PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Lebenslaͤufe nach Aufſteigender Linie
nebſt Beylagen A, B, C,
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Meines Lebenslaufs Erſter Theil.
Berlin,beyChriſtian Friedrich Voß,1778.
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Ich Halt! Ein Schlagbaum Gut wohl recht wohl Ein wachhabender Officier! wieder einer mit einem Achſelbande zu Pferde zu Fuß von der Leibgarde von der Garde der gelehrten Republick ich ehr ihre Uniform, meine Herren, und damit ich ſie der Muͤhe uͤberhebe mir die uͤblichen Fragſtuͤcke vorzule - gen; moͤgen Sie wiſſen, daß ich, wie der Paß oder Taufſchein es ausweiſet, ein Schrift - ſteller in aufſteigender Linie bin. In den folgenden zwei Baͤndchen welche ich wenn Gott Leben und Geſundheit und Luſt und Liebe zum Dinge verleihet, kuͤnftige Meſſe zu liefern willens bin, wird mein Lebenslauf bis zu einer ſaͤchſiſchen Friſt vor der Meſſe, fortgeſezet werden: Im vierten Baͤndchen werde ich den Lebenslauf meines Vaters, und im fuͤnften den Lebenslauf meines Grosva - ters erzaͤhlen auch alles nach Geſtalt und Gelegenheit der Umſtaͤnde mit unumſtoͤßlichen Urkunden belegen. Dieſer Plan ſoll darumA 2noch4noch mehr Eigenes haben, weil ich den Le - benslauf meines Vaters und Grosvaters Berg ab erzaͤhlen will, da wir jetzo nur Berg auf zu gehen gewohnt ſind. Ich wer - de von der Zeit da mein Vater Paſtor in Cur - land war anfangen und bei ſeiner Wiege aufhoͤren und ſo ſolls auch mit meinem Gros - vater werden, der in meiner Geſchichte eher ſterben als gebohren werden ſoll. Wurzeln, Zweige und Blaͤtter haben einerlei Struktur. Begrabe die Zweige in die Erde, und laß die Wurzel in die freie Luft gen Himmel ſehen: Es wird ein Baum!

Vor der Hand ſei es meinen Leſern gnug in Beziehung auf mich von dem vierten und fuͤnften Baͤndchen, wobei ich die Beilagen nicht ausſchließen will, zu wiſſen HVIC MONVMENTO USTRINVM APPLICARI NON. LICET. Ich rathe zu keiner Juſtinianiſchen Ueberſe - zung dieſer Stelle l. 2. §. 27. Cod. de vet. jur. enucl. κατά ποδα und da Vorrede dieNach -5Nachrede hindert moͤgen ſich meine Leſer wohlbedaͤchtig merken Ο῾ δυνάμενος ϑέλειν, δύναται ϰαι μὴ ϑέλειν. welche Stelle ſie nach Herzensluſt dolmet - ſchen koͤnnen.

Es iſt die hoͤchſte Zeit, daß ich wieder auf mich ſelbſt und auf den Daumen Zeiger und Mittelfinger dieſes Werks zuruͤck kehre. Giebt es nicht wie es am Tage iſt ſo gar der heiligen Schrift Spoͤtter? wie ſolt ich alſo wol nach Art jenes Phariſaͤers mit den Worten an den Altar treten Οὐδ᾽ ἄν Μῶμος (ἐφη) τόγε τοιοῦτον μέμψαιτο. Uebrigens geſtehe ich herzlich gerne denen Er - zaͤhlern ein vorzuͤglicheres Verdienſt ſowohl in Abſicht des Ellenmaaßes als der Wuͤrde zu, welche bei jedem merkwuͤrdigen Vorfall außerhalb ihren Grenzen einen Wegweiſer aufrichten und ihre Leſer zur Nuzanwendung auf Lehre und Troſt bringen. Ich werde mich ſo nehmen, wie ich mich finde. Wer auf eine Schuͤſſel mehr oder Sallat, Sardel - len, Caviar, Auſtern und andere Zuſaͤtze Leckerbiſſen und Noten luͤſtern iſt; laße ſich anrichten, was ihm gefaͤllig iſt und thue was er nicht laſſen kann. So lange meine LeſerA 3gehen6gehen koͤnnen; will ich ihnen keine Kruͤkke ge - ben, wenn ſie ſelbſt eine Doſe haben; warum ſoll ich ihnen mit meinem St. Omer an die Hand gehen (es braucht vielleicht mancher Eſpagniol, Tonka, Havana Rapee) und wenn ſie ſelbſt wiſſen daß ſie Menſchen ſind, wie ſolt ich ſie wol all Augenblick mit einem Stehe Wanderer oder Leſer pfaͤnden, und ihnen widerholen, daß ſie ſterben muͤſſen auf daß ſie klug werden. Mein Wahlſpruch iſt I licet: So wie aber die Grabmaͤler der Alten, wo man ſeit einiger Zeit (einige ſezten hiezu Gott! ſei gelobt, andere Gott! ſei’s geklagt) auch in Gott ruhet, nachdem man ſich vor dieſem ſcheute der ſeelige L. Annaeus Florus der wohlſeelige C. Plinius Caec. Sec. der hochſeelige M. Tullius Cicero und der hoͤchſt - ſeelige Marcus Aurelius Antoninus. Armenia - cus. Parthicus. Maximus zu ſagen.

So wie die Grabſtaͤten der Alten mit den allgemeinen Landſtraßen verbunden wa - ren, um den Reiſenden anzuhalten, ſo iſt es zwar Regel fuͤr mich den geneigten Leſer ſich ſelbſt zu uͤberlaſſen, coelo tegitur qui non habet urnam. Doch7Doch wo iſt Regel ohne Aber? Was ſich ein paar handelnde Perſonen auf dem Theater un - ter vier Augen ſagen, gehoͤrt ohnehin mit zur Handlung und mir ſtand es wol am wenig - ſten zu in einer wahren Geſchichte, Leuten das Wort aus dem Munde zu nehmen und ihnen ein Stillſchweigen aufzulegen.

Gott mit Ihnen meine Herren und auch mit meinem kleinen Leopold der mir eine Suͤndfluth mit dem Tintfaß gemacht hat

Die Mutter will dich
Laß mich hier lieber Vater
So laß das Tintfaß
Ich will auf deinen Schulter
Nur nicht ins Buch

Der kleine Junge haͤtte vielleicht Urſach, es uͤbel zu nehmen daß ich die erſte Stufe uͤber - ſchreite und nicht von ihm anhebe. Ich koͤnnte freylich bemerken, daß er kein Sangui - nolentus geweſen, ſondern faſt wie Clodius Albinus ganz ſauber und ſchoͤn zur Welt gekommen; wenn er ſich nicht eben jetzo mit Tinte beſudelt haͤtte. Wenigſtens biſt du lieber Junge

(Fall nicht, ich werd nicht ) beim Publicum nicht praͤ -A 4ſcri -8ſcribirt, ich habe dich einſchreiben laſſen und ein groͤßers Pflicht oder Kindertheil gebuͤhrte dir in dieſem Werke nicht. Der arme Junge! geſtern war er zwei Jahr und heute zwei Jahr und einen Tag, bisher war er geſund wie ein Fiſch und auch beinahe ein ſo großer Liebhaber von kaltem Waſſer wie ein Fiſch! heute!

Was ſchreibſt du daß du ungeduldig auf die Zaͤhne biſt die ſich melden laſſen und nicht kommen wollen!

Daß ihr nur, wenn ihr kommt, einem Pfirſiſchkern zu ſeiner Zeit zeigen koͤnnet wer ihr ſeid: und daß eine Kraft von achtzehn bis neunzehnhundert Pfund in euren Gren - zen wohne. Der Himmel helfe meinem Leo - pold und mir! und uns allen!

Ha! eine andere Art dienſtbarer Gei - ſter, ungebethner Gaͤſte, unlieblich anzu - ſehen zu dienen damit es die Her - ren Beſucher, und Verſucher, Thorſchreiber, Acciſeeinnehmer, Caßirer, Rendanten und uͤberhaupt alle Zoͤllner und Suͤndergeſellen nur auf einmal wiſſen, ich, und kein anderer hat dieſes Buch geſchrieben. Wer von denHer -9Herren ſich aufs Wuͤrdigen verſteht, wird es ſchwerlich auch ſelbſt auf den erſten Blick fuͤr Contreband und auswaͤrtiges Gut, ſondern fuͤr das, was es iſt, deutſche Fabrike hal - ten. Hieſige Wolle, ich bitte Hand ans Werk zu legen (den Puls dieſes Buchs an - zufuͤhlen kann ich nicht ſagen, ſo ſehr ich ihnen auch Quackſalberehre zu erzeigen Luſt habe) hieſiger Stuhl, hieſige Zeichnung, alles hieſig die Herren ſelbſt aber ſchei - nen nicht von hier zu ſeyn, und ſich auf Blick und Griff Auge und Hand nicht ver - laſſen zu koͤnnen Nun ſo verlaſſen ſie ſich auf mich und wenns wider ihre theure Amtspflicht iſt ſich auf ehrliche Leute zu verlaſſen; ſchreiben ſie in ihre Kladde in ihr Hauptbuch, Diarium und Exercitien - buch was die Feder will. Dieſe Worte werden wohl, wie ich glaube, an Ort und Stelle ſeyn. Vom Ariſtarch hat keiner einen Zug, wohl aber vom bankeroutirten Kauf - mann, Sprachmeiſter, Zeichendeuter, Alt - flicker u. ſ. w. Von αϛερισκοις und όβελισκοις hab ich alſo nicht reden koͤnnen, womit der Homer plombirt wurde: denn, da wett ich Homer iſt ihnen eben ſo unbekannt, als ſie’s, meine Inſonders Hochzuehrende Her -A 5ren,10ren, meiner Wenigkeit bis heute wird ſeyn der geweſen. Berge und Thaͤler kom - men nicht zuſammen, wir aber ſind leider! ſo nahe bei einander, daß wir uns mit der Hand reichen und eins verſetzen koͤnnen. Ich weiß ſie verſchonen nicht Saͤuglinge nicht Ungebohrne, wie ſollte alſo mein Leopold auf der Schulter ohne Kopf oder Magenſteuer (wie mans nennt) abkommen! wenns ein - mal Sitte in Deutſchland iſt ſo ſei’s. Du ſollſt dem O der da driſchet nicht das Maul verbinden. Item, ein Arbeiter iſt ſei - nes Lohnes werth ſchreibt D. Martin Luther in ſeiner Haustafel etlicher Spruͤche fuͤr al - lerlei heilige Orden und Staͤnde, dadurch dieſelben, als durch ihre eigene Lektion ihres Amts und Dienſts zu ermahnen. Die Rechnungsableger laſſen oft mit gutem Be - dacht Fehler ſtehen um den Abnehmern, zu Noten Zeit und Raum zu laſſen. Sonſt ſagen die klugen Haushalter fangen dieſe Noten - kuͤnſtler es bei der Perſon an, da ſie doch nur bei den Zahlen bleiben ſollten. Das hatte ich noch auf dem Herzen eh ich mich empfehlen konnte.

Plus cautionis in re eſt quam in perſona, heißt auf deutſch: beſchließen Sie was Siewol -11wollen uͤber mein Buch, meine Herren, nur meine Perſon laſſen Sie in Ruhe.

Sei mir tauſendmal willkommen ſuͤßes, oder beſſer angenehmes Wort. (man ſagt angenehme Ruhe.) Schlafen Sie wohl oder eigentlich geſund meine Herren. Claudatur Parentheſis wuͤrde ich ſagen, wenn ich nicht den wahren Antipoden von einer Parentheſe gebraucht und eben hiedurch ein neues epochenmachendes Interpunktionszeichen er - funden haͤtte.

Was meinet ihr Herren majorum gen - tium ſoll ich mit einem großen J anfan - gen oder mit einem kleinen?

Den Schlagbaum auf!

Ich bin in Curland auf dem Kirchdorfe *** gebohren, wo mein Vater Prediger oder nach der deutſchen Landesſprache Paſtor nach der curiſchen Basinzas Kungs oder Baſing - ckungs, wie die Letten der geliebten Kuͤrze we - gen ſprechen, war. Zu ſeinem Zeichen, wuͤrde ich hinzuſetzen, wenn dieſer Ausdruck nicht ſo viel Devallvation gelitten, daß ich meinem Vater dadurch keine ſonderliche Ehre einbrin - gen wuͤrde. Es war ſeine Kirche eine Kirch - ſpielskirche oder eine ſolche, wobei wegen des Compatronat-Rechts des Adels manche Pi -ſtole12ſtole wiewohl nur nach vaͤterlicher Weiſe in die freie Luft losgeſchoſſen worden, bis ſolches endlich unter einigen Daumſchrauben, dem Kirchſpielsadel (ich glaube von Herzog Friedrich Caſimir) zugeſtanden worden. Ich kann nicht ſagen, daß mein Vater eine vor - zuͤgliche Neigung gegen mein Vaterland hatte, und wenn ich einem Erdbeſchreiber hiedurch irgend einen Gefallen zu erzeigen wuͤßte; was koͤnnt ich nicht fuͤr ein breites und lan - ges uͤber die drei Namen Curland Lettland und Semgallen an ihn endoßiren? welches aber alles zu keiner Lobrede auf Curland die - nen wuͤrde. So viel iſt gewiß, daß mein Vater niemals zugeben wollte, daß Curland vom Fluſſe Chronus herkaͤme, wodurch die Memel angedeutet wuͤrde: obgleich ihm ſol - ches ſehr wahrſcheinlich vorbuchſtabirt wurde. Die Curlaͤnder, ſagte man, wohnten um den Chronus, ſie wollten ihr Land von Preuſ - ſen unterſcheiden und bearbeiteten und drech - ſelten ſo lange die Buchſtaben und Sylben, bis endlich ſo wie in der heiligen Schrift herauskam was zu ſuchen war. Es iſt viel von Gottes Wort zu ſagen ſagte mein Vater. Ein guter Freund von Curland und von meinem Vater ſpielte eine andere Karteaus13aus ſo ſtammt es von Cur oder Curſemme, welches ſo viel, als ein Land, das an der See lieget, andeutet allein er gewann ſein Spiel nicht. Nichts ſagte mein Va - ter. Der gute Freund fuhr fort vom kleinen Koͤnige Curo? von den Curaten oder von den Curiaten? oder Nichts, alles nichts Es wuͤrde nicht verlohnen dieſe Fibel uͤber den Namen von Curland weitlaͤuf - tiger zu machen, und ſie wegen Lettland und Semgallen uͤber welche Namen mein Va - ter eben ſo wenig nachgebend war mit An - hang und Zugabe zu verſtaͤrken. Mein Va - ter hatte nach dem Ausdruck eines Weiſen des Alterthums zwey Vaterlande, eines wo er gebohren war, und eines wo er lebte, eines der Natur und eines des Schickſals und man traf bey ihm, was man gewoͤhn - lich zu treffen pflegt; daß man das Vater - land der Geburt dem andern, oder die Mut - ter dem Vater vorziehet. Wenn der gute Freund am Ende zum Unwillen uͤbergieng; wurde mein Vater ein Philoſoph. Zum Curlaͤnder konnten ihn weder gute noch boͤſe Geruͤchte bringen.

So wollen Sie denn fieng der Freund an, nachdem mein Vater mit vieler Gelehr -ſamkeit14ſamkeit die Geburt und Abkunft der Namen Curland, Lettland und Semgallen beſtritten hatte, ſo wollen Sie denn, den Herzogthuͤ - mern Curland, und Semgallen die ehrlichen Namen abſprechen?

Lieber curiſcher Freund antwortete mein Vater unbiegſam wie der curiſche Kaͤſe, doch auch ſo dicht und feſt wie er. Nie - mand kommt aus ſeinem Vaterlande. Seit - dem die neue Welt entdeckt worden, iſt ſie ein Theil von unſerm Geburtsorte. Bin ich im Gefaͤngniſſe beim Gaſtmal am Hofe in der Stadt auf dem Lande in Mitau im Paſtorat ich bin beſtaͤndig zu Hauſe. Ein Thor ſagt, daß er vertrieben ſei, ein Weiſer hat nur eine Reiſe unternom - men, wenn er im Exilium iſt. Oft iſt man in ſeinem Vaterlande ein Sclave und im Exilio in Freiheit. Kann man denn mehr als leben und ſterben man ſey in Rom oder in Tunis. Triſtia und Briefe aus Ponto ſind Raͤuſche eines Dichters. Ein Weiſer kann ſelbſt Ach nur halb ausſprechen wenn er leidet; obſchon das Wort nur dritthalb Buchſtaben, und wenn man ganz ehrlich ſeyn will, kaum eine ordentliche Sylbe im Ver - moͤgen hat. Wer ſich angewoͤhnet hat bloszu15zu eſſen was ſaͤtiget und blos zu trinken was den Durſt ſtillet, findet uͤberall eine offene Tafel. Wo mir wohl iſt, da iſt mein Vaterland und der Gerechte iſt auch im Tode getroſt. Wer aus Athen iſt weiß nicht von wannen er kommt, und wohin er faͤhret. Der Weiſe iſt aus der Welt

Auf die Frage: Was fuͤr ein Land - mann? antwortet Diogenes fuͤr mich: κοσ - μοπολιτης die Sonne Freund! iſt die Fahne der wir geſchworen haben. Die Erde iſt un - ſer aller Mutter. Saure Gruͤtze und Bier - kaͤſe ein paar curiſche Original Eſſen ſind wie Pfirſchen und Melonen, eine Gabe Got - tes. Wer’s mit Dankſagung empfaͤhet iſt ein Weiſer. Auch in Curland giebts Kno - chen, die Mark haben. Gott iſt uͤberall, er der nicht Luſt hat an Cavallerie oder Staͤrke des Roſſes, noch Wohlgefallen an Infanterie und jemandes Beinen, ſieht nur auf die, die ſeinen Namen fuͤrchten und auf ſeine Guͤte hoffen. Heute iſt ein Land frei und morgen liegts einem Tyrannen zu Fuͤßen der ſeine Hand ins warme Blut des Erſtgebohrnen, eines Vertheidigers ſeines freien Vaterlandes eintaucht um das ſchreckliche Jahr da die Freiheit unterging am ariſtocratiſchen AltarBam16am Rathstiſch anzuzeichnen. Freund! was meinen Sie wenn wir je ſolche Blutzahlen ſehen ſolten? Laſſen Sie alles ruhig im Va - terlande ſeyn; ein Prophet gilt doch nicht, wo er geboren iſt. Wie giengs dem Ariſti - des dem Epaminondas? In der Fremde ſeyn heißt in die Hand Gottes fallen: in ſeinem Vaterlande iſt man wenns hoch kommt in der Hand der Menſchen, gemein - hin in der Hand ſeiner Feinde. Und wie ſoll man ſich gegen ſein undankbares Vaterland fuͤhren? Wie gegen einen Vater, der meine Mutter ohne Urſach verſtoͤßt, wie gegen eine Mutter, die zum zweitenmale heirathet. Dieſe bleibt Mutter jener Vater Bei dieſen Spruͤchen wars dem Freunde ſo als waͤr er ſelbſt nicht mehr in Curland, als haͤtte er der Sonne geſchworen. Es ſchien ihm mein Vater haͤtte das Feld behalten; der kleine Koͤnig Curo aber und die Curaten oder Curiaten waͤren in die Flucht geſchla - gen. Mein Vater befeſtigte was er erobert hatte mit ein Paar griechiſchen Spruͤchen die ſeinen Feind um ſo mehr abhielten weil er kein Wort griechiſch verſtand. Ανδρὶ σοφῷ, fieng mein Vater an πάσα γῆ βατὴ, ψυχῆς γαρ ἀγαϑῆς πατρις ξύμπας κόσμος. Und17und gleich darauf ἐπεὶ τὶ δεῖ βροτοῖσι, πλὴν δυοῖν μόνον, δήμητρος ἀκτὴς, ποματός ϑ̕ ὑδρηχόν. ἁπερ πάρεϛι, καὶ πέφυχ̕ ἡμᾶς τρέφειν.

Es pflegte der gute ehrwuͤrdige Mann von Curland zuweilen als von einer Herberge zu reden, wo man ſich oft laͤnger als man wuͤnſcht, weil der Reiſewagen gebrochen iſt aufzuhalten gezwungen ſieht. Bei mir zu Hauſe eßen wir um dieſe Zeit Spargel, pflegte er zu ſagen; bei mir zu Hauſe raucht man um dieſe Jahreszeit eine Pfeife Toback in der freien Luft, bei mir zu Hauſe hat man Trau - ben und den Wein bei der Quelle. So ungern er alſo auch im Herzen in Curland zu ſeyn ſchien, und ſo oft er im Stillen durchs Fenſter geſehen haben mag: ob der Reiſewagen noch nicht in Ordnung waͤre; ſo hielt er dennoch mit ſeiner Abneigung zuruͤck. Der Freund mit dem ſich mein Vater auf der vorigen Seite duellirte und noch ein Secundant waren die Hauptſiegel-Bewahrer dieſes Geheimniſſes und auch die einzigen mit denen er griechiſch ſprach ohne daß die guten Leute es verſtanden. Wer ihn aber nach ſeiner Heimath fragte (ſein Weib und KindB 2und18und ſeine zwo griechiſchen Freunde nicht aus - genommen) ſetzte ihn und ſich ſelbſt einer großen Verlegenheit aus.

Bei mir zu Hauſe fing er wie gewoͤhn - lich, an und ich war noch im zarteſten Alter als ich ihn fragte lieber Vater wo iſt dein Haus! wir wollen hin, du, die Mut - ter und ich! Iſt es wohl ſo ſchoͤn als dieſes hier? Ich zeigte ihm meines von Blaͤttern. Nimm mich ja mit wenn du nach Hauſe geheſt oder laß mich wenn ich groͤßer werde allein Wo? Wo? rief er ganz aͤngſtlich. Meine Mutter welche eben ſeinen Kragen zurecht legte, lies dieſen hei - ligen Halsband fallen ſprang ſchnell auf und gieng davon, als ob ſie auf allen Antheil von meiner Frage und der kuͤnftigen Antwort Verzicht thaͤte. Sie war indeſſen wie ich es offenbar merkte nach der Weiberweiſe, nur blos dem Auge meines Vaters entgan - gen. Ob’s mein Vater gemerkt habe, zweifle ich denn er hatte ſich auf dem Wege nach ſeinem Hauſe ſo ſehr verirrt, daß er nicht aus noch ein wußte. Vielleicht ſagt er es dem unſchuldigen Kinde, dachte meine Mut - ter ohne Zweifel da ſie ſich in der beſten Ordnung zuruͤckzog, wovon er dir allemalein19ein Geheimnis gemacht hat. Lieber Sohn fieng mein Vater an, als ob er von einem Vorbeigehenden wegen ſeiner Reiſe eine Aus - kunft erhalten oder in eine Reiſekarte ge - ſehen haͤtte und meine Mutter machte die Cammerthuͤre, hinter welche ſie ſich weis - lich geſtellet hatte drey Zoll weiter auf, im Himmel iſt unſer wahres Vaterland hier unten ſind wir Fremdlinge und ſuchen das was droben iſt. Wir ſind in Hinſicht un - ſers Koͤrpers Gottes Pilger in Hinſicht un - ſrer Seele Gottes Buͤrger. Als die Pil - grimm! heißt es darum fuͤhret einen guten Wandel

Zu Hauſe nimmt man ſich vieles ſo uͤbel nicht. Man vernachlaͤßigt ſich; thun Sie doch als ob ſie zu Hauſe waͤren ſagt man. Auf der Reiſe ſind wir auf uns auf - merkſamer. Die Welt iſt fuͤr einen klugen Reiſenden hoͤchſtens eine Hauptſtadt. Er laͤßt ſich das Merkwuͤrdige zeigen: Fuͤr einen Gelehrten eine oͤffentliche Bibliotheck er ſieht die Tittel. Beide beſtellen Poſtpferde. Plus vltra.

Hiebey ſahe mein Vater ſo geruͤhrt aus, daß wenn ich nicht ſeinen Worten geglau - bet haͤtte, ich jedennoch jedem ehrwuͤrdigenB 3Zuge20Zuge ſeines Geſichts haͤtte beipflichten muͤßen, auch wenn ich noch einmal ſo alt geweſen waͤre, als ichs nicht war. Wie boͤſe meine Mutter uͤber den Himmel geworden weiß ich nicht, allein ich hoͤrte und mein Vater der nun weder an Ort und Stelle war, mußte es auch hoͤren daß ſie die Thuͤre zuzog, als ob ſie nicht die mindeſte Luſt zum Himmel haͤtte. Ohne Zweifel hat ſie dieſes unver - merkt thun wollen, um ihre Neugierde zu verbergen; indeſſen machte das plauderhafte Schloß ein unzeitiges Geraͤuſch und wurde davor den folgenden Tag, da mein Vater eine Beichtandacht beſorgte, ausgebeſſert. So viel iſt gewis, daß der liebe Mann durch dieſe Antwort, die zwar mich, nicht aber meine Mutter befriedigen konnte, mich wie - wol ohne daran Schuld zu ſeyn, auf den Gedanken brachte, daß man im Himmel fruͤ - her als in Curland Spargel aͤße gleich fruͤ - her in der freien Luft eine Pfeife rauche, Trauben haͤtte, und den Wein aus der Quelle ſchoͤpfen koͤnnte. Tauſend andere Dinge die er nachhero meiner Mutter erzaͤhlte, wie es bey ihm zu Hauſe waͤre, kamen alle bey mir auf die Rechnung des Himmels und ich war zuletzt dort eben ſo bekannt als auf un -ſerm21ſerm lieben Doͤrflein, wo ich uͤber jedes Huhn haͤtte urteln koͤnnen, wenn uͤber deſ - ſen Eigenthum ein Streit geweſen waͤre. Manches kam mir freilich ſehr bedenklich vor worunter zum Exempel war, daß man bey ihm zu Hauſe ohne Nacht oder Un - terhemde ginge und zu ſeiner Zeit lange Manſchetten (die meine Mutter Handblaͤtter nannte) getragen haͤtte. Eines Tages, da ein Litteratus (welches in Curland eben kei - nen Gelehrten ſondern ein unſeelig Mittel - ding von Edelmann und Bauer bedeutet) mit ungewoͤhnlich langen Manſchetten bey uns des Mittags ; mußte ich glauben, daß er ein Himmelsbuͤrger und Landsmann meines Vaters waͤre und wegen des ganz ungewoͤhnlichen Maaßes ſeiner Handblaͤtter ſchon etwas mehr als ein andrer im Him - mel gelten muͤßte. Kaum hatte er nach mei - ner Meinung das Jammerthal unſeres Paſtorats mit den ſeeligen Wohnungen der Gerechten verwechſelt, kaum ſag ich war er fort; ſo fragt ich meinen Vater was ihm der gute Freund fuͤr Nachrichten aus dem Himmel gebracht haͤtte, und mein Vater nahm Gelegenheit mir die wahren Begriffe von jener Welt beyzubringen, denen meinB 4Herz22Herz und Seele auf den halben Weg entge - gen kam oder beide Glaubenshaͤnde zureichte, ſo daß mithin dieſer Litteratus, der des Mit - tags bey uns einen vortreflichen Kalekutſchen Hahn verzehren geholfen, meinen falſchen Himmel zu reiten mitnahm.

Mein Vater war wenn ich ſo ſagen ſoll gebohren, von der andern Welt zu re - den. Seine Seele, man fuͤhlte es war im Buche des Lebens eingeſchrieben und einer Veraͤdlung durch den Tod ſo gewis, daß wenn er davon ſprach man glauben mußte: er wuͤrde verklaͤret. Drey Vier - theil war er dort und nur ein Viertheil hier. Gott ſchenke mir wenn mein Stuͤnd - lein vorhanden iſt, die Empfindungen die damals in meiner Seele hervorſchoſſen, als er mir den Himmel zeigte. Mir fielen die Worte aufs Herz: In meines Vaters Hauſe ſind viele Wohnungen Mein Vater ward ein Kind, um mit einem Kinde zu reden, und ich fand an mir erfuͤllet, was von den Kindern geſchrieben ſteht: ihrer iſt das Reich Gottes.

Aber wo muß denn das Haus meines Vaters ſeyn, dachte ich, allein ich unter - ſtund mir nicht darnach zu fragen, denn, ſojung23jung ich war; ſo merkt ich doch, daß er ſeine Urſachen haben muͤße es zu verſchweigen.

Meine Mutter wie ich ſowol dieſesmal als bey andrer Gelegenheit ſehen konnte, hatte mein Vater gleichfalls keinen Daumen - breit uͤber funfzig Meilen in die Laͤnge, und zehn-zwanzig bis dreißig in die Breite als ſo viel die Graͤnzen von Curland ausmachen mitgenommen, dahero ſie eben ſo wenig als ich den Ort ſeiner Geburth wußte. Die neue Welt pflegte ſie zu ſagen iſt entdeckt deines Vaters Vaterland wuͤrde dem Columbus mehr Schwierigkeiten gemacht haben.

Was bey dieſer vaͤterlichen Verſchwiegen - heit einem jeden beſonders vorkam, war die Gewohnheit meines Vaters alle Augen - blick zu erwehnen wie es bey ihm zu Hauſe ſey. Er kam daruͤber bey Leuten in Verle - genheit die er nicht wie mich mit dem Him - mel abfertigen konnte; allein ehe man ſichs verſahe war er nicht mehr in Curland.

Ich bemerkte auch, nachdem ich groͤßer war, daß die Leute uͤber dieſen Punkt mit dem guten Mann ein foͤrmliches Mittleiden zu haben ſchienen, ſo daß ſie dabei die Ach - ſeln in die Hoͤhe zogen, als uͤber einen Men - ſchen der ſo lange vernuͤnftig waͤre, bis erB 5auf24auf ſein Vaterland kaͤme, und alsdenn ſcheu wuͤrde. Es war dahero zum Sprichwort bey vielen geworden das iſt ſo unbekannt als des Paſtors Vaterland.

Oft traf es ſich daß die ganze Tiſchge - ſellſchaft ſtill ward, ſo bald er nur die An - fangsworte: bey mir ausſprach und dieſes iſt die natuͤrliche Folge wenn Jemand roth zu werden Urſach gefunden. Ein einziger hat nur die Elecktriſirſtange angefaßt, allein ſie fuͤhlen alle den Schlag. Es herrſcht eine feierliche Stille, jedes ſpielt mit Meſſer und Gabel oder dreht ſich Pillen von Brod. Nach einer Weile putzt der, welcher zu den wenig - ſten Empfindungen aufgelegt iſt, das Licht wenn es Abend iſt, oder huſtet wenn zu Mittage gegeſſen wird; iſts außer Tiſch ſo ſpricht er beſondere Witterung oder bittet um To - back der meinige ſetzt er hinzu iſt ſo duͤrr wie Sand dieſes alles that gewoͤhn - lich meine liebe Mutter wenn mein Vater einen Kreuzzug uͤber Land unternommen hatte, allein gewiß nicht weil ſie dabey unempfind - licher ſondern weil ſie’s gewohnter war wie alle uͤbrige, und weil ſie die beklommene Geſellſchaft gerne wieder ins Freie in die friſche Luft bringen wolte. Oft ſtand ichmit25mit dem Gedanken auf, und ſchlief mit dem Gedanken ein, warum ſagt er denn nicht wenigſtens ſeiner Familie wo man um dieſe Jahrszeit Spargel ißt, wo man um dieſe Zeit eine Pfeife in der freien Luft raucht, wo man Trauben hat, den Wein bey ſeiner Quelle genießt und (welches mich am meiſten intreßirte) lange Manſchetten traͤgt.

So geheim mein Vater mit ſeinem Va - terlande und ſeiner Familie war; ſo freigebig war meine Mutter ſo oft ſie von ihrer Fa - milie Etwas zu erzaͤhlen Gelegenheit hatte. Sie wußte ſich ſehr viel damit, daß ſie, wie ſie ſagte, aus dem Stamme Levi waͤre und zaͤhlte fuͤnf Prieſter oder (damit die in Cur - land herrſchende lutheriſche Kirche, kein Aer - gernis nehme) Prediger Ahnen, von Vater und vier von muͤtterlicher Seite. Einer ihrer Ahnherren war Superintendent, und zwei waren Praͤpoſiti geweſen. Sie rechnete ſich wiewol von der Seitenlinie zu den Verwand - ten des Superintendenten Paul Einhorn, deſſen Vater Alexander Einhorn der zweite curlaͤndiſche Superintendent geweſen war, und wenn ſie an den Eifer dachte mit welchem der Ehrn Paul Einhorn ſich der Annehmung des gregorianiſchen Calenders widerſezet; ſoſchien26ſchien es, daß ſie der nemliche einhornſche Eifer beſeelte. Es hat dieſer wuͤrdige Eife - rer ſich die Calendermaͤrtyrerkrone errungen indem er im Jahr nach Chriſti Geburt 1655 Dominica XI. poſt Trinitatis auf der Kanzel mitten in einer Calenderpredigt blieb und ſein ruhmvolles Leben mit den Worten verflucht ſei der Calend ſanft und ſeelig endigte. Mein Vater ſchien beſtaͤndig beſorgt zu ſeyn es wuͤrde meine Mutter eine Maͤrtyrerkrone in ihrem Blutraͤchereifer uͤberraſchen, wes - halb er ſie bei der Hand zu nehmen und zu ſagen pflegte faſſe dich, mein Kind, die Sache iſt beigelegt, wir ſchreiben heute den VI Meine Mutter hielte in - deſſen bis an ihren Tod den gregorianiſchen Calender fuͤr ein kezeriſches Buch und ließ ſich nie Ader, wenn im Calender das Zeichen zum Gutaderlaſſen ſtand. Es mußte kein Haar im Paſtorat verſchnitten werden wenn der Calender hiezu anrieth, und alles was ſie nur erreichen konnte mahnte ſie ab Holz zu faͤllen, Kinder zu entwoͤhnen, oder ſonſt eine Medicin zu brauchen wenn der Calender es gut fand. Es war ein Gluͤck fuͤr ſie daß dieſe ungeſtempelten Tage die meiſte Zeit fuͤr ſie und die lieben Ihrigen gut ausfielen; eswar27war aber ein Ungluͤck fuͤr den gregorianiſchen Calender, denn ſie nahm eben hiedurch einen Grund mehr dawider zu reden, und dem Herrn Superintendenten Einhorn zu pa - rentiren.

Ich wuͤrde mich um alles in der Welt nicht unterſtehen in Abſicht der Ahnen meiner Mutter ein Schriftſteller in aufſteigender Linie zu werden, und meine Leſer verlieren auch durch die Erzaͤhlung der ruͤhmlichen Thaten Schlachten und Siege nichts, wo - durch ſich meine Vorfahren muͤtterlicher Seits von der geraden und Seitenlinie um die Kirche verdient gemacht. Sie nannte ſie oft Kir - chenſteine um alles zuſammen zu faſſen. Die - ſer hatte lettiſche Lieder, wie ſie ſagte aus freier Fauſt geſungen, jener einige uͤberſezt, ein andrer hatte ſich dem Superintendenten Daniel Hofſtein, welcher den Exorcismus bei der Taufe der fuͤrſtlichen Kinder wegge - laſſen, mit Hand und Fuß (ich brauche ihre eigene Ausdruͤcke) widerſezt, und ihn dem Teufel uͤbergeben, der nach ſeiner wohlehr - wuͤrdigen Meinung die Komplimenten nicht erwiedern wuͤrde, die ihm der Herr Super - intendent machte, ein andrer hatte die Oe - ſtereyer in ſeiner Gemeine abgeſtellt welcheswie28wie meine Mutter behauptete ein aus andern Laͤndern nach Curland gebrachter nicht alge - mein im Schwange gehender unchriſtlicher Gebrauch waͤre und dieſer gute Mann war in Kupfer geſtochen. Ich weiß bis dieſen Augenblick nicht wie er zu dieſer Ehre gekom - men war. Meine Mutter hatte dieſen Ku - pferſtich lange verwahret, ohne davon einen andern Gebrauch zu machen als daß ſie, wie ſie ſagte, dieſes Bild alle heilige Abend vor Oſtern eine Stunde angeſehen. Sie be - hauptete, daß ich Etwas aͤnliches in der Ge - gend um die Augen von dieſem ſo ehrwuͤrdi - gen als beherzten Manne haͤtte; obgleich ich davon nicht die mindeſte Spur zu entdecken im Stande war.

Es ſei nun dieſes oder Etwas anderes die Urſache, genug meiner Mutter wandelte auf einmahl der Einfall an, dieſen Kupfer - ſtich unter Glas zu ſezen und unter den Spiegel zu haͤngen der im Prunkzimmer des Paſtorats gegen Morgen hing.

Mein Vater widerſprach dieſem Gedan - ken da ein Glaſer unſre Straße zog, und iſt alſo dieſer gute Mann, obgleich er die Oeſtereyen abgebracht, nicht der Ehre ge - wuͤrdiget worden im Prunkzimmer des Paſto -rats29rats gegen Morgen unter dem Spiegel zur Schau geſtellt zu werden. Sie war Etwas ungehalten uͤber meinen Vater, obgleich ſie ſich ſolches nicht weiter merken lies, indeſſen war es nicht das erſte mal daß ſie ſein Conto mit einer Schuld belaſtete. Sie faßte die - ſes und beinahe alles was ſie ſonſt noch auf ihrem Herzen und Gewiſſen hatte, die Noth des ganzen Paſtorats zuſammen, und ſchriebs flugs unter die Rubrick: nicht aus dem Stamme Levi. Ihrem Zorn brachte ſie ein Opfer, das ſie nachher ſehr bereute. Sie ſchickte eben ſo flugs den Rahmen abzuſagen, den ſie fuͤr den Kupferſtich beſtelt hatte, und war verbunden obgleich der Rahmen noch nicht zur Helfte fertig war (und dieſes gab zur neuen Aergernis Gelegenheit) ihn ganz zu bezahlen. Nachdem ſie ihre zu Paaren getriebene Ideen wieder zu Hauf gebracht hatte, entwarf ſie einen neuen Operations - plan der ihr auch gluͤcklich einſchlug: nem - lich dieſen verdienſtvollen Mann in der Spei - ſekammer aufzuhaͤngen. Hier ſagte ſie, kann er ſich ohne Rahmen behelfen und Niemand wird zu ihm ſagen Freund! wie biſt du her - einkommen und haſt doch kein hochzeitlich Kleid an.

Ich30

Ich kann es nicht ſchicklicher anbringen, daß meine Mutter bey aller Gelegenheit fei - erlich war. Es ward im Paſtorat mit nichts anders als mit Weyhrauch geraͤuchert: alles was meine Mutter vornahm ward beſungen. Dieſes iſt der cegentliche Ausdruck. Die Natur hatte ſie mit einer ſehr melodiſchen Stimme ausgeſtattet. Das Bewuſtſeyn die - ſer Mitgabe der Natur war indeſſen nicht die Urſache ihres treufleißigen Geſangs. Meine Mutter wird die Urſache hievon gele - gentlich ſelbſt angeben. Sie fing ſo bald ihr Etwas zu Herzen ging, einen Vers eines geiſtlichen Liedes in bekannter Melodie aus freier Fauſt (um ihren einhornſchen Ausdruck nicht zu verfaͤlſchen) zu ſingen an, den alles, was zu ihrem Departement gehoͤr - te mit anzuſtimmen verbunden war. Sie ſang mit Kind und Rind. Es war dahero natuͤrlich daß jedes ſo bey ihr in Dienſten war Probe ſingen mußte, weil außer dem Hausdienſt auch eine Art von Kuͤſterſtelle durch jedes Hausmaͤdchen vergeben wurde. Vor dieſem hatte meine Mutter, nach ihrer ſelbſt eigenen Relation die Gewohnheit ge - habt einen jeden herzlichen Vorfall mit einem ganzen Liede zu bezeichnen; mein Vater in -deſ -31deſſen, der anfaͤnglich bemuͤht geweſen dieſe Gewohnheit voͤllig abzuſchaffen; hatte ſie doch am Ende nachlaſſen muͤſſen. Sie ward aber von ihm bis auf einen Vers einge - ſchraͤnkt, den meine Mutter nicht um die Herzogthuͤmer Curland und Semgallen ge - laſſen haͤtte.

Ich hab es oft erfahren daß mein Vater zuweilen den zweiten Diskant extemporirte und meiner Mutter zum Munde ſang, ſo daß er mithin von ſeiner vorigen Meinung a po - ſteriori abgegangen war. Meine Mutter rechnete ihm dieſe Bekehrung im Conto ſehr hoch an und je lauter er mitgeſungen hatte, jemehr wurde ihm zu gut geſchrieben. Sie wußte ſogar den Zeitpunkt anzugeben wenn mein Vater der wie die Folge zeigen wird, keine Anlage zum Geiſtlichen beſaß, aufge - hoͤret haͤtte ein Liederſtuͤrmer zu ſeyn und die - ſen Zeitpunkt werden wir uͤbermorgen (ich rechne nach mir und bitte meine Leſer desfals um Verzeihung) erreichen. Meine Mutter wußte den Ruͤckfall meines Vaters, den ſie des zweiten Diskants unerachtet, noch im - mer befuͤrchtete, ſo ſehr zu verhindern, daß ſie ſeine Lieblingslieder den ihrigen vorzog: obgleich ſie es auch mit ihren Lieblingen nichtCver -32verdarb, unter denen einige waren bei denen mein Vater unmoͤglich den andern Diskant ſingen konnte.

Das Lied Ich bin ein Gaſt auf Erden ſchien fuͤr meinen Vater gemacht zu ſeyn und faſt ward kein Glas gebrochen, ohne daß meine Mutter nicht anſtimmte

Die Herberg iſt zu boͤſe
der Truͤbſal iſt zu viel.
Ach komm mein Gott und loͤſe
mein Herz, wenn dein Herz will;
komm mach ein feelges Ende
mit meiner Wanderſchaft
und was mich kraͤnkt das wende
durch deinen Arm und Kraft.

Ich wette, wenn meine Mutter mit dieſem Liede meinen Vater gleich zu Anfange beſto - chen haͤtte, ſie wuͤrde nichts auf einen Vers begraͤnzt worden ſeyn. Kaum hatte einer der zwoen Streiter uͤber die Namen von Curland Lettland und Semgallen Abſchied genommen, und gleich ſang ihm meine Mut - ter nach

Wo ich bisher geſeſſen
iſt nicht mein rechtes Haus;
wenn mein Ziel ausgemeſſen
ſo tret ich frey heraus,
und
33
und was ich hier gebrauchet,
das leg ich alles ab,
und wenn ich ausgehauchet
ſo ſcharrt man mich ins Grab.

Gerne, das weiß ich, haͤtte ſie unter der Predigt: vom Vaterlande wie an hohen Feſten dieſen Vers angeſtimmt, wenn ſie geglaubt haͤtte meinem Vater hiemit einen Liebesdienſt zu erweiſen. Seine Singzeit indeſſen war noch nicht kommen, und außer - dem hatt er den Grundſatz die Andacht ge - hoͤr ins Kaͤmmerlein. Der Geſang blieb alſo blos unter den Hausgenoſſen.

Wer keine Einbildungskraft hat, ſagte mein Vater hat auch kein Gedaͤchtniß. Ein großes Gedaͤchtnis kann die Urtheilskraft ſchwaͤchen, allein auch ſtaͤrken. Wer ſich durch hundert Meinungen die er weiß nicht ſtoͤren laͤßt und noch eine fuͤr ſich beſitzet; hat viel Gedaͤchtnis und viel Urtheilskraft. Die beſten Koͤpfe klagen am meiſten uͤber Ge - daͤchtnis. Sie ſehen ein wie viel noch zu - ruͤck bleibt was ſie nicht wiſſen und wollen ſich auf eine Art, die ihnen am wenigſten zuſtehen kommt bey Ehren erhalten. Ein Mann von ſtarker Beurtheilungskraft machtC 2ſich34ſich nur Merkzeichen durch die Vernunft, die Imagination iſt bey ihm blos Koͤchin. Was ſolt ihn alſo zuruͤck halten, ohne roth zu wer - den uͤber ſchwaches Gedaͤchtnis zu klagen? Manche um auch fuͤr tiefe Denker gehalten zu werden machen es nach, obgleich die gu - ten Leute weit eher uͤber ſchlechten Verſtand klagen koͤnnten.

Zum recht guten Gedaͤchtnis gehoͤrt et - was ins Gedaͤchtnis faſſen, behalten und ſich wieder erinnern. Sieh! bey der Sache auf Urſach und Wirkung: Inoculir alles auf dein Lieblingsſtudium, und es iſt dir auch im ſpaͤtſten Alter als haͤtteſt du es vorm dreyßigſten Jahr, bis zu welcher Zeit beim Menſchen alles in der Bluͤte ſtehet, gelernt. Witzige Leute haben ſchreckliche Gedaͤchtniſſe. Ueberall finden ſie eine Aehnlichkeit weil dieſe aber oft zu ſchwach iſt, oder weil ſie mit einem Blick zehn Aehnlichkeiten finden vergeſſen ſie alles das Bewußtſeyn, faſſen zu koͤnnen was man will, thut bey einem Genie oft groͤßere Dinge, als wenn’s ſchon ein geruͤttelt, geſchuͤttelt und uͤberfluͤßiges Maaß im Kopf haͤtte. Ich habe noch keinen Dich - ter gekandt, der nicht ſchnell gefaßt haͤtte, was er geleſen: Beim muͤndlichen Vortragege -35gelingts nicht allen. Proſa behalten ſie leich - ter als Verſe. Bei andern Leuten iſt es um - gekehrt. Man wuͤrde behaupten koͤnnen ein Original muͤßte wenig Gedaͤchtniß haben, wenn es nicht Leute gaͤbe, die im Vergeſſen eben ſo ſtark als im Faßen ſind. Faßen und behalten wird im gemeinen Leben fuͤr eins ge - nommen; allein ganz unrichtig. Ein jeder Originalkopf muß ſchnell faßen und ſchnell vergeßen. Etwas bleibt zuruͤck und nur eben ſo viel als noͤtig iſt um nicht blos Abſchrei - ber, Copiſt zu ſeyn. Ein Grosmaul hat ein behaltendes, ein Kopf ein faßendes Ge - daͤchtnis. Wer viel plaudert kann auch viel behalten, ein guter Kopf kann nur viel erzaͤh - len, wenn er trunken oder verliebt iſt: Er darf ſich indeſſen beides nur einbilden, zu ſeyn. Wenn ein Poet nicht gut faßt, kommt’s oft daher weil er ſehen und hoͤren kann und zwar mit Augen und Ohren des Genies und auch dieſer Umſtand traͤgt ſein Theil bei, daß er ſo leicht vergißt. Er kann nichts leſen und hoͤren, was er nicht ſo gleich mit dem Seinigen bereichert. Er verzinſet oft einen Gedanken mit funfzig Procent, oft mit mehr. Er weiß beſtaͤndig viel, nur nicht immer was andere wiſſen. Wer Jahrzah -C 3len36len und Geſchlechtsregiſter behalten kann, iſt kein Dichter

Lieber Vater hier macht die liebe Mut - ter eine Ausnahme. Anlange zur Hauspoeſie iſt ihr nicht abzuſprechen und wer ihr kein gutes maßives Gedaͤchtniß zugeſtehen wolte, dem vergaͤße ſie dieſe Beſchuldigung ſelbſt im Himmel nicht, und wenn’s auch nur blos darum waͤre um ihr Gedaͤchtniß zu bewei - ſen Was ſie behaͤlt iſt eiſern meine Mutter wußte nicht nur alle moͤgliche Lieder aus und inwendig; ſondern beſaß auch eine ſo genaue Lebensbeſchreibung von vielen Lie - derdichtern daß ſie beynahe den Schoͤpfungs - tag von jeder Strophe wußte. Es war ihr von vielen Jahr und Tag bekanndt und was das allermeiſte war ſie konnte ſagen was jede ihrer Herzensſtrophen bei dieſem oder jenem fuͤr eine Wundercur gemacht hatte.

Mein Vater, der von dergleichen Din - gen nicht das mindeſte wußte, hoͤrte ihr (ohne Zweifel von dem Zeitpunkt da er den zweiten Diskant zu ſingen anfing) andaͤchtig zu, und ſchien an ihrer Zufriedenheit uͤber dieſes ge - neigte Gehoͤr Theil zu nehmen.

Die ſingende chriſtliche Hausgemeine war noch an den Wortenund37

und was mich kraͤnkt das wende
durch deinen Arm und Kraft

und riſch fing meine Mutter an als wenn ſie feſten Fuß faſſen und occupiren wolte. Von Paul Gerhard War mein Vater nicht unter ihren Zuhoͤrern pflegte die Leichenpredigt laͤnger und erbauli - cher zu ſeyn und beſtaͤndig fand ſie alsdenn auf ihrem Wege Umſtaͤnde, die mit Umſtaͤn - den, ſo Leuten aus ihrer Familie begegnet waren, eine Aehnlichkeit hatten. Reiſete mein Vater mit, war der Weg wie auf der Diehle und nie ſprach ſie bei einem Anverwandten auf der Landſtraſſe an, es waͤre denn zuwei - len bei ihrem ſeelgen Herrn Vater oder Gros - vater um ihnen aus Kindespflicht die Haͤn - de zu kuͤſſen.

Paul Gerhard hatte Berlin wegen des Streits der Lutheraner mit den Reformirten verlaſſen nachdem er aus Luͤben (denkt an Liebau ſagte ſie, wenn euch der Name zu ſchwer faͤlt) nach Berlin gekommen und ihr ſeeliger Herr Vetter war, um allen allerlei zu werden vom Landpaſtorat nach Mitau als Stadtpaſtor gegangen und hatte in Mitau ein Bein gebrochen. Doch warum nicht ſie ſelbſt? Damit meinen Leſern die Zeit nicht zuC 4lang38lang werde, ſoll mein Vater ab und zu - gehen.

Es iſt ganz beſonders daß Herr Paul Gerhard (ſein Sohn Paul Friedrich Gerhard war Magiſter, auch gut! allein ſo viel ich weiß kein Liederdichter. Schade!) Es iſt ganz beſonders ſag ich daß Herr Paul Ger - hard welcher als Ober oder Primarpaſtor 1676 den ſiebenzehnten und nicht den ſie - ben und zwanzigſten May im ſiebenzigſten Jahre ſeines reifen Alters unter die himm - liſchen Saͤnger aufgenommen ward kein Lied gemacht hat das mit C anfaͤngt; ob - gleich wir ſonſt viele vortrefliche Lieder ha - ben die mit dieſem Buchſtaben anheben. Ich laß jeden Buchſtaben in ſeiner Ehr und Wuͤrde, allein unter den Conſonanten iſt C mein Liebling. Hat dein Vater je ſich des Unterdruͤckten des Nothleidenden (ſie wandte ſich zu mir) angenommen, ſo war’s indem er behauptete der Buchſtabe C ſei ſo gut deutſcher Buͤrger im A B C als irgend einer und indem er den Candidaten ohne C wiederlegte. Da die Letten ohne C ſind, koͤnnte man den Herrn Oberpaſtor Paul Gerhard einen curſchen einen lettſchen Saͤn - ger nennen wenn er anders damit zufrieden waͤre,39 waͤre, woran ich zweifle. Wer Gerhards Lebensgeſchichte mit leichter Muͤhe und ohne Kopfſchmerz zu behalten Luſt hat, merke ſich vier Sieben.

Im Jahr 16 ſechs und ſiebenzig den ſiebenzehnten May im ſiebenzigſten Jah - und in Hinſicht des Zweifels wegen ſeines Sterbtages ſieben und zwanzig. Dieſer Zweifel hat, wie mich duͤnkt einen Druck - fehler, eine Schwachheitsſuͤnde zum Grunde. Wer kann wiſſen muß jeder der ein Buch ſchreibt bekennen, wie oft er fehle

Da haſt du ganz recht liebe Mutter, und ich der ich zwei hundert Meilen vom Druck - orte entfernt bin, ſetze bey dieſer Gelegenheit mit einer Verbeugung an alle Recenſenten hinzu: Verzeihet die verborgene Fehler. (Meine Mutter faͤhrt fort)

Gott weiß, wie die Worte in der Aus - gabe des Herrn Feiſtking lauten. Es iſt dieſe Ausgabe fuͤr mich ein Licht unterm Scheffel. Das Manuſcript hat Herr Jo - hann Heinrich Feiſtking vom Herrn Magi - ſter Paul Friedrich Gerhard erhalten

Meine Mutter bedaurete daß ſie nicht ſelbſt der Herr Johann Heinrich Feiſtking bey dieſer Gelegenheit geweſen, und waͤr’sC 5auch40auch nur ſetzte ſie hinzu der gruͤnen rothen und blauen Grenzzeichen und Faͤnchen hal - ber. Dieſe Autorzeichen brachten ſie auf die Tintarten, welche ſie all ſo wie eine Mehl - und Milchſpeiſe oder Gruͤtze anrichten zu koͤn - nen vorgab. Mein ſeeliger Grosvater, ſagte ſie, konnte ohne alle dieſe Tinten kein Concept zur Predigt vollenden: Mein ſeeliger Vater brauchte nur die rothe und jetzt bin ich bis auf die ſchwarze und auch die (mein Vater war die ganze Zeit abweſend) wird wenig ge - braucht, außer Uebung.

Der hochſeelige Mann Paul Gerhard hat das feiſtkingſche Exemplar mit allem Fleiß revidirt. Sein letzter Federſtrich war in die - ſes Buch und eben ſchrieb ein Erzengel

ſeinen Namen aufs beſte
ins Buch des Lebens ein

Ich habe die Vorrede des Herrn Feiſt - king nicht geleſen ſondern nur in ein ander Buch eingebrockt gefunden; indeſſen gehoͤrt es eben nicht zum Stern und Kern dieſer Vorrede daß Paul Gerhard daſelbſt mit dem D. Martin Luther proclamiret und gepaaret worden und daß man ſo gar (unter uns ge - ſagt) den Wunſch aͤußert daß Gerhard dem D. Martin Luther beim Reformations Werkgehol -41geholfen haͤtte. Ich thue Einſpruch Herr Feiſtking nicht des Buchſtabens C ſondern des auserwaͤhlten Ruͤſtzeuges D. Luthers wegen der auch wußte was Klang und Sang war Hier eine Lobrede auf Lu - thern der darum wie meine Mutter ſagte zu Eisleben gebohren weil ihn Gott das Eis zu brechen erkohren. Wir! wir! (ſie ſang dieſe Worte in der Melodie: wirglaͤuben all an einen Gott) wir, ſetzte ſie ohne Sang fort, die wir aus Beſcheidenheit den Zunamen Lu - theraner angenommen; ſolten mit dem Vor - namen Reformatoren heißen: gewiße an - dere Leute aber, die nicht pauliſch und kefiſch ſeyn wollen; koͤnnen beym Namen Refor - mirte bleiben. Nach dem Luther (mein Va - ter kommt) muß ich geſtehen keinen beßern Liederdichter als Gerharden zu kennen. Er und Riſt und Dach ſind ein Kleeblatt das auserwaͤhlte Ruͤſtzeug Luther aber die Wurzel. Gerhard dichtete waͤrend dem Kirchenge - laͤute koͤnnte man ſagen. Ein gewißer Druck, eine gewiße Beklommenheit, eine Engbruͤ - ſtigkeit war ihm eigen. Er war ein Gaſt auf Erden und uͤberall in ſeinen hundert und zwanzig Liedern ich wuͤnſchte wol es waͤren ein hundert und ſiebenzig wegen der ſieben iſt42iſt Sonnenwende geſaͤet. Dieſe Blume dreht ſich beſtaͤndig nach der Sonne und Ger - hard nach der ſeeligen Ewigkeit. Schwer - muͤthig

Recht ſagte mein Vater allein weißt du auch warum?

Warum? meine Mutter weil er nach dem vorgeſteckten Kleinod blickte

Weil er ein boͤſes Weib hatte ſo bald ihn Gott von dieſer boͤſen Sieben erloͤſete, war keine Sonnenwende mehr in ſeinem poetiſchen Gaͤrtchen. Er ſang; allein, es ſang kein Gerhard mehr. Was die Xan - tippe dem Sokrates war

Dieſer Blitz traf das Wort auf der Zunge meiner Mutter, es bebte noch eine Minute auf der blaͤulichten Oberlippe, allein es war ſo matt, daß es in der Geburt ſeinen Geiſt aufgab. Meine Mutter die ſich ihres Ge - ſchlechts uͤberhaupt anzunehmen gewohnt war, mußte von meinem unlevitiſchen unpoetiſchen Vater, der zum zweiten Diſkant nur par bricol gekommen war erfahren, daß er die Aſche einer Oberpaſtorinn entheiligte und ein Sacrilegium begieng. Das war mehr als ſie tragen konnte! Sie verſtummte vorihrem43ihrem Scherer und nach einer guten Vier - telſtunde allererſt, nachdem das Herzgeſpann nachgelaſſen, ſang ſie ohne zu ſagen von wem das Lied gedichtet war

Wenn boͤſe Zungen ſtechen
mir Glimpf und Namen brechen
will ich bezaͤhmen mich,
das Unrecht will ich dulden
dem Naͤchſten

(meine Mutter ſang

dieſes Wort mit einem tiefen Seufzer)

ſeine Schulden
verzeihen gern und williglich.

Dieſes war auf heute genug am Gemaͤlde meiner Mutter. Daß ſie Gedaͤchtnis und wo nicht eine poetiſche Puls ſo doch Blut - ader wo nicht praßlendes Odenfeuer, ſo doch eine gluͤhende Kohle vom Altar gehabt, werden meine Leſer ſelbſt gefunden haben. Noch einen Zug um die Naſe herum, der ſich eben bey mir meldet, und es uͤbel nehmen koͤnnte; wenn ich ihn nicht ſo ſpaͤt es auch iſt, beherbergen ſolte. Meine Kreutzbare Mutter war eine ſo große Verehrerin der Reime, daß ſie ſogar ein Geluͤbde abgelegt hatte, gewiße Worte nie zu trennen. Kern und Stern, Rath und That, Kind und Rind, Hack und Pack, Dach und Fach,Knall44Knall und Fall u. ſ. w. waren nach ihrer Meinung Zwillinge, Doppelbruͤder. Außer dieſem behautete ſie, daß gewiſſe Reime fuͤr einander gebohren, im Himmel geſchloſſen waͤren, und durchaus ins Eheband treten muͤßten als da ſind Stank und Dank, Mund und Pfund, Glimpf und Schimpf, Noth und Tod, Kleider und Schneider, Student und Recenſent, Schelm und Helm Was Gott zuſammen fuͤgt pflegte ſie zu ſagen ſoll der Menſch nicht ſcheiden. Wer ſolche Reime trennt ſcheidet eine Ehe, und wer einen andern Reim in dieſe Stelle aufnimmt, heyrathet im verbotenen Grade Sie behauptete die Reime waͤren gleichſam die Riemen durch welche das Gedicht verbun - den wuͤrde, und muß ich ihr die Gerechtig - keit wiederfahren laſſen daß ſie bei ihrem poetiſchen Trichter oder dem in ſechs Stun - den einzugieſſenden Unterricht zur deut - ſchen Dicht und Reimkunſt(*)Nuͤrnberg Gedruckt bei Wolfgang Endter MDCL. die Regel gab, trachtet am erſten nach dem Reime der zweiten Reihe, der erſte wird euch zufallen, und es wird der Vers, wie gegoſſen ſeyn

Jezt45

Jezt in die Speiſekammer auf ein Ge - richt Eyer.

Der Himmel helfe uns ad mala. Es wird fuͤr meine Leſer und fuͤr mich, glaub ich, das beſte ſeyn. Solte indeſſen meinen Leſern das Schaͤlchen, das ich aus gutem Herzen nach nordiſcher Art zum Willkom - men herum reichen laſſe, Appetit machen und Promulſis (der erſte Gang) nicht miß - fallen; ſo hof ich caput cœnæ (die Haupt - ſchuͤßel) dieſes Theils wird auf ein gleiches Gluͤck Hofnung machen koͤnnen. Ein Tha - liarchus ein Credenzer, Diſponent, ein Glaͤ - ſerzaͤhler ein Tacktſchlaͤger iſt mir bei der Mahlzeit eine unausſtehliche Creatur.

Meine Mutter laͤßt zur Canoniſation laͤuten, die einen ihrer Vorfahren treffen ſoll. Die Reliquien dieſes Candidaten zur Standeserhoͤhung beſtehen in einem Kupfer - ſtich und obgleich wenn er nach den neueſten paͤbſtlichen Grundſaͤtzen behandelt werden ſolte, ihm rechtlich entgegen ſtuͤnde, daß er noch nicht hundert Jahre geſtorben; ſo wird doch bei dieſer proteſtantiſchen Ceremonie dieſer Einwand keine Bedenklichkeit abgeben.

Es war ein Sonnabend denn dieſes war ein Tag den meine Mutter unter denTagen46Tagen ſo wie die C. unter den Conſonanten (alles Widerſpruchs des Candidaten ohne C. ohnerachtet) ſchaͤtzte. Die C. um auf - richtig zu ſeyn weil die Letten dieſen Buch - ſtaben nicht haben; den Sonnabend den hei - ligen Abend, weil ſie ſelbſt, im Fall ich mich ſo ausdrucken darf, ein heiliger Abend wenn man nur hinzuſetzt, welches einem Sohne nicht zuſtehet; ſo haben ſie meine Leſer in einem Zuge ganz; alſo nur ein hei - liger Abend war. Meiner Mutter gebuͤhr - te allerdings eine Glorie; allein nur vom Mondſchein Wegen des Sonnabends muß ich noch bemerken, daß ſie von mei - nem Vater alsdenn wegen der Beichtveſper an wenigſten einen Einbruch zu befuͤrchten hatte, und daß der Sonnabend bei allen Prieſterweibern dies festus ein hervorragen - der Tag iſt.

Es war ein Sonnabend da mich meine Mutter mit dem erſten Vers des Liedes

Freu dich ſehr o meine Seele
und vergiß all Angſt und Quaal

aufſang, und nach deſſen Vollendung mich alſo anredete

Ich47

Ich weiß, daß dieſes Lied einem armen Suͤnder zugeſchrieben wird, der in Ham - burg wegen begangener Rothzuͤchtigung eines neunjaͤhrigen Maͤdchens enthauptet worden; allein außerdem, daß dieſer arme Suͤnder Docktor in der Medicin geweſen; ſo glaub ich auch die ganze armen Suͤnder Geſchichte nicht. Es iſt vielmehr dieſes Lied eine Meſ - ſerſpize von den geiſtlichen Liedern des Si - mon Graf die er unterm ſchoͤnen Titel Geiſt - liches edles Herzpulwer in drei Theilen her - ausgegeben hat(*)Leipzig 1632. und denn am Ende liebes Kind ſind wir alle arme Suͤnder allein wir haben nicht alle ein neunjaͤhriges Maͤd - chen genothzuͤchtiget ſind aber alle in Suͤn - den empfangen und geboren.

Was iſt Nothzucht liebe Mutter? Nothzucht mein Kind! ſagte meine Mutter, und ich war voll Erwartung der Dinge die kommen ſolten iſt Nothzucht. Leg dein Feyrkleid an, ſtreu Puder auf dein Haupt und wenn keiner verhanden iſt Wai - zenmehl und ſieh! heute wie man dem thut, den deine Mutter ehren will aus dem BucheEſtherD48Eſther im ſechſten Capitel und ſechſten Vers. Nach einer langen Deliberation wie die feier - liche Handlung vollzogen werden ſolte gieng dieſer Triumph oder Oration oder Leichen - conduckt an. Jo Triumphe! der Trium - phator, welchem dieſe Ehre in effigie erwie - ſen wurde, lag auf zwei Folianten, und auch dieſes kam von ohngefehr, ſonſt wuͤrde ſelbſt dieſe Spur vom Triumphwagen nicht geweſen ſeyn. Bei meiner Uebermeſſung, die mit einer Kurſchen Elle geſchahe, fand es ſich daß kein Stuhl hoch genug fuͤr mich war, den Kupferſtich dem Himmel nahe genug zu bringen, wie meine Mutter ſich ausdruͤckte, welches Ziel aber durch Beihuͤlfe dieſer Folianten erreichet werden konnte. Da die Folianten inzwiſchen einmal im Spiel waren legte ſie ſelbige Kreuzweis ſo, daß alſo nicht einer auf dem andern lag. Sie ſprei - tete endlich ein weißes Tuch uͤber ſie Man kann ſagte ſie auch dabey ſeine erbau - liche Gedanken haben. Noch gehoͤrten zu dieſem Ehrenwerk vier flimmernde Naͤgel - chen und vier Streifen ſchwarz Papier. Eine Leichenrede wurde deshalb entkleidet, die auf einen reformirten Geiſtlichen gefertigt war. Die Naͤgelchen und die vier Streifen legtemeine49meine Mutter wie Ehrenzeichen neben dem Kupferſtich. Auf dem Wege von dem Ort wo ihm der Platz unterm Spiegel gegen Morgen war abgeſchlagen worden, wurden Tannenreiſer bis in die Speiſekammer ge - ſtreuet. Unterwegens war meine Mutter wie man in der Affecktshize zu ſeyn pflegt, ſtill. Der Fall war zu groß um Klang und Sang zu verſtatten. Stille Begraͤbniſſe kommen uͤberhaupt der Natur am naͤchſten wenn anders der Verſtorbene keine lachende Erben nachlaͤßt. Meine Mutter trug die Fuͤße ich das Haupt und ſo kamen wir ins Delubrum ins Sacrum, ins Gewoͤlbe. Es kam mir unterweges beſonders wegen des weißen Tuches, welches bei meinen Leſern noch im friſchen Andenken flaggen wird ſo vor, als ob ich eine Leiche trug und meiner Mutter muß es eben ſo vorgekommen ſeyn denn ſie ſagte (dieſes war alles was geredet wurde) den Weg mein Sohn muͤßen wir alle, und konnte wol unmoͤglich die Speiſekam - mer darunter verſtehen. Ich merkte aus allem, daß meine Mutter eine Rede an mich halten wolte, und kann vielleicht dieſer Um - ſtand mit das Seinige zur Stille beigetragen haben wodurch dieſe Handlung geweiht wurde. D 2Er50 Er hat gelitten und hat geſiegt fing ſie an er iſt geſtorben und ſich! er lebt

Schaut die Sonne geht zur Ruh
Kommt doch morgen wieder

aus dem Liede: einen guten Kampf hab ich auf der Welt gekaͤmpfet Dieſe Cita - tion oder eine Wehmuth die uns beide an - wandelte lenkte ſie vom rechten Weg.

Dein Ebenbild ſagte ſie mein Sohn wie ein Ey dem andern ſey ihm an reiner Lehre und reinem Wandel gleich auch (hier fehlte ohne Zweifel viel) nimm dich vor harten Eyern in acht: ſie ſind ſchwer zu verdauen.

Erinnere dich an die Leiter Jacobs ſagte ſie, nachdem ſie ſich vom Steckflus erholet hatte und die Folianten wurden abgedeckt und das Leichlacken fein ſauberlich zuſam - mengelegt. Zu niedrig ſagte ſie indem ich die Hoͤhe erſtiegen hatte und zu haͤmmern anfing Es ſtockt in der Speiſekammer zu hoch gleich drauf denn ich kann wei - ter nichts als vier Sterne ſehen

Sterne dacht ich liebe Mntter Sechs fuͤr einen Vierding.

Endlich traf ich die rechte Stelle und nach - dem das Monument fertig war, welchesdieſem51dieſem Ehrenmann um ſo angemeſſener ſchien als gerad uͤber ein Eyerbehaͤltnis ſtand; ſtieg ich herab, und meine Mutter umfing und kuͤßte mich. Es war dieſes eine feier - liche Umhalſung eine Accolate und nun? meine Leſer werden es mir verzeihen, daß ich ſie ſo lange im Finſtern gelaſſen; Ohne zu bemerken daß meine Mutter vier Lichte auf dem Tiſch angezuͤndet hatte auf welches Ca - ſtrum Doloris der Wohlſeelige nachdem wir ihn von den Folianten abgehoben, eine ganz kurze Zeit zur Ausruhe hingeſtellt wurde. Drey von dieſen Lichtern loͤſchte meine Mut - ter ſo aus wie andre Leute ihre Lichte ausloͤ - ſchen. Das Vierte ein abgebrannter Stumpf war waͤrend dieſer Zeit dem Verloͤſchen nahe Komm! ſieh und lerne ſterben ſagte ſie mir. Ich ſah ein ausgehendes Licht und meine Mutter betete mit einer Innbrunſt die mir durch die Seele ging

Und wenn mir die Gedanken
vergehen wie ein Licht
das hin und her thut wanken
bis ihm die Flamm gebricht;
alsdenn fein ſanft und ſtille
laß mich Herr! ſchlafen ein
nach deinem Rath und Willen
wenn kommt mein Stuͤnde ein.

D 3ich52ich ſah, was meine Mutter ſagte und oft! oft! hab ich mein Licht ſo ausbrennen laßen, um dieſes Feſt zu wiederholen.

Meine Mutter legte die Haͤnde ſobald alles aus war auf mich, um mich prieſterlich zu ſeegnen. Wir weinten beide Nach einer Weile fing ſie an (ich glaub es ſind alles die - ſes Brodſamen die von ihrem reich beſetzten Tiſch fielen, Stuͤcke von der verungluͤckten Rede) die Lobwuͤrdigſte Fuͤrſtin Henriette Louiſe Marggraͤfin zu Brandenburg lies ſich dies Lied vorſingen, und obgleich alles um ſie herum weinte, ſtarb ſie doch ohne Ach und Weh ſanft und ſeelig zu Onolzbach im Jahr Chriſti 1650 ihres Alters ſieben und zwanzig Jahr. Gott! laß es nur ein Stuͤndlein und nicht eine ganze Stunde ſeyn, wenn wir heimfahren aus dieſem Elend! Wir brachten die Folianten zu Hauſe und meine Mutter ſang ohne zu be - ſtimmen obs auf Folianten oder aufs Kupfer - ſtich oder auf alle papierne Monumente und Denkzettel gezielt waͤre

Man traͤgt eins nach dem andern hin
wohl aus den Augen und aus dem Sinn
die Welt vergiſſet unſer bald
ſey jung oder alt
auch unſrer Ehren mannigfalt

Seyd53Seyd getroſt verdienſtvolle Maͤnner, (ich will meiner verſtummten Mutter aushelfen) Habt ihr nicht das Gluͤck am Spiegel zu haͤngen ſo iſt noch die Speiſekammer uͤbrig. Stockt es hier gleich, es ſchadet nicht das Bild kann hoch geſchlagen werden. Beſchert euch nur der Himmel Augen die vier kleine Naͤgel fuͤr Sterne[anſehen]; habt ihr gewon - nen Spiel.

Nach dieſer volbrachten Arbeit verlangte meine Mutter daß ich dieſen Tag in einem feinen guten Herzen behalten und ihn jeden heiligen Abend vor Oſtern durch eine Wall - fahrt in die Speiſekammer (wie ſie ſich aus - druckte) feyren und erneuren ſolte; dieſes iſt ſagte ſie die Ausſaat; vor Oſtern den heili - gen Abend ſolſt du erndten. Der Geber al - ler guten und vollkommenen Gaben verleihe dir gutes Wetter oder ein Herz nach ſeinem Herzen zur Erndte.

Daß aber der ausgeſaͤete Waizen nie zur Reife gekommen und aus dieſer Wallfahrt nie etwas geworden, iſt einer von uns bei - den Schuld, der fromme Schweppermann oder ich. Meine Mutter zog mich wegen eines Epitaphiums zu Rathe und mir mußte zum Ungluͤck einfallen

D 4Dem54
Dem Mann ein Ey
dem frommen Schweppermann zwey

weil Schweppermann nicht Superintendent in Curland ſondern

ein Ritter keck und feſt
der zu Gnadersdorf im Streit that das Beſt

geweſen; ſo bekam der Vorſchlag meiner Mutter eine andere Wendung. Der be - ſtimmte heilige Tag fiel aus, allein nicht zu meinem Nachtheil denn wenn ich nach der Zeit ein Stuͤck Geraͤuchertes zu erndten Luſt hatte; wallfahrte ich Hand in Hand mit meiner Mutter zum Mauſoleum (oder nach einer ehrlichen deutſchen Ueberſetzung) in die Speiſekammer. Es hing der Tag unſers Eyerheiligen von der Angabe meines Magens ab, und war ſo oft mir außer der Mahlzeit hungerte. Je nachdem ich Appetit hatte; ward auch die Feyerlichkeit zur Ehre eines Mannes zugeſchnitten, der nach der Bemer - kung meiner Mutter, die ſie mehr als ein - mal anbrachte, ſo wie die Speckſeiten und Wuͤrſte ſeine Nachbaren, gekommen waͤre aus der Rauchkammer dieſes Lebens

Zur Steuer der Wahrheit ſteh es hier wie eine Ehrenſaͤule, daß meine Mutter wi - der die Gewohnheit aller Weiber nicht geitzigwar55war. Sie wolte nicht die Eyer abſchaffen und Huͤner dafuͤr einfuͤhren; ſondern die Rechtglaͤubigkeit wie ſie ſagte lag ihr bloß hiebei am Herzen.

Mein Vater (damit ich ſobald als moͤg - lich die vacante Stelle beſetze) den meine Mut - ter durch dieſen an ſeinen Ort geſtelten Kupfer - ſtich ohne Zweifel auf den Gedanken brachte, daß im Prunkzimmer zur rechten Hand un - term Spiegel kein unruͤhmlicher Ort im Pa - ſtorat waͤre, vocirte den Kupferſtich des Eu - gen an dieſen ledigen Platz. Er ließ meine Mutter vor der Hand bei ihrer voreilig ge - faßten Meinung, daß dieſer Kupferſtich der Herzog Gotthard waͤre, welchen ſie vor den groͤßten Helden hielt der je in der Welt gelebt haͤtte, und dem allein ſie den Rang uͤber den Superintendenten geſtattete, obgleich ſich die Herzoge von Curland wir von Gottes Gna - den ſchrieben und Landeshoheit haben. Es war mein Vater ſich als ein Deutſcher dieſe Huldigung ſchuldig, und nie hat ers verfehlt dem Namen eines Deutſchen Ehre zu ma - chen. Das erſte Wort was er mich ausſpre - chen lehrte war, aller ſeiner Kentniß in frem - den Sprachen unerachtet, ein ſchweres Deut - ſches. Deutſch eben darum warum EugenD 5im56im Paſtorat zur rechten Hand unterm Spie - gel des Prunkzimmers hing, ſchwer, weil mein Vater in allen Dingen die Gewohnheit hatte mit dem Homer anzufangen.

Damit aber meine Leſer ja nicht Realin - jurien begehen und an den Gedanken graͤn - zen als ob mein Vater auch nur ſtillſchwei - gend eine Unwahrheit veruͤbt; ſo muß ich ihn bei dieſer maasgebenden Gelegenheit recht - fertigen und ihn uͤber jenen Heiden heraus - bringen, dem man zur Steu’r der Wahrheit nachſagt, daß er auch nicht im Scherze un - richtig geworden, welches in unſerer galan - ten Mundart ungefehr heißen wuͤrde daß er keine einzige Equivoke geſagt habe. Wer weiß es nicht daß eine ſtillſchweigende Luͤge eine himmelſchreiende ſtumme Suͤnde ſei, der feinſte Meuchelmord und eben darum der ge - woͤnlichſte. Was meinet ihr lieben Leſer! mißt mein Bater nicht einen Zoll und einen Strich mehr?

Gotthard ſagte meine Mutter der Held der Helden. Nicht alſo fiel mein Vater ein. Eugen! ein Deutſcher der in ſeiner Jugend Theologie ſtudirte und ſchon wirklich Candi - datus Theologiaͤ war, ein rundes Peruͤckchen trug und geprediget hatte, dies brachte meineMutter57Mutter zur Andacht, warum ſagte ſie ging er von der engen Straße die zum Leben fuͤh - ret? um der Religion beſſere Dienſte zu thun erwiederte mein Vater, um ſein Schwerd wieder die zu ziehen welche jetzo die Wache zum heiligen Grabe geben und das Schlaf - gemach unſers Herrn und Meiſters uſur - pireu. Eugen hieß der kleine Abt in Frank - reich und ward ein großer Mann in Deutſch - land. Die mittelmaͤßige Statur iſt die Ge - ſtalt der Helden Unſer Sohn wird Gott - lob! groß werden ſagte meine Mutter! Gott - lob! er wird es nicht werden erwiederte mein Vater. Die Tittel des Eugen ſind, fuhr er fort, Herzog von Savoyen und Piemont, Marggraf zu Saluzzo, Ritter des goldnen Vließes, der Roͤmiſch Kaiſerlichen und Koͤ - niglich Catholiſchen Majeſtaͤt wuͤrklicher Ge - heimter und Conferenz-Rath Hofkrieges Raths Praͤſident, General Lieutenant und des heil - gen roͤmiſchen Reichs Feldmarſchall General Vicarius der ſaͤmtlichen Italieniſchen Erbkoͤ - nigreiche und Landen.

Meine Mutter machte da mein Vater ſich bey jedem neuen Ehrenwort beugete eine Gegenverbeugung ohne daß man eigent - lich beſtimmen konnte ob’s meinem Vateroder58oder dem Eugen gallt, und da die Heldenge - ſchichte eben kein Studium fuͤr meine Mut - ter war; ſo kam manches vor was ſie zum erſtenmal hoͤrte. Bei meines Vaters Be - merkung Eugens Mutter waͤre des bekannten Cardinals Mazarini Nichte geweſen; konnte meine Mutter anfaͤnglich nicht begreifen wie ein Cardinal eine Nichte haben koͤnnte? Es fuͤhlte Eugen (fuhr mein Vater fort und ſahe meine Mutter lieblich an) im Gemuͤte und Gebluͤte vaͤterliche Regungen, und dieſes Ge - fuͤhl war unfehlbar die Haupturſache warum er das Brevier mit dem Degen vertauſchte. Ob nun gleich meine Mutter was den Punkt der heiligen Ehe betraf ſehr proteſtautiſch dachte; ſo ſchuͤttelte ſie dennoch wegen dieſes Tauſches das Haupt. Bei dem eingeweih - ten Degen den Pabſt Clemens der XI. dem Eu - gen ſchickte und bey dem Anfange ſeines An - ſchreibens

Unſern Gruß und apoſtoliſchen Seegen zuvor Geliebter Sohn, edler Mann! warf ſie die Frage auf wie doch wol der curiſche General Superintendent an den Eugen ge - ſchrieben haben wuͤrde?

Mein Vater ſchloß die Standrede uͤber Eugen um ſich meine Mutter die nicht ohneNeid59Neid den Eugen unterm Spiegel ſahe, zu verpflichten.

Daß dieſer unuͤberwundene Held den ein und zwanzigſten April zum ewigen Jubi - late eingegangen

So waren alſo die beiden Monumente fuͤr Eugen der nie geſchlagen worden und meiner Mutter Ahnherrn, der durch Abſchaf - fung der Oeſtereyer ſich unſterblich gemacht, errichtet! Der liebe Gott ſchenke beiden (dies ſagte meine Mutter da mein Vater den Ruͤ - cken gekehret hatte) in der Erde eine ſanfte Ruhe und am juͤngſten Tage eine froͤliche Auferſtehung wo es ſich ausweiſen wird ob Eugen oder der gute Paſtor eher verdient un - ter dem Spiegel gegen Morgen im Prunk - zimmer zu haͤngen wenn gleich auch unſer Anverwandter ſich uͤber ſein Plaͤtzchen in der Speiſekammer nicht beſchweren darf.

Ich habe zwar von meinem Vater da ich nicht Capitelfeſt bin, nur wenig und das im Beylauf geſagt; meine Leſer werden aber ſchon hieraus die verſchiedene Denkungsarten meines Vaters und meiner Mutter einſehen und ohne Note ſich vorſtellen, daß ihre Er - ziehungsart gleichmaͤßig nicht uͤbereinſtimmen konnte. Meine Mutter wolte mich zu einemGeiſt -60Geiſtlichen machen, und wenn man kein Edelmann und doch ein Menſch in Curland iſt, kann man keinen andern als dieſen Stand waͤhlen; einige weltliche Stellen ausgenom - men, deren aber zu wenig ſind, als daß viele darauf rechnen koͤnnten, und die, bis auf die Advocaten Stellen bei dem Land Oberge - richtshofe in Mitau, noch obenein adeliche Poſten ſind, und alſo als in Verfall gera - thene Familien angeſehen werden, welche ih - ren Adel mit leichter Muͤhe erneuren koͤnnen. Mein Vater ſchien mich zu Etwas andern be - ſtimmt zu haben. Meine Leſer moͤgen ra - then wozu? denn, in Wahrheit ich ſelbſt muß mich bei dieſem Umſtand mit Rathen behel - fen, obgleich ich es nicht leugne mehr Data als meine Leſer zur Aufloͤſung meines Raͤth - ſels in der Hand zu haben. Er ſahe es ſehr gerne wenn ich Ball ſchlug und erlegte ſelbſt mit mir Kegel. Ich hatte zu Anfange Muͤhe die Kugeln zu heben; indeſſen fand ſich mit der Zeit eine Staͤrke in meine Arme daß das Spiel zwiſchen meinem Vater und mir unge - wiß und eine Wette wurde, und wir abwech - ſelnd gewonnen und verlohren. Er hatte es gerne, daß ich mich herumbalgte, und hier - innen that ich mich mit dem Benjamin demSohn61Sohn des alten Herrn hervor. Sowol von Vater als Sohn wird ſogleich gehandelt wer - den. Meine Mutter ermahnete mich ſo oft ich gerungen hatte, und fuͤgete hinzu, daß jedes Haar auf meinem Haupte gezaͤhlet ſei.

Ich arbeitete beſtaͤndig; allein ich wußte es nicht, ich haͤtte eben ſo gut glauben koͤn - nen daß ich beſtaͤndig ſpielte. Mein Vater konnte ſich uͤber nichts ſo ſehr aͤrgern, als daß uͤber der Seele der Leib vergeſſen wuͤrde, und daß man das eine bei Hochwohlgebornen Kindern lernen und das andere ſpielen hieße. Es iſt alles Spiel oder alles Arbeit pflegt er zu ſagen. Die Unvermoͤgenheiten des Leibes hielt er alle fuͤr anſteckend in Abſicht der Seele. Cs iſt ein ſchlechter Wirth ſagt er der ſein Zimmer mit Seide ausſchlaͤgt und von oben einregnen laͤßt. Vom Kleide auf den Mann ſetzte er hinzu vom Hauſe auf den Herrn, vom Leibe auf die Seele ſchließen, iſt kein unrichtiger Schluß. Wenn man ſeinen Koͤr - per den man ſiehet vernachlaͤßiget, wie will man an ſeine Seele denken die man nicht ſiehet. Mark machts aus ſezte er, um ſich zu erklaͤren hinzu, nicht Laͤnge und Breite Dicke und Hoͤhe. Ein jeder Erfinder iſt we - nigſtens an dem Tage da er erfand ein Manngewe -62geweſen, und haͤtte eben ſo gut ein geſundes Kind in die Welt ſetzen als erfinden koͤnnen, und alles was in der gelehrten Welt Methu - ſalems Alter erreichen und noch aͤlter werden ſoll, alles was eigentlich auf die Nachwelt bleibt hat ein Geſunder gedacht und geſchrie - ben. Die Helden und Statsactionen des Hercules leiſteten meinem Vater auf dieſem Wege gute Dienſte, und er konnte ſich ſehr freuen, wenn ich Unwillen zeigte, daß ich nicht auch Gelegenheit gehabt zwoen Schlan - gen in der Wiege das Lebenslicht auszudruͤ - cken: die Geſchichte vom Antaeus dem Rie - ſen war mir ein Brand im Buſen; mein Vater goß Oel dazu und maaß mir ſeine Laͤnge vor. 〈…〉〈…〉ſtieg auf den Tiſch um ſie recht zu ſehen und ſo wie ich mich uͤber die Art des Antaeus freuete, ſich einen Loͤ - wen zum Braten zu fangen, ſo gratulirte ich dem Herkules daß er dieſen Loͤwenjaͤger todt zu druͤcken die Ehre gehabt. Mejne Mut - ter war ſo wenig mit der Geſchichte vom Rie - ſen Antaeus als mit der von der Schlange zufrieden. Bei der Schlange fiel ihr beſtaͤn - dig die im Paradieſe ein, wobei ſie es dem Noa Etwas uͤbel nahm, daß er fuͤr ſie eine recht hollaͤndiſche Toleranz in ſeinem Kaſtengehabt.63gehabt. Sie aͤußerte bei dieſer Gelegenheit die Meinung daß das Ausziſchen ſich aus dem Paradieſe herſchriebe, wo der Teufel unſren erſten Eltern auf dieſe Art uͤbel be - gegnet haͤtte nachdem die armen Betrogene den letzten Biſſen Apfel genoſſen. Was den todtgedruͤckten Rieſen betraf: fand ſie’s an - ſtoͤßig, daß er nicht Goliath hieße. Ich war ſehr fuͤrs Todtdruͤcken der Rieſen, aber mein Vater zeigte mir das Erhabene das Goͤttliche bei der Geſchichte des Davids und ich lernte neben her wie unrecht es ſei mehr Mittel und waͤrs auch nur ein Graͤnlein anzuwenden, als man Zweck hat.

Wenn meine liebe Mutter den Eifer be - merkte, der mir bei Erzaͤhlung vom Hercu - les unter die Arme griff, ſo daß ich vor ihren ſichtlichen Augen an Tiſch und Stuͤh - len ein Exempel ſtatuiren wolte; pflegte ſie mich zu ermahnen, meine Arme zum Kan - zelſchlage zu ſchonen und ſie nicht an unſchul - digen Stuͤhlen und Tiſchen zu entweihen.

Erziehen ſagte mein Vater heißt aufwe - cken vom Schlaf, mit Schnee reiben wo’s erfroren iſt, abkuͤhlen, wo’s brennt. Wer nie ein Kind unterrichtet hat wird nie uͤber das Mittelmaͤßige hervorragen. DocendoEdiſci -64diſcimus iſt ein großes und wahres Wort! In gewiſſer Art lernen wir mehr von den Kindern als die Kinder von uns. Wer ein Auge hat lernt hier den Menſchen. Wenn die Sonne aufgeht, kann ſie der Blick um - faſſen. Wer kann in ſie ſehen wenns hoch - mittag iſt?

Wenn ich auf Etwas durch aus und durch all beſtand uͤberlies mich mein Vater meinem Eigenſinn, und ich ſahe aus den natuͤrlichen Folgen wie thoͤricht ich gehandelt da ich ſeinen Fingerzeig aus der Obacht ge - laſſen. Er behauptete daß keine natuͤrliche Strafe gleich einer Todesſtrafe waͤre, und ſo lies er nach dieſer großen Fuͤrſchrift, auch mich nur durch Buße bekehren und leben. Ich verbrandt mich am Licht ich verdarb mir den Magen unterm Pflaumenbaum. Wie der himmliſche Vater es mit uns macht, pflegt er zu ſagen ſo ſolten es auch leibliche Vaͤter machen. Welch einen Einfluß dieſe Lehrart auf mich gehabt iſt unausſprechlich Ich lernte Natur die wir! leider bei dem allgemeinen Fall oder Vorfall der Menſchen lernen muͤßen. Ich lernte ſie im kleinen und im großen. Wenn ein Genie allein auf dem Lande geht pflegte mein Vater zu ſagen,bleibt65bleibt es nicht lang allein, die Natur geht ihm an die Hand. Sie faßt es an und es verſteht die Blume wenn ſie ſich neigt, und den liebevollen Hopfen der ſich hinaufrankelt. Es bewundert den Regenbogen, den Ordens - band, den Gott der Erde als ein Gnaden - zeichen umhing. Da ſehen dann Genies einen gewiſſen Zuſammenhang zwiſchen Gott und dem Menſchen und ſind Seher von Gott Angehauchte. Dies iſt unendlich mehr als ein Aotodidactos ein Selbſtgelehrter. Die - ſer lernt aus Buͤchern, ein Seher lernt von Gott und aus ſeiner fuͤr ihn aufgeſchlagenen Welt.

Mein Vater lies es nie zu Thaͤtlichkeiten bei ſeinen Strafgerichten kommen denn ich verurtheilte mich ſelbſt und er bewuͤrkte eben hiedurch eine große Abſicht: Er erzog nicht einen Sohn ſondern einen Menſchen.

Meine Mutter hielt einen Gnadenſtoß fuͤr nothwendig und wenn ſie mir mit ihrer theuren Rechten einen Ritterſchlag verſezte pflegte ſie zu ſagen: beſſer ſo als anders! eine freie Ueberſetzung von beſſer Ritter als Knecht, und denn ſagte ſie wieder. Wer ſeinen Eltern nicht folgt, folgt dem Kalb - fell In der Hauptſache ſtimmte ſie mitE 2mei -66meinem Vater, ſie zog nur durch einen an - dern Weg in eben daſſelbe Land. Regen der ihr kam, wenn ſie die große Waͤſche vor - hatte die mein Vater ſcherzweiſe Fegfeuer nanndte das war ihr Gottesſchlag und im - mer wußte ſie, mit welcher Suͤnde ſie dieſen Regen beim lieben Gott verſchuldet hatte.

Ich entſinne mich als waͤr’s heute daß ſie meinetwegen einen Stock ergrif feierlich wie einen an einer Kreuzfahne, allein ſie be - ſann ſich, wie Diogenes der einen armen Jungen mit der Hand Waſſer ſchoͤpfen ſah ſie murmelte wer das Schwerdt nimmt, wird durchs Schwerdt umkommen, und ich habe alſo nie unterm Gefreitenſtock geſtanden ſon - dern nach Prinzen Art, da doch Niemand ohne Schlaͤge groß wird, blos Weiber Haͤn - den dieſen Tribut bezahlt. Meine Mutter nanndte dieſe Zucht Licht und Recht und hatte eine ſehr feine Diſtinction zwiſchen dem Stabe Sanft und dem Stabe Wehe! wo - mit meinen Leſern aber wenig gedient ſeyn kann.

Die Sprachen rechnete mein Vater zum Departement des Leibes und der Seelen. Man muß pflegte er zu ſagen, nur Eine vollkommen beſizen, das iſt reden, ſchreibenund67und in ihr denken koͤnnen. Ein Gott, Eine Taufe, Eine Sonne, Ein Weib, Ein Geiſt, Ein Leib, Ein Freund, Eine Sprache

Es giebt ſagt er keine nackte Wahrheit. Worte finden heißt denken. Worte ſind was koͤrperliches was ſinnliches ſie ſind die Kleider der Gedanken Beiwoͤrter der Beſaz: Worte der eigentliche Anzug. Wer deutſch gedacht und lateiniſch geſchrieben hat iſt, wenn er gleich der beſte Lateiner waͤre, doch ein Deutſcher. Cieero wuͤrd ihn fuͤr keinen Landsmann halten. Um franzoͤſiſch zu ſchreiben muß man Franzoſe ſeyn, um eng - liſch, Englaͤnder. Wer fremde Sprachen zu Etwas mehr braucht als ſich andren Leu - ten, die nicht unſre Mutter kennen, ver - ſtaͤndlich zu machen; iſt allemal ein ſchwa - cher Kopf. Es fehlt ihm wo, es ſitze das Uebel wo es wolle.

Mein Vater war bei alle dem ſo wenig wieder viele Sprachen, daß er ſie vielmehr nach dem Thurm zu Babel ſo nothwendig, als vielerley Eſſen nach dem hoͤchſtbetruͤbten Suͤndenfall hielte. Viele Sprachen, bemerkt er, ſind viele Creditbriefe. Zeige ſie vor, du biſt uͤberall willkommen. Kein Tuͤrke ſchlaͤget einen Chriſten todt, wenn der ChriſtE 3tuͤrkiſch68tuͤrkiſch kann, und wenn es noch ſo viel Re - ligionsverdienſt waͤre. Die Sprache iſt eine Herzensſchlinge. Man iſt beſtrickt man weiß nicht wie. Doch! warum ſoll ich alles wie - derſagen, was mein Vater ſagte? Seine Behauptungen waren außer der Weiſe. Er glaubte es muͤßte zu kennen ſeyn was bey Licht oder am Tage, was des Morgens und was des Abends gedacht waͤre wenn’s nem - lich aufgeſchrieben worden. Morgengedan - ken waren bey ihm wie die Erſtgeburt heilig. Da ich mehr mit Credit als mit eigenem Ver - moͤgen in der Welt handeln ſolte fuͤhrte mich mein Vater fleißig zu fremden Sprachen an, und ich mußte beinahe alle dieſe Sprachen zu gleicher Zeit lernen. Alles ohne Donat und Gramatick. Zum Schulmaͤßigen ge - woͤhnte er mich allererſt im vierzehnten Jahr, und konnt ich’s folglich als Proben anſehen, die man in der Rechenkunſt erfunden, um zu ſehen ob richtig gerechnet ſey. Mein Va - ter hielt viel auf woͤrtliche Ueberſezungen in Sprachen, die noch leben. Hieraus pflegte er zu ſagen lernt man eine Nation auf ein Haar kennen und die feinſte Politik und Welt - kenntniß iſt hier verborgen. Dies iſt der Chiffer zu den Geheimniſſen der Voͤlcker. Auch69Auch ſieht man aus der Sprache ob’s im Lande kalt oder warm neblicht oder klar ſey Er gieng hier noch weiter, ich befuͤrchte aber meine Leſer werden nicht weiter gehen wollen. Bey abgeſchiedenen Sprachen fuhr er fort, toͤdtet der Buchſtabe, der Geiſt aber machet lebendig. Die Griechen nanndte er Kirchen - vaͤter der Natur und ihre Sprache den Grundtext des Geſchmacks. Wenn man uns zugehoͤret haͤtte; wuͤrd man uns fuͤr ein paar Maurergeſellen vom Thurm zu Babel gehalten haben. Alles durcheinander und doch alles in einander. Mein Vater nahm, wenn er fremde Sprachen mit mir redete, auch fremde Arten an, und das war mir mehr als ein Lexicon, ich hatte fuͤr jede Spra - che ein ander Geſicht eine andere Zunge eine andere Hand, einen andren Fuß, und be - ſonders eine andre Naſe. Worte mußte ich lernen und er war nicht mit der Lehrart zu - frieden bei Worten das Gedaͤchtnis zu ſtuͤtzen und ſich Merkzeichen zu machen. Man hat ſagt er alsdenn Bild und Wort zu behalten. Ein Stammvater von Worten aber diente mir zum Leitfaden bei tauſend zum Nagel im Kleiderſchrank wo man zehnerlei aufhaͤngt. Ich lernte den Stammvater und wußte Sohn,E 4Enkel,70Enkel, Urenkel UrUrenkel und Ur Ur ſo viel man will.

Die lettiſche, curſche oder undeutſche Sprache lernte ich von meiner Mutter und dem Herrn Jachnis (Johann) dem Aufſeher uͤber die Paſtorats Bauren oder den Gottes Berat. Das Paſtoratshaus nanndte ihn Herr Jachnis und ſein Weib Frau Maſche (Margerethe) er aber meinen Vater, wenn er gleich deutſch mit ihm ſprach Zeenigs mach - zitajs (wohlgelahrter und hochzuehrender Leh - rer) und aus dieſen Namen, die er gab und die ihm gegeben wurden werden meine Leſer erſehen, daß man dieſen Menſchen halb let - tiſch halb deutſch nahm. Es hatte Herr Jachnis den ſemgalliſchen Dialeckt, der um Mitau herum reſidirt und außer dieſem ſem - galliſchen Dialeckt nach welchem die Bibel ins lettiſche gedollmetſchet worden, hatt er noch ein Flick von einem Bruſttuch, welches einer ſeiner Vorfahren aus der eigenen Hand des Herzog Gotthards erhalten, da er ihm das Evangelium am Sonntage Palmarum in undeutſcher Sprache aufſagen koͤnnen.

Mein Vater unterſtuͤtzte die hohe Idee die Herr Jachnis, der ſich auch wol von den Paſtoratsbauren Amtmann nennen ließvon71von dieſer Reliquie hatte. Er ließ es ſich zuweilen zeigen und ermahnete ihn, ſein geiſtliches Ordensband wol zu bewahren. Hiezu brauchte Herr Amtmann Jachnis keine Aufmunterung, denn er machte kein Geheim - nis draus, daß dieſes Ritterflick bis an den lieben juͤngſten Tag beim aͤlteſten in der Fa - milie bleiben ſolte.

Meine Mutter aͤrgerte ſich ſo offt davon ge - redet wurde, und verſicherte auf Ehre, Pflicht und Gewiſſen, daß dieſes Stuͤck Gewand, fuͤnf und mehr mal verwechſelt waͤre: und hierinn ſchien ſie auch um ſo mehr Recht zu haben als es noch ziemlich ungebraucht war. Sie legte es ihm zur Laſt daß ſeine Vorfah - ren nicht lieber ein Stuͤck von dem Pſalm - buch zuruͤckgelaſſen welches der gottſeelige Herzog Gotthard zum Druck befoͤrdert, allein gewiß blos darum, weil einer ihrer poeti - ſchen Vorfahren ſich darinn ein Gedaͤchtnis geſtiftet hatte. Mein Vater wiederlegte meine Mutter nicht; allein er klopfte dem Herrn Jachnis auf die Schulter, und ſagte gut iſt gut beſſer iſt beſſer. Dieſes legten beide meine Mutter und Herr Jachnis fuͤr ſich zum Vor - theil aus, ſo daß ſich beyde durch ein freundli - ches Laͤcheln bei meinem Vater bedankten.

E 5Es72

Es lebte meine Mutter uͤberhaupt mit dem Herrn Amtmann im beſtaͤndigen Strei - te; obſchon ſie im Grunde gute Freunde wa - ren. Sie gab ihm an Staͤrke in der un - deutſchen Sprache nicht einen kleinen Finger breit nach; allein ſie ſahe dieſe Sprache aus dem nemlichen Standpunkt, wie ein Deut - ſcher einen Letten. Weil Herr Jachnis auch ein Deutſcher war ſprach er zuweilen von A. B. C. und gleich brachte ihn meine Mut - ter in eine ſolche Enge, daß er nicht aus noch ein wußte. Erzen Er pflegte ſie ihm nachzuſpotten (denn das H. fehlet der letti - ſchen Sprache, ſo wie das C.) ſagt a. b. d. ſonſt wuͤrd man euch wegen Dieberei in An - ſpruch nehmen

Die Letten haben einen unuͤberwindlichen Hang zur Poeſie, und ob ich gleich gewis glaube dieſer Umſtand habe den poetiſchen Samen in meine Mutter ausgeſtreuet, wel - che ſchon in ihren Vorfahren mit dieſem Vol - ke zuſammen Fruͤchte eines Feldes gegeſſen und Waſſer eines Flußes getrunken; war ſie doch in dieſem Stuͤck unerkenntlich. Sie beſtritt indeſſen nicht, daß die lettiſche Spra - che ſchon halb Poeſie waͤre. Sie klingt ſagte ſie wie ein Tiſchgloͤckchen; die Deutſche aberwie73wie eine Kirchenglocke: Sie konnte nicht leugnen, daß die gemeinſten Letten, wenn ſie froh ſind, weiſſagen oder in Verſen reden, und wenn ſie das Gegentheil haͤtte behaup - ten wollen, wuͤrd Herr Jachnis mit den lie - ben Paſtorats Angehoͤrigen den Gegenbeweis gefuͤhret haben. Herr Jachnis und ſeine Untergebene ließen keine Erndte, keine Hoch - zeit, keine Leichenwache voruͤber wo nicht geweißaget wurde. Bei allen Talcken oder Tagesarbeiten, wo die Leute im Schweis ihres Angeſichts herrlich nach Lettiſcher Art bewirthet wurden, bewieſen ſie, daß ſie poe - tiſchen Geiſtes Kinder waͤren. Meine Mut - ter fand dem Herrn Jachnis zum Haus - kreuz, an dieſer poetiſchen Blumenleſe, die ihr zugeeignet wurde beſtaͤndig etwas zu ruͤ - gen und wenn’s auch nur das J. und U. ge - weſen waͤre welches die Nothhelfer der Let - ten ſind, ſo offt’s an einer Sylbe gebricht.

Es ſind viele, welche behaupten, die Let - ten haͤtten noch Spuren von Heldenliedern, allein dieſen vielen widerſpricht mein Vater das Genie der Sprache, das Genie der Nation iſt ein Schaͤfergenie. Wenn ſie gekroͤnt werden ſollen iſts ein Heu oder hoͤchſtens ein Kornkranz, der ihnen zuſte - het.74 het. Ich glaube Helden gehoͤren in Nor - den zu Hauſe, wo man haͤrter iſt und faſt taͤglich wider das Clima kaͤmpfen muß; die Letten koͤnnten alſo hiezu Anlage haben, wo iſt aber ein Zug davon? Wuͤrden ſie wol ſeyn und bleiben was ſie ſind, wenn nur wenigſtens Boden zur Freiheit und zum Ruhm in ihnen waͤre. In Curland iſt Freiheit und Sclaverei zu Hauſe.

Mein Vater war eben kein großer letti - ſcher Sprachkuͤnſtler; wer aber eine Sprache in ihrer ganzen Laͤnge und Breite verſtehet kann uͤber alle Recht ſprechen. Er verſicher - te nie Fußſtapfen von Heldenliedern aufge - funden zu haben, wol aber Beweiſe, daß ſchon ihre weiteſten Vorfahren geſungen haͤt - ten: und wo iſt ein Volk fragt er das nicht geſungen hat? Er hatte (wie ers nanndte) eine Garbe zaͤrtlicher Liedlein geſammlet, wovon ich ſeine Ueberſezung beſitze, die ich vielleicht mittheilen kann: und wodurch dem undeutſchen Gpitz des Herrn Paſtors Jo - hann Wiſchmann kein Abbruch geſchehen ſoll. Wenn ich nicht dieſe Garbe in Haͤnden haͤt - te; wuͤrd ich doch vom Urteil meines Va - ters, der kein Curlaͤnder war, die Apellation einzulegen, anrathen. In dieſen Liederchenherrſcht75herrſcht baͤuriſch zaͤrtliche Natur und Etwas dem Volk eigenes. Die Ueberſezung iſt noch meines Vaters Manier.

Weil wir bei den Sprachen ſind muß ich noch bemerken, daß mein Vater nur blut - wenig hebraͤiſch; arabiſch und chaldaͤiſch u. ſ. w. aber gar nicht wußte. Er hatte ſich wegen des Hebraͤiſchen im Anfange vie - len Nachreden ausgeſetzt; Da er ſo ehrlich geweſen die Graͤntzen dieſer ſeiner Kenntniſſe nicht zu verbergen. Nach der zehnten Hauptverfolgung die mein Vater dieſerhalb in Curland erlitten, zog ein ſehr geſchickter Converſus (juͤdiſcher Chriſt oder getaufter Jude) unſre Straße und dieſer brachte mei - nem Vater das Juͤdiſchdeutſche in wenig Stunden bei. Er hatte den Einfall auf dieſe Art an einen ſeiner Herren Amtsbruͤder der uͤber ihn den groͤßten Stock gebrochen hatte zu ſchreiben, und da es dem guten Mann unmoͤglich fiel dieſe Schrift aufzuloͤſen kam mein Vater in einen ſo großen Ruf wegen der Grundſprache daß dieſer boͤſe Herr Amts - bruder mit dem großen Stock, meinen Va - ter fuͤr einen getauften Rabiner gehalten ha - ben wuͤrde, wenn meinem Vater damit ge - dient geweſen waͤre. Ob nun gleich dieſerCon -76Converſus meinen Vater wie einen Brand aus dem Feuer zog und meine Mutter die Aufmerkſamkeit bemerken konnte, die mein Vater fuͤr dieſen ſeinen Retter faßte; war ſie doch anfaͤnglich ſehr wenig mit dieſem Hieronymo a ſancta fide zufrieden. Sie pro - birte ſeinen Glauben taͤglich mit Schwein - fleiſch und da mein Vater ihr dieſe Methode verwies, andere Gerichte anordnete, und den ehrlichen Sprachmeiſter von dieſer Tor - tur und chriſtlichen Daumenſtoͤcken befreiete; war ſie der Geſinnung jenes Koͤnigs von Spanien welcher geſagt hat: drey Waſſer ver - duͤrben: das ſuͤße Waſſer im ſalzigen Meer: das Waſſer im Wein: das Taufwaſſer auf dem juͤdiſchen Kopfe. Das Waſſer im Wein? ſagte mein Vater mit der Erlaubnis Sr. Catholiſchen Majeſtaͤt. Der Wein im Waſ - ſer. Meine Mutter gab nicht ſogleich die Alianz mit dem Koͤnige von Spanien auf: indeſſen wurde am Ende alles beigelegt, und die liebe Frau ging fuͤr ihren Gaſt einen ſehr vortheilhaften Frieden ein. Sie fand ſogar ein ruͤhrendes Vorbild in dieſer Einigkeit von der Bekehrung der Juden vor dem juͤngſten Tage, welche der Converſus ſteif und feſt nach ſeiner Verſicherung glaubte, und woruͤberman -77mancherlei und manches geredet wurde. Meine Mutter war ſehr fuͤr ſchriftliche Auf - ſaͤze, mein Vater wie alle Leute ſeiner Art fuͤr’s muͤndliche. Die gute Frau war ent - ſchloſſen dem Converſo eine ſchriftlich abge - faßte Inſtrucktion mitzugeben, da er froͤlich ſeine Straſſe zog, indeſſen blieb es doch bei einer muͤndlichen.

Wanken Sie weder zur Rechten noch zur Linken. Wer beharret bis ans Ende der wird ſeelig, die Beſtaͤndigkeit ſey um Sie wie ein Kleid, das Sie anhaben, und wie Guͤrtel womit Sie ſich guͤrten. Wie ein friſches Hemde am ſchwulen Tage ſey Ihnen der Troſt des chriſtlichen Gewiſſens. Vater und Mutter haben Sie verlaſſen, aber der Herr hat ſie angenommen Sie werden nicht blos ein Grasbuͤrger ein Einwohner der Vorſtaͤdte in der Stadt Gottes ſeyn, ſon - dern mit Ehren und Schmuck werden Sie in die Hauptſtadt eingehen: Ihr Kern und Stern bleibe das Lied:

Keinen hat Gott verlaſſen ſezte ſie hinzu Sie ſind ihm dieſe Dankbarkeit ſchuldig.

Der Converſus hatte ihr erzaͤhlt, daß dies Lied fuͤr ihn der Wecker zur chriſtlichen Religion geweſen und ohne Zweifel war dieſeEr -78Erzaͤhlung der Eckſtein zur Aufſage des gu - ten Vernehmens mit Sr. Catholiſchen Maje - ſtaͤt. Sie gab ihrem Freunde den Haupt - ſchluͤſſel zu allen Verſen dieſes Leibliedes, aus welchen, wie ſie ſagte ſumma ſummarum Ca - tharina heraus kaͤme. Das Wort Acro - ſtichon mußte ihr mein Vater vorſchuͤßen; ſie hatt es nicht im Vermoͤgen: und da ſie ſelbſt Catharine hieß; ſo wird man deſto leichter einſehen warum Sr. Katholiſchen Majeſtaͤt nunmehro keine Bundesgenoßin mehr an meiner Mutter hatten.

Mein Vater wuͤnſchte ſchlechthin eine gluͤckliche Reiſe und gab ſeinem Sprachmei - ſter ſtatt des Schatzkaͤſtleins von Stoßſpruͤ - chen, einen Zehrpfennig. Eigentlich war’s in Hinſicht des mit ihm getroffenen Contrakts, ein Gottespfennig: denn er bat nicht zu ver - geſſen was er mit einer Handlobung ver - ſprochen haͤtte. Unfehlbar hat dieſer Con - trakt darinn beſtanden, gewiſſen Geiſtlichen in Curland keine Lektion zu geben oder we - nigſtens die ihm gegebene zuverſchweigen.

Das eintraͤglichſte bei dieſer Sache war, daß die benachbarte Cleriſey ihre Verfolgun - gen einſtelten und da zuvor das dritte Wort beſtaͤndig eins aus der Grundſprache warver -79verſtummten von Stund des juͤdiſch deutſchen Briefes an, die Orackel. Mein Vater hatte andere Urſachen ſeinen Herren Amtsbruͤdern kein Rappier anzubieten oder ſie kaͤmpflich zu gruͤßen, und wußte ſich ſo vorkreflich ohne die geringſte Unrichtigkeit ſich zu Schul - den kommen zu laſſen, bey Ehren zu erhal - ten, daß, ſo oft er jrgend einen Confrater zum Zuhoͤrer hatte, er den Grundtext tapfer citirte und oft zwei bis drei Verſe aushob. Wenn es gleich auf Treue und Glauben eines andern, wo nicht dritten geſchahe; und ſein Grundzeignis beſtaͤndig von Hoͤrenſagen war; ſo hatte er doch ſeine Leute viel zu gut kennen gelernt, und war bei dieſer Procla - mation kein Einſpruch zu fuͤrchten, ſo daß er ſich zulezt ganz dreiſt ein Beholzungsrecht, oder die Befugnis in des andern Wald Holz zu faͤllen zueignete. Die griechiſche Sprache, wovon die Herrn Amtsbruͤder nicht vielmehr als die beiden griechiſchen Freunde wußten, war nicht hinreichend meinem Vater Ruhe zu ſchaffen. Sie hielten es mit dem alten Te - ſtament, bis zur Ankunft des Converſus und nun war jeder furchtſam in meines Vaters Gegenwart an die heilge Schrift zu denken, und jeder wunderte ſich warum er mit ſeinerFhebraͤi -80hebraͤiſchen Sprachkenntnis ſo lange hinter dem Berge geblieben.

Perſonen

  • Mein Vater
  • Meine Mutter
  • Der Ritter Jachnis
  • Converſus puzt Licht
  • Der alte Herr
  • Minchen ſeine Tochter
  • Benjamin ſein Sohn.

Ich habe geſtern Abend meinen Leſern den Auftritt des alten Herrn und ſeines Ben - jamins verſprochen. Den alten Herrn habe ich nie in meinem Leben unter einem andern Namen, als des alten Herrn ken - nen gelernt. Wer mich alſo nach ſeinem Vor und Zunamen fraͤgt, erhaͤlt eine abſchlaͤ - gige Antwort. Seine Lebensgeſchichte kann von keinem beſondern Belang ſeyn indem ſein ganzes Weſen allem was man Belang heißen kann gerade zu entgegen war. Er ſelbſt behauptete von ſich ſo oft man’s ihm ſo nahe legte, daß es ihm an den Fingern branndte: er ſey ein Literatus. Meine Mut - ter die ſich nicht ſtark genug duͤnkte ihm dieſe Ehre abwendig zu machen; lies ihn zwarLitera -81Literatus ſeyn; indeſſen pflegte ſie ihn in Ruͤckſicht dieſer Wuͤrde eine geſchwaͤchte eine zu Fall gekommene Perſon zu heißen. Es ging die Rede, daß er das Schneiderhand - werk gelernt haͤtte, wenigſtens uͤbt er dieſes Handwerk aus und alle meine Schlafroͤcke und taͤgliche Kleider ſind durch ſeine gelehrte Hand gegangen. Was die Feyrkleider be - traf; konnten ſie freilich keinem Literato an - vertrauet werden, der Umſtand indeſſen daß er Schneider Arbeit verrichtete ſchien nicht hinreichend, das Gerede daß er ein Schnei - der waͤre außer allen Zweifel zu ſezen, denn er war im Grunde genommen ein Tau - ſendkuͤnſtler.

Er hatte ſich bey einigen Hochwohlge - bohrnen Herren zum Hofnarren zum Cam - merherrn zum Forſt und Jaͤgermeiſter brau - chen laſſen und nachdem er am Ende ein - ſahe, daß es beſſer ſey ein Schneider als ein Hofnarr zu ſeyn; zog er ſich in der beſten Ordnung zuruͤck, nahm ſeine lezten Kraͤfte der Hofkunſt zuſammen und war ſo gluͤck - lich ſeine Herren Principalen dahin zu uͤber - ſchwatzen, daß ihm Zeit Lebens ein ſtandes - maͤßiger das heißt ein hoͤchſt nothduͤrftiger Unterhalt angewieſen wurde. Die AltenF 2ſtarben82ſtarben und die Juͤngere ließen ihn im Be - ſitz, ohne den Canon von Witz einzufordern, den ſich ihre Anteceſſoren jaͤhrlich hatten be - zahlen laſſen. Es legte ſich der alte Herr auf den Unterricht der Kinder, ſtand mit den Paſtoren der Gegend in gutem Verneh - men, und verrichtete ſo gar einige heilige Handlungen wobey die Herren Geiſtlichen ſubſtituiren koͤnnen, zuweilen ruͤhrt er das Poſitiv, welches in einer unſern benachbarten Kirche ſtand. Dieſes aber mußte wenig - ſtens vierzehn Tage zuvor beſtelt werden, und denn war es doch nur ein Gaſtpraͤludium.

Er behauptete, daß man ſich auf ein Praͤludium eben ſo ſehr, als auf eine Pre - digt vorbereiten muͤße und wie der Klang der Worte wenn er mit der auszudruͤckenden Sache wie ohngefehr der erſte und zweite Diſkant harmonire, die Originalſubſtanz der Sprache bewieſe, ſo verriethe es einen groſ - ſen Muſicus wenn man das Evangelium ſo zu ſagen ins Praͤludium ſetzen und es ſo deut - lich in Noten ausdruͤcken koͤnnte daß wer das Praͤludium hoͤrt, auch zugleich das Evange - lium wiſſen muͤßte.

Hieruͤber wurden dem alten Herrn von meiner Mutter verſchiedene Einwendungengemacht;83gemacht; allein er hehauptete er haͤtte nur neulich: das Vater Abraham erbarme dich mein ſo natuͤrlich auszudruͤcken gewußt daß der ganzen Gemeine daruͤber Furcht und Schrecken angekommen waͤre; und da ihm meine Mutter das Evangelium von der Be - ſchneidung von den vier tauſend Mann und vom ſteinigten Acker entgegen ſetzte, und ihn befragte, wie er Waizen und Kornland fuͤnf Gerſtenbrodte und ein wenig Fiſchlein, in der Muſik ausdruͤcken koͤnnte; wollte er zwar im Anfange behaupten, daß alles dies in die Muſik zu uͤberſetzen waͤre; nachhero aber ſchaͤmte er ſich uͤber ſich ſelbſt. Sie warf ihm ſehr offt den ſteinigten Acker, die vier tauſend Mann, die fuͤnf Gerſtenbrodte und ein wenig Fiſchlein vor; obgleich ſie an die Beſchneidung, ich weiß nicht warum, weiter nicht dachte. Bey dieſer Gelegenheit kann ich nicht umhin zu bemercken, daß meine Mutter ſich vor der ſatyriſchen Ader des alten Herrn gar nicht fuͤrchtete; ſo furcht - bar ihn auch in der ganzen Gegend ſeine Ein - faͤlle gemacht hatten.

Eine Schneidernadel pflegte ſie zu ſagen wenn er einen Einfall wider ſie hatte; und wenn ſie ihn recht aͤrgern wolte, nandteF 3ſie84ſie ihn Tonkuͤnſtler, welchen Ausdruck er we - niger als alles leiden konnte; indem er ſich hiedurch zu einem Toͤpfer erniedrigt zu ſeyn duͤnkte, und ſich hiebei um ſo mehr getroffen fand als er dieſes[Handwerk] in den langen Abenden wie er verſicherte blos ſeine Au - gen zu ſchonen, die freilich durch Noten und Faͤden gelitten haben koͤnnen, trieb. Er ver - ſtand auch Etwas vom Schumachen; allein nicht das Mindeſte von der Poeſie. Meine Mutter pflegte daher von ihm zu ſagen: er haͤtte den kalten Brand. Es war ihm zur Gewohnheit geworden wenn er Etwas ſuchte, auf den Tiſch zu klopfen, welche Mode die Schneider haben wenn ſie die Scheere ſuchen, auch wackelt er beſtaͤndig mit dem Fuß wel - ches den Toͤpfern eigen ſeyn ſoll. Vom Schuſter hatt er das weite Aushohlen mit den Haͤnden: vom Spielmann aber einen taktmaͤßigen Schritt. Da er fuͤr die poeti - ſche Gelehrſamkeit meiner Mutter Reſpect hatte, unterſtand er ſich nicht, aus ſeinem alten Kramladen ihr zum Nachtheil eine wi - tzige Antwort herauszuſuchen. Er ſaß viel - mehr wenn ſie ihn boͤſe gemacht, ganz ſtill und wie meine Mutter ſagte ſo gerade als wenn er ſich balbiren ließ. Obgleich er alsOrga -85Organiſt welches in Curland ein ſeltener Vo - gel iſt, oder als Schullehrer ankommen koͤn - nen, ſo hatt er jedennoch alles verbeten, in - dem er glaubte daß er ſich hiebey aus den Au - gen ſetzen und zugleich allen Univerſitaͤten einen Brandmark geben wuͤrde.

Die Kinder, ſo er erzog nahm er nicht anders als bittweiſe an. Zwar that er ſehr unzufrieden, wenn er ſeine Zahl nicht voll - ſtaͤndig und ſeinen Lehrſaal nicht ganz beſezt hatte, inzwiſchen ſchien er nicht darum boͤſe, weil ihm keine Kinder in die Schule gebracht wurden, ſondern weil er nicht gebeten war, ſein taͤglich Brodt zu verdienen.

Er brachte freilich ſeinen ihm vertrauten Kindern nicht viel bey, da er indeſſen mit, fuͤr koͤrperliche Uebungen war, konnt ihn mein Vater leiden, obgleich er mich ſeinem Unterrichte ſo wenig als meine Fey’rkleider ſeiner Nadel anvertraute.

Da der alte Herr uͤbrigens podagriſche Zufaͤlle hatte, welche nach meiner Mutter Meinung nur ein Edelmann und Literatus haben koͤnnte; da ferner der ehrliche Nico - laus Herrmann vom Zipperlein geplaget ge - weſen, welches aus dem lezten Vers des LiedesF 4 Wenn86 Wenn mein Stuͤndlein vorhanden iſt erhellet.

Wer iſt der uns das Liedlein ſang?
iſt alt und wohl betaget
diesmahl kommt er nicht aus der ſtatt
das Zipperlein ihn plaget
offt ſeufzt er und hat Gott im Sinn
Herr hohl den kranken Herrmann hin
Wo jezt Elias lebet.

Da auch noch ferner der alte kranke Herr - mann viele gute Chorale gemacht und ein be - waͤhrter Tonkuͤnſtler und Kantor geweſen; ſo beehrte meine Mutter zuweilen den alten Herrn mit dem Namen Nicolaus Hermann, obgleich ihm die Haupteigenſchaft des Nico - laus Herrmann fehlte und der alte Herr den kalten Brand hatte: Offt ſang ſie ihm Wer iſt der uns das Liedlein ſang vor, und ſo wie ſie es dem wuͤrklichen Ni - colaus Herrmann uͤbel nahm daß ihm nicht fuͤr diesmal kommt er nicht aus der ſtatt die Schulbank eingefallen, und er geſungen diesmahl kommt er nicht von der Bank als wodurch ohnehin der Reim ſang ſein beſcheiden Theil erhalten haͤtte; ſo empfahlſie87ſie dem alten Herrn auch anſtatt der lezten Reihe

Herr hohl den alten Herrmann hin
dort wo es ewig taget

Die Verbeſſerungsfreiheit nahm ſie ſich in - deſſen ſehr ſelten heraus: denn ſie war keine Liebhaberinn von Lieder-Aenderungen, und mochte nicht wie ſie ſagte den Safft und Krafft des Alten waͤſſern und entkraͤften.

Die Zuſchrift ſo der ehrliche Herrmann ſeinen Liedern vorgeſezt, parodirte meine Mutter auf den alten Herrn. Ich muß ſie herſetzen. Sie verdients. Die herrmannſche Dedication iſt nur in zwei Reihen geaͤndert

Ihr allerliebſte Kinderlein
ſeht das Choralbuͤchlein,
ſoll eu’r und keines andern ſeyn
Es iſt fein alber und fein ſchlecht,
drum iſt es fuͤr euch Kinder recht
alt und g’lehrt Leut beduͤrfen’s nicht
und die zuvor ſind wohl bericht.
Gott will durch der Seuglingen Mund
gepreiſet werden alle Stund,
drum o ihr Chriſten Kinderien!
durch euch will Gott gelobet ſeyn
So g’woͤhnt euch nun mit allem Fleiß
daß ihr Gott ſingt Lob Ehr und Preiß
und hebt bald in der Jugend an
was ich euch dazu dienen kann
F 5 das
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das will ich thun bis in mein Grab
und weil ich geh’n kann an ein’m Stab
Ob ich gleich wenig bring davon
und Kinder Arbeit giebt Kinderlohn
ſo wird’s doch alles machen gleich
der liebe Gott im Himmelreich
dem ſagt all’zeit Lob Ehr und Preis
Niclas Herrmann der alte Greis.

Der alte Herr war indeſſen nicht der Herr C. F. wie er in den lettiſchen Geſangbuͤchern bezeichnet iſt, welches Chriſtoph Fuͤrecker heißt denn dieſer der Gottesgelahrtheit Befliſ - ſener war ein unbezweifelter Literatus und Poet der aus Liebe zu den lettiſchen Declina - tionen und Conjugationen wie ich unlaͤngſt geleſen, ein Maͤrtyrer ward, und eine wie - wohl bemittelte und freie lettiſche Bauer - wittwe (huͤbſch wird ſie ohne Zweifel auch ge - weſen ſeyn) heirathete um recht unter das Lettiſche zu kommen. Ihm hat die lettiſche Gramatick den Eckſtein, die Kirche aber, ſehr ſchoͤne Geſaͤnge zu danken. Ehre dem Ehre gebuͤhret ſagte der alte Herr! und ſo wenig ich es zugeben wuͤrde daß dem alten Herrn was abgienge, eben ſo wenig will ich auch meine Leſer bey einem Irrthum laſſen, der ſich ſehr leicht bey ihnen haͤtte zur Miethe anbieten koͤnnen.

Ehe89

Ehe ich vom alten Herrn zum jungen uͤbergehe noch ein Wort an den herzlich ge - liebten Leſer den wider mein Verſchulden der Gedanke befallen, daß die Charaktere in die - ſer Geſchichte ſo ziemlich uͤbereinſtimmend waͤren:

Da mein Vater ſein Vaterland und der alte Herr ſeinen Namen verſchwiegen

Da meine Mutter ſich eben ſowohl uͤber den Ritter Jachnis als den Cantor und reſpective Schneider Toͤpfer und Schuſter Nicolaus Herrmann genanndt, aufhielte; da

Allein hierauf dienet dem geneigten Leſer zur dienſtlichen Antwort, daß ich die Sache erzaͤhle, wie ſie war und nicht wie man ſie wuͤnſchen koͤnnte. Wenn ich einen Roman ſchriebe; waͤre es was anders Haben nicht ſo gar Voͤlkerſchaften gewiſſe aͤhnliche Zuͤge? und jede Stadt und jedes Dorf durch die ganze Welt halten untereinander wieder ihr Abzeichen. Wuͤrd