Was für ein ſchändliches Laſter iſt das Lügen! Denn erſtens kommt es leicht heraus, wenn Einer zu arg flunkert, und zweitens kann Jemand, der ſich’s angewöhnt hat, auch einmal die Wahrheit ſprechen, und Keiner glaubt ſie ihm dann.
Daß mein Ahnherr, der Freiherr von Münch - hauſen auf Bodenwerder einmal in ſeinem Leben die Wahrheit ſagte, und Niemand ihm glauben wollte, das hat bei dreihundert Menſchen das Leben gekoſtet.
Wie? riefen der Baron und ſeine Tochter aus einem Munde.
Geſchätzte Freunde und liebe Wirthe, mäßiget Euer Erſtaunen, verſetzte der Gaſt, indem er, wie1*4ein Kaninchen, die Naſenflügel zitternd bewegte, und mit den doppelfarbigen Augen zwinkerte. Nichts natürlicher, als das. Hört nur zu. Der beſagte Ahnherr war leider Gottes, wie Ihr wißt, ein ungemeiner und erſchrecklicher Lügenſack. Wer erinnert ſich nicht der zwölf Enten, die er mit einem Stücke Schinkenſpeck fing, nicht ſeines halbirten Roſſes, welches in dieſem Zuſtande der Halbheit dennoch eine Nachkommenſchaft zu erzielen vermögend war, nicht des tollgewordnen Jagdpel - zes, nicht der im Poſthorn eingefrornen Töne, und — und — o! o! o! — —
Das blaue Auge des Enkels weinte, ſein braunes blitzte von tugendhaftem Zorne, er konnte nicht weiter reden. Dem alten Baron und ſeiner Tochter gelang es endlich, ihn zu beruhigen. Der edle Redner ſchluchzte noch ein Weniges, dann fuhr er ſo fort: Es iſt meiner Treu recht ſchlecht von mir, daß ich von meinem in Gott ruhenden Ahnherrn Uebles rede, aber Ehrlich währt am längſten. Dieſer Menſch und Lügner hat die hiſtoriſche Wahrheit auf Jahrhunderte hin vergiftet, und die nachgebornen Geſchlechter gewiſ - ſermaßen unter die Botmäßigkeit jedes Irrwahn’s5 gegeben, der ſeitdem in der Welt auftrat. Ja, um mich eines Gleichniſſes aus einer ſeiner abge - ſchmackten Fabeln zu bedienen, es erging der Menſchheit nachmals mit jedem falſchen Propheten wie dem Bären, den der Ahnherr an die honigbe - ſchmierte Wagenſtange lockte, und der ſich durch und durch auf ſelbige hinaufleckte. Denn es mochte den Leuten etwas noch ſo Unglaubliches vorgeſchwätzt werden, ſie riefen immer: Das muß wahr ſeyn; Münchhauſen hat ganz andre Sachen erfahren! So leckten ſich die Leute vor fünfzig bis ſechszig Jahren auf den Eiszapfen der Auf - klärung hinauf, und als ſie mit Mühe und Noth von dieſem wieder heruntergeſchroben waren, und die grimmige Erkältung noch in ihren Einge - weiden raſſelte, da kamen die Franzoſen und hiel - ten ihnen den Freiheitsbaum vor, mit einer Miſchung von Sirup und Cognac beſtrichen, und die Narren leckten wieder ſo tapfer darauf los, daß ſie bald Alle mit Schmerzen an dem ſtach - lichten Stamme feſtſaßen, und Napoleon mit leichter Mühe ſie daran hinter ſich herziehen konnte. Nun, dieſe Begeiſterung nahm denn endlich auch ein Ende mit Schrecken und gegenwärtig …
6Gegenwärtig? fragte der Baron erwartungs - voll. Gegenwärtig, verſetzte der Freiherr bedächtig, werden ſo viele und verſchiedenartige Stangen, Bäume und Zapfen, worunter ſich auch einige Eiſenſchienen befinden, mit Honig beſtrichen, daß ſich noch nicht entſcheiden läßt, welches dieſer Fang - mittel die Meiſten zu feſſeln im Stande ſeyn werde.
Aber das Wort der Wahrheit, durch welches Ihr Ahnherr an die dreihundert Menſchen töd - tete! rief das Fräulein Emerentia ſanft und dringend.
Recht ſo, meine Gnädige, erwiederte der Freiherr. Allegorie und Phantaſieſpiele ſind aus der Mode, gehören der Ramlerſchen Zeit an; Stoff! Stoff! Stoff! ruft die nach Realitäten hungrige Welt. Hier iſt der meinige. Münchhauſen, der Ahnherr, war trotz ſeines gräulichen Laſters eine ſelten - begabte Natur. Er hatte mit Caglioſtro in Ver - bindung geſtanden, zu ſeiner Zeit Gold gemacht, von der Sorte, die man Knallgold nennt, man verſicherte, er höre, nicht im figürlichen, ſondern im buchſtäblichen Sinne, das Gras wachſen, kurz, er hatte tiefe Blicke in ſo manches Naturgeheimniß7 gethan. Beſonders war an ihm ein ſcharfes Ahnungsvermögen für eigne Körperzuſtände ausge - bildet worden, und Alles, was nachmals in dieſem Betreff von nervöſen oder ſomnambülen Perſonen erzählt worden iſt, war Kleinigkeit gegen das, was glaubwürdige Gewährsmänner mir von ihm berich - tet haben. Er wußte an ſich ſelbſt jede Befin - densveränderung, wie die Homöopathen die Krank - heiten nennen, vorauszuſpüren, und trug, ſo zu ſagen, ſeine ganze ſomatiſche Zukunft, im Geruch vorgebildet, mit ſich umher. Daß Einer merkt, wenn ein Schnupfen bei ihm im Anzug iſt, will nicht viel bedeuten; aber durch den Schnupfen hindurch die ſpäteren Uebel, die ihn noch betreffen ſollen, zu merken, iſt allerdings nicht Jedem gege - ben. Theophilus, ſagte der Ahnherr eines Tages zu dem Manne, der mein Vater vor der Welt heißt, Theophilus, ich kriege morgen einen rech - ſchaffenen Schnupfen, wenn der vorüber iſt, giebt’s ein kaltes Fieberchen, und darnach wird der Reſt der böſen Schärfe als Podagra in den rechten Fuß fahren. Und richtig, ſo kam es. Er hatte durch den Schnupfen hindurch das kalte Fieber, durch dieſes hindurch das Podagra an ſich abgewittert.
8Sie haben gewiß von jenem ſüdamericaniſchen Indianerſtamme im Gebiete Apapurincaſiquinitſch - chiquiſaqua gehört?
A … pa … pu … rin … buchſtabirte der alte Baron. Ja wohl, ja wohl haben wir von dieſem Stamme gehört, fuhr er nach einigem Beſinnen fort. Wer ſollte auch davon nicht gehört haben!
Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua, flüſterte das Fräulein ſchwärmeriſch vor ſich hin.
Dieſer Indianerſtamm, ſagte der Freiherr, wohnt dreiundſechszigdreiviertel Meilen ſüdlich vom Aequator auf einem Bergplateau zweitauſendfünf - hundert Fuß über der Meeresfläche. Von den ſchneeigten Pics der Cordilleras rings geſchützt, leben jene Menſchen ein einfaches Ur - und Natur - leben hin. Nie ſuchte die Habſucht und Grau - ſamkeit der Conquiſtadoren ſie hinter ihren beſchir - menden Felſenwällen heim. Bäume giebt es nicht auf Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua wegen ſeiner hohen Lage, aber unendliche Flächen dehnen ſich an den ſonnebeſchienenen Abhängen der Pics aus, ſmaragdgrün von einer Grasart, in deren breiten, fächerartigen Blättern der Weſtwind, welcher da9 beſtändig weht, ein melodiſches Säuſeln zu erwecken nicht müde wird. Zahlreiche Heerden von phirſich - blüthenen Kühen und Stieren, (ſo lieblich ſcherzt dort die Natur in Farben) weiden in den grünen Grasweiden; die feurigen Kälber ſind goldgelb, erſt nach und nach nehmen ſie jenen kälteren Far - benton an. Dieſes Rindvieh iſt der einzige Reichthum der unſchuldigen Apapurincaſiquinitſchchi - quiſaquaner. Sie leben faſt nur von der ſauren oder ſogenannten Schlippermilch, welche ihre ſchönen Jungfrauen, vom Antlitz bis zu den Fußknöcheln tättowirt, mit den feinen, roth und gelbbemalten Fingern den ſtrotzenden Eutern der Kühe entziehn.
Ihr himmliſchen Mächte, wie reizend! ſagte das Fräulein, in Gefühl ſchwelgend.
Das heißt, erinnerte der Baron, und rieb ſich die Stirn, aus den Eutern gewinnen ſie ſüße Milch, und nachher machen ſie den ſauren Schlipper daraus.
Nein! antwortete der Freiherr. Der ſaure Schlipper kommt auf jenem glücklichen Bergplateau von der Kuh, und nur, wenn er lange geſtanden hat, und dem Zuſtande der Verderbniß ſich nähert, dann geht er in Süßigkeit über.
10Hm! Hm! Hm! Ja … aber — — murmelte der Alte und ſchüttelte den Kopf.
Erſtaunen Sie nicht, hören Sie mich ruhig aus. Iſt nicht alles Urſprüngliche ſauer? Wie ſchmeckt die wilde und unverbildete Caſtanie? Kannſt du in den jugendgrünen Apfel beißen, ohne das Geſicht verzerren zu müſſen, oder in die kindliche harte Pflaume? Geben Trauben, die der buhleriſche Strahl der Sonne noch nicht um ihre Unſchuld betrog, etwas Anderes, als Eſſig? Pindar ſingt: Das Fürnehmſte iſt Waſſer; ich aber ſage: Das Urſprüngliche iſt ſauer.
O, das Urſprüngliche! ſeufzte Emerentia.
Sauer iſt daher die Milch jener Natur-Kühe. Alle Hausthiere verlieren bekanntlich durch den Umgang mit Menſchen viel von ihrer urſprünglichen Ausſtattung; Hund und Katze, die in der Wild - niß zottige, energiſche Beſtien ſind, werden in unſern Stuben kleine glatte Schmeichler, und ſo giebt denn auch unſer Hornvieh, weil es in alle Widerſprüche abſchwächender Cultur mit einging, einen Saft, von welchem wir zwar glauben, er ſei das Ergebniß unverſtimmter Kräfte, welcher11 aber gleichwohl in ſeiner ſüßen Schlaffheit nur die herabgekommne Conſtitution der zahmen oder Kunſt - Kuh anzeigt. Erſt wenn dieſe ſogenannte ſüße, eigentlich aber entnervte Milch eine Zeitlang geſtanden hat, beſinnt ſie ſich wieder auf ihre ver - ſcherzte Urſprünglichkeit, fährt in Reue und Schaam zu den klaren Molken und dem gehalt - vollen Schlipper auseinander, den die Leute in Niederſachſen auch wohl Waddicke nennen, und nun, in dieſem biedern Zuſtande, wird ſie von allen reinen Seelen in der holden Einſamkeit eines bäuerlichen Düngerhofes mit Wolluſt verſchlürft. Aber Reue iſt keine Unſchuld, und unſre Schlip - permilch nicht die, welche auf den Höhen von Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua warm von der Kuh gezogen wird. — O tränke wieder jeder deutſche Mann ſaure Milch …
Und rauchte dazu ſeine Pfeife Tobak … fiel der alte Baron mit Wärme ein.
… ginge dann zwiſchen Gemüſebeeten auf und nieder ſpazieren! … rief der Freiherr.
Und hörte nichts, als: Alle Neun! oder Sand - haſe! von der benachbarten Kegelbahn — ſeufzte der alte Baron.
12Dann wäre Germanien wahrhaft reſtaurirt! ſchloß der Gaſt mit Emphaſe.
Aber um der Götter willen, rief ein hagrer Mann, welcher während dieſer Geſpräche einge - treten war, wir erfahren ja noch immer das Wort der Wahrheit nicht, wodurch Ihr Ahnherr dreihundert Menſchen vom Leben zum Tode brachte!
Der Freiherr ſah auf ſeine Uhr, und ſagte mit dem Tone geiſtiger Ueberlegenheit, welcher ihm eigen war: Es möchte dazu heute zu ſpät ſeyn. Auf morgen alſo, wenn Sie vergönnen. Er ſtand auf, nahm eine Kerze, und verließ, Allen eine gute Nacht wünſchend, das Zimmer.
Warum fielt Ihr ihm in die Rede, Schul - meiſter? ſagte der alte Baron verdrießlich zu dem Hagern. Einen ſolchen Mann, mit einem ſo Welt - umfaſſenden Geſichtskreiſe muß man nie im Fluſſe der Worte ſtören, es kommt immer dabei etwas zum Vorſchein, was unterhält und belehrt, und am Ende wären wir doch wohl noch zu dem Worte der Wahrheit ſeines Ahnherrn gediehen, wenn Ihr ihn nicht unterbrochen hättet.
Schelten Sie mich nicht, mein Gönner, um dieſen Freiherrn von Münchhauſen, der uns da ſo13 unverſehens in das Schloß geworfen iſt; erwie - derte der Hagre. Er kann den an Kürze und Laconismus Gewöhnten ſchon ungeduldig machen, dieſer endloſe Redner und Erzähler, denn er ver - fällt immer aus dem Hundertſten in das Tauſendſte. Kürze aber, die körnige Kürze der Sparter, iſt wie ein Köcher, darin gar viele Pfeile ſtecken; indem erſtens …
Es iſt ſchon gut, Schulmeiſter, fiel ihm der Alte in die Rede, indem er ihn mit einem zwei - deutigen Blicke maaß. Warum kommt Ihr heute ſo ſpät? Wir haben Alles aufgeſpeiſt.
Der Schulmeiſter Ageſilaus ließ ſeine Augen in die Ecke des Zimmers dringen, worin ein klei - ner Tiſch ſtand, ärmlich gedeckt. Die Knochen eines verzehrten Huhns lagen auf den Tellern verſtreut. Es wollte ſich in der Eile nicht des Schilfes genug für mein Nachtlager ſchneiden laſſen, ver - ſetzte er. So bin ich denn hier nach dem Mahle erſchienen, und werde mich zu Hauſe mit ſchwar - zer Suppe verköſtigen müſſen. Er zündete ſeine Blendlaterne an, ſchlug den groben, zerrißnen Mantelkragen, den er ſtatr des Rockes trug, feſter um ſich, und entfernte ſich nach höflicher Verbeu - gung gegen den Baron und das Fräulein.
14Der Alte ſah ſich um und murrte: Kein zweiter Leuchter mehr hier? Er nahm aus dem Wand - ſchranke ein Lichtſtümpfchen, ſteckte es in den Hals einer Flaſche, und ging mit dieſer Vorrich - tung aus dem Stegreife davon, in tiefen Gedan - ken über die Erzählungen des Gaſtes, ohne der Tochter weiter zu achten.
Dieſe hatte von allen ſeitherigen Verhandlun - gen nichts bemerkt, weil ſich nach der Schilderung jenes glückſeligen Bergplateaus die romantiſche Träu - merei ihrer bemächtigt hatte, in die ſie nicht ſelten verſinken konnte. Jetzt fuhr ſie aus dieſen Ent - zückungen der Abweſenheit empor, und rief: Gro - ßes, ungeheures Naturbild! Das Smaragdgrün der Wieſen am Abhange der Pics, vermiſcht mit dem Phirſichroth der Kühe und dem Goldgelb der Kälber, ſich abhebend von dem Schneeweiß der Cordillerasgipfel im Hintergrunde! O wäre ich auf Apapur … auf Apapur … auf der Berg - ebene mit dem unausſprechlichen Namen!
Ein Windſtoß warf das Fenſter auf, deſſen einer Flügel, nur noch morſch in ſeinen Nägeln hangend, zu Boden fiel, und klirrend zertrümmerte. Das Fräulein aber achtete dieſes Umſtandes nicht15 ſonderlich, ſondern hob eine Tiſchplatte ab, ſtellte ſie gegen die Lücke, und begab ſich dann, gleich den übrigen Perſonen, zur Ruhe, um von der Bergebne, mit deren langen Namen ich meine Zuhörer ſchon ſo oft habe behelligen müſſen, wei - ter zu träumen.
Münchhauſen hob am folgenden Abende ohne Vor - rede alſo an: Der ſüdamericaniſche Indianerſtamm, welcher uns geſtern beſchäftigte, bringt es bei ſei - ner ſauren Milchnahrung meiſtens zu einem ſehr hohen Alter. Es iſt unter ihnen gar nicht ſelten, daß Männer und Frauen das hundertſte Jahr zurück - legen. Weil ihre Sinne und Säfte nun immer in der unmittelbarſten Gemeinſchaft mit der Natur verblieben, ſo wiſſen ſie auch durch ein richtiges Gefühl, wenn die Natur ſich ihr Ziel geſetzt hat. Ein ſolcher Sterbegreis ſagt daher ganz genau Stunde, Minute und Augenblick ſeines Todes vor - aus, flicht ſich die Strohflaſche, worin er ſich zu beſtatten gedenkt …
17Die Strohflaſche? fragte der Schulmeiſter Ageſilaus.
Die Strohflaſche, erwiederte der Freiherr kaltblütig. Wenn man mir von Anfang an zu - gehört hätte, ſo würde manche Frage zu ſparen ſeyn. Holz haben ſie nicht, das ſagte ich ſchon geſtern, Särge können ſie folglich nicht zimmern, ſie müſſen ſich mit getrocknetem Graſe oder Stroh helfen, um ihre Leichenfutterale zu fertigen. Ein ſolches Futteral hat die Form desjenigen Geflechts, worin der Maraſchino von Trieſt verſchickt wird, länglicht-viereckicht, oben mit einem kurzen, etwas engeren Halſe. Dahinein kriecht nun der Sterbe - greis, nachdem er von ſeinen Angehörigen Abſchied genommen hat, und endet pünktlich in dem vorher - geſagten Augenblicke. Sobald er verſchieden iſt, binden ſie eine Blaſe über die Mündung, und dann ſetzt ſich die ganze Familie im Kreiſe um das Sterbefutteral her und ißt zum Gedächtniß des Verewigten ſaure Milch. Hierauf tragen ſie die Strohflaſche nach der Felſenbank Pipirilipi, dem allgemeinen Begräbnißorte des Volks. Dort wird ſie zu den Uebrigen geſtellt. Ich habe jene Ruhe - ſtatt ſelbſt geſehen; ſie gewährt einen ſchönen An -Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 218blick. Wie auf Rayolen in einem wohlverſehenen Keller ſtehen dort auf der Felſenbank viele tauſend Flaſchen neben einander, die Vorzeit des Volks iſt ſo zu ſagen auf Stroh abgezogen.
Sie waren auch auf dem ſmaragdgrünen Pla - teau? fragte das Fräulein einigermaßen befremdet.
Liebe Seele, wo wäre ich nicht geweſen! ant - wortete lächelnd der Freiherr. Ich war vor eini - gen Jahren Europamüde, warum? weiß ich ſelbſt nicht, denn es hatte mir Niemand etwas zu Leide gethan, aber ich war Europamüde, wie man gegen Eilf Uhr Abends Schlafmüde wird. Be - ſchloß alſo, zu reiſen, ſo weit weg, wie möglich. Weil aber heut zu Tage jeder Menſch, der in Betrachtung kommen will, abſonderlich unterweges, intereſſant ſeyn und den Spleen haben muß, reiſte ich erſt nach Berlin und ließ mich dort im Inte - reſſantſeyn unterrichten; dafür zahlte ich zwei Frie - drichsd’or Honorar. Dann ging ich nach London, und lernte dort bei einem Maſter den Spleen; der Tauſendſaſſa war aber theuer, ich mußte ihm, Sie mögen es mir glauben, oder nicht, zwanzig Guineen entrichten, und außerdem ſchwören, das Geheimniß nicht verrathen zu wollen.
19Nachdem ich ſo das Intereſſante und den Spleen weg hatte, glückte es mir überall recht ſehr. Ich trug mich bald als Engländer, bald als Neugrieche, zuweilen lag ich als Dame auf dem Sopha und hatte Migraine; dabei redete ich ein Kauderwälſch von Franzöſiſch und Deutſch, wie es zu Anfang des Achtzehnten Jahrhunderts während der großen Sprachverderbniß Mode war. In jenen wechſelnden Coſtümen, und in dieſem Deutſch, gorge — de — pigeon, beſtand das Intereſſante; was aber den Spleen angeht, ſo führte ich immer Kampher bei mir, um das Geheimniß friſch zu erhalten. Davon bekommt man nämlich eine blaſſe Couleur; ich ſah bald aus, als hätte ich ſchon zehn Jahre im Grabe gelegen. Als ich mich eines Tages in meinem Toilettenſpiegel, deren ich damals, wo ich der Eitelkeit fröhnte, ſtäts mehrere beſaß, zu Geſichte bekam, und meine bleiche Farbe erblickte, ging mir ein lichter Gedanke im Kopfe auf. Sehe ich nicht wie eine Leiche aus? ſagte ich zu mir ſelber. Ich will mich den Verſtorbenen nen - nen. Geſagt, gethan! Dieſer Einfall hat Wun - der gewirkt. Einen Verſtorbenen hatten die Deut - ſchen noch nicht gehabt. Und nun gar ein Ver - ſtorbener, der ſo traulich mit ihnen zu plaudern2*20wußte, und ihnen tauſend Geſchichtchen erzählte, die ein Lebender allenfalls auch in jedem Klatſchzim - mer der Societät hätte auftreiben können! Jung und Alt, Männer und Weiber, Gelehrte und Idioten drängten ſich zu den Leichenſpuren des Verſtorbenen; die alte Fabel wurde wieder neu, welche das Volk hinter einem geſchmückten Ver - weſ’ten jubelnd herwandern läßt. Geheime Künſte haben es aus der Gruft emporbeſchworen, die Menge zu locken. Die Jünglinge drängen ſich be - gehrlich heran, mit der buntgeſchminkten Frau Venus zu tanzen; immer weiter lockt die Peſt - dampfende Schönheit, welche ihnen wie Zibeth und Ambra riecht, die Lüſternen; endlich auf einem Kirchhofe fallen die Gewänder von den klappernden Gebeinen ab, und ein ſcheußliches Skelett faucht ihnen den Spruch zu: Sic transit gloria mundi. Aber mit mir kam es nicht ſo weit, vielmehr blieb ich, obgleich ein duftender Verſtorbener, recht in - mitten der Gloria Mundi. Nachdem ich ſo be - rühmt geworden war, ſtrich ich durch die ganze Welt, kam auch im Vorbeigehen durch Africa; in Algier wurde ich Arabiſch mit allen Formalitäten, hatte dann gutes Logis bei Vicekönigs von Egypten. 21Er wurde mein Dutzbruder, und ich mußte ihm tauſend Sachen erzählen, die er mir alle geglaubt hat. Weiter oberhalb nach Nubien zu, unfern der großen Katarakte, ſtieß mir ein hübſches Aben - theuer mit einem Nilpferde auf. Ich ſitze am Strom im Schilf, in naturalibus, wie mich der Herr geſchaffen hat, denn anders bin ich in Africa nie gegangen; eſſe mein Mittagsbrod in guter Ruhe, ſiehe da, ſchießt eine Beſtie von Hippopo - tamos auf mich zu, und hat mich im Rachen, ehe ich noch rufen kann: Qui vive! Ich indeſſen nehme in der Geſchwindigkeit mein Bischen Geiſtesgegen - wart zuſammen, ſchreie in dem Rachen, als das Vieh mich eben verſchlucken will: Monsieur! Mon - sieur! avec permission, je suis son Altesse telle et telle! Was geſchieht? Sie mögen es mir glauben oder nicht: Die gute Seele von Nilpferd ſpuckt mich auf der Stelle aus, wiſcht ſich die Thränen aus den Augen …
Womit? Womit? rief der Baron.
… mit einem Palmblatte, welches die ehr - liche Haut in die rechte Vorderpfote nimmt; erröthet, und rennt beſchämt davon. So weit haben es Vicekönigs ſchon in Egypten gebracht, daß ſelbſt22 die Hippopotamoi vor literariſchen Sommitäten Reſpect bezeigen.
Ich meine, das Nilpferd nähre ſich nur von Vegetabilien, nicht von Fleiſch, wandte das Fräu - lein beſcheiden ein.
Es iſt vermuthlich kurzſichtig geweſen, und hat mich für eine Pflanze angeſehen, antwortete der Freiherr. Ich weiß, was ich weiß; ich habe im Rachen drin geſteckt. Wahrheit muß Wahrheit bleiben, und Ehrlich währt am längſten. Wo blieb ich ſtehen? Ja, in Africa. Warum ſoll ich Sie aber mit ſolchen Kleinigkeiten aufhalten? Ich war bald Africamüde, wie ich Europamüde geweſen war, beſchloß daher nach America zu reiſen, vor - her aber einen Abſtecher nach Deutſchland und England zu machen, wohin mich verſchiedne Gründe zuvor riefen.
Erſtens hatte ich das Intereſſante und den Spleen etwas verlernt, und wollte daher wieder in Berlin und in London meinen Curſus machen. In Africa ſind die Leute gar nicht intereſſant, der Koran begünſtigt dieſe Richtung nicht, eine ara - biſche Schnauze iſt wie die andre, und was den Spleen betrifft, ſo vertreibt den der Vicekönig23 von Egypten durch die Vaſtonade; es giebt kein efficaceres Mittel gegen Schwermuth, als ſie. Einmal hatte ich mich mit ihm etwas brouillirt, wie das unter Freunden wohl kommen kann; da dachte ich an die möglichen Folgen für die Fuß - ſohlen, und von dem Gedanken ſchon war aller Spleen weg, ſelbſt bis auf die Erinnerung. Es kam zum Glück nicht zu jenen Folgen, wir ver - ſöhnten uns und aßen noch denſelben Mittag Sauer - kraut mit Schweineohren zuſammen, denn er iſt ein aufgeklärter Türke, und will nächſtens in einer Schrift beweiſen, daß Mahomet ein Product der Gläubigen ſei. Wo blieb ich ſtehen? Ja ſo; bei dem Spleen. Nun, das Intereſſante hatte ich aus Mangel an Anſchauungen in meiner Umgebung ebenfalls wieder eingebüßt. Ich mußte alſo ſchon deßhalb nach Deutſchland und England.
Dießmal war ich genöthigt, in Berlin für den Unterricht im Intereſſanten eine Bonne zu nehmen, die Mere Oye, der es im Rückblick auf Perſonen und Zuſtände nicht gegangen war, wie Loths Weibe bei einer ähnlichen Gelegenheit. Denn, anſtatt zur Salzſäule zu erſtarren, war ſie nur immer geſprächiger und mercurialiſcher geworden. Viele24 Leute wollten der guten Mere und Commere etwas am Zeuge flicken; ſie ſagten, all ihr Geiſtreicheln und Intereſſantiſiren ſei doch purer Waſchſchaum, aber ich muß die Mere Oye vertheidigen. Auf hohe Ziele hat ſie es überhaupt nicht abgeſehen; ſie gedenkt nur ihrer Ahnmütter, die urlängſt durch Schnattern das Capitol retteten. Und da übt ſie nun mittlerweile ihr Organ, um bei Stimme zu ſeyn, wenn dermaleinſt das Capitol des plattirten-Liberalismus in Deutſchland gefährdet werden ſollte.
Warum gingen Sie aber nicht zu Ihrem alten Lehrer? fragte der Baron.
Der ſaß in Paris dazumal und las Altfranzö - ſiſche Manuſcripte. Ich reiſte von Algier über Toulon und jene Hauptſtadt, und traf ihn auf der Bibliothek. Da ſah ich nun ein wahres Wunder jetziger Bücherſchnellfabrication oder Schnellbücher - fabrication. Denn es iſt gewiß; Sie mögen mir es glauben, oder nicht, mit der linken Hand ſchlug er die Blätter des pergamentenen Folianten um, der vor ihm lag, und mit der rechten ſchrieb er gleichzeitig ein Buch darüber oder daraus, ſo daß, wenn er links in Folio fertig geleſen hatte,25 ihm rechts ein Octavband abgegangen war. Da - zwiſchen dictirte er noch ein ſpirituelles Billet an eine Comödiantin, und unterhielt ſich mit einem Arrondiſſementscommiſſair gründlich über das Pari - ſer Griſettenweſen. Er blieb folglich nur drei Stadien hinter Cäſar’s Vielſeitigkeit zurück.
Was aber der zweite Grund meines Abſtechers nach Deutſchland war, ich wollte mir dort wieder einen guten Bedienten miethen. Meinen bisherigen hatte ich abſchaffen müſſen; er wollte auch intereſ - ſant ſeyn, und hielt deßhalb beſtändig Maulaffen feil. Als Intereſſanter von Diſtinction glaubte ich Einſpruch thun zu dürfen, aber da die Gewerbe - freiheit überall herrſchte, ſo war in der Sache nichts zu machen; jeder Lump durfte intereſſant ſeyn.
Nur aus Deutſchland wollte ich mir den Erſatz - bedienten holen, denn jedes Land hat ſeine eigenthüm - lichen Producte, die man nirgends anders ſo gut be - kommt. Spanien hat ſeine Weine, Italien den Geſang, England die Conſtitution, Rußland den feſteſten Juch - ten, Frankreich die Revolution, und in Deutſch - land gerathen die Bedienten am beſten.
Da, wo die buſchichten Anhöhen des Habichtwal - des gegen Abend, die Hügelketten des Reinhartwal - des gegen Mitternacht, der felſichte Sörewald gegen Mittag zu einem weiten Thale auseinandertreten, durch welches die Fulda in mannigfachen Krümmun - gen von Mittag nach Mitternacht ihre Fluthen wälzt, gegen Morgen aber eine lachende Ebne ſich auf - thut, über welcher in weiter Ferne der majeſtäti - ſche Meißner ſein blaues Haupt erhebt, liegt Caſſel …
O Ihr heiligen und gerechten Götter, wohin ſoll denn nun das wieder führen? ſtöhnte der Schulmeiſter Ageſilaus, den die Erzählungen des27 Freiherrn in einen Zuſtand verſetzt hatten, welcher ſich ſchwer beſchreiben läßt.
… liegt Caſſel, die Hauptſtadt des Kurfür - ſtenthums Heſſen. Reinliche, breite Straßen durch - ſchneiden die obere oder Neuſtadt, deren Gebäude faſt alle von regelmäßiger Bauart ſind, während die untere oder Altſtadt mehr dem Schmutze und der Krümme anheimgefallen iſt. Mehrere ſchöne öffentliche Plätze verſchönern jenen ſchöneren Theil der Stadt, unter allen jedoch iſt der Friedrichs - platz der ſchönſte, an welchem ſich das prachtvolle Schloß mit ſeinen langen Fenſterfluchten erhebt.
Es war um die Zeit, als nach der glücklichen Herſtellung der alten Verhältniſſe Kurfürſt Wilhelm in die Hallen ſeiner Väter zurückgekehrt war, und unter mehreren früheren bewährten Einrich - tungen auch jene Verlängerung des Haarwuchſes wieder eingeführt hatte, welche man im Deutſchen mit dem Namen Zopf zu belegen pflegt. Auch dieſe Zeit iſt längſt vorüber, die Kunde von ihr klingt faſt wie die Mähr von dem verſunkenen Eilande Atlantis; der hiſtoriſchen Dichtung aber ziemt es, nichts in der Geſchichte verloren geben zu laſſen, nicht einmal den ehemaligen Kurheſſiſchen Zopf.
28Es war ſpät Abends und Caſſels Bewohner ſchliefen ſchon, oder legten ſich zu Bett. Auf dem Schloſſe aber war es im Cabinett des Für - ſten noch hell. Die Soirée war zwar geen - digt, jedoch hielt der alte würdige Herrſcher noch einige ſeiner Auserwählten um ſich verſammelt. Man hatte ſich auf die gewohnte Weiſe von der Zwiſchenregierung und von dem wunderbaren Umſchwunge der Dinge unterhalten. Der Kurfürſt, welcher ſeine Gardeuniform, Klappenweſte und ſteife Stiefeln trug, ſtand feſt auf das ſpaniſche Rohr mit goldnem Knopfe geſtützt, und ſagte: Es bleibet dabei, Ich agnoſcire Nichts von dem, was Mein Verwalter Jerome inzwiſchen angeordnet hat. Wer darunter leidet, mag ſich an Meinen Verwalter halten, dem Wir nicht die Macht gege - ben hatten, auf ſeinen Kopf neue Sachen einzu - führen, und der mithin bei derartigen Thathandlungen Mandatum excediret hat. Wir wiſſen wohl, daß Wir dieſerwegen der Cenſur etlicher unruhiger Köpfe unterliegen, aber das läßt Uns völlig unan - gefochten in Unſrem Gewiſſen, und Wir vertrauen hierinnen gänzlich der göttlichen Providentz, die Uns nach kurzer Ueberwältigung in Unſre Erb -29 ſtaaten zurückgeführet, und deutſche Treue und Redlichkeit auch auf Unſrem Territorio retabliret hat. Habt Ihr das Edict verfaſſet, wodurch den Domainen-Ankäufern alle und jegliche Hoffnung, ſich in ihrem unrechtfertigen Beſitze zu mainteniren, entzogen wird?
Das ließ ich meine eiligſte Sorge ſeyn, ver - ſetzte der Angeredete, der Geheimerath Vellejus Paterculus. Es war in der That hohe Zeit, daß deutſche Treue und Redlichkeit bei uns retablirt wurde.
Man kennet Mich noch nicht gehörig, fuhr der alte kräftige Fürſt mit erhobener Stimme fort. Ich habe ſchon einmal die Gaſſenkehrer zur Correc - tion der Weichlinge und Schwelger in neumodiſchen franzöſiſchen Kleidern die Straßen fegen laſſen, und es dürfte paſſiren, daß ſich Gleiches oder Aehnliches abermalen ereignete, wenn man Uns zu viel Aergerniß giebt. Dieſes Caſſel war unter der Wirthſchaft Meines Verwalters ein liederlicher Ort geworden, und alle Zucht und Sitte hatte Abſchied genommen.
Eine Dame näherte ſich dem Fürſten, und ſagte mit ſchmeichelndem Tone: Ereifre dich30 nicht, Väterchen, du haſt ja beides, Zucht und Sitte, hier wieder eingeführt.
Sie und der Geheimerath Vellejus Paterculus wurden hierauf entlaſſen. Nur der Baron von Rothſchild verblieb noch bei dem Fürſten. Er war nach Caſſel gekommen, um mit ſeinem erlauchten Geſchäftsfreunde Abrechnung zu halten, und hatte jetzt zu vernehmen, daß der Kurfürſt die in des Barons Händen beruhenden Fonds ihm nicht länger zu ſieben Procent laſſen könne, ſondern auf dem achten fortan beſtehen müſſe.
Der Baron von Rothſchild war durch dieſe Nachricht und Eröffnung im Tiefſten erſchüttert. Er ſchwor bei dem Gotte Abrahams, Iſaaks und Jakobs, daß ihn eine ſolche Maaßregel in das Verderben ſtürze, da aber ſein hoher Gläubiger feſt darauf beſtand, und ihn für den Fall des Weigerns mit der Kündigung bedrohte, ſo gab der Baron endlich mit blutendem Herzen nach und erwog zu ſeinem Troſte im Stillen, daß in ſeiner Bank das Pfund mit zwanzig Procent wuchre, ihm ſonach allerdings zwölf noch übrig verblieben.
Der Fürſt hatte bei der ganzen Verhandlung ſeine Haltung unerſchütterlich bewahrt. Jetzt ſtieß31 er das Fenſter auf, ſah in die ſternenklare Nacht und ſagte: Wenn Ich conſiderire, daß Ich wieder hier im Palais bin, und welche Intereſſen Mir die Engliſchen Gelder, die Ich dazumal für das Americaniſche Corps erhielt, in Seinen Hän - den getragen haben, Rothſchild, ſo muß Ich ſpre - chen: Der alte Gott lebet noch und läſſet nicht zu Schanden werden.
Der Baron erwiederte etwas verſtimmt: Warum ſoll nicht leben der alte Gott, da noch leben Eur’ Hoheit? Wie kann man werden zu Schanden mit acht Procent?
Während ſich dieſe Begebenheiten im Innern des Schloſſes zutrugen, erzählten unten in der Wachtſtube die ſechs Gebrüder Piepmeyer ihren Cameraden Geſpenſtergeſchichten. Die ſechs Gebrü - der Piepmeyer waren die ſechs Söhne des Kaſtel - lans Piepmeyer auf der Löwenburg. Dieſer Mann hatte, wie es bei ſolchen Aufſehern herrſchaftlicher Schlöſſer der Fall zu ſeyn pflegt, die loyalſten Geſinnungen, und in denſelben auch ſeine Söhne erzogen. Man konnte daher von dieſer Familie behaupten, daß in ſieben Individuen nur ein und daſſelbe heſſiſche Herz ſchlage. Vater Piepmeyer32 war derjenige geweſen, welcher ſich bei dem Ein - zuge des Kurfürſten auf einen Eckſtein geſtellt, jubelnd ſeinen durch alle Verführungen der Fremd - herrſchaft hindurch geretteten Zopf geſchwungen und gerufen hatte: Durchlaucht! Durchlaucht! meiner ſitzt noch! was dem alten Herrn die erſte wahre Regentenfreude in ſeinen Staaten bereitet haben ſoll. Sobald nun die ſechs Söhne Piep - meyer, welche zwei Paar Drillinge waren, die Mutter Piepmeyer in zwei nach einander folgenden Jahren ihrem Gatten geſchenkt hatte, in das Soldatenalter traten, ließ Vater Piepmeyer alle ſechs an einem und demſelben Tage in die Kur - fürſtliche Zopf - und Stiefeletten-Garde eintreten. Sie hatten alle ſechs daſſelbe Maaß, nämlich ſechs Fuß, drei Striche; hielten auf die völlige Iden - tität ihrer Stiefeletten und Zöpfe, und ſahen einander überhaupt zum Verwechſeln gleich, ſo daß der Commandeur ſie mit verſchiedenfarbigen Strichen über der Naſe bezeichnen laſſen mußte, um ſie im Dienſt unterſcheiden zu können. Karl Piepmeyer bekam einen gelben, Heinrich Piepmeyer einen blauen, Ferdinand Piepmeyer einen rothen, Guido Piepmeyer einen orangefarbnen, Chriſtian33 Piepmeyer einen grünen, Romeo Piepmeyer einen ſilbergrauen und Peter Piepmeyer einen ſchwarzen Strich über der Naſe. Aber außer dem Dienſte, wo ſie ſich als Menſchen fühlten, wiſchten ſie die Striche ab.
Dieſe ſechs Brüder von der Löwenburg erzähl - ten den andern Heſſiſchen Wachtmannſchaften folgende Geſchichte: Ihr mögt es nun glauben oder nicht, aber ſo iſt der alte Herr alle Jahre, während er in der Fremde war, an ſeinem Geburtstage jedesmal droben auf der Burg gewe - ſen. An dieſem Tage war es von früh Morgens an ſchon immer unruhig droben, es that ſich ein Schwirren in den ſeidnen Gardinen hervor, die Gardinenbetten knackten, die Harniſche in der Rüſtkammer raſſelten, der Wetterhahn auf dem Thurme hat unaufhörlich mit den Flügeln geſchla - gen. Schon als Knaben bemerkten wir alles Dieſes und noch Mehreres, aber wir achteten deſſen nicht, bis uns der Vater, nachdem wir fünfzehn Jahre alt und confirmirt worden waren, bei Seite nahm und uns das Burggeheimniß ent - deckte, welches in nichts Anderem beſtand, als daß der Kurfürſt, wiewohl weit entfernt im BöhmiſchenImmermann’s Münchhauſen 1. Th. 334Lande, dennoch auf ſeiner Burg ſeinen Geburtstag feire. Er komme nämlich um ſechs Uhr Abends gerade zur Stunde, wo vor Zeiten an der Stän - detafel die Geſundheit ausgebracht worden ſei, und man die Kanonen vor der Aue gelöſt habe, in das gelbe Commodenzimmer, worin der alte Fritz als kleiner Junge abgemalt hängt, gegan - gen, und verluſtire ſich dort eine halbe Stunde lang.
Das nächſte Jahr gab uns der Vater die Sache zu ſchauen. Nämlich, wir ſteckten uns mit ihm ſacht hinter den grünen Vorhang im gelben Commodenzimmer. Was geſchieht? Wie die Glocke auf dem Schloßthurm ſechs ſchlägt, hören wir auf dem langen Rittergange, der zum Zimmer führt, Thüre nach Thüre aufklappen, endlich ſpringt auch die vom gelben Commodenzimmer auf, und herein tritt der Herr, wie er leibt und lebt, ſteife Stiefeln, gekollerte Hoſen, Montirung, drei - eckichter Hut, Klebelocken, kurz Alles und Jedes. Setzt ſich an das Fenſter, was nach dem Garten ſieht, macht ſich eine Pfeife Taback an, raucht, daß der Dampf davon geht, kuckt unterweilen in den Garten, klopft, wie die Pfeife zu Ende35 geraucht iſt, dieſelbige aus, daß wir nachmals noch die Aſche auf dem Getäfel gefunden haben, erhebt ſich dann, geht ſtill aus dem gelben Commoden - zimmer und ſo weiter, wo wir denn die Thuren im langen Rittergange nach einander wieder zuklap - pen hören. Das ganze gelbe Commodenzimmer war voll Rauch, Varinas linker Hand oben, wir haben alle ſieben, wir ſechs Brüder und unſer Vater, deutlich die Sorte gerochen.
Als die Gebrüder Piepmeyer dieſe Geſchichte ihren Cameraden erzählt hatten, erhob ſich in der Wachtſtube ein hitziger Streit; denn …
Aber der Freiherr konnte ſeine Geſchichte nicht weiter führen, denn es erhob ſich auch in dem Zimmer, worin die Geſellſchaft verſammelt war, ein heftiger Lärmen. Bei dem Schulmeiſter Age - ſilaus brach nämlich in dieſem Augenblicke die Verzweiflung, in welche ihn die Erzählungen des Freiherrn verſetzt hatten, auf die gewaltſamſte Weiſe aus. Er warf ſeinen groben und zerriſſenen Mantelkragen ab, und rannte in der kurzen wollnen Jacke, die er unter demſelben trug, mit den Gebärden eines Verlornen im Zimmer auf und nieder. Nein, was zu viel iſt, iſt zu viel, und3*36der menſchlichen Geduld ſind ihre Grenzen geſteckt! rief er ſchluchzend aus. Meine hochverehrten Gönner, ich bitte zehntauſendmal wegen dieſer meiner Unhöflichkeit um Vergebung, aber ich kann mir nicht helfen, ich muß mir Luft machen, ſonſt bin ich ruinirt mit Kind und Kindeskind! Münch - hauſens Lügen, Homöopathie, Kurheſſiſche Zöpfe, ſaure Milch, Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua, Manna Gans, Rhinoceroſſe, Verſtorbne, Vicekönigs von Egypten, Altfranzöſiſche Manuſcripte, Griſetten, Juchten, Rothſchild, Varinas linker Hand oben — — wer dabei den Verſtand behalten will, der muß einen weniger geordneten Kopf haben, als ich leider beſitze. Herr von Münchhauſen beginnen zu erzählen, dann fangen wieder andere Perſonen an, in dieſen Erzählungen zu erzählen; wenn man nicht ſchleunig Einhalt thut, ſo gerathen wir wahrhaftig in eine wahre Untiefe des Erzählens hinein, worin unſer Verſtand nothwendig Schiff - bruch leiden muß. Bei den Frauen, die mit Schachteln handeln, ſtecken oft vierundzwanzig in einander, ſo kann es fürwahr auch hier mit den Geſchichten gehen, denn wer ſchützt uns davor, daß alle ſechs Gebrüder Piepmeyer ſich wieder von37 ſechs Wachtcameraden ſechs Geſchichten vorplau - dern laſſen, und daß ſolchergeſtalt ſich die hiſtoriſche Perſpective in das Unendliche verlängert? Herr von Münchhauſen wollten uns das Wort der Wahrheit vertrauen, wodurch Ihr Ahnherr an drei - hundert Menſchen tödtete; ſtatt deſſen werden wir auf die Cordilleras und von da nach Africa gehetzt, und jetzt ſind wir wieder in Heſſencaſſel, und wiſſen nicht, warum wir da ſind. Herr von Münchhauſen, ich halte Sie für einen großen, wunderbar begabten Mann, aber ich bitte Sie um die einzige Gnade, erzählen Sie etwas geordneter und ſchlichter. Sie wollen, wie ich vernehme, unſrem Herrn Baron länger die Ehre Ihres Beſuchs ſchenken; es muß Ihnen daher ſelbſt daran liegen, uns nicht ſchon in den erſten Tagen außer Faſſung zu ſetzen und geiſtig zu vernichten.
Nach dieſer Rede entſtand eine bedeutende Pauſe. Der Wirth ſah verlegen, der Gaſt groß vor ſich hin, das Fräulein warf einen Blick des Zorns auf den Schulmeiſter, einen Blick der begei - ſtertſten Hingebung auf den Freiherrn. Der Schulmeiſter ſtand athmend in einer Ecke, und ſchien ſehr angegriffen zu ſeyn.
38Zuerſt redete der Freiherr wieder und ſagte: Daß ich ſo brüsk unterbrochen worden bin, thut mir leid. Ich kann verſichern, daß ich meinen Stoff beherrſche, und daß in meinen Geſchichten, wie in meinem Geiſte, Alles zuſammenhängt. Ich würde Sie aus der heſſiſchen Wachtſtube wieder zu den Indianern auf der ſmaragdgrünen Berg - ebne …
O die ſmaragdgrüne Bergebne! rief das Fräu - lein enthuſiaſtiſch.
… auf der ſmaragdgrünen Bergebne zurück - zuführen im Stande geweſen ſeyn, und Sie würden bald eingeſehen haben, in welcher Verbindung die ſechs verbundenen Kurheſſiſchen Zöpfe mit dem Worte der Wahrheit ſtehen, durch welches mein Ahnherr an die dreihundert Menſchen vom Leben zum Tode brachte. Freilich für Manche ſind manche Combinationen zu hoch.
Ja wohl! rief das Fräulein ſcharf und bitter. Caviar iſt nicht für das Volk. Anders als ſonſt in Menſchenköpfen, malt ſich in dieſem Kopf die Welt.
Da ſich keine behagliche Unterhaltung wieder machen wollte, ſagte endlich der alte Baron, der39 dem Schulmeiſter eigentlich im Stillen beiſtimmte: Das Schlimmſte wäre nun, wenn wir Ihrer fer - neren, ſo ſehr intereſſanten Mittheilungen verluſtig gingen, lieber Münchhauſen.
Mein Geiſt hat die Eigenheit, erwiederte dieſer, daß er, wie ein Räderwerk, ſofort ſtill ſteht, wenn auch nur ein Zahn, nur ein Federchen gebrochen wird. Alles, was den Vorfällen in der Wachtſtube zu Caſſel folgte, die ganze Ideenverbindung zwi - ſchen dieſen Ereigniſſen und meines Ahnherrn Worte der Wahrheit, von welchem ich ausging, iſt nun für immer verloren und bleibt Ihnen auf ewig verhüllt; das Einzige, was ich zuſagen kann, beſteht darin, daß ich die Geſchichte von den ſechs verbundenen Zöpfen zu Ende erzähle. Dann muß ich, wenn Sie mich noch weiter hören mögen, auf andre Materien übergehen.
Der alte Baron rückte ihm freundlich näher, und flüſterte ihm ſchmeichelnd ins Ohr: Und bei dieſen Materien haltet Ihr Euch mehr an der Stange, nicht wahr, trauteſtes Münchhauſenchen? Ich bitte Euch nicht der Sache halber darum, die iſt gewiß ſo am beſten verſorgt, wie Ihr ſie gegriffen habt; es iſt nur wegen unſrer ſchwachen Fähigkeiten, zu40 denen Ihr Euch herablaſſen müßt, wenn wir durch Euch aufgeklärt werden ſollen.
Ich will alles Fernere herunter erzählen, trocken wie die Zeitung, erwiederte der Freiherr. Uebrigens kann ich verſichern, daß ich mich nach den beſten jetztlebenden Muſtern gebildet habe, und meine Darſtellung ſo einrichtete, wie die Autoren, welche das Zeitalter und die Nation gegenwärtig entflammen und hinreißen, es mich gelehrt haben.
Nach der Erzählung der ſechs Gebrüder Piep - meyer entſtand, wie ich ſagte, in der Wachtſtube zu Caſſel ein großer Streit. Einige Heſſen woll - ten die Wahrheit derſelben bezweifeln, und mein - ten, daß Niemand bei lebendigem Leibe umgehn könne. Ein Skeptiker aus Witzenhauſen ſagte, kein Geiſt rauche Taback, und noch viel weniger bleibe von ſeiner Pfeife Aſche nach, das Ganze ſei daher eine „ Einbildungskraft “der Gebrüder Piepmeyer, wie er ſich ausdrückte.
Dagegen ſagten vier Gardiſten aus Schaumburg, mit Potentaten verhielte es ſich anders, als wie mit Particuliers, die hätten etwas voraus, ſie könnten überall und doch nirgends ſeyn. Zwei42 Ziegenhainer riefen: Wenn er da war und ſich verluſtiren wollte, ſo that er rauchen, und wenn er rauchen that, ſo that Rauch und Aſche darnach kommen. Einer aus Hofgeismar drehte dieſe Sätze um, und folgerte alſo: Weil Piepmeyers Aſche finden thaten, ſo hat er rauchen gethan, und weil er rauchen gethan hat, ſo hat er auf der Löwenburg ſeyn gethan.
Es nahmen immer mehrere Wachtmannſchaf - ten an dieſen Debatten Theil, und der Lärmen wuchs von Minute zu Minute. Da rief der commandirende Fähnrich, ein junger Herr von Zinzerling, aus einer der erſten Familien des Lan - des, mit ſeiner hohen Discantſtimme in das Ge - töſe hinein: Ihr Sacramenter, in dreier Teufel Namen, raiſonnirt nicht weiter! — Jede Unter - ſuchung hörte demnächſt auf, und alle Wachtmann - ſchaften enthielten ſich aus Subordination ſelbſt der ſtillen Gedanken über den Gegenſtand.
Die Nacht hatte inzwiſchen den erſten Strah - len des Frühlichts Raum gegeben, welche den Ofen und die Bänke der Wachtſtube mit gelbröth - lichen Streifen ſäumten. Unvergleichlich war die Wirkung eines ſcharfen Schlaglichtes am oberen Zinnrande eines Bierkrugs, von welchem ein ſelt -43 ſamer, aber verſtandner Reflex den Knopf des Feldwebelſtocks traf, welcher darüber am dritten Haken hing. Ueberall tiefe, ſatte Farbentone, klare, durchſichtige Schatten! Die Wachtſtube ſchien keine wirkliche Wachtſtube zu ſeyn, ſie war heute mehr, ſie war eine gemalte.
Was Piepmeyers betrifft, ſo hatten ſie ihre Poſtenſtunden abgeſtanden, ſie durften ſich nun einem kurzen Schlafe überlaſſen. Ruhig lagen ſie neben einander auf der Pritſche und ſchnarchten. Hinter der Pritſche hingen ihre ſechs Zöpfe ein - trächtig herunter, damit der Wachtfriſeur dieſelben auch während ihres Schlummers neu einflechten könne.
Um dieſe Zeit ereignete ſich folgende wunder - würdige Begebenheit. Nämlich der Wachtfriſeur Iſidor Hirſewenzel trat in die Wachtſtube.
Darin ſehe ich denn eben kein großes Wunder! fuhr der alte Baron unwillkührlich heraus.
Alles in der Natur und in der Geſchichte hängt zuſammen, ſagte der Freiherr mit Würde. Man höre mich ohne Unterbrechung an, das Wunder folgt dem Kurheſſiſchen Wachtfriſeur Iſidor Hirſe - wenzel auf der Ferſe.
44Dieſer Iſidor iſt doch nicht … ſagte das Fräu - lein ſchüchtern.
Der nämliche Hirſewenzel, welcher ſeither die deutſche Bühne mit einer ſo unermeßlichen Anzahl von Stücken bedacht hat, verſetzte der Freiherr. Unſer Mann und Held, aus einem guten aber herabgekom - menen Geſchlechte in Olgendorf, einem Flecken in der Nähe der Lüneburger Haide entſproſſen, hat einen ſonderbaren Lebenslauf gehabt. Dramatiker wurde er erſt ſpät; von der Natur war er durch - aus zum Lederhändler beſtimmt. Der erſte Laut, den ſein kindlicher Mund von ſich gab, klang wie: Leder! Kein Spielzeug von Holz oder Blech ver - gnügte den heranwachſenden Knaben, die muntre braun und gelbbemalte Erbſenflinte war ihm ein Gräuel, mit Abſcheu ſtieß er das gefällig conſtruirte grüne Nürnberger Wägelchen, das ſchuldloſe Weih - nachtsſchaaf mit den ſinnigen rothen Lackaugen zurück, dagegen begannen ſeine Blicke zu leuchten, wenn er der Peitſche anſichtig wurde, und der fünfgeflochtenen Schnur, wenn er das Leder-über - zogene Hottpferd beſteigen durfte, wenn man ihm die kleine Scherzpatrontaſche umhing. Später war er oft halbe Tage lang aus der väterlichen Woh -45 nung verſchwunden, und wo fand man ihn wie - der? In irgend einer der Gerbereien, welche dem Städtchen die Hauptnahrung gaben. Ja, einmal war er, kecken Jugendmuthes voll, ſelbſt in eine Lohgrube geſprungen, um zu verſuchen, ob er nicht noch lebend ſeine Haut in den ſo heiß verehrten Zuſtand bringen möchte; leider zog man ihn zu früh heraus, als die Ledrification erſt halb vor ſich gegangen war. Unentwickelt blieb demnach der höhere Zuſtand ſeiner Bedeckungen, indeſſen woll - ten die Kundigen verſichern, er habe nach jenem Ver - ſuche denn doch immerdar ein dickes Fell behalten.
O Ihr Väter und Erzieher, die Ihr die hei - lige Aufgabe habt, die Keime der Euch anvertrau - ten Pflanzen in die Blüthe zu fordern, hieher tretet, und lernt an einem furchtbaren Beiſpiele vor den Folgen ſchaudern, wenn Ihr die Stimme der Natur mißachtet, und die Gerte, welche rechts hinaus wachſen will, links hinüber zwingt. Nicht allein macht Ihr den Baum zum brandigen Krüppel, nein! er wird auch ſeine Nebenſtämme anſtecken, das Ungeziefer, welches die krankende Krone aus - brütet, wird die Verwüſtung viel weiter tragen, als Ihr ahnen und berechnen könnt!
46Iſidor Hirſewenzel von Olgendorf hätte für Deutſchland ein Lederhändler werden können, wie wir ihn noch nicht beſeſſen haben. Möglich, daß in der Tiefe ſeiner Seele Gedanken ſchlummerten, wodurch der Dampf vom Throne des neunzehnten Jahrhunderts geſtoßen, und die gegerbte Haut zur Weltbeherrſcherin erhoben worden wäre! Aber der Vater verſtand den Sohn nicht. Er verſtand nicht die zukunftſchwangern Regungen des Geiſtes, der über Bälgen, über Alaun und Lohbereitung, über Sämiſch - und Kalkgerberei erfindungengebä - rend brütete. Du biſt ein Narr, Dorus, ſagte der harte Vater zu ihm, Leder kann aus der Mode kommen, die Menſchenliebe iſt ſo hoch geſtiegen, daß ſie ſich unverſehens auf das Vieh werfen kann; woher aber ſoll Leder kommen, wenn jeder Hund und Ochs unſer Bruder, jedes Schaf unſre Schwe - ſter wird, und wir des verwandtſchaftlichen Lebens ſchonen? Du alſo wirſt das werden, mein Sohn, wozu ich dich beſtimmt habe.
Iſidor weinte, verzweifelte, aber ſeine Thränen und Seufzer verfingen gegen den eiſenfeſten Vater nichts; Iſidor mußte Perückenmacher werden. Das heißt: Vor der Welt wurde er ſimpler Friſeur47 in der Stille aber errichtete er zu ſeiner Tröſtung, um ſeinem Triebe zum Compacten zu folgen, um ſich durch das zerſtreute Haar, durch die charakter - ſchwache Pomade, durch den geſinnungsloſen Puder dem Zaͤhen, Ledernen wenigſtens anzunähern, jene wunderbaren Haargebilde, welche die Welt längſt über Schwedenkopf und Naturſcheitel vergeſſen zu haben ſchien.
Ich will kurz ſeyn. So wie der alte Heſſen - fürſt zurückgekeyrt war, entſtand über ſeinen Wunſch, oder vielmehr Befehl, die größte Verlegenheit. Die Novella I. de capillis pudrandis zopfi - ficandisque war erlaſſen, aber es ging mit dieſer, wie mit ſo mancher Inſtitution, ſie hatte ihr Da - ſeyn vorläufig nur auf dem Papiere, und das war die Hauptfrage: Konnte der Zopf eine Wahr - heit werden? Denn man wußte Niemand, der jene Haarformationen der Urwelt noch zu bereiten verſtand. Der alte Herr beſaß zwar ſeinen in dieſen Dingen ergrauten Künſtler, allein es wider - ſprach der Rangordnung und Etiquette durch - aus, daß dieſelbe Hand, welche um die Majeſtät beſchäftigt war, ſich gemeinen Köpfen widmen ſolle.
48In dieſer Noth und Bedrängniß ſprang unſer Meiſter aus ſeinem Puderdunſte, wie Aeneas aus der Wolke. Er verſtand zu friſiren, Toupé’s ein - zuſalben und aufzuſteifen, Zöpfe von allen Längen - und Dickenmaaßen zu flechten. Er wurde präſen - tirt, tentirt, approbirt, placirt. Der Staat konnte hiemit für organiſirt erachtet werden.
Nun alſo, dieſer Mann betrat die Wachtſtube … ſagte das Fräulein, welche bei aller Begeiſte - rung für den Erzähler ſich doch nach einem raſche - ren Fortſchritte der Geſchichte ſehnte.
Noch nicht, meine Gnädige, verſetzte Münch - hauſen kalt, ſo weit ſind wir noch nicht. Die hiſtoriſche Darſtellung erheiſcht langſame Entfal - tung; auf den Landſtraßen ſind Eilwagen einge - führt, aber, Sie wiſſen es ja ſelbſt, unſre Roman - ciers fahren in ihren Geſchichten noch mit der Sächſiſchen gelben Kutſche, welche ſich ehemals zwi - ſchen Leipzig und Dresden bewegte, und zur Vol - lendung dieſer Reiſe drei Tage gebrauchte, vor - ausgeſetzt nämlich, daß der Weg gut war.
In unſrem Iſidor war während ſeiner Lehrjahre eine große pſychiſche Revolution vorgegangen. Man ſah ihn einſam durch die Wälder ſtreifen, er floh49 der Brüder wilde Reihn, aber ach! das Schönſte ſuchte er nicht auf den Fluren, womit er ſeine Liebe ſchmückt’! Die Liebe erſtarb in dieſem Buſen, eine ſiniſtre Falte des Unmuths lagerte ſich auf der denkenden Stirn, Entſchlüſſe reiften in ihm, die zum Schrecken des Geſchlechts finſtre Thaten wurden. Haarſcheerer durch Beſtimmung, dem in - neren Berufe nach Lederhändler, Perückenmacher aus Reſignation, wurde er Tragiker aus Menſchen - haß, dem leider die Reue bis jetzt nicht gefolgt iſt. Ja, meine Freunde, alle jene Trauerſpiele, worin entweder der Held die Stiefeln ſeines Bru - ders zu putzen hat, die Geliebte aber ihn auf jene Welt vertröſtet, in welcher er nicht mehr nach Wichſe riechen wird, oder worin der Landrath Friedrich Barbaroſſa ſeine Dienſtleiden erzählt, der Steuerexecutor Heinrich der Sechſte ſich mit Bei - treibung der Gefälle-Reſte plagt, oder der biedre, aufgeklärte Paſtor Friedrich der Zweite aus Giels - dorf wegen Rationalismus verdammte Scherereien mit dem Lyoner Conſiſtorium hat, die ſtuhlſetzen - den Kämmerlinge jedoch, alſo die Abräumer, eigent - lich die einzigen handelnden Perſonen ſind, ja meine Freunde, alles das, und o Gott! wie unendlichImmermann’s Münchhauſen. 1. Th. 450viel mehr hat nur die Miſanthropie Hirſewenzels geboren. Wir wären damit verſchont geblieben, wenn er ſeinem wahren Berufe hätte folgen dürfen.
Könnte man denn nicht noch jetzt dem Fort - ſchritte des Unheils Einhalt thun? fragte das Fräulein, ſonderbar verlegen.
O, meine Gnädige! rief Münchhauſen begeiſtert; es bleibt doch ewig wahr, das Wort unſres Schiller: Was kein Verſtand der Verſtändigen ſieht, das über in Einfalt ein kindlich Gemüth! Sie haben da in Ihrer Einfalt einen großen Ge - danken gefunden. Ja, wir wollen, da gegenwärtig auf ſo Vieles ſubſcribirt wird, eine Subſcription durch ganz Deutſchland eröffnen, zu dem Ende - mit vereinten Nationalkräften für Hirſewenzel eine Gerberei in Schleſien unter den Waſſerpolacken anzupachten, ihm ſo einen heitern Abend des Le - bens zu ſchaffen, die Bühne aber von ihm zu be - frein. Ich bin überzeugt, ſelbſt unſre Fürſten, denen ja Poeſie und Literatur ſo ſehr am Herzen liegen, geben etwas dazu, einen Gulden oder einen Thaler, je nachdem ſie über Gulden - oder Tha - lerland herrſchen. Doch für jetzt nur weiter in meinem Texte.
51Als in Iſidor der Gedanke an ſein verfehltes Daſeyn einmal recht zum Durchbruch gekommen war, da rief er aus: Weil Ihr mich im Leben nicht habt zum Leder kommen laſſen, ſo will ich Euch, da ich Euch leider nicht an’s Leben ſelbſt kommen kann, wenigſtens das Bild des Le - bens, die Bühne ruiniren.
Meine Vorgänger im Geſchäft, Iffland und Kotzebue, machten die Miſere zu Helden; ich will die Sache umkehren, und Helden zu miſerabeln Perſonen machen. Müllner wirkte durch Schuld und Blut, Houwald durch alte Camillen und Bilder, die an den Galgen gehören, ich will durch Langeweile wirken. Ich will die Langeweile zur dramatiſchen Dynamis erheben, der Sandmann in den Augen der Helden ſoll meine Kataſtrophen bewirken. Meine Helden ſollen lieber ſterben, oder ſonſt ein Unglück erleben, als daß ſie noch länger meine Redensarten abhaspeln. Ich will Euch ein Stück ſchreiben, Namens König Enzian, ein Stück,4*52deſſen Perſpective nicht der Stern der Hoffnung über dem Grabe, nicht die Nacht des Tartarus unter den Füßen des hinſinkenden Frevlers, nicht die reinliche Entſagung der Wüſte oder des Klo - ſters ſeyn ſoll, ſondern eine Chambre garnie im Felſen bei Zwielicht, oben mit einem Deckel ver - ſehen, worin der gähnende Miethsmann mit ſeiner gähnenden Geliebten bei hinlänglichem Eſſen und Trinken nichts zu thun hat, als Kinder zeugen, die bei der Geburt, anſtatt zu ſchrein, auch ſchon gähnen. Wahrlich, wahrlich, ich ſage Euch, es wird eine Krankheit über unſern Welttheil herauf - ziehn, geheißen die Cholera. Hin und her werden die Aerzte rathen, woher das Miasma gekommen, welches die Seuche fortleitete, und man ſoll nicht errathen, daß es aus der Grube aufſtieg, in welche ich den König Enzian verſpündete. Wehe über dich Sand-Jeruſalem, die du die Juden begünſtigeſt, und kreuzigeſt immerdar die Propheten; du ſollſt zweimal die Cholera kriegen, weil du meinen En - zian ſo oft wirſt haben ſpielen laſſen! Ich will Einundzwanzigmillionen dreihundertauſend und einen halben Vers, folglich einen halben Vers mehr machen als Lope de Vega; Alle ſollen parallel53 neben einander herlaufen, wie die Lombardiſchen Pappeln zu beiden Seiten der Chauſſee von Halle nach Magdeburg, und dieſes Wunder ſoll nur von dem Wunder der Kühnheit übertroffen werden, womit ich verſichern will, daß ich nie einen un - ſchönen Vers verfertiget habe. Nicht durch Fehler und Ausſchweifungen will ich die Bretter reizen; nein, ich will das Theater nivelliren, entnerven und abmergeln. Es ſoll aus meiner Feder Nichts kommen, was ſelbſt der Cenſur von China ver - dächtig werden könnte, ich will ein völlig etats - mäßiger Poet werden, gleichwohl aber will ich von mir behaupten, ich ſei durch große Geſchichtsepochen, die von keinem Etat etwas wußten, zu Thränen der Rührung hingeriſſen worden, denn Klingeln gehört zum Handwerk. Wahrlich, wahrlich, ich ſage Euch, es wird die Zeit kommen, da die Schauſpieler meine Rollen im Schlaf abſpielen, das Auditorium ſchläft, und der Kritiker Gottſched am folgenden Tage während ſeines Nachmittags - ſchläfchens eine Recenſion in die velinpapiernen Blätter ſtiftet, worin er ſagt, das neuſte geniale Werk aus meiner unermüdlichen Feder habe das Publicum zum Enthuſiasmus hingeriſſen. Mit54 einem Worte: Ich will Ich ſeyn, und nur mir ſelber gleich!
Wie Iſidor Wort gehalten hat, das wiſſen die blaſirten Hofräthe, Juſtizräthe, Geheimen-Secre - tarien und Papierjuden von Sand-Jeruſalem, aus welchen gegenwärtig das dortige Theaterpublicum allein noch beſteht. Kein Mädchen ſchleicht ſich mit einem Bande ſeiner dramatiſchen Werke „ ernſter oder komiſcher Gattung “(ich weiß nicht, warum er den bezeichnenden Ausdruck: Sorte, verſchmäht hat?) frühmorgens oder gegen Abend in die duf - tende Fliederlaube hinten im Garten, wo das gelbe Naſturtium blüht, und der Convolvulus auf ſeinen Ranken den Falter wiegt und den goldgrün - glänzenden Käfer, und lieſ’t ſich an ſeinen Sachen heimlich-glühend in die Bekanntſchaft mit ihrem pochenden Herzchen hinein; kein Student, der dro - ben auf dem Weinberge am Fluſſe von ſeinem Jugendbruder Abſchied nimmt, und mit ihm das Stammbuchblatt wechſelt, ſchreibt einen Vers von Iſidor hinein, keinen Künſtler haben ſeine ſogenann - ten Geſtalten zu einem Bilde entzündet. Wer um ſechs Uhr Abends noch eine Spur von Stimmung in ſeiner Seele fühlt, ja, wer auch nur die Aus -55 ſicht auf einen Robber Whiſt hat, der meidet das Haus, worin Iſidor ſeine dramatiſche Suppenanſtalt für Arme errichtet hat, und den Gottſched befrie - digt, und die Blaſirten von Jeruſalem abfüttert. Es iſt ihm gelungen, ſeine dämoniſche Drohung in Erfüllung zu ſetzen. Ja, ſie dreſchen nunmehr das dreimal gedroſchne leere Stroh und worfeln die Spreu, die nicht einmal der Gaſtwirth Angely ſeinen vierfüßigen Gäſten vorgeſetzt hätte. Die Bühne kam nach dem etwas derben Ausdrucke der Jugend durch Iſidor auf den Hund. Er, er hat es verſtanden, wie man die Deutſchen be - handeln ſoll. Denn nicht durch Blitze des Genius iſt dieſe ſogenannte Nation zu entzünden — wie kann man naſſe Wolle in Brand ſtecken? — ſondern man muß immerfort daſſelbe thun, es mag aus - fallen, wie es will; dann ſagen ſie: Der muß es doch verſtehn. Es iſt ihnen überhaupt nur daran gelegen, daß das Inventarium in allen literariſchen Wirthſchaftsrubriken vollſtändig ſei; denn ſie ſind gute Haushälter. Sie würden, wenn Hirſewenzel ſich nicht gefunden hätte, auch einen zweiten Cro - negk, oder Gellert oder Weiße wieder aufgenom - men haben. Iſidor, hundertmal Abends kritiſch56 todtgeſchlagen, feierte am andern Morgen ſeine Auferſtehung mit drei neuen mittelmäßigen Stücken, die wie ein Echo die ihm vorgerückten Albernhei - ten wiederholten. Die Leute aber ſagten: Der verſteht es, ſo muß man es machen. Selbſt der Heroismus erlahmte endlich an dieſer Beharrlich - keit der Induſtrie; man ließ die Fabrik zuletzt ſpulen und ſchnurren, ohne ferner Eingriffe in ihre thranduftigen Räder zu verſuchen. — Aber in die Walhalla kommt er doch nicht, wenn ſie fertig wird und ihre Beſtimmung behält, und nicht mit der Zeit vielleicht in ein Bräuhaus verwandelt wird. Der Graf von Platen kommt hinein, und der gehört auch hinein, trotz aller ſeiner Thorheiten und Mißgriffe, aber Hirſewenzel kommt nicht hin - ein und ſchriebe er auch noch Einundzwanzigmil - lionen Verſe mehr. Doch iſt es freilich noch un - gewiß, ob er überhaupt ſterben, und ob nicht vielmehr der Tod jedesmal einnicken wird, ſo oft er ihn ſieht.
Nun, Gott beßre das deutſche Theater!
Melpomene ſitzt, von der Scene verſcheucht, unten im Keller, da wo die Arbeitsleute an den Verſenkungen und Verwandlungen handthieren, der57 Dolch iſt ihrer entkräfteten Hand entfallen und roſtet im Moder, im Moder liegt die Maske, welche die gemeinen menſchlichen Züge verſchönernd be - decken ſoll; Schimmel überzieht dieſelbe, und Einer der Theaterarbeiter hat ihr die Naſe platt getreten. Droben aber über ihrem Haupte, auf dem Po - dium, ſcharrwerkt der lärmende Emporkömmling mit ſeinen breitgerührten und doch hölzern geblie - benen Jamben. Ach, die Arme! Nicht einmal weinen kann ſie mehr. Iſidor hat ſie mit dem Stockſchnupfen angeſteckt, und verlangt nun grauſam ſpottend von ihr, ſie ſolle Macuba ſchnupfen lernen, dadurch helfe er ſich in allen Nöthen.
Das Alles iſt weltbekannt. Nicht ſo bekannt iſt aber der Umſtand, daß der Tragöde alle die Stücke, die ſeitdem wie ein nie verſiegender Spü - licht zwiſchen den Couliſſen hervorgebrodelt ſind, bereits während ſeiner Beſchäftigung mit Zöpfen und Friſuren in müßigen Nebenſtunden verfertigte. Ja, meine Freunde, er hat ſie ſämmtlich auf den Vorrath gearbeitet; die Manuſcripte lagen in ſeinem Haaratellier geordnet zwiſchen den übrigen Fabri - caten und Sachen, ungefähr ſo: Ein Zopf; die Erdennacht, eine Perücke; Genoveva, Pomade;58 Rafaële, der Puderbeutel; die Schule des Lebens, und ſo weiter. Daher es ihm leicht war, her - nachmals den Markt von Sand-Jeruſalem mit ſeiner Waare zu überführen.
Doch meine Farben reichen bei dieſem Bilde nicht aus und mein Pinſel iſt zu ſtumpf; ich fühle das wohl. Solche tiefſinnige aeſthetiſch-poetiſche Seelenentwickelungsgemälde abzuwickeln, daß ſie Jedem ſo klar werden, wie baumwollnes Garn, müßte ich Hotho ſeyn, der in den „ Vorſtudien des Lebens und der Kunſt “an ſeiner eignen Geſchichte „ aufgewieſen “hat, daß man den Don Ramiro ſchreiben, an den aeſthetiſchen Artikeln der Jahr - bücher für wiſſenſchaftliche Kritik, herausgegeben von der Societät für wiſſenſchaftliche Kritik, mit - arbeiten, und dennoch ſich wichtig vorkommen kann.
Man ſang vor Zeiten, als Don Ramiro zur Welt gebracht wurde:
Ich ahme dieſem Volksliede nach und ſinge:
59Iſidor näherte ſich den ſechs Gebrüdern Piep - meyer mit Kamm und Nadel bewaffnet. Er kniete nieder, löſete die Bänder, welche die ſechs Haar - wüchſe feſſelten, ſo daß ſie in ſechs Fluthen von ſechs Nacken herniederwallten, und nachdem er mit ſeinem Geräthe in dieſem Sechsgelock Ordnung geſtiftet hatte, ging er daran, zu ſtrählen und zu flechten.
In dieſem Augenblicke empfing er in ſeiner melancholiſch-humoriſtiſchen Weltanſchauung die Geſtalt des Till.
Sie erinnern ſich gewiß dieſer wunderſamen Figur, mit welcher unſer damaliger Wachtfriſeur, nunmehriger Dichter, ſo vielen genialen Spaß aus - zurichten ſich bemüht hat. Meiſtens hat der Till es mit einem Barbierer, Namens Schelle, er ver - ſchmäht aber auch Räthinnen und Polizeidirectoren nicht, nein! es iſt zum Todtlachen, was für Späße der Till angiebt, der durchtriebne Vogel,60 der Till … und wenn ich an den Till denke, und an Till und Schelle, und Schelle und Till … und an Tell und Schille … und an alle die Späße von dem Till, ſo — — ſo — —
Der Freiherr brach bei der lebhaften Erinne - rung an Tills Späße in ein convulſiviſches Lachen aus, welches ſo klang, als wenn hölzerne Klötz - chen in einer Büchſe von Blech hin und herge - ſchüttelt werden. Der alte Baron klopfte ihm den Nacken, Münchhauſen erholte ſich wieder und fuhr fort:
… ſo kann ich nur bedauern, daß die „ Meer - rettiche, “die der Dichter auch in ſechs Paar Tri - logien auf ſeinem Krautfelde ziehen wollte, nicht fertig geworden ſind. Doch vielleicht kommen ſie noch nach, denn bei Hirſewenzel iſt nichts unmöglich. Bis nun der Meerrettich zum Rindfleiſch abgeſotten ſeyn wird, müſſen wir uns mit dem Till behelfen, dem ich wohl eine Peterſilie wünſchen möchte, das gäbe eine Mariage von Küchenkräutern, worüber jeder Köchin das Herz im Leibe poppern würde.
Ich habe immer, wenn ich die Tille ſah, an einen Menſchen denken müſſen, den ich einmal in einem Dorfe zwiſchen Jüterbogk und Treuenbrietzen, mich61 dünkt, es hieß Knippelsdorf, oder ſo ungefähr, kennen lernte. Die Gegend um Knippelsdorf iſt etwas unfruchtbar, nur bei großen Ueberſchwem - mungen werden die Felder grün, dann giebt es große Feſtlichkeiten, wobei ſich die Leute in Grütze ſatt eſſen. Aber hübſche Kiefern haben ſie da, und Windhafer, ſo viel ihr Herz begehrt. Die Achſe war mir am Wagen gebrochen; ich mußte ein Paar Stunden im Kruge ſitzen, bis der Stellmacher ſie, nämlich die Achſe, reparirt hatte. Dieſer Aufenthalt zeigte mir „ Knippelsdorfer Zu - ſtände. “ Es war Neun Uhr Morgens, und ein ſchöner heißer Julius, indeſſen ſchien der Tag durch die runden Fenſter der Krugſtube nicht abſonderlich hell, ſie waren gar zu verſchmaucht. In der Stube gingen die Hühner ſpazieren, unei - gennützig, denn zu eſſen gab es da nichts, wie ich erfuhr, als ich nachfragte. Zu trinken konnte ich bekommen, wenn ich bis zum folgenden Tage blei - ben wollte, da würden ſie Dünnbier von Zahne holen, ſagten ſie. Es roch abſcheulich in der Stube, aber auf Reinlichkeit hielten ſie doch, denn eine Magd im Negligè mit fliegendem Haar wiſchte gehörig den langen Tiſch ab, und nachher mit62 demſelben Tuche die irdenen Teller. Eine Anzahl von Fliegen ſummte in der Stube, und die ſchlug ein höhniſcher, blaſſer, verdroſſen-ſchläfriger Menſch todt, derſelbe eben, an den ich mich nachmals immer bei den Tillen erinnerte. Er trug eine Nachtmütze ſchief über’m Ohr, den thönernen Stum - mel hatte er im Munde, in herabgetretnen Pan - toffeln ſchlorrte er auf und nieder. So oft er eine Fliege mit der Klatſche erlegt hatte, verzog er die ſchlaffen Lippen zu einem unangenehmen Lächeln und machte einen Spaß über die todte Fliege. Man konnte ſich darauf verlaſſen, auf jede todte Fliege kam ein Spaß; ich habe ſie aber ſämmtlich vergeſſen. Die Magd lachte nicht darüber, ich konnte auch nicht darüber lachen. Sie ſagte mir, als ich mich nach ihm erkundigte, er ſei der jüngere Bruder des Krugwirthes und habe nicht gut thun wollen, deßhalb müſſe er jetzt das Gnadenbrod eſſen. Seine einzige Beſchäf - tigung ſei, ſich über die Fliegen aufzuhalten, die er todtgeſchlagen habe.
Der Till alſo ging dem Hirſewenzel, wie geſagt, auf, als er die ſechs Zöpfe der Gebrüder Piepmeyer einflechten wollte. Halt, dachte er, hier63 kannſt du ſofort für dieſen komiſchen Heros die Studien nach dem Leben machen. Laß uns eine Verwickelung bilden, die an grenzenloſer Luſtigkeit und kühner Laune Alles hinter ſich läßt, was Sha - kespeare, Holberg und Moliere erſonnen haben. Ich werde die Zöpfe der Piepmeyers unentwirrbar zuſammenflechten, und wenn ſie dann aufſtehn, und nicht von einander können, und bei dem Ziehen und Zerren unter Schmerzen Geſichter ſchneiden, o welche Fülle von komiſchen Anſchauungen werde ich dann haben, ich ſehe ſchon ganze Dutzende von Tilliaden fertig. Geſagt, gethan; er flocht Peter mit Romeo, Romeo mit Chriſtian, Chriſtian mit Guido, Guido mit Ferdinand, Ferdinand mit Heinrich, Heinrich mit Karl zuſammen, ſo daß vier Piepmeyers, ein Jeder doppelſeitig, linker und rechter Flügel aber einſeitig gefeſſelt waren. Als Iſidor ſein Werk vollbracht hatte, ſteckte er ſich hinter den Wachtofen, um die Wirkung dieſer Intrigue zu beobachten.
Ruhig ſchliefen die Opfer Hirſewenzelſcher Ko - mik, träumten von Brod und Fleiſch und doppel - tem Tractament und hatten kein Arg. Als nun der Tag höher zu ſteigen begann, und die Strah -64 len der Sonne den Ordensſtern an der Bildſäule Landgraf Friedrichs des Zweiten auf dem Platze vor dem Schloſſe vergoldeten, mit einem Worte, als es Sechs geſchlagen hatte, trat der Feldwebel zu der Piepmeyerſchen Pritſchabtheilung, um die Farbenſtriche über den Naſen der Brüder aus ſeinem Vorrathe zu erneuen, denn die ganze Strenge des Dienſtes ſollte nun bald wieder beginnen. Als er indeſſen einen Blick über die Pritſche hinaus in ihr Jenſeits that, und die ſelt - ſame Verflechtung der brüderlichen Hinterhaupt - haare wahrnahm, da entſank ihm vor Erſtaunen der aufgehobene Malerpinſel und er ſtarrte die Erſcheinung einige Secunden lang lautlos an. In der That war dieſe auch verwunderlich genug anzuſchaun; Piepmeyers ſahen von hinten aus wie ein Kurheſſiſcher Garderattenkönig.
Indeſſen kommt ein Feldwebel immer bald wieder zu ſich ſelber. Auch der unſrige gewann nach kurzer Rathloſigkeit ſeine ganze Faſſung ſich zurück, und fuhr die Verbündeten mit den wackern Worten an: Kerls! Euch ſoll ja ein Kreuzſtern - ſchockmillion-Donnerwetter ſechstauſend Klafter tief unter den Winterkaſten in die Erde ſchlagen!
65Von dieſem biedern Zurufe des tüchtigen Manns fuhren Piepmeyers gleichzeitig aus dem Schlummer auf, und wollten ſich gleichzeitig erhe - ben. Da ihnen aber dies Schmerzen verurſachte, ſo ſanken ſie zurück, taſteten gleichzeitig nach ihren Zöpfen, entdeckten die Urſache der Schmerzen und ſagten gleichzeitig wie aus einem Munde, kalten Blutes: Herr Feldwebel, es muß ſich, derweil wir ſchliefen, ein dummer Junge in die Wacht geſchlichen und einen Jux mit uns verübt haben. — Auf Ehre, ſo iſt es, ſprach der Fähnrich von Zinzerling, der herzugetreten war. Feldwebel, machen Sie den einen Mann los, und der kann wieder ſeinen Brüdern helfen. Wo bleibt der Schelm, der Hirſewenzel? —
Der Feldwebel löſ’te Karl Piepmeyer von Heinrich Piepmeyer ab, Karl trennte demnächſt Heinrich von Ferdinand, Heinrich ſchied Ferdinand von Guido, Ferdinand dismembrirte Guido und Chriſtian, Guido ſetzte Chriſtian mit Romeo aus - einander, Chriſtian endlich ſtellte den Dualismus zwiſchen Romeo und Peter her. Nachdem die ſechs Brüder ſolchergeſtalt wieder in das Fürſich - ſeyn getreten waren, vollendeten ſie ihre realeImmermann’s Münchhauſen 1. Th. 566Exiſtenz durch wechſelſeitige Herſtellung von ſechs ſchlechthin geſonderten Zopfindividualitäten. Hie - mit hatte das Ereigniß ſeinen Kreis abſolut mit Inhalt erfüllt, war der Begriff des Vorfalls zum Von-Sich-Wiſſen gekommen, oder deutlicher zu reden, das Ding hatte nun ein Ende. Denn dem Feldwebel, welcher ſich an den Fähnrich mit der Frage, ob der Vorfall gemeldet werden ſolle? wendete, erwiederte von Zinzerling gedankenvoll: Nein! Wir leben in bewegten Zeiten, und wollen die Gährung nicht fortleiten. Der dient den Königen nicht, der ihrem Argwohne dient. Die Sache bleibt ungemeldet, und ich nehme die Ver - antwortung auf mich.
Wie Hirſewenzel unbemerkt hinter dem Ofen entkommen, iſt Wachtgeheimniß geblieben.
Der Schulmeiſter Ageſilaus hatte ſchon während des letzten Theils dieſer Erzählung deutliche Zeichen hergeſtellter Zufriedenheit von ſich gegeben. Ver - gnügt hatte er ſeine Hände gerieben, ſich auf dem Stuhle hin und hergewiegt, ein Hm! Hm! Ja! Ja! So! So! Ei! Ei! dazwiſchen geworfen, und den Freiherrn mit einer Schalkhaftigkeit angeſehen, welche eine Schattirung von Tiefſinn durchſchimmern ließ. Nachdem nun Münchhauſen zu Ende gekom - men war, ſprang der Schulmeiſter auf, lief zu dem Erzähler, ſchüttelte ihm die Hand, und rief: Ver - zeihung, mein hochzuverehrender Gönner, daß ich die Standesunterſchiede nicht achte, und Ihnen ſo5*68geradezu mich nähere, aber wie Noth kein Gebot hat, ſo achtet die Begeiſterung keiner Schranke. Erlauben Sie mir, Ihnen auszuſprechen, wie mich Ihre dießmalige Diatribe, in die Form einer hiſtoriſchen Novelle gegoſſen, erquickt hat. So fah - ren Sie fort, dann ſind Sie des Dankes aller Edeln gewiß. Endlich doch einmal Nahrung für Geiſt und Herz!
Ich verſtehe Sie nicht, verſetzte ernſthaft der Freiherr.
O! O! O! aber ich verſtehe Sie, mein Hoch - geſchätzter, rief der Schulmeiſter. Ja, Ja, Erleuch - teter, das kommt bei den Uebertreibungen heraus! Das haben wir davon, daß wir Alles auf die Spitze ſtellen, von Allem und Jeglichem das Höchſte, Ueberſchwänglichſte begehren! Nicht wahr, mein Verehrteſter, Sie wollten mit Ihrer anſchein - lichen Ironie gegen jenen ſo oft verkannten und angefeindeten Mann ſagen: Seht, zu ſolchen maaß - loſen Extravaganzen gelangt man, ſo überſpringt der Spott ſich ſelbſt, ſo fallen die ſtärkſten Hiebe, wenn Leidenſchaft ſie führt, immer über den zu Hauenden hinaus in das Leere, und darum lernt Euch begnügen, Ihr Leute, mit dem Vorhandenen,69 geht zwiſchen Haß und Enthuſiasmus die Mittel - ſtraße, die von den Weiſen aller Zeiten immer die goldne genannt wurde! Dieſe und ähnliche Lehren wollten Sie durch Ihren ausſchweifenden Angriff einſchärfen, wenn ich ſonſt, nicht oberflächlich an der Oberfläche Ihrer Reden haftend, deren inneren Sinn richtig aufgefaßt habe.
Auf dieſe Anrede erwartete der Schulmeiſter etwas Schmeichelhaftes. Der Freiherr ſah ihn jedoch nur mit weitgeöffneten Augen ſtarr an, und ſagte nach einem langen Schweigen nichts, als: Herr Profeſſor, Sie ſollten uns doch auch noch einen Commentar über den Fauſt ſchreiben. — Dann wandte er ihm den Rücken und ſuchte die Blicke des Fräuleins auf, die ihn aber mieden.
Dieſe liebte eigentlich im Stillen den Helden der Novelle, weßhalb ihr auch der Vorſchlag, ſeiner uner - ſchrocknen Wirkſamkeit ein Ziel zu ſetzen, nicht vom Herzen gekommen war. Sie pflegte ſich in ihren erreg - teſten Stunden ſeine lombardiſchen Chauſſeepappel - verſe zu ihrer Aufrichtung laut vorzuſagen. Nun hatte ſie jedoch auch, wie alle Damen, eine unglaubliche Furcht vor dem Lächerlichen, und da ſie denn doch wäh - rend Münchhauſen’s Erzählung ſich mit ihrem Lieb -70 linge in dieſer Beleuchtung zu einer Gruppe vereinigt ſah, ſo fühlte ſie ſich in ihrem Bewußt - ſeyn völlig vernichtet, und rang vergebens nach einem Anker für ihre rathloſe Seele. Zugleich aber ängſtigte ſie das Schweigen, welches nach den Verhandlungen zwiſchen dem Freiherrn und dem Schulmeiſter in der Geſellſchaft entſtanden war, und nicht weichen wollte. Denn ihr Vater ſchnitzte, wie er zu thun pflegte, wenn er gänzlich verſtimmt war, mit ſeinem Federmeſſer Einkerbungen in den ſchlechten hölzernen Tiſch, um welchen Alle ſaßen, und murrte nur halblaut vor ſich hin: Der Schul - meiſter ſchnappt noch gar über! Es war ja die pure, blanke Gottes-Satire auf den Hirſeſchwenzel, oder Schmirſehenzel, oder wie der Menſch ſonſt heißen mag! Denn Dichterei und Romanenweſen iſt meine Sache nicht, ſondern Natur - und Völkerkunde.
Der Schulmeiſter aber ſaß ſchweigend und zornroth da. Er hatte zwar Münchhauſen’s Ant - wort nicht eben ganz verſtanden, fühlte jedoch, daß darin ein Stich liegen müſſe. In dieſem Punkte war nun nicht mit ihm zu ſcherzen, denn ſeine Eitelkeit war nur ſeiner unbegrenzten Vorliebe für die Sitten der alten Sparter gleich.
71Wer hat nicht einmal die Laſt ſolcher Wind - ſtillen in der Geſellſchaft erfahren? Die geſammte Societät ſitzt wie eine Flotte, die ſich auf dem unbewegten Meeresſpiegel nicht zu rühren vermag. Schlaff hangen die Segel herab, verzweiflungsvoll ſchaun alle Blicke nach ihnen hinauf, ob nicht ein friſches Lüftchen ſie endlich ſchwellen wolle. Um - ſonſt! Das iſt, als ob ein Rad in der Schöpfung gebrochen, und die ganze Maſchine mit Sonne, Mond und Fixſternen in Stockung gerathen ſei. So ſucht eine in Windſtille verſetzte Geſellſchaft auch verzweiflungsvoll nach einem Gedanken, nach einer Vorſtellung, ja nur nach einer Redensart, um ſie in die Segel der Converſation zu hauchen; vergebens! Nichts will über die Lippen, Nichts hörbaren Laut gewinnen. Der Mythus ſagt, in ſolchen Zeiten fliege ein Engel durch das Zimmer, aber nach der Länge derartiger Pauſen zu urtheilen, müſſen zuweilen auch Engel dieſe Flugübungen anſtellen, deren Gefieder aus der Uebung gekommen iſt. Endlich pflegt Einer ſich zum Opfer für das Gemeinweſen darzubringen, er fährt mit einer un - geheuren Dummheit heraus, und damit iſt der Zauber gelöſet, das Band der Zungen entfeſſelt;72 die Ruder klatſchen, die Segel ſauſen, der Kiel ſchwirrt luſtig durch das Meer von Kunſt, Stadt - neuigkeiten, Politik, Krankheits - und Geſundheits - umſtänden, Religion und Carnevalsbällen.
Nachdem das Schweigen in der Geſellſchaft, von welcher hier die Rede iſt, etliche Minuten gedauert hatte, und die verſchiednen Affecte der Schweigen - den in die heiße Sehnſucht, ein menſchliches Wort zu vernehmen, übergegangen waren, ſagte das Fräu - lein zu Münchhauſen plötzlich, wie von einem guten Geiſte erleuchtet: Es pflegt doch immer im Sommer ſchöneres Wetter zu ſeyn, als im Winter.
Nach dieſer Exploſion athmeten Alle frei auf und fühlten ſich von dem Zauber erlöſet, der über ihnen gelaſtet zu haben ſchien, nachdem von unſrem Nationaltragöden ſo viel die Rede geweſen war. Münchhauſen aber küßte dem Fräu - lein die Hand und verſetzte: Sie haben da eine tiefſinnige Wahrheit ausgeſprochen, meine Gnädigſte, und ich kenne außer Ihnen nur noch eine Dame, welche dieſe großartige Naturbetrachtung feſt im ſchönen Gemüthe ergriffen hat, und ſie einem Dichter zu äußern pflegt, jederzeit, wo er das Glück hat, ihr zu nahn. Vergebens, daß der Dichter Manches73 ausgehen ließ, was der Welt nicht unbekannt blieb, daß man überhaupt mit ihm von Allem und Jedem ſprechen kann, weil er ſo ziemlich für Alles und Jedes ſich intereſſirt, und über die Dinge, von denen er nichts verſteht, gern Belehrung empfängt — vergebens alles dieſes, ſage ich — die Dame äußert, ſo oft er das Glück hat, ihr zu nahen, nur ihre Ueberzeugung, daß im Sommer das Wetter ſchöner zu ſeyn pflege, als im Winter.
Unmöglich! rief der alte Baron.
Vielleicht unmöglich, aber gewiß wahr, verſetzte Münchhauſen. Der Dichter iſt mein Freund und hat mir die Thatſache bei ſeinem Ehrenworte betheuert. — Münchhauſen fuhr heiter fort: Ich wollte Ihnen einige kurze Nachrichten über meine Familie geben; hier ſind ſie. Der ſogenannte Lügenmünchhauſen iſt mein Großvater, wenn unſer Stammbaum in Bodenwerder Recht hat. Adolph Schrötter in Düſſeldorf hat ihn jüngſt gemalt, wie er unter Jägern und Pachtern ſein Pfeifchen ſchmaucht, und dieſen Leuten ſeine Geſchichten erzählt. Ein dicker Mann ſitzt ihm gegenüber und hat den Rock ausgezogen, um beſſer zuhören zu konnen, in ſeinem Geſichte ſpricht ſich die gläubigſte74 Hingebung aus, und ſein großer Hund, der neben ihm liegt, ſieht ihm ſehr ähnlich.
Adolph Schrötter hat meinen Großvater getrof - fen, wie kein Anderer vor ihm. Das iſt aber auch kein Wunder, denn mein Großvater iſt ihm im Traume erſchienen, er hat eine Viſion von ihm gehabt. Die frommen Maler haben nicht allein Viſionen, nein! die Andern haben die ihrigen auch. Es malt Keiner ein Paar Kinder, die von zwei ſchlechten Kerlen todtgemacht werden ſollen, oder eine Kegelbahn, oder auch nur ein Portrait, ohne daß er eine Viſion von dieſen Dingen gehabt hätte. Und das iſt der Vortheil dieſer weltlichen Geſichte: Man kann immer da die Vergleichung anſtellen, und urtheilen, ob die Erſcheinungen richtig geweſen ſind, denn überall giebt es unſchuldige Kinder und ſchlechte Kerle und Kegelbahnen, und Leute, die ſich portraitiren laſſen; aber bei den frommen Viſionen kann man das nie, und man weiß daher auch nicht, ob die lieben Engelein und Heiligen und die Mütter Gottes ſo ausgeſehen haben, wie die Leute behaupten, daß ſie ihnen vorgekommen ſeien.
Daß Adolph Schrötter eine richtige Viſion gehabt, beſtätigte noch letzthin ein alter eisgrauer75 Jäger von Bodenwerder, der jetzt mit Ratten - und Mäuſepulver handeln geht, und der denn endlich auch an den Rhein gewandert war. Er kam auf die Kunſtausſtellung, weil er glaubte, dort Geſchäfte machen zu können und rief, als er das Bildchen ſah: Das iſt der alte Herr, wie er leibte und lebte, wenn er von den zwölf Enten erzählte! — Das Bildchen ſoll jetzt, Figuren über Lebensgröße, al fresco für ******** ausgeführt werden.
Meinem Vater that die Abſtammung von dieſem Manne Zeit ſeines Lebens den größten Schaden. Wenn er Geld erborgen wollte und auf Cavalier - parole die Rückzahlung verſprach, ſobald ſie ſich thun laſſe, ſagten die Wucherer, mit denen er unterhandelte: Wir bedauern ſehr, aber wir konnen nicht dienen, denn Sie ſind der Herr von Münch - hauſen. Er trat in Kriegsdienſte und machte als Stabsrittmeiſter einſt einen allerdings unwahr - ſcheinlich lautenden Rapport; der General glaubte ihm nicht, und davon war die Folge, daß eine große Schlacht verloren ging. Cabale über Cabale wurde gegen ihn geſpielt; man drehte die Sache ganz herum, er erhielt in Ungnaden ſeinen Abſchied. Nun widmete er ſich dem Finanzfache, da entdeckte76 er ein geheimes Mittel, die edeln Metalle zu vervielfältigen, wollte es dem Staate verkaufen, aber der Staat wies ihn zurück und ſagte, es ſei ſchon gut, man wiſſe, daß er Münchhauſen heiße. Auch aus dem Finanzfache wurde er ungnädig dimittirt, weil er ein Schwindler ſei, wie es in dem Entlaſſungsreſcripte hieß. Was hat der Staat von ſeiner Zurückweiſung gehabt? Papiergeld mußte er machen.
Mein Vater aber hatte von ſeinem Geheim - mittel auch nichts; er konnte es für ſich nicht in Anwendung bringen, die Koſten der erſten Auslagen waren für einen Privatmann zu bedeutend. Bei zwölf Fräuleins hielt er nach einander um ihre Hand an, aber
Herr von Münchhauſen, wir danken für die uns zugedachte Ehre; Sie führen uns doch nur an.
So ſchlugen alle meine zwölf projectirten Mütter dem armen Manne ſein Begehr ab, bloß wegen ſeines Namens und wegen der Erinnerung an den Großvater. Ich wäre ohne Mutter geblie - ben, wenn er nicht zuletzt noch bei einer Dreizehnten Gehör gefunden hätte, bei einer Denkerin, die in des Großvaters Lügenbuche einen geheimen Sinn ahnete, und Alles allegoriſch und theoſophiſch aus - legte. Sie gab meinem Vater ihr Jawort, nicht aus Liebe zu ihm, wie ſie ihm bei der Verlobung offen ſagte, ſondern aus Achtung für den Großvater.
Ueber dieſe Ehe darf ich mich nicht aus - ſprechen. Sie birgt Geheimniſſe, die wieder tief in andre Geheimniſſe meines tiefſten Seyns ver - flochten ſind, und welche mit mir zu Grabe gehen werden. Nur ſo viel mag ich Ihnen vertrauen: Eine Ehe aus Achtung für den Vater des Gatten iſt für dieſen die unglückſeligſte unter den unglück -78 ſeligen Ehen. Die unglückliche Ehe aus Delicateſſe von Schröder bedeutet gar nichts dagegen, und die Heirath durch ein Wochenblatt gründet ein Para - dies, mit der Achtungs-Ehe verglichen.
Theophilus, Freiherr von Münchhauſen, (ſo heißt der Mann, welcher vor der Welt mein Vater heißt;) ergab ſich ganz den ernſteſten Stu - dien, nachdem es ihm im Leben und in der Ehe ſo äußerſt ſchlecht gegangen war. Er wurde ein großer Waſſertrinker, und ich habe ihn, während ich in Bodenwerder verweilte, nur dreimal lächeln ſehen.
Meine früheſte Jugend verlebte ich durch eine ſeltſame Verkettung von Zufall, Schickung und Leidenſchaft unter dem Vieh, und zwar bei einer Ziegenheerde am Oeta. Was ich da erfahren, will ich Ihnen ſpäterhin erzählen, für jetzt nur ſo viel, daß ich meine Knabenjahre, abermals durch eine ſeltſame Verkettung von Zufall, Schickung und Leidenſchaft im väterlichen Hauſe zubringen durfte. Da trieb ich denn nun Alles und Jedes mit dem Manne, dem ich, die Geheimniſſe mögen nun ſeyn, welche ſie wollen, doch immer meine Tage verdanke.
Bei dieſem Lehrplane konnte ich denn allerdings Manches aufſchnappen.
Und wann ſchliefen Sie? fragte das Fräulein.
Hin und wieder eine Viertelſtunde bei den leichteren Doctrinen, verſetzte der Freiherr. Ich war Schnellſchläfer, wie man Schnellläufer hat. In wenige Minuten konnte ich den Gehalt von Schlafſtunden gewöhnlicher Menſchen zuſammen drängen. Von Schlaf kann überhaupt für Jemand, der ſich auf der Höhe des Jahrhunderts halten will, nach der großen Ausdehnung, welche die Wiſſenſchaft gewonnen hat, heut zu Tage wohl nicht mehr viel die Rede ſeyn. — Neben dieſer intellectuellen Bildung, die ich auf Bodenwerder80 erhielt, wurde mein Charakter, mein Gemüth nicht verabſäumt. Ganz beſonders brachte mir mein ſogenannter Vater den heftigſten moraliſchen Wider - willen gegen das Lügen bei, weil der Großvater durch dieſes Laſter das ganze Familienglück zerſtört hatte. Er folgte in manchen Dingen ſeinen eigenen Grundſätzen, mein ſogenannter Vater, und hielt erſtaunlich viel auf die Gewalt der erſten ſinnlichen Eindrücke in der Jugend. Ich bekam daher alle Sonn - und Feiertage eine allegoriſche Figur der Wahrheit, aus Honigkuchenteig gebacken, zu verzeh - ren, nämlich, eine unbekleidete Perſon, die Augen zwei Roſinen, die Naſe eine Bamberger Pflaume, auf der Bruſt eine Sonne von Mandelkernen. Hatte ich nun dieſe Allegorie mit Wolluſt ver - ſpeiſet, ſo wurde mir dabei unaufhörlich wieder - holt: Süß, wie der Honigkuchen, iſt die Wahrheit. Wenn ich mir aber den Magen verdorben hatte, und Rhabarber einnehmen mußte, ſo hieß es im einſchärfendſten Tone: Das iſt der bittre Trank der Lüge.
Die Richtigkeit der Methode bewährte ſich an mir. Ich bekam wirklich einen unbeſieglichen Ab - ſcheu gegen das Lügen und kann wohl ſagen, daß81 aus meinem Munde nie ein unwahres Wort gegan - gen iſt, mit einer einzigen Ausnahme, die aber ſofort ſich bitter an mir rächte. Lange Zeit konnte ich der Wahrheit oder gewiſſer Wahrheiten nicht denken, ohne daß mir Honigkuchen, Roſinen und Mandelkerne und Bamberger Pflaumen einfielen, endlich erhob ich mich freilich zu gereinigteren Vorſtellungen.
Was aber die einzige Lüge meines Lebens, und ihre Folgen betrifft, ſo ging es damit folgender - maßen zu. Ich ſitze eines Tages in meinem Zimmer am Schreibepult und habe eine ſehr noth - wendige Arbeit vor. Der Bediente meldet mir einen Beſuch. Geh’ hinaus, ſage ich, ich wäre nicht zu Hauſe. Der Herr wäre nicht zu Hauſe, ſagt er draußen. So wie der Menſch ſeine Bot - ſchaft ausgerichtet hat, und ich höre, daß mein Beſuch abzieht, ſpüre ich eine Unruhe, die mich am Pult nicht weilen läßt; ich muß aufſpringen, es wird mir heiß, es wird mir kalt, jetzt wird mir ſo, dann wird mir ſo; der Rhabarber fällt mir ein aus meinen Jugendjahren und deſſen alle - goriſche Deutung, die Phantaſie tritt in ihre unge - heuren Rechte, die geheimen Bezüge zwiſchen SeeleImmermann’s Münchhauſen 1. Th. 682und Leib fangen an zu ziehen, immer weſenhafter, creatürlicher wächſt die Idee des Rhabarbers in mir, bald bin ich vom Kopf bis zur Fußzehe jeder Zoll Rhabarber, die Natur folgt der Vor - ſtellung, das Uebel bricht aus — — Sie errathen das Uebrige! —
Die Folgen meiner Lüge, durch Rhabarber - Allegorie-Erinnerung bedingt, treten mit einer Stärke auf, vor welcher die Wiſſenſchaft ſcheu zurückweicht. Vierundzwanzig Aerzte gab es in der Stadt; Alle kommen nach und nach zu der leidenden Creatur. Vierundzwanzig Anſichten werden laut, vierundzwanzig verſchiedene und ent - gegengeſetzte Mittel werden verordnet. Der Erſte hält die Krankheit für eine Schwäche, der Zweite für Hyperſthenie, der Dritte für eine neue Form der Schwindſucht. Der Vierte verſchreibt Sina - pismen, der Fünfte Cataplasmen, der Sechſte Bähungen; der Siebente Adſtringentia, der Achte Mitigantia, der Neunte Corroborantia; Ipecacu - anha! ruft der Zehnte, Nein, Hyosciamus! ſchreit der Eilfte; keines von beiden, ſondern Meerzwiebel, ſagt ruhig der Zwölfte; Dreizehn, Vierzehn, Fünf - zehn, Sechszehn, Siebenzehn operiren, ſcarificiren,83 amputiren, evacuiren, trepaniren; Nummer Acht - zehn hat in der Diagnoſe Recht, Nummer Neunzehn findet die Prognoſe ſchlecht; der Zwanzigſte giebt Borax, der Einundzwanzigſte Storax, der Zwei - undzwanzigſte findet des Uebels Sitz im Thorax; der Dreiundzwanzigſte mir Frankenwein bot, der Vierundzwanzigſte macht mich Kranken ſcheintodt.
Aus dieſem Zuſtande erweckt mich ein Homö - opath mit 〈…〉 Gran Arſenik. Herr Medi - cinalrath, flüſtre ich ihm, entkräftet von vierund - zwanzigfacher allopathiſcher Behandlung zu, Herr Medicinalrath, ich hab’s vom Lügen! — Vom Lügen? verſetzt er. Nichts leichteres dann, als die Hei - lung. Similia similibus. Sie müſſen verläumden d. h. lügen mit feindſeliger Abſicht, denn giebt ſich die Krankheit ſofort.
Ein Blitz fährt durch meine Seele. Nach Schwaben! rufe ich; nach Stuttgart! Doctor Nachtwächter iſt ein Menſchenfreund, er wird mir die Liebe erzeigen, und mich zu meiner Herſtellung einige Zeit lang am Literaturblatte mitarbeiten laſſen. — Ich werde in Betten eingepackt, in den Wagen geſetzt, erreiche Stuttgart halbſterbend. Der Herausgeber des Literaturblattes kommt eben6*84aus der Ständekammer, worin er von dem Drucke, unter dem die Kirche ſchmachte, redete, bei der Berathung der Kammer über das Moſtſteuergeſetz. Edler Mann, ſage ich, Sie, aus deſſen Antlitz Güte und Redlichkeit leuchten, Nachtwächter Sie Germaniens, der immer abtutet, wie hoch es an der Zeit ſei, wenn die Stunde vorüber iſt, ſo und ſo geht mir’s. Ich erzähle ihm den Caſus und trage ihm mein Anliegen vor. Gern gewährt, verſetzt Nachtwächter, was ſchiert mich die Litera - tur? Er ertheilt mir ſeine Inſtructionen für einen Artikel des Blattes, ich fange d〈…〉〈…〉[n]ach an zu ſchreiben. Bei der erſten Seite verſpüre ich ſchon Linderung, bei der zweiten Minderung, bei der dritten ſammle ich Kräfte, bei der vierten beſſern ſich meine Säfte, mit der fünften kommt den abgemagerten Gliedern die vorige Rundheit, und die ſechſte ſchenkt mir die vollkommene Geſund - heit, ſo daß ich nicht nöthig hatte, von Autoren und Büchern, denen etwas verſetzt werden ſollte, weiter zu ſchreiben, und Nachtwächtern die Vollen - dung des Artikes überließ.
So half mir das Stuttgarter Literaturblatt ho - möopathiſch von den durchſchlagenden Wirkungen der85 Lüge. Nachtwächter muß in ſeiner Jugend keinen Rhabarber eingenommen haben, oder keine Imagi - nation beſitzen, ſonſt wäre er an ſeinem Blatte längſt verſchieden. Ich aber werde mich wohl hüten, zum zweitenmale gegen das Geſetz der Wahrhaftigkeit zu ſündigen, denn Nachtwächter hilft mir nicht wieder, das weiß ich. Er ſchreit über Undank; ich hätte an ſeinem Heerde geſeſſen, er hätte mich aufgenommen, gaſtfrei, wie der Capitain Rolando den Gil Blas in ſeiner Spe - lunke aufnahm, und doch wäre ich ſo pflichtvergeſſen geweſen, nicht weiter für ihn lügen zu wollen, als ich mich auscurirt hätte.
Auf dieſe und ähnliche Anklagen führt nun freilich ein alter Vers die Vertheidigung, welche alſo lautet:
Die Wahrheit nur verknüpft, die Lüge hält nicht Stich; Betrügeſt du die Welt, betrügt der Lügner dich.
Aber, lieber Herr Buchbinder, was für Streiche machen Sie in jüngſter Zeit! Neulich ſchicke ich Ihnen: Zur Philoſophie der Geſchichte. Von Karl Gutzkow. Sie aber ſetzen hinten auf den Titel: Zur Philoſophie der Geſchichte von Karl Gutzkow, ſo, als ob dieſes Buch eine innere Geſchichte des Autors enthalte, ungeachtet er doch darin von den todten Kräften und den natürlichen Voraus - ſetzungen in der Geſchichte, vom abſtracten und concreten Menſchen, von Mann und Weib, von der Leidenſchaft, vom Staat, von Krieg und Frieden, von den Uebergangszeiten, von Revolutionen, und endlich vom Gott in der Geſchichte handelt; mithin87 das ganze Gebiet des hiſtoriſchen Nachdenkens in ſeinem Werke durchwandert. Heute aber bekomme ich von Ihnen das erſte Buch meiner Münchhau - ſenſchen Denkwürdigkeiten zurück, und da ſehe ich, daß Sie die zehn erſten Capitel gänzlich verheftet, ſie hinter die Capitel Eilf bis Fünfzehn gebracht haben. Ich erſuche Sie unter Rückgabe des Buches eine Umheftung vorzunehmen.
Der ich übrigens mit Achtung u. ſ. w.
Ew. Wohlgeboren haben mir ſchmerzliche Vor - würfe gemacht, die ich ſo nicht auf mir ſitzen laſſen kann. Ich bin lange genug im Geſchäft, und weiß, was es damit auf ſich hat. Heut zu Tage muß, wenn der Autor ſich verpudelt hat, ein ordentlicher Buchbinder ein bischen auf das Verſtändniß wirken, durch Winke auf den Rücken - titeln, oder, wo ſie ſonſt ſich anbringen laſſen.
88Die Schriftſteller ſind etwas confuſe geworden. Die jungen Leute leſen und lernen zu wenig, aber Unſereins, dem ſo zu ſagen, die ganze Literatur unter das Beſchneidemeſſer kommt, und der alle die Nachrichten „ für den Buchbinder “durchſtudiren muß, deshalb aber genöthigt iſt, noch rechts und links von den Nachrichten ſich umzuſchauen, o der gewinnt ganz andre Ueberſichten. Da muß man denn helfen, ſo gut man kann, und oft läßt ſich der rechte Geſichtspunct für ein Buch feſtſtellen, blos dadurch, daß man einen Punct oder ein Comma wegläßt, oder zuſetzt, wie denn gerade die Sachen ſich verhalten.
Bei dem Buche von Karl Gutzkow that es die Weglaſſung des Punctes hinter „ Geſchichte. “ Ew. Wohlgeboren! Ich habe Spittler eingebunden und Schlözer, und Herders Ideen zur Philoſophie der Geſchichte der Menſchheit ſind mir wenigſtens hundertmal unter’m Falzbein geweſen, und jetzt binde ich Ranke viel ein — ich ſage Ihnen, die Männer ſchrieben ſo ſchöne dicke Bücher, und ſo viele Noten und Citate ſtehen in den Büchern, daß man ſieht, wie die Verfaſſer ſich’s haben ſauer werden laſſen mit der Philoſophie und der89 Geſchichte — ich ſage Ihnen, es iſt rein unmöglich, daß man auf 305 Seiten, wie Karl Gutzkow gethan, den Gott, und die Revolutionen und den Teufel und ſeine Großmutter in der Geſchichte abhandeln kann. Aber das iſt auch gar nicht ſeine Abſicht geweſen, wie ſich aus dem Vorworte ergiebt, welches ich leſen mußte, weil ich einen Carton einzulegen hatte. Denn darin ſagt der Autor, er habe keine anderen Quellen zur „ Philo - ſophie der Geſchichte “benutzen können, als höchſtens einige an die Wand gekritzelte Verwünſchungen der Langenweile, oder einige in die Fenſterſcheiben geſchnittne Wahlſprüche zahlloſer unbekannter Na - mensinſchriften. Wenn er nun das Buch, was er vermuthlich auch nur ſchrieb, um ſich die Lange - weile zu vertreiben, dennoch herausgab, ſo konnte das nur in der einzigen Abſicht geſchehen, Memoiren über ſeine ſchlechten und mangelhaftigen Studien zu liefern, und der Titel, wie ich ihn mit goldenen Lettern ſetzte, iſt ganz richtig, nämlich: Zur Phi - loſophie der Geſchichte von Karl Gutzkow.
Warum ich aber die letzten Capitel Ihres Buches zu den erſten machte, das ſollen Sie auch gleich vernehmen. Sie hatten die Münchhauſenſchen90 Geſchichten wieder ſo ſchlicht angefangen, wie Ihre Manier iſt: „ In der deutſchen Landſchaft, worin ehemals das mächtige Fürſtenthum Hechelkram lag, erhebt ſich eine Hochebne “u. ſ. w. hatten dann von dem Schloſſe und ſeinen Bewohnern berichtet, und waren endlich nach und nach auf den Helden dieſer Erzählungen gekommen.
Ew. Wohlgeboren, dieſer Stylus mochte zu Cervantes Zeiten gut und erſprießlich ſeyn, wo die Leſer ſo ſacht und gelind in eine Erzählung hinein kommen wollten, wie in eine Zaubergrotte, von der die Mährlein ſingen, daß eine ſchöne Elfe davor ſitzt, und den Ritter mit wunderleiſen Klängen in die karfunkelleuchtenden Klüfte lockt. Sie ſtößt auch nicht in die Trompete, oder bläſ’t die Baßpoſaune, oder macht Pizzicato, ſondern ſie hat eine kleine goldne Laute im Arm; aus deren Saiten quellen unſchuldige, naive Töne, wie harm - loſe Kinder, die um den Ritter Blumenfeſſeln ſchlingen, und eh er ſich’s verſieht, iſt er umſpon - nen und durch den Grotten-Eingang gezogen, und ſteht mitten in dem Reiche der Wunder, bevor er nur gemerkt hat, daß er aus der Welt da draußen hinweggegangen iſt.
91Aber heut zu Tage paßt die Magie eines ſol - chen ſüßfeſſelnden Styls gar nicht mehr.
Ew. Wohlgeboren, heut zu Tage müſſen Sie noch mehr thun, als die Baßpoſaune blaſen, Sie müſſen den Tam-Tam ſchlagen, und die Ratſchen in Bewegung ſetzen, womit man in den Schlacht - muſiken das Klein-Gewehrfeuer macht, oder falſche Quinten greifen, oder vor die Diſſonanz die Con - ſonanz ſchieben, wenn Sie die Leute „ packen “wollen, wie es genannt wird.
Ew. Wohlgeboren, die ordentliche Schreibart iſt aus der Mode. Ein Jeder Autor, der etwas vor ſich bringen will, muß ſich auf die unordentliche verlegen, dann entſteht die Spannung, die den Leſer nicht zu Athem kommen läßt, und ihn par force bis zur letzten Seite jagt. Alſo nur Alles wild durcheinander geſtopft und geſchoben, wie die Schollen beim Eisgange, Himmel und Erde weg - geläugnet, Charaktere im Ofen gebacken, die nicht zu den Begebenheiten ſtimmen, und Begebenheiten ausgeheckt, die ohne Charaktere umherlaufen, wie Hunde, die den Herrn verloren haben! Mit einem Worte: Confuſion! Confuſion! — Ew. Wohlge -92 boren, glauben Sie mir, ohne Confuſion richten Sie heut zu Tage nichts mehr aus.
Ich habe, ſoweit ich vermochte, in dieſem Stücke bei den Münchhauſianis für Sie geſorgt, und ein bischen Confuſion geſtiftet, ſo viel es ſich thun ließ, damit die benöthigte Spannung entſtehe. Sehen Sie, ſo wie jetzt das Heft gebunden iſt,〈…〉〈…〉 ann kein Menſch bisher errathen, woran er iſt, wer der alte Baron iſt, und das Fräulein und der Schulmeiſter, und wo ſich die Sache zuträgt? Hat ſich aber ein tüchtiger Leſer erſt durch einige Capitel hindurchgewürgt, dann würgt er ſich auch weiter, denn es geht den Leſeleuten ſo, wie man - chem Zuſchauer in der Comödie. Er ärgert ſich über das ſchlechte Stück, er gähnt, er möchte vor Ungeduld aus der Haut fahren, aber dennoch bleibt er ſitzen, weil er einmal ſein Entree-Geld gegeben hat, und dafür auch ſeine drei Stunden abſitzen will.
Alſo, Ew. Wohlgeboren, ich dächte, Sie ſtänden von dem Verlangen nach Umheftung ab. Der ich übrigens u. ſ. w.
Lieber Herr Buchbinder, Sie haben mich über - zeugt. Ach, ich laſſe mir jetzt von Jedermann rathen in meinem Metier, ſelbſt von Ihrem Jungen, wenn er mir etwa Vorſchläge über das neue Buch machen kann. Es hat mir ſchon ſo mancher Junge Zurechtweiſungen ertheilt, und ich habe ſie nicht befolgt und ſchwer darob büßen müſſen.
Es ſoll alſo bei der Verheftung bleiben, und wenn Sie oder Ihr Junge in der Folge merken, daß ich wieder gegen die Spannung, oder die unordent - liche Schreibart geſündigt habe, dann heften Sie nur nach Gutdünken die Capitel durcheinander, und verbeſſern auf ſolche Weiſe das Buch. Ich glaube ſogar, daß ich nicht der Erſte in ſolchem Verfahren bin; Herr Steffens hat gewiß bei ſeinen Novellen von Walſeth und Leith und den vier Norwegern und Malcolm dem Buchbinder eine gleiche Vergünſtigung eingeräumt.
94Vor ein ſieben, acht Jahren hätte mir noch Keiner ſo etwas bieten dürfen, aber ich bin — —
— — müde geworden, hatte ich geſchrieben, lieber Herr Buchbinder, und recht im Vertrauen auseinandergeſetzt, warum man in der Welt jetzt ſo müde werden kann.
Zwei Damen aber, denen ich den Brief vorlas, ſagten, das dürfe durchaus nicht ſtehen bleiben; der müde und weinerliche Ton zieme ſich platter - dings nicht für mich.
Sie haben Recht. Mag die Welt uns Alles verſagen, die Geſchichte und die Natur kann ſie uns nicht verſperren. Ich will die Buben heulen und greinen laſſen über das Elend, welches ſie doch eben hauptſächlich machen helfen.
Nein, Herr Buchbinder, unſere Augen ſollen wacker bleiben, und die Wunden ſollen uns ſchön ſtehen.
Aber was halten Sie von dem Münchhauſen, und was meinen Sie, das aus ihm werden wird?
Ew. Wohlgeboren, aus dem Münchhauſen wird nichts; da Sie denn doch meine Meinung wiſſen wollen. Dieſes thut indeſſen nichts. Ein Buch, aus dem nichts wird, mehr oder weniger in der Welt, verſchlägt nichts. Und dann können wir den einzelnen Abſchnitten doch noch in etwa nach - helfen. Für dieſen erſten habe ich ſchon ſo ein Hausmittelchen in Gedanken. Der ich übrigens u. ſ. w.
Welches Hausmittelchen, lieber Herr Buch - binder? Ich bin äußerſt geſpannt auf Ihre ferneren Mittheilungen. Mit Achtung u. ſ. w.
Ew. Wohlgeboren, Briefwechſel ſind jetzt beliebt, wenn ſie auch nur Nachrichten von Schnupfen - und Huſtenanfällen der Correspondenten enthalten. Laſſen Sie unſern Briefwechſel im erſten Buche mit abdrucken; der hilft ihm auf.
Auch unſre letzten Zettel?
Ja wohl.
Wohl!
(Couvert um die Briefe des Herausgebers.)
In der deutſchen Landſchaft, in welcher ehemals das mächtige Fürſtenthum Hechelkram lag, erhebt ſich eine Hochebne, von braunem Haidekraute überwachſen. Hin und wieder ſticht aus dieſer dunkeln Fläche ein ſpitziges Geſtein hervor, mit weißſtämmigen Birken oder dunkeln Tannen umſäumt. Nach Mitternacht rücken die Steinlager ſo nahe aneinander, daß ſie für eine kleine Gebirgskette gelten können. Verſchiedne Fußpfade laufen durch die Ebne, vereinigen ſich aber in der Nähe der bei - den höchſten Felſen zu einem breiteren Wege, der zwiſchen dieſen Felſen ſacht bergan führt. Nach einigen Windungen fällt derſelbe in eine Straße, welche ehemals bepflaſtert geweſen ſeyn mag,99 nun aber durch ausgeriſſene Steine und grundloſe Geleiſe mehr das Anſehen eines gefährlichen Klippen - weges erhalten hat. Nichts deſto weniger iſt dieſem holprichten und halsbrechenden Wege bis auf die neuſten Zeiten der Name der Schloßſtraße verblieben. Denn man ſieht oder ſah, kurz nachdem man ſie betreten, das Schloß, welches die Ueberſchrift dieſes Capitels nennt, auf einem ziemlich kahlen Hügel liegen.
Je näher man demſelben kommt, oder kam, denn am heutigen Tage iſt davon nur noch ein Trümmerhaufen übrig, deſto deutlicher ſpringt, oder ſprang die ungemeine Baufälligkeit des Schloſſes in das Auge. Was zuvörderſt die Pforte betrifft, oder betraf, ſo ſtanden zwar deren beide ſteinerne Pfeiler noch, und auf dem rechten hatte ſich ſogar der ſtatuariſche Löwe als Wappenhalter zu behaup - ten gewußt, während ſein Partner von dem linken Pfeiler hinab in das hohe Gras geſunken war, allein das eiſerne Pfortengegitter ſelbſt war längſt wegge - brochen und zu andern Zwecken verwendet worden. Die Gefahr, welche hieraus für das Gebäude von räuberiſchen Ueberfällen zu beſorgen ſtand, war aber nur bei trocknem Wetter vorhanden. Wenn7*100es regnete, (und es pflegt oft in jener Gegend zu regnen;) ſo verwandelte ſich bald der Burghof in einen undurchwatbaren Sumpf, auf welchem, wenn die Geſchichte nicht Lügen berichtet, zuweilen ſelbſt Schnepfen ſich hatten betreten laſſen.
Völlig entſprechend dieſem Zugange war das Aeußere und Innere des Schloßgebäudes ſelbſt. Die Wände hatten ihre Tünche, ja zum Theil ihren Bewurf verloren. Nach einer Seite hin war die Giebelwand bedeutend ausgewichen und durch einen Balken geſtützt worden, der aber am unteren Ende auch ſchon zu morſchen begann, und daher nur eine geringe Zuverſicht gewährte. Ließ man ſich nun durch dieſen Anblick nicht abſchrecken, in das Gebäude eintreten zu wollen, ſo bot die Thüre immer noch ein großes Hinderniß dar. Denn die Feder war in dem alten verroſteten Schloſſe längſt unthätig geworden, und die Klinke gab nur wiederholtem und gewaltſamem Drücken nach, bei welchem ſie aber nicht ſelten aus ihrer Mutter fuhr und dem Klinkenden in der Hand ſitzen blieb. Die Bewohner pflegten ſich daher auch mehr eines nach und nach ſehr erweiterten Loches in der Wand zum Ein - und Ausgange zu bedienen,101 und dieſes nur für die Nachtzeit durch vorgeſetzte Tonnen und Kaſten zu verſperren.
Wenn man die Fenſter die Augen eines Hauſes nennen darf, ſo konnte man dieſes ſogenannte Schloß mit gutem Rechte zum Theil erblindet heißen. Denn nur vor wenigen und den noth - wendigſten Zimmern waren jene Augen noch erſichtlich, viele andere Gelaſſe waren für immer durch die zugemachten Läden in Dunkelheit verſetzt worden, weil ſich die Scheiben nach und nach aus den Rahmen verloren hatten.
Zwiſchen ſo morſch gewordnen vier Pfählen und in kahlen, vernutzten Zimmern hauſte noch vor wenigen Jahren ein bejahrter Edelmann, den ſie in der ganzen Gegend nur den alten Baron nannten, mit ſeiner gleichfalls verblühten nachgerade vierzig - jährigen Tochter Emerentia. Er gehörte zu dem weitläuftigen Geſchlechte derer von Schnuck, welches weit umher in dieſen Landſchaften ſeine Beſitzungen hatte, und ſich in folgende Linien, Zweige, Aeſte und Nebenäſte ſpaltete, nämlich in die
Davon der Nebenaſt: Schnuck-Puckelig-Erb - ſenſcheucher in der Boccage zum Warzentroſt.
103Von dieſem Nebenaſte war unſer alter Baron entſproſſen.
Die vielfältige Theilung des Geſchlechts derer von Schnuck hatte eine bedeutende Theilung des Stamm-Erbes zur Folge gehabt, und namentlich in der jüngeren Linie, welche von jeher durch große Fruchtbarkeit ausgezeichnet war, die Güter in eines jeden Erbherrn Händen merklich gemindert. Man war daher zu der Erfindung überzugehen genöthigt geweſen, daß denen von Schnuck alle Kirchenpfründen und alle Kriegsämter im Fürſten - thume von Rechtswegen gehören; eine Erfindung, die um ſo eher bei den Fürſten von Hechelkram Glauben fand, als die Schnucks, wie geſagt, über das ganze Land verbreitet waren, und Vetter Botho ſagte, es ſei ſo, Vetter Günther behauptete, es ſei ſo am beſten, Vetter Achaz einfließen ließ, die Schnucks und ihr Anhang bildeten die eherne Mauer um den Thron, Vetter Vartholomäus fol - gerte, weil es nothwendig ſei, daß die Schnucks exiſtirten, ſo müßten ſie auch die Mittel zu ihrer Exiſtenz, d. h. Pfründen und Aemter haben, ſechs - unddreißig andre Schnucks aber noch ſechsunddreißig andre Gründe für die Richtigkeit der Erfindung104 zum Vorſchein brachten. Die Fürſten, welche nur von Schnucks umgeben waren, und von dieſen nichts Anderes hörten, als vorgedachte Reden, mußten wohl endlich an die Richtigkeit der Erfindung glauben. Bedeutend wirkte auch auf die Stärkung dieſes Glau - bens der Umſtand ein, daß nach der Verfaſſung von Hechelkram der jedesmalige Fürſt ſeine jedesmalige Geliebte aus dem Geſchlechte derer von Schnuck zu beziehen hatte. Dieſe Damen waren aber, wie ſich von ſelbſt verſteht, im agnatiſchen Intereſſe thätig.
Die Erfindung war daher bald feſtbegründet, und gelangte als Anhang in den Landes-Catechis - mus. Nun konnten die von Schnuck unbeſorgt hinleben und ihren Saamen mehren, wie Sand am Meere. Wenn ſie das Ihrige verzehrt hatten, ſo zehrten ſie als Generale auf Regiments-Unkoſten weiter, und die Söhne, außer Einem, ließen ſie Prälaten oder Geheime-Räthe im höchſten Collegio werden. Denn ich habe die Erfindung nicht ganz vollſtändig vorgetragen: Nach derſelben war jeder Schnuck, wenn er den Civildienſt wählte, geborner Geheimer-Rath im höchſten Collegio. — —
„ Sie ſtocken … Sie ſeufzen … Herr Heraus - geber? “
105Ach, meine Gnädige, iſt es nicht ein Unglück für einen armen Erzähler, daß er immerfort die alten Geſchichten wieder aufwärmen muß? Die Sachen, die ich da berichte, ſchienen ſchon vor fünfzig Jahren durch die Romanenſchreiber jener Zeiten ſo verbraucht zu ſeyn! Und ich muß den längſtgekochten Kohl doch wieder zum Feuer rücken!
„ Sie erzählen ja von der Vergangenheit, Herr Herausgeber, und dahinein gehören allerdings ſolche alte Geſchichten. “
Ich danke Ihnen tauſendmal für dieſe Erinne - rung, meine Gnädige. Ja wohl, ich erzähle von der Vergangenheit, von Dingen, die ab und todt ſind, wie die weiland in der Schmiede geweſene Adelskette. Meine Phantaſie riß mich nur hin, daß ich mir die Erfindung derer von Schnuck als der Gegenwart oder nächſten Zukunft angehörig vorſtellen mußte. Nein, ſie wird nicht wieder aufkommen, dieſe Erfindung; gegen ſie ſpricht wirklich eine ungeheure Majorität, die Majorität aller rechtlichen Leute, die es ſich haben ſauer werden laſſen in der Welt. Alſo nur ohne Stocken und Seufzen weiter in dieſen Sagen der Vorzeit!
106Unſer alter Baron hatte in ſeinen jungen Tagen von dem Herrn Vater nur das Schloß Schnick - Schnack-Schnurr ererbt, welches früherhin ein Pachthof geweſen, und erſt ſpäterhin zu ſeinem Ehrentitel gediehen war. Es warf jährlich etwa zweitauſend Gulden ab, oder höchſtens zweitauſend - fünfhundert. Der ſelige Vater hatte das Wohn - haus wohl in Fach und unter Dach erhalten, die Wappenlöwen ſtanden recht majeſtätiſch auf den bei - den Pfeilern, zwiſchen denen ſich eine eiſerne Pforte befand, wie ſie nur ſeyn mußte, der Hof war damals auch noch gepflaſtert, und in den Zimmern hingen ſchöne bunte Familienbilder, ſtanden röthlich - lackirte Stühle und Commoden mit goldnen Leiſten. Hinter dem Schloſſe aber hatte der Vater einen Garten in ſtreng-franzöſiſchem Geſchmack anlegen und Schäfer und Liebesgötter von Sandſtein hin - einſetzen laſſen.
Zweitauſend oder zweitauſendfünfhundert Gulden jährlich ſind zwar nur ein ſchmales Einkommen für einen Edelmann, allein unſer alter Baron hätte ſich damit in ſeiner ländlichen Abgeſchiedenheit doch wohl aufrecht zu erhalten vermocht, wenn er nur nicht mit dem Gedanken aufgewachſen wäre, er107 ſei geborner Geheimer-Rath im höchſten Collegio. Aber ſeit ſeinem vierzehnten Jahre legte er ſich mit dieſer Vorſtellung nieder, und ſtand mit der - ſelben Morgens wieder auf; ſie gab ihm eine Sicherheit des Bewußtſeyns, welche nichts zu erſchüttern vermochte. Gelernt hatte er, die Wahrheit zu ſagen, wenig oder nichts, ſein Herr Vater war dagegen, und der Meinung geweſen, viel wiſſen ſei für einen Cavalier unanſtändig.
Er hatte eine freie, ſorgloſe und gutmüthige Sinnesart; es vergnügte ihn, Andern mitzutheilen, und ſein eignes Vergnügen liebte er nicht minder. Er gab gern Gaſtereien, ging gern mit einem Dutzend guter Freunde auf die Rehjagd, und hielt nach dieſer Anſtrengung ein, wo möglich hohes Spielchen mit ſeinen Waidgenoſſen für die beſte Erholung. Auch wenn er allein war, ſpeiſte er nicht gern unter ſechs Schüſſeln, wozu, wie ſich von ſelbſt verſteht, alter Rheinwein vom Beſten gehörte. In Kleidern hielt er ſich ſauber, Diener unterhielt er nicht übermäßig viele, etwa fünf oder ſechs für ſich und ſeine Gemahlin, die aus der älteren, oder graumelirten Linie, aus der Linie Schnuck-Muckelig-Pumpel entſproſſen war; nebſt108 einer Kammerjungfer und einer Garderobiere für dieſe ſeine Gemahlin. Letztere hatte nun wieder ihr hauptſächliches Vergnügen an Brillanten, Perlen, Roben und Spitzen, und ihr Gemahl verſagte ihr in Beziehung auf ſolche Gegenſtände keinen ihrer Wünſche; denn, ſagte er, wenn das Zeug auch viel koſtet, ſo gehört es einmal zu unſerm Stande, und was ſtandesmäßig iſt, koſtet nie zu viel.
Ermüdete unſern alten Baron die häusliche Einformigkeit, ſo machte er mit Gemahlin, Kam - merjungfer, Garderobiere, mit den fünf oder ſechs Dienern und dieſem oder jenem Hausfreunde, welcher auch der Erholung bedürftig war, und ihn um Mitnahme anſprach, intereſſante Reiſen in die benachbarten fremden Länder, von denen er dann neugeſtärkt zu ſeinen Gaſtereien, Jagden und Spie - len zurückkehrte. Dieſe ſtillen Familienfreuden mundeten ihm nach ſolchen Ausflügen immer dop - pelt wohl.
Der Himmel hatte ſeine Ehe mit einer einzigen Tochter geſegnet, welche in der heiligen Taufe den Namen: Emerentia erhielt. Dieſes Kind war von jeher ausnehmend ſchwärmeriſcher Art, es verdrehte ſchon als Säugling die Augen auf eine wunderbare109 Weiſe. Als die kleine Emerentia größer wurde, hörte ſie ihre Mutter faſt von nichts Andrem er - zählen, als von den Damen der Linien Schnuck - Muckelig und Schnuck-Puckelig, welche die Geliebten der Fürſten von Hechelkram geweſen waren. Die Mutter zeigte auch dem Kinde dieſe Damen unter den Familienbildniſſen; lauter ſchöne Frauenzimmer mit hohen Friſuren, gelben, grünen oder rothen Adriennen, großen Blumenſträußen und entblößten Schultern! Da ſie nun immerfort von den Ge - liebten hörte, und die Frauenzimmerbildniſſe ihr gar zu wohl gefielen, ſo ſetzte ſie ſich in den Kopf, daß ſie ebenfalls zu einem ſolchen Berufe auserſehen ſei, ein Gedanke, der noch mehr be - feſtigt wurde, als der Fürſt Xaverius Nicodemus der Zweiundzwanzigſte von Hechelkram das Schloß beſuchte. Er nahm die damals dreizehnjährige Emerentia auf den Schooß, liebkoſte ihr zärtlich, und fragte ſie: Willſt du mein Bräutchen wer - den? Sie bedachte ſich nicht lange, ſondern ver - ſetzte raſch: Ja, wie alle die Damen, die da hangen. Der Fürſt hob die Kleine vom Schooße und ſagte lächelnd zu ihrer Mutter: Ah, la petite Ingenue!
110Die Zeit verwiſchte zwar den Fürſten Xaverius Nicodemus den Zweiundzwanzigſten, da ſie ihn nicht wieder ſah, allgemach aus ihrem Herzen, da - gegen ſetzte ſich in ihr die Standesvorſtellung, die Vorſtellung an ſich, daß ſie beſtimmt ſei, mit einem Hechelkramiſchen Fürſten in zärtliche Verhältniſſe zu treten, immer feſter in ihr, wobei ſie ſich durch - aus nichts Arges dachte, woran ſie aber mit ſolcher Innigkeit hing, wie ihr Vater an ſeinen Geheimen - raths-Gedanken. Weil nun das Herz nicht in das Leere ſeinen Drang verſenden mag, ſondern gern an liebevoll-gediegner Wirklichkeit ausruht, ſo hatte ihre ſchwärmende Phantaſie nach einigem Umher - ſchweifen im leeren Raume auch bald den ſichtbaren Gegenſtand gefunden, der ihr den künftigen Lieb - haber unter den Fürſten von Hechelkram vorbilden mußte. In der That war dieſer Gegenſtand ganz geeignet, die Einbildungskraft eines fühlenden Mädchens zu entzünden. Von ſchöner, gedrungner, proportionirlicher Geſtalt, ſprach ſich in allen ſeinen Gliedern männliche Kraft aus, aus ſeinem glän - zenden, hellrothen Geſichte mit breiten, feſten Kinnbacken leuchtete der Entſchluß, auch die härteſte, vom Geſchick ihm vorgelegte Nuß zu knacken, der111 Mund wollte zwar ſeines Berufes wegen für die Geſetze reiner Verhältniſſe etwas zu groß erſcheinen, aber ein ſchwarzer Schnurbart von wunderbarer Fülle, welcher über den Lippen hing, machte dieſen Uebelſtand wieder gut. Die großen, grellen, him - melblauen Augen blickten ſanft und grade vor ſich hin, und ließen auf eine Seele vermuthen, in welcher die Milde bei der Stärke wohnte.
Bekleidet war dieſer idealiſch-ſchöne Nußknacker mit einer rothlackirten Uniform und weißem Unter - zeuge; auf dem Haupte aber trug er einen impo - nirenden Federhut. Emerentia hatte ihn zu ihrem Namenstage geſchenkt bekommen. Sobald ſie ſeiner anſichtig wurde, erzitterte ſie, erſeufzte ſie, erröthete ſie. Niemand verſtand ihre Regung. Sie aber trug den Nußknacker auf ihr einſames Zimmer, ſtellte ihn auf den Kamin, blickte ihn lange glühend und weinend an, und rief endlich: Ja, ſo muß der Mann ausſehen, dem ſich dieſes volle Herz zu eigen ergeben ſoll! Von der Zeit an war der Nußknacker ihr vorläufiger Geliebter. Sie hielt mit ihm die zärtlichſten Zwiegeſpräche, ſie küßte ſeinen ſchwarzen Schnurbart, ſie hatte dem ganzen Verhältniſſe eine ſo tiefe Beſeelung gegeben,112 daß ſie jederzeit des Abends, wenn ſie ſich zum Schlafengehen entkleiden wollte, ſchamhaft zuvor ihrem Freunde auf dem Kamin das Haupt mit einem Tuche verhüllte. Nußknacker ließ ſich das Alles gefallen, ſtand zuverſichtlich auf ſeinen Füßen, und blickte mit den großen, blaugemalten Augen mildkräftig vor ſich hin.
Emerentien hatte dieſe ſchöne Liebe raſch gereift. Von der Natur war ſie, wenn auch nicht mit Reizen, doch mit blühenden Geſichtsfarben und runden Armen ausgeſtattet worden; es konnte ihr daher an Verehrern unter den benachbar - ten Landjunkern nicht fehlen. Aber ſie ſchlug alle Bewerbungen von der Hand und ſagte, ſie folge ihrem Ideal und gehöre der Zukunft an. Unter dem Ideal verſtand ſie den auf dem Kamin und unter der Zukunft einen Hechelkramiſchen Fürſten.
Ihre Eltern ließen ihr ganz freie Hand. Sie ſagten, in den Linien Schnuck-Muckelig und Schnuck - Puckelig ſeien alle Gefühle ſeit Jahrhunderten der heraldiſch-richtigen Bahn gefolgt. Es laſſe ſich alſo nichts daran ändern und modeln, was ihre Tochter empfinde.
113Um die Zeit der vielfältigſten und heißeſten Bewerbungen machte ihr Vater mit den Seinigen eine der obengedachten Erholungsreiſen zur Stär - kung auf die Beſchwerden der Jagd und des Spiels. Der Ausflug war diesmal in die Bäder von Nizza gerichtet. Die Familie reiſte unter fremdem Na - men, denn ſechs feurige Landjunker hatten geſchworen, dem Fräulein nachzueilen bis an das Ende der Welt, und ſie wollte allein ſeyn, allein mit ihrem Nußknacker, dem heiligen Meer und den ewigen Alpen gegenüber.
Die Familie hieß in Nizza die von Schnur - renburg-Mixpickelſche. Eines Tages gehen Schnur - renburg-Mixpickels am Strande ſpazieren; das Fräulein geht etwas voran, den Freund im Ridi - cüle. Plötzlich ſehen die Eltern ſie wanken; der Vater ſpringt zu, und empfängt die Tochter in ſeinen Armen. Bleich iſt ihr Antlitz, aber von Entzücken ſtrahlen ihre Augen, ſie liegt wie eine Selige am Buſen des Vaters. Ihre Blicke dringen ſchüchtern in die Ferne, und kehren dann wie mit goldnen Schätzen der Wonne beladen, in ſich zurück. Auch die Eltern erſtaunen, als ſie den Blicken der Tochter in die Ferne folgen. Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 8114Denn von der andern Seite des Strandes ſchreitet ihnen eine Geſtalt entgegen, Nußknacker im Großen, weiße Unterkleider, rothe Uniform, Federhut, grell - blaue, und doch milde Augen, hellroth-glänzendes Geſicht, wie lackirt, breiter Mund, verborgen von der wunderbaren Fülle des ſchwarzen Schnurbarts, eine ſchöne gedrungne Geſtalt, Kraft in allen Glie - dern, kurz Nußknacker in jeder Miene, Form, Falte.
Beſorgt tritt er hinzu und fragt, was der Dame fehle? Der Vater fragt ihn ſeinerſeits: Mit wem er die Ehre habe …? Ich bin, ver - ſetzt der Fremde, indem er die Naſenflügel zit - ternd bewegt, und mit den Augen zwinkert, Signor Rucciopuccio, von Geburt ein Saneſe, in Kriegsdienſten Seiner Majeſtät, des Kaiſers aller Birmanen, bei den Truppen auf Europäiſche Art, Commandeur der ſechſten Elephantencompagnie.
Ei der Tauſend, da ſind Sie wohl verteufelt weit her? fragte der alte Baron. Es geht noch, erwiederte der Fremde, indem er ſich in den Hüften zurechtrückte, daß die Gelenke knackten.
Der Alte fragte ihn über die Birmanen aus, die Mutter muſterte die Stickerei an ſeinem Kra - gen, Emerentia flüſterte, in einen Abgrund von115 Glück verloren, nichts als: O Rucciopuccio! … So kamen ſie in das Hotel der Familie, wo ſich der Fremde nach kurzem Verweilen beurlaubte mit der Bitte, ſeine Beſuche wiederholen zu dürfen, und nachdem er die Augen nochmals bedeutend - zwinkernd auf Emerentia geworfen hatte.
Laßt mich von ihr ſchweigen! Der Traum iſt Wahrheit geworden, das Herz hat ſich ſeinen Wunſch verkörpert, und in die Sichtbarkeit ausge - ſchaffen! Am andern Tage läßt ſich der Comman - deur der ſechſten Birmaniſchen Elephantencompag - nie wieder anmelden. Wo das Schickſal geſprochen hat, ſind die Menſchen über Worte hinweggehoben. Er tritt in die eine Thüre, ſie tritt in die Andre; er zupft am Schnurbart, ſie zupft am Schnupf - tuch; heut wird er blaß, und ſie wird roth, er breitet die Arme aus, ſie breitet die Arme aus, er neigt ſich zu ihr, ſie neigt ſich zu ihm, und: Für einander geſchaffen! iſt der erſte Laut, den ihre glühenden Lippen nach der Wonne des erſten Kuſſes finden. Für einander geſchaffen! wiederholt Rucciopuccio betheuernd, indem er abermals mit den Augen zwinkert und die Naſenflügel zitternd bewegt.
8*116Aber dieſem raſcherblühten Lenze der Liebe folgte ein verheerender Sturm, der alle Roſen jäh - lings zu knicken drohte. In Emerentien erwachte nämlich die ganze Dialektik feinfühlender weiblicher Herzen, wenn ſie nicht wiſſen, was ſie wollen. Die Arme fühlte ſich durch einen ſcharfen Conflict der Gefühle zerſpalten. Der Nußknacker war ihr Ideal, ein Fürſt von Hechelkram ihre Zukunft, der Birmane Rucciopuccio aus Siena die Gegenwart und Wirklichkeit. Sollte ſie dem Ideale und der Zukunft untreu werden um Gegenwart und Wirk - lichkeit? Sollte ſie Wirklichkeit und Gegenwart opfern und bei Ideal und Zukunft vielleicht eine alte Jungfer werden? Böſe Wahl, ſchreckliche Kämpfe, die alle Götter und Dämonen ihres Buſens aus dem Schlummer weckten! Eine weib - liche Feder wird in einem Anhange zu den gegen - wärtigen Erzählungen dieſen Theil von Emerentia’s Geſchichte ausmalen. Nur eine Schriftſtellerin verſteht ſich auf die Entzaſerung aller der gehei - men Faſern und Zaſern, welche das Gewebe ſol - cher Nöthe bilden.
Endlich ſiegten Gegenwart und Wirklichkeit über Zukunft und Ideal. Das Schickſal räumte117 nämlich zuvörderſt das Ideal hinweg, indem es die Hand der Mutter leitete. Dieſe ergriff, als ſie einmal ſich von der Tochter unbemerkt wußte, den Nußknacker, und ließ ihn auf den Kehricht hinter dem Hotel werfen. Dahin gehörte er auch, nachdem er ſeine Miſſion erfüllt, und die Idee, deren hölzerner Träger er geweſen war, volles geſchichtliches Leben in Rucciopuccio gewonnen hatte. Rucciopuccio aber ſchwor, als er bei ſeiner Gelieb - ten auf den Grund des Kummers gedrungen war, ihr mit heiligen Eiden bei dem Affen Hannemann: Er ſei eigentlich ein Hechelkramiſcher Fürſt, ein vertauſchter Knabe, durch teufliſche Cabale nach Siena gebracht, und von dort zu den Birmanen verſchlagen. Bald werde er nach Hechelkram zurück - kehren, ſein väterliches Reich unter Vorlegung authentiſcher Urkunden in Anſpruch zu nehmen.
Emerentia’s Liebe glaubte, was Rucciopuccio’s Liebe beſchworen hatte, beſonders da der Eid auf den Affen Hannemann abgelegt worden war, der in Hindoſtan eines noch größeren Anſehens genießt, als je einem Affen in Europa, wo ſie doch auch viel gelten, zu Theil geworden iſt. Alles hatte ſich nun in den ſchönſten Einklang geſetzt; die Beſtimmung der Töchter aus dem Geſammthauſe Schnuck, das Nußknacker-Ideal und der Fürſt von Hechelkram unter der Hülle des Kaiſerlich Birmaniſchen Kriegsbeamten aus Siena. Man konnte in dieſem Falle ſagen, die Erfüllung habe die Erwartung überflügelt.
War Emerentia in das tiefſte Geheimniß ihres Rucciopuccio eingedrungen, ſo konnte ſie ſich119 dagegen nicht entſchließen, ihm ihren wahren Namen zu entdecken. Der Geliebte war arglos und ſchwatzhaft; das merkte ſie nach kurzer Bekannt - ſchaft. Wie leicht war es möglich, daß er das Geheim - niß ausplauderte, daß es über die Alpen zu den ſechs feurigen Landjunkern drang, daß dieſe ihr Wort löſ’ten, und nachgeſprengt kamen, und dann — ade, du ſtilles Himmelsglück in Nizza! Für Ruccio - puccio blieb Emerentia daher die Freiin von Schnur - renburg-Mixpickel, und hieß Marcebille, weil ihr die - ſer Taufname beſonders ſüß und romantiſch klang.
Es waren nun für beide Liebende die herr - lichen Tage angebrochen, in welchen die Leute ein - ander beſtändig beim Kopfe haben, Lippen auf Lippen preſſen, in welchen, wenn die Geliebte nieſet, der Liebende Aeolsharfen und Engelsgeſang zu vernehmen meint, und wenn der Geliebte ein Gähnen verbirgt, die Liebende einen neuen himm - liſchen Ausdruck in ſeinen theuren Zügen entdeckt, in welchen, luſtwandeln ſie mit einander, Sonne, Mond und Sterne beſchworen werden, auf ihr Glück herabzuſchauen, wenn ſie ſonſt nichts zu ſprechen wiſſen. Rucciopuccio und Emerentia machten alle dieſe Kriſen der Liebe gründlich120 durch; beſonders gingen ſie viel mit einander ſpa - zieren. Er führte ſie an das Meer, er führte ſie auf die Alpen, er führte ſie in Gärten, er führte ſie in Olivenwäldchen, er führte ſie bei Tage, er führte ſie bei Nacht, und zärtlich rief ſie oft, noch nie ſei ſie ſo anmuthig geführt worden.
Ein leichtes Wölkchen am Horizonte ihrer Freuden war es, daß der Prätendent von Hechel - kram nie Geld hatte. Er verſicherte ſie, er habe ſo und ſo viel tauſend Lack Rupien vom Birmanen - Kaiſer an rückſtändigem Solde zu beziehen, die jeden Poſttag eintreffen könnten; indeſſen bis zum Eingange dieſer Zahlung mußte ſie ihm frei - lich mit ihrer Sparbüchſe aushelfen. Als dieſe erſchöpft war, ſagte er, es müſſe nun durchaus ein Wechſel des Schickſals vor der Thür ſtehen, und um dieſem gleichſam ſymboliſch vorzuarbeiten, wolle er kleine Papierſtreifen beſchreiben, die in der Welt auch Wechſel genannt würden, weil ſie die wunderlichſten Abwechſelungen von Freiheit und Nothwendigkeit hervorzubringen pflegten.
So floſſen abermals einige Wochen in Liebes - glück und Wechſelverfertigung hin. Eines Abends gingen ſie wieder in einer paradieſiſchen Gegend121 ſpazieren, angeweht von jenen Lüften dort, welche in die Bruſt des Kranken wie Balſam dringen, und der Wange des Geſunden gleich ſeidnen Händchen ſchmeicheln. Sie hatten ſich ganz in hohe Ahnun - gen über Gott und Unſterblichkeit verloren, ſie ſprachen, daß es gleich in den Stunden der Andacht hätte abgedruckt werden können, da ſtanden plötz - lich acht Juden und ſechszehn Häſcher, denn jeder Jude hatte ſich zwei Häſcher auf den Leib gemie - thet, vor dem ſeligen Paare. Die Juden hielten Rucciopuccio’n ganze Hände voll ſymboliſcher Pa - pierſtreifen unter die Augen, und die Häſcher riefen auf Italiäniſch: Marſch! indem ſie ihre Spieße wie Wegweiſend ausſtreckten.
Um alle Heiligen, Geliebter! rief Emerentia, was iſt dieſes? Nichts, meine Theuergeſchätzte, als eine hölliſche Cabale, Wechſelarreſt geheißen, verſetzte Rucciopuccio, der keinen Augenblick ſeine Faſſung verlor. Der Kaiſer aller Birmanen iſt ein Tyrann. Ein Tyrann, ſage ich; ein ſchmäh - licher Tyrann! Er kann mich nicht entbehren, er reclamirt mich; ich ſoll ihm auch die ſiebente, achte und neunte Elephantencompagnie, die er inzwiſchen gebildet hat, organiſiren helfen. Auf gradem Wege122 ſetzt er es nicht durch, da ſpielt er denn mit den ruppigen Juden unter einer Decke, (o wie klein für einen Kaiſer!) die müſſen mich hier in Wech - ſelarreſt ſetzen, und von da komme ich auf den Schub von Gefängniß zu Gefängniß, bis nach Hinterindien; ich ſehe es voraus. O Fürſtendienſt! Fürſtendienſt! ********** Verlaſſet Euch nicht **** auf die Kinder der Menſchen, weil bei ihnen kein Heil zu hoffen iſt!
Rucciopuccio hob bei dieſen Worten die Augen gen Himmel und legte die Hand auf ſein Herz, wie der Graf von Strafford, als man ihm ankün - digte, daß Karl Stuart es ſich gefallen laſſen wolle, daß er, Strafford, ſich für den König köpfen laſſen wolle.
Emerentia aber näherte ſich ihm zitternd, und rief: Du verläſſeſt mich, da — — Sie flüſterte ihm etwas in das Ohr. Ueber das hellrothglän - zende Antlitz Rucciopuccio’s legte ſich eine Todten - bläſſe, worauf ein Farbenſpiel in demſelben ſichtbar ward, welches von allen ſonſt in menſchlichen Geſichtern vorkommenden Färbungen ſo ſehr abwich, daß ſelbſt die Juden und Häſcher erſtaunt zurück - traten, und Emerentia außer ſich hätte gerathen123 müſſen, wäre ſie nicht mit ſich und ihrem Geſchick zu ſehr beſchäftigt geweſen.
Rucciopuccio erholte ſich aber bald wieder, und ſagte zu Emerentien mit ruhiger Freundlichkeit: Dieſes ſind natürliche Folgen natürlicher Urſachen, die kein weiſer Mann beſtaunt. Verlaſſe dich auf mich, Marcebille, ich ſprenge die Ketten des Tyran - nen, ich komme wieder als Hechelkramiſcher Fürſt, und hole dich ab von dem Schloſſe deiner Väter zu Schnurrenburg. Der Geiſt legt mir ein Troſtlied auf die Lippen, bewahre es im tiefſten Schrein des Herzens als heiliges Gemüthsgeheimniß; daran wollen wir uns einſt wiedererkennen:
Die Häſcher verhinderten die Fortſetzung dieſer Ode, indem ſie ihn abführten. Emerentia ſank in Ohn - macht. Zwei Juden brachten ſie ihren beſtürzten Eltern.
Als die Eltern nach einer ziemlich trübſeligen Reiſe mit Emerentien wieder auf dem Schloſſe Schnick-Schnack-Schnurr angekommen waren, woll - ten die feurigen Landjunker ihre unterbrochnen Wer - bungen erneuern, aber das verſtimmte Fräulein wies ſie jetzt noch entſchiedner zurück, als früher - hin. Ihre Geſundheit hatte offenbar durch den Kummer gelitten, die Züge des Geſichtes nahmen oft einen ſeltſamen Ausdruck an, die Speiſen machten ihr Widerwillen, ſie befand ſich hin und wieder ſehr übel. Der alte Baron ließ einen Arzt kommen; der Arzt ſprach mit dem Fräulein unter vier Augen, kam mit einem länglichten Geſichte aus dem Zimmer und ſagte zu den Eltern: Die Luft von Nizza iſt ihr zu nahrhaft geweſen, das125 iſt eine Luft für Schwindſüchtige, aber nicht für Vollblütige, es entſtand eine Ueberfüllung von Säften in ihr, ſie muß in eine zehrende Luft, in ein anderes Bad, da kommt Alles wieder in das Gleichgewicht. Auch allein muß ſie reiſen, damit ſie Trübſal hat und Sehnſucht, dann zehrt ſie um ſo eher ab. Die Eltern glaubten dem guten ver - ſtändigen Arzte, und ließen Emerentien in ein anderes Bad, worin eine zehrende und abmagernde Luft wehte, reiſen, ganz allein ließen ſie ſie reiſen, weil der Arzt es ſo haben wollte.
Die Kur mußte ſehr gründlich und nachhaltig vorgenommen werden, wenn ſie anſchlagen ſollte; das Fräulein blieb deßhalb viele Monate lang im Bade. Dann kam ſie zurück, geſünder und wohler, als ſie je zuvor geweſen war. Auch ihre Stimmung hatte ſich ganz wieder erheitert; ſie lebte in dem feſten Vertrauen, daß Signor Rucciopuccio als glück - licher Prätendent von Hechelkram eines Tages ankom - men werde, ſie aus dem Schloſſe abzuholen. Die Mutter ſagte: Wenn das iſt, ſo ſteht Alles wohl, dann haſt du in Nizza nur deine Beſtimmung erfüllt.
Viele Jahre verfloſſen ſeitdem. Der alte Baron war nun wirklich ein alter Baron,126 Fräulein Emerentia eine alte Jungfer geworden, die alte Baroneſſe aber inzwiſchen an einem erbli - chen Familienübel des Zweiges Schnuck-Muckelig - Pumpel geſtorben. Die Jahre hatten das Alter gemehrt und die Gelder gemindert, woraus ſich aber der Baron wenig machte. Sagte ihm ſein Rentmei - ſter: Herr Baron, die Pächte und die Zinſen reichen nicht zu, ſo war die Erwiederung: Thut nichts, wenn Alles aufgezehrt iſt, gehe ich in das höchſte Collegium, und lebe von meiner Beſoldung; ich bin geborner Geheimer-Rath. Geld muß ich haben, alſo verkauft nur einige liegende Gründe, lieber Rentmeiſter.
Der Rentmeiſter achtete ſich nach dieſen Wor - ten, und verzettelte nach und nach alle liegenden Gründe, die zum Schloſſe gehörten, Felder, Wie - ſen, Triften, Holzungen. Als er das letzte Stück losgeſchlagen hatte, trat er wieder zu dem alten Baron in das Zimmer und ſagte: Ew. Gnaden, mit den liegenden Gründen wären wir nun fertig; ich begehre meinen Abſchied, denn wo keine Renten ſind, da iſt kein Rentmeiſter mehr vonnöthen.
Sehr wahr! verſetzte der alte Baron, ſo wahr, als wie, daß zweimal zwei Vier thun; ich will127 Euch ein Atteſt ſchreiben über wohlgeführte Admi - niſtration; was mich betrifft, ſo gehe ich jetzt in das höchſte Collegium und werde Geheimer-Rath.
Ach! aber als er nach dem höchſten Collegio fragte, ſo war ein ſolches nicht mehr vorhanden, und als er nach den Fürſten von Hechelkram fragte, ſo ſagte man ihm, die hätten längſt aufge - hört zu regieren, und als er ſich bei dem Reichs - tage erkundigen wollte, wie er ſeine wohlherge - brachten Anſprüche durchzuſetzen habe, ſo hörte er, das deutſche Reich wäre ſchon vor ſo und ſo vielen Jahren einmal unverſehens dem Kaiſer unter den Händen weggekommen. Sonderbar! rief der alte Baron, wie iſt das nur zugegangen? Er verſank in tiefes Nachdenken, und dachte mehrere Jahre lang darüber nach, wie nur das deutſche Reich habe wegkommen, der Hechelkramiſche Fürſtenſtamm aufhören können, zu regieren, und wie es möglich ſeyn ſollte, daß er nicht mehr geborner Geheimer Rath im höchſten Collegio ſei? Für die beiden erſten Probleme fand er zuletzt noch eine Löſung, aber das Letzte, das Geheimeraths-Problem blieb ihm unlösbar, und deßhalb kam er endlich auf den Gedanken, die gegenwärtigen Verhältniſſe ſeien nur128 ein kurzer Uebergang, die alte, gute Zeit ſtehe ſchon wieder vor der Thüre, und werde bald anklo - pfen. Mit dieſem Gedanken erhielt er ſeine ganze Heiterkeit zurück. Er nahm ſich vor, in der dar - aus entſpringenden Ueberzeugung zu leben und zu ſterben.
Inzwiſchen waren die Brillanten, Perlen, Ro - ben und Spitzen der ſeligen gnädigen Frau vertrödelt worden, dann wurde das eiſerne Git - terwerk von der Pforte abgebrochen und, benebſt den Pflaſterſteinen des Hofplatzes, ſammt allen ent - behrlichen Hausmobilien, nach und nach in Geld um - geſetzt. Derweilen biß auch der Wappenlöwe in das Gras, darauf bröckelte der Bewurf von den Wän - den, und dann wich die Giebelmauer gefährlich aus ihrer lothrechten Stellung, ohne daß eine Reparatur verſucht werden konnte, weil die rohen Handwerksleute nur, wenn ſie Geld ſehen, Hand und Fuß regen.
In dem nach und nach ſothanerweiſe herab - gekommenen ſogenannten Schloſſe Schnick-Schnack - Schnurr mußte ſich der alte Baron mit ſeiner Tochter Emerentia, die ſeit dem Eintritte in die ſtehenden Jahre ſo ſehr an Fülle zunahm, wie die Mittel abnahmen, kümmerlich und einſam behelfen. Die Jagd hatte natürlich aufgehört, weil die Waldgründe verſchwunden waren, in denen dieſes Vergnügen ſich betreiben läßt, und an Spiel war auch nicht mehr zu denken; man hätte um Rechen - pfennige die Stiche machen müſſen. Allmählig waren daher auch die Freunde ſeltener geworden, zuletzt blieben ſie ganz aus, waren auch wohl zum Theil geſtorben. Vater und Tochter hätten ſich am Ende den Kaffee und die ſpärlichen MahlzeitenImmermann’s Münchhauſen 1. Th. 9130ſelbſt bereiten müſſen, denn auch die Bedienten und Mägde ſchlichen ſich allgemach aus Mangel der Bezahlung weg, wäre dieſem dürftigen und zuſammenſinkenden Haushalte nicht eine Stütze in der blonden Lisbeth erwachſen, welche, ſobald ſie die Hände zu Dienſtleiſtungen zu regen im Stan - de war, dem alten Baron und dem Fräulein wie die geringſte Magd aufwartete, kochte, wuſch, ſäu - berte, dabei aber immer hold und freundlich aus - ſah, und wenn ſie das Schwerſte verrichtet hatte, ſo that, als habe ſie nichts gethan.
Die blonde Lisbeth war ein Findelkind. Ein altes Weib hatte einſt vor Jahren eine große Schachtel, mit kleinen Löchern verſehen, auf das Schloß gebracht, ſie einem Bedienten übergeben, und ihm geſagt, darin ſei ein Geſchenk für den Herrn, welches ein guter Freund ſchicke. Indem nun der Bediente die Schachtel zu dem gnädigen Herrn hineintrug, fing das Geſchenk darin an, ſich zu regen, und ein feines Geſchrei zu erheben. Der Menſch hätte es bald vor Schreck zu Boden fallen laſſen, beſann ſich indeſſen doch, und ſetzte die Schachtel vorſichtig auf einen Tiſch in des gnä - digen Herrn Zimmer. Der alte Baron öffnete131 den Deckel, und ein kleines Mägdlein von höch - ſtens ſechs Wochen ſtreckte ihm aus den Lümpchen, womit der arme Wurm kümmerlich bekleidet war, wie hülfeflehend die Aermchen entgegen, indem die kleine Kehle ſich wacker in den erſten Lauten übte, welche die Menſchheit von ſich giebt.
Uebrigens lag das Kindlein weich in Baum - wolle gebettet. Sonſt aber fanden ſich durchaus keine Amulete, Kleinodien, Kreuze, verſiegelte Pa - piere, welche auf den Urſprung des kleinen Weſens hindeuteten, und ohne welche ein wohlconditionirter Romanenfindling ſich eigentlich gar nicht ſehen laſ - ſen darf. Kein Maal unter der linken Bruſt, kein eingebranntes, oder eingeätztes Zeichen am rechten Arme, von welchem ſich dermaleinſt im Schlafe das Gewand verſchieben konnte, daß Jemand, der zufällig die Schlafende ſieht, Soupçon bekommt, und weiter nachfragt, wie? oder wann? und ſo fort — kurz nichts, gar nichts, ſo daß mir ſelbſt um die Wiedererkennung bange wird.
Nur ein graues Blatt Papier lag in der Schachtel, mit der Nachricht beſchrieben, daß das kleine Mädchen chriſtlich getauft ſei und Eliſabeth heiße. Die Worte waren kaum leſerlich; der9*132Schreiber hatte offenbar ſeine Hand verſtellt. Rings umher in den Ecken des Blattes wimmelte es von Buchſtaben, Krähen - und Krackelfüßen, die aber trotz aller Bemühungen, ſie zuſammenzuſtellen, ſich denſelben eben ſo wenig fügten, als die Cha - raktere, welche auf dem Papiergelde ſich zerſtreut vorzufinden pflegen. Dieſes Blatt war um einen Cylinder geſchlungen, welcher zwei optiſche Gläſer einfaßte. Der alte Baron nahm den Cylinder, blickte durch das Ocularglas, richtete das Perſpec - tiv gegen das Freie, um ſich die Erläuterung des Fundes aus der Luft zu holen, aber ſo viel er auch richtete und durchblickte, er bekam nichts, als blaue Luft und verworrenſchwimmende Gegenſtände zu ſehen.
Ueber dieſen vergeblichen Anſtrengungen, die Krackelfüße zuſammenzuſtellen, und durch das op - tiſche Glas die Wahrheit zu entdecken, war wohl eine halbe Stunde vergangen, während welcher der Baron noch gar nicht dazu gekommen war, ſich nach dem Geber der vor ihm liegenden Gottesga - be zu erkundigen. Auch der Bediente, der mit auf - geſperrtem Munde bald das Kind, bald die An - ſtrengungen ſeines Gebieters betrachtete, hatte133 bisher verabſäumt von dem alten Weibe zu reden. Endlich verfiel der alte Baron auf die unter den obwaltenden Umſtänden ſo natürliche Frage, der Bediente gab die Auskunft, die er ertheilen konnte, wurde der Spitzbübin nachgeſandt, rannte einen halben Tag lang in allen Richtungen umher, kam aber unverrichteter Sache zurück, denn er hatte weder das alte Weib geſehen, noch Jemand ge - troffen, der ſie geſehen hätte.
Inzwiſchen waren die Frauen, die alte Ba - roneſſe, welche damals noch lebte, und Fräulein Emerentia, in das Zimmer getreten, und der alte Baron, der mit ſeiner eigenen Verwunderung noch zu ſchaffen hatte, mußte jetzt dem Sturme von Ausrufungen und Fragen Rede ſtehn, welcher über die Lippen der Gemahlin und Tochter ſtrich. Eine Dienerin war gefolgt und ſorgte, während die Herrſchaften über die Exegeſe des Ereigniſſes verhandelten, für die nothdürftige Fütterung und Stillung des noch immer ſchreienden Kindes.
Als dieſes ſtill, lächelnd und ſchlummernd wie - der in ſeiner Schachtel lag, ſetzte ſich die Familie um den Tiſch, worauf letztere ſtand, zu einer Be - rathung nieder, was mit dem Findlinge zu begin -134 nen ſei. Der Haus - und Schloßherr, deſſen Thor - heiten nur von ſeiner unverwüſtlichen Gutmüthig - keit übertroffen wurden, war ſofort der Meinung, daß das Kind zu behalten, und wie ein eignes auf - zuziehen ſei. Seine Gemahlin leiſtete ihm einigen Widerſtand, bequemte ſich indeſſen doch bald zum milderen Entſchluſſe, da ihr einfiel, daß der ältere Zweig der graumelirten Linie, der Zweig Schnuck - Muckelig-Pumpel ſelbſt mütterlicherſeits von einem Findlinge abſtamme, in welchem eine Toch - ter hoher Herkunft geſteckt habe. Den heftig - ſten Einſpruch hatte er von Emerentien zu erlei - den. Das Fräulein war nach ihrer zweiten Ba - dereiſe ſo überaus tugendſam, zartſinnig und ver - ſchämt geworden, daß auch die entfernteſte Be - ziehung auf die Verhältniſſe, durch welche wir ent - ſtehen und werden, ſie tief verletzen konnte. Sie mochte die Blumen nicht mehr leiden, ſeitdem ihr ein durchreiſender Profeſſor die Bedeutung der Staubfäden auseinandergeſetzt hatte, ſie war vom Tiſche aufgeſtanden, als man erzählte, daß die braune Diane ſechs Junge geworfen habe, und hatte vor ihrem Fenſter Scheuchanſtalten beſonde - rer Art gegen die Sperlinge anbringen laſſen, um135 die Schnäbeleien nicht mit anſehen zu dürfen, wo - mit dieſe Thiere nach der Lebhaftigkeit ihres Na - turells leider gegen einander nur zu freigebig ſind.
In dem Findlinge ahnete ſie nun, wie ſie ſagte, (und die Ahnung der Frauen iſt ſtäts ſicher und wahr) eine Frucht verbotener Liebe. Worte, die ſie vor Schaam kaum hervorzubringen vermochte! Sie erklärte, daß ſie eine ſolche nur mit Abſcheu anzuſehen vermöge, daß ihr das Verbleiben der Creatur unerträglich ſeyn werde. Sie beſchwor ihren Vater, das Kind einer öffentlichen An - ſtalt zu übergeben. Aber der alte Baron blieb feſt bei ſeinem Vorſatze, und da die Mutter, wie ſchon berichtet worden iſt, auch auf ſeine Seite getreten war, ſo mußte ſich Emerentia endlich, wiewohl mit großem Widerwillen, fügen.
Dieſen ließ ſie aber in der Folge auf jede Weiſe an dem Kinde aus, und ſelbſt, als die blon - de Eliſabeth, oder Lisbeth, wie ſie im Schloſſe ge - nannt wurde, heranwuchs, und das beſte, zuthätig - ſte Weſen wurde, mochte ſie ſich ſelten dazu ver - ſtehen, ihr einen gütigen Blick zu gönnen. Lisbeth dagegen war durch nichts in den ſonderbaren Nei - gungen, die ihr die Natur vorgezeichnet zu haben136 ſchien, irre zu machen. An dem Fräulein, die ihr ſo übel begegnete, hing ſie mit einer unglaublichen Zärtlichkeit, ſie verrichtete freudig das Schwerſte für ſie, ließ ſich von ihr ſchelten, und lächelte da - nach noch eins ſo freundlich, wogegen ſie dem al - ten Baron, der doch eigentlich ihr alleiniger Be - ſchützer und Wohlthäter war, nur eine Empfin - dung widmete, welche die Gränzen der Dankbar - keit nicht überſchritt.
In ihm war, als Jagd, Spiel und Gaſtereien für ihn aufgehört hatten, und nur die Schwal - ben oder Fledermäuſe, welche durch die Mauerlü - cken ſchlüpften, in den unbewohnten Zimmern des ſogenannten Schloſſes zu niſten, allenfalls noch für Beſuche gelten konnten, eine große Langeweile ent - ſtanden, die anfangs auf keine Weiſe ſich beſchwich - tigen laſſen wollte. Zwar malte er ſich zur Un - terhaltung ſeine Erwartung beſtens aus, wie er bald als Geheimer-Rath im höchſten Collegio ſitzen werde, neben ſich den Herrn von ſo und ſo und den Herrn von da und da auf der Adelsbank, er ſtellte ſich den Präſidenten lebhaft vor, und alle Beſonderheiten des alterthümlichen Conferenzſaals,138 er entwarf das Bild des Seſſionstiſches mit den großen Haufen von Schriften und Papieren dar - auf, die er mit ſeinen Herrn Nachbarn nicht zu leſen habe, ſondern welche von gelehrten und bür - gerlichen Beiſitzern durchzuſtudiren ſeien; aber als dieſes Gemälde von ihm zum hundertſten und aber hundertſten Male im Stillen vollendet und ſeinen zwei Angehörigen beſchrieben worden war, wurde es ihm doch zu eintönig, und er ſehnte ſich nach anderer Beſchäftigung. Dieſe verſuchte ihm nun ſeine Tochter Emerentia zu gewähren, indem ſie ihrerſeits eine Schilderung zu liefern begann, wie Fürſt Hechelkram, pſeudonym Rucciopuccio ge - heißen, plötzlich eines Tages in einem rothlackirten Wagen mit ſechs Iſabellen beſpannt, ankommen, einen ſchottiſchquarrirten Läufer mit Blumenhut und ſeidenem goldbefranztem Schurz hereinſchicken und anfragen laſſen werde, ob Marcebille oder Emerentia, nach der er ſo lange das ganze Schnur - renburg-Mixpickelſche Geſchlecht vergebens hindurch gefragt habe, bis er endlich zufällig erfahren, ſie ſei eine geborne Schnuck-Puckelig — ob ſie, Eme - rentia, noch an die Stunde denke, die Stunde der Andacht in Nizza? Wie ſie ſich für dieſen Fall139 ſchon ihre Antwort ausgedacht, alſo lautend: Gnä - digſter Herr! In den Blüthentagen der Jugend opferten wir der Leidenſchaft auf dem Altare un - ſerer Herzen! Für dieſes Opfer iſt uns der Weih - rauch ausgegangen. Aber der Altar blieb ſtehen; laſſen Sie uns auf demſelben der Freundſchaft ein Opfer entzünden, für welches ich ewig, Ihnen ge - genüber, Vorrath beſitzen werde! — Wie ſie dann, mit dem großen goldenen Stiftskreuze begnadiget, ein Schloß in der Nähe ſeiner Reſidenz beziehen, nur ſeine Freundin im reinſten platoniſchen Sinne ſeyn, ihn nie anders als vor Zeugen ſprechen, ihn mit ſeiner Gemahlin verſohnen, überhaupt der ſegnende Genius des Fürſtenhauſes und des Landes werden wolle.
Allein den alten Baron unterhielt dieſe Schil - derung auch nicht; er hielt ſie für ein „ Carmen “wie er ſich ausdrückte, und womit er Gedicht ſa - gen wollte. Von Gedichten war er aber nie ein ſonderlicher Liebhaber geweſen. Endlich fiel er auf den Gedanken, zu leſen, da er gehört hatte, daß damit ſo viele Menſchen ihre Zeit hinbrächten. Indeſſen wollten auch die Bücher, deren eine klei - ne Sammlung von ſeinem Vater her noch auf dem Speicher ſtand, und unter denen er auf gut140 Glück jetzt wählte, wenig Troſt gewähren. Die Sachen wurden ihm darin alle zu lang und aus - geſponnen abgehandelt; der Autor ſagte oft erſt auf der vierundzwanzigſten Seite, was er mit der erſten gemeint hatte, pflegte überhaupt die Forderung an den Leſer zu ſtellen, daß er ſeine Gedanken zuſammenhalten ſolle, und dazu konnte ſich der alte Baron in ſeinen vorgerückten Jahren nicht mehr bequemen. Er wollte Abwechſelung, Zerſtreuung, Mancherlei, wie vorlängſt in ſeinen grünen und luſtigen Tagen.
Alles dieſes fand er auf einmal, da ihm der gute Einfall wurde, in einen Journalcirkel einzu - treten, der alle Wißbegierige auf dem Flächen - raume der umliegenden vier Quadratmeilen mit Geiſtesnahrung verſorgte, und deſſen Reichhaltig - keit ihm ſchon lange geprieſen worden war. Der Unternehmer hatte, um die Nebenbuhler in der erwähnten weiten Ausdehnung unrettbar danieder - zuſchlagen, nicht weniger als ſämmtliche Zeitſchrif - ten des deutſchen Vaterlandes in ſeinen Mappen verſammelt. Es fanden ſich ſonach darin nicht nur die Morgen - die Abend - die Nachmittags - und Mitternachtblätter, ſondern auch die Boten für141 Weſt, Oſt, Süd, Nord, Nordweſt und Südſüdoſt; der Geſellſchafter und der Eremit; die groben und die eleganten Journale; die Leſefrüchte und die Extracte aus den Leſefrüchten; die liberalen, die ſervilen, die rationaliſtiſchen, feudaliſtiſchen, ſupra - naturaliſtiſchen, conſtitutionellen, ſuperſtitionellen, dogmatiſchen, kritiſchen Organe; die Fabelweſen: Phönix, Minerva, Hesperus, Iſis; das Ausland, das Inland; Europa, Aſien, Africa, America und die Stimmen aus Hinterpommern; der Komet, der Planet, das Weltall — kurz, im Ganzen vierund - achtzig Hefte, ſo daß jeder Theilnehmer am Cirkel die Woche hindurch in jeder der zwölf Tagesſtun - den ein Journal zu leſen bekam.
Dieſe Unterhaltung war ganz nach dem Sinne des alten Barons. Endlich, rief er fröhlich aus, als er ſich mit dem Umfange der ihm neu eröff - neten Vorrathskammern bekannt gemacht hatte, end - lich doch Gedrucktes, welches Einen belehrt, ohne zu beſchweren! In der That gewannen ſeine Vor - ſtellungen durch das Leſen der Journale bald eine außerordentliche Bereicherung. Hatte ihm das eine Blatt eine kurze Notiz von dem großen Gift - baume Boan Upas in Indien gegeben, der die142 Atmosphäre auf tauſend Schritte hin anſteckt, ſo lehrte ihn das folgende, wie die Kartoffeln im Winter vor Froſt zu bewahren ſeien; in dieſer Minute las er von Friedrich dem Großen, in der nächſten von der Gräfenberger Waſſercur, aber nicht lange, denn gleich darnach erzählte Einer die Geſchichte der neuen Entdeckungen im Monde. Eine Viertelſtunde war er in Europa, dann ſpa - zierte er wieder, wie von Fauſt’s Mantel entrückt, unter Palmen; bald hatte er einen hiſtoriſchen Chriſtus, bald einen mythiſchen, bald gar keinen; Vormittags fiel er mit der äußerſten Linken die Miniſter an, Nachmittags war er abſolutiſtiſch geſinnt, Abends wußte er nicht, wo ihm der Kopf ſtand, und ging als Jüſte-Milieu zu Bette, um Nachts vom Taſchenſpieler Janchen von Amſterdam zu träumen.
Er hätte nie geglaubt, noch ſo glücklich werden zu können. Daß ſeine Umſtände indeſſen immer - mehr ſich verſchlimmerten, und daß er endlich nur auf einen kleinen Lehnsſtamm, der ihn eben vor dem äußerſten Mangel ſchützte und unangreifbar war, beſchränkt ward, kümmerte ihn wenig. Sagte ihm die blonde Lisbeth, das Haus bekomme nach143 der Giebelwand zu Riſſe, und könne über Nacht einmal einſtürzen, ſo pflegte er zu erwiedern: Laß mich zufrieden. Ich habe noch ſechs Hefte durch - zuſtudiren. Wurde ſie dringender, ſo rief er ärger - lich: Ehe das Schloß einſtürzt, bin ich Geheimer - Rath! und ſie mußte unverrichteter Sache weichen.
Freilich entſtand durch das unendliche Material, welches er täglich zu verarbeiten hatte, in ſeinem Kopfe eine große Verwirrung der Vorſtellungen, und er mußte zuweilen das Haupt in beide Hände nehmen, um ſich zu beſinnen, ob er noch in unſerem, oder in einem fremden Welttheile, oder ob er überhaupt nur noch auf der Erde und nicht ſchon längſt im Sirius ſei? Auch begann er von jetzt an, Alles zu glauben, was er hörte, und wenn man ihm geſagt hätte, die Vögel ſängen nach Noten. Denn, pflegte er oft gegen die Sei - nigen zu äußern, es kann heut zu Tage nichts Dümmeres geben, als den Kopfſchüttler und Zwei - felmüthigen zu machen; man muß nur Mitglied unſres Journal-Leſecirkels geworden ſeyn, um zu erfahren, daß nichts ſo wunderbar iſt, was nicht jetzo vorfällt; die Menſchen und die Sachen und die Erfindungen ſind in einem erſchrecklichen Fort -144 ſchritte, und wenn er noch zunimmt, ſo erleben wir, daß das Waſſer Balken bekommt, und daß man mit Extrapoſt von hier direct nach London fährt.
Konnte etwas ſeine Stimmung trüben, ſo war es der Mangel eines Freundes, dem er ſich hätte erſchließen, mit dem er ſeine Ideen hätte austau - ſchen mögen. Die Sehnſucht nach einem Gleich - geſtimmten, nach einem fördernden Umgange wurde oft ſehr groß in ihm. Seine Tochter konnte die - ſem Verlangen nicht genügen, ſie hing nur ihren empfindſamen, ideellen Richtungen nach, und hegte für Realkenntniſſe wenig Sinn; Lisbeth aber hatte ein für allemal, da er mit ihr von den Dingen, die ihn ſo mannigfach beſchäftigten, reden wollen, ablehnend erwiedert: Sie wolle ſich nichts in den Kopf ſetzen laſſen.
Einigermaßen, wenn auch nicht genügend, wurde die Sehnſucht des alten Barons befriedigt, ſie erhielt ſo zu ſagen, wie das Sprichwort lautet, eine Birne für den Durſt, als der Schulmeiſter Ageſilaus in ſeine Nähe kam. Dieſer Mann, wel - cher früher Ageſel geheißen hatte, und ein alter Bekannter des Barons war, bekleidete bis zu dem Umſchwunge in ſeinem Schickſale das Amt, die Jugend eines benachbarten Dörfchens im Leſen und Schreiben zu unterrichten. Er wohnte in einer Hütte von Lehmwänden, die außer der Schul - ſtube nur ſein Schlafkämmerchen faßte, hatte drei - ßig Gulden jährlichen Gehalt, außerdem das Schul -Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 10146geld; zwölf Kreuzer für den Knaben und ſechs für das Mädchen, einen Grasfleck für ein Rind und das Recht, zwei Gänſe in die Gemeindeweide mit einzutreiben. Er verſah ſeinen Dienſt ohne Tadel, lehrte die Jugend nach der alten Manier, ſo wie ſie im Dorfe ſeit hundert und mehreren Jahren gebräuchlich war, buchſtabiren: G-e -, Ge, ſ-u-n-d, ſund, h-e-i-t heit; Geſundheit — B-e-t, Bet, t-e-l, tel, Bettel, ſ-a-ck, ſack; Bettelſack u. ſ. w. und brachte die fähigſten Köpfe nicht ſelten ſoweit, daß ſie Gedrucktes ohne ſonderliche Anſtrengung leſen lernten. Was das Schreiben anlangte, ſo ging auch aus ſeinen Händen Dieſer und Jener hervor, der den eignen Namen zu Stande zu bringen wußte, wenn man ihn nicht übereilte, ſon - dern ihm die nöthige Zeit ließ.
In dieſem Syſteme war unſer Schulmeiſter fünfzig Jahre alt geworden. Da ereignete es ſich, daß die allgemeinen Steigerungen des Zeitalters auch einen neuen Lehrplan im Lande hervorriefen, der bis zu den Dorfſchulmeiſtern umbildend durch - greifen ſollte. Seine Vorgeſetzten ſchickten ihm ein Lehrbuch der deutſchen Sprache zu, eines von denen, welche die A B C-Wiſſenſchaft tiefſinnig147 und philoſophiſch begründen wollen, und ertheilten ihm die Weiſung, ſeine bisherige rohe Empirie zu rationaliſiren, ſich ſelbſt zuvörderſt aus dem Buche zu unterrichten, und dann danach die veränderte Belehrung der Jugend anzufangen.
Der Schulmeiſter las das Buch durch, er las es noch einmal durch, er las es von hinten nach vorn, er las es aus der Mitte, und er wußte nicht, was er geleſen hatte. Denn es war darin gehan - delt von Stimmlauten und Mitlauten, von Auf - In - und Umlauten; er ſollte daraus die Laute trüben und verdünnen lernen, er ſollte durch Säuſeln, Ziſchen, Preſſen, durch Näſeln und Gur - geln die Laute hervorbringen, er vernahm, daß die Sprache Wurzeln treibe und Seitenwurzeln, er erfuhr endlich daraus, daß das J der reine Urlaut ſei, und daß deſſen Erzeugung durch ſtar - kes Zuſammendrücken des Kehlkopfes nach dem Gaumen hin geſchehe.
Er bat Gott um Erleuchtung in dieſen Finſter - niſſen, aber ſein Flehen prallte zurück von dem ehernen Himmel. Er ſetzte ſich wieder vor das Buch, mit der Brille auf der Naſe, um ſchärfer zu ſehen, wiewohl er bei Tageslicht wohl noch ohne Gläſer fertig werden10*148konnte. Ach, nur deutlicher traten ſeinen bewaffneten Augen die furchtbaren Räthſel des Daſeyns, die Sau - ſe - Ziſch - Preß - Naſen - und Gurgellaute entgegen! Darauf legte er das Buch weg, fütterte ſeine Gänſe und gab einem Jungen, der gerade dazukam und ſagte, der Vater wolle das Schulgeld nicht zahlen, zwei derbe Maulſchellen, um durch das praktiſche Leben Aufſchluß für die Theorie zu ge - winnen. Umſonſt. Er aß eine Knackwurſt, ſich körperlich zu ſtärken. Vergebens. Er leerte einen ganzen Senftopf, weil er gehört hatte, dieſes Gewürz ſchärfe den Verſtand. Eitles Bemühen!
Er legte das Buch Abends vor dem Schlafen - gehen unter ſein Kopfkiſſen. Leider fühlte er am andern Morgen, daß weder die Wurzeln, noch die Seitenwurzeln ihm in den Kopf gedrungen waren. Gern hätte er das Buch, wie Johannes jenes vom Engel getragne, auf die Gefahr der empfindlichſten Leibſchmerzen hin, verſchlungen, wäre er dadurch des Inhaltes Meiſter geworden; aber welche Hoff - nungen konnte er nach dem Bisherigen von einem ſo gewagten Verſuche hegen?
Die Schule ſtand ſtill, die Kinder fingen Mai - käfer, oder jagten die Enten in den Teich. Die149 Alten aber ſchüttelten den Kopf und ſagten: Mit dem Schulmeiſter hat es ſeine Richtigkeit nicht. Eines Tages, nachdem er ſich wieder in ſeinen verzweiflungsvollen Bemühungen um den Sinn der Dünnung und Trübung abgearbeitet hatte, rief er: Wenn ich dieſer Beſtie von Buch nur erſt an einem Flecke beigekommen bin, ſo giebt ſich vielleicht das Uebrige von ſelbſt! — Er nahm ſich vor, zuvörderſt den reinen Urlaut J nach der Anweiſung des Buchs zu erzeugen.
Er ſetzte ſich daher auf ſeinen Grasfleck zum Rinde, welches dort, unbekümmert um rationelle Lauterzeugung, empiriſch brummte, ſtemmte die Arme in die Seite, drückte den Kehlkopf ſtark nach dem Gaumen hin, und ſtieß nun die Töne hervor, welche ſich auf ſolche Weiſe veranſtalten laſſen wollten. Sie waren höchſt ſonderbar, und ſo auffallend, daß ſelbſt das Rind vom Graſe emporblickte und ſeinen Herrn mitleidig anſah. Eine Menge Bauern hatte der Schall herbeigezo - gen; ſie ſtanden neugierig und verwundert um den Schulmeiſter her. Gevattern! rief dieſer und ruhte einen Augenblick von ſeiner Anſtrengung aus; paßt einmal auf, ob es der reine Urlaut J wird? 150Darauf gab er ſich wieder an die Kehlkopf-Gau - mendrückung. Gott behüte! riefen die Bauern, und gingen nach Hauſe, der Schulmeiſter iſt über - geſchnappt, er quiekt ſchon wie ein Ferkel.
Und wirklich ſtand der arme Schulmeiſter nahe an der Grenze, über welche die Bauern ihn bereits geſprungen glaubten. Die Friſt war abgelaufen, welche man ihm zum Selbſtunterrichte geſetzt hatte, er ſollte jetzt nach dem Buche leſen lernen laſſen, eine Viſitation ſeiner Schule durch den Herrn Schulrath Thomaſius nahte heran, die Verzweif - lung trat ihm zum Herzen, und ſeine Gedanken begannen zu ſchwärmen. Andre ſind durch das Brüten über der unbefleckten Empfängniß der Jung - frau Maria, oder über dem Geheimniſſe der Trinität, oder von dem Gedanken an die Ewigkeit verrückt ge - worden; warum ſollte ein Dorfſchulmeiſterlein nicht durch eine moderne Sprachlehre den Verſtand ver - lieren können? Genug, ich erzähle es, und wer mir nicht glauben will, frage im Dorfe Hackel - pfiffelsberg nach. Da hat ſich die Geſchichte zuge - tragen, und jedes Kind weiß dort davon.
Ein reiſender Student kam in jenen Tagen durch Hackelpfiffelsberg, der kehrte in der Schenke151 ein, und vernahm von dem närriſchgewordenen, oder närriſchwerdenden Schulmeiſter. Es war ein feiner, denkender Kopf, der ſich beſonders auf Pſycholo - gie verlegt hatte, und der daher eine große Be - gierde verſpürte, den Kranken kennen zu lernen. Er fand ihn in leinenen Aermeln ſitzen, die behaarte Bruſt offen, eine große weiße Nachtmütze auf dem Kopfe. Wie geht es, Meiſter? fragte der Stu - dent. So, ſo, Fremdling, verſetzte der Schul - meiſter. Nicht wahr, die alten Spartaner waren Kerle? Keine müßige Gelehrſamkeit, keine Quäle - rei mit Umlauten, Inlauten, Bruſtlauten! Alles auf Thatkraft, auf das wirkliche Leben berechnet, den Körper abgehärtet, den Sinn zugeſpitzt zu Apophtegmen! Mich ſoll der Henker holen, wenn ich mir nicht Alles in Zukunft Lacedämoniſch ein - richte! Meine wackern Vorfahren! Denn was iſt Ageſel? Ageſel iſt nichts, verſtümmelt, verdorben aus Ageſilaus, dem tapfern Könige von Sparta. Die Türken vertrieben die Griechen, darunter waren natürlich die Nachkommen des Königs Age - ſilaus auch, und die haben ſich allmählig bis hieher verzettelt, die Endſylbe iſt aber unterweges verlo - ren gegangen. O, man müßte nicht von den Wur -152 zeln und den Ableitungen die Zeit her die Kränk’ gekriegt haben, wenn man ſo etwas unglaublich finden wollte!
Hoho, dachte der Student, ſteht es dermaßen hier? Aber ein anziehender Fall! Ich muß ihn beobachten. Er blieb den ganzen Tag über bei dem Schulmeiſter, und merkte durch viele Fragen aus ſeinen krauſen Antworten endlich ſich ſoviel ab, daß der Kranke in früheren Jahren eine alte Schwarte über die Sitten und Gebräuche jenes griechiſchen Freiſtaates geleſen hatte, ſchon damals von denſelben höchlich entzückt geweſen war, daß nun gegenwärtig die gleichſam in Schlummer gelegenen Vorſtellungen erwachten und ein fieberhaftes Leben in ihm gewannen. Abends trug der Student fol - gendes Notizenſchema in ſeinem Tagebuche ein: Paralyſirung des Denkvermögens in einem beſchränk - ten Geiſte durch unverdaulichen Denkſtoff.
NB. Nach der Ferienreiſe weiter auszuführen.
Es mochte ohngefähr ein Vierteljahr nach die - ſen Vorfällen verſtrichen ſeyn, als der Schulmeiſter, nur bekleidet mit einem braunen, groben Mantel, in der Hand eine junge Tanne, vor den alten Baron trat, der in ſeinem verwilderten Franzoſi - ſchen Garten hinter dem Schloſſe die freie Luft genoß. Der Baron wußte im Allgemeinen ſchon von den Dingen, die ſeinem Bekannten wieder - fahren ſeyn ſollten, und trat daher drei Schritte vor ihm zurück, befonders da er ihn mit dem nicht gerade dünn zu nennenden Tannenſtamme gerüſtet ſah. Aber der Schulmeiſter lächelte, und legte, als ob er die Gedanken des Andern erriethe, die junge Tanne ab. Dann machte er dem Baron eine höfliche Verbeugung, und ſprach die üblichen Begrüßungsworte, ohne daß in Ton oder Wendung etwas Excentriſches hervorgeſprungen wäre. Der Baron faßte daher Muth, ging auf den Schulmei -154 ſter zu, ergriff ſeine Hand und ſagte: Nun, wie geht’s Euch, alter närriſcher Teufel? Was für Streiche habt ihr denn angefangen, Ageſel?
Ageſilaus, wenn ich bitten darf, gnädiger Herr, erwiederte der Schulmeiſter ſanft und höflich. Ich habe dieſen meinen guten, ehrlichen Stammnamen wieder angenommen.
Der Baron entfernte ſich nun doch wieder etwas von ſeinem Beſuche, und ſah ihn mit ſcheuen Blicken von der Seite an. Der Schulmeiſter aber fuhr geſetzten Weſens ſo fort: Ich weiß, was Sie von mir denken, mein Gönner. Sie halten mich für verrückt. Sie irren ſich, Herr Baron; ich bin nicht verrückt. Es ſollte mir Leid thun, wenn ich mich in dieſem Zuſtande befände, denn dann könnten Sie mir mit Recht dasjenige verſa - gen, um welches ich Sie dringend anſprechen muß. Ich habe meine fünf Sinne vollkommen beiſammen, und weiß, daß ich ein Nachkomme des alten Königs Ageſilaus bin, daß ich folglich die Verpflichtung habe, ſpartaniſches Leben und Weſen in mir dar - zuſtellen, welches wohl überhaupt ein herrliches Correctivum für dieſe weichliche, abgeſchwächte, übergelahrte und ſophiſtiſche Zeit ſeyn möchte.
155Der Baron fragte, um nur etwas zu ſagen: Iſt es denn wahr, was ich gehört habe, daß Ihr abgeſetzt ſeid, Herr … Herr … Ageſilaus … nicht? ſo nennt Ihr Euch?
Abgeſetzt allerdings, fortgejagt, wenn Sie ſo wollen, durch den Schulrath Thomaſius, erwiederte Ageſilaus ruhig. Nachdem ich das grammatiſche Fieber, in welches ich durch jene Höllen-Lautlehre geſtürzt worden war, überwunden hatte, hielt ich es für meine Schuldigkeit, die mir anvertraute Dorfjugend Lacedämoniſch zu bilden. Ich wies ſie daher an, zu ſtehlen und ſich nur nicht betreffen zu laſſen, um ihre Liſt und Kühnheit zu üben, ich erregte Streit und Schlägerei unter ihnen, um ihre Herzhaftigkeit zu prüfen, und ich prügelte ſie allwöchentlich dreimal ohne Grund ab nach dem Muſter der Geißelung am Altare der Diana. Herrlich ſchlug auch meine Methode an. Die Jun - gen fanden, daß noch nie ſo luſtig Schule gehalten worden ſei, rauften ſich, daß es eine Art war, ohne zu muckſen, ſtahlen ihren Eltern die Aepfel vor der Naſe weg, und ließen ſich nicht erwiſchen, verſchmerzten ſelbſt die grundloſen Prügel wegen der ſonſtigen Ergötzlichkeiten, die ſie jetzt unge -156 ſtraft hatten. Aber die dummen Bauern konnten meinen Plan nicht faſſen. Sie ſchrien, daß ich ihre Brut von Grundaus verderbe, und verklagten mich. Da hat mich nun der Schulrath — nun, er iſt auch keiner von den hellſten Köpfen — von dannen getrieben, und alſo ereilte mich das Fatum.
Ich wundre mich nur, ſagte der Baron, der ſich noch immer von ſeinem Erſtaunen nicht erho - len konnte, über alle die gelehrten Anſpielungen, die Euch da ſo vom Munde ſtäuben, wie Federn vom Kiſſen, wenn das Bett gemacht wird. Woher habt ihr das Fatum und die ſophiſtiſche Zeit, und was Ihr ſonſt noch vorbrachtet?
Es kommt mir alles Dieſes und mehreres dergleichen, wenn ich es gebrauche, wie durch innere Eingebung und Erleuchtung, antwortete der Schul - meiſter. Seit die Urerinnerung an meine tapferen und unvergleichlichen Vorfahren in mir aufgewacht iſt, ſtehen meinem Geiſte Dinge zu Gebote, welche freilich vordem in meinem Dorfleben mir nicht geläufig waren.
Er trug nun dem Baron ſein Anliegen vor, welches darin beſtand, ihm Obdach und nothdürf - tige Leibesnahrung zu gewähren, da er nach ſeiner157 Abſetzung von Allem entblößt ſei und nichts beſitze, als was er um und an ſich trage. Der Baron nahm Anſtand, einen tollen Menſchen, (denn dafür hielt er den Schulmeiſter) im Schloſſe zu beher - bergen, gleichwohl litt es ſein gutes Herz nicht, einen Dürftigen hungern und frieren zu laſſen. Er wies ihm daher ein kleines, verfallenes Gar - tenhäuschen, welches in der entfernteſten Ecke des franzöſiſchen Gartens auf einem Schneckenberge ſtand, und ehemals grün angeſtrichen geweſen war, zum Quartier an. Damit war ſein Schutzbefohlner vollkommen zufrieden. Er zog ein, nannte den Schneckenberg das Gebirge Taygetus, und taufte ein kleines Wäſſerchen, welches ziemlich träge unter ſogenanntem Entenflott in der Nähe dahinſchlich, zum Eurotas um. Einmal des Tages kam er auf das Schloß, mit den Bewohnern ihre kärg - liche Mahlzeit zu theilen; die zweite hielt er in ſeiner Behauſung ab. Sie pflegte in der Regel aus einer Art von Mehlbrei zu beſtehen, den er auf dem Schneckenberge an Reiſigfeuer zurichtete, und ſeine ſchwarze Suppe nannte. Außer ſeinem Mantel hatte er keine Kleidungsſtücke; ſein Getränk ſchöpfte er vom Brunnen mit einem alten irdenen158 Topfe, der ihm den ſpartaniſchen Becher oder Ko - thon bedeuten mußte, und von welchem er rühmte, daß er, wie jenes antike Schöpfgefäß, wegen ſeines eingebognen Randes jegliches Trübe und Unreine vom Munde abhalte; alle Woche aber holte er vom Schloſſe ſich friſches Stroh zur Lagerſtatt, und hieß dieß, ſich Schilf im Eurotos ſchneiden.
Nach einiger Zeit hatte der Baron alle Furcht vor ſeinem Gaſte verloren. Denn er bemerkte, daß dieſer über jeden Gegenſtand ſo verſtändig dachte und redete, wie der geſetzteſte Alltags - menſch, und daß auch ſeine ſpartaniſchen Vor - ſtellungen ſich zu einer ſogenannten unſchädlichen Schrolle, oder zu dem, was man den Wurm bei einem Menſchen nennt, gemildert hatten. In der That mußte er geſtehen, daß unter den Ge - ſetzen Schmalhanſens, des Küchenmeiſters, die über Schloß und Gartenhäuschen herrſchten, die lacedämoniſche Einfachheit vollkommen gerechtfer - tigt war, und daß ihrem Anhänger daher die Zugabe von der Ahnenſchaft des Königs Ageſilaus wohl mit durchgehen konnte. Seine Geſellſchaft wurde ihm nun ſehr lieb; er hatte doch Jemand, mit dem er in den langen Herbſt - und Winterabenden159 plaudern konnte; er durfte nicht mehr befürchten, an dem Ideenreichthume, den die Journale in ihm her - vorbrachten, zu erſticken.
Freilich war, wie wir im Anfange dieſes Capi - tels ſagten, der Schulmeiſter nur eine Birne für den Durſt. Ueber Geſchichten und Anecdoten konnte ſein Gönner mit ihm verhandeln, und des lebhafteſten Geſpräches ſicher ſeyn, wenn er wichtige Punkte der Hiſtorie zur Sprache brachte, wie zum Beiſpiel: Ob Brutus Recht gehabt habe, Cäſar’n zu erſtechen, was aus der Welt geworden ſeyn möchte, wenn die Fran - zoſen die Revolution nicht zu Stande gebracht hätten, oder wenn Friedrich der Große und Napo - leon Zeitgenoſſen geweſen wären, und was der - gleichen mehr war. Dagegen fehlte dem vermeint - lichen Abkömmlinge des Königs von Lacedämon aller Sinn für die Curioſitäten aus der Länder - und Völkerkunde, und aus dem Gebiete der Erfin - dungen, Handels - und Gewerbsverhältniſſe, denen der Baron gerade am leidenſchaftlichſten ſich zuneigte.
Mit dem Fräulein hatte der Schulmeiſter man - chen Streit und ſie duldete ihn eigentlich nur ihres Vaters wegen. Er war ihr beſonders durch eine feurige Rede verhaßt geworden, in welcher er die160 Sitte der Spartaner, auch die Jungfrauen bei den Feſten der Götter nackt tanzen zu laſſen, höch - lich herausſtrich. Ein Nervenanfall hatte ſie nach dieſer Rede ergriffen und mehrere Wochen lang unpäßlich gemacht. Er nahm ſich daher auch ſpäter - hin eine größere Vorſicht in ſeinen Lieblingsreden zur Richtſchnur, um den Boden, auf dem er ſeine Freiſtatt gefunden hatte, nicht zu unterwühlen. Anderntheils wurde es nach und nach der allge - gemeine Grundſatz der drei Academiker von Schnick - Schnack-Schnurr, eine zarte Schonung der gegenſeiti - gen Schooßneigungen walten zu laſſen.
In dieſen Verhältniſſen lebten der alte Baron, das Fräulein und der Schulmeiſter ihre ſeltſam - abgeſchiedenen Tage hin. Eines Abends ſagte der Schloßherr zu ſeinem Schützlinge: Ihr ſeid jetzt weit ruhiger und gleichmüthiger, Herr Ageſilaus, als vor Zeiten, wo es Euch doch im Grunde beſſer ging, als jetzunder. Damals konntet Ihr Streckenlang ſehr mürriſch und verdrießlich ſeyn.
Mürriſch und verdrießlich nun woh nicht, mein Gönner, verſetzte der Schulmeiſter, a er tiefſinnig und melancholiſch. Wenn ich ſo meine ſchmutzigen Jungen in einem fort buchſtabiren ließ, eine161 Woche nach der Andern, einen Monat nach dem Andern, und ſich das ohne Reſultate fortſetzte, diejenigen, welche leſen gelernt hatten, die Schule verließen, und friſche Rangen, die noch nichts wuß - ten, wieder hineinkamen, und immer, immerdar wieder von vorn daſſelbe angefangen werden mußte, da konnte mir das ganze Leben zuletzt völ - lig dünn und unzuſammenhangend vorkommen, und es gab Nächte, worin mir träumte, das menſchliche Daſeyn ſei nur ein langes, leeres A B C, von dem die Buchſtaben X Y Z in der Ewigkeit ſtänden, und aus welchem nie ein verſtändiger Satz, ja nur ein ſinnvolles Wort würde. Wollte ich mir dann zu meinem Troſte ſagen, ich ſei eben nur ein armer Dorfſchulmeiſter, die Trübe dieſer Meinung entſpringe aus meiner gedrückten Lage, und glücklichere Menſchen, wie hohe Obrig - keiten oder gar durchlauchtige Potentaten ſeien wohl in dem Falle, ihrer Exiſtenz einen Zuſam - menhang zu geben, ſo war die Beſchwichtigung doch nicht lange ſtichhaltend. Denn ich mußte erwägen, daß das Regieren über Land und Leute doch auch nur ſo ein ödes, langwieriges Buchſta - biren ſei, und daß, wenn man es an irgend einemImmermann’s Münchhauſen. 1. Th. 11162Zipfel zum Leſenlernen gebracht habe, dieſer ver - ſchwinde, und an der andern Seite ein neues Fibelſchützenweſen zu ſtammeln beginne. Aber ſeit ich meine Ahnen kenne, ſeit ich weiß, welche herr - liche Erinnerungen in mir ſich fortſetzen, und durch mich lebendig zu erhalten ſind, iſt Alles in mir Ruhe und Freudigkeit, haben ſich die Beſtand - theile des Lebens im Kreiſe um mich her geſtellt, kurz, bin ich zur Klarheit und zum Bewußtſeyn durchgedrungen.
Sonderbar! rief der alte Baron vor ſich hin, als der Schulmeiſter nach dieſer Aeußerung fort - gegangen war. Wie es ſcheint, muß der Menſch immer einen Sparren haben, um recht zuſammen - zuhalten. Die Vernunft iſt wie reines Gold, zu weich, um Façon anzunehmen; es muß ein tüch - tig Stück Kupfer, ſo eine Portion Verrücktheit darunter gethan werden, dann iſt dem Menſchen erſt wohl, dann macht er Figur und ſteht ſeinen Mann. Was für ein Gimpel war der Schul - meiſter ſonſt, und wie geſcheidt ſpricht er jetzt, ſeitdem es bei ihm rappelt. Das Leben iſt doch ein curioſes Ding, und wäre ich nicht geborner Geheimer-Rath im höchſten Collegio, ſo könnte mir163 auch vor mir bange werden. Aber da ich der bin, ſo muß ich natürlich meinen vollen Verſtand beſitzen.
Die blonde Lisbeth war in das Gebirge gegan - gen, Zinſenrückſtände von den Bauern einzutreiben. Sie hatte dieſelben zufällig in einem alten ver - geßnen Rentenregiſter, welches unter anderem Gerüll in einer Polterkammer lag, verzeichnet gefunden. Ihr Pflegevater war ängſtlich geweſen, das Kind ſo allein in das Gebirge ziehen zu laſſen, ſie aber hatte muthig geantwortet: Wer wird mir etwas thun? Ich ſchaff’ das Geld! hatte ſich an des Schulmeiſters Eurotas einen Weidenſtecken geſchnit - ten, ein Reiſetäſchchen voll der nöthigſten Wäſche umgehängt, Schnürſtiefelchen angezogen, einen Stroh - hut verwegen auf das kecke Häuptlein geſetzt, und war ſo fürbaß gewandert.
165Während ihrer Abweſenheit gingen die drei Zurückgelaſſenen, der Baron, das Fräulein und der Schulmeiſter eines Nachmittags in dem verwilder - ten franzöſiſchen Garten ſpazieren. Sie verkehrten aber nicht mit einander, wie dieß meiſtens bei ſol - chen Gartenwanderungen zu geſchehen pflegte, ſon - dern hingen in verſchiedenen Wegen und Stegen ihren eigenen Gedanken nach. Die Pfade um das Schloß her waren faſt überall von Dor - nen verſperrt, oder durch ſumpfiges Erdreich feucht, der trockne Sand, welcher die Gartenſtege noch immer einigermaßen bedeckte, verdiente daher ohne Zweifel den Vorzug, wenn man luſtwandeln wollte. Damit aber dieſe gemeinſame Erholung einem Jeden ſeine völlige Freiheit laſſe, und der Stoff der Geſpräche nicht zu verſchwenderiſch eingezehrt werde, hatte der alte Baron für die Gartenerho - lung Aufhebung des geſelligen Verkehrs als Regel feſtgeſetzt. Sollte eine Ausnahme eintreten, und Geſpräch herrſchen, ſo war von ihm ein untrüglich andeutendes Zeichen erfunden worden. Er ſchrieb nämlich an ſolchen Tagen einem Genius von Sand - ſtein, der, den Finger auf dem Munde, vor einer kleinen düſteren Laube ſtand, und zu den noch am166 beſten erhaltenen Kunſtwerken des Gartens gehörte, mit Kreide das Wort: Colloquium auf die Bruſt; eines von den wenigen lateiniſchen Wörtern, deren er ſich noch aus ſeinem Jugendunterrichte erinnerte. So wie daher Jemand von der täglichen Geſell - ſchaft in den Garten trat, ſah er nur nach der Bruſt des Genius, und ſchwieg oder redete, jenach - dem die Meinung des Schloßherrn lautete, denn, in ſo großer Armuth er ſich befand, alle ſeine Umgebungen waren gewohnt, ſich pünktlich nach ſeinen Wünſchen zu richten.
Heute ſtand kein Colloquium auf der Bruſt des Genius angekreidet. Der alte Baron war ſchon ſeit einigen Wochen in einer trüben, ſehn - ſüchtigen Stimmung, welche, gerade heute zu beſon - derer Verdüſterung erwachſen, ähnlichen Launen bei dem Schulmeiſter und Emerentien begegnete, ſo daß Beide mit der ihnen auferlegten Trappiſten - regel an dieſem Tage beſonders zufrieden waren. Wie es wohl zu gehen pflegt; lange Zeit bleiben die eigentlichen Grundempfindungen eines Kreiſes von Tagestäuſchungen überhüllt; endlich aber drän - gen ſie ſich doch wie Springfluthen unwiderſtehlich an die Oberfläche hervor.
167Die Gefühle der drei luſtwandelnden Perſonen brachen, da letztere weit genug von einander gingen, um ſich für unbelauſchbar halten zu können, in Selbſtgeſpräche aus. Der alte Baron ſchritt zwi - ſchen zwei Taxuswänden auf und nieder, welche ehemals auf ihrer oberen Fläche die zierlichſte Abwechſelung von Kreuzen, Pfeilern und Urnen dargeboten hatten, nun aber längſt aus aller Schur gewichen waren, und nur noch unförmliche, mißge - ſtaltete Klumpen grüner Blätter und Aeſte zeigten. Sein Schritt war heftig, ſein Blick ſchwer. Ja, rief er aus, wenn ich einen Mann hätte, der mich verſtände, mit dem ich laut denken könnte, der Sinn für einen weiten Geſichtskreis beſäße, dann ließe ſich herrlich und in Freuden leben! Immer Neues, Wunderbares muß ich haben, die Jour - nale genügen mir ſchon nicht mehr, ſie fangen an, mir ſchaal vorzukommen; Hypotheſen, Hypotheſen begehre ich, eine gewaltiger als die Andre, denn nur Hypotheſen löſchen den Wiſſensdruſt, wenn er einmal entflammt worden iſt. Was hilft es mir, daß ich heute von den Ungeheuern geleſen habe, die in jedem Waſſertröpfchen leben, mit Kugelleibern, oder tauſend Füßen, oder Rüſſeln168 oder Sägezähnen? Bin ich danach klüger, als zuvor? Nein. Dümmer im Gegentheil. Wie entſtehen ſie? Was treiben ſie? Was freſſen ſie? Wie begatten ſie ſich? Sind es Säugethiere, die lebendige Junge zur Welt bringen, oder Eier - legende Fiſche? — O fände ich doch nur einen Mann, mit dem ich Alles ſo recht durchſprechen könnte, der eine Erklärung auch für das Dunkelſte gäbe, gleichviel welche! Der Schulmeiſter iſt ein ehrlicher Kauz, aber doch im Grunde ein dummer Teufel mit ſeinen alten Spartaner-Flauſen. Ich habe mir einen verrückten Menſchen unterhaltender ge - dacht; der Ageſel beginnt, mich zu langweilen. —
Er trat verſtimmt zu einem ſteinernen Schäfer, der an dem einen Ende der Taxuswände ſtand, und vor Zeiten Flöte geblaſen hatte, nun aber nur noch vergeblich den Mund ſpitzte und die Arme in der gezwungenen muſicaliſchen Haltung leer vor ſich hinſtreckte, weil die Flöte ihnen längſt von der Zeit entführt worden war. Der alte Mann lehnte ſich düſter an den verſtümmelten Schäfer; vor ſeinem geiſtigen Geſichte wälzten ſich, ſchoſſen und kugelten rieſige Infuſionsthiere umher, bis ihm die Gedanken in das Formloſe zergingen.
169Inzwiſchen umkreiſete Fräulein Emerentia ein mit Muſcheln eingefaßtes Becken, welches freilich ſchon ſeit geraumen Jahren ſo trocken lag, wie das rothe Meer, als die Iſraeliten hindurchgingen. Ein Delphin ſtreckte in der Mitte dieſes Beckens ſeine aufgeſtülpte Naſe empor. Er hatte von Glück zu ſagen, daß er aus Kupferblech beſtand; ohne dieſe Conſtitution hätte er in ſolcher Trockniß ret - tungslos verſchmachten müſſen. Auch ein Unbe - ſchäftigter! Woher ſollte der Waſſerſtrahl ihm zu - fließen, den er ſonſt aus den Nüſtern in die Höhe geſendet hatte? — Das Fräulein umſchritt, wie geſagt, das Becken, und ſah bald auf deſſen Grund, bald auf den Delphin, bald auf die bunten Kieſel, welche in Sternen, Rauten und Blumen eingelegt, den Platz um das Becken zierten, ohne daß ſie von einem dieſer Gegenſtände Troſt für ihre weh - müthigen Empfindungen zugeſprochen bekommen hätte. Hartes Loos, flüſterte ſie ſchwermuthsvoll vor ſich hin, mit einem reichen Herzen, mit einem zarten Gemüthe unter kalten, abſtoßenden Naturen leben zu müſſen! Wer verſteht hier die heilige Sehn - ſucht, die mich ſo ganz nach Rucciopuccio erfüllt, dem Fürſten von Hechelkram im Geheimen? Ich170 weiß, das Schickſal, welches unſer Leben wendet, will ſtill erwartet ſeyn, und darum greift kein un - geſtümes Verlangen im Buſen der Entwickelung der Tage vor, nein, geduldig harrt der gläubige Sinn des liebenden Weibes auf den ſeligen Augenblick, da der goldlackirte Wagen vor dem Schloſſe halten und der Läufer mit Blumenhut und Schurz in die Thüre ſpringen wird, fragend nach Emerentien, die in den Stunden der Andacht zu Nizza Marce - bille hieß. Aber eine feinfühlende zweite Seele, ein ſympathetiſches Gemüth wünſcheſt du dir, und darfſt du dir wünſchen, arme Emerentia, die Qual des Harrens zu lindern! Nun, wie ſteht es um die Befriedigung dieſes Verlangens hier? Welche Perſonen umgeben dich? Wirſt du in deinen Seuf - zern von irgend Jemandem, mit dem dich dein Loos verbunden hat, begriffen? Der gute Vater iſt gut, ſehr gut, aber lacht er nicht, wenn du ihm die Geheimniſſe deiner Bruſt leiſe und ſchamhaft enthüllſt? O wie verderblich iſt die einſeitige Ver - ſtandescultur, welche der Menſch von Journalen empfängt! Wie höhlt ſie das Herz aus! Und jener ſpartaniſche Pöbelnarr — — nein, denke ihn nicht zu Ende, dieſen Narren, deſſen cyniſche171 Reden ſchon in der Erinnerung meine keuſche Seele aus tauſend Wunden bluten machen. O komm, Menſch, fühlender Mitmenſch, den ich nicht kenne, aber geſtaltet vor den Augen meines Geiſtes ſehe, der du mich verſtehen wirſt ohne Wort, wie der heilige Mond, wenn ich zu ihm aufblicke, dem das Unausſprechliche in mir klar ſeyn wird, wie ein Spruch der Einfalt, komm, Tröſter, Paraclet, mir meine ſüßen Ahnungen auszudeuten, und mich in dem zu begreifen, worin ich mich ſelbſt nicht faſſe! — Nach dieſer Rede, die Emerentien gewiß jeder Leſerin von Gemüth theuer macht, ſetzte ſie ſich dem Delphin gegenüber auf einen unformlichen Raſen - hügel, der ehemals eine Bergere geweſen war, und fuhr fort, herzbrechende Seufzer auszuſtoßen.
Auch der Schulmeiſter war nicht glücklich. Er kauerte auf ſeinem Gebirge Taygetus, oder Schne - ckenberge, vor einem Feuer, welches der Wind hin und herwehte, und kochte ſchwarze Suppe. Denn es hatte zum Mittagseſſen auf dem Schloſſe Spi - nat gegeben, das einzige Gericht, welches er, ſonſt nicht auf Leckerei geſtellt, zu genießen unvermögend war, weil er behauptete, es ſchmecke nach Rauch - tabak. Während ſeiner Beſchäftigung polterte und172 brummte er folgende Reden heraus: Schlimm! Schlimm, beim Kuckuk, wenn man mit Ignoranten zu thun hat! Das Fräulein iſt eine Mondſchein - prinzeſſin, und der alte Baron, dem übrigens Gott ſeine Güte an mir vergelten mag, ein Confuſio - narius! Ich kriege es nicht heraus! Bis nach Böhmen kann ich die Spuren meiner Vorfahren verfolgen, als ſie ſich vor den Türken flüchteten, aber weiter geht’s nicht, von da bis hieher Nacht, Finſterniß, unwegſame Wüſte! Mein Aeltervater war aus Buxtehude, alſo haben die Spartaner einen Haken bis zur Nordſee geſchlagen. Wie reim’ ich nun dieſen Haken mit der Niederlaſſung der übrigen Ageſelſchen oder vielmehr Ageſilaus’ſchen Familie in hieſigen Landen zuſammen? Und doch, da die Sache ihre Richtigkeit hat, ſo muß ſie ſich auch beweiſen laſſen. O, ein Gelahrter, ein For - ſcher, der mir hülfe, die Vermuthungen zuſammen - ſtellte, und ſelbſt Vermuthungen hätte, wo mir alle Vermuthungen ausgehn; o, ein ſolcher Mann fehlt mir nur allzuſehr! — Er rührte heftig in der ſchwarzen Suppe und ſeine Reden gingen in einzelne abgebrochne Ausrufungen über, die von dem Verdruſſe ſeiner Seele zeugten.
173Nach einigen Minuten erſeufzte das Fräulein am trocknen Waſſerbecken ſo laut, daß ſelbſt ihr Vater am Flötenbläſer ohne Flöte und der Schul - meiſter auf dem Taygetus es vernahmen. Aus Sympathie ſtimmten ſie ihrerſeits ein, ſo ſtark ſie nur vermochten, und es ſtieg daher ein dreifacher, gewaltiger Seufzer der Sehnſucht im Garten des Schloſſes Schnick-Schnack-Schnurr empor. Kaum war er verklungen, ſo ertonte aus einer Ecke des Gartens, zunächſt der einfaſſenden Hecke, ein lautes Geräuſch, wie wenn Jemand von einer nicht unbe - deutenden Höhe herabfalle, ein Hufſchlag, wie von einem davoneilenden Pferde, und das Geſpräch zweier Menſchen, von denen der Eine fragte: Wie iſt es, mein gnädiger Herr? Haben Sie ſich wehe gethan? der Andre aber antwortete: Durchaus nicht, durchaus nicht, du weißt ja, daß mir kein Sturz etwas thut, auch liegt hier, wie du ſiehſt, ein weicher Haufen Unkraut und Gras zuſammen - getrieben, auf den bin ich geſunken, als ich aus den Lüften herniederſchwebte. Soll ich dem Pferde nachrennen? fragte die eine Stimme. Nein, ver - ſetzte die Andre, wir ſind am Ziel, welches das Schickſal uns wies. Laß die Creatur auch ihrem174 Ziele nachlaufen, welches ohne Zweifel in dem Stalle des Verleihers ſeyn wird, aus dem ich den Klepper im Städtchen entnahm.
Der alte Baron, das Fräulein und der Schul - meiſter näherten ſich jetzt dem Orte, wo der Fall und dieſes Geſpräch erſchollen war, und ſahen zwei Männer, welche ſie in nicht geringes Erſtaunen verſetzten. Der Eine war eine ſtämmige Figur, deren Eigenthümer ſeine vierzig und mehrere Jahre zählen mochte, mit einem durchaus blaſſen, aber kräftig musculöſen Geſichte, aus dem zwei große lebhafte Augen hervorſtrahlten. An ſeiner Kleidung zeichnete ſich ſonſt nichts aus, dagegen konnte ein übermäßig großer Strohhut mit fuß - breiten Krempen auffallend erſcheinen, welcher einige Schritte von dem Fremden im Sande lag. Dieſer Strohhut war eigentlich kein Strohhut; ſeine Form ſchwankte zwiſchen Mütze und Casquett. In Zukunft ſoll er, wo er noch vorkommt, der Strohhelm heißen.
Der Andere war noch unterſetzter und gedrun - gener, als der Erſte, ſchien mit ihm in gleichen Jahren zu ſeyn, hatte aber die gewöhnliche Geſichts - farbe eines geſunden Menſchen. Seine Augen waren wo möglich noch greller, als die des Herrn, denn175 in dieſem Verhältniſſe mußte wohl der Erſte zu dem Zweiten ſtehen, da Letzterer in einer eiergel - ben Livree ſtak, einen lackirten Bedientenhut auf dem Kopfe trug und ſich um den Erſten mit einer Kleiderbürſte bemühte, allerhand Erd - und Gras - ſpuren von dem lichtgrauen Ueberrocke deſſelben zu tilgen.
Indem die Geſellſchaft vom Schloſſe ſich den Fremden näherte, blickten dieſe auf, der Erſte ſagte dem Zweiten etwas in das Ohr, worauf der Diener den Strohhelm von der Erde erhob und ſeinem Herrn darreichte. Letzterer trat den Dreien entgegen und ſagte mit wunderbaren Muskelbewe - gungen im Antlitz zum alten Baron einige höfliche Worte der Entſchuldigung, daß er ſo unangemel - det in ſeinen Garten gefallen ſei. Der Baron ver - ſetzte, das habe gar nichts zu bedeuten, und der Schul - meiſter machte dazu eine tiefe Verbeugung. Beide muſterten erſtaunt die Zubehörungen des Fremdlings, wie man die Papierhefte, Rollen und Streifen wohl nennen durfte, welche aus den Seiten-Rücken - und Bruſttaſchen ſeines Rocks, ja ſogar aus den Oeff - nungen eines ledernen Ranzens hervorſahen, den er an einem Querriemen über die Schultern geworfen trug.
176Die Aufmerkſamkeit des Fräuleins war dage - gen in dieſen erſten[Augenblicken] weit mehr von dem Bedienten gefeſſelt worden. In der That zeigte der Aufzug dieſes Menſchen auch ſo manches von einer gewöhnlichen Livree Abweichende. Denn um von dem Strauße wilder Feldblumen zu ſchwei - gen, der an ſeinem Hute duftete, ſo mußte gewiß Jedem ſonderbar vorkommen, daß er einen großen bunten Tuch wie einen Schurz ſich um die Hüften geknüpft hatte.
Der Herr war indeſſen in die Mitte zwiſchen den Baron und den Schulmeiſter getreten, durch dieſe Bewegung war auch das Fräulein veranlaßt worden, ihn achtſamer zu betrachten, und ſich zu nähern; ſo bildeten die Drei eine Gruppe von Hörern um den Fremden, welche wie von ſelbſt entſtanden war. Laſſen Sie uns, geſchätzte drei Unbekannte, nicht zu lange in einem leeren Erſtau - nen einander gegenüber ſtehen, hob er mit einer gewiſſen Feierlichkeit an, welche jedoch die Wie - derholung jener Muskelbewegungen im Antlitz, auf die wir ſchon hingedeutet haben, nicht verhinderte. Ich fühle etwas in mir, welches mir ſagen will, daß unſer Zuſammentreffen in dieſem verwilderten177 franzöſiſchen Garten Folge einer ſideriſchen Con - junction iſt, welcher die Signatur unſerer vier Mikrokosmen entſpricht. Iſt dem alſo, ſo würde alles gehaltloſe Verwundern, und der eitle Apparat nichtsſagender Complimente, welcher die Vorhalle unbedeutender Bekanntſchaften auszieren muß, nur eine Verſchwendung köſtlicher Minuten ſeyn. Haſche nach Minuten, denn auf ihren Fittichen ruht die Ewigkeit! ſagt uns ein weiſer Dichter. Die tiefſte Ahnung meiner Seele ruft mit vernehmli - cher Stimme: Es war vorbeſtimmt; die Zeit war dazu reif, daß mein Pferd an jener Hecke bocken, ſich bäumen und mich zuerſt auf jenen Unkrauthau - fen ſchleudern, dem zu Folge aber in Ihren freund - lichen und empfänglichen Kreis befördern mußte.
Sind Sie vom Pferde geſtürzt? fragte der alte Baron. Ja wohl, verſetzte der Fremde; doch eigentlicher zu reden, ich flog mehr und beſchrieb in der Luft eine Curve, deren Berechnung wohl die Elemente der Ellipſe ergeben möchte. Ich bin auf einer gelehrten Fußwanderung begriffen, deren Zweck es iſt, das Mineral zu entdecken, wodurch man Luft — — — doch ſtill vor der Hand noch von dieſen Dingen! Weil ich mich aber ermüdetImmermann’s Münchhauſen 1. Th. 12178fühlte, nahm ich in der Stadt, vier Meilen von hier, ein Miethpferd zu dem Abſtecher in dieſe Gegend. Hieher wieſen mich geheime Andeutun - gen in manchen Schriften, welche die Menge nicht beachtet, die aber Körner gediegenen Goldes ent - halten. Auch eigne Combinationen machten es mir wahrſcheinlich, daß hier ein Stock des Min — — doch, wie geſagt, ſtill davon! Ich hing auf meinem Pferde verſchiednen Unterſuchungen nach, wie es denn meine ziemlich ausgebreiteten Studien mit ſich bringen, daß das Verſchiedenartigſte mir gleich - zeitig durch den Kopf zu laufen pflegt. Ich fand, daß die Infuſionsthiere, deren Oeconomie mich unter Andrem kürzlich beſchäftigt hat, eigentlich unentwickelte Karpfen ſind, und Gedächtniß be - ſitzen …
Können Sie mir mehr von den Infuſions - thieren ſagen? unterbrach der alte Baron mit einem ſchwärmeriſchen Eifer den Redner.
So viel Sie begehren; mit dieſen Geſchöpfen habe ich in dem vertrauteſten Umgange geſtanden, erwiederte Jener.
Dazwiſchen ſann ich meinen Hypotheſen über die Vertreibung und Verpflanzung der alten Natio -179 nen durch die Völkerwanderung nach, bewies mir, daß viel griechiſches Blut unter uns rollt, worauf auch ſchon in der Sprache ſo Manches hinweiſet, wie z. B. Kater, abſtammend von καϑείρω; rei - nigen, ſäubern, weil jenes Thier die Häuſer von Mäuſen reiniget; Katze, von der Präpoſition κατά, herab, gegen, darauf hin, drüber hin, durch hin, entlang; denn ſind nicht die Katzen in ihrer geſchmeidigen und ſtürmiſchen Beweglichkeit gewiſ - ſermaßen die lebendig gewordene Präpoſition Katà? Springen ſie nicht unaufhörlich von Dächern und Bäumen herab? Nicht gegen Mauern? Nicht, wenn ein Vogel im Laube ſpielt, drauf hin? Nicht, ſcheint der Mond auf den Söller, drüber hin? Nicht durch Dick und Dünn hin? Nicht Kornfel - der entlang? Alſo, griechiſche Rudera, wohin wir in Deutſchland treten …
Spartaniſche doch insbeſondere auch? fragte der Schulmeiſter mit funkelnden Augen.
Die werden ſich natürlich ebenfalls ſehr leicht entdecken laſſen, erwiederte der Fremde.
Der Schulmeiſter drückte dem alten Baron hinter dem Rücken des Fremden feurig die Hand, und der Schloßherr, der an die Infuſionsthiere12*180dachte, und alle Standesunterſchiede vergeſſen hatte, erwiederte dieſes Zeichen der Begeiſterung mit Wärme. Der Fremde fuhr fort: Dieſen und vielen andern Gedanken hing ich auf dem Rücken meines Thieres mit Bequemlichkeit nach, denn es gehörte zu denen - welche aufgehört haben, Freunde von Leibesbewe - gung zu ſeyn, und konnte nur durch die Gerte meines nachwandelnden Dieners, womit derſelbe die Schenkel des Läſſigen beſtrich, im nothdürftig - ſten Gange erhalten werden. Ich erzähle dieſe Umſtände ſo ausführlich, weil ſie dem nachfolgen - den Vorfalle erſt ſeine volle Bedeutung geben. Nämlich, als ich in den Weg einbiege, der ſich dort entlängſt Ihrer Gartenhecke hinzieht, und mein Miethroß im geſetzteſten Schritte einherſchleicht, ich aber an nichts weniger denke, als mit dem Schloſſe und ſeinen Bewohnern anzuknüpfen, ſcheut das Pferd, als ſähe es, gleich Bileams Eſelin eine Erſcheinung, wirft den Kopf in die Höhe, hebt ſich auf die Vorderfüße, bockt mit einer unglaublichen Schnellkraft, ſchlägt ſofort auch hin - ten aus, ſpringt mit einem Seitenſatze in das Dornengebüſche; ich aber, bügellos geworden, ſchwebe in der von mir ſchon beſchriebenen Curve, gemäß181 dem Parallelogramm der zuſammenwirkenden Kräfte des Bockens, des Ausſchlagens und des Seiten - ſatzes über die Gartenhecke auf den Krauthaufen. Während des Schwebens aber und bei dem Nie - derprallen entſteht in mir blitzartig eine intel - lectuelle Anſchauung, die mit ſinnlicher Stärke vom Kreuze aufwärts durch das Rückenmark in die Gehirnnerven ſteigt, und in Worte überſetzt, lautet: Dieß iſt ein großer hiſtoriſcher Moment, ein Ausgangspunct wichtiger Entwickelungen. Damit Sie aber erfahren, wer ſo unvermuthet in die Mitte aller Ihrer Beziehungen geſchleudert wurde, ſo vernehmen Sie meinen Namen, Stand und Cha - rakter. Ich bin der Freiherr von Münchhauſen, Mitglied faſt aller gelehrten Geſellſchaften, in die Academie der Arcadier zu Rom mit der Bezeich - nung: Der nie Verwelkende, aufgenommen.
Und ich, ſagte der Diener, dreiſt zu den Herr - ſchaften herantretend, bin der Bediente Karl But - tervogel, bürſte meinem Herrn die Kleider aus, und putze ſeine Stiefeln. Die gnädige Dame da ſehen verwundert meinen Blumenſtrauß am Hute, und dieſes Tuch an, welches beinahe wie ein Lau - ferſchurz läßt; ja, ich wäre ſo ein Laufer, den jede Schnecke einholen würde; ich habe zu ſchwer hier an meinem Torniſter zu ſchleppen, worin die Inſtrumente des gnädigen Herrn ſtecken. Nein, ich pflückte mir die Blumen aus Langerweile, wäh - rend mein Herr die Luft unterſuchte, und was183 den Schurz betrifft, ſo habe ich mir den umge - knüpft, meine Unterkleider vor den verdammten Dornen in Acht zu nehmen, durch die der gnädige Herr ſich abſolut hindurcharbeiten wollte. Ich glaube nicht, daß die Schindmähre vor einem hiſto - riſchen Momente geſcheut iſt, wie Sie ſagen, ſondern die Dornen riſſen ſie, und davon wurde das Vieh fuchstoll.
Der alte Baron und der Schulmeiſter hörten mit Verwunderung dieſen überkecken Reden eines Dieners zu. Münchhauſen ſuchte mit einem gewich - tigen Blicke den Vorlauten in ſeine Schranken zurückzuweiſen, da aber Jener den Blick ertrug, ohne ſich niederſchlagen zu laſſen, ſo ſenkte der Herr die Augen, und die Züge ſeines Geſichtes begannen, ein geheimes geiſtiges Leiden auszuſpre - chen. In dem Fräulein aber war die heftigſte Gemüthsbewegung entſtanden. Ihre Wangen hatten ſich bei den Reden Karl Buttervogel’s in Purpur - gluth gefärbt, ihre fliegenden Blicke ſchweiften von dem Herrn zum Diener, und von dieſem zu jenem, während die Lippen leiſe Fragen an das Schickſal vor ſich hin flüſterten, welche wie: Lau - ferſchurz? Blumenhut? lauteten.
184Der alte Baron lud den Freiherrn von Münch - hauſen auf das Freundlichſte ein, bei ihm ſo lange vorlieb zu nehmen, als es ihm gefiele, was Münch - hauſen dankbar annahm. Alle begaben ſich hierauf aus dem Garten in das Haus, nachdem der Schloßherr ſeinem Gaſte, der das zerſtörte Gebäude einigermaßen ſtutzig anblickte, zuvor eröffnet hatte, die Wirthſchaft ſei in dieſem Augenblicke durch allerhand Zufälligkeiten etwas in Unordnung gera - then, auch ſolle gebaut werden. Auf der Treppe, die vom Hausflure zu dem Wohnzimmer führte, hätte der Freiherr beinahe wieder ein Unglück gehabt. Denn eine von den morſchgewordnen Stufen knackte, als er ſie betrat, und brach. Hier - auf verlor er das Gleichgewicht, wollte ſich an dem Geländer halten, faßte aber nur in die dünne Luft, weil das Geländer vorlängſt zu Brennholz verwendet worden war. Er wäre gefallen, wenn ihn nicht der alte Baron am Rockzipfel gehalten hätte. So aber kam er doch wieder glücklich auf ſeinen Füßen zu ſtehen, und wurde vorläufig in das Wohnzimmer geführt, bis ſeine Appartements in Stand geſetzt waren. Dieſe Einrichtung beſorgte der Schulmeiſter, da mit dem Fräulein nichts anzu -185 fangen war. Sie ſaß verklärten Blicks in einer Ecke des Zimmers, ſah vor ſich hin, und ihre Gedanken ſchienen abweſend zu ſeyn. Als der Vater zu ihr ſagte: Renzel, (ſo nannte er ſie, wenn er beſonders guter Laune war) wo kriegen wir den Nachttiſch her für den Fremden? ver - ſetzte ſie: O Vater, es wird Tag! und als er ſie bat, die Bettung des Gaſtes zu beſorgen, blickte ſie ihm ſtarr in das Antlitz und verſtand ihn nicht. Der Schulmeiſter, welcher unter ſothanen Umſtänden ſich zum Haushofmeiſter anerbot, bewies dagegen eine nicht geringe Anſtelligkeit. Er war während ſeines Dienſtes zu Hackelpfiffelsberg ſich Knecht und Magd geweſen, und hatte dadurch die genauſte Kenntniß aller kleinen häuslichen Geſchäfte erworben. — Flink räumte er von der Vorraths - kammer, die der Schloßherr zum Gaſtzimmer beſtimmt hatte, weil ſie das einzige Gelaß war, welches noch Fenſtern hatte, die getrockneten Aepfel, die Bohnen und Erbſen hinweg, welche für den Winterbedarf dort aufgeſchüttet lagen, ſorgte für das Haupt des Fremden, indem er die loſe Gyps - bekleidung der Decke mit einer Stange abſtieß, fegte den Eſtrich rein, verjagte die Spinnen aus186 ihren luftigen Schlöſſern, nahm aus den Betten der Schloßbewohner die noch einigermaßen ent - behrlichen Stücke, ſtellte verſchiedene Holzfragmente mittelſt Säge, Hammer und Nägel zu einer Art von Sponde zuſammen, und wußte ſelbſt noch einen erträglichen Tiſch und Stuhl für den Frei - herrn aufzutreiben.
Nach vollbrachtem Werke ging er hinunter und fand den alten Baron um zehn Jahre verjüngt. Münchhauſen hatte ihm die Wirthſchaft der Infu - ſionsthiere mit ſo reizenden Farben geſchildert, daß ſein Zuhörer in Entzückung gerathen war, er hatte ihm ganze Idyllen, Epen und Tragödien vorgetragen, die ſich in jedem Waſſertropfen ſeiner Verſicherung nach ereigneten. Als der Schulmei - ſter nun einige Augenblicke mit Münchhauſen allein gelaſſen wurde, gab ihm dieſer auf Verlangen ſein Wort, daß er unfern von Buxtehude in einem Bauerndorfe die deutlichſten Spuren ſpartaniſcher Sitte und Abkunft angetroffen habe, indem die Leute dort nichts von den Wiſſenſchaften hielten und von Schmutz ſtarrten. Der Schulmeiſter ging höchſt befriedigt von dannen, um ſeine ſchwarze Suppe zu verzehren, und überließ Emerentien den Freiherrn.
187Nach einer Pauſe, die ſo feierlich war, als die - jenige zu ſeyn pflegt, welche die Comödianten vor der großen Scene machen, in welcher die Liebe dadurch über die Cabale ſiegt, daß Ferdinand ſei - ner Louiſe Rattenpulver in Limonade eingiebt, nach einer Pauſe, lang und laſtend, wie die vorſtehende Periode, ſagte das Fräulein ſchüchtern zum Frei - herrn: Herr von Münchhauſen, Sie treten wie ein mythiſches Product unſrer Zuſtände mit innerer Nothwendigkeit in die Burg meiner Väter. Schon haben Sie ſich ſelbſt in Ihrer Gartenrede als einen durch beziehungsvolle Beziehungen mit unſern Wünſchen und Ausſichten Verknüpften empfunden. Verargen Sie es daher der ſchüchternen Jungfrau nicht, wenn ſie, die Geſetze der Zurückhaltung, welche ſonſt meinem Geſchlechte eignen, brechend, Sie herzlich und dringend fragt: Giebt es noch Laufer?
Ja, meine Gnädige, erwiederte der Freiherr mit ernſter Rührung; es giebt allerdings noch Laufer.
Pflegen ſich wohl Fürſten dergleichen Laufer zu halten? fragte das Fräulein, indem ſie eine Thräne im rechten Auge zerdrückte.
188Nur ein Fürſt iſt deſſen fähig! rief Münch - hauſen, und führte das Taſchentuch an ſein linkes weinendes Auge.
Und nun die letzte Frage an Ihr ſchönes Herz, edler Mann, eine Frage, in der Sie meine Seele empfangen: Trägt ein Laufer, wo er erſcheint, Blumenhut und Schurz?
Blumenhut und Schurz bleiben die Zeichen eines Laufers bis an das Ende der Tage, ſprach der Freiherr erhaben, und ſtreckte, wie ſchwörend, den Daumen und die beiden erſten Finger der rechten Hand empor.
Ich danke Ihnen für dieſe Stunde, ſagte das Fräulein. Mein Leben beginnt wieder ſeine Schwingen zu regen. Das Schickſal giebt mir ein Zeichen; auf die Lippen der Unſchuld, auf die Lippen Ihres Karl legte es ſein bedeutendes Wort, wunderſamen Tönen meines Tiefinnerſten entſprechend, Schätzen des Buſens, die ſich eben leuchtend dem Dunkel entrungen hatten. Sie aber, hoher Meiſter, legten zart und weiſe die ſüße Fabel als ſchlichte, treue Wahrheit aus. O ich wußte wohl, daß ich hier verſtanden werden würde!
189Durchaus verſtanden! rief Münchhauſen.
In dieſem Augenblicke trat der alte Baron, der inzwiſchen die Einrichtung der Gaſtſtube beſichtigt hatte, wieder in das Zimmer, und lud Münchhauſen ein, ihm dahin zu folgen, damit er es ſich vor der Hand etwas bequem machen könne.
Emerentia ſagte, als ſie allein war: Er iſt erſchienen, der mich ohne Wort verſteht; der Him - mel hält uns die Verheißungen, die er uns in der Sehnſucht giebt! Bald, bald wird nun auch Ruccio - puccio kommen, der Fürſt von Hechelkram, ſeine Freundin im reinſten Sinne des Worts abzuholen.
In den nächſten Tagen nach der Ankunft des Fremden ging das ſchwärmende Entzücken der Schloßbewohner über den wunderbaren Mann in den ruhigeren, aber um ſo feſteren Glauben über, daß in ihm der vom Verhängniß beſtimmte Hei - land ihrer Wünſche erſchienen ſei. Denn der alte Baron merkte ſchon am erſten Abende, an welchem er Münchhauſen’s Unterhaltung genoß, daß mit den Kenntniſſen, Erfahrungen, Schickſalen, Blicken, Ideen und Hypotheſen ſeines Gaſtes Niemand zwiſchen Himmel und Erde ſich zu meſſen vermöge. Er war, ſeinen Erzählungen zu Folge, faſt in191 allen bekannten und unbekannten Gegenden der Erde geweſen, hatte ſämmtliche Künſte und Wiſ - ſenſchaften getrieben, zu Weinsberg Blicke in das Geiſterreich gethan, war durch alle Lagen des Lebens abwechſelnd als Küchenjunge, Krieger, Staatsmann, Naturforſcher und Maſchinenbauer gegangen. Selbſt in außermenſchliche Regionen war ſein Lebensloos geworfen worden; er ließ nach den erſten Stunden der Bekanntſchaft merken, daß er einen Theil ſeiner Tage unter dem Vieh zugebracht habe.
Der alte Baron hatte hauptſächlich die Abend - ſtunden, in welchen die Geſellſchaft ſich im Wohn - zimmer zu verſammeln pflegte, und bei dem Scheine einer Kerze auf den hölzernen Schemeln um den kiefernen Tiſch ſaß, ſich zu Mittheilungen erbeten. Für die Gartenpromenaden war von ihm ein noch ſtrengeres Silentium feſtgeſetzt worden, als früher - hin, denn, ſagte er, man muß den Tag zum Nach - denken frei behalten, darüber, was Münchhauſen am Abend erzählt; des Stoffes wird ſonſt zu viel, und wir werden Alle drehend, wie die Schafe, von der Weisheit dieſes Mannes. — Aus dem Journalcirkel trat er nun wieder aus; in ſeinem192 Gaſte beſaß er jetzt mehr, als ihm eine Zeitſchrift bieten konnte, der Geiſt aller Journale erſchien in Münchhauſen verkörpert. Immer ging der wunderbare Mann bei ſeinen Erzählungen von etwas Bekanntem und Verbürgtem aus, erhob ſich aber von dieſer Grundfläche zu den kühnſten und abentheuerlichſten Schwüngen, ſo daß man wohl ſagen konnte, er ſtelle recht eigentlich in ſeiner Perſon den gewaltigen Fortſchritt unſerer Zeit dar.
Freilich blieb die Empfindung des Schloßherrn nicht ganz ohne eine hin und wieder hervortre - tende entgegengeſetzte Beimiſchung. Münchhauſen redete auch viel von Literatur und Poeſie, und konnte bei ſolchen Geſprächen leicht ſatiriſch wer - den. Der alte Baron hatte aber an dieſen Gegen - ſtänden kein Intereſſe, und haßte die Satire; weßhalb er denn auch derartigen Converſationen ſich nur mit einem gewiſſen Unbehagen hingab. Wirklich verletzt aber fühlte er ſich, wenn Münch - hauſen, wie er nicht ſelten that, ſeine Meinung äußerte, alle Menſchen ſeien gleich geboren, und nur der Wahn, der aber für immer ab und todt ſei, habe den Einen durch ſeine Geburt zu Vor - zügen beſtimmt ausgeben können, die nicht auch193 das Eigenthum aller ſeiner Mitbrüder geweſen ſeien.
Mit dem Fräulein geſtaltete ſich das Verhält - niß des Gaſtes bald gründlich und tief in das zarte Verſtehen ohne Worte aus, welches unſere ſinnigen und hochſtehenden Frauen ſo ſehr lieben. Wenn ſie ihm zuflüſterte, ein unausſprechliches Etwas durchwoge ſie, ſo verſicherte er, daß er ſie vollkommen begreife; und konnte ſie für den Drang ihrer Empfindungen nur Vorderſätze ohne Nachſätze finden, ſo ließ er ſie ahnen, daß Letztere in ſeiner verſchwiegenen Seele ausgeſpro - chen ruhten. Daneben erquickten ſie die glänzenden Schilderungen, welche er von fremden Gegenden gab, im Grunde ihres Herzens, und bis zur Schwärmerei ſtieg ihre Regung, wenn er die vier - undzwanzigſylbigen Namen, welche in Mexico, Peru oder Indien gebräuchlich ſind, ausſprach.
Zwar fühlte auch ſie ſich jezuweilen durch ihn verwundet. In dem Glauben nämlich, ihr dadurch nur noch um ſo mehr zu gefallen, ſprach er eini - gemale ſeine Meinung aus, daß nur das Weib ihren Empfindungen treu bleibe, bei dem Manne aber der Spruch gelte: Aus den Augen, aus demImmermann’s Münchhauſen. 1. Th. 13194Sinne! weßhalb denn auf kein von dieſen unbe - ſtändigen Weſen gegebnes Verſprechen jemals zu rechnen ſei. Er konnte freilich nicht wiſſen, wie ungeſtüm ſolche Ausſprüche ihren Erwartungen ent - gegentraten. Sie pflegte darauf zu verſetzen: Herr von Münchhauſen, Karls und Ihre Erſcheinung widerlegt mir im Sinne höherer Ahnung zum Vor - aus dieſen Satz. Wenn ſie nun das ſagte, ver - ſtand er ſie wirklich nicht, und war auch nicht ſo dreiſt, es ihr zu verſichern.
Indeſſen gingen dieſe einzelnen Mißſtimmungen immer bald in dem Gefühle der Hingebung und Begeiſterung unter, welches Vater und Tochter ihm widmeten; ja ſie dienten durch den Contraſt dazu, dieſem Gefühle nur noch größere Leidenſchaftlichkeit zu geben. Dagegen war der Schulmeiſter dem Freiherrn gegenüber in einer eignen Stimmung, die ſich nur mit den Scherzbildern vergleichen ließ, welche von der einen Seite angeſehen, ein lächeln - des Geſicht, von der andern betrachtet, eine ver - drießliche Fratze zeigen. Die Perſönlichkeit Münch - hauſens nebſt ſeinen Reden hatte nicht verfehlen können, auch auf den Schulmeiſter einen tiefen Eindruck zu machen; wir wiſſen, welche Ausſichten195 für die Beſtätigung ſeiner theuerſten Ueberzeugun - gen auch er an dieſen Mann des Schickſals knüpfte. Nun aber konnte er ſich ſchon nicht mit der Dar - ſtellungsweiſe Münchhauſens überall einverſtanden erklären. Er war von ſeinem Elementarunterrichte her an Einfachheit gewöhnt; er hatte den Knaben und Mädchen die Erſchaffung der Welt, den Sün - denfall, die Opferung Iſaaks, und die Geſchichte des keuſchen Joſeph, ohne Epiſoden einzumiſchen, immer ſchlicht heraberzählt. Der Freiherr aber, überwältigt von ſeinen Erinnerungen, überfüllt mit Bezügen, Rückblicken und Seitenblicken, ſchachtelte dermaßen Nebengeſchichten in ſeine Hauptgeſchichten ein, und verſtieg ſich oft in ein ſolches Labyrinth dabei, daß dem armen Schulmeiſter, welcher noth - gedrungen den Theſeus in jenen Irrgängen ſpielen mußte, der Faden der Ariadne häufig aus den Händen ſchlüpfte. Außerdem hatte er zu bemerken, daß Münchhauſen, der ihn für einen untergeord - neten Miteſſer anſah, wie er es denn in der That auch war, ihm keinesweges mit der gefälligen Auf - merkſamkeit begegnete, wie dem alten Baron und dem Fräulein, ja ſich ſogar vergebens von ihm anmahnen ließ, die Wanderung der vertriebenen13*196Spartaner nach dem Fürſtenthume Hechelkram urkundlich für ihn auseinander zu ſetzen.
Er war daher abwechſelnd böſe auf den Frei - herrn, und hingeriſſen von ihm. So wahr iſt es, daß jeder Prophet ſchon in ſeiner erſten Gemeine den Thomas findet, welcher ihm heute folgt, und ihn morgen verläugnet.
An einem der Erzählabende ſagte der alte Baron zu ſeinem Gaſte: Weiß Gott, daß ich nicht gern an Wunder glaube, und im Grunde auch der Meinung bin, die Natur ſei ein Haus, worin man noch immer jeden Tag neue Zimmer und Kammern entdeckt, aber wenn ich bedenke, wie Ihr, liebſter Münchhauſen, uns dahergeſchleudert wurdet, juſt, als wir, wie ich nun von Emerentien und dem Schulmeiſter herausgebracht habe, gleichzeitig nach einem Manne, wie Ihr ſeid, das allerlebhafteſte Verlangen empfanden, und auf einen Schuß den dicken Sehnſuchtsſeufzer hervorſtießen — ſo weiß ich wahrhaftig nicht, ob dergleichen mit rech - ten Dingen zugehen kann.
Und was wäre denn daran ſo wunderbar, wenn Sie, meine Freunde, mich herangeſeufzt hätten? rief Münchhauſen. Darüber ſind wir denn doch197 nun wohl aufgeklärt, daß dem menſchlichen Geiſte, wenn er ſich recht in einem Punkte concentrirt, ein geſteigertes Vermögen beiwohnt, wie denn z. B. Görres in einem überaus glaubwürdigen Buche, in ſeiner chriſtlichen Myſtik, erzählt, die hei - lige Catharina habe einmal wegen leichter Indis - poſition nicht communiciren können, und deßhalb während der Altarhandlung in einer entfernten Ecke der Kirche gekniet; das habe aber gar nichts zu ſagen gehabt, denn die Hoſtie ſei über das ganze Schiff der Kirche hinweg ihr in den Mund geflogen.
Nun ſage ich immer: Was dem Einen recht iſt, muß dem Andern billig ſeyn. Können die Frommen ſich das Venerabile von hundert und mehreren Schritten herbeibeten, ſo haben die Welt - lichen, wenn ſie nur ihr Verlangen auch energiſch auf einen Punkt richten, gewiß ebenfalls die Macht, dieſen Punkt, beſtehe er nun in Geld, Frauen, Ehre, herbeizuziehn; und jede Parthei kriegt auf ſolche Weiſe, was ſie wünſcht, die Frommen empfangen das Eine, was Noth thut, die Weltlichen das Andre, was hilft. Ich bin alſo überzeugt, daß Ihre drei Sehnſuchten meinem Miethpferde magi -198 ſche Schlingen um die Füße legten, die es in den Dornenweg entlängſt der Gartenhecke zogen, und daß es dann vor der myſtiſchen Gewalt Ihrer Seufzer ſcheute, ſolchergeſtalt aber durch die nach - folgenden Zwiſchenurſachen hindurch mich zu Ihnen beförderte.
Ja, Münchhauſen, rief der alte Baron, Ihr ſeid gleichſam aus der Luft wie ein Donnerkeil unter uns geſchlagen!
Münchhauſen fuhr fort: Wie käme es denn, wenn eine ſolche Macht des menſchlichen Willens nicht beſtände, daß ſo manches gute, ſchöne Mäd - chen ſich mit den häßlichſten, einfältigſten Tropfe vermählt? Der Tropf hat es ſich einmal in den Kopf geſetzt, eine ſchöne Frau zu bekommen; er richtet ſein ganzes Verlangen auf eine ſolche, und ſie giebt ihm richtig ihre Hand, ohne ſelbſt zu wiſſen, wie es zugegangen iſt. Wieder ein Andrer hat mehr Liebhaberei an Ehrenſtellen und hohen Poſten; er weiß Nichts, gar Nichts, er kann eigentlich keinem Schreiberdienſte vorſtehen, aber er iſt ein Mann von „ Geſinnung “d. h. nach der Auslegung, die wir Eingeweihten unter uns dem Worte geben; er beſitzt die ſtärkſte Intenſivität199 des Sinns, ſich und ſeinen Herrn Vettern alles mögliche Gute und noch etwas mehr zu verſchaffen, überzeugt, daß, wenn es nur ihm und den Herrn Vettern wohl gehe, es auch mit dem Glücke des Landes wohl beſtellt ſei.
Louis quatorze ſagte: l’Etat, c’est moi. Wir haben nun gegenwärtig keinen Louis quatorze, aber eine Clique haben wir, eine ſchöne, vollſtändig organiſirte Clique, mit Ober - und Untercliquiers von dauerhafter Geſinnung und die Clique ſagt: l’Etat, c’est la clique.
Mais, pour revenir à mes moutons: Ein Geſinnungsmann ohne Kenntniſſe und Verſtand wünſcht ſich in der Stille ſo lange mit ſolcher Inbrunſt zum Statthalter oder Miniſter, bis er eines Tages, alſo brevetirt, aufſteht. Die Welt ſchreit von kleinen Intriguen, die geſpielt worden ſeien; ach, Poſſen! ſie ſollte dafür ſich einen Blick in große Naturgeheimniſſe anzueignen ſuchen. Die myſtiſche Kraft der Sehnſucht hat gewirkt, daß dem Geſinnungsmanne die Statthalterei in den Mund flog, wie …
Eine gebratene Taube! fiel der alte Baron ein.
200Die Hoſtie der heiligen Catharina, nach Gör - res; ſagte Münchhauſen. Ich habe mir im Her - zogthume Dünkelblaſenheim einmal den Landesorden erſehnt; d. h. ich habe nicht ſehnſuchtsvoll, wiewohl vergebens, danach geſeufzt, ſondern ihn realiter an meinen Rock herbeigeſehnt. Der Herzog iſt ein guter alter Mann, ſeine Bildung datirt noch von Gellerts Fabeln, darüber iſt er nicht hinaus - gekommen, und in heiterer Rückerinnerung an dieſes kindliche Lehrmittel hat er den Orden vom grünen Eſel geſtiftet, mit Comthuren, Großkreuzen und Kleinkreuzen. Der Eſel frißt in einer Umkrän - zung von Sternen Diſteln, und die Ordensdeviſe lautet: l’appetit vient en mangeant. Nun, nach dieſem grünen Eſelorden verlangte ich heftig, denn man war in Dünkelblaſenheim kaum noch bei’m Wege angeſehen, wenn man nicht zu den Eſeln gehörte; ſo wurden die Ritter nach einer abkür - zenden Redefigur benannt. Eines Morgens kommt mein damaliger Stiefelputzer Kalinsky vor mein Bette, hält mir den Frack, der in der Stube gehangen hatte, ausgeſpreitet unter die Augen und ruft: Herr von Münchhauſen, Sie ſind über Nacht auch ein Eſel geworden. Ich ſehe hin und201 erſtaune denn doch ein wenig, denn richtig ſitzt im dritten Knopfloch das changeante Band, und daran hängt das Kreuz mit dem Diſtelfreunde und der Deviſe. Ich ſpringe aus dem Bette, erkundige mich im Hauſe, ob Jemand ſich habe einſchleichen und den Spaß verüben können? Aber die Thüre war die ganze Nacht über feſt verſchloſſen geweſen, Kalinsky war der Erſte, der von außen kam.
Der Orden iſt da, wo aber ſtecken deine Ver - dienſte? frage ich mich ſelbſt. Haſt du irgend Verdienſte um Dünkelblaſenheim? Ich prüfte auf das Ernſteſte mein Gewiſſen; ich löſ’te die letzt - gedachte Hauptfrage in ſechs Unterfragen auf:
Aber auf alle Fragen und Unterfragen mußte ich mir mit Nein! antworten. Ich hatte kein Verdienſt, gar kein Verdienſt, nicht das geringſte Verdienſt um jenen Staat. Um andere Staaten habe ich mir Verdienſte erworben, aber nicht um Dünkelblaſenheim. Ich lüge Ihnen nichts vor, mein Wahlſpruch iſt: la verité, toute la verité, rien que la verité.
Und der Orden war doch da. Alſo abermals eine Erfahrung von der myſtiſchen Kraft der reinen202 Sehnſucht. Das Wunderbare bei der Sache, und was ich mir noch nicht habe erklären können, war, daß nicht allein das Kreuz von meinem Wunſche herbeigezogen worden war, ſondern daß es auch ſeinerſeits auf das changeante Band eingewirkt hatte, ſo daß dieſes ſich von ſelbſt in das Knopf - loch knüpfte. Ich verſuchte, den Knoten zu löſen, aber er war ſo feſt geſchlungen, daß mir dieſes nur mit der größten Mühe gelang. Auch nachher blieb das Band untrennbar haften, wie Johanna Rodriguez nach Görres chriſtlicher Myſtik, Band 2 pagina 569 feſt am Kreuze haften blieb, auf wel - ches ſie ſich locker gelegt hatte.
O wäre ich Johanna Rodriguez! flötete das Fräulein.
Dummes Zeug! brummte der Schulmeiſter.
In dieſem Buche von Görres müſſen ja erſtaun - liche Dinge ſtehen, ſagte der alte Baron.
O, rief Münchhauſen, ganz andere Dinge ſtehen noch darin! Dem heiligen Filippo Neri ſchwoll, nach Görres, das Herz vom Beten ſo an, daß es ihm zwei falſche Rippen zerbrach, nämlich die vierte und fünfte; der heilige Petrus von Alcan - tara brannte ſo in Liebesflammen, daß der Schnee203 um ihn ſchmolz, und daß er einmal bei Winters - zeit, um ſich abzulöſchen, in einen gefrornen Teich ſpringen mußte, worauf das Eis um ihn ziſchte und kochte, wie in einem Gefäße über großem Feuer …
Hört auf, hört auf! rief der alte Baron. Mir ſchwindelt.
Feurig fuhr Münchhauſen fort: Görres ſagt auch: Die Heiligen röchen ſehr ſchön, beſonders wenn ſie den Ausſatz hätten. Was aber das Lieb - lichſte iſt: Sie geben Oel von ſich. Die heilige Lutgardis drückte ſich das Oel aus den Fingern, Chriſtina mirabilis hatte es in den Brüſten, und von der Aebtiſſin Agnes von Monte Pulciano füllten die Kloſterſchweſtern ganze Krüge ab. Gör - res hat auch dieſen Oelbildungsproceß ſehr richtig an den Körper vertheilt, wie er denn überhaupt Nichts ſo roh und unzugerichtet hinſchreibt, ſondern alle die Sachen, welche ſich an den Heiligen ereig - nen, aus der höheren Phyſiologie ableitet. In den unteren, beſchatteten Regionen des Leibes bilde ſich das milde oder fette Oel, ſagt Görres …
Verſtehe, verſtehe, eine Art von Baumöl, Salatöl, rief der alte Baron dazwiſchen und204 ſchwenkte ſeine Mütze; wo aber rechte Heiligkeit herrſcht, grünliches Provenceroel …
O gäbe ich auch Oel von mir! ſchmachtete das Fräulein.
… Oben jedoch, in den höheren Regionen, alſo etwa vom Zwerchfelle aufwärts, komme es mehr zur Production eines flüchtigen Oels, Aroma’s, ſagt Görres. Zuweilen nun, wenn gerade in der Luft eine beſondere Beſchaffenheit obwaltet, ſchlägt ſich dieſes Aroma als Manna in Form eines Kreuzes nieder, was dann die Gläubigen vom Hei - ligen abkratzen und aufeſſen. So hat es ſich nach Görres bei der ſchon erwähnten Aebtiſſin Agnes von Monte Pulciano zugetragen.
Münchhauſen! Münchhauſen! rief der alte Baron, blies die Backen auf, und ſtieß einen Strom Luft aus denſelben hervor, wie er zu thun pflegte, wenn ihm ein Gedanke zu mächtig wurde — wir leben in einer großen Zeit. Ueberall, durch das ganze Reich des Wiſſens hin, ſtiftet ſich Licht und Zuſammenhang. Was dem Filippo Neri mit ſeinem Herzen begegnete, iſt ja in einem höheren Gebiete nur daſſelbe, was ſich tagtäglich in einer niederen, animaliſchen Sphäre ereignet.
205Wenn doch die Zeiten der Görres’ſchen Wun - der ganz wiederkehrten, ſo könnte man ja faſt alle Haushaltungsbedürfniſſe mit einem ſeiner Hei - ligen beſtreiten, und erſparte hundert Auslagen, die das Leben jetzt ſo ſehr vertheuern! Ein Gör - res’ſcher Heiliger heizte uns das Zimmer durch, gäbe Oel, unten fettes, oben flüchtiges, ein Paar - mal im Jahre auch eine Schüſſel Manna …
Guter, ſchuldloſer Vater! ſagte Emerentia und blickte ihren Vater mitleidig an. — Ob es je dahin wieder kommen wird, weiß ich nicht, ſagte Münchhauſen, aber mit dem Görres’ſchen Buche habe ich ſelbſt mein dreifarbiges Wunder erlebt.
Der Schulmeiſter war hinausgegangen. Ihm machten dieſe Erzählungen große Beſchwerlichkeit, denn er war entſchiedner Rationaliſt. Der Baron und ſeine Tochter forderten den Freiherrn dringend auf, das dreifarbige Wunder zu berichten, und Münchhauſen hob wieder an:
Geſchätzte Freunde und Zuhörer, wiſſen Sie hiemit, daß ich das vielbelobte chriſtlich-myſtiſche Buch auf meinem Bücherbrette neben dem Leben Jeſu von Strauß ſtehen hatte. Doctis pauca sufficiunt; Gelehrten iſt gut predigen, ich brauche206 Ihnen, mein würdiger Altvater und Schloßherr, nicht des Breiteren den Inhalt der letzteren Schrift auseinander zu ſetzen, denn es iſt Ihnen aus Ihrer Journallectüre bekannt, daß, wie der chriſt - liche Myſtiker noch bis auf die neueſte Zeit die Nägelmaale ſich hat reproduciren laſſen, der Andere dagegen dem Heilande nicht einmal ſein Daſeyn in den Evangelien gönnt, ſondern behauptet, die apoſtoliſche Kirche ſei eine Art von Actiengeſell - ſchaft geweſen, die ſich den Erlöſer auf gemein - ſchaftliche Koſten angeſchafft habe, weil ſie ihn bedurft. — Es war unvorſichtig von mir, daß ich zwei ſo widerhaarige Bücher zuſammengeſtellt hatte; ich mußte vorausſehen, daß ſie ſich nicht vertragen würden. Und ſo kam es auch. Eines Nachts wache ich von einem ſonderbaren Geräuſch auf, welches aus meiner Bibliothek tönt. Ich nehme die Kerze, leuchte hin, und habe einen ſeltſamen Anblick. Strauß und Görres ſind in wüthendem Kampfe begriffen, nämlich ſo, daß die beiden ein - ander zugekehrten Buchdeckel auf einander zu ſchlagen, wie die Flügel erboſter Truthähne. Der Kirchen - rath Paulus, Stäudel, Marheineke, ſelbſt Tholuck, die rechts und links von dieſen beiden Werken207 geſtanden hatten, waren ſcheu zur Seite gewichen, ſo daß die Gegner vollen Raum zur Entfaltung ihrer Polemik in den Buchdeckeln gefunden hatten. Dabei gaben ſie ſonderbare Töne zu vernehmen. Im Leben Jeſu ließ ſich ein feines, nagendes Knis - pern, wie von freſſenden Mäuſen hören, dagegen grunzte und grölzte die dicke Myſtik in einer Art von Strohbaß. Ich nahm meinen armen Görres, der auch ſchon ganz warm geworden war, wenn gleich nicht glühend, wie der heilige Petrus von Alcantara, vom Brette, ſtreichelte ihn, redete ihm mit guten Worten zu, und brachte es denn endlich auch dahin, daß ſich das Buch von ſeiner entſetz - lichen inneren Aufregung beruhigte; während das Leben Jeſu noch immer mit dem einen Deckel in die leere Luft hineinfocht, gegen einen Wunderglau - ben, der ihm gar nicht mehr gegenüber ſtand.
Wie ich nun aber den Einband von Görres unter - ſuchte, um zu ſehen, ob er in dieſem Strauße mit Strauß nicht Schaden gelitten habe, da erſchien mir das dreifarbige Wunder. Ich hatte nämlich den Gör - res in Purpur binden laſſen, und, was ſagen Sie dazu, meine Freunde? der Autor hatte vor Alteration zwiſchen dem Purpur blaue und weiße Streifen208 bekommen. In der That, meine Wertheſten, die chriſtliche Myſtik hatte das alte, wohlbekannte, revo - lutionaire Coblenzer Blau, Roth und Weiß von Anno 1793 angelegt. Ein Farbenkundiger ſagte mir nachmals, dieſe Tricolore ſei die eigentliche Grundfarbe des Autors und trete bei jeder Erregung, auch bei der myſtiſchen, aus allen anderen Ueber - pinſelungen immer wieder ſiegreich an ihm hervor.
Nun, dem ſei, wie ihm wolle. Ich ſtellte meinen Gorres auf ein andres Brett, hatte ihm jedoch in der Nachtmüdigkeit abermals einen unſchick - lichen Platz gegeben, wie ich am folgenden Mor - gen ſah. Nämlich, neben Voltaires Pucelle hatte ich ihn geſtellt. Aber dieſem verſchollnen Spotte gegenüber hat ſich die chriſtliche Myſtik ſehr mäch - tig und überwältigend erwieſen. Denken Sie ſich, die Pucelle war in der Nacht von dem frommen Buche bekehrt worden, wahrſcheinlich durch die ſich in demſelben entwickelnde fette und aromatiſche Oelbildung. Sie mögen es glauben, oder nicht, es liegt mir nichts daran, aber es iſt wahr. Das frivole Gedicht war in ſich geſchlagen, der Text verſchwunden, und ich hielt, als ich einen Blick hineinthat, ein in Halbfranz gebundnes Buch voll209 unſchuldigweißer Papierblätter in Händen, ſtatt der gottesläſterlichen Späße von Charles ſept, Agnes Sorel, Dünois, Jeanne und ihrem Eſel. Ja, was noch mehr ſagen will, das Papier ſchämt ſich ſeiner früheren Sünden, es liegt ein leiſer rother Schimmer darüber, dem Satze zum Trotz: litterae non erubescunt. Ich will es doch gleich herbei - holen, Sie durch den Augenſchein zu überzeugen.
Münchhauſen lief raſch, wie eine Bachſtelze hinaus. Der alte Baron ging, mit den Händen in der Luft fechtend, ſeine Mütze in die Höhe werfend, und ſie, wie einen Ball wieder auffan - gend, im Zimmer auf und nieder und rief: Ein Teufelskerl, der Münchhauſen! Man muß ihm nach, man mag wollen oder nicht! Im Anfang ſtemme ich mich jederzeit gegen ſeine Geſchichten, aber ehe ich mich deſſen verſehe, haben ſie mir die Schlinge über den Kopf geworfen und nehmen mich mit fort. Was ſagſt du dazu, Renzel?
Emerentia verſetzte: Ich hoffe, die beſondere Luftbeſchaffenheit auch noch zu erleben, und aus meinem Aroma Manna zu erzeugen.
Eine Närrin biſt du, polterte der alte Schloß - herr, die immer nur an ſich denkt, und nie ihrenImmermann’s Münchhauſen. 1. Th. 14210Geſichtskreis erweitern mag! Wenn ich nun eben ſo wäre, und nichts von heute Abend mir zur Ausbeute gewänne, als den ſelbſtſüchtigen Wunſch, mir den grünen Eſel in das Knopfloch zu ſehnen? Denkſt du, daß dein alter Vater nicht auch noch gern in ſeinen letzten Tagen einen Orden trüge, ohne irgend eins der ſechs Verdienſte um Dün - kelblaſenheim? Aber ich bin nicht ſo enggeſinnt; mir liegt meine Ausbildung am Herzen, und noch heute Abend frage ich Münchhauſen über ſeine zweifarbigen Augen und ſein Ergrünen aus, denn wir ſtecken einmal mitten in den ſonderbaren und außerordentlichen Dingen, zudem ſtört uns auch der Schulmeiſter nicht mit ſeiner einfältigen höh - niſchen Miene.
Die letzteren Reden zu verſtehen, muß geſagt werden, bevor Münchhauſen wieder das Zimmer betritt, daß unter den vielen wunderwürdigen Din - gen, die den Schloßbewohnern an dem Gaſte auf - fielen, zwei im vorzüglichſten Grade ihr Erſtaunen erregten. Er hatte nämlich ein blaues und ein braunes Auge, welcher Umſtand ſeinem Antlitze einen ungemein charakteriſchen Ausdruck gab, um ſo charakteriſtiſcher, als, wenn ſeine Seele voll gemiſchter Empfindungen war, die verſchiedenen Ele - mente ſolcher Stimmungen geſondert in den beiden Augen hervortraten. Fühlte er z. B. eine freudige Wehmuth, ſo leuchtete die Freude aus dem braunen Auge, die Wehmuth dahingegen zitterte im blauen. 14*212Denn dieſem blieben die zarten, dem braunen die ſtarken Gefühle zugewieſen.
Sein Geſicht war, wie ich es ſchon beſchrieben habe, nämlich bleich, mit einem gelblichen Anfluge, etwa von der Farbe des Pentheliſchen Marmors, oder eines in Wachs geſottnen Meerſchaumpfeifen - kopfes, der ſeinen Raucher noch nicht gefunden hat. Stiegen in ihm Affecte auf, welche bei uns Andern ein Erröthen hervorzubringen pflegen, ſo lief über ſeine Geſichtsfläche ein grüner Farbenton. Daher hatte der alte Baron auch ſehr richtig den Ausdruck: Ergrünen, gebraucht, und wir werden uns deſſelben ebenfalls bedienen müſſen, wenn Münchhauſen im Verlaufe dieſer Geſchichten in Affect gerathen und die Farben wechſeln ſollte.
Anfangs hatten die Schloßbewohner dieſe Phä - nomene mit einem geheimen Schrecken betrachtet. Bald indeſſen tilgten die großen Eigenſchaften des Mannes und ſeine hinreißenden Darſtellungen den Schrecken, und es blieb nur eine ſtarke Neugier nach, was es mit jenem Farbenſpiele für eine Bewandniß haben möge? Dieſe Neugier war begreiflicherweiſe in dem alten Baron am ſtärk - ſten.
213Aber ſie ſollte auch an dieſem Abende noch nicht geſtillt werden. Denn nachdem er mit ſeiner Tochter eine geraume Zeit auf die Rückkunft Münch - hauſens gewartet hatte, trat ſtatt ſeiner der Bediente Karl Buttervogel in das Zimmer und ſagte: Mein Herr läßt ſich entſchuldigen; er kann das Buch nicht finden. Auch muß er — ſetzte der Menſch geheimnißvoll und halbleiſe hinzu — ſeine chemiſchen Mittel brauchen.
Mittel? Chemiſche Mittel? fragte der alte Baron beſorgt. Iſt ſein Herr krank geworden?
Das nicht, verſetzte Karl Buttervogel, aber der Lebenspurzeß kam in Abnahme und die Gaſſen müſſen angewendet werden.
Er will wohl ſagen: Lebensproceß, und: Gaſe? ſprach der alte Baron nach einigem Beſinnen. Aber was ſoll denn das bedeuten?
Ich weiß nicht, erwiederte der Bediente mit einer wichtigen Miene. Es iſt noch nicht aller Tage Abend und mit meinem Herrn ſteht es ſo ſo. Ein geſcheidter Herr, ein gelahrter Herr, aber, aber, ich lobe mir Vater und Mutter!
Der Schloßherr drang vergebens in den Men - ſchen, ſich näher zu erklären. Das neue Geheimniß214 hatte indeſſen nicht Zeit, in den Seelen der Schloßbewohner Wurzeln zu ſchlagen, denn Münch - hauſens Reden waren gerade in den Tagen, welche dieſem Abende folgten, beſonders gehaltreich, ſo daß der alte Baron ſelbſt die Frage nach den Urſachen des Farbenſpiels im Antlitze ſeines Gaſtes eine Zeitlang vergaß.
Wir werden im Folgenden einige dieſer Reden und Erzählungen zur Kunde der Leſewelt bringen.
Hier ſchließen ſich die Capitel Eilf bis Fünf - zehn an, welche der wohlwollende Buchbinder der Spannung halber vorgeheftet hat. Ich habe über die Rathſchläge nachgedacht, welche mir von dieſem Manne heimlicher Weiſe ertheilt worden ſind, werde ſie befolgen, und kann dem günſtigen Leſer in den folgenden Büchern die allerherrlichſten und koſtbarſten Dinge verſprechen. Der Münchhauſen wird ein Buch, bei dem man nicht begreift, wie Gott der Herr, ohne es geleſen zu haben, mit der Schöpfung fertig geworden iſt.
215Die deutſche Litteratur hebt erſt von meinem Münchhauſen an. Der günſtige Leſer glaube die - ſen Verheißungen! Ich hätte mir zu denſelben wohl eigentlich einen von den jungen Leuten in Hamburg, Berlin oder Leipzig miethen müſſen, aber ich dachte zuletzt, eigne oder fremde Fabrik gelte gegenwärtig in dieſem Artikel gleich viel, und darum erſparte ich mir den Heuerlohn und die Complimente.
Nach ſo manchen intereſſanten Abenden fiel dem alten Baron wieder ſeine Frage ein, welche er vorlängſt hatte thun wollen. Es war eine ſchöne Stunde des Vertrauens; Münchhauſen hatte ſeit mehreren Tagen nur Dinge vorgetragen, die den Schloßherrn und ſeine Tochter auf das Ange - nehmſte berühren mußten; ſelbſt der Schulmeiſter ſchien von ſeiner Verſtimmung wieder etwas zurück - gekommen zu ſeyn.
Der Wirth rückte daher dem Gaſte, nachdem das ſpärliche Abendeſſen, beſtehend aus Salat und Eiern, verzehrt worden war, freundlich näher, und ſagte: Ihr wärt recht gefällig, lieber Münch - hauſen, wenn Ihr uns heute eine ſtichhaltende217 Hypotheſe über Eure zweifarbigen Augen und Euer Ergrünen zum Beſten gäbet. Unmöglich können Euch dieſe Naturwunder entgangen ſeyn; nun ſeid Ihr aber ein Mann, der über Alles nachdenkt, alſo habt Ihr gewiß auch darüber eine Hypotheſe fertig.
Keine Hypotheſe habe ich darüber fertig, ſondern ich weiß, wie es damit ſicherlich zuſammenhängt, verſetzte Münchhauſen und zog die Augenbraunen in die Höhe, daß das blaue und das braune Auge noch gewaltiger hervortrat, als gewöhnlich. — Was die Zwiefarbigkeit meiner Sehorgane betrifft, ſo leiten ſich dieſe aus Geheimniſſen meiner Erzeu - gung ab — werden Sie nicht roth, meine Gnädige, ich berühre dieſen Punkt nicht weiter — die leider über ganze Regionen meines Daſeyns einen ſchwar - zen Schatten werfen. Wie oft habe ich den Tage - löhner beneidet, der im ſauren Schweiße ſeines Antlitzes, bei dem harten Stücke Schwarzbrod, welches ſeine Kinnladen zermalmen, doch den ſüßen Troſt nimmer entbehrt: Du biſt, wie jeder andre Menſch entſtanden, und fähreſt dahin, wo deine Väter ruhn. Aber ich … oh! — — Doch den Schleier über dieſe Abgründe! Sie ſind tief und ſchrecklich, armer Münchhauſen!
218Meine Freunde, ich kann Ihnen über mein blaues und braunes Auge nur Folgendes ſagen: Die Säfte, oder Subſtanzen, oder Materien, oder Species — — Himmel, wie ſoll ich es anfangen, Ihnen die Sache deutlich zu machen, ohne meinen ſogenannten Vater bloßzuſtellen? — —
Oder die Ingredienzien, oder die Simpla — —
Meine Theuren, kennen Sie Miſchungen?
Lieber Meiſter, mühen Sie ſich nicht ferner ab, ſagte das Fräulein weich und herzlich; ich verſtehe Sie ganz.
O Gott, welches Glück, einander immer ohne Wort zu verſtehen! rief Münchhauſen und küßte dem Fräulein, wie gewöhnlich, die Hand. Ich brauche alſo von dieſem Gegenſtande nicht weiter zu reden, und wende mich gleich zu der Erklärung des Grünwerdens, um —
Ja, dabei verlieren wir aber! riefen der alte Baron und der Schulmeiſter wie aus einem Mun - de; denn wir haben Sie durchaus nicht verſtanden.
Münchhauſen räusperte ſich, antwortete und ſprach:
Verſtanden?
Ja, das läßt ſich eher hören! riefen der Baron und der Schulmeiſter. Dabei kann man doch etwas denken.
Nun alſo genug von dem blauen und braunen Auge, ſagte Münchhauſen. Was mein Grünwerden betrifft, wenn andere Leute erröthen, ſo habe ich das von einem furchtbartragiſchen Schickſale in der Liebe wegbekommen. Wenn es Sie nicht ermüdet, ſo will ich Ihnen einen kurzen Abriß meiner Lie - besſchickſale liefern.
Münchhauſen, Sie in der Liebe, es muß etwas Großes geweſen ſeyn! rief das Fräulein mit leuch - tenden Augen.
Ja, mein Fräulein, es war ein außerordent - liches Schauſpiel, erwiederte Münchhauſen. Und beſonders deßhalb war es außerordentlich, weil ich die Liebe nicht ſo auf das Gerathewohl, wie andere junge Leute, ſondern nach einem gewiſſen Plane trieb. Ich bin, ſo lange ich denken kann, immer220 klares Bewußtſeyn geweſen; alle Seelenkräfte lagen geſondert in mir, wie die Species in den Büchſen einer Apotheke, ich habe Tage erlebt, an welchen ich zugleich mit dem Verſtande Schlußfolgerungen machte, mir von der Phantaſie goldene Luftſchlöſſer vormalen ließ, und in unbeſtimmten Gefühlen ſchwelgte. So gelang es mir denn auch, den mächtigſten Affect, der den Menſchen ſonſt überfällt, wie ein Feuer bei Nacht, aus ſeinen Beſtandtheilen in mir aufzuerbauen, und mich auf die eigentliche Hauptleidenſchaft meines Lebens förmlich vorzu - bereiten. Ich war in die Entwickelungsjahre ge - treten, und hatte mir klar gemacht, daß die Liebe aus Sinnlichkeit, Geiſt, Empfindung und Phantaſie, Selbſtſucht und Hingebung beſtehe. Alſo ſechs Elemente, die ich nach und nach in mir durchzu - arbeiten verſuchen mußte.
Ich hielt mich damals, in dieſem Theile meiner wunderlich umhergeworfenen Jugend im Pallaſte eines fränkiſchen Prälaten auf, der bei der gewalt - ſamen Umkehrung der dortigen Verhältniſſe die Prälatur verloren, die Einkünfte derſelben jedoch zum größeren Theile behalten hatte, und daher noch immer ſeine Tage in Wohlleben hinbringen221 konnte. Hauptſächlich hielt der alte Herr auf eine leckere Tafel, und dieſen Genuß ihm vorbereiten zu helfen war auch ich beſtimmt. Ich entzündete das Feuer des Heerdes, ich nahm die herkömmlichen Abwaſchungen der dem Dienſte geweihten Gefäße vor, ich ſetzte die Maſchine in Gang, mit welcher der Spieß zuſammenhing, des Bratens Halter; kurz, denn wozu Umſchreibungen? ich war Küchen - junge bei dem Prälaten, aber ich war ein denken - der Küchenjunge.
Der Prälat ging von dem Grundſatze aus, daß eine jede Köchin nur die ſechs erſten Monate ihres Dienſtes hindurch gut koche, nachher aber ſich zu vernachläſſigen pflege. Er ſchaffte daher auch alle Semeſter eine neue Kochmagd an, und ich erkannte bald, daß, wenn ich bei ihm nur drei Jahre lang aushielte, ich alle ſechs Elementarſtudien der Liebe mit den Köchinnen der ſechs Semeſter werde durchmachen können. Denn es war in dieſer Küche hergebracht, daß die Köchin den Küchenjun - gen lieben mußte. Die Sache hatte alſo keine Schwierigkeit.
Das erſte Vorſtudium mußte, wie ſich von ſelbſt verſteht, die Sinnlichkeit ſeyn.
222Das Fräulein wollte ſich erheben. Münchhau - ſen hielt ſie zurück und ſagte: Fürchten Sie auch jetzt nichts, meine Verehrte, von der Sinnlichkeit, ich habe von dieſem Zeitabſchnitte nur zu berichten, was ſelbſt in einer Mädchenpenſion mit angehört werden könnte. Es diente damals in der Küche die alte Wally; wie man ſagte, eine natürliche Tochter von Lucinde Schlegel. Sie hieß bei dem Geſinde die Zweiflerin, weil ſie in ihrer Häßlich - keit und Welkheit daran verzweifelte, noch einen Mann zu bekommen.
Wenn man ſie reden hörte, ſo hätte man frei - lich glauben ſollen, daß ſie ein ziemlich freies Leben geführt habe, denn ihre Aeußerungen klangen frech und unanſtändig genug. Aber der Kutſcher, der auf ſeine Weiſe ein Spötter war, behauptete, er habe ſie von jeher gekannt; ſie ſei alle ihre Lebtage über eine garſtige Perſon geweſen und ſchon deßhalb von Sünde frei geblieben. Ihre Zoten ſeien nur wie die Krankheit der Hühner, wenn ſie anfangen, zu krähen, ohne gleichwohl durch ſolche Stimmübun - gen jemals die rechte Hahnenhaftigkeitzu erringen.
Wir hatten bloß ein Titularverhältniß der Küchen - ordnung gemäß zuſammen; ich glaube, daß wir uns223 kaum einmal die Hand gegeben haben. Dennoch lernte ich von ihr, was Sinnlichkeit ſei, nämlich der gerade Gegenſatz von Allem, was die alte Zweiflerin von ſich ſehen und hören ließ. Nachher hat ſie freilich in der Welt ausgebreitet, wir wären ſehr zärtlich geweſen; ich hätte, da mein Taufname zu proſaiſch geklungen, ihr Cäſar geheißen, und was dergleichen Schnurren noch mehr ſind, woran kein wahres Wort iſt.
Die Sinnlichkeit hatte ich alſo nun theoretiſch kennen gelernt, die Wally kam fort, und Seraphine wurde Köchin. Sie ſchimpfte gewaltig auf ihre Vorgängerin und ſagte, in ihr erſcheine das wahre ächte weibliche Weſen, wovon Wally nur ein Zerr - bild geweſen ſei. Sie trug einen graugelben Um - ſchlagetuch und befand ſich leider auch im ehernen Zeitalter, obgleich ſie aus Jung-Deutſchland ſtammte. Es war ein ſonderbares ächt weibliches Weſen, dieſer Seraph Seraphine! Ich ſchlug aber mit ihr, oder mit einer Klappe zwei Fliegen, kriegte näm - lich bei ihr zugleich den Geiſt und die Empfindung in der Liebe weg, hatte ſonach großen Profit von ihr, denn ich ſparte durch ſie ein Semeſter. Unſer Bündniß kam folgendermaßen zu Stande. Ich224 ſpickte juſt einen Haſen auf der einen Seite, und ſie that es auf der andern Seite. Da ſah ſie ver - ſchämt auf, warf mir einen ſeelenvollen Blick zu, daß ſich mir das Herz im Leibe umdrehte, und fragte: Will Er mich, mit Erlaubniß zu ſagen, lieben, Musje? Ich verſetzte: Ja, wenn Sie ſo befehlen, Jungfer Seraphine. Darauf gaben wir uns über dem Haſen einen Schmatz und ſpickten den Haſen, trunken von Entzücken, fertig. Wie ich ſie beſchrieben, ſo war die Form der Bund - ſchließung in der Prälatenküche. Die Köchin mußte obſervanzmäßig anfangen, der Küchenjunge durfte es beileibe nicht, er hätte, wenn er ſich unterſtan - den, zuerſt den Liebesantrag zu machen, von der Geliebten die ſchönſten Ohrfeigen gekriegt.
Die Seraphine war auf zwei Tage mit ihren Gaben eingerichtet. Den einen Tag war ſie näm - lich voll Geiſt, und den Andern voll Empfindung und ſo immer regelmäßig einen um den andern Tag abwechſelnd. Ich bekam alſo von ihr den Geiſt und die Empfindung in der Liebe. Damit war es aber folgendermaßen beſtellt. Sie liebte eine Herzſtärkung in der Stille zu nehmen, konnte jedoch nicht viel vertragen und wurde leicht duſelig. 225In dieſem Zuſtande hatte ſie Geiſt, das heißt, ſie ſprach Zeug, was kein Menſch verſtand. Den andern Tag hatte ſie den Katzenjammer, da war ſie voll Empfindung. Ich machte ihr nun alles Dieſes nach, um das Verhältniß im Schwunge zu erhal - ten. Aber unglücklicherweiſe war es gleich in der Anlage verſehen worden. Ich hatte nämlich an dem Tage, wo ſie den Katzenjammer ausſtand, der Flaſche zugeſprochen und war geiſtvoll geworden. Den folgenden Tag, wo ſie wieder Geiſt bekam, befand ich mich im Katzenjammer und in der Empfindung, und ſo ging nun das Verfehlen immer fort, wir paßten nie auf einander, mein Katzen - jammer traf auf ihren Geiſt, und mein Geiſt auf ihre Empfindung. Daraus entſtanden natür - lich heftige Zänkereien, unter denen die Küchenan - gelegenheiten litten, ſo daß auch der Prälat ſich genöthigt ſah, ſie noch vor Ablauf ihres Semeſters fortzuſchicken. Es war ein Glück. Ich bin nie der Stärkſte geweſen, und kann wohl ſagen, daß ich auf dieſer Liebesſtation jämmerlich herunterge - kommen war.
Die folgende Köchin hieß das Kind, weil ſie ſich ſelbſt ſo nannte. Warum? weiß ich nicht,Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 15226denn ich glaube ſchwerlich, daß ſie zu denen gehörte, von denen geſagt worden iſt: So Ihr nicht werdet, wie dieſe u. ſ. w. Die konnte Einem was zu rathen aufgeben. Zuweilen war ſie Stundenlang verſchwunden, und wenn wir ſie ſuchen gingen, fan - den wir ſie auf dem Dache ſitzen, oder ſie kam auch wohl ſchäkernd auf einem Beſen den Rauch - fang herabgefahren. Es kann kein Menſchenwitz erfinden, was für Zeug das Kind zuſammen zu flunkern verſtand. Ihr Hauptkunſtſtück aber war — Ach, gnädiges Fräulein, wenn ich nicht irre, wur - den Sie draußen gerufen.
Das Fräulein verſtand dieſen zarten Wink und ging hinaus, mit dem dankbarſten Blicke auf Münch - hauſen. Er fuhr fort: Das Kind konnte nämlich Rad ſchlagen, oder Purzelbäume ſchießen, ohne die Schamhaftigkeit zu verletzen. Wie ſie es möglich gemacht, weiß ich nicht, aber die Sache iſt richtig; ſie kehrte ihr Unterſtes zu oberſt, und alle Ken - ner und Stimmführer, die zuſahen, verſicherten einſtimmig, ſie habe die weibliche Schamhaftigkeit dadurch nicht verletzt, vielmehr ſeien ihre Purzel - bäume eine wahre Bereicherung der höheren Ge - müthswelt.
227Bei ihr ſtudirte ich die Phantaſie der Liebe. Unſre Liebe war nämlich pure, klare Phantaſie, wir konnten einander leiden, wie Hund und Katze; aber die hochtrabendſten Sachen ſchrieb ſie darü - ber, wahre Hymnen; und hinterher wußte ſie mir doch immer ſo einen recht tüchtigen Kniff abzuge - ben, daß ich hätte aufſchreien mögen. Die gemeine Sage bleibt wahr, die von den * s, wozu ſie gehörte, behauptet, dieſe fingen in der Schalkheit da an, wo andere Schälke aufhörten. Es iſt ein Buch über das Kind verfaßt worden, worin es das perſonificirte Mittelalter genannt wird. Nun, es hatte denn freilich auch ſchon ein mittleres Alter erreicht, und die Schönheit drückte es eben - falls nicht ſonderlich mehr, als es ſich auf kindi - ſche Weiſe der Phantaſie in der Liebe ergab. Ich war recht vergnügt, als ich des Kindes quitt war, denn Sie glauben nicht, wie ſehr ſolche Einzelſtu - dien der Liebe angreifen.
Die folgenden beiden Köchinnen, Jule und Jette, waren die Beſten von Allen, ſie waren reine Köchinnen, ohne Geiſt, Empfindung, Phantaſie. Bei dieſen lernte ich die Selbſtſucht und die Hin - gebung der Liebe. Nämlich Julen, die den Herrn15*228betrog, wo ſie konnte, übrigens aber das rechtſchaf - fenſte, gutherzigſte Ding von der Welt war, nahm ich alle ihre Schwänzelpfennige, die ſie ſich bei den Markteinkäufen machte, ab. Sie ſchnellte bloß für mich; wahrhaftig, ſo that ſie. Ich aber brauchte Geld, ich wollte mir gern einen neuen Rock kau - fen und Rumohrs Geiſt der Kochkunſt, um mich in meinem Fache auszubilden. Ich ſagte immer zu ihr: Gebe Sie nur her, Geliebte; Geben iſt ſeliger als Nehmen; ich gönne Ihr die Seligkeit, und bin mit dem Geringeren, mit dem Gelde zufrieden. Was hatte ich davon? Meine fünfte Probegeliebte, die Jette, ein durchtriebener Vogel, hat mir die ganze Summe wieder gemauſt, als wir unter Schwüren der Zärtlichkeit ſchieden. Nun, Hingebung muß auch ſeyn; ich habe es ihr nicht nachgetragen.
Münchhauſen machte eine Panſe, um ſich zu erho - len. Das Fräulein war wieder eingetreten. Nach einigem Schweigen, während deſſen er einen Blick, in dem die ganze Schwärmerei der Jugend leuchtete, zum Himmel emporgeſchickt hatte, fuhr er alſo fort:
O, was iſt die gewöhnliche, unbewußte, roh-zu - täppiſche Liebe gegen die bewußte Liebe, gegen die229 Liebe, die nach Principien liebt? Jahre waren verfloſſen, die Küche lag weit hinter mir. Das Spiel des Lebens ſah mich heiter an vom grünen Tiſch, wenn ſtark pointirt wurde, und die Kugel für die Bank ſprang. Münchhauſen war ein Mann geworden, ein Mann im vollen Sinne des Worts. Dennoch trafen auch ihn die Zweideutigkeiten des Glücks. Ich hatte eine kleine Verdrießlichkeit gehabt, die mich zwang, incognito zu leben, weit, weit von hier.
Nun muß ich Sie, meine Freunde, mit einer Eigenſchaft bekannt machen, die mit den Geheim - niſſen meiner Erzeugung zuſammenhängt. Je rei - fer ich wurde, deſto mehr entwickelten ſich in mir gewiſſe mineraliſche, oder genauer zu reden, metal - liſche Bezüge, ſo daß ich von Geld nicht reden hören konnte, ohne in ein Zittern der Ekſtaſe zu gera - then. Da ſah ich in meinem Incognito, welches ſo ſtreng war, daß ich nur verſtohlen ausgehen durfte, Die, welche alle ſechs Beſtandtheile der Liebe zu einem großen Ganzen in mir combinirte. Sie war nicht ſchön, ſie hatte wenig Verſtand und keine Eigenſchaften, dennoch — — aber mein gnä - diges Fräulein, mich dünkt, Sie werden ſchon wieder draußen gerufen.
230Emerentia ſtand abermals auf, warf von Neuem einen dankenden Blick auf den Erzähler, und ſagte: Münchhauſen, ich habe Sie immer verehrt, aber von heute bete ich Sie an. Darauf ging ſie wie - der hinaus.
Zum Geier! rief der alte Baron, warum ſchickt Ihr denn heute meine Tochter immer fort?
Ihr Zartgefühl zu ſchonen, verſetzte der Frei - herr. O könnten wir ſo alle Frauen zur Literatur hinausſchicken, die Getauften und die Egyptiſchen Marquiſen, dann ſollten Sie einmal ſehen, wie bald Alles kräftig wieder in Witz, Laune und Ironie aufblühen würde!
Meine Geliebte war alſo nicht ſchön, nicht klug, nicht angenehm, aber ſie ſagte mir, daß ſie eine außerordentlich reiche Erbin ſei. Und ſo wie die - ſes Wort erklungen war, regten ſich in mir die metalliſchen Bezüge, und, Sie mögen es glauben oder nicht, es liegt mir nichts daran, aber es iſt wahr; es that in mir einen Ruck, daß mir die Rippen krachten, wie dem Filippo Neri, als ihm das Herz ſchwoll, und auf einen Schuß, wie ſechs Roſen von Damascus an einem Stengel, brachen in mir auf
231Mich ſoll der Teufel holen — denn ich werde allemal lyriſch, wenn die ſelige Rückerinnerung an dieſe Tage über mich kommt — habe ich meine angeb - liche reiche Erbin nicht geliebt, wie noch nie eine Frauensperſon geliebt worden iſt! Ich war ſinn - lich, aber nie ohne Empfindung, denn ich weinte immerfort, ſo daß ich mir eine Thränenfiſtel zuzog. Geiſt ſpendirte ich, daß es nur ſo eine Art hatte; wie oft rief ich: Arm in Arm mit dir fühle ich eine Armee in meiner Fauſt! Ich habe Heroen - muth, den alten Sauerteig des Jahrhunderts weg zu fegen, und die Käuzlein aus den Höhlen zu treiben, worin ſie noch immer blinzelnd über ihren verlegnen faulen Eiern brüten, denen nie eine lebendige Wirklichkeit entkriechen wird!
Münchhauſen! fuhr der Schloßherr auf; die Geſchichte nimmt eine unangenehme Wendung. Das Alte iſt gut, und man muß wohlerworbene Rechte achten. Auch er ging hinaus.
232Meine Geſchichte muß zu Ende, und da Nie - mand ſonſt mehr hier iſt, ſo will ich ſie Ihnen auserzählen, Herr Schulmeiſter, ſagte der Gaſt des Schloſſes Schnick-Schnack-Schnurr. Hinge - bung und Selbſtſucht flutheten wie zwei Ströme durch unſer Verhältniß. Ich gab ihr mein Herz, mehr werth, als eine Million, und bekam von ihr manchen Louisd’or. Schöne, freundliche Taille des Lebens, in welcher Beide einſetzten, gewinnend zu verlieren! Daß die Phantaſie nicht leer ausginge, erſann ich ein freundlich Mährchen, ich ſtamme von Fürſtenblut ab, ſagte ich ihr, ſagte es ihr ſo oft, daß ich es endlich ſelbſt glaubte.
Der Schulmeiſter warf das Haupt in den Nacken, als habe er einen Schlag vor die Stirne bekom - men. Seine Lippen krämpelten ſich zu einer Art von Wulſt zuſammen; er ſah ſehr verdrießlich aus.
Münchhauſen aber achtete in ſeinem Feuer die - ſes Umſtandes nicht. Herrlicher Traum! warum mußte ich aus dir erwachen? rief er. Ich hätte ja Alles gern dulden wollen, das Erkalten der Geliebten, die Entdeckung, daß ſie ſchon Andre vor mir geliebt, und was ſonſt noch Widerwärtiges an und von ihr? Warum aber mußteſt du mich ſo233 hart prüfen, Schickſal? Warum berührteſt du die Stelle, wo ich ſterblich war, da du doch meine inneren metalliſchen Bezüge kannteſt?
Es kam der Tag —
o laßt von ihm
Sich Höllengeiſter nächtlich unterreden!
— es kam der Tag, an welchem unheimliche Geſtalten in mein Leben traten, bedrohliche Gewal - ten mich umſpannen mit geiſterhaftem Netz und die grauſe Trennung befahlen. In den Schaudern jenes Augenblicks ſagte ſie mir unter andern Klei - nigkeiten, zu denen unſer Verhältniß geführt hatte, das entſetzliche Wort: Mit der reichen Erbſchaft werde es kläglich genug ausfallen, denn ſie habe erfahren, daß ihr Vater arm, wie eine Kirchen - maus ſei. — Das traf! Ich fühlte meine Säfte gerinnen, ich fühlte, daß ſie ſich nach neuen chemi - ſchen Geſetzen miſchten und entmiſchten. Meine Gebeine ſchlotterten, und obſchon ich bald meine äußere Faſſung wiedergewann, ſo merkte ich doch, daß über meine Wangen ein fremdes Etwas lief, als ich erröthen wollte. Die Elemente in mir waren in Aufruhr, und aus dieſem Chaos haben ſich denn ganz neue Humoralgruppen in mir geſtaltet.
234Seit jenem Tage ſah ich immer bleich aus, und wenn mir nachmals Zorn, Schreck, Freude, Scham das Blut in das Geſicht trieb, ſo lief ich grün an. Dieſes Ergrünen kam daher, daß ich durch die furchtbare Entdeckung meiner ſechſten oder Hauptgeliebten alle Verwandtſchaft mit edlen Metal - len einbüßte, und daß daher eines der unedlen, nämlich cuprum oder Kupfer, mir in das Blut trat. Kupfer ſteckt in jedem menſchlichen Körper nach den neueſten Unterſuchungen; bei meiner Ent - ſtehung aber war etwas zuviel davon verwendet worden, und der Ueberſchuß ging mir ins Blut. Wenn ich mir zur Ader laſſe, kriegt der Cruor eine ganz grüne Haut. Alle mögliche Mittel habe ich gebraucht, um die Sache wieder in das Geſchick zu bringen, jedoch vergebens. Es iſt immer ange - nehmer, roth zu werden, als grün. Ich bin durch die Cuproſität meines Blutes in ſo manchen unſchul - digen Freuden gehemmt. So darf ich nichts Sau - res genießen, keine Gabelſpitze Sallat, denn, habe ich mich einmal in dieſer Beziehung vergeſſen, gleich ſchlägt der Grünſpan mir an allen Gliedern aus, wie das Manna an der Aebtiſſin Agnes von Monte Pulciano. Es iſt ſehr läſtig. Berzelius in Stock -235 holm, der mich vielfach analyſirt hat, warnte mich vor Zinn - und Zinkgruben, weil Zinn und Kupfer Glockenſpeiſe, Zink aber damit vermiſcht, Tombach giebt, und die Ausdünſtungen in jenen Gruben mir leicht eine abermalige metalliſche Compoſition zuziehen könnten. Sie ermeſſen, wie unange - nehm mir bei meiner Wißbegierde und Reiſeluſt ſolche Beſchränkungen vorkommen mußten, und noch dazu, da ich gerade den Rammelsberg bei Goslar, wo ſie auf Zink bauen, beſuchen, und von da nach den Zinnbergwerken von Cornwall reiſen wollte. Ich ſchlug nachher die Warnung in den Wind und befuhr dennoch die Zinkgrube am Rammels - berge bei Goslar. Es waren böſe Wetter darin, mir wurde heiß und ſchwül. Als ich mit mei - nem Steiger wieder an das Tageslicht gekom - men war, ſah er mich verwundert an, und ſagte: Mein Herr, Sie müſſen an Mennige gekommen ſeyn, denn Sie ſind orangegelb im Geſicht gewor - den. Er wollte mich abwiſchen; mir aber fiel die Warnung ein, ich ließ mir einen kleinen Hand - ſpiegel reichen, und ſiehe da! ich war wirklich im Antlitz hochgelb, wie eine reife Pomeranze. Mein Blut war in der Zinkgrube tombachen geworden. 236Ich ſchämte mich vor dem Steiger, ſagte ihm, ich wiſſe nicht, was es ſei, aber abwiſchen helfe nichts. Recht beſchämt ging ich von dem Grubenhäuschen fort, aus dem mir der Steiger mit allen alten und jungen Burſchen, Zimmerheuern und Pochjun - gen, die gerade zu Tage waren, verwundert und lächelnd nachſah.
Das Bischen Zink wurde ich zwar glücklicher - weiſe wieder los durch eine Schmelzcur, aber die Reiſe nach Cornwall mußte ich zu meinem größten Leidweſen aufgeben. Was wäre daraus geworden, wenn mich die Zinndämpfe noch gar in Glocken - ſpeiſe umgeſetzt, und wenn ich angefangen hätte, ohne Privilegium zu läuten?
Solche metalliſche Naturſpiele im Menſchen bleiben alſo immer höchſt verdrießlich. Kupfer im Blute iſt ſo ſchlimm, als Kupfergeld in der Taſche. Nicht leicht ward ein Sterblicher gleich mir in der Liebe gezüchtigt. Ich habe aber auch durch dieſes Schickſal einen ſolchen Widerwillen gegen die Leidenſchaft bekommen, daß ich mich nachher nie wieder dazu verſtehen wollte, obgleich ich Gräfin - nen, Fürſtinnen und Prinzeſſinnen die Hülle und die Fülle haben konnte. Vornehme Damen haben237 häufig den ſeltſamſten Geſchmack in der Liebe. Daher mochte es rühren, daß die ganze vornehme weibliche Welt hinter mir her war, wo ich erſchien. Sie wandten den ſchönſten Adoniſſen in Dolman, Uhlanencollet und Legationsfrack den Rücken, wenn ich, der ſchlichte Particulier, der unſcheinbare Pri - vatgelehrte, dahertrat mit dem Pentheliſchen Mar - morcolorit und grün anlief. Was für Erklärungen habe ich anhören, was für Winke überhören müſ - ſen, welches Unheil habe ich geſtiftet! In Dün - kelblaſenheim machte ich grüne Schminke Mode, weil die regierende Herzogin geſagt hatte, in mir ſei der ewiggrüne Gott der Jugend erſchienen, und die ganze höhere Welt die Andeutung ver - ſtand. Sie waren eben einmal wieder ganz aſch - grau geworden in Dünkelblaſenheim; nun ſtrichen ſie ſich grün an und meinten, ſie hätten die Jugend damit. — An einem andern Orte fiel mir die Prinzeſſin von Mezzo Cammino da Napoli di Roma - nia zu Füßen und bat mich um Gotteswillen, ihr nur wenigſtens eine Exſpectanz auf mein Herz zu geben. Sie that mir in der Seele weh — ſie war eine ſchöne Perſon — aber gebrannte Kinder ſcheuen das Feuer! Ich hob ſie höflich auf, führte ſie zum238 Sopha und ſagte: Durchlaucht, es geht nicht. Ich habe einmal Unglück in der Liebe und wer weiß, was durch Sie bei mir in Confuſion gebracht würde. Sie dauern mich, liebe Durchlaucht, aber jeder Menſch iſt ſich ſelbſt der Nächſte.
Den höchſten Abſcheu empfinde ich vor meiner ehemaligen ſechsten oder Hauptgeliebten. Ich habe mir tauſendmal geſagt: Sie konnte ja nichts dafür, daß ſie keine reiche Erbin war, aber — die Natur läßt ſich nicht zwingen. Immer und immer durch Grünſpan an die Enttäuſchung über ſeine ſchönſten Hoffnungen erinnert zu werden, iſt am Ende auch keine Kleinigkeit! Der Menſch bleibt Menſch. Ich glaube, daß, wenn ich die Hauptgeliebte wieder - ſähe, ich mich nicht würde faſſen können, ich, der ich doch ſonſt ſo ziemlich mich zu beherrſchen weiß.
Nachdem Münchhauſen ſeine Erzählung vollen - det hatte, fragte er den Schulmeiſter, warum der alte Baron fortgegangen ſei, und noch immer nicht wiederkomme?
Herr von Münchhauſen, verſetzte Ageſilaus, Sie haben zwar auf eine eben nicht freundliche Weiſe in Ihrer Liebesgeſchichte meiner theuerſten Ueberzeugungen geſpottet, indeſſen iſt meine Sin - nesart nicht ſo beſchaffen, Andern etwas nachzu - tragen, und ich kann ganz gerne Unrecht leiden, ohne mich dafür zu rächen. Ich will Ihnen, trotz240 Ihrer ſatiriſchen Anſpielungen auf mich, in Betreff unſres alten Herrn einen wohlgemeinten Rath ertheilen.
Welche ſatiriſche Anſpielungen auf Sie, Herr Schulmeiſter?
Sie beliebten zu ſagen, daß Sie jenem Frauen - zimmer eine fürſtliche Abſtammung vorgelogen hätten. Ich aber erlaube mir, Ihnen zu verſichern, daß, wenn ich eine ähnliche Abſtammung von mir aus - ſage, damit keinesweges Lügen vorbringe, welche ich überhaupt herzlich verabſcheue.
Ich betheure, Herr Schulmeiſter, daß meine Seele nicht an Sie gedacht hat. Großer Gott, kann denn ein Erzähler nicht einmal in dieſer Ein - öde den Deutungen entgehen?
Wohl, dieſe Angelegenheit bleibe, wie manches Andere, vor der Hand auf ſich beruhen, ſagte der Schulmeiſter. Der Rath, den ich Ihnen ertheilen wollte, iſt folgender. Unſer alter Herr hat ſich die Rückkehr früherer Verhältniſſe, und die Hoff - nung auf das Amt, welches er ſein angebornes nennt, ſteif und feſt in den Kopf geſetzt. In die - ſer Beziehung iſt er toll, und ſchon lange quält mich die Beſorgniß, daß aus der Geheimeraths -241 Idee, wenn wir ſie nicht ſo ſehr ſchonten, einmal plötzlich der völlig ausgewachſene Wahnſinn her - vorſpringen wird. Sie aber rühren unvorſichtig — verzeihen Sie meine Freimüthigkeit, Herr von Münchhauſen — nur zu oft daran, wie es denn heute Abend auch noch geſchehen iſt. Und es wäre doch ſchlimm, wenn der ſonſt ſo vortreffliche und geiſtesgeſunde Mann muthwilligerweiſe von uns andern Vernünftigen um ſeine Beſinnung gebracht würde.
Die menſchliche Seele hat, wie der Körper, nur ein beſtimmtes Maaß von Kräften des Wachs - thums, fuhr der Schulmeiſter fort. Ward dieſes erſchöpft, ſo bleibt der Menſch geiſtig ſtehen, wie er nach dem zwanzigſten Jahre nicht mehr leiblich wächſt. Deßhalb begreift das Alter die Jugend nicht, und ungewöhnliche Ereigniſſe finden darum immer nur bei Denen Anklang, die noch im geiſtigen Wachsthum ſtehen. Kann ſich nun der Menſch mit allen ſeinen Seelenkräften vollſtändig in die von der Natur ihm beſtimmte Länge und Breite legen, ſo wird er nicht verrückt, ſondern er bleibt an einem Ziele ſtehen, andernfalls aber geht es ihm wie Einem, der in der Entwickelungs -Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 16242zeit eine ſtarke Hemmung erleiden muß; der Ueber - ſchuß von Kräften ſchlägt ihm als Krankheit nach Innen und er bekommt einen Stich. Unſer alter Herr war durchaus beſtimmt, Geheimerrath auf der Adelsbank zu werden, da wäre er ſtehen, oder vielmehr ſitzen geblieben, und als vollig vernünf - tiger Mann zu ſeinen Vätern verſammelt worden. Weil er aber bis dahin nicht vordringen konnte, ſo ſetzte ſich ihm der Geheimerath gewiſſermaßen als Knoten in die Seele, der, nicht gereizt, viel - leicht ein ruhiges Lebensende herankommen läßt, gerieben und entzündet aber, einen unheilbaren Brand auch über die noch geſunden Theile des Geiſtes verbreiten möchte.
Der Freiherr wunderte ſich über die Weisheit des Schulmeiſters und gelobte, ſeinem Rathe Folge zu leiſten. Darauf zündete Ageſilaus ſeine Hand - laterne an und ging nach dem Gebirge Taygetus, überzeugt, ein gutes Werk gethan zu haben.
Münchhauſen ſuchte den alten Baron auf und fand ihn draußen im Mondſchein hinter dem Schloſſe wandeln. Er wollte ihn um Entſchuldigung bitten, der Andere fiel ihm aber in die Rede und ſagte: Laßt doch die Narrenpoſſen; ich habe Euch den243 Hieb lange vergeben, da ich weiß, daß Ihr mich nicht abſichtlich beleidigen wolltet. Zudem könnt Ihr Andern auch gar nicht faſſen, was es bedeutet, durch die Geburt zu einer Ehre, oder einem Vor - zuge, oder einem Amte, wie der Geheimerathspo - ſten iſt, beſtimmt zu ſeyn. Ihr redet alſo über ſolche Sachen, wie der Blinde von der Farbe, und man muß Euch Euer Geſchwätz darüber nicht ſo übel nehmen. Nein, ich blieb nur hier draußen, weil ich, aufrichtig geſagt, an Liebesſachen keinen ſonderlichen Antheil nehme und dachte, Ihr würdet wohl ſo gütig ſeyn, mir einmal unter vier Augen ohne Umſchweif das Ergrünen zu erklären. Ueber - haupt wünſchte ich, beſter Münchhauſen, meiner Tochter wegen, Ihr ſprächet von Romanenangele - genheiten wenig oder gar nicht mehr.
Meine Tochter hat in dieſem Puncte einen Sparren, fuhr der Alte mit leiſerer Stimme fort, indem er dicht zu Münchhauſen trat. Es iſt immer ſchlimm, wenn die Frauenzimmer nicht heirathen, oder keine Kinder bekommen, denn auf Zärtlichkeit ſind denn doch nun einmal die armen Dinger durch - aus geſtellt, und die verſetzt ſich ihnen dann leicht, daß ſie entweder langweilige, empfindſame Bücher16*244ſchreiben, oder mit Papagaien und Schooßhunden quängeln, unerträglich für Andere. Meine Tochter hält ſich nun weder Schooßhund noch Papagai, dagegen einen Gedanken - und Erinnerungsliebha - ber, mit dem ſie verkehrt, wie mit einer lebendigen Mannsperſon. Beſonders im Mondſchein, wie jetzo, iſt ſie immer ſehr aufgeregt, und deßhalb hütet Euch, Freund, dieſen Zuſtand zu ſteigern; bedenkt, was für ein Elend für mich alten Mann es wäre, wenn ihre Krankheit aus dieſem ſtillen und ſonſt unſchädlichen Faſeln in einen lauten Raptus über - ginge!
Münchhauſen fehlte die Zeit, dem Vater beru - higende Verſicherungen zu geben, denn in der Taxus - laube hinter dem Genius des Schweigens entſtand ein Geräuſch und hervor trat Fräulein Emerentia, die in der Laube der ganzen Rede zugehört hatte. Zum Henker, rief der alte Baron, das habe ich ſauber gemacht! Er entfernte ſich eilig in das Schloß.
Emerentia näherte ſich Münchhauſen und ſprach mit ſanfter Stimme: Es iſt eine zu alte Erfah - rung, daß die höherſtehende Natur von ihren Umge - bungen für wahnwitzig gehalten wird, als daß mich245 die Worte des Vaters verletzen könnten. Verge - bung daher ihm, und ferne ſei es von mir, das Recht der Wiedervergeltung zu üben und Sie auf ſeine Einbildungen aufmerkſam zu machen.
Aber Dank bin ich Ihnen ſchuldig, theurer Meiſter, für die unvergleichliche Zartheit, mit wel - cher Sie mich heute zweimal aus dem Zimmer ſendeten. Eine ſo rückſichtsvolle Behandlung thut unendlich wohl. Ich muß Ihnen meinen Dank durch eine Warnung bethätigen. Hüten Sie ſich vor dem Schulmeiſter, reizen Sie ſeine Ihnen bekannte Verrücktheit nicht durch hingeworfene Aeußerungen, welche er auf ſich und ſeine fixe Idee beziehen kann. Ich habe Urſache, zu glauben, daß die Krankheit dieſes Mannes im Steigen iſt; denn er kocht ſchon die ſogenannte ſchwarze Suppe, ohne ihrer benöthigt zu ſeyn und ſchläft zuweilen im Freien auf dem lächerlichen Gebirge Taygetus — Zeichen gewiß einer innerlichen Gährung. Wel - ches Unglück, wenn er plötzlich wüthend würde, den Vater, wie leicht möglich, anſteckte, und Beide die Rieſenkraft der Raſerei entfalteten! Wir Vernünftigen wären ſchwerlich im Stande, ſie zu bewältigen, ja nur uns vor ihnen zu retten.
246Das Fräulein fuhr fort: In den Stunden, in welchen ich der Empfindung nicht nachhing, habe ich viel über den Wahnſinn nachgedacht und bin auf folgendes Reſultat gekommen. Aller Wahn - ſinn iſt eigentlich eine krankhafte Richtung der Natur, das Individuum in das Maaßloſe zu erwei - tern, und über die Schranken hinaus, welche die Selbſtverläugnung und eine edle Ergebung in die Beſchlüſſe des Schickſals ihm ſetzt, ihm Güter, Gefühle und Genüſſe anzueignen. Deßhalb iſt die geiſtige Krankheit auch verhältnißmäßig häufiger bei Perſonen aus den geringen Ständen, die ſo vieles entbehren müſſen, und ſchafft bei ihnen die Einbil - dung, daß ſie Könige, Kaiſer, ja Gott ſeien, oder daß ſie große Schätze beſitzen. Auch die Furcht vor Feinden und Verfolgern, welche nicht ſelten als Aeu - ßerung des Wahnſinns auftritt, und auf den erſten Anblick meiner Erklärung zu widerſprechen ſcheint, beſtätigt ſie doch nur. Solche arme und unange - ſehene Leute haben nicht ſelten das geheime, nagende Gefühl ihrer Unbedeutendheit; nun kann nur ein Zufall, ein Mißgeſchick ihre Seele erſchüttern, ſo fangen ſie an, eine erträumte Wichtigkeit in der Menge von geheimen Feinden, welche ihnen die247 ſchwärmende Phantaſie vergaukelt, zu genießen. Da - her kommt es denn auch im Gegentheil, daß Für - ſten und vornehme Perſonen, wenn ſie ihren Ver - ſtand verlieren, in Stumpfſinn und Hinbrüten zu verfallen, oder ſich ganz alberne Ideen einzubilden pflegen, wie z. B. daß ſie von Glas ſeien, einen Sperling im Kopfe tragen und was dergleichen mehr iſt. Natürlich; ſie haben ſchon Alles, was das menſchliche Herz begehrt, deßhalb muß die kranke Seele entweder über dem Ungeſtalteten brüten, oder ſich mit den abentheuerlichſten, von Wunſch und Begehren ganz fernen Vorſtellungen nähren.
Die Anwendung dieſer allgemeinen Bemerkun - gen auf den Schulmeiſter zu machen, iſt ſehr leicht. Die Natur hatte ihm eine Beimiſchung von Selbſt - gefühl gegeben, welche mit ſeinem geringen Amts - berufe nicht in Einklang ſtand, und dieſen Einklang hat er ſich nun durch ſeine ſtolze Träumerei von der ſpartaniſchen Abkunft luftſchloßartig geſtiftet und erbaut.
Münchhauſen erſtaunte noch mehr über dieſe Rede, als über die der andern Perſonen, welche er heute Abend hatte ſprechen hören. Er ging auf ſein Zimmer, roch in die Luft hinaus, wie er248 oft zu thun pflegte, um die Beſchaffenheit derſel - ben für ſeine Zwecke zu erkunden, ſetzte ſich auf ſein Bett, und ließ ſich vom Bedienten Karl But - tervogel, welcher inzwiſchen mit dem Waſchwaſſer hereingekommen war und ſeinem Herrn die Nacht - mütze aufgeſetzt hatte, die Stiefeln ausziehen.
Karl, ſagte Münchhauſen, wir ſind hier in einem Tollhauſe. Der alte Baron, das Fräulein, der Schulmeiſter ſind ſämmtlich verrückt. Jeder von ihnen hat merkwürdigerweiſe einen klaren Blick in den Zuſtand des Andern, und was noch merk - würdiger iſt, ſie reflectiren äußerſt geſcheidt über den Wahnſinn. Aber nimm dich doch in Acht; denn ſolche Zuſtände können durch die geringſte Veranlaſſung geſteigert werden.
Ich werd’ ſchon, verſetzte Karl Buttervogel, indem er ſeinem Herrn die Beinkleider abſtreifte. Dem Fräulein hab’ ich lang’ was angeſehen, ſie ſchießt zuweilen ſo verzwickte Blicke auf mich. Aber gnädiger Herr, warum ſind wir denn ſo fort - gegangen, wo uns die drei Herren ſo reichlich in Allem unterhielten, und Sie nichts zu thun hatten, als ſich ein Paar Stunden von ihnen ſtudiren zu laſſen? Und warum kriechen wir hieher in dieſes249 verwunſchene Schloß, wo ſich wahrhaftig keine Maus ſatt freſſen kann? Ich liege in einem dunkeln Loche, weder von Sonne noch Mond beſchienen, und will ein Hallunke ſeyn, wenn ich ſeit drei Tagen Fleiſch gerochen habe! Dazu ſind die Wan - zen in meiner Spelunk’, jeden Morgen bin ich zerbiſ - ſen, als hätte ich mich mit ſechs Jagdhunden her - umgebalgt! Laſſen Sie uns je eher, je lieber fort, gnädiger Herr, denn ſo gern ich Ihnen diene, hier halte ich es nicht lange aus.
Hier bleibe ich, ſo lange die Urſache dauert, welche mich hergeführt hat; erwiederte der Freiherr mit Anſehn.
Die Urſache, welche hergeführt hat, ſagte Karl Buttervogel, iſt doch nur, daß Sie vom Pferde fielen, und dieſe hat aufgehört.
O du Thor und Kurzſichtiger, rief Münchhau - ſen zornig, der du immer nur den Sturz vom Pferde erkennſt und nicht wahrnimmſt — —
Was, mein gnädiger Herr?
Nichts! verſetzte Münchhauſen barſch, warf ſich auf ſein Bette, daß die Noth - und Hülfsſponde, welche der Schulmeiſter roh zuſammengefügt, knackte, und ſchlief ſogleich ein.
250Karl Buttervogel ſtand mitten im Zimmer, die Kleidungsſtücke ſeines Herrn auf dem Arme, und ſagte, als er ihn ſchnarchen hörte: Es iſt wahr - haftig recht ſchlecht von meinem Herrn, daß er mir nicht ſagen will, warum wir hier in dem ver - maledeiten Neſte bleiben? Keinen Lohn kriegt man von ihm, ſondern wird ewig vertröſtet auf die Zeit, wo er die Luft wird feſtmachen können, wie ſie’s in Paris thun, und dennoch kein ganzes Zutrauen! Ich weiß doch, daß er nicht mit rech - ten Dingen in die Welt gekommen iſt, warum ſagt er mir denn nicht, was er hier vorhat?
Im Hofe zwiſchen den Scheuren und Wirth - ſchaftsgebäuden ſtand mir aufgekrämpten Hemd - ärmeln der alte Hofſchulze und ſchaute achtſam in ein Feuer, welches zwiſchen Steinen und Kloben am Boden entzündet, luſtig flackerte. Er rückte einen kleinen Amboß, der daneben ſtand, zurecht, legte ſich Hammer und Zange zum Griffe bereit, prüfte die Spitzen einiger großen Radnägel, die er aus dem Bruſtſtücke des vorgebundenen Schurzfells zog, legte die Nägel auf das Bodenbrett des Lei - terwagens, deſſen Rad er ausbeſſern wollte, und drehte die Stelle des Rades, von welcher ein Stück Schiene abgebrochen war, achtſam nach oben, wor - auf er durch untergeſchobene Steine das Rad in ſeiner Stellung feſtigte.
Nachdem er wieder ein Paar Augenblicke in das Feuer geſehen hatte, ohne daß ſeine hellen254 und ſcharfen Augen davon zu blinzeln begannen, fuhr er raſch mit der Zange hinein, hob das roth - glühende Stück Eiſen heraus, legte es auf den Amboß, ſchwang den Hammer darüber, daß die Funken ſprühten, ſchlug das noch immer Gluth - röthliche um das Rad, da wo die Schiene fehlte, ſchlug und ſchweißte es mit zwei gewaltigen Schlä - gen feſt, und trieb dann die Nägel, welche es in ſeiner weichen Dehnbarkeit noch immer leicht hin - durchließ, an ihre Plätze.
Einige der ſtärkſten und heftigſten Schläge gaben dem eingefügten Stücke das letzte Geſchick. Der Schulze ſtieß mit dem Fuße die vor das Rad gelegten Steine hinweg, faßte den Wagen bei der Stange, um das geflickte Rad zu prüfen, und zog ihn ungeachtet ſeiner Schwere ohne Anſtrengung quer über den Hof, ſo daß die Hühner, Gänſe und Enten, welche ſich ruhig geſonnt hatten, mit gro - ßem Geſchrei vor dem raſſelnden Wagen entflohen, und ein Paar Schweine aus ihrem eingewühlten Lager grunzend auffuhren.
Zwei Männer, von denen der Eine ein Pfer - dehändler, der Andre ein Rendant oder Receptor war, hatten, unter der großen Linde am Tiſche vor255 dem Wohnhauſe ſitzend und ihren Trunk verzeh - rend, der Arbeit des alten, rüſtigen Mannes zuge - ſehen. Das muß wahr ſeyn, rief jetzt der Eine, der Pferdehändler, Ihr hättet einen tüchtigen Schmidt abgegeben, Hofſchulze!
Der Hofſchulze wuſch in einem Stalleimer voll Waſſer, welcher neben dem kleinen Amboße ſtand, ſich Hände und Geſicht, goß dann das Feuer aus, und ſagte: Ein Narr, der dem Schmidt giebt, was er ſelbſt verdienen kann. Er nahm den Am - boß, als ſei er eine Feder, auf, und trug ihn nebſt Hammer und Zange unter einen kleinen Schoppen zwiſchen Wohnhaus und Scheure, in wel - chem Hobelbank, Säge, Stemmeiſen, und was ſonſt zu Zimmer - und Schreinergewerk gehört, bei Holz und Brettern mancher Art ſtand, lag oder hing.
Indem der Alte ſich unter dem Schoppen noch zu ſchaffen machte, ſagte der Pferdehändler zu dem Receptor: Wollen Sie glauben, daß der auch alle Pfoſten, Thüren und Schwellen, die Kiſten und Kaſten im Hauſe mit eigner Hand flickt, oder, wenn das Glück gut iſt, auch neu zuſchneidet? Ich meine, wenn er wollte, könnte er auch einen Kunſt -256 ſchreiner vorſtellen und würde einen richtigen Schrank zu Wege bringen.
Da ſeid ihr im Irrthum, ſprach der Hofſchulze, der das Letzte gehört hatte und, das Schurzfell jetzt abgethan, im weißleinenen Kittel aus dem Schoppen trat. Er ſetzte ſich zu den beiden Män - nern an den Tiſch, eine Magd brachte ihm auch ein Glas, er that ſeinen Gäſten Beſcheid und fuhr dann fort: Zu einem Pfoſten, zu einer Thüre und Schwelle gehören nur ein Paar geſunde Augen und eine firme Fauſt, aber ein Schreiner braucht mehr. Ich habe mich einmal vom Hoch - muth verleiten laſſen, und wollte, wie Ihr es nennt, einen richtigen Schrank zu Wege bringen, weil mir Hobel und Meißel und Reißſchiene auch bei dem Zimmerwerk durch die Hände gegangen waren. Ich maaß und zeichnete und ſchnitt die Hölzer zu, auf Fuß und Zoll hatte ich Alles abgepaßt; ja, als es nun an das Zuſammenfügen und Leimen gehen ſollte, war Alles verkehrt. Die Wände ſtanden windſchief und klafften, die Klappe vorne war zu groß, und die Kaſten für die Oeffnungen zu klein. Ihr könnt das Gemächt noch ſehen, ich habe es auf dem Sill ſtehen laſſen, mich vor Ver -257 ſuchung künftig zu wahren, denn es thut dem Menſchen immer gut, wenn er eine Erinnerung an ſeine Schwachheit vor Augen hat.
In dieſem Augenblicke ließ ſich ein luſtiges Wiehern aus dem Pferdeſtalle gegenüber verneh - men. Der Pferdehändler räusperte ſich, ſpuckte aus, ſchlug ſich Feuer an, blies dem Receptor eine ſtarke Dampfwolke in das Geſicht, ſah ſehnſüchtig nach dem Stalle und dann gedankenvoll vor ſich nieder. Hierauf ſpuckte er nochmals aus, nahm den lackirten Hut vom Kopfe, ſtrich mit dem Arme über die Stirn und ſagte: Noch immer eine ſchwüle Witterung. — Dann ſchnallte er ſeine lederne Geldkatze vom Leibe, warf ſie mit Getöſe auf den Tiſch, daß der Inhalt klang und klirrte, löſete die Riemen und zählte zwanzig blanke Gold - ſtücke hin, bei deren Anblicke die Augen des Recep - tors zu funkeln anfingen, und nach denen der alte Hofſchulze gar nicht hinſah. Hier iſt das Geld! rief der Pferdehändler, die Fauſt geballt auf den Tiſch ſtemmend, krieg’ ich die braune Stute dafür? Sie iſt, weiß Gott, nicht einen Heller mehr werth.
Dann behaltet Euer Geld, damit Ihr nicht zu Schaden kommt, verſetzte der Hofſchulze kalt -Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 17258blütig. Sechsundzwanzig, wie ich geſagt habe, und keinen Stüber darunter. Ihr kennt mich nun die Jahre her, Herr Marx, und ſolltet daher wiſſen, daß das Dringen und Feilſchen bei mir nicht verſchlägt, weil ich nie von meiner Sprache abgehe. Ich begehre, was mir eine Sache werth iſt und thue niemalen vorſchlagen, und ſo könnte ein Poſau - nenengel vom Himmel dahergefahren kommen, er kriegte die Braune nicht unter Sechsundzwanzig.
Aber Gott’s Sackerlot, ſchrie der Pferdehänd - ler erboſ’t, aus Fordern und Bieten beſteht doch der Handel, und meinen eignen Bruder überfrage ich, und wenn kein Vorſchlagen mehr in der Welt iſt, ſo hört alles Geſchäft auf!
Im Gegentheil, erwiederte der Hofſchulze, das Geſchäft koſtet dann weit weniger Zeit und iſt ſchon um deßhalb profitlicher, aber auch außerdem haben beide Theile von einem Handel ohne Vor - ſchlagen vielen Nutzen. Ich habe es immer erlebt, daß, wenn vorgeſchlagen wird, ſich die Natur erhitzt, und zuletzt Niemand mehr recht weiß, was er redet oder thut. Da läßt denn der Verkäufer, um nur dem Gehader ein Ende zu machen, die Waare oft unter dem Preiſe, den er im Stillen bei ſich259 feſtſetzte, und der Käufer ſeinerſeits in der Begierde und Brunſt des Bietens verthut ſich eben ſo oft - mals. Iſt aber gar keine Rede von Ablaſſen, dann bleiben Beide ſchön ruhig, und wahren ſich vor Schaden.
Da Ihr ſo vernünftig redet, ſo werdet Ihr meinen Antrag jetzt beſſer erwogen haben, hob der Recep - tor an. Wie geſagt, die Regierung will alle Korn - gefälle der Höfe in hieſiger Gegend in Geld umwandeln. Sie hat allein den Schaden davon, denn Korn bleibt Korn, aber Geld iſt heute ſo viel und morgen ſo viel werth, indeſſen iſt es nun einmal ihr Wille, um der Laſt des Aufſpeicherns quitt zu werden. Ihr thut mir alſo den Gefallen, und unterſchreibt dieſe neue, auf Geld lautende Urkunde, die ich da zu dieſem Behufe ſchon mitge - bracht habe.
Durchaus nicht, antwortete der Hofſchulze eifrig. Es iſt ein alter Glaube hier zu Lande, daß wer ſeinem Hofe eine Laſt auflegt, dafür zur Strafe nach ſeinem Tode auf dem Hofe umgehen muß. Ich weiß nicht, wie es damit beſchaffen iſt, aber das weiß ich: Vom Oberhofe ſind ſeit vielen hun - dert Jahren nur Körner an die Gotteszelle gegeben17*260worden, und damit wolle ſich alſo das Rentamt begnügen, wie das Stift ſich damit begnügt hat. Wächſt Geld auf meinem Acker? Nein. Korn wächſt darauf. Woher wollen Sie alſo das Geld nehmen?
Ihr ſollt ja nicht übervortheilt werden! rief der Receptor.
Es muß Alles bei’m Alten bleiben, ſagte der Hofſchulze feierlich. Das war noch eine gute Zeit, als die Tafeln mit den Verzeichniſſen der Laſten und Abgaben der Bauerſchaft in der Kirche hingen. Dazumalen ſtand Alles feſt, und kein Gezänk hat ſich nimmer darüber begeben, wie neuerdings nur gar zu oft. Hernacher hieß es, die Tafeln mit den Hühnern und Eiern und Maltern und Süm - mern ſchadeten der Andacht, und ſie wurden hin - weggethan. Im Gegentheil, ſie hatten immer zu Predigt und Geſang gehört, wie Amen und Segen; ich für mein Theil, wenn ich ſie anſah, beſonders beim dritten Theile oder der Nutzanwendung, hatte die erbaulichſten Gedanken bekommen, zum Exempel: Ueberhebe dich nicht, denn da ſteht geſchrieben, wie viel Zinsroggen und Schloßhafer du geben mußt, oder auch ſo: Wenn du draußen Laſten zu tragen haſt, hier im Gotteshauſe biſt du frei, und was261 dergleichen mehr war. Nun aber, als man auf die leeren Stellen ſah, gingen die Gedanken immer wandern und ſuchen nach den Tafeln, und es dauerte geraume Zeit, ehe und bevor die Menſch - heit wieder recht nach dem Paſtor hinhörte.
Er ging in ſein Haus. — Das iſt ein alter Racker! rief der Pferdehändler, als er ſeinen Handelsfreund nicht mehr ſah, indem er den lackir - ten Hut verdrießlich wieder auf den Kopf ſtülpte. Wenn der nicht will, ſo bringt ihn der Teufel nicht herum. Das Schlimmſte iſt, daß der Kerl die beſten Pferde in der Gegend zieht, und ſie im Grunde ſo zu ſagen billig genug losſchlägt.
Ein ſtarres, widerhaariges Volk hier zu Lande, ſagte der Receptor. Ich bin erſt vor Kurzem aus Sachſen herverſetzt, und merke den Abſtand. Dort wohnen die Leute beiſammen und deßhalb müſſen ſie ſchon höflich und nachgiebig und bethulich mit einan - der ſeyn. Aber hier ſitzt ein Jeder auf ſeinem Kampe, hat ſein Holz, ſein Feld, ſeinen Wieſewachs um ſich, als gäbe es ſonſt nichts in der Welt. Darum halten ſie auch auf ihre alten Schnurren und Faxen ſo ſteif, die anderwärts überall abgekom - men ſind. Was für Mühe habe ich ſchon mit262 den andern Bauern wegen der dummen Um - ſchreibereien gehabt, aber dieſer hier iſt doch der Schlimmſte.
Das kommt daher, Herr Receptor, weil er ſo reich iſt, bemerkte der Pferdehändler. Mich wun - dert, daß Sie es mit den Andern in der Bauerſchaft ohne ihn durchgeſetzt haben, denn der hier iſt ihr General und Advocat und Alles, ſie richten ſich in jeglicher Sache nach ihm. Er bückt ſich vor Keinem. Vor’m Jahre kam ein Prinz hier durch; wie er den Hut vor dem abnahm, war es wahrhaftig, als wollte er ſagen: Du biſt der und ich bin der. Der Miſtfink! Für die Stute ſechsundzwanzig Piſtolen haben zu wollen! Aber das iſt das Unglück, wenn der Bauer zu viel Ver - mögen kriegt. Wenn Sie dort durch das Eich - holz hindurch ſind, gehen Sie eine geſchlagene halbe Glockenſtunde durch ſeine Felder. Und Alles beſtellt, daß es nur ſo eine Art hat. Ich bin mit mei - ner Koppel vorgeſtern durch den Roggen und Waizen geritten, und Gott ſtrafe mich, wenn was Anderes als die Köpfe von den Pferden über die Aehren hinüberſahen. Ich dachte, ich würde er - ſaufen.
263Woher hat er’s denn? fragte der Receptor.
O! rief der Pferdehändler, da liegen hier meh - rere ſolcher Höfe herum, man heißt ſie Oberhöfe; wenn die nicht manchen Edelmann ausſtechen, ſo will ich nicht Marx heißen. Das Erdreich iſt von uralter Zeit zuſammengeblieben. Und ſparſam und fleißig iſt der Nichtsnutz von jeher geweſen, das muß man ihm laſſen. Sie ſahen ja, wie er ſich abäſcherte, nur um dem Schmidt die paar Groſchen Verdienſt zu nehmen. Jetzt freit ſeine Tochter einen andern jungen Geldſchlingel; die kriegt mit! Ich bin an der Leinwandkammer durch - gegangen, der Flachs und das Garn, das Gebild, die Wäſche und alle mögliche Kramerei iſt bis unter die Decke geſtopft. Und dazu giebt ihr der alte Schabhals noch baare ſechstauſend Thaler mit. Blicken Sie nur um ſich; iſt es nicht hier, als ob man bei einem Grafen wäre?
Während der letzten Reden hatte der verdrieß - liche Pferdehändler ſacht in die Geldkatze gegriffen und den zwanzig Goldſtücken, gleichſam gleichgül - tig thuend, noch ſechs hinzugefügt. Der Hof - ſchulze trat wieder in die Thüre, und der Andre ſagte brummend, ohne ihn anzuſehen: Da lie -264 gen die Sechsundzwanzig, weil es einmal nicht anders ſeyn ſoll.
Der alte Bauer lächelte ſchalkhaft und ſprach: Ich wußte wohl, daß Ihr das Pferd kaufen wür - det, Herr Marx, denn Ihr ſucht für den Rittmeiſter in Unna eins zu dreißig Piſtolen, und mein Bräun - chen paßt Euch dazu, wie beſtellt. Ich ging auch nur in das Haus, um die Goldwage zu holen, und konnte vorher ſehen, daß Ihr Euch unterdeſſen beſonnen haben würdet.
Der Alte, welcher in ſeinen Bewegungen bald etwas ungemein Raſches, bald wieder die größte Bedächtigkeit zeigte, jenachdem das Geſchäft war, was er trieb, ſetzte ſich an den Tiſch, wiſchte lang - ſam und ſorgfältig ſeine Brille ab, ſpannte ſie über die Naſe und fing nun an, die Goldſtücke genau zu wägen. Zwei oder drei muſterte er als zu leicht aus, worüber der Pferdehändler ein heftiges Ge - zeter erhob, welchem der Hofſchulze ſchweigend und kaltblütig, die Wage in der Hand behaltend, zuhörte, bis der Andre ſtatt der verworfenen voll - wichtige hervorholte. Endlich war die Sache been - digt, der Verkäufer packte bedächtig das Geld in ein Papier und ging mit dem Pferdehänd -265 Pferdehändler nach dem Stalle, um ihm das Pferd zu überliefern.
Der Receptor wartete die Rückkunft der Beiden nicht ab. Mit ſolchem Klotz iſt nichts anzufangen, ſagte er, aber wenn du uns nur nicht ſo ordentlich auf die Termine bezahlteſt, wir wollten dich — Er fühlte nach ſeinen urkundlichen Papieren in der Taſche, merkte an ihrem Knittern, daß ſie noch darin ſeien, und ſchlich vom Hofe.
Aus dem Stalle traten der Roßkamm, der Schulze und ein Knecht, welcher zwei Pferde, das des Roßkammes und die erkaufte braune Stute hinter ſich herführte. Der alte Schulze ſagte, indem er die Letztere zum Abſchiede ſtreichelte: Es thut Einem immer Leid, wenn man eine Creatur, die man aufzog, losſchlägt, aber wer kann dawider? — Nun, halte dich brav, Bräunchen! rief er und gab dem Thiere einen herzhaften Schlag auf die runden, glänzenden Schenkel.
Der Pferdehändler war indeſſen aufgeſtiegen und ſah mit ſeiner langen Figur und der kurzen Schooßjacke unter dem breitkrämpigen lackirten Hute, mit ſeinen erbſengelben Hoſen über den dürren Lenden und den hochhinaufreichenden ledernen Kama -266 ſchen, mit ſeinen Pfundſpornen und mit ſeiner Peitſche wie ein Wegelagerer aus. Er ritt, ohne Lebewohl zu ſagen, fluchend und wetternd davon, die Braune am Leitzaum nachziehend. Kei - nen Blick wandte er nach dem Gehöfte zurück, die Braune dahingegen drehte mehreremale den Hals um und wieherte wehmüthig, als wollte ſie klagen, daß ihre gute Zeit nun vorüber ſei. Der Hofſchulze blieb, die Arme in die Seite geſtemmt, mit dem Knechte ſtehen, bis der Zug durch den Baumgarten verſchwunden war. Dann ſagte der Knecht: Das Vieh grämt ſich. Warum ſollte es nicht? erwiederte der Hofſchulze, grämen wir uns doch auch. Komm auf den Fut - terboden, wir wollen Hafer meſſen.
Indem er ſich mit dem Knechte dem Hauſe zuwandte, ſah er, daß der Platz unter den Linden ſchon wieder von neuen Gäſten eingenommen war. Dieſe hatten aber ein ſehr verſchiedenartiges Anſe - hen. Denn es ſaßen da drei bis vier Bauern, ſeine nächſten Nachbarn, und neben ihnen ſaß ein bildſchönes Mädchen. Dieſes bildſchöne Mädchen war die blonde Lisbeth, welche im Oberhofe genächti - get hatte.
Ich werde mich nicht vermeſſen, ihre Schönheit zu beſchreiben; es käme dabei doch nur auf rothe Wangen und blaue Augen hinaus, und dieſe aller - liebſten Dinge, ſo friſch ſie ſich in der Wirklichkeit halten, ſind ſchwarz auf weiß etwas abgeſtanden. Es denke ſich daher jeder Leſer ſeine jetzige oder ehemalige Geliebte, und jede Leſerin blicke in den268 Spiegel, oder erinnere ſich, wie ſie an ihrem Braut - tage ausgeſehen hat, ſo wird die Lisbeth vor allen Leuten daſtehen, wie ſie leibt und lebt.
Der Hofſchulze ging, ohne ſich vorläufig um die langhaarigen, bekittelten Nachbarn zu kümmern, auf ſeinen blühenden Gaſt zu und ſagte: Nun? Gut geſchlafen, Mamſellchen?
Prächtig, verſetzte Lisbeth.
Was haben Sie denn am Finger? Sie tragen ihn ja verbunden? fragte der Alte.
Nichts, antwortete das junge Mädchen und errothete. Sie wollte eine andere Unterredung anfangen. Der Hofſchulze ließ ſich aber nicht irren, ergriff ihre Hand, an welcher ſie den Finger ver - bunden trug und rief: Es iſt doch nicht ſchlimm?
Nicht der Rede werth, verſetzte Lisbeth. Als ich Eurer Tochter geſtern Abend nähen half, fuhr mir die Nadel in den Finger, und da hat er geblutet, das iſt Alles.
Ei! Ei! ſagte der Hofſchulze ſchmunzelnd, und wie ich ſehe, iſt es ſogar der Ringfinger; das bedeutet was Gutes. Wiſſen Sie wohl, daß wenn eine Jungfer einer Braut hilft am Brautlinnen nähen und verwundet ſich am Ringfinger, ſie269 noch im nämlichen Jahre auch Braut wird? Nun, ich gratulir’ ſchönſtens zum ſchmucken Freiersmann.
Die Bauern lachten; die blonde Lisbeth ließ ſich nicht aus der Faſſung bringen, ſondern rief frohlich: Und wißt Ihr auch meinen Spruch, den ich von der Spröden gelernt habe? Er lautet:
Und — fiel der Hofſchulze ein —
Ein Schuß fiel in der Nähe. Sehen Sie, Mam - ſellchen, das trifft zu, rief der Alte.
Laßt jetzt Eure loſen Reden, Hofſchulze, ſagte das junge Mädchen. Ich bin darum bei Euch eingekehrt, um von Euch Rath wegen der Gülten zu bekommen, und den gebt mir alſo nun auch ohne Scherz und Poſſen.
Der Hofſchulze ſetzte ſich, um zu hören und zu reden, in Poſitur, die Lisbeth zog ein Schreib - täflein heraus und las die Namen der Bauern270 ab, bei welchen ſie in den Tagen zuvor umherge - wandert war, um die Rückſtände der Zinſen für ihren Pflegevater einzutreiben. Sie erzählte dabei dem Hofſchulzen, daß und unter welchen Vorwän - den ſie ſich geweigert hätten, ihre Schuld abzuſto - ßen. Der Eine wollte längſt bezahlt haben, der Andere hatte geſagt, er ſei neu auf dem Hofe, der Dritte wußte von gar nichts, der Vierte hatte gethan, als höre er nicht gut, und ſo fort, ſo daß das arme Mädchen, wie ein Vöglein, das bei Win - terszeit nach Futter fliegt und kein Körnlein aufzu - picken findet, von Thür zu Thür leer abgewieſen worden war. Wer aber glaubt, daß dieſe vergeb - liche Mühe ſie in Kümmerniß geſtürzt habe, der irrt; ihr konnte nichts etwas anhaben, ſie erzählte ihre beſchwerlichen Wanderungen mit heitrem Munde.
Der Hofſchulze ſchrieb mehrere der ihm genann - ten Namen mit Kreide auf den Tiſch und ſagte, als ſie ihre Liſte geſchloſſen hatte: Was die Andern betrifft, ſo wohnen die nicht bei uns, über die habe ich keine Macht, und wenn ſie ſo ſchlecht ſind, ihre Pflicht und Schuldigkeit zu verläugnen, ſo ſtreichen Sie die Schelme nur aus, denn mit Pro - zeſſen kriegt man nichts vom Bauer. Aber die in271 unſerer Gemarke wohnen, gegen die werde ich Ihnen zu Ihrem Rechte helfen, dazu haben wir noch Mittel.
Oho! ſagte einer der Bauern halb laut zu ihm; thut Ihr doch, Schulte, als hättet Ihr immer das Strop*)So heißt in manchen Gegenden ein Strick. im Rockärmel bei Euch. Wann ſoll die Heimlichkeit vor ſich gehen?
Schweigt, Baumſchulte, denn ſolche ſpöttliche Worte möchten Euch zu Schaden werden, verſetzte der Alte mit Ernſt.
Der Angeredete wurde betreten, ſchlug die Augen nieder und erwiederte kein Wort. Lisbeth dankte dem Alten für die zugeſagte Hülfe und fragte nach den Wegen und Stegen zu den Andern, die ſie noch in der Schreibtafel hatte. Der Hof - ſchulze bezeichnete ihr den Pfad zu dem nächſten Hofe über die Pfaffenwieſe, an den drei Mühlen vorbei, durch die Hollenberge. Als ſie ihren Stroh - hut aufgeſetzt, ihren Stecken genommen, für gute Be - wirthung gedankt, und ſich ſolchergeſtalt zum Gehen gerüſtet hatte, bat er ſie, bei der Wiederkehr ſich ſo einzurichten, daß ſie die Hochzeit über und bis zum zweiten Tage nach derſelben im Hofe bleibe,272 dann hoffe er ihr die Verſicherung über die Zinſen oder dieſe ſogar vielleicht ſelbſt zugleich nach Hauſe mitgeben zu können.
Als die ſchlanke und edle Geſtalt des jungen Mädchens hinter den letzten Wallnußbäumen des Baumgartens verſchwunden war, ſagte einer der Bauern: Wenn der alte Herr Baron die früher zur Schaffnerin gehabt hätte, ſo wäre er nicht ſo heruntergekommen und hätte nicht zu beſorgen, daß ihm das Haus einmal über dem Kopfe zuſammen - ſtürzt. — Uebrigens iſt es unrecht, daß ſie das Kind allein im Lande herumlaufen laſſen.
Daran ſehe ich eben kein Unrecht, erwiederte der Hofſchulze. Ich habe noch nicht erlebt, daß einem ordentlichen Mädchen Schlechtigkeiten wider - fahren wären. Eine reine Jungfer kann unter Räu - ber und Mörder gehen, unter Geſindel und Be - trunkne, ſie thun ihr ſo leicht nichts. Vorigen Herbſt, als hier nebenan das Volk auf der Haide im Lager ſtand, hatte ſich meine Tochter bei einem Gange über Feld unter einen marſchirenden Trupp verlo - ren. Ja, von Niemand war ſie angetaſtet worden; ſie hatten ſie, weil ſie müde geworden war, ganz ſauber auf einen von ihren Vorſpannwagen gehoben,273 und ſo wurde ſie hier am Hofe richtig abgeſetzt. Ein Frauenzimmer, was die Mannsleute angreifen, pflegt von Hauſe aus angreifiſche Waare zu ſeyn.
Die Bauern ſprachen jetzt von dem Gegenſtande, welcher ſie zu dem Hofſchulzen geführt hatte. Eine neue Straßenanlage, die mit der großen Chauſſee Verbindung ſtiften ſollte, bedrohte ſie mit dem Ver - luſte einiger kleinen Wieſenſtücke, über welche der Weg nothwendig zu legen war, wenn er zu Stande kommen ſollte. Gegen dieſen Verluſt ſuchten ſie ſich nun, obgleich die Anlage zum Vortheil aller umliegenden Bauerſchaften gereichte, auf jede Weiſe zu ſchützen, und wie er abzuwenden ſeyn möchte, darüber wollten ſie ſich bei dem Beſitzer des Ober - hofes Raths erholen. Wirklich zeigte ſich auch der Hofſchulze in dieſer Angelegenheit ſehr eifrig und gab ihnen die beſten Mittel und Wege an die Hand, wie ſie der Forderung des Staates unter dem Schutze buchſtäblicher Vorſchriften der Geſetze ent - gehen, oder doch wenigſtens das Nachgeben hinzö - gern könnten. Sie möchten nur ſagen, die Stücke ſeien ihnen ganz nothwendig, wenn ſie nicht zu Grunde gehen ſollten, möchten einen übermäßigen Preis auf ſie ſetzen, den und den angehen, welcherImmermann’s Münchhauſen. 1. Th. 18274in der Sache abzuſprechen habe und welcher, wenn ſie ihn recht zu behandeln wüßten, ſchon ein Zeug - niß ausſtellen werde, daß die Straße auch anders gelegt werden könne, und was dergleichen mehr war, welches freilich auf eine ganz andere Sinnes - weiſe hinauszulaufen ſchien, als die mir ſchon von dem Hofſchulzen in ſeinem Verkehre mit Menſchen kennen gelernt haben.
Indeſſen wurde aus ſeinem Geſpräche mit den Nachbarn klar, daß dieſe Bauern ſich den Heiſchun - gen des Staats zum öffentlichen Nutzen gegenüber im Zuſtande des Krieges glaubten, welcher bekannt - lich alle Mittel, die zum Zweck führen, gutheißt. Wir werden ſchon unſre Frucht einfahren und zu Markte führen können, wie bisher, ohne große Stra - ßen nöthig zu haben, und was geht uns alles Uebrige an? ſagte der Hofſchulze im Verlaufe der Unterredung. Mogen ſie bauen und graben, was ſie wollen, ſie ſollen uns aber ungeſchoren laſſen. Wenn es nach denen ginge, ſo wären wir bald vom Erb von wegen des gemeinen Nutzens, wie es heißen würde, fügte er hinzu.
Guten Tag, wie geht’s? rief eine hier wohl - bekannte Stimme. Ein Fußwanderer, ein Mann275 in anſtändiger Kleidung, aber von den grauen Kama - ſchen bis zur grünen Schirmkappe beſtaubt, war durch den Thorweg eingetreten und hatte ſich dem Tiſche genähert, ohne von den Redenden anfänglich bemerkt zu werden. Ei, Herr Schmitz, ſieht man Sie auch ein - mal wieder? ſagte der alte Bauer ſehr freundlich und ließ für den Ermüdeten durch den Knecht das Beſte, was ſich im Keller befand, herbeiholen.
Die Bauern rückten vor dem neuen Ankömm - linge höflich zuſammen. Er wurde zum Sitzen genöthigt und bewerkſtelligte dieſe ſeine Niederlaſ - ſung mit bedachtſamer Vorſichtigkeit, um nicht, was er bei ſich trug, zu zerbrechen. In der That war ein ſolches Verhalten auch nothwendig, denn der Mann war bepackt wie ein Laſtwagen, und die Umriſſe ſeiner Geſtalt glichen einem Conglomerate zuſammengeſchnürter Ballen. Nicht allein, daß die Rocktaſchen, mit manchem Runden, Viereckten, Läng - lichten befrachtet, in ſonderbarer Bauſchung weit vom Leibe abſtanden, auch Bruſt - und Seitenbehäl - ter, zu gleichen Zwecken verwendet, bildeten man - nigfach geformte Wülſte und Erhöhungen, die um ſo ſchärfer hervortraten, als der Sammler, um nichts von ſeinen Schätzen zu verlieren, den Rock,18*276ungeachtet der herrſchenden Sommerwärme, feſt zu - geknöpft trug. Selbſt das Innere der Kappe hatte zur Aufbewahrung kleinerer Gegenſtände dienen müſſen und erhielt von dieſem Inhalte ein kürbiß - artiges Anſehen. Er ſchlürfte den ihm vorgeſetzten guten Wein mit ſichtbarem Behagen, das ältliche, von Wandern und Hitze aufgedunſene und gerö - thete Antlitz gewann allmählich ſeine ihm natür - liche Farbe und Form wieder. Gute Geſchäfte gemacht, Herr Schmitz? fragte der Hofſchulze lächelnd. Dem Anſcheine nach ſollte man es glauben.
Es geht noch, verſetzte der Sammler. In der lieben Erde ſteckt ein rechter Segen. Nicht allein Korn und Gewächſe bringt ſie immerdar hervor und wird nicht müde; auch Alterthümer erndtet ein aufmerkſamer Forſcher ihr fortwährend ab, ſoviel auch danach ſchon geſcharrt und gegraben worden iſt. Ich habe denn einmal wieder ſo mein Gän - gelchen durch das Land gehalten, kam dieſes - mal bis an die Grenze vom Siegenſchen. Nun bin ich auf dem Rückmarſch, will heute noch zur Stadt, mußte aber unterweges bei Euch, Schulze, mich etwas ausruhen, denn müde ward ich freilich.
277Was bringen Sie denn mit? fragte der Hof - ſchulze.
Der Sammler klopfte ſacht und freundlich auf alle Erhöhungen und Wülſte ſeiner verſchiedenen Taſchen und ſagte: Ei nun, Liebes und Gutes, allerhand Siebenſachen. Eine Streitaxt, ein Paar Donnerkeile, Kattenringe, prächtig mit grünem Roſt überzogen, Aſchenkrüglein, Thränenflaſchen, drei Götzen und ein Paar koſtbare Lampen. Dann ſchlug er mit der umgewandten Hand an ſeinen Nacken und fuhr fort: Und ein ganz complett erhaltenes Stück korinthiſchen Erzes habe ich mir hier, weil ich ſonſt keinen andern Platz mehr hatte, hier im Rücken unter dem Rocke feſtgebunden. Nun, es wird ſich denn wohl leidlich machen, wenn es Alles erſt geſäubert iſt und in Reihe und Glied ſteht.
Die Bauern bezeugten ihre Neugier nach eini - gen der Sachen; der alte Schmitz erklärte ſich aber unfähig, dieſelbe zu befriedigen, weil die Alter - thümer ſo ſorgfältig verpackt und mit ſo ausgeklü - gelter Benutzung jedes Räumchen’s eingeſenkt ſeien, daß es ſchwer halte, die ganze Befrachtung, wenn ſie gelöſet worden, wieder zu Stande zu bringen. Der Hofſchulze ſagte ſeinem Knechte etwas in das278 Ohr; dieſer ging in das Haus. Inzwiſchen erzählte der Sammler ausführlich von dem Fundorte der verſchiedenen Erwerbungen, rückte dann ſeinem Gaſt - freunde näher und ſagte vertraulich: Was aber die allerwichtigſte Entdeckung dieſer Reiſe iſt; ich habe nun wahr und wahrhaftig den Ort gefunden, wo Hermann den Varus ſchlug.
Ei, Ei, Ei, verſetzte der Hofſchulze und ſchob ſeine Mütze hin und her.
Alle ſind ſie auf dem falſchen Wege geweſen, Cloſtermeier, Schmid, und wie ſie heißen mögen, die darüber geſchrieben haben! rief der Sammler feurig. Immer wollten ſie den Varus in der Rich - tung auf Aliſo, wovon doch auch noch kein Menſch ausgeforſcht hat, wo es eigentlich gelegen — genug aber Mitternachtwärts — ſich zurückziehen laſſen, und demnach ſollte die Schlacht zwiſchen den Quel - len der Lippe und Ems, bei Detmold, Lippſpringe, Paderborn und Gott weiß wo noch? vorgefallen ſeyn —
Der Hofſchulze ſagte: Ich glaube, der Varus mußte aus allen Kräften ſuchen, nach dem Rhein zu kommen, und das konnte er nur, wenn er ins offene Land gelangte. Drei Tage ſoll die Bataille279 gedauert haben, darin läßt ſich ſchon ein Stück marſchieren, und ſo bin ich vielmehr der Meinung, daß die Attaque in den Bergen, die unſre Börde einſchließen, alſo gar nicht weit von hier vorge - fallen iſt.
Falſch! Falſch, Hofſchulze! rief der Sammler. Hier unterwärts war Alles beſetzt und verſtopft von Cheruskern, Katten und Sicambrern. Nein, weit mehr nach Mittag iſt die Schlacht geweſen, der Ruhrgegend nahe, nicht weit von Arnsberg. Varus mußte ſich durch das Gebirg hindurchworgen, er hatte nirgends einen Ausweg, und ſeine Gedanken ſtanden auf den Mittelrhein, wohin der Weg quer durch das Sauerland geht. So dachte ich es mir immer, ſo, und jetzt habe ich die untrüglichſten Beſtätigungs - zeichen entdeckt. Dicht an der Ruhr fand ich das korinthiſche Erz und kaufte die drei Gotzen, und da ſagte mir ein Mann aus dem Dorfe, daß kaum eine Stunde davon im Walde zwiſchen den Bergen eine Stelle liege, wo Knochen in ungeheurer Anzahl zwiſchen dem Sand und Kies aufgeſchichtet ſeien. Hui! rief ich, es wird Tag. Ging mit einigen Bauern hinaus, ließ nachgraben, und ſiehe da, wir fanden Knochen, wie ich ſie nur wünſchte. 280Das iſt alſo der Platz, wo Germanicus ſechs Jahre nach der Teutoburger Schlacht die Ueber - reſte der römiſchen Legionen beſtatten ließ, als er ſeine letzten Züge wider Hermann machte, und folglich habe ich dort das richtige Schlachtfeld ent - deckt.
An die tauſend und mehrere Jahre pflegen ſich Knochen nicht zu erhalten, ſagte der Schulze und bewegte zweifelmüthig das Haupt.
Sie haben ſich verſteinert in den Mineralien dort, ſprach der Sammler zorneifrig. Ich muß Euch nur den Glauben in die Hand geben, da iſt Einer, den ich mitgebracht habe.
Er zog einen großen Knochen aus dem Buſen und hielt denſelben ſeinem Widerpart unter die Augen. He, was iſt das? fragte er triumphirend.
Die Bauern ſtarrten den Knochen verdutzt an. Der Hofſchulze antwortete, nachdem er ihn prüfend betrachtet hatte: Ein Kuhknochen, Herr Schmitz. Sie ſind auf einen Schindanger geſtoßen und nicht auf das teutoburger Schlachtfeld.
Grimmig ſteckte der Sammler das beſcholtene Alterthum wieder an ſeinen Platz und ſtieß einige heftige Reden aus, denen der alte Bauer in der -281 ben Weiſe zu begegnen wußte. Es ſah daher nach einem Zanke zwiſchen beiden Männern aus; indeſſen hatte es damit nicht viel zu bedeuten. Denn es war ſchon hergebracht, daß ſie über ſolche und ähn - liche Dinge aneinander geriethen, wenn ſie zuſam - menkamen. Immer aber blieben ſie trotz dieſer Streitigkeiten gute Freunde. Der Sammler, der ſich das Brod am Munde abſparte, um ſeine Lieb - haberei zu befriedigen, pflegte ſich das Jahr hin - durch wochenlang bei den gefüllten Fleiſchtöpfen des Oberhofes auszufüttern und half wieder ſei - nerſeits dem Gaſtfreunde mit allerhand Schreibe - reien in deſſen Geſchäften; denn er war ſeines Zeichens ein ehemaliger Kaiſerlicher geſchworner und immatriculirter Notarius.
Endlich ſagte der Hofſchulze nach vielem nutz - loſen Hin - und Herreden von beiden Seiten: Ich will mit Ihnen über den Wahlplatz nicht ſtreiten, obgleich ich dabei verbleibe, daß Hermann den Va - rus hier herum geſchlagen hat. Es liegt mir aber überhaupt nicht viel daran, die Sache iſt mehr für die Herrn Gelehrten, denn wenn der andere römi - ſche General ſechs Jahre darauf, wie Sie mir oft - malen erzählt haben, ſchon wieder mit einer Armee282 in hieſigen Gegenden ſtand, ſo hat die ganze Ba - taille wenig zu bedeuten gehabt.
Davon verſteht Ihr nichts, Hofſchulze! fuhr der Sammler auf. Auf der Hermannsſchlacht beruht das geſammte deutſche Weſen. Wenn Her - mann der Befreier nicht geweſen wäre, ſo ſäßet Ihr nicht ſo breit hier zwiſchen Euren Hecken und Pfählen. Aber Ihr Leute lebt nur von einem Tage zum Andern und Geſchichte und Alterthümer ſind Euch nichts nütze.
Oho, Herr Schmitz, da thun Sie mir doch groß Unrecht! verſetzte der alte Bauer ſtolz. Weiß Gott, was für Plaiſir es mir macht, bei Win - terszeit die Chroniken und Hiſtorienbücher zu le - ſen, und Sie ſelbſt wiſſen, daß ich mit dem Schwerte von Carolus Magnus, (der Alte ſprach die zweite Sylbe lang aus;) welches nun ſeit tau - ſend und mehreren Jahren im Oberhofe aufbe - wahrt wird, umgehe, wie mit meinem Augapfel, folglich …
Das Schwert Karls des Großen! ſagte der Sammler höhniſch. Freund, iſt es denn nicht mög - lich, Euch dieſe Grillen aus dem Kopfe zu bringen? Hört doch nur —
283Und ich ſage und behaupte, daß es das ächte und aufrichtige Schwert Caroli Magni iſt, womit er hier auf dem Oberhofe den Freiſtuhl geſetzet und eingerichtet hat. Und das Schwert wirket und vollbringet noch heut zu Tage ſein Amt, obgleich davon nicht weiter geredet werden darf. Der Alte ſprach dieſe Worte mit einem Ausdrucke in den Mienen und mit einer Gebärde, die etwas Erha - benes hatten.
Und ich ſage und behaupte, daß das eitel Thor - heiten ſind, eiferte der Sammler. Ich habe den alten Flederwiſch an die hundertmale unterſucht, er hat kein halb Jahrtauſend erlebt und rührt viel - leicht aus der Soeſter Fehde her, wo ihn ein Reiſiger des Erzbiſchofs, der ſich hier in den Bü - ſchen verkrochen, mag haben ſtehen laſſen.
Daß dich! rief der Hofſchulze und ſchlug mit der Fauſt auf den Tiſch. Dann murmelte er vor ſich hin: Nun warte! Dafür ſollſt du heute deine Strafe kriegen.
Der Knecht trat aus der Thüre. Er trug ein Gefäß aus gebrannter Erde, von bedeutendem Um - fange und fremdartigem Anſehen, es ſteif und acht - ſam mit beiden Händen an den Henkeln gefaßt.
284Ei Gott! rief der Sammler, als es ihm näher zu Geſichte kam, das iſt ja eine prächtige große Amphora! Woher ſtammt denn die?
Ich habe, verſetzte der Hofſchulze gleichgültig, den alten Topf vor acht Tagen in meiner Kies - grube gefunden, als Grand ausgeſtochen wurde. Es ſtand noch mehr des Zeuges umher, was aber die Leute mit den Grabſcheiten zerſchlagen haben. Der Topf allein iſt erhalten worden. Ich wollte doch, daß Sie ihn ſähen, da Sie einmal hier ſind.
Mit feuchten Blicken betrachtete der Sammler das große, wohlerhaltene Gefäß. Endlich ſtammelte er: Iſt darüber kein Handel zu machen?
Nein, verſetzte der alte Bauer kalt, ich will den Topf mir ſelber aufheben. Er gab dem Knechte einen Wink, dieſer wollte die Amphora in das Haus zurücktragen, wurde aber daran von dem Sammler gehindert, welcher, die Augen nicht von dem Gefäße wendend, den Eigenthümer mit den mannigfaltig - ſten und beweglichſten Wendungen anging, ihm den erſehnten Weinkrug abzuſtehen. Es war indeſſen Alles vergebens; der Hofſchulze verblieb den ein - dringlichſten Bittworten gegenüber in unerſchütter - licher Seelenruhe und machte auf dieſe Weiſe den285 unbewegten Mittelpunkt der Gruppe, um welchen die Bauern, die dem Handel mit aufgeſperrten Mäulern zuhorchten, der Knecht, der das Gefäß an den Henkeln gefaßt, dem Hauſe zuſtrebte, und der Alterthümler, welcher daſſelbe am untern Ende feſthielt, die aufgeregten Seiten - und Nebenfiguren bildeten. Zuletzt ſagte der Hofſchulze, daß er in Willens geweſen ſei, ſeinem Gaſte den Topf, wie ſo manches früher aufgefundene Stück zu ſchenken, weil er ſelbſt ſeine Freude daran habe, die alten Sachen auf den Brettern der Sammlung an den Wänden ringsherum in Ordnung geſtellt, zu ſehen, daß ihm aber die beſtändigen Angriffe auf das Schwert Caroli Magni verdrießlich ſeien, und daß er deßhalb auch mit dem Topfe ſeinen Willen behal - ten wolle.
Kleinlauten Tons verſetzte hierauf der Sammler nach einer Pauſe, daß Irren menſchlich wäre, daß die Waffen des Mittelalters ſich nach den Zeital - tern oft nicht genau unterſcheiden ließen, daß er auf dieſe Ueberbleibſel ſich weniger, als auf Romer - ſachen verſtände, und daß allerdings Manches an dem Schwerte auf ein höheres, über die Soeſter Fehde hinausreichendes Alter zu deuten ſchiene. 286Worauf der Hofſchulze entgegnete, daß ihm der - gleichen allgemeine Redensarten nichts frommen könn - ten, daß er den Zwiſt und den Zweifel an ſeinem Schwerte einfürallemal abgethan wiſſen wollte, und daß es nur ein Mittel gäbe, in den Beſitz des alten Topfes zu kommen, nämlich, wenn der Herr Schmitz auf der Stelle eine Schrift von ſich gäbe, worin das im Oberhofe aufbewahrte Schwert förm - lich für das wahre Schwert Caroli Magni aner - kannt würde.
Nach dieſer Eröffnung hatte der Alterthümler freilich einen harten Kampf zwiſchen ſeinem anti - quariſchen Gewiſſen und ſeiner antiquariſchen Be - gierde zu kämpfen. Er warf die Lippe auf und trommelte mit den Fingern auf der Stelle umher, wo er den Knochen vom teutoburger Schlachtfelde ſtecken hatte. Sichtlich war ſein Beſtreben, über die Anmahnungen des ihn zur Unwahrheit verlocken - den Geluſtes Herr zu werden. Endlich aber erhielt dennoch die Leidenſchaft, wie dieſes immer zu geſche - hen pflegt, die Oberhand. Haſtig forderte er Feder und Papier und ſtellte mit fliegender Eile, zuwei - len ſeitwärts nach der Amphora ſchielend, ein unumwundenes Bekenntniß aus, daß er nach oft -287 maliger Beſichtigung des Schwertes im Oberhofe ſolches für das des Kaiſers Karls des Großen erkannt und befunden habe.
Dieſe Urkunde ließ der Hofſchulze von den bei - den Bauern als Zeugen mit unterſchreiben, und ſteckte dann das Papier, mehrmals zuſammenge - ſchlagen, zu ſich. Der alte Schmitz aber faßte hef - tig nach der auf Koſten ſeines beſſeren Bewußtſeyns erkauften Amphora. Der Hofſchulze ſagte, er wolle ihm den Topf andern Tages nach der Stadt ſchicken; wie hätte aber ein Sammler wohl jemals auch nur einen Augenblick lang die körperliche Innehabung eines theuer erworbenen Beſitzſtückes entbehrt? Entſchieden lehnte der Unſrige jeden Verzug ab, ließ ſich eine Schnur geben, zog dieſe durch die Henkel, und hing ſich daran das große Weinge - fäß über die Schulter. Sie ſchieden demnächſt im beſten Einvernehmen, nachdem der Samm - ler noch zur Hochzeit gebeten worden war. Er gewährte mit ſeinen Winkeln, mit den bau - ſchig abſtehenden Rockſchößen und der hin und her wackelnden Amphora an der linken Seite ei - nen abentheuerlichen Anblick, als er von dannen zog.
288Die Bauern boten ihrem Rathgeber die Zeit, ver - ſprachen, ſich ſeinen Rath merken zu wollen und gingen dann, ein Jeder zu ſeinem Gehöfte. Der Hofſchulze, dem im Laufe einer Stunde mit allen Menſchen, die ſich bei ihm zuſammengefunden hatten, jegliches Vornehmen geglückt war, trug erſt die erwonnene Anerkennungsurkunde auf die Kammer, worin er das Schwert Caroli Magni verwahrte, dann ging er mit dem Knechte auf den Futterbo - den, um den Hafer für die Pferde ihm zuzumeſſen.
„ Weſtphalen beſtund aus einzelnen Höfen, deren jeder ſeinen eigenthümlichen und freien Beſitzer hatte. Mehrere ſolcher Höfe machten eine Bauer - ſchaft aus, die gewöhnlich den Namen des älteſten und vornehmſten Hofes führte. Es gründet ſich in der erſten Anlage der Bauerſchaften, daß der älteſte Hof auch der erſte im Range bleiben und der vornehmere werden mußte, wo von Zeit zu Zeit die davon ausgegangenen Kinder, Enkel, Hausge - noſſen zuſammenkamen und einige Tage feuerten und zechten. Der Anfang, oder das Ende des Sommers war die gewöhnliche Zeit dazu, wo jeder Hofbeſitzer etwas von ſeinen gezogenen Früchten und auch wohl ein junges Stück Vieh zum Bauer - mahl mitbrachte. Man beſprach ſich über man - nichfaltige Gegenſtände und nahm Rückſprache, Hei -Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 19290rathen wurden da geſchloſſen, Todesfälle angezeigt, und der Sohn als eingetretenes Haupt ſeines väter - lichen Erbes erſchien dann gewiß mit volleren Hän - den und ausgeſuchterem Viehe bei ſeinem erſten Eintritt in die Verſammlung. An Zwiſten konnte es bei ſolchen Freudentagen nicht fehlen, dann trat der Vater als Haupt des älteſten Hofes in die Mitte und legte mit Einſtimmung der Uebrigen den Zank bei. Wurden einige Hofbeſitzer während der andern Jahrszeit irgend einer Urſache halber uneins, ſo brachten Beide bei der nächſten Ver - ſammlung ihre Beſchwerde vor, und Beide waren damit zufrieden, was ihre Mitgenoſſen für gut oder recht fanden. War Alles aufgezehrt, der zur Feier beſtimmte Baum ausgebrannt, ſo hatte das Feſt, die Verſammlung ein Ende. Jeder kehrte dann zurücke, erzählte ſeinen zu Hauſe ſchon wartenden Hausgenoſſen die Begebenheiten des Feſtes und ward mit ihnen lebendige und ſtäts fortdauernde Urkunde aller Vorfälle ihrer Bauerſchaft.
Dergleichen Zuſammenkünfte hießen Sprachen, Bauerſprachen, weil ſämmtliche Hofbeſitzer einer Bauerſchaft, um ſich zu beſprechen, zuſammenkamen, und Bauergerichte, weil hier die Irrungen der291 ſchon ſtillſchweigend in einen Verein getretenen Männer beigelegt oder zurückgewieſen wurden. Da die Bauerſprachen und Bauergerichte bei’m älteſten oder vornehmſten Hofe gehalten wurden, ſo hieß ſolcher Hof auch Richthof, und die Bauergerichte und Bauerſprachen auch Hofſprachen und Hofge - richte, welche bis auf heutigen Tag noch nicht ganz verſchwunden ſind. Der älteſte Hof, der Richt - hof ward nun im vorzüglicheren Sinne Hof genannt, womit man den Haupthof oder Oberhof in der Bauerſchaft und deſſen Beſitzer als das Haupt oder den Hauptmann der Uebrigen bezeichnete.
So hätten wir ungefähr die Entſtehung von dem erſten Vereine und den erſten Gerichtsanſtalten der Weſtphäliſchen Höfe oder Bauerſchaften. Sie kann uns um deſto weniger befremden, wenn man bedenket, daß Weſtphalens ehemalige Geſtalt nur eine langſame Bevölkerung und allmähligen Anbau verſtattete, und dieſes allmählige Fortſchreiten ge - rade ſo zu den ſimpeln und einförmigen Einrich - tungen, als zu der gleichen Bildung, Sitte und Gewohnheit führte, die wir bei Weſtphalens alten Bewohnern antreffen. “
19*292Dieſe Stelle aus Kindlinger’s Münſteriſchen Beiträgen führt uns auf den Schauplatz der Hand - lung. Sie verdeutlicht uns den Helden der Letz - teren, den Hofſchulzen. Er war der Beſitzer eines der größten und reichſten Haupt - oder Oberhöfe, welche in den dortigen Gegenden, freilich jetzt bis zu geringer Anzahl zuſammengeſchmolzen, liegen.
Ueber dieſe uralten Wehren freier Männer iſt der Athem der Zeiten Markenverrückend und Rech - tetilgend hingefahren. Die anfängliche germaniſche Genoſſenſchaft, in welche Jeder nur eintrat, Leibes und Lebens ſicher zu werden, nicht, Leib und Leben zu verlieren, iſt längſt zerſtört; der Vaſallendienſt hat an der Freiheit gerüttelt, die Miniſterialität hat daran gerüttelt, und endlich ſind die Trümmer eigenartiger Selbſtſtändigkeit in den großen Noth - und Bergehafen des modernen Staats getrieben worden. In dieſem ſchwimmen ſie, (um dem Gleichniſſe treu zu bleiben,) ſtoßen und prallen an einander an, oder ſind auch wohl, ſeitwärts auf das Trockne geworfen. Dort verwittern ſie, mit Tang, Flechten und Schneckenhäuſern beſetzt, nach und nach, während jener Ueberzug den Schein eines neuen Gebildes fortſetzt.
293Aber es iſt etwas Merkwürdiges um die erſten Stammerinnerungen, und die Völker haben ein ſo langes Gedächtniß, wie die einzelnen Menſchen, denen ja auch die Eindrücke der früheſten Kinder - zeit bis in das höchſte Alter hinauf getreu zu blei - ben pflegen. Erwägt man nun, daß eines Menſchen Leben Neunzig währen kann und darüber, daß der Völker Jahre aber Jahrhunderte ſind, ſo iſt es weiter nicht zu verwundern, daß in den Gegenden, in welche ſich unſere Geſchichte nunmehr begeben hat, Manches noch hin und wieder aufſtößt, welches nach der Zeit zurückweiſ’t, in welcher der große Frankenkaiſer die eigenſinnigen Saſſen mit Feuer und Schwert zu bekehren wußte.
Weckt alſo die Natur da, wo ſonſt der oberſte Rich - ter und Erbe der Gegend wohnte, wieder einmal beſon - dere Eigenſchaften in einem Menſchen auf, ſo kann an den Jahrtauſendalten Erinnerungen und zwiſchen den Grenzen und Gräben, die doch noch erkennbar ſind, eine Geſtalt erwachſen, wie unſer Hofſchulze, eine Geſtalt, deren Geltung zwar von den Mächten der Gegen - wart nicht anerkannt wird, welche aber für ſich ſelbſt und bei ihres Gleichen einen längſtverſchwundenen Zuſtand auf einige Zeit wiederherſtellt.
294Doch das klingt für dieſe Arabeskengeſchichte zu ernſthaft. Sehen wir uns lieber im Oberhofe ſelbſt um! Wenn das Lob der Freunde immer ein ſehr zweideutiges bleibt, ſo darf man dagegen dem Neide der Feinde vertrauen, und am glaubwürdigſten iſt ein Pferdehändler, der die guten Umſtände eines Bauern herausſtreicht, mit welchem er nicht des Handels einig werden konnte. Zwar ließ ſich von dem Hofe nicht, wie der Roßkamm Marx ſagte, behaupten, es ſei darin, als ob man ſich bei einem Grafen befinde, dagegen nahm man, wohin man blickte, bäuriſchen Wohlſtand und einen Segen wahr, welcher dem hungrigſten Menſchen zurufen mußte: Hier kannſt du dich mit ſatt eſſen, die Schüſſel iſt immerdar voll.
Der Hof lag ganz allein an der Grenze der fruchtbaren Börde, da wo ſie in das Hügel - und Waldland übergeht. Die letzten Felder des Hof - ſchulzen ſtiegen ſchon ſacht die Anhöhen hinauf, und eine Meile von dort war Gebirg. Der nächſte Nachbar der Bauerſchaft wohnte eine Viertelſtunde vom Hofe. Um dieſen breitete ſich alles Beſitz - thum, welches eine große ländliche Wirthſchaft nöthig hat, aus; Feld, Wald, Wieſe, unzerſtückelt, in geſchloſſenem Zuſammenhange.
295Von der Anhöhe herab liefen die Felder durch die Ebene, beſtens beſtellt. Es war aber um die Zeit der Roggenblüthe; der Rauch ging von den Aehren und wallte in den warmen Sommerlüften, ein Opfer der Scholle. Einzelne Reihen hoch - ſtämmiger Eſchen oder knorrichter Rüſtern, zu bei - den Seiten der alten Grenzgräben gepflanzt, faßten einen Theil der Kornfelder ein und bezeichneten, von Weitem her kenntlich, die Marken des Erbes, beſtimmter als Steine und Pfähle vermögen. Ein tiefer Weg zwiſchen aufgeworfenen Erdwällen führte quer durch die Felder, mündete rechts und links an verſchiedenen Orten in Seitenpfade aus und führte, wo das Getraide aufhörte, in ein kräftig beſtandenes Eichenwäldchen, unter welchem ſich erd - gelagerte Säue gütlich thaten, deſſen Schatten aber auch für den Menſchen erquicklich waren. Dieſer Kamp, welcher dem Schulzen ſein Holz lieferte, drang bis wenige Schritte vom Gehöfte vor, um - faßte es von beiden Seiten und gab ſo zugleich gegen die Oſt - und Nordwinde Schutz.
Nur mit Stroh war das Wohnhaus, welches ſich in ſeinen weiß und gelb angeſtrichenen Wänden von Fachwerk zweiſtöckig erhob, gedeckt, aber da296 dieſe Bedeckung immer ſehr wohl in Stand erhal - ten ward, ſo hatte ſie nichts Dürftiges, verſtärkte im Gegentheil den behaglichen Eindruck, den das Gehöft machte. Das Innere lernen wir ſchon bei Gelegenheit kennen; jetzt ſei nur geſagt, daß auf der andern Seite des Hauſes um einen geräu - migen Hof Ställe und Scheunen liefen, an denen auch das ſchärfſte Auge keine ſchadhafte Stelle an Mauer und Bewurf erſpähen konnte. Große Linden ſtanden vor der Hofthüre, und dort, nicht nach der Waldſeite zu waren auch, wie wir ſchon erfahren haben, die Ruheſitze angebracht. Denn der Hofſchulze wollte, ſelbſt wenn er raſtete, ſeine Wirthſchaft im Auge behalten.
Gerade dem Wohnhauſe gegenüber ſah man durch ein Gitterthor in den Baumgarten. Dort breite - ten ſtarke und geſunde Obſtſtämme ihre belaubten Zweige über friſchem Graswuchs, Gemüſe - und Sal - latſtücken aus; hier und da ernährte ein ſchmales Beet dazwiſchen rothe Roſen und gelbe Feuerlilien. Doch waren ſolcher Beete nur wenige. In einer äch - ten Bauerwirthſchaft bleibt der Boden dem Bedürf - niſſe gewidmet, ſelbſt wenn dem Eigenthümer ſeine Umſtände Luxus mit der Natur verſtatten. 297Deßhalb haben wir in ſolchen Höfen eine Empfin - dung froher Ruhe aller Sinne, wie ſie Prachtgär - ten, Parks und Villen nicht zu erregen vermögen. Denn das aeſthetiſche Landſchaftsgefühl iſt ſchon ein Product der Ueberfeinerung, weßhalb es denn auch nie in eigentlich robuſten Zeiten auftritt. Dieſe halten vielmehr die Stimmung zur Mutter Erde, als zu der Allernährerin feſt, wollen und verlangen nichts von ihr, als die Gabe des Feldes, der Viehweide, des Fiſchteiches, des Wildforſtes.
So weit das Auge über den Baumgarten hin - ausblickte, ſah es auch nur Grün. Denn jenſeits des Gartens lagen die großen Wieſen des Ober - hofes, auf welchen der Schulze Raum und Futter für ſeine Pferde beſaß. Ihre Zucht, mit Fleiß betrieben, gehörte zu den einträglichſten Nahrungs - quellen des Erbes. Auch dieſe grünen Grasflächen waren von Hecken und Gräben umſchloſſen; eine derſelben faßte einen Weiher ein, in welchem aus - gefütterte Karpfen zugweiſe umherſchwammen.
Auf dieſem reichen Hofe zwiſchen vollen Scheuern, vollen Böden und Ställen handthierte der alte, weit und breit angeſehene Hofſchulze. Beſtieg man aber den höchſten Hügel, zu dem ſich298 ſeine Felder hinauf erſtreckten, ſo erblickte man von dort die Thürme dreier der älteſten Städte Weſtphalens.
Es ging zu der Zeit, von welcher ich rede, auf Eilf Uhr Vormittags, und der ganze weit - läufige Hof war ſo ſtill, daß ſich faſt nur das Rauſchen der Lüfte in den Baumwipfeln des Kamps vernehmen ließ. Der Schulze maaß dem Knechte Hafer zu, womit dieſer, den Sack über der Schul - ter, langſamen Schrittes nach dem Pferdeſtalle ging, die Tochter zählte in der Linnen - und Garnkam - mer ihre Ausſtattung nach, eine Magd beſorgte die Küche. Was ſonſt von Menſchen im Hofe lebte, lag und ſchlief, denn es ging gegen die Ernte, in welcher Zeit es bei den Bauern am wenigſten zu thun giebt, und die Arbeiter jede Minute zu benut - zen pflegen, um gewiſſermaßen auf Rechnung der herannahenden ſchweiß - und mühevollen Tage in voraus zu ſchlafen. Ueberhaupt können die Land - leute, wie die Hunde, zu allen Stunden bei Tage und bei Nacht ſchlafen, wann ſie wollen.
Aus den Hügeln, welche die Felder des Hof - ſchulzen begrenzten, traten zwei Männer von ver - ſchiedenem Anſehen und Alter. Der Eine, im grünen Jagdcollet, die kleine Mütze über das locki - ge Haupt geworfen, die leichte Lütticher Flinte im Arme, war ein blühendſchöner Jüngling, der Andere, in ſtillere Farben gekleidet, ein ältlicher Mann von treuherziger Miene. Der Jüngere ſchritt raſch wie ein Edelhirſch dem Aelteren voran, der ſeines Orts mehr den langſamen Gang eines ausgedienten, aber dem Herrn noch ſtäts anhänglich nachſchleichenden Jagdhundes hatte. Als ſie auf einen freien Platz vor den Hügeln getreten waren,300 ſetzten ſie ſich auf einen großen Stein, der dort nebſt mehreren Andern lag, im Schatten einer mächtigen Linde. Der Jüngere gab dem Alten Geld und Schriften, deutete ihm die Richtung an, in welcher er nun ſeinen Weg fortſetzen müſſe, und ſagte zu ihm: Jetzt Jochem, geh und ſei geſcheidt, daß wir des vermaledeiten Schrimbs oder Peppel habhaft werden, der ſolche abſcheuliche Lügen ausgedacht hat. Und ſobald du ihn entdeckt haſt, gieb mir Nachricht.
Ich werd’ g’ſcheidt ſeyn, erwiederte der alte Jochem. Ich frage immer ſo ſacht und unter der Hand in den Flecken und Städten nach Einem, der ſich Schrimbs oder Peppel ſchreibt, und es müßte mit dem Henker zugehen, wenn ich den Gauch nicht ausfindig machen wollte. Sie halten ſich der - weile incognito-verborgen, bis Sie von mir ein Weiteres vernehmen.
Wohl, ſagte der junge Mann, und nur immer äußerſt vorſichtig und bedachtſam gehandelt, Jochem, denn wir ſind nicht mehr im lieben Schwabenland, ſondern dahaußen unter Sachſen und Franken.
Die wüſten Kerl’! verſetzte der alte Jochem. Sie haben halt lang von Schwabenſtreichen geſprochen,301 ſie ſollen verſpüren, daß der Schwab auch ein fei - ner Vogel ſeyn kann, wann’s Noth thut.
Immer rechts dich gehalten, mein Jochem, denn dahin weiſen die letzten Spuren von dem Schrimbs oder Peppel, ſagte der junge Mann, indem er auf - ſtand, und dem Alten zum Abſchiede herzlich die Hand ſchüttelte. Immer rechts, verſteht ſich, erwiederte Dieſer, gab dem Andern die vollgeſtopfte Waidtaſche, die er bis jetzt getragen hatte, lupfte den Hut, und ging dann zwiſchen den Kornfeldern einen Seitenpfad rechts nach der Gegend zu hinab, wo man in der Ferne eine der im vorigen Capitel angedeuteten Thurmſpitzen ragen ſah.
Der junge Mann mit der Jagdflinte ging dage - gen gerade gegen den Oberhof hinunter. Er mochte etwa hundert Schritte weit gegangen ſeyn, als er etwas keuchend hinter ſich herkommen hörte und ſich umdrehend ſah, daß ſein alter Begleiter ihm folgte. Ich wollte Sie noch um Eins gebeten und erſucht haben, rief Dieſer, thun Sie, da Sie nun allein und ſich ſelbſt überlaſſen ſind, das Schieß - gewehr von ſich, denn Sie treffen doch nichts und richten, weiß Gott, noch einmal ein Unglück an, wie neulich ſchon beinahe geſchehen wäre, da Sie302 nach dem Haſen zielten und beinahe das Kind niedergeſchoſſen hätten.
Ja, es iſt verwünſcht, immer zu zielen und nimmer zu treffen! rief der junge Mann. Ich will mich auch wahrhaftig überwinden, ſo ſchwer es mir fallen wird, denn du weißt ja, daß es mir von meiner ſeligen Mutter her anklebt, allein ich will mich, wie geſagt, überwinden, und es ſoll kein Schrotkorn aus dieſen Läufen fliegen, ſo lange ich von dir entfernt bin.
Der Alte bat ihn um das Gewehr. Dem aber weigerte ſich der junge Mann, indem er ſagte, daß es ohne Gewehr ja gar keine Ueberwindung koſte, das Schießen zu laſſen, und ſeine Handlungsweiſe dann alles Verdienſt einbüße. Das iſt auch wahr, erwiederte der Alte und ging nun getroſt, ohne einen zweiten Abſchied zu nehmen, da der Erſte noch vorhielt, ſeine ihm angewieſene Straße zurück. Der junge Mann blieb ſtehen, ſetzte das Gewehr auf den Boden, ſtieß den Ladeſtock in den Lauf und ſagte: Es wird hart halten, den Schuß her - auszubringen, und er darf doch nicht darin bleiben. Dann warf er es wieder über die Schulter und ſchritt auf den Eichenkamp des Hofſchulzen zu.
303Dicht vor demſelben von einem ſchmalen Raine ging eine Kette Feldhühner mit ſchmetterndem Flü - gelſchlage und Geſchrei auf. Jauchzend riß der junge Mann das Gewehr von der Schulter, rief: Da werde ich ja gleich der Schüſſe quitt! ſchlug an, es knallte zweimal aus dem Doppelgewehre, die Vogel flogen unverſehrt davon, der Jäger ſah betroffen ihnen nach, ſagte: Dießmal, meinte ich, müßte ich was getroffen haben, nun will ich mich aber auch gewiß überwinden; und ſetzte ſeinen Weg durch das Eichenwäldchen nach dem Hofe fort.
Als er zur Thüre eintrat, ſah er in einem geräumigen, hohen Flure, welcher den ganzen mitt - leren Theil des Hauſes einnahm, den Hofſchulzen mit Tochter, Knechten und Mägden bei dem Mit - tagseſſen ſitzen. Er bot mit ſeiner ſonoren, wohl - klingenden Stimme freundlichen Gruß; der Hof - ſchulze ſah ihn achtſam, die Tochter verwundert an, was die Knechte und Mägde betrifft, ſo ſahen ihn dieſe gar nicht an, ſondern aßen, ohne ſeiner zu achten, weiter. Der Jäger trat zu dem Hofwirthe und erkundigte ſich nach der Entfernung der näch - ſten Stadt und dem Wege dahin. Anfangs ver - ſtand der Schulze dieſe ihm fremdklingende Sprache304 nicht, die Tochter aber, welche kein Auge von dem ſchönen Jäger verwandte, half ihm den Sinn ent - decken, und er gab darauf richtigen Beſcheid. Dieſen verſtand wieder der Jäger ſeinerſeits erſt nach dreimaligem Fragen, brachte aber endlich doch her - aus, daß die Stadt auf dem ſchwer zu findenden Fußwege unter zwei ſtarken Stunden nicht zu erreichen ſei.
Die Mittagshitze, der Anblick des vor ihm ſtehenden reinlichen Mahls und ſein eigner Hunger riefen in dem Jäger die Frage auf: Ob er nicht hier für Geld und gute Worte Eſſen und Trinken und bis zur Abendkühle Obdach erhalten könne? — Für Geld nicht, verſetzte der Hofſchulze, für ein gutes Wort aber Mittagseſſen und Abendbrod dazu und Raſt, ſo lange es dem Herrn beliebt; ließ einen ſpiegelblanken zinnernen Teller, Meſſer, Gabel und Löffel, eben ſo blank wie der Teller, aufſetzen und nöthigte den Gaſt zum Sitzen. Dieſer ſprach dem kräftigen gekochten Schinken, den großen Boh - nen, den Eiern und Würſten, woraus die Mahlzeit beſtand, mit allem Appetite der Jugend zu, und fand, daß die weit und breit als böotiſch ver - ſchrieene Landeskoſt gar ſo übel nicht ſei.
305Geredet wurde von den Wirthen wenig, denn der Bauer ſpricht während des Eſſens nicht gern, doch erfuhr der Jäger von dem Hofſchulzen auf Befragen, daß hier herum in der ganzen Gegend kein Menſch, Namens Schrimbs oder Peppel, bekannt geworden ſei. Die Knechte und Mägde, welche geſondert von den Herrenplätzen am andern Ende der langen Tafel ſaßen, waren ganz ſtumm und blickten nur auf die Schüſſel, aus welcher ſie mit ihren Löffeln die Speiſe zum Munde führten.
Nachdem ſie aber abgegeſſen und ſich die Mäu - ler gewiſcht hatten, trat Eines nach dem Andern vor den Herrn und ſagte: Baas,*)Ausdruck für Brodherr. meinen Spruch. — Der Hofſchulze theilte hierauf Jedem eine ſprichwörtliche Redensart oder eine Bibelſtelle mit. So ſagte er zum erſten Knechte, einem roth - haarigen Kerl: Jach ſeyn zum Hader, zündet Feuer an, und jach ſeyn zu zanken, vergießt Blut; zum Zweiten, einem dicken, langſamen Menſchen: Gehe hin zur Ameiſe, du Fauler, ſieh ihre Weiſe an und lerne; zum Dritten, einem kleinen ſchwarz - äugichten verwogen blickenden Geſellen: Beſſer einImmermann’s Münchhauſen. 1. Th. 20306Sperling in der Hand, als ein Reiher auf dem Dache. — Die erſte Magd empfing den Spruch: Haſt du Vieh, ſo warte ſein, und trägt dir’s Nutzen, ſo behalte es; und zur Zweiten ſagte er: Es iſt nichts ſo fein geſponnen, es kommt endlich an die Sonnen.
Nachdem Jeder auf ſolche Weiſe bedacht worden war, gingen Alle zu ihren Arbeiten, der Eine gleich - gültig, der Andere betroffen ausſehend. Die zweite Magd war von ihrem Spruche blutroth geworden. Der Jäger, welcher allgemach den ortsüblichen Dialect verſtehen lernte, hatte dieſem Unterrichte mit Erſtaunen zugehört und fragte nach deſſen Beendigung, was er bezwecke?
Daß ſie darüber nachdenken, ſagte der Hof - ſchulze. Wenn ſie heute Abend hier wieder zuſam - menkommen, ſo ſagen ſie mir, was ſie ſich bei den Sprüchen gedacht haben. Die meiſte Arbeit auf dem Lande iſt der Art, daß die Leute nebenbei noch allerhand Gedanken haben können, und da fallen ihnen denn alle die ſchlechten Sachen ein, die hernachmals in Liederlichkeit, Lug und Trug aus - brechen. Bei’m Pferdefüttern denken ſie, wie ſie Hafer auf die Seite bringen können, und wenn307 die Magd die Kuh melkt, ſo ſteht ihr immer der Liebſte vor Augen. Kriegt aber der Menſch ſo einen Spruch auf zu rathen, ſo ruht er nicht ehen - der, als bis er die Moral davon heraus hat, und derweile iſt die Zeit vergangen, ohne daß ihm etwas Uebles in den Sinn kam.
Ihr ſeid ja ein wahrer Weltweiſer und Prieſter! rief der Jäger, deſſen Verwunderung hier mit jedem Augenblicke zunahm.
Es läßt ſich viel mit dem Menſchen ausrichten, wenn man ihm die Moral beibringt, ſagte der Hofſchulze bedächtig. Die Moral ſteckt aber in kurzen Sprüchen beſſer, als in langen Reden und Predigten. Meine Leute halten ſich viel länger, ſeitdem ich auf die Moral verfallen bin. Freilich das ganze Jahr hindurch geht es mit den Sprüchen nicht; während der Beſtellzeit und in der Ernte hört alles Nachdenken auf. Dann thut es aber auch nicht Noth, denn ſie haben zu Schlechtigkeiten keine Zeit.
Ihr macht alſo förmliche Abſchnitte in Eurem Unterrichte? fragte der Jäger.
Bei Winterszeit gehen die Sprüche gemeiniglich nach dem Dreſchen an und dauern bis zum Säen,20*308verſetzte der Hofſchulze. Im Sommer aber wer - den ſie von Walpurgis bis gegen die Hundstage zugetheilt. Das ſind die Zeiten, wo es bei dem Bauer am wenigſten zu verrichten giebt.
Der Jäger erkundigte ſich, was für eine Be - wandniß es mit dem Rothwerden des einen Mäd - chens gehabt habe, und erhielt darauf folgende Antwort: Die hat etwas auf dem Gewiſſen, und in ſolchen Fällen iſt es meine Manier, einen Spruch anzubringen, woraus das räudige Schaf ſieht, daß ich um den Fehler weiß. Wir wollen abwarten, ob er bis heute Abend gewirkt haben wird.
Er ließ den jungen Mann allein, und dieſer ſah ſich in Haus, Hof, Baumgarten und Wieſen um. Mehrere Stunden brachte er in dieſer Be - ſchauung zu, da jedes Einzelne ihn anzog. Die ländliche Stille, das Wieſengrün, die Wohlhaben - heit, die aus dem ganzen Hofe ihm entgegenſtrotzte, machte den angenehmſten Eindruck auf ihn und regte in ihm den Wunſch an, lieber in ſo weiter Naturfreiheit, als in den engen Gaſſen einer klei - nen Stadt die acht oder vierzehn Tage zuzubringen, welche bis zum Empfange der Nachrichten vom309 alten Jochem verſtreichen konnten. Da er ſein Herz auf der Zunge trug, ſo ging er auf der Stelle zu dem Hofſchulzen, der im Eichenkampe ein Paar Bäume zum Fällen anſchlug, und ſprach ſein Begehr aus. Er erbot ſich dagegen zu Allem, worin er ſeinem Wirthe nützlich werden könne.
Die Schönheit iſt eine gar gute Mitgift. Sie iſt ein Schlüſſel, der wie jener kleine goldne, ſie - ben Schlöſſer, von denen keins dem Andern ähnlich ſah, zauberiſch öffnet. Ein Paß iſt ſie, auf den der Träger, ohne daß in den Nachtquartieren Viſa’s genommen zu werden brauchen, frei durch alle Welt geht; in Romanen und Novellen ſpannt ſich die Schönheit über alle Klüfte und Abgründe der Unwahrſcheinlichkeit hinweg, wie die ſiebenfarbige Brücke der Iris.
Wäre der Jäger nicht ſo ſchön geweſen, was für weitläuftige Motive hätte ich erſinnen und erſpinnen müſſen, um den Hofſchulzen zur Gewäh - rung des Quartiers an ihn willig zu machen! So jedoch brauche ich nur zu ſagen, daß der Alte die ſchlanke und doch kräftige Geſtalt, das ehrliche und dabei vornehmprächtige Antlitz des Jünglings eine Zeit lang betrachtete, erſt zwar nachhaltig den Kopf310 ſchüttelte, dann aber freundlich werdend nickte und zuletzt ihm ſeine Bitte erfüllte. Er wies dem Jäger ein Eckſtübchen im obern Stocke des Hauſes an, von wo man nach der einen Seite über den Eichenkamp nach den Hügeln und Bergen, nach der Andern über weite Wieſenflächen und Kornfel - der ſah.
Freilich mußte der Gaſt anſtatt des Miethzin - ſes die Erfüllung einer ſonderbaren Bedingung verſprechen. Denn der Hofſchulze ließ auch der Schönheit nicht gern etwas ganz unentgeltlich zufließen.
Er fragte nämlich den jungen Mann, ehe und bevor er ihm Quartier zuſagte, ob er, wie ſein grüner Anzug, das Gewehr und die Waidtaſche zu lehren ſcheine, ein Liebhaber von der Jagd ſei? Jener erwiederte darauf, daß, ſo lange er denken könne, er mit Leidenſchaft, ja mit einer wahren Raſerei gepirſcht habe, wobei er denn freilich ver - ſchwieg, daß durch ſein Pulver und Blei außer einem Sperlinge, einer Krähe und einer Katze noch kein Gottesgeſchöpf vom Leben zum Tode gebracht worden war. Wirklich verhielt es ſich ſo. Er konnte nicht leben, ohne nicht des Tages einige - male geknallt zu haben, ſchoß aber regelmäßig vor -312 bei und hatte nur in ſeinem achtzehnten Jahre einen Sperling, in ſeinem Zwanzigſten eine Krähe, in ſeinem Vierundzwanzigſten eine Katze erlegt; das war Alles. Ein ſonderbares Ereigniß vor ſeiner Geburt mochte ihm die bei ſo wenigen Erfolgen ſonſt unbegreifliche Neigung, wie ein Maal, aufge - drückt haben. Wenigſtens hielt er ſelbſt dafür, daß aus dieſer Signatur der Hang abzuleiten ſei, über den er in beſonnenen Stunden höchſt ver - drießlich werden konnte.
Nachdem der Hofſchulze die bejahende Antwort des Gaſtes empfangen hatte, rückte er mit ſeinem Antrage hervor, welcher dahin ging, daß der Jäger täglich ein Paar Stunden gegen das Wild im Felde lie - gen ſolle, welches ſeinen Kornbreiten, beſonders den die Hügel hinanſteigenden manchen Schaden zufüge. Dort in den Bergen, ſagte der alte Bauer, ſind die großen Jagden der Edelleute; die Creaturen haben mir ſchon in den vergangenen Jahren Saat genug abgeatzt und daniedergewälzt, aber in dieſem iſt es erſt recht ſchlimm geworden, denn der junge Graf drüben iſt auch ein ſcharfer Jäger und hat ſeinen Wildſtand vermehrt, ſo daß die Hirſche und Rehe wie die Schafe aus dem Walde treten und313 mein’ Mühe und Schweiß verruiniren. Ich ver - ſtehe mich nicht auf die Sache und den Knechten mag ich es nicht gerne erlauben, weil ſie unter dem Vorwande, ſich auf den Anſtand zu ſtellen, mir leicht unordentlich werden können, darum haben die Beſtien mitunter gewirthſchaftet, daß ſich Einem das Herz im Leibe umwenden mußte. Nun kommen Sie mir gerade zu Paß, und wenn Sie mir dieſe vierzehn Tage bis zur Ernte die Höllenteufel aus dem Korne halten, ſo ſollen Sie damit Ihr Quartier bezahlt haben.
Was? Ich ein Wildſchütz? Ich ein Wilddieb? rief der junge Mann und lachte ſo herzlich und ſchallend auf, daß er den Hofſchulzen anſteckte. Noch lachend ſtrich dieſer über das feine Tuch, aus welchem die Kleidung ſeines Gaſtes gemacht war, und ſagte: Eben darum, weil es bei Ihnen wohl keine ſonderliche Gefahr haben wird, wenn Sie auch attrapirt werden. Sie werden ſich ſchon eher loszumachen wiſſen, als ſo ein armer Knecht. Die Fliegen fangen ſich in den Spinnweben, die Wes - pen ſchlüpfen durch. Doch was iſt das überhaupt ein Verbrechen, ſein Eigenthum gegen die Unge - thüme, die es freſſen und zu Grunde richten, zu314 verdefendiren! rief er, indem plötzlich der lachende Ausdruck ſeines Geſichts in den des loderndſten Zornes überging. Die Stirnadern ſchwollen ihm an, das Blut trat dunkelroth in ſeine Wangen, die Augäpfel verloren ihr Weißes und wurden röth - lich; man hätte vor dem Alten erſchrecken können.
Ihr habt Recht, Vater, es giebt nichts Unvernünf - tigeres, als die ſogenannten Jagdgerechtſame, ſagte der Jäger, um ihn zu beruhigen. Deßhalb will ich die Sünde über mich nehmen, zum Frommen Eures Gutes am Wildbann der hieſigen Edelleute zu freveln, obgleich ich eigentlich dadurch — —
Er wollte etwas hinzuſetzen, brach aber ſchnell ab und ging auf andere gleichgültige Gegenſtände über.
Wer aber glaubt, daß die Unterhaltung dieſes weſtphäliſchen Hofſchulzen und ſchwäbiſchen Jägers ſo flüſſig von Statten gegangen ſei, wie meine Autorfeder ſie niedergeſchrieben hat, der irrt ſich. Vielmehr waren noch oft mehrmalige Wiederho - lungen nöthig, ehe und bevor ein nothdürftiges Verſtändniß zwiſchen ihnen eintrat. Hin und wie - der mußte ſelbſt die Finger - und Zeichenſprache zu Hülfe genommen werden. Denn der Hofſchulze315 hatte in ſeinem Leben nichts von einem: ch hinter dem: ſ gehört, auch brachte er alle Töne hinten aus der Gurgel, oder wenn man will, aus dem Rachen hervor. Dagegen war dem Jäger das gött - liche Geſchenk, welches uns von den Thieren unter - ſcheidet, ganz zwiſchen die Lippen und Vorderzähne gelegt worden, von wo denn die Laute mit wun - derſamer ſchwerträchtiger Fülle und ſauſendem Zi - ſchen ausbrachen. Aber durch dieſe fremden Schaa - len hindurch hatten der alte und der junge Mann bald an einander Behagen gefunden. Da ſie Beide vom ächteſten Schrot und gewichtigſten Korn waren, ſo mußten ſie wohl Einer des Andern Kern erkennen.
Auf ſeiner Eckſtube hatte jedoch der Jäger auch Schaalen entdeckt, die ihn nach ihrem Kerne verlangen machten. Er ſah nämlich, als er ſeine leichten Habſeligkeiten und ſchweren Goldrollen aus der Jagdtaſche nahm, um ſich häuslich einzurichten, in der Ecke des Zimmers ein Nachthäubchen, ein Tüchlein und ein Röckchen ſauber über die Lehne eines Stuhles gehängt. Alle dieſe Stücke waren, wie der Augenſchein lehrte, getragen, dennoch leuch - teten ſie von Schneeweiße. Ei! rief der Jäger, hat hier vor mir ein hübſches Maidel gehauſt? 316Da werde ich ſchon Glück haben. Er wollte in einer Laune, die ihn plötzlich anſtieß, ſich das Nacht - häubchen aufſetzen, es war aber viel zu klein für ſein Haupt. Er maaß an der Zerknitterung der Bänder das Oval des Geſichtes ab und fand dieſes ohne Tadel. Das Röckchen deutete auf den zier - lichſten Leib und das Tüchlein ließ nach den Fal - ten und nach der Beugung, die es behalten, ver - muthen, daß unter ihm ein junger, runder Buſen geſchlagen habe. Plötzlich aber erröthete er unter dieſen Spielereien bis hoch hinauf zu den Schläfen, er ſchämte ſich ihrer, die ihn freventlich bedünken wollten, er ſtellte den Stuhl mit den Kleidungs - ſtücken hinter einen Schirm, um ſie nicht ferner zu ſehen, und ſetzte ſich zum Schreiben nieder, die ſchweifenden Gedanken in Ordnung zu bringen.
Als er Abends in den Flur hinunter zum Eſſen gerufen wurde, fand er die Knechte und Mägde, die ihr Abendbrod ſchon früher genoſſen hatten, im vollen Erzählen um den Hofſchulzen.
Dieſer hatte auch bereits ſeinen Sallat verzehrt, hörte zu, und beſtätigte oder beſtritt, was ſeine Moralſchüler vorbrachten. Der rothhaarige Knecht, welcher die Warnung vor dem Zanken erhalten317 hatte, ſagte: Das iſt ein rechtes Glück, Baas, daß Ihr mir gerade heute die Lehre gegeben habt, denn ich begegnete, wie ich die Pferde in die Nacht - weide trieb, dem Pitter vom Bandkotten, auf den ich ſchon längſt fuchsfalſch bin, und da habe ich ihm die Naſe braun und blau geſchlagen.
Dieſes ging ja aber ſchnurſtraks gegen die Ver - mahnung! rief der Hofſchulze.
Behüte Gott, verſetzte der Rothhaarige. Als zum Beiſpiel, ſo führte ich einen Zaunpfahl bei mir, um damit die Pferde einzutreiben, und wie ich nun den Pitter anſichtig wurde und ihn niedergeſchmiſſen hatte, ſo dachte ich, du willſt dem Hund mit dem Pfahl Eins verſetzen, daß er auf Lebenszeit genug hat, weil er nämlich an allen Mädchen herumca - reſſirt, ſo daß man gar nicht mehr ankommen kann. Aber da dachte ich auch, daß ich ſo viel darüber nachgedacht hatte: „ Jach ſeyn zum Hader, zündet Feuer an, und jach ſeyn zum Zanken, vergießt Blut, “und gab ihm bloß einen Puff auf die Naſe und damit gut, und dann noch einen Tritt in’s Kreuz und ließ ihn laufen.
Nun inſofern mag es gut ſeyn, aber künftig kannſt du auch das Puffen und Treten unterlaſſen,318 wenn du über den Spruch nachgedacht haſt, erwie - derte der Hofſchulze.
Der kleine Schwarzäugige, Verwegne ſagte: Meiner Treu, es iſt und bleibt wahr, daß ein Sperling in der Hand beſſer iſt, als ein Reiher auf dem Dache. Darum habe ich die Gedanken auf die Gertrud drüben eingeſtellt, weil ſie gar zu hoffähr - tig iſt, und auf Michael einen Verſpruch mit dem Wicht*)Provincialismus für: Mädchen. von Hölſcher’s gethan, die ich kriegen konnte.
Magſt du ſie denn leiden? fragte der Hofſchulze.
Ne, erwiederte der Kleine, es wird aber doch ſchon gehen.
Der dicke Langſame, welcher zur Ameiſe geſchickt worden war, ihre Weiſe anzuſehen, erklärte, dabei nichts gelernt zu haben, denn, ſagte er, ich bin auf keine Ameiſe geſtoßen. Dagegen ſagte die erſte Magd: Euer Spruch, Baas, trifft nicht zu. „ Haſt du Vieh, ſo warte ſein, und trägt dir’s Nutzen, ſo behalte es. “ Denn ich habe die Kühe zu Abend gehörig gemelkt und abgewartet, und Nutzen würden ſie mir auch tragen, aber behalten darf ich ſie darum doch nicht.
319Der Spruch geht auf eine eigene Wirthſchaft, und wenn du eine bekommſt, ſo wird er eintreffen, antwortete der Hofſchulze. Ja ſo, ſagte das Mäd - chen. — Aber Ihr habt eine eigene Wirthſchaft, Baas, und das Vieh trägt Euch Nutzen und Ihr behaltet es, und doch wartet Ihr nicht ſein.
Es iſt ein Spruch für Frauenzimmer, nicht für Mannsleute, antwortete der Hofſchulze etwas barſch. Und nun laß dein Fragen und ſchließ die Milchkammer zu.
Das Mädchen, welches am Mittage von dem Spruche: „ Es iſt nichts ſo fein geſponnen, es kommt endlich an die Sonnen, “roth geworden war, hatte bisher ſeitwärts und in ſich gekehrt geſeſſen, an ihrer Schürze gezupft und ſcheu vor ſich nieder geblickt.
Als nun die übrigen Knechte und Mägde gegan - gen waren, ſchlich ſie ſich zu ihrem Herrn, zupfte ihn verſtohlen am Rock und ging mit ihm vor die Thüre in’s Freie. Nach einiger Zeit kam der Hofſchulze allein zurück und ſagte zu ſeiner Tochter: Es iſt richtig, die Gitta*)Abgekürzt für: Brigitta. hat mir’s eben geſtan -320 den, ſie hat ſich mit dem Matthies vergangen. Sprich du weiter mit ihr und ſag ihr, wenn ſie ſich ſonſt ordentlich halte, wolle ich ſorgen, daß der Matthies an ihr ſeine Schuldigkeit thue.
Ich habe mir’s gleich gedacht, antwortete die Tochter, ohne über die Entdeckung und den ihr ertheilten Auftrag verlegen zu werden.
Nach ihrer Entfernung ſprach der Jäger ſeine Verwunderung über die Gewalt aus, welche er ſeinen Wirth in dieſem Falle hatte üben ſehen. Das iſt ganz leicht, verſetzte der Hofſchulze. Ein Jeder weiß, daß er nicht bei mir in Dienſt bleibt, wenn ich auf ihn einen Argwohn habe, und er nicht bekennt und zu Kreuz kriecht. Thut er das aber, ſo vergebe ich ihm oder nehme mich ſeiner an. Da es mir meine Umſtände zulaſſen, bei allem Lohn einen Thaler mehr zu geben, als meine Nachbaren, ſo mag Keiner vom Oberhof herunter. Kriege ich nun von etwas Wind, ſo ziele ich darauf mit einem Spruche hin, und gemeiniglich wird dann gebeichtet, weil nämlich der Sünder weiß, daß außerdem ihm der Dienſt aufgeſagt iſt.
Sie wünſchten einander gute Nacht, und der Jäger ging auf ſein Zimmer. Er entkleidete ſich,321 ſchlug die Decke des Bettes zurück und ſah an kleinen Fältchen der übrigens blendend weißen Leintücher, daß die Leute nicht für nöthig gefunden hatten, dieſelben nach dem letzten Beſuche, welcher auf dieſer Stube geherbergt, zu wechſeln. Eine wunderbare Empfindung durchrieſelte ihn; er hatte das Mädchen, welches hier geruht, ſchon ganz ver - geſſen gehabt, nun fiel ihm das Nachthäubchen wie - der ein, er nahm es vom Stuhl, maaß abermals an der Zerknitterung das Oval des Geſichtes ab, drückte es an ſeine Wange, wie um ſie zu kühlen, und brach plötzlich in heftige Thränen aus. Denn in dieſer jungen, ſaftſchwangern Natur lagen noch alle Widerſprüche des Ernſten und Närriſchen, welche das Leben ſpäter bis zur Gleichgültigkeit abdämpft, chaotiſch neben einander.
Seine Unruhe, als er ſich zwiſchen den Decken ausgeſtreckt hatte, wurde vermehrt, als er ſich auf einmal erinnerte, daß er bei dem Abſchiede von dem alten Jochem dieſem ja gar nicht geſagt habe, wo er während deſſen Spürfahrt verweilen wolle.
„ Mentor, mein Mentor, dem leider der ver - ſtändige Jüngling Telemachos fehlt, was wirſt du ſagen, wenn du meine Hand und die Ueberſchrift des Briefs zu ſchauen bekommſt? Du, unter deinen Tannen und Uhrmachern, wirſt mich nach Reiſen und Fahrten aller Art endlich weich und ſtill auf meiner Alm im Schloſſe meiner in Gott ruhenden Väter wiſſen und ausrufen, nachdem du Gegen - wärtiges geleſen: Unſer Wiſſen iſt eitel Stückwerk! Du wirſt dir einbilden und wohlgefällig (du Treuer!) dir ſagen, wenn du Abends in der Schreibtafel die Agenda durchſtreichſt, weil ſie Nummer für Nummer Acta geworden ſind: Endlich wird er nun ſich zur Decke geſtreckt haben, des Feldbau’s warten, oder eine nützliche Anlage, etwa eine Papier - mühle, machen, und das heiße Blut höchſtens an323 den Sauen und Hirſchen ſeines Wildbanns aus - laſſen, und iſt von allem dem nicht ein Tüttelchen wahr, obgleich ich auch hier, Gott ſei es geklagt, auf die Jagd gehe, aber im Dienſte eines Weſtphä - liſchen Bauern als Wilddieb gegen meine Herrn Standesgenoſſen.
Ich bitte dich, verliere die Geduld nicht; denn wenn ſeltſame Dinge von der Seele her - untergebeichtet werden ſollen, ſo darf der Sün - der ſchon etwas ſtocken und zaudern, und der Beichtvater muß es ſich gefallen laſſen, das Tüchel lange vor dem Antlitz zu halten. In der Ohren - beicht aber fühle ich mich trotz meines guten Tübin - ger Proteſtantismus immer dir gegenüber, wenn ich etwas habe auslaufen laſſen, was nicht inner - halb der Schnur war. Die Sünde kann ich nicht verſchwören, aber, iſt ſie begangen, ſo verſpüre ich wie ein Glaubiger der allgemeinen Kirche ein wahres Reinigungsbedürfniß in der Seele, und mein moraliſcher Reiniger biſt du. Du haſt mich in hundert Nöthen der Art ſchon losgeſprochen — — ach nein! das haſt du nicht, du haſt immer bitter gezankt und geſcholten, aber es iſt nun ein - mal mein Schickſal; ich kann die Laſt nicht bei21*324mir verſchließen, ich lege ſie an die Schwelle des Tempels der Athene, heißt des wohlbekannten Ober - amtmannshauſes unfern der Hölle (bei Donaue - ſchingen) nieder, und habe dann neue Kraft und friſchen Muth zu Gutem und Böſem. — Alſo: Iterum confiteor ohne auf’s absolvo zu rechnen.
Confiteor … aber was?
Seit vierzehn Tagen aus Schwaben, liege ich ſeit Acht hier in einem ſogenannten Oberhofe unweit — —
Ich mußte geſtern abbrechen, denn nachdem ich geſchrieben, wo ich ſei, fehlte mir auf einmal die Brücke zu der Eröffnung, warum und weßwegen ich hergekommen? Ich muß alſo die Sache auf eine andere Weiſe einleiten. Trotz der bunten Schreibart, die vielleicht noch mit unterlaufen wird, bin ich ernſt, klar und in mir gefaßt. Daher ſollen dir Dinge entdeckt werden, die du wenigſtens in dieſer beſtimmten Geſtalt noch nicht von mir ver - nommen haſt.
Die Geſchichtſchreiber pflegen an die Spitze ihrer Werke zuweilen allgemeine Sätze zu ſtellen,325 in denen ſich der innerſte Sinn der Begebenheiten, welche ſie ſchildern wollen, ausprägen ſoll. Einige ſolcher Betrachtungen werde ich jetzt meiner Ge - ſchichtserzählung voranſchicken, weil ſie dir dadurch vielleicht faßlicher wird.
Nach der ſcharfſinnigen und fruchtbaren Hypo - theſe eines tiefblickenden Naturlehrers entſpringen die Inſtincte der Thiere aus traumartigen Vorſtel - lungen von den Dingen, welche der Inſtinct erſtrebt. Der Zugvogel träumt von den fernen Gegenden, in welche er wandert, in traumartigen Umriſſen ſieht die ſibiriſche Waldſchnepfe die deut - ſchen Sumpfſtrecken, die Schwalbe den Küſten - ſaum Africa’s. Traumartig ſchweben der Spinne die Umriſſe und Radien ihres Netzes, der Biene die Sechsecke ihres Stockes vor. Es iſt eine Hyotheſe, aber ich nannte ſie ſinnreich und frucht - bar, weil ſie die Creatur gerade in dem, was ihre bedeutendſte Thätigkeit iſt, aus der Region des Maſchinenmäßigen in ein Gottdurchleuchteteres Ge - biet hebt.
Wir armen bewußten Menſchen ſcheinen nun von dieſer göttlichen Sicherheit des Angreifens und Faſſens alles Stoffes entblößt zu ſeyn. Aber es iſt nur ſchein -326 bar. Alles Genie und Talent iſt nichts weiter als Inſtinct. Nenne mir den Künſtler, den Dichter, der beides nicht aus ſogenanntem dunklem Drange geworden wäre! Wir Andern haben freilich ſo beſtimmte Fingerzeige nicht in uns, indeſſen ſind faſt jedem Menſchen — vielleicht jedem — auch ganz feſte Richtungen, unverrückbare Puncte eingeboren, welche außen oft als Launen, Grillen, Seltſamkeiten, Lieb - habereien erſcheinen, dennoch aber vielleicht auf das allerfeſteſte Geſetz der Seele hindeuten. Es ſind die - ſes nicht die ſogenannten Grundſätze, Maximen, Le - bensweiſen, Gewöhnungen — das Alles kann angebil - det und angelernt werden — nein, was ich meine, iſt etwas ganz Anderes, aber freilich ſchwer zu beſchreiben.
Dieſe Lichter des innern Menſchen ſind Halb - träume des Inſtincts. Von dem nüchternen Tages - ſcheine des Verſtandes entſcheucht, von der wühlenden Hand der Selbſtbeſchauung zerſchlagen, wirken ſie nicht ſo ſiegreich, wie bei dem Wandervogel und bei der Biene das unwiderſtehliche Muß, glücklich iſt aber derjenige, der die Stimme jener Träume hört und ihr folgt.
Das Genie wird geboren, ſagt man, und dar - über iſt Jeder einverſtanden Ich füge hinzu:327 Nicht Alle werden als Genies, aber dazu wird Jeder geboren, ſich ſein Schickſal zu machen. Selbſt die willkührlichſcheinenden Grillen ſind zuweilen feſte Wegweiſer zum Glück. Erinnerſt du dich noch des armen Tagelöhners in Ludwigsburg, wel - cher, ſonſt verſtändig und fleißig, ſich ſteif und feſt einbildete, im Park lägen Granaten, und der zu jeder Freiſtunde in den Alleen danach ſuchte, Kieſel und Quarz aufhob und betrachtete? Die Leute hielten ihn für verrückt, und eines Abends fand er in einem der dunkelſten Gänge, eifrigſt auf Gra - naten erpicht, eine vollgeſpickte Brieftaſche, die er ehrlich genug war, dem Verlierer einzuhändigen. Dieſer belohnte ihn mit einem Geſchenke, welches ſeine Umſtände auf Lebenszeit verbeſſerte. Das Sonderbarſte war, daß, ſobald jener Fund gethan war, ſein Suchetrieb in ihm verſiegte.
Ich habe nun auch in mir ganz beſtimmte Inſtincte, denn ich will ſie nur geradezu ſo bei mir nennen. Meine Jagdluſt mag ich nicht anführen, denn es bleibt mit der abentheuerlichen Seite der Region, welche ich dir bezeichnete, allerdings immer etwas Mißliches, obgleich ich nicht berge, daß ich des Gedankens nicht Meiſter werden kann, mein328 beſtändiges Schießen und Fehlen müſſe doch irgend einen, mir freilich nicht begreiflichen Zweck haben. Aber laſſen wir dieſen waidmänniſchen Inſtinct, der mir den Spitznamen; der wilde Jäger, bei Euch zugezogen hat, vor der Hand auf ſich beruhen!
Aber ein Zweites in mir iſt etwas Ernſteres, und doch kein Vorſatz, keine Ueberzeugung, keine Leidenſchaft — ſondern ein wahrer Inſtinct. Es iſt ein unbeſchreibliches Gefühl für die Frauen. So lange ich denken kann, wohnt es mir bei. Ich kann es dir eigentlich nicht ſchildern. Mich durch - ſäuſelt die Ahnung einer unendlich milden Löſung aller Schmerzen, das Vorempfinden des überſchwäng - lichſten Erfüllens und Ergänzens, ſehe ich eine Frau. Und nicht bloß Jugend und Schönheit, Reiz und Anmuth bewegen meine Seele in einem Bade ſo erquickender Fluthen, ſondern in der Un - ſcheinbarſten gewahre ich etwas Göttliches, wenn ſie mir begegnet. Oft hat mich ein ſolches zufäl - liches und gleichgültiges Treffen von trüben leiden - ſchaftlichen Aufregungen wie mit einem Zauberſchlage geheilt; oft habe ich mich auch ſcheu vor allen weiblichen Cirkeln zurückgehalten, weil in mir etwas vorgegangen war, was ich unter Frauen zu bringen329 für unerlaubt hielt. Seit einiger Zeit habe ich angefangen, meine Blicke auf die Verwickelungen der Welt und Zeit zu richten. Da muß ich dir nun geſtehen, daß unter allen den Dingen, nach deren Rückkehr die Menſchen ſeufzen, mir die Herſtellung des wahren und beſeligenden Verhält - niſſes zwiſchen den beiden Geſchlechtern als das ſehnenswertheſte erſchienen iſt. Aber freilich mag dieſer Friede wohl der Lohn ſeyn, welcher andern, erſt in den übrigen Puncten zum Frieden gelangten Zeiten aufbewahrt wird.
Dich werden dieſe Bekenntniſſe überraſchen, denn du haſt mich nicht gar zu ſelten rauh und tölpiſch im Umgange mit Frauen geſehen, auch war ich noch nie verliebt. Vielleicht werd’ ich es auch nie. Das ſchlimmſte Unrecht thäteſt du mir, wenn du glaubteſt, daß aus mir noch gar ein Süß - ling werden könnte. Nein, dazu paſſen wir über - haupt bei uns zu Lande nicht. Nimm meine Worte, wie ſie geſchrieben ſind — ſie ſtammeln von einem Naturgeheimniß.
Nun genug der Reflexion und jetzt eine ſchlichte Hiſtorie. Als ich eben nach den Gütern zurückge -330 kehrt war, lernte ich in der Nachbarſchaft meine Verwandte, Baroneß Clelia kennen, die ſich früher in Wien aufgehalten hatte. Ich benahm mich gegen ſie, wie es einem ſchwäbiſchen Vetter geziemte, ſie deßgleichen, wie meinem Mühmchen zukam. Keines von Beiden dachte an eine Verbindung, wohl aber mochte der Verwandtſchaft eine ſolche gar paßlich vorgekommen ſeyn, denn aus freundlichen Blicken, geſelligen Aufmerkſamkeiten und zwei oder drei Händedrücken, wie ſie ein unbefangenes Wohlwollen giebt und nimmt, war bald für uns ein Netz zuſam - mengeſtrickt worden, aus welchem wir ſchlechterdings als Braut und Bräutigam hervorgucken ſollten; und der alte Oheim fragte mich eines Tages ganz naiv, wann denn die öffentliche Erklärung vor ſich gehen werde.
Wir waren gewaltig betroffen, und wie zwei Leute ſonſt alles Mögliche anwenden, um einander habhaft zu werden, ſo ließen wir nichts unverſucht, in der Meinung der Sippſchaft von einander zu kommen, was in der freundlichſten Einigkeit von beiden Seiten geſchah. Mühmchen Clelia hatte bei dieſen Lockerungsbeſtrebungen ein noch größeres Intereſſe, als ich, denn es ließ ſich bald vermerken,331 daß ihr Herz ihr nach Schwaben nur an einem Faden gefolgt war, den ein ſchöner Cavalier in den oeſter - reichiſchen Erblanden hielt.
Bei den Anſtrengungen, die wir ſolcherweiſe machten, fielen die lächerlichſten Scenen vor, ins - beſondere von meiner Seite, der ich für dieſe ſpitz - findigen Combinationen der Verhältniſſe gar nicht zugerichtet bin. Ich wollte alle Schuld, daß ein Schein von Neigung entſtanden war, auf mich neh - men, verwickelte mich darüber in die unſinnigſten Erklä - rungen, bekannte mich endlich für ſchon anderweit im Auslande verlobt, widerrief dieſe Lüge im nächſten Augenblicke — kurz, ich ſtellte bei der ganzen Sache den Helden einer ziemlich luſtigen Novelle dar.
Indeſſen würde dieſe nur im Kreiſe der näch - ſten Bekanntſchaft angeklungen und verklungen ſeyn, wenn ſich nicht ein fremder Störenfried herbeige - macht und ſie zur Befriedigung ſeines ſchlechten Witzes gemißbraucht hätte.
Es hielt ſich nämlich damals ſeit einiger Zeit bei uns ein Menſch auf, Namens Schrimbs, oder Peppel, wie er anderer Orten geheißen hat. Der Himmel weiß, wie viel Namen er überhaupt in der Welt geführt haben mag und noch führt! 332Schon das Aeußere dieſes Menſchen war höchſt auffallend, er ſah im Geſichte ganz verwittert aus, und dennoch konnte man kein rechtes Alter an ihm abnehmen, denn trotz der Runzeln auf Wangen und Stirn war unter ſeinen Haaren kein weißes zu entdecken, und ſeine Haltung ungebeugt, ſein Muskelfleiſch ſtraff, ſein Benehmen jugendlich-petu - lant. Ich weiß nicht, wie ich dir dieſen Schrimbs oder Peppel beſchreiben ſoll; er war Alles und Jedes. Wie der Aal entſchlüpfte ſein Geiſt jegli - chem Bemühen, ihn in einer beſtimmten Lage feſt - zuhalten, wie Queckſilber zerrann dieſes kalte, ſchwere, und doch unendlich flüchtige und trennbare Weſen unter der leiſeſten Berührung in lauter perlende Kügelchen, die denn doch immer wieder zu einer größeren coagulirten. Du mußt von ihm gehört haben, denn er war nach und nach in vielen Städ - ten unter den verſchiedenſten Geſtalten. Vielleicht iſt er ſogar in deine Nähe gekommen. In Tübin - gen machte er den Magiſter und focht ſich theolo - giſch herum, in Stuttgart abwechſelnd den Politiker und lyriſchen Dichter, in Weinsberg half er unſerem alten Juſtinus noch mehr Geiſter ſehen, als dieſer ſchon mit ſeinen zwei Augen erblickt.
333Dieſer Menſch hatte eine Gabe zu fabuliren und zu ſchwadroniren, wie ich ſie noch nimmer bei Jemand wahrgenommen habe. Er beſaß einen ariſtophaniſchen Witz, eine gaukelnde Einbildungs - kraft und eine unerſchöpfliche Laune, vor allem aber eine Luſt und Freude am Lügen, die wirklich auch genial war. Keiner achtete ihn und doch war er überall eingeführt; unſre geſchloſſenen Geſellſchaften thaten ihre Thüren vor ihm auf, unſre Familien - Wein - und ſonſtigen Kränzchen flochten ihn ſich als Blume ein, denn du weißt wohl, daß, ſo ſchwerfällig und abgeſondert wir uns halten, es doch noch von je alle Charlatane bei uns mit uns durchgeſetzt haben. Man hielt ihn für nichts Beſ - ſeres, als für ein Stück honnetten Gauners und doch blickte man ſehnſüchtig nach ihm aus, ließ er einmal auf ſich warten. Obgleich ich überzeugt bin, daß er eigentlich ſchlechte Streiche nirgends begangen hat, denn ſonſt würde er leiſer, verſteckter, künſtlicher aufgetreten ſeyn. Eine gewiſſe theoretiſche Unwahr - haftigkeit war in ihm zur andern Natur geworden; gegen die Geſetze wird er ſich nicht verfehlt haben.
Du fragſt: Wodurch feſſelte er Euch denn? Ja, wodurch? Durch tolle Mährchen, die er uns334 erzählte, durch Sarcasmen, Luftſprünge. In ſeinen Mährchen griff er mit unerhörter Dreiſtigkeit das Nächſte auf, oder eine öffentliche Perſon, und drehte und wendete und drillte ſie ſo lange, bis ſie unter ſeinen Händen ein phantaſtiſcher Popanz wurde, der dann, wenn man ihm näher in das Geſicht ſah, in Blaſen auseinanderplatzte. Mir war oft bei ſeinen Geſchichten zu Muthe, als ſehe ich eine Waſſerhoſe entſtehen, wandeln, ſich auflöſen. Eine ſchwache Wolke ſchwebt über dem Meere, dieſe faßt mit einem langen, feinen Finger in den unend - lichen Ocean, aufwärts kocht, wirbelt und tanzt das emporgeſtörte Waſſer, es pfeift und ziſcht; Nebel und Schaum rings umher, und Blitz ohne Donner! ſo rückt das Phantom, welches nicht Dunſt und nicht Woge mehr iſt, ſprungweiſe vor, bis es plätſchernd zerbricht.
Ich ſagte zuweilen für mich: In dieſem Erzwind - beutel hat Gott der Herr einmal alle Winde des Zeit - alters, den Spott ohne Geſinnung, die kalte Iro - nie, die gemüthloſe Phantaſterei, den ſchwärmenden Verſtand einfangen wollen, um ſie, wenn der Kerl crepirt, auf eine Zeitlang für ſeine Welt ſtille gemacht zu haben. Dieſer Schrimbs oder Peppel,335 dieſer geiſtreiche Satiricus, Lügenhans und humo - riſtiſch-complicirte Allerwelts-Haſelant iſt der Zeit - geiſt in persona; nicht der Geiſt der Zeit, oder richtiger geſagt; der Ewigkeit, der in ſtillen Klüf - ten tief unten ſein geheimes Werk treibt, ſondern der bunte Pickelhäring, den der ſchlaue Alte unter die unruhige Menge emporgeſchickt hat, auf daß ſie, abge - zogen durch Faſtnachtspoſſen und Sycophanten-Decla - mation von ihm und ſeiner unergründlichen Arbeit, nicht die Geburt der Zukunft durch ihr dummdrei - ſtes Zugucken und Zupatſchen ſtöre. Denn zweier - lei war das Merkwürdigſte an dem Vagabunden: Erſtens, er trug nicht reine Mährchenpoeſie vor, ſondern die grotesken Erfindungen und Geſtalten wurden von ihm mit ſolcher Ruhe, Ueberzeugung und Ernſthaftigkeit hingeſtellt, ſie ſaßen ihm ſo in Fell und Fleiſch feſt, daß man in währender Er - zählung zu keinem dichteriſchen Behagen gelangte, man mußte ihn entweder für verrückt halten, oder an ſeinen Sachen, wie unſinnig ſich das ausnahm, auf eine Stunde glauben. Zweitens, wenn er auch meiſtens in ſeinen mileſiſchen Fabeln die Tho - ren und Schächer der Zeit durchnahm, ſo fühlte man bald — wenigſtens ich hatte die Empfindung336 nach kurzer Bekanntſchaft — daß der Hohn nicht aus einer tugendhaft-erzürnten Seele quoll, ſondern aus einem Sinne, dem eigentlich das Verkehrte lieb, nothwendig, Bedürfniß und Stoff des Daſeyns war. Und darin kennſt du nun meine Grundſätze. Ich halt’ mich an’s Poſitive. Begeiſterung und Liebe iſt die einzigwürdige Speiſe edler Seelen. Einen Schwank mag ich wohl leiden. Aber das Spötteln, Nergeln und Grinſeln um den Kehricht her, dem ſchon viel zu viel Ehre geſchieht, wenn er nur genannt wird, iſt mir im innerſten Muthe zuwider.
Als ich zurückkam, fand ich ihn in unſerm gan - zen Kreiſe eingebürgert. Die alten Oehme und Vettern wollten ſich ausſchütten über ſeine Einfälle oder ſperrten den Mund ſo weit auf, als die Mus - keln es vertragen wollten, wenn er ihnen ihre eige - nen hausbackenen Perſonen, in wunderbaren Capric - cio’s dieſe zurückſpiegelnd, zeigte. Ich hörte mit zu, war wechſelsweiſe von ſeinen Reden berauſcht und unangenehm ernüchtert. Es kann ſelbſt ſeyn, daß ich mich Clelien nicht ſo genähert haben würde, hätte ich nicht bei den verzwickten Schnurren ein doppeltes Bedürfniß nach einer einfachen, wahren337 Geſelligkeit empfunden. — Zu den Abentheuerlich - keiten des Schrimbs oder Peppel gehörte auch, daß er ſich regelmäßig des Tages drei Stunden über mit drei jungen Leuten einſchloß, die kurz nach ihm eingelaufen waren und die Unbefriedig - ten hießen. Sie ſprachen nämlich nie ein anderes Wort, als; ſie fühlten ſich unbefriedigt, und ſahen immer ſtarr und ſonderbar vor ſich hin. Woher die gekommen waren, wußte auch Niemand, da ſie aber ſtill und nüchtern lebten, ſo konnten ſie nicht verdächtig erſcheinen. Mit den drei Unbefriedigten ſchloß ſich alſo Schrimbs, wie geſagt, täglich drei Stunden lang ein. Was ſie zuſammen trieben, erfuhr Keiner. Aber weder ein Geſchäft, noch eine Einladung, noch ein Spaziergang mit andäch - tigen Zuhörern, noch ſonſt etwas, konnte ihn abhal - ten, wenn die Stunde des Einſchließens kam, Alles aufzugeben, und in das Haus zu gehen, worin die geheimnißvollen Zuſammenkünfte Statt fanden. Wollte man ihn darüber ausforſchen, ſo pflegte er mit ſeiner abſcheulichen Ruhe und Würde zu ſagen, die Unbefriedigten ſtudirten ihn; wollte man den Sinn dieſes räthſelhaften Ausdrucks kennen lernen, ſo verſetzte er gemeiniglich, es ſei ihrer StudienImmermann’s Münchhauſen 1. Th. 22338wegen, daß ſie ihn ſtudirten, und fragte man ihn, was für Studien dieſe ſeien, ſo war die Aus - kunft; diejenigen, weßwegen ihn die Unbefriedigten ſtudirten.
Nun zum Schluß der Geſchichte. Unſere ganze Nicht-Liebesnovelle, Clelia’s und meine, hatte er mit durchgelebt, ſchien indeſſen nicht ſehr darauf geachtet zu haben. Als die Sache aber allmählig wieder in das Gleiche kam, bringt mir, wie ich mich zum Beſuch in der Stadt aufhalte, Freund Pfleide - rer beſtürzt ein lithographirtes Blatt, worauf unſer ganzes Verhältniß, alle unſere Wendungen und Schritte, um ohne Aufſehen in eine gleichgültige Ferne auseinanderzurücken, zur wildeſten Bamboc - ciade verſtellt zu leſen ſind. Sie hieß: Geſchichte von Gänſerich und Gänschen, die ſich in ihren Herzen irrten.
Er ſagte mir, daß das Ding vom Abentheurer herrühre, was auch nach den erſten Sätzen zu erkennen war. Der habe es in einer Geſellſchaft erzählt, es ſei allerliebſt befunden worden, ein ſchnellfaſſender und ſchreibender Kopf habe es auf - gezeichnet und auf allgemeines Begehren der lieben Schadenfreude zum Frommen für die Mitglieder339 der Geſellſchaft lithographiren laſſen. Jeder theile es im Vertrauen ſeinen nächſten Bekannten mit, und ſo mache es ſchon die Runde durch die halbe Stadt.
Ich las und las, und was mich darin betraf, hätte ich verſchmerzen können, ja ich geſtehe, daß ich über Manches lachen mußte. Aber auch Cle - lia war natürlich nicht darin verſchont.
Und das verſetzte mich in einen Zorn, der mich taub und blind und raſend machte. Ich ſchwor dem Schelme die ſchrecklichſte Rache. Nun hätte ich, um dieſe zu kühlen, mich in ſeiner Wohnung auf Lauer legen ſollen. Aber da ſiehſt du den dummen Streich, der ſich immer meinem Han - deln beizumiſchen pflegt! Einſiegelte ich das litho - graphirte Blatt und ſchrieb dem Urheber, ich werde dann und dann mich bei ihm melden und Genugthuung fordern, kurz, eine formliche Kriege - erklärung. Als ich zur beſtimmten Stunde nach ſeiner Wohnung ging, fand ich das leere Neſt; Hals über Kopf war er abgereiſt. Ich hielt es für eine Finte, ſtürzte nach dem Hauſe, worin die geheimnißvollen Zuſammenkünſte gefeiert wurden, weil ich ihn dort vermuthete, aber da ſaßen die22*340drei Unbefriedigten und jammerten, daß ihnen der Meiſter, wie ſie den Gauch nannten, entſchwunden ſei. Vielfältige Nachfragen zeigten mir endlich eine Spur des Flüchtigen. Sie wies hieher, nach Rorden, nach Niederland. In den Wagen geſetzt, mit dem alten Jochem, der noch verwirrter iſt, als ich, und von Stadt zu Stadt nachgeſprengt, bis ich denn hier vorläufig vor Anker gegangen bin. Ich habe nämlich den Jochem allein weiter ſpüren laſſen, denn vor allen Dingen iſt Incognito nöthig, wenn wir ihn entdecken wollen, und mich erkannten die Leute überall für das, was ich war. Weiß Gott, wie es zuging, da ich mir doch alle Mühe gab, mich zu verſtellen. Des Incognito’s wegen iſt auch der Wagen in Coblenz ſtehen gelaſſen wor - den. Von da fuhren wir per Poſt, oder gingen auch Streckenweiſe.
Ich freue mich, wie ein Kind, daß ich die Geſchichte vom Herzen heruntergebeichtet habe, denn nun darf ich von Dingen ſchreiben, die angenehmer ſind. Nicht ſagen kann ich dir, wie wohl mir hier zu Muthe geworden iſt in der Einſamkeit der341 weſtphäliſchen Hügelebene, wo ich bei Menſchen und Vieh ſeit acht Tagen einquartirt bin. Und zwar recht eigentlich bei Menſchen und Vieh, denn die Kühe ſtehen mit im Hauſe zu beiden Seiten des großen Flurs, was aber gar nichts Unange - nehmes oder Unreinliches hat, vielmehr den Ein - druck patriarchaliſcher Wirthſchaft vermehren hilft. Vor meinem Fenſter rauſchen Eichenwipfel, und neben denen hin ſehe ich auf lange, lange Wieſen und wallende Kornfelder, zwiſchen denen ſich dann wieder jezuweilen ein Eichenkamp mit einem einzel - nen Gehöfte erhebt. Denn hier geht es noch zu, wie zu Tacitus Zeiten. „ Colunt discreti ac diversi, ut fons, ut campus, ut nemus placuit. “ Darum iſt denn auch ſo ein einzelner Hof ein kleiner Staat für ſich, rund abgeſchloſſen, und der Herr darin ſo gut König, als der König auf dem Throne.
Mein Wirth iſt ein alter prächtiger Kerl. Er heißt Hofſchulze, obgleich er gewiß noch einen andern Namen führt, denn jener bezieht ſich ja nur auf den Beſitz ſeines Eigenthums. Ich höre aber, daß dieß überall hier ſo gehalten wird. Nur der Hof hat meiſtentheils einen Namen, der Name des Beſitzers geht in dem der Scholle unter. Daher342 das Erdgeborne, Erdzähe und Dauerbare des hie - ſigen Geſchlechtes. Mein Hofſchulze mag ein Mann von etlichen ſechszig Jahren ſeyn, doch trägt er den ſtarken großen knochichten Körper noch ganz ungebeugt. In dem rothgelben Geſichte iſt der Sonnenbrand der fünfzig Ernten, die er gemacht hat, abgelagert, die große Naſe ſteht wie ein Thurm in dieſem Geſichte, und über den blitzenden blauen Augen hangen ihm weiße ſtruppige Brauen, wie ein Strohdach. Er gemahnt mich, wie ein Erz - vater, der dem Gotte ſeiner Väter von unbehaue - nen Steinen ein Mal aufrichtet und Trankopfer darauf gießt und Oel, und ſeine Füllen erzieht, ſein Korn ſchneidet, und dabei über die Seinigen unumſchränkt herrſcht und richtet. Nie iſt mir eine compactere Miſchung von Ehrwürdigem und Ver - ſchmitztem, von Vernunft und Eigenſinn vorgekom - men. Er iſt ein rechter uralter freier Bauer im ganzen Sinne des Worts; ich glaube, daß man dieſe Art Menſchen nur noch hier finden kann, wo eben das zerſtreute Wohnen und die altſaſſiſche Hartnäckigkeit, nebſt dem Mangel großer Städte den primitiven Charakter Germania’s aufrecht erhal - ten hat. Alle Regierungen und Gewalten ſind343 darüber hingeſtrichen, haben wohl die Spitzen des Gewächſes abbrechen, aber die Wurzeln nicht aus - rotten können, denen dann immer wieder friſche Schößlinge entſproſſen, wenn gleich ſich dieſe nicht mehr zu Kronen und Wipfeln zuſammenſchließen dürfen.
Die Gegend iſt durchaus nicht, was man eine ſchöne nennt, denn ſie beſteht lediglich aus wellen - den Hebungen und Senkungen des Erdreichs, und das Gebirge ſieht man nur in der Ferne; ’s iſt dieſes auch mehr eine finſtre Berglehne, als eine ſchönliniirte Kette. Aber eben ihre Anſpruchs - loſigkeit, daß ſie ſich nicht aufgeputzt Einem gegen - über ſtellt, fragend: Wie gefall’ ich dir? ſondern bis in die kleinſten Partikeln als fromme Schaffnerin dem Aubau durch menſchliche Hände dient, macht ſie mir doch ſehr werth, und ich habe gute Stunden auf meinen einſamen Streifereien genoſſen. Vielleicht thut der Umſtand auch das ſeinige, daß mein Herz ein - mal wieder ganz ungeſtört ſeine Pendelſchwingungen ausſchwingen darf, ohne daß vernünftige Leute am Uhrwerke rücken und drehen.
Poetiſch bin ich ſogar geworden, was ſagſt du dazu, mein alter Ernſt? Hab’ etwas hingeworfen, wozu344 mich ein göttlichſchöner Sonnentag, den ich vor Zeiten in den Waldgründen des Speſſart ver - lebte, zuerſt anſpornte. Ich glaube, es wird dir gefallen. Es heißt: Die Wunder des Speſ - ſart.
Am liebſten ſitze ich droben auf dem Hügel an einem ſtillen Platze zwiſchen den Kornfeldern des Hofſchulzen, die dort zu Ende gehen. Man hat eine geräumige mit Kraut und Brombeerge - büſch bewachſene Einſenkung des Bodens vor ſich; rings im Kreiſe um ſie her liegen große Steine, einer, gerade dem Felde gegenüber, iſt der größte, über dem ſpannen drei alte Linden ihre Zweige aus. Dahinter rauſcht der Wald. Die Stelle iſt unendlich einſam und beſchloſſen und heimlich, beſonders jetzt, wo man im Rücken das manns - hohe Korn hat. Da droben bin ich viel. Freilich nicht immer in ſentimentaler Naturbetrachtung, es iſt auch mein gewöhnlicher abendlicher Anſtandsort, von wo ich dem Schulzen die Reh’ und Hirſch’ aus dem Korn ſchieße.
Sie nennen den Platz den Freiſtuhl. Vermuth - lich hat alſo dort vor Alters das Vehmgericht im Schrecken der Nacht ſeine Verdicte ausgebrütet. 345Als ich meinem Schulzen ihn lobte, ging eine Freundlichkeit über ſein Geſicht. Er verſetzte nichts, nahm mich aber nach einiger Zeit ohne Veranlaſ - ſung mit auf eine Kammer im obern Stock des Hauſes, öffnete dort einen eiſenbeſchlagenen Koffer und zeigte mir in demſelben ein altes roſtiges Schwert liegend. Mit Feierlichkeit ſagte er: Das iſt eine große Rarität; es iſt das Schwert Caroli Magni, ſeit tauſend und mehreren Jahren bei’m Oberhofe aufbewahrt, und noch in voller Kraft und Gewalt. Ohne weitere Erklärungen hinzuzu - fügen, klappte er den Deckel wieder zu. Ich hätte um Alles ſeinen Glauben an dieſes Heiligthum nicht zerſtören mögen, obgleich mich mein flüchtiger Blick lehrte, daß der Flamberg kaum ein paar hundert Jahre alt ſein könne. Er zeigte mir aber ein förmliches Atteſt über die Aechtheit der Waffe, von einem gefälligen Provincialgelehrten ihm ausgeſtellt.
Hier will ich denn nun unter den Bauern blei - ben, bis mir der alte Jochem Nachricht von dem Schrimbs oder Peppel giebt. Es iſt zwar die achtzig Meilen her kühler in mir geworden, denn gar viel thut’s, wenn vierzehn Tage zwiſchen dem346 Vorſatz und der Ausführung liegen, auch ſteht nun die Frage, welche Rache ich eigentlich an ihm nehmen ſoll? aber das wird ſich ſchon Alles finden.
Dieſer Brief, wie ich ihn überleſe, kommt mir ganz poſſirlich vor. Vorn ſtehen recht hübſche Bemerkungen, hinten dergleichen, ich brauche mich ihrer gar nicht zu ſchämen, und in der Mitte iſt’s, als ob ein dummer Bub’ ſeine Eulenſpiegelei erzählt.
Nun, ich werd’ ja endlich auch klug werden. — Wenn Einen die Leut’ nur verſtänden in der Fremde! Alles muß man dreimal ſagen, bevor’s gefaßt wird. Und wenn man nicht gar ein Stock - ſchwab iſt, ſondern im Gegentheil in der Welt umhergekommen, und Andere vielfältig hat reden hören, ſo kann man ſich ſelbſt durch unſer Ziſchen und Praſſeln hin und wieder beſchwert fühlen. Wir haben doch Geiſt, ſo viel wie die Uebrigen, warum können wir denn das Wort nicht gelind, ſanft und zart von uns geben, ſondern ſprechen immer: Keeſcht? Aber ich denke, aus: Keeſcht kann allezeit durch Abſchwächen und Filtriren: Geiſt werden, nicht aber umgekehrt aus Geiſt, Keeſcht. Und ſo wird’s der Herr in dieſem Punct, wie347 in allen Andern wohl mit uns brav gemeint ha - ben.
Mentor, hoffentlich hörſt du bald mehr von deinem Nicht-Telemach.
Schilt ihn aber tüchtig aus, darum bitt’ ich dich.
Mehrere Tage gingen im Oberhofe auf die gewohnte ſtille und einförmige Weiſe hin. Der alte Jochem ließ noch immer weder von ſich noch von dem entwichenen Abentheurer hören, und ſeinen jungen Gebieter wollte doch nach gerade eine ſtille Unruhe beſchleichen. Denn ſo umſpinnt uns Alle die jetzige geregelte Zeit, daß Niemand, und ſei er noch ſo ungebunden, lange ausdauern kann ohne den Rücken an ein Geſchäft, oder an ein Verhältniß zu lehnen.
Mit dem Hofſchulzen verkehrte er zwar, ſo oft er konnte, und die originelle Eigenthümlichkeit des Mannes behielt für ihn ihre ganze Anziehungskraft, welche ſie am erſten Tage der Bekanntſchaft über ihn ausgeübt hatte, aber theils war der Alte mei - ſtens in ſeiner Wirthſchaft ſehr beſchäftigt, theils349 hatte er viel mit Andern abzureden, da täglich Menſchen im Hofe einſprachen, die ihn um Rath oder Hülfe angingen. Bei dieſen Gelegenheiten bemerkte der Jäger, daß der Hofſchulze im eigent - lichen Sinne des Worts nie etwas umſonſt that. Er war gegen Nachbarn, Gevattern und Freunde zu Allem bereit, aber ſie mußten ihm immer etwas dagegen leiſten, und wäre es nur die unentgelt - liche Ausrichtung eines Auftrags nach einer in der Nähe belegenen Bauerſchaft, oder eines andern klei - nen Dienſtes dieſer Art geweſen.
Täglich wurde geknallt, freilich immer vorbei, ſo daß der Alte, der ſtäts in’s Schwarze traf, er mochte zielen, worauf er wollte, über dieſe frucht - loſen Bemühungen verwunderte Augen zu machen begann.
Es war ein Glück für unſern Jäger, daß gerade um jene Zeit der zunächſtwohnende Gutsbeſitzer ſich mit ſeiner Familie und Dienerſchaft auf einer Reiſe befand, ſonſt würden ihn wahrſcheinlich doch einmal die zünftigen Schützen oben am Freiſtuhl ertappt haben.
Gern wäre der junge Schwabe in Manches eingedrungen, was ihm verhüllt blieb. Der erſte350 Knecht fragte den Schulzen eines Tages, ob das Korn droben am Stuhl nicht angeſchnitten werden ſolle, da es vollkommen reif ſei? erhielt aber von ſeinem Herrn den Beſcheid, daß es bis nach der Hochzeit ſtehen bleiben müſſe. Dieſe Worte wür - den dem Jäger nicht weiter aufgefallen ſeyn, wenn er damit nicht unwillkührlich den Inhalt eines Geſprächs in Verbindung geſetzt hätte, deſſen unbe - merkter Ohrenzeuge er kurz zuvor geworden war.
Zwei benachbarte Hofbeſitzer, welche ſeinen Wirth beſuchten, hatten ihn nämlich, ſo daß der Jäger es hörte, befragt: Wann das Geding ſeyn ſolle? und zur Antwort erhalten: Am zweiten Tage nach der Hochzeit, mit dem Hinzufügen, daß dann zugleich der Schwiegerſohn die Looſung empfan - gen werde. Der junge Mann brachte dieſe Reden mit der Schonung des reifen Korns am Freiſtuhl in Zuſammenhang, ohne gleichwohl die eigentliche Bedeutung ſich klar machen zu können.
Seinerſeits ſagte der Hofſchulze einmal zum Jäger, als dieſer wieder mit leerem Pulverhorn und leerer Waidtaſche in den Hof zurückkehrte: Wie iſt das, junger Herr? Sie treffen ja nie - malen was?
351Der Jäger war gerade in einer verdrießlichen Stimmung, die zuweilen am offenſten macht. Er verſetzte daher kurzweg: Daß ich nichts treffe, iſt nicht meine Schuld, und daß ich dennoch immerdar ſchießen muß, liegt auch nicht an mir, das hängt mir von Mutterleib an.
Wie? Von Mutterleib? fragte der Hofſchulze.
Ich kann es nicht anders nennen, erwiederte der Jäger. Ihr ſeid ein ſo verſtändiger Mann, daß ich keinen Grund habe, Euch eine Geſchichte vorzuenthalten, welche Euch meine Jägerei, über die Ihr, wie ich ſehe, ſchon ſeit einiger Zeit den Kopf ſchüttelt, einigermaßen erklärlich machen wird. Man hat Muttermäler in Form von Sternen, Kreuzen, Kronen, Schwertern, weil die Frau, welche den Menſchen trug, ſich an einem großen Orden, an einem Kirchenzuge, an einer Krönung verſah, oder unter Kriegsgetümmel ihre Schwangerſchaft abhielt; warum ſollte Einer nicht Jäger von Mutterleib aus ſeyn können?
Der Hofſchulze nöthigte ſeinen jungen Gaſt an den Tiſch unter den Linden vor der Thüre, ließ eine Fla - ſche ſehr trinkbaren Weins bringen, und der Jäger begann hierauf folgendergeſtalt ſeine Erzählung.
352Meine Mutter hatte ſich mit meinem Vater erſt nach einem trauer - und thränenvollen Braut - ſtande verbinden dürfen. Die Verwandten und viele Umſtände waren gegen die Heirath geweſen, indeſſen hatte die Liebe, welche Beide zu einander trugen, doch endlich obzuſiegen gewußt, und die Ringe durften gewechſelt werden. Die Folge jenes langen Hinderns und Zurückhaltens war nicht, wie es oft zu geſchehen pflegt, ein raſches Erkalten nach gewonnenem Beſitze, ſondern eine äußerſt zärt - liche Ehe geweſen, ſo daß alſo in dieſem Falle der Wunſch der Leidenſchaft ſein Recht darwies. Noch in jetzigen Tagen erzählen bejahrte Leute, welche meine Eltern in den erſten Jahren ihrer Ehe gekannt haben, von dem ſchönen Paare, das immerfort wie Liebhaber und Geliebte mit einander umgegan - gen ſei. Die Zärtlichkeit meiner Mutter äußerte ſich nun auch in einer Sorge um das Leben und die Geſundheit des Vaters, welche freilich oft in das Uebertriebene ging. Blieb er von einem Spa - ziergange oder einem Beſuche in der Nachbarſchaft einige Minuten über die beſtimmte Zeit aus, ſo ſchickte ſie ängſtlich nach ihm; war ſeine Farbe nicht ganz ſo munter, wie gewöhnlich, gleich fürch -353 tete ſie eine ſchwere Krankheit und wollte den Arzt herbeigeholt wiſſen, um Alles hätte ſie ihn nicht in der Nacht reiſen laſſen, und wo er ging oder ſtand, mußte er ſich vor Zugluft in Acht nehmen. Während ſie für ihre eigene Perſon hart, unbeküm - mert und muthig blieb, ſah ſie in Jeglichem, was meinen Vater umgab, Schreck und Gefährde.
Ja, Ja, murmelte der Hofſchulze vor ſich hin, die vornehmen Leute haben zu dergleichen Zeit. Bei uns Bauern kommt es auf einen Puff nicht an.
Am inſtändigſten flehte ihn meine Mutter an, ſich der Jagd zu enthalten. Sie hatte in den erſten Jahren ihrer Ehe einen verworrenen Traum, von dem ſie ſich beim Erwachen nur einer ſchönen grünen Uniform, worin ſie meinen Vater geſehen 'und daß ihn in derſelben ein Unglück betroffen, zu erinnern wußte. Nun fielen ihr alle die Ge - ſchicke, die ſich auf Jagden ereignen können; ſcheu - gewordene Pferde, unvermuthet losgegangene Schüſſe, Eber, die den Schützen anrennen, und was der - gleichen mehr war, ein, und ſie ließ ſich daher von meinem Vater das Wort geben, nie dieſem ver - hängnißvollen Genuſſe wieder fröhnen zu wollen. Er willfahrte ihr gern, denn er ſah ihre Liebe zuImmermann’s Münchhauſen. 1. Th. 23354ihm, und war überhaupt dem Waidwerke nicht lei - denſchaftlich ergeben, obſchon er es, wie ihm ſonſt nach ſeinen Verhältniſſen zukam, getrieben hatte.
Mehrere Jahre der Ehe blieben kinderlos. Endlich fühlte meine Mutter ihren Schooß geſeg - net. Sonſt pflegt, wie man mir geſagt hat, in dieſem Zuſtande die Neigung der Frau zu dem Manne abzunehmen, und ſich der verborgenreifenden Frucht zuzuwenden, meine Mutter machte aber von dieſer Regel eine Ausnahme. Ihre Liebe zu dem Vater wuchs noch, wenn ſie eines Wachsthums fähig war. Zugleich ſtellte ſich die Erinnerung an den früher gehabten und ſeitdem faſt vergeſſenen Traum wieder bei ihr mit Heftigkeit ein, deſſen eigentliche Bilder ihr jedoch nicht deutlich werden wollten, obgleich ſie ſtundenlang ſich damit abmühte, ſie hervorzurufen. Nochmals mußte mein Vater ſein früheres Gelübde in ihre Hand wiederholen.
Inzwiſchen rückte der Sanct Hubertustag heran, an welchem der Fürſt, mit dem mein Vater eng zuſammenhing, die jährliche große Jagd zu veran - ſtalten pflegte. Es war in ſeiner Umgebung ſchon verwundernd viel davon geſchwätzt worden, warum mein Vater ſich in den Jahren zuvor unter aller -355 hand Vorwänden von den Jagden zurückgehalten habe, endlich hatte man den wahren Grund aufgeſpürt, und der etwas rohe und leichtfertige Kreis mag ſich trefflich über den gehorſamen Ehemann luſtig gemacht haben. Der Fürſt, derb und zufahrend, wie er war, nahm ſich vor, den Gehorſam zu Falle zu bringen. Es war ſo Sitte, daß ſchon an dem Tage vor Hubertus ein luſtiges Banquett auf dem Jagdſchloſſe gegeben wurde. Der Saal, in wel - chem es Statt fand, war an den Wänden mit Hirſch - geweihen, Armbrüſten und alten Jagdſpießen ausge - ziert. Da wurde denn, wie man bei uns zu ſagen pflegt, tapfer gebürſtet, d. h. gezecht, und wer an dem Banquette Theil nahm, konnte ſich natürlich von der Hubertusjagd nicht losſagen.
Mein Vater würde alſo um keinen Preis einen Partner des Schmauſes abgegeben haben, wenn ihn nicht der Fürſt durch eine Liſt nach dem Jagd - ſchloſſe zu ziehen gewußt hätte. Er ließ ihn näm - lich unter dem Vorwande eines Geſchäfts berufen und hielt ihn in langen Geſprächen hin, bis der Lakai meldete, daß ſervirt ſei. Da wollte mein Vater fortreiten, aber ein zweiter Lakai brachte, ausgeſandt, die Nachricht, der Reitknecht habe ver -23*356ſtanden, der Herr bleibe zur Tafel, und ſei bis auf den Abend mit den Pferden nach Hauſe gerit - ten. Nun, da es ſo iſt, laß dir’s gefallen und nimm hier vorlieb, ſagte der Fürſt. Du kannſt doch nicht die zwei Stunden zu Fuß nach Hauſe gehen. — Was ſollte mein Vater beginnen? So unlieb es ihm war, er mußte bleiben. Bei Tafel, als es ziemlich lärmend zu werden anfing, warf Einer die Frage hin, ob er morgen mit zur Jagd komme?
Ohne ſeine Antwort abzuwarten, rief ein Ande - rer: Nein, er darf nicht, ſeine Frau hat es ihm ſtreng verboten. — Iſt es wahr, fragte der Fürſt laut über die ganze Tafel hin, daß dir deine Frau befohlen hat, kein Gewehr mehr abzudrücken? Wenn dem ſo iſt, und du gehorchſt, ſo biſt du ja ein wahrer Muſtermann für Stadt und Land. Ein ſchallendes Gelächter folgte dieſen Worten, obgleich darin nicht viel Lachenswerthes ſteckte.
Mein Vater ärgerte ſich, nahm ſich aber zuſam - men und verſetzte, daß dem nicht ſo ſei; wie man denken könne, daß ſeine Frau ihm ſo etwas befeh - len werde? und dergleichen mehr, was ein Jeder in ſeiner Lage und in einer ſo wilden Geſellſchaft357 entgegnet haben würde. — Topp! rief der Fürſt, das iſt recht, ſo hilfſt du uns alſo morgen Sanct Hubert Devotion erzeigen — und als mein Vater ſich mit einer Reiſe, mit Beſuch, mit Unpäßlichkeit entſchuldigen wollte — Oho! die Frau Gemahlin ſteckt doch dahinter! Nun, der Sache müſſen wir auf den Grund kommen! Erinnert mich das näch - ſtemal, wo ich mit der Geſtrengen zuſammentreffe, daß ich ernſtlich danach bei ihr anfrage.
In dieſem Augenblicke faßte mein Vater ſeinen Entſchluß. Er hielt es für nöthig, der Mutter einen ärgerlichen Auftritt, wie er von des Fürſten Derbheit immer zu beſorgen ſtand, zu erſparen, und ſagte daher: Damit Jedermänniglich ſehe, daß an all dem Argwohn nichts ſei, ſo werde ich die Jagd morgen mitmachen. Ein Beifallsklatſchen erſcholl, unter Getöſe wurde die Tafel aufgehoben; der Fürſt rief mit etwas ſchwerer Zunge: Biſt du aber morgen nicht um ſechs Uhr am Verſamm - lungsplatze, ſo holen wir Alle dich in corpore aus den Federn. — Mein Vater nahm kurz und trocken ſeinen Urlaub, fuhr den lügneriſchen Lakaien, der draußen im Vorgemache ihn verſchmitzt lächelnd befragte, ob er nun die Pferde befehle? barſch an,358 und ging die Treppe hinunter über den Hof ſelbſt nach dem Stalle, wo er den Reitknecht mit den Pferden fand, der ſich keinen Augenblick vom Jagd - ſchloſſe entfernt hatte.
Hieraus erſah nun mein Vater, daß das Ganze ein angelegter Plan geweſen ſei. Beim Heimreiten überlegte er den ſeinigen. Sich von dem gegebe - nen Worte zurückzuziehen, war unmöglich, denn dann hätte er wirklich am nächſten Morgen den ganzen Schwarm vor dem Hauſe gehabt zu Aengſten und Schrecken der Mutter. Er beſchloß daher die Jagd wirklich mitzumachen, jedoch ſobald als nur möglich ſich zu entfernen, und um ſein Abſeyn eine Zeitlang vor den Uebrigen zu verbergen, ſei - nen guten Freund, den Oberjägermeiſter, deſſen fin - ſteres Geſicht Mißbilligung der getriebenen Scherze ausgedrückt hatte, zu erſuchen, daß ihm der ent - fernteſte Stand angewieſen werde, von dem er bei günſtiger Gelegenheit entkommen zu können hoffte. Um aber für die Zukunft dem Fürſten und der ganzen Geſellſchaft Reſpect einzuflößen, ſollten Tags darauf ſchriftliche Erklärungen an die ärgſten Schreier des Jagdſchloſſes abgehen, welche dieſe entweder einſtecken, oder worauf ſie zu Piſtolen greifen mußten.
359Zu Hauſe zog er einen alten verſchwiegenen Diener in ſein Vertrauen, ließ die prächtige Jagd - uniform, in welcher jeder Cavalier bei den großen Hofjagden erſcheinen mußte, heimlich aus dem Schranke nehmen, und verſpürte, wie er ſelbſt lange Jahre nachher, wenn dieſe Geſchichte wieder auf das Tapet kam, zu erzählen pflegte, trotz ſeines Mißmuths ein geheimes Behagen, als er das grüne, ſchimmernde Collet mit den blitzenden Knöpfen, der goldenen, reichen Stickerei, den Achſelſchnüren, den ſchweren Epauletts aus dem umgelegten Sei - denpapier, und das prächtige Couteau mit glänzen - den Steinen am Griff aus dem Futteral hervor - kommen ſah, nachdem er ſo lange den Anblick die - ſer Gegenſtände entbehrt hatte. Meiner Mutter ſagte er irgend einen gleichgültigen Grund, weßwe - gen er den folgenden Tag über von Hauſe entfernt ſeyn werde. Es gelang ihm, ſie zu täuſchen; ſie legte ſich ruhig an ſeiner Seite ſchlafen.
In der Nacht aber hatte ſie den früheren ängſt - lichen Traum, auf deſſen Einzelheiten ſie ſich ſeither im Wachen nicht zu beſinnen vermocht hatte. Sie ſah meinen Vater ſich vom Lager erheben, einen Blick der Bekümmerniß auf ſie, die Schlafende,360 werfen, leiſe auf den Zehen aus dem Zimmer ſchlei - chen. Der Traum führte ſie hierauf nach der Garde - robe. Dort legte mein Vater Stück vor Stück die prächtige grüne Uniform an. Sie konnte ſich nicht ſatt an ihm ſehen, er kam ihr gar zu ſchön vor, und doch beſchwor ſie ihn inſtändigſt und mit der äußer - ſten Herzensangſt, von ſeinem Vorhaben abzuſtehen. Er ließ ſich aber nicht hindern, ſchnallte das Cou - teau um, und in dem Augenblicke wieherte ein Pferd. Nun zerbrach blitzſchnell das bisherige Traumgeſicht, und mit Entſetzen ſah ſie meinen Vater blutigen Hauptes unten im Hofe auf dem Pflaſter liegen. Ehe ſie noch ſich zu ihm helfend hinbeugen konnte, wieherte das Pferd, welches ſie wunderbarerweiſe nicht ſah, zum zweitenmale, und — ſie erwachte, wie es ihr vorkam, von einem wirklichen Pferdewiehern aus den Schreckniſſen des Traumes geweckt. Schlaftrunken taſtete ſie umher, um des Vaters Wange ſich zur Beruhigung zu ſtreicheln, aber der Taumel ihrer Sinne wich der angſtvollſten Ermunterung, denn das Bett neben ihr war verlaſſen, die Decke zurückgeſchlagen. Sie ſchellte dem Mädchen, fragte, wo der Herr ſei? Dieſe, welche ihn im Gange verſtohlen an ſich361 hatte vorüberſchlüpfen ſehen, antwortete zögernd: In der Garderobe. Nun war ſie nicht länger zu halten, eiligſt warf ſie ein Nachtgewand über und begab ſich mehr laufend als gehend nach der Gar - derobe. Dort die Thüre geöffnet, hatten beide Eltern vor einander den gleichen Schreck und mein - ten zu Boden ſinken zu müſſen. Der Vater ſtand, wie ihn die Mutter geträumt hatte, prächtig ge - ſchmückt, in ſeinem Glanz und Flimmer von der rothen Morgenſonne umſpielt, und ſchnallte eben das Couteau an. Es folgte ein heftiges Fragen und Erklären, die Mutter wollte ihn durchaus nicht ziehen laſſen, bis er auf die eindringlichſte Weiſe ihr erwieſen hatte, daß für dieſesmal ſchlech - terdings an dem Vorhaben nichts zu ändern ſei. Indem ſie noch mit einander ſtritten, wieherte des Vaters geſattelt ſtehendes Reitpferd unten vom Hof herauf zum drittenmale. Sie ſtürzte an das Fenſter, ſah das feurige Thier in den Boden hauen und ſich heben, das böſe Ende ihres Traums trat ihr vor die Augen, ſie beſchwor meinen Vater bei dem Lebendigen unter ihrem Herzen, wenigſtens nicht zu reiten, da ſie die beſtimmte Ahnung habe, daß ihm heute damit ein Unglück begegnen werde, ſich vielmehr362 des leichten Wagens zu bedienen. Höchſt ver - ſtimmt rief er dem Bedienten zu: So laß anſpan - nen! drückte die Mutter ſanft nach der Thüre zu und bat ſie um Gotteswillen, ſich doch nur wieder niederzulegen, da ſie ja in ihrem leichten Gewande von der Morgenkälte ſchwer krank werden könne, und ſprang dann, als er ſie auf dem Wege nach dem Schlafcabinet glaubte, raſch die Haupttreppe hinunter, um nur zu Roß und an dieſem vermale - deiten Tage vom Hofe zu kommen.
Aber meine Mutter, einmal argwöhniſch gemacht, ſchlüpfte eine kleine Seitentreppe hinab, die eben - falls auf den Hof führte, um ſich zu verſichern, ob auch der Wagen genommen werde. Indem ſie nun unten anlangte, ſah ſie, daß mein Vater ſchon zu Pferde ſaß, und mit dem Thiere, welches er in ſeinem Verdruſſe heftig behandelt und dadurch unru - hig gemacht hatte, kaum zurecht kommen konnte. Mit einem lauten Geſchrei flog ſie durch die Thüre auf den Hof; das Pferd, von der plötzlich erſchei - nenden weißen Geſtalt bis zur Wuth geſteigert, drehte ſich wie toll auf den Hinterfüßen um, gerieth auf eine ſchlüpfrig-abſchüſſige Stelle, rutſchte aus und ſtürzte. Nun lag mein Vater wirklich mit363 blutendem Kopfe auf dem Pflaſter, meine Mutter aber konnte ihm nicht helfen, denn auch ſie ſank ohnmächtig an der Thüre zuſammen.
Der Jäger hielt athmend inne, bewegt von ſeiner eigenen Erzählung, deren Einzelheiten, wie er nach einer Pauſe ſagte, ihm ſo lebhaft vor - ſchwebten, weil der Vorfall mit den kleinſten Zügen von den Dabeigeweſenen ihm mehr als hundertmal berichtet worden ſei. — Er ſei die Haus - und Fa - miliengeſchichte geworden. Sein Zuhörer ſtrich ſich die Haare bedächtig aus der Stirn und ſagte nach einer Weile: Daß die Sache keine ſchlimmen Folgen gehabt hat, ſtellt ſich dar, denn Sie ſitzen da ganz friſch und geſund, junger Herr.
Glücklicherweiſe war der Schreck das Aergſte dabei geweſen, erwiederte der Jäger. Mein Vater hatte ſich ſchnell bügellos zu machen gewußt, ſein Epaulett war ihm, von der heftigen Bewegung gelöſt, unter den Kopf gefahren und ſchützte vor einem zu harten Aufſchlagen; er kam mit eine leichten Wunde davon. Auch meiner Mutter, für welche das Schlimmſte zu befürchten ſtand, half ihre überaus kräftige Natur. Sie erholte ſich und dauerte ihre Zeit aus, obgleich die Gedanken an364 an jenen Morgen ſie keinen Augenblick verlie - ßen.
Und daher, meinen Sie, rühre Ihre Jagdluſt? fragte der Hofſchulze.
Ich kam einige Monate nach dem Ereigniſſe zur Welt mit einem Maale unter dem Herzen in der Form eines Hirſchfängers. Sobald ich zum Buben erwachſen war, hielt mich keine Vermah - nung und Züchtigung ab, mit den Jägern umher - zulaufen. Und ſo iſt das fortgegangen bis auf den heutigen Tag, ohne daß ich, wie Ihr ja leider nun auch gemerkt habt, zu dieſem Treiben durch Beute und Erfolg irgend eine Anreizung empfinge.
Wenn Ihre Frau Mutter von den Jagdſachen einen ſolchen Schreck bekommen hat, ſo müßte ſie Ihnen ja ehender einen Abſcheu davor eingeimpft haben, ſagte der Hofſchulze.
Nein! rief der junge Jäger, und ſeine Augen begannen in dunklerem Feuer zu leuchten, wie immer der Fall war, wenn ſich die Rede auf ſolche Gegen - ſtände wandte. Davon verſteht Ihr nichts, Hofſchulze. Kann ein menſchliches Weſen unwillkührlich auf ein Andres durch Blut, Seele und Sympathie wirken, ſo fällt dieſe Wirkung auch ganz in der dunkeln Kam -365 mer vor, darin die Kräfte nach ihren eigenen Rech - ten hin - und herfahren, ſauſen und weben, und Gebild ſchaffen, deſſen Figur kein Verſtand vorher - ſieht und auf welches Niemand gefaßt iſt. Abſcheu kann Luſt, Furcht kann Muth, Sehnſucht Ekel erzeugen, und iſt Niemand, der den Stammbaum die - ſer und ähnlicher Zeugungen aufzurichten vermöchte.
Davon verſtehe ich wirklich nichts, und geht mich auch nichts an, ſagte der Hofſchulze. Aber aus der Geſchichte, welche Sie da ſo plaiſirlich erzählt haben, ziehe ich eine dreifache Moral.
Ihr haltet ſehr viel auf Moral.
Die Moral unterſcheidet uns von dem Vieh, verſetzte der Hofſchulze feierlich. Das Vieh hat eigentlich Alles beſſer als die Menſchencreatur, es findet den Weg ſicherer, es hat ſein ihm gewieſe - nes Futter und lüſtert nicht nach Anderem, es trägt ſeinen Rock anerſchaffen auf ſeinem Leibe, es fürchtet ſich nicht vor dem Tode, es treibt keine unnütze Wolluſt, aber Moral hat das Vieh nicht; Moral hat nur der Menſch.
Und in meiner Geſchichte ſtecken drei Moralen?
Drei. Die will ich Ihnen jetzt auch nicht vor - enthalten, junger Herr Jäger.
Erſtens, ſagte der Hofſchulze, lehret die Ge - ſchichte, daß, wenn Ihre Paſſion wirklich von Ihrer Frau Mutter ſich herſchreibt, der Herr noch jetzun - der ſeinen Spruch wahr macht, welcher lautet: Ich will die Sünden der Väter heimſuchen an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied. Denn an und vor ſich iſt die Jägerei eine erlaubte und luſtige Sache. Nun aber ſündiget der Menſch jederzeit, wenn er ſich wider etwas ſetzt, was Herkommens iſt bei ſeinesgleichen, dadurch kriegt die Gleichgültigkeit ein Gewicht und hat Folgen, wie Peſtilenz darnach kam, als David ſein Volk zählen ließ, weil das nicht Herkommens bei den Ju - den war. Ihre Frau Mutter nun verfiel in Sünde, weil ſie den Herrn Vater nicht auf die Jagd gehen367 laſſen wollte, da das zu ſeinem Stande gehörte, und darum iſt an Ihnen eine Thorheit geſetzt, das Schießen ohne Treffen. Sie ſollten aber ſuchen, mit der Gewalt davon los zu kommen, weil ſolche Neigungen nicht aus den Wirkungen in der dunkeln Kammer, nicht aus den Kräften und den eigenen Rechten, wie Sie es nannten, herrühren, ſondern einzig und allein aus der Thorheit, durch welche Sie groß Unglück anrichten können. Auch die Mädchen haben mitunter das Gelüſt, Feuer anzu - legen, ſie laſſen es aber wohl bleiben, wenn ſie ſcharf zuſammengenommen werden. Es kann und ſoll aber der Menſch, über den kein Anderer geſetzt worden, an ihm ſelber der Herr und Zuchtmeiſter ſeyn.
Zweitens thut die Geſchichte lehren, daß im Eheſtande gar zu viel Liebe ſchädlich iſt. Denn Ihr Herr Vater würde mit dem Pferde nicht geſtürzt ſeyn, wenn Ihre Frau Mutter nicht ſo be - ſorgt aus der Thüre geſprungen wäre. Sie wollte ihn vor Gefahr hüten und brachte ihn eben recht in Gefahr. Wie leicht konnte ihn Einer von den Herrn niederſchießen, an die er nach der Jagd Briefe ſchreiben wollte! Im Eheſtande muß Alles moderirt ſeyn, auch die Liebe, weil die Sache für368 die Hitze und den Eifer zu lange währt. Vorher kann der Menſch thun, was er will, danach kommt nichts, aber der Eheſtand macht einen Abſchnitt und giebt ein Exempel, da muß der Menſch ſich zuſammennehmen, denn auf Eheleute ſieht ein Jeder, und Aergerniß, welches durch ſie kommt, iſt doppelt Aergerniß. Mit einem losledigen Menſchen haben We - nige Verkehr, aber auf den Haus - und Eheſtand ver - läßt ſich aller Handel und Wandel, Nachbarhülfe und Anſprache, Chriſtenthum, Kirchen - und Schulzucht, Haus und Hof, Rind und Kind, und wie ſollen nun alle dieſe Sachen in gehöriger Ordnung und Ver - faſſung bleiben, wenn die Eheleute ſelbſt ſich wie die Gecken betragen? Bei uns Bauern kommt der Fehler weniger vor, aber bei den Stadtleuten, mit denen ich vielfältig hier und dahaußen verkehre, und deren Gebräuche ich daher kenne, will mir in dem Puncte Manches ſchlimm gefallen. Wenn ein Mann ſein Weib ſchlägt, oder angrunzt ohne Noth, ſo giebt er Aergerniß, denn der Apoſtel ſchreibt, daß die Männer ihre Weiber lieben ſollen, wie der Herr Chriſtus ſeine Gemeine liebt, aber wenn ein Weib ihren Mann ſo unterkriegt mit Careſſen und ſüßen Reden, daß er zwiſchen guten369 Freunden vor Angſt nicht mehr zu bleiben weiß, wenn die Stunde ſchlägt, da er hat nach Hauſe kommen ſollen, oder daß er ſich von Allem zurück - halten muß, was ihm das Herze fröhlich macht, ſo giebt ſie auch Aergerniß, denn der Apoſtel Pau - lus ſchreibt nicht minder, das Weib ſolle den Mann fürchten. Die Furcht aber beſteht mit ſolchem Ver - halten nicht, vielmehr treibet ſie dahin, daß dem Manne ſein freier Wille gelaſſen werde, denn der Eheſtand ſoll den Mann erbauen, nicht aber ihn daniederreißen, weil abermals der nämliche Apoſtel Paulus an die Corinther ſchreibt: Der Mann iſt nicht vom Weibe, ſondern das Weib iſt vom Manne.
Ich habe hier jezuweilen bei guter Witterung große Geſellſchaft von Stadtleuten, die für Plaiſir den Tag im Freien zubringen, und gegen Abend wieder heimfahren. Da ſehe ich nun mitunter, daß die Neugeheiratheten, die etwa erſt im zweiten Jahre Mann und Frau ſind, denn ſpäterhin hört dieſes Weſen gemeiniglich auf, mit einander ein Anblicken und Anblinzeln, Löffeln und Schlecken treiben, als ſeien ſie mutterſeelenallein und Nie - mand außer ihnen um ſie und neben ihnen. Darin ſtecken nun wieder drei Aergerniſſe.
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 24370Schade, unterbrach ihn der Jäger lachend, daß Euch kein Philoſoph von Profeſſion anhört, Hof - ſchulze. Er würde die architectoniſche Symmetrie Eures Gedankenbau’s loben. Drei Aergerniſſe, ent - ſprechend drei Moralen!
Der Schulze fuhr, ohne ſich ſtören zu laſſen, fort: Erſtens ſind immer in der Geſellſchaft Leute, die gerne freien möchten und nicht können, und in denen ſtiftet ſo ein öffentliches Liebesweſen gehei - men Neid und ſtille Abgunſt, wovor der Menſch ſeinen Nächſten bewahren ſoll. Dieſes iſt das erſte Aergerniß. Zweitens läßt, wenn ſie ſich vor ſo vielen Leuten nicht ſcheuen, das zu thun, was in die Verborgenheit gehört, vermuthen, daß ſie da - heim eine Brinneiferigkeit haben, welche die Geſund - heit ruinirt, und drittens denkt Dieſer und Jener in der Geſellſchaft: Was dem Einen recht, iſt dem Andern billig, genirt Ihr Euch nicht, genir’ ich mich auch nicht, dürft Ihr ſchmatzen, darf ich kratzen; läßt nun alle geheimen Würmer und Ottern - gezüchte, welche er im Herzen trägt und ſonſt bei ſich behielte, los, die ſchlechten, ſpöttiſchen Reden, die Schraubereien und Verläumdungen, welche denn wie - der von Andern aufgefangen und erwiedert werden,371 ſo daß das ganze Plaiſir zu Grunde geht. Auf dieſe Weiſe habe ich es erlebt, daß durch ſo ein öffent - lich löffelndes Ehepaar lauter Zank und Hader in eine Geſellſchaft kam, der immer mehr ſtieg, je mehr die Eheleute mit einander careſſirten.
Dagegen iſt es eine wahre Freude, bisweilen vernünftige junge Leute zu ſehen, die beſcheiden und anſtändig ſich betragen; das Frauchen ſitzt da, und der Mann da, Jedes discurirt höflich mit ſei - nen Nachbarn, Keines ſcheint auf das Andere zu achten, von Handgeben und Küſſen iſt nun gar nicht die Rede, und doch ſieht man den rothen, muntern Geſichtern an, daß ſie zu Hauſe Glück und Segen mit einander haben; gleichſam zwei Aepfel ſind ſie an einem Zweige, die auch nicht nach einander umgucken und doch zuſammen wachſen, gedeihen und reifen. Der Eheſtand iſt ein Segens - ſtand, aber er will mit Vernunft und Geſchick und Manierlichkeit angegriffen ſeyn, ſonſt macht er, wie der Wein im Uebermaaß, trunken, dumm und unge - ſund. Er iſt wie der grüne Zweig am Apfelbaum; was darauf zum Gedeihen kommen ſoll, muß hübſch ſtill und ruhig ſich daran halten bei Sonnenſchein und Regen.
24*372Eure Moralien klingen zwar ziemlich hausbacken, aber es liegt doch etwas Wahres darin, ſagte der Jäger. Der geſunde Menſchenverſtand behält immer Recht, obſchon er ſelbſt nicht das letzte Recht iſt. Was meine Eltern betrifft, ſo ſpricht deren nachheriges Verhältniß auch gewiſſermaaßen für Eure Sätze. Meine Mutter iſt nach dem ent - ſetzlichen Schreck wie umgewandelt geweſen, er hatte auf ſie wie ein Sturzbad gewirkt, der Vater hat ſpäterhin gehen, kommen, ſich kleiden dürfen, wie, vornehmen können, was er gewollt, und von der Zeit an, wo ich ſelbſt zum Bewußtſeyn gelangte, erinnere ich mich der Ehe meiner Eltern, als einer zwar liebevollen, aber freien und ruhigen.
Ja, Ja, ſprach der Hofſchulze, ſo mußte es ſich wenden. Allzuſcharf macht ſchartig, der Bogen, welcher zu ſehr geſpannt wird, bricht, und hinter heißem Wetter kommt kühles. Aber Ihnen will ich doch eine gute Lehre geben, junger Herr. Wenn Sie incognito bleiben, und wie Sie ſich mir verkündiget haben, für den Sohn von Bürgersleuten gelten wol - len, ſo müſſen Sie mir keine Geſchichte erzählen von Jagdſchlöſſern und fürſtlichen Banquetten und golde - nen Uniformen und Bedienten und Reitknechten.
373Ach, die Lehre kommt zu ſpät! rief der junge Jäger luſtig. Das Verſtellen hilft mir nichts, ich ſehe es wohl ein, und wenn ich auch wie der Vo - gel Strauß den Kopf wegſtecke, man erblickt mich dennoch. Verrathet mich aber nicht; ich habe meine Gründe zu der Bitte, die Ihr mit gutem Gewiſſen erfüllen könnt, denn ein Verbrechen habe ich nicht begangen.
Nein, das ſoll wohl ſeyn, Sie ſehen nicht danach aus, ſagte der Hofſchulze lächelnd.
Jetzt nehmt von meiner Seite eine Lehre an. Ihr ſeid ein alter, geſetzter Mann, dem mehr daran liegen muß, ſeine Abſichten für ſich zu behal - ten, als mir. Wenn Ihr Eure Geheimniſſe, welche Ihr zweifelsohne habt, vor mir und meinem Nach - ſpüren bewahren wollt, ſo müßt Ihr meine Auf - merkſamkeit nicht ſelbſt rege machen, müßt mir nicht das Schwert Karls des Großen mit ſo feierlicher dunkler Rede zeigen.
Der Hofſchulze richtete ſich in die Höhe. Seine große Geſtalt ſchien noch zu wachſen, und der Mond, welcher inzwiſchen aufgegangen war, warf ſeinen Schatten lang in den Hof. Er ſagte mit tiefem Tone und mit einem Nachdruck, der dem Andern374 durch Mark und Bein ging: Wehe dem, welcher die Geheimniſſe des Schwertes Caroli Magni ſieht oder hört, wenn es dergleichen giebt! — Darauf ſetzte er ſich nieder, ſchenkte ſeinem Gaſte das letzte Glas ein, und that, als ob nichts vorgefallen ſei.
Dieſer ſchwieg verlegen. Er merkte, daß mit dem Alten in manchen Dingen nicht zu ſcherzen ſei. Um wieder ein Geſpräch in Gang zu bringen, ſagte er endlich: Ihr verſpracht drei Moralen aus meiner Geſchichte, habt aber bis jetzt mir nur zwei mitgetheilt.
Die dritte, verſetzte der Hofſchulze, iſt keine Rede, ſondern eine Handlung und Verrichtung. Mit dieſen Worten deren Sinn er nicht weiter aufklärte, ging er in das Haus.
Am folgenden Tage zur Mittagsſtunde hörte der Jäger unter ſeinem Fenſter ein Geräuſch, ſah hinaus und bemerkte, daß viele Menſchen vor dem Hauſe ſtanden. Der Hofſchulze trat in ſonn - täglichem Putze ſo eben aus der Thüre, gegenüber aber hielt am Eichenkampe ein zweiſpänniger Kar - ren, auf welchem ein Mann in ſchwarzen Kleidern, anſcheinend ein Geiſtlicher, zwiſchen mehreren Kör - ben ſaß. In einigen derſelben ſchien Federvieh zu flattern. Etwas hinterwärts ſaß eine Frauens - perſon in der Tracht des Bürgerſtandes, welche ſteif vor ſich hin auf dem Schooße ebenfalls einen Korb hielt. Vorn bei den Pferden ſtand ein Bauer mit der Peitſche, den Arm über den Hals376 des einen Thier’s gelegt. Neben ihm hielt ſich eine Magd, auch einen Korb, mit ſchneeweißer Serviette überlegt, unter dem Arme.
Ein Mann in weitem, braunem Oberrocke, deſ - ſen bedächtiger Gang und feierliches Antlitz ohne Widerſpruch den Küſter erkennen ließ, ſchritt mit Würde von dem Wagen dem Hauſe zu, ſtellte ſich vor den Hofſchulzen hin, lupfte den Hut und gab folgenden Reimſpruch von ſich:
Der Hofſchulze hatte bei Anhörung dieſes Spruchs den Hut tief abgenommen. Nach dem - ſelben ging er zum Wagen, verbeugte ſich vor dem Geiſtlichen, half ihm in ehrerbietiger Stellung her - unter und blieb dann mit ihm ſeitwärts ſtehen, mancherlei Reden wechſelnd, welche der Jäger nicht hören konnte, während die Frau mit dem Korbe auch abſtieg und ſich nebſt dem Küſter, dem Bauer377 und der Magd wie zu einem Zuge hinter jenen beiden Hauptperſonen aufſtellte. Der Jäger ging, um den Zuſammenhang dieſes Auftritts zu erfah - ren, hinunter, ſah im Flur weißen Sand geſtreut, und die daranſtoßende beſte Stube mit grünen Zweigen geſchmückt. Die Tochter ſaß darin, eben - falls ſonntäglich geputzt, und ſpann, als wolle ſie noch heute ein ganzes Stück Garn liefern. Sie ſah hochroth aus und blickte von ihrem Faden nicht auf. Er ging in das Zimmer und wollte eben bei ihr Erkundigung einziehen, als ſchon der Zug der Fremden mit dem Hofſchulzen die Schwelle vom Flure aus betrat. Voran ging der Geiſtliche, hinter ihm der Küſter, dann der Bauer, dann die Küſterfrau, dann die Magd, zuletzt der Hofſchulze; Alle einzeln und ungepaart. Der Geiſtliche trat auf die ſpinnende Tochter, welche noch immer nicht emporſah, zu, bot ihr freundlichen Gruß und ſagte: So recht, Jungfer Hofſchulze, wenn die Braut noch ſo fleißig ihr Rädchen dreht, da kann ſich der Liebſte volle Kiſten und Kaſten erwarten und ver - hoffen. Wann ſoll denn die Hochzeit ſeyn? — Auf Donnerstag über acht Tage, Herr Diaconus, wenn es erlaubt iſt, verſetzte die Braut, wurde wo mög -378 lich noch röther, als zuvor, küßte dem Geiſtlichen, welcher noch ein jüngerer Mann war, demüthig die Hand, nahm ihm Hut und Stock ab und reichte ihm zum Willkomm einen Erfriſchungstrunk. Die Andern, nachdem ſie Reihe herum die Braut eben - falls mit Handſchlag und Glückwunſch bedacht hatten und durch einen Trunk erquickt worden wa - ren, verließen die Stube und gingen auf den Flur, der Geiſtliche aber unterhielt ſich mit dem Hof - ſchulzen, der beſtändig ſeinen Hut in der Hand, in ehrerbietiger Stellung vor ihm ſtand, über Gemeinde-Angelegenheiten.
Gern hätte der junge Jäger, welcher, von den Uebrigen unbeachtet, aus einer Ecke der Stube den Auftritt mit angeſehen hatte, ſchon früher den Geiſtlichen begrüßt, wenn es ihm nicht unbeſcheiden vorgekommen wäre, die Anreden und Antworten der Fremden und Hofesgenoſſen, welche trotz der bäuerlichen Scene etwas Diplomatiſches hatten, zu ſtören. Denn in dem Diaconus war von ihm mit Erſtaunen und Freude ein ehemaliger acade - miſcher Bekannter wiedergefunden worden. Jetzt verließ der Hofſchulze auf einen Augenblick das Zimmer und nun ging der Jäger zum Diaconus,379 ihn bei ſeinem Namen begrüßend. Der Geiſtliche ſtutzte, fuhr mit der Hand über die Augen, erkannte jedoch auch den Andern ſogleich wieder und freute ſich nicht weniger, ihn zu ſehen. Aber — fügte er den erſten Grußworten hinzu — jetzt und hier iſt keine Zeit zur Unterhaltung, kommen Sie nach - her mit, wenn ich vom Hofe abfahre, dann wollen wir zuſammen plaudern; hier bin ich ein öffentli - cher Charakter und ſtehe unter dem Banne des gebietendſten Ceremoniells. Wir dürfen von ein - ander keine Notiz nehmen, fügen auch Sie ſich paſſiv dem Ritual; vor allen Dingen, lachen Sie über nichts, was Sie ſehen, das würde die guten Leute auf das höchſte beleidigen. Und dieſe alten, feſten Sitten, ſo ſeltſam ſie ausſehen mögen, haben doch auch immer ihr Ehrwürdiges. — Sorgen Sie nicht, verſetzte der Jäger, aber ich möchte doch wiſſen … Alles nachher! flüſterte der Geiſtliche, nach der Thüre blickend, durch welche ſo eben der Hofſchulze wieder hereinkam. Er trat vor dem Jäger, wie vor einem Fremden, zurück.
Der Hofſchulze und ſeine Tochter trugen die Speiſen auf dem Tiſche, welcher in dieſer Stube gedeckt ſtand, ſelbſt auf. Da kam eine Hühner -380 ſuppe, eine Schüſſel grüner Bohnen mit einer lan - gen Mettwurſt, Schweinsbraten mit Pflaumen, But - ter, Brod und Käſe, wozu eine Flaſche Wein geſtellt wurde. Alles dies wurde zu gleicher Zeit auf den Tiſch geſtellt. Der Bauer war von den Pferden ebenfalls hereingekommen. Als Alles ſtand und dampfte, lud der Hofſchulze den Diaconus höflich ein, es ſich gefallen zu laſſen.
Es war nur für zwei Perſonen dort gedeckt; der Geiſtliche, nachdem er ein Tiſchgebet geſprochen, ſetzte ſich und etwas von ihm entfernt der Bauer. Eſſe ich hier nicht mit? fragte der Jäger. Ei behüte, antwortete der Hofſchulze, und die Braut ſah ihn verwundert von der Seite an. — Hier ißt bloß der Herr Diaconus und der Colonus, Sie ſetzen ſich draußen bei dem Küſter zu Tiſche. Der Jäger ging in ein anderes, gegenüberliegendes Zim - mer, nachdem er noch zu ſeiner Verwunderung bemerkt hatte, daß der Hofſchulze und ſeine Toch - ter auch die Bedienung jenes erſten und vornehmſten Tiſches ſelbſt übernahmen.
In dem andern Zimmer traf er den Küſter, die Küſterin und die Magd um den dort gedeckten Tiſch ſtehen, und, wie es ſchien, mit Ungeduld381 ihres vierten Genoſſen warten. Auch auf dieſem Tiſche dampfte dieſelbe Speiſe, wie auf der Paſtors - tafel, nur fehlte Butter und Käſe, auch zeigte ſich dort ſtatt des Weines Bier. Mit Würde trat der Küſter an den Oberplatz und ließ die Augen in den Schüſſeln, abermals folgenden Spruch ver - nehmen:
Worauf die Geſellſchaft Platz nahm, der Küſter obenan. Dieſer wurde von ſeiner Gravität nicht verlaſſen, wie die Küſterin nicht von ihrem Korbe, den ſie dicht neben ſich hinſtellte. Dagegen hatte die Paſtorsmagd den ihrigen anſpruchslos bei Seite geſetzt. Bei dem Mahle, welches aus wahren Ber - gen auf den Schüſſeln beſtand, wurde kein Wort geſprochen; der Küſter verſchlang in ernſter Hal - tung ungeheuer zu nennende Portionen, und die Frau blieb wenig hinter dem Manne zurück; am beſcheidenſten zeigte ſich in dieſem Puncte auch wieder die Magd. Was den Jäger betrifft, ſo382 beſchränkte er ſich faſt nur auf das Zuſehen; das heutige Ceremonialeſſen war nicht nach ſeinem Geſchmack.
Nach beendigtem Mahle ſagte der Küſter zu den beiden Mägden, welche dieſen Tiſch bedient hatten, feierlich ſchmunzelnd: Jetzt wollen wir denn, geliebt es Gott, die allhier erfallende Ge - bühr und den guten Willen in Empfang nehmen. Die Mägde hatten vorher ſchon den Tiſch abge - räumt und gingen jetzt hinaus, der Küſter aber ſetzte ſich auf einen Stuhl mitten in der Stube, die beiden Frauensperſonen, die Küſterin und die Magd, ſetzten ſich ihm rechts und links zur Seite, vor ſich die neugeöffneten Körbe. Nachdem die Erwartung, welche dieſe Drei ausdrückten, einige Minuten gedauert hatte, traten die beiden Mägde, begleitet von ihrem Herrn, dem Hofſchulzen, wie - der ein. Die Erſte trug einen Korb mit weit - läuftigem Flechtwerk oben, in welchem Hühner ängſtlich gackerten und mit den Flügeln pluhſterten. Sie ſtellte ihn vor den Küſter hin und dieſer ſagte, hineinſchauend und nachzählend: Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs; es iſt ganz richtig. Darauf zählte die zweite Magd aus einem großen Tuche383 ein Schock Eier in den Korb der Paſtorsmagd, und ſechs Stück runde Käſe, nicht ohne genaues Nachzählen des Küſters. Dieſer ſagte, als es ge - ſchehen war: So, nunmehro hätten der Herr Dia - conus das Ihrige; jetzunder käme der Küſter. — Ihm wurden in den Korb ſeiner Ehehälfte drei - zehn Eier und ein Käſe zugetheilt. Sie prüfte jedes Ei durch Schütteln und Geruch, ob es auch friſch ſei, und merzte zwei aus. Nach dieſen Ver - handlungen erhob ſich der Küſter und ſprach zum Hofſchulzen: Wie iſt es, Herr Hofſchulze, von wegen des zweiten Käſes, welchen Küſterei annoch vom Hofe zu gewärtigen hat? — Ihr wißt ſelbſt, Küſter, daß der zweite Käſe vom Oberhofe nimmer anerkannt worden iſt, verſetzte der Hofſchulze. Die - ſer angebliche zweite Käſe ruhte auf dem Bau - mannserbe, welches vor hundert und mehreren Jahren mit dem Oberhofe in einer Hand vereinigt war. Hernachmalen iſt die Trennung wieder eingetreten, und es haftet demnach hier auf dem Hofe nur ein Käſe.
Ueber des Küſters rothbräunliches Geſicht hatten ſich die ſtärkſten Falten gelagert, welche daſſelbe nur aufzutreiben vermögend geweſen war, und384 zerlegten es in mehrere bedenkliche Abſchnitte von viereckter, rundlichter, winklichter Geſtalt. Er ſprach: Wo iſt das Baumannserbe? Zerſplittert und zer - ſpellt wurde es in den unruhigen Zeitläuften. Soll Küſterei darunter leiden? Dem ſei nicht ſo. Jedennoch, unter ausdrücklichem Vorbehalt aller und jeder Rechtszuſtändigkeiten wegen des ſeit hun - dert und mehreren Jahren ſtrittigen, vom Oberhofe erfallenden zweiten Käſes, empfange ich und nehme ich hiemit an auch den einen Käſe. Sonach wäre die Zinsgebühr an Paſtor und Küſter abgeſtattet - und es käme nunmehr der gute Wille.
Dieſer beſtand in friſchgebackenen Rollkuchen, wovon ſechs in den Paſtorskorb und zwei in den des Küſters gelegt wurden. Hiemit war das ganze Empfangsgeſchäft beendigt. Der Küſter trat dem Hofſchulzen näher und ſagte folgenden dritten Spruch her:
Der Schulze machte darauf eine dankende Ver - beugung. Die Küſterin und die Magd trugen die Körbe hinaus und packten ſie auf den Wagen. Zu gleicher Zeit ſah der Jäger, daß die eine Hofes - magd aus dem Zimmer, worin der Geiſtliche geſpeiſt hatte, Schüſſeln und Teller auf den Flur trug, und ſie, indem Jener auf die Schwelle des Zim - mers trat, vor ſeinen Augen wuſch. Nachdem ſie dieſe Reinigung verrichtet, näherte ſie ſich dem Geiſtlichen, er holte aus einem Papiere eine kleine Münze und gab ſie ihr.
Der Küſter ließ ſich indeſſen den Eaffee ſchmecken, und da auch für den Jäger eine Taſſe hingeſtellt worden war, ſo ſetzte ſich dieſer zu ihm. Ich bin hier fremd, ſagte der junge Mann, und verſtehe zum Theil die Gebräuche nicht, welche ich heute geſehen habe; wollen Sie mir dieſelben nicht erklä - ren, Herr Küſter? Iſt es eine Verpflichtung, daß die Bauern den Herrn Diaconus in Naturalien unterhalten müſſen?
Verpflichtung in Betreff der Hühner, Eier und Käſe, nicht der Rollkuchen, welche der gute Wille ſind, jedoch auch jederzeit unweigerlich abgeſtattet werden, erwiederte der Küſter höchſt ernſthaft. Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 25386Zum Diaconat oder zur Oberpfarre in der Stadt ſind drei Bauerſchaften als Filiale eingepfarrt, und ein Theil der Pfarr - und Küſtereieinkünfte beſtehet in der Zinsgebühr, welche von den einzel - nen Hofesſtellen alljährlich erfället. Dieſe nun, wie ſie überall ſeit undenklichen Zeiten feſtſteht, einzuſammeln, halten wir per Jahr zwei Gänge, oder Fahrten, nämlich die gegenwärtige Sommer - oder kleine Fahrt, und dann die Winter - oder große Fahrt, kurz nach Advent. Bei der Sommer - fahrt erfallen die Zinshühner, die Zinseier und Zinskäſe, an dem einen Hofe ſo viel, an dem andern ſo viel; erſtere Rubrik, nämlich die der Hühner, erfället jedoch nur pro Diaconatu, Küſterei hat ſich mit Eiern und Käſen zu begnügen. — Im Winter erfallen die Kornzinſen an Gerſte, Hafer und Roggen; da kommen wir mit zwei Karren, weil eine die Säcke nicht zu faſſen vermöglich wäre. So halten wir denn zweimal per Jahr die Rund - fahrt durch die drei Bauerſchaften.
Und wohin geht die Reiſe von hier? fragte der Jäger.
Directe nach Hauſe, verſetzte der Küſter, knöpfte ſeinen Oberrock los und zog ein Federkiſſen hervor,387 welches er, ungeachtet der warmen Witterung zum Schutze ſeines Magens aufgelegt hatte. Nunmehr aber, nach der ſtarken Mahlzeit mochte ihm daſſelbe doch beſchwerlich fallen. — Gegenwärtige Bauer - ſchaft iſt die letzte, und gegenwärtiger Oberhof der letzte Hof in ſelbiger, auf welchem denn auch das herkömmliche Zinseſſen vor ſich geht, ſagte er.
Der Jäger bemerkte, daß, wie es ihm vorge - kommen, in der Mahlzeit, bei den Begrüßungen, bei der Empfangnahme der Lebensmittel, ja ſogar bei dem Waſchen der Teller und Schüſſeln eine vorherbeſtimmte Ordnung geherrſcht habe, worauf ſich der würdige Küſter, wie folgt, weiter verneh - men ließ: Allerdings; in Jeglichem bei dieſen Zins - fahrten iſt eine Obſervanz und ein ſtrictes Recht, von welchem nicht abgewichen werden darf. Mor - gens um ſechs Uhr rücken wir aus der Stadt aus, der Herr Diaconus, ich, meine Frau und die Paſtorsmagd. Vom Reymannskotten wird, jedoch auf höfliches Suchen und Erbitten, die Karre geſtellt, welche das liebe Gut läd’t, und der Colonus geht mit und verläßt den Herrn Diaconus nun und nimmer, ſetzt ſich auch, wie Sie geſehen haben, einzig und allein mit ihm zu Tiſch. Den erſten25*388Hühnerkorb nahmen wir aus der Stadt mit, da dieſer aber bei dem erſten Hofe ſchon voll wird, ſo leihet nunmehr letzterer einen neuen für den zweiten, und ſofort bis hieher. Der Colonus füt - tert hier ſeine Pferde mit einem Scheffel Hafer, der vom Balſtrup erhoben und mitgenommen wor - den iſt, und die Magd, welche die Teller und Schüſſeln vor den Augen des Herrn Diaconus wieder rein waſchen muß, erhält dafür ihre drei und einen halben Stüber, gleichfalls heute zu dieſem Zweck und Ende erfallen und empfangen auf dem kleinen Beek, Bauerſchaft Branſtedde.
Und die Sprüche, die Sie ſo laut und ver - nehmlich vortrugen, Herr Küſter, rühren dieſe auch von Alters her? fragte der Jäger.
Ja freilich, verſetzte der Küſter. Indeſſen, fuhr er wohlgefällig fort, habe ich Einiges, was darin an die finſtern Zeiten erinnerte, weggelaſſen oder verbeſſert, wie es ſich für die Gegenwart ſchicken will. So lautet der Text in der Dankſa - gungsrede eigentlich zum Schluß:
Dieſe unſchicklichen Reime habe ich nach und nach eingehen laſſen, indem ich Jahr für Jahr einen nach dem Andern bei mir behielt, oder ſo that, als ob ich den Huſten dabei kriegte, und was der - gleichen Anſchläge mehr waren, denn mit den Bauern muß man freilich bei allen Neuerungen langſam zu Werke gehen. Es hat doch Wider - ſpruch abgeſetzt, und Einige von den Dorfmicheln wollen durchaus dieſe Grobheiten nicht fahren laſſen, weil ſie ſagen, daß ſelbige einmal dazu gehören. Sie entrichten die Zinsgebühr nicht, wenn ich ihnen den Teufel und die ſchwere Noth nicht anwünſche; der Hofſchulze iſt darin vernünftiger.
Der Küſter wurde abgerufen, denn die Karre war angeſpannt, und der Geiſtliche nahm von dem Hofſchulzen und ſeiner Tochter, die jetzt eben ſo ehrerbietig und freundlich vor ihm ſtanden, wie bei allen übrigen Verhandlungen dieſes Tages, mit herzlichen Händedrücken und Worten Abſchied. Nun ſchwankte der Zug einen andern Weg, als den er gekommen war, zwiſchen Kornfeldern und hohen Wallhecken fort. Der Colonus mit der Peitſche vor ſeinen Pferden, die Karre langſam hinterdrein be - wegt, auf ihr jetzt außer den beiden Frauensperſonen390 der Küſter ſitzend zwiſchen den Körben, und der Fürſorge wegen wieder das Federkiſſen vor die Magengegend geſtopft.
Der Jäger hatte ſich bei der Abfahrt beſchei - dentlich zurückgehalten, war aber, als die Zinskarre ſich eine Strecke weit entfernt hatte, mit raſchen Sprüngen nachgeeilt, und fand den Diaconus, wel - cher ebenfalls hinter ſeinem eingeſammelten Gute zurückgeblieben war, auf einem anmuthigen Baum - platze ſchon ſeiner harren. Hier, frei vom Cere - moniell des Oberhofes, umarmten ſie einander, und der Diaconus rief lachend: Das hätten Sie wohl nicht gedacht, in Ihrem ehemaligen Bekannten, der in jener großen Stadt ſeinen jungen ſchwediſchen Grafen ſo ſäuberlich auf dem ſchlüpfrigen Boden der Wiſſenſchaft und des eleganten Lebens umher - führte, eine Figur wiederzufinden, welche Sie an Ehrn-Lopez in dem ſpaniſchen Pfarrer von Fletcher erinnern muß?
Ihr Küſter iſt, wenn auch kein luſtiger Diego, doch ein ganzer Mann, verſetzte der Jäger. Er hat mir wie ein wahrer Ceremonienmeiſter der Zinspflicht das ganze Ritual ausgelegt, und ſich bei dem Empfangen, Verwahren und Spruchſprechen391 mit ſolcher Würde und Klugheit benommen, daß ich ihn jedem bevollmächtigten Miniſter, welcher eine verwickelte Angelegenheit ſeines Hofes zu ſchlichten hat, als Muſter empfehlen möchte.
Ja, ſagte der Geiſtliche, das iſt heute ſein Eh - rentag, auf den er ſich ſchon ſechs Wochen vorher freut. Ueberhaupt giebt es unter den Küſtern noch viele komiſche Figuren, welche ſonſt ſo ſehr jetzt abnehmen. Das beſtändige Anhören hoher und erbaulicher Worte von ihrem Standpuncte der Dienſtbarkeit dabei, das Läuten, das Anſagen der Geburten und Sterbfälle giebt ihrem Weſen einen wunderſamen Schwung, mit welchem nun wieder ihr glücklicher Appetit, oder beſſer zu ſagen, ihre maaßloſe Freßgier ſeltſam contraſtirt. Denn da ſie zu Hauſe nicht viel zu beißen und zu brechen haben, ſo verſorgen ſie ſich auf Kindtaufen, Hochzeiten und Leichenſchmäuſen für ganze Wochen, und ver - ſchlingen die außerordentlichſten Portionen, aber immer mit einem Anſtriche von Salbung, und nicht ſelten die hellen Thränen der Mitfreude oder Mit - trauer in den Augen. Der meinige hat nun zu allen dieſen Standeseigenſchaften noch den Privat - charakter der Feigheit; er iſt ein ausgemachter392 Poltron und ich habe mit ihm auf einſamen nächt - lichen Wanderungen zu Kranken oder Sterbenden ſchon die luſtigſten Scenen erlebt.
Doch laſſen wir den Küſter und ſeine Narrhei - ten. Was die Procedur betrifft, welcher Sie heute beiwohnten, ſo iſt es unumgänglich nothwendig, daß ich mich ihr in Perſon unterziehe; mein ganzes Verhältniß zu den Leuten wäre gebrochen, wenn ich zu ekel wäre, die alte Sitte mitzumachen. Mein Vorgänger im Amte, der nicht aus hieſiger Gegend war, ſchämte ſich der terminirenden Fahrten, und wollte ſchlechterdings nichts damit zu thun haben. Was war die Folge davon. Er gerieth in die übelſten Zwiſtigkeiten mit dieſen Landgemeinen, welche ſelbſt auf den Verfall des Kirchlichen und des Schulweſens Einfluß hatten. Zuletzt mußte er gar um ſeine Verſetzung einkommen und ich nahm mir gleich vor, als ich die Pfarre erhielt, in allen Dingen mich nach Ortsgebrauch zu verhalten. Hie - bei habe ich mich denn bisher ſehr wohl befunden, und weit gefehlt, daß der Schein der Abhängigkeit, welchen mir dieſe Fahrten geben, meinem Anſehen ſchaden ſollte; es wird vielmehr dadurch erhöht und befeſtiget.
393Wie ſollte es auch anders ſeyn! rief der Jäger. Ich muß Ihnen geſtehen, daß bei dem ganzen Ein - hergange, ungeachtet alles Komiſchen, was Ihr Küſter darüber auszubreiten wußte, mich ein Gefühl der Rührung nicht verließ. Ich ſah in dieſem Empfangen der einfachſten leiblichen Gaben einer - ſeits, und in der Ehrfurcht, womit ſie anderſeits dargeboten wurden, gewiſſermaßen das frömmſte, ſchlichteſte Bild der Kirche, welche zu ihrem Beſtande des täglichen Brodes nöthig hat, und das Bild der Glaubigen, welche ihr das irdiſche Bedürfniß in der demüthigen Ueberzeugung, daß ſie damit ſich ein Höchſtes und Ewiges erhalten, darreichen, ſo daß weder auf der einen noch auf der andern Seite eine Knechtſchaft, vielmehr bei Beiden nur die Innigkeit des vollkommenſten Wechſelbezuges entſteht.
Es freut mich, rief der Diaconus, und drückte dem Jäger die Hand, daß Sie die Sache ſo anſe - hen, über welche vielleicht ein Anderer geſpöttelt haben würde, daher es mir, wie ich Ihnen nun geſtehen darf, im erſten Augenblicke auch gar nicht recht war, in Ihnen unvermuthet einen Zeugen jener Scenen zu finden.
394Gott bewahre mich, daß ich über etwas, was ich in dieſem Lande geſehen, ſpöttelte! verſetzte der Jäger. Ich freue mich jetzt, daß mich ein toller Streich zwiſchen dieſe Wälder und Felder geſchleu - dert hat, denn ſonſt würde ich die Gegend wohl nicht kennen gelernt haben, da ſie auswärts wenig in Ruf ſteht, und in der That auch nichts Anzie - hendes für abgeſpannte und überreizte Touriſten haben kann. Aber mich hat hier die Empfindung ſtärker, als ſelbſt in meiner Heimath angefaßt: Das iſt der Boden, den ſeit mehr als tauſend Jahren ein unvermiſchter Stamm trat! Und die Idee des unſterblichen Volkes wehte mir im Rau - ſchen dieſer Eichen und des uns umwallenden Fruchtſegens faſt greiflich möchte ich ſagen, ent - gegen.
Es ergaben ſich aus dieſer Aeußerung Reden zwi - ſchen dem Diaconus und dem Jäger, welche Beide führten, indem ſie der Karre langſam folgten.
Das unſterbliche Volk! rief der Diaconus. Ja, dieſer Ausdruck beſagt das Richtige. Ich ver - ſichere Ihnen, mir wird allemal groß zu Muthe, wenn ich der unabſchwächbaren Erinnerungskraft, edr nicht zu verwüſtenden Gutmüthigkeit und des geburtenreichen Vermögens denke, wodurch unſer Volk ſich von jeher erhalten und hergeſtellt hat. Rede ich aber von dem Volke in dieſer Beziehung, ſo meine ich damit die Beſten unter den freien Bürgern und den ehrwürdigen, thätigen, wiſſenden, arbeitſamen Mittelſtand. Dieſe alſo meine ich, und Niemand anders vor der Hand. Aus ihnen aber, und aus dieſer ganzen Maſſe haucht es mich wie der Duft der aufgerißnen ſchwarzen Ackerſcholle im Frühling an, und ich empfinde die Hoffnung396 ewigen Keimens, Wachſens, Gedeihens aus dem dunkeln, ſegenbrütenden Schooße. In ihm gebiert ſich immer neu der wahre Ruhm, die Macht und die Herrlichkeit der Nation, die es ja nur iſt durch ihre Sitte, durch den Hort ihres Gedankens und ihrer Kunſt, und dann durch den ſprungweiſe her - vortretenden Heldenmuth, wenn die Dinge einmal wieder an den abſchüſſigen Rand des Verderbens getrieben worden ſind. Dieſes Volk findet, wie ein Wunderkind, beſtändig Perlen und Edelſteine, aber es achtet ihrer nicht, ſondern verbleibt bei ſeiner genügſamen Armuth, dieſes Volk iſt ein Rieſe, wel - cher an dem ſeidenen Fädchen eines guten Wortes ſich leiten läßt, es iſt tiefſinnig, unſchuldig, treu, tapfer, und hat alle dieſe Tugenden ſich bewahrt unter Umſtänden, welche andere Völker oberflächlich, frech, treulos, feige gemacht haben.
Ich werde nicht, wie Le Vaillant die Tugen - den der Hottentotten auf Koſten der europäſchen Civiliſation herausſtrich, den Lobredner idylliſcher Ruſticität und kleinbürgerlicher Enge machen, ich fühle ſehr wohl, daß uns Allen durch den Um - ſchwung der Zeiten die Neigung zu glänzenden, geſchmackvollen Dingen, zu einer Art von Ariſto -397 cratie des Daſeyns mitangeboren iſt, welche außer - halb der Mittelverhältniſſe liegt, und von der wir uns, ohne an der Natürlichkeit unſeres Weſens Einbuße zu leiden, nicht losmachen können, aber ich muß doch Folgendes aus meiner eigenen Ge - ſchichte hier anführen. Ich war, da ich jenen jun - gen Vornehmen zu führen hatte, während ich noch ſelbſt der Führung gar ſehr bedürftig war, unter allen den geiſtreichen, eleganten, ſchillernden und ſchimmernden Geſtalten der Kreiſe, die mir durch mein damaliges Amt zugewieſen waren, eben ſo geiſtreich, halbirt, kritiſch und ironiſch geworden, wie Viele; genial in meinen Anſprüchen, wenn auch nicht in dem, was ich leiſtete, unbefriedigt von irgend etwas Vorkommendem, und immer in eine blaue Weite ſtrebend; kurz ich war dem ſchlim - meren Theile meines Weſens zu Folge, ein Neuer, hatte Weltſchmerz, wünſchte eine andere Bibel, ein anderes Chriſtenthum, einen andern Staat, eine andere Familie, und mich ſelbſt anders mit Haut und Haar. Mit einem Worte, ich war auf dem Wege zum Tollhaus, oder zur inſipideſten Phi - liſterei; denn dieſe beiden Ziele liegen meiſtens vor den Füßen der modernen Wanderer. Und da398 bin ich denn doch erſt hier zwiſchen den wunder - lichen aber achtbaren Originalen meiner Mittelſtadt und unter dieſen ländlichen Wehrfeſtern wieder zu mir ſelbſt gekommen, habe Poſto gefaßt, den Schaum der Zeit von mir weichen ſehen und Muth bekom - men, mir ein liebes häusliches Verhältniß zu grün - den. Denn in dem Volke ſind die Grundbezüge der Menſchheit noch wach, da iſt das richtige Verhältniß der Geſchlechter noch feſt ausgeprägt, da gilt das Geſchwätz noch nichts, ſondern das Gewerbe und der Beruf, den Jeder hat, da folgt der Arbeit in gemeſſener Ordnung die Ruhe, da iſt von den Vergnügungen das Vergnügen noch nicht verbannt. Hören Sie den Jubel in der Stadt oder auf dem Lande bei ſonntäglichen Tänzen, bei Hochzeiten und Scheibenſchießen, und urtheilen Sie, ob der Spaß ſobald in der Welt ausſterben wird, wie die grämlichen Jünglinge der Gegenwart mei - nen? Es giebt Müßiggänger, ſchlechte Ehen und böſe Weiber auch hier in Stadt und Land, aber ſie heißen bei ihren und nicht bei vornehm umge - bogenen Namen. Jene Miſchungen von Langeweile und Begeiſterung endlich, wie ſie mir einſt ein Freund treffend nannte, aus denen in den ſubli -399 mirten Kreiſen der Geſellſchaft manches Perverſe hervorgeht, und aus deren einer derſelbe Freund auch die blutige That der armen, ſchönen, bejam - mernswerthen Frau ableitete, deren Unglück darin beſtand, einen mittelmäßigen Dichter und großen Selbſtling geheirathet zu haben, liegen dem Volke ganz fern. Das ganze potenzirte und deſtillirte Genre, der Hermaphroditismus des Geiſtes und Gemüthes, welchen die Muße eines langen Friedens hie und da erzeugt hat, wird dem Stock und Stamm der Gemeinſchaft immer fremd bleiben.
In dieſer orthopädiſchen Anſtalt gerader und normaler Verhältniſſe legten ſich denn meine etwas verbogenen Glieder auch wieder zurecht. Freilich muß man in der Stille und Abgeſchiedenheit von den brauſenden Strömungen der Gegenwart auf ſich wachen, denn die Gefahr des Verbauerns ſteht auch nahe, indeſſen noch hange ich durch ſtille aber feſte Fäden mit dem Weltganzen zuſammen, nur mit dem Unterſchiede, daß ſie ſich jetzt bloß um die Gegenſtände ſchlingen, zu denen mich ein geiſti - ges Bedürfniß hinweiſt, während ich mir früher manches geiſtige Bedürfniß, wie es ſo Manche unſerer Zeitgenoſſen machen, einzubilden wußte.
400Der Jäger ging nach dieſer Rede des Diaco - nus ſchweigend und mit geſenktem Haupte neben ihm her. Was iſt Ihnen? fragte ſein Bekannter nach einer Pauſe.
Ach, ſagte Jener, Ihr Bild vom deutſchen Volke iſt wahr, und es macht mich nur traurig, daß theilweiſe über dieſer Grundfläche ein ſo wenig entſprechender Gipfel ſteht. Dieſes tüchtige Volk würde bei weitem mehr ausrichten, es würde weit entſchiedener Front machen, wenn in den höheren Ständen eine gleiche Tüchtigkeit lebte! Schlimm, daß ich, ich ſelbſt ſagen muß: Dem iſt nicht ſo.
Leider, erwiederte der Diaconus, ſind unſre höheren Stände hinter dem Volke zurückgeblieben, um es kurz und deutlich auszuſprechen. Daß es viele höchſt ehrenwerthe Ausnahmen von dieſer Regel gebe, wer wollte es läugnen? Sie befeſtigen aber eben nur die Regel. Der Stand als Stand hat ſich nicht in die Wogen der Bewegung, die mit Leſſing begann und eine grenzenloſe Erweiterung des ge - ſammten deutſchen Denkens, Wiſſens und Dichtens herbeiführte, getaucht. Statt daß vornehme Per - ſonen geboren ſind, die Patrone alles Ausgezeich - neten und Talentvollen zu ſeyn, halten bei uns401 noch viele Große das Talent für ihren natürlichen Feind, oder doch für läſtig und unbequem, gewiß aber für entbehrlich. Es giebt ganze Landſtriche im deutſchen Vaterlande, in welchen dem Adel, ein Buch zu leſen, noch immer für ſtandeswidrig gilt, und er ſtatt deſſen lärmende, nichtige Tage abhetzt, wie in den Zeiten jener Bürgerſchen Parforcejagd - Ballade. Das Auffallendſte hiebei iſt, daß ſelbſt nach der ungeheuren Lehre, welche die Weltkriege den Privilegirten ertheilt hatten, dieſe noch nicht eingeſehen haben, es ſei mit dem leeren Scheine nunmehr für immer vorbei, und der erſte Stand müſſe nothwendig ſich in ſich ſelber gründlich faſſen und reſtauriren. Es war ſeine erſte Obliegenheit, dieß zu begreifen, es war die Lebensfrage für ihn, ob er ſich mit dem Heiligthume deutſcher Geſin - nung und Geſittung nunmehr inniglich verbünden, allem wahrhaftquellenden geiſtigen Leben der Ge - genwart Schirm und Schutz geben möchte, damit das Zauberbad dieſes Lebens ſeine altersſtarren Glieder verjünge. Er hat ſeine Stellung und dieſe Frage nicht verſtanden, hat in allerhand kleinen Hausmittelchen ſeine Erkräftigung geſucht, und iſt darüber obſolet geworden. Nie und zu keiner ZeitImmermann’s Münchhauſen 1. Th. 26402hat ein Stand anders als durch Ideen exiſtirt. Auch den erſten haben Ideen geſchaffen und erhal - ten, anfänglich die der Kampfestapferkeit und Lehns - treue, demnächſt die der beſondern Ehre. Gegen - wärtig iſt durch die Errettung des Vaterlandes, welche von allen Ständen ausging, die höchſte Ehre ein Gemeingut geworden; weßhalb denn die oberen Stände das Protectorat des Geiſtes hätten übernehmen müſſen, wenn ſie wieder etwas Beſon - deres ſeyn und vorſtellen wollten.
Ich habe, ſagte der Jäger kleinlaut, in einer hohen und vornehmen Familie, die ich vor Kurzem auf meinen Streifereien kennen lernte, die zwan - zigjährigen Töchter auf gut Schwäbiſch mit der Iphigenie bekannt machen müſſen, welche ſie noch nie geleſen hatten, weil die Eltern Goethe für einen jugendverführeriſchen Schriftſteller hielten.
Und wer weiß, ob das Haupt dieſer Familie, welche ich übrigens nicht kenne, nicht einer von den Figuren iſt oder ſeyn wird, welcher man Bahnen der Cultur anvertraut? ſagte der Diaconus. Der unbefangene Beobachter hat in dieſer Hinſicht zu - weilen die erſchreckendſten Contraſte anzuſchauen. Nun müſſen Sie einräumen, daß ein franzöſiſcher403 Marquis oder Düc, von dem eine gleiche Barbarei gegen einen Claſſiker ſeiner Nation verlautete, in der Pariſer Societät für Lebenszeit verloren wäre.
Das Beiſpiel von Frankreich fordert hier von ſelbſt zur Frage auf, ſagte der Jäger. Wie kommt es nur, daß ſich dort ganz natürlich gemacht hat, was bei uns nie zu Stande kommen will, nämlich; ein beſtändiger Contact der Großen mit den Gei - ſtern und mit dem Geiſte der Nation, eine zarte Achtung vor dem geiſtigen Ruhme der Nation, und eine unbedingte Anerkennung der Literatur, als der eigentlichen Habe der Nation?
Die franzöſiſche Nation, ihr Geiſt und ihre Literatur haben und ſind Esprit, verſetzte der Diaconus. Der Esprit iſt ein Fluidum, welches die Natur unter den zu ſeiner Erzeugung günſtigen Vorausſetzungen an ganze Länder und Völker aus - theilen kann. Es iſt alſo dort in Frankreich eine natürliche Brücke von dem Volksgeiſte und von der Literatur zu dem Geiſte der vornehmen Claſſen geſchlagen, Letztere ergreifen in ihrem Intereſſe ohne Anſtrengung nur das ihnen Gleichartige. Wir haben keinen Esprit. Unſere Literatur iſt ein Pro - duct der Speculation, der freiwaltenden Phantaſie,26*404der Vernunft, des myſtiſchen Puncts im Menſchen. Die Gaben dieſer von Grundaus gehenden Arbeit des Geiſtes ſich anzueignen ſind eben nur wieder Geiſter, welche die Arbeit ſtählte, vermögend. Mit Leichtfertigkeit iſt deutſcher Art nicht beizukommen. Die Vornehmen arbeiten aber nicht gern, ſie ziehen es bekanntlich vor, zu ernten, wo ſie nicht geſäet haben. Deßhalb iſt es wieder natürlich — wenn auch das Verwerfungsurtheil über die Barbarei des erſten Standes bei Kräften ſtehen bleibt — daß er locker mit deutſchem Geiſte zuſammenhängt; zu einem näheren Bündniſſe hätte er ſich über Gebühr anſtrengen müſſen.
Zu läugnen iſt doch auch nicht, daß gerade durch die Abſonderung des deutſchen Geiſtes von dem Athem der hohen Societät ihm manche Tugen - den erhalten worden ſind, ſagte der Jäger; ſeine Friſche, ſeine eigenſinnige herbe Jungfräulichkeit, ſein rückſichtsloſes Um - und Vorgreifen. Denn jede Erfin - dung der ſchaffenden Seele, welche vor Augen haben muß, mit gewiſſen Forderungen der Geſellſchaft zu - ſammenzutreffen, wird nothwendigerweiſe mechani - ſirt. Unſere Wiſſenſchaft, unſere Philoſophie, unſere Literatur ſind Töchter Gottes und der Natur; mit405 welchen andern möchten ſie einen Tauſch ſolches Stammbaum’s eingehen?
Hier wurden dieſe Geſpräche von einem hef - tigen Schreien, ja Brüllen unterbrochen, welches ſich an der Zinskarre erhob. Hinzueilend ſahen ſie den Küſter in entſetzter Stellung, die Arme wie Wegweiſer ausgebreitet, das Geſicht braun und weiß geſprenkelt, den Mund wie Laocoon aufge - ſperrt. Um ihn her ſtanden die Frauensperſonen und der Colonus, der ſeine Karre zum Stehen gebracht hatte. Die Küſterin klopfte dem Küſter den Rücken, die Magd hatte ihm den Rock halb aufgeknöpft, aus welchem das Federkiſſen gefähr - lich hervorhing. Der Diaconus forſchte nach der Urſache des Auftritts und erfuhr von ſeiner Magd, (denn der Küſter war noch immer ſprachlos) daß der Küſter von der Karre abgeſtiegen ſei, um, wie er geſagt, der lieben Verdauung wegen etwas zu gehen, da ſei ein großer ſchwarzer Hund dicht an ihm vorbei quer über den Weg hinübergeſchoſſen, der Küſter habe aber ſofort jenes Geſchrei oder Gebrüll erhoben, ſo daß beinahe die Pferde ſcheu geworden ſeien.
In dieſem Augenblicke gab die Küſterin ihrem Manne, bei dem das Klopfen nicht verfangen406 wollte, mit den Worten: Wenn Alles bei der Maulſperre vergebens iſt, ſo hilft das! aus Lei - beskräften eine Ohrfeige. Alſobald flogen die Kinnbacken des entſetzten Mannes zuſammen wie Thorflügel, er wiſchte ſich die Thränen aus den Augen und ſagte zu ſeiner Frau: Ich danke dir, Gertrud, für dieſe Backpfeife, durch welche du mich von ſchweren Leiden curirt haſt. Und zum Diaconus ſich wendend: Ja, Herr Diaconus, ein wüthender, ein toller Hund! Schweif eingeklemmt, rothe und dabei triefende Augen, Schaum vor der Schnauze, blaue Zunge, heraushängend, taumeln - der Gang, kurz alle Kennzeichen der waſſerſcheuen Wuth!
Um Gotteswillen, wo hat er Euch gebiſſen? rief der Diaconus erblaſſend.
Nirgend, mein Herr Diaconus, verſetzte der Küſter feierlich, nirgend; dem Allmächtigen ſei Dank dafür. Aber wie leichtlich hätte er mich beißen können. Ich habe das Ungeheuer, wie An - dere einen grimmen Wolf durch Geigenſpiel in die Flucht ſchlugen, durch den Ton meiner Stimme, die mir Gott gegeben, verſcheuchet und verjaget, als es eben im Anſpringen auf mich begriffen war. 407Es ſtutzete und ſchwang ſich ſeitwärts die Wallhecke hinauf. Mir aber blieben von der übermenſchlichen Anſtrengung jenes heilſamen Angſtrufes die Kinn - backen in der Maulſperre verfangen und verfeſtiget, bis meine gute Ehefrau, wie Sie geſehen, mir die wirkſame Backpfeife verordnete. Das iſt ein Zins - tag, an welchen ich gedenken werde!
Der Diaconus und der Jäger hatten Mühe, ein Lachen zu verbeißen. Die Magd ſagte, ſie glaube nicht, daß der Hund toll geweſen ſei, er möge wohl nur ſeinen Herrn verloren gehabt haben, in welchem Falle die Creaturen ſich immer ſehr un - gebärdig anſtellten. Wirklich ſah man den Hund in einiger Entfernung auf einem Feldwege ruhig und ſchweifwedelnd hinter einem Packenträger her - gehen. Der Küſter, dem dieſe Bemerkung mitge - theilt wurde, ließ ſich nicht aus der Faſſung brin - gen, ſondern ſprach ernſthaft: Wie leichtlich hätte der Hund toll ſeyn können!
Der Diaconus ließ ihn und ſein Fuhrwerk ſich wieder in Bewegung ſetzen, und trennte ſich an dieſer Stelle von dem Jäger, da, wie er ſagte, ihr Geſpräch doch geſtört ſei, und der Colonus es ihm verdenken werde, wenn er deſſen Geſell -408 ſchaft auf dem ganzen Heimwege meide. Bei dem Abſchiede mußte der junge Schwabe ſeinem Be - kannten das Verſprechen geben, ihn auf einige Tage in der Stadt zu beſuchen. Darauf gingen ſie nach verſchiedenen Richtungen aus einander.
Die Sonne ſtand noch hoch am Himmel, und dem Jäger war es nicht gelegen, ſo früh in den Oberhof zurückzukehren. Er trat auf eine der höchſten Wallhecken, ſah ſich in der Gegend um und meinte, daß er eine Hügelgruppe, welche in gerin - ger Entfernung ihre buſchichten Häupter erhob, wohl noch durchſtreifen und doch vor ſpät Abends wieder in ſeinem Quartiere ſeyn könne. Das Wiederfinden des Diaconus und ſein Geſpräch hatte manche Erinnerungen der früheren Zeiten in ihm aufgeweckt; er war unruhig und ſehnte ſich in dieſer Stim - mung nach Pfaden, die er noch nicht betreten, nach Bergen und Bäumen, an deren Anblick er ſich noch nicht gewöhnt hatte. Tief, tief ſeine heiße Seele410 in das kühle Waldesdunkel, in den feuchten Dunſt bemooſter Felſen, in den begeiſteten Schaum ſprin - gender Quellen zu tauchen, danach lechzte er; danach ſchmachtete er aus der brütenden Wärme der Korn - felder.
Der Anblick des Diaconus hatte ihm wohl und wehe gemacht; ihre erſte Bekanntſchaft war durch die unerſchrockene Gymnaſtik des Geiſtes, in wel - cher die Jugend ihre erſten überſchwellenden Kräfte zu tummeln liebt, bezeichnet geweſen. Jener, älter, und wie erwähnt worden, ſchon Führer eines jun - gen vornehmen Schweden, hatte ſich dennoch als ein immer fertiger Disputant und Opponent zu den Studenten gehalten, und manche Stunde der Mitternacht war dem Jäger mit ihm in eifrigem Kämpfen und Ringen vergangen. — Ja, rief er, indem er immer fürbaß den Hügeln zuſchritt, du, mein deutſches Vaterland, bleibſt doch der ewig geweihte Heerd, die Geburtsſtätte des heiligen Feu - ers! Ueberall, auf jedem Fleckchen in dir wird dem Dienſte des Unſichtbaren geopfert, und der Deut - ſche iſt ein Abraham, der dem Herrn den Altar baut allerwege, wo er auch nur die Nacht über geraſ - tet hat. — Er gedachte der Reden ſeines Bekannten411 und der Situation, in welcher ſie vorgefallen waren. — Das wird auch anderwärts nicht vorkom - men, daß ein armer Paſtor, hinter ſeiner Hühnerkarre herſchreitend, ſich an der unſterblichen Idee der Nation begeiſtert, ſagte er. Lächerlich und erhaben! Lächer - lich, weil das Erhabene auch durch das Aermlichſte und Kleinſte bei uns hindurchſieht und die Formen des Geringen ſiegreich zerbricht! Wie reich biſt du, mein Vaterland!
Sein Fuß betrat friſches, feuchtes Wieſengrün, beſäumt von Büſchen, unter denen ein klares Waſ - ſer rann. Dieſer vollen, geſunden, jungen Seele thaten noch ſymboliſche Handlungen Noth, ſich und ihrem Drange zu genügen. In kurzer Entfernung zeigten ſich kleine Felſen, über die ein ſchmales, ſchlüpfriges Pfädchen lief. Er ging hinüber, klomm zwiſchen den Klippen nieder, ſtreifte den Aermel auf, ritzte das Fleiſch ſeines Armes und ließ das Blut in das Waſſer rinnen, indem er ein ſtilles, frommes Gelübde ohne Worte ſprach. Er legte den Arm in das Waſſer, die Fluth kühlte ihm mit anmuthigem Schauder das heiße Blut ab. So, halb knieend, halb ſitzend an den feuchten, dunkeln, umklippten Orte blickte er ſeitwärts in412 das Offene; da wurden ſeine Augen von einer prachtvollen Erſcheinung gefangen genommen. Zwi - ſchen den Gräſern waren alte Baumtrümme ver - weſet und ſtarrten ſchwarz aus dem umgebenden luſtigen Grün. Einer derſelben war ganz ausge - höhlt, in ſeinem Inneren hatte ſich der Moder zu brauner Erde niedergeſchlagen, und aus dieſer und aus dem Trumm, wie aus einem Crater, blühte die herrlichſte Blume empor. Ueber dem Kranze ſanfter runder Blätter erwuchs ein ſchlanker Sten - gel, der große Kelche von unnennbar ſchöner Röthe trug. Tief in den Kelchen ſtand ein geflammtes zartes Weiß, welches in leichten grünen Aederchen nach dem Rande zu auslief. Es war offenbar keine hieſige, es war eine fremde Blume, deren Samenkorn, wer weiß, welcher? Zufall in den durch die Verweſungskräfte der Natur bereiteten Gartenboden getragen, und eine günſtige Sommer - ſonne auch hier zum Wachſen und Blühen gebracht hatte.
Der Jäger erquickte ſein Auge an dieſem rei - zenden Anblicke, der ihn belohnte, als er das Ge - lübde gethan hatte, mit Leib und Seele dem Vater - lande angehören und Zeitlebens keine Götter413 haben zu wollen, als die heimiſchen. Trunken von der Magie der Natur lehnte er ſich zurück und ſchloß in ſüßen Träumereien die Augen. Als er ſie wieder öffnete, hatte ſich die Scene ver - ändert.
Ein ſchönes Mädchen in einfachem Gewande, den Strohhut über den Arm gehängt, kniete vor der Blume, hielt deren Stengel zärtlich, wie den Hals des Geliebten umſchlungen, und blickte, die holdeſte Freude der Ueberraſchung in den Augen, tief in einen der rothen Kelche. Sie mußte, wäh - rend der Jäger zurückgebeugt lag, leiſe herbeige - kommen ſeyn. Ihn ſah ſie nicht; die Klippen verdeckten ihn, und er hütete ſich wohl, eine Bewe - gung zu machen, welche ihm die Erſcheinung ver - ſcheuchen konnte. Aber, als ſie nach einer Weile athmend von dem Kelche emporſchaute, fiel ihr Blick ſeitwärts in das Waſſer, und ſie gewahrte den Schatten eines Mannes. Nun ſah er ſie ſich verfärben, die Blume aus ihren Händen entlaſſen, übrigens aber regungslos auf den Knieen bleiben. Er erhob ſich mit halbem Leibe zwiſchen den Klip - pen, und vier junge, unſchuldige Augen trafen einander mit feurigen Strahlen. Nur einen Au -414 genblick! denn alſobald ſtand das Mädchen, Gluth im Antlitz, auf, warf den Strohhut über das Haupt und war mit drei raſchen Schritten hinter den Büſchen verſchwunden.
Er kam nun auch aus den Klippen hervor und ſtreckte den blutigen Arm nach den Büſchen aus. War der Geiſt der Blume lebendig gewor - den? Er ſah dieſe wieder an, ſie wollte ihm nicht mehr ſo ſchön bedünken, wie wenige Augenblicke zuvor. Eine Amaryllis, ſagte er kalt, ich erkenne ſie jetzt, ich habe ſie im Gewächshauſe. Sollte er dem Mädchen nachfolgen? Er wollte es, eine geheime Scheu feſſelte aber ſeinen Fuß. Er faßte an ſeine Stirne; geträumt hatte er nicht, das wußte er, und das Ereigniß, rief er endlich mit einer Art von Anſtrengung, iſt auch ſo abſon - derlich nicht, daß es geträumt werden müßte! Ein hübſches Mädchen, die des Weges daherkommt und ſich auch an einer hübſchen Blume erfreut, das iſt das Ganze!
Er ſtrich zwiſchen unbekannten Bergen, Thälern Geländen umher, ſo lange ihn die Füße tragen wollten. Endlich mußte er an den Rückweg den - ken. Spät, im Dunkeln, und nur mit Hülfe eines415 zufällig gefundenen Führers erreichte er den Ober - hof.
In dieſem brummten die Kühe, der Hofſchulze ſaß auf dem Flure mit Tochter, Knechten und Mägden zu Tiſche und wollte moraliſche Geſpräche beginnen. Aber dem Jäger war es unmöglich, darauf einzugehen, es kam ihm Alles verwandelt, roh und ungefüge vor. Er ſuchte raſch ſeine Stube, nicht wiſſend, wie er noch länger in das Ungewiſſe hin hier werde verweilen können. Ein Brief, den er oben von ſeinem Freunde Ernſt aus dem Schwarzwalde fand, vermehrte noch ſein Mißbehagen.
In dieſer Stimmung, welche einen Theil der Nacht dem Schlummer raubte und die ſich ſelbſt am folgenden Morgen noch nicht verloren hatte, war es ihm ſehr erwünſcht, daß ihm der Diaconus ein kleines Wägelchen ſchickte, ihn nach der Stadt abzuholen.
Schon von weitem zeigten Zinnen, hohe Mauern und Baſtionen, daß der Ort, einſt ein mächtiges Glied im Bunde der Hanſa, ſeine große, wehrhafte Zeit gehabt habe. Der tiefe Graben war noch vorhanden, wenn gleich zu Baumpflanzungen und Küchengärten416 verwendet. — Sein Fuhrwerk bewegte ſich, nachdem das dunkle, gothiſche Thor durchfahren war, etwas mühſam auf dem zerſchrotenen Steinpflaſter und hielt endlich vor einer freundlichen Wohnung, an deren Schwelle ihn ſchon der Diaconus empfing. Er trat in einen heitern, behaglichen Haushalt ein, belebt von einer munteren, hübſchen Frau, und einem Paar lebhafter Knaben, die ſie ihrem Eheherren geboren hatte.
Nach dem Frühſtück machten ſie einen Gang durch die Stadt. Die Straßen waren ziemlich menſchenleer. Zwiſchen alten Schwiebbögen, Thürm - chen, Kragſteinen, Fragmenten von Steinfiguren zeig - ten ſich[nicht ſelten] Sumpfſtellen, Baumplätze, Gras - flecke. Um ein altes Gebäude, mit vier zierlichen Spitzſäulen an den Ecken und einer Kränzung von Rauten und Roſen aus Sandſtein ſprang ein muth - williges Wäſſerchen; Epheu und wilder Wein hatte ſich in den Ritzen des Mauerwerks einge - niſtet. Ringsumher die tiefſte Einſamkeit. Iſt es nicht, als ob man den Geiſt der Geſchichte leib - haftig weben und ſpinnen ſieht? ſagte der Jäger an dieſer oder einer anderen ihr ähnlichen Stelle. Ja, verſetzte der Diaconus, man wird hier, wie417 von ſelbſt, zum Alterthume hingeführt, und eine erinnernde Stimmung bemächtigt ſich der Seele. Dazu kommt, daß auch ein Theil der Bevölkerung aus menſchlichen Ruinen beſteht.
Wie ſo? fragte der Jäger.
Weil es hier ſehr wohlfeil leben iſt, ferner wegen der Stille des Orts und vielleicht auch we - gen ſeiner dem menſchlichen Alter ähnlichen Phy - ſiognomie ziehen ſich hieher viele bejahrte Leute aus Amt und Geſchäft zurück, ihre letzten Tage unter dieſem verwitternden Gemäuer zuzubringen, ſagte der Diaconus. Greiſer Beamten und Offi - ziere, welche hier ihre Penſionen verzehren, betagter Rentner, welche das Comptoir jüngeren Händen überlaſſen haben, giebt es hier eine Menge. Wenn nun auch Viele dieſer Ausruhenden nur langwei - lige alte Tröpfe ſind, ſo ſtößt man doch auch auf Manchen, der ſich umgethan hat, einen reichen Schatz von Erfahrung bewahrt und von dem man Dinge zu hören bekommt, die nicht ſo allgemein bekannt ſind. So erzählen gewiſſermaßen die ſtei - nernen Trümmer Geſchichte und die Menſchentrüm - mer, welche darunter umherwanken, Memoiren. Hier ſollen Sie gleich ein ſolches Fragment kennenImmermann’s Münchhauſen 1. Th. 27418lernen, einen alten Hauptmann; nur bitte ich Sie, widerſprechen Sie ihm in nichts, denn Widerſpruch kann er nicht ertragen.
Er klingelte an der Thüre eines ziemlich gut ausſehenden Hauſes, welches hinter Kaſtanien beſchattet lag, ein Diener öffnete und führte mit ſteifer militairiſcher Haltung den Beſuch in ein Zimmer, welches von Sauberkeit glänzte. Dann ging er den Herrn zu rufen, welcher, wie er ſagte, die Hühner füttere. Der Diaconus blickte ſich flüchtig im Zimmer um und ſagte dann raſch zum Jäger: Der Hauptmann iſt heute Franzöſiſch, alſo um Gotteswillen keine patriotiſche deutſche Auf - wallung, er mag vorbringen, was er will! Der Jäger hatte ſich gleichfalls im Zimmer umgeſehen. Alles athmete darin das Andenken an die Thaten des Empire. Napoleon ſtand als ganze Figur im bekannten Oberrocke, die Arme gekreuzt, auf dem Schreibſchranke, außerdem war er mehrmals in Büſten und Medaillons vorhanden. Da hing Mü - rat in dem bekannten Theatercoſtüme zu Roß, Eugen, Ney, Rapp. Es fehlte nicht der General bei dem Beſuche der Peſtkranken zu Jaffa, der erſte Conſul zu St. Cloud und der Kaiſer bei dem Abſchiede419 von den Garden zu Fontainebleau. Viele, dieſen gemäße Darſtellungen reihten ſich ihnen an. In einer Ecke des Zimmers ſah der Jäger ein Bücher - brett mit den Werken von Segur, Gourgaud, Fain, LasCaſes und Andern, welche zu dieſer Autoren - Reihe gehörten.
Dennoch hatte er die Mahnung ſeines Beglei - ters nicht ganz verſtanden und wollte ihn eben um nähere Erläuterung bitten, als der Hauptmann das Zimmer betrat. Es war ein ältlicher Herr in blauem Oberrock, das rothe Band im Knopfloch. Durch das hagere Geſicht zogen ſich unzählige Runzeln und auch einige Schmarren. Er begrüßte ſeine Gäſte mit trockener Höflichkeit, lud ſie zum Sitzen und ließ ſich den Namen der Jägers nen - nen, den der Diaconus ohne Arg ausſprach, ehe ſein Träger es verhindern konnte. Ich habe, ſagte der Hauptmann, indem er nachſann, Einen dieſes Na - mens bei den Würtembergern in Rußland gekannt. Der Zufall führte uns mehrmals zuſammen, bei Smolensk geriethen wir beide in Gefangenſchaft, halfen uns aber bald wieder heraus.
Das war mein Oheim, erwiederte der Jäger. — Dieſe Entdeckung gab ihm ſogleich einen näheren27*420Bezug zu dem Hauptmann, deſſen ganzes Geſicht ſich erheiterte. Er drückte dem Neffen ſeines alten Cameraden die Hand und ließ ſich nun in ſeinen Kriegeserinnerungen bis zur Schlacht von Leipzig ungemeſſen gehen. Dort aber bekamen ſie einen Halt und ſtockten, ſo zu ſagen, hinter einem Schlagbaume, über den ſie nicht hinwegſprangen. Am Schluſſe ſeiner Erzählungen ſagte er: Es iſt um einen großen Mann eine eigene Sache, und die Menſchheit ſchaufelt ſein Bild aus dem Schutte hervor, mag das Unglück dieſen noch ſo hoch über ihm aufgethürmt haben. Was haben alle die Siege, die zweimal nach Paris führten, den Siegern in Betreff des Nach - ruhmes geholfen? Nichts. Es ſind Thatſachen geblieben, die alle Welt kalt anhört und weiter erzählt, aber der Kaiſer, der Kaiſer bleibt die ein - zige Geſtalt jener Tage. Er hat die Menſchen gequält, und dennoch vergöttern ſie ihn, ei, ein wenig Qual iſt dem Menſchengeſchlechte nützer als allzuſchlaffes Wohlleben! Wahrlich, wahrlich, ich ſage Euch: An den gußeiſernen Monumenten mit den ſpitzigen Kirchendächern werden die Invaliden wachen und die Gegitter den reiſenden Englän - dern aufſchließen, aber nur an der Vendomeſäule421 werden jeden fünften Mai friſche Immortellen liegen.
Der Diaconus erhob ſich; der Hauptmann fragte, ob er den Fremden nicht noch anderweit zu ſehen bekomme, was der Diaconus bejahte, da, wie er hinzufügte, ſein junger Freund ihm das Vergnügen machen werde, an der gelehrten Geſell - ſchaft Theil zu nehmen. In ihr hoffen wir dieß - mal ſtark auf Sie, liebſter Hauptmann, ſagte er. — Ich werde Euch aus den Papieren meines ſeligen Freundes einen Beitrag liefern, welcher Euch zei - gen ſoll, welche Jüngelchen den großen Kaiſer geſchlagen haben wollen, verſetzte der Hauptmann ironiſch.
Das iſt ja ein wüthender Bonapartiſt, ſagte der Jäger draußen zum Diaconus. Tageweiſe, ver - ſetzte dieſer. Johann, können Sie uns nicht das preußiſche Zimmer zeigen? mit dieſen Worten wandte er ſich an den begleitenden Diener. Der Menſch ſah ſich ängſtlich um, nach einigem Schwei - gen antwortete er: Der Herr wird wohl gleich ausgehen; treten Sie nur ſacht hinein, ich will hier auf Poſten bleiben. — Der Diaconus ging mit ſeinem Gaſte über den Flur nach der andern Seite422 des Hauſes und that ihm ein Zimmer auf, vor deſſen Fenſtern Weinranken einen grünen Schim - mer verbreiteten und welches eine anmuthige Aus - ſicht auf blühende Gartenbeete hatte. Das Erſte, was dem Jäger auffiel, weil es der Thüre ge - rade gegenüber ſtand, war ein Tropäon auf hohem Poſtamente, zuſammengefügt aus Kanonen, Waffen, Fahnen, Kriegesgeräth. An dem Poſtamente glänz - ten in goldenen Ziffern die Jahreszahlen 1813, 1814, 1815 und über dem Tropäon an der Wand prangten in einer Einfaſſung von goldenen Sternen die Namen der Befreiungsſchlachten auf weißem Grunde. Die Wände dieſes Zimmers waren von den Büſten der verbündeten Herrſcher und ihrer Feldherrn geſchmückt. Da ſah man den Abſchied der Freiwilligen, Blücher und Gneiſenau in ihren Regenmänteln nach der Schlacht an der Katz - bach über die Haide reitend, den Einzug in Paris, die Plane von Leipzig und Belle-Alliance. Und um den ſymmetriſchen Gegenſatz zu dem franzöſiſchen Zimmer zu vollenden, ſo fehlte auch hier eine kleine Sammlung von Kriegsbü - chern nicht, von Deutſchen in deutſchem Sinne geſchrieben.
423Nun ſagen Sie mir, was bedeutet das? fragte der Jäger, welcher die Gegenſtände umher mit Verwunderung betrachtete. Iſt Ihr Hauptmann ein Amphibium? — Ein Stück davon, erwiederte der Diaconus. Ich höre eben die Thüre klinken, er hat das Haus verlaſſen, ich kann Ihnen mit Muße die Contraſte auslegen, über welche Sie erſtaunen.
Er nöthigte ſeinen Gaſt auf ein Canapé, dann fuhr er ſo fort: Unſer Hauptmann iſt ein recht - winklichter, ſchroffer und unvermiſchter Charakter. Deßhalb haben ſich ſeine Erinnerungen wie zwei mathematiſche Figuren aus einander gelegt. Er diente bei den Franzoſen mit großer Auszeichnung; Sie haben geſehen, daß ihm unter jenen Adlern das rothe Band zu Theil geworden iſt. Nach der Schlacht von Leipzig wurde ſein Corps aufgelöſt, er war als Deutſcher ſich ſelbſt und den vaterländiſchen Verhält - niſſen zurückgegeben. Indem nun das Kriegsgetüm - mel weiter raſte, und alle Welt gen Frankreich zog, wäre es unnatürlich geweſen, wenn der alte Degen hätte zurückbleiben ſollen; er nahm daher preußi - ſche Dienſte, und kämpfte mit ſo vielen andern Tauſenden nun auf derſelben Seite, welche er noch424 vor wenigen Monaten zu vernichten ſich beſtrebt hatte. Auch unter dieſen Fahnen war ſeine Tapferkeit belobt, namentlich ſoll er ſpäterhin in den mörderiſchen niederländiſchen Schlachten wie ein Löwe geſtritten haben. Er empfing zu dem Kreuze der Ehrenlegion das eiſerne, jenem ſo feindlich gewordene.
Nach dem Frieden blieb er nur noch kurze Zeit im Heere; ſeine Strapazen und Wunden hatten ihn mürbe gemacht. Hieher zog er ſich mit ſeiner Penſion zurück, welche ihm ein anſtändiges Aus - kommen gewährte. Indem nun Jedermann um ihn her in den wiedererworbenen weſtlichen Theilen des Vaterlandes ſich mit ſeinen Gefühlen einzu - richten wußte, die Sympathien des geſtürzten Reichs und der neuen Deutſchheit amalgamirte, oder we - nigſtens zuſammenſchweißte und löthete, wollte es unſerem armen ſtörrigen Hauptmann nicht ſo wohl gelingen. Den Degen in der Fauſt hatte er ohne Reflexion darauf losgeſchlagen, für oder wider; aber in der Muße und im Nachdenken des Frie - dens überfiel ihn eine Spaltung und Verwirrung, welche ihn faſt toll machte. Er konnte es nicht in ſich beherbergen, daß er binnen Jahresfriſt ein425 tapferer Franzoſe und ein tapferer Preuße geweſen ſeyn ſollte, daß er bis zum October „ la perfidie du cabinet de Berlin “habe züchtigen und nach dem October das Vaterland retten helfen. Mit ſeltſamen Blicken betrachtete er die beiden Orden, die ſtreitbaren Löwen, welche wie friedliche Lämmer neben einander auf ſeiner Bruſt ruhten. Er ſtieß Reden aus und verübte Handlungen, die ſeinen Bekannten bange um ihn machten.
Ich weiß von dieſen Dingen nur durch Andere, denn ich war damals noch nicht hier. Möglich, daß der Zuſtand durch die Nachwirkung ſeiner Kopf - wunden und des ruſſiſchen Eiſes befördert worden iſt, doch bin ich überzeugt, daß die Urſache deſſel - ben im Geiſtigen, in dem Leiſten - und Fachartigen ſeines ehrenwerthen Sinnes gelegen hat. Endlich nahm ſich ein Fieber ſeiner an, machte ihm Leib und Seele frei. Unmittelbar nach der Herſtellung richtete er die ſonderbare Lebensweiſe ſich ein, deren Zeichen und Spuren Ihnen aufgefallen ſind, und in dieſer habe auch ich ihn erſt kennen gelernt.
Er ſtiftete nämlich militairiſche Ordnung in ſeinen Erinnerungen und theilte ſie, ſo zu ſagen, in zwei abgeſonderte Corps ein, die für ſich agiren. 426Eine Zeitlang iſt er Franzoſe und ganz verſenkt in die Herrlichkeit der Napoleoniſchen Zeit, dann wird er wieder eine Zeitlang eben ſo entſchiedener Preuße und Lobredner des Aufſchwungs jener gro - ßen Epoche der Volksbewegung. Dieſe Phaſen treten abwechſelnd ein, jenachdem ihn eine Vorſtel - lung, die dem einen oder andern Kreiſe angehört, in Beſchlag nimmt, und ſie dauern ſo lange, bis der Stoff der Vorſtellung ſich abgeſponnen hat. Es verſteht ſich, daß er auch immer nur einen Orden, entweder den Preußiſchen, oder den Fran - zöſiſchen trägt. Dieſem Turnus gemäß hat er denn auch die beiden abgeſonderten Wohngelaſſe ſich ausgerüſtet, und neben jedem ein beſonderes Schlafgemach. Drüben unter den Marſchällen bringt er zu, wenn er Franzoſe iſt, und hier bei den Tro - päon verweilt er, wenn er die preußiſchen Tage hat. Nicht wahr, wir beſitzen hier zu Lande gute Ori - ginale?
In der That, verſetzte der Jäger, man fühlt ſich bei Ihnen wie in der Welt des Triſtram Shandy. Uebrigens kann ich nicht ſagen, daß mir die Manier des guten Hauptmanns, ſo barock ſie auch ausſieht, gerade unvernünftig vorkäme. Man -427 cher Deutſche, welcher eine geraume Zeit lang ſelbſt nicht gewußt hat, was er eigentlich war, Franzoſe oder Deutſcher, würde durch ſie ſeinen Charakter reiner und einfacher erhalten haben. — Wie das Gemüth ihm unbewußt einen Streich ſpielte! Zu dem vaterländiſchen Zimmer erwählte er das beſtgelegene mit grüner lieblicher Ausſicht, während das Franzöſiſche unerquicklich an der kah - len, öden Straße liegt.
In einem Puncte iſt der Hauptmann höchſt achtbar, ſagte der Diaconus, in dem, daß, wenn auch ſeine Fantaſie Tage - und Wochenweiſe an den fremden Erinnerungen haftet, dennoch nie der leiſeſte Wunſch nach der Zeit des allgemeinen Elends in ihm aufkeimt. Für unſere gelehrte Geſellſchaft iſt er vom größten Nutzen, denn er beſitzt einen wahren Schatz an einem Hefte perſönlicher Denk - würdigkeiten eines verſtorbenen, ihm innigſt ver - bunden geweſenen Freundes, eines Offiziers.
Man lernt aus denſelben das Kleinleben des Krieges kennen, was die eigentlichen Geſchichtsbü - cher, Schlachtbeſchreibungen und militairiſchen Be - richte gar nicht enthalten, und weil ein Menſch von hinreißendem Gefühl und treuer Beobachtungs -428 gabe jene unbefangenen Notizen aufgeſchrieben hat, ſo iſt mir nicht ſelten bei einzelnen Parthien zu Muthe geworden, als rolle ſich vor mir eine neue Ilias und Odyſſee ab. Wenigſtens leidet und handelt darin der Einzelne trotz des paſſiven Ge - horſams und der mechaniſchen Kriegsführung unſerer Tage, wie ein homeriſcher Held. Von dieſen Denk - würdigkeiten lieſt nun zuweilen der Hauptmann in unſerer Geſellſchaft Abſchnitte vor.
Der Jäger erkundigte ſich nach der gelehrten Geſellſchaft, deren Daſeyn er in dieſer Stadt nicht vermuthet hatte, und der Diaconus erzählte ihm, indem er ihn aus dem Hauſe des Hauptmanns weiter durch die Stadt führte, lächelnd und heiter von ihrer eigenthümlichen Geſtalt, ihren Geſetzen und ihren productivſten Mitgliedern, unter denen außer einem Dichter ein Sammler und ein Rei - ſender von Profeſſion vorkamen. Er ſagte ihm, daß er ihm ſchon deßhalb heute den Wagen geſchickt habe, damit er einer Sitzung beiwohnen könne, die auf den Abend beſtimmt worden ſei und ihm viel - leicht einige angenehme Stunden bereite.
Unter dieſen Geſprächen waren ſie zu einem geräumigen Wieſenplatze gekommen, welcher aber429 gleichwohl noch innerhalb der Ringmauern der Stadt lag. Auf demſelben erhob ſich eine alte gothiſche Kirche, grün wie die Wieſe. Der Jäger konnte an ihrem Anblicke ſein Auge nicht erſättigen. Theils war ſchon die Farbe des Sandſteins, wie ſie bezeichnet worden, äußerſt eigen; theils aber hatte die Natur auch ihr willkührlichſtes Spiel mit dem lockeren und mürben Material getrieben, und in dem reichen Pfeiler - und Schnitzwerk, an den Kanten und Ecken durch Regenſchlag und Näſſe ganz neue Figurationen hervorgebracht, ſo daß das Gebäude wenigſtens ſtellenweiſe ausſah, als ſei es nicht aus des Menſchen, ſondern aus ihrer Hand hervorgegangen. — Wie ſonderbare Symbole wer - den oft um uns hergeſtellt! rief der Jäger. Hier ſteht die Kirche, an welcher, mindeſtens an deren Ornamenten ſich nicht unterſcheiden läßt, was davon der Baumeiſter gewollt, und was Zeit und Wetter hinzugefügt haben, und geſtern erſchien mir an einer Blume im Walde ein ſchönes Mädchen.
Der Diaconus fragte näher nach, und der Jä - ger erzählte ihm mit glänzenden Augen und beweg - ter Stimme ſein Waldabentheuer. Nach Ihrer Beſchreibung zu urtheilen, ſind Sie mit der blonden430 Lisbeth zuſammengetroffen, ſagte Jener. Das liebe Kind ſtreift im Lande umher, ihrem alten faſeln - den Pflegevater Geld zu verſchaffen; ſie war auch bei mir vor einigen Tagen, wollte ſich aber nicht verweilen. Wenn ſie es war, ſo hat Ihnen die Natur wirklich ein Symbol gezeigt, denn auch das Mädchen iſt in Moder und Verfall aufgeblüht, wie Ihre Wunderblume aus dem alten Baumtrumm. Ueber ihr halten ſchirmende Geiſter die Hände, ſie iſt das liebenswürdigſte Aſchenbrödel und ich wün - ſche ihr nur den Prinzen, der ſich in ihren kleinen Schuh verliebt.
Auf dem Rückwege ſollten der Sammler und der Reiſende beſucht werden, Beide waren aber nicht zu Hauſe. In der Wohnung des Diaconus hatten ſich dagegen bei der Frau mehrere Freun - dinnen eingefunden, anſcheinend zufällig, eigentlich jedoch wohl in der Abſicht, den jungen hübſchen Fremden in Augenſchein zu nehmen. Sein mun - teres trauliches Weſen brachte ihn bald mit allen den Frauenzimmern, unter denen keine einzige Häß - liche war, in naive Berührung, und es ſchadete ihm bei ihnen nicht, daß ſie hin und wieder über ſeine Ziſchlaute heimlich lächeln mußten.
431Er hatte ſich bei Tiſche ſeiner Verſchwiegenheit gerühmt. Als man aufgeſtanden war, zog ihn die Wirthin raſch bei Seite und flüſterte ihm zu: Sagen Sie den Beiden — ſie zeigte auf zwei ihrer Freundinnen, welche zum Eſſen geblieben waren — nichts vom heutigen Abende, es ſoll daraus eine Ueberraſchung für ſie geſponnen wer - den. — Sie meinen, verſetzte er, die gelehrte Geſellſchaft des heutigen Abends. — Dieſelbe, erwiederte die Frau ſchalkhaft, und verſchweigen Sie, wenn Sie ſich auch ſonſt verſchnappen ſollten, wenigſtens den Ort der Zuſammenkunft, wie heißt er doch nur gleich?
Er nannte ihr harmlos den Ort, den er zufäl - lig auch bereits vom Diaconus erfahren hatte. Richtig! rief die Frau, eilte zu ihren Freundinnen, und alle Drei verließen flüſternd und lachend das Zimmer.
„ Wenn du mich Mentor nennſt, ſo ſteckt Pallas Athene in mir, und wenn ich dann trotz meiner Göttlichkeit immer noch an dem unfolgſamen Tele - mach hange, ſo muß wohl das unerbittliche Schick - ſal daran Schuld ſeyn, dem Götter und Menſchen ſich beugen.
Sage mir, was biſt du? Wo fängt bei dir die Vernunft an, und wo hört die Thorheit auf — Miſchweſen? Willſt du ewig ein Kind bleiben? Kommt es denn immer in dir nur zu Blüthen und ſetzen ſich nie Früchte ab? Ich dächte, man würde Alles müde, abſonderlich dummer Streiche, und du hätteſt den Reiz der Neuheit in dieſer Materie allgemach überwunden.
433Allerdings glaube ich, daß der Menſch von dun - keln Inſtincten Manches zu erdulden hat, und in - ſonderheit mag deinem Blute durch die ſchwärmende und übertriebene Zärtlichkeit deiner Eltern, welcher du deine Entſtehung verdankſt, der Kitzel einge - impft worden ſeyn, von Abentheuern zu Abentheu - ern fortzuſtrudeln. Wenn du aber meinſt, daß aus ſolchen inſtinctelirenden Anſtößen irgend etwas Großes, ja daß nur etwas Gutes und Geſcheidtes daraus hervorgehen könne, ſo biſt du gewaltig im Irrthum, ich habe immer die Handlungen der Men - ſchen erſt anfangen ſehen, wo dieſe Region dämm - riger Willkührlichkeiten hinter ihren Füßen lag. Von der Geſchichte deines Ludwigsburger Grana - tenſuchers haſt du das Ende vergeſſen. Der Menſch gewöhnte ſich nach dem kleinen Glücke, welches ihm ſein Raptus gebracht, das Trinken an, ging oder taumelte einmal bei ſpäter Abend - zeit in der Gegend umher und fiel in den Neckar, aus dem man am andern Morgen ſeine Leiche zog. Ihr Ritter der Nachtſeite der Natur greift aber immer aus den Thatſachen nur das heraus, was in Euren Kram paßt, und woran Ihr kapuzinerhaft Euren Spruch demonſtriren könnt.
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 28434Dein Umherſchweifen hat dir manche ſchöne Stunde und viele tauſend Gulden unnütz ge - raubt, mit deinem verwünſchten Schießen wirſt du einmal übel ankommen; was deine Verehrung der Frauenzimmer betrifft, ſo iſt dieſe Andacht für mich eine neue Bekanntſchaft, ich hatte bis etzt in der Hinſicht nichts Abſonderliches an dir verſpüren können. — Beinahe krank bin ich aber von deinem Briefe geworden, denn es giebt nichts Verhängnißvolleres, als wenn ein Menſch in dei - nen Jahren und Verhältniſſen noch Streiche macht, die man kaum einem heimathloſen Studenten ver - zeiht. Die Leute glauben nicht an die Thorheit, ſie ſuchen und finden in ſolchen Eulenſpiegeleien Gründe und Abſichten. Was die deinige zur Fol - ge gehabt hat, will ich dir kurz und practiſch vor - halten. Man ſteht bei deinem einmal hingeworfenen Worte feſt, du ſeiſt ſchon im Auslande verſprochen, man ſetzt deine Reiſe mit dieſem Geſchwätz in Verbindung, ſagt, du habeſt nur einen Vorwand ergriffen, um zu entrinnen, und werdeſt unverſehens mit einem aufgeleſenen alten academiſchen Liebchen wiederkehren. Fräulein Clelia iſt durch deine Rit - terſchaft auf’s äußerſte bloßgeſtellt und ganz troſt -435 los. So erzählte mir Pfleiderer, der von Stutt - gart hier durchreiſte. Außerdem hat die Sache verblümt ſchon im Mercur geſtanden, und was der Mercur weiß, das weiß bekanntlich ganz Schwaben.
Ich habe mich nun kurz reſolvirt. Deiner ſeligen Mutter verſprach ich einſt, für dich Sorge tragen zu wollen bei allen Exceſſen, zu denen dich dein ſtürmiſches Temperament verleiten möchte; und als guter Geſchäftsmann will ich mein Wort halten. Die Sommerferien ſtehen vor der Thür, eine Bewegung thut mir auf die ewige Schreiberei auch Noth, der Aerger, wenn ich dich treffe, wird die Motion verſtärken — kurz, in acht Tagen ſchließ’ ich mein Oberamt zu, reiſe den Rhein hinab, biege nach deiner Tacitiſchen Germania, wo du unter Bohnen, Schweinen und Bauern ſo genuß - reiche Tage verlebſt, hinüber, faſſe dich, wo ich dich finde, und will dann ſehen, ob du mich wirſt allein zurückreiſen laſſen.
Uebrigens bin ich, wie immer
Dein Freund Ernſt. “
„ Ich ſende dir dieſe Zeilen nach Stuttgart entgegen, wo ſie in Wilhelms Händen für dich beruhen bleiben, denn du wirſt als ein wahrer Glaubiger gewiß erſt in unſerer National-Kaaba dein Gebet verrichten, bevor du hinausziehſt in die Fährlichkeiten des falſchen Auslandes.
Nun iſt mir erſt wohl. Du haſt mir die Lec - tion gegeben, und ſo ſteht Alles in gehöriger Ord - nung. Daß du mir nachrennſt, entzückt mich, denn ich ſehe daraus, daß Thorheit anſteckt und mächtiger iſt, denn Vernunft. Wenn du kommſt, will ich mit dir, geduldig wie ein Lamm heimreiſen, ſofern ſich nicht inzwiſchen der Schrimbs oder Peppel noch findet, wozu freilich wenig Anſchein. Könnte ich nur des alten Jochem erſt wieder hab - haft werden! Wer weiß, wo der arme Kerl umherrennt? Ich habe ſchon in verſchiedenen öffentlichen Blättern nach ihm Erkundigung gethan, jedoch bis jetzt vergebens.
437Hier in dieſer alterthümlichen Stadt verweile ich ſeit mehreren Tagen bei einem guten Bekannten, den ich unverſehens wiedergefunden habe. Eine gar hübſche Häuslichkeit und ein angenehmer Kreis umgiebt ihn. Auch hier habe ich närriſche Son - derlinge kennen gelernt, welche doch dabei gute, ſchätzbare, unterrichtete Menſchen ſind, ſo daß man über ſie lächeln und ihnen zugleich von Herzen zugethan ſeyn kann. Welche Maſſe von Bildung, Wiſſen und Eigenartigkeit iſt bei uns überallhin verbreitet! Wenn dieſe Reiſe auch weiter keinen Nutzen hat, ſo wird ſie mir ſchon dadurch, daß ſie mir jene Ueberzeugung recht in die Hand gab, heilſam ſeyn.
Der Gipfel unſerer Geſelligkeit war der vor - geſtrige Abend, wo ihre gelehrte Geſellſchaft (lache nicht!) eine Sitzung hielt. Sie haben eine Aca - demie zuſammen geſtiftet, in welcher die verſchieden - artigſten Aufſätze vorgeleſen werden. Dieſe ſind aber ſtatutenmäßig bis auf Weiteres aller Veröf - fentlichung durch den Druck ſtreng entzogen. Jeder muß Strafe zahlen, der ſich zur Unterſtützung einer vorgetragenen Meinung auf eine Flugſchrift oder ein Zeitblatt beruft, und von den Zuſammenkünften438 bleiben die Frauen ausgeſchloſſen. In dieſer Geſellſchaft brachte ich einen wahrhaft platoniſchen Abend zu, denn wenn wir Alle auch lange nicht ſo ſchön redeten, wie die Griechen, ſo kam doch ſo viel Urtheil, Beobachtung, Scherz und Laune zum Vorſchein, daß du dich verwundern wirſt. Ich ſchreibe nämlich in den Morgenſtunden die Geſchichte dieſes Abends unter dem Titel: Ein Gaſtmahl, für dich nieder. Eine unvermuthete Wendung hatte ich der Sache zubereitet, indem ich in meiner Unſchuld gegen die Frauen zum Verräther der Zuſammenkunft geworden war, und dieſe dem Abende einen phantaſievoll humoriſtiſchen Abſchluß gaben.
Ach, Lieber! es iſt mir zu Muthe, als ſtehe mir die Poeſie des Lebens ſo nahe, daß ich ſie hinter jedem Buſche jetzt und jetzt werde mit Hän - den greifen, aus jedem Blumenkelche in mich hineinſaugen können! Da, dort, überall guckt die Elfe hervor und ſieht mich mit Liebesaugen an. Ward denn jegliches Daſeyn beſtimmt, wie eine der verwickelten algebraiſchen Gleichungen nur annäherungsweiſe ein Analogon von Auflö - ſung darzubieten, oder giebt es nicht auch ſchlichte,439 plane Exiſtenzen, die aus Sehnſucht und Erfüllung ein reines Facit ziehen? — Und was denkſt du dir bei dieſen geſchraubten Worten, die da unwill - kührlich meiner Feder entfloſſen ſind?
Ich bin ſo wenig ein Dichter, als du ein ſchwarzwälder Uhrmacher biſt, aber bisweilen bricht die Poeſie aus Jedem, wie die Thräne aus der Rebe im Lenz. Das ſind dann ſchickſals - ſchwangere Momente, Momente, in denen unſere Sterne ſich rühren, und dadurch die Kräfte unſres kleinen Selbſtes rühren und regen. Ich ſchrieb dir von dem Speſſarter Mährchen, welches ich da hin - geworfen, und nun iſt’s ſonderbar, daß ſich einzelne Elemente dieſer Erfindung, z. B. das unvermuthete Treffen eines Freundes, ein curioſes Waldaben - theuer, körperlich hinſtellen, freilich ganz verſchieden von meinem Poem, aber im innerſten Sinne doch verwandt, ſo daß es iſt, als wollten mich meine Speſſarter Zauberfiguren mit Wirklichkeit necken.
Hiebei mußt du dir gar nichts Beſonderes vorſtellen; es giebt nur ſo wunderbare Stimmungen, in denen man mehr ſeine Gedanken, als ſein Leben lebt. So will mir das Waldgefühl nicht aus dem Sinn, es fluthet grün und kühl mit friſchem Bor -440 kengeruch durch meine Seele, und gelbe Funken kreuzen den ſtillen, tröſtlichen Schein.
In Leben und Tod, mein alter Ernſt,
Dein Narr.
N. S. Die arme Clelia dauert mich herzlich. Wie ſchlecht, daß ich ihrer erſt jetzt gedenke! Was mich betrifft, ſo mögen ſie von mir ſchwätzen, was ſie wollen. “
Immer wurde unſer junger Schwabe von ſeinen ſchwärmeriſchen Empfindungen wieder durch einen äußeren Eindruck abgezogen, der ihm etwas Neues zuführte. So beſuchte er den Sammler, den wir auf dem Oberhofe kennen gelernt haben, einige Tage, nachdem er den Brief an ſeinen Freund geſchrieben hatte. Der alte Schmitz hatte ihm ſchon hin und wieder ein ſaures Geſicht gemacht, daß ſeine Schätze noch nicht früher in Augenſchein genommen worden waren, indeſſen erheiterte ſich dieſes jetzt bald, als der Jäger, angelegentlich fragend, in der kleinen, engen und dunkeln Woh - nung mit ihm durch die aufgeſtapelten alten Kloſterbilder, Pergamenthaufen, Waffen, Urnen und Gefäße hindurchwanderte, und den gelegentlich erfolgenden Auseinanderſetzungen: Wo Hermann442 den Varus geſchlagen? ein aufmerkſames Ohr lieh. — Der Jäger ſah manches ihm Neue und würde von der ganzen Beſchauung noch mehr Nutzen gehabt haben, wenn ihm ſein Führer Muße gelaſſen hätte, die einzelnen Stücke genauer zu betrachten. Allein, ſobald er einige Secunden lang bei einem verweilt hatte, riß ihn der Ungeduldige mit ſchreienden Worten zu einem andern hin, in der Beſorgniß, daß irgend etwas überſehen bleiben möchte.
Er lebte, nach Sammlermanier, ganz einſam und nur ſeinen Seltenheiten hingegeben. Ein großer, ſchwarzer Kater, welcher ihm treu anhing, machte ſeine ganze Hausgenoſſenſchaft aus. Dieſer ging denn auch heute, wie es ſeine Gewohnheit war, ernſthaft durch die Zimmer hinter den beiden menſchlichen Beobachtern, wie ein dritter Alterthums - freund einher.
Der Alte war eigentlich in Folge einer unglück - lichen Liebe Sammler geworden. In ſeiner Jugend hatte er einem ſchönen Mädchen ſein Herz zuge - wandt, welche, zu früh elternlos, unter der Obhut oder vielmehr Nichtobhut eines ſchwachen, nach - läſſigen Vormundes ſtand und bei ihrem Leichtſinn zu unabhängig war, um verſtändig bleiben zu können. 443Nachdem ſie den treuen Verehrer vielfältig durch Grillen und Zweideutigkeiten gekränkt hatte, ſetzte ſie ihrem Benehmen durch offenbare Untreue die Krone auf. Der Himmel ſtrafte ſie aber doppelt dafür; er ließ ſie ihr Herz an einen Unwürdigen hängen und bald hernach in eine ſchwere Krankheit verfallen, von welcher ſie nicht wieder erſtand. Auf dem Todtenbette trat die Reue ihren wankel - müthigen Buſen an, ſie ſchickte nach dem Verlaſſenen, es erfolgte eine Ausſöhnung, und ſie ſetzte ihn zum Erben ihres Nachlaſſes ein. Unter dieſem befand ſich eine Menge goldener, ſilberner, emaillirter, ſeidner Kleinigkeiten, die das lebhafte Ding zuſam - mengekauft, erbettelt, erſtoppelt hatte, da ihr Auge, wie das der Elſtern, an allen glänzenden Dingen hing, und ihre Hand beſitzen mußte, was ihrem Auge gefiel. Der Hinterbliebene ſtellte nun daraus ein kleines Cabinet ſehr ordentlich zuſam - men, aber bald wollte ihm das Vorhandene nicht mehr genügen, die Medaillen, die Figürchen, die gemalten Portefeuilles und Mappen forderten Geſellſchaft, und er gab ſie ihnen durch Münzen, Metallſachen, Siegelkapſeln, ſchöngeſchriebene Per - gamenturkunden. Dergleichen greift aber immer444 weiter um ſich, es zieht gewiſſermaßen magnetiſch das Gleichartige an, und ehe er es ſich verſah, hatte daher ſeine Umgebung und ſein Leben die nachherige Geſtalt bekommen. Da nun die Lieb - haberei bei ihm gefühlvollen Urſprungs war, ſo gab ſie ihm auch nicht das Trockene und Lebloſe, wodurch die Sammler in der Regel der Abdruck ihrer Sachen werden; er behielt vielmehr eine freundliche und milde Sinnesart.
Der Jäger hatte neben einigem Guten viel Geringes beſichtigen müſſen. Jetzt fiel ſein Blick in eine Ecke, worin die uns bekannte Amphora mehr verſteckt als gewieſen ſtand. — Wie? Und dieſes herrliche Gefäß zeigen Sie mir nicht? Das iſt ja leicht das ſchönſte Ihrer ganzen Sammlung! rief er erſtaunt.
Eine Traurigkeit beſchattete das Antlitz des Sammlers, ſeine geläufige Zunge ſtockte, er ging in die Ecke, ſtreichelte die Amphora, wie ein Vater ſein krankes Kind ſtreichelt, und erzählte dem Jäger zutraulich die Geſchichte ihrer Erwer - bung. — Seit der Zeit nun, fuhr er fort, daß ich gegen mein Gewiſſen dem Hofſchulzen ein Atteſt über ſein falſches Karls ‒ des ‒ großen ‒ Schwert aus -445 ſtellte und mir durch dieſe Unwahrheit die Amphora zueignete, macht mir oft die ganze Sammlung keine rechte Freude mehr. Denn bei Alterthümern beruht Alles auf der Wahrheit, und wer für ein fremdes gelogen hat, der kann auch leicht den Glauben an ſeine eigenen verlieren. Es geht mir ſchon hin und wieder ſo; ich ſehe die Donnerkeile zweifelnd an, ich habe bereits geträumt, meine ſo ſchönen Bracteaten ſeien nachgemachte Scharteken. Das Ende vom Liede wird wohl ſeyn, daß ich die Amphora zurückgebe und mir mein falſches Atteſt wieder aushändigen laſſe, wenn ich gleich nicht weiß, wie ich den Verluſt des prächtigen Gefäßes werde überſtehen können.
Der Jäger mußte ungeachtet des kummervollen Geſichtes, welches der alte Mann machte, lächeln, und ſagte: Mit Ihrer Gewiſſenhaftigkeit wäre nie ein Muſäum zu Stande gebracht worden. — Aber ſagen Sie mir, was für eine Bewandniß hat es eigentlich mit dem Schwerte, auf welches der Hof - ſchulze einen ſo außerordentlichen Werth legt?
Hierauf gab der Sammler dem Jäger folgende wunderſame Auskunft. Daß hier auf unſerer rothen Erde der geweihte Boden der Freigerichte, welche446 man nur ſehr uneigentlich Vehmgerichte genannt hat, war, wiſſen Sie, ſagte er. Freigerichte waren ſie, und Freigerichte blieben ſie trotz aller ſpäteren Entſtellungen und Mißbräuche, nämlich die Gerichte der urſprünglich freien Markengenoſſen, die ſo unbeſchränkt auf ihrer Wehr ſaßen, als der König in ſeiner Pfalz. Das aber werden Sie nicht wiſſen, daß in mehreren Diſtricten und ſo auch nahe hiebei manche Höfe, welche das Freiſchöffen - recht hatten, immer noch die Tradition dieſes Beſitzes erhalten, und daß dieſelbe vom Vater auf den Sohn, vom Sohn auf den Enkel fortgepflanzt wird. Natürlich iſt jetzt die Sache zu einer bloßen Spielerei herabgeſunken. Aber Wiſſende giebt es wirklich noch immer, die von Zeit zu Zeit ſich bei den alten Freiſtühlen verſammeln, und durch Mit - theilung der geheimen Erkennungszeichen und des Rituals neue Wiſſende machen. Anfangs nahmen einige Behörden von dem Hokuspokus Notiz, woll - ten in die Myſterien eindringen, aber das gelang ihnen nicht, die Bauern trieben ihr Weſen nur um ſo vorſichtiger und blieben gegen alle Anmuthungen, den Sinn der Loſung zu verrathen, ſtandhaft. Seitdem bekümmert man ſich nicht mehr darum.
447Der Oberhof gehört nun recht eigentlich zu den alten Freiſchöffengütern. Nach dem Bauern - glauben war es Karl der Große, der die Gerichte einſetzte, und das Gewaffen, was in dem Hofe aufbewahrt wird, gilt für das Richtſchwert, welches der Kaiſer zum Zeichen der Inveſtitur dem erſten Beſitzer gegeben habe. Der Hofſchulze, der ein gar ſchlauer Vogel iſt, hat, ſein Anſehen zu ſtei - gern, ſich dieſen Glauben zu Nutze gemacht, und ſpielt nun eine Art von Freigrafen. Er ſoll nicht ſelten mit den Schöffen der umliegenden großen Höfe am Freiſtuhl zuſammenkommen. Ja man ſpricht, daß durch ihn in die leeren Poſſen wieder ein Gehalt gebracht worden ſei, daß ſie über manche Sachen wirklich ihre geheimen Urtheile fällen. So viel iſt wenigſtens gewiß, daß die Gerichte ſich ſelbſt über die wenigen Streitigkeiten wundern, die aus jener Gegend vor ſie gebracht werden, obgleich unſer Land ſonſt die Heimath der Prozeßkrämer iſt.
Aber wie iſt das möglich, da ihnen ja jede Macht der Ausführung fehlt? fragte der Jäger, den dieſe ſeltſame Entdeckung ganz träumeriſch bewegte.
448Nun, ſagte der Sammler, ſie können freilich keinen Wiederſpänſtigen mehr am Baume aufknü - pfen, aber wenn ſie ihm nun Hülfe, Beiſtand, Vorſchub verſagten, es durch ihren Einfluß, da ſie die Reichſten in der Gegend ſind, dahin brächten, daß ihn auch die Andern mieden, Keiner mit ihm im Kruge tränke, Knecht und Magd nicht〈…〉〈…〉 ihm aushielte; wie dann? Wäre das nicht auch ein Zwang, zwingend genug? Was vermag nicht die Meinung von Standesgenoſſen über den Menſchen? Es werden mitunter dort umher Einzelne in auf - fallender Art Freunde - und Genoſſenlos, das dauert eine Weile, dann nähert ſich ihnen wieder Alles. Man ſpricht, dieſe ſeien Verfehmte, und nur ihre Nachgiebigkeit hebe den Bann wieder von ihrem Hauſe.
Der Jäger reimte nunmehr ſich Manches zuſammen, was ihm bisher unverſtändlich geblieben war. Er theilte ſeine Vermuthung, daß binnen Kurzem am Frei - ſtuhl etwas vorgehen werde, dem Sammler mit, und fragte ihn eifrig, ob es nicht möglich zu machen ſei, einem ſolchen heimlichen Gerichte aus der Verborgen - heit zuzuſchauen? Damit wollte indeſſen der Sammler als mit einer gefährlichen Sache nichts zu thun haben.
449Der Fuhrmann trat ein, welcher den Jäger nach dem Oberhofe befördern ſollte und ſagte, daß der Wagen vor der Thüre ſtehe. Der Jäger hatte nämlich mit dem Diaconus die Abſprache genommen, ſich in der Stadt einquartieren zu wollen, hielt es jedoch für ziemlich, ſeinem alten Wirthe〈…〉〈…〉 Perſon Dank und Lebewohl zu ſagen. Einen Theil des Weges über hatte er weder auf dieſen, noch auf das Fuhrwerk Acht, da ſeine Gedanken um den Freiſtuhl und die Geheimniſſe des Vehmgerichtes ſchwebten, die noch immer ſchat - tenartig in der Gegenwart fortlebten. Sonderbares Land, rief er für ſich, in welchem Alles ewig zu ſeyn ſcheint! Wie kommt es, daß aus dir noch kein großer Dichter hervorgegangen iſt? Dieſe Erinnerungen, welche von dem Boden nicht weichen wollen, dieſe alten Sitten und Gebräuche mußten doch wohl im Stande ſeyn, eine Einbildungskraft zu entzünden! Er überſah, daß das Talent keine Feldfrucht iſt, ſondern wie das Manna in der Wüſte vom Himmel fällt.
Als er auf die Außendinge wieder zu merken begann, nahm er wahr, daß ſein Wäglein ſich ſchneckenartig fortbewegte, weil das eine PferdImmermanns’ Münchhauſen. 1. Th. 29450ſtark lahmte. Er entſchloß ſich kurz, ließ das Fuhrwerk heimgehen und machte den übrigen Weg zu Fuß. Freilich konnte er nun nicht, wie er gewollt, am nämlichen Tage zur Stadt zurückkehren, mußte ſich vielmehr bequemen, die Nacht auf dem Lande zuzubringen.
Er fand den Hofſchulzen an einem Scheuren - thore zimmern. Als dieſer von ſeiner Arbeit die blitzenden Augen unter den weißen Brauen gegen ihn emporhob, kam er ihm nach den erhaltenen Aufſchlüſſen wie der Alte vom Berge vor. Der Jäger meldete ihm ſeinen bevorſtehenden Abzug. Jener erwiederte: Das iſt mir lieb, das Frauen - zimmerchen, welches vor Ihnen die Stube hatte, ließ mir ſagen, ſie würde heute oder morgen zurück - kommen; der müßten Sie doch weichen, und ich könnte Sie nur unbequem logieren.
Der ganze Hof ſchwamm in dem beginnenden rothen Abendlichte. Eine reine Sommerwärme durchdrang die von keinem Dunſte beſchwerten Lüfte. Es war ganz einſam zwiſchen den Gebäu - den; alle Knechte und Mägde mußten wohl noch auf dem Felde zu thun haben. Auch im Hauſe ſah er Niemand, als er nach ſeinem Zimmer ging. 451Dort ordnete er, was er an dieſem Orte zuwei - len aufgeſchrieben hatte, packte ſeine wenigen Sachen zuſammen und ſah ſich dann nach dem Gewehre um.
Dieſes war jedoch verſchwunden. Er begriff nicht, wer es ihm fortgenommen haben könne, und ging, bei dem Hofſchulzen Erkundigung einzuziehen, über den Gang nach der Treppe zu. In einem Gelaſſe ſeitwärts glaubte er ein Geräuſch zu ver - nehmen — vielleicht iſt eine Magd darin, die dir es auch nachweiſen kann — dachte er und klinkte die Thür auf. Er war aber in die Schlafkammer der Tochter gerathen und ſah erſchreckt eine unzwei - deutige Gruppe. Herzklopfend ſchritt er raſch nach ſeinem Zimmer zurück; der Bräutigam, ein junger ſtarker Bauer, folgte ihm dahin nach. Das müſſen Sie nicht für übel nehmen, ſagte dieſer. Denn das zweite Aufgebot iſt geweſen, und nächſten Donner - ſtag iſt die Hochzeit, und wenn es ſo weit iſt, ſo hat ſich Keiner um ſo etwas zu bekümmern, und der Paſtor und der eigene Vater fragt nichts dar - nach. Es wird dieſe Nacht bei uns im Hofe Korn geſackt, deshalb mußte ich meine Braut heut zu Nachmittage beſuchen.
29*452Mich geht das nichts an, antwortete der Jäger verwirrt, wenn ich nur wüßte, wo mein Gewehr iſt. Dieſes will ich Ihnen ſagen, antwortete der junge Bauer, der Schwiegervater hat es heimlich weggenommen und dort hinter dem großen Schranke verſteckt, denn er ſagte, der dritte Choral aus Ihrer Geſchichte wäre —
Was? Choral? Ihr wollt wohl Moral ſagen?
Ja wohl. Alſo der dritte Choral aus Ihrer Geſchichte wäre, daß man einem Fehlſchützen von Mutterleib aus kein Schießgewehr unter Händen laſſen müſſe. Ein gewöhnlicher Fehlſchütz wäre wenig zu aeſtimiren, aber ein Fehlſchütz von Mut - terleib könnte großen Schaden anrichten.
Der Jäger hörte nicht länger auf dieſe Reden hin, warf vielmehr ſeine Waidtaſche um, eilte nach dem Schranke, zog hinter demſelben das Gewehr hervor, lud, und war mit zwei Schritten aus dem Hofe nach dem Freiſtuhl, ſich die unruhig wogen - den Bilder aus der Seele zu ſchießen. Schon im duftigen goldenen Dämmer des Eichenkamps hatte er ſeine Lebensgeiſter wieder beiſammen. — Nun das muß wahr ſeyn, rief er, die Idyllenſchreiber haben uns die Bauernwelt arg verzeichnet! Sowohl die453 ſchäferlich-zarten, als die knolligen Kartoffelpoeten. Sie iſt eine Sphäre, ſo mit derber Natur, wie mit Sitte und Ceremonie ausgefüllt, und gar nicht ohne Anmuth und Zierlichkeit, nur liegt letz - tere wo anders, als wo ſie in der Regel geſucht wird. Iſt der Burſch aus Unenthaltſamkeit vor der Zeit in ſein Recht getreten? Gewiß nicht. Es iſt ſo Herkommen, lieblicher, luſtiger Brauch, und ſein Mädchen würde ſich vielleicht für verach - tet halten, wenn er ihn nicht mitmachte.
Droben auf dem Hügel am Freiſtuhl ward ihm ſehr wohl. Das Korn wiegte ſäuſelnd die Aehren, ſchwer von Segen, des Vollmondes große glührothe Scheibe ſtieg am Oſtrande des Himmels auf und noch wirkte der Wiederſchein der in Weſten abgeſchiedenen Sonne. Die Atmoſphäre war ſo rein, daß dieſer Wiederſchein gelbgrün glänzte. — Er empfand ſeine Jugend, ſeine Geſundheit, ſeine Hoffnungen. Hinter einen großen Baum am Waldrande ſtellte er ſich; heute will ich doch erproben, ſagte er, ob das Geſchick nicht zu beugen iſt. Ich ſchieße nur, wenn mir etwas bis auf drei Schritte vor dem Rohre nahe kommt, und da müßte es ja mit Zauberei zugehen, wenn ich fehlen ſollte.
454Im Rücken hatte er den Forſt, vor ſich die Senkung mit den großen Steinen und Bäumen des Freiſtuhls, gegenüber umſchloſſen die gelben Kornfelder den einſamen Ort. In den Wipfeln über ihm gurrten noch einzelne verlorne Töne der Turteltaube, durch die Aeſte der Bäume am Freiſtuhle fingen die wilden Lindenſchwärmer an mit den grün-rothen Flügeln zu ſchwirren. All - gemach begann es auch im Walde am Boden ſich zu rühren. Ein Igel kroch ſchläfrig durch das Laub; ein Wieſelchen zog den geſchmeidigen Leib aus einer Steinſpalte, nicht breiter, als der Kiel einer Feder, hervor. Buſchhäslein ſprangen mit vorſichtigen Sätzen, zwiſchen jedem innehaltend, ſich duckend und die Löffel legend, ins Freie, bis ſie, muthiger geworden, auf dem Rain am Kornfelde ſich emporhoben, tänzelten, mit ein - ander ſpielten, und die Vorderläufe zu ſcherzenden Schlägen brauchten.
Der Jäger hütete ſich wohl, dieſes Haſenvolk zu ſtören. Endlich trat ein ſchlankes Reh aus dem Walde. Klug die Naſe in den Wind ſtreckend, links und rechts aus den großen, braunen Augen umherſchauend, ſchritt das Thier auf den feinen455 Füßen mit leichter Grazie einher. Jetzt war das Zarte, Wilde, Flüchtige dem Geſchoſſe des Ver - ſteckten gegenüber angelangt, es war ſo nahe, daß es faſt nicht gefehlt werden konnte, er wollte ab - drücken, da ſchreckte das Reh zuſammen, that einen Sprung in veränderter Richtung gerade auf den Baum zu, hinter welchem der Jäger ſtand, ſein Schuß ging los, das Wild ſetzte in gewaltigen Sprüngen unverwundet waldein, zwiſchen dem Korne aber war ein Schrei erſchollen, und wenige Augenblicke nachher kam eine weibliche Geſtalt auf einem ſchmalen Pfade, der in der Linie des Schuſſes lag, aus den Feldern hervorgewankt.
Der Jäger warf die Flinte weg, ſtürzte auf die Geſtalt zu und meinte vergehen zu müſſen, als er ſie erkannte. Es war das ſchöne Mädchen von der Blume im Walde. Sie hatte er ſtatt des Rehes getroffen. Sie hielt die eine Hand auf der Gegend zwiſchen Schulter und linker Bruſt, dort quoll unter dem Tuche reichlich das Blut hervor. Ihr Antlitz war bleich und etwas von Schmerz verzogen, doch nicht entſtellt. Sie holte dreimal tief Athem und ſagte dann mit ſanfter und matter Stimme: Gottlob, es muß nichts ge -456 fährlich verletzt ſeyn, denn ich kann Athem holen, wenn es mir auch Schmerzen macht. — Ich will verſuchen, fuhr ſie fort, den Oberhof zu erreichen, zu dem ich auf dieſem Richtwege gelangen wollte, wo mich nun das Unglück treffen mußte. Geben Sie mir Ihren Arm. — Er führte ſie einige Schritte hügel-abwärts, da zuckte ſie zuſammen und ſagte: Es geht doch nicht, die Schmerzen ſind zu heftig, ich könnte unterweges ohnmächtig werden. Wir müſſen ſchon an dieſem Orte aushalten, bis Leute herbeikommen und eine Tragbahre verſchaffen können.
Trotz ihrer Wundſchmerzen hielt ſie ein Päckchen feſt in der linken Hand, dieſes reichte ſie ihm jetzt und ſagte: Verwahren Sie es mir, es iſt das Geld, welches ich für den Herrn Baron ein - geſammelt habe, ich möchte es verlieren. — Wir müſſen auf längeres Bleiben uns gefaßt machen, fügte ſie hinzu. Wenn es Ihnen möglich wäre, mir ein Lager zu bereiten und etwas Wärmendes zu geben, daß die Kälte nicht zur Wunde ſchlägt!
So hatte ſie die Beſonnenheit für ſich und ihn. Er ſtand ſprachlos, bleich und ſtarr, wie eine Bildſäule; die Verzweiflung wühlte in ſeinem Her -457 zen und ließ kein lautes Wort über die Lippen. Jetzt gab ihm ihre Aufforderung Bewegung, er eilte nach dem Baume, hinter dem er ſeine Waid - taſche abgelegt hatte. Dort ſah er auch das un - glückliche Gewehr liegen. Wüthend ergriff er es und ſchlug es mit ſolcher Kraft gegen einen Stein, daß der Schaft zerſplitterte, die Läufe ſich bogen. und die Schlöſſer von ihren Schrauben losſpran - gen. Er verwünſchte den Tag, ſich, ſeine Hand. Zu dem Mädchen zurückgeſtürzt, welches ſich auf einen Stein des Freiſtuhls geſetzt hatte, fiel er ihr zu Füßen und flehte, den Saum ihres Kleides küſ - ſend, unter heftigen Thränen, die nun aus ſeinen Augen mit Gewalt brachen, ſie um ihre Verge - bung an. Sie bat ihn, doch nur aufzuſtehen, er habe ja nicht dafür gekonnt, die Wunde ſei gewiß nicht bedeutend, er möge ihr nur jetzt helfen. Er richtete ihr nun einen Sitz auf dem Steine zu indem er die Waidtaſche auf denſelben legte. Um ihren Hals band er ſein Tuch, um ihre Schultern legte er locker und loſe ſeinen Rock. Sie ſetzte ſich auf den Stein, er nahm neben ihr Platz und bat ſie, zu ihrer Erleichterung ihr Haupt an ſeine Bruſt zu neigen. Sie that es.
458Der Mond war in völliger Klarheit über einen Theil des Himmels gedrungen und beſchien faſt taghell die beiden durch einen rohen Zufall einan - der ſo Nahegerückten. In der vertraulichſten Nähe ſaß der Fremde mit der Fremden, ſie ſtieß leiſe Schmerzenstöne an ſeiner Bruſt aus, und von ſeinen Wangen floſſen unaufhaltſame Thränen. Rings aber um ſie her verbreitete ſich nach und nach das Schweigen und die Einſamkeit der Nacht.
Endlich wollte es das Glück, daß ein ſpäter Wanderer durch die Kornfelder ging. Der Ruf des Jägers erreichte ſein Ohr, er eilte herzu und wurde nach dem Oberhofe geſchickt. Bald darauf ließen ſich Fußtritte hügelan-Kommender verneh - men; es waren die Knechte, welche einen Trag - ſeſſel mit Kiſſen brachten. Der Jäger hob die Verwundete ſanft hinein und ſo gelangte ſie ſpät in der Nacht unter das Obdach ihres alten Gaſt - freundes, der ſich freilich ſehr verwunderte, die Erwartete in dieſem Zuſtande ankommen zu ſehen.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Fraktur
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