PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Lebenslaͤufe nach Aufſteigender Linie
nebſt Beylagen A, B, C.
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Meines Lebenslaufs Zweiter Theil.
Beylage A, und Beylage B.
Berlin,beyChriſtian Friedrich Voß,1779.
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Die Koͤnigin iſt weg: Das Spiel iſt ver - loren, ſagte Herr v. G.; da von der Abreiſe meines Vaters geredet ward.

Ich wuͤrde dieſen Umſtand meinem Vater nicht nachleichreden, wenn ich mich nicht bei den Leſern des zweiten Theils entſchuldigen muͤßte, warum ich aus der Noth eine Tu - gend gemacht, und mich in den feſten Ort der Erzaͤhlung geworfen.

Freylich iſt man hiebey vor den leichten Truppen der Kritik ſicherer; was aber meine kunſtrichterlichen Leſer dazu ſagen werden, die entweder bei der ſchweren Cavallerie in Dienſten ſtehen oder blos aus Luſt und Liebe leſen, und gar nicht in gelehrten Kriegs - dienſten ſind, muß die Zeit lehren. Aug und Ohr haben zwar viel Aehnlichkeit mit einander, allein alle Welt ſpricht von ſchoͤ - nen Augen; ein verzaͤrtelter Kenner aber nur vom ſchoͤnen Ohr. Das Geſicht iſt un - ſtreitig der edelſte Sinn, ohn ihn iſt kein anderer Sinn vollſtaͤndig. Auch ſelbſt, wennich6ich im gemeinen Leben erzaͤhlen hoͤre, ſeh ich ich ſehe den Erzaͤhler ſteif an, recht als ſchien ich es zu bedauren, daß ich dieſe Geſchichte nicht im Original geſehen, ich ver - lange, der Erzaͤhler ſoll ſie nachhandeln: Soll, was und wie es geſchehen, leibhaftig zeigen. Je mehr ein Erzaͤhler zu ſehen iſt, je mehr freu ich mich, je mehr ſind ich die Kopie getroffen. Oft hab ich gedacht, daß es eine Geſchichte geben koͤnne, (ob einen Ro - man, weis ich nicht, wo man nicht hoͤre, ſondern ſehe, durch und durch ſehe, wo nicht Erzaͤhlung ſondern Handlung waͤre, wo man alles oder wenigſtens mehr ſehe, als hoͤre. Man ſieht freilich den Erzaͤhler im gemeinen Leben; allein die Wahrheit zu ſagen, man hoͤrt ihn mehr, und es wuͤrd Affektation ſeyn, wenn er mehr zu ſehen, als zu hoͤren waͤre. Ein Erzaͤhler, wenn er im Druck erſcheint, wie wenig iſt er zu ſe - hen! wie weit weniger als im gemeinen Le - ben! Dergleichen Geſchichte, wo, wie meine Mutter ſagen wuͤrde, ge - wandelt und gehandelt wird, will man ſie eine redende, eine Geſchichte mit eignen Worten nennen, meinthalben! Daß eine Ge - ſchichte durchweg in Geſpraͤchen, eine inFrag7Frag und Antworten, ein ganz ander Ding ſey, verſteht ſich. Waͤren in einer redenden Geſchichte auch nur ausgeriſſene Lebensblaͤt - ter, wie leicht wuͤrden ſie zuſammen zu ſetzen ſeyn. Man wuͤrde dem Leſer noch oben ein eben hiedurch unvermerkt Gelegenheit zu mehrerer Anſtrengung geben, und ihn zum Mitarbeiter an ſeinem Werke machen. Daß ich es bei dieſer Geſchichte zu dieſem Ziel nicht angelegt, beſcheid ich mich von ſelbſt, und ich bin ſchon zufrieden, wenn mein Lebenslauf nur hier und da Darſtellung ent - haͤlt, und wenn ſich in dem Schluſſe des erſten Bandes die Perſonen ſelbſt zu erkennen und zu verſtehen gegeben. Rede und du biſt, koͤnnte das Motto zu dieſen Geſpraͤchen ſeyn: es liegt eine beſondre Natur in der Rede.

Zwar waren auch ohne meinen Vater noch vortrefliche Officier auf dem Brette, die noch immer redend eingefuͤhrt zu werden verdient haͤtten; allein der kommandirende General war gefallen. Wer wuͤrde mei - nem Vater wohl dieſe Ehre ſtreitig gemacht haben, wenn er nicht zu oft auf die Kanzel geſtiegen?

Herr v. G. hatte, um auf dem Brette zu bleiben, den Gang des Elephanten:

A 3Wer8

Wer den Springer vorſtellte, wiſſen wir alle

Vielleicht finden meine Leſer noch mehr aus dem Schachſpiel in der Geſellſchaft, aus der mein Vater ploͤtzlich ſchied. Dies Spiel iſt Bild der Welt, wenn auch nur Koͤnig und Koͤnigin in Erwaͤgung genom - men werden. So wie ſie im Schach ge - ſchehen, ſo gemeinhin in der Welt Herr v. W. hatte den Dionyſius beſchaͤmt, und den Waldhorniſten ein anſehnliches und fuͤhl - bares Compliment in die Hand gedruͤckt. Die Art, wie er dieſes Geſchenk gegeben, haben wir nicht noͤthig abzulauern, um ihn mehr zu wißen; denn wir wiſſen ihn ſchon inwendig und auswendig. Er hatte Urſache, dieſe Schreier zum Schweigen zu bringen; denn es gingen die Vigilien wegen eines den folgenden Tag zu feyernden Trauerfeſies an.

Der Laufer, Herr Herrmann, bedeu - tete mehr, nachdem mein Vater weg war, und Herr v. W. ihn deckte. Herr Herrmann ſchien ſich ſo gar, vielleicht in Ruͤckſicht die - ſer Deckung, ein Direktorium uͤber mich an - zumaaßen. Ich konnt ihm hiezu keine Be - fugniß zugeſtehen; denn obgleich er mir zu Bruſttuͤchern ehemals Maas genommen; ſoglaubt9glaubt ich doch dieſerhalb keine Pflicht zur Verehrung auf mir zu haben. Die Feyer - kleider waren ihm ohnedem nicht anver - trauet worden. Von meiner Seite ge - hoͤrte die Nachſicht auf Minchens Rech - nung. Ihretwegen that ich, was ich that; indeſſen vergaß ich nicht, daß ſie ſelbſt mich mit dem Herrn Herrmann, als Vater, nicht beſchweren wolte. Herr v. G. war durch den Alten ſo geruͤhrt, daß er nicht ins Leben zuruͤckkehren konnte; er ſahe ſchon jetzt immer gen Himmel, obgleich noch nicht die acht Tag um waren, wo der Alte ein Zeug - niß in perpetuam rei memoriam fuͤr ihn im Himmel einzulegen verſprochen. Die Vigi - lien des Herrn von W. kamen dem Herrn v. G. ſo zur rechten Zeit, daß er mit feſtlich ward. Die Frau v. W., und ihre kleine Tochter, unterhielten ſich von dem armen bedraͤngten Sterbenden, den mein Vater troͤſten ſolte. Frau v. G. ſelbſt hatte ſich zu dieſem Vorfall, obgleich der Sterbende nicht von Adel nicht einſt ein Litteratus, mit - hin nach Landesart ein Bauer war, hoch - adlich herunter zu laſſen geruhet, und ſo war unſere Geſellſchaft des alten Mannes, der in acht Tagen ſterben wird, und des unſchuldi -A 4gen10gen Sohnsmoͤrders wegen, in eine ſo heilige Schwermuth geſunken, daß Herr v. W., der den ſanft und ſeligen Hintritt ſeines Ael - tervaters zu feyern anfieng, mit Herz und Sinn dieſes Feſt, und wie mir’s vorkam fruͤher, als es ſonſt geſchehen waͤre, begann.

Die Herren v. X. Y. Z. und ihre Ge - mahlinnen gehoͤrten nicht zur heiligſchwer - muͤthigen Geſellſchaft. Sie waren zwar ver - ſtummet; allein blos, weil die Waldhorni - ſten verſtummt waren, denen Herr v. W. das Maul geſtopft hatte. Dieſe Herren ſchienen von curſcher Politik, Wein und Waldhoͤrnern trunken, ſo daß ſie ſich weder in Ruͤckſicht des Leibes, noch der Seele, aufrecht halten konnten. Sie ſaßen nicht, ſondern lagen auf ihren Stuͤhlen; jeder hatte ſich zwei Stuͤhle zugeeignet, den dritten Stuhl rechne ich nicht, auf dem der rechte Arm uͤbergeſchlagen lag: denn auf dieſem dritten ungerechneten ſaß die eine Haͤlfte des Nach - bars. Die Herren v. X. Y. Z. waren alſo in einander gekettet. So ſchwach indeſſen dieſe gute Herren ſchienen; ſo hatten ſie doch ſo viel Staͤrke, Hand an ihre Pfeiffen zu le - gen, und ſich in Rauch zu huͤllen. Sie ſchmauchten wie aus einem Munde, undhiel -11hielten ſo genau Takt, als ihn Herr Herr - mann, wenn er ein Poſitiv ſchlug, oder meine Mutter, wenn ſie ihrem Hauſe eine neue Melodie beibringen wollte, nur halten konnten. Aus dieſer Lage zu urtheilen, waͤ - ren die Herren v. X. Y. Z. ſo leicht nicht aus dem Schlaf zu bringen geweſen: es haͤtte denn an den Herzog Jocobus gedacht wer - den muͤſſen, der den Uniten, welche ſich mit der Katholiſchen Religion vereiniget, als ver - triebenen Exulanten rußiſcher Nation, die freie Religionsuͤbung zugeſtanden oder an den Titel Wohlgebohren, welcher der Rit - terſchaft im Jahr unſers Herrn, ein tau - ſend ſechshundert und vier und achtzig bewil - liget wurde, obgleich ſie durch aus und durch all Hochwohlgebohren heißen wollten oder an den Rangſtreit mit der Geiſtlichkeit, woruͤber bitter geſtritten worden oder an den Oberkammerherrn v. und deſſen maͤnnliche Deſcendenten oder an die Ka - tholiſche Religion in Curland.

Dergleichen Staatsanſtoͤße wuͤrden viel - leicht (gewiß weiß ichs nicht) die Herren v. X. Y. Z. ermuntert und von drittehalb Stuͤhlen auf einen, oder gar auf die Beine gebracht haben.

A 5Es12

Es war indeſſen niemand aus der heilig - ſchmermuͤthigen Geſellſchaft, der dieſen Ap - pel zu ſchlagen, und den Verſuch zu machen Luſt hatte, ob die liegende Herren hierdurch aufzuwiegeln waͤren? Daß ſie nicht ſtill ge - blieben, iſt zuverlaͤßig: ob ſie aber aufgebro - chen waͤren daran zweifl ich. Giebts denn nicht Agenten von Haus aus?

Ein Wort der Ermunterung waͤr es auch geweſen, wenn man den Hunden ein Patent als Adjudanten des Menſchen aus - gefertigt: oder einen meerſchaumen Pfeifenkopfs - handel aufgebracht haͤtte.

Die gnaͤdigen Frauen v. X. Y. Z. ſaßen, die Haͤnde um den Magen kreuzweiſe gelegt, als ob ſie ihre Magen zur Verdauung ein - ſeegnen wolten. Sie ſahen hierbey die Frau v. G. ſteif und feſt an, als ob ſie ſich fuͤr die empfangene Gaben bedanken, und ſich, vor wie nach, ihrer Protektion empfeh - len wolten. Der Frau v. G. Aushuͤlfe bei Gelegenheit des Schooshuͤndchens war ihnen, und das mit Recht, im friſchen An - denken.

Mein Reiſegeferth war nicht Fiſch nicht Fleiſch. Er hatte mit mir Bruͤderſchaftgemacht,13gemacht, und ich hatte Hofnung ihn zu er - weichen, und ihn zu einen gutgeſinnten Kir - chenpatron zu bekehren, der die Jagd an - dern Pflichten unterordnen muß; allein die Herren v. X. Y. Z., als jagdgerechte Jaͤger, hatten ihn wieder ganz und gar wie es ſchon aus den Tiſchreden des vorigen Bandes zum Theil hervorſtrahlt. Er war in Gedan - ken, Geberden, Worten und Werken, mit den Herren v. X. Y. Z. auf Wild ausge - wandert: denn ſelbſt in der tiefſten Stille, die auf die Herren v. X. Y. Z. lag, hielten ſie die Pfeifen als ein Mordgewehr, zielten und machten Puf, Paf, und wieder Puf Paf! Mein Reiſegefehrte hielt ſeine Pfeife, zielte wie ſie, und toͤnte Puf, Paf! wie ſie, und wieder Puf, Paf! Er war in ihrer Wolke auf und angenommen.

Doch muß ich (und das wird meinen Le - ſern eine erfreuliche Nachricht ſeyn, weil der juͤngere Herr v. G. ein Sohn des aͤltern Herrn v. G. iſt) pflichtſchuldigſt bemerken, daß er ſeinen kuͤnftigen Paſtor nicht voͤllig vergeſſen hatte. Wenn er ſeine Pfeife nach - ſtopfte und aus dem Takte kam, brach ſich ſein Blick durch den Nebel zu mir, und da ſeine Pfeife gluͤhete und nicht ſogleich wiedergela -14geladen werden konnte, kam er ſogar zu mir, faßte mich bruͤderlich an und fragte: warum ſo traurig? und warum nicht auf Puf und Paf mitgemacht? So was, fuͤgt er hinzu, ſtaͤrkt das Auge, und wenn wir morgen auf die Jagd gehen, haſt du ſchon eine vorlaͤu - fige Theorie, die du benutzen kannſt ich verſicherte, heut am wenigſten zum Puf, Paf Anſatz zu haben. Ich verdenk dir deinen Truͤbſinn nicht, fuhr er fort Dein Va - ter

Scheiden heißt ſterben, hatt ich zu ihm geſagt, da mein Vater abfuhr, und dies Wort zu ſeiner Zeit war ſo gluͤcklich geweſen, den Weg zu ſeinem Herzen zu finden, der ſo leicht nicht zu finden war. Seine Liebes - grenze ging nicht weiter, als bis Vater und Mutter, und zur Noth Schweſter und Bru - der. Weiter, glaub ich, geht ſie auch bei keinem Jaͤger, Koch und Schlaͤchter, welches Profeſſionsverwandte oder hoͤchſtens von einem und demſelben Handwerk unter - ſchieden ſind, wie Frauens - und Manns - ſchneider. Außer Vater und Mutter, und zur Noth Bruder und Schweſter, ſchien dem Herrn v. G. dem juͤngern alles Wild

Man15

Man gieng den Abend zeitig zur Tafel, weil alles die Karten verbeten hatte. Zur Ehre der Herren v. X. Y. Z. muß ich noch anfuͤhren, daß ſie nach ihrem Ausſchlaf, um die edle Zeit auszukaufen, eine Stunde Wuͤr - fel geſpielt.

Bei Tafel war alles auf den Ton des Herrn v. W. geſtimmt, der mit ſchwarzer Weſte, ſchwarzen Beinkleidern, und einem Flor um den linken Arm, bei der Mahlzeit erſchien. Man ſprach viel von den Schick - ſalen der Menſchen und von der Ungewißheit der Todesſtunde. Herr v. W. erzaͤhlte den Lebenslauf des Herr v. W., ſeines Herrn Grosvaters, dem heute aufs neue parentirt ward. Herr v. G. ſprach vom Tode, wie ein Gerechter, der in ſeinem Tode getroſt iſt. Die Vernunft, ſagt er, iſt ein Kuͤſſen; al - lein kein Kopfkuͤſſen. Die Einbildungskraft muß auch Beſchaͤftigung haben, wenns zum Scheiden geht. Wohl uns indeſſen, daß wir nicht wiſſen, wenn wir ſterben: denn wir wuͤrden dann nicht leben, nicht ſterben beides iſt gut. Doch, fuhr er fort, giebts einige, die’s wiſſen, die auf die Stunde ihrer Erloͤſung mit Gewißheit rechnen koͤnnen Nur heute hier ſchwieg er, und ſtuͤtzteſich16ſich traurig auf. Ich verſtand ihn ganz. Seine Frau fragt ihn: iſt dir nicht wohl? mit einem Tone, der mich uͤberfuͤhrte, daß ſie ihren Mann nach ſich am meiſten liebte, und warum ſollte ſie’s nicht? er war ja von gutem Adel. Sehr wohl, erwidert er, mein Kind. Sie ſtand auf und kuͤßt ihn; er blieb mit aufgeſtaͤmmten Arm. Es ging al - les ſtill, wie bei einer Leichenwache zu, und dieſes brachte die Herren v. X. Y. Z. zum Aufbruch. Schon lange hatten ſie nach dem Monde geſehen und es ihm uͤbelgenommen, daß er nicht eher aufgegangen war; denn es ward nicht getrunken, wie des Mittags: nicht geſchrieen, wie des Mittags: nicht ge - blaſen wie des Mittags. Das haͤtte frei - lich der Mond bedenken ſollen. Sie zogen unter einander auf die Wache, um keine Zeit zu verſaͤumen. Der erſte Strahl war ein all - gemeiner Wink zum Abſchiede. Sie empfah - len ſich und fuhren mit ihren gnaͤdigen Frauen, denen des Mittags die Zeit lang geworden war, weil viel, und des Abends weil wenig geſprochen worden, heim. Die Waldhoͤrner wurden auf eine kuͤnſtliche Art in Poſthoͤrner verwandelt und man macht ein ſolches Lerm; als wenn dreißig blaſende Poſtillions vorher -ritten.17ritten. Der Herr v. W., den dies unverſe - hens uͤberfiel, brach ein Glas, das er eben in der Hand hatte und begoß ſich ſeine Trauer - weſte, die, wie er ſagte, zum Gluͤck ſchwarz waͤre. So bricht unſer Leben, ſagt er, um den Glasbruch geſchickt bey dem gegenwaͤrti - gen Fall anzuwenden.

Es war der Herr v. W. wie von neuem geboren, da die Herren v. X. Y. Z. fort waren, und ſo giengs auch dem Herrmann, der zwar viel uͤber die Herren X. Y. Z. ge - dacht, allein wenig geſagt hatte. Mir war immer bang, die guten Herren wuͤrden aus Freude, von den Waldhoͤrnern und ihren An - haͤngern befreit zu ſeyn, aus dem Trauerton des Feſtes kommen; indeſſen fiel es ihnen zeitig wieder ein, daß die heutige Freude in ihren Schranken bleiben muͤßte. Der arme Herrmann hatte wegen der Herren v. X. Y. Z. in eccleſia preſſa gelebt. Was er, ſo lang ſie da waren, thun konnte, war aufs Aug ein - geſchrenkt. Dieſes, dem Herrn v. W. ge - widmet, war oft Gelegenheitsmacher, oft Theilnehmer, nachdem Herr Herrmann we - niger oder mehr von den Herren v. X. Y. Z. und ihren Damen bemerkt werden konnte. Er wußt aus vieljaͤhriger Erfahrung, wasZweiter Th. Bder18der Adel in Curland zu bedeuten habe, und fuͤhlt es auch noch in den Gliedern, daß er wegen einer Grabſchrift drey Tage und drey Naͤchte wachen muͤſſen. Er dacht an alle Ehrenerklaͤrungen und Maulſchlaͤge, die er zu uͤbernehmen nothgedrungen worden, und an ſeine eigene Grabſchrift, die man noch le - bend auf ihn gemacht: Hier wacht der lebendig Todte. Viele Leute pflegten dieſer Grabſchrift wegen mit Herrn Herrmann ein Geſpoͤtte zu treiben und zu behaupten, daß er mit lebendigem Leibe ſpuͤcke.

Ein Tag, wie der heutige, fieng Herr v. G. an, nachdem er die Haͤnde gefalten und ſie gen Himmel gebrochen hatte, ein Tag, wie der heutige, iſt eines ſolchen Abends werth! Ich hab dieſen Tag gelebt, und wenn gleich viel vom Leben dieſes Tages auf die Rechnung der zehnjaͤhrigen Entfernung gehoͤret; ich ſetze zehn fuͤr eins zwoͤlf Tage koͤnnte man im Jahre von dieſer Art leben. Wer wolt aber vergeſſen, daß der Tod aufs Leben folgt, fuhr Herr v. G. fort! Der Herr v. W. wußte nicht Worte zu finden, dem Herrn v. G. ſeine Erkenntlichkeit zu beweiſen; denner19er hielte dieſes alles fuͤr Folgen ſeiner ſchwar - zen Weſt und Beinkleider und des Flors um den linken Arm, ob gleich die Weſte begoſſen war. Gern haͤtt er, in der erſten Hitze ſei - ner Erkenntlichkeit, das Gartengeſpraͤch mit Herrn Herrmann uͤber den Herrn v. G. oͤffentlich wiederrufen: allein dieſes wuͤrde ſich nicht geſchickt haben. Die Worte: Traget die Groben, weil ihr hoͤflich ſeid, waren ihm unertraͤglich geworden, ſo erkenntlich war er, und dieſe Anlage zur Erkenntlichkeit werden ſich meine Leſer ſchon bei dem Feſte der Deut - ſchen angezeichnet haben.

Die Frau v. W. und die uͤbrigen ſchrie - ben die heilige Schwermuth des Herrn v. G. auf die Rechnung des Sterbenden, dem mein Vater in die andre Welt zu leuch - ten gegangen war.

Ich hatte den Hauptſchluͤſſel zu dem Her - zen des Herrn v. G., den er bis dahin hin - terhalten hatte. Jezt erzaͤhlt er der Frau v. W., was mit ihm und dem alten Manne vorgefallen war, doch ſo, daß es alle hoͤren konnten. Wem haͤtt er dieſe Geſchicht auch beſſer dediciren koͤnnen, als der Frau v. W.? Der Herr v. G. ſah es mir an, daß mir dieſe Geſchichte nicht neu waͤre und ich fandB 2keine20keine Urſache zuruͤckzuhalten, daß ich den al - ten Mann mit dem einen Handſchuh ſelbſt gehoͤret haͤtte. Ich hatte mein Bekenntnis noch nicht vollendet, als Herr v. G. auf - ſprang, mir ſeine eingeweihte Hand reichte: der Seegen dieſes Himmliſchen, ſagt er, indem er mir die Hand druͤckte, wird auch auf dir ruhen, du Sohn deines Vaters! Nach mir gab er dieſe Hand der Frau v. W. ihrer Tochter, und zuletzt ſeinem Sohne, der aber nicht wußte, was ihm geſchah.

Der Herr v. W. haͤtte dieſen Handſchlag fuͤr einen Mangel der feinen Lebensart ge - halten, wenn der Herr v. G., der ſich aber von ſelbſt zu beſcheiden wußte, auch ihm ihn angeboten haͤtte; indeſſen war Herr v. W. doch ſehr bewegt uͤber dieſe Geſchichte und wer weis, wenn dieſer Himmliſche ein Edel - mann geweſen waͤre, ob er ihn nicht mit in ſein Trauerfeſt eingeſchaltet haͤtte. Jetzo konnt er auf dieſe Ehre nicht Anſpruch ma - chen, und das um ſo weniger, da er nur einen Handſchuh getragen.

Herr Herrmann wolte bey dieſer Gele - genheit den Herrn v. G. mit Witz unter den Arm greifen, auf den Herr v. G. ſich geſtuͤtzt hatte, und ihn durch einen Einfalltroͤſten.21troͤſten. Der elendeſte Troſt von allen, der jedem klugen Mann ekelt! Um zum witzigen Ziel zu kommen, mußt er einen langen un - angenehmen Umweg machen. Endlich an Ort und Stelle. Er erzaͤhlte, daß der Paſtor in einen Amtmann uͤber die ſchlechte Zeit zur Ruhe geſprochen und ihn auf den Himmel gewieſen haͤtte. Der Amt - mann aber in ſeiner Einfalt haͤtt ihm zur Antwort gegeben: Herr Paſtor, wie man hoͤrt, ſoll es auch da nicht mehr ſeyn, wie zuvor.

Herr v. W. war gewohnt, alles was er ſprach, abzuruͤnden, und dieſes vermißt er zuweilen am Herrmann, der, eh man es ſich verſah, aus der Rolle kam. Wahrlich er ſpielte zuviel Rollen. Ob nun gleich Herrmann alles that, was er dem Herrn v. W. an den Augen anſehen konnte; und immer Colophonium (Geigenharz) in der Hand hielt, um den Bogen des Herrn v. W. zu ſtaͤrken; ſo war dem Herrn v. W., der aus Hoͤflichkeit erkenntlich zu ſeyn wohl ver - ſtand, jedoch dieſer Gedanke voͤllig unpaſſend und ungeſchliffen. Er ſchuͤttelte ſein Haupt und verwies dem Herrn Herrmann dieſe Ge - ſchichte, wiewohl aus Erkenntlichkeit blosB 3mit22mit einem Winke, der ſagen ſolte: alles zu ſeiner Zeit Herr v. G. aber ſprang auf. Der Funke, fieng er an, war nicht werth, daß ſie ſo oft darnach ſchlugen. Ich habe dieſe Geſchichte, welche nach ihrer Ausſage dem Paſtor in begegnet ſeyn ſoll, ſchon in meiner Jugend gehoͤrt. Der Herr v. W. nahm ſich des Herrn Herrmanns nicht an, weil Herr Herrmann ſich nicht in die Zeit geſchickt hatte, und Herr v. G. behauptete, um den Witz deſto geſchwinder los zu werden, daß man ſich nicht beßer des Todes erinnern koͤnne, als wenn man ſchlafen gienge. Heil dem, ſagt er, der ſo ſtirbt, als ein Bauer einſchlaͤft, der gedroſchen hat. Nach ausge - ſtandener ſchwerer Arbeit in der Welt laͤßt ſichs ſelig und ruhig ſterben. In der letzten Stunde des Lebens ſieht man ſchon den Un - terſchied zwiſchen reicher Mann und armer Lazarus.

Man wuͤnſchte ſich eine gute Nacht. Herrmann beurlaubte ſich. Herr v. W. lies es bey dem Wunſch eine gute Nacht nicht bewenden, ſondern wuͤnſchte noch ergiebiger, daß die ewige Vorſicht ſowohl den Herrn v. G. als die gnaͤdige Frau vor allen Trauer - faͤllen bewahren und ſie die hoͤchſten Stuffendes23des menſchlichen Lebens hinauf fuͤhren moͤch - te. Herr Herrmann nahm Gelegenheit, dem Herrn v. W. wegen des Ablebens ſeines Hochwohlgebohrnen Herrn Grosvaters zu condoliren. Ich buͤckte mich blos, und da er dieſes gleichmaͤßig fuͤr eine Condolenz an - ſah, wandt er ſich zu jedem von uns beyden, zu mir zuerſt, und wuͤnſchte jedem was be - ſonders, jedem aber eine lange Reihe gluͤckli - cher Jahre.

Der Herr v. G. nahm die Frau v. W. bei der Hand, um ihr das Schlafzimmer an - zuweiſen. Da die Frau v. G. durchaus ſie auch begleiten wolte; gab ihr Herr v. W., nach vielen Complimenten und Bitten zu - ruͤck zu bleiben, auch die Hand. Dem juͤn - gern Herrn v. G. ward das kleine Fraͤulein v. W. angewieſen. Mich mußte der gewe - ſene Hofmeiſter, den ſein geweſener Unterge - bener nicht mehr vor voll anſahe, wiewohl in das nehmliche Zimmer bringen, wo ich ſchon die vorige Nacht geſchlafen hatte, und das ich alſo ohne dieſe Anweiſung gefunden haben wuͤrde. Hier ſolt auch der alte Herr ſchlafen. Dieſer lezte Umſtand, obſchon er von der Frau v. G. zu meiner Erniedrigung ausgekuͤnſtelt ſchien, und mich einen Augen -B 4blick24blick befremdete, war mir doch gleich nach dieſem Augenblick willkommen. Ein betruͤb - tes Herz liebet zaͤrtlicher, und wahre Liebe iſt keine frohe Leidenſchaft. Sie faͤngt mit Seufzern an, ſo wie wir mit Thraͤnen ge - boren werden. Mine war mit Leib und Seel vor meinen Augen, es iſt doch ihr Va - ter, dacht ich, und reichte dem Herrn Herr - mann die Hand. So Hand in Hand kamen wir ins Schlafzimmer. Hier legte der alte Herr ſein Protektionsanſehen, womit er mich ohnehin nur nach der Abreiſe meines Vaters, und das ſehr beylaͤufig, heimgeſucht hatte, zugleich mit ſeiner Peruͤk ab, und that un - gemein vertraut mit mir. Um ſeine heuti - ge Hofnarrenfuͤhrung zu entſchuldigen, zog er auf den Adel los. Traget die Narren, ſagt er, weil ihr klug ſeyd, und reſtituirte alſo dieſen Spruch in integrum, nachdem er von ihm und dem Herrn v. W. in der Art war verdrehet worden: Traget die Groben, weil ihr hoͤflich ſeyd. Ich weis nicht, wie’s mir anwandelte, daß ich dem alten Herrn bey den Worten: traget die Narren, weil ihr klug ſeyd, ins Wort fiel: allein macht euch nicht ſelbſt zum Narren

Es25

Es that mir leid, ſobald ich dieſen Zu - ſatz ausgeſprochen hatte. Der alte Herr ſchien es zu empfinden, und ſetzte ſeine Rechtfertigungen fort. Ein Litteratus iſt freylich, ſagt er, ein halber Edelmann; in - deſſen iſt zwiſchen halb und ganz ein Unter - ſchied. Man laß ihnen das von, wenn ſie uns nur den Verſtand laſſen. Da er her - ausgieng, ſich eine Flaſche Wein zu beſor - gen, um noch eine Pfeife, wie er ſagte, in bona pice et pace zu rauchen: nahm ich das Teſtament meines Vaters heraus, wel - ches ich die ganze Zeit uͤber verborgen in der Hand gehalten. Ich hatte beynah dieſen Abend nur mit einer Hand gegeſſen; denn ich konnte dies Teſtament in der Taſche kei - nen Augenblick allein laſſen. Die Hand, mit der ichs hielt, war in einer ſolchen Tran - ſpiration, als wenn ſie nicht zu den uͤbrigen Theilen des Koͤrpers gehoͤrte.

ανεχου και απὲχου las ich, und las wieder: ανεχου και απὲχου. Oefne ſie nicht eher, als wenn du in der groͤßten Noth biſt, und was iſt die groͤßte Noth? dacht ich bey mir ſelbſt. Ich fand, daß Geld in dieſem letzten Willen lag, und da es ſich nicht thun lies, meinen Kaſten aufzuſchließen,B 5und26und dieſe donationem mortis cauſſa zu den Denkzetteln meiner Mutter zu legen, die mir als eine donatio inter viuos vorkam; ſo de - ponirt ich dieſe Schrift vor der Hand ins Bett unters Kopfkuͤſſen, und dacht an mei - ne Mutter, und an den hochheiligen Abend vor der erſten Predigt bey dieſem Interims - depoſito. Ich mußt eilen; denn der alte Herr kam wieder, und ein Bedienter hinter her, mit Wein und einem Teller voll Rauch - toback. Da iſt Eſſen und Trinken, ſagte der alte Herr, und that dabey, als ob er etwas ſehr witziges geſagt haͤtte, welches ich aber nicht finden konnte. Bald darauf fieng er ſich an zu beklagen, daß er einen guten Freund ſeines Hauſes an mir verloͤhre, und ich nahm Gelegenheit, mich nach ſeinem Sohne zu erkundigen; vielleicht, dacht ich, faͤngt er von ſelbſt von ſeiner Tochter an, wenn er doch anfienge!

Ich ſah es ſeinen Augenwimpern, ſeiner Naſ und Stirn an, daß er ſein ganzes Geſicht umſtimmen mußte, eh er heraus zu bringen im Stande war, daß der Sohn eines Litte - ratus ein Schneider geworden waͤre, ob - gleich mein Bruſttuch, wie man es in Cur - land nennt, noch von der ſelbſt eigenen ge -lehrten27lehrten Hand des alten Herrn edirt war. Zwey, die ich im Kaſten hatte, waren ſo gar durch ihn geflickt und verbeſſert und vermehrt zum andernmal aufgelegt. Das iſt dem Benjamin nicht, fuhr er fort, in ſeiner Wiege vorgeſungen, und da er Darius war, hatt er ſo gut Koͤnig zu ſeyn die Ehre, als ein anderer. Manchem kommen die ge - bratene Tauben entgegen, ein anderer muß ihnen Netz und Strick legen, und ſie erſt fangen und braten. Das Schneider - handwerk, fuhr er nach einer Weile fort, da ich nicht noͤthig fand, ihm auf den Wie - gengeſang und die Dariusehre zu antwor - ten, das Schneiderhandwerk iſt bey alle dem fuͤr den Sohn eines Litteratus noch das ſchick - lichſte. Gott der Herr ſetzte ſelbſt, nach dem betruͤbten Suͤndenfall, dieſes geſchenkte Handwerk ein, und verfertigte die erſten Kleider. Was zu thun? Er ſitzt bey einem ſehr geſchickten Schneider auf Prima, und wird kuͤnftige Oſtern Student, oder Geſell, wie es die Leute nennen. (Dieſe Worte waren ein Gemiſch von Stolz und Satyre. Sie waren der alte Herr ſelbſt. Wer ihn hier nicht findet, findet ihn nirgend.) Meine ſelige Frau ſagte mir gleich nach uͤber -ſtande -28ſtandenen Wochen, Benjamin wird entweder Schneider oder Litteratus, welches ſie der Nothtaufe wegen vermeynte, die Benjamin empfieng. Das, verſicherte ſie, hab ich von alten Leuten, was die Nothtauf empfaͤngt, wird eines von beiden. Ich ſuchte ſie auf den rechten Weg zu lenken, und wolte durch - aus nur vom Litteratus hoͤren und wiſſen; allein ſie blieb bey ihrem entweder und oder, Das Bein, welches ſich, als er Darius war, zu ſeinem Vortheil wendete, und die rechte Hand, der er auch redlich nachgehol - fen, beſtaͤrkten meine Hofnung, und war - um ſolt er nicht? Sein Vater iſt ein Lit - teratus, und meine ſelige Frau war auch von gutem Hauſe; wenigſtens kann man ih - ren Vater ohne Bedenken nennen, (das war niederſchlagend Pulver fuͤr mich, damit ich mich ja nicht uͤberheben moͤchte) und hier glaubte der alte Herr, daß jemand zu uns kaͤme, und kehrte das Blatt bey der dritten Reihe von oben auf eine ſehr komiſche Art um, das alte Weib, ſagt er, als ob er fortfuͤhre, hatte dem Organiſten einen Streich geſpielt, und er ſang bey ihrer Trauung mit einem jungen Menſchen, der ſie des leidigen Geldes wegen heyrathete:

Was29
Was Gott thut, das iſt wohlgethan!
Soll ich den Kelch gleich ſchmecken,
der bitter iſt nach meinem Wahn;
laß ich mich doch nicht ſchrecken,
weil doch zuletzt

(nehmlich wenn ſie ſtirbt)

ich werd ergoͤtzt
mit ſuͤſſem Troſt im Herzen;
da weichen alle Schmerzen.

Der alte Herr ſahe ſeinen Irthum ein, der jemand, von dem er befuͤrchtete, daß er uns bey dieſen Familienangelegenheiten uͤber - fallen wuͤrde, gieng unſre Thuͤr vorbey. Herrmann nahm alſo ſein und auf

und, fuhr er fort, (als wenn er das Blatt zuvor zu rechter Zeit umgekehrt haͤtte) was wolt ich ſagen? und meiner Frauen Ent - weder, Oder iſt erfuͤllet! Entweder Littera - tus oder Schneider. Was Gott thut, ſagt ich, das iſt wohlgethan! Dieſe Worte brachten ihn auf Minchen, ich weis nicht wie

Minchen verdient einen Litteratus, fuhr er fort. Sie verdient, ſagt ich, einen Lit - teratus, der ihren Bruder nicht vernachlaͤſ - ſiget, wenn gleich er ein Schneider iſt. Dies beſchaͤmte den alten Herrn, der, ſobald nuretwas30etwas unſere Thuͤr vorbey rauſchte, ſeinen Sohn verſteckte, um ſich als Litteratus zu zeigen. Ich glaub er waͤr eher geſtorben, als daß er geſtern Abend uͤber Tafel, da man ſich ungefehr nach ſeinen Kindern er - kundigte, bemerken ſollen, daß Benjamin das Schneiderhandwerk ergriffen. Eine Tochter und einen Sohn, antwortete er auf die Erkundigung nach ſeinen Kindern, und mehr keine Sylbe. Ich kann mir vorſtellen, wie ſorgfaͤltig er ſein eigenes Bie - geleiſen, Nadel und Zwirn und Scheere und Schuſterpfriem und Leiſten und Toͤpferrad verborgen haben wird.

Minchen, ſagt er, ohn auf meine Zu - rechthuͤlfe zu achten, iſt ein Maͤdchen die der Familie keine Schande machen wird

Er erzaͤhlte mir ihre Vorzuͤge, die ich gottlob! beſſer wußte, wie ein Mann, der ſeines Sohns ſich ſchaͤmen konnte, blos weil der Sohn ein Schneider war. Bey alledem hoͤrt ich ihr Lob mit Vergnuͤgen. Da er aber auf ihre Kinderjahre kam, ward ich entzuͤckt. Ich fuͤhlte die Worte von gan - zem Herzen: Was Gott thut, das iſt wohlgethan!

Der31

Der alte Herr hieß mich waͤhrend dieſer Erzaͤhlung Herr Candidat, und freute ſich, daß auch ich ihn Herr Candidat nennte. Eine Hoͤflichkeit iſt der andern werth. Je oͤfter ich Herr Candidat ſagte, je mehr er - zaͤhlt er mir von Minchen mit einer ge - wiſſen vaͤterlichen Wohlmeinung, und je oͤf - ter nannt er auch mich wieder Herr Candi - dat. Er fieng an, mir dieſen Titel beyzu - legen.

Ein Paar loſe Buben (ich erzaͤhl ein Paar Geſchichtchen von meiner Mine) hat - ten aus einem Finkenneſte zwey Eyerchen geſtolen, und den Inhalt derſelben heraus - geblaſen. Dies erzaͤhlten dieſe Buben dem kleinen Minchen. Sie bildete ſich ein ſie hat eine ſtarke Einbildungskraft daß das beraubte Paar ihr verlaßnes Neſt vom benachbarten Baume anſaͤhe, und ſich ihr Leid einander klagte. Minchen klagte mit. Das liebe Maͤdchen wußte, daß man der Henne die Eyer nicht wegnimmt, daß ſie ſolche als getreues Hausthier dem Men - ſchen hinlegt. Sie bat ihre Mutter um zwey Eyer, die ihr heute und geſtern die Henne mit der ſchwarzen Muͤtze geſchenkt hatte, und hat den Benjamin, ihr den Ge -fallen32fallen zu thun, die Wallfahrt auf den Bir - kenbaum zu uͤbernehmen, und das verlaßne eiskalt gewordene Finkenneſt durch die zwey Huͤnereyer zu entſchaͤdigen. Dieſer ſchlug es der Gefahr wegen aus, er war zu der Zeit noch link und lahm und bemerkte ſehr weislich, daß die Huͤnereyer groͤßer waͤren, als die Finkeneyer, die er ſelbſt in den Haͤnden der Buben geſehen. Minchen freute ſich daruͤber: indem ſie glaubte, den Schaden deſto vollſtaͤndiger zu erſetzen. Ge - gen kleine! große! Sie bat ihren Bruder, und bat ihn wieder. Er aber blieb bey ſei - nem Nein, und ſeiner weiſen Bemerkung. Endlich ſah ſie den Baum einigemal an, uͤbermaas ſich und ihn, und da ſie ganz al - lein war, erſtieg ſie ihn, und legte die bey - den Eyer in das verlaßne Neſt, in Hof - nung, es wuͤrden ſich die Eigenthuͤmer wie - der zu Hauſe finden. Die Voͤgel, die haͤu - fig auf den Aeſten des Baumes ſaßen, den ſie erſtieg, wurden nicht im mindeſten ver - ſcheucht. Sie ſahen ſie ohngefehr, wie fromme Leute einen Engel ſehen wuͤrden. Den beyden Finken, die Minchen vor die beſtolne Eltern hielt, ſah und hoͤrte ſie die Freud und Dankbarkeit an. Voll Entzuͤ -ckung33ckung uͤber dies alles huͤpfte Minchen auf dem Baum, und fiel auf die Erde, ſo daß ſie ſich nicht regen konnte. Einer von den boͤſen Buben ſah ſie liegen; allein es war ihm nicht viel anders, als ein ausgeblaſe - nes Finkeney. Ihre Mutter, der man ih - ren wuͤrklichen Tod angekuͤndiget hatte, kam halb todt zu ihrer Tochter, die ſich nach und nach erholte. Der ganze Fehler meynte Minchen, (wiewohl kindlich) laͤge darin, daß ſie ſich ſchon auf dem Baum gefreut haͤtte

Ich haͤtte ſie ſollen auf dieſem Bette der Ehren ſehen, ſagt ich, da der alte Herr an dieſe Stelle kam. Sie iſt eine gebohrne Koͤnigin, ſetzt ich hinzu.

  • Der alte Herr. Ein Litteratus wird ihr ſchon zu Theil werden
  • Ich Benjamin that unrecht, daß er ſich entſchuldigte.
  • Der alte Herr link und lahm.
  • Ich Wer nur ein Bein hat, wagt nur ein Bein.
  • Aber, fuhr der alte Herr fort, ein Huͤ - nerey
Zweiter Th. CBey34

Bey Gott iſt das einerley, erwiedert ich, nur bey den Finken nicht. Ich glaube, Herr Candidat, bey unſern meiſten guten Handlungen iſt ein Huͤnerey, anſtatt eines Finkeney’s.

Lieben Leſer! ſeht da Minchen! Iſts moͤglich, daß der alte Herr ſo was erzaͤh - len, und der alte Herr bleiben konnte?

Minchen gieng einen ſchoͤnen Morgen ins Feld, und begegnet einen Jungen mit bey - den Haͤnden in den Haaren und weinen bit - terlich. Er hatt einen Milchtopf zerbrochen, und befuͤrchtete von ſeiner Mutter daruͤber geſchlagen zu werden. Sey gutes Muths, ſagte Minchen, und nahm ihm die rechte Hand von den Haaren, die linke Hand gab ſich von ſelbſt. Er lies ſich troͤſten. Je naͤher er aber zum Dorfe kam, je langſamer gieng er, und da er das Haus ſah, fieng er von neuem an zu weinen, und wolte durch - aus wieder mit der rechten Hand in die Haa - re die linke nach. Die Mutter des Jungen kam ihnen entgegen, und ihr erſtes Wort war: der Topf. Minchen trat vor und ſagte: liebe Nachbarin, ich! ich! bin den Topf ſchuldig. Seht! ich gieng ſchnell zu, und da war der Topf hin. MeineMut -35Mutter hat heute die Waͤſche, und da wißt ihr kann man nicht ſagen, daß ein Topf gebrochen iſt. Wenn die Waͤſche vorbey iſt, will ich euch einen andern Topf brin - gen. Die Baͤurin war gegen des alten Herrn Toͤchterchen ſo galant, daß ſie kei - nen Topf verlangte. Minchen verbat dieſes Geſchenk. Der Jung indeſſen, ſo - bald er merkte, daß die Mutter ſich gefun - den hatte, ſprach Minchen los, und eignete ſich der Wahrheit gemaͤß alle Schuld zu. Nehmt keinen Topf, Mutter, ſie hat ihn nicht zerbrochen, ich ſah, wie es alles ſo ſchoͤn gruͤn und gelb auf dem Felde war, und da fiel der Topf mir aus der Hand. Die Baͤurin war ſo bewegt, daß ſie Minen wie eine Heilige verehrte, und an ihrer Hand zu Hauſe begleitete. Ich erkundigte mich nach dem Jungen, und wuͤrd es gern ge - ſehen haben, daß Helm ſich durch dieſe große That in ſeiner Jugend ausgezeichnet haͤtte; allein der Herr Candidat verſicherte, daß dieſer Edle im ſiebenten Jahre ſelig verſtor - ben waͤre. Alle Welt, fuͤgte der alte Herr hinzu, ſagte: der Jung iſt zu ſchad fuͤr dieſe Welt, und die Wahrheit zu ſagen, ich wundre mich, daß Mine ſo gros gewordenC 2iſt36iſt. Der liebe Gott weis freylich was gut iſt, Herr Candidat, erwiedert ich, und will gern ſo was im Himmel haben; indeſſen iſt es auch auf der Erde zur Art noͤthig. Was wuͤrde ſonſt am Ende aus uns werden?

Der alte Herr gefiel mir ſo ſehr bey die - ſer Gelegenheit, daß ich ihn bey mir ſelbſt we - gen ſeiner heutigen Fuͤhrung und wegen vie - ler andern mir bewußten Umſtaͤnde zu entſchul - digen anfieng. Wuͤrde nicht Minchens Zeugnis ſelbſt wider ihn das Wort genom - men haben, ich haͤtt ihn noch laͤnger und mehr entſchuldiget, und vielleicht eben ſo oft Vater genannt, als ich ihn jetzo Herr Candidat zu ſeiner Seelenfreude nannte.

Es fiel mir zur rechten Zeit ein, daß man mit dem Vaternamen ſehr behutſam ſeyn muͤſſe, da das ganze Chriſtenthum dar - innen beſtehet, daß Gott unſer Vater iſt.

Minchen (aus der Erzaͤhlung des alten Herrn) nahm ſich in ihrer Kindheit immer der ſchwaͤchlichſten Pflanzen an. Sie begeg - nete ihnen, wie armen Leuten. Sie begoß ſie zuerſt, und ſtreichelte, liebkoſete und troͤ - ſtete ſie. Wenn der Wind eins beſchaͤdigte, zog ſie ihm das gebrochene Bein in Ord - nung, und heilte den Schaden. Gieng ihreins37eins aus, war es ihr ſo, als wenn was le - bendiges geſtorben waͤre. Gott hab es ſe - lig, ſagte ſie, und begrub es in die Erde, die, wie ſie ſagte, unſer aller Mutter iſt.

Das iſt die Weiſe aller guten Seelen, bemerkt ich, und der Herr Candidat fuͤhrte bey dieſer Gelegenheit an, daß mein Vater keinen Citronen oder Pomranzenkern in die Erde geſteckt. Ich halte dies, haͤtt er zu ihm geſagt, fuͤr eine Suͤnd in einem Lande, wie Curland, einen Citronenbaum zu pflan - zen. Aber die Blaͤtter riechen ſchoͤn, und ſind gut im Schnupftobak, ſagt ich zum Herrn Vater. Der Blaͤtter wegen, erwie - dert er, muß man keinen Citronenbaum in die Welt ſetzen. Nichts halb, lieber Freund! und ein Blat iſt kaum ein Viertel. Ich ſahe wohl ein, daß der Herr Candidat mei - nen Vater bei dieſem Umſtande ſehr unrichtig berechnete; indeſſen ſah ich keine Pflicht ab, ihn auf den rechten Weg zu lenken, und hie - durch die edle Zeit zu verlieren. Wo iſt eine Zeit, die edler waͤre, als die, wo ich von Minchens Kinderjahren erzaͤhlen hoͤrte. Wer ein Maͤdchen kennen will, frage nicht wie es jezt iſt, da es Ja ſagen ſoll; ſondern wie’s als Kind war, wo noch an kein Ja gedachtC 3wer -38werden konnte. Dies war freylich mein Fall nicht mit Minchen. Ich hatt ihre Kinder - jahre nicht zu dieſem Belag in beweiſender Form noͤthig; allein ich war entzuͤckt, meine Vorſtellungen von den erſten Jahren ihres Lebens ſo genau getroffen zu finden; ich fand alles, wie ich’s mir gedacht hatte.

Noch eins von Minchen unter ſo vielem. Ein benachbarter von Adel hatt einen kleinen juͤdiſchen Knaben, der mit Pfeifenkoͤpfen fuͤr andre Juden herumgieng, in Feſſeln legen laſſen, weil er eben zu der Zeit, da dieſer Judenknabe ihm Pfeifenkoͤpfe angebothen, ſein Federmeſſer nicht vorfinden konnte. Der Knabe ward gleich bis aufs Hemde ausge - zogen; allein man entdeckte kein Federmeſſer, ob gleich er noch keinen Tritt oder halben Schritt aus dem adlichen Hofe ſeit der Zeit geſetzet hatte, da das Meſſer vermißt war. Der Edelmann behielte zu Anfang wohlbe - daͤchtig alle Pfeifenkoͤpfe. Da ſich die zwey Eigenthuͤmer zur rechtlichen Vindication an - gaben, macht er ihnen viele Schwierigkeiten und ſetzt auf das verlohrne Meſſer einen uner - hoͤrten Lieblingswerth. (Pretium affectionis) Es wuͤrden die Vindicanten nichts dagegen ausgerichtet haben, wenn ſich nicht zwey an -dre39dre benachbarte Edelleute, die zu ihren Piſto - len: macht euch fertig, ſagten, dieſer Juden und ihrer Pfeifenkoͤpfe angenommen haͤtten. Der arme Junge blieb alſo der einzige Gegen - ſtand der Grauſamkeit, die durch dieſen Vor - gang noch mehr vergroͤßert ward. Der Un - gluͤckliche ſolte verbuͤßen, daß ſich die Juden als Vindicanten und die zwey Edelleute als Sekundanten gemeldet hatten. Man konnte nicht begreifen, was Herr v. mit dieſem Arreſt beabſichtigte; indeſſen ſchien er zu glau - ben, daß ſich einer von den Iſraeliten mel - den, und den armen Jungen loͤſen wuͤrde. Alles bedaurte den ungluͤcklichen Knaben. Chriſt und Jude ſprach von des Edelmanns Grauſamkeit. Der Chriſt ſagt indeſſen, es iſt ein Judenknabe, und der Jude, wer wirds mit dem vornehmen Chriſten anbinden. Die zwey Eigenthuͤmer der Pfeifenkoͤpfe, welche dem Ungluͤcklichen die Commißionsguͤter an - vertrauet hatten, giengen auch wie der Prie - ſter und Levite vorbey, und wuͤnſchten ſich, ſo oft an die Grauſamkeit des Edelmanns ge - dacht wurde, Gluͤck, daß ſie ihre Pfeifenkoͤ - pfe in Sicherheit haͤtten. Der grauſame Edelmann, dem das Brod und Waſſer mit der Zeit zu koſtbar ward, welches er zu demC 4hohen40hohen Ausloͤſungspreis treufleißig geſchlagen hatte, ſetzte dieſen Preis bis auf die Helfte herab. Allein niemand that einen Both. Wegen der Pfeifenkoͤpfe ſchlugen ſich ſogleich zwey Edelleut ins Mittel, und bedrohter ihren Mitbruder, mit ihm Kugeln zu wech - ſeln, oder ihm einen rothen Hahn aufs Haus zu ſetzen. Was iſt aber ein Judenjunge ge - gen meerſchaume Pfeifenkoͤpfe? Die Eigen - thuͤmer hatten ſich, unter uns geſagt, mit dieſen Renomiſten abgefunden. Die Hoch - wohlgebohrnen Schlaͤger droheten nicht um - ſonſt, ſondern vor Geld und gute Worte.

Der arme Judenjunge! Zu den ſchoͤnen Reden, womit man ihn bedaurete, und ſich uͤber die Grauſamkeit des Edelmanns beklagte, kam nun noch der Umſtand, den man hinzu - fuͤgte: der Edelmann haͤtte den Preis des Federmeſſers und den des Brods und Waſ - ſers, womit der Knab im Gefaͤngniße bekoͤ - ſtiget worden, auf die Helfte herabgeſchla - gen hiebey bliebs. Es war um Weynachten, da Minchen und ihr Bruder ihren bemittelten Verwannten muͤtterlicher Seits beſuchten, um ein Chriſtgeſchenk, wel - ches in allerley Spielzeug beſtand, abzuho - len. Dieſer Verwannte wohnte dem Ty -ran -41rannen noch naͤher. Man weis, wie gern Kinder, und beſonders wie gern Maͤdchens ſpielen. Es war Weynachten, wo die Na - tur den Kindern, außer den Schneebaͤllen, die keinem Maͤdchen anſtehen, alles Spiel - zeug verſagt. Weynachten iſt ein wah - res Kinderfeſt, an dem das Spiel zur an - dern Natur wird. Es liegt uns im chriſt - lichen Blut, und alte Leute ſelbſt muͤſſen ſich zwingen, wenn ſie nicht ſelbſt in Weynachten ſpielen wollen. Alles dieſes zuſammen - gerechnet, in Summe, konnte Minchen von ihrem Entſchluß nicht abwendig machen. Ihre Verwannten waren furchtſam wie Tau - ben, die in der Nachbarſchaft von Raubvoͤ - geln geniſtelt haben. Der arme Judenjunge ſtoͤrt ihre heilige Chriſtfreude. Sie waren nicht halb ſo weynachtsfroh, als ſie es ſonſt geweſen ſeyn wuͤrden. Das Federmeſſer hatte ſich nach der Zeit vorgefunden, und der un - ſchuldige Knabe war blos wegen des verzehr - ten Brods und Waſſers in Ketten und Ban - den. Minchen ſchickte ſtillſchweigend durch ihren Bruder Benjamin, der aber kein Stuͤck von dem Seinigen dazu legte, ihr Weynachtsſpielzeug dem Edelmann, um den Knaben zu befreyen. Benjamin hatte Gele -C 5gen -42genheit zu Schlitten hinzukommen: denn ſonſt waͤr ihm dieſer Liebesdienſt, weil er hinkte, auch etwas zu ſtehen gekommen, ob - ſchon er von ſeinem Spielzeug kein Stuͤck da - zu gelegt hatte, und obgleich es nur uͤber Feld war. Haͤtt er nicht Gelegenheit gehabt, eine Schlittenfarth zu gewinnen, die bey ihm uͤber alles gieng, es waͤr aus der Negotia - tion nichts geworden. Zu Benjamins Ruhme wird bemerkt, daß er ſeiner Schwe - ſter die Erlaubnis gegeben, ſich ſeines Spiel - zeugs, deſſen Eigenthum er ſich aber aus - druͤcklich vorbehielt, zu bedienen. Es war indeſſen nicht Spielzeug fuͤr Maͤdchen, die am liebſten eine Wiege, eine Puppe, und ſo etwas lieben. Benjamin ward, weil er als ein Knabe mit Spielzeug angemeldet wurde, vorgelaſſen. Der ehrliche Benjamin erweckte ſogleich ein Haͤndeklatſchen, da er nur ins Zimmer trat; denn man glaubt einen großen Kram, und es war nur ein Arm voll. Urſache genug! daß ſogleich ſcrutinirt und Benjamin bei dieſem Verhoͤr nach Lan - desmanier mit dem Stock hochadlich bedro - het wurde. Benjamin lies es nicht zur pein - lichen Frage kommen, ſondern geſtand alles haarklein. Meine Schweſter, ſagte derbe -43bedraͤngte Benjamin, hat an allem Unheil ſchuld. Kurz, es blieb kein Wort auf ſeinem verzagten Herzen. Benjamin war zu dieſer Zeit noch nicht zum Darius gediehen, und wer kennt ihn nicht vom Finkenneſt?

Der Teufel, dachte Herr v. , wenn es nur nicht ein ſatyriſcher Ball iſt, den der alte Herr auf mich ſchlaͤget, und hatte Luſt, ihn auf den jungen Herrn zuruͤckzuſchlagen, und den armen Benjamin mit ſeinem chriſt - lichen Spielzeuge dem Judenjungen zuzuge - ſellen. Da aber Benjamin, der aus See - len - und Leibesangſt aͤchtzte, kniefaͤllig bat, ſeinem Vater nichts von allem, was der gnaͤ - dige Herr geſehen und gehoͤret hatte, zu entdecken, weil Herr Herrmann von die - ſer Sache nichts, gar nichts wußte, und ihn an einem ganz andern Ort glaubte; ſo fiel dem Blutygel zu guter Zeit ein, daß der alte Herr freylich nur von hinten mit einem Cavalier geſcherzet haben wuͤrde.

Der Teufel, dacht er wieder, (man ſah es ihm ordentlich an, daß er jeden Ge - danken mit dem Teufel anhob,) der alte Herr wuͤrde nicht den Sohn geſchickt ha - ben! Die Sonne gieng wieder in ſei - nem Angeſicht fuͤr Benjamin auf. DerTeu -44Teufel, ſagt er, deine Schweſter muß ein feines Maͤdel ſeyn! Die Sache gab zu vie - len ſatyriſchen Fragen, Benjamins Schwe - ſter betreffend, Anlaß. Er fragte nach ih - rem Alter? und ob ſie denn eine ſolche Nei - gung zu Juden haͤtte? Der Schluß war, daß nur ein Stuͤck Spielzeug zuruͤckbehalten wur - de, welches ſich der Junker Fritz ſogleich zuge - eignet hatte. Der Judenknabe ward losge - laſſen; Benjamin aber mußte dieſer Grosmuth wegen, um der Hochadlichen Herrſchaft zur Weynachtszeit ein Vergnuͤ - gen zu machen, dreymal um den großen Tiſch hinken, und alles wolte vor Lachen niederſinken. Eine natuͤrliche Polonoiſe! ſchrie alles, und lachte, was es konnte; nur der hinkende Benjamin nicht. Der Junker Fritz gab ſein Spielzeug der gnaͤdigen Mam - ma zu halten, und verſuchte dem Benjamin nachzuſpotten, da er aber bey einem Haar ein adliches Bein gebrochen haͤtte; ſo blieb es bey einem mahl, und Benjamin ſahe nach dem armen Judenknaben, der blas wie eine Leiche ſtand. Der Tod haͤtt ihn bald befreyt, wenn Benjamin dem Tode nicht zuvor gekommen waͤre. Benjamin bot dem Judenknaben, ſo bald ſie aus der adlichenGeſell -45Geſellſchaft im Freien waren, von ſeinem, oder beßer, von ſeiner Schweſter heiligen Chriſt an, um ſich dafuͤr Eßen zu kaufen. Der Judenknabe verbat es aus Religions - eifer, und blieb lieber hungrig und durſtig, als daß er ſich fuͤr dieſes chriſtliche Spielzeug labte. Benjamin hatte ſich bey dieſer Ge - legenheit die Schlittenfahrt ſo verekelt, daß er nie ohne Herzensangſt daran denken konnte. Dieſes Vergnuͤgen hatte fuͤr ihn keinen Werth mehr. Er hinkte zu Hauſ und dankte Gott, daß niemand druͤber lachte, als wie er dreymahl um den großen Tiſch hinken mußte.

Obgleich Benjamin das Spielzeug bis auf ein Stuͤck, ſo der Junker Fritz behalten hatte, zuruͤckbrachte, indem er wegen des uͤbrigen, dreymal um den Tiſch hinken muͤſ - ſen; ſo ward doch dieſe Begebenheit ſo be - kannt, daß Minchen daruͤber viel ausſte - hen, und die bitterſten Thraͤnen weinen mußte. (Ich hab Urſache, aus der Er - zaͤhlung des Herrn Candidaten zu ver - muthen, daß der Herr Vater Minchen ſelbſt im Litterateneifer reichlich und taͤglich beſchaͤmt haben wird.) Man zog Min - chen unter ihres Gleichen mit dem Juden -knaben46knaben auf, und ſie nahm es ſich unendlich zu Herzen. Ich habe, ſagte ſie in ihrer Unſchuld zu Benjamin, den Judenknaben nicht geſehen, und will es auch nicht. Der Spott zehrte ſie ſo ab, als das Gefaͤng - nis bey Waſſer und Brod den Judenknaben. Sie fiel in ein Fieber, und nun gieng der alte Herr in ſich, welcher mit Beyhuͤlfe des Doktors Saft wieder Seel und Leib ins Ge - leiſe brachte. Der alte Herr bemerkte, daß ſich die Liebe zur Schlittenfarth beym Benjamin wieder gefunden, und daß Min - chen noch bis auf den heutigen Tag bleich im Geſicht wie gewaͤßerte Milch wuͤrde, wenn man das Wort Jude ausſpraͤche, wie (Der Herr Candidat legte ſeine Pfeife hin, und kam mir dicht ans Ohr, da er mir dieſe Pille eingab) ihr Herr Vater uͤber den Ausdruck Melchi - ſedech.

Dieſe Zugabe ſetzte mich nicht wenig in Erſtaunen, und ich machte die Bemerkung, daß jeder Menſch, der unſchuldigſte nicht ausgenommen, ein Wort haͤtte, wobey ihm nicht wohl zu Muth wuͤrde, es ſey Melchi - ſedech Judenjunge ich zum Exem - pel

Gott!47

Gott! muß man denn, rief ich aus, noch ehe der Herr Candidat geendiget hatte, Gott! muß man denn ein Fieber ausſtehen, durch den D. Saft gerettet, und mit ei - nem Judenjungen gepaart werden, wenn man Gutes thut! Der alte Herr ſetzte noch hiezu: und dreymal um den großen Tiſch hinken!

O Minchen! welch eine Seele haſt du! (dies fuͤhlt ich nur) wie gluͤcklich bin ich, daß ſie mein iſt! ich war außer mir.

Bey dem Alexanderſpiel hatt es Min - chen in der erſten Zeit uͤbel aufgenommen, daß ihr Bruder Darius immer geſchlagen wurde. Laß mich den Darius machen, ſagte ſie zu Benjamin. Du wirſt ſehen wir gewinnen. Benjamin aber entſchuldigte ſich ſehr weiſe mit der Geſchichte, welcher er nachgeben muͤßte, obgleich ich auch beym Ringen, eh er Darius und ich Alexander war, jederzeit bey allem ſeinem Schweis des Angeſichts Ueberwinder war. Nach - dem ſie groͤßer war, ſetzte der Herr Candi - dat hinzu, ließ ſie ſich gern ſchlagen und ge - fangen nehmen. Sie ſah es ohnfehlbar ſelbſt ein, daß es die Geſchichte ſo mit ſich brachte. Wie viel Muͤhe hatt ich, nichtuͤber -48uͤberlaut zu rufen: Mine! Mine! liebe Mine! Der alte Herr bemerkte, daß Min - chen fuͤr ein Frauenzimmer zu viel Herz haͤtte, und rechnet es ihr zum Fehler an. Entweder, ſagt er, iſt die Rolle daran Schuld, die ſie bey den Kriegen als aͤlteſte Prinzeßin Tochter des Darius uͤbernahm oder ſie kennt keine Damen von Stande. Mag ſie ſich doch, fuhr er fort, der Littera - tus, der ſie zur Frau macht, beßer ziehen. Sie fuͤrchtet ſich fuͤr keine Maus und keinen Froſch, und wenn die Spinnen den Weg verwuͤrkt haben, zieht ſie das Geweb wie einen Vorhang in die Hoͤhe mit bloßen Haͤn - den. Noch bemerkte der Herr Candidat, daß Mine in ihrer Jugend, obſchon ſie we - gen des Finkenneſts einmal ruͤhmlichſt vom Baum gefallen, doch nicht nachgelaſſen, wie - wohl nur auf der Erde zu huͤpfen, und zu ſpringen. Je groͤßer ſie aber wurde, je ernſthafter, ſetzt er hinzu. Nur ſehr ſehr ſelten wandelt ihr jetzo, fuhr er fort, das Huͤpfen und Springen an, weit oͤfter aber das Weinen welches nach dem Tod ihrer Mutter ohn End und Ziel iſt, und das (der alte Herr zog ſelbſt den Mund zur Thraͤ - ne in Ordnung, indeſſen wolt es die Pfeifenicht49nicht zugeben ) und das, ſagt er, ſo ſchoͤne Thraͤnen, und ſchien nicht undeutlich zu verſtehen zu geben, daß zwiſchen Thraͤnen und Thraͤnen ſchoͤn und heßlich ſtatt finde. Was mich wunderte war, daß er ſelbſt fuͤhl - te, Minchen ſaͤnge vortreflich. Was das Spielen betrift, fuhr er fort, ſo hat ſie ihre eigene Manier. Freylich, dacht ich, den ſteinigten Acker verſteht ſie nicht auszudruͤ - cken, auch nicht die fuͤnf Gerſten Brodte und ein wenig Fiſchlein. Da der Herr Candidat außer ihren erſten Jugendjahren nichts von Minchen zu ſagen wußte, was mir nicht weit genauer und richtiger bekannt war; ſo lenkt ich ihn auf die Univerſitaͤten, allein ich fand ihn nicht bewaͤrth. Er ſagte davon we - niger, wie mein Vater von ſeinem Vater - lande, und dies war wohl natuͤrlich, da mein Vater gewiß ein Vaterland hatte, der Herr Candidat aber ſchwerlich auf irgend einer Uni - verſitaͤt geweſen ſeyn wird. Des Herrn Candidaten fruͤhere Spargel, Pfeife in der freien Luft, und Wein bey der Quelle, waren bey dieſer Gelegenheit ein Vade mecum von Studentenſtreichen, womit er meine Frage nicht befriedigte. Ich brach alſo ab, ohne ihm, ſo ſchlecht er auchZweiter Th. Dbeym50beym Examen beſtand, den Candidatentitel zu entziehen. Ich weiß nicht, ob ich ſchon wo bemerkt habe, daß er kein Curlaͤnder von Geburt war, und daß man ihm ſeine Litte - ratenwuͤrde aus der erſten Hand nicht wider - legen konnte.

Ich merkt aus meiner Munterkeit, daß ich dieſe Nacht Minchens wegen eben ſo we - nig ſchlafen wuͤrde, als ich die vorige Nacht des neuen Bettes halber geſchlafen; indeſſen ſah ich dem Herrn Candidaten, meinem ſehr werthen Herrn Collegen, der ſeine Bouteille Wein ausgetrunken und ſeinen Teller mit Tobak bis auf eine halbe Pfeife ausgeraucht hatte, an, daß er ſchlaftrunken war. Wein und Tobak hatten hiebey, wie es mir vorkam, nicht den mindeſten Einfluß. Er fieng mit mir zu complimentiren an, in welchem Bett ich ſchlafen wolte und verlangte durchaus das Bette, wo das Depoſitum lag, weil das, ſo ich ihm beſtimmt hatte, und in welchem mein Vater geſchlafen, mit einem Geſimſe war. Vorhaͤnge konnten in dem Hauſe des Herrn v. G. an dem Bette nicht ſeyn. Ich glaube, ſagte der Herr Candidat, da wir uͤber dieſen Umſtand ſprachen, Herr v. G. haͤtte, wenn er Adam im Paradieſe geweſen, ſich keineSchuͤrze51Schuͤrze von Feigenblaͤttern gemacht. Der Herr v. W. brachte ſich, wenn er zum Herrn v. G. kam, ſeine ſeidne Vorhaͤnge mit. Ohn - fehlbar wird wohl die Farbe der Vorhaͤnge nach Beſchaffenheit des Feſtes geweſen ſeyn. Mit Zuverlaͤßigkeit weiß ich’s nicht. Da ich den Herrn Candidaten verſicherte, daß ich in dieſem Bette ſchon eine Nacht ſchlaflos zu - gebracht und den Tribut bezahlt haͤtte: ſo bat er ſich, wenn es ohne mir etwas zu ent - ziehen geſchehen koͤnnte, ein Kopfkuͤſſen von den Meinigen aus. Das war eine neue Ver - legenheit fuͤr mich wegen des lezten Willens, den ich ſeinem Aug entziehen wolte. Er ſtand an meinem Bette und wolt aus Be - ſcheidenheit und Dankbarkeit das Kuͤßen ſelbſt nehmen: ich hatte viele Kunſt noͤthig, ihm das unterſte in die Hand zu ſpielen. Kaum war er im Bette, ſo ſchlief er, wovon er durch ſein Schnarchen untruͤgliche Beweiſe gab. Ich widmete Minchen dieſe Nacht, und wenn ich ſchlummerte, ſah ich den Ju - denjungen und das Finkenneſt und den Milch - topf, alles in Lebensgroͤße. Gegen den Morgen ſchlief ich feſter ein; indeſſen ſagt ich dem Herrn Candidaten den erſten guten Morgen, weil ich ihn aufwachen hoͤrte, undD 2fuhr52fuhr mit ſechſen aus meinem Bette. Er dankte fuͤr den guten Morgen; allein er blieb bey dem Dank, wie ’s ſich eignet und ge - buͤhrt, im Bette. Nach ſeinem ſchoͤnen guten Morgen war ſein erſtes Wort, daß ich zweymal Minchen gerufen haͤtte. Ich weis nicht, fuͤgt er ſehr hoͤflich hinzu, ob es mei - ne Tochter iſt? Gewiß, erwiedert ich, und begrif es ſelbſt nicht, wie’s zugieng; ich war beym Woͤrtchen Gewiß nicht im mindeſten verlegen: vielleicht kam es, weil der alte Herr noch im Bette war. Wie haͤtt ich Minchen verleugnen koͤnnen! Wir haben ge - ſtern, fuhr er fort, viel von ihr geſprochen, der Herr Candidat werden es verzeihen, daß ich Sie ſo lange von meiner Tochter unterhal - ten. Ich konnte kein Wort hierauf antwor - ten ohnfehlbar wolte der Herr Candidat einen voͤlligen Herzensaufſchluß; allein wie ſolt ich den bewilligen? Der alte Herr Can - didat war noch immer im Bett und, wie’s mir vorkam, auf einem Haͤufchen. Er ſchien nicht in Lebensgroͤße zu liegen und ſo lang er war; er wußte ſich nicht nach ſeiner Decke zu ſtrecken.

Damit meine Leſer nur ja nicht auf den Gedanken fallen, daß ich noch viele Tagein53in geblieben und ihnen all dieſe Tage meines Aufenthalts eben ſo langwei - lig wie bisher erzaͤhlen werde; ſo will ich nur kurz und gut bemerken, daß der folgende Tag zu unſerm Aufbruch beſtimmt war. Hof - fentlich wird ihnen dieſe Anzeige eine froͤli - che Botſchaft ſeyn.

Der junge Herr v. G. nahm mich we - gen der Jagd in Anſpruch. Ich hatt ihm daruͤber mein Wort gegeben und ſogar den Commandoſtab hiebey anvertrauet. Ohne Murren nahm ich alſo ſeinen Antrag als eine Ordre an, Vormittage dieſe Jagd anzuſtel - len. Die Wahrheit zu ſagen: ich wolt ihn auf der Jagd wo moͤglich von der Jagd ab - bringen, und dieſen Jaͤgertrieb beſchraͤn - ken.

Ich war in dieſer ritterlichen Uebung we - nig erfahren, obgleich ich ein Auge zum Ziel - ſchuß auf ein Haar hatte, ohne mir durch Puf, Paf, und durch das Exercitium mit der Tobakspfeife, dieſe Geſchicklichkeit erzielt, oder ihr auch nur nachgeholfen zu haben. Warum willſt du, ſagt ich, ein ſo blutiges Andenken zuruͤcklaſſen, eben da du von hin - nen ziehſt? Mein Recht nicht zu vergeben, erwiedert er. Du glaubſt es nicht, manD 3muß54muß die Baͤren und Woͤlfe im Reſpekt er - halten, wenn es auch nur durch einen Schuß iſt, die Beſtien machen unſer einem ſonſt das Eigenthum ſtrittig der Haaſe kennt ſeinen Junker.

Wir hatten oft angelegt, und eben legte mein Reiſegefehrt an, da ich eine Menſchen - ſtimme hoͤrte: Rett! Rett!

Herr v. G. kam nicht aus der Stellung: ich lief und ſchrie wo? wo? hier! hier! wo? wo? hier! hier! und denn wieder Rett! Rett! und mitten drunter mit einer erbaͤrm - lichen Stimme: Lorchen im Waſſer! Auch dies brachte den Herrn Braͤutigam in keine andre Lage; er hatt angelegt. Noch viele Rett’s! Rett’s! und viele hiers! hiers! und noch mehrere wo? wo? ich rief wo bis ich ſah ich ſah die Begleiterin der Fraͤu - lein v. W. jaͤmmerlich die Haͤnde ringen. Hier, hier, rief ſie noch zu guter lezt. O Gott! matt! matt! Die Waſſer uͤber Sie! Ich warf meine Flinte weg, und dieſe gieng los. Luiſe fiel in Ohnmacht. Das wird ſich geben, dacht ich, und ſprang ins Waſſer, und brachte das liebe kleine Ge - ſchoͤpf heraus. Die Angſt hatte ihre kleine Haͤnde gelaͤhmt. Das Waſſer war ihr mehran55an die Seele, als an den Leib, gegangen jezt war ſie friſch wie ein Fiſch worden, wuͤrde meine Mutter des Reims wegen ge - ſagt haben.

Luischen, ſagte ſie, da ſie ihre Beglei - terin wie todt liegen ſah. Ich nahm einen Hut mit Waßer, um Luischen ins Seyn zu - ruͤckzubringen; allein das Wort ihrer Pfleg - befohlnen: Luischen, hatte ſie ſchon aufer - weckt. Ich kam mit meinem Hut voll Waſ - ſer zu ſpaͤt, und goß dies Waßer, welches zum Schlagwaßer beſtimmt und eingeweihet war, ſo andaͤchtig aus, als meine Mutter das Reſtchen vom Taufwaßer ausgegoſ - ſen haben wuͤrde, welches nach ihrer Mei - nung ein paradiſiſches Gruͤn befoͤrdert. Wir wollen, ſagt ich zu Luiſen, unſer Schaͤfchen aufs Trockne bringen. Es lief Waßer von ihr herab, wie nach einem ſtar - ken Regen von den Daͤchern. Luiſe wolt ſie ſchelten, daß ſie einem Steige zu ſehr ge - trauet haͤtte; allein Luiſe ſahe wohl ein, daß das Wiedervergeltungsrecht zu Hauſe nicht ausbleiben wuͤrde. Es ward alſo verabredet, daß ſich das Fraͤulein v. W. ganz ſauber und ſchoͤn ankleiden, und darauf erſt ihrer Mutter den Vorfall erzaͤhlen ſollte. Wißen,D 4ſagte56ſagte ſie, muß Sie’s. Mich, bat ich, laſ - ſen Sie aus dieſer Geſchichte. Sie? ant - wortete die Kleine, und reichte mir die Hand. Ich wußte nicht ob dies Sie? Ja oder Nein war. Es ſprach das liebe kleine Maͤdchen Sie ganz beſonders aus. Ich koͤnnt es ihr zur Noth noch nach ſprechen! Waͤhrend der Zeit kam mein Reiſegefehrt, und, ohne ſich nach ſeiner Braut zu erkun - digen, macht er mir Vorwuͤrfe, daß ich ihn mit meinen Wos und Luiſe mit ihren Retts und Hiers geſtoͤret haͤtte. Bruder, ſagt ich, das Wort Rett iſt das deutſche hohe Nothwort. Wenn es ein Sterbender hoͤrt, muß er ſich noch aufrichten. Nur keiner, fiel er ganz gelaſſen ein, der ange - legt hat, und was haſt denn du getroffen? fuhr er fort. Dies edle Geſchoͤpf, ſagt ich. Er ward von allem unterrichtet, und ver - ſicherte hoch und theuer, daß wenn er nicht angelegt gehabt, er gewiß eben ſo, wie ich, ge - laufen und die Flinte weggeworfen haben wuͤrde, ſo unverantwortlich es gleich waͤre, Pul - ver und Schrot, dieſe Gabe Gottes, umkom - men zu laßen. Luiſe lachte herzlich. Die liebe Kleine ſah mich blos lieblich an. Beyde wußten ſich nicht drinn zu finden,daß57daß Pulver eine Gabe Gottes ſey. Der junge Herr v. G. konnte nicht leugnen, den Namen Lorchen gehoͤrt zu haben, indeſſen hatt er angelegt, das wolte mehr ſagen, als Lorchen. Es iſt wahr, durchs Ohr kommt weniger Mitleiden ins Herz, als durchs Auge. Man kann eher ſeine Stimme als ſein Auge verſtellen, und wen ſiehſt du, wenn du jemand ins Auge ſiehſt? dich ſelbſt im Kleinen. Du biſt in gewißer Art gegen dich ſelbſt mitleidig; allein hier iſt nicht von mehr oder weniger die Rede, ſon - dern von Menſchenſtimme und von einem Jaͤger, der angelegt hat.

Das kleine Fraͤulein und ihre Begleiterin ſchlichen ſich nach Hauſe, recht als ob die Frau v. W. ſie hier ſchon beym Waſſer be - merken koͤnnte.

Mein Reiſegefehrt unterrichtete mich in noch einigen Jaͤgerkunſtworten, und da ihm eben ein Haaſ aufſtieß, den er traf, war unſre Jagd zu Ende. Ich ließ mir ſei - nen Unterricht mit vielem Eifer gefallen, um ihn deſto mehr zu meiner Predigt vorzu - bereiten, die ich uͤberdacht hatte, und noch uͤberdachte. Gewiß war mein Reiſegefehrte vergnuͤgter uͤber ſeinen Haaſen, als ich uͤberD 5die58die Ehre, ſeine kleine Braut gerettet zu ha - ben. Er lies mich merken, daß im Hof - dorf ein ſchmuckes Maͤdchen waͤre, ſo wie Fraͤulein v. W. wie er ſich ausdruͤckt in die - ſem Jammerthal nicht werden wuͤrde, und wenn Herr v. W. nicht ein Gut haͤtte, das er ihm gleich, ohne ſich ſelbſt zu entbloͤßen, nach ritterlich uͤberwundenen academiſchen Jahren uͤberlaßen koͤnnte; ſo wuͤrd er, auſ - ſer dem ſchmucken Maͤdchen im Hofdorfe, ſchon eine Frau finden. Ich ſprach viel von der guten Gemuͤthsart der Kleinen, und der edlen Gemuͤthsart ihrer Mutter; allein dies ſchien ihm gegen das Gut, das er nach uͤber - wundenen Univerſitaͤtsjahren zu bejagen ge - daͤchte, eine unbedeutende Kleinigkeit zu ſeyn.

Obgleich der Vorfall mit Lorchen mir eben keinen gluͤcklichen Erfolg uͤber eine Pre - digt erwarten lies, die ich meinem kuͤnftigen Kirchenpatron zu halten entſchloßen war; ſo wolt ich doch nicht alle Hofnung aufgeben. Meine Leſer wißen ſchon, daß ich waͤhrend dem Anlegen auf die Bekehrung meines jetzi - gen Reiſegefehrten und kuͤnftigen Goͤnners gezielt hatte, und wer haͤlt nicht gern eine Predigt, die er im Concept hat?

Bruder,59

Bruder, fieng ich an: die Spinne faͤngt Fliegen.

  • v. G. Der Menſch Baͤren, Woͤlfe, Haaſen und ſo weiter.
  • Ich. Der Menſch, Bruder, aber lei - der zwiſchen Menſch und Menſch iſt Un - terſchied. Du wuͤrdeſt kein Scharf - richter ſeyn, nicht wahr?
  • v. G. Warum nicht? wenn dem Delin - quenten die Augen verbunden ſind.
  • Ich. aber Menſchenblut. Dein Blut bey kaltem Blute ſehen, ich kanns nicht, wenn Ader gelaßen wird. Mich duͤnkt ich ſeh den Menſchen mehr, als nackt, wenn ich ſein Blut ſehe das der liebe Gott zweymal verſchloßen hat. Im Kriege hat niemand kaltes Blut, als der Oberfeldprobſt und ſeine Juͤnger. Wir haben ſchon uͤber Krieg und Jagd ge - redet: allein es iſt auf kein gut Land, ſon - dern auf ſteinigten Acker, gefallen, den der alte Herr in Muſik geſetzt hat. Du biſt zu edlern Geſchaͤften da.
  • Er. Gelt! Lorchen aus dem Waſſer zu ziehen.
  • Ich. Und wenns die ſchmucke Hofdirne geweſen waͤre?
Er. 60
  • Er. Bruder, ein ander Ding! ich weiß auch, wenn der Menſch ſelbſt ſchreiet, der in Noth iſt hohl mich Haͤtte Lorchen ſelbſt geſchrien, und nicht ſchreien laßen, ich waͤre gelaufen, auch wenn ich eben angelegt haͤtte.
  • Ich. Lorchen bey Seite.
  • Er. Schoͤn.
  • Ich. Ein Jaͤger und Student?
  • Er. Das ſolt nicht paßen?
  • Ich. Haſt du den Plinius uͤberſetzt?
  • Er. Nein! dieſe Ehre habe ich nicht ge - habt. Das ſolt mein kuͤnftiger Schwie - gervater, Gott hab ihn ſelig! hoͤren!
  • Ich. Des Plinius Brief an ſeinen Corne - lius Tacitus iſt fuͤr dich. Ridebis, et licet rideas, hebt er ſich an. Ego ille, quem noſti, apros tres et quidem pulcher - rimos cepi. Ipſe inquis? und der Schluß: Proinde quum venabere, licebit, auctore me, panarium et lagunculam, ſic etiam pugillares, feras. Experieris, non Dia - nam magis montibus quam Mineruam iner - rare. Vale.
  • Er. In deutſch?
Ich. 61
  • Ich. Verſtehſt du nicht latein?
  • Er. Hier und da erjag ich ein Wort. Den Plinius hab ich nicht uͤberſetzt: es ſoll den Mund zu ſehr ſpitzen, ſagt mein Vater.
  • Ich. Plinius hat drey, und was noch mehr iſt, recht ſchoͤne wilde Schwein er - jagt.
  • Er. Das iſt mein Mann. Schoß er?
  • Ich. Plinius?
  • Er. Uebereilt, Bruder! freylich das Pulver iſt ſpaͤtere chriſtliche Erfindung.
  • Ich. Er jagt und ſtudirte.
  • Er. Siehſt du!
  • Ich. Bey der Jagdtaſche und Hirſchfaͤnger, um in unſrer Mundart zu reden, hatt er Bleyfeder und Schreibtafel, und was noch mehr iſt, er verſicherte ſeinem Freund
  • Er. Hoffentlich ein Jagdſpoͤtter, wie du.
  • Ich. Daß Diana und Minerva Geſchwi - ſterkind waͤren, und zuweilen auf Jagd - bergen ſich verloͤren, aber!
  • Er. Aber! beym Plinius ein aber?
Ich. 62
  • Ich. Ein zu ſpitzer Mund. Er fieng Worte, wie er Wild fieng vielleicht verdarb ihn die Jagd.
  • Er. Mich ſoll ſie nicht verderben, weder Herz noch Styl. Eins bekenn ich ein Hund gilt mir zween Bauren. Hunde ſind aber auch Geſchoͤpfe, die wenigſtens Wackers verdienten zu ſeyn. (Aufſeher uͤber die Bauren.) Wir brachen geſtern zu ſchnell ab von den Hunden. Es giebt Hundsinſeln, warum nicht feſtes Land von der Art? Mein Vater hetzt nicht gerne, das haſt du wohl geſtern beym Schuß gehoͤret, wie man die Hunde los - lies. Dein Vater hingegen Die Sternſeher haben dieſen Namen in den Himmel verſetzt. Die Dichter ſchildern uns die Diana in Geſellſchaft einer Kup - pel Hunde. Das iſt ein Weib! Die griechiſchen Damen hatten ſchon Huͤnd - chens. Es iſt nur zu wenig fuͤr die Hunde, ſonſt waͤre der Gedanke was werth; Gott wolte nicht, daß ein Menſch dem andern aufwarten ſolte, drum Hunde, die ſind gebohrne Lakaien und Kammer - diener. Sie bieten ſich gleich zur Miethe an, wo ſie einen Menſchen ſehen. EinMenſch63Menſch, zu dem kleine Kinder und Hunde kommen, ohne daß er ſie lockt, iſt ein guter Menſch. Siehſt du, hab ich nicht von geſtern behalten?
  • Ich. Treflich! allein warum nicht noch eins von geſtern Mittag? Jener Philo - ſoph der alten Welt, der aus Gefaͤlligkeit fuͤr die gnaͤdige Frau des Hauſes ihrem Schooshuͤndchen Schmeicheleyen vorſagte! Ey der! da er das Huͤndchen in die Hoͤhe hob, um es zu kuͤſſen, p. es ihm in den Bart und die Geſellſchaft lachte, und der Philoſoph hatte nicht das Herz, ſeinen Bart zu trocknen.
  • Er. Das erzaͤhlte dein Vater der Frau v. W. zum Munde, die geſtern bitterboͤſ auf die Hunde war, wer weiß obs wahr iſt!
  • Ich. Zwiſchen wahr und wahrſcheinlich, in Ruͤckſicht der alten Welt, kein Un - terſchied!
  • Er. Wahr oder nicht wahr! zu meinen zwo Flinten, einem Paar Piſtolen, und dem Jagdmeſſer, wirſt du mir doch ein Paar Hund erlauben? Eine Flinte, Bruder, iſt der Hunde Fahne. Es ſol - ten viel, viel mehr, als ein Paar, beyder64der Fahne ſeyn; da du aber kein Freund von Hunden biſt
  • Ich. Bruder! die Wiſſenſchaften lieben Stille, in ein weiches Herz ziehen ſie ein, und machen Wohnung daſelbſt. Wald - hoͤrner ſind nicht ihr Inſtrument. Ich ſoll dein Paſtor werden. Du, und nicht der Wacker, ſondern der letzte deiner Bauren, ſind gleich vor Gott und

Da ſah man uns kommen. Ich ward, weil ich leer kam, ausgelacht; uͤber Tafel aber, da die Frau v. W. die Geſchicht ihrer Tochter erzaͤhlte, beſtand Herr v. G. der juͤngere ſchlechter, als ich. Herr v. G. be - ſchaͤmte ſeinen Sohn. Wer wird ſeine Braut um einen elenden Haaſen uͤberlaßen, die Erſtgeburt um ein Linſengericht? So ſeyd ihr Jaͤger alle. Ich bin auch ein Jaͤ - ger, das weißt du, aber . Frau v. G. entſchuldigt ihren Sohn, ich weiß nicht mehr womit? Frau v. W. dankte mir herz - lich, und ihr Gemahl ſchalt aus Hoͤflichkeit auf ſeine Tochter, um dem jungen Herrn v. G. Genugthuung zu verſchaffen. Mei - netwegen war er in erſchrecklicher Verlegen - heit: denn ſo ſehr dieſer Vorfall zu einem neuen Feſte Anlaß zu geben ſchien; ſo bliebes65es ihm doch bedenklich, weil ich nicht von Adel war, und wie haͤtt ich mir ein ander Schickſal, als der Mann mit dem einem Hand - ſchu, verſprechen koͤnnen, der a Dato nach ſieben Tagen ſterben wird. Er kaͤmpft indeſſen, weil es ſeine Tochter betraf, mei - netwegen auf eine unbeſchreibliche Art, und endlich kam es dahin, daß er mit vielen Complimenten ſich bedankte, und dieſe Be - gebenheit an den Rand zu verzeichnen ſich verbindlich machte; wie denn auch meine Geſundheit bey Tafel von ihm ausgebracht wurde. Es war eine unausſprechliche Hoͤf - lichkeit, mit der mir der Herr v. W. zu ver - ſtehen gab, daß beym: was iſt geſchehen? die Frage wer thats? nothwendig ſey.

Hoͤflichkeit und Feſtlichkeit ſcheinen und ſind zuweilen wirklich Antipoden: allein un - ſer Herr v. W. hatte dieſe Eigenſchaften ſo zuſammen vereinigt, daß ſie wie eins waren. Beyde ſtammen vom Hofe: der Geringere iſt hoͤflich aus Falſchheit oder Furcht, der Vornehme aus Stolz, und dies iſt auch die rechte Quelle der Feſtlichkeit. So wie ſich eine große freye Stadt zum Hofe ver - haͤlt, ſo die Urbanitaͤt, die Staͤdlichkeit, zur Hoͤflichkeit.

Zweiter Th. EWenn66

Wenn dieſe Bemerkungen zur Erlaͤute - rung des Charakters des Herrn v. W. etwas beyzutragen im Stande waͤren, ſo wuͤrd es mir lieb ſeyn. Was mich bey der Frage: wer thats? betraf; ſo war ich hiebey verlege - ner, als bey dem Sprung ins Waſſer. Ich konnte nichts mehr, als meinen Reiſegefehr - ten entſchuldigen. Der herzliche Blick der Frau v. W. und das frohe Laͤcheln der Kleinen war mir mehr, als zehn Feſte des Herrn v. W. Dieſer Vorfall inzwiſchen bracht uns eine geraume Zeit nicht aus dem Zank. Ein Vorwurf vom Herrn v. G. dem aͤltern, dann eine Entſchuldigung von ſeiner Gemahlin, und vom Herrn v. W., der es mit keinem verderben wollte. Beylaͤufig, oder am Ran - de, wiederholt er ſeinen Dank, die Frau v. W. ihren Blick, und das kleine Fraͤulein ihr Laͤcheln.

Die große Achtung, die Herr v. G. der aͤltere gegen meinen Vater aͤußerte, bewies zwar die Redlichkeit ſeiner Ausſoͤhnung; al - lein ſie machte mir ihre zehnjaͤhrige Tren - nung zugleich unbegreiflicher. Es ward vieles wiederholt, was mein Vater geſagt hatte, und alles mit einer dem Herrn v. G. eigenen Wendung, ſo, daß es wie neu aus -ſah.67ſah. Sein plein good ſenſe, ſein geſunder Menſchenverſtand, wußte gleich ein Exem - pel, wenn eine Regel gegeben ward; und vielleicht verhielt er ſich gegen meinen Vater, um den Vergleich ins Kurze zu ziehen, wie Regel und Erlaͤuterungsbeyſpiel.

Wir haben heut Ragout, eingeſchnitte - nen Braten, ſagte Herr v. G. Alles von geſtern. Wir wiederholen die Predigt, und fragen ſie uns ab.

Wenn je ein Ausdruck auf meinen Va - ter paßt, und der Wahrheit angemeſſen iſt; ſo iſt es der von einer Predigt. Dies Kleid war wie auf den Leib gegoſſen, konnte man ſagen, um von der Bemerkung, daß Worte Kleider der Gedanken waͤren, Gebrauch zu machen. Wer kann aber meinem Vater, den Paſtor, und meiner Mutter, die Paſto - rin verdenken? Die Predigt und den Geſang!

Herr v. G. erklaͤrte ſeiner Gemahlin was naif und was Laune ſey, woruͤber ſie zuweilen eine naife und launigte Unterredung gehabt. Laune, ſagt er, iſt der koͤrnigte Ausdruck eines naifen Gedanken. Naifitaͤt iſt eine Satyre auf die Kunſt, es beſte - he dieſe Satyre in Gedanken, Geberden, Worten oder Werken. Er belehrte ſie,E 2daß68daß ſie ſich nicht ferner Laune zueignen koͤnnte. Wer Laune hat, fuͤgt er hinzu, muß un - term Barte lachen, wenn von einer guten Laune die Red iſt: obwohl bey jeder Laune wenigſtens ein Zug vom Lachen unterm Barte, zur Ehre des Lachens, ſich hervor - ſchleicht, oder durchbricht, wenn es gleich ſtock finſter auf dem Geſicht iſt. Un - term Barte lachen, ſagte die Frau v. G. mit einem Veraͤnderungszeichen!

Naif aber, meine gnaͤdige Frau, ſind Sie der Herr v. G. buͤckte ſich gegen die Frau v. W. Sie wieder ihr Mann aus Hoͤflichkeit auch; die Frau v. G. hatte heut ihren guten Tag. Ein launigtes Weib, fuhr Herr v. G. fort, wuͤrd ein Weib mit einem Barte heißen, und alſo ſetzt er hin - zu

Daß es verſchiedene Arten von Laune giebt, ſahen wir geſtern, ſagte Herr v. G. Nachdem die Feſte ſind, erwiederte Herr v. W. Je nachdem, fuhr Herr v. G. fort, je nachdem ein kluger Menſch Ding anſieht, je nachdem ſehen ſie ihn wieder an. Die Vorſtellung von Gluͤck und Ungluͤck kommt nicht von den Dingen in der Welt, ſondernvon69von der Gemuͤthsart der Menſchen. Der Standpunkt thut bey Seel und Leib viel, ſehr viel! alles! Die miſantropiſche Laune, wolt er fortfahren, da ihm wieder ſein Sohn und das Fraͤulein Lorchen einfiel. Diesmal aber, wie mich duͤnkt, zum Vor - theil meines Reiſegefehrten.

Es ward von der Donquichotterie und den Windmuͤhlen und verfluchten Schloͤßern in der Liebe geſprochen. Jede Luͤge, ward bemerkt, hat was richtiges in ſich, ſonſt wuͤrd ſie kein Menſch anhoͤren und ausſte - hen koͤnnen. (Meine Mutter nahm hier - aus den Beweis, daß es am Ende Geſpen - ſter gaͤbe.) Die Feenmaͤrchen wurden ana - tomirt, und die Naturtheilchen abgeſondert.

Wo iſt, ward gefragt, ein feu’rfangen - der Juͤngling, der nicht bis ins ein und zwanzigſte Jahr wuͤnſcht, daß der Vater ſei - ner Schoͤnen abbrennen moͤchte, um die Ge - liebte aus dem Feuer zu retten? Es ſind ihm dieſe Lebensguͤter (wie meine Mutter ſingen wuͤrde)

eine Hand
blanker Sand,
Kummer der Gemuͤther.
E 3Nackt70

Nackt, wie die Tugend iſt, will er ſeine Fiducia; allein iſt dies der Weg zur guten Ehe? Dies war die zwote Frage.

Herr v. G. behauptete in dienſtlicher Antwort, zum Wohlgefallen der Frau v. W., daß man heyrathen muͤßte, um einen ge - treuen Gehuͤlfen oder Gehuͤlfin zu haben, und eben hiedurch entſchuldigt er in gewißer Art ſeinen Sohn, welches ihm die Frau v. G. auf eine naive Weiſe zu verſtehen gab. Um ſich herauszuhelfen, ſagt er von mei - nem Vater gehoͤrt zu haben, daß man ſich auch in die Tugend verlieben koͤnnte. Man muß aber, wie der Paſtor bemerkte, nicht aus Neigung, ſondern aus Urtel des Ver - ſtandes, tugendhaft ſeyn, nicht, weil die Tu - gend huͤbſch iſt, ſondern weil es die Tugend iſt. Man muß ſie lieben, wie ſein Weib, und nicht wie ſein Maͤdchen. Ein Tugendverliebter wird kalt, wie jeder uͤbertriebene Liebhaber.

Aber, fiel die Frau v. G. ein

Ich weiß dein Aber, fuhr Herr v. G. fort, die Damen wollen Neigung. Sie glauben, daß eine unſichtbare hoͤhere Macht ihr Band geſchlungen habe. Neigung iſt ihnen der Him - mel, in dem die Ehen geſchloſſen werden.

Frau71

Frau v. W. war auch einigermaaßen fuͤrs Aber, und es erinnerte ſich der Herr v. G. zu rechter Zeit, daß mein Vater be - hauptet haͤtte, wir Menſchen ſpraͤchen im - mer von Neigung, auch ſelbſt da, wo Urtel des Verſtandes entſchieden haͤtte. Es ſchei - net, daß der Menſch ſeiner Vernunft nicht recht trauet. Bey einem Hauptargument hat er noch verſchiedene ad hominem, ſetzte Herr v. G. hinzu, ohne beſonders zu bemer - ken, ob es ſein Eigenthum, oder von mei - nem Vater herkaͤme. Es ſchien, als ob er vieles von meinem Vater jure antichretico beſaͤße.

Herr v. G. brach ſich ſehr den Kopf uͤber die Extreme, von denen ihm mein Vater be - ſondere Dinge geſagt haͤtte. Zwey Extre - me ſind zwey Enden, wiederholte der Herr v. G., als wenn er zu ſich ſelbſt ſpraͤche. Zwey Enden, die man den Augenblick ver - binden kann. So war der Teufel Gottes - freund. Wolluſt und Nothdurft ſind Nach - barskinder. Schwindſucht und Waſſerſucht, Schlafloſigkeit und Schlafſucht, Licht und Schatten, Leben und Sterben, himmliſche erhabenſte Weisheit und Einfalt. Die groͤßte Wuth iſt, wenn ein Menſch den an -E 4dern72dern frißt und geſchieht das nicht? Ha - ben nicht die Menſchen mehr, als Wolfshun - ger? Iſt es mit ihnen nicht oft in dem Zwoͤlften? Iſt nicht oft leiblicher Bruder des leiblichen Bruders Teufel, welcher die Seelen verſchlingt, als ſchluͤrft er weiche Eyer, oder Auſtern?

Herr v. G. kam aufs Freßen zuruͤck, und doch, ſagt er, (alles wie zu ſich ſelbſt)

Die groͤßte Liebe auszudruͤcken, ſagt man: ich moͤchte dich vor Liebe auffreſſen. Niemand hat mehr Blasphemien geſagt, als ein Quaͤker. Er, und ein Gottesleug - ner, ſind naͤher verwandt, als man glau - ben ſolte.

Ich habe nicht noͤthig zu bemerken, daß Herr v. G. dieſes lange vor ſich ſo ausſprach, daß, wenn ers auch nicht ſo oft treulich und ſonder Gefehrde angefuͤhrt, jeder doch theils aus ſeinem Ton, theils aus ſeinem Kopf - ſchuͤtteln, geſehen haben wuͤrde: es ſey nicht ſein, ſondern meines Vaters.

Dies! dies! dies! Herr v. G. ſagte drey - mal dies, wie meine Mutter dreymal das Wir im Glauben ſang, dies iſt mir et - was am Paſtor, das ich noch bey keinemMen -73Menſchen ſonſt, er ſey Paſtor oder nicht Pa - ſtor, gefunden habe. Es iſt was Seel und Leib eigenes, was theoſophiſches, wie ſoll ichs nennen? Unſer Freund Paſtor hat den heili - gen Buſch im Brande geſehen. Rechnet man dazu, daß er die Bibel nicht in ſchwarz Saffian gebunden hat, ſondern im weißem Pergament, ſelbſt ohne goldnen Schnitt, daß er ſie nicht als Medicin, ſondern als taͤg - lich Brod braucht; ſo iſt der gute Paſtor ein ganz beſondrer Paſtor. Seine andern Sei - ten, daß er z. E. die Glatze nicht mit Puder bedeckt, daß er kein Jaherr iſt, daß ſein Ausdruck nicht Scheidemuͤnze, nicht Gang - und Gaͤbemuͤnze, oder courent, ſondern aus der Sparbuͤchſe genommenes Geld iſt, und um, mit Erlaubnis, in eine andre Figur zu kommen, nicht wie auf den Kauf gemacht, ſondern wie beſtelte Arbeit ausſieht; ſo, daß es von ihm heißen kann: was er ſpricht, das geraͤth wohl!

  • Daß der Paſtor nicht ein gelernter Gelehr - ter, nicht einer des Buchſtabens, ſondern einer des Geiſtes und der Kraft iſt;
  • daß er nichts bloß theoretiſch weiß, ſon - dern alles, alles in Blut und Lebensſaft oder Praxis bey ihm uͤbergegangen;
E 5daß74
  • daß er die meiſten Dinge aus einem oft un - betraͤchtlichen Geſichtspunkt nimmt, und eben dadurch beym rechten Ende faßt;
  • daß er einen koͤniglichen, einen Reviſions - blick, der immer mit einem gewiſſen Gluͤck verknuͤpft iſt, beſitzet; (Sein Blick trift immer, ohne daß er zielt)
  • daß, und noch viele daß, gehen vor ſich.

Beym letzten daß erzaͤhlte der Herr v. G. eine Geſchichte, die ſich noch vor der Schei - dung vom Tiſch und Bette, und alſo vor zehn Jahren, zugetragen haͤtte.

Ein Barbier ſchnitt mit moͤrderiſcher Hand dem den Hals ab, nachdem er ihn zuvoͤrderſt ganz ſauber und koͤſtlich von der Buͤrde ſeines Barts befreyet, und leicht ums Kinn gemacht hatte. Waͤr ich Inquirent, (haͤtte mein Vater nicht blos geſagt, ſondern behauptet,) wuͤrde eine meiner Hauptfragen, ſowohl im Generalverhoͤr, als bey den Spe - cialartikeln, ſeyn:

  • Warum der Barbier den Ermordeten zu - vor ſauber und koͤſtlich von der Buͤrde ſeines Barts befreyet, und leicht ums Kinn gemacht, eh er?

(Der Boͤſewicht! ſetzte Herr v. G., ohne das Comma abzuwarten und meinen Vateraus -75ausreden zu laßen, hinzu, das kommt vom Aderlaſſen heraus! Man ſolte nicht Leute an den Hals laßen, die Blut ſehen koͤnnen, als ſaͤhen ſie ſuͤße Milch. )

Der Moͤrder haͤtte bekannt, daß er mit Mordgedanken zum gegangen. Alle Um - ſtaͤnde beſtaͤtigten dieſe Ausſage. Der erſte Strich war in ſeiner Seele Mord. Warum vollbracht er ihn erſt beym lezten? Nota bene. Er fand den allein, und ſo blie - ben ſie auch die That kam nach vier Stunden erſt aus.

Ich weiß nicht, ſagte meine Mutter im erſten Bande und deſſen zweyhundert und ſie - benzigſten Seite, ich weiß nicht, gegen das gemeinſte Volk hab ich, bis ich bekannt bin, ruͤckhaltende Achtung; ich glaube, das macht das Bild Gottes. Wenn meine Leſer den erſten Band nicht bey der Hand haben; ſo war es bey Gelegenheit der Blutreinigung, deretwegen meine Grosmutter muͤtterlicher Seits das alte Geſinde behielt, welcher blu - tigen Meynung meine liebe Mutter, in Ruͤck - ſicht der Koͤniglichen Frau Mutter Babbe, beytrat.

So ohngefehr beantwortete mein Vater ſeine General - und Specialfrage: denn ichmuß76muß aufrichtig geſtehen, daß ſich der Herr v. G. daruͤber ſo ungefehr, wie uͤber die be - ſte Welt, ausdruͤcke.

Unſer Paſtor, fuhr Herr v. G. fort, nachdem er ſich von ſo vielen daß losgemacht, unſer Paſtor beſitzet etwas, was man nicht ausſprechen kann, in dieſem Punkte. Er iſt ein Gegenfuͤßler von einem Lauen, und ich kenne keinen Menſchen, der mehr Theil - nehmer waͤr als er!

Obgleich der Herr v. G. dieſen Zug in meines Vaters Charakter nicht in ſeinem hei - ligen Dunkel ſtoͤrte, ſo daß er hoͤchſtens nur den heiligen, nicht aber den lezten, den al - lerhoͤchſten Vorhang, hoheprieſterlich zog, und in gewiſſer Art eben ſo unbegreiflich blieb, als mein Vater ſelbſt; ſo muß ich doch bey dieſer Gelegenheit geſtehen, daß mein Vater wuͤrklich in dieſem Stuͤck was ganz beſonders eigenthuͤmliches beſaß. Ich hab ihn einen im Himmel Angeſchriebenen, einen Verklaͤr - ten genannt, und als einen aus dem Reiche Gottes dargeſtelt, von welchem wir beten: dein Reich komme!

Ich weiß nicht mehr, wer von ihm in ſeinem eigenen Paſtorat, da er eben den Ruͤ - cken gekehret hatte, das Urtheil ausſprach,daß77daß er, ſobald er ſpraͤche, den Sprengwedel in der Hand haͤtte, und die Seele mit ge - weihtem Waſſer beſprenge, und daß er jeder - zeit mit gewaſchenen Haͤnden erſchien, ſo wie man von dem alten und neuen Gebrauch ſich, ehe man in den Tempel gieng, zu beſprengen und zu reinigen, zu ſagen pfleget: mit un - waſchenen Haͤnden. Vielleicht uͤbertrieb es mein Vater an vielen Orten, wie jener Juͤnger, der anfaͤnglich auf die Art des Herrn v. W. mit ſeinem Herrn und Meiſter com - plimentirte, nachher aber auf einmal aus - brach: nicht die Fuͤß allein, ſondern die Haͤnd und das Haupt.

Der Socinianismus iſt etwas kleinſtaͤdt - ſches, etwas verlahmtes, etwas ermuͤdetes, pflegte mein Vater zu ſagen. Entweder Hof, oder plattes Land. Kalt oder warm. Alles oder nichts. Aut aut

Eltern ſehen ſonſt nicht, daß Kinder wachſen, und Kinder ſehen nicht, daß ihre Eltern alt werden, weil ſie ſich taͤglich und ſtuͤndlich ſehen; wenn es aber ein Fremder bemerkt, denn reißt ſich ihr Aug auf. Mir werden meine Leſer den Vorwurf nicht machen, und wenn ſie mit mir in Ruͤckſicht dieſes Charakters nicht zufrieden ſind; ſo ge -hoͤrt78hoͤrt es nicht auf meine, ſondern auf die Rech - nung meines Vaters. Wer mir aber den Einwand entgegen ſetzt, daß ich meine Cha - raktere nicht friſirt und gepudert, und voͤllig vom Haupt zu Fuß geſchmuͤckt, und fein an - gethan praͤſentire; hat es in den Tod ver - geſſen, daß ich eine Geſchicht erzaͤhle. Schon im Roman muß man ſeine Leute kennen, der Natur nachfolgen, und den Menſchen ſich oͤf - fentlich ankleiden laſſen. Man muß den Men - ſchen im Seelencamiſoͤlchen, in der Federmuͤ - tze, wenn er ein Gelehrter, und mit einem ſeidnen Tuch kuͤnſtlich rußiſch um den Kopf gebunden, wenn er ein Edelmann iſt, dar - ſtellen in naturalibus. Jeder Menſch hat ſeine Art, ſich anzukleiden und zu erzaͤhlen, und dieſe beyde Arten ſtimmen mit einander ſo uͤberein, daß wenn ich jemanden ſich an - kleiden ſehe, ich ſagen will, wie er erzaͤhlt, und umgekehrt, wenn ich ihn erzaͤhlen hoͤre, will ich ſagen, wie er ſich ankleidet. Die Art ſich auszukleiden, kann den Kenner vie - lerley lehren, und unter andern auch, wie der ſich entkleidende ſterben werde. Hievon ein andermal.

Eine Erzaͤhlung, der man das Studierte, das Gefliehene, das Geordnete anſieht, iſtunaus -79unausſtehlich. So wie es in der Welt geht, ſo muß es auch in der Geſchichte ge - hen. Bald ſo, bald ſo. Der Hoͤrer, der Leſer, mag ſich hieraus ein Miniatur - ſtuͤckchen auf theophraſtiſch, bruͤyeriſch zeich - nen, wenn er will.

Belaͤge zu dieſer Bemerkung die Menge in meinem Lebenslauf, und um meine Leſer auf der Stelle zu uͤberzeugen

Herr v. G. erzaͤhlte, daß mein Vater nicht die mindeſte Wirthſchaftskenntniße be - ſeſſen haͤtte, da er Paſtor geworden.

Jetzt weiß er ſo gut, wie Einer, wenn Zeit zu ſaͤen und Zeit zu erndten iſt, wenn man dreſchen, malzen, Haus - Acker - Gar - ten - und Fiſchergeraͤthe beſſern muß. Er verſteht ſich auf die Eisfiſcherey, auf die Nachtfroͤſte, Holz und Miſtfuhren, Flachs - und Hanfbrechen.

Wie er anzog, wolte der gute Paſtor, fuhr Herr v. G. fort, den Paſtoratsbauern ſeine Schwaͤche nicht verrathen, und was that er? Eh er durch Geſicht und Ohr ſo weit gebracht war, als er jetzt iſt? Er viſitirte ſein Inventarium. Das Regiſter in der Hand frug er:Neun80Neun Braune? Ja. neunzehn Schimmel? Ja. acht Fuͤchſe? Ja. dreißig Kuͤhe? Ja. Wer hier nicht den Paſtorem loci findet

Herr v. G. war mit Ehren zu melden ein großmaͤchtiger Wirth. Er las, ver - ſuchte, fehlte und verſtand zuletzt ſeinen Bo - den, als wenn er mit ihm ſprechen koͤnnte. Er benutzte, im Ganzen genommen, ſeine Aecker auf eine Art, welche ihm den Neid ſei - ner hochwohlgebohrnen Bruͤder zuzog. Der gemeine Mann ſagte: er haͤtte den Alp. Die Frau v. G. nannte die oͤconomiſchen Buͤcher, die er ſich mit vielen Koſten ver - ſchrieb Wurzelbuͤcher und wußte ſehr ge - nau, wenn und wo er durch Verſuche ver - loren hatte. So war der Herr v. G., um ſeinen eigenen Ausdruck zu adoptiren, eine Erdſcholle, ein glebæ adſcriptus; allein er war ſelbſt auch dies als v. G. Wenn ich ihnen mit dem Ausdruck einen Dienſt erwei - ſen kann, gnaͤdige Frau v. G., er war ein Wurzelmann Die Blaͤtter fallen im Herbſt in der Truͤbſal abe.

Ob -81

Obgleich wir ein Trauerfeſt hatten, und der Herr v. W., ſein Waffentraͤger, und Herr v. G. ſehr hoͤflich gegen einander wa - ren, welches gemeinhin bey Trauerfeſten zu ſeyn pflegt; ſo konnte doch Herr v. G. nicht umhin, wiewohl ohne ihnen dieſe Saladiere anzubieten, gelegentlich anzumerken, daß derjenige, der nicht bezahlen koͤnnte, ſehr hoͤflich waͤre, welches geſtern mit alten Maͤn - nern, wenn ſie junge Weiber zur Ehe haͤt - ten, bewieſen ſey.

Wie denn Herr v. G. ſich wider alle Ge - burtstags Gluͤckwuͤnſche erklaͤrte. Wer wird, ſagt er, gratuliren, daß man ſchwaͤ - cher geworden? Zum Geburtstage muß man nur bis zum dreyßigſten, und da in der Weichlichkeit der Juͤnger immer ſtaͤrker, als der Meiſter iſt, nach unſerm Weltlauf bis zum fuͤnf und zwanzigſten, ein und zwan - zigſten, und wohl neunzehnten Lebensjahre Gluͤck wuͤnſchen es waͤre denn, daß man auf die andere Welt Ruͤckſicht nehmen wolte, nach der aber in geſunden Tagen wenig Nachfrag iſt.

Noch eins! Mein Vater haͤtte geſagt, ſagte Herr v. G., wer einen Brief ſchreibt,Zweiter Th. Fmuß82muß glauben, er ſchreibe ihn an die Welt, und wer ein Buch, ich ſag ein Buch, ſchreibt, ſchreib es an einen guten Freund, wenn man nicht in beyden Faͤllen alltaͤglich ſeyn will.

Ich ergreife dieſes noch eins als eine er - wuͤnſchte Gelegenheit, um meinem Leſer auf Ehre zu verſichern, daß ich dies noch eins nicht aus den Augen gelaſſen, und dieſes Ganze an Einen gerichtet habe. Ich habe dieſes Einen in dem erſten Bande erwehnt, und es iſt eben derjenige, der mich auf der ein und zwanzigſten Seite beſuchte, und dem ich auf eben der Seite (ich rede von der er - ſten Ausgabe, denn wer ſteht mir dafuͤr, daß es zu mehrern kommt) eine gluͤckliche Reiſe gewuͤnſcht habe.

Wie viel liegt in dem Wort Einer? Wer es faſſen kann, der faß es, und wers nicht kann, wird auch ſchwerlich begreifen, was eigentlich Einheit in einer jeden Schrift liſt, welche da ſeyn muß, die Schrift wandle gleich im finſtern Thal, ſie gehe gleich durch dick und duͤnn, durch Licht und Finſterniß. Eine Schrift, welche dieſes Ziel nicht hat, und nicht an Ort und Stelle kommt, iſt eine Mißgeburt. Je weiter man es gebrachthat,83hat, alles zu Einem einzulenken, und kein Rad zu viel und keins zu wenig in ſeinem Buch zu uhrmachen, je mehr Ganzes iſt da. Man ſagt: Ein Apoſtel Paulus, Ein Rath, Eine chriſtliche Gemeine wolle mit gebuͤhren - der Andacht verleſen hoͤren. Gott ſchuf nur einen Menſchen! ſein Bild! und wenn ihr Herren Praͤadamiten in die Kreuz und in die Queere euch dagegen baͤumet. In dem Gedanken: Ein Menſch und ſein Weib von ihm genommen, liegt was Goͤttliches, was Großes! was Ein Syſtem, wenn es ſo ganz da liegt, ſo ganz, wie Thier und Menſch, iſt Arbeit eines Halbgottes. Wo iſt ein Syſtem dieſer Art? Wenn es ja fer - tig werden kann, wird es das Werk eines Deutſchen ſeyn. Im Syſtem geht man vom Ganzen zu den Theilen. Man ſieht den Menſchen ganz. Ein Blick iſt genug hiezu, und ſodann anatomirt man ihn. Sonſt geht man von den Theilen zum Ganzen. Ein Syſtem heißt nicht Compendium, und iſt nicht ein auf Drat gezogenes Gerippe. Seht die Welt! Sie iſt ein Menſch im Großen. So ganz wie ein Menſch. Gott ſieht ſie, wie ich meinen Haushahn, meinen Philax, meinen Leopold; wir aber finden ſie ſo inF 2Un -84Unordnung, daß es Kunſtrichter gegeben hat, die dem lieben Gott gern was ins Ohr daruͤber geſagt haͤtten.

Wo das, was ich verſtehe, gut iſt, da leg ich beyde Haͤnde auf den Mund, wenn ich an etwas ſtoße, das ich nicht verſtehe.

Mein Einer, an den ich dieſes Buch ge - ſchrieben, iſt mein lieber getreuer den ich auch getreu lieben werde bis in den Tod. Dieſes ganze Buch iſt eine Dedication, eine Zuſchrift, in Ruͤckſicht auf ihn, ein Brief mit einem cachet volant ſub ſigillo volante (unter offenem fliegenden Siegel) allein kein Wunſch iſt ſehnlicher, als daß meine Leſer hiebey nichts verloren, ſondern vielmehr reich - lich gewonnen haben moͤgen.

Mitten in dieſen und andern Wiederho - lungen kam ein Brief von meinem Vater an den Herrn v. G., und an mich?

Nichts an mich, zum offenbarſten Be - weiſe, daß mein Vater nicht fuͤrs Schrei - ben war.

Auch der Brief an den Herrn v. G. war kurz und enthielt nur eine Anwei - ſung, einen Fingerzeig, wegen der Beylage. Unſer Bekannte, der das erſte und letzte - mal, da er eine Flinte losdruͤckte, oderviel -85vielmehr, da ſie ohne ſein Vorwiſſen und Mitwuͤrkung in ſeiner unerfahrnen Hand losgieng, ſeinen Sohn erſchoß, hatte ſeine Lebensumſtaͤnde eigenhaͤndig verfaßt, und ſie ſeinem Troͤſter, meinem Vater, in die Haͤnde gelegt. Der Herr v. G., den der Alte mit dem einen Handſchu aufmerkſam gemacht, hatte meinen Vater beſchworen, ihm den Erfolg von dem Troſtamte, welches dieſer Ungluͤckliche in ſeiner Seelenangſt auf - gefordert hatte, zu berichten.

Ein kurzer Brief, ſagte Herr v. G., da er den Brief meines Vaters entfaltete, der, wie ich bey Gelegenheit des Converſus bemerkt habe, fuͤrs muͤndliche war. Dies gab Anlaß, von meines Vaters Weiſe kurz zu ſchreiben, nach ſeinem Beyſpiel ein lan - ges Geſpraͤch zu halten, das Herr v. G. auf eine mir unvergeßliche Weiſe beſchloß. Die Sprache Gottes! Gott ſprach, hauchte nur auf, und es ward. Gott iſt auch Schriftſteller worden, fuhr Herr v. G. fort. Das Wort Fleiſch. Es iſt viel von Gottes Wort zu ſagen. Ein Ausdruck, den alle Welt im Munde fuͤhrt, und doch ein tiefer, tiefer Ausdruck!

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Eine lange Beylage, ſagte Herr v. G., nachdem er den kurzen Brief durch und durch geblickt hatte. Er las ihn nicht, er blickt ihn auf. Die Beylage ward woͤrtlich ab - geleſen. Einige Stellen hatten Thraͤnen uͤberſchwemmt, und ſie ſchienen wie verwuͤ - ſtete Wieſen, die das ausgerißene Waßer zerſtoͤret hat.

Hier iſt ein wohlgemeynter Auszug. Es war der der einzige Sohn eines Amtmanns. Seine Mutter, die Tochter eines Litteratus. Seine Eltern ſtarben in Ketten. Der ungnaͤdige Herr Principal hatt ihnen Defekte gezogen, ohne ſich Zeit zu nehmen, eine Probe bey ſeiner Rechnung zu machen.

Die Cavaliere, ſchreibt er, rechnen ge - meinhin mit ihren Amtleuten ohne Probe, und ſind Klaͤger! Richter und Henker!

Unſer Bekannte hatte Gelegenheit ge - habt, in ſeiner erſten Jugend ſchreiben und rechnen zu lernen, ohne daß er ſich unter - ſtehen durfte, von dieſer Kunſt bey der Ver - rechnung des Herrn v. in Ruͤckſicht ſei - nes Vaters Gebrauch zu machen, und ihr durch eine Probe nachzuhelfen. Er entgieng mit vieler Muͤhe der Schuldunterthaͤnigkeit,konnte87konnte von Gluͤck ſagen, daß er frey blieb, und als Bedienter ſich in einem andern hoch - adelichen Hofe anzubringen die Erlaubniß erhielt. Er verſprach Charlotten die Ehe, einer freyen Perſon, die aber weder reich noch ſchoͤn war. Sie hatten ſich von dem erſten Augenblick geliebt, da ſie ſich ge - ſehen hatten. Sie war verliebt und tugend - haft, das iſt nicht viel aus einander, und verliebt und tugendhaft war alles, was man von Charlotten ſagen konnte. Gewiß wuͤrd unſer Bekannte an ihrer Hand gluͤcklich ge - worden ſeyn. Er hatt ihr die Ehe einmal, da es donnerte, verheißen, und ſo laut, wie er ſchreibt, daß er faſt den Donner uͤber - ſchrien! Alles was Charlott und un - ſer Bekannte ſahen, alles was ſie hoͤrten beſtaͤtigt ihre Liebe denn Aufforderung, hatten ſie nicht mehr noͤthig. Unſer Bekann - te hatt eine Laube gepflanzt, welche Char - lotte begoß. Sie wuchs mit ihrer Lieb um die Wette. Charlotte hatte das Gluͤck, wie’s die Leute hießen, den gnaͤdigen Herrn in verliebten Aufruhr zu ſetzen. Sie war die vierte, der er ein ſeidenes Schnupftuch zugeworfen; allein die drey, ſo vor ihr ge - weſen, die Cammerjungfer nicht ausgenom -F 4men,88men, waren auf einen andern Fuß genom - men. Er fieng an zu ſeufzen, und Char - lotten foͤrmlich die Cour zu machen. Wenn niemand dabey war, kuͤßt er ihr die Haͤnde, und das Cammermaͤdchen ſeiner Frau Ge - mahlin Gnaden hatt ihn auf Knien vor Charlotten geſehen. Dieſes verdroß dem Cammermaͤdchen beynahe mehr, als der gnaͤdigen Frau, welche letztere die Kunſt ſich zu entſchaͤdigen aus dem Grunde verſtand, und den Herrn Gemahl laͤnger verloren hatte, als die Cammerzofe den Liebhaber. Indeſ - ſen fand auch die entſchaͤdigte gnaͤdige Frau unſchicklich, daß Se. Hochwohlgebohrnen einem Dienſtmaͤdchen die Cour machten. Die Cour! auf Knien! So was hielte Sie ihrer Ehre zu nahe, und das Cammermaͤd - chen ſetzte hinzu: wenn Charlotte noch eine Cammerjungfer waͤre!

Charlotte haͤtte, wenn ſie den Plan der gnaͤdigen Frau und des Cammermaͤdchens befolgen, und den gnaͤdigen Herrn oͤffentlich laͤcherlich machen wollen, ein ziemlich groſ - ſes Spiel gewonnen; allein ſie wolte nicht durchs Spiel reich werden. Sie ſuchte Se. Hochwohlgebohrnen auf den rechten Weg zu bringen, er aber blieb auf dem Irwege zuihrem89ihrem Herzen. Da ſie ihn nicht los werden konnte, entfernte ſie ſich, wie ſie ſtand und gieng, und lies wie Joſeph ihre Plundern zuruͤck, die man ihr bey Haͤngen und Wuͤr - gen auslieferte. Die Sache macht Aufſe - hen, und Charlotte war die einzige Perſon, die den Herrn v. vom Theater der dor - tigen Gegend bringen konnte. Sie that es, und da unſer Bekannte ſie ſelbſt darum bat, kehrte ſie zuruͤck ins Hauß. Solche Herren wißen ſich durch Ableiter vor dem Ungewit - ter zu ſichern. Sie wißen nicht, was eine fehlgeſchlagene Liebe ſagen will. Der Herr v. hatte ſich mit weniger Muͤhe, ohne zu knien, verſorgt und unſer Bekannte be - ſaß Charlotten nun ohn Anfechtung. Sie war ihm jetzo theurer; denn ihre Tugend hatte geſiegt und das Feld behalten.

Es iſt unausſprechlich, wie gluͤcklich un - ſere Verliebten waren. Er pfluͤckt ihr die erſten Blumen, und die Natur ſchien ſie recht geflißentlich fuͤr ihn, oder eigentlich fuͤr Charlotten, zu verwahren. Nur ein durch Liebe geweihtes Auge konnte die Blu - men finden, die er fand. Sie hingegen bracht ihm die erſten Fruͤchte. Er ſieF 5aus90aus ihrer Hand, und dann ſchmekten ſie ihm deſto ſuͤßer.

Nach dem Auftritt mit dem Herrn v. ſchien Charlott unſerm Bekannten eine Maͤr - tyrin, und er glaubt, daß dieſe erhabene Idee ſeiner Liebe Schaden gethan haben koͤn - ne. Nachdem ich ſie, ſchreibt er, uͤber - menſchlich liebte, ſchien ſich ein gewißes Feuer im Herzen zu legen.

Er geſtehet mit allen Merkzeichen einer wahren Reue, die niemand gereuet, daß ſein Herz vorzuͤglich durch die Geſchenke ſei - nes Principals den ganzen Reſt von An - haͤnglichkeit zu Charlotten verloren. Welch ein Verluſt! O Gott, welch ein Verluſt! Ich ward wie ein ſchwankendes Rohr, ſchreibt er, lange vom Winde hin und her getrieben. Ein Flick Land, und ein blanker Hut mach - ten das Garaus mit mir. Ich balancirte ſchon zuvor. Dies Flickwerk gab den Aus - ſchlag. Der gnaͤdige Herr konnte Char - lottens Gutherzigkeit empfinden. Viel vom gnaͤdigen Herrn! Er haßt und ehrte Char - lotten, wie die Teufel glauben und zittern. Sie hatte ſeine Beſchaͤmung oder Beſchimpfung in ihrer Gewalt: allein ihre edle himmliſche Seele wußte von keiner Rache. Charlot -tens91tens Herz hatte nicht ſeines Gleichen. Sie frug nicht, ehe ſie Mitleiden zeigt, ob der Ungluͤckliche Schuld an ſeinem Ungluͤck waͤre? Oft dacht ich, wenn ſie weinte mit den Weinenden, und wenn es ihr genug war, Elend zu ſehen, um bewegt zu werden: Sie laͤßt, wie Gott der Herr, regnen uͤber Ge - recht und Ungerechte! Dieſe edle Den - kungsart vermochte vielleicht den gnaͤdigen Herrn, durch ſein Geſchenk die gute Sache mit Charlotten ins Reine zu bringen. Der Hut, ſagt er zu mir, iſt mir zu groß. Das Land iſt mir zu klein! Es iſt beydes ſein. Weg war ich, ja wohl weg.

Unſer Bekannte verdarb ſein Herz von Tage zu Tage. Je mehr Charlott ihm ſagte, daß ihm der Hut ſchlecht ſtuͤnde, (ſie ſah da - bey auf ſein Herz; er war ſonſt ein ſchoͤner Mann,) je gleichguͤltiger ward er gegen ſie. Er hatt an jedem Finger eine Schoͤne, die ſich in dem blanken Hute ſpiegelt, um ſich nach Maasgabe deſſelben das Tuch und den Halß zurecht zog, bis endlich Luiſe ihn zur heiligen Ehe beſtimmte. Sein Hut war ab - getragen und Luiſe war reich. Dieſe Luiſe iſt das ungluͤckliche Weib, das nach dem un - gluͤckſeligen Schuß mehr aus Gram uͤber denGram92Gram ihres Mannes, als uͤber den Verluſt ihres einzigen Sohnes ſtarb; wie ich im er - ſten Bande bereits bemerkt habe. Das Stuͤck Acker, ſo ihm der Herr v. ſchenkte, war zur Noth eine Brodſtelle; allein einen blan - ken Hut warf es nicht ab. Bis auf den Zu - ſchlag mit Luiſen hatte Charlotte noch Hof - nung gefaßt. Sie, die alles zum Beſten zu kehren gewohnt war, verlohr nicht all Aus - ſicht zur Beſſerung ihres ungetreuen Liebha - bers. Vom Tage ſeiner Verlobung mit Char - lotten ſank ſie in Schwermuth! o Gott! ſie ſank tief. Dicke Wolken uͤberzogen ſie, und es war ſo feyerlich anzuſehen, als wenn ſchwarze Wolken den Mond beziehen. Wer dieſen Bezug nicht bemerkt hat, thue Charlotten die Ehre, und bemerk ihn noch. Waͤhrend der Zeit, da ſich unſer Bekannte von Charlotten gedrehet, bekam ſie einen Freyer, der ſie herzlich zu lieben vorgab. Man konnt an der Ehrlichkeit ſeiner Liebe nicht zweifeln, da er reich und ſie arm war. Dies wußte ſie zu empfinden; allein ſie em - pfand auch, daß es nicht unſer Bekannte war!

Die erſte Liebe, merkte Herr v. G. bey dieſer Gelegenheit an, ſtimmt unſer Herzauf93auf ewig. Der Ausſchweifendſte koͤnnte be - haupten, er habe nur eine einzige geliebt, und in Wahrheit, das koͤnnt ihn heilen, wenn es ſein Ernſt waͤre, heil zu werden. Man liebt immer die erſte Liebe, auch ſelbſt, wenn man am Hof iſt. In jeder neuen Theaterprinzeßin iſt wenigſtens ein Zug von der erſten Liebe. Sie iſt uns ins Herz ge - ſchrieben, im theologiſchen Sinn, und beweiſet, daß von Anbeginn nur ein Weib und ein Mann geweſen. Der arme Freyer! Es war ſeine erſte Liebe, er heyrathete; allein es war keine Charlotte. Die Braut unſers Bekannten wandte ſich an Charlot - ten; denn ſie hatte zu ihrem Braͤutigam mit dem abgetragenen blanken Hut kein ab - ſolutes Vertrauen. Charlotte gab ihm mit weinenden Augen das beſte Zeugniß. Sie kuͤßte die Ruthe, womit ſie gezuͤchtiget ward. Sie kuͤßte Luiſen herzlich. Arme Charlotte! Ihrem beklommenen Herzen Luft zu machen heyrathete ſie; allein, was iſt von einer Heyrath aus Verzweiflung zu er - warten? Sie macht ihren Mann ungluͤck - lich, und ſie war es noch weit mehr. Sie kuͤßt ihn zitternd, wie eine Taube, die den uͤber ſich hangenden Moͤrder ſieht, indem ſieihren94ihren Gatten ſchnaͤbelt. Charlotte ſah den Habicht ganz allein, und mithin wußt ihr Mann nicht, was ihr war! Sie hatte keine Kinder, und Charlotte ward allgemein fuͤr eine Perſon erklaͤret, die ſchwermuͤthig waͤre. Beſonders aͤußerte ſich dieſer Truͤb - ſinn, wenn ſie was blankes ſah; es muͤßte denn durch die Sonne verguͤldet ſeyn, ſonſt konnte ſie nichts ſchimmerndes ohne Thraͤ - nen anſehen. Ihr Silber und Zinn muß - te nicht glaͤnzend gemacht werden. Am liebſten ſie von Holz. Man verſchloß ſo gar Scheer und Meſſer eine zeitlang. Ein Schrecken war das einzigſte, was Charlotten ins Lachen bringen konnte. Ihr Lachen hielte man vor Hitze, ſo wie ihre Thraͤnen vor Froſt, bis man mit ihrer Art bekannter ward, und Meſſer und Scheere wieder aufſchloß.

Charlotte konnte keine Kinder ausſtehen; allein wenn ſie heimlich den einzigen Sohn unſers Bekannten habhaft werden konnte, druͤckte ſie ihn feſt an ihr Herz. Es war ruͤh - rend anzuſehen. Unſer Bekannte hatte das Gluͤck, ſich zu uͤberreden, Charlotte ſey nicht ſeinet, ſondern ihres einzigen Mannes wegen, ſchwermuͤthig. Es war Charlottens Mann der beſte Mann in der Welt; indeſſenward95ward er ordentlich gehaßt, und wenn man ihn am Ende ſo boͤſe nicht fand, als man ihn ausgab, kam es auf den gnaͤdigen Herrn, man ſagt es ſich ins Ohr, daß Charlotte ſei - netwegen ſo truͤbe geworden waͤre.

Sie ſtarb und ſo froh, daß es er - baulich war, von ihrem Tode zu hoͤren. Wer ſie ſterben geſehen; war bis an die Thuͤr des dritten Himmels entzuͤckt worden. Char - lotte war aber gewiß weiter eingedrungen zur ewigen Freud und Herrlichkeit. Wer ihre lezten Worte gehoͤrt hatte, redete von ihr mit Ausgelaſſenheit. Es hatte kein Aug ge - ſehen, es hatte kein Ohr gehoͤrt, es war in keines Menſchen Herz kommen, was die Um - ſtehenden geſehen und gehoͤrt hatten, und was ihnen ins Herz gekommen. Ihr Ehe - mann hatt in Wahrheit die Freuden des Ehe - ſtandes nicht an ihrer Hand erfahren; allein ihr Andenken ließ ihn an keine zweite Verbin - dung gedenken.

Unſere Verbindung, ſagt er, war fuͤr die andere Welt, wo keine Thraͤnen mehr von Charlottens Augen fallen werden! Sie ſind getrocknet, dieſe Thraͤnen, und Engelsfreud iſt in ihren Augen. Halleluja! Charlottebat96bat ihm ſterbend ab, und er ihr, und alle, die Meſſer und Scheer verſchloſſen hatten, verlangten ihren Segen.

Vergib mir, ſagte ſie zu ihrem Manne, es wird dir alles im Himmel gelohnt werden. Am Grab endet ſich alles Elend, aller Kum - mer. Dort wird das Buch meines Schick - ſals aufgethan, damit ich leſ und verſtehe, was hier kein weiſer Mann zu erklaͤren wuß - te. Alle Finſterniß wird dort Licht ſeyn. O! wie froh werd ich ſeyn, den Zuſammenhang meines Lebens kennen zu lernen. Ihr Mann rang die Haͤnde, und wenn ſie ihm abbat, weint er bitterlich. Ehe ſie ihr edles Auge ſchloß, ſah ſie ſich rund herum. Bey ihrem Manne ließ ſie das Auge etwas ruhen, und nachdem ſie dieſen Lauf vollen - det, ſah ſie gen Himmel und ihr Auge ſchloß ſich, als wenn man muͤd iſt, von ſelbſt. Es durfte nicht zugedruͤckt werden. Sie ent - ſchlief. Wahrlich! wahrlich! ſie ſtarb in einer ſeligen Stunde. Ihr Liebling, der Sohn unſers Bekannten, ſpielt oft auf ihrem Grabe, das kein Kraut des Fluchens, Dornen und Diſteln, entehrte, obgleich es rund herum ſtand. Es ſchien, als ob Dor - nen und Diſteln Achtung fuͤr das Grab un -ſerer97ſerer Seligen haͤtten. Der Sturmwind, wenn er daher fuhr, und die Kirchenlinden abſplit - terte, und Aeſte brach, ſchonte der Blumen auf dieſer heiligen Staͤte. Sie war jedem heilig, wie die Pforte des Himmels.

Ich glaube, meine Leſer verlieren bey die - ſem Auszuge: denn das weitſchweifige Origi - nal hatte Stellen, die ſchrecklich waren.

Unſer Bekannte war durch dieſen denk - wuͤrdigen Tod noch nicht auf Bußgedanken gebracht. Er konnte Charlottens Leiche ſo gar folgen, ohne eine Thraͤne fallen zu laſſen!

Das nenn ich, ſagte Herr v. G., Ge - richt der Verſtockung! Die Troſtloſigkeit des Mannes unſrer Charlotten beſtaͤtigte das Vor - urtheil, daß er Charlotten ungluͤcklich ge - macht haͤtte. Man hielt es fuͤr Gewiſſens - biſſe. Die Umſtaͤnd ihres Todes, die un - ſerm Bekannten, wiewohl zum groͤßten Theil ſehr unrichtig und nur beylaͤufig, erzaͤhlet worden, beſtaͤtigten dieſen unerhoͤrten Wahn. Da Charlott ihrem Ungetreuen auswich, und ihn nicht anders, als in ihrem Herzen ſah, ſo unterhielt alles die Ruhe unſeres Be - kannten, um mich deſto unruhiger zu ma - chen (Dies ſind ſeine eigene Worte.)

Zweiter Th. GDer98

Der Herr v. G. bemerkte, daß ihm nichts ſchrecklicher, als ein ganz ruhiger Menſch waͤre. Die Ruhe der Weiſen ſey ſo ſehr, bemerkt er, mit einer gewiſſen ſeligen Unru - he, mit einer Sehnſucht verknuͤpft, daß man ſie eine ſelige Unruhe nennen koͤnnte. Ruh iſt Dekoration, wie’s eine Aufrichtigkeit von der Art giebt, eine Aufrichtigkeit, die ver - kleideter Mord iſt und wodurch man ſiche - rer betruͤgt, als durch Ruͤckhalt.

Unſern Herrn und Meiſter, ſagte Herr v. G., konnte nur eine gewiſſe Ruhe, die Folge von einem goͤttlichen Ruf, kleiden Seinen Apoſteln kommt ſie ſchon nicht zu dem Sokrates nicht wohl aber der Ma - ria, des Herrn Mutter, und jedem Weibe, die einen Sohn hat, der ſeiner Mutter Ehre macht. Solch ein Weib hat es vollen - det. Hier in der Welt ſind wir in der ſtrei - tenden Kirche. Wer wird die Haͤnde in den Schoos legen, wer ſein Auge ſinken laſ - ſen? Ruh iſt der Anzug der Seligen, der Vollendeten des Herrn! Von Gott kann man ſagen: er ſah an, was er gemacht hatte, und ſiehe da: Es war alles ſehr gut!

Der Gang auf Vogelwild unſeres Be - kannten war ſein lezter ruhiger oder verſtock -ter99ter Gang. Der Schuß, wodurch er ſeinen Sohn toͤdtete, ſprengte ſein Gewiſſen auf. Knall und Fall paßte nicht blos auf ſeinen Sohn, ſondern auch auf ſeine Ruhe. Er fuͤhrt an, daß er im Schuß den nemlichen Knall gehoͤrt haͤtte, als im Donnerſchlag, den er uͤberſchrien, und den er zum gerechten Zeugen fuͤr ſeine ehrliche Liebe zu Charlotten aufgerufen! Die Molltoͤne hatten ſein Herz nicht erweichen koͤnnen, ſo wie goͤttliche Wohlthaten die wenigſten Menſchen zu Gott lenken. Es mußt einſchlagen, und nun fielen die Schuppen von ſeinen Augen. Der Schuß ſchleifte ſeine ganze Veſtung.

Da ſtand er, und trauerte wie ein Baum, dem ein brauſend wuͤthender Angrif des Sturms alle ſeine Blaͤtter auf einmal raubt, und ihn ſchnell ganz nackt auszieht. Nun war ihm Charlottens Grab die ein - zigſte Zuflucht; hier ſah er Charlotten und ſeinen Sohn, der auf dieſem Grab oft ge - ſpielt hatte. Was fuͤr ein ſchreckliches Licht war ihm aufgeblitzt! Gott iſt gerecht, ſchrieb er, und alle ſeine Gerichte ſind gerecht. Seine Ausdruͤcke waren brennend. Sie gien - gen durch Mark und Bein. Wie gern haͤtt er ſein verpfaͤndetes Wort eingeloͤſet. SeinG 2Weib100Weib war ihm unertraͤglich, und er ſich noch unertraͤglicher, weil ſie’s ihm war. Sein einziger Umgang war mit dem Manne ſeiner Charlotte, der ihm alles haarklein erzaͤhlen mußte, was unſer Bekannter, nachdem er zur Erkenntniß der Suͤnden gekommen war, beſſer verſtand, als ſein Freund. Die Lau - be, welche er gepflanzet und Charlotte begoſ - ſen, war ihm fuͤrchterlich finſter worden; in - deſſen gieng die Sonne keinen Tag unter, wo er ſie nicht beſuchte. Er ſuchte Charlotten drinn und weinte. Er, der ehemals mit dem Fruͤhling um die Wette bluͤhte, konnt, außer dem Herbſt, keine Jahreszeit ausſtehen. Abgefallenes Laub ſah er lieber, als eine Ro - ſenknoſpe, und wenn er einen verdorreten Baum fand, ſetzt er ſich unter ihn: er war ihm der liebſte.

Gott hat mich verſtoßen, ſeufzt er zu - weilen, und niemand konnt ihn ſeufzen hoͤ - ren, ohn ihn herzlich zu bedauren, das bracht einen neuen Seufzer hervor. Wenn er zum Nachtmahl gieng, weint er ſo, als wenn er unter den Kriegsknechten geweſen waͤre, und jetzo oͤffentliche Kirchenbuße thaͤte. Er war ſtets zerſchlagenen zerrißenen Herzens. Sein ganzes Leben war eine immerwaͤhrendeLita -101Litaney, ein ewiges Kyrie eleiſon. Froh wuͤrd er ſeiner Erloͤſung entgegen gegangen ſeyn, wenn nicht Charlotte und ſein Sohn im Himmel geweſen. Seinen Sohn durft er nur vor den Menſchen bekennen; deſto mehr litt er, daß er Charlottens Na - men verbeißen mußte. In der Still nannt er ihn tauſendmal in einem fort. Er zitterte vor dem Tage ſeines Todes, und das Leben war ihm auch unertraͤglich. O Gott! es muß ein ſchrecklicher Zuſtand ſeyn, wenn man nicht leben, nicht ſterben kann. Am Ende war ihm doch das Leben das unertraͤg - lichſte. Er ſehnte ſich vom Fegfeuer dieſes ſeines Lebens, und von allem Uebel befreyt zu werden, und wenn ihn eine Furcht vor dem Himmel ergrif, wo er ſeinen Sohn, Charlotten und Luiſen finden wuͤrde; ſchlug er ſeine Haͤnde gen Himmel: Vergieb! war alles was er ſagen konnte.

Sein Morgen und Abendgebet war:

Von allem Uebel mich erloͤſ;
es ſind die Tage bitterboͤs;
erloͤſ mich von dem ew’gen Tod,
und troͤſt mich in der letzten Noth.
Beſcheer mir, Herr! ein ſeel’ges End;
nimm meine Seel in deine Haͤnd!
G 3und102

und ſo beſchloß er auch ſeinen Aufſatz, den meine Mutter nicht der Sache angemeſſener beſchließen koͤnnen.

Charlottens Mann ſolt ihm nach ſei - nem Teſtament im erſten Paar folgen, und alles erben, was er nachließ. Folgen will ich ihm, ſagte dieſer Ungluͤckliche; was ſoll mir aber ſein Gut, da ich ſeit Charlottens Tode nicht mehr lebe.

Dies war der Schluͤßel zu der Seelen - angſt unſers Bekannten. Sein Sohn war nur der erſte Eingang. Charlotte war das Thema.

Er hatte, wie mein Vater in ſeinem Briefe bemerkte, ſich auch darum Vorwuͤrfe gemacht, daß er dieſen innern Gram ſeinem Weib und dem Manne Charlottens und ſei - nem Beichtvater, meinem Vater, und ſei - ner Beichtmutter, meiner Mutter, verheim - liget; allein mein Vater abſolvirt ihn des - falls, weil er eben durch dieſe Verſchwiegen - heit gebuͤßet. Er rief nicht blos, ich ſoll meinen Gerg ſehen, ſondern auch, ich ſoll Charlotten ſehen, und er wolte nicht blos von meinem Vater eine Anleitung, ſich ge - gen ſeinen Sohn, ſondern auch gegen Char - lotten, zu fuͤhren. Dieſe Umſtaͤnde wa -ren103ren ſo verwandt in ſeinen Empfindungen, daß bey ihm All eins war, Charlott und ſein Sohn.

Den Ehemann Charlottens uͤberfiel eine ordentliche Art von Eiferſucht, da ihm unſer Bekannt im Himmel zuvorkam; allein mein Vater heilt ihn.

Er hatte ſich feyerlich erklaͤret, nichts von dem Nachlaß des Bekannten ſich zuzueig - nen, und da ihm mein Vater die Folgen hie - von vorſtellte, verſprach er zu nehmen und zu geben. Mit der Linken nahm er, und mit der Rechten wandt er dies Erbtheil bis zum letzten Dreyer den Armen des Kirchen - ſprengels zu. Dank fuͤr die Anweiſung, ſagt er zu meinem Vater, das ſind die rechten Erben

Das letzte Wort unſers Bekannten war ein mit gefaltenen gen Himmel gehobenen Haͤnden, bey denen er aber ſein Geſicht, als wenn er ſich vor dem Donner fuͤrchtete, wegwandte: Gedenke mein! Er hielt ſich fuͤr einen vierfachen Moͤrder. Seines Sohnes, Luiſens, ſeines Weibes, und Luiſens Ehemanns.

Herr v. G. war dieſer Geſchichte wegen aͤußerſt bewegt, und Herr v. W. fieng denG 4heili -104heiligen Abend zum Freudenfeſt diesmal ſpaͤ - ter an, um das Trauerfeſt, das ohnehin fruͤher ſeinen Anfang genommen, hiedurch recht vollſtaͤndig zu machen.

Ich habe mich, wie meine Leſer ſchon wiſ - ſen, bey dem Auszuge kurz gefaßt, und wenn ich die Anmerkungen, welche vorfielen, hin - zufuͤgen ſolte, wuͤrde die Stuͤtze vollends groͤſ - ſer, als das Gebaͤude, geworden ſeyn.

Die Frau v. W. hatte die Haͤnde gefal - ten, als wenn Hausgottesdienſt gehalten wuͤrde, und ihre Thraͤnen fielen gerad her - ab, ohne daß ſie, ihr Kleid zu ſchonen, et - was unterſetzte, wie man Regenwaſſer auf - faͤngt. Sie floſſen von ihrem Kleide, wie Thautropfen von Blumen. Die Frau v. G. weint in ihr einbalſamirtes Schnupftuch.

Es freute den Herrn v. G., dieſe Bewe - gung an ihr wahr zu nehmen, da unſer Be - kannter kein Edelmann war. Waͤhrend die - ſer Vorleſung und der Nutzanwendung, die Herr v. G. aus ſeinem guten Herzen ſchuͤt - tete, fiel mir all Augenblick Mine ein. Gern haͤtt ich ihr geſagt, was ich bey die - ſer Geſchicht empfunden, und ſiehe da, ihr Bruder Darius Benjamin! Miriſt105iſt es oft begegnet, daß das alles, was mir von der Lieb ahndete, auf ein Haar eintraf, und dies beſtaͤtigte meine Idee, daß eine un - ſichtbare Hand mit meiner Liebe ſey, ſo wie ſie’s mit jeder reinen Lieb iſt.

Benjamin hatt einen verſtelten Auftrag an ſeinen Vater, der unaufhaltſam boͤſe war, daß ſich Benjamin unterſtanden, ihn hier aufzuſuchen. Es fiel ihm gar nicht ein, daß das Schneiderhandwerk fuͤr den Sohn eines Litteratus noch das allerſchicklichſte ſey, daß Gott der Herr ſelbſt nach dem be - truͤbten Suͤndenfall dieſes geſchenkte Hand - werk eingeſetzet, und die erſten Roͤcke verfer - tiget, daß ſein Sohn auf Prima ſaͤße, und kuͤnftige Oſtern Student werden wuͤrde. Noch boͤſer wuͤrde der alte Herr geweſen ſeyn, wenn Benjamin nicht ſein Ehrenkleid ange - legt, und die Haar in Verſe gezwungen haͤtte; ſo nannte meine Mutter die damalige Art in Curland, Locken im eigentlichſten Sinn anzunehen. Dem Benjamin war dieſe Friſur die natuͤrlichſte.

Waͤhrend der Zeit, daß der alte Herr dem Benjamin ſeine Herausnahme, ihn hier aufzuſuchen, verwieß, winkte Darius ſeinem Freunde Alexander, daß er aus ei -G 5ner106ner ganz andern Urſache hergekommen, die er in der Taſche haͤtte. Benjamin ſollte ſo - gleich fort. Herrmann ſtand Schildwache, damit niemand den Primaner ſaͤhe, und be - fahl ſeinen Sohn, vom Fenſter zu gehen. Der arme Junge mußte ſich lange kehren und wenden, bis er ein Plaͤzchen fand, wo man am wenigſten entdecken konnte, daß Benja - min, des alten Herrn Sohn, hier waͤre. Ich wuͤrd ihn nicht von dieſer Wache weg - gebracht haben, wenn ich nicht mit Benja - min wie du und du umgegangen. Dies brach - te den Herrn Candidaten von der Thuͤr, und vielleicht fiel ihm zu rechter Zeit ein, daß er ſelbſt zu Hauſe Fingerhut, Buͤgeleiſen, Na - del und Zwirn, (wiewohl unter ein Paar Schloͤßer verwahrt,) haͤtte. Er loͤſete ſich von der Schildwach ab, und Benjamin und ich waren allein.

Mir war von je her angſt und bange uͤber Benjamin, wie meine Leſer es ſelbſt wißen, weil er das geſchlagen werden ſchon gewohnt war. Das Finkenneſt und der Juden - junge hatten dieſe Angſt und Bangigkeit wieder aufgefriſcht, die der Gedanke, daß Minchen Benjamins Schweſter war, zum groͤßten Theil widerlegt hatte. Benjamin war ſchonbey107bey der vaͤterlichen Belagerung ungewoͤhn - lich beherzt. Er hatte nicht Ruh noch Raſt, mich von ſeiner Schweſter zu gruͤßen, und mir ihren Brief, das Handgeld, ſo er, als un - ſer Vertrauter, genommen, zu uͤberreichen. Hier iſt er. Ich hatte nicht Zeit, den Ben - jamin in ſeinen neuen Poſten einzufuͤhren. Ein Brief von Minen! wie konnt ich das? Ich beſpart alſo das Introduktions - geſchaͤft auf eine gelegenere Zeit.

Gottlob! daß du noch in Curland biſt, und gottlob! daß ich noch von dir Abſchied nehmen kann. Gottlob! gottlob! Ich bin ſehr daruͤber bekuͤmmert, daß es ſo unordent - lich bey unſerm lezten Geſpraͤch hergieng. In Wahrheit, ich weiß kein Wort von dem, was du mir zu guter lezt geſagt haſt, oder haſt du mir nichts zu guter lezt geſagt? Nichts? Was noch aͤrger iſt, und was mich noch mehr bekuͤmmert, darf ich dir nicht ſagen. Du wirſt es leider! zu ſehr, zu ſehr wißen, und dir daruͤber Gedanken machen! Ich fuͤhl es, daß ich ſelbſt, daß ich dir auch kein Sterbenswort geſagt nichtszu108zu guter lezt und doch liegts auf meinem Herzen, wie ein Berg. O lieber Junge, verzeih mir! Es war alles ſo geſchwind, ich ſah dich nicht gehen, du biſt auch nicht gegangen, du biſt verſchwunden. Vielleicht hiengſt du ſchon lange, lange nicht mehr an meiner Hand, eh ich dich mißte, eh ich wußte, daß ich allein war. Allein! großer Gott, ich allein! Ein ſchrekliches Wort allein! O wie betruͤbt bin ich! wie ſehr be - truͤbt! und am meiſten, daß wir einen ſo ſchnellen Tod ſterben. Wir beten:

Fuͤr einen boͤſen ſchnellen Tod
Behuͤt uns, lieber Herre Gott!

Ich habe bis hieher geglaubt, es ſey gut ſchnell zu ſterben, wenn es nur nicht ein boͤſer Tod iſt, denn du haſt es mich gelehrt; allein nimm deine Lehre zuruͤck, ein ſchneller, duͤnkt mich jetzt, iſt immer ein boͤſer! Leib und Seel, denk ich, wißen nicht wo ſie ge - blieben, wenn es zu ſchnell geht, ſo wie ich von dir nichts wußte. Junge! die ganze Zeit uͤber und noch dieſen Augenblick ſeh ich mich nach dir um, allein du biſt nicht mehr. Gott ſegne dich, und behuͤte dich! Dich! Dich! Dich! Mir iſt ſo, mein Lieber,als109als wenn dieſer Brief der lezte ſey, den du, eh ich ſterbe, von mir leſen wirſt, der lezte, duͤnkt mich, ohne zu wißen warum? Dieſe Ahndung faͤhrt mir kalt durch alle Glieder, und laͤßt ein Zittern und Beben zuruͤck, ein Zittern und Beben, daß ich die Feder nicht halten kann, auch die Gedanken nicht. Lieber Junge! wie kann mir ſo was ahnden? Ich bin noch nie ohnmaͤchtig geweſen; allein wenn dieſer ganze Brief nicht ſchon eine wuͤrk - lich Ohnmacht iſt; ſo iſt mir ſo, als ſey eine in der Naͤhe. Unſer Briefplan, Lieber! wird eine Abaͤnderung leiden. Benjamin kann dir muͤndlich die Urſache ſa - gen. Es ſind ihrer viel, Benjamin iſt mein Bruder, mein Geliebter, mach ihn, wenn er dir dieſen Brief abgiebt, zu dem Deini - gen. Weih ihn dazu ein! damit es Ein - druck bey ihm mache! Wir haben beyde, Benjamin und ich, lange lange uͤberlegt, und ganze Seiten in Gedanken ausgeſtrichen und links und rechts verſucht, das beſt iſt und bleibt, daß du deine Briefe nicht an Benjamin uͤberſchreibſt und ſondern ſondern Benjamin kennt ihn vollſtaͤndig. Es bleibt, daß du die Brief an meinem Vater zur Abgab em -pfiehlſt110pfiehlſt. Die meinige wird Benjamin durch ſeine Ueberſchrift an dich verkleiden, wenn er und ich wißen, wo du zu finden biſt. Du ſchreibſt den erſten. Er an Sie. So bleibts, ſo und anders nicht. Findeſt du dieſen Plan ganz oder zum Theil unrecht, aͤndere, das heißt beßere, anders aͤnderſt du nicht, das weiß ich. Von Benjamin erwart ich deinen Entſchluß, und da ich deine lezten Worte bis in den Tod vergeßen habe, ſchreib mir andere lezte, im Fall du die erſten lezten ſelbſt vergeßen haſt und haſt du keine Gelegenheit zu ſchreiben, lehre ſie den Benjamin auswendig, damit er ſie mir ja unverſehrt uͤberbringe, und ſie mir eine Feuerſaͤule werden, und eine Wolken - ſaͤule, je nachdem ichs bedarf. Bald zittre ich, bald wuͤtet ein maͤchtiges Feu’r in mir. Sommer und Winter, dicke Nacht und Sommermittag. Das iſt wohl die Liebe, Herzensjunge, ſonſt wuͤßt ich nicht, was es ſeyn koͤnnte. O Junge, wie ſehn ich mich nach deinem: zu guter lezt, zu guter lezt, zu guter lezt!

Es bleibt mit der Aufſchrift und mit allem. Außer dem Briefe, den mir, wenn das Gluͤck gut iſt, Benjamin jetzt bringt,ſchreibſt111ſchreibſt du mir den erſten. Alles uͤbrige wird dir Benjamin ſagen.

Wenn du es nicht ſelber endlich fuͤrs beſte gehalten haͤtteſt, dem Benjamin den Vor - hang unſrer Lieb aufzuziehen, ich waͤre ver - gangen in meinem Elend. Der Brief, den Benjamin von dir mitbringt, wird nicht gerechnet. Er an Sie zuerſt, wenn du an Ort und Stelle biſt, wo dich Gott hingeleiten wolle durch ſeinen heiligen Engel, dem ich, wie dir, eine gluͤckliche, gluͤckliche Reiſe wuͤn - ſche. Ich haͤng an einem deiner Blick, ich weiß aber nicht, ob es der lezte war. So hieng ich nie an deinem Mund, ſo feſt nie, als an dieſem Blick. Was iſt aber in dei - nem Auge? Schwermuth, tiefe Schwer - muth? Um wen traureſt du, Lieber, um wen? Kannſt du um wen anders trauren, als um deine Mine? Iſt ſie tod, deine Mi - ne? Hat ſie ausgekaͤmpft, den ſchweren Kampf, die Dulderin? Mir liegt der Spruch ſo tief in der Seele: ſey getreu bis in den Tod, ſo will ich dir die Krone des Lebens geben; daß die Krone des Lebens vor mei - nen Augen ſchimmert. Liebe und An - dacht, pflegſt du zu ſagen, ſind zwey Lieder auf eine Melodie. Iſt denn die Liebe nicht,wie112wie die Seel ewig? Wo biſt du, mein Ge - liebter? Denke mein, denke mein! Ge - ſchwind, wie der Geſang des Vogels durch den Wald laͤuft, geſchwinder biſt du entflo - hen. Am Abend duftet, was man pflanzet am lieblichſten, und die Seele duftet eben ſo lieblich, wenn ſie der Tod uͤberfaͤlt. Ich weis nicht, was ich ſchreibe, du wirſt es aber wißen, was ich ſchreiben wolte. Ich bitte Gott, daß er’s dir eingebe, wenn du es nicht von ſelbſt wißen ſolteſt. Wir ſind eins, lieber Junge, du und ich! Ver - giß nicht, mit Benjamin einen andern Weg zu bahnen, wenn der meinige nicht gut iſt, du mußt alles bis auf ein Haar abreden, wenn du meinen Vorſchlag nicht annimmſt. Benjamin wird dir die Urſache zur Abaͤnde - rung ſagen, ich kann es nicht, ich weiß ſie nicht mehr, ich weiß nichts, nichts mehr, als daß ich dich liebe, und dich lieben werde im Gluͤck und im Ungluͤck, im Leben und im Sterben, bis vor Gottes Angeſicht! O! wie wohl iſt mir, da ich daran denke! wie wohl!

Da iſt er wieder dein Blick! War - um ſo finſter? Iſt denn der Tod ſo bitter? Lebe wohl, das weiß ich noch, daß ich esdir,113dir, daß du es mir ſagteſt. Aber das letzte? ich kann nicht mehr. Lebe gluͤck - lich und wohl, und Gott ſegne dich und be - huͤte dich, er laße ſein Antlitz leuchten uͤber dir und ſey dir gnaͤdig! ich leb und ſterbe dein.

N. S. Am Ende hab ich wieder nicht recht Abſchied genommen. Gott ſegne dich ich bete lange fuͤr dich, und werd jeden Mor - gen und jeden Abend, und vor Tiſch und nach Tiſch, fuͤr dich beten. Ich werde mir manches Gebet entziehen, und es fuͤr dich thun. Der liebe Gott ſey mit dir! und gebe dir noch einen Engel zu, da du auf Rei - ſen geheſt und wohl ein Paar noͤthig haſt. Du ſchreibſt bald! und bald kommſt du wieder, und wenn ich nicht todt bin, biſt du bald ganz der Meinige. Wie Gott will! Er, der Gnaͤdige, ſey dir gnaͤdig, der allein Gnaͤdige ſey es dir! Amen! Amen! Amen! Ich bin auch im Tode dein, und ewig dein! und ewig, ewig, ewig dein, dein, dein, dein. Ich weiß nicht wie mir iſt! Der Tod wird uns nicht ſcheiden. Wir ſind und bleiben eins. Der Tod nicht? was ich ſchreibe! Sind wir nicht ſchon geſchieden, biſt du nicht fort? und wenn ich ſtuͤrbe, werZweiter Th. Hwird114wird mir das Auge zudruͤcken, das nach dir noch ſtarr offen ſtehn wird. Sonſt hat es nach nichts zu ſehen, in dieſem Jammerthal, nach Vater nicht, nach Mutter nicht, nach der ganzen Welt nicht. Du wuͤrdeſt es mit einem ſanften Kuß ſchluͤßen, wie die Abend - luft eine Lilie, das wuͤrdeſt du, mein Einzi - ger, wenn du geblieben waͤreſt. Dies, dies truͤbt mich bey deinem Abſchiede, du wuͤrdeſt meine Leiche mit Thraͤnen ſalben, wenn du geblieben waͤreſt. Ich wuͤrd in deinem Arm ſterben, wenn du geblieben waͤrſt. O wie mir iſt! Verzeih, Geliebter! ich weiß nicht was ich ſchreibe und werfe Blicke hin und her auf dieſen Brief, und faſt moͤcht ich ihn zuruͤck halten, wenn ich nicht ſchrei - ben muͤßte des guter lezt und des neuen Vor - ſchlages wegen. Schreib mir doch was dir ahndet, und Gott ſey mit ſeiner Gnade bey und uͤber dir! Amen, jezt und in Ewigkeit, Amen, in Ewigkeit Amen!

Ich hatte dieſen Brief nicht ohne die heißeſten Thraͤnen leſen koͤnnen. All Augen - blick druͤckt ich ihn an meine Lippen unddann,115dann, als ob dies viel zu wenig waͤr, und dann wieder an mein Herz, das ihm entge - gen ſchlug. Benjamin hatte des Vaters Poſten eingenommen, und war auf die Wa - che gezogen, wie er mir nachher erzaͤhlte; denn geſehen hatt ichs nicht, ich wolt, ich mußte ſchreiben. O wie war mir! als ſchrieb ich ein Todesurtel, als ſchrieb ich mit Blut ſo angſt und bang! und dann wieder ſo vergnuͤgt ums Herz, daß Blut uͤber und uͤber ſtuͤrzte, und denn wieder ſo ſanft, als im Junius, wenn es geregnet, und jede Blume Wonnetrunken iſt, und ſich noch auf ihrem Ruͤcken fuͤr den ſchwuhlen Mittag des kuͤnftigen Tages einen großen, großen Tro - pfen aufgeſpart hat. Alle Jahreszeiten in einer Viertelſtunde ich weiß nicht, was eigentlich mit mir vorgieng. Nur das weiß ich, daß Benjamin einigemal zu mir kam eilfertig, um ſeinen Poſten nicht kalt werden zu laßen, und mich in ſeine Arme nahm, und mir die Arme kuͤßte; meine Thraͤnen waren ihm zu heilig, um ihren Lauf zu hemmen und ſie mit den Seinigen zu miſchen. Kein Waßer, ſagt er, zu dieſem Wein der gute Benjamin!

H 2Und116

Und dann fieng er wieder an: ich werd ihr alles ſagen. Alles. Er ſchrie: alles und jedes, bis ers merkte, daß er zu laut ge - weſen, und nun ſeufzt er wieder: Alles und jedes! Ich brach die Haͤnde, daß es ruͤhrend war. Das nicht, erwiedert er. Warum ringſt du? Zwar iſts, als ſaͤh ich den En - gel und Jacob ringen! ſo ſchoͤn ringſt du! ſo ſchoͤn ringt nur Lieb und Pflicht! Das nicht, ſagt ich, Benjamin! das nicht! Mein zu guter letzt iſt Segen von Gott, dies Ringen zu dem Allguͤtigen iſt Sorge fuͤr ſie! Mehr ſag ihr nicht, mehr ’nicht von dieſem zu guter letzt, als was ſie tragen kann. Ich weinte herzlich und Benjamin weint auch. Wir waren beide ſehr bewegt und ich wett es, waͤre gekommen, wer da wolte, er haͤtte mich um keine Thraͤne gebracht, nicht um eine einzige.

Ich billigte den Plan ohn ihn zu uͤber - denken: denn wie konnt ich das? Benja - min waͤre nicht die Nacht geblieben, um alles nicht. Warum? Das ſolten meine Leſer rathen. Seines durch ihn beſchaͤmten Va - ters halben? Nein! geliebteſter Leſer! Nein! Minens wegen. Mehr braucht ich nicht zum Beweiſe, daß er meines Ver -trauens117trauens werth ſey. Ich vergaß ſeine Rolle beym Finkenneſt, beym Judenjungen, und als Darius, ich dachte nur dran, daß er Minchens ihrer, blos ihretwegen, nicht die Nacht bleiben wolte. Dein Plan iſt gut, weil du ihn gemacht haſt, ſagt ich ihm, du ſiehſt, ich kann nichts uͤberdenken. Es kam mir alles uͤbern Halß, Minens Brief, der Mann mit dem einen Handſchu, und die Geſchicht unſeres Bekannten. Wenn ich ein Boͤſewicht waͤre, ſagt ich zu Benja - min, wie koͤnnt ich dieſe Geſchichte wißen, und Minen untreu ſeyn? Ich empfahl Ben - jamin die Laube, welche der Ueberwundene gepflanzt hatte, die jetzt fuͤrchterlich finſter war. So finſter und zehnmal finſterer ſey es um meine Seele, wenn ich Minen ver - geße! Erinnern ſie ſie, Benjamin, an die kalte Hand ihrer Mutter! Ich liebe Minen ſehr, ſehr.

Da ſank ich abgemattet nieder, und er - hohlte mich erſt nach einer Viertelſtunde.

Was ich mich freue, (fieng Benjamin an, hielte beyde Haͤnde gefalten, und huͤpft auf ſeinem Poſten immer auf einer Stelle.)

  • Ich. Warum?
H 3Ben -118
  • Benjamin. Weil Mine ſo gluͤcklich iſt.
  • Ich. Ich bin es mehr, Bruder! weit mehr!
  • Benjamin. Gott gebe, daß Sie’s ganz wer - den moͤgen!
  • Ich. So ſage du! oder
  • Benjamin. Kann ich?
  • Ich. Warum nicht?
  • Benjamin. Litteratus und Schneider! Alex - ander und Darius!
  • Ich. Beydes Koͤnige, beydes Menſchen! Wenn du keine Schweſter Mine haͤtteſt, muͤßteſt du mich du nennen.
  • Benjamin. Sehr guͤtig!
  • Ich. Gerecht, Bruder! Wenn ich tauſend - mal Superintendent waͤre! Was waͤr es? Nannten wir uns nicht du als Kin - der im Stande der Unſchuld? Wenn du nicht einen natuͤrlichen Ekel gegen das liebe Latein gehabt haͤtteſt, du wuͤrdeſt wißen, daß man in Latein alle Welt du nennet. Dutzen wir nicht Gott den Herrn, ohn ihm mit dieſem Wort zu nahe zu kommen? Und was unter unsfuͤr119fuͤr Umſtaͤnde? Bruder Benjamin, das heißt, Minens Bruder.
  • Benjamin. Nun du! du! du! du! ich muß es nur einigemal hinter her ſagen, da - mit ich in die Gewohnheit komme, ja du biſt ein Menſch, ein ganzer Menſch.
  • Ich. Ich hab’s angefangen zu ſeyn, und mit Gottes Huͤlfe will ichs vollenden.
  • Benjamin. Bleib Minen gut.
  • Ich. Das bitt ich dich! ich bin ihr naͤher, als du!
  • Benjamin. Sie iſt dir ſchrecklich gut, ſchreck - lich. Es iſt ihr Ausdruck.
  • Ich. Ich ihr auch ſchrecklich, Bruder!
  • Benjamin. Schrecklich, das heißt: Eur Ziel iſt noch fern.
  • Ich. Das heißt, wir haben noch viele Berge zu ſteigen, viele! Grauſam aber ſoll, wie ich zu Gott hoffe, unſre Liebe nie werden, das heißt, hocheiferſichtig. Ei - ferſichtig iſt jede, jede Liebe!
  • Benjamin. Minens wegen eiferſichtig?
  • Ich. Du biſt mein, Mine! ich bin dein! Mein, dein! Mein, dein! Mein, dein! O Bruder, was iſt die Liebe? Ruhm,H 4Reich -120Reichthum und andere Narrenpoßen, gehn all durch Menſchenhaͤnd, ich fuͤhls, Bruder! Die Lieb allein kommt aus der Hand der Natur. Sie iſt roh, ſie iſt Obſt; denn bey nach alles andere iſt ge - kocht und gebraten! Bruder! Bruder! ich gehoͤre Minen, ganz und gar gehoͤr ich ihr! ihr! und wenn ſie mich zuruͤckgeben wolte! O Gott wie ungluͤcklichreich wuͤrd ich ſeyn! verdammt verflucht reich, ich verlange mich nicht. Wie gut bin ich bey ihr aufgehoben bey ihr wie gut verſorgt?
  • Benjamin. Faß dich, Bruder, ſonſt ſinkſt du wieder.
  • Ich. Laß mich! Mine iſt mein! lebend und ſterbend! O wie ſuͤß, wie ſuͤß werd ich in ihrem Arm ſterben! ſterben, Bru - der! hoͤrſt du, ſterben! Dann komm ich aus einem Engelsarm in den an - dern.
  • Benjamin. Faß dich, Alexander! faß dich!
  • Ich. Laß mich nicht faßen! ich bitt, ich beſchwoͤre dich! Laß es mich nicht. Faßen iſt gut, ſich nicht faßen, iſt auch gut. Kann ſich die Liebe faßen? ich glaube,man121man liebt nicht mehr, wenn man ſich faßt. O Bruder, das Menſchenge - ſchlecht wird nicht ausſterben; allein die Liebe liegt in den letzten Zuͤgen, die rechte Liebe, die rechte. O Liebe! Liebe! Du biſt ſtark, ſingt meine Mutter.
  • Benjamin. Die Deinig iſt ſtaͤrker, als Alex - ander. Gott helf meiner Schweſter, die ihrige tragen!
  • Ich. Gott helf ihr aus der Hoͤhe! Gib du ihr auch die Hand, wenn ſie ſie noͤthig hat. Greift ſie nach beyden, gib ihr beyde. Du biſt link, ehrlicher Junge, gib ihr deine Arme! Stuͤtze ſie! O Jammer, daß du ſo weit entfernt von ihr biſt. Wenn ſie ſo iſt, wie ſie war, da ſie den Brief ſchrieb, den du brach - teſt den himmliſchen Brief! O Bru - der! hilf ihr! hilf ihr!
  • Benjamin. Gott helfe mir, um ihr zu helfen!
  • Ich. Warum bricht die Wolke? warum? weil es nicht zur rechten Zeit regnet. Will Minens Herz brechen, bring ſie zu Thraͤ - nen! zum ſanften, ſanften Regen! Warum weinſt du jezt, Benjamin?
  • Benjamin. Wer kann dich dutzen, und dann dich hoͤren, und nicht weinen!
H 5Ich. 122
  • Ich. Weine nicht, Benjamin! wein ihr aber vor, wenn ſie verzweiflend die Haͤn - de ringt, wenn ſie verzagt, ſag ihr, ſag ihr mit Ueberzeugung, als ob du Gott, und als ob du mich vor dir ſaͤheſt, daß Gott im Himmel, und ich in der Welt bin ich reiſ in die Nachbarſchaft, es iſt abvotirt, daß ich in Koͤnigsberg ſtu - dire. Sterb ich! ſterb ich o Benjamin! o Benjamin! ſag ihr, daß ich als ihr Mann geſtorben! daß ich ihr entgegen kommen werde, mit einem erweitertem Arm, o Benjamin, wenn ich ſterbe!
  • Benjamin. Denke nicht an den Tod!
  • Ich. Du weißt vor vielen Jahren, da ich krank war, ſetzt ich dich zu meinem Er - ben ein, du ſolteſt nach meinem Tode den Alexander ohne Abzug, ſo wie ich ihn hatte, erben! Das Spiel hat aufgehoͤrt. Ich vermache dir Minen! Minen! ich vermache ſie dem lieben Gott, der erqui - cke ſie, wenn ſie muͤhſelig und beladen iſt. Das iſt mein leztes Gebet, mein lez - ter Seufzer!

Wir umarmten unß.

Benja -123
  • Benjamin. Die Liebe wird dich im Studie - ren ſtoͤren.
  • Ich. Recht, Bruder! Sie wirds, und ich werde kein ſo großer Kunſterfahrner Ge - lehrter werden; allein ein herzlicher werd ich ſeyn, ich werd aus jedem Buche lieben lernen. Die Liebe ſchlaͤfert Trieb ein; allein ſie weckt auch Trieb auf! Weiß Gott, wie’s zugeht; allein wer nicht liebt, ſieht durchs Glaß, durchs Fenſter, wer liebt ſieht mit eigenen Augen! Durch und durch mit Leib und Seel!
  • Benjamin. Gott helfe dir! ich weiß nicht, wie ich einfaͤdeln und das Nadeloͤhr finden werde, da ich dich nur lieben geſehen und gehoͤrt habe, und du, du ſolſt Predi - gen lernen?
  • Ich. Das iſt bey der Liebe leichter, als ſchneidern. Sieh, Benjamin! Heut zu Tag iſt unſre Liebe mehr geiſtiſch geworden, und Geiſt mit Geiſt kommt in die Ver - wanntſchaft. Sorge nicht fuͤr mich, Bru - der, ſorge nur fuͤr Minen! Sag ihr alles, alles! und bitte ſie, daß ſie mir treu - lich ein Tagebuch halte, und Auszuͤge hie - von alle Vierteljahr uͤberſende. Es bleibt bey der Anordnung, es bleibt ganz dabey! Ein124Ein Brief von meiner Mine wird mir ihr Wiederſchein ſeyn. Gruͤße ſie tauſend, tauſend, tauſendmal!

Ich ſchaͤm es mich, das weiß Gott! nie - derzuſchreiben: Benjamin gefragt zu haben, ob er Geld brauche? Seine Antwort war Nein, und ein ſolches Nein, daß ich kein Wort mehr daran wagen durfte.

Warum traͤgſt du denn Geld in der Ta - ſche los, fuhr er fort? Das weiß ich ſelbſt nicht, war meine Antwort. Es war die - ſes ein Gebrauch, den ich an Kindesſtatt auf - genommen hatte, und noch trag ich mein all - taͤgliches Geld, wie ein großer Koͤnig den Toback, in der Taſche. Ich hab es in der Folge gefunden, daß ſich das Geld ſo ſehr an den Beutel gewoͤhnt, daß es nicht heraus will, wenn gleich Menſchen da ſind, die es zu for - dern befugt ſind. Das Geld iſt kein ſeidnes Netz, kein Schloͤßchen werth; wer erſt los - winden und aufſchluͤßen muß, findet ge - meinhin die nemliche Schwierigkeit beym Herzen.

Ich klagte mich beym Benjamin an, daß ich, weil er das Schlagen gewohnt geweſen, ihn nicht zu unſerm Vertrauten in Vorſchlaggebracht125gebracht haͤtte. Ich verwieß ihm alles, was ihm in der Geſchichte vom Huͤnerey und Judenjungen zu verweiſen war, und nun fieng ich an: erſteige Berge, und ſchaudre nicht vor Thaͤlern! Sey Mann! Sey Mi - nens Bruder! und der Meinige! Ich habe dir nicht zugetraut, was ich heut in dir gefun - den.

Hiemit weihet ich ihn zu unſerm dritten Blatt ein, das bey jeder ehrlichen Liebe vor der Hochzeit ſeyn muß, ſo bald die Sache nicht eins, zwey, drey, zu End iſt.

  • Ich. Denk an Gott, an Minen, und an deinen Bruder!
  • Benjamin. Ich werd, ich werd, ich werd an Gott denken, an Minen, und an Dich!

Wir gaben uns die Hand, und ſahen gen Himmel.

Benjamin brach auf, und ich gab ihm noch einen heißen Kuß fuͤr Minen mit. Benjamin ritt, ohn Abſchied von ſeinem Vater zu nehmen, davon.

Da ich ins Zimmer trat, wo die Geſell - ſchaft war, fiel mir die Angſt des alten Herrn in alle fuͤnf Sinnen. Er ſchlich ſich an mich,und126und brannte zu wiſſen, ob Benjamin ſchon weg waͤre? Obgleich ſein ſo unbaͤndiger Stolz, welcher dieſes Angſtfeuer angeſteckt hatte, eine ſo ſchleunige Loͤſchung nicht ver - diente; ſo konnt ich’s doch nicht uͤber mein Herz bringen, den Herrn Candidaten ſo lich - terloh brennen zu ſehen. Er war der Vater meiner Mine. Er konnte wahrlich das Geſicht nicht ſo verziehen, wenn ihn das Zip - perlein plagte, und er dem Nicolaus Herr - mann leiblich aͤhnlich war, als jezt, da er befuͤrchtete, ſein Sohn wuͤrd ihn verdunkeln. Eben darum hatt er auch den Benjamin aus dieſer Gegend ſo weit entfernt. Wie dies ſeine Schweſter, nachdem Benjamin vollends der Vertraut unſrer heiligen Liebe geworden, bedauret, wie ſehr ich’s zu bedauren fand, darf ich nicht bemerken, da es ſich, wie vieles in dieſer Geſchichte, von ſelbſt verſtehet.

Um mir Zaum und Gebiß in den Mund zu legen, ſprach er geſtern, wie meine Le - ſer es ſich erinnern werden, von ſeinem Sohn, als von einem angehenden Praͤpo - ſitus! Wie ſehr ward ſein Stolz beſtraft! Ich konnt, um aufrichtig zu ſeyn, mich des Laͤchelns nicht enthalten, da ich ſahe, wie der Herr Candidat mit ſeiner geſtrigen fal -ſchen127ſchen Muͤnze angehalten ward, die ihm auf der Stelle confiſciret wurde. Heute haͤtt ich uͤberlaut lachen muͤßen; allein ich konnt es nicht, weit eher haͤtt ich mich aͤr - gern koͤnnen.

Ich ſah und hoͤrte den Herren v. G. un - willig, ohne zu wißen, was ihn unwillig ge - macht; endlich erfuhr ich, daß es darum waͤre, weil der Herr Candidat Herrmann mein Schlafgeſell geweſen. Feur und Waſ - ſer, Schuld und Unſchuld, hoͤrt ich ihn ſagen!

Er ordnet an, daß ich die letzte Nacht durchaus mit ſeinem Sohne ſchlafen ſolt; auch Gottfried, der unſer Begleiter war, mußt in dies Zimmer. Dies Zimmer, ſagt er, heißt Koͤnigsberg, und ihr muͤßt ſo thun, liebe Reiſende, als ob ihr ſchon an Ort und Stelle waͤret. Die Frau v. G. hatte verſchiedene Einwendungen wider dieſ Anordnung; indeßen kam ſie nicht zum Wort, und die Einrichtung des Herrn v. G. ward ganz puͤnktlich befolgt.

Gottfried brachte mir, ſo bald wir nur in Koͤnigsberg, oder in unſerm Schlafge - mach, waren, von meiner Mutter viele Gruͤß und einen zweygliedrigen Segen,auch128auch verſichert er mich hoch und theuer, daß er unmoͤglich von hinnen ziehen koͤnnen, oh - ne der Frau Paſtorin, der Mutter ſeines zweyten Herrn, aufzuwarten. Es kam mir vor, daß Gottfried ſehr geweint hatte, und wie konnte dies fehlen, da er von den Ermahnungen einer Paſtorin kam? Eine ſchriftlich Inſtruktion ſchien er ſo wenig, als der Converſus zu haben, allein man ſah dem ehrlichen Gottfrieden einen geheimen Auftrag an. Ich war inzwiſchen viel zu ſehr ein Sohn meines Vaters, um desfals mit Gottfrieden eine Unterſuchung anzuſtellen. Mein Reiſegefehrt und ich gingen zu Bett, als wenn wir wirklich ſchon unſern Stab in ein fremdes Land geſetzet haͤtten. Wie ge - faͤlts dir hier? fieng er an. Wie in Cur - land, erwiedert ich, es iſt uͤberall Gottes Erd - boden.

Schon mehr als ein und zweymal iſt auf den vorigen Blaͤttern an Koͤnigberg gedacht, auch hab ich bemerkt, wie dieſes der Ort un - ſerer Beſtimmung war, welches beyde Vaͤ - ter abvotirt hatten: indeßen war es nur ein Interlocut, die Definitivſentenz ſolte nach - folgen, wenn wir unſern Vaͤtern von unſerm academiſchen Leben zu Koͤnigsberg inPreuſ -129Preußen, einen getreuen Bericht wuͤrden eingeſandt haben.

Es war unter der vorigen Regierung auf der Koͤnigsbergſchen Akademie auch Alexander und Darius geſpielt, und ein grauſam laͤcherlicher Streit zwiſchen Pietiſten und Ortodoxen gefuͤhert worden. Nicht blos Theologen, ſondern auch Juriſten und Mediciner, hatten ſich werben laßen. Es waren Presbyterianer und engliſche Kirche, Pilatus und Herodes, Wigs und Torrys. Dies veranlaßte uͤberhaupt ein kurzweiliges Geſpraͤch uͤber den Pietismus und Inpietis - mus, und hiebey ward eines curlaͤndiſchen Theologen Bedenken vom Pietismo in dreyen Abſchnitten betrachtet, mir einer Vorrede von Erdmann Neumeiſtern. Hamburg bey Philipp Hertel, im Jahr 1737 zum Grun - de geleget. Dieſer curlaͤndiſche Theologus oder Bedenker ſoll Paſtor Johann Wilhelm Weinman ſeeliger, geweſen ſeyn. Er hat in Frag und Antworten die Pietiſten an - gegriffen, indem er nemlich ſelbſt fragt und ſelbſt antwortet, und ſo, wie’s oft ſehr kluͤglich in dergleichen Faͤllen zu geſchehen pflegt, ſo war auch hier die Antwort eher, als die Frage fertig.

Zweiter Th. JDie130

Die ſechs und ſiebenzigſte Antwort auf die ſechs und ſiebenzigſte Frage des erſten Abſchnittes ließ den Herrn v. G. und mei - nen Vater herzlich lachen.

Frage.

Hat ſich denn der Pietismus auch in Eurland einniſteln wollen?

Antwort.

(Ich laß einen großen Theil dieſer Ant - wort unangefuͤhrt, damit meine Leſer deſto beßer das Ende fuͤhlen moͤgen. ) de externis tantum, non autem de occultis, ju - dicat eccleſia.

Als ob, ſagte mein Vater.

Ja wohl, antwortete Herr v. G.

Eine Stell aus der Vorrede des mehr beſagten Grundtextes wider die Pietiſten, wo der Vorredner Neumeiſter noch am ſaͤu - berlichſten mit dem Knaben Abſalon ver - faͤhrt.

Doch auch ihre (der Pietiſten) Tu - genden will ich nicht verſchweigen. Es preiſet ſich an ihnen die Gottſeligkeit, wenn ſie nemlich aus ihr ein Gewerbe machen. Die Liebe zu Gottes Wort und geiſtlichen Buͤchern,131 Buͤchern, denn ſie laßen eine unzaͤhlige Menge Bibeln, Arends wahres Chriſten - thum, und andere Schriften drucken, ih - ren Gewinſt damit zu treiben. Die Liebe gen den Naͤchſten, ihn von den Beſchwer - den des Seinigen zu befreyen, und ſich ſelbſt damit zu beluſtigen. Die bruͤderliche Liebe gegen ihre heilige Schweſtern. Die Selbſtverleugnung, da ſie ſich verleugnen laßen, wenn ſie von ihren Schuldnern ge - mahnt werden. Die Kreuzigung des Flei - ſches, ſonderlich bey gebratenen Haaſen, die in Form eines Kreuzes in der Schuͤßel liegen. Die Maͤßigkeit beym ungariſchen Wein. Die Keuſchheit auf dem Kranken - bette. Die Freygebigkeit, ſie andern zu empfehlen. Die Gutthaͤtigkeit, fuͤr ihren Bauch. Die Gnuͤgſamkeit, wenn alles bey ihnen uͤberlaͤuft. Die Dienſtfertigkeit, ehrliche Maͤnner aus Amt und Dienſt zu bringen. Die Demnth, zu knien, wo es nicht noͤthig iſt. Die Vorſichtigkeit, ihre Bosheit nicht an den Tag zu bringen. Die Geduld, wenn es mit ihren Tuͤcken nicht recht fort will. Die Beſtaͤndigkeit, in ih - rer Heucheley. Die Eintraͤchtigkeit, da ſie alle eines Sinnes ſind, diejenigen dieJ 2 nicht132 nicht von ihnen ſind, zu verlaͤumden, zu ſchaͤnden, zu verfolgen. Der Gehor - ſam, den ſie ihren eigenen Luͤſten leiſten.

Es war allerliebſt anzuſehen, wie ſich Herr v. G. und mein Vater bey dieſer Ver - leſung gebehrdeten.

Als ob, ſagte mein Vater. Ja wohl, antwortete Herr v. G. Es ward bey die - ſer Gelegenheit eine Geſchichte folgendes In - halts eingeſchaltet:

Eine Perſon weiblichen Geſchlechts, die ihrer geſegneten Umſtaͤnde wegen, Gewiſ - ſensſchmerzen empfand, und eben darum in den andaͤchtigen Erquickungsſtunden nach Troſt liebaͤugelte, weil ſie Pein in dieſer Flamme litt; hoͤrt in dieſen pietiſtiſchen Zu - ſammenkuͤnften ohne End und Ziel vom verkehrten Herzen reden. Sie kam nie - der! und ſiehe da! ein Kind mit einem verkehrten Herzen!

Es hat dieſes Kind (nach dem Bericht des Candidaten, der dieſe verkehrte Herzens - geſchichte von Univerſitaͤten mitgebracht,) nur drey Tage gelebt. Seine Mutter folgt ihm, und zwar ebenfals nach drey Tagen, von dieſem Todestage an gerechnet. Sie verbat indeſſen ſorgfaͤltig im letzten Willenalle133alle Beſichtigung nach ihrem Tode, um nicht durch ihr eigenes noch ein verkehrtes Herz mehr an Tageslicht zu bringen.

Herr v. G. erzaͤhlte dieſe interimiſtiſche Geſchichte; ich konnte, fuhr er fort, dem Candidaten nicht beßer antworten, als durch eine gleichmaͤßige Geſchichte von einem Jagdhunde, der ſich die Beine abgelaufen haͤtt, und ein Dachs geworden waͤre.

Und um dem Herrn Candidaten mit die - ſer Herzensgeſchichte, keinen Heller ſchuldig zu bleiben, fuͤgt ich noch vom Paradiesgaͤrt - lein den Umſtand hinzu, daß dies Werkchen oft und viel in Feuersgefahr geweſen; al - lein es verbrannte nicht nur ſelbſt nicht, ſchrie ich! ſondern es beſprach auch das Feu - er; es war eben ſo gut, als ein halb Du - tzend Feuerhaken, und ein Dutzend Schlan - genſpruͤtzen, und iſt alſo dies Paradiesgaͤrt - lein das wohlfeilſte Recept wider Feuersge - fahr. Probatum eſt

Der curlaͤndiſche Bedenker nimmt ſich die Freyheit, im erſten Abſchnitt ſeines cate - chetiſchen Unterrichts eine hiſtoriſche Erzaͤh - lung vorauszuſenden, was fuͤr Unruhe der Pietismus in der evangeliſchen Kirche vonJ 3Anfang134Anfang bis zur jetzigen Zeit erwecket, und da ſind viele Hoͤfe, Staͤdt und Flecken, wo dieſe Krankheit gewuͤtet, und nicht der Kin - der in der Wiege verſchonet. Auf dieſer Reiſe kommt er gluͤcklich und wohlbehalten nach Koͤnigsberg, und ruft ach! und wehe!

Was wuͤrd er aber jetzt rufen, ſagte Herr v. G.?

Der Herzens Candidat hatte verſichert, der jetzige Koͤnig von Preußen haͤtte das ganze alte Teſtament durch den Codicem Fridericia - num abgeſchaft, und das neue Teſtament durch eine Inſtruktion verkuͤrzet.

Als ob, ſagte mein Vater.

Ja wohl, ſagte Herr v. G.

und das war das letzte mal, daß ich als ob, und ja wohl, von ihnen hoͤrte.

Die Gewohnheit der Pietiſten, wo ſie ſtehen, oder liegen, oder ſitzen, die Haͤnde zu kreuzen und laut zu beten, brachten den Herrn v. G. und meinen Vater aufs Gebet.

Man kann wohl, ſagt er, wie Dioge - nes uͤberall eßen; allein nicht uͤberall beten.

Warum, erwiederte mein Vater, Iſt Gott nicht uͤberall?

Herr135
  • Herr v. G. Wenn Sie mir ſo kommen, Freund, ſo komm ich Ihnen ſo. Zugege - ben, Gott iſt uͤberall; allein wir ſollen an Gott glauben; durchs Gebet thun wir mehr, wir reden ihn an. Thun Sie das gegen irgend jemand, von dem ſie nur glauben, daß er da iſt?
  • Paſtor. Gott iſt nicht irgend jemand.
  • Herr v. G. Wenn Sie reden, muͤßen ſie ſe - hen nicht?
  • Paſtor. Der Blinde ſpricht, ohne zu ſehen, und ſind wir mehr in dieſem Verhaͤltniß?
  • Herr v. G. Der Blinde greift mit der Hand, eh er ſpricht, und das iſt ihm anſtatt des Sehens.
  • Paſtor. Und iſt Gott nicht handgreiflich, iſt er fern von uns, leben, weben und ſind wir nicht in ihm?
  • Herr v. G. Gott iſt ein Geiſt, und nicht ſo handgreiflich, als dem Blinden der Jemand, den er zur Rede ſtellt. Das Sehen iſt von der Anrede unzertrennlich. Wer uns nicht anſieht, wenn er mit uns ſpricht, was ſagen wir von dem? Um Ihnen mein Glaubensbekenntniß auf ein -J 4mal136mal abzulegen: wenn ich mit jemand re - den ſoll, muß ich leibhaftig ſehen; an Gott glaub ich, und ich kann ihn alſo nicht anreden.
  • Paſtor. Wir beten, um Gott und an Gott deſto feſterer zu glauben. Glaub und Gebet ſind ſich ſo nahe verwandt.
  • Herr v. G. lieber Paſtor! man nennt oft den einen Seher, der ohne zu ſehen ſich einbildet, daß er ſaͤhe. Das ſind Sie, mit Ihrer Erlaubniß, uͤber dieſe Lehre. Dem Glauben iſt das Wuͤnſchen angemeſ - ſen. Wuͤnſchen kann ich alſo! beten aber nicht.
  • Paſtor. Wuͤnſchen Sie ſich nicht, was Sie von oben herab beten, was Sie von Gott bitten?
  • Herr v. G. Recht Paſtor! allein ein Wunſch iſt nicht ein Gebet. Laßen Sie uns ins gemeine Leben gehen. Wenn ich in Ge - ſellſchaft ſag, ich wuͤnſche herzlich, daß Gott meiner Schweſter huͤlfe, wer findet dies nicht wohlanſtaͤndig! wer nicht bruͤ - derlich! Sie wiſſen doch, meine arme Schweſter kann ſich nicht nach dem Wo - chenbett erholen. Ich fuͤrchte, ichfuͤrchte!137fuͤrchte! Das Soͤhnlein chriſtlicher El - tern iſt vorausgegangen, und die Mutter werd ihm folgen!
  • Paſtor. Eine wuͤrdige Frau.
  • Herr v. G. Ein gutes Weib! Gelt! wenn ich, ſagt ich, wuͤnſche von meinem gan - zen Herzen, daß Gott meiner Schweſter huͤlfe; Sie wuͤrden mit wuͤnſchen, Paſtor.
  • Paſtor. Von Herzen der liebe Gott helf ihr!
  • Herr v. G. Wenn ich aber in einer großen Geſellſchaft die Haͤnde falt und wie aus der Piſtol anfange: lieber Gott! Du hilfſt, wenn nichts mehr helfen kann! ich bitte dich, hilf meiner Schweſter, der armen Kranken, die dir ſchon ihren Sohn geopfert hat. Sie lieget da in deiner Gewalt! ich wett es ſteht alles auf oder oder oder
  • Paſtor. Woher und warum? Vielleicht weil wir nicht gern mit dem lieben Gott in Ge - ſellſchaft ſind, weil wir, wenn ich ſo ſa - gen ſoll, manchmal unter uns ſeyn wol - len. Ey in der Kirche?
  • Herr v. G. Das nemliche, Paſtor! Euer einer kann zwar fuͤr meine Schweſter be -J 5ten,138ten, aber ſolt ichs in meinem Kirchen - ſtuhl? Paſtor, das nemliche! auf ein Haar das nemliche. Es geſchiehet zuweilen, daß einer von der Geſellſchaft in Privathaͤuſern ſich auf einmal gerade ſtellt, ein Paar Handſchuh anlegt, und Allerſeits anfaͤngt, wie es bey meinem Schwager v. W. nichts neues iſt; allein wie iſt ihnen dabey? Wenn aber dieſer Redner feyerlich eben herein tritt, und ſeine Rede fein zuͤchtig anhebt? Man ſchaͤmt ſich, wenn man eben ein Glaß in der Hand hat, man ſtelt es un - vermerkt an einen entlegenen Ort des Zimmers, ſo bald man Allerſeits hoͤrt, man ſieht den geputzten Redner, wenn man ihn auch noch ſo gut kennt, fuͤr ei - nen Fremden an, und hat nicht das Herz ſich gerade hin, ſondern ehrfurchtsvoll an ihn zu wenden. Dem Vater gehts ſo mit dem eheleiblichen Sohn. Der Sohn wird Vater, der Vater Sohn, wenn der Sohn redet, und der Vater hoͤret. Man ſieht den Saal als eine Kirche an, und den Sohn auf der Kanzel. Der Redner hats vollbracht; allein man traͤgt noch Bedenken, ſo gleich ein Glaß Wein mitihm139ihm zu verſuchen. Man iſt im Handgrif, den Hut fuͤrs Geſicht zu halten, womit man in unſrer Zeit den Anblick eines hei - ligen Orts bezeichnet.
  • Paſtor. Alſo nur Anſtand ins Zimmer ge - bracht, nur heilige Haͤnde, und Sie koͤn - nen fuͤr ihre wuͤrdige Schweſter beten, die Sie ein gutes Weib zu nennen be - liebten.
  • Herr v. G. Paſtor! wenn ich ganz rein her - aus ſagen ſoll; daß Euch das oͤffentliche Gebet kleidet, fließt aus dem frommen Vorurtheil, daß ihr in Gottes Dienſt ſeyd. Man glaubt, ihr ſehet Gott den Herrn, wenn ihr die Augen verdreht, ihr ſehet ihn, wie man ſieht. So lange wir aber Gott nicht ſehen, wie man ſieht, ſolten wir mehr als wuͤnſchen?
  • Paſtor. Redt man im Eifer nicht mit ſich ſelbſt?
  • Herr v. G. Mit ſich ſelbſt zwar
  • Paſtor. Auch mit andern ſo gar mit leb - loſen Dingen.
  • Herr v. G. Im Eifer! oder in Redfiguren?
  • Paſtor. Auch in Entzuͤckung, in Verle - genheit. Chriſtus verſchließt daher dasGebet140Gebet ins Kaͤmmerlein, weil uns da nie - mand hoͤrt. Die Idee iſt ſehr natuͤrlich, daß wenn uns kein Menſch hoͤret, Gott uns hoͤre. Dein Vater, der ins Verborgene ſiehet, ſpricht Chriſtus, wird ſich oͤffentlich an dir offenbaren. Das Gebet bringt uns den Glauben, daß Gott ſey, faſt bis zum Schauen. Das Gebet iſt der Spiegel, durch welchen wir im dunklen Ort Gott ſehen! Ihn ſe - hen! Wenn aber kommt das Vollkom - mene, wird das Stuͤckwerk aufhoͤren. Wenn mein Gebet eintrift; iſts mir ſo, als waͤr ich entzuͤckt bis zum unausſprechli - chen. Es iſt die Probe, daß mein Glaub an Gott richtig gerechnet, und die wahre Summe herausgebracht. Chri - ſtus, der Herr, kam unſerer Schwach - heit zu Huͤlfe. Auch was ohn unſer Ge - bet geſchehen waͤre, wenn es auf unſer Gebet geſchieht, hilft unſerer Schwach - heit auf. Kurz, das Gebet ſetzt den Menſchen mit Gott in Verbindung! Wer erzaͤhlt nicht gern, was er geſehen und gehoͤrt hat, und was geſchehen iſt? Wie viel hoͤrt, ſieht man, und laͤßt ge - ſchehen, blos um es erzaͤhlen zu koͤnnen! und141und wer hat nicht wenigſtens etwas, (mancher hat viel) ſo er vor ſeinem ver - trauteſten Freunde, ſeinem Weibe, ſei - nem Kinde, verbirgt?
    • (Der Herr v. G. laͤchelte, ich aber dacht an das Land, wo man fruͤher als in Curland Spar - gel ißt, den Wein bey der Quelle hat, und lange Manſchetten traͤgt, ich dacht an den Melchiſedech und )
    Mit ſich ſelbſt kan man nur kurz ſpre - chen. Das vor ſich muß noch kuͤrzer im gemeinen Leben, als nach den Regeln auf dem Theater ſeyn. Eigentlich ſolt es nur in Schreys, in Aufwallungen, in Silben, beſtehen
  • Herr v. G. Gott weiß alles, warum Zeit - verluſt?
  • Paſtor. Iſt es Zeitverluſt, ſich mit Gott bekannt machen, mit ihm umgehen, mit ihm reden?
  • Herr v. G. Ohne daß er antwortet?
  • Paſtor. O! Er antwortet! Laut ſchallt es in der Seele! laut
  • Herr v. G. Solch ein Hoͤrer hoͤrt aber, was tauſend andre nicht hoͤren. Er iſt mit dem Seher von einerley Art.
Paſtor. 142
  • Paſtor. Die Erfuͤllung unſers Gebets
  • Herr v. G. Die ohn unſer Gebet gekommen waͤre. Ich hab auf meinen Guͤtern einen alten Kerl, der, wenn er fuͤr ſeinen Fritzen betet, ihn dem lieben Gott auf ein Haar beſchreibt. Segne meinen Sohn, den Friedrich Emanuel, Gold - ſchmidt in Mitau, nah bey der Kirche, oben im Stuͤbchen zur rechten Hand. Freund, ſo iſt all unſer Gebet! Wir ſa - gen dem lieben Gott, was er beßer weiß, wir ſagen ihm alle, daß unſer Sohn ein Goldſchmidt in Mitau ſey, daß er Friedrich Emanuel heiße, nah bey der Kirche oben im Stuͤbchen zur rechten Hand wohnhaft. Mein ehrlicher Franz machts beßer! Der kauft ſich ein Gebet - buch, das er in ſeinen Kaſten verſchließt, und wenn er des Abends ſchlaͤfrig iſt, klopft er dreymal an den Kaſten, und ſagt Amen! Wie das Franz? ich denk, ſagt er, es iſt dem lieben Gott eins, wo er es heraus nimmt, ob aus dem Kaͤſtchen, oder aus dem Herzen: wenn nur das Amen dabey iſt. Lieber Pa - ſtor. Gott bedarf unſers Gebets nicht.
Paſtor. 143
  • Paſtor. Aber wir beduͤrfen des Gebets, wir! Wir ſollen alles mit Dankſagung empfa - hen, wir ſollen nicht vergeßen, daß alles von Gott komme!
  • Herr v. G. Er iſt der Herr Himmels und der Erden! Koͤnige wollen Bitte und Dank! Gott der Herr!
  • Paſtor. Gebet und Dank von anderer Art! Unſer Lallen, unſer Verſtummen iſt ihm mehr, als ein ſtudirtes Geplerr! Solch Gebet und Dank, als wir Gott widmen, verſtehen Koͤnig und Fuͤrſten nicht. Es iſt mir unausſtehlich, wenn meine Amtsbruͤder ſich phariſaͤiſch ein langes Ge - bet concipiren, und es ſich zehn und mehr - mal in ihrer Studierſtube vorſumſen, als ob der liebe Gott in ihrer Studierſtube nicht waͤre? und als ob ſie ihn blos in der Kirch auf einen Panegyrikus ein - geladen haͤtten? Chriſtus, der uns eine Vollmacht zu beten gab, und es uns in ſeinem Namen zu thun nachließ, will, daß wir als Kinder zum Vater treten. Hier liegt die ganze Lehre vom Gebet. Hochtrabende Gebete mit allen goͤttlichen Titeln! Studirte Gebete! wie ſehr die - ſer Idee entgegen? Der Mann be -tet144tet auf der Kanzel ſo vortreflich, heißt mit andern Worten: der Mann iſt ein falſcher Spieler!
  • Herr v. G. Iſts aber nicht kindlicher, ſich in Gottes Willen ergeben und ihm alles anheim ſtellen?
  • Paſtor. Das iſt Gebet. Das Vater unſer iſt bis auf die beſcheidene Bitte: Brod auf heute, Ergebung in den goͤttlichen Willen. Es iſt ein heidniſcher, allein ein uͤberdachter großer Vorſchlag wenn ein anderer betet, daß er ſeinen Sohn nicht verlieren moͤge; ſo bitte du, daß du dich nicht weigern oder fuͤrchten moͤgeſt, ihn zu verlieren Der Chriſt braucht dies nicht von Heiden zu lernen. Sein Herr und Meiſter lehrt es ihm. Wer ſo ſtark iſt, daß er nicht Worte braucht, bete mit der Seele, Geiſt zu Geiſt! Schwer - lich wird jemand, der von Jugend auf ſagen gelernt: Abba, mein Vater! ſich ohne Worte behelfen. Ein Wort, ein Wort, ſagt man, ein Mann, ein Mann; allein Lebens und Sterbens we - gen ſchreibt mans doch auf. Was dies Schriftliche beym Menſchen iſt, das iſt das Gebet bey Gott, es geſchehe, wiedie145die Theologen ſagen, mit dem Herzen allein, oder mit Herz, mit Hand und Mund!
  • Herr v. G. Gott iſt ein Geiſt, und die ihn anbeten, muͤßen es in Geiſt und in Wahrheit.
  • Paſtor. Luther ſagt von der Taufe: Waſſer thuts freilich nicht. Worte thun es auch beym Gebet freylich nicht. Das Gebet ſelbſt, was iſts ohne Handlungen? ohne gute Geſinnungen? Gehe hin, und verſoͤhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und bete, empfinde das in - nere Bewuſtſeyn dieſer guten That, und dieſes Bewuſtſeyn opfre Gott dafuͤr! dank ihm! Warum ſolten wir aber auch von einer ſo theuren Gab, als die Sprach iſt, Gott nicht die Erſtling opfern? Es giebt ein gewiſſes herzliches kindliches Denken, das durchaus in Worte ausbricht. Wir ſind und bleiben Menſchen! Das weiß der liebe Gott, der Engel kennt und Menſchen kennt. Er erlaubt uns gern, ein Woͤrt - chen mitzureden, wenn ſich unſer Geiſt zu ſeinem Schoͤpfer, dem Geiſt der Geiſter, emporſchwingt. Ich hab einen Stum -Zweiter Th. Kmen146men gekannt, der alle Morgen und all Abend an den lieben Gott ſchrieb.
  • Herr v. G. Paſtor! da wolt ich drauf wet - ten, das hat der liebe Gott recht gern geſehen
  • Paſtor. Weil eine kindlich Einfalt drinn iſt.
  • Herr v. G. Jeder wird ſeines Glaubens le - ben! Vielleicht ſolten wir nichts mehr, als das Vater unſer beten, wenig - ſtens iſt es das allervollkommenſte Gebet, wie ihr Herren ſelbſt ſagt. Warum ſolt ich etwas, das weniger vollkommen iſt, vorziehen?
  • Paſtor. Das nicht! wer kann aber das Va - ter unſer ſo oft beten und mit Andacht? So wie man Linien mit Bleyfeder zieht, damit die Kinder gerad ſchreiben, ſo Chri - ſtus mit dem Vater unſer. Ich ſpar das Vater unſer, bin darauf geizig, und thue mir ordentlich damit was zu gut. Alle Kubache haben mehr Schaden als Nutzen geſtiftet. Der gemeine Mann wird durchs Gebet aus dem Herzen klug, er lernt ſich faſſen, und wenn wir Volksgebete ſamm - len koͤnnten, Herzensgebete guter Men - ſchen, ich ſage, wenn wirs koͤnnten wie vortreflich wuͤrde dieſe lautere Milchſchme -147ſchmecken, wie wohl uns bekommen! Ein ſolch naifes Buch waͤr noch nicht in der Welt. Es koͤnnte nur blos vom Himmel fallen, um menſchlich zu re - den. Gott muͤßt es aus ſeinem himmli - ſchen Archiv herausgeben. Es waͤre das beſte Lehrbuch fuͤr Prieſter und Leviten, die vor Gelehrſamkeit nicht zu Gott kom - men koͤnnen. In Wahrheit, man kann von den meiſten Gelehrten ſagen, daß vor Rauch nicht Feur zu ſehen iſt! Meine Wuͤnſche werden indeſſen Wuͤnſche bleiben, weil Herzensgebete durchaus ins Kaͤmmerlein zu Hauſe gehoͤren.

Es fielen außer dieſem piiſſimo deſiderio noch mancherley pia deſideria vor. Es ward ſtuͤck - weiſe von Bitte, Gebet, Fuͤrbitte und Dank - ſagung gehandelt wovon ich aber vor jetzt nachzuhandeln bedenklich finde.

An den geneigten Leſer, und an den ungeneigten Kunſtrichter.

Dies Geſpraͤch iſt uͤber Pauſch und Bo - gen, wie mir alles war, was bey meinerK 2An -148Ankunft in dem Hauſe des Herrn v. G. vorfiel.

Mein Vater betete weniger, als er vom Gebet ſprach, und es gefiel mir ſeine Anmer - kung, die er zu einer Zeit machte, daß vom Gebet reden, auf gewiſſe Weiſe beten heiſ - ſen koͤnne. Wenn dieſe Anmerkung rich - tig iſt; ſo wird man faſt behaupten koͤnnen, es waͤr ohn Unterlaß in dieſer Geſchichte ge - betet worden. Dieſes Geſpraͤch haͤtt, ich geſteh es, uͤberſchlagen werden koͤnnen, ich wolt indeſſen ehrlich bey dieſer Sache ver - fahren, und ſo, wie in der ganzen Schrift verfahren iſt. Des ungeneigten Kunſtrichters wegen (der geneigte Leſer wird es ſo genau nicht nehmen) muß ich anfuͤhren, daß dieſes alles und jedes nach der Tafel an dem Tage vorgefallen, da wir nach zum Herrn v. G. kamen, und zwiſchen Herrn v. G. und meinem Vater eine Koppelweide bruͤderlich verabredet ward, und da dieſer Vergleich mit einem aͤchten Glaſe Wein aus einem Schauer begoſſen ward, und wo ich, quod bene no - tandum, alles uͤber Pauſch und Bogen ſah und hoͤrte; wovon der Schluß dieſes Ge - ſpraͤchs einen hinreichenden Beweis zu geben im Stand iſt.

Dies149

Dies iſt alſo das Datum zum Gebetsgeſpraͤch, zur Frage wohin?

  • Zur Antwort: Koͤnigsberg vor der Hand, der Pietiſterey des Codicis Fridericiani und der Inſtruktion unerachtet, Koͤnigsberg vor der Hand. Goͤttingen nach der Hand.

Dies nach der Hand aber, ſag ich meinen Leſern ins Ohr, wie ich es mit mancher Nach - richt aus gutem Herzen gemacht habe.

Herr v. G. wolte nicht, daß wir den an - dern Tag zeitig unſre Reiſ antreten ſolten.

Große Reiſen, ſagt er, immer nach Mittage. Tagereiſen fangen des Morgens an. Er war ſehr kurz in den Ermahnungen an ſeinen Herrn Sohn.

Er rieth ihm nach Anleitung meines Va - ters an, lebendige Thiere zu halten. Sein theurer Herr Sohn hatte ſchon, wegen des Satans, den er gern mitgenommen haͤtte, eine abſchlaͤgige Antwort erhalten, und war alſo ſeine etwas ſtoͤrriſche Frage ſehr natuͤrlich: Was fuͤr Thiere? Der junge Herr v. G. hielt den Hund fuͤr einK 3Com -150Compendium aller nuͤtzlichen Thiere, fuͤr ein lebendiges Thier κατ̕ εξοχὴν.

Noch eine andere Bemerkung, eh ich die Antwort auf die ſtoͤrriſche Frage: was fuͤr Thiere? mittheile: es hatte der gute Herr v. G. der aͤltere viele Huͤner. Aus ſeinem geſchmackreich gebauten Huͤnerhaͤuslein, und der Weiſe des Herrn v. G., ſie ſelbſt zu fuͤt - tern, haͤtte man ſchluͤßen ſollen, daß er das alte Wahrſagerprincipium angenommen, und daß er aus der Begierde, womit die Huͤner fraßen, ſo, daß die Koͤrner auf dem Boden herum tanzten, Gluͤck oder Ungluͤck ſagen koͤnnte.

Huͤner, antwortete der Herr v. G. ſei - nem Sohne. Alles was Othem und Leben hat, zieht an, fieng ich an. Die Sympa - thie hat im Othem ihren Hauptſitz. Im Othem iſt Leben und Tod.

Der Herr v. G. der aͤltere loͤſete mich ab, und wandte ſich zu ſeinem Sohne.

Du wirſt bey deinen Huͤnern bleiben, wenn du dir Huͤner anſchaffeſt und meinen Rath befolgſt, du wirſt mancher Geſellſchaft eine abſchlaͤgige Antwort geben. Der Satan haͤtte dich zur Jagd verfuͤhrt, ob er gleichauch151auch Othem hat, und mit dir ſympathiſirt, auf der Akademie keine Jagdhunde!

In Pohlen halten ſich einige Familien ein Paar, um die Teller zur zweyten, dritten und vierten Schuͤſſel ſtehendes Fußes rein lecken zu laſſen. Das wirſt du nicht noͤthig ha - ben. Die Reinlichkeit hat man uͤberall um - ſonſt.

Haſt du Huͤner und Tauben, fuhr er fort, und hat der Wirth ein Gaͤrtchen beym Hauſe, verdople die Miethe. Jeder Menſch muß einen Zeitpunkt in ſeinem Leben haben, wo er zu Hauſe bleibt. Laß dir den Vorfall mit deiner Braut, der lieben Kleinen, zur Lehre dienen, und thue der Jagd einen Poſſen, und ſchieß und hetz in drey Jahren nicht. Converſation iſt dem Studieren und ſelbſt der Lektuͤr ſpinnefeind. Vergeßt nicht, (ſein Blick traf uns beyde) daß ihr aus einem freyen Lande ſeyd. Die Monarchie hat viel verfuͤhreriſches; allein Sie verſaͤuret das Herz, ſie nimmt Seel und Gewiſſen in Beſchlag. Ein Monarch! Ja, was ſo ein Herr nicht alles thut! Wunder uͤber Wunder! Es iſt aber auch darnach. Das leichteſte Stuͤckchen Brod iſt es, das Gott giebt. Sie ſaͤen nicht, ſie erndten nicht,K 4wie152wie die Lilien auf dem Felde, und Gott naͤhret ſie doch. Der Paſtor, ihr Vater, (Herr v. G. der aͤltere wandte ſich zu mir) der mich ehegeſtern beten gelehrt, wird mich nie, nie dahin bringen, in dieſer Ruͤckſicht etwas an - ders zu beten, als daß Gott der Herr Cur - land wo moͤglich noch unabhaͤngiger mach, als es jetzt Gott ſey Lob und Preis ſchon iſt! Je unabhaͤngiger, je mehr Gott aͤhnlicher. Ich hab einen Franzoſen gekannt, der von Curland ſagte, das elendeſte Land, das ich kenne! Man kann im Sommer nicht ſeinen Winterrock verſetzen. Das Wetter wechſelt wunderlich. Du guter Schlucker! Ich will dir dein Land und deinen allerchriſt - lichen Koͤnig laſſen. Gott ehr mir mein ſchlecht und rechtes Haus, wo manche prie - ſterliche Schwalbe niſtet. Du ſolſt ſo viel Freyheit haben, wie ich gutes Ding Wohl - ehrwuͤrdiger Vogel! Seht nur Kinder! wie die mich da eben anſieht! ich kann den Schwalben nichts nachſagen, und außer dem Umſtande, daß ſie den Todtengraͤber Tobias blind gemacht, weiß ich nichts boͤſes von ihnen!

Preußen hat einen gebohrnen Koͤnig, den man nicht X vor U machen kann, derkoͤnig -153koͤnigliche Gaben hat; allein roth, blau und gruͤn, machen ſchwarz, kohlſchwarz. Gern haͤtt ich den Herrn v. G. gebeten, mir dieſes Raͤthſel zu loͤſen; allein er hielt inne.

Nach einer Weile fuhr er fort: der Staat, dem ihr zueilt, hat ich geſteh es, einen Philoſophen und einen Koͤnig zum Beherrſcher. Er hoͤrt jeden, er ſieht jeden, er hilft ſo weit ſeine lange Koͤnigshand es kann. Jeden! und es iſt mir ordent - lich bange, daß er euch die Monarchie in ei - nem zu vortheilhaften Lichte zeigen werde. Pruͤfet alles, und das Gute behaltet. Eine Schwalbe macht keinen Sommer!

Die Monarchen ſolten nur angeloben zu hoͤren, phyſiſch zu hoͤren; allein thun ſie es? Sie meßen ihre Superioritaͤt nicht mit ih - ren allerunterthaͤnigſten treugehorſamſten Knechten, ſondern mit andern Monarchen, und da mag der Teufel Unterthan ſeyn. Sie haben keinem Rechenſchaft zu geben, als dem lieben Gott in der andern Welt, und den Poeten und Geſchichtſchreibern in dieſer. Die letzten haben nicht aufs Recht geſchwo - ren, und nehmen Geſchenk an, und mit dem lieben Gott hats Zeit genug, daß ſieK 5Ihm154Ihm im Titel den Rang laßen! Kommt Zeit kommt Rath.

Der Herr v. G. der aͤltere hielte dieſe Anrede mit einer unausſprechlichen Waͤrme, Er ſchien im Ernſt zu fuͤrchten, wir wuͤrden uns in Preußen werben laßen, und Koͤnig - ſche werden.

Noch muß ich bemerken, daß er ſich waͤhrend der Zeit, da er Curland prieß, aufs gruͤne Gras geworfen hatte, als wenn er der freyen Erde ſeinen Dank ablegen und ſie umarmen, umfaßen wolte. Es ſchien, da er geendiget hatte, als beſorg er, nicht aufſtehen zu koͤnnen.

Dies bewog den alten Herrn, ihm un - ter den Arm zu greifen; allein Herr Herr - mann kam beym Herrn v. G. jederzeit zu kurz, er mocht es anlegen, wie ers wolte. Es riß Herr v. G. den allzeit dienſtfertigen Herrmann auf Gottes Erdboden. Da lag mein Schwiegervater ſo lang er war. Herr v. G. ſtand auf, ſo friſch als ein Juͤngling von funfzehn Jahren. Es war bey die - ſem Niederriß nicht Gewaltthaͤtigkeit, ſon - dern nur Staͤrke. Es war ſchoͤn anzu - ſehn!

Den155

Den Abſchied durchaus im Freyen! Er verfliegt eher, ſagte Herr v. G. Es ward auch im Freyen Abſchied genommen. Wolte Gott, fuhr Herr v. G. fort, wir koͤnnten auch ſo den letzten Abſchied nehmen, und im Frey - en ſterben, und warum ſolten wir es nicht? Wo iſt uns am meiſten Gutes geſchehen? Der Geiſt ſucht das Freye, und wird dort nicht wohnen in einem Hauſe mit Men - ſchen Haͤnden gemacht. Der Tod wuͤrde nur halb ſo ſchwer ſeyn. Wahrlich der Menſch entzieht ſich zu ſehr der Luft, und zieht eben dadurch Leib und Seel eine Art von Stockung zu. Ward unſer Geiſt denn nicht, wenn er das Freye ſucht, ſchon ent - zuͤckt, obgleich ihn der Leib wie ein Bleyge - wicht zur Erde zog!

Die Frau v. G. hatte noch viel auf ih - rem Herzen; indeßen empfahl ſie ihrem Soh - ne das Alter zu ehren, und es macht ihr viele Muͤhe, die Sache endlich zu drehen, wohin ſie ſie wolte. Sie ſagte, daß ſie fuͤr einen alten Baum, fuͤr einen alten Mann, (an eine alte Frau dachte ſie nicht,) und fuͤr eine alte Familie große Hochachtung haͤtte.

Alſo156

Alſo auch fuͤr eine alte Familie: Ein neuer Edelmann, ſetzte ſie, um es noch ein - druͤcklicher zu machen, hinzu, iſt ein Baum, der noch nicht die Blattern gehabt, der noch nicht oculirt iſt. Weiter lies ſie ihr Ge - mahl nicht, das paßt, ſagt er, wie die Fauſt aufs Auge, und in Wahrheit, du weißt nicht, wer Koch oder Kellner iſt.

Von der Frau v. W. wieder einen Blick von ihrer liebenswuͤrdigen Tochter ein Laͤcheln. Leben Sie wohl und gluͤcklich, ſagte die Frau v. W., und gluͤcklich! hall’te die liebe Kleine nach. Die Worte fielen auf den jungen Herrn v. G.; allein das Aug auf mich.

Ich weiß nicht, wer auf den Gedanken kam, daß mein Reiſegefehrt ſeiner kleinen Braut einen Kuß geben ſolte. Ihrem Ret - ter auch einen, ſagte Herr v. G., und die Frau v. W. als wenn ſie darauf gewartet haͤtte, freylich kleine Undankbare, das ſolteſt du von ſelbſt thun ich nahm mich ſehr un - geſchickt dabey. Die arme Kleine ward roth uͤber roth und da ich mich zum letzten - mal gegen ſie beugte, trat ihr eine Thraͤn in ihr blaues ſchoͤnes Auge, welches ſo durch - ſchimmerte, wie ein Veilchen durch ein Thau -troͤpf -

[figure]

157troͤpfchen. Gott ſegne die gute Frau v. W. und ihre Tochter, dacht ich, und den Herrn v. G., der mir zum Kuß verhalf, und zu der ſchoͤnen Thraͤne!

Jetzt war die Reih an den Herrn v. W. und den Herrn Herrmann. Ich hatte ſchon eini - gemal mich an den Herrn v. W. gewendet; al - lein er hatt es ſehr hoͤflich verbeten, weil es wie er ſich auszudruͤcken gefaͤlligſt beliebte noch nicht an ihn waͤre.

Er umarmte meinen Reiſegefehrten und that mir, wie wohl mit ſteifen Arm, eine gleiche Ehr an. Hiebey macht er, (weil es eine Abſchiedsumarmung war,) ein grißgraͤmiſches Geſicht.

Bey meiner Umarmung weniger,

Bey des jungen Herrn v. G. mehr.

Der Herr v. G. der aͤltere ſagte, Herr Bruder, du ſiehſt ja aus, als ob du vom verbotenen Baum gegeßen haͤtteſt!

Laß mich, ſagt er, und that ſo peinlich, als verloͤr er ein Glied vom Finger.

Es iſt, fieng er an: Es iſt er unterbrach ſich wieder mit einem tiefen Seufzer.

Es iſt mein Herr Schwiegerſohn, brach er endlich heraus, und die heißeſten Wuͤn - ſche, daß der große Gott ihn auf ſeinen Rei -ſen158ſen begleiten, ſeine Studien zu ſeiner Ehre und des Vaterlandes Nutzen ſegnen, und ihn zu ſeiner Zeit in die Arme ſeiner kleinen Braut geſund zuruͤckbringen wolle! Das, das iſt ein Theil, der kleinſte, von der Em - pfindung.

Zieh ein Paar weiße Handſchu auf, ſagte Herr v. G., ſolch eine Rede verdient es, deine Briefe ſind all auf Poſtpapier mit verguldetem Schnitt und

Dieſer Eingrif war ſehr erwuͤnſcht, um den Herrn v. W., der viel zu leiden ſchien, zurecht zu bringen. Ich bin ein Diener der deutſchen Sprache, ſagt er, Herr Bruder! allein ein gewißes je ne ſais quoi ſuch ich in Gedanken, Geberden, Worten und Wer - ken.

Das iſt auf deutſch, du ſuchſt nichts, rein nichts, erwiederte der brave Herr v. G.

Mir konnte Herr v. W. nichts mehr ſa - gen, als Dank! und tauſend Dank! Sein Compliment war noch nicht ausgeknetet.

Du haſt mich geſtoͤrt, ſagt er zum Herrn v. G., wie ehegeſtern die Waldhoͤr - ner. Das wundert mich, fiel ihm Hert v. G. ein, du faͤhrſt ja ſonſt immer mit fuͤnfRaͤdern,159Raͤdern, auf allen Fall, eins aufgebunden du haͤtteſt ja das fuͤnfte abbinden koͤnnen.

Der alte Herr drengte ſich vor, um mich vor aller Augen zu kuͤßen. Ich that es, die - ſer Schwachheit unerachtet doch, und das ganz ehrlich, ich entzog ihm nichts.

Gruͤßen Sie, ſagt ich ihm

ich werd, erwiedert er.

Ich. tauſendmal

Er. tauſendmal

Dieſer Gruß gehoͤrte nicht Vater, nicht Mutter, ſondern blos Minen, blos ihr, alle tauſend ihr, all ihr. Mir kam es vor, daß der alte Herr es fuͤhlte, wen es galt, und fuͤr dieſes Gefuͤhl druͤckt ich ihm die Hand, und er ſchien uͤberaus mit mir zufrie - den zu ſeyn, ich ſagt ihm noch ganz leiſe, tauſendmal, tauſendmal!

Herr v. G. ſah mich an, und ſein Blick wolt in Beziehung auf meinen herzlichen Ab - ſchied vom alten Herrn ſagen: junger Menſch, dir fehlt Erfahrung! Man ſiehts; ſonſt wuͤr - deſt du den Herrmann ſo nicht herzen und kuͤſſen, den ich nur eben koͤrperlich zur Erde riß, mit ſeiner Seele mach ichs all Augen - blick ſo, der gute Herr v. G. irrte dies -mal160mal mit dieſer Gebehrde. Zwar hatt er, wie meine Leſer ſo gut wiſſen als ich, einen naturfindenden umfaſſenden Blick, daß er aus dieſem Abſchiede haͤtte wiſſen koͤnnen und ſollen, Herrmann hab eine Tochter, deren Freund, deren Seelenmann ich ſey allein diesmal fand er nicht den rechten Weg.

Die Frau v. G. konnte ſich nicht des La - chens erwehren, da ſie meinen Feldkeſſel, den mir mein Vater mitgeben laſſen, und den meine Mutter nicht zu kennen die Ehre hatte, (ſonſt waͤr er gewis nicht mitgekommen,) aufbinden ſahe. Der junge Herr v. G. hatt alles nach Jagdmanier, als ob er auf eine weite Jagd ſich begeben ſolte, obgleich der Herr v. G. der aͤltere den Satan ſeinem Sohn abgeſchlagen und ihn verſichert hatte, daß jeder Menſch einen Zeitpunkt in ſei - nem Leben haben muͤßte, wo er zu Hauſe bleibt. obgleich er ihm die Jagd wohlmeynend wie - derrathen, und ihm Huͤner empfohlen, um nach der Meynung meines Vaters etwas, was Othem hat, um und neben ſich zu haben.

Obgleich ſo war doch der Sohn wie Jaͤger ausſtaffirt!

Der161

Der gute Herr v. G. der aͤltere that dies in ſeiner Unſchuld! Seht da einen Original - zug von Curland, dem Herr v. G. der aͤltere nicht ausweichen wolt und konnte. Die gruͤne Farb iſt Trumph.

Herr v. W. ſchlug eine Begleitung aus Hoͤflichkeit vor; allein Herr v. G. verbat ſie nachdruͤcklich. Es blieb alles ſo lange ſte - hen, als es uns ſehen konnte, und da wolt ich wetten, Herr v. W. noch ein wenig laͤn - ger.

Sobald wir ihrem Nachblick entfahren waren, kuͤßte mich mein Reiſegefehrt von freyen Stuͤcken herzlich. Wir wollen uns einander alles ſeyn Vater und Mutter, ſagt er ich ſeufzete, denn ich dacht an Minchen.

Wir langten in der Haupt und Reſidenz - ſtadt Mitau an, um hier mit einem Koͤnigs - bergſchen Fuhrmann, (man nennt derglei - chen Leute Rigaſche Fuhrleute,) die Fahrt bis Koͤnigsberg zu verabreden. Ich fand in dem Fuhrmann und ſeinem Untergebenen ein Paar ſo geſunde und ſtarke Menſchen, daß ich wohl einſahe, wie man auch im mo - narchiſchen Staat, der Ermahnung des Herrn v. G. auf dem curſchen Graſ unerachtet,Zweiter Th. Lſeinen162ſeinen ſtattlichen Schritt haben, gerade aus - ſehen und ſich wohl befinden koͤnne. Ich konnte nicht aufhoͤren, dieſe Menſchen zu fragen und ſie anzuſehen, ſo daß ich die Haupt - und Reſidenzſtadt Mitau daruͤber vergaß, die am Ende auch nur zur Johanniszeit unter die ſichtbaren gehoͤrt und gewis unter den ſichtbaren nicht die vornehmſt iſt. Um Jo - hann iſt eine allgemeine Wallfahrth nach Mi - tau; dann laͤßt der Edelmann in Begleitung eines Theils Bauren die Eßwaaren, und ſo gar Meubles, an dieſen Johannisort nach - bringen. Dem Vorreuter iſt auf dem linken Arm ein Silberblech aufgeneht, worauf das hochadliche Wapen ſteht, um Mitau Ehre zu machen.

Ich hatte mir, die Wahrheit zu ſagen, einen zu großen Begrif von Mitau gemacht, woran meine Mutter zum groͤßten Theil Schuld war. Dies bitt ich zu den preußi - ſchen Leuten hinzuzurechnen, um das unbe - traͤchtliche Intereſſe herauszubringen, das ich an Mitau nahm. Das vom Herzoge Ernſt Johann angelegte Schloß, wozu 1738 den vierzehnten Junius der Grundſtein gelegt worden, und welches in die Stelle des alten ſeit 1269 geſtandenen verwuͤſteten errichtetwor -163worden, ſtand da zum glaͤnzenden Beweiſe, daß Plan und Ausfuͤhrung, Verlobung und Hochzeit, zweyerley ſind. Dieſe Betrach - tungen fuͤhrten mich zu Minen, und was fuͤhrte mich nicht alles zu ihr?

Meine Mutter wuͤrd es mir ſehr ver - dacht haben, daß das anſchauende Erkennt - niß meinen Begrif von Mitau ſo ſehr herab - geſtimmet. Wohnet denn, wuͤrd ohn In - tegralrechnung ihre Bemerkung geweſen ſeyn, wohnet denn nicht der Herr Superinten - dent hier?

Mein Reiſegefehrt war im Mittelpunkt und konnte nicht aufhoͤren zu ſehen. Mie - tau ſchien ihm

terrarum Dea gentiumque Roma,
cui par eſt nihil & nihil ſecundum.

Die Hauptſtadt der Welt! obgleich es nicht Johann war. Die Reſidenz iſt fuͤr jeden Edelmann das Treibhaus im kalten Cli - ma. So wie’s Arzeneyen giebt, die nur durch das heilige himmliſche Feuer der Son - ne gekocht, gebleicht und getrocknet werden koͤnnen; ſo iſt auch die Reſidenz die Inſola - tion in Abſicht des Edelmannes. Mein Rei - ſegefehrt empfand alle Nepos wollas, die erL 2in164in ſeinem Leben geben wuͤrde: und Adam haͤtte nicht auf die Schwangerſchaft von al - len Seelen, die in ihm lagen, ſo ſtolz ſeyn koͤnnen, wenn man ihre Fortpflanzung per traducem ſich traͤumet, wie Herr v. G. auf alle Nepos wollas, als die Inſignien eines Edelmannes in Pohlen und Curland. Was iſt denn, fieng ich an, in Mitau? Man muß es in Johann ſehen, erwiedert er! Denn iſts illuminirt, erwiedert ich, und wenn die Lichter ausgebrannt ſind, was iſt’s denn? Kennſt du ein Johannswuͤrmchen, fragt ich zur Wiedervergeltung? ich will es dir praͤſentiren. Es iſt ein Wuͤrmchen gruͤnlicht auf dem Bauch. Hier hat es auch ein kleines Blaͤschen, welches einen gruͤnlichen hellen Glanz wirft, ſo bald dies Blaͤschen ſich einzieht weg iſt ihr Glanz. Die Exiſtenz dieſes Wuͤrmchens waͤhret nur einige Sommernaͤchte. Mein Reiſege - fehrt lachte ich mochte nun denken, daß der Superintendent in Mitau ſey oder nicht; ſo war es mir doch ſo, als ob ich nicht in Curland, ſondern da zu Hauſe gehoͤre, wo man fruͤher Spargel ißt, eine Pfeife in der freyen Luft raucht, den Wein bey der Quelle hat, und lange Manſchetten traͤgt. KeinWun -165Wunder alſo, daß Mitau nicht meine Re - ſidenz war. In Curland gehoͤrt ich in un - ſerm Paſtorat und auf dem Gute des Herrn v. G. zu Hauſe. Ueberhaupt ſchei - nen die Curlaͤnder zu keiner Stadt Luſt und Liebe zu haben. Sie gehoͤren aufs Land, wo ſie auch Geſchmack anzubringen wißen. Sie ſind geſtiefelt und geſporet, und es laͤßt keinem Curlaͤnder, wenn gleich er ſich in Un - koſten ſetzt, und Schu und Struͤmpf an - legt. Sie ſind gebohrne Cavalleriſten. Wenn ſie geputzt ſind, muß es ihr Pferd auch ſeyn. Ich hab allerliebſte Reit - und Jagdkleider in Curland geſehen, die Mitgabe meines Reiſegefehrten kann hier zum Belag dienen, unerachtet ſein Herr Vater durch - aus keinen Jaͤger auf der Univerſitaͤt haben wolte, ſeinem Sohn den Satan abſchlug, und unter lebendigen Thieren die Huͤner in Vorſchlag brachte.

Unſere Preußen verzoͤgerten uns beynahe zwey Tage, ehe wir endlich die curſche Re - ſidenz verließen. Das herzogliche Schloß hat ſo wenig Verhaͤltniß zu dem uͤbrigen Theil der Stadt, als das mitauſche Pflaſter zur Regelmaͤßigkeit und Ordnung. In Wahrheit, wenn man die Nation beſchrei -L 3ben166ben wolte, muͤßte man Mitau beſchreiben. Ich fiel auf den Gedanken, indem ich dies niederſchrieb, ob nicht jede Reſidenz das Land im verjuͤngten Maasſtabe ſey, allein ich habe mich geirrt; es giebt ſo viel Ausnahmen, ſo viel ungerathene Soͤhne bey dieſer Regel, daß die Regel ſelbſt den Mutternamen Regel nicht verdient. Unter dem Alltaͤglichen, was auf der Reiſe vorkommt, fielen mir die armen Menſchen auf, die an Hecken ſitzen, und ſie den Reiſenden oͤfnen. In Wahr - heit, dacht ich, das koͤnnen nicht alles Leute von niedriger Geburt ſeyn. Ich ſah einen alten Mann in einem dergleichen Diogenes - haͤuschen am Heck, der einen ſo vortrefli - chen Kopf hatte. Das war wenigſtens ein Litteratus! und wo anders ſah ich ein armes krankes Weib, die in der groͤßten Be - hendigkeit aus ihrer Behauſung kam, und Hand ans Werk legen wolte; allein kraͤm - pfigte Zufaͤlle laͤhmten ihr ſtehendes Fußes die Hand. Es war ruͤhrend anzuſehn. Die Preußen wolten ihr keinen Schilling ge - ben, weil ſie ein altes Weib war, und der Kraͤmpfe wegen das Heck nicht oͤfnen konn - te; ich entſchaͤdigte ſie zwar, allein ich mußte die Entſchaͤdigung auf Gottes Acker, auf dieErde,167Erde, werfen. Nicht Geld konnte ſie halten. Dafuͤr ward ich im Wagen aus - gelacht und wer weiß, was noch der Kritikus thut?

In Wahrheit, wenn ſich jemand finden ſolte, die Lebenslaͤufe aller dieſer Ungluͤck - lichen in Diogeneshaͤuschen zu ſchreiben, auf einer Reiſe, die freylich nicht durch die Welt ſeyn duͤrfte, wie ohnedem noch niemand gereiſet iſt; gewiß er waͤr ein vortreflicher Schriftſteller, und wuͤrde geleſen werden, bis an den lieben juͤngſten Tag.

Ich hatte, um mir eine Bewegung zu machen, den Wagen verlaßen, und hiezu kam noch dankbare Empfindung gegen mein freyes Vaterland, die ich unmoͤglich ſitzend aushalten konnte. Ich ſahe die Graͤnzſchei - dung, und da ich eben einen gruͤnen Platz fand, beredet ich meinen Gefehrten, Cur - land zu umarmen. Wir legten uns hin, ſo lang wir waren. Der Wagen fuhr langſam weiter, ſo unvermerkt, wie aus ei - ner Monarchie Despotiſmus wird, wenn ſie es nicht ſchon an ſich iſt, woruͤber die Gelehr - ten noch uneins ſind.

Lebe denn wohl! herzlich geliebtes Va - terland! Ich danke dem Himmel, daß deinL 4freyer168freyer Boden das erſte war, was mein Fuß betrat. Das fuͤhl ich noch! noch! daß er frey war, und ich wuͤnſchte, meine Leſer moͤchten es auch, wo nicht uͤberall, ſo doch wenigſtens an einigen Stellen gefuͤhlt haben! Natur und freyer Staat ſind Geſchwiſterkind, und vertragen ſich wie Kinder! Etwas reine klare Natur muß bey jedem Werk der Kunſt ſeyn, und dies etwas eignet ſich See - lenwuͤrde zu, es iſt Seele, es iſt goͤttlicher Hauch, lebendiger Othem in die Naſe. Die Kunſt, die Verſchoͤnerung, iſt Leib. Man kann in Wahrheit auch die Menſchenſee - le durch den Menſchenkoͤrper verſchoͤnern. Nur leider heut zu Tage wird der Koͤrper nicht verſchoͤnert, ſondern geſchwaͤcht. Ich leugn es nicht, daß dadurch, daß der auswendige Menſch gelitten, der inwendige Menſch zum Theil zugenommen, wir haben mehr Seele und weniger Koͤrper bekommen; es fraͤgt ſich aber, ob wir gewonnen oder verloren ha - ben? Wir haben aufgehoͤrt zu genießen, und haben angefangen zu denken!

Wer lacht, macht zu lachen: wer weint, macht zu weinen. Denn es giebt kein ge - faͤhrlicheres Thier, den Affen ſelbſt nicht ausgenommen, als den Menſchen, alleinwer169wer darſtellt, wer handelt, und handeln laͤßt, bereitet ein Lachen von ganzem Herzen, von ganzer Seele, und von allen Kraͤften, und auch ſolch ein Weinen. Wer im ge - meinen Leben keinen Blick hervorlacht, ſon - dern nur durch ſein Handeln mit Fleiß zum Lachen Gelegenheit giebt, iſt komiſch im ho - hen Grade! Und in Wahrheit, ein verſtohl - nes Ach gilt mehr, wenn man darauf vor - bereitet iſt, das iſt, wenn man leiden geſe - hen, und es nicht blos gehoͤret, als eine Suͤndfluth von Thraͤnen. Pruͤft nach die - ſen Angaben die Dichter alter und neuer Zeit. Ich fuͤr mein Theil wolte hier nur ſagen, ſo wie Darſteller vom Selbſtlacher und Selbſt - weiner unterſchieden iſt; ſo wie Werk vom Wort, ſo monarchiſcher Staat vom Freyen. Wer es faßen kann, der faß es.

Ich merk es, daß ich meinem gruͤnen Platz entlaufen bin! und will mich gleich wieder, ſo lang ich bin, hinſtrecken, um mein Vaterland zu Ende zu ſegnen. Der Menſch iſt zum Scheiden geboren. Ster - ben lernen und philoſophiren, iſt von je her fuͤr einerley gehalten worden; denn in Wahr - heit, dieſe Welt iſt entweder ein Vorberei -L 5tungs -170tungsort, oder wir ſind die elendeſten unter allen Geſchoͤpfen! Drum nehm ich ſo gern Abſchied auf die Art, wie vom Vaterlande, wenn ich ſchon weg bin. Ich empfand warlich mehr, als ich ſagen kann, und was noch mehr, als ſagen iſt: ſchreiben kann. Noch wo ich gruͤn ſehe, kommt mir vor, als ſaͤh ich Freyheit. Seht! was ich die - ſem Scheidewaͤndchen zwiſchen Curland und Preußen, und dem gruͤnen Fleck, auf dem Herr v. G. der aͤltere uns belehrte, daß wir Curlaͤnder waͤren,

zu verdanken habe! ich wuͤnſch allen Koͤnigſchen, wes Standes und Geburt ſie ſeyn moͤgen, ſonder Argliſt und Gefehrde, etwas Gruͤnes, damit ſie wenigſtens einiger - maaßen wißen, was Freyheit ſey? Monar - chiſcher Staat iſt wie eine Lanze, oben klingt es, unten iſt Holz, wie ein Kegelſpiel, das die Kugel nicht trift. Was Se. Ma - jeſtaͤt nicht allerhoͤchſt eigenhaͤndig faͤllt, das thun die fallende Kegel, einer wirft den an - dern mit. So wie geſteiftes und unge - ſteiftes Kleid, ſo Monarchie und freyer Staat. Hier ſtammen wir in gerader Linie von der Mutter Natur ab; dort hoͤchſtens von der Seitenlinie. Im monarchiſchenStaat171Staat waͤchſt, was noch in die Hoͤhe ſchießt, wie eine Bohne an der Stange. Im freyen Staate, ſagt man, ſind die Menſchen wild, das heißt mit andern Worten: im monar - chiſchen Staat ſind die Menſchen, Menſchen. Warum denn alles nach der Regel de tri? Ein Koͤnigſcher, ein Unterthan, iſt ein zah - mes Thier, das aus der Hand frißt, und nicht weis, was es erſt thun ſoll, ob freſ - ſen? oder die Hand kuͤßen? Er ſitzt beſtaͤn - dig auf den Tod, und wartet nur auf den Appetit ſeines allergnaͤdigſten. Ruft nicht Penſionairs! Im freyen Staat iſt wenigſtens eben ſo viel Sclaverey, als Freyheit. Dies hat mir Herr v. G. beßer gelehrt, der mei - nes Wißens keine Penſion zog. Wo Wai - zen waͤchſt, waͤchſt Unkraut, und je beßer der Boden, je beßer ſchießt beydes hervor. Die ganze Natur iſt fuͤr und wider ſich, alles kreutzt ſich in der Welt, Voͤgel und Aeſte. Was ſich neckt, das liebt ſich. Seht da wieder Natur im freyen Staat, Homerſche, Schakeſpaͤrſche Natur! Das Lobopfer, das ihr der Monarchie bringt, ihr Profeßores Poeſeos! was iſts? Erbau - liche Gedanken neben einer Hecke, die eben gekoͤpft iſt, auf die Melodie: Nun ſich derTag172Tag geendet hat, und keine Sonn mehr ſcheint.

Lebe wohl, herzlich geliebtes Vaterland! Du haſt mich gelehrt, die Freyheit ſchaͤtzen, obgleich du ſelbſt bey weitem noch nicht frey biſt, ſondern dich zu Pohlen verhaͤlſt, wie ein Aufſchlag zum Kleide. Frevelhafte Beſchuldigung iſt es, daß man in deinem Schoos wie eine Flinte ſey, die nicht mehr, nicht weniger knallt, es fall ein Sperling oder ein Menſch, nach Gottes Bilde ge - macht. Es giebt monarchiſche Staaten, wo man ſich uͤber den Kopf eines Moͤrders wenigſtens zwoͤlf Monate bedenkt, ſo, daß das Publikum die Verbindung zwiſchen Ver - brechen und Strafe vergißt, und der Paſtor loci recht gemaͤchlich Gelegenheit nehmen kann, den Geiſt und Kraft der Religion an dieſem Boͤſewicht ad oculum zu demon - ſtriren. Alle Moͤrder ſterben alsdenn wie der Schaͤcher am Kreutze! Dagegen fließt in dieſen Staaten das Blut von tauſend Edlen im Kriege. Niemand loͤtet die Wunden der Redlichen. Es giebt Thiere, ſagte mein Vater, die im Marmor, aber nicht im Leben gefallen, und ſo wie der Bienen - ſchwarm, ſo der freye Staat. Nichtalſo173alſo, mein Vater: ich glaub, daß das Den - ken im monarchiſchen Staat, und das Re - den im Freyen zu Hauſe gehoͤre, oft auch das thun, ſo wie ein Sclave nur eigent - lich unverſchaͤmt ſeyn kann; im freyen Staat kennt man dies Wort nicht.

Meine Leſer werden ohne Fingerzeig ein - ſehen, daß ich dieſes nicht auf dem gruͤnen Platz ſchreibe, ſondern in einem Staat. Bald haͤtt ich zu viel geſagt. Ich empfand auf dieſem gruͤnen Platz, und zwiſchen em - pfinden und denken iſt oft ſo ein Unterſchied, wie zwiſchen wachen und traͤumen. Ein ſchoͤner Traum! ich gaͤb einen Tag drum unbeſehens.

Meine Empfindungen wurden den Preuſ - ſen, dem Fuhrmann und ſeinem Untergebe - nen zu lange. Ich ſchlief ihnen zu viel. Sie ſchrien mich heraus, und gaben mir zu verſtehen, daß hier guter Weg ſey, wo der Wagen ohne Noth aufgehalten wuͤrde, und daß ſchon Stellen vorfallen wuͤrden, wo ich Gelegenheit haben wuͤrde, mich zur Ruhe zu begeben. (eigentlich zu empfinden.)

So gruͤndlich gleich dieſe Aufforderung war, ſo verdroß mich doch dieſes Commando, und ich konnte nicht umhin, ich weiß ſelbſtnicht174nicht wie ich darauf fiel, zu fragen, warum ſie denn nicht Soldaten waͤren? Ich haͤtte doch gehoͤrt, daß alles was einen ſtattlichen Schritt in Preußen haͤtte, gerad ausſeh und ſich wohlbefaͤnde, Soldat waͤre, dahero auch zaͤrtliche Muͤtter Gott auf Knien danken ſol - ten, ſobald ſie aus dem Wochenbett auf die Fuͤße kaͤmen, wenn er ſie einen Kruͤppel auf die Welt zu bringen gewuͤrdiget, weil dieſer allein das Recht haͤtte, eine Stuͤtze der Fa - milie zu werden. Herr! ſagten die Preuſ - ſen, wer ihnen das geſagt hat, iſt ein H t. Beym hoͤchſtſeeligen Herrn giengs zuweilen in dieſem Stuͤck bunt uͤber Eck und da konnte man manches nicht ſpitz kriegen. Gott laß ihn hoͤchſtſeelig ruhen! Unſer jetzige Herr, ſie zogen ihre abgekrempften Huͤt ab, braucht Fuhrleut und Generals, und es thut in Preußen nichts, ob man einen Orden, oder eine Peitſch umgehangen hat. (Sie hatten die Peitſchen wuͤrklich auf Ordensart.) Ich laße keinem Menſchen die Mittelſteine, wenn ich nicht will. Ein General und ein Corpo - ral geht mich mit keiner Ader an! Ich fuͤr mich, ſie fuͤr ſich. Wer dem Herrn die Abgaben giebt, iſt ihm angenehm, ſo wie dem lieben Gott, wer recht thut, und wenndie175die Soldaten zur Revue ſind, verſtehn Sie mich, (der Alte ſprach,) junger Herr Cur - laͤnder, ſo bin ich waͤhrend der Zeit Major von der Cavallerie, und dieſer mein Schwe - ſterſohn iſt Junker, und ich verſichre dem Herrn, daß wir unſern Saͤbel fuͤhren, er machte Luftſtreich und der Junker gleichfalls, wie einer

Es fiel mir eben, da die preußiſche Grenz anfieng, eine große hohe Eich ins Auge, die ſich nicht um das, was unter ihr war, bekuͤmmerte. Sie hatte ſogar gegen unten keine Schattenaͤſte fuͤr ihr Unterthanen. Stolz wuchs ſie gen Himmel, und ſelbſt ich hatte Muͤh ihren Gipfel zu erreichen. Sieh da einen Monarchen, ſagt ich zum jun - gen Herrn v. G., und er verſtand die Eich und mich auf ein Haar.

Ich wuͤnſchte, daß mein Vater dieſe koͤnigſche Fuhrleute geſehen haͤtte; denn ich ſelbſt war ſo begeiſtert, daß ich gern Luftſtreiche mit dieſen tapfern Preußen um die Wette gewagt haͤtte, wenn mir nicht mein Reiſegefehrt heimlich auf den Fuß ge - treten, und eben ſo heimlich die rechte Hand gedruͤckt haͤtte, als wolt er treten und druͤ -cken.176cken. Bruder, laß den Major und Jun - ker, den Fuhrmann und ſeinen Unterge - benen.

Es war gleich alles wie abgeſchnitten. Unſere Heerfuͤhrer waren ſo ſehr von allem Eifer zuruͤckgebracht, daß ſie uns herzlich ver - ſicherten, wie die Fuhrleut und Studenten in Koͤnigsberg Schwaͤger und Freunde waͤ - ren! Trotz dem gruͤnen Platz, und dem klei - nen Streit, der zuweilen vorfiel. Sie bewieſen uns ihre aufrichtige ſchwaͤgerliche Verwandſchaft, daß ſie den folgenden Tag ſchon um drey Uhr halt machten, um uns, oder eigentlich mir, Zeit und Raum zu laſ - ſen, eine Leichenbeerdigung zu hoͤren und zu ſehen.

Wir waren eben im Begrif in Mittag zu machen, da die Glocke gezogen ward! Ich verſtand auf den erſten Anſchlag, daß es Trauertoͤne werden ſolten.

Wer iſt todt, fragt ich den Hauswirth? Fragen Sie, antwortet er, wer wird begra - ben? Auch das, erwiedert ich, und wer?

Schoͤn, fuhr er fort, nun werd ich Sie fragen, wer wird begraben?

Ich ſah den unwitzigen Mann ernſthaft an, und wenn nicht eben eine Sturmglockefuͤr177fuͤr mein Herz zu hoͤren geweſen waͤre, es waͤre ſchwerlich beym Anblick geblieben. Der Hauswirth war indeſſen ſo gefaͤllig, mir ſogleich auf meinen erſten Augenſchlag (der Herr v. G. trat und druͤckte mich wieder,) aus dem Traume zu helfen. Mein Herr, ſetzte der Hauswirth im Geſchichtsſtyl hinzu: Es iſt ein Fremder, ein Unbekannter. Nie - mand weiß, wo er her iſt. Ohnfehlbar hat er nicht nach Hauſe reichen koͤnnen, denn man ſieht ihm ſein hohes Alter an. Er hat ein ſehr gutes Ausſehen, weil man einige Gulden und eine Schreibtafel (beydes hat der Pfarrer gleich an ſich genommen) bey ihm gefunden; ſo wird er mit einer Lei - chenpredigt begraben.

Gott, ſchrie ich, das iſt der Alte!

Alt iſt er, ſagte der kupfernaſige Hauswirth, ganz gelaſſen.

Ich konnte nicht mehr ich will hin, ich will hin und ſeine kalte ſtarre Hand angreifen. Noch iſt Seegen Gottes drinn. Da die Gebeine jenes Mannes, den man in Eliſa Grab warf, die Gebeine des Prophe - ten beruͤhrten, wurden ſie lebendig und es trat der Mann auf ſeine Fuͤße.

Zweiter Th. MIch178

Ich will hin, ich will hin und wenn ich ſeinen einen Handſchu erben koͤnnte! O welch eine Erbſchaft haͤtt ich gethan!

Der Hauswirth nahm, waͤhrend dieſer heiligen Entſchluͤße, Toback und zog ihn ſehr hoch in die Hoͤhe.

Jetzt erſt wandt ich mich zu unſern Fuhr - leuten, um ſie zu uͤberreden, den Mittag und Abend in einem weg zu halten.

Abgemacht.

Der Herr v. G. erkundigte ſich nach Wild, und ich gieng ſpornſtreichs in die Kirche.

Eben hatte der Pfarrer den Text, den er zu der Leichenpredigt ausgeſondert hatte, verleſen. Den Spruch fand der Leichenpre - diger in der Schreibtafel des Seligen aufge - ſchrieben und dreymal unterſtrichen. Er ſte - het in der zweyten Epiſtel an die Corinther im ſechſten Capitel, vom vierten bis zehn - ten Vers: Sondern in allen Dingen laſſet uns beweiſen, als die Diener Gottes, in gro - ßer Geduld, in Truͤbſalen, in Noͤthen, in Aengſten, in Schlaͤgen, in Gefaͤngniſ - ſen, in Aufruhren, in Arbeit, in Wachen,in179in Faſten, in Keuſchheit, in Erkenntnis, in Langmuth, in Freundlichkeit, in dem heiligen Geiſte, in ungefaͤrbter Liebe, in dem Worte der Wahrheit, in der Kraft Gottes, durch Waffen der Gerechtigkeit, zur Rechten und zur Linken, durch Ehr und Schande, durch boͤſe Geruͤchte und gute Geruͤchte, als die Verfuͤhrer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden und ſiehe wir leben; als die Gezuͤchtigten und doch nicht ertoͤdtet; als die Trauri - gen, aber allezeit froͤhlich; als die Armen, aber die doch viel reich machen; als die nichts inne haben, und doch alles haben. Ein Thema pflegt bey den Geiſtlichen ein lee - res Haus zu ſeyn, wo man mancherley und manches anſchlagen kann, ein Nagel, an den man viel haͤngt, ich weiß nicht, ob man nicht auch in dieſem Sinn ſehr richtig ſagen wuͤrde: man muß nicht zu viel an einen Na - gel haͤngen?

Das Ziel, nachdem der Paſtor loci an - legte, war der Schein und das Seyn des Chriſten! Meine Mutter haͤtte, wenn ſie ſelbſt dieſe Leichenpredigt gehalten, kein ge - reimteres Thema gefunden; ich fuͤr mein Theil hatt alle Faſſung noͤthig, um mich zu -M 2ruͤck180ruͤck zu halten. Ich brannte vor Begierde, den Sarg dieſes Seligen aufzuſprengen, und mir einen Seegen abzufordern. Es war ſehr zu merken, daß ich dem Pfarrer ein Meteor war, und ein unverhofter Gaſt, er ha - ſpelte ſeine Predigt in hoͤchſter Eil herab; in - deſſen verzaͤhlt er all Augenblick die Faͤden, und dies zwang ihn von neuem zu zaͤhlen. Endlich die Nutzanwendung, zum Schein und Seyn.

Meine Geliebte! der ſelig verſtorbene ſchien uns anfaͤnglich ein Mann nach der Weiſe Melchiſedech. Ich fragt ihn nach Namen? Geburtsort? Vaterland? Ob er noch in dieſer Welt etwas zu berichtigen haͤt - te? Auf alle dieſe Fragen nicht eins zur Antwort.

(Ich ward uͤber und uͤber roth, und nun erſchien mir der Pfarrer als ein Meteor, und ein ungebetener Gaſt, und das aͤrgſte bey die - ſer Verlegenheit war, daß ich nicht haſpeln konnte. Nichts iſt einem Verlegenen heilſa - mer, als wenn er reden kann; er faͤlt zwar immer tiefer drein, indeſſen iſt es ihm Labſal reden zu koͤnnen, wenn er auch nur ſtam - meln und ſtottern ſolte. Er iſt wenigſtens vor einer Seelenlaͤhmung ſicher, die eben ſo,wie181wie eine koͤrperliche, oft Zeit Lebens auf die Seel einen Einflus hat. Die Zung iſt in ſolchen Faͤllen Ventilator in einem ſtockigen Zimmer. Sie bringt friſche Luft herein.)

Da ich einſahe, fuhr der Leichenprediger fort, daß unſer Seliger Urſachen zur Zuruͤck - haltung hatte, wandt ich ſchnell um, und klopft an eine andre Thuͤr, die zum Seelen - heil fuͤhrt. Hier blieb er mir kein Wort ſchuldig. Nach ſeinem ſeligen Hintritt klaͤrte ſich alles auf. Er fand nicht fuͤr gut zu erzaͤhlen, was ſeine Schreibtafel enthielt, er wolt ſich nicht die Augenblicke entwenden, die er himmliſch anwenden konnte. Sein Wandel war nicht von hier, ſondern von dro - ben. Das erſte, was ich oͤfnete, war ſeine Schreibtafel, die wie ein Commu - nionbuch gebunden war. Seinen Geldbeutel, worinnen vierzig Gulden waren, oͤfnete ich nachher.

(Ich war im preußiſchen Gelde ganz un - erfahren, und ich muß mich noch huͤten, um ja hiebey nicht wider das Coſtume zu ſuͤn - digen.)

In ſeinem Communionbuch von Schreib - tafel fand ich mehr, als ich gefragt hatte. Man pflegt oft in Schreibtafeln das Geheim -M 3ſte,182ſte, das man oft ſeinem geheimſten Rathe nicht entdeckt, zu finden. Es iſt der Maͤn - ner Schooshuͤndchen.

Unſer Selige heißt

Ha, kunſtrichterlicher Leſer! da hatteſt du ſchon deine Bleyfeder zum Strich geſpitzt. Wieder einer ohne Namen, eine unbe - nannte Geſchichte! Stecke dein Schwert in die Scheide; denn wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen, und damit ich bey dieſer Gelegenheit auch an eine andre Thuͤr anklopfe, die zum Seelenheil fuͤhrt, bet ich ein Vater unſer fuͤr dich! damit du nicht vielleicht ohne Namen dahin faͤhreſt in deinen Suͤnden. Halt den Hut vor!

ne nos inducas in tentationem
ſed libera nos a malo. Amen.

Unſer Selige heißt wie er ſeinen Namen ganz mit allen Punkten und Clauſuln ausgeſchrieben.

Er faͤhrt fort:

Ich war reich ich hatte ſo viel, daß meine großſtaͤdtſche Freunde zuweilen zu mir kamen, und ſich laͤndlich vergnuͤgen konnten.

Ich ward arm, faͤhrt er fort: der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, derName183Name des Herrn ſey gelobt! Wie er um das Seinige gekommen, meine Lieben, iſt nicht angefuͤhrt. In ſeinem Wohlſtande hatt er zum Aufbau eines Luſthauſes und Luſtgartens fuͤr eben dieſe Freunde, wenn ſie ihr ſtocken - des Blut wieder in Fluß bringen wolten, zwey tauſend Gulden angeliehen, ſchwer Geld.

Da er arm geworden, erließen ſie ihm die Schuld, und gaben ihm ſeinen Schuld - brief zuruͤck. Sie bedachten vielleicht, daß er nur ihretwegen dieſen Bau unternommen. Was dankt ich Gott ſchreibt der Se - lige daß ich unter meinen Freunden Men - ſchen fand. So in der Naͤhe, dacht ich! Gott ſchlaͤget, Gott heilet, Halleluja! Un - ſer Selige hatte zwar nicht das Gluͤck des Hiobs, der zwiefaͤltig ſo viel bekam, als er gehabt hatte, und außer dem ſchoͤnen Gro - ſchen und dem guͤldenen Stirnband, ſo ihm ſeine Bruͤder und Schweſtern und Bekannten verehrten, noch vierzehntauſend Schaafe, und ſechstauſend Cameel und tauſend Jochrinder und tauſend Eſel wie er denn auch nach ſeinem gehabten Unfall einhundert vierzig Jahre lebte und Kinder und Kindeskinder ſa - he, bis in das vierte Glied. Unſer Se - lige konnte zwar nicht ſeine Freunde zum laͤnd -M 4lichen184lichen Vergnuͤgen mehr einladen, ſein Gaͤrt - chen und ſein Luſthaͤuschen war in fremden Haͤnden; allein er hatte doch Nahrung und Kleider! Seine Freunde hatten auch nach der Zeit ſich bitter und ſauer Brunnen an - gewoͤhnt, welchen ſie die nemliche Kraft als guter friſcher Milch, und einem Garten - haͤuschen und einem Luſtgarten, beyleg - ten. Der Selige hatte ſich indeſſen ſo weit herausgewunden, daß er viertauſend und ſiebenzig Gulden nach Koͤnigsberg neh - men konnte, um ſein Verkehr durch einige neue Waaren zu verſtaͤrken. Bey viertau - ſend und ſiebenzig Gulden baar Geld konnt ein ſo ehrlicher Mann, als er, auf noch ein - mal ſo viel Credit rechnen. Seine An - verwandten hoͤrten von den viertauſend ſie - benzig Gulden, und nahmen ihn allein.

Sie fragten nach der Handſchrift. Hier, ſagt er, und zog ſie aus der Schreibtafel. So lang ich lebe, ſoll auch dieſe Handſchrift leben; ich koͤnnte vielleicht aufhoͤren dankbar zu ſeyn, wie viele Menſchen, wenn ſie zu ſatt werden, Gottes vergeſſen. Hier, ſagt er, ohne Flecken, ohne Runzel, oder des etwas, ſo wie ich ſie geſtellt hatte, und zuruͤck erhielt.

Der185

Der Senior Familiaͤ, ein alter herzlo - ſer Mann, nahm ſie entgegen, und es ward dem Dankbaren angedeutet, daß da man von den viertauſend Gulden, ohne an die ſieben - zig zu denken, gehoͤret, er wohl ihre zwey - tauſend Gulden, zuſammt den Verzoͤgerungs - zinſen, entrichten koͤnnte.

Freunde, fieng er an: allein man droht ihm mit dem breiten Wege Rechtens, der zur Verdammnis fuͤhret, und viele ſind, die darauf wandlen.

Freunde, fieng der Selige wieder an: allein (und dies kraͤnkt ihn am meiſten) ſie machten ihm Vorwuͤrfe, daß er noch dazu die zweytauſend Gulden zu Luſthaus und Garten verwendet haͤtte.

Aber fieng er wieder an, und der Senior Familiaͤ fiel ihm ins Wort, freylich hatte Sie Gott damals reichlich geſeegnet, und Sie konnten an Luſt denken, jetzt aber bey viertauſend ſiebenzig Gulden muͤßen Sie an Zahlung denken. Denkt, ſagte der Selige. Zahlt, ſagten die Verwandten, die Unſeligen. Sie hatten ohne Flecken, ohne Runzel, oder des etwas, das Document, und er hatte keinen Beweis der Schenkung, und wenn ich auch, ſchreibt er, Beweis derM 5Schen -186Schenkung gehabt haͤtte und wenn auch

Er bezahlte.

Nur die Zinſen! es macht auf jeden der Herren eine Kleinigkeit.

Keinen Dreyer, ſagte Senior Familiaͤ. Es ſind die uſurae morae (die Verzoͤge - rungszinſen,) er hatte dieſen Biſſen Latein von einem Rechtsgelehrten erhandelt!

Der Selige mußte von Heller zu Pfen - nig, Capital und Zinſen berichtigen, und da einig andere von ſeinen unbetraͤchtlichern Glaͤubigern, die ihm aber nichts erlaſſen, ſondern theils auf ſeine Verbeſſerung wegen der alten Schuld gewartet, theils ihn mit neuem Flickvorſchus unterſtuͤtzet hatten, die - ſes hoͤreten, verlangten auch ſie Geld und reſervirten ſich quaevis juris competentia con - tra quem vel quos, wenn der Arme nicht noch ſo viel uͤbrig behalten haͤtte, daß ihr neuer Vorſchuß hinreichend berichtiget wer - den koͤnnte. Es fehlten ihm dreyhundert Gulden, der Arme gieng zum Senior Fami - liaͤ, und dieſer? Er hatte nur eben Zeit zu einem Vorſchlage, der dem Seligen bis in die Seele gieng. Er ſchlug ihm vor, ſeinenWa -187Wagen und vier Pferde zu verkaufen, um auszulangen.

Vierzig Gulden war alles, was unſer Selige eruͤbrigte, und ein Paar Fuͤße, die ſeine ſchwermuͤthige Seele mit genauer Noth tragen konnten. Sein Leib wog nicht vier Pfunde.

Vierzig Gulden ſagt er zu ſich ſelbſt, und ſah ſeinen ledig gewordenen Geldbeutel an! Er hob ihn und fuͤhlt es, daß auch er noch zu ſchwer fuͤr ſeine Fuͤße war. Wenn ſich doch Gott erbarmen wolte! rief er! hier in der Welt iſt’s mit der Erbarmung aus! Wenn doch Gott ſich erbarmen wolte! Wenn er doch meine Thraͤnen ſo zaͤhlen wolte, wie die Schlucker mein Geld! Er hatt auf dieſen ſauren Tag eine angenehme Nacht; es traͤumt ihm, daß das Luſthaͤuschen und das Gaͤrtchen, welches wie er verarmte ſubhaſtirt ward, ihm wieder zufielen, und alles ſo gruͤn, ſo ſchoͤn, daß es ihn duͤnkte, als hoͤr er die Stimme: Ey du frommer und ge - treuer Knecht, du biſt uͤber wenig treu ge - weſen, ich will dich uͤber viel ſetzen, gehe ein zu deines Herrn Freude.

Was das fuͤr eine Freud im Traum war, ſchreibt er, iſt unausſprechlich! Sowas188was kann man nicht leben, ſo was muß man traͤumen. Er ging zu Fuß aus Koͤnigsberg, und es ſey, daß die Ungewohnheit ein Fuß - gaͤnger zu ſeyn, oder daß der gerechte Schmerz uͤber dergleichen Verfahren ihn noch tiefer, als ſein hohes Alter, angrif; unſer Selige ward in krank. Ich fuͤhlte, ſchreibt er, beym erſten Stich in der linken Seite, daß mein Stuͤndlein vorhanden ſey, und die Erfuͤllung des Traumes: Geh ein zu deines Herrn Freude.

Dieſe Worte wiederhohlte der Sterbende unzaͤhligemal, und allemal mit einer Freude, die wie Kraft der zukuͤnftigen Welt ausſah.

Er hatte in Ruͤckſicht ſeiner Wohnung nichts weiter auf ſeinem Herzen, als die Bitte, ſeinen Tod in , wo er zu Hauſe gehoͤrte, zu melden und alle, die ſich ſeiner erinnern ſolten, gruͤßen zu laſſen.

Er hatte nicht Frau nicht Kind. Gehabt zwar beydes; allein beydes war vorausge - gangen, um ihm dort entgegen zu kommen. Gott ruft mich, ſchreibt er, zu rechter Zeit. Ich habe meine Schulden bezahlt, und bin keinem weiter, als dem lieben Gott, ſchul - dig, der mit mir wahrlich, das hoff ich, anders rechnen wird, als meine Verwand -ten.189ten. Die mir zu tragen ſchwergewordene vierzig Gulden bleiben zu meinem Begraͤbnis und fuͤr

und fuͤr, waren ſeine letzten Worte.

Ich haͤtte dieſen Bruch, fuhr der Pfar - rer fort, heben und es ſo erklaͤren koͤnnen: und fuͤr den Paſtorem loci; denn ich hab ihn zweymal mit Gottes Wort beſucht, und den glimmenden Tocht der Hofnung, die in ihm war, ſo wenig ausgeloͤſcht, daß ich ihn vielmehr vollends anfachte; allein ich hab Euch auch all an dieſem und fuͤr Theil neh - men laſſen wollen. Den Organiſten und die Leichenbegleiter, und an uns allen ver - dient der Selig einen Gotteslohn!

Mir fiel eine natuͤrliche Erklaͤrung des und fuͤr ein. Da ſchon des Begraͤbniſſes er - wehnt war; ſo hat der Selige dacht ich mit ſeinem und fuͤr die Dorfarme gemeint: denn in Wahrheit, das waren bey ſeinen Umſtaͤn - den ſeine naͤchſten Anverwandten! Es ge - hen freylich verſchiedene Sterbende, die noch viel Unrecht auf ihrem Herzen und Gewiſſen haben, zur Beichte, um am Himmel nicht aufgehalten zu werden: ſie laſſen ſich hier plombiren, um dort bey der Himmelspforte ſich keiner Reviſion auszuſetzen, und da traͤgtes190es ſich freylich wol zu, daß dem Geiſtlichen, dem Beſucher, etwas in die Hand gedruͤckt wird. Unſer Todte! das wett ich, nicht alſo!

Wohl dem! rief unſer Pfarrer aus, wohl dem, der ſo lang er mit ſeinem Bruder auf dem Weg iſt, das heißt: ſo lange ſie beyde die Straße dieſes Lebens gehen, ihm erſetzt, was er ihm unrecht gethan, den abbittet, den er beleidiget; den in integrum reſtituirt, den er beſchaͤdiget hat. Wohl dem! der alles mit warmer Hand abtraͤgt; denn wie leicht kann der Glaͤubiger ſterben? und die Erſe - tzung iſt alsdenn nicht moͤglich; wie leicht kann der Lebenslauf des Schuldners gehemmt werden, und wie leicht kann es kommen, daß ſie aufhoͤren, einen und denſelben Weg zu wandeln! Weh alsdenn dem Schuld - ner! Alles iſt aus! Er kann nicht mehr bezahlen, ſo gern er auch wolte. Seine Muͤnze galt nur in dieſer Welt, mit einem ewigen Vorwurf geht er in die Ewigkeit uͤber. Dieſe Stell uͤberwog die ganze Predigt. Wer ſie lieſet, der merke drauf; ſo lang er eine warme Hand hat, ſo lang er noch auf dem Wege mit ſeinem Glaͤubiger iſt, und mit ihm lebenslaͤuft!

Es191

Es ſtarb, der Selige, (meine Leſer hoͤren wieder den Paſtorem loci) ſeines Lebens muͤd und ſatt, mit der dringenden Bitt, ihm auf unſerm Gottesacker ein Raͤumlein zu goͤnnen, bey frommer Chriſten Grab. So wie Abraham zu den Kindern Heth, nach dem erſten Buch Moſe im drey und zwan - zigſten Capitel, im vierten Vers ſprach:

ich bin ein Fremder bey euch: gebet mir ein Begraͤbniß; ſo ſprach auch unſer Seliger, und obgleich er nicht vierhundert Seckel Silbers, das im Kauf gang und gaͤbe war, wie Abraham zu bezahlen im Stande war; ſo war unſer Alte doch auch nicht der Abraham, und wir nicht die Kinder Heth. Das Plaͤtzchen, das wir ihm verſtattet, iſt kein Erbbegraͤbniß, wer wolt auch ſeine Anver - wandte mit den zwey tauſend Gulden Capi - tal und den Verzoͤgerungszinſen zur Nach - barſchaft haben! Man erzaͤhlt, daß Haͤnde, die ihre Eltern geſchlagen, nicht verweſen, ſondern aus dem Grabe herauswachſen, ob - gleich ich viele ungerathene Kinder, bisher aber leider! noch keine herausgewachſene Hand, geſehen habe. Wahrlich wir wuͤrden alle die Haͤnde der Anverwandten unſres Seligen ſehen, wenn dieſe Sagewahr192wahr waͤre, und die Hand des Senioris Familiaͤ hager und ungeſtaltet mit langen un - abgeſchnittenen Naͤgeln. Wie ſchrecklich Nein nicht fuͤr hundert Seckel Sil - bers, das im Kauf gang und gaͤb iſt, nicht fuͤr tauſend! Fuͤr dich aber, Seliger, machet die Thuͤr unſeres Kirchhofs weit und die Thoͤre hoch, damit er bey uns einziehe! Wenn der Fall nicht ſo, wie er wuͤrklich iſt, geweſen waͤre, wir haͤtten keinen Dreyer fuͤr dieſes Plaͤtzchen genommen. Die Kirche dankt dir, lieber Seliger, fuͤr das, was ſie durch meine Hand erhalten hat, und ich danke dir fuͤr das, ſo uns allen zugewendet worden, bis auf den letzten Traͤger. Ju - das verrieth wegen dreyßig Silberlinge ſeinen Meiſter. Hier ſind freylich nur vierzig Kupferlinge, und es iſt allerdings mehr Schein als Seyn dran; indeßen wie bald wird ſein abgetragener Leib in einer Hand Raum haben. Dieſe Handvoll ehrliche Erde giebt er uns ohnehin als Agio von den vierzig Gulden.

Uns allen lehre der Herr unſeres Lebens bey dieſer Gelegenheit unſer Schein und Seyn, daß heißt: er lehr uns wohl beden - ken, daß wir nicht wißen, wenn der Herrkommt193kommt Darum wachet! So geſund wir ſcheinen, ſo iſt doch nichts gewiſſer, als daß es ein End mit uns haben muͤße, daß unſer Leben ein Ziel habe und wir davon muͤßen. Das iſt unſer Seyn!

Ihr Gebeugten im Volke! freuet euch in dem Herrn, und abermal ſag ich euch! freuet euch; denn ihr werdet ſterben! und eben dann, wenn ihr nicht aus noch ein wißt, wird euch der Herr gen Himmel zeigen da werdet ihr Friede haben und nicht hoͤren die Stimme des Steuereinnehmers, da werden getrocknet werden die Thraͤnen von den Wan - gen der Wittwen, da werden die Gottloſen aufhoͤren mit Toben, und ſanft ruhen die des Lebens Laſt und Hitze gerragen haben. Faſſet eure Seelen in Geduld, und wenn euch eine Krankheit anficht, denket, daß ſich eure Erloͤſung nahet. Sehet an den Feigen - baum und alle Baͤume, wenn ſie jetzt aus - ſchlagen; ſo ſehet ihrs und merket, daß jetzt der Sommer nahe ſey. Bey Menſchen - kindern iſt es umgekehrt. Wenn der auswendige Menſch ſtirbt, faͤngt der inwen - dige zu leben an. Gern haͤtt ich dieſe Le - bensumſtaͤnde, die mir, ſo wie ſie da ſind, gewiß nicht wenig Muͤhe gemacht, da ſehrZweiter Th. Nviele194viele Worte halb verwiſcht und viel unleſer - lich geſchrieben war, gern haͤtt ich, weil mir wohl bekannt iſt, daß ihr lieber einen Lebens - lauf, als eine Predigt hoͤret, gern haͤtte ich dieſe Lebensumſtaͤnde verſtaͤrkt, wenn ich mehr im Taſchenbuch gefunden haͤtte. Zum Beſchluß wollen wir vom ein und dreißigſten Vers bis zum ſechs und vierzigſten des fuͤnf und zwanzigſten Capitels des Evangelii Mat - thaͤi verleſen hoͤren und verleſen:

Wenn aber des Menſchenſohn kommen wird in ſeiner Herrlichkeit, und alle heilige Engel mit ihm, dann wird er ſitzen auf dem Stuhl ſeiner Herrlichkeit. Und werden vor ihm alle Voͤlker verſammlet werden. Und er wird ſie von einander ſcheiden, gleich als ein Hirte die Schaafe von den Boͤcken ſchei - det. Und wird die Schaafe zu ſeiner Rech - ten ſtellen, und die Boͤcke zur Linken. Da wird denn der Koͤnig ſagen zu denen zu ſeiner Rechten: kommet her, ihr Geſegneten mei - nes Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet iſt von Anbegin der Welt. Denn ich bin hungrig geweſen, und ihr habt mich geſpeiſet. Ich bin durſtig geweſen, und ihr habt mich getraͤnket. Ich bin ein Gaſt ge - weſen, und ihr habt mich beherberget. Ichbin195bin nackend geweſen, und ihr habt mich be - kleidet. Ich bin krank geweſen, und ihr habt mich beſuchet. Ich bin gefangen ge - weſen, und ihr ſeyd zu mir kommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und ſagen: Herr, wenn haben wir dich hungrig geſehen, und haben dich geſpeiſet? oder dur - ſtig, und haben dich getraͤnket? Wenn haben wir dich einen Gaſt geſehen und beherberget? oder nackend, und haben dich gekleidet? Wenn haben wir dich krank oder gefangen ge - ſehen, und ſind zu dir kommen? Und der Koͤnig wird antworten und ſagen zu ihnen: wahrlich, ich ſag euch: was ihr gethan habt, einem unter dieſen meinen geringſten Bruͤdern, das habt ihr mir gethan. Dann wird er auch ſagen zu denen zur Linken: ge - het hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet iſt dem Teufel und ſeinen Engeln. Ich bin hungrig geweſen, und ihr habt mich nicht geſpeiſet. Ich bin durſtig geweſen, und ihr habt mich nicht ge - traͤnket. Ich bin ein Gaſt geweſen, und ihr habt mich nicht beherberget. Ich bin nackend geweſen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen geweſen, und ihr habt mich nicht beſuchet. Da werdenN 2ſie196ſie ihm auch antworten und ſagen: Herr, wenn haben wir dich geſehen hungrig oder durſtig, oder einen Gaſt, oder nackend, oder krank, oder gefangen, und haben dir nicht gedienet? Dann wird er ihnen antworten und ſagen: wahrlich ich ſag euch, was ihr nicht gethan habt Einem unter dieſen gering - ſten, das habt ihr mir auch nicht gethan. Und ſie werden in die ewige Pein gehen; aber die Gerechten in das ewige Leben.

Ins ewige Leben verhelf uns alle zuſam - men der Herr des Lebens, Amen!

Nach der Predigt lies der gute Pfarrer ſingen: Lieber Gott, wenn werd ich ſter - ben, und ſeine werthen Zuhoͤrer, welches bis auf mich lauter Bauren und Fiſcher waren, ſangen dies Lied mit einem ſo himmliſch ſehn - ſuchtsvollen der Welt abgeſtorbenem Herzen, daß ich ſehr geruͤhrt ward. Man hoͤrt es ihnen genau an, daß niemand unter ihnen vierzig Kupferlinge im Vermoͤgen hatte, und daß ſie alle des Tages Laſt und Hitze dieſes Lebens truͤgen. Der Pfarrer ſang eben ſo herzlich, nur mit dem Unterſchiede, daß er mit ſeiner Stimme die ganze Gemeine commandirte.

Mei -197

Meinen Leſern zu gefallen, die kein Ge - ſangbuch haben, will ich die Stelle, die mir der Pfarrer vorzuͤglich ins Ohr und Herz ſang, abſchreiben:

Lieber Gott wenn werd ich ſterben?
meine Zeit laͤuft ſchnell dahin,
und des alten Adams Erben,
(wo ich auch ein Erbe bin)
haben dies zum Vatertheil,
daß ſie eine kleine Weil
arm und elend ſind auf Erden,
und am Ende Erde werden.
Ich mit allen meinen Bruͤdern
lebe eine kleine Zeit.
Trag ich nicht in allen Gliedern
Saamen zu der Sterblichkeit?
geht nicht immer da und dort
einer nach dem andern fort?
und wie mancher liegt im Grabe,
den ich hochgeehret habe.
Aber Gott, was werd ich denken,
wenn es wird zum Sterben gehn!
wo wird man den Leib verſenken?
wie wird’s um die Seele ſtehn?
ach! ein Kummer faͤlt mir ein:
weßen wird mein Vorrath ſeyn?
N 3Man198

Man haͤtte glauben ſollen, das Gewißen haͤtte beym guten Pfarrer wegen ſeiner Er - klaͤrung der Wort: und fuͤr, dieſe Reihe mitgeſungen; allein ich verſichr auf Ehre, das Gewißen gab ſeine Stimme nicht dazu. Beynahe moͤcht ich das Gewißen auf ein Haar kennen, wenn es mitſingt. Es haͤlt ſelten Melodie, ſingt lahm und ſo, als duͤrft es nicht.

Schriebe meine Mutter dies Buch, ſie haͤtte von dieſem Liede keinen Buchſtab aus - gelaſſen; indeſſen will ich einigen meiner Le - fer dieſen Gefallen thun.

Die ganze Gemeine, o Gott! wie in - bruͤnſtig ſang ſie dieſe Zeilen:

Lieber heute noch als morgen,
denn ich werd einſt auferſtehn!
ich verzeih es gern der Welt,
daß ſie alles hier behält,
und beſcheide meinen Erben
einen Gott! der wird nicht ſterben!

Vorzuͤglich fiel mir ein alter Mann bey die - ſer Stell auf, der ohnfehlbar nicht mehr Traͤger wegen ſeiner ſehr hohen Jahre ſeyn konnte, und ſich in einem etwas finſtern Kir - chenwinkel aufgeſtuͤtzt hatte. Ich haͤtte mich nicht enthalten koͤnnen, dieſem aufge -ſtuͤtz -199ſtuͤtzten etwas aus meinem ανεχου και απε - χου zu geben, wenn ich es bey mir gehabt. Dieſem alten Mann gehoͤrte, das merkte man, noch ein Haufen Kinder an, der um Brod ſchrie! Es war recht, als wenn alle dieſe Kleinen mitleierten.

Zwinge dich nicht, ſchreibt meine Mut - ter, ohne Geld auszugehen, das heißt: aus einem guten ein ſchlechter Menſch werden wollen. diesmal freut ich mich aber, ohne dieſes verſiegelte Schatzpaͤckchen gewe - ſen zu ſeyn, da ich zu Hauſe kam; denn ich haͤtte mich in Wahrheit nicht gehalten, und meines Vaters Auflage gerade zu entgegen gehandelt! In der groͤßten Noth! Dies brachte mich zum Geluͤbde bey mir ſelbſt, dies Schatzpaͤckchen nie bey mir zu tragen. Ohne Geld aber, liebe Mutter! werd ich nicht ausgehen.

Bey der lezten Strophe, die ich meinen Leſern auch nicht entziehen will, war der Ton ganz anders:

Herrſcher uͤber Tod und Leben,
man einmal mein Ende gut!
lehre mich den Geiſt aufgeben
mit recht wohlgefaßtem Muth!
hilf, daß ich ein ehrllch Grab
N 4neben
200
neben frommen Chriſten hab
und auch ſelber in der Erde
nicht zu Spott und Schande werde!

Ob nun gleich der Alte, den ich bis oben zu, begraben geſehen, nicht der mit dem einen Handſchu war, als welchen Handſchu ich mithin eben ſo wenig, als den Segen dieſes himmliſchen, aus ſeiner Hand erben konnte; ſo war ich doch ſehr belohnt, daß Mittag und Abend in einem weggehalten ward. Ich dacht an Minen, wie beym Schloß in Mitau, und bey aller Gelegenheit; und wie haͤtte wol ein Vorfall, der mich zum ſtehen, zum denken, bringen konnte, nicht zugleich Minen und ihn in einem Paar dar - ſtellen ſollen? Wenn man liebt, iſt uͤberall ſchoͤne Natur fuͤr den Liebenden.

Mein Reiſegefehrt kam eben von der Jagd, und hatte drey Voͤgel erlegt, die wir uns braten ließen. Ich hatte noch nichts gegeßen, und er hatte ſich weide - maͤnnlich ermuͤdet.

Indem wir uns niederſetzten, und ich ihm von meinem Todten, er mir von ſeinen drey Voͤgeln erzaͤhlte; ſiehe da der Paſtor loci! und mit ihm ein Melotenpflaſtergeruch, ſo, daß der Paſtor die ganze Stube wuͤrzte.

Er201

Er konnte nicht unterlaßen, denjenigen, der heut ihm die Ehre gethan, ſein Zuhoͤrer zu ſeyn, naͤher kennen zu lernen, und da wir aus ſeiner Art ſich zu fuͤhren, uns uͤber - zeugten, daß er nicht abſchlagen wuͤrde, mit uns vor’n Willen zu nehmen; ſo baten wir ihn, ſeine Kapuſe abzulegen. Der Herr v. G. erzaͤhlt eben, drey Voͤgel geſchoßen zu haben. Eben drey, ſagte der Paſtor, und fand hiebey was beſonders. Der Mann ein Vogel, beſchloß ich! und der Paſtor konnte nicht aufhoͤren zu wiederholen: eben drey! Der arme Pfarrer entdeckt uns gele - gentlich ſeine recht ſchlechte Verfaßung. In Curland, ſagt er, ſind meine Herren Amtsbruͤder Edelleute! Moͤgen ſie doch. Wenn ich nur einen beßern Fang, wie vorm Jahr haͤtte!

Dieſen Wunſch klaͤrt er uns durch die Erzaͤhlung auf, daß er auf den Droßelfang gewieſen waͤre, und dieſes ein Hauptaccidenz bey der Pfarre ſey. Ohnfehlbar war dies die Urſache, warum er: eben drey ſo oft ſagte. Wir oͤfneten dem armen Paſtor noch unſern Eßkorb, den uns die Frau v. G. reichlich gefuͤllt hatte. Unſer Wein war ihm Labſal. Ich konnte mich kaumN 5des202des Lachens enthalten, da er den heut be - grabenen einen Zugvogel nannte. Da ich die Verſaßung dieſes ehrlichen Droßelpfarrers hoͤrte; fand ich die Erklaͤrung, die er von den letzten Worten: und fuͤr gemacht hatte, der Sache ſo vollkommen an - gemeßen, daß ich uͤberzeugt war, das Geld haͤtte nicht beßer angelegt werden koͤnnen, wenn es ins Hoſpital gekommen waͤre! Die ſo genannte Paſtoralklugheit iſt, in einer gu - ten Ueberſetzung, eine wohlehrwuͤrdige Be - muͤhung, auf anderer Leute Koſten zu leben, bey unſerm Droßelpaſtor nicht alſo.

Ich erkundigte mich noch nach verſchie - denen Umſtaͤnden des zur Ruhe gebrachten; allein außer dem, was der gute Pfarrer in der Kirche angebracht, wußt er kein Wort.

Ich gab dem Paſtor loci fuͤr den Alten, der ſich in einem finſtern Kirchenwinkel auf - geſtuͤtzt hatte, und die Worte:

und heſcheide meinen Erben
einen Gott, der wird nicht ſterben!

uͤberlaut ſang, eine Kleinigkeit, um ſie ihm morgen abzugeben. So hat er, ſagt ich, zwey frohe Tage, denn wenn er gleich Alters wegen nicht getragen hat

Aller -203

Allerdings, fiel der Pfarrer ein, ich habe die Anordnung gemacht, daß ſie alle was zu eßen und zu trinken haben. Der Alte ein Theil mehr, weil er noch außer den gro - ßen Kindern, drey kleine Kinder zu Hauſe hat.

Da der Paſtor hoͤrte, daß wir auf die Akademie giengen, wuͤnſcht er uns tauſend Gluͤck. Mit einer beſondern Freude, die ihn wohl kleidet, erzaͤhlt er von ſeinen aka - demiſchen Jahren, wo er ſich alles ganz ge - nau zu beſinnen wußte, wie alle von gewiſ - ſen Jahren, die nach Art von Leuten, welche treflich in die Ferne ſehen, ſchlecht aber in der Naͤhe ſehen koͤnnen, alles haarklein wiſ - ſen, was in ihrer Jugend geſchahe, wenig aber oder gar nichts von dem, was geſtern und ehegeſtern vorfiel. Das iſt die beſte, beſte Zeit, ſagt er, ſo bald man ein laſtbares Geſchaͤftsvieh wird, iſts aus. Ich pfluͤge zwar Gottes Acker; indeſſen fallen doch all Augen - blick Menſchenſatzungen vor. Wohl dem, mein Herr v. G., dem die Geburt das Recht ge - geben ein Menſch zu ſeyn fuͤr ein Amt zu halten. Wenn Jagdten dabey ſind fiel ihm Herr v. G. ein.

Der204

Der ehrliche Pfarrer ließ ſich merken, daß er herzlich gern einen Adjunctus haͤtte, und wenn es auch nur der Geſellſchaft, und der Maulbeerbaͤume wegen waͤre, welche das ehrwuͤrdige Conſiſtorium ihm zu pflanzen aufgegeben haͤtte. Endlich kam ſeine Toch - ter Marthe hinter dem Berge hervor, und man ſahe wohl, daß der Adjunctus nicht blos ſeiner Geſellſchaft und der Maulbeer - baͤume halber gewuͤnſcht ward. Noch hat er keinen gefunden, der einen ſo uͤberwiegen - den Droßelgeſchmack gehabt, daß er ihm andere Vortheile aufzuopfern kein Bedenken getragen haͤtte. Man ſagt, ſetzt er hinzu, daß man darum nicht gern ein Teſta - ment mache, damit den Erben nicht die Zeit zu lang wuͤrde; allein ich verſichr auf Ehre, daß ich bey der Anfrage meines Schwieger - ſohns wie ich geruhet, und wie ich mich be - faͤnde? keine Falſchheit vermuthen wuͤrde.

Die Gegend war wuͤſt und oͤde. Ich habe keine Biene gehoͤrt, und ich wolte was drum geben, daß hier kein Bienengewaͤchß im ganzen Bezirk anfzutreiben geweſen.

Nachdem der Paſtor drey bis vier Glaͤ - ſer Wein getrunken hatte, ſang er das Stu - dentenliedchen:Vivat205Viuat Academia!

Nach dem Liede, (dacht ich mit einem Verwunderungszeichen,) nach dem Liede: Lieber Gott, wenn werd ich ſterben? indeſſen, wenn gleich ein ſolcher Zugvogel nicht tagtaͤglich kommt, ſo wird ein Predi - ger doch mit der Zeit mit dem Tode ſo be - kannt, wie eine geuͤbte Woͤchnerin mit einer Entbindung. Muth, das bin ich vollkommen uͤberzeugt, iſt nicht Staͤrke der Seele, ſon - dern Bekanntſchaft mit dem Gegenſtande.

Unſer alte Pfarrer war nicht ohne Em - pfindung; er ward ſehr leicht roth, wenn man ihn nur mit einem Blick etwas zu hart anfuͤhlte. Gleich roth iſt ein ſo ſichres Zei - chen von einem empfindlichen als empfindſa - men Menſchen, von einem Menſchen, der ſich fuͤhlt, und der auch fuͤhlt, was um und neben ihm iſt! ſo wie es was ſanftes, was weibiſches verraͤth, wenn man Muſik liebt! Der gute Paſtor! in Wahrheit, er brauchte keinen andern Beweis von ſeiner Froͤmmigkeit, als ſein heiteres Gott erge - benes Auge, in dem Ruh und Zufriedenheit lag. Ich will nicht, ſagt er, wie Iſrael uͤber die Wachteln murren, und waͤr es auch der vierzig Wuͤſtenjahre, der vierzig Fe -ſtungs -206ſtungsjahre wegen, ich bin ſchon, fuͤgt er ſeufzend hinzu, zehn Jahre bey dieſer Wachtelſtelle.

Es wußt unſer Gaſt nicht viel von dem Zuſtande der Koͤnigsbergſchen Univerſitaͤt, außer daß er uns einen Catalogum lectionum aus den Intelligenzzetteln vorwies, und uns verſicherte, daß es noch bis jetzo nicht fried - lich hergienge; er war ein Inpietiſt, denn einen Orthodoxen kann ich ihn nicht nennen, fals nehmlich die Orthodoxie, wie ich faſt vermuthe, eine Strenge der Obſervanz iſt, ſich und andere an angenommene Regeln zu binden. Ihm ſchien der Pietismus ſo ſehr nicht zu Herzen zu gehn, obgleich er nicht umhin konnte zu bemerken, daß die Pietiſten viel ſaͤhen, was kein Impietiſt ſaͤhe, und viel empfaͤnden, was ſie nicht ausdruͤ - cken koͤnnten. Es blieb dabey, ohne die inpietiſtiſche Parthie unſers guten Paſtors zu nehmen, daß Gedanken, die man nicht aus - druͤcken koͤnnte, unreifes Obſt waͤren. Bald, ſagte der Paſtor, haͤtt ich geſagt, daß ein Wort ein verdauter Gedanke ſey. Er ward roth dabey!

So wie Gaͤrtner ihre Blumen oft ſo pflanzen, daß die Farb einer in die andreſpielt,207ſpielt, und dadurch jede einzele verdirbt; ſo iſts auch auf Univerſitaͤten.

Bey dem zweyten Vers des: Viuat Academia! ward die Frag aufgeworfen, warum man beym Trunk ſo gern Lerm mach und vorzuͤg - lich Fenſter einwuͤrfe: welches auch ſolche Juͤnglinge thaͤten, die bey ſpaͤtern Jahren einen ſtillen innerlichen Rauſch bekaͤmen?

Unſer Paſtor nahm Abſchied. Sein leztes Wort war viuat Academia! Wir verpfaͤndeten uns ſchluͤßlich, ſo oft wir dieſe Straße zoͤ - gen, uns ihm aufzudringen. Dies Wort bitt ich zu ſtreichen, fiel er ein, vielleicht giebt mir Gott bald ein Stuͤck Brod anſtatt der Droßeln, und alsdenn bitt ich zu mir Alles andere: Gott ſey mit Euch, lebt wohl, faßt er zuſammen in das vielbedeutende vi - uat Academia!

Kaum hatten wir uns niedergelegt, ſo hoͤrten wir einen ſchrecklichen Streit, den unſere Fuhrleute, die von Mittag bis Abend in einem Zuge gezecht hatten, erregten.

Ich wolte Mittler ſeyn; allein mein Rei - ſegefehrt verbat es dringend.

Warum208

Warum, Bruder, willſt du gerad oder ungerad ſpielen? Deine Worte werden nichts gegen dieſe Roß und Maͤuler verfangen. Glaub mir, ich zittre vor einem Lande, wo ein Fuhrmann Major, ſein Schweſterſohn Junker, und ein Paſtor ein Droſſelfaͤnger iſt.

Das Ungewitter legte ſich und ſtieg wie - der auf ich ſchlief vielleicht beym haͤrte - ſten Schlag ein.

Habt ihr je in einer Geſellſchaft, in der alles uͤberlaut war, auf eurem Stuhl ge - ſchlafen? Wie ſuͤß! Mein Reiſegefehrt verſicherte mich des folgenden Tages, daß er noch nach meinem Einſchlaf zwey Stunden gewacht haͤtte.

  • Ich. Aus Furcht, Bruder?
  • Er. Ich kann es nicht leugnen
  • Ich. Entſchließ dich, Bruder, meinem Bey - ſpiel zu folgen. Ich fuͤrchte mich nur vor der Furcht, das ſcheint ein Wort - ſpiel; allein es iſt ein richtiges wahres Wort. Auf mein Wort gehe hin, und thue desgleichen!

Unſer Major und Junker waren mit den Wirthsleuten des Hauſes an dieſem gutenMor -209Morgen ſo einig, daß man nichts anders hoͤrt als bitten: bald! bald! wieder zuzuſprechen, und Verſprechungen bald! bald!

Wie ſchoͤn es ſich, ſagte Herr v. G., nach dem geſtrigen Gewitter abgekuͤhlet hat! Da ſiehſt du, Bruder, erwiedert ich, der Teufel traue den Preußen, beſchloß er!

Und nun in Koͤnigsberg! Ein großer weitlaͤuftiger Ort. Ich fragte meine Fuhr - leute, wo dieſer und jener Profeßor wohne, die mir dem Namen nach bekannt waren? Das weiß Gott am beſten, ſagten ſie.

Im Kneiphoff gehoͤrt die Akademie in die Kirche, und vor dieſem kam der Magnifi - cus mit einem Purpurmaͤntelchen, es war ſpannlang und mit einer goldnen Borte be - braͤmt, alle Michaelis und alle Oſtern in dieſe Kirche.

nun nicht mehr?

Nein! nun nicht mehr. Man erzaͤhlt, daß ein grober Kerl von Bauer, der von ohngefehr zu dieſer Ceremonie zu Maas ge -Zweiter Th. Okom -10[210]kommen, uͤberlaut der Puͤffel! (doch was verſteht ein Bauer von Safran!) geſagt ha - ben ſoll:

Wie ſich doch ſo ein alt und wohlbetag - ter Herr noch zum Narren macht!

Nach der Zeit geht der Magnificus ohne ſpannlanges Maͤntelchen in die Kirche.

Die Kneiphofſche Kirche iſt der Dom, und auch die akademiſche Kirche. Die zur Akademie gehoͤrigen Gebaͤude ſind in einer ſo vertrauten Nachbarſchaft mit dieſer Kirche, daß alles wie Eins ausſieht. Dies iſt eine Erklaͤrung zur Fuhrmanns Erzaͤhlung.

Wir ſtiegen bey dem Major ab, der uns zwey Zimmer mit der Verſicherung aufraͤumte, daß wir ſie ſo lange gebrauchen koͤnnten, bis wir ein gutes Quartier bekommen wuͤrden. Er fuͤr ſein Theil ſchluͤg uns die Magiſtergaſſe im Kneiphofe vor, wo die meiſten Studen - ten logiren und der Name ſelbſt ſchien ihm ſehr angemeſſen. Es waͤhrete nicht drey Stun - den, ſo waren drey Landsleute bey uns, wel - che die Sorg uͤber ſich nahmen, uns ein Quartier zum Kuͤßen, wie ſie’s nannten, anzuangeln. Dies Wort war damals, ſo wie das Wort Fidel, Univerſitaͤtsparole.

Dieſe211

Dieſe Nacht blieben wir bey unſerm Fuhrmann. Den Morgen um neun Uhr kamen ſchon unſre fidele Landsleute, verſtaͤrkt mit drey andern; das Quartier zum Kuͤſſen war angeangelt, und wir Burſchen, (um ganz akademiſch zu ſprechen) zogen vom Pfer - dephiliſter aus.

Iſt es Hecht? oder Barſch? fragt ich, was ſie uns angeangelt haben? und ſie lachten herzlich uͤber eine ſo unakademi - ſche Frage.

Wir giengen unſer Quartier beſehen, das uns uͤber alle Maaße gefiel. Es hatt es ein Curlaͤnder bewohnt, der heim reißte, um nachher in franzoͤſiſche Dienſte zu gehen.

Warum in franzoͤſiſche, ſagt ich?

Zum groͤßten Theil der Sprachewegen. Auch gut! Ehemals verliebte man ſich, um fran - zoͤſiſch und das Feine der Sprache, das je ne ſais quoi des Herrn v. W., zu lernen!

Es ward verabredet, daß die Landsmann - ſchaft von dem Abziehenden und dem Anzie - henden bewirthet werden ſolte. Jeder, ſagten die Aelteſten und Vorſteher, giebt ſein Theil, und zwar der Abziehende allein ſo viel, als ihr Anziehende beyde denn er kommt bald nach Canaan.

O 2Um212

Um indeſſen dieſen Schmaus mit Ehren zu geben, ward beſchloſſen, daß wir zuvor immatriculirt werden ſolten.

Einer der Landsleute begleitet uns zu Sr. Spektabilitaͤt, wie man den Decanus der Facultaͤten nennet, zum Examen.

Curlaͤnder? fanden Se. Spektabilitaͤt der Decanus der philoſophiſchen Facultaͤt fuͤr gut zu fragen, als wollten ſie zugleich an - deuten, daß das Examen darnach eingerich - tet werden wuͤrde. Man hat uͤberhaupt die Gewohnheit, Fremde entweder ganz und gar nicht, oder hoͤchſtens nur ſehr wenig zu exa - miniren. Es ſind, wie ſich unſer ehrliche Paſtor in ausgedruͤckt haben wuͤrde, Zugvoͤgel.

Se. Spektabilitaͤt ſchienen ohnedem uͤber - ſchwenglich luſtig, und, wie wir nach der Zeit erfuhren, waren ſie die Nacht vorher Grosvater geworden. Sie kamen uns mit einem mundvoll Latein entgegen, und erkundigten ſich in dieſer Sprache nach un - ſerm Namen? Geburtsort? und Alter? Ich antwortete ſehr behende, und da das lateini - ſche Geſpraͤch blos zum Spaß angehoben, von mir aber im Ernſt fortgefuͤhrt wurde; ſo wolten Se. Spektabilitaͤt es durch -aus213aus nicht glauben, daß ich ein Curlaͤnder waͤre. Nachdem ich ihm dieſes in lateini - ſcher, nachhero aber, um es deſto kraͤftiger zu machen, auch in deutſcher Sprache ver - ſicherte, fand er fuͤr gut mich zu fragen: ob mein Vater ein Curlaͤnder waͤre? Dies ſetzte mich aus aller Faſſung, beſonders da er dieſen Ausfall in reinem Deutſch that, und meinem Reiſegefehrten dieſe verfaͤngliche Frage zu Ohren gekommen war. Ich ward Blut - roth und nach einer Weile (dergleichen Empfindung iſt immer wie ein kaltes Fieber) fuͤhlt ich, daß ich wie eine bleich gewordene Roſe ausgeſehen haben muͤßte. Der Pro - feßor, (das merkt ich auch,) ſah mich ſo an, wie man eine bleichgewordene Roſ anzuſe - hen gewohnt iſt mit einer großen Theil - nehmung. Er trieb dieſe Frage nicht weiter; allein ich war beſtimmt, bey Sr. Spekta - bilitaͤt aus dem Regen in die Traufe zu kommen.

Erſt einige Fragen nach Art meiner Gros - mutter muͤtterlicher Seits, z. E. wie ſich la - tinum von latinitas unterſchiede?

Was der Magiſter Saliorum fuͤr eine Wuͤrde bekleidet? was fuͤr ein unlauteres un - orthodoxes Wort dem Tiberius Gewiſſens -O 3biſſe214biſſe gemacht, da er Neujahrsgeſchenke ver - beten, und daruͤber ein Edict erlaſſen?

Wie Attejus Capito, dem er daruͤber ge - beichtet, ihn abſolviret?

Was Marcus Pomponius Marcellus, als der zweyte Hofprediger, ihm im Beichtſtuhl geſagt?

(Jener meynte, das Wort koͤnnte wohl dem Kayſer zu Gefallen auf - und angenom - men werden, dieſer aber war ſo ſtockortho - dox, daß er dem Kayſer gerade zu ſagte, er koͤnne zwar den Menſchen das Buͤrgerrecht ertheilen; allein den Worten nicht.)

Was den Virgilius bewogen, wie er ſelbſt geſagt, aurum ſe ex Ennii ſtercoribus legere, und warum er nicht, da doch Ennius ingenio maximus, arte rudis geweſen, lieber gerade zu, zur Natur oder zum Homer, gegangen, der fuͤr uns Adam der Natur iſt, ob es gleich in dieſem Stuͤck Praͤadamiten gegben?

Bey jedem großen Werk muͤſſen zwey Koͤpfe arbeiten; wenn auch der eine nur den Kalk loͤſchen, oder einen Grundſtein legen oder abmeſſen ſolte. Moſes und Aron ſind gemeinhin noͤthig. Einer erfindet, der an - dere ſagt. Einer ſchaft den Leib, der andere die Seele. Einer weiſet den Weg, der an -O 4dre215dre geht. Niemand, der ſterblich iſt, kann ein ſelbſtſtaͤndiges Genie ſeyn!

Hier ein Wort von der Natur des Dich - ters und von dem Lande, wo er ſie pfluͤckt.

Er pfluͤckt ſeine Natur; denn der Ort, wo er ſie nahm, iſt, wenn man die Natur wiederſucht, die der Dichter beherzigte, wie abgemaͤht: man ſieht hoͤchſtens die Staͤte, das, was der Dichter ſah, iſt es wohl mehr erſichtlich?

Des Dichters Natur iſt unſterblich. Sie macht die Seele, die Monaden in ſeinem Werke.

Man ſagt, und in Wahrheit kluge Leute ſind unter dieſem Man ſagt inbegriffen. Er - giebiger Boden zieht nicht Genies, ſondern ſchwieriger. Nicht alſo! Reiſet nach Hol - land, um nur eine einzige Reiſe vorzuſchla - gen, hier hat der Fleiß alles gethan. Wie das Land, ſo die Koͤpfe. Ein ſchwieriger Bo - den zieht Kritik, ein ergiebiger Genies.

Wieder eine Frage.

Was den Caſimirus, den vierten Koͤnig in Pohlen, zum Befehl bewogen, die lateini - ſche Sprache in Pohlen zu treiben?

In wie viel Tagen Joſephus Juſtus Sca - liger, des Jul. Cæſ. Scaliger Sohn, dengan -216ganzen Homer, und alſo 63,000 griechiſche Verſe durchgeleſen, und zwar ſo, daß die Frage wegfiel: verſtehſt du auch, was du lieſeſt? Es waren, glaub ich, ein und zwan - zig. Elias, ſetzten Se. Spektabilitaͤt hinzu, oder, wie er ſich ſchreibt, Helias Putſchius, der ſo bald er auf die Welt kam, herzlich zu lachen anfieng, bis in ſein vierzehntes Jahr kein latein konnte, und eben drum als Grammaticus und Criticus es ſo weit brachte, wie Einer, nennt den Joſeph in ſeiner Epi - ſtola dedicatoria vor den zwey und dreyßig Grammatiken, die er commandirt, illuſtrem et incomparabilem Virum. (Wir ſolten, bemerkten Se. Spektabilitaͤt, alle ſpaͤter die Wiſſenſchaften anfangen, alle wie Putſchius ſein latein. Wir waͤren auf Ehre weiter! Fruͤhzeitige Unterrichte ſind feine Ketten, die uns binden, oft ſo fein, wie Seidenfaͤden. Bey ſpaͤtern Anfaͤngen wuͤrde der Schuͤler wo nicht ſelbſt was erfin - den, ſo doch den Lehrer drauf bringen.)

Die Scaligers bildeten ſich ein, aus dem Geſchlecht der Fuͤrſten de la Scala abzuſtam - men, ſagten Se. Spektabilitaͤt. Jammer und Schade, fuhren ſie fort, Putſchius ver -gaß217gaß ſein latein bald; denn er ſtarb im ſechs und zwanzigſten Jahre, ſo, daß er alſo nur etwas uͤber zehn Jahre latein gekonnt hat. Se. Spektabilitaͤt kamen wieder auf ihre Raͤthſelaufgaben, und wandten ſich zur Auf - loͤſung Notarum, und vorzuͤglich juridicarum, und ſo wie unſer Grosvater ſich herzlich auf - hielt, daß man Aut verkuͤrzet durch A. Ante durch AN̅. Auctor durch AVCT. Eſt durch E. ſo gab er mir vielerley Abreviaturknoten zu entchiffern und zu loͤſen. Ich lies mich mit einer Bemerkung hoͤren, wie man ein Volk aus der Sprache kennen lernen und be - urtheilen kann; ſo ſind, ſagt ich, in der Sprache vorzuͤglich dieſe Abreviaturen, ſo bald ſie ins Allgemeine gehen, eine Findgru - be. Sie ſind das Volk in compendio. Jeder Menſch hat indeſſen ſeine eigene Abreviatu - ren, und dies iſt ein Grundriß eines jeden Menſchen. Bey dem Abreviaturknoten bewieß ich mich als Alexander, und da das meiſte, ſo bis dahin verhandelt war, latei - niſch zwiſchen uns vorfiel; ſo konnte mein Reiſegefehrt und Begleiter nicht wiſſen, wo ich gieng, und wo ich ſtand mithin wuß - ten ſie nicht, was aus dem Kindlein wer - den wuͤrde!

O 5Kann218

Kann was aͤhnlicheres zwiſchen meiner Grosmutter muͤtterlicher Seits, und dieſem ſeit der vorigen Nacht gewordenen Grosvater ſeyn? Meine Grosmutter iſt mir ſeit der Zeit eben ſo ſpectabilis, (ſichtbar) als ein Decanus. Seltene Fragen ſind ſeltene Fra - gen. Raͤthſel ſind Raͤthſel. Knoten ſind Kno - ten. Die Sprache thut hiebey nichts.

Ich rechne nicht blos auf Leſer, ſondern auf Leſerinnen, und dieſe guten Kinder ha - ben nicht noͤthig, mit fremden Kaͤlbern zu pfluͤgen, und ihre Liebhaber wegen einer Ue - berſetzung, die ohnehin ſtutzerfrey ausfallen doͤrft, in Anſpruch zu nehmen: denn was der Magiſter ſaliorum fuͤr eine Wuͤrde beklei - det, heißt mit andern Worten, was der En - gel Gabriel fuͤr Federn in ſeinen Fluͤgeln ge - habt? und alles, was ſie von Tiberius, En - nius, Attejus Capito und Marcus Pomponius Marcellus geleſen, betrift den Nabel des Adams, die Farbe Rahels, die Frag: ob David ein Adagio oder ein Allegro vor Saul geſpielt? Ob Pilatus ſich mit Seife gewa - ſchen, und wie viel Selas in der heiligen Schrift vorkommen?

Durch die Aufloͤſung der Abreviaturen, wo ich meine Leſer wiſſen warum? giengund219und nicht am Berge ſtand, wetzt ich alle ge - machte Scharten aus, und Se. Spektabili - taͤt beliebten mich wuͤrklich auch fuͤr ein ſicht - bares Geſchoͤpf zu halten! wofuͤr ich Sr. Spektabilitaͤt noch jetzt dienſtergebenſt verbun - den bin.

Nun ließen mich Se. Spektabilitaͤt einige Stellen aus den Carminibus ſaliariis ins La - tein kuͤnſteln, und ſodann dieſes Kunſtſtuͤck mit einigen Stellen aus den zwoͤlf Tafeln machen.

Meinem Reiſegefehrten bot er auch einen lateiniſchen Rapier an; allein er erhielt eine abſchlaͤgige Antwort, und ich nahm das Wort fuͤr ihn. Ὡς αἰεὶ τὸν ὁμοῖον ἁγει ϑεος ὡς τὸο ὁμοῖον, ſagten Se. Spektabilitaͤt, und ich weiß nicht, ob dieſe Stelle, oder ein Hund, der auf der Straße ſich hoͤren ließ, und eben dadurch den Herrn v. G. aufſprengte und ans Fenſter zog, Se. Spektabilitaͤt auf die Frage brachte: Ob auch im Griechiſchen? Der ehrliche Noſter holte ſeinen Homer nicht aus einem rußigen Buͤcherſchrank. Homer war ſo wenig, wie die Bibel, dieneben220neben ihm lag, beſtaͤubt. Ich dachte, wenn ja ein Mann Grosvater zu werden verdient, iſt Ers. Er lies mich eine der Lieblingsſtellen meines Vaters, die ein adliches Thier an - gieng, uͤberſetzen, ich wußte ſie eben, weil ſie eine vaͤterliche Lieblingsſtelle war, faſt auswendig. Sie faͤngt an

Ὡς οἰ μεν τοιαῦτα πρὸς αλληλους ἀγορευον. Αν δὲ κύων κεφαλήν τε καὶ ȣ῏ατα κίμενως ἔχεν Ἂργος Οδυσσῆος ταλασίφρονος, ὅν ῤά ποτ̕ αυτός Θρεψε μὲν, ȣ᾿δ̕ ἀπόνητο παρος δ̛εις ίλιον ιρήν Ὡιχετο. τὸν δὲ παροιϑεν ἀγινεσκον νέοι ἂνδρες Ἆιγας ἐπ ἀγροτέρας, ἠδέ πρόκας, ἠδὲ λα - γωȣ́ς

Mein Vater hatte die Gewohnheit nicht an - genommen, die haͤufig graßirt, das Griechi - ſche zu verlateinen, ich mußt es verdeutſchen, und dieſe Gewohnheit behielt ich bey, und mein Reiſegefehrt lernte den Hund Argos kennen, der nach zwanzig Jahren ſeinen Herrn Ulyſſes erkannte, ſich von ſeinem Sterb - lager aufrichtete, mit dem Schwanze we - delte; indeſſen nicht mehr das Vermoͤgen hat - te, mit ſeiner Zunge ſeinen Herrn zu beruͤh - ren, um ihm Dank zu lecken. Dieſer weinte!

Argos221

Argos aber, der ſeine ſtarren Augen noch angeſtrenget hatte, ſeinen Herrn zu ſehen, ſtarb, nachdem er ihn geſehen hatte, in Frie - den. Gott hab ihn ſelig, ſagte Herr v. G., und eine Thraͤne blinkt in ſeinen Augen; denn es war ein Hund, von dem geredet ward. Herr v. G., ſie haben mir etwas ſehen laſſen, ſagte der Großvater, was eben ſo gut iſt, als griechiſch verſtehn. Wollte Gott, anwortete Herr v. G., ich koͤnnte griechiſch, des Argos wegen. Es ſind mehr ſchoͤne Seelen im Homer, fuhr der Grosvater fort. Herr v. G. wiederhohlte: des Argos wegen.

Endlich fiengen Se. Spektabilitaͤt (auch dies, weil ſie Grosvater geworden waren,) etwas aus der lieben Weltweisheit an. Es ſah ſo aus, als wenn wir einen Ritt dran wagen wolten.

Quid eſt

Wenn Ewr. Spektabilitaͤt es im Deutſchen erlauben?

Der gute Mann ſtimmte bey, und aus unſerm Examen ward ein Geſpraͤch, ein Pik - nik, wo jeder ſein Schuͤſſelchen giebt.

Die222

Die Philoſophie und die deutſche Sprache, wolte Gott, dies koͤnnt ein Paar wer - den fuͤr und fuͤr! Wolte Gott, unſere Philoſophen moͤchten ſolche Gewißenskoliken haben, als Tiberius uͤber jenes Wort im Edict, und uͤber das Wort Monopolium, von welchem mir bekannt iſt, daß er es mit ſalua venia verbraͤmt, und uͤber das Wort ἔμβλημα, welches er wie Se. Spektabilitaͤt beylaͤufig anzumerken beliebten, aus einem Edikt ausradiren laßen.

Es giebt Natur-Philoſophie und Kunſt - Philoſophie. Leben! Leben! Leben! und Schulweisheit. Philoſophie, die blos weiß, und Philoſophie, die weiß und thut, ge - lehrten Wuſt und Weisheit. Ariſtoteles war ein Kuͤnſtler, Epikur, Diogenes, (mit Fleiß zuſammen,) waren Naturaliſten, und Sokrates desgleichen. Die kuͤnſtliche wird ganz und gar gelehrt, bey der natuͤr - lichen iſt nur eine gewiſſe Methode, die ge - zeigt wird. Das Faß des Diogenes, die Brey des Epikurs, wie verehrungswerth! Die Fenſter im Auditorio, wo natuͤrliche Weisheit gelehrt wird, gehen all ins ge -meine223meine Leben. Die natuͤrliche lehrt die Zeit gebrauchen, die kuͤnſtliche, ſie vertreiben. Die Naturphiloſophie iſt fließend Waßer, Springwaßer, die kuͤnſtlich iſt Waßer, wel - ches ſteht. Die Kunſtphiloſophie treibt Com - mißionshandel, die Naturphiloſophie hat blos eigenes Produkt. Das Leben der Na - turphiloſophie iſt eine Copia vidimata ihrer Grundſaͤtze, und zu ihren Angaben ein ſolch erklaͤrender nachhelfender Belag, daß ohne Beylage ſub Vide ihre ganze Lehre wie gar nichts iſt. Wohl dem, der von dieſem Waſ - ſer des Lebens getrunken hat! Die Idee der Weisheit liegt der Naturphiloſophie zum Grunde, die nicht gleichguͤltig, ſondern gleich - muͤthig macht. Iſt wohl ein paßende - res Motto zur kuͤnſtlichen Philoſophie, als die Herren werden doch wohl Spas ver - ſtehn Will man ein Emblem, ſo iſt’s ein optiſcher Kaſten.

Vom natuͤrlichen Philoſophen ſagt man, er philoſophirt. Ein kuͤnſtlicher Philoſoph hat Philoſophie. Er hat ſie vor Geld und gute Worte zum Verkauf und zur Pacht. Man muß es bey der Philoſophie nicht anle - gen, ein Buch, den beliebten Autor, ſon - dern die Sache zu verſtehn. Man will ſichvorzuͤg -224vorzuͤglich ſelbſt verſtehn, und das Buch Gottes, die Welt. Dieſe Philoſophie kann nicht auswendig gelernt werden; es iſt was inwendiges, ein Philoſoph zu ſeyn. Denken und leben heißt: philoſophiren. Wenn man die Wiſſenſchaften in die, der Gelahrtheit, und die, der Einſicht eintheilt; ſo wuͤrd ich die kuͤnſtliche Philoſophie zur Gelahrtheit rechnen, und ſo, wie man z. E. von einem Hiſtorikus ſagen kann: er ſey ein Gelahrter, er habe viel gelernt; ſo auch von einem Kunſtphiloſophen. Die natuͤrliche Philoſophie beſtehet nicht in Nachricht, ſon - dern in Einſicht. Man kann nicht vom na - tuͤrlichen Philoſophen ſagen: er habe viel ge - lernt; allein er kann viel lehren. Alle Ver - nunfterkenntniß aus Begriffen, gehoͤret zwar zur Philoſophie; allein der Philoſoph iſt ei - gentlich ein Fuͤhrer der Vernunft, und brin - get den Menſchen an Ort und Stelle. Der Menſch iſt nicht bey ſich, heißt, oder ſolte heißen: er habe dieſen eigentlichen philoſo - phiſchen Weg verfehlt. Die Beſtimmung des Menſchen, und die Mittel dahin zu ge - langen, das iſt das Ziel, wo alle philoſo - phiſche Erkenntniß zuſammen trift. Es iſt die Probe der Philoſophie. Der gemeineMann225Mann meynt und wuͤnſcht, und ſelbſt dazu iſt er ex ſpeciali gratia privilegirt; der Weiſe denkt und will. Verſtand und Wille zu - ſammen iſt eine Seele. Wer kann die Seele halbiren? Der Mann hat Geiſt und Leben, das heißt: der Mann iſt ein Philoſoph na - tuͤrlicher Art. Zwar ſagt man auch, dies Buch hat Geiſt und Leben; allein alsdann denkt man, der Verfaßer, ein Philoſoph der beſagten Art, hat es geſchrieben, und es ſich ſo aͤhnlich gemacht, daß er ihm etwas Geiſt und Leben abgegeben. Er hat es angehau - chet! wie Gott den bis auf die Seele fer - tigen Adam. Der Mann iſt im Buch ge - troffen! Oft hab ich gehoͤrt: wenn man den Mann ſieht, und ſein Buch, ſolte man ſie wohl fuͤr Vater und Sohn hal - ten? Ja und wenn ihr ſie nicht dafuͤr haltet, liegt es an euch. Wie der Autor, ſo das Buch, per omnia ſæcula ſæculorum. Jeder Phyſionomiſt muß den Autor aus dem Buch abziehen, und zum reden treffen. Das Buch hat Hand und Fuß, der Mann hat Hand und Fuß, heißt ein Mann mit Winkelmaaß und Waage, der alles mißt und paßt, und ein Buch von der nemlichen richtigen abgemeſſenen Weiſe, wo wederZweiter Th. PMan -226Mangel noch Ueberfluß iſt, ſondern juſt die erforderlichen Gelenke. Die Naturphi - loſophie iſt keine Feindin von reinen Vernunfts - begriffen; allein ſie beſtaͤtiget ſie, wenn ich ſo ſagen ſoll, auf der Stelle. Sie ſchaft ſich gleich einen Abdruck wie Gott die Welt. Die Religion faͤngt heut zu Tage mit dem Catechismus, und die Philoſophie mit einem Compendio an. Allein in Wahrheit, man ſolt auf ein lebendiges Er - kenntniß dringen, dann wuͤrde man doch ein - mal einen Philoſophen zu ſehen bekommen.

Roußeau, damit ich eine Bemerkung mache, die in unſern Tagen zu Hauſe ge - hoͤrt, Roußeau, (ſchade! daß er todt iſt,) war wirklich eine Spektabilitaͤt unter den Philoſophen. Der bloße philoſophiſche Kuͤnſtler weiß nichts rechtes, nicht daß ein Gott iſt; der arme Schelm! man koͤnnte die natuͤrliche: Philoſophie κατ̕ εξοχην, die kuͤnſt - liche: Vernuͤnfteley nennen. Die Vernuͤnf - teley und die Zweifelſucht ſind Grenznachba - ren. Ein Zweifler und ein Aberglaͤubiſcher ſind Schweſter und Bruder. Ein Zweif - ler macht ſich ſein Leben nicht gemaͤchlich. Nein, er hat ſich mehr aufgelegt. Er hat Ja und Nein zu tragen, wenn er denkt. Im227Im Fall er aber blos ſpaßt, iſt er nur ein Scheinzweifler, und ein Mann, der alles der Nachfrage wegen hat. Man glaubt ge - meinhin, ein Zweifler ſey kein Vielwiſſer; allein er iſt es im eigentlichſten Verſtande, und es kann gemeinhin von ihm heißen: das Wiſ - ſen blaͤſet auf. Wer Dinge, die gaͤng und gaͤbe ſind, bepruͤft, und keinen Stein auf den andern laͤßt, iſt kein Zweifler, ſondern ein Pruͤfer; im Fall er nemlich aus pro und contra, aus links und rechts, ſich etwas auspunktirt, was Stich haͤlt. Solch ein Mann iſt nicht aufgeblaſen, ſondern beſchei - den. Seine Zweifel leiteten ihn auf den rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahr - heit und zum Leben. Ein Lehrer der Naturphiloſophie kann von ſich und ſeinen Juͤngern ſagen; ich leb, und ihr ſolt auch leben. Wer hat je mit den Pietiſten uͤber die Wahrheit der chriſtlichen Religion geſtrit - ten? Wer ſo lebt, als er lehrt, darf nur bitten, ihm die Ehre zu thun, bey ihm ein - zuſprechen. Man iſt heut zu Tage von der Naturphiloſophie ſo abgekommen, daß man den, der ſo lebt, als er lehrt oder glaubt, einen Schwaͤrmer nennt. Sehr unrich - tig!

P 2Meine228

Meine Leſer werden, hoff ich, nicht vergeſſen haben, daß ſie zu einem Pikenik ge - laden ſind, wo nur Se. Spektabilitaͤt und ich, (meinen Vater kann ich immer mit ein - rechnen,) ihr Schuͤßelchen auftrugen. Wenn ein Koch dieſe Schmauſerey angeordnet haͤtte, waͤr es freylich abgemeſſener geweſen ob ſchmackhafter, weiß ich nicht.

Ich bemuͤhe mich auch hier, Lebenslaͤu - fer zu ſeyn, und dieſ Abſchrift iſt dem Ori - ginal aͤhnlich. Wir fielen von einem aufs andre. Wir ſcheitelten die Haare nicht. Wuͤrd ich nicht einen Roman ſchrei - ben, wenn ich nicht auch von einem aufs andre fallen und die Haare ſcheiteln ſolte? Ein Roman! fern ſey er von mir!

Die Eintheilung der Philoſophie in die natuͤrlich und kuͤnſtliche, iſt die Hauptein - theilung, die philoſophiſche Eintheilung der Philoſophie. Sonſt giebt es Eintheilungen Gott weiß wie viel! In Abſicht der Kraͤfte des Menſchen, in Abſicht der Prin - cipien, in Abſicht der Objekte, der Erkennt - niſſe.

Ein Philoſoph muß das allgemeine in concreto, und das einzelne in abſtracto er - waͤgen, und wenn man gleich gern zugiebt,daß229daß bey jeder Wiſſenſchaft die Idee des Gan - zen die Avantgarde macht, und daß aus der Eintheilung des Ganzen die Theile entſtehen, und daß, um die Theile zu wiſſen, man erſt das Ganze von Perſon zu kennen die Ehre haben muͤße; ſo iſt doch nicht gut, wenn ein erſchreklicher Eingang praͤludirt und pro - logirt wird, ehe man zum Thema ſchreitet, auch wenn die Praͤludia, wie die des Herr - manns, noch ſo ausſtudirt ſind. Wozu die Prolegomena, und das erſchrekliche Geſchrey: da werden ſie ſehn! da werden ſie ſehn! Gleich das Lied, iſt am beſten! Wenn ich heiß - hungrig bin und der Wirth, der mich gela - den hat, zeiget mir erſt ſeine drey Porcelain Service, und ſodann ſein Silberzeug, und endlich ſeine Faiance, bis ich mich uͤberhun - gert, und keine ordentliche Mahlzeit thun kann, wie wenig Urſach hab ich den Wunſch einer geſegneten Mahlzeit anzunehmen, und mich ergebenſt zu bedanken; ich wolt anbeiſ - ſen, und nicht mit der Gabel anſpießen. Warum nicht kurz praͤſentirt: Herr Gott dich loben wir. Befiehl du deine Wege. Philoſo - phie! Verſtands - und Willenphiloſophie, theo - retiſche und praktiſche, wenn es ja nach der alten Leyer gehen ſoll. Vernunfts - und Er -P 3fah -230fahrungsphiloſophie. Empiriſche und ratio - nale, und damit die Eintheilung in Ruͤck - ſicht des Objekts nicht vernachlaͤßiget wer - de Philoſophie der engelreinen Vernunft, und der menſchlichen Sinne. Die Philoſophie der Sinne heißt die Naturlehre. Die Sin - ne ſind zwiefach, innerlich und aͤußerlich. Was ich mit dem innerlichen Sinn gewahr werde, iſt einzig und allein meine Seele. Alſo giebts Seelennaturlehre und Koͤrperna - turlehre. Empiriſch und rational kann jene und dieſe ſeyn, und was kann nicht alles ſo ſeyn? Ich kann zwar nur mit mir ſelbſt Seelenbetrachtungen anſtellen; allein ich kann nach dem Kennzeichen der Ueberein - ſtimmung auf andre ſchließen. Welch ein großes Wort: lern dich ſelbſt kennen! Mancher Philoſoph, der ſich auf die Seelen - naturlehre legt, und viel drinn philoſophirt, kommt endlich zu einer Art nota bene, zu einer Art von Geiſterſeherey, von Anſchauung vom Platonismus und myſtiſchen Weſen. Er wird entzuͤckt, und wenn man gleich mit dem Verſtande nicht ſehen, ſondern nur denken kann; ſo iſt er doch in einer Verfaſſung, wo es heißen koͤnnte: Es hat kein Auge geſehen, kein Ohr gehoͤrt, es iſt in keines MenſchenHerz231Herz kommen, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben. Oft verſehen ſich dieſe guten Leute ſo, daß ſie an ihren Ort geſtellet wer - den, der nicht der angenehmſt iſt. Bie - gen oder brechen iſt die Loſung dieſer Seher! Jammer und Schade, daß es gemeinhin bricht!

Iſt denn in den aͤußern Sinnen Wahr - heit, ihr Sinnenglaͤubige? Seht die Sonn an, geht oder ſteht ſie? Selbſt wenn unſer Urtel mit der Erſcheinung uͤbereinſtimmt, und wenn man ſagen kann, die Sach iſt wahr - ſcheinlich, iſt ſie drum ſo und nicht anders?

Gott allein kann die Gegenſtaͤnde mit dem Verſtand[anſchauen]; denn ſie ſind durch ihn und in ihm. Er hat alles in originali, wir uns ſelbſt nur ſo! Was heißt: Gott ſchauen und in Gott alle Dinge? Durch eine einzelne Vorſtellung erkennen, koͤnnte man anſchauen nennen, durch allge - meine Begriffe erkennen, wuͤrde denken heiſ - ſen. Man kann phyſiſch und myſtiſch ſchauen, durch Koͤrper und Seelenaugen. Die Seele hat, nach der Myſtiker myſtiſchem Dafuͤr - halten, wie die Cyclopen nur ein Auge.

Die Logik iſt Verſtands Grammatik. Sie lehrt uns, von keinem Gegenſtande etwas P 4ſelbſt232ſelbſt vom Verſtande nichts; allein ſie lehret uns von Dingen, die wir gar nicht kennen viel, und, was noch mehr iſt, gelehrt reden. Von Dingen, die man weiß, von denen man uͤberzeugt iſt, ſpricht man nur wenig. Man handelt wie oben gezeigt wor - den. Dingen aber, von denen man nicht uͤberzeugt iſt, legt man durch eine gewiſſe Hitze einen Grund bey. Man legt es recht dazu an, ſich dadurch, daß man den an - dern uͤberzeugt, auch ſelbſt zu uͤberzeugen, und oft iſt man hiebey gluͤcklich, ſo daß man in der That auch hier durchs Lehren lernt. Es kann eine allgemeine Grammatik aller Spra - chen geben, ſo auch eine des Denkens, die nemlich allgemeine Regeln des Denkens ent - halten muͤßte. Was thun Woͤrter zur Gram - matik! Allgemeine Regeln der Sprachen wuͤrd eine allgemeine Grammatik ſeyn. Vielleicht haͤtte die lateiniſche dazu all Anlage. Die Dialektik iſt die Logik des Scheins. Wahrheit iſt der Inhalt der Erkenntniſſe, mithin kann ſie durch die Dialektik nicht erkannt werden. Die Dialektik traͤgt die Liverey des Verſtan - des, ſie iſt die Kunſt des Scheins, die Wiſ - ſenſchaft der Sachwalter und der Sceptiker. Die Roͤmer waren nicht ſpeculativiſch inder233der Philoſophie, ſondern geſund. Sie waren nicht Ariſtoteliker ſondern Menſchen. Den Cicero machten die Wiſſenſchaften ruhig; denn er ſprach wenigſtens, wie Sokrates lebte, und ſchon dieſe von der Naturphiloſophie ent - zuͤndeten Worte weheten ihm Ruhe zu. Durch die Scholaſtiker iſt dem Summus Ari - ſtoteles ein Ehrengedaͤchtnis geſtiftet. Der Ausleger weiß immer ein Drittel mehr, als ſein Autor; ſo geht es immer, und ſo gieng es auch hier! Man findet von dieſem Greuel der Verwuͤſtung noch Ueberbleibſel, und vor - zuͤglich ſind dieſe Antiquitaͤten noch in der Lo - gik zu ſehen. Da giebt es Alterthuͤmer die Menge, (Einen Winkelmann bey den Anti - quitaͤten der Logik, wuͤnſcht ich blos der Seltenheit wegen; dieſes iſt ein Wunſch der ohne Fingerzeig weit juͤnger, als mein Exa - men, iſt.)

Des Ariſtoteles, Gott! verzeih mir mei - ne Suͤnden! oder vielmehr ſeiner Ausleger wegen; denn wahrlich Er, fuͤr ſeine Perſon, war ein Mann, der ſich gewaſchen hatte, ſolte man eine Feindſchaft wider all undeut - ſche Namen in der Philoſophie haben. Die Ausleger! was ſind ſie meiſtentheils und was ſind ſie in caſu beſonders? Canaͤle in die kreuzP 5und234und quer, die dem Lande die feuchte Kraft nehmen, und den Reiſenden hindern.

Viele behaupten, daß wir mit Erkennt - niſſen auf die Welt kommen, die man all - maͤhlig herausſpinnt, wie Garn aus Flachs. Dieſe halten die Seele fuͤr eine beſchriebene, andere halten ſie fuͤr eine unbeſchriebene Ta - fel. Beyde fuͤr Tafeln von Wachs, und nicht von Stein, wie die Tafeln Moſis. Alle Suͤn - den aus der Erbſuͤnde herleiten, heißt: eben dadurch eine wuͤrkliche Suͤnde mehr begehen. Es waren ſchon Weiſe des Alterthums, die der Meynung waren, daß alles noch Ueber - bleibſel von unſerer vorigen Gemeinſchaft mit Gott waͤre, daß alles, damit ich mich deut - lich und chriſtlich ausdruͤcke, aus dem Para - dieſe herkaͤme. Was mein Vater von ange - bohrnen Begriffen dachte, konnte ich nicht anbringen, Se. Spektabilitaͤt uͤberkrieſchen mich, und was Se. Spektabilitaͤt davon dachten, ergiebt ſich ziemlich deutlich aus dem vorigen. Sie glaubten, der Tiſch ſey nicht mit Eßen und Trinken beſetzt; allein auf dem Tiſch ſtuͤnd ein Beutel mit Dukaten und Thalern, groß und klein Geld, je nach - dem die Faͤhigkeiten ſind, Eßen und Trinken anzuſchaffen. Die Erkenntniße moͤgen nunaus235aus den Sinnen geſchoͤpft werden, oder die Sinne moͤgen blos Gelegenheitsmacher ſeyn; dies ſey der Weg zur Erkenntniß.

Es iſt die Frag, ob wir alle gut, alle boͤſ oder bald gut, bald doͤſ auf die Welt kommen?

Wenn wir in die Hoͤhe wollen, muͤßen wir ſteigen. Wenn der Menſch alles aus dem lieben Gott beweiſet, ſo will er ohne Leiter auf den Kirchthurm, gluͤckliche Reiſe! So philoſophiren nenn ich, einen leichtſinni - gen Eyd ſchwoͤren. Man muß ſich nicht anders auf Gott berufen, als bis Noth am Mann iſt. Du ſolſt den Namen deines Got - tes nicht unnuͤtzlich fuͤhren! Eure Rede ſey Ja, ja, Nein, nein, was druͤber iſt, iſt vom Uebel. So wie ſich Gott durch die Werk offenbaret hat, und der Menſch von allen Geſchoͤpfen, die wir die Ehre haben zu kennen, ſein Meiſterſtuͤck iſt; ſo will er auch keinen Sprung zu ihm hinauf, ſon - dern will, daß es fein in dem Geleiſe der Na - tur bleibe, die nicht ſpringt. Die Inſtan - zien, die Gott angeordnet hat, muͤßen nicht uͤbergangen werden. Schein iſt ein Urtheil, das aus der falſchen Anleitung des Verſtan -des236des entſpringt, Wahrheit iſt die Ueberein - ſtimmung der Erkenntniß mit dem Gegen - ſtande. Wenn alſo gefragt wird, was iſt Wahrheit? reine gediegene Wahrheit? ſo kann man nicht beßer drauf antworten, als Wahrheit iſt Wahrheit. Wenn mir nicht ein Gegenſtand gegeben wird; ſo kann ja auch keine Probe der Uebereinſtimmung ge - zogen werden. Eine Erklaͤrung der Wahr - heit in der Art zu geben, daß ſie auf alle Objekte ohn Unterſchied paßt, iſt unmoͤglich. Jeder hat ſeine Uhr, jeder ſeine Brille, je - der ſein Pferd und jeder ſeinen Hund, ſeinen Argos, ſetzte Herr v. G. hinzu. Ein allgemeines Wahrheitsmerkzeichen, wo iſt es? Eine Regel, die all Objekte umfaßt und ſie herzt und kuͤßt, wo iſt ſie? Ich muß verglei - chen Erkenntniß und Gegenſtand; wenn ich aber keinen Gegenſtand habe, wie kann ich’s? Vielleicht koͤnnte ſie, die Uebereinſtimmung der Erkenntniß mit den Geſetzen des Verſtan - des und der Vernunft heißen, und der Ir - thum, der Widerſtreit der Erkenntniß mit den Geſetzen des Verſtandes und der Ver - nunft vielleicht!

Die Seel in jeder Sache, oder dasje - nige in der Erkenntniß von ihr, was in al -len237len Vorſtellungen, die wir von der Sache haben koͤnnen, gilt, iſt das wahre darin.

In ſo weit ſich eine Sache nicht wider - ſpricht, in ſo weit iſt eine Seitenwand zum Wahrheitsgebaͤude fertig, in ſo weit iſt eine Be - dingung da, unter der etwas wahr iſt. Wer kann und will aber ſagen: alles was ſich nicht widerſpricht, iſt wahr? Es kann wahr werden. Es iſt in Gott wahr, jeder Gedanke bey ihm ſteht da. Das Principium des Widerſpruchs iſt immer ein negatives Wahrheits kennzeichen. Es iſt nur eine Laterne in der Hand; allein es ge - hoͤrt mehr dazu, als meiner Mutter Hand - laternchen, wenn man hier ſicher und ohn - angefallen an Stell und Ort kommen ſoll.

Die Sinne lehren das Formale eines Dinges, der Verſtand das Materiale. Das, wodurch das Mannigfaltige auf gleiche Art gedacht werden kann, heißt Regel. Der Verſtand iſt das Vermoͤgen der Vorſtellungen nach Regeln. Wir haben viele Vorſtellun - gen, die wir nicht wahrnehmen, deren wir uns nicht bewußt ſind. Man kann mit ei - nem Menſchen ſprechen, ohne daß man weiß, was er fuͤr ein Kleid hat, und man kann denken, ohne daß man es wahrnimmt. Ein abſtrakter Kopf iſt, der ſo denkt, daß ernur238nur immer auf das ſieht, was den Begrif - fen gemein iſt. Das Vermoͤgen, ſich Dinge durch Begriffe vorzuſtellen, heißt denken. Einen Begrif analyſiren, ihn klar machen, iſt ein Hauptſtuͤck der Philoſophie. Sie macht Gold; denn wenn es aus der Erde kommt, iſt es Erde, durch Laͤuterungen wird es Gold. Ein Moralphiloſoph kann kei - nen Buchſtab mehr, als dies. Laͤge der Begrif der Tugend nicht in uns, wie koͤnn - ten wir von ihm uͤberzeugt werden? Wie? Begrif, Urtheil, Schluß, major, mi - nor, concluſio! Ein Uebergang von einem Urtheil zum andern, heißt Schluß. Major enthaͤlt mehr in ſich, als das Subjekt quæ - ſtionis. Es iſt der Vater vieler Kinder, Soͤhne und Toͤchter. Ehe man ſein Zimmer bezieht, ſieht man den ganzen Pallaſt. Das Praͤdicat iſt groͤßer, als das Subjekt. Es behaupten einige: Empfindung waͤre die groͤßte Wahrheit; allein ſie giebt nur Stof zum Urtheil. Die Sinne urtheilen nicht; die Vernunft urtheilt. Die Sinne ſind Stahl, Feuerſtein und Zunder. Zum Ir - thum (Heil mir und meinem Buche!) gehoͤrt ſo gut, als zur Wahrheit, Verſtand. Die239Die Unwiſſenheit allein kann ſich ohn ihn be - helfen. Der Verſtand wird beym Irthum anders gewendet. Beym Irthum iſt Illu - ſion des Verſtandes. Sinne und Verſtand ſind Waßer und Wein. Wer hat Wein ohne Waßer getrunken? Schon in der Traube iſt Waßer!

Jedes muß ſein Maas und Gewicht ha - ben. Die Schranken des Verſtandes brin - gen nicht Irthuͤmer hervor, ſondern nur weniger Erkenntniße. Ein engbegraͤnzter Verſtand irrt weniger als ein großer! Bey Gelehrten ſind mehr Irthuͤmer, bey gemei - nen Leuten aber mehr Vorurtheile. Wenn man den Menſchen bindet; ſo laͤuft er nicht davon. Man ſagt von großen Genies, ihre Irthuͤmer, ihre Fehler, waͤren ſchoͤn. Schmeicheley!

Ein Kleid hebt das Geſicht. Ein kleines Maͤnnchen kann ſo richtig gebaut ſeyn, als der groͤßeſte; es kommt nur auf das Ver - haͤltniß unter den kleinen Theilchen an. Ir - thum, wenn ihn ein Kluger begeht, iſt Ta - ſchenſpielerey; es gehoͤrt ein Auge dazu, den Trug zu entdecken, und dies Aug hat nicht jeder. Irthum liegt oft in Saͤtzen, oft in der Anwendung dieſer Saͤtze. Ein Fehler inAbſicht240Abſicht der Saͤtze heißt wirckliche, in Abſicht der Anwendung Schwachheitsſuͤnde.

Erſt buchſtabiren, dann leſen, ſagten unſere liebe Alten. Erſt ein Urtheil uͤber Pauſch und Bogen, dann ein richtiges. Erſt der Laͤufer, dann der Herr. Wer in ſeinen vorlaͤufigen Urtheilen das rechte trift, heißt: ein Gluͤckskind, oder ſolt es eher heißen, als der, in deſſen Familie viele alte Tanten ſind. Es waͤre wohl werth, ein Buchſtabirbuch in dieſem Verſtande, in dieſem Sinn, herauszu - geben, und uͤber die vorlaͤufige Urtheile eine Anleitung zu ertheilen. Die Franzoſen ſind vorlaͤufige Urtheiler. Der erſte Gedank iſt oft der beſte, und in Wahrheit, es giebt vorlaͤufige Urtheile, die werth ſind, in Rah - men gefaßt zu werden!

Vorurtheile ſind Urtheile aus der bloßen Sinnlichkeit, die man fuͤr Urtheile aus dem Verſtande haͤlt. Die Sinnlichkeit laͤuft dem Verſtande vor. Den Grund, den wir ha - ben, von einer Sache zu urtheilen, der aber nicht aus den Geſetzen des Verſtandes genom - men iſt, heißt ein Vorurtheil. Die Eltern haben Vorliebe zu ihren Kindern; hieraus entſtehet eine Vorſprache, welches die Rede - kunſt des Vorurtheils iſt.

Ein241

Ein Vorurtheil iſt eine Luͤge, nur daß ſie nicht immer vom Vater, dem Teufel, iſt.

Große Koͤpfe ſtiften viel Gutes; allein auch wahrlich viel Unheil: denn ſie werden verehrt, und niemand unterſteht ſich, weiter zu gehen. Sie ſind ein Wall, den kein Re - mus zu erſteigen ſich unterfaͤngt. Jeder Menſch hat einen Hang, ſeine Meynungen andern mitzutheilen, und der Gelehrteſte iſt nicht gleichguͤltig gegen das Urtheil ſeiner Waͤſcherin und ſeines Ofenheizers. Die Me - thode iſt dogmatiſch uͤber apodiktiſche Wahr - heiten, und dies iſt die Methode der Unter - weiſung und Behauptung. Die Methode iſt aber ſceptiſch, polemiſch, wo man erſt unter - ſucht, ob etwas apodiktiſch heißen kann. Dies iſt die Methode der Unterſuchung, Bepruͤ - fung oder Kritik. Die polemiſche Method iſt die Laͤuterung, das Sterben, die Verwe - ſung in der Kenntniß, ehe wir zum Licht und Leben kommen. Die ſceptiſche Philoſophie iſt hievon verſchieden, von welcher wir oben loco congruo ſchon ein Woͤrtchen gewechſelt. Zweifeln und ſein Urtheil aufſchieben, iſt ſo unterſchieden, als vorurtheilen und nach - urtheilen.

Zweiter Th. QHier242

Hier eine ſchoͤne Predigt uͤber die Worte: Der Glaube kommt durch die Predigt, viua vox docet.

Ein muͤndlicher Vortrag verraͤth die Art zu denken. Sie zeigt den Lehrer unangeklei - det. Beym Hoͤren denkt man immer mehr, als beym Leſen. Hoͤren iſt auch natuͤrlicher, als leſen. Zwar koͤnnen auch Buͤcher er - bauen; allein es iſt hier das nemliche Ver - haͤltniß, wie zwiſchen Kirchen und Hauß - andacht.

Man muß beym Leſen die Seele des Buchs ſuchen, und der Idee nachſpuͤren, welche der Auctor gehabt hat, alsdann hat man das Buch ganz. Zuweilen iſt freylich die Seele ſchwer zu finden, wie bey manchem Menſchen ſie wahrlich auch ſchwer zu finden iſt. Der Verfaßer ſelbſt wuͤrde Muͤhe haben, die Seel aus ſeinem Buch herauszurechnen indeſſen hat jedes Buch eine Seele! Et - was hervorſtehendes wenigſtens, und ge - meinhin pflegt ſich hiernach das Uebrige zu bequemen.

Es ſcheint in der Welt bey allen Sachen eine Fibel noͤthig zu ſeyn, uͤberall ein gewiſ - ſer Mechanismus, uͤberall eine Schule, eine Akademie. Wer nur ein Buch lieſet,vergißt,243vergißt, daß das Jahr vier Jahreszeiten, und daß jeder Tag vier Tagezeiten habe. Man leſe vier Buͤcher auf einmal, und man wird finden, daß dies dem Gemuͤthe Erho - lung ſey! Ein einzig Buch leſen heißt im Seelenverſtande: den Pflug fuͤhren, oder dreſchen. Neue Beſchaͤftigung iſt wahr - lich Erholung. Warum iſt die Geſellſchaft Erholung? Weil ein kluger Mann hier mehr, als ein Buch, lieſet. Der hat es weit gebracht, der Menſchen leſen kann!

(Gott weiß! dies iſt ein großes Stu - dium. Die ſchoͤnſte Gegend, was iſt ſie ge - gen einen Menſchen? Und wer die Geſell - ſchaft aus dieſem Geſichtspunkt nimmt, kann gelehrt werden, ohn ein gedrucktes Buch, das ohnehin ſelten Leben hat.)

Es giebt einen gewiſſen Leſegeiz, alles, was man lieſet, in ſeinen Nutzen zu verwen - den. Einen Leſevielfraß, alles zu ver - ſchlingen, und da ereignen ſich oft Kopf - druͤcken und Verſchleimungen. Sich in ei - nem Buche betrinken heißt: druͤber ſehen und hoͤren vergeßen, und es ſo vorzuͤglich finden, daß nichts druͤber iſt. Wenig und gut leſen, iſt großen Koͤpfen eigen. Es iſt ſchwerer, ſo ſchreiben, als ſo reden, daßQ 2es244es einen intreßirt. Das beſt iſt, ſich ſelbſt herausdenken, nicht bey Hand und Lehrbuͤ - chern, ſondern bey ſeinem Genie in die Schule gehen und ihm Folge leiſten, und die Lo - gik dem natuͤrlichen Gange ſeines ſelbſt eige - nen Geiſtes, ſo wie die Moral ſeinem Ge - wißen, zu verdanken zu haben! Wohl dem, der ſich von allem entkleiden kann, was nicht er ſelbſt (das letzte Hemde nicht ausgenom - men) iſt! Wohl dem, der ſeine Willkuͤhr dem Geſetz der Wahrheit und der Tugend unterwirft, wohl dem, der Weſen vom Schein, Schatten vom Licht abſondert! Men - ſchenfurcht, Menſchenehre und den ganzen un - wuͤrdigen Troß von Vorurtheilen, ſie moͤgen gleich die hoͤchſte Stuffe des menſchlichen Le - bens und ihre achtzig erreicht haben, und mit dem regierenden Hauſe in Einverſtaͤnd - niß leben, vom Hauptpaſtor kanoniſirt, und vom Profeßore Philoſophiae ordinario als ein Anhang dem Catechismus der Vernunft bey - gebunden ſeyn, fuͤr das haͤlt, was ſie ſind Menſchenſatzungen und Tand! Wohl

Alles rationale zuſammen genommen, heißt Metaphyſik. Sie iſt die Seele der Philoſophie. Die Methapyſik enthaͤlt Urtheildes245des Verſtandes, abgeſondert von aller Er - fahrung, und von allen Verhaͤltnißen der Sinne, wenn z. E. von der Moͤglichkeit, Zufaͤlligkeit u. ſ. w. gehandelt wird. Hier reden wir nicht vom Schein, ſondern vom Seyn, um dem Droßelpaſtor nachzuahmen. Die Metaphyſik hat kein Verhaͤltniß zu den Sinnen. Es will hier alles geiſtiſch gerich - tet ſeyn. Sie iſt ein Lexicon der reinen Vernunft; ein Verſuch, die Saͤtze des rei - nen Denkens in eine Tabelle zu bringen. Was in der Logik Urtheile ſind, ſind in der Ontologie Begriffe, unter die wir die Dinge ſetzen, Titel des Verſtandes, Inhalt der Vernunft. Die Metaphyſik muß critiſiren. Ihr Gebrauch iſt negativ, wenn

Wir waren im Begrif, uns recht viel Metaphyſik ins Auge zu ſtreuen; allein ſiehe da! Die Hausmuͤtze Sr. Spektabilitaͤt, die Grosmutter, wuͤrgte die Thuͤr auf, und blinkte durch ein Ritzchen. Man ſahe, daß die alte Frau noch einen Brand im Auge hatte. Sie ſchlug einen Strahl ins Zim - mer. Dieſer Wink ſolt ihren lieben Ehe - gatten zum Schluß bringen, weil ſie ohn - fehlbar beym Grosſohn den Abend verſpro - chen waren. Man ſah es Sr. Spektabili -Q 3taͤt246taͤt an, daß Sie wußten, was man einem Blick durchs Ritzchen ſchuldig waͤre. Es gieng uͤber und uͤber. Ich weiß nicht, ob ich dies uͤber und uͤber ſchriftlich werde nachmachen koͤnnen.

Die moraliſche Maximen, fingen Se. Spektabilitaͤt, nach dieſem Blick durchs Ritzchen, (ich weiß nicht warum?) an, zei - gen, wie ich der Gluͤckſeligkeit wuͤrdig wer - den koͤnne; die pragmatiſchen zeigen, ihrer theilhaftig zu werden. Die Moral leh - ret der Gluͤckſeligkeit wuͤrdig zu ſeyn; ihrer theilhaftig zu werden, iſt eine Lehre der Ge - ſchicklichkeit. Es iſt nicht moͤglich, die Regeln der Klugheit und der Sittlichkeit zu trennen. Es iſt kein natuͤrlicher Zuſammenhang zwi - ſchen dem Wohlverhalten und der Gluͤckſelig - keit: um es zu verbinden, muß man ein goͤttliches Weſen annehmen. Ohne dies kann ich keine Zweck in der Welt finden, keine Einheit. Ich ſpiel in der Welt blinde Kuh. Ohne Gott hab ich keinen Punkt, wo ich anfangen ſoll, nichts, was mich leitet. Gott iſt groß und unausſprech - lich! Die Menſchen bedienen ſich ihrer Vernunft a priori, zum Nachtheil des prakti - ſchen Gebrauchs, wenn ſie nicht durch kuͤnſtli -che247che Schranken zuruͤckgehalten werden. Dieſes iſt auch die Pflicht der Metaphyſik.

(Zehnmal fiengen Se. Spektabilitaͤt: quid eſt? an, und zehnmal macht ich eine Verbeugung, um ihn vom Fragen ab - zubringen. )

Das erſte, was ich bey mir gewahr werde, iſt das Bewußtſeyn, dies iſt kein be - ſonderes Denken, ſondern die Bedingung und die Form, unter der wir denkende We - ſen ſind. Wie ſchoͤn bauen und wuͤrken nicht manche Thiere, wie nah kommen ſie uns nicht auf die Seele; allein eins, was nicht erſetzt werden kann, das Bewußtſeyn fehlt, und wahrlich es fehlt wenig! und es fehlt viel! Mein Reiſegefehrt wolte wegen der Hunde einwenden; indeſſen konnt er nichts mehr, als huſten.

Alles was da iſt, iſt im Raum und der Zeit. Raum und Zeit ſind Formen der An - ſchauungen, ſie gehn den Erſcheinungen vor, wie das Formale dem Weſentlichen. Ich muß Zeit und Raum haben, damit, wenn Erſcheinungen vorfallen, ich ſie hinſtellen und beherbergen koͤnne. Die Objekte der aͤuſ - ſern Sinne werden im Raum, die der in - nern Sinne, in der Zeit, angeſchaut. HierQ 4ein248ein ganz kleiner Commentarius uͤber den theologiſchen terminum technicum Zeit und Raum zur Buße, der, wie Se. Spektabi - litaͤt ſich ausdruͤckten, nicht außerm Wurf laͤge. Wie vielen Dingen mußten wir auf der Stelle, des Blicks durch die Ritze wegen, einen Scheidebrief geben. Wir nannten blos ihre Namen, und behalfen uns damit, daß wir dieſe Namen nannten, und uns einan - der zulaͤchelten. Ein wahres Exa - men!

Bey reinen Verſtandsbegriffen haben wir keine Begriffe von Sachen, ſondern nur Titel, worunter wir uns eine Sache denken koͤnnen. Durch dieſe Titel koͤnnen wir nichts ausrichten, außer wenn wir ſie auf Gegen - ſtaͤnde der Erfahrung und Anſchauung an - wenden. Wer kann aber ohne die Titel des Verſtandes vorauszuſetzen, wer kann Er - fahrungen anſtellen? Wer Fiſch ohne Netz oder Hamen fangen? Die Metaphyſik ent - haͤlt alles, und enthaͤlt nichts. Sie macht nichts von den Gegenſtaͤnden aus; allein ohne ſie kann man nichts von Gegenſtaͤnden ausmachen. Sie iſt das Zollhaus, die oͤf - fentliche Wage der philoſophiſchen Erkennt - niß. Sie enthaͤlt Titel des Denkens; alleinkeine249keine Praͤdicata der Dinge. Nur die Er - ſcheinungen verleihen Begriffe von den Din - gen.

Vernuͤnfteley (Se. Spektabilitaͤt wurden von einer Muͤcke verfolgt, die um ſie herum - ſauſete, und ſich nicht haſchen lies,) iſt das, was kein Objekt hat. Was eine Bedingung der Vorſtellung und des Begrifs vom Ge - genſtand iſt, machen wir oft zur Bedingung des Gegenſtandes ſelbſt, die ſubjektive Be - dingung zur objektiven. Die Muͤcke ver - hinderte Se. Spektabilitaͤt, dieſes Thema weiter auszufuͤhren. Im Ernſt, die Muͤcke haͤtte nicht beßer ihre Sache machen koͤnnen, wenn ſie von der Frau Gemahlin Sr. Spek - tabilitaͤt waͤr auf den Hals geſchickt worden.

Der analytiſche Theil der Metaphyſik enthaͤlt Definitionen meiner Begriffe, der ſynthetiſche, Bereicherung von Erkenntniſ - ſen. Der Begrif von den Monaden muß billig nur auf denkende Weſen gedeutet wer - den, fiengen Se. Spektabilitaͤt mit einem friſchen Athemzuge, nach einer geendigten Cadenz an, und ſchienen noch ſehr viel Me - taphyſik auf ihrem Gewiſſen zu haben; al - lein die Thuͤre gieng auf. Wir ſahen ein Grosmuͤtterchen in Sterbensgroͤße; dennQ 5ſie250ſie war ſo zuſammen gefallen, daß man Ke - gel mit ihr ſchieben koͤnnen, wie Herr v. G. bemerkte. Was fuͤr Feuer im rechten Auge! Damit hatte ſie durch die Ritze geblitzet, das linke Auge war ſchon aus der Welt gegan - gen, es war ſtumpf und todt, als wenn eine Blatter darauf gefallen waͤre; allein das war es nicht. Die Zeit hatt es ſo ab - gefeilt. Die Tochter, fieng ſie an, und ohne ſie auszuhoͤren, ſchrie die uͤberfallene Spektabilitaͤt Gleich, gleich! Nur das Signum depoſitionis. Er ſchrieb uns einen Paßierzettel, einen Freybrief, womit wir uns noch bey Sr. Magnificenz zu mel - den haͤtten.

Waͤhrend der Ausfuͤllung dieſes gedruck - ten Zettels wandt er ſich zu mir:

Sie, fieng er an, werden ſich wohl der Univerſitaͤt widmen? ich, fragt ich, etwas einfaͤltig? Der Herr v. G. nicht, erwidert er, ich auch nicht! Alles was geſchieht, hat ſeine Urſach, fuhr er fort, und warum?

Es war ſo gar, mit Ewr. Spektabilitaͤt Erlaubnis, Streit, ob ich gar auf eine Uni - verſitaͤt gehen ſolte?

Die -251

Dieſer Streit war wohl gewiß generis feminini, und die Frau Mutter? =

Ich. Wenn ſie daran Theil nahm, ſo geſchah es blos, um den Akademien Ruhm, Preiß und Ehre zu geben, und Staͤrk und Kraft; denn ſie behauptete, daß das Para - dies die erſte Univerſitaͤt geweſen, weil die erſten Eltern relegirt worden.

Der neue Grosvater lachte herzlich uͤber dieſen Einfall und machte mir viele Complimente auf Rech - nung meiner lieben Landsleute.

Der eine der Landsleute, der uns zu Sr. Spektabilitaͤt begleitet hatte, war die ganze Zeit uͤber in Seelennoth geweſen. Es waren ihm alles boͤhmiſche Waͤlder, bis auf den Caſimirus den IV ten Koͤnig von Pohlen, welcher vom Koͤnig in Schweden Carolo Canuto in Danzig examinirt ward, und mit ſeinem ganzen Hofſtaat kein Latein verſtand. Dieſen Koͤnig kannt er par renom - mée; alles uͤbrige war ihm dicke Finſter - niß. Er erzaͤhlte mir beym Weggehen, daß er gefuͤrchtet haͤtte, der Profeßor wuͤrd ihn aus Hoͤflichkeit ein Woͤrtchen mitfragen. und wenn, ſagt ich?

Bru -252

Bruder, erwiedert er, deutſch, latein und griechiſch alles war mir gleich un - verſtaͤndlich.

Wegen der zwoͤlf Tafeln fragt er mich in Vertrauen, wie der gute Profeßor auf zwoͤlf Ta - feln gefallen waͤre, da ihm doch nur zwey ſtei - nerne Tafeln bekannt waͤren? und mußt ich ihm erklaͤren, daß Se. Spektabilitaͤt nicht von den Tafeln Moſis geredet haͤtten.

Ich erinnre mich an ein Verſprechen zu - ruͤck. Den Regen kennen meine Leſer; al - lein die Traufe bin ich ihnen noch ſchuldig.

Nachdem das Signum Depoſitionis un - terſchrieben und beſiegelt war, und wir uns der Gewogenheit Sr. Spektabilitaͤt, als un - ſers Vorgeſetzten, empfohlen hatten, ſagten Se. Spektabilitaͤt laͤchelnd zu mir:

So wuͤnſch ich ihnen denn ein Seceſſum, Secretum, Angulum, das iſt, ein Paſtorat in ihrem Vaterlande, damit ſie bald ihre zu - ruͤckgelaſſene Schoͤne heyrathen koͤnnen!

Das war die Traufe. Ich weiß nicht, was ich geantwortet; nur das weiß ich, daß es nicht griechiſch, nicht latein, nicht deutſch war, und daß ich mich gern noch einmal lie - ber examiniren laſſen wollen, als . Se. Spektabilitaͤt beſchloſſen den ganzen Actummit253mit einer guͤldenen Aberegel: minus eſt actio - nem habere, quam rem.

Unſer Begleiter begegnete mir mit einer ganz vorzuͤglichen Achtung. Beym Schmauſe ſagt er der ganzen Landsmannſchaft, was ich fuͤr ein Kerl waͤre, und daß ich von zehn Tafeln mehr wuͤßte, als er bis heute gewußt haͤtte. Man verſicherte mich, daß kein Cur - laͤnder bey Menſchen Gedenken durch ſo viel Truͤbſal des Examens in das akademiſche Reich eingegangen waͤre, und daß beſonders Se. Spektabilitaͤt gar kein beißiger Hund waͤren.

Wer Henker, ſetzt er hinzu, konnt es wiſſen, daß er eben die Nacht vorher Gros - vater geworden. Ich dachte bey dieſer Gelegenheit an den Backofen, der bey mei - ner Geburt, wie der Tempel zu Epheſus, als Alexander gebohren ward abbrannte, und hatt in Verbindung mit dieſem Examen - vorfall, nach meiner Mutter Anweiſung, recht erbauliche Gedanken. Das Teſtimo - nium unſers Begleiters ſetzte mich in eine ſolche Achtung bey meinen Landsleuten, daß ich dux fax et tuba war, und kein Duell konnte vorfallen, keine Fackel angezuͤndet, keine Muſik gebracht werden, wo mir nicht,der254der zwoͤlf Tafeln wegen, ein votum deciſi - uum waͤr eingeraͤumet worden.

Bald haͤtt ich Sr. Magnificenz vergeſſen, wohin uns Se. Spektabilitaͤt ſandten. Gott verzeih mir meine Suͤnd ich dachte, von Pi - latus zu Herodes.

Se. Magnificenz ſahen den weißen Stein, den wir aus den Haͤnden Sr. Spektabilitaͤt mit hatten, und wollten uns anfaͤnglich auf den Stein und Bein des Albrechts, Stifters dieſer hohen Schule, ſchwoͤren laſſen; allein ſie beſannen ſich eines andern, eines beſſern, und verwandelten den Eid in einen Handſchlag worauf wir die akademiſche Geſetze erhielten, und mit großen Siegeln zu den lieben Unſri - gen nach Hauſe kehrten, wo uns die Lands - manſchaft mit einem curſchen Liedchen bewill - kommete. Jede Strophe ward mit einem Lihgo oder Frohlocken beſchloßen. Es war mir, als waͤr ich mit dem Ritter Jachins und ſeinen Leuten zuſammen!

Unſere Landsleute beſahen die großen Siegel und die Schriften, als wenn ſie ihnen was Neues waͤren, und blieſen den Sand von unſern Taufſcheinen. Kinder, hieß es am Ende, ihr kriegt darauf nicht ei - nen Dreyer geborgt.

Ich255

Ich muß noch einen Vorfall nachholen, der in dem Hauſe Sr. Magnificenz auf mich zukam.

Der Edelmann, ſagten Sie, zahlet dop - pelt, und hat die Ehre, einen Degen zu tra - gen, der in preußiſchen Staaten dem buͤrger - lichen Studenten wegen vieler vorgefallenen Schlaͤgereyen verboten iſt. Die auswaͤr - tigen Familien ſind uns indeſſen nicht ſo be - kannt, (mit einem Fragzeichen,) alſo beyde Edelleute? Mein Reiſegefehrt nahm hier das Wort, wie ich beym Latein. Beyde, ſagt er. Verzeihung, Bruder, erwiedert ich

Es verdroß mich, daß ich in einem frem - den Lande, wo ich mein Geld und, im Fall der Noth, mein ανέχου και απέχου aus - zugeben willens war, und wo es keinem was angieng, ob ich als Edelmann, oder als Buͤr - ger, aͤß und traͤnke, durchaus Adel oder Una - del documentiren ſolte und wie? dacht ich, hat man hier zur Ruhe des Degens, wenn ihn der Edelmann traͤgt, ein beſſeres Zutrauen, als wenn ihn ein Buͤrgerlicher angelegt hat?

Ich bezahlte, wie ein Edelmann; allein ich hat ſehr, mich als Buͤrgerlicher in Al -bum256bum Studioſorum einzufuͤhren. Dies fiel Sr. Magnificenz nicht wenig auf. Da aber Dieſelben die vorige Nacht nicht Grosvater geworden waren; ſo gaben Dieſelben weiter nichts darauf, ſondern nahmen was ihnen gebuͤhrte, und wuͤnſchten wohl zu leben.

Ich konnte nicht umhin, von dieſem Um - ſtande gegen meine buͤrgerliche Landesleute Gebrauch zu machen; allein dieſe lachten herz - lich uͤber meine Einfalt. Den Edelmann dir ſo nah zu legen, und ihn nicht zu neh - men und eine Luͤge? Sie wird ja bezahlt und wenn ich heim komme? Ja denn muͤſſen wir freylich Ew. Hochwohl - gebohrnen oder mein Goͤnner ſagen, in - deſſen ſind wir doch Litterati Daß Euch Gott helfe, dacht ich, Litterati, ohne von keinen Tafeln mehr, als von den zween des Moſes, zu wiſſen!

Der Abend ward mit Eßen und Trinken und Muſik zugebracht. Einige gaben dem Abreiſenden das Geleit, und da in der gan - zen Straße, ſo weit nur das Geſicht reichte, die ganze Nacht hindurch Licht brannte; ſo brachte mich dieſes auf die Frage, was dieſe Erleuchtung und nachbarliche Aufmerkſamkeit zu bedeuten haͤtte? Die Antwort unſers Vor -fahrs257fahrs war: Seht da, Kinder! So viel Lich - ter, ſo viel Maͤdels, die ich euch unentgeld - lich laße; indeſſen will ich wohlmeynend an - raͤthig ſeyn, daß ſich jeder eins oder zwey ausſondre, und die andern fahren laſſe. Sonſt geht es Euch wie mir! Dieſe, jene, dort, hier, die, da, diſſeits, jenſeits, links, rechts, kurz, in all den Haͤuſern, die ihr ſeht, ſind Maͤdchen, die den ganzen ausgeſchlagenen Tag, von fruͤh bis in die ſinkende Nacht, im Fenſter liegen und liebaͤugeln, die guten Din - ger! Man ſieht ihnen den Verdruß an, daß ſie nicht Mittag und Abend am Fenſter hal - ten koͤnnen! Ihr koͤnnt es nicht glauben, wie die Maͤdchen unſrer Landsmannſchaft treu, hold und gewaͤrtig ſind. Ein Praͤſent - chen, und ihr habt das ganze Spiel gewon - nen. Glaubt mir, die all zuſammen, wo ihr Licht ſeht, waren mein! Sie ſahen mich ſo ſteif und feſt an, als ob ſie mich mit den Augen faßen wolten! Die guten Dinger! und ich ſahe ſie all zuſammen ſo, (der Him - mel weiß, wie mein Aug auf dieſe Art aus - fiel,) daß jede glaubte, ich ſaͤhe nur ſie an! Ich regierte hier wie Sultan, hol mich der Teufel! nur daß jedes Fenſter glaubte, es haͤtte mein Schnupftuch. Die guten Din -Zweiter Th. Rger!258ger! Die eine da! Ein Aug ins Himmels - blau getaucht der, den ſie mit dieſem Aug anſieht, glaubt, er ſaͤhe den Himmel in Mi - niatuͤr. Wenn ich ſie zuweilen (denn ſie verdient es) ganz allein anſah, dann! dann! fragte mich ihr Auge ſo, daß es mein Inner - ſtes hoͤren konnte: iſt’s auch wahr? und wenn ihr mein Auge vorlog! Ja, es iſt wahr! o wie zitterte dann ſuͤße Verwirrung in ihrem Auge, recht als ob wir zur Trau gehen ſolten, und noch weiter. Das iſt ein Maͤdchen, ſo ich dir goͤnne, (er wandte ſich zu mir.) Ihr Athem goͤttlich! Bruder! Wen ſie anhaucht, von dem koͤnnt es heißen: alſo ward der Menſch eine lebendige Seele! Sie ſpielt eine Laute, Bruder! Des Abends im Sommer, wenn ſie am Fenſter dieſem Inſtrument die Zunge loͤſet Zephirs, die eben der Hitze halber Mittagsruhe gehalten denn es iſt im Sommer hier ſehr heiß, flatterten ganz friſch und munter herum, und brachten mir alles, bis auf die geheimſte Bebung zu! Auf Ehr in jedem Finger hat ſie eine Seele! und wenn alle dieſe Seelen einen Ton heraus - brachten Bruder, da iſt die Nachtigal ein Kind! Leb wohl, Amalia! Leb wohl! Ich laß dir einen braven Jungen zuruͤck, derauch259auch Bebungen verſteht. Schau, wie ſie die Laute haͤlt, und wie ſie den Ordensband ſich ſo leicht umhaͤngt, als floͤß er, Bruder! Die Laut iſt an ſich ein ſo gutherziges In - ſtrument! Amalia traurte juͤngſt, und da kam die Weiße ihres Arms aus der Dunkelheit ſo abſtechend hervor, daß ich ſitzen blieb, wie vom Schlage geruͤhrt. Haſt du bemerkt, wenn das Hemd auf dem Buſen eines Dorfmaͤd - chens ſich einen Finger breit verſchiebt und bey dem ſonnenſchwarzen Buſen den weißen Fleck verraͤth! Das, ſagte Herr v. G., hab ich bemerkt, meine Leſer wiſſen wo?

Die, ſagt unſer Mahler zum Herrn v. G., die in dieſem Hauſe! Bruder, ſchwarz Haar, wie Ebenholz! Ein Auge, das immer drey Schritt weiter gieng, als meines, ſo ſtark auch meines zudrang. Ein Buſen! zehntau - ſend Liebesgoͤtter tanzten darauf. Pfui, ſagte Herr v. G., was muß das fuͤr ein Buſen ſeyn! Unſer Reiſende hatte Muͤhe, ihn mit dem Buſen und den Liebesgoͤttern auszuſoͤh - nen, die er auf zehn reducirte, wobey ſich am Ende Herr v. G. zufrieden gab. Bey deiner lebt man, bey des (auf mich) ſtirbt man. Bey deiner haͤlt man ſich gerade, denn ſie iſt eine Goͤttin. Man ſieht gen Himmel R 2Bey260Bey deiner (wieder auf mich) legt man den Kopf von einer zur andern Seite, denn ſie iſt eine Schaͤferin! O die ſchoͤnen Schaͤferſtun - den! Ich hab noch vergeſſen, fuhr er zu mir fort, ihr Buſen wallt, ſo wie eine Laute, er bebt nur herauf, und Bruder! ihre Stimme, wenn ſie ſingt Sie thut es ſelten, ſie hat eine blonde Stimme, du wirſt mich verſtehen, ſie ſtiehlt das Herz, deine Brunette (zum Herrn v. G.) nimmt es mit Gewalt! ſie raubt! Sie kommt nicht mit vollen Segeln! Sie iſt ſtolz, und ſcheint ſich wenig aus einem Siege zu machen; denn ſie iſt ſich bewuſt, daß ſie Herzen wie Fliegen zu fangen im Stand iſt. Jene ſtreichelt, dieſe ſchlaͤgt; allein wenn ſich dieſe Koͤnigin herablaͤßt, iſt’s auch ſo, als wenn die Sonne aufgeht. Man hat ſich beſof - fen, wenn man ſie liebt, und einen Jeſuiter - rauſch, wenn es die mit der blonden Stimme gilt. Dieſe ſpielt kein Inſtrument. Die Orgel wuͤrde ſie ſpielen: allein wenn ſie ſingt das thut ſie oft, Bruder, ſo praͤchtig wie ein Donnerwetter! Dieſe beyden Auserwaͤhl - ten empfehl ich euch zu Gemahlinnen, die andern zur linken Hand und ſo neben an, zum Spiel! Noch eine Warnungsanzeige eh ich von hinnen gehe. Die beyden wa -ren261ren freylich die Hauptperſonen und meine Gemahlinnen; allein auch unter den andern giebts Dingerchen zum raſend werden! Sie waren gleich in den erſten acht Tagen alle mein! Ich meyne mit den Augen, und nun hielt da unten zu ein Kaufmann Hochzeit, der die ganze Gegend und mich mit bat. Ich kam zum erſtenmal mit all dieſen angeangel - ten Maͤdchen zuſammen; jedes Auge forderte Rechenſchaft. Da ward ich, wie Caͤſar, mit drey und zwanzig Wunden erſtochen. Sah ich eine an, ſo waren die andern wie Tyger auf mich, und forderten Antwort uͤber meine Untreue! O wer da mehr Augen gehabt haͤt - te, als zwey! Ich wußte nicht aus noch ein bis ich endlich Muth zum Entſchluß faßte, und mich zu vieren bekannte, und in Ruͤckſicht der andern die Augenehen aufhob, und dies Band trennte. Dieſe vier halfen mir ſelbſt die an - dern abfertigen und dieſen vieren bin ich auch ſo treu geblieben, als moͤglich. Sie ha - ben ſich bis an mein End in meinem Gewahr - ſam befunden! Seht! da iſt es am hellſten. Es blieb nicht bey den Augen in Ruͤckſicht die - ſer vier; indeſſen doͤrft ihr nichts von mir fuͤrchten.

R 3Mich262

Mich muͤßte der Teufel plagen, ſetzte der Abſchiedsredner fort, ein Maͤdchen in Koͤ - nigsberg zu heyrathen, wo Curlaͤnder grad uͤber logirt haben! Ihr werdet Wunder ſehen! und glauben! Schaut die andern ſelbſt, von denen ich mich, nach dem fatalen Gefech - te, ſcheiden mußte, auch die noch Licht! Wenn es angeht, ſchraͤnke ſich jeder auf zwey ein, damit kann man beſtehen und bey Ehren bleiben, einer das rechte, der andern das linke Auge!

Wie wenig ich von dieſer Uebergabe Ge - brauch gemacht, darf ich nicht bemerken. Herr v. G. vergaß zwar ſeine Dorfdirne, ſeine ſchmucke Trine, nicht; indeſſen legt er ſich dennoch, wenn er nicht zu jagdmuͤde war, ins Fenſter, und dann hatt er ſie, nach ſeinem etwas jagdfreyen Ausdruck, wie am Roſen - kranz! Ich habe mich nie in Liebeshaͤndel andrer Leute gemiſcht, nur das konnte mir nicht verborgen bleiben, daß er ſeine uͤbrige Zeit (er hatt indeſſen nicht viel uͤbrig,) den beyden von unſerm Vorgaͤnger beſchriebenen Maͤdchens ſchenkte, mit denen er, wie er zu ſagen pflegte, ſo ziemlich bekannt waͤre. Sie ſind, ſagt er, meine Dorfdirn in man - gelhafter Copie; allein mich ſoll der Teufelbeym263beym erſten Kuß, den ich ihnen zudruͤcke, ho - len, wenn ich nicht mein Dorfmaͤdchen viel hoͤher ſchaͤtze, als ſie! Ehrlicher! und das heißt genau genommen, auch ſchoͤner! Meine Trine, ausgewachſen wie eine Goͤttin, kein Mißglied an ihr, keins verkruͤmmet und ver - kratzt. Alles reif, herausgegangen wie die Natur!

redet dein Vater aus dir? fiel ich ihm ein. getroffen, erwiedert er, aber meine Empfin - dung beſtaͤtigt ſeine Rede.

Mein akademiſcher Wandel ich kam nicht mit Denkſucht ſondern mit Lernſucht, in die Hoͤrſaͤle, nicht verwoͤhnt, ſondern hung - rig und durſtig. Ich dachte nicht meinen Le - benslauf zu ſchreiben, welcher Einfall mich nur ſeit kurzem uͤberfiel, ſondern ich wolte le - ben lernen. Ich durfte nicht meine Hengſte der Einbildungskraft ausſpannen, die mich zu tauſend Zeitungslorbern fuͤhren ſolten; denn ich hatte ſie nie angeſpannet. Ich flog nicht, ich gieng, und wußte, wie es waͤchſernen Fluͤ - geln, wenn ſie der Sonne nahe kommen, zu gehen pflegt. Hoͤchſtens lief ich um aus einer Stunde zeitig genug in die andre zu ſtuͤr - zen. Im Hoͤrſal dacht ich: Er hats geſagt; zu Hauſe frug ich mich: was hat er geſagt?

R 4Ich264

Ich ſchreibe (meine Leſer werden es, wie ich nach der Liebe hoffe, wiſſen) Leben, nicht Schule, und was kann ich alſo von meinem akademiſchen Laufe ſagen, was eingroßer Theil meiner Leſer nicht ſchon ſelbſt, wie ihren Haus - und Wirthſchaftscalender, aus und inwendig wuͤßte. Die Lehrer laſen; ich hoͤrte. Ich lernte von allem, was ich ſchon wußte, die Grammatik, auf der Reitſchule, auf dem Tanz - boden, in der Philoſophie, in allem. Ich lernte meinen Lehrern den kuͤrzeſten Weg zum Ziel ab, und war aufmerkſam auf die Straße, die zu gehen, und auf die Straße, die zu mei - den, war. Solte man nicht uͤberhaupt auf Univerſitaͤten mehr Polemik als Thetik in al - len menſchmoͤglichen Wiſſenſchaften lehren? Und ſolte nicht Kritik, in einem beſondern Sinn, der Gegenſtand der akademiſchen Be - ſchaͤftigungen ſeyn? Der iſt in meinen Augen der beſte Profeſſor, der am gruͤndlichſten ſei - nen Schuͤlern zu ſagen weiß, was nicht ver - lohnt gelernt zu werden, und die Titel von dem, was Lernens werth iſt. Meine Haupt - bemuͤhung in Ruͤckſicht der Gelehrſamkeit auf der Univerſitaͤt war, ein Lexicon zuſammen zu tragen, wo ich die Gelehrſamkeit weiter nach - ſchlagen koͤnnte, wenn ich, wie Felix, geleg -nere265nere Zeit haben wuͤrde. Gottlob! Dieſe ge - legene Zeit iſt gekommen. Die Sprachen, die ich angefangen, ſetzt ich fort, in ſo weit es von ihnen und mir heißen konnte: der Schmidt hat mehr, als eine Zange. Ich wuͤn - ſche, daß ſie ihre Zeit gut anwenden moͤgen, war damals in dem Munde eines Profeßors, wenn er mit einem Studenten ſprach, ſo viel, als guten Morgen, guten Abend und gute Nacht! Die Pietiſten ſetzten hinzu: Gott ſegne ihre Studia, und mehr, als dies, weiß ich von dieſen Leuten nicht zu ſagen.

Se. Spektabilitaͤt nannten mich, wo ſie mich reichen konnten, den curſchen Philoſo - phen und empfohlen mich ihren Herren Col - legen, wo ich nicht viel Grosvaͤter fand; in - deſſen wuͤnſchten alle, daß ich meine Zeit gut anwenden, und daß Gott meine Studia ſeg - nen moͤgte! Wenn ſie zum Inpietismus ge - hoͤrten, blieb der eingliedrige Segen weg.

Froh denk ich noch heut, (es iſt eben Michaelstag,) an dieſe akademiſche Zeit, und rufe mit dem guten Droſſelpaſtor: viuat Aca - demia! Mir fehlte nichts, als Mine, der Kirchhof, das Waͤldchen, und die andre hei - lige Oerter, wozu noch die gruͤndicke Laube des Bekannten gekommen war; indeſſen er -R 5ſetzte266ſetzte mir die Einbildungskraft alles. Ich las Minens Briefe, beſchaͤftigte mich mit den von ihr eingeweihten Sachen, und kam mir wie ein Wittwer vor, der ſeine Frau in ſei - nen von ihr zuruͤckgelaſſenen Kindern ſucht. Seine ſchoͤnſte Zeit iſt, wenn er mit ihnen ſpielen kann. Meine Spaziergaͤnge waren Kirchhoͤfe, Waͤldchens, und uͤberhaupt Oer - ter, die mich deſto deutlicher an Minen erin - nern konnten. Sie ſah ich uͤberall. Ich ſtu - diert an ihrer Hand. Sie beſeelte mich mit Muth, und war mir ſans comparaiſon das, was jedem Ritter ſeine Schoͤne iſt.

Mein lieber v. G. blieb keinem Profeſſor einen Dreyer ſchuldig, das iſt alles, was ihm zum Ruhm im Teſtimonio behauptet werden koͤnnen, wenn er ein dergleichen Ding noͤthig gehabt haͤtte. Ich ſtudirt in ſeine Seele, als ſein Sachwalter, und erzaͤhlt ihm des Abends im Zeitungston, was ich den Tag uͤber in eig - nem Nahmen, und vi ſpecialis mandati, ge - hoͤrt hatte, woruͤber er, wenn er jagdmuͤde war, ſanft einſchlief. Ich indeſſen ſetzte meine Wiederholung fort, und hatte dadurch den Vortheil, mit dem gehoͤrten Wort bekann - ter zu werden. Die Digeſtion der Wiſſenſchaf - ten wird eben hiedurch unendlich befoͤrdert,wenn267wenn man erzaͤhlt, was man weiß. Man lernt auf dieſe Art, mit der Wiſſenſchaft converſiren, und ſie auf einen freundſchaftlichen Fuß neh - men: der Hoͤrer ſey uͤbrigens jagdmuͤde oder nicht. Was konnte Herr v. G. dafuͤr, daß es um Koͤnigsberg ſolche ſchoͤne Jagdplaͤtze gab, und daß ihm davon viele Feldmarken, die durch zwey beſondre Thore lagen, als plus licitanti zugeſchlagen wurden. Herr v. G. hatte ſich vortrefliche Jagdbuͤcher angelegt, und war jetzo ſo ſattelfeſt in der Jagdterminologie, daß er nicht allein Hochſelbſt fuͤr Fund zeitle - bens ſicher war; ſondern er war noch oben ein im Stande, andern Fund zuzuwenden, die ihre Zeit auf der Akademie nicht ſo gut, wie er, angewendet hatten. Mir verſprach er, wenn es noͤthig ſeyn ſolte, aus Noth zu helfen, du hilfſt mir wieder, ſetzt er hinzu, wenn etwas vom Argos vorfaͤllt. Am Ende, fuhr er fort, duͤnkt mich, daß uͤberall bey eurer welt - geprieſenen Gelehrſamkeit Jagdterminologie iſt. Den mangelhaften Copien ſeiner Dorfdirn entgieng oft zu viel durch dieſe Jagdneigung, und gern haͤtten ſie ihn davon abgebracht allein ſo ſehr hatten ſie ihn nicht getroffen, wie er ſehr jagdmaͤßig ſich ge - gen mich erklaͤrte. Die eine ließ ihre blon -de268de Stimme hoͤren, die andere donnerwetterte; allein es gehoͤrte mehr dazu, als Orgel und Laute, den Herrn v. G. auf die Springe zu bringen. Bey alledem war er Sieger, und die beyden Schoͤnen geſchlagen. Die andern Schoͤnen in der Straße ſah er an, wie ſolche Feldmarken, die ihm nicht als plus licitanti zugeſchlagen waren. Bruder, ſagt er zu mir, in Ruͤckſicht der Beyden, ſie ſind abgerichtet, ſie ſind dreßirt, ſie verſtehn alles auf ein Haar. Die werthen Eltern dieſer beyden ſetzten die Freundſchaft mit uns fort, wobey ich freylich in der Hauptſache ſehr leer aus - gieng. Dieſe Freundſchaft war alſo nicht an die Perſonen, die hier logirten, ſondern an die Zimmer gebunden, nicht eine perſonal, ſondern eine real Bekanntſchaft, wie es jede nachbarliche Bekanntſchaft iſt. Freylich trug es ſich zuweilen zu, daß die Dirnen den Herrn v. G. in die Enge brachten; allein er pflegte ſehr richtig mir ins Ohr zu bemerken, daß die Stadtſchoͤnen, wenn gleich ſie mit Witz ausziehen, doch ohne Witz in die Flucht ge - ſchlagen werden koͤnnen, wenn nur Herr v. G. beſaß von dieſem Wenn nur ge - rade ſo viel, um ſeinen Poſten zu behaupten. Der Schweiß Abels, hatt er im Jagd -eifer269eifer geſagt, ſchrie zu Gott um Rache, und unſre Stadtnympfen wolten ihm hart fallen. Ich war Augen - und Ohrenzeuge von ihrem witzigen Ausfall er ſah ſie nur an und ſie, gleich in die Flucht.

Unſere Bekanntſchaften waren, außer den beyden Nachbarn, das Hauß eines Creys - richters, auf deßen Hauß uns unſer Vorfahr gleichfals eine Aßignation zuruͤck gelaßen. Die - ſer Creysrichter, der eine alte Frau des Gel - des wegen geheyrathet, hatte keine Kinder. Er braucht ein Paar junge Leute zu ſeinen haͤufigen Geſellſchaften, als Hausofficire, und obgleich dieſe Stellen beſetzt waren; ſo honorirt er doch die Aßignation unſers Vor - fahren, deßen Andenken uͤberhaupt im Se - gen war. Ich nahm ſelten an dieſen Zeit - verkuͤrzungen Antheil; indeſſen lernten wir ei - nen koͤniglichen Rath bey dem Creysrichter kennen, der an Leib und Seel auffiel, und ſich auch bey jedermann zu erhalten im Stande war. Er ſchien gegen vierzig, und hatte ſehr feine Kenntniße. Er las die Alten und kannte die Neuern. Er legt es nicht dazu an, daß man ihm dies anhoͤren und anſehen moͤchte; allein wo er ſtand und gieng ſtreut er Funken. Er verdraͤngte keinen. Er ver -nich -270nichtete nicht Sproͤslinge von Witz der Juͤng - linge, die mit ihm zu Tiſche ſaßen, um den Saft den bejahrten Zweigen zuzuleiten. Witz und Verſtand war ihm Witz und Verſtand es mochte hervorſproßen, wo es wolte. Er wußte wohl, daß alles Obſt nicht reif ſey, das der Wind herabwirft. Es war nicht abgezogener Geiſt, nicht Lebenstinktur was er ſprach. Beym Creysrichter ſprach er, wie der Creyßrichter, der uͤber nichts als Schlaͤgereyen, neue Brautſchaften, Todes - faͤlle, oder dergleichen Dinge mehr, ſich ver - lauten lies; indeſſen wußt unſer Rath uͤber die gemeinſten Dinge beſonders zu ſeyn. Oft war er ganz ſtill, und alsdann ſah man es ihm an, daß er wohlbedaͤchtig mit den fal - ſchen Spielern in der Geſellſchaft nicht mit - ſpielen wolte. Ich fand, wenn er ſprach, ſo viel eigenes, daß ich tauſendmal wuͤnſchte, wenn er doch ſchreiben moͤchte, oder wenn er doch wenigſtens mehr ſpraͤche. Er verbeſſerte nie ein Urteil, das er in Geſellſchaft hoͤrte, und legte ſich nie das Anſehen einer Appella - tions und Reviſions Inſtanz bey. Wenn ich eine Rechtsſache gehabt haͤtte, waͤre mir ſein Gutachten Entſcheidung geweſen. Viele hatten dies Zutrauen zu ſeinem Herzen undVer -271Verſtande, und ſein Laudum, (ſein Schieds - ſpruch,) galt ihnen mehr, als ein fuͤr Geld und gute Wort in beſter Form genommenes Urtel. Er war ungeheyrathet. Man ſagt, er waͤr in der Liebe ungluͤcklich gewe - ſen! Schade! Es haben Curlaͤnder vielleicht, bemerkte Herr v. G., ſeiner Schoͤne gerad uͤber logirt. Mag wohl ſeyn! Dieſer wuͤrdige Mann war im Stande, Menſchen zu leſen, und dis ſchien ſein Hauptgeſchaͤft in Ge - ſellſchaft zu ſeyn. Durch vereinte Kraft eins ſeyn, iſt der Zweck der großen Staatsgeſellſchaf - ten, ſagt er zu mir! So im Großen, ſo im Klei - nen! Inſtinkt und Vernunft lehren uns, daß ein großer Theil unſerer Gluͤckſeligkeit von Menſchen abhaͤngt, und darum ſeh ich Men - ſchen, darum geh ich nach ihnen aus, und freue mich herzlich, wenn ich was unerwar - tetes vorfinde. Im Collegio iſt alles auf ei - nen gewiſſen beſtimmten Horizont calku - lirt.

Noch ſeh ich den Mann mit ſeiner ofnen, weit ofnen Stirn, ſchwarz Haar, ein Aug, in dem man ihn im Kleinen allein doch ganz ſahe. Zuweilen hatt er kleine Abendgeſellſchaft - ten, woran er mich Theil nehmen ließ. Dieſes Collegium verſaͤumt ich nie. Ich fand einenOfficier,272Officier, einen koͤniglichen Rath, ſeinen Col - legen, einen Prediger, und einen Profeßor; allein alle waren große Lehrer in ihrer Art fuͤr mich. Da war er zuweilen ausgelaſ - ſen. Er warf Muͤnzen aus, und ich muß aufrichtig bekennen, daß wenn ich je in meinem Leben mit Leib und Seel zugleich gegeßen und getrunken; ſo war es hier: ich wundre mich noch jetzt, daß es mir ſo gut bekam. Wenn er es nicht laͤnger ausſetzen konnte, gab er eine große Mahlzeit. Da that er wenig mehr, als vorlegen, und hiezu braucht er auch als dann den Officier, den koͤniglichen Rath, den Predi - ger, den Profeßor, und mich.

Ich habe ſchon bemerket, daß ich das votum deciſiuum bey der Landsmannſchaft hatte, und ſo lang ich den Praͤſidentenſtuhl bekleidete, iſt kein Stein von einer curſchen Hand gehoben, um ehrlichen Leuten die Fen - ſter zu verwuͤſten. Mit der Zeit waͤr ich weiter bis zum Kopf meiner Landsleute gekommen. Vors erſte hatt ich Urſach, mir Gluͤck zu wuͤnſchen, daß ich uͤber ihre Haͤnde disponiren konnte.

Wenn ein Landsmann kam, oder gieng, ward ein Mahl gegeben, wozu ich zwarmeine273meine Stimme, allein nicht meinen Magen gab.

Herr v. E. war, unter vielen andern, Koͤnig eines ſolchen Mahls. Er war von ſeiner Mutter, die Wittwe geworden, aus Frankreich nach Curland gerufen. Seine Ge - ſchaͤft indeſſen hatten ihn noch ein halbes Jahr in und um Koͤnigsberg zuruͤck gehalten ohne daß wir uns zuſammen getroffen. Kein Wunder! Er gieng nicht in die Hoͤrſaͤle, und gieng nicht auf die Jagd. Seine Geſchaͤfte wa - ren wie man ſich leicht vorſtellen wird Liebesangelegenheiten. Freylich hatten die koͤnigsbergſchen Schoͤnen Urſach einem Manne Complimente zu machen, der von Paris kam, und ſie nicht verſchmaͤhete. Endlich ſchlug ſeine Stunde. Ich war, ohne ſelbſt zu wiſſen, wie’s zugieng, bey dieſem Mahl, und lernt ei - nen Menſchen ohne Kopf und Herz kennen, der auf den preußiſchen Adel loszog, weil ihm nie - mand, (die Sach ohn Allegorie vorzutragen,) obgleich er angeklopft, aufgethan. Wahrlich dies brachte mir eine ſehr gute Meynung vom preußiſchen Adel bey, die ich auch nie aufzu - geben Urſache gefunden. Ich brachte die Nacht, da Herr v. E. mit Extrapoſt abgieng, wider Gewohnheit ſchlaflos zu, und ſeltenZweiter Th. Shab274hab ich einen Menſchen gefunden, in dem je - der Zug mir ſo entgegen arbeitete! Dem Herrn v. G. war er auch unausſtehlich. Er ſolt ihn bis Schacken begleiten; allein er konnte nicht. Herr v. E. kroch, und war ſtolz, er war Franzos und Curlaͤnder. Fuͤr und wider ſich und gewiß auch Freund und Feind eines jeden, der es mit ihm an - binden wollen. Sein Geſicht und Er ſchie - nen zweyerley! und waren es auch immer. Er frug uns, ob wir nicht an unſere Maͤd - chens was zu beſtellen haͤtten! Da fuhr es mir ſo durch die Seele, daß ich außer mir war! Herr v. G. ſagte, daß er ihn am wenigſten zum Liebespoſtillon brauchen wuͤrde, weil er aus Frankreich kaͤme, und Sie, fuhr er fort, indem er ſich zu mir wandte? Ich habe, ſagt ich, nur eben Briefe von ihr. Er nahm es als Scherz, und ich fand diesmal, und hab es oft gefunden, daß ſelbſt bey dergleichen Verlegenheiten die Wahr - heit am beſten aushilft. Ich hatte wirklich Briefe von Minen.

Sie erfuͤlte redlich ihr Verſprechen, ſie hielt ein Tagebuch, und alle Vierteljahr er - hielt ich es durch den bezeichneten Weg. Das erſte Paͤckchen kam nach Monatsfriſt, ichhoffe275hoffe, niemand werde fragen: warum? Er an Sie gieng vor ſich, ſo bald ich an Ort und Stelle war. Ich fuͤhlt jeden Kuß in ihren Briefen, ſo warm, ſo ſonnenwarm, obgleich er ſeine funfzig Meilen gereiſet war. In Wahrheit, haͤtt ich Minchen nicht ge - habt, ich haͤtte nicht die Haͤlfte von dem auf der Univerſitaͤt gethan, was ich jetzt that, nicht die Haͤlfte vor mich gebracht.

Da bin ich an einer ſchweren Stelle mei - nes Lebens! wo ich noch zittr und bebe! Der Himmel helfe mir auch in dieſem Buch uͤber! Er! der ſie mir leben geholfen, helfe ſie mir auch ſchreiben. Ein bittrer Kelch! Gottes Wille geſcheh auf Erden, wie im Himmel!

Ich will Ihm nicht fluchen, dem Va - ter meiner Mine, denn dieſe Holdſelige verbietet es mir! Ich will Ihm nicht fluchen.

Sie ſchrieb mir ehemals: ich will meinen Vater nie unſern Vater nennen. Der meinige iſt er, weils Gott hat haben wollen, warum ſolſt du dich aber mit ihm beſchweren? S 2O276O Mine, warum warſt aber du mit ihm beſchweret. Warum? du Dulderin, du Maͤrtyrinn! du Heilige! mit dieſem Peini - ger, mit dieſem Tyrannen, mit dieſem Un - heiligen mit dieſem

Ich will abbrechen, bis ich beßer gefaßt bin, ſonſt wuͤrd ich dein heiliges Gebot uͤber - treten, du heiliger Engel, und ihm doch fluchen.

Auf heute, morgen und uͤbermorgen, nehm ich von meinen Leſern Abſchied. Ich will mir ordentlich Zeit nehmen, mich zu faſ - ſen und wenn ich es in dreyen Tagen nicht bin, noch einen und noch einen zu - geben, und bis acht Tage zu dieſer Faßung ausſetzen! In dieſer ſtillen Woche ſoll meine Seele gen Himmel ſich aufrichten, und mit meiner Mutter will ich beten:

Herr, wie du wilſt, ſo ſchicks mit mir,
im Leben und im Sterben.

Rede, Herr! dein Knecht hoͤret. Thue mit mir, wie’s dir wohlgefaͤlt. In deine Haͤnde befehl ich meinen Geiſt.

An einem ſchwarz bezogenen Tage, da es Vormittag donnerte.

Ich habe meine Leſer nur drey Tag al - lein gelaßen. Jemehr ich mir Zeit nehme,mich277mich zu faßen, jemehr verlier ich das Gleich - gewicht. Faſt glaub ich, daß die Faßung ſo ſchnell komme, als der Schreck, die Huͤlfe wie die Krankheit, und wenn alle Faßung nur Betaͤubung waͤre?

Der Gedanke hat mich am meiſten in die - ſen drey heiligen Tagen erfriſcht, daß es Tu - genden gaͤbe, die es nicht geben wuͤrde, wenn nicht boͤſe Menſchen in der Welt waͤren. Wahrlich, die groͤßten Tugenden werden hie - durch an Tageslicht gebracht. Durch Schatten wird das Bild erhoͤht. Es iſt, ich geſteh es gern, dieſes eben nicht einer von den Gedanken, die einer goͤttlichen Eingebung nahe kommen; allein wenn Noth am Mann iſt, ſchmeckt Haußmannskoſt am beſten, und bekommt auch ſo. Der Ungluͤckliche, der Furchtſame, glaubt alles, wenn es nur Troſt enthaͤlt.

Fluchen will ich dem Herrmann nicht; allein ich will treu befunden werden.

Von dem erſten Tag an, da meine Leſer den alten Herrn kennen lernten, fanden ſie einen Mann, (kaum kann das Wort Mann von jemanden gebraucht werden, der ſich nicht nach ſeiner Decke zu ſtrecken verſteht. Doch Minchens wegen ) einen Mann,S 3der278der allem, was man Belang heißen kann, gerad entgegen war. Sie fanden eine ge - ſchwaͤchte, eine zu Fall gekommene Perſon, einen Hofnarren, Cammerherrn, Forſt und Jaͤgermeiſter, einen Witzdiener, Poſitiv - ſchlaͤger. Einen, von dem man nicht be - haupten kann, daß er ſeinen Namen, wie mein Vater ſein Vaterland, geflißentlich ver - ſchloß, (wie einer meiner Splitterrichter des erſten Bandes der Meynung geweſen,) ſon - dern den man den alten Herrn zu nennen fuͤr gut fand, und der, weil mit dem Wort Alt das Wort Herr verſchwaͤgert war, (wo - mit man wahrlich in Curland nicht ver - ſchwendriſch iſt) nichts mehr erwarten konnte, und mit dieſer Ehre ſehr zufrieden ſchien, und wie haͤtte wohl dieſer Schneider, Schu - ſter, Toͤpfer, Ton und Tauſendkuͤnſtler, und waͤr’s auch nur des Podagras wegen, wel - ches keine gemeine Krankheit iſt, wider den Ehrennamen, Nicolaus Herrmann, eine Sylbe einwenden und den Kopf ſchuͤtteln koͤnnen? Der alte Herr war kriechend und ſtolz, wie die Stolzen immer zu ſeyn pflegen. Obgleich er ſeinen Abſchied als Witzdiener in hoͤchſten Gnaden erhalten; ſo ſprudelte doch ein ſchwarzes Blut in ſeiner ſatyriſchenAder279Ader auf, ſobald es Gelegenheit gab. Die Ader war recht ſchwarz und fuͤrchterlich auf - gequollen zu ſehen. Seine ganze Geberde verſtelte ſich, ſo bald dieſ Ader auflief. Er pflegte ſich ſelbſt einen Invaliden des Apolls zu nennen, und Dank ſey meiner Mutter, die ihn, wie ich mich eben erinnre, bey die - ſer Gelegenheit einmal frug: wie’s mit ſei - ner Wund am Kopf ſtuͤnde? Die Zeiten, ſagte Herrmann ſelbſt, ſind gottlob vorbey, und dies waren Zeiten, da er Graͤber ſchaͤn - dete; allein kann auch ein Mohr ſeine Haut bleichen, und ein Parder ein Fleckkuͤgelchen benutzen? Erſt mehr Fechter, jetzt mehr Taͤnzer!

Ich bin der Meynung, daß ſich die Phyſionomiſten nie eher, als in der Miene eines Pasquillanten, (waͤr es auch ein Re - cenſent,) und Moͤrders irren koͤnnen? Da muß ein ſehr feiner Unterſchied ſeyn! Sie ſind eines Handwerks: beyde ſchlagen aus Gewinſt todt und es kommt nur auf Um - ſtaͤnd an. Beyde legen Haͤnd an uns, und ſo wie es blos von der Kuͤrze der Jahre kommt, daß nicht jeder, dem der Strick in den Liniamenten liegt, gehangen wird; ſo

S 4Wenn280

Wenn ich in einer großen Geſellſchaft ei - nen Witzling ſehe, der nach Landesmanier wie der dritte Mann zum Spiel gebeten wird, und der uͤber Tiſch und Stuͤhle ſchreit, iſt mir nicht anders, als waͤr ich mit dem verſtockten Schaͤcher zuſammen! Wer in ei - ner Geſellſchaft von zwoͤlf Perſonen witzig ſeyn, und ſich hoͤren und ſehen laßen kann, iſt ein ſchrecklicher Menſch. Wo zwey und drey verſammlet ſind, da iſt Witz an Ort und Stelle. Niemand iſt geiziger, als ein wirklich witziger. Er wirft ſeine Perlen nicht weg. Ein Witziger ohn Urtheil iſt ein Witzling und wehe dem Menſchen, durch welchen Aergerniß kommt! Vorrede genug

Herrmann hatte, nach dem Tode der Mutter meiner Mine und der Meinigen, noch Luſt ſich ein Hochzeitbett anzulegen. Der Tiſchler, den er daruͤber beſprach, glaubt es ſey ein Sarg, da er ſich in der Still an ihn wandte. Der Tiſchler wandte ſich mit einem warum? auch in der Still an Herr - mann zuruͤck. Ich hab es von meiner Mutter, daß eben dieſer Tiſchler in ſeiner Gewerksſtube herzlich geweint habe, wenn er einen Sarg fuͤr einen Redlichen im Land erbau -281erbaute. Meine Mutter nannt ihn oft des Todes Zimmermann, und gratulirte Cur - land und der dortigen Gegend, wo hoͤlzerne Haͤuſer etwas gewoͤhnliches ſind, weil ſie, ſchon im Leben, mit ihrem lezten Hauſe ſich bekannt gemacht. Wir ſind ſchon im Le - ben im Sarge, pflegte ſie zu ſagen. Wir ſterben taͤglich, heil uns! Der eigentliche Sarg wird uns kein ſo wild fremdes Ge - mach ſeyn!

Lieber Freund fieng Herr Herrmann wieder in der Still an, und der liebe Freund lies ihn nicht zum Worte, wenigſtens nicht zum Ende, kommen.

Sie ſind ja, unterbrach er ihn, munter und geſund friſch und geſund hab ich ſie nie gekannt.

Eben darum, weil ich munter und ge - ſund bin.

Recht! Es ſteht uns nicht vor der Stirne geſchrieben.

Vor der Stirn?

Sie fochten lang in die Luft, bemerkt mein Waffentraͤger Benjamin, von dem ich dies alles hab, ehe ſie zuſammen trafen.

Ein Himmelbett, ſagte Herrmann, al - lein da man einen Sarg eben ſo gut, woS 5nicht282nicht beßer, als ein Brautbett, ein Him - melbette nennen kann; ſo erwiederte der Tiſchler: ſchoͤner Ausdruck! Der gute Tiſchler konnte den Sarg nicht aus Sinn und Gedanken bringen, und ſelbſt, da ihm Herrmann ziemlich laut (er war hitzig ge - worden,) geſagt hatte: Ein Brautbette ſchuͤttelte der Tiſchler noch den Kopf und dies Schuͤtteln war dem Herrmann widriger, als das vorige Misverſtaͤndniß vom Him - melbett, und von der Stirn, und von munter und geſund.

In Ruͤckſicht der Jahre haͤtte freylich Herrmann eher an Sarg, als an Braut, oder, wie man es gewoͤhnlich in Curland nennt, an ein Himmelbette denken koͤnnen; wenigſtens haͤtte Herrmann, der ein Weib, wie unſere Mutter gehabt, eine andere, der Seligen und ihm anſtaͤndigere Wahl treffen ſollen. Ich will, um aller Parthey - lichkeit auszuweichen, an ſeine Tochter nicht denken, obgleich auch Toͤchter, wenn ſie wie Mine ſind, hiebey einen Blick verdie - nen.

Seine Schoͤne war eine Perſon, die ſich in der Nachbarſchaft, Gott weiß wie! ein kleines Vermoͤgen erworben hatte. DerUn -283Unterricht der Kinder ward dem Herrmann in die Laͤnge zu beſchwerlich, und es iſt freylich eine andre Sache Kinderlehrer, und eine andre Hofnarr zu ſeyn. Dies war die Ur - ſach, warum er zuweilen zu ſehr fuͤr die koͤr - perliche Uebungen war, und die Kinder ohn Unterricht ganze Wochen hinſchlendern ließ. Hiedurch litte ſein guter Ruf. Seine Se - lige wußt alles zum Beſten zu kehren. Nach ihrem Tode war er ſich ganz und gar allein uͤberlaßen, und das hieß, an der Hand ei - nes ſchlechten Fuͤhrers ſeyn. Die Schul - jugend trieb ſich um, und der Lehrer desglei - chen. Kurz, Herrmann war wieder auf der ſchlimmen Seite und lebendig todt, ja wohl! lebendig todt!

Ich will mir, ſagte Herrmann, einen ruhigen guten Tag machen: eigentlich wolt er ſich dieſen ruhigen guten Tag fuͤr baar Geld kaufen, ohne zu bedenken, daß Ruhe nicht feil ſey. Immer noch uͤberzeugt, daß es beßer ſey, ein Schneider, als ein Hofnarr, zu ſeyn, blieb des Herrmanns Loſung zwar:

Gottlob! die Zeiten ſind vorbey; in - deſſen war er doch feſt entſchloßen, aus ei - nem Hofnarren ein Stocknarr zu werden. Der284Der Unterſchied iſt ungefehr, wie zwiſchen Poſtbot und Nachtwaͤchter.

Magdalene, (ſo hieß die Schoͤne quaͤ - ſtionis,) war nicht abgeneigt, mit dieſem Manne zu ziehen. Sie hatte nicht erman - gelt, weit und breit herumzublicken, und ihr Augennetz auszuwerfen; allein ſie hatte nichts gefangen, ſie hatt, um die Sache deutlicher zu machen, nicht abgeſehen, daß ſich ein anderer mit ihr in dieſem Leben ein - ſpannen wuͤrde. Magdalene weinte herz - lich, ſo oft ſie an den ſeligen gnaͤdigen Herrn dachte, deſſen gnaͤdige zuruͤckgebliebene Wittwe ſo herzlich nicht uͤber dieſen Verluſt weinte. Dies macht Aufſehen in der ganzen Gegend, die nur eine ſolche Kleinigkeit von Anlaß brauchte, um laut zu ſagen, was jedes laͤng - ſtens, und ſchon bey Lebzeiten des ſeligen gnaͤ - digen Herrn, da Magdalene noch nicht ſo herzlich weinen durfte, gedacht hatte. Man machte uͤber dieſe Thraͤnen der Magdalene, bittre Anmerkungen, ſo daß, da der groͤßte Theil davon an die beyden Weinenden kam, Wohlſtandes wegen Magdalene weniger, als die nachgebliebene Frau Wittwe, zu weinen anfieng. Der wunderbare Wohlſtand!

Es285

Es hatte der Herr Gemahl der Frau v. E. in ſeinem lezten Willen die feyerliche Verfuͤgung gemacht, daß ſeine Gemahlin und Mamſell Dene, (ſo ward Magdalene im ganzen Hauſ und uͤberall genannt,) ſich nicht von einander trennen, ſondern beyſam - men bleiben ſolten, bis ſie der Tod ſchiede. Das war ein neuer Gegenſtand zu Anmer - kungen, welche die ganze Gegend machte, ſo bald das Teſtament eroͤfnet war. Die Frau Wittwe, die vor der Eroͤfnung des Teſtaments, und vorzuͤglich bey Gelegenheit der Thraͤnen, den Plan gemacht hatte, De - nen in allen Gnaden zu verabſchieden, war jetzo, wie ſie ſich ausdruͤckte, gezwungen, dieſe Klett am Kleide zu leiden. Sie ſah es alſo im Herzen ſehr gern, daß Herr Herrmann Denen die Aufwartung machte. Zwar hatte ſie ſich ſo feſt an dem Willen ihres verſtorbe - nen Gemahls gebunden, daß ſie keine Tren - nung von Denen moͤglich glaubte; indeſſen glaubte ſie, durch Denens Umgang mit Herrmann wenigſtens die Scene zu veraͤn - dern, und der Nachred eine andere Wen - dung zu geben. Einen Rechtsgelehrten hatte ſie nicht das Herz, daruͤber zu Rathe zu zie - hen. Es giebt Krankheiten, die mannicht286nicht gern entdeckt. Dene fand von dieſer Seite nicht die mindeſte Schwierigkeit, wohl aber war ihr bedenklich, daß ſie die Eheſchei - dungsſtrafen, wenn ſie den Aufſtand anheben ſolte, zu tragen wuͤrd angewieſen werden. Wenn aber die Frau v. E. anfienge, dachte Dene, was koͤnnteſt du nicht fuͤr Bedin - gungen vorſchreiben! Dene ſahe wohl, wie uͤberlaͤſtig ſie der Wittwe war, ſie mochte mehr oder weniger weinen, als ſie. Wenn Dene alſo nach dieſer ihrer Verbindung mit dem Herrn Herrmann gefragt ward, war ihre Antwort: Sie belieben zu ſcherzen, oder, ich bitte tauſendmal um Verzeihung, oder, mir fehlt ohne den Herrn Herrmann nichts auf der Welt. Roth zu werden hatte ſie entweder ſchon laͤngſt verlernt, oder hatt es nie gekonnt. Es blieb alſo ihre Verbindung mit dem Herrn Herrmann problematiſch. Die Nachbarſchaft pflegte die gnaͤdige Frau und Denen zu nennen Sara und Hagar. Sowohl Sara als Hagar aͤrgerten ſich uͤber dieſe Beynahmen, ohne gegen einander ſich dieſe Aergerniß merken zu laßen.

Magdalene hatte, ſeit ihrer vieljaͤhrigen Praxis, alle Kniffe auf einem Schnuͤrchen, wodurch unſer in Liebesangelegenheiten aber -glaͤu -287glaͤubiſches Geſchlecht gefeßelt gehalten wer - den kann, ſo daß es noch dieſe Feßeln als Ordensketten verehret. Sie hatte den alten Herrn erſt aͤußerſt verliebt gemacht, und war ihm in allem wenigſtens ein Viertel Meilchen, (ich rede von deutſchen Meilen,) zuvor gekommen. Auf einmal eine andere Dekoration. Wer A ſagt, muß auch B ſa - gen, war bey Denen keine Regel, und alle ausgelernte Koqetten denken ſo. Der alte Herr hatte durch eine uͤberaus gefaͤllige Auf - nahme in dem Hauſe der Sara, ſich das Wohlleben ſo angewoͤhnt, daß, wenn auch nicht die koͤrperliche Uebungen ſeine Schul - jugend, die wie Schaafe in der Irre gieng, zerſtreut haͤtten, dieſe guten Tage ſich mit den Schulſtunden nicht laͤnger vertragen ha - ben wuͤrden. Was ſolte der alte Herr an - fangen? Der Unterhalt, den ihm ſeine ver - ſtorbene Witzprincipalen zugeſtanden hatten, war klein, und zum Theil ungewiß. Dene hatte, nach der Meynung des alten Herrn, mit Herzen Mund und Haͤnden A geſagt; allein nun war ſie nicht aus der Stelle, und bey weitem nicht zum B. zu bringen; viel - mehr ſchien ſie zuweilen gar das A zuruͤckge - hen zu wollen, wenigſtens ward aus demgroßen288großen A ein ſo kleines, daß man es bey - nah dafuͤr nicht anſehen konnte. Ich habe, dachte der alte Herr, das unreine Waßer ausgegoſſen, ohne reines aufgefangen zu haben obgleich er wirklich reines Waſ - ſer ausgegoſſen hatte, um unreines zu ſchoͤ - pfen. Dies macht ihn aͤußerſt verle - gen; allein dieſe Scharten wezt er zu Hauſ aus, und Mine, die arme Mine, haͤtte nicht in Egypten mehr ausſtehen koͤnnen, als bey dieſem wetzenden Vater, der reines Waſſer ausgegoßen hatte, und keinen Tro - pfen unreines auffangen konnte, ſeine Zunge zu kuͤhlen; denn es gieng ihm, wie dem rei - chen Mann, in ſeinem Praͤludio. Der Frau Sara Gnaden, welche ſich auf dergleichen Wendungen, (meine Muter wuͤrde Raͤnke und Schwaͤnke geſchrieben haben,) wohl ver - ſtand, ſuchte dem alten Herrn Troſt zuzunei - gen, und ihn wenigſtens durch guten Fraß und Sof zu ſtaͤrken, und zu feſtigen, ſeine Laſt zu tragen. Dene blieb indeſſen halsſtar - rig beym kleinen, ganz kleinen a, und ſo wie kein Ungluͤck allein, ſondern paarweiſe kommt; ſo mußt es auch dem Amtmann S. einfallen, um Denen in einem Brief, eh ihr Trauer - jahr noch um war, foͤrmlich anzuhalten. Die -289Dieſen Amtmann, der ohnehin in den nem - lichen Jahren des Herrmanns ſich befand, obgleich ihn kein Zipperlein plagte, wuͤrde Dene um alles nicht einem Litteratus, (ohn - erachtet dieſer Litteratus den kalten Brand hatte,) vorgezogen haben, indeſſen konnt ihr nichts erwuͤnſchter kommen, um den Herrn Herrmann voͤllig aufs Haupt zu ſchla - gen. Herrmann litte zuſehens; denn er war in das Geld der Dene ſterblich ver - liebt. So wenig Herz auch der alte Herr hatte, ſo wuͤrd er doch mit dieſem Amtmann eins verſucht haben, (nemlich in Briefen,) wenn nicht die gnaͤdige Wittwe das glim - mende Tocht der Hofnung in dem Herzen des alten Herrn aufgefacht haͤtte. Zwar brannt es ſehr ſchwach; indeſſen brannt es doch. Zu keiner kleinen Freude des alten Herrn, veranſtaltete die Wittwe einen Be - ſuch beym Herrn Herrmann. So viel Ehr ihm dieſer Beſuch war, ſo wußt er doch nicht, wie er ſeine Gaͤſte aufnehmen wuͤrde. Der Frau Sara Gnaden wolten mit, wie haͤtt auch die viel Ehr[und] Tugend belobte Jungfer Magdalene, ohn eine ſolche Bede - ckung, zu einer los und ledigen Mannsper - ſon kommen koͤnnen? Die Frau Sara warZweiter Th. Tjetzt290jetzt ihre veſte Burg, in welche ſie ſich zu werfen Willens war, wenn die boͤſe Nachrede ſie verfolgen wuͤrde. Im Herzen konnt ihr nichts willkommner, als dieſer Vorſchlag ſeyn; denn ſie wolte gar zu gern, ihr kuͤnfti - ges Bleibchen kennen lernen, und auch ihre Stieftochter, von der ſo viel gutes geſagt ward. Uebermorgen alſo! Der alte Herr beur - laubte ſich ſo gleich, und reiſete mit Freuden und mit Kummer zu ſeiner Wohnung.

Mine! Mine! Mine, das arme von einem Briefe an mich verſcheuchte Maͤdchen, kam und erfuhr die große Neuigkeit von dem Heil, das dieſem Hauſe wiederfahren ſolte. Der Stolz macht ihren Vater verdrießlich; denn es war nicht nach Herzensluſt in ſeinem Hauſ einge - richtet uͤberall blickte Duͤrftigkeit hervor. Wuͤrde nicht die Hofnung auf Denen die - ſer Leidenſchaft Zaum und Gebiß angelegt ha - ben; die arme Mine, was haͤtte ſie nicht noch mehr ausgeſtanden, als ſie ausſtand! Das arme Maͤdchen, das viel zu edel war, um ein einziges Wort von ihren haͤus - lichen Verfaßungen gegen mich auch nur fallen zu laſſen: das ſich in alles ſchi - cken konnte: das ſelbſt auch ihren Bruder Benjamin, obgleich er das Schneiderhand -werk291werk lernte, zu dieſer Denkungsart hinauf geſtimmt, der um alles in der Welt willen nichts von meinem ανέχου και απηχου an - genommen haͤtte, dies arme Maͤdchen ſolte zu meinen Eltern gehn und borgen, da - mit die hohen Gaͤſte, wie Herrmann ſie nannte, uͤbermorgen wie es ſich eigne und gebuͤhre aufgenommen werden koͤnnten. Verzeihung, Vater! das kann ich nicht, ſagte Mine ſehr gefaßt. Herrmann ſtampfte, wuͤtete und tobte, bis ihm Mine endlich einen Plan vorlegte, der ohne, daß geborgt werden duͤrfte, zu beſtreiten waͤre. Mag es antwortet er, wiewohl noch unwillig, mag es denn er konnte es Minen nicht ver - zeihen, daß ſie zu meinen Eltern zu gehen verweigert hatte. Er gab ihr, wiewol un - ter Hyeroglyphen, zu verſtehen, daß ſie mei - netwegen dieſes Schrittes wegen die Pein - lichkeit eben ſo noͤthig nicht haͤtte. Mine verſtand nicht blos was er ſagte, ſondern auch, was er dachte; indeſſen verſchwieg[Herrmann] meinen Namen vorſichtig, und da Mine ihren Plan gut einzukleiden wußte, uͤberwand ihn die Hofnung, Magdalenens Reichthum zu uͤberzaͤhlen, endlich ganz. Die Freude nahm Oberhand, und dieſe ver -T 2fuͤhrt292fuͤhrt ihn, Minen ſeine Heyrath rund aus zu entdecken. Das gute Maͤdchen hoͤrte keine Neuigkeit; allein ſie konnte nicht um - hin, ihm im Hintergrunde des Gemaͤldes, das ſo ſchoͤn in ſeiner Erzaͤhlung ausſah, die Fehler zu zeigen. Die Sache war in - deſſen nach ihrer Meynung zu weit gekom - men, als daß ſie ſich lange bei dieſen Feh - lern im Hintergrunde verweilte.

Mine hatte durch ihrer Haͤnde Arbeit ſich ſchon ſeit der Zeit, daß ihr Vater De - nens wegen die Schulanſtalten aufgehoben, beinah allein erhalten. Jetzt brachte ſie von dieſem ihrem kuͤmmerlich ernaͤhten Ver - dienſt, von freyen Stuͤcken etwas in den Plan zur Aufnahme, ohne ſich einſt daruͤber ein Verdienſt zuzueignen, und es dem Va - ter zu entdecken. Das gute Kind! Der feyerliche Tag erſchien, den Sara und Ha - gar zum Beſuch beſtimmt hatten. Der alte Herr konnte dieſen Mittag nicht eßen nicht trinken, er blies ſelbſt den Staub ab, wo er noch Staub in dem Zimmer entdeckte, und vergaß ſo ſehr, daß er Litteratus war, daß er Holz geſpalten haben wuͤrde, wenn es auf dieſen Umſtand bei Minens Plan an - gekommen waͤre. Er trug nicht tagtaͤglichMan -293Manſchetten; allein er legte ſie, wie die Paſtores den Kragen, in die große Bibel, um die Manſchetten in Zuͤchten und Ehren zu erhalten. Diesmal nahm er ein ganz neues Paar; allein dem unerachtet mußte Mine ſie ihm noch aufbiegeln, und, da ſie’s ihm nicht zu Dank machte, vollendet er die - ſes Werk ſelbſt. So lang, wie des Him - melsbuͤrgers, waren die Manſchetten des Herrmanns nicht: allein Herrmann war auch in Wahrheit nicht werth, meines Va - ters Landsmann, in dem allerentfernteſten Sinne, zu ſeyn.

Mine hatte Tannenreiſer und Kalmus in die Zimmer geſtreut, und mit Wacholder ge - raͤuchert, da Herrmann eben mit den Augen ſeinen Gaͤſten entgegen gelaufen war. Dies mußt alles, bis auf das lezte Woͤlk - chen Rauch, das ſich im Zimmer herum zog heraus; ſo bald Herrmann wieder kam, weil es, wie er ſagt, in großen Haͤuſern nicht mehr Sitte ſey, Tannen, Kalmus und Wacholderrauch zu riechen. Man ſpritzet, fuhr er fort, die Zimmer mit wohlriechen - dem Waſſer aus, um den Staub eben hie - durch niederzuſchlagen. Die Naſe des alten Herrn fand, nachdem ſchon alles aus demT 3Zim -294Zimmer war, noch ſo einen gemeinen und, wie er ihn nannte, Coriandergeruch, daß er durchaus Modeweihwaßer verlangte, um es auszuſprengen. Mine konnt ihm damit nicht dienen ſie haͤtte gern das Gruͤne im Zimmer beybehalten.

Es ſchlug die Stunde, da er ſeine Gaͤſt erwartete, und da man nach Ortsumſtaͤnden ſie mit Grund erwarten konnte; allein verge - bens. Herrmann, ob ſchon er einen Bo - ten ausgeſandt hatte, um ja den hohen Gaͤ - ſten weit genug entgegen kommen zu koͤnnen, konnte ſich nicht entbrechen, auf die Zinne des Tempels zu ſteigen. Es konnte bei die - ſer Gelegenheit nicht fehlen, daß ſeine Unter - und Oberkleider, obgleich er die letzte durch einen Mantel von Glanzleinwand in Obhut genommen, vom Staub angegriffen wur - den. Er hatte nichts von ſeinen Gaͤſten entdeckt, und das war ſehr natuͤrlich. Wenn der gute Mann ſein hoͤchſtunzulaͤngliches Ge - ſicht zuvor uͤbermeſſen; ſo haͤtt er dieſe Muͤhe ſparen, und den Mautel von Glanzleinwand in ſanfter Ruhe laſſen koͤnnen. Er war von unten bis oben zu beſchaͤftiget, ſich wie - der zu reinigen und zu laͤutern, und zittert an Haͤnd und Fuͤßen, und uͤber Leib undLeben,295Leben, wenn er was rauſchen hoͤrte. Da ſind ſie, ſchrie er, und lief und kam wieder, und lief noch einmal, und kam noch einmal wieder. Obgleich Mine, die heute wohl Marta haͤtte heißen koͤnnen, ihm eben ſo oft, als er lief und wieder kam der Bote nach - ſchrie; ſo war er doch in einem ſolchen Ge - dankenconcours, daß er nicht aus noch ein wußte. Endlich, (nachdem er ſchon eine halbe Stunde rein und ſauber, wie aus ei - nem Schreinchen gezogen, da ſtand,) der Bote! Wie ein Blitz war er fort. Noch eine halbe Viertel Meile auch die halbe Vier - tel Meile hielt ihn nicht. Er flog. Re - gine, das Hausmaͤdchen, ſchrie ihn dies - mal bey aller ſeiner Eil zuruͤck, ohnfehlbar glaubt er, daß Mine ihm noch eine Frage zu thun haͤtte.

Wollen Sie, ſagte ſie auf lettiſch, nicht den Glanzleinwandsmantel uͤberziehen? Keine Furie kann wuͤtender werden, als un - ſer alte Herr ward, und nun haͤtt ihn nichts zuruͤckgebracht, nichts

Sie kamen Mine war hoͤflich, ohne ſich wegzuſchleudern. Sie batte mich vor Augen und im Herzen und der alte Herr konnte nicht aufhoͤren, mit Gebehrden ihrT 4zu296zu verſtehen zu geben, daß ſie zu wenig, viel zu wenig, thaͤte. Er, daß wiſſen ja meine Leſer, war ein Regenwurm.

Die gnaͤdige Sara hatte ſo viel mitge - bracht, daß Minchens wohlgemeinter Plan voͤllig vereitelt ward. Die hohen Gaͤſte haͤt - ten, duͤnkt mich, wenn es auch nur der gu - ten wohlmeynenden Hand Minchens wegen, geweſen waͤre, ſich zu demjenigen bequemen koͤnnen, was dieſes gute arme Maͤdchen des Hausfriedens halber zum Theil von ihrem Rehgelde angerichtet hatte; allein Sara und Hagar waren viel zu ſtolz, um ſich ſo tief herabzulaſſen.

Mine hatte den Einfall, gleiches mit glei - chem zu vergelten, und nichts von dem Mit - gebrachten anzugreifen; allein konnte ſie’s ihres Vaters wegen? Er winkte ſo lange, bis ſie nahm und . Nun haͤtt er zu winken aufhoͤren koͤnnen und ſollen; allein er ſetzt es fort, und wollte durchaus, daß Mine ſich den Magen verderben ſollte. Das that ſie nicht. Es war ein unbeſchreiblicher Stolz, womit dieſe Antiken, Sara und Hagar, uͤber Minen herfuhren. Daß ſie nicht von den natuͤrlichen wohlgemeinten Speiſen nahmen, wuͤrde den beiden Damen endlich zu verzei -hen297hen geweſen ſeyn; allein es war unverzeih - lich, daß ſie ſich uͤber Gottes Gaben heruͤber bogen, und die Naſe ruͤmpften. Sie maa - ßen Minen hundertmal mit ihren Augen, und hier und da hielt ſich der Blick auf, als ob er ein Plaͤtzchen gefunden haͤtte, das werth waͤr, ein wenig anzuhalten. Dies alles war Minen unertraͤglich. Sie durfte nicht hundertmal auf - und abblicken, um dieſes Paar voͤllig zu uͤberſehen, und ihre Ueberle - genheit zu fuͤhlen. Die Wittwe Sara that einige Fragen an ſie. Womit ſie ſich die Zeit vertriebe? Ob ſie einen Liebhaber haͤtte? Ob ſie auch die Kuͤche verſtuͤnde? Anzuſehen, ſetzte ſie hinzu, iſt es nicht. Ihre Haͤnde ſind ſo kuͤchenrein, als einer Dame vom Stan - de. Nicht wahr, liebe Dene? Dene enthielt ſich aller Fragen; allein man konnt es deutlich bemerken, daß ſie ſich ſolche in be - ſter Form Rechtens vorbehielt. Ihre Stun - de hatte noch nicht geſchlagen.

Das abgebohnte Clavier brachte die ho - hen Gaͤſte auf die Muſik, und die gnaͤdige Sara auf die Frage: ob Minchen muſikaliſch waͤre? Mine beantwortete dieſe Frage mit der ihr eignen Beſcheidenheit. Obgleich die hohen Gaͤſte keinen Beweiß, in wie weitT 5ſie298ſie muſikaliſch ſey, begehrten; ſo beſtand doch der alte Herr darauf, Mine ſolte ſingen und ſpielen da er es ſeinen hohen Gaͤſten ſo nahe legte, beſtanden ſie auch darauf; denn eine Bitte war es noch lange nicht. Etwas be - kanntes, ſagt er, denn er wußte wohl, daß ein Praͤludium, wenn es Hand und Fuß ha - ben ſolte, bey ihm vierzehn Tage zuvor be - ſtellt werden mußte. Mine ſang und ſpiel - te, weil ſie ſingen und ſpielen mußte. Es war indeſſen keine Dedication an die hohen Anweſende. Wenn dieſe Damen Gefuͤhl ge - habt; haͤtten ſie wohl den Vogel im Bauer gehoͤrt! Indeſſen hatten die hohen Gaͤſte we - der ſo feine Ohren, noch ſo feine Herzen.

Dene hatt ein Paar Strahlen der Hof - nung auf den alten Herrn fallen laſſen, die ihn entzuͤckten.

Uebermorgen erwart ich meinen Sohn, ſagte die gnaͤdige Sara zum Herrmann, ſie werden doch ſo gut ſeyn, und zu uns kom - men. Minen fuhr es in alle Glieder. Mir war es, wie ſie ſchreibt, als ob Sara hinzu - ſetzen wuͤrde: bringen Sie ihre Tochter mit. Ihre Befuͤrchtung war vergebens. Der Stolz ließ dieſe Bitte nicht zu.

Noch299

Noch ein Paar Blicke von oben bis un - ten, und dann wieder von unten bis oben, ohne daß der Blick Minen die Ehre that, ir - gendwo zu weilen, und nun Gott be - wahre Sie, mein Kind! Ein gewoͤhnli - ches Compliment. Mine ſchreibt: Mir war es als haͤtt ich geſagt: vor ſolchen Leu - ten ich erſchrack; allein ich hatt es nur herzlich und von ganzer Seele gedacht So ward hier, und ſo wird jederzeit, das Geſetz erfuͤllt: Unrecht ſtraft ſeinen eigenen Herrn.

Der alte Herr war in Seelenangſt, auf welche Art, ohne ſich zu viel herauszuneh - men, er die gnaͤdige Wittwe in den Wagen bringen ſolte. Endlich legt er Hand ans Werk. Mit Denen ward er geſchwinder fertig. Sie hatt ihm Muth und Leben ein - gefloͤßt. Er wolte durchaus zu Pferd und den hohen Gaͤſten vorreiten; allein ſie ver - baten es, der uͤblen Rachrede wegen, und alſo begnuͤgt er ſich, ſie wieder bis auf die Stelle zu begleiten, wo er ſie entgegen ge - nommen.

Froh kam er zu Minen; allein dies konnte die Strafpredigt nicht abwenden, die er ihr hielte, viel zu wenig, viel zu wenig ſich ge -buͤckt,300buͤckt, geſungen, geſpielt und gegeſſen zu ha - ben.

  • und wie gefaͤllt dir (dieſe Frage außer al - lem Zuſammenhang) wie gefaͤllt dir Dene ?
  • wie ſie mir gefaͤllt?
  • wie ſie dir gefaͤllt?
  • da ſie meine Mutter werden ſoll das iſt ſie ſchon unterbrach er Minen, we - gen der Paar Stralen von Hofnung, die ſie auf ihn geworfen hatte, ſo iſt es Pflicht dieſe Antwort erwart ich von Minen.

Es iſt ſchwer, ſchreibt Mine, ſehr ſchwer, wenn man eine ſo gute Mutter gehabt, einer Dene als Mutter zu huldigen, und waͤre das vierte Gebot nicht

Der alte Herr verfehlte nicht, der Ein - ladung der gnaͤdigen Sara gemaͤß, ſich zu rechter Tageszeit einzufinden, und wer haͤtte das gedacht? Der Herr Sohn der Madam Sara war kein andrer, als der Herr v. E., der franzoͤſiſche Curlaͤnder, welcher kriechend und ſtolz, fuͤr und wider ſich, und gewis auch Freund und Feind eines jeden Menſchen war, je nachdem es die Umſtaͤnde gaben. DerAffe301Affe mit den Halbſtiefeln! Der alte Herr fand ihn ſchon, da er ankam, und machte tauſend Umſtaͤnde, daß er ihm nicht entgegen gekommen!

Der Teufel, Herr! wo haben Sie wiſ - ſen koͤnnen, daß ich kommen wuͤrde?

Die gnaͤdige Mamma!

Wir waren beym Herrn Herrmann, ich und Dene, fieng die gnaͤdige Mamma an. Dank Herr Herrmann fuͤr alle erzeigte Hoͤf - lichkeiten! Fuͤr den ſchoͤnen Sang ihrer Tochter! das iſt wahr, Herr Herrmann! Sie koͤnnen ſich was auf ſolch eine Tochter einbilden. Iſt es ihre rechte Tochter? Ein huͤbſches Maͤdchen! Nur ſcheint ſie mir die Finger nicht in kaltes, nicht in warmes, Waſ - ſer zu ſtecken. Ihre Hand faßt ſich wie Atlaß an.

Da war unſer Ankoͤmmling wie ein Geyer auf die Taube.

Ich liebe ſchoͤne Haͤnde, gnaͤdige Mam - ma, die nicht kalt und warm vertragen, die ſich wie Atlaß anfaſſen laſſen, wenn ſind Sie zu Hauſe, Herr Herrmann?

Wenn Ewr. Hochwohlgebohrnen befeh - len.

Ich302

Ich will meiner Mutter nicht die Ehr allein laſſen, ſie beſucht zu haben: denn in Wahrheit, es kann kein Menſch ein groͤßerer Liebhaber von einer ſchoͤnen Hand, oder von der Muſik ſeyn, das iſt beynah einerley, als ich.

Die Wittwe v. E. (ich habe ſie lang ge - nug und bis zum Ueberdruß meiner Leſer Sara genannt,) macht ihrem Sohn Vor - wuͤrfe, daß er ſie ſo lang auf ſich haͤtte war - ten laſſen. Dein Brief aus Koͤnigsberg

Schoͤnſte Mutter, (Frau von E. hoͤrte dies gern,) ich fand in Koͤnigsberg noch dies und das, und Sie wiſſen wohl, wenn man dies und das findt; ſo kann man ſo geſchwin - de nicht. Wir wiſſen das dies und das, wobey Herr v. E. in und um Koͤnigsberg, vor ſeiner Ruͤckkunft nach Curland, noch zum Ritter zu werden den Beruf hatte; nicht zum irrenden, denn hiezu hatt er keinen An - ſatz.

Deine Mutter aber haͤtteſt du uͤber dein Dies und Das nicht vergeſſen ſollen, ſagte die Frau v. E.

Vergeſſen! Schoͤnſte, vergeſſen! Noch unterwegs traf ich ein huͤbſches liebes Kind, und ſagen Sie ſelbſt, wie kann man eine ſchoͤneGegend303Gegend ſehen, und nicht wenigſtens darauf athmen? und ſich freuen, daß man athmen kann? Die gnaͤdige Wittwe holte ſehr tief Athem, und ward durch dieſe und dergleichen Unterredungen, die alle ergaben, daß Herr v. E. ein großer Verehrer von ſchoͤnen Gegen - den war, zur eigentlichen Materie gebracht. Du weißt, mein Kind, fieng ſie an, was dein ſeliger Vater wegen der Fraͤulein S. noch bey ſeinen Lebetagen berichtiget. Du weißt, daß dein Herz und deine Hand vergeben ſind, und wenn du dieſe Gegend, die dir bald ei - genthuͤmlich zugehoͤren ſoll, mehr in Erwaͤ - gung gezogen, ich wette du haͤtteſt deine Mut - ter nicht ſo lange warten laſſen. Im Te - ſtament denkt er an dieſe deine Verlobte, welche dich mehr liebet, als du dir vorſtellen kannſt. Sein lezter Wille ſetzet feſt, hier nahm ſie ihren Sohn, um ſich mit ihm die - ſes Teſtaments wegen, zur vertraulichen Un - terredung einzuſchließen.

Herrmann hatte Gelegenheit, mit ſeiner Dene eine gleich vertrauliche Unterredung an - zuſtellen, bei der es beynah bis zum B. ge - kommen waͤre. Es war dieſes im eigentlichen Sinn fuͤr Herrmann ein Schaͤferſtuͤndchen denn er liebte, er liebte brennend nichtDenen,304Denen, ſondern das liebe Ihrige, und davon ſolt in dem gegenwaͤrtigen Stuͤndchen gehan - delt werden. Es fiel ſehr auf, daß die Frau v. E. ſich mit ihrem Sohne, nicht ſei - ner Heyrath wegen, eingeſchloſſen. Dieſe diente nur zum Vorwand und Ueberrock: Dene war die Hauptrolle. Herrmann em - pfand den gluͤcklichen Vorfall, daß ſich die Frau v. E. und ihr Sohn paarten; denn wo ein vertrautes Paar ſich ſondert, da giebts mehr.

Sehen Sie nur, Herr Herrmann, fieng Dene an, es iſt bei alledem eine eigene Sa - che mit dem Teſtament, ich bin mit der gnaͤ - digen Frau wie getraut, wir koͤnnen es nicht, der Tod ſoll uns ſcheiden.

Das daͤcht ich, ſagte Herrmann, haͤtte nichts zu ſagen.

Ein Teſtament!

Eine Eheſcheidung!

recht, lieber Herrmann.

  • (Herrmanns Herz fieng dieſen Ballen, und freute ſich, wie ſich ein Kind freut, wenn es den Bal - len gefangen hat.)

nun, meine Engliſche?

Aber die Scheidungsſtrafen?

Das305

Das iſt zu machen.

Und wie?

Und wie? Sie giebt Ihnen ein Jaͤhrli - liches, ſo lang ſie leben.

Wenn ſie will.

Sie muß wollen.

Wenn ich zur Scheidung Anlaß gebe?

Wenn auch! im Herzen glaub ich ſieht ſie nicht ungern

Daß ich gehe? Dies iſt auch meine Hofnung.

Zu der Meinigen gehoͤrt mehr.

Was mehr?

Sie, meine Engliſche

Lieber Herrmann, ich dacht eben dran.

O wie gluͤcklich bin ich!

Ich dacht eben, wenn die Frau v. E. dieſe Penſion nur auf meine Lebenszeit ver - ſchraͤnkt, ſo wuͤrden meine kuͤnftige Erben

  • (Hierbey haͤtte dem Herrmann angſt und bange werden koͤnnen; indeſſen deutet er dieſe Erben, wie es auch wohl gemeint zu ſeyn den Anſchein hatte, auf ſich.

O engliſche, o guͤtigſte! Sie denken auch nach ihrem Tode. (Er weinte, denn dasZweiter Th. Uward306ward ihm nicht ſchwer. Ein Menſch, wie er, haͤtte beim Wort Tode heulen und zaͤhn - klappen ſollen; allein es waren dieſe Thraͤ - nen, wie alles an ihm war. Seine Empfin - dungen waren Kunſt. Sie ergoſſen ſich nie, ſie wurden nur durchs Druckwerk getrieben. Er hatte beides Lachen und Weinen in einem Behaͤltniß wie man wolte, wolt er mit. )

O, den werd ich, den werd ich nicht uͤberleben!

Dene, welcher unfehlbar der ſelige gnaͤ - dige Herr beim Ueberleben einfiel, fieng auch bitterlich zu weinen au. Herrmann deutete dieſes auf ſich, und umfaßte ihre Knie und da hoͤrten dieſe Turteltauben die zuruͤck kommende Frau v. E. und ihren Sohn, das Teſtament in der Hand.

Jedes, Dene und Herrmann, giengen in ein ander Fenſter. Es hatte ſich ſchon jedes etwas kalt gewordenes Theewaßer aufs Schnupftuch gegoßen, um deſto gruͤndlicher alles zu verwiſchen.

Herr v. E. wandte ſich, da er zuruͤckkam, das Teſtament noch in der Hand, zu Denen da find ich, liebe Dene, fing er an, eine naͤrriſche Clauſul. Hat der Teufel je ſowas307was gehoͤrt, zwey Frauenzimmer ſollen ſich verheyrathen! Sie haben mir nie was boͤſes gethan, liebe Dene, und noch bey meines Vaters Leben, wo ſie im Hauſe was galten, hab ich alles Liebes und Gutes, es verſteht ſich in allen Ehren, von ihnen ge - noßen; allein ſo weit geht die Erkennt - lichkeit nicht, und ſo nah ſind wir mit ihrer Erlaubniß nicht verwandt, daß meine Mut - ter eine Perſon im Hauſ ertragen ſolte, die ihretwegen gar nicht ins Haus kommen ſol - len. Sie verſtehen mich doch, Dene?

O ja, ſagte Dene.

Sie haben alſo ihren Abſchied.

Frau v. E. ohne daß ſie ſich eben uͤber - eilen duͤrfen.

Herr v. E. heute, morgen, uͤbermor - gen.

Dene, und wegen meiner treugeleiſteten Dienſte?

Frau v. E. ſah ihren Sohn an, als ob ſie ſagen wolte: hab ich es nicht gedacht?

Herr v. E. Es wird ſich finden

Frau v. E. die herzlich froh war, daß ſie Denen ſo auf gute Manier, ohn einſt ei - nem Rechtsgelehrten desfals zu beichten, losU 2war,308war, fiel ihrem Sohn ins Wort: Dene ſoll nicht drunter leiden! Wir werden dar - uͤber eins werden!

Dene kuͤßte der Frau v. E. die Hand, und dem Herrn v. E. desgleichen, und ſo war alſo Herr v. E. ein treflicher Executor teſtamenti.

Herrmann erzaͤhlte dieſe Geſchichte, da er heim kam, ſeiner Tochter Minen. Denn er war außer ſich. Kein Stein des Anſtoſ - ſes mehr auf dem Wege zu Denens Herzen aber, ein großes Aber, blieb ihm im Herzen ſtecken, weil es noch nicht berichtiget war, was Dene zum Abtrag haben ſolte. Minen ergrif eine große Angſt. Sie hatte beſtaͤndig Ahndungen. In dem Augen - blick, ſchreibt ſie, da mein Vater den v. E. ausſprach, noch eh er ihn ausſprach, wußt ich, daß Herr v. E. zu uns kommen wuͤrde, nur wer er war, wußt ich nicht halb, nicht ein Viertel.

Den achten Tag, ſo lange hatte ſich Herrmann wegen kleiner podagriſcher Anfaͤlle, die ihm ſehr ungelegen kamen, zu Hauſe ge - halten, langte Herr v. E., wie er ſchwor, der Muſik wegen, an, und neben her zu ſe - hen, wie Herrmann ſich befaͤnde. Minethat309that einen heftigen Schrey, da ſie den Herrn v. E. ſah. Er aber, nachdem er ſie durchs Glaß betrachtet, fand ſie aller allerliebſt und das ſagt er ihr ſo ohne Ruͤckhalt, als ob ſie zum Kauf ſtuͤnde, wo jedem Vorbey - gehenden frey ſtehet, ohne Umſtaͤnd allerliebſt zu ſagen.

Es blieb bei dieſem allerliebſt nicht. Sie war im Negliſchee, und da fand er das Band am Buſen ſo ſehr der Jahrszeit angemeſſen, daß man es nicht beſſer in Paris haͤtte waͤh - len koͤnnen. Er packte ſeine drey Glaͤſer, (durch alle drey hatt er ſie geſehen,) ein, und ſchien es dazu anzulegen, Minen mit ſeinen leiblichen Augen zu erreichen. Er war fertig, ſie in naͤhern Augenſchein zu nehmen. Da nahm Mine ihre ganze Gewalt im Aug zuſammen, um ihn zur Erde zu ſehen. Er fuͤhlte dieſen Blick, obgleich er ein ganzes run - des Jahr in Paris geweſen war, und er kam wieder zuruͤck, zu ſeinen drey Glaͤſern, und zum Allerliebſt. Von dieſer Stelle haͤtt ihn das Auge der Tugend ſelbſt nicht wegblitzen koͤnnen. Mine hatte nichts mehr noͤthig, als dieſen Zwitter von Franzos und Cur - laͤnder zu ſehen, um ihn unausſtehlich zu finden. Sie wuͤrd uͤber den erſten Sterb -U 3lichen310lichen mich nicht vergeſſen haben. Sie war ganz mein. Sobald ſie dieſen Gecken geſe - hen hatte, ſahe ſie, was ſie oft geſehen, daß ihre Ahndungen nicht immer traͤfen. Ein Geck dieſer Art kann nicht ſchwer zu ent - fernen ſeyn, dachte ſie, und in Wahrheit ſie dachte ſehr richtig, denn mich duͤnkt, nichts iſt einem jeden gutdenkenden Maͤdchen leich - ter, als einen Stutzer, der ein Jahr in Pa - ris geweſen, auf ſeine Graͤnze und zu ſeinen drey Glaͤſern zu bringen ich weiß wohl wer unverſchaͤmter iſt.

Es iſt mir unbekannt, ob meine Leſer ſchon einen curſchen Franzoſen geſehen haben! Werth zu ſehen iſt er! Franzos und Curlaͤn - der reimen ſich, als Chapeaubashuͤtchen und Stallmeiſterſtiefel, als Sonnenſchirm und Jagdtaſche.

Ich habe ſchon die Ehre gehabt, den Herrn v. E. als meinen Nebenbuhler zu praͤ - ſentiren, und jetzt kennen ihn meine Leſer noch oben ein.

Herr v. E. konnte nicht ein Auge, oder eigentlich ein Glaß, von Minen laßen. Er war außer ſich, ſteckte die drey Glaͤſer an ihren Ort, und kam wieder an das der Jahreszeit ſo angemeſſene Band am Buſen,das311das man in Paris nicht beſſer waͤhlen koͤn - nen. Mine warf ihn auch wieder mit ei - nem Blick zu Gottes Erdboden den Elen - den! der nicht werth war, daß ihm die Sonne beſchien. Dem Kuß zum Abſchiede ward ihr ſchwer zu entgehen, ſie entgieng ihm zwar; indeſſen fiengen ihre Ahndungen wieder ihr Recht zu behaupten an. Herrmann ſelbſt ſchien die Freyheiten, die ſich Herr v. E. her - ausgenommen, zu mißbilligen. Dieſen Schein dedicirt er indeſſen blos Minen hin - ter des Herrn v. E. Ruͤcken. Uebrigens verſtattete das Podagra dem Herrmann nicht, ſo hart er ſich gleich ſtelte, den Herrn v. E. ſo weit zu begleiten, als ſeine Geburt es mit ſich brachte, und wegen dieſes Umſtan - des konnt er nicht aufhoͤren, um Verzeihung zu bitten.

Schon den folgenden Tag ward Herr - mann zur Frau v. E. gebeten; allein er konnte von dieſem Ruf erſt den dritten Tag Gebrauch machen. Herrmann war noch nie ſo bitterboͤſ aufs Podagra geweſen, als diesmal.

Herr v. E. haͤtte beynah, wie er ſich aus - druͤckte, den Verſtand uͤber Minen verlo - ren! Dazu, glaub ich zwar, wuͤrde we -U 4nig312nig erforderlich geweſen ſeyn, weil er gewiß keine große Summe zu verlieren hatte; in - deſſen ſahe man aus allem, daß, ſo bereiſet er gleich war, er ſelten eine ſo ſchoͤne Gegend, als Minchen, gefunden, obgleich er ein gan - zes rundes Jahr in Paris geweſen.

Da er ohne und mit den drey Glaͤſern geſehen, daß Minchen kein bonum vacans, (erbloſes lediges Gut,) wobey der Dieb gal - genfrey ſtehlen kann, ſondern zu tugendhaft waͤr, um ſein aller Allerliebſt zu beherzigen; ſo fand er noͤthig, einen andern Weg einzu - ſchlagen, und dieſe Feſtung, nach ſeinem Ausdruck, die nicht im Sturm uͤbergieng, durch Liſt einzunehmen.

Nachdem ich das Teſtament, fieng er an, genau erwogen, find ich Ihre Schei - dung von Denen ſo leicht nicht, gnaͤdige Mutter, als zuvor.

(Herrmann und Dene gegenwaͤrtig.)

Das dacht ich wohl, erwiederte Frau v. E. in ihrer Unſchuld. Ein Teſtament iſt ein Teſtament. Es iſt der Wille eines Vaters! eines Gemahls! der lezte Wille und ich glaube nicht, daß ſie ſich von Denen ſo leicht zu trennen im Stande ſind.

Die313

Die Frau v. E. wuͤrde mehr geſagt haben, wenn nicht der Herr Sohn dieſes Drama in Gegenwart Denens und Herrmanns aufgefuͤh - ret. Die Mutter ſchrieb dieſen Umſtand auf die Rechnung ſeines Leichtſinns; allein er ge - hoͤrt auf ein unwuͤrdigeres Blatt, auf die Rechnung einer niedrigen Liſt. Es war die - ſes Drama Ausduͤnſtung eines boͤſen Her - zens. Die Mutter blinzte bald mit dem rech - ten, bald mit dem linken Auge; allein der Sohn ließ den Vorhang nicht fallen, das Stuͤck hatte ſeine fuͤnf Aufzuͤge Dene und Herrmann hoͤrten wie natuͤrlich auf. Er machte dem Herrmann, auf den es bey die - ſer Liſt angelegt war, ſo bange, daß er ſte - henden Fußes Minen verrathen und verkauft haͤtte, wenn er damit dem Teſtament eine guͤnſtige Wendung geben koͤnnen. Dies war das Ziel, nach welchem Herr v. E. redete.

Je mehr ſeine Mutter bey dieſer Sache abbrach, je weitſchweifiger ward er. Sein Auge lag auf der Erde, und konnt alſo dem Winken der Frau v. E. nicht begegnen. Die Mutter nahm ihn endlich bey der. Hand er kuͤßte die Hand, und fuhr fort. Wollen wir nicht allein, ſagte ſie? War -U 5um314um, ſchoͤnſte Mutter, antwortet er: es ſind ja unſere Freunde.

Seht! was iſt Recht und Unrecht! Wachs in einer warmen Hand; du aber, gerechter Gott, ſiehſt auf alle, die auf Er - den wohnen!

Nach einem ſehr ausſtudirten Vortrage aller der Schwierigkeiten, warum Dene nicht das muͤtterliche Haus verlaßen koͤnnte, ſucht er mit Fleiß eine Gelegenheit, den Herrmann allein zu ſprechen, um ihn vol - lends in ſein Netz zu ziehen. Herr v. E. that, da er dieſe Gelegenheit hatte, als ob ſie ganz von ungefehr gekommen oder, wie man ſagt, vom Himmel gefallen waͤre.

Noͤthig hatt er nicht, den Herrmann uͤber Denen auszufragen; denn alles war gegenkuͤndig; indeſſen fieng er von Denen, als von einer Sache, zu ſprechen an, bey der man wenig oder nichts verloͤre. Dies wirkte. Er brachte den Herrmann immer weiter, bis er ihn endlich ſo weit hatte, daß er zu allem Ja zu ſagen warm war; nur Dene mußte von dieſem Ja abhaͤngen. Was meynen Sie, ſagte Herr v. E., wuͤrd ihre Tochter wohl Denens Platz vertreten? KurzMine315Mine ſolte Dene werden. Ein Engel, ein Teufel. Herrmann nahm nicht nur den Apfel vom verbotenen Baum und , ſon - dern riß noch einen ganzen Aſt mit. Er dankt in tiefſter Unterthaͤnigkeit fuͤr die gnaͤ - dige Verſorgung, und es ward auf Treu und Glauben verabredet und abgeſchloſſen, daß Mine die erledigte Stelle der Dene ein - nehmen ſolte.

Boͤſewichter! warum ſtarrte nicht euer Kopf, da ihr dieſe Verraͤtherey, dieſen Mord, dachtet, und eure Zunge, da ihr ihn aus - ſpracht! Herrmann, deine Tochter! die Ge - rechte! kannſt du verrathen und verkaufen? Minen! die dir nicht mehr zugehoͤrt, ſondern mir! Minen!

Herr v. E. brachte den Herrmann krum und gebuͤckt zu ſeiner Mutter. Er trug die Sach oͤffentlich vor, das heißt: in Gegen - wart ſeiner Mutter und Denens, die nun wohl einſahen warum? Sie laͤchelten beyde; allein ſie fanden die Sach an ſich ſehr uͤber - dacht. Die Frau v. E. hatte nur noch die eine Bedenklichkeit, daß ehe Mine Dene wuͤrde, ihr Sohn ſich mit der Fraͤulein S. verheyrathen ſolte. Es iſt nicht darum, ſon -dern316dern darum, ſagte die gnaͤdige Mutter. Sie behauptete, dergleichen Dinge zu verſte - hen und endlich, nach vielen Zweifeln und Aufloͤſungen, blieb es dabey, daß er ſich, ehe Mine zur Frau v. E. zoͤge, wenigſtens oͤffent - lich verlobt haben muͤßte. Wer die Beyſtim - mung des Herrmanns zu dieſem Morde fuͤr Uebertaͤubung gehalten, wird jetzt auf dieſe Entſchuldigung Verzicht thun und was vom Herrmann denken? Zu Anfange ſolte Herrmann, dem unter dieſer Bedingung ſein Ja gegeben war, Minens Ja abholen. Dene mußt unter dieſer Bedingung B. ſagen; allein dieſer Plan ward abgeaͤndert. Herr v. E. entſchloß ſich, ſelbſt in hoher Perſon Mi - nens Ja abzuholen wenn gleich Minchen nicht ehe Dene wird, ſagt er, als bis ich verlobt bin; ſo kann ich doch mit ihr den Contrakt vollziehen und ihn, um eine feſte Bindung zu haben, verkitten. Warum nicht, frug Herrmann? alles frug ihm nach? Das Stratagem, dachte Herr v. E., kann nicht fehlſchlagen, und du haſt das ſuͤße Vergnuͤ - gen, Minen Ja ſagen zu hoͤren und wenn ichs auch nur durchs Glaß hoͤren ſoll. Wer hoͤrt nicht gern Maͤdchen Jas ich will hin!

Herr317

Herr v. E. machte jetzt einen ganz andern Auftritt, als im erſten Akt. Der Knoten war geſchuͤrzt. Wer den Vogel im Kefig hat, be - darf keinen Vogelleim. Ohne ihr Band am Buſen der Jahreszeit angemeſſen zu finden, ohne die Exclamation: aller allerliebſt! trug er Minen, die auf dieſen Antrag nicht im mindeſten vorbereitet war, das bewuſte Brod - ſtellchen an. Vielleicht wuͤrd ein weniger kluges Maͤdchen, als Mine, drey Schritt zu - ruͤckgetreten und Bedenkzeit nachgeſucht, oder wohl gar Jageſagt haben; obgleich es an ſich immer ein falſcher, ein Pariſerzug war, dieſe Anwerbung ſelbſt, und nicht durch gute Maͤn - ner, auf deutſche Weiſe zu thun. Mine ſagte: Nein! Ein ſo ofnes Nein, ein ſo kurz und gutes Nein, daß Herr v. E. nicht weiter das Herz hatte, auf ein Ja bei dieſem hartſchaͤligen Maͤdchen, (wie er es zu nennen beliebte,) zu beſtehen. Herrmann war bey dieſer Anwerbung nicht gegenwaͤrtig. Herr v. E., der von Minen Ja (dies Wortſpiel von Ja; denn ſie ſolte den Worten nach Aus - geberin, Geſellſchafterin, werden) hoͤren wolte, fand ſie auch ſchoͤn beym Nein. Er kuͤßt ihr die Hand! brennend

Ich318

Ich beklage, ſagt er, und wußte nicht von ſich ſelbſt, ich beklage meine Mutter, mei - ne liebe, liebe Mutter, meine ſchoͤne Mutter, die ſchoͤnſte, die ich kenne. Es faͤhrt mir durch Mark und Bein, wenn mein Finger noch ſo leiſe den Ihrigen tipt. Eine aller, aller, aller - liebſte Mutter. Der Saum ihres Kleides macht mich ſchon gluͤcklich ſein Auge re - dete weiter. Es war ſo unverſchaͤmt, ſo ungezogen, als moͤglich. Viele Leute glau - ben zwar, daß man mit dem Auge nicht un - gezogen ſeyn koͤnnte. Die Pariſer!

Herrmann reiſete mit, und kam ſo bald Herr v. E. zu ſeiner S. abgieng, wieder heim. Er that Minen eine Frage, die ihr durch die Seele gieng. Wie gefaͤlt dir der Herr v. E., fieng er an allein Mine, die das vierte Ge - bot wußte, und auf die Frage: wie ihr Dene gefiel? als Mutter antworten konnte, beſaß keine Faßung auf dieſe außer dem Ge - biet des vierten Gebots liegende Frage: wie ihr Herr v. E. gefiele, zu antworten. Sie vergaß hiebey den Vater im Kupler, und ſprach ſo gewaltiglich, ſo zudringlich, daß ſie den Herrmann aus aller Faſſung ſetzte. Solch einen Antrag fieng Mine an: ihre Zunge war feurig, ſolch einen Antrag mir! War319 War ich denn auch nicht einmal eines gefir - nißten eines verkleideten werth? mußte mir denn dieſer Entwurf ganz wie er war! und nicht einſt gekruͤmmelt dargelegt werden! Mir! zwar waͤre mir die Bosheit auch in ihrer Larve nicht entgangen, ich haͤtte das Gift auch im Wein erkannt, und wenn ich zu ſchwach geweſen, wahrlich! Gottes En - gel haͤtten mir den Vorhang aufgezogen, wenn er noch ſo kuͤnſtlich waͤre gewebt wor - den! aber dieſe Dummdreiſtigkeit im La - ſter! Gott! ſie reckte ihre Hand weit gen Himmel, um ſich durch dieſe Voll - macht zu der guten Sache zu berechtigen: ſie ſprach im Namen der Tugend, als ihre Macht - haberin, und Herrmann rang die Haͤnde, ſchlug an ſeine Bruſt und verſprach, ſie nicht zu verrathen, und zu verkaufen: ſie nicht zu vertauſchen, auch ſelbſt was konnt er mehr verſprechen, auch ſelbſt wenn ich druͤber Denen verlieren ſoll!

Dieſe Busandacht bewegte Minen, ſie fiel ihm um den Hals, ſie weinte, ſie betete, ſie verſprach ihn mit ihrer Haͤnde Arbeit zu ernaͤhren, und ihren Bruder, der bald aus der Lehre treten wuͤrde, zur Beyſteuer zu be - quemen, um ohne Denen leben zu koͤnnen. Dieſe320 Dieſe Haͤnde ſie faltete ſie, und ſprach ſo feyerlich, als wenn ſie einen Eid ablegte, dieſe Haͤnde ſollen Tag und Nacht arbeiten Herrmann war wirklich bewegt. Iſt ihnen der Unterricht der Kinder ſchwer, ſie koͤnnen ja nicht blos ein Mundwerk, ſon - dern mehr als ein Handwerk Pfuy, ſagte der alte Herr, ſo geruͤhrt er auch war. Mine wolte das Handwerk dieſes Pfuys we - gen verreden; allein Herrmann ließ ſie nicht vom Fleck. Handwerk! fuhr er fort. Wie kannſt du mir ein Handwerk vorruͤcken? Was hab ich denn fuͤr eins getrieben? Die Schnei - derey an ihren Ort geſtelt, wo ich doch auch kein Kleid, keinen Ueberrock, ſondern Sa - chen fertigte, die nicht ins Auge fielen. Bruſttuͤcher und ſo was. Von Stie - feln Schuh, von Schuhen Pantoffeln kuͤnſteln, heißt das Schuſtern? Und etwas aus Thon drechſeln, heißt das Toͤpfer ſeyn? Ich war, damit du’s einmal fuͤr allemal weißt, Freyſchneider, Freyſchuſter, Freytoͤpfer, ſo wie viele von unſern Hochwohlgebohrnen Herren, wenn ſie von Reiſen kommen, Frey - maͤurer ſind. Mine gab ſich alle nur erſinn - liche Muͤhe, ihren Vater zu beruhigen; al - lein vergebens. Er konnt ihr das Hand -werk321werk nicht verzeihen, und die Schule? fuhr Mine fort. Auch nicht! erwiederte Herr - mann, der nicht Commißbrod eſſen wolte, wenn er magenverderbendes Gebacknes haben konnte. Du weißt, ſagt er ihr, daß wir die letzte Zeit jaͤhrlich eingeſchuſtert haben. (Gern haͤtt er dieſes Wort zuruͤck gehabt. ) Du weißt Mine weinte. Sie lei - tet ihren Vater auf Gott, den Brunnquell aller Gnaden! Wie ein Vater ſich erbarmet uͤber ſeine Kinder, ſo wird ſich Gott erbarmen uͤber uns, wenn wir ihn fuͤrchten wenn wir auf ſeinem Wege wandeln, ſeine Rechte halten und darnach thun. Ich will Nacht und Tag zu Gott empor rufen! Ich will eine Naͤhſchule halten, ich will beten und arbeiten, bey Brod und Waſſer. Ich will alles, alles verſuchen, was ehrlich und recht iſt, vor Gott und Menſchen. Aller Augen warten auf den Herrn! Er giebt Speiſe zu ſeiner Zeit, er thut ſeine milden Haͤnd auf, ſaͤttiget alles was lebet, bis auf die himmelſchreiende Ra - ben. Sind wir denn nicht, als ſie! Mine ſagte dies mit ſolcher Zuverſicht, daß Herr - mann ihr nicht weiter den Vorſchlag von Mund und Handwerk nachtrug.

Zweiter Th. XHerr -322

Herrmann wiederholte ſein Verſprechen langſam, bedaͤchtig, als ſchwoͤr er einen Eyd, Minen zu behalten, auch wenn er Denen druͤber einbuͤßen moͤchte.

Wie haͤtt ich, ſchreibt Mine, ihm Glau - ben verweigern koͤnnen! Das Blut, das mir bey dieſer Scene zu Herzen ſchoß, redete fuͤr ihn So weit konnt es Mine nicht bringen, daß er nicht mehr nach zur Frau v. E. reiſete.

Wer hingeht, ſagte Herrmann, muß zu - ruͤckgehen: indeſſen wiederholt er mit einem feyerlichen Gott anrufenden Blick ſein Ver - ſprechen. Es war gleich den folgenden Tag nach ſeinen Bruſtſchlaͤgen, nach ſeinem Blick, oder, welches einerley iſt, nach ſeinen Schwuͤ - ren, da er zur Frau v. E. dringend geladen ward. Mine nahm Gelegenheit, da ſie ihren Vater auf dem rechten Wege hatte, ihm unſere Verbindung ſo deutlich zu machen, daß nur noch die Worte fehlten: ich bin mit Alexan - der verlobt, wir ſind Eins. Mit Fleiß oͤfnete ſie ihm Ausſichten, wodurch er Denens wegen entſchaͤdigt werden ſolte, und glaubte ſie, wie ſie ſchreibt, ihn im Geiſtlichen und im Leiblichen gewonnen zu haben. So unbe -ſchei -323ſcheiden Herrmann in dergleichen Faͤllen war; ſo haſcht er doch nach keiner Sylbe mehr von mir, als ihm Mine gab. Dieſe Beſcheiden - heit leiſtete Minen Buͤrgſchaft fuͤr alles. Vergeſſen Sie ihre Tochter nicht, ſagte Mine, da er von ihr Abſchied nahm, Gott wird ſie auch nicht vergeſſen, wenn ihnen Huͤlfe, Troſt, Rath, Noth iſt. Es bleibt, erwiederte Herrmann, und ſchwur wieder mit einem Blick.

Um alſo zuruͤckzugehen, gieng Herrmann noch und Mine war voll guter Hofnun - gen, und dieſe gab ſie, ſo ſehr ſie gleich das lange Ausbleiben des Vaters befremdete, doch noch den ganzen Tag, den Abend, die Nacht, den folgenden Mittag, nicht auf.

Da aber Herrmann auch den Mittag drauf noch nicht zu Hauſe kam, ſtiegen wieder Wolken oder Ahndungen auf. Sie wartete noch dis Mittag des folgenden Tages, und nun war es Minen mittagsklar, daß ihr Vater ſo viel Zeit nicht bedoͤrfe, um zuruͤck zu ge - hen. Gegen Abend ein Brief von Herr - mann! Mine wußte ſchon, eh ſie ihn oͤf - nete, was drinn war, und meine Leſer wer - den es auch wiſſen

X 2 ich324
  • ich bin krank, komm deinen Vater ſehen, denn vielleicht ſtirbt er, damit er dich ſegne.

Das war der abſcheuliche Inhalt eines Briefes, den ein Mann ſchreiben konnte, in deſſen Mark Gichtgift verborgen lag, das oft, eh er ſichs verſah, aufgaͤhrte! Der mit fey - erlichen Gott anrufenden Blicken geſchworen hatte. O Herrmann, konnteſt du ſo mit dem vaͤterlichen Segen ſpotten, und ſo mit dem Tode? und ſo mit Eyden?

Mit dieſem Brief ein ſehr gemeines Fuhrwerk, um alles deſto glaubwuͤrdiger zu belaͤgen und die Sache deſto kluͤglicher zu machen. Man wolte durch dieſen Einfall den vorigen zu plumpen Plan ausputzen, und in einem elenden Zimmer Schildereyen auf - ſchlagen.

Mine ſchrieb ſehr kalt an ihren Va - ter, bedaurete ſeine Zufaͤlle, kommen wuͤrde ſie nicht, die Urſachen muͤßten ihm erin - nerlich ſeyn, ſie hoff er wuͤrde ſein Verſpre - chen erfuͤllen, und hiemit: leben Sie wohl!

Dieſer Brief machte dem Herrmann na - tuͤrlich ſehr viele Muͤhe, um ſich herauszu - winden; denn er hatt aller ſeiner Betheu - rungen unerachtet, auf den erſten gegenſei -tigen325tigen Angriff alles, alles, aufgeopfert, alles. Das Wort von der Hofnung, daß Herr - mann ſein Verſprechen erfuͤllen wuͤrde, das Mine eingeſtreuet hatte, machte ſeiner Hermenevtik die meiſte Muͤhe. Herr v. E. ſowohl, als Dene, wolten daraus herleiten, daß er zween Herren diene. Dieſer ſaure Schweiß bey der Auslegung brachte den Herr - mann wider Minen auf eine hoͤchſt ungerecht und unnatuͤrlich Art auf. Nun hatt er mit genauer Noth dieſe Briefſtelle gerettet und die hohen Anweſenden uͤberzeugt, daß er nur ei - nem Herrn diene, und nun war ihm auch nichts heilig. Der Satan fuhr in ihn. Er wolte Gift miſchen, und wußt es nur nicht anzu - fangen. Er entdeckte meine Verlobung mit Minen, als den einzigen Grund ihres Neins. Die Sache ward im ganzen Zuſam - menhange genommen, und nach dem er meine Mutter und meinen Vater und mich! (Herr v. E. erinnerte ſich meiner Haarklein,) in Lebensgroͤße dargeſtellt, ſo ward beſchloſſen, meiner Mutter Minens Liebesverſtaͤndniß mit mir, zu entdecken, ihr einen von meinen Briefen in der Urſchrift beyzulegen, und Mi - nen alle Auswege zu beſchneiden, den Stri - cken ſo vieler Teufel zu entkommen

X 3Arme,326

Arme, arme Mine!

Herrmann kam, um ſeine Krankheit deſto wahrſcheinlicher zu machen, und Minen deſto gewiſſer ins Verderben zu ſtuͤrzen, erſt nach dreyen Tagen, von dieſem ungluͤcklichen Brief an gerechnet, nach Hauſe. Was Mine waͤhrend dieſer Zeit ausgehalten, iſt unbeſchreiblich. Die erſte Beſchaͤftigung des Herrmanns nach ſeiner Ruͤckkunft war, einen von meinen Briefen an Minen zu entwenden. Dieſer Vorpoſten macht ihm keine Muͤhe, weil Mine von dieſer Seite nichts befuͤrchtete. Vielleicht kuͤhlt ihn dieſer Umſtand, oder vielmehr die Vorſtellung, daß Zorn die gute Sache verderben koͤnnte. Seine Maske war Guͤt und Freundlichkeit. Eine leichte Rolle fuͤr einen Boͤſewicht. Der entwandte Brief ward ſogleich an die Behoͤrde, nemlich an meine Mutter, und zwar in Begleitung ei - nes anonymiſchen Briefes verſandt.

Ich weiß nicht, ob meinen Leſern mit einem Theil des anonymiſchen Uriasbriefes ge - dient ſeyn werde, womit dieſe Rotte Mi - nen bei meiner Mutter anſchwaͤrzte, um ihr die letzte Troſtquelle zu ſtopfen. Herr - mann war dabey der Faͤnchenfuͤhrer; dennoben327oben ein raͤcht er ſich an meiner Mutter, ohne daß ſie wußte, von wannen es kam.

Da leſen Sie ſelbſt! hochzuehrende Frau Paſtorin. Sie kennen Bild und Uberſchrift wahrlich ein unwuͤrdiger Sohn einer ſo wuͤrdigen gottesfuͤrchtigen Mutter, die ge - nug fuͤr ihn gebetet und geſungen hat! So viel iſt indeſſen gewiß, daß er nicht der Ver - fuͤhrer, ſondern der Verfuͤhrte ſey. Retten Sie ſeine Seele, die im Argen liegt, und machen Sie, daß er ſie aus dem Argen ziehe, und in ſeinen Haͤnden trage. Die ganze Gegend, und vorzuͤglich die in derſelben, ſo ſeine Predigt angehoͤret, ziehen uͤber ihn die Achſeln. Man glaubt, er habe Wilhelmi - nen ein lebendiges Andenken zuruͤckgelaſſen. Das wolle der Himmel nicht! Indeſſen waͤr aus den Worten: Mann und Weib, du und du, auf ein dergleichen im Verborgenen gebildetes Andenken, dem Sie, hochzueh - rende Frau Paſtorin! gewiß den Namen Großkind entziehen wuͤrden, nicht unſicher zu ſchließen. Das beſt iſt, Wilhelminen den Kauf aufzukuͤndigen, und ihr bey Haͤn -X 4gen328gen und Wuͤrgen alles Einverſtaͤndniß mit dem Herrn Sohn zu unterſagen, der in Koͤnigs - berg nichts thut, als Wilhelminen ſchriftlich lieben. Man weiß aus ſicherer Hand Genug, ich kann nichts mehr abſchreiben.

Mein Brief an Minen, den Herrmann entwendet hatte, und der dieſem Schleich - handel den Schein des Rechts beylegte, war wie gewoͤhnlich treu und herzlich. Die Stelle:

O! Mine, o Weib! Du biſt mir wie ge - genwaͤrtig, und alles, alles, iſt mir ge - genwaͤrtig. Denkſt du auch dran, wenn wir uns die Augen kuͤßten, als traͤnken wir ſie aus, wenn ich deine Hand ſo feſt an mein Herz hielt, daß du jeden und den allergeheimſten Schlag drinn fuͤhlen konnteſt, den Puls der Liebe

Dieſe Stelle klammerte meine Mutter ein, und nahm ſie in frommen Beſchlag. Zur Seite ſchrieb ſie Gedenke nicht der Suͤn - den meiner Jugend und meiner Uebertretun - gen, gedenke aber mein nach deiner großen Barmherzigkeit! Ueberall, wo Weib ſtand, zog ſie einen Strich, als zoͤge ſie ei - nen Vorhang

Mine329

Mine konnt es nicht uͤber ihr Herz brin - gen, ſich nach dem Befinden ihres Vaters zu erkundigen. Er dagegen hatt auch kein Herz, an ſeine Krankheit zu denken. Herr - manns Geſicht war bei aller angenommenen Freundlichkeit ſo durchſichtig, daß Mine woͤrtlich ihr Schickſal daraus abnehmen konnte.

Er fieng die Lobred auf Herrn v. E. mit dem Eingang an: Wir haben uns geirrt, Mine. Irren iſt menſchlich. Wir haben uns geirrt. Herr v. E. iſt nicht der Herr v. E. den wir glaubten, ſondern ein ganz anderer Herr v. E.. Der Text der Lobrede betraf ſeine Verlobung mit der Fraͤulein S., und ſeine Erd - Wand - Band - Niet - und Nagel - feſte Liebe zu ihr.

Oft kam die Verlobungserzaͤhlung ſo un - zeitig, daß Mine mehr als zu deutlich ſehen konnte, was dieſe Wiederholung ſagen wollte. Nach einer Weile fieng er an: du kannſt nicht glauben, mein Kind, wie du dich durch deine Tugend dem Herrn v. E. empfohlen haſt: er hat zum erſten und zum zweiten mal ein Geſchenk fuͤr dich in der Hand gehabt; allein du haſt ihm ſo viel Achtung eingefloͤßt, daß er es nicht wagen doͤrfen

X 5Ein330

Ein Geſchenk, warum das?

Beym Geſchenk, liebes[Kind], fraͤgt nie - mand warum?

Mine konnt und wolte nicht, ihren Va - ter an ſeine Schwuͤre erinnern. Sie zit - terte.

Wenn ſich zu ſeiner Zeit ein Candidat faͤnde, der dich heyrathen wolte, fuhr Herr - mann fort, er ſolte gewiß nicht lange auf ein Paſtorat warten doͤrfen. Hat der Herr v. E. Paſtorate zu vergeben, frug Mine bitter? Das nicht; allein die Con - nexion der Edelleute untereinander

Wieder nach einer Weile. Magdalene wird meine Frau! Das war nicht der erſte Blitz, der Minen durchs Herz gieng. Meine Frau! wiederholte Herrmann: ob du aber ihre Tochter werden willſt, haͤngt von dir ab die alte gnaͤdige Frau will dich du ſolſt nichts mit der jungen Herrſchaft zu thun haben. Herr v. E. heyrathet, das weißt du doch?

Ja, ſagte Mine, ich weiß

Wieder nach einer Weile. Er will, wenn du verlangſt, noch herkommen undſich331ſich wegen ſeines Antrages bey dir entſchul - digen, den er dir ſehr unzeitig gethan. Sei - ner Mutter kam dieſer Antrag zu.

Ich ſolte denken, ſagte Mine und dann wieder nach einer Weile: er ſieht ſeinen Fehler ein.

Mit, oder ohne Glaß, erwiederte Mine ſo bitter, ſo Todes bitter, daß das weiſe Hofmaͤnnchen ganz aus dem Concept kam.

Mine war in einer ſchrecklichen Situa - tion. Sie ſagt, ihr Plan waͤr, ihre kuͤnf - tige Stiefmutter zu ehren, nie wuͤrde ſie in den Hof, mein Leben, ſetzte ſie ſehr lebhaft hinzu, und meine Ehr iſt eins!

So ſagte Herrmann.

Ja, Vater, ſagte Mine. Und weißt du auch Er wolte zu drohen an - fangen; allein eben zu rechter Zeit fiel ihm ſeine Mask ein, er begnuͤgte ſich daher gros - muͤthigſt, Minen den Bettelſtab, Elend und Verachtung, zu prophezeihen.

Arme Mine, edel ungluͤckliches Maͤdchen! Ich empfinde, was du empfandeſt, und doͤrft ich doch nicht erzaͤhlen, was Minen ſehr na - tuͤrlich noch weit ungluͤcklicher, noch bedau - renswuͤrdiger machen mußte.

Dies332

Dies verfolgte ungluͤckſelige Maͤdchen entſchloß ſich in den Armen meiner Mutter eine Freyſtadt zu ſuchen. Sie war aufs aͤuſ - ſerſte gebracht. Es ſchrieb an ſie. Den Brief hat Mine mir nie gezeigt. Es iſt deine Mutter! ſchrieb die Holdſelige, und machte einen

Ehe ſie aber dieſen Brief abſchicken konnte, ſiehe da! ein Brief von meiner Mutter an Minen. Die Wuͤrkung des Uriasbriefes und ſeiner Beylage. Dieſer Brief fieng ſich an:

Es will verlauten, daß Sie meinen Sohn verfuͤhret haͤtten und noch verfuͤhren und ſchon dieſer Anfang lehret, daß meine Mutter dem Uriasbriefe ſeine Schliche abgemerket und den Verfaſſer fuͤr das, was er war einen Schwarzkuͤnſtler, gehalten. Sie glaubte ſein Hokuspokus vom lebendigen Andenken nicht; allein anſtatt daß ſie der verfolgten Mine, ihrer ſo wohlgerathenen Schwiegertochter, die Hand geben und ſie in Schutz nehmen ſollen, was that ſie? Sie verſchwieg dieſen ganzen Vorgang meinem Vater! und wenn ich ihren Brief ganz mei - nen Leſern mittheilen ſolte; wuͤrd ich der Ach - tung zu nahe treten, die ich meiner Mutter ſchuldig bin. Sie ließ Minen, aus beſonderer Milde, Vorzuͤge; nur den konnte ſie ihr nichtzuge -333zugeſtehen, die Frau eines Paſtors, und die Schwiegertochter einer ſo ahnenreichen Pa - ſtorin zu werden. Es waͤre nicht das erſte - mal, ſchreibt ſie, daß ein Cavalier ein ar - mes Maͤdchen geheyrathet haͤtte, ſie wuͤnſchte, daß aus Scherz Ernſt, und Mine die Frau v. E. wuͤrde: denn unverhofft - ſetzte ſie hin - zu - kommt oft -

Ein Paar Stellen muß ich ohngekuͤrzt geben:

Es waͤre Stank fuͤr Dank, wenn Sie die Nachbarsrechte ſo gewiſſenlos aus den Augen ſetzen, und meine grauen Haare ſo mit Schimpf und Schande hinab ins Grab bringen wolten. Ich habe etwas in Origi - nali geleſen, auf deſſen Rechnung eine grau - gewordene Stelle meines Hauptes gehoͤrt. Ich weiß die Minute, da ſie grau ward. Gott verzeih dem Urheber dieſes etwas in Originali die graue Stelle auf meinem Haupte. Laſſet alles ehrlich und ordent - lich zugehen, das, daͤcht ich, hieße wohl ziemlich klar und deutlich, die Tochter ei - nes noch zu bezweifelnden Litterati koͤnne meine Schnur nicht werden. Ich habe ſchwarz auf weiß, und verbitt alle Spruͤnge durch einen Reif; alle Kunſtſtuͤcke der Ent - ſchul -334 ſchuldigung, und kurz und gut, alles und jedes zur Antwort, die ich, ſo warm als ich ſie erhalte, zuruͤckſenden werde. Ih - ren Zuſpruch muß ich noch aus einer Ur - ſach mehr verbitten, auch ſelbſt wenn Sie an der Hand meines Sohnes kaͤmen, wuͤrd ich fuͤr beyde uͤber Feld gegangen, und nicht zu Hauſe ſeyn. So was kann nicht geſchlichtet, ſondern muß gerichtet werden. Ungern hab ich an Sie geſchrieben; allein um nicht Oel zum Feuer zu gießen, und das allgemeine Gerede noch gemeiner zu ma - chen, das ohnehin ſchon in fliegende Blaͤt - ter ausartet, wie eine Raupe in einen Schmetterling blos darum dieſer Brief, der erſt und der letzte

Sing bet und geh auf Gottes Wegen,
verricht das Deine nur getreu!
vertrau des Himmels reichem Segen,
und er wird jeden Morgen neu;
denn wer nur ſeine Zuverſicht
auf ihn ſetzt, den verlaͤßt er nicht.

Da war nun Mine von aller Welt verlaßen! Dieſe Gerechte! das ſchwarz und weiß, und das allgemeine Gerede, und das etwas in Originali, auf deſſen Rechnung eine grau - gewordene Stelle gehoͤrte, die Gott dem Ur -heber335heber verzeihen ſolte, waren Minen unbe - greifliche Dinge; allein die Hauptſache war deſto brgreiflicher. Mine that ihren Mund nicht auf. Zu meinem Vater ſich zu wenden, hatte ſie kein Herz. Es fiel ihr der Ueberfall im Waͤldchen ein. Dieſer hatte bey Minen etwas zuruͤckgelaſſen, was ſie hielt ſie wolte ſchon; allein ſie konnt es nicht vollenden, o! liebe, liebe Mine, warum nicht?

Als ich einem meiner Freunde aus freyer Fauſt meinen Lebenslauf erzaͤhlte, und an dieſe Stelle kam, bey der ich ihn fragte: ha - ben Sie das von meiner Mutter gedacht? antwortet er: ja, Freund; denn ſie konnte buchſtabiren, ſie ſetzte ihren Caſum, und war fromm.

Ob mein Freund recht gerichtet, moͤ - gen meine Leſer, nicht hier, ſondern uͤber ein kleines beurtheilen.

Herr v. E. kam jeden Sonntag in unſre Kirche. Mine ſah ihn nicht an; allein er ſahe ſie, und wie er ſahe? das wiſſen wir ſchon. Er verlobte ſich wirklich mit dem Te - ſtaments Fraͤulein; den Sonntag darauf war er in unſrer Kirche mit ihr, und trieb dieSache336Sache ſo weit mit Minen, daß alles das Kir - chengeſtuͤhl, wo Herr v. E. ſaß, und Minen, in einer Reihe anſahe, ſo, daß mein Vater ſelbſt ein paarmal ein Wort zweymal ſagen, und ein andres lang ziehen mußt, um ſich auf das folgende zu beſinnen. So ſehr ward er geſtoͤhrt! Mine hoͤrt, indem ſie aus der Kirche gieng der Braut im Geſtuͤhl druͤckt er die Hand, und von Jungfer Minchen laͤßt er kein Auge, was iſt beſſer Hand oder Auge?

Herrmaun ward in dieſer Verlobungszeit mit keiner Ladung beehrt; allein daß er mit dem Herrn v. E. in Verbindung war, ergab ſich unter andern daraus, weil ſie haͤufig Briefe wechſelten, weil verſchiedenes in die Kuͤche kam, wovon aber Mine keinen Biſſen , und weil Herrmann ſo gefaͤllig gegen Mi - nen that, daß ſie ſich vollſtaͤndig uͤberzeugte: es gieng etwas vor.

Sie hatte ſchon oft an ihren Bruder in dieſen Herzensnoͤthen geſchrieben; jetzt ſchrieb ſie dringender, und Benjamin kam. Seine Ankunft konnte bey Herrmann um ſo weniger Verdacht erwecken, da er ſelbſt verlangt hat - te, daß ſein Sohn zur Schicht und Theilung kommen ſolte. Es iſt unausſprechlich, wie ſich Mine freute, ihres Geliebten Gevollmaͤch -tigten,337tigten, ihrer Liebe Zeugen, ihren Benjamin zu ſehen. Sie konnte ſich nicht zuruͤckhal - ten, dieſe Freude vor den Augen des Vaters aufflammen zu laſſen Schoͤn, wie ein Opferfeur!

Mine entdeckt ihrem Bruder mehr, als ſie zu ſchreiben im Stande geweſen, und Ben - jamin kannte ſie kaum wieder; ſo ſehr hatte ſie ſich veraͤndert: arme, arme Mine, rief er, und ſah ſich um, ob es auch Herrmann ge - hoͤrt haͤtte. Die ungewoͤhnlich ſtarke Cor - reſpondenz ihres Vaters mit dem v. E. fiel beyden zu deutlich auf. Zwar giengen alle Briefe: An die Hochedelgebohrne Ehr und Tugend belobte Jungfer Magdalene dienſtfreundlichſt in indeſſen ſchien ſie nur uͤberhaupt das Feigen - blatt zu ſeyn. Bald, ſchreibt Mine, hatt ich Hofnung, es wuͤrd ein Ende gewinnen, daß ich’s koͤnnt ertragen, bald verlohr ich den letzten warmen Tropfen Muth und ich zittert uͤber Leib und Leben. So gieng es auch dem Benjamin. Ohne daß dieſer ſei - ner Schweſter ſagte, (wer weiß, ob ſie’s zu - gegeben haͤtte?) entſchloß er ſich, da Herr -Zweiter Th. Ymann338mann einen guten Nachbar beſuchte (noch ward er nicht zum Herrn v. E. beſchieden,)

das Pult zu oͤfnen, und eine handvoll Briefe zu nehmen. Er rief ſeine Schweſter, lies ſagt er. Sie konnte nicht weit kommen. Es uͤberfiel ſie eine Ohnmacht, nach wenigen Rei - hen. Meine Leſer ſollen einen Brief ganz le - ſen und eine Antwort ganz.

Brief des v. E. an Herrmann.

Herr! ſie ſollen nicht Denen haben und wenn ich Denen ſelbſt heyrathen ſolte. Ich ſelbſt! hoͤrt der Herr! wenn ich ſie ſelbſt ſolte. Ihr kruumer Puckel und ihr Haͤndedruck macht es nicht. Fuͤr was iſt was! Ich bin Sohn, und will das vaͤterliche Teſtament aufrecht erhalten. Das will ich! ich will das! Der Herr ſchreibt nicht hin, nicht her! nicht gehauen, nicht geſtochen. Ich muß wiſſen, woran ich bin! denn ich liebe ihre bildſchoͤne Tochter zum Entſetzen. Unter uns geſagt, ich denk auch nicht, daß Sie ihr Va - ter ſind. Minchens Mutter wird ſonder Zweifel ſo bildſchoͤn geweſen ſeyn, wie die Tochter noch iſt, und deſſen Gebeine moͤgen ſanft ruhen, der den Weg mit der Mutter ging, den ich, wenn ich lebe und geſund bleibe, mit der Tochter gehen will. DasMaͤd -339Maͤdchen hat Verſtand, wie ein Engel, oder beßer, wie ein Teufel. Gegen mich iſt ſie ein Teufel. Damit Sie, lieber Herr - mann, ſich alles zuruͤckerinnern, worauf es bey der Sache ankommt; ſo bitt ich ja nicht zu vergeſſen und zu verſaͤumen, Min - chen alle zwoͤlf Stunden, und wenn es auch oͤfter waͤre, zu ſagen, daß ich heyrathe und zwar aus lichterloher Liebe. Sie wiſſen es anders, lieber Freund! allein Mine braucht es nicht anders zu wiſſen, wenn ich nicht muͤßte. Es iſt wenigſtens ein zehnfaches Muß, das eilfte ſag ich keinem, als Ih - nen, meinem vertrauteſten Freunde! Ich habe Reiſeſchulden, und im kurzen werden ein halb Duzend A Datos eintreffen. Se - hen Sie nur, lieber Herrmann! um ſie recht von meiner ehrlich und redlichen Ab - ſicht zu uͤberzeugen; ich will das Teſtaments - fraͤulein und Minchen zu gleicher Zeit, mit einer Klatſche zwo Fliegen. Sagen Sie ſelbſt, wie mir bey der Trau zu Muthe ſeyn muͤßte, wenn ich nicht auf den Troſt ihres Engels rechnen koͤnnte. Ihr gutes Herz wird mich nicht verwahrloſen. Alle Welt hat Holz zu dieſem Brande gelegt, und nun verbrenn ich in dieſer Flamme. Ich weißY 2alle340alle Fehler bey dieſer Sache: denn ſonſt waͤre Mine ſchon mein ihrer ſtoiſchen Tugend unerachtet, die eben ſo wenig, wie heut zu Tag irgend eine Feſtung, Stich haͤlt. Wir leben in uͤberwindlichen Zei - ten. Ich knirſche mit den Zaͤhnen vor Liebe und vor Wuth, daß ich ſo ſchlecht ge - ſpielt habe. Wenn meine Mutter Minen den Antrag gethan, haͤtt ich gewonnen Spiel gehabt; allein alsdann koͤnnten Sie, Freund! ihre Kunſt nicht zeigen, alles wie - der in Ordnung zu bringen. Kurz, Herr! ſo wahr ein Teufel in der Hoͤll und ich ein Cavalier in Curland bin, das iſt viel geſagt, Dene iſt nicht die Ihrige, wenn Minchen nicht die Meinig iſt. Eine Hand waͤſcht die andre. Wird aber Mine, Dene; ſie verſtehen doch deutſch? ſo ſollen Sie von meiner Mutter, nemlich von ihrem Witt - wengehalt, von Teſtaments wegen, ſo lange Dene lebt, und wenn Dene eher als Sie ſtirbt, noch ſo lang Sie leben, achtzig Tha - ler Albertus haben. Gelt! das ſchmeckt! Außer dem geb ich Ihnen ein fuͤr allemal noch zweyhundert Thaler Albertus, ſobald Minchen ſich zum Ziele legt. Die Kinder ſol - len als deutſche Leute gezogen werden, wiemein341mein ſeliger Vater Denens Kinder gezogen hat. Um die Sach ihnen ganz auf ein Haar deutlich zu machen: ich verlange Mi - nen nur her, und Sie haben die Wette zum groͤßten Theil gewonnen. Es muͤßte mit dem Feu’rſpeyenden Drachen zugehen, wenn ich nicht Minchen bewegen ſollte. Nur her, Herr Magiſter! und das Uebrige wird ſich finden, wie eine auswendig gelernte Pre - digt. Wenn Minchen ſich weigert, wie ſich ein Aſt weigert, wenn man Kirſchen pfluͤcken will: ein hundert funfzig Thaler Alb., wenn Sie nichts hoͤren und wiſſen will und doch herkommt, hundert Thaler Alb. und bald vergeſſen! Muß man doch dem Herrn alles zu Haͤchſel ſchneiden! Die Kruſte kann der Herr Braͤutgam nicht vertragen, darum Krume, wo nicht gar Pappe. Ge - nug, wenn Sie ſich alle Muͤh, es verſteht ſich all erdenkliche geben, Minen zu beque - men, und man dennoch Nein ſchreyt, und weint und klagt; iſt noch ein Mittel. Ich denke doch, Sie wiſſen was ein Cavalier in Curland vermag? und daß er wie Koͤnige lange Haͤnde hat? Drei verſchwiegene Kerls zu Hand - und Spanndienſten, ſind auf einen Wink hier, und dort und da. Das beſteY 3waͤre342waͤre, ſie braͤchten Minchen her. Schla - gen ſie vor, was ſie vor gut finden, ſparen Sie keinen Fleiß. Auch auf den Fall der drey handfeſten Kerls, funfzig Thaler Alb. und in allen Faͤllen, wo nur Mine iſt, auch Dene. Sonſt aber, hol mich der Teufel, nicht ewig nicht! Der Herr ſoll wie - der ſeine Klippſchule halten, und ſeine Knack - wurſt eſſen, und Kofent dazu trinken. So was von Minchen trift man nicht ſo leicht. Ich bin nicht etwa in ſie verliebt; ich bin in ſie verruͤckt, und das kommt wohl zum groͤß - ten Theil, weil ich eben Braͤutigam bin, und den verliebten ſpielen ſoll. Eine ver - dammte Rolle! Bey einer Braut, die mir ſo unertraͤglich iſt, und die mir noch uner - traͤglicher waͤre, wenn ich nicht eine Mine haͤtte, bey der ich mich erholen koͤnnte. Mi - nen gehoͤrt alles, was ich der Teſtaments - braut ſag, und wahrlich ich wuͤrd ihr nichts ſagen koͤnnen, ich wuͤrde vergeſſen, was ver - liebt ſeyn und verliebt thun hieße, wenn ich Minen nicht zur Uebung haͤtte. Aber Mi - nens Tugend? Iſt ſo etwas Tugend, ſo iſt wenig auf der Welt hol mich der Teu - fel wenig! Ich ſchwoͤre nur fuͤr Eva, weil Niemand als Adam da war. InParis343Paris und andern Orten eſſen die Schaͤfchen aus der Hand. Nur ganz zuletzt in Koͤ - nigsberg hab ich Ihnen ein Maͤdchen muͤndlich mehr! Einen ſo langen Brief hab ich, ſeitdem ich ſchreiben kann, nicht ge - ſchrieben. Waͤr Minchen nicht der Inhalt; ſo muͤßte mich der Teufel plagen, ſo viel zu ſchreiben. Das Teſtamentsfraͤulein ſoll bey meiner Seel keinen uͤber ſechs Reihen beſitzen. Haben Sie nicht was guts von Liebesbrief - ſteller? damit ich draus ein Paar Briefe fuͤr die S. abſchreiben kann. Ich hab aus vie - len Gruͤnden, und auch darum, an Sie ge - ſchrieben, weil ich dich kenne du verzagter argwoͤhnſcher Hund! Nun haſt du doch was ſchriftliches in der Hand, und kannſt mich vor allen Gerichten knaͤbeln. Neu iſts bey alledem, daß meine Teſtamentsbraut die Courtage fuͤr Minchen bezahlt. Glaubt mir Herrmann! ich meyn es ehrlich mit Minen. Man wird von Tag zu Tag aͤlter, und muß ſolide denken. Wenn der Paſtor uns, S. und mich, traut; laß Mine dabey ſtehen. Der Teſtamentsfraͤulein geb ich zwar die Hand, denn das bringt die Ceremonie ſo mit; aber Minen will ich ein ganzes Aug voll Jas ſchenken, und hol mich der Teufel,Y 4ich344ich will ſie ſelbſt anſehen, wenn ich Ja zu S. ſage, und dies Ja ſoll ſo leiſe ſeyn, daß es der liebe Gott ſelbſt kaum hoͤren ſoll. Mehr, glaub ich, kann Minchen nicht zur Gewiſſensberuhigung fordern, wenn Sie Superintendentin waͤre, und mehr kann ſie nicht fordern, wenn ſie zehn Jahr Jura ſtu - dirt haͤtte. Dieſer Brief muß zerriſſen wer - den, ſo bald er geleſen iſt, oder ich ſtecke dem Herrn Herrmann das Haus an. Hat Magdalena nicht oͤfter Wochen gehalten, als meine Mutter? und einen Mund voll Zaͤhne abgerechnet, was fehlt ihr zur Ehre, die Frau eines Litteratus zu werden? Reinen Wein, oder ich heiß nicht

v. E.

Wenn meine Leſer die ſaubere Antwort auf dieſen curſch-franzoͤſiſchen Brief leſen wollen; hier iſt ſie:

Hochwohlgebohrner Herr und Goͤnner, Gnaͤdiger Herr Baron und Goͤnner,

Ew. Hochwohlgebohrnen werden gnaͤdigſt zu verzeihen geruhen, daß ich gleich anfaͤng - lich in aller Ehrfurcht bemerke, wie ich mich wohl zu beſcheiden weiß, an Briefe von gnaͤ - digen Haͤnden nicht gewaltthaͤtige Hand zulegen;245[345]legen; indeſſen iſt dieſer hohe Brief fuͤr Mi - nen wie verbrannt, und noch aͤrger wie ver - brannt, da ſie nicht einſt die uͤbrig gebliebene Aſche ſehen ſoll. Es wird Ew. Hochwohlge - bornen par renommee bekannt ſeyn, daß es mir nicht an Witz und Faͤhigkeit gebricht; in - deſſen ſieht mir jetzo alles ſtill, und ich muß aufrichtigſt bekennen, daß ich bei dieſer Sa - che keinen Einfall anzubeißen weiß, wenns mir das Leben koſten ſollte. Die Ochſen ſte - hen, mit Ew. Hochwohlgebohrnen Erlaubniß, am Berge. Der Auftrag, womit Ew. Hochwohlgebohrnen mich zu beehren geruhet, zeiget von ſo vielem gnaͤdigen Zutrauen, daß ich beſchaͤmt bekennen muß, nie auf ſo viel Gnade gerechnet zu haben. Minen, (ver - zeihen Ew. Hochwohlgebohrnen, daß ich mit dem Namen meiner Tochter den Punkt an - hebe; es geſchieht blos in Ausſicht der Ehre, die ihr vorſtehet,) hab ich alles geſagt, was ein redlich geſinnter Vater ſeiner ins Verder - ben laufenden Tochter nur bei dieſer Gelegen - heit ſagen kann. Sie bleibt indeſſen bei dem, was Ew. Hochwohlgebohrnen ſchon wiſſen. Ich habe leiſ und laut geredet, ſau’r und ſuͤß, boͤſes und gutes gezeigt, Finſterniß und Licht, was hats geholfen? Was die TugendY 5ohne346ohne Brod iſt, weiß ich leider aus eigner Er - fahrung, und da Ew. Hochwohlgebohrnen entſchloſſen ſind ſich zu verheyrathen; ſo faͤllt ja alle Gelegenheit zum Verdacht weg, wel - ches in Abſicht eines Maͤdchens, nach meiner wiewohl unmaasgeblichen Meynung, die ganze Maͤdchentugend iſt. Meidet den Schein, kommt mir als die ganze Maͤdchenordnung des Heils vor. Es iſt nichts verſaͤumt, ſie iſt gebeten, ſie iſt bedroht, ſie iſt geſegnet, ihr iſt geflucht; allein ſie bleibt bey ihrem Eigen - ſinn. Ich ſag es ohn End und Ziel: Herr v. E. ſind Braͤutigam, und da ich es ihr ſchon ſo oft geſagt habe, thu ich als ſagt ichs zu mir ſelbſt! der Herr v. E. Braͤutigam! wie’s ihm doch laſſen wird! u. ſ. w. Es waͤr alſo mein Rath, uͤber drey Wochen, ſo lange geruhen Ew. Hochwohlgebohrner ſich gnaͤdigſt zu behelfen, zu uns zu kommen, und noch Hochſelbſt einen Beſuch zu kuͤnſteln. Wie wuͤrd ich mich freuen, wenn er einſchluͤge. Solt auch dieſer Vorſchlag vergebens ſeyn; ſo muß ich ſchon auf die drey verſchwiegene Kerls votiren, und werd’ich alsdann muͤnd - lich Zeit und Ort zu beſtimmen die Gnade ha - ben; indeſſen bitt ich, ihr dieſe Widerſpen - ſtigkeit nicht nachzutragen, ſondern ihr ſo -gleich347gleich zur bewuſten Brodſtelle zu verhelfen, und mit der Zeit ſie ihrem Seelenhirten, als Paſtorin, zu uͤberliefern. Ew. Hochwohl - gebohrnen koͤnnen ſich ganz ſicher darauf ver - laſſen, daß ich nicht zum erſtenmal bey einer ſolchen Gelegenheit, wo drey verſchwiegene Kerls dabey ſind, in Dienſt geweſen; nur bey einer Tochter, ich muß es zu meiner Schande bekennen, doͤrft es mir ſchwer werden, falſch zu weinen, und die Haͤnde zu reiben. Viel - leicht kann ich indeſſen ſo gluͤcklich ſeyn, und mir die einhundert funfzig Thaler Alb. ver - dienen, daher wiederhohl ich ganz unter - thaͤnigſt meine Bitte, mir und ihr annoch drey Wochen huldreichſt nachzuſehen. Fuͤr die Nachricht von Magdalenens gluͤcklichen Nie - derkuͤnften bin Ew. Hochwohlgebohrnen ich ganz dienſtlich verbunden; indeſſen wuͤnſcht ich doch ohnſchwer zu wiſſen, wie oft ſie Dero ſeliger Herr Vater begnadiget, um ſie deſto hoͤher ſchaͤtzen zu koͤnnen. Wiewohl ich ohne Stolz glaube, daß es ihr nicht gleichguͤltig ſeyn koͤnne, daß ſie einem Litteratus zu Theil wer - de. Ew. Hochwohlgebohrnen Bedienter hat ſich ſehr ſchoͤn bey dieſem Briefe genommen. Er verdient das Geſchenk, wozu Ew. Hoch - wohlgebohrnen ihm bedingliche Hofnung gege - ben. Meine Tochter iſt auf keinen Schat -ten348ten von Verdacht gefallen, und da ich, wie ihr bekannt iſt, mit der Jungfer Dene in einem Liebesverſtaͤndniß ſtehe, ſo kann es ſie nicht befremden, daß ich in dieſer kritiſchen Zeit mehr ſchreibe, als ich ſonſt zu ſchreiben gewohnt geweſen. Wenn Mine an Ort und Stelle und, (was ich unter Ort und Stell einbegreife,) zu ſich ſelbſt zuruͤckgekommen ſeyn wird; ſo wird ſie’s einſehen, wie redlich gut es Ew. Hochwohlgebohrnen mit ihr ge - meynet. Ich weiß nicht, was ſie bei der hef - tigſten Gewiſſenskolik, (anders kann ich die Stiche nicht nennen, welche die Maͤdchens uͤber dergleichen Dinge zuweilen, wenn ein Ungewitter aufſteigt, befallen,) mehr beruhi - gen koͤnnte, als wenn ſie erwaͤget, daß ſie die Ehre gehabt, in gewiſſer Art ſelbſt mit Ew. Hochwohlgebohrnen getraut zu werden. Das Aug iſt doch wohl mehr am Menſchen, als die Hand, obgleich mir noch wohl bekannt iſt, daß Ew. Hochwohlgebohrnen eine weiße Hand nicht verachten, wie es denn auch wohl zu ſeiner Zeit ein Leckerbiſſen ſeyn kann. Uebri - gens rechnet Ew. Hochwohlgebohrnen ganz unterthaͤniger Diener es ſich zur vorzuͤglichſten Ehre, daß Ew. Hochwohlgebohrnen ihn mit einem ſo langen Briefe zu beehren geruhet. Von Liebesbriefen im neuen Geſchmack iſt mirwohl349wohl außer dem bewaͤhrten Talander nichts bekannt; indeſſen wenn es Ew. Hochwohlge - bohrnen gar zu viel Muͤhe machen ſolte; ſo ſteh ich ſehr zu Befehl, und leg auch zu die - ſem End ein Proͤbchen nach eigener Weiſe bey. Wenn Ew. Hochwohlgebohrnen ſo viel Zutrauen zu mir haͤtten, die Uebergabe der Jungfer Dene an mich gnaͤdigſt zu bewilligen, ehe Minchen uͤbergeben wird, und ohne daß es eben Zug um Zug gienge; ſo koͤnnten Sie ja Denen noch oben ein den Eyd abnehmen, daß Mine Ihnen allenfalls gegen einen Sola Wech - ſel, Kontrakt, Revers, oder wie es in den Rechten am beſten und ſchnellſten gilt, abge - liefert werde. Dene wuͤrde hiebey mehr als vier Kerls verſchlagen; indeſſen iſt dieſes nur ein unvorgreiflicher Vorſchlag, uͤber den ich nicht entruͤſtet zu werden ganz unterthaͤnigſt bitte.

Ich erſterbe, nachdem ich die Hand des Ge - bers mit den aufrichtigſten Wuͤnſchen, daß es ihm reichlich wiedervergolten werde, ge - kuͤßt, mit der tiefſten Ehrfurcht

Ew. Hochwohlgebohrnen Meines gnaͤdigen Herrn Barons und hohen Goͤnners ganz unterthaͤnigſter Knecht und Diener woͤrtlich abgeſchrieben den abgeſchickt den

Es350

Es fanden ſich auch ein Paar kurze Briefe, worin Montags der Termin zur Suͤhne an - geſetzt war. Herrmann wolt alsdann mit - fahren und wiederkommen, und dann ſolte der Ueberfall verabredet, und Mine mit Ge - walt fortgeſchleppt werden. Der alte Herr wuͤnſchte nichts ſehnlicher, als daß er die hundert funfzig Thaler Alb. verdienen moͤchte. Bey dieſen vaͤterlichen Wuͤnſchen blieb es, bis auf den letzten Brief. Hier ſchreibt er: ich thue jetzt auf alles Geld Verzicht, wenn Ew. Hochwohlgebohrnen Minen gutwillig be - reden koͤnnen. Ich habe ſie ehegeſtern durchs Schluͤßelloch beten geſehen und gehoͤrt. O! gnaͤdiger Herr! ich wuͤrd ein ungluͤcklicher Menſch Zeitlebens ſeyn, wenn dieſe Entfuͤh - rung uͤbel fuͤr Minen ablaufen ſolte. Um alles wuͤnſcht ich, daß Mine nicht ſo kraͤftig, ſo maͤchtig, als ich ſie durchs Schluͤßelloch ſah und hoͤrte, wider mich beten moͤchte. Da muß Donner und Blitz wuͤten, wowider ſie betet. O gnaͤdigſter Herr! Sie werden ſie wohl gutwillig an Ort und Stelle brin - gen?

Daß der Herr v. E. des Herrmanns Vorſchlag verworfen, ihm Denen zuvorzuge - ben, und ſie auf die Entehrung Minchens inEydes -351Eydespflicht zu nehmen, darf ich kaum be - merken. Herr v. E. muͤßte nicht in in und geweſen ſeyn, wenn er einem Eyde haͤtte trauen ſollen und du Boͤſewicht kannſt du ſo was auf einen Eyd ausſetzen? kannſt du deine Tochter durchs Schluͤßelloch behorchen, wenn ſie mit Gott allein iſt, wenn ſie betet! Gerechter Gott!

Nach dieſem allen, was konnte fuͤr ein anderer Entſchluß gefaßt werden, als zu fliehen. Ohne Geld, ohne Beyſtand? Schrecklich! Was hilf’s aber dem Menſchen, wenn er die ganze Welt gewoͤnne, und naͤhme Schaden an ſeiner Seele, oder was kann der Menſch geben, damit er ſeine Seele loͤſe? Mine war entſchloſſen, und Benjamin war Alexander. Mine, dies war das Re - ſultat, ſolte zu Fuß nach gehen. Da wuͤrde Benjamin Wagen und Pferde beſor - gen, und ſie kaͤm alsdann zu ihm, nicht zu ſeinem Meiſter, ſondern und von da nach Mitau, bei einem Anverwandten ihrer ſeligen, ſeligen Mutter. Um alles deſto geheimer zu machen, ſolte Mine allein bis . Von wolte Benjamin ſie bis Mitau begleiten, von Mitau Mine wie -der352der allein mit einem Fuhrmann nach Koͤnigs - berg, nicht zu mir Ach Mine! Mine! warum nicht zu mir? ſondern nach L wieder zu einem Verwandten ihrer ſeligen Mutter. Von da aus, einen Brief zu ſei - ner Zeit an mich, daß ich kaͤme, und ſie im Schoos ihrer Freunde ſpraͤche. Dieſer Plan ward bebetet und beſungen. Es bricht mir das Herz, wenn ich dran denke. Arme Mine! ich haͤtte wiſſen ſollen! Arme

Und wenn, frug Mine? Dienſtags, Schweſter, Sonntags kannſt du noch Gott in ſeinem Hauſe anflehen, daß er mit uns ſey, und vor uns her eine Wolken und Feu’r - ſaͤule ziehen laſſe! Gott! ſagte Mine und rang ihre Haͤnde, aus denen ein kalter Angſt - ſchweiß drang. Gott, du weißt! Leite mich! Fuͤhre mich! Verlaß mich nicht! Ich gehe deinen Weg, den Weg der Tu - gend! ich hoff auf dich! Vater und Mutter haben mich verlaſſen, aber der Herr nimmt mich an. Hier bin ich! mach es mit mir wie’s dir wohlgefaͤllt. Laß meine Seele, wenn ſie ſchwach wird, empfinden was geſchrieben ſteht: Fuͤrchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott: ich ſtaͤrke dich: ich helfe dir auch, icherhal -353erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit! Amen!

Herrmann war in Gedanken weggegan - gen, und kam in Gedanken zuruͤck. In Wahrheit, er hatte Urſach zu denken!

Mine war nachgebend gegen ihren Vater, ohn eine Luͤge, auch nur mit dem Auge, zu begehen; dies bracht ihn zu Ruhepunkten zu Hofnungen, hundert und funfzig Thaler Alb. in der Lotterie zu gewinnen.

Benjamin drang auf die Berechnung, weil er nicht Zeit haͤtte, ſich laͤnger aufzu - halten. Es war dies Donnerſtags Abends. Morgen, ſagte Herrmann. Sie be - rechneten ſich Freytags, und dieſe Berech - nung waͤhrete keine Stunde. Sein Erbtheil war auf den Fingern abzuzaͤhlen, es war nicht viel! Da Benjamin ſehr bat, weil er der Gewerkslade Geld zu zahlen haͤtt, ihm den wenigen Muttertheil baar auszu - zahlen; ſo zeigt ihm Herrmann die Unmoͤg - lichkeit. Ich will, wenn du es durchaus und durchall noͤthig haſt, an den Herrn v. E. ſchreiben, mir dieſes Anlehn auf Abſchlag De - nens zu geben. Mine ſtieß ihren Bruder an, der es ſogleich ausſchlug. Mit ſolchem Gelde, ſagten ſie, da ſie wieder allein waren,Zweiter Th. Zwuͤr -354wuͤrden wir nicht weit kommen. Benja - min hatte vor, dieſes Geld ſeiner Schweſter mitzugeben. Jetzt mußte der lezte Weg ein - geſchlagen, und Minens Kleider und viel von ihren Sachen, welche ohn Aufſehen wegge - nommen werden konnten, verkaufet werden. Benjamin beſorgte dies mit einer unbeſchreib - lichen Behutſamkeit. Er brachte zehn Thaler Albertus zuſammen. Mine bat ihren Bru - der herzlich, zu bleiben, und ihr noch Mon - tags beym Termin zur Suͤhne beyzuſtehen; allein er konnte nicht ſondern befahl ſie dem Schutze Gottes. Dein Mann, ſagt er, iſt Gottes Liebling, und du biſt es auch, ihr ſeyd beyde fromm! Wie kann euch Gott verlaſſen? Euch ſeine Kinder! Sie wein - ten, da ſie ſchieden. Zum leztenmal im vaͤ - terlichen Hauſe, lieber Benjamin wo ich die erſte Thraͤne weinte, wo! Sie konnte vor Thraͤnen nicht mehr. Auch Benjamin weinte. O! Schweſter, fieng er an: Du warſt von je her weit weit beſſer als ich! Alexander und du haben mich zum Menſchen gemacht. Du warſt nie boͤſe, Benjamin, ſagte Mine, jetzt biſt du gut! gut! und dann wieder du warſt nie boͤſe O Gott! fieng Benjamin an, wenn ich denke, wie dudich355dich nicht blos des Viehes, ſondern der Pflan - ze, der Blumen auf dem Feld erbarmteſt, wenn ich denke, wie du dich nicht ſatt ſehen konnteſt an dem gruͤnen Graſe und an den gelben Bluͤmchen, wenn ich denke, wie du mich bateſt, die Rinnen zu oͤfnen, wenn ſie ver - ſtopft waren, damit das arme Waſſer, wie du ſagteſt, nicht aufgehalten wuͤrde! Wenn ich bedenke, daß ich dir oft dergleichen Bitten ab - ſchlug, und dir den Ruͤcken kehrte, wenn du mir ſo was uͤbermenſchliches, ſo was himm - liſchguͤtiges, bateſt: wenn ich denke. Laß dies fiel ihm Mine ein, du wareſt nie boͤſe, denk vielmehr, wo wir oft unſchuldig ſaßen, und Sallat fuͤr unſere fromme ſelige Mutter laſen, und wo wir mit Alexandern herzlich froh waren, mit Alexandern! Denk, wo wir rothe und weiße Johannisbeeren pfluͤckten, und ich euch den Saft mit Zucker zubereitete, und wir uns einander ſagten, wenn es uns herzlich ſchmeckte: zweyerley Wein, rother und weißer! Denk an meine Liebe zu Alexan - dern, und an ſeine zu mir! Du bleibſt hier, Bruder! Laß mich jetzt Uebergabe halten; ich will alles in deine Haͤnde geben.

Komm, da liegt unſere Mutter begraben! Oft hab ich hier gebetet. Oft Gott gedankt;Z 2denn356denn hier hat Er mich manche ſeelenfrohe Stunde leben laſſen! Sie knieten beyde aufs Grab und weinten bitterlich.

Ich nehm Abſchied von dir, o du mir liebes Grab! ſie bog ihr Haupt auf ſelbi - ges, als ob ſie’s kuͤßte. O moͤcht ich, wie die Selige ruhen, die du bedeckeſt, liebe ſanfte Erde! o moͤcht ich Sie konnten beyde nicht mehr.

Bruder, ich beſchwoͤre dich bey der heili - gen Aſche unſerer Mutter, die auferſtehen wird am juͤngſten Tage, daß du dies Grab ehreſt. Pfleg es, wart ſein. Gott erhoͤr dich, wenn du hier beteſt. Geh oft hin, und wenn der Vater Hochzeit haͤlt, vergiß nicht auf dieſem Grabe zu weinen. Wenn dich Gott aus Curland ruft, es iſt moͤglich gieb dies Grab in die Haͤnde deines Vertrau - teſten, beſchwoͤr ihn, wie ich dich beſchworen habe, daß er ſein pfleg und warte! O liebe, liebe Mutter, bald! bald! werd ich dich wie - derſehen! Ja, Benjamin, bald werd ich ſie ſehn, und ſie von dir herzlich gruͤßen! Du biſt ihr gut, unſerer Mutter. Hier wieder eine Thraͤnenſcene.

Lebe wohl, liebes Grab, lebe wohl bis an den lieben juͤngſten Tag!

Ich357

Ich uͤbergebe dir dieſen heiligen Ort, wo ich mit Alexandern getraut bin. Mit dei - nem Freunde! Gott gab uns zuſammen, Menſchen wollen uns ſcheiden! allein ſie ſollen es nicht! ſie ſollen es nicht! Was meynſt du, Benjamin? Benjamin ſchluchzte ſie ſollen nicht

Hier iſt der Ort, wo er mich zum erſten - mal kuͤßte! Sieh, wie die Natur ihn ge - ſchmuͤckt hat. Es ſind mir heilige Oerter geweſen. Du weißt, wie mich Alexander liebte ich weiß ſagte Benjamin. So! So! lag ich in ſeinem Arm, wenn er mich kuͤßte. O ſeine Kuͤße! Wahrheit und Leben war in ihnen! Ich ſein! Er mein! Wenn ich was liebliches gegeſſen oder getrunken hatte, wo - von der Nachgeſchmack noch auf meinen Lip - pen war, fand er meinen Kuß nicht halb ſo! O der liebe, liebe Junge! Ich will dich! ſo natuͤrlich wie du biſt, ſagt er, und ich wolt ihn auch ſo natuͤrlich, wie er war. Wir liebten beyde die Natur, und wahrlich die Na - tur liebt uns wieder. Sie hat viel an uns gethan! Der Bach ſpricht nicht, Benjamin, allein wenn wir zuſammen giengen, hoͤrten und verſtanden wir ihn aufs genaueſte. Die ganze liebe guͤtige Natur ſprach mit uns,Z 3und358und alles ſo zuthaͤtig, ſo freundlich. O Benjamin, alle dieſe heilige Oerter befehl ich dir!

Hier! Benjamin! falte deine Haͤnde! denn die Staͤte iſt heilig! Hier ſah Alexan - der mein Geſicht, er ſah mich im Monden - glanz, wie er mich nach der Auferſtehung ſe - hen wird in all Ewigkeit. Dort ſah ich ein Geſicht! ich ſah Alexandern im Sonnen - glanz! ich ſah uns beid im Himmel! ihn in Sonne, mich in Mond gekleidet und meine Mutter zog mir das Sterbhemd ab, und kleidete mich ein zur ewigen Selig - keit. Dieſe Staͤte, Bruder, iſt heilig und jene Staͤt iſt heilig! Amen! Sie iſt heilig, ſie iſt Gottes Hauß, die Pforte des Himmels! Amen!

Die Oerter, wo wir in unſerer Jugend froh waren, da wir noch keinen v. E. und keine Dene kannten, laß ſie dir empfohlen ſeyn! Vergiß ſie nicht! Wir haben hier den beſten Theil gelebt, glaub mir, den beſten Theil! Komm! Paulus war der juͤngſt unter den Apoſteln, und doch ein auserwaͤhltes Ruͤſtzeug. Sieh hier mei - nen Paulus! dies iſt der lezte Ort, den ich in deine Haͤnde befehle! ich bin zulezt mit ihmver -359vertraut worden, der (unſer Bekannte) pflanzte dieſe Laube, ſeine Charlotte begoß ſie. Hier bejammert er ſie, da ihm ſeine Augen aufgiengen, hier wallfahrtet er taͤg - lich, du weißt ſeinen Lebenslauf ſeinen ſtummen ſeinen bohrenden Gram! Gott hat ſeines Leidens ein Ende gemacht. Dieſe Laube, Bruder! ſey der Ort, wo du deine Schweſter beweinen kannſt. O hier! ſind ſchon viele, viele Thraͤnen vergoſſen! Gott laß es dir wohlgehen, lieber Benjamin, wenn du heyratheſt. Lehre hier in dieſer Laube deinem Weibe ihre Schweſter kennen, und ſag’ihr, daß ſie ungluͤcklich war. Lehre deinen Kindern hier weinen. Es iſt eine ſchwere Sache, Gott gefaͤllig zu weinen. Schreibe dir, Benjamin, alle dieſe Oerter tief ins Herz! und Gott ſey mit dir mit meinem Alexander und mir!

So ſchieden Benjamin und Mine aus dem vaͤterlichen Hauſe. Er reiſete Frey - tags gegen die Nacht.

Woͤrtlich von Minen:

Sonnabends den

Wie geruͤhrt, lieber Mann meiner Seele, wie geruͤhrt ich geſtern war, weißt du beſſer, als ich es dir heute ſagen koͤnnte! Z 4 O360 O Gott, wie ſehr anders bin ich heut! Fel - ſenhart iſt mein Herz! Gallenbitter meine Zunge! Weißt du von wenn an? Vom Ab - ſchied an, den mein Vater vom Benjamin nahm. Nach einer ſo warm empfundenen Sonne, ein kaltes: gluͤckliche Reiſe an Ben - jamin, und denn hinterher, wenn du den Augenblick Geld zur Gewerkslade noͤthig haſt, will ich den Herrn v. E. druͤber ſchrei - ben! Da fuhr all das unausſtehliche Weſen, das Unweſen, was ich noch dieſen Augenblick an mir habe, fuhr in mich!

Liebe Mine, kalt und warm bekommt dem Herzen ſo wenig, als dem Magen. In den Worten: gluͤckliche Reiſe! ſahſt du dei - nen Vater ganz! Alle Briefe des v. E., alle Briefe deines Vaters, und nicht blos die erſten wenigen Reihen, die du geleſen haſt bis auf den lezten, lezten Hefen, dachteſt du dieſe Briefe, alle Briefe, den ganzen hoͤlliſchen Plan, alles, alles dachteſt du dir, und dir ekelte vor dieſer loſen Speiſe!

Mine befand ſich den ganzen Sonnabend in einer ſchrecklichen Lage! Ihr Vater haͤtt ihr das ſturmlaufende Herz anſehen muͤſſen, wenn er ein Auge auf ſeine Tochter gehabt haͤtte. Sie war mehr als unruhig. EinAuf -361Aufruhr in jeder Ader, das Blut ſchien alle Aderdaͤmme brechen zu wollen. Doch! ſie ſelbſt

Gott ſey gelobt und gebenedeyt! Ich hab uͤberwunden! Ich bin wieder ruhig, und wieder gut! O lieber Mann, man hat mir erzaͤhlt, daß eh die lezte Todesangſt eintritt, jeder Ster - bende entſetzlich unruhig ſey, da er nichts weiter kann, ſoll er das Deckbette reißen unſere Mutter riß es nicht. So, lieber Mann, war ich geſtern! ich riß das Deck - bett und warf mich graͤslich, bald zur Rech - ten, bald zur Linken. Allein nach dieſer Unruhe folgt bey Sterbenden was der Name des Herrn ſey gelobt! Bey mir folgte ſanfte, ſanfte Ergebung. Ich gieng noch mit einem aufgewiegelten Herzen, mit ſiedendem Blut. Alle Adern ſchienen mir den Dienſt aufzuſagen, und wolten ſpringen ſo gieng ich in die Kirche zum lezten - mal, dacht ich! Gewiß ein ruͤhrender Ge - danke; mir war ers nicht. Ich fieng an zu beten, ich druͤckte die Augen dicht zum Gebet zu; allein konnt ich? Die Augen riſſen ſich los. Sie hielten nicht zuſammen, und ich mußte das Kirchengeſtuͤhl anſehen, wo der Verfuͤhrer mich zur allgemeinen Stoͤh -Z 5rung362rung buhleriſch angeſehen! Ich mußt, ich mochte wollen oder nicht, ich ſah dieſen Ort, und wenn Teufel drinn geweſen waͤren, er haͤtte mir nicht fuͤrchterlicher ſeyn koͤnnen! Ich denke, mein Liebſter, ein Unſchuldiger, den falſche Zeugen vom Leben zum Tode ge - bracht, ſieht ſo den Richtplatz, wie ich dieſen Ort ich ſah deiner Mutter Stuhl. Ver - zeih lieber Mann, zwar ſah ich keinen Teu - fel drinn; allein ich dachte doch Arges in meinem Herzen. Das eine fromme Frau! Das eine heilige Saͤngerinn! dacht ich da kam deine Mutter. Sie gruͤßte mich, allein ſo verſtohlen, als ob ſie dieſen Gruß vor der Gemeine bergen, und ja nicht mer - ken laſſen wolte. Das konnte wohl freylich meine Hitze nicht niederſchlagen! Gottlob, der Boͤſewicht blieb dieſen Sonntag aus. Es verzeih mir der allerbarmherzigſte Gott mein ſteinernes Herz, das ich in ſein Hauß mitnahm, das ſich noch mehr verſteinerte, verfelſete!

Schon beim Liede vor der Predigt: Ich hab mein Sach Gott heimgeſtellt ꝛc. fieng dies Herz an fleiſchern zu werden, und die Predigt! O Gott welch eine Arzeney fuͤr mein Herz! Es war recht, als ob dein Va -ter363ter von meinem Entſchluß wußte, als wenn er mich! mich! predigte. Bis dahin war jede Nerve geſpannt. Kein Schlaf hatte die lezte zween Naͤchte mein Auge gebrochen. Kein Gebet brach es. Es war ſtarr. Mein Blut ſchlug Wellen, o lieber Junge, dieſe Predigt bedrohete den Wind und das Meer, und es ward ganz ſtille ich ſahe dich, da ich deinen Vater, den Boten Got - tes, ſah. Er kam herein, der Geſegnete des Herrn, er ſtand nicht drauſſen, der Name des Herrn ſey gelobt! O mein Einziger! Ich wuͤnſchte nicht, noch ſolch einen Abend, ſolch eine Nacht, ſolch einen Tag und ſolch eine Nacht, und noch ſolch einen Morgen zu le - ben, als vom Freytag Abend bis zur Pre - digt. Eine Hitze, und keinen Tropfen Waſſer in dieſer Hitze, wo mir die Zung an den Gaumen klebte, warum bat ich nicht Gott in dieſer Duͤrre um Thau und Erqui - ckung, warum ſucht ich nicht durch ſeine heilige Religion mich abzukuͤhlen, und in die ſelige Faſſung zu ſetzen, in der ich jetzt bin, wo es wie im Fruͤhling weder zu kalt noch zu warm iſt. Gott iſt nah allen, die ihn an - rufen, warum nannt ich ihn nicht, im Geiſt und in der Wahrheit, Vater, da der leib -liche364liche es ganz und gar aufgehoͤrt hatte zu ſeyn! Warum betet ich nicht um Thraͤnen? Warum ſang ich nicht mit Innbrunſt:

Gott gib einen milden Regen;
denn mein Herz iſt duͤrr, wie Sand!
Vater gib vom Himmel Segen;
traͤnke du dein durſtig Land!

Warum? Ey koͤnnen! Ich mache mir jetzt Vorwuͤrfe; allein es iſt, als hoͤrt ich eine Stimme zu meiner Losſprechung. Das Gebet iſt auch eine Gabe Gottes, und Thraͤ - nen ſind ein unausſprechliches Geſchenk! Habe denn Dank, Allguͤtiger, daß ich jetzt beten, daß ich jetzt weinen kann! Habe Dank fuͤr dieſe Gabe, fuͤr dies Geſchenk! Es iſt das ſchrecklichſte, mein Lieber, das hab ich erfahren, wenn ein Vater zum Sohn gluͤckliche Reiſe ſagt, und wenn er ſeine Toch - ter verhandelt! Habe Mitleiden mit deiner Mine, wenn du dies lieſeſt, und Gott wird es mit dir haben, und dich nie ſolch eine Herzens Duͤrre erleben laſſen!

Gleich die erſte Strophe:

Ich hab mein Sach Gott heim geſtelt,
er mach’s mit mir wie’s ihm gefaͤlt!

wie empfieng ſie mein Herz! Sie zogen ſichein365ein, dieſe Troſtworte, wie Thau auf einer welken Pflanze.

Bey der dritten Strophe regnet es ſchon:

Es iſt allhier ein Jammerthal,
Angſt, Noth und Truͤbſal uͤberall;
des Bleibens iſt eine kleine Zeit,
voll Muͤhſeligkeit!
Was iſt der Menſch? Ein Erdenkloß,
von Mutterleibe nackt und blos;
bringt nichts mit ſich auf dieſe Welt,
kein Gut noch Geld,
nimmt nichts mit ſich, wenn er hinfaͤlt.
Ich hab hier wenig guter Tag;
mein taͤglich Brod iſt Muͤh und Klag,
wenn mein Gott will, ſo will ich mit
hinfahren in Fried!

O lieber Junge! ſinge, wenn du dieſes ließt. Gott weiß, wenn du es leſen wirſt, ſinge dieſes ſchoͤne Regenlied!

Deines Vaters Predigt war Vollendung fuͤr mich, wie auf mich gemacht. Wort fuͤr Wort auf mich. O lieber Junge, wie gluͤcklich iſt man, wenn man todt iſt wie namlos gluͤcklich!

Er kam ohne Gebet mit den Worten auf die Kanzel:

Geh366
  • Geh aus deinem Vaterlande, und von dei - ner Freundſchaft, und aus deines Va - ters Hauſe, in ein Land, das ich dir zeigen will

Ich zeichnete mir dieſe Stelle, ſie ſteht im erſten Buch Moſis im zwoͤlften Capitel im erſten Vers; ich zeichnete ſie aber heimlich. Ein oͤffentliches Zeichen, dacht ich, wuͤrde mich verrathen ich konnt in einigen Mi - nuten nicht aufblicken. Wahrlich, Gott redete mit mir durch deinen Vater! Wie er die Wort anfieng: Geh aus deinem Vater - lande, von deiner Freundſchaft, und aus deines Vaters Hauſe, wars mir, als ob es die ganze Gemeine nun wußte, daß ich weggehen wuͤrde. Der erſte Aufblick, den ich wagte, war nach dem Stuhl meines Vaters. Er war leer; kurz vor dem Gelaute war ihm was vorgefallen. Dies ſtaͤrkte mich; ich ſah mich rund um. O lieber Junge! Laß mich noch mehr von der Predigt deines Va - ters predigen, die mich ſo erquickt hat. Gott lindre dafuͤr ſeine Todesangſt, und ſo wie er mich geſtaͤrkt und getroͤſtet hat; ſo ſtaͤrk und troͤſt ihn der Herr, wenn er heim faͤhrt aus dieſem Elend, und ſo wie er die Bande loͤſete, die mein Herz und meine Augen hiel -ten;367ten; ſo loͤſ auch der Herr ſeine Bande, und mach ihm alles leicht, wenn ſeine Stunde kommen! Die Stimme Gottes an Abraham war mir ein ſichres Geleit, ein Paß auf mei - ner Reiſe, ich war gefaßt, getroſt und ſo heiter, als waͤr ich ſchon angelangt, und wo? Ich gieng in meinen Gedanken nirgend anders, als in die ſelige Ewigkeit, aus mei - nes Vaters Hauſe aus meinem Vater - land und aus meiner Freundſchaft! Gern haͤtt ich communicirt, wenn es ſo angegan - gen waͤre ich war recht dazu vorbe - reitet, recht

Der Text zur Predigt war Ebr. im drey - zehnten Capitel der vierzehnte Vers: Wir haben hie keine bleibende Statt, ſondern die zukuͤnftige ſuchen wir!

Alles auf mich! Du kannſt dir dei - nen Vater vorſtellen, der auch nicht in Cur - land zu Hauſ iſt. Er redete mitten durchs Herz. So hat er noch nie gepredigt. Es war Seelenſpeiſe auf den Weg. Er pre - digt als wenn er auch ſchon den Abend von hinnen ziehen ſolte.

Dein Vater fuͤhrt in ſeiner Predigt die Geſchichte vom Sohne der Wittwe zu Nain an, er erhob ſeine Stimme, und dieſe nahmſich368ſich ſo heraus, daß jedes aufmerkte. Als er aber nah an das Stadtthor kam, Luc. im ſiebenten Capitel im eilften Vers: als er aber nah an das Stadtthor kam, ſiehe da trug man einen Todten heraus, der ein einziger Sohn war ſeiner Mutter.

So wenig dieſe Wort eine Deutung auf mich zu haben ſchienen; ſo fielen doch auch dieſe Worte ſchwer auf mich, und es war mir, als ſagte wer das biſt du du biſt die Perſon des Todes!

Wie kommt das, mein Lieber, wenn es einem ſo iſt, als hoͤrte man eine Stimme: das biſt du!

Nach der Predigt ward geſungen aus Befiel du deine Wege die letzten Verſe:

Der Anfang war:

Auf, auf, gib deinen Schmerzen
und Sorgen gute Nacht!
Laß fahren, was im Herzen
dir bangen Kummer macht!

Der lezte Vers iſt ſchon laͤngſt mein Lieb - ling geweſen, und, nach dieſer Leichenpre - digt auf mich, war ers noch weit mehr.

Mach End, o Herr! mach Ende
mit aller meiner Noth
ſtaͤrk meine Fuͤß und Haͤnde,
und
369
und laß, bis in den Tod,
mich allzeit deiner Pflege
und Treu befohlen ſeyn;
ſo gehen meine Wege
Gewiß zum Himmel ein!

O Lieber! das Amen, welches dein Va - ter ſagte, war ein Amen fuͤr alle; allein fuͤr mich beſonders fuͤr mich! Es war ein Wink fuͤr mich, in dieſem Gottes Hauſ Ab - ſchied zu nehmen, wo wir unſer Glaubensbe - kenntniß vor dem Altar ablegten, und auch oft zu Gott in die Hoͤhe ſchwuren: wir wer - den uns lieben, bis vor deinen Thron! O Gott, dieſer Abſchied war mir ruͤhrend, und wie ruͤhrend aus No. 5. zu gehen, wo ich ſo oft geſeſſen, wo ich ſo oft einen uͤberzeugten Mann Gottes Wort reden gehoͤrt, wo ich ſo oft inbruͤnſtig geſungen und gebetet und er - hoͤret worden, wo ich dich predigen gehoͤrt, mein Lieber! Gott ſey fuͤr alles gelobet und gebenedeyet, Halleluja! Er ſey mit ſei - nem Hauſe! Amen! ich betete fuͤr dich und fuͤr mich und riß mich endlich von No. 5. los. Sanft faßt ich dieſe Bank noch an, recht als wenn ich ihr die Hand druͤckte, und nun raft ich mich auf, um nach Hauſe zu gehen, da mir deine Mutter ins Auge kam. Zweiter Th. A aWas370Was weiß ich, ob ſie’s mir anſehen koͤnnen, daß ich geweint hatte, oder ob etwas anders die Urſache war: Sie gruͤßte mich liebreich! Zum leztenmal dacht ich, und eine Thraͤ - ne ſtuͤrzt aus meinen Augen! Deines Vaters Hand, oder die Deinige, war auch das lezte, was ich anſah, und hiemit fielen mir die Wort ein: Der Herr behuͤte deinen Ausgang und Eingang, von nun an bis in Ewigkeit!

Da ich zu Hauſe war, und die Predigt deines Vaters, und den liebreichen lezten Gruß deiner Mutter, mir wiederholte, uͤber - fiel mich der Gedanke, deinen Eltern lieber alles zu entdecken. Wer ſteht dir, dacht ich, fuͤr den Erfolg? Fuͤr deinen Vater war mir zwar ſeine Predigt Buͤrge geworden, ſeine Hand war mir Buͤrge, du warſt mir Buͤrge; indeſſen ſchlug der Eifer deiner Mutter fuͤr den Stamm Levi, dieſen Gedanken nieder. Die feſte Verabredung mit Benjamin, die Gewalt, die ſich ein curſcher Cavalier bey - legt und endlich das Waͤldchen, waren Beytraͤge zur Entkraͤftung meines Muths ich kaͤmpfte lange, endlich ſiegte der Zwei - fel.

Mine371

Mine packte noch das uͤbrige zuſammen, berichtigte jeden Dreyer, wo ſie etwa fuͤr Milch, oder fuͤr Fruͤchte etwas ſchuldig war, ſchenkt ihren Pathen im Dorfe viele Saͤchel - chen, die ihr auf der Reiſe nichts helfen konnten. Nichts, ſchreibt ſie, Montags fruͤhe

Nichts iſt, mein Einziger! von den ge - ſegneten Sachen zuruͤckgeblieben! Alles, alles, was ich von dir habe, alles, was dein Mund, deine Hand eingeweyhet hat, geht mit mir. Regine bat mich, da ſie ſahe, daß ich im Aus - theilen begriffen war, um das Band, das dir ſo ſehr gefallen hatte; du hatteſt es oft in deiner Hand. Nein, Regine, das nicht ich gab ihr ein ander Band, und da ich kein ſchlechtes hatte, eins, das zehnmal hoͤher im Weltwerth war.

Du packſt ja, Mine, ſagte Herrmann, in - dem er ſich Sonntags an den Tiſch, der mit Schoͤpſenfleiſch und weißen Kohl beſetzt war, hinſetzte. Mine muß es ſehr merklich ge - macht haben.

Ich raͤume auf, antwortete ſie.

Schoͤn, mein Kind! es ahndet dir viel - leicht ein Beſuch!

A a 2Ein732[372]

Ein Beſuch?

Es koͤnnte ſich zutragen, daß Herr v. E. kaͤme! Wenn es ſich zutruͤge, liebe Mine, wenn? Folg deinem Vater und ſey gefaͤllig.

Sie hatte kein Wort im Vermoͤgen; al - lein ſie war ſo ruhig, daß Hermann dieſe Ruhe fuͤhlte und ſie zu ſeinem Vortheil ent - gegen nahm. Er klopft ihr auf die Wange, und ſagte, du biſt doch ein huͤbſches gutes Maͤdchen, und wirſt eine Paſtorin werden zum kuͤſſen. Auch daruͤber entruͤſtete ſich Mine nicht. Sie blieb ruhig. Herrmann zaͤhlte ſchon die hundertfunfzig Judasthaler in Ge - danken.

Montag Nachmittag kam Herr v. E., alles wie es geſchrieben ſtand. Die Suͤhne ward eroͤfnet. Herrmann entfernte ſich, nach - dem er, wie er glaubte, die Sach in Gang gebracht. So bald die Hauptpartheyen allein waren, fieng Herr v. E. ohne Glas ſeine Rede mit vielem Bitten um Verzeihung an, und machte ſich als Braͤutigam mit Fraͤulein S. bekannt. Mine gab drauf nichts, als das All - taͤgliche. Es hatte wieder das Anſehen, daß Herr v. E. ein Geſchenk in der Naͤhe haͤtte. Er wollte wagen, es zum Vorſchein zu brin - gen; allein es ſchien, als duͤrft ers nicht. Nun373Nun nahm er einen andern Weg, und be - merkte, daß er mich kenne. Zwar haͤtt er nur einen Abend in meiner Geſellſchaft zuge - bracht; indeſſen waͤr ein Abend hinreichend, wenn man Leute wie mich traͤfe. Mine hatte ſich ſo ſehr in ihrer Gewalt, daß ſie Fragen nach mir that, die Herr v. E. zu mei - nem Vortheil beantwortete. Mine ward dadurch aufgeraͤumt, und Herr v. E. ergrif dieſen Zeitpunkt, im Namen ſeiner Mutter ſeine Anwerbung zu thun. So ſetzt er hinzu, haͤtte dieſe Sache gleich gefaßt werden koͤnnen, und gefaßt werden ſollen. Verzei - hen Sie dieſen, verzeihen Sie alle und jede Fehler ich bin jung; allein merken Sie es nicht ſelbſt, fuͤgt er hinzu, bin ich nicht aͤlter geworden, ſeitdem ich mich verlobt ha - be? Meine Mutter darf alſo hoffen?

Mine ſagt ihm mit einem Anſtande, der nicht ſeines Gleichen hatte, daß ſie nie ge - wohnt geweſen Hofnungen zu geben, die ſie zu erfuͤllen außer Stande waͤre. Sie muͤß’t es abſchlagen, und warum? fiel Herr v. E. hitzig ein.

Sie und mich zu ſchonen und, wol - len Sie noch mehr, ihre kuͤnftige Gemah - lin.

A a 3Er374

Er widerlegte ſie Schritt vor Schritt mit vielem kuͤnſtlichen Zubehoͤr. Da Mine aber feſt in ihrer Gottſeligkeit blieb, und das ſegne Gott und ſtirb des Herrn v. E. mit engliſcher Geduld trug, lief Herr v. E. uͤber, und ſtand da ganz, wie er war. Mine er - ſchrack, da ſie die ploͤtzliche Verwandlung der Schlang in einen Tyger ſah; indeſſen kam ſie nicht aus der Faſſung.

Es ſcheint, Sie haben ihrem Adonis zu - geſchworen, keine Mannsperſon anzuſehen, fieng Herr v. E., nach einigen Erholungsbli - cken, ſpitzig und hohnlaͤchelnd an. Seine Zaͤhne blieben unbedeckt.

Eben wuͤrd ich das Gegentheil bewieſen haben, wenn ich einen Adonis haͤtte, erwie - derte Mine.

Du ſolſt nicht andere Goͤtter haben ne - ben mir, iſt zwar, fuhr Herr v. E. fort, das erſte Gebot im Catechismus; allein die Liebe hat keinen Catechismus.

Die Meinige hat einen

Herr v. E. war in Unordnung gekom - men, und hatte tief vergeſſen, was in ſeiner Rolle ſtand, er extemporirte, ward zudringlich grob, und Mine gab ihm auf eine Art ſeinen Abſchied, daß er mitten im Worte blieb. Ihre375Ihre Haͤnde riß er an ſeine Lippen, eine nach der andern, und brannt ihnen Kuͤße auf. Mine fuͤhlt in jedem Handkuß das Siegel, das er auf ſeinen teufliſchen Plan druͤckte, und ein Schreckſchauer ergrif ſie uͤber den andern. Seine Handkuͤſſe brannten wie hoͤlliſch Feuer, auf einmal faßte ſich Mine zuſammen, und entriß ihm beyde Haͤnde. Er zum Herrmann, mit dem er heftig ſprach. Im Plan folgte, daß Herr - mann mitfahren ſollte; allein dies unterblieb und Herr v. E. fuhr allein.

Herrmann ſchien nicht zu wiſſen, wie er gegen Minen ſeyn ſollte. Er wolt und konnte nicht. Mine ſank in eine entſetz - liche Angſt: denn es fiel ihr ein, daß v. E. vielleicht ſeinen Plan abgeaͤndert, und der Ueberfall noch dieſen Abend erfolgen koͤnnte! zwar ſagt ihr Herrmann, daß er morgen nach reiſen wuͤrde. Er haͤtte mich heute ſchon mitgenommen; indeſſen ſind zu viel Gaͤſte. Minchens Befuͤrchtungen wurden hiedurch nicht im mindeſten widerlegt. Die Art, wie Herrmann ſich gegen Minen betrug, beſtaͤtigte vielmehr ihre Furcht. Masken dachte ſie uͤber Masken! und rang die Haͤnde, betete und war in einem unausſprechlichenA a 4Zuſtan -376Zuſtande Gott der Huͤlfe, rief ſie, ſende mir Troſt und Rath! Wende dich, Herr, zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit, und verbirg dein Angeſicht nicht von mir; denn mir iſt angſt, erhoͤre mich! Ich vergeh in meinem Elende!

Wahrlich ſie vergieng

Was konnte ſie anfangen? Wahr oder nicht wahr, ein Entſchluß mußte gefaßt wer - den. Sie ſchloß kein Auge, blieb in Klei - dern, und nach einem Gebet um Rettung! um Huͤlfe! frug ſie bei dem Herrn ihres Lebens, bey Gott, um die Erlaubniß an, (ich ſchaudre, da ich es ſchreibe,) ſich das Leben zu nehmen. Sie las Todtenlieder, ſingen konnte ſie nicht, und fand in dem Liede: Ich bin ja, Herr, in deiner Macht, Ruhe.

Ich bin ja, Herr, in deiner Macht,

betete ſie dreymal nach einander,

denn du haſt mich ans Licht gedracht
du unterhaͤltſt mir Leib und Leben.
Du kenneſt meiner Mondenzahl
und weißt, wenn dieſem Jammerthal
ich wieder gute Nacht ſoll geben.
Wo! wie! und wenn! ich ſterben ſoll
das weißt du Lebensvater wohl!

und nun war ſie entſchloſſen.

O377

O Gott! wohin kann die Tugend kommen? Mine war entſchloſſen, ſich das Leben zu nehmen, wenn man Gewalt brauchen ſollte. Freylich wuͤrd ein Caſuiſt feiner diſtinguirt, und die Grenze richtiger abgemeſſen haben, wenn und zu welcher Zeit allein Gott der Herr laͤßt nicht durch Caſuiſten Recht ſprechen und Sein Richter iſt das Gewiſſen, ſein Urtel nicht: in Sachen entgegen erkennen und ſprechen wir, ſondern: kommt und geht! Ich will in Gottes Haͤnde fallen! Er iſt gerecht, er iſt barmherzig! Sie warf ſich zur Erde und betet an, den der gemacht hat Himmel und Erde, ſie bat um Hofnung der Seligkeit, wenn ſie eine Selbſt - moͤrderin wuͤrde, um Verzeihung, wenn ſie in der Art fehle! Sie betete: ſo du wilt Herr! Suͤnde zurechnen, Herr, wer kann, wer wird beſtehen! Bey dir iſt die Verge - bung und nach einer Weile: erforſche mich, Herr, und, pruͤfe wie ich’s meyne, wie ich’s meyne! Sieh ob ich auf falſchem Wege bin, und leite mich, fuͤhre mich zu - recht, auf den Weg zum Leben! Laß, wenn ich irre, Gnade fuͤr Recht ergehen! Gnade! Gnade! Wenn dieſe Hand! Moͤrder an die - ſem Herzen wird, und es durchbohrt oA a 5Gott!378Gott! Gnade! Gnade! Allbarmherziger, nimm mich an zu Gnaden, und laß mich ſe - lig ſterben.

Denkt, empfindſame Leſer, wie Minen zu Muth geweſen! Sie ſucht ein Meſſer und mußte lang ſuchen. Find ich es nicht, dachte ſie, kann es Gottes Wille nicht ſeyn. Sie fand! ſie fand! ſchaͤrfte das Meſſer, hielt es gen Himmel, flehte noch einmal zu Gott! verſuchte wieder zu ſingen, konnte nicht, legte das Meſſer, das zuge - ſchlagen war, vor ſich zur Erd, und warf ſich aufs Bett! Die Unruh ihres Herzens war groß. Sie ſprang ſchnell auf, nahm ihre Bibel, riß das Meſſer auf, und legt es auf die Spruchſtelle im erſten Buch der Chronick im zwei und zwanzigſten Capi - tel im dreizehnten Vers:

Mir iſt faſt angſt: doch ich will in die Hand des Herrn fallen; denn ſeine Barm - herzigkeit iſt ſehr groß, und will nicht in Menſchenhaͤnde fallen.

Nach einem namloſen Seeſenſchmerz, nach einer wahren Todesnoth, legte ſich Mine wieder auf ihr Bett in Kleidern, wie ſie war.

Soll dieſe Nacht die letzte ſeyn

betete ſie

in379
in dieſem Jammerthal!
ſo faͤhr mich, Herr, im Himmel ein
zur auserwaͤhlten Zahl!
Und alſo leb und ſterb ich dir,
du ſtarker Zebaoth,
im Tod und Leben hilfſt du mir
aus aller Angſt und Noth!

Sie legt es nicht an zu ſchlafen, denn daran war nicht zu denken Sie wolte nur ruhen auch das konnte ſie nicht. All Au - genblick ſprang ſie auf, dies Iſaacsopfer! Je naͤher aber zum Morgen, je ruhiger. Sie fieng an einzuſehen, daß ſie ſich vergebens gefuͤrchtet hatte. Sie war indeſſen ſo ſehr an Furcht und Zittern gewoͤhnt, daß auch der helle lichte Morgen ſie nicht voͤllig beruhigen konnte.

Da kamen Pferd und Wagen nach ih - rem Vater, und dieſe brachten ihr die verlohr - ne Ruhe mit. Mine dankte Gott, der Großes an ihr gethan, der bisher geholfen, und al - les, alles, wohlgemacht hatte. Sie konnte weder die aufgeſchlagene Bibel, noch das aufgeſchlagene Meſſer, anſehen! Mit Entſetzen wand ſie ihr Geſicht weg, und machte beydes zu! Es kam ihr vor, als ſaͤhe ſie Menſchenblut auf dem Meſſer! Der Ort, wo ſie dies Meſſer gewetzet, machte ſieſchwind -380ſchwindlicht, da er ihr ins Auge fiel. Das Meſſer warf ſie unter Dank und Gebet fort. Gott, ſagte ſie, laſſ es nie einen finden, der es brauchen will, als ich wolte. Sie glaubte hiedurch dieſen ſchrecklichen Vor - ſatz aus ihren Gedanken geworfen zu haben; allein hierin fand ſie ſich getaͤuſcht. Durch ſtille ſeyn und hoffen, heißt es, werdet ihr ſtark ſeyn! Wer kann aber, o Gott, wer kann immer ſtille ſeyn und hoffen?

Waͤhrend der Zeit war Herrmann reiſe - fertig.

  • Herrmann. Leb wohl, Mine.
  • Mine. Leben Sie wohl, mein Vater Le - ben Sie wohl, mein Vater, leben Sie wohl.
  • Herrmann. Was fehlt dir? du weinſt ja!
  • Mine. Ach Gott!
  • Herrmann. Mine uͤberdenk alles! uͤberleg! du biſt klug! Du jammerſt mich! Mine uͤberleg Leb wohl!
  • Mine. Leben Sie wohl.

Moͤrder, wo willſt du hin? fuͤrchteſt du dich denn nicht, daß die Erde ihren Mund oͤfne, und dich verſchlinge, und die Wolken ſich trennen, und Feuer und Schwefel auf dich regnen laſſen! Du kennſt Minen,wie381wie Judas ſeinen Meiſter. Der Abend, da du mir die Geſchichte vom Judenknaben und von den Huͤnereyern erzaͤhlteſt, wird wider dich zeugen, Frevler! Kuppler! Boͤ - ſewicht!

Mine nahm von ihrer Zelle Abſchied, und konnte nicht umhin, noch einmal nach ihrer Mutter Grab zu blicken. Hiebey lies ſie es bewenden. Sie befahl Reginen das Hauß, und ſagt ihr, ſie doͤrfe nicht warten, ſondern koͤnne nur immerhin zeitig zu Bett gehen, womit Reginen ſehr gedient war. Ich, fuhr Mine fort, werde dieſe Nacht nicht zu Hauſe kommen, und nun ging Mine mit dem Geſang:

So gehen meine Wege
gewiß zum Himmel ein!

aus ihrem Vaterlande, und aus ihrer Freundſchaft, und aus ihres Vaters Hauſe, in ein Land, das ihr der Herr, wie ſie glaubte, zeigen wuͤrde. Ihre Fuͤß und Haͤnde zitterten; indeſſen fand ſie ſich durch die Gedanken geſtaͤrkt, daß ſie den Anſchlaͤ - gen der Bosheit entgienge. Sie fand an dem beſtimmten Ort ein Wagchen und zwey Pferde. Ohne zu fragen wie? und wohin? ſetzte382ſetzte ſie ſich auf. Alles verſtand ſich einan - der. Der Fuhrmann hatte ſelbſt nicht noͤ - thig, die Pferde zu ihrer Schuldigkeit aufzu - ſchreyen. Es gieng alles ſeinen Gang. Bis hieher hat der Herr geholfen, ſagte ſie, und fieng an freyer zu athmen. Sie haͤtte ſchla - fen koͤnnen, ſo ruhig war ſie; allein die Dankempfindungen gegen Gott verwieſen den Schlaf aus ihren Augen. Arme Mine! Du weißt nicht, was auf dich wartet arme Mine! Sie kam in den Flecken, wo Ben - jamin war. Vortreflich! dachte ſie, und noch ein vortreflich dachte ſie hinzu, da der Wagen nicht bey der Thuͤr des Meiſters ihres Bruders hielt: Alles Plangemaͤß nur ihr Bruder Benjamin fehlte. Zwar fand ſie eine willige Frau, die ſie herzlich bewill - kommte; allein ihren Bruder Benjamin fand ſie nicht. Anfangs fieng ſie an zu zweifeln, ob ſie Benjamin nach der Verabredung vor - finden ſolte? oder nicht? Ihr Kopf, das heißt ihr Gedaͤchtniß, hatte ſehr gelitten, ſie frug ſich ob Ja? oder Nein? und da ſie noch mit Ja und Nein kaͤmpfte, fieng die gute Frau an: Sie werden ſich doch nicht erſchre - cken! Die gewiſſeſte Art uns einen Schreck beyzubringen. Sie werden doch nicht! Gott! rief383rief Mine und glaubte, ſie ſey verrathen und verkauft. Nach vielen unertraͤglichen Sie werden doch nicht erfuhr die Ungluͤckliche erſt, daß ihr Bruder in den lezten Zuͤgen waͤre. Noch ehe Benjamin ſich legte, hatt er in dieſem Hauſe von ſeiner Schweſter geredet; allein blos vorlaͤufig. Iſt es moͤglich, fieng Mine an! Es iſt erſchrecklich zu leſen, was Mine hiebey ausgeſtanden. Sie zit - terte zu ihm hin, ohn an die Gefahr zu den - ken, der ſie ſich blos gab, und da ſie an ſein Bette trat, und ſeine Hand nahm ſchlug er mit Heftigkeit auf ſie zu! Was Ge - walt! Dene wie! Gewalt! Bluthund! ich werde dir Gewalt lehren! Gegen Minen Gewalt, du Aftermutter! Er ſprang aus dem Bett, und da er ſich weder im Guten noch im Boͤſen beruhigen ließ, ſo mußt er gebunden werden und Mine davon Au - genzeuge ſeyn!

Der Meiſter, der mich ohne Beden - ken bey meinem Namen nannte, und ſich einbildete, daß ich, blos weil ich von Ben - jamins Krankheit gehoͤret haͤtte, da waͤre, erzaͤhlte mir, daß Benjamin gleich Freytags, als er zuruͤck gekommen, uͤber Kopfweh ge - klaget. In der Nacht haͤtt er eine grau - ſame384 ſame Hitze bekommen, und dieſe haͤtte Sonn - tag Abend ſeinen Verſtand voͤllig zerruͤttet. In ſeiner Phantaſie haͤtt er: rett ſie! rett ſie, die arme Schweſter, gerufen. Seht ihr nicht Raͤuber? Diebe? Rett ſie, rett ſie, und dann all Augenblick: ſpannt an! ſpannt an! Sie kommt! ſpannt an! und dann wieder haͤtt er die Hausfrau bey der Hand genommen. Ach liebe, liebe Frau, was ich auf meinem Gewiſſen habe. Sind wir auch allein? Ihnen will ichs wohl entdecken ich kann keine Verge - bung der Suͤnden haben ich bin ein Hoͤllenbrand! Und wiſſen ſie warum? ich hab meinen Vater nicht todt geſchlagen, und das haͤtt ich ſollen. Es ſind lauter Flicken, liebe Jungfer, ſagte der Meiſter, es kann kein Menſch ein Kleid daraus ma - chen. Sie ſehen doch, wie er leider! iſt. Er kennt ſeine eheleibliche Jungfer Schwe - ſter nicht.

Mine, die wohl einſahe, wie alles die - ſes zuſammenhieng, und die noch uͤberdem ſehr leicht herausbringen konnte, daß ihr un - gluͤckliches Schickſal ihren Bruder ſo ſehr an - gegriffen, daß er in die entſetzliche Krankheit, die einen Menſchen auf eine Zeitlang aus demBuch385Buch der Menſchen ſtreicht, gefallen machte ſich bittre Vorwuͤrfe. Ich bin Schuld an ſeinem Tode, ſchrie ſie mahl auf mahl! Ich legt ihm mehr auf, als er tragen konnte. Mine war ſo von Mitleiden und Kummer durchdrungen, daß ſie nichts mehr, als ein erbarm dich Gott! uͤber das andre ausrufen konnte. Sie fiel ſich indeſſen ſelbſt zur rech - ten Zeit ein. Stirbt er, ſagte ſie zu den be - wegten Leuten, die ihren Lehrling mit Thraͤ - nen in den Augen gebunden hatten. Stirbt er: werd ich ihn finden, wo man nicht rett ſie! rett ſie! mehr rufen darf. In den Wohnungen der Gerechten! Bald! bald werd ich ihm folgen. Hilft ihm Gott, wie ich hoff und bete; ſo bitt ich ihm zu ſagen, daß ein Frauenzimmer bey ihm geweſen, die ihre Haͤnde zu Gott aufgehoben, da man die Seinigen gebunden haͤtte, die Kyrie Eleiſon gerufen. Sie konnte nicht ausreden ſo bewegt war ſie. Sie gieng und kam wieder, faßt ihn an und ſagte Benjamin! Er ſah ſie mit ſtarrem Blick an, wolte ſich losreißen konnte nicht, und ſie gieng be - truͤbt bis in den Tod!

Benjamin hatte die Reiſe nach Mitau nicht beſtelt. Mine dacht aus dem: ſpanntZweiter Th. B ban,386an, ſpannt an, ſie kommt! Ja allein ſie fand Nein und ſah ſich genoͤthiget, alles ſelbſt zu berichtigen. Wer beten kann, pflegte mein Vater ſelbſt auf der Kanzel zu ſagen, kann auch mit Vornehmen und Ge - ringen umgehen und dies fiel ihr ein, wie ſie ſchreibt. Sie fand die Beſtaͤtigung zu derſelben Stund, traf Anordnungen, ſchloß Contrakt und reiſete nach Mitau. Kurz vor der Stadt hatte Mine einen neuen Schreck, gegen den alles, was ſie am Kran - kenbett ihres Bruders erlitten, nach ihrem Ausdruck wie gar nichts war. Sie war abgeſtiegen, weil der uͤble Weg dieſe Wa - generleichterung nothwendig gemacht. Sie ſuchte ſich gruͤne ſchoͤne Stellen aus, wo ſie gieng, und wo ſie mit den Voͤgeln des Him - mels den Schoͤpfer lobte, in deſſen heilige Haͤn - de ſie ſich befahl. Wenn auch hie und da ſchwere Stellen auf dem Wege des Lebens ſind, es giebt doch, dacht ich, links oder rechts gruͤne blumenreiche Stellen, aus denen uns die ſchoͤne Natur willkommen heißt. Gott ſegne meinen Mann, hilf meinem Bruder! ſo dacht ich, oder ſo betete, ſo dankt ich Gott ſchreibt Mine, und ſchnell ſprengte ein Reuter auf ſie zu, der ſie ſteif anſahe,und

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387und wen ſolte man wohl weniger vermuthen, als den Herrn v. E.? Er war es ſelbſt! Er ſelbſt! Kein Erdbeben kann ſo erſchuͤt - tern, als dieſer Anblick Minen! Ich verlohr ſchreibt ſie gleich auf der Stell alle Kraft, Staͤrk und Macht. Gott, wie unergruͤndlich ſind deine Gerichte, wie unerforſchlich deine Wege! Das Meſſer, das ich, auf den Fall mich Raͤuber, Boͤſe - wichter uͤberfallen ſollten, fuͤr meinen Bu - ſen geſchaͤrft hatte, war der Dankbarkeit gegen Gott, der Liebe zum Leben, und dem Zutrauen, daß der, welcher bisher gehol - fen, auch weiter helfen wuͤrde geopfert. Da war ich alſo ohne Rettung in des Moͤr - ders Haͤnden

Er war es! Er! v. E. ſelbſt!

Schon wolt ich niederknien und von dem Boͤſewicht den Tod als die einzige Gnad erbetteln. Moͤrder dieſer Art ſind aber ſo menſchlich nicht, umzubringen. Sie morden Seelen! Gewiſſen! Mir fielen die Wort unſers Herrn und Meiſters ein: Hebe dich weg, Satan! Schon wolt ich knien und Abgoͤtterey begehen, als ein Wagen kam.

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In dieſem Wagen ſaß ſeine Verlobte und Frauenzimmer ihrer Verwandtſchaft. Herr v. E. hatt alſo keine Zeit, Minen naͤher kennen zu lernen. Allerliebſte Augen, ſagt er, in dem Wagen! Ich kenne nur noch ein Paar der Art! Ohnfehlbar eignete ſich die Braut dieſes Compliment zu, das aber Mi - nen gehoͤrte. Alles lacht ohn End und Ziel im Wagen uͤber dieſes Abentheuer, und Herr v. E. mußte Schand halber ſich beym Wagen, der ſich zur Linken wandt, halten: indeſſen ſandt er unvermerkt einen ſeiner Ge - treuen Minen nach, ſie zu examiniren: wo - hin? und wo her? Mine, welche zwar in dieſem Vorfall, daß Herr v. E. mit Blind - heit geſchlagen war, und ſie verließ, aufs neue geſehen hatte, daß ſie auf Gottes We - gen waͤre, konnte ſich doch von dieſem Um - ſtande nicht erholen. Es kam alles Schlag auf Schlag. Da ſie den Abgeſandten des Satans ſahe, machte ſie einen Schrey! der dieſen Inquirenten mit erſchreckte. Sie wußte nicht ſeinen Auftrag, und ſtelte ſich nichts anders vor, als daß er ſie fort - ſchleppen wuͤrde. Der Abgeſandte hielt Mi - nen fuͤr keinen Biſſen, der einer Jagd werth waͤre. Es war dieſer Helfershelfer nie berHerr389Herrmann geweſen noch in der Kirche zu und wie konnte man alles Wild fahen, was Herr v. E. aufjagen ließ? Ermuͤdet von dergleichen Auftraͤgen, begnuͤgte der Abge - ſandte ſich, als er von Minen nach Mitau, zu meiner Muhme heraus hatte, kehrte zuruͤck, und log ſeinem Befehlshaber das uͤbrige zu, um dieſen Roman fein ſaͤuberlich zu endigen. Durch dieſen Vorfall war Mine ſo außer Faſſung gebracht, daß ſie nicht ein - mal Gott danken konnte. Es war ihr alles, wie im Traum! Groß iſt, Herr, deine Huͤte, fieng ſie zuweilen an, und dann rief ſie wieder: Herr! hilf, ich verderbe! Wenn ſie ſich recht geſammlet hatte, erſchrack ſie vor ſich ſelbſt. Faſt kannte ſie ſich nicht, ſo ſehr hatte ſie ſich veraͤndert. Kurz vor Mitau fand ſie ſich wieder, und rang ihre Haͤnde zu Gott! Der dich behuͤtet, ſchlaͤfet und ſchlummert nicht, dachte ſie, in Finſter - niß iſt er dein Licht! Die dir nachſtellen, er - ſchrecken ſehr, und werden zu Schanden ploͤz - lich. So dachte Mine, und freute ſich, daß Bibel und Geſangbuch ſeit einiger Zeit ihre Hauptbuͤcher, ihre einzigen Buͤcher, ge - weſen. Dein Wort, rief ſie, iſt meiner Fuͤße Leuchte und Licht auf meinen Wegen!

B b 3Mine390

Mine kam nach Mitau. Ihre Anver - wandten, die ſie bald ausfragte, waren in der traurigſten Verfaſſung. Sie hatten in der Nachbarſchaft einem Cavalier ein Stuͤck Land abgepachtet, und da an den Schaden nicht ausdruͤcklich im Contrakt gedacht war; ſo mußten ſie von Heller zu Pfennig bezahlen, und den Schaden erſetzen, obgleich er vom Himmel kam.

Der liebe Gott hats gethan ſagten die armen Leute vor Gericht; allein die Richter behaupteten W. R. J. V. R. W. daß dieſer Contrakt ohne den lieben Gott gemacht waͤre. Die Armen! In der Welt habt ihr Angſt, ſagt Chriſtus zu ſeinen Juͤngern, und das konnte man von dieſen Armen mit Wahrheit behaupten! Alles, was ſie an und um ſich hatten, ward ihnen genommen. Sie behiel - ten ſich nur allein uͤbrig und die Erinnerung an einen Contrakt, der ohne den lieben Gott gemacht war. W. R. J. V. R. W. Anſtatt, daß Mine alſo von dieſen Armen Beyſtand erwartete, ließ ſie ihnen etwas von ihren Sa - chen. Sie wolt ihnen auch durchaus von ihrem wenigen Vorrath an Gelde die Helfte abgeben; allein dieſe Armen erklaͤrten dies fuͤr den groͤſten Diebſtal. Mine muſt ihnen denSter -391Sterbenslauf ihrer Mutter, (die Verwandt - ſchaft kam von Mutter Seite her,) erzaͤhlen, und die guten Leute freuten ſich uͤber ihre Ver - ſorgung! Wer einmal oben iſt, o! der iſt wohl verſorgt! ſagten ſie beyde. Wer weiß, wie nahe mir mein End, ſetzten ſie hinzu, auch Mine ſagte: Wer weiß, und alle drey freu - ten ſich.

Die ungluͤcklichen Leute hatten einen Sohn, der Paſtor an der Grenze war, wie ſie ſich ausdruͤckten! Wenn er lieber was anders waͤre, wuͤnſchten ſie, dann wuͤrden wir eher Huͤlfe von ihm erwarten koͤnnen. Mine befragte ſie, ob ſie denn ſchon Proben von ſei - ner Haͤrte haͤtten? Haͤrte koͤnnen wir es nicht nennen, erwiederten ſie. Er hat ſich das Be - ten ſtatt des Gebens ſo angewoͤhnt, und frey - lich kommt man dabey am wohlfeilſten ab. Hohl doch, ſagt er, liebe Mutter, hohl doch den Brief vom neuen Jahr, da iſt ein Ge - bet drinn, das ein Kirchengebet werden koͤnnte!

Unſer Nachbar, ſagte die liebe Mutter, anſtatt daß ſie den Brief mit dem Gebet holte, welches ein Kirchengebet werden koͤnnte, un - ſer Nachbar hatt eben ſo ein Pachtungluͤck; aber wie weit gluͤcklicher iſt der! Er hat ei -B b 4nen392nen Schneider zum Sohne, der ſchon alles reichlich mit Zinſen erſetzt hat, was der Va - ter verloren. Sag nicht, Mutter, be - ſchloß der Alte du weißt noch nicht, was unſer thun wird! geben iſt gut beten iſt auch gut. Nicht wahr, Jungfer Muͤhm - chen? frug der Alte.

Minchens ehrliche Anverwandten halfen die Sache mit einem preußiſchen Fuhrmann berichtigen, und da Mine ihren Freunden von ihrer Geſchichte ſo viel, als ihnen zu wiſ - ſen noͤthig war, entdeckt hatte; blieb die Hauptſache eine geſchwinde Abreiſe.

Minens Verwandte gab ihr einen Brief nach L. in Preußen, neun Meilen hinter Koͤ - nigsberg, mit, wo eine leibliche Schweſter des ehrlichen verungluͤckten Paͤchters wohnte, und wohin auch Minchen gleich Anfangs hin - dachte. Es ſind reiche Leute, ſagt er. Viel - leicht thaͤten ſie an uns etwas. Gott wird es ihnen bezahlen, hier zeitlich und dort ewiglich.

Und Minens Vater?

Er hatt einen harten Kampf mit dem Herrn v. E., daß er Minen nicht weichher - ziger, wie er ſich auszudruͤcken beliebte, ge - macht. Dieſer Kampf hatte ſchon, wieſich393ſich meine Leſer erinnern werden, in Herr - manns Hauſe angefangen, und ward noch hitziger fortgeſetzet, da Herrmann zum Herrn v. E. kam.

Was will die Naͤrrin, ſchrie er? Nach einer Viertelſtunde raunte er dies was will ſie? dem Herrmann ins Ohr.

Um aus der Noth eine Tugend zu ma - chen, war Herrmann es ganz unterthaͤnigſt zu - frieden, daß Gewalt fuͤr Recht gehen, und Mine dem Herrn v. E. als ein Schlachtopfer gebunden zu Fuͤßen geleget wuͤrde. Ich hoffe doch, ſagte Herrmann, daß es alles ehrlich und ordentlich mit Minen zugehen werde denn wahrlich, Hochwohlgebohrner und gnaͤ - diger Herr Baron! es iſt ein Maͤdchen, die ſterben koͤnnte, ehe man ſichs verſeh und ey, dann Vater ſeyn! Verſteht ſich, ſagte Herr v. E., ehrlich und ordentlich ich werde doch Herr! zum Teufel wiſſen, mit einem Maͤdel eine Comoͤdie zu ſpielen! Hat der Herr ſchon gehoͤrt, daß die Perſonen im lez - ten Akt des Luſtſpiels ſterben? und ein Luſt - ſpiel, hoͤrt der Herr! ein Luſtſpiel ſoll es wer - den! Dieſes Luſtſpiel waͤre Dienſtags vollen - det worden; allein Herr v. E. mußte nolens volens ſeine Braut zu einem ihrer Anver -B b 5wand -394wandten, der bey Mitau wohnte, begleiten. Herrman blieb, auf Geheiß des[Herrn] v. E. ſo lange bey der Frau v. E. Gnaden, und bey der Jungfer Denen Hochedelgebohrnen.

In zwey bis drey Tagen bin ich hier; ſchrie noch Herr v. E. dem Herrmann vom Pferde zu, und dann ohne Verzug. Sie hatten ſich in die Haͤnde geſchlagen, wenn al - les gut gienge, ſoll es nicht bey vierzig Tha - ler Alb. bleiben. Gott gebe, daß es gut geht, ſagte Herrmann; das Uebrige werden meine Leſer an ſeinen Ort zu ſtellen und ein - zuſchalten wiſſen. Wuͤrde Herr v. E. Mi - nen nahe bey Mitau vermuthet haben, und haͤtte ſein Abgeſandter ihm hievon auch nur die entfernteſte Spuren zuruͤck gebracht; das Gelaͤchter im Wagen wuͤrd ihn eben ſo we - nig von ihren Augen abgebracht haben, als Gottes Wort in der Kirche. Sein Herz hieng an Minen, und eben weil es an ihr hieng, verfolgt er das Maͤdchen nicht weiter, das nach ſeiner Einſicht blos Minens Augen haͤtte; obgleich ſie es gottlob ſelbſt war.

Herr v. E. traf nach dreyen Tagen ein, fand den Herrmann froͤlich und guter Dinge, und es ward der Mord ganz puͤnktlich verab - redet. Herrmann reiſete nach Hauſ umalles395alles zu dieſer Gewaltthaͤtigkeit vorzubereiten. Regine hatte von Minens Entfernung dem Herrmann keine Nachricht ertheilet. Zwar hatte Mine ihr nur blos geſagt, daß ſie die Nacht nicht heimkommen wuͤrde; indeſſen dachte Regine, wer weiß, was fuͤr ein Zufall ſie bindet! Herrmann kam betruͤbt nach Hauſe. Ich glaub, es iſt es jeder Nach - richter, wenn er den Streich vollfuͤhren ſoll, wenn er ſich bewußt iſt: unſchuldig Men - ſchenblut. Hermann fand die unbeſorgte Re - gine, und ſtatt Minen folgende Schrift:

Sie wiſſen ſelbſt mein Vater Vater werd ich ſie nennen, es gehe wie es gehe. Sie wiſſen ſelbſt, daß ich nicht aus Tuͤcke des Herzens aus meinem Vaterlande, und aus meiner Freundſchaft, und aus meines Vaters Hauſe gegangen, in ein Land, das Gott mir gezeigt hat! Sie wiſſen alles! Ich bin ihre Tochter! Mehr als dies: Sie wiſſen alles, darf ich mich nicht unterſtehen zu ſchreiben, und ſolten oder wolten Sie nicht alles wiſſen; ſo waͤr es ein ſehr unzei - tiges Geſchaͤfte, mehr zu ſchreiben. Gott verzeih es mir! wenn ich jetzt oder jemalsdie396die Achtung aus dem Auge verloren, die ich Ihnen ſchuldig bin. Mein Weg geht, wie ich fuͤhle, zum Himmel ein. Ich habe zu viel Angſt, zu viel Kummer erlitten, um hoffen zu koͤnnen, eher als vor Gottes Thron bey meiner ſeligen, ja wohl, ſeligen Mutter gluͤcklich zu ſeyn! Dann, dann wird, o wie freu ich mich deſſen! das Grab in Abſicht meines hinfaͤlligen Theils meine Behauſung, Finſterniß mein Bette, die Verweſung mein Vater, und die Wuͤrmer die Meinigen ſeyn allein mein Geiſt! dort, dort werden abgewiſcht werden die Thraͤnen von meinen Augen. Im Himmel iſt mein Theil und Erbe. Ich bitte Gott, daß ich Sie einſt auch da finden moͤge, mein Vater! da wo Ruh iſt! Sie haben mir auf volle acht Tag Ausgabegeld gegeben; die Rechnung vom Sonntag und Montag liegt auf ihrem Schreibtiſche. Reginen hab ich Geld auf zwey bis drey Tage zuruͤckgelaſſen, hier iſt das Uebrige vom Wochengelde. Ich habe nichts von dem Ihrigen mir zugeeignet, ich hab Ihnen nichts entwendet. Sie berech - neten ſich mit meinem Bruder Benjamin, und wie’s mir vorkam; legten ſie auch mein Theil ab. Dieſen ſchenk ich meinem Bruder. Ich397Ich wuͤnſchte wohl, daß Dene nichts truͤge, was meine theure Mutter getragen hat, wenn es ihr, wie ich vermuthe, nicht ſchon an ſich zu ſchlecht iſt. Solten Sie, mein Vater, wider all mein Vermuthen etwas miſſen, ſo muß Regine davon Anzeige thun koͤnnen, die indeſſen, wie Sie wiſſen, die Ehrlichkeit ſelbſt iſt. Ich gehe, und das koͤnnen Sie ſich leicht vorſtellen, mit ſchwe - rem Herzen, o Gott! mit ſchwerem Herzen von hier. An dieſem Briefe hab ich drey Tage geſchrieben. Thraͤnen beziehen mir ſo die Augen, daß ich auch jetzt nicht ſehe, was ich ſchreibe. Gott ſey mir gnaͤdig! Ich bet auch fuͤr Sie! und werd es nie aufhoͤ - ren zu thun. Haben Sie tauſend Dank fuͤr alles Gute, ſo Sie meiner Munter, und ſo Sie mir gethan. Meine Mutter laͤßt ſich noch durch mich bedanken. Gott vergelt es Ihnen! Ihr Grab war mein Labſal, ſonſt waͤr ich vergangen in meinem Elende. Verzeihen ſie alle meine Fehler, wodurch ich Sie in meiner Jugend betruͤbt habe. Seit vielen Jahren, duͤnkt mich, hab ich Ihnen nicht Gelegenheit zur Unzufriedenheit gegeben. Man muß Gott mehr gehorchen, als den Menſchen. Meine Entfernung rechnenSie398Sie nicht unter Fehler, die ich ihnen abzu - bitten ſchuldig waͤre ich bitte ſie Ihnen dennoch ab, weil ich weiß, daß ſie Ihnen einigen Verdruß machen wird. Der Him - mel gebe, daß er ſo klein ſey, als nur moͤg - lich, nur moͤglich. Wenn Sie nicht glau - ben wollen, daß mich Gott zu gehen geheiſ - ſen hat; ſo laſſen Sie ſich von dem Herrn Paſtor die Predigt vom vorigen Sonntag ge - ben. Dieſe Predigt ließ Gott durch ihn an mich halten das koͤnnen Sie mir glau - ben, weil ich es empfunden habe, und wenn Sie die Predigt leſen, werden Sie’s auch empfinden, und mir wenigſtens eine gluͤckli - che Reiſe wuͤnſchen, wie ſie meinem Bruder wuͤnſchten. Die Frau Paſtorin haben Leute, das weiß ich, wider mich aufge - bracht.

Ich bitte Sie, meine liebe Frau Paſto - rin, um Gottes willen, um Gottes willen, nicht zu denken, daß ich ihren Sohn verfuͤhrt habe, und noch verfuͤhre. Eben ſo wenig, als er mich verfuͤhret hat, und verfuͤhren wird, eben ſo wenig ich, ihn. Sie ſind eine gute ver - ehrungswuͤrdige Frau, meine geiſtliche Mut - ter, die mich uͤber die Taufe gehalten hat ach! Gott der Herr ſegne Sie! Ichkuͤß399kuͤß ihnen und dem Herrn Paſtor, dem Bo - ten Gottes, die Hand. Gott wird ihn ſo in ſeinem Lezten erquicken, als er mich vori - gen Sonntag in meinem Lezten in er - quicket hat.

Lieber Vater, ſagen Sie dieſe Stellen der Frau Paſtorin vor, und danken Sie dem Herrn Paſtor tauſendmal, tauſendmal! Lie - ber Herr Paſtor! Engel Gottes! ich dank Ihnen tauſendmal, tauſendmal!

Ich wuͤnſchte ſehr, mein Vater, daß dieſe frommen Leute gut von mir daͤchten, des Ge - bets dieſer Frommen wegen, dem ich mich empfehle. Setzen Sie mich, mein Vater, in die Guͤte, in das fromme Andenken der Frau Paſtorin zuruͤck. Schlagen Sie mir, lieber Vater, dieſe lezte Bitte nicht ab: und denn noch eine nicht: das Grab meiner Mutter in Ehren zu halten! Wenn die Erde nachlaͤßt, und das Grab ſinkt, laßen Sie, laßen Sie doch Erde, gute ſchwarze Erde nachſchuͤtten, damit es nicht das Anſehen, das edle Anſehn eines Grabes, eines Huͤgels, ver - liere. Meine Mutter iſt ja die Hand voll ſchwarzer Erde werth! Nun leben Sie wohl! Wenn Sie Denen heyrathen, laſ - ſen Sie ſie nicht veraͤchtlich von meiner Mut -ter400ter reden. Es iſt eine ſelige Mutter. Verdop - peln Sie Ihre Liebe gegen meinen Bruder Benjamin. Er iſt jetzt das einzige Kind, das von einer Mutter ſtammt, die im Himmel iſt. Gruͤßen Sie ihn von mir tauſendmal. So oft er zu Ihnen kommt, gruͤßen Sie ihn tauſendmal. Gruͤßen Sie alle, die ſich mei - ner zu erinnern die Guͤte haben. Verfolgen Sie mich nicht, denn ich geh auf Gottes We - gen. Regine iſt ſo unſchuldig an meiner Ent - fernung, als die Sonn am Himmel. Gruͤßen Sie auch Reginen von mir! Ich bitte Regi - nen ab, daß ich ſie wegen meiner Flucht ge - taͤuſchet habe. Gott laß es Ihnen allen, allen, allen, wohl gehen zeitlich! geiſtlich! und ewig! wohl! wohl! Wenn Herr von E. ſeine Gemahlin treu lieben wird, nur dann wird er gluͤcklich ſeyn. Gott ſteht das Herz an, und alle guten Leute, die Gottes Bild an ſich tragen, desgleichen. Ich wuͤnſch auch ihm alles, alles Gute! Hiemit leben Sie wohl alle! alle! Leben Sie wohl!

Herrmann war geruͤhrt weinen konnt er nicht. Schon wolt er den ganzen Han - del mit Denen wieder aufgeben, und zu mei -nem401nem Vater gehen, und ſeine Suͤnde in den Schoos ſeines Beichtvaters bekennen. Er konnte ſich nicht entbrechen, vor ſich zu ſagen, als ob er ſich auf das Compliment zu meinem Vater beſoͤnne: Vater, ich habe geſuͤndiget im Himmel und vor dir, ich bin hinfort nicht werth, daß ich dein Beichtſohn heiße.

Dieſe Bußgedanken wurden aber bald zerſtreuet. Nimmt Herr v. E. Denen von mir! Was heb ich an? Graben mag ich nicht; doch ſchaͤm ich mich zu betteln. Dies ſetzt er ſeinen Bußgedanken entgegen, und wenn ſie gleich nicht voͤllig in die Flucht ge - ſchlagen wurden; ſo waren ſie doch wenig - ſtens wankend gemacht. Je weiter er dem Vorfall nachdachte, je mehr befeſtigte ſich ſein Entſchluß, ſich unter die gewaltige Hand des Herrn v. E. zu demuͤthigen. Sein letz - ter Vorſatz war, dem Herrn v. E., der, wenn er wollte, ihn ganz und gar an den Bettelſtab bringen koͤnnte, alles zu entdecken und ſich ihm auf Gnad und Ungnad, auf Tod und Leben, zu ergeben. Er nahm den Brief mit (die Hand zittert ihm, da er ihn angrif,) und ritt nach zum Herrn v. E.

Zweiter Th. C cNun,402

Nun, Teufel, war der Willkommen

Hochwohlgebohrner! gnaͤdiger Herr! hier!

Was? (Herr v. E. nahm und las )

Blitz! Donner! Zeter! Wetter! Wo iſt die Beſtie?

Gnaͤdiger Herr! Verzeihen Sie

Er iſt doll!

Wie Ew. Hochwohlgebohrnen befehlen.

Die Beſtie, wo iſt ſie?

Das iſt Gott bekannt!

Nach einem laugen Mißverſtaͤndniß kam es heraus, daß der Abgeſandte Jacob die Beſtie war. Ich hab ſie begegnet! Gewis und wahrhaftig, ſie war es, ſchrie Herr v. E.

Ketten! Jacob! wo iſt die Beſtie? Jacob kam, und, nach den entſetzlichſten Fluͤ - chen, wurde Jacob in Eiſen geſchmiedet Die - ſer Kerl, mit dem ein kurzer Proceß gemacht ward, ſchien der Ableiter der Wuth des Herrn v. E. zu ſeyn v. E. erholte ſich. So lang als ich ſie nicht habe, ſollſt du ſo liegen, Beſtie, das war das Urtel.

Es wurden Steckbriefe und Boten zu Fuß, zu Pferde und zu Wagen, ausgeſandt al - lein Mine kam gluͤcklich nach Koͤnigs - berg! Sie erſchrack uͤber dieſen Ort! Sogroß403groß, ſagte ſie zu den Fuhrleuten! Es war der nehmliche Major, und der nehmliche Junker, die mich nach Koͤnigsberg gebracht hatten! Mine ſchlief in Koͤnigsberg auf der nemlichen Stelle, wo ich geſchlafen hatte, und es ſey, daß Ahndung es ihr eingab, oder was weiß ich wie ſie empfand, daß ich da geweſen. Bis dahin hatte ſie hievon keinen Gedanken gehabt. Jetzt kam es ihr ſchnell ein, wie alles kommt, was gut iſt. Mine lenkte das Geſpraͤch auf die hohe Schule, und immer weiter und weiter, bis die Majorin ſelbſt von mir anfing. Der Major hatte mich laͤngſt vergeſſen. Ueberhaupt ſchwaͤcht nichts ſo ſehr das Gedaͤchtniß, als Reiſen. Die Majorin gab ſo viel Umſtaͤnd an, daß Mine mich vor ſich ſahe. Haͤtte Kummer und Elend, und vorzuͤglich der Ueberfall des Boͤſewichts, da Mine zu Fuße gieng, und die peinlichen Fragen des Abgeſandten, der jetzt in Eiſen ge - ſchmiedet war, dieſe Arme nicht ſo ſehr zuruͤck - geſetzt, ich glaube die Liebe haͤtt ihre Gruͤnde, mich nicht zu ſehen, uͤberwunden. Jetzt uͤberwanden die Gruͤnde. Wer ſiehet gern Leute, die man recht zaͤrtlich liebt, wenn man ſo kuͤmmerlich iſt, wie Mine war. Ihre Gruͤnde:

C c 2 Die404

Die Paſtorin nennt mich eine Verfuͤh - rerin! Koͤnnt ich es nicht werden? Und unter welchem Namen ſolt ich? Unter weſ - ſen Schutz? Was wuͤrden ſeine Bekannten von mir denken? von ihm ſagen? wie und wo ſoll er mich ſehen? Mine, die uͤber - all auf Gottes Wegen gieng, hatte ſchon der Majorin geſagt, daß ſie keinen Verwandten in Koͤnigsberg haͤtte, und daß ſie nach L wolte. Es war ſchon unterwegs abgemacht, daß man ſie dorthin ſenden wuͤrde. Eine ge - wiſſe fraͤuliche Delikateſſe, die, wenn ſie Schwaͤche waͤre, ſelbſt unſerm Geſchlecht, angenehmer als Staͤrk iſt, gab jedem Ge - danken Nachdruck

Koͤnnte man nicht denken, ich waͤre ſei - netwegen? Er kann und wird mich ſe - hen, im Schoos meiner Verwandten und ſterb ich in der ſeligen Ewigkeit!

Kurz, es ward beſchloſſen, nach L . Der Herr Major ſagte: Frau, ſolch ein Frauen - zimmer haſt du noch nicht geſehen, und die Frau Majorin that mir die Ehre, Notabene nachdem mein Andenken bey ihr aufgefriſcht war, bey dieſer Gelegenheit zu bemerken, daß ſie ſolch einen jungen Herrn, als mich, ſo leicht nicht geſehen haͤtte. Mine ſchreibt: dies405 dies kam mir ſo unerwartet, daß ich feuer - roth wurde, ich freute mich, mein Lie - ber, ſo ſehr ſich Mine freuen konnte! Da Mine eine Luſt bezeigte, die Stadt zu beſehen, ſo ward den Morgen eine Kutſche angeſpannet. Die Majorin machte Umſtaͤn - de, mit Minen zuſammen zu ſitzen. Sie wolte gerad uͤber ſitzen. Endlich All Augenblick, wenn Mine einen jungen Men - ſchen ſah, fiel ſie zuruͤck. Sie glaubte mich

Den nemlichen Tag nach Tiſche.

Herr v. G. und ich.

  • Er. Endlich.
  • Ich. Ich bin auch heut noch zu beklommen, ich habe noch kein empfaͤngliches Herz fuͤr die Natur keinen Hunger und Durſt nach ihrer Milch und Honig. Sie nimmt es uͤbel, Bruder! wenn man zu ihr kommt und ſauer ſieht.
  • Er. Sie wird dich aufmuntern.
  • Ich. Das thut ſie nicht.
  • Er. Ihren Lieblingen wohl, und du ſitzeſt ihr im Schoos.
  • Ich. Wohin denn?
  • Er. Das laß mir uͤber! Unſer ehrlicher Ma - jor hat, daß weißt du, Urſach, es uͤbel zuC c 3neh -406nehmen, daß wir nicht ſchon die Parole von ihm abgehohlt. Ein Paar Pferde
  • Ich. Meinetwegen! Wen ſenden wir?
  • Er. Uns ſelbſt.
  • Ich. Deſto beſſer.
  • Er. Zum Major!
  • Ich. Zum Major!

Wir giengen, nachdem wir uns umge - zogen. Schon ſahen wir ſein roth abgeputz - tes Hauß, freueten uns unſere Kriegscame - raden zu ſehen, und frugen einander. Da begegneten uns ein Paar Landleut im Wa - gen, die uns hineinwinkten. Wir nah - men dieſen Wink entgegen und fuhren ihren Weg nach Hollſtein, (einem Luſtorte bei Koͤnigsberg.) Warum konnten wir nicht zum Major, obſchon wir das roth abgeputzte Hauß ſahen? Große Frage! warum? O Gott warum? Eine kurze Freude fuͤr meine Leſer!

Der Weg nach Hollſtein iſt einer der ſchoͤnſten, den man fahren kann. Auf der einen Seite Waſſer, wo Schiffe ſich kreuzen, auf der andern die anmuthigſten Wieſen. Man koͤnnte, ſagt einer in unſern Wagen, um den Wieſen ein Compliment zu machen, Billard darauf ſpielen!

Ich407

Ich war blind und taub! Wie konnt es anders! Schon ſechs Wochen uͤber das Vier - teljahr, und kein Brief von Minen!

Mine reiſte den andern Tag nach L zu ihren Verwandten. Wie ſie zum Thor heraus fuhr, fielen ihr wieder die Wort ein: Man trug einen Todten aus der Stadt, der war der einzige Sohn ſeiner Mutter. Sie konnte dieſe Worte nicht los werden.

Mine ſchreibt: mein Weg, mein Lieber, wie du ſchon weißt, wie ich dir ſchon tau - ſendmal geſchrieben habe, gieng Himmel an, uͤberall Himmel an.

Sie fand ihren Verwandten auf dem Brete. Seine Frau war ſchon laͤngſt geſtor - ben. Muͤd und matt fiel Mine, bey dem An - blick ihres Verwandten in Ohnmacht. Nach - dem ſie ſich erholt hatte und den Todten an - ſah, fand ſie eine Aehnlichkeit von ihrer Mut - ter in allen ſeinen Zuͤgen. Sie konnt ihr Aug nicht von ihm laſſen. Sie ſelbſt:

Es ſey, mein Lieber, daß alle Todten eine Aehnlichkeit haben, die im Herrn ſter - ben, oder der Selige hatte, der Verwand - ſchaft wegen, wuͤrklich aͤhnliche Zuͤge von meiner Mutter. Mir war es Zug an Zug! Lieber Gott, dacht ich, indem ich ihnC c 4 ſtarr408 ſtarr anfah, nun hab ich auch einen Brief in den Himmel. Du weißt doch, mein Lieber, den Brief aus Mitau! Gott, dein heiliger Wille geſchehe! Nur daß du mich nicht verlaͤßeſt, wenn ich dieſen ſeligen Weg gehe und die lezte, letzte Reiſe thue.

Laß mich, wenn ich ſterbe
mit der Schaar der Frommen
aus Sturm und Wellen kommen
an den erwuͤnſchten Ort.

Wieder ein Wegweiſer Himmel an! Himmel an, mein Lieber! Ich glaube nicht, daß ich mehr weit zum Ziele habe. Es kann, es kann nicht mehr weit ſeyn!

Ich wolt in Koͤnigsberg mich mit dem Fuhrmann und ſeiner Frau abfinden, die Leute hatten mir viel, ſehr viel Gutes ge - than; allein weder er, noch ſie, waren zu einem Dreyer zu bequemen. Ich ſchenkte der kleinen Tochter, die nicht von mir ließ, einen Kopfputz, und mehr war den Leuten nicht aufzudringen. Sie hatten mir gar zu eſſen und zu trinken auf den Weg gege - ben, ohne daß ich’s wußte. Mein Gott, was giebt es doch fuͤr gute Menſchen in der Welt! Dieſe Guͤte bewegte mich bis zu Thraͤ -409 Thraͤnen, die, Gott ſey geprieſen, ſogleich da ſind, und mir ſehr treue und gute Dien - ſte thun.

Der Prediger in L , wahrlich ein Mann, der nicht blos betete, ſondern auch arbeitete, der nicht blos lehrte, ſondern auch gab, kam eben von der Erfuͤllung des lezten Willens des Seligen! Es hatte der Verſtorbene verord - net, da er keine Erben hatte, daß ſein ganzer Nachlaß an das Hoſpital und die Hausarmen gegeben werden ſolte. Der gute Prediger hatt alle die frohen Zuͤge der Armen in ſeinem Ge - ſicht, die er veranlaſſet hatte, und ſo kam er ins Trauerhauß. Einen Tag eher, und Mine haͤtte fuͤr die bewuſten Armen in Mitau Anſpruch auf dieſen lezten Willen machen koͤn - nen! Es war ſeit undenklichen Jahren keine Nachricht von ihnen in L eingelaufen, und der Selige glaubte, ſie ſchon alle da zu fin - den, wo er hingieng.

Auch ich Hoſpitalitin, ſchreibt Mine, haͤtt ein Recht an dieſer Austheilung gehabt, ich pruͤfte mich vor Gott, ob ich es einem beneidete? auch der es weniger, wie ich, noͤthig hatte; allein ich beſtand in der Wahr - heit. Mein Lieber! ich bin verlaſſen; allein Gott weiß, dieſer Gedanke koſter mirC c 5keinen410 keinen bittern Augenblick. Keinen ein - zigen iſt der verlaſſen, der auf Gottes We - gen geht! Wenn mir einfaͤlt, wo Brod in der Wuͤſten? bild ich mir ein, wenn ich kein Brod habe, werd ich auch keinen Hunger haben, und das iſt jetzt mein unaufhoͤrliches Denken, ſo lang ich bey der Leiche bin und denn noch ein großer uͤber alle maaßen wichtiger Gedank iſt mein: bald wird mich gar nicht mehr hungern und duͤrſten und nicht mehr auf mich fallen Froͤſte des Schrecks, und keine Flamme der Anfechtung mich mehr ergreifen. Ich fuͤhl es, Gelieb - ter, innerlich, obgleich mir aͤußerlich nichts anzuſehen iſt, es werde bald Amen mit mir ſeyn. Glaub mir, ich bin mehr dort, wie hier; ich ſehne mich nach meiner rech - ten Behauſung! denn kann ich nicht mit Wahrheit ſagen: Ich habe hier keine blei - bende Statt gefunden, ſondern die zukuͤnf - tige ſuch ich. Bald! bald! wird man einen Todten heraustragen. Was ſolt ich mich alſo graͤmen, und wider Gott mur - ren, der den Himmel ausbreitete und die Erde gruͤndete, und ſo groß er iſt, doch auch meinen Schmerz wog, warum ſolt ich mur - ren, und uͤber die klagen, die den Nach - laß411 laß meines Verwandten in Empfang ge - nommen. Da ich den Herrn ſucht, ant - wortete er mir, und errettete mich aus aller meiner Furcht. Er ließ mein Angeſicht nicht zu Schanden werden, da mich v. E. und ſein Bothſchafter ſahen. Ich Elende rief, und es hoͤrte mich der Herr, und half mir aus allen meinen Noͤthen. Der Engel des Herrn lagerte ſich um mich her, und ſchlug mit Blindheit, die mich greifen wol - ten! Du kannſt nicht glauben, Gelieb - ter, wie froh ich bin! Froh bey einem Tod - ten! Er iſt entgangen, ich werd auch entgehen. Von ganzer Seel empfind ich die Worte: der Menſch lebt nicht vom Brod allein! Ich habe ſo wenig Hunger, daß ich noch drey Tag ohne Eſſen und Trinken bleiben koͤnnte. Ich ſchmecke und ſehe, wie freundlich der Herr iſt, wohl dem, der auf ihn trauet!

Der Pfarrer in L fand Minen ver - ehrungswuͤrdig. Er ſah ihr an, was ſie war. Er war mit einem geſtaͤrkten Auge zu ihr gekommen. Mit einem Anſtande, frey wie die Tugend, erzaͤhlt ihm dies lie - benswuͤrdige friſch und muntere Maͤdchen einen Theil der Geſchicht ihrer Reiſe. Esbluͤhte,412bluͤhte, wie eine Roſe; allein es fiel auch ſo hin, wie ſie. Indem ſie mit dem Prediger ſprach, ſank ſie zur Erde. Vielleicht daß ſie der Theil der Geſchichte, den ſie zu - ruͤck behielt, ſo angrif, vielleicht daß die Krankheit, wie es oͤfters geſchieht, den Ru - hepunkt, den ſie abgewartet hatte, eben jetzt erreichet, um auszubrechen.

Mine bemerkte zwar, daß die Erſchei - nung des Herrn v. E. und ſeines Geſandten ihr ganzes Weſen bebend gemacht, und daß dieſer Schreck ſie mehr angegriffen, als alles indeſſen half ſie ſich wieder auf. Jetzt aber war ihr Stuͤndlein vorhanden. Sie konnte nicht mehr. Sie ſank! O Gott! ſie ſank! Es iſt, glaubt mir, lieben Freunde, mit Leben und Tod eine beſondere Sache. Der Menſch bringt zwar die Urſa - che ſeines Todes mit auf die Welt. Er ſtirbt an ſeiner Geburt; allein man koͤnnte behaup - ten, daß der Tod immer, wie ein Dieb in der Nacht, immer wie ein Blitz, komme, und daß man in gewiſſer Art jederzeit, und auch als denn noch ploͤtzlich ſterbe, wenn man gleich an einer Lungenkrankheit ſtirbt. Der Eintritt dieſer Krankheit iſt als denn der ploͤzliche Tod, und ſobald dieſe Sterbenskrankheit eingetre -ten,413ten, ſagt, leben wir wohl mehr? wir hoffen doch? Wir zweifeln, wilſt du ſagen, und das iſt wahrlich kein ſo gluͤcklicher Zu - ſtand! Ein Hektikus, der in der Lebenshof - nung, wie man ſagt, am ſtaͤrkſten ſeyn ſolt, iſt er nicht ſchon immer todt? wenn gleich er dem Arzt entgegen huſtet heut befind ich mich ſo leidlich! Was er nicht weiß, iſt der Augenblick, da ihn die Welt todt nennt. Eigentlich iſt er ſchon verſchieden. Was duͤnkt dich,

friſcher Juͤngling, dich, bluͤhendes Maͤdchen, was duͤnkt euch, die ihr dieſes leſet? Wenn euch beim Worte: ſie ſank ein Schau - der durchs Herz fuhr! denkt dran! ſo wird auch euer Tod kommen, ſo wird er eintreten. Darum wachet, wacht, jedes, ſo dieſes Blatt lieſet, alt und jung! Ich beſchwoͤr Euch alle bey dem Gott, der an den Tag bringen wird, was im Dunkeln geſchah, und der den Rath der Herzen offenbaren kann, ich beſchwoͤr je - des, ſo dieſes Blatt lieſet, heute! heute! heute! eine gute Handlung im Stillen zu thun: dieſe Handlung, wenn es moͤglich iſt, vor ſich ſelbſt zu verbergen damit ſie im Sterben euch Luft zuwehe! Heute Freunde! heute folget mir heute noch!

Der414

Der Selige war ein großer Liebhaber vom Voͤgelſang. Da er nicht mehr aus - gehen, und ihn im Freyen hoͤren konnte, hatt er verſchiedene von dieſen Saͤngern im Zim - mer. Ihr Geſang ſoll mich auch im Ster - ben nicht ſtoͤren, pflegt er zu ſagen. Es iſt der Ausbruch der Freud und der Unſchuld, es ſind gluͤckliche Geſchoͤpfchen. Seine lezte Verfuͤgung war: ſeine Voͤgel nach ſeinem Tod ins Freye zu laſſen. Zuweilen wuͤnſcht ich, hatt er hinzugefuͤgt, daß ich ihnen et - was im Teſtament legiren koͤnnte allein was wuͤrd ihnen ein Legat gegen die weit und breite Welt ſeyn, die ihnen eignet und gebuͤh - ret. Mine war bey der Erfuͤllung dieſes lez - ten Willens, den der gute Pfarrer mit ſehr vieler Empfindung befolgte. Nach den er - ſten Begruͤßungen an Minen war dies ſein Geſchaͤfte. Sie brauchen kein Legat, ſagte der Prediger, dieſe Weltbuͤrger. Auf jedem Aeſtchen iſt ihr Bette gemacht. Gott ſey mit euch, fuͤgt er hinzu, und ließ die Voͤgel flie - gen.

Mine ſank der gute Prediger ermun - terte ſie; allein er ſahe, daß ihr das Herz gebrochen war Sie war nicht mehr! Sie haben mich ſterben geſehen, ſagte ſie zumPfar -415Pfarrer. Das hab ich, erwiederte er. Der Bote des Friedens ließ ſie nicht von ſeiner Hand, und bat ſie, mit ihm zu kommen. Dieſes nahm ſie als Gottes Einladung an, und dankt ihm herzlich fuͤr das Aeſtchen, das er ihr anbot. Mine war ſo ſchwach, daß ſie ſich gleich ins Bette legen mußte, ſo bald ſie zum Prediger kam.

Laßt mich kurz ſeyn, liebe Leſer, ihr koͤnnt fuͤhlen, nicht wahr? ihr koͤnnt es wie mir iſt. Wenigſtens hier und dort und da. Laßt mich abbrechen, und leſet mehr als da ſteht.

Die Dulderin konnte ſelbſt ihren Ver - wandten nur durchs Fenſter begraben ſehen. Da man ihn einſenkte, ſank ſie ohnmaͤchtig hin, und mußt ins Bett getragen werden. Sie ſagte, da ſie wieder zu ſich ſelber kam, es waͤr ihr im ſanften Schlummer ſo vor - gekommen, als truͤge man ſie ſelbſt ins Grab. Sie war zuweilen ſehr unruhig, und blieb es ſo lange, bis ſie dem rechtſchaffenen Geiſtlichen ihren ganzen Lebenslauf gebeichtet, und ihr ſchwer beladenes Herz gelichtet hatte. Der redliche Mann ſtaͤrkt und troͤſtete ſie! Er billigte dieſe ſo engelreine Liebe, die Lilien - keuſche Liebe, wie er ſie zu nennen die Guͤtehatte416hatte und, was man Minen an ihren gebrochenen Augen anſehen konnte, war da.

Die Abſolution des guten Predigers machte Minen munter. Dies kann man auch bey einer großen Krankheit ſeyn. Man ſahe, daß ihr Geiſt heiter war, und nicht zu ſeyn aufhoͤren wuͤrde, wenn gleich der Koͤrper dahin fiele. Er war ſo ſehr dem Koͤrper uͤberlegen, daß der Prediger mich verſicherte, dies waͤre ſein Beweiß von der Unſterblichkeit. Oft, ſagt er, hab ich dies gefunden, und noch oͤfter haͤtt ichs finden koͤnnen, wenn nicht die meiſten Seelen im Concurs ſtuͤrben! und von ſo vielen Schuld - nern uͤberlaufen wuͤrden, die ſie nicht befrie - digt, ſo lange ſie mit ihnen auf dem Wege dieſer Welt waren.

Mine wollte die Communion, und zwar in der Gemeine empfangen. Ich werde, ſagte ſie, drinn ſchmecken und ſehen, wie freundlich der Herr iſt, und wie wohl denen auch dort ſeyn wird, die auf ihn trauen, ich werd einen Vorſchmack drin von dem himmliſchen Manna finden. Der Predi - ger ſetzte hiezu einen Tag an, und ſie em - pfieng die Communion mit zwoͤlf Perſonen in ihrem Zimmer. Dieſe Zahl kam ganzvon417von ungefehr; indeſſen fiel ſie Minen ſehr auf! Gott laß doch keinen Verraͤther unter dieſen zwoͤlfen ſeyn! Mine gab jedem von ihrer geiſtlichen Tiſchgeſellſchaft die Hand. Wir ſehen uns wieder, ſagte ſie. Die Dank - ſagung, welche der Prediger aus der Agende nach der Communion las, ſprach Mine laut und mit Seelenwonne mit. Die Tochter des Predigers, ein Maͤdchen von neunzehn Jahren, wollte durchaus ſterben, da ſie Mi - nen ſo ſterben ſah. Sie war immer um und bey ihr. Mine bat den Prediger nicht, mit ihr zu beten. Dazu hatte ſie keinen Geiſtlichen noͤthig, obgleich ſie den Prediger ſehr gern um ſich hatte. Sie ſprach beſtaͤn - dig mit ihm von Sterbenden, die er zum Tode vorbereitet hatte, und freute ſich, wenn ſie von Leuten hoͤrte, die freudig aus dieſer Welt gegangen, und deren Seelen ſo ſtark geweſen, daß man ihnen die Vollendung an - geſehen. So was, ſagte der Prediger, uͤberzeugt. Man ſteht in gewiſſer Art Gei - ſter und ſo, wie ſie ſich aus dem Koͤrper herausſchlauben, ſo werden ſie ſich auch zu ſeiner Zeit beym Weltgericht aus dem Stau - be machen. Wenn Minchen allein war, gieng ſie im beſondern Sinn mit Gott um. Zweiter Th. D dVon418Von langen Gebeten hielt ſie nicht auch in geſunden Tagen nicht. Sie war das ſah man, das hoͤrte man, ihrer Sache gewiß. Sie war im Himmel bekannt. Ich habe dort eine Mutter, die mir gewiß ent gegen kommen wird, pflegte ſie zu ſagen, und dann wieder, ich behalte denſelben Gott in Curland, in Preußen, im Himmel! Ich veraͤndere nicht den Beherrſcher, ſondern nur den Ort. Ich zieh aus einer Provinz Got - tes in die andere. Hier wohn ich zu Miethe, und dort werd ich Eigenthuͤmer ſeyn. Es war ruͤhrend, ſie ſterben zu hoͤren! ſie ſterben zu ſehen!

(O Gott, lehre mich bedenken, daß ich ſterben werde, daß mein Leben ein Ziel habe! daß ich davon muͤſſe! lehr es jedem, der dies ließt!)

Auf einmal fiel es Minchen ein, mich noch zu ſehen. Da ſie gewiß zu ſterben ge - dachte, ſprach ſie von unſerer Verbindung mit ſo wenigem Ruͤckhalt, daß ſie mich ge - gen den Prediger ihren Mann hieß. Der Prediger ſprach auch von uns, wie von Ver - lobten. Gretchen, die Tochter des Predi - gers, wußt einen großen Theil von meiner Geſchichte; nur gegen die Predigerin war manruͤck -419ruͤckhaltend. Man ließ ſie ſelbſt ſelten zu Minen, obgleich ſie ſich recht nach ihr ſehn - te. Sie neigte ſich ſehr zur Schwermuth, und man mußt alles entfernen, was dieſem Tem - peramente Nahrung gab. Bei ihren letzten Wochen war einer von den drey Lindenbaͤu - men, die vor dem Paſtorhauſe ſtanden, aus - gegangen; dies hatte ſie ſich ſo zu Gemuͤthe gezogen, daß vorzuͤglich jeder Lindenbaum ſie gleich zum Tiefſinn brachte. Wenn die Linden bluͤheten, war ſie immer in Thraͤnen. Die gemeinen Leute nannten es eine Linden - krankheit. Sie fanden indeſſen auch in an - dern Vorfaͤllen Anlaͤſſe zur Traurigkeit, und Nahrung fuͤr ihre Schwermuth. Die gute Paſtorin hatte ſich eingebildet, daß der Lin - denbaum vor dem Paſtorat, da er in ihrem Geburtsjahre gepflanzet worden, jetzo ihren Tod ankuͤndige, und ihr Vorlaͤufer, ihr Jo - hannes, ſeyn wuͤrde. Gewiß hat dieſer Baum ihr Leben mitgenommen! Sie weint, oft am heiterſten Tage. Der arme Prediger, welcher anfangs alle Mittel ange - wendet hatte, dieſe Krankheit zu heilen, ſahe wohl ein, daß ſie nicht heilbar waͤre.

Oft mußt er ihr ſogar die Bibel wegneh - men. Sie war nicht aus den KlagliedernD d 2Jere -420Jeremiaͤ, den ſieben Bußpſalmen, und der Offenbarung Johannis herauszubringen und im Geſangbuch waren die Todten - und die Abendlieder ihre Sache. So komm doch auf einen gruͤnen Fleck! ſagte der Kreuz - tragende Prediger; allein ſie blieb wo ſie war. Sie ſah in jedem Gruͤn die Linde vor ih - rem Hauſe. Es war dieſem Baum ſein Taufatteſt, ſein Pflanzjahr, eingeſchnitten, und alſo wußte ſie gewiß, daß ſie eines Jahrs Kinder waren. Zuweilen kam die Schwer - muth der Frau Predigerin bis zu Ausbruͤ - chen. Dann waren ihre Begriffe alle durch - einander.

Was meynen Sie, lieber Paſtor, ſagte Mine, ſoll ich ihn noch ſehen? Ihre Gruͤn - de hatte ſie jetzt all aufgegeben. Der Prediger war fuͤr; der Arzt wider. Es war betruͤbt anzuſehen. Sie wollte mit ihrem Arzt druͤ - ber ſprechen; allein das konnte ſie nicht. Sie hatte kein Wort unmittelbar mit ihm gewech - ſelt. Er war ſehr harthoͤrig und eines der Hauptuͤbel, die ſich bey Minen aͤußer - ten, war kurzer Othem und Bruſtſchwach - heit. Da man dem Arzt Minens Wuͤnſche ins Ohr ſchrie; widerrieth er. Nichts, ſetzt er hinzu, was ſie angreift! Der erſte Blick ih -res421Freundes wuͤrd ihr letzter ſeyn. Die ge - ringſte Spannung wuͤrd ihre Nerven in Stuͤ - cken reiſſen.

Mine war es zufrieden, oder mußt es zufrieden ſeyn, da der Prediger dem Arzt beytrat. Sie erholte ſich, allein nicht zum Leben, ſondern zum Tode, wie ſie ſelbſt be - merkte; indeſſen dankte ſie ihrem Arzt mit einem Haͤndedruck! Zuweilen ſtand ſie auf, ſahe nach dem Grabe ihres letzten Verwand - ten, ließ ſich von fern die Graͤber der Frauen dieſes friſch begrabenen, und ihrer Kinder zeigen. Sie waren alle mit einer kleinen in die Hoͤhe ſtehenden Tafel bezeichnet, worauf ein Spruch ſtand. Die Tochter des Predi - gers mußte ſie leſen gehen, und ſie Minen erzaͤhlen das Auge reichte nicht ſo weit.

Auf ſeiner Tafel ſtanden die Worte, Da - niel 12. v. 13. Du aber, Daniel, gehe hin, bis das Ende kommt, und ruhe, daß du aufſteheſt in deinem Theil, am Ende der Tage. Er hieß Daniel.

Auf der Tafel ſeiner Frauen, Hiob 7. v. 2, 3. Wie der Knecht ſich ſehnet nach dem Schatten, und ein Tagloͤhner, daß ſeineD d 3Arbeit422Arbeit aus ſey; alſo ſind mir elender Naͤchte viel worden.

Auf dem Grabe der Tochter, Buch der Weisheit 3. v. 1. Der Gerechten Seelen ſind in Gottes Hand, und keine Quaal ruͤhret ſie an.

Auf dem Grabe des Sohnes, 2 Samu - el, 12. v. 23. Ich werde wohl zu ihm fahren. Er kommt aber nicht zu mir.

Mine eignete ſich dieſe Denkſpruͤche zu. Es war ihr Stammbuch, und jedes Grab brachte ſie auf das Grab ihrer Mutter. Oft machte ſie die Augen dicht zu, um, wie ſie ſagte, mit ihrer Seel in naͤhere Bekannt - ſchaft zu treten, und zu verſuchen, wie es ihr nach dem Tode ſeyn wuͤrde. Zuweilen ſaß ich ſchon, ſo fuhr ſie fort, wie ich noch lebte, wenn ich mich ſehen wollte, ich macht eine Schlafende, um deſto beſſer uͤber die Fra - gen: wo kommſt du her? wo wilſt du hin? Auskunft zu finden. Ich kehrte mein Aug in mich, und ab von der Welt, und von dem was in der Welt iſt. Da ließ ich mich denn nicht aus den Augen, ich konnte mir ſelbſt nicht entlaufen, und welche ſelige Stunden hab ich auf dieſe Art zugebracht! Jetzt423Jetzt uͤb ich mich auf gleiche Weiſe zu ſterben. Sie pflegte zu Gretchen, des Pfarrers Tochter, zu ſagen, da war ich uͤber drey Stunden zur Probe todt.

Es war den ein Tag, da ſie ſehr munter war, und da ſie zu Gretchen ſich ausließ: mich duͤnkt, liebe Freundin, es geht mir, wie dem Koͤnige Hiskias. Ich hoͤrte die Stimme: beſchicke dein Haus, denn du wirſt ſterben, und nicht leben bleiben, und nun geht der Schatten hinter ſich zuruͤck, zehn Stufen am Zeiger Ahas, die er war niederwaͤrts gegangen. Mine wollte nicht fuͤr ſich, ſondern fuͤr mich leben. Mine und Grete waren dieſen Morgen froh mit einander; allein wahrlich eine kurze Freude! Denn Mine und das ganze Haus, hatte einen Schreck, der Minen auch den letzten Herzensreſt gab.

Um die Sache in ihrem Zuſammenhange zu zeigen, muͤſſen wir aus dieſen Vorhoͤfen des Himmels in die arge boͤſe Welt zuruͤck.

Alle Boten zu fahren, zu reiten, und zu Fuß, die Herr v. E. ausgeſandt hatte, kamen ohne Minen zuruͤck; allein nicht oh - ne Spuren, welchen Weg ſie genommen. Es war voͤllig klar und deutlich ausgemittelt,D d 4daß424daß ſie in L bei ihren Verwandten ſich aufhielte. Herrmann, wie es ſich von ſelbſt verſteht, hatte zu dieſer Klarheit und Deut - lichkeit einen Familienbeytrag geliefert. Er ſtand als ein Gefaͤngnißwaͤrter, der eine Staatsverbrecherin entfliehen laſſen: indeſſen begegnet ihm Herr v. E., der zu ſeinen Abſichten noch auf Herrmann mehr als einen Anſchlag in petto hatte, leidlich das heißt, er ſchlug ihm nicht vorm Hals, er ſpie ihm nicht ins Geſicht, er hob ſeinen Fuß nicht auf wider ihn.

Was iſt zu thun? frug Herr v. E. das ganze Hauß, und niemand wußte, was zu thun waͤre. Endlich fiel es ihm ein, ein Gutachten von ein Paar Rechtsgelehrten, die ihren Schnitt verſtanden, vor Geld und gute Wort einzuziehen. Dieſen Zween ward noch einer zugeſelt, um die Sache von allen Enden zu faſſen. Herr v. E. dirigirte. Die preußiſche Staaten hat uns der Teufel zur Nachbarſchaft zugemeſſen, ſagte Herr v. E. Aus der Hoͤll iſt keine Erloͤſung, ſetzt einer von den Dreyen hinzu.

Das conſilium juridicum eroͤfnete ſeine Seßion. Herrmann war Beyſitzer. Die Sache mußt in hoͤchſter Eil getrieben wer -den.425den. Einer der Rechtsgelehrten, der, wie er ſelbſt zu bemerken die Ehre hatte, ſich in allen Faͤllen am Kopf zu halten gewohnt ſey, ſchlug vor, an den Koͤnig ſelbſt zu ſchreiben. Er iſt das in Preußen, was Ew. Hochwohl - gebohrnen auf ihren Guͤtern ſind, ſetzte Herrmann hinzu. Herr v. E. war fuͤr die - ſes Compliment in hoͤchſten Gnaden dem Herrmann wohl beygethan. Die andern zwey Rechtsgelehrten, die ſich nicht ſo ſehr am Kopf zu halten gewohnt waren, brach - ten ein Anſchreiben an die Landesregierung in Koͤnigsberg in Vorſchlag, mit welcher die kurſche Regierung in freundnachbarlichem Vernehmen, wie ſie nach der Liebe hoften, ſtuͤnde. Dieſes Votum gieng durch. Der Thron bleibt uns ſagten ſie alle, bis auf den Kopfhalter. Wenn Ew. Hochwohl - gebohrnen, fieng derſelbe, oder Herr α, (ich will die drey Rechtsgelehrten mit ihrer Er - laubniß α. β. γ. nennen,) nach einer Weil an, nur innerhalb vier und zwanzig Stun - den von ihrer Flucht Nachricht eingezogen

Wenn, ſagte Herr β?

und wenn, Herr γ?

Der Edelmann hat in Curland das Recht, wenn ihm ſein Unterthan entlaͤuft, ihn inner -D d 5halb426halb vier und zwanzig Stunden zu nehmen, wo er ihn findet, und Hand an ihn zu legen, auf jeglichem Boden. Nach der Zeit wird der Unterthan gerichtlich gefordert; doch wird ſtehendes Fußes obtorto collo verfahren, und gehts hiebey eins, zwey, drey; wie denn das Recht der Wiederforderung, obſchon der Menſchen Leben ſiebenzig und, wenns hoch kommt, achtzig waͤhret, allererſt in hundert Jahren verjaͤhret.

Das Hochweiſe Conſilium ſahe Minen als eine Unterthanin des Herrn v. E. an, und niemanden fiel ein Wort zum Widerſpruch ein. Der Litteratus Herrmann, pro tem - pore Aſſeſſor, wolte allein konnt er? Man diſputirte ins Kreuz und in die Quere. Herr α, der ſich gewoͤhnlich am Kopf hielt, und der ſich das Anſehn gab, als ſaͤß er unter einem Baldachin, und einer von ſei - nen Collegen ihm zur Rechten, und der an - dere ihm zur Linken, ſchuͤttete ſo viel Gelehr - ſamkeit uͤber die Ruͤckforderung der Untertha - nin aus, daß die Staͤdte bey dieſer Gelegen - heit uͤbel wegkamen, wie gewoͤhnlich in Cur - land.

Herr β nahm ſich der Staͤdt an; in - deſſen ſah man nach vielen Streifereyen inan -427andere, wiewohl mit der gegenwaͤrtigen ver ſchwaͤgerte Materien, wie Herr α ſich aus - druͤckte, ein, daß die Staͤdte in Curland gar nicht zum Gutachten gehoͤrten, indem von Preußen die Rede ſey.

Ich beſitze eine Abſchrift des bey dieſem Blutgerichte gefuͤhrten Protokols. Herr α brachte, des Kopfs wegen, in Vorſchlag, daß das Pro und Contra bey dieſer Sache genau verzeichnet werden moͤchte, und eben dieſer Vorſchlag des Herrn α wuͤrde mich in Stand ſetzen eben ſo ganz, als ich dieſe Verhandlung empfangen habe, ſie meinen Leſern mitzutheilen; wenn das meiſt in die - ſem Protocol nicht Dinge waͤren, die ganz und gar keine Beziehung auf den gegenwaͤr - tigen Fall haben. Juriſtiſche Hobelſpaͤne. Wozu die kunſterfahrnen Einſchaltungen: wie es mit dem Großherzogthum Litthauen und mit Liefland ehemals in dergleichen Angele - genheiten gehalten worden? und jetzt gehal - ten werde? welches der Protokolliſt alles ge - treulich und ſonder Gefaͤhrde mit einverzeich - net. Der gelehrte α hatt ihm befohlen, nichts auf die Erde fallen zu laſſen, was ſie quirlen und nach Beſchaffenheit kochen wuͤr - den, und dies war die Urſache, warum derPro -428Protokolliſt ganz fremden zur Sache nicht zweckenden Materien, das Gaſtrecht in ſei - nem Protokol angedeihen ließ. Herr (ſo hieß der Protokolliſt,) war damals ein jun - ger Menſch, der durch dieſe Proben wie Gold gelaͤutert und bewaͤhret werden ſolte, und iſt jetzt mein Rechtsfreund. Auſſer den Protokollen hab ich viel von ihm muͤnd - lich. Aus allem nur ein Extrakt.

Es ward ein Geſuch beliebet, Kraft deſ - ſen Mine als eine Unterthanin vindiciret wer - den ſollte. Auf einmal fiel es dem ganzen Concilio, wie es ſagte, zum Gluͤck ein, daß die Sach ob und in wie weit Mine wuͤrk - lich Unterthanin ſey? ſehr leicht zur naͤhern Unterſuchung in Preußen fortgeſetzt werden koͤnnte, wenn man ſie (und was iſt gewiſſer?) in Preußen uͤber ihren Statum befragen wuͤrde. Ey denn, ſagte Herr α, ey denn β, ey denn γ, und ey denn der Beyſitzer dieſes Conſili - ums, der ſich herzlich freute, daß ſeine Tochter ohne ſein Zuthun emancipirt war.

Herr α wuͤnſchte, ſeinen Gedanken, de - nen er ob periculum in mora Zaum und Ge - biß anlegen mußte, freien Lauf laſſen zu koͤnnen. In obſcuro libertas praevalet 15. ff. de429de fideic. libert. und fauor libertatis ſaepe benigniores ſententias exprimit. 1. 32. in f. ff. ad L. Falcid. Er war im Begrif, noch mehr fuͤr die Ehre der Freyheit anzufuͤhren, wovon ein rechtskraͤftiges oder rechtsgeſtaͤrk - tes Auge, auch ſelbſt im monarchiſchen und ſeinem Grenznachbar, im deſpotiſchen Staat ſchoͤne Ruinen finden wuͤrde; allein Herr v. E. als Praͤſident dieſes Collegiums, bat, weil es ein agoniſirender Fall waͤre, um ein ge - ſchwindes Recept welches Herr β und Herr γ, die dem gelehrten Herrn α nicht gleich thun konnten, auch ſehr nothwendig fanden. Der voͤllige Abſchluß war folgendes Geſuch, das in Pleno bis auf die letzten Kleinigkeiten, ins Unreine und ins Reine ge - bracht ward:

Durchlauchtigſter Herzog, Gnaͤdigſter Fuͤrſt und Herr,

Das Ableben meines Vaters legte mei - ner Mutter, der v. E. gebohrnen v. R. die Verbindlichkeit auf, die Sorge fuͤr ſeine betraͤchtliche Guͤter eine geraume Zeit zu uͤbernehmen; denn meine auswaͤrtige Ver - bindungen ließen mich nicht eher als jetzo den Wuͤnſchen meines Herzens genuͤgen, ummein430mein Vaterland wieder zu ſehen, das ich auch ſelbſt auf allen meinen Reiſen nicht ver - laſſen hatte. Wie gluͤcklich duͤnkte ich mich zu erfahren, daß Curland als frey und ge - recht weit und breit bekannt iſt. Dieſe große Eigenſchaften meines Vaterlandes nehm ich bey einem Vorfall in Anſpruch, der, ſo klein er beim erſten Ueberblick anſcheinet, ins Große uͤbergehen koͤnnte. Meine Mutter, ich muß es ohne Ruͤckhalt geſtehen, hatte durch ihre Gelindigkeit die den Guͤtern Ange - hoͤrige von genauer Erfuͤllung ihrer Pflichten abgebracht, anſtatt daß dieſe meiner Mut - ter eigene Denkungsart ihr die Herzen aller Unterthanen zuziehen ſollte. Beſonders gab eine gewiſſe Wilhelmine durch un - ertraͤglichen Stolz und Ungehorſam ein ſo ſchlechtes Beyſpiel, daß da meine Ermahnun - gen nichts bewuͤrkten, ich ihr drohen mußte. Dieſe wohlgemeinte Bedrohung, die in den Grenzen der Worte blieb, und gewiß nicht anders, als im hoͤchſten Nothfall, weiter herausgeruͤckt ſeyn wuͤrde, brachte die beſagte Perſon ſo ſehr aus allen Schranken des Ge - horſams und der Verbindlichkeit, daß ſie es fuͤr gut fand, fluͤchtigen Fuß zu ſetzen, und ein hoͤchſinachtheiliges Exempel zuruͤck zu laſ -ſen.431ſen. Hiebey blieb es nicht, ſondern es leh - ret die Anlage, daß beſagte Wilhelmine noch mehr Pflichten durch eben dieſen Austritt ver - letzet, indem ſie diebiſcher Weiſe verſchiedene Sachen an ſich gebracht, welche ſie theils verkaufet, theils leibhaftig, oder in natura mitgenommen.

Das Corpus Delicti bey dieſem Diebſtal iſt wohl ganz unſtrittig bewieſen, da wegen der geſchehenen Entwendung und der dabey beabſichtigten Gewinnſucht alles entſchieden iſt; die kuͤnftige mit der Laͤuflingin zuhal - tende Unterſuchung wird die Groͤße des Dieb - ſtahls noch genauer begraͤnzen, indem vor der Hand nur ohne alle Nebenruͤckſichten die Frage ſeyn kann: ob Wilhelmine eine Diebin ſey? Die Flucht der beſagten Perſon wuͤrde dem angeſchloſſenen Protokol noch einen Grad der Gewißheit ertheilen, wenn noch mehr Gewißheit erforderlich waͤre, und die Sache nicht ſchon an ſich da und offen laͤge. Denn was iſt auffallender, als daß Wilhelmine welche wenige Tage, nachdem ſie die Sachen verkaufet, entſprun - gen, blos aus Furcht vor der Strafe ſich ent - fernet, zu dieſem Behuf abgelegene Straßen geſucht, und den Weg nach Preußen genom -men?432men? Der Umſtand, daß ihr Begleiter ſo - gar den Martin Jakob Kegler moͤrderiſcher Weiſ ums Leben bringen wollen, erſchwert ihr Verbrechen ſo ungemein, daß man die Tuͤcke des Herzens dieſer Ungluͤcklichen im ganzen heßlichen Umfang erblickt. Ein wohl - gefuͤhrtes Leben iſt fuͤr die Unſchuld ein alles uͤberredender Vertheidigungsgrund, und wenn ſelbſt nach einem, viele Jahre her ge - fuͤhrten guten Lebenswandel, jemand wegen eines Verbrechens in Anſpruch genommen wird, iſt und bleibt der vorige gute Lebens - wandel ein unbezweifelter Linderungsgrund.

Ludovici de praeſumt: bonitat:)

Wenn aber der Lebenslauf des Bezuͤchtig - ten wider ihn das Wort nimmt, und eine Kette von ſchlechten Aeußerungen iſt, kann da ein An - und Sachwald eine Vertheidigung, ich will nicht ſagen unternehmen, ſondern auch ſelbſt wagen? Wilhelmine iſt eine ſo bos - hafte Perſon, daß ſie mit der Beſſerungs - ausſicht praͤcludirt zu ſeyn ſcheint. Es ſind ſelbſt ſchwerlich, wenn ich mich hier dieſes Ausdrucks bedienen darf, gute Stunden, hei - tere Abwechſelungen, dilucida interualla, von ihr zu erwarten. Damit ich indeſſen Ew. Durchlauchten nicht zu beſchwerlich werde;ſo433ſo ſey es mir erlaubt, meinem eigentlichen Geſuch naͤher zu treten. Es iſt die mehr beſagte Wilhelmine nach Preußen ge - fluͤchtet, und haͤlt ſich in L im ſchem bey ihren Anverwandten Namens auf. Ech erſuch alſo Ew. Hochfuͤrſt. Durchl. unterthaͤnigſt gehorſamſt, die preußiſche Lan - desregierung zur Noth und Rechtshuͤlfe zu erſuchen: beſagte Wilhelmine nach Sicht dieſes nachbarlichen Requiſitorial-An - ſchreibens dingfeſt zu machen und unter Bedeckung bis an die Grenzſtadt Memel ge - faͤlligſt auszuliefern, wo ich ſie entgegen zu nehmen und wegen des Gewahrſams die er - forderlichen Einrichtungen zu treffen nicht er - mangeln werde.

Dieſes Geſuch bedarf keiner Unterſtuͤtzung in Ruͤckſicht der preußiſchen Regierung,

denn obgleich, wie es die Archive nach - weiſen, in aͤltern Zeiten Bauerforderungen zwiſchen Preußen und Curland vorgefallen; ſo iſt doch nach der Zeit keine Nachfrage weiter deshalb vorgefallen. Der Curſche Land - tags-Abſchied von 1624. ſetzet in §. 23 feſt: Wir wollen auch alle fremde Bauren ausantworten, welches eine edle Rit -Zweiter Th. E e ter -434 ter - und Landſchaft ebenmaͤßig zu thun verbunden, ausgenommen welche uͤber dreißig Jahr nicht abgefordert und verjaͤhret worden und ſo wie ich Ew. Durchlauchten tiefunter - thaͤnigſt anflehe, dieſe Stelle mit der Urſchrift gegen einander halten und als ſtimmig verge - wiſſern und atteſtiren zu laſſen; ſo werden Ew. Durchlauchten auch der koͤniglichen Lan - des-Regierung in Koͤnigsberg die Verſiche - rung, wenn ſie erforderlich waͤre, ertheilen, daß nach dieſem Abſchiede verfahren, und vorzuͤglich die preußiſchen Laͤufer ohne Anſtand ausgeliefert worden, wovon ſowohl der Stadt Memel, als dem Koͤniglichen Amte Althof Memel, Beyſpiele bekannt ſeyn werden. Die Seltenheit der Faͤlle entſcheidet nichts zu mei - nem und zu Curlands Nachtheil: denn die preußiſchen Grenzen ſind beſetzt, und ſo ge - ſchloſſen, daß ſelten ein Laͤufling ſich durchzu - dringen Gelegenheit findet.

Wenn dieſe Auslieferung indeſſen ſchon bey Bauren von curſcher Seits beobachtet wird; ſo werd ich um ſo mehr bey einer Die - bin, Stoͤrerin der allgemeinen Ruhe, ja ſelbſt einer Mordanfuͤhrerin auf dieſe Rechtshuͤlfe Anſpruch machen koͤnnen.

Es435

Es iſt eine Sache der Menſchheit, der - gleichen Verbrechen zu ſtrafen, und ohne mich in einen Streit einzulaſſen, was fuͤr ein fo - rum das vorzuͤglichſte ſey, ob das des delicti des domicilii, oder deprehenſionis, ſo iſt wohl offenbar, daß Preußen keines von allen dreyen iſt, ſondern allererſt durch das Ange - ſuch Ew. Durchlauchten bewogen wird, die Wilhelmine dingfeſt zu machen, ſo, daß alſo dieſe Deprehenſion Namens Ew. Durchlauchten geſchieht, und was iſt wohl angemeſſener, als da das Verbrechen zu un - terſuchen, wo es vollbracht worden? Hier bieten alle Umſtaͤnde dem Inquirenten die Hand, und wuͤrde man nicht ſelbſt dem End - zweck der Strafe entgegen handeln, wenn man an einem mit dem Verbrechen unbe - kannten Orte die Strafe vollziehen wollte? Bey dieſen ſehr auffallenden und in geſitteten Staaten allgemein beliebten Grundſaͤtzen bin ich der Erhoͤrung meines Geſuchs gewiß, und koͤnnte mit der vollkommenſten Zuverſicht ſchluͤßen, wenn ich nicht noch unterthaͤnigſt gehorſamſt bemerken muͤſte:

wie außer den bezeichneten Laſtern, die der Wilhelme natuͤrlich geworden, die Liebe zu Unrichtigkeiten mit gehoͤret, wel -E e 2che436che ohnehin beſtaͤndig, ſo wie mit allen Laſtern ſo vorzuͤglich mit der Dieberey, in Geſelſchaft zu treten pflegt. Wenn alſo ein Verhoͤr mit ihr veranlaſſet werden ſolte; ſo wuͤrd ihre Verſchlagenheit, die alle Geſtalten ſich zuzu - eignen verſteht, der Sache ganz andere Wen - dungen beylegen. Dieſes zwingt mich zu einer Beyſchrift meines unterthaͤnigen Geſuchs: die Koͤnigliche Preußiſche Landes-Regie - rung zu requiriren, die Wilhelmine ohne alle Weitlaͤuftigkeiten einzuzie - hen und zu transportiren.

Der Einfluß, den dieſer ins Publicum drin - gende Vorfall auf meine Guͤter hat, iſt un - ausſprechlich, und kann nur dadurch den Fremden, die unſre Landsart nicht kennen, be - greiflich gemacht werden, daß die Letten, ſo wie alle begraͤnzte eingeſchraͤnkte Menſchen, mehr nach Exempeln, als nach Grundſaͤtzen leben.

Damit allendlich wegen der Perſon der Wilhelmine keine Irrung entſte - he; iſt

ſelbige in Abſicht ihres Koͤrpers das Ge - gentheil von dem was man Gewoͤhnlich nennt, ihr Wuchs ſelbſt iſt zwey Finger breit uͤber das Gewoͤhnliche, den gang und gaͤben Wei - berwuchs. Sie hat nichts kleinigliches, undnichts437nichts kindiſches, ſondern graͤnzt ans maͤnn - liche; allein es iſt demunerachtet nichts maͤnn - lich an ihr. Sie iſt ſchlank, ſehr geſund, roth und weiß, hat ſchwarzes Tint, allein nicht Zigeuner Haar, große ſtimmige ſchwar - ze Augen, wo aber nichts gutes wohnt. In der Mund Gegend, die Zaͤhne nicht ausge - nommen, liegt Spott und Hohn. Ihre Sprache iſt klingend, ihr Gang kraͤftig und entſchieden. Sie ſieht mehrentheils aus, als ob ſie Kreuz truͤge; allein es iſt eine Heuch - lerin und Spitzbuͤbin von Hauß aus.

Die mir durch die Willfahrung meines auf Gleich und Recht ſich gruͤndenden Geſuchs zu erzeigende Landesvaͤterliche Huld, Gnade und Gerechtigkeit werd ich lebenslang vereh - ren und niemals aufhoͤren, mit ſo viel Ehr - furcht als Treue zu ſeyn

Ew. Hochfuͤrſtlichen Durchlaucht unterthaͤnigſt gehorſamſter v. E. Actum den

Des Herrn v. E. auf Hochwohlgebohr - nen erklaͤren, wie ſehr entfernt ſie waͤren, gleich bey dem Antritt der vaͤterlichen Erbguͤther, auch nur durch eine anſcheinende Haͤrte ſichE e 3die438die Zuneigung und Liebe ihrer Unterthanen zu entziehen, und ſtellen den leiblichen Vater der entlaufenen Wilhelminen vor Gericht, um wegen ihrer ſtrafbaren Auffuͤhrung gewiſ - ſenhafte Anzeige zu thun.

Es wird bemerkt, daß man den Vater, der Gewohnheit gemaͤß, zu ſeiner Anfrage rechtlich vorbereiten und mit einem Eyde be - legen wollen. Der Herr v. E. indeſſen bittet bei dieſer Gelegenheit, den ſo betruͤbten Va - ter, in ſo weit es rechtlich beſtehen koͤnnte, zu ſchonen. So viel faͤlt ſehr auf, daß ein leiblicher Vater das Verbrechen der Tochter nicht vergroͤßern werde, und wuͤrd alſo nur blos zu beſorgen ſeyn, daß er aus vaͤterlicher Neigung vielleicht zu wenig anbringen und der Sache einen Anſtrich zuwenden doͤrfte. In dieſer Ruͤckſicht wird dem Publiko ſein Recht bei der kuͤnftigen naͤhern hier mit der Wilhelmine anzuſtellenden Unterſu - chung ausdruͤcklich vorbehalten und der hoͤchſt - betruͤbte Vater vorgelaſſen.

Er heißt iſt acht und funfzig Jahr alt, lutheriſcher Religion. Der ge - genwaͤrtige Fall druͤckt ihn ſo ſehr, daß er nicht aus noch ein weiß. Seine Tochter Wilhelmine hat von Jugend aneinen439einen Trieb zur Widerſpenſtigkeit geaͤußert, und ſowohl ihm, als ſeiner verſtorbenen Ehe - gattin, viele betruͤbte Tage zugezogen. Ihr Wortauffang, ihre Spitzfindigkeit, ihre Griffe und Hinterhalte, konnten einem gutgeſinn - ten Vater freylich keine Freude machen, wozu dieſe Ungerathene es auch nie anlegte. Nach dem Tode ſeiner Ehegattin aͤußerte ſie den Trieb zur Unregelmaͤßigkeit noch naͤher, vor - zuͤglich empoͤrte ſie ſich wider eine Heyrath, die er zu unternehmen mit Huͤlfe Gottes ent - ſchloſſen. Dieſe und andre Umſtaͤnde hatten den Comparenten nothgedrungen, ſie im Hofe zu anzubringen, wo ſie, anſtatt ſich die gnaͤdige Zuneigung der Hochwohlge - bohrnen Herrſchaft zu erwerben, ſich auf eine ſtrafbare Art fuͤhrete. Ich habe nicht verfehlt, ſie vaͤterlich zu ermahnen, ſo vie - len unverdienten gnaͤdigen Geſinnungen nicht entgegen zu ſeyn, bemerkte der Vater, (um ſeine eigene Worte beyzubehalten,) allein dieſe Zuſprache wolte nicht Platz greifen. Guͤte wiegelte ſie noch mehr auf, bis ſie, dem zu - rechtbeſtaͤndigen Contrakt zuwider, der mit der Hochwohlgebohrnen Gutsherrſchaft ver - abredet, getroffen und geſchloſſen iſt, das weite ſuchte, nachdem ſie vorher ihrer Haͤnde nachE e 4unrech -440unrechtem Gute ausgeſtrecket, und verſchie - dene Sachen und Baarſchaft Geld und Gel - deswerth diebiſcher Weiſe mitgenommen.

Comparent zeiget ein Verzeichnis vor, und verbindet ſich ſolches bey der kuͤnftig wi - der ſeine Tochter zu eroͤfnenden Unterſuchung zu den Akten zu legen.

Es wird dem Comparenten aufgegeben abzutreten; allein vor dem Abſchluß des ge - genwaͤrtigen Verhoͤrs ſich nicht zu entfernen.

Das Verzeichniß der entwandten Sachen bleibt in richterlichen Haͤnden, um davon bey dieſem Verhoͤr Gebrauch zu machen.

Ob es gleich aus dieſer vaͤterlichen An - zeige ſchon vollſtaͤndig erhellet, daß mehr be - ſagte Wilhelmine

  • a) Als eine Dienſtfluͤchtige ſich ſelbſt zur wohlverdienten Straf und andern zum ſchreckenden Beyſpiel dingfeſt zu machen, nicht minder, daß Wilhelmine
  • b) unſtrittig als eine Diebin zn nehmen, die nicht als eine ausgetretene Perſon et - wa blos der Dieberey bezuͤchtiget worden, ſondern deren Diebſtal voͤllig am Tag iſt;
ſo441

ſo ſind doch, um die Sache noch mehr zu er - gruͤnden, einige Zeugen wegen der Dienſtflucht der Wilhelminen und ihrer Dieberey ver - nommen.

Des Herrn v. E. Hochwohlgebohrnen benahmen eine lange Reihe von dergleichen Zeugen, wovon aber nur einige zum Verhoͤr vorgelaſſen werden. Der erſte unter dieſen Ausgewaͤhlten iſt:

Johann Peter Beifuß, von welchem, nachdem er wohl ermahnet worden, die reine Wahrheit zu ſagen, folgendes vorſchrifts - maͤßig zum voraus bemerket wird. Er heißt Johann Peter Beifuß, iſt ein Deutſcher, und ſteht in Dienſten Sr. Hochwohlgebohr - nen des Herrn v. E. Sein Alter iſt ſieben und dreyßig Jahr, und ſeine Religion die lutheriſche. Zur Sache.

Wilhelmine hat ihrer Geburt nach nichts ſolideres erwarten koͤnnen, als die Lage, in welche ſie ihr Vater gebracht; indeſſen war ihr ſtoͤrriſches Betragen ſo unausſtehlich, daß wohl ſonſt ſchwerlich jemand anders, als eine ſo gut denkende gnaͤdige Herrſchaft ſo nachgebend ſeyn koͤnne: man gab, ſo vieler Hintergehung unerachtet, nicht alle HofnungE e 5auf,442auf, ſie auf den rechten Weg zuruͤck zu len - ken, dem aber die Laͤuferin bei aller Gele - genheit auswich. Von ihren erſten Lebens - jahren iſt dem Zeugen zwar nichts genaues bewußt; indeſſen war Wilhelmine als eine dem Stolz und Eigenſinn ergebene Perſon jederzeit bekannt, die Flitterſtaat und Frechheit liebte; wie denn bey dem unerwar - teten Tode ihrer Mutter die Rede gefallen, daß ſie ſelbige ins Grab geaͤrgert. Compa - rent beſinnet ſich ſehr genau, wie Wilhelmine bey dem Begraͤbniß ihrer Mutter ſo leichtſinnig geweſen, daß ſie, anſtatt ihre Augen auf den Sarg zu heften, mit ſelbigen herumgeſchweift und flankirt, auch ſolche zum allgemeinen Aergerniß einem jungen Menſchen zugebracht, mit dem ſie ein unan - ſtaͤndiges Verkehr getrieben. Comparent ſte - het an, dieſen jungen Menſchen zu nennen, obgleich die Sach an ſich jedermann, jung und alt bekannt ſeyn ſoll. Die Steine wuͤr - den ſchreyen, fuͤgt er hinzu, wenn nicht je - dermann, jung und alt, in wo die Laͤuflingin zu Hauſe gehoͤrt, reden ſolte. Ich ſelbſt, faͤhrt er fort, bin ein Augen - und Ohrenzeuge geweſen, wie Wilhelmine den gnaͤdigen Ermahnungen des Herrn v. E. Hoch -443Hochwohlgebohrnen widerſtand, die doch nichts, als ihr wahres Heil, bezweckten.

Mit ihrem leiblichen Vater lebte dieſe heilloſe Wilhelmine in einer aͤrgerli - chen Feindſchaft. Der ehrliche Mann, der auch am beſten weiß, wo ihm der Schuh druͤckt, wollte zur zweyten Heyrath ſchreiten; allein Mine vertrat ihm den Weg, das macht in der ganzen Gemeine gewaltiges Aufſehen; indeſſen ging es ihr vor genoſſen aus, und ſie kam jezt und immer ungeſchlagen davon.

So viel weiß Zeuge gewiß, daß die Er - mahnungen des Herrn v. E. Hochwohlgebohr - nen an die Entwichene von keiner Haͤrte be - gleitet geweſen, und daß der Zwang ſie viel - leicht weit eher in das Verhaͤltniß gebracht haben wuͤrde. Sie haͤtt einem jeden als eine ſolche geſchienen, die fuͤhlen muͤßte, weil ſie nicht hoͤren wolte. Ihr Beiſpiel hat ſo gar viele von ihrem Gelichter zu einem glei - chen Aufruhr gegen die Wohlmeynung des Herrn v. E. Hochwohlgebohrnen gelenkt, der nur eben die Guͤter angetreten, und die Liebe ſelbſt waͤre.

Sonſt ſey die Fluͤchtlingin nicht uneben, wend aber ſowohl Geiſtes als Leibes Gabennicht444nicht zum Nutz des Raͤchſten an, wie aus dem obigen ſich ergeben wuͤrde.

Nichts ſey zuverlaͤßiger, als der Dieb - ſtal, oder die Diebſtaͤle, denn ſchwerlich koͤnnte die Laͤuflingin auf einmal ſo viel ent - wendet haben, wer weiß es nicht, faͤhrt Com - parent fort, daß ſie im Dorfe viele geſtohlne Sachen verſilbert? und daß ſie eine Menge Sachen in Paͤcken mitgenommen? Den eigent - lichen Werth des Diebſtals kann Comparent zwar nicht abwiegen; indeſſen glaubt er, daß ohne viele Stuͤcke nach dem Lieblingswerth zu wuͤrdigen, der Diebſtahl wohl ein hundert Reichsthaler Albertus wiegen und betragen koͤnnte. Comparent bedient ſich des Aus - drucks, da er die Verſchlagenheit der Wil - helmine und ihre Verkleiſterungs - und Verflechtungskunſt beſchreiben will, ſie ſey Verſtandflink, und verſichert, daß ſie ſich in einen Engel des Lichts luͤgen und ausſtaffi - ren koͤnnte, welches zur Steuer der Wahr - heit mit verzeichnet wird. Auf die Frage, ob und in wie weit Comparent Leute nahm - haft zu machen wuͤßte, denen Wilhelmine Sachen verkauft? erwiedert er: ich kann viele nennen.

Die Amtmannin

Die445

Die Schweſter dieſer Amtmannin, ein noch unverheyrathetes Maͤdchen, fallen ihm urploͤtzlich ein. Es iſt ſo gewiß, als irgend etwas ſeyn kann, und als meine Ausſag iſt, ſagt Comparent, daß Wilhelmine laͤngſtens Handel und Wandel getrieben, wo waͤr auch ihr Prunk hergekommen, wenn es nicht unrichtig zugegangen waͤre? Es wird dem Comparenten woͤrtlich ſeine Ausſage vorgehalten, welche er in allen Punkten ſich zueignet. Von den Umſtaͤnden der Flucht weiß Beifuß nichts zuverlaͤſſiges; indeſſen giebt er an, wie Kegler hievon vollſtaͤndig unterrichtet ſey, indem er ihr auf Hochwohlge - bohrnen Befehl nachgeſetzet, und uͤberlaͤßt es der Erkenntniß, ob und in wie weit dieſer Martin Jakob Kegler noch zum Verhoͤr zu ziehen ſeyn werde?

Martin Jakob Kegler wird vorgefordert, wohl ermahnt, die reine klare Wahrheit aus - zuſagen, und ſolche nicht zu laſſen, um Lieb oder Leid, um Freundſchaft oder Feindſchaft, um Geſchenk oder Gabe, und um keinerley Urſach willen. Vorlaͤufig wird bemerkt, daß Comparent Martin Jakob Kegler heiße, im Hofe wird er Jakob genennet. Er iſt im Dienſt Sr. Hochwohlgebohrnen des Herrnv. E.446v. E. Seine Religion iſt die lutheriſche. Alt iſt er fuͤnf und zwanzig Jahr. In Ruͤck - ſicht der Sache ſelbſt ſtimmet er in ſeinen Auſſagen mit dem Beyfuß puͤnktlich: außer daß er wegen der Flucht der Wilhelmine noch folgende Umſtaͤnde nachtraͤgt:

Es ward ihm aufgegeben, die Fluͤchtlin - gin einzuholen, nachdem ihre Flucht und ihr grober Diebſtal zu jedermanns Wiſſenſchaft drang. Nach einigen fruchtloſen Bemuͤhun - gen war er wuͤrklich ſo gluͤcklich, ſie auf der Flucht zu erſpuͤren und zu bezirken, da indeſ - ſen ſein Auftrag ſich nicht weiter erſtreckte, als die Laͤuflingin guͤtlich zur Ruͤckkehr zu bequemen, blieb er bey der Verfolgung dieſer Laͤuflingin unbewaffnet. So bald er ſie traf, machte ſie einen Schrey, welcher ihm zwar ſehr auffiel; indeſſen haͤtt er ſich eher den Tod, wie er bemerkt, als die Folge vorgeſtelt, welche dieſer Schrey wuͤrklich gehabt: denn es war ein Huͤlfs - und Nothzeichen, und ſogleich ſtuͤrzte eine ſtarke Mannsperſon auf ihn zu, mit einem Meſſer, mit welchem ſie den Comparenten nicht etwa bedrohete, ſon - dern ſie ſtuͤrmte los auf ihn, und wuͤrd ihm auch wuͤrklich auf der Stelle das Lebengenom -447genommen haben, wenn er ſich nicht zu ret - ten geſucht haͤtte. Wilhelmine forder - te dieſen Moͤrder mit Gebehrden und Wor - ten auf, ſetzt Comparent hinzu, mich zu ver - folgen; indeſſen war mein Pferd aller dieſer Bemuͤhung uͤberlegen. Dieſer ungluͤckliche Vorfall brachte den Comparenten nicht ab, der Fluͤchtlingin nachzuſetzen, vielmehr ſprengt er ins naͤchſte Dorf, um ſich zu verſtaͤr - ken. Er hatte Muͤhe wegen der Feldarbeit, ein Paar Maͤnner fuͤr Geld und gute Worte zu Stande zu bringen. Er ritte mit zwey herz - haften Begleitern wir alle drey, wie die Baͤren, ſagt er, allein Wilhelmine und der Moͤrder (anders kann ich ihn nicht nennen,) waren nicht aufzufinden ihre Staͤte war nicht mehr. Wir ritten ins Kreuz und in die Queer, bis in die ſinkende Nacht hinein. Auf die Frag, in welchem Verhaͤltniß Com - parent den Moͤrder gegen Wilhelminen ge - funden? und was ſich eins gegen das andre angemaaßet? erwiedert er, um ſeine eigene Worte beyzubehalten: Ich halt dieſen Kerl fuͤr nichts weniger, als ihren Liebhaber, wohl aber fuͤr einen, den der Liebhaber gedungen haben koͤnne, ihr ſicher Geleit zu geben. Ohn - fehlbar ſchlief Mine, da ich ſie entdeckte, undſchon448ſchon die Entfernung des Moͤrders bei dieſer Gelegenheit beweiſet meine Meynung.

Ob Wilhelmine zu fahren, oder zu rei - ten, oder zu Fuß geweſen, weiß Comparent nicht anzugeben, der ſehr bedauert, daß Se. Hochwohlgebohrnen ihm, dieſes Vorfalls we - gen, einen großen Theil des vorigen gnaͤdi - gen Zutrauens entzogen: ſo daß ihm, wenn ſelbſt er ein Schuldgenoß, Mitgehuͤlfe und Theilhaber von dieſer Laͤuflingin geweſen, nicht ungnaͤdiger begegnet werden koͤnnte, in - dem Guͤte und Wohlwollen die Hauptzuͤge an Sr. Hochwohlgebohrnen waͤren. Seine des Comparenten Wuͤnſche, die er mit gefaltenen Haͤnden thut, gehen dahin, daß Wilhelmine als eine Landſtreicherin, Die bin und Mord - befehlshaberin, dingfeſt gemacht und zur Be - ſtrafung eingeliefert werden moͤchte, und daß alsdann nicht Gnade fuͤr Recht gienge, wie er aber, nach der Milde Sr. Hochwohlge - bohrnen, nach vielen belebten Datis, be - fuͤrchten muͤſte.

Nachdem dem Comparenten ſeine Aus - ſage woͤrtlich vorgeleſen worden, und er ihr in alle Wege beygeſtimmet, wird er abgelaſſen.

Bey der kleinſten Nachfrage findet ſich vor, daß Wilhelmine weit und breitgeſtohl -449geſtohlne Sachen verkauft. Um die Akten nicht ohne Noth zu haͤufen, ſchrenkt man ſich auf die laudirte Amtmannin und ihre Schweſter ein, welche bey all[e]n Anſtrichen und Bemaͤntelungen, die ſie der Sache zuwen - den, jedoch ſo viel unverdreht eingeſtehen, daß ſie Waͤſch und Kleider, wenige Tage vorher, da Wilhelmine entſprungen, gekaufet. Sie verſichern, daß ſie auf keinen hoͤſen Gedanken gefallen, da Wilhelmine ſchon ſonſt Kopfputz und andere Stuͤcke ihnen kaͤuflich uͤberlaſſen. Dieſesmal, ſagt die Amtmannin, war das erſtemal, daß ſie nicht unmittelbar mit uns handelte, ſonſt geſchah es nie durch die dritte Hand, ſondern vor aller Welt Au - gen und Ohren, und allen andern Sinnen. Diesmal war das erſte mal, daß die Sachen unter der Vorſpiegelung zu uns gebracht wur - den, die Perſon, welcher dieſe Stuͤcke als Ei - genthuͤmerin zuſtuͤnden, ſey in Geldverlegen - heit und nothgedrungen, dies und das aus - zuſtoſſen. Beyde, ſowohl die Amtmannin als ihre Schweſter, bekennen, aus vielen Umſtaͤnden gemerkt zu haben, daß Wilhel - mine bey dieſem Verkauf unter der Decke ſpiele, gewiß aber, fuͤgen ſie hinzu, wußten wirs nicht. Sie bitten inſtaͤndigſt,Zweiter Th. F fes450es zu verguͤnſtigen, daß ſie dieſe Sachen, da ſie ſolche nicht unter den Werth berichti - get, behalten und nicht auszuantworten moͤ - gen angewieſen werden.

Nebenumſtaͤnde findet man nicht noͤthig dieſem Protokol einzuverleiben, welche dieſe beyden lezten Perſonen, nemlich die Amt - mannin nnd ihre Schweſter, eingeſtreuet.

Alle Broͤdlinge des Herrn v. E. Hoch - wohlgebohrnen treten den Auſſagen des leib - lichen Vaters der Laͤuflingin bey, und be - kunden, daß dieſe Wilhelmine ein verhaͤrtetes verdorbenes Herz beſitze, und ſich durch die gnaͤdigſten Verheißungen der Hochwohlgebohrnen Gutsherrſchaft, ſie aus - zuſtatten, und den Kranz zu bezahlen, nicht auf andere Wege lenken laſſen; wie ſie denn gefliſſentlich, vorſetzlich und argliſtig, Zwi - ſtigkeiten, Irrungen und Verſchiedenheiten erreget, die klarſten Dinge verflochten und verdrehet. Mit dieſen Geſinnungen verein - barte ſie auch oben ein die verteufelte Scha - densfreude, ſo daß, um die Sache kurz zu faſſen, dieſe Perſon, welche ſchnoͤde zu han - deln ſich zur Gewohnheit gemacht, und ih - res Blendwerks von Geſicht unerachtet, den Satan im Herzen gehabt, Unterſuchung undBe -451Beſtrafung verdienet. Es ſtrahlt aus vie - len Umſtaͤnden hervor, wenn es gleich nicht durch aͤußere Kundgebung an den Tag ge - legt worden, daß Wilhelmine falls ſie nicht anders ihre Abſichten erreichen koͤn - nen, ſich aus einem Mordmeſſer kein Ge - wiſſen gemacht haben wuͤrde.

Der Vater der Ungluͤcklichen ward noch vor dem Abſchluß dieſes Protokols vorgelaſ - ſen, welcher vor Wehmuth ſich nicht zu ber - gen weiß. Da ihm indeſſen von Sr. Hoch - wohlgebornen, ſeinem gnaͤdigen Goͤnner, ein Wort des Troſtes verehret wird; ſo be - ruhiget er ſich in der Hofnung, daß, da er ſehr leicht ſelbſt in ſeinem guten Ruf durch dieſen Vorfall leiden koͤnnte, allererſt die kuͤnftige auszuuͤbende Strafe an ſeiner ent - laufenen Wilhelmine, Vater und Tochter unterſcheiden, und ihn in die Achtung des Hochwohlgebohrnen Publikums zuruͤckſetzen wuͤrde, die von je her der Geſichtspunkt ſei - ner Handlungen geweſen. Um dieſen be - draͤngten Vater nicht noch mehr in die Enge zu bringen, hat man ihm viele Stellen aus dieſem Verhoͤr verſchwiegen, und dieſes Protokoll, in ſo weit es ſeine Ausſag ent -F f 2haͤlt,452haͤlt, von ihm in ſidem unterzeichnen laſſen. Actum ut ſupra. Namen des Juſtizbeamten Namen des Herrn v. E. Namen des Hermanns Iſts moͤglich! Mehr als dieſen Ausruf kann ich nicht. Iſts moͤglich!

Nichts iſt mir von je her herzſchneiden - der geweſen, als wenn die Bosheit ihre Luͤ - gen mit ein wenig Wahrheit ſalzet und wuͤr - zet, und ſie dann auftiſchet, und wie war euch zu Muth, ihr edlen Leſerinnen, da Jo - hann Peter Beifuß Minen einen Muttermord, eine Grabesſchaͤnderey anruͤget? und wie! da er unſere engelreine Liebe ſchaͤndet und laͤ - ſtert. Wie, edle Seelen? Eine Luͤg iſt ſchaͤnd - lich; allein ſie iſt es um die Helfte weniger, wenn nichts von Wahrheit eingemiſcht iſt. Das iſt ein ehrlicher Luͤgner, der ſo luͤgt! und faſt wolt ich behaupten, daß ſolch ein recht - ſchafner Luͤgner nicht vom Vater, dem Teu - fel, in gerader Linie abſtamme; allein der iſt der Teufel ſelbſt, der ein Schild der Wahr - heit aushaͤngt, um deſto beſſer Mord und Toot - ſchlag im Hinterhalt zu verſtecken. Solch ein Giftmiſcher! ſolch ein Hoſtienverfaͤlſcher von Luͤgner, welch ein Scheuſal!

[453]

Verzeiht Leſer! ich bin ein Menſch, und Mine iſt ein Engel! Die Regierung in Mitau fand nichts unbilliges in dem Geſuch des Herrn v. E., das von den Herren α, β, γ, mit einem gerichtlichen Verhoͤr ausgeſtattet ward, und das Requiſitorialſchreiben an die Preußiſche Landesregierung ward ohne An - ſtand bewilliget. Ich koͤnnt es woͤrtlich mit - theilen; allein warum? Hier iſt die treffen - de Stelle:

Ew. Ew. Excellenzen werden ſich aus die - ſen Umſtaͤnden uͤberzeugen, aus was fuͤr Gruͤnden wir das unterthaͤnigſt gehorſamſte Geſuch des Wohlgebohrnen v. E. verſtattet, und da der ausfuͤhrliche Vortrag der Sache, welcher durch gerichtliche Verhoͤre beſtaͤrkt worden, uns der Pflicht uͤberhebt, noch naͤ - here Aufſchluͤſſe beyzufuͤgen; ſo begnuͤgen wir uns, die ausdruͤckliche Verſicherung zu erthei - len, daß von Seiten dieſer Herzogthuͤmer in gleichen Faͤllen eine gleiche Gerechtigkeit be - wieſen werden ſoll. Der Verluſt dieſer an ſich unbedeutenden Perſon, kann den Wohl - gebohrnen v. E. freilich nicht beſtimmen, die nach Preußen verlaufene Wilhelmine wieder zuruͤck zu ſuchen; allein die Fol - gen ſind zu bedeutend, die dieſer Vorfall,F f 3wenn454wenn er nicht eingelenkt wuͤrde, dem Wohl - gebohrnen v. E. und der ganzen Gegend zu - ziehen doͤrfte. So wie aus den gleichmaͤßig in der Anlage bis zur Vollſtaͤndigkeit ge - brachten Gruͤnden ſich ergeben wird, warum der Wohlgebohrne v. E. alle Unterſuchung in Preußen verbeten; ſo treten wir des Endes, ſo wie in allem, ſo auch in Ruͤckſicht dieſes Theils ſeines Geſuchs, ihm bey, und ſehen uͤberhaupt der geneigteſten Erfuͤllung dieſer unſrer Wuͤnſche um ſo zuverſichtlicher entge - gen, als Ew. Ew. Excellenzen uns jederzeit von einer ſo großen Gerechtigkeitsliebe, als nach - barlichen Gefaͤlligkeit, beweiſende Proben ge - geben. Wir verharren mit vollkommener Hochachtung, Ew. Ew. Excellenzen ergebenſte Diener Mitau den Oberburggraf 17 Canzler Landhofmeiſter Landmarſchall.

Die Antwurt der preußiſchen Regierung:

Hochwohlgebohrne, Inſonders Hochgeehrte Herren,

E. Hochfuͤrſtl. Herzogl. Curlaͤndſchen Re - gierung erwiedern wir auf das gefaͤllige An -ſchrei -455ſchreiben vom 17 wie wir ſogleich den erforderlichen Auftrag an die Behoͤrde erlaſſen, die aus Curland entlaufene Wilhel - mine uͤber die im Angeſuch des cur - ſchen von Adel v. E. enthaltene Umſtaͤnde, welche durch ein gerichtliches Protokoll be - kraͤftiget worden, vorſchriftsmaͤßig zu verneh - men, und nach dieſem Verhoͤr wegen ihres Arreſtes die noͤthigen Verfuͤgungen, die wir ihm auf alle Faͤlle zugemeſſen, werkthaͤtig zu machen, weil wir, ohn ein mit dieſer Per - ſon gehaltenes Verhoͤr, uns in der Sach entſcheidend zu erklaͤren auſſer Stande ſind. Wir haben die Ehre mit vollkommener Hoch - achtung zu ſeyn,

E. Loͤbl. Herzogl. Curlaͤndiſchen Regierung Freund - und Dienſtwillige N. N. N.

Zu gleicher Zeit ein Auftrag an das Collegium, Minen durch einen Deputatus zu vernehmen, und, wenn ſich die Umſtaͤnde protokollgemaͤß und nach dem curſchen An - ſchreiben verhielten, ſie ſogleich dingfeſt zu machen, und zu dem Ende dem zu ernennen - den Commiſſarius zugleich ein Geſuch an dieF f 4naͤch -456naͤchſte Guarniſon mitzugeben, um davon, wenn die Laͤuflingin gefaͤnglich eingezogen werden ſollte, einen augenblicklichen Gebrauch machen zu koͤnnen. Solt indeſſen Mine Milderungs, oder gar Aufhebungsumſtaͤnde, fuͤr ſich anfuͤhren, oder auch nur die wider ſie angebrachte Klage zu entkraͤften vermoͤ - gend ſeyn; ſo koͤnnte ſie zwar nicht in feſte Hand genommen, und in engere Verwah - rung gebracht werden; indeſſen ſcheinen ſo viel Umſtaͤnde wider ſie einzutreten, daß wenn gleich dieſer Kummer nicht nachgeblich waͤre, dennoch eine genaue Aufſicht ihrer Perſon, oder wenigſtens eine hinreichende Caution, anzuordnen ſeyn wuͤrde. Von allen dieſen Vorgaͤngen ſolt ein ſo ſchleuniger, als ge - nauer Bericht erſtattet werden.

Das Ruͤckſchreiben der preußiſchen Re - gierung fand in Mitau keinen, am wenig - ſten den vollwichtigen Beyfall, und da es dem Wohlgebohrnen v. E. in Abſchrift zuge - fertigt ward, ließ er ſogleich, wie Pharao, da er von den ſieben fetten und ſieben ma - gern Jahren getraͤumet, den hohen Rath der Traͤume: und Zeichendeuter α, β, γ, zu ſich kommen und anſtatt der erſten Frage:

Was457

Was iſt zu thun? fragten Se. Hochwohlgebohrnen:

Was nun? und ſchienen nicht undeutlich zu verſtehen zu geben, daß bey allen bewieſenen Merkzei - chen der Einſicht und Geſchicklichkeit die Her - ren α, β, γ, kein Gluͤck haͤtten. Jeder der Herren α, β, γ, behauptete, daß er von Gluͤck ſagen koͤnnte, und ſchrieb alles fluchs auf die Rechnung der preußiſchen Staaten, die der Teufel ihnen zur Nachbarſchaft zugewieſen haͤtte. Hab ich nicht geſagt, fing Herr β an: aus der Hoͤlle iſt keine Erloͤſung! Mit ihrer Erlaubniß, Herr College, erwiederte Herr α, aus der Hoͤll nicht, wohl aber aus dem Feg - feuer. Wenn man, fuhr dieſer Kopfhalter fort, auf meine unvorgreifliche Meynung, an den Koͤnig ſelbſt zu gehen, ſtimmige Ruͤckſicht genommen; die Sache waͤr in einer andern Lage. Ich laſſe meinen Kopf in einer andern vielleicht in einer gefaͤhrlicheren, bemerkte Herr v. E., und jeder, ſelbſt Herr α, trat ihm bey mit einem Vielleicht!

Wenn ein Bollwerk erklettert werden ſoll, muß eins da ſeyn, und dies ſuchten die Her - ren α, β, γ, in der groͤßten Geſchwindigkeit zu ſchuͤtten und zu haͤufen.

F f 5Man458

Man that, ohne auf die gegebene Frage: Was nun? das Auge zu richten, wie gewoͤhn - lich verſchiedene Ausfaͤlle, und hatte dagegen Einfaͤlle, bis der Herr v. E. die in die Irre ge - henden Rechtsgelehrten zuſammen rief und feſt hielt. Was nun? ſagte jeder. Herr v. E. wolt an der Abſchrift des koͤnigsbergſchen Ruͤckſchreibens ein Exempel ſtatuiren, und ſich daran vergreifen; indeſſen ließ er ſich bedeu - ten, und ſah zu rechter Zeit ein, daß es nur Papier und, was noch mehr war, eine cur - ſche Abſchrift ſey. Endlich und endlich war noch ein erneuertes und geſchaͤrftes Anſchrei - ben nach Koͤnigsberg verabredet, geſchloſſen, und getroffen. Hie und da bitter, und hie und da wieder ſuͤß. Laͤndlich, ſittlich, ſagte Herr β. Es iſt nicht ſo ganz ohne, daß man Wilhelminen zuvor verhoͤrt. Audiatur et altera pars, und wenn, ſetzt er hinzu, und wenn Preußen alle ſeine Unterthanen recla - miren ſollte, was meynen Sie, mein Goͤn - ner und meine Herren? wer wuͤrde mehr ver - lieren, Curland an Wilhelminen, oder wir an ſo vielen wuͤrdigen Praͤpoſitis, Paſtoren, Aerzten und Rechtsgelehrten? Bey dem lez - ten Wort ließ er die Stimme fallen, und man beſann ſich, daß Herr Collega β aus Preuſ -ſen459ſen waͤre welches ſo ganz dreiſt heraus zu behaupten, er ohnfehlbar außerhalb der Jahreszeit hielt; da Herr v. E. ſo ſehr geruͤ - ſtet ſchien, ſich an allem, was preußiſch war, zu vergreifen und ein Exempel zu ſtatuiren. Herr α nannte dieſe Zuruͤckhaltung, um zu zeigen, daß er durch das preußiſche Ruͤckſchrei - ben nicht Kopfſcheu geworden waͤre, wie ei - ne Katze um den heißen Brey gehn. Er ſa - he den Herrn β ſteif und feſt an, und man merk - te, daß er ſeinen Einwand aus dem Grunde widerlegen wollte. Schon recht, ſagte Herr α, allein Preußen hat noch keinen Praͤpoſitus, Paſtor, Arzt und Rechtsgelehrten, unter de - nen ich einen guten Freund habe, den wir alle kennen, gefordert: wir aber fordern Wilhel - minen. Was das Fordern anbetrift, wolte Herr β fortfahren, indeſſen ſchlug Herr α vor, das Wiederholungsſchreiben noch ein - mal vorzuleſen, und punktatim zu bepruͤfen. Es ward als eine Zugabe feſtgeſetzet, daß es nach drey Wochen allererſt abgelaſſen, und, falls in dieſer Zeit eine Definitivantwort aus Preußen kaͤme, nach Bewandniß derſelben mit dieſem Entwurf verfahren werden ſollte.

Dieſe Erzaͤhlung iſt wieder ein Auszug aus genau gefuͤhrten Protokollen und den muͤnd -lichen460lichen Zuſaͤtzen des Herrn , der eben jetzo bei mir iſt, und nie, wie er ſagt, an dieſe Erſt - linge ſeiner rechtlichen Arbeiten zuruͤckdenken kann, ohne daß ihn ein Herzensfieber, Kaͤlte und Hitz ergreift, es iſt ein guter Mann und kein α, β, und γ, obgleich er beim α das Handwerk gelernt hat.

Eine Einſchaltung, die freylich zu die - ſem Rechtskram wunderlich abſtechen wird. Eine Eul unter den Kraͤhen.

Herr v. E., das zeigt freilich ſein Krieg und Kriegesgeſchrey, fand fuͤr gut, Mi - nen zu lieben, und alles, was ich thue, wie er es dem Vater Herrmann, (bald haͤtt ich dem Vater, dem Teufel geſchrieben,) ſagte, geſchieht aus lichterloher Liebe. Dieſer Boͤſe - wicht ſprach das Wort Liebe, ſo wie die Teufel den lieben Gott aus, und fand fuͤr gut, Mi - nen zu lieben ein Teufel einen Engel!

Sie, nur Sie! alles, was ich bisher ge - liebt habe, iſt Staub, Erd und Aſche ſchrie Er! Ich vergaß alles, was ich je von Mutter - leib an geliebt habe, ſeitdem ich ſie ſahe, ſie hoͤr - te, und ihre Hand druͤckte. So ſehr liebt ich Sie ſo rein! Sie ſchwebt mir vor Seel und Sinn! Sie, nur Sie! nur Sie! rief er mal uͤber mal, und kuͤßte den Herrmann, der nicht wußte,wie461wie geſchwind er die Hoch wohlgebohrne Hand erhaſchen ſollte, um ihr dieſen Kuß ganz warnt wieder abzugeben, bald jagt er den Herr - mann zu allen Teufeln, und ſah ihn als den Raͤuber dieſes Kleinods an.

Dann wieder wie in Gedanken, wie vor ſich. Wenn ich denk: ſie in Preußen! im Soldatenlande, o dann iſt mir, als wenn ich Gift eingenommen haͤtte, und hab ichs nicht? Es wuͤtet in meinem Eingeweide. Es ſchneidet in mir! Iſt denn kein Gegengift? Da lieg ich! Ein abgeriſſener Aſt, der von ſeinem Baum getrennt iſt und welkt, wahr - lich ich welke! Herr, ſchrie er auf, zu Herr - mann, nicht wahr? ich welke?

Herrmann jubelfroh, daß er auf keine categoriſche Antwort beſtand, buͤckte ſich bis auf die Erde.

Sie haͤtte was aus mir gemacht! Sie haͤtte gemacht, daß ich den Teſtamentsnickel geliebt haͤtte. Minen zu Gefallen haͤtt ich es, und was haͤtt ich nicht alles, ihr zu Gefallen! Ihrer Liebe zu Gefallen! Hin iſt ſie hin! hin! und Satanas weiß, welch ein Gluͤcklicher auf mein Fundament bauet. (Ich fiel dem Herrn v. E. ein. Ich bin eiferſichtig, ſchrie er wieder, zum raſend werden! Die blaue Farbe,wo462wo ich ſie ſehe, martert mich, denn war blau gekleidet. Auf die Art, Hut und Haarlocken und Stiefel zu tragen, und auf al - les, was ſein war, bin ich gallenbitter boͤſe!

Was ich geſchrieben habe, das hab ich geſchrieben, was ich habe ſchreiben laſſen, das hab ich ſchreiben laſſen. Bin ich nicht mehr, viel mehr gefangen, wie ſie. Ich! ich! ſitz im Kefig. Laßt mir die Freud, in die Stangen des Kefigs zu beiſ - ſen. Wenn jedwede ein und einzige Liebe, Adam und Evasliebe, ſolche Leiden macht; ſo ſind es Einfaͤlle von Milzſuͤchtigen, eine ein - zige Liebe! wer kann ſo lieben und leben?

Sonſt war mein Stolz, in der Liebe wetterwendiſch zu ſeyn. Dieſe Grundſaͤtze haben ſich verlaufen, und das erſchreckliche Gericht der Beſtaͤndigkeit iſt uͤber mich eroͤf - net. Weh mir! daß ich beſtaͤndig bin! weh! weh mir! daß ich es bin! Vergieb mir dieſe Wehs, liebe Mine, vergieb ſie mir, wohl mir, daß ich beſtaͤndig bin, wohl wahrlich eine ganz nagelneue Erfindung fuͤr mich! Haͤtt ich ihr nur einen Kuß ge - geben, ſo wuͤßt ich doch, wie’s waͤre, wenn man einen Engel kuͤßt. Ihren Othem hab ich von fern geſchmeckt, und wie Veil -chen463chen und Roſenduft eingeſogen! Meynt ihr denn, lieben Freunde, daß ich ſie haſſe, ihr aus Wuth mit Ruͤge und Bezuͤchtigung nachſetze, meynt ihr? Ich kann nicht Ohs und Achs rufen; allein hier liegen ſie Finger - dick im Herzen. Ich liebe ſie. Ich haſſe ſie, weil ich ſie liebe, ich liebe ſie unendlich. Ein Schwanenbett ſoll ihr Gefaͤngnlß ſeyn: Liebe, die liebſte Liebe, ihre Ketten. So bald die Nachricht eingehet: Mine iſt einge - ſchloſſen! Entzuͤckt will ich ſchon uͤber dieſe unbetagte Schuld ſeyn! Entzuͤckt, noch ehe der Verfalltag kommt all ihr Leiden ſey wie abgeſchnitten! Bis Memel ſoll ſie zwar zum Schein leiden; der Teufel trau den preußi - ſchen Staaten, aber dann im Triumph! Mine du biſt mein, meine Gemahlin biſt du! Dir gehoͤrt mein Herz. Mit deinem Auge will ich getrauet werden, mit dir Hochzeit halten, dir will ich das Ja zuſagen, und es halten, ſo lang ein Stuͤck von mir iſt. Wenn gleich nicht vor der großen Welt, ſo doch im Stillen. Im Stillen, wo’s ſich am beſten liebt. Mine! Liebe gehoͤrt in die Stille zu Hauſe. Mine, die verbotene Frucht ſchmeckt am ſuͤßſten. Waͤr alles Ge - bot und kein Verbot, ſo moͤchte der Teufelein464ein Menſch ſeyn! Nur einen Verſuch, Mine. Komm Mine! Komm komm! Komm doch! wird ſie kommen?

Was meynen Sie, rechtsgelehrter lieber Achſeltraͤger! zum Protokolliſten, den Herr v. E. nicht von ſich ließ, um ohne Aufhoͤren zu fragen.)

Wird ſie? Wird ſie? Dieſer junge Mann, der den Herrn v. E. von Univerſitaͤten her kannte, war uͤber dies und jenes bey der Sache im Irrgarten, aus dem er ſich end - lich herausgefunden haben wuͤrde, (obſchon v E. auf die Art noch nie gelebt hatte, oder eigentlicher verliebt geweſen war,) wenn nicht Minens leiblicher Vater eine Rolle in dieſem Stuͤcke gehabt.

Herr v. E. litte wuͤrklich; allein ſo wie jeder Suͤnder leidet. Kann man ſo etwas leiden nennen? Zuweilen war er ſtummdoll. Man hatte Urſach ſeinetwegen zu fuͤrch - ten. Der Protokolliſt hatte wuͤrklich Mit - leiden mit ihm; ſo nah wußt ers ihm zu le - gen. Koͤnnt ich doch weinen! ſagt er einen Abend zu ihm, Herzensfreund, weinen! Wer kann es aber in der Hoͤlle? Haͤtt es der reiche Mann gekonnt, wuͤrd er nicht noͤthig gehabt haben, einen Tropfen Waſſer zu bet -teln 465teln und dann wieder: Freund! wenn die Hoͤll aͤrger ſeyn kann, iſt kein Gott im Himmel! Wuͤrde Mine auch nur in Mitteldingen, (wenn es dergleichen giebt,) ergiebiger geweſen ſeyn, Herr v. E. wuͤrde ſie geliebt haben, wie er ſonſt zu lieben gewohnt war. Ihr edler Ruͤckhalt, ihre heroiſche Flucht, bracht ihn mit zu dieſem, ihm ſonſt wildfremden Schwung

Der Juſtizrath (wir ſind wieder in Preußen,) ward vom Direktor, als das A und Q im Collegio, zu dieſem Geſchaͤft auserſehen und eben, weil er auserſehen, war, wollt er ein Meiſterſtuͤck liefern. Er lernte faſt das Geſuch des Herrn v. E. an die curſche Regierung, und das Protokoll auswendig, um ja keine Sylbe ungetrof - fen zu laſſen. Folgender Entwurf zu den Fragen an die engelreine unſchuldige Mine, kann von ſeinem Dienſteifer ein Proͤbchen abgeben. Es konnte ſich der Deputatus nichts gewiſſers denken, als daß Mine alles und jedes waͤre, wozu ſie das feine curſche Protokoll, und deſſen Ueberrock, das verklei - ſterte gekuͤnſtelte Geſuch des Herrn v. E., ma - chen wolte. Dieſes blinde Zutrauen zu ei - nem gerichtlichen Protokoll beſtimmt ihn, denZweiter Th. G gRe -466Requiſitorialbrief an die Guarniſon noch eher abzuſenden, als er Minen geſehen und ge - hoͤrt hatte. Eine Meile vor L ſand er, nachdem er nochmals alles uͤberleſen, und das Volwort des Protokolls ihn uͤber - ſchienen hatte, den Requiſitorialbrief ab. Den Erfolg dieſer Abſendung wolt er eben hier und eine Meile vor L abwar - ten. Es kann ſeyn, daß auch etwas Furcht vor dem ſtarken Kerl, der dem Martin Ja - cob Kegler ſo ſchwer gefallen, zu den Ingre - dienzen dieſer Eilfertigkeit und dieſes Vorlauts gehoͤret. Zwar erfolgte keine ſchriftliche Antwort; allein es erfolgten ein Unterof - ficier und zwey Mann, die ſich Verhaltungsan - ordnungen ausbaten. Einen Augenblick, ſagte unſer Scharfrichter, denn er uͤberſah noch ſeine Fragſtuͤcke, und fand ſie hie und da nicht band - feſt. Einen einzigen Augenblick, ſagte unſer Juſtizrath; allein es waͤhrte eine Stunde.

Ein Proͤbchen von unſerm Juſtizrath

Promemoria

  • in Unterſuchungsſachen wider die aus Curland entlaufene Dienſtbotin und Diebin Wilhelmine ihre vor - laͤufige Abhoͤrung und Haft betreffend.

Nach den gewoͤhnlichen Fragen:

Namen467

Namen?

Geburtsort?

Vaterland?

Eltern?

Wer ihr Vater ſey? (Es ergiebt ſich nicht aus den Akten unterthaͤnig iſt ſie nicht.)

Bey der Mutter, ein Wort zu ſeiner Zeit.

Wie alt?

Religion?

Wozu noch außerhalb der Linie kommen koͤnnte: ob ſie vom vierten Gebot unterrich - tet? und mit den Pflichten bekannt ſey, die ſie allen denen, die Gottes Bild an ſich tra - gen, welches im gegenwaͤrtigen Fall Herr v. E. waͤre, ſchuldig?

Des Vaters Segen bauet den Kindern Haͤuſer.

Stof zur dreyfachen Ermahnung

Bleib im Lande und naͤhre dich redlich.

Ob ſie das ſiebente Gebot Gottes wiſſe?

Geſchaͤrfte Ermahnung!

Ob das fuͤnfte Gebot Gottes?

Wer luͤgt, ſtiehlt auch, und wer ſtiehlt, mordet

Eine Erſchuͤtterung!!!!

Wer Menſchen Blut vergießt, des Blut ſoll wieder vergoſſen werden.

G g 2Ob468

Ob ſie nicht alle zehn Gebote Gottes uͤber - treten, und

ob, wenn noch mehr als zehn waͤren, ſie nicht auch die mehrere mit Fuͤßen geſtoßen?

Es giebt nur ein Laſter, nur eine Tugend. Einmal eins iſt eins.

Das gegebene boͤſe Exempel iſt wie eine Brandſtiftung; wenn man auch gern die Flamme hemmen wolte, kann man?

Donner und Blitz

Vogel friß, oder ſtirb!

Nach dieſen Vorbereitungsfragen:

Ihr ſtehet vor Gott und der Obrigkeit, die von ihm geordnet iſt, pruͤft euch, ob ihr mit dem Vorſatz hergekommen, Gott die Ehre zu ge - ben, und die reine ungeſchminkte Wahrheit zu bekennen? Iſt es nicht euer Vorſatz ge - weſen, ſondern habt ihr gefliſſentlich Suͤnden mit Suͤnden haͤufen wollen; ſo verſtockt we - nigſtens auf dies Wort euer Felſenherz nicht.

Das wenigſte, was ihr thun koͤnnt, iſt Bekenntniß und eine geduldige Unterwerfung in Ruͤckſicht der zeitlichen Strafe, die gegen die ewige leicht iſt. Antwortet ohne Gleis - nerey und Kunſtſtuͤck, aus dem innerſten eu - res Herzens, und ſo, wie ihr es einſt vor dem lezten ſtrengen Richtſtuhl Gottes zu ver -ant -469antworten gedenkt, wohin, ſo jung ihr ſeyd, ihr uͤber ein kleines citiret werden koͤnnet. Wolt ihr?

Ehe noch Mund und Hand ans Werk ge - legt wird, die Recognition der Perſon, nach denen, wiewol im beſondern Styl, uͤberſand - ten Angaben:

Wuchs.

Sie grenzt ans Maͤnnliche.

Schlank,

geſund,

roth und weiß.

ſchwarzes Haar,

große Augen von der nemlichen Farbe,

Spott und Hohn.

Kraͤftiger Gang.

Heuchlerin und Spitzbuͤbin von Hauß aus.

Hauptpunkte:

Sie hat ihre Mutter ins Grab gebracht Ungehorſam, verſtockt gegen ihren Vater Sie hat ſich wider ſeine Heyrath empoͤrt.

  • Warum?
  • Kinder muͤſſen auch wunderlichen Eitern gehorchen.
  • Ihr Vater hat zu ihrem wahren Heil an eine zweite Heyrath gedacht. Viel -G g 3leicht470leicht weniger, um| eine Frau fuͤr ſich, als eine Mutter fuͤr ſie, zu haben. Er iſt acht und funfzig Jahr! Ein ſchoͤnes Alter!
  • Der Vater hat ſie im Hof angebracht; ſie iſt aus dem Contrakt gelaufen.
    • In welcher Qualitaͤt und Geſtalt ſie im Hof angebracht worden?
    • (Es iſt hievon in der Schrift mit keinem Jota gedacht, und ſolte doch. Ohne Zweifel als Cammerjungfer, Ausgeberin, oder ſo Etwas.)
    • Warum ſie dieſe gute Abſichten vereitelt?
    • und dem Herrn v. E. in ſeiner Wohl - meynung widerſtanden, der doch die Liebe ſelbſt ſey, und der, wenn ſie aus - gedient, ſie gewiß zu ſeiner Zeit un - ter die Haube gebracht haben wuͤrde?
  • Sie hat andere aufgewiegelt? (Dunkelheit.)
  • Sie hat Verſchiedenheiten und Zwiſt im Hauſ erreget. (Auch dunkel. Die Broͤdlinge ſagen es zwar aus, Gott weiß aber wer? und warum?)
  • Sie hat geſtohlen?
    • Was ſie geſtohlen? (Unzulaͤnglichkeit.)
    • Wenn? (Ungewisheit.)
    • Wen ſie beſtohlen? (Finſterniß.)
    • 471
    • Ob ſie noch von den geſtohlnen Sachen etwas bey ſich haͤtte? Wo ſie die an - dern Sachen angebracht?
    • Das Geld?
    • Wider die Amtmannin und ihre Schwe - ſter iſt aller Verdacht der Mitwiſſen - ſchaft. Das Verhoͤr mit ihnen iſt vol - ler Maͤngel. Da Inculpatin erſt ge - rades Weges mit dieſen beyden feinen Zeiſigen gehandelt, haͤtte der Neben - weg, den Inculpatin jetzt einſchlug, ſie zum Nachdenken bringen ſollen, wenn ſie anders nachdenken koͤnnen.
    • Es fraͤgt ſich:
    • Ob Inculpatin der Amtmannin und ihrer Schweſter angezeiget, daß es geſtohl - ne Sachen?
    • Ob der Kopfputz, den die Inculpatin der Amtmannin und ihrer Schweſter ver - kaufet, auch geſtohlen Gut?
    • Was es fuͤr andere Stuͤcke geweſen, wel - che Inculpatin der Amtmannin und ihrer Schweſter verhandelt?
    • (Andere Stuͤcke! wie unbeſtimmt!)
  • Sie hat fluͤchtigen Fuß geſetzet.
    • Wer ihr behuͤlflich geweſen?
    • 472
    • Wer der junge Menſch ſey, mit dem ſie in unregelmaͤßigem Verkehr geſtanden?
    • (Ein tiefes Stillſchweigen im Protokoll.)
    • Wie ſie geflohen? ob zu Fuß? oder wie ſonſt?
  • Sie hat zum Morde aufgefordert.
    • (Gott ſey ihrer Seele gnaͤdig!
    • Beym erſten Ueberblick nahm ich ſchon die Sache der Inculpatin; allein, alles genau genom - men, iſt ſie nicht zu retten, um alles nicht.)
    • Die ſtarke Mannsperſon.
    • Der Schrey, als das Nothzeichen.
    • Warum Inculpatin ſo gar dieſen Boͤſe - wicht, obgleich Martin Jakob Kegler ſie bleiben laſſen muſte, welches ſie ſahe, aufgefordert, dieſen Kegler, (im Hofe Jakob genannt,) zu verfolgen?
    • Ob dieſer ſtarke Kerl allein ſie begleitet?
    • Ob noch wer mehr?
    • Wer ihn zu dieſem Mordgeſchaͤfte gedun - gen?
    • Noch vor dem Verhoͤr das Haus beſetzen.
    • Den Wirth des Hauſes an ſeinen des Koͤniges Majeſtaͤt geleiſteten theu - ren Eid erinnern.
    • 473
    • Alles im Hauſe zu erinnern, Ohne Er - laubniß mit der Inculpatin keine Ge - meinſchaft zu haben.
    • Die Inculpatin mit einer kurzen Anrede der Wache zu uͤberliefern:

Da ſehet ihr nun die traurigen Folgen eures Ungehorſams! Dieſe koͤnigliche Solda - ten, nicht wie die Engel bereit, zum Dienſt derer, die ererben ſollen die Seligkeit, ſon - dern fertig, Boßheit zu beſtrafen, und Frev - ler zu bewachen, ſollen euch vorerſt an Haͤn - den und Fuͤßen geſchloſſen in feſte Hand neh - men, und in engere Verwahrung bringen, damit ihr, nach eingezogenen naͤhern Ver - haltungsbefehlen, nach Memel gebracht, und von dort aus den Abgeſchickten eures ſo anaͤ - digen Brodherrn des v. E. uͤberreichet wer - den koͤnnet! Wolte der Himmel, daß euch eure ſo grobe Verbrechen das Herz durch bohren, und ihr, noch ehe ihr dort! dort! eure Mut - ter vor Gottes Richterſtuhl erblickt, euch mit ihrem Schatten ausſoͤhnen moͤchtet! Wolte der Himmel, daß eure verfaͤlſchte unlautere Seele noch gerettet, und ihr wenigſtens die Hofnungen auf die andere Welt nicht aufge - ben doͤrftet, da in dieſer fuͤr euch kein Ort abzuſehen, wo ihr vor Vorwuͤrfen eures Ge -G g 5wiſſens474wiſſens, und anderer ehrlichen Leute, werdet ſicher ſeyn koͤnnen. Eure Flucht nach Preuſ - ſen iſt euch gegluͤckt; allein euch ſelbſt, und den Augen der Rechtſchafnen, koͤnnet ihr nicht ent - fliehen! Gehet hin zu eurem gnaͤdigen Herrn, werfet euch vor ihm auf die Knie. Ein gutes Wort findet ein gutes Herz! Viel - leicht, daß er euch ſeine gnaͤdige alles verzei - hende Hand zureicht, und eure Strafe nicht ganz genau mit eurem Frevel abmißt! Gehet zu eurem leiblichen Vater. Ob verlohrner Sohn, oder verlohrne Tochter, gleich viel! Wenn ihr von ganzem Herzen ſagt: ich habe geſuͤndiget, im Himmel und vor dir, und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Kind und des Herrn v. E. Magd heiße; ſo wird er vielleicht ſo ſehr durch Reue, durch eure ganze Buß - und Beichtandacht, erweicht, als ihn teſtantibus actis eure Boßheit und Got - tesvergeſſenheit erweicht hat! Sein Fuͤrwort wird den Herrn v. E., der die Liebe ſelbſt ſeyn ſoll, voͤllig ausſoͤhnen. Eure Jugend redet euch das Wort, und wenn euch Gott, nach ausgeſtandener Strafe, noch Leben und Geſundheit friſtet, habt ihr noch Zeit und Raum, Gutes zu thun, die Leute, die ihr beſtohlen habt, zu entſchaͤdigen, und da Friedeund475und Ruhe zu ſtiften, wo ihr Zank und Zwiſt verbreitet habt. Seht! wie nahe liegt der Mord, das lezte ſchrecklichſte Cainsverbrechen in dieſer Welt, dem erſten Schritt vom rech - ten Wege! Wie nahe! Wir werden uns ſchwerlich in dieſer Welt mehr ſehn, wie ſehr aber wuͤrd ich mich freuen, wenn wir uns da zuſammen finden wuͤrden, wo wir beyde Partheyen ſind, und wo ich auch mein Rich - teramt dem, der mich damit belehnt hat, ab - zugeben verbunden bin. Thut eure Pflicht, brave tapfere Soldaten! nehmt dieſe Frevle - rin hin! Vor der Hand kann ſie nach ins Gefaͤngniß abgeliefert werden, bis ihres weitern Transports wegen von hoͤherm Ort Verhaltungsbefehl erfolgt.

Gott bekehre die Frevlerin!

ſaluis omnibus.

Dieſes Promemorias wegen, muſten der Unterofficier und die zwey Mann eine Meile vor L einen ſo genannten Augenblick, der aber eine Stunde war, verziehen, indem der Deputatus noch hier und da ein Wort nahm und gab, und nun nach L

Das erſte, was Deputatus vornahm, war die Belagerung des Hauſes desverſtor -476verſtorbenen und da er damit fertig war, gieng er gerade zu ins Hauß, und re - dete den Wirth ohn ihn zu ſehen an:

Er moͤchte wohl bedenken, was er naͤchſt Gott Sr. Majeſtaͤt ſchuldig waͤre, nemlich treu, hold und gewaͤrtig zu ſeyn, das Beſte Sr. Majeſtaͤt uͤberall zu befoͤrdern, Schaden und Nachtheil aber zu verhindern und, nachdem er ziemlich weit in dieſer Anrede ge - diehen, ward er erſt gewahr, daß niemand, als ein altes Weib, vor ihm geſtanden. Sie war, außer einer Katze, welche ihr ſelbſt zu - gehoͤrte, die einzige lebendige Seele im gan - zen Hauſe. Er war alſo, nachdem er ſich mit dieſem Phaͤnomen bekannter gemacht, verbun - den, ſein Protokoll wie folget anzuheben

Actum L 17

Dem hoͤchſten Befehl der koͤniglichen Re - gierung von zur unterthaͤnigſten Fol - ge, begiebt ſich Endesunterſchriebener, nach - dem er die ihm zugefertigten Akten genau ge - leſen, bepruͤft, und ſich den erforderlichen Plan entworfen, nach L in die Behauſung des wo der Angabe nach Inculpatin Wil - helmine ſich aufhalten ſoll. Das Hauß iſt indeſſen voͤllig wuͤſt und bis auf eine alte Perſon leer, welche ſogleich vernommen wird.

Sie477

Sie heißt Catharina iſt acht und ſiebenzig Jahr alt, lutheriſcher Religion, naͤh - ret ſich von Kinder - und Krankenwartungen, und iſt nicht eher, als nach dem ſeligen Ab - leben des in dieſes Hauß gekommen. Der Pfarrer des Orts hat ſie dazu berufen, damit, ſo lange das Hauß nicht verkaufet ſey, welches nicht anders, als nach oͤffentlicher Feilbietung, und mittelſt gewoͤhnlichem An - ſchlage, geſchehen koͤnnte, es nicht ledig ſte - hen und am Werth einbuͤßen moͤchte. Der ſelige Mann iſt ſeit fuͤnf Wochen, wie es ihr duͤnkt, begraben und zwar Kinder - und Er - benlos. Sein Haab und Gut iſt, nach ſei - nem letzten Willen, den Orts Armen zu Theil geworden. Die Comparentin ſagt, ich ſelbſt hatte Urſach ſeine kalte Hand zu kuͤſſen. Der Prediger iſt Teſtamentswaͤrter und Vollſtrecker geweſen, und um ihren eigenen Ausdruck bey - zubehalten es iſt viel davon zu ſagen. Zur Sache fuͤhret ſie an, daß ein Frauen - zimmer, wohl gebildet wie Milch und Blut, gleich nach dem Ableben des angelanget. Sie kam ohn alle Begleitung und ganz allein an, ſagt Comparentin, und wie ich nicht an - ders weiß, in einem gemeinen Wagen mit vier Pferden beſpannet. Ihr Beſuch, der aufdieſe478dieſe Art zu ſpaͤt gekommen, hat, wie’s der Comparentin duͤnkt, keine andre Abſicht ge - habt, als ihren Verwandten zu beſuchen und ihn vielleicht, wenn es Gottes heiliger Wille ſo genehmiget, zu beerben.

Auf die Frage: ob ſich keine ſtarke Mannsperſon zu dieſer Zeit, oder vor und hernach, blicken laſſen? erwiederte ſie ja! es haͤtt einige Tage vorher ſich jemand blicken laſſen. Nachdem aber dieſem Umſtande ge - nauer nachgeſpuͤret wird; ſo kommt endlich heraus, daß dieſes ein Luftſpringer ſey, der ſich im Dorf zur Schau geſtellt. In wie weit dieſer Luftſpringer mit der Inculpatin in Ver - bindung geweſen ſey? noch ſey? und ſeyn werde? iſt der Catharine ganz und gar unbekannt.

Damit alle Gerechtigkeit erfuͤlt und bey dieſer Gelegenheit der Umſtand eingetrieben und eingemahnet werde:

ob dieſer Gaukler die ſtarke Mannsperſon mit dem gezogenen Meſſer ſey? und

in wie weit dieſer Gaukler ein Allerhoͤchſt - privilegirter ſey? wird dem Amtswachmei - ſter aufgegeben, dieſen Luftſpringer vorzube - ſcheiden. Dieſer ſtellt ſich mit ſeiner Beſtallung die allerhoͤchſt eigenhaͤndig vollzogen iſt,dar,479dar, und will durch einige Proben dem De - putatus ad oculum ſeine Geſchicklichkeit de - monſtriren, welches verbeten wird. Außer dieſer Nothdurft bringet er bei, wie der Pre - diger die Kirchſpielskinder von ihm abgepre - diget, und ganz offenbar zu verſtehen gege - ben, daß ſie beſſer thaͤten, wenn ſie was an - ders thaͤten, als einen allerhoͤchſt privilegir - ten Gaukler ſaͤhen, und daß ein Gaukler ein Gaukler bleibe, wenn er auch ein koͤnigliches Patent haͤtte, und daß dergleichen Gaukler mit koͤniglichen Patenten viel waͤren, obgleich ſie nicht alle ſpraͤngen und daß Depu - tatus kann und mag dieſe Sache nicht angrei - fen, und begnuͤget ſich zu bemerken, daß der Gaukler auch nicht den mindeſten Verdacht abſchatte, daß er die ſtarke Mannsperſon ſey, daher er abgelaſſen wird. Es iſt aller Muͤh unerachtet nichts rein, nichts von der ſtarken Mannsperſon mit dem gezogenen Meſſer her - auszubringen, und behaͤlt Deputatus wider ihn dem preußſchen, curſchen und dem Welt - publico, ſeine Rechte vor. Ob (um wieder auf Inculpatin einzulenken) die fehlgeſchlage - ne Hofnung, ihren Verwandten zu beerben, oder der Umſtand, daß der verſtorbene Ver - wandte ihren Beſuch nicht mehr annehmenkoͤnnen,480koͤnnen, oder ſonſt was anderes Schuld daran geweſen, weiß Comparentin nicht anzugeben, wohl aber daß Inkulpatin, nachdem ſie friſch und geſund angekommen, in Gegenwart des Pfarrers, der als Teſtamentsvollſtrecker (wie der Selige es angeordnet) einige Voͤgel ins Freye gelaſſen, in Ohnmacht geſunken. Der Pfarrer erſchrack nicht wenig, ſie erhohlte ſich aber wieder, und der Pfarrer nahm ſie zu ſich. Nach der Zeit hoͤrt und ſah man nichts von ihr. Es hieß: ſie iſt krank, ſie iſt immer krank aber zuweilen ſieht man ſie am Fen - ſter, nach der Kirche zu, ſtehen oder ſitzen. Wer ſie zuruͤck haben will, darf nur ſtehen blei - ben, weg iſt ſie. Es kommt zwar ein Doktor zum Pfarrer; aber man weiß nicht, ob zu ihr? oder zu wem anders? Seit dem ſie ins Hauß gekommen, iſt alles beim Prediger wie um - gekehrt. Man ſagt ſogar, es ſey eine Ver - lobung zwiſchen dieſer Unbekannten und Gott - bekannten, und noch Jemand vorgefallen wenigſtens ſind zwoͤlf Perſonen beim Pfarrer eingeſchloſſen geweſen, und heißt es, Gott verzeih mir meine Suͤnden, ſie haͤtten all com - municirt! Auf die Frage: ob der Pfarrer ver - heyrathet ſey? erfolgt die Antwort: er iſt ver - heyrathet, er iſt auch nicht verheyrathet ſeine481ſeine Frau iſt melancholiſch, Gott weiß wovon, er lebt nicht ſo recht zuſammen mit ihr. Jetzt ſoll alles uͤber und uͤber ſeyn. Es iſt viel zu ſagen. Melancholiſch iſt die Pfarrin zwar ſchon zum Theil vorhin geweſen, aber, aber

Deputatus traͤget Bedenken aus dieſen, dem exemplariſchen Lebenswandel des Pfar - rers ſehr entgegen arbeitenden Umſtaͤnden, Schluͤſſe zu ziehen, und der Comparentin ihren Seelſorger durch einige naͤhere Fragſtuͤcke uͤber

die Aufnahme der Inculpatin Wilhel - mine ?

deren Verlobung?

und der Schwermuth die Pfarrin? ver - daͤchtig zu machen, oder fals Comparentin ſchon von ſelbſt, wie es faſt das Anſehen hat, auf dieſen Verdacht gefallen, ihn nicht zu beſtaͤrken, und dieſen Funken anzufachen. In der Hauptſach iſt kein anderer Weg, als Inculpantin beym Pfarrer aufzuſuchen, dies Protokol dort fortzuſetzen, und vorſchrifts - maͤßig uͤberall zu verfahren v. s.

N. N.

Waͤhrend der Zeit, daß Deputatus ſein Verhoͤr ſchloß, und ſeinen Muthmaßungen freyen Lauf ließ, gieng Catharine ſpornſtreichs zum Pfarrer, drengte ſich beyZweiter Th. H hMinen482Minen vor, und ſagte der Aufgeſtandenen gerade zu unter die Augen, daß ein Herr mit Soldaten da waͤre, um ſie zur Haft zu ziehen.

Wie wußte dies Cathrine?

Und wie wußte der Deputatus, daß die Pfarrin, die doch die Lindenkrankheit hatte, Minchens wegen noch tiefer in Schwermuth geſunken? Sorget nicht fuͤr den andern Morgen, ein jeder Tag wird fuͤr das Seine ſorgen, und es iſt genug, daß ein jeg - licher ſeine eigene Plage habe; findet auf den Verdacht und das Mistrauen Anwendung, zu dem die Rechtsgelehrten oft aus Amtspflicht verbunden ſind, obgleich ſie den Grundſatz de - bitiren: jeder iſt gut, bis das Gegentheil erprobt und W. R. J. erwieſen iſt. Es iſt kein mistraui - ſcher Volk, als das rechtsgelehrte. Tau - ſendmal hab ich gefunden, daß ſich die Men - ſchen uͤberhaupt hiedurch gefliſſentlich ihr Le - ben truͤben, und ſich vor dem Teufel und ſei - nen Engeln fuͤrchten, wenn gleich keine da ſind.

Ob Catharine die Gabe der Feinheit ge - habt, weiß ich nicht; allein das weiß ich, daß Mine nur einen Hauch noͤthig hatte, um o Gott! wieder zu ſinken. Eine geknikteLilie483Lilie kann ein Zephyr niederwerfen. Ein Hauch iſt Sieger uͤber ſie. Catharinens Zudring - lichkeit und der Voͤrfall, daß Mine eben am Fenſter ſtand, da die Soldaten anruͤckten, ſchlug ſie ganz und gar nieder, und nie hat ſie ſich weiter aufgerichtet nie! Fuͤr ſie war keine Quelle mehr, die den muͤden ab - getragenen Wanderer am ſchwulen Tag er - goͤtzt. Kein Trunk mehr kuͤhlte ſie! Sie hatte ausgelebet! den letzten Lebenstropfen koſtete ihr dieſer Vorfall. Gott, rief ſie, in deine Haͤnde, in deine Haͤnde! nicht Herr in die Haͤnde meiner! deiner Feinde! Dir, dir, Herr! leb ich, dir, dir ſierb ich! Der Pfarrer hatte genug mit dem Juſtizrath zu thun, und konnte nach der kraͤnklichen Pflanze nicht ſehen, die er bisher mit ſo vieler Sorgfalt jedem Sturm, jedem ſengenden Sonnenſtral entzogen, die er gepfleget, wie ein Vater eine kranke Tochter pflegt, die ſei - nem ſeligen Weib aͤhnlich iſt.

Das Paſtorat, oder, wie man in Preuſ - ſen ſpricht, die Widdem, war von Soldaten umzingelt. Mine war ohne Troſt, ohne Leben. Das ganze Hauß war in Aufruhr, und die arme Predigerin uͤber dieſen Vorfall ſo weg, daß ſie voͤllig aus ihrem Geleiſe trat,H h 2und484und Zeter rief, Zeter! Rettet und Huͤlfe! Huͤlfe! Der Wachmeiſter, deſſen Stimm ins Hauß einſchlug, hatte ſie voͤllig erſchuͤttert. Ihre Nerven waren fein, das Geweb einer Spinne, wuͤrd ich ſagen, wenn Spin - nen gut waͤren. Kein Wunder! daß ſie aller Faſſung und Beſinnung entwich! Erbar - mung! Erbarmung! Weh! weh! krieſch ſie und flog wie Espenlaub! Jedes Glied war in Bewegung. Sie hauen die Lin - den, ſchrie ſie! die lezten ! meine Rinder geraubt ! meine Tochter! bete doch, bete doch, Gretchen, ha! wie er ſie entfuͤhrt, der Boͤſewicht! Mein Mann in Retten und Banden! was hat er gethan? Die arme Tochter, wenn ſie nur gewuſt haͤtte, wornach ſie greifen wolte, waͤre ſie gluͤcklich geweſen. Es lag ihr hart an, ob ſie Mutter oder Minen troͤſten, ſtaͤrken, und in die Arme ſchluͤßen ſolte. Catharine, wenn ſie zu ihrem Beicht - vater gegangen waͤre wuͤrd all dieſem Jam - mer vorgebeugt haben! Allein jetzt alles, alles, aus! Der gute Prediger war der lezte, der dies Erdbeben merkte, und da ſah er auch ſchon den Schlund weit! weit! offen! Herr! hilf! ſchrie er, es lag zu viel auf ihn, wir verderben! Er wolte ſich dagegen baͤumen;allein485allein konnt er? Ueberall Jammer! Der Inſtizrath hielt alles dies fuͤr Gewiſſensauf - gaͤhrung, und wollt eben thun, was ſeines Amts war, da ihn der Prediger bat, ſo viel Menſchlichkeit zu haben, und ihm nur eine Viertelſtunde Faſſungszeit zu bewilligen und, ehe dieſe abgelaufen, keine Gewaltthaͤtigkeit in einem Kirchenhauſe zu beginnen. Der Ju - ſtizrath fand Bedenklichkeiten. Gott, ſagte der Prediger, wird ihnen die Viertelſtund in ihrem lezten, in ihrem letzten, vergelten ich bin ein geſchlagener ein ungluͤckſeliger Mann!

Der Juſtizrath gab ihm dies Sterbvier - telſtuͤndchen mit dem Beding nach, daß der Wachmeiſter vor Minens Thuͤr ſich lagern koͤnnte. Es war ein erſchrecklicher Kerl. Wenn er nur nicht donnert, ſagte der Pre - diger, das ſoll er nicht, erwiederte der De - putatus; allein er bedachte nicht, daß ein Segen in dem Munde dieſes Menſchen Fluch waͤre. Es konnte dieſer Henkerhandlanger nichts als Zeter rufen, und Staͤbe brechen, und Moͤrder ſchließen, und Leitern zum Gal - gen anſetzen.

Ein Maͤrtyrer wuͤrde hier die Standhaf - tigkeit verloren haben. Seine Geduld wuͤrd H h 3aus -486ausgeriſſen ſeyn. Da ſtand der Wachmei - ſter, wie eine Katze vorm Keficht, und die Soldaten, als wenn hungrige Tyger vor der Thuͤre witterten. Des Juſtizraths Au - gen glaͤnzten vor Wonne, als haͤtt er Gott einen Dienſt gethan. Er ging auf und nie - der, in Erwartung der Dinge, die kommen ſollten.

Der Prediger blieb eine kleine Weile im Lehnſtuhl, ſchlug die Haͤnd in einander, ſprang auf, und wand ſich zu ſeiner Frau! Gretchen, ſeine Tochter, hatt ihm dieſe Sorg anheim geſtellt. Faſſe dich! Seele, beruhige dich, wilſt du mit Gott rechten, ſagte der arme Prediger? Harr auf den Herrn. Die Linden ſollen bleiben, und deine Tochter ſoll gruͤnen, wie die Weiden an dem Kirchengraben. Ich bin nicht in Ketten und Banden. Gretchen iſt nicht entfuͤhrt, ſie ſoll nicht einen Boͤſewicht, ſondern wenn Zeit und Rath kommt, ihren Hanſen haben. Hoͤr auf mit Zeter und Weh. Man ſucht hier jemand, der nicht hier iſt.

Dieſe herzliche Troſtworte haͤtten den Juſtizrath freylich auf andere Gedanken brin - gen koͤnnen und ſollen; allein er ließ nicht von Catharinens Hand, die ihn leitete undfuͤhrte487fuͤhrte auf unebner Bahn, und von der er jedes Wort als baar annahm. Die Spra - che des Herzens iſt nicht jedermanns Ding. Sie findet ſich nicht, wie das Griechiſche, nach einem bewaͤhrten Spruͤchwort, und wenn ich mich recht beſinne; kann ich nur dieſe Herz - lichkeit den Verliebten zuſtehen wie kaͤme ſie an einen koͤniglich preußiſchen Juſtizrath, der gemeinhin ein rechtlicher Dominikaner von Hauß aus iſt. Der gute Mann hatte Muͤhe, die verſtattete Friſt unverletzt und unbefleckt zu halten. Welche Frechheit, dacht er, man ſucht hier jemand, der nicht hier iſt. Er dacht es bey allem treufleißigen Ruͤckhalt, doch ſo laut! ſo laut! Eben ſo uͤberlaut, als es ſein marktſchreyender Wachmeiſter ge - ſagt haben wuͤrde. Wie konnt er bey die - ſem Gedanken ſitzen bleiben! Dieſe Worte: Man ſucht jemand, der nicht hier iſt brachten ihn auf die Fuͤße, nachdem er bis da - hin Platz genommen. Armes, armes Weib, du ſolſt glauben! Solch einen Glauben hab ich in Iſrael nicht funden. Glauben! was ſie anders mit ihren ſichtlichen Augen geſe - hen hat! Ein feiner Glaube! Die Un - geduld des Juſtizraths war unbeſchreiblich, ſie hatte nicht in der Widdem Raum, erH h 4gieng488gieng in Gottes weite Welt mit den Vorſtel - lungen: mein Haus iſt ein Bethaus, ihr aber habts gemacht zu einer Moͤrdergru - be! Es war das beſte, daß er gieng indeſſen ließ er die Widdem nicht aus den Augen, um zu bemerken, wer zn ihrer Thuͤr aus oder eingieng. Der ploͤtzliche Aufbruch des Juſtizraths beruhigte die arme Predigerin mehr, als der Zuſpruch ihres Mannes. Sinn - lichkeit gegen Sinnlichkeit. Sie ward ſtill, das war ein gutes Zeichen, der Prediger be - nutzte dieſe Stille, und ließ ſeine Tochter ru - fen, die das Werk vollenden mußte. Er loͤſete ſie bey Minen ab, die er ſtaͤrker fand, als er glaubte. O Mann Gottes, fing ſie an! ich ſoll? oder ſoll ich nicht? in die Haͤnde der Menſchen! Nein, Sie ſollen nicht, antwortete der Prediger, allein ſie blieb bey ihrem entſetzlichem: ich ſoll, und konnte ſich davon nicht abgewoͤhnen. Es gieng dem Prediger durch die Seele, ſie ſo leiden, ohne Hofnung, ohne Zutrauen, lei - den zu ſehen! Er kniete nieder, und betete kurz! ſtark! himmelſtuͤrmend! und nun auf dies Gebet verſprech ich Ihnen, ſagt er zu Minen: Sie ſollen nicht. Sie blieb ſtill. Nach der Zeit geſtand ſie, daß es ihr wie -der489der eingefallen ſey, ſich ſelbſt das Leben zu nehmen, um nicht ein ſchreckliches Schau - ſpiel der Bosheit zu werden. Ihre ſtarke Einbildungskraft hatte ihr den v. E. in der Naͤhe gezeigt, frohlockend uͤber ſeine gegluͤckte Rache alle ſeine Helfer und Helfershelfer, die ihr nach der Seele ſtanden, waren ihr erſchienen, und dieſe Erſcheinungen waren ihr ſchwer zu ertragen. Mine litte ge - waltig; indeſſen ließ Gott ſie nicht verſucht werden uͤber Vermoͤgen. Er, der ſie aus ſechs Truͤbſalen erloͤſet, ließ ſie auch jetzt nicht verzweifeln. Sie unterdruͤckte die auf - ſteigenden Selbſtmordgedanken beym erſten Anfang. Das weggeworfene Meſſer und auf ihm die Tropfen Menſchenblut, fielen ihr ein (Sie ſah alles, was ihr ein - fiel ) Das Gebet des Predigers hatte eine Nachwuͤrkung Sie fand ſich Sie ſchmeckte Troſt in dem Kelch der Leiden, und dieſe Pruͤfungsſtunde kuͤhlte ſie etwas ab; indeſſen blieb ſie noch aͤngſtlich wegen der Dinge die kommen ſolten.

Der Prediger gieng zum Juſtizrath

Eben recht, fieng dieſer an!

  • Der Prediger. Und wenn ich jetzt fragen darf?
H h 5De -490
  • Deputatus. An mich iſt zu fragen
  • Prediger. So erbitt ich mir die Erlaubniß zu antworten.
  • Deputatus. Schrecklich wenn ein Prediger ſelbſt!
  • Prediger. Ungluͤckliche aufnimmt?
  • Deputatus. Und eben dadurch Ungluͤckliche macht. Herr Prediger! Ich wuͤnſcht ich waͤr zu dieſem Auftrage nicht
  • Prediger. Und dieſer Auftrag?
  • Deputatus. Nicht mehr, und nicht weniger, als die Diebin, die Laͤuferin, ja ich kann Moͤrderin hinzuſetzen, das kann ich, der ſie in ihrem Hauſe Obdach gegeben, zur gefaͤnglichen Haft zu bringen, damit ſie an Stell und Ort leide, was ihre Thaten werth ſind.
  • Pred. Ach Gott, vor dir iſt kein Lebendiger gerecht! Du weiß’ſt
  • Deput. Er weiß! allein leider! auch Men - ſchen wiſſen
  • Pred. Fuͤrchtet euch nicht vor denen, die den Leib toͤdten, und die Seele nicht toͤd - ten moͤgen, ſpricht mein Herr und Meiſter, der mit Zoͤllnern und Suͤndern umgieng.
  • Deput. Aber es nicht ſelbſt ward.
  • Pred. Das hof ich auch nicht
De -491
  • Deput. Er war Herr und Meiſter, und Sie Prediger in L . Von ihm, dem Hei - ligen, konnt es nicht heißen: gleich und gleich
  • Pred. Wenn Sie ſelbſt wuͤßten
  • Deput. Ich weiß alles.
  • Pred. Deſto beſſer!
  • Deput. Und vorzuͤglich, daß Sie den Na - men der Communion entweihen, daß Sie den Ihren Herrn und Meiſter nennen
  • Pred. der es in ſeinem Leben, Leiden und Sterben iſt.
  • Deput. Das koͤnnen Sie ſagen?
  • Pred. Das kann ich!
  • Deput. Mir?
  • Pred. und dem ganzen Juſtiz Collegio
  • Deput. und ihren Frauen? man ſucht hier jemand, der nicht hier iſt.
  • Pred. Sie iſt zuweilen nicht bey Troſt
  • Deput. und wer hat ſie troſtlos gemacht? Wer ihr den Kopf verdreht? Wer?
  • Pred. Der Lindenbaum! der ſo alt wie ſie war, und in ihren letzten Wochen aus - gieng!
  • Deput. Herr meinen Kopf ſollen ſie nicht verdrehen. Irret euch nicht, Gott laͤßt ſich nicht ſpotten, und ich auch nicht. Meine492Meine Geduld iſt wie die viertelſtuͤndige Friſt zum Ende. Kurz und gut, der Koͤnigliche allerhoͤchſte Auftrag ans Colle - gium Wir Friedrich von Gottes Gnaden, Koͤnig in Preußen, Marggraf zu Bran - denburg, des heiligen roͤmiſchen Reichs Erzkaͤmmerer und Churfuͤrſt ꝛc. Unſern gnaͤdigen Gruß zuvor. Edler, hochge - lahrte Raͤthe,
  • Pred. Daß ſich Gott erbarme!
  • Deput. liebe getreue! aus der Anlage wer - det ihr erſehen, was die curlaͤndiſche Negierung wegen einer aus dem Dienſt entlaufenen Diebin Wilhelmine bey Uns angeſucht und zu verfuͤgen ge - beten.
  • Pred. und ich bitt um Gottes Willen
  • Deput. Ob nun gleich ſo viel Umſtaͤnde wi - der ſie aus dem gerichtlich abgehaltenen Protokoll und der, in Curland von dem v. E.
  • Pred. Gott erbarm dich! und bekehre was zu bekehren iſt.
  • Deput. eingereichten Vorſtellung hervor - gehen, daß die beſagte Perſon nicht al - len Ruͤgen zu entwachſen im Stande iſt; ſo493 ſo befehlen Wir euch jedoch dieſe Wilhel - mine zuerſt durch einen zu er - nennenden Deputatum abhoͤren zu laſ - ſen. Finden ſich bey dieſem Verhoͤr Um - ſtaͤnde, welche die curſchen Angaben ent - kraͤften, und als Milderungs - oder wohl gar Aufhebungsumſtaͤnde in den Rech - ten geltend zu machen waͤren; ſo iſt es des Deputati Pflicht, die ihm hiemit auferlegt wird, wegen ihrer Perſon eine leidliche doch genaue Aufſicht anzuord - nen, oder die etwa einzulegende rechts - guͤltige Caution anzunehmen, und in Rechtsform einzulenken.
  • Pred. Ich cavire mit Leib und Seel, mit Leib und Leben!
  • Deput. Das glaub ich im Fall ſich aber alles den eingeſandten Schriften gemaͤß verhaͤlt und angeruͤgte Wilhelmine nicht das mindeſte von ſich abzulehnen in den Umſtaͤnden iſt, was als Rechtfertigung, Entſchuldigung, Vertheidigung vor den Ding - und Rechtsſtuͤhlen zu gebrauchen waͤre; ſo muß Wilhelmine ſogleich dingfeſt gemacht werden. Zu dem Ende habt ihr die naͤchſte Garniſon von L zu erſuchen, euch hinlaͤngliche Mannſchaft zu494 zu bewilligen, und dieſes Requiſitorial - ſchreiben eurem Deputato anzuvertrauen, um davon beym Befinden der Sache, ohne aufhaltende Ruͤckſchrift an euch, augen - blicklichen Gebrauch machen zu koͤnnen. In allen Faͤllen liegt dem von euch zu be - ſtimmenden Deputato ob, ſo genau als ſchleunig an Uns Bericht zu erſtatten, da - mit in dieſer Sache, entweder den Wuͤn - ſchen der curlaͤndiſchen Regierung gemaͤß, oder anders wie, in alle Wege aber recht - lich, die Verfahrungsart eroͤfnet werden koͤnne. Das iſt unſer eigentlicher Wille. Sind Euch mit Gnaden gewogen. Gege - ben Koͤnigsberg den 17
  • Pred. Tauſend Dank fuͤr dieſe Eroͤfnung, und nun?
  • Deput. Und nun werd ich Wilhelminen ver - hoͤren, ſie dingfeſt machen, und nach ins Gefaͤngniß bringen laſſen.
  • Pred. Wenn ſie aber unſchuldig iſt? wenn ich Caution einlege? wenn
  • Deput. Kein Wenn weiter Sie verdienen nicht, daß man ein einziges von Ihnen hoͤrt, damit ich Ihnen gerad aus mein Herz aus - ſchuͤtte, und alle Wenns auf einmal be - nehme.
Pred. 495
  • Pred. Wenn Sie aber erlauben wollen
  • Deput. Wieder Wenn!
  • Pred. Die Koͤnigliche Landesregierung, (um gerade zu, und ohne Wenn, meinem Her - zen Luft zu machen,) hat nur Bedingungs - weiſe den gefaͤnglichen Haft verfuͤgt, und dem Collegio nicht[uͤberhaupt] nachgelaſſen, die Garniſon um Beyhuͤlf anzutreten. Ich weiß alſo nicht, warum mein Hauß bela - gert iſt, und ich, wie Jeruſalem, an allen Orten geaͤngſtiget werde, ehe noch Minchen verhoͤret worden. Sie iſt die Ehre ihres Geſchlechts.
  • Deput. Und Sie, Herr Prediger! nicht wahr, die Ehre ihres Standes?

Hier loͤſeten ſich die Raͤthſel; denn der gute Prediger konnte die wohlgemeinte Grobheiten des Deputatus laͤnger nicht tragen. Er dul - dete, da ihm die Grenzen des Auftrags die - ſes feurſpeyenden Rechtsgelehrten, und ſeines Spießgeſellen, unbekannt waren. Jetzt ſah er keine Verbindlichkeit ein, den Deputatus im verkehrten Sinn reden zu laſſen, was nicht taugt; und da ihm der Juſtizrath ſeine Zwei - fel entdeckt, und der redliche Prediger ihm den Unſinn von dieſem Vorurtheil gewieſen hatte, ging Deputatus in ſich, und hatte nichtswei -496weiter in petto. Wenn man ſich eine geraume Zeit im Cirkel herumgedreht, ſchei - nen die aͤußere Gegenſtaͤnde eben dergleichen Bewegung zu bekommen, auch wenn man aufgehoͤrt hat, ſich herum zu drehen, bleiben die Objekte noch immer in einer cirkelrunden Bewegung in unſerm Auge. So gieng es dem Juſtizrath, bis ihm das Verſtaͤndniß ganz geoͤfnet war! und nun? Heftige Leute Leute uͤber Halß und Kopf, kennen nicht die Mittel - ſtraße, und unſer Deputatus war nun wieder ſo aufs Haupt geſchlagen, daß er nicht aus noch ein wuſte. Der Prediger gab ſeiner Gewiſſens - regung, Minen mit eigenen Augen zu ſehen, nach. Sie ſollen, ſagte der Prediger, wie Tho - mas, alles handgreiflich haben, und gieng hin, Minen zu dieſem Beſuch vorzubereiten. Da der Deputatus ſie ſahe, fiel er zuruͤck. So hatt er ſie ſich nicht vorgeſtelt!

Gott ſey mir Suͤnder gnaͤdig, fing er aus dem Innerſten an, ſah die abgezehrten Haͤn - de, die eingefallenen Augen, und die langſam und Seligſterbende! Mit einem Blick hatte er alles. Er konnte nach dieſem Blick ſeine Augen nicht mehr aufthun. Das erſte war, daß er die Soldaten abgehen hieß, die nicht ſehr mit dieſer Commißion zufrieden wa -ren497ren, auch der Amtswachmeiſter muſte mit Schanden unten an ſitzen, und im Wirths - hauſe ſeine Diaͤten verzehren. Dies geſchahe gleichfals nicht ohne Kopfſchuͤtteln. Man ſah es dem Peiniger an, daß er gern Ketten und Band angelegt haͤtte.

Da ſtand der Juſtizrath, wie von Gott verlaſſen!

Mine wuͤnſchte, nachdem er lange vor ihr als Inculpatus geſtanden, allein zu ſeyn, er ſchwur, er koͤnne nicht von dannen, bis ſie ihm verziehen haͤtte. Mein Gott, was iſt der Menſch? Ein trotzig und verzagt Ding. Wer kann ihn ergruͤnden?

Der Deputatus weinte bitterlich.

Mine hob ihre halb abgeſtorbene Haͤnd - auf, und blickte den Bußfertigen ſanft laͤ - chelnd an. Ihr Blick ſagte: Sie wuſten nicht, was Sie thaten.

Er hatte ſich vorgenommen, ihr einige Fragen, wiewohl außerhalb den Grenzen ſeines Promemorias, zu thun; allein er konnte nicht.

Kommen Sie, ſagte der Prediger, da - mit wir uns nach langem Mißverſtaͤndniß mit Herz und Seele verſtehen. Der Predi - ger erzaͤhlt ihm den lezten Theil von Mi -Zweiter Th. J inens498nens Lebenslauf, um dem Deputatus die curſchen Papiere in einem andern Licht, und uͤberall verborgene Schlangen, zu zeigen. Der gute Rechtsgelehrte konnte ſich nicht be - ruhigen, und wenn der Prediger ihm nicht grosmuͤthigſt die Folgen verſchwiegen haͤtte, welche dieſer Vorfall auf Minens Geſund - heitsverfaſſungen gehabt, er waͤre nicht ge - ſund aus dem Kirchenhauſe gekommen, wel - ches ſchon ohnehin in aller Form ein Lazaret war. Er den Mittag beym Prediger. Gretchen wollte nicht mit eſſen. Der Predi - ger muſte es verlangen. Sie kam; allein ſie konnte den Deputatus nicht anſehen. Die Predigerin hatte ſich uͤber alle Erwar - tung ziemlich erhohlt. Der arme Rechts - gelehrte konnte nicht eſſen, nicht trinken. Er war unlaͤngſt ans Collegium wegen ſei - nes bekannten Dienſteifers, der ein ander Ding als Dienſtverſtand iſt, gekommen, um die Schwachen und Kranken, und zum Theil entſchlafenen Mitglieder dieſes Colle - giums, wieder herzuſtellen. Seine Un - bekanntſchaft mit ſeinem Kreiſe trug viel zu dieſer Uebereilung bey. Bey Tiſch uͤberfiel den Bußfertigen und Zerſchlagenen der Ge - danke, ſein Amt in die Haͤnde der Obern zulegen.499legen. Er hatte zu leben. Aus Noth durft er nicht ein Zelote ſeyn, und ſich vom Dienſt - eifer freſſen laſſen.

Nachdem ich ſo uͤbel gerichtet, kann ich, frug er, kann ich wohl hinfort mehr Haus - halter ſeyn? Bei dem Blicke der Unſchuld: ſie wußten nicht, was ſie thaten! wie ward mir Gott! kalt unter den Fuͤßen.

Der Prediger ſucht ihn von dieſem Ge - danken zu entfernen; allein er blieb. Wie kann ein Menſch, fieng er an, ſeines Bru - ders Richter ſeyn? Bin ich darum gerecht, wenn ich nicht uͤber Dinge ſtrauchle und falle, uͤber die andere ſtraucheln und fallen? Je - der Menſch hat ſeine beſondere Welt, ſeine beſondere Klippe, ſein ihm eigenes Fleiſch und Blut. Ja und Nein ſey mir genug! Ich will nicht richten, damit ich nicht auch gerichtet werde!

Gott, ſchrie er, der du aller Welt Rich - ter biſt, und ſtand auf, dir! ſtehen wir, dir! fallen wir, und brach die Haͤnde. Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, vor dir iſt kein Lebendiger gerecht. Wer kann vor dir beſtehen! wer?

Der Prediger verſichert ihn, nachdem er ihn ganz um und um kennen gelernt, daßJ i 2wenn500wenn je ein Mann den Namen Nathanael verdiente, er’s waͤre. Der heutige Fall ſey in gewiſſer Art Nathanaels Geſchichte. Er ſagte in Beziehung auf meinen Herrn und Meiſter, fuͤgte der Prediger hinzu, wie kann aus Nazareth etwas Gutes kommen? Allein Chriſtus nennt ihn dem unerachtet einen Iſ - raeliten, in dem kein falſch iſt.

Dies richtete den armen Rechtsgelehrten ziemlich auf, wozu der Umſtand einen be - traͤchtlichen Beitrag lieferte, daß Natha - nael einer ſeiner Vornamen war.

Seine Heiterkeit war indeſſen nicht dau - erhaft. Er konnte nicht aufhoͤren, ſich Zwei - fel vorzuwerfen. Wenn ich ſchwiege, fuhr er fort, wenn ich ſchwiege, wuͤrden die Steine ſchreyen. Minens Geſchichte gieng ihm ge - rade durch die Seele, und doch bat er ohn End und Ziel, ſie ihm zu erzaͤhlen, und das Erzaͤhlte zu wiederholen. Mein taͤgli - ches Gebet ſoll ſeyn, ſagte der Bußfertige: Schaf in mir Gott ein reines Herz, und gib mir einen neuen gewiſſen Geiſt!

Er erſuchte den Prediger ſo oft und viel, ſein Freund zu bleiben, daß der gute Pre - diger herzlich bewegt war. Wahrlich, werim -501immer mit ſchand - und laſterhaften Men - ſchen im Gemeng iſt, bekommt am End ein Inquirentengeſicht. Er findet uͤberall arme Suͤnder und Suͤnderinnen, Diebe, Raͤuber und Moͤrder. So unter Nathanael, der den Menſchenblick eingebuͤßet, und nur blos dieſen Blick uͤbrig behalten hatte, den man nicht Richterblick nennen kann. Dieſer Fah - nenſchwung iſt ein defenſio ex officio, die ich dem Nathanael ſchuldig bin. Der Pre - diger, (von dem ich dieſes alles haarklein habe,) und Nathanael ſprachen viel von Menſchenkenntniß. Ihr Endurtel war, der Menſch ſoll offen ſeyn; allein er iſt unzugang - bar. Wer die Menſchen leicht findet, hat nicht ſie, ſondern ſich geſucht und gefunden, wer andere richtet, beſtrafet ſeine Unart in andern, und glaubt ſich eben dadurch weiß gebrannt zu haben, wie die liebe Unſchuld. Wer hinter dem Fenſter in ſeinem ein - ſamen Zimmer ſteht, kann alles ganz deut - lich wahrnehmen, was auf der Straße vor - geht, ohnerachtet er von den Leuten auf der Straße entweder gar nicht, oder doch nicht deutlich, geſehen wird. Es kommt mehr Licht aus der Straße ins Zimmer, als aus dem Zimmer in die Straße.

J i 3Alle502

Alle dieſe Vorſtellungen loͤſeten ſich jetzo beim Nathanael auf, (und damit ich mit der Erlaubniß meiner Leſer vorgreife,) er legte wuͤrklich ſein Amt uͤber ein Kleines nieder, und iſt nicht mehr Richter im Volke. Dies Geſchaͤfte war ſein leztes. Ich muß eine Stell aus dem Briefe des Nathanaels an den Prediger in L , in dem er ihm ſeinen Er - laß eroͤfnete, praͤnumerationsweiſe herſetzen, ich mag wollen oder nicht.

Ich lege mein Amt nieder, um dem Herrn zu dienen, und auf ebener Bahn zu wandeln. Es muß eine Zeit der Heiligung ſeyn, ein Reinigungsperiod ein Feg - feuer ein Selbſtgericht, ehe wir vor Got - tes Richterſtuhl treten. Dieſe meine Stund iſt kommen ich will mich ſelbſt richten und den Krieg Rechtens mit mir ſelbſt an - ſtellen. Ein ſchoͤn Stuͤck Arbeit! Nur bloß auf dieſe Weiſe ſollen fortan meine Vermuthungen, wenn ſie nicht zu Gunſten meines Herzens ausfallen, zu Tagefahrten und Protokollen Gelegenheit geben.

In dieſem einzigen Fall kann Riemand zu ſtrenge ſeyn; allein um andere zu rich - ten, wahrlich Niemand gelind genug ich503 ich beſitze nicht Richterkaͤlte, nicht Entſchei - dungsfaͤhigkeit.

Wenn ihn der Prediger nicht an den Be - richt und an den Amtswachmeiſter erinnert haͤtte; er haͤtte weder Bericht erſtattet, noch den Amtswachmeiſter mitgenommen, der ſchon uͤber ſeine Diaͤten getrunken hatte, und den Nathanael ins Geheim, doch wegen ſei - ner durchfahrenden Stimme, ſo daß es je - dermann hoͤren konnte, um Loͤſegeld anſprach. Nathanael ließ dem Prediger alle Akten, und bat zur Probe ſeiner Vergebung, und zum Siegel der ihm zugeſtandenen Freundſchaft, dieſen Bericht aufzuſetzen. Das Promemo - ria konnt er ſo wenig anſehen, als Gretchen ihn. Die Predigerin lief noch vor ihm.

Hier iſt der Bericht, oder vielmehr ſein Inhalt; denn meine Leſer haben, wie ich ſelbſt zu befuͤrchten anfange, ſchon zu viel Cu - rialien geleſen.

Es wird die ſchlechte Denkungsart des Herrn v. E. und des Herrmanns aufgedeckt, und der Geſichtpunkt eroͤfnet, aus dem die - ſer ganze Vorgang zu nehmen iſt.

J i 4 Die504

Die lezten Worte des Sterbenden ent - fernen ſchon den Begrif des unterlaufenden Betrugs und der Falſchheit, und was ſolte dieſe Sterbende, die vielleicht nur noch ſehr wenige Stunden in dieſer jammervollen Welt zu leben, und keinen Transport nach Cur - land, oder ſonſt eine uͤble Begegnung zu be - fuͤrchten hat, was ſollte dieſe Sterbende, welche der Tod gegen alles in Schutz genom - men, was ſolte ſie wohl bewegen, mit Ge - wiſſensbiſſen ſich auf der Reiſe zur Ewigkeit zu beladen, und ſich eben dadurch ihre Sterb - ſtunde zu erſchweren? Dagegen decken die angegebene Maͤngel des Protokolls und der Vorſtellung, die v. E. eingebracht, uͤberall und beſonders an denen unterthaͤnigſt be - zeichneten Stellen, eine ſchlechte Abſicht auf. Ew. Koͤniglichen Majeſtaͤt kann ich auf mei - nen Amtseyd und bey meinem Seelenheil verſichern, daß ich den Eindruck, den der Anblick dieſer Sterbenden auf mich gemacht, nie verlieren werde, und wie kann eine Per - ſon, die mit ſo erhabener Faſſung, und der Selenruh einer Maͤrtyrinn, dieſe Welt ver - laͤßt, ſich ſolcher Laſter, als ihr angedichtet worden, ſchuldig wiſſen? Der Prediger hat ſich verbindlich gemacht, ſo gleichwenn505 wenn dieſe Unſchuldige im Herrn entſchlaͤft, ihren Tod Ew. Koͤniglichen Majeſtaͤt einzu - berichten ich erſterbe in tiefſter Treue Ew. Koͤniglichen Majeſtaͤt allerunterthaͤnigſter Knecht Nathanael

Meine Leſer wiſſen ſchon, daß Mine die - ſen Vorfall zu uͤberleben außer Stande war. Vielleicht waͤre ſie mit der Zeit ſo ſtark gewor - den, mich noch in dieſer Welt zu ſehen, o waͤre ſie’s doch! Gott waͤre ſie’s doch! Jetzt war hiezu keine Ausſicht. Sie ſelbſt ſagte zum Prediger, ehe dieſer Vorfall ſich vollends zu Grunde richtete, was meynen Sie, werd ich nicht bald ſtark genug ſeyn, Alexandern zu ſehen, nur ihn zu ſehen in dieſer Welt und dann! dann! laß mich in Frie - den fahren! ich habe genug! Nimm Herr mei - ne Seele! Der Prediger trug Bedenken, ihr die ganze Anlage des Herrn v. E. zu ent - decken, und beſonders war er bemuͤhet, einen Vorhang uͤber den Antheil, den Minens Va - ter an dieſer Mordgeſchichte genommen, zu ziehen! Sie drang nicht weiter. Sie war zu ſchwach, um ihre Bitte zu wiederho -J i 5len.506len. Wiederholungen derſelben Sache ko - ſten allen ſchwaͤchlichen Perſonen unglaublich viel. Sie ſahe des Predigers Bedenklichkeit, und that ihren Mund nicht auf. Ihr gan - zes, ganzes Leben war Duldung. Sie war nur ein Zuͤgling fuͤr eine andere Welt. Dies empfand ſie, wie mir der Prediger auf das heiligſte verſichert hat, ſo ſehr, daß ſie dieſe Welt nur wie die erſte Erde anſah, aus der ſie verſetzt wuͤrde. Sie war froh in Gott des Predigers eigene Worte, und ſich ſelbſt bis auf Faͤlle von der Art, wie der Tod ihres lezten Verwandten, und die Veranſtaltung zur Haft, immer gleich das heiſt, Gott ergeben. Solche außer - ordentliche Faͤlle ſchienen ihren Geiſt in der Hofnung der Kuͤnftigkeit zu verſtaͤrken; al - lein ihren ſchwachen Koͤrper fuͤhrten ſie im Triumph. Ihr Geiſt war willig, das Fleiſch ſchwach. Die Gottesfreud iſt von Dauer, ſie iſt ſich gleich, ſie jauchzt, ſie lermt und kreiſcht nicht, wie die Weltfreude, die mit aller ihrer Luſt oft nach vier und zwanzig Stunden vergehet. Wer den Willen Gottes thut, bleibt in Ewigkeit. Faſt moͤcht ich ſagen, daß die Gottesfreude niemals im Geſicht laͤge, ſie liegt tiefer und507 und im Herzen. Zuweilen erhebt ſie ſich bis zum Aug, und das ſieht denn erſt gen Himmel, eh es um ſich herum ſieht. So eine Gottesfrohe war Ihre Mine. Sie dankte dem Herrn; denn er iſt freundlich, und ſeine Guͤte waͤhret ewiglich. Freuen und froͤhlich muͤſſen ſeyn in Gott, die nach ihm fragen, und die ſein Heil lieben immer ſagen: hochgelobt ſey Gott!

Der Prediger ſetzte zu dieſem allem etwas hinzu, worauf ihn Mine gebracht hatte; die viel beten, ſind nicht froh, ſie verkla - gen den lieben Gott bey ihm ſelbſt. Sie ſind ſchwach. Allein Freud am Herrn iſt unſere Staͤrke. Nehemia im achten Ca - pitel, im zehnten Vers.

Mine betete wenig; ihr ganzes Herz war Gottes.

Nach einiger Erholung, die Minen ſo gar erlaubte, wieder aufzuſtehen, erſchlich ſie den Ort, welcher der Catharine mit zum Verdacht Gelegenheit gegeben, um nach den Gebeinen ihrer Verwandten zu ſehen. Es war ihr eine Ausſicht zum Himmel. Eben kam der Prediger, da ſie ſo voll guter Zuverſicht, ſo voll Seelenwonne hinſah, und freute ſich uͤber ihren heitern Blick. Solt ich nicht,ſagte508ſagte Mine, und erzaͤhlte dem Prediger das, was er ihr verſchweigen wolte, und die ganze Abſicht des Nathanaels mit ſamt dem Einfluß, den ihr Vater dabey gehabt faſt woͤrtlich wie er da ſtand.

Sterbende, ſagte der Paſtor, indem er mir dieſes erzaͤhlte, haben den Geiſt der Weiſ - ſagung. Ich hab in meiner lieben Gemeine Vorfaͤlle gehabt. Mine ſchien ſchon lange die Gabe der Ahndungen zu beſitzen, fuhr der Prediger fort, und ſie hatte wuͤrklich dieſe Salbung, die nicht jedermanns Ding iſt.

Hier ein Auszug eines weitlaͤuftigen Ge - ſpraͤchs, das zwiſchen dem Prediger und mir bey dieſer Gelegenheit vorfiel. Valcat, in quantum valere poteſt.

Ein großer Boͤſewicht iſt allemal ein tuͤch - tiger, ſtarker, geſunder Menſch! ein Himmels - und Hoͤllenſtuͤrmer! Es giebt auch ſchwaͤchliche, feige, hinterliſtige Bu - ben: allein dieſe erreichen nie den Grad der Bosheitsſtaͤrke, zu dem jene faͤhig ſind. Dieſe morden von hinten, jene von vorn. Den Beelzebub wuͤrd ich ſo feſt benervt, bruſtſtark, als den Herkules mahlen, nur

Wenn506[509]

Wenn aber tuͤchtige, ſtarke, geſunde Leute, Menſchen Gottes werden, welch ein Vergnuͤgen, dieſe ſtarke Geiſter, dieſe Engel (die auch ſtark ſind,) zu ſehen. Die Tu - gend, und ihre Tochter, die Religion, braucht auch in ihrem Dienſt Leute fuͤr den Riß, und Feldherren! Einen Petrus mit dem Schwert, einen Luther mit dem Tintfaß ſolchen Leuten ahndet wenig oder gar nichts, und wenn die Welt voll Teufel waͤr, und wol - ten ſie verſchlingen, wenn tauſend zu ihrer Rechten fallen, und zehn tauſend zu ihrer Linken, ſind ſie gefaßt, ſie gehen auf Loͤwen und Ottern, und treten auf junge Loͤwen und Drachen. Sie glauben nicht an Traͤume, und fuͤhlen kein Ungewitter, wenn es gleich ſchwer in der Luft liegt. Wer das Ungewit - ter vor empfindet, kommt ſchon in die Claſſe dieſer frommen Rieſen nicht. Dieſe un - beſorgte ſind ſtark genug, allem was ihnen entgegen will, auf der Stelle ſtattlichen Wi - derſtand zu thun, und uͤberall das Feld zu behaupten. Den frommen guten Seelen aber, welche ein ploͤzlicher Ueberfall gleich zu Boden reißen wuͤrd, iſt eine Warnung vor einem kommenden Ungluͤck nothwendig. Die Ahndungen ſind ihnen Wecker zur Faſſungzur510zur Geduld, zur Gottergebung. Sie ſind Sturmgloͤckchen, die ſie zum Oelkruge brin - gen, ihr verloͤſchendes Laͤmpchen aufzufri - ſchen. Dieſe Seelen ſind faſt zu ſchwaͤch - lich fuͤr dieſe Welt, wo ſo viel Streit, Jam - mer und Elend iſt. Ich bin ſchon in der - gleichen Faͤllen gewiegt, ſagte der Prediger, der ſelbſt die Ahndungsgabe zu beſitzen glaubte, ich konnte mich, fuhr er fort, in dieſe puͤnkt - lich treffende Erzaͤhlung Minchens finden, da ſie alles wuſte, warum ſolt ich laͤnger ruͤckhalten? Dergleichen Ahndungsbegabte pflegen ſich die Sachen nicht leichter zu ma - chen, und ſelbſt der Zweifel, der ſie, ſie moͤ - gen noch ſo weit in der Selbſtweiſſagung, in der Ahndung, gediehen ſeyn, bekaͤmpft, iſt ein Kampf, und kaͤmpfen macht Muͤhe.

Kurz, der Prediger las Minen alles und jedes, und auch das vor, was ich mei - nen Leſern verkuͤrzt habe. Gott Lob und Dank, ſagte Mine, daß ich ſterbe! Bey der Auſſage des Keglers, daß ſie zum Mord angefuͤhret, und den Worten: daß ſie ſich aus einem Mordmeſſer kein Gewiſſen gemacht haben wuͤrde, ſagte ſie:

Solls ja ſo ſeyn,
Daß Straf und Pein
auf
511
auf Suͤnden folgen muͤſſen;
Herr! fahr hier fort,
nur ſchone dort!

Ich muß Ihnen geſtehen, lieber Beicht - vater! fuhr ſie zum Prediger fort, daß der Vorſatz, mir ſelbſt das Leben zu nehmen, der wieder, wie ich die Gewafnete ſahe und Ca - tharinen hoͤrte, in mir Feuer faßte daß dieſer Vorſatz mir oft! oft! als etwas vor - gekommen, das mir meine lezte Stunde er - ſchweren koͤnnte. Nun ſind dieſe Stiche hin ich habe nichts, nichts mehr, was mich druͤckt! und ich fuͤhl es! Ich werde ſelig und ruhig ſterben! und wie Alexanders Mutter ſingt, wenn wir die Gedanken, wie ein Licht, das hin und her wankt, bis ihm die Flamm gebricht, vergehen; werd ich ſanft und ſtill einſchlafen ich werd ausgehen wie ein Licht. Sagt man nicht: Er iſt aus - gegangen, wie ein Licht?

Gott! ſo war ihr End auch wuͤrklich. Ihre Ahndung ließ ſie nicht zu Schanden werden. Puͤnktlich traf ſie ein. Allein Mine blieb nicht feſt bey dieſen beruhigenden Vermuthungen. Zuweilen ſchien es ihr ſchreck - lich zu ſterben, ſie nannte dies Leben einen hellen Tag, zwiſchen zwei dunklen Naͤchten. Nur512Nur des Leibes wegen, ſetzte ſie hinzu, nenn ich es ſo, meines Lebens beſſerer Theil, mein eigent - liches Leben, geht nicht aus, ſtirbt nicht. Wenn dieſe Anfechtungen Minen uͤberfielen, wie es der Prediger nannte, kam es Minen vor, daß ihr leztes, leztes Ende vielleicht ſchreckhaft werden koͤnnte, vielleicht ein Maͤrtyrer Tod; ſo wie ihr Leben ein Maͤrtyrer Leben war.

Herr, fahr hier fort; nur ſchone dort! rief ſie denn zu Gott empor! und ihr Buſen hob die Decke, ſo ſchlug ihr das das Herz!

Geſchiehet das am gruͤnen Holz, was will am duͤrren werden? ſagte der Prediger bey dieſer Erzaͤhlung und bemerkte, daß er Minen auf dieſe Stroph aus dem Liede gebracht, die er in einer Unterredung mit ihr verloren, im eigentlichen Verſtande, fuͤgt er hinzu, ver - loren; denn Sie, das weiß Gott! hatte nur mein Troſtamt noͤthig! Ich durfte nicht zu ihr ſagen: wache auf, die du ſchlaͤfſt, und ſteh auf, um noch ſo viel in dieſer Welt gut zu machen, als du kannſt. Sie war die Unſchuld ſelbſt.

Minens Troſt bey dem Gedanken, daß ihr Ende nicht ſanft ſeyn, und daß ſie nicht wie ein Licht ausgehen wuͤrde, war, daß auchdies51[513]dies ſein Gutes haben koͤnnte. Das Sterb - bette iſt weit mehr, als das Grab, die Schule der Weißheit, bemerkte der Prediger. Man erlangt ein anſchauendes Erkenntniß, wenn man den Todten da ſieht. Bein von meinem Bein, Fleiſch von meinem Fleiſch.

Sie nahm ein feyerliches Verſprechen vom Prediger, mir ihren Tod auf das aller, aller genanſte zu erzaͤhlen, iſt er ſchrecklich, iſt er ſanft! wie er war! Alles! alles! Ihm! Er braucht Lebenslehren; wenn ich ſie ihm zu - ruͤcklaſſe, ſo werden ſie ihm, das weiß ich, deſto werther ſeyn!

Einen Morgen die Sonne gieng un - bewoͤlkt auf war Mine ſchwaͤcher als je. Alle Faͤſerchen verloren ihre zuſammenziehen - de Kraft. Mine empfand dieſe Schwaͤche, und dies bewog ſie, Gretchen ſehr zeitig zu ſich bitten zu laſſen. Sie bat ſie um Licht, damit ſie ihre Briefe zuſiegeln koͤnnte. Es war das Tagebuch. Sie befahl Gretchen Gott und ſeiner Huld und Gnade, und bat mich tauſendmal zu gruͤßen tauſendmal und mir dieſes Pack, (ſie gab es ihr,) und noch andere Sachen, zu behaͤndigen, in ſeine eigene Haͤnde! ſagte ſie, und eine Zaͤhre floß ſanft ihre Wangen herab. Minens Aug undZweiter Th. K kHerz514Herz brach zu gleicher Zeit. Grete konnte nie an dieſen Herz - an dieſen Augenbruch denken, ohne bitterlich zu weinen. Mine erhohlte ſich indeſſen mit dem Tage, der ſich auch er - hohlte. Was ſie nach der Zeit ſchrieb, konnte ſie nicht mehr verſiegeln. Sie nahm die Ver - abredung mit Gretchen, dieſe Poſtſcripte, gleich nach ihrem lezten Hauch, an ſich zu nehmen, und ſie mir zu geben.

Von ihrem Begraͤbniſſe ſprach ſie wenig oder nichts. Zuweilen aͤußerte ſie den Wunſch, und auch dies nur beylaͤufig, unter ihren Verwandten begraben zu werden. Mitten unter ihnen da hat man doch gleich Be - kannte bey der Auferſtehung um ſich herum, ſagte ſie!

Ich, das bat ſie ſehr, und es ward ihr heilig verſprochen, ſolte bey ihrem Begraͤb - niß ſeyn. Vielleicht wuͤnſcht er mich noch zu ſehen! Der Arme! troͤſten Sie ihn! ich ſterbe dem Herrn, unſerm Gott, ich ſterb als Alexan - ders Freundin. Er hat mir geſchrieben, daß er gern eine Haarlocke von mir haͤtte. Wenn er nicht vor dem Haar einer Todten zuruͤckbebt, kann er ſie nehmen. Gott ſey ihm gnaͤdig!

Der Tod grub jede Stunde naͤher, um Minen ans Herz zu kommen. Sie lebte zwarnach515nach dem dunkeln Morgen noch einige Tage; allein es waren nur noch wenige Tropfen im Kelch! Sie klagte wenig uͤber Schmerzen, was ich dulde, duld ich Gott. Kopfweh, Bruſt - ſchmerz und ein ſchleichendes Fieber, waren die Zerſtoͤrer ihres Lebens.

An einem ſehr ſchoͤnen Morgen kam der Prediger zu ihr. Gretchen war ſchon da. Sie nahm den Prediger und Gretchen bey der Hand. Dank! Dank! fuͤr alles Gute! Gott lohn Sie, ſprach ſie ſehr leiſe fuͤr alles, fuͤr alles ſie ſprach noch ſchwaͤcher, ſtam - melte, ſchwieg, blickte ſehr ſchnell auf, ſah Gretchen, ſah den Prediger an, hob ihr Haupt, fiel zuruͤck, ſchloß ihre Augen und (Gott mein Ende ſey wie ihr Ende!) ſtarb

So war die Ahndung der Seligen er - fuͤllt, daß ſie des Morgens ſterben wuͤrde. Der Tag, der letzte Tag fuͤr Minen unter der Sonne, gieng ſchoͤn auf, und blieb, wie er anfieng. Gretchen war außer ſich! Sie war nicht von der Seligen zu bringen! O! der letzte Tropfen Todesſchweiß, ſchrie ſie, wie er da ſtarr ſteht, und der Prediger Gott hat abgewaſchen die Thraͤnen von ihren Au -K k 2gen.516gen. Sie iſt eingegangen zu ihres Herrn Freude! Mir fielen, ſagt er, da er mir dieſen Sterbenslauf und den Umſtand, daß ſie ihr Haupt gehoben, erzaͤhlte, die Wort ein:

Wenn dieſes anfaͤhet zu geſchehen, ſo ſehet auf, und hebet eure Haͤupter auf, darum daß ſich eure Erloͤſung nahet. Die Predigerin, als ob es ihr jemand geſagt haͤtte, empfand, daß ein Todter in ihrem Hauſe waͤre, und ward ſo unruhig, daß der gute Prediger Muͤhe hatte, ihr alles auf eine fuͤr ſie ertraͤgliche Art beyzubringen. Er, und ſeine Tochter, konnten nicht von der Leiche kommen!

Gretchen nahm, um den lezten Willen der Seligen zu erfuͤllen, ihren Brief an ſich, die ſie neben ihr fand. Sie kuͤßte ſie, und bat ihren Vater, ſie zu verſiegeln. Sie laſen beide keine Sylbe.

Der Prediger ſchrieb an ſeinen Bruder in Koͤnigsberg, mich zu erfragen, und mich zu allem vorzubereiten. Er bat ihn, Sorge zu tragen, daß ich wohlbehalten nach L kaͤme. Wagen, Pferde, und Vorlegpferde, alles war von dem Teſtamentsvollſtrecker be - forgt. Den Bruder bat er nur halb mit zu kommen; denn er wuſte nicht, daß ich ihnkannte517kannte, und daß er in Koͤnigsberg mein Beichtvater waͤre, ſo wie er es in L von Minen geweſen.

Ich darf, nach dieſem Umſtande, es meinen Leſern nicht naͤher legen, daß dieſer Bruder eben der koͤnigliche Rath, der Men - ſchenleſer, war, mit einer ofnen, weit of - nen Stirn, ſchwarzem Haar, und einem Aug, in dem man ihn zwar im Kleinen, al - lein doch ganz ſahe, und deſſen Abendgeſell - ſchaften aus einem Officier, einem Collegen, einem Prediger, einem Profeſſor, und mir beſtanden.

Der koͤnigliche Rath hatte nicht noͤ - thig, mich zu erfragen. Er ließ mir ſagen, daß er gern den Abend mit mir theilen moͤchte. Ich kam, und fand nicht den Collegen, den Prediger und Profeſſor, ſondern blos ihn! Mit einer Klugheit, die ihres gleichen nicht hat, bracht er mich auf meine Liebe, wovon ſein Bruder ihm, wiewohl nur ge - rade ſo viel, als ihm hoͤchſt noͤthig zu ſeinem Auftrage war, entdeckt hatte! Ich wuſte wo ich war. Deutlich vermuthet ich aus ei - nigen Stellen unſers Geſpraͤchs, daß der koͤ - nigliche Rath von meiner Geſchicht unter - richtet war. Das Vierteljahr, und nochK k 3viele518viele Wochen druͤber, waren laͤngſt[uͤberſchrit - ten], ohne daß ich das Tagebuch erhalten. Da ich auf alle meine Erinnerungen und Briefe keine Sylbe erhielt, ſchlug die Ahn - dung wie ein Blitz, bey mir ein, ohne daß ich mir dieſe Ahndungsgabe je zu geeignet habe, noch jetzt zueignen darf: Mine iſt hier ! Wo iſt ſie, theureſter Herr Rath, frug ich, wo? Das Feuer, womit ich ſprach, und womit ich ihm mein Herz voͤllig aufſchloß, erlaubte dieſem feinen ſehr feinen Menſchenkenner, und eben ſo großen Menſchenfreunde nicht, mir alles zu entde - cken. Ich erfuhr nur, daß Mine in L bey ſeinem Bruder waͤre! daß ſie krank ge - weſen, und daß ſie ſehr krank geweſen. Ich wuͤrde mit obgleich mein Bruder mich nur ſo, als wolt er mich nicht gebeten, ſagte der Rath allein der koͤnigliche Dienſt

Wie mir war, kann ich nicht ſchreiben, ich hab es ſelbſt nie ausſprechen koͤnnen. Gleich ſo wie ich ſtand und gieng, wolt ich in den Wagen. Er verſicherte mich, daß ich nicht noͤthig haͤtte mich zu uͤbereilen, und daß es ſchon beſſer mit ihr waͤre. Tauſend - mal wolt es mir einfallen, ſie iſt todt; al -lein519lein es wolte nur, ich ließ es nicht dazu. Ich ſtieß dieſen Einfall mit allen Kraͤften fort und baͤumte mich ſo dagegen, daß ich auch wuͤrklich nur kurz vor L mich davon uͤberzeugte. Wenn ich auf die Gegenſtaͤnd acht gehabt, welche mein Lehrer abhandelte, wuͤrd ich freylich nicht bis kurz vor L ungewiß geblieben ſeyn ich hatte, die Wahrheit zu ſagen, nicht das Herz, auf dieſe Gegenſtaͤnde acht zu haben. Es waren alles Troſtgruͤnde unter fremden Namen; un - ter ihrem eigenem taugen Troſtgruͤnd ohne - dem nichts. Sie muͤſſen all incognito kom - men. Ich hatte nicht das Herz, den Fuhr - mann eher, als kurz vor L nach Minen zu fragen. Hundertmal wolt ich, und hun - dertmal konnt ich nicht. Da grif ich Herz, und der gute Fuhrmann, dem freylich ver - boten war, mit der Thuͤr ins Hauß zu ſtuͤr - zen, ſagte mir eben alles, da er mir nichts ſagte, oder nichts ſagen wolte.

Gott! mehr konnt ich nicht. Der Fuhr - mann bot mir ein Glaß Waſſer an, um die Sache gut zu machen: allein ich hatt es nicht noͤthig. Iſts Betaͤubung, oder was iſt eine ſolche Staͤrke?

K k 4Auf520

Auf dem Kirchhofe, kurz vor dem Paſto - rat, ergriffen mich Schauer auf Schauer und ich fieng an zu zittern und zu zagen.

Der Pfarrer und ſeine Tochter kamen mir entgegen ich hatte kein Wort, ich glaub auch keinen Ausdruck, im Vermoͤgen, wenn es mir das Leben gekoſtet haͤtte. Der Pfar - rer, der, wie er mich verſicherte, ſelten einen ſo Seel und Leib geſunden Juͤngling geſehen hatte, ſah mir alles! alles! an, Gretchen wuſte nicht, was ſie denken ſollte. Todt! fieng ich nach einer ſchrecklichen ſtummen Scene an, und Todt! war alles, was ich konnte. Der Pfarrer wuſt auch nicht, nachdem er mich ſahe, womit er anfangen ſollte. Alles, worauf er ſich vorbereitet hatte, war nicht anwendbar. Er hatte ſich ein ander Bild, wie er mir nach - her entdeckte, von mir gemacht.

Todt! alles todt! ſagte ich und hielt mir den Kopf mit der rechten Hand. Der Pfarrer ergrif meine Linke. Faſſung, ſagt er ſo furchtſam, als wenn er zu fehlen glaubte, als wenn er ſelbſt nicht wuſte, was er ſagen ſolte, als wenn er ſelbſt nicht gefaſt war. Er war es wuͤrklich nicht, der gute Mann. Gott, der dieſer Zeit Leiden ſo einrichtet, daß wirskoͤn -521koͤnnen ertragen, ließ mich nicht lang in dieſen ſchrecklichen, erſchrecklichen Lage, in dieſem: Mein Gott, mein Gott, warum haſt du mich verlaſſen!

Sie ließ ſie tauſendmal gruͤßen, ſagte Gretchen, und dies Wort wuͤrkt auf meine Empfindung, die Spannung ließ nach. Mein Auge bezog ſich. O Mine! ſagt ich mit einem Ton, der Greten durch Mark und Bein gieng, auch den Prediger traf er. Sie weinten beyde auch ich fieng an zu wei - nen; allein heftig. Das Donnerwetter hatte ſich noch nicht voͤllig verzogen. Es donnerte und blitzte waͤhrend dem heftigen Regen.

Oft hab ich daruͤber gedacht, wie es zu - gegangen, daß ich nicht ſogleich gerungen, ſie zu ſehen. Nun fiel es mir auf einmal ein, wo iſt ſie? wo? fieng ich an, und da war ſie auch ſchon in meinen Armen, an meinen Lippen!

Gott, welche Scene! O Mine! Mine! Mine! Mine! Mehr konnt ich nicht, ich fiel zuruͤck. Eine Seelenohn - macht ergrif mich. Der gute Prediger und ſeine Tochter ſagten abwechſelnd: Sie iſt bey Gott! mehr konnte ſie auch nicht. Wir wa - ren alle drey ſo Lebens muͤde und ſatt, daßK k 5wir522wir gern! gern allzuſammen da geſtorben waͤ - ren. Gern, um in Minens Geſelſchaft zu ſeyn. Gott! iſt ſie dann nicht werth, daß man ihret - wegen ſtirbt! Sie war mir alles, fieng ich an, und weinte. Welt! Leben! alles! ſagt ich, und weinte bitterlich.

Geliebte Leſer und Leſerinnen, habt Mit - leiden mit mir, auch jetzt, da ich dies ſchreibe, wein ich und weine bitterlich.

Nach einer langen Weile, da ich mit ſtar - rem Blick ſie angeſehen, ſprang ich auf und ſchrie: ſie lebt! Noch dieſe Minute weiß ich nicht, wie ich zu dieſem: Sie lebt! kam ich ſprang auf, druͤckte ſie feſt an mich, und ſiehe da ich fuͤhlt einen warmen Othem. Der Prediger kam, Gretchen kam, alles mir nach: Sie lebt! Minchen, rief ich, du lebſt, du lebſt! Steh auf von den Todten! Erwach! erwach! Du ſchlaͤfſt nur! Mine, Weib meiner Seele! ſieh auf! ſieh nur noch einmal auf! nur noch ein Wort! Mine! nur ein einziges! Der Prediger machte Proben mit dem Othem, wie es ſchien, und das nicht ohne die Faſſung, die eine jede Probe erfor - dert. Sie lebt! ſchrie er mit einer erpruͤf - ten Gewißheit, daß ich vor Freud außer mir war! Es ging ſo weit, daß wir lebendigesBlut

[figure]

523Blut in ihrem Geſicht bemerkten, und froh und froͤhlich waren. Wir haben einen Gott, ſagte der Prediger, der da hilft, und einen Herrn, der vom Tod errettet.

Sie lebte nicht! hin iſt hin Wir haben einen Gott, der da hilft und einen Herrn, der vom Tode errettet. Dort lebt ſie, dort wird ſie leben, dort! Ich werde ſie eher nicht wiederfinden, als unter den Vollendeten Got - tes, die zu ſeinem Reiche gekommen ſind! Heil denen, die kommen ſind aus großem Truͤb - ſal, und die dort ruͤhmen koͤnnen, daß der Zeit Leiden nicht werth ſind der Herrlichkeit, die an ihnen offenbar worden!

O Gott, dieſer Lebensſtunde, wie viel bin ich ihr nicht ſchuldig? Dies war der En - gel, der mich ſtaͤrkte. Es war ſo, als ob die Selige mir Troſt eingehaucht, und einen himmliſchen Othem verliehen haͤtte. Ich fuͤhlte mich kraͤftig, bald! bald! werd ich ſeyn, wo ſie iſt, bald bey ihr ſeyn!

Durch das eingebildete Leben ward ich lebendig. Sind wir Menſchen nicht beſon - dere Geſchoͤpfe? Oft troͤſtet uns, was uns mehr niederſchlagen ſollte!

Wir524

Wir blieben ein Paar Stunden bey der Leiche. Der Prediger machte nun wieder Entgegenproben! Nachdem wir die Leiche verließen, und der Prediger mich, nach ſei - nem ſelbſt eigenen Ausdruck, wie umgekehrt fand, nahm er mir ein Verſprechen ab, ihre Huͤll, ihr Erdenkleid, nicht mehr, als noch einmal, zu ſehen. Er machte dies zur Sache Gottes, und ich verſprach und hielte. Gott weiß, wie ſchwer es mir ward.

Ich wenig, trank noch weniger. Der Prediger glaubte, daß ich nach ſo entſetz - lichen ſprachloſen Stunden Ruhe noͤthig hatte. Gott ſchenk ſie ihnen, ſetzt er hinzu! Wir giengen ein jeglicher in ſein Kaͤm - merlein, wie uͤber ein kleines jeglicher in ſein Grab gehen wird, am Ende ſeiner Tage! allein welch eine Nacht! Mein Herz ſchlug ein andres Capitel auf. Die Ver - klaͤrte hatte mich ihres Ablebens wegen zuvor mit verklaͤrt; allein jetzt fiel es mir ein! wie kam Miene nach Preußen? Ich ungluͤcklicher! ſo nah bey ihr! Dieſe Sandkoͤrner wurden mir zu Bergen; ich druͤckte die Augen zu, um dieſe Vorſtellungen zu erdruͤcken; allein dies war eben der Weg, noch mehr zu ſe - hen. Ich ſah im eigentlichen Sinn Ge -ſpen -525ſpenſter. Anfangs fuhr ich auf, und nach - her wimmert ich ich wuſte von nichts, was ich that. Im Bette hatt ich nicht Raum, mit allen dieſen Dingen.

Der redliche Prediger hatte ſein Kaͤmmer - lein neben mir genommen. Anſtatt ſchlafen zu gehen, zog er alſo eigentlich auf die Wa - che, um, wenn es noͤthig waͤre, bey der Hand zu ſeyn. Der Schlaf floh auch ihn, und es war mir beſonders, daß wir all im Hauſe nicht eher eine ruhige Schlafſtunde hatten, ſo muͤd und matt wir auch waren, als bis Mine begraben war. Der Prediger meinte, daß es ein unempfindliches Herz verrathen wuͤrde, in einem Hauſe ſchlafen zu koͤnnen, wo ein noch uneingeſargter Menſch laͤge. Er wenig - ſtens haͤtt es, wie er ſagte, nie koͤnnen.

Man bildet ſich ein, duͤnkt mich, zu ſter - ben, wenn man ſo nahe bey einem Todten einſchlafen ſolte, und fuͤrchtet ſich vor dem Schlafe daher die Leichenwachen, oder aus einem andern Geſichtspunkte: man ſieht ſich ſelbſt todt, wenn ich ſo ſagen ſoll, bei einem mit Haͤnden zu greifenden Leichnam. Die Ae - gyptier wuͤrden nicht bey einer Leiche haben eſſen und trinken koͤnnen. Dafuͤr ſteh ich.

Wir526

Wir blieben zuſammen. Der Prediger hielt fuͤrs dienlichſte, mir die ganze Sache ſo, wie ſie war, darzuſtellen, und in Wahrheit, das iſt das einzige Mittel zur Beruhigung. Wenn ein Ungluͤcklicher die Grenzen ſeines Ungluͤcks wiſſen will, meßt ſie ihm gleich ganz und gar zu keinen Strich weniger, ihr macht ihn ſonſt bey jedem neuen Zuge ungluͤcklicher ihr laßt ihn einen ſo vielfachen Tod ſterben, als ihr Abſaͤtze, Ruͤckhalte, und Punkte macht; ich ſelbſt kann zum Belage in Ruͤckſicht dieſer Bemerkung dienen. Was der lebendige Othem Minens geſtern Abends war, das war die Geſchichte des Predigers heute Mor - gens. Gretchen kam, hoͤrte was vorgieng, und holte mir das Depoſitum. Da hatt ich nun Minens Geiſt in allen Haͤnden. Ewig werth ſind mir dieſe Papiere, wenn ich ſterbe, ſollen ſie mein Hauptkuͤſſen im Sarge ſeyn. Das, ſo der Prediger be - ſiegelt hatte, war das erſte, welches ich las. Aus dem verſiegelten Pack wiſſen meine Le - ſer ſchon, was mir ſchien, als koͤnnt es ih - nen wiſſenswuͤrdig ſeyn. Vieleicht iſt ihnen vieles nicht alſo? Verzeihung in dieſem Fall, geneigter Leſer! Ich hab es oft, nie aber ſo ſehr, als hier gefuͤhlt, wie ſchwer es ſey,mit527mit ich anzufangen. Pilatus und Herr v. E. ſagen: was ich geſchrieben habe, das hab ich geſchrieben. Schade! ſonſt wuͤrd ichs auch auf mich anwenden.

Minchens lezte Schrift. aus Gretens Haͤnden.

Das lezte, das ich in dieſer Welt ſchrei - be, ſey dein. Gott der Herr! der Herr! ſey mit dir! Wenn ich ſagen wuͤrd, ich gieng ohne Wunſch aus der Welt, noch laͤnger hier zu ſeyn, wuͤrd ich einen falſchen Eid vor Gottes Ge - richt zu verantworten haben. Eng iſt die Pforte, durch die ich mich drenge allein wenn ich durchgebrochen ich fuͤhl’s was fuͤr Erquickung mir entgegen wehen wird. Meine Seele ſehnet ſich nach Ruhe, nach dem Sab - bath ! Der Gerechten Seelen ſind in Got - tes Hand, und keine Quaal ruͤhret ſie an. Ich liebe dich! Ich liebe dich! Gern haͤtt ich dich noch in der Welt geſehen und geſprochen gekuͤßt jetzt nicht mehr, ſo gern ich dich - ſonſt gekuͤßt habe. Deine Hand haͤtteſt du mir aber reichen muͤſſen! Ich war immer ſtark an ihr und auch nun haͤtt ich die Staͤrke aus ihr herausgenommen. Ich ſterbe dar -um528um getroſt, weil ich unſrer Liebe wegen Gott geopfert werde, und ihm und ſeinem Gebot ſterbe. Ich ſterb einen Maͤrtyrertod und fuͤhl es, wie weit leichter es ſeyn muß, ſo und nicht anders zu ſterben. Zwiſchen Tod und Tod muß ein großer Unterſchied ſeyn! Das kann ich beſ - ſer wiſſen, wie du. Wir werden uns wie - derſehen, Lieber! Lieber! Lieber! Mit dieſen Augen werd ich dich ſehen, mit dieſem Herzen dich lieben, mit dieſem Herzen wie ſchwach iſts, ſehr ſchwach. Ich will die lezte Kraft abwarten, das lezte Aufflackern meiner Seele. Ich habe meinen Geiſt in die Haͤnde Got - tes befohlen, ſo lang ich mich noch ganz be - ſaß. Jetzt ſterb ich allmaͤhlig! Bald vollbracht! Ihm, dem Vater aller Barmherzigkeit und alles Troſtes, ſey Lob und Preiß fuͤr alles! fuͤr alles! Er ſchlaͤgt und heilt! Er verwundet und laͤßt geneſen! Oft dacht ich, er haͤtte ſich von mir gewendet. Ich rief, und er antwortete nicht; allein er erloͤſete mich gewaltiglich aus aller Noth! Bald vollbracht! bald! Ich dachte ſchon nicht mehr in dieſer Welt zu ſchreiben, denn es uͤber fiel mich ſehr ploͤzlich; allein ich habe noch viel zu ſchreiben, wuͤrde mich der Tod uͤbereilt haben, haͤtt ichs muͤndlich zuruͤck - laſſen muͤſſen. Wie oft ich gewuͤnſcht und michge -529geſehnt habe, dich noch zu ſehen, weiß Gott der Herr! Der Arzt widerrieth es, und der liebe Prediger auch. Gottes heiliger Will iſt geſchehen. Ich hatte mich ſchon ziemlich er - hohlt nicht zum Leben nein, dich zu ſehen, und dieſe Hofnung, eben dieſe, dieſe Hofnung, friſchte mich zuſehens auf. Got - tes Gedanken ſind nicht unſre Gedanken, ſeine Wege nicht unſre. Bald haͤtt ich dir wieder erzaͤhlt, was du ſchon weißt mein Kopf iſt ſchwach, ſehr ſchwach. Daß es keine Suͤnd iſt dich zu lieben, kann ich am beſten jetzt entſcheiden jetzt, wo uͤber das ganze Leben entſchieden wird. Es entgeht mir nicht das mindeſte von allem! allem! allem! was ich von Jugend an gedacht und gethan! uͤber alles haͤlt das Gewiſſen Gericht! Ver - zeihe mir, Herr, alle meine Fehler, dein harret meine Seele! meine muͤde Seele. Du allein, Herr! ſchenkſt den Beladenen Ruhe, Seelen - ruhe. Dein Joch iſt ſanft, deine Laſt iſt leicht, ſchon hier ſanft und leicht; allein noch mehr ſanft und leicht, wenn man auf die Zukunft ſieht. Vor Gott iſt kein Lebendiger gerecht; allein glaub mir, mein Lieber! ich bin ruhig und ich bin der feſten, feſten Zuverſicht, daß, der hier in mir angefangen hat das gute Werk,Zweiter Th. L les530es beſtaͤtigen und vollfuͤhren werde bis an den lezten Gerichtstag! Ich lieb dich, mein Lie - ber! Gott weiß es. Er weiß auch wie! Es iſt eine andre Liebe, wie in auf dem Kirch - hofe, mit der ich dich jetzt ſterbend liebe. Ue - ber all unſre Liebe hat mich das Gewiſſen gleich losgeſprochen, gleich ohne Umſtaͤnde Das kann ich dir zum Troſt ſchreiben. O Gott! waͤr doch dies zureichend, dich zu troͤſten. Wenn ich wuͤſt und glauben koͤnnte, daß es dir zum groͤßern Troſt gereichet, wenn du mich geſehen und mich geſprochen, was wuͤrd ich mir fuͤr Vorwuͤrfe machen! Wahrlich dann haͤtt ich mich ſehr an dir verſuͤndigt ich glaube nicht, daß es dir troͤſtlicher geweſen waͤre ich glaub es nicht und dieſer Ge - danke beruhiget mich!

Ich will, ich werd an dich denken, mein Geliebter! auch in meinem lezten! allerlezten! Verlaß dich drauf und ſey nicht unruhig, daß du mich und ich dich nicht noch geſehen. Wir werden uns doch kennen, wie ich hoffe, daß Leib und Seel, wenn ſie gleich lange durch Tod und Grab getrennet worden, ſich gleich wieder kennen werden. Das wird eine Freude ſeyn. All dieſe Freuden ſtehen mir vor, und auch dir! O Selig ſind die Todten, die imHerrn531Herrn ſterben! Deinen Namen, mein Ge - liebter, will ich tauſendmal ausſprechen und dir die kalte Hand zureichen, wenn du auch nicht da biſt. Deinen Namen will ich mir auch beym Scheiden vorſtammeln, ſo daß ich noch mit der lezten Sylbe bis in den Him - mel, bis in die andere Welt, lange. Ich werd, ich kann ihn nicht vergeſſen, auch wenn ich deinen himmliſchen Namen erfahre, will ich deinen irrdiſchen nicht vergeſſen! Ich habe dich ſehr, ſehr geliebt, mehr als du gedacht, mehr als ich dir geſagt hab und ſagen konnte. Meine Mutter will ich dort von dir gruͤßen, und ihr ſagen, welch ein guter edler Junge du geweſen biſt, bis in meinen Tod Gott ſey mit ſeiner Gnade, mit ſeinem Segen uͤber dir, hier zeitlich nnd dort ewiglich. Das fuͤhl ich im Sterben! im Sterben, bey der lezten Probe von dem, was gut iſt, und was es nicht iſt! Das fuͤhl ich, daß eine Liebe, wie die unſrige, eine himmliſche Liebe ſey. Sie war nicht fuͤr dieſe Welt, ſie war nicht von dieſer Welt. Ich empfehle dich Gott und ſeiner Gnade, der walt uͤber dich wieder ſchwach ich lege die Feder noch nicht weg ich hoffe Staͤrke. Nein ſchwach noch immer, ſehr! ſehr ſchwach!

L l 2Noch532

Noch ſchwach, allein ſo ſehr nicht, wie geſtern. Gegen Abend bin ich immer matter, ſo gehts allen Kranken. Der Pre - diger ſagt, daß die meiſten mit dem Tage ſterben, ſie gehen des Abends zur Ruhe. Mir ahndet, daß ich des Morgens ſterben, und zu meiner Ruh eingehen werde. Wie Gott es beſchloſſen hat. Nicht was ich will, ſondern was Gott will. Die Stunde des Todes iſt Gottes Sache! Ihm ſey alles heimgeſtelt! Laß mich nur ſelig ſterben! Gott, meine Zuverſicht, laß mich vor dir Barmher - zigkeit im Tode finden! im Tode! So wie das Leben iſt, ſo iſts Sterben. Bald ſchwach bald etwas beſſer. Ganz gut iſt’s doch nicht hier, ſondern dort. Der liebe Paſtor, ſeine Frau und Gretchen, ſind gute Seelen! O lieber Gott, wie wird’s in deinem Him - mel ſeyn, wo dir alles nach macht und ſo gut ſeyn will, wie du’s biſt. Da kommt Gret - chen mit ihrer Mutter ich ſoll zu Bette gehen. Gott ſey mit dir! Ich denk immer, wenn ich zu Bette gehe, wie wirds ſeyn, wenn ich begraben werde? wie? Der Gerechten Seelen ſind in Gottes Hand, und keine Quaal ruͤhret ſie an das troͤſtetmich!533mich! Dieſer Troſt bleibt auch im Tode un - uͤberwunden! Ich lebe dem Herrn! Ich ſterbe dem Herrn, im Leben und Sterben bin ich des Herrn!

Ich habe lang mit mir geſtritten, ob ich dir das lezte Stuͤck von meinem Tagebuch, das mit einem großen Kreuz bezeichnet iſt, zuruͤcklaſſen, oder ob ichs mit ins Grab neh - men ſollte? Du weiß’ſt, daß ich dir bis an das große Kreuz keine Klage uͤber meinen Vater gefuͤhret habe, ich wolt’s auch jetzo nicht ich ſtritt lang mit mir, endlich und endlich hielt ich mich verbunden, dir, fuͤr den ich kein Geheimniß gehabt und haben kann, Rechenſchaft von meinem Tode zu ge - ben. Im Himmel haͤtt ich dir ohnedem ſo was nicht erzaͤhlen koͤnnen, und niemand weiß es, was ich weiß, und was dir dieſes Tagebuch ſagen kann, auſſer Benjamin! und den hof ich auch dort zu finden. Lies, und fluche meinem Vater nicht, ich hab ihm naͤchſt Gott mein Leben zu danken. Wuͤrd ich nicht in dieſer Pruͤfung gelebet haben, koͤnnt ich nicht Gottes Angeſicht ſehen, und ewig geneſen. Dort iſt mein unbeflecktes Erbe mir aufbehalten im Himmel! Fluch L l 3ihm534ihm nicht, meinem Vater. Denen, die Gott lieben, muͤſſen alle Dinge zum beſten dienen. Seine Grauſamkeit iſt meine Befoͤrderung zur ewigen Ruhe. Mein Leib ſtirbt je laͤn - ger je mehr, und der Geiſt, ſein Freund, nimmt oft mehr hier an Theil, als ichs gerne ſehe. Doch giebts Stunden, wo ich fuͤhle, daß meine Seel unſterblich ſey, wo ich nicht ſehe auf das Sichtbare, ſondern auf das Un - ſichtbare, denn was ſichtbar iſt, iſt zeitlich, was aber unſichtbar iſt, (o Gott hilf mir!) iſt ewig, iſt ewig. Es iſt meiner Seel oft ſo, als wenn man den Kirchthurm von dem Orte ſieht, wo man hin will. Man denkt, man ſey ſchon da! Ich habe heute mit meinem lie - ben Paſtor wegen des Tagebuchs mit dem Zeichen des Kreuzes noch einmal geſpro - chen. Er nimmt es auf ſich, dich zu allem vorzubereiten. Fluche meinem Vater nicht. Fluch ihm nicht!

Darf ich hier eine Einſchaltung machen; dies Kruztagebuch lag im großen Pack. Nach einem großen Kreuze faͤngt es an:

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Ob535

Ob du je dies Blatt und die Folge die - ſer Geſchichte leſen wirſt, weiß Gott, der alles weiß. Ich zittere, daß meine Ahn - dungen ſo haarklein eingetroffen ſind. Wenn noch eine andere eintrift; ſehen wir uns nicht eher, als in der ewigen Freud und Se - ligkeit. Waͤrſt du nicht, lieber Junge, in dieſer kummervollen Welt, wie gerne, wie herzlich gerne! im Leben und im Sterben bin ich dein, und ewig dein! dein! dein!

Wieder Minchens Schrift aus Gretchens Haͤnden.

Ein Teſtament, lieber Junge, iſt mir von je her was feyerliches, eine Herzensluſt, eine Seelenwonne, geweſen. Schon laͤngſt hab ich drauf gedacht, dir eins zuruͤckzulaſſen. Wo ich nur dazu kommen konnte, las ich Teſtamente, und wie ſehr freut ich mich, wenn ich eins geleſen hatte, daß die Leut oft in ganz geſunden Tagen bedenken, daß ihr Leben ein Ziel hat, und daß ſie davon muͤſ - ſen. Heute will ich mein Teſtament machen. Ein Teſtament in meinem neunzehnten Jahre! So winkt Gott manchem am truͤbenL l 4Abend536Abend ſeines Lebens, manchem am heitern Morgen komm, Herr, ich bin bereit!

Im Namen Gottes.

In deine Haͤnde befehl ich meinen Geiſt, treuer Gott und Herr! Wenn mein Haupt ſich neigt, wenn mich nichts mehr erwaͤrmt, wenn die Haͤnde ſaftlos dahin ſinken, und der Puls, ſtatt zu ſchlagen, zittert, als ob er ſelbſt vor dem Tod erſchroͤcke, ſey nicht fern von mir, Gott meine Huͤlfe! Sey mir nicht ſchrecklich, mein Gott! in meiner lez - ten Noth! Ich harre dein. Laͤngſt hab ich den Tod kennen gelernt; denn ich bin ſchon viel und oft geſtorben, wenn ich aber zum leztenmal ſterbe, o Gott, hilf mir! Wenn ich heimfahr aus dieſem Elend, ſey mein Herr und mein Gott. Amen! Amen!

Dich, herzlich Geliebter, bekenn ich ſter - bend als den Meinigen! Ich beſchwoͤre dich, daß du uͤber meinen Tod nicht traureſt, wie die, ſo nicht glauben eine Zuſammen - kunft der Auserwaͤhlten zu Gottes Rechten, und dann Freud und Wonn in Ewigkeit vor dem Angeſicht des Herrn aller Welt! Ich ſetze dich zum Erben ein alles deſſen, was ich habe. Es ſind Sachen, die du in deinen Haͤnden gehabt; eben hiedurch haſt duſie537ſie fuͤr mich geweihet. Nach unſerer Tren - nung hab ich auf nichts neues gedacht. Ma - che mit dieſen Sachen, was dich gut duͤnkt. Ein Stuͤck gib meinem Vater zum Andenken, wenn ers will, ich glaub er wird wollen, und ein Stuͤck behalt deiner Mine zum An - denken. Wenn eine Thraͤne auf dies dein Lieb - lingsgewand hinabfaͤlt, (Gott laß ſie ſanft wie Thau fallen!) haſt du genug Leid getra - gen um deinen Todten und hiemit nehm ich von dir, als meinem Mann, Abſchied. Ich danke dir fuͤr deine eheliche Treue, du haſt mich herzlich geliebet. Habe Dank, mein Seelenmann, fuͤr alles Gute, das du an mir gethan! fuͤr deinen treuen Unterricht! fuͤr dein Beiſpiel! fuͤr alle, alle Proben dei - ner Liebe! Gott lohne dir fuͤr alles zeit - lich! geiſtlich! und ewig! Meine Sinnen ſind ausgetrocknet. Faſt hab ich keine Thraͤ - nen mehr, um dieſe Wuͤnſche zu begleiten. Da quilt ein empor! Sie ſey dir zum Se - gen geweint, Amen! Nun meine feyerlichſte Bitte: mein Beſchwur! Ich bitte dich vor Gott und nach Gott! ich beſchwoͤre dich bey allem, was heilig iſt im Himmel und auf Erden, und nach dieſem hohen Schwur bey meinem lezten, lezten Seufzer, beyL l 5mei -538meinem lezten Todesſtoß, bey meinem lezten warmen Hauch dich zu ſeiner Zeit ehe - lich zu verbinden! Gott ſegne dein Weib und die Kinder, die ſie dir ſchenken wird! Wir ſind geſchieden! Gott hat uns verbunden und geſchieden; der Tod bringt uns den Scheidebrief. Von dieſem Augenblick an, da ich dieſes ſchreibe, biſt du nicht mehr mein Mann! Das leztemal nenn ich dich meinen Mann, o Gott, das leztemal! und von dieſem leztenmal biſt du nicht der Meinige, ſondern der Mann deines kuͤnftigen Weibes. Wenn dir ein Sohn ſtirbt, ſchreckliche Ahn - dung! ſey er mein, in der andern Welt ich will mich mit ihm verbinden, wie ſich Engel Gottes verbinden, und deine himmliſche Schwiegertochter werden. Da kommen dir dann und deinem kuͤnftigen Weib entgegen, ich, meine Mutter, dein Sohn und lehren dich in der Stadt Gottes die Haͤuſer kennen. Halleluja! Halleluja! Amen!

Ich bat Gott um einen Engel, mit Staͤrkung aus ſeiner Hoͤhe; er ſandte mir ſei - nen Knecht auf Erden, die auch des Herrn iſt. Er ließ mich eſſen aus ſeiner Hand, und trinken aus ſeinem Becher. Es iſt bey wei - tem nicht dein Vater; allein er iſt auch eintreu -539treuer Diener ſeines Herrn, nach der Gabe, die er empfangen hat. Seine Tochter Gret - chen druͤckte mir den Kopf zuſammen, wenn er aus einander fallen wolte, eh es Zeit war und ſeine Frau, man ſagt ſie ſey ſchwer - muͤthig; allein ich ſage, ſie iſt entzuͤckt, ſie hoͤrt und ſagt Worte, die uͤbermenſchlich ſind. Sie war mir als eine Gereiſete, die zu erzaͤhlen wuſte, wies dort zugeht. Der Mann ſanft, wie Johannes, den der Herr lieb hatte! Sie eine Hanna.

Er hat mich getroͤſtet, da nichts mehr Mark und Bein erquickte, da kein Trunck mich labte, und das Waſſer ſelbſt, wies der liebe Gott giebt, mir ſchaal ſchmeckte ich durſtete nach dem Waſſer des Lebens. Bald! bald! Zehn und mehrmal war mir der Puls abgelaufen, ſein Troſt zog ihn, ſo daß ichs recht merken konnt, auf freylich nur auf wenige Stunden; allein glaub mir, je naͤher am Tode, je koͤſtlicher die Zeit. Wenn du dich dieſem Prieſterhauſe verbinden kannſt, thu es. Es ſind all zuſammen gute gnuͤg - ſame Leute, die nicht aufs Sichtbare ſehen, ſon - dern auf die Erſcheinung des Herrn warten.

Schon oft hab ich gebeten, und ich wie - derhohl es noch einmal, in dieſem meinemlezten540lezten Willen, meinem Vater nichts zuzurech - nen. Vergib ihm, o Lieber! Vergib ihm, ſo wie du wilſt, daß mir und dir Gott ver - gebe. Kannſt du ihm helfen, hilf ihm. Meine Flucht kann ihn vielleicht in noch ſchlechtere Verfaſſung bringen, als er ſchon war, da er die Schule aufgegeben hatte. Vergib ihm, und dem v. E. ſo wie ich bey - den vergebe! O es iſt eine ſchoͤne Sache zu vergeben. Vergib ihnen alle Leiden, die ſie mir gemacht, und auch dir du kannſt in deiner eigenen Sache nicht Richter ſeyn. Mein Leiden und Tod trift dich zu nahe, ver - gib allen alles den Eßig und Gall am Kreuz ſie wiſſen nicht, was ſie thun! Oft denk ich an den Tod des groͤſten Todten! der uns ein Fuͤrbild ließ nachzufolgen ſeinen Fußſtapfen, und dann bin ich froh uͤber die Kriegsknechte, welche die Widdem beſetzten, und uͤber ſo manchen Pilatus, der nur den Leib toͤdten kann, und die Seele nicht, wor - unter ich aber den ehrlichen Nathanael nicht rechne; denn wahrlich er that mehr, als ſich die Haͤnde waſchen. Sag ihm, wenn du ihn in dieſer Welt ſprichſt, daß ich ihm von Herzen vergeben habe. Seit der Zeit, da er mich ſchreckte, war es vollbracht! al -les541les vollbracht! Wenn mein Bruder lebt, gib ihm den Brief, den ich deinem großen von mir verſiegelten Pack beygelegt. Meinem Vater gieb auch den Seinigen. Kannſt du meinen Verwandten in Mitau foͤrderlich und dienſtlich ſeyn; ſey es! Gott wird dich lohnen. Er ſegne dich mit reichlichem Se - gen, mit mehr als einem Segen. Amen! Ueber ein Klelnes werden wir uns nicht ſehen, und uͤber ein Kleines werden wir uns ſehen; ich gehe zum Vater. Dieſe Worte hat mir der liebe Paſtor in L ſo eindruͤcklich gemacht, daß ſie mich ſtaͤrken fuͤr und fuͤr. Gruͤße deinen Vater und Muter ich kuͤſſe beyden die Haͤnde. Gott laß es ihnen wohl gehen, ewig, ewig wohl! ich bin matt, ſehr matt! Wenn mein Bruder mir im Himmel zuvorgekommen iſt, denk an das Grab meiner Mutter, damit es nicht ver - falle, ſondern ein Grab bleibe; denk an alle heilige Oerter, von denen ich meinem Bru - der geſchrieben habe. Ich bin in nahe am Kirchhofe in die Welt gekommen, in L nah am Kirchhof geh ich aus der Welt. Ich verbiete dir nicht, an mich zu denken; allein thu es nie, wenn du allein biſt, ſondern im Beyſeynder542der Deinigen, damit du ſtark bleibeſt. Amen!

Dies iſt mein lezter Wille, den du in al - len Stuͤcken und beſonders wegen meiner feyerlichſten Bitte vor Gott und nach Gott erfuͤllen muſt, ſo wahr dir mein An - denken lieb iſt! Nun zum leztenmal Amen; Angefangen fruͤh Morgens, geendigt um ſie - ben Abends den 17

Nach dieſem Teſtament, das ſie den Tag vor ihrem Tode gemacht hatte, ſchrieb ſie nur noch folgende Zeilen:

Sey gut ich kann nicht mehr Nach dieſem Elend iſt uns bereitet ein Leben in Ewigkeit Heilig! heilig! heilig! iſt Gott der Herr! hinauf! hinauf! ich kann nicht mehr! aber denken, beten, ſegnen noch! noch noch Leb wohl! wohl! wohl!

Noch ſehr unleſerlich und immer in die Hoͤhe ſtanden die Worte: ich bin bereit Komm Herr! Schmerz Angſt, keine im Himmel lieber

Wie ſehr mich dieſe Zugabe geruͤhrt hat, iſt unausſprechlich Alles himmelan! Sie iſt entgangen! Gott helf auch mir und allen, die ſeine Erſcheinung lieb haben, kaͤmpfen denguten543guten Kampf des Glaubens und den Le - benslauf vollenden! Ihm ſey Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Der Brief an ihren Vater, deſſen ſie erwehnt: Mein Vater!

Wenn Sie dieſen Brief leſen, hat ihre Tochter alles geendiget, alles! Sie hat ausgerungen, ausgekaͤmpft uͤberwunden. Ihr iſt wohl, ewig wohl! Sie iſt bey ihrer Mutter in der ewgen Freud und Seligkeit, verklaͤrt! und herrlich! Halleluja! Ich mache dem Herrn v. E. keine Vorwuͤrfe, und habe meinen Geliebten gebeten, auch keine zu machen, ſondern ihm alles zu verzeihen, ſo wie ich alles dem Herrn v. E. verziehen habe, und jetzt mit ſterbender Hand verzeihe. Wenn ihn mein Tod auf den Gedanken bringt, daß die verfolgte unterdruͤckte Tugend den großen Vorzug habe, ſterben zu koͤnnen, (wahrlich ein großer Vorzug!) ſo wird er einſehen, daß ſie uͤber alle Gewalt erhaben ſey, und ſie eben darum vielleicht hochſchaͤt - zen lernen. Moͤcht er es doch!

Ihnen, mein Vater, wuͤnſche ich Gottes Gnad und Segen. Es gehe Ihnen wohl, ſehrwohl!544wohl! Unſer Leben iſt kurz. Sie ſind aͤlter, als ich. Was iſt doch die ganze, ganze Welt, wenns zum Sterben geht! Solt es Ihnen in dieſer Welt noch fehlen, ſehen Sie meinen Geliebten, als ihren Freund, an, der ſie nicht verlaſſen, noch verſaͤumen wird. Ich empfehle mich Ihrem Andenken. Meine Mutter werd ich von Ihnen gruͤßen, und wie froh werd ich ſeyn, Sie, mein Vater, einſt dort wieder zu finden, und meiner Mutter dieſe feſte Hof - nung zu geben. Es wird ihr, das weiß ich, eine große Freude ſeyn. Leben Sie wohl! Le - ben Sie wohl! ewig wohl!

Der Brief an ihren Bruder Benjamin iſt eine Wiederholung Ihres von ihm genomme - nen Abſchiedes, da ſie in ſich ſchieden, und der Uebergab und Einweiſung in Ruͤck - ſicht aller heiligen Oerter, unter denen das Grab ihrer Mutter das vornehmſte war. So - dann die Eroͤfnung, daß ſie mich auf ſeinen Todesfall in dieſer Aufſicht ſubſtituirt haͤtte, und auch im Leben ſchreibt ſie, wird er dich unterſtuͤtzen. Er ließt dieſen Brief, den ich ihm offen laſſe.

Ich lernte die Predigerin den Tag nach meiner Ankunft kennen, ihn, glaub ich, ken - nen meine Leſer ohne meine Nachhuͤlfe. Erwar545war ein ehrlicher Mann, und wolte nichts mehr, allein auch nicht weniger, als ein Pre - diger ſeyn. Seine Stelle war nicht die vorzuͤg - lichſte; indeſſen warf ſie ſo viel ab, daß er le - ben konnte, mehr, ſagt er, bedarf ich nicht. Er hatte zwey Soͤhne, welche der koͤnigliche Rath als die Seinigen in Koͤnigsberg erzog. Gretchens Bruͤder giengen in eine der beſten Schulen, ſie ſolten beyde Geiſtliche werden. Unſer Prediger war kein Kipper und Wipper. Er verfaͤlſcht und beſchnitte nichts, ſondern ließ alles, wie es war, unumgeſchmolzen beym alten Schroot und Korn. Die Bibel, ſagt er, iſt an ſich ſchon eine lautere und vernuͤnf - tige Milch. Wer die Bibel anders, als aus der Bibel erklaͤrt, iſt ein Miethling. Schon ſeit fuͤnf Jahren hat er an einem Werk uͤber die Suͤnde wider den heiligen Geiſt gear - beitet, woran er mich nach Minens Begraͤbniß naͤhern Theil nehmen ließ. Er wolte ſeinem Bruder eine unvermuthete Freude machen und ihm dieſe Schrift zueignen. So weit ich den Bruder kenne, konnt ihm mit einer Zuſchrift uͤber ein Werk von der Suͤnde wider den hei - ligen Geiſt nicht ſonderlich gedient ſeyn.

Seine Frau? Bey ihrer Einbildungskraft war der Zaun gebrochen, ſagte der Prediger,Zweiter Th. M mund546und traf ſie vollſtaͤndig. Sie hatte viel Gutes, viel Herzliches an ſich. Sie ſah jeden ſtarr an und kam dem, mit welchem ſie ſprach, unge - woͤhnlich nahe. Sie grif ihn mit ihren großen etwas verwilderten Augen. Es ließ dieſe Pro - phetin gleich beim erſtenmale ſo viel Zutrauen gegen mich aus ihren Augen ſchießen, daß ſich der Prediger und alle, die ſie kannten, daruͤber wunderten. Sie blieb ſich die ganze Zeit uͤber gleich, ohne tiefer in ihre Lindenkrankheit zu fallen, die ſie indeſſen nie ganz verließ. Sie hatt eine ſchleichende Lindenkrankheit, ſagte Gretchen, wie man dergleichen Fieber hat, das auch zuweilen in Heftigkeit ausbricht, und nicht immer ſchleicht.

Gretchen, ein rein und unſchuldiges Maͤd - chen, das aus Liebe zu Minen mit dem Depu - tatus nicht eſſen wolte. Sie hatte Verſtand; allein ihr Verſtand lag in ihrem Herzen, oder wenigſtens nicht weit davon. Alles, was Gret - chen ſagt und that, ſagt und that ſie von gan - zem Herzen

Ich habe mit Fleiß meine Leſer und mich von Minchens Leich abgezogen; allein konnt ich ſie laſſen? Wenn meine Leſer ſcheel uͤber dieſen Abzug geſehen, dann! dann erſt! koͤnnt ich vom Gluͤck ſagen!

Mine547

Mine hatte ſich mit Gretchen am meiſten unterhalten und Gedanken mit ihr gewechſelt. Gretchen nahm Stunden bey Minen. Ich weiß nicht, ob ich meinen Leſern einen Gefallen er - weiſe, wenn ich Ihnen etwas aus einem Auf - ſatz ausziehe, den Gretchen, wie ſie ſagte, Mi - nen nachgeſchrieben. Nur etwas

Ich hab mich ſehr mit mir ſelbſt geſtrit - ten, ob ich das Leben verliere. Allein in Wahrheit ich verliere nichts, nichts, wenn ich auch einen Strich zwiſchen dieſer und jener Welt ziehe. Denn hatt ich dies Le - ben? Hoͤchſtens haͤtt ich es haben koͤnnen. Hatt ich[Alexandern] den Paſtor? War ich Frau Alexander, die Paſtorinn? Ich hab nur Hofnung, nicht Leben eingebuͤßt und (wenn ich den Strich wiederloͤſche,) dieſe Hofnung mit jener Hofnung abge - wogen: Sterben iſt mein Gewinn, und ſchadet mir nicht.

Wie wahr in jedem Munde, und wie ruͤh - rend wahr in einem ſterbenden! Wer neun - zig Jahr gelebt hat, iſt im ſiebenten geſtorben, und hat ſich hin und zuruͤckgelebt. Wer ſich nicht mit Leben uͤberhaͤuft und zuviel auf ein - mal gelebt hat, iſt im ſechszigſten Jahre ſtark, wie ein Juͤngling, und kann ſelbſt noch Vater werden, wie es oft geſchehen iſt. ImM m 2ſieben -548ſiebenzigſten Jahr iſt man Kind, oder faͤngt es an zu werden. Niemand ſagt daher ſein Alter gern, wenn er in dieſe Jahre kommt, auch wenn er, in keiner einzigen Ruͤckſicht, Nachtheile davon fuͤr ſich abſieht. Der Menſch will durchaus und durchall nicht gern ein Kind ſeyn. Alles, was um ihn lebt und ſchwebt, kommt ſo ſchnell zur Reife; nur er allein iſt der Spaͤtling. Er iſt ohn End und Ziel auf Tertia, dann ruͤckt er freylich ſchnell fort; allein bald ſind die Claſſen aus. Wer zwanzig Jahre gelebt hat, iſt hundert alt worden; das kuͤnf - tige Jahrhundert ſagt man. Thor! wie viel ſind nicht ſchon geweſen, was brachte das neue, Neues? recht Neues vom Gott deiner Seel und der andern Welt?

Es muß doch bey den Menſchen groͤ - ßere Uebel geben, als der Tod, weil ſich viele den Tod wuͤnſchen, um dieſem und jenem Uebel zu entkommen. Die Men - ſchen wuͤnſchen ſelbſt ihren Lieblingen den Tod, und freuen ſich, daß ſie durch ihn oft einer kleinen Schmach und Schan - de entkommen: Gottlob, daß er, daß ſie todt iſt, und daß er und daß ſie nicht dieſes, nicht jenes erlebt haben! Iſt wohl eine Frage, was Alexander lieberge -549gewuͤnſcht haͤtte, mich todt? oder mich in buhleriſchen Armen? Wie der Arbeiter am ſchwuͤlen Tag ſich ſehnt nach Schat - ten, und ein Tagloͤhner, daß ſeine Arbeit aus ſey; (Hiob das ſiebente Capitel, der zweyte und dritte Vers,) ſo hab ich mich auch geſehnt Tag und Nacht, um zu kom - men aus großem Truͤbſal. In dieſer Ruͤckſicht, in dieſer Ausſicht, wie gut iſt der Tod und was iſt er? Ein Weg uͤber Feld Dies Leben iſt wahrlich ein Jam - merthal. Vielleicht wickelt ſich dieſe Welt noch anders aus, wenn ſie aͤlter wird. Vielleicht kommt noch Gottes Reich in dieſem Leben! Vielleicht daß die Menſchen durch ſo viel Thor - heit kommen werden zur Wahrheit, durch ſo viel Abweichungen zum Geſetz des Herrn. Ein Menſch beherrſcht den andern. Schrecklich

Der Haupttitel, den man der Seele beylegt, iſt arm; alle Welt ſpricht, die ar - me Seele! und woher? Iſt ſie reicher, als der Leib? Der Leib iſt, ohne ſie, eine Handvoll Staub und ſie iſt, ohne Leib, eben das, was ſie mit ihm iſt

Arme Seele! warum arm? Weil man nicht weiß, wo ſie iſt? wie ſie iſt? Doch die - ſes ſteht mit der Armuth in keinem Verhaͤlt -M m 3niß;550niß; genug, daß ſie iſt! Sie iſt ungefehr das im Koͤrper, was Gott der Herr im All iſt ungefehr Sie iſt Gottes Bild. Sie iſt in allem, und durch alles, und mit allem, und in ihr leben, weben und ſind wir. Vor - zuͤglich nennen wir ſie arm, wenn der Menſch ſtirbt, und die Seele den Leib verloren hat. Leute, die ſich einmal an Koͤrpern die Augen verdorben; halten ſie fuͤr arm, fuͤr bettel - arm: wie man in der Welt, aus dem Kleide Armuth und Reichthum beurtheilt. Man giebt der Seel ein Koͤrperchen mit, damit ſie nur nicht ganz und gar nackt und bloß erſcheine. Dann iſt ſie doch, denkt man, wenigſtens im Hemde: allein warum dieſe Umſtaͤnde? Bleibt die Seele nicht in Gottes Welt, in Gottes Hand, wo nichts arm iſt, als was ſich dafuͤr haͤlt?

Gott der Herr arbeitet ins Große und ins Kleine. In ihm lebt, webt und iſt al - les! Wer nicht in ſeinem Leben einen zu - ſammenhang findet, auch ſelbſt, wenn er es nicht dazu anlegt, hat nicht an Gott und nicht an ſich gedacht Wir koͤn - nen nicht den Vorhang vor der Zukunft zerreißen. Bey unſerm Tode zerreißt er, wie beym Tode Chriſti der Vorhang vordem551dem Allerheiligſten. Wahrlich die Zu - kunft iſt das Allerheiligſte! Wer kann das Triebwerk der Schoͤpfung leiten! Auf Gott aber koͤnnen wir uns verlaſſen!

Eine ſelige Empfindung! Der Meiſter druͤckt ſeinem Werke ſeinen Namen ein, nicht ohne Schaamroͤthe, wenn er ein ehrlicher Kerl iſt, und wenn er auf die kleineren Gelegenhei - ten zuruͤck denkt, die ihn zu dem Meiſterſtuͤcke brachten. Darum, und nicht aus Affektation, ſollten große Kuͤnſtler auch ihren Namen nur ſo hin werfen, und Gott die Ehre geben, ihrem Obermeiſter ihre Arbeit weyhen und zu - eignen. Wer gab ihnen Handwerkzeug und Materie? Wer Zeit, Ort und Umſtaͤnde? Selbſt das Formale gehoͤrt dem Obermeiſter. Iſts denn Wunder, wenn das Werk ſo ſehr uͤber den Stand des Kuͤnſtlers iſt, daß es laͤn - ger lebt, wie er, und daß jedes eher darnach greift, als nach ihm! Des Kuͤnſtlers Verdienſt in dieſer Welt iſt ein Kunſtgrif, ein Grif nach gutem Stof zu ſeiner Arbeit, nach einem gu - ten Reißbrett in der Werkſtube Gottes, nach guten Zeichnungen, die ihm die Natur dar - reicht Doch! wo gerath ich hin? Ich ſolte mich begnuͤgen zu ſagen: Geſegnet iſt der Mann, der ſich auf den Herrn verlaͤßt!

M m 4Eben552

Eben hab ich einem Freunde im Ganzen Mienchens Gedanken, in Gretchens Abſchrift, vorgeleſen. Seine Aufforderung, dieſen Auf - ſatz entweder ganz oder gar nicht mitzuthei - len, hemmt Text und Noten. Es iſt ein beſon - derer Gedankengang in dieſem Aufſatz. Die Stellen, die ich herausnahm, ſind nicht genom - men, weil ſie charakteriſtiſch waren, ſondern weil ſie eben meinen Empfindungen, da ich dieſes ſchrieb, accompagnirten

Zur Beylage A. hab ich meinen Leſern diejenigen Stuͤcke beſtimmt, die mein Engel in einer ziemlich angewachſenen Sammlung gezeichnet hatte. Dieſe Sammlung war ent - ſtanden, wie alle Sammlungen entſtehen ſol - ten, ohne daß man zu ſamlen dachte. Je nach - dem Minen dies oder jenes Stuͤck gefiel, ſchrieb ich es ihr auf ihr. Viele Stuͤcke ſind aus der lettiſchen Garbe meines Vaters, die aus lauter curſchen zaͤrtlichen Liedlein be - ſtehet, die ich halb und halb oͤffentlich mitzu - theilen verheißen habe. Viele ſind Ueberſe - tzungen aus andern nordiſchen Zungen und Sprachen. Mein Vater, der gewiß Natur - kenner war, pflegte zu ſagen, daß die mei - ſten dieſer Stuͤcke (er hat ſie alle geleſen) er -neu -553neuert und geheiliget waͤren. Zwar gab er ſich viele Muͤh, alles roh, unerneuert und ungeheiliget zu haben: allein dahin war es nicht zu bringen. Manche Stuͤcke ſind offenbar Kinder neuerer Zeit; alles und jedes aber iſt Ueberſetzung. Mein Vater (dies trift die Stuͤcke aus der Garbe) war, wie wir alle wiſſen, vor dem Brande nicht muſikaliſch. Die Ueberſetzung ſeiner baͤuriſch zaͤrtlichen Liederchen iſt, wie ich ſchon im erſten Theil an - gemerkt, nach meines Vaters Manier. Eine freye Ueberſetzung, pflegt er zu ſagen, iſt nicht hin nicht her, iſt Wein und Waſſer, wo oft das Waſſer die Kraft des Weins erſaͤuft, und doch, ſetzt er hinzu, muß die Ueberſe - tzung frey ſeyn, in Abſicht der Sprache, in die man uͤbertraͤgt. Ueberhaupt ſind alle Ueberſetzungen, die ich hier uͤberliefere, mit Haut und Haar deutſch und ehrlich, oder, wie ich mich an einem andern Ort heilſamer ausgedruͤckt καρα ποδα. Wer mir aber des Inhalts ſelbſt wegen etwas anhaben will, und ſich gebehrdet, als thue er der Kunſt ei - nen Dienſt dran, mag wohl bedenken, daß Gott die Menſchen aufrichtig gemacht; al - lein ſie ſuchen, wie es heißt, viele Kuͤnſte. Sie vergeſſen, daß die Lerche fruͤh aufſtehe,M m 5und554und die Nachtigal lang aufſitze, (ſchon wolt ich lucubrire ſchreiben) daß die See brauſe und ſauſe, wie meine Mutter ſich ausdruͤcken wuͤrde, und der Bach ſparſam und wohl gar geizig wandle und handle: daß der Nord, ſo wie die helle Sonne, das Geſicht roth mach als waͤr es feurig, und ein Abend - luͤftchen ſich blos mit den ungebundenen Haa - ren necke. Da verſchlag ich wieder in das Feld der Anmerkungen! Mit den lieben Anmerkungen! Macht ſie nur, ſo viel ihr wolt, Schriftſteller! Auch ſelbſt ihr vom goͤtt - lichen Geſchlecht, vom heiligen Volk, vom koͤ - niglichen Prieſterthum, vom Volk des Ei - genthums; darum ſeyd ihr nicht geborgen. Der Kunſtrichter findet doch ſeinen Zaun, von dem er brechen kann; das weiß ich aus ſichrer Hand, und wenn es auch nur eine Anmerkung uͤber eure Anmerkung waͤre.

Gern wuͤrde meine Wenigkeit Anmer - ker dieſer Art beym Brodte laſſen; allein Euch! die ihr nicht im Vorgemach bleibet, ſondern weiter dringt, Euch, Pfeifer und Geiger! die ihr dieſe unſchuldige Haut und Haargeſaͤngchen mit eurem Accompagne - ment haben, und groß - und kleinmeiſternwolt555wolt wie gern, wie herzlich gern, haͤtt ich Euch mit ſamt euren geſtimmten Inſtrumen - ten aus meinem Philomelenwaͤldchen, ſo wie ihr damals heraus muſtet, als Jairi Toͤch - terlein zu ſich ſelbſt kommen ſolte! Gerade ſeyd ihr in meiner Schrift, was ehemals die Kaͤufer und Verkaͤufer im Tempel wa - ren!

Da eben ein Brief von einem Redlichen im Lande! Er ſchreibt mir, (er ſchreib es auch meinen Leſern,) daß man ſich an vielen Orten den Kopf zerbreche, um die Namen in dieſem Buch zu ergaͤnzen. Dieſer Redliche befuͤrchtet, man wuͤrde ſich an noch mehr als an vielen Orten die Beine brechen, weil man dem Lebenslaͤufer ſpornſtreichs nach - liefe, um ihn einzuholen. Ich fuͤr mein Theil bedaure vorzuͤglich die Beine der Steckbrieftraͤger oder Nachlaͤufer; an den Koͤpfen der andern, die ſie ſich meinetwegen zu brechen belieben, wird hoffentlich weniger gelegen ſeyn. Warum lauft ihr, eh ihr ge - jagt werdet, und ihr Kopfbrecher! warum brecht ihr? Doch wolt ihr nicht hoͤren, ſo moͤgt ihr fuͤhlen: wolt ihr nicht den dritten Theil abwarten, in dem ich ganz klar und deutlich ſagen werde wo?

Wie556

Wie werd ich wieder auf Beylage A. kommen? Ich habe bemerkt, daß Minchen die folgende Stuͤcke in einer Sammlung ge - zeichnet hatte, viele ſelbſt in ihrer Krank - heit. Gretchen verſicherte, dieſe Stuͤcke haͤtten Minchen auf ihrem Lager abgekuͤhlet, wie Fruͤchte, wenn es heiß iſt. Die nehm - liche Freude, die mich bey den Schriftſtellen uͤberfiel, welche in meines Vaters Hand - und Hausbibel gezeichnet waren, die nemliche Freude belebte mich hier. Auch bin ich der gu - ten Zuverſicht, daß dieſe gezeichneten Stuͤcke meinen Leſern nicht misfallen werden, waͤr es auch nur Minchens Zeichen wegen.

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Beylage A.

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Du biſt mir treu, Hans, treu biſt du mir! Ich weiß es, du biſt mir treu, aber ach! das arme Kornbluͤmchen, das mir dieſe gute Zeitung brachte, wie ſchlecht belohnt! Ich legte mir an ein Kornbluͤmchen, ſo blau als deine Adern, wenn du das Hemd an deinem nervigten Arm aufgeſchoben haſt, ſo blau als der Himmel, wenn der liebe Gott freundlich ausſieht. Was mich das freut, daß ichs noch an der Wurzel ließ, das arme Kornbluͤm - chen, ich wolt es abreißen und da waͤr es noch aͤrger. Sieh Hanns! Ich muß es nur beich - ten: ich riß ein Blaͤttchen und ſagt Er iſt mir560 mir treu und das andre Er iſt mir nicht treu und wieder eins treu und das an - dre nicht treu Das lezte war! treu treu! Du biſt mir treu, das hat mir das Korn - bluͤmchen zugeſchworen. Jammer und Schade, daß die Blaͤtter abgeriſſen ſind! Schade, daß es da im bloßen Kopf ſteht! Schoͤn, daß der Stengel noch an der Wurzel blieb. Schoͤn, uͤber alles ſchoͤn, daß Hans mir treu iſt!

Gottlob! Der Junker hat gefreyt und Gret iſt mein. Gottlob! Der Herzog iſt uͤber Land gezogen! Gret iſt mein. O Herzog! o Junker! O Junker! o Herzog! Herzog fahr wohl! und Junker fahr wohl! Du im frem - den Land, und du im Brautbett. Nun moͤcht ich ſehen, wer mich uͤberprunken kann! Den Hanns bey Greten! Hoͤrts weit und breit, den moͤcht ich ſehn, wer dieſes kann, wer den - ken kann ich koͤnnt es wohl auch den moͤcht ich ſehn, auch den noch, dem es nur getraͤumt hat er koͤnnt es. Wie Gras will ich ſie all zuſammen wegmaͤhen, und wenns Baͤume ſind, will ich einhauen, bis ſie fallen. Gret iſt mein. Gottlob der Junker hat gefreyt. Gret iſt mein. Gottlob! Der Herzog iſt uͤber Land gezogen.

Ach561
Ach, daß ſich Gott erbarm,
nun bin, nun bin ich bettelarm!

Nicht, wie mich im erſten feſten Schlaf ein Blitzſtral erweckte. Er ſchoß mir dicht vor - bey, als wenn er ſich bey mir, dem Haus - vater melden wolte. Schnell ſprang ich auf und ſiehe da! mein Strohdach in Flammen! Ich armer alter Mann! was konnt ich? was mehr als meine Freunde und Bekannte auf - ſchreyen, die ſo feſt ſchliefen, als ich geſchla - fen hatte. Ich that Schrey auf Schrey und ſeht! nicht blos meine Freunde und Bekann - ten; nein

jedes, jung und alt,
von Ehren mannigfalt,

ſprang ſo ſchnell auf, als wenn es der Blitz erweckt haͤtte, ſo als wenn es ihm uͤberm Kopf brannte, und kam und loͤſchte das brennende Strohdach meines Hauſes. Der Blitz war ſo gut zu bedenken, daß ich alt ſey und nicht Daͤcher mehr ſteigen koͤnne. Er ließ ſich gern loͤſchen, des dank ich ihm, und noch mehr dem lieben Gott, der den Faden in ſeiner Hand behaͤlt, wenn er den Blitzknaͤuel auf ſeinen Erdboden ſchießen laͤßt. Der liebe Gott kennt den alten Peter, und wolte von ſeinem HauſeZweiter Th. N nnicht562nicht mehr, als eine Handvoll Stroh, treffen laſſen. Das folgende Jahr war das Gras Mann hoch. War es nicht recht anzuſe - hen, daß der liebe Gott es gut mit dem Peter meynte?

Ach, daß ſich Gott erbarm,
nun bin, nun bin ich bettelarm!

nicht, wie die Hagelkugeln mein ſchoͤnes Korn niederſchoſſen, das aller meiner Nachbarn Fel - der uͤberſah. Die Leute waren neidiſch auf mich, und mancher mag mir den Tod gewuͤnſcht ha - ben, dieſes ſchoͤnen Korns halber, und der Tod, dacht ich zu der Friſt, wird von ſelbſt kommen, ungewuͤnſcht. Jezt komme der Tod, wenn er will: damals haͤtt ich noch Luſt zu leben. Da - mals hatt ich noch Weib und Kind, und das iſt Luſt zu leben. Erſt beneidete jedes mein wohlgewachſenes Korn, und nun beklagte mich jedes an Ort und Stell des vorigen Neides. Jedes wuͤnſchte mir langes Leben, und das ſo rechtſchaffen, daß mir hundert - mal Thraͤnen das Aug uͤberſchwommen. Man ſchuͤttelte mir ſo ehrlich die Hand, daß ſie mir alten Mann wehe that. Am Ende fand ich, daß ich ſo viel behalten, als die, ſo der Hagel nicht betroffen hatte.

Ach,563
Ach daß ſich Gott erbarm,
nun bin, nun bin ich bettelarm,

nicht, wie mir mein Weib ſtarb, die hart an der Kirche liegt, wo ich Weynachten, Oſtern, Pfingſten feyre, indem ich auf ihrem Grabe den erſten heiligen Tag knie und bete. Es wird mir ſchwer, mir alten Mann! Zum Gluͤck iſt das Grab hoch, und je aͤlter ich werd, je hoͤher wird das Grab. Sie ſtarb, und ich dacht, ich waͤre mitten entzwey geſchnit - ten; doch waren noch da, Tochter, Schwie - gerſohn und mein und ihr Lieschen. Noch ſchlaf ich in dem großen Bette, wo ich mit der Seligen ſchlief, und wenn ich nicht alle Woche dreymal von ihr traͤume, denk ich, ich ſey undankbar, und bitte Gott und ihr ab. Ich dacht ewig zu weinen! Dumm war es von mir, daß ichs dachte, wie bald muß ich bey Maſchen ſeyn! Drey Jahr aͤlter als ſie, wie bald muß ich bei ihr ſeyn! O! waͤr ich geſtorben vor dir! liebe Maſche vor dir! O waͤr ich vor dir geſtorben, und du gleich nach mir; denn wenn ich wuͤnſchen ſolte, daß du er - lebt haͤtteſt, was ich erlebe, wuͤrd ich ein Boͤſe - wicht ſeyn, und nie zu dir im Himmel kommen.

Ach daß ſich Gott erbarm,
nun bin, nun bin ich bettelarm!
N n 2nicht,564

nicht, wie mir meine Tochter ſtarb, die ein - zige, die mir mein Weib gleich das erſte Jahr nach der Hochzeit ſchenkte. Das nenn ich ein Heyrathsgut! Maſche brachte nicht Geld nicht Gut; allein ſie brachte mir mehr, als Geld und Gut, mehr als ein Herzogthum: reines Herz und reinen Mund, und nach weniger, als einem Jahre, ein Toͤchterlein das nenn ich Heyrathsgut! So was kann nur der liebe Gott mitgeben. Es war ein huͤbſches Kind, ihr Toͤchterlein, mein Toͤchterlein, unſer Toͤchterlein! Wahrlich un - ſer Toͤchterlein! Man durfte ſie nur ſehen, halb meine Seel, halb Maſchens, halb mein Leib, halb Maſchens. Es war ein Drittes von uns zweyen. Als dies Maͤdchen geboh - ren ward, war ſie weiß wie Schnee, und hatt Aderchen wie Vergiß mein nicht; aber ſie ſcheute nicht Gottes Wetter: ſo ſtrich es ſie braun an! Weiße Scherung und brauner Einſchlag! Allerliebſt! Geſchwind wie der Wind lief Lottchen bey Sonn und Mond. Nicht Hitze nicht Kaͤlte ſcheute ſie. Am lieb - ſten brachte ſie den Leuten Eſſen aufs Feld, und die Leute, ſo hungrig ſie waren, wußten nicht, ob ſie eſſen, oder das Kind anſehen ſolten. Sie aßen ohn Augen; die Augenbrauch -565brauchten ſie, Lottchen anzuſehen. Es lag nicht an Maſchen und mir, daß wir nicht mehr Kinder hatten; am lieben Gott lag es, der am beſten weiß, was jedem dient. O du lieber Gott! Lotte ſtarb im erſten Kind - bette. Alles weinte, nur ich konnte nicht weinen; ſo gings mir ans Herz. Lotte ſtarb; doch zum Troſt ließ ſie mir ein ander Lottchen, ihr Weſen.

Ach daß ſich Gott erbarm,
nun bin, nun bin ich bettelarm!

nicht, wi[e]mein Schwiegerſohn ſtarb! Der brave Junge. Er ward mit Lottchen erzo - gen, und ſie waren im fuͤnften Jahr ſchon Mann und Weib. Gern ſah ichs, daß ſie Greger nahm, obſchon er nichts hatte. Er war gut, das iſt mehr, als alles, wenn man bey allem nicht gut iſt. Schoͤn war es zu ſehn, wie ſich die junge Leutchens lieb - ten! Haͤtten ſie ſich nicht ſo abgezehret; wuͤrd ich ſie ſo bald noch nicht haben Hoch - zeit machen laſſen. So was gieriges im Aug als die Leutchens zeigten, hab ich noch nie geſehen man bekam Appetit, wenn man ihren Hunger und Durſt nach einander ſahe. Er ſtarb vier Wochen nach ihr. Wer ihn kannte, weint uͤber ſeinen Tod; ich aberN n 3freute566freute mich, da er ſtarb, und lobte Gott; denn er ſtarb zu ſeinem Gluͤck. Ohne ſie haͤtt er nur gethan, als lebt er. Er konnte nichts mehr anfaſſen. Seine Haͤnde zitterten, und uͤber ſeine Fuͤße fiel er, drum troͤſtete ich mich darob, und ſagte wie der Paſtor: Der Herr hats gegeben, der Herr hats genom - men, der Name des Herrn ſey gelobet! Sie ſchlafen zuſammen in einem Grabe, und es koſtet mir was, es dahin zu bringen, daß ſie in ſein Sarg geleget ward. Es war ein Bett auf zwey Perſonen. Die Leute, die ſie handhabten, ſagten all, ſie haͤtte gelaͤchelt, und ihre Hand waͤr um ihn herumgefallen, als wenn ſie gelebt haͤtte. Schlaft geſund, liebe Kinderchens, und liebt euch im Himmel!

Ach, daß ſich Gott erbarm,
nun bin, nun bin ich bettelarm!

das Toͤchterlein meiner Kinder, das ſie mir ließen, mein Lottchen iſt todt, iſt todt, lieber Gott, iſt todt, o ich Bettler! Lottchen iſt todt, und ich bin es bey lebendigem Leibe. Das iſt mehr als todt. Alles todt alles todt nur ich nicht todt. Sie iſt bey ihrer Mutter, ſie iſt bei ihrem Vater, ſie iſt bey meinem Weibe; allein die hatten an einander genug. Was hab denn ich? was? Seit Lottchen todt iſt,oder567oder ſeit ſie begraben iſt, (bis dahin dacht ich noch immer, ich haͤtt ſie) ſeitdem ſie be - graben und ganz todt iſt, iſt alles todt fuͤr mich, alles bis auf mich! Ich leider! lebe! o ich armer Mann! ich wie Brod ohne Kruſte ſo weich! ſo kraftlos, ſo! recht ſo bin ich ich armer alter Mann! Es ſtirbt nur wer le - ben will. Habt Mitleiden mit mir im Him - mel, ihr Seligen, und bittet den lieben Gott, daß er mich zu ſich nehme. Mein Haus und Hof kommt doch in fremde Haͤnd, ich will es wem vermachen, der Lottchen aͤhn - lich ſieht; denn wo ſoll ichs ſonſt laſſen? Oft freut ich mich darauf, Euch, meine Seli - gen! von Lotten neue Zeitung zu bringen, wenn ich zu euch kaͤme, zu euch, ihr mir verwandte Seligen! Sie iſt mir vorgelaufen. O! wie gut iſts, wie ſehr gut, einen von den Seinen auf dieſer Welt zu haben. Iſt es denn nicht auch Gottes Welt? Dieſe Welt der Leib, der Himmel die Seele. Beydes gut. Wer wird nun vor Tiſch, wer wird beten, damit mir das Eſſen gedeye, da Lotte todt iſt? Wer wird mir ſo ſchoͤn, ſo laut vor - beten, wer? wer? Wer wird mir Weib, Toch - ter, Schwiegerſohn, wer Lotte ſelbſt ſeyn? Lotte ſelbſt? Wer wird mir die Augen zu -N n 4druͤcken?568druͤcken? O ich armer Mann! O ich blut - armer Mann, ich Bettler ich!

Komm, Schweſterchen, komm auf den gruͤnen Kirchhof, da liegt mein Mutterchen, dein Mutterchen, wir wollen ſie beſuchen beym Mondenlicht, wenn gute Geiſter nacht - wandeln, und wenn ſie in den Mond ſehen, in des lieben Gottes Nachtlampchen. Viel - leicht erſcheint ſie uns, o moͤcht ſie! vielleicht fraͤgt ſie: was wolt ihr mein Paarchen, was hier? Dich! ach dich! dich wollen wir, dann kommt ſie wohl mit und wenn ſie nicht vom Kirchhof kann, wenn ſie nicht vom grasgruͤnen Kirchhof will; laß uns bey ihr blei - ben, Schweſterchen! bey ihr! Hier? o! wenn wir nur bey dir ſind, liebes Mutterchen was werdet ihr eſſen? gruͤnes Kraut, das ſieht auf dem Kirchhof uͤber und uͤber Was trin - ken? Seht! kein Waſſer des Lebens iſt hier! Den Thau des Morgens, den Thau des Abends, wollen wir trinken, und wenn der Thau ſich des Morgens verſpaͤtet, wol - len wir unſre Thraͤnen trinken, die wir ſo lange weinen werden, bis das Aug uns bricht, wie das Deine brach. O! wennwir569wir nur bey dir ſind, nur bey dir, liebes Mutterchen! wir, dein Paarchen, deine zwey kleine Toͤchterchen, die Treuen!

Ha! du! du! die Baumſchaͤnderin! Sprich, nein, ſchrey, ſchrey, damit der hart - hoͤrige Wiederhall es vernehm, und der Ge - gend auspoſaune. Schrey! Warum zieheſt du ſtellenweis den Baͤumen die Kleider, das Hemd aus, und die Haut ab? Die Haut! Weiß du nicht, daß die Baͤume dann in drey Jahren (wenns hoch kommt) ausgehen an der Schwindſucht und ſo langſam ſter - ben, ſo langſam, als die Leut an der ſtillen Aergerniß. Sieh her! du haſt den Baum geaͤrgert, zu Tod geaͤrgert! und warum die Haut? Zur Farbe! Zur Farbe? Schaͤm dich, Baummoͤrderin! Schaͤm dich von un - ten bis an den Hals, und dann ganz voll; Schaͤm dich ſo, daß du von Stund an ver - ſtummeſt! Solch ein Entſchuldigung! Iſt die werth, daß ſie die Gegend durchs wahr - haft ehrliche Echo erfahre? Traͤgt dein Vater, du Ungerathene, traͤgt er nicht einen weißen Schaafpelz? Der unſchuldige Mann, der jeden Baum bey Haut und Hemd und KleidN n 5laͤßt570laͤßt, wenn er ihn nicht in Zuͤchten und Eh - ren braucht zu Bau oder Brand. Er weiß, was dem Stamm gebuͤhret, der himmelan mit ſeinem Wuchs ſtuͤrmt und groͤßer iſt, als ein Menſch es werden kann. Schaͤm dich, du Baummoͤrderin, ſchaͤm dich! Faͤrberin! Die Natur verſteht das Faͤrberhandwerk beſſer, als du. Sie weiß, was angemahlt werden muß, die liebe Mahlerin! Zu Handſchuhen? Sind denn deine Haͤnde nicht weiß? Warum deine Handſchu anders? Streich die Butter im Sommer weiß, und im Winter gelb an. Schaͤm dich, du Naturbeſchaͤmerin, ſchaͤm dich bis in deinen Hals bitte den Vater, daß er dieſen Baum bald erloͤſe von all ſeinem Elend, und dann bleib beim weißen Schaaf. Laß dem Wacker die ſprenklichten und dem Amtmann die ſchwarzen. Es ſind viele Felle von Boͤcken ſprenklicht und ſchwarz. Bleib wie dein Vater beym weißen ehrlichen Schaaf, und das gnaͤdige Volk laß tragen Marder, Woͤlfe, Baͤren, den Herzog Loͤwen, ſo traͤgt alles ſein eigen Haar*)Bey dieſer Stelle ſind ich angemerkt: unwoͤrt - lich. Die Feinheit des Originals kann nicht erreicht werden..

Fritz -571

Fritzchen, mein Bruder, ſtarb! o wenn! er noch lebte! o wenn! o wenn! wenn! Welch Lieschen hat nicht ein Fritzchen noͤ - thig, ein Bruder Fritzchen. Fuͤr ein anderes Fritzchen dank ich. Seliges Fritzchen! War - um nahmſt du mich nicht mit? Warum die Nachtigal? Warum? Das Voͤgelchen ver - ſchied in Fritzens Hand. Sie hatten ſich ſehr lieb das Voͤgelchen und Fritzchen. Ich ſah ſie beye ſterben. Der Vogel laurte recht auf Fritzens Seelchen, um ſich ihm an - zudraͤngen, wie das Voͤgelchen ſich hier an ihn anſchloß. Sie ließen nicht von einander. Fritz ſieht mich an. Was ſiehſt du, Fritz - chen? Was ich weinte ſolt ich nicht? Still, Lieschen ich hoͤr es ihn noch ſa - gen ſtill Lieschen, bleib bei Vater und Mutterchen, ich finde dort auch ein Lies - chen, unſer Schweſterchen, dort, wo der liebe Gott ſeinen Himmel hat, der beſſer als ſeine Erd iſt, auch wenn Fel - der und Wieſen voll ſind. Hilf ihn bit - ten ſehr bitten, den lieben Gott, daß er mich in den Himmel nimmt, und auch mein Voͤgelchen herein laͤßt uns beyd fuͤr einen. Du biſt ein gutes Maͤdchen, der572 der liebe Gott thut dirs gewiß zu Gefallen!

Fritz ſah gen Himmel, das Nachtigaͤl - chen auch. Fritz ſeufzete, das Voͤgelchen ſang noch auf, und jedes neigte ſein Koͤpfchen auf die Bruſt, und jedes ſtarb. O wenn ſie noch lebten! Wenn Bruder Fritzchen noch lebte! Dort leben ſie beyde, Fritzchen, auch ſein Nachtigaͤlchen. Was kommts dem lieben Gott auf ein Plaͤzchen fuͤr ein Nachtigaͤlchen an.

In das kleine Geſtraͤuch jenſeit des Fluſ - ſes kam ein Sturmwind aus dem Fluſſe. Der Fluß erſchrack und lief was er konnte. Der Sturmwind fuhr durchs Geſtraͤuch raßlend, wie ein vornehmer Prinz, und riß mir mei - nen Blumenkranz vom geflochtenen Haar - thuͤrmchen, ich grif weg war das Kraͤnz - chen! ich lief nach, weg weg wer iſt ſo ge - ſchwind, wie der Wind? Da kam Hans, mein Herzlieber, und Peter, der was beym Junker gilt bey mir gilt Peter nichts. Sie ſahen mich im bloßen, und liefen ſuchen alle beyde. Findet Haͤnschen den Blumenkranz, gern nehm ich ihn und ſetz ihn auf und trag ihn, ſo lang noch ein Blumblaͤttchen lebt und freu mich, daß mich der Wind im bloßen gelaſſen! Wenn573Wenn Er doch faͤnde. Aus Peters Hand nichts, rein nichts, auch nicht einen Kranz, der mir gehoͤrt, und den ich mir zuſammen gefluͤckt. Nichts, nichts, wenn er auch gleich beym Junker gilt und viel gilt!

Da bin ich uͤberm Waſſer und Mutter - chen iſt jenſeits. Es ging ſchwer ab, wie wir Abſchied nahmen, und nun iſts mir noch ſchwe - rer, da du jenſeit des Waſſers biſt, am ſchwer - ſten wirds ſeyn, wenn ich dich nicht mehr ſe - hen kann, o du liebe liebe Mutter! Noch noch noch ſteh doch ſteh doch nur noch einen Augenblick. Weg iſt ſie und ich? O gutes Mutterchen, ich in der weiten lang und breiten Welt, erſt bey dir, nun in der wei - ten pfadloſen Welt. Es muß geſchieden ſeyn. Nun hoͤr ich dich nicht mehr be - ten, nun ſeh ich dich nicht mehr weinen! Nun rufſt du nicht mehr: Lieschen, wenn der Tiſch raucht, Lieschen, wenn du reife Beeren fin - deſt, Lieschen, wenn du eine Quelle am ſchwuhlen Mittag entdeckeſt, die von der Son - ne nicht gefunden war! Ich armes Lieschen! Dies Wellchen kommt von mir, liebes Mut - terchen, und bringt ein Thraͤnchen mit von mir von mir. Sieh es an, es walt zu dir,ſey574ſey ihm gut dem Wellchen, es kommt von mir. Da bin ich, arme Wayſe! allein! ganz allein! Mutterchen weg! alles weg! alles! Das Sternchen dort oben wie es mich an - blitzt! Willkommen! dich hab ich auch in unſerm Doͤrfchen geſehen, du ſolſt Mutter - ſternchen heißen. Es war das erſte, was ich wieder aus unſerm Dorfe ſah. Ewig ſolſt du, ewig Mutterchen heißen, ſo lang ich ſehen kann, ſoll es Mutterchen heißen Dies Sternchen ein Spann lang vom Mond. Nenn auch du ein Sternchen: Lieschen, nenn es: Toͤchterchen, o! du gute Mutter jenſeit des Fluſſes. Gottlob, wieder ein Bekannter, der Kukuk, und eine gute Freundin, die Nach - tigal. Mutterchen, leb wohl jenſeit des Waſ - ſers! Dich hab ich nicht, kein Mutterchen hab ich, doch bin ich nicht mehr in der Fremd. Ich hab ein Sternchen dort oben, den Nach - bar Kukuk und die liebe Freundin, die aller - liebſte Nachtigal.

Schilt nicht, ſtrenger Vater, daß ich bey Hannchen geweſen! Schilt nicht, Vaterchen, ich bitte dich, Sieh in den Stall, deinen Liebling, den Schwarzen hab ich gefuttert. Sieh! das hab ich ſchon ſo viel Jahre gethan,und575und das werd auch ſo viel Jahre thun, als dich Gott leben laͤßt und den Schwarzen. Ich ſtreu mit gluͤcklicher Hand die Saat, und ſchlag das Getreyd wie ein Gewapneter. Warum ſchilſt du? Du haſt vergeſſen was lieben heißt, ſonſt wuͤrdeſt du wiſſen, wie mir waͤre, wenn ich zu Hauſe bliebe. Immer wuͤnſch ich wenn ich hinreit, und wenn ich wieder komme: Wenn es doch Nebel waͤre! daß er nicht ſaͤhe, der ſtrenge Vater: und wenn auch Nebel iſt und wenn ichs auch noch ſo leiſe mache; was kann ich dafuͤr, daß der Braune wiehert? und ſich laut freut, wenn er geht, und wenn er kommt. Alterchen, nur Sonntags reit ich. Gehoͤrt denn der Sonntag dir, Vaterchen? Nur Sonn - tags reit ich bey mein Maͤdchen! nicht mit deinem Schwarzen, den ſchon ich, wie mein Aug im Kopf, ich reit geſchwind zu Hann - chen, und du wilſt, dein Liebling der Schwarze ſoll ſo gehen, wie du, Alterchen, ob er gleich nur ſechsjaͤhrig iſt. Laß mich reiten und ſchilt nicht, ich reit nur Sonntags, ich reit zum lieben Gott, und auf dieſem Wege tref ich Hannchen und ihre Mutter.

Mein Vaterchen! mein Troſtchen! biſt du vorm Thor geweſen? Da iſt glatt undſchluͤpf -576ſchluͤpfrich, wer da geht, faͤlt ſchneller, als auf dem blanken Spiegeleiſe. So iſts den ganzen Sommer auch, wenn die Erde rings - umher brennt, wie ein Backofen. Immer glatt und ſchluͤpfrich, wie Leim, wenn er zum Hausbau geknetet wird. Weißt du auch, wie es glatt und ſchluͤpfrich ward, Vaterchen, mein Vaterchen? Eben da, da, wo es jetzt glatt und ſchluͤpfrich iſt, gab mir Peter den Silberring, bey Mondſchein ſo ſchoͤn Silber, wie der Mond, ich hielt beyde zuſammen und prahlte mich gegen den Mond. Silber iſt Silber. Da, eben da, verlohr ich mich ſelbſt. Meine Unſchuld, mein Le - ben, es iſt all eins. Der Boͤſewicht ſchwur und fluchte, als er verfuͤhrte. Philax nimm kein Brod von ihm, und wenn er mit friſcher Maybutter es auch ſalbet: nimm nicht vom Boͤſewicht, der ſpotten konnte nach der That. Du weißt, er ſpottete auch dein, Vater! und deiner geſprenkelten Haare. Den Ring hab ich an der ſchluͤpfrichen Stelle vorm Thor verworfen, verworfen vorm Thor, wo es jetzt glatt und ſchluͤpfrich iſt. Alles war da ſchoͤn, gruͤn und gelb, wie der Boͤſewicht mich verfuͤhrte, aber ich weinte, Vater! ich weinte, und weinte von Herzenſehr,577ſehr, ach ſehr! Gleich, Vater, iſt das gruͤne Plaͤzchen moraͤſtig worden, ſeitdem ich die erſte Thraͤn darauf fallen ließ, und ſo glatt und ſchlipfrich, daß alles faͤllt, was drauf geht!

Wo bleibſt du, mein Liebchen? wo? Schreyen darf ich nicht, ſonſt moͤcht es meine Mutter hoͤren, die mich zu Greten zwingen will, weil ihre Eltern Acker haben, und du nur geſunde Haͤnde. Nur! das ſey Gott geklagt Nur zu ſagen, wenn man von geſunden Haͤn - den ſpricht. Schreyen darf ich nicht allein ich rufe: Liebchen! Liebchen! ſo wie ein Zeiſig: Liebchen, Liebchen! wo bleibſt du, mein Lieb - chen? wo bleibſt du, wo? Schreyen darf ich nicht, aber der ſchoͤne Abend liſpelt ers dir nicht ins Ohr, daß ich warte, daß ich nach dir ſeh, und nach dir laufe? Ha! da kommt ſie! Nein, ein Stieglizchen, leicht leicht, wie du, mein Liebchen wo bleibſt du? wo bleibſt du, Hannchen? Haſt du ihn abgeſchickt? Voͤgelchen weg iſt er. Er kam nicht von dir, waͤr er nicht ſonſt geblieben? Schrey - en darf ich nicht, aber hoͤrſt du nicht, hoͤrſt du nicht, Liebchen, hoͤrſt du nicht die Nachti - gal, ſie ruft ihr Siechen, und ruft dich mit. Zweiter Th. O oDie578Die Nachtigal kann lauter ſeyn, als ich, denn ſie hat keine Mutter zu fuͤrchten, und keine Grete, ich darf nicht ſchreyen, aber du wirſt doch wohl ſo eine deutliche Ausred, als die Nachtigalſche verſtehen? Wo bleibſt du, mein Hannchen, wo? All Augenblick denk ich, da! da iſt ſie! und immer iſt ein Voͤgelchen, eins ſchoͤner als das andre keins ſo ſchoͤn, wie du. Wenn du nicht mich, nicht den Abend, nicht die Nachtigal hoͤren kannſt; o! wenn du taub uͤber taub biſt, hoͤr den lieben Gott, du haſt mir ver - ſprochen zu kommen, und kommſt nicht. Weißt du auch, daß wir auf die Nacht Ungewitter haben? wo bleibſt du, wo? Hanne? wo?

Warum weinſt du, Schwaͤgerin, du haſt einen Mann verloren; allein er hat dir drey zuruͤckgelaſſen. Drey Soͤhne, drey ge - ſunde ſtarke Jungens, die dich auf ihren Haͤn - den tragen, drey brave Jungens, die was tragen koͤnnen. Goͤnn ihm die Ruhe, ſeine Krankheit ließ ihn nicht viel ſchlafen, da er aͤlter war, und in der Jugend ließ es die Ar - beit nicht. Er hat in dieſer Welt nicht viel geſchlafen. Goͤnn ihm den tiefen, ſuͤſſen Schlaf, du haſt drey Soͤhne, laß ihn aus - ſchlafen, Schwaͤgerin, weine nicht!

Was579

Was weint ihr, Kinder? Ihr habt nur einen Theil verloren, und einen Theil habt ihr noch. Eine gute Mutter wiſcht ihr die Thraͤnen. Pflegt ſie, damit ſie nicht auch krank werde, wie er war, und ihr es nicht am Ende ſelbſt von Gott bitten muͤßt: ach, wenn ſie doch nur ſtuͤrbe! wer kann ſie ringen ſehn? wer? wer kann ſie wimmern hoͤren? Ach wenn ſie doch nur ſtuͤrbe! Dann muͤßtet ihr weinen, wenn ihr daran Schuld haͤttet, daß ihr ſo beten muͤßtet; jetzt weint nicht!

Mich! mich laßt weinen, lieben Leut - lein! laßt mich! mich! laßt weinen! Ich hab meinen Bruder verloren, den einzigen, den ich hatte, und was hab ich von ihm be - halten? Zwar auch was, aber was? Einen Baum am vaͤterlichen Hauſe, den unſer gute Vater an dem Tage pflanzte, da unſre Mut - ter zu ihm ſagte: es geht unter meinem Her - zen auf. Der Vater pflanzte den Baum, und Caſpar und der Baum waren Jahreskinder. Der Vater nannte ſie beyde Caſpar, den Sohn Caſpar, den Baum Caſpar. Der Baum ſteht und bluͤht und iſt immer Kerngeſund. Sein Milchbruder todt! Das iſt nicht troͤſt - lich, aͤrgerlich iſts! Der Baum Caſpar ſteht, der Bruder Caſper ſtirbt; aber auch ich findeO o 2mich580mich drinn, und ſolt ich nicht? Der Baum lebte nur im Sommer, und Bruder Caſper lebt auch im Winter. Zwar ſchlaͤft der Menſch: doch lebt er drum nicht? Ich moͤcht einen Traum nicht um drey Tage hingeben, und der Baum ſchlaͤft er nicht auch? Laͤßt er ſeine Fluͤgel nicht fallen? Seine Blaͤtter genieſſen die fuͤſſe ſanfte Ruh, und werden durch den Sonnenſtrahl erweckt fruͤher, wie wir. Waͤren die Baͤume im Winter, wo die Stoͤrche ſind, wuͤrden ſie inwaͤrts aus - ſchlagen und bluͤhen; o! denn waͤr es was an - ders! Iſt aber im Winter der Wald nicht eine Einoͤde bis auf die Tannen, die nicht aus den Kleidern kommen? Da ſtehen ſie, wie Trabanten, in voller Pracht und Herrlichkeit, wie eine gruͤne rußiſche Wache um den Re - genten, ſo ſtehen die Tannen um die Eiche herum und Bruder Caſpar! war er nicht ein Menſch? Das iſt vielmehr, als ein gan - zer Wald voll Eichen und Tannen. Der Baum iſt Baum und bleibt Baum. Bruder Caſpar iſt ein Engel worden. Baum Caſpar iſt Baum und bleibt Baum. Sey ruhig, lieber Baum, ich werde dich nicht toͤdten! Ihr, die ihr die Hand nach ihm ausreckt, laßt ihn, wenn er auch noch ſo alt und wohl betagt iſt, obeneine581eine Glatze bekommt und blaͤtterlos wird. Laßt ihn, er iſt mit mir verwandt. Er heißt Caſpar. Und wenn ich mit dem rechten Caſpar im Himmel zuſammen komme, will ich es ſeinem Milchbruder erzaͤhlen, daß der Baum noch vor dem vaͤterlichen Hauſe ſtehe. Ich weine nicht mehr*)Dieſes Stuͤck war Gretchen, des Predigers Toch - ter in L , Liebling. Sie beſaß es, wie ſie ſich zu mir ausdruͤckte, ſchriftlich und muͤnd - lich. Sie hatt es abgeſchrieben und wußt es auswendig, Das gute Maͤdchen fand etwas aͤhnliches von der muͤtterlichen Linde drinn. .

Der Krieger iſt gefallen, doch fiel er? Nein, er ſank. Wer faͤlt, hat das Herz ver - loren, und man braucht das Herz bis auf den lezten Lebenshauch. Er ſank! Allmaͤhlig kam er zur Erde. Hoͤrt es, Krieger, die mit ihm lebtet und nach ihm leben werdet. Nicht der Feind, nicht der Feind, ſondern der Tod hat ihn uͤbermannt. Unſer Held hatte den lezten Schlag. Den Krieger ſchlug er, der ihm den Todesſchlag gab, und der fiel, aber unſer Held nicht. Unſer ſank. Die Sonne geht allmaͤhlig unter. Seht ihn, wie langſam er ſich zum Staube neigt. Zum Staube, ein Held. Kommt! Kommt! Laßt uns unter ſein ſchwindelndes Haupt einenO o 3bemo -582bemoſten Stein legen. Solch ein Kopfkuͤſ - ſen geziemt ihm. Kommt, laßt uns ſeinen Leib auf eine ſchoͤne Wieſe tragen, und den Blutstropfen nicht auswaſchen, der auf un - ſer Kleid faͤlt. Es iſt edles Blut. Der Staub ſoll ſich nicht drinn betrinken. Du, grasreiche Wieſe! Lager fuͤr Helden! Du verſtehſt dieſen Trank, du traͤgſt Blumen fuͤr Helden, womit ſie bekraͤnzet werden, wenn ſie den Frieden auf ſchwarz gewordenen Haͤn - den heimtragen. Er richtet ſich auf! Kein Ach! Das kann kein Held ausſprechen! Was iſts dann, was? Seine Zung iſt ge - laͤhmt, er kann nicht mehr, er wolte Sieg. Krieger! Die Deinen haben geſiegt: ha! wie er laͤchelt! Seht ihn, den Großen! Eh euch Engel verdraͤngen, denn die muͤſſen zu ſolch einem Anblick herabſtuͤrzen, ſie ha - ben ſolcher nicht viel. Sieg! Held! Sieg! Gott, ſo ein leichtes Wort kann er nicht mehr ausſprechen. Gern wolt ers! aber hoͤren kann ers! Schreyt, Bruͤder: Sieg! Sieg! Er laͤchelt wieder und ſtirbt. O gluͤckli - cher Halm! O gluͤcklichſter, auf den der lezte Tropfen fiel, auf den er noch warmes Blut thaute! Wie ſchnell wirſt du wachſen und alles uͤberſehen, was rings um dich ſteht,und583und groͤſſer zu werden droht! O gluͤck - liche Maͤnner, auf die noch der lezte Stral aus ſeinen Augen ſchoß. Wir haͤtten die Altarlichter dran anzuͤnden koͤnnen, ſo feurig! Er ſtirbt ich wolte weiter ſingen; kann ich? kann ich mehr? Er ſtirbt! er ſtirbt! iſt alles was ich ſagen werde, bis auch ich ſterbe. Das erſt und lezte vom Menſchen iſt das beſte! Ich habe viel geſehen! ſah ihn, wie er gebohren ward, ſah, wie er ſtarb! Ich hab ihn ganz! Er laͤchelte, wie er zur Welt kam; allein er lag ſo ſchoͤn nicht, als jetzt, da er ſtarb. Wie ſchoͤn er da todt iſt! So todt ſind nur wenige; denn ſonſt wuͤrd es nicht ſchwer ſeyn zu ſterben.

Du haſt geſiegt, Held! Du haſt den Feind uͤberwunden, und zween Tode, zween Tode ſtarbſt du, ohn zu ſterben; dem drit - ten mußteſt du nachgeben. Du warſt matt! Iſts Wunder?

Goͤnnt der heiligen Stelle die Ehre, daß er noch laͤnger darauf liege. Sie iſt warm durch ihn worden. Laßt ſie auch kalt durch ihn werden. Der warme Tag iſt ſchoͤn, der kuͤhle Abend auch, und dann ſcharrt ihn nicht ins Thal, auf jenen ſteilen Berg, wo wenige hinauf koͤnnen, keiner der einen kurzen OthemO o 4hat.584hat. Da ſcharrt ihn auf die Spitze, damit er den Berg noch groͤßer mache. Er war Berg im Leben, und nicht Thal, und muß bey ſeines Gleichen im Tode

Wie! du willſt ihm die Augen zudruͤcken? Laß ſie ſtarr; wie ſie ſind! Laß ſie, Freund! Die Sonne bleibt Sonne, wenn ſie gleich verfinſtert iſt, und auch ein Viertel vom Mond iſt Mond. Laß ſie ſo ſtarr, wie ſie da ſind. Ihre Seel iſt weg; allein ſie haben noch was, das viele Augen mit Seelen nicht ha - ben. Es wohnt eine große Seel in ihnen, und das ſieht man jedem Hauſ an, wenn ſchon der, welcher es baute, lang todt iſt. Aendre nichts was die Natur will, ſey auch dein Wille. Wilſt du was thun, ſetz oben uͤber ſein Grab ein Kreuz, das iſt das groͤßte Zeichen, was mir bekannt iſt, eine Krone hat auch ein Pfau! Mache dies Kreuz groß, damit es in der See geſehen werde und Schiffe, die ſich verirren, dies Kreuz als Weg - weiſer ehren, und ſich freuen, wenn ſie es ſehen.

Leb wohl, Streiter! Erzaͤhle den Gei - ſtern des Himmels, die nie geſtorben ſind, daß es auch gut ſey zu ſterben, damit ſie den Sterblichen nicht verachten, weil er ſterblich iſt. Die Engel, die dich todt geſehen haben,kannſt585kannſt du auf mein Wort zu Zeugen rufen. Erhabener Todter! Man achtet das Leben nicht, wenn man dich ſiehet! O moͤchteſt du nicht verweſen! Du ſolteſt ewig dazu dienen, den Furchtſamen zu ſteifen, und jeden zu leh - ren, daß nicht jeder auf gleiche Weiſe todt ſey. Dir ſieht man es an, daß du nicht aufhoͤren kannſt, daß du nicht aufgehoͤret haſt. Es ſtirbt nicht jeder auf gleiche Weiſe, es lebt nicht jeder auf gleiche Art. Stiller Mond, dies große Grab empfehl ich dir! Du ſiehſt viel, was die Sonne nicht ſieht, du biſt ein Sonntagskind und kannſt Geſichter ſehen, die ſonſt niemand zu ſehen verſteht. Du ſiehſt fromme Geiſter, wenn ſie um die Graͤber der Ihrigen wanken, die ſie noch nicht in dem wei - ten Himmel aufgefunden haben, Du ſiehſt, wenn ſie ſich von ungefehr treffen; und wenn ſie den himmliſchen Bund machen wir laſſen uns nicht in Ewigkeit. Du ſiehſt erkennt - liche Geiſter, die ihren Ueberreſt, ihren ver - weſenden Koͤrper, beſuchen; die Stuͤck vor Stuͤck von ihm Abſchied nehmen, und ihn bedauren, daß er Koͤrper war und daß er ge - ſtorben iſt. Ruͤhrend muß es dir ſeyn, lie - ber Mond, ruͤhrend, ſo was zu ſehen, wenn Geiſt und Leib ſich zuſammen finden, und ſichO o 5nicht586nicht mit einander beſprechen koͤnnen: wenn die Seel erkenntlich ſeyn will gegen ihren gu - ten Freund, den Leib, und es nicht ſeyn kann! Oft hab ich einen Freund auf dem Brette geſehen, mit dem es mir faſt ſo gieng, als dem Geiſt mit dem Erd werdenden Koͤrper! Da wankt der Betruͤger, der der armen Witt - we den Acker abgrenzte. Gern moͤcht er ſie mit einem dreymal groͤſſern Stuͤck entſchaͤdi - gen. Kann er? will ſie? Noch haben ſie ſich nicht begegnet, allein wenn auch; hat ſie denn jetzt nicht mehr, als Er?

Hier wankt ein Geiſt, der als roher Juͤngling ein warmbluͤtiges zu leichtglaͤubi - ges Maͤdchen ins Verderben zog. Bald war ihr Jammer vollendet. Sie ſtarb, ohne dem Berraͤther Vorwuͤrfe zu machen, die Abge - zehrte! Ihr Auge durfte nicht zugedruͤckt wer - den, es war ſo tief geſunken, daß manns nicht mehr ſehen konnte. Es war ein eingefallnes Grab. Sterbend rang ſie ihre verwelkten Haͤnde, und bat um Gnade bey Gott und den Menſchen. Die Menſchen erhoͤrten ſie nicht. Mit Spott und Schande ward ſie begraben: aber jezt hat ſie ausgerungen, ihre Leiden ſind geendigt wenn werden die Deinigen geendiget ſeyn? Ungluͤckſeliger! Wenn? Im587Im Traum ſieht man alles groͤßer und naͤher und ſo ſehen Geiſter auch! Deſto beſſer fuͤr den Guten, deſto ſchlechter fuͤr den Boͤſen, und fuͤr dich! Moͤrder! Ungluͤckſeliger!

Das alles, Mond, Seelenfreund, das alles ſiehſt du, als Sonntagskind, und was ſiehſt du nicht unter den Lebendigen? Doch du biſt verſchwiegen, ich will es auch ſeyn

Wenn der von ſeinen ungerathenen Kin - dern verſtoſſene Greiß die Haͤnde gen Him - mel uͤber ſein Haupt zuſammenſchlaͤgt, und ſich nach einem ſeligen Ende ſehnt: wenn er laut betet: es iſt genug, Herr! Laß mich ruhen! Ich kann nicht mehr! Dann be - ſtrale das Kreuz auf dieſem Grabe, mach es ringsumher hell und klar; denn in des Grei - ſes Augen iſt Abend worden. Es war nicht Raum in der Herberge fuͤr mich Unterdruͤck - ten in der Welt! Gott nimm mich in den Himmel, wo fuͤr mich Raum iſt. So bet er, wenn er dies Kreuz ſieht, und ſanft und ſelig geh er dann zur Ruhe! Mond! dem frommen Pilger, der nicht mehr die Kirchen - thuͤrme der benachbarten Stadt reichen kann, den der Tod auf dem Feld uͤberraſcht, Mond! dieſen Pilger leuchte nach Hauſe, dieſem Pil -ger588ger ſey dies Kreuz ein Kirchthurm des Him - mels! Mond, laß es dies jenem Kreuztraͤ - ger ſeyn und jedem Boͤſewicht ein Schreck - bild, damit er an ſeine Bruſt ſtark klopfe, und umkehr und gut werde, und endlich, Mond, wenn unſer Land Helden braucht, laß ſie von dieſem Grab ausziehen, und wenn blutduͤrſtige Feinde wie[Heuſchrecken] uns uͤber - fallen, dann verhuͤlle dein Haupt und drey - mal blitz es um dies Grab! Da ſage dann ein Ehrenmann im Volke: ſo wie dieſer Blitz, ſo blinkte mit dem Schwerdte der da oben begraben liegt, da oben, nah am Himmel, und wie ein kalt Fieber im Fruͤhiing in die Glieder faͤhrt, ehe mans merkt; ſo fahre Furcht und Schrecken in die Feinde, wenn ſie das Grab und das Kreuz druͤber im Blitze ſehen! Das iſt anders, als ein Mondſchein! Du biſt derſelbe, wo man ſteht und geht, weit ausſehender Mond! Sey den Freunden des Helden, uns, den edlen Todtengraͤbern, ſey ein Spiegel, in dem wir das Grab und das Ehrenzeichen druͤber immer ſehen, wir moͤgen ſtehen und gehen, wo wir wollen, und auch in deinem lezten Viertel! Bitt ich zu viel, ſo denke wie nah wir dieſem Grabe verwandt ſind auch in deinem lezten Viertel ſey diesGrab589Grab bis zur Helfte zu ſehen, bis zur Helfte! Genug, Freunde! Mond! Kreuz! Grab! Das ſey unſre Loſung, bis auch wir begraben werden im ſtillen Thal, wie es uns geziemet. Ein kleines Graͤblein, das ſich nichts uͤber das Thal heraus nehmen und kein Huͤgel ſeyn darf, ſey unſer Hauß. Ein Orden, ein Kreuz, gebuͤhret nur Helden. Wenn der Geiſterſeher der Seelenvertraute Mond, wenn er mit den Graͤbern der Helden fertig iſt, und noch einen Blick uͤbrig hat; er wird ungebe - ten mit ein Paar holden Stralen unſere Graͤ - ber beehren, damit ein Minneſaͤnger unſer Ruhethal bemerke, und auf unſer Grab durch heilige Ahndung gebracht, ein Grablied auf ſeine Geliebte ſinge, und auf ſich ſelbſt eins, weil jene ihm ſtarb!

Dank ſey Euch, ihr Treuen, ihr Lieben des Helden, die er beſchuͤtzet hat! Wir ha - ben eine heilige Pflicht erfuͤllet und Ehre ge - geben, dem Ehre gebuͤhret und einen Hel - den und einen Berg verbunden! Gleich mit gleich. Laßt uns froh heim gehen; denn es laͤßt nicht, wenn Helden weinen, und wer kann einen Berg mit Thraͤnen im Aug anſehen, wer? Er hat uͤberwunden und iſt mit Ehren vom dritten Tod uͤberwunden. Noch590Noch eine Pflicht liegt uns ob, dies Grab zu verhehlen ſeiner Vielgetreuen. Was wir koͤn - nen, kann ſie nicht. Sie iſt ſo ſehr ein Weib, als er ein Mann war! Kommt, Freunde! Sie koͤnnt uns uͤberraſchen, kommt! Warum ſeht ihr euch um? Freunde, kein Held ſieht ſich um, kommt! Wir nehmen den Mond mit.

Weh! weh! Iſts nicht ihr Silberton? Verſteckt Euch doch nein! Es iſt eine Nachtigal, die auch den Geliebten verloren hat. Solch ein Paar Stimmen, Luiſens und der Nachtigal, ſind leicht zu verwechſeln. Schluchze nicht, kleine Betruͤbte! Dein Ge - liebter iſt nicht im Felde geweſen, da faͤlt nur was vortreflich und ehrlich unter den Men - ſchen iſt, du wirſt ihn wieder finden; allein Luiſe nicht ihren Geliebten!

Was fuͤr ein Geſchrey? Iſts eine Taube, die nach ihrem Gatten girrt? Iſt es ein Kaͤuzlein, das erbaͤrmlich ſich hoͤren laͤßt? Iſts beydes? Iſts keins? Ha, Freunde! Sie iſts, es iſt Luiſe! Gott wie veraͤndert! Aus einer Nachtigal, was iſt ſie worden? Kommt, laßt uns fliehen fliehen flie - hen! Unſern Freund haben wir ſterben geſehn. Luiſen werden wir nicht leben hoͤ - ren koͤnnen. Kommt, Freunde! Auch du,Alter591Alter! Nimm dich zuſammen, gib deinem Sohn die Hand, damit er ein Stuͤck von dir uͤbertrage. Kommt, kommt alle! Du ſtarrſt, Geliebter! Du ſtarreſt! Du, vor allen Ge - treuer! Was iſt mein Geſang gegen dein Ge - ſicht? Laß es mich abſchreiben. Ich bitte dich Laß! Dann haben Kinder und Kindes - kinder ein Muſter von edlen Schmerz. Doch ſeht! Es bricht ſich Tod und Leben auf dei - nem Geſicht, mein Geliebter! mein Freund! Gottlob die Herzens Blutſchleuſe iſt nicht mehr gehemmt. Sie iſt wieder aufgezogen, und es fließt Blut in dein Geſicht. Ach Geliebter! ſoll ich, ſoll ich weiter ſingen? Es iſt Luiſe, Freund! Sie iſts! Kann ich? Soll ich? Flieht, Freunde, ſie iſt uns nahe! Verbergt euch ins Geſtraͤuch tief tiefer Freunde eines Helden fliehen? verber - gen? Doch! einem Weibe zum beſten! dem Weibe eines Helden zum beſten! Solch ein Weib koͤnnen nur Memmen aushalten! Maͤn - ner nicht! Wir ſind Helden, Freunde, weil wir fliehen, weil wir uns verbergen tief im Geſtraͤuch. Je tiefer, je heldenmuͤtiger!

Iſt Luiſe nicht eine Heldin, weil ſie be - truͤbt iſt bis in den Tod! Weil ſie ihre Stim - me verloren hat, und was weiß ſie? Weißſie592ſie mehr, als daß ihr Geliebter im Feld iſt, weiß ſie ſeinen Tod? Weiß ſie die Loſung: Kreuz! Grab! Tod!

Louiſe! ſie iſts, Freunde! O waͤr es ihr Geiſt; dann waͤren Franz und Louiſe doch bey einander! Wie hat ihr Geſang ſich veraͤndert? Haͤtt ich ſie nicht geſehen; durchs Gehoͤr haͤtte ſie niemand gekannt, der ſingen kann, niemand, der nur ſingen hoͤren kann! Louiſe! Louiſe! Seufz’t ihren Namen, Freunde! ſeufzt inwaͤrts! So wie der Seufzer aus dem Herzen kommt, ſtoß ihn ins Herz ſie koͤnnt uns ſonſt merken, und wir waͤren verloren. Auf unſerer Stirn wuͤrde ſie leſen, was ſie nicht wiſſen ſoll. Wir waͤ - ren ihre Moͤrder! Die geheimen Worte: Kreuz! Grab! Tod! ſind uns angeſchrie - ben an der Stirn einmal! zweymal! drey - mal! uͤberall Stecket die Koͤpf ins Ge - buͤſche. Juͤngling! Du haſt noch zu wenig Kreuz gehabt, du verſtehſt nicht Seufzer zu daͤmpfen, lern es von uns, du wirſt es be - nutzen. Freunde, wenn euch die Haͤnde zit - tern und die Fuͤß auch; ſchlagt ſie ins Kreuz, damit eins das andre halte, und Louiſe nichts merke! Ins Kreuz, Freunde

Wo593

Wo biſt du, Franz? Wo biſt du hin, Falſcher! Du liebſt den Krieg mehr, als mich, den Tod mehr, als das Leben! Wo biſt du? Du haſt deine Geliebte verlaſ - ſen, die nach dir zielte, wie ein Jaͤger nach Wild! nach dir ſang, wie die Voͤgel im Fruͤhling nach einander ſingen, bis ſie ſich gefunden haben. Wo ſind deine Schwuͤre? Deine Verwuͤnſchungen? Ungluͤcklicher! Was hat der Krieg, das dich reizen konnte, da du mich hatteſt! Dein Leben gehoͤrt Gott! dir! und mir! oder beſſer Gott! mir! und dir! und keinem von uns dreyen giebſt du es. Du bringeſt es dem Vaterland! Kennſt du dies Ungeheuer? Ich kenn es nicht, ich mag es nicht, ich will es nicht kennen, dieſes blutduͤrſti - ge Thier, das ſeinen Weg mit Menſchenleichen pflaſtert, um weich zu treten, und an ver - wuͤſteten Feldern und an ausgebrannten Waͤl - dern ſeine Luſt ſieht, das jedes Grab haßt, weil es lebt! Vaterland, wie heßlich biſt du! Auch meinen Geliebten haſt du auf deiner Seele, wenn du eine Seele haſt! Va - terland, du wohnſt in einer Moͤrdergrube! Franz! wie konnteſt du dich verleiten laſſen? Ehre! Was iſt Ehre? Weißt du es? Ich weiß es nicht! Wer uns in die AugenZweiter Th. P pehrt594ehrt, ehrt uns der? Und wers thut, wenn wir nicht dabey ſind, ehrt uns der? Weiß dieſer Fels, wenn ich ſag’ein ſchoͤner Fels, und richtet ſich die abgehauene Tanne in die Hoͤhe, wenn ich ſag: ein treflicher Baum? Hoͤren wir, wenn wir geſtorben ſind, und was iſt die Ehre, wenn wir nicht hoͤren koͤnnen? Du haſt falſch Geld eingewechſelt, Franz! Schaͤme dich, daß du geſtorben biſt. Doch! biſt du todt! Franz, rede doch, ich ringe meine Haͤnde, ich halt ſie gen Himmel! Ich was weiß ich, was ich thue! So rede doch, Franz, biſt du todt? Lebſt du? Verzeih einem Weibe, daß ſie nicht maͤnn - lich denkt. Du hatteſt zwo Haͤnd, eine fuͤr mich, eine fuͤr deine Pflicht. Es war Pflicht daß du in den Krieg giengeſt. Du hatteſt dein Wort eher der Fahn als mir gegeben. Verzeih mir, Franz! Ich ſah dein linkes Aug in Thraͤnen, da du Abſchied nahmſt. Im Rechten war Muth. Eine Hand war ſtark, die andre ſank. O Franz! Franz! Wenn wir uns doch eher gekannt haͤtten. Vielleicht haͤtteſt du dich mit keiner andern Pflicht vermaͤhlt, als mit der, mich zu lie - ben! Die ſchoͤne Pflicht! Iſt ſie nicht ſchoͤn? Traurig ſchoͤn! O wenn du lebenmoͤch -595moͤchteſt, doch du lebſt nicht, du biſt todt! todt! todt! Ich ſah dich kaͤmpfen, du edler Kaͤmpfer! Ich ſah dich mit vielen zu - gleich anbinden. Ich ſah dich kriegen, ed - ler Krieger! Ich ſah dich den ganz treffen, der dich halb traf, den ſtuͤrzen, der nach dir ſchlug ich ſah Blut und Schweiß, beydes edel zuſammen rinnen, und vor dei - ner Stirn ſtehen, und da der Zufluß zu ſtark war, es von deinen Wangen herab - thauen ich ſah! O Gott! ich ſah dich die Knie ſteifen, die ſchon zu ſinken anfiengen! Wie bleich, welche Blutduͤrre auf deinen Wangen! wie welk, Tod! da liegt er! das dacht ich wol, ich dacht es, Geliebter, daß du ſterben wuͤrdeſt Schreckliche Ahndung! doch war es bloß Ahndung? Es war Zei - chen vom Himmel: denn es ſtarb ein Edler! Wenn ein ſolcher ſtirbt, macht man im Him - mel Platz O ein Treflicher iſt gefallen. Klagt, ihr Jungfrauen! Der edelſte unter allen Juͤnglingen iſt geſtorben, ohne ſeinen Stamm fortzupflanzen, und ohn einen Sohn zuruͤck zu laſſen, der ſeinem Bilde aͤhnlich. Klagt, ihr Feigen! Ein Held iſt todt. Klagt, ihr Helden, euer Bruder iſt dahin. Es ſterben tauſend und abermal tauſend mit ihm! P p 2mich596mich ohngerechnet! Ich fuͤhlt jeden Her - zensſtich, den er ausſtand, den er uͤberwand, und den lezten, lezten Todesſtich, der ihm das Leben nahm! Ach! noch dehnet ſich dieſer Stich in meinem Buſen Franz iſt todt! todt! todt, todt! Rufe laut, uͤberlaut, al - les was rufen kann: todt! und was nicht Sprache hat, halle nach: todt! Fuͤr mich alles todt, die ganze Welt todt mein Geliebter hin, alles hin Leben hin, Tod hin, ach ſelbſt der Tod hin. Luiſe ſoll nicht in Franzens Arm ſterben, o des ſchoͤnen Todes in ſeinem Arm! So treflich ſoll Luiſe nicht ſterben, ſo lebendig nicht gen Himmel kommen! Ha, ſchreckliche Nacht, die ich uͤberſtand! Ich fuͤhl es, keine werd ich mehr uͤberſtehen ich traͤumte, was ich ſang! Ahndungsvoll ſprang ich auf im Traum, und Ahndung beſtaͤtigt dieſen Todestraum: Franz iſt todt! Ich rief im Walde, wo das Echo ſo oft Franz nachgerufen! Ich rief in den Wald: Franz keine Antwort. Nichts auf mein Franz, auf mein wiederholtes Franz! Echo biſt du verſtummt? Du rufſt alles, nur Franz nicht kannſt du den ſuͤſſen leichten Namen Franz nicht mehr nachſprechen? Oder liegt es an mir, daß ich mir nicht getrau,ihn597ihn laut vorzuſprechen! Ich koͤnnte Franzen, duͤnkt mich, im Sterben ſtoͤren ihn ſtoͤ - ren, wenn ich ſchrie: Franz! Und nun end - lich wie aus einer tiefen Kluft hohl: Franz! Schnell lief ein Schauder mir[durch] alle Glie - der, durch den geheimſten Mark! Der ſchoͤn - ſte Name in der Welt, wie ſchrecklich ward er mir! Wie iſts, Echo! Ich weiß alles! Heult nicht Hunde! Rufe nicht Eule! Laßt mich rufen, laßt mich heulen! Ich weiß al - les! Schrecklich! Wie traurig das Licht brannte, als auf einer Leichenwache. Ver - gebens muntert ichs durch eine Nadel auf, womit mein Buſen befeſtiget war. Verge - bens facht ich es an! Es wolte nicht, es konnte nicht. Franz auch du haſt ausge - brannt! Umſonſt waͤlzen dich Freunde, um - ſonſt ſchuͤtteln ſie deine Haͤnde! umſonſt! du biſt todt! todt! todt! Doch ſind es Freunde, die dich umgeben. Vielleicht Feinde Deine Moͤrder Moͤrder, die deinen Hel - denwerth verkennen, und ſich nicht einſt ruͤh - men ihrer Mordthat. Vielleicht rinnt dein Blut, dein edles Blut, in eine Pfuͤtze voll unreinem dicken Blut der gemeinſten Krieger! O Franz! wuͤßt ich, daß du wie ein Held begraben waͤrſt, wie du gelebtP p 3haſt,598haſt, und wie du gewiß geſtorben biſt, ich wuͤrde mich beruhigen: denn bald! bald! werd ich bey dir ſeyn. Wenn aber dein Leib als Scheuſal aufgeſtelt iſt, dein ſchoͤner Leib, das Meiſterſtuͤck der Natur, Franz! was heb ich an? Engel! Menſchen! wen ruͤhren meine Klagen zuerſt? Wer iſt am menſchlichſten unter allen Geſchoͤpfen wer? Franz iſt todt! todt! Wer zeigt mir den Weg zu dem einzigen Troſt, daß ich weiß, daß ich ſehe, wie er todt iſt! wo ſeine matte Haͤnde ruhen! und ſeine kuͤhne Bruſt! Wer iſt der Holde! der mir den Schluͤßel zu ſei - nem Grabe giebt? O waͤre ſein Kaͤmmerlein verſchloſſen! Waͤre ſeine Gruft heilig, wie ruhig!!

Auf, Freunde! tretet hervor, folgt mir, verdoppelt euren Schritt, damit wir Luiſen das Grab des Helden zeigen! Luiſe, wenn du haͤlſt, was du verſprochen haſt, wenn du ruhig ſeyn wilſt! wenn du es kannſt! Sie that einen Schwur mit ihren Augen, die ſie gen Himmel anſtrengte Dieſe Haͤnde trugen ihn in die Hoͤhe, ſagte der Aelteſte, ſie trugen ihn in den Vorhof des Himmels, wo Lohn nach Arbeit auf ihn wartet! Mache dein Auge groß, Luiſe, duſolſt599ſolſt ſein Grab ſehen, und ein Ehrenzeichen oben drauf. Goͤnn ihm die Ruhe, aoͤnn ſie dir ſelbſt. Sein Andenken ſey uns ewig heilig! Biſt du vorbereitet? Haſt du den lezten Tropfen Thraͤnen in deinem Aug ver - wiſcht, haſt du Staͤrke hinauf zu blicken? Wohlan! Dort oben ſchlaͤft Franz!

Sie ſah mit einem umfaſſenden Blick. Ach, ſeufzte Luiſe! ſchlug ein Kreuz vor ihre Bruſt, und ſank todt zur Erde.

Heut hab ich einen Leichenſchmauß! Alle meine Kinder ſind bey mir! Komm auch, Nachbar! Damit alles paarweiſ gehe, hab ich die Wittwe Marthe eingeladen. Du wirſt Gelegenheit haben, an deine ſelige Frau zu denken, wenn du die Wittwe Marthe, deiner Seligen leibliche Schweſter ſiehſt, und wenn du auf meinem Leichenſchmauſe biſt ich hab einen Enkel verloren, einen Kern - jungen. Der Tod hatte lang mit ihm zu thun, eh er ihn zu Boden riß. Jacob wehrte ſich, ſo klein er war, mit Juͤnglings - ſtaͤrke. Jacob, der Erſtgebohrne meines Aelteſten, der im vaͤterlichen Hauſe bleiben wird, weil er der Alteſte iſt. Jacob fuͤhrte meinen Namen, und war mir ſo auggreif -P p 4lich600lich aͤhnlich, als mir keiner von allen meinen Kindern und Groskindern iſt, die mir all aͤhnlicher ſind, als jene. Alle Leute nann - ten den Seligen: Großvater, und der kleine Junge freute ſich druͤber, und that ſo alt, als wenn ers waͤre. Er iſt ein Theil von mir, ein Aſt vom Stamm, und ſoll da be - graben werden, wo ich einſt begraben zu wer - den den Meinigen anbefohlen habe. Nach - bar! wir wollen betruͤbt und froh ſeyn, ſo wie man in der Abenddaͤmmerung ſieht, und nicht ſieht. O Greger! Es iſt ein koͤſtlich Ding, wie unſer Paſtor ſagt, zu ſterben, eh man ſtirbt! Was meinſt du, wenn man ſich begraben ſieht? Du biſt geſtorben, Gre - ger, eh du ſtarbſt, du haſt dich begraben ge - ſehen, und lebſt; denn dein Weib, Wittwer, war du ſelbſt! Sieh, ich habe noch all die Meinigen; nur Jacob den Hauptenkel hab ich verloren, den begrab ich heute! Da liegt er ſchon auf einem weißen Laken, du wirſt ihm folgen mit deiner ſeligen Frauen Schwe - ſter in einem Paar! Ich werde mir ſelbſt folgen mit meinem Weibe Hand in Hand. Gott geb ich ſtuͤrb mit ihr paarweiſ! Zwar hat mich Gott geſegnet mit Kindern und Kin - deskindern, die noch gruͤnen und bluͤhen undFruͤcht601Fruͤcht anſetzen werden zu ſeiner Zeit. Haſt du aber nicht bemerkt, Greger, die Blaͤtter ſtraͤuben ſich lang, und trotzen dem Herbſt; faͤlt aber das erſte gelbe Blatt: fallen ihm mehr nach, bis der Baum nackt und blos ſteht! Ich bin bereit, mein Weib iſt be - reit. O, waͤren wir die erſten, die nach dieſem gelben Blatt fielen! Ruhe wohl, Ja - cob! Du biſt, ſo klein du wareſt, eines chriſtlichen Begraͤbniſſes werth, und eines Leichenſchmauſes! Fromm wollen wir reden, Nachbar, und das lezte Glas wollen wir trinken: auf ein ſeliges Ende!

Tanne; warum ſo ſtolz unter deines gleichen? Warum Meuterey wider die koͤ - nigliche Familie der Eiche? Ich, dein Landsmann, aus Norden gebuͤrtig, wie du, finde keine Hoheit an dir von Fuß bis zur Scheitel! Wenn ſanfte Winde dich und al - les, was um dir iſt, mit einer verſtehbaren Sprache beleben, rauſche mir zu, was dein Vorzug iſt, damit ichs durch den Wiederhall deinen Nachbaren, wer ſie auch ſind, ver - kuͤndige, auf daß ſie dich ehren, wie die koͤ - nigliche Eiche geehrt wird, und wenn du es verdienſt, noch mehr. Sieh an die maje -P p 5ſtaͤti -602ſtaͤtiſche dreyhundertjaͤhrige Eiche, die die Ge - ſchichte des ganzen Waldes weiß, da ſteht ſie unerſchuͤttert, trotzt den Stuͤrmen aller Weltgegenden, trotzt allem nur Gottes Donner nicht; wenn du dich vor jedem Winde buͤckeſt und dich windeſt, kriechſt und wie ein Hofmann ſchmeichelſt, damit jeder Wind dich nicht aushebe, und deine Wurzel aufdecke allen die voruͤbergehn! Gruͤn biſt du im Winter, wenn die Eiche, von ihrem koͤnig - lichen Schmuck entkleidet, nach Art wahrer Groͤße ſich nichts vor ihren Unterthanen her - aus nimmt. Iſt aber das Kleid wahre Ho - heit? Wo iſt dein Werth, wenn auf einem einzigen Eichenblatte ſich ganze Geſchlechter niederlaſſen, und du Nadeln ſtatt Blaͤtter zaͤhleſt? Sieh nicht veraͤchtlich, Tanne, auf die tief unten gruͤnende Waldblume, die, wenn ſie im Fruͤhling aufgeht, und rings umher im nackten Walde alles oͤde und leer findet, ſich erſt im Thau badet, um deſto heller und klaͤrer zu dir hinauf zu blicken. und das erſte Baumgruͤn zu ſehen! Neige dich zu dieſer aufgehenden Waldblume, Tanne, die du dich vor jedem nur rauſchenden Winde ſo tief beugeſt! Blick her auf die Eiche, die keinem Unterthan, der zu ihr flieht, Schutzund603und Schirm verſagt, und wenn der in die Hoͤhe ſtrebende Baum von Buben gebrochen wird, und ſich zu ihr wendet, ihm einen Aſt reichet, damit er den Streich verwachſe, den der Bube an ihm vollfuͤhrte.

Schmetterling, Schmetterling, ſetz dich! Sieh den Sperling, der auf dich laurt, und ſeinen Schnabel wetzet, um dich, als ei - nen Braten zu eſſen, und Sallat von dem Blaͤdchen, wo du ſitzeſt, dazu zu bicken. Schmetterling, Schmetterling, ſetz dich! Ich will dir nicht einen Fluͤgel ausreißen, oder ei - nen Fuß oder dich aͤngſtigen, Raͤrrchen! Nein! Du biſt klein, wie ich! Gerg, mein groͤße - rer Bruder, faͤngt ſich groͤßere Voͤgel, und er geht nicht mit ihnen um, wie ich mit dir umgehen werde. Weißt du, was ich will? Ich will dich ein wenig anſehen, ſchoͤ - nes Jungferchen, nicht lange. Ich weiß, du lebſt nur kurz, armes Voͤgelchen! kuͤnf - tigen Sommer biſt du nicht mehr, und ich bin ſchon ſieben Sommer alt. Ich will dich nicht vom Leben aufhalten, armes Voͤ - gelchen, aber beſehen will ich dich, dein niedliches Koͤpfchen, und dein ſchlankes Leib - chen, und deine Spitzenfluͤgelchen, das willich604ich beſehn, und damit du keine Zeit verlierſt, werd ich dir ein Blaͤdchen vorhalten, damit du waͤhrend der Zeit eſſen kannſt. Schmet - terling, Schmetterling, ſetz dich! Naͤrrchen, ich meyn es gut mit dir! Schmetterling, Schmetterling, ſetz dich!

Es war einmal ein Edelmann, der ritt ſtets einen Fuchs, der Edelmann war ſo falſch, wie der Fuchs, und der Fuchs wie der Edelmann. Ein ſchaͤndlich Paar! Zwar war der Fuchs ein ſchoͤnes Thier, der Edel - mann nicht minder. Doch einer ſchlug ſo aus, wie der andre, und beyde waren be - ſchlagen, der eine mit Bosheit, der andre mit Eiſen. Beyde ſchlugen und trafen Men - ſchen. Der Fuchs hatt einen ſeltenen Kopf, einen Hals zum mahlen, und einen[Fuß]! gewiß! einen niedlichen Fuß! Sein Schweif hieng ihm herrlich herab, zum Schrecken aller Bremſen und Fliegen, die er nicht ver - jagte, ſondern auf der Stelle todtſchlug. Auf ſeinem Ruͤcken war ein Bremſen Kirchhof! O des praͤchtigen Schweifs! Der Edelmann, gewachſen wie eine Buͤrke, hoch und gerade. Sein Geſicht braun, wie eine Eichel, wenn ſie rein und reif iſt, und ſeine Hand nochbrau -605brauner. Nichts an ihm verungluͤckt; kein Fleck, nichts ſchiefes an ihm, wie ein ausge - wachſener Halm im Kleinen, war er im Groſ - ſen, gerad bis auf ſein Seitenhaar, das kraus lag in natuͤrlichen Locken. Man glaubte, die liebe Natur haͤtt es mit ihnen zu einem Knoten angelegt, und ſie waͤren im Zuziehen geſtoͤrt worden.

Sein Auge meldte jedem an,
es ſey der Mann ein Edelmann.

Nur die Augenbranen waren wild gewachſen, ſehr wild! Da lag das Boͤſe vom Edelmann, denn wenn er gleich ſchoͤn von außen war, ſo hatt er doch einen innerlichen Schaden. Sein Herz war eine Moͤrdergrube, und von draußen ſtand ein ſchoͤner adlicher Hof. O hoͤrt, ihr tu - gendſame Jungfrauen, was ſich zutrug im Jahr nach Chriſti Geburt ein tauſend ſieben hundert und ſieben, hoͤrt es und weint um eure Schweſter! Es war einmal ein ehrlicher Buͤr - gersmann, der hatt eine ſchoͤne Tochter. Der Paſtor ſah ſie an, wenn er die Schoͤnheit des Engels beſchrieb, der auf Gottes Geheiß einen menſchlichen Leib auf eine kurze Zeit angezo - gen. Er ſah nicht ſeine Frau an, denn die war alt, obgleich ſie ſich beyde nichts vorzuruͤ - cken hatten, und er auch alt war. AnnensLeib606Leib war ein Engelskind; ſo paſſend gemacht, daß der Engel nichts abſchneiden durfte, wenn er ein Menſchengewand auf Gottes Befehl noͤ - thig gehabt. Freylich ſahe ſie ſo ſchwindſuͤch - tig nicht aus, wie das vornehme Ding in un - ſerer Nachbarſchaft, von der alles ſagt, ſie ſey die ſchoͤnſt im Lande. Daß ſich Gott erbarm! Wer Annen ſah, wuſt ſicher, was Schoͤnheit ſey. Wer ſie nicht geſehen hatte, war zwei - felhaft. Man verglich die andern Geſichter nicht mehr mit der Natur, ſondern mit Annen, nicht mit der weißen Lilie den Buſen, nicht mit dem Himmelsblau das Aug, nicht mit einer aufbrechenden Roſe das Friſche im Geſicht man verglich es mit Annen. Sie hat das von Annen und jenes von Annen. So ſprach jeder wer Annen geſehen. Man hatte nicht noͤthig, ſich herum zu thun und hier und da was in der Natur zuſammen zu ſuchen Anne war alles zuſammen. Sie war weiß; allein wer auch eine Braune liebte, blieb ſtehen, wenn er ſie ſah, und ſagte laut: ſchoͤn! Sie hatte ſo was geſundweißes im Geſicht, daß man das Blut rinnen ſebn kounte. O ein ſchoͤnes Blut! Der ganze Himmel lag auf ihrem Geſicht! weiß! roth! blau! Wenn man ihn im Klei - nen wollte, ſah man Annen an und ihreSeele?607Seele? Wer eine Seele ſehen wollte, ſah ihr ins Aug. Da hatte ſie ſich eiquartiert. Wen ſie damit anſah, hatte Gottes Bild geſehen, und ein Strahl von dieſem Bilde ließ ſo viel Ehrfurcht zuruͤck, daß man Annen liebt und ehrte. Ihr Aug war die Sonn am Himmel! Man dankte Gott, daß er ſo ſchoͤne Menſchen auf ſeiner Welt gemacht und waͤr es er - laubt, daß ein Engel, wenn er auf Gottes Extrapoſt faͤhrt, und der Erdenluft wegen ein Menſchengewand angezogen hat, waͤr es er - laubt, daß ein Engel ohne Gottes Trauſchein ſich verheyrathen koͤnnte: er naͤhme ſie! Sie waͤre Fleiſch von ſeinem Fleiſch! Geiſt von ſeinem Geiſt! O ihr Jungfrauen, hoͤrt was ſich mit Annen zutrug und mit dem Edel - mann, der ſtets einen Fuchs ritt. Er ſtelte ſich, als liebt er ſie; allein er liebte ſie nicht, denn die Liebe macht tugendhaft, wenn man einen Engel wie Annen liebt! Er liebte ſie, doch war ſeine Liebe Leckerey! Der Boͤſewicht meynte nicht ſie, ſondern ſich. Haſt du ihr nicht ins Aug geſehen? und recht ins Geſicht? oder fuͤrchteſt du dich nicht fuͤr Gott und fuͤr den Himmel! Boͤſewicht! fuͤr was fuͤrchteſt du dich denn? Sie waren beyde ſchoͤn! ſchoͤn! allein welch ein Unterſchied in derSchoͤn -608Schoͤnheit! Sie ſchoͤn, wie ein Engel; Er ſchoͤn, wie ein Teufel, wenn er ſich in einen Engel des Lichts verkleidet hat. Er ſchwur Annen zu lieben bis in den Tod, und wie leicht koͤnnen wir betrogen werden, wenn es Jemand zum Betrug anlegt, der ſo ſchoͤn iſt, wie der Edelmann. Wer ſieht immer auf die Augen - branen? Anne ſagt auf ſein Zudringen, ich will, wenn meine Mutter will. Ihr Va - ter war waͤhrend der Zeit geſtorben, und der Edelmann, der ihn zur Gruft begleitete, hatte ſich ſo betruͤbt geſtelt, daß Anne ihres Vaters und ihres Lieb habers wegen gleich betruͤbt war! Die arme Ungluͤckliche! Bis jezt hatt er noch nicht das vaͤterliche Hauß betreten. Sein er - ſier Schritt war ins Trauerhauß! Eine ſchreck - liche Vorbedeutung! Nun kam er, wenn er wolte und Anne blieb zwar bei ihrem: ich will, wenn meine Mutter will; allein ſie ſprach es immer ſchwaͤcher. Der Boͤſewicht gruͤßte die Mutter nicht mit den ſuͤßen Worten: gib mir deine Tochter! Er ſuchte die Tochter ihrer Mutter allmaͤhlig zu entwoͤhnen. Die Mutter merkte wie iſts? fragte ſie den Edelmann: Ernſt oder Scherz, Spiel oder Ehe? O Anne, warum ſahſt du ihm nicht in ſein verruchtes Geſicht, bey dieſer muͤtter -lichen609lichen Frage recht ins Geſicht? Du haͤt - teſt den Boͤſewicht entdeckt in Lebensgroͤße. Er rafte ſich bald zuſammen. Ernſt, ſprach er, Ehe! Wie, ſagte die Tochter, da der Boͤſewicht dieſen Abend das Hauß der Unſchuld verließ, wie waͤr es anders zu denken? Die Mutter ward ruhig nach dieſem Abend. Mehr hatte dem Edelmann nicht gefehlt, ſeiner Gottloſig - keit vollen Lauf zu laſſen, und die Unſchuld zu vergiften, als dieſe Ruhe der Mutter O Ihr Jungfrauen! weint um eure Schwe - ſter, die durch einen Boͤſewicht von der ſtren - gen Bahn der Unſchuld und Tugend verfuͤhrt ward. Nur Mutter und Tochter und drey aus ihrer Verwandſchaft wußten ihren Fall! Der Tod entriß ihn dem Ottergift der Stadtlippen. Ihre Mutter rang die Haͤnde. Anne konnte ſie nicht ringen der Tod war ihr Leben! Sie konnte, ſie wolte nichts weiter, als ſter - ben. Kniend bat ſie ihre Mutter, fuͤr ſie zu beten. Ja! Tochter! ich will fuͤr dich beten! Ich will beten, daß dich Gott beruhige. Nein, Mutter, daß ich ſterbe, daß ich ſterbe, daß ich ſterbe, alles andre Gebet wiederruf ich der Tod, das iſt mein Alles.

Anne ſprach dies gelaßner, als ich, ſo gelaſſen, daß man wohl ſahe, der Tod ſeyZweiter Th. Q qihr610ihr alles. Sie knieten beyde, Mutter und Tochter, dicht zuſammen, und hielten die Haͤn - de gen Himmel, als waͤr es nur eine. Sehn - lichſt beteten ſie um den Tod, und das iſt eine große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht erſt wem giebt, ſondern nur denen er gut iſt. Wir ſterben zwar alle; allein es kommt beym Tod aufs wenn? an, auf eine erwuͤnſchte, das iſt, auf eine ſelige Stunde. Da nimmt man nicht zehn Leben um Einen Tod! Die Tochter ſtarb ſo ruhig, daß man ihr die ewge Seligkeit anſehen konnte. Die Mutter muſte noch acht Tag jammern. Sie hatte keinen Schmerz; allein ſie jammerte mein Mann todt, meine Tochter todt und ich! ich! hab ein heimtuͤckiſches hartes Leben! Schon lange bey Lebenszeit ihres Mannes war ſie ſiech! Der Tod ihrer Tochter hatt ihr vollends das Herz gebrochen. Nun gieng es gegen den ach - ten Tag, daß die Leich ihrer Tochter auf ſie wartete, unbegraben! Auf einen Tag, ſagte die Mutter zu ihrer ſterbenden Tochter, auf einen Tag, ſagte die Tochter. Auf einen Tag, ſagten ſie ſich hundertmal, und auf einen Tag waren auch ihre lezten Worte. Sie ſtarb! o Gott faſt wie ihre Tochter. Faſt! Ganz nicht, denn die Tochter ſtarb noch leichter! Die611Die Mutter war aͤlter, das Leben hatte ſich mehr angeklammert, und der Tod muſte ſtark reißen, eh er ſeinen Zweck erriß Der Mut - ter Sarg ſtand ſchon laͤngſt bey dem Sarg ihrer Tochter, noch eh die Mutter ſelbſt drinn war. Was das fuͤr ein Leichenzug war! Sie wolten ſtill begraben ſeyn; allein alles im Staͤdtchen, was gehen konnte, gieng den Saͤr - gern nach. Es waren allen und jeden Wegwei - ſer zur ewigen Ruhe! Die Tagloͤhner verdun - gen ſich nur auf den halben Tag, um dieſes Begraͤbniß zu ſehen. Der Paſtor weinte. Er war außer den Dreyen der vierte, der An - nens Fall wuſte! Die Engel fielen und wur - den Teufel; allein Anne blieb, was ſie war, im prieſterlichen Auge. Der Paſtor weinte: denn er hatte kein Engelbild mehr in ſeiner Ge - meine. Er wuſte nicht, wie er die Engelgeſtalt deutlich machen wuͤrde, da er Annen nicht mehr ſehen konnte ich werde ſie bald ſehen, fieng er prophetiſch an mit entzuͤckten Muthe, druͤckte ſich den Hut in die Augen, und gieng ſo, als ob er den Tod ausfordern wolte. Der gute Paſtor! Er wolt ein Erbauungswort bey dem Grabe dieſer beyden Seligen verbreiten, doch, das konnt er nicht! Annens Geſicht, das ihm noch zu lebhaft vor den Augen ſchwebte,Q q 2ſtoͤrte612ſtoͤrte ihn. Er verſtummte ſelbſt in der Kol - lekte, und ſchluchzte laut. Der Schuſter Veit, der ſo gut ſingt als Einer, half ihm aus, ohne daß es viel zu merken war. Dieſer war be - kannt, daß er Melodie hielt, und nicht weinen konnte. Sie hatten eben die Todten begraben und wollten heim gehen; da kam der Edelmann auf ſie zugeſprengt. Er ritt keinen Fuchs, ſon - dern einen Schwarzen.

Ha! dachte der Paſtor, da er den Edel - mann, den er wohl kannte, auf einem Rap - pen, und nicht mehr auf dem Fuchs, ſahe Ha, das Gewiſſen! das Gewiſſen! Es war ihm Vergnuͤgen, den Judas haͤngen zu ſehen, und wahrlich wenn ein Boͤſewicht von der Welt Verzeihung haben will, muß er unſtaͤt und fluͤchtig verzweifelnd ausſehen.

Der Boͤſewicht haͤtt ohngefragt wiſſen koͤnnen was? und wie? und wer? Denn unſre Todten kamen in eine Reih mit Mann mit Vater. An dieſer Stelle, Boͤſewicht, haſt du geweint. Er frug aber ein bloſſes kaltbluͤtiges wer?

Anne, ſagte der Paſtor, und zog ſeinen Hut ab, und die Thraͤnen ſtuͤrzten herunter, als goͤß er ſeine Augen aus Anne, ſagt, er, und die ganze Verſammlung wimmerteAnne613Anne, und lange hernach ſagt alles, ihre Mutter auch da haͤtte man doch denken ſol - len, wuͤrd er ſich an die Bruſt ſchlagen und verzweifeln! Eins ſagte dem andern: das iſt er, und mancher, der Herz hatte, ſetzte, wiewohl ins Ohr, hinzu: der Moͤrder! Al - les wuſte von ſeiner Falſchheit gegen Annen; allein nur drey, außer dem Paſtor von ihrer Leichtglaͤubigkeit. Der Boͤſewicht ſchien, mir nichts, dir nichts! Sie hat Ihnen ver ziehen, gnaͤdiger Herr, ſagte der Pa - ſtor, und konnte das Wort verziehen lang nicht herausbringen. Der alte Mann war zu bewegt. Sie hat Ihnen verziehen, wie - derhohlt er mit bloſſem Haupt, und ich, verſetzte der Frevler trotzig, verzeih ihr auch, daß ſie geſtorben iſt! O Jung frauen! denkt ans Jahr nach Chriſti Geburt ein tauſend ſieben hundert und ſieben, und an die Verzeihung, daß ſie geſtorben iſt! Traut nicht den gnaͤdigen Herren, wenn ſie gleich bey den Graͤbern eurer Vaͤter wei - nen!

Es ward dem Paſtor und ſeiner Gemeine, als ob die Erde bebte, da der Moͤrder ſieg - prangte und trotzte. Der Paſtor ſetzte ſei - nen Hut auf, und die Begleiter und Beglei -Q q 3terin -614terinnen falteten die Haͤnde. Der Edelmann mir nichts, dir nichts, ſprengte davon; denn er hatte ſeit vielen Wochen ein ander Ann - chen, drum verzieh er unſerm, daß es geſtor - ben war!

Dieſe ſchreckliche Worte hatten dem Pa - ſtor ſchnell die Thraͤnen geſtauet. Beym hef - tigen Ungewitter regnet es nicht Da fieng der Paſtor an, da habt ihr meine Lieben, den Teufel geſehn! Sie war ein Engel! Er ein Teufel, und alle, die ſolche Augenbranen ſahen, fuͤrchteten ſich nach der Zeit, als ſaͤhen ſie den boͤſen Geiſt. Einige von den Stadt - frauen, welche das ſelige gute unſchuldige Annchen gekannt hatten, und unter denen die bewußten drey am meiſten, wunderten ſich und ſprachen: warum erſcheint nicht Annchens Geiſt dem Boͤſewicht? Warum faͤhrt nicht ihre kalte Hand uͤber ſein Geſicht, bis Todesſchweiß vor ſeiner Stirn ſteht? Warum heulen nicht des Abends zwiſchen eilf und zwoͤlf Hunde, damit ihm die Ohren gellen? Warum kreiſelt nicht ein Sturmwind ſich um ihn herum, damit ihm Hoͤ - ren und Sehen vergehe? Warum pfeift ihm nicht der Nord zu: du biſt der Mann des To - des? Warum raſſeln nicht, wenn er mit ſeiner Buhlerin ins Bett ſteigt, unter ſeinem BetteKetten615Ketten? Warum fahren nicht kalte Schauer kreuzweis durch ſeine Seele? Warum ſchrey - en nicht Eulen, wenn er des Abends nach fri - ſcher Luft ſchnapt? Und warum verſcheucht ſich nicht ſein Pferd vor einer Erſcheinung, und wirft ihn herab auf ebenem Wege? Warum ſchlaͤgt es nicht an ſein Fenſter mit Faͤuſten an, damit wenn er wer da! rufet, er nichts als ein Schatten von der Seite wegziehen ſaͤhe? Warum klirrt und klarrt, kniſtert und knaſtet es nicht in ſeinem Zim - mer, obgleich alles rings herum altes reif ausgeerocknetes Holz iſt, als wolt es in die Wort ausbrechen: Moͤrder, Moͤrder! Wundert euch des nicht, meine Lieben, ſagte der Paſtor gar eben, daß das alles nicht ge - ſchieht, Anne hat ihm verziehen, eben weil ſie ein Engel iſt! Wenn ſich die Menſchen dem Teufel ergeben, laͤßt der Teufel ſie ſeine Knechtsjahre ungeſtoͤrt. Des Teufels Knechte ſind faſt immer vornehme Herren allein wenn die Contraktsjahr aus ſind

Die Gemeine ſchlug ſich ein Kreuz, und alles betete:

Fuͤr den Teufel uns bewahr!

Q q 4Zwar616

Zwar eine Aehrenleſerin, und doch reich! Wie ich noch arbeiten konnte, band ich Gar - ben, und beſchaͤmt oft junge Maͤdchen in der Schnelligkeit. Man ſagte von mir, ich grif Gluͤck, wenn ich unter der blinkenden Sichel Getreyde grif. Im Alter leſ ich Aeh - ren, und frene mich, daß ichs kann. Lie - ber wuͤrd ichs ſehen, wenn ich mich nicht buͤ - cken doͤrfte. Doch buͤckt man ſich nicht auch, wenn man ſtirbt? und mir iſt immer ſo wohl, wenn ich eine Aehre find, als faͤnd ich mei - nen ſeligen Tod! Auch der wird kommen, wenn Zeit und Stunde ſeyn wird, ſo wie der liebreiche Gott mir meine Schuͤrze voll Aeh - ren beſchert, wenn es Zeit iſt. Da ſa - gen mir oft Leute, die jung ſind und Aeh - ren leſen kommen: Mutter, dort ſteht noch Korn, was leßt ihr, ſchneidet mit einem Meſſer Aehren, ſo habt ihr in einer halben Stunde mehr, als ihr tragen koͤnnt! Seht! wie wir es machen! Schaͤmt euch, Kinder, antwort ich, daß ihr euch mit Aehrenleſen abgebt, und ſchaͤmt euch doppelt, daß ihr Gott und Menſchen mit dem Meſſer betruͤgt. Der liebe Gott, der unſer Haar zaͤhlt, zaͤhlt auch jedes Erdenhaar, jeden Halm! Glaubt617Glaubt wir, jede Aehre, die ihr abgeſchnit - ten habt, wird euch uͤber kurz oder lang im Gewiſſen ſchneiden. Wie kann euch Brod an - ſchlagen, das ihr ſtehlt? Brod ſtehlen, das heißt ſo viel, wenn es nicht noch mehr heißt, als vom Altar Gottes nehmen, ohn - erachtet die liebe Sonn hell brennt. Ehe Hungers geſtorben, als ſolch geſtohlnes Brod gegeſſen! Seht! wenn ein Halm dem Stahl des Schnitters entkommen, und wie ver - wayſt allein unter Stoppeln da ſieht! Ich nehm ihn nicht! Steh, ſag ich zu ihm, bis dich der Nord knickt, wie mich das Al - ter! Wenn ihr ehrlich Aehren leſen wuͤr - det, ihr Aehrendiebe! waͤr es Schand und Suͤnd: denn koͤnt ihr nicht noch arbeiten, und Gluͤck greifen, wie ichs gegriffen habe, ohne Aehren zu leſen, oder bey Gottes Thuͤr zu betteln? Ich werd euch nicht lang mehr im Wege ſeyn! Alle Jahr find ich weniger Aehren, und immer hab ich denn auch weniger noͤthig. Je aͤlter, je weniger Hunger: je weniger Zaͤhne, je weniger Magen. Dies Jahr nur wenige Haͤnde voll Aehren. So wenig hab ich noch kein Jahr gehabt ich glaub, ich habe dies Jahr zum letztenmal ge - leſen. O wie gern, wie gern moͤcht ich ausQ q 5die618dieſer argen, boͤſen boͤſen Welt herausſchei - den, wo man ſo gar Gottes Altar beym hell - brennenden Licht beſtiehlt! Lebt wohl, wenn ich euch nicht mehr wieder ſehen ſoll, guͤtige Felder! Tragt ſiebenfaͤltig und mehrfaͤltig, ſo vielfaͤltig, als es eurem Eigenthuͤmer nuͤtzlich und ſelig iſt! Gott vergelt jedem die Aeh - ren, die mir ſein Acker verliehen hat! Lebt wohl all ihr mitleidigen Oerter, wo ich mich ausruhete, wenn ich mich nicht mehr buͤcken konnte, und du vor allen, guͤtigſter Ort, wo mir ein ſanfter ſpannbreiter Bach Kuͤhlung gab, und in ſuͤßen Schlaf rauſchte, leb wohl! Da ſah ich, wie das neugierige Feldbluͤmchen, welches am Ufer bluͤhete, ſich recht muͤhſam heruͤber bog, als wolt es das Ohr ans kleine Welchen legen, und es be - horchen. Da ſah ich bis ich ſanft ein - ſchlief ſanft. O ſo ſanft komme mir auch der Tod, ſo ſanft! dann bin ich reicher, als wenn mir all dieſe Felder gehoͤrten, und der ſpannbreite Bach, den die neugierige Feld - blume belauſchte, und die mitleidigen Oerter, wo ich mich ſo ſanft ausruhete ſo ſanft!

Ende der Beilage A.

Daß619

D mir Minens Nachlaß koſtbar ge - weſen, darf ich nicht bemerken. Ich bat Gret - chen,[durch] geſchworne Leute die Sachen wuͤr - digen zu laſſen, um dem Herrmann nichts zu entziehen, was ihm die Rechte, als Erbe ſeiner Tochter, zuwenden. Ich konnte bey dieſer Wuͤrdigung nicht gegenwaͤrtig ſeyn.

Gretchen und ich theilten uns dieſen un - ſchaͤtzbaren Nachlaß. Sie lehnte meinen An - trag nicht im mindeſten, auch nicht durch eine Verbeugung ab. Sie dankt auch nicht; ſondern eignete ſich ihren Theil zu, als etwas, das ihr eignet und gebuͤhrte. Fuͤr den Herr - mann ward auf alle Faͤlle, oder eigentlicher auf den Fall, ein Stuͤck abgelegt, wenn er wollen wuͤrde, und fuͤr den ehrlichen Benja - min, unter dem einen Beding wenn er noch lebet. An die Theilung ward nicht eher, als den Siebenden Tag nach Minens Beerdigung, gedacht.

Ueber Minens Begraͤbniß werd ich kurz ſeyn. Den ganzen Tag vor dem Begraͤb - nißtage brachten wir in Geſellſchaft der Lei - che zu. Nur bis dahin war ich an mein Verſprechen, Minen nicht zu ſehen, gebun - den. Jetzt gieng das noch einmal an, das ich mir vorbehalten hatte; und dies nochein -620einmal waͤhrte einen ganzen Tag. Gret - chen hatte mir den muͤndlichen Beſcheid ab - gegeben: Wenn er nicht vor dem Haar einer Todten zuruͤck bebt, kann er eine Haarlocke nehmen. Die Empfindung, mit der ich mir dies Geſchenk nahm, iſt unbeſchreiblich! O! du mir theur und werthes Geſchenk, wie noch angenehmer waͤrſt du mir aus Min - chens Hand geweſen, die kalt iſt und kalt bleibt, obgleich ſie dein Freund, dein Mann, an brennenden Lippen anzuͤnden will. All ihre Sachen nannt ich mittelbar, dieſe Haar - locke war was unmittelbares. Sie war ein Stuͤck von Minen ſelbſt, das einzige, was Menſchen unmittelbar mit Anſtand von ein - ander nehmen koͤnnen Dies war mit ein Hauptſtuͤck fuͤr mich, ins Grab

Der Tag, den wir mit Minen, eigent - lich mit ihrer Haͤlfte, mit weniger als ihrer Haͤlfte, zuſammen waren, wie kurz war er! Eh er ſich neigte, ſchien es mit meiner Faſ - ſung auch zum Ende zu gehen! Bis dahin hatt ich mich gut gehalten, wie der Prediger ſagte. Er legt es nach verſchiedenen Methoden mit mir an; allein keine einzige hielt Stich. Wir hatten ein tiefes und ein hohes uͤber die Gleichmuͤthigkeit geſprochen Der gutePa -

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621Paſtor ſagte mir, als etwas ganz Neues, daß die Gleichmuͤthigkeit zum Charakter ge - hoͤre, die Gleichguͤltigkeit zum Tempera - ment. Ich wußte ſo gut und beſſer, wie der Prediger, daß wenn die Gleichmuͤthig - keit aus der Selbſtbeherrſchung entſtehet, ſie bey allen Vorfaͤllen des Lebens das Kleid des Weiſen, und ſo ſehr von der Fuͤhlloſigkeit unterſchieden ſey, als lieben und verliebt ſeyn. Was helfen aber all dieſe Vortreflichkeiten, die nicht zum Herzen gehen! Minens Leich - nam machte alle Kunſt zu Schanden. Mit Freuden thaten wir alle auf das Kleid des Weiſen Verzicht, und ſuchten eine Wonne drinn, blos Menſchen zu ſeyn, wie die liebe Mutter Natur ſie am liebſten hat! Und am Ende, Freunde! gehts der abgehaͤrteten Seele und dem abgehaͤrteten Koͤrper, wie dem Stahl dies und das ſpringt! Ihr! die ihr den Menſchen an Leib und Seele ver - haͤrten wolt, bedenkt, was wir ſind. Ich bin ein Menſch, heißt das nicht, ich bin ſchwach?

Der lezte Abſchied, den wir von Minens zuruͤckgelaſſenem Theil nahmen, war ruͤh - rend! Wir ſprachen mit ihm, als koͤnnt er hoͤren, wir verſtummten, da er nicht ant -wor -622wortete. Wie ſehr es mir zur Beruhigung gereichte, daß alles meinen Schmerz mit em - pfand, kann ich nicht ausſprechen. Er vertheilte ſich, doch blieb fuͤr mich ſo viel zu - ruͤck, daß mir das Leben wie gar nichts war! Dieſe Empfindung haͤtt ich um alles nicht weggegeben.

Da wir heraus giengen, und ich Minen noch zum leztenmal anſehen wolte, konnt ich es nicht. Ich war mit Blindheit ge - ſchlagen; allein mein Ohr und Herz hoͤrte die Worte, welche der Prediger, der ſich ans Sarg ſtelte, mit geruͤhrter Seel ausſprach: Der Herr behuͤte deinen Ausgang und Eingang, von nun an bis in Ewigkeit! Und nun kamen zwey Leute, die den Sarg feſt zudruͤckten, und nach dieſem ſchrecklichen Zudruck ſich zu uns mit den Worten wende - ten: Gott beſcheer uns allen eine ſelige Nachfahrt! Sie hielten ihre Muͤtzen vor und beteten, und wir beteten alle!

Minens Sarg war ſehr einfach, ohn alle Verzierung. Sie hatt es nicht aus - druͤcklich ſo angeordnet; allein ſie bezeugte ihr Misfallen, daß der Sarg ihres Verwand - ten zu gekuͤnſtelt geweſen. Schon lange zuvor ward ich vom guten Prediger befragt,ob623ob Mine nach curſcher, oder preußiſcher Art, begraben werden ſolte? Sie ſelbſt hatte weder im Teſtament, noch im Codicill, we - der ſchriftlich noch muͤndlich, daruͤber Ver - fuͤgungen getroffen, außer daß ſie gern bey ihren Verwandten begraben werden wolte, um ſie am lieben juͤngſten Tag gleich bey der Hand zu haben. Ich bat ihn ſehr, es wie es Sitte im Lande waͤre, zu halten; und nun noch ein Umſtand.

Zu den ausgezeichneten Eingepfarrten gehoͤrte der Graf v. Ein beſondrer Mann! Seine Hauptbeſchaͤftigung war, Leute ſterben zu ſehen. Er nahm, wo er von Kranken hoͤrte, ſie bey ſich auf, und wenig - nigſtens waren ſieben, die bey ihm ſtarben; man mochte zu ihm kommen, wenn man wolte. Oft waren mehr. Unter den Kran - ken zog er Verlaßne und ſolche Leute vor, de - ren Schickſal ungemein war, und die meiſte Zeit war die Zahl außerordentlich, und uͤber ſieben. Seine Sterbezimmer waren immer beſetzt. Der Graf hatte ſehr traurige Schick - ſale uͤberlebt. Seine ſieben Kinder, all in voller Bluͤthe, unter deneu zwey Toͤchter als Braͤute, und ein Sohn als Braͤutigam, ſtar - ben in Zeit von drey Jahren. Die Braͤuti -gams624gams der Toͤchter, die Braut des Sohns, folgten, und ſeine Gemahlin auch. Ein ein - ziger Bedienter war von ſeiner Jugend, oder wie er ſich ausdruͤckte, von ſeiner Fruͤhlings - bekanntſchaft uͤbrig, alle Uebrigen hatten ihn im Stich gelaſſen. Mit dieſem alten Be - dienten hielt er Hauß, das hieß in ſeiner Sprache, beſtelte er ſein Hauß, in dem bibli - ſchen Sinn: beſtelle dein Hauß, denn du wirſt ſterben! Der Graf ging mit dieſem al - ten Bedienten als Freund, als Menſch um. Nicht war es Herablaſſung; denn wahrlich die iſt oft aͤrgerlicher, als Stolz und Hof - fahrt, ſondern Menſchengefuͤhl war es. Spoͤtter nannten ſein Schloß ein Gebein - hauß; allein er ſetzte ſich uͤber dieſes und mehr hinaus, ich lerne ſterben, ſagt er, und laß es mir von andern vormachen; ich laſſe mir vor - ſterben und bin mit allen lezten Dingen in genaue Bekanntſchaft getreten. Seine Ge - danken, die er mir bey der Leichenfolge weit - laͤuftiger eroͤfnete, ſind im kurzen: Ein Arzt und Prediger ſehn ſterben; allein außerdem, daß ſie ſelten zu Maaß kommen; ſo haben ſie zu wenig Zeit, den Tod abzuwarten. Der eine ſieht auf den Leib, und der andre auf die Seele. Keiner von, beiden ſieht auf den Menſchen. So625So befremdend es ſcheint; ſo hat es mir doch die Erfahrung beſtaͤtiget, daß der Arzt, wenn er gleich das Pulver erfunden hat, das er eingiebt, doch eben ſo ſelten, wo nicht ſelte - ner, den Leib des Kranken treffe, als der Pre - diger die Seele. Beide gehen aus ihrem Com - pendio, und nicht aus der Sterbeſtube, aus und ſo und nicht anders werden ſie auch von Seelen und Leibespatienten behandelt. Ich habe nicht ſagen gelernt, der Tod mag mir ſo oder ſo kommen, ich will ihm die Spi - tze bieten; wohl aber ich ſterbe taͤglich. Wahrlich man macht zu wenig Erfahrungen uͤber den Eingang des Menſchen in, und den Ausgang des Menſchen aus der Welt! Wir lernen den Menſchen kennen, wenn er nicht mehr zu kennen iſt. Wenn Leib und Seele ſich nolens volens ſo in einander geworfen, daß man in die Schule gehen, und ſich be - glaͤubigen laſſen muß, daß man eine Seel und auch einen Leib habe. Freund! Wer zehn Menſchen ſterben geſehn, weiß was ein Menſch iſt. Ein andrer weiß es gar nicht, oder hat es Muͤhe zu wiſſen.

Dieſer Graf, dieſer beſondre Mann, ward zur Leichenfolge gebeten. Es iſt das einzige Mittel, ſagte der Prediger, um michZweiter Th. R rmit626mit ihm auszuſoͤhnen; denn in Wahrheit, er wuͤrd es fuͤr eine Todſuͤnde halten, daß ich ihm Minchen entzogen, wenn ich nicht die Sach auf dieſe Art, wenigſtens einigermaßen, ins Reine bringen ſolte! Er kommt gewiß, fuhr der Prediger fort, ohne daß ihm jemand daruͤber Zweifel entgegenſetzte. Er kommt gewiß, wenn ihn nicht was ſterbendes ab - haͤlt, um, nach ſeiner Sprache, der Ent - ſeelten das Bette machen zu helfen.

Ich war ſehr entfernt, mich dem Prediger in den Weg zu legen. Ein Mann, wie dieſer Graf, ſtoͤrt nicht, wenn man auch eine Mine begraben laͤßt, und eben ſo wenig hatt ich dagegen, da der gute Prediger mir ſeine Abſicht eroͤfnete, Minen einen Leichenſer - mon zu halten, wie er, nach ſeinem Ausdruck, in dem Herrn entſchloſſen waͤre. Auch die - ſer gehoͤrte vorzuͤglich auf die Rechnung des Grafen. Die Einladung beantwortete der Graf wuͤrkich mit Ja, weil er eben nichts verſaͤu - me. Auf alle Faͤlle wird mein Bruder, (der alte Bediente,) die noͤthige Sorgfalt uͤberneh - men, ſchrieb er zuruͤck. Seit ſechs Wochen ha - ben ſich drey von meinen Sterbenden gebeſ - ſert, oder ſoll ich nicht lieber verſchlimmert ſagen! Sie ſind geſund geworden.

Mi -627

Minens Begraͤbnißtag war ſo ſchoͤn, wie ihr Sterbetag, als wenn ſich dieſe Tage be - redet haͤtten, gleich ſchoͤn zu ſeyn, und ſich einander nichts nachzugeben. Schon des Morgens ward gelaͤutet. Nachmittag gegen fuͤnf Uhr wieder, und dies war ein Wink, daß ſich ein großer Theil aus dem Dorf, Weiber und Maͤnner, verſammleten. Die meiſten, nicht alle, waren ſchwarz gekleidet. Unter dieſen zu Hauf gelaͤuteten war auch der Orga - niſt, und einige wenige Kinder.

Dieſe lezten ſtellten ſich paarweiſe vors Hauß, und fiengen das Lied an:

Was Gott thut, das iſt wohlgethan! welches die verſammlete Gemeine inbruͤnſtig mitſang.

Die Knaben und ihr Lehrer giengen dar - auf voraus, mit dem Liede:

Ich hab mein Sach Gott heim geſtellt.

In der Kirche fanden ſich alle Maͤdchen um Minchens Sarg zuſammen, nicht mit Blumenkraͤnzen. Daran dachte niemand: der Fall war zu ruͤhrend, um ihn mit Blu - men zu verderben. Sie ſangen aus der Tiefe ihres Herzens, ſo beteten ſie auch. Es hat - ten ſich von freyen Stuͤcken zwoͤlf Maͤdchen gemeldet, Minens Leiche zu tragen, und zuR r 2ver -628verſenken; allein der Prediger liebte keine Neuerungen, und es blieb bey der Sitte in dieſem Kirchſpiel, daß die Aelteſten im Dorf ſie trugen. An andern Orten, bemerkte der Pfarrer, ſind die Juͤngſten, Traͤger. Ich will es ſo laſſen, wie ich es gefunden habe, Dieſe verließen den Sarg, nachdem ſie ihn vor dem Altar geſetzt hatten, und mehr als zwanzig junge Maͤdchen traten in ihre Stelle.

Waͤhrend der lezten Strophe des Liedes:

Amen! mein lieber frommer Gott,
beſcheer uns all’n ein’n ſelgen Tod.
Hilf, daß wir moͤgen allzugleich,
bald in dein Reich
kommen und bleiben ewiglich!

trat der Prediger auf den Altar. Er hielt nach dieſem Geſang eine Red uͤber die Worte aus der Offenbarung Johannis des dritten Capittels eilften Vers: Siehe ich komme bald, halt was du haſt, das niemand deine Krone nehme.

Die herzliche Art, mit welcher der Pre - diger den Text behandelte, war alles, was ich von dieſer Rede hoͤrte, oder eigentlich behielt. Ich war an Minens offenem Grabe!

Schwer und leer, pflegte meine Mutter zu ſagen, was ſchwer iſt, iſt mehrentheilsleer. 629leer. In den alten Liedern iſt immer die ganze weit und breite Bruſt, und in den Melodien die ganze Lunge. Wenn auch hier und da ein Paar Sylben uͤberlaufen was mehr? Wenn du dazu weinſt, Saͤnger! Saͤngerin! ſo laͤufſt du auch uͤber. Wer, wenn er ſingt, Triller ſchlagen und Kadenzen ſpringen kann, bringt dem lieben Gott ein Staͤndchen, ehret ihn mit ſeiner Zun - ge, und naht ſich zu ihm mit ſeinen Lippen; allein ſein Herz iſt fern von ihm. Dies Lieblingslied Minens, da ſie ſang, da ſie aus ihres Vaters Hauſe und aus ihrer Freund - ſchaft ausgieng in ein Land, das Gott ihr zeigte, dies Lied, das ſie mir ſo herzlich em - pfahl, kann keinen beſſern Vertheidiger, als meine Mutter haben. Es konnte kein ange - meſſeneres bey dieſer Leiche geſungen werden, und ſo das Lied, ſo die Rede! Der Prediger hatte wenig oder nichts aufſetzen koͤnnen. Dies haͤtt ich, wie es mir eben einfaͤlt, nicht noͤthig gehabt zu bemerken, nicht wahr? Es verſteht ſich.

Der Paſtor wuſte meiner Mutter Grund - ſaͤtze, zu denen mein Vater den zweyten Diſcant ſang. Mine hatte dieſe Grundſaͤtze auf - und angenommen. Schon in den Tagen, von de -R r 3nen630nen es hieß: Sie gefielen ihr, noch mehr aber in den Tagen, von denen es hieß; Sie gefielen ihr nicht. Einem Leidenden ſcheint die Proſa zu hart, zu angreifend. Er ſehnt ſich nach etwas milderm, ſagte meine Mutter, wenn ſie von dem Druck ſprach, in dem ſie lebte.

In dieſer Ruͤckſicht hatte der gute Pre - diger mehr Liederſtellen in ſeiner Sermon an - gebracht, die er mit einer Stroph aus ei - nem alten Kirchenliede ſchloß:

Darum, du milde Erd,
halt dieſes Pfand in Werth!
was Gott zu Ehr’n erhaut,
das wird dir jetzt vertraut.
Gott wird ſein ſchoͤn Bild in Lenzen
des juͤngſten Tags ergaͤnzen;
mit Ehren wird es glaͤnzen!

Es war ziemlich dunkel in der Kirche geworden, und dies war ein freiwilliger Beytrag zur Fey - erlichkeit. Dieſes heilige Dunkel! Noch liegt es vor meinen Augen und vor meiner Seele! Nach der Rede ward eine Stille. Dies wuͤrkte faſt mehr auf mich, als alles zu ſel - ten bedient man ſich dieſes Ruͤhrungsmittels.

Auf einmal fing ein Maͤdchen, das ganz weis gekleidet war, und das ich noch nicht ge -ſehen631ſehen hatte, allein zu ſingen an: Sie ſtand dicht am Sarge

Gehabt euch wohl, ihr meine Freund
die ihr aus Liebe um mich weint

Die ganze Gemeine antwortete mit dem Liede:

Nun laßt uns den Leib begraben!

und ſo giengs durchs ganze Lied hindurch. Es waren zwey Gehabt euch wohl Saͤnger, und zwey Gehabt euch wohl Saͤngerinnen in der L Gemeine, die bey dieſer Cere - monie weiß gekleidet waren, ein Alter, eine Alte, ein Juͤngling, ein Maͤdchen.

Ich will ſehr gern zugeben, daß nicht alle, ſagte mir der Prediger, nachdem wir Minen in ihre Schlafkammer begleitet hatten, die Art billigen werden, einen Todten redend einzufuͤhren, und ihm Abſchiedsworte in den Mund zu legen; wenn wir aber hoffen, daß die Seel in Gottes Hand ſey und lebe, war - um nicht?

So viel weiß ich, daß mich dieſer Ueber - fall anfangs erſchuͤttert, nachhero ſanft be - wegt hat.

Die Strophe:

Mein Elend, wie auch mein Beſchwerd,
wird nun verſcharrt mit kuͤhler Erd.
R r 4Was632

Was fuͤr Thraͤnen hat ſie mir gekoſtet? Am meiſten ruͤhrten mich folgende Stellen:

In dieſer Welt war Angſt und Noth.
Bekuͤmmerniß, zuletzt der Tod!
Nun aber ſchwindet alles Leid,
und folget drauf die Ewigkeit!
So laſſet mich in ſtolzer Ruh,
und geht nach eurer Wohnung zu.
Bedenkt, wie bald euch Gottes Hand
verſetzen kann in dieſen Stand!

und denn die letzten Worte:

Ich ſcheide, lebet alle wohl!
ſeyd Hofnung-Liebe-Glaubensvoll;
ein jeder ſterb der Suͤnden ab:
ſo kommt er ſelig in das Grab!

Was mich, verſunken in Empfindungen, bey der Hand nahm und herauszog, war das Lied: Nun danket alle Gott! das gleich darauf angeſtimmet ward.

Es war die Gewohnheit in L , daß die Kirche nie anders, als nach einem Lobge - ſang, geſchloſſen wurde. Haben wir nicht, ſagte der Prediger, da ich ihn daruͤber in ſei - nem Hauſe befragte, haben wir nicht Urſach, Gott fuͤr alles zu danken? Koͤnnen wir aber,wuͤrde633wuͤrde mein Vater entgegen gefragt haben? Die zweyte Strophe, die meines Vaters Lieb - lingsſtrophe, und mehr Gebet als Dank ent - haͤlt, ſey uns allen heilig!

Der ewig reiche Gott
woll uns, bei unſerm Leben,
ein immer froͤhlich Herz
und edlen Frieden geben,
und uns in ſeiner Gnad
erhalten fort und fort,
und uns aus aller Noth
erloͤſen hier und dort!
Amen! Amen!

Die Leiche ward ohne Geſang von den Alten herausgetragen, und verſenkt. Die erſte Schaufel Erde, die aufs Sarg fiel noch uͤberfaͤllt mich ein Schauer, wenn ich mir die - ſen dumpfen Ton zuruͤck denke! Wenn ich ihn zuruͤckhoͤre! Menſch du biſt Erde, und wirſt zur Erde werden! Das lag drin.

Der Paſtor ſprach die Kollekte nach der erſten Schaufel Erde, und

den Beſchluß machte das Lied;

O! wie ſelig ſeyd ihr doch, ihr Frommen,
die ihr durch den Tod zu Gott gekommen!
Ihr ſeyd entgangen
aller Noth, die uns noch haͤlt gefangen!

und nach dieſem Liede giengen wir unſererR r 5Woh -634Wohnung zu. Der Graf und ich waren beym Hingang ein Paar. Beym Ruͤckwege ſchloß ſich der Prediger uns an. Ich buͤckte mich tief gegen den Haufen Begleiter und Begleiterin - nen. Jedes, das mich anſahe, bedaurte mei - nen Verluſt, und ſchien es zu empfinden, was ich verloren hatte, ohne daß es jemand, auſ - ſer dem Pfarrhauſe eigentlich wuſte.

Der Graf wolte mir ſeine Einrichtung (wie er bemerkte, mich zu zerſtreuen,) noch naͤher eroͤfnen, und fieng ſchon an, daß ſein Bette wie ein Gewoͤlbe geſtaltet, und daß in den Zimmern, die er ſelbſt unmittelbar inhaͤtte, Urnen und Saͤrger der Zierrath waͤren; al - lein ich weiß ſelbſt nicht, wie er auf einmal auf die unverbrennliche Lampe, das ewi - ge Grabesfeur, fiel. Er verſicherte mich, daß er ſchon ſehr lange auf dieſe Art Lampen ge - dacht haͤtte, welche man zuweilen in den alten Graͤbern angetroffen haben will, die ohne Oel - zuguß eine ſo lange Zeit gebrannt haͤtten. Der gute Graf hatte noch manches von dieſem ewigen Grabesfeur, wie ers nannte, zu ſa - gen. Wie’s mir vorkam, hatte der Graf Luſt die Sache zu Kuͤnſten zu rechnen, die durch die Zeit verloren[gegangen], (ſi fabula vera) und ſiehe da! Ein keichender Bote miteinem635einem Briefe von ſeinem Bruder. Der Brief hatte einen breiten ſchwarzen Rand. Nach meiner Meynung war es ein Eroͤfnungsſchrei - ben eines Todesfalls aus der graͤflichen Fa - milie oder wenigſtens unter den ſieben; allein es ward nicht anders, als auf derglei - chen Papier, im graͤflichen Hauſe geſchrieben. Die Sache kam dem Grafen eilig vor. Eine Sterbende aus Curland, von ihrem Mann verlaſſen, ward angemeldet, und da ſie, nach der Bemerkung des Herrn Bruders, ſehr viel auf ihrem Herzen und Gewiſſen haͤtte, bat er den Grafen, keine Zeit zu verſaͤumen, ſie ab - zuhoͤren. Es waͤre die hoͤchſte Zeit.

Ich kann es nicht laͤugnen, daß mir der Umſtand aus Curland ſehr auffiel. Der Graf nabm von dieſem Umſtande blos Gele - genheit, ſeine Bitte zu wiederholen, daß ich ja nicht von hinnen ziehen moͤchte, ohne ſei - nen Kirchhof, wie ers nannte, mit allen Anhaͤngen und Beyſtoͤcken zu beſuchen. Ich habe, ſetzt er hinzu, noch uͤber mancherley von Seiten ihrer Seligen Sie zum Verhoͤr zu ziehn. Er ſtieg mit den Worten in ſei - nen Wagen: heute mir, morgen dir!

Nach unſerm Hingange hatte der Or - ganiſt eine Red aus dem Hut geleſen. Ichhabe636habe nichts verloren, daß ich ſie nicht aus ſeinem Munde empfangen; denn ich war an dieſem Tage nicht zum Hoͤren auferlegt. So wie ich ſie meinen Leſern mittheil, erhielt ich ſie vom Verfaſſer noch den nemlichen Abend. Er den Abend mit uns beym Prediger, und wir wurden, der bittern Stellen uner - achtet, wie er ſelbſt ſagte, Herzensfreunde! Aus Erkenntlichkeit will ich dieſe Abdankung zu Beylage B. erheben.

Bey -[637]

Beylage B.

[638][639]
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Abdankung des Organiſten in L .

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Ich moͤchte was drum geben,
ſo wenig es auch iſt,
denn daß ich blutwenig habe, iſt euch bekannt.

Allerſeits nach Tugend und Alter lieb und werthe Nachbaren, und wenn man mir noch oben ein die Lei - chenabdankungen entzieht, wie es heute (unter uns geſagt) ſchier den Anfang genommen; ſowerd640werd ich wohl am Ende gar nichts drum ge - ben koͤnnen.

Und doch! moͤcht ich was drum geben, wenn ich fein der erſte geweſen, welcher das menſchliche Leben mit einer Mahlzeit ver - glichen haͤtte.

Gelt! es iſt ein recht ſchmackhafter Vergleich!

Indeſſen haben, außer mir, ſchon andre kluge Leute dieſen geſunden Einfall gehabt, und wohl gewuſt, was gut ſchmecke: denn in Wahrheit, es iſt der natuͤrlichſte Gedanke, den ein Menſch, wenn er nemlich einen geſunden Magen im Leibe hat, nur haben kann. Wir eſſen und trinken, das heißt wir leben, und wir leben, das heißt, wir eſſen und trinken. Die liebe Seel iſt beim Leben nur, ſo zu ſagen, zu Gaſt in der andern, oder in der Seelenwelt, ſoll der Leib der Seele Koſtgaͤnger werden: denn, wie man lieſt, ſo wird unſer Leib was extrafeines ſeyn. So ein Unterſchied, wie zwiſchen Hirts Liſe, und der Graͤfin Friederikchen ihr kennt beyde, meine Lieben. Mir iſt bange, wenn ich die Graͤ - fin Friederikchen anſehe, daß mein Blick ihr einen Fleck machen wird, ſo fein iſt ſie: man hat nicht das Herz, ſie anzuſehen.

Wenn641

Wenn wir auf dieſe Welt kommen, heißt es, wie vor Tiſch:

Aller Augen warten auf dich, Herr, du giebſt ihnen ihre Speiſe zu ſeiner Zeit, du thuſt deine milde Hand auf, und ſaͤtigeſt alles, was lebet, mit Wohlgefallen.

Die junge Raben ſperren den Mund gen Himmel auf als hochjaͤhnten ſie, und ſchreyen den lieben Gott an, wie unverſchaͤmte Bett - ler unß. Kleine Kinder, das hab ich an mei - nem Caſpar geſehen, der ſich wieder erhohlt hat und dick und fett iſt, ja ich wolt von klei - nen Kindern ſagen, die ſehen nicht gen Him - mel ich dacht ſchon, das kaͤme wegen der Erbſuͤnde, und weil wir unß dem lieben Gott entwoͤhnt haben; allein ich beſinn mich wie - der denn nicht wahr? alles was ſaugt, ſieht auf die Mutter, und ſein Blick kommt erſt durch Umwege zum lieben Gott! Wer in die Hoͤhe ſieht, iſt gleich ein Paar Zoll groͤſ - ſer. Das wiſſen die Werber wohl, die uns Angſt und Furcht genug ausjagen. Iſt aber je ein Rabe, wenn ihn gleich ſeine El - tern nach Rabenart behandelt, Hungers ge - ſtorben? Habt ihr je ſo was von der kleinſten Muͤcke gehoͤrt! Ich nicht! Und doch ſagt man von Menſchen, daß ſie im eigentlichen Brod -Zweiter Th. S sver -642verſtande Hungers geſtorben ſind! Daß ſich Gott uͤber ſolche Bengel erbarme, die nicht werth waren, junge Naben zu ſeyn! Seyd ihr nicht mehr, denn ſie? haͤtte man auf das Grab dieſer Verhungerten ſchreiben, und ein Neſt voll junger Raben, eben im Gebet be - griffen, aushauen ſollen! Sterben wir, liebe getreue Nachbaren und desgleichen! ſter - ben wir, ſo heißt es, als wenn wir vom Tiſch aufſtehen, und das Tiſchtuch, bald haͤtt ich Leichentuch, geſagt, zuſammen legen:

Wir danken Gott fuͤr ſeine Gaben,
die wir von ihm empfangen haben,
und bitten Gott unſern lieben Herrn,
er woll uns allzeit mehr beſcheren!
Er ſpeis uns ſtets mit ſeinem Wort;
damit wir ſatt werden hier! und dort!
Ach lieber Gott, du wolſt uns geben,
nach dieſer Welt das ewige Leben!

Kann ein beſſer Todten - oder Begraͤbniß - lied ſeyn?

Aber zur Sache zu kommen! Der Stu - dent, der im erſten Paar mit dem Hochge - bohrnen Herrn gieng, mag wohl wiſſen, wie’s in Curland bey Begraͤbniſſen gehalten wird; von unſerer Manier weiß er keinen Theeloͤffel aufzuwaſchen, das iſt ein Loͤffel -chen643chen wie mein kleiner Finger! Der Juͤng - ling wuͤrde mich ſonſt erſucht haben, ein Wort aufs Grab zu ſprechen, das mir im - mer zuſtehet, wenn die Leiche nicht ins Ge - woͤlbe kommt, ſondern in die Kirchhofserde. Ich ſag es nicht des Gewinſtes wegen! denn ſeine Schoͤne! (Ende gut alles gut, ſonſt waͤre noch Mancherley und Manches davon zu ſagen, daß er ſich ihr, und ſie ſich ihm, verpfaͤndet hatten, mein Sohn ſolt es nicht verſuchen! doch, ſie iſt todt!) ſeine Schoͤne! ſeine verſtorbene Wilhelmine, iſt eines Geiſtlichen Tochter, und er Predi - gers Sohn, wie ich, wiewohl alles nur durchs Schluͤßelloch, gehoͤret habe. Eine Kraͤhe hackt der andern die Augen nicht aus! Ich hatte keinen Dreyer genommen, ob ich gleich es eben jetzt zum Fuderholz noͤthig habe. Doch wenn ihr Nahrung und Kleider habt, (an Holz iſt nicht gedacht, wie es denn auch unſer Glaubensvater Luther bey der vierten Bitte, Gott weiß warum, ausgelaſ - ſen hat,) ſo laſſet euch begnuͤgen.

Was ich alſo heute rede, das red ich von Herzen: denn ich hab es oft und viel be - merkt, daß meine Grabreden oder Leichenab - dankungen nicht ohne Segen geblieben.

S s 2Gott644

Gott verzeih mir meine Suͤnde! Manch - mal dacht ich, wenn ihr alle aufs Grab wein - tet, ſo, daß die Thraͤnen ordentlich drauf zu kennen waren, der ſelige Menſch werde bald aufgehen und ich haͤtte die Ehre gehabt, dieſe Pflanze Gottes auf ſeinem (nehmlich Gottesacker) zu begruͤßen.

Wenn man recht herzlich weint, hat man nicht Zeit, an einen Schwamm zu den - ken; und es iſt wahrlich ein ſchoͤner Anblick, ſo natuͤrlich weg weinen zu ſehen! Aber wieder auf das Leben und die Mahlzeit zu kommen!

Kennt ihr, lieben getreuen Nachbarn und desgleichen, kennnt ihr was angeneh - mers, als eine gute Mahlzeit? Ich glaub es thut den Engelchens leid, wenn ſie uns eſ - ſen ſehen, daß ſie es nicht auch koͤnnen. Der liebe Gott hat uns alle, nach dieſer Welt, mit Abraham, Iſaac und Jacob, zu Tiſch bitten laſſen das wird ſchmecken! Freylich werden nur blos geiſtliche Gerichte aufgetragen werden; aber man ſieht doch draus, daß der liebe Gott ſelbſt an Eſſen und Trinken denkt, und wohl weiß, daß uns der Mund alsdenn eher nach dem Himmel waͤſſern werde, als wenn er geſagt haͤtte,wir645wir ſolten mit Abraham, Iſaac und Jacob, dort eine lange Predigt anhoͤren. Wenn ihr ſo mit euren geſunden Kinderchens um den Tiſch euch lagert, und bey Sommerszeit Milch, und bey Winterszeit Erbſen und Speck eßt. O Nachbaren, mich hungert, wenn ich daran denke, und ich wuͤrd mich bey einem von euch gleich heut Abend auf friſcher That zu Gaſt bitten, um meinen heu - tigen Vortrag recht lebhaft zu machen, wenn ich nicht bey dem Herrn Pfarrer gebeten waͤre! Der Herr Pfarrer weiß ſchon, was einem Handlanger am goͤttlichen Wort zu - kommt, und ich verſichre euch, daß ich dem Studenten begegnen werde, wie meinem eig - nen Kinde, obgleich er die Landes Manier nicht weiß, und mir nicht die Ehre angethan hat, eine Leichenabdankung bey mir zu beſtellen.

Seht liebe Nachbaren, wie die Mahl - zeit, ſo das Leben! Es iſt, unter uns ge - ſagt, recht gut zu leben! Wenn ihr nicht arbeiten moͤchtet, wuͤrd es euch wohl ſchme - cken? Die wenigſten Vornehmen eſſen und trinken, ſie thun nur ſo, als aͤßen und traͤn - ken ſie! und denn am Sonntage! denkt nur noch an jenen Sonntag, wo wir des Morgens um vier Uhr ein Werk der LiebeS s 3und646und der Noth verrichteten, und dem Herrn Pfarrer ſein Getreyde wegen des bezogenen Himmels in die Scheure ſammelten, und hernach, wiewohl nach der Predigt, unterm Schauer ſaſſen, und regnen ſahen! und un - ſer gute Seelenhirte mitten unter uns! Das gieng Proſit! Gevatter! und ich glaube ſolche Proſittage habt ihr viel gehabt.

Niemand iſt ſchlaͤfrig zum Todesſchlaf. Jedes hat noch Luſt ein Stuͤndchen aufzu - bleiben. Alles will gern leben. Die lahme Trine im Hoſpital haͤtte gern noch einige Jah - re gehinkt, und es iſt gewiß und wahrhaftig ſo viel huͤbſches, beſonders im Sommer, in der Welt zu ſehen und zu hoͤren; daß man recht gern lebt! Ich liebe darum vorzuͤglich den Sommer, weil ſo viel Leben drinn iſt! Alles lebt im Sommer! Die ausgewachſenen Baͤu - me ſind fuͤr Voͤgel und Gewuͤrmer große Staͤdte, ſo wie das Gras ſchlechte Doͤrfer, und Geſtraͤuch Kirchdoͤrfer ſind. Manche Eiche koͤnnte man wohl ein Schloß nennen: alles wie man es nehmen will. Mir hat noch keine Fliege einen Gedanken weggeſnmmt, und es iſt mir gleich nicht recht, wenn nicht ein Paar in meiner Stube ſind. Kann ſie ein ſo großer Herr, als der liebe Gott iſt,in647in ſeiner Welt leiden; ſo koͤnnen ſie doch wohl in meiner Stube ſeyn! Ich hab es von einem ſehr vornehmen Herrn, der bey ſeinem Feſte auch fuͤr ſeine Fliegen und Muͤcken Wein eingießen laͤßt, um alles, was um ihn lebt und ſchwebt, zu ſaͤtigen und zu traͤnken, mit Wohlgefallen. Seine Hausthiere muͤſſen all ein Spitzglaͤschen Wein haben; allein das halt ich, unter uns geſagt, unrecht, wenn man die Thiere zu menſchlich macht! Man wird ſchon einen Lazarus finden, warum alſo Fliegen und Muͤcken? Der Gevatter Briſe ſprach mir geſtern von der Groͤße des lieben Gottes! und ich hatte den Einfall, daß der liebe Gott jeden Sperling, jeden Stieglitz, jeden Haͤmpfling, jede Milbe, jede Muͤcke, mit Namen zu nennen wuͤſte, ſo wie ihr! die Leute im Dorfe: Schmieds Greger, Brie - ſens Peter, Heyfrieds Hanß denkt nur! wenn der liebe Gott ſo jede Muͤcke ruft, die ſich einander ſo aͤhnlich ſehen, daß man ſchwoͤ - ren ſolte, ſie waͤren all Schweſter und Bruder! denkt nur!

Kurz lieben Freunde! der liebe Gott iſt ein guter Herr, bey dem ihr dient, und ſeyd ihr gleich auf Taglohn bey ihm, und iſt die Welt gleich nicht verdungen Werk, hatS s 4gleich648gleich jeder Tag das Seine, und wird gleich nicht fuͤrs Leben im ganzen Stuͤck, ſondern fuͤr jede Tagesabtheilung Rechenſchaft gege - ben, was ſchadet es? Deſto kuͤrzer die Rech - nung! Deſto leichter alles uͤberſehen! Wir ſind wahrlich nicht in Egypten! wenn wir den lieben Gott dienen Seyd ehrlich Habt ihr wohl uͤber eure weltliche Herrſchaft zu klagen? ob es gleich oft adeliche Aegyptier giebt, und unter den koͤniglichen Beamten manchen pharaoniſchen Frohnvogt. Der liebe Gott laͤßt jedem, was er hat Er nimmt nicht Zoll und Acciſe, nicht Huben - ſchoß und Vorſpann, er will nur das Herz, das heiſt: daß ihr das Eurige gut anwen - det, und euch all zuſammen fuͤr Schweſter und Bruder haltet. Er goͤnnt uns Wuͤrden und Ehren, und laͤßt den beym Schulzen - amt, den einen Landgeſchwornen, den ei - nen Haußvater ſeyn, und mich einen Mit - diener am goͤttlichen Worte! Er will nur das Herz, das heiſt: daß wir uns einander Ge - vatter nennen, und nicht einer uͤber den an - dern erheben, und all einander die Hand geben und wohl bedenken, daß nicht wir, ſondern Er, durch uns regieret; dahero wer - den auch die Schulzen und Landgeſchwornen,wie649wie die liebe Obrigkeit all zuſammen, Goͤt - ter der Erden genannt. Der liebe Gott hats nicht verboten, in den Krug zu gehen und ein Glaͤschen zu trinken, und Hannchen herumzudrehen, wenn es nur des Sonntags iſt, nichts dabey verſaͤumt wird, und alles in Zuͤchten und Ehren bleibt. Pfuy, wer wolte ſich betrinken, um vergnuͤgt zu ſeyn, wer ſich die Augen verbinden, um deſto beſ - ſer zu ſehen!

Seht, lieben Freunde, ſo iſt das Leben eine Mahlzeit.

Es giebt aber auch bey jeder Mahlzeit Mancherley und Manches, was unange - nehm iſt. Wo Waizen iſt, da ſchleicht ſich auch Unkraut herein, wie in unſers Herrn Pfarrers Waizenland. Gott wolle geben, daß in ſeiner Gemeine weniger Unkraut ſey, als dies Jahr auf ſeinem Acker! Sonſt wuͤrden die liebe Engellein zu jaͤten kriegen, und es wuͤrden nicht viele in Frieden und Jauchzen eingefuͤhret werden in die Scheuren das iſt auf den Kirchhof, den ich vor des lieben Gottes Scheure anſehe.

Wir eſſen im Schweiß des Angeſichts. Wir eſſen, was wir ſauer verdient haben. Ich kann zuweilen das Brod nicht anſehen,S s 5ohne650ohne daß mir der Angſiſchweiß ausbricht; denn ich weiß, was es mir gekoſtet hat. Wenn man nur bedenkt, was der liebe Gott erſt mit dem Brod fuͤr Wege geht, eh es Brod wird. Wer kann es ohne Sorgen eſſen? Und mit dem Hemd eh es ein Hemd wird! Wer kann es ohne Seufzer anziehen? Gott weiß wie es kommt, man ſorgt am liebſten am Tiſch, und ſieht[auf] die Erde, obgleich man dankvoll gen Himmel ſehen ſollte. Man ſieht all um ſich herum, die Nahrung und Kleider haben wollen, und das bringt uns in einen Gedankenwald oder man glaubt vielleicht, ſich das Sorgen leichter zu machen, wenn man bei Tiſche ſorgt; allein man macht es ſich ſchwerer, denn man wird dadurch unthaͤtig, und anſtatt, daß man die verlorne Kraͤfte erſetzen ſolte, verliert man ihrer noch mehr. Es iſt ſo, wie ein unruhiger Schlaf, der mehr ſchadet als nuͤ - tzet, man iſt nach ihm noch ſchlaͤfriger. Wenn man einmal ins Sorgen hinein kommt; findet man ſich bald nicht heraus. Mein College in B , der in ſeiner Jugend Bal - bier geweſen, iſt bis zur Verzweiflung be - truͤbt, daß er nicht ſo viel Buͤcher hat, als ſein Pfarrer! Und ich ſag oft und viel zumei -651meiner Frauen, daß ich Gott fuͤr dreyerley beſonders danke, nemlich, daß ſie ein treues fleißiges Weib iſt, die ihre Finger ins Kalte und ins Warme ſteckt, wie ihr ſie alle kennt. daß mein Acker nicht der ſchlechteſte iſt, und ſeinen Organiſten ſchon naͤhrt, und daß ich nicht viel Buͤcher habe: denn wahrlich Buͤ - cher ſtehlen einem das Leben unter den Haͤn - den weg. Freylich muß man der Bibel Ge - ſellſchaft machen, außer dem Geſangbuch, das in Abſicht der Bibel wie Mann und Frau, Bein von der Bibel Bein, Fleiſch von der Bibel Fleiſch iſt, von dem man ſagen kann: man wird es Maͤnnin heißen, weil es vom Mann genommen iſt. Außer der Bibel und dem Geſangbuch hab ich acht bis neun Buͤcher. Was will aber der liebe Herr Amts - bruder mit mehr! mit Bibel, Geſangbuch und Luthers Catechismus, kann man ſchon hauß - halten. Wenn ich leſe, dann leb ich nicht, ſondern der, ſo das Buch geſchrieben, lebet in mir! So iſt es aber mit dem verdamm - ten Neide. Da lob ich mir doch noch Suͤn - den, bey denen man ſeine Luſt hat,[und] die man mit lachendem Munde thut: denn da iſt doch noch etwas dabey. Aber der Neid, der Zorn und desgleichen, ſind ſo traurige,ſo652ſo milzige Laſter, daß man gar nicht begrei - fen kann, wie man zornig und neidiſch und desgleichen iſt. Bey jenen iſt man auf der Hochzeit und Kindstaufe, bey dieſen auf Be - graͤbnißen! Man nennt daher dieſe lezten ſchwarze Laſter, und das von Rechts we - gen, wie’s in den Urtheilen ſteht, das Gott erbarm!

Fuͤr ſolche Sorgen, wie mein College, der geweſene Balbier, ſich aufbindet, bin ich zwar ſicher; allein ich hab andre und meine neun Kinder alle mit Magen, wie Kornſaͤcke! So was will gefuͤllt ſeyn, Ich mag mein Aemtchen berechnen, wie ich will, uͤber zwey hundert Gulden dreſch ich nicht heraus. Wenn noch ſo eine Erndte ge - weſen, und ich noch ſo viel Leichenabdankun - gen gehalten, iſt doch am Ende nicht ein Bund Stroh mehr, als zweyhundert Gul - den. Was das koſtet, einen Sohn auf der Univerſitaͤt zu haben, das koͤnnt ihr nicht glauben, liebe Nachbaren! Indeſſen iſt auch Waare dafuͤr, und wenn Gott uns leben laͤßt, wird er kuͤnftige Pfingſten ſeine erſte Predigt auf unſerer Canzel thun, wozu ich jung und alt hiemit zum voraus dienſtlich eingeladen haben will. Da wird man dochſehen,653ſehen, ob er weiß, wo er zu Hauſe gehoͤret. Da ich an dieſen hofnungsvollen Juͤngling denke, werd ich Muͤhe haben, die Mahlzeit dieſes Lebens unſchmackhaft zu finden. Findet ihr nicht etwas aͤhnliches zwiſchen ihm, und dem tiefgebeugten Curlaͤnder? Ich glaub, am Ende ſehen ſich die Studenten alle gleich, und doch!

Herzlich geliebte Nachbaren! wenn man auch einen hofnungsvollen Juͤngling zum Sohn hat, der auf Pfingſten predigen wird, iſis doch ein elend jaͤmmerlich Ding um al - ler Menſchen Leben. Auch die Vornehmen haben nicht alle Tage Rebhuͤner. Ich ehegeſtern ein halbes beym gnaͤdigen Herrn v auf dem Gebetsverhoͤr; allein, unter uns geſagt, es war ein wenig alt! So iſis mit dem Leben, wenn auch Rebhuͤner aufge - tragen werden! Wer eine Wittwe mit Geld heyrathet, ißt ein altes Rebhuhn, und wer zu Ehren kommt, ißt ein altes Rebhuhn, und geſetzt, die Rebhuͤner ſind friſch, und geſetzt, ſie waͤren auch ein Alltagsgericht; was hilfts? Die Kinder Iſrael wurden des Manna uͤber - druͤßig, wie es Leute giebt, die des preußi - ſchen Mannas, der Schwadegruͤtze, muͤde werden koͤnnen. Das Manna, es ſey dasIſrael654Iſraelitiſche, oder das Preußiſche, in Ehren allein wer es dazu hat, daß er alle Tage Haßelhuͤner eſſen kann, dem muͤſſen ſie, wie unſer einem die graue Erbſen, werden.

Man ſagt, wenn es am beſten ſchmeckt ſoll man aufhoͤren, und wahrlich ſo iſts mit dem Leben. Beym Leibgericht verdirbt man ſich am erſten den Magen. Die Leibge - richte der Vornehmen koͤnnte man am fuͤg - lichſten nennen: Der Tod in Toͤpfen, und von den ausgewachſenen Baͤuchen der Land - pfleger heißt es: uͤbertuͤngte Graͤber. Habt ihr ſchon, meine Lieben! einen dicken Bauren? einen dicken Organiſten? und einen dicken Schneider geſehen? In unſerm, und den drey uns benachbarten Kirchſpielen, iſt keiner aufzutreiben, und uͤberhaupt iſt ſo was ein ſeltener Vogel allein bey unß, die zu Pharaonis magern Kuͤhen gehoͤren, ſitzt das Uebel wo anders Wo ſitzt es immer bey Reichen oder Armen, Vornehmen oder Ge - ringen? Wir futtern alle durch die Bank den Tod, wenn wir eſſen und trinken wir moͤgen dick oder duͤnn ſeyn. Wie oft kommt unß was in die Queere bey Tiſch, und waͤr es auch nur eine Graͤte! Da verbrennt ſichder655der Kleine den Mond und Trinchen kriegts in die unrechte Kehle!

Selten iſt eine Hochzeit, wo nicht was trauriges ſich zutraͤgt, ihr wiſſet es wohl, wie es des Hiobs Kindern gieng, da ſie recht froͤh - lich und guter Dinge waren! Wenn man lu - ſtig iſt, hat der Teufel immer ſein Spiel. Er ſtreicht die Violin beym Tanz. Wo ge - trunken wird, werden Glaͤſer zerbrochen, und man kann ordentlich zu viel auf einmal leben, wie man zu viel auf einmal eſſen und trinken kann. Wie viele uͤberleben ſich dahero ſelbſt? Und dies alles zuſammen genommen, was meynt ihr? Das Leben iſt zwar eine Mahlzeit; allein es iſt darauf nicht eben einzuladen So fuͤrs Hauß, ſo aus der Hand in den Mund!

Wenn es nicht ſchmeckt, ſteht man gern ein Viertelſtuͤndchen fruͤher auf, und ſieht ſich im Freyen um, wenn es Mittag, und in den lieben Mond, wenns Abend iſt. Man hat alsdenn dem lieben Gott eben ſo viel Ur - ſach zu danken, daß man aufgeſtanden iſt, als daß man ſich niedergeſetzt hat. Das heißt mit andern Worten: im Fall wir uns nicht das Leben gar zu ſuͤß gemacht, ſterben wir gern und danken dem lieben Gott fuͤr den Tod,ſo656ſo wie fuͤrs Leben. Wahrlich, es kann nicht ſchlimm mit dem Tode ſeyn! Friſche Luft und ein Blick in den Mond iſt das wenigſte Wer recht muͤd iſt, liebe Nachbarn! legt ſich lieber, als daß er eſſen und trinken ſolte. Der hoͤrt die Kugel nicht, den ſie trift, der ſieht den Blitz nicht, den er erſchießt. Ich glaub es hat noch kein Menſch recht gewuſt, wenn er ſtuͤrbe Weg ſind wir! Der Tod iſt, die Sache beym Licht genommen, eben ſo ein Werk der lieben guͤtigen Natur, als das Le - ben, und der Schlaf eben ſo gut, als das Eſſen. Wer nicht ſchlafen kann, kann auch nicht eſſen; allein wenn es moͤglich waͤre, daß jemand immer ſchlafen koͤnnte; ſo wuͤrd er nicht eſſen duͤrfen.

Wolt ihr die Sach ins Feine haben, denkt Euch die Jugend als Fruͤhſtuͤck, die Juͤng - lingsjahre als Mittag, die maͤnnlichen als Veſperkoſt, das Alter als Abendbrod Da ließ ſich viel, beſonders beym Mittag, an - bringen; allein denkt der Sache ſelber nach und faſſe jeder in ſeinen Buſen, allwo ich das meiſte, was ich geſagt, herausgenom - men.

Laßt uns, lieben Freunde! nicht zu viel eſſen, damit wir ſanft ſchlafen koͤnnen. Manſitzt657ſitzt hoͤchſtens eine Stund am Tiſch. Wer ſchlaͤft aber nicht gern ſeine ſieben Stunden?

Manche Bluͤthe, die ſchon angeſetzt hat, faͤllt ab, weil ein boͤſer Junge, indem er nach einem Vogel wirft, die kernfriſche Bluͤte trift. Viele vergeuden ihre Jugendkraͤfte, und ſind Lebensdurchbringer Wie der Baum faͤlt, ſo bleibt er auch liegen! Sorget nicht fuͤr den andern Morgen, ſonſt verlieret ihr den heutigen und den folgenden Tag, und wer weiß, iſt nicht der Tag, da ihr am mei - ſten fuͤr den folgenden ſorget, eu’r juͤngſter, eu’r lezter Tag!

Hiemit verlaſſen wir dieſes Grab! Gewiß, Freunde, ein denkwuͤrdiges Grab! Flieg vorbey, du Geyer und Habicht, und wenn du in dieſe kalte Gegend, (wo der D. Luther gewiß an Holz in der vierten Bitte gedacht haͤtte, wenn er in L Organiſt geweſen,) wenn, ſag ich, du in dieſe kalte Gegend dich verirren ſolteſt, auch du, Adler! und all ihr unheilige Voͤgel! allein ihr heilige, Nach - tigall! Lerche! und Schwalbe! ſetzt euch auf dies Grab, waͤrs auch nur, weil Chriſten - leute Minen das Geleit gegeben und an ihre Bruſt geſchlagen und gebetet:

Zweiter Th. T tWas658
Was ich gelebt hab, decke zu.
was ich noch leben ſoll, regiere du!

Man faͤngt die Grabſchriften mit Wanderer an! Warum aber nicht mit Reuter? Reu - ter ſo gut, als Wanderer, und auch du ſelbſt, der du mit ſechſen faͤhrſt Hier ruhet ein Maͤdchen aus fremden Landen, ſie fand hier den Tod, auch du wirſt ihm nicht entwan - dern, entreiten, entfahren Ihr habt alle einen Weg alle zum Grabe!

Genug! auf heute, liebe Nachbaren! Da ich dies Weſen, (eine Abdankung kann ichs nicht mit gutem Gewiſſen nennen,) bis beynah ans Ende fertig hatte, fiel es mir ein, daß ich auch das Leben mit einer Reife haͤtte vergleichen koͤnnen, weil unſre Seligtodte nicht von hier war, und ein reiſendes Maͤdchen was ſeltenes iſt; allein da ich eben zu Hauſe war, und den nemlichen Abend, als ich dies Weſen aufſetzte, eine ſehr maͤßige Mahlzeit that, ſchien mir das erſte beſſer, und ſo wuͤnſch ich Euch denn, und die Selige, wenn ſie re - den koͤnnte, wuͤrd außer dem herzlichen Dank, daß Ihr ihr auf eurem Kirchhof ein Plaͤtzchen gegoͤnnet, nnd ſie dahin fein ſau - ber angezogen in Communionskleidern beglei - tet habt, und die Selige, ſag ich, wuͤrd euch659euch außer dieſem Dank ein gleiches wuͤn - ſchen, das iſt: Eine geſegnete Mahlzeit!

Schluͤßlich laßt uns allerſeits auf unſre Knie fallen, um ein glaͤubiges und andaͤchti - ges Vater unſer zu beten! Ihr wißt wohl, wie ich mich aͤrgre, wenn ihr Leutchen erſt eure Beine anſeht, eh ihr hinkniet, als wenn ihr von ihnen Erlaubniß baͤtet. Wozu die Umſtaͤnde! Ich hab doch auch ein Ehrenroͤck - chen an, aber ich fall, mir nichts dir nichts, nieder wie ein Stuͤck Holz, und meine Mar - the auch ſo, wenn auch am Kleid oder Schuͤrz ein Fleck bleibt. Kinderchens, iſts doch kein Fettfleck. Er bleibe! Dieſes Grabzeichen. Eine ſchoͤne Erinnerung: Menſch, du biſt Erde! bedenke das Ende! Betet alſo, als betet ihr zum leztenmale: Vater unſer ꝛc.

Ende der Beylage B.

T t 2Der660

Der Prediger erinnerte ſich an ſeine Pflicht, der Regierung nach Koͤnigsberg von dem erfolgten Tod unſerer Seligen Nachricht zu ertheilen. Ich ſchrieb an meine Mutter, und an meinen Va - ter, an Benjamin und an Herrmann. Ich leugn es nicht, daß der Brief an meine Mutter mit Bitterkeit gewuͤrzt war, der an Herrmann war gewiſſensruͤhrig! Ich beſtaͤtigt alles, was Mine in meinem Namen verſprochen hatte. Ich forderte nicht ihr Blut von ſeines und des v. E. Haͤnden; allein ich forderte den Herrmann auf, zu bedenken zu dieſer ſeiner Zeit, was zu ſeinem Frieden diene. Bald wuͤrd es vor ſeinen Augen verborgen ſeyn, wenn der Richter der Lebendigen und der Todten ſein Gericht eroͤfnen wuͤrde!

Um Minens Grab ward ein viereckigt Boll - werk geſchlagen, welches man in L einen Kranz nannte Es war nichts weiter darauf geſchrie - ben, als:

Wilhelmine
gebohren zu in Curland
geſtorben zu L in Preußen
wer ſo ſtirbt, der ſtirbt wohl!

Acht Tage blieben wir ſo verſammelt, ſo ein - muͤthig, ſo bei verſchloſſenen Thuͤren, wie die Juͤnger, da ihr Herr und Meiſter ſich ihren ſicht - lichen Augen entzogen hatte. Wir ſprachen von Minen, und giengen Hand in Hand zu ihrem Grabe. Mine war der Mittelpunkt aller unſrer Unterredungen, bis auf die Abhandlung von der Suͤnde wider den heiligen Geiſt, worin ſich weder Gretchen noch ihre Mutter miſchte. So oft ich allein zu Minens Grabe wallfahrtete, be - gegnete ich Gretchen, die mir nie im Wege war.

About this transcription

TextLebensläufe nach Aufsteigender Linie
Author Theodor Gottlieb von Hippel
Extent677 images; 113144 tokens; 14698 types; 751397 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationLebensläufe nach Aufsteigender Linie nebst Beylagen A, B, C Meines Lebenslaufs Zweiter Theil. Beylage A, und Beylage B. Theodor Gottlieb von Hippel. . S. [3]-660, [4] Bl., Titelvign. (Kupferst.), 4 Ill. (Kupferst.). VoßBerlin1779.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, 337104-2 Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=616317433

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

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  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:31:33Z
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Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, 337104-2 R
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