniß aͤndert ſich mit jedem Lande und Klima. Der Anwohner heißer Gegenden ißt mit wildem Geſchmack fuͤr uns hoͤchſt eckelhafte Speiſen: denn ſeine Natur fodert ſie als Arzneien, als ret - tende Wohlthata)Wilſons Beobachtungen uͤber den Einfluß des Klima S. 93. u. f..
Geſicht und Gehoͤr endlich ſind die edelſten Sinne, zu denen der Menſch ſchon ſeiner organiſchen Anlage nach vor - zuͤglich geſchaffen worden: denn bei ihm ſind die Werkzeuge dieſer Sinne vor allen Thieren Kunſtreich ausgebildet. Zu welcher Schaͤrfe haben manche Nationen Auge und Ohr ge - bracht! Der Kalmucke ſieht Rauch, wo ihn kein Europaͤiſches Auge gewahr wird: der ſcheue Araber horcht weit umher in ſeiner ſtillen Wuͤſte. Wenn nun mit dem Gebrauch dieſer ſcharfen und feinen Sinne ſich zugleich eine ungeſtoͤrte Auf - merkſamkeit verbindet: ſo zeigen es abermals viele Voͤlker, wie weit es auch im kleinſten Werk der Geuͤbte vor dem Un - geuͤbten zu bringen vermoͤge. Die jagenden Voͤlker kennen jeden Strauch und Baum ihres Landes: die Nord-Ameri - kaner verirren ſich nie in ihren Waͤldern; hunderte von Mei -len139len ſuchen ſie ihren Feind auf und finden ihre Huͤtten wieder. Die geſitteten Quaranier, erzaͤhlt Dobritzhofer, machen mit einer bewundernswuͤrdigen Genauigkeit alles nach, was man ihnen an feiner kuͤnſtlicher Arbeit vorlegt; aber nach dem Ge - hoͤr, aus beſchreibenden Worten koͤnnen ſie ſich wenig denken und nichts erfinden: eine natuͤrliche Folge ihrer Erziehung, in der die Seele nicht durch Worte, ſondern durch gegenwaͤr - tige, anſchaubare Dinge gebildet wurde, da Wortgelehrte Menſchen oft ſo viel gehoͤrt haben, daß ſie was vor ihnen iſt, nicht mehr zu ſehen vermoͤgen. Die Seele des freien Natur - ſohnes iſt gleichſam zwiſchen Auge und Ohr getheilet: er kennt mit Genauigkeit die Gegenſtaͤnde, die er ſah: er erzaͤhlt mit Genauigkeit die Sagen, die er hoͤrte. Seine Zunge ſtam - melt nicht, ſo wie ſein Pfeil nicht irret: denn wie ſollte ſeine Seele bei dem, was ſie genau ſah und hoͤrte, irren und ſtammeln?
Gute Anlage der Natur fuͤr ein Weſen, bei dem die erſte Sproße ſeines Wohlgenußes und Verſtandes doch nur aus ſinnlichen Empfindungen keimet. Jſt unſer Koͤrper geſund, ſind unſre Sinne geuͤbt und wohlgeordnet: ſo iſt die Grund - lage zu einer Heiterkeit und innern Freude gelegt, deren Ver - luſt die ſpeculirende Vernunft mit Muͤhe kaum zu erſetzen weiß. Das Fundament der ſinnlichen Gluͤckſeligkeit des Menſchen iſt allenthalben, daß er da lebe, wo er lebt, daß erS 2genieße,140genieße, was ihm vorliegt und ſich, ſo wenig es ſeyn kann, mit zuruͤck - oder vorwaͤrts blickenden Sorgen theile. Erhaͤlt er ſich auf dieſem Mittelpunkt feſt: ſo iſt er ganz und kraͤftig; irret er aber, wenn er allein an das Jetzt denken und daſſelbe genießen ſoll mit ſeinen Gedanken umher: o wie zerreißet er ſich und wird ſchwach und lebt oft muͤhſeliger als die zu ih - rem Gluͤck enge-beſchraͤnkten Thiere. Das Auge des unbe - fangenen Naturmenſchen blickt auf die Natur und erquickt ſich, ohne es zu wiſſen, ſchon an ihrem Gewande; oder es arbei - tet in ſeinem Geſchaͤft und indem es die Abwechſelung der Jahreszeiten genießt, altert es kaum im hoͤchſten Alter. Un - zerſtreuet von Halbgedanken und unverwirrt von ſchriftlichen Zuͤgen hoͤret das Ohr ganz, was es hoͤret; es trinkt die Rede in ſich, die wenn ſie auf beſtimmte Gegenſtaͤnde weiſet, die Seele mehr als eine Reihe tauber Abſtractionen befriedigt. So lebet, ſo ſtirbt der Wilde, ſatt aber nicht uͤberdruͤßig der einfachen Vergnuͤgen, die ihm ſeine Sinne gaben.
Aber noch Ein wohlthaͤtiges Geſchenk verlieh die Natur unſerm Geſchlecht, da ſie auch den Gedankenduͤrftigſten Glie - dern deſſelben die erſte Sproſſe der feinern Sinnlichkeit, die erquickende Tonkunſt nicht verſagte. Ehe das Kind ſprechen kann, iſt es des Geſanges oder wenigſtens der ihm zutoͤnenden Reize deſſelben faͤhig; auch unter den ungebildeten Voͤlkerniſt141iſt alſo auch Muſik die erſte ſchoͤne Kunſt, die ihre Seele be - weget. Das Gemaͤhlde der Natur fuͤrs Auge iſt ſo mannich - falt abwechſelnd und groß, daß der nachahmende Geſchmack lange umhertappen und ſich an der Barbarei des Ungeheuern, des Auffallenden verſuchen muß, ehe er richtige Proportionen lernet. Aber die Tonkunſt, wie einfach und rohe ſie ſei, ſie ſpricht zu allen menſchlichen Herzen und iſt nebſt dem Tanz das allgemeine Freudenfeſt der Natur auf der Erde. Schade nur daß aus zu zaͤrtlichem Geſchmack die meiſten Reiſenden uns dieſe kindlichen Toͤne fremder Voͤlker verſagen. So unbrauchbar ſie dem Tonkuͤnſtler ſeyn moͤgen; ſo unterrichtend ſind ſie fuͤr den Forſcher der Menſchheit: denn die Muſik ei - ner Nation auch in ihren unvollkommenſten Gaͤngen und Lieb - lingstoͤnen zeigt den innern Charakter derſelben d. i. die eigent - liche Stimmung ihres empfindenden Organs tiefer und wah - rer, als ihn die laͤngſte Beſchreibung aͤußerer Zufaͤlligkeiten zu ſchildern vermoͤchte. —
Je mehr ich uͤbrigens der ganzen Sinnlichkeit des Men - ſchen in ſeinen mancherlei Gegenden und Lebensarten nach - ſpuͤre; deſto mehr finde ich daß die Natur ſich allenthalben als eine guͤtige Mutter bewieſen habe. Wo ein Organ weni - ger befriedigt werden konnte, reizte ſie es auch minder und laͤßt Jahrtauſende hindurch es milde ſchlummern. Wo ſie dieS 3Werk -142Werkzeuge verfeinte und oͤfnete, hat ſie auch Mittel umher - gelegt, ſie bis zur Befriedigung zu vergnuͤgen; ſo daß die gan - ze Erde mit jeder zuruͤckgehaltnen oder ſich entfaltenden Orga - niſation der Menſchheit ihr wie ein harmoniſches Saitenſpiel zutoͤnet, in dem alle Toͤne verſucht ſind, oder werden verſucht werden. — —
Von einer Sache, die außer dem Kreiſe unſrer Empfindung liegt, haben wir keinen Begrif: die Geſchichte jenes Siamer - Koͤniges, der Eis und Schnee fuͤr Undinge anſah, iſt in tau - ſend Faͤllen unſre eigne Geſchichte. Jedes eingebohrne ſinn - liche Volk hat ſich alſo mit ſeinen Begriffen auch in ſeine Ge - gend umſchraͤnkt; wenn es thut, als ob es Worte verſtehe, die ihm von ganz fremden Dingen geſagt werden: ſo hat man lange Zeit Urſach, an dieſem innern Verſtaͤndniß zu zweifeln.
„ Die143„ Die Groͤnlaͤnder haben es gern, ſagt der ehrliche Cranza)Geſchichte von Groͤnland S. 225., wenn man ihnen etwas von Europa erzaͤhlet; ſie koͤnnten aber davon nichts begreifen, wenn man es ihnen nicht Gleich - nißweiſe deutlich machte. „ Die Stadt oder das Land z. E. hat ſo viel Einwohner, daß viele Wallfiſche auf Einen Tag kaum zur Nahrung hinreichen wuͤrden: man ißt aber keine Wallfiſche, ſondern Brod, das wie Gras aus der Erde waͤchſt, auch das Fleiſch der Thiere, die Hoͤrner haben und laͤßt ſich durch große, ſtarke Thiere auf ihrem Ruͤcken tragen oder auf einem hoͤlzernen Geſtell ziehen. Da nennen ſie denn das Brod Gras, die Ochſen Rennthiere und die Pferde große Hunde, bewundern alles und bezeigen Luſt, in einem ſo ſchoͤ - nen, fruchtbaren Lande zu wohnen; bis ſie hoͤren, daß es da oft donnert und keine Seehunde giebt. — Sie hoͤren auch gern von Gott und goͤttlichen Dingen, ſo lange man ihnen ihre aberglaͤubiſchen Fabeln auch gelten laͤßt. „ Wir wollen nach eben dieſem Cranzb)Abſchnitt V. VI. einen kleinen Katechiſmus ihrer theolo - giſchen Naturlehre machen, wie ſie auch bei Europaͤiſchen Fragen nicht anders als in ihrem Geſichtskreiſe antworten und denken.
Frage. Wer hat wohl Himmel und Erde und alles was ihr ſeht, geſchaffen?
Ant -144Antwort. Das wiſſen wir nicht. Den Mann kennen wir nicht. Es muß ein ſehr maͤchtiger Mann ſeyn. Oder es iſt wohl immer ſo geweſen und wird ſo bleiben.
Frage. Habet ihr auch eine Seele?
Antwort. O ja. Sie kann ab - und zunehmen: un - ſre Angikoks koͤnnen ſie flicken und repariren: wenn man ſie verlohren hat, bringen ſie ſie wieder und eine kranke koͤnnen ſie mit einer friſchen geſunden Seele von einem Haſen, Renn - thier, Vogel oder jungen Kinde verwechſeln. Wenn wir auf eine weite Reiſe gegangen ſind, ſo iſt oft unſre Seele zu Hauſe. Jn der Nacht im Schlaf wandert ſie aus dem Leibe: ſie geht auf die Jagd, zum Tanz, zum Beſuch und der Leib liegt ge - ſund da — —
Fr. Wo bleibt ſie denn im Tode?
Antw. Da geht ſie an den gluͤckſeligen Ort in der Tiefe des Meers. Daſelbſt wohnet Torngarſuk und ſeine Mutter: da iſt ein beſtaͤndiger Sommer, ſchoͤner Sonnenſchein und keine Nacht. Auch gutes Waſſer iſt da und ein Ueber - fluß an Voͤgeln, Fiſchen, Seehunden und Rennthieren, die man alle ohne Muͤhe fangen kann oder die man gar ſchon in einem großen Keſſel kochend findet.
Fr. Und kommen alle Menſchen dahin?
Antw. 145Antw. Dahin kommen nur die guten Leute, die zur Arbeit getaugt, die große Thaten gethan, viel Wallfiſche und Seehunde gefangen, viel ausgeſtanden haben, oder gar im Meer ertrunken, uͤber der Geburt geſtorben ſind u. f.
Fr. Wie kommen dieſe dahin?
Antw. Nicht leicht. Man muß fuͤnf Tage lang oder laͤnger an einem rauhen Felſen, der ſchon ganz blutig iſt, her - unterklettern.
Fr. Sehet ihr aber nicht jene ſchoͤnen himmliſchen Koͤrper? ſollte der Ort unſrer Zukunft nicht vielmehr dort ſeyn?
Antw. Auch dort iſt er, im oberſten Himmel, hoch uͤber dem Regenbogen und die Fahrt dahin iſt ſo leicht und hurtig, daß die Seele noch ſelbigen Abend bei dem Mond, der ein Groͤnlaͤnder geweſen, in ſeinem Hauſe ausruhen und mit den uͤbrigen Seelen Ballſpielen und tanzen kann. Dieſer Tanz, dieſes Ballſpiel der Seelen iſt jenes Nordlicht.
Fr. Und was thun ſie ſonſt oben?
Antw. Sie wohnen in Zelten um einen großen See, in welchem Fiſche und Voͤgel die Menge ſind. Wenn dieſer See uͤberfließt: ſo regnets auf der Erde; ſollten einmal ſeine Daͤmme durchbrechen: ſo gaͤbe es eine allgemeine Suͤnd - fluth. — Ueberhaupt aber kommen nur die untauglichen,Jdeen, II. Th. Tfaulen146faulen in den Himmel; die Fleißigen gehen zum Grunde der See. Jene Seelen muͤſſen oft hungern, ſind mager und kraftlos, koͤnnen auch wegen der ſchnellen Umdrehung des Him - mels gar keine Ruhe haben. Boͤſe Leute und Hexen kommen dahin: ſie werden von Raben geplagt, die ſie nicht von den Haaren abhalten koͤnnen u. f.
Fr. Wie glaubet ihr daß das menſchliche Geſchlecht entſtanden ſei?
Antw. Der erſte Menſch, Kallak, kam aus der Erde und bald hernach die Frau aus ſeinem Daumen. Einmal gebar eine Groͤnlaͤnderin und ſie gebar Kablunaͤt d. i. die Auslaͤnder und Hunde; daher ſind jene wie dieſe geil und fruchtbar.
Fr. Und wird die Welt ewig dauern?
Antw. Einmal iſt ſie ſchon umgekuͤppt und alle Men - ſchen ſind ertrunken. Der Einige Mann, der ſich rettete, ſchlug mit dem Stock auf die Erde: da kam ein Weib hervor und beide bevoͤlkerten die Erde wieder. Jetzt ruht ſie noch auf ihren Stuͤtzen, die aber ſchon vor Alter ſo morſch ſind, daß ſie oft krachen; daher ſie laͤngſt eingefallen waͤre, wenn unſre Angikoks nicht immer daran flickten.
Fr. Was haltet ihr aber von jenen ſchoͤnen Sternen?
Antw. 147Antw. Sie ſind alle ehedem Groͤnlaͤnder oder Thiere geweſen, die durch beſondre Zufaͤlle dahinauf gefahren ſind und nach Verſchiedenheit ihrer Speiſe blaß oder roth glaͤnzen. Jene die ſich begegnen, ſind zwei Weiber, die einander beſu - chen: dieſer ſchießende Stern iſt eine zum Beſuch reiſende Seele. Dies große Geſtirn (der Baͤr) iſt ein Rennthier: jene Siebenſterne ſind Hunde, die einen Baͤren hetzen: jene (Orions Guͤrtel) ſind Verwilderte, die vom Seehundfange nicht nach Hauſe finden konnten und unter die Sterne kamen. Mond und Sonne ſind zwei leibliche Geſchwiſter. Malina, die Schweſter, wurde von ihrem Bruder im Finſtern verfolgt: ſie wollte ſich mit der Flucht retten, fuhr in die Hoͤhe und ward zur Sonne. Anninga fuhr ihr nach und ward zum Monde: noch immer laͤuft der Mond um die jungfraͤuliche Sonne um - her, in Hoffnung ſie zu haſchen, aber vergebens. Muͤde und abgezehrt (beim letzten Viertheil) faͤhrt er auf den Seehund - fang, bleibt einige Tage aus und kommt ſo fett wieder, wie wir ihn im Vollmond ſehen. Er freut ſich wenn Weiber ſter - ben und die Sonne hat ihre Luſt an der Maͤnner Tode. „ —
Niemand wuͤrde mirs danken, wenn ich fortfuͤhre, die Phantaſieen mehrerer Voͤlker alſo zu zeichnen. Faͤnde ſich jemand, der dies Reich der Einbildungen, den wahren Lim - bus der Eitelkeit, der unſre Erde umgiebt, zu durchreiſen LuſtT 2haͤtte:148haͤtte: ſo wuͤnſchte ich ihm den ruhigen Bemerkungsgeiſt, der zuerſt frei von allen Hypotheſen der Uebereinſtimmung und Abſtammung, allenthalben nur wie auf ſeinem Ort waͤre und auch jede Thorheit ſeiner Mitbruͤder lehrreich zu machen wuͤß - te. Was ich auszuzeichnen habe, ſind einige allgemeine Wahr - nehmungen aus dieſem lebendigen Schattenreich phantaſi - render Voͤlker.
1. Ueberall charakteriſiren ſich in ihm Klimate und Nationen. Man halte die Groͤnlaͤndiſche mit der Jn - diſchen, die Lapplaͤndiſche mit der Japaniſchen, die Peruaniſche mit der Negermythologie zuſammen; eine voͤllige Geographie der dichtenden Seele. Der Bramine wuͤrde ſich kaum Ein Bild denken koͤnnen, wenn man ihm die Voluſpa der Jslaͤn - der vorlaͤſe und erklaͤrte: der Jslaͤnder faͤnde beim Wedam ſich eben ſo fremde. Jeder Nation iſt ihre Vorſtellungsart um ſo tiefer eingepraͤgt, weil ſie ihr eigen, mit ihrem Himmel und ihrer Erde verwandt, aus ihrer Lebensart entſproßen, von Vaͤtern und Urvaͤtern auf ſie vererbt iſt. Wobei ein Fremder am meiſten ſtaunt, glauben ſie am deutlichſten zu begreifen: wobei er lacht, ſind ſie hoͤchſt ernſthaft. Die Jndier ſagen, daß das Schickſal des Menſchen in ſein Gehirn geſchrieben ſei, deſſen feine Striche die unlesbaren Lettern aus dem Buch des Verhaͤngnißes darſtellten; oft ſind die willkuͤhrlichſtenNatio -149National-Begriffe und Meinungen ſolche Hirngemaͤhlde, ein - gewebte Zuͤge der Phantaſie vom veſteſten Zuſammenhange mit Leib und Seele.
2. Woher dieſes? Hat jeder Einzelne dieſer Menſchen - heerden ſich ſeine Mythologie erfunden, daß er ſie etwa wie ſein Eigenthum liebe? Mit nichten. Er hat nichts in ihr erfunden; er hat ſie geerbt. Haͤtte er ſie durch eignes Nach - denken zuwegegebracht: ſo koͤnnte er auch durch eignes Nach - denken vom Schlechtern zum Beßern gefuͤhrt werden; das iſt aber hier der Fall nicht. Als Dobritzhofera)Dobritzhofer Geſch. der Abiponer Th. 1. es einer gan - zen Schaar tapfrer und kluger Abiponer vorſtellte, wie laͤcher - lich ſie ſich vor den Drohungen eines Zauberers, der ſich in ei - nen Tyger verwandeln wollte, und deſſen Klauen ſie ſchon an ſich zu fuͤhlen meinten, entſetzten: „ ihr erlegt, ſprach er zu ihnen, taͤglich im Felde wahre Tyger, ohne euch daruͤber zu entſetzen; warum erblaßet ihr ſo feige uͤber einen Eingebilde - ten, der nicht da iſt? „ Jhr Vaͤter, ſprach ein tapfrer Abipone, habt von unſern Sachen noch keine aͤchten Begriffe. Die Tyger auf dem Felde fuͤrchten wir nicht, weil wir ſie ſehen: da erlegen wir ſie ohne Muͤhe. Die kuͤnſtlichen Tyger aber ſetzen uns in Angſt, eben weil wir ſie nicht ſehen und alſo auch nicht zu toͤdten vermoͤgen. „ Mich duͤnkt, hier liegt der Kno -T 3ten.150ten. Waͤren uns alle Begriffe ſo klar, wie Begriffe des Auges, haͤtten wir keine andern Einbildungen, als die wir von Gegenſtaͤnden des Geſichts abgezogen haͤtten und mit ihnen vergleichen koͤnnten: ſo waͤre die Quelle des Betruges und Jrrthums, wo nicht verſtopft ſo doch wenigſtens bald erkenn - bar. Nun aber ſind die meiſten Phantaſieen der Voͤlker Toͤchter des Ohrs und der Erzaͤhlung. Neugierig horchte das unwiſſende Kind den Sagen, die wie Milch der Mutter, wie ein feſtlicher Wein des vaͤterlichen Geſchlechts in ſeine Seele floßen und ſie naͤhrten. Sie ſchienen ihm, was es ſah, zu erklaͤren: dem Juͤnglinge gaben ſie Bericht von der Lebens - art ſeines Stammes und von ſeiner Vaͤter Ehre: ſie weihe - ten den Mann national und klimatiſch in ſeinem Beruf ein und ſo wurden ſie auch untrennbar von ſeinem ganzen Leben. Der Groͤnlaͤnder und Tunguſe ſieht Lebenslang nun wirklich was er in ſeiner Kindheit eigentlich nur reden hoͤrte und ſo glaubt ers als eine geſehene Wahrheit. Daher die ſchreck - haften Gebraͤuche ſo vieler, der entferntſten Voͤlker bei Mond - und Sonnenfinſterniſſen; daher ihr fuͤrchterlicher Glaube an die Geiſter der Luft, des Meers und aller Elemente. Wo irgend Bewegung in der Natur iſt, wo eine Sache zu leben ſcheint und ſich veraͤndert, ohne daß das Auge die Geſetze der Veraͤnderung wahrnimmt: da hoͤret das Ohr Stimmen und Rede, die ihm das Raͤthſel des Geſehenen durchs Nichtge -ſehene151ſehene erklaͤren: die Einbildungskraft wird geſpannt und auf ihre Weiſe d. i. durch Einbildungen befriedigt. Ueberhaupt iſt das Ohr der furchtſamſte, der ſcheueſte aller Sinne; es empfindet lebhaft aber nur dunkel: es kann nicht zuſammen - halten, nicht bis zur Klarheit vergleichen: denn ſeine Gegen - ſtaͤnde gehn im betaͤubenden Strom voruͤber. Beſtimmt, die Seele zu wecken, kann es, ohne Beihuͤlfe der andern Sinne inſonderheit des Auges, ſie ſelten bis zur deutlichen Gnug - thuung belehren.
3. Man ſiehet daher, bei welchen Voͤlkern die Ein - bildungskraft am ſtaͤrkſten geſpannt ſeyn muͤſſe? bei ſolchen naͤmlich, die die Einſamkeit lieben, die wilde Gegenden der Natur, die Wuͤſte, ein felſigtes Land, die Sturmreiche Kuͤſte des Meers, den Fuß Feuerſpeiender Berge oder andre Wunder - und Bewegungvolle Erdſtriche bewohnen. Von den aͤlteſten Zeiten an, iſt die Arabiſche Wuͤſte eine Mutter hoher Einbildungen geweſen und die ſolchen nachhingen, wa - ren meiſtentheils einſame, ſtaunende Menſchen. Jn der Ein - ſamkeit empfing Mahomed ſeinen Koran: ſeine erregte Phan - taſie verzuͤckte ihn in den Himmel und zeigte ihm alle Engel, Seligen und Welten: nie iſt ſeine Seele entflammter, als wenn ſie den Blitz der einſamen Nacht, den Tag der großen Wiedervergeltung und andre unermeßliche Gegenſtaͤnde mah -let.152let. Wo und wie weit hat ſich nicht der Aberglaube der Scha - manen verbreitet? Von Groͤnland und dem dreifachen Lapp - land an uͤber die ganze naͤchtliche Kuͤſte des Eismeers tief in die Tatarei hinab, nach Amerika hin und faſt durch dieſen ganzen Welttheil. Ueberall erſcheinen Zauberer und allent - halben ſind Schreckbilder der Natur die Welt in der ſie leben. Mehr als drei Viertheile der Erde ſind alſo dieſes Glaubens: denn auch in Europa hangen die meiſten Nationen Finniſchen und Slaviſchen Urſprunges noch an den Zaubereien des Na - turdienſtes und der Aberglaube der Neger iſt nichts als ein nach ihrem Genius und Klima geſtalteter Schamanismus. Jn den Laͤndern der Aſiatiſchen Cultur iſt dieſer zwar von po - ſitiven kuͤnſtlichern Religionen und Staatseinrichtungen ver - draͤngt worden; er laͤßt ſich aber blicken, wo er ſich blicken laſſen darf, in der Einſamkeit und beim Poͤbel; bis er auf einigen Jnſeln des Suͤdmeers wieder in großer Macht herr - ſchet. Der Dienſt der Natur hat alſo die Erde umzogen und die Phantaſieen deſſelben halten ſich an jeden klimatiſchen Ge - genſtand der Uebermacht und des Schreckens, an den die menſchliche Nothdurft grenzet. Jn aͤltern Zeiten war er der Gottesdienſt beinah aller Voͤlker der Erde.
4. Daß die Lebensart und der Genius jedes Volks hiebei maͤchtig einwirke, bedarf faſt keiner Erwaͤhnung. Der153Der Schaͤfer ſiehet die Natur mit andern Augen an als der Fiſcher und Jaͤger: und in jedem Erdſtrich ſind auch dieſe Gewerbe wiederum, wie die Charaktere der Nationen, ver - ſchieden. Mich wunderte z. B. in der Mythologie der ſo noͤrdlichen Kamtſchadalen eine freche Luͤſternheit zu bemerken, die man eher bei einer ſuͤdlichen Nation ſuchen ſollte; ihr Klima indeſſen und ihr genetiſcher Charakter geben auch uͤber dieſe Anomalie Aufſchlußa)S. Steller, Kraſcheninikow u. f.. Jhr kaltes Land hat Feuer - ſpeiende Berge und heiße Quellen: ſtarrende Kaͤlte und ko - chende Glut ſind im Streit daſelbſt; ihre luͤſterne Sitten, wie ihre grobe mythologiſche Poſſen ſind ein natuͤrliches Pro - duct von beiden. Ein Gleiches iſts mit jenen Maͤhrchen der ſchwatzhaften, brauſenden Neger, die weder Anfang noch En - de habenb)S. Roͤmer, Boßmann, Muͤller, Oldendorp u. f.: ein Gleiches mit der zuſammengedruͤckten, veſten Mythologie der Nord-Amerikanerc)S. Lafiteau, le Beau, Carver u. a.; ein Gleiches mit der Blumenphantaſie der Jndierd)Baldeus, Dow, Sonnerat, Holwell u. f., die, wie ſie ſelbſt, die wohl - luͤſtige Ruhe des Paradieſes hauchet. Jhre Goͤtter baden in Milch - und Zuckerſeen: ihre Goͤttinnen wohnen auf kuͤh - lenden Teichen im Kelch ſuͤßduftender Blumen. Kurz, dieMytho -Jdeen, II. Th. U154Mythologie jedes Volks iſt ein Abdruck der eigentlichen Art, wie es die Natur anſah, inſonderheit ob es ſeinem Klima und Genius nach, mehr Gutes oder Uebel in derſelben fand und wie es ſich etwa das Eine durch das Andre zu erklaͤren ſuchte. Auch in den wildeſten Strichen alſo und in den mißrathenſten Zuͤgen iſt ſie ein philoſophiſcher Verſuch der menſchlichen Seele, die ehe ſie aufwacht, traͤumt und gern in ihrer Kindheit bleibet.
5. Gewoͤhnlich ſiehet man die Angekoks, die Zauberer, Magier, Schamanen und Prieſter als die Urheber dieſer Ver - blendungen des Volks an und glaubt, alles erklaͤrt zu haben, wenn man ſie Betruͤger nennet. An den meiſten Orten ſind ſie es freilich; nie aber vergeſſe man, daß ſie ſelbſt Volk ſind und alſo auch Betrogene aͤlterer Sagen waren. Jn der Maſſe der Einbildungen ihres Stammes wurden ſie erzeugt und erzogen: ihre Weihung geſchah durch Faſten, Einſamkeit, Anſtrengung der Phantaſie, durch Abmattung des Leibes und der Seele; daher niemand ein Zauberer ward, bis ihm ſein Geiſt erſchien und alſo in ſeiner Seele zuerſt das Werk vollen - det war, das er nachher Lebenslang, mit wiederholter aͤhnli - cher Anſtrengung der Gedanken und Abmattung des Leibes fuͤr andre treibet. Die kaͤlteſten Reiſenden muſten bei manchen Gaukelſpielen dieſer Art erſtaunen, weil ſie Erfolge der Ein - bildungskraft ſahen, die ſie kaum moͤglich geglaubt hatten undſich155ſich oft nicht zu erklaͤren wußten. Ueberhaupt iſt die Phan - taſie noch die unerforſchteſte und vielleicht die unerforſchlichſte aller menſchlichen Seelenkraͤfte: denn da ſie mit dem ganzen Bau des Koͤrpers, inſonderheit mit dem Gehirn und den Nerven zuſammenhangt, wie ſo viel wunderbare Krankheiten zeigen: ſo ſcheint ſie nicht nur das Band und die Grundlage aller feinern Seelenkraͤfte ſondern auch der Knote des Zuſam - menhanges zwiſchen Geiſt und Koͤrper zu ſeyn, gleichſam die ſproßende Bluͤthe der ganzen ſinnlichen Organiſation zum wei - tern Gebrauch der denkenden Kraͤfte. Nothwendig iſt ſie alſo auch das Erſte, was von Eltern auf Kinder uͤbergeht, wie dies abermals viele widernatuͤrliche Beiſpiele, ſammt der un - anſtreitbaren Aehnlichkeit des aͤußern und innern Organismus auch in den zufaͤlligſten Dingen bewaͤhret. Man hat lange geſtritten, ob es angebohrne Jdeen gebe? und wie man das Wort verſtand, finden ſie freilich nicht ſtatt; nimmt man es aber fuͤr die naͤchſte Anlage zum Empfaͤngniß, zur Verbin - dung, zur Ausbreitung gewiſſer Jdeen und Bilder: ſo ſchei - net ihnen nicht nur nichts entgegen, ſondern auch alles fuͤr ſie. Kann ein Sohn ſechs Finger, konnte die Familie des Porcu - pine-man in England ſeinen unmenſchlichen Auswuchs erben, geht die aͤußere Bildung des Kopfs und Angeſichts oft augen - ſcheinlich uͤber; wie koͤnnte es ohne Wunder geſchehen, daß nicht auch die Bildung des Gehirns uͤberginge und ſich vielleichtU 2in156in ihren feinſten organiſchen Faltungen vererbte? Unter man - chen Nationen herrſchen Krankheiten der Phantaſie, von de - nen wir keinen Begrif haben: alle Mitbruͤder des Kranken ſchonen ſein Uebel, weil ſie die genetiſche Diſpoſition dazu in ſich fuͤhlen. Unter den tapfern und geſunden Abiponern z. B. herrſcht ein periodiſcher Wahnſinn, von welchem in den Zwi - ſchenſtunden der Wuͤtende nichts weiß: er iſt geſund, wie er geſund war; nur ſeine Seele, ſagen ſie, iſt nicht bei ihm. Unter mehrern Voͤlkern hat man, dieſem Uebel Ausbruch zu geben, Traumfeſte verordnet, da dem Traͤumenden alles, was ihm ſein Geiſt befiehlt, zu thun erlaubt iſt. Ueberhaupt ſind bei allen Phantaſiereichen Voͤlkern die Traͤume wunderbar maͤchtig; ja wahrſcheinlich waren auch Traͤume die erſten Mu - ſen, die Muͤtter der eigentlichen Fiction und Dichtkunſt. Sie brachten die Menſchen auf Geſtalten und Dinge, die kein Auge geſehen hatte, deren Wunſch aber in der menſchlichen Seele lag: denn was z. B. war natuͤrlicher, als daß geliebte Ver - ſtorbene dem Hinterlaſſenen in Traͤumen erſchienen und daß die ſo lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenigſtens als Schatten im Traum mit uns zu leben wuͤnſchten. Die Geſchichte der Nationen wird zeigen, wie die Vorſehung das Organ der Einbildung, wodurch ſie ſo ſtark, ſo rein und na - tuͤrlich auf Menſchen wirken konnte, gebraucht habe; abſcheu - lich aber wars, wenn der Betrug oder der Deſpotismus esmis -157misbrauchte und ſich des ganzen noch ungebaͤndigten Oceans menſchlicher Phantaſieen und Traͤume zu ſeiner Abſicht bediente.
Großer Geiſt der Erde, mit welchem Blick uͤberſchaueſt du alle Schattengeſtalten und Traͤume, die ſich auf unſrer runden Kugel jagen: denn Schatten ſind wir und unſre Phan - taſie dichtet nur Schattentraͤume. So wenig wir in reiner Luft zu athmen vermoͤgen: ſo wenig kann ſich unſrer zuſam - mengeſetzten, aus Staub gebildeten Huͤlle jetzt noch die reine Vernunft ganz mittheilen. Jndeſſen auch in allen Jrrgaͤn - gen der Einbildungskraft wird das Menſchengeſchlecht zu ihr erzogen; es hangt an Bildern, weil dieſe ihm Eindruck von Sachen geben, es ſieht und ſuchet auch im dickſten Nebel Stralen der Wahrheit. Gluͤcklich und auserwaͤhlt iſt der Menſch, der in ſeinem engebeſchraͤnkten Leben, ſo weit er kann, von Phantaſieen zum Weſen d. i. aus der Kindheit zum Mann erwaͤchſt und auch in dieſer Abſicht die Geſchichte ſeiner Bruͤ - der mit reinem Geiſt durchwandert. Edle Ausbreitung giebt es der Seele, wenn ſie ſich aus dem engen Kreiſe, den Klima und Erziehung um uns gezogen, herauszuſetzen wagt und un - ter andern Nationen wenigſtens lernt, was man entbehren moͤge. Wie manches findet man da entbehrt und entbehrlich, was man lange fuͤr weſentlich hielt! Vorſtellungen, die wirU 3oft158oft fuͤr die allgemeinſten Grundſaͤtze der Menſchenvernunft erkannten, verſchwinden dort und hier mit dem Klima eines Orts, wie dem Schiffenden das veſte Land als Wolke ver - ſchwindet. Was dieſe Nation ihrem Gedankenkreiſe unent - behrlich haͤlt, daran hat jene nie gedacht oder haͤlt es gar fuͤr ſchaͤdlich. So irren wir auf der Erde in einem Labyrinth menſchlicher Phantaſieen umher: wo aber der Mittelpunkt des Labyrinths ſei? auf den alle Jrrgaͤnge wie gebrochne Stralen zur Sonne zuruͤckfuͤhren, das iſt die Frage.
Man iſt gewohnt, die Nationen der Erde in Jaͤger, Fiſcher, Hirten und Ackerleute abzutheilen und nach dieſer Abtheilung nicht nur den Rang derſelben in der Cultur, ſondern auch die Cultur ſelbſt als eine nothwendige Folge dieſer oder jener Le -bens -159bensweiſe zu beſtimmen. Vortreflich, wenn dieſe Lebenswei - ſen zuerſt nur ſelbſt beſtimmt waͤren; ſie aͤndern ſich aber bei - nah mit jedem Erdſtrich und verſchlingen ſich meiſtens ſo ſehr in einander, daß die Anwendung der reinen Claſſification uͤber - aus ſchwer wird. Der Groͤnlaͤnder, der den Wallfiſch trift, das Rennthier jagt, den Seehund toͤdtet, iſt Fiſcher und Jaͤ - ger; aber auf ganz andre Weiſe, als der Neger Fiſche faͤngt oder der Arauker auf den Wuͤſteneien der Andes jaget. Der Beduin und der Mongole, der Lappe und Peruaner ſind Hir - ten; wie verſchieden aber von einander, wenn jener Kameele, dieſer Pferde, der dritte Rennthiere, der vierte Alpaka's und Llacma's weidet. Der Ackermann in Whidah und der Japa - neſe ſind einander ſo unaͤhnlich, als im Handel der Englaͤn - der und Sineſe.
Eben ſo wenig ſcheint auch das Beduͤrfniß allein, ſelbſt wenn Kraͤfte gnug in der Nation da ſind, die auf ihre Ent - wicklung warten, Cultur hervorbringen zu koͤnnen: denn ſo - bald ſich die Traͤgheit des Menſchen mit ſeinem Mangel ab - gefunden und beide das Kind hervorgebracht haben, das er Behaglichkeit nennt, verharret der Menſch in ſeinem Zuſtande und laͤßt ſich kaum mit Muͤhe zur Verbeſſerung treiben. Es kommt alſo noch auf andre einwirkende Urſachen an, die die Lebensart eines Volks ſo oder anders beſtimmten; hier indeſ -ſen160ſen nehmen wir ſie als beſtimmt an und unterſuchen, was ſich in verſchiednen derſelben, fuͤr thaͤtige Seelenkraͤfte aͤußern.
Menſchen, die ſich von Wurzeln, Kraͤutern und Fruͤch - ten naͤhren, werden, wenn nicht beſondre Triebfedern der Cul - tur dazu kommen, lange muͤßig und an Kraͤften eingeſchraͤnkt bleiben. Jn einem ſchoͤnen Klima und von einem milden Stamm entſproßen, iſt ihre Lebensart milde: denn warum ſollten ſie ſtreiten, wenn ihnen die reiche Natur alles ohne Muͤhe darbeut? mit Kuͤnſten und Erfindungen aber reichen ſie auch nur an das taͤgliche Beduͤrfniß. Die Einwohner der Jnſeln, die die Natur mit Fruͤchten, inſonderheit mit der wohlthaͤtigen Brodfrucht naͤhrte und unter einem ſchoͤnen Himmel mit Rinden und Zweigen kleidete, lebten ein ſanftes, gluͤckliches Leben. Die Voͤgel, ſagt die Erzaͤhlung, ſaßen auf den Schultern der Marianen und ſangen ungeſtoͤrt: Bogen und Pfeile kannten ſie nicht: denn kein wildes Thier foderte ſie auf, ſich ihrer Haut zu wehren. Auch das Feuer war ih - nen fremde: ihr mildes Klima ließ ſie ohne daſſelbe behaglich leben. Ein aͤhnlicher Fall wars mit den Einwohnern der Karolinen und andrer gluͤcklichen Jnſeln des Suͤdmeers; nur daß in einigen die Cultur der Geſellſchaft ſchon hoͤher geſtie - gen war und aus mancherlei Urſachen mehrere Kuͤnſte und Gewerbe vereint hatte. Wo das Klima rauher wird, muͤſ -ſen161ſen die Menſchen auch zu haͤrtern und mehreren Lebensarten ihre Zuflucht nehmen. Der Neuhollaͤnder verfolgt ſein Kaͤnguru und Opoßum, er ſchießt Voͤgel, faͤngt Fiſche, ißt Yam-Wur - zeln; er hat ſo viel Lebensarten vereinigt, als die Sphaͤre ſei - ner rauhen Behaglichkeit fodert, bis dieſe ſich gleichſam ruͤn - det und er nach ſeiner Weiſe in ihr gluͤcklich lebet. So iſts mit den Neukaledoniern und Neuſeelaͤndern, die armſeligen Feuerlaͤnder ſelbſt nicht ausgenommen. Sie hatten Kaͤhne von Baumrinden, Bogen und Pfeile, Korb und Taſche, Feuer und Huͤtte, Kleider und Hacken; alſo die Anfaͤnge von allen den Kuͤnſten, womit die gebildetſten Erdvoͤlker ihre Cultur vol - lendet haben; nur bei ihnen, unter dem Joch der druͤckenden Kaͤlte, im oͤdeſten Felſenlande, iſt alles noch der roheſte An - fang geblieben. Die Californier beweiſen ſo viel Verſtand, als ihr Land und ihre Lebensart giebt und fodert. So iſts mit den Einwohnern auf Labrador und mit allen Menſchen - nationen am duͤrftigen Rande der Erde. Allenthalben haben ſie ſich mit dem Mangel verſoͤhnt und leben in ihrer erzwun - genen Thaͤtigkeit durch erbliche Gewohnheit gluͤcklich. Was nicht zu ihrer Nothdurft gehoͤrt, verachten ſie; ſo gelenk der Eskimo auf dem Meer rudert: ſo hat er das Schwimmen noch nicht gelernet.
Auf dem großen veſten Lande unſrer Erdkugel draͤngen ſich Menſchen und Thiere mehr zuſammen: der VerſtandJdeen, II. Th. Xjener162jener ward alſo durch dieſe auf mannichfaltigere Weiſe geuͤbet. Freilich mußten die Bewohner mancher Suͤmpfe in Amerika auch zu Schlangen und Eidechſen, zum Jguan, Armadill und Alligator ihre Zuflucht nehmen; die meiſten Nationen aber wurden Jagdvoͤlker auf edlere Art. Was fehlt einem Nord - und Suͤdamerikaner an Faͤhigkeit zum Beruf ſeines Lebens? Er kennt die Thiere, die er verfolgt, ihre Wohnungen, Haus - haltungen und Liſten und wapnet ſich gegen ſie mit Staͤrke, Verſchlagenheit und Uebung. Zum Ruhm eines Jaͤgers, wie in Groͤnland eines Seehundfaͤngers, wird der Knabe erzogen: hievon hoͤrt er Geſpraͤche, Lieder, ruͤhmliche Thaten, die man ihm auch in Geberden und begeiſternden Taͤnzen vormahlet. Von Kindheit auf lernt er Werkzeuge verfertigen und ſie ge - brauchen: er ſpielt mit den Waffen und verachtet die Weiber; denn je enger der Kreis des Lebens und je beſtimmter das Werk iſt, in dem man Vollkommenheit ſucht; deſto eher wird dieſe erhalten. Nichts alſo ſtoͤret den ſtrebenden Juͤngling in ſei - nem Lauf, vielmehr reizt und ermuntert ihn alles, da er im Auge ſeines Volks, im Stande und Beruf ſeiner Vaͤter lebet. Wenn jemand ein Kunſtbuch von den Geſchicklichkeiten ver - ſchiedner Nationen zuſammentruͤge: ſo wuͤrde er ſolche auf unſerm Erdboden zerſtreuet und jede an ihrem Platz bluͤhend finden. Hier wirft ſich der Neger in die Brandung, in die ſich kein Europaͤer wagt: dort klettert er auf Baͤume, wo ihnunſer163unſer Auge kaum erreicht. Jener Fiſcher treibt ſein Werk mit einer Kunſt, als ob er die Fiſche beſchwuͤre: dieſer Samo - jede begegnet dem weißen Baͤr und nimmts mit ihm auf: je - nem Neger ſind zwei Loͤwen nicht zu viel, wenn er Staͤrke und Liſt verbindet. Der Hottentotte geht aufs Naſehorn und Fluß - pferd los: der Bewohner der Kanarieninſeln gleitet auf den ſteilſten Felſen umher, die er wie ein Gems beſpringet: die ſtarke, maͤnnliche Tibetanerin traͤgt den Fremden uͤber die un - geheuerſten Berge der Erde. Das Geſchlecht des Prome - theus, das aus den Theilen und Trieben aller Thiere zuſam - mengeſetzt ward, hat dieſe auch alleſammt, das Eine hie, das andre dort, an Kuͤnſten und Geſchicklichkeiten uͤberwunden nachdem es dieſe alle von ihnen gelernet.
Daß die meiſten Kuͤnſte der Menſchen von Thieren und der Natur gelernt ſind, iſt außer Zweifel. Warum kleidet ſich der Mariane in Baumhuͤllen und der Amerikaner und Papu ſchmuͤcket ſich mit Federn? Weil jener mit Baͤumen lebt und von ihnen ſeine Nahrung holt; dem Amerikaner und Papu ſind die bunten Voͤgel ſeines Landes das Schoͤnſte, das er ſiehet. Der Jaͤger kleidet ſich wie ſein Wild und bauet wie ſein Biber; andre Voͤlker hangen wie Voͤgel auf den Baͤu - men oder machen ſich auf der Erde ihre Huͤtten wie Neſter. Der Schnabel des Vogels war dem Menſchen das VorbildX 2zu164zu Spies und Pfeilen; wie die Geſtalt des Fiſches zu ſeinem kuͤnſtlich ſchwimmenden Boot. Von der Schlange lernte er die ſchaͤdliche Kunſt, ſeine Waffen zu vergiften; und die ſon - derbar-weit verbreitete Gewohnheit, den Koͤrper zu mahlen, war ebenfalls nach dem Vorbilde der Thiere und Voͤgel. Wie? dachte er, dieſe ſollten ſo ſchoͤn geziert, ſo unterſchieden geſchmuͤckt ſeyn: und ich muͤßte mit einfoͤrmiger, blaſſer Farbe umher - gehn, da mein Himmel und meine Traͤgheit keine Decken lei - det? Und ſo fing er an, ſich ſymmetriſch zu ſticken und zu mahlen: ſelbſt bekleidete Nationen wollten dem Ochſen ſein Horn, dem Vogel den Kamm, dem Baͤren den Schwanz nicht goͤnnen und ahmten ſie nach. Dankbar ruͤhmen es die Nord - Amerikaner, daß ein Vogel ihnen den Maiz gebracht; und die meiſten klimatiſchen Arzneien ſind offenbar den Thieren ab - gelernet. Allerdings gehoͤrte zu dieſem Allen der ſinnliche Geiſt freier Naturmenſchen, die mit dieſen Geſchoͤpfen lebend, ſich noch nicht ſo unendlich-erhaben uͤber ſie glaubten. Den Europaͤern ward es ſchwer, in andern Welttheilen nur aufzu - finden, was die Eingebohrnen taͤglich nuͤtzten; nach langen Verſuchen mußten ſie doch von Jenen das Geheimniß erſt er - zwingen oder erbetteln.
Ungleich weiter aber kam der Menſch dadurch, daß er Thiere zu ſich lockte und ſie endlich unterjochte; der ungeheureUnter -165Unterſchied nachbarlicher Nationen, die mit oder ohne dieſe Subſtituten ihrer Kraͤfte leben, iſt augenſcheinlich. Woher kams, daß das entlegne Amerika dem groͤßeſten Theil der al - ten Welt bei Entdeckung deſſelben noch ſo weit nachſtand und die Europaͤer mit den Einwohnern, wie mit einer Heerde un - bewehrter Schaafe umgehen konnten? An koͤrperlichen Kraͤften lag es nicht allein, wie noch jetzt die Beiſpiele aller ungezaͤhl - ten Waldnationen zeigen: im Wuchs, in ſchnellem Lauf, in raſcher Gewandheit uͤbertreffen ſie, Mann gegen Mann ge - rechnet, die meiſten der Nationen, die um ihr Land wuͤrfeln. An Verſtandeskraft, ſo fern ſie fuͤr einen einzelnen Menſchen gehoͤrt, lag es auch nicht: der Amerikaner hatte fuͤr ſich zu ſorgen gewußt und mit Weib 'und Kindern gluͤcklich gelebet. Alſo lag es an Kunſt, an Waffen, an gemeinſamer Verbin - dung, am meiſten aber an bezaͤhmten Thieren. Haͤtte der Amerikaner das Einzige Pferd gehabt, deſſen kriegeriſche Maje - ſtaͤt er zitternd anerkannte, waͤren die wuͤtenden Hunde ſein geweſen, die die Spanier als mitbeſoldete Diener der katholi - ſchen Majeſtaͤt auf ihn hetzten; die Eroberung haͤtte mehr gekoſtet und den reitenden Nationen waͤre wenigſtens der Ruͤck - zug auf ihre Berge, in ihre Wuͤſten und Ebnen offen geblie - ben. Noch jetzt erzaͤhlen alle Reiſende, mache das Pferd den groͤßeſten Unterſchied der Amerikaniſchen Voͤlker. Die Rei - ter in Nord - inſonderheit in Suͤdamerika ſtehen von den ar -X 3men166men Unterjochten in Mexico und Peru ſo gewaltig ab, daß man ſie kaum fuͤr nachbarliche Bruͤder Eines Erdſtrichs erken - nen ſollte. Jene haben ſich nicht nur in ihrer Freiheit erhal - ten; ſondern an Koͤrper und Seele ſind ſie auch mannhaf - tere Menſchen worden, als ſie wahrſcheinlich bei Entdeckung des Landes waren. Das Roß, das die Unterdruͤcker ihrer Bruͤder ihnen als unwiſſende Werkzeuge des Schickſals zu - brachten, kann vielleicht einſt der Befreier ihres ganzen Welt - theils werden, wie die andern bezaͤhmten Thiere, die man ih - nen zufuͤhrte, zum Theil ſchon jetzt fuͤr ſie Werkzeuge eines be - quemern Lebens worden ſind und wahrſcheinlich einſt Huͤlfs - mittel einer eignen weſtlichen Cultur werden doͤrften. Wie dies aber allein in den Haͤnden des Schickſals ruhet: ſo kam es aus ſeinen Haͤnden und lag in der Natur des Welttheils, daß ſie ſo lange weder Pferd, noch Eſel, weder Hund noch Rind, weder Schaaf noch Ziege, noch Schwein, noch Katze, noch Kameel kannten. Sie hatten weniger Thiergattungen, weil ihr Land kleiner, von der alten Welt getrennt und einem gro - ßen Theil nach wahrſcheinlich ſpaͤter aus dem Schoos des Meers geſtiegen war, als die andern Welttheile; ſie konnten alſo auch weniger zaͤhmen. Das Alpaka und Llacma, die Kameelſchaafe von Mexico, Peru und Chili waren die einzi - gen zaͤhmbaren und bezaͤhmten Geſchoͤpfe: denn auch die Eu - ropaͤer haben mit ihrem Verſtande kein andres hinzufuͤgen undweder167weder den Kiki noch Pagi, weder den Tapir noch Ai zum nuͤtz - lichen Hausthier umbilden koͤnnen.
Jn der alten Welt dagegen wie viel ſind der bezaͤhmten Thiere! und wie viel ſind ſie dem thaͤtigen Verſtande des Men - ſchengeſchlechts worden! Ohne Kameel und Pferd waͤre die Arabiſche und Afrikaniſche Wuͤſte unzugangbar; das Schaaf und die Ziege haben der haͤuslichen Verfaſſung der Menſchen, das Rind und der Eſel dem Ackerbau und Handel der Voͤlker aufgeholfen. Jm einfachen Zuſtande lebte das Menſchenge - ſchoͤpf freundlich und geſellig mit dieſen Thieren: ſchonend ging es mit ihnen um und erkannte, was es ihnen zu danken habe. So lebt der Araber und Mogole mit ſeinem Roß, der Hirt mit ſeinem Schaaf, der Jaͤger mit ſeinem Hunde, der Peruaner mit ſeinem Llacmaa)Man leſe z. B. in Ulloa (Nachr. von Amerika Th. 1. S. 131.) die kindiſche Freude, mit der der Peruaner eine Llacma zu ſeinem Dienſt weihet. Die Lebensarten der andern Voͤlker mit ihren Thie - ren ſind aus Reiſebeſchreibungen gnugſam bekannt.. Bei einer menſchlichen Be - handlung gedeihen auch, wie allgemein bekannt iſt, alle Huͤlfs - geſchoͤpfe der menſchlichen Lebensweiſe beſſer: ſie lernen den Menſchen verſtehn und ihn lieben: es entwickeln ſich bei ih - nen Faͤhigkeiten und Neigungen, von denen weder das wilde noch das von Menſchen unterdruͤckte Thier weiß, das in fei -ſter168ſter Dummheit oder in abgenutzter Geſtalt ſelbſt die Kraͤfte und Triebe ſeiner Gattung verlieret. Jn einem gewiſſen Kreiſe haben ſich alſo Menſchen und Thiere zuſammengebildet: der praktiſche Verſtand jener hat ſich durch dieſe, die Faͤhig - keit dieſer hat ſich durch jene geſtaͤrkt und erweitert. Wenn man von den Hunden der Kamtſchadalen lieſet: ſo weiß man kaum, wer das vernuͤnftigere Geſchoͤpf ſei, ob der Hund oder der Kamtſchadale?
Jn dieſer Sphaͤre nun ſteht der erſte thaͤtige Verſtand des Menſchen ſtill, ja allen Nationen, die an ſie gewoͤhnt wa - ren, iſts ſie zu verlaſſen, ſchwer worden: inſonderheit hat ſich jede vor der unterjochenden Herrſchaft des Ackerbaues gefuͤrch - tet. So ſchoͤne Wieſenſtriche Nord-Amerika hat: ſo genau jede Nation ihr Eigenthum liebt und beſchuͤtzt; ja ſo ſehr manche durch die Europaͤer den Werth des Geldes, des Branntweins und einiger Bequemlichkeiten kennen gelernt ha - ben: ſo ſinds doch nur die Weiber, denen ſie die Bearbeitung des Feldes, den Bau des Maizes und einiger Gartenfruͤchte, ſo wie die ganze Beſorgung der Huͤtte uͤberlaſſen; der kriege - riſche Jaͤger hat ſich nicht entſchließen koͤnnen, ein Gaͤrtner, Hirt oder Ackermann zu werden. Das thaͤtige, freie Leben der Natur geht dem ſogenannt-Wilden uͤber Alles: mit Ge - fahren umringt, weckt es ſeine Kraͤfte, ſeinen Muth, ſeinenEnt -169Entſchluß und lohnt ihn dafuͤr mit Geſundheit im Leben, in ſeiner Huͤtte mit unabhaͤngiger Ruhe, in ſeinem Stamm mit Anſehen und Ehre. Weiter begehret, weiter bedarf er nichts; und was koͤnnte ihm auch ein andrer Zuſtand, deſſen Bequemlichkeiten er nicht kennet und deſſen Beſchwerden er nicht mag, fuͤr neue Gluͤckſeligkeit geben? Man leſe ſo manche unverſchoͤnte Rede derer, die wir Wilde nennen; iſt nicht ge - ſunder Verſtand, ſo wie natuͤrliche Billigkeit in ihnen unver - kennbar? Die Form des Menſchen iſt auch in dieſem Zuſtan - de, obwohl mit roher Hand und zu wenigen Zwecken, dennoch ſo weit ausgebildet, als ſie hier ausgebildet werden konnte; zur gleichmuͤthigen Zufriedenheit naͤmlich und nach einer dauer - haften langen Geſundheit zum ruhigen Abſchied aus dieſem Leben. Der Beduin und Abipone befindet ſich in ſeinem Zuſtande wohl; jener ſchauert vorm Leben der Staͤdte, wie der letzte vorm Begraͤbniß in der Kirche noch nach ſeinem Tode zuruͤckbebt: ſeinem Gefuͤhl nach waͤren ſie dort wie hier lebend begraben.
Auch wo der Ackerbau eingefuͤhrt iſt, hat es Muͤhe ge - koſtet, die Menſchen an Einen Erdklos zu beveſtigen und das Mein und Dein einzufuͤhren: manche Voͤlker kleiner cultivir - ter Negerkoͤnigreiche haben noch bis jetzt keine Begriffe davon, da, wie ſie ſagen, die Erde ein gemeines Gut iſt. JaͤhrlichJdeen, II. Th. Ytheilen170theilen ſie die Aecker unter ſich aus und bearbeiten ſie mit leich - ter Muͤhe; iſt die Ernte eingebracht, ſo gehoͤret der Boden ſich ſelbſt wieder. Ueberhaupt hat keine Lebensart in der Ge - ſinnung der Menſchen ſo viele Veraͤnderungen bewirkt, als der Ackerbau auf einem bezirkten Stuͤck Erde. Jndem er Hand - thierungen und Kuͤnſte, Flecken und Staͤdte hervorbrachte, und alſo Geſetze und Policei befoͤrdern mußte: hat er noth - wendig auch jenem fuͤrchterlichen Deſpotismus den Weg geoͤf - net, der, da er jeden auf ſeinem Acker zu finden wußte, zuletzt einem jeden vorſchrieb, was er auf dieſem Stuͤck Erde allein thun und ſeyn ſollte. Der Boden gehoͤrte jetzt nicht mehr dem Menſchen, ſondern der Menſch dem Boden. Durch den Nichtgebrauch verlor ſich auch bald das Gefuͤhl der gebrauch - ten Kraͤfte: in Sklaverei und Feigheit verſunken ging der Unterjochte vom arbeitſeligen Mangel zur weichen Ueppigkeit uͤber. Daher kommts, daß auf der ganzen Erde der Zeltbe - wohner, den Bewohner der Huͤtte, wie ein gefeſſeltes Laſtthier, wie eine verkuͤmmerte Abart ſeines Geſchlechts betrachtet. Der herbſte Mangel wird jenem eine Luſt, ſo lange Selbſtbeſtimmung und Freiheit ihn wuͤrzet und lohnet; dagegen alle Leckereien Gift ſind, ſobald ſie die Seele erſchlaffen und dem ſterblichen Geſchoͤpf den einzigen Genuß ſeines hinfaͤlligen Lebens, Wuͤr - de und Freiheit rauben.
Glaube171Glaube niemand, daß ich einer Lebensart, die die Vor - ſehung zu einem ihrer vornehmſten Mittel gebraucht hat, die Menſchen zur buͤrgerlichen Geſellſchaft zu bereiten, etwas von ihrem Werth rauben wolle: denn auch ich eſſe Brod der Erde. Nur laſſe man auch andern Lebensarten Gerechtigkeit wieder - fahren, die der Beſchaffenheit unſrer Erde nach eben ſo wohl zu Erzieherinnen der Menſchheit beſtimmt ſind als das Leben der Ackerleute. Ueberhaupt bauet der kleinſte Theil der Erd - bewohner den Acker nach unſrer Weiſe und die Natur hat ihm ſein anderweites Leben ſelbſt angewieſen. Jene zahlreiche Voͤlkerſchaften, die von Wurzeln, vom Reiß, von Baumfruͤch - ten, von der Jagd des Waſſers, der Luft und der Erde leben, die ungezaͤhlten Nomaden, wenn ſie ſich gleich jetzo etwa nach - barliches Brod kaufen oder etwas Getreide bauen, alle Voͤl - ker, die den Landbau ohne Eigenthum oder durch ihre Weiber und Knechte treiben, ſind alle noch eigentlich nicht Ackerleute; und welch ein kleiner Theil der Erde bleibt alſo dieſer kuͤnſt - lichen Lebensart uͤbrig? Nun hat die Natur entweder allent - halben ihren Zweck erreicht, oder ſie erreichte ihn nirgend. Der praktiſche Verſtand der Menſchen ſollte in allen Varietaͤten aufbluͤhen und Fruͤchte tragen: darum ward dem vielartig - ſten Geſchlecht eine ſo vielartige Erde.
Selbſterhaltung iſt das erſte, wozu ein Weſen da iſt: vom Staubkorn bis zur Sonne ſtrebt jedes Ding, was es iſt, zu bleiben; dazu iſt den Thieren Jnſtinkt eingepraͤgt: dazu iſt dem Menſchen ſein Analogon des Jnſtinkts oder der Vernunft gegeben. Gehorchend dieſem Geſetz ſuchet er ſich, durch den wilden Hunger gezwungen, uͤberall ſeine Speiſe: er ſtrebt, ohne daß er weiß warum und wozu? von Kindheit auf nach Uebung ſeiner Kraͤfte, nach Bewegung. Der Matte ruft den Schlummer nicht; aber der Schlummer kommt und er - neuet ihm ſein Daſeyn: dem Kranken hilft, wenn ſie kann, die innere Lebenskraft oder ſie verlanget wenigſtens und aͤchzet. Seines Lebens wehret ſich der Menſch gegen Alles, was ihn anficht und auch ohne daß ers weiß, hat die Natur in ihm und um ihn her Anſtalten gemacht, ihn dabei zu unterſtuͤtzen, zu wahren, zu erhalten.
Es173Es hat Philoſophen gegeben, die unſer Geſchlecht, dieſes Triebes der Selbſterhaltung wegen, unter die reiſſenden Thie - re geſetzt und ſeinen natuͤrlichen Zuſtand zu einem Stande des Kriegs gemacht haben. Offenbar iſt viel Uneigentliches in dieſer Behauptung. Freilich indem der Menſch die Frucht eines Baums bricht, iſt er ein Raͤuber, indem er ein Thier toͤdtet, ein Moͤrder und wenn er mit ſeinem Fuß, mit ſeinem Hauch vielleicht einer zahlloſen Menge ungeſehener Lebendigen das Leben nimmt, iſt er der aͤrgſte Unterdruͤcker der Erde. Jedermann weiß, wie weit es die zarte Jndiſche, ſo wie die uͤbertriebne Aegyptiſche Philoſophie zu bringen geſucht hat, damit der Menſch ein ganz unſchaͤdliches Geſchoͤpf werde; aber fuͤr die Spekulation vergebens. Jns Chaos der Elemente ſehen wir nicht; und wenn wir kein großes Thier verzehren, verſchlingen wir eine Menge kleiner Lebendiger im Waſſer, in der Luft, der Milch, den Gewaͤchſen.
Von dieſer Gruͤbelei alſo hinweg, ſtellen wir den Men - ſchen unter ſeine Bruͤder und fragen: iſt er von Natur ein Raubthier gegen Seinesgleichen, ein ungeſelliges Weſen? Seiner Geſtalt nach iſt er das Erſte nicht und ſeiner Geburt nach das Letzte noch minder. Jm Schoos der Liebe empfan - gen und an ihrem Buſen geſaͤuget, wird er von Menſchen auferzogen und empfieng von ihnen tauſend Gutes, das erY 3um174um ſie nicht verdiente. Sofern iſt er alſo wirklich in und zu der Geſellſchaft gebildet; ohne ſie konnte er weder entſtehen, noch ein Menſch werden. Wo Ungeſelligkeit bei ihm anfaͤngt, iſt, wo man ſeine Natur bedraͤngt, indem er mit andern Le - bendigen collidiret; hier iſt er aber wiederum keine Ausnahme, ſondern wirkt nach dem großen Geſetz der Selbſterhaltung in allen Weſen. Laſſet uns ſehen, was die Natur fuͤr Mittel ausſann, ihn dennoch auch hier, ſo viel ſie konnte, befriedi - gend einzuſchraͤnken und den Krieg aller gegen alle zu hindern.
1. Da der Menſch das vielfach-kuͤnſtlichſte Geſchoͤpf iſt: ſo findet auch bei keiner Gattung der Lebendigen eine ſo große Verſchiedenheit genetiſcher Charaktere ſtatt als beim Menſchen. Der hinreißende, blinde Jnſtinkt fehlet ſeinem feinen Gebilde: die Stralen der Gedanken und Begierden hingegen laufen in ſeinem Geſchlecht wie in keinem andern aus einander. Seiner Natur nach darf alſo der Menſch we - niger mit andern collidiren, da dieſe in einer ungeheuren Mannichfaltigkeit von Anlagen, Sinnen und Trieben bei ihm vertheilt und gleichſam vereinzelt iſt. Was Einem Menſchen gleichguͤltig vorkommt, ziehet den andern; und ſo hat jedwe - der eine Welt des Genuſſes um ſich, eine fuͤr ihn geſchaffene Schoͤpfung.
2. Die -1752. Dieſem divergirenden Geſchlecht gab die Natur ei - nen großen Raum, die reiche weite Erde auf der die verſchie - denſten Erdſtriche und Lebensweiſen die Menſchen zerſtreuen ſollten. Hier zog ſie Berge, dort Stroͤme und Wuͤſten, da - mit ſie die Menſchen auseinander braͤchte: den Jaͤgern gab ſie den weiten Wald, den Fiſchern das weite Meer, den Hir - ten die weite Ebne. Jhre Schuld iſts alſo nicht, wenn Voͤ - gel, betrogen von der Kunſt des Vogelſtellers in ein Netz flo - gen, wo ſie einander Speiſe und Augen weghacken und den Athem verpeſten: denn ſie ſetzte den Vogel in die Luft und nicht ins Netz des Voglers. Sehet jene wilden Staͤmme an, wie unwilde ſie unter ſich leben! Da neidet keiner den an - dern, da erwirbt ſich und genießt jeder das Seine in Frieden. Es iſt gegen die Wahrheit der Geſchichte, wenn man den boͤsartigen, widerſinnigen Charakter zuſammengedraͤngter Menſchen, wetteifernder Kuͤnſtler, ſtreitender Politiker, nei - diger Gelehrten zu allgemeinen Eigenſchaften des menſchlichen Geſchlechts macht; der groͤßeſte Theil der Menſchen auf der Erde weiß von dieſen ritzenden Stacheln und ihren blutigen Wunden nichts: er lebt in der freien Luft und nicht im ver - peſtenden Hauch der Staͤdte. Wer das Geſetz nothwendig macht, weil es ſonſt Geſetzesveraͤchter gaͤbe, der ſetzt voraus, was er erſt beweiſen ſollte. Draͤnget die Menſchen nicht in enge Kerker: ſo doͤrft ihr ihnen keine friſche Luft zufaͤcheln. Brin -176Bringet ſie nicht in kuͤnſtliche Raſerei: ſo doͤrft ihr ſie durch keine Gegenkuͤnſte binden.
3. Auch die Zeiten, wenn Menſchen zuſammen ſeyn mußten, verkuͤrzte die Natur, wie ſie ſie verkuͤrzen konnte. Der Menſch iſt einer langen Erziehung beduͤrftig; aber als - denn iſt er noch ſchwach: er hat die Art des Kindes, das zuͤrnt und wieder vergißt, das oft unwillig iſt, aber keinen langen Groll naͤhret. Sobald er Mann wird, wacht ein Trieb in ihm auf und er verlaͤßt das Haus des Vaters. Die Natur wirkte in dieſem Triebe: ſie ſtieß ihn aus, damit er ſein eigen Neſt bereite.
Und mit wem bereitet er daſſelbe? Mit einem Geſchoͤpf, das ihm ſo unaͤhnlich-aͤhnlich, das ihm in ſtreitbaren Leiden - ſchaften ſo ungleichartig gemacht iſt, als es im Zweck der Ver - einigung beider nur irgend geſchehen konnte. Des Weibes Natur iſt eine andre als des Mannes: ſie empfindet anders, ſie wirkt anders. Elender, deſſen Nebenbuhlerinn ſein Weib iſt oder die ihn in maͤnnlichen Tugenden gar uͤberwindet! Nur durch nachgebende Guͤte ſoll ſie ihn beherrſchen; und ſo wird der Zankapfel abermals ein Apfel der Liebe. — —
Weiter will ich die Geſchichte der Vereinzelung des Men - ſchengeſchlechts nicht fortſetzen; der Grund iſt gelegt, daß mitden177den verſchiednen Haͤuſern und Familien auch neue Geſellſchaf - ten, Geſetze, Sitten und ſogar Sprachen werden. Was zei - gen dieſe verſchiednen, dieſe unvermeidlichen Dialekte, die ſich auf unſrer Erde in unbeſchreibbarer Anzahl, und oft ſchon in der kleinſten Entfernung neben einander finden? Das zeigen ſie, daß es die weitverbreitende Mutter nicht auf Zuſammen - draͤngung, ſondern auf freie Verpflanzung ihrer Kinder an - legte. Kein Baum ſoll, ſo viel moͤglich, dem andern die Luft nehmen, damit dieſer ein Zwerg bleibe oder um einen freien Athemhauch zu genießen, ſich zum elenden Kruͤppel beuge. Eignen Platz ſoll er finden, damit er durch eignen Trieb Wur - zelaus in die Hoͤhe ſteige und eine bluͤhende Krone treibe.
Nicht Krieg alſo, ſondern Friede iſt der Natur-Zuſtand des unbedraͤngten menſchlichen Geſchlechts: denn Krieg iſt ein Stand der Noth, nicht des urſpruͤnglichen Genußes. Jn den Haͤnden der Natur iſt er, (die Menſchenfreſſerei ſelbſt ein - gerechnet) nie Zweck ſondern hie und da ein hartes, trauriges Mittel, dem die Mutter aller Dinge ſelbſt nicht allenthalben entweichen konnte, das ſie aber zum Erſatz dafuͤr auf deſto hoͤ - here, reichere, vielfachere Zwecke anwandte.
Ehe wir alſo zum traurigen Haß kommen doͤrfen, wollen wir von der erfreuenden Liebe reden. Ueberall auf der ErdeJdeen, II. Th. Ziſt178iſt ihr Reich; nur allenthalben zeigt ſie ſich unter andern Geſtalten.
Sobald die Blume ihren Wuchs erreicht hat, bluͤhet ſie; die Zeit der Bluͤthe richtet ſich alſo nach der Periode des Wuch - ſes und dieſe nach der ſie emportreibenden Sonnenwaͤrme. Die Zeit der fruͤheren oder ſpaͤteren Menſchenbluͤthe hangt gleichfalls vom Klima ab und von allem, was zu ihm gehoͤret. Sonderbar-weit ſind auf unſrer kleinen Erde die Zeiten der menſchlichen Mannbarkeit nach Lebensarten und Erdſtrichen verſchieden. Die Perſerin heirathet im achten und gebiert im neunten Jahr; unſre alten Deutſchen waren dreiſſigjaͤhrige Maͤnninnen, ehe ſie an die Liebe dachten.
Jedermann ſiehet, wie ſehr dieſe Unterſchiede das ganze Verhaͤltniß der Geſchlechter zu einander aͤndern mußten. Die Morgenlaͤnderin iſt ein Kind, wenn ſie verheirathet wird: ſie bluͤhet fruͤhe auf und fruͤhe ab: ſie wird von dem erwachſne - ren Mann alſo auch wie Kind und Blume behandelt. Da nun jene waͤrmeren Gegenden die Reize des phyſiſchen Trie - bes in beiden Geſchlechtern nicht nur fruͤher, ſondern auch leb - hafter entwickeln: welcher Schritt war naͤher, als daß der Mann die Vorzuͤge ſeines Geſchlechts gar bald misbrauchte und ſich einen Garten dieſer voruͤbergehenden Blumen ſamm -len179len wollte. Fuͤrs Menſchengeſchlecht war dieſer Schritt von großer Folge. Nicht nur, daß die Eiferſucht des Mannes ſeine mehreren Weiber in einen Harem ſchloß, wo ihre Aus - bildung mit dem maͤnnlichen Geſchlecht unmoͤglich gleich fort - gehen konnte; ſondern da die Erziehung des Weibes von Kind - heit auf fuͤr den Harem und die Geſellſchaft mehrerer Weiber eingerichtet, ja das junge Kind oft ſchon im zweiten Jahr ver - kauft oder vermaͤhlt ward: wie anders, als daß der ganze Um - gang des Mannes, die Einrichtung des Hauſes, die Erzie - hung der Kinder, endlich auch die Fruchtbarkeit ſelbſt mit der Zeit an dieſem Misverhaͤltniß theilnehmen mußte? Es iſt naͤmlich gnugſam erwieſen, daß eine zu fruͤhe Heirath des Weibes und ein zu ſtarker Reiz des Mannes weder der Tuͤch - tigkeit der Geſtalten noch der Fruchtbarkeit des Geſchlechts foͤrderlich ſei; ja die Nachrichten mehrerer Reiſenden machen es wahrſcheinlich, daß in manchen dieſer Gegenden wirklich meh - rere Toͤchter als Soͤhne gebohren werden: welches, wenn die Sache gegruͤndet iſt, ſowohl eine Folge der Polygamie ſeyn kann, als es wiederum eine fortwirkende Urſache derſelben wur - de. Und gewiß iſt dies nicht der einzige Fall, da die Kunſt und die gereizte Ueppigkeit der Menſchen die Natur aus ihrem Wege geleitet haͤtte: denn dieſe haͤlt ſonſt ein ziemliches Gleich - maas in den Geburten beider Geſchlechter. Wie aber das Weib die zarteſte Sproße unſrer Erde und die Liebe das maͤchtigſte Mo -Z 2bil180bil iſt, das von jeher in der Schoͤpfung gewirket: ſo mußte nothwendig die Behandlung derſelben auch der erſte kritiſche Scheidepunkt in der Geſchichte unſres Geſchlechts werden. Allenthalben war das Weib der erſte Zankapfel der Begier - den und ſeiner Natur nach gleichſam der erſte bruͤchige Stein im Gebaͤude der Menſchenſchoͤpfung — —
Laſſet uns z. B. Cook auf ſeiner letzten Reiſe begleiten. Wenn auf den Societaͤts - und andern Jnſeln das weibliche Geſchlecht dem Dienſt der Cythere eigen zu ſeyn ſchien ſo daß es ſich nicht nur ſelbſt um einen Nagel, einen Putz, eine Feder Preisgab: ſondern auch der Mann um einen kleinen Beſitz, der ihn luͤſtete, ſein Weib zu verhandeln, bereit war: ſo aͤn - dert ſich mit dem Klima und dem Charakter andrer Jnſulaner offenbar die Scene. Unter Voͤlkern, wo der Mann mit der Streitaxt erſchien, war auch das Weib verborgner im Hauſe: die rauhere Sitte jenes machte auch dieſe haͤrter, daß weder ihre Haͤßlichkeit noch ihre Schoͤnheit den Augen der Welt blos lag. An keinem Umſtande, glaube ich, laͤßt ſich der ei - gentliche Charakter eines Mannes oder einer Nation ſo unter - ſcheidend erkennen, als an der Behandlung des Weibes. Die meiſten Voͤlker, denen ihre Lebensart ſchwer wird, haben das weibliche Geſchlecht zu Hausthieren erniedrigt und ihm alle Beſchwerlichkeiten der Huͤtte aufgetragen: durch Eine Ge -fahr -181fahrvolle, kuͤhne, maͤnnliche Unternehmung glaubte der Mann dem Joch aller kleinen Geſchaͤfte entnommen zu ſeyn und uͤber - ließ dieſe den Weibern. Daher die große Subalternitaͤt die - ſes Geſchlechts unter den meiſten Wilden von allerlei Erd - ſtrichen: daher auch die Geringſchaͤtzung der Soͤhne gegen ihre Muͤtter, ſobald ſie in die maͤnnlichen Jahre treten. Fruͤ - he wurden ſie zu Gefahrvollen Uebungen erzogen, alſo oft an die Vorzuͤge des Mannes erinnert und eine Art rauhen Kriegs - oder Arbeit-Muthes trat bald an die Stelle zaͤrtlicher Neigung. Von Groͤnland bis zum Lande der Hottentotten herrſcht dieſe Geringſchaͤtzung der Weiber bei allen uncultivirten Nationen, ob ſie ſich gleich in jedem Volk und Welttheil anders geſtal - tet. Jn der Sklaverei ſogar iſt das Negerweib weit unter dem Neger und der armſeligſte Karibe duͤnkt ſich in ſeinem Hauſe ein Koͤnig.
Aber nicht nur die Schwachheit des Weibes ſcheint es dem Mann untergeordnet zu haben; ſondern an den meiſten Orten trug auch die groͤßere Reizbarkeit deſſelben, ſeine Liſt, ja uͤberhaupt die feinere Beweglichkeit ſeiner Seele dazu noch ein mehreres bei. Die Morgenlaͤnder z. B. begreifen es nicht, wie in Europa, dem Reich der Weiber, ihre ungemeſſene Frei - heit ohne die aͤußerſte Gefahr des Mannes ſtattfinden oder beſtehen koͤnne; bei ihnen, meinen ſie, waͤre alles voll Unruh,Z zwenn182wenn man dieſe leicht beweglichen, liſtigen, alles-unternehmen - den Geſchoͤpfe nicht einſchraͤnkte. Von manchen tyranniſchen Gebraͤuchen giebt man keine Urſache an, als daß durch dies oder jenes Betragen die Weiber ſich ehemals ſelbſt ein ſo hartes Geſetz verdient und die Maͤnner, ihrer Sicherheit und Ruhe wegen, dazu gezwungen haͤtten. So erklaͤrt man z. B. den unmenſchlichen Gebrauch in Jndien, das Verbrennen der Wei - ber mit ihren Maͤnnern: das Leben des Mannes, ſagt man, ſei ohne dieſes fuͤrchterliche Gegenmittel ihres eignen mit ihm aufzuopfernden Lebens nicht ſicher geweſen; und beinah ließe ſich, wenn man von der verſchlagnen Luͤſternheit der Weiber in dieſen Laͤndern, von den zauberiſchen Reizen der Taͤnzerin - nen in Jndien, von den Kabalen der Harems unter Tuͤrken und Perſern lieſet, etwas von der Art glauben. Die Maͤnner naͤmlich waren zu unvermoͤgend, den leichten Zunder, den ihre Ueppigkeit zuſammenbrachte, vor Funken zu bewahren, aber auch zu ſchwach und laͤßig, den unermaͤßlichen Knaͤuel zarter, weiblicher Faͤhigkeiten und Anſchlaͤge zu beſſern Zwecken zu entwickeln; als uͤppig-ſchwache Barbaren alſo ſchafften ſie ſich auf eine barbariſche Art Ruhe und unterdruͤckten die mit Ge - walt, deren Liſt ſie mit Verſtand nicht zu uͤberwinden vermoch - ten. Man leſe, was Morgenlaͤnder und Griechen uͤber das Weib geſagt haben und man wird Materialien finden, ſich ihr befremdendes Schickſal in den meiſten Gegenden heißer Kli -mate183mate zu erklaͤren. Freilich lag im Grunde Alles wieder an den Maͤnnern, deren ſtumpfe Brutalitaͤt das Uebel gewiß nicht ausrottete, das ſie ſo ungelenk einſchraͤnkte, wie es nicht nur die Geſchichte der Cultur, die das Weib durch vernuͤnftige Bildung dem Mann gleichgeſetzt hat: ſondern auch das Bei - ſpiel einiger vernuͤnftigen Voͤlker ohne feinere Cultur zeiget. Der alte Deutſche, auch in ſeinen rauhen Waͤldern, erkannte das Edle im Weibe und genoß an ihm die ſchoͤnſten Eigen - ſchaften ſeines Geſchlechts, Klugheit, Treue, Muth und Keuſch - heit; allerdings aber kam ihm auch ſein Klima, ſein geneti - ſcher Charakter, ſeine ganze Lebensweiſe hierinn zu Huͤlfe. Er und ſein Weib wuchſen wie die Eichen, langſam, unver - wuͤſtlich und kraͤftig; die Reize der Verfuͤhrung fehlten ſei - nem Lande; Triebe zu Tugenden dagegen gab beiden Geſchlech - tern ſowohl die gewohnte Verfaſſung, als die Noth. Tochter Germaniens, fuͤhle den Ruhm deiner Urmuͤtter und eifre ihm nach: unter wenigen Voͤlkern ruͤhmt die Geſchichte, was ſie von ihnen ruͤhmet; unter wenigen Voͤlkern hat auch der Mann die Tugend des Weibes wie im aͤlteſten Germanien geehret. Sklavinnen ſind die Weiber der meiſten Nationen, die in ſol - cher Verfaßung leben; Rathgebende Freundinnen waren deine Muͤtter und jede Edle unter ihnen iſts noch.
Laßet uns alſo auf die Tugenden des Weibes kommen, wie ſie ſich in der Geſchichte der Menſchheit offenbahren. Auchunter184unter den wildeſten Voͤlkern unterſcheidet ſich das Weib vom Mann durch eine zaͤrtere Gefaͤlligkeit, durch Liebe zum Schmuck und zur Schoͤnheit; auch da noch ſind dieſe Eigenſchaften kennbar, wo die Nation mit dem Klima und dem ſchnoͤdeſten Mangel kaͤmpfet. Ueberall ſchmuͤckt ſich das Weib, wie we - nigen Putz es auch hie und da ſich zu ſchmuͤcken habe: ſo bringet im erſten Fruͤhling die Lebenreiche Erde wenigſtens einige Geruchloſe Bluͤmchen hervor, Vorboten, was ſie in an - dern Jahrszeiten zu thun vermoͤchte. — — Reinlichkeit iſt eine andre Weibertugend, dazu ſie ihre Natur zwingt und der Trieb zu gefallen reizet. Die Anſtalten, ja die oft uͤbertrieb - nen Geſetze und Gebraͤuche, wodurch alle geſunde Nationen die Krankheiten der Weiber abſonderten und unſchaͤdlich mach - ten, beſchaͤmen manche cultivirte Voͤlker. Sie wußten und wiſſen alſo auch nichts von einem großen Theil der Schwach - heiten, die bei uns ſowohl eine Folge als eine neue Urſache jener tiefer Verſunkenheit ſind, die eine uͤppige, kranke Weib - lichkeit auf eine elende Nachkommenſchaft fortbreitet. — Noch eines groͤßern Ruhmes iſt die ſanfte Duldung, die unver - droſſene Geſchaͤftigkeit werth, in der ſich ohne den Mißbrauch der Cultur, das zarte Geſchlecht uͤberall auf der Erde auszeich - net. Mit Gelaßenheit traͤgt es das Joch, das ihm die rohe Uebermacht der Maͤnner, ihre Liebe zum Muͤßiggange und zur Traͤgheit, endlich auch die Ausſchweifungen ſeiner Vorfahrenſelbſt185ſelbſt als eine geerbte Sitte auflegten und bei den armſeligſten Voͤlkern finden ſich hierinn oft die groͤßeſten Muſter. Es iſt nicht Verſtellung, wenn in vielen Gegenden die mannbare Tochter zur beſchwerlichen Ehe gezwungen werden muß: ſie entlaͤuft der Huͤtte, ſie fliehet in die Wuͤſte: mit Thraͤnen nimmt ſie ihren Brautkranz, denn es iſt die letzte Bluͤthe ihrer vertaͤndelten, freieren Jugend. Die meiſten Brautlieder ſol - cher Nationen ſind Aufmunterungs - Troſt - und halbe Trauer - liedera)S. einige derſelben in den Volksliedern Th. 1. S. 33. Th. 2. S. 96 ‒ 98. S. 104., uͤber die wir ſpotten, weil wir ihre Unſchuld und Wahrheit nicht mehr fuͤhlen. Zaͤrtlich nimmt ſie Abſchied von allem, was ihrer Jugend ſo lieb war: als eine Verſtorbene verlaͤßt ſie das Haus ihrer Eltern, verlieret ihren vorigen Na - men und wird das Eigenthum eines Fremden, der vielleicht ihr Tyrann iſt. Das unſchaͤtzbarſte, was ein Menſch hat, muß ſie ihm aufopfern, Beſitz ihrer Perſon, Freiheit, Willen, ja vielleicht Geſundheit und Leben; und das Alles um Reize, die die keuſche Jungfrau noch nicht kennet und die ihr viel - leicht bald in einem Meer von Ungemaͤchlichkeit verſchwinden. Gluͤcklich, daß die Natur das weibliche Herz mit einem unnenn - bar-zarten und ſtarken Gefuͤhl fuͤr den perſoͤnlichen Werth desMannesJdeen, II. Th. A a186Mannes ausgeruͤſtet und geſchmuͤckt hat. Durch dies Gefuͤhl ertraͤgt ſie auch ſeine Haͤrtigkeiten: ſie ſchwingt ſich in einer ſuͤßen Begeiſterung ſo gern zu allem auf, was ihr an ihm edel, groß, tapfer, ungewoͤhnlich duͤnket: mit erhebender Theilneh - mung hoͤrt ſie maͤnnliche Thaten, die ihr, wenn der Abend kommt, die Laſt des beſchwerlichen Tages verſuͤßen und es zum Stolz ihr machen, daß ſie, da ſie doch einmal zugehoͤren muß, einem ſolchen Mann gehoͤre. Die Liebe des Romantiſchen im weiblichen Charakter iſt alſo eine wohlthaͤtige Gabe der Natur, Balſam fuͤr ſie und belohnende Aufmunterung des Mannes: denn der ſchoͤnſte Kranz des Juͤnglings war immer die Liebe der Jungfrau.
Endlich die ſuͤße Mutterliebe, mit der die Natur dies Geſchlecht ausſtattete; faſt unabhaͤngig iſt ſie von kalter Ver - nunft und weit entfernt von eigennuͤtziger Lohnbegierde. Nicht weil es liebenswuͤrdig iſt, liebet die Mutter ihr Kind, ſondern weil es ein lebendiger Theil ihres Selbſt, das Kind ihres Herzens, der Abdruck ihrer Natur iſt. Darum regen ſich ihre Eingeweide uͤber ſeinem Jammer: ihr Herz klopft ſtaͤrker bei ſeinem Gluͤck: ihr Blut fließt ſanfter, wenn die Mutter - bruſt, die es trinkt, es gleichſam noch an ſie knuͤpfet. Durch alle unverdorbene Nationen der Erde geht dieſes Mutter-Ge - fuͤhl: kein Klima, das ſonſt alles aͤndert, konnte dies aͤndern;nur187nur die verderbteſten Verfaſſungen der Geſellſchaft vermoch - ten etwa mit der Zeit das weiche Laſter ſuͤßer zu machen als jene zarte Quaal muͤtterlicher Liebe. Die Groͤnlaͤnderin ſaͤugt ihren Sohn bis ins dritte, vierte Jahr, weil das Klima ihr keine Kinderſpeiſen darbeut: ſie ertraͤgt von ihm alle Unarten des keimenden maͤnnlichen Uebermuths mit nachſehender Dul - dung. Mit mehr als Manneskraft iſt die Negerin gewafnet, wenn ein Ungeheuer ihr Kind anfaͤllt; mit ſtaunender Ver - wunderung lieſet man die Beiſpiele ihrer das Leben verach - tenden muͤtterlichen Großmuth. Wenn endlich der Tod der zaͤrtlichen Mutter, die wir eine Wilde nennen, ihren beſten Troſt, den Werth und die Sorge ihres Lebens raubt; man leſe bei Carvera)Carver's Reiſen S. 338. u. f. die Klage der Nadoweßerinn, die ihren Mann und ihren vierjaͤhrigen Sohn verlohren hatte: das Gefuͤhl, das in ihr herrſcht, iſt uͤber alle Beſchreibung. — Was fehlet alſo dieſen Nationen an Empfindungen der wah - ren weiblichen Humanitaͤt, wenn nicht etwa der Mangel und die traurige Noth oder ein falſcher Punkt der Ehre und eine geerbte rohe Sitte ſie hie und da auf Jrrwege leiten? Die Keime zum Gefuͤhl alles Großen und Edeln liegen nicht nur allenthalben da; ſondern ſie ſind auch uͤberall ausgebildet,A a 2nach -188nachdem es die Lebensart, das Klima, die Tradition oder die Eigenheit des Volks erlaubte.
Jſt dieſes: ſo wird der Mann dem Weibe nicht nach - bleiben und welche denkbare maͤnnliche Tugend waͤre es, die nicht hie und da auf der Erde den Ort ihrer Bluͤthe gefunden haͤtte? Der maͤnnliche Muth, auf der Erde zu herrſchen und ſein Leben, nicht ohne That, aber gnuͤgſam-frei zu genießen, iſt wohl die Erſte Mannes-Tugend: ſie hat ſich am weitſten und vielartigſten ausgebildet, weil faſt allenthalben die Noth zu ihr zwang und jeder Erdſtrich, jede Sitte ſie anders lenkte. Bald alſo ſuchte der Mann in Gefahren Ruhm und der Sieg uͤber dieſelbe war das koſtbarſte Kleinod ſeines maͤnnlichen Le - bens. Vom Vater ging dieſe Neigung auf den Sohn uͤber: die fruͤhe Erziehung befoͤrderte ſie und die Anlage zu ihr ward in wenigen Generationen dem Volk erblich. Dem gebohr - nen Jaͤger iſt die Stimme ſeines Horns und ſeiner Hunde, was ſie ſonſt keinem iſt: Eindruͤcke der Kindheit trugen dazu bei; oft ſogar geht das Jaͤgergeſicht und das Jagdgehirn in die Geſchlechter uͤber. So mit allen andern Lebensarten freier, wirkender Voͤlker. Die Lieder jeder Nation ſind uͤber die ihr eignen Gefuͤhle, Triebe und Seharten die beſten Zeugen; ein wahrer Commentar ihrer Denk - und Empfindungsweiſeaus189aus ihrem eignen froͤlichen Mundea)S. die Volkslieder, theils allgemein, theils inſonderheit die Nor - diſchen Stuͤcke Th. 1. S. 166. 175. 177. 242. 247. Th. 2. S. 210. 245.. Selbſt ihre Gebraͤu - che, Spruͤchwoͤrter und Klugheitsregeln bezeichnen lange nicht ſo viel, als jene bezeichnen; noch mehr aber thaͤten es, wenn wir Proben davon haͤtten, oder vielmehr die Reiſenden ſie be - merkten, der Nationen charakteriſtiſche Traͤume. Jm Traum und im Spiel zeiget ſich der Menſch ganz, wie er iſt; in je - nem aber am meiſten.
Die Liebe des Vaters zu ſeinen Kindern iſt die zweite Tu - gend, die ſich beim Mann am beſten durch maͤnnliche Erzie - hung aͤußert. Fruͤhe gewoͤhnt der Vater den Sohn zu ſeiner Lebensweiſe: er lehrt ihn ſeine Kuͤnſte, weckt in ihm das Ge - fuͤhl ſeines Ruhms und liebet in ihm ſich ſelbſt, wenn er alt oder nicht mehr ſeyn wird. Dies Gefuͤhl iſt der Grund aller Stammes-Ehre und Stammes-Tugend auf der Erde: es macht die Erziehung zum oͤffentlichen, zum ewigen Werk: es hat alle Vorzuͤge und Vorurtheile der Menſchengeſchlechter hinabgeerbet. Daher faſt bei allen Staͤmmen und Voͤlkern die Theilnehmende Freude, wenn der Sohn ein Mann wird und ſich mit dem Geraͤth oder den Waffen ſeines Vaters ſchmuͤcket; daher die tiefe Trauer des Vaters, wenn er dieſeA a 3ſeine190ſeine ſtolzeſte Hoffnung verlieret. Man leſe die Klage des Groͤn - laͤnders um ſeinen Sohna)Volkslieder Th. 2. S. 128., man hoͤre die Klagen Oßians um ſeinen Oſkar; und man wird in ihnen Wunden des Vater - herzens, die ſchoͤnſten Wunden der maͤnnlichen Bruſt bluten ſehen — —
Die dankbare Liebe des Sohns zu ſeinem Vater iſt frei - lich nur eine geringe Wiedervergeltung des Triebes, mit dem der Vater den Sohn liebte; aber auch das iſt Naturabſicht. Sobald der Sohn Vater wird, wirkt das Herz auf ſeine Soͤhne hinunter: der vollere Strom ſoll hinab, nicht auf - waͤrts flieſſen: denn nur alſo erhaͤlt ſich die Kette ſtets wach - ſender, neuer Geſchlechter. Es iſt alſo nicht als Unnatur zu ſchelten, wenn einige vom Mangel gedruͤckte Voͤlker das Kind dem abgelebten Vater vorziehn oder wie einige Erzaͤhlungen ſagen, den Tod der Vergreiſeten ſogar befoͤrdern. Nicht Haß, ſondern traurige Noth oder gar eine kalte Gutmuͤthigkeit iſt dieſe Befoͤrderung, da ſie die Alten nicht naͤhren, nicht mit - nehmen koͤnnen und ihnen alſo lieber mit freundſchaftlicher Hand ſelbſt ein Quaalenloſes Ende bereiten als ſie den Zaͤh - nen der Thiere zuruͤcklaſſen wollen. Kann nicht im Drange der Noth, wehmuͤthig genug, der Freund den Freund toͤdten und ihm, den er nicht erretten kann, damit eine Wohlthat er -weiſen,191weiſen, die er ihm nicht anders erweiſen konnte? — Daß aber der Ruhm der Vaͤter in der Seele ihres Stammes unſterblich lebe und wirke, zeigen bei den meiſten Voͤlkern ihre Lieder und Kriege, ihre Geſchichten und Sagen, am meiſten die mit ewiger Hoch - achtung derſelben ſich forterbende Lebensweiſe.
Gemeinſchaftliche Gefahren endlich erwecken gemein - ſchaftlichen Muth; ſie knuͤpfen alſo das dritte und edelſte Band der Maͤnner, die Freundſchaft. Jn Lebensarten und Laͤndern, die gemeinſchaftliche Unternehmungen noͤthig ma - chen, ſind auch heroiſche Seelen vorhanden, die den Bund der Liebe auf Leben und Tod knuͤpfen. Dergleichen waren jene ewigberuͤhmten Freunde der Griechiſchen Heldenzeit; dergleichen waren jene geprieſenen Scythen und ſind allent - halben noch unter den Voͤlkern, die Jagd, Krieg, Zuͤge in Waͤldern und Wuͤſteneien oder ſonſt Abentheuer lieben. Der Ackermann kennet nur einen Nachbar, der Handwerker einen Zunftgenoſſen, den er beguͤnſtigt oder neidet, der Wechsler endlich, der Gelehrte, der Fuͤrſtendiener — wie entfernter ſind ſie von jener eigen-gewaͤhlten, thaͤtigen, erprobten Freund - ſchaft, von der eher der Wandrer, der Gefangne, der Sklave weiß, der mit dem andern an Einer Kette aͤchzet. Jn Zeiten des Beduͤrfniſſes, in Gegenden der Noth verbuͤnden ſich See - len: der ſterbende Freund ruft den Freund um Rache ſeinesBlutes192Blutes an und freut ſich, ihn hinterm Grabe mit demſelben wieder zu finden. Mit unausloͤſchlicher Flamme brennet die - ſer, den Schatten ſeines Freundes zu verſoͤhnen, ihn aus dem Gefaͤngniß zu befreien, ihm beizuſtehen im Streit und das Gluͤck des Ruhms mit ihm zu theilen. Ein gemeinſchaftli - cher Stamm kleiner Voͤlker iſt nichts als ein alſo verbuͤndeter Chor von Blutsfreunden, die ſich von andern Geſchlechtern in Haß oder in Liebe ſcheiden. So ſind die Arabiſchen, ſo ſind manche Tatariſche Staͤmme und die meiſten Amerikani - ſchen Voͤlker. Die blutigſten Kriege zwiſchen ihnen, die eine Schande der Menſchheit ſcheinen, entſprangen zuerſt aus dem edelſten Gefuͤhl derſelben, dem Gefuͤhl der beleidigten Stam - mesehre oder einer gekraͤnkten Stammes-Freundſchaft.
Weiterhin und auf die verſchiednen Regierungsformen weiblicher oder maͤnnlicher Regenten der Erde laſſe ich mich jetzt und hier noch nicht ein. Denn da aus den bisher ange - zeigten Gruͤnden es ſich noch nicht erklaͤren laͤßt: warum Ein Menſch durchs Recht der Geburt uͤber tauſende ſeiner Bruͤder herrſche? warum er ihnen ohne Vertrag und Einſchraͤnkung nach Willkuͤhr gebieten, tauſende derſelben ohne Verantwor - tung in den Tod liefern, die Schaͤtze des Staats ohne Re - chenſchaft verzehren und gerade dem Armen daruͤber die be - druͤckendſten Auflagen thun doͤrfe? da es ſich noch wenigeraus193aus den erſten Anlagen der Natur ergiebt: warum ein ta pfres und kuͤhnes Volk d. i. tauſend edle Maͤnner und Wei - ber oft die Fuͤße eines Schwachen kuͤſſen und den Scepter an - beten, womit ein Unſinniger ſie blutig ſchlaͤgt? welcher Gott oder Daͤmon es ihnen eingegeben, eigne Vernunft und Kraͤf - te, ja oft Leben und alle Rechte der Menſchheit der Willkuͤhr Eines zu uͤberlaſſen und es ſich zur hoͤchſten Wohlfahrt und Freude zu rechnen, daß der Deſpot einen kuͤnftigen Deſpoten zeuge? — Da, ſage ich, alle dieſe Dinge dem erſten Anblick nach die verworrenſten Raͤthſel der Menſchheit ſcheinen und gluͤcklicher oder ungluͤcklicher Weiſe der groͤßeſte Theil der Er - de dieſe Regierungsformen nicht kennet: ſo koͤnnen wir ſie auch nicht unter die erſten, nothwendigen, allgemeinen Na - turgeſetze der Menſchheit rechnen. Mann und Weib, Vater und Sohn, Freund und Feind ſind beſtimmte Verhaͤltniſſe und Namen; aber Fuͤhrer und Koͤnig, ein erblicher Geſetzge - ber und Richter, ein willkuͤhrlicher Gebieter und Staatsver - weſer fuͤr ſich und alle ſeine noch Ungebohrnen — dieſe Begriffe wollen eine andre Entwicklung, als wir ihnen hier zu geben vermoͤgen. Gnug, daß wir die Erde bisher als ein Treibhaus natuͤrlicher Sinne und Gaben, Geſchicklichkei - ten und Kuͤnſte, Seelenkraͤfte und Tugenden in ziemlich gro - ßer Verſchiedenheit derſelben bemerkt haben; wiefern ſich nun der Menſch dadurch Gluͤckſeligkeit zu bauen berechtigt oderJdeen, II. Th. B bfaͤhig -194faͤhig ſei, ja wo irgend der Maasſtab zu ihr liege? dies laſſet uns jetzo erwaͤgen.
Schon der Name Gluͤckſeligkeit deutet an, daß der Menſch keiner reinen Seligkeit faͤhig ſei, noch ſich dieſelbe erſchaffen moͤge; er ſelbſt iſt ein Sohn des Gluͤcks, das ihn hie oder da - hin ſetzte und nach dem Lande, der Zeit, der Organiſation, den Umſtaͤnden, in welchen er lebt, auch die Faͤhigkeit ſeines Ge - nußes, die Art und das Maas ſeiner Freuden und Leiden be - ſtimmt hat. Unſinnig-ſtolz waͤre die Anmaaßung, daß die Bewohner aller Welttheile Europaͤer ſeyn muͤßten, um gluͤck - lich zu leben: denn waͤren wir ſelbſt, was wir ſind, außer Eu - ropa worden? Der nun uns hieher ſetzte, ſetzte jene dorthin und gab ihnen daſſelbe Recht zum Genuß des irrdiſchen Le - bens. Da Gluͤckſeligkeit ein innerer Zuſtand iſt: ſo liegt das Maas und die Beſtimmung derſelben nicht außer, ſondernin195in der Bruſt eines jeden einzelnen Weſens; ein andres hat ſo wenig Recht, mich zu ſeinem Gefuͤhl zu zwingen, als es ja keine Macht hat, mir ſeine Empfindungsart zu geben und das Meine in Sein Daſeyn zu verwandeln. Laßet uns alſo aus ſtolzer Traͤgheit oder aus gewohnter Vermeſſenheit die Ge - ſtalt und das Maas der Gluͤckſeligkeit unſres Geſchlechts nicht kuͤrzer, oder hoͤher ſetzen, als es der Schoͤpfer ſetzte: denn Er wußte allein, wozu der Sterbliche auf unſrer Erde ſeyn ſollte.
1. Unſern vielorganiſchen Koͤrper mit allen ſeinen Sin - nen und Gliedern empfingen wir zum Gebrauch, zur Uebung. Ohne dieſe ſtocken unſre Lebensſaͤfte; unſre Organe werden matt; der Koͤrper, ein lebendiger Leichnam, ſtirbt lange vor - her eh er ſtirbt; er verweſ't eines langſamen, elenden, unna - tuͤrlichen Todes. Wollte die Natur uns alſo die erſte unent - behrliche Grundlage der Gluͤckſeligkeit, Geſundheit gewaͤhren; ſo mußte ſie uns Uebung, Muͤhe und Arbeit verleihn und da - durch dem Menſchen ſein Wohlſeyn lieber aufdringen, als daß er daſſelbe entbehren ſollte. Daher verkaufen, wie die Griechen ſagen, die Goͤtter den Sterblichen alles um Arbeit; nicht aus Neid, ſondern aus Guͤte, weil eben in dieſem Kampf, in dieſem Streben nach der erquickenden Ruhe der groͤßeſte Genuß des Wohlſeyns, das Gefuͤhl wirkſamer, ſtrebender Kraͤfte lieget. Nur in denen Klimaten oder Staͤnden ſiechetB b 2die196die Menſchheit, wo ein entkraͤftender Muͤßiggang, eine uͤppige Traͤgheit die Koͤrper lebendig begraͤbt und ſie zu blaßen Lei - chen oder zu Laſten die ſich ſelbſt beſchweren, umbildet; in an - dern und gerade in den haͤrteſten Lebensarten und Laͤndern bluͤ - het der kraͤftigſte Wuchs, die geſundeſte, ſchoͤnſte Symmetrie menſchlicher Glieder. Gehet die Geſchichte der Nationen durch und leſet, was Pagès z. E. von der Bildung der Cha - kla's, der Tega's, vom Charakter der Biſſayen, der Jndier, der Araber ſageta)Voyages de Pagès p. 17. 18. 26. 52. 54. 140. 141. 156. 167. 188. u. f.; ſelbſt das druͤckendſte Klima macht wenig Unterſchied in der Dauer des Menſchenlebens und eben der Mangel iſts, der die froͤhlichen Armen zur Geſundheitbringen - den Arbeit ſtaͤrket. Auch die Misbildungen des Leibes, die ſich hie oder da auf der Erde als genetiſcher Charakter oder als ererbte Sitte finden, ſchaden der Geſundheit weniger, als un - ſer kuͤnſtliche Putz, unſre hundert angeſtrengte, unnatuͤrliche Lebensweiſen: denn was will ein groͤßerer Ohrlappe der Arra - kaner, ein ausgerupfter Bart der Oſt - und Weſtindier oder etwa eine durchborte Naſe zu der eingedruckten, gequaͤlten Bruſt, zum vorſinkenden Knie und mißgebildeten Fuß, zu den verwachsnen oder rachitiſchen Geſtalten und den zuſammenge - preßten Eingeweiden ſo vieler ſeinen Europaͤer und Europaͤe - rinnen ſagen? Laſſet uns alſo die Vorſehung preiſen, daß daGe -197Geſundheit der Grund aller unſrer phyſiſchen Gluͤckſeligkeit iſt, ſie dies Fundament ſo weit und breit auf der Erde legte. Die Voͤlker, von denen wir glauben, daß ſie ſie als Stiefmutter behandelt habe, waren ihr vielleicht die liebſten Kinder: denn wenn ſie ihnen kein traͤges Gaſtmal ſuͤßer Gifte bereitete, ſo reichte ſie ihnen dafuͤr durch die harten Haͤnde der Arbeit den Kelch der Geſundheit und einer von innen ſie erquickenden Le - benswaͤrme. Kinder der Morgenroͤthe bluͤhen ſie auf und ab: eine oft Gedankenloſe Heiterkeit, ein inniges Gefuͤhl ihres Wohlſeyns iſt ihnen Gluͤckſeligkeit, Beſtimmung und Genuß des Lebens; koͤnnte es auch einen andern, einen ſanftern und daurendern geben?
2. Wir ruͤhmen uns unſrer feinen Seelenkraͤfte: laſſet uns aber aus der traurigen Erfahrung lernen, daß nicht jede entwickelte Feinheit Gluͤckſeligkeit gewaͤhre, ja daß manches zu feine Werkzeug eben dadurch untuͤchtig zum Gebrauch wer - de. Die Speculation z. E. kann das Vergnuͤgen nur weni - ger, muͤßiger Menſchen ſeyn und auch ihnen iſt ſie oft, wie der Genuß des Opium in den Morgenlaͤndern, ein entkraͤftend - verzerrendes, einſchlaͤferndes Traumvergnuͤgen. Der wachen - de, geſunde Gebrauch der Sinne, thaͤtiger Verſtand in wirk - lichen Faͤllen des Lebens, muntere Aufmerkſamkeit mit reger Erinnerung, mit ſchnellem Entſchluß, mit gluͤcklicher WirkungB b 3beglei -198begleitet; ſie allein ſind das, was wir Gegenwart des Geiſtes, innere Lebenskraft nennen, die ſich alſo auch mit dem Gefuͤhl einer gegenwaͤrtigen wirkſamen Kraft, mit Gluͤckſeligkeit und Freude ſelbſt belohnet. Glaubet es nicht, ihr Menſchen, daß eine unzeitige, maasloſe Verfeinerung oder Ausbildung Gluͤck - ſeligkeit ſei oder daß die todte Nomenclatur aller Wiſſenſchaf - ten, der ſeiltaͤnzeriſche Gebrauch aller Kuͤnſte einem lebendigen Weſen die Wiſſenſchaft des Lebens gewaͤhren koͤnne: denn Gefuͤhl der Gluͤckſeligkeit erwirbt ſich nicht durch das Recept auswendiggelernter Namen oder gelernter Kuͤnſte. Ein mit Kenntniſſen uͤberfuͤlleter Kopf und wenn es auch goldene Kennt - niſſe waͤren; er erdruͤcket den Leib, verenget die Bruſt, verdun - kelt den Blick und wird dem, der ihn traͤgt, eine kranke Laſt des Lebens. Je mehr wir verfeinernd unſre Seelenkraͤfte theilen, deſto mehr erſterben die muͤſſigen Kraͤfte; auf das Geruͤſt der Kunſt geſpannet, verwelken unſre Faͤhigkeiten und Glieder an dieſem prangenden Kreuze. Nur auf dem Gebrauch der gan - zen Seele, inſonderheit ihrer thaͤtigen Kraͤfte ruhet der Segen der Geſundheit; und da laſſet uns abermals der Vorſehung danken, daß ſie es mit dem Ganzen des Menſchengeſchlechts nicht zu fein nahm und unſre Erde zu nichts weniger als einem Hoͤrſaal gelehrter Wiſſenſchaften beſtimmte. Schonend ließ ſie bei den meiſten Voͤlkern und Staͤnden der Menſchheit die Seelenkraͤfte in einem veſten Knaͤuel beiſammen und entwickel -te199te dieſen nur, wo es die Noth begehrte. Die meiſten Natio - nen der Erde wirken und phantaſiren, lieben und haſſen, hof - fen und fuͤrchten, lachen und weinen wie Kinder; ſie genießen alſo auch wenigſtens die Gluͤckſeligkeit kindlicher Jugendtraͤu - me. Wehe dem Armen, der ſeinen Genuß des Lebens ſich erſt ergruͤbelt!
3. Da endlich unſer Wohlſeyn mehr ein ſtilles Gefuͤhl als ein glaͤnzender Gedanke iſt: ſo ſind es allerdings auch weit mehr die Empfindungen des Herzens, als die Wirkungen ei - ner tiefſinnigen Vernunft, die uns mit Liebe und Freude am Leben lohnen. Wie gut hat es alſo die große Mutter gemacht, daß ſie die Quelle des Wohlwollens gegen ſich und andre, die wahre Humanitaͤt unſres Geſchlechts, zu der es erſchaffen iſt, faſt unabhaͤngig von Beweggruͤnden und kuͤnſtlichen Triebfe - dern in die Bruſt der Menſchen pflanzte. Jedes Lebendige freuet ſich ſeines Lebens; es fragt und gruͤbelt nicht, wozu es daſei? ſein Daſeyn iſt ihm Zweck und ſein Zweck das Da - ſeyn. Kein Wilder mordete ſich ſelbſt, ſo wenig ein Thier ſich ſelbſt mordet: er pflanzt ſein Geſchlecht fort, ohne zu wiſſen, wozu ers fortpflanze und unterzieht ſich auch unter dem Druck des haͤrteſten Klima aller Muͤhe und Arbeit, nur damit er lebe. Dies einfache, tiefe, unerſetzliche Gefuͤhl des Daſeyns alſo iſt Gluͤckſeligkeit, ein kleiner Tropfe aus jenem unendlichen Meerdes200des Allſeligen, der in Allem iſt und ſich in Allem freuet und fuͤhlet. Daher jene unzerſtoͤrbare Heiterkeit und Freude, die mancher Europaͤer auf den Geſichtern und im Leben fremder Voͤlker bewunderte, weil er ſie bei ſeiner unruhigen Raſtloſig - keit in ſich nicht fuͤhlte: daher auch jenes offene Wohlwollen, jene zuvorkommende, zwangloſe Gefaͤlligkeit aller gluͤcklichen Voͤlker der Erde, die nicht zur Rache oder Vertheidigung ge - zwungen wurden. Nach den Berichten der Unpartheiiſchen iſt dieſe ſo allgemein ausgebreitet auf der Erde, daß ich ſie den Charakter der Menſchheit nennen moͤchte, wenn es nicht leider eben ſowohl Charakter dieſer zweideutigen Natur waͤre, das offne Wohlwollen, die dienſtfertige Heiterkeit und Freude in ſich und andern einzuſchraͤnken, um ſich aus Wahn oder aus Vernunft gegen die kuͤnftige Noth zu waffnen. Ein in ſich gluͤckliches Geſchoͤpf, warum ſollte es nicht auch andre gluͤck - liche neben ſich ſehen und wo es kann zu ihrer Gluͤckſeligkeit beitragen? Nur weil wir ſelbſt, mit Mangel umringt, ſo viel - beduͤrftig ſind und es durch unſre Kunſt und Liſt noch mehr werden: ſo verenget ſich unſer Daſeyn und die Wolke des Argwohns, des Kummers, der Muͤhe und Sorgen umnebelt ein Geſicht, das fuͤr die offne, Theilnehmende Freude gemacht war. Jndeß auch hier hatte die Natur das menſchliche Herz in ihrer Hand und formte den fuͤhlbaren Teig auf ſo mancher - lei Arten, daß wo ſie nicht gebend befriedigen konnte, ſie we -nigſtens201nigſtens verſagend zu befriedigen ſuchte. Der Europaͤer hat keinen Begrif von den heißen Leidenſchaften und Phantomen, die in der Bruſt des Negers gluͤhen und der Jndier keinen Begrif von den unruhigen Begierden, die den Europaͤer von Einem Weltende zum andern jagen. Der Wilde, der nicht auf uͤppige Weiſe zaͤrtlich ſeyn kann, iſt es deſto mehr auf eine geſetzte ruhige Weiſe; dagegen wo die Flamme des Wohl - wollens lichte Funken umherwirft, da vergluͤhet ſie auch bald und erſtirbt in dieſen Funken. Kurz, das menſchliche Gefuͤhl hat alle Formen erhalten, die auf unſrer Kugel in den verſchied - nen Klimaten, Zuſtaͤnden und Organiſationen der Menſchen nur ſtatt fanden; allenthalben aber liegt Gluͤckſeligkeit des Le - bens nicht in der wuͤhlenden Menge von Empfindungen und Gedanken, ſondern in ihrem Verhaͤltniß zum wirklichen innern Genuß unſeres Daſeyns und deſſen, was wir zu unſerm Da - ſeyn rechnen. Nirgend auf Erden bluͤhet die Roſe der Gluͤck - ſeligkeit ohne Dornen; was aber aus dieſen Dornen hervor - geht iſt allenthalben und unter allerlei Geſtalten die zwar fluͤch - tige, aber ſchoͤne Roſe einer menſchlichen Lebensfreude.
Jrre ich nicht: ſo laſſen ſich nach dieſen einfachen Vor - ausſetzungen, deren Wahrheit jede Bruſt fuͤhlet, einige Linien ziehen, die wenigſtens manche Zweifel und Jrrungen uͤber die Beſtimmung des Menſchengeſchlechts abſchneiden. Was z. B. koͤnnte es heißen, daß der Menſch, wie wir ihn hier ken - nen, zu einem unendlichen Wachsthum ſeiner Seelenkraͤfte,Jdeen, II. Th. C czu202zu einer fortgehenden Ausbreitung ſeiner Empfindungen und Wirkungen, ja gar daß er fuͤr den Staat, als das Ziel ſei - nes Geſchlechts und alle Generationen deſſelben eigentlich nur fuͤr die letzte Generation gemacht ſeyn, die auf dem zerfallenen Geruͤſt der Gluͤckſeligkeit aller vorhergehenden throne? Der Anblick unſrer Mitbruͤder auf der Erde, ja ſelbſt die Erfahrung jedes einzelnen Menſchenlebens widerlegt dieſe der ſchaffenden Vorſehung untergeſchobenen Plane. Zu einer ins Unermeß - liche wachſenden Fuͤlle der Gedanken und der Empfindungen iſt weder unſer Haupt, noch unſer Herz gebildet; weder unſre Hand gemacht, noch unſer Leben berechnet. Bluͤhen nicht unſre ſchoͤnſten Seelenkraͤfte ab, wie ſie aufbluͤhten? ja wech - ſeln nicht mit Jahren und Zuſtaͤnden ſie ſelbſt unter einander und loͤſen im freundſchaftlichen Zwiſt oder vielmehr in einem kreiſenden Reigentanz einander ab? Und wer haͤtte es nicht erfahren, daß eine Grenzenloſe Ausbreitung ſeiner Empfin - dungen dieſe nur ſchwaͤche und vernichte? indem ſie das, was Seil der Liebe ſeyn ſoll, als eine vertheilte Flocke den Luͤften giebt oder mit ſeiner verbrannten Aſche das Auge des Andern benebelt. Da wir unmoͤglich andre mehr oder anders, als uns ſelbſt lieben koͤnnen: denn wir lieben ſie nur als Theile unſer ſelbſt oder vielmehr uns ſelbſt in ihnen; ſo iſt allerdings die Seele gluͤcklich, die wie ein hoͤherer Geiſt mit ihrer Wirkſam - keit viel umfaſſet und es in raſtloſer Wohlthaͤtigkeit zu ihr Selbſt zaͤhlet; elend iſt aber die andre, deren Gefuͤhl in Wortever -203verſchwemmet, weder ſich noch andern tauget. Der Wilde, der ſich, der ſein Weib und Kind mit ruhiger Freude liebt und fuͤr ſeinen Stamm, wie fuͤr ſein Leben, mit beſchraͤnkter Wirk - ſamkeit gluͤhet, iſt, wie mich duͤnkt, ein wahreres Weſen als je - ner gebildete Schatte, der fuͤr den Schatten ſeines ganzen Geſchlechts d. i. fuͤr einen Namen, in Liebe entzuͤckt iſt. Jn ſeiner armen Huͤtte hat jener fuͤr jeden Fremden Raum, den er mit gleichguͤltiger Gutmuͤthigkeit als ſeinen Bruder auf - nimmt und ihn nicht einmal, wo er herſei? fraget. Das ver - ſchwemmte Herz des muͤßigen Kosmopoliten iſt eine Huͤtte fuͤr Niemand.
Sehen wir denn nicht, meine Bruͤder, daß die Natur alles was ſie konnte gethan habe, nicht um uns auszubreiten, ſondern um uns einzuſchraͤnken und uns eben an den Umriß unſres Lebens zu gewoͤhnen? Unſre Sinne und Kraͤfte haben ein Maas: die Horen unſrer Tage und Lebensalter geben ein - ander nur wechſelnd die Haͤnde, damit die Ankommende die Verſchwundne abloͤſe. Es iſt alſo ein Trug der Phantaſie, wenn der Mann und Greis ſich noch zum Juͤnglinge traͤumet. Vollends jene Luͤſternheit der Seele, die, ſelbſt der Begierde zuvorkommend, ſich Augenblicks in Eckel verwandelt, iſt ſie Paradieſes-Luſt oder vielmehr Tantalus Hoͤlle, das ewige Schoͤ - pfen der unſinnig-gequaͤlten Danaiden? Deine einzige Kunſt, o Menſch, hienieden iſt alſo Maas: das Himmelskind, Freude, nach dem du verlangeſt, iſt um dich, iſt in dir, eine Tochter derC c 2Nuͤch -204Nuͤchternheit und des ſtillen Genußes, eine Schweſter der Gnuͤgſamkeit und der Zufriedenheit mit deinem Daſeyn im Leben und Tode.
Noch weniger iſts begreiflich, wie der Menſch alſo fuͤr den Staat gemacht ſeyn ſoll, daß aus deſſen Einrichtung noth - wendig ſeine erſte wahre Gluͤckſeligkeit keime: denn wie viele Voͤlker auf der Erde wiſſen von keinem Staat die dennoch gluͤcklicher ſind, als mancher gekreuzigte Staatswohlthaͤter. Jch will mich auf keinen Theil des Nutzens oder des Schadens einlaſſen, den dieſe kuͤnſtliche Anſtalten der Geſellſchaft mit ſich fuͤhren; da jede Kunſt aber nur Werkzeug iſt und das kuͤnſt - lichſte Werkzeug nothwendig den vorſichtigſten, feinſten Ge - brauch erfodert: ſo iſt offenbar, daß mit der Groͤße der Staa - ten und mit der feinern Kunſt ihrer Zuſammenſetzung noth - wendig auch die Gefahr, einzelne Ungluͤckliche zu ſchaffen, un - ermeßlich zunimmt. Jn großen Staaten muͤſſen Hunderte hungern, damit Einer praße und ſchwelge: Zehntauſende wer - den gedruͤckt und in den Tod gejaget, damit Ein gekroͤnter Thor oder Weiſer ſeine Phantaſie ausfuͤhre. Ja endlich, da, wie alle Staatslehrer ſagen, jeder wohleingerichtete Staat eine Maſchine ſeyn muß, die nur der Gedanke Eines regieret; welche groͤßere Gluͤckſeligkeit koͤnnte es gewaͤhren, in dieſer Maſchine als ein Gedankenloſes Glied mitzudienen? Oder vielleicht gar wider beſſer Wiſſen und Gefuͤhl, Lebenslang in ihr auf ein Rad Jxions geflochten zu ſeyn, das dem traurig -ver -205verdammten keinen Troſt laͤßt, als etwa die letzte Thaͤtigkeit ſeiner ſelbſtbeſtimmenden, freien Seele wie ein geliebtes Kind zu erſticken und in der Unempfindlichkeit einer Maſchine ſein Gluͤck zu finden — o wenn wir Menſchen ſind, ſo laßt uns der Vorſehung danken, daß ſie das allgemeine Ziel der Menſch - heit nicht dahin ſetzte. Millionen des Erdballs leben ohne Staaten und muß nicht ein jeder von uns auch im kuͤnſtlich - ſten Staat, wenn er gluͤcklich ſeyn will, es eben da anfangen, wo es der Wilde anfaͤngt, naͤmlich, daß er Geſundheit und Seelenkraͤfte, das Gluͤck ſeines Hauſes und Herzens, nicht vom Staat ſondern von ſich ſelbſt erringe und erhalte. Va - ter und Mutter, Mann und Weib, Kind und Bruder, Freund und Menſch — das ſind Verhaͤltniße der Natur, durch die wir gluͤcklich werden; was der Staat uns geben kann, ſind Kunſtwerkzeuge, leider aber kann er uns etwas weit Weſent - licheres, Uns ſelbſt, rauben.
Guͤtig alſo dachte die Vorſehung, da ſie den Kunſtend - zwecken großer Geſellſchaften die leichtere Gluͤckſeligkeit einzel - ner Menſchen vorzog und jene koſtbaren Staatsmaſchinen, ſo viel ſie konnte, den Zeiten erſparte. Wunderbar theilte ſie die Voͤlker, nicht nur durch Waͤlder und Berge, durch Meere und Wuͤſten, durch Stroͤme und Klimate, ſondern inſonderheit auch durch Sprachen, Neigungen und Charaktere; nur damit ſie dem unterjochenden Deſpotismus ſein Werk erſchwerte und nicht alle Welttheile in den Bauch eines hoͤlzernen PferdesC c 3ſteckte.206ſteckte. Keinem Nimrod gelang es bisher, fuͤr ſich und ſein Geſchlecht die Bewohner des Weltalls in Ein Gehaͤge zuſam - men zu jagen und wenn es ſeit Jahrhunderten der Zweck des verbuͤndeten Europa waͤre, die Gluͤck-aufzwingende Tyrannin aller Erdnationen zu ſeyn, ſo iſt die Gluͤckesgoͤttin noch weit von ihrem Ziele. Schwach und kindiſch waͤre die ſchaffende Mutter geweſen, die die aͤchte und einzige Beſtimmung ihrer Kinder, gluͤcklich zu ſeyn, auf die Kunſtraͤder einiger Spaͤt - linge gebauet und von ihren Haͤnden den Zweck der Erde - ſchoͤpfung erwartet haͤtte. Jhr Menſchen aller Welttheile, die ihr ſeit Aeonen dahingingt, ihr haͤttet alſo nicht gelebt und etwa nur mit eurer Aſche die Erde geduͤngt, damit am Ende der Zeit eure Nachkommen durch Europaͤiſche Cultur gluͤcklich wuͤrden; was fehlet einem ſtolzen Gedanken dieſer Art, daß er nicht Beleidigung der Natur-Majeſtaͤt heiße?
Wenn Gluͤckſeligkeit auf der Erde anzutreffen iſt: ſo iſt ſie in jedem fuͤhlenden Weſen; ja ſie muß in ihm durch Natur ſeyn und auch die helfende Kunſt muß zum Genuß in ihm Na - tur werden. Hier hat nun jeder Menſch das Maas ſeiner Seligkeit in ſich: er traͤgt die Form an ſich, zu der er gebildet worden und in deren reinem Umriß er allein gluͤcklich werden kann. Eben deswegen hat die Natur alle ihre Menſchenfor - men auf der Erde erſchoͤpft, damit ſie fuͤr jede derſelben in ih - rer Zeit und an ihrer Stelle einen Genuß haͤtte, mit dem ſie den Sterblichen durchs Leben hindurch taͤuſchte.
Nicht nur Philoſophen haben die menſchliche Vernunft, als unabhaͤngig von Sinnen und Organen, zu einer ihm ur - ſpruͤnglichen, reinen Potenz erhoben; ſondern auch der ſinn - liche Menſch waͤhnet im Traum ſeines Lebens, er ſei alles, was er iſt, durch ſich ſelbſt worden. Erklaͤrlich iſt dieſer Wahn, zumal bei dem ſinnlichen Menſchen. Das Gefuͤhl der Selbſt - thaͤtigkeit, das ihm der Schoͤpfer gegeben hat, regt ihn zu Handlungen auf und belohnt ihn mit dem ſuͤßeſten Lohn einer ſelbſtvollendeten Handlung. Die Jahre ſeiner Kindheit ſind vergeſſen: die Keime, die er darinn empfing, ja die er noch taͤglich empfaͤngt, ſchlummern in ſeiner Seele: er ſiehet und genießt nur den entſproßten Stamm und freut ſich ſeines le -Jdeen, II. Th. D dbendi -210bendigen Wuchſes, ſeiner Fruͤchtetragenden Zweige. Der Philoſoph indeſſen, der die Geneſis und den Umfang eines Menſchenlebens in der Erfahrung kennet und ja auch die ganze Kette der Bildung unſres Geſchlechts in der Geſchichte ver - folgen koͤnnte; er muͤßte, duͤnkt mich, da ihn alles an Abhaͤn - gigkeit erinnert, ſich aus ſeiner idealiſchen Welt, in der er ſich allein und allgnugſam fuͤhlet, gar bald in unſre wirkliche zu - ruͤck finden.
So wenig ein Menſch ſeiner natuͤrlichen Geburt nach aus ſich entſpringt: ſo wenig iſt er im Gebrauch ſeiner geiſtigen Kraͤfte ein Selbſtgebohrner. Nicht nur der Keim unſrer in - nern Anlagen iſt genetiſch wie unſer koͤrperliches Gebilde: ſon - dern auch jede Entwicklung dieſes Keimes haͤngt vom Schick - ſal ab, das uns hie oder dorthin pflanzte und nach Zeit und Jah - ren die Huͤlfsmittel der Bildung um uns legte. Schon das Auge, mußte ſehen, das Ohr hoͤren lernen: und wie kuͤnſtlich das vornehmſte Mittel unſrer Gedanken, die Sprache, erlangt werde, darf keinem verborgen bleiben. Offenbar hat die Na - tur auch unſern ganzen Mechanismus, ſammt der Beſchaffen - heit und Dauer unſrer Lebensalter zu dieſer fremden Beihuͤlfe eingerichtet. Das Hirn der Kinder iſt weich und hangt noch an der Hirnſchale: langſam bildet es ſeine Streifen aus und wird mit den Jahren erſt veſter; bis es allmaͤlich ſich haͤrtetund211und keine neuen Eindruͤcke mehr annimmt. So ſind die Glie - der, ſo die Triebe des Kindes; jene ſind zart und zur Nach - ahmung eingerichtet: dieſe nehmen, was ſie ſehen und hoͤren mit wunderbar-reger Aufmerkſamkeit und innerer Lebenskraft auf. Der Menſch iſt alſo eine kuͤnſtliche Maſchiene, zwar mit genetiſcher Diſpoſition und einer Fuͤlle von Leben begabt; aber die Maſchiene ſpielet ſich nicht ſelbſt und auch der faͤhig - ſte Menſch muß lernen, wie er ſie ſpiele. Die Vernunft iſt ein Aggregat von Bemerkungen und Uebungen unſrer Seele; eine Summe der Erziehung unſres Geſchlechts, die, nach ge - gebnen fremden Vorbildern, der Erzogne zuletzt als ein frem - der Kuͤnſtler an ſich vollendet.
Hier alſo liegt das Principium zur Geſchichte der Menſch - heit, ohne welches es keine ſolche Geſchichte gaͤbe. Empfinge der Menſch alles aus ſich und entwickelte es abgetrennt von aͤußern Gegenſtaͤnden: ſo waͤre zwar eine Geſchichte des Men - ſchen, aber nicht der Menſchen, nicht ihres ganzen Geſchlechts moͤglich. Da nun aber unſer ſpecifiſche Charakter eben darinn liegt, daß wir, beinah ohne Jnſtinkt gebohren, nur durch eine Lebenslange Uebung zur Menſchheit gebildet werden, und ſo - wohl die Perfectibilitaͤt als die Corruptibilitaͤt unſres Geſchlechts hierauf beruhet: ſo wird eben damit auch die Geſchichte der Menſchheit nothwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Ge -D d 2ſellig -212ſelligkeit und bildenden Tradition vom Erſten bis zum letzten Gliede.
Es giebt alſo eine Erziehung des Menſchengeſchlechts; eben weil jeder Menſch nur durch Erziehung ein Menſch wird und das ganze Geſchlecht nicht anders als in dieſer Kette von Jndividuen lebet. Freilich wenn jemand ſagte, daß nicht der einzelne Menſch ſondern das Geſchlecht erzogen werde, ſo ſpraͤche er fuͤr mich unverſtaͤndlich, da Geſchlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe ſind, außer ſofern ſie in einzelnen Weſen exſiſtiren. Gaͤbe ich dieſem allgemeinen Begrif nun auch alle Vollkommenheiten der Humanitaͤt, Cultur und hoͤch - ſten Aufklaͤrung, die ein idealiſcher Begrif geſtattet: ſo haͤtte ich zur wahren Geſchichte unſres Geſchlechts eben ſo viel ge - ſagt, als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit, der Me - tallheit im Allgemeinen ſpraͤche und ſie mit den herrlichſten, aber in einzelnen Jndividuen einander widerſprechenden Attri - buten auszierte. Auf dieſem Wege der Averroiſchen Phi - loſophie, nach der das ganze Menſchengeſchlecht nur Eine und zwar eine ſehr niedrige Seele beſitzet, die ſich dem einzelnen Menſchen nur Theilweiſe mittheilet, auf ihm ſoll unſre Phi - loſophie der Geſchichte nicht wandern. Schraͤnkte ich aber gegenſeits beim Menſchen, alles auf Jndividuen ein und laͤug - nete die Kette ihres Zuſammenhanges ſowohl unter einanderals213als mit dem Ganzen: ſo waͤre mir abermals die Natur des Menſchen und ſeine helle Geſchichte entgegen: denn kein ein - zelner von uns iſt durch ſich ſelbſt Menſch worden. Das gan - ze Gebilde der Humanitaͤt in ihm haͤngt durch eine geiſtige Geneſis, die Erziehung, mit ſeinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umſtaͤnden im Lauf ſeines Lebens, alſo mit ſeinem Volk und den Vaͤtern deſſelben, ja endlich mit der ganzen Kette des Geſchlechts zuſammen, das irgend in einem Gliede Eine ſeiner Seelenkraͤfte beruͤhrte. So werden Voͤlker zu - letzt Familien: Familien gehen zu Stammvaͤtern hinauf: der Strom der Geſchichte enget ſich bis zu ſeinem Quell und der ganze Wohnplatz unſrer Erde verwandelt ſich endlich in ein Erziehungshaus unſrer Familie zwar mit vielen Abtheilungen, Claſſen und Kammern, aber doch nach Einem Typus der Lec - tionen, der ſich mit mancherlei Zuſaͤtzen und Veraͤndrungen durch alle Geſchlechter vom Urvater heraberbte. Trauen wirs nun dem eingeſchraͤnkten Verſtande eines Lehrers zu, daß er die Abtheilungen ſeiner Schuͤler nicht ohne Grund machte und finden, daß das Menſchengeſchlecht auf der Erde allenthalben und zwar den Beduͤrfniſſen ſeiner Zeit und Wohnung gemaͤß eine Art kuͤnſtlicher Erziehung finde: welcher Verſtaͤndige, der den Bau unſrer Erde und das Verhaͤltniß der Menſchen zu ihm betrachtet, wird nicht vermuthen, daß der Vater unſres Geſchlechts, der beſtimmt hat, wie lange und weit NationenD d 3woh -214nen ſollen, dieſe Beſtimmung auch als Lehrer unſres Geſchlechts gemacht habe? Wird, wer ein Schiff betrachtet, eine Abſicht des Werkmeiſters in ihm laͤugnen? und wer das kuͤnſtliche Gebilde unſrer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen koͤnnen, daß nicht auch in Abſicht der geiſtigen Erziehung die klimatiſche Diver - ſitaͤt der vielartigen Menſchen ein Zweck der Erdeſchoͤpfung geweſen? Da aber der Wohnplatz allein noch nicht Alles aus - macht, indem lebendige, uns aͤhnliche Weſen dazu gehoͤren, uns zu unterrichten, zu gewoͤhnen, zu bilden; mich duͤnkt, ſo giebt es eine Erziehung des Menſchengeſchlechts und eine Phi - loſophie ſeiner Geſchichte ſo gewiß, ſo wahr es eine Menſch - heit d. i. eine Zuſammenwirkung der Jndividuen giebt, die uns allein zu Menſchen machte.
Sofort werden uns auch die Principien dieſer Philoſo - phie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturge - ſchichte des Menſchen ſelbſt iſt; ſie heißen Tradition und or - ganiſche Kraͤfte. Alle Erziehung kann nur durch Nachah - mung und Uebung, alſo durch Uebergang des Vorbildes ins Nachbild werden; und wie koͤnnten wir dies beſſer als Ueber - lieferung nennen? der Nachahmende aber muß Kraͤfte haben, das Mitgetheilte und Mittheilbare aufzunehmen und es, wie die Speiſe, durch die er lebt, in ſeine Natur zu verwandeln. Von wem er alſo? was und wie viel er aufnehme? wie ersſich215ſich zueigne, nutze und anwende? das kann nur durch ſeine, des Aufnehmenden, Kraͤfte beſtimmt werden; mithin wird die Erziehung unſres Geſchlechts in zwiefachem Sinn genetiſch und organiſch: genetiſch durch die Mittheilung, organiſch durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgetheilten. Wol - len wir dieſe zweite Geneſis des Menſchen, die ſein ganzes Le - ben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Cultur oder vom Bilde des Lichts Aufklaͤrung nennen: ſo ſtehet uns der Name frei; die Kette der Cultur und Aufklaͤrung reicht aber ſodann bis ans Ende der Erde. Auch der Californier und Feuerlaͤnder lernte Bogen und Pfeile machen und ſie gebrau - chen: er hat Sprache und Begriffe, Uebungen und Kuͤnſte, die er lernte, wie wir ſie lernen; ſofern ward er alſo wirklich cultivirt und aufgeklaͤret, wiewohl im niedrigſten Grade. Der Unterſchied zwiſchen aufgeklaͤrten und unaufgeklaͤrten, zwiſchen cultivirten und uncultivirten Voͤlkern iſt alſo nicht ſpecifiſch; ſondern nur Gradweiſe. Das Gemaͤlde der Nationen hat hier unendliche Schattierungen, die mit den Raͤumen und Zei - ten wechſeln; es kommt alſo auch bei ihm, wie bei jedem Ge - maͤlde, auf den Standpunkt an, in dem man die Geſtalten wahrnimmt. Legen wir den Begrif der Europaͤiſchen Cultur zum Grunde: ſo findet ſich dieſe allerdings nur in Europa; ſetzen wir gar noch willkuͤhrliche Unterſchiede zwiſchen Cultur und Aufklaͤrung feſt, deren keine doch, wenn ſie rechter Art iſt,ohne216ohne die andre ſeyn kann: ſo entfernen wir uns noch weiter ins Land der Wolken. Bleiben wir aber auf der Erde und ſehen im allgemeinſten Umfange das an, was uns die Natur, die den Zweck und Charakter ihres Geſchoͤpfs am beſten ken - nen mußte, als menſchliche Bildung ſelbſt vor Augen legt, ſo iſt dies keine andre als die Tradition einer Erziehung zu irgend einer Form menſchlicher Gluͤckſeligkeit und Lebensweiſe. Dieſe iſt allgemein wie das Menſchenge - ſchlecht; ja unter den Wilden oft am thaͤtigſten, wiewohl nur in einem engern Kreiſe. Bleibt der Menſch unter Menſchen: ſo kann er dieſer bildenden oder mißbildenden Cultur nicht ent - weichen: Tradition tritt zu ihm und formt ſeinen Kopf und bildet ſeine Glieder. Wie jene iſt, und wie dieſe ſich bilden laſſen: ſo wird der Menſch, ſo iſt er geſtaltet. Selbſt Kin - der, die unter die Thiere geriethen, nahmen, wenn ſie einige Zeit bei Menſchen gelebt hatten, ſchon menſchliche Cultur un - ter dieſelbe, wie die bekannten meiſten Exempel beweiſen; da - gegen ein Kind, das vom erſten Augenblick der Geburt an der Woͤlfin uͤbergeben wuͤrde, der einzige uncultivirte Menſch auf der Erde waͤre.
Was folgt aus dieſem veſten und durch die ganze Ge - ſchichte unſres Geſchlechts bewaͤhrten Geſichtspunkt? Zuerſt ein Grundſatz, der, wie unſerm Leben ſo auch dieſer Betrach -tung217tung Aufmunterung und Troſt giebt, naͤmlich: iſt das Men - ſchengeſchlecht nicht durch ſich ſelbſt entſtanden, ja wird es An - lagen in ſeiner Natur gewahr, die keine Bewunderung gnug - ſam preiſet: ſo muß auch die Bildung dieſer Anlagen vom Schoͤpfer durch Mittel beſtimmt ſeyn, die ſeine weiſeſte Vater - guͤte verrathen. Ward das leibliche Auge vergebens ſo ſchoͤn[g]ebildet? und findet es nicht ſogleich den goldnen Lichtſtral vor ſich, der fuͤr daſſelbe, wie das Auge fuͤr den Lichtſtral, erſchaf - fen iſt und die Weisheit ſeiner Anlage vollendet? So iſts mit allen Sinnen, mit allen Organen: ſie finden ihre Mittel zur Ausbildung, das Medium, zu dem ſie geſchaffen wurden. Und mit den geiſtigen Sinnen und Organen, auf deren Ge - brauch der Charakter des Menſchengeſchlechts ſo wie die Art und das Maas ſeiner Gluͤckſeligkeit beruhet; hier ſollte es anders ſeyn? hier ſollte der Schoͤpfer ſeine Abſicht, mithin die Abſicht der ganzen Natur, ſofern ſie vom Gebrauch menſch - licher Kraͤfte abhangt, verfehlt haben? Unmoͤglich! Jeder Wahn hieruͤber muß an uns liegen, die wir dem Schoͤpfer entweder falſche Zwecke unterſchieben oder, ſo viel an uns iſt, ſie vereiteln. Da aber auch dieſe Vereitlung ihre Grenzen haben muß und kein Entwurf des Allweiſen von einem Ge - ſchoͤpf ſeiner Gedanken verruͤckt werden kann: ſo laßet uns ſicher und gewiß ſeyn, daß, was Abſicht Gottes auf unſrer Erde mit dem Menſchengeſchlecht iſt, auch in ſeiner verworren -Jdeen, II. Th. E eſten218ſten Geſchichte unverkennbar bleibe. Alle Werke Gottes ha - ben dieſes eigen, daß ob ſie gleich alle zu Einem unuͤberſehli - chen Ganzen gehoͤren, jedes dennoch auch fuͤr ſich ein Ganzes iſt und den goͤttlichen Charakter ſeiner Beſtimmung an ſich traͤget. So iſts mit der Pflanze und mit dem Thier; waͤre es mit dem Menſchen und ſeiner Beſtimmung anders? daß Tauſende etwa nur fuͤr Einen, daß alle vergangenen Geſchlech - ter fuͤrs letzte, daß endlich alle Jndividuen nur fuͤr die Gattung d. i. fuͤr das Bild eines abſtracten Namens hervorgebracht waͤren? So ſpielt der Allweiſe nicht: er dichtet keine abge - zognen Schattentraͤume; in jedem ſeiner Kinder liebet und fuͤhlt er ſich mit dem Vatergefuͤhl, als ob dies Geſchoͤpf das Einzi - ge ſeiner Welt waͤre. Alle ſeine Mittel ſind Zwecke; alle ſeine Zwecke Mittel zu groͤßern Zwecken, in denen der Unendliche aller - fuͤllend ſich offenbaret. Was alſo jeder Menſch iſt und ſeyn kann, das muß Zweck des Menſchengeſchlechts ſeyn; und was iſt dies? Humanitaͤt und Gluͤckſeligkeit auf dieſer Stelle, in dieſem Grad, als dies und kein andres Glied der Kette von Bildung, die durchs ganze Geſchlecht reichet. Wo und wer du gebohren biſt, o Menſch, da biſt du, der du ſeyn ſollteſt: verlaß die Kette nicht, noch ſetze dich uͤber ſie hinaus; ſondern ſchlinge dich an ſie. Nur in ihrem Zuſammenhange, in dem, was du em - pfaͤngeſt und giebſt und alſo in beidem Fall thaͤtig wirſt, nur da wohnt fuͤr dich Leben und Friede.
Zwei -219Zweitens. So ſehr es dem Menſchen ſchmeichelt, daß ihn die Gottheit zu ihrem Gehuͤlfen angenommen und ſeine Bildung hienieden ihm ſelbſt und ſeinesgleichen uͤberlaſſen habe: ſo zeigt doch eben dies von der Gottheit erwaͤhlte Mittel die Unvollkommenheit unſres irrdiſchen Daſeyns, indem wir ei - gentlich Menſchen noch nicht ſind, ſondern taͤglich werden. Was iſts fuͤr ein armes Geſchoͤpf, das nichts aus ſich ſelbſt hat, das alles durch Vorbild, Lehre, Uebung bekommt und wie ein Wachs, darnach Geſtalten annimmt! Man ſehe, wenn man auf ſeine Vernunft ſtolz iſt, den Spielraum ſeiner Mit - bruͤder an auf der weiten Erde oder hoͤre ihre vieltoͤnige diſ - ſonante Geſchichte. Welche Unmenſchlichkeit gaͤbe es, zu der ſich nicht ein Menſch, eine Nation, ja oft eine Reihe von Na - tionen gewoͤhnen konnte, ſogar daß ihrer viele und vielleicht die meiſten das Fleiſch ihrer Mitbruͤder fraßen. Welche thoͤ - richte Einbildung waͤre denkbar, die die erbliche Tradition nicht hie oder da wirklich geheiligt haͤtte? Niedriger alſo kann kein vernuͤnftiges Geſchoͤpf ſtehen, als der Menſch ſteht: denn er iſt Lebenslang nicht nur ein Kind an Vernunft, ſondern ſogar ein Zoͤgling der Vernunft andrer. Jn welche Haͤnde er faͤllt; darnach wird er geſtaltet und ich glaube nicht, daß irgend eine Form der menſchlichen Sitte moͤglich ſei, in der nicht ein Volk oder ein Jndividuum deſſelben exſiſtirt oder exſiſtirt habe. Alle Laſter und Graͤuelthaten erſchoͤpfen ſich in der Geſchichte bisE e 2end -220endlich hie und da eine edlere Form menſchlicher Gedanken und Tugenden erſcheinet. Nach dem vom Schoͤpfer erwaͤhlten Mittel, daß unſer Geſchlecht nur durch unſer Geſchlecht gebil - det wuͤrde, wars nicht anders moͤglich: Thorheiten mußten ſich vererben, wie die ſparſamen Schaͤtze der Weisheit: der Weg der Menſchen ward einem Labyrinth gleich, mit Abwe - gen auf allen Seiten, wo nur wenige Fußtapfen zum innerſten Ziel fuͤhren. Gluͤcklich iſt der Sterbliche, der dahin ging oder fuͤhrte, deſſen Gedanken, Neigungen und Wuͤnſche, oder auch nur die Stralen ſeines ſtillen Beiſpiels auf die ſchoͤnere Humanitaͤt ſeiner Mitbruͤder fortgewirkt haben. Nicht an - ders wirkt Gott auf der Erde, als durch erwaͤhlte, groͤſſere Menſchen; Religion und Sprache, Kuͤnſte und Wiſſenſchaf - ten, ja die Regierungen ſelbſt koͤnnen ſich mit keiner ſchoͤnern Krone ſchmuͤcken, als mit dieſem Palmzweige der ſittlichen Fort - bildung in menſchlichen Seelen. Unſer Leib vermodert im Grabe und unſers Namens Bild iſt bald ein Schatte auf Erde; nur in der Stimme Gottes, d. i. der bildenden Tradition ein - verleibt, koͤnnen wir auch mit Namenloſer Wirkung in den Seelen der Unſern thaͤtig fortleben.
Drittens. Die Philoſophie der Geſchichte alſo, die die Kette der Tradition verfolgt, iſt eigentlich die wahre Menſchen - geſchichte, ohne welche alle aͤußere Weltbegebenheiten nur Wol -ken221ken ſind oder erſchreckende Misgeſtalten werden. Grauſenvoll iſt der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Truͤmmer auf Truͤmmern zu ſehen, ewige Anfaͤnge ohne Ende, Umwaͤl - zungen des Schickſals ohne dauernde Abſicht! Die Kette der Bildung allein macht aus dieſen Truͤmmern ein Ganzes, in welchem zwar Menſchengeſtalten verſchwinden, aber der Men - ſchengeiſt unſterblich und fortwirkend lebet. Glorreiche Na - men, die in der Geſchichte der Cultur als Genien des Men - ſchengeſchlechts, als glaͤnzende Sterne in der Nacht der Zeiten ſchimmern! Laß es ſeyn, daß der Verfolg der Aeonen manches von ihrem Gebaͤude zertruͤmmerte und vieles Gold in den Schlamm der Vergeſſenheit ſenkte; die Muͤhe ihres Men - ſchenlebens war dennoch nicht vergeblich: denn was die Vor - ſehung von ihrem Werk retten wollte, rettete ſie in andern Ge - ſtalten. Ganz und ewig kann ohnedies kein Menſchendenk - mal auf der Erde dauern, da es im Strom der Generationen nur von den Haͤnden der Zeit fuͤr die Zeit errichtet war und au - genblicklich der Nachwelt verderblich wird, ſobald es ihr neues Beſtreben unnoͤthig macht oder aufhaͤlt. Auch die wandel - bare Geſtalt und die Unvollkommenheit aller menſchlichen Wirkung lag alſo im Plan des Schoͤpfers. Thorheit mußte erſcheinen, damit die Weisheit ſie uͤberwinde: zerfallende Brech - lichkeit auch der ſchoͤnſten Werke war von ihrer Materie unzer - trennlich, damit auf den Truͤmmern derſelben eine neue beſſern -E e 3de222de oder bauende Muͤhe der Menſchen ſtattfaͤnde: denn alle ſind wir hier nur in einer Werkſtaͤte der Uebung. Jeder Einzelne muß davon und da es ihm ſodann gleich ſeyn kann, was die Nachwelt mit ſeinen Werken vornehme, ſo waͤre es einem gu - ten Geiſt ſogar widrig, wenn die folgenden Geſchlechter ſolche mit todter Stupiditaͤt anbeten und nichts eigenes unternehmen wollten. Er goͤnnet ihnen dieſe neue Muͤhe: denn was Er aus der Welt mitnahm, war ſeine geſtaͤrkte Kraft, die innere reiche Frucht ſeiner menſchlichen Uebung.
Goldene Kette der Bildung alſo, du die die Erde um - ſchlingt und durch alle Jndividuen bis zum Thron der Vor - ſehung reichet, ſeitdem ich dich erſah und in deinen ſchoͤnſten Gliedern, den Vater - und Mutter - den Freundes - und Leh - rer-Empfindungen verfolgte, iſt mir die Geſchichte nicht mehr, was ſie mir ſonſt ſchien, ein Graͤuel der Verwuͤſtung auf einer heiligen Erde. Tauſend Schandthaten ſtehen da mit haͤßli - chem Lobe verſchleiert: tauſend andre ſtehn in ihrer ganzen Haͤß - lichkeit daneben, um allenthalben doch das ſparſame wahre Verdienſt wirkender Humanitaͤt auszuzeichnen, das auf unſrer Erde immer ſtill und verborgen ging und ſelten die Folgen kannte, die die Vorſehung aus ſeinem Leben, wie den Geiſt aus der Maſſe hervorzog. Nur unter Stuͤrmen konnte die edle Pflanze erwachſen; nur durch Entgegenſtreben gegen falſcheAnmaaſ -223Anmaaſſungen mußte die ſuͤße Muͤhe der Menſchen Siegerin werden; ja oft ſchien ſie unter ihrer reinen Abſicht gar zu er - liegen. Aber ſie erlag nicht. Das Samenkorn aus der Aſche des Guten ging in der Zukunft deſto ſchoͤner hervor und mit Blut befeuchtet, ſtieg es meiſtens zur unverwelklichen Krone. Das Maſchinenwerk der Revolutionen irret mich alſo nicht mehr: es iſt unſerm Geſchlecht ſo noͤthig, wie dem Strom ſeine Wogen, damit er nicht ein ſtehender Sumpf werde. Jm - mer verjuͤngt in ſeinen Geſtalten, bluͤht der Genius der Huma - nitaͤt auf und ziehet palingenetiſch in Voͤlkern, Generationen und Geſchlechtern weiter.
Jm Menſchen, ja ſelbſt im Affen findet ſich ein ſonderbarer Trieb der Nachahmung, der keinesweges die Folge einer ver - nuͤnftigen Ueberlegung, ſondern ein unmittelbares Erzeugniß der organiſchen Sympathie ſcheinet. Wie Eine Saite der andern zutoͤnt und mit der reinern Dichtigkeit und Homoge -neitaͤt224neitaͤt aller Koͤrper auch ihre vibrirende Faͤhigheit zunimmt: ſo iſt die menſchliche Organiſation, als die feinſte von allen, nothwendig auch am meiſten dazu geſtimmt, den Klang aller andern Weſen nachzuhallen und in ſich zu fuͤhlen. Die Ge - ſchichte der Krankheiten zeigt, daß nicht nur Affecten und koͤr - perliche Wunden, daß ſelbſt der Wahnſinn ſich ſympathetiſch fortbreiten konnte.
Bei Kindern ſehen wir alſo die Wirkungen dieſes Con - ſenſus gleichgeſtimmter Weſen im hohen Grad; ja eben auch dazu ſollte ihr Koͤrper lange Jahre ein leicht-zuruͤcktoͤnendes Saitenſpiel bleiben. Handlungen und Gebehrden, ſelbſt Lei - denſchaften und Gedanken gehen unvermerkt in ſie uͤber, ſo daß ſie auch zu dem was ſie noch nicht uͤben koͤnnen, wenigſtens geſtimmt werden und einem Triebe, der eine Art geiſtiger Aſſi - milation iſt, unwiſſend folgen. Bei allen Soͤhnen der Natur, den wilden Voͤlkern, iſts nicht anders. Gebohrne Pantomi - men, ahmen ſie alles, was ihnen erzaͤhlt wird oder was ſie ausdruͤcken wollen, lebhaft nach und zeigen damit in Taͤnzen, Spielen, Scherz und Geſpraͤchen ihre eigentliche Denkart. Nachahmend naͤmlich kam ihre Phantaſie zu dieſen Bildern: in Typen ſolcher Art beſtehet der Schatz ihres Gedaͤchtnißes und ihrer Sprache; daher gehen auch ihre Gedanken ſo leicht in Handlung und lebendige Tradition uͤber.
Durch225Durch alle dieſe Mimik indeſſen waͤre der Menſch noch nicht zu ſeinem kuͤnſtlichen Geſchlechtscharakter, der Vernunft gekommen; zu ihr kommt er allein durch Sprache. Laſſet uns bei dieſem Wunder einer goͤttlichen Einſetzung verweilen: es iſt außer der Geneſis lebendiger Weſen vielleicht das groͤßeſte der Erdeſchoͤpfung.
Wenn uns jemand ein Raͤthſel vorlegte, wie Bilder des Auges und alle Empfindungen unſrer verſchiedenſten Sinne nicht nur in Toͤne gefaßt ſondern auch dieſen Toͤnen mit in - wohnender Kraft ſo mitgetheilt werden ſollen, daß ſie Gedan - ken ausdruͤcken und Gedanken erregen; ohne Zweifel hielte man dies Problem fuͤr den Einfall eines Wahnſinnigen, der hoͤchſt ungleiche Dinge einander ſubſtituirend, die Farbe zum Ton, den Ton zum Gedanken, den Gedanken zum malenden Schall zu machen gedaͤchte. Die Gottheit hat das Problem thaͤtig aufgeloͤſet. Ein Hauch unſres Mundes wird das Ge - maͤhlde der Welt, der Typus unſrer Gedanken und Gefuͤhle in des andern Seele. Von einem bewegten Luͤftchen hangt alles ab, was Menſchen je auf der Erde menſchliches dachten, wollten, thaten und thun werden: denn alle liefen wir noch in Waͤldern umher, wenn nicht dieſer goͤttliche Othem uns ange - haucht haͤtte und wie ein Zauberton auf unſern Lippen ſchwebte. Die ganze Geſchichte der Menſchheit alſo mit allen SchaͤtzenJdeen, II. Th. F fihrer226ihrer Tradition und Cultur iſt nichts als eine Folge dieſes aufgeloͤſten goͤttlichen Raͤthſels. Was uns daſſelbe noch ſon - derbarer macht, iſt, daß wir ſelbſt nach ſeiner Aufloͤſung bei taͤglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zuſammenhang der Werkzeuge dazu begreifen. Gehoͤr und Sprache hangen zuſammen: denn bei den Abartungen der Geſchoͤpfe veraͤndern ſich ihre Organe offenbar mit einander. Auch ſehen wir, daß zu ihrem Conſenſus der ganze Koͤrper eingerichtet worden; die innere Art der Zuſammenwirkung aber begreifen wir nicht. Daß alle Affekten, inſonderheit Schmerz und Freude Toͤne wer - den, daß was unſer Ohr hoͤrt, auch die Zunge reget, daß Bil - der und Empfindungen geiſtige Merkmale, daß dieſe Merk - male bedeutende, ja bewegende Sprache ſeyn koͤnnen — das Alles iſt ein Concent ſo vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund gleichſam, den der Schoͤpfer zwiſchen den verſchiedenſten Sin - nen und Trieben, Kraͤften und Gliedern ſeines Geſchoͤpfs eben ſo wunderbar hat errichten wollen, als er Leib und Seele zu - ſammenfuͤgte.
Wie ſonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das einzige, wenigſtens das beſte Mittel unſrer Gedanken und Empfindun - gen ſeyn ſollte! Ohne ſein unbegreifliches Band mit allen ihm ſo ungleichen Handlungen unſrer Seele waͤren dieſe Handlun - gen ungeſchehen, die feinen Zubereitungen unſres Gehirns muͤ -ßig,227ßig, die ganze Anlage unſres Weſens unvollendet geblieben, wie die Beiſpiele der Menſchen, die unter die Thiere geriethen, zeigen. Die Taub - und Stummgebohrnen, ob ſie gleich Jahre lang in einer Welt von Gebehrden und andern Jdeenzeichen lebten, betrugen ſich dennoch nur wie Kinder oder wie menſch - liche Thiere. Nach der Analogie deſſen was ſie ſahen und nicht verſtanden, handelten ſie; einer eigentlichen Vernunft - verbindung waren ſie durch allen Reichthum des Geſichts nicht faͤhig worden. Ein Volk hat keine Jdee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteſte Anſchauung bleibt dunkles Gefuͤhl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedaͤcht - niß, der Ruͤckerinnerung, dem Verſtande, ja endlich dem Ver - ſtande der Menſchen, der Tradition einverleibet: eine reine Vernunft ohne Sprache iſt auf Erden ein utopiſches Land. Mit den Leidenſchaften des Herzens, mit allen Neigungen der Geſellſchaft iſt es nicht anders. Nur die Sprache hat den Menſchen menſchlich gemacht, indem ſie die ungeheure Fluth ſeiner Affecten in Daͤmme einſchloß und ihr durch Worte ver - nuͤnftige Denkmale ſetzte. Nicht die Leier Amphions hat Staͤdte errichtet, keine Zauberruthe hat Wuͤſten in Gaͤrten verwan - delt; die Sprache hat es gethan, ſie, die große Geſellerin der Menſchen. Durch ſie vereinigten ſie ſich bewillkommend ein - ander und ſchloßen den Bund der Liebe. Geſetze ſtiftete ſie und verband Geſchlechter; nur durch ſie ward eine GeſchichteF f 2der228der Menſchheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der Seele moͤglich. Noch jetzt ſehe ich die Helden Homers und fuͤhle Oßians Klagen, obgleich die Schatten der Saͤnger und ihrer Helden ſo lange der Erde entflohn ſind. Ein bewegter Hauch des Mundes hat ſie unſterblich gemacht und bringt ihre Geſtalten vor mich; die Stimme der Verſtorbenen iſt in meinem Ohr: ich hoͤre ihre laͤngſtverſtummeten Gedanken. Was je der Geiſt der Menſchen ausſann, was die Weiſen der Vorzeit dachten, kommt, wenn es mir die Vorſehung gegoͤnnt hat, al - lein durch Sprache zu mir. Durch ſie iſt meine denkende See - le an die Seele des erſten und vielleicht des letzten denkenden Menſchen geknuͤpfet: kurz Sprache iſt der Charakter unſrer Vernunft, durch welchen ſie allein Geſtalt gewinnet und ſich fortpflanzet.
Jndeſſen zeigt eine kleine naͤhere Anſicht, wie unvollkom - men dies Mittel unſrer Bildung ſei, nicht nur als Werkzeug der Vernunft, ſondern auch als Band zwiſchen Menſchen und Menſchen betrachtet; ſo daß man ſich beinah kein unweſenhaf - teres, leichteres, fluͤchtigeres Gewebe denken kann, als womit der Schoͤpfer unſer Geſchlecht verknuͤpfen wollte. Guͤtiger Vater, war kein andrer Calcul unſrer Gedanken, war keine in - nigere Verbindung menſchlicher Geiſter und Herzen moͤglich?
1. Keine2291. Keine Sprache druckt Sachen aus, ſondern nur Namen: auch keine menſchliche Vernunft alſo er - kennt Sachen, ſondern ſie hat nur Merkmale von ih - nen, die ſie mit Worten bezeichnet; eine demuͤthigende Bemerkung, die der ganzen Geſchichte unſres Verſtandes en - ge Grenzen und eine ſehr unweſenhafte Geſtalt giebt. Alle unſre Metaphyſik iſt Metaphyſik, d. i. ein abgezognes, geord - netes Namenregiſter hinter Beobachtungen der Erfahrung. Als Ordnung und Regiſter kann dieſe Wiſſenſchaft ſehr brauch - bar ſeyn und muß gewiſſermaaſſe in allen andern unſern kuͤnſt - lichen Verſtand leiten; fuͤr ſich aber und als Natur der Sa - che betrachtet, giebt ſie keinen einzigen vollſtaͤndigen und we - ſentlichen Begrif, keine einzige innige Wahrheit. All' unſre Wiſſenſchaft rechnet mit abgezognen einzelnen aͤußern Merk - malen, die das Jnnere der Exſiſtenz keines einzigen Dinges beruͤhren, weil zu deſſen Empfindung und Ausdruck wir durchaus kein Organ haben. Keine Kraft in ihrem Weſen kennen wir, koͤnnen ſie auch nie kennen lernen: denn ſelbſt die, die uns belebt, die in uns denket, genießen und fuͤhlen wir zwar, aber wir kennen ſie nicht. Keinen Zuſammenhang zwiſchen Urſache und Wirkung verſtehen wir alſo, da wir we - der das, was wirkt, noch was gewirkt wird, im Jnnern ein - ſehn und vom Seyn eines Dinges durchaus keinen BegrifF f 3haben.230haben. Unſre arme Vernunft iſt alſo nur eine bezeichnende Rechnerin, wie auch in mehreren Sprachen ihr Name ſaget.
2. Und womit rechnet ſie? Etwa mit den Merkmalen ſelbſt, die ſie abzog, ſo unvollkommen und unweſenhaft dieſe auch ſeyn moͤgen? Nichts minder! Dieſe Merkmale wer - den abermals in willkuͤhrliche, ihnen ganz unweſenhaf - te Laute verfaßt, mit denen die Seele denket. Sie rech - net alſo mit Rechenpfennigen, mit Schaͤllen und Ziffern: denn daß ein weſentlicher Zuſammenhang zwiſchen der Spra - che und den Gedanken, geſchweige der Sache ſelbſt ſei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet. Und wie viel mehr als zwo ſind ihrer auf der Erde! in denen allen doch die Vernunft rechnet und ſich mit dem Schattenſpiel einer willkuͤhrlichen Zuſammenordnung begnuͤget. Warum dies? weil ſie ſelbſt nur unweſentliche Merkmale beſitzt und es am Ende ihr gleichguͤltig iſt, mit dieſen oder jenen Ziffern zu bezeichnen. Truͤber Blick auf die Geſchichte des Menſchen - geſchlechtes! Jrrthuͤmer und Meinungen ſind unſrer Natur alſo unvermeidlich, nicht etwa nur aus Fehlern des Beobach - ters ſondern der Geneſis ſelbſt nach, wie wir zu Begriffen kommen und dieſe durch Vernunft und Sprache fortpflanzen. Daͤchten wir Sachen ſtatt abgezogner Merkmale und ſpraͤchen die Natur der Dinge aus, ſtatt willkuͤhrlicher Zeichen: ſo lebewohl,231wohl, Jrrthum und Meinung, wir ſind im Lande der Wahr - heit. Jetzt aber wie fern ſind wir demſelben, auch wenn wir dicht an ihm zu ſtehen glauben, da, was ich von einer Sache weiß, nur ein aͤußeres abgeriſſenes Symbol derſelben iſt, in ein anderes willkuͤhrliches Symbol gekleidet. Verſtehet mich der andre? verbindet er mit dem Wort die Jdee, die ich da - mit verband oder verbindet er gar keine? Er rechnet indeſſen mit dem Wort weiter und giebt es andern vielleicht gar als eine leere Nußſchaale. So gings bei allen philoſophiſchen Secten und Religionen. Der Urheber hatte von dem was er ſprach, wenigſtens klaren, obgleich darum noch nicht wah - ren Begrif; ſeine Schuͤler und Nachfolger verſtanden ihn auf ihre Weiſe, d. i. ſie belebten mit ihren Jdeen ſeine Worte und zuletzt toͤnten nur leere Schaͤlle um das Ohr der Men - ſchen. Lauter Unvollkommenheiten, die in unſerm einzigen Mittel der Fortpflanzung menſchlicher Gedanken liegen; und doch ſind wir mit unſrer Bildung an dieſe Kette geknuͤpft: ſie iſt uns unentweichbar.
Große Folgen liegen hierinn fuͤr die Geſchichte der Menſchheit. Zuerſt: Schwerlich kann unſer Geſchlecht nach dieſem von der Gottheit erwaͤhlten Mittel der Bildung fuͤr die bloſſe Spekulation oder fuͤr die reine Anſchauung ge - macht ſeyn: denn beyde liegen ſehr unvollkommen in unſermKreiſe.232Kreiſe. Nicht fuͤr die reine Anſchauung, die entweder ein Trug iſt, weil kein Menſch das Jnnere der Sachen ſiehet oder die wenigſtens, da ſie keine Merkmale und Worte zulaͤßt, ganz unmittheilbar bleibet. Kaum vermag der Anſchauende den andern auf den Weg zu fuͤhren, auf dem Er zu ſeinen un - nennbaren Schaͤtzen gelangte und muß es ihm ſelbſt und ſei - nem Genius uͤberlaſſen, wiefern auch Er dieſer Anſchauun - gen theilhaftig werde. Nothwendig wird hiemit eine Pforte zu tauſend vergeblichen Quaalen des Geiſtes und zu unzaͤhli - chen Arten des liſtigen Betruges eroͤfnet, wie die Geſchichte aller Voͤlker zeiget. Zur Speculation kann der Menſch eben ſo wenig geſchaffen ſeyn, da ſie ihrer Geneſis und Mitthei - lung nach nicht vollkommener iſt und nur zu bald die Koͤpfe der Nachbeter mit tauben Worten erfuͤllet. Ja wenn ſich dieſe beide Extreme, Spekulation und Anſchauung gar geſellen wol - len, und der metaphyſiſche Schwaͤrmer auf eine Wortloſe Vernunft voll Anſchauungen weiſet: armes Menſchenge - ſchlecht, ſo ſchwebſt du gar im Raum der Undinge zwiſchen kalter Hitze und warmer Kaͤlte. Durch die Sprache hat uns die Gottheit auf einen ſicherern, den Mittelweg gefuͤhret. Nur Verſtandesideen ſinds, die wir durch ſie erlangen und die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unſrer Kraͤfte, zum geſunden Gebrauch unſres Lebens, kurz zu Bildung der Humanitaͤt in uns gnug ſind. Nicht Aether ſollen wir ath -men,233men, dazu auch unſre Maſchine nicht gemacht iſt, ſondern den geſunden Duft der Erde.
Und o ſollten die Menſchen im Gebiet wahrer und nutz - barer Begriffe ſo weit von einander entfernt ſeyn, als es die ſtolze Speculation waͤhnet? Die Geſchichte der Nationen ſo - wohl, als die Natur der Vernunft und Sprache verbie - tet mir faſt, dies zu glauben. Der arme Wilde, der wenige Dinge ſah und noch weniger Begriffe zuſammenfuͤgte, verfuhr in ih - rer Verbindung nicht anders als der Erſte der Philoſophen. Er hat Sprache wie ſie und durch dieſe ſeinen Verſtand und ſein Gedaͤchtniß, ſeine Phantaſie und Zuruͤckerinnerung tau - ſendfach geuͤbet. Ob in einem kleinern oder groͤßern Kreiſe? dieſes thut nichts zur Sache; zu der menſchlichen Art naͤmlich, wie er ſie uͤbte. Der Weltweiſe Europens kann keine einzige Seelenkraft nennen, die ihm eigen ſei; ja ſelbſt im Verhaͤlt - niß der Kraͤfte und ihrer Uebung erſtattet die Natur reichlich. Bei manchen Wilden z. B. iſt das Gedaͤchtniß, die Einbil - dungskraft, praktiſche Klugheit, ſchneller Entſchluß, richtiges Urtheil, lebhafter Ausdruck in einer Bluͤthe, die bei der kuͤnſt - lichen Vernunft Europaͤiſcher Gelehrten ſelten gedeihet. Dieſe hingegen rechnen mit Wortbegriffen und Ziffern, freilich un - endlich feine und kuͤnſtliche Combinationen, an die der Natur - menſch nicht denket; eine ſitzende Rechenmaſchine aber, waͤreJdeen, II. Th. G gſie234ſie das Urbild aller menſchlichen Vollkommenheit, Gluͤckſeligkeit und Staͤrke? Laß es ſeyn, daß jener in Bildern denke, was er abſtract zu denken noch nicht vermag; ſelbſt wenn er noch keinen entwickelten Gedanken d. i. kein Wort von Gott haͤtte und er genoͤße Gott als den großen Geiſt der Schoͤpfung thaͤ - tig in ſeinem Leben; o ſo lebet er dankbar, indem er zufrieden lebet und wenn er ſich in Wortziffern keine unſterbliche Seele erweiſen kann und glaubt dieſelbe: ſo geht er mit gluͤcklicherm Muth als mancher zweifelnde Wortweiſe ins Land der Vaͤter.
Laſſet uns alſo die guͤtige Vorſehung anbeten, die durch das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache im Jnnern die Menſchen einander gleicher machte, als es ihr Aeußeres zeiget. Alle kommen wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache durch Tradition, durch Glauben ans Wort der Vaͤter. Wie nun der ungelehrigſte Sprach - ſchuͤler der waͤre, der vom erſten Gebrauch der Worte Urſach und Rechenſchaft foderte: ſo muß ein aͤhnlicher Glaube an ſo ſchwere Dinge als die Beobachtung der Natur und die Er - fahrung ſind, uns mit geſunder Zuverſicht durchs ganze Leben leiten. Wer ſeinen Sinnen nicht traut, iſt ein Thor und muß ein leerer Speculant werden; dagegen wer ſie trauend uͤbt und eben dadurch erforſcht und berichtigt, der allein gewinnet ei - nen Schatz der Erfahrung fuͤr ſein menſchliches Leben. Jhmiſt235iſt ſodann die Sprache mit allen ihren Schranken gnug: denn ſie ſollte den Beobachter nur aufmerkſam machen und ihn zum eignen, thaͤtigen Gebrauch ſeiner Seelenkraͤfte leiten. Ein feineres Jdiom, durchdringend wie der Sonnenſtral koͤnnte theils nicht allgemein ſeyn, theils waͤre es fuͤr die jetzige Sphaͤre unſrer groͤbern Thaͤtigkeit ein wahres Uebel. Ein gleiches iſts mit der Sprache des Herzens: ſie kann wenig ſagen und doch ſagt ſie gnug; ja gewiſſermaaſſe iſt unſre menſchliche Sprache mehr fuͤr das Herz, als fuͤr die Vernunft geſchaffen. Dem Verſtande kann die Gebehrde, die Bewegung, die Sache ſelbſt zu Huͤlfe kommen; die Empfindungen unſeres Herzens aber bleiben in unſerer Bruſt vergraben, wenn der melodiſche Strom ſie nicht in ſanften Wellen zum Herzen des andern hinuͤber braͤchte. Auch darum alſo hat der Schoͤpfer die Muſik der Toͤne zum Organ unſrer Bildung gewaͤhlt; eine Sprache fuͤr die Empfindung, eine Vater - und Mutter - Kindes - und Freun - desſprache. Geſchoͤpfe, die ſich einander noch nicht innig be - ruͤhren koͤnnen, ſtehn wie hinter Gegittern und fluͤſtern ein - ander zu das Wort der Liebe; bei Weſen, die die Sprache des Lichts oder eines andern Organs ſpraͤchen, veraͤnderte ſich noth - wendig die ganze Geſtalt und Kette ihrer Bildung.
Zweitens. Der ſchoͤnſte Verſuch uͤber die Geſchichte und mannichfaltige Charakteriſtik des menſchlichen VerſtandesG g 2und236und Herzens waͤre alſo eine philoſophiſche Vergleichung der Sprachen: denn in jede derſelben iſt der Verſtand eines Volks und ſein Charakter gepraͤget. Nicht nur die Sprach - werkzeuge aͤndern ſich mit den Regionen und beinah jeder Na - tion ſind einige Buchſtaben und Laute eigen; ſondern die Na - mengebung ſelbſt, ſogar in Bezeichnung hoͤrbarer Sachen, ja in den unmittelbaren Aeußerungen des Affekts, den Jnter - jectionen aͤndert ſich uͤberall auf der Erde. Bei Dingen des Anſchauens und der kalten Betrachtung waͤchſt dieſe Verſchie - denheit noch mehr und bei den uneigentlichen Ausdruͤcken, den Bildern der Rede, endlich beim Bau der Sprache, beim Ver - haͤltniß, der Ordnung, dem Conſenſus der Glieder zu einan - der iſt ſie beinah unermaͤßlich; noch immer aber alſo daß ſich der Genius eines Volks nirgend beſſer als in der Phyſiogno - mie ſeiner Rede offenbaret. Ob z. B. eine Nation viele Na - men oder viel Handlung hat? wie es Perſonen und Zeiten ausdruͤckt? welche Ordnung der Begriffe es liebet? alle dies iſt oft in feinen Zuͤgen aͤußerſt charakteriſtiſch. Manche Na - tion hat fuͤr das maͤnnliche und weibliche Geſchlecht eine eigne Sprache; bei andern unterſcheiden ſich im bloßen Wort Jch gar die Staͤnde. Thaͤtige Voͤlker haben einen Ueberfluß von modis der Verben; feinere Nationen eine Menge Beſchaffen - heiten der Dinge, die ſie zu Abſtractionen erhoͤhten. Der ſon - derbarſte Theil der menſchlichen Sprachen endlich iſt die Be -zeich -237zeichnung ihrer Empfindungen, die Ausdruͤcke der Liebe und Hochachtung, der Schmeichelei und der Drohung, in denen ſich die Schwachheiten eines Volks oft bis zum Laͤcherlichen offenbarena)Beiſpiele von dieſen Saͤtzen zu geben, waͤre zu weitlaͤuftig; ſie gehoͤren nicht in dies Buch und bleiben einem andern Ort aufbehalten.. Warum kann ich noch kein Werk nennen, das den Wunſch Baco's, Leibnitz, Sulzers u. a. nach einer all - gemeinen Phyſiognomik der Voͤlker aus ihren Sprachen nur einigermaaſſen erfuͤllet habe? Zahlreiche Beitraͤge zu dem - ſelben giebts in den Sprachbuͤchern und Reiſebeſchreibern ein - zelner Nationen: unendlich-ſchwer und weitlaͤuftig doͤrfte die Arbeit auch nicht werden, wenn man das Nutzloſe vorbeiginge und was ſich ins Licht ſtellen laͤßt, deſto beſſer gebrauchte. An lehrreicher Anmuth wuͤrde es keinen Schritt fehlen, weil alle Eigenheiten der Voͤlker in ihrem praktiſchen Verſtande, in ih - ren Phantaſieen, Sitten und Lebensweiſen, wie ein Garte des Menſchengeſchlechts dem Beobachter zum mannichfaltigſten Gebrauch vorlaͤgen und am Ende ſich die reichſte Architekto - nik menſchlicher Begriffe, die beſte Logik und Metaphy - ſik des geſunden Verſtandes daraus ergaͤbe. Der Kranz iſt noch aufgeſteckt und ein andrer Leibnitz wird ihn zu ſeiner Zeit finden.
G g 3Eine238Eine aͤhnliche Arbeit waͤre die Geſchichte der Sprache einiger einzelnen Voͤlker nach ihren Revolutionen; wobei ich inſonderheit die Sprache unſres Vaterlandes fuͤr uns zum Bei - ſpiel nehme. Denn ob ſie gleich nicht, wie andre, mit fremden Sprachen vermiſcht worden: ſo hat ſie ſich dennoch weſentlich, und ſelbſt der Grammatik nach, von Ottfrieds Zeiten her ver - aͤndert. Die Gegeneinanderſtellung verſchiedner cultivirter Sprachen mit den verſchiednen Revolutionen ihrer Voͤlker wuͤrde mit jedem Strich von Licht und Schatten gleichſam ein wandelbares Gemaͤhlde der mannichfaltigen Fortbildung des menſchlichen Geiſtes zeigen, der, wie ich glaube, ſeinen verſchied - nen Mundarten nach noch in allen ſeinen Zeitaltern auf der Erde bluͤhet. Da ſind Nationen in der Kindheit, der Jugend, dem maͤnnlichen und hohen Alter unſres Geſchlechts; ja wie manche Voͤlker und Sprachen ſind durch Einimpfung andrer oder wie aus der Aſche entſtanden!
Endlich die Tradition der Traditionen, die Schrift. Wenn Sprache das Mittel der menſchlichen Bildung unſres Geſchlechts iſt, ſo iſt Schrift das Mittel der gelehrten Bil - dung. Alle Nationen, die außer dem Wege dieſer kuͤnſtlichen Tradition lagen, ſind nach unſern Begriffen uncultivirt ge - blieben; die daran auch nur unvollkommen Theilnahmen, er - hoben ſich zu einer Verewigung der Vernunft und der Geſetzein239in Schriftzuͤgen. Der Sterbliche, der dies Mittel, den fluͤch - tigen Geiſt nicht nur in Worte ſondern in Buchſtaben zu feſ - ſeln, erfand; er wirkte als ein Gott unter den Menſchena)Die Geſchichte dieſer und andrer Erfindungen, ſofern ſie zum Ge - maͤhlde der Menſchheit gehoͤrt, wird der Verfolg geben..
Aber was bei der Sprache ſichtbar war, iſt hier noch viel - mehr ſichtbar, naͤmlich, daß auch dies Mittel der Verewigung unſrer Gedanken den Geiſt und die Rede zwar beſtimmt, aber auch eingeſchraͤnkt und auf mannichfaltige Weiſe gefeſſelt habe. Nicht nur, daß mit den Buchſtaben allmaͤlich die le - bendigen Accente und Gebehrden erloſchen, ſie, die vorher der Rede ſo ſtarken Eingang ins Herz verſchafft hatten; nicht nur, daß der Dialekte, mithin auch der charakteriſtiſchen Jdiome einzelner Staͤmme und Voͤlker dadurch weniger ward; auch das Gedaͤchtniß der Menſchen und ihre lebendige Geiſteskraft ſchwaͤchte ſich bei dieſem kuͤnſtlichen Huͤlfsmittel vorgezeichne - ter Gedankenformen. Unter Gelehrſamkeit und Buͤchern waͤre laͤngſt erlegen die menſchliche Seele, wenn nicht durch man - cherlei zerſtoͤrende Revolutionen die Vorſehung unſerm Geiſt wiederum Luft ſchaffte. Jn Buchſtaben gefeſſelt ſchleicht der Verſtand zuletzt muͤhſam einher; unſre beſten Gedanken ver - ſtummen in todten ſchriftlichen Zuͤgen. Dies alles indeſſen hindert nicht, die Tradition der Schrift als die dauerhafteſte,ſtilleſte,240ſtilleſte, wirkſamſte Gottes-Anſtalt anzuſehen, dadurch Natio - nen auf Nationen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte wirken und ſich das ganze Menſchengeſchlecht vielleicht mit der Zeit an Einer Kette bruͤderlicher Tradition zuſammenfindet.
Sobald der Menſch, durch welchen Gott oder Genius es geſchehen ſei, auf den Weg gebracht war, eine Sache als Merk - mal ſich zuzueignen, und dem gefundnen Merkmal ein willkuͤhr - liches Zeichen zu ſubſtituiren, d. i. ſobald auch in den kleinſten Anfaͤngen Sprache der Vernunft begann, ſofort war er auf dem Wege zu allen Wiſſenſchaften und Kuͤnſten. Denn was thut die menſchliche Vernunft in Erfindung dieſer, als bemer - ken und bezeichnen? Mit der ſchwerſten Kunſt, der Sprache, war alſo gewiſſermaaſſe ein Vorbild zu allem gegeben.
Der Menſch z. B. der von den Thieren ein Merkmal der Benennung faßte, hatte damit auch den Grund gelegt, diezaͤhm -241zaͤhmbaren Thiere zu bezaͤhmen, die nutzbaren ſich nutzbar zu machen und uͤberhaupt alles in der Natur fuͤr ſich zu erobern: denn bei jeder dieſer Zueignungen that er eigentlich nichts, als das Merkmal eines zaͤhmbaren, nuͤtzlichen, ſich zuzueignenden Weſens bemerken und es durch Sprache oder Probe bezeich - nen. Am ſanften Schaaf z. E. bemerkte er die Milch, die das Lamm ſog, die Wolle, die ſeine Hand waͤrmte und ſuchte das Eine wie das Andre ſich zuzueignen. Am Baum, zu deſſen Fruͤchten ihn der Hunger fuͤhrte, bemerkte er Blaͤtter, mit de - nen er ſich guͤrten koͤnnte, Holz das ihn waͤrmte u. f. So ſchwung er ſich aufs Roß, daß es ihn trage: er hielt es bei ſich, daß es ihn abermals trage: er ſahe den Thieren, er ſahe der Natur ab, wie jene ſich ſchuͤtzten und naͤhrten, wie dieſe ihre Kinder erzog oder vor der Gefahr bewahrte. So kam er auf den Weg aller Kuͤnſte durch nichts als die innere Geneſis ei - nes abgeſonderten Merkmals und durch Feſthaltung deſſelben in einer That oder ſonſt einem Zeichen; kurz durch Sprache. Durch ſie und durch ſie allein ward Wahrnehmung, Aner - kennung, Zuruͤckerinnerung, Beſitznehmung, eine Kette der Gedanken moͤglich und ſo wurden mit der Zeit die Wiſſen - ſchaften und Kuͤnſte gebohren, Toͤchter der bezeichnenden Ver - nunft und einer Nachahmung mit Abſicht.
Schon Baco hat eine Erfindungskunſt gewuͤnſcht: da die Theorie derſelben aber ſchwer und doch vielleicht unnuͤtzJdeen, II. Th. H hſeyn242ſeyn wuͤrde, ſo waͤre vielmehr eine Geſchichte der Erfindun - gen das lehrreiche Werk, das die Goͤtter und Genien des Men - ſchengeſchlechts ihren Nachkommen zum ewigen Muſter machte. Allenthalben wuͤrde man ſehen, wie Schickſal und Zufall die - ſem Erfinder ein neues Merkmal ins Auge, jenem eine neue Bezeichnung als Werkzeug in die Seele gebracht und meiſtens durch eine kleine Zuſammenruͤckung zweier lange bekannter Gedanken eine Kunſt befoͤrdert habe, die nachher auf Jahr - tauſende wirkte. Oft war dieſe erfunden und ward vergeſſen: ihre Theorie lag da und ſie ward nicht gebraucht; bis ein gluͤck - licher Andre das liegende Gold in Umlauf brachte oder mit einem kleinen Hebel aus einem neuen Standpunkt Welten bewegte. Vielleicht iſt keine Geſchichte, die ſo augenſcheinlich die Regierung eines hoͤhern Schickſals in menſchlichen Din - gen zeigt, als die Geſchichte deſſen, worauf unſer Geiſt am ſtolzeſten zu ſeyn pflegt, der Erfindung und Verbeſſerung der Kuͤnſte. Jmmer war das Merkmal und die Materie ſeiner Bezeichnung laͤngſt dageweſen: aber jetzt ward es bemerkt, jetzt ward es bezeichnet. Die Geneſis der Kunſt, wie des Men - ſchen, war ein Augenblick des Vergnuͤgens, eine Vermaͤhlung zwiſchen Jdee und Zeichen, zwiſchen Geiſt und Koͤrper.
Mit Hochachtung geſchiehet es, daß ich die Erfindungen des menſchlichen Geiſtes auf dies einfache Principium ſeineraner -243anerkennenden und bezeichnenden Vernunft zuruͤckfuͤhre: denn eben dies iſt das wahre Goͤttliche im Menſchen, ſein charakte - riſtiſcher Vorzug. Alle, die eine gelernte Sprache gebrauchen, gehen wie in einem Traum der Vernunft einher; ſie denken in der Vernunft andrer und ſind nur nachahmend weiſe: denn iſt der, der die Kunſt fremder Kuͤnſtler gebraucht, darum ſelbſt Kuͤnſtler? Aber der, in deſſen Seele ſich eigne Gedanken er - zeugen und einen Koͤrper ſich ſelbſt bilden, Er, der nicht mit dem Auge allein ſondern mit dem Geiſt ſiehet und nicht mit der Zunge ſondern mit der Seele bezeichnet, Er, dem es gelingt, die Natur in ihrer Schoͤpfungsſtaͤte zu belauſchen, neue Merkmale ihrer Wir - kungen auszuſpaͤhen und ſie durch kuͤnſtliche Werkzeuge zu einem menſchlichen Zweck anzuwenden; er iſt der eigentliche Menſch und da er ſelten erſcheint, ein Gott unter den Menſchen. Er ſpricht und tauſende lallen ihm nach: er erſchafft und andre ſpielen mit dem was er hervorbrachte: er war ein Mann und vielleicht ſind Jahrhunderte nach ihm wiederum Kinder. Wie ſelten die Erfinder im menſchlichen Geſchlecht geweſen, wie traͤge und laͤßig man an dem haͤngt, was man hat, ohne ſich um das zu bekuͤmmern, was uns fehlet; in hundert Proben zeigt uns dies der Anblick der Welt und die Geſchichte der Voͤlker; ja die Geſchichte der Cultur wird es uns ſelbſt gnug - ſam weiſen.
H h 2Mit244Mit Wiſſenſchaften und Kuͤnſten ziehet ſich alſo eine neue Tradition durchs Menſchengeſchlecht, an deren Kette nur we - nigen Gluͤcklichen etwas Neues anzureihen vergoͤnnt war; die andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen mechaniſch die Kette weiter. Wie dieſer Zucker und Mohren - trank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir ge - langte und ich kein andres Verdienſt habe, als ihn zu trinken: ſo iſt unſre Vernunft und Lebensweiſe, unſre Gelehrſamkeit und Kunſterziehung, unſre Kriegs - und Staatsweisheit ein Zu - ſammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn un - ſer Verdienſt aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir uns von Jugend auf baden oder erſaͤufen.
Eitel iſt alſo der Ruhm ſo manches Europaͤiſchen Poͤbels, wenn er in dem, was Aufklaͤrung, Kunſt und Wiſſenſchaft heißt, ſich uͤber alle drei Welttheile ſetzt, und wie jener Wahn - ſinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa's aus keiner Urſache fuͤr die Seinen haͤlt, als weil er im Zuſammen - fluß dieſer Erfindungen und Traditionen gebohren worden. Armſeliger, erfandeſt du etwas von dieſen Kuͤnſten? Denkſt du etwas bei allen deinen eingeſognen Traditionen? Daß du jene brauchen gelernt haſt, iſt die Arbeit einer Maſchine: daß du den Saft der Wiſſenſchaft in dich zieheſt, iſt das Verdienſt des Schwammes, der nun eben auf dieſer feuchten Stelle ge -wach -245wachſen iſt. Wenn du dem Otahiten ein Kriegsſchiff zulenkſt und auf den Hebriden eine Kanone donnerſt, ſo biſt du wahr - lich weder kluͤger noch geſchickter, als der Hebride und Otahite, der ſein Boot kuͤnſtlich lenkt und ſich daſſelbe mit eigner Hand erbaute. Eben dies wars, was alle Wilden dunkel empfan - den, ſobald ſie die Europaͤer naͤher kennen lernten. Jn der Ruͤſtung ihrer Werkzeuge duͤnkten ſie ihnen unbekannte, hoͤ - here Weſen, vor denen ſie ſich beugten, die ſie mit Ehrfurcht gruͤßten; ſobald ſie ſie verwundbar, ſterblich, krankhaft und in ſinnlichen Uebungen ſchwaͤcher als ſich ſelbſt ſahen, fuͤrch - teten ſie die Kunſt und erwuͤrgten den Mann, der nichts we - niger als mit ſeiner Kunſt Eins war. Auf alle Cultur Euro - pa's iſt dies anwendbar. Darum, weil die Sprache eines Volks, zumal in Buͤchern, geſcheut und fein iſt: darum iſt nicht jeder fein und geſcheut, der dieſe Buͤcher lieſet und dieſe Sprache redet. Wie er ſie lieſet? wie er ſie redet? das waͤre die Frage; und auch dann daͤchte und ſpraͤche er immer doch nur nach: er folgt den Gedanken und der Bezeichnungskraft eines andern. Der Wilde der in ſeinem engern Kreiſe eigen - thuͤmlich denkt und ſich in ihm wahrer, beſtimmter und nach - druͤcklicher ausdruͤckt, Er, der in der Sphaͤre ſeines wirklichen Lebens Sinne und Glieder, ſeinen praktiſchen Verſtand und ſeine wenigen Werkzeuge mit Kunſt und Gegenwart des Gei - ſtes zu gebrauchen weiß; offenbar iſt er, Menſch gegen MenſchH h 3gerech -246gerechnet, gebildeter als jene politiſche oder gelehrte Maſchine, die wie ein Kind auf einem ſehr hohen Geruͤſt ſteht, das aber leider fremde Haͤnde, ja das oft die ganze Muͤhe der Vorwelt erbaute. Der Naturmenſch dagegen iſt ein zwar beſchraͤnk - ter, aber geſunder und tuͤchtiger Mann auf der Erde. Nie - mand wirds laͤugnen, daß Europa das Archiv der Kunſt und des ausſinnenden menſchlichen Verſtandes ſei: das Schickſal der Zeitenfolge hat in ihm ſeine Schaͤtze niedergelegt: ſie ſind in ihm vermehrt worden und werden gebrauchet. Darum aber hat nicht jeder, der ſie gebraucht, den Verſtand des Erfinders; vielmehr iſt dieſer eines Theils durch den Gebrauch muͤßig worden: denn wenn ich das Werkzeug eines Fremden habe, ſo erfinde ich mir ſchwerlich ſelbſt ein Werkzeug.
Eine weit ſchwerere Frage iſts noch: was Kuͤnſte und Wiſſenſchaften zur Gluͤckſeligkeit der Menſchen gethan oder wiefern ſie dieſe vermehrt haben? und ich glaube, weder mit Ja noch Nein kann die Frage ſchlechthin entſchieden werden, weil wie allenthalben ſo auch hier auf den Gebrauch des Er - fundenen alles ankommt. Daß feinere und kuͤnſtlichere Werk - zeuge in der Welt ſind und alſo mit wenigerm mehr gethan, mithin manche Menſchenmuͤhe geſchont und erſpart werden kann, wenn man ſie ſchonen und ſparen mag; daruͤber iſt keine Frage. Auch iſt es unſtreitig, daß mit jeder Kunſt und Wiſ -ſenſchaft247ſenſchaft ein neues Band der Geſelligkeit d. i. jenes gemein - ſchaftlichen Beduͤrfnißes geknuͤpft ſei, ohne welches kuͤnſtliche Menſchen nicht mehr leben moͤgen. Ob aber gegenſeitig jedes vermehrte Beduͤrfniß auch den engen Kreis der menſchlichen Gluͤckſeligkeit erweitere? ob die Kunſt der Natur je etwas wirklich zuzuſetzen vermochte? oder ob dieſe vielmehr durch jene in manchem entuͤbriget und entkraͤftet werde? ob alle wiſ - ſenſchaftlichen und Kuͤnſtlergaben nicht auch Neigungen in der menſchlichen Bruſt rege gemacht haͤtten, bei denen man viel ſeltner und ſchwerer zur ſchoͤnſten Gabe des Menſchen, der Zu - friedenheit, gelangen kann, weil dieſe Neigungen mit ihrer in - neren Unruh der Zufriedenheit unaufhoͤrlich widerſtreben? Ja endlich, ob durch den Zuſammendrang der Menſchen und ihre vermehrte Geſelligkeit nicht manche Laͤnder und Staͤdte zu ei - nem Armenhauſe, zu einem kuͤnſtlichen Lazareth und Hoſpital worden ſind, in deſſen eingeſchloſſener Luft die blaße Menſch - heit auch kuͤnſtlich ſiechet und da ſie von ſo vielen unverdienten Almoſen der Wiſſenſchaft, Kunſt und Staatsverfaſſung ernaͤhrt wird, großentheils auch die Art der Bettler angenommen habe, die ſich auf alle Bettlerkuͤnſte legen und dafuͤr der Bettler Schick - ſal erdulden? uͤber dies und ſo manches andre mehr ſoll uns die Tochter der Zeit, die helle Geſchichte unterweiſen.
Boten des Schickſals alſo, ihr Genien und Erfinder, auf welcher nutzbargefaͤhrlichen Hoͤhe uͤbtet ihr euren goͤttlichenBeruf!248Beruf! Jhr erfandet, aber nicht fuͤr Euch; auch lag es in Eurer Macht nicht, zu beſtimmen, wie Welt und Nachwelt eure Erfindungen anwenden, was ſie an ſolche reihen, was ſie nach Analogie derſelben Gegenſeitiges oder Neues erfinden wuͤrde? Jahrhunderte lang lag oft die Perle begraben und Haͤhne ſcharreten daruͤber hin; bis ſie vielleicht ein Unwuͤrdi - ger fand und in die Krone des Monarchen pflanzte, wo ſie nicht immer mit wohlthaͤtigem Glanz glaͤnzet. Jhr indeſſen thatet Euer Werk und gabt der Nachwelt Schaͤtze hin, die entweder euer unruhiger Geiſt aufgrub, oder die euch das waltende Schick - ſal in die Hand ſpielte. Dem waltenden Schickſal alſo uͤber - ließet ihr auch die Wirkungen und den Nutzen eures Fundes; und dieſes that, was es zu thun fuͤr gut fand. Jn periodi - ſchen Revolutionen bildete es entweder Gedanken aus oder ließ ſie untergehen und wußte immer das Gift mit dem Gegen - gift, den Nutzen mit dem Schaden zu miſchen und zu mildern. Der Erfinder des Pulvers dachte nicht daran, welche Ver - wuͤſtungen ſowohl des politiſchen als des phyſiſchen Reichs menſchlicher Kraͤfte der Funke ſeines ſchwarzen Staubes mit ſich fuͤhrte; noch weniger konnte er ſehen, was auch wir jetzt kaum zu muthmaſſen wagen, wie in dieſer Pulvertonne, dem fuͤrchterlichen Thron mancher Deſpoten, abermals zu einer an - dern Verfaſſung der Nachwelt ein wohlthaͤtiger Same keime. Denn reinigt das Ungewitter nicht die Luft? und muß, wenndie249die Rieſen der Erde vertilgt ſind, nicht Herkules ſelbſt ſeine Hand an wohlthaͤtigere Werke legen? Der Mann, der die Richtung der Magnetnadel zuerſt bemerkte, ſah weder das Gluͤck noch das Elend voraus, das dieſes Zaubergeſchenk, un - terſtuͤtzt von tauſend andern Kuͤnſten, auf alle Welttheile brin - gen wuͤrde, bis auch hier vielleicht eine neue Kataſtrophe alte Uebel erſetzt oder neue Uebel erzeuget. So mit dem Glaſe, dem Golde, dem Eiſen, der Kleidung, der Schreib - und Buch - druckerkunſt, der Sternſeherei und allen Wiſſenſchaften der kuͤnſtlichen Regierung. Der wunderbare Zuſammenhang, der bei der Entwicklung und periodiſchen Fortleitung dieſer Erfindungen zu herrſchen ſcheint, die ſonderbare Art, wie Eine die Wirkung der andern einſchraͤnkt und mildert; das alles gehoͤrt zur obern Haushaltung Gottes mit unſerm Geſchlecht, der wahren Philoſophie ſeiner Geſchichte.
Der Naturſtand des Menſchen iſt der Stand der Geſellſchaft: denn in dieſer wird er gebohren und erzogen, zu ihr fuͤhrt ihnJdeen, II. Th. J ider250der aufwachende Trieb ſeiner ſchoͤnen Jugend und die ſuͤßeſten Namen der Menſchheit Vater, Kind, Bruder, Schweſter, Geliebter, Freund, Verſorger, ſind Bande des Naturrechts, die im Stande jeder urſpruͤnglichen Menſchengeſellſchaft ſtatt finden. Mit ihnen ſind alſo auch die erſten Regierungen un - ter den Menſchen gegruͤndet: Ordnungen der Familie, ohne die unſer Geſchlecht nicht beſtehen kann, Geſetze, die die Natur gab und auch durch ſich ſelbſt gnugſam einſchraͤnkte. Wir wollen ſie den erſten Grad natuͤrlicher Regierungen nennen; ſie werden immerhin auch der hoͤchſte und letzte bleiben.
Hier endigte nun die Natur ihre Grundlage der Geſell - ſchaft und uͤberließ es dem Verſtande oder dem Beduͤrfniß des Menſchen, hoͤhere Gebaͤude darauf zu gruͤnden. Jn allen Erdſtrichen, wo einzelne Staͤmme und Geſchlechter einander weniger bedoͤrfen, nehmen ſie auch weniger Theil an einander; ſie dachten alſo an keine großen politiſchen Gebaͤude. Der - gleichen ſind die Kuͤſten der Fiſcher, die Weiden der Hirten, die Waͤlder der Jaͤger; wo auf ihnen das vaͤterliche und haͤus - liche Regiment aufhoͤrt, ſind die weiteren Verbindungen der Menſchen meiſtens nur auf Vertrag oder Auftrag gegruͤndet. Eine Jagdnation z. B. geht auf die Jagd: bedarf ſie eines Fuͤhrers, ſo iſt es ein Jagdanfuͤhrer, zu dem ſie den geſchickt - ſten waͤhlet, dem ſie alſo auch nur aus freier Wahl, und zumgemein -251gemeinſchaftlichen Zweck ihres Geſchaͤfts gehorchet. Alle Thiere, die in Heerden leben, haben ſolche Anfuͤhrer; bei Rei - ſen, Vertheidigungen, Anfaͤllen und uͤberhaupt bei jedem ge - meinſchaftlichen Geſchaͤft einer Menge iſt ein ſolcher Koͤnig des Spiels noͤthig. Wir wollen dieſe Verfaſſung den zweiten Grad der natuͤrlichen Regierung nennen: ſie findet bei al - len Voͤlkern ſtatt, die blos ihrem Beduͤrfniß folgen und wie wirs nennen, im Stande der Natur leben. Selbſt die er - waͤhlten Richter eines Volks gehoͤren zu dieſem Grad der Regierung: die kluͤgſten und beſten naͤmlich werden zu ihrem Amt, als zu einem Geſchaͤft erwaͤhlt, und mit dem Geſchaͤft iſt auch ihre Herrſchaft zu Ende.
Aber wie anders iſts mit dem dritten Grad, den Erbre - gierungen unter den Menſchen! wo hoͤren hier die Geſetze der Natur auf? oder wo fangen ſie an? Daß der billigſte und kluͤgſte Mann von den Streitenden zum Richter erwaͤhlt ward, war Natur der Sache und wenn er ſich als einen ſolchen be - waͤhrt hatte, mochte ers bis in ſein graues Alter bleiben. Nun aber ſtirbt der Alte und warum iſt ſein Sohn Richter? Daß ihn der kluͤgſte und billigſte Vater erzeugt hat, iſt kein Grund: denn weder Klugheit noch Billigkeit konnte er ihm einzeugen. Noch weniger waͤre der Natur des Geſchaͤfts nach die Nation verbunden, ihn deßhalb als ſolchen anzuerkennen, weil ſie ſei -J i 2nen252nen Vater einmal aus perſoͤnlichen Urſachen zum Richter waͤhlte: denn der Sohn iſt nicht die Perſon des Vaters. Und wenn ſie gar fuͤr alle ihre noch Ungebohrne das Geſetz feſtſtel - len wollte, ihn dafuͤr erkennen zu muͤſſen und im Namen der Vernunft ihrer aller auf ewige Zeiten hin den Vertrag machte, daß jeder Ungebohrne dieſes Stamms der gebohrne Richter, Fuͤhrer und Hirt der Nation d. i. der tapferſte, billigſte, kluͤgſte des ganzen Volks ſeyn und dafuͤr der Geburt wegen von jeder - mann erkannt werden muͤſte; ſo wuͤrde es ſchwer ſeyn, einen Erbvertrag dieſer Art ich will nicht ſagen mit dem Recht ſon - dern nur mit der Vernunft zu reimen. Die Natur theilet ihre edelſten Gaben nicht Familienweiſe aus und das Recht des Blutes, nach welchem ein Ungebohrner uͤber den andern Ungebohrnen, wenn beide einſt gebohren ſeyn werden, durchs Recht der Geburt zu herrſchen das Recht habe, iſt fuͤr mich eine der dunkelſten Formeln der menſchlichen Sprache.
Es muͤſſen andre Gruͤnde vorhanden ſeyn, die die Erb - regierungen unter den Menſchen einfuͤhrten und die Ge - ſchichte verſchweigt uns dieſe Gruͤnde nicht. Wer hat Deutſch - land, wer hat dem cultivirten Europa ſeine Regierungen ge - geben? Der Krieg. Horden von Barbaren uͤberfielen den Welttheil: ihre Anfuͤhrer und Edeln theilten unter ſich Laͤn - der und Menſchen. Daher entſprangen Fuͤrſtenthuͤmer undLehne:253Lehne: daher entſprang die Leibeigenſchaft unterjochter Voͤl - ker; die Eroberer waren im Beſitz und was ſeit der Zeit in dieſem Beſitz veraͤndert worden, hat abermals Revolution, Krieg, Einverſtaͤndniß der Maͤchtigen, immer alſo das Recht des Staͤrkern entſchieden. Auf dieſem koͤniglichen Wege geht die Geſchichte fort und facta der Geſchichte ſind nicht zu laͤugnen. Was brachte die Welt unter Rom? Griechenland und den Orient unter Alexander? was hat alle große Monarchieen bis zu Seſoſtris und der fabelhaften Semiramis hinauf geſtiftet und wieder zertruͤmmert? Der Krieg. Gewaltſame Erobe - rungen vertraten alſo die Stelle des Rechts, das nachher nur durch Verjaͤhrung oder wie unſre Staatslehrer ſagen, durch den ſchweigenden Contract Recht ward; der ſchweigende Con - tract aber iſt in dieſem Fall nichts anders, als daß der Staͤr - kere nimmt, was er will und der Schwaͤchere giebt oder leidet, was er nicht aͤndern kann. Und ſo haͤngt das Recht der erb - lichen Regierung ſo wie beinah jedes andern erblichen Beſitzes an einer Kette von Tradition, deren erſten Grenzpfal das Gluͤck oder die Macht einſchlug und die ſich, hie und da mit Guͤte und Weisheit, meiſtens aber wieder nur durch Gluͤck oder Ue - bermacht fortzog. Nachfolger und Erben bekamen, der Stamm - vater nahm; und daß dem, der hatte, auch immer mehr gege - ben ward, damit er die Fuͤlle habe, bedarf keiner weitern Er -J i 3laͤute -254laͤuterung: es iſt die natuͤrliche Folge des genannten erſten Beſi - tzes der Laͤnder und Menſchen.
Man glaube nicht, daß dies etwa nur von Monarchieen, als von Ungeheuern der Eroberung gelte, die urſpruͤnglichen Reiche aber anders entſtanden ſeyn koͤnnten: denn wie in der Welt waͤren ſie anders entſtanden? So lange ein Vater uͤber ſeine Familie herrſchte, war er Vater und ließ ſeine Soͤhne auch Vaͤter werden, uͤber die er nur durch Rath zu vermoͤgen ſuchte. So lange mehrere Staͤmme aus freier Ueberlegung zu einem beſtimmten Geſchaͤft ſich Richter und Fuͤhrer waͤhl - ten: ſo lange waren dieſe Amtsfuͤhrer nur Diener des gemei - nen Zweckes, beſtimmte Vorſteher der Verſammlung; der Name Herr, Koͤnig, eigenmaͤchtiger, willkuͤhrlicher, erblicher Deſpot war Voͤlkern dieſer Verfaſſung etwas Unerhoͤrtes. Entſchlummerte aber die Nation und ließ ihren Vater, Fuͤhrer und Richter walten, gab ſie ihm endlich gar ſchlaftrunken - dankbar, ſeiner Verdienſte, ſeiner Macht, ſeines Reichthums oder welcher Urſachen wegen es ſonſt ſei, den Erbſcepter in die Hand, daß er ſie und ihre Kinder wie der Hirt die Schaafe weide; welch Verhaͤltniß ließe ſich hiebei denken, als Schwach - heit auf der Einen, Uebermacht auf der andern Seite, alſo das Recht des Staͤrkern. Wenn Nimrod Beſtien toͤdtet und nachher Menſchen unterjocht: ſo iſt er dort und hier ein Jaͤ -ger.255ger. Der Anfuͤhrer einer Colonie oder Horde, dem Menſchen wie Thiere folgten, bediente ſich uͤber ſie gar bald des Men - ſchenrechts uͤber die Thiere. So wars mit denen, die die Na - tionen cultivirten: ſo lange ſie ſie cultivirten, waren ſie Vaͤter, Erzieher des Volks, Handhaber der Geſetze zum gemeinen Beſten; ſobald ſie eigenmaͤchtige oder gar erbliche Regenten wurden, waren ſie die Maͤchtigern, denen der Schwaͤchere diente. Oft trat ein Fuchs in die Stelle des Loͤwen und ſo war der Fuchs der Maͤchtigere: denn nicht Gewalt der Waf - fen allein iſt Staͤrke; Verſchlagenheit, Liſt und ein kuͤnſtlicher Betrug thut in den meiſten Faͤllen mehr als jene. Kurz, der große Unterſchied der Menſchen an Geiſtes - Gluͤcks - und Koͤrper - gaben hat nach dem Unterſchiede der Gegenden, Lebensarten und Lebensalter Unterjochungen und Deſpotien auf der Erde geſtiftet, die in vielen Laͤndern einander leider nur abgeloͤſet haben. Kriegeriſche Bergvoͤlker z. B. uͤberſchwemmten die ruhige Ebne: jene hatte das Klima, die Noth, der Mangel ſtark gemacht und tapfer erhalten; ſie breiteten ſich alſo als Herren der Erde aus, bis ſie ſelbſt in der mildern Gegend von Ueppigkeit beſiegt und von andern unterjocht wurden. So iſt unſre alte Tellus bezwungen und die Geſchichte auf ihr ein trauriges Gemaͤlde von Menſchenjagden und Eroberungen worden: faſt jede kleine Landesgrenze, jede neue Epoche iſt mit Blut der Geopferten, und mit Thraͤnen der Unterdruͤckten insBuch256Buch der Zeiten verzeichnet. Die beruͤhmteſten Namen der Welt ſind Wuͤrger des Menſchengeſchlechts, gekroͤnte oder nach Kronen ringende Henker geweſen, und was noch trauriger iſt, ſo ſtanden oft die edelſten Menſchen Nothgedrungen auf die - ſem ſchwarzen Schaugeruͤſt der Unterjochung ihrer Bruͤder. Woher kommts daß die Geſchichte der Weltreiche mit ſo we - nig vernuͤnftigen End-Reſultaten geſchrieben worden? Weil ihren groͤßeſten und meiſten Begebenheiten nach, ſie mit wenig vernuͤnftigen End-Reſultaten gefuͤhrt iſt: denn nicht Huma - nitaͤt ſondern Leidenſchaften haben ſich der Erde bemaͤchtigt und ihre Voͤlker wie wilde Thiere zuſammen und gegen einan - der getrieben. Haͤtte es der Vorſehung gefallen, uns durch hoͤhere Weſen regieren zu laſſen: wie anders waͤre die Men - ſchengeſchichte: nun aber waren es meiſtens Helden, d. i. ehr - ſuͤchtige, mit Gewalt begabte, oder liſtige und unternehmende Menſchen, die den Faden der Begebenheiten nach Leidenſchaften anſpannen und wie es das Schickſal wollte, ihn fortwebten. Wenn kein Punkt der Weltgeſchichte uns die Niedrigkeit unſres Ge - ſchlechts zeigte, ſo wieſe es uns die Geſchichte der Regierungen deſ - ſelben, nach welcher unſre Erde ihrem groͤßten Theil nach nicht Er - de, ſondern Mars oder der Kinderfreſſende Saturn heißen ſollte.
Wie nun? ſollen wir die Vorſehung daruͤber ankla - gen, daß ſie die Erdſtriche unſrer Kugel ſo ungleich ſchuf und auch unter den Menſchen ihre Gaben ſo ungleichver -257vertheilte? Die Klage waͤre muͤßig und ungerecht: denn ſie iſt der augenſcheinlichen Abſicht unſres Geſchlechts entgegen. Sollte die Erde bewohnbar werden: ſo mußten Berge auf ihr ſeyn und auf dem Ruͤcken derſelben harte Bergvoͤlker leben. Wenn dieſe ſich nun niedergoßen und die uͤppige Ebne unter - jochten; ſo war die uͤppige Ebne auch meiſtens dieſer Unter - jochung werth: denn warum ließ ſie ſich unterjochen? warum erſchlaffte ſie an den Bruͤſten der Natur in kindiſcher Ueppig - keit und Thorheit? Man kann es als einen Grundſatz der Geſchichte annehmen, daß kein Volk unterdruͤckt wird, als das ſich unterdruͤcken laſſen will, das alſo der Sklaverei werth iſt. Nur der Feige iſt ein gebohrner Knecht; nur der Dumme iſt von der Natur beſtimmt, einem Kluͤgern zu dienen; alsdenn iſt ihm auch wohl auf ſeiner Stelle und er waͤre ungluͤcklich, wenn er befehlen ſollte.
Ueberdem iſt die Ungleichheit der Menſchen von Natur nicht ſo groß, als ſie durch die Erziehung wird, wie die Be - ſchaffenheit eines und deſſelben Volks unter ſeinen mancherlei Regierungsarten zeiget. Das edelſte Volk verliert unter dem Joch des Deſpotismus in kurzer Zeit ſeinen Adel: das Mark in ſeinen Gebeinen wird ihm zertreten und da ſeine feinſten und ſchoͤnſten Gaben zur Luͤge und zum Betrug, zur kriechenden Sklaverei und Ueppigkeit gemißbraucht werden; was Wunder,Jdeen, II. Th. K kdaß258daß es ſich endlich an ſein Joch gewoͤhnet, es kuͤßet und mit Blumen umwindet? So beweinenswerth dies Schickſal der Menſchen im Leben und in der Geſchichte iſt, weil es beinah keine Nation giebt, die ohne das Wunder einer voͤlligen Palin - geneſie aus dem Abgrunde einer gewohnten Sklaverei je wie - der aufgeſtanden waͤre: ſo iſt offenbar dies Elend nicht das Werk der Natur, ſondern der Menſchen. Die Natur leitete das Band der Geſellſchaft nur bis auf Familien; weiterhin ließ ſie unſerm Geſchlecht die Freiheit, wie es ſich einrichten, wie es das feinſte Werk ſeiner Kunſt, den Staat bauen wollte. Richteten ſich die Menſchen gut ein: ſo haͤtten ſies gut; waͤhl - ten oder duldeten ſie Tyrannei und uͤble Regierungsformen: ſo mochten ſie ihre Laſt tragen. Die gute Mutter konnte nichts thun, als ſie durch Vernunft, durch Tradition der Geſchichte oder endlich durch das eigne Gefuͤhl des Schmerzes und Elen - des lehren. Nur alſo die innere Entartung des Menſchenge - ſchlechts hat den Laſtern und Entartungen menſchlicher Regie - rung Raum gegeben: denn theilet ſich im unterdruͤckendſten Deſpotismus nicht immer der Sklave mit ſeinem Herrn im Raube und iſt nicht immer der Deſpot der aͤrgſte Sklave?
Aber auch in der aͤrgſten Entartung verlaͤßt die uner - muͤdlich-guͤtige Mutter ihre Kinder nicht und weiß ihnen den bittern Trank der Unterdruͤckung von Menſchen wenigſtensdurch259durch Vergeſſenheit und Gewohnheit zu lindern. So lange ſich die Voͤlker wachſam und in reger Kraft erhalten oder wo die Natur ſie mit dem harten Brod der Arbeit ſpeiſet, da fin - den keine weiche Sultane ſtatt; das rauhe Land, die harte Lebensweiſe ſind ihnen der Freiheit Veſtung. Wo gegentheils die Voͤlker in ihrem weicheren Schoos entſchliefen und das Netz duldeten, das man uͤber ſie zog; ſiehe da kommt die troͤ - ſtende Mutter dem Unterdruͤckten wenigſtens durch ihre mil - deren Gaben zu Huͤlfe: denn der Deſpotismus ſetzt immer eine Art Schwaͤche, folglich mehrere Bequemlichkeit voraus, die entweder aus Gaben der Natur oder der Kunſt entſtanden. Jn den meiſten deſpotiſch-regierten Laͤndern naͤhrt und kleidet die Natur den Menſchen faſt ohne Muͤhe, daß er ſich alſo mit dem voruͤberraſenden Orkan gleichſam nur abfinden darf und nachher, zwar Gedankenlos und ohne Wuͤrde, dennoch aber nicht ganz ohne Genuß den Athem ihrer Erquickung trinket. Ue - berhaupt iſt das Loos der Menſchen und ſeine Beſtimmung zur irrdiſchen Gluͤckſeligkeit weder ans Herrſchen, noch ans Dienen geknuͤpfet. Der Arme kann gluͤcklich, der Sklave in Ketten kann frei ſeyn: der Deſpot und ſein Werkzeug ſind meiſtens und oft in ganzen Geſchlechtern die ungluͤcklichſten und unwuͤrdigſten Sklaven.
Da alle Saͤtze, die ich bisher beruͤhrt habe, aus der Ge - ſchichte ſelbſt ihre eigentliche Erlaͤuterung nehmen muͤſſen: ſoK k 2bleibt260bleibt ihre Entwicklung auch dem Faden derſelben aufbehalten. Fuͤr jetzt ſeyn nur noch einige allgemeine Blicke vergoͤnnet:
1. Ein zwar leichter aber boͤſer Grundſatz waͤre es zur Philoſophie der Menſchen-Geſchichte: „ der Menſch ſei ein Thier das einen Herren noͤthig habe und von dieſem Herren oder von einer Verbindung derſelben das Gluͤck ſeiner Endbe - ſtimmung erwarte. „ Kehre den Satz um: der Menſch, der einen Herren noͤthig hat, iſt ein Thier; ſobald er Menſch wird, hat er keines eigentlichen Herren mehr noͤthig. Die Natur naͤmlich hat unſerm Geſchlecht keinen Herren bezeichnet; nur thieriſche Laſter und Leidenſchaften machen uns deſſelben be - duͤrftig. Das Weib bedarf eines Mannes und der Mann des Weibes: das unerzogne Kind hat erziehender Eltern, der Kranke des Arztes, der Streitende des Entſcheiders, der Haufe Volks eines Anfuͤhrers noͤthig: dies ſind Natur-Verhaͤltniße, die im Begrif der Sache liegen. Jm Begrif des Menſchen liegt der Begrif eines ihm noͤthigen Deſpoten, der auch Menſch ſei, nicht: jener muß erſt ſchwach gedacht werden, damit er eines Beſchuͤtzers, unmuͤndig, damit er eines Vormundes, wild, damit er eines Bezaͤhmers, abſcheulich, damit er eines Straf - Engels noͤthig habe. Alle Regierungen der Menſchen ſind alſo nur aus Noth entſtanden und um dieſer fortwaͤhrenden Noth willen da. So wie es nun ein ſchlechter Vater iſt, derſein261ſein Kind erziehet damit es, Lebenslang unmuͤndig, Lebenslang eines Erziehers bedoͤrfe: wie es ein boͤſer Arzt iſt, der die Krank - heit naͤhrt, damit er dem Elenden bis ins Grab hin unent - behrlich werde; ſo mache man die Anwendung auf die Erzie - her des Menſchengeſchlechts, die Vaͤter des Vaterlandes und ihre Erzognen. Entweder muͤſſen dieſe durchaus keiner Beſ - ſerung faͤhig ſeyn; oder alle die Jahrtauſende, ſeitdem Men - ſchen regiert wurden, muͤßten es doch merklich gemacht haben, was aus ihnen geworden ſei? und zu welchem Zweck jene ſie erzogen haben? Der Verfolg dieſes Werks wird ſolche Zwecke ſehr deutlich zeigen.
2. Die Natur erzieht Familien; der natuͤrlichſte Staat iſt alſo auch Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter. Jahr - tauſende lang erhaͤlt ſich dieſer in ihm und kann, wenn ſeinem mitgebohrnen Fuͤrſten daran liegt, am natuͤrlichſten ausgebil - det werden: denn ein Volk iſt ſowohl eine Pflanze der Natur, als eine Familie; nur jenes mit mehreren Zweigen. Nichts ſcheint alſo dem Zweck der Regierungen ſo offenbar entgegen, als die unnatuͤrliche Vergroͤßerung der Staaten, die wilde Vermiſchung der Menſchen Gattungen und Nationen unter Einen Scepter. Der Menſchenſcepter iſt viel zu ſchwach und klein, daß ſo widerſinnige Theile in ihn eingeimpft werden koͤnnten; zuſammengeleimt werden ſie alſo in eine brechlicheK k 3Ma -262Maſchine, die man Staats-Maſchine nennet, ohne inneres Leben und Sympathie der Theile gegen einander. Reiche die - ſer Art, die dem beſten Monarchen den Namen Vater des Va - terlandes ſo ſchwer machen, erſcheinen in der Geſchichte, wie jene Symbole der Monarchieen im Traumbilde des Prophe - ten, wo ſich das Loͤwenhaupt mit dem Drachenſchweif und der Adlersfluͤgel mit dem Baͤrenfuß zu Einem unpatriotiſchen Staatsgebilde vereinigt. Wie Trojaniſche Roße ruͤcken ſolche Maſchinen zuſammen, ſich einander die Unſterblichkeit verbuͤr - gend, da doch ohne National-Charakter kein Leben in ihnen iſt und fuͤr die Zuſammengezwungenen nur der Fluch des Schick - ſals ſie zur Unſterblichkeit verdammen koͤnnte: denn eben die Staatskunſt, die ſie hervorbrachte, iſt auch die, die mit Voͤl - kern und Menſchen als mit lebloſen Koͤrpern ſpielet. Aber die Geſchichte zeigt gnugſam, daß dieſe Werkzeuge des menſch - lichen Stolzes von Thon ſind und wie aller Thon auf der Erde zerbrechen oder zerfließen.
3. Wie bei allen Verbindungen der Menſchen gemein - ſchaftliche Huͤlfe und Sicherheit der Hauptzweck ihres Bun - des iſt: ſo iſt auch dem Staat keine andre als die Naturord - nung die beſte; daß naͤmlich auch in ihm jeder das ſei, wozu ihn die Natur beſtellte. Sobald der Regent in die Stelle des Schoͤpfers treten nud durch Willkuͤhr oder Leidenſchaft vonSei -263Seinetwegen erſchaffen will, was das Geſchoͤpf von Gottes - wegen nicht ſeyn ſollte: ſobald iſt dieſer dem Himmel gebie - tende Deſpotismus aller Unordnung und des unvermeidlichen Misgeſchicks Vater. Da nun alle durch Tradition feſtgeſetzte Staͤnde der Menſchen auf gewiſſe Weiſe der Natur entgegen arbeiten, die ſich mit ihren Gaben an keinen Stand bindet: ſo iſt kein Wunder, daß die meiſten Voͤlker, nachdem ſie aller - lei Regierungsarten durchgangen waren und die Laſt jeder em - pfunden hatten, zuletzt verzweifelnd auf die zuruͤckkamen, die ſie ganz zu Maſchinen machte, auf die deſpotiſch-erbliche Re - gierung. Sie ſprachen wie jener ebraͤiſche Koͤnig, als ihm drei Uebel vorgelegt wurden: „ Laſſet uns lieber in die Hand des Herren fallen als in die Hand der Menſchen „ und gaben ſich auf Gnade und Ungnade der Providenz in die Arme, er - wartend, wen dieſe ihnen zum Regenten zuſenden wuͤrde? denn die Tyrannei der Ariſtokraten iſt eine harte Tyrannei und das gebietende Volk iſt ein wahrer Leviathan. Alle chriſtli - chen Regenten nennen ſich alſo von Gottes Gnaden und bekennen damit, daß ſie nicht durch ihr Verdienſt, das vor der Geburt auch gar nicht ſtatt findet, ſondern durch das Gutbe - finden der Vorſehung, die ſie auf dieſer Stelle gebohren wer - den ließ, zur Krone gelangten. Das Verdienſt dazu muͤſſen ſie ſich erſt durch eigne Muͤhe erwerben, mit der ſie gleichſam die Providenz zu rechtfertigen haben, daß ſie ſie ihres hohenAmts264Amts wuͤrdig erkannte: denn das Amt des Fuͤrſten iſt kein ge - ringeres, als Gott zu ſeyn unter den Menſchen, ein hoͤherer Genius in einer ſterblichen Bildung. Wie Sterne glaͤnzen die wenigen, die dieſen auszeichnenden Ruf verſtanden, in der unendlich-dunkeln Wolkennacht gewoͤhnlicher Regenten und erquicken den verlohrnen Wandrer auf ſeinem traurigen Gange in der politiſchen Menſchengeſchichte.
O daß ein andrer Montesquien uns den Geiſt der Ge - ſetze und Regierungen auf unſrer runden Erde nur durch die bekannteſten Jahrhunderte zu koſten gaͤbe! Nicht nach leeren Namen dreier oder vier Regierungsformen, die doch nirgend und niemals dieſelben ſind oder bleiben; auch nicht nach witzi - gen Principien des Staats: denn kein Staat iſt auf Ein Wort - principium gebauet, geſchweige daß er daſſelbe in allen ſeinen Staͤnden und Zeiten unwandelbar erhielte; auch nicht durch zerſchnittene Beiſpiele, aus allen Nationen, Zeiten und Welt - gegenden, aus denen in dieſer Verwirrung, der Genius unſrer Erde ſelbſt kein Ganzes bilden wuͤrde: ſondern allein durch die philoſophiſche, lebendige Darſtellung der buͤrgerlichen Ge - ſchichte, in der, ſo einfoͤrmig ſie ſcheinet keine Scene zweimal vorkommt und die das Gemaͤhlde der Laſter und Tugenden un - ſres Geſchlechts und ſeiner Regenten, nach Ort und Zeiten immer veraͤndert und immer daſſelbe, fuͤrchterlich-lehrreich vollendet.
Muͤde und matt von allen Veraͤnderungen des Erdenrundes nach Gegenden, Zeiten und Voͤlkern, finden wir denn nichts auf demſelben, das der gemeinſchaftliche Beſitz und Vorzug unſres Brudergeſchlechts ſei? Nichts als die Anlage zur Ver - nunft, Humanitaͤt und Religion der drei Grazien des menſch - lichen Lebens. Alle Staaten entſtanden ſpaͤt und noch ſpaͤter entſtanden in ihnen Wiſſenſchaften und Kuͤnſte; aber Fami - lien ſind das ewige Werk der Natur, die fortgehende Haus - haltung, in der ſie den Samen der Humanitaͤt dem Menſchen - geſchlecht einpflanzet und ſelbſt erziehet. Sprachen wechſeln mit jedem Volk in jedem Klima; in allen Sprachen aber iſt Ein 'und dieſelbe Merkmal-ſuchende Menſchenvernunft kenn - bar. Religion endlich, ſo verſchieden ihre Huͤlle ſei; auch un - ter dem aͤrmſten, roheſten Volk am Rande der Erde finden ſich ihre Spuren. Der Groͤnlaͤnder und Kamtſchadale, der Feuerlaͤnder und Papu hat Aeußerungen von ihr, wie ſeine Sagen oder Gebraͤuche zeigen; ja gaͤbe es unter den Anziken oder den verdraͤngten Waldmenſchen der Jndiſchen JnſelnJdeen, II. Th. L lirgend266irgend ein Volk, das ganz ohne Religion waͤre; ſo waͤre ſelbſt dieſer Mangel von ihrem aͤußerſt verwilderten Zuſtande Zeuge.
Woher kam nun Religion dieſen Voͤlkern? Hat jeder Elende ſich ſeinen Gottesdienſt etwa wie eine natuͤrliche Theo - logie erfunden? Dieſe Muͤhſeligen erfinden nichts; ſie folgen in allem der Tradition ihrer Vaͤter. Auch gab ihnen von außen zu dieſer Erfindung nichts Anlaß: denn wenn ſie Pfeil und Bogen, Angel und Kleid den Thieren oder der Natur ablern - ten; welchem Thier, welchem Naturgegenſtande ſahen ſie Re - ligion ab? von welchem derſelben haͤtten ſie Gottesdienſt ge - lernet? Tradition iſt alſo auch hier die fortpflanzende Mutter, wie ihrer Sprache und wenigen Cultur, ſo auch ihrer Religion und heiligen Gebraͤuche.
Sogleich folget hieraus, daß ſich die religioͤſe Tradition keines andern Mittels bedienen konnte, als deſſen ſich die Vernunft und Sprache ſelbſt bediente, der Symbole. Muß der Gedanke ein Wort werden, wenn er fortgepflanzt ſeyn will, muß jede Einrichtung ein ſichtbares Zeichen haben, wenn ſie fuͤr andre und fuͤr die Nachwelt ſeyn ſoll: wie konnte das Un - ſichtbare ſichtbar, oder eine verlebte Geſchichte den Nachkom - men aufbehalten werden, als durch Worte oder Zeichen? Da - her iſt auch bei den roheſten Voͤlkern die Sprache der Religion immer die aͤlteſte, dunkelſte Sprache, oft ihren Geweihetenſelbſt,267ſelbſt, vielmehr den Fremdlingen unverſtaͤndlich. Die bedeu - tenden heiligen Symbole jedes Volks, ſo klimatiſch und na - tional ſie ſeyn mochten, wurden naͤmlich oft in wenigen Ge - ſchlechtern ohne Bedeutung. Kein Wunder: denn jeder Sprache, jedem Jnſtitut mit willkuͤhrlichen Zeichen muͤſte es ſo ergehen, wenn ſie nicht durch den lebendigen Gebrauch mit ihren Gegenſtaͤnden oft zuſammengehalten wuͤrden und alſo im bedeutenden Andenken blieben. Bei der Religion war ſolche lebendige Zuſammenhaltung ſchwer oder unmoͤglich: denn das Zeichen betraf entweder eine unſichtbare Jdee oder eine vergangene Geſchichte.
Es konnte alſo auch nicht fehlen, daß die Prieſter, die urſpruͤnglich Weiſe der Nation waren, nicht immer ihre Weiſen blieben. Sobald ſie naͤmlich den Sinn des Symbols verlohren, waren ſie ſtumme Diener der Abgoͤtterei oder muſten redende Luͤgner des Aberglaubens werden. Und ſie ſinds faſt allenthalben reichlich geworden; nicht aus vor - zuͤglicher Betrugſucht, ſondern weil es die Sache ſo mit ſich fuͤhrte. Sowohl in der Sprache, als in jeder Wiſſenſchaft, Kunſt und Einrichtung waltet daſſelbe Schickſal: der Unwiſ - ſende, der reden oder die Kunſt fortſetzen ſoll, muß verbergen, muß erdichten, muß heucheln; ein falſcher Schein tritt an die Stelle der verlohrnen Wahrheit. Dies iſt die GeſchichteL l 2aller268aller Geheimniße auf der Erde, die Anfangs allerdings viel Wiſſenswuͤrdiges verbargen, zuletzt aber inſonderheit ſeitdem menſchliche Weisheit ſich von ihnen getrennt hatte, in elenden Tand ausarteten; und ſo wurden die Prieſter derſelben, bei ih - rem leergewordnen Heiligthum zuletzt arme Betruͤger.
Wer ſie am meiſten als ſolche darſtellete, waren die Re - genten und Weiſen. Jene naͤmlich, die ihr hoher Stand, mit aller Macht bekleidet, gar bald auf zwangloſe Ungebun - denheit fuͤhrte, hielten es fuͤr Pflicht ihres Standes, auch die unſichtbaren hoͤheren Maͤchte einzuſchraͤnken und alſo die Sym - bole derſelben als Puppenwerk des Poͤbels entweder zu dulden oder zu vernichten. Daher der ungluͤckliche Streit zwiſchen dem Thron und Altar bei allen halbcultivirten Nationen; bis man endlich beide gar zu verbinden ſuchte und damit das un - foͤrmliche Ding eines Altars auf dem Thron oder eines Throns auf dem Altar zur Welt brachte. Nothwendig mußten die entarteten Prieſter bei dieſem ungleichen Streit allemal ver - lieren: denn ſichtbare Macht ſtritt mit dem unſichtbaren Glau - ben, der Schatte einer alten Tradition ſollte mit dem Glanz des goldenen Scepters kaͤmpfen, den ehedem der Prieſter ſelbſt geheiligt und dem Monarchen in die Hand gegeben hatte. Die Zeiten der Prieſterherrſchaft gingen alſo mit der wach - ſenden Cultur voruͤber: der Deſpot, der urſpruͤnglich ſeineKrone269Krone im Namen Gottes gefuͤhrt hatte, fand es leichter, ſie in ſeinem eignen Namen zu tragen und das Volk war jetzt durch Regenten und Weiſe zu dieſem andern Scepter gewoͤhnet.
Nun iſt es erſtens unlaͤugbar, daß nur Religion es ge - weſen ſei, die den Voͤlkern allenthalben die erſte Cultur und Wiſſenſchaft brachte, ja daß dieſe urſpruͤnglich nichts als eine Art religioͤſer Tradition waren. Unter allen wilden Voͤlkern iſt noch jetzt ihre wenige Cultur und Wiſſenſchaft mit der Religion verbunden. Die Sprache ih - rer Religion iſt eine erhabnere feierliche Sprache, die nicht nur die heiligen Gebraͤuche mit Geſang und Tanz begleitet, ſon - dern auch meiſtens von den Sagen der Urwelt ausgeht, mithin das Einzige iſt, was dieſe Voͤlker von alten Nachrichten, dem Gedaͤchtniß der Vorwelt oder einem Schimmer der Wiſſen - ſchaft uͤbrig haben. Die Zahl und das Bemerken der Tage, der Grund aller Zeitrechnung, war oder iſt uͤberall heilig; die Wiſſenſchaft des Himmels und der Natur, wie ſie auch ſeyn moͤge, haben die Magier aller Welttheile ſich zugeeignet. Auch die Arznei - und Wahrſagerkunſt, die Wiſſenſchaft des Ver - borgnen und Auslegung der Traͤume, die Kunſt der Charak - tere, die Ausſoͤhnung mit den Goͤttern, die Befriedigung der Verſtorbnen, Nachrichten von ihnen — kurz das ganze dunkle Reich der Fragen und Aufſchluͤße, uͤber die der Menſch ſo gernL l 3beru -270beruhigt ſeyn moͤchte, iſt in den Haͤnden ihrer Prieſter, ſo daß bei vielen Voͤlkerſchaften der gemeinſchaftliche Gottesdienſt und ſeine Feſte beinah das Einzige iſt, das die unabhaͤngigen Fa - milien zum Schatten eines Ganzen verbindet. Die Geſchichte der Cultur wird zeigen, daß dieſes bei den gebildetſten Voͤl - kern nicht anders geweſen. Aegypter und alle Morgenlaͤnder bis zum Rande der oͤſtlichen Welt hinauf, in Europa alle ge - bildete Nationen des Alterthums, Etrusker, Griechen und Roͤ - mer empfingen die Wiſſenſchaften aus dem Schoos und unter dem Schleier religioͤſer Traditionen: ſo ward ihnen Poeſie und Kunſt, Muſik und Schrift, Geſchichte und Arzneikunſt, Naturlehre und Metaphyſik, Aſtronomie und Zeitrechnung, ſelbſt die Sitten - und Staatslehre gegeben. Die aͤlteſten Weiſen thaten nichts, als das, was ihnen als Same gegeben war, ſondern und zu eignen Gewaͤchſen erziehen; welche Ent - wicklung ſodann mit den Jahrhunderten fortging. Auch wir Nordlaͤnder haben unſre Wiſſenſchaften in keinem, als dem Gewande der Religion erhalten und ſo kann man kuͤhn mit der Geſchichte aller Voͤlker ſagen:” der religioͤſen Tradition in Schrift und Sprache iſt die Erde ihre Samenkoͤrner aller hoͤhern Cultur ſchuldig.”
Zweitens. Die Natur der Sache ſelbſt beſtaͤtigt dieſe hiſtoriſche Behauptung: denn was wars, das den Menſchenuͤber271uͤber die Thiere erhob und auch in der roheſten Ausartung ihn verhinderte, nicht ganz zu ihnen herabzuſinken? Man ſagt: Vernunft und Sprache. So wie er aber zur Vernunft nicht ohne Sprache kommen konnte: ſo konnte er zu beiden nicht anders als durch die Bemerkung des Einen im Vielen, mithin durch die Vorſtellung des Unſichtbaren im Sichtbaren, durch die Verknuͤpfung der Urſache mit der Wirkung gelangen. Eine Art religioͤſen Gefuͤhls unſichtbarer wirkender Kraͤfte im gan - zen Chaos der Weſen, das ihn umgab, mußte alſo jeder erſten Bildung und Verknuͤpfung abgezogner Vernunftideen voraus - gehn und zum Grunde liegen. Dies iſt das Gefuͤhl der Wil - den von den Kraͤften der Natur, auch wenn ſie keinen ausge - druͤckten Begrif von Gott haben; ein lebhaftes und wirkſa - mes Gefuͤhl, wie ſelbſt ihre Abgoͤttereien und ihr Aberglaube zeiget. Bei allen Verſtandesbegriffen blos ſichtbarer Dinge handelt der Menſch dem Thier aͤhnlich; zur erſten Stuffe der hoͤheren Vernunft mußte ihn die Vorſtellung des Unſichtba - ren im Sichtbaren, einer Kraft in der Wirkung heben. Dieſe Vorſtellung iſt auch beinah das Einzige, was rohe Nationen von transſcendenter Vernunft beſitzen und andere Voͤlker nur in mehrere Worte entwickelt haben. Mit der Fortdauer der Seele nach dem Tode wars ein Gleiches. Wie der Menſch auch zu ihrem Begrif gekommen ſeyn moͤge; ſo iſt dieſer Be - grif, als allgemeiner Volksglaube auf der Erde, das Einzige,das272das den Menſchen im Tode vom Thier unterſcheidet. Keine wilde Nation kann ſich die Unſterblichkeit einer Menſchenſeele philoſophiſch erweiſen, ſo wenig es vielleicht ein Philoſoph thun kann: denn auch dieſer vermag nur den Glauben an ſie, der im menſchlichen Herzen liegt, durch Vernunftgruͤnde zu beſtaͤrken; allgemein aber iſt dieſer Glaube auf der Erde. Auch der Kamtſchadale hat ihn, wenn er ſeinen Todten den Thieren hinlegt, auch der Neuhollaͤnder hat ihn, wenn er den Leichnam ins Meer ſenket. Keine Nation verſcharret die Jh - ren, wie man ein Thier verſcharrt: jeder Wilde geht ſterbend ins Reich der Vaͤter, ins Land der Seelen. Religioͤſe Tradi - tion hieruͤber und das innige Gefuͤhl eines Daſeyns, das eigent - lich von keiner Vernichtung weiß, geht alſo vor der entwickeln - den Vernunft voraus; ſonſt wuͤrde dieſe auf den Begrif der Unſterblichkeit ſchwerlich gekommen ſeyn oder ihn ſehr kraftlos abſtrahirt haben. Und ſo iſt der allgemeine Menſchenglaube an die Fortdauer unſres Daſeyns die Pyramide der Religion auf allen Graͤbern der Voͤlker.
Endlich die goͤttlichen Geſetze und Regeln der Huma - nitaͤt, die ſich, wenn auch nur in Reſten, bei dem wildeſten Volk aͤußern, ſollten ſie, nach Jahrtauſenden etwa von der Vernunft erſonnen ſeyn und dieſem wandelbaren Gebilde der menſchlichen Abſtraction ihre Grundveſte zu danken haben? Jch273Jch kanns, ſelbſt der Geſchichte nach, nicht glauben. Waͤren die Menſchen wie Thiere auf die Erde geſtreuet, ſich die innere Geſtalt der Humanitaͤt erſt ſelbſt zu erfinden: ſo muͤßten wir noch Nationen ohne Sprache, ohne Vernunft, ohne Religion und Sitten kennen: denn wie der Menſch geweſen iſt, iſt er noch auf der Erde. Nun ſagt uns aber keine Geſchichte, keine Erfahrung, daß irgendwo menſchliche Orang-Outangs leben; und die Maͤhrchen, die der ſpaͤte Diodor oder der noch ſpaͤtere Plinius von den Unempfindlichen und andern unmenſchlichen Menſchen erzaͤhlen, zeigen ſich entweder ſelbſt in ihrem fabel - haften Grunde oder verdienen wenigſtens auf das Zeugniß dieſer Schriftſteller noch keinen Glauben. So ſind auch ge - wiß die Sagen uͤbertrieben, die die Dichter, um das Verdienſt ihrer Orpheus und Kadmus zu erheben, von den rohen Voͤl - kern der Vorwelt geben: denn ſchon die Zeit, in der dieſe Dich - ter lebten und der Zweck ihrer Beſchreibung ſchließt ſie von der Zahl hiſtoriſcher Zeugen aus. Wilder als der Neuſee - oder der Feuerlaͤnder, iſt auch nach der Analogie des Klima zu rechnen, kein Europaͤiſches, geſchweige ein Griechiſches Volk geweſen; und jene inhumanen Nationen haben Humanitaͤt, Vernunft und Sprache. Kein Menſchenfreſſer frißt ſeine Bruͤder und Kinder; der unmenſchliche Gebrauch iſt ihnen ein grauſames Kriegsrecht zur Erhaltung der Tapferkeit und zum wechſelſeitigen Schrecken der Feinde. Er iſt alſo nichtsJdeen, II. Th. M mmehr274mehr und minder als das Werk einer groben politiſchen Ver - nunft, die bei jenen Nationen die Humanitaͤt in Abſicht dieſer wenigen Opfer des Vaterlandes ſo bezwang, wie wir Europaͤer ſie in Abſicht anderer Dinge noch jetzt bezwungen haben. Ge - gen Fremde ſchaͤmeten ſie ſich ihrer grauſamen Handlung, wie wir Europaͤer uns doch der Menſchenſchlachten nicht ſchaͤmen; ja gegen jeden Kriegsgefangnen, den dies traurige Loos nicht trift, beweiſen ſie ſich bruͤderlich und edel. Alle dieſe Zuͤge alſo, auch wenn der Hottentott ſein lebendiges Kind vergraͤbt und der Eskimo ſeinem alten Vater das Alter verkuͤrzet, ſind Folgen der traurigen Noth, die indeß nie das urſpruͤngliche Gefuͤhl der Humanitaͤt widerleget. Viel ſonderbarere Graͤuel hat unter uns die misgeleitete Vernunft oder die ausgelaßne Ueppigkeit erzeuget, Ausſchweifungen, an welche die Polyga - mie der Neger ſchwerlich reichet. Wie nun deßwegen unter uns niemand laͤugnen wird, daß auch in die Bruſt des Sodo - miten, des Unterdruͤckers, des Meuchelmoͤrders das Gebilde der Humanitaͤt gegraben ſei, ob ers gleich durch Leidenſchaften und freche Gewohnheit faſt unkaͤnntlich machte: ſo vergoͤnne man mir, nach allem was ich uͤber die Nationen der Erde ge - leſen und gepruͤft habe, dieſe innere Anlage zur Humanitaͤt ſo allgemein als die menſchliche Natur, ja eigentlich fuͤr dieſe Natur ſelbſt anzunehmen. Sie iſt aͤlter, als die ſpeculative Vernunft, die durch Bemerkung und Sprache ſich erſt demMen -275Menſchen angebildet hat, ja die in praktiſchen Faͤllen kein Richtmaas in ſich haͤtte, wenn ſie es nicht von jenem dunklen Gebilde in uns borgte. Sind alle Pflichten des Menſchen nur Conventionen, die er als Mittel der Gluͤckſeligkeit ſich ſelbſt ausſann und durch Erfahrung veſtſtellte: ſo hoͤren ſie Augenblicks auf meine Pflichten zu ſeyn, wenn ich mich von ihrem Zweck, der Gluͤckſeligkeit, losſage. Der Syllogismus der Vernunft iſt nun vollendet. Aber wie kamen ſie denn in die Bruſt deſſen, der nie uͤber Gluͤckſeligkeit und die Mittel dazu ſpeculirend dachte? wie kamen Pflichten der Ehe, der Vater - und Kindesliebe, der Familie und der Geſellſchaft in den Geiſt eines Menſchen, ehe er Erfahrungen des Guten und Boͤſen uͤber jede derſelben geſammlet hatte und alſo auf tau - ſendfache Art zuerſt ein Unmenſch haͤtte ſeyn muͤſſen, ehe er ein Menſch ward. Nein, guͤtige Gottheit, dem moͤrderiſchen Ungefaͤhr uͤberlieſſeſt du dein Geſchoͤpf nicht. Den Thieren gabſt du Jnſtinct, dem Menſchen grubeſt du dein Bild, Reli - gion und Humanitaͤt in die Seele: der Umriß der Bildſaͤule liegt im dunkeln tiefen Marmor da; nur er kann ſich nicht ſelbſt aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft und Erfahrung ſollten dieſes thun und du ließeſt es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen. Die Regel der Gerechtigkeit, die Grundſaͤtze des Rechts der Geſellſchaft, ſelbſt die Monogamie als die dem Menſchen natuͤrlichſte Ehe und Liebe, die Zaͤrtlich -M m 2keit276keit gegen Kinder, die Pietaͤt gegen Wohlthaͤter und Freunde, ſelbſt die Empfindung des maͤchtigſten, wohlthaͤtigſten Weſens ſind Zuͤge dieſes Bildes, die hie und da bald unterdruͤckt, bald ausgebildet ſind, allenthalben aber noch die Uranlage des Men - ſchen ſelbſt zeigen, der er ſich, ſobald er ſie wahrnimmt, auch nicht entſagen darf. Das Reich dieſer Anlagen und ihrer Aus - bildung iſt die eigentliche Stadt Gottes auf der Erde, in welcher alle Menſchen Buͤrger ſind, nur nach ſehr verſchiednen Claſſen und Stuffen. Gluͤcklich iſt, wer zur Ausbreitung dieſes Reichs der wahren innern Menſchenſchoͤpfung beitragen kann: er beneidet keinem Erfinder ſeine Wiſſenſchaft und keinem Koͤnige ſeine Krone.
Wer aber iſts nun, der uns ſage:” wo und wie dieſe auf - weckende Tradition der Humanitaͤt und Religion auf der Erde entſtand und ſich mit ſo manchen Verwandelungen bis an den Rand der Welt fortbreitete, wo ſie ſich in den dunkelſten Reſten verlieret? Wer lehrte den Menſchen Sprache wie noch jetzt jedes Kind dieſelbe von andern lernet und niemand ſich ſeine Vernunft erfindet? Welches waren die erſten Symbole, die der Menſch faßte, ſo daß eben im Schleier der Kosmogonie und reli - gioͤſer Sagen die erſten Keime der Cultur unter die Voͤlker kamen? Wo hangt der erſte Ring der Kette unſres Geſchlechts und ſeiner geiſtig-moraliſchen Bildung?” Laßet uns ſehen, was uns daruͤber die Naturgeſchichte der Erde ſammt der aͤlteſten Tradition ſage.
Da der Urſprung der Menſchengeſchichte dem Philoſophen ſehr im Dunkeln iſt und ſchon in ihren aͤlteſten Zeiten Sonder - barkeiten erſcheinen, die Der und Jener mit ſeinem Syſtem nicht zu fuͤgen wuſte: ſo iſt man auf den verzweifelnden Weg gerathen, den Knoten zu zerſchneiden und nicht nur die Erde als eine Truͤmmer voriger Bewohnung, ſondern auch das Menſchengeſchlecht als einen uͤberbliebenen, entkommenen Reſt anzuſehen, der, nachdem der Planet in einem andern Zuſtande, wie man ſagt, ſeinen juͤngſten Tag erlebt hatte, etwa auf Ber - gen oder in Hoͤlen ſich dieſem allgemeinen Gericht entzogen habe. Seine Menſchenvernunft, Kunſt und Tradition ſei eingerette -280geretteter Raub der untergegangenen Vorwelta)S. inſonderheit den ſcharfſinnigen Verſuch uͤber den Urſprung der Erkenntniß der Wahrheit und der Wiſſenſchaften Ber - lin 1781. Die Hypotheſe, daß unſer Erdball aus den Truͤmmern einer andern Welt gebildet ſei, iſt mehreren Naturforſchern aus ſehr verſchiednen Gruͤnden gemein.; daher er theils ſchon von Anfange her einen Glanz zeige, der ſich auf Erfahrungen vieler Jahrtauſende gruͤnde, theils auch nie ins Licht geſetzt werden koͤnne, weil durch dieſe uͤberbliebene Men - ſchen, wie durch einen Jſthmus, ſich die Cultur zweier Welten verwirre und binde.” Jſt dieſe Meinung wahr: ſo giebt es allerdings keine reine Philoſophie der Menſchengeſchichte: denn unſer Geſchlecht ſelbſt und alle ſeine Kuͤnſte waͤren nur ausge - worfene Schlacken einer vorigen Weltverwuͤſtung. Laſſet uns ſehen, was dieſe Hypotheſe, die aus der Erde ſelbſt ſo wie aus ihrer Menſchengeſchichte ein unentwirrbares Chaos macht, fuͤr Grund habe?
Jn der Urbildung unſrer Erde hat ſie, wie mich duͤnkt, keinen: denn die erſten ſcheinbaren Verwuͤſtungen und Revo - lutionen derſelben ſetzen keine verlebte Menſchengeſchichte vor - aus, ſondern gehoͤren zu dem ſchaffenden Kreiſe ſelbſt, durch welchen unſre Erde erſt bewohnbar wordenb)Die facta zu den folgenden Behauptungen ſind in vielen Buͤchern der neuern Erdkunde zerſtreut, auch zum Theil aus Buffon u. a. ſo bekannt, daß ich mich Satz fuͤr Satz mit Citationen nicht ziere.. Der alteGranit,281Granit, der innere Kern unſres Planeten, zeigt ſoweit wir ihn kennen, keine Spur von untergegangenen organiſchen Weſen; weder daß er ſolche in ſich enthielte, noch daß ſeine Beſtand - theile dieſelben vorausſetzten. Wahrſcheinlich ragte er in ſei - nen hoͤchſten Spitzen uͤber die Waſſer der Schoͤpfung empor, da ſich auf denſelben keine Spur einer Meerwirkung findet; auf dieſen nackten Hoͤhen aber konnte ein menſchliches Geſchoͤpf ſo wenig athmen, als ſich naͤhren. Die Luft, die dieſen Klum - pen umgab, war von Waſſer und Feuer noch nicht geſondert: beſchwaͤngert mit den mancherlei Materien, die ſich erſt in viel - faͤltigen Verbindungen und Perioden an die Grundlage der Erde ſetzten und ihr allgemach Form gaben, konnte ſie dem feinſten Erdgeſchoͤpf ſeinen Lebensathem ſo wenig erhalten, als geben. Wo alſo zuerſt lebendiges Gebilde entſtand, war im Waſſer; und es entſtand mit der Gewalt einer ſchaffenden Urkraft, die noch nirgend anders wirken konnte und ſich alſo zuerſt in der unendlichen Menge von Schalenthieren, dem Ein - zigen, was in dieſem ſchwangern Meer leben konnte, organi - ſirte. Bei fortgehender Ausbildung der Erde fanden ſie haͤu - fig ihren Untergang und ihre zerſtoͤrten Theile wurden die Grund - lage zu feinern Organiſationen. Je mehr der Urfels vom Waſſer befreit und mit Abſaͤtzen deſſelben d. i. der mit ihm verbundnen Elemente und Organiſationen befruchtet wurde: deſto mehr eilte die Pflanzenſchoͤpfung der Schoͤpfung des Waſ -Jdeen, II. Th. N nſers282ſers nach, und auf jedem entbloͤßten Erdſtrich vegetirte, was daſelbſt vegetiren konnte. Aber auch im Treibhauſe dieſes Reichs konnte noch kein Erdenthier leben. Auf Erdhoͤhen, auf denen jetzt Lapplaͤndiſche Kraͤuter wachſen, findet man ver - ſteinte Gewaͤchſe des heißeſten Erdſtrichs: ein offenbares Zeug - niß, daß der Dunſt auf ihnen damals dies Klima gehabt habe. Gelaͤutert indeſſen mußte dieſe Dunſtluft ſchon in großem Grad ſeyn, da ſich ſo viele Maſſen aus ihr niedergeſenkt hat - ten und die zarte Pflanze vom Licht lebet; daß aber bei dieſen Pflanzenabdruͤcken ſich noch nirgend Erdenthiere, geſchweige denn Menſchengebeine finden, zeigt wahrſcheinlich, daß ſolche auf der Erde damals noch nicht vorhanden geweſen, weil we - der zu ihrem Gebilde der Stof noch zu ihrem Unterhalt Nah - rung bereitet war. So gehets durch mancherlei Revolutio - nen fort, bis endlich in ſehr obern Leim - oder Sandſchichten erſt die Elephanten - und Naſ'hoͤrner-Gerippe erſcheinen: denn was man in tiefern Verſteinerungen fuͤr Menſchengebilde ge - halten, iſt alles zweifelhaft und von genauern Naturforſchern fuͤr Gerippe von Seethieren erklaͤret worden. Auch auf der Erde fing die Natur mit Bildungen des waͤrmſten Klima und wie es ſcheint, der ungeheuerſten Maſſen an, eben wie ſie im Meer mit gepanzerten Schaalthieren und großen Ammons - hoͤrnern anfing; wenigſtens haben ſich bei den ſo zahlreichen Gerippen der Elephanten, die ſpaͤt zuſammengeſchwemmt ſindund283und ſich hie und da bis auf die Haut erhalten haben, zwar Schlangen, Seethiere u. dgl. nie aber Menſchenkoͤrper gefun - den. Ja wenn ſie auch gefunden waͤren, ſind ſie ohnſtreitig von einem ſehr neuern Datum gegen die alten Gebuͤrge, in denen nichts von dieſer Art Lebendigem vorkommt. So ſpricht das aͤlteſte Buch der Erde mit ſeinen Thon - Schiefer - Marmor - Kalk - und Sandblaͤttern; und was ſpraͤche es hie - mit fuͤr eine Umſchaffung der Erde, die ein Menſchengeſchlecht uͤberlebt haͤtte, deſſen Reſte wir waͤren? Vielmehr iſt alles, was ſie redet, dafuͤr, daß unſre Erde aus ihrem Chaos von Materien und Kraͤften unter der belebenden Waͤrme des ſchaf - fenden Geiſtes ſich zu einem eignen, und urſpruͤnglichen Gan - zen durch eine Reihe zubereitender Revolutionen gebildet habe, bis auch zuletzt die Krone ihrer Schoͤpfung, das feine und zarte Menſchengeſchoͤpf, erſcheinen konnte. Die Syſteme alſo, die von zehnfacher Veraͤnderung der Weltgegenden und Pole, von hundertfaͤltiger Umſtuͤrzung eines bewohnten und cultivirten Bodens, von Vertreibungen der Menſchen aus Gegend in Gegend oder von ihren Grabmaͤlern unter Felſen und Mee - ren reden und in der ganzen aͤlteſten Geſchichte nur Graus und Entſetzen ſchildern, ſie ſind, Trotz aller unlaͤugbaren Revo - lutionen der Erde, dem Bau derſelben entgegen oder von ihm wenigſtens unbegruͤndet. Die Riſſe und Gaͤnge im alten Geſtein oder ſeine zuſammengefallenen Waͤnde ſagen nichtsN n 2von284von einer vor unſrer Erde bewohnten Erde; ja wenn auch die alte Maſſe durch ein ſolches Schickſal zuſammengeſchmolzen waͤre, ſo blieb gewiß kein lebendiger Reſt der Urwelt fuͤr uns uͤbrig. Die Erde ſowohl, als die Geſchichte ihrer Lebendigen, wie ſie jetzt iſt, bleibt alſo fuͤr den Forſcher ein reines ganzes Problem zur Aufloͤſung. Einem ſolchen treten wir naͤher und fragen:
Daß er an keinem ſpaͤt entſtandenen Erdrande geweſen ſeyn kann, bedarf keines Erweiſes und ſo treten wir ſogleich auf die Hoͤhen der ewigen Urgebuͤrge und der an ſie allmaͤlich gelager - ten Laͤnder. Entſtanden uͤberall Menſchen, wie uͤberall Scha - lenthiere entſtanden? gebar das Mondsgebuͤrge den Neger, wie etwa die Andes den Amerikaner, der Ural den Aſiaten, die Europaͤiſchen Alpen den Europaͤer gebahren? und hat jedes Hauptgebuͤrge der Welt etwa ſeinen eignen Strich der Menſch - heit? Warum, da jeder Welttheil ſeine eigne Thierarten hat, die anderswo nicht leben koͤnnen und alſo auf und zu ihm ge - bohren ſeyn muͤſſen, ſollte er nicht auch ſeine eigne Menſchen -gattung285gattung haben? und waͤren die verſchiednen Nationalbildun - gen, Sitten und Charaktere, inſonderheit die ſo unterſchiedne Sprachen der Voͤlker nicht davon Erweiſe? Jedermann mei - ner Leſer weiß, wie blendend dieſe Gruͤnde von mehrern ge - lehrten und ſcharfſinnigen Geſchichtforſchern ausgefuͤhrt ſind, ſo daß mans zuletzt als die gezwungenſte Hypotheſe anſah, daß die Natur zwar uͤberall Affen und Baͤren, aber nicht Menſchen habe erſchaffen koͤnnen, und alſo dem Lauf ihrer andern Wir - kungen ganz zuwider, eben ihr zarteſtes Geſchlecht, wenn ſie es nur in Einem Paar hervorbrachte, durch dieſe ihr fremde Sparſamkeit tauſendfacher Gefahr blosſtellte. ” Schauet noch jetzt, ſagt man, die vielſamige Natur an, wie ſie verſchwendet! wie ſie nicht nur Pflanzen und Gewaͤchſe, ſondern auch Thiere und Menſchen in ungezaͤhlten Keimen dem Untergange in den Schoos wirft! Und eben auf dem Punkt, da das menſchliche Geſchlecht zu gruͤnden war: da ſollte die gebaͤhrende, die in ihrer jungfraͤulichen Jugend an Samen aller Weſen und Ge - ſtalten ſo reiche Mutter, die wie der Bau der Erde zeigt, Mil - lionen lebendiger Geſchoͤpfe in Einer Revolution aufopfern konnte, um neue Geſchlechter zu gebaͤhren; ſie ſollte damals an niedern Weſen ſich erſchoͤpft und ihr wildes Labyrinth voll Leben mit zwei ſchwachen Menſchen vollendet haben?” Laßet uns ſehen, wiefern auch dieſe glaͤnzend-ſcheinbare Hypotheſe dem Gange der Cultur und Geſchichte unſres Geſchlechts ent -N n 3ſprechen286ſprechen oder auch ſeiner Bildung, ſeinem Charakter und Ver - haͤltniß zu den andern Lebendigen der Erde beſtehen moͤge.
Zuerſt iſts offenbar der Natur entgegen, daß ſie alles Le - bendige in gleicher Anzahl oder auf einmal belebt habe: der Bau der Erde und die innere Beſchaffenheit der Geſchoͤpfe ſelbſt macht dies unmoͤglich. Elephanten und Wuͤrmer, Loͤ - wen und Jnfuſionsthiere ſind nicht in gleicher Zahl da: ſie konnten auch uranfangs ihrem Weſen nach weder in gleichem Verhaͤltniß, noch auf Einmal erſchaffen werden. Millionen Muſchelgeſchoͤpfe mußten untergehen, ehe auf unſerm Erden - fels Gartenbeete zu feinerm Leben wurden: eine Welt von Pflanzen geht jaͤhrlich unter, damit ſie hoͤheren Weſen das Le - ben naͤhre. Wenn man alſo auch von den Endurſachen der Schoͤpfung ganz abſtrahiret: ſo lag es ſchon im Stoff der Na - tur ſelbſt, daß ſie aus Vielem ein Eins machen und durch das kreiſende Rad der Schoͤpfung Zahlloſes zerſtoͤren mußte, damit ſie ein Minderes aber Edleres belebte. So fuhr ſie von unten hinauf und indem ſie allenthalben gnug des Samens nachließ, Geſchlechter die ſie dauren laſſen wollte, zu erhalten, bahnte ſie ſich den Weg, zu auserleſneren feinern, hoͤheren Geſchlechtern. Sollte der Menſch die Krone der Schoͤpfung ſeyn: ſo konnte er mit dem Fiſch oder dem Meerſchleim nicht Eine Maſſe, Einen Tag der Geburt, Einen Ort und Aufenthalt haben. Sein Blut ſollte keinWaſſer287Waſſer werden; die Lebenswaͤrme der Natur mußte alſo ſo weit hin aufgelaͤutert ſo fein eßentiirt ſeyn, daß ſie Menſchenblut roͤ - thete. Alle ſeine Gefaͤße und Fibern, ſein Knochengebaͤude ſelbſt ſollte von dem feinſten Thon gebildet werden und da die Allmaͤchtige nie ohne zweite Urſachen handelt: ſo mußte ſie ſich dazu den Stof in die Hand gearbeitet haben. Selbſt die groͤbere Thierſchoͤpfung war ſie durchgangen: wie und wenn jedes entſtehen konnte, entſtand es: durch alle Pforten drangen die Kraͤfte und arbeiteten ſich zum Leben. Das Am - monshorn war eher da als der Fiſch: die Pflanze ging dem Thier voran, das ohne ſie auch nicht leben konnte: der Kro - kodill und Kaiman ſchlich eher daher, als der weiſe Elephant Kraͤuter las und ſeinen Ruͤßel ſchwenkte. Die Fleiſchfreßen - den Thiere ſetzten eine zahlreiche, ſchon ſehr vermehrte Familie derer voraus, von denen ſie ſich naͤhren ſollten; ſie konnten alſo auch mit dieſen nicht auf einmal und in gleicher Anzahl daſeyn. Der Menſch alſo, wenn er der Bewohner der Erde und ein Gebieter der Schoͤpfung ſeyn ſollte, mußte ſein Reich und Wohnhaus fertig finden; nothwendig mußte er alſo auch ſpaͤt und in geringerer Anzahl erſcheinen, als die ſo er beherr - ſchen ſollte. Haͤtte die Natur aus dem Stof ihrer Werkſtaͤte auf Erden etwas Hoͤheres, Reineres und Schoͤneres als der Menſch iſt, hervorbringen koͤnnen; warum ſollte ſie es nicht gethan haben? Und daß ſie es nicht gethan hat, zeigt, daß ſiemit288mit dem Menſchen die Werkſtaͤte ſchloß und ihre Gebilde, die ſie im Boden des Meers mit dem reichſten Ueberfluß ange - fangen hatte, jetzt in der erleſenſten Sparſamkeit vollfuͤhrte. ” Gott ſchuf den Menſchen, ſagt die aͤlteſte ſchriftliche Tradition der Voͤlker, in ſeinem Gebilde: ein Gleichniß Gottes ſchuf er in ihm, Einen Mann und Ein Weib; nach dem Un - zaͤhlichen, das er geſchaffen hatte, die kleinſte Zahl: da ruhete er und ſchuf nicht fuͤrder.” Die lebendige Pyramide war hier bei ihrem Gipfel vollendet.
Wo konnte dieſer Gipfel nun ſtatt finden? wo erzeugte ſich die Perle der vollendeten Erde? Nothwendig im Mittelpunkt der regſten organiſchen Kraͤfte, wo, wenn ich ſo ſagen darf, die Schoͤpfung am weitſten gediehen, am laͤngſten und feinſten ausgearbeitet war; und wo war dieſes, als etwa in Aſien, wie ſchon der Bau der Erde muthmaaslich ſaget. Jn Aſien naͤm - lich hatte unſre Kugel jene große und weite Hoͤhe, die nie vom Waſſer bedeckt, ihren Felſenruͤcken in die Laͤnge und Breite vielarmig hinzog. Hier alſo war die meiſte Anziehung wir - kender Kraͤfte, hier rieb und kreiſete ſich der elektriſche Strom, hier ſetzten ſich die Materien des Fruchtreichen Chaos in groͤ - ßeſter Fuͤlle nieder. Um dieſe Gebuͤrge entſtand der groͤßeſte Welttheil, wie ſeine Geſtalt zeiget: auf und an dieſen Ge - buͤrgen lebt die groͤßeſte Menge aller Arten lebendiger Thier -ſchoͤ -289ſchoͤpfung, die wahrſcheinlich hier ſchon ſtreiften und ihres Daſeyns ſich freuten, als andre Erdſtrecken noch unter dem Waſſer lagen und kaum mit Waͤldern oder mit nackten Berg - ſpitzen emporblickten. Der Berg, den Linneusa)Linnaei amoenit. academ. Vol. II. p. 439. Oratio de terra habitabili: Die Rede iſt haͤufig uͤberſetzt worden. ſich als das Gebuͤrge der Schoͤpfung gedacht hat, iſt in der Natur; nur nicht als Berg, ſondern als ein weites Amphitheater, ein Stern von Gebuͤrgen, die ihre Arme in mancherlei Klimate vertheilen. „ Jch muß anmerken, ſagt Pallasb)Bemerkungen uͤber die Berge, in den Beitraͤgen zur phyſikaliſchen Erdbeſchreibung (Band z. S. 250.) und ſonſt uͤberſetzt., daß alle Thiere, die in den Nord - und Suͤdlaͤndern zahm geworden ſind, ſich in dem gemaͤßigten Klima der Mitte Aſiens wild fin - den, (den Dromedar ausgenommen, deſſen beide Arten nicht wohl außerhalb Afrika fortkommen und ſich ſchwer an das Klima von Aſien gewoͤhnen). Der Stammort des wilden Ochſen, des Buͤffels, des Mufflon, von welchem unſre Schaafe kommen, des Bezoarthiers und des Steinbocks, aus deren Vermiſchung die ſo fruchtbare Race unſrer zahmen Ziegen ent - ſtanden iſt, finden ſich in den gebuͤrgigen Ketten, die das mitt - lere Aſien und einen Theil von Europa einnehmen. Das Rennthier iſt auf den hohen Bergen, die Siberien begrenzenundJdeen, II. Th. O o290und ſein oͤſtliches Ende bedecken, haͤufig und dient daſelbſt als Laſt - und Zugvieh. Auch findet es ſich auf der uraliſchen Kette und hat von da aus die nordiſchen Laͤnder beſetzt. Das Ka - meel mit zwei Buckeln findet ſich wild in den großen Wuͤſten zwiſchen Tibet und China. Das wilde Schwein haͤlt ſich in den Waͤldern und Moraͤſten des ganzen gemaͤßigten Aſiens auf. Die wilde Katze, von der unſre Hauskatze abſtammet, iſt bekannt genug. Endlich ſtammt die Hauptrace unſrer Haus - hunde zuverlaͤßig vom Schakal her; ob ich dieſelbe gleich nicht fuͤr ganz unverfaͤlſcht halte, ſondern glaube, daß ſie ſich vor undenklicher Zeit mit dem gemeinen Wolf, dem Fuchs und ſelbſt mit der Hyaͤne vermiſcht habe, welches die ungemeine Verſchiedenheit der Geſtalt und Groͤße der Hunde verurſacht hat u. f. „ So Pallas. Und wem iſt der Reichthum Aſiens, inſonderheit ſeiner mittaͤgigen Laͤnder an Naturproducten unbe - kannt? Es iſt als ob um dieſe erhabenſte Hoͤhe der Welt ſich nicht nur das breitſte, ſondern auch das reichſte Land geſetzt habe, das von Anfange her die meiſte organiſche Waͤrme in ſich gezogen. Die weiſeſten Elephanten, die kluͤgſten Affen, die lebhafteſten Thiere naͤhrt Aſien; ja vielleicht hat es ſeines Verfalls ungeachtet, der genetiſchen Anlage nach, die geiſtreich - ſten und erhabenſten Menſchen.
Wie aber die andern Welttheile? Daß Europa ſowohl an Menſchen als Thieren meiſtens aus Aſien beſetzt ſei undwahr -291wahrſcheinlich einem großen Theil nach noch mit Waſſer oder mit Wald und Moraͤſten bedeckt geweſen, als das hoͤhere Aſien ſchon cultivirt war, iſt ſogar aus der Geſchichte erweis - lich. Das innere Afrika kennen wir zwar noch wenig: die Hoͤhe und Geſtalt ſeines mittleren Bergruͤckens inſonderheit iſt uns ganz fremde; indeſſen wird aus mehreren Gruͤnden wahrſcheinlich, daß dieſer Waſſerarme und große Strecken hin - ein niedrige Welttheil mit ſeinem Erdruͤcken ſchwerlich an die Hoͤhe und Breite Aſiens reiche. Auch Er iſt alſo vielleicht laͤn - ger bedeckt geweſen und obwohl der warme Erdguͤrtel ſowohl der Pflanzen - als Thierſchoͤpfung daſelbſt ein eignes kraͤftiges Gepraͤge nicht verſagte: ſo ſcheinet es doch daß Afrika und Europa nur wie Kinder ſind, an den Schoos der Mutter, Aſien, gelehnet. Die meiſten Thiere haben dieſe drei Welttheile ge - mein und ſind im Ganzen nur Ein Welttheil.
Amerika endlich; ſowohl der Strich ſeiner ſteilen, unbe - wohnbar-hohen Gebuͤrge, als deren noch tobende Vulkane und ihnen zu Fuͤßen das niedrige, in groſſen Strecken Meerflache Land, ſammt der lebendigen Schoͤpfung deſſelben, die ſich vor - zuͤglich in der Vegetation, den Amphibien, Jnſekten, Voͤgeln und dagegen in weniger Gattungen vollkommner und ſo leb - hafter Landthiere freuet, als in denen ſich die alte Welt fuͤhlet; alle dieſe Gruͤnde, zu denen die junge und rohe Verfaſſung ſei -O o 2ner292ner geſammten Voͤlkerſchaften mitgehoͤret, machen dieſen Welt - theil ſchwerlich als den aͤlteſt-bewohnten kennbar. Vielmehr iſt er gegen die andre Erdhaͤlfte betrachtet, dem Naturforſcher ein reiches Problem der Verſchiedenheit zweier entgegenge - ſetzten Hemiſphaͤre. Schwerlich alſo doͤrfte auch das ſchoͤne Thal Quito der Geburtsort eines urſpruͤnglichen Menſchen - paars geweſen ſeyn, ſo gern ich ihm und den Mondgebuͤrgen Afrika's die Ehre goͤnne und niemanden widerſprechen mag, der hiezu Beweisthuͤmer faͤnde.
Aber gnug der bloßen Muthmaaßungen, die ich nicht dazu gemißbraucht wuͤnſche, daß man dem Allmaͤchtigen die Kraft und den Stof, Menſchen wo er will zu ſchaffen, abſpraͤche. Die Stimme, die allenthalben Meer und Land mit eignen Be - wohnern bepflanzte, konnte auch jedem Welttheil ſeine einge - bohrnen Beherrſcher geben, wenn ſie es fuͤr gut fand. Ließe ſich nicht aber in dem bisher entwickelten Charakter der Menſch - heit die Urſache finden, warum ſie es nicht beliebte? Wir ſa - hen, daß die Vernunft und Humanitaͤt der Menſchen von Er - ziehung, Sprache und Tradition abhange und daß unſer Ge - ſchlecht hierinn voͤllig vom Thier unterſchieden ſei, das ſeinen unfehlbaren Jnſtinct auf die Welt mitbringt. Jſt dies; ſo konnte ſchon ſeinem ſpecifiſchen Charakter nach der Menſch nicht Thieren gleich uͤberall in die wilde Wuͤſte geworfen werden. Der293Der Baum, der allenthalben nur kuͤnſtlich fortkommen konnte, ſollte vielmehr aus Einer Wurzel, an einem Ort wachſen, wo er am beſten gedeihen, wo der, der ihn gepflanzt hatte, ihn ſelbſt warten konnte. Das Menſchengeſchlecht, das zur Humani - taͤt beſtimmt war, ſollte von ſeinem Urſprunge an ein Bruder - geſchlecht aus Einem Blut, am Leitbande Einer bildenden Tra - dition werden, und ſo entſtand das Ganze, wie noch jetzt jede Familie entſpringt, Zweige von Einem Stamm, Sproßen aus Einem urſpruͤnglichen Garten. Mich duͤnkt, jedem der das charakteriſtiſche unſrer Natur, die Beſchaffenheit und Art unſrer Vernunft, die Weiſe, wie wir zu Begriffen kommen und die Humanitaͤt in uns bilden, erwaͤgt, ihm muͤße dieſer auszeich - nende Plan Gottes uͤber unſer Geſchlecht, der uns auch dem Urſprunge nach vom Thier unterſcheidet, als der angemeſſenſte, ſchoͤnſte und wuͤrdigſte erſcheinen. Mit dieſem Entwurf wur - den wir Lieblinge der Natur, die ſie als Fruͤchte ihres reifſten Fleißes, oder wenn man will, als Soͤhne ihres hohen Alters auf der Stelle hervorbrachte, die ſich am beſten fuͤr dieſe zarten Spaͤtlinge geziemte. Hier erzog ſie ſolche mit muͤtterlicher Hand und hatte um ſie gelegt, was vom erſten Anfange an die Bil - dung ihres kuͤnſtlichen Menſchen-Charakters erleichtern konnte. So wie nur Eine Menſchenvernunft auf der Erde moͤglich war und die Natur daher auch nur Eine Gattung Vernunft - faͤhiger Geſchoͤpfe hervorbrachte: ſo ließ ſie dieſe Vernunftfaͤ -O o 3higen294higen auch in Einer Schule der Sprache und Tradition erzo - gen werden und uͤbernahm ſelbſt dieſe Erziehung durch eine Folge von Generationen aus Einem Urſprung.
Alle Voͤlker Europens, woher ſind ſie? Aus Aſien. Von den meiſten wiſſen wirs gewiß: wir kennen den Urſprung der Lappen, der Finnen, der Germanier und Gothen, der Gallier, Slaven, Celten, Cimbern u. f. Theils aus ihren Sprachen oder Sprachreſten, theils aus Nachrichten ihrer alten Sitze koͤnnen wir ſie ziemlich weit ans ſchwarze Meer oder in die Tatarei verfolgen, wo zum Theil noch ihre Sprachreſte leben. Von der Abkunft anderer Voͤlker wiſſen wir weniger, weil wir die aͤlteſte Geſchichte derſelben weniger kennen: denn blos die Unkunde voriger Zeiten macht Avtochthonen. Ein ſeltnes Verdienſt um die Menſchheit waͤre es, wenn der Sprachge - lehrteſte Geſchichtforſcher der alten und neuen Voͤlker, Buͤtt - ner, uns die Schaͤtze ſeiner zuſammenhaltenden Beleſenheitaufthaͤte295aufthaͤte und wie ers thun koͤnnte, einer Reihe von Voͤlkern ihren ihnen ſelbſt unbekannten Stammbaum gaͤbea)Dieſer gelehrte Mann arbeitet mit einem vielumfaßenden Plan an einem aͤhnlichen Werke..
Die Abkunft der Afrikaner und Amerikaner iſt uns frei - lich dunkler; ſo weit wir aber den obern Rand des erſtgenann - ten Welttheils kennen und die aͤlteſten Traditionen uͤber ihn zuſammenhalten, iſt er Aſiatiſch. Weiter hinab muͤſſen wir uns begnuͤgen, in der Negergeſtalt und Farbe wenigſtens nichts widerſprechendes gegen dieſe Abkunft, vielmehr ein fortgehen - des Gemaͤlde klimatiſcher Nationalbildungen zu finden, wie das ſechſte Buch dieſer Schrift zu zeigen verſucht hat. Ein gleiches iſts mit dem ſpaͤter bevoͤlkerten Amerika, deſſen Be - pflanzung aus dem oͤſtlichen Aſien ſchon der einfoͤrmige Anblick der Voͤlker wahrſcheinlich machte.
Mehr als die Bildungen aber ſagen uns die Sprachen der Voͤlker; und wo auf der ganzen Erde giebt es die aͤlteſt - cultivirten Sprachen? Jn Aſien. Wollt ihr das Wunder - ding ſehen, daß Voͤlker tauſende von Meilen hin in die Laͤnge und Breite lauter einſylbige Sprachen reden: ſehet nach Aſien. Die Strecke jenſeit des Ganges, Tibet und Sina, Pegu, Ava, Arrakan und Brema, Tonquin, Laos, Koſchin-Sina, Kambod -ſcha296ſcha und Siam ſprechen lauter unbiegſam-einſylbige Worte. Wahrſcheinlich hat die fruͤhe Regel ihrer Sprach-Cultur und Schrift ſie dabei erhalten: denn in dieſer Ecke Aſiens ſind die aͤlteſten Einrichtungen beinah in allem unveraͤndert geblieben. Wollet ihr Sprachen, deren großer faſt uͤberfließender Reich - thum auf ſehr wenige Wurzeln zuſammengeht, ſo daß ſie mit einer ſonderbaren Regelmaͤßigkeit und dem faſt kindiſchen Kunſt - werk, durch eine kleine Veraͤnderung des Stammworts einen neuen Begrif zu ſagen, Mannichfaltigkeit und Armuth ver - binden: ſo ſehet den Umfang Suͤdaſiens von Jndien bis nach Syrien, Arabien und Aethiopien hin. Die Bengaliſche Sprache hat 700. Wurzeln, gleichſam die Elemente der Ver - nunft, aus denen ſie Zeitwoͤrter, Nennwoͤrter und alle andre Redetheile bildet. Die Ebraͤiſche und die ihr verwandten Sprachen, ſo ganz andrer Art ſie ſind, erregen Erſtaunen, wenn man ihren Bau ſelbſt noch in den aͤlteſten Schriften betrachtet. Alle ihre Worte gehen an Wurzeln von drei Buchſtaben zu - ſammen, die Anfangs vielleicht auch einſylbig waren, nach - her aber, wahrſcheinlich durch das ihnen eigne Buchſtabenal - phabet fruͤhzeitig in dieſe Form gebracht wurden und in ihr vermittelſt ſehr einfacher Zuſaͤtze und Biegungen die ganze Sprache bauten. Ein unermeßlicher Reichthum von Begrif - fen geht z. B. in der fortgebildeten Arabiſchen Sprache an wenige Wurzeln zuſammen, ſo daß das Flickwerk der meiſtenEuro -297Europaͤiſchen Sprachen mit ihren unnuͤtzen Huͤlfsworten und langweiligen Flexionen ſich nie mehr verraͤth, als wenn man ſie mit den Sprachen Aſiens vergleichet. Daher fallen dieſe auch, je aͤlter ſie ſind, dem Europaͤer zu lernen ſchwer: denn er muß den nutzloſen Reichthum ſeiner Zunge aufgeben und kommt in ihnen wie zu einer fein-durchdachten, leiſe-geregelten Hieroglyphik der unſichtbaren Gedankenſprache.
Das gewiſſeſte Zeichen der Cultur einer Sprache iſt ihre Schrift; je aͤlter, kuͤnſtlicher, durchdachter dieſe war, deſto mehr ward auch die Sprache gebildet. Nun kann, wenn man nicht etwa die Scythen ausnaͤhme, die auch ein Aſiatiſches Volk waren, keine Europaͤiſche Nation ſich eines ſelbſterfundenen Alphabets ruͤhmen: ſie ſtehen hierinn als Barbaren den Ne - gern und Amerikanern zur Seite. Aſien allein hatte Schrift und zwar ſchon in den aͤlteſten Zeiten. Die erſte gebildete Nation Europa's, die Griechen, bekamen ihr Alphabet von einem Morgenlaͤnder und daß alle andre Buchſtabencharaktere der Europaͤer abgeleitete oder verdorbne Zuͤge der Griechen ſind, zeigen die Buͤttnerſchen Tafelna)S. Vergleichungstafeln der Schriftarten verſchiedner Voͤlker von Buͤttner Goͤttingen 1771.. Auch der Aegypter aͤlteſte Buchſtabenſchrift auf ihren Mumien iſt phoͤniciſch undſoJdeen, II. Th. P p298ſo wie das Koptiſche Alphabet verdorben-griechiſch iſt. Unter den Negern und Amerikanern iſt an keine ſelbſterfundene Schrift zu gedenken: denn unter dieſen ſtiegen die Mexicaner uͤber ihre rohen Hieroglyphen und die Peruaner uͤber ihre Knotenſtricke nicht auf. Aſien dagegen hat die Schrift in Buchſtaben und Kunſthieroglyphen gleichſam erſchoͤpfet, ſo daß man unter ſei - nen Schriftzuͤgen beinah alle Gattungen findet, wie die Rede der Menſchen gefeſſelt werden konnte. Die Bengaliſche Sprache hat 50 Buchſtaben und 12 Vocale: die Sineſiſche hat aus ihrem Walde von Zuͤgen nicht minder als 112 zu Lautbuch - ſtaben und 36. zu Mitlautern erwaͤhlet. So geht es durch die Tibetaniſche, Singaleſiſche, Marattiſche, Mandſchuriſche Alphabete ſogar mit verſchiednen Richtungen der Zeichen. Ei - nige der Aſiatiſchen Schriftarten ſind offenbar ſo alt, daß man bemerkt, wie ſich die Sprache ſelbſt mit und zu ihnen gebildet habe; und die einfach-ſchoͤne Schrift auf den Ruinen von Per - ſepolis verſtehen wir noch gar nicht.
Treten wir von dem Werkzeuge der Cultur zur Cultur ſelbſt; wo waͤre dieſelbe fruͤher entſtanden, ja wo haͤtte ſie fruͤ - her entſtehen koͤnnen, als in Aſien? von da ſie ſich auf bekann - ten Wegen weiter umhergebreitet. Die Herrſchaft uͤber die Thiere war dazu einer der erſten Schritte und ſie ſteigt in die - ſem Welttheil uͤber alle Revolutionen der Geſchichte hinauf. Nicht299Nicht nur, daß wie wir geſehen haben, dies Urgebuͤrge der Welt die meiſten und zaͤhmbarſten Thiere hatte; die Geſell - ſchaft der Menſchen hat dieſelben auch ſo fruͤhe gezaͤhmet, daß unſre nutzbarſten Thiergeſchlechter, Schaaf, Hund und Ziege gleichſam nur aus dieſer Bezaͤhmung entſtanden und eigent - lich alſo neue Thiergattungen der Aſiatiſchen Kunſt ſind. Will man ſich in den Mittelpunkt der Vertheilung gezaͤhmter Thiere ſtellen, ſo trete man auf die Hoͤhe von Aſien; je entfernter von ihm, (im Großen der Natur gerechnet), deſto minder gezaͤhmte Thiere. Jn Aſien bis auf ſeine Suͤd-Jnſeln iſt alles voll der - ſelben; in Neuguinea und Neuſeeland fand ſich nur der Hund und das Schwein, in Neukaledonien der Hund allein und in dem ganzen weiten Amerika waren das Guaniko und Lacma die einzigen gezaͤhmten Thiere. Auch ſind die beſten Gattun - gen derſelben in Aſien und Afrika von der ſchoͤnſten, edelſten Art. Der Dſchiggetai und das Arabiſche Pferd, der wilde und zahme Eſel, der Argali und das Schaaf, der wilde Bock und die Angora-Ziege ſind der Stolz ihres Geſchlechts: der kluͤgſte Elephant iſt in Aſien von fruͤhen Zeiten an aufs kuͤnſt - lichſte gebrauchet und das Kameel war dieſem Welttheil unent - behrlich. Jn der Schoͤnheit einiger dieſer Thiere tritt Afrika zunaͤchſt an Aſiens Seite; im Gebrauch derſelben aber ſtehets ihm noch jetzt weit nach. Alle ſeine gezaͤhmten Thiere hat Europa Aſien zu danken; was unſerm Welttheil eigenP p 2iſt,300iſt, ſind 15. bis 16. Arten groͤßtentheils Maͤuſe und Fleder - maͤuſea)S. Zimmermanns geographiſche Geſchichte der Menſchen Th. 3 S. 183..
Mit der Cultur der Erde und ihrer Gewaͤchſe wars nicht anders; da ein großer Theil von Europa noch in ſehr ſpaͤten Zeiten ein Wald war und ſeine Einwohner, wenn ſie von Ve - getabilien leben ſollten, wohl nicht anders als mit Wurzeln und wilden Kraͤutern, mit Eicheln und Holzaͤpfeln naͤhren konnte. Jn manchen Erdſtrichen Aſiens, von denen wir reden, waͤchſt das Getreide wild; und der Ackerbau iſt in ihm von undenk - lichem Alter. Die ſchoͤnſten Fruͤchte der Erde, den Weinſtock und die Olive, Citronen und Feigen, Pomeranzen und alle unſer Obſt, Kaſtanien, Mandeln, Nuͤße u. f. hat Aſien zuerſt nach Griechenland und Afrika, ſodann fernerhin verpflanzet; einige andere Gewaͤchſe hat uns Amerika gegeben und bei den meiſten wiſſen wir ſogar den Ort der Herkunft, ſo wie die Zeit der Wanderung und Verpflanzung. Alſo auch dieſe Ge - ſchenke der Natur waren dem Menſchengeſchlecht nicht anders als durch den Weg der Tradition beſchieden. Amerika bauete keinen Wein: auch in Afrika haben ihn nur Europaͤiſche Haͤn - de gepflanzet.
Daß Wiſſenſchaften und Kuͤnſte zuerſt in Aſien und ſei - nem Grenzlande Aegypten gepflegt ſind, bedarf keiner weit -laͤuf -301laͤuftigen Erweiſe; Denkmale und die Geſchichte der Voͤlker ſagen es und Goguetsa)Vom Urſprung der Geſetze, Kuͤnſte und Wiſſenſchaften Lemgo 1770. 4. Zeugnißfuͤhrendes Werk iſt in aller Haͤnden. Nuͤtzliche und ſchoͤne Kuͤnſte hat dieſer Welttheil, hie oder da, allenthalben aber nach ſeinem ausgezeichneten aſia - tiſchen Geſchmack fruͤhe getrieben, wie die Ruinen Perſepolis und der Jndiſchen Tempel, die Pyramiden Aegyptens und ſo viel andre Werke, von denen wir Reſte oder Sagen haben, beweiſen: faſt alle reichen ſie weit uͤber die Europaͤiſche Cultur hinaus und haben in Afrika und Amerika nichts ihres Gleichen. Die hohe Poeſie mehrerer Suͤd-aſiatiſchen Voͤlker iſt weltbe - kanntb)S. Jones poeſeos Aſiatic. commentar. edit. Eichhorin. Lpſ. 1777. und je aͤlter hinauf, deſto mehr erſcheint ſie in einer Wuͤr - de und Einfalt, die durch ſich ſelbſt den Namen der Goͤttlichen verdienet. Welcher ſcharfſinnige Gedanke, ja ich moͤchte ſagen, welche dichteriſche Hypotheſe iſt in eines ſpaͤten Abendlaͤnders Seele gekommen, zu welcher ſich nicht der Keim in eines fruͤ - heren Morgenlaͤnders Ausſpruch oder Einkleidung faͤnde? ſo - bald nur irgend der Anlaß dazu in ſeinem Geſichtskreiſe lag. Der Handel der Aſiaten iſt der aͤlteſte auf der Erde und die wichtigſten Erfindungen darinn ſind die ihre. So auch die Aſtronomie und Zeitrechnung; wer iſt, der auch ohne die min - deſte Theilnehmung an Bailly's Hypotheſen, nicht uͤber dieP p 3fruͤhe302fruͤhe und weite Verbreitung mancher aſtronomiſchen Bemer - kungen, Eintheilungen und Handgriffe erſtaunte, die man den aͤlteſten Voͤlkern Aſiens ſchwerlich ablaͤugnen koͤnnte? a)S. Bailly's Geſch. der Sternkunde des Alterthums Leipz. 1777.Es iſt, als ob ihre aͤlteſten Weiſen vorzuͤglich die Weiſen des Him - mels, Bemerker der ſtille-fortſchreitenden Zeit geweſen, wie denn auch noch jetzt, im tiefen Verfall mancher Nationen die - ſer rechnende, zaͤhlende Geiſt unter ihnen ſeine Wirkung aͤuſ - ſertb)S. le Gentils Reiſen in Ebelings Sammlung Th. 2. S. 406. u. f. Walthers doctrina temporum Jndica hinter Bergers hi - ſtor. regni Graccor. Bactriani, Petrop. 1738. u. f. f.. Der Bramin rechnet ungeheure Summen im Ge - daͤchtniß: die Eintheilungen der Zeit ſind ihm vom kleinſten Maas bis zu großen Himmelsrevolutionen gegenwaͤrtig und er truͤgt ſich, ohne alle Europaͤiſche Huͤlfsmittel, darinn nur wenig. Die Vorwelt hat ihm in Formeln hinterlaſſen, was er jetzt nur anwendet: denn auch unſre Jahrrechnung iſt ja Aſiatiſch, unſre Ziffern und Sternbilder ſind Aegyptiſchen oder Jndiſchen Urſprungs.
Wenn endlich die Regierungsformen die ſchwerſte Kunſt der Cultur ſind: wo hat es die aͤlteſte, groͤßeſte Monarchieen gegeben? wo haben die Reiche der Welt den feſteſten Bau gefunden? Seit Jahrtauſenden behauptet Sina noch ſeine alteVer -303Verfaſſung und ohngeachtet das unkriegeriſche Volk von Ta - tariſchen Horden mehrmals uͤberſchwemmt worden: ſo haben die Beſiegten dennoch immer die Sieger bezaͤhmt und ſie in die Feſſeln ihrer alten Verfaſſung geſchmiedet; welche Regierungs - form Europens koͤnnte ſich deſſen ruͤhmen? Auf den Tibetani - ſchen Bergen herrſcht die aͤlteſte Hierokratie der Erde und die Caſten der Hindus verrathen durch die eingewurzelte Macht, die dem ſanfteſten Volk ſeit Jahrtauſenden zur Natur gewor - den iſt, ihre uralte Einrichtung. Am Euphrat und Tigris, ſo wie am Nilſtrom und an den Mediſchen Bergen greifen ſchon in den aͤlteſten Zeiten gebildete kriegeriſche oder friedliche Monarchieen in die Geſchichte der weſtlichen Voͤlker: ſogar auf den Tatariſchen Hoͤhen hat ſich die ungebundne Freiheit der Horden mit einem Deſpotismus der Khane zuſammenge - webt, der manchen europaͤiſchen Regierungsformen die Grund - anlage gegeben. Von allen Seiten der Welt, je mehr man ſich Aſien nahet, deſto mehr nahet man feſtgegruͤndeten Rei - chen, deren unumſchraͤnkte Gewalt ſeit Jahrtauſenden ſich in die Denkart der Voͤlker ſo eingepraͤgt, daß der Koͤnig von Siam uͤber eine Nation, die keinen Koͤnig haͤtte, als uͤber eine Haupt - loſe Misgeburt lachte. Jn Afrika ſind die veſteſten Deſpo - tien Aſien nahe; je weiter hinab, deſto mehr iſt die Tyrannei noch im rohen Zuſtande, bis ſie ſich endlich unter den Kaffern in den patriarchaliſchen Hirtenzuſtand verlieret. Auf dem ſuͤd -lichen304lichen Meer, je naͤher Aſien, deſto mehr ſind Kuͤnſte, Handwerke, Pracht und der Gemahl der Pracht, der koͤnigliche Deſpotis - mus in alter Uebung; je weiter von ihm entfernt, auf den ent - legnen Jnſeln, in Amerika oder gar am duͤrren Rande der Suͤd - welt kommt in einem rohern Zuſtande die einfachere Verfaſ - ſung des Menſchengeſchlechts, die Freiheit der Staͤmme und Familien wieder; ſo daß einige Geſchichtforſcher ſelbſt die bei - den Monarchieen Amerika's, Mexico und Peru aus der Nach - barſchaft deſpotiſcher Reiche Aſiens hergeleitet haben. Der ganze Anblick des Welttheils verraͤth alſo, zumal um die Ge - buͤrge, die aͤlteſte Bewohnung und die Traditionen dieſer Voͤl - ker mit ihren Zeitrechnungen und Religionen gehen, wie be - kannt iſt, in die Jahrtauſende der Vorwelt. Alle Sagen der Europaͤer und Afrikaner (bei welchen ich immer Aegypten aus - nehme) noch mehr der Amerikaner und der weſtlichen Suͤdſee - Jnſeln ſind nichts als verlohrne Bruchſtuͤcke junger Maͤhrchen gegen jene Rieſengebaͤude alter Kosmogonien in Jndien, Ti - bet, dem alten Chaldaͤa und ſelbſt dem niedrigern Aegypten: zerſtreute Laute der verirreten Echo gegen die Stimme der Aſia - tiſchen Urwelt, die ſich in die Fabel verlieret.
Wie alſo, wenn wir dieſer Stimme nachgingen und da die Menſchheit kein Mittel der Bildung als die Tradition hat, dieſe bis zum Urquell zu verfolgen ſuchten? Freilich ein truͤg -licher305licher Weg, wie wenn man dem Regenbogen oder der Echo nachliefe: denn ſo wenig ein Kind, ob es gleich bei ſeiner Ge - burt war, dieſelbe zu erzaͤhlen weiß, ſo wenig doͤrfen wir hof - fen, daß uns das Menſchengeſchlecht von ſeiner Schoͤpfung und erſten Lehre, von der Erfindung der Sprache und ſeinem erſten Wohnſitz hiſtoriſch-ſtrenge Nachrichten zu geben vermoͤge. Jndeſſen erinnert ſich doch ein Kind aus ſeiner ſpaͤteren Ju - gend wenigſtens einige Zuͤge; und wenn mehrere Kinder, die zuſammen erzogen, hernach getrennt wurden, Daſſelbe oder ein Aehnliches erzaͤhlen, warum ſollte man ſie nicht hoͤren? warum nicht uͤber das, was ſie ſagen oder zuruͤcktraͤumen, we - nigſtens nachſinnen wollen, zumal wenn man keine andern Do - cumente haben koͤnnte. Und da es der unverkennbare Ent - wurf der Vorſehung iſt, Menſchen durch Menſchen d. i. durch eine fortwirkende Tradition zu lehren: ſo laſſet uns nicht zwei - feln, daß ſie uns auch hierinn ſo viel werde gegoͤnnet haben, als wir zu wiſſen bedoͤrfen.
Aber wo fangen wir in dieſem wuͤſten Walde an, in dem ſo viel truͤgeriſche Stimmen und Jrrlichte hie - und dahin lockenJdeen, II. Th. Q qund306und fuͤhren? Jch habe nicht Luſt zu der Bibliothek von Traͤu - men, die uͤber dieſen Punct das Menſchengedaͤchtniß druͤckt, nur Eine Sylbe hinzuzuthun; und unterſcheide alſo, ſo viel ich kann, die Muthmaaßung der Voͤlker oder die Hypotheſen ihrer Weiſen, von Thatſachen der Tradition, ſo wie bei dieſer die Grade ihrer Gewißheit und ihre Zeiten. Das letzte Volk Aſiens, das ſich des hoͤchſten Alterthums ruͤhmet, die Sineſer, haben nichts hiſtoriſch-gewiſſes, das uͤber das 722. Jahr vor unſrer Zeitrechnung hinausginge. Die Reiche des Fohi und Hoangti ſind Mythologie und was vor Fohi hergeht, das Zeit - alter der Geiſter oder der perſonificirten Elemente, wird von den Sineſen ſelbſt als dichtende Allegorie betrachtet. Jhr aͤl - teſtes Bucha)Le Chon. king, un des livres ſacrés des Chinois. Paris 1770. , das 176. Jahr vor Chriſti Geburt wiederge - funden oder vielmehr aus zwei, dem Buͤcherbrande entronne - nen Exemplaren ergaͤnzt ward, enthaͤlt weder Kosmogonie, noch der Nation Anfang. Yao regiert ſchon in demſelben mit den Bergen ſeines Reichs, den Großen; nur Einen Befehl koſtet es ihm, ſo werden Geſtirne beobachtet, Waſſer abgeleitet, Zei - ten geordnet: Opfer und Geſchaͤfte ſind alle ſchon in feſtge - ſtellter Ordnung. Es bliebe uns alſo nur die Sineſiſche Me - taphyſik des großen erſten Y uͤbrigb)S. Recherches ſur les tems anterieurs à ceux dont parle le Chou - king p. Premare vor De Guignes Ausgabe des Schu[:]king u. f. f., wie aus 1. und 2. die4.3074. und 8. entſtanden, wie nach Eroͤfnung des Himmels Puanku und die drei Hoangs als Wundergeſtalten regiert haben, bis erſt mit dem erſten Stifter der Geſetze Gin-Hoang, der auf dem Berge Hingma gebohren war und Erd und Waſſer in 9. Theile theilte, die menſchlichere Geſchichte anfinge. Und dennoch geht die Mythologie dieſer Art noch viele Geſchlechter hinunter; ſo daß vom Urſpruͤnglichen wohl nichts auf ſie zu gruͤnden waͤre, als etwa daß ſie den Wohnſitz dieſer Koͤnige und ihrer Wundergeſtalten auf die hohen Aſiatiſchen Berge ſetzt, die fuͤr heilig gehalten und mit der ganzen aͤlteſten Fabelſage be - ehrt wurden. Ein großer Berg mitten auf der Erde iſt ihnen ſelbſt in den Namen dieſer alten Fabelweſen, die ſie Koͤnige nennen, ſehr gefeiret.
Steigen wir nach Tibet hinauf: ſo finden wir die Lage - rung der Erde rings um einen hoͤchſten Berg in der Mitte noch ausgezeichneter, da ſich die ganze Mythologie dieſes geiſtlichen Reichs darauf gruͤndet. Fuͤrchterlich beſchreiben ſie ſeine Hoͤhe und Umfang: Ungeheuer und Rieſen ſind Waͤchter an ſeinem Rande, ſieben Meere und ſieben Goldberge rings um ihn her. Auf ſeinem Gipfel wohnen die Lahen und in verſchiednen nie - drigern Stuffen andre Weſen. Durch Aeonen von Weltal - tern ſanken jene Beſchauer des Himmels immer in groͤbere Koͤrper, endlich in die Menſchengeſtalt, in der ein haͤßliches Affen-Paar ihre Eltern waren: auch der Urſprung der ThiereQ q 2wird308wird aus herabgeſtoßenen Lahen erklaͤretb)Georgii alphabet. Tibetan. Rom. 1762. p. 181. und ſonſt hin und wieder.. Eine harte My - thologie, die die Welt Bergab in die Meere bauet; dieſe mit Ungeheuern umpflanzet und das ganze Syſtem der Weſen zu - letzt einem Ungeheuer; der ewigen Nothwendigkeit in den Ra - chen giebt. Auch dieſe entehrende Tradition indeſſen, die den Menſchen vom Affen herleitet, iſt mit ſpaͤtern Ausbildungen ſo verwebet, daß viel dazu gehoͤrte, ſie als eine reine Urſage der Vorwelt zu betrachten.
Schaͤtzbar waͤre es, wenn wir vom alten Volk der Hin - dus ihre aͤlteſte Tradition beſaͤßen. Auſſerdem aber, daß die erſte Sekte des Bruma von den Anhaͤngern Wiſchnu und Schiwen's laͤngſt vertilgt iſt, haben wir an dem, was Euro - paͤer von ihren Geheimniſſen bisher erfuhren, offenbar nur junge Sagen, die entweder Mythologie fuͤr das Volk oder auslegende Lehrgebaͤude ihrer Weiſen ſind. Auch nach Pro - vinzen gehen ſie Maͤhrchenhaft auseinander, ſo daß wir, wie auf die eigentliche Sanſkritſprache, ſo auch auf den wahren Wedam der Jndier wahrſcheinlich noch lange zu warten und dennoch auch in ihm von ihrer aͤlteſten Tradition we - nig zu erwarten haben, da ſie den erſten Theil deſſelben ſelbſt fuͤr verlohren achten. Jndeſſen blickt auch durch manches ſpaͤ -tere309tere Maͤhrchen ein Goldkorn hiſtoriſcher Urſage hervor. Der Ganges z. B. iſt in ganz Jndien heilig und fließt unmittelbar von den heiligen Bergen, den Fuͤßen des Weltſchoͤpfers Bru - ma. Jn der achten Verwandlung erſchien Wiſchnu als Praſ - ſarama: noch bedeckte das Waſſer alles Land bis zum Gebuͤrge Gate: er bat den Gott des Meers, daß er ihm Raum ver - ſchaffen und das Meer zuruͤckziehen moͤchte, ſo weit, wenn er ſchoͤſſe, ſein Pfeil reichte. Der Gott verſprach und Praſ - ſarama ſchoß: wie weit der Pfeil flog, ward das Land trocken, die Malabariſche Kuͤſte. Offenbar ſagt uns, wie auch Son - nerat anmerkt, die Erzaͤhlung, daß das Meer einſt bis zum Berge Gate geſtanden habe und die Malabariſche Kuͤſte juͤn - geres Land ſei. Andere Sagen Jndiſcher Voͤlker erzaͤhlen den Urſprung der Erde aus dem Waſſer auf andre Weiſe. Whiſtnu ſchwamm auf einem Blatt: der erſte Menſch ent - ſprang aus ihm als eine Blume. Auf der Oberflaͤche der Waſſerwogen ſchwamm ein Ei, das Brama zur Reife brach - te, aus deſſen Haͤuten die Luft und der Himmel ward, wie aus ſeinem Jnhalt Geſchoͤpfe, Thiere und Menſchen. Doch man muß dieſe Sagen im Maͤhrchenton der kindlichen Jndier ſelbſt leſena)S. Sonnerat, Baldeus, Dow, Holwell u. f..
Q q 3Das310Das Syſtem Zoroaſtersa)Zend-Aveſta, Riga 1776. bis 1778. iſt offenbar ſchon ein philo - ſophiſches Lehrgebaͤude, das wenn es auch mit den Sagen andrer Sekten nicht vermiſcht waͤre, dennoch ſchwerlich fuͤr eine Ur-Tradition gelten koͤnnte; Spuren von dieſer indeß ſind allerdings in ihm kennbar. Der große Berg Albordj in Mitte der Erde erſcheinet wieder und ſtreckt ſich mit ſeinen Nebenge - buͤrgen rings um ſie. Um ihn geht die Sonne: von ihm rinnen die Stroͤme: Meere und Laͤnder ſind von ihm aus ver - theilet. Die Geſtalten der Dinge exſiſtirten zuerſt in Urbil - dern, in Keimen und wie alle Mythologieen des hoͤhern Aſiens an Ungeheuern der Urwelt reich ſind: ſo hat auch dieſe den großen Stier Kayamorts, aus deſſen Leichnam alle Geſchoͤpfe der Erde wurden. Oben auf dieſem Berge iſt, wie dort auf dem Berge der Lahen, das Paradies, der Sitz der ſeligen Geiſter und verklaͤrten Menſchen, ſo wie der Urquell der Stroͤ - me, das Waſſer des Lebens. Uebrigens iſt das Licht, das die Finſterniß ſcheidet, ſie zertrennet und uͤberwindet, das die Erde fruchtbar macht und alle Geſchoͤpfe beſeligt, offenbar der erſte phyſiſche Grund des ganzen Lichtſyſtems der Parſen, wel - che Eine Jdee ſie auf gottesdienſtliche, moraliſche und politi - ſche Weiſe tauſendfach anwandten.
Je311Je tiefer wir weſtlich den Berg Aſiens hinunterwandern: deſto kuͤrzer werden die Zeitalter und Sagen der Urwelt. Man ſiehet ihnen allen ſchon eine ſpaͤtere Abkunft, die Anwendung fremder Traditionen aus hoͤheren Erdſtrichen auf niedrigere Laͤnder an. Jn Localbeſtimmungen werden ſie immer unpaſ - ſender, dafuͤr aber gewinnen ſie im Syſtem ſelbſt an Ruͤnde und Klarheit, weil ſich nur hie und da noch ein Bruchſtuͤck der alten Fabel und auch dies uͤberall in einem neuern Natio - nalgewande zeiget. Jch wundre mich daher, wie man auf der Einen Seite den Sanchoniathon ganz zu einem Betruͤger und auf der andern zum erſten Propheten der Urwelt habe machen koͤnnen, da ihm zu dieſer ſchon die phyſiſche Lage ſei - nes Landes den Zugang verſagte. Daß der Anfang dieſes Alls eine finſtre Luft, ein dunkles truͤbes Chaos geweſen, daß dieſes Grenzen - und Geſtaltlos von unendlichen Zeiten her im wuͤſten Raum geſchwebt, bis der webende Geiſt mit ſeinen eignen Principien in Liebe verfiel und aus ihrer Vermiſchung ein Anfang der Schoͤpfung wurde — dieſe Mythologie iſt eine ſo alte und den verſchiedenſten Voͤlkern gemeine Vorſtel - lungsart geweſen, daß dem Phoͤnicier hiebei wenig zu erdich - ten uͤbrig blieb. Beinahe jedes Volk Aſiens, die Aegypter und Griechen mit eingeſchloſſen, erzaͤhlte die Tradition vom Chaos oder vom bebruͤteten Ei auf ſeine Weiſe; warum konn - ten ſich nicht alſo auch in einem phoͤniciſchen Tempel geſchrie -bene312bene Traditionen dieſer Art finden? Daß die erſten Samen der Geſchoͤpfe in einem Schlamm gelegen und die erſten mit Verſtand begabten Weſen eine Art Wundergeſtalten, Spiegel des Himmels (Zophaſemim) geweſen, die nachher durch den Knall des Donners erweckt, aufwachten und die mancherlei Geſchoͤpfe aus ihrer Wundergeſtalt hervorbrachten, iſt eben - falls eine weit-herrſchende, hier nur verkuͤrzte Sage, die mit andern Ausbildungen uͤber die Mediſchen und Tibetaniſchen Gebuͤrge bis nach Jndien und Sina hinauf, und bis nach Phrygien und Thracien hinabreichet: denn noch in der He - ſiodiſchen und Orphiſchen Mythologie finden ſich von ihr Re - ſte. Wenn man nun aber vom Winde Kolpias d. i. der Stimme des Hauches Gottes und ſeinem Weibe der Nacht, von ihren Soͤhnen, dem Erſtgebohrnen und dem Aeon, von ihren Enkeln, Geſchlecht und Gattung, von ihren Ur - enkeln, Licht, Feuer und Flamme, von ihren Ur-Urenkeln, den Bergen Caſſius, Libanus, Antilibanus u. f. lange Genealogieen lieſet und dieſen allegoriſchen Namen die Erfin - dungen des Menſchengeſchlechts zugeſchrieben findet: ſo ge - hoͤrt ein geduldiges Vorurtheil dazu, in dieſer misverſtandnen Verwirrung alter Sagen, die der Zuſammenſetzer wahrſchein - lich als Namen vor ſich fand und aus denen er Perſonen machte, eine Philoſophie der Welt und eine aͤlteſte Menſchen - geſchichte zu finden.
Tiefer313Tiefer hinab ins ſchwarze Aegypten wollen wir uns um Traditionen der Urwelt nicht bemuͤhen. Jn den Namen ih - rer aͤlteſten Goͤtter ſind unlaͤugbare Reſte einer ſchweſterlichen Tradition mit den Phoͤniciern: denn die alte Nacht, der Geiſt, der Weltſchoͤpfer, der Schlamm, worinn die Samen der Dinge lagen, kommen hier wieder. Da aber alles was wir von der aͤlteſten Mythologie Aegyptens wiſſen, ſpaͤt, ungewiß und dun - kel, uͤberdem jede mythologiſche Vorſtellungsart dieſes Landes ganz klimatiſirt iſt: ſo gehoͤret es nicht zu unſerm Zweck, unter dieſen Goͤtzengeſtalten oder weiterhin in den Negermaͤhrchen nach Sagen der Urwelt zu graben, die zu einer Philoſophie der aͤlteſten Menſchengeſchichte den Grund gaͤben.
Auch hiſtoriſch alſo bleibt uns auf der weiten Erde nichts als die ſchriftliche Tradition uͤbrig, die wir die Moſaiſche zu nennen pflegen. Ohn 'alles Vorurtheil, alſo auch ohne die mindeſte Meinung daruͤber, welches Urſprunges ſie ſei? wiſſen wir, daß ſie uͤber 3000. Jahr alt und uͤberhaupt das aͤlteſte Buch ſei, das unſer junges Menſchengeſchlecht aufwei - ſet. Jhr Anblick ſoll es uns ſagen, was dieſe kurzen, einfaͤl - tigen Blaͤtter ſeyn wollen und koͤnnen, indem wir ſie nicht als Geſchichte ſondern als Tradition oder als eine alte Philoſo - phie der Menſchengeſchichte anſehn, die ich deswegen auch ſo - gleich von ihrem morgenlaͤndiſchen poetiſchen Schmuck entkleide.
Als einſt die Schoͤpfung unſrer Erde und unſres Him - mels begann, erzaͤhlt dieſe Sage, war die Erde zuerſt ein wuͤſter, unfoͤrmlicher Koͤrper, auf dem ein dunkles Meer fluthete und eine lebendige bruͤtende Kraft bewegte ſich auf dieſen Waſſern. — Sollte nach allen neuern Erfah - rungen der aͤlteſte Zuſtand der Erde angegeben werden, wie ihn ohne den Flug unbeweisbarer Hypotheſen der forſchende Verſtand zu geben vermag: ſo finden wir genau dieſe alte Be - ſchreibung wieder. Ein ungeheurer Granitfels, groͤßtentheils mit Waſſer bedeckt und uͤber ihm Lebenſchwangre Naturkraͤfte; das iſts, was wir wiſſen: mehr wiſſen wir nicht. Daß die - ſer Fels gluͤhend aus der Sonne geſchleudert ſei, iſt ein rieſen - hafter Gedanke, der aber weder in der Analogie der Natur noch in der fortgehenden Entwicklung unſrer Erde Grund findet: denn wie kamen Waſſer auf dieſe gluͤhende Maſſe? woher kam ihr ihre runde Geſtalt? woher ihr Umſchwung und ihre Pole? da im Feuer der Magnet ſeine Kraͤfte verlieret. Viel wahr - ſcheinlicher iſt, daß dieſer wunderbare Urfels durch innere Kraͤfteſich315ſich ſelbſt gebildet d. i. aus dem ſchwangern Chaos, daraus unſre Erde werden ſollte, verdichtend niedergeſetzt habe. Die Moſaiſche Tradition ſchneidet aber auch dies Chaos ab und ſchildert ſogleich den Felſen; auch jene chaotiſchen Ungeheuer und Wundergeſtalten der aͤltern Traditionen gehen damit in den Abgrund. Das Eine, was dies philoſophiſche Stuͤck mit jenen Sagen gemein hat, ſind etwa die Elohim, vielleicht den Lahen, den Zopheſamim u. f. vergleichbar, hier aber zum Be - grif einer wirkenden Einheit gelaͤutert. Sie ſind nicht Ge - ſchoͤpfe; ſondern der Schoͤpfer.
Die Schoͤpfung der Dinge faͤngt mit dem Licht an: hiedurch trennet ſich die alte Nacht, hiedurch ſcheiden ſich die Elemente; und was kennten wir nach aͤltern und neuern Erfahrungen fuͤr ein andres ſowohl ſcheidendes als be - lebendes Principium der Natur, als das Licht oder wenn man will, das Elementarfeuer? Ueberall iſts in die Natur verbrei - tet; nur nach Verwandſchaft der Koͤrper ungleich vertheilet. Jn beſtaͤndiger Bewegung und Thaͤtigkeit, durch ſich ſelbſt fluͤßig und geſchaͤftig, iſts die Urſache aller Fluͤßigkeit, Waͤrme und Bewegung. Selbſt das elektriſche Principium erſcheinet nur als eine Modification deſſelben; und da alles Leben der Na - tur nur durch Waͤrme entwickelt wird und ſich durch Bewegung des Fluͤßigen aͤußert, da nicht nur der Same der Thiere durchR r 2eine316eine ausdehnende, reizende, belebende Kraft dem Licht aͤhnlich wirket; ſondern man auch bei der Beſaamung der Pflanzen Licht und Electricitaͤt bemerkt hat; ſo wird in dieſer alten phi - loſophiſchen Kosmogonie nichts als das Licht der erſte Wirker. Und zwar kein Licht, das aus der Sonne kommt; ein Licht, das aus dem Jnnern dieſer organiſchen Maſſe hervorbricht; abermals der Erfahrung gleichfoͤrmig. Nicht die Stralen der Sonne ſinds, die allen Geſchoͤpfen das Leben geben und naͤhren; mit innerer Waͤrme iſt alles geſchwaͤngert, auch der Fels und das kalte Eiſen hat ſolche in ſich, ja nur nach dem Maas dieſes genetiſchen Feuers und ſeiner feinern Auswirkung durch den maͤchtigen Kreislauf innerer Bewegung, nur in die - ſem Maas iſt ein Geſchoͤpf lebendig, ſelbſtempfindend und thaͤ - tig. Hier alſo ward die erſte elementariſche Flamme angefacht, die kein ſpeiender Veſuv, kein flammender Erdkoͤrper ſondern die ſcheidende Kraft, der waͤrmende naͤhrende Balſam der Na - tur war, der alles allmaͤlich in Bewegung ſetzte. Wie unwah - rer und groͤber druͤckt ſich die phoͤniciſche Tradition aus, die durch Donner und Blitz die Naturkraͤfte als ſchlafende Thiere aufweckt; in dieſem feinern Syſtem, das gewiß von Zeit zu Zeit die Erfahrung mehr beſtaͤtigen wird, iſt das Licht der Ausbilder der Schoͤpfung.
Um317Um aber bei den folgenden Entwicklungen das Mißver - ſtaͤndniß der Tagwerke abzuſondern, erinnere ich, was jeden der bloße Anblick ſageta)Aelteſte Urkunde des Menſchengeſchlechts Th. 1., daß das ganze Syſtem dieſer Vor - ſtellung einer ſich ſelbſt ausarbeitenden Schoͤpfung auf einer Gegeneinanderſtellung beruhe, vermoͤge welcher die Abtheilun - gen ſich nicht phyſiſch, ſondern nur ſymboliſch ſondern. Da naͤm - lich unſer Auge die ganze Schoͤpfung und ihre ineinandergreifen - de Wirkung nicht auf einmal faſſen kann: ſo mußten Claſſen gemacht werden und die natuͤrlichſten waren, daß der Himmel der Erde und auf dieſer abermals das Meer und die Erde ein - ander entgegengeſetzt wuͤrden, ob ſie gleich in der Natur ein verbundenes Reich wirkender und leidender Weſen bleiben. Dies alte Document iſt alſo die erſte einfaͤltige Tafel einer Naturordnung, der die Benennung der Tagewerke, einem andern Zweck des Verfaſſers gemaͤß, nur zum abtheilenden Namengeruͤſt dienet. Sobald das Licht als Auswirker der Schoͤpfung da war: ſo mußte es zu Ein - und derſelben Zeit Himmel und Erde auswirken. Dort laͤuterte es die Luft, die, als ein duͤnneres Waſſer und nach ſo viel neuern Erfah - rungen als das all-verbindende Vehiculum der Schoͤpfung, das ſowohl dem Licht, als den Kraͤften der Waſſer - und Erd - weſen in tauſend Verbindungen dienet, durch kein uns bekann - tes Principium der Natur als durch das Licht oder das Ele -R r 3mentar -318mentarfeuer gelaͤutert, d. i. zu dieſer elaſtiſchen Fluͤßigkeit ge - bracht werden konnte. Wie aber fand eine Laͤuterung ſtatt, als daß ſich in mancherlei Abſaͤtzen und Revolutionen nach und nach alle groͤbere Materien ſenkten und dadurch Waſſer und Erde, ſo wie Waſſer und Luft allmaͤlich verſchiedne Regionen wurden? Die zweite und dritte Auswirkung gingen alſo durch einander, wie ſie auch im Symbol der Kosmogonie gegen ein - ander ſtehen, Ausgeburten des erſten Principium, des ſon - dernden Lichts der Schoͤpfung. Jahrtauſende ohne Zweifel haben dieſe Auswirkungen gedauert, wie die Entſtehung der Berge und Erdſchichten, die Aushoͤlung der Thaͤler bis zum Bette der Stroͤme unwiderſprechlich zeigen. Drei maͤchtige Weſen wirkten in dieſen großen Zeitraͤumen, Waſſer, Luft, Feuer; jene die abſetzten, wegborten, niederſchlugen, dieſes, das in jenen beiden und in der ſich geſtaltenden Erde ſelbſt, allenthalben wo es nur konnte, organiſch wirkte.
Abermals ein großer Blick dieſes aͤlteſten Naturforſchers, den noch zu unſrer Zeit viele nicht zu faſſen vermoͤgen! Die innere Geſchichte der Erde zeiget naͤmlich, daß bei Bildung derſelben die organiſche Kraͤfte der Natur allenthalben ſogleich wirkſam geweſen, und daß wo ſich Eine derſelben aͤußern konn - te, ſie ſich alſobald geaͤußert habe. Die Erde vegetirte, ſo - bald ſie zu vegetiren vermochte, obgleich ganze Reiche der Ve -getation319getation durch neue Abſaͤtze der Luft und des Waſſers unter - gehen mußten. Das Meer wimmelte von Lebendigem, ſobald es dazu gelaͤutert gnug war, obgleich durch Ueberſchwemmun - gen des Meeres Millionen dieſer Lebendigen ihr Grab finden und damit andern Organiſationen zum Stof dienen mußten. Auch konnte in jeder Periode dieſer auswirkenden Laͤuterungen noch nicht jedes Lebendige jedes Elements leben; die Gattun - gen der Geſchoͤpfe folgten einander, wie ſie ihrer Natur und ihrem Medium nach wirklich werden konnten. Und ſiehe da, alles dies faßt unſer Naturweiſe in eine Stimme des Welt - ſchoͤpfers zuſammen, die, wie ſie das Licht hervorrief und da - mit der Luft ſich zu laͤutern, dem Meer zu ſinken, der Erde allmaͤlich hervorzugehen befahl, d. i. lauter wirkſame Kraͤfte des Naturkreiſes in Bewegung ſetzte, ſo auch der Erde, den Waſſern, dem Staube befiehlt, daß jedes derſelben orga - niſche Weſen nach ſeiner Art hervorbringe und ſich die Schoͤpfung alſo durch eigne dieſen Elementen einge - pflanzte organiſche Kraͤfte ſelbſt belebe. So ſpricht die - ſer Weiſe und ſcheuet den Anblick der Natur nicht, den wir jetzt noch allenthalben gewahr werden, wo organiſche Kraͤfte ſich ihrem Element gemaͤß zum Leben ausarbeiten. Nur ſtel - let er, da doch abgetheilt werden mußte, die Reiche der Natur geſondert gegen einander, wie der Naturkuͤndiger ſie ſondert, ob er wohl weiß, daß ſie nicht abgezaͤunt von einander wirken. Die320Die Vegetation geht voraus; und da die neuere Phyſik be - wieſen hat, wie ſehr die Pflanzen inſonderheit durch das Licht leben, ſo war bei wenig abgewittertem Felſen, bei wenig hin - zugeſpuͤltem Schlamm unter der maͤchtigen Waͤrme der bruͤ - tenden Schoͤpfung ſchon Vegetation moͤglich. Der fruchtba - re Schoos des Meers folgte mit ſeinen Geburten und befoͤr - derte andre Vegetationen. Die von jenen Untergegangenen und von Licht, Luft und Waſſer beſchwaͤngerte Erde eilte nach und fuhr fort, gewiß nicht alle Gattungen auf einmal zu ge - baͤhren: denn ſo wenig das fleiſchfreſſende Thier ohne anima - liſche Speiſe leben konnte, ſo gewiß ſetzte ſeine Entſtehung auch den Untergang animaliſcher Geſchlechter voraus, wie abermals die Naturgeſchichte der Erde bezeuget. Seegeſchoͤ - pfe oder Grasfreſſende Thiere ſinds, die man als Niederlagen der erſten Aeonen in den tiefern Schichten der Erde findet; Fleiſchfreſſende Thiere nicht oder ſelten. So wuchs die Schoͤ - pfung in immer feinern Organiſationen Stufenweiſe hinan, bis endlich der Menſch da ſteht, das feinſte Kunſtgebilde der Elohim, der Schoͤpfung vollendende Krone.
Doch ehe wir vor dieſe Krone treten, laſſet uns noch ei - nige Meiſterzuͤge betrachten, die der alte Naturweiſe in ſein Gemaͤlde webte. Zuerſt. Die Sonne und die Geſtirne brin - get er nicht als Wirkerinnen in ſein ausarbeitendes Rad derSchoͤ -321Schoͤpfung. Er macht ſie zum Mittelpunkt ſeines Symbols: denn allerdings erhalten ſie unſre Erde und alle organiſche Geburten derſelben im Lauf und ſind alſo wie er ſagt, Koͤnige der Zeiten; organiſche Kraͤfte ſelbſt aber geben ſie nicht und leuchten ſolche nicht hernieder. Noch jetzt ſcheint die Sonne, wie ſie im Anfange der Schoͤpfung ſchien; ſie erweckt und or - ganiſirt aber keine neuen Geſchlechter: denn auch aus der Faͤulniß wuͤrde die Waͤrme nicht das kleinſte Lebendige entwi - ckeln, wenn die Kraft ſeiner Schoͤpfung nicht ſchon zum naͤch - ſten Uebergange daſelbſt bereit laͤge. Sonne und Geſtirne treten alſo in dieſem Naturgemaͤlde auf, ſobald ſie auftreten koͤnnen, da naͤmlich die Luft gelaͤutert und die Erde aufgebauet da ſteht; aber nur als Zeugen der Schoͤpfung, als beherr - ſchende Regenten eines durch ſich ſelbſt organiſchen Kreiſes.
Zweitens. Vom Anfange der Erde iſt der Mond da: fuͤr mich ein ſchoͤnes Zeugniß dieſes alten Naturbildes. Die Meinung derer, die ihn fuͤr einen ſpaͤtern Nachbar der Erde halten und ſeiner Ankunft alle Unordnungen auf und in der - ſelben zuſchreiben, hat fuͤr mich keine Ueberredung. Sie iſt ohne allen phyſiſchen Erweis, indem jede ſcheinbare Unord - nung unſres Planeten nicht nur ohne dieſe Hypotheſe erklaͤrt werden kann, ſondern auch durch dieſe beſſere Erklaͤrung Un - ordnung zu ſeyn aufhoͤret. Offenbar naͤmlich konnte unſreJdeen, II. Th. S ſErde322Erde mit den Elementen, die in der Huͤlle ihres Werdens lagen, nicht anders als durch Revolutionen; ja auch durch dieſe kaum anders als in der Nachbarſchaft des Mondes ge - bildet werden. Er iſt der Erde zugewogen, wie ſie ſich ſelbſt und der Sonne zugewogen iſt: ſowohl die Bewegung des Meeres, als die Vegetation, iſt, nachdem Wir wenigſtens das Uhrwerk unſrer Himmels - und Erdkraͤfte kennen, an ſeinen Kreislauf gebunden.
Drittens. Fein und wahr ſtellt dieſer Naturweiſe die Geſchoͤpfe der Luft und des Waſſers in Eine Claſſe und die vergleichende Anatomie hat eine wundernswuͤrdige Aehnlich - keit im innern Bau, inſonderheit ihres Gehirns bemerkt, als dem wahren Stuffenzeiger der Organiſation eines Geſchoͤpfes. Die Verſchiedenheit der Ausbildung naͤmlich iſt uͤberall nach dem Medium eingerichtet, fuͤr welches die Geſchoͤpfe gemacht ſind; bei dieſen zwo Claſſen alſo der Luft - und Waſſergeſchoͤpfe muß im innern Bau dieſelbe Analogie ſichtbar werden, die ſich zwi - ſchen Luft und Waſſer findet. Ueberhaupt beſtaͤtigt dies gan - ze lebendige Rad der Schoͤpfungsgeſchichte, daß da jedes Ele - ment hervorbrachte, was es hervorbringen konnte und alle Elemente zum Ganzen Eines Werks gehoͤren, eigentlich auch nur Eine organiſche Bildung auf unſerm Planeten habe ſichtbar werden koͤnnen, die vom niedrigſten der Lebendigenanfaͤngt323anfaͤngt und ſich beim letzten edelſten Kunſtwerk der Elohim vollendet.
Mit Freude und Verwunderung trete ich alſo vor die reiche Beſchreibung der Menſchenſchoͤpfung: denn ſie iſt der Jnhalt meines Buchs und gluͤcklicher Weiſe auch deſſen Sie - gel. Die Elohim rathſchlagen mit einander, und druͤcken dieſer Rathſchlagung Bild in den werdenden Menſchen: Ver - ſtand und Ueberlegung alſo iſt ſein auszeichnender Charakter. Sie bilden ihn zu ihrem Gleichniß und alle Morgenlaͤn - der ſetzen dies vorzuͤglich in der aufgerichteten Geſtalt des Koͤr - pers. Jhm ward der Charakter eingepraͤgt, zu herr - ſchen uͤber die Erde: ſeiner Gattung alſo ward der organi - ſche Vorzug gegeben, ſie allenthalben erfuͤllen zu koͤnnen und als das fruchtbarſte Geſchoͤpf unter den edlern Thieren in allen Klimaten als Stellvertreter der Elohim, als ſichtbare Vorſe - hung, als wirkender Gott zu leben. Siehe da die aͤlteſte Philoſophie der Menſchengeſchichte.
Und nun, da das Rad des Werdens bis zur letzten herr - ſchenden Triebfeder vollendet war, ruhete Elohim und ſchuf nicht weiter: ja er iſt auf dem Schauplatz der Schoͤpfung ſo verborgen, als ob alles ſich ſelbſt hervorgebracht haͤtte und in nothwendigen Generationen ewig alſo geweſen waͤre. DasS ſ 2letzte324letzte findet nicht ſtatt, da der Bau der Erde und die auf ein - ander gegruͤndete Organiſation der Geſchoͤpfe gnugſam be - weiſet, daß alles Jrrdiſche als Ein Kunſtgebaͤude einen Anfang genommen und ſich vom Niedrigern zum Hoͤheren hinaufge - arbeitet habe; wie aber nun das Erſte? Warum ſchloß ſich die Werkſtaͤte der Schoͤpfung und weder das Meer noch die Erde wallet jetzt von neuen Gattungen lebendiger Weſen auf? ſo daß die Schoͤpfungskraft zu ruhen ſcheinet und nur durch die Organe feſtgeſtelleter Ordnungen und Geſchlechter wirket. Unſer Naturweiſe giebt uns mit dem wirkenden Weſen, das er zur Triebfeder der ganzen Schoͤpfung macht, auch hieruͤber phyſiſchen Aufſchluß. Wenn es das Licht oder Feuerelement war, was die Maſſe trennte, den Himmel erhob, die Luft ela - ſtiſch machte und die Erde bis zur Vegetation bereitete: es geſtaltete die Samen der Dinge und organiſirte ſich vom nie - drigſten bis zum feinſten Leben hinauf; vollendet war alſo die Schoͤpfung, da nach dem Wort des Ewigen, d. i. nach ſeiner ordnenden Weisheit dieſe Lebenskraͤfte vertheilt waren und alle Geſtalten angenommen hatten, die ſich auf unſerm Planeten erhalten konnten und ſollten. Die re - ge Waͤrme, mit der der bruͤtende Geiſt uͤber den Waſſern der Schoͤpfung ſchwebte und die ſich ſchon in den unterierdiſchen fruͤhern Gebilden, ja in ihnen mit einer Fuͤlle und Kraft of - fenbart, mit der jetzt weder Meer noch Erde etwas hervorzu -bringen325bringen vermoͤgen, dieſe Urwaͤrme der Schoͤpfung, ſage ich, ohne welche damals ſich ſo wenig etwas organiſiren konnte, als ſich jetzt ohne genetiſche Waͤrme etwas organiſiret, ſie hatte ſich allen Ausgeburten, die wirklich wurden, mitgetheilt und iſt noch jetzt die Triebfeder ihres Weſens. Welche unendliche Menge groben Feuers z. B. riß die Steinmaſſe unſrer Erde an ſich, die noch in ihr ſchlaͤft oder wirket, wie alle Vulkane, alle brennbare Mineralien, ja jeder geſchlagene kleine Kieſel beweiſet! Daß Brennbares in der ganzen Vegetation ſei und daß das animaliſche Leben ſich bloß mit der Verarbeitung die - ſes Feuerſtofs beſchaͤftige, iſt durch eine Menge neuerer Ver - ſuche und Erfahrungen bewieſen: ſo daß der ganze lebendige Kreislauf der Schoͤpfung der zu ſeyn ſcheint, daß das Fluͤßi - ge veſt und das Veſte fluͤßig, das Feuer entwickelt und wieder gebunden, die lebendigen Kraͤfte mit Organiſationen beſchraͤnkt und wieder befreyet werden. Da nun die Maſſe, die der Aus - bildung unſrer Erde beſtimmt war, ihre Zahl, ihr Maas, ihr Gewicht hatte: ſo mußte auch die innere, ſie durchwirkende Triebfeder ihren Kreis finden. Die ganze Schoͤpfung lebt jetzt von einander: das Rad der Geſchoͤpfe laͤuft umher, ohne daß es hinzuthue: es zerſtoͤrt und bauet in den genetiſchen Schranken, in die es der erſte ſchaffende Zeitraum geſetzt hat. Die Natur iſt gleichſam durch die Gewalt des Schoͤpfers vol - lendete Kunſt worden und die Macht der Elemente in einenS ſ 3Kreis -326Kreislauf beſtimmter Organiſationen gebunden, aus dem ſie nicht weichen kann, weil der bildende Geiſt ſich allem einver - leibt hat, dem er ſich einverleiben konnte. Daß nun aber ein ſolches Kunſtwerk nicht ewig beſtehen koͤnne, daß der Kreis - lauf, der einen Anfang gehabt hat, nothwendig auch ein En - de haben muͤſſe, iſt Natur der Sache. Die ſchoͤne Schoͤpfung arbeitet ſich zum Chaos, wie ſie aus einem Chaos ſich heraus - arbeitete: ihre Formen nuͤtzen ſich ab: jeder Organismus ver - feint ſich und altert. Auch der große Organismus der Erde muß alſo ſein Grab finden, aus dem er, wenn ſeine Zeit kommt, zu einer neuen Geſtalt emporſteigt.
Gefallen meinem Leſer die reinen Jdeen dieſer alten Tradi - tion, die ich ohne Hypotheſe oder Verzierung dahingeſtellt ha - be: ſo laſſet uns dieſelbe verfolgen, wenn wir zuvor noch auf das Ganze dieſes Schoͤpfungsgemaͤldes einen Blick geworfen haben. Wodurch zeichnet es ſich vor allen Maͤhrchen und Traditionen der hoͤheren Aſiaten ſo einzig aus? Durch Zu -ſammen -327ſammenhang, Einfalt und Wahrheit. So manchen Keim der Phyſik und Geſchichte jene enthalten: ſo liegt alles, wie es durch die Uebergabe der ungeſchriebenen oder dichtenden Prieſter - und Volkstradition werden mußte, wild durch ein - ander, ein fabelhaftes Chaos wie beim Anfange der Welt - ſchoͤpfung. Dieſer Naturweiſe hat das Chaos uͤberwunden und ſtellt uns ein Gebaͤude dar, das in ſeiner Einfalt und Verbindung der Ordnungreichen Natur ſelbſt nachahmet. Wie kam er zu dieſer Ordnung und Einfalt? Wir doͤrfen ihn nur mit den Fabeln andrer Voͤlker vergleichen, ſo ſehen wir den Grund ſeiner reinern Philoſophie der Erd - und Menſchen - geſchichte.
Erſtens. Alles fuͤr Menſchen unbegreifliche, außer ihrem Geſichtskreis liegende ließ er weg und hielt ſich an Das, was wir mit Augen ſehen und mit unſerm Gedaͤchtniß umfaſ - ſen koͤnnen. Welche Frage z. B. hat mehr Streit erreget, als die uͤber das Alter der Welt, uͤber die Zeitdauer unſrer Erde und des Menſchengeſchlechtes? Man hat die Aſiatiſchen Voͤlker mit ihren unendlichen Zeitrechnungen fuͤr unendlich klug, die Tradition, von der wir reden, fuͤr unendlich kindiſch gehalten, weil ſie, wie man ſagt, gegen alle Vernunft, ja ge - gen das offenbare Zeugniß des Erdbaues, mit der Schoͤpfung wie mit einer Kleinigkeit dahineilet und das Menſchengeſchlechtſo328ſo jung macht. Mich duͤnkt, man thue ihr hierinn offenbar Unrecht. Wenn Moſes wenigſtens der Sammler dieſer alten Traditionen war: ſo konnten ihm, dem gelehrten Aegyptier, jene Goͤtter - und Halbgoͤtter-Aeonen nicht unbekannt ſeyn, mit denen dieſes Volk, wie alle Nationen Aſiens die Geſchich - te der Welt anfiengen. Warum webte er ſie alſo ſeinen Nach - richten nicht ein? warum ruͤckte er ihnen gleichſam zum Trotz und zur Verachtung, die Weltentſtehung in das Symbol des kleinſten Zeitlaufs zuſammen? Offenbar, weil er jene abſchnei - den und als unnuͤtze Fabel aus dem Gedaͤchtniß der Menſchen hinwegbringen wollte. Mich duͤnkt, er handelte hierinn weiſe: denn jenſeit der Grenzen unſrer ausgebildeten Erde, d. i. vor Entſtehung des Menſchengeſchlechts und ſeiner zuſammenhan - genden Geſchichte giebt es fuͤr uns keine Zeitrechnung, die dieſen Namen verdiene. Laſſet Buffon ſeinen ſechs erſten Epochen der Natur Zahlen geben, wie groß er ſie wolle, von 26000, von 35000, von 15 ‒ 20000, von 10,000 Jahren u. f.; der menſchliche Verſtand, der ſeine Schranken fuͤhlet, lacht uͤber dieſe Zahlen der Einbildungskraft, geſetzt, daß er auch die Entwicklung der Epochen ſelbſt wahr faͤnde; noch weniger aber wuͤnſcht das hiſtoriſche Gedaͤchtniß ſich mit ihnen zu beſchweren. Nun ſind die aͤlteſten ungeheuren Zeitrechnun - gen der Voͤlker offenbar von dieſer Buffonſchen Art: ſie lau - fen nemlich in Zeitalter, da die Goͤtter - und Weltkraͤfte re -giert329giert haben, alſo in die Zeiten der Erdbildung hinuͤber, wie ſolche dieſe Nationen, die ungeheure Zahlen ſehr liebten, ent - weder aus Himmelsrevolutionen oder aus halb verſtandnen Symbolen der aͤlteſten Bildertradition zuſammenſetzten. So hat unter den Aegyptern Vulkan, der Schoͤpfer der Welt, unendlich lange, ſodann die Sonne, Vulkanus Sohn 30,000, ſodann Saturn und die uͤbrigen zwoͤlf Goͤtter 3984 Jahre regiert, ehe die Halbgoͤtter und ſpaͤterhin die Menſchen folg - ten. Ein gleiches iſts mit den hoͤhern Aſiatiſchen Schoͤpfungs - und Zeit-Traditionen. 3000 Jahre regierte bei den Parſen das himmliſche Heer des Lichts ohne Feinde: 3000 folgten, bis die Wundergeſtalt des Stiers erſchien, aus deſſen Samen erſt die Geſchoͤpfe und am ſpaͤtſten Meſchia und Meſchiana, Mann und Weib entſtanden. Das erſte Zeitalter der Tibe - taner, da die Lahen regierten, iſt unendlich, das zweite von 80, das dritte von 40, das vierte von 20 Jahrtauſenden Eines Lebensalters, von denen dies bis zu 10 Jahren hinab - und denn allmaͤlich wieder hinaufſteigen wird zum Zeitalter der 80000 Jahre. Die Perioden der Jndier voll Verwandlun - gen der Goͤtter und der Sineſer voll Verwandlungen ihrer aͤlteſten Koͤnige ſteigen noch hoͤher hinauf; Unendlichkeiten, mit denen nichts gethan werden konnte, als daß Moſes ſie wegſchnitt, weil ſie nach dem Bericht der Traditionen ſelbſt zur Erdſchoͤpfung, nicht aber zu unſrer Menſchengeſchichte gehoͤren.
Jdeen, II. Th. T tZwei -330Zweitens. Streitet man alſo, ob die Welt jung oder alt ſei? ſo haben beide recht, die da ſtreiten. Der Fels unſ - rer Erde iſt ſehr alt und die Bekleidung deſſelben hat lange Revolutionen erfodert, uͤber die kein Streit ſtatt findet. Hier laͤßt Moſes einem jeden Freiheit, Epochen zu dichten, wie er will und mit den Chaldaͤern den Koͤnig Alorus, das Licht, Uranus, den Himmel, Gea, die Erde, Helios, die Sonne u. f. regieren zu laſſen, ſo lange man begehret. Er zaͤhlet gar keine Epochen dieſer Art und hat um ihnen vorzubeugen, ſein ineinander greifendes, ſyſtematiſches Gemaͤlde gerade im leichtſten Cyklus einer Erd-Umwaͤlzung dahin geſtellet. Je aͤlter aber dieſe Revolutionen ſind und je laͤnger ſie daureten, deſto juͤnger muß nothwendig das menſchliche Geſchlecht ſeyn, das nach allen Traditionen und nach der Natur der Sache ſelbſt, erſt als die letzte Ausgeburt der vollendeten Erde ſtatt fand. Jch danke alſo jenem Naturweiſen fuͤr dieſen kuͤhnen Abſchnitt der alten ungeheuren Fabel: denn meinem Faſſungs - kreiſe gnuͤgt die Natur, wie ſie da iſt und die Menſchheit, wie ſie jetzt lebet.
Auch bei der Schoͤpfung des Menſchen wiederholet die Sagea)1 Moſ. 2. 5 ‒ 7., daß ſie geſchehen ſey, da ſie der Natur nach geſche - hen konnte. “Als auf der Erde, faͤhrt ſie ergaͤnzend fort,weder331weder Kraͤuter noch Baͤume waren, konnte der Menſch, den die Natur zum Bau derſelben beſtimmt hatte, noch nicht le - ben: noch ſtieg kein Regen nieder, aber Nebel ſtiegen auf und aus einer ſolchen mit Thau befeuchteten Erde ward er gebildet, und mit dem Athem der Lebenskraft zum lebendigen Weſen belebet. “ Mich duͤnkt, die einfache Erzaͤhlung ſagt alles, was auch nach allen Erforſchungen der Phyſiologie Menſchen von ihrer Organiſation zu wiſſen vermoͤgen. Jm Tode wird unſer kuͤnſtliches Gebaͤu in Erde, Waſſer und Luft aufgeloͤſet, die in ihm jetzt organiſch gebunden ſind; die innere Oekono - mie des animaliſchen Lebens aber hangt von dem verborgnen Reiz oder Balſam im Element der Luft ab, der den vollkom - menern Lauf des Bluts, ja den ganzen innern Zwiſt der Le - benskraͤfte unſrer Maſchine in Bewegung ſetzt; und ſo wird wirklich der Menſch durch den lebendigen Othem zur regſamen Seele. Durch ihn erhaͤlt und aͤußert er die Kraft, Lebenswaͤr - me zu verarbeiten und als ein ſich bewegendes, empfindendes, denkendes Geſchoͤpf zu handeln. Die aͤlteſte Philoſophie iſt mit den neueſten Erfahrungen hieruͤber einig.
Ein Garten war der erſte Wohnſitz des Men - ſchen und auch dieſer Zug der Tradition iſt, wie ihn immer nur die Philoſophie erſinnen koͤnnte. Das Gartenleben iſt das leichteſte fuͤr die neugebohrne Menſchheit: denn jedes an -T t 2dre,332dre, zumal der Ackerbau, fordert ſchon mancherley Erfahrun - gen und Kuͤnſte. Auch zeigt dieſer Zug der Tradition, was die ganze Anlage unſrer Natur beweiſet, daß der Menſch nicht zur Wildheit, ſondern zum ſanften Leben geſchaffen ſei und alſo, da der Schoͤpfer den Zweck ſeines Geſchoͤpfs am beſten kannte, den Menſchen, wie alle andre Weſen gleichſam in ſeinem Element, im Gebiet der Lebensart, fuͤr die er gemacht iſt, erſchaffen habe. Alle Verwilderung der Menſchenſtaͤm - me iſt Entartung, zu der ſie die Noth, das Klima oder eine leidenſchaftliche Gewohnheit zwang: wo dieſer Zwang auf - hoͤret, lebet der Menſch uͤberall auf der Erde ſanfter, wie die Geſchichte der Nationen beweiſet. Nur das Blut der Thiere hat den Menſchen wild gemacht; die Jagd, der Krieg und leider auch manche Bedraͤngniſſe der buͤrgerlichen Geſellſchaft. Die aͤlteſte Tradition der fruͤheſten Weltvoͤlker weiß nichts von jenen Waldungeheuern, die als natuͤrliche Unmenſchen Jahr - tauſende lang mordend umhergeſtreift und dadurch ihren ur - ſpruͤnglichen Beruf erfuͤllet haͤtten. Erſt in entlegnen, rau - heren Gegenden, nach weiten Verirrungen der Menſchen fan - gen dieſe wilden Sagen an, die der ſpaͤtere Dichter gern aus - mahlte und denen zuletzt der compilirende Geſchichtſchreiber, dem Geſchichtſchreiber aber der abſtrahirende Philoſoph folgte. Abſtractionen aber geben ſo wenig als das Gemaͤlde der Dich - ter eine wahre Urgeſchichte der Menſchheit.
Wo333Wo lag nun aber der Garten, in den der Schoͤ - pfer ſein ſanftes wehrloſes Geſchoͤpf ſetzte? Da dieſe Sage aus dem weſtlichen Aſien iſt: ſo ſetzt ſie ihn Oſtwaͤrts “hoͤher hinauf gen Morgen, auf eine Erdhoͤhe, aus der ein Strom brach, der ſich von da aus in vier große Hauptſtroͤme theiltea)1 Moſ. 2, 10 ‒ 14.. “ Unpartheiiſcher kann keine Tradition erzaͤhlen: denn da jede alte Nation ſich ſo gern fuͤr die Erſtgebohrne und ihr Land fuͤr den Geburtsort der Menſchheit hielt: ſo ruͤckt dieſe hingegen das Urland weit hinauf an den hoͤchſten Ruͤcken der bewohnten Erde. Und wo iſt dieſe Hoͤhe der Erde? wo entſpringen die genannten vier Stroͤme aus Einem Quell oder Strom, wie die Urſchrift deutlich ſaget? Jn unſrer Erdbe - ſchreibung nirgend und es iſt vergeblich, daß man die Namen der Fluͤſſe tauſendfach martere, da ein unpartheiiſcher Blick auf die Weltcharte uns lehrt, daß nirgend auf Erden der Eu - phrat mit drei andern Stroͤmen aus Einem Quell oder Strom entſpringe. Erinnern wir uns aber an die Traditionen aller hoͤhern Aſiatiſchen Voͤlker: ſo treffen wir dies Paradies der hoͤchſten Erdhoͤhe mit ſeinem lebendigen Urquell, mit ſeinen die Welt befruchtenden Stroͤmen in ihnen allen an. Sineſer und Tibetaner, Jndier und Perſer reden von dieſem Urberge der Schoͤpfung, um den die Laͤnder, Meere und Jnſeln gela - gert ſind und von deſſen Himmelhoͤhe der Erde ihre StroͤmeT t 3ge -334geſchenkt wurden. Ohne Phyſik iſt dieſe Sage keinesweges: denn ohne Berge konnte unſre Erde kein lebendiges Waſſer haben und daß alle Stroͤme Aſiens von dieſer Erdhoͤhe fließen, zeigt die Charte. Auch gehet die Sage, die wir erklaͤren, alles Fabelhafte der paradiſiſchen Stroͤme vorbei und nennet vier der Weltbekannteſten, die von den Gebuͤrgen Aſiens fließen. Freilich fließen ſie nicht aus Einem Strom; dem ſpaͤten Sammler dieſer Traditionen indeß mußten ſie gnug ſeyn, den Urſitz der Menſchen in einer ihm fernen Oſtwelt zu bezeichnen.
Und da iſt wohl kein Zweifel, daß dieſer Urſitz ihm eine Gegend zwiſchen den Jndiſchen Bergen ſeyn ſollte. Das Gold - und Edelſtein-reiche Land, das er nennet, iſt ſchwerlich ein anderes, als Jndien, das von Alters her dieſer Schaͤtze wegen bekannt war. Der Fluß, der es umſtroͤmt, iſt der ſich kruͤmmende, heilige Gangesa)Das Wort Piſon heißt ein fruchtbar-uͤberſchwemmender Strom und ſcheint der uͤberſetzte Name von Ganges, daher ihn auch ſchon eine alte Griechiſche Ueberſetzung durch Ganges erklaͤrt und der Araber durch Nil, das umſtroͤmte Land aber durch Jndien uͤberſetzt hat, welches man ſonſt nicht zu reimen wußte.; das ganze Jndien erkennt ihn fuͤr den Strom des Paradieſes. Daß Gihon der Oxus ſey, iſt unlaͤugbar: die Araber nennen ihn noch alſo und Spu - ren des Landes, das er umfließen ſoll, ſind uns noch in meh -reren335reren benachbarten Jndiſchen Namen uͤbriga)Kaſchgar, Kaſchmire, die Kaſiſchen Gebuͤrge, Kaukaſus, Kathai u. f.. Die beiden letzten Stroͤme endlich, der Tigris und Euphrat, fließen frey - lich ſehr weit Weſtwaͤrts; da aber der Sammler dieſer Tra - ditionen am weſtlichen Ende Aſiens lebte, ſo verlohren ſich ihm nothwendig dieſe Gegenden ſchon in die weite Ferne und es iſt moͤglich, daß der dritte Strom, den er nennet, gar ei - nen oͤſtlichern Tigris, den Jndus bedeuten ſollteb)Hidekel heißt der dritte Strom und nach Otter heißt der Jndus noch jetzt bey den Arabern Eteck, bey den alten Jndiern Enider. Selbſt die Endung des Worts ſcheint Jndiſch: Dewerkel, wie ſie ihre Halbgoͤtter nennen, iſt der Pluralis von Dewin. Jn deſſen iſts wahrſcheinlich, daß der Sammler der Tradition ihn fuͤr den Tigris nahm, da er ihn Oſtwaͤrts jenſeit Aſſyrien ſetzte. Die ferneren Laͤnder lagen ihm zu ferne. Auch der Phrath iſt wahrſcheinlich ein andrer Fluß geweſen, der hier nur appellative uͤberſetzt oder als der beruͤhmteſte oͤſtliche Strom genannt ward.. Es war naͤmlich die Gewohnheit aller ſich verpflanzenden, alten Voͤl - ker, die Sagen vom Berge der Urwelt, den Bergen und Stroͤmen ihres neuen Landes zuzueignen und ſolche durch eine Local-Mythologie zu nationaliſiren, wie von den Mediſchen Gebuͤrgen an bis zum Olympus und Jda gezeigt werden koͤnnte. Nach ſeiner Lage alſo konnte der Sammler dieſer Traditionen nicht anders als den weitſten Strich bezeichnen,den336den ihm die Sage darbot. Der Jndier am Paropamiſus, der Perſer am Jmaus, der Jberier am Kaukaſus war darun - ter begriffen und jeder war im Beſitz, ſein Paradies an den Theil der Bergſtrecke zu legen, den ihm ſeine Tradition wieß. Unſre Sage indeß winkt eigentlich auf die aͤlteſte der Tradi - tionen: denn ſie ſetzt ihr Paradies uͤber Jndien und giebt die andern Strecken nur zur Zugabe. Wie nun? Wenn ein gluͤckliches Thal wie Kaſchmire, beinah im Mittelpunkt dieſer Stroͤme gelegen, ringsum von Bergen ummauert, ſowohl wegen ſeiner geſunden erquickenden Waſſer, als wegen ſeiner reichen Fruchtbarkeit und Freiheit von wilden Thieren beruͤhmt, ja noch bis jetzt wegen ſeines ſchoͤnen Menſchenſtammes als das Paradies des Paradieſes geprieſen; wenn ein ſolches der Urſitz unſres Geſchlechts geweſen waͤre? Doch der Verfolg wird zeigen, daß alle Nachſpaͤhungen dieſer Art auf unſrer jetzigen Erde vergeblich ſind; wir bemerken alſo die Gegend ſo unbeſtimmt, wie ſie die Tradition bezeichnet und folgen dem Faden ihrer Erzaͤhlung weiter.
Von allen Wunderdingen und Abentheuergeſtalten, wo - mit die Sage des geſammten Aſiens ihr Paradies der Urwelt reich beſetzte, hat dieſe Tradition nichts als zwei Wunderbaͤu - me, eine ſprechende Schlange und einen Cherub; die unzaͤhl - bare Menge der andern ſondert der Philoſoph ab und auchjene337jene kleidet er in eine Bedeutungsvolle Erzaͤhlung. Ein ein - ziger verbotener Baum iſt im Paradieſe und dieſer Baum traͤgt in der Ueberredung der Schlange die Frucht der Goͤtter - weisheit, nach der dem Menſchen geluͤſtet. Konnte er nach etwas Hoͤherem geluͤſten? konnte er auch in ſeinem Fall mehr geadelt werden? Man vergleiche, auch nur als Allegorie be - trachtet, die Erzaͤhlung mit den Sagen andrer Nationen; ſie iſt die feinſte und ſchoͤnſte, ein ſymboliſches Bild von dem, was unſerm Geſchlecht von jeher alles Wohl und Weh brach - te. Unſer zweydeutiges Streben nach Erkenntniſſen, die uns nicht ziemen, der luͤſterne Gebrauch und Misbrauch unſrer Freiheit, die unruhige Erweiterung und Uebertretung der Schranken, die einem ſo ſchwachen Geſchoͤpf, das ſich ſelbſt zu beſtimmen erſt lernen ſoll, durch moraliſche Gebote nothwen - dig geſetzt werden mußten; dies iſt das feurige Rad, unter dem wir aͤchzen und das jetzt doch beinah den Cirkel unſres Lebens ausmacht. Der alte Philoſoph der Menſchengeſchichte wuſte dies wie wirs wiſſen und zeigt uns den Knoten davon in einer Kindergeſchichte, die faſt alle Enden der Menſchheit zuſammenknuͤpfet. Auch der Jndier erzaͤhlt von Rieſen, die nach der Speiſe der Unſterblichkeit gruben: auch der Tibeta - ner ſpricht von ſeinen durch eine Miſſethat herabgeſunkenen Lahen; nichts aber, duͤnkt mich, reicht an die reine Tiefe, an die kindliche Einfalt dieſer Sage, die nur ſo viel Wunderba -Jdeen, II. Th. U ures338res behaͤlt, als zur Bezeichnung ihrer Zeit und Gegend gehoͤ - ret. Alle Drachen und Wundergeſtalten des uͤber die Aſiati - ſchen Gebuͤrge ſich erſtreckenden uralten Feenlandes, der Si - murgh und Soham, die Lahen, Dewetas, Dſchins, Divs und Peris, eine in tauſend Erzaͤhlungen vom Dſchinniſtan, Rig - hiel, Meru, Albordj u. f. weit verbreitete Mythologie dieſes Welttheils, alle dieſe Abentheuer verſchwinden in der aͤlteſten Tradition der Schriftſprache und nur der Cherub haͤlt Wache an den Pforten des Paradieſes.
Dagegen erzaͤhlt dieſe lehrende Geſchichte, daß die erſt - geſchaffenen Menſchen mit den unterweiſenden Elohim im Umgange geweſen, daß ſie unter Anleitung derſelben durch Kenntniß der Thiere ſich Sprache und herrſchende Vernunft erworben, daß da der Menſch ihnen auch auf eine verbotene Art in Erkenntniß des Boͤſen gleich werden wollen, er dieſe mit ſeinem Schaden erlangt und von nun an einen andern Ort eingenommen, eine neue kuͤnſtlichere Lebensart angefangen habe; lauter Zuͤge der Tradition, die hinter dem Schleier ei - ner Fabelerzaͤhlung mehr menſchliche Wahrheit verbergen, als große Lehrgebaͤude vom Naturzuſtande der Avthochthonen. Sind, wie wir geſehen haben, die Vorzuͤge des Menſchenge - ſchlechts ihm nur als Faͤhigkeit angebohren, eigentlich aber durch Erziehung, Sprache, Tradition und Kunſt erworbenund339und herabgeerbt worden: ſo gehn die Faͤden dieſer ihm ange - bildeten Humanitaͤt aus allen Nationen und Weltenden nicht nur in Einen Urſprung zuſammen; ſondern wenn das Men - ſchengeſchlecht, was es iſt, werden ſollte, muſten ſie ſich gleich vom Anfange an kuͤnſtlich knuͤpfen. So wenig ein Kind Jahre lang hingeworfen und ſich ſelbſt uͤberlaſſen ſeyn kann, ohne daß es untergehe oder entarte: ſo wenig konnte das menſchliche Geſchlecht in ſeinem erſten keimenden Sproß ſich ſelbſt uͤberlaſſen werden. Menſchen, die einmal gewohnt wa - ren, wie Orang-Utangs zu leben, werden nie durch ſich ſelbſt gegen ſich ſelbſt arbeiten und aus einer Sprachloſen, verhaͤr - teten Thierheit zur Menſchheit uͤbergehen lernen. Wollte die Gottheit alſo, daß der Menſch Vernunft und Vorſicht uͤbte: ſo mußte ſie ſich ſeiner auch mit Vernunft und Vorſicht an - nehmen. Erziehung, Kunſt, Cultur war ihm vom erſten Augenblick ſeines Daſeyns an unentbehrlich; und ſo iſt uns der ſpecifiſche Charakter der Menſchheit ſelbſt fuͤr die innere Wahr - heit dieſer aͤlteſten Philoſophie unſrer Geſchichte Buͤrgea)Wie nun aber die Elohim ſich der Menſchen angenommen d. i. ſie gelehrt, gewarnt, und unterrichtet haben? Wenn es nicht eben ſo kuͤhn iſt, hieruͤber zu fragen, als zu antworten: ſo ſoll uns an einem andern Ort die Tradition ſelbſt daruͤber Aufſchluß geben..
Das Uebrige, was uns dieſe alte Sage von Namen, Jah - ren, Erfindung der Kuͤnſte, Revolutionen u. f. aufbehalten hat, iſt in Allem die Echo einer Nationalerzaͤhlung. Wir wiſſen nicht, wie der erſte Menſch geheißen, noch welche Spra - che er geredet habe? denn Adam heißt ein Erdmann, Eva eine Lebendige in der Sprache dieſes Volks: ihre Namen ſind Symbole ihrer Geſchichte und jedes andre Volk nennet ſie mit andern bedeutenden Namen. Die Erfindungen, auf die hier Ruͤckſicht genommen wird, ſind nur die, die ein Hirten - und Ackervolk des weſtlichern Aſiens betrafen und auch uͤber ſie giebt die Tradition abermals nichts als Namendenkmale. Der daurende Stamm, heißt es, daurete: der Beſitzer beſaß: um den getrauert ward, der war ermordet; in ſolchen Wort-Hie - roglyphen ziehet ſich der Stammbaum zweier Lebensarten, der Hirten und Ackerleute oder Hoͤlenbewohner hinunter. Die Geſchichte der Sethiten und Kainiten iſt im Grunde nichts als eine Beurkundung der zwo aͤlteſten Lebensweiſen, die die Ara -biſche341biſche Sprache Beduinen und Kabylen nennta)Kain heißt bei den Arabern Kabil: die Caſten der Kabylen heißen Kabeil: die Beduinen ſind auch ihrem Namen nach ver - irrte Hirten, Bewohner der Wuͤſte. Gleichergeſtalt iſts mit den Namen Kain, Hanoch, Nod, Jabal-Jubal-Thubal - Kain; fuͤr die Caſte und Lebensart bedeutende Namen. und die ſich noch jetzt in Orient mit widriger Neigung von einander ſchei - den. Die Geſchlechtsſage eines Hirtenvolks dieſer Gegend wollte nichts anders als dieſe Caſten bemerken.
Ein gleiches iſts mit der ſogenannten Suͤndfluth. Denn ſo gewiß auch nach der Naturgeſchichte die bewohnte Erde ge - waltſam uͤberſchwemmet worden, von welcher Ueberſchwem - mung inſonderheit Aſien unlaͤugbare Spuren traͤgt: ſo iſt doch, was uns durch dieſe Sage zukommt, nicht mehr und minder als eine Nationalerzaͤhlung. Mit großer Vorſicht ruͤckt der Sammler mehrere Traditionen zuſammenb)1 Moſ. 6 ‒ 8. S. Eichhorns Einleitung ins alte Teſtament, Th. 2. S. 370., und liefert ſo - gar die Tageschronik, die ſein Stamm von dieſer fuͤrchterli - chen Revolution beſaß; auch der Ton der Erzaͤhlung iſt ſo ganz in der Denkart dieſes Stammes, daß es ſie misbrauchen hieße, wenn man ſie aus den Schranken ruͤckte, in denen ſie eben ihre Glaubwuͤrdigkeit findet. Wie ſich eine FamilieU u 3dieſes342dieſes Volks mit einem reichen Haushalt rettete: ſo konnten ſich unter andern Voͤlkern auch andre Familien gerettet haben, wie die Traditionen derſelben beweiſen. So rettete ſich in Chaldaͤa Xiſuthrus mit ſeinem Geſchlecht und einer Anzahl von Thieren (ohne welche damals die Menſchen nicht lebten) faſt auf die naͤmliche Weiſe und in Jndien war Wiſchnu ſelbſt das Steuerruder des Schiffs, das die Bekuͤmmerten ans Land brachte. Dergleichen Sagen giebts bey allen alten Voͤl - kern dieſes Welttheils, bey jedem nach ſeiner Tradition und Gegend und ſo uͤberzeugend ſie ſind, daß die Ueberſchwem - mung, von der ſie reden, in Aſien allgemein geweſen: ſo hel - fen ſie uns zugleich auf einmal aus der Enge, in die wir uns unnoͤthig zwangen, wenn wir jeden Umſtand einer Familien - geſchichte ausſchließend fuͤr die Geſchichte der Welt nahmen, und damit dieſer Geſchichte ſelbſt ihre gegruͤndete Glaubwuͤr - digkeit entzogen.
Nicht anders iſts mit der Geſchlechtstafel dieſer Staͤmme nach der Ueberſchwemmung: ſie haͤlt ſich in den Schranken ihrer Voͤlkerkunde und ihres Erdſtrichs, uͤber den ſie nach Jn - dien, Sina, die oͤſtliche Tatarei u. f. nicht hinausſchweifet. Die drei Hauptſtaͤmme der Geretteten ſind offenbar die Voͤl - ker jenſeit und dieſſeit des weſtlichen aſiatiſchen Gebuͤrges; mit einbegriffen die obern Kuͤſten von Afrika und die oͤſtlichen vonEuro -343Europa, ſo weit ſie dem Sammler der Tradition bekannt wa - rena)Japhet iſt ſeinem Namen und ſeinem Segen nach ein Weitver - breiteter, dergleichen die Voͤlker Nordwaͤrts dem Gebuͤrge, ihrer Lebensweiſe und zum Theil ſelbſt ihren Namen nach, waren. Sem faßt Staͤmme in ſich, bei denen der Name d. i. die alte Tradition der Religion, Schrift und Cultur vorzuͤglich blieb, die ſich daher auch gegen andre, inſonderheit die Chamiten den Vor - zug cultivirter Voͤlker anmaßten. Cham hat von der Hitze den Namen und gehoͤrt in den hitzigen Erdſtrich. Mit den drey Soͤh - nen Noah leſen wir alſo nichts als die drey Welttheile, Europa, Aſien, Afrika, ſofern ſie im Geſichtskreis dieſer Tradition lagen.. Er leitet ſie ab, ſo gut er kann und ſucht ſie mit ſei - ner Geſchlechtstafel zu binden; nicht aber giebt er uns damit eine allgemeine Landcharte der Welt oder eine Genealogie aller Voͤlker. Die vielfache Muͤhe, die man ſich gegeben hat, ſaͤmmtliche Nationen der Erde nach dieſem Stammbaum zu Abkoͤmmlingen der Ebraͤer und zu Halbbruͤdern der Juden zu machen, widerſpricht nicht nur der Zeitrechnung und der ge - ſammten Voͤlkergeſchichte, ſondern dem Standpunkt dieſer Er - zaͤhlung ſelbſt, die ſie durch dergleichen Uebertreibungen faſt ganz um ihren Glauben gebracht hat. Allenthalben am Ur - gebuͤrge der Welt bilden ſich nach der Ueberſchwemmung Voͤl - ker, Sprachen und Reiche, ohne auf die Geſandſchaft einer Familie aus Chaldaͤa zu warten, und im oͤſtlichen Aſien, woder344der Urſitz der Menſchen und alſo auch die ſtaͤrkſte Bewohnung der Welt war, ſind ja noch jetzt offenbar die aͤlteſten Einrich - tungen, die aͤlteſten Gebraͤuche und Sprachen, von denen dieſer weſtliche Stammbaum eines ſpaͤtern Volks nichts wuß - te und wiſſen konnte. Es iſt eben ſo fremde, zu fragen: ob der Sineſe von Kain oder Abel d. i. aus einer Troglodyten - Hirten - oder Ackercaſte abſtamme? als wo das amerikaniſche Faulthier im Kaſten Noah gehangen habe? Doch dergleichen Erlaͤuterungen darf ich mich hier nicht uͤberlaſſen: ja ſelbſt die Unterſuchung eines fuͤr unſre Geſchichte ſo wichtigen Punkts, als die Verkuͤrzung der menſchlichen Lebensjahre und die ge - nannte große Ueberſchwemmung ſelbſt iſt, muß einen andern Ort erwarten. Gnug! der veſte Mittelpunkt des groͤßeſten Welttheils, das Urgebuͤrge Aſiens hat dem Menſchengeſchlecht den erſten Wohnplatz bereitet und ſich in allen Revolutionen der Erde veſt erhalten. Mit nichten erſt durch die Suͤndfluth aus dem Abgrunde des Meers emporgeſtiegen, ſondern ſowohl der Naturgeſchichte als der aͤlteſten Tradition zufolge, das Urland der Menſchheit, ward es der erſte große Schauplatz der Voͤlker, deſſen lehrreichen Anblick wir jetzt verfolgen.
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