PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Lebenslaͤufe nach Aufſteigender Linie
nebſt Beylagen A, B, C.
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Meines Lebenslaufs Zweiter Theil.
Beylage A, und Beylage B.
Berlin,beyChriſtian Friedrich Voß,1779.
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Die Koͤnigin iſt weg: Das Spiel iſt ver - loren, ſagte Herr v. G.; da von der Abreiſe meines Vaters geredet ward.

Ich wuͤrde dieſen Umſtand meinem Vater nicht nachleichreden, wenn ich mich nicht bei den Leſern des zweiten Theils entſchuldigen muͤßte, warum ich aus der Noth eine Tu - gend gemacht, und mich in den feſten Ort der Erzaͤhlung geworfen.

Freylich iſt man hiebey vor den leichten Truppen der Kritik ſicherer; was aber meine kunſtrichterlichen Leſer dazu ſagen werden, die entweder bei der ſchweren Cavallerie in Dienſten ſtehen oder blos aus Luſt und Liebe leſen, und gar nicht in gelehrten Kriegs - dienſten ſind, muß die Zeit lehren. Aug und Ohr haben zwar viel Aehnlichkeit mit einander, allein alle Welt ſpricht von ſchoͤ - nen Augen; ein verzaͤrtelter Kenner aber nur vom ſchoͤnen Ohr. Das Geſicht iſt un - ſtreitig der edelſte Sinn, ohn ihn iſt kein anderer Sinn vollſtaͤndig. Auch ſelbſt, wennich6ich im gemeinen Leben erzaͤhlen hoͤre, ſeh ich ich ſehe den Erzaͤhler ſteif an, recht als ſchien ich es zu bedauren, daß ich dieſe Geſchichte nicht im Original geſehen, ich ver - lange, der Erzaͤhler ſoll ſie nachhandeln: Soll, was und wie es geſchehen, leibhaftig zeigen. Je mehr ein Erzaͤhler zu ſehen iſt, je mehr freu ich mich, je mehr ſind ich die Kopie getroffen. Oft hab ich gedacht, daß es eine Geſchichte geben koͤnne, (ob einen Ro - man, weis ich nicht, wo man nicht hoͤre, ſondern ſehe, durch und durch ſehe, wo nicht Erzaͤhlung ſondern Handlung waͤre, wo man alles oder wenigſtens mehr ſehe, als hoͤre. Man ſieht freilich den Erzaͤhler im gemeinen Leben; allein die Wahrheit zu ſagen, man hoͤrt ihn mehr, und es wuͤrd Affektation ſeyn, wenn er mehr zu ſehen, als zu hoͤren waͤre. Ein Erzaͤhler, wenn er im Druck erſcheint, wie wenig iſt er zu ſe - hen! wie weit weniger als im gemeinen Le - ben! Dergleichen Geſchichte, wo, wie meine Mutter ſagen wuͤrde, ge - wandelt und gehandelt wird, will man ſie eine redende, eine Geſchichte mit eignen Worten nennen, meinthalben! Daß eine Ge - ſchichte durchweg in Geſpraͤchen, eine inFrag7Frag und Antworten, ein ganz ander Ding ſey, verſteht ſich. Waͤren in einer redenden Geſchichte auch nur ausgeriſſene Lebensblaͤt - ter, wie leicht wuͤrden ſie zuſammen zu ſetzen ſeyn. Man wuͤrde dem Leſer noch oben ein eben hiedurch unvermerkt Gelegenheit zu mehrerer Anſtrengung geben, und ihn zum Mitarbeiter an ſeinem Werke machen. Daß ich es bei dieſer Geſchichte zu dieſem Ziel nicht angelegt, beſcheid ich mich von ſelbſt, und ich bin ſchon zufrieden, wenn mein Lebenslauf nur hier und da Darſtellung ent - haͤlt, und wenn ſich in dem Schluſſe des erſten Bandes die Perſonen ſelbſt zu erkennen und zu verſtehen gegeben. Rede und du biſt, koͤnnte das Motto zu dieſen Geſpraͤchen ſeyn: es liegt eine beſondre Natur in der Rede.

Zwar waren auch ohne meinen Vater noch vortrefliche Officier auf dem Brette, die noch immer redend eingefuͤhrt zu werden verdient haͤtten; allein der kommandirende General war gefallen. Wer wuͤrde mei - nem Vater wohl dieſe Ehre ſtreitig gemacht haben, wenn er nicht zu oft auf die Kanzel geſtiegen?

Herr v. G. hatte, um auf dem Brette zu bleiben, den Gang des Elephanten:

A 3Wer8

Wer den Springer vorſtellte, wiſſen wir alle

Vielleicht finden meine Leſer noch mehr aus dem Schachſpiel in der Geſellſchaft, aus der mein Vater ploͤtzlich ſchied. Dies Spiel iſt Bild der Welt, wenn auch nur Koͤnig und Koͤnigin in Erwaͤgung genom - men werden. So wie ſie im Schach ge - ſchehen, ſo gemeinhin in der Welt Herr v. W. hatte den Dionyſius beſchaͤmt, und den Waldhorniſten ein anſehnliches und fuͤhl - bares Compliment in die Hand gedruͤckt. Die Art, wie er dieſes Geſchenk gegeben, haben wir nicht noͤthig abzulauern, um ihn mehr zu wißen; denn wir wiſſen ihn ſchon inwendig und auswendig. Er hatte Urſache, dieſe Schreier zum Schweigen zu bringen; denn es gingen die Vigilien wegen eines den folgenden Tag zu feyernden Trauerfeſies an.

Der Laufer, Herr Herrmann, bedeu - tete mehr, nachdem mein Vater weg war, und Herr v. W. ihn deckte. Herr Herrmann ſchien ſich ſo gar, vielleicht in Ruͤckſicht die - ſer Deckung, ein Direktorium uͤber mich an - zumaaßen. Ich konnt ihm hiezu keine Be - fugniß zugeſtehen; denn obgleich er mir zu Bruſttuͤchern ehemals Maas genommen; ſoglaubt9glaubt ich doch dieſerhalb keine Pflicht zur Verehrung auf mir zu haben. Die Feyer - kleider waren ihm ohnedem nicht anver - trauet worden. Von meiner Seite ge - hoͤrte die Nachſicht auf Minchens Rech - nung. Ihretwegen that ich, was ich that; indeſſen vergaß ich nicht, daß ſie ſelbſt mich mit dem Herrn Herrmann, als Vater, nicht beſchweren wolte. Herr v. G. war durch den Alten ſo geruͤhrt, daß er nicht ins Leben zuruͤckkehren konnte; er ſahe ſchon jetzt immer gen Himmel, obgleich noch nicht die acht Tag um waren, wo der Alte ein Zeug - niß in perpetuam rei memoriam fuͤr ihn im Himmel einzulegen verſprochen. Die Vigi - lien des Herrn von W. kamen dem Herrn v. G. ſo zur rechten Zeit, daß er mit feſtlich ward. Die Frau v. W., und ihre kleine Tochter, unterhielten ſich von dem armen bedraͤngten Sterbenden, den mein Vater troͤſten ſolte. Frau v. G. ſelbſt hatte ſich zu dieſem Vorfall, obgleich der Sterbende nicht von Adel nicht einſt ein Litteratus, mit - hin nach Landesart ein Bauer war, hoch - adlich herunter zu laſſen geruhet, und ſo war unſere Geſellſchaft des alten Mannes, der in acht Tagen ſterben wird, und des unſchuldi -A 4gen10gen Sohnsmoͤrders wegen, in eine ſo heilige Schwermuth geſunken, daß Herr v. W., der den ſanft und ſeligen Hintritt ſeines Ael - tervaters zu feyern anfieng, mit Herz und Sinn dieſes Feſt, und wie mir’s vorkam fruͤher, als es ſonſt geſchehen waͤre, begann.

Die Herren v. X. Y. Z. und ihre Ge - mahlinnen gehoͤrten nicht zur heiligſchwer - muͤthigen Geſellſchaft. Sie waren zwar ver - ſtummet; allein blos, weil die Waldhorni - ſten verſtummt waren, denen Herr v. W. das Maul geſtopft hatte. Dieſe Herren ſchienen von curſcher Politik, Wein und Waldhoͤrnern trunken, ſo daß ſie ſich weder in Ruͤckſicht des Leibes, noch der Seele, aufrecht halten konnten. Sie ſaßen nicht, ſondern lagen auf ihren Stuͤhlen; jeder hatte ſich zwei Stuͤhle zugeeignet, den dritten Stuhl rechne ich nicht, auf dem der rechte Arm uͤbergeſchlagen lag: denn auf dieſem dritten ungerechneten ſaß die eine Haͤlfte des Nach - bars. Die Herren v. X. Y. Z. waren alſo in einander gekettet. So ſchwach indeſſen dieſe gute Herren ſchienen; ſo hatten ſie doch ſo viel Staͤrke, Hand an ihre Pfeiffen zu le - gen, und ſich in Rauch zu huͤllen. Sie ſchmauchten wie aus einem Munde, undhiel -11hielten ſo genau Takt, als ihn Herr Herr - mann, wenn er ein Poſitiv ſchlug, oder meine Mutter, wenn ſie ihrem Hauſe eine neue Melodie beibringen wollte, nur halten konnten. Aus dieſer Lage zu urtheilen, waͤ - ren die Herren v. X. Y. Z. ſo leicht nicht aus dem Schlaf zu bringen geweſen: es haͤtte denn an den Herzog Jocobus gedacht wer - den muͤſſen, der den Uniten, welche ſich mit der Katholiſchen Religion vereiniget, als ver - triebenen Exulanten rußiſcher Nation, die freie Religionsuͤbung zugeſtanden oder an den Titel Wohlgebohren, welcher der Rit - terſchaft im Jahr unſers Herrn, ein tau - ſend ſechshundert und vier und achtzig bewil - liget wurde, obgleich ſie durch aus und durch all Hochwohlgebohren heißen wollten oder an den Rangſtreit mit der Geiſtlichkeit, woruͤber bitter geſtritten worden oder an den Oberkammerherrn v. und deſſen maͤnnliche Deſcendenten oder an die Ka - tholiſche Religion in Curland.

Dergleichen Staatsanſtoͤße wuͤrden viel - leicht (gewiß weiß ichs nicht) die Herren v. X. Y. Z. ermuntert und von drittehalb Stuͤhlen auf einen, oder gar auf die Beine gebracht haben.

A 5Es12

Es war indeſſen niemand aus der heilig - ſchmermuͤthigen Geſellſchaft, der dieſen Ap - pel zu ſchlagen, und den Verſuch zu machen Luſt hatte, ob die liegende Herren hierdurch aufzuwiegeln waͤren? Daß ſie nicht ſtill ge - blieben, iſt zuverlaͤßig: ob ſie aber aufgebro - chen waͤren daran zweifl ich. Giebts denn nicht Agenten von Haus aus?

Ein Wort der Ermunterung waͤr es auch geweſen, wenn man den Hunden ein Patent als Adjudanten des Menſchen aus - gefertigt: oder einen meerſchaumen Pfeifenkopfs - handel aufgebracht haͤtte.

Die gnaͤdigen Frauen v. X. Y. Z. ſaßen, die Haͤnde um den Magen kreuzweiſe gelegt, als ob ſie ihre Magen zur Verdauung ein - ſeegnen wolten. Sie ſahen hierbey die Frau v. G. ſteif und feſt an, als ob ſie ſich fuͤr die empfangene Gaben bedanken, und ſich, vor wie nach, ihrer Protektion empfeh - len wolten. Der Frau v. G. Aushuͤlfe bei Gelegenheit des Schooshuͤndchens war ihnen, und das mit Recht, im friſchen An - denken.

Mein Reiſegeferth war nicht Fiſch nicht Fleiſch. Er hatte mit mir Bruͤderſchaftgemacht,13gemacht, und ich hatte Hofnung ihn zu er - weichen, und ihn zu einen gutgeſinnten Kir - chenpatron zu bekehren, der die Jagd an - dern Pflichten unterordnen muß; allein die Herren v. X. Y. Z., als jagdgerechte Jaͤger, hatten ihn wieder ganz und gar wie es ſchon aus den Tiſchreden des vorigen Bandes zum Theil hervorſtrahlt. Er war in Gedan - ken, Geberden, Worten und Werken, mit den Herren v. X. Y. Z. auf Wild ausge - wandert: denn ſelbſt in der tiefſten Stille, die auf die Herren v. X. Y. Z. lag, hielten ſie die Pfeifen als ein Mordgewehr, zielten und machten Puf, Paf, und wieder Puf Paf! Mein Reiſegefehrte hielt ſeine Pfeife, zielte wie ſie, und toͤnte Puf, Paf! wie ſie, und wieder Puf, Paf! Er war in ihrer Wolke auf und angenommen.

Doch muß ich (und das wird meinen Le - ſern eine erfreuliche Nachricht ſeyn, weil der juͤngere Herr v. G. ein Sohn des aͤltern Herrn v. G. iſt) pflichtſchuldigſt bemerken, daß er ſeinen kuͤnftigen Paſtor nicht voͤllig vergeſſen hatte. Wenn er ſeine Pfeife nach - ſtopfte und aus dem Takte kam, brach ſich ſein Blick durch den Nebel zu mir, und da ſeine Pfeife gluͤhete und nicht ſogleich wiedergela -14geladen werden konnte, kam er ſogar zu mir, faßte mich bruͤderlich an und fragte: warum ſo traurig? und warum nicht auf Puf und Paf mitgemacht? So was, fuͤgt er hinzu, ſtaͤrkt das Auge, und wenn wir morgen auf die Jagd gehen, haſt du ſchon eine vorlaͤu - fige Theorie, die du benutzen kannſt ich verſicherte, heut am wenigſten zum Puf, Paf Anſatz zu haben. Ich verdenk dir deinen Truͤbſinn nicht, fuhr er fort Dein Va - ter

Scheiden heißt ſterben, hatt ich zu ihm geſagt, da mein Vater abfuhr, und dies Wort zu ſeiner Zeit war ſo gluͤcklich geweſen, den Weg zu ſeinem Herzen zu finden, der ſo leicht nicht zu finden war. Seine Liebes - grenze ging nicht weiter, als bis Vater und Mutter, und zur Noth Schweſter und Bru - der. Weiter, glaub ich, geht ſie auch bei keinem Jaͤger, Koch und Schlaͤchter, welches Profeſſionsverwandte oder hoͤchſtens von einem und demſelben Handwerk unter - ſchieden ſind, wie Frauens - und Manns - ſchneider. Außer Vater und Mutter, und zur Noth Bruder und Schweſter, ſchien dem Herrn v. G. dem juͤngern alles Wild

Man15

Man gieng den Abend zeitig zur Tafel, weil alles die Karten verbeten hatte. Zur Ehre der Herren v. X. Y. Z. muß ich noch anfuͤhren, daß ſie nach ihrem Ausſchlaf, um die edle Zeit auszukaufen, eine Stunde Wuͤr - fel geſpielt.

Bei Tafel war alles auf den Ton des Herrn v. W. geſtimmt, der mit ſchwarzer Weſte, ſchwarzen Beinkleidern, und einem Flor um den linken Arm, bei der Mahlzeit erſchien. Man ſprach viel von den Schick - ſalen der Menſchen und von der Ungewißheit der Todesſtunde. Herr v. W. erzaͤhlte den Lebenslauf des Herr v. W., ſeines Herrn Grosvaters, dem heute aufs neue parentirt ward. Herr v. G. ſprach vom Tode, wie ein Gerechter, der in ſeinem Tode getroſt iſt. Die Vernunft, ſagt er, iſt ein Kuͤſſen; al - lein kein Kopfkuͤſſen. Die Einbildungskraft muß auch Beſchaͤftigung haben, wenns zum Scheiden geht. Wohl uns indeſſen, daß wir nicht wiſſen, wenn wir ſterben: denn wir wuͤrden dann nicht leben, nicht ſterben beides iſt gut. Doch, fuhr er fort, giebts einige, die’s wiſſen, die auf die Stunde ihrer Erloͤſung mit Gewißheit rechnen koͤnnen Nur heute hier ſchwieg er, und ſtuͤtzteſich16ſich traurig auf. Ich verſtand ihn ganz. Seine Frau fragt ihn: iſt dir nicht wohl? mit einem Tone, der mich uͤberfuͤhrte, daß ſie ihren Mann nach ſich am meiſten liebte, und warum ſollte ſie’s nicht? er war ja von gutem Adel. Sehr wohl, erwidert er, mein Kind. Sie ſtand auf und kuͤßt ihn; er blieb mit aufgeſtaͤmmten Arm. Es ging al - les ſtill, wie bei einer Leichenwache zu, und dieſes brachte die Herren v. X. Y. Z. zum Aufbruch. Schon lange hatten ſie nach dem Monde geſehen und es ihm uͤbelgenommen, daß er nicht eher aufgegangen war; denn es ward nicht getrunken, wie des Mittags: nicht geſchrieen, wie des Mittags: nicht ge - blaſen wie des Mittags. Das haͤtte frei - lich der Mond bedenken ſollen. Sie zogen unter einander auf die Wache, um keine Zeit zu verſaͤumen. Der erſte Strahl war ein all - gemeiner Wink zum Abſchiede. Sie empfah - len ſich und fuhren mit ihren gnaͤdigen Frauen, denen des Mittags die Zeit lang geworden war, weil viel, und des Abends weil wenig geſprochen worden, heim. Die Waldhoͤrner wurden auf eine kuͤnſtliche Art in Poſthoͤrner verwandelt und man macht ein ſolches Lerm; als wenn dreißig blaſende Poſtillions vorher -ritten.17ritten. Der Herr v. W., den dies unverſe - hens uͤberfiel, brach ein Glas, das er eben in der Hand hatte und begoß ſich ſeine Trauer - weſte, die, wie er ſagte, zum Gluͤck ſchwarz waͤre. So bricht unſer Leben, ſagt er, um den Glasbruch geſchickt bey dem gegenwaͤrti - gen Fall anzuwenden.

Es war der Herr v. W. wie von neuem geboren, da die Herren v. X. Y. Z. fort waren, und ſo giengs auch dem Herrmann, der zwar viel uͤber die Herren X. Y. Z. ge - dacht, allein wenig geſagt hatte. Mir war immer bang, die guten Herren wuͤrden aus Freude, von den Waldhoͤrnern und ihren An - haͤngern befreit zu ſeyn, aus dem Trauerton des Feſtes kommen; indeſſen fiel es ihnen zeitig wieder ein, daß die heutige Freude in ihren Schranken bleiben muͤßte. Der arme Herrmann hatte wegen der Herren v. X. Y. Z. in eccleſia preſſa gelebt. Was er, ſo lang ſie da waren, thun konnte, war aufs Aug ein - geſchrenkt. Dieſes, dem Herrn v. W. ge - widmet, war oft Gelegenheitsmacher, oft Theilnehmer, nachdem Herr Herrmann we - niger oder mehr von den Herren v. X. Y. Z. und ihren Damen bemerkt werden konnte. Er wußt aus vieljaͤhriger Erfahrung, wasZweiter Th. Bder18der Adel in Curland zu bedeuten habe, und fuͤhlt es auch noch in den Gliedern, daß er wegen einer Grabſchrift drey Tage und drey Naͤchte wachen muͤſſen. Er dacht an alle Ehrenerklaͤrungen und Maulſchlaͤge, die er zu uͤbernehmen nothgedrungen worden, und an ſeine eigene Grabſchrift, die man noch le - bend auf ihn gemacht: Hier wacht der lebendig Todte. Viele Leute pflegten dieſer Grabſchrift wegen mit Herrn Herrmann ein Geſpoͤtte zu treiben und zu behaupten, daß er mit lebendigem Leibe ſpuͤcke.

Ein Tag, wie der heutige, fieng Herr v. G. an, nachdem er die Haͤnde gefalten und ſie gen Himmel gebrochen hatte, ein Tag, wie der heutige, iſt eines ſolchen Abends werth! Ich hab dieſen Tag gelebt, und wenn gleich viel vom Leben dieſes Tages auf die Rechnung der zehnjaͤhrigen Entfernung gehoͤret; ich ſetze zehn fuͤr eins zwoͤlf Tage koͤnnte man im Jahre von dieſer Art leben. Wer wolt aber vergeſſen, daß der Tod aufs Leben folgt, fuhr Herr v. G. fort! Der Herr v. W. wußte nicht Worte zu finden, dem Herrn v. G. ſeine Erkenntlichkeit zu beweiſen; denner19er hielte dieſes alles fuͤr Folgen ſeiner ſchwar - zen Weſt und Beinkleider und des Flors um den linken Arm, ob gleich die Weſte begoſſen war. Gern haͤtt er, in der erſten Hitze ſei - ner Erkenntlichkeit, das Gartengeſpraͤch mit Herrn Herrmann uͤber den Herrn v. G. oͤffentlich wiederrufen: allein dieſes wuͤrde ſich nicht geſchickt haben. Die Worte: Traget die Groben, weil ihr hoͤflich ſeid, waren ihm unertraͤglich geworden, ſo erkenntlich war er, und dieſe Anlage zur Erkenntlichkeit werden ſich meine Leſer ſchon bei dem Feſte der Deut - ſchen angezeichnet haben.

Die Frau v. W. und die uͤbrigen ſchrie - ben die heilige Schwermuth des Herrn v. G. auf die Rechnung des Sterbenden, dem mein Vater in die andre Welt zu leuch - ten gegangen war.

Ich hatte den Hauptſchluͤſſel zu dem Her - zen des Herrn v. G., den er bis dahin hin - terhalten hatte. Jezt erzaͤhlt er der Frau v. W., was mit ihm und dem alten Manne vorgefallen war, doch ſo, daß es alle hoͤren konnten. Wem haͤtt er dieſe Geſchicht auch beſſer dediciren koͤnnen, als der Frau v. W.? Der Herr v. G. ſah es mir an, daß mir dieſe Geſchichte nicht neu waͤre und ich fandB 2keine20keine Urſache zuruͤckzuhalten, daß ich den al - ten Mann mit dem einen Handſchuh ſelbſt gehoͤret haͤtte. Ich hatte mein Bekenntnis noch nicht vollendet, als Herr v. G. auf - ſprang, mir ſeine eingeweihte Hand reichte: der Seegen dieſes Himmliſchen, ſagt er, indem er mir die Hand druͤckte, wird auch auf dir ruhen, du Sohn deines Vaters! Nach mir gab er dieſe Hand der Frau v. W. ihrer Tochter, und zuletzt ſeinem Sohne, der aber nicht wußte, was ihm geſchah.

Der Herr v. W. haͤtte dieſen Handſchlag fuͤr einen Mangel der feinen Lebensart ge - halten, wenn der Herr v. G., der ſich aber von ſelbſt zu beſcheiden wußte, auch ihm ihn angeboten haͤtte; indeſſen war Herr v. W. doch ſehr bewegt uͤber dieſe Geſchichte und wer weis, wenn dieſer Himmliſche ein Edel - mann geweſen waͤre, ob er ihn nicht mit in ſein Trauerfeſt eingeſchaltet haͤtte. Jetzo konnt er auf dieſe Ehre nicht Anſpruch ma - chen, und das um ſo weniger, da er nur einen Handſchuh getragen.

Herr Herrmann wolte bey dieſer Gele - genheit den Herrn v. G. mit Witz unter den Arm greifen, auf den Herr v. G. ſich geſtuͤtzt hatte, und ihn durch einen Einfalltroͤſten.21troͤſten. Der elendeſte Troſt von allen, der jedem klugen Mann ekelt! Um zum witzigen Ziel zu kommen, mußt er einen langen un - angenehmen Umweg machen. Endlich an Ort und Stelle. Er erzaͤhlte, daß der Paſtor in einen Amtmann uͤber die ſchlechte Zeit zur Ruhe geſprochen und ihn auf den Himmel gewieſen haͤtte. Der Amt - mann aber in ſeiner Einfalt haͤtt ihm zur Antwort gegeben: Herr Paſtor, wie man hoͤrt, ſoll es auch da nicht mehr ſeyn, wie zuvor.

Herr v. W. war gewohnt, alles was er ſprach, abzuruͤnden, und dieſes vermißt er zuweilen am Herrmann, der, eh man es ſich verſah, aus der Rolle kam. Wahrlich er ſpielte zuviel Rollen. Ob nun gleich Herrmann alles that, was er dem Herrn v. W. an den Augen anſehen konnte; und immer Colophonium (Geigenharz) in der Hand hielt, um den Bogen des Herrn v. W. zu ſtaͤrken; ſo war dem Herrn v. W., der aus Hoͤflichkeit erkenntlich zu ſeyn wohl ver - ſtand, jedoch dieſer Gedanke voͤllig unpaſſend und ungeſchliffen. Er ſchuͤttelte ſein Haupt und verwies dem Herrn Herrmann dieſe Ge - ſchichte, wiewohl aus Erkenntlichkeit blosB 3mit22mit einem Winke, der ſagen ſolte: alles zu ſeiner Zeit Herr v. G. aber ſprang auf. Der Funke, fieng er an, war nicht werth, daß ſie ſo oft darnach ſchlugen. Ich habe dieſe Geſchichte, welche nach ihrer Ausſage dem Paſtor in begegnet ſeyn ſoll, ſchon in meiner Jugend gehoͤrt. Der Herr v. W. nahm ſich des Herrn Herrmanns nicht an, weil Herr Herrmann ſich nicht in die Zeit geſchickt hatte, und Herr v. G. behauptete, um den Witz deſto geſchwinder los zu werden, daß man ſich nicht beßer des Todes erinnern koͤnne, als wenn man ſchlafen gienge. Heil dem, ſagt er, der ſo ſtirbt, als ein Bauer einſchlaͤft, der gedroſchen hat. Nach ausge - ſtandener ſchwerer Arbeit in der Welt laͤßt ſichs ſelig und ruhig ſterben. In der letzten Stunde des Lebens ſieht man ſchon den Un - terſchied zwiſchen reicher Mann und armer Lazarus.

Man wuͤnſchte ſich eine gute Nacht. Herrmann beurlaubte ſich. Herr v. W. lies es bey dem Wunſch eine gute Nacht nicht bewenden, ſondern wuͤnſchte noch ergiebiger, daß die ewige Vorſicht ſowohl den Herrn v. G. als die gnaͤdige Frau vor allen Trauer - faͤllen bewahren und ſie die hoͤchſten Stuffendes23des menſchlichen Lebens hinauf fuͤhren moͤch - te. Herr Herrmann nahm Gelegenheit, dem Herrn v. W. wegen des Ablebens ſeines Hochwohlgebohrnen Herrn Grosvaters zu condoliren. Ich buͤckte mich blos, und da er dieſes gleichmaͤßig fuͤr eine Condolenz an - ſah, wandt er ſich zu jedem von uns beyden, zu mir zuerſt, und wuͤnſchte jedem was be - ſonders, jedem aber eine lange Reihe gluͤckli - cher Jahre.

Der Herr v. G. nahm die Frau v. W. bei der Hand, um ihr das Schlafzimmer an - zuweiſen. Da die Frau v. G. durchaus ſie auch begleiten wolte; gab ihr Herr v. W., nach vielen Complimenten und Bitten zu - ruͤck zu bleiben, auch die Hand. Dem juͤn - gern Herrn v. G. ward das kleine Fraͤulein v. W. angewieſen. Mich mußte der gewe - ſene Hofmeiſter, den ſein geweſener Unterge - bener nicht mehr vor voll anſahe, wiewohl in das nehmliche Zimmer bringen, wo ich ſchon die vorige Nacht geſchlafen hatte, und das ich alſo ohne dieſe Anweiſung gefunden haben wuͤrde. Hier ſolt auch der alte Herr ſchlafen. Dieſer lezte Umſtand, obſchon er von der Frau v. G. zu meiner Erniedrigung ausgekuͤnſtelt ſchien, und mich einen Augen -B 4blick24blick befremdete, war mir doch gleich nach dieſem Augenblick willkommen. Ein betruͤb - tes Herz liebet zaͤrtlicher, und wahre Liebe iſt keine frohe Leidenſchaft. Sie faͤngt mit Seufzern an, ſo wie wir mit Thraͤnen ge - boren werden. Mine war mit Leib und Seel vor meinen Augen, es iſt doch ihr Va - ter, dacht ich, und reichte dem Herrn Herr - mann die Hand. So Hand in Hand kamen wir ins Schlafzimmer. Hier legte der alte Herr ſein Protektionsanſehen, womit er mich ohnehin nur nach der Abreiſe meines Vaters, und das ſehr beylaͤufig, heimgeſucht hatte, zugleich mit ſeiner Peruͤk ab, und that un - gemein vertraut mit mir. Um ſeine heuti - ge Hofnarrenfuͤhrung zu entſchuldigen, zog er auf den Adel los. Traget die Narren, ſagt er, weil ihr klug ſeyd, und reſtituirte alſo dieſen Spruch in integrum, nachdem er von ihm und dem Herrn v. W. in der Art war verdrehet worden: Traget die Groben, weil ihr hoͤflich ſeyd. Ich weis nicht, wie’s mir anwandelte, daß ich dem alten Herrn bey den Worten: traget die Narren, weil ihr klug ſeyd, ins Wort fiel: allein macht euch nicht ſelbſt zum Narren

Es25

Es that mir leid, ſobald ich dieſen Zu - ſatz ausgeſprochen hatte. Der alte Herr ſchien es zu empfinden, und ſetzte ſeine Rechtfertigungen fort. Ein Litteratus iſt freylich, ſagt er, ein halber Edelmann; in - deſſen iſt zwiſchen halb und ganz ein Unter - ſchied. Man laß ihnen das von, wenn ſie uns nur den Verſtand laſſen. Da er her - ausgieng, ſich eine Flaſche Wein zu beſor - gen, um noch eine Pfeife, wie er ſagte, in bona pice et pace zu rauchen: nahm ich das Teſtament meines Vaters heraus, wel - ches ich die ganze Zeit uͤber verborgen in der Hand gehalten. Ich hatte beynah dieſen Abend nur mit einer Hand gegeſſen; denn ich konnte dies Teſtament in der Taſche kei - nen Augenblick allein laſſen. Die Hand, mit der ichs hielt, war in einer ſolchen Tran - ſpiration, als wenn ſie nicht zu den uͤbrigen Theilen des Koͤrpers gehoͤrte.

ανεχου και απὲχου las ich, und las wieder: ανεχου και απὲχου. Oefne ſie nicht eher, als wenn du in der groͤßten Noth biſt, und was iſt die groͤßte Noth? dacht ich bey mir ſelbſt. Ich fand, daß Geld in dieſem letzten Willen lag, und da es ſich nicht thun lies, meinen Kaſten aufzuſchließen,B 5und26und dieſe donationem mortis cauſſa zu den Denkzetteln meiner Mutter zu legen, die mir als eine donatio inter viuos vorkam; ſo de - ponirt ich dieſe Schrift vor der Hand ins Bett unters Kopfkuͤſſen, und dacht an mei - ne Mutter, und an den hochheiligen Abend vor der erſten Predigt bey dieſem Interims - depoſito. Ich mußt eilen; denn der alte Herr kam wieder, und ein Bedienter hinter her, mit Wein und einem Teller voll Rauch - toback. Da iſt Eſſen und Trinken, ſagte der alte Herr, und that dabey, als ob er etwas ſehr witziges geſagt haͤtte, welches ich aber nicht finden konnte. Bald darauf fieng er ſich an zu beklagen, daß er einen guten Freund ſeines Hauſes an mir verloͤhre, und ich nahm Gelegenheit, mich nach ſeinem Sohne zu erkundigen; vielleicht, dacht ich, faͤngt er von ſelbſt von ſeiner Tochter an, wenn er doch anfienge!

Ich ſah es ſeinen Augenwimpern, ſeiner Naſ und Stirn an, daß er ſein ganzes Geſicht umſtimmen mußte, eh er heraus zu bringen im Stande war, daß der Sohn eines Litte - ratus ein Schneider geworden waͤre, ob - gleich mein Bruſttuch, wie man es in Cur - land nennt, noch von der ſelbſt eigenen ge -lehrten27lehrten Hand des alten Herrn edirt war. Zwey, die ich im Kaſten hatte, waren ſo gar durch ihn geflickt und verbeſſert und vermehrt zum andernmal aufgelegt. Das iſt dem Benjamin nicht, fuhr er fort, in ſeiner Wiege vorgeſungen, und da er Darius war, hatt er ſo gut Koͤnig zu ſeyn die Ehre, als ein anderer. Manchem kommen die ge - bratene Tauben entgegen, ein anderer muß ihnen Netz und Strick legen, und ſie erſt fangen und braten. Das Schneider - handwerk, fuhr er nach einer Weile fort, da ich nicht noͤthig fand, ihm auf den Wie - gengeſang und die Dariusehre zu antwor - ten, das Schneiderhandwerk iſt bey alle dem fuͤr den Sohn eines Litteratus noch das ſchick - lichſte. Gott der Herr ſetzte ſelbſt, nach dem betruͤbten Suͤndenfall, dieſes geſchenkte Handwerk ein, und verfertigte die erſten Kleider. Was zu thun? Er ſitzt bey einem ſehr geſchickten Schneider auf Prima, und wird kuͤnftige Oſtern Student, oder Geſell, wie es die Leute nennen. (Dieſe Worte waren ein Gemiſch von Stolz und Satyre. Sie waren der alte Herr ſelbſt. Wer ihn hier nicht findet, findet ihn nirgend.) Meine ſelige Frau ſagte mir gleich nach uͤber -ſtande -28ſtandenen Wochen, Benjamin wird entweder Schneider oder Litteratus, welches ſie der Nothtaufe wegen vermeynte, die Benjamin empfieng. Das, verſicherte ſie, hab ich von alten Leuten, was die Nothtauf empfaͤngt, wird eines von beiden. Ich ſuchte ſie auf den rechten Weg zu lenken, und wolte durch - aus nur vom Litteratus hoͤren und wiſſen; allein ſie blieb bey ihrem entweder und oder, Das Bein, welches ſich, als er Darius war, zu ſeinem Vortheil wendete, und die rechte Hand, der er auch redlich nachgehol - fen, beſtaͤrkten meine Hofnung, und war - um ſolt er nicht? Sein Vater iſt ein Lit - teratus, und meine ſelige Frau war auch von gutem Hauſe; wenigſtens kann man ih - ren Vater ohne Bedenken nennen, (das war niederſchlagend Pulver fuͤr mich, damit ich mich ja nicht uͤberheben moͤchte) und hier glaubte der alte Herr, daß jemand zu uns kaͤme, und kehrte das Blatt bey der dritten Reihe von oben auf eine ſehr komiſche Art um, das alte Weib, ſagt er, als ob er fortfuͤhre, hatte dem Organiſten einen Streich geſpielt, und er ſang bey ihrer Trauung mit einem jungen Menſchen, der ſie des leidigen Geldes wegen heyrathete:

Was29
Was Gott thut, das iſt wohlgethan!
Soll ich den Kelch gleich ſchmecken,
der bitter iſt nach meinem Wahn;
laß ich mich doch nicht ſchrecken,
weil doch zuletzt

(nehmlich wenn ſie ſtirbt)

ich werd ergoͤtzt
mit ſuͤſſem Troſt im Herzen;
da weichen alle Schmerzen.

Der alte Herr ſahe ſeinen Irthum ein, der jemand, von dem er befuͤrchtete, daß er uns bey dieſen Familienangelegenheiten uͤber - fallen wuͤrde, gieng unſre Thuͤr vorbey. Herrmann nahm alſo ſein und auf

und, fuhr er fort, (als wenn er das Blatt zuvor zu rechter Zeit umgekehrt haͤtte) was wolt ich ſagen? und meiner Frauen Ent - weder, Oder iſt erfuͤllet! Entweder Littera - tus oder Schneider. Was Gott thut, ſagt ich, das iſt wohlgethan! Dieſe Worte brachten ihn auf Minchen, ich weis nicht wie

Minchen verdient einen Litteratus, fuhr er fort. Sie verdient, ſagt ich, einen Lit - teratus, der ihren Bruder nicht vernachlaͤſ - ſiget, wenn gleich er ein Schneider iſt. Dies beſchaͤmte den alten Herrn, der, ſobald nuretwas30etwas unſere Thuͤr vorbey rauſchte, ſeinen Sohn verſteckte, um ſich als Litteratus zu zeigen. Ich glaub er waͤr eher geſtorben, als daß er geſtern Abend uͤber Tafel, da man ſich ungefehr nach ſeinen Kindern er - kundigte, bemerken ſollen, daß Benjamin das Schneiderhandwerk ergriffen. Eine Tochter und einen Sohn, antwortete er auf die Erkundigung nach ſeinen Kindern, und mehr keine Sylbe. Ich kann mir vorſtellen, wie ſorgfaͤltig er ſein eigenes Bie - geleiſen, Nadel und Zwirn und Scheere und Schuſterpfriem und Leiſten und Toͤpferrad verborgen haben wird.

Minchen, ſagt er, ohn auf meine Zu - rechthuͤlfe zu achten, iſt ein Maͤdchen die der Familie keine Schande machen wird

Er erzaͤhlte mir ihre Vorzuͤge, die ich gottlob! beſſer wußte, wie ein Mann, der ſeines Sohns ſich ſchaͤmen konnte, blos weil der Sohn ein Schneider war. Bey alledem hoͤrt ich ihr Lob mit Vergnuͤgen. Da er aber auf ihre Kinderjahre kam, ward ich entzuͤckt. Ich fuͤhlte die Worte von gan - zem Herzen: Was Gott thut, das iſt wohlgethan!

Der31

Der alte Herr hieß mich waͤhrend dieſer Erzaͤhlung Herr Candidat, und freute ſich, daß auch ich ihn Herr Candidat nennte. Eine Hoͤflichkeit iſt der andern werth. Je oͤfter ich Herr Candidat ſagte, je mehr er - zaͤhlt er mir von Minchen mit einer ge - wiſſen vaͤterlichen Wohlmeinung, und je oͤf - ter nannt er auch mich wieder Herr Candi - dat. Er fieng an, mir dieſen Titel beyzu - legen.

Ein Paar loſe Buben (ich erzaͤhl ein Paar Geſchichtchen von meiner Mine) hat - ten aus einem Finkenneſte zwey Eyerchen geſtolen, und den Inhalt derſelben heraus - geblaſen. Dies erzaͤhlten dieſe Buben dem kleinen Minchen. Sie bildete ſich ein ſie hat eine ſtarke Einbildungskraft daß das beraubte Paar ihr verlaßnes Neſt vom benachbarten Baume anſaͤhe, und ſich ihr Leid einander klagte. Minchen klagte mit. Das liebe Maͤdchen wußte, daß man der Henne die Eyer nicht wegnimmt, daß ſie ſolche als getreues Hausthier dem Men - ſchen hinlegt. Sie bat ihre Mutter um zwey Eyer, die ihr heute und geſtern die Henne mit der ſchwarzen Muͤtze geſchenkt hatte, und hat den Benjamin, ihr den Ge -fallen32fallen zu thun, die Wallfahrt auf den Bir - kenbaum zu uͤbernehmen, und das verlaßne eiskalt gewordene Finkenneſt durch die zwey Huͤnereyer zu entſchaͤdigen. Dieſer ſchlug es der Gefahr wegen aus, er war zu der Zeit noch link und lahm und bemerkte ſehr weislich, daß die Huͤnereyer groͤßer waͤren, als die Finkeneyer, die er ſelbſt in den Haͤnden der Buben geſehen. Minchen freute ſich daruͤber: indem ſie glaubte, den Schaden deſto vollſtaͤndiger zu erſetzen. Ge - gen kleine! große! Sie bat ihren Bruder, und bat ihn wieder. Er aber blieb bey ſei - nem Nein, und ſeiner weiſen Bemerkung. Endlich ſah ſie den Baum einigemal an, uͤbermaas ſich und ihn, und da ſie ganz al - lein war, erſtieg ſie ihn, und legte die bey - den Eyer in das verlaßne Neſt, in Hof - nung, es wuͤrden ſich die Eigenthuͤmer wie - der zu Hauſe finden. Die Voͤgel, die haͤu - fig auf den Aeſten des Baumes ſaßen, den ſie erſtieg, wurden nicht im mindeſten ver - ſcheucht. Sie ſahen ſie ohngefehr, wie fromme Leute einen Engel ſehen wuͤrden. Den beyden Finken, die Minchen vor die beſtolne Eltern hielt, ſah und hoͤrte ſie die Freud und Dankbarkeit an. Voll Entzuͤ -ckung33ckung uͤber dies alles huͤpfte Minchen auf dem Baum, und fiel auf die Erde, ſo daß ſie ſich nicht regen konnte. Einer von den boͤſen Buben ſah ſie liegen; allein es war ihm nicht viel anders, als ein ausgeblaſe - nes Finkeney. Ihre Mutter, der man ih - ren wuͤrklichen Tod angekuͤndiget hatte, kam halb todt zu ihrer Tochter, die ſich nach und nach erholte. Der ganze Fehler meynte Minchen, (wiewohl kindlich) laͤge darin, daß ſie ſich ſchon auf dem Baum gefreut haͤtte

Ich haͤtte ſie ſollen auf dieſem Bette der Ehren ſehen, ſagt ich, da der alte Herr an dieſe Stelle kam. Sie iſt eine gebohrne Koͤnigin, ſetzt ich hinzu.

  • Der alte Herr. Ein Litteratus wird ihr ſchon zu Theil werden
  • Ich Benjamin that unrecht, daß er ſich entſchuldigte.
  • Der alte Herr link und lahm.
  • Ich Wer nur ein Bein hat, wagt nur ein Bein.
  • Aber, fuhr der alte Herr fort, ein Huͤ - nerey
Zweiter Th. CBey34

Bey Gott iſt das einerley, erwiedert ich, nur bey den Finken nicht. Ich glaube, Herr Candidat, bey unſern meiſten guten Handlungen iſt ein Huͤnerey, anſtatt eines Finkeney’s.

Lieben Leſer! ſeht da Minchen! Iſts moͤglich, daß der alte Herr ſo was erzaͤh - len, und der alte Herr bleiben konnte?

Minchen gieng einen ſchoͤnen Morgen ins Feld, und begegnet einen Jungen mit bey - den Haͤnden in den Haaren und weinen bit - terlich. Er hatt einen Milchtopf zerbrochen, und befuͤrchtete von ſeiner Mutter daruͤber geſchlagen zu werden. Sey gutes Muths, ſagte Minchen, und nahm ihm die rechte Hand von den Haaren, die linke Hand gab ſich von ſelbſt. Er lies ſich troͤſten. Je naͤher er aber zum Dorfe kam, je langſamer gieng er, und da er das Haus ſah, fieng er von neuem an zu weinen, und wolte durch - aus wieder mit der rechten Hand in die Haa - re die linke nach. Die Mutter des Jungen kam ihnen entgegen, und ihr erſtes Wort war: der Topf. Minchen trat vor und ſagte: liebe Nachbarin, ich! ich! bin den Topf ſchuldig. Seht! ich gieng ſchnell zu, und da war der Topf hin. MeineMut -35Mutter hat heute die Waͤſche, und da wißt ihr kann man nicht ſagen, daß ein Topf gebrochen iſt. Wenn die Waͤſche vorbey iſt, will ich euch einen andern Topf brin - gen. Die Baͤurin war gegen des alten Herrn Toͤchterchen ſo galant, daß ſie kei - nen Topf verlangte. Minchen verbat dieſes Geſchenk. Der Jung indeſſen, ſo - bald er merkte, daß die Mutter ſich gefun - den hatte, ſprach Minchen los, und eignete ſich der Wahrheit gemaͤß alle Schuld zu. Nehmt keinen Topf, Mutter, ſie hat ihn nicht zerbrochen, ich ſah, wie es alles ſo ſchoͤn gruͤn und gelb auf dem Felde war, und da fiel der Topf mir aus der Hand. Die Baͤurin war ſo bewegt, daß ſie Minen wie eine Heilige verehrte, und an ihrer Hand zu Hauſe begleitete. Ich erkundigte mich nach dem Jungen, und wuͤrd es gern ge - ſehen haben, daß Helm ſich durch dieſe große That in ſeiner Jugend ausgezeichnet haͤtte; allein der Herr Candidat verſicherte, daß dieſer Edle im ſiebenten Jahre ſelig verſtor - ben waͤre. Alle Welt, fuͤgte der alte Herr hinzu, ſagte: der Jung iſt zu ſchad fuͤr dieſe Welt, und die Wahrheit zu ſagen, ich wundre mich, daß Mine ſo gros gewordenC 2iſt36iſt. Der liebe Gott weis freylich was gut iſt, Herr Candidat, erwiedert ich, und will gern ſo was im Himmel haben; indeſſen iſt es auch auf der Erde zur Art noͤthig. Was wuͤrde ſonſt am Ende aus uns werden?

Der alte Herr gefiel mir ſo ſehr bey die - ſer Gelegenheit, daß ich ihn bey mir ſelbſt we - gen ſeiner heutigen Fuͤhrung und wegen vie - ler andern mir bewußten Umſtaͤnde zu entſchul - digen anfieng. Wuͤrde nicht Minchens Zeugnis ſelbſt wider ihn das Wort genom - men haben, ich haͤtt ihn noch laͤnger und mehr entſchuldiget, und vielleicht eben ſo oft Vater genannt, als ich ihn jetzo Herr Candidat zu ſeiner Seelenfreude nannte.

Es fiel mir zur rechten Zeit ein, daß man mit dem Vaternamen ſehr behutſam ſeyn muͤſſe, da das ganze Chriſtenthum dar - innen beſtehet, daß Gott unſer Vater iſt.

Minchen (aus der Erzaͤhlung des alten Herrn) nahm ſich in ihrer Kindheit immer der ſchwaͤchlichſten Pflanzen an. Sie begeg - nete ihnen, wie armen Leuten. Sie begoß ſie zuerſt, und ſtreichelte, liebkoſete und troͤ - ſtete ſie. Wenn der Wind eins beſchaͤdigte, zog ſie ihm das gebrochene Bein in Ord - nung, und heilte den Schaden. Gieng ihreins37eins aus, war es ihr ſo, als wenn was le - bendiges geſtorben waͤre. Gott hab es ſe - lig, ſagte ſie, und begrub es in die Erde, die, wie ſie ſagte, unſer aller Mutter iſt.

Das iſt die Weiſe aller guten Seelen, bemerkt ich, und der Herr Candidat fuͤhrte bey dieſer Gelegenheit an, daß mein Vater keinen Citronen oder Pomranzenkern in die Erde geſteckt. Ich halte dies, haͤtt er zu ihm geſagt, fuͤr eine Suͤnd in einem Lande, wie Curland, einen Citronenbaum zu pflan - zen. Aber die Blaͤtter riechen ſchoͤn, und ſind gut im Schnupftobak, ſagt ich zum Herrn Vater. Der Blaͤtter wegen, erwie - dert er, muß man keinen Citronenbaum in die Welt ſetzen. Nichts halb, lieber Freund! und ein Blat iſt kaum ein Viertel. Ich ſahe wohl ein, daß der Herr Candidat mei - nen Vater bei dieſem Umſtande ſehr unrichtig berechnete; indeſſen ſah ich keine Pflicht ab, ihn auf den rechten Weg zu lenken, und hie - durch die edle Zeit zu verlieren. Wo iſt eine Zeit, die edler waͤre, als die, wo ich von Minchens Kinderjahren erzaͤhlen hoͤrte. Wer ein Maͤdchen kennen will, frage nicht wie es jezt iſt, da es Ja ſagen ſoll; ſondern wie’s als Kind war, wo noch an kein Ja gedachtC 3wer -38werden konnte. Dies war freylich mein Fall nicht mit Minchen. Ich hatt ihre Kinder - jahre nicht zu dieſem Belag in beweiſender Form noͤthig; allein ich war entzuͤckt, meine Vorſtellungen von den erſten Jahren ihres Lebens ſo genau getroffen zu finden; ich fand alles, wie ich’s mir gedacht hatte.

Noch eins von Minchen unter ſo vielem. Ein benachbarter von Adel hatt einen kleinen juͤdiſchen Knaben, der mit Pfeifenkoͤpfen fuͤr andre Juden herumgieng, in Feſſeln legen laſſen, weil er eben zu der Zeit, da dieſer Judenknabe ihm Pfeifenkoͤpfe angebothen, ſein Federmeſſer nicht vorfinden konnte. Der Knabe ward gleich bis aufs Hemde ausge - zogen; allein man entdeckte kein Federmeſſer, ob gleich er noch keinen Tritt oder halben Schritt aus dem adlichen Hofe ſeit der Zeit geſetzet hatte, da das Meſſer vermißt war. Der Edelmann behielte zu Anfang wohlbe - daͤchtig alle Pfeifenkoͤpfe. Da ſich die zwey Eigenthuͤmer zur rechtlichen Vindication an - gaben, macht er ihnen viele Schwierigkeiten und ſetzt auf das verlohrne Meſſer einen uner - hoͤrten Lieblingswerth. (Pretium affectionis) Es wuͤrden die Vindicanten nichts dagegen ausgerichtet haben, wenn ſich nicht zwey an -dre39dre benachbarte Edelleute, die zu ihren Piſto - len: macht euch fertig, ſagten, dieſer Juden und ihrer Pfeifenkoͤpfe angenommen haͤtten. Der arme Junge blieb alſo der einzige Gegen - ſtand der Grauſamkeit, die durch dieſen Vor - gang noch mehr vergroͤßert ward. Der Un - gluͤckliche ſolte verbuͤßen, daß ſich die Juden als Vindicanten und die zwey Edelleute als Sekundanten gemeldet hatten. Man konnte nicht begreifen, was Herr v. mit dieſem Arreſt beabſichtigte; indeſſen ſchien er zu glau - ben, daß ſich einer von den Iſraeliten mel - den, und den armen Jungen loͤſen wuͤrde. Alles bedaurte den ungluͤcklichen Knaben. Chriſt und Jude ſprach von des Edelmanns Grauſamkeit. Der Chriſt ſagt indeſſen, es iſt ein Judenknabe, und der Jude, wer wirds mit dem vornehmen Chriſten anbinden. Die zwey Eigenthuͤmer der Pfeifenkoͤpfe, welche dem Ungluͤcklichen die Commißionsguͤter an - vertrauet hatten, giengen auch wie der Prie - ſter und Levite vorbey, und wuͤnſchten ſich, ſo oft an die Grauſamkeit des Edelmanns ge - dacht wurde, Gluͤck, daß ſie ihre Pfeifenkoͤ - pfe in Sicherheit haͤtten. Der grauſame Edelmann, dem das Brod und Waſſer mit der Zeit zu koſtbar ward, welches er zu demC 4hohen40hohen Ausloͤſungspreis treufleißig geſchlagen hatte, ſetzte dieſen Preis bis auf die Helfte herab. Allein niemand that einen Both. Wegen der Pfeifenkoͤpfe ſchlugen ſich ſogleich zwey Edelleut ins Mittel, und bedrohter ihren Mitbruder, mit ihm Kugeln zu wech - ſeln, oder ihm einen rothen Hahn aufs Haus zu ſetzen. Was iſt aber ein Judenjunge ge - gen meerſchaume Pfeifenkoͤpfe? Die Eigen - thuͤmer hatten ſich, unter uns geſagt, mit dieſen Renomiſten abgefunden. Die Hoch - wohlgebohrnen Schlaͤger droheten nicht um - ſonſt, ſondern vor Geld und gute Worte.

Der arme Judenjunge! Zu den ſchoͤnen Reden, womit man ihn bedaurete, und ſich uͤber die Grauſamkeit des Edelmanns beklagte, kam nun noch der Umſtand, den man hinzu - fuͤgte: der Edelmann haͤtte den Preis des Federmeſſers und den des Brods und Waſ - ſers, womit der Knab im Gefaͤngniße bekoͤ - ſtiget worden, auf die Helfte herabgeſchla - gen hiebey bliebs. Es war um Weynachten, da Minchen und ihr Bruder ihren bemittelten Verwannten muͤtterlicher Seits beſuchten, um ein Chriſtgeſchenk, wel - ches in allerley Spielzeug beſtand, abzuho - len. Dieſer Verwannte wohnte dem Ty -ran -41rannen noch naͤher. Man weis, wie gern Kinder, und beſonders wie gern Maͤdchens ſpielen. Es war Weynachten, wo die Na - tur den Kindern, außer den Schneebaͤllen, die keinem Maͤdchen anſtehen, alles Spiel - zeug verſagt. Weynachten iſt ein wah - res Kinderfeſt, an dem das Spiel zur an - dern Natur wird. Es liegt uns im chriſt - lichen Blut, und alte Leute ſelbſt muͤſſen ſich zwingen, wenn ſie nicht ſelbſt in Weynachten ſpielen wollen. Alles dieſes zuſammen - gerechnet, in Summe, konnte Minchen von ihrem Entſchluß nicht abwendig machen. Ihre Verwannten waren furchtſam wie Tau - ben, die in der Nachbarſchaft von Raubvoͤ - geln geniſtelt haben. Der arme Judenjunge ſtoͤrt ihre heilige Chriſtfreude. Sie waren nicht halb ſo weynachtsfroh, als ſie es ſonſt geweſen ſeyn wuͤrden. Das Federmeſſer hatte ſich nach der Zeit vorgefunden, und der un - ſchuldige Knabe war blos wegen des verzehr - ten Brods und Waſſers in Ketten und Ban - den. Minchen ſchickte ſtillſchweigend durch ihren Bruder Benjamin, der aber kein Stuͤck von dem Seinigen dazu legte, ihr Weynachtsſpielzeug dem Edelmann, um den Knaben zu befreyen. Benjamin hatte Gele -C 5gen -42genheit zu Schlitten hinzukommen: denn ſonſt waͤr ihm dieſer Liebesdienſt, weil er hinkte, auch etwas zu ſtehen gekommen, ob - ſchon er von ſeinem Spielzeug kein Stuͤck da - zu gelegt hatte, und obgleich es nur uͤber Feld war. Haͤtt er nicht Gelegenheit gehabt, eine Schlittenfarth zu gewinnen, die bey ihm uͤber alles gieng, es waͤr aus der Negotia - tion nichts geworden. Zu Benjamins Ruhme wird bemerkt, daß er ſeiner Schwe - ſter die Erlaubnis gegeben, ſich ſeines Spiel - zeugs, deſſen Eigenthum er ſich aber aus - druͤcklich vorbehielt, zu bedienen. Es war indeſſen nicht Spielzeug fuͤr Maͤdchen, die am liebſten eine Wiege, eine Puppe, und ſo etwas lieben. Benjamin ward, weil er als ein Knabe mit Spielzeug angemeldet wurde, vorgelaſſen. Der ehrliche Benjamin erweckte ſogleich ein Haͤndeklatſchen, da er nur ins Zimmer trat; denn man glaubt einen großen Kram, und es war nur ein Arm voll. Urſache genug! daß ſogleich ſcrutinirt und Benjamin bei dieſem Verhoͤr nach Lan - desmanier mit dem Stock hochadlich bedro - het wurde. Benjamin lies es nicht zur pein - lichen Frage kommen, ſondern geſtand alles haarklein. Meine Schweſter, ſagte derbe -43bedraͤngte Benjamin, hat an allem Unheil ſchuld. Kurz, es blieb kein Wort auf ſeinem verzagten Herzen. Benjamin war zu dieſer Zeit noch nicht zum Darius gediehen, und wer kennt ihn nicht vom Finkenneſt?

Der Teufel, dachte Herr v. , wenn es nur nicht ein ſatyriſcher Ball iſt, den der alte Herr auf mich ſchlaͤget, und hatte Luſt, ihn auf den jungen Herrn zuruͤckzuſchlagen, und den armen Benjamin mit ſeinem chriſt - lichen Spielzeuge dem Judenjungen zuzuge - ſellen. Da aber Benjamin, der aus See - len - und Leibesangſt aͤchtzte, kniefaͤllig bat, ſeinem Vater nichts von allem, was der gnaͤ - dige Herr geſehen und gehoͤret hatte, zu entdecken, weil Herr Herrmann von die - ſer Sache nichts, gar nichts wußte, und ihn an einem ganz andern Ort glaubte; ſo fiel dem Blutygel zu guter Zeit ein, daß der alte Herr freylich nur von hinten mit einem Cavalier geſcherzet haben wuͤrde.

Der Teufel, dacht er wieder, (man ſah es ihm ordentlich an, daß er jeden Ge - danken mit dem Teufel anhob,) der alte Herr wuͤrde nicht den Sohn geſchickt ha - ben! Die Sonne gieng wieder in ſei - nem Angeſicht fuͤr Benjamin auf. DerTeu -44Teufel, ſagt er, deine Schweſter muß ein feines Maͤdel ſeyn! Die Sache gab zu vie - len ſatyriſchen Fragen, Benjamins Schwe - ſter betreffend, Anlaß. Er fragte nach ih - rem Alter? und ob ſie denn eine ſolche Nei - gung zu Juden haͤtte? Der Schluß war, daß nur ein Stuͤck Spielzeug zuruͤckbehalten wur - de, welches ſich der Junker Fritz ſogleich zuge - eignet hatte. Der Judenknabe ward losge - laſſen; Benjamin aber mußte dieſer Grosmuth wegen, um der Hochadlichen Herrſchaft zur Weynachtszeit ein Vergnuͤ - gen zu machen, dreymal um den großen Tiſch hinken, und alles wolte vor Lachen niederſinken. Eine natuͤrliche Polonoiſe! ſchrie alles, und lachte, was es konnte; nur der hinkende Benjamin nicht. Der Junker Fritz gab ſein Spielzeug der gnaͤdigen Mam - ma zu halten, und verſuchte dem Benjamin nachzuſpotten, da er aber bey einem Haar ein adliches Bein gebrochen haͤtte; ſo blieb es bey einem mahl, und Benjamin ſahe nach dem armen Judenknaben, der blas wie eine Leiche ſtand. Der Tod haͤtt ihn bald befreyt, wenn Benjamin dem Tode nicht zuvor gekommen waͤre. Benjamin bot dem Judenknaben, ſo bald ſie aus der adlichenGeſell -45Geſellſchaft im Freien waren, von ſeinem, oder beßer, von ſeiner Schweſter heiligen Chriſt an, um ſich dafuͤr Eßen zu kaufen. Der Judenknabe verbat es aus Religions - eifer, und blieb lieber hungrig und durſtig, als daß er ſich fuͤr dieſes chriſtliche Spielzeug labte. Benjamin hatte ſich bey dieſer Ge - legenheit die Schlittenfahrt ſo verekelt, daß er nie ohne Herzensangſt daran denken konnte. Dieſes Vergnuͤgen hatte fuͤr ihn keinen Werth mehr. Er hinkte zu Hauſ und dankte Gott, daß niemand druͤber lachte, als wie er dreymahl um den großen Tiſch hinken mußte.

Obgleich Benjamin das Spielzeug bis auf ein Stuͤck, ſo der Junker Fritz behalten hatte, zuruͤckbrachte, indem er wegen des uͤbrigen, dreymal um den Tiſch hinken muͤſ - ſen; ſo ward doch dieſe Begebenheit ſo be - kannt, daß Minchen daruͤber viel ausſte - hen, und die bitterſten Thraͤnen weinen mußte. (Ich hab Urſache, aus der Er - zaͤhlung des Herrn Candidaten zu ver - muthen, daß der Herr Vater Minchen ſelbſt im Litterateneifer reichlich und taͤglich beſchaͤmt haben wird.) Man zog Min - chen unter ihres Gleichen mit dem Juden -knaben46knaben auf, und ſie nahm es ſich unendlich zu Herzen. Ich habe, ſagte ſie in ihrer Unſchuld zu Benjamin, den Judenknaben nicht geſehen, und will es auch nicht. Der Spott zehrte ſie ſo ab, als das Gefaͤng - nis bey Waſſer und Brod den Judenknaben. Sie fiel in ein Fieber, und nun gieng der alte Herr in ſich, welcher mit Beyhuͤlfe des Doktors Saft wieder Seel und Leib ins Ge - leiſe brachte. Der alte Herr bemerkte, daß ſich die Liebe zur Schlittenfarth beym Benjamin wieder gefunden, und daß Min - chen noch bis auf den heutigen Tag bleich im Geſicht wie gewaͤßerte Milch wuͤrde, wenn man das Wort Jude ausſpraͤche, wie (Der Herr Candidat legte ſeine Pfeife hin, und kam mir dicht ans Ohr, da er mir dieſe Pille eingab) ihr Herr Vater uͤber den Ausdruck Melchi - ſedech.

Dieſe Zugabe ſetzte mich nicht wenig in Erſtaunen, und ich machte die Bemerkung, daß jeder Menſch, der unſchuldigſte nicht ausgenommen, ein Wort haͤtte, wobey ihm nicht wohl zu Muth wuͤrde, es ſey Melchi - ſedech Judenjunge ich zum Exem - pel

Gott!47

Gott! muß man denn, rief ich aus, noch ehe der Herr Candidat geendiget hatte, Gott! muß man denn ein Fieber ausſtehen, durch den D. Saft gerettet, und mit ei - nem Judenjungen gepaart werden, wenn man Gutes thut! Der alte Herr ſetzte noch hiezu: und dreymal um den großen Tiſch hinken!

O Minchen! welch eine Seele haſt du! (dies fuͤhlt ich nur) wie gluͤcklich bin ich, daß ſie mein iſt! ich war außer mir.

Bey dem Alexanderſpiel hatt es Min - chen in der erſten Zeit uͤbel aufgenommen, daß ihr Bruder Darius immer geſchlagen wurde. Laß mich den Darius machen, ſagte ſie zu Benjamin. Du wirſt ſehen wir gewinnen. Benjamin aber entſchuldigte ſich ſehr weiſe mit der Geſchichte, welcher er nachgeben muͤßte, obgleich ich auch beym Ringen, eh er Darius und ich Alexander war, jederzeit bey allem ſeinem Schweis des Angeſichts Ueberwinder war. Nach - dem ſie groͤßer war, ſetzte der Herr Candi - dat hinzu, ließ ſie ſich gern ſchlagen und ge - fangen nehmen. Sie ſah es ohnfehlbar ſelbſt ein, daß es die Geſchichte ſo mit ſich brachte. Wie viel Muͤhe hatt ich, nichtuͤber -48uͤberlaut zu rufen: Mine! Mine! liebe Mine! Der alte Herr bemerkte, daß Min - chen fuͤr ein Frauenzimmer zu viel Herz haͤtte, und rechnet es ihr zum Fehler an. Entweder, ſagt er, iſt die Rolle daran Schuld, die ſie bey den Kriegen als aͤlteſte Prinzeßin Tochter des Darius uͤbernahm oder ſie kennt keine Damen von Stande. Mag ſie ſich doch, fuhr er fort, der Littera - tus, der ſie zur Frau macht, beßer ziehen. Sie fuͤrchtet ſich fuͤr keine Maus und keinen Froſch, und wenn die Spinnen den Weg verwuͤrkt haben, zieht ſie das Geweb wie einen Vorhang in die Hoͤhe mit bloßen Haͤn - den. Noch bemerkte der Herr Candidat, daß Mine in ihrer Jugend, obſchon ſie we - gen des Finkenneſts einmal ruͤhmlichſt vom Baum gefallen, doch nicht nachgelaſſen, wie - wohl nur auf der Erde zu huͤpfen, und zu ſpringen. Je groͤßer ſie aber wurde, je ernſthafter, ſetzt er hinzu. Nur ſehr ſehr ſelten wandelt ihr jetzo, fuhr er fort, das Huͤpfen und Springen an, weit oͤfter aber das Weinen welches nach dem Tod ihrer Mutter ohn End und Ziel iſt, und das (der alte Herr zog ſelbſt den Mund zur Thraͤ - ne in Ordnung, indeſſen wolt es die Pfeifenicht49nicht zugeben ) und das, ſagt er, ſo ſchoͤne Thraͤnen, und ſchien nicht undeutlich zu verſtehen zu geben, daß zwiſchen Thraͤnen und Thraͤnen ſchoͤn und heßlich ſtatt finde. Was mich wunderte war, daß er ſelbſt fuͤhl - te, Minchen ſaͤnge vortreflich. Was das Spielen betrift, fuhr er fort, ſo hat ſie ihre eigene Manier. Freylich, dacht ich, den ſteinigten Acker verſteht ſie nicht auszudruͤ - cken, auch nicht die fuͤnf Gerſten Brodte und ein wenig Fiſchlein. Da der Herr Candidat außer ihren erſten Jugendjahren nichts von Minchen zu ſagen wußte, was mir nicht weit genauer und richtiger bekannt war; ſo lenkt ich ihn auf die Univerſitaͤten, allein ich fand ihn nicht bewaͤrth. Er ſagte davon we - niger, wie mein Vater von ſeinem Vater - lande, und dies war wohl natuͤrlich, da mein Vater gewiß ein Vaterland hatte, der Herr Candidat aber ſchwerlich auf irgend einer Uni - verſitaͤt geweſen ſeyn wird. Des Herrn Candidaten fruͤhere Spargel, Pfeife in der freien Luft, und Wein bey der Quelle, waren bey dieſer Gelegenheit ein Vade mecum von Studentenſtreichen, womit er meine Frage nicht befriedigte. Ich brach alſo ab, ohne ihm, ſo ſchlecht er auchZweiter Th. Dbeym50beym Examen beſtand, den Candidatentitel zu entziehen. Ich weiß nicht, ob ich ſchon wo bemerkt habe, daß er kein Curlaͤnder von Geburt war, und daß man ihm ſeine Litte - ratenwuͤrde aus der erſten Hand nicht wider - legen konnte.

Ich merkt aus meiner Munterkeit, daß ich dieſe Nacht Minchens wegen eben ſo we - nig ſchlafen wuͤrde, als ich die vorige Nacht des neuen Bettes halber geſchlafen; indeſſen ſah ich dem Herrn Candidaten, meinem ſehr werthen Herrn Collegen, der ſeine Bouteille Wein ausgetrunken und ſeinen Teller mit Tobak bis auf eine halbe Pfeife ausgeraucht hatte, an, daß er ſchlaftrunken war. Wein und Tobak hatten hiebey, wie es mir vorkam, nicht den mindeſten Einfluß. Er fieng mit mir zu complimentiren an, in welchem Bett ich ſchlafen wolte und verlangte durchaus das Bette, wo das Depoſitum lag, weil das, ſo ich ihm beſtimmt hatte, und in welchem mein Vater geſchlafen, mit einem Geſimſe war. Vorhaͤnge konnten in dem Hauſe des Herrn v. G. an dem Bette nicht ſeyn. Ich glaube, ſagte der Herr Candidat, da wir uͤber dieſen Umſtand ſprachen, Herr v. G. haͤtte, wenn er Adam im Paradieſe geweſen, ſich keineSchuͤrze51Schuͤrze von Feigenblaͤttern gemacht. Der Herr v. W. brachte ſich, wenn er zum Herrn v. G. kam, ſeine ſeidne Vorhaͤnge mit. Ohn - fehlbar wird wohl die Farbe der Vorhaͤnge nach Beſchaffenheit des Feſtes geweſen ſeyn. Mit Zuverlaͤßigkeit weiß ich’s nicht. Da ich den Herrn Candidaten verſicherte, daß ich in dieſem Bette ſchon eine Nacht ſchlaflos zu - gebracht und den Tribut bezahlt haͤtte: ſo bat er ſich, wenn es ohne mir etwas zu ent - ziehen geſchehen koͤnnte, ein Kopfkuͤſſen von den Meinigen aus. Das war eine neue Ver - legenheit fuͤr mich wegen des lezten Willens, den ich ſeinem Aug entziehen wolte. Er ſtand an meinem Bette und wolt aus Be - ſcheidenheit und Dankbarkeit das Kuͤßen ſelbſt nehmen: ich hatte viele Kunſt noͤthig, ihm das unterſte in die Hand zu ſpielen. Kaum war er im Bette, ſo ſchlief er, wovon er durch ſein Schnarchen untruͤgliche Beweiſe gab. Ich widmete Minchen dieſe Nacht, und wenn ich ſchlummerte, ſah ich den Ju - denjungen und das Finkenneſt und den Milch - topf, alles in Lebensgroͤße. Gegen den Morgen ſchlief ich feſter ein; indeſſen ſagt ich dem Herrn Candidaten den erſten guten Morgen, weil ich ihn aufwachen hoͤrte, undD 2fuhr52fuhr mit ſechſen aus meinem Bette. Er dankte fuͤr den guten Morgen; allein er blieb bey dem Dank, wie ’s ſich eignet und ge - buͤhrt, im Bette. Nach ſeinem ſchoͤnen guten Morgen war ſein erſtes Wort, daß ich zweymal Minchen gerufen haͤtte. Ich weis nicht, fuͤgt er ſehr hoͤflich hinzu, ob es mei - ne Tochter iſt? Gewiß, erwiedert ich, und begrif es ſelbſt nicht, wie’s zugieng; ich war beym Woͤrtchen Gewiß nicht im mindeſten verlegen: vielleicht kam es, weil der alte Herr noch im Bette war. Wie haͤtt ich Minchen verleugnen koͤnnen! Wir haben ge - ſtern, fuhr er fort, viel von ihr geſprochen, der Herr Candidat werden es verzeihen, daß ich Sie ſo lange von meiner Tochter unterhal - ten. Ich konnte kein Wort hierauf antwor - ten ohnfehlbar wolte der Herr Candidat einen voͤlligen Herzensaufſchluß; allein wie ſolt ich den bewilligen? Der alte Herr Can - didat war noch immer im Bett und, wie’s mir vorkam, auf einem Haͤufchen. Er ſchien nicht in Lebensgroͤße zu liegen und ſo lang er war; er wußte ſich nicht nach ſeiner Decke zu ſtrecken.

Damit meine Leſer nur ja nicht auf den Gedanken fallen, daß ich noch viele Tagein53in geblieben und ihnen all dieſe Tage meines Aufenthalts eben ſo langwei - lig wie bisher erzaͤhlen werde; ſo will ich nur kurz und gut bemerken, daß der folgende Tag zu unſerm Aufbruch beſtimmt war. Hof - fentlich wird ihnen dieſe Anzeige eine froͤli - che Botſchaft ſeyn.

Der junge Herr v. G. nahm mich we - gen der Jagd in Anſpruch. Ich hatt ihm daruͤber mein Wort gegeben und ſogar den Commandoſtab hiebey anvertrauet. Ohne Murren nahm ich alſo ſeinen Antrag als eine Ordre an, Vormittage dieſe Jagd anzuſtel - len. Die Wahrheit zu ſagen: ich wolt ihn auf der Jagd wo moͤglich von der Jagd ab - bringen, und dieſen Jaͤgertrieb beſchraͤn - ken.

Ich war in dieſer ritterlichen Uebung we - nig erfahren, obgleich ich ein Auge zum Ziel - ſchuß auf ein Haar hatte, ohne mir durch Puf, Paf, und durch das Exercitium mit der Tobakspfeife, dieſe Geſchicklichkeit erzielt, oder ihr auch nur nachgeholfen zu haben. Warum willſt du, ſagt ich, ein ſo blutiges Andenken zuruͤcklaſſen, eben da du von hin - nen ziehſt? Mein Recht nicht zu vergeben, erwiedert er. Du glaubſt es nicht, manD 3muß54muß die Baͤren und Woͤlfe im Reſpekt er - halten, wenn es auch nur durch einen Schuß iſt, die Beſtien machen unſer einem ſonſt das Eigenthum ſtrittig der Haaſe kennt ſeinen Junker.

Wir hatten oft angelegt, und eben legte mein Reiſegefehrt an, da ich eine Menſchen - ſtimme hoͤrte: Rett! Rett!

Herr v. G. kam nicht aus der Stellung: ich lief und ſchrie wo? wo? hier! hier! wo? wo? hier! hier! und denn wieder Rett! Rett! und mitten drunter mit einer erbaͤrm - lichen Stimme: Lorchen im Waſſer! Auch dies brachte den Herrn Braͤutigam in keine andre Lage; er hatt angelegt. Noch viele Rett’s! Rett’s! und viele hiers! hiers! und noch mehrere wo? wo? ich rief wo bis ich ſah ich ſah die Begleiterin der Fraͤu - lein v. W. jaͤmmerlich die Haͤnde ringen. Hier, hier, rief ſie noch zu guter lezt. O Gott! matt! matt! Die Waſſer uͤber Sie! Ich warf meine Flinte weg, und dieſe gieng los. Luiſe fiel in Ohnmacht. Das wird ſich geben, dacht ich, und ſprang ins Waſſer, und brachte das liebe kleine Ge - ſchoͤpf heraus. Die Angſt hatte ihre kleine Haͤnde gelaͤhmt. Das Waſſer war ihr mehran55an die Seele, als an den Leib, gegangen jezt war ſie friſch wie ein Fiſch worden, wuͤrde meine Mutter des Reims wegen ge - ſagt haben.

Luischen, ſagte ſie, da ſie ihre Beglei - terin wie todt liegen ſah. Ich nahm einen Hut mit Waßer, um Luischen ins Seyn zu - ruͤckzubringen; allein das Wort ihrer Pfleg - befohlnen: Luischen, hatte ſie ſchon aufer - weckt. Ich kam mit meinem Hut voll Waſ - ſer zu ſpaͤt, und goß dies Waßer, welches zum Schlagwaßer beſtimmt und eingeweihet war, ſo andaͤchtig aus, als meine Mutter das Reſtchen vom Taufwaßer ausgegoſ - ſen haben wuͤrde, welches nach ihrer Mei - nung ein paradiſiſches Gruͤn befoͤrdert. Wir wollen, ſagt ich zu Luiſen, unſer Schaͤfchen aufs Trockne bringen. Es lief Waßer von ihr herab, wie nach einem ſtar - ken Regen von den Daͤchern. Luiſe wolt ſie ſchelten, daß ſie einem Steige zu ſehr ge - trauet haͤtte; allein Luiſe ſahe wohl ein, daß das Wiedervergeltungsrecht zu Hauſe nicht ausbleiben wuͤrde. Es ward alſo verabredet, daß ſich das Fraͤulein v. W. ganz ſauber und ſchoͤn ankleiden, und darauf erſt ihrer Mutter den Vorfall erzaͤhlen ſollte. Wißen,D 4ſagte56ſagte ſie, muß Sie’s. Mich, bat ich, laſ - ſen Sie aus dieſer Geſchichte. Sie? ant - wortete die Kleine, und reichte mir die Hand. Ich wußte nicht ob dies Sie? Ja oder Nein war. Es ſprach das liebe kleine Maͤdchen Sie ganz beſonders aus. Ich koͤnnt es ihr zur Noth noch nach ſprechen! Waͤhrend der Zeit kam mein Reiſegefehrt, und, ohne ſich nach ſeiner Braut zu erkun - digen, macht er mir Vorwuͤrfe, daß ich ihn mit meinen Wos und Luiſe mit ihren Retts und Hiers geſtoͤret haͤtte. Bruder, ſagt ich, das Wort Rett iſt das deutſche hohe Nothwort. Wenn es ein Sterbender hoͤrt, muß er ſich noch aufrichten. Nur keiner, fiel er ganz gelaſſen ein, der ange - legt hat, und was haſt denn du getroffen? fuhr er fort. Dies edle Geſchoͤpf, ſagt ich. Er ward von allem unterrichtet, und ver - ſicherte hoch und theuer, daß wenn er nicht angelegt gehabt, er gewiß eben ſo, wie ich, ge - laufen und die Flinte weggeworfen haben wuͤrde, ſo unverantwortlich es gleich waͤre, Pul - ver und Schrot, dieſe Gabe Gottes, umkom - men zu laßen. Luiſe lachte herzlich. Die liebe Kleine ſah mich blos lieblich an. Beyde wußten ſich nicht drinn zu finden,daß57daß Pulver eine Gabe Gottes ſey. Der junge Herr v. G. konnte nicht leugnen, den Namen Lorchen gehoͤrt zu haben, indeſſen hatt er angelegt, das wolte mehr ſagen, als Lorchen. Es iſt wahr, durchs Ohr kommt weniger Mitleiden ins Herz, als durchs Auge. Man kann eher ſeine Stimme als ſein Auge verſtellen, und wen ſiehſt du, wenn du jemand ins Auge ſiehſt? dich ſelbſt im Kleinen. Du biſt in gewißer Art gegen dich ſelbſt mitleidig; allein hier iſt nicht von mehr oder weniger die Rede, ſon - dern von Menſchenſtimme und von einem Jaͤger, der angelegt hat.

Das kleine Fraͤulein und ihre Begleiterin ſchlichen ſich nach Hauſe, recht als ob die Frau v. W. ſie hier ſchon beym Waſſer be - merken koͤnnte.

Mein Reiſegefehrt unterrichtete mich in noch einigen Jaͤgerkunſtworten, und da ihm eben ein Haaſ aufſtieß, den er traf, war unſre Jagd zu Ende. Ich ließ mir ſei - nen Unterricht mit vielem Eifer gefallen, um ihn deſto mehr zu meiner Predigt vorzu - bereiten, die ich uͤberdacht hatte, und noch uͤberdachte. Gewiß war mein Reiſegefehrte vergnuͤgter uͤber ſeinen Haaſen, als ich uͤberD 5die58die Ehre, ſeine kleine Braut gerettet zu ha - ben. Er lies mich merken, daß im Hof - dorf ein ſchmuckes Maͤdchen waͤre, ſo wie Fraͤulein v. W. wie er ſich ausdruͤckt in die - ſem Jammerthal nicht werden wuͤrde, und wenn Herr v. W. nicht ein Gut haͤtte, das er ihm gleich, ohne ſich ſelbſt zu entbloͤßen, nach ritterlich uͤberwundenen academiſchen Jahren uͤberlaßen koͤnnte; ſo wuͤrd er, auſ - ſer dem ſchmucken Maͤdchen im Hofdorfe, ſchon eine Frau finden. Ich ſprach viel von der guten Gemuͤthsart der Kleinen, und der edlen Gemuͤthsart ihrer Mutter; allein dies ſchien ihm gegen das Gut, das er nach uͤber - wundenen Univerſitaͤtsjahren zu bejagen ge - daͤchte, eine unbedeutende Kleinigkeit zu ſeyn.

Obgleich der Vorfall mit Lorchen mir eben keinen gluͤcklichen Erfolg uͤber eine Pre - digt erwarten lies, die ich meinem kuͤnftigen Kirchenpatron zu halten entſchloßen war; ſo wolt ich doch nicht alle Hofnung aufgeben. Meine Leſer wißen ſchon, daß ich waͤhrend dem Anlegen auf die Bekehrung meines jetzi - gen Reiſegefehrten und kuͤnftigen Goͤnners gezielt hatte, und wer haͤlt nicht gern eine Predigt, die er im Concept hat?

Bruder,59

Bruder, fieng ich an: die Spinne faͤngt Fliegen.

  • v. G. Der Menſch Baͤren, Woͤlfe, Haaſen und ſo weiter.
  • Ich. Der Menſch, Bruder, aber lei - der zwiſchen Menſch und Menſch iſt Un - terſchied. Du wuͤrdeſt kein Scharf - richter ſeyn, nicht wahr?
  • v. G. Warum nicht? wenn dem Delin - quenten die Augen verbunden ſind.
  • Ich. aber Menſchenblut. Dein Blut bey kaltem Blute ſehen, ich kanns nicht, wenn Ader gelaßen wird. Mich duͤnkt ich ſeh den Menſchen mehr, als nackt, wenn ich ſein Blut ſehe das der liebe Gott zweymal verſchloßen hat. Im Kriege hat niemand kaltes Blut, als der Oberfeldprobſt und ſeine Juͤnger. Wir haben ſchon uͤber Krieg und Jagd ge - redet: allein es iſt auf kein gut Land, ſon - dern auf ſteinigten Acker, gefallen, den der alte Herr in Muſik geſetzt hat. Du biſt zu edlern Geſchaͤften da.
  • Er. Gelt! Lorchen aus dem Waſſer zu ziehen.
  • Ich. Und wenns die ſchmucke Hofdirne geweſen waͤre?
Er. 60
  • Er. Bruder, ein ander Ding! ich weiß auch, wenn der Menſch ſelbſt ſchreiet, der in Noth iſt hohl mich Haͤtte Lorchen ſelbſt geſchrien, und nicht ſchreien laßen, ich waͤre gelaufen, auch wenn ich eben angelegt haͤtte.
  • Ich. Lorchen bey Seite.
  • Er. Schoͤn.
  • Ich. Ein Jaͤger und Student?
  • Er. Das ſolt nicht paßen?
  • Ich. Haſt du den Plinius uͤberſetzt?
  • Er. Nein! dieſe Ehre habe ich nicht ge - habt. Das ſolt mein kuͤnftiger Schwie - gervater, Gott hab ihn ſelig! hoͤren!
  • Ich. Des Plinius Brief an ſeinen Corne - lius Tacitus iſt fuͤr dich. Ridebis, et licet rideas, hebt er ſich an. Ego ille, quem noſti, apros tres et quidem pulcher - rimos cepi. Ipſe inquis? und der Schluß: Proinde quum venabere, licebit, auctore me, panarium et lagunculam, ſic etiam pugillares, feras. Experieris, non Dia - nam magis montibus quam Mineruam iner - rare. Vale.
  • Er. In deutſch?
Ich. 61
  • Ich. Verſtehſt du nicht latein?
  • Er. Hier und da erjag ich ein Wort. Den Plinius hab ich nicht uͤberſetzt: es ſoll den Mund zu ſehr ſpitzen, ſagt mein Vater.
  • Ich. Plinius hat drey, und was noch mehr iſt, recht ſchoͤne wilde Schwein er - jagt.
  • Er. Das iſt mein Mann. Schoß er?
  • Ich. Plinius?
  • Er. Uebereilt, Bruder! freylich das Pulver iſt ſpaͤtere chriſtliche Erfindung.
  • Ich. Er jagt und ſtudirte.
  • Er. Siehſt du!
  • Ich. Bey der Jagdtaſche und Hirſchfaͤnger, um in unſrer Mundart zu reden, hatt er Bleyfeder und Schreibtafel, und was noch mehr iſt, er verſicherte ſeinem Freund
  • Er. Hoffentlich ein Jagdſpoͤtter, wie du.
  • Ich. Daß Diana und Minerva Geſchwi - ſterkind waͤren, und zuweilen auf Jagd - bergen ſich verloͤren, aber!
  • Er. Aber! beym Plinius ein aber?
Ich. 62
  • Ich. Ein zu ſpitzer Mund. Er fieng Worte, wie er Wild fieng vielleicht verdarb ihn die Jagd.
  • Er. Mich ſoll ſie nicht verderben, weder Herz noch Styl. Eins bekenn ich ein Hund gilt mir zween Bauren. Hunde ſind aber auch Geſchoͤpfe, die wenigſtens Wackers verdienten zu ſeyn. (Aufſeher uͤber die Bauren.) Wir brachen geſtern zu ſchnell ab von den Hunden. Es giebt Hundsinſeln, warum nicht feſtes Land von der Art? Mein Vater hetzt nicht gerne, das haſt du wohl geſtern beym Schuß gehoͤret, wie man die Hunde los - lies. Dein Vater hingegen Die Sternſeher haben dieſen Namen in den Himmel verſetzt. Die Dichter ſchildern uns die Diana in Geſellſchaft einer Kup - pel Hunde. Das iſt ein Weib! Die griechiſchen Damen hatten ſchon Huͤnd - chens. Es iſt nur zu wenig fuͤr die Hunde, ſonſt waͤre der Gedanke was werth; Gott wolte nicht, daß ein Menſch dem andern aufwarten ſolte, drum Hunde, die ſind gebohrne Lakaien und Kammer - diener. Sie bieten ſich gleich zur Miethe an, wo ſie einen Menſchen ſehen. EinMenſch63Menſch, zu dem kleine Kinder und Hunde kommen, ohne daß er ſie lockt, iſt ein guter Menſch. Siehſt du, hab ich nicht von geſtern behalten?
  • Ich. Treflich! allein warum nicht noch eins von geſtern Mittag? Jener Philo - ſoph der alten Welt, der aus Gefaͤlligkeit fuͤr die gnaͤdige Frau des Hauſes ihrem Schooshuͤndchen Schmeicheleyen vorſagte! Ey der! da er das Huͤndchen in die Hoͤhe hob, um es zu kuͤſſen, p. es ihm in den Bart und die Geſellſchaft lachte, und der Philoſoph hatte nicht das Herz, ſeinen Bart zu trocknen.
  • Er. Das erzaͤhlte dein Vater der Frau v. W. zum Munde, die geſtern bitterboͤſ auf die Hunde war, wer weiß obs wahr iſt!
  • Ich. Zwiſchen wahr und wahrſcheinlich, in Ruͤckſicht der alten Welt, kein Un - terſchied!
  • Er. Wahr oder nicht wahr! zu meinen zwo Flinten, einem Paar Piſtolen, und dem Jagdmeſſer, wirſt du mir doch ein Paar Hund erlauben? Eine Flinte, Bruder, iſt der Hunde Fahne. Es ſol - ten viel, viel mehr, als ein Paar, beyder64der Fahne ſeyn; da du aber kein Freund von Hunden biſt
  • Ich. Bruder! die Wiſſenſchaften lieben Stille, in ein weiches Herz ziehen ſie ein, und machen Wohnung daſelbſt. Wald - hoͤrner ſind nicht ihr Inſtrument. Ich ſoll dein Paſtor werden. Du, und nicht der Wacker, ſondern der letzte deiner Bauren, ſind gleich vor Gott und

Da ſah man uns kommen. Ich ward, weil ich leer kam, ausgelacht; uͤber Tafel aber, da die Frau v. W. die Geſchicht ihrer Tochter erzaͤhlte, beſtand Herr v. G. der juͤngere ſchlechter, als ich. Herr v. G. be - ſchaͤmte ſeinen Sohn. Wer wird ſeine Braut um einen elenden Haaſen uͤberlaßen, die Erſtgeburt um ein Linſengericht? So ſeyd ihr Jaͤger alle. Ich bin auch ein Jaͤ - ger, das weißt du, aber . Frau v. G. entſchuldigt ihren Sohn, ich weiß nicht mehr womit? Frau v. W. dankte mir herz - lich, und ihr Gemahl ſchalt aus Hoͤflichkeit auf ſeine Tochter, um dem jungen Herrn v. G. Genugthuung zu verſchaffen. Mei - netwegen war er in erſchrecklicher Verlegen - heit: denn ſo ſehr dieſer Vorfall zu einem neuen Feſte Anlaß zu geben ſchien; ſo bliebes65es ihm doch bedenklich, weil ich nicht von Adel war, und wie haͤtt ich mir ein ander Schickſal, als der Mann mit dem einem Hand - ſchu, verſprechen koͤnnen, der a Dato nach ſieben Tagen ſterben wird. Er kaͤmpft indeſſen, weil es ſeine Tochter betraf, mei - netwegen auf eine unbeſchreibliche Art, und endlich kam es dahin, daß er mit vielen Complimenten ſich bedankte, und dieſe Be - gebenheit an den Rand zu verzeichnen ſich verbindlich machte; wie denn auch meine Geſundheit bey Tafel von ihm ausgebracht wurde. Es war eine unausſprechliche Hoͤf - lichkeit, mit der mir der Herr v. W. zu ver - ſtehen gab, daß beym: was iſt geſchehen? die Frage wer thats? nothwendig ſey.

Hoͤflichkeit und Feſtlichkeit ſcheinen und ſind zuweilen wirklich Antipoden: allein un - ſer Herr v. W. hatte dieſe Eigenſchaften ſo zuſammen vereinigt, daß ſie wie eins waren. Beyde ſtammen vom Hofe: der Geringere iſt hoͤflich aus Falſchheit oder Furcht, der Vornehme aus Stolz, und dies iſt auch die rechte Quelle der Feſtlichkeit. So wie ſich eine große freye Stadt zum Hofe ver - haͤlt, ſo die Urbanitaͤt, die Staͤdlichkeit, zur Hoͤflichkeit.

Zweiter Th. EWenn66

Wenn dieſe Bemerkungen zur Erlaͤute - rung des Charakters des Herrn v. W. etwas beyzutragen im Stande waͤren, ſo wuͤrd es mir lieb ſeyn. Was mich bey der Frage: wer thats? betraf; ſo war ich hiebey verlege - ner, als bey dem Sprung ins Waſſer. Ich konnte nichts mehr, als meinen Reiſegefehr - ten entſchuldigen. Der herzliche Blick der Frau v. W. und das frohe Laͤcheln der Kleinen war mir mehr, als zehn Feſte des Herrn v. W. Dieſer Vorfall inzwiſchen bracht uns eine geraume Zeit nicht aus dem Zank. Ein Vorwurf vom Herrn v. G. dem aͤltern, dann eine Entſchuldigung von ſeiner Gemahlin, und vom Herrn v. W., der es mit keinem verderben wollte. Beylaͤufig, oder am Ran - de, wiederholt er ſeinen Dank, die Frau v. W. ihren Blick, und das kleine Fraͤulein ihr Laͤcheln.

Die große Achtung, die Herr v. G. der aͤltere gegen meinen Vater aͤußerte, bewies zwar die Redlichkeit ſeiner Ausſoͤhnung; al - lein ſie machte mir ihre zehnjaͤhrige Tren - nung zugleich unbegreiflicher. Es ward vieles wiederholt, was mein Vater geſagt hatte, und alles mit einer dem Herrn v. G. eigenen Wendung, ſo, daß es wie neu aus -ſah.67ſah. Sein plein good ſenſe, ſein geſunder Menſchenverſtand, wußte gleich ein Exem - pel, wenn eine Regel gegeben ward; und vielleicht verhielt er ſich gegen meinen Vater, um den Vergleich ins Kurze zu ziehen, wie Regel und Erlaͤuterungsbeyſpiel.

Wir haben heut Ragout, eingeſchnitte - nen Braten, ſagte Herr v. G. Alles von geſtern. Wir wiederholen die Predigt, und fragen ſie uns ab.

Wenn je ein Ausdruck auf meinen Va - ter paßt, und der Wahrheit angemeſſen iſt; ſo iſt es der von einer Predigt. Dies Kleid war wie auf den Leib gegoſſen, konnte man ſagen, um von der Bemerkung, daß Worte Kleider der Gedanken waͤren, Gebrauch zu machen. Wer kann aber meinem Vater, den Paſtor, und meiner Mutter, die Paſto - rin verdenken? Die Predigt und den Geſang!

Herr v. G. erklaͤrte ſeiner Gemahlin was naif und was Laune ſey, woruͤber ſie zuweilen eine naife und launigte Unterredung gehabt. Laune, ſagt er, iſt der koͤrnigte Ausdruck eines naifen Gedanken. Naifitaͤt iſt eine Satyre auf die Kunſt, es beſte - he dieſe Satyre in Gedanken, Geberden, Worten oder Werken. Er belehrte ſie,E 2daß68daß ſie ſich nicht ferner Laune zueignen koͤnnte. Wer Laune hat, fuͤgt er hinzu, muß un - term Barte lachen, wenn von einer guten Laune die Red iſt: obwohl bey jeder Laune wenigſtens ein Zug vom Lachen unterm Barte, zur Ehre des Lachens, ſich hervor - ſchleicht, oder durchbricht, wenn es gleich ſtock finſter auf dem Geſicht iſt. Un - term Barte lachen, ſagte die Frau v. G. mit einem Veraͤnderungszeichen!

Naif aber, meine gnaͤdige Frau, ſind Sie der Herr v. G. buͤckte ſich gegen die Frau v. W. Sie wieder ihr Mann aus Hoͤflichkeit auch; die Frau v. G. hatte heut ihren guten Tag. Ein launigtes Weib, fuhr Herr v. G. fort, wuͤrd ein Weib mit einem Barte heißen, und alſo ſetzt er hin - zu

Daß es verſchiedene Arten von Laune giebt, ſahen wir geſtern, ſagte Herr v. G. Nachdem die Feſte ſind, erwiederte Herr v. W. Je nachdem, fuhr Herr v. G. fort, je nachdem ein kluger Menſch Ding anſieht, je nachdem ſehen ſie ihn wieder an. Die Vorſtellung von Gluͤck und Ungluͤck kommt nicht von den Dingen in der Welt, ſondernvon69von der Gemuͤthsart der Menſchen. Der Standpunkt thut bey Seel und Leib viel, ſehr viel! alles! Die miſantropiſche Laune, wolt er fortfahren, da ihm wieder ſein Sohn und das Fraͤulein Lorchen einfiel. Diesmal aber, wie mich duͤnkt, zum Vor - theil meines Reiſegefehrten.

Es ward von der Donquichotterie und den Windmuͤhlen und verfluchten Schloͤßern in der Liebe geſprochen. Jede Luͤge, ward bemerkt, hat was richtiges in ſich, ſonſt wuͤrd ſie kein Menſch anhoͤren und ausſte - hen koͤnnen. (Meine Mutter nahm hier - aus den Beweis, daß es am Ende Geſpen - ſter gaͤbe.) Die Feenmaͤrchen wurden ana - tomirt, und die Naturtheilchen abgeſondert.

Wo iſt, ward gefragt, ein feu’rfangen - der Juͤngling, der nicht bis ins ein und zwanzigſte Jahr wuͤnſcht, daß der Vater ſei - ner Schoͤnen abbrennen moͤchte, um die Ge - liebte aus dem Feuer zu retten? Es ſind ihm dieſe Lebensguͤter (wie meine Mutter ſingen wuͤrde)

eine Hand
blanker Sand,
Kummer der Gemuͤther.
E 3Nackt70

Nackt, wie die Tugend iſt, will er ſeine Fiducia; allein iſt dies der Weg zur guten Ehe? Dies war die zwote Frage.

Herr v. G. behauptete in dienſtlicher Antwort, zum Wohlgefallen der Frau v. W., daß man heyrathen muͤßte, um einen ge - treuen Gehuͤlfen oder Gehuͤlfin zu haben, und eben hiedurch entſchuldigt er in gewißer Art ſeinen Sohn, welches ihm die Frau v. G. auf eine naive Weiſe zu verſtehen gab. Um ſich herauszuhelfen, ſagt er von mei - nem Vater gehoͤrt zu haben, daß man ſich auch in die Tugend verlieben koͤnnte. Man muß aber, wie der Paſtor bemerkte, nicht aus Neigung, ſondern aus Urtel des Ver - ſtandes, tugendhaft ſeyn, nicht, weil die Tu - gend huͤbſch iſt, ſondern weil es die Tugend iſt. Man muß ſie lieben, wie ſein Weib, und nicht wie ſein Maͤdchen. Ein Tugendverliebter wird kalt, wie jeder uͤbertriebene Liebhaber.

Aber, fiel die Frau v. G. ein

Ich weiß dein Aber, fuhr Herr v. G. fort, die Damen wollen Neigung. Sie glauben, daß eine unſichtbare hoͤhere Macht ihr Band geſchlungen habe. Neigung iſt ihnen der Him - mel, in dem die Ehen geſchloſſen werden.

Frau71

Frau v. W. war auch einigermaaßen fuͤrs Aber, und es erinnerte ſich der Herr v. G. zu rechter Zeit, daß mein Vater be - hauptet haͤtte, wir Menſchen ſpraͤchen im - mer von Neigung, auch ſelbſt da, wo Urtel des Verſtandes entſchieden haͤtte. Es ſchei - net, daß der Menſch ſeiner Vernunft nicht recht trauet. Bey einem Hauptargument hat er noch verſchiedene ad hominem, ſetzte Herr v. G. hinzu, ohne beſonders zu bemer - ken, ob es ſein Eigenthum, oder von mei - nem Vater herkaͤme. Es ſchien, als ob er vieles von meinem Vater jure antichretico beſaͤße.

Herr v. G. brach ſich ſehr den Kopf uͤber die Extreme, von denen ihm mein Vater be - ſondere Dinge geſagt haͤtte. Zwey Extre - me ſind zwey Enden, wiederholte der Herr v. G., als wenn er zu ſich ſelbſt ſpraͤche. Zwey Enden, die man den Augenblick ver - binden kann. So war der Teufel Gottes - freund. Wolluſt und Nothdurft ſind Nach - barskinder. Schwindſucht und Waſſerſucht, Schlafloſigkeit und Schlafſucht, Licht und Schatten, Leben und Sterben, himmliſche erhabenſte Weisheit und Einfalt. Die groͤßte Wuth iſt, wenn ein Menſch den an -E 4dern72dern frißt und geſchieht das nicht? Ha - ben nicht die Menſchen mehr, als Wolfshun - ger? Iſt es mit ihnen nicht oft in dem Zwoͤlften? Iſt nicht oft leiblicher Bruder des leiblichen Bruders Teufel, welcher die Seelen verſchlingt, als ſchluͤrft er weiche Eyer, oder Auſtern?

Herr v. G. kam aufs Freßen zuruͤck, und doch, ſagt er, (alles wie zu ſich ſelbſt)

Die groͤßte Liebe auszudruͤcken, ſagt man: ich moͤchte dich vor Liebe auffreſſen. Niemand hat mehr Blasphemien geſagt, als ein Quaͤker. Er, und ein Gottesleug - ner, ſind naͤher verwandt, als man glau - ben ſolte.

Ich habe nicht noͤthig zu bemerken, daß Herr v. G. dieſes lange vor ſich ſo ausſprach, daß, wenn ers auch nicht ſo oft treulich und ſonder Gefehrde angefuͤhrt, jeder doch theils aus ſeinem Ton, theils aus ſeinem Kopf - ſchuͤtteln, geſehen haben wuͤrde: es ſey nicht ſein, ſondern meines Vaters.

Dies! dies! dies! Herr v. G. ſagte drey - mal dies, wie meine Mutter dreymal das Wir im Glauben ſang, dies iſt mir et - was am Paſtor, das ich noch bey keinemMen -73Menſchen ſonſt, er ſey Paſtor oder nicht Pa - ſtor, gefunden habe. Es iſt was Seel und Leib eigenes, was theoſophiſches, wie ſoll ichs nennen? Unſer Freund Paſtor hat den heili - gen Buſch im Brande geſehen. Rechnet man dazu, daß er die Bibel nicht in ſchwarz Saffian gebunden hat, ſondern im weißem Pergament, ſelbſt ohne goldnen Schnitt, daß er ſie nicht als Medicin, ſondern als taͤg - lich Brod braucht; ſo iſt der gute Paſtor ein ganz beſondrer Paſtor. Seine andern Sei - ten, daß er z. E. die Glatze nicht mit Puder bedeckt, daß er kein Jaherr iſt, daß ſein Ausdruck nicht Scheidemuͤnze, nicht Gang - und Gaͤbemuͤnze, oder courent, ſondern aus der Sparbuͤchſe genommenes Geld iſt, und um, mit Erlaubnis, in eine andre Figur zu kommen, nicht wie auf den Kauf gemacht, ſondern wie beſtelte Arbeit ausſieht; ſo, daß es von ihm heißen kann: was er ſpricht, das geraͤth wohl!

  • Daß der Paſtor nicht ein gelernter Gelehr - ter, nicht einer des Buchſtabens, ſondern einer des Geiſtes und der Kraft iſt;
  • daß er nichts bloß theoretiſch weiß, ſon - dern alles, alles in Blut und Lebensſaft oder Praxis bey ihm uͤbergegangen;
E 5daß74
  • daß er die meiſten Dinge aus einem oft un - betraͤchtlichen Geſichtspunkt nimmt, und eben dadurch beym rechten Ende faßt;
  • daß er einen koͤniglichen, einen Reviſions - blick, der immer mit einem gewiſſen Gluͤck verknuͤpft iſt, beſitzet; (Sein Blick trift immer, ohne daß er zielt)
  • daß, und noch viele daß, gehen vor ſich.

Beym letzten daß erzaͤhlte der Herr v. G. eine Geſchichte, die ſich noch vor der Schei - dung vom Tiſch und Bette, und alſo vor zehn Jahren, zugetragen haͤtte.

Ein Barbier ſchnitt mit moͤrderiſcher Hand dem den Hals ab, nachdem er ihn zuvoͤrderſt ganz ſauber und koͤſtlich von der Buͤrde ſeines Barts befreyet, und leicht ums Kinn gemacht hatte. Waͤr ich Inquirent, (haͤtte mein Vater nicht blos geſagt, ſondern behauptet,) wuͤrde eine meiner Hauptfragen, ſowohl im Generalverhoͤr, als bey den Spe - cialartikeln, ſeyn:

  • Warum der Barbier den Ermordeten zu - vor ſauber und koͤſtlich von der Buͤrde ſeines Barts befreyet, und leicht ums Kinn gemacht, eh er?

(Der Boͤſewicht! ſetzte Herr v. G., ohne das Comma abzuwarten und meinen Vateraus -75ausreden zu laßen, hinzu, das kommt vom Aderlaſſen heraus! Man ſolte nicht Leute an den Hals laßen, die Blut ſehen koͤnnen, als ſaͤhen ſie ſuͤße Milch. )

Der Moͤrder haͤtte bekannt, daß er mit Mordgedanken zum gegangen. Alle Um - ſtaͤnde beſtaͤtigten dieſe Ausſage. Der erſte Strich war in ſeiner Seele Mord. Warum vollbracht er ihn erſt beym lezten? Nota bene. Er fand den allein, und ſo blie - ben ſie auch die That kam nach vier Stunden erſt aus.

Ich weiß nicht, ſagte meine Mutter im erſten Bande und deſſen zweyhundert und ſie - benzigſten Seite, ich weiß nicht, gegen das gemeinſte Volk hab ich, bis ich bekannt bin, ruͤckhaltende Achtung; ich glaube, das macht das Bild Gottes. Wenn meine Leſer den erſten Band nicht bey der Hand haben; ſo war es bey Gelegenheit der Blutreinigung, deretwegen meine Grosmutter muͤtterlicher Seits das alte Geſinde behielt, welcher blu - tigen Meynung meine liebe Mutter, in Ruͤck - ſicht der Koͤniglichen Frau Mutter Babbe, beytrat.

So ohngefehr beantwortete mein Vater ſeine General - und Specialfrage: denn ichmuß76muß aufrichtig geſtehen, daß ſich der Herr v. G. daruͤber ſo ungefehr, wie uͤber die be - ſte Welt, ausdruͤcke.

Unſer Paſtor, fuhr Herr v. G. fort, nachdem er ſich von ſo vielen daß losgemacht, unſer Paſtor beſitzet etwas, was man nicht ausſprechen kann, in dieſem Punkte. Er iſt ein Gegenfuͤßler von einem Lauen, und ich kenne keinen Menſchen, der mehr Theil - nehmer waͤr als er!

Obgleich der Herr v. G. dieſen Zug in meines Vaters Charakter nicht in ſeinem hei - ligen Dunkel ſtoͤrte, ſo daß er hoͤchſtens nur den heiligen, nicht aber den lezten, den al - lerhoͤchſten Vorhang, hoheprieſterlich zog, und in gewiſſer Art eben ſo unbegreiflich blieb, als mein Vater ſelbſt; ſo muß ich doch bey dieſer Gelegenheit geſtehen, daß mein Vater wuͤrklich in dieſem Stuͤck was ganz beſonders eigenthuͤmliches beſaß. Ich hab ihn einen im Himmel Angeſchriebenen, einen Verklaͤr - ten genannt, und als einen aus dem Reiche Gottes dargeſtelt, von welchem wir beten: dein Reich komme!

Ich weiß nicht mehr, wer von ihm in ſeinem eigenen Paſtorat, da er eben den Ruͤ - cken gekehret hatte, das Urtheil ausſprach,daß77daß er, ſobald er ſpraͤche, den Sprengwedel in der Hand haͤtte, und die Seele mit ge - weihtem Waſſer beſprenge, und daß er jeder - zeit mit gewaſchenen Haͤnden erſchien, ſo wie man von dem alten und neuen Gebrauch ſich, ehe man in den Tempel gieng, zu beſprengen und zu reinigen, zu ſagen pfleget: mit un - waſchenen Haͤnden. Vielleicht uͤbertrieb es mein Vater an vielen Orten, wie jener Juͤnger, der anfaͤnglich auf die Art des Herrn v. W. mit ſeinem Herrn und Meiſter com - plimentirte, nachher aber auf einmal aus - brach: nicht die Fuͤß allein, ſondern die Haͤnd und das Haupt.

Der Socinianismus iſt etwas kleinſtaͤdt - ſches, etwas verlahmtes, etwas ermuͤdetes, pflegte mein Vater zu ſagen. Entweder Hof, oder plattes Land. Kalt oder warm. Alles oder nichts. Aut aut

Eltern ſehen ſonſt nicht, daß Kinder wachſen, und Kinder ſehen nicht, daß ihre Eltern alt werden, weil ſie ſich taͤglich und ſtuͤndlich ſehen; wenn es aber ein Fremder bemerkt, denn reißt ſich ihr Aug auf. Mir werden meine Leſer den Vorwurf nicht machen, und wenn ſie mit mir in Ruͤckſicht dieſes Charakters nicht zufrieden ſind; ſo ge -hoͤrt78hoͤrt es nicht auf meine, ſondern auf die Rech - nung meines Vaters. Wer mir aber den Einwand entgegen ſetzt, daß ich meine Cha - raktere nicht friſirt und gepudert, und voͤllig vom Haupt zu Fuß geſchmuͤckt, und fein an - gethan praͤſentire; hat es in den Tod ver - geſſen, daß ich eine Geſchicht erzaͤhle. Schon im Roman muß man ſeine Leute kennen, der Natur nachfolgen, und den Menſchen ſich oͤf - fentlich ankleiden laſſen. Man muß den Men - ſchen im Seelencamiſoͤlchen, in der Federmuͤ - tze, wenn er ein Gelehrter, und mit einem ſeidnen Tuch kuͤnſtlich rußiſch um den Kopf gebunden, wenn er ein Edelmann iſt, dar - ſtellen in naturalibus. Jeder Menſch hat ſeine Art, ſich anzukleiden und zu erzaͤhlen, und dieſe beyde Arten ſtimmen mit einander ſo uͤberein, daß wenn ich jemanden ſich an - kleiden ſehe, ich ſagen will, wie er erzaͤhlt, und umgekehrt, wenn ich ihn erzaͤhlen hoͤre, will ich ſagen, wie er ſich ankleidet. Die Art ſich auszukleiden, kann den Kenner vie - lerley lehren, und unter andern auch, wie der ſich entkleidende ſterben werde. Hievon ein andermal.

Eine Erzaͤhlung, der man das Studierte, das Gefliehene, das Geordnete anſieht, iſtunaus -79unausſtehlich. So wie es in der Welt geht, ſo muß es auch in der Geſchichte ge - hen. Bald ſo, bald ſo. Der Hoͤrer, der Leſer, mag ſich hieraus ein Miniatur - ſtuͤckchen auf theophraſtiſch, bruͤyeriſch zeich - nen, wenn er will.

Belaͤge zu dieſer Bemerkung die Menge in meinem Lebenslauf, und um meine Leſer auf der Stelle zu uͤberzeugen

Herr v. G. erzaͤhlte, daß mein Vater nicht die mindeſte Wirthſchaftskenntniße be - ſeſſen haͤtte, da er Paſtor geworden.

Jetzt weiß er ſo gut, wie Einer, wenn Zeit zu ſaͤen und Zeit zu erndten iſt, wenn man dreſchen, malzen, Haus - Acker - Gar - ten - und Fiſchergeraͤthe beſſern muß. Er verſteht ſich auf die Eisfiſcherey, auf die Nachtfroͤſte, Holz und Miſtfuhren, Flachs - und Hanfbrechen.

Wie er anzog, wolte der gute Paſtor, fuhr Herr v. G. fort, den Paſtoratsbauern ſeine Schwaͤche nicht verrathen, und was that er? Eh er durch Geſicht und Ohr ſo weit gebracht war, als er jetzt iſt? Er viſitirte ſein Inventarium. Das Regiſter in der Hand frug er:Neun80Neun Braune? Ja. neunzehn Schimmel? Ja. acht Fuͤchſe? Ja. dreißig Kuͤhe? Ja. Wer hier nicht den Paſtorem loci findet

Herr v. G. war mit Ehren zu melden ein großmaͤchtiger Wirth. Er las, ver - ſuchte, fehlte und verſtand zuletzt ſeinen Bo - den, als wenn er mit ihm ſprechen koͤnnte. Er benutzte, im Ganzen genommen, ſeine Aecker auf eine Art, welche ihm den Neid ſei - ner hochwohlgebohrnen Bruͤder zuzog. Der gemeine Mann ſagte: er haͤtte den Alp. Die Frau v. G. nannte die oͤconomiſchen Buͤcher, die er ſich mit vielen Koſten ver - ſchrieb Wurzelbuͤcher und wußte ſehr ge - nau, wenn und wo er durch Verſuche ver - loren hatte. So war der Herr v. G., um ſeinen eigenen Ausdruck zu adoptiren, eine Erdſcholle, ein glebæ adſcriptus; allein er war ſelbſt auch dies als v. G. Wenn ich ihnen mit dem Ausdruck einen Dienſt erwei - ſen kann, gnaͤdige Frau v. G., er war ein Wurzelmann Die Blaͤtter fallen im Herbſt in der Truͤbſal abe.

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Obgleich wir ein Trauerfeſt hatten, und der Herr v. W., ſein Waffentraͤger, und Herr v. G. ſehr hoͤflich gegen einander wa - ren, welches gemeinhin bey Trauerfeſten zu ſeyn pflegt; ſo konnte doch Herr v. G. nicht umhin, wiewohl ohne ihnen dieſe Saladiere anzubieten, gelegentlich anzumerken, daß derjenige, der nicht bezahlen koͤnnte, ſehr hoͤflich waͤre, welches geſtern mit alten Maͤn - nern, wenn ſie junge Weiber zur Ehe haͤt - ten, bewieſen ſey.

Wie denn Herr v. G. ſich wider alle Ge - burtstags Gluͤckwuͤnſche erklaͤrte. Wer wird, ſagt er, gratuliren, daß man ſchwaͤ - cher geworden? Zum Geburtstage muß man nur bis zum dreyßigſten, und da in der Weichlichkeit der Juͤnger immer ſtaͤrker, als der Meiſter iſt, nach unſerm Weltlauf bis zum fuͤnf und zwanzigſten, ein und zwan - zigſten, und wohl neunzehnten Lebensjahre Gluͤck wuͤnſchen es waͤre denn, daß man auf die andere Welt Ruͤckſicht nehmen wolte, nach der aber in geſunden Tagen wenig Nachfrag iſt.

Noch eins! Mein Vater haͤtte geſagt, ſagte Herr v. G., wer einen Brief ſchreibt,Zweiter Th. Fmuß82muß glauben, er ſchreibe ihn an die Welt, und wer ein Buch, ich ſag ein Buch, ſchreibt, ſchreib es an einen guten Freund, wenn man nicht in beyden Faͤllen alltaͤglich ſeyn will.

Ich ergreife dieſes noch eins als eine er - wuͤnſchte Gelegenheit, um meinem Leſer auf Ehre zu verſichern, daß ich dies noch eins nicht aus den Augen gelaſſen, und dieſes Ganze an Einen gerichtet habe. Ich habe dieſes Einen in dem erſten Bande erwehnt, und es iſt eben derjenige, der mich auf der ein und zwanzigſten Seite beſuchte, und dem ich auf eben der Seite (ich rede von der er - ſten Ausgabe, denn wer ſteht mir dafuͤr, daß es zu mehrern kommt) eine gluͤckliche Reiſe gewuͤnſcht habe.

Wie viel liegt in dem Wort Einer? Wer es faſſen kann, der faß es, und wers nicht kann, wird auch ſchwerlich begreifen, was eigentlich Einheit in einer jeden Schrift liſt, welche da ſeyn muß, die Schrift wandle gleich im finſtern Thal, ſie gehe gleich durch dick und duͤnn, durch Licht und Finſterniß. Eine Schrift, welche dieſes Ziel nicht hat, und nicht an Ort und Stelle kommt, iſt eine Mißgeburt. Je weiter man es gebrachthat,83hat, alles zu Einem einzulenken, und kein Rad zu viel und keins zu wenig in ſeinem Buch zu uhrmachen, je mehr Ganzes iſt da. Man ſagt: Ein Apoſtel Paulus, Ein Rath, Eine chriſtliche Gemeine wolle mit gebuͤhren - der Andacht verleſen hoͤren. Gott ſchuf nur einen Menſchen! ſein Bild! und wenn ihr Herren Praͤadamiten in die Kreuz und in die Queere euch dagegen baͤumet. In dem Gedanken: Ein Menſch und ſein Weib von ihm genommen, liegt was Goͤttliches, was Großes! was Ein Syſtem, wenn es ſo ganz da liegt, ſo ganz, wie Thier und Menſch, iſt Arbeit eines Halbgottes. Wo iſt ein Syſtem dieſer Art? Wenn es ja fer - tig werden kann, wird es das Werk eines Deutſchen ſeyn. Im Syſtem geht man vom Ganzen zu den Theilen. Man ſieht den Menſchen ganz. Ein Blick iſt genug hiezu, und ſodann anatomirt man ihn. Sonſt geht man von den Theilen zum Ganzen. Ein Syſtem heißt nicht Compendium, und iſt nicht ein auf Drat gezogenes Gerippe. Seht die Welt! Sie iſt ein Menſch im Großen. So ganz wie ein Menſch. Gott ſieht ſie, wie ich meinen Haushahn, meinen Philax, meinen Leopold; wir aber finden ſie ſo inF 2Un -84Unordnung, daß es Kunſtrichter gegeben hat, die dem lieben Gott gern was ins Ohr daruͤber geſagt haͤtten.

Wo das, was ich verſtehe, gut iſt, da leg ich beyde Haͤnde auf den Mund, wenn ich an etwas ſtoße, das ich nicht verſtehe.

Mein Einer, an den ich dieſes Buch ge - ſchrieben, iſt mein lieber getreuer den ich auch getreu lieben werde bis in den Tod. Dieſes ganze Buch iſt eine Dedication, eine Zuſchrift, in Ruͤckſicht auf ihn, ein Brief mit einem cachet volant ſub ſigillo volante (unter offenem fliegenden Siegel) allein kein Wunſch iſt ſehnlicher, als daß meine Leſer hiebey nichts verloren, ſondern vielmehr reich - lich gewonnen haben moͤgen.

Mitten in dieſen und andern Wiederho - lungen kam ein Brief von meinem Vater an den Herrn v. G., und an mich?

Nichts an mich, zum offenbarſten Be - weiſe, daß mein Vater nicht fuͤrs Schrei - ben war.

Auch der Brief an den Herrn v. G. war kurz und enthielt nur eine Anwei - ſung, einen Fingerzeig, wegen der Beylage. Unſer Bekannte, der das erſte und letzte - mal, da er eine Flinte losdruͤckte, oderviel -85vielmehr, da ſie ohne ſein Vorwiſſen und Mitwuͤrkung in ſeiner unerfahrnen Hand losgieng, ſeinen Sohn erſchoß, hatte ſeine Lebensumſtaͤnde eigenhaͤndig verfaßt, und ſie ſeinem Troͤſter, meinem Vater, in die Haͤnde gelegt. Der Herr v. G., den der Alte mit dem einen Handſchu aufmerkſam gemacht, hatte meinen Vater beſchworen, ihm den Erfolg von dem Troſtamte, welches dieſer Ungluͤckliche in ſeiner Seelenangſt auf - gefordert hatte, zu berichten.

Ein kurzer Brief, ſagte Herr v. G., da er den Brief meines Vaters entfaltete, der, wie ich bey Gelegenheit des Converſus bemerkt habe, fuͤrs muͤndliche war. Dies gab Anlaß, von meines Vaters Weiſe kurz zu ſchreiben, nach ſeinem Beyſpiel ein lan - ges Geſpraͤch zu halten, das Herr v. G. auf eine mir unvergeßliche Weiſe beſchloß. Die Sprache Gottes! Gott ſprach, hauchte nur auf, und es ward. Gott iſt auch Schriftſteller worden, fuhr Herr v. G. fort. Das Wort Fleiſch. Es iſt viel von Gottes Wort zu ſagen. Ein Ausdruck, den alle Welt im Munde fuͤhrt, und doch ein tiefer, tiefer Ausdruck!

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Eine lange Beylage, ſagte Herr v. G., nachdem er den kurzen Brief durch und durch geblickt hatte. Er las ihn nicht, er blickt ihn auf. Die Beylage ward woͤrtlich ab - geleſen. Einige Stellen hatten Thraͤnen uͤberſchwemmt, und ſie ſchienen wie verwuͤ - ſtete Wieſen, die das ausgerißene Waßer zerſtoͤret hat.

Hier iſt ein wohlgemeynter Auszug. Es war der der einzige Sohn eines Amtmanns. Seine Mutter, die Tochter eines Litteratus. Seine Eltern