PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Geiſt des römiſchen Rechts auf den verſchiedenen Stufen ſeiner Entwicklung.
Erſter Theil.
Leipzig,Druck und Verlag von Breitkopf und Härtel.1852.
[II][III]

Dem Andenken des großen Meiſters, Georg Friedrich Puchta.

[IV][V]

Vorrede.

Mit dem Werk, von dem ich hiermit den erſten Theil publicire, iſt es mir eigenthümlich gegangen. Seit 11 bis 12 Jahren beſchäftige ich mich mit demſelben, und bereits 1843 beabſichtigte ich, öffentliche Vorleſungen über den Gegenſtand dieſer Schrift, mit denen ich damals in Berlin als Privatdocent aufgetreten war, drucken zu laſſen. Puchta, dem ich von meinem Plan geſprochen hatte, rieth mir davon ab; er hielt es für be - denklich ſich mit einem ſo allgemeinen Thema beim Publikum einzuführen.

Ich wünſchte faſt, daß ich dieſem wohlgemeinten Rath kein Gehör gegeben hätte, denn obgleich der lange Zeitraum, der ſeitdem verfloſſen, für mein Werk nicht ohne Nutzen geweſen iſt, ſo ſteht doch der Gewinn in keinem Verhältniß zu dem Preiſe, den er mich gekoſtet hat. Der Geiſt des römiſchen Rechts, den ich im jugendlichen Uebermuth citirt hatte, ward für mich bald zum Quälgeiſt, der mich in abſolute Abhängigkeit von ſich ver - ſetzte und keinen andern Gedanken in mir aufkommen ließ.

Zu ſpät bereute ich es, mich mit ihm eingelaſſen zu haben, er hatte bald zu viel Gewalt über mich bekommen, als daß ich ihm noch hätte entrinnen können; das einzige Mittel, mich vonVIVorrede.ihm zu befreien, beſtand darin, ihn der Oeffentlichkeit zu über - geben. Im Jahre 1845 bat ich Puchta, als ich mich von ihm trennte, um die Erlaubniß, ihm mein Werk dediciren zu dürfen. Wenn einerſeits die Dankbarkeit für den unvergleichlichen Ge - nuß, den mir ſein Curſus der Inſtitutionen gewährt hatte, ſo - wie die tiefe Verehrung, die ich für den großen Meiſter hege, den Wunſch in mir erregt hatten, ihm das Liebſte und Beſte, was ich ihm glaubte geben zu können, zu widmen, ſo veranlaßte mich eine andere Rückſicht, ihm dieſen Wunſch ſchon damals mitzutheilen. Ich hoffte nämlich, wenn ich ihm meinen Quäl - geiſt verſchriebe, ſo würde es mir eher gelingen deſſelben Herr zu werden, und ich bin überzeugt, daß wenn Puchta noch lebte, ich bereits ſeit Jahren damit fertig geworden wäre; die ihm ausgeſtellte Verſchreibung würde mich angetrieben haben, jenen Geiſt todt oder lebendig in ſeine Hände zu liefern.

Mit Puchta’s Tod fiel dieſer Antrieb für mich hinweg, und von neuem ward ich der Spielball des übermächtigen Gei - ſtes. Je mehr ich mich meinem Ziel zu nähern glaubte, um ſo mehr entrückte es ſich meinen Blicken; je mehr ich arbeitete, um ſo weniger fühlte ich mich befriedigt. Meine Selbſtkritik, die namentlich was die Redaction anbetraf, immer ängſtlicher und pedantiſcher wurde, führte gegen das Werk einen Vernichtungs - krieg. Meine Arbeit drehte ſich, ohne eigentlich aus der Stelle zu kommen, im Kreiſe herum, und ich würde wohl mein ganzes Leben dazu verdammt geweſen ſein, wenn ich hätte abwarten ſollen, daß das Werk meinen eignen Beifall erwürbe; meine Selbſtkritik hatte ſich ſo ſehr abgenutzt, daß ich bei manchen Aen - derungen kaum wußte, ob ich verbeſſere oder verſchlechtere, jene ewige Kreisbewegung hatte mich, wenn ich ſo ſagen darf, moraliſch ſchwindlich gemacht.

VIIVorrede.

Ich fühlte endlich, daß ich dieſem Zuſtande ein Ende machen müſſe, und rief daher den Setzer zu Hülfe. Ich gedachte daran, daß die Bücher nicht mit einem Male zur Welt kommen, viel - mehr bogenweis geſetzt und gedruckt werden, daß folglich auch die erſten Bogen bereits das Licht der Welt erblicken können, während die folgenden noch den Embryonenſchlaf halten. So ließ ich denn den Setzer im Mai vorigen Jahres mit wenig Manuſcript beginnen, mir von ihm bogenweis den Rückzug abſchneiden, einen einmal gedruckten Bogen reſpectire ich als fait accompli und mich von ihm bogenweis unaufhaltſam weiter treiben. Meine im letzten Monat Statt findende Ueber - ſiedlung von Kiel nach Gießen brachte unſer glückliches Aus - tauſchgeſchäft ins Stocken. Das Werk war damals gerade zu einem Abſchnitt gediehen, der die Herausgabe des bisher Ge - druckten möglich machte, und da ich in nächſter Zeit keine Aus - ſicht habe, einen regelmäßigen, ungeſtörten Verkehr mit meinem Setzer einzuleiten, ſo habe ich mich zur vorläufigen Herausgabe dieſes erſten Theils entſchloſſen. Der zweite Theil ſoll im Spät - herbſt folgen.

Ich habe dieſe Perſonalia meines Buchs mitgetheilt, weil ſie vielleicht einen Einfluß auf daſſelbe ausgeübt haben; über Zweck und Plan deſſelben habe ich mich in der Einleitung hin - länglich ausgeſprochen, ſo daß es überflüßig wäre darüber noch etwas zu bemerken.

Mein Werk erſcheint unter einem Titel, der Manche von vornherein gegen daſſelbe einnehmen wird. Geiſt einer Sache und ungründliches, ſeichtes Räſonnement wird von Manchen und oft nicht mit Unrecht für gleichbedeutend gehalten. Ob meine Schrift einen neuen Beleg für dieſe Annahme liefern wird? Ich bin mir bewußt mit Ernſt und Aufbietung allerVIIIVorrede.meiner Kräfte gearbeitet zu haben und kann in dieſer Beziehung mit Ruhe dem Spruch der Kritik entgegenſehen. Möge letztere die von mir gewonnenen Reſultate verwerfen, meine Methode bekämpfen ich darf in dieſer Beziehung um ſo weniger auf Schonung hoffen, als ich ſelbſt bei meinen Angriffen gegen die herrſchende Methode ſie nicht geübt und jeden Anſpruch auf eine milde Kritik verwirkt habe aber die Ueberzeugung wird ſich, hoffe ich, dem Leſer aufdrängen, daß nicht Abneigung gegen ernſte und mühſame Arbeit mich dem Geiſt des römiſchen Rechts in die Arme geführt hat.

Der Gedanke, der mich bei meinem Werk angeſpornt hat, iſt die Hoffnung auf Anerkennung, nicht meiner ſelbſt, ſondern des römiſchen Rechts. Das Gefühl der höchſten Bewunderung und Verehrung, das ich vor dieſer grandioſen Schöpfung em - pfinde, habe ich Andern mitzutheilen geſtrebt, und mein Buch iſt namentlich für ſolche Leſer berechnet, die mit dem römiſchen Recht noch nicht vertraut ſind, alſo für Studierende der Rechts - wiſſenſchaft und wiſſenſchaftlich gebildete Laien. Möchte mein Werk bei dieſem Leſerkreiſe Verbreitung finden und im Stande ſein, jenes Gefühl, aus dem es entſprungen iſt, auch in Andern zu erwecken.

Ich bitte den Leſer, zwei ſinnentſtellende Druckfehler zu ver - beſſern; auf Seite 10 Zeile 12 von oben ſteht Kapitel ſtatt Kapital, Seite 102 Zeile 14 von oben ſichtliches Mini - mum ſtatt ſittliches Minimum. Daß ich auf S. 94 Zeile 3 von unten Servius Tullius ſtatt Tullus Hoſtilius geſchrieben, iſt ein ziemlich unſchädliches Verſehn.

Gießen 29. April 1852.

[IX]

Inhalt des erſten Theiles.

  • Einleitung. (S. 1 82.)
  • Die Aufgabe und die Methode ihrer Löſung.
  • §. 1. Die Zukunft des römiſchen Rechts Veranlaſſung zu einer Beurthei - lung deſſelben. S. 1 5.
  • §. 2. Bedürfniß der Löſung unſerer Aufgabe Unſere heutige Wiſſenſchaft und ihr wiſſenſchaftlicher Apparat. S. 5 12.
  • Methode der rechtshiſtoriſchen Darſtellung.
  • A. Anforderungen, die in der Natur des Rechts ent - halten ſind.
  • §. 3. 1. Anatomiſche Betrachtung des Rechtsorganismus Die Beſtand - theile deſſelben: Rechtsſätze, Rechtsbegriffe, Rechtsinſtitute pſychiſche Organiſation des Rechts Differenz zwiſchen dem objektiven Recht und der ſubjektiven Erkenntniß (latente Beſtandtheile des Rechts) Aufgabe der Wiſſenſchaft. S. 12 39.
  • §. 4. 2. Phyſiologiſche Betrachtung des Rechtsorganismus Die Funktion deſſelben im Leben Formale Realiſirbarkeit des Rechts Die Auf - gabe des Hiſtorikers gegenüber dem Recht der Vergangenheit. S. 39 50.
  • X
  • B. Anforderungen, die in dem Begriff der Geſchichte liegen.
  • §. 5. Ausſcheidung der unweſentlichen Thatſachen Der innere Zuſammen - hang der Thatſachen und das Moment der Zeit Innere Chronologie oder abſolute und relative Zeitbeſtimmung nach inneren Kriterien. S. 51 76.
  • §. 6. Plan der folgenden Darſtellung Die drei Syſteme des Rechts. S. 77 82.
  • Erſtes Buch. (S. 85 336.)
  • Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
  • §. 7. Urzuſtände Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks Ergänzung der Tradition durch Etymologie und Rückſchlüſſe vom ſpätern Recht. S. 85 90.
  • §. 8. Die römiſche Kosmogonie des Rechts Das Charakteriſtiſche derſelben für die römiſche Vorſtellungsweiſe. S. 90 98.
  • A. Die Ausgangspunkte oder die Urelemente des römiſchen Rechts.
  • §. 9. Das Minimum geſchichtlicher Anfänge. S. 98 103.
  • I. Das Prinzip des ſubjektiven Willens der Urquell des römiſchen Rechts. S. 103 161.
  • §. 10. 1. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Begründung des Rechts (Recht der Beute) Vorliebe der römiſchen Rechtsanſicht für originäre Erwerbungsarten. S. 103 115.
  • §. 11. 2. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Schutz und Verwirklichung des Rechts Das Syſtem der Selbſthülfe Die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines zweifelloſen Anſpruchs Die Privatrache und der Urſprung der Privatſtrafen Zuſicherung des Beiſtandes von Seiten Einzelner und des ganzen Volks (testimonium = Garantie des Rechts). S. 115 143.
  • §. 12. 3. Vertragsmäßige Entſcheidung der Rechtsſtreitigkeiten Das öffent - liche Richteramt in ſeinem Anſchluß an das Syſtem der Selbſthülfe Geſtalt dieſes Syſtems in ſpäterer Zeit. S. 143 161.
  • XI
  • II. Familienprinzip und Wehrverfaſſung, die Faktoren der organiſirten Gemeinſchaft. S. 161 255.
  • §. 13. Vorbemerkung. S. 162 168.
  • §. 14. 1. Das Familienprinzip. S. 168 238.
  • a. Die Gentilverbindung Die Gens eine Familie im Großen und ein Staat im Kleinen Einfluß auf das geſammte Recht. S. 168 192.
  • §. 15. b. Der Staat vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus Die publiciſtiſche Societät der Individuen Baſirung der Strafgewalt auf Rache, der geſetzgebenden Gewalt und des Rechtsſchutzes auf Ver - trag lex und jus Dualismus der vom Staat anerkannten und der bloß ſubjektiven Rechte. S. 192 219.
  • §. 16. c. Stellung außerhalb der Gemeinſchaft Volle Negation des Rechts, der Kriegsfuß Relative Berechtigung dieſes Standpunktes Mil - derungen Einfluß des Handels Das hospitium Entſtehung des internationalen Rechts aus dem Vertrage heraus Die Clientel, precarium und peculium. S. 219 238.
  • 2. Einfluß der Wehrverfaſſung auf Staat und Recht. S. 239 255.
  • §. 17. Vortheilhafter Einfluß des Krieges auf die Verfaſſung Die Staats - verfaſſung eine Wehrverfaſſung Die militäriſche Eintheilung des Volks Prinzip der Subordination Das imperium Militäri - ſcher Charakter des Königthums Strafgewalt Einfluß der Wehrverfaſſung auf die Erziehung des Volks Sinn für äußere Ordnung und Geſetzlichkeit.
  • III. Das religiöſe Prinzip mit ſeinem Einfluß auf Recht und Staat. S. 256 281.
  • §. 18. Das Fas Handhabung deſſelben durch das Pontifikalcollegium Prozeß vor dem geiſtlichen Gericht (legis actio sacramento) Her - vortreten des religiöſen Einfluſſes in den verſchiedenen Theilen des Rechts, namentlich im Strafrecht Der homo sacer Die Strafe als religiöſes Sühnemittel.
  • §. 19. Gemeinſames aller dieſer Ausgangspunkte. S. 281 285.
  • XII
  • B. Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen Ausgangspunkten. S. 285 336.
  • §. 20. 1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes und die Prädeſtination deſſelben zur Cultur des Rechts Moraliſche und intellektuelle Begabung des römiſchen Volks Die Selbſtſucht Die Idee der Zweckmäßigkeit Die Energie des Willens (Conſequenz und conſervative Tendenz). S. 285 314.
  • §. 21. 2. Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen Ausgangspunk - ten, vor allem das praktiſche Verhältniß des römiſchen Lebens zur Religion. S. 314 336.
[1]

Einleitung.

Die Aufgabe und die Methode ihrer Löſung.

Die Zukunft des römiſchen Rechts Veranlaſſung zu einer Beurtheilung deſſelben.

I. Es tauchen von Zeit zu Zeit in jeder Wiſſenſchaft ge - wiſſe Fragen und Richtungen auf, die durch ihre ins Leben tief - eingreifende Bedeutung auch den gebildeten Laien ein Intereſſe abnöthigen, und für deren Schickſal die Stimmung dieſes Pu - blikums nicht ſelten entſcheidender wird, als der Ausgang des Prozeſſes, den ſie in der Wiſſenſchaft zu beſtehen haben. Auch die Jurisprudenz, ein Gebiet, das in früherer Zeit den Blick des Laien kaum auf ſich zog, hat neuerdings bei manchen Fragen dieſe Erfahrung machen müſſen, und zu dieſen gehört der Gegen - ſtand der vorliegenden Schrift, das römiſche Recht. Der Auf - ſchwung des Nationalgefühls zur Zeit der ſ. g. Freiheitskriege lenkte faſt nothwendigerweiſe die Aufmerkſamkeit des größeren Publikums auf dieſen fremdartigen Beſtandtheil unſeres Rechts - lebens, und das Gefühl, mit dem man denſelben betrachtete, konnte nicht zweifelhaft ſein. Es hätte nicht erſt der Autorität nahmhafter Juriſten bedurft, die über das römiſche Recht den Stab brachen, nicht des reichen Sündenregiſters, mit dem ſie ihren Spruch rechtfertigten; die Thatſache, daß ein vor mehr als tauſend Jahren bei einem fremden Volke entſtandenes Geſetzbuch als Richtſchnur des heutigen Rechtsverkehrs galt, ſchien in ſichJhering, Geiſt d. röm. Rechts. 12Einleitung die Aufgabe.ſelbſt einen ſolchen Widerſpruch, eine ſolche Verletzung des Na - tionalitätsprinzips zu enthalten, daß der gebildete Laie auch ohne Beihülfe der Juriſten ſich berufen halten mußte, einen ſolchen Zuſtand zu verdammen und die Aufhebung deſſelben zu verlan - gen. Eine wiſſenſchaftliche Richtung, die darauf ausging, das römiſche Recht zu bekämpfen und zu verdrängen, konnte daher von vorn herein der Sympathieen des großen Publikums ver - ſichert ſein und mußte täglich an Terrain gewinnen. Sie war zeitgemäß, denn ſie hatte den großen Gedanken, dem die Zeit gehört, den der Nationalität zu ihrem Bundesgenoſſen, und die Allgewalt, die dieſer Gedanke auf die Gebildeten wie die Maſſen ausübt, ſichert dieſer Richtung den Sieg. Die gegenwärtige Generation von Juriſten muß darauf gerüſtet ſein, das römiſche Recht in ſeiner bisherigen Geſtalt ſcheiden zu ſehen; ſie hat jedenfalls die Aufgabe, dies Ereigniß vorzubereiten, vielleicht auch noch die, ſelbſt mit Hand ans Werk zu legen.

Jene vorausſichtliche Verdrängung des römiſchen Rechts wird aber mehr ſeine Form, als ſeinen Inhalt treffen. Es wird aufhören, für uns die Gültigkeit eines Geſetzbuches zu beſitzen, aber es wird uns, wie überall, wo es früher galt und dann auf - gehoben ward, einen bedeutenden Theil des Materials liefern, aus dem wir den Neubau unſeres Rechts zu geſtalten haben, und ſo wird eine große Summe der römiſchen Rechtsgrundſätze in veränderter Form fortexiſtiren. Kein Verſtändiger nämlich wird dieſelben als einen Krankheitsſtoff betrachten, den unſer Rechtsorganismus, um wieder zu geneſen, ganz und gar auszu - ſcheiden hätte. Es iſt nicht die Aufgabe, in krankhafter Erregung des Nationalgefühls jede Partikel des römiſchen Rechts, bloß weil ſie römiſchen Urſprunges iſt, als einen mit unſerer Natur unverträglichen Beſtandtheil auszuſtoßen. Wie die Nationen im Handelsverkehr ihre Produkte und Fabrikate gegen einander umſetzen, ſo findet auch ein geiſtiges Austauſch-Geſchäft unter ihnen Statt, und täglich entlehnt die eine von der andern in Kunſt, Wiſſenſchaft, Recht u. ſ. w., ohne daß ſie davon eine3Die Zukunft des römiſchen Rechts. §. 1.Gefährdung ihrer Nationalität befürchtete. Dieſe Entlehnung ſoll nur keine mechaniſche, ſondern eine Aſſimilirung, eine innerliche Aneignung ſein. Das römiſche Recht als Geſetzbuch in frem - der Sprache hat dieſen Aſſimilirungsprozeß nie durchmachen kön - nen und muß darum auch wieder ausgeſtoßen werden, dahingegen iſt von ſeinen materiellen Grundſätzen eine große Zahl im Laufe der Jahrhunderte ganz in unſer Fleiſch und Blut übergegangen, und dieſer Bildungsprozeß läßt ſich weder rückgängig machen noch ignoriren.

So werden wir alſo manches behalten, manches zurück - erſtatten. Damit wir aber nach keiner von beiden Seiten hin zu viel oder zu wenig thun, iſt eine genaue Prüfung des Materials unerläßlich. Es iſt gewiſſermaaßen zum Zweck der Auseinander - ſetzung mit dem römiſchen Recht die vorherige Aufnahme einer Abrechnung erforderlich. Was iſt uns denn das römiſche Recht bisher geweſen, was kann und darf es uns fortan ſein, wie ſind die Mittel, über die es gebietet und die es uns zu Gebote ſtellt, beſchaffen u. ſ. w., das ſind Fragen, über die wir uns am Tage jener Abrechnung bereits völlig klar geworden ſein müſſen.

Eine erſchöpfende Beurtheilung des römiſchen Rechts würde daſſelbe von drei verſchiedenen Seiten zu betrachten haben, näm - lich vom ſpezialhiſtoriſchen, univerſalhiſtoriſchen und legislativen Standpunkt. Auf dem erſten Standpunkt betrachtet man daſſelbe abſolut, d. h. als ein für ſich ſelbſtändiges Ganze, auf den bei - den andern relativ, und zwar auf dem zweiten in Beziehung auf die geſammte Entwicklung des Rechts in der Weltgeſchichte, auf dem dritten in Beziehung auf die legislativen Bedürfniſſe und Zwecke der Gegenwart. Jene erſte Betrachtungsweiſe würde das Weſen des römiſchen Rechts zu ergründen, ſeinen geiſtigen Ge - halt zu ermitteln haben; die zweite hätte die Frage zu beant - worten: welchen Fortſchritt machte die Univerſal-Geſchichte des Rechts mit dem römiſchen Recht, und welchen Einfluß hat daſ - ſelbe auf die moderne Welt ausgeübt; die dritte hätte die legis - lative Brauchbarkeit dieſes Rechts zum Gegenſtande.

1*4Einleitung die Aufgabe.

Es iſt nun meine Abſicht, mich nach und nach an allen dieſen drei Fragen zu verſuchen, und die gegenwärtige Schrift, die die erſte derſelben behandelt, ebnet mir für die Bearbeitung der bei - den andern den Boden. So hätte ich dieſelbe denn als erſten Theil einer Kritik des römiſchen Rechts erſcheinen laſſen können. Allein andererſeits iſt ſie durch die Selbſtändigkeit ihrer Aufgabe ein abgeſchloſſenes Ganze, und es iſt mir ſelbſt noch ſo ungewiß, ob und wann ich im Stande ſein werde, die beiden andern Theile folgen zu laſſen, daß ich es vorgezogen habe, jeden derſelben als ſelbſtändiges Werk anzulegen und erſcheinen zu laſſen. Ich wende mich denn fortan ausſchließlich der erſten Frage zu, d. h. der Charakteriſtik des römiſchen Rechts auf den verſchiedenen Stufen ſeiner Entwicklung.

Es iſt nun meine Abſicht, dieſe Aufgabe in einer auch für gebildete Laien faßlichen Weiſe zu behandeln. Denn wenn, um an die obige Bemerkung wieder anzuknüpfen, die Exiſtenzfrage des römiſchen Rechts vor das große Publikum gezogen iſt, wenn ſie das Intereſſe der Gebildeten mit Recht auf ſich ziehen kann, ſo halte ich es für eine Pflicht der Wiſſenſchaft gegen ſich ſelbſt wie gegen ihre Zeit, dieſem Intereſſe auf halbem Wege entgegen zu kommen und dem Laien die Gelegenheit zu bieten, ſich über das römiſche Recht ein richtiges Urtheil zu bilden. Schon man - cher Laie mag das Bedürfniß gefühlt haben, ſich über ein Recht zu belehren, das durch ſeine merkwürdigen Schickſale und ſeine außerordentliche Bedeutung für die moderne Welt zu den her - vorragendſten geſchichtlichen Erſcheinungen gehört; ein Recht, deſſen praktiſche Beziehung zur Gegenwart ihm ſo oft und räth - ſelhaft entgegentritt; ohne daß er jedoch geneigt oder im Stande wäre, zu dem Zweck den langen Weg der Schule einzuſchlagen. Der ſpeziellen Veranlaſſungen, die der Hiſtoriker, Philologe, Philoſoph hat, ſich eine Einſicht in das römiſche Recht und ein Urtheil über daſſelbe zu verſchaffen, will ich gar nicht einmal gedenken.

Ich habe nun bei der Ausarbeitung dieſer Schrift die Be -5Die Löſung unſere heutige Wiſſenſchaft. §. 2.dürfniſſe dieſes Publikums zu berückſichtigen geſucht, ohne doch, wie ich glaube, dadurch die Theilnahme meiner Fachgenoſſen auf eine zu ſchwere Probe geſtellt zu haben. Ehr möchten umgekehrt neben dem weſentlichen Kern des Werks, der jedem Gebildeten verſtändlich ſein wird, einzelne Ausführungen vorkommen, die ſein Intereſſe nicht in Anſpruch nehmen oder ohne Beihülfe eines Juriſten ihm weniger zugänglich ſind. Dieſe Berechnung auf zwei Leſerkreiſe mag manchen unthunlich erſcheinen, denn unter allen Umſtänden, könnte man ſagen, geſchieht daran für den einen ſchon zu viel, was für den andern eben ausreicht, und für jenen genügt wiederum, was für dieſen zu wenig iſt. Dies iſt aber nur ſcheinbar, und gerade umgekehrt halte ich die Berück - ſichtigung jener beiden Leſerkreiſe bei wiſſenſchaftlichen Gegen - ſtänden, die ſich überhaupt für eine populäre Darſtellungsweiſe eignen, und den vorliegenden zähle ich dazu für ſehr vor - theilhaft. Die Rückſicht auf den Laien zwingt zur Klarheit, die Rückſicht auf den Leſer vom Fach verhindert, daß dieſe Klarheit in Plattheit übergehe oder daß der Schriftſteller ſich der Be - gründung ſeiner Behauptungen überhebe. Die Wiſſenſchaft ſelbſt kann dadurch nur gewinnen, daß man ſie dem unbefange - nen Blicke des Laien bloß zu ſtellen verſucht, indem man dadurch veranlaßt wird, aus Rückſicht auf ihn traditionelle Anordnungen und Begriffsformulirungen zu verändern, das den freien geiſti - gen Blick nicht ſelten ſtörende gelehrte Beiwerk fallen zu laſſen, den weſentlichen Kern der Wiſſenſchaft herauszuſuchen und ohne Hülfe der Schulſprache faßlich darzuſtellen.

Bedürfniß der Löſung unſerer Aufgabe Unſere heutige Wiſſen - ſchaft und ihr wiſſenſchaftlicher Apparat.

II. Bedarf denn unſere Aufgabe noch erſt der Löſung? Sollte man nicht erwarten, daß ſie bei der Fülle der geiſtigen Kraft, über die das römiſche Recht ſeit Jahrhunderten geboten hat, längſt gelöſt ſei? Zu allen Zeiten wiederholten ſich die Angriffe auf6Einleitung die Aufgabe.dieſes Recht, zu allen Zeiten ſuchte man ſie mit der Verweiſung auf den hohen Werth deſſelben zurückzuſchlagen; worin beſteht denn derſelbe? Welchen dankbareren Stoff zur Bethätigung hätte die Verehrung, die man dieſem Recht zollte, finden können, als die Lichtſeiten deſſelben hervorzuheben, und wie hätte man die Gegner wirkſamer zum Schweigen bringen können? Aber unſere Literatur ſtraft dieſe Erwartung Lügen, denn ſtatt einer einge - henden Kritik des römiſchen Rechts gewährt ſie uns nur gele - gentliche allgemeine Ausſprüche über die Trefflichkeit deſſelben, den eminenten Scharfſinn und praktiſchen Takt der römiſchen Juriſten u. ſ. w. Weihrauch hat man dem römiſchen Recht genug geſtreut, und es lagert ſich, möchte ich ſagen, um daſſelbe eine glänzende Atmoſphäre, durch die der Unkundige erſt hin - durchdringen muß, um ſich ihm zu nähern; aber ſobald er ſie hinter ſich hat, ſobald der Gegenſtand ſelbſt in ſeiner Nacktheit ſich ihm zeigt, tritt eine bittere Enttäuſchung ein, und man be - greift nicht, worin die viel geprieſene Größe deſſelben beſtehen ſoll. Bei längerer Beſchäftigung mit demſelben offenbart ſie ſich freilich, aber mehr dem Gefühl, als der Erkenntniß; es verhält ſich damit, wie mit dem Zauber, den manche Perſönlichkeiten ausüben: man fühlt ihn, ohne ſich bewußt zu ſein, worin er eigentlich beruhe. So hat auch das römiſche Recht auf tauſende und aber tauſende ſeiner Jünger die höchſte Anziehungskraft ausgeübt; in ihnen allen lebte das Gefühl ſeiner Größe und artete nicht ſelten in fanatiſche Blindheit aus, aber an die wiſſen - ſchaftliche Begründung dieſes Gefühls hat man kaum gedacht. Man begnügte ſich, den Gegenſtand auf das ſorgfältigſte zu erforſchen und, wo es galt, ein Urtheil abzugeben, ihm in den allgemeinſten Ausdrücken ein glänzendes Zeugniß auszuſtellen. Bedürfte es aber eines ſolchen, käme es darauf an, die Größe des römiſchen Rechts auch für den Unkundigen in das rechte Licht zu ſetzen und dem Zweifler den Mund zu ſchließen, ſo brauchte man nur die Thatſachen ſprechen zu laſſen; die Geſchichte ſelbſt hat dem römiſchen Recht das beſte Zeugniß ausgeſtellt. 7Die Löſung der Werth des römiſchen Rechts. §. 2.Denn als das Volk, dem daſſelbe angehörte, längſt vom Schau - platz abgetreten, als im Laufe der Jahrhunderte eine neue Welt auf den Trümmern Roms ſich gebildet hatte, da regte ſich unter ihnen das Recht dieſes Volks, das wieder erwachte aus der Erſtarrung, der es lange verfallen geweſen. Wie es nun hervor - trat in ſeinem fremdartigen, entſtellten Aeußern, ſchwerfällig und einem abgelebten Greiſe ähnlich, wer hätte da glauben ſollen, daß die blühenden, kräftigen Geſtalten der jugendlichen Völker, denen jetzt die Welt gehörte, ſich vor dieſem Fremdling beugen und ihn an ihren Heerd aufnehmen würden; daß er aus einem Lehrer allmählig ihr Gebieter werden und ihnen ſeine Geſetze aufzwingen würde? Wenn man weiß, mit wie feſten Banden, mit wie viel tauſend Fäden jedes Recht an das Volk ſeiner Hei - math geknüpft iſt; wenn man bedenkt, welchen Widerſtand das Nationalgefühl ſo wie das Leben mit ſeinen unendlichen Intereſſen und Mitteln dem Eindringen eines fremden Rechts entgegenzu - ſetzen vermag, ſo wird man ermeſſen, welche rieſige Kraft dem römiſchen Recht inne wohnen mußte, um dieſen Widerſtand zu brechen und Völkern fremder Sprache und Sitte ſein Joch auf - zulegen. Mich hat jenes Wiedererwachen und das ſpätere Schick - ſal des römiſchen Rechts oft an ein bekanntes morgenländiſches Märchen erinnert. Ein Zauberer bannt einen Geiſt in ein ver - ſchloſſenes Gefäß. Lange liegt es verborgen auf dem Meeres - grunde, bis es in die Netze eines Fiſchers geräth. Er öffnet es, und damit erhält der gebannte Geiſt ſeine Freiheit zurück und beginnt ſofort, ſie zum Heile oder Unheile des Finders zu benu - tzen. So war auch der Genius des römiſchen Rechts zu einer Unthätigkeit von Jahrhunderten verdammt, bis das Behältniß, in das er im ſechſten Jahrhundert eingeſchloſſen worden war, wieder geöffnet ward, und jetzt ſtrömte er aus faſt über den ganzen europäiſchen Continent, zerſtörend und ſchaffend, und keine Macht der Lebendigen war dieſem Geiſte des Alterthums gewachſen.

In dieſer Apotheoſe des römiſchen Rechts liegt die Größe8Einleitung die Aufgabe.deſſelben in unverkennbaren Zügen ausgeſprochen, nichts iſt alſo leichter, als den Beweis dieſer Größe zu erbringen. Aber wenn man weiter dringt, wenn man frägt: worauf beruht ſie denn, wodurch unterſcheidet ſich das römiſche Recht ſo ſehr zu ſeinem Vortheile von andern Rechten, dann geben uns ſelbſt die größten Kenner deſſelben nur ungenügende Antwort. Man preiſt den Scharfſinn und die Conſequenz der römiſchen Juriſten, aber damit iſt nichts gewonnen. Dieſelbe Eigenſchaft findet ſich in nicht minderem Grade, ja vielleicht mit einer noch ſchärferen Spitze in der talmudiſchen Jurisprudenz1)Man vergleiche z. B. den Schulchan Aruch, von dem eine abge - kürzte Ueberſetzung 1838 zu Hamburg erſchien. und in der juriſtiſchen und moraliſchen Caſuiſtik der Jeſuiten,2)Namentlich in der Lehre vom Eide und von der Ehe. und wie ſehr treten doch beide hinter das römiſche Recht in den Schatten. Wenn man auch noch ſo viele Vorzüge der römiſchen Juriſten nahmhaft machen will, ſo führen ſie alle nur zu dem einen Satze, daß letztere große Meiſter geweſen. Wer aber von irgend einem Pro - dukt nachweiſen will, daß und warum es ein Meiſterſtück ſei, wird gewiß nicht den Weg einſchlagen, daß er zeigt, der Urhe - ber habe alle Eigenſchaften beſeſſen, um ein ſolches Meiſterſtück zu liefern, ſondern er wird ſich an das Werk ſelbſt halten und auf jeden einzelnen Vorzug deſſelben aufmerkſam machen.

Es iſt nun höchſt auffallend, wie wenig Sinn für eine ſolche Materialkritik des römiſchen Rechts in unſerer Literatur hervortritt. Es iſt weder der Verſuch einer Beurtheilung des römiſchen Rechts im ganzen und großen gemacht, noch pflegt auch bei der Bearbeitung einzelner Lehren eine ſolche kritiſche Betrachtungsweiſe hervorzutreten. Man begnügt ſich, das römiſche Recht möglichſt rein darzuſtellen, ich möchte ſagen, man müht ſich ab, täglich von neuem den Aktenauszug zu verbeſſern, ohne zu gedenken, daß ſich ihm ein Urtheilsentwurf nebſt Ent - ſcheidungsgründen anſchließen ſoll. Worin liegt der Grund die -9Unſere heutige Wiſſenſchaft. §. 2.ſes Verſäumniſſes? Hält man dieſe Aufgabe einer Urtheilsfäl - lung für ſo leicht, daß die Literatur ſich ihr nicht erſt zu unter - ziehen brauche, ihre Löſung ſich vielmehr von ſelbſt ergebe? Das wäre ein großer Irrthum; man müßte gar keine Ahnung von der Bedeutung und dem Umfang dieſer Aufgabe haben. Oder iſt unſere Jurisprudenz bei ihrer praktiſchen Tendenz gleichgültig gegen alle Fragen, die ſich nicht unmittelbar auf die praktiſche Anwendbarkeit des Rechts beziehen? Dies iſt eben ſo wenig der Fall, wie ja die eifrige Cultur der römiſchen Rechtsgeſchichte am beſten bezeugt.

Nein, ſcheuen wir uns nicht, den Vorwurf auszuſprechen: der Grund jenes Verſäumniſſes liegt nicht im Nicht-Wollen, ſondern im Nicht-Können. Zu einer wahrhaften Kritik des - miſchen Rechts, zur Erforſchung ſeines innerſten Weſens und ſeiner letzten Gründe fehlt es unſerer romaniſtiſchen Jurisprudenz ſowohl an der ſubjektiven Fähigkeit wie an dem objektiven wiſſenſchaftlichen Apparat. Die Beſchaffenheit des Stoffes, dem ihre ganze Thätigkeit gewidmet iſt, zwingt ſie, denſelben ſtets in größter Nähe, ich möchte ſagen mit der exegetiſchen Lupe in der Hand zu betrachten, und dieſe Fertigkeit iſt durch Uebung ſo ſehr in ihr ausgebildet, ihr wiſſenſchaftlicher Apparat, ihre Lupen und Mikroſkope ſind ſo ſcharf geſchliffen, daß ſie in der kleinſten, unſcheinbarſten Stelle aus den Pandekten oder Gajus gewiſſermaaßen das Blut circuliren ſehen kann. Aber wie da - durch einerſeits das Auge für ſolche mikroſkopiſche Beobachtun - gen geſchärft wird, nimmt andererſeits die Weitſichtigkeit deſſel - ben ab, und es ſtellt ſich eine Abneigung gegen die Einnahme entfernterer Standpunkte ein. Iſt es nicht erklärlich, daß man - cher, der jedes Sandkorn in der Nähe ſieht, in allgemeineren Geſichtspunkten nichts erblickt, als verſchwimmende Umriſſe, Seifenblaſen, an denen nur ungründliche Naturen Gefallen fin - den können? Unſere gegenwärtige Aufgabe erfordert aber durch - weg ein Operiren mit allgemeinen Geſichtspunkten, eine Be - trachtung aus der Ferne. Um das römiſche Recht zu beurtheilen,10Einleitung die Aufgabe.können wir uns nicht an einzelne Beſtimmungen deſſelben halten, ſondern wir müſſen daſſelbe prinzipiell erfaſſen, wir ſind daher beſtändig gezwungen zu abſtrahiren. Statt der Lupe bedürfen wir, wenn der Vergleich erlaubt iſt, der Teleſkope d. h. ſtatt einer Kritik, die die Ueberlieferungsform des römiſchen Rechts, die Handſchriften, Varianten u. ſ. w. zum Gegenſtand hat, einer Kritik des Rechts überhaupt, einer allgemeinen Natur - lehre deſſelben. Wer meſſen will, bedarf eines Maaßſtabs, und den Maaßſtab zur Beurtheilung eines einzelnen Rechts kann uns nur die allgemeine Lehre von der Natur und Erſcheinungs - form des Rechts überhaupt geben. Wie dürftig iſt es aber mit dieſer Lehre beſtellt, wie gering iſt das Kapitel von Begriffen, Anſchauungen und Geſichtspunkten, das uns die heutige Juris - prudenz zu dieſem Zwecke zu Gebote ſtellt. Mir iſt dieſer Mangel bei meiner Arbeit ſehr fühlbar geworden. An wie mancher Er - ſcheinung mußte ich ohne Ausbeute vorübergehen, bei der es mir doch gewiß war, daß ſie einen geiſtigen Gehalt in ſich ſchließe, den zu finden es nur einer Erweiterung der rechtsphi - loſophiſchen Auffaſſung bedürfte. Was uns im Leben täglich begegnet, geſchieht auch in der Wiſſenſchaft; gedankenlos gehen wir vor manchen merkwürdigen Erſcheinungen vorbei, und wenn wir aufmerkſam darauf gemacht ſind, erſcheint uns unſer früheres Ueberſehen unbegreiflich. So wird auch eine kommende Zeit es unerklärlich finden, daß unſere gegenwärtige Jurisprudenz, die eine ſo hohe Kenntniß des römiſchen Rechts beſitzt, doch eine ſo geringe Beobachtungsgabe für die charakteriſtiſchen Eigenſchaften deſſelben gehabt hat, und daß uns verſchloſſen blieb, was demnächſt, wenn der rechte Begriff dafür gefunden, dem blöden Auge ſichtbar wird. Mich hat bei meiner Aufgabe öfter das Gefühl beſchlichen, als hätte ich vor mir den geſtirnten Himmel; die Reſultate meiner Beobachtung erhöhen täglich in mir die Ueberzeugung, daß ſich hier dem For - ſchergeiſte noch ein unendliches Feld von Entdeckungen öffnet, aber bei jedem Schritte, den ich ſelbſt vorwärts zu machen ſtrebe,11Unſere heutige Wiſſenſchaft. §. 2.hemmt mich, um im Bilde zu bleiben, der dürftige Apparat der Sternwarte und drängt mir die Ueberzeugung auf, daß er ſelbſt erſt vermehrt und verbeſſert werden muß, damit die Ausbeute loh - nender werde. In demſelben Maaße, in dem die allge - meine Naturlehre des Rechts auf rechtsphiloſophi - ſchem und empiriſch-comparativem Wege ſich ver - vollkommnet und an neuen Begriffen und Geſichts - punkten ſich bereichert, wird auch die Einſicht in das wahre Weſen des römiſchen Rechts ſteigen. Jene Naturlehre ſelbſt liegt heutzutage noch in der Kindheit und die vorliegende Schrift hat neben ihrer Hauptaufgabe zugleich die Beſtimmung, dieſe Lehre um einige Beiträge zu bereichern, bei Gelegenheit der Beurtheilung eines einzelnen Rechts Geſichts - punkte aufzuſtellen, die dem Weſen des Rechts überhaupt ent - nommen ſind, eine allgemeinere Wahrheit beanſpruchen. Ihre Benutzung für unſern ſpeziellen Zweck wird eine nähere Begrün - dung derſelben unvermeidlich machen, aber auch nur ſoweit jener Zweck es erheiſcht, werden wir es uns verſtatten, dieſelben aus - zuführen.

Mit dieſer Verſicherung ſcheinen ſchon die nächſten Para - graphen in Widerſpruch zu treten. Dieſelben ſollen nämlich die richtige Methode für eine rechtshiſtoriſche Darſtellung vorzeich - nen, und daß unſere Aufgabe rechtshiſtoriſcher Art iſt, liegt auf der Hand, denn das römiſche Recht läßt ſich ohne Eingehen auf ſeine Geſchichte nicht beurtheilen. In wie fern unſere Aufgabe von der der römiſchen Rechtsgeſchichte abweicht, wird ſich bei der Begründung der Methode am beſten beſtimmen laſſen. Ich gehe nun bei dieſer Begründung von der Idee aus, daß jede Dar - ſtellung der Geſchichte des Rechts den beiden Begriffen des Rechts und der Geſchichte eine Genüge thun ſoll ein gewiß höchſt unſchuldiger Satz, den, möchte man ſagen, kein Rechts - hiſtoriker je außer Augen gelaſſen hat. Aber in wie manchen Darſtellungen der römiſchen Rechtsgeſchichte zeigt ſich das Ge - gentheil, wie manche enthalten in Wahrheit weder eine Ge -12Einleitung die Methode.ſchichte, noch eine Geſchichte des Rechts, ſondern eine nach Zeit und Inhalt angeordnete Zuſammenſtellung von rechtshiſto - riſchem Material, ein Inventarium der römiſchen Rechtsgeſchichte. Die folgende Darſtellung wird die Grundgebrechen der herr - ſchenden Methode bezeichnen, und ſie ſind ſo tief eingewurzelt, daß es nicht ausreichte, ſie durch die That zu widerlegen, ſondern daß ich es für unerläßlich hielt, dem Verſuch einer ſolchen that - ſächlichen Widerlegung die Begründung der nach meiner Anſicht richtigen Methode vorauszuſchicken. Letzteres ſelbſt war nur durch eine zuſammenhängende Entwicklung der aus den beiden Begrif - fen des Rechts und der Geſchichte ſich für den Rechtshiſtoriker ergebenden Conſequenzen möglich. Es iſt aber nicht auf eine philoſophiſche Analyſe beider Begriffe abgeſehen, ſondern unſer Zweck verſtattet es uns von einfachen, unbeſtrittenen Wahrhei - ten auszugehen und uns mit einfachen Reſultaten zu begnügen. Die einfachſten Wahrheiten werden aber bekanntlich nicht ſelten überſehen oder nicht zur Anwendung gebracht, und dieſer alte Satz bewährt ſich auch hier.

Methode der rechtshiſtoriſchen Darſtellung.

1. Anforderungen die in der Natur des Rechts enthalten ſind.

1. Anatomiſche Betrachtung des Rechtsorganismus Die Be - ſtandtheile deſſelben: Rechtsſätze, Rechtsbegriffe, Rechtsinſtitute pſychiſche Organiſation des Rechts Differenz zwiſchen dem objektiven Recht und der ſubjektiven Erkenntniß (latente Be - ſtandtheile des Rechts) Aufgabe der Wiſſenſchaft.

III. Wir gehen von der heutzutage herrſchenden Auffaſſung des Rechts als eines objektiven Organismus der menſchlichen Freiheit aus. Es iſt gegenwärtig kein Streit mehr darüber, daß das Recht nicht, wie man es früher betrachtete, ein äußerliches Aggregat willkührlicher Beſtimmungen iſt, der Reflexion der13Das Recht ein Organismus. §. 3.Geſetzgeber ſeinen Urſprung verdankt, ſondern wie die Sprache eines Volkes ein innerlich zuſammenhängendes Produkt der Ge - ſchichte iſt. Menſchliche Abſicht und Berechnung hat freilich ihren Antheil an der Bildung deſſelben, aber ſie findet mehr, als daß ſie ſchafft, denn die Verhältniſſe, in denen ſich das Gattungsleben der Menſchheit bewegt, warten nicht erſt auf ſie, daß ſie ſie aufrichtete und geſtaltete. Der Drang des Lebens hat das Recht mit ſeinen Anſtalten hervorgetrieben und unterhält daſſelbe in unausgeſetzter äußerer Wirklichkeit. Die Geſtalt, die die Sinnesart des Volks und ſeine ganze Lebensweiſe demſelben aufgedrückt hat, iſt das, was jede legislative Reflexion und Willkühr vorfindet, und woran ſie nicht rütteln kann, ohne ſelbſt zu Schanden zu werden. In ſteter Abhängigkeit von dem Cha - rakter, der Bildungsſtufe, den materiellen Verhältniſſen, den Schickſalen des Volks verläuft die Bildungsgeſchichte des Rechts und neben den gewaltigen hiſtoriſchen Mächten, die dieſelbe beſtimmen, ſchrumpft die Mitwirkung menſchlicher Einſicht, wenn ſie ſtatt Werkzeug Schöpferin ſein wollte, in Nichts zu - ſammen.

Die reale, objektive Schöpfung des Rechts, wie ſie uns in der Geſtaltung und Bewegung des Lebens und Verkehrs als verwirklicht erſcheint, läßt ſich als ein Organismus bezeichnen, und an dieſes Bild des Organismus wollen wir unſere ganze Betrachtung anknüpfen. Indem wir dieſes Bild benutzen, legen wir damit dem Recht die Eigenſchaften eines Naturproduktes bei, alſo Einheit in der Vielheit, Individualität, Wachsthum von innen heraus u. ſ. w. Dieſe Vergleichung, die Bezeichnung: organiſch, naturwüchſig u. ſ. w. iſt heutzutage eine ſehr beliebte geworden, aber nicht ſelten iſt ſie ein prunkendes Aushängeſchild, hinter dem ſich eine ganz mechaniſche Behandlungsweiſe verbirgt, ein Glaubensbekenntniß in Worten, das man im erſten Para - graphen ablegt, um es nachher durch die That verläugnen zu dürfen.

Jeder Organismus macht nun eine doppelte Betrachtung14Einleitung die Methode.möglich, eine anatomiſche und eine phyſiologiſche; jene hat die Beſtandtheile deſſelben und ihr Ineinandergreifen, alſo ſeine Structur, dieſe die Functionen deſſelben zum Gegenſtand. Wir wollen nun das Recht dieſen beiden Betrachtungsweiſen unterwerfen und zwar wenden wir uns in dieſem Paragraphen zuerſt der Structur deſſelben zu.

Wie jeder Organismus zuſammengeſetzt iſt aus verſchie - denen Theilen, ſo auch der des Rechts. Je edler aber und zarter dieſe Theile organiſirt ſind, je weniger ſie alſo auf der Ober - fläche liegen, deſto ſpäter kommen ſie dem Menſchen zum Be - wußtſein, und dies gilt auch vom Recht. Bei jedem Volke hat die Kunde von der Organiſation des Rechts, vom Aeußerlichen immer weiter zum Innerlichen aufſteigend, eine lange Stufen - leiter zurücklegen müſſen. Die Frucht dieſer auf die Erkenntniß des Rechts gerichteten Thätigkeit iſt das Ausſprechen des Er - kannten, ich nenne es das Formuliren des Rechts. Es ge - ſchieht theils aus dem Volke heraus, indem die thatſächlich beach - teten Normen in Form von Rechtsſprüchwörtern ausgedrückt werden, theils durch den Geſetzgeber, indem er beſtehende Ge - wohnheitsrechte anerkennt oder neue Normen, die ihm als Recht erſcheinen, aufſtellt, theils endlich durch Doctrin und Praxis, in - dem ſie ſich geltender Rechtsſätze oder ihrer Conſequenzen bewußt werden. Alle dieſe Beiträge ſind Verſuche, das Recht ins Bewußt - ſein zu bringen, und für alle dieſe Verſuche gilt jener Satz, daß die Erkenntniß mit dem Aeußerlichen beginnend erſt allmählig zum Innerlichen aufſteigt. Dies wollen wir nun im folgenden ausführen und, indem wir dem menſchlichen Geiſt in dieſer ſei - ner Arbeit folgen, die Stufenleiter in der Organiſation des Rechts ſelbſt kennen lernen.

Das erſte, das er erblickt, ſind die äußeren, praktiſchen Spitzen des Rechts, die Theile, deren Thätigkeit ihm ſofort in die Augen ſpringen muß, nämlich die Rechtsſätze. Er ſieht, daß etwas geſchieht und ſich ſtets wiederholt, er fühlt, daß es geſchehen muß, und faßt dies Müſſen in Worte. So entſtehen15Organiſation des Rechts die Rechtsſätze. §. 3.die Rechtsſätze. Aber wie weit bleiben dieſe Abſtractionen hinter der Wirklichkeit, der ſie entnommen ſind, zurück; wie roh und lückenhaft iſt das Bild, das ſie uns von derſelben gewähren. Sie gleichen den erſten plaſtiſchen Verſuchen eines Volkes. So wenig wie man aus letzteren folgern dürfte, daß Menſchen und Thiere zu jenen Zeiten ſo ausgeſehen hätten, wie ſie in dieſen unvollkommnen Nachbildungen erſcheinen, ſo wenig iſt die An - nahme verſtattet, daß ſämmtliche Rechtsregeln aus der Kind - heitsperiode eines Volkes ein getreues Bild ſeines Rechts ge - währen. In qualitativer ſowohl wie quantitativer Hinſicht bleiben dieſelben vielmehr hinter dem Rechte, wie es lebte und leibte, weit zurück.

Iſt dies nicht eine kecke Behauptung? Wie wiſſen wir denn, daß das Recht einen andern Umfang und Inhalt gehabt habe, als die uns erhaltenen Rechtsſätze bekunden? Die Sache iſt einfach. Um einen Gegenſtand richtig darzuſtellen, iſt eine dop - pelte Fähigkeit nöthig, nämlich die, ihn getreu in ſich aufzuneh - men und die, ihn getreu wieder zu geben, oder mit andern Wor - ten Beobachtungsgabe und Darſtellungstalent. Auf das Recht angewandt alſo iſt erforderlich, daß der Darſtellende unter der bunten Hülle der concreten Lebensverhältniſſe, aus denen er die Regel abſtrahiren ſoll, den rechtlichen Kern wahr - nehme, und ſodann daß er denſelben entſprechend zu formuliren verſtehe. Wie wir aber in der uns umgebenden äußeren Natur täglich manche bedeutungsvolle Erſcheinung überſehen, und oft erſt ein Zufall den Beobachter aufmerkſam macht und zu den wichtigſten Entdeckungen den Anſtoß gibt, ſo iſt daſſelbe auch in der moraliſchen Welt der Fall, ja es gilt für ſie, die nur mit dem geiſtigen Auge wahrgenommen werden kann, in einem noch höheren Grade. Wir finden eine beſtimmte Organiſation derſel - ben vor und haben uns an die gleichmäßige Fortdauer derſelben ſo gewöhnt, daß wir gar nicht auf die Frage kommen, in wie weit dieſe Ordnung bloß faktiſcher, in wie weit ſie rechtlicher, nothwendiger Art ſei. Da macht der Zufall, daß Jemand in16Einleitung die Methode.irgend einem Punkt dieſer Ordnung zuwider handelt, uns auf - merkſam; wir werfen jene Frage auf, und mit der Frage iſt auch die Antwort, die Erkenntniß da. So verdankt vielleicht auch die Kunde der moraliſchen Welt dem Zufall ihre folgenreichſten Entdeckungen. Bei vielen Entdeckungen iſt die Antwort weniger ſchwierig geweſen, als die Frage, und der Wiſſenſchaft, die vor lauter Anworten nicht zum Fragen kam, hat oft der Zufall zu Hülfe kommen und die rechten Fragen hinwerfen müſſen.

Mühſam und langſam ſchleicht auf dem Gebiete des Rechts die Erkenntniß und auch bei hoher Reife entzieht ſich noch man - ches ihrem Blicke. So groß die Virtuoſität der klaſſiſchen römi - ſchen Juriſten war, ſo gab es doch auch zu ihrer Zeit in jedem Moment Rechtsſätze, die da waren, ohne von ihnen erkannt zu ſein, und die erſt durch die Bemühungen ihrer Nachfolger ans Tageslicht gebracht ſind. Wenn man uns frägt: wie war dies möglich, da ſie doch, um angewandt zu werden, erkannt ſein mußten, ſo können wir ſtatt aller Antwort auf die Sprachgeſetze verweiſen. Dieſelben werden von Tauſenden täglich ange - wandt, die nie etwas von ihnen gehört haben; was der Er - kenntniß gebricht, erſetzt das Gefühl, der Takt. 3)Ich kann es mir nicht verſagen, hier eine Bemerkung von einem Sprachforſcher, deſſen Reſultate ich im Laufe des Werks noch oft benutzen werde, mitzutheilen, nämlich von Pott Etymologiſche Forſchungen auf dem Gebiete der Indo-Germaniſchen Sprachen u. ſ. w. Bd. 1. 1833. S. 146: Jene umgekehrte Kurzſichtigkeit, welche wohl entfernte Punkte, aber nicht die ganz nahe liegenden wahrnehmen läßt, offenbart ſich im geiſtigen Sinne am Menſchen vorzüglich rückſichtlich der Kenntniß ſeiner Mutterſprache. Dieſe bietet dem Fremden auf den erſten Blick eine Menge auffallender und hervor - ſtechender Punkte dar, die der, welcher ſie von Kindesbeinen an redet, eben der Gewohnheit wegen entweder nie oder nur ſchwer inne wird; jener wird ſchon äußerlich gezwungen darauf ſein Augenmerk zu richten, während dieſer erſt den Reiz des Aufmerkens durch Willenskraft hervorbringen muß. Daher die bekannte Erſcheinung, daß man ſich in der Regel der Mutterſprache erſt durch die Erlernung fremder Sprachen recht bewußt wird und daß es faſt ſchwerer iſt, eine Grammatik der Mutterſprache als einer

17Beobachtungsgabe und Formulirungsvermögen. §. 3.

Alſo die Entdeckung der vorhandenen Rechtsregeln iſt be - dingt durch die Beobachtungsgabe. 4)Auch bei der Aufſtellung neuer Rechtsſätze durch den Geſetzgeber iſt die Beobachtungsgabe erforderlich; ſie hat hier nur ein anderes Objekt, näm - lich ſtatt der vorhandenen Regel das Bedürfniß nach einer neu zu bildenden Regel.Daß letztere aber nach Verſchiedenheit der Zeiten und Individuen großer Abſtufungen fähig iſt, liegt eben ſo ſehr auf der Hand, als daß das Maß derſelben im allgemeinen ſich nach der geiſtigen Bildung des Beobachtenden beſtimmt. Wir werden alſo nicht Unrecht thun, wenn wir ungebildeten, rohen Völkern zurufen: Das wenigſte von der Rechtswelt, die Euch umgibt, habt Ihr begriffen, das meiſte entzieht ſich Eurem Auge und lebt bloß in Eurem Gefühl; Ihr ſteht in Rechtsverhältniſſen, ohne es zu wiſſen, Ihr handelt nach Normen, die Keiner von Euch ausgeſprochen hat; die Rechtsſätze, von denen Ihr Kunde habt, ſind nur vereinzelte Streiflichter, die die Welt des thatſächlichen Rechts in Euer Bewußtſein wirft.

Als zweite bei der Aufſtellung von Rechtsſätzen mitwirkende Eigenſchaft bezeichneten wir das Formulirungsvermögen oder die Fähigkeit, den entdeckten Rechtsſätzen ihren angemeſſe - nen Ausdruck zu geben. Sie ſetzt eine richtige Erkenntniß vor - aus, aber iſt noch nicht mit ihr gegeben; wie manche Anſchau - ung ſteht klar und beſtimmt vor unſerer Seele, die wir doch nur höchſt unvollkommen in Worte bringen können. Jedes, auch das relativ vollendetſte Recht bietet uns Beiſpiele von mißlun - genen Formulirungen d. h. nicht von Mißgriffen in den Beſtim -3)fremden zu verfaſſen. Ferner würde der größte Sprachvirtuoſe vielleicht der ſchlechteſte Grammatiker ſein und umgekehrt. Doch wozu dies? Um uns dem Wahne derer entgegenzuſtellen, welche die Autorität eines Nationalgram - matikers in All und Jedem für heilig halten. Es gibt aber ſolche Böotier, und ſie kehren wieder, ſo oft man ſie auch mit den Zinken austreibt. Statt Sprache und Nationalgrammatiker ſetze man Recht und Nationaljuriſt und mutato nomine de nobis fabula narratur. Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 218Einleitung die Methode.mungen ſelbſt, ſondern in ihrer Faſſung, und beweiſt damit die hohe Schwierigkeit der hier zu betrachtenden Operation. Wenn letztere ſelbſt zu Zeiten der höchſten geiſtigen Reife nicht immer gelingt, wie unvollkommen muß ſie ausfallen bei einem Ge - ſchlechte, das geiſtiger Arbeit wenig gewohnt iſt, wie groß alſo muß hier die Differenz zwiſchen dem thatſäch - lichen und dem formulirten Recht ſein. Die Formuli - rung wird bald zu eng, bald zu weit ſein. Bald werden weſent - liche Vorausſetzungen der Regel verſchwiegen, vielleicht weil man ihrer gar nicht gedachte, vielleicht auch weil man ſie für ſelbſtverſtändlich anſah; bald lautet die Regel allgemein, ohne der nothwendigen Modifikationen zu erwähnen; bald erſcheint ſie geknüpft an eine beſonders hervortretende Spezies, während ſie doch ihrer praktiſchen Gültigkeit nach die ganze Gattung be - traf u. ſ. w.

Jene Differenz zwiſchen dem formulirten und thatſächlichen Recht iſt nun ſowohl quantitativer als qualitativer, extenſiver als intenſiver Art oder m. a. W. neben den ausgeſprochenen Rechtsſä - tzen gibt es noch latente Rechtsſätze, und die ausgeſprochenen ſelbſt enthalten nicht immer eine adäquate Formulirung, ſo daß alſo die Theorie es in ihrer Hand hat, aus dem beſtehenden Recht ſowohl die Summe der Rechtsſätze zu vermehren, als letztere ſelbſt zu verbeſſern. Je nach Verſchiedenheit der Zeiten und Völker iſt jene Differenz verſchieden; es iſt nicht bloß die Culturſtufe, die ſie beſtimmt, ſondern auch die Verſchiedenheit der natürlichen Anlage, des angebornen Talents. Manchem Volke iſt es weni - ger Bedürfniß, ſich ſein Recht zum Bewußtſein zu bringen und es äußerlich zu fixiren, ein anderes iſt von vorneherein von dieſem Triebe beſeelt, und beſitzt auch die erforderliche natürliche Bega - bung. Letztere äußert ſich weniger quantitativ, in der Menge der Rechtsſätze, als in ihrer Beſchaffenheit; ja es kann die quanti - tative Produktivität gerade ein Zeichen von Schwäche ſein. 5)Bei Gelegenheit der unten folgenden Betrachtung der ſyſtematiſchen Seite des Rechts wird ſich dies leichter entwickeln laſſen.

19Differenz zwiſchen dem thatſächlichen und formulirten Recht. §. 3.

Wie graduell verſchieden aber auch jene Differenz bei ver - ſchiedenen Völkern ſein möge, ganz gehoben wird ſie nie. Bis jetzt wenigſtens hat die Erfahrung bewährt, daß das Recht eine unverſiegbare Quelle iſt, aus der Theorie und Praxis täglich ſubjektiv neue d. h. bis dahin noch nicht erkannte Rechtsſätze ſchöpfen, und bis jetzt noch haben ſich die Formulirungen aller Zeiten als bildungs - und vervollkommungsfähig bewieſen. Daß die rein doctrinellen Formulirungen beſtändig im flüſſigen Zuſtande begriffen ſind, täglich neue Formen annehmen, braucht kaum geſagt zu werden. Für den Laien aber bedarf es der Be - merkung, daß daſſelbe auch bei den durch Geſetze ausgeſpro - chenen Rechtsſätzen der Fall iſt und zwar nicht etwa was ſich von ſelbſt verſteht bloß in der Weiſe, daß der Geſetzgeber ſelbſt ſeine Verſehen rectificirte, ſondern auch ohne ſeine Bei - hülfe rein auf dem Wege doctrineller Thätigkeit. Dies geſchieht theils durch die Interpretation, indem der wahre Sinn des Geſetzes einer zu engen oder zu weiten Wortfaſſung gegenüber feſtgeſtellt wird, theils durch die analoge Ausdehnung, die eine Fortbildung des Geſetzes ſelbſt enthält, indem ſie zeigt, daß die geſetzliche Beſtimmung fälſchlich an einen unweſentlichen That - beſtand geknüpft war, an eine einzelne Spezies anſtatt an die Gattung, und folglich über die engen Gränzen, die ſie ſelbſt ſich ſetzte, ausgedehnt werden müſſe. 6)Die analoge Ausdehnung wird am häufigſten in dem Falle eintreten, wenn zur Zeit der Erlaſſung des Geſetzes nur beſtimmte einzelne Spezies der Gattung bekannt waren, und hinterher erſt andere aufkamen z. B. ein Geſetz aus alter Zeit ſpricht bei der Münzfälſchung von gemünztem Gelde, ſpäterhin aber kömmt Papiergeld auf. Indem nun die Doctrin das Geſetz auf letzteres ausdehnt, geht ſie von der Idee aus: Das Geſetz war für den Gattungsbe - griff Geld (öffentlich beglaubigtes Tauſchmittel) beſtimmt, es erſcheint aber an eine Spezies (Metallgeld) geknüpft, weil zur Zeit ſeiner Abfaſſung die Gat - tung noch mit dieſer einen Spezies zuſammenfiel; das weſentliche ſeines That - beſtandes liegt aber nicht in dem, was die Spezies auszeichnet (Metall), ſon - dern in dem, was der Gattung gemein iſt (Geld).

2*20Einleitung die Methode.

Nachdem wir jetzt dies Reſultat gefunden haben, daß zwi - ſchen dem objektiven Recht, wie es thatſächlich lebt und leibt, und ſeiner Faſſung in Form von Rechtsſätzen (wir können ſie auch die Theorie des Rechts nennen) keine vollſtändige Congruenz beſteht, wollen wir eine Frage beantworten, die ſich gewiß man - chem Leſer aufdrängt. Nämlich man könnte meinen, daß jene mangelhaften Formulirungen eine nachtheilige Rückwirkung auf das Recht ſelbſt ausüben müßten. Wie verhält es ſich damit? Man muß unterſcheiden. Gerade zu den Zeiten, wo ſie am un - vollkommenſten ſind, weil das Formulirungsvermögen auf der niedrigſten Stufe ſteht. droht dieſe Gefahr am wenigſten. Wo nämlich die Anwendung derſelben zu einem Widerſpruch mit dem Recht, wie es objektiv in der Wirklichkeit und ſubjektiv in dem Gefühl und der Anſchauung lebt, führen würde, tritt letztere rectificirend dazwiſchen. 7)Auch hier verweiſe ich wieder auf die Analogie der Sprache. Unrich - tige grammatikaliſche Regeln ſchaden dem Sprachgebrauch des Lebens zu den Zeiten am wenigſten, wo die Fertigkeit grammatikaliſcher Abſtractionen am wenigſten ausgebildet iſt.Zwiſchen den Rechtsſätzen und dem wirklichen Recht beſteht hier alſo das Verhältniß, welches ein römiſcher Juriſt8)Paulus in der L. 1 de R. l. (50. 17). für die regulae juris dahin angibt: regula est, quae rem, quae est, breviter enarrat; non ut ex regula jus sumatur, sed ex jure, quod est, regula fiat. Auch verdient dabei wohl beachtet zu werden, daß dieſe Rechtsſätze den Zeitgenoſſen, die die concreten Rechtsverhältniſſe täglich vor Augen haben, in einem ganz andern Lichte erſcheinen, als dem ſpäteren Beobachter; jenen genügt eine unvollkommne Skizze, ſie reproducirt in ihnen das vollſtändige Bild, während dieſer eben nichts darin erblickt, als rohe Umriſſe. Man könnte ſie auch Notizen nennen, die ſich ein Volk über die Erweiterung ſeines Rechtsbewußtſeins macht. So dürftig ſie ſind, ſo unver - ſtändlich für jeden Dritten, der die Vorausſetzung ihres Ver -21Das Leben gegenüber den falſchen Formulirungen. §. 3.ſtändniſſes nicht mitbringt, ſo gewähren ſie doch dem, der ſie ſelbſt ſich entworfen hat, nicht bloß einen Anhaltspunkt für ſein Gedächtniß, ſondern die bloßen Andeutungen leiſten ihm den Dienſt ausführlicher Schilderungen; er bemerkt die Lücken gar nicht. So wird auch die abſolute Unvollkommenheit alter Rechtsſätze relativ für die alte Zeit ſelbſt ausgeſchloſſen, weil ſie den objektiv wahren Sinn derſelben, der in ihnen nicht ausge - ſprochen vorliegt, aus ſich ſelbſt, aus ihrer Rechtsanſchauung in ſie hineinträgt.

Je mehr nun im Laufe der Zeit die Friſche und Lebendig - keit der unmittelbaren Anſchauung des Rechts abnimmt, um ſo mehr ſteigt (wie bei der Sprache) der Einfluß der Theorie auf die Anwendung des Rechts und damit auch die Möglichkeit, daß die Mißgriffe, die letztere bei der Formulirung ihrer Rechtsſätze begangen hat, praktiſche Nachtheile hervorrufen. Aber in dem - ſelben Maße, in welchem das Bedürfniß nach richtiger theore - tiſcher Erfaſſung des Rechts fühlbarer und dringender wird, mehren und verbeſſern ſich auch die Verſuche zu ſeiner Befriedi - gung, und es ſucht die Theorie in ſich ſelbſt, in ihrer eignen Uebung und Reife das Sicherungsmittel zu gewinnen, das ihr früher die ungebrochene Jugendkraft des Rechts gefühls ge - währte. Je mehr es ihr gelingt, die ſubſtantiellen Bildungen des Lebens getreu zu formuliren, um ſo ehr wird ſie aus einem bloßen Spiegel des Rechts eine Quelle deſſelben; je weniger ſie dieſer ihrer Aufgabe entſpricht, je weiter ſie ſich vom Leben ent - fernt, um ſo mehr weiſt letzteres ihre nutzloſe Beihülfe zurück, und die natürliche Heilkraft des Rechtsorganismus erſetzt wie - der, wie in der Kindheitszeit deſſelben, die Geſchicklichkeit des Heilkünſtlers. 9)Von den Geſetzen gilt daſſelbe, nur daß hier der Widerſtand von Seiten des Lebens mehr erſchwert iſt.

Welchen Nutzen kann uns nun die bisherige Ausführung für unſere ſpeziellen Zwecke leiſten, welches ſind die Conſequen -22Einleitung die Methode.zen, die ſich aus derſelben für die Methode der Darſtellung des Rechts ergeben? Zwei Sätze ſind es, oder richtiger ein Gedanke, der uns nach zwei Seiten hin nutzbar werden kann. Der Grundgedanke nämlich, den wir bisher entwickelt haben, daß die Rechtsſätze nur die praktiſchen Spitzen des Rechts ſind und ſowohl extenſiv als intenſiv hinter letzterem zurück bleiben, dieſer Grundgedanke richtet an uns nach der einen Seite eine War - nung, nach der andern eine Aufforderung. Eine Warnung, nämlich die, das Recht irgend einer Zeit nicht mit ihren Rechts - ſätzen zu identifiren. Je niedriger die Bildung dieſer Zeit, je geringer ihre Fertigkeit zu abſtrahiren und zu formuliren, um ſo weniger dürfen wir glauben, in ihren Rechtsſätzen, und wären ſie uns auch ſämmtlich erhalten, ein getreues Bild ihres Rechts zu beſitzen. 10)So wenig wie in den erſten dürftigen Grammatiken einer Sprache ein getreues Bild der Sprache ſelbſt. Was ich im folgenden verlange, iſt nichts anders, als daß der Juriſt, wie der Philologe es täglich bei der Sprache thut, ſtatt jener Grammatiken des Rechts das Recht ſelbſt zur Hand nehme.Was wir an demſelben haben, iſt das Bewußt - ſein der Zeit über ihr Recht in ſeiner unmittelbar prakti - ſchen Form, nicht das Recht, wie es in der Wirklichkeit beſtand. An dieſe Warnung knüpft ſich denn faſt nothwendig die Auffor - derung, das Recht ſelbſt, oder da wir es hier nur zunächſt mit einem Theile des Rechts, den Rechtsſätzen zu thun haben, ſie ſelbſt richtiger zu formuliren und die latenten Rechtsſätze aus Tageslicht zu bringen. Es ſcheint freilich ſehr gewagt, wenn der vielleicht um mehre Jahrhunderte ſpäter ſtehende Hiſtoriker ſich vermeſſen will, den Rechtsſätzen der Vergangenheit erſt ihre wahre Geſtalt zu geben; es klingt paradox, daß ein Rechtsſatz lange, nachdem er aufgehört hat zu exiſtiren, erſt entdeckt werden ſoll. Aber iſt dies in der That ſo auffällig und unerhört? Wie manche geſchichtliche Erſcheinung wird erſt begriffen, nachdem ſie längſt vorüber gegangen iſt, wie manche Perſönlichkeit erſt richtig gewürdigt, nachdem ſich das Grab über ihr geſchloſſen23Conſequenzen für den Rechtshiſtoriker. §. 3.hat. Wenn der Blick der Nachwelt nicht weiter trüge, als der der Zeitgenoſſen, ſo wäre die Geſchichte eine todte Wiſſenſchaft und könnte ſich darauf beſchränken, für jede Periode die gleich - zeitigen Darſtellungen abdrucken zu laſſen. Wie aber der Hiſto - riker dieſe Referate einer Kritik unterwirft und ſie nur als Quellen für ſeine eigne Darſtellung benutzt, ſo ſoll es auch der Rechts - hiſtoriker mit den Formulirungen der Vergangenheit thun. Der Erfolg dieſes Unternehmens hängt freilich von der Reichhaltig - keit ſeines Materials ab, aber es würde verkehrt ſein zu glauben, als ob nur Mittheilungen der Zeitgenoſſen über den Sinn und die Anwendbarkeit der Rechtsſätze ihn zu demſelben in Stand ſetzen könnten. Sehr oft laſſen letztere ſich aus ſich ſelbſt ſowohl berich - tigen als vermehren. Jenes, indem z. B. ein Rechtsſatz durch einen andern ergänzt oder beſchränkt wird, dieſes, indem derſelbe zu ſeinen Conſequenzen verfolgt, oder aus mehren detaillirten Beſtimmungen ein höheres Prinzip abſtrahirt wird. Es iſt nicht ſelten, daß ein Rechtsſatz ſtückweis ins Bewußtſein tritt. Zuerſt nämlich wird man ſich ſeiner nur in Anwendung auf einen be - ſonders dringenden Fall bewußt und er verſteinert ſich in der beſchränkten Form, in der er hier zum erſten Mal erſchien. Hin - terher ruft ein etwas verſchiedener Fall eine andere Seite deſſel - ben Rechtſatzes hervor, und es entſteht ein zweiter ſelbſtändiger Rechtsſatz. So kommen nach und nach vielleicht alle Seiten und Anwendungsfälle eines einzigen generellen Rechtsſatzes als be - ſondere ſelbſtändige Partikeln zur Welt, und in dieſer Zerſplit - terung kann er vielleicht lange Zeit fortexiſtiren, da ein prakti - ſches Intereſſe, die einzelnen Lichtſtrahlen in ihrem Brennpunkt zu vereinigen, nicht vorhanden war, und die Theorie aus eignem Impulſe ſich dieſer Aufgabe nicht unterzog. Iſt hier nicht jedem Späteren Gelegenheit gegeben, den latenten Rechtsſatz, der ver - gebens gerungen hat ſich in ſeiner wahren Geſtalt zu zeigen, ans Tageslicht zu bringen, und zwar ohne ein weiteres Material, als was jene vereinzelten Rechtsſätze ſelbſt ihm bieten? Dem Dogmatiker wird man die Berechtigung zu einer ſolchen Erwei -24Einleitung die Methode.terung und Vervollkommnung ſeines Stoffes nicht abſprechen wollen, wenn gleich die wenigſten von derſelben Gebrauch ma - chen, aber es kann nicht genug hervorgehoben werden, daß auch vom Rechtshiſtoriker ganz daſſelbe gilt,11)Er ſoll nur natürlich Rechenſchaft darüber geben, wie er ſeine Reſultate gewonnen hat und eine Abſtraction, die er macht, als ſolche be - zeichnen. Ich will hier eine Stelle mittheilen, die mich anfänglich ſehr frap - pirte, nämlich aus Pott Etymologiſche Unterſuchungen auf dem Gebiete der Indo-Germaniſchen Sprachen Bd. 1 S. 145: In jeder urſprünglichen Sprache liegt eine Unendlichkeit von Bildungskeimen, deren nur ein ſehr klei - ner Theil zur wirklichen Entwicklung gediehen iſt; jede enthält einen Vorrath von wirklichen und bloß möglichen Wörtern und Formen; jene ſind ein baares Kapital, worüber ſie jeden Augenblick frei verfügen kann, dieſe ein ein - gebildetes, das nur erſt dann wahrhaften Werth erhält, wenn ihm der Gebrauch dieſen zugeſtanden hat. Ohne dieſe öffentliche Beglaubigung bleibt daſſelbe immer, wie ſicher und feſt auch übrigens ſeine Gewähr ſei, null und nichtig. Hieraus fließt nun für den Sprachforſcher, wenn er nicht Geſetzgeber, ſondern bloßer Berichterſtatter des Realbeſtandes einer Sprache ſein will, die Verpflichtung, nur die Befundnahme des wirk - lich in ihr vorhandenen Schatzes einzubringen, in keine Weiſe aber ihn zu vergrößern. Hierin wird nun aber unendlich oft gefehlt, in - dem man ganz willkührlich von dem wirklichen Befunde auf das, was möglicher Weiſe vorhanden ſein könnte, ſchließt und ſo die Sprache reicher macht, als ſie wirklich iſt. Die Wahrheit dieſer Bemerkung iſt ſo einleuchtend, daß ich, während ich ſie las, Gewiſſensbiſſe empfand, ob ich nicht für das Recht denſelben Verſtoß begangen habe, gegen den jener Gelehrte für ſein Gebiet mit Recht ſich erklärt. Da es mir hier nur um die Sache zu thun iſt, ſo habe ich jene Stelle abdrucken laſſen; wenn meine im Text vertheidigte Anſicht irrig iſt, ſo führt dieſe Stelle ſofort auf den Geſichtspunkt, aus dem ſie widerlegt werden kann. Ich glaube jenes aber nicht, denn ich will der Vergangenheit keinen potentiellen Reichthum als actuellen, wirklichen andichten, ſondern die Formulirung, die ſie der Wirklich - keit gegeben, einer Kritik unterwerfen, alſo wenn ich die Analogie mit der Sprache beibehalten will, die grammatikaliſchen Abſtractionen der Vergan - genheit aus der Sprache, wie ſie leibte und lebte und aus der auf uns gekom - menen Literatur erkenntlich iſt, berichtigen und vervollſtändigen. und daß eine gedeih - liche Behandlung der Rechtsgeſchichte ſich ohne die Ausübung jener Berechtigung nicht denken läßt.

25Syſtematiſche Gliederung der Rechtsſätze. §. 3.

Wir gehen jetzt in der Betrachtung der Structur des Rechts - organismus einen Schritt weiter. Die Rechtsſätze, welche wir bisher behandelt haben, wurden oben von uns die praktiſchen Spitzen des Rechts genannt; ſie bilden gewiſſermaßen die äußere ſichtbare Oberfläche des Rechts und bezeichnen, wo ſie in irgend einem Recht ausſchließlich und in ihrer urſprünglichen imperativiſchen Form gefunden werden, eine niedere Entwick - lungsſtufe deſſelben. Wie ſich nun ſowohl neben ihnen als aus ihnen höhere Bildungen des Rechts erheben, ſoll jetzt gezeigt werden.

Die Rechtsſätze ſind abſtrahirt aus einer Betrachtung der Lebensverhältniſſe und beſtimmt, die denſelben innewohnende Natur auszuſprechen und ſie ihnen zu ſichern. Zur Bildung der rechtlichen Form eines einzigen Lebensverhältniſſes können aber mehre Rechtsſätze zuſammenwirken; ſie finden alſo in dieſem ihrem gemeinſamen Gegenſtande ihren Vereinigungspunkt und lagern ſich um ihn wie die Muskeln um den Knochen. Das in dieſer Weiſe rechtlich geformte Lebensverhältniß kann ſeinerſeits wiederum in abhängiger Beziehung zu einem andern ſtehen, ſich zu demſelben verhalten z. B. als Phaſe, als ein tranſitoriſches Moment deſſelben, wie der Erwerb und Verluſt der Rechte zu den Rechten ſelbſt; oder als Folge, wie die Succeſſion des Erben in die Schulden des Erblaſſers zu der Antretung der Erbſchaft; oder als Spezies zu der Gattung, wie der Kaufcontrakt zu den Contrakten, und dieſe zu den Obligationen. Auf dieſe Weiſe ſchießen denn die vielen mannigfaltigen Rechtsverhältniſſe zu einigen weiten Grundformen zuſammen, die ihrem Begriff, Zweck und ihrer Structur nach von einander geſchieden ſind; man nennt ſie Rechtsinſtitute. 12)So ſpricht man z. B. von dem Rechtsinſtitut des Eigenthums, Erbrechts, Prozeſſes, der Vormundſchaft u. ſ. w.Sie bilden gewiſſermaßen das feſte Knochengerippe des Rechts, um das die ganze Subſtanz deſſelben ſich lagert.

26Einleitung die Methode.

Es iſt nun die Aufgabe der Wiſſenſchaft, dieſe Gliederung des Rechts zu erforſchen, für das Kleinſte wie das Größte die richtige Stelle aufzuſuchen. Dieſe ſyſtematiſche Seite der Juris - prudenz iſt für die Erkenntniß des Rechts von ungleich höherer Bedeutung, als es auf den erſten Blick ſcheint, und wir wollen ſie daher einer genaueren Betrachtung unterziehen.

Dieſe Bedeutung beſteht nicht darin, daß das Rechtohne ſeinen ſyſtematiſchen Zuſammenhang nicht verſtanden werden kann, denn das iſt bei jedem Gegenſtande der Erkenntniß der Fall. Auch bedarf das heutzutage wohl keiner Bemerkung, daß das Syſtem ebenſowenig beim Recht wie bei jedem andern Ge - genſtande eine Ordnung ſein ſoll, die man in die Sache hin - ein bringt, ſondern eine ſolche, die man herausholt. Jene iſt die der Sache ſelbſt fremde Logik eines Schematismus, in den ſie gewaltſam hineingepreßt wird; es iſt ein Netz, das man ebenſogut über dies als über jenes Recht werfen könnte, und das die Auffaſſung der Structur des individuellen Gegenſtandes mehr erſchwert, als erleichtert. Syſtem iſt gleichbedeutend mit innerer Ordnung der Sache ſelbſt und iſt daher immer ganz individuell; dieſem Rechte iſt ein anderes Syſtem eigenthümlich, als jenem. Bei dem Rechte beſteht nun das Unterſcheidende der ſyſtematiſchen Thätigkeit darin, daß dadurch nicht bloß wie bei jeder andern Wiſſenſchaft das einzelne an ſeine richtige Stelle gebracht wird, ſondern daß dieſer formale Prozeß eine mate - rielle Rückwirkung auf den Stoff ausübt, daß mit letzterem, nämlich den Rechtsſätzen, eine innere Umwandlung vor ſich geht. Die Rechtsſätze treten gewiſſermaßen in einen höhern Aggregatzuſtand, ſie ſtreifen ihre Form als Gebote und Verbote ab und verflüchtigen ſich zu Elementen und Qua - litäten der Rechtsinſtitute. So bilden ſich aus ihnen z. B. die Begriffe der Inſtitute, der Thatbeſtand der Rechtsgeſchäfte, die Eigenſchaften der Perſonen, Sachen, Rechte, Eintheilungen aller Art u. ſ. w. Ein Laie, der gewohnt iſt, ſich einen Rechts - ſatz in imperativiſcher Form zu denken, würde es kaum für mög -27Die dogmatiſche Logik des Rechts. §. 3.lich halten, welch bedeutender Theil des Rechtsſyſtems ſich ganz dieſer Form entledigen, und ebenſowenig wie den Rechtsbegriffen, Eintheilungen u. ſ. w. kurz der dogmatiſchen Logik eine inten - ſivere praktiſche Bedeutung innewohnen kann, als den Rechts - ſätzen. Dieſe Logik des Rechts iſt gewiſſermaßen die Blüthe, das Präcipitat der Rechtsſätze; in einen einzigen richtig gefaßten Begriff iſt vielleicht der praktiſche Inhalt von zehn früheren Rechtsſätzen aufgenommen. Wir wollen einige Beiſpiele geben, und zwar nehmen wir zuerſt einige Eigenſchaften der Sachen, von denen man am wenigſten ſagen ſollte, daß ſie aus Rechts - ſätzen entſprungen ſeien und ſich wieder in ſolche umſetzen ließen. Bei der Eintheilung in res in commercio und extra com - mercium läßt ſich dies noch am erſten einſehen; der Rechtsſatz, der ſich unter derſelben verbirgt, lautet: an gewiſſen Sachen ſollen gar keine Rechtsverhältniſſe entſtehen. Schwieriger iſt es bei der Eintheilung der zuſammengeſetzten und einfachen, theil - baren und untheilbaren Sachen, denn ſie betrifft nicht einmal eine juriſtiſche, ſondern eine bloß natürliche Eigenſchaft der Sachen. Und doch ruht auch in ihr praktiſche Kraft, es liegt in ihr z. B. folgender Rechtsſatz: Wenn eine Sache mit einer andern in Verbindung gebracht wird und zwar von der und der Beſchaffenheit, ſo gehen alle bisher an der hinzutretenden Sache beſtandenen Rechtsverhältniſſe unter; iſt ſie von der und der Beſchaffenheit, ſo geht nun der Beſitz unter und das Eigenthum und andere Rechte dauern fort; ſo lange die Verbindung dau - ert, ſteht der Eigenthümer der zuſammengeſetzten Sache in den und den Rechtsverhältniſſen zu den einzelnen Theilen; wird ſie aber wieder aufgehoben, ſo gilt hinſichtlich des Beſitzes und der Uſucapion dieſes, hinſichtlich der reivindicatio und des Eigen - thumes u. ſ. w. jenes. Kurz es ſind viele praktiſche Fragen, die ſich bei der Auflöſung einer Sache in mehre und der Zuſam - menſetzung mehrer zu einer aufwerfen laſſen, und die mittelbar durch die Entwicklung der hier in Rede ſtehenden Eigenſchaften der Sachen beantwortet werden. Nehmen wir als anderes28Einleitung die Methode.Beiſpiel den Begriff irgend eines Rechtes z. B. des Pfandrech - tes. Die Definition deſſelben lautet: Pfandrecht iſt ein Recht an einer fremden Sache, vermöge deſſen man ſie verkaufen und den Erlös zur Befriedigung einer Forderung verwenden darf. Darin liegen folgende Rechtsſätze: 1) es iſt die Verabredung rechtlich ſtatthaft, daß ein Gläubiger zur Befriedigung ſeiner Forderung eine fremde Sache verkaufe; 2) wenn die Sache ihm abhanden kömmt, ſo hat er eine Klage gegen den dritten Beſitzer auf Herausgabe derſelben (in rem actio); 3) die verpfändete Sache ſoll eine fremde ſein; an eigner Sache kann kein Pfand - recht beſtehen, daher geht daſſelbe unter, wenn der Gläubiger das Eigenthum an der verpfändeten Sache erwirbt; 4) die Exiſtenz einer Forderung iſt Vorausſetzung des Pfandrechts, mithin geht es unter, wenn die Forderung erliſcht, und entſteht erſt in dem Augenblick, wo die Forderung exiſtent wird u. ſ. w.

Dieſe Präcipitirung der Rechtsſätze zu Rechtsbegriffen ſchei - det die wiſſenſchaftliche Auffaſſung und Behandlung eines Rechts von der Darſtellung deſſelben in einem Geſetzbuch. Der Geſetzgeber kann ſich darauf beſchränken, ſeine Anforderungen in ihrer urſprünglichen, unmittelbar praktiſchen Form aufzuſtel - len, die Wiſſenſchaft aber hat nicht bloß die Aufgabe, dieſelben zu erläutern und zu ordnen, ſondern ſie auf logiſche Momente des Syſtems zu reduciren. Der Geſetzgeber gibt uns, ſo zu ſa - gen, zuſammengeſetzte Körper, die ihn bloß von Seiten ihrer unmittelbaren Brauchbarkeit intereſſiren, die Wiſſenſchaft hin - gegen nimmt eine Analyſe derſelben vor und zerlegt ſie in einfache Körper. Dabei zeigt ſich denn, daß manche ſcheinbar heterogene Rechtsſätze aus denſelben Elementen gebildet ſind, alſo geſtri - chen, geſpart werden können; daß der eine vor dem andern nur das Plus eines einzigen Momentes voraus hat, alſo die Angabe deſſelben genügt; daß mancher Rechtsſatz ganz und gar aus verſchiedenen einfachen begrifflichen Elementen beſteht, alſo um - gekehrt durch Zuſammenſetzung derſelben gewonnen werden kann. So bringt alſo dieſe Analyſe erſt die wahre Natur der Rechts -29Productivität der dogmatiſchen Logik. §. 3.ſätze zur Erkenntniß, und ihr Reſultat beſteht darin, daß die Wiſſenſchaft ſtatt der endloſen Menge der verſchiedenartigſten Rechtsſätze eine überſichtliche Zahl einfacher Körper gewinnt, aus denen ſie auf Verlangen die einzelnen Rechtsſätze wieder zuſammenſetzen kann. 13)Es kann freilich auch völlig unauflösbare Beſtimmungen geben, rein poſitive Vorſchriften, die jeder Bemühung der Wiſſenſchaft ſpotten, und die ſich eben nur als Rechtsſätze an der betreffenden Stelle des Syſtems auffüh - ren laſſen.Der Nutzen beſchränkt ſich aber nicht bloß auf dieſe Vereinfachung, die gewonnenen Begriffe ſind nicht bloße Auflöſungen der gegebenen Rechtsſätze, aus denen immer nur letztere ſelbſt ſich wieder herſtellen ließen; ſondern ein noch höherer Vortheil liegt in der hierdurch bewerkſtelligten Möglichkeit einer Vermehrung des Rechts aus ſich ſelbſt, eines Wachsthums von innen heraus. Durch Combination der verſchiedenen Elemente kann die Wiſſenſchaft neue Begriffe und Rechtsſätze bilden; die Begriffe ſind productiv, ſie paaren ſich und zeugen neue. Die Rechtsſätze als ſolche haben nicht dieſe befruchtende Kraft, ſie ſind und bleiben nur ſie ſelbſt, bis ſie auf ihre einfachen Beſtandtheile reducirt werden und dadurch ſowohl in aufſteigender als abſteigender Linie zu andern in Verwand - ſchaftsverhältniſſe treten d. h. ihre Abſtammung von andern Begriffen offenbaren und ſelbſt ihrerſeits wieder andere aus ſich hervorgehen laſſen. 14)Um ein Beiſpiel zu geben, ſo nehmen wir an, ein neuerer Geſetzgeber habe das ganze Pfandrecht neu regulirt. Die Thätigkeit der Wiſſenſchaft wird darin beſtehn, daß ſie das Pfandrecht zuerſt in ſeine beiden Elemente auflöſt: das dingliche (das Recht an einer fremden Sache) und obligatoriſche (die perſönlichen Forderungs-Verhältniſſe zwiſchen Pfandgläubiger und Pfand - ſchuldner). Sodann unterſucht ſie weiter, welche Modifikation der Begriff eines Rechts an der Sache und der Begriff der Forderung in dieſer Combina - tion im Pfandrecht erleidet; dieſe Modifikation iſt dann das Spezifiſche des Pfandrechts, das allein einer nähern Verarbeitung bedarf, und in dem das productive Prinzip des Pfandrechts liegt.

Bisher haben wir den Einfluß betrachtet, den dieſe Analyſe30Einleitung die Methode.und ſyſtematiſche Verarbeitung der Rechtsſätze auf das Recht ſelbſt äußert; wir können ihn mit einem Worte bezeichnen als die Erhebung der Rechtsſätze zu logiſchen Momenten des Sy - ſtems. Auch dem Leben gegenüber hat dieſe Operation die größte Bedeutung; ſie liefert uns nämlich, können wir ſagen, die ein - fachen Reagentien für die unendlich complicirten concreten Fälle des Lebens. Wer letztere nur mit Rechtsſätzen in der Hand ent - ſcheiden wollte, würde in unaufhörlicher Verlegenheit ſein, denn die Combinationskunſt des Lebens iſt ſo unerſchöpflich, daß die reichſte Caſuiſtik eines Geſetzbuches ihren ewig neuen Fällen gegenüber dürftig erſcheinen würde. Vermöge jener wenigen Reagentien hingegen löſen wir jeden Fall auf. Ich möchte mich noch eines anderen Vergleichs bedienen, nämlich jene ſyſtema - tiſche oder logiſche Structur des Rechts das Alphabet deſſelben nennen. Das Verhältniß, in dem ein caſuiſtiſch abgefaßtes Geſetzbuch zu einem auf ſeine logiſche Form reducirten Recht ſteht, iſt daſſelbe, worin die chineſiſche Schriftſprache zu der unſern ſteht. Die Chineſen haben für jeden Begriff ein beſonderes Zeichen, ein Menſchenleben reicht kaum aus, ſie zu erlernen, und neue Begriffe erfordern bei ihnen erſt eine Feſtſtellung ihrer Zeichen. Wir hingegen haben ein kleines Alphabet, mittelſt deſſen wir jedes Wort auflöſen und zuſammenſetzen können; leicht zu erlernen und nie uns im Stiche laſſend. So enthält auch ein caſuiſtiſches Geſetzbuch eine Menge von Zeichen für beſtimmte einzelne Fälle; ein auf ſeine logiſchen Momente redu - cirtes Recht hingegen bietet uns das Alphabet des Rechts, mit - telſt deſſen wir alle noch ſo ungewöhnlichen Wortbildungen des Lebens entziffern und darſtellen können.

Es läßt ſich jetzt auch die Bemerkung begreiflich machen, die wir früher hinwarfen, daß nämlich der quantitative Reich - thum an Rechtsſätzen ein Zeichen der Schwäche ſei. Er bekun - det nämlich die Schwäche der intellektuellen Verdauungskraft, das Unvermögen, aus der Menge der Rechtsſätze die logiſche Quinteſſenz herauszuziehen und in Fleiſch und Blut aufzuneh -31Erkenntniß der logiſchen Natur des Rechts. §. 3.men. Dies Vermögen iſt gerade die charakteriſtiſche Eigenſchaft der Jurisprudenz und die beſtändige Bethätigung deſſelben an den Rechtsſätzen ihre unerläßliche Pflicht.

Kehren wir nun mit dem im bisherigen gewonnenen Re - ſultat zu unſerm Ausgangspunkt zurück, ſo hat ſich alſo unſere Kenntniß des Rechtsorganismus dahin erweitert, daß die meiſten Rechtsſätze ſich zu logiſchen Momenten des Rechts und dieſe wieder zu höheren Ordnungen geſtalten, ſo daß von eigentlichen Rechtsſätzen als ſolchen nur ſehr wenig zurückbleibt. Dieſe, wie wir ſie oben nannten, Präcipitirung der Rechtsſätze im Syſtem iſt nicht ein Werk ſubjektiven Beliebens, keine von der Wiſſen - ſchaft vorgenommene Verarbeitung des Stoffes, ſondern ſie liegt in dem Rechte ſelbſt; indem wir ſie vornehmen und uns von den Rechtsſätzen freimachen, vertauſchen wir eine unvollkommne, äußerliche Betrachtung des Gegenſtandes mit einer innerlichen Auffaſſung deſſelben. So wie das Syſtem nichts äußerlich in den Gegenſtand hineingetragenes iſt, ſondern ſeine eigne Ordnung, ſo iſt auch die ſcheinbar durch die ſyſtematiſche Thätigkeit bewirkte logiſche Gliederung und Transſubſtantiation der Rechtsſätze in der That nur das Erkennen der wahren Natur des Rechts. Dem geübten Auge erſcheint das Recht als ein logiſcher Organismus von Rechtsinſtituten und Rechtsbegriffen, dem ungeübten als ein Complex von Rechtsſätzen; jenes iſt die innere Natur des Rechts, dieſes die dem praktiſchen Leben zugewandte Außenſeite.

Wenn wir nun ſchon hinſichtlich dieſer Außenſeite des Rechts zu dem Satze gekommen ſind, daß die Erkenntniß derſel - ben mit Schwierigkeiten verbunden und daher oft ſehr mangel - haft iſt, ſo gilt dies von jener logiſchen Structur des Rechts in einem noch viel höheren Grade. Das unmittelbar praktiſche Bedürfniß führt nur zu der Erkenntniß von Rechtsſätzen, es ge - hört eine beſonders glückliche Naturanlage eines Volkes dazu, wenn es von den Rechtsſätzen frühzeitig zur Entdeckung des Rechts-Alphabets gelangt. Wir werden ſehen, daß darin gerade die ungewöhnliche Prädeſtination des römiſchen Volks32Einleitung die Methode.zur Cultur des Rechts ſich manifeſtirt hat. Die hohen Schwie - rigkeiten dieſer Methode der Behandlung des Rechts wurden aber ſelbſt noch den klaſſiſchen römiſchen Juriſten fühlbar. Omnis definitio in jure civili (Bildung des Begriffs aus dem Material der Rechtsſätze) ſagen ſie,15)L. 202 de R. I. (50. 17). periculosa est; parum est enim ut non subverti possit; und es kommen Fälle vor, wo ſie ſich für unvermögend erklären, den Begriff genau zu be - ſtimmen und darauf dringen, daß man ſich aus dem Leben eine Anſchauung deſſelben erwerben müſſe. 16)Z. B. bei der Mora. L. 32 pr. de usuris (22. 1) nam diffici - lis est hujus rei definitio. Divus quoque Pius Tullio Balbo rescripsit: an mora facta intelligatur, neque constitutione ulla, neque juris aucto - rum quaestione decidi posse, cum sit magis facti, quam juris. So wenig aber auch die Begriffsformulirungen der römiſchen Juriſten immer genügen, ſo ſehr lebten doch die Begriffe in ihnen, wie die meiſterhafte Anwendung der - ſelben zeigt.

Auch hier alſo iſt wieder dem ſpäter Stehenden die Gele - genheit gegeben, die Auffaſſung des Rechts der Vergangenheit von Seiten der Zeitgenoſſen zu verbeſſern, ſich zum Bewußtſein zu bringen, was ihnen verſchloſſen blieb. Wenn ſie ihm bloß ein Aggregat von Rechtsſätzen überlieferten, ſo ſoll er verſuchen, aus ihnen den logiſchen Organismus des Rechts wieder herzu - ſtellen; wenn ſie ihm bloß die dem Leben zugewandte Außen - ſeite des Rechts zeigten, ſoll er bemüht ſein, die innere logiſche Subſtanz deſſelben zu entdecken.

Wir ſchreiten jetzt in unſerer Betrachtung des Rechtsorga - nismus abermals einen Schritt weiter, und zwar iſt es der letzte, den wir zu thun haben. Wenn wir das Recht eines und deſſelben Volkes zu verſchiedenen Zeiten betrachten, ſo finden wir, daß33Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3.die einzelnen Rechtsinſtitute, ſo groß auch immer ihr logiſcher Gegenſatz bleiben möge, z. B. das Erbrecht, Obligationenrecht, die Vormundſchaft u. ſ. w., dennoch zu einer und derſelben Periode etwas gemeinſames, wir wollen ſagen, eine gewiſſe Aehnlichkeit in ihrem phyſiognomiſchen Ausdruck haben, ja daß dieſelbe höher, offenſichtlicher ſein kann, als die Aehnlichkeit eines und deſſelben Inſtitutes in ſeinen verſchiedenen Entwick - lungsphaſen mit ſich ſelbſt. 17)Man vergleiche z. B. im römiſchen Recht die Geſtalt der einzel - nen Rechtsinſtitute zur Blüthezeit der Republik mit den neuen Formen, in denen ſie zur Kaiſerzeit auftreten, namentlich das Eigenthum (dominium und in bonis esse) Erbrecht (hereditas und bonorum possessio) Vermächtniß (legatum und fideicommissum) u. ſ. w.Jedenfalls iſt völlig unbeſtreit - bar, daß die Altersſtufe bei aller ſonſtigen Verſchiedenheit der Individuen eine gewiſſe Aehnlichkeit im Habitus und Charakter mit ſich führt, einen beſtimmten Typus aufprägt.

Wenn wir nun in der Rechtswelt dieſelbe Bemerkung ma - chen, ſo berechtigt ſie uns zu dem Schluſſe, daß die gleichmäßi - gen Erſcheinungen, die wir um eine und dieſelbe Zeit in den verſchiedenartigſten Inſtituten wahrnehmen, in derſelben Urſache ihren Grund haben, daß mit andern Worten in dem geſammten Rechtsorganismus gewiſſe Kräfte thätig ſind, die auf alle einzel - nen Theile wirken. Die äußere Erſcheinung dieſer Einwirkung kann nach Verſchiedenheit der Inſtitute verſchieden ſein; eine und dieſelbe Kraft mag hier ſo, dort ſo ſich manifeſtiren. Wer würde auch die mechaniſche Gleichheit der Aeußerung erwarten? Wa - rum ſollte nicht auch in der ſittlichen Welt ſo gut wie in der Natur die Ungleichheit der Aeußerungsform bei Gleichheit der treibenden Kräfte möglich ſein. Daß z. B. die Cultur des römi - ſchen Rechts einen Aufſchwung nimmt zu derſelben Zeit, wo die römiſche Freiheit zu ſiechen beginnt, iſt äußerlich ebenſo verſchie - den, als wenn im Thale die Bäume blühen und auf den Ber - gen der Schnee ſchmilzt aber in beiden Fällen war eineJhering, Geiſt d. röm. Rechts. 334Einleitung die Methode.Urſache wirkſam. Je üppiger die Lebenskraft, um ſo mannigfal - tiger die Form ihrer Aeußerung, je matter, um ſo ärmer. So können denn auch im Recht dieſelben Kräfte in dem einen Inſti - tut eine Beſchränkung, in dem andern eine Erweiterung, dort eine Abſchwächung, hier eine Kräftigung bewirken.

In dieſen treibenden Kräften nun bewährt ſich erſt recht die Einheit und Individualität des Organismus, und wären ſie nicht vorhanden, ſo würde das Recht nur ein Aggregat von einzelnen Inſtituten ſein, und man könnte auf die Idee kommen, ein Recht in der Weiſe zuſammenzuſetzen, daß man von jedem Volke das Rechtsinſtitut entlehnte, das gerade bei ihm vor - zugsweiſe ausgebildet und zur Reife gelangt wäre. Indem wir aber das Recht einen Organismus nennen, indem wir von dem Charakter eines Rechtes ſprechen, gehen wir ſchon von der An - nahme ſolcher das ganze Recht gleichmäßig geſtaltenden und beherrſchenden Kräfte aus. Der Sitz dieſer Kräfte iſt die Indivi - dualität des Volks, ſie iſt gewiſſermaßen das Herz des Rechts - organismus, von dem aus belebend und erwärmend das Blut durch alle Theile ſtrömt und dadurch auf dem allgemeinen logi - ſchen Knochenſyſtem des Rechts Fleiſch und Haut anſetzt, ihm den individuellen Charakter verleiht, an dem man eben erkennt, daß das Recht dieſem Volke und dieſer Zeit angehört. In jeder Ader fühlen wir bald ſchwächer, bald ſtärker den Pulsſchlag allgemeiner nationaler Ideen und Anſchauungen, langſam und kaum merklich führen ſie den feſten Theilen den Nahrungsſtoff zu und bewirken, indem ſie ſelbſt dem Wechſel der Zeit ausge - ſetzt ſind, auch eine entſprechende Veränderung im ganzen Orga - nismus. So iſt denn der Geiſt des Volks und der Geiſt der Zeit auch der Geiſt des Rechts.

Wir wollen dieſe allgemeinen Ideen und Grundanſchauun - gen eines Volks, die den einzelnen Inſtituten ihren Ausdruck geben, die Beſtrebungen und Tendenzen der Zeit, die im Recht ſich verwirklichen, kurz den ganzen Inbegriff aller Triebkräfte, die im Rechte thätig werden, die pſychiſche Organiſation deſſel -35Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3.ben nennen, die Inſtitute des Rechts, den geſammten Complex ſeiner praktiſchen Organe den Körper deſſelben. Was da treibt, läßt ſich nicht unmittelbar erkennen, und es iſt ein Nothbehelf, wenn wir zur Erklärung von Wirkungen, die wir ſehen, treibende Kräfte, die wir nicht wahrnehmen, ſupponiren; ſie ſind Ab - ſtractionen, zu denen die Gebrechlichkeit unſerer Erkenntniß uns zwingt. In dieſem Sinne machen wir denn auch im Recht von den Wirkungen den Schluß auf treibende Kräfte; letztere ſind eine Abſtraction, mittelſt deren wir uns im Grunde nur die Wirkungen ins Bewußtſein bringen, die Urſache ſelbſt bleibt eine Hypotheſe.

Dieſe Abſtractionen werden nicht ſelten eine gewiſſe Weite haben müſſen, um ſämmtliche einzelne Erſcheinungen in ſich zu ſchließen; ich möchte ſagen, die Verwandſchaft mancher Bildungen des Rechts wird nicht die der erſten Generation ſein, ſondern wir werden, um ſie zu entdecken, im Stammbaum weit zurückgreifen müſſen. Die nächſten Gedanken, von denen die einzelnen Inſtitute abſtammen, und die man beim erſten Blick in ihnen erkennt, wer - den unter ſich vielleicht wenig Aehnlichkeit haben, aber die Ab - ſtraction wird dann einige Generationen zurückgehen und dort in einem allgemeineren Gedanken den gemeinſamen Ausgangs - punkt entdecken. Für unſere Zwecke wollen wir darauf verzichten, dieſe genealogiſchen Unterſuchungen bis zu dem Punkte fortzu - führen, wo ſie uns auf ganz allgemeine logiſche Kategorieen führen, auf Ahnen, die dem gemeinen Bewußtſein zweifelhaft oder unbekannt ſind und in die graue an fingirten Ahnen nicht arme Vorzeit der Spekulation fallen. Unſere letzten und höch - ſten Begriffe ſollen nicht entlegener ſein, als daß ſie nicht auch dem Nichtphiloſophen bekannt wären.

Um ſo viel höher nun dieſe pſychiſche Organiſation des Rechts über dem leiblichen Organismus deſſelben erhaben iſt, um eben ſo viel ſteigen auch die Schwierigkeiten der Erfor - ſchung. Während die Rechtsſätze ſichtbar auf der Oberfläche liegen, während die Rechtsinſtitute und Rechtsbegriffe durch3*36Einleitung die Methode.ihre praktiſche Anwendung ſich faſt von ſelbſt dem Bewußtſein aufdringen, ruhen jene treibenden Kräfte des Rechts im tiefſten Innern, wirken höchſt allmählig, durchdringen zwar den ganzen Organismus, aber treten vielleicht an keinem einzigen Punkte ſo deutlich hervor, daß man ſich ihrer Beobachtung nicht entzie - hen könnte. Kein praktiſches Bedürfniß drängt dazu, ſich ihrer bewußt zu werden, denn ſie ſind keine Rechtsſätze, laſſen ſich nicht in Form derſelben faſſen, ſondern ſie ſind nur Qualitä - ten der Rechtsinſtitute, allgemeine Prinzipien, die als ſolche gar keiner Anwendung fähig ſind, ſondern nur Zuthaten zu den praktiſchen Bildungen des Rechts geliefert haben. Was wären die Gedanken, die wir bei der Charakteriſtik des römiſchen Rechts in demſelben nachweiſen werden, z. B. der Gedanke der perſön - lichen Natur der Berechtigungen, der ſubſtantiellen oder realen Natur des Willens, der Starrheit und Flüſſigkeit der Rechts - verhältniſſe u. ſ. w. als Rechtsſätze gedacht in der Praxis!

Kann es uns denn Wunder nehmen, daß dieſe Seite des Rechts ſich dem geiſtigen Auge am ſpäteſten und ſpärlichſten entſchließt, daß die Tendenzen und Gedanken, an deren Ver - wirklichung und Ausbildung im Recht dieſe Generation arbei - tet, ihr ſelbſt verborgen bleiben und erſt einem nachfolgenden Geſchlecht klar werden? Wenn irgend etwas erſt die göttliche Natur des Rechts bewähren müßte, zeigen, daß es nicht Men - ſchenwerk, nicht bloßes Produkt der Reflexion iſt, ſo würde man nur auf dieſe Erſcheinung zu verweiſen haben. Ein Geſetzgeber, der mit Bewußtſein ſeiner Zwecke und Mittel ſeine Geſetze er - läßt, lebt ſelbſt vielleicht des Glaubens, daß ſie nur aus ihm kommen, nur ſoviel enthalten, als er habe hineinlegen wollen, und doch ſchiebt ihm, ohne daß er es ahnt, der Geiſt der Zeit den Stoff unter, aus dem er ſie formt, und ſein ganzes Thun und Treiben, deſſen Einheit und Nothwendigkeit er ſelbſt nicht begriff, erſcheint dem ſpätern Beobachter als ein völlig abge - ſchloſſener einzelner Moment der geſammten Entwicklung des Rechts. Wie die Pflanze, die ſichtbar nichts äußeres aufnimmt,37Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3.doch aus der Erde und der Luft ihre ganze Nahrung zieht, ſo erhält auch jedes Recht aus dem Erdreich, in dem es wurzelt und aus der Atmoſphäre, in der es wächſt, unmerklich die Ele - mente ſeines Lebens. Während es geſchieht, ſieht unſer ſtumpfes Auge es nicht, aber nachdem es geſchehen, kommen wir durch die Wirkung zur Erkenntniß der Urſache. Und wie manches, das wir ſehen, begreifen wir nicht, weil es noch nicht fertig, noch in den erſten Anfängen der Entwicklung begriffen iſt, wäh - rend ſich das Verſtändniß deſſelben dem ſpätern Beobachter, der auf den vollendeten Entwicklungsprozeß zurückſchaut, leicht erſchließt.

Wenn das geſagte nun ſelbſt für das vorgerückte Lebens - alter der Völker gilt, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß es auf die Jugend - und Kindheit-Zeit derſelben in einem weit höheren Grade Anwendung findet. Dem Hiſtoriker kann es vielleicht mit leichter Mühe gelingen, ihrem ganzen Ringen und Streben die richtige Deutung zu geben, und ihnen ſelbſt blieb daſſelbe ein Räthſel. Aus jedem Rechtsinſtitute können gewiſſe nationale Grundanſchauungen uns entgegentreten, aber das Volk ſelbſt, das von ihnen erfüllt war, ſah ſie nicht oder nur im Halbdun - kel des Gefühls und der Ahnung. Denn das iſt freilich nicht ſelten, daß dieſe unausgeſprochenen Gedanken, für die der Be - griff noch fehlte, in der Mythe, der Etymologie und Symbo - lik u. ſ. w. in geheimnißvoller, verſchleierter Weiſe ſich einen Ausdruck verſchafft haben. Der träumende Genius des Volks hat hier in naiver Weiſe ein Selbſtgeſtändniß abgelegt, deſſen er im wachenden Zuſtande ſich nicht bewußt iſt.

Der Hiſtoriker findet hier alſo ein fruchtbares Feld für ſeine Thätigkeit vor, aber verhehlen wir es uns nicht, zugleich ein ſehr ſchlüpfriges. Je weiter er auf demſelben vorzudringen, je mehr er ſich der Werkſtätte der Geſchichte zu nahen ſucht, um ſo nebelhafter, verſchwimmender werden die Geſtalten, die ihm begegnen, um ſo mehr ſtellen ſich ſtatt der Geiſter, die er ver - folgt, Irrlichter ein, die ihn vom wahren Wege abzuleiten drohen. 38Einleitung die Methode.Schon mit Manchem, der ausging, den Geiſt einer Sache zu ſuchen, hat dieſer Geiſt ein neckiſches Spiel getrieben, ihn bald hierhin, bald dorthin gelockt und ihm ſtatt ſeiner ein Phan - tom in die Hände geſpielt, das nur dem Suchenden ſelbſt, aber keinem Dritten als das erſchien, was es ſein ſollte. Dadurch ſind denn dieſe Verſuche bei Vielen in Mißcredit gekommen, und die wiſſenſchaftlichen Spießbürger, die nur glauben, was ſie mit den Händen greifen können, betrachten ſie als Spielerei, an der nur ungründliche Naturen Gefallen finden können. Es iſt begreiflich, daß gerade unter den Juriſten eine ſolche Stimmung ſehr verbreitet iſt; der ungläubige Thomas, der auch vom Füh - len mehr hielt, als vom Sehen, wäre viel geeigneter, ihren Schutzpatron abzugeben als der heilige Ivo.

Jene Erfahrungen können uns behutſam machen, ſollen uns aber von unſerm Plan ſelbſt nicht abhalten. Wo eine Auf - gabe der Löſung ſo würdig iſt, als die unſere, kann die Gefahr, die ſie dem Schriftſteller droht, gar nicht in Erwägung gezogen werden.

Während uns nun unſere ganze Betrachtung immer auf den Satz zurückgeführt hat, daß das Recht ſelbſt nicht zuſammen - fällt mit dem ſubjektiven Bewußtſein und ſich uns daraus für die Bearbeitung deſſelben die Anforderung ergeben hat, die la - tenten Seiten und Theile des Rechts mehr und mehr ins Be - wußtſein zu bringen, beſchränkt ſich die herrſchende Methode auf eine Reproduction der Rechtsſätze und Begriffe, die von den Römern ſelbſt aufgeſtellt ſind. Ihr beſtändiger Refrain iſt Quellenſtudium, und der kühnſte Gedanke, deſſen ſie fähig iſt, beſteht in der Wiedererweckung der reinen römiſchen Theo - rie. Wäre es möglich, ſo würfe ſie wohl alles, was nicht direkt im römiſchen Recht ausgeſprochen iſt, über Bord und ſchraubte unſere wiſſenſchaftliche Bildung auf den Standpunkt von Ulpian und Paulus zurück. Aber die Zeiten von Ulpian und Paulus39Phyſiologiſche Betrachtung des Rechts. §. 4.ſind vorüber und werden trotz aller Bemühungen nicht wieder kehren. Um ſie zurückzuwünſchen, muß man vergeſſen, daß jede Zeit Original und nicht Copie einer andern ſein ſoll, daß jede Zeit einen und denſelben hiſtoriſchen Gegenſtand unter dem ihr eigenthümlichen Geſichtspunkt betrachten darf und muß, und daß auf dieſe Weiſe mit jedem neuen Geſchlecht neue Seiten des Gegenſtandes ſich enthüllen. Dieſer Richtung gegenüber that es Noth, unſere Anſicht näher zu begründen und der Bearbeitung des römiſchen Rechts, ſowohl der dogmatiſchen als rechtshiſto - riſchen, ein höheres Ziel zu ſtecken, als das der bloßen Repro - duction des römiſchen Bewußtſeins. So lange man bloß dies Ziel verfolgt, kann man zu einem Urtheil über das römiſche Recht, zu einer Einſicht in ſein wahres Weſen nicht gelangen. Wer ſich letzteres, wie wir gethan haben, zur Aufgabe geſtellt hat, wird von ſelbſt über jenes beſchränkte Ziel hinausgetrieben.

2. Phyſiologiſche Betrachtung des Rechtsorganismus Die Function deſſelben im Leben Formale Realiſirbarkeit des Rechts Die Aufgabe des Hiſtorikers gegenüber dem Recht der Vergangenheit.

IV. Der Zweck der Organe liegt in ihren Functionen; die Organe ſind vorhanden, damit ſie beſtimmte Verrichtungen aus - üben. In dieſem Zwecke beruht wiederum der Grund ihrer gan - zen Organiſation; letztere iſt ſo beſchaffen, wie ſie durch jene Functionen geboten iſt. Wie dies vom phyſiſchen Organismus gilt, ſo auch von dem des Rechts. Auch hier führt alſo erſt die Kenntniß der Functionen des Rechts zum Verſtändniß ſeiner Organe, die Phyſiologie zum wahren Verſtändniß der Anatomie.

Nichts iſt mithin verkehrter, als ein Recht gleich einem philoſophiſchen Syſtem bloß von Seiten ſeines geiſtigen Gehal - tes, ſeiner logiſchen Gliederung und Einheit zu beurtheilen. Möge es unter dieſem Geſichtspunkt auch als Meiſterſtück erſcheinen, ſo iſt damit über ſeinen wahren Werth noch nichts ermittelt,40Einleitung die Methode.denn letzterer liegt in ſeinen Functionen d. h. in ſeiner praktiſchen Brauchbarkeit. Was nützt es, daß eine Maſchine den Eindruck eines Kunſtwerkes macht, wenn ſie als Maſchine untauglich iſt? Man ſollte nun glauben, daß dieſe functionelle Seite des Rechts ſo ſehr hervortrete, daß ihr die gebührende Beachtung gar nicht entgehen könne. Und doch finden wir nicht ſelten das Gegen - theil. In demſelben Maße nämlich, in dem die im vorigen Paragraphen beſprochene Logik des Rechts wiſſenſchaftlich ent - wickelt wird, die Rechtsſätze ſich verflüchtigen zu logiſchen Mo - menten des Syſtems, wird jene functionelle Seite des Rechts dem Blick entrückt. Die imperativiſche Form der Gebote und Verbote, der Ausdruck ſo und ſo ſoll es ſein erregt faſt noth - wendig die Frage nach dem warum ; anders aber, wenn die Rechtsſätze dieſe Form abgeſtreift und ſich zu Rechtsbegriffen vergeiſtigt haben. Hier wendet ſich die Kritik viel eher ihrer logiſchen Prüfung zu, als einer Betrachtung ihrer prakti - ſchen Brauchbarkeit. Ja, es kann der Darſtellende leicht ſich der Täuſchung hingeben, es ſei etwas Hohes und Großes, das Material ſo zu verarbeiten, als ſei daſſelbe eine Emanation des Begriffes, der Begriff alſo das urſprüngliche, ſeiner ſelbſt wegen da ſeiende, während doch in der That die ganze logiſche Gliede - rung des Rechts, und ſei ſie noch ſo vollendet, nur das Sekun - däre, das Produkt der Zwecke iſt, denen ſie dienen ſoll. Daß die Begriffe ſo und ſo geſtaltet ſind, hat ſeinen Grund eben darin, daß ſie nur in dieſer Geſtalt den Bedürfniſſen des Lebens genü - gen, und ſehr häufig iſt aus dieſer Rückſicht die freie logiſche Entwicklung derſelben unterbrochen oder gehemmt. Ohne ſolche Eingriffe würde oft der logiſche Kunſtwerth des Rechts ein - herer, die praktiſche Brauchbarkeit deſſelben aber eine geringere ſein. 18)Dieſe Eingriffe des Lebens in die logiſche Entwicklung des Rechts nennen die Römer jus singulare, die Logik des Rechts ſelbſt ratio, auch re - gula juris z. B. L. 16 de legib (l. 3) Jussingulare est, quod contra

41Function des Rechts das Leben. §. 4.

Die Function des Rechts im allgemeinen beſteht nun darin, ſich zu verwirklichen. Was ſich nicht realiſirt, iſt kein Recht, und umgekehrt was dieſe Function ausübt, iſt Recht, auch wenn es noch nicht als ſolches erkannt iſt (Gewohnheits Recht). Die Wirklichkeit beglaubigt erſt den Text, den das Geſetz oder eine andere Formulirung des Rechts aufſtellt, als wahrhaftes Recht, ſie iſt mithin das einzige ſichere Erkenntnißmittel deſſel - ben. Aber ſie iſt mehr, ſie iſt zugleich der Gegenſtand und der Commentar jenes Textes. Kein Geſetzbuch, keine theoretiſche Zuſammenſtellung des Rechts irgend einer Zeit und irgend eines Volkes läßt ſich ohne die Kenntniß der realen Zuſtände dieſes Volkes und dieſer Zeit begreifen. Warum die Rechtsſätze da ſind, was ſie ſollen, wie ſie durch das Leben in ihrer Wirkſam - keit beeinträchtigt oder unterſtützt werden u. ſ. w. auf alle dieſe Fragen ertheilt nur das Leben ſelbſt eine Antwort. Die Formulirung des Rechts, die wir vor uns liegen haben, iſt nichts als der Plan einer Maſchine; die beſte Erläuterung und zugleich die Kritik deſſelben gibt uns die Maſchine, wenn ſie geht. Gar manche unbeachtete Feder offenbart dann eine tief - eingreifende Wichtigkeit, und manche ſehr in die Augen ſprin - gende und ſcheinbar ſehr nöthige Walze ſtellt ſich als ziemlich entbehrlich heraus. In den Zwecken und Bedürfniſſen dieſer beſtimmten Zeit liegt der Grund, warum dieſes Inſtitut vor - handen iſt oder dieſe beſtimmte Geſtalt trägt; in den Voraus - ſetzungen, die ſie mitbringt, der Grund, der jenes Inſtitut mög - lich und wiederum ein anderes überflüßig macht. Eine weitere18)tenorem rationis propter aliquam utilitatem auctoritate con - stituentium introductum est L. 15 ibid. In his, quae contra ra - tionem juris constituta sunt, non possumus sequi regulam ju - ris. Dem jus singulare ſelbſt wird von den römiſchen Juriſten mit Recht die logiſche Productivität abgeſprochen, damit der Riß im Recht nicht größer werde, als nöthig. Es gilt alſo zwar ſeinem ganzen Inhalt nach, aber iſt kein productives Prinzip L. 14 ibid: Quod vero contra rationem juris receptum est, non est producendum ad consequentias. 42Einleitung die Methode.Ausführung dieſes Gedankens, daß jedes Recht nur vom Stand - punkt des wirklichen Lebens aus begriffen werden kann, iſt ſelbſt für Laien unnöthig,19)Ich will mir nur noch erlauben auf das Verhältniß, das hinſichtlich der einzelnen Rechtsinſtitute zwiſchen ihrer anatomiſchen Structur und Lage und ihren Functionen Statt findet aufmerkſam zu machen. Es kann Inſtitute geben von verſchiedener anatomiſcher Structur mit gleichen oder ähnlichen Functionen z. B. das Vermächtniß und die donatio mortis causa, die alt - römiſche Verpfändung in Form der fiducia (Eigenthumsübertragung) und das neuere pignus, die Ceſſion und Delegation, die cura und tutela, der Un - tergang der Klage und der Verluſt des Rechts durch jenſeitige Erſitzung u. ſ. w. Umgekehrt kann die Structur eine ähnliche ſein oder bei einem und demſelben Inſtitut im weſentlichen dieſelbe bleiben, die Functionen aber ſehr auseinander gehen, wie z. B. bei der Staatsverfaſſung der Republik, die im Anfang der Kaiſerzeit ihrer anatomiſchen Structur nach dieſelbe blieb (Volk, Senat, Magiſtrat). Unſere juriſtiſche Methode legt leider ein gar zu großes Ge - wicht auf die anatomiſche Structur der Inſtitute, und ein zu geringes auf die Functionen. Von dieſem Standpunkt aus iſt es eine Conſequenz, wenn z. B. Puchta die Vormundſchaft ins Obligationenrecht ſtellt. aber eine Eigenſchaft des Rechts muß ich hervorheben, die durch den Zweck der Verwirklichung deſſel - ben geboten iſt, ich nenne ſie die formale Realiſirbarkeit oder Anwendbarkeit.

Ich unterſcheide nämlich zwiſchen materieller und for - maler Realiſirbarkeit eines Rechts und verſtehe unter jener die Brauchbarkeit oder Angemeſſenheit der materiellen Beſtimmun - gen des Rechts. Sie iſt natürlich durchaus relativ, bedingt durch die oben bezeichneten Beziehungen des Rechts zum Leben, die Anforderungen dieſer Zeit, die Eigenthümlichkeit dieſes Vol - kes, die Geſtalt dieſes Lebens. Unter formaler Realiſirbarkeit aber verſtehe ich die Leichtigkeit und Sicherheit der Anwen - dung des abſtracten Rechts auf die concreten Fälle. Je nachdem dieſe Operation einen geringeren oder höhern Aufwand geiſtiger Kraft erfordert, und ihr Reſultat ſicherer oder unſicherer iſt, ſpreche ich von einer höhern oder geringeren formalen Realiſir - barkeit. Es iſt aber nicht die Leichtigkeit oder Schwierigkeit des43Formale Realiſirbarkeit. §. 4.Verſtändniſſes der anzuwendenden Rechtsſätze gemeint. Sobald man einen Rechtsſatz einmal richtig begriffen hat, iſt dieſe Aufgabe ein für alle Mal gelöſt und wiederholt ſich nicht bei jedem einzelnen Fall ſeiner Anwendung. Die Aufgabe hingegen, von deren Schwierigkeit oder Leichtigkeit hier die Rede iſt, be - trifft die Anwendung des Rechtsſatzes, den Umſatz der ab - ſtracten Regel in concrete Verhältniſſe, und ſie iſt bei jedem einzelnen Fall von neuem zu löſen. Die Anwendung des Rechts - ſatzes beſteht darin, daß das, was er abſtract hinſtellt, con - cret ermittelt und ausgedrückt wird, und dies kann ſehr leicht, aber auch unendlich ſchwer ſein. Es hängt dabei zwar viel von der Geſchicklichkeit und dem richtigen Blick des Anwendenden ab (wir können dieſe Fertigkeit die juriſtiſche Diagnoſe nen - nen), allein die objektive Schwierigkeit oder Leichtigkeit der An - wendung des Rechtsſatzes wird durch ihn ſelbſt beſtimmt, dadurch nämlich ob er ſeine Beſtimmungen an ſchwer oder leicht erkenn - bare Kriterien angeknüpft hat. Jeder Rechtsſatz knüpft an eine beſtimmte Vorausſetzung ( wenn Jemand dies und das ge - than hat ) eine beſtimmte Folge ( ſo ſoll dies und das eintre - ten );20)Dieſe Form ( wenn ſo ) iſt die einfachſte, deutlichſte und liegt jedem Rechtsſatz zu Grunde, wenn ſie gleich äußerlich nicht hervortritt z. B. Unmündige ſollen bis zum 25. Jahr unter Vormundſchaft ſtehen, Bürg - ſchaften der Frauen ſind ungültig u. ſ. w. Die Vorausſetzung iſt hier: wenn Jemand noch nicht 25 Jahr alt iſt, wenn eine Bürgſchaft vorgenom - men wird und zwar von einer Frau; die Folge die: ſo ſoll er unter Vor - mundſchaft ſtehen u. ſ. w. ihn anwenden heißt alſo 1) unterſuchen, ob die Vor - ausſetzung im concreten Fall vorliegt und 2) die bloß abſtract ausgedrückte Folge concret ausdrücken, z. B. den Schaden, den Jemand erſetzen ſoll, in Geld abſchätzen. Nun hängt be - greiflicherweiſe ſehr viel davon ab, wie jene Vorausſetzung und Folge lautet. Nehmen wir einmal beiſpielsweiſe die Behandlung der Injurie im ältern und ſpätern römiſchen Recht. In jenem beſtand die Folge der Injurie d. h. ihre Strafe in einer beſtimm -44Einleitung die Methode.ten Geldſumme (25 As), in dieſem war ſie dem Ermeſſen des Richters überlaſſen. Stand dort einmal feſt, daß eine Injurie begangen war, ſo ergab ſich die Folge (Verurtheilung in 25 As) von ſelbſt; hier hingegen bedurfte es zu dem Zweck noch erſt einer genauen Würdigung der individuellen Verhältniſſe dieſes Falles, z. B. der perſönlichen Stellung des Beleidigenden und des Beleidigten, der Zeit, des Ortes u. ſ. w., und die Feſtſtel - lung der Strafe mochte dem Richter oft ſehr ſchwer fallen. Hin - ſichtlich der Vorausſetzung liegt ebenſo ſehr auf der Hand, daß wenn ſie allgemein auf Ehrenkränkung geſtellt iſt, die Unterſu - chung, ob dieſe Vorausſetzung im concreten Fall begründet ſei, weit ſchwieriger iſt, als wenn ſie, wie in manchen alten Geſe - tzen, auf ein beſtimmtes, äußerlich leicht erkennbares Faktum lautet z. B. wenn einer den andern geſchlagen, eines Ver - brechens beſchuldigt hat u. ſ. w.

Je allgemeiner und innerlicher die Vorausſetzung und Folge eines Rechtsſatzes beſtimmt iſt, deſto ſchwieriger die concrete Ermittlung derſelben; je concreter und äußerlicher, deſto leich - ter. Dieſe Leichtigkeit der concreten Erkennbarkeit des abſtrac - ten iſt aber praktiſch wichtiger, als die logiſche Vollendung des abſtracten Inhalts. Beſtimmungen, die in materieller Beziehung plump zugeſchnitten, aber an äußerliche, in concreto leicht zu erkennende Kriterien geknüpft ſind, wiegen in praktiſcher Bezie - hung Rechtsſätze auf, deren geiſtiger Gehalt und Zuſchnitt noch ſo tadellos iſt, bei denen aber die formale Realiſirbarkeit außer Acht gelaſſen iſt. Denn die Wichtigkeit dieſer letzteren Eigenſchaft liegt nicht bloß darin, daß die Operation der Anwendung des Rechts erleichtert und vereinfacht wird, alſo auch be - ſchleunigt werden kann, ſondern daß die gleichmäßige Verwirklichung des Rechts dadurch geſichert wird. Je äußer - licher und in die Augen ſpringend die Merkmale für eine Klaſſi - fikation beſtimmt ſind, um ſo ſicherer die Ausſicht, daß jedes Stück richtig klaſſificirt wird; je innerlicher, um ſo mehr ſteigt die Gefahr der Mißgriffe.

45Formale Realiſirbarkeit §. 4.

Dieſe Rückſicht nun auf die Leichtigkeit der Anwendung übt auf die logiſche Entwicklung des Rechts einen beſtimmenden Einfluß aus, zwingt die Rechtsbegriffe häufig, von ihrer ur - ſprünglichen Reinheit nachzulaſſen, um eine Geſtalt anzunehmen, in der ſie praktiſch leichter gehandhabt werden können. Was ſie an abſtractem Gehalt einbüßen, gewinnen ſie wieder an concre - ter Anwendbarkeit. Wir wollen dies an dem Beiſpiel der pri - vatrechtlichen und politiſchen Handlungsfähigkeit (Volljährig - keit und Wahlrecht) deutlich machen. Angenommen ein Geſetz - geber wollte dieſelbe rechtlich beſtimmen und ginge von der Idee aus: volljährig ſoll derjenige ſein, welcher die nöthige Einſicht und Charakterfeſtigkeit beſitzt, um ſeinen Angelegenheiten ſelb - ſtändig vorzuſtehen, wahlfähig und wählbar derjenige, der die Fähigkeit und den Willen hat, das Beſte des Staats zu beför - dern. So richtig nun dieſe Idee iſt, ſo verkehrt würde es ſein, ſie ſelbſt als Geſetz aufzuſtellen, alſo Volljährigkeit und Wahl - fähigkeit von dieſen Vorausſetzungen abhängig zu machen. Welche Zeit und Mühe würde verloren gehen, um die Exiſtenz dieſer Vorausſetzungen im concreten Fall zu ermitteln, welche unerſchöpfliche Quelle von Streitigkeiten würde der Geſetzgeber damit geöffnet, wie damit die ſubjektive Willkühr des Richters möglich gemacht, und ſelbſt bei untadelhafter Anwendung ſeines Geſetzes die Klagen über Parteilichkeit provocirt haben! Wie kann er dies alles vermeiden? Er ſtellt ſtatt jener Vorausſetzungen andere auf, die mit denſelbem in einem gewiſſen regelmäßigen, wenn auch nicht nothwendigen Nexus ſtehen und den Vorzug einer leichteren und ſicherern concreten Erkennbarkeit voraus haben, alſo z. B. das zurückgelegte 25ſte Jahr bei der Volljäh - rigkeit, den Beſitz eines gewiſſen Vermögens, die Ausübung gewiſſer Berufsarten oder die Einnahme einer gewiſſen Stel - lung u. ſ. w. bei der Wahlfähigkeit. Dieſes Ablaſſen von der urſprünglichen legislativen Idee, dieſe Vertauſchung der in abſtracter Beziehung offenbar richtigeren Vorausſetzung mit einer weniger richtigen und zutreffenden, aber praktiſch leich -46Einleitung die Methode.ter erkennbaren Vorausſetzung wird alſo durch den Zweck des Rechts, durch die wünſchenswerthe Leichtigkeit und Sicherheit ſeiner Functionirung geboten. Möge es auch in der Anwendung hie und da zu Mißverhältniſſen führen, in unſerm Beiſpiel alſo die Volljährigkeit und Wahlfähigkeit in einzelnen Fällen aus - geſchloſſen oder gegeben ſein, wo ſie es der abſtracten Idee nach nicht ſollte; immer wird jene Behandlungsweiſe vom Stand - punkt des Lebens aus den Vorzug verdienen, und dieſer Stand - punkt iſt ja für das Recht der allein richtige.

Der Gedanke der formalen Realiſirbarkeit des Rechts iſt alſo ein der logiſchen Innerlichkeit der Rechtsbegriffe fremdes Prinzip, das die freie Entwicklung derſelben vielfach modificirt und beeinträchtigt. Dieſes Prinzip zwingt dazu, die Innerlich - keit des Begriffes auf die Außenſeite zu verlegen, für die inneren Unterſchiede und Begriffe äußere möglichſt zutreffende Kriterien aufzuſuchen, kurz es führt zur Ausbildung einer juriſtiſchen Symptomatik. Als einzelne Ausflüſſe dieſes Prinzips mögen hier außer der ſo eben beſprochenen Veräußerlichung der Vor - ausſetzungen und der damit auf gleicher Linie ſtehenden Ver - äußerlichung der Folgen 21)Z. B. ſtatt der Zuerkennung des im einzelnen Falle erſt zu liquidi - renden Intereſſes die Annahme eines Averſionalquantums (im römiſchen Recht Verzugszinſen, duplum des Werthes der Sache und der Früchte, be - ſtimmte Geldſtrafe, sponsio tertiae partis, Uebertragung des Beſitzes zur Strafe, fructus licitatio u. ſ. w.) noch genannt werden die geſetzli - chen Präſumtionen,22)Die bona fides wird bei der Uſucapion präſumirt, bis das Gegentheil erwieſen iſt, die ununterbrochene Fortdauer des Beſitzes, ein anderes Re - quiſit der Uſucapion, wird angenommen, wenn das Vorhandenſein des Beſitzes zu einzelnen Zeitpunkten dargethan werden kann. die durch Gegenbeweis entkräftet werden können, die Fictionen,23)Z. B. Fiction der Zahlung, wenn Jemand eine vor längerer Zeit ausgeſtellte Quittung producirt. bei denen dieſe Möglich - keit ausgeſchloſſen iſt, die Formen der Rechtsgeſchäfte24)Z. B. beim Teſtament. Ohne ſolche Formen würde die Frage, ob u. ſ. w.

47Dogmatiſirende Tendenz der Rechtshiſtoriker. §. 4.

So erklärt und rechtfertigt ſich denn unſere obige Behaup - tung, daß ein Geſetzbuch in abſtracter Beziehung ein Meiſter - ſtück und doch daneben unbrauchbar ſein könne. Die Beſtim - mungen deſſelben könnten materiell noch ſo realiſirbar, dem Geiſt des Volks und der Zeit entſprechend, die Begriffe noch ſo klar und ſcharf ſein, es wäre aber kein Gewicht gelegt auf die formale Realiſirbarkeit, d. h. vergeſſen, daß das Recht die Func - tion hat, ſich leicht, raſch und ſicher in Wirklich - keit umzuſetzen.

Der Gedanke, den wir bisher ausgeführt haben, daß das Recht irgend eines Volkes und irgend einer Zeit nicht begriffen und beurtheilt werden kann, wenn man es bloß von Seiten ſeiner anatomiſchen Structur, ſeiner logiſchen Durchbildung, kurz als Rechts ſyſtem erforſchen und darſtellen will, hat etwas ſo einleuchtendes, daß man kaum begreift, wie man bei der Behand - lung der römiſchen Rechtsgeſchichte, vor allem bei der des Pri - vatrechts dieſen Fehler begehen konnte. 25)Auf die rechtshiſtoriſche Behandlung des römiſchen Staatsrechts und Kriminalprozeſſes erſtreckt ſich mein Vorwurf nicht.Und doch herrſcht er hier in hohem Maße. Die meiſten Darſtellungen der römiſchen Rechtsgeſchichte enthalten nichts, als eine Geſchichte des Dog - mas d. h. der Geſetzgebung und Doctrin, nicht aber eine Dar - ſtellung des Rechts, wie es leibte und lebte. Das Dogma ent - behrt dabei ſeines lebendigen Hintergrundes, es iſt herausge - riſſen aus ſeinem Zuſammenhange mit der thatſächlichen Welt, in der es den Grund und die Vorausſetzungen ſeiner Exiſtenz24)und was Jemand über ſeinen Nachlaß verfügt habe, in concreto ſehr ſchwer zu beantworten ſein; man könnte in Verſuchung kommen, Aeußerungen einer Perſon über ihre beabſichtigte demnächſtige Verfügung für eine letzt - willige Dispoſition zu halten.48Einleitung die Methode.und damit ſeine Rechtfertigung und ſein Verſtändniß fand. Kein Wunder, daß manche Rechtsinſtitute dadurch eine Geſtalt erhal - ten, in der ſie einem Unbefangenen als Zerrbilder erſcheinen, daß eine Unbegreiflichkeit ſich an die andere reiht. Einem Hiſtoriker von Fach, der die römiſche Rechtsgeſchichte ſchreiben ſollte, würde dieſer Verſtoß, den die Romaniſten täglich begehen, völlig un - möglich fallen, und es würde der römiſchen Rechtsgeſchichte ſehr zum Heil gereicht haben, davon bin ich überzeugt wenn die Hiſtoriker von Fach ſich ihrer mehr angenommen hätten. 26)An dem kurzen Abriß der römiſchen Rechtsgeſchichte in dem bekann - ten 44. Kapitel von Gibbon habe ich früh dieſe Erfahrung gemacht, ohne mir freilich damals bewußt zu ſein, warum derſelbe auf mich eine unendlich höhere Anziehungskraft ausübte, als die damals bereits erſchienenen ausführlicheren, von Juriſten verfaßten Darſtellungen. Bei Gibbon trat mir zum erſten Mal ein zwar kurzes, aber zuſammenhängendes Ganze in lebensvoller Weiſe ent - gegen, in den letztern aber ein zerſchnittenes und zerſtückeltes Syſtem von Rechtsſätzen, Geſetzen u. ſ. w.Der Grund liegt auf der Hand. Der Blick des Hiſtorikers iſt von vornherein nicht auf juriſtiſche Abſtractionen und Formuli - rungen der Vergangenheit gerichtet, ſondern auf das ſubſtantielle rechtliche und ſittliche Leben derſelben in ſeiner ganzen Totalität, und jene können ihm daher nie iſolirt erſcheinen. Dem Juriſten hingegen iſt es zur zweiten Natur geworden, in den ſubſtantiellen Verhältniſſen nur das rein juriſtiſche zu bemerken, und ſein Blick iſt daher, auch wenn er das Gebiet der römiſchen Rechtsgeſchichte betritt, ausſchließlich oder vorwiegend auf den dogmatiſchen In - halt gerichtet. Hierzu kömmt noch, daß die Quellen, aus denen er ſein Material entnehmen ſoll, für ihre Zeit dogmatiſche Ar - beiten waren, und in dieſen findet ſich jener reale Hintergrund, von dem wir ſprachen, aus dem Grund natürlich nicht, weil die Verfaſſer derſelben für ihre Zeitgenoſſen und nicht für zu - künftige Rechtshiſtoriker ſchrieben, die Vorausſetzung ihres Ver - ſtändniſſes, nämlich die Anſchauung des ganzen römiſchen Le - bens, mithin bei ihren Leſern nicht erſt zu begründen brauchten. 49Dogmatiſirende Tendenz der Rechtshiſtorie. §. 4.Der Stoff alſo, den der Rechtshiſtoriker hier vorfindet, iſt de - ductiver, nicht deſcriptiver Art; er iſt, ob er auch aus der Zeit von Labeo oder Ulpian ſtammt, ſeiner Tendenz nach ebenſo dogmatiſch, als ob er aus einem heutigen Pandekten - compendium entlehnt wäre. Dieſer dogmatiſche Stoff wird ſo - dann in ein Gefäß geleitet, das wiederum rein dogmatiſcher Natur iſt, in ein Syſtem der Theorie des Rechts, in dem das Leben mit ſeinen faktiſchen Verhältniſſen, mit der Sitte und der Sittlichkeit kein Unterkommen finden kann, weil dieſe Mächte und Verhältniſſe eben keine Rechtsbegriffe ſind. Und ſo erhalten wir im Grunde ſtatt der Rechtsgeſchichte nichts als Inſtitu - tionen - oder Pandekten-Compendien der verſchiede - nen Perioden der römiſchen Geſchichte, Darſtellun - gen, die ein Richter aus jener Zeit vielleicht mit Erfolg zu prak - tiſchen Zwecken hätte benutzen können, nicht aber ein Juriſt der heutigen Zeit, um ſich eine Einſicht in das Rechtsleben der Ver - gangenheit zu verſchaffen. Jener würde die Anſchauung dieſes Rechtslebens mitbringen und das dogmatiſche Präparat, das man ihm böte, wäre ihm ſofort verſtändlich, dieſem hingegen gewährt daſſelbe nicht das, was es ſollte, ein Bild des lebendi - gen Rechts der Vergangenheit, ſondern bloß eine Reproduction ihrer Theorie.

Wenn wir im vorigen Paragraphen an die Bearbeiter des römiſchen Rechts die Aufforderung gerichtet und begründet ha - ben, nicht bei der Formulirung der römiſchen Theorie ſtehen zu bleiben, ſo können wir dieſelbe Aufforderung hier in einem an - dern Sinn wiederholen. Die dogmatiſche Bearbeitung des Rechts irgend einer Zeit von einem Zeitgenoſſen darf einem Spätern bei ſeiner hiſtoriſchen Darſtellung deſſelben nie als Maßſtab oder Vorbild erſcheinen, denn ſein Vorgänger ſagt manches nicht, was er könnte, weil es für ſeine Leſer über - flüſſig iſt, und dies muß dieſer für ſein Publikum aus andern hiſtoriſchen Quellen zu ergänzen ſuchen; und manches kann er nicht ſagen, weil es ihm noch entgeht und dies ſoll die -Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 450Einleitung die Methode.ſer, der nicht, wie jener, bloß einen Theil, ſondern den ganzen Verlauf der hiſtoriſchen Entwicklung vor ſich hat, zu entdecken ſuchen. Jene Ergänzung hat zur Aufgabe, die Theorie ans Leben anzuknüpfen, dieſe, ſie von innen heraus zu vervollſtän - digen und zu vergeiſtigen.

Bei der vorliegenden Arbeit können wir nun unſere Auf - gabe nicht löſen, ohne nach beiden Seiten hin dieſe Ergänzung zu verſuchen. Der Geiſt eines Rechts iſt in unſern Augen nicht der Geiſt der nationalen Theorie dieſes Rechts. Wir wären nicht im Stande, den Geiſt des römiſchen Rechts zu beſtimmen, ohne an den Geiſt des Volks und der Zeit anzuknüpfen, nicht im Stande, eine Einſicht in das Weſen deſſelben und ein Urtheil über daſſelbe zu ermöglichen, ohne die realen Zuſtände des Le - bens, die Wirklichkeit des Rechts zu berückſichtigen. Es iſt aber nicht unſere Aufgabe, eine römiſche Rechtsgeſchichte zu lie - fern, die römiſche Theorie und das römiſche Rechtsleben in ihrer ganzen Breite und Länge darzuſtellen. Was wir wollen, läßt ſich jetzt nach den Ausführungen der beiden erſten Paragraphen in zwei Worten ausſprechen. Es iſt uns nämlich zu thun um die pſychiſche Organiſation des römiſchen Rechtsorganismus und zwar, da ſie zu verſchiedenen Zeiten eine verſchiedene war, um die geſchichtliche Entwicklung derſelben. Da nun jener Or - ganismus nicht eine Theorie, ein logiſches Syſtem, ſondern die rechtliche Geſtaltung der Wirklichkeit war, ſo gehört letztere inſoweit in den Kreis unſerer Darſtellung, als eben jene pſychi - ſche Organiſation des Rechts ſich an ihr bewährt oder ſich aus ihr erklärt, und ſo dürfte, wenn uns der Geiſt den Zugang zur materiellen Wirklichkeit zu verſchließen ſcheint, doch die reale Natur des Rechts uns denſelben offen halten.

51Der Begriff der Geſchichte. §. 5.

2. Anforderungen, die in dem Begriff der Geſchichte liegen Ausſcheidung der unweſentlichen Thatſachen Der innere Zu - ſammenhang der Thatſachen und das Moment der Zeit Innere Chronologie oder abſolute und relative Zeitbeſtimmung nach inneren Kriterien.

V. Daß das Recht wie alles, was exiſtirt, ſich im Laufe der Zeit verändert, iſt eine Thatſache, die uns an ſich noch nicht berechtigt von einer Geſchichte des Rechts zu ſprechen. Wenn die Geſchichte nichts wäre, als ein buntes Spiel von äußern Ereig - niſſen, eine Reihe von Veränderungen, ſo würde es auch eine Geſchichte von Wind und Wetter geben, und eine Rechts - geſchichte würde ſich auf den chronologiſch geordneten Abdruck von Geſetzen und Gewohnheitsrechten beſchränken können.

Es drängt ſich aber ſchon dem einfachen Verſtande die Bemerkung auf, daß nicht alles, was da geſchieht, Ge - ſchichte iſt und folglich auch die Geſchichte nicht bloß darin be - ſteht, daß etwas geſchieht, ſondern daß es darauf ankömmt, was geſchieht. Auf der niedrigſten Stufe der Geſchichtſchrei - bung tritt bereits die Scheidung zwiſchen weſentlichen und unweſentlichen, geſchichtlichen und ungeſchichtli - chen Ereigniſſen ein. Wie von Seiten des Individuums täglich und ſtündlich Handlungen vorgenommen werden, die kein Bio - graph der Mittheilung würdigen kann, ſo gibt es auch im Le - ben der Gattung derartige tägliche Verrichtungen, die ſelbſt der genauſte Annaliſt als völlig ungeſchichtliche Facta gar nicht erwähnt.

So ſehr aber jene Scheidung zwiſchen Ereigniſſen, die der Mittheilung werth und unwerth ſind, bei den Geſchichtſchreibern aller Zeiten ſich zeigt, ſo iſt begreiflich, daß der Maßſtab, nach dem man dieſelbe vornimmt, nach Zeit und Ort verſchieden ſein kann. Was dem gleichzeitigen Berichterſtatter der Aufbe - wahrung würdig zu ſein ſcheint, wird ſchon vom Geſchichtſchrei -4*52Einleitung die Methode.ber der folgenden Generation als völlig werthloſe Notiz bei Seite geworfen, letzterem geſchieht von ſeinem Nachfolger daſſelbe, und ſo ſichtet jede Zeit immer von neuem den über - lieferten Stoff. Iſt es aber auf dem Gebiete des Rechts anders, als auf jedem andern, iſt hier alles, was geſchieht, auch Ge - ſchichte? Gibt es nicht auch Geſetze, die ihrer tranſitoriſchen Beſtimmung oder ihrem untergeordneten, nichtsſagenden Inhalt nach ſo bedeutungslos ſind, daß ſie ſich zu der Geſchichte des Rechts verhalten, wie etwa die gewöhnlichen Lebensverrichtun - gen eines Individuums zu deſſen Lebensgeſchichte? Sollte wohl ein künftiger Geſchichtſchreiber unſerer jetzigen Zeit die Ehre erzeigen, alle ihre Geſetze über Stempeltaxen, Verjährungsfri - ſten u. ſ. w. aufzuzählen? Dieſe Geſetze mögen immerhin für die Gegenwart ſehr wichtig ſein, ſo wie das Eſſen, Trinken, Schla - fen u. ſ. w. für das Individuum, aber was hat der Hiſtoriker damit zu thun! Die ſubjektive Willkühr, die man darin finden könnte, daß der Darſtellende auswählt, was ihm bedeutend er - ſcheint, iſt keine andere, als die jeder, der uns den geringſten Vorfall erzählen will, ausüben muß; der Blick für das weſent - liche iſt eben eine unerläßliche Eigenſchaft eines jeden Referen - ten. Wer aus falſcher Gründlichkeit alles mittheilen will, was er in ſeinen Akten findet, ſollte lieber letztere ſelbſt vorleſen d. h. gar nicht referiren, und ein Rechtshiſtoriker, der ſich nicht ent - ſchließen kann, rechtshiſtoriſche Notizen, die er gefunden, dem Leſer vorzuenthalten, hätte ſtatt Geſchichtſchreiber Abſchreiber werden müſſen. 27)Dem Kundigen wird es nicht unbekannt ſein, daß die römiſche Rechts - geſchichte in manchen neuen Darſtellungen ſich dazu hergeben muß, eine Vor - rathskammer zu ſein, in der das völlig werthloſe neben dem werthvollen mit gleicher Sorgſamkeit aufbewahrt wird. Der Grund, warum die beſprochene erſte und natürlichſte Anforderung an die Geſchichtſchreibung gerade von den Rechtshiſtorikern weniger beachtet wird, ſcheint mir darin zu liegen, daß letz - tere nicht mit völliger wiſſenſchaftlicher Freiheit ſich ihrer Aufgabe hingeben, die Geſchichte des Rechts nicht ihrer ſelbſt willen darſtellen, ſondern eines an -

53Der hiſtoriſche Zuſammenhang. §. 5.

Verfolgen wir die Aufgabe der Geſchichtſchreibung weiter. Die Geſchichte beſteht nicht aus einzelnen wichtigen Er - eigniſſen, ſondern das weſentliche iſt der Zuſammenhang derſelben, die Einheit der Entwicklung. Wie nun bereits auf der niederſten Stufe der Geſchichtſchreibung das hiſtoriſche Un - terſcheidungsvermögen, die Empfänglichkeit für den Unterſchied geſchichtlicher und ungeſchichtlicher Thatſachen in ſeinem erſten ſchwachen Keime ſich zeigt, ſo gilt daſſelbe von dem Sinn für den hiſtoriſchen Zuſammenhang. Denn die Thatſache, an der dieſer Sinn ſich bethätigen ſoll, drängt ſich faſt ebenſo nothwendig der Wahrnehmung auf, als jene, daß nicht alles, was geſchieht, geſchichtlich iſt. Man bemerkt bald, daß gewiſſe der Mittheilung für würdig geachtete Facta, ungeachtet ſie der Zeit nach weit auseinander liegen, dennoch ſächlich im innigſten Zuſammenhange mit einander ſtehen, andere hingegen, unge - achtet ſie in denſelben Zeitmoment zuſammentreffen, dennoch eine ungleich loſere Beziehung zu einander haben, m. a. W. daß die innere Verwandſchaft und Zuſammengehörigkeit der Thatſachen ein weſentlicheres Moment iſt, als die äußere Verbindung derſelben durch die Zeit. Jede Geſchichtſchreibung verfolgt denn, wenn auch unbewußt und mit27)deren Zweckes wegen. Die Rechtsgeſchichte ſoll den Schlüſſel der Dogmatik abgeben, das iſt der Unſtern, der über ihr ſchwebt. Neben das hiſtoriſche In - tereſſe, das auf ihrem Gebiet allein berechtigt iſt, tritt hier das ihr an ſich fremde praktiſch-dogmatiſche, und ſie ſelbſt erliegt dieſem Conflikt beider In - tereſſen. Was der Hiſtoriker als völlig unweſentlich ausſcheiden müßte, läßt der Dogmatiker als exegetiſches Hülfsmittel ſich nicht nehmen und bringt es, da es einmal eine hiſtoriſche Notiz iſt, in die Rechtsgeſchichte. Wenn das - miſche Recht gar nicht bei uns gölte, ſo würden unſere Rechtsgeſchichten le - diglich dem hiſtoriſchen Intereſſe dienen können und folglich beſſer ſein, als jetzt, wo ſie von Vielen im Grunde nur als hiſtoriſche Vorrathskammern für die Pandekten betrachtet werden. Das praktiſche Intereſſe irgend eines Theiles oder Abſchnittes der Geſchichte erſchwert ſehr die ungetrübte Verfol - gung des hiſtoriſchen Geſichtspunktes und das unpraktiſche eignet ſich in der That am beſten zur hiſtoriſchen Darſtellung.54Einleitung die Methode.ſchwachen Erfolgen, dieſes Ziel, den ſachlichen Zuſammenhang der Thatſachen aufzudecken. Von dem erſten rohen Verſuch, dieſe Verbindung in Form eines äußerlichen Cauſalnexus herzuſtellen, bis zu dem verwegenen Uebermuth, die ganze geſchichtliche Bewe - gung dialektiſch zu conſtruiren, ſtreckt ſich ein langer Weg, aber allen, die denſelben wandeln, iſt wenigſtens die Idee gemeinſam, daß die Geſchichte in einem nicht bloß durch das Moment der Zeit bewerkſtelligten Aneinanderreihen ſächlich geſchiedener Er - eigniſſe beſteht, ſondern daß eine innere Verbindung unter ihnen Statt findet. Dieſe Verbindung iſt aber nicht die einer Kette, ſon - dern die Einheit, Planmäßigkeit eines vollendeten Kunſtwerks. Die Gedanken, die ſich in der Geſchichte entfalten, und in denen die bunte Erſcheinung ihre Einheit findet, fügen ſich ſelbſt wie - der zu einem harmoniſchen Ganzen zuſammen, nicht freilich als ein ſich aus ſich ſelbſt bewegendes perpetuum Mobile der Dia - lektik, ſondern als eine freie That Gottes.

Hat nun auch das Recht eine Geſchichte, oder iſt es ein von Gott verlaſſenes Spiel der Willkühr, ein Auf - und Abwo - gen von Veränderungen? Man möchte zweifelhaft werden, wenn man ſeinen Blick auf ſo manche geſchichtliche Periode wendet, in denen das Recht den Launen eines Individuums Preis gege - ben zu ſein und regellos wie Wind und Wetter ſich zu verändern ſcheint, oder auf Zeiten der politiſchen Kriſe, in denen das Recht der Leidenſchaft der Partheien dient, eine Waffe wird in der Hand des Siegers und mit den Partheien wechſelt. Und dennoch trotz aller menſchlichen Willkühr hat das Recht eine Geſchichte, und die lenkende Hand Gottes iſt in ihr, nur tritt dieſelbe nicht immer ſo erkennbar hervor, wie in der Natur. Man lehrt uns, Gott zu erkennen in der Blume und dem Baume, man weiſt uns auf die Geſtirne, um in der Unermeßlichkeit ihrer Zahl und in den Geſetzen ihrer Bewegung das erhabenſte Beiſpiel göttli - cher Allmacht zu finden. Aber ſo hoch der Geiſt ſteht über der Materie, ſo hoch ſteht auch die Ordnung und Majeſtät der gei - ſtigen Welt über der der ſubſtantiellen. Wunderbarer als die55Die Geſchichte des Rechts. §. 5.Bewegung der Weltkörper im Raum iſt die Bewegung der ſitt - lichen Gedanken in der Zeit, denn ſie gehen nicht unangefochten einher wie die Geſtirne, ſondern ſie ſtoßen bei jedem Schritt auf den Widerſtand, den menſchlicher Eigenſinn und Unverſtand und alle böſen Gewalten des menſchlichen Herzens ihnen entgegen - ſetzen. Wenn ſie dennoch ſich verwirklichen im bunten Gewirre widerſtrebender Kräfte, wenn das ſittliche Planetenſyſtem mit derſelben Ordnung und Harmonie ſich bewegt, wie das Plane - tenſyſtem des Himmels, ſo liegt darin ein glänzenderer Beweis der göttlichen Weltleitung, als in allem, was man der äußeren Natur entnehmen kann. Man hat von der Poeſie im Recht ge - ſprochen und darunter die Aeußerung der ſinnigen, gemüthlichen Auffaſſung verſtanden, wie ſie auf dem Gebiete des Rechts in manchen Formen ſich kund gibt. Aber dies iſt eine Poeſie unter - geordneter Art und ſpielt im Recht nur eine höchſt kümmerliche Rolle, die wahre Poeſie des Rechts liegt in der Erhabenheit ſeines Problems und in ſeiner an Majeſtät und Geſetzmäßigkeit dem Laufe der Geſtirne vergleichbaren Bewegung. Das römiſche Recht iſt nun vor allem geeignet, uns dieſe Poeſie der Ordnung und Gedankenmäßigkeit der Rechtsentwicklung zu bewähren; in meinen Augen iſt die Geſchichte dieſes Rechts ein unübertroffe - nes Kunſtwerk, in dem die höchſte Einfachheit und Einheit mit der reichſten Fülle der Entwicklung ſich paart. Zu dieſem Aus - ſpruche bilden freilich die meiſten Darſtellungen der römiſchen Rechtsgeſchichte einen ſchneidenden Contraſt. Statt die Einheit in der hiſtoriſchen Bewegung ſämmtlicher Inſtitute nachzuweiſen, führen ſie uns nur eine Reihe von Veränderungen vor, die nichts mit einander gemein zu haben ſcheinen, zerreißen den Stoff in innere und äußere Rechtsgeſchichte, ſtellen letztern nach Perio - den dar (ſogenannte ſynchroniſtiſche Methode) dieſe hingegen nicht (ſ. g. chronologiſche Methode), negiren alſo damit von vornherein die Geſchichte des Rechts in ſeiner Totalität. Der Grund, mit dem ſie dies Verfahren zu rechtfertigen ſuchen, daß die einzelnen Inſtitute ſich nicht gleichmäßig entwickelt hät -56Einleitung die Methode.ten, ſich nicht für alle dieſelben Perioden aufſtellen ließen, be - deutet nichts anders als: Die Rechtsinſtitute haben eine Ge - ſchichte, nicht aber das Recht als Ganzes. 28)Auf die Frage, ob dieſe Behandlung ſich nicht beim akademiſchen Vortrag aus methodologiſchen Gründen rechtfertigen laſſe, kann ich hier nicht eingehn.Die berühmte Rechtsgeſchichte von Hugo faßt zwar die innere und äußere Rechtsgeſchichte zuſammen und behandelt beide in denſelben Perioden, aber die Verbindung beider wie die Perioden ſelbſt ſind der alleräußerlichſten Art, und das Zerſtücklungsſyſtem iſt gerade hier auf die höchſte Spitze getrieben. 29)Hugo’s Perioden ſind nichts als Stationen, auf denen die einzelnen Inſtitute ſich ausruhen, um, wenn alle ſich eingefunden, ſich jedes für ſich allein wieder auf den Weg zu machen. Kein Inſtitut bekümmert ſich um das andere, ſie haben nur das mit einander gemein, daß ſie bei derſelben Sta - tion einkehren müſſen. Manche würden gern früher einen Ruhepunkt machen, andere umgekehrt, da ſie gerade in beſter Bewegung ſind, noch etwas über die Station hinausgehen, aber beides wird nicht verſtattet, ſie müſſen ausruhen, wo Hugo es ihnen befohlen hat. Dafür rühmt aber Hugo ſeinen Perioden einen Vorzug nach, den man auch bei Poſtſtationen möglichſt zu er - ſtreben ſucht, nämlich daß ſie gleich lang ſeien, und ſucht den Leſer durch die Bemerkung zu gewinnen, daß es beinahe nur zur Bequemlichkeit des Leſers (und etwa dazu, einzelne Begebenheiten recht auszuheben) dient, wenn Ab - ſchnitte gemacht werden, wie viele und welche es ſind. Es ſcheint dem die Idee zu Grunde zu liegen, daß die Kräfte eines ſchwachen Menſchenkindes nicht ausreichen, um mit der Geſchichte, die ohne zu ermüden, ihren Lauf un - unterbrochen fortſetzt, gleichen Schritt zu halten. Hiernach würde es alſo ganz auf das Maß der Kräfte ankommen, das der Leſer mitbringt, und man könnte, wenn es ſich fragte, ob man ihn lieber bei Cicero oder Auguſtus, lie - ber bei Alexander Sever oder Conſtantin einkehren laſſen ſollte, noch ſeine ſpezielle Vorliebe für die eine oder die andere dieſer Perſönlichkeiten berück - ſichtigen. Dieſer Hugo’ſchen Willkühr und ſeinem Zerſtücklungsſyſtem gegenüber verdient die herrſchende Methode, die jedes Inſtitut den ganzen Weg zwar für ſich allein, aber doch ohne Unterbrechung zurücklegen läßt, offenbar noch den Vorzug; ſie gibt, wenn auch keine Geſchichte des Rechts, doch wenigſtens die der einzelnen Rechtsinſtitute.

57Gleichartige Entwicklung der einzelnen Inſtitute. §. 5.

Iſt es denn wahr, daß die einzelnen Inſtitute ſich nicht gleichmäßig entwickeln? Wäre es möglich, daß das eine Inſti - tut dieſem, das andere jenem Gedanken diente, oder, wenn die - ſelben Gedanken ſich auch bei allen Inſtituten wiederholten, daß ſie bei dieſem in dieſer, bei jenem in gerade entgegengeſetzter Reihenfolge aufträten? Dann würde freilich von einer Geſchichte des Rechts keine Rede ſein können, denn wo jeder einzelne Theil ſich ſelbſtändig bewegt, gibt es kein Ganzes, keine Einheit.

Damit alſo von einer Geſchichte des Rechts geredet werden könne, wird eine gewiſſe Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit in der Bewegung der einzelnen Inſtitute nothwendig vorausge - ſetzt. Dieſe Vorausſetzung iſt in der That vorhanden, es kömmt aber nur darauf an, ſich durch den Schein des Gegentheils nicht irre machen zu laſſen. Wenn man ſie nicht aufzufinden vermag, ſo liegt dies nur darin, daß man ſie ſelbſt zu mecha - niſch nimmt, nicht die innere Gleichheit der treibenden Kräfte, ſondern die äußere der Erſcheinungsform ins Auge faßt, die Gleichzeitigkeit aber nach einem für das Recht zu engen Zeitmaß beſtimmt.

Betrachten wir beide Punkte etwas näher.

1. Gleichartigkeit der hiſtoriſchen Bewegung.

Niemand wird Bedenken tragen von einer Erkrankung oder totalen Umgeſtaltung eines Organismus zu ſprechen, ungeachtet dieſelbe an einzelnen unedlen Theilen nicht hervortritt. Wenn wir nun im Recht von einer totalen Neubildung ſeines Organis - mus ſprechen, ſo wird kein Verſtändiger die Anforderung an uns ſtellen, daß wir dieſelbe an jedem Atom deſſelben nachweiſen ſollen. Die Grundgedanken, die jene Neubildung hervorgerufen haben, werden ſich in manchen Partikeln des Rechts nicht äußern kön - nen, indem letztere auf ſie gar nicht reagiren.

An dieſer Beobachtung nun, daß nicht an jedem einzel -58Einleitung die Methode.nen Punkte des Rechts ſich dieſelbe Erſcheinung wiederholt, würde auch die römiſche Rechtsgeſchichte nie Anſtoß genommen haben. Die einzige Beſchränktheit, die ihr gefährlich wurde, be - trifft die Erkenntniß der Gleichartigkeit in der Umgeſtaltung der einzelnen Inſtitute. Dieſe Gleichartigkeit iſt in den wenigſten Fällen eine mechaniſche, augenfällige; ich darf eine obige Be - merkung (S. 30) wiederholen, daß Gleichheit der Aeußerung das Zeichen der Schwäche iſt, die Kraft aber ſich in der Mannigfal - tigkeit der Aeußerungsformen bewährt. Auch im Recht kleidet nur der Winter ſich in eine Farbe, die andern Jahreszeiten aber in ſehr verſchiedene.

Dieſe Mannigfaltigkeit der Aeußerungsformen wird aber der Erkenntniß der inneren Gleichartigkeit nicht ſelten gefährlich. Der Proteus der Geſchichte taucht im Wellenſpiel der hiſtoriſchen Erſcheinung bald hier bald dort in veränderter Geſtalt auf und ſucht uns durch den Wechſel dieſer Geſtalt zu täuſchen. Dieſer Gefahr zu entgehen, müſſen wir uns eben nicht an das Trug - bild der Erſcheinung halten, letztere nicht mit den Gedanken meſſen, die oben aufſchwimmen, ſondern mit denen, die ihren Kern, ihr Weſen ausmachen. Um letztere aufzufinden, iſt eine gewiſſe Weite der Abſtraction, ein Zurückſteigen von den durch die Individualität der Inſtitute tingirten und daher ſcheinbar verſchiedenen nächſten Gedanken zu ihrem gemeinſamen abſtrac - teren Einheitspunkt erforderlich. Um ein Beiſpiel aus unſerer ſpäteren Darſtellung zu geben, ſo ſind gewiß die Einführung des Formular-Prozeſſes, die Privilegien der Soldaten, Frauen u. ſ.w., die Condemnation auf das Intereſſe ſtatt auf den objektiven Werth der Sache, die Berückſichtigung der absentia, die actio injuriarum aestimatoria u. ſ. w. äußerlich ſehr verſchieden, ſie finden aber ihre Vereinigung in dem Gedanken der individuali - ſirenden Tendenz des ſpäteren römiſchen Rechts. Ebenſo hat die grammatiſche Interpretation der ältern römiſchen Jurisprudenz auf den erſten Blick nichts gemeinſames mit der Präponderanz der Sache und der phyſiſchen Gewalt im ältern Recht, und doch59Gleichzeitige Entwicklung der einzelnen Inſtitute. §. 5.laſſen auch ſie ſich auf denſelben Geſichtspunkt des Uebergewichts der Aeußerlichkeit zurückführen.

Wie nun die Gleichartigkeit der hiſtoriſchen Bewegung bei den einzelnen Inſtituten nicht in einem ermüdenden Uniſono be - ſteht, ſo iſt dies eben ſo wenig innerhalb eines und deſſelben Inſtitutes der Fall. Auch hier finden wir Freiheit, Mannigfaltig - keit der Aeußerungsformen bei Identität des inneren Weſens, und auch hier iſt es wiederum die Aufgabe, ſich durch dieſe wechſelnden Formen nicht irre führen zu laſſen. Die Tonart, die Octavenlage, möchte ich ſagen, können bei einem und demſelben Inſtitut vielleicht öfter wechſeln, das Thema mannigfaltig vari - irt werden, aber dennoch iſt es eben dieſes Thema, das immer wieder durchklingt.

2. Die Gleichzeitigkeit der hiſtoriſchen Bewegung.

Das Maß der Zeit, mit dem man dauernde Zuſtände oder vorübergehende Ereigniſſe beſtimmen will, iſt bekanntlich ſehr relativ und richtet ſich im Allgemeinen nach der Länge oder Kürze der Zeit, die der zu meſſende Gegenſtand einnimmt. Hiernach kann eine Minute bereits ein zu weites, ein Jahrhundert ein zu enges Maß ſein. In der politiſchen Geſchichte ſind wir ge - wohnt nach Jahren zu rechnen und übertragen dies Maß auf die Rechtsgeſchichte, ohne die Frage aufzuwerfen, ob es ihr entſpricht. Wir werden unten zeigen, daß dieſe Frage verneint werden muß, daß die Rechtsgeſchichte ein ungleich weiteres Maß erfordert, als die politiſche Geſchichte; hier betrachten wir dieſen Fehler nur in ſeiner Anwendung auf die poſtulirte Gleichzeitigkeit in der Bewegung der einzelnen Inſtitute.

Mißt man dieſelbe nach Jahren, ſo wird ſie faſt nie vor - handen ſein, und zwar nicht bloß wegen der Langſamkeit der Entwicklung des Rechts im Allgemeinen, ſondern wegen der verſchiedenen Beweglichkeit der einzelnen Inſtitute. Manche der - ſelben zeichnen ſich durch Schwerfälligkeit und Tenacität, andere60Einleitung die Methode.durch Beweglichkeit und Bildſamkeit aus, und derſelbe Entwick - lungsprozeß, der bei letzteren ſich leicht und mühelos vollzieht und in einem Jahrhundert beendet iſt, dehnt ſich dort in müh - ſamer Arbeit über mehre Jahrhunderte aus.

So ſtehen z. B. das öffentliche und das Privatrecht, der Kriminalprozeß und Civilprozeß und im Privatrecht die einzel - nen Theile deſſelben nicht auf gleicher Stufe. Das Familienrecht und auch, inſoweit es mit dieſem zuſammenhängt, das Erbrecht ſind langſamer und weniger bildſam, als das Vermögensrecht, und letzteres zeigt wiederum bei unbeweglichen Sachen eine grö - ßere Hartnäckigkeit, als bei beweglichen, und hinſichtlich der letzteren tritt bei den dem Handelsverkehr beſtimmten Verhält - niſſen die höchſte Steigerung der Bildungsfähigkeit hervor.

Wenn alſo ein und derſelbe Entwicklungsprozeß auch gleich - zeitig bei allen Inſtituten begönne, ſo würde doch der fernere Fort - gang deſſelben durch dieſe verſchiedene Empfänglichkeit derſelben beſtimmt ſein, und je nach dieſer Verſchiedenheit wäre er bei dem einen vielleicht beendet, während er bei dem andern erſt zur vollen Thätigkeit gelangte. Aus dem langen Zeitraum von den XII Tafeln bis zu Juſtinian läßt ſich daher kein Jahr, ja nicht einmal ein Abſchnitt von 50 oder 100 Jahren als Normalpunkt für alle Inſtitute herausheben; für einige derſelben zutreffend würde er für andere zu früh, für andre zu ſpät ſein.

Aber was folgt hieraus? Nicht der Mangel der Gleichzei - tigkeit, ſondern nur das Bedürfniß einer weiteren Faſſung der - ſelben. Wie die von uns geſuchte Identität der Bewegung in den einzelnen Inſtituten hinſichtlich ihrer Erſcheinungs form eine große Elaſticität beſitzt, ſo auch hinſichtlich ihrer Erſchei - nungs zeit, und es kömmt, um beide zu finden, nur auf den richtigen Maßſtab an. Die folgende Ausführung wird dieſe freiere Behandlung der Zeit für die Geſchichte des Rechts in einem noch weiteren Umfange begründen; begnügen wir uns hier zunächſt mit dem Reſultat, daß bei richtiger Wahl der Ge - ſichtspunkte die von unſern Rechtshiſtorikern bezeichnete Confor -61Einheit in der Geſammtentwicklung des Rechts. §. 5.mität in der Entwicklung der einzelnen Inſtitute ſich allerdings auffinden läßt.

Dieſe Conformität in der Bewegung der einzelnen Theile wird nun zwar vorausgeſetzt, damit von einer Geſchichte der Totalität des Rechts die Rede ſein kann, allein ſie fällt mit letzte - rer nicht zuſammen. Die Bewegung ſämmtlicher einzelner In - ſtitute könnte ja eine planloſe, ein regelloſes Spiel gleichmäßi - ger Veränderungen derſelben ſein, und dann wäre von einer Geſchichte des Rechts keine Rede. Es genügt alſo nicht nachzu - weiſen, daß die einzelnen Inſtitute gleichzeitig dieſelben Entwick - lungsſtadien zurücklegen, ſondern daß auch die Reihenfolge ihrer verſchiedenen Phaſen eine innerlich zuſammenhängende iſt, die Geſchichte des Rechts alſo ſowohl vom Standpunkt eines einzelnen gegebenen Zeitmoments als vom Standpunkt ihres ganzen ſucceſſiven Verlaufs den Eindruck der Einheit gewähre, ich möchte ſagen: die Einheit ſowohl im Nebeneinander als Hin - tereinander, in die Breite wie in die Länge Statt finde.

Daß nun in der Geſchichte des Rechts eine ſolche ſucceſſive Einheit vorhanden iſt, dürfen wir ſchon von vornherein anneh - men. Da nämlich die Individualität eines Volkes nicht heute ſo, morgen ſo iſt, und ebenſo das äußere Leben und der Verkehr deſſelben ſich nicht ſprungweiſe und launenhaft verändert, ſo kann daſſelbe ebenſo wenig mit der correſpondirenden Bewegung des Rechts der Fall ſein. Findet dort eine Einheit der Entwick - lung Statt, ſo wird ſie auch hier vorhanden ſein. So leicht ſich nun dieſe Einheit von vornherein deduciren läßt, ſo ſchwierig ſcheint es zu ſein, ſie an einem beſtimmten einzelnen Recht nach - zuweiſen. Eine Anleitung dazu läßt ſich natürlich nicht geben, aber es läßt ſich wenigſtens negativ ein Hinderniß aus dem Wege räumen, das mir ſehr nachtheilig gewirkt zu haben ſcheint. Das iſt nämlich der ungebührliche Einfluß, den man hier dem62Einleitung die Methode.Moment der Zeit zu verſtatten pflegt. Ich kann an die obige Be - merkung anknüpfen, daß die innere Verbindung der Thatſachen weſentlicher iſt, als die äußere Verbindung durch die Zeit. Dieſe Bemerkung hat für die Geſchichte des Rechts eine geſteigerte Bedeutung; das Moment der Zeit tritt hier in einem weit - heren Grade zurück, als in der politiſchen Geſchichte. Wir wol - len in folgendem die Bedeutung des Moments der Zeit für die Geſchichte des Rechts ſowie die Conſequenzen, die ſich daraus für die Darſtellung ergeben, näher entwickeln.

Dieſe Bedeutung beſteht nun zunächſt darin, daß die Ge - ſchichte auf dieſem Gebiete außerordentlich langſam arbeitet, bei geringer Production ungemein viel Zeit gebraucht. Geſetze kön - nen freilich in kurzer Zeit viele erlaſſen werden, aber nicht jedes Geſetz betrachte ich als ein geſchichtliches Ereigniß. Die Geſetze können ſich drängen wie die Wolken bei bewegtem Him - mel, aber wenn ſie ebenſo wie letztere raſch vorüberziehen und keine Spur zurücklaſſen, ſo rechne ich ſie nicht zu den Produc - tionen, von denen ich hier ſpreche, ſondern zu dem Abfall, den Spänen, die davon fliegen, wenn die Geſchichte arbeitet. Die Productivität der Geſchichte des Rechts hat die Entwicklung des Rechtsorganismus zum Gegenſtande und bewährt ſich nicht dar - an, was derſelbe conſumirt, ſondern was er verdaut. Dieſe Arbeit geht ſehr langſam von Statten und liefert viel - leicht in einem Jahrtauſend nicht ſo viel, als die politiſche, Kunſt - und Literaturgeſchichte in einem Jahrhundert. Selten ſind für das Recht die Fälle, wo daſſelbe unter dem Einfluſſe plötzlicher gewaltſamer Impulſe in raſche Bewegung geräth und, ich möchte ſagen, auf dem Wege vulkaniſcher Bildung neue fer - tige Schichten aus ſich heraustreibt; auch wird hier dem plötz - lichen Ausbruch eine lange Zeit der Vorbereitung vorangegan - gen ſein. Die Regel iſt die, daß dieſe Schichten durch höchſt63Langſamkeit der Entwicklung des Rechts. §. 5.allmähligen und unmerklichen Niederſchlag der Atome ſich an - ſetzen und ablagern, ſo daß die Bildung einer neuen Formation viele Jahrhunderte erfordern kann. 30)Am meiſten Aehnlichkeit hat auch in dieſer Beziehung mit dem Recht die Sprache. Die Verſchiedenheit des Nationalcharakters bewirkt auch hier eine große Abſtufung der Bildſamkeit, wofür beiſpielsweiſe auf die größere Tenacität des Dorismus am Alten und die verſatilere Volubilität der Mund - arten Joniſchen Stammes verwieſen werden mag.Der Grund dieſer unge - wöhnlichen Schwerfälligkeit des Rechts iſt leicht zu finden; es iſt derſelbe, aus dem die Entwicklung des Charakters langſamer, mühſamer von Statten geht, als die intellektuelle Ausbildung. Der Charakter eines Individuums und ein Recht letzteres iſt ja der Charakter eines Volksindividuums die ſich beſtändig ändern, die nach Art der intellektuellen Thätigkeit in beſtändiger Bewegung und Spannung begriffen ſind, taugen beide nicht viel. Eine gewiſſe Stetigkeit und Hartnäckigkeit iſt bei beiden das Zeichen der Geſundheit und Kraft. Wenn jede Generation das von der Vergangenheit ererbte Recht als eine ewige Krankheit von ſich ſtoßen und dafür das Recht, das mit uns geboren , an die Stelle ſetzen wollte, ſo würde die ſittliche Kraft des Rechts über die Gemüther raſch abnehmen, und das Recht im ewigen Rollen begriffen dem Abgrunde entgegeneilen. Je leichter, raſcher und häufiger in einem Staat das Recht producirt, deſto geringer jene moraliſche Kraft;31)Perditissima republica plurimae leges. Auch bei Individuen iſt ja die Productivität an guten Vorſätzen ein Zeichen von Charakterſchwäche. je ſeltner dieſe Productionen, je länger der Zwiſchenraum zwiſchen der Empfängniß und der Geburt, je ſchmerzhafter die Geburtswehen, deſto feſter und kräftiger das Product. Darum kann das Recht nur bei einem willenskräftigen Volk gedeihen, denn nur bei einem ſolchen Volk iſt die conſer - vative wie progreſſive Kraft in dem Maße ausgebildet, daß das Recht nur unter Schmerzen gebären kann. Als Beiſpiel nenne ich das ältere Rom und England; für das gegenüberſtehende64Einleitung die Methode.Extrem einer Eintagsfliegen-Fruchtbarkeit braucht man leider weniger nach Beiſpielen zu ſuchen.

Dieſe eben entwickelte Schwerfälligkeit und Langſamkeit des Rechts läßt ſich mit andern Worten auch ſo ausdrücken: das Recht bedarf zu ſeinen Productionen langer Zeiträume. Wir ſtellen dem nun gegenüber eine zweite Eigenthümlichkeit der Be - ziehung der Zeit zur Rechtsgeſchichte, nämlich die Unbeſtimmtheit und Unſicherheit des Zeitpunktes. Dieſelbe hängt mit der Länge der Zeiträume nicht nothwendig zuſammen; letztere kann mit ſcharfer Beſtimmung der Zeitpunkte und umgekehrt die Kürze der Zeiträume mit Unbeſtimmtheit jener verbunden ſein.

Der Erlaß eines Geſetzes läßt ſich nach Tag und Stunde beſtimmen, und wäre die Geſchichte des Rechts nichts als eine Geſchichte der Geſetze, ſo würde hier für manche Zeiten die äußerſte chronologiſche Genauigkeit herrſchen können. Aber ſo wichtig es ſtets in praktiſcher Beziehung iſt, von welchem Zeit moment an ein Geſetz gilt, ſo wenig iſt dies in hiſtoriſcher Beziehung der Fall. Als einziger äußerer Anhaltspunkt mag uns auch hier das Datum des Geſetzes brauchbar ſein, aber überſchätzen wir nicht den Werth deſſelben. Nichts wäre irriger, als zu glauben, daß die Geburtsſtunde der in dem Geſetz aufge - ſtellten Rechtsgrundſätze mit jenem Augenblick zuſammenträfe. Beide können vielmehr weit auseinanderfallen; wir erinnern an unſere Ausführung über die Formulirung der Rechtsſätze. Längſt bevor das Geſetz einen Rechtsgrundſatz ſanctionirte, kann der - ſelbe bereits im Leben gegolten haben, und es iſt Zufall, daß er gerade jetzt, nicht früher und ſpäter ausgeſprochen wird. Wie verkehrt wäre es hier, die Entſtehung jenes Grundſatzes nach dem Tage des Geſetzes zu datiren.

Aber ſelbſt dieſer äußere Anhaltspunkt des Publikations - tages der Geſetze fehlt häufig. Wie manches wichtige Geſetz tritt in der römiſchen Rechtsgeſchichte auf, von dem uns nicht einmal das Jahrhundert, in das es fiel, bezeichnet wird. Und wie vieles bildet ſich auf dem Boden des Rechts, ohne nur65Aeußere Chronologie der Rechtsgeſchichte. §. 5.einmal in einem Geſetze erwähnt zu werden. Was die ſchöpferiſche Kraft des Lebens oder die Praxis der Gerichte auf gewohnheits - rechtlichem Wege zu Tage fördert, was die Wiſſenſchaft allmäh - lig in Umlauf ſetzt und in Aufnahme bringt, dafür läßt ſich kein Datum angeben. Oder ſollten wir es darnach datiren, wann es zuerſt in unſern Quellen erwähnt wird, das Jahr, in dem es in der uns erhaltenen Literatur auftaucht, und das vielleicht das funfzigſte oder hundertſte ſeiner Exiſtenz iſt, für das erſte derſelben halten? Die glänzenden Thaten einzelner Individuen, Schlachten und merkwürdige Vorfälle und ebenſo auch die wich - tigen Geſetze werden ſorgfältig berichtet, weil ſie äußerlich in die Augen und der Zeit nach in ein beſtimmtes Jahr fallen, und kein Annaliſt, der dieſes Jahr vor ſich hat, wird ſie übergehen; hingegen die allmählige und unmerkliche Bildung des Rechts aus dem Leben heraus entzieht ſich leicht dem Auge und erhält ſelten einen ſo eklatanten, in einen beſtimmten Zeitmoment fal - lenden Abſchluß, daß derſelbe als ein Ereigniß dieſes beſtimmten Jahres aufgezeichnet werden müßte. So ſchleicht ſich das auf dieſem Wege gebildete Rechtsproduct, eben weil ſeine Bildung nicht mit Geräuſch verbunden iſt und nicht in ein einzelnes Jahr fällt, unbeachtet durch manches Jahr dahin, bis ein Zufall ihm die erſte ſchriftliche Aufzeichnung verſchafft; die aber wiederum ein anderer Zufall der Nachwelt vorenthalten kann. Bei der Be - trachtung des Rechtsorganismus (§. 3) fanden wir eine drei - theilige Gliederung deſſelben: Rechtsſätze, Rechtsbegriffe, pſy - chiſche Organiſation deſſelben, und im allgemeinen möchte die chronologiſche Beſtimmtheit in derſelben Weiſe abnehmen, wie wir in jener Gliederung vom ſpeziellen zum allgemeineren auf - ſteigen. Ein Rechtsſatz wird zu ſeiner Bildung kürzere Zeit ge - brauchen, als ein Rechtsbegriff, ein Rechtsbegriff kürzere Zeit, als ein Umſchwung in der Rechtsanſchauung. Für die Perioden der Geſchichte, in denen die Bildung der Rechtsſätze vorzugs - weiſe dem Geſetzgeber anheimfällt, iſt dieſer Satz offenbar am zutreffendſten, hier ließe er ſich auch ſo ausdrücken: Der Geſetz -Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 566Einleitung die Methode.geber arbeitet raſcher, als die Doctrin, die Doctrin raſcher als der Volksgeiſt, je langſamer aber hier die Production, um ſo unbeſtimmter der Zeitpunkt ihres Abſchluſſes.

Aus dem bisherigen geht zur Genüge hervor, wie unvoll - kommen es mit der Chronologie der Rechtsgeſchichte für entle - gene, quellenarme Zeitalter beſchaffen ſein muß. Für manche völlig gleichgültige Geſetze kann ſie Jahr und Tag angeben, und für die wichtigſten Ereigniſſe, für den Umſchwung der Ideen und die durch denſelben hervorgerufene Umgeſtaltung des Rechts kaum das Jahrhundert. Die Zuſammenſtellung von Jahreszah - len, zu der ſie ſich durch ihre Quellen in Stand geſetzt ſieht, iſt daher nothwendigerweiſe ſehr lückenhaft, und die einzelnen An - gaben enthalten dem bisherigen nach nur ſehr ſelten den wirkli - chen, wahrhaften Zeitmoment eines rechtshiſtoriſchen Ereigniſ - ſes. Das unmittelbare Intereſſe einer ſo unvollkommenen Chro - nologie kann ich daher nur höchſt gering anſchlagen; dagegen wird ſich unten bei dem, was wir an ihre Stelle ſetzen werden, ein hoher mittelbarer Werth derſelben ergeben.

Als Reſultat haben wir gefunden, daß das Moment der Zeit in der Geſchichte des Rechts eine geringere Bedeutung hat, als in der politiſchen Geſchichte, indem nämlich die Bewegung des Rechts eine mehr innerliche und darum ſehr langſame und unmerkliche iſt, die Zeiträume alſo lang und die Zeit - punkte unbeſtimmt ſind.

Es iſt nur ein anderer Ausdruck dieſes Reſultates, wenn wir ſagen: Der Rechtshiſtoriker muß die Zeit mit einem weite - ren und elaſtiſcheren Maße meſſen, als ſonſt üblich iſt. Je enger die zeitlichen oder räumlichen Gränzen eines Gegenſtandes ſind, deſto genauer kann das zeitliche oder räumliche Maß, deſto - her der Standpunkt der Betrachtung ſein; je weiter aber die Dimenſionen in Zeit oder Raum, deſto weiter darf auch das Maß, deſto entfernter ſoll der Standpunkt der Betrachtung ſein, damit ein richtiger Totaleindruck gewonnen werde, der Zuſammenhang des Gegenſtandes in die Augen ſpringe. Ein67Elaſticität der Perioden. §. 5.Rechtshiſtoriker wird daher kleinere und nach Jahren beſtimmte Zeiträume, die für die Darſtellung der politiſchen Geſchichte durchaus geeignet wären, nicht zu Grunde legen können, ohne ſich von vornherein die Verfolgung ſeines letzten Ziels die Aufdeckung des ſachlichen Zuſammenhanges in der Entwicklung des Rechts ſehr zu erſchweren. Er wird ſich vielmehr von vornherein anſchicken müſſen dieſer Entwicklung ununterbrochen während einer Reihe von Jahrhunderten zu folgen, ich möchte ſagen, der Zeit Zeit, laſſen ſich ihm verſtändlich zu machen. Ebenſo wird er, wenn der Verlauf dieſer Entwicklung ihn zwingt, einen Abſchnitt zu machen, ſich nicht ein beſtimmtes Jahr als Gränzpunkt ſetzen, über den er ſeinen Blick nicht hinausſchweifen laſſen dürfte, und mit dem er ſpäter wieder begönne. Denn wenn die Geſchichte ſelbſt ihm die Feſtſtellung eines ſolchen Normaljahres auch noch ſehr erleichtert hätte, auch noch ſo ſehr den ſchmalen Streifen eines Jahres zur äußeren Gränzſcheide zweier innerlich geſchiedener Perioden gemacht hätte, ſo würde doch ſelbſt in dieſem glücklichſten Fall manches dieſſeits des Nor - maljahres fallen, was ſachlich zur folgenden Periode, manches jenſeits deſſelben, was ſachlich zur vorhergehenden Periode ge - hörte. Der ſcharfe Einſchnitt nach Seiten der Zeit würde hier alſo das Zuſammengehörige trennen, das Heterogene unvermittelt neben einander ſtellen. Um dieſe innere Connexität zu retten, wird daher der Rechtshiſtoriker ſeinen Perioden ſtatt des Jahres viel - leicht nur ein Jahrhundert als Gränze anweiſen können und ſich trotzdem dabei noch vorbehalten müſſen, manche Erſcheinung, die in die ſpätere Periode fällt, zu anticipiren und umgekehrt andere, die der früheren Periode angehören, in die folgende zu verwei - ſen. Man wird daher den Perioden des Rechtshiſtorikers noth - wendigerweiſe eine gewiſſe Elaſticität zugeſtehen müſſen. Dies Poſtulat enthält im Grunde nichts als die Anwendung unſeres oben aufgeſtellten Fundamentalſatzes, daß die innere Verwand - ſchaft der Thatſachen weſentlicher iſt, als ihre äußere Verbin - dung durch die Zeit. Die Geſchichte eines jeden Rechtes wird5*68Einleitung die Methode.es bewähren, daß die Vorboten eines neuen Syſtems ſich bereits einſtellen, während das alte noch in voller Kraft ſteht, und daß umgekehrt Nachzügler des letzteren ſich ſo lange verſpäten können, daß erſteres inzwiſchen zur vollſtändigſten Herrſchaft gelangt iſt. Jene Vorboten, der Zeit nach früher, als dieſe Nachzügler, wer - den nur vom Standpunkt des neuen Syſtems aus, dieſe Nach - zügler nur von dem des alten aus richtig gewürdigt werden können, und dieſe ihre ſyſtematiſche Beziehung, nicht aber ihr chronologiſches Verhältniß wird ihnen ihre wahre Stellung an - weiſen.

Die bisherige Ausführung hat uns bereits zu einem Punkt geführt, von wo aus wir nur noch einen Schritt zu thun haben, um bei dem in der Rechtsgeſchichte nicht ſeltenen Fall eines Con - fliktes zwiſchen dem Moment der Zeit und dem des ſachlichen Zuſammenhanges der hiſtoriſchen Entwicklung (dem chronolo - giſchen und ſyſtematiſchen Moment) jenes erſte Moment für das ſecundäre und acceſſoriſche, dieſes zweite aber für das weſent - liche und beſtimmende zu erklären. Die Zeit ſoll durch das Syſtem verdrängt werden, letzteres ſoll ſich aus ſich ſelbſt her - aus frei entwickeln, ohne durch die Zeit beengt zu ſein, und nur ſoweit als letztere im Stande iſt, ſich zu einem ſyſtematiſchen Moment zu geſtalten, ſoll ſie Zutritt finden. Vielleicht treibt mich die ungebührliche Wichtigkeit, welche man dem Moment der Zeit in der Rechtsgeſchichte beilegt, in das entgegengeſetzte Extrem, wie ja ein Extrem das andere hervorzurufen pflegt, aber ich habe bis jetzt keinen Grund gefunden, die Richtigkeit meiner Anſicht, deren Begründung ich jetzt verſuchen will, zu be - zweifeln.

Die zwei äußerſten Extreme, die hier möglich ſind, würden ſein die ausſchließliche Anordnung der Rechtsgeſchichte nach dem Moment der Zeit und die ausſchließliche, jegliche Zeitangabe69Einſeitige Verfolgung des ſyſtem. Geſichtspunktes. §. 5.verſchmähende Verfolgung des inneren Zuſammenhanges der Entwicklung. Jenes erſte Extrem, die rein annaliſtiſche Darſtel - lungsmethode, würde eine Einſicht in die Totalentwicklung des Rechts weder vorausſetzen noch gewähren; es würde hier nicht einmal der erſte Anſatz zu einer Rechtsgeſchichte vorhanden ſein, und man könnte von dieſem Standpunkt aus ſich dem ſyſtemati - ſchen Moment gar nicht nähern, geſchweige beide Momente miteinander verſchmelzen.

Ganz anders verhält es ſich mit dem entgegengeſetzten Ex - trem. Vorausgeſetzt daß es gelänge, den realen Zuſammenhang der Entwicklung des Rechts wahrhaft zu erfaſſen und darzuſtel - len, worüber unten ein weiteres, ſo würde damit die weſent - liche Aufgabe des Hiſtorikers gelöſt ſeyn, und was fehlte, würde ſich leicht nachtragen laſſen, es wären eben nur die Jahreszahlen, und ſie ſind das rein Zufällige, Aeußerliche in der Zeit. 32)Ich nenne ſie zufällig in demſelben Sinn, in welchem man es Zufall nennen kann, daß in einem beſtimmten Zeitraum die und die Perſonen geſtor - ben ſind, während man nach ſtatiſtiſchen Beobachtungen es als vorausſicht - lich nothwendig bezeichnen konnte, daß ſo viel Procente der Bevölkerung ſterben mußten. So läßt ſich auch begreifen und motiviren, daß eine hiſto - riſche Thatſache in dies Jahrhundert, nicht aber, daß es in dieſes Jahr und auf dieſen Tag fiel.Es würde hier nicht derſelbe Verſtoß gegen das chronologiſche Mo - ment begangen, wie dort gegen das ſyſtematiſche, die Zeit ne - girt, wie dort das Syſtem, ſondern das Syſtem würde in der That ſelbſt ohne Wiſſen und Wollen des Darſtellenden implicite das weſentliche des Moments der Zeit in ſich aufgenommen haben, indem eben die Schilderung der realen Entwicklung des Rechts (was ich hier Syſtem nenne) ſich parallel mit der Zeit ſelbſt bewegen würde. Der Fortſchritt des Syſtems involvirt nothwendigerweiſe den Fortſchritt der Zeit, nicht aber umgekehrt, denn die Zeit iſt nicht die vis movens, ſondern der bloße Rahmen, in den die Evolutionen des Syſtems hinein - fallen. Das Andersſein des Gegenſtandes ſetzt nothwendiger -70Einleitung die Methode.weiſe ein Andersſein der Zeit voraus, und wer das Verhältniß in den Veränderungen des Gegenſtandes ſyſtematiſch, ſachlich begriffen hat, wird ſie im weſentlichen in dieſelbe Ordnung bringen, in der ſie in der Zeit aufeinander folgen. Dieſer Ge - danke der parallelen Bewegung des Syſtems und der Zeit wird unten noch weiter ausgeführt werden, hier genügt uns das Zu - geſtändniß, daß die einſeitige Verfolgung des ſyſtematiſchen Moments den ſachlichen Zuſammenhang der Dinge, alſo den weſentlichen Kern der Geſchichte zur Anſchauung bringen würde und das Moment der Zeit auch bis in ſein Detail hinein jeden Augenblick in ſich aufnehmen könnte.

Iſt nun aber in der That dieſe einſeitige Verfolgung wirklich möglich, würden wir z. B., wenn uns für die römiſche Rechts - geſchichte von den XII Tafeln bis auf Juſtinian gar keine äußere Zeitbeſtimmung gegeben wäre, den Stoff dennoch nach ſeiner wirklichen hiſtoriſchen Reihenfolge anordnen können? Abſtrahi - ren wir einmal von der Geſchichte des Rechts und nehmen ein anderes Beiſpiel, nämlich die Geſchichte der Bildung der Erd - oberfläche. Dem Geologen, der ſie uns ſchildern ſoll, iſt kein äußeres Zeugniß der Zeit gegeben, ihm iſt nicht berichtet, in welcher Reihenfolge und in welchen Intervallen die Verände - rungen der Erdoberfläche vor ſich gegangen ſind. Und doch kann er uns dieſe Reihenfolge aufs unwiderſprechlichſte darthun, ja er kann, wenn auch nur mit einem ſehr weiten Maßſtabe, die Zeit beſtimmen, die über dieſen Bildungen verfloſſen iſt. Denn die Geſchichte, die er darſtellt, hat ſich dem Gegenſtande ſelbſt incruſtirt, das Moment der Zeit hat ſich entſprechend im Raum ausgedrückt, die Schichten und Syſteme, aus denen dieſe Geſchichte beſteht, lagern ſo über einander, wie ſie in der Zeit nach einander folgten, und zwar iſt dieſe räumliche und zeit - liche Reihenfolge keine Zufälligkeit, ſondern eine ſyſtematiſche d. h. in der Natur der verſchiedenen Schichten begründete Noth - wendigkeit. Hier dient alſo der ſyſtematiſche Zuſammenhang als chronologiſches Beſtimmungsmittel; was dem Syſtem nach71Beſtimmbarkeit der Zeit nach ſyſtem. Kriterien. §. 5.geſchieden, iſt es auch der Zeit nach, und ſyſtematiſche Nähe und Ferne, wenn ich ſo ſagen darf, iſt der Maßſtab der chro - nologiſchen Entfernung. Das Moment der Zeit erſcheint hier alſo in vollkommenſter Abhängigkeit von dem des Syſtems, es bewegt ſich, wie ich oben ſagte, parallel mit letzterem, und andererſeits gewinnt es wiederum die höchſte Weihe, indem es nichts äußerliches, nicht ein Rahmen des Gegenſtandes iſt, ſondern ſich der Sache ſelbſt incarnirt hat.

Dieſe Beſtimmbarkeit der Zeit nach ſyſtematiſchen Kriterien iſt nun keineswegs auf die Geſchichte der Natur beſchränkt, ſon - dern findet ſich eben ſo gut auf dem Gebiete der moraliſchen Welt. Nehmen wir z. B. die Geſchichte einer Literatur und Sprache. Wenn nach Jahrtauſenden einem Literarhiſtoriker und Sprachforſcher die Hauptwerke der deutſchen Literatur von An - beginn derſelben bis auf die heutige Zeit in bunter Unordnung und mit Ausmerzung jeglicher darin enthaltenen Jahreszahlen übergeben würden, ſollte es ihm nicht gelingen, nach ſyſtemati - ſchen Kriterien die Zeitfolge derſelben zu beſtimmen und eine Geſchichte der deutſchen Sprache und Literatur zu ſchreiben, bei der nichts weiter fehlte, als die Jahreszahlen? Und gäbe man ihm für jede Periode nur einige äußere chronologiſche Anhaltspunkte, ſo würde er auch im Stande ſein, die fehlen - den Zeitbeſtimmungen ſelbſt zu machen.

Sollte daſſelbe nun nicht auch beim Rechte möglich ſein, ſollte man, wenn man verſchiedene Phaſen eines und deſſelben Rechtsinſtitutes vor ſich hat, nicht an ihnen ſelbſt erkennen kön - nen, welche die ältere, welche die jüngere iſt? Wir wollen dies näher unterſuchen.

Ich werde dieſe Beſtimmung der Zeit nach inneren Kriterien fortan die innere Chronologie nennen, und ihr als äußere diejenige entgegenſetzen, die nur auf äußeren hiſtoriſchen Zeug - niſſen beruht. Für das Verhältniß beider möchte ich nun im allgemeinen folgende Regel aufſtellen. Je concreter, individuel - ler ein hiſtoriſches Ereigniß, je mehr es aus der perſönlichen72Einleitung die Methode.Freiheit hervorgegangen iſt und in einen beſtimmten ſchmalen Zeitmoment fällt, um ſo weniger wird ſich die innere Chrono - logie daran bethätigen können, um ſo mehr wird aber auch die äußere Chronologie ſie hier dieſer Mühe überheben. Umge - kehrt aber je unperſönlicher, innerlicher, naturwüchſiger eine Entwicklung, je langſamer ſie von Statten geht, je weniger der Anfang oder das Ende derſelben in einen beſtimmten Zeitmo - ment fällt, um ſo dürftiger wird die äußere Chronologie, um ſo nöthiger und um ſo ſicherer und erfolgreicher die innere Chro - nologie. In ihrer Anwendung auf das Recht führt dieſe Regel zu dem gewiß richtigen Reſultat, daß die Möglichkeit der inne - ren Chronologie hier im hohen Grade vorhanden iſt und zwar in einem um ſo höhern, je naturgemäßer die Entwicklung eines beſtimmten Rechts iſt, je mehr dieſelbe alſo auf gewohnheits - rechtlichem Wege vor ſich geht; in einem um ſo geringeren, je mehr die Verfaſſung die Wirkſamkeit der allgemeinen Trieb - kräfte des Rechts erſchwert und die Fortbildung des Rechts auf den Willen eines einzelnen Subjekts ſtellt. Für das römiſche Recht iſt daher jene Möglichkeit bis in die ſpätere Kaiſerzeit hinein in hohem Maße vorhanden.

Am wenigſten Schwierigkeiten wird dieſe chronologiſche Be - ſtimmung haben, ſobald ſie nicht abſolut verfahren d. h. die Zeit ermitteln will, in welche die einzelnen rechtshiſtoriſchen Ereigniſſe fallen, ſondern ſich darauf beſchränkt, relativ die Reihenfolge derſelben zu entdecken. Den drei Rechtsſyſtemen, die wir ſpäterhin charakteriſiren werden, ſteht ihr verſchiedenes Alter und die Folge derſelben ſo deutlich auf der Stirn geſchrie - ben, daß kein Verſtändiger ein äußeres Zeugniß dafür begehren würde. Daſſelbe gilt für jeden, der derartige Schrift leſen kann, von den verſchiedenen Entwicklungsphaſen der einzelnen In - ſtitute. Man vergleiche z. B. die verſchiedenen Formen der Ehe; wer ſähe nicht ſofort, daß die Ehe mit manus älter iſt, als die ohne manus, die Eingehung der erſteren durch confarreatio älter, als die durch coemptio? Man nehme ferner die Errich -73Möglichkeit der inneren Chronologie. §. 5.tung des Teſtaments in den Comitien, durch aes et libram, die prätoriſche Teſtamentsform; die Antretung der Erbſchaft durch cretio, hereditatis aditio, pro herede gestio; die Obligations - formen des nexum, der Stipulation, die Obligirung durch blo - ßen Conſens; die Vindication in Form der legis actio sacra - mento, der sponsio, der arbitraria actio; die Handhabung der Strafgerichtsbarkeit durch die Comitien, die quaestiones per - petuae, die Einzelnrichter; die Strafen des sacer esse, des Exils, der Verurtheilung ad bestias, metalla u. ſ. w.; den Legisactionen -, Formular-Proceß, das Verfahren extra ordi - nem; die Perſonalexecution, die bonorum venditio, das pig - nus ex causa iudicati captum; das Legat, Fideicommiß; Er - richtung der Servituten, Freilaſſung u. ſ. w. auf ſolenne und nichtſolenne Weiſe u. ſ. w. Wer brauchte ſich in allen dieſen Fällen die Reihenfolge der verſchiedenen Formen erſt ſagen zu laſſen? Wie bei allem, was entſteht und vergeht, die verſchie - denen Stufen der Entwicklung ihren beſtimmten Typus tragen, ſo auch beim Recht, und ſo wenig ein Jüngling den Typus eines Greiſes, ein Mann den eines Kindes an ſich haben kann, ſo wenig können auch Rechtsideen, die erfahrungsmäßig einer gewiſſen Altersſtufe angehören, wie z. B. die Präponderanz der Religion im Recht der Kindheit deſſelben eigenthümlich iſt, bei einem einzelnen Recht ſich von dieſer Verbindung losreißen. Die Auffaſſung der Strafe als eines religiöſen Sühnemittels, als Privatgenugthuung, als Bethätigung der Sittlichkeit des Staats weiſt auf verſchiedene Culturſtufen hin, deren Reihen - folge wo ſie überhaupt ſich finden, eine nothwendige iſt. Es laſſen ſich über die Priorität der verſchiedenen Rechtsbildun - gen gewiſſe allgemeine Sätze aufſtellen, z. B. daß das relativ vollkommnere Rechtsmittel oder Rechtsinſtitut jünger iſt, als das unvollkommnere, der gerade Weg ſpäter aufgefunden iſt, als der Umweg (die mittelbare Erreichung eines rechtlichen Geſchäf - tes durch Scheingeſchäfte, Fictionen u. ſ. w.), die materielle, äußerliche Auffaſſung der innerlichen, ſpirituellen, die gramma -74Einleitung die Methode.tiſche Interpretation der logiſchen der Zeit nach vorgeht u. ſ. w. Der comparativen Jurisprudenz der Zukunft wird es möglich werden, ſtatt ſolcher abgeriſſenen Abſtractionen eine zuſammen - hängende Theorie der Altersſtufen des Rechts aufzuſtellen; es iſt dies eine von den Aufgaben der allgemeinen Phyſiologie des Rechts, welche letztere aber, wie wir oben bereits erwähnten, noch in der Kindheit liegt. Für unſere gegenwärtige Zwecke wer - den wir ſelten in die Lage kommen, zu ſolchen allgemeinen Sätzen unſere Zuflucht zu nehmen, indem uns die chronologiſch feſtſtehenden Punkte des römiſchen Rechts für die Beſtimmung der chronologiſch unſicheren faſt überall Anhaltspunkte ge - währen.

Dieſe Anhaltspunkte ſind für die abſolute Zeitbeſtim - mung, der wir uns jetzt zuwenden, völlig unentbehrlich. Um zu beſtimmen, welcher Zeit irgend eine ohne Bezeichnung der - ſelben uns überlieferte Rechtsbildung angehört, müſſen wir den Charakter der verſchiedenen Zeiten, ihre Eigenthümlichkeiten in Auffaſſung und Geſtaltung des Rechtsſtoffes kennen. Hier iſt dann der Punkt, auf dem die äußere Chronologie uns die we - ſentlichſten Dienſte erzeigt. Dieſe Dienſte können wir ihr aber in doppelter Weiſe reichlich erwidern, einmal nämlich indem wir die Lücken, die ſie läßt, ausfüllen, und ſodann indem wir dem Moment der Zeit, das ſie nur in einſeitiger und rein äu - ßerlicher Weiſe hervortreten läßt, zu ſeiner wahren Bedeutung verhelfen. Beide Aufgaben ſind auf einem Wege, aber auch nur auf dieſem erreichbar, nämlich auf dem oben bereits ange - gebenen der Aufſuchung der Lagerungsſchichten oder Syſteme der Rechtsbildung. Man wird freilich, auch ohne dieſen Weg einzuſchlagen, einzelne rechtshiſtoriſche Erſcheinungen, für die keine Zeitangabe ſich findet, nach ihrer Aehnlichkeit oder Ver - wandſchaft mit anderen chronologiſch beſtimmten lociren können, allein dies bleibt Stückwerk, und wo es mehr iſt, wird dies nur dadurch möglich, daß man ſich dabei durch ſeine Anſchauungen von dem Charakter der verſchiedenen Zeiten, der Totalität75Möglichkeit der inneren Chronologie. §. 5.ihres rechtlichen Seins und Denkens leiten läßt. Wir verlan - gen aber eben auch nichts anderes, als daß dieſe Anſchauungen, die jeder Kenner des römiſchen Rechts beſitzt, ausgeſprochen, geläutert und zu einem Ganzen verbunden werden. Sobald man eine rechtshiſtoriſche Erſcheinung in eine beſtimmte Zeit verlegt, weil ſie mit den übrigen Erſcheinungen derſelben eine ähnliche Tendenz verfolgt, auf derſelben Idee beruht, ſo operirt man bereits mit dem Mittel, das wir hier anwenden wollen. Dieſe Operation kann aber nur zu einem gedeihlichen Ziele füh - ren, wenn ſie nicht bloß hie und da, wie es das Bedürfniß einer rechtshiſtoriſchen Aufgabe mit ſich bringt und unter Be - ziehung auf einzelne unbewieſene oder vorgefaßte Anſchauungen vorgenommen wird, ſondern wenn ſie die Syſteme der Rechts - bildung in ihrer Totalität zu ihrer Grundlage nimmt. Erſt in dieſer Totalität des Syſtems tritt die innere Aehnlichkeit des einzelnen, äußerlich ſehr verſchiedenen Stoffes hervor, erſt hier gewinnt man einen ſicheren Maßſtab zur Beurtheilung ſeines Alters. Nehmen wir nun an, daß es gelingt, für die verſchie - denen Zeiten verſchiedene Syſteme der Rechtsbildung nachzu - weiſen, ſo werden wir mit derſelben Sicherheit, mit der ein Literarhiſtoriker und Sprachforſcher eine ihm vorgelegte Schrift in die und die Zeit verweiſt, daſſelbe wenigſtens hinſichtlich mancher rechtshiſtoriſcher Erſcheinung zu thun vermögen. Wie er werden auch wir ſagen können: dieſe Form des Rechtsin - ſtituts paßte nur in dieſes Syſtem hinein, jene nur in jenes; dieſe Neuerung konnte nur unter dem Einfluſſe der Tendenzen dieſer beſtimmten Zeit entſtehen, nur in dieſer Atmoſphäre gedeihen. Nicht immer freilich können wir mit ſolcher apodik - tiſcher Gewißheit ſprechen, werden vielmehr zugeben müſſen, daß manche rechtshiſtoriſche Erſcheinung für verſchiedene Zeiten denkbar, möglich geweſen wäre; aber ſobald ſich nachweiſen läßt, daß ſie nur für eine beſtimmte Zeit naturgemäß, motivirt, für jede andere zwecklos, überflüſſig war, ſo wird nur ein Skep - tiker über die richtige Stellung in Zweifel bleiben können. Miß -76Einleitung die Methode.griffe ſind hierbei möglich, allein die Methode ſelbſt dürfen wir uns im Intereſſe der Wiſſenſchaft dadurch nicht verkümmern laſſen. Sie beruht, mit einem Worte bezeichnet, auf der At - tractionskraft des Syſtems, auf dem Gedanken, daß, was in dem Syſtem der einen Periode als Abnormität, Unbe - greiflichkeit, in dem einer andern aber als harmoniſcher Be - ſtandtheil deſſelben erſcheinen würde, dieſem letzterem zuzuweiſen iſt, weil die Geſchichte nicht planlos und launenhaft, ſondern zuſammenhängend und gedankenmäßig zu ſchaffen pflegt.

Die bisherige Ausführung gewährt uns für die Behandlung des Momentes der Zeit in der Rechtsgeſchichte folgendes Reſul - tat. Es iſt eine Verkehrtheit, Zeiträume zu machen und damit die Zeit zum fundamentum dividendi zu erheben, es iſt eine Verkehrtheit in der Rechtsgeſchichte mit Jahreszahlen zu operi - ren, denn abgeſehen davon, daß ſich dies doch nicht immer durch - führen läßt, ſo faßt man dabei nur das rein Zufällige in der Zeit auf. Die richtige Behandlungsweiſe beſteht darin, daß man das chronologiſche Moment dem ſyſtematiſchen unterord - net, daß man die Schichten des Rechts als das weſentliche ſeiner Geſchichte betrachtet. Hat man ſich ihrer bemächtigt, ſo läßt ſich das chronologiſche Material leicht verarbeiten und ſich, ſobald man nur mit einem weiten Zeitmaß operirt, in eine ſo innerliche Beziehung zum Gegenſtande bringen, daß die Zeit nicht mehr als äußerer Rahmen der hiſtoriſchen Entwicklung, ſondern als eine Incarnation derſelben erſcheint, und mithin aus ihr die Lücken der äußeren Chronologie ergänzt werden können.

Von dieſer Auffaſſung ausgehend werden wir bei unſerer Darſtellung dem Moment der Zeit nur eine geringe Beachtung ſchenken, eine um ſo geringere, als unſere Aufgabe nicht darin beſteht, dem Leſer das ganze Material der römiſchen Rechtsge - ſchichte vorzuführen, ſondern die leitenden Gedanken dieſer Ge - ſchichte nachzuweiſen.

77Plan der Anordnung. §. 6.

Plan der folgenden Darſtellung.

VI. Wir unterſcheiden in der Geſchichte des römiſchen Rechts drei Syſteme, von denen das zweite, deſſen Blüthe mit der der Republik zuſammenfällt, das ſpecifiſch römiſche iſt, den Triumph und die ausſchließliche Herrſchaft der rein nationalen Anſicht enthält. Die beiden andern Syſteme ſind die Endpunkte, durch die dieſes Recht mit der außerrömiſchen Geſchichte zuſam - menhängt, und zwar durch das erſte mit der Vorgeſchichte, durch das dritte mit der Nachgeſchichte Roms. Das erſte iſt das urſprüngliche Betriebskapital, das Rom von der Geſchichte ent - lehnt, das dritte die reichlich verzinſte Schuld und Errungen - ſchaft, die es ihr dafür zurückerſtattet, und welche die Geſchichte wiederum anderen Völkern zuwendet. Zur Zeit des erſten Sy - ſtems iſt die römiſche Nationalität erſt in der Bildung, zur Zeit des dritten bereits in der Abnahme begriffen, an beiden bewährt ſich aber die römiſche Kraft, an dem erſten, indem ſie daſſelbe umgeſtaltet, an dem dritten, indem ſie daſſelbe ſchafft. Die erſte That des römiſchen Geiſtes auf dem Boden des Rechts beſteht darin, daß er ſich ein beſonderes Gebiet auf demſelben ausſchei - det, in das er ſich zurückzieht, um ſich zur höchſten Kraft zu ent - wickeln, die letzte That, daß er ſelbſt die Schranken aufhebt und wieder in die Welt hinaustritt.

Das erſte Syſtem findet er bereits vor. Die urſprüngliche Bildung deſſelben fällt über alle urkundliche Geſchichte hinaus in jene Zeit, als die Trennung der indogermaniſchen Völker noch nicht erfolgt war. Noch in der Geſtalt, die es in der älte - ſten römiſchen Zeit an ſich trägt, hat es unverkennbare Aehn - lichkeit mit dem Recht, das achthundert bis tauſend Jahr ſpäter bei den Germanen ſichtbar wird. 33)Nämlich wie es neuerdings von Sybel in ſeiner Entſtehung des deutſchen Königthums meiner Anſicht nach am richtigſten aufgefaßt iſt. Die gleichzeitig erſchienene, höchſt verdienſtvolle Schrift von Waitz, deutſche Ver -Dies Syſtem nun wie es78Einleitung Plan der folgenden Darſtellung.beim Beginn der römiſchen Geſchichte auftritt, enthält noch den Grundzug jeglicher Anfangsbildung in ſich, nämlich die Unun - terſchiedenheit, die Gebundenheit der inneren Verſchiedenheiten. Recht und Religion, öffentliches und Privat-Recht, Staat und Individuum ſchlummern noch friedlich neben einander, haben ſich noch nicht von einander geſchieden, um jeder in ſeinem Kreiſe ſich ſelbſtändig zum Beſten des Ganzen zu bewegen. Das öffentliche Recht trägt einen privatrechtlichen, das Privat - recht einen öffentlichen Charakter, die Religion iſt an das Recht und das Recht an die Religion gefeſſelt. Das ganze Syſtem iſt nichts weiter als eine Erweiterung und Verſteinerung der Fa - milie, die Conſervirung und Ausbildung der Familienverbin - dung zu rechtlichen Zwecken und die Beibehaltung jener Unun - terſchiedenheit, in welcher in der Familie Religion, Sittlichkeit, Gemeinſchaft, Individuum neben einander auftreten.

Die wandernden Germanen mochten noch ein Jahrtauſend auf dieſer niederſten Stufe ſtehen bleiben, aber das römiſche Volk, das eine Begabung zur Cultur des Rechts in ſich trug, wie kein anderes, ließ ſie bald hinter ſich und legte in unſerm zweiten Syſtem, deſſen Bildung bereits in der zweiten Hälfte der Königszeit beginnt, eine glänzende Probe dieſer Befähigung ab. Dies Syſtem zeigt uns zunächſt die Aufhebung jenes Zuſtandes der Ununterſchiedenheit. Recht und Religion, Staat und Individuum ſondern ſich, und innerhalb der einzelnen Theile des Rechts ſetzt ſich der Sonderungsprozeß mit der höchſten Meiſterſchaft fort und treibt hier im einzelnen Bildungen her - vor, die durch die Schärfe ihres Gegenſatzes in Form wie Kern, durch die Fülle und ungebrochene Conſequenz ihres Inhaltes, kurz durch ihre ſcharfgeprägte Individualität den Eindruck pla - ſtiſcher Geſtalten machen. Was in dieſem Syſtem zur Erſchei - nung kömmt, das iſt kernig, wie die Römer jener Zeit ſelbſt;33)faſſungsgeſchichte B. I. hat den Einfluß des Familienprinzips, das jener Schriftſteller mit Recht an die Spitze ſtellt, zu gering angeſchlagen.79Die drei Syſteme. §. 6.nichts halbes, nichts unbeſtimmtes, nichts zuſammengeſetztes und übergangsartiges, nichts mildes und zartes, ſondern alles entweder ganz oder gar nicht vorhanden; kenntlich bis zur Un - möglichkeit eines Mißgriffes, einfach und aus einem Gedanken heraus gearbeitet, aber dieſer mit unerbittlicher und grauſamer Conſequenz durchgeführt. Dies Recht macht den Eindruck einer durch ihre ingeniöſe Einfachheit großartigen Maſchine. Sie arbeitet eben wegen ihrer Einfachheit mit der größten Sicher - heit und Gleichmäßigkeit, aber wehe dem Unvorſichtigen, der ihre Handhabung nicht verſteht und ihr zu nahe kömmt: ihre eiſernen Räder zermalmen ihn. Jene Gleichmäßigkeit be - ruht freilich zugleich auf einer Unvollkommenheit; es gibt keine Vorrichtung, die Maſchine zu ſtellen, ſie producirt immer nur dieſelben ſich aufs Haar gleichenden Stücke d. h. das Recht iſt außer Stand ſich den individuellen Zuſtänden und Bedürfniſſen anzuſchmiegen, die Gleichheit, die es erſtrebt und bewirkt, iſt eine rein mechaniſche, äußerliche, jene, von der es heißt: Sum - mum jus, summa injuria. Nichts thut das Recht von ſelbſt, ſondern es wartet darauf, daß es durch den, der ſeiner bedarf, in Bewegung geſetzt werde, und zu dem Zweck iſt nöthig, daß letzterer die Kraft und Geſchicklichkeit dazu beſitze und ſelbſt mit - handle. Thut er dies, ſo garantirt das Recht ihm anderer - ſeits die höchſte Sicherheit des Erfolges, denn der Erfolg, die Anwendung des Rechts läßt ſich ſo beſtimmt und leicht berech - nen, wie ein einfaches mathematiſches Exempel; das Reſultat deſſelben aber iſt unumſtößlich.

Der Gedanke, von dem das ganze Privatrecht durchdrungen iſt, iſt der der Autonomie des Individuums, die Idee, daß das individuelle Recht nicht dem Staat ſeine Exiſtenz verdankt, ſondern aus eigner Machtvollkommenheit exiſtirt, ſeine Berech - tigung in ſich ſelber trägt. Das privatrechtliche Prinzip iſt in den rechtlichen Abſtractionen ſo auf die Spitze getrieben, daß es dem Staatsprinzip Hohn zu ſprechen und der Gedanke der ſubjektiven Willensfreiheit ſich zur Entfeſſelung der reinen ſub -80Einleitung Plan der folgenden Darſtellung.jektiven Willkühr verirrt zu haben ſcheint. Die Vermittlung aber dieſer abſtracten ſubjektiven Ungebundenheit mit dem In - tereſſe der Gemeinſchaft und des Staats ſowie mit der Sittlich - keit lag in der Sitte, in dem Charakter des Volks, den realen Zuſtänden des römiſchen Lebens. Nie hat es wohl ein Recht gegeben, in dem die abſtracte Formulirung deſſen, was geſche - hen konnte und durfte, ſich ſo weit von dem, was wirklich geſchah, entfernte, aber wo die Charakterſtärke des Indivi - duums ſowie die Macht der öffentlichen Meinung dem Miß - brauch der Freiheit zu wehren vermag, kann letztere ſelbſt in unbegränztem Maße verſtattet werden. Das ganze römiſche Privatrecht aber und ebenſo das Staatsrecht dieſer Zeit iſt ge - tragen durch die Vorausſetzung, daß der Inhaber einer privat - rechtlichen oder öffentlichen Gewalt dieſelbe würdig gebrauchen werde. Die Möglichkeit des ſchmählichſten Mißbrauches der - ſelben iſt an ſich ſtets vorhanden, in der Macht der Beamten liegt z. B. die Möglichkeit, den Staat zum Stocken zu bringen, das Volk in der Ausübung ſeiner Souveränetät zu beeinträchti - gen und zu hofmeiſtern, in der des Vaters, das Kind grundlos zu ermorden; aber das römiſche Recht geht von der Anſicht aus, daß die ſchärfſten Meſſer die beſten ſind, und daß man dieſelben Männern, die damit umzugehn verſtehn, getroſt anvertrauen kann und nicht eines möglichen Mißbrauchs wegen ſie abzu - ſtumpfen braucht. Jene Gewalten werden daher nicht durch das Recht ſelbſt beſchränkt, ſondern dem Inhaber bleibt überlaſſen, je nach dem Bedürfniß des einzelnen Falls, ſie in ihrer äußer - ſten Wucht zur Anwendung zu bringen oder die durch Billigkeit, Zweckmäßigkeit, Staatsintereſſe u. ſ. w. gebotene Mäßigung aus freier Selbſtbeſchränkung zu beachten.

Das ganze Recht war auf die Römer der alten Zeit berech - net, ſowohl hinſichtlich der Gewalt, die es gewährte, als hin - ſichtlich der Vorſicht und Sorgſamkeit, mit der man ſich auf dem Gebiete des Rechts zu bewegen hatte. Ein anderes Ge - ſchlecht, eine andere Geſinnung, eine unerfahrene Hand, und81Die drei Syſteme des Rechts. §. 6.die Freiheit war Zügelloſigkeit, die Sicherheit des Rechts Un - ſicherheit deſſelben. Mit dem ſiebenten Jahrhundert der Stadt tritt dieſe Wandlung ein, und wie das Maß römiſcher Kraft auf das der gewöhnlichen menſchlichen Kraft herabſinkt, ſo accommodirt ſich auch das Recht dieſer Thatſache, läßt immer mehr von ſeinem ſtreng römiſchen Charakter ab und nimmt einen allgemeineren, kosmopolitiſchen an.

Damit gelangen wir zum dritten Syſtem. Das zweite war ſeinem Inhalt wie ſeinen Formen nach auf Römer berechnet und auf ſie beſchränkt. Für den Verkehr mit Auswärtigen bildete ſich allmählig ein internationales Recht aus, nicht gebunden an römiſche Formen, nicht unterworfen dem Rigorismus der ſtarren römiſchen Conſequenz und Einſeitigkeit, aber auch nicht theilhaftig jener im römiſchen Recht liegenden Machtfülle. An dieſem Recht vermochte ſich eine freiere, geiſtigere Erfaſſung und Behandlung des Rechts ungehindert zu bethätigen, und in der Beſtimmung deſſelben für den Weltverkehr lag die Aufforderung an die Jurisprudenz, ſich bei der Ausbildung deſſelben der rein national römiſchen Eigenthümlichkeiten zu entſchlagen, alſo vor - her ſich derſelben bewußt zu werden. So ward dies Recht ein Spiegel der Selbſterkenntniß für das reine römiſche Recht und nachdem der Denationaliſirungsprozeß des römiſchen Volks und in Folge deſſen des Rechts ſelbſt begonnen, auch Muſter und Quelle für daſſelbe.

Eiſerne Willensſtärke hatte das zweite Syſtem geſchaffen und aufrecht erhalten, die Abnahme derſelben führte den Un - tergang deſſelben herbei, und das dritte Syſtem läßt ſich in die - ſer Beziehung als die Brandſtätte römiſcher Größe und Herr - lichkeit bezeichnen. Aber es iſt in anderer Beziehung unendlich mehr als ein bloßes farbloſes und mattes Reſiduum des natio - nalen Rechts; in dieſer anderen Beziehung erſcheint es nicht als eine Stufe, zu der man aus Mangel an Kraft hinab gefallen, ſondern zu der man hinauf geſtiegen iſt. An die Stelle der moraliſchen Qualifikation des römiſchen Volks, die derJhering, Geiſt d. röm. Rechts. 682Einleitung Plan des Werks.Hauptfaktor des zweiten Syſtems geweſen, tritt hier mit glei - cher Bedeutung für die Schöpfung des dritten Syſtems die höchſte intellektuelle Begabung. Auf den feſten, unverwüſtlichen Grundlagen, die ihr überliefert wurden, führte ſie ein Meiſter - ſtück juriſtiſcher Kunſt aus, wie die Welt deſſen gleichen nicht kennt, ein Gebäude von ſolcher Vollendung und Feſtigkeit, daß noch beinah ein Jahrtauſend ſpäter fremde Völker die verſchloße - nen Pforten deſſelben wieder öffnen, um hier ihre Lehr - und Gerichtsſäle einzurichten.

Der Stoff zur Charakteriſtik dieſes dritten Syſtems drängt in ſolcher Fülle, daß es unmöglich iſt, das Weſentliche deſſelben in wenig Züge zuſammenzudrängen, ein Mehres wäre aber an dieſer Stelle, wo es uns nicht um eine concentrirte Anticipirung unſerer Reſultate, ſondern nur um die Mittheilung unſeres Planes zu thun iſt, völlig ungeeignet, ein Minderes hingegen, weil es ein ſchiefes Bild gewähren würde, eher nachtheilig, als vortheilhaft. Mögen wir alſo vorläufig dies Syſtem als das ſupranationale oder freiere bezeichnen und der Darſtellung ſelbſt den Nachweis vorbehalten, in welchen Punkten dies Syſtem von den ſpecifiſch römiſchen Ideen ſich entfernt und woran die geiſtig freiere Behandlung ſich bethätigt hat.

Es wird ſchließlich noch die Bemerkung erlaubt ſein, daß, wenn es uns gleich nur um die allgemeinen Charakterzüge des römiſchen Rechts zu thun iſt, die Begründung unſerer Urtheile ſtets ein Eingehen auf den concreten rechtshiſtoriſchen Stoff un - entbehrlich macht. Ueberzeugt, daß abſtrachte Geſichtspunkte ohne eine gewiſſe ſtoffliche Schwere keinen rechten Eingang gewinnen, habe ich in letzterer Beziehung eher zu viel, als zu wenig ge - than, und der Juriſt, dem dieſer Stoff bekannt iſt, möge ſich erinnern, daß dieſes Werk zugleich für Laien beſtimmt iſt.

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Erſtes Buch. Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

6*[84][85]

Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Urzuſtände Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks Ergänzung der Tradition durch Etymologie und Rückſchlüſſe vom ſpätern Recht.

VII. Die Urzuſtände der Völker, die erſten Anfänge der Rechts - und Staaten-Bildung haben ein ſehr hohes culturhiſto - riſches Intereſſe. Der Reiz, den ſie auf den Hiſtoriker ausüben, und der ihn trotz aller Mühſeligkeit der Aufgabe immer wieder zu ihnen zurückführt, iſt derſelbe, den das erſte Erwachen des Geiſtes im Kinde für den Pſychologen hat. Beide lockt zur Beobachtung dieſelbe Ausſicht, die Ausſicht nämlich den ſchaffen - den Weltgeiſt in ſeiner Werkſtätte zu belauſchen und in das Ge - heimniß des Werdens einzudringen. Aber die Lage des Hiſto - rikers iſt ungleich ungünſtiger, denn während der Pſycholog jenes Erwachen des Geiſtes täglich vor Augen hat, reicht das Erwachen aller hiſtoriſchen Völker in eine weite Vergangenheit hinauf, und aus Mittheilungen von ſehr trügeriſcher und unvoll - kommner Beſchaffenheit ſoll der Hiſtoriker ſich erſt die Kenntniß derſelben entnehmen. Nicht die Kürze oder Länge der Zeit, die Reihe der Jahrhunderte oder Jahrtauſende iſt es, die dies Zu - rückgehen auf die hiſtoriſchen Anfänge leichter oder ſchwieriger macht, ſondern die nach Verſchiedenheit der Völker geringere oder höhere Treue und Stärke des nationalen Gedächtniſſes. 86Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Wie bei den Individuen ſo iſt auch bei den Völkern das Erin - nerungsvermögen, namentlich ſoweit es die Kindheitszeit zum Gegenſtande hat, ein ſehr verſchiedenes. In manchen Völkern lebt treu und unverfälſcht das Bild der vergangenen Tage fort; bei manchen andern hingegen ſtattet eine raſtlos thätige Phan - taſie die Vergangenheit ſofort mit poetiſchen Farben aus und ver - wandelt Geſchichte in Dichtung; bei einem andern Volke end - lich iſt der Sinn ſo vorwiegend auf die praktiſchen Zwecke der Gegenwart gerichtet, daß ſich bei dem Drange des thätigen Lebens die Kunde abgeſtorbner Zuſtände raſch verflüchtigt.

Von welcher Art war das nationale Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks? Die Römer hielten freilich am Alten feſt, und das Gedächtniß großer Thaten ging bei ihnen nie unter, aber zwei Umſtände bewirkten dennoch, daß die Zuſtände ihrer Kindheit nur ſchwach in ihrem Gedächtniß fortlebten. 1)Huſchke, in der Vorrede zu ſeiner Verfaſſung des Servius Tullius S. VII u. fl. gelangte zu einem andern Reſultat. In ſeinen Augen beſaß das römiſche Volk eine zuſammenfaſſende Gewalt und Macht des Volks - geiſtes, welche auch die fernſten Zeiten ſeiner Kindheit ſtets in der Einheit des gegenwärtigen Bewußtſeins feſthält, weßhalb er auch wegen ſeines Hän - gens am Alten ſo ſehr geprieſen oder getadelt wird. Ich bedauere auf die gediegene Begründung Huſchkes nicht näher eingehn zu können, die beiden im Text hervorgehobenen Gründe werden aber durch dieſelbe nicht getroffen.Ein - mal nämlich ging ihre ganze Thätigkeit Jahrhunderte lang in den praktiſchen Zwecken der Gegenwart auf. Nun vertrug ſich damit allerdings ihre hohe Achtung vor dem Hergebrachten; was lebte, genoß der kräftigſten Geſundheit bis ins höchſte Alter hinein, allein war es dem Leben einmal völlig abge - ſtorben, ſo ward es bald vergeſſen. Auch bei den noch geltenden Inſtitutionen pflegte man wenig nach deren hiſtoriſcher Ent - ſtehung und Entwicklung zu forſchen. Ein anderer Grund liegt in dem Charakter der älteſten römiſchen Geſchichte. Wenn die Kindheitszeit eines Volkes in idylliſcher Stille und Gleich - mäßigkeit dahin fließt, dann mag die Erinnerung, wie im glei -87Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks. §. 7.chen Fall beim Individuum, noch lange ein getreues, wenn auch etwas idealiſirtes Bild derſelben bewahren. Anders hingegen, wenn jene Zeit in einem unſtäten, wechſelvollen Treiben, in innern und auswärtigen Kämpfen verläuft, wenn ein Eindruck den andern verdrängt, und vor allem wenn die Bevölkerung ſelbſt noch nicht zur compakten Feſtigkeit gediehen iſt, ſondern durch beſtändig neue Zuflüſſe von außen ſowie durch das Fluc - tuiren und Drängen ihrer verſchiedenen Schichten lange im Fluß erhalten wird. Das iſt aber gerade in der älteſten Geſchichte Roms der Fall. Kämpfe im Innern und nach außen hin, Gegenſätze in Abſtammung, Recht und Beſtrebung bezeichnen bereits das erſte Blatt dieſer Geſchichte, und Jahrhunderte vergehen, bis die Elemente des römiſchen Volks zur Einheit eines Subjekts verſchmolzen ſind. Für dieſes Subjekt iſt jene Periode des Bildungsprozeſſes gewiſſermaßen eine Vorzeit, die es ſelbſt nicht erlebt hat, und in der es ſich fremd fühlt. Dem römiſchen Volke der Republik erſchien das ganze Königthum in einem entſtellten Lichte, und erſt die Republik bezeichnete in ſeinen Augen den Anfang einer neuen Aera, von der an es ſich und ſeine Freiheit datirte. Das Verhältniß der ſpätern Jahrhunderte zu der Königs - zeit ließe ſich etwa vergleichen mit dem des Proteſtantismus zu ſeiner Vorzeit, dem mittelalterlichen Katholicismus. Der Maſſe der Proteſtanten wird der mittelalterliche Katholicismus als et - was fremdes erſcheinen, das für ſie keine Beziehungen hat; ihr confeſſionelles Intereſſe und Gedächtniß beginnt erſt mit der Reformation.

Dürftig iſt alſo die Kunde der ſpätern Zeit von den Urzu - ſtänden Roms, und manche von ihren dürftigen Mittheilungen tragen die offenbaren Spuren der Erfindung oder entſtellender Auffaſſung an ſich. Die neuere hiſtoriſche Kritik hat dies aufs ſchlagendſte nachgewieſen und zugleich den Beweis geführt, daß man zu haltbaren poſitiven Reſultaten gelangen kann, die den römiſchen Geſchichtſchreibern entgingen. Iſt gleich das hiſto - riſche Material, das unſerer heutigen Wiſſenſchaft zu Gebote88Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ſteht, ungleich geringer als das der römiſchen Geſchichtſchreiber, ſo iſt doch die Methode der Benutzung deſſelben eine andere, der hiſtoriſche Blick ein ſchärferer geworden.

Indem wir nun, was die älteſte Geſchichte Roms anbetrifft, auf jenen poſitiven Reſultaten der heutigen Wiſſenſchaft fußen, beſchränken wir unſere eigne Unterſuchung lediglich auf das Recht der älteſten Zeit. Daß manche der Anſichten, zu denen ſie uns führen wird, nur den Werth von mehr oder minder wahrſcheinlichen Vermuthungen haben, geſtehe ich bereitwillig ein, und Mißtrauen iſt hier gewiß mehr am Platz, als Leicht - gläubigkeit. Allein andererſeits bin ich von der Möglichkeit einer der Auffaſſung der Römer gegenüber ſich ſelbſtändig ver - haltenden Forſchung völlig durchdrungen, ja ich bin überzeugt, daß manche der auf dieſem Wege gefundenen Reſultate einen höhern Grad hiſtoriſcher Sicherheit in Anſpruch nehmen können, als wenn ſie uns durch ſämmtliche römiſche Gewährsmänner bezeugt wären. Dies gilt namentlich von den Rechtsanſchau - ungen der Urzeit, deren wir uns mit Hülfe der Etymologie be - mächtigen können. Die Etymologie iſt eine der beredſten und zuverläſſigſten Quellen über die primitiven Anſchauungen der Völker; was längſt im Leben abgeſtorben, was aus der Erinne - rung des Volks völlig verſchwunden, das bewahrt ſie noch der Wißbegier kommender Zeiten auf. Sie iſt eine Darſtellung der Urzuſtände in einer Hieroglyphen-Schrift, zu der vielleicht erſt nach Jahrtauſenden der Schlüſſel gefunden wird. Die Römer verſtanden den hiſtoriſchen Schatz, der in ihrer Sprache aufbe - wahrt war, nicht zu heben, die Geheimſchrift, in der die Denk - und Sinnes-Weiſe ihrer Vorfahren zu ihnen ſprach, nicht zu enträthſeln, während uns heutzutage der Zugang zu dieſem Schatze offen ſteht. Es iſt vor allem das Erwachen des Sans - kritſtudiums und einer auf dieſer Grundlage ſich ſtützenden Sprachvergleichung, das den auf eine ſpezielle Sprache gerich - teten etymologiſchen Unterſuchungen erſt die wahre Fruchtbar - keit und Sicherheit verliehen hat und allen hiſtoriſchen Wiſſen -89Die Etymologie und Rückſchlüſſe vom ſpätern Recht. §. 7.ſchaften eine Perſpective öffnet von der man vorher keine Ahnung hatte. Auch die Geſchichte des Rechts wird ihren Antheil daran bekommen, und ſchon jetzt, wo jenes Studium erſt ſeit kurzer Zeit betrieben iſt, wird es möglich, einige Früchte deſſelben für unſere ſpeziellen Zwecke zu verwenden.

Ein anderer Punkt, in dem das Uebergewicht unſerer heuti - gen Wiſſenſchaft über die Römer gleichfalls zweifellos iſt, be - trifft das Recht ſelbſt; es iſt der Sinn für die hiſtoriſche Ent - wicklung deſſelben, die Kenntniß ſeiner Erſcheinungsformen, ſei - ner hiſtoriſchen Natur u. ſ. w. So groß die römiſchen Juriſten als Dogmatiker waren, ſo beſaßen ſie doch gar keinen Sinn für die hiſtoriſche Entwicklung des Rechts. Wenn aber die Römer es verſäumten, das rechtshiſtoriſche Material, das ſie uns mit - theilen, zu benutzen, ſo können wir das Verſäumniß nachholen und dürfen die Zuverſicht hegen, daß eine ſorgſame Beobach - tung uns ſelbſt bei Dürftigkeit des Materials zu neuen Ent - deckungen verhelfe. So kann uns namentlich auch das ſpätere römiſche Recht für die Kenntniß des älteſten ergiebig werden. Wie in der Sprache, ſo dauern auch im Recht nicht ſelten Nach - klänge einer Vergangenheit fort, die dem Gedächtniß des Volks längſt entſchwunden iſt. 2)Es iſt wunderbar, wie lange ſich namentlich gewiſſe Gebräuche, ſym - boliſche Geſchäfte u. ſ. w. noch erhalten können, nachdem ſie ihre eigentliche Bedeutung verloren haben. Es iſt z. B. zweifellos, daß noch heutzutage bei uns manche Gebräuche fortdauern, die ſich aus der Heidenzeit herſchreiben, ja nach der ihnen zu Grunde liegenden urſprünglichen Idee auf die frühere Gemeinſchaft der indogermaniſchen Völker hinweiſen. S. z. B. die Abhand - lung von Kuhn über Wodan in der Zeitſchrift für deutſches Alterthum von Haupt B. 5 S. 472. Ein hieſiger College und Freund von mir wird nächſtens in einer Vergleichung der Hochzeitsgebräuche der indogermaniſchen Völker einen neuen, überraſchenden Beitrag geben.Auch ohne hiſtoriſches Zeugniß ſind wir im Stande, ſie als ſolche Nachklänge zu bezeichnen, geſtützt nämlich theils auf hiſtoriſche Analogieen, theils auf den innern Gegenſatz, oder, um im Bilde zu bleiben, auf das irrationale Verhältniß, in dem dieſe Nachklänge zum herrſchenden Ton -90Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ſyſtem ſtehen. Auch im römiſchen Recht der Republik haben ſich einzelne Spuren erhalten, die offenbar aus ganz andern An - ſchauungen hervorgegangen ſind, als denen das Recht der Re - publik ſeinen Urſprung verdankt, die wie einzelne erhaltene Punkte einer Peripherie auf ein beſtimmtes Centrum der ge - ſammten Rechtsauffaſſung hinweiſen. Werden nun dieſe An - zeichen verſtärkt durch ähnliche Andeutungen der Etymologie, verweiſen beide uns endlich auf Ausgangspunkte des Rechts, die ſich erfahrungsmäßig als die gewöhnlichen darſtellen und als vernünftige begreifen laſſen, dann dürfen wir mit einiger Sicherheit dieſen Spuren folgen und die Behauptung wagen: von jenen Ausgangspunkten aus hat ſich das römiſche Recht entwickelt, jenes primitive Syſtem der Rechtsanſchauung hat einmal exiſtirt, ſelbſt wenn das römiſche Volk der hiſtoriſchen Zeit ſich deſſelben nicht mehr erinnert. Wann, wo und wie lange es exiſtirt hat, das läßt ſich freilich nicht angeben, aber man beſcheide ſich zu wiſſen, daß das römiſche Recht ſich von dieſer Grundlage aus emporgehoben hat.

Wir werden jetzt im folgenden

  • 1. Die Entſtehung des römiſchen Rechts nach der Sage, ſo zu ſagen, die römiſche Kosmogonie des Rechts einer Kritik unterwerfen; ſodann
  • 2. Die hiſtoriſch nachweisbaren Ausgangspunkte oder die urſprünglichen Elemente dieſes Rechts und
  • 3. Das Verhalten des römiſchen Geiſtes zu dieſen vorgefun - denen Ausgangspunkten zu ermitteln ſuchen.

Die römiſche Kosmogonie des Rechts das Charakteriſtiſche derſelben für die römiſche Vorſtellungsweiſe.

VIII. Der Anfang Roms iſt nach der Sage der Zuſtand der Wildheit und Geſetzloſigkeit. Die Gründer Roms ſind Räuber und Abentheurer, die von den Ihrigen ausgeſtoßen ſind oder einem zügelloſen Leben zu Liebe ſich von ihnen losgeriſſen haben, Götter und Familie daheim laſſend und nichts mitbringend,91Die römiſche Kosmogonie des Rechts. §. 8.als ihren Arm und ihr Schwert. Sie ſind ein Aggregat von Individuen, von Atomen, durch nichts vereinigt als durch ihren wilden Sinn und den gemeinſamen Zweck des Raubens. Nicht einmal Frauen bringen ſie mit, und die benachbarten Völker, denen ſie ein Gräuel ſind, weiſen mit Hohn und Ent - rüſtung die Zumuthung zurück, ihnen ihre Töchter zur Ehe zu geben. Aber was ihnen nicht gegeben wird, nehmen ſie ſich. Sie laden ihre Nachbarn zur Feier von Spielen ein, überfallen dann die Gaſtfreunde, deren Verletzung nach den Begriffen des Alterthums eins der frevelhafteſten Verbrechen war, und rauben ihnen die Töchter. Ihr Anführer Romulus, den die Sage zu den Göttern erhebt, geht ihnen mit gutem Beiſpiel voran; Brudermord verſchafft ihm die Alleinherrſchaft. Die Sage ſcheint an dieſer Unthat keinen Anſtoß zu nehmen; letztere geht, möchte man ſagen, noch auf Rechnung des urſprünglichen Zuſtandes der Wildheit und Willkühr, dem aber bald durch Romulus ſelbſt ein Ende gemacht wird.

Als die einzigen Bindemittel des bunten Haufens werden Ordnung und Recht zur Herrſchaft gebracht,3)Liv. I. c. 8 multitudine, quae coalescere in populi unius cor - pus nulla re praeterquam legibus poterat. und zwar lehnen ſie ihrerſeits ſich auf die königliche Gewalt, die Romulus zu dem Zweck mit äußerm Glanz und Anſehn ausſtattet,4)Liv. ibid .... jura, quae ita sancta fore ratus, si se ipse ve - nerabilem insignibus imperii fecisset, quum cetero habitu se augustio - rem tum maxime lictoribus duodecim sumtis fecit. Bei ſeinem Rückblick auf die Königszeit in Lib. II. c. 1. bezeichnet Livius die königliche Gewalt als die Trägerin oder das Lebensprinzip des älteſten Staats und frägt, was aus Rom geworden ſein würde, wenn jener Haufe von Abentheurern nicht durch die Furcht vor dem König im Zaum gehalten worden wäre. und welcher er einen Senat mit berathender Stimme zur Seite ſtellt. Nachdem nun der Staat eingerichtet, folgt dem Raube der Sa - binerinnen die Gründung des Hausſtandes und der Familie und durch die Vermittlung dieſer Familienbande eine Verbindung mit einem organiſch gegliederten Volke.

92Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Der Staat und die Familie waren gegründet, und jetzt kam die Reihe an die Religion. Romulus gedachte zwar ſchon der Götter, aber ſeine Hauptthätigkeit war doch dem Staate zuge - wandt. Sein Nachfolger Numa, den nach der Sage der Ruf ſeiner Gottesfurcht und Gerechtigkeit auf den Thron brachte, erſcheint als der Repräſentant des religiöſen Prinzips. Er be - ſchränkt ſeine Sorge aber nicht auf das rein Gottesdienſtliche, auf Einführung von neuen Göttern und die Regulirung des Cultus, ſondern ſeine Abſicht war auch darauf gerichtet die mit Gewalt und Waffen gegründete Stadt von neuem zu gründen durch Geſetz und Sitte ,5)Liv. I. c. 19. und er erreicht ſie, indem er auch ſeinen weltlichen Einrichtungen eine religiöſe Weihe verleiht, auch ſie als Eingebungen der ihm befreundeten Nymphe Egeria bezeichnet.

Jetzt blieb nichts mehr übrig als das Völkerrecht, und als Repräſentant dieſer Seite des Rechts tritt in der Sage der vierte König Ancus Martius auf. 6)Liv. I. c. 32. Ut tamen, quoniam Numa in pace religiones in - stituisset, a se bellicae ceremoniae proderentur, nec gererentur solum, sed etiam indicerentur bella aliquo ritu, jus ab antiqua gente Aequico - lis, quod nunc fetiales habent, descripsit, quo res repetuntur. Bemerkenswerth iſt dabei aber, daß die Sage, die alles übrige in Rom entſtehen läßt, hier die Entlehnung von einem fremden Volke zugeſteht.

Dies iſt in wenig Zügen die Entſtehungsgeſchichte des Rechts, wie ſie dem römiſchen Volke der ſpätern Zeit als die natürliche erſcheint. Denn daß die Sage den Ausdruck der volksthümlichen Denkweiſe enthält, daß ſie, auch wenn ſämmt - liche Fakta, die ſie berichtet, unhiſtoriſch ſind, dennoch pſycho - logiſche Wahrheit enthält, bedeutungsvoll iſt für die ganze Denk - und Sinnesweiſe des Volks das braucht heutzutage nicht mehr geſagt zu werden. So iſt auch die römiſche Sage in dieſer Be - ziehung ſehr charakteriſtiſch, was wir an einigen Zügen nach - weiſen wollen.

93Das Charakteriſtiſche der römiſchen Kosmogonie. §. 8.

Gewöhnlich liebt es die Sage, die Bildungen einer relativ ſpätern Zeit in eine weite Ferne, in eine dunkle, ungekannte Vorzeit zu verlegen, das Menſchenwerk und natürliche Erzeug - niß einheimiſcher Geſchichte als das Geſchenk der Götter hinzu - ſtellen und die älteſte Zeit als das goldne Zeitalter zu bezeich - nen, in dem die Götter ſelbſt unter den Menſchen wandelten. Aber von alle dem findet ſich in der römiſchen Sage nichts. Rom ſelbſt hat keine Vorzeit gehabt, die der Sage als myſti - ſcher Hintergrund diente, Rom bildet den Rahmen, der die ganze römiſche Welt einſchließt. 7)Ein intereſſantes Seitenſtück zu dem folgenden giebt uns auch der religiöſe Mythus in ſeiner Sage von der Entwendung der Kühe des Herkules (Liv. I. c. 7). Es iſt dies nichts, als die indiſche Sage von den Kühen des Indras, und der in letzterer vorkommende Sarameyas der griechiſche Ἑϱμείας, Ἑϱμῆς, wie Kuhn in der Zeitſchrift für deutſches Alterthum von Haupt B. 6 S. 118 u. f. trefflich nachgewieſen hat, aber Griechen wie Römer verlegen jene Sage, mit der Kuhn auch die altgermaniſche Mythologie in Beziehung geſetzt hat, nach ihrer eignen Heimath. Die vergleichende Mythologie der indogermaniſchen Völker wird gewiß noch in einer Menge von religiöſen My - then und Gebräuchen die urſprüngliche Gemeinſamkeit jener Völker nachwei - ſen, die letztern ſelbſt ſo ſehr entſchwand, daß ſie jenes gemeinſame Beſitz - thum als etwas ihnen ganz eigenthümliches betrachteten und es in ihren Tra - ditionen daheim entſtehen ließen.Alles, was Rom iſt, erwirbt und leiſtet, verdankt es ſich ſelbſt und ſeiner Kraft; alles wird gemacht und organiſirt, in allem iſt Planmäßigkeit, Abſicht, Berechnung. Nichts bildet ſich von ſelbſt, nicht einmal die Gen - tes, die doch das unmittelbarſte Produkt des natürlichen Wachs - thums der Familien ſind, nicht das Recht, das doch größten - theils aus der Sitte hervorgeht. Nichts wird von außen ent - lehnt mit Ausnahme des Völkerrechts; Staat, Recht, Religion, alles producirt Rom aus ſich heraus.

Dies iſt alſo ein Grundzug der römiſchen Anſchauung: Rom hat nichts von außen entlehnt, und was in Rom ſich gebildet hat, das verdankt Rom ſich ſelbſt und iſt mit Bewußtſein und Abſicht eingerichtet.

94Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

So muß denn auch die Geſchichte in Rom gewiſſermaßen von neuem beginnen, den langen Weg von der natürlichen Wildheit eines vorſtaatlichen Zuſtandes, dem atomiſtiſchen Ne - beneinanderſtehen der Individuen bis zur Bildung eines Volks und Staats und zur Geſittung und Religion hier von vorne zu - rücklegen. Selbſt die Familien müſſen ſich erſt in Rom bilden; Rom erhält zur Ausſteuer nichts als Männer, die auf der An - fangsſtufe der Geſchichte ſtehen, Schiffbrüchige, die in ſittlicher Beziehung nackt ans Land getrieben werden, alſo ſo gut ſind als wären es die erſten Menſchen, die die Natur producirt hat. Sie haben keine Vergangenheit, gehören nicht einem und dem - ſelben Volke an, ſondern ſind von allen Ecken zuſammengelau - fen, bringen kein gemeinſames Recht, keine gemeinſamen Götter mit, keine Scheu vor alle dem, was den damaligen Völkern werth und heilig war, und werden daher auch von dieſen wie ein Aus - wurf der Menſchheit betrachtet.

Die erſte Scene alſo in dieſer Kosmogonie der römiſchen Welt iſt die abſolut erſte Stufe der Geſchichte überhaupt, die Herrſchaft der Willkühr und Gewalt.

Sodann folgt als zweite Scene die Entſtehung der Ge - meinſchaft, eine Verbindung zu räuberiſchen Zwecken und aufrecht erhalten durch Gewalt oder militäriſche Disciplin, aber doch bereits der Anfang des Staates. Dazu geſellt ſich die Fa - milie, die Conſolidirung des Königthums und die Verbindung mit einem andern Volk.

Erſt jetzt erſcheint mit Numa Religion und Sittlichkeit. Die Ruhe nach außen hin iſt geſichert, im Innern ſind die Bedin - gungen des äußern Lebens gewährt, die wilde Thatkraft kann fei - ern, und ſo iſt denn der Zeitpunkt gekommen, wo die ſittliche Er - ziehung des Volkes beginnen kann. Noch einmal zwar unter Ser - vius Tullius wacht die alte Wildheit wieder auf, aber ſie wen - det ſich nach außen hin, und ſein Nachfolger, der Repräſentant des Völkerrechts, gibt ihr legale Formen, völkerrechtliche Schran -95Das Charakteriſtiſche der römiſchen Kosmogonie. §. 8.ken, und weiß den Geiſt der Numaiſchen Zeit wieder lebendig zu machen.

Damit ſchließt die Schöpfungsgeſchichte der römiſchen Welt, denn was nachher geſchieht, betrifft nur Veränderungen des bereits vorhandenen. Sie hat darin eine gewiſſe Aehnlichkeit mit der altteſtamentlichen Kosmogonie, daß ſie in kurzer Zeit aus einem Nichts oder einem Chaos heraus jene ganze Welt hervorgehen und auch die einzelnen Theile derſelben hinter - einander und abgeſondert, wie an jenen bibliſchen Schöpfungstagen, zur Exiſtenz gelangen läßt. Die Reihenfolge hat etwas charakteriſtiſches. Daß das Chaos, jener Zuſtand des individuellen Treibens und der Willkühr den Anfang, das Völkerrecht aber den Beſchluß macht, iſt durchaus in der Ord - nung. Aber bezeichnend iſt, daß die Religion erſt nach dem Recht erſcheint, denn hier iſt die hiſtoriſche Ordnung, wornach das Recht urſprünglich einen religiöſen Charakter hat und erſt ſpäter einen profanen Charakter annimmt, geradezu um - gekehrt. Es iſt dieſe Erſcheinung bereits von andern8)z. B. Hegel Philoſophie der Geſchichte S. 361: Dieſer Zug iſt da - durch ſehr merkwürdig, daß die Religion ſpäter als die Staatsverbindung auf - tritt, während bei andern Völkern die religiöſen Traditionen ſchon in den älte - ſten Zeiten und vor allen bürgerlichen Einrichtungen erſcheinen. als merk - würdig bezeichnet, und ich bin geneigt, ſie als Ausdruck der römiſchen Sinnesweiſe zu betrachten, wornach der Staat die erſte, die Religion die zweite Stelle einnahm.

Schon an dieſer Umſtellung einer nach aller hiſtoriſchen Er - fahrung durchaus conſtanten Ordnung verräth ſich, daß in der Bildungsgeſchichte der römiſchen ſittlichen Welt etwas gemach - tes iſt, und daſſelbe ergibt ſich auch aus andern Gründen. Niebuhrs bekannte Unterſuchungen überheben uns der Mühe, auf das einzelne einzugehen, und es genügt hier, im allgemeinen auf die innere Unwahrſcheinlichkeit der römiſchen Sage aufmerk - ſam zu machen. Indem letztere von dem Beſtreben ausgeht, den96Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.den Anfang Roms ſo winzig wie möglich zu machen, damit die ſpätere Größe deſſelben dagegen einen um ſo ehrenvolleren Con - traſt bilde, ſtellt ſie die urſprüngliche Bevölkerung als eine durch nichts verbundene Maſſe einzelner Individuen dar und gibt letzteren die moraliſche Ausſtattung von erſten Menſchen. Iſt dies denn denkbar? Hatte denn nicht jeder, der Rom mit erbauen half, bereits einem geordneten Gemeinweſen angehört, brachte er von dort nicht bereits eine hiſtoriſche Ausſtattung mit oder hätte er ſeine Götter, ſeine Rechtsbegriffe, ſeine ganze ſittliche Ausbildung von ſich werfen und ſich wieder zum wilden Thiere machen können? Und unter dieſen Räubern und Mör - dern hätte ſich in kürzeſter Zeit ein Recht bilden oder vielmehr Romulus hätte nach ſeinem Belieben ein Recht machen ſollen, das aber ſofort trotz der disparaten Zuſammenſetzung der Be - völkerung und trotz ihrer Zügelloſigkeit die Macht und den Ein - fluß eines angeſtammten, ererbten Rechts ausgeübt hätte? Hegel, der im übrigen das Weſen des römiſchen Geiſtes treffend auf - gefaßt hat, hat ſich freilich zu dieſer Annahme entſchloſſen. Er läßt den Geiſt der ſtrengen Geſetzlichkeit der Römer aus jener Entſtehung aus der erſten Räubergeſellſchaft hervorgehn, denn dieſe Stiftung des Staates führte unmittelbar die härteſte Dis - ciplin mit ſich, ſowie die Aufopferung für den Zweck des Bun - des. Rom iſt ihm etwas von Hauſe aus Gemachtes, Gewalt - ſames, nichts Urſprüngliches, und das römiſche Leben nimmt ſeinen Anfang in verwilderter Roheit mit Ausſchluß der Empfin - dungen der natürlichen Sittlichkeit. 9)S. Hegels Philoſ. der Geſchichte S. 344, 346, 348, 351.Das Recht wäre hier - nach gewiſſermaßen ein Zaum, der einem wilden, unbändigen Thiere angelegt würde, nicht etwas dem Subjekt ſelbſt eignes, der Staat aber ein Käfig, aus dem das Thier nur entlaſſen wäre, um unter Aufſicht ſeines Bändigers bei den Nachbarn zu wüthen und plündern. Ohne in dieſer Auffaſſung ein ge - wiſſes Moment der Wahrheit, auf das wir an einer ſpätern97Kritik der römiſchen Kosmogonie des Rechts. §. 8.Stelle zurückkommen werden, zu verkennen, es iſt nämlich die Anknüpfung des ſtrengen Geſetzlichkeitsſinnes an die militäriſche Disciplin, müſſen wir dennoch dieſe der Sage zu Liebe ange - nommene Entſtehung des Rechts und Staats aus einem ſittlichen Sumpfe heraus entſchieden beſtreiten. Die römiſche Sage will den Römern den Ruhm vindiciren, mit nichts angefangen und alles aus ſich heraus producirt zu haben; darum exiſtirt beim Beginn der römiſchen Geſchichte keine Nationalität, keine Reli - gion, kein Recht. Das wahre Sachverhältniß aber iſt das, daß alles dies bereits vor Rom vorhanden war, und daß ſich die Gründer Roms etwa mit Auswanderern vergleichen ließen, die eine Gemeinſchaft, in der ſie bereits daheim ſtanden, anderwärts fortſetzen und ihre Familien und ihr Beſitzthum, ihre Religion und ihre Einrichtungen mitbringen. Mochten immerhin noch ſo viele einzelne Individuen nach Rom ziehen, mochte Rom wirklich ein Aſyl ſein, zu dem Verbrecher von weither ihre Zuflucht nahmen: es gab jedenfalls einen feſten Kern der Bevölkerung, einen Stamm, an den ſich jene atomiſtiſchen Beſtandtheile anſchloſſen, und dem ſie ſich aſſimilirten. Dieſer Kern war der Träger der ererbten Einrichtungen, er ſicherte dem Staate und ſeinen In - ſtitutionen die Feſtigkeit, die ſie gleich von vornherein genoſſen. Die römiſche Rechts - und Staatsbildung iſt alſo, mit dem Kunſtausdruck bezeichnet, keine primäre, ſondern eine ſe - kundäre d. h. ſie erfolgt auf Grundlage und aus den Mitteln bereits vorhandener Bildungen, Rom bringt von vornherein eine hiſtoriſche Mitgift mit. In ſeinem Rechte, in ſeiner Sprache kommen Reminiscenzen einer weit über Rom hinausreichenden Vergangenheit vor, finden ſich, möchte ich ſagen, Spuren eines antediluvianiſchen Syſtems, einer Entwicklung des Rechts, de - ren Anfänge und Fortgänge längſt vor Rom fallen, und deren Reſultate die Grundlage abgeben, auf der Rom weiter fortbaut. Dieſe hiſtoriſche Mitgift, die Rom bei ſeinem Eintritt in die Welt miterhält, wollen wir jetzt zu beſtimmen, den Weg, den die Rechtsentwicklung zurückgelegt hatte, bevor ſie in Rom an -Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 798Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.langte, zu entdecken ſuchen. Wenn die Erinnerung daran ſich auch im Gedächtniß des Volks verloren hat, ſo finden ſich doch, wie bereits im vorigen Paragraphen angegeben, im geiſtigen Beſitzthum der ſpätern Zeit, dem Recht wie der Sprache, noch Verſteinerungen aus jener frühern Zeit. Auch wir werden wie die Sage zu den erſten Anfängen des Rechtes zurückgehen und mit ihr gleichen Schritt halten, indem wir nämlich an die Stelle jener vier Abſtufungen in der Bildungsgeſchichte des Rechts, die ſie uns vorführt, dem vorſtaatlichen Treiben der Indivi - duen, der Bildung des Staats, dem Auftreten der Religion, der Annahme des Völkerrechts drei Prinzipe ſetzen werden, näm - lich das Prinzip des ſubjektiven Rechts, jener erſten Stufe ent - ſprechend, das Prinzip der Familie und der Wehrverfaſſung, mit ſeiner ſtaatsbildenden Kraft der zweiten Stufe correſpondi - rend, und ſodann das religiöſe Prinzip, welches mit der dritten zugleich jene vierte Stufe in ſich ſchließt, indem nämlich das Völkerrecht unter dem Schutze deſſelben ſteht.

Die Ausgangspunkte oder die Urelemente d. röm. Rechts.

Das Minimum geſchichtlicher Anfänge.

IX. Weit, unendlich weit iſt die Kluft, die uns mit unſerer modernen Rechtsauffaſſung von jenen erſten Anfängen der Rechts - und Staatsbildung trennt, zu denen wir uns jetzt zu - rückverſetzen wollen. Nicht den Abſtand der Zeit meine ich, ob - gleich auch er ein gewaltiger iſt, denn jene erſten Anfänge fallen weit über Rom hinaus, ſondern ich meine den Gegenſatz in der Rechtsanſchauung, und dieſer iſt ein ſo bedeutender, daß es uns Mühe koſtet, uns ganz in die der Kindheitszeit des Rechts hin - einzudenken und ſie begreiflich und natürlich zu finden. Mögen wir nie vergeſſen, daß das, was uns jetzt als natürlich und vernünftig erſcheint, nur das Produkt eines langen und mühſamen Prozeſſes iſt. Ohne die Kenntniß der Geſchichte würden wir nicht wiſſen, daß Rechtsanſchauungen, die uns99Abſtand moderner Rechtsanſchauung von der der Kindheitszeit. §. 9.ſonſt als ewiges Eigenthum der menſchlichen Vernunft erſchei - nen könnten, in der That nichts ſind, als Reſultate jenes Pro - zeſſes. Und es ſind dies gerade ſolche, die in der heutigen Zeit im Niedrigſten wie im Höchſten lebendig und das Gemeingut aller Völker ſind. Daß der Menſch als ſolcher Rechtsſubjekt iſt, nicht bloß der Bürger, daß die Kriegsgefangenſchaft keine Skla - verei begründet, daß die Selbſthülfe der Rechtsordnung wider - ſtreitet, daß der Staat etwas anderes, höheres iſt, als die Summe der Individuen, andere Aufgaben und andere Mittel hat, als die letzteren zukommen, vor allem aber die Aufgabe, Recht und Gerechtigkeit bis in die kleinſten Kreiſe hinein zu ver - wirklichen dieſe Sätze ſind unſerer heutigen Auffaſſung ſo zu eigen geworden, daß wir kaum begreifen, wie hinſichtlich ihrer je eine Abweichung möglich geweſen iſt. Darin aber offenbart ſich ſo recht der rieſige Fortſchritt der Geſchichte, daß die folgen - reichſten Wahrheiten, zu denen ſich in früherer Zeit kaum der kühnſte Flug hervorragender Geiſter erhob, aus jener, möchte ich ſagen, Schnee - und Eisregion, in der ſie Jahrtauſende un - zugänglich und verborgen lagen, in die tiefſten Niederungen hin - abgewälzt und Gemeingut der Gebildeten wie der Ungebildeten geworden ſind. In dieſen einfachen Wahrheiten ſteckt ein ganz anderer Werth und eine viel mühſamere Arbeit des menſchlichen Geiſtes, als in allen jenen Erfindungen und Entdeckungen, die den Stolz unſeres Jahrhunderts bilden, und wollte man die Fortſchritte zuſammenſtellen, die unſere Zeit vor den erſten An - fängen der Cultur oder auch nur vor der Cultur des Alterthums voraus hat: in meinen Augen verdienten jene einfachen Wahr - heiten obenanzuſtehn. Alle Schätze der Wiſſenſchaft kommen gegen den Werth ſolcher dem Volke eingeimpfter und darum un - vergänglicher und das Leben geſtaltender Wahrheiten gar nicht in Betracht. Die Wiſſenſchaft kann ſteigen und fallen und mit ihr gehen die Schätze unter, die ſie angeſammelt hat, aber die einfachen, grandioſen Wahrheiten, deren ſie ſich einmal zu Gun - ſten des Volks entäußert hat, dauern fort als unvergängliches7*100Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Reſultat ihrer Arbeit. Der eine Satz, daß der Menſch als ſolcher Rechtsſubjekt iſt, ein Satz, zu dem das römiſche Recht ſich praktiſch niemals erhoben hat wiegt für die Menſchheit mehr, als alle Triumphe der Induſtrie, und dieſer eine Satz ſchon be - zeichnet einen Fortſchritt des heutigen Rechts gegen das römi - ſche, gegen den die Ueberlegenheit des letztern hinſichtlich der techniſchen Vollendung ganz in den Schatten tritt. Um dieſen Satz zu verwirklichen, hat die Geſchichte Jahrtauſende arbeiten müſſen; Millionen Menſchen haben in Sklaverei geſeufzt, ganze Völker ſind vom Erdboden vertilgt und haben mit ihrem Blute den Boden düngen müſſen, dem jene einfache Wahrheit ent - ſproſſen iſt.

Warum dieſe Betrachtung? Um eine Warnung eindringlich zu machen, die wir für den ganzen Verlauf der folgenden Unter - ſuchung nie außer Acht laſſen dürfen, nämlich nie zu vergeſſen, daß Rechtsanſchauungen, die allen heutigen Völkern gemeinſam ſind und uns als Ausflüſſe der reinen Vernunft erſcheinen, in der That nur das Ergebniß der Geſchichte ſind. Gerade bei ſolchen Anſichten, von deren Natürlichkeit und Nothwendig - keit jeder ſo durchdrungen iſt, daß er ſich gar nicht die Mög - lichkeit des Gegentheils denkt, iſt dieſe Warnung am erſten er - forderlich.

Die Geſchichte beginnt mit unendlich ſchwachen Keimen. An der Stelle, wo ſpäter ein zahlreiches Volk ſich bewegt, und über demſelben ein mächtiges Staatsgebäude ſich wölbt, hat es zu irgend einer Zeit nichts gegeben, als Individuen, Familien, auf deren Gemeinſchaft ſich der Name Staat nicht anwenden läßt. Und doch iſt dieſe Gemeinſchaft zweifellos der Keim des ſpätern Staats und Rechts geweſen, und es muß ſich, da die Geſchichte ſowenig wie die Natur Sprünge kennt, der Staat allmählig aus ihr entwickelt haben. Wie iſt dies geſchehen? Die heutige Wiſſenſchaft ſcheint uns dieſe Frage zu verwehren, denn ihr zufolge beginnt Recht und Geſchichte erſt mit dem Staat. Wir dürften uns alſo hinſichtlich unſerer Aufgabe be -101Anfangspunkt der Rechtsgeſchichte. §. 9.ſcheiden, den römiſchen Staat und das römiſche Recht als fer - tige Thatſachen entgegenzunehmen und wir brauchten oder rich - tiger wir dürften gar nicht die Frage aufwerfen, wie ſich beide von jenem erſten Keim aus entwickelt hätten. Ließe ſich auf jene Frage nur mit vagen Muthmaßungen antworten, deutete keine Spur den Weg an, den die Geſchichte, um vom Indivi - duum zum Staat zu gelangen zurückgelegt hat, dann wäre die Abweiſung jener Frage durchaus gerechtfertigt. Wenn es ſich aber entgegengeſetzt verhält und ich glaube, daß dies hinſichtlich des römiſchen Rechts der Fall iſt warum mit einem ſolchen Lehrſatz der Wißbegierde entgegentreten, warum nicht die Ge - legenheit benutzen, die Wurzeln des Baumes, die ein glück - licher Zufall entblößt hat, kennen zu lernen? Staat und Recht ſind nicht über Nacht und auf geheimnißvolle Weiſe zur Welt gekommen, wir können nicht einen beſtimmten hiſtoriſchen Mo - ment bezeichnen, wo der Staat anfienge, und vor dem ein recht - loſer Zuſtand exiſtirt hätte. Wenn Recht und Staat nicht im Individuum ihren innerlichen Grund hätten, wenn nicht ſchon jede dauernde Gemeinſchaft von Individuen eine rechts - und ſtaatsbildende Kraft in ſich trüge: woher wäre denn Recht und Staat in die Welt gekommen? Können wir alſo dieſe Abſtam - mung des Rechts und Staats aus der Gemeinſchaft der Indi - viduen irgendwo noch erkennen: warum unſere Augen verſchlie - ßen? Und wo wir ſie nicht mehr erkennen können: warum uns da nicht bewußt werden, wie weit Staat und Recht hier von jenem nothwendigen Ausgangspunkt ſich bereits entfernt haben? Ich meine, daß jede Rechtsgeſchichte damit beginnen ſollte, ſich dieſer Entfernung bewußt zu werden und zu verſuchen, ob ſie noch die Verbindungslinie zwiſchen Staat und Recht, wie ſie ihr in der Geſchichte zuerſt entgegentreten, auf der einen Seite und dem Individuum oder der Gemeinſchaft der Individuen auf der andern Seite erkennen kann; nicht mit der Idee ans Werk gehn, daß nur der fertige Staat ſie intereſſiren dürfe,102Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ſondern mit der Idee, daß es irgend einmal keinen Staat gegeben habe.

Mit dieſer Idee wollen wir an unſere Aufgabe treten, alſo hinſichtlich des älteſten römiſchen Staats und Rechts uns be - wußt zu werden 'ſuchen, wie weit ſie ſich bereits von jenem ab - ſoluten Ausgangspunkt der Geſchichte, dem Individuum oder der Gemeinſchaft der Individuen entfernt haben, und in welchen Punkten ſie noch die Spuren dieſes Ausgangspunktes an ſich tragen. Mögen uns dabei Mißgriffe unvermeidlich ſein: ich halte es für richtiger und lehrreicher, von der Vorausſetzung auszugehn, daß die Geſchichte mit unendlich wenig angefangen habe, und demgemäß den Verſuch zu machen, die erſten Gebilde, die innerhalb ihrer für uns ſichtbar werden, an ein ſichtliches Minimum anzuknüpfen, als ſich mit der ge - gebenen Thatſache des Staats und Rechts zu beruhigen und unter dem Einfluß einer gereiften Rechts - und Staatsverfaſſung den ſittlichen Gehalt jener Bildungen zu überſchätzen ein Fehler, den man ſich dem älteren römiſchen Recht gegenüber vielfältig hat zu Schulden kommen laſſen.

Was nun den Plan der folgenden Darſtellung anbetrifft, ſo ordne ich den Stoff, den die Geſchichte uns hinſichtlich des älte - ſten Rechts darbietet, nach drei Geſichtspunkten oder Prinzipien und werde verſuchen Rechenſchaft darüber zu geben, was jedes derſelben zu dem Bau der römiſchen ſittlichen Welt beigeſteuert hat. Es ſind dies jene bereits im vorigen Paragraphen erwähn - ten Prinzipien, nämlich:

I. Das des rein ſubjektiven Rechts, beruhend auf der Idee, daß das Individuum den Grund ſeines Rechts in ſich ſelber, in ſeinem Rechtsgefühl und ſeiner Thatkraft trägt und hinſicht - lich der Verwirklichung deſſelben auf ſich ſelbſt und ſeine eigne Kraft angewieſen iſt. Dieſe Idee iſt in meinen Augen der durch Rückſchlüſſe zu ermittelnde, äußerſte Ausgangspunkt des römi - ſchen Rechts, und die beiden folgenden Prinzipien haben jene103I. Prinzip des ſubjektiven Willens. §. 10.Idee nicht verdrängt, ſondern bauen auf dieſer Baſis fort. Der geſellſchaftliche Zuſtand, den dieſe Idee hervorruft, iſt nichts weniger als jener erträumte vorſtaatliche Zuſtand eines bellum omnium contra omnes, ſondern iſt ein Rechtszuſtand, in dem ein Recht exiſtirt und ſich verwirklicht.

II. Das ſtaatsbildende Prinzip und als Ausflüſſe deſſelben die Gemeinſchaft auf Grundlage der Familienverbindung und der Einfluß der Wehrverfaſſung auf die Gemeinſchaft.

III. Das religiöſe Prinzip mit ſeinem Einfluß auf Recht und Staat.

Dieſe drei Prinzipien folgen ſich hinſichtlich ihrer ſittlichen Gradation in der hier gewählten Reihenfolge, und mit Rückſicht hierauf werden wir ſie fortan auch als Stufen der Rechtsbil - dung bezeichnen. Eine entſprechende zeitliche Reihenfolge der - ſelben ſoll damit nicht prädicirt ſein. Mit dem Individuum iſt wie das ſubjektive Rechtsgefühl, ſo auch ſchon die Familie und die Religion gegeben; welche von dieſen drei Mächten aber ur - ſprünglich die mächtigere geweſen iſt: wer möchte ſich darüber in leere Vermuthungen ergehen?

I. Das Prinzip des ſubjektiven Willens der Urquell des römiſchen Rechts.

1. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Be - gründung des Rechts (Recht der Beute) Vorliebe der römi - ſchen Rechtsanſicht für originäre Erwerbungsarten.

X. Wo hätte es ein Recht gegeben, das nicht aus der Thatkraft der Individuen hervorgegangen wäre, und deſſen Ur - ſprünge ſich nicht in den dunkeln Hintergrund der phyſiſchen Ge - walt verlören? Aber bei manchen Völkern iſt das Thor, durch das ſie in die Geſchichte hinaustreten, jene Periode der That - kraft und der gewaltſamen Bildung des Rechts, im Laufe der Zeit völlig verſchüttet, und ihre Tradition weiß nichts mehr zu104Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.berichten von den Ahnherrn des Volks, die mit der Gewalt des Arms die Rechtswelt gründeten, ſondern ſtatt deren von Göttern oder Dienern Gottes, die das Recht den Menſchen ſchenkten oder ihnen als Satzung auferlegten. Der menſchliche Schweiß und das Blut, das dem Urſprung des Rechts anklebt, wird hier durch den Nimbus göttlicher Entſtehung deſſelben völlig ver - dunkelt.

Anders aber im römiſchen Recht; jene Schweiß - und Blut - flecke menſchlicher Arbeit, die ihm anhaften, hat keine Zeit ver - nichten können; noch Jahrhunderte hindurch vibrirt im gelten - den Recht die Idee nach, daß die perſönliche Thatkraft die Quelle des Rechts iſt.

Perſönliche Thatkraft die Quelle des Rechts für uns faſt ein unverſtändliches Wort! Gewohnt, dem Staate alles in die Hand zu legen, das Recht als den Willen des Staates zu de - finiren und die Verwirklichung deſſelben ihm zu überlaſſen, kennen wir für das Recht die perſönliche Thatkraft kaum, und wo ſie ohne Autoriſation des Staats ſich geltend machen will, verpönen und verfolgen wir ſie als Eingriff in die Rechtsord - nung. Aber ſo weit in unſern Augen Gewalt und Recht von einander liegen, ſo weit iſt unſere heutige Auffaſſung dieſer bei - den Begriffe von der altrömiſchen entfernt, und wir müſſen unſere ganze heutige Vorſtellungsweiſe von Staat und Rechts - ordnung daheim laſſen, wenn wir altrömiſchen Grund und Boden betreten.

Iſt denn unſere ſtrenge Scheidung von Recht und Gewalt in der That eine richtige, gibt es nicht auch heutzutage Gebiete, in denen beide Hand in Hand gehn? In den kleinen Kreiſen des bürgerlichen Lebens haben wir der Gewalt den Krieg erklärt, und wenn ſie heutzutage nur noch ſchüchtern und verſtohlen ſich hier blicken laſſen darf, ahnen wir nicht, daß ihr einſt auf die - ſem Gebiete die ausgedehnteſte Herrſchaft zuſtand. Aber zurück - gedrängt von unſerer Theorie aus dieſen Niederungen des Pri - vatlebens flüchtet ſich die Gewalt auf jene Höhen, auf denen105I. Prinzip des ſubjektiven Willens. §. 10.die Weltgeſchichte arbeitet. Wenn ein unterdrücktes Volk ſich ſeines Tyrannen entledigt, wenn eine Regierung das im Zu - ſtande der höchſten Erſchlaffung ihr von der Maſſe aufgelegte Neſſusgewand einer verderblichen Verfaſſung von ſich wirft, wenn das Schwert des Eroberers einen morſchen Staat zer - trümmert und dem beſiegten Volke Geſetze auferlegt was antwortet darauf unſere Theorie von Recht und Gewalt? Sie erkennt die Aenderung als vollendete Thatſache, als rettende That an d. h. ſie kann dem Geſtändniß nicht ausweichen, daß die Thatkraft als ſolche Recht tilgen und ſchaffen kann. Die Geſchichte mit ihren gigantiſchen, naturkraftartig wirkenden Mächten läßt ſich nicht durch unſer theoretiſches Spinnenge - webe feſſeln; wenn ſie lebendig wird, zerreißt ſie es mit einem Schlage an allen Stellen und überläßt der Theorie die Mühe, es in veränderter Geſtalt wieder zuſammen zu weben.

Nun, was ſoll es? Sehen wir noch heutzutage, daß die Thatkraft das Recht gebiert, welche andere Mutter, als ſie ſollte das Recht am Anfang der Geſchichte gehabt haben? Nennen wir aber darum beide nicht eins, ſagen wir nicht, daß ſtatt des Rechts die Gewalt regiert habe. Auch das Recht war da, wenn auch in ganz anderer Weiſe als heutzutage; nicht nämlich als eine objektive Macht, die ſich durch ſich ſelbſt verwirklicht, ſon - dern als innerliche, als ſubjektives Rechtsgefühl. Was die Thatkraft geſchaffen, was ſie erworben und erkämpft, dem drückte das Rechtsgefühl ſeinen Stempel auf, machte es zu einem Theile der Perſon ſelbſt und verdoppelte damit die Kraft, mit der es behauptet ward. Der erſte Anſatz des Rechtsgefühls iſt das Ge - fühl der eignen Berechtigung, geſtützt auf die Bewährung der eignen Kraft und gerichtet auf die Reſultate derſelben. Dies Gefühl involvirt begrifflich freilich auch die Anerkennung des fremden Rechtsgefühls, aber praktiſch entwickelt ſich die Achtung vor dem Rechte Anderer nur ſehr mühſam und allmählig. Ur - ſprünglich iſt ſie auf den engen Kreis der Genoſſen beſchränkt; wer draußen ſteht, iſt rechtlos, gegen ihn mag man der Gewalt106Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.völlig freien Lauf laſſen, und Sieg begründet das Recht. Auch gegen die Genoſſen iſt Gewalt erlaubt, ſobald ſie die Perſon oder den Beſitz des andern kränken; durch Selbſthülfe verſchafft man ſich das Verlorne wieder, iſt dies aber unmöglich, ſo kühlt man wenigſtens die Rachluſt.

Dies ſind die Umriſſe einer rohen Rechtsanſchauung, von der die Römer oder ihre Vorfahren nicht bloß einmal ausgegan - gen ſind, um ſie dann zu vergeſſen, ſondern die wenn auch in verfeinerter und veredelter Geſtalt ſich ſtets bei ihnen erhielt. Der perſönlichen Thatkraft gehört die Welt, in ſich ſelbſt trägt der Einzelne den Grund ſeines Rechts, durch ſich ſelbſt muß er es ſchützen, das iſt die Quinteſſenz altrömiſcher Lebensanſchau - ung, wie wir jetzt näher nachweiſen wollen, indem wir die Spuren, die Recht, Mythe und Etymologie uns aufbewahrt haben, zuſammenſtellen.

Mit dem Schwerte iſt die römiſche Welt gegründet, und das Schwert oder der Speer iſt das älteſte Symbol des römi - ſchen Rechts. Nicht die Götter gaben den Römern ihre erſte Ausſtattung, wie einſt der Gott Israels den Juden das gelobte Land verlieh, nicht Kauf und Liſt wurden angewandt, wie einſt von Dido bei der Gründung Karthagos; nein die Römer haben kein abgeleitetes Eigenthum im Sinne der Rechtsſprache, abgeleitet von Gott oder andern Menſchen, ſondern ſie haben ein urſprüngliches, bei dem der Eigenthümer ſein eigner Auctor iſt, ſie haben es ſich genommen, wo ſie es fanden. Leicht aber war dieſer Erwerb nicht. Die lateiniſche Sprache wirft hier ein beachtenswerthes Streiflicht auf unſern Gegenſtand. Hoch ſtellte die römiſche Vorſtellungsweiſe die äußern Glücksgüter, bona, divitiae, denn die Sprache bezeichnet dieſelben als etwas Göttliches. 10)Bona und divitiae ſtammen beide von einer Wurzel, ſo unkenntlich hier auch die äußere Aehnlichkeit geworden iſt. Wer ſich des weitern belehren will, den verweiſe ich auf Pott a. a. O. B. 1 S. 101 u. fl. u. S. 265. Hinſichtlich divitiae liegt der Zuſammenhang mit div-us, deus u. ſ. w. aufAber nicht war es die Glücksgöttin, die Glücks -107I. Prinzip des ſubjektiven Willens. §. 10.güter gewährte; die römiſche Fortuna geht nur mit dem fortis, dem Tapfern, und die Güter fallen nur dem zu, der die Kraft hat ſie zu erwerben, die opes und der Reichthum, die copia, ſind das Produkt mühſeliger Arbeit, der operae. Ar - beiten, wünſchen und wählen können, reich, mächtig und der beſte ſein alles dies leitet die lateiniſche Sprache von einer Wurzel ab11)S. über die Ableitung dieſer Wörter Pott a. a. O. B. 1. S. 255, 256 und über copia (com-opes) S. 40. und beweiſt damit, wie nahe dieſe Begriffe in der Vor - ſtellungsweiſe der Römer zuſammenhiengen. Der Beſte, optumus, iſt der, welcher die opes hat, opulentus iſt, er kann wünſchen und wählen (optare optio), aber da die opes nur der Preis der operae ſind, ſo hat er durch den Erwerb derſelben ſeine Tüch - tigkeit an den Tag gelegt, ſie ſind, wie die spolia opima, die der römiſche Feldherr dem des beſiegten Feindes abnahm, die Trophäen ſeiner Kraft.

Der Erwerb des Römers beſtand im capere, Eigenthum iſt ihm, was er mit der Hand genommen hat, manu-captum, mancipium, Eigenthum übertragen wird nicht, wie in ſpäterer Zeit, durch Hingabe (trans-datio, traditio), ſondern wo ein Römer dem andern Eigenthum überläßt, wird dies in alter Zeit der Form wie der Sache nach aufgefaßt als einſeitiges Nehmen des Erwerbers (mancipatio, manu capere). Den Begriff der Succeſſion, der Ableitung des Eigenthums kennt das älteſte Recht nicht, es behilft ſich, wie im zweiten Syſtem nachgewie - ſen werden ſoll, mit originären Erwerbungsarten.

Nehmen iſt das der römiſchen Vorſtellungsweiſe allein ent - ſprechende, und die lateiniſche Sprache iſt bei ihrer ſonſtigen10)der Hand; der urſprüngliche Ausgangspunkt für den Begriff des Göttlichen iſt in den Indogermaniſchen Sprachen der Himmel (Sanskr. div, wie auch im Lateiniſchen sub divo von diw glänzen). Bonus lautete früher duonus (Fe - stus h. voc. ) d. i. der göttliche (von deus) und wie hier du in b übergegan - gen iſt, ſo in beatus dw in b (dweatus, dweare von dewa Gott). Hängt dominus mit duonus zuſammen? Früher lautete dies Wort dubenus (Fest. h. voc.). Eigenthümer wäre dann der mit Glücksgütern Geſegnete.108Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Armuth doch reich an Ausdrücken, die urſprünglich dieſe Be - deutung gehabt haben. Emere heißt im ſpätern Latein kaufen, aber wo die Römer der ſpätern Zeit kauften, pflegten ihre Vor - fahren zu nehmen; emere hieß bei ihnen nichts als nehmen. 12)Festus sub voc. Abemito significat demito vel auferto; emere enim antiqui dicebant pro accipere; ebenſo sub voc. Redemptores. S. auch Pott a. a. O. B. 1 S. 261. Die urſprüngliche Bedeutung hat ſich noch in Zuſammenſetzungen erhalten z. B. adimere (ad-emere), zu ſich nehmen.Rapere (das deutſche rauben, gothiſch raubon) hat im ſpätern Latein die deutſche Bedeutung, und rapina erſcheint hier als Delikt, allein in alter Zeit kannte man ein eignes Delikt des Raubes nicht,13)Raub fiel unter den Begriff des Diebſtahls, nämlich des furtum manifestum. und rapere hieß nichts als reißen, gewaltſam an ſich ziehen, ohne daß die Sprache die Nüancirung des Uner - laubten hineingelegt hätte. Ebenſowenig unterſcheidet die Sprache zwiſchen dem Fall, wo man mühelos eine herrenloſe Sache zu ſich nimmt, und dem, wo man ſie erbeutet; beides heißt occu - pare. Von dieſen drei Stammwörtern emere, capere und ra - pere, hat die lateiniſche Sprache einen großen Reichthum ab - geleiteter und zuſammengeſetzter gebildet, deren Bedeutungen ſpäterhin weit auseinander fallen ſowie die jener drei Wörter ſelbſt; aber um ſo bezeichnender iſt die urſprüngliche Identität aller dieſer Bedeutungen in dem Begriffe des Nehmens.

Der Hauptfall der gewaltſamen Aneignung war der der kriegeriſchen Erbeutung, letztere ward, wie Gajus uns berich - tet,14)Gaj. IV. §. 16. als die beſte Erwerbsart des Eigenthums angeſehn, maxime enim, ſagt er, sua esse credebant, quae ex hostibus cepissent. Raub vom Feinde hat von jeher bei allen jugend - lichen, kriegeriſchen Völkern als ehrenvoller Erwerb gegolten; ſo war z. B. nach altgriechiſcher und altnordiſcher Anſicht See - raub ein anſtändiges Gewerbe, aber den Handel verachtete man, denn mit ihm verträgt ſich Feigheit und Betrug, wie ja Mercur109I. Prinzip des ſubjektiven Willens Erbeutung. §. 10.zugleich der Gott des Handels und der Diebe iſt. Jene Mitthei - lung von Gajus iſt wohl nichts weiter, als ein Schluß, den er ſelbſt macht, allein ſie iſt doch inſofern nicht ohne Gewicht, als hier ein römiſcher Juriſt, dem für die Kenntniß des ältern Rechts ganz andere Materialien zu Gebote ſtanden, als uns, in demſelben jene Anſchauung ausgeprägt fand, die wir hier nach - weiſen wollen. Dem Worte praedium, Grundſtück, ſcheint noch jene Anſicht, die er den alten Römern unterlegt, anzukleben, denn der Zuſammenhang mit praeda,15)Ueber praeda, zuſammengezogen aus prae-hida von prae hendere, prendere, Wurzel hed ſ. Pott a. a. O. 1 S. 142, 199. Praedium anſtatt mit praeda mit praes, dem Bürgen, zuſammen bringen zu wollen, nämlich als Sicherungsobjekt, heißt die Frage nur verändern, nicht ſie löſen. Denn hängt praes, praedis nicht ſelbſt mit praeda zuſammen? Iſt praes nicht der Nehmende d. h. der etwas auf ſich nimmt? der Beute, liegt auf der Hand, und es iſt gewiß höchſt charakteriſtiſch, daß die Sprache bei der Bezeichnung des Grund und Bodens, ſtatt ſich an das ſo vorwiegende Moment der Unbeweglichkeit zu halten das fern liegende der Erbeutung wählt. Auch die Eintheilung der Sachen in res mancipi und nec mancipi hat man mit der kriegeriſchen Erbeutung in Beziehung ſetzen wollen;16)Puchta Curſus der Inſtitutionen B. 2. §. 238. die res mancipi, bei denen nur mancipatio oder ein ſonſtiger civilrechtlicher Erwer - bungsact Eigenthum übertrug, ſollen die Sachen geweſen ſein, die die Römer bei ihren Raubzügen mit fort zu ſchleppen pfleg - ten. Und in der That bleibt, da die Erbeutung, das manu ca - pere im wirklichen Sinn, nicht bloß als Form, doch keine An - wendung gegen die Genoſſen fand, nichts übrig, als die Rich - tung derſelben gegen den Feind, und ſomit auch die Beziehung jener res mancipi auf die Erbeutung. Dieſe Sachen werden alſo aufgefaßt als Beute, und wir können jetzt den urſprüng - lichen Begriff des Eigenthums, wie er in mancipium enthalten iſt, und den wir zunächſt auf das Nehmen ſtellten, näher dahin präciſiren, daß er das Eigenthum nach Kriegsrecht, das Recht110Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.an der Beute bezeichnet. Dies Eigenthum nach Kriegsrecht, alſo dieſer Preis der bloßen Thatkraft als ſolcher, iſt nun der Ausgangspunkt und Prototyp des Eigenthums überhaupt, und wie von ihm zunächſt die Ausdrücke mancipium, mancipare auf das Eigenthum überhaupt übertragen ſind, ſo auch der Speer als das Symbol deſſelben. In einzelnen Anwendungsfällen iſt auch die Form des rechtlichen Erwerbes der der Erbeutung nach - gebildet. Was zuerſt letztere betrifft, ſo iſt ſie freilich in der Mancipatio bereits zu einem bloßen Ergreifen mit der Hand hinabgeſunken, allein in zwei Gebräuchen hat ſie ſich noch er - halten. Den einen derſelben treffen wir bei einer Gelegenheit, bei der uns auch der Speer begegnet (ſ. u.), nämlich bei der römiſchen Hochzeit. Hier ward die Braut vom Manne aus dem Schooße der Ihrigen geraubt; wie Feſtus17)Sub voc. rapi. naiv hinzufügt, darum, weil dies dem Romulus glücklich von Statten gegangen ſei. Die Sage vom Raube der Sabinerinnen iſt aber vielleicht ehr die Wirkung, als die Urſache dieſer Sitte. Der zweite Ge - brauch war religiöſer Art. Wo die Menſchen rauben und im Raube die Wurzel des Eigenthums erblicken, da müſſen auch die Götter auf würdige Weiſe d. h. durch Raub ſich ihre Die - ner verſchaffen. So wurden denn die veſtaliſchen Jungfrauen und der flamen Dialis geraubt (capiuntur); ob nur ſie und, wenn dies der Fall, warum nur ſie, ſteht dahin.

In dem Symbol des Eigenthums, dem Speer, tritt die urſprüngliche Beziehung deſſelben auf die Erbeutung recht ſchla - gend hervor, und Gajus macht uns zum Ueberfluß noch darauf aufmerkſam. Wo es ſich in Rom öffentlich um Eigenthum han - delte, ward dies durch Aufſtecken des Speeres kund gegeben, ſo z. B. beim Centumviralgericht, das vorzugsweiſe über ächt - miſches Eigen erkannte, ſo ferner bei öffentlichen Verkäufen (sub hasta vendere),18)Daher hasta auch noch in ſpäterer Zeit kurzweg für Auction z. B. fiscalis hastae fides. von welcher Sitte ſich der in unſere heutige111I. Prinzip des ſubjektiven Willens Erbeutung. §. 10.Geſchäftsſprache übertragene Ausdruck ſubhaſtiren herſchreibt. Bei der Freilaſſung der Sklaven vor dem Prätor erſcheint gleich - falls der Speer, ſpäter ſtatt deſſen ein Stab, in officieller Sprache vindicta; dies führt uns aber ſchon zu der Vindikation, von der erſt unten die Rede ſein kann. Dahingegen liefert uns auch hier das Hochzeitsceremoniel einen paſſenden Beleg. Der Mann pflegte der Braut bei der Vermählung mit einem Speere (coeli - baris hasta19)S. Festus sub hac voce. das Haar zu ſcheiteln, und Feſtus, der uns dieſe Notiz aufbewahrt hat, führt neben mehren unhaltbaren Erklä - rungsverſuchen auch die Deutung an, daß der Speer das höchſte Zeichen der Macht ſei ( summa armorum et imperii ) und da - durch alſo der Braut angedeutet werden ſolle, wie ſie als Frau völlig der Gewalt des Mannes unterworfen ſei. Daß die Men - ſchen den Göttern das höchſte Symbol der Herrſchaft nicht ver - ſagt haben werden, liegt zu ſehr auf der Hand, als daß uns die Notiz,20)Justin 43, 23. die Römer hätten in älteſter Zeit alle Götter unter der Geſtalt der Lanze verehrt, Wunder nehmen könnte. In ſpäte - rer Zeit wird die Lanze aus einem Symbol ein Attribut der Götter, und wenn ſie hier bei den friedlichen Gottheiten als hasta pura d. h. als Stab erſcheint,21)Pellegrino Andeutungen über den urſprünglichen Religionsunter - ſchied der römiſchen Patricier und Plebejer. Leipz. 1842. S. 49 u. flg. ſo kann dies bei ihr die urſprüng - liche Geſtalt wohl ebenſo wenig verkennen laſſen, wie dies bei der vindicta möglich iſt; beide ſind urſprünglich Speere, denen die ſpätere Zeit die Spitze abgebrochen und ihnen damit zwar die Beziehung auf den Krieg, aber nicht die des Symbols der Macht und Herrſchaft genommen hat.

Wo phyſiſche Kraft den Erwerb vermittelt, da ſpielt na - türlich die Hand als Inſtrument derſelben eine Hauptrolle; kämpfen iſt handgemein werden , manum conserere (ſ. u. bei der Vindikation), angreifen Handanlegen manum in - jicere, manus injectio (ſ. u. bei der Selbſthülfe). Wie das112Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.entferntere Inſtrument des Kampfes, der Speer, als Symbol der rechtlichen Herrſchaft dient, ſo das nächſte Inſtrument deſſelben, die manus zur Bezeichnung derſelben; ich ſage der rechtlichen, und dies eben macht die Sache charakteriſtiſch, denn wenn die phyſiſche Herrſchaft, der Beſitz mit dieſem Aus - druck gemeint wäre, würde es nichts auffälliges haben. Im ſpätern Recht bezeichnet manus zwar nur eine Art der recht - lichen Herrſchaft, nämlich die über die Ehefrau, allein aus den Zuſammenſetzungen des Wortes, die noch im ſpätern Recht in Uebung geblieben ſind, ergibt ſich die frühere generelle Bedeu - tung deſſelben. Dahin gehört außer dem bereits bei capere er - wähnten mancipium und mancipare noch manu mittere und emancipare. Die eherechtliche Gewalt des Mannes über die Frau hat offenbar die Spuren der älteſten Rechtsanſicht am beſten conſervirt; ſie heißt manus, wird begründet durch Raub, und der Speer iſt ihr Symbol.

Die Thatkraft, die Gewalt alſo iſt die Mutter des Rechts, das iſt das Reſultat der bisherigen Ausführung. In dieſem Satz liegt ſchon die kriegeriſche Geſinnungsweiſe des Volkes ausgeſprochen, liegt, möchte ich ſagen, ein Stück vorrömiſcher Geſchichte. Die Etymologie bietet uns außer den im bisherigen bereits benutzten Spuren dieſer Geſinnungsweiſe noch manche andere, von denen mir noch folgende zu benutzen verſtattet ſein möge. Wie die lateiniſche Sprache das Grundſtück nicht nach der ſo offenbar vorwiegenden Eigenſchaft der Unbeweglichkeit, ſondern als Gegenſtand der Beute bezeichnet, ſo nennt ſie auch den Mann nicht nach ſeinem Geſchlecht, ſondern nach ſeinem kriegeriſchen Beruf. Der Sanskritausdruck für Mann iſt nri und nara,22)Pott a. a. O. 1 S. 106. und die griechiſche Sprache hat in ihrem ᾽ανήϱ denſelben beibehalten, die lateiniſche hingegen ihn fallen laſſen und dafür das Wort wira, welches im Sanskrit Krieger, Held bedeutet, zur Bezeichnung des Mannes, vir gewählt d. h. die113I. Prinzip des ſubj. Willens vis die Quelle des Rechts. §. 10.römiſchen Männer ſind nicht bloß männlichen Geſchlechts, ſon - dern ſie ſind Krieger. Die römiſche Tugend, vir-tus, iſt alſo urſprünglich der Beſitz der Männlichkeit d. h. kriegeriſcher Tüch - tigkeit. Mit vir hängt dem Wortlaut und dieſer altrömiſchen Auffaſſungsweiſe nach vis, die Kraft, Gewalt, zu nahe zuſam - men, als daß man nicht auf eine urſprüngliche23)Der Zuſammenhang von vis und vir iſt etymologiſch möglich, denn das r des letzteren Wortes findet ſich bei jenem noch im Plural. S. Pott a. a. O. B. 1 S. 205, dem der Wegfall des r im Singular freilich nicht un - bedenklich erſcheint. Da vir zu den wenigen Wörtern gehört, bei denen auch in der ältern lateiniſchen Sprache das r ſich fand, ſo läßt ſich hier ein Ueber - gang von s in r, der in der ſpätern Sprache bekanntlich ſehr häufig vorkam, nicht annehmen. etymologiſche Verwandſchaft ſchließen möchte, ſo daß vis urſprünglich etwa als die Eigenſchaft des vir aufgefaßt wäre. Ein Krieger, vir, mit der hasta ſeine vis bewährend und Perſonen und Sachen in ſeine manus bringend, wäre der perſönliche Ausdruck der Idee, mit der wir uns hier beſchäftigen. Der Name des Volks, Qui - rites hängt nach einer gewöhnlichen Ableitung gleichfalls hier - mit zuſammen. Quiris, curis iſt die altſabiniſche Lanze, die Quiriten alſo ſind die Lanzenträger. Ueber die Ableitung von quiris möge mir erlaubt ſein, eine Vermuthung zu äußern. Eine nahmhafte Auctorität24)Pott a. a. O. 1 S. 123. ſtellt die Abſtammung der Wörter curia, decuria u. ſ. w. von com viria, decem viria als möglich hin. Curia, hiernach alſo die Männergemeinſchaft, Mannſchaft, ſowie decuria, centuria hatte eine militäriſche Bedeutung ähnlich wie unſer Mannſchaft ; es bezeichnete eine Heeresabtheilung, worüber im §. 17 ein näheres. Curia aber und curis oder qui - ris (cu - und qui - wechſeln bekanntlich oft mit einander) ſtehen ſich zu nahe, als daß man nicht eine urſprüngliche Verwand - ſchaft annehmen möchte. Iſt nun curia von com-viria, Mann - ſchaft abgeleitet, ſo würde jene Verwandſchaft angenommen von dieſem Worte curis abſtammen, und zwar in dem SinnJhering, Geiſt d. röm. Rechts. 8114Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. das, was der curia eigen iſt, das iſt aber der kriegeriſche Speer in ſeiner dienſtmäßigen, allen gemeinſamen Geſtalt. 25)Man wende mir nicht ein, daß es abnorm ſei, wenn die Sprache den Speer nach der Mannſchaft benannt hätte. Nicht die bloße hasta iſt dar - nach benannt, ſondern die hasta euriae, die hasta quiris d. h. der Speer wie er eben der ganzen Curie gemeinſam, alſo dienſtmäßig iſt. Auf eine Ana - logie der deutſchen Sprache hat mich mein hieſiger Freund und College Mül - lenhoff aufmerkſam gemacht. Die Kunkel (chonacla, kunkela, cuncla), das Symbol der Frau, iſt gebildet von quenâ oder konâ (γυνή), Frau, warum nicht das Zeichen der Mannſchaft curis von der Mannſchaft, curia ſelbſt?Quirites wären dann alſo die Träger dieſer Lanze, und jene unvermeid - liche Lanze, die wir bereits bei Göttern wie Menſchen, bei Hoch - zeiten wie Verkäufen, Freilaſſungen wie Gerichtsſitzungen ge - troffen haben, würde freilich nirgends beſſer am Platz ſein, als im Namen dieſes lanzenſüchtigen Volkes ſelbſt. Noch einmal (§. 12) wird ſie uns begegnen, aber nicht mit der Beſtimmung um Recht zu begründen, ſondern um es zu wahren.

Bisher betrachteten wir die phyſiſche Kraft in einer Qua - lität, in der ſie ſich nur dem Feinde gegenüber praktiſch erwies, nämlich in der als die primitive Begründerin des Eigenthums. Es iſt das Recht der Beute, an dem der römiſche Eigenthums - begriff ſich zuerſt zeigt, und an den auch die friedliche, vertrags - mäßige Erweiterung deſſelben anknüpft. Was Jemand dem Feinde abgeſtritten, gebührt ihm als Kampfpreis, iſt ſein eigen; die phyſiſche Kraft kehrt heim mit dem Begriffe des Rechts, der Gegenſtand, an dem ſie ſich bethätigt hat, iſt für die Genoſſen kein Objekt der Beute, ſondern rechtlich unantaſtbar, wie die Perſon ſelbſt. Darin liegt eben der Begriff des Beuterechts; er wäre negirt, wenn es ſich anders verhielte. An dieſe der Zeit und dem Begriff nach erſte, originäre Erwerbungsart lehnen ſich die derivativen an. Uns erſcheint der Vertrag als eine ſo115I. Prinzip des ſubj. Willens Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.natürliche Begründungsart von Rechtsverhältniſſen, daß wir keinen Anſtand nehmen, dieſe Auffaſſung auch den Römern unterzulegen, allein ich halte das für grundfalſch, wie ich im zweiten Syſtem ausführlicher nachzuweiſen gedenke. An dieſer Stelle genügt die Bemerkung, daß die Uebertragung des Ei - genthums durch Vertrag im älteſten Recht nicht als ſolche Kraft und Gültigkeit hatte, ſondern dadurch, daß ſie ſich der Idee des Beuterechts accommodirte. Eigenthum iſt urſprünglich nichts, als Recht am erbeuteten Gegenſtand, entſteht mithin nur durch Erbeutung. Wenn alſo Jemand, anſtatt ſich die Sache, deren er bedarf, vom Feinde zu holen, einen Genoſſen darum angeht, und dieſer ſie ihm nicht bloß zum Beſitz, ſondern als Eigenthum d. h. als ſein nach dem Recht der Beute übertragen will, ſo kann dies nur in der Weiſe geſchehen, daß letzterer ſie ſich ent - reißen läßt, der neue Innehaber alſo als der, welcher die Sache erbeutet hat d. h. als Eigenthümer erſcheint.

Wir wenden uns jetzt der Gewalt zu in ihrer Richtung auf den Schutz, die Verwirklichung des Rechts.

2. Der thatkräftige ſubjektive Wille in ſeiner Richtung auf Schutz und Verwirklichung des Rechts Das Syſtem der Selbſthülfe Die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines zweifelloſen An - ſpruchs Die Privatrache und der Urſprung der Privatſtrafen Zuſicherung des Beiſtandes von Seiten Einzelner und des ganzen Volks (testimonium = Garantie des Rechts).

XI. Die erſten unausbleiblichen Regungen des verletzten Rechtsgefühls beſtehen in der gewaltſamen Reaction gegen das zugefügte Unrecht, in der Selbſthülfe und Rache; mit Selbſt - hülfe und Rache hat daher ein jedes Recht begonnen. Aber die - ſer Anfang iſt nach unſerer heutigen Auffaſſung nichts als das vorſtaatliche Chaos, in dem Recht und Gewalt ſich noch nicht geſondert haben, und von Recht alſo keine Rede ſein kann. Letzteres ſoll erſt entſtehn, wenn der Staat jene Aufwallungen des ſubjektiven Rechtsgefühls bezwungen und Organe zur Ver -8*116Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.wirklichung des Rechts aus ſich heraus getrieben hat. Die Ent - ſtehung des Rechts datirt ſich nach unſerer heutigen Auffaſſung erſt von der des Richteramts an.

Dieſe Auffaſſung iſt erklärlich vom Standpunkt unſerer heutigen Rechtsordnung aus, ich hoffe aber am älteſten römi - ſchen Recht die Unrichtigkeit derſelben nachweiſen zu können. Das weſentliche nämlich im Begriff der Rechtsordnung iſt die geſicherte und conſtante Verwirklichung des Rechts, verkehrt iſt es aber zu glauben, als ob dieſe Verwirklichung nur durch den Staat und ſeine Behörden, nicht aber durch die unmittelbare Macht des Lebens erfolgen könne. Urſprünglich hat jedes Be - dürfniß des Lebens ſich durch das Leben befriedigt, und bevor eine geſteigerte Entwicklung nach und nach beſondere Organe für die verſchiedenen Aufgaben und Intereſſen der Gemeinſchaft ausgeſchieden hat, waren letztere nicht dem Zufall Preis gege - ben, ſondern die natürliche Selbſthülfe oder Heilkraft des Lebens half ſich ſelber. Wir haben es erleben müſſen, daß man an den Staat die abentheuerliche Anforderung einer Organiſation der Arbeit geſtellt hat, aber ſo ſehr man heutzutage auch mit der Idee eines Organiſirens von Staatswegen vertraut iſt, ſo hat man doch jene äußerſte Conſequenz dieſer Idee zurückgewieſen und die Antwort ertheilt: die Arbeit organiſirt ſich ſelbſt, der Staat kann ſich nicht hineinmiſchen. Wie wenn nun zu irgend einer Zeit auch die Juſtiz ſich ohne Zuthun des Staats von ſelbſt organiſirt hätte, wenn der Staat den Individuen damals ſo wenig hätte behülflich zu ſein brauchen, daß ſie Recht fänden, als heutzutage, daß ſie Arbeit finden?

Wenn wir heutzutage die Menge von Intereſſen, die der Beaufſichtigung oder Leitung der Staatsbehörden anvertraut ſind, überſchauen, ſo finden wir darunter manche, die noch vor nicht gar langer Zeit ſich ſelbſt überlaſſen waren, und bei denen uns doch bereits heutzutage eine Einmiſchung des Staats un - entbehrlich erſcheint. Um wie viel mehr muß letzteres der Fall ſein hinſichtlich jener Intereſſen, für die die Vorſorge des Staats117I. Prinzip des ſubj. Willens Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.in eine ungekannte Vorzeit hinaufreicht, wie dies z. B. beim Recht der Fall iſt. Hinſichtlich des Rechts hat die Staatsthä - tigkeit gegenüber der unmittelbaren ſchöpferiſchen und helfenden Kraft des Lebens ein ſolches Uebergewicht erlangt, dieſelbe ſo ſehr zurückgedrängt, daß letztere lange Zeit von der Jurispru - denz kaum mehr beachtet, die Geſetzgebung vielmehr als die ein - zige Quelle des Rechts hingeſtellt ward. Erſt in neuerer Zeit iſt die Bildung des Rechts auf unmittelbarem Wege das Ge - wohnheitsrecht von der Wiſſenſchaft wieder zu Ehren gebracht, und Niemand würde es heutzutage wagen, den Anfang eines Rechts erſt von dem Auftreten des Geſetzgebers zu datiren. Ob - gleich man ſich nun, was die Bildung des Rechts anbetrifft, von jenem Wahn, als müſſe alles durch den Staat geſchehen, frei gemacht hat, ſo hat man ſich doch, was die Verwirklichung deſſelben anbelangt, noch nicht zu einer gleich freien Auffaſſung erheben können. Den Richter, der im Namen des Staats Recht ſpricht, hält man als erſtes Requiſit der Rechtsordnung feſt; er ſoll der Wächter ſein, der in der Geſchichte des Rechts den Anbruch des Tages verkündet, und gegen die vermeintliche Nacht, die vorher geherrſcht haben ſoll, fühlt man ein inneres Grauen, ja man hat gar nicht einmal die Frage aufgeworfen, ob denn jene unmittelbare Organiſationskraft des Lebens, die lange Zeit hindurch den Geſetzgeber entbehrlich gemacht hat, nicht daſſelbe hinſichtlich des Richters hätte bewirken können. Um ſo überraſchender iſt dieſes Vorurtheil, als gerade das ältere römiſche Recht wie vielleicht kein anderes den Ungrund deſſelben darzuthun vermag; vorausgeſetzt nämlich daß man es nicht mit den Ideen des neunzehnten Jahrhunderts beurtheilt. Das Richteramt des älteren römiſchen Rechts hat eine ſo außer - ordentlich beſcheidene Stellung, iſt noch ſo wenig erfüllt von der Idee der Handhabung der Rechtspflege durch den Staat, daß man es mit vollem Recht als ein aus dem Syſtem der un - mittelbaren Verwirklichung des Rechts, dem Syſtem der Selbſt - hülfe, heraus gebornes und zur Ergänzung deſſelben beſtimmtes118Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Inſtitut bezeichnen kann. Man ſieht es dem Recht der damali - gen Zeit an allen Punkten an, daß jenes ächtrömiſche Prinzip des ſubjektiven Willens, das erſt mit dem römiſchen Volk unter - ging, jene Idee, daß der Urquell des Rechts nicht im Staat, ſondern in der ſubjektiven Perſönlichkeit liege, damals noch in voller, ungebrochener Kraft beſtand. Die Selbſthülfe aber iſt nur eine Conſequenz dieſer Idee, und darin zeigt ſich von vorn - herein die außerordentlich intenſive Kraft des römiſchen Rechts - gefühls und die geſunde Conſtitution des römiſchen Lebens, daß die Selbſthülfe nicht wie einſt in Deutſchland zur Zeit des Fauſt - rechts zu Fehden führte, in denen die Macht des Stärkeren den Ausſchlag gab, und ſo ſich ſelbſt verzehrte, ſondern daß ſie ſich in Rom zu einem praktiſchen Syſtem der Verwirklichung des Rechts geſtaltete, welches der Beihülfe und der Regulirung durch Staatsbehörden entbehren konnte. Das öffentliche Richteramt tritt zwar innerhalb dieſes Syſtems auf, aber in beſchränkter Weiſe und was das weſentliche iſt der Grundidee jenes Syſtems untergeordnet und dienſtbar.

Die Geſtalt, in der uns dieſes Syſtem für die hiſtoriſche Zeit bezeugt wird, und in der es uns namentlich in den XII Ta - feln begegnet, trägt, wie ich glaube, noch ſo manche Spuren ſeiner urſprünglichen Bildung an ſich, daß wir hier von jenem Mittel, deſſen Benutzung wir uns in §. 7 ausbedungen haben, den Rückſchlüſſen vom ſpätern aufs frühere Recht Gebrauch und den Verſuch machen werden, die urſprüngliche, vorhiſtoriſche Geſtalt dieſes Syſtems zu reconſtruiren. Der Zuſtand der Feſtig - keit, in dem es uns in hiſtoriſcher Zeit begegnet, und in dem es bereits in ſcharfe Formen cryſtalliſirt iſt, wird uns in Stand ſetzen, uns daſſelbe im Zuſtande der urſprünglichen Flüßigkeit zu denken, und zwar werden wir, da es uns vor allem darauf ankommt, jenes Syſtem der hiſtoriſchen Zeit dem Verſtändniß zugänglich zu machen, mit der Schilderung des Urzuſtandes be - ginnen. Möge vorläufig unſere Conſtruction des Urſyſtems der Selbſthülfe immerhin als ein bloßes Phantaſiebild erſcheinen,119I. Prinzip des ſubj. Willens Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.je mehr der Verlauf der Darſtellung uns Gelegenheit geben wird, Spuren aus der hiſtoriſchen Zeit in ſie aufzunehmen, um ſo mehr wird hoffentlich jener Schein verſchwinden. Es würde die Anſchaulichkeit der Darſtellung darunter leiden, wenn wir gleich von vornherein mit Beweiſen beginnen wollten; die Be - weiskraft ruht im Geſammtzuſammenhange. Vorläufig betrachte man alſo den Punkt, von dem wir ausgehen, als ein hypothe - tiſches Centrum, deſſen Richtigkeit erſt hinterher dadurch erwie - ſen wird, daß ſämmtliche einzelne hiſtoriſch noch erkennbare Punkte der Peripherie ſich zu einem Kreiſe zuſammenfügen, der auf jenes Centrum hinweiſt.

Wir verſetzen uns jetzt im Geiſt in eine Zeit hinein, in der die Gemeinſchaft noch keine Organe für die Verwirklichung des Rechts aus ſich hervorgetrieben hatte, es vielmehr als reine Privatſache der Individuen betrachtete, ſich Recht zu verſchaffen. Ein ſolcher Zuſtand hat beſtanden; ob er der Zeit nach lange vor das Syſtem der XII Tafeln fällt und ſelbſt weit über Rom hinausreicht, das iſt Nebenſache, die Hauptſache iſt die, daß er im weſentlichen wenig von dem zu dieſer ſpätern Zeit Statt findenden verſchieden iſt, wie dies nachher gezeigt werden ſoll.

Nicht aber der Zufall herrſchte hier ſtatt des Rechts, nicht das Maß der den beiden ſtreitenden Partheien zu Gebote ſtehen - den phyſiſchen Macht gab den Ausſchlag, ſondern die Idee des Rechts verwirklichte ſich hier, wenn auch auf formloſe Weiſe und ohne Mitwirkung des Staats, durch die unmittelbare Macht des Lebens. Wer wegen erlittenen Unrechts zur Selbſthülfe ſchreiten wollte, war nicht auf ſeine eigne geringe Kraft ange - wieſen, ſondern jenes Unrecht rief in der Gemeinſchaft dieſelbe Reaction des Rechtsgefühls hervor, wie in ihm ſelbſt, nämlich eine thätige, reelle; er fand Beiſtand ſo viel er deſſen bedurfte,120Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.das Uebergewicht der phyſiſchen Kraft warf ſich wie heutzutage im Syſtem der öffentlichen Rechtspflege26)In dieſem Syſtem iſt ebenſowohl das Gegentheil möglich, wie dort. In Zeiten, wo die Staatsgewalt lahm und ohnmächtig iſt, vermag der Arm der Gerechtigkeit nicht auszuführen, was der Mund des Geſetzes geſprochen. Das Jahr 1848 hat uns ja Beiſpiele die Menge gegeben. An der überlegenen Widerſtandskraft und der Erregtheit der Maſſe kann im wohlorganiſirten Staat die Verwirklichung des Rechts nicht weniger ſcheitern, wie im Syſtem der Selbſthülfe an der Uebermacht einzelner Familien. Wir werden nachher zeigen, daß der ganze römiſche Prozeß auf die Vorausſetzung gebaut iſt, von der wir hier ausgehen. Der römiſche Richter exekutirt nicht, ſondern überläßt dies dem Sieger, ſupponirt alſo, daß die phyſiſchen Mittel des Rechts der phyſiſchen Widerſtandskraft des Unrechts über - legen ſind. regel - mäßig auf Seiten deſſen, der Recht hatte. Im Rechts - gefühl liegt einmal der Trieb ſich zu realiſiren, und eine Ver - letzung deſſelben, treffe ſie nun zunächſt auch nur den Einzelnen, wird nicht bloß in ihm, ſondern in der Geſammtheit jenen Trieb in Bewegung ſetzen. Findet er kein verfaſſungsmäßiges Organ zu ſeiner Realiſirung vor, ſo wird er ſie ſich in unmittelbarer Weiſe zu verſchaffen ſuchen. Möge kein Richter da ſein, der den Verbrecher zur Rechenſchaft zieht und ſtraft, letzteren ereilt dennoch die Strafe und vielleicht ſicherer und raſcher, als bei der ausgebildetſten Organiſation der Strafrechtspflege; es iſt die Volks juſtiz, die die verletzte Volks moral zur Anerkennung bringt. Was aber in unſern jetzigen Zuſtänden die Furcht vor der Strafe des Geſetzes und dem Richtſchwert der Obrigkeit bewirkt, das leiſtet dort die Furcht vor dem allgegenwärtigen Arme jener Volksjuſtiz. Es wäre alſo ſehr verkehrt, ſich jenen Zuſtand in der Weiſe auszumalen, als ob Scenen der Volks - juſtiz und einer gewaltſamen Privatſelbſthülfe an der Tages - ordnung geweſen ſeien. Wenn die Furcht vor der Strafe von dem Verbrechen, die Ausſicht auf die Erfolgloſigkeit des Wider - ſtandes von einem Privatunrecht abzuhalten vermag, ſo that ſie das dort ſowohl wie heutzutage bei uns. Was half es dem121I. Prinzip des ſubj. Willens Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.Schuldner die Selbſthülfe des Gläubigers zu provociren, da, die Evidenz des gegneriſchen Anſpruches vorausgeſetzt, die Er - folgloſigkeit des eignen Widerſtandes vorauszuſehen war? Nur bei Zweifelhaftigkeit dieſes Anſpruches lohnte es ſich der Mühe und dies, werden wir ſehen, iſt gerade der Punkt, wo die Ent - ſtehung des Richteramtes ergänzend in das Syſtem der Selbſt - hülfe eingreift. Wir werden nun bei der folgenden Darſtellung zunächſt den Fall ins Auge faſſen, wo der durch Selbſthülfe geltend zu machende Anſpruch ein zweifelloſer war, ſei es daß die Gegenparthei denſelben zugeſtand, oder daß Zeugen bei Begrün - dung deſſelben gegenwärtig geweſen waren hier lag keine Rechtsfrage vor, ſondern es bedurfte nur der Exekution und ſodann in §. 12 den Fall, wo dieſer Anſpruch ein zweifelhafter war hier bedurfte es, um der Selbſthülfe des Berechtigten die ſichere Ausſicht auf Erfolg zu gewähren, zunächſt eines Mit - tels, wodurch ſein Recht außer Frage geſtellt ward.

Die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines zweifelloſen Anſpruches.

Bei einem Delikt hängt es vom Zufall ab, ob Zeugen ge - genwärtig ſind, bei Rechtsgeſchäften hingegen können dieſelben ſtets hinzugezogen werden. Dieſer Unterſchied iſt für den Ge - ſichtspunkt, von dem wir uns hier leiten laſſen, dem der Zweifel - loſigkeit des Anſpruches, von Einfluß und veranlaßt uns, die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines begangenen Delikts die Privatrache von der Selbſthülfe in ihrer Richtung auf ver - mögensrechtliche Anſprüche zu ſondern. So innerlich verſchie - den uns beide Fälle der Selbſthülfe erſcheinen mögen, ſo wenig hat in älteſter Zeit ein Gegenſatz zwiſchen ihnen beſtanden. Beide umfaßt gemeinſam der Ausdruck vindicta; nicht in ſeiner ſpä - teren Bedeutung,27)Die z. B. in den actiones vindictam spirantes des ſpätern Rechts hervortritt. in der er ſich nur auf die Rache bezieht, ſondern in ſeinem urſprünglichen Sinn, wie derſelbe noch in122Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.der vindicta der Vindikation durchſchimmert. 28)Hierüber und zugleich über die Ableitung des Wortes von vis ſ. §. 12.In beiden Fällen geht die älteſte Anſchauung von dem Geſichtspunkt der perſönlichen Kränkung und Verletzung aus; ob der Dieb mich hat beſtehlen wollen, oder der Schuldner mir die Schuld nicht entrichtet, macht keinen Unterſchied, beide afficiren mit meinem Vermögen zugleich meine Perſönlichkeit. Darum trifft auch noch nach den XII Tafeln beide gleiche Strafe, ja den zahlungsun - fähigen Schuldner im Fall des Concurſes die grauſamſte Strafe, die das Geſetz überhaupt kennt. Da die folgende Darſtellung uns zwingen wird, den Cardinalpunkt, worauf dieſe Identität der Privatrache und Selbſthülfe beruht, nämlich die enge Ver - bindung zwiſchen Perſon und Vermögen, bei einer andern Ge - legenheit hervorzuheben, ſo dürfen wir hier darauf verweiſen, müſſen aber nochmals bemerken, daß, wenn wir fortan Selbſt - hülfe und Privatrache unterſcheiden, wir uns dieſer Abſtraction einer ſpätern Zeit nur im Intereſſe unſeres an die Spitze geſtell - ten Geſichtspunktes, der Zweifelloſigkeit des Anſpruches bedienen.

Wir betrachten zuerſt die Selbſthülfe gegen ein begangenes Delikt, die Privatrache. Das römiſche Recht hat uns noch manche Spuren derſelben erhalten. 29)Die Literatur iſt ſorgfältig zuſammengeſtellt von Rein Kriminal - recht der Römer. S. 36 u. fl.Wenn der Ehemann, der den Ehebrecher auf der That ertappt, im gerechten Zorn ihn tödtet, ſo ſichert noch das ſpätere Recht ihm Strafloſigkeit zu. Hinſichtlich des Diebes, der bei Nachtzeit ſtiehlt, erlauben die XII Tafeln daſſelbe, bei Tage aber, wenn er ſich zur Wehr ſetzt; unter allen Umſtänden fällt der ertappte Dieb (fur manifestus) durch Addiction von Seiten der Obrigkeit dem Beſtohlenen zu. 30)Es war zweifelhaft, ob als Sklav oder adjudicatus Gaj. III. §. 189.Bei gewiſſen körperlichen Verletzungen (membrum rup - tum) ſpricht jenes Geſetz die Strafe der Talion aus.

In allen dieſen drei Fällen war das Unrecht des Delin -123I. Prinzip d. ſubj. Willens Syſtem d. Selbſthülfe Privatrache. §. 11.quenten klar, und das Geſetz enthielt nichts, als die Anerken - nung deſſen, was der Verletzte unter dem Einfluß der erlittenen Kränkung ſei es ſofort bei der That oder nachher zu thun pflegte. Eine von der Sitte, wie es ſcheint, beſonders begünſtigte Form der Rache mag die geweſen ſein, daß der Verletzte ſich der Per - ſon ſeines Gegners bemächtigte und ihn nicht eher wieder ent - ließ, bis derſelbe ſich losgekauft hatte. Ich folgere dies daraus, daß das ſpätere Recht in manchen Fällen die Befugniß dazu ausdrücklich anerkannte z. B. in dem oben erwähnten Fall des furtum manifestum, bei dem Gegner, der der Aufforderung des Klägers, mit ihm vor den Richter zu gehn, nicht Folge leiſtete, bei dem zahlungsunfähigen Schuldner, bei allen Delikten, die von Sklaven oder Hauskindern begangen waren. Wenn der Herr oder Vater es nicht vorzog, den durch dieſe Perſonen ange - ſtifteten Schaden zu erſetzen, ſo mußte er ſie noxae dare, d. h. dem Beſchädigten überliefern, damit letzterer ſich ſelbſt an ihnen Genugthuung verſchaffen oder durch ihre Dienſtleiſtungen ſich ſchadlos halten konnte. Es iſt die Vermuthung ausgeſprochen,31)Dirkſen, civil. Abh. B. 1 S. 104. und ich trete ihr bei, daß die Noxalklagen urſprünglich die ab - ſolute Forderung auf Auslieferung der Schaden bringenden Per - ſon zum Zweck der Ausübung der Privatrache enthalten haben. Auch im völkerrechtlichen Verkehr finden wir ein gleiches Recht auf Auslieferung anerkannt. Diejenigen Römer, welche nach völkerrechtlichen Begriffen ſich an einem fremden Volk vergangen hatten, wurden der Rache deſſelben überantwortet, ſo z. B. der - jenige, welcher ſich an den Geſandten deſſelben vergriffen, ſo der Feldherr, welcher eine sponsio mit dem Feinde geſchloſſen, die vom römiſchen Volk oder Senat verworfen war. 32)Geſchichte des Völkerrechts im Alterthum von Mauritius Müller - Jochmus §. 71 und §. 82.Die Auslieferung erfolgt, ut populus religione solvatur , damit das Volk ſelbſt ſich außer Schuld ſetze und in Ausdrücken, die124Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.auch bei jener privatrechtlichen noxae deditio vorkommen (quan - doque ....... noxam nocuerunt .... ob eam rem hosce homines vobis dedo). 33)Livius IX. c. 10.In jenem erſten Fall liegt eine völ - kerrechtliche obligatio ex delicto vor, im zweiten eine obligatio ex contractu (aus der sponsio), deren Nichterfüllung auch im privatrechtlichen Verkehr Schuldhaft und demnächſtige Sklave - rei des Schuldners zur Folge hatte. Der bei der Auslieferung angeführte Grund: ut populus religione solvatur und die Natur der Sache ſelbſt führt uns dazu, für den Privatverkehr denſelben Grundſatz anzunehmen, daß nämlich derjenige, welcher den Verbrecher oder Schuldner der berechtigten Selbſthülfe des Ver - letzten oder Gläubigers zu entziehen ſuchte, ſich an dem Unrecht deſſelben betheiligte, gleiche Schuld auf ſich lud. 34)Später werden eigne Klagen gegen ihn gegeben. S. z. B. die Ti - tel: Ne quis eum, qui in jus vocabitur, vi eximat (2. 7) namentlich L. 5 §. 1 und L. 6 (is, qui debitorem vi exemit, si solverit, reum non liberat, quia poenam suam solvit) und Tit. De eo, per quem factum erit, quo minus quis in judicio sistat (2. 10).Eine Nach - wirkung dieſes Grundſatzes finde ich noch in der Verpflichtung, die der vindex im römiſchen Prozeß übernehmen mußte. Wer als vindex35)Fest. vindex, qui vindicat, quominus is, qui prensus est, ab aliquo teneatur. libertatis auftritt d. h. einen andern, der nach ſeiner Angabe unrechtmäßiger Weiſe in Sklaverei gehalten wird, durch Klage gegen den Innehaber daraus befreien will, muß ein Succumbenzgeld (sacramentum) deponiren, und wer in gleicher Qualität ſich des zur Schuldhaft gezogenen Schuldners annehmen will, tritt damit in deſſen Verbindlichkeit ein, ſo daß er im Fall des Unterliegens als Strafe dafür, daß er die Recht - mäßigkeit der Selbſthülfe des Gläubigers beſtritten, den Schuld - betrag entrichten muß36)Dies erhielt ſich noch, als ſtatt des vindex der Beklagte ſelbſt den Prozeß übernehmen durfte. Da er gewiſſermaßen als ſein eigner vindex auf - trat, ſo mußte er ſelbſt, wenn er unterlag, das Duplum zahlen. Ebenſo ohne den Schuldner ſelbſt dadurch von125I. Prinzip d. ſubj. Willens Syſtem d. Selbſthülfe Privatrache. §. 11.ſeiner Verbindlichkeit zu befreien. Setzte nun noch im Syſtem der öffentlichen Rechtspflege der vindex ſich wegen unbegründe - ten Einſpruches gegen eine rechtmäßige Selbſthülfe einer ſolchen Strafe aus, ſo wird um ſo ehr im Syſtem der Selbſt - hülfe der Satz gegolten haben, daß jeder, der der Rache des Verletzten gegen ſeinen Gegner entgegentrat, ſich an dem Un - recht deſſelben betheiligte. Letzterer war gewiſſermaßen ein Aus - ſätziger, deſſen Reinigung nur dem Verletzten möglich war, und der jeden anſteckte, der ihn der Strafe zu entziehen ſuchte. Wenn Jemand wegen öffentlichen Verbrechens ins Exil getrieben ward, wurde es ausdrücklich allen verboten, ihm irgend welche Unter - ſtützung angedeihen zu laſſen; hinſichtlich deſſen, der gerechter Selbſthülfe verfallen, verſtand es ſich dem bisherigen nach von ſelbſt.

Die Rache des Verletzten alſo hatte freies Spiel, ob ſie aber bei jedem geringfügigen Delikt bis zum Aeußerſten vorſchreiten durfte, oder ob ihr je nach Verſchiedenheit der Fälle durch die Sitte engere und weitere Schranken vorgezeichnet waren, läßt ſich nicht beſtimmen. Bei bürgerlichen Verletzungen erlauben die XII Tafeln die Talion, den Schuldner und Dieb trifft Frei - heitsberaubung, im Fall eines Concurſes darf erſterer ſogar von ſeinem Gläubiger in Stücken geſchnitten werden. 37)Das in partes secare der XII Tafeln auf künſtliche Weiſe aus dem Wege räumen zu wollen, beweiſt eine völlige Unfähigkeit, ſich in den Geiſt des alten Rechts hineinzudenken.Statt der wirklichen Ausübung der Rache aber mochte eben ſo häufig ein Abkaufen derſelben vorkommen; die Privatſtrafe (poena)38)Es iſt bereits von Andern z. B. Rein das Kriminalrecht der Römer S. 284 und Rubino Unterſuchung über römiſche Verfaſſung und Geſchichte der36)konnte er das irrthümlich gezahlte simplum nicht zurückfordern. Wäre das ſtatthaft geweſen, ſo hätte jeder ſich der manus injectio dadurch ent - ziehen können daß er bezahlte und hinterher, ohne einen vindex nöthig zu haben und die Strafe des Duplum zu fürchten, die Zahlung anfocht, während vor der Zahlung die Beſtreitung der Forderung nur durch den vindex und mit dem periculum dupli möglich war.126Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ſpätern Zeit iſt nichts, als eine Fixirung dieſes Löſegeldes. 39)Zu dieſer Anſicht ſind auch Andere gekommen z. B. Köſtlin die Lehre vom Mord und Todtſchlag. S. 29 u. flg., bei dem ſich auch die einzelnen Fälle, für die uns aus dem ältern Recht Privatſtrafen beglaubigt werden, zuſammengeſtellt finden.Wo das Vermögen in der Schätzung des Volks ſo hoch ſteht, daß Verletzung deſſelben für den Dieb Verluſt der Freiheit und für den Bankerutirer Verluſt des Lebens nach ſich zieht, wo man, möchte ich ſagen, vom Gelde ausgehend bis zur ſchwerſten Strafe gelangen kann, da mag man auch rückwärts wieder von der verwirkten Strafe zum Gelde kommen. Für eine beträcht - liche Abfindungsſumme verzichtete der Verletzte wohl auf die Ausübung der Talion, und ſeinem Rachegefühl mochte nicht weniger ein Genüge geſchehen, wenn ſein Gegner ihm das beſte, was er hatte, abtreten mußte, als wenn er ſelbſt ihm einige ſchwere Wunden beigebracht hätte. In unſerer heutigen Zeit, ſo erwerbſüchtig und geldgierig ſie ſein mag, iſt doch die Be - ziehung des Eigenthums zur Perſönlichkeit eine unendlich loſere, als im alten Rom;40)Im zweiten Syſtem werden wir die römiſche Anſchauungsweiſe mit ihrer tiefeingreifenden Einwirkung auf das Recht zu ſchildern verſuchen. dort war daſſelbe gewiſſermaßen Fleiſch und Blut des Eigenthümers, und unter dieſer Vorausſetzung muß es eben ſo natürlich erſcheinen, daß eine Beſchädigung fremden Vermögens mit Leib und Leben gebüßt, als daß eine Verletzung der Perſon mit Vermögen abgekauft ward. Wie der Feind für einen Gefangenen Löſegeld annahm und wie, wenn letzterer ſelbſt es nicht aufzubringen vermochte, Verwandte und Freunde beiſteuerten, ſo mochte ein gleiches eintreten in dem38)B. 1 S. 460 hervorgehoben, daß poena wie das griechiſche ποινὴ ur - ſprünglich die Bedeutung von Sühngeld hat, daher Ausdrücke wie poenas dare, solvere, pendere, petere, exigere, sumere, capere, die ſämmtlich nicht auf die Vorſtellung von Strafeleiden, ſondern von Zahlen einer Ab - findungsſumme hinweiſen. Ueber die auf einen religiöſen Geſichtspunkt ver - weiſende Etymologie von poena wird bei Darſtellung des religiöſen Prinzips eingegangen werden.127I. Prinzip d. ſubj. Willens Syſtem d. Selbſthülfe Privatrache. §. 11.Fall, von dem wir hier ſprechen. Schreiben doch die XII Tafeln vor, daß der von ſeinem Gläubiger bereits zur Haft gebrachte Schuldner an drei Markttagen öffentlich ausgeſtellt werden ſolle, um zu verſuchen, ob nicht irgend Jemand ihn einlöſen werde, und aus dem vierten Jahrhundert weiß die Geſchichte von M. Manlius zu berichten, daß er an vierhundert Schuldner auf dieſe Weiſe aus den Händen ihrer Gläubiger rettete. 41)Liv. VI, 20.Spannte der Verletzte ſeine Forderungen nicht zu hoch, ſo zahlte der Vater lieber, als daß er ſich zur noxae deditio ſeiner Kinder entſchloß, und wo der Thäter ſelbſt Vermögen beſaß, opferte er lieber einen Theil deſſelben, als daß er ſich der Rache des Gegners Preis gab. Reichten ſeine Mittel nicht aus, und hatte er ſich des Beiſtandes ſeiner Verwandten nicht unwürdig ge - macht, ſo mochten letztere ihm das Fehlende vorſtrecken. Lebte der, gegen den er ſich vergangen, nicht mehr, ſo traten die Ver - wandten als Rächer an deſſen Stelle;42)Als Ausfluß des Familienprinzips gehört dies in §. 14. ob auch ſie die Rache, die ſie dem Verſtorbenen ſchuldig waren, ſich abkaufen laſſen durften, ob dies den Thäter gegen die vindicta publica, von der wir ſprechen werden, geſichert haben würde, laſſen wir dahin geſtellt.

Die Höhe der Abfindungsſumme beſtimmte ſich begreif - licherweiſe nach Verſchiedenheit der Fälle ſehr verſchieden. Die Vermögensumſtände der beiden Partheien, ihre Stellung und ihr bisheriges Verhältniß zu einander, das Maß der Rachſucht auf der einen, das des Trotzes auf der andern Seite, Fürſprache von befreundeten Perſonen u. ſ. w. übten hier einen beſtimmen - den Einfluß aus. Es ſtand zwar bei dem Verletzten ſeine For - derungen ins maßloſe zu ſpannen, ähnlich wie dies im römi - ſchen Prozeß derjenige kann, der durch ein juramentum in litem die litis aestimatio beſtimmen ſoll, allein ſein eignes Intereſſe veranlaßte ihn, ſeinem Gegner die Auslöſung nicht unmöglich128Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.zu machen. 43)Man nehme z. B. an, daß er dem ihm zugeſprochenen Schuldner das doppelte von dem abforderte, was letzterer als Sklav werth war, und was er alſo bei dem vorgeſchriebenen Verkauf trans Tiberim aus ihm löſen konnte. War letzterer alt und ſchwach, ſo brachte jener Verkauf wenig auf. Eine weiſe Beſtimmung der XII Tafeln war die, daß ſie die Friſt, innerhalb deren der Gläubiger den Schuldner bei ſich behalten durfte, feſt beſtimmten und zwar ſehr eng zumaßen (60 Tage). Dem Gläubiger war damit das Mittel entzogen, den Schuldner durch fortgeſetzte Quälereien mürbe zu machen, und andererſeits mußte auch der Schuldner ſelbſt innerhalb dieſer 60 Tage ſeinen Entſchluß faſſen. Eine billige Auslöſungsſumme brachte letzterer innerhalb dieſer Zeit vielleicht zuſammen; wies der Gläubiger ſie bis zu Ablauf der Friſt von ſich, ſo mußte er jenen Verkauf vornehmen, der ihm vielleicht viel weniger einbrachte.Auch die öffentliche Meinung und die Sitte war hier gewiß nicht ohne Einfluß. Hatte letztere, wie anzunehmen iſt, wenigſtens einige allgemeinere Anhaltspunkte für die Be - ſtimmung der Abfindungsſumme aufgebracht, z. B. nach Ver - ſchiedenheit der Delikte das Vierfache, Doppelte des Schadens oder eine beſtimmte Anzahl Rinder und Schaafe u. ſ. w., ſo mochte ein Einzelner, um die öffentliche Meinung nicht gegen ſich zu erbittern, es nicht wagen, ſich bei ſeiner Forderung gar zu weit von dieſen Anhaltspunkten zu entfernen. Wir haben uns hier einen Handel zu denken, bei dem von der einen Seite vorgeſchlagen, von der andern ſo lange accordirt ward, bis man endlich handelseinig geworden war. Der Ausdruck dafür war pacere,44)Sanskr. Wurzel pac (binden), daher Sanskr. paca Strick. Pott a. a. O. B. 1 S. 267. pacisci, depecisci und für die Einigung ſelbſt pactum. Die urſprüngliche Bedeutung von pactum iſt alſo nicht die eines Vertrages überhaupt, ſondern die von pax, Frieden, nämlich Beilegung der Feindſeligkeiten; der Vertrag macht der Un - verträglichkeit ein Ende. 45) Pactum und Vertrag , weiſen alſo urſprünglich auf dieſelbe Idee hin, nämlich auf die des ſich vertragens pacem condere. Dieſen urſprünglichen Begriff von pactum, der alſo ein bereits beſtehendes Rechtsverhältniß vorausſetzt und ein Ablaſſen von einem der Strenge nach zuſtändigen Recht in ſich ſchließt, darf man für das römiſche

129I. Prinzip d. ſubj. Willens Syſtem d. Selbſthülfe Privatrache. §. 11.

Die Ausübung der Privatrache mochte alſo in beiderſeiti - gem Intereſſe in der Regel mit dem Abkaufen derſelben enden, und für die Beſtimmung der Abfindungsſumme im einzelnen Fall konnte es nicht an einer Menge von Präcedentien fehlen, die den Partheien als Anhaltspunkte dienten. Im Syſtem der öffentlichen Rechtspflege finden wir nun anfänglich noch bei manchen Delikten dieſe Vereinbarung völlig den Partheien über - laſſen, ſpäterhin aber nimmt die Obrigkeit die Sache in die Hand, und anſtatt alſo, wenn es z. B. zur Talion hätte kommen müſſen, weil die eine der Partheien zu viel forderte, die andere zu wenig bot, anſtatt alſo hier auf Talion zu erkennen, ſetzte der Richter ſelbſt eine Abfindungsſumme feſt. Dies iſt die - miſche Privatſtrafe. Die Anhaltspunkte zur Beſtimmung der - ſelben fand der Richter, wie es eben bemerkt iſt, in der Sitte vor, und ein nahe liegender Schritt zur Vervollkommnung die - ſes Verfahrens war der, im Anſchluß an dieſe Anhaltspunkte ein für alle Male einen Tarif von feſten Abfindungsſummen aufzuſtellen. Für einige Delikte finden wir bereits in den XII Tafeln feſte Summen vorgeſchrieben z. B. für die Injurien und einige Fälle des Diebſtahls, für andere hingegen treten dieſelben erſt ſpäter im prätoriſchen Edikt auf z. B. für das furtum mani - festum. Endlich mochte man bei einigen Delikten aus guten Gründen auf eine ſolche geſetzliche Fixirung der Abfindungs - ſumme verzichten, um es nämlich dem Richter möglich zu machen, je nach Verſchiedenheit des concreten Falles bald auf eine höhere, bald auf eine geringere Summe zu erkennen. Dieſe Behand - lungsweiſe ſcheint man z. B. beim membrum ruptum vorgezo - gen zu haben, und in ſpäterer Zeit adoptirte man ſie auch bei den Injurien, weil das Syſtem der feſten Preiſe ſich bei ihnen nicht bewährt hatte.

45)Recht nie außer Acht laſſen. Hätte man ihn ſtets im Auge behalten, ſo würde die falſche Theorie von der nach ſpäterm römiſchen Recht aus einem pactum entſpringenden obligatio naturalis ſich ſchwerlich ſo ſehr eingeniſtet haben.

Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 9130Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Zur Zeit der XII Tafeln war alſo jenes Syſtem der Privat - ſtrafen noch in der Bildung begriffen. Hinſichtlich einiger De - likte wird noch das alte Recht des Verletzten auf Rache aus - drücklich anerkannt, wenn auch vielleicht in ſeiner Ausübung an die Autoriſation der Behörde geknüpft z. B. die Talion beim membrum ruptum, die Addiction beim furtum manifestum; bei andern iſt, wie eben geſagt, die fixirte Geldſtrafe bereits an die Stelle der Rache getreten. Zwar wird uns hinſichtlich dieſer letzteren Fälle nicht ausdrücklich bezeugt, daß hier früher die Privatrache gegolten, allein beim furtum manifestum und mem - brum ruptum können wir den wirklichen Hergang noch erkennen, und er gewährt uns einen wichtigen Fingerzeig für das ganze Syſtem der Privatſtrafen überhaupt. Hinſichtlich ihrer nämlich ſchimmert zwar in den XII Tafeln die Idee durch, daß es zum pacisci kommen würde,46)Hinſichtlich der Talion beſtimmen ſie ausdrücklich: ni cum eo pacit, talio esto, hinſichtlich des furtum wiſſen wir, ohne gerade die Worte zu kennen, daß die XII Tafeln das pacisci erwähnten. allein als letztes Mittel laſſen ſie doch noch die Talion und Addiction beſtehen. In der ſpätern Praxis hingegen iſt von der Anwendung dieſes äußerſten Mittels keine Rede mehr; ſelbſt gegen den Willen der Partheien erkennt der Richter auf eine Abfindungsſumme. Es machte ſich dies, wie Gellius47)Gellius XX. 1. berichtet, in der Weiſe, daß der Richter auf Ta - lion erkannte, und wenn der Beklagte, qui depecisci noluerat, judici talionem imperanti non parebat, aestimata lite judex hominem pecuniae damnabat. Dieſer Modus, daß der Richter zuerſt auf das eigentliche Klagobjekt erkannte und hinterher ab - ſchätzte, iſt zwar dem ſpätern Recht fremd, allein wir wiſſen aus andern Zeugniſſen, daß er urſprünglich üblich geweſen iſt. 48)Gaj. IV. §. 48 sicut olim fieri solebat.

Die Privatſtrafen des römiſchen Rechts erſcheinen alſo dem bisherigen nach als die geſetzlich oder gewohnheitsrechtlich fixir - ten Preiſe, für die die urſprünglich ſtatthaft geweſene Privat -131I. Prinzip d. ſubj. Willens Syſtem d. Selbſthülfe Privatſtrafe. §. 11.rache abgekauft werden konnte und mußte. Es erklärt ſich aus dieſem Geſichtspunkte, warum die Deliktsklagen des ſpätern Rechts, wie z. B. die actio legis Aquiliae wegen Beſchädigung oder Vernichtung von Sachen, ſelbſt ſoweit ſie reinen Scha - denserſatz zum Gegenſtand haben, nicht gegen die Erben des Thäters gerichtet werden können. Daß Leiſtung des Schadens - erſatzes als Strafe aufgefaßt wird, hat für uns etwas Befrem - dendes, und unſer heutiges Recht hat in dieſer Beziehung ſich vom römiſchen entfernt. Dieſe Sonderbarkeit erklärt ſich aber ganz befriedigend aus der bisher dargeſtellten Anſicht. Beſchä - digung fremder Sachen iſt ein Delikt, das die Privatrache des Eigenthümers hervorruft. Mit dem Tode des Thäters aber fällt die Rache hinweg, denn ſein Erbe übernimmt zwar das Ver - mögen und damit die Schulden deſſelben, nicht aber deſſen Feindſchaften und Fehden. Da nun die Strafe gezahlt wird, um ſich der Fehde zu entziehen, ſo hat nur der Thäter ſie zu entrichten, nicht aber der Erbe. Als natürliche Folge des De - likts gilt nicht die Verpflichtung zum Schadenserſatz, ſondern die Privatrache, letztere geht aber über den bloßen Schadens - erſatz hinaus, denn es iſt neben der Sache zugleich die Perſön - lichkeit des Eigenthümers gekränkt, und wenn letzterer ſich eine poena oder Abfindungsſumme zahlen läßt, ſo hat dieſelbe die Be - ſtimmung, ein Surrogat der Rache zu ſein oder, man kann auch ſagen eine Befriedigung der Rachluſt zu gewähren. Ueber die - ſer perſönlichen Richtung des Delikts iſt die ſächliche im römiſchen Recht gar nicht zu beſonderer Anerkennung gelangt. 49)Daß der Erbe des Thäters das, was durch das Delikt ins Vermögen ſeines Erblaſſers und ſo durch Erbgang auf ihn gekommen iſt, reſtituiren muß, enthält nur einen Ausfluß des Condiktionenprinzips. Daß aber, wie im Text behauptet, das römiſche Recht über dem Geſichtspunkt des Delikts und der darin liegenden Anforderung einer perſönlichen, gemüthlichen Genug - thuung den Geſichtspunkt des Schadenserſatzes, d. i. der rein vermögens - rechtlichen, ſachlichen Genugthuung hintenangeſetzt hat, iſt unläugbar, und man ſollte ſich bewußt ſein, daß hierin eine Grundverſchiedenheit altrömiſcher

9*132Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Wir wenden uns jetzt der auf Verfolgung rein vermögens - rechtlicher Anſprüche gerichteten Selbſthülfe zu und erinnern daran, daß wir auch hier von dem Fall der Zweifelloſigkeit des Anſpruches ausgehen. Dieſe Zweifelloſigkeit gab, wie wir ſahen, im Syſtem der Selbſthülfe den Ausſchlag, indem ſie es dem Berechtigten ebenſo leicht machte, für eine etwa nöthig werdende gewaltſame Vollſtreckung der Selbſthülfe ausreichende Unterſtützung zu finden, als ſie umgekehrt dem Verpflichteten es erſchwerte, ſeinerſeits fremden Beiſtand zu gewinnen. Sie ließ ſich aber hinſichtlich aller vermögensrechtlichen Anſprüche und Erwerbungen dadurch ſtets herbeiführen, daß man zu den Rechtsgeſchäften, durch die ſie begründet wurden, Zeugen hin - zuzog. Wie wir nun im vindex einen Beiſtand des Ver - pflichteten gefunden haben, der ſich derſelben Gefahr ausſetzte, der letzterer ſelbſt unterlag, ſo werden wir jetzt in den Zeugen des Rechtsgeſchäftes Beiſtände des Klägers kennen lernen, die die Realiſirung ſeines Anſpruches zu ihrer eignen Sache machen.

Der ſolenne Akt der Eingehung eines Rechtsgeſchäftes vor Zeugen hieß in ſeiner Anwendung auf Begründung des Eigen - thums und anderer unmittelbarer Herrſchaftsverhältniſſe man - cipatio, in ſeiner Anwendung auf Obligationen nexum. Die uns bekannte Geſtalt deſſelben iſt offenbar eine ſpätere, denn der libripens weiſt auf die Zeit hin, als bereits das Metall all - gemeines Tauſchmittel geworden war,50)Die allgemeine Benutzung des Metalls als Tauſchmittels iſt jünger, als der unmittelbare Austauſch der Objekte, pecu-nia erſt eine Ableitung von pecus, dem urſprünglichſten beweglichen Werthobjekt. In Vieh wurde ge - brücht, daher peculatus = Diebſtahl an dem öffentlichen Vieh. Neben Vieh kömmt auch das Getreide vor, stips, daher stipendium (stipem dare) Sold ſowie höchſt wahr -49)und heutiger Auffaſſung und ein bedeutender Fortſchritt der letzteren vorliegt. Die Anknüpfung dieſer Eigenthümlichkeit an das Syſtem der Privatrache iſt hier nur im Vorübergehn geſchehen und erklärt dieſelbe nur von einer Seite; von einer andern Seite wird dies im zweiten Syſtem bei Gelegenheit einer Unterſuchung über den obligatoriſchen Grund der römiſchen Obligationen ge - ſchehen.133I. Prinz. d. ſubj. Willens Syſt. d. Selbſthülfe Zeugengeſchäft. §. 11.ſcheinlich die fünf Zeugen dieſes Aktes erſt in Folge der Serviani - ſchen Verfaſſung aufgekommen ſind, nämlich als Vertreter der fünf Cenſusklaſſen. Worin nun aber auch die älteſte Form der mancipatio beſtanden haben möge, das Zeugengeſchäft ſelbſt gehört bereits dem Syſtem der Selbſthülfe an, die Function der Zeugen iſt hier auf dieſer Bildungsſtufe des Rechts ungleich weſentlicher und unentbehrlicher, als auf den ſpätern Bildungs - ſtufen.

Wenn nämlich der Berechtigte wegen eines vor Zeugen er - worbenen Rechtes zur Selbſthülfe ſchreiten mußte, ſo waren es die Zeugen, die er zuerſt um thätige Mitwirkung angieng,51)Für den Fall, daß ihm Eigenthum beſtritten ward, wendete er ſich im ſpätern Recht mit einer litis denunciatio an den Autor, der es ihm be - ſtellt hatte. Der prozeſſualiſche Beiſtand, den letzterer hier zu leiſten hat, mag nur die ſpätere Form eines urſprünglich materiellen Beiſtandes, und die litis denunciatio im Syſtem der Selbſthülfe eine Aufforderung zur materiellen Beihülfe geweſen ſein. und letztere erſchienen der herrſchenden Rechtsanſicht nach ver - pflichtet, dieſelbe zu gewähren. Für das ſpätere Recht, in dem die Thätigkeit des Zeugen auf ein Ausſagen zuſammenge - ſchrumpft iſt, beſtimmen die XII Tafeln:52)Gellius XV. c. 13. qui se sierit testa - rier libripensve fuerit, ni testimonium fariatur, improbus in - testabilis esto; im Syſtem der Selbſthülfe wird mithin der - jenige Zeuge für improbus und intestabilis gegolten haben, welcher jene thätliche Mitwirkung bei Ausführung des Ge - ſchäftes verſagte. Daß dieſe Art der Mitwirkung eventuell vom Zeugen erwartet und verlangt wurde, ſoll jetzt näher erwieſen werden; es möge aber hier an die obige Bemerkung erinnert50)und stipulatio = Leihcontrakt. Das aes mit ſeinen Ableitungen aerarium, aes - timare (auf Erz zurückführen d. i. ſchätzen) ſowie das aes militare (der Ge - treideſold auf Geld reducirt), equestre, hordearium gehört erſt einer relativ ſpätern Zeit an; Naturallieferungen ſind überall das frühſte und der Tauſch früher, als der Kauf.134Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.werden, daß es gewiß in den wenigſten Fällen zu wirklichen Thätlichkeiten kam, indem das moraliſche und phyſiſche Gewicht, das der Beiſtand der Zeugen dem Anſpruche des Berechtigten gewährte, nutzloſe Verſuche des Widerſtandes im Keim unter - drückte.

Unſer Beweisſatz iſt alſo der: der Zeuge der älteſten Zeit ſichert der intereſſirten Parthei im voraus ſeinen Beiſtand zu, oder, wie wir es mit einem Wort ausdrücken können, testis heißt Garant.

In einer Zeit, in der die Parthei ſelbſt ihr Recht reali - ſirt, iſt nothwendigerweiſe die Stellung und Aufgabe des zugezogenen Zeugen eine ganz andere, als in einer Zeit, in der der Richter jene Realiſirung auf ſich genommen hat. In dieſem letztern Fall mag und muß der Zeuge ſich auf die Ausſage deſſen, was er geſehn hat, beſchränken, und ihn ſelbſt kann man als Wiſſenden bezeichnen. So thut es z. B. das germaniſche Recht. 53)Hier wird die Benennung des Zeugen von dem Wiſſen entlehnt z. B. althochd. gewizo (Wiſſender) Kiwizida, giwiznessi, gewizscaf (Zeugniß) angelſ. gevita, altnord. vitus (Zeugniß). Das gothiſche veitvôds (Zeuge) ſoll auch mit vitan (wiſſen) zuſammenhängen. Das Mittelhochdeutſche ge - ziuge, ziuc u. ſ. w. und das Niederdeutſche getüge leitet Grimm von zie - hen ab d. i. der Zugezogene.Dort hingegen, wo es nicht auf Sagen und Klagen, ſondern auf Handeln ankömmt, würde der zugezogene Zeuge durch ein bloßes Sagen dem ihm geſchenkten Vertrauen nicht Genüge leiſten; die Wahrheit, die er bezeugen ſoll, ruht ur - ſprünglich in den Fäuſten. Wahr iſt nach der Etymologie ſo - wohl der lateiniſchen als der deutſchen Sprache dasjenige, was bewährt, gewahrt wird;54)Wahr und verus ſtammen beide von der Sanskr. Wurzel wri (be - decken, wahren), wovon z. B. auch Goth. varjan (wehren) Poln. wara, wiera, Litt. wer-tas; und was gewehrt, gewahrt, bewährt iſt, iſt wahr. S. Pott a. a. O. B. 1 S. 223. Wahrheit alſo dasjenige, wo - für man einſteht. Wenn dies der urſprüngliche Begriff der Wahrheit iſt, ſo hat vor allem der Zeuge die Aufgabe, die Wahr -135I. Prinz. d. ſubj. Willens Syſt. d. Selbſthülfe Zeugengeſchäft. §. 11.heit zu bewähren. Es wäre eine Feigheit von ihm, der Par - thei, die zum Gegner geht, um ſich Recht zu verſchaffen, nicht zu dieſem zu folgen, eine Feigheit, ſie dort, wenn ſie Widerſtand findet, im Stich zu laſſen. So finden wir, daß bei dem Schein - kampf in der reivindicatio von beiden Seiten Gefährten (super - stites) mitgehn; wenn dies beim Scheinkampf nöthig ſchien, ſo wird es auch bei der wirklichen Selbſthülfe der Fall geweſen ſein, und wer hätte hier ehr mitgehn müſſen, als die Zeugen des Geſchäfts, das zu dieſer Selbſthülfe Veranlaſſung gab? Auch bei Beginn des Prozeſſes erſcheinen die beiderſeitigen Bei - ſtände, und wenn der Streit anhängig gemacht iſt, ruft man ſie zu Zeugen auf (contestari; daher jener Akt litis contestatio). Warum? Für einen Akt, der vor dem Prätor (in jure) geſchah, bedurfte es doch wohl nicht der Privatzeugen, ſonſt hätte man ja zu jedem andern Akt vor dem Prätor z. B. der confessio in jure, der in jure cessio u. ſ. w. gleichfalls Zeugen zuziehen und aufrufen müſſen, während davon doch nirgends die Rede iſt. Sind jene Zeugen der Litis contestatio nicht vielleicht die alten Beiſtände bei der Selbſthülfe, die jetzt mit den Partheien vor den Prätor gehn?

Der Zeuge des älteſten Rechts, der ſich noch lange in der mancipatio erhielt und in der Teſtamentsform des neuſten - miſchen Rechts letztere ſogar überlebte, iſt Solennitäts - zeuge d. h. die Zuziehung deſſelben iſt ein formelles Requiſit des Geſchäftes ſelbſt, der Zeuge nimmt Theil an demſelben, iſt ein Mithandelnder und muß als ſolcher zur Theilnahme aufge - fordert ſein und ſich dazu bereit erklärt haben. Wer nur beim Akt gegenwärtig war, ohne zugezogen zu ſein, iſt nicht Solen - nitätszeuge, ungeachtet er das glaubwürdigſte Zeugniß abzu - legen vermag. Daſſelbe gilt von Perſonen weiblichen Geſchlech - tes; an Glaubwürdigkeit ſtehen ſie nicht zurück, aber was ihnen fehlt, iſt jene phyſiſche Kraft des Mannes, durch die er nöthi - genfalls ſeine Worte bewährt, und wegen dieſes Mangels ſind ſie wie zur Vormundſchaft, bei der gleichfalls in älteſter136Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Zeit die phyſiſche Kraft erforderlich iſt, ſo auch zum Zeugniß ungeeignet. Beim Solennitätszeugniß kommt es nicht auf Glaubwürdigkeit an, darum können die Intereſſenten ihre eig - nen Verwandten zuziehen, und auch im neuern Recht noch iſt z. B. das Teſtament gültig, wenn die zugezogenen Zeugen ſämmtlich Brüder des eingeſetzten Erben ſind. Alle dieſe Sätze ſtimmen nicht mit dem Geſichtspunkt, daß der Werth des Zeu - gen in ſeinem Wiſſen liegt, wohl aber erklären ſie ſich, wenn man von unſerm Geſichtspunkt ausgeht, daß der Zeuge der älteſten Zeit eine Garantie des Geſchäfts übernehmen ſoll. Lei - ſten ſie uns auch keinen weitern Dienſt, ſo zeigen ſie wenigſtens, daß unſere Anſicht mit dem Zuſchnitt des ſolennen Zeugniſſes verträglich iſt.

Die Etymologie wird uns innerhalb dieſes erſten Syſtems noch oft Aufſchlüſſe gewähren; vermag ſie es auch hier? Ich glaube allerdings. Die lateiniſche Sprache bietet uns für testis einen Anhaltspunkt in testudo dar. Offenbar muß der bei - den Wörtern gemeinſame Stamm test eine Bedeckung, Sicherung ausdrücken; bei der Schildkröte liegt dieſe Eigenſchaft ſo auf der Hand, daß ſie die natürlichſte Bezeichnung des Thieres ge - währt, und darum hat ja unſere deutſche Sprache den treffenden Ausdruck Schild-kröte gewählt. Heißt nun im Lateiniſchen testudo die Bedeckte, Geſchützte, ſo wird man unwillkührlich auf tegere und damit zu der Annahme geführt, daß das g die - ſes Wortes, welches in ſonſtigen Ableitungen entweder bleibt (z. B. tegmen, tegula) oder in ct übergeht (z. B. tectum), hier in st übergegangen iſt eine Annahme, die ich dem Urtheil der Etymologen anheimſtelle. Das Wort testiculus, das ſonſt ſeinem Sinn nach mit beiden gar nicht vereinbar ſcheint, würde ſich unter dieſer Vorausſetzung gleichfalls an ſie anknüpfen laſſen. 55)Tegere iſt etymologiſch das deutſche decken (tectum Dach, tegulaTestis wäre darnach der Deckende, Sichernde, oder unſern obigen Ausdruck zu wählen, der Garant.

137I. Prinzip d. ſubj. Willens Syſtem d. Selbſthülfe testis. §. 11.

Dies etymologiſche Argument möge zur Unterſtützung un - ſerer Anſicht dienen, es hat dieſelbe aber nicht veranlaßt. Was mich zuerſt auf dieſelbe führte, ſind zwei Gründe, zuerſt nämlich die Ueberzeugung, daß der ganze Charakter der Rechtsſtufe, von der wir hier ſprechen, jene Präponderanz des phyſiſchen Mo - ments auch im Inſtitut der Zeugen wiederkehren, ihm eine be - ſtimmte, in das Syſtem der Selbſthülfe hineinpaſſende Stellung anweiſen mußte. Sodann aber zweitens eine Erſcheinung, deren Betrachtung uns über den engen Geſichtskreis der bisherigen Aufgabe hinausführen wird. Das iſt nämlich das testamentum in comitiis calatis. Man hat darüber geſtritten, ob das Volk bei dieſer Art der Teſtamentserrichtung abgeſtimmt oder bloß die Funktion eines Zeugen ausgeübt habe, und für dieſe letztere Anſicht ſich auf die Ausdrücke testari, testamentum u. ſ. w. be - rufen,56)z. B. Dernburg Beiträge zur Geſchichte der römiſchen Teſtamente S. 16 u. fl. indem man vorausſetzte, daß ihnen der Begriff des gewöhnlichen Zeugniſſes zu Grunde liege. Aber man muß das Argument umdrehen und ſagen: testis, testari u. ſ. w. hat in älteſter Zeit eine andere Bedeutung gehabt, weil es undenkbar iſt, daß das ganze römiſche Volk bei jener Teſtamentserrichtung die Rolle eines gewöhnlichen Zeugen geſpielt hätte. Warum in aller Welt zum bloßen Zweck der Conſtatirung einer Thatſache das geſammte Volk als Zeugen zuziehen? Man begreift in der That dies praktiſche Volk nicht, daß es einen Zweck, der ſich auf die einfachſte und natürlichſte Weiſe durch einige wenige Zeugen erreichen ließ, auf die umſtändlichſte und läſtigſte Art hätte ver -55)Ziegel, Deckel). Es iſt nun beachtenswerth, daß die deutſche Sprache den Ausdruck bedecken bei Thieren von derſelben Function gebraucht, auf die testiculus in der lateiniſchen Sprache hinweiſt, und dieſes Zuſammentreffen in beiden Sprachen vermehrt in meinen Augen die Wahrſcheinlichkeit, daß jene drei Wörter testudo, testis, testiculus von tegere ſtammen. Die beiden letzten könnten wir im gleichen Doppelſinn mit der lateiniſchen Sprache be - zeichnen als die zur Bedeckung dienenden. 138Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.folgen ſollen. Zwar wurden dieſe Comitien nur zwei Mal im Jahr gehalten, allein gerade darin liegt ein Argument für unſere Anſicht. Denn wenn das Volk nichts bieten konnte, als ein Zeugniß: in welchem Mißverhältniß ſtand zu dieſer Gabe jene Beſchränkung auf zwei beſtimmte Zeitpunkte im Jahr! Andere Zeugen konnte man zuziehen, wenn das Bedürfniß drängte, oder der Zufall den Abſchluß eines Geſchäfts herbeiführte. Warum ſich denn eines Zeugniſſes wegen an das Volk wenden?

Nein, das Volk hatte etwas anderes zu bieten, als ein bloßes Zeugniß, und die Thätigkeit deſſelben beſtand nicht im bloßen Hören, ſondern erforderte Abſtimmung, das Teſtament ward durch eine lex genehmigt. Der Geſichtspunkt, daß das Teſta - ment eine lex ſei, hat ſich noch im ſpätern Recht in manchen Punkten erhalten. An die Teſtamentszeugen wird, wie an das Volk bei einem Geſetzvorſchlage, eine rogatio gerichtet, die Thätigkeit des Teſtators wird mit legare bezeichnet, ſeine Anordnungen müſſen in imperativiſcher Form gehalten ſein, und in ſeinen materiellen Wirkungen geht das Teſtament, wie erſt im zweiten Syſtem gezeigt werden kann, weit über die Kraft der Privatgeſchäfte hinaus und äußert eine Wirkſamkeit, wie ſie ſonſt nur bei Geſetzen oder vom Volk ausgehenden Maßregeln vorkömmt. 57)Beiſpielshalber mache ich hier auf zwei Punkte aufmerkſam. Der Legatar erwirbt das Eigenthum der legirten Sache ipso jure ohne Beſitzan - eignung, was ſonſt nur bei Verleihungen von Seiten des Volks oder ſeiner Beauftragten vorkömmt. Ferner tritt jedes Rechtsgeſchäft des alten Rechts ſofort in Wirkſamkeit, das Teſtament aber disponirt wie ein Geſetz über zukünftige Verhältniſſe.Vom Standpunkt des älteſten Rechts aus können wir von zwei verſchiedenen Seiten zu der Einſicht gelangen, daß die Beſtätigung des Teſtaments durch einen Beſchluß des Volks eine Conſequenz dieſes Rechts enthielt. Einmal nämlich von Seiten des Familienprinzips als eine durch das Intereſſe der Gentes gebotene Sicherungsmaßregel gegen die Willkühr letzt - williger Dispoſitionen davon kann erſt in §. 14 die Rede139I. Prinzip d. ſubj. Willens Syſtem d. Selbſthülfe testari. §. 11.ſein ſodann aber von Seiten des hier zur Behandlung ſtehen - den ſubjektiven Prinzips als durch das eigne Intereſſe des Teſta - tors ſelbſt geboten. Wenn irgendwo, ſo empfahl es ſich gerade beim Teſtament als beſonders zweckmäßig, das Geſchäft ſtatt unter die Garantie bloßer Privatzeugen unter die des ganzen Volks zu ſtellen. Denn das Teſtament griff mehr als irgend ein anderes Geſchäft in eine Menge von Intereſſen verletzend ein, Intereſſen nicht bloß einzelner Privatperſonen, ſondern ganzer Gentes, traf alſo auf einen unvergleichlich mächtigeren Wider - ſtand, als irgend ein anderes Geſchäft. Sodann ſteht es aber darin einzig in ſeiner Art, daß es erſt nach dem Tode des Dis - ponenten zur Ausführung kommen kann, daß in ihm alſo nur der ehemalige Wille eines jetzt Willenloſen vorliegt, der Wille hier den Anſpruch erhebt, über ſein natürliches Ziel hin - aus bindende Kraft auszuüben. So wenig wir heutzutage da - ran Anſtoß nehmen, ſo wenig dies die Römer ſelbſt ſpäter ge - than haben, ſo iſt doch die Teſtirfreiheit urſprünglich auch ihnen gewiß nichts weniger als natürlich erſchienen. Manche Völker haben ſich nie zu dieſem Gedanken erheben können, ſind viel - mehr im weſentlichen immer bei der Inteſtaterbfolge ſtehen ge - blieben; ſollte die Rechtsanſchauung der älteſten Römer ſo ab - norm organiſirt geweſen ſein, daß ihnen gleich von vornherein als natürlich erſchienen wäre, was ſich jenen Völkern für immer entzog? Nein, gerade die Anſchauung, mit der wir uns hier be - ſchäftigen, jener Einfluß des phyſiſchen Moments im Recht macht es mehr als wahrſcheinlich, daß auch die Römer urſprünglich die Erſtreckung des ſubjektiven Willens über die phyſiſche Exi - ſtenz der Perſon hinaus als etwas exorbitantes betrachteten, als etwas nicht ſchon an ſich im ſubjektiven Recht liegendes. Da nun aber dennoch, wie wir in §. 14 ſehen werden, ge - rade die ſchroffe Conſequenz des römiſchen Familienprinzips das Bedürfniß letztwilliger Dispoſitionen hervorrief, den - mern die Teſtamente aufzwang, ſo lag es am nächſten, Streitigkeiten über die Wirkſamkeit eines bloß vor Privatgaran -140Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ten ausgeſprochenen letzten Willens dadurch auszuſchließen, daß man denſelben unter die Garantie des Volks ſtellte, d. h. eine lex zur Beſtätigung deſſelben nachſuchte. Wie bei jedem andern Beſchluß erfolgte auch hier eine rogatio an das Volk, und letz - teres ſtimmte ab, konnte alſo ſelbſtverſtändlich dieſe Garantie ſogut verſagen als ertheilen. Der Teſtator erlangte durch Er - theilung derſelben eine Sicherheit der demnächſtigen Ausführung ſeines Willens, wie ſie ihm die Zuziehung noch ſo vieler Zen - gen zu einem an ſich exorbitanten und rechtlich zweifelhaften Geſchäft nicht hätte gewähren können.

Wenn nun das Volk bei der Teſtamentserrichtung in den Comitien nicht bloß die paſſive Function eines Zeugen ausübte, ſondern abſtimmte, als Gegenſtand der Abſtimmung ſich aber nur die Bekräftigung oder Verwerfung des Teſtamentes denken läßt, ſo folgt daraus, daß die dieſen Akt bezeichnenden Aus - drücke testamentum, testari u. ſ. w. nicht den Sinn von Zeug - niß u. ſ. w., ſondern die oben etymologiſch in testis nachge - wieſene Bedeutung von Sicherung Garantie haben, unſerer Anſicht alſo eine bedeutende Unterſtützung verleihen.

Der Zweck, im testis des älteſten Rechts einen Privatga - ranten des unter ſeiner Mitwirkung geſchloſſenen Geſchäfts nachzuweiſen, führte uns ſo eben auf einen Fall, in dem dieſe Garantie für unzureichend erkannt und die des Volks an deren Stelle geſetzt ward. An dieſen Fall knüpfen wir im folgenden noch eine Vermuthung über den Uebergang der Privatgarantie in öffentliche Garantie an.

An die Stelle des testamentum in comitiis calatis tritt ſpäter das testamentum per aes et libram (d. h. in Mancipa - tionsform). Hatte man ſich damit über die urſprüngliche Idee, daß das Teſtament der Garantie des Volks bedürfe, bereits hin - weggeſetzt? Eine andere Erklärung liegt nahe. Wenn nämlich die fünf Zeugen der Mancipation, wie allgemein angenommen wird, die Vertreter der fünf Cenſusklaſſen des römiſchen Volks ſind, ſo bleibt das Mancipationsteſtament jener urſprünglichen141I. Prinz. d. ſubj. Willens Syſt. d. Selbſthülfe Volksgarantie. §. 11.Idee treu, die Kraft deſſelben beruht dann auf der vom Volk durch ſeine Vertreter ertheilten Approbation. Es liegt auf der Hand, daß jene Deutung der fünf Zeugen durch Aufdeckung eines Falles, in dem dieſelben nachweisbar an die Stelle des geſammten Volks treten, den höchſten Grad der Wahrſcheinlichkeit gewinnt. Wenn wir nun mit dieſer Idee, daß dieſe Zeugen das Volk repräſentiren, weiter operiren, ſo führt ſie uns zu dem Reſultat, daß die Mancipation58)Es iſt bereits oben bemerkt, daß das Nexum nur eine Anwendung der Mancipation auf obligatoriſche Zwecke enthält, und darum braucht das Nexum nicht beſonders genannt zu werden. das Mittel iſt, um rechtlichen Geſchäften auf leichte Weiſe den Charakter öffentlicher Garantie zu verleihen. Vielleicht pflegte man früher auch für wichtige Dispoſitionen unter Lebenden ähn - lich wie bei Teſtamenten ſich den Schutz des Volks zuſichern zu laſſen; wie es ſich damit aber auch verhält, kurz die durch mancipatio begründeten Rechte ſtützen ſich auf die Autorität des Volks, wir können ſie öffentlich garantirte nennen. Durch den in der mancipatio eröffneten Weg, einem Recht dieſe höhere Sanktion zu verleihen, war nun an ſich der Grundſatz, daß das Individuum in ſich ſelbſt den Grund ſeines Rechts trägt, nicht aufgehoben, es alſo Keinem verwehrt, einen Rechtsakt auch in anderer Form als der des Mancipationsrituals vorzunehmen, allein es iſt begreiflich, daß die Anwendung des letzteren bei allen wichtigern Gegenſtänden immer üblicher wurde, und daß im Laufe der Zeit die Unterlaſſung dieſer Form bei einem Ge - ſchäft, bei dem ſie einmal ganz conſtant geworden war, als Nichtigkeitsgrund betrachtet wurde. In dieſen Fällen wurde jener Grundſatz, daß die individuelle Thatkraft die Quelle des Rechts ſei, zurückgedrängt oder wenigſtens durch das Requiſit einer öffentlichen Anerkennung und Sanktion des Rechts modi - ficirt; für dieſe Fälle wird alſo der Begriff des Rechts ein höhe -142Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.rer, das formelle Fundament deſſelben ein breiteres. Doch hier - mit gelangen wir bereits über das urſprüngliche Fundament des Rechts, auf dem wir gegenwärtig noch ſtehen, über unſer Prin - zip des ſubjektiven Willens hinaus und gerathen auf einen Bo - den, den wir erſt in §. 15 betreten werden. Es genügt uns hier, gefunden zu haben, daß die testes im Syſtem der Selbſthülfe bei allen durch mancipatio abgeſchloſſenen Geſchäften einen öffentlichen Charakter annehmen. Nicht ſie ſelbſt allein verpflich - ten ſich, das unter ihrer Mitwirkung entſtandene Recht nöthi - genfalls mit zu realiſiren, ſondern durch ſie als ſeine Vertreter thut dies auch das römiſche Volk. Kränkung, Verletzung eines ſolchen Rechts, Widerſtand gegen die in Folge derſelben vom Berechtigten vorgenommene Selbſthülfe iſt daher ein Angriff gegen das römiſche Volk, ein Attentat gegen die anerkannte Rechtsordnung. Der Berechtigte, der zur Selbſthülfe ſchreitet, kömmt im Namen des römiſchen Volks, ausgeſtattet mit der Macht und Würde, die in unſern Augen einen mit der Ausführung der Geſetze beauftragten Diener des Staats umgiebt. Wen er um Hülfe anſpricht, der iſt berechtigt und moraliſch verpflichtet, ſie ihm zu gewähren vor allem ſind es die Zeugen; wer aber dem etwaigen Widerſtands - verſuch des Gegners Vorſchub leiſtet, der iſt mit letzterem ſelbſt in gleicher Verdammniß. Dieſelben Gründe, die heutzutage einen thätlichen Widerſtandsverſuch gegen die mit Exekution beauftragten Beamten zur größten Seltenheit machen, die Achtung vor dem Geſetz und die Vorausſicht der Erfolgloſigkeit jenes Verſuchs, dieſelben Gründe müſſen in Rom daſſelbe be - wirkt haben. Nirgends in der Welt iſt der, welcher im Namen des Geſetzes kam, ſo geachtet geweſen, als hier; daß aber der Glanz, den dieſe Qualität verleiht, nicht dadurch bedingt iſt, ob ſie, wie heutzutage, an die ſtändige Perſon eines Beamten ge - knüpft iſt, oder wie bei den Römern jeder Privatperſon für vor - übergehende Zwecke zukommen konnte, daß dieſer Glanz alſo143I. Prinzip d. ſubj. Willens Zweifelhaftigkeit d. Anſpruchs. §. 12.nicht dadurch, ſondern durch das Maß der einem Volke inne wohnenden Achtung vor dem Geſetze bedingt iſt das bedarf keiner weitern Ausführung.

3. Vertragsmäßige Entſcheidung der Rechtsſtreitigkeiten Das öffentliche Richteramt in ſeinem Anſchluß an das Syſtem der Selbſthülfe Geſtalt dieſes Syſtems in ſpäterer Zeit.

XII. Die bisherige Darſtellung hat uns zu dem Reſultat geführt, daß es im Fall der Zweifelloſigkeit eines Rechts der Beihülfe des Staats zur Verwirklichung deſſelben nicht be - durfte; wir werden ſofort ſehen, daß der römiſche Staat noch auf der höchſten Stufe ſeiner Entwicklung von derſelben An - nahme ausgieng.

Wie aber, wenn es an jener Vorausſetzung eines zweifel - loſen Rechts gebrach? Konnte auch hier der Staat die Partheien ſich ſelbſt überlaſſen? Hätte das nicht gehießen, ſie zu Thätlich - keiten zu provociren und den Zufall zum Richter zu machen? War hier alſo nicht die Handhabung der Rechtspflege von Seiten des Staats unentbehrlich? So ſcheint es, allein ich hoffe zeigen zu können, daß dies bloßer Schein iſt, das Syſtem der unmittelbaren Verwirklichung des Rechts vielmehr auch hier völlig ausreichend war.

Das Bedürfniß einer Entſcheidung der Rechtsſtreitigkei - ten hat ſich nicht überall auf dieſelbe Weiſe befriedigt. Bei einigen Völkern iſt es die Gottheit, an die man ſich zu die - ſem Zweck wendet, und die durch Gottesurtheile, Orakel, Loos u. ſ. w. die Entſcheidung abgibt; bei andern iſt es die Obrigkeit, die um Hülfe angegangen wird. In beiden Fällen aber unterwerfen ſich die Partheien einer höhern Macht. Einen ganz andern Weg hat das römiſche oder dasjenige Volk einge - ſchlagen, von dem das römiſche abſtammt, und er iſt für die ganze Geſinnungsweiſe deſſelben ſehr bezeichnend. In hiſto -144Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.riſcher Zeit ſcheint freilich das römiſche Volk bereits in den gewöhnlichen Weg der Entſcheidung der Rechtsſtreitigkeiten durch den Richter eingelenkt zu haben, allein in der That iſt dieſer Weg nichts weniger als der gewöhnliche, ſondern nur eine Erhöhung und Regulirung des urſprünglichen; der alte Unterbau und die alte Richtung ſind beibehalten und ſchimmern noch an vielen Stellen auf unverkennbare Weiſe durch. Jener urſprüngliche Modus der rechtlichen Entſcheidung beſtand darin, daß der vermeintlich Berechtigte ſie entweder ſeinem Gegner ſelbſt überließ, d. h. ihm den Eid zuſchob oder ihm proponirte, ſie von einem Dritten, dem Schiedsrichter, einzuholen. Ging derſelbe darauf ein, ſo verſtand ſich das weitere von ſelbſt; die durch den Schiedsrichter oder den Eid bewirkte Entſcheidung ſtützte ſich auf beiderſeitige Einwilligung, war alſo für beide Theile bindend, und die Verwirklichung derſelben fiel unter die im vorigen Paragraphen aufgeſtellten Geſichtspunkte. Wie aber wenn der Gegner jeden Vorſchlag des Berechtigten zurückwies? Durch dieſe Weigerung brach er über ſich ſelbſt den Stab; denn warum ſich weigern, wenn er wirklich von ſeinem Recht über - zeugt war? Er bewies, daß er zur Gerechtigkeit ſeiner Sache kein Vertrauen hatte, und man that ihm, der dem Gegner da - mit jede Möglichkeit der Entſcheidung abſchnitt, kein Unrecht, wenn man in ſeiner Weigerung ein indirektes Eingeſtändniß ſeiner Schuld fand. 59)Man vergleiche die Aeußerung des römiſchen Juriſten in L. 48 de jurejur. (12, 2): manifestae turpitudinis et confessionis est nolle nec jurare nec jusjurandum referre. Mit der öffentlichen Meinung warf ſich auch das phyſiſche Uebergewicht bei der Selbſthülfe auf Seiten ſeines Gegners.

Das Inſtitut der Schiedsrichter ſowie der außergerichtliche Eid ſchloſſen das Syſtem der Selbſthülfe ab, indem ſie dem vermeintlich Berechtigten die Möglichkeit gewährten, entweder145I. Prinzip d. ſubj. Willens Privatentſcheidung des Streits. §. 12.den Streit zur Entſcheidung zu bringen oder wenigſtens den Gegner moraliſch in die Enge zu treiben und ihn durch ſeine Weigerung zum indirekten Geſtändniß ſeines Unrechts zu zwin - gen. Beide Mittel waren in Rom noch in ſpäter Zeit außer - ordentlich populär und üblich, beide kehren in ſolenner Form im römiſchen Prozeß wieder. In letzterem erblicke ich nichts, als den in feſte Formen cryſtalliſirten Niederſchlag dieſer längſt vor ihm beſtandenen vertragsmäßigen Entſcheidung des Rechts - ſtreites durch die Partheien ſelbſt. Der außergerichtliche Eid wird zum gerichtlichen, der Schiedsrichter zum öffentlichen Rich - ter, ohne daß beide damit ihr früheres Weſen aufgeben. Die Einführung des Richteramts bezeichnet gegenüber dem eben ge - ſchilderten Zuſtande durchaus keinen Wendepunkt in der Ge - ſchichte des Rechts.

Das im bisherigen geſchilderte Syſtem der unmittelbaren Verwirklichung des Rechts iſt uns nicht direkt bezeugt, allein im Recht der hiſtoriſchen Zeit ſchimmert daſſelbe, wie ich glaube, noch deutlich genug durch. Letzteres iſt nämlich nichts anders, als unſer obiges Syſtem, nur mit dem Unterſchiede, daß daſ - ſelbe darin beſtimmte Formen angenommen hat, aus dem Zu - ſtande der Flüſſigkeit und Beweglichkeit in den der Feſtigkeit übergegangen iſt. Bei keinem Volke war der Trieb nach For - men, jener Sinn für ſtrenge äußere Ordnung und Gleichmä - ßigkeit ſtärker, als bei den Römern; jede Idee, die bei ihnen auftritt, ſtrebt ſofort wenn auch auf Koſten ihres materiellen Gehaltes ſich beſtimmte Formen anzueignen. Tritt uns nun eine ſolche Idee, zuſammengeſchrumpft zu einer engen Geſtalt, entgegen, ſo ſollen wir uns dadurch über ihren urſprünglichen Umfang und wahren Sinn nicht täuſchen laſſen, und um dieſe Warnung für die vorliegende Aufgabe eindringlich zu machen, habe ich das Recht der hiſtoriſchen Zeit ſeiner beſtimmten For -Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 10146Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.men entkleidet und die demſelben zu Grunde liegenden Ideen nackt und rein hinzuſtellen verſucht. Der Grund, warum dies geſchah, war nicht ſowohl der Wunſch über die hiſtoriſche Zeit hinaus einen Blick zu werfen in eine ungekannte Vorzeit, als die Hoffnung, auf dieſem Wege das richtige Verſtändniß des Syſtems der hiſtoriſchen Zeit ſicher zu ſtellen. Indem wir uns jetzt letzterm zuwenden, ſoll alſo als die daſſelbe durchdringende Grundanſchauung nachgewieſen werden der Gedanke, daß der Urquell des Rechts nicht im Staat, ſondern im Individuum liegt, und daß folglich auch die Verwirklichung des Rechts nicht Sache des Staats, ſondern des Berechtigten ſelbſt iſt. Zu dem Zweck wollen wir 1) den Umfang und die Bedeutung der Selbſt - hülfe im ältern Recht kennen lernen und 2) nachweiſen, daß der römiſche Prozeß auf der vertragsmäßigen Entſcheidung durch die Partheien beruht.

1. Die Selbſthülfe iſt im ältern Recht nicht bloß nicht ver - boten, ſondern eine weſentliche Vorausſetzung der ganzen Rechts - ordnung.

Das Recht der Republik kennt keine Verwirklichung des Rechts von Staatswegen, ſondern überläßt ſie lediglich dem Berechtigten, geht damit alſo von der im vorigen Paragraphen begründeten Annahme aus, daß letzterer ſich ſtets die erforder - lichen Mittel verſchaffen werde, um einen etwaigen Wider - ſtandsverſuch des Gegners zu brechen. Nirgends wird meines Wiſſens des Bedürfniſſes oder nur der Möglichkeit einer amt - lichen Mitwirkung bei der Privatexekution gedacht.

Es gibt nun zwei Arten der Selbſthülfe, die ſolenne in Form der legis actio und die formloſe. Die ſolenne, bei der es namentlich des Ausſprechens einer gewiſſen Formel be - darf, iſt in Anwendung auf Perſonen die manus injectio, auf Sachen die pignoris capio. Für beide Fälle ſtellt das Recht be - ſondere Vorausſetzungen auf, die theils die Natur des gel - tend zu machenden Anſpruches, theils deſſen formelle Wahrheit147I. Prinzip d. ſubj. Willens Selbſthülfe des ſpätern Rechts. §. 12.betreffen. Zu dieſen Vorausſetzungen gehört aber wohl gemerkt nicht die obrigkeitliche Autoriſation. 60)Nach der von Gaius IV §. 29 uns mitgetheilten Regel ſollten zwar die Legisactionen in jure d. h. vor dem Prätor vorgenommen werden, allein jene Regel ſcheint nichts, als die theoretiſche Abſtraction einer ſpätern Zeit zu ſein, denn hinſichtlich der pignoris capio wird ausdrücklich bemerkt, daß ſie extra jus vorgenommen wurde, und bei der Beſchreibung der manus injectio IV §. 24, 25 vergißt Gaius ſeine eigene Regel oder ſtellt wenigſtens den Hergang ſo dar, als ob die Perſon, an der der Berechtigte die manus injectio vornahm, nisi vindicem dabat, domum ducebatur ab actore et vincieba - tur. Jedenfalls iſt aber dieſe Wiederholung der manus injectio an der Ge - richtsſtätte nicht mit einer Nachſuchung um obrigkeitliche Autoriſation zu verwechſeln.

Die pignoris capio war Privatpfändung und fand nur für Forderungen Statt, die eine militäriſche, religiöſe oder politi - ſche Beziehung hatten. 61)Gaj. IV. §. 26 28.Die reguläre Form der ſolennen Selbſthülfe beſtand in der manus injectio; man bemächtigte ſich der Perſon des Gegners, führte ihn mit ſich zu Hauſe und hielt ihn ſo lange in Feſſeln, bis er entweder den Berechtigten zufrieden geſtellt hatte oder der Termin, ihn trans Tiberim zu verkaufen, gekommen war.

Die manus injectio fand in einer Reihe von Fällen Statt, die ſich unter den Geſichtspunkt bringen laſſen, daß der, gegen den ſie gerichtet ward, ſich ſelbſt für ſchuldig erklärt hatte, sua sententia damnatus war, nur daß in ähnlicher Weiſe, wie die Selbſthülfe hier in der ſolennen Form der manus injectio auf - tritt, ſo auch jene Selbſtverurtheilung des Schuldigen beſtimmte Formen angenommen hat. Dahin gehörte zuerſt der Fall der confessio in jure, d. h. wenn der Beklagte gleich bei Erhebung der Klage vor dem Prätor geſtand; einer Verurtheilung bedurfte es dann nicht mehr. Daſſelbe nehme ich an für den Fall, wenn der Kläger den ihm vom Beklagten zugeſchobenen oder zurückge - ſchobenen Eid abgeleiſtet hatte,62)In L. 1. quar. rer. (44. 5) heißt es vom Eide: vicem rei judica - nur daß auch hier wie dort10*148Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.die Wirkung, die urſprünglich dem Eide als ſolchem zukam, an die Ableiſtung deſſelben in jure geknüpft ſein mochte. Die Selbſtverurtheilung des Beklagten war hier eine bedingte, be - dingt nämlich dadurch, daß der Kläger den Eid ſchwören würde. Ein dritter Fall trat ein hinſichtlich aller Anſprüche, die durch ein in Mancipationsform abgeſchloſſenes Geſchäft begründet waren. Auch hier ſtützte ſich die manus injectio auf das Einge - ſtändniß des Schuldigen, auf ein in ſolenner Weiſe vor den Repräſentanten des ganzen Volks abgelegtes Bekenntniß ſeiner Schuld. Ein vierter Fall war der, wenn der Beklagte der in jus vocatio des Klägers nicht Folge leiſtete; ſeine Weigerung ſich auf den Prozeß einzulaſſen wird, wie oben bemerkt wurde, als indirektes Eingeſtändniß betrachtet. Sodann fand ſchließlich die manus injectio Statt zum Zweck der Exekution richterlicher Urtheile. Nach der herrſchenden Anſicht hätte dieſer letzte Fall obenan geſtellt werden müſſen, denn ihr zufolge iſt das richter - liche Urtheil die normale Vorausſetzung der Exekution, und die übrigen Fälle der manus injectio erſcheinen ihr nur als ſolche, auf die die Kraft des richterlichen Urtheils übertragen iſt. Für unſere heutige Zeit und auch für die der klaſſiſchen - miſchen Juriſten iſt dieſe Auffaſſung durchaus richtig, und letz - tere bezeichnen geradezu Eid und Geſtändniß als Surrogate des richterlichen Urtheils. Allein ich halte es für grundfalſch, eine ſolche Auffaſſung ins ältere römiſche Recht hinüberzutragen;63)Aus Gajus IV. §. 21 23 folgern zu wollen, daß nach dem Vor - bilde der manus injectio judicati jede andere im älteren Recht pro judi - cato genannt worden ſei, halte ich für verkehrt. Denn Gajus beſchränkt ſich bei ſeiner Darſtellung auf die eine species der manus injectio judicati und deren Nachbildungen, und letztere nennt er pro judicato; von den andern Anwendungsfällen der manus injectio im ältern Recht hingegen, von denen62)tae obtinet; non immerito, cum ipse quis judicem adversarium suum de causa sua fecerit, deferendo ei jusjurandum; in L. 26 §. 2 de jure - jur. (12. 2): proficiscitur ex conventione, quamvis et habeat instar ju - dicii und in L. 2 ibid. ſogar majorem auctoritatem habet quam res ju - dicata. 149I. Prinzip d. ſubj. Willens Selbſthülfe des ſpätern Rechts. §. 12.das Verhältniß zwiſchen dem richterlichen Urtheil und dem Ge - ſtändniß u. ſ. w. iſt hier gerade das umgekehrte. Das richter - liche Urtheil ſtützt ſeine Kraft lediglich darauf, daß der Beklagte daſſelbe im voraus für verbindlich anerkannt hat. Anſtatt daß nach jener Anſicht die Parthei ihr Recht zur manus injectio mittelbar oder unmittelbar erſt vom Richter ableiten müßte, empfängt umgekehrt, wie wir gleich ſehen werden, letzterer ſeine ganze Machtbefugniß erſt aus der Hand der Partheien.

Der Unterſchied der manus injectio von der formloſen Selbſt - hülfe lag, abgeſehen von ihrer Form und ihren Vorausſetzun - gen darin, daß dem, gegen den ſie gerichtet war, nicht bloß der factiſche Widerſtand unterſagt, ſondern auch der Rechtsweg ver - ſchloſſen war. Die manus injectio entzog ihm, um es mit dem Kunſtausdruck zu bezeichnen, die persona standi judicio. Dritte Perſonen durften ihm bei ſeinem factiſchen Widerſtandsverſuch keine Beihülfe leiſten; das einzige Rettungsmittel lag darin, daß Jemand als vindex für ihn auftrat und die rechtliche Statt - haftigkeit der manus injectio zum Gegenſtand richterlicher Ent - ſcheidung machte. Es iſt aber bereits im vorigen Paragraphen bemerkt, welcher Gefahr ſich der vindex ausſetzte; unterlag er, ſo mußte er zur Strafe für ſeine unbefugte Einmiſchung den ganzen Betrag der Schuld entrichten, ohne damit den Schuld - ner von ſeiner Verbindlichkeit zu befreien.

In ſpäterer Zeit tritt das Beſtreben hervor, die manus in - jectio immer mehr zu verdrängen oder abzuſchwächen. Die alte Idee, auf der ſie beruhte, machte bei der ſteigenden politiſchen Entwicklung naturgemäß der Anſicht Platz, daß die manus in - jectio als Exekutionsmittel der richterlichen Autoriſation be - dürfe, und ſo finden wir ſie zuletzt auf die Exekution richterlicher Urtheile und einen andern ſingulären Fall beſchränkt, bis ſie mit dem Legisactionen-Syſtem auch hier unterging. In allen63)einige ſchon früh unpraktiſch wurden z. B. die wegen nexum, ſpricht er gar nicht.150Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.übrigen Fällen aber hob man ſie nach der bekannten Weiſe der Römer nicht geradezu auf, ſondern ließ ſie in abgeſchwächter Geſtalt, als manus injectio pura, fortbeſtehen. Dem Schuld - ner ward nämlich erlaubt, wie man es ausdrückte, manum sibi depellere d. h. ſelbſt die Rolle des vindex zu übernehmen, die Statihaftigkeit der manus injectio in eigner Perſon zu beſtrei - ten. Die manus injectio war damit Einleitungsform eines Prozeſſes geworden, der ſich nur dadurch auszeichnete, daß der Schuldner im Fall ſeines Unterliegens den doppelten Betrag der Schuld zu entrichten hatte, eine Folge, die ihn daran mahnte, daß mit dem Recht auch die Strafe des alten vindex auf ihn übertragen war. 64)Bezeichnet wird dieſe Folge mit dem Ausdruck: lis erescit in du - plum, und ſie ward ſpäter auch in Fällen eingeführt, bei denen früher nie eine manus injectio Statt gefunden hatte, ſo wie ſie umgekehrt in Fällen, wo letztere früher beſtanden hatte, ſpäter weggelaſſen ward. Im allgemeinen darf man aber den Zuſammenhang zwiſchen der manus injectio und jener Strafe des Läugnens nicht außer Acht laſſen.

In dieſer jüngſten Geſtalt der manus injectio iſt nun von ihrer urſprünglichen Bedeutung nichts übrig geblieben, ſie hat ſich hier völlig der Idee gefügt, daß die Befugniß zur Exekution von der Oberhoheit des Staats abgeleitet werden müſſe. Nichts iſt aber verkehrter, als dieſe Idee in die Zeit der XII Tafeln zu verlegen; der Geiſt des ältern Rechts weiſt ſie überall zurück. Die manus injectio war nichts, als die ſolenne Selbſthülfe, bedingt durch eine gewiſſe Evidenz des geltend zu machenden Anſpruches und ausgeſtattet mit einer beſonders energiſchen Wirkung. In dieſer Form und Anwendung erſcheint die Selbſt - hülfe im ältern Recht nicht bloß als erlaubt, ſondern als un - entbehrliche Vorausſetzung, als vis agens der ganzen Rechts - ordnung.

Dadurch unterſcheidet ſich nun von ihr die formloſe Selbſt - hülfe, die wir jetzt kennen lernen wollen. Auch ſie gewährt in ihrer neuſten Geſtalt kaum einen Schatten von dem, was ſie151I. Prinzip d. ſubj. Willens Selbſthülfe des ſpätern Rechts. §. 12.früher war. Als gegen das Ende der Republik die Bande der Ordnung immer lockerer wurden, und die Gewaltthätigkeiten einen immer großartigeren und gefährlicheren Charakter annah - men, ward es nöthig dem Uebel mit energiſchen Mitteln ent - gegen zu treten, und dies thaten die leges Juliae de vi publica und privata von Auguſt, indem ſie eine Menge von verſchiede - nen Gewaltthätigkeiten mit ſchweren Strafen belegten. Spä - terhin kamen noch Privatſtrafen für die Selbſthülfe hinzu, und im neuſten Recht iſt ſie überall, wo ſie ſich blicken läßt verpönt, mit Ausnahme eines kleinen Kreiſes, den eine Eigenthümlich - keit der römiſchen Beſitztheorie65)S. Note 67. ihr erhielt, und den ſie heut - zutage gleichfalls eingebüßt hat.

Ganz anders im älteren Recht. Die Selbſthülfe wurzelte zu tief in der ganzen ältern Rechtsauffaſſung, als daß man ſie ſelbſt da, wo ſie wegen Nichtexiſtenz des angeblichen Anſpruchs unberechtigt war, mit Strafe hätte belegen, ſie, die auch in dieſem Fall nichts als eine Bethätigung des ſubjektiven Rechts - gefühls enthielt, zum Delikt hätte ſtempeln ſollen; die einzige Folge, die in dieſem Fall eintrat, beſtand in der Herausgabe des gewaltſam Entriſſenen. Erſt wenn der Prätor ausdrücklich die Anwendung der vis unterſagt hatte, führte das Uebertreten dieſes Verbots nachtheilige Folgen herbei. Umgekehrt aber pflegte der Prätor, ähnlich wie es das Civilrecht in der manus injectio that, zur Selbſthülfe zu autoriſiren und zwar in der Weiſe, daß er durch Interdikt verbot, dem dazu Ermächtigten Gewalt entgegenzuſtellen (ne vis fiat ei, qui u. ſ. w.). In die - ſer prätoriſchen Autoriſation der Selbſthülfe kann ich nur eine ſpätere Form der Sache finden; bevor der Prätor ſich hinein - miſchte, hatte ſich das Leben ſelbſt geholfen.

Auch ohne jede obrigkeitliche Autoriſation war aber zur Zeit der Republik die Selbſthülfe in manchen Fällen durchaus ſtatt - haft, namentlich zum Zweck der Wiedererlangung des Beſitzes. 152Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.Wer eine bewegliche Sache, die ihm abhanden gekommen war, bei irgend einem Dritten antraf, konnte ſich unter gewiſſen Vorausſetzungen66)Im interdictum utrubi waren ſie angegeben. derſelben gewaltſam bemächtigen; dem ge - genwärtigen Innehaber ward jeder Rechtsſchutz verſagt. Bei unbeweglichen Sachen ging man nicht ſoweit, ſondern verſtat - tete die gewaltſame Dejection nur gegen den, der entweder das Grundſtück bloß im Namen des andern detinirte oder, wie man es ausdrückte, ihm gegenüber eine injusta possessio hatte. 67)Z. B. alſo gegen den Pächter, Miether, bei beweglichen Sachen gegen den Depoſitar, Commodatar, Mandatar u. ſ. w.; ferner gegen den, der ſich gewaltſam oder heimlich den Beſitz verſchafft oder ihn nur auf Widerruf er - halten hatte. Die römiſche Beſitztheorie brachte dieſe Fälle, in denen nach natürlicher Auffaſſung eine Selbſthülfe vorliegt, dadurch unter den Geſichts - punkt des Schutzes im Beſitz, der Defenſive, daß ſie den Beſitz des Angegrif - fenen als factiſche Detention oder fehlerhaften Beſitz qualificirte und dem An - greifenden den gegenwärtigen Beſitz zuſchrieb.Fehlte es an dieſen Vorausſetzungen, ſo mußte der Dejicient, ohne daß er mit der Berufung auf ſein etwaiges Eigenthum ge - hört ward, den Beſitz vorläufig reſtituiren.

Es gab aber einen andern Weg, der ihn ſicherer zum Ziele führte; er mußte nämlich, anſtatt ſeinem Gegner gewaltſam die Sache zu entreißen, ihn durch Drohungen zu zwingen ſuchen, daß er ſelbſt ihm dieſelbe auslieferte. Das ältere Recht gab dem Gezwungenen keine Klage auf Aufhebung des von ihm einge - gangenen Geſchäfts, indem es ſich durch die Anſicht beſtimmen ließ, daß Niemand ſich zwingen laſſen ſolle. Aber ſelbſt als der Prätor eine ſolche Klage eingeführt hatte, lehrten doch noch die römiſchen Juriſten, daß wer gezwungen worden ſei zu zahlen oder herauszugeben, was er ſchuldig war, ſich dieſer Klage nicht bedienen könne. 68)L. 1. §. 2. quod met. c. (4. 2). Die wenn auch erzwungene Zah - lung der Schuld wurde nämlich nicht als ein erlittener Schaden betrachtet.Bewies alſo der Zwingende nur die Exiſtenz ſeines Rechts, ſo traf ihn nicht nur keine Strafe, ſondern er behielt, was er hatte.

153I. Prinzip d. ſubj. Willens Selbſthülfe des ſpätern Rechts. §. 12.

Zu der ſolennen und formloſen Gewalt kömmt endlich noch eine ſymboliſche, nämlich der Scheinkampf im Eigenthums - prozeß.

Der zur Bezeichnung deſſelben dienende Name vindicatio, ſo wie die dabei vorkommende vindicta, jener unvermeidliche hier in einen Stab verwandelte Speer, zeigen, daß es ſich hier um ein vim dicere d. h. nicht ein Anſagen , ſondern ein Er - ſcheinen laſſen 69)Die Wurzel die bedeutet im Lateiniſchen wie im Sanskrit und Grie - chiſchen (δείκνυμι) zeigen z. B. dicis causa, digitus, indicare; dicere ſagen iſt = zeigen mit Worten. Vindicare aus vim dicere heißt alſo Ge - walt zeigen. S. Pott a. a. O. B. 1 S. 266 und Ottfried Müller im Rhein. Muſeum für Jurisprudenz B. V S. 190 flg. von Gewalt handelte; der Akt wird auch mit dem Ausdruck manum conserere, handgemein werden, bezeich - net. Man hat in dieſer Aufnahme der Gewalt in den Prozeß die Idee ausgeſprochen finden wollen, daß die Gewalt dem Recht weichen müſſe, aber man könnte wohl mit mehr Recht ſagen: die Selbſthülfe erſcheint den Römern als etwas ſo natürliches und ſo wenig unrechtes, daß ſie dieſelbe ſelbſt im Prozeß nicht entbehren können. Jener Scheinkampf enthält weniger eine Verurtheilung der Selbſthülfe, als umgekehrt einen Beleg da - für, wie tief dieſelbe in der Volksanſicht gewurzelt war. Wie in der mancipatio nach unſerer Ausführung im §. 10 die Ge - walt als die urſprüngliche Quelle des Eigenthums erſcheint, ſo in der vindicatio als das urſprüngliche Schutzmittel deſſelben.

Indem wir jetzt die Selbſthülfe verlaſſen, um uns

2. dem römiſchen Prozeß zuzuwenden, begleitet uns daſſelbe Prinzip des ſubjektiven Willens, das wir dort in ſeinem unmittel - barſten Ausdruck kennen lernten, auch fernerhin; die Form iſt eine andere, die Sache dieſelbe. Wir mußten bereits im bisheri - gen den Geſichtspunkt andeuten, den wir jetzt durchführen wollen, nämlich daß der Richter des ältern römiſchen Rechts70)Daß der Prätor nicht ſelbſt die Sache entſchied, ſondern den Par - theien einen Richter beſtellte, war zur Zeit der Republik der gewöhnliche Mo - nichts154Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.iſt, als ein Schiedsrichter, den die Partheien ſich von der Obrig - keit erbitten. Mit unſerm heutigen Richter hat derſelbe gar keine Aehnlichkeit. Letzterer leitet ſeine Machtbefugniß nicht von den Partheien, ſondern vom Staat ab, und dieſe Machtbefugniß beſteht nicht bloß darin, das Recht zu weiſen, ſondern es zu verwirklichen; er hat ein Monopol auf die Exekution.

Von dem iſt nun beim römiſchen Richter keine Rede; was wir bei ihm finden, ſind dieſelben Functionen, die jedem Schieds - richter zukommen. Die auffallende Aehnlichkeit beider veranlaßte einen römiſchen Juriſten zu der Bemerkung: compromissum (Wahl eines Schiedsrichters) ad similitudinem judiciorum re - digitur. 71)L. 1. de receptis (4. 8).Für die ſpätere Zeit mochte es nahe liegen, im Rich - teramt das Original, im Inſtitut der Schiedsrichter die Copie zu erblicken, für die ältere Zeit wird man das Verhältniß ge - rade umkehren müſſen.

Es mochte öfter vorkommen, daß die Partheien einen Ma - giſtrat, der ſich durch ſeine Rechtskenntniß oder Rechtlichkeit auszeichnete, um ſchiedsrichterlichen Spruch angingen. Die Erfüllung ihres Wunſches von ſeiner Seite ward urſprünglich als Ehrenſache angeſehn, zuletzt als amtliche Pflicht. Ueber - häufung mit ſolchen Aufträgen führte den Magiſtrat darauf, den Partheien eine andere geeignete Perſon an ſeiner Statt vor - zuſchlagen, ſowie manche Streitigkeiten ein für alle Male zu - rückzuweiſen; auch das ſpätere Recht kargt mit den Klagen, um wie viel mehr das ältere. Der einzige Unterſchied zwiſchen dem gewöhnlichen Schiedsrichter und dem vom Magiſtrat beſtellten oder, wenn er ſelbſt erkannte, ihm ſelbſt beſtand darin, daß man erſteren um Uebernahme des Auftrages erſt erſuchen mußte, des letzteren hingegen in allen Fällen, wo Sitte oder Geſetz70)dus, hierin beſtand der ordo judiciorum privatorum. Die folgende Aus - führung hält ſich an dieſen Fall; was aber von ihm gilt, muß auch von dem Fall gegolten haben, wenn der Prätor ſelbſt den Prozeß entſchied, denn ob er dies mittelbar oder unmittelbar that, war der Sache nach völlig gleich.155I. Prinzip d. ſubj. Willens Der Prozeß e. Vertragsverhältniß. §. 12.ſeine Mitwirkung eingeführt hatten, gewiß war; im übrigen waren beide ſich gleich. Der Schiedsrichter verdankt ſeine Macht der Wahl der Partheien, iſt ein bloßer Mandatar derſelben, und ſeine Function beſchränkt ſich darauf, Recht zu ſprechen, die Verwirklichung deſſelben bleibt den Partheien ſelbſt überlaſſen. Ebenſo erhält der Richter des ältern römiſchen Rechts ſeine Macht nur durch den Auftrag der Partheien. Am evidentſten geht dies daraus hervor, daß ein Prozeß nicht anhängig ge - macht werden kann, wenn die Gegenparthei ihre Zuſtimmung verweigert. Wie ſollte eine Entſcheidung des Magiſtrats oder des von ihm beſtellten Richters, der ſie ſich nicht im voraus unterworfen, bindende Kraft für ſie haben? Der Streit, den ſie mit dem Gegner hat, iſt eine reine Privatangelegenheit; wie dürfte der Magiſtrat ohne Aufforderung von beiden Sei - ten ſich hineinmiſchen? So kann alſo, wenn der Beklagte ſich weigert, ein Prozeß gegen ihn gar nicht eingeleitet werden; der Kläger muß ſich ſelbſt zu helfen ſuchen und thut dies, wie wir oben ſahen, indem er zur manus injectio ſchreitet. Hatte der Beklagte den Vorſchlag des Klägers, richterliche Entſchei - dung einzuholen, zurückgewieſen, ſo braucht andererſeits letzte - rer, wenn der Beklagte denſelben jetzt wieder aufnehmen will, ſich nicht mehr darauf einzulaſſen; die Selbſthülfe in Form der manus injectio hat ihren freien Lauf.

Kann ein Prozeß nicht ohne den Willen des Beklagten an - hängig gemacht werden, ſo ergibt ſich daraus, wie das Ver - hältniß aufzufaſſen iſt, wenn er ſich auf denſelben einläßt. Der ganze Prozeß beruht auf dem Vertrage der Partheien. Beide werden ſich einig über die Perſon des Richters, den der Magi - ſtrat ihnen beſtellen ſoll,72)Neminem, ſagt Cicero pro Cluentio c. 43, voluerunt majores nostri non modo de existimatione cujusquam, sed ne pecuniaria quidem de re minima esse judicem, nisi qui inter adversarios convenisset. und verſprechen ſich unter einander, daß es bei dem Ausſpruche deſſelben ſein Bewenden behalten156Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.ſolle. Die entſcheidende Kraft, die dem Richterſpruch zukömmt, beruht alſo nicht darauf, daß er von einem öffentlichen Richter ausgeht, ſondern darauf, daß die Partheien dies gewollt ha - ben. Wir können ihren Vertrag als ein bedingtes Verſprechen bezeichnen; ſie verſprechen, daß dem Sieger das werden ſolle, was der Richter ihm zuerkennen wird.

Die Conſequenzen dieſer Auffaſſung ſind im ältern Prozeß in aller ihrer Strenge durchgeführt. Die alte Verbindlichkeit gilt als erloſchen, folglich kann der Kläger die Klage nicht mehr fallen laſſen und eine neue anſtellen, und der Beklagte ebenſo - wenig durch Vornahme der geforderten Leiſtung ſich der Verur - theilung entziehen. An die Stelle der alten Verbindlichkeit iſt durch den Vertrag der Partheien eine neue, bedingte geſetzt, und ſie haben fortan nur auf die Erfüllung der Bedingung zu war - ten. Da dieſe neue ſich auf einen Vertrag ſtützt, ſo nimmt die frühere, wenn ſie aus einem Delikt entſtand, bei dieſer Meta - morphoſe alle Eigenthümlichkeiten der Obligationen aus Ver - trägen in ſich auf, wird z. B. vererblich, während ſie dies frü - her nicht war.

Der Vertrag, der in dieſer Weiſe zum Fundament des gan - zen Prozeſſes gemacht wird, heißt Litis contestatio; er ward vor dem Prätor unter Aufrufung von Zeugen (contestari) ab - geſchloſſen. Man hat die Vertragsnatur der Litiscontestatio beſtritten und ihr die Natur des Prozeſſes entgegengeſtellt, aus der ſich ſchon mit Nothwendigkeit die Folgen der Litiscontesta - tio ergeben ſollten, gleich als wenn die alten Römer die Natur des Prozeſſes mit unſern heutigen Augen angeſehn hätten und nicht vielmehr überall, wo heutzutage Jemanden auch ohne ſei - nen Willen eine Verpflichtung, ein Nachtheil trifft, erſt die aus - drückliche, wenn auch indirekt erzwingbare Einwilligung deſſel - ben verlangt hätten. Es iſt in meinen Augen dem Geiſte des ältern Rechts durchaus widerſtrebend, daß die Litiscontestatio alle Folgen eines contraktlichen Verhältniſſes ſollte nach ſich ge - zogen haben, ohne ſelbſt ein Contrakt geweſen zu ſein. Man157I. Prinzip d. ſubj. Willens Der Prozeß e. Vertragsverhältniß. §. 12.werde ſich nur darüber klar, daß es ſich bei derſelben nicht um Unterwerfung unter den Richter handelte, ſondern daß der Richterſpruch nichts iſt als eine Bedingung, unter der die Par - theien ſich etwas verſprochen haben. Hätten ſie ihr Verſprechen darauf geſtellt, wenn der X dies und das thun würde , ſo würde beim Eintritt der Bedingung der Grund der entſtehenden Verbindlichkeit nicht in der Handlung des X, ſondern in ihrem Verſprechen liegen. In derſelben Weiſe iſt der Einfluß, welchen die richterliche Sentenz ausübt, auf die Vereinbarung der Par - theien als auf ihre wahre Urſache zurückzuführen.

Das Verhältniß der Partheien zu dem Richter iſt alſo nichts weniger als das einer Unterordnung. Seine Qualität als öffent - licher Richter führt eine ſolche Unterordnung ebenſowenig nach ſich, als dies heutzutage gegenüber ſolchen Perſonen der Fall zu ſein pflegt, die vom Staat im Intereſſe des Publikums zur Betreibung irgend eines Berufes angeſtellt ſind. Der Richter war nichts mehr, als ein in der Kaiſerzeit vom Staat mit dem jus respondendi verſehener Juriſt. Beide waren vom Staat angeſtellt, um den Partheien durch Ertheilung eines Gutach - tens zu dienen. 73)Bei beiden wiederholt ſich auch derſelbe hiſtoriſche Hergang. Wie der Staat das Schiedsrichteramt in ſeine Hände nimmt, ohne anfänglich das Weſen deſſelben zu verändern, ſo auch das Inſtitut der reſpondirenden Juriſten. Neben dem öffentlichen Richter und Reſpondenten bleiben Schieds - richter und nicht mit dem jus respondendi betraute Reſpondenten in Thätig - keit und zwar längere Zeit ohne rechtliche Zurückſetzung, bis endlich letztere erfolgt, und Richter und öffentliche Reſpondenten im Namen des Staats und mit rechtlich verbindender Kraft Recht ſprechen.Darum kann der Richter den Partheien im Lauf des Prozeſſes nichts auferlegen, ſie nicht citiren, keine Strafe für den Fall des Nichterſcheinens im Termin androhen u. ſ. w. Darum findet das Veto der Tribunen, das gegen den mit der Handhabung der Rechtspflege betrauten Magiſtrat mög - lich iſt, nicht gegen den Richter Statt; er iſt gar kein öffentli - cher Beamter, ſondern ein Schiedsrichter der Partheien, zu deſ - ſen Beſtellung ein öffentlicher Beamter mitgewirkt hat.

158Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Darum endlich iſt die richterliche Sentenz kein an die ver - lierende Parthei gerichtetes Gebot oder Verbot, ſondern eine bloße Meinung sententia , eine Erklärung pronun - tiatio , die der Richter über die Streitfrage abgibt. Am klar - ſten tritt dies hervor in der älteſten Prozeßform, der legis actio sacramento. Der Prozeß wird hier in die Form einer Wette gekleidet und jede Parthei deponirt eine beſtimmte Summe (sa - cramentum),74)Beim religiöſen Prinzip kommen wir auf das sacramentum zurück. deren ſie im Fall des Unterliegens verluſtig geht. Dem Richter wird dieſe Wette zur Entſcheidung vorge - legt, und er erkennt in der Form, daß er das sacramentum der Parthei, die in ſeinen Augen Recht hat, für justum, das der andern alſo für verloren erklärt. Von einer Verurtheilung iſt dabei keine Rede, ja der Anſpruch, der zum Prozeß Ver - anlaſſung gab, wird im Urtheil gar nicht einmal erwähnt; es wird oſtenſibel über eine ganz andere Frage erkannt, als um die es den Partheien eigentlich zu thun iſt, und nur mittelbar wird auch letztere entſchieden. Wie wenig aber ſelbſt dieſer mittelba - ren Entſcheidung die Idee einer Verurtheilung inne wohnt, geht am beſten daraus hervor, daß die Anwendung dieſer Prozeß - form in Fällen vorkam, wo eine Verurtheilung oder Exekution undenkbar war, weil es ſich gar nicht um einen rechtlichen An - ſpruch, ſondern um den Beweis einer beliebigen Behauptung handelte. 75)Valerius Maximus Lib. II. c. 8. no. 74 berichtet uns, daß der Streit zwiſchen einem Conſul und Prätor, wer von beiden das Verdienſt ei - ner ſiegreichen Seeſchlacht habe, und wem daher der Triumph hätte bewilligt werden müſſen, in dieſer Weiſe zum Gegenſtand eines Prozeſſes gemacht ſei; nur daß hier ſtatt der ältern Form des sacramentum die neuere der sponsio benutzt wird. Valerius sponsione Lutatium provocavit: ni suo ductu Punica classis esset oppressa. Nec dubitavit restipulari Lutatius. Itaque judex inter eos convenit Atilius Calatinus. Letzterer gibt ſeine Entſcheidung mit Worten ab: secundum te litem do. Auch im ſpätern Recht noch erhielt ſich für manche Fälle, namentlich für ſolche, bei denen die Klage nicht auf Geld und Geldeswerth lautete, eine ähnliche Urtheilsform, die pro -159I. Prinzip d. ſubj. Willens Der Prozeß e. Vertragsverhältniß. §. 12.nuntiatio; der Richter erkannte bloß dahin, daß Jemand ser - vus, libertus, ingenuus u. ſ. w. ſei und überließ es der intereſ - ſirten Parthei, die daraus folgenden praktiſchen Reſultate zu ziehen und zu verwirklichen.

Neben jenen Urtheilsformen kömmt eine andere vor, die condemnatio, aber erſt im neuern Recht. Dort lautet der Rich - terſpruch objektiv, der Parthei bleibt es überlaſſen, die prakti - ſchen Folgerungen zu ziehen und erforderlichen Falls ſich über die litis aestimatio, die Schätzung des zugeſprochenen Objekts, zu einigen, hier hingegen faßt der Richter ſeinen Spruch rela - tiv, er verurtheilt den Beklagten und zwar verbindet er damit bei allen Klagen, die auf ein in Geld ſchätzbares Objekt gehen, ſogleich die litis aestimatio, d. h. er verurtheilt von vornherein in Geld.

Der Richter des ältern Rechts legt alſo dem Beklagten nichts auf, erläßt keinen Befehl an ihn im Namen des Staats, ſon - dern er kömmt den Partheien bloß mit ſeiner Rechtskenntniß zu Hülfe. Die Sprache hat das Verhältniß der richterlichen Thä - tigkeit zu der des Klägers treffend ausgedrückt. Der Richter ſoll bloß das Recht weiſen (dicere, ſ. Note 69), daher judex ge - nannt, und er thut dies, indem er ſeine Meinung (sententia) abgibt. Der Kläger hingegen iſt der Handelnde (actor);76)Auch in jurgare, litigare iſt dies agere, nur muß man das zweite Wort nicht als Zuſammenziehung von litem agere, ſondern von lite agere (wie jurgare non jure agere) bezeichnen. er handelt wirklich, denn er legt Hand an (manum injicere, conserere; vindicare), je nach Verſchiedenheit des Prozeſſes an Perſon oder Sachen (agere in personam, in rem). Unſer heu - tiger Richter hingegen richtet , d. h. er iſt der Handelnde, der Kläger hingegen handelt nicht, ſondern er klagt dem Richter ſein Leid, damit letzterer ihm helfe. Um Hülfe iſt es dem römi - ſchen Kläger nicht zu thun; in allen Fällen, wo ſein Recht zwei - fellos iſt, bedarf er des Richters gar nicht, ſondern ſchreitet ſo -160Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.fort zur manus injectio. Das römiſche Richteramt iſt alſo nur eingeführt, um für zweifelhafte Fälle den Partheien Gelegenheit zu geben, ſich das Recht weiſen zu laſſen. Der Richterſpruch aber übt keine Wirkung aus, die die Partheien nicht ebenſo gut auf anderm Wege erreichen könnten, und der Grund, warum ihm überhaupt eine entſcheidende Wirkung zukömmt, liegt nicht im öffentlichen Charakter des Richteramts, ſondern im Willen der Partheien. Der Richter iſt alſo nichts als ein Schiedsrich - ter (arbiter), und es gab eine unendliche Menge von Fällen, in denen er officiell mit dieſem Namen bezeichnet wurde.

Wenn wir jetzt einen Rückblick werfen wollen auf den Weg, den wir in den letzten drei Paragraphen zurückgelegt haben, ſo führte uns derſelbe von jenem niedrigſten Punkte an, wo Recht und Gewalt noch zuſammen fallen, der Erbeutung vom Feinde, durch die Selbſthülfe hindurch bis zur Organiſation der Rechts - pflege, aber es blieb uns doch eine und dieſelbe Idee beſtändig zur Seite, jene Idee nämlich, daß perſönliche Thatkraft die Mutter und darum auch die legitime Beſchützerin des Rechts iſt. Dieſe Thatkraft iſt nicht die nackte, phyſiſche Gewalt, ſon - dern die reale Bewährung der Perſönlichkeit, eine im Dienſte der Rechtsidee thätige Kraft, ja das Prinzip des Privatrechts ſelbſt in ſeiner urſprünglichen Friſche und Energie.

Jene Idee erſcheint nun als das äußerſte Minimum, mit dem die Rechtsbildung beginnen kann, als abſolut erſte Pro - duction des Rechtsbewußtſeins überhaupt, und darum durfte und mußte ſie an die Spitze unſerer ganzen Darſtellung geſetzt werden. Aus dieſem ſchwachen Keim heraus hat ſich auch bei andern Völkern das Recht entwickelt, aber nicht überall ſind wir ſo glücklich, wie im vorliegenden Fall, an der Blüthe und der reifen Frucht noch den urſprünglichen Keim nachweiſen zu kön - nen. Unvermögend, jene Idee auf die Dauer mit der ſteigenden1611. Prinzip d. ſubj. Willens Schluß Uebergang. §. 12.Entfaltung des Staats-Prinzips zu verſöhnen, hat manches Volk dieſelbe fallen laſſen und in demüthiger Erniedrigung des perſönlichen Selbſt - und Rechtsgefühls den Staat als Schöpfer und Vormund des ſubjektiven Rechts hingeſtellt. Aber in der römiſchen Rechtsanſchauung Dank ſei es ihrer unverwüſt - lichen Natur und jenem männlichen Selbſtgefühl der Römer wurzelte dieſe Idee feſter, und der juriſtiſche Inſtinkt der Römer wußte dieſelbe ſo zu geſtalten, daß ſie ſelbſt mit der höchſten Entwicklung des Staats ſich vertrug. Dies geſtaltende Talent bewährte ſich vor allem daran, daß jene Idee von vornherein in feſte Formen getrieben wurde. Dieſe Formen mochten im Laufe der Zeit immer enger werden, mit jeder Verjüngung ihrer Form mochte die Idee ſelbſt an ihrer urſprünglichen Schärfe einbüßen, aber trotzdem bleibt ſie Jahrhunderte lang der rothe Faden, der ſich durch das ganze Recht hindurch zieht.

Wir gehen jetzt zum Prinzip des älteſten Staats über und werden bei der Darſtellung deſſelben unterſuchen, wie unſere Idee ſich zu demſelben verhält. Eine exaggerirende Auffaſſung dieſes Prinzips, die daſſelbe mit dem patriciſchen Recht identi - ficirte, hat dahin geführt, jene durch und durch national-römi - ſche Anſchauung, jene Uridee eines jeden Rechts für die älteſte Zeit Roms zu läugnen und dieſelbe, indem ſie nur den Aus - druck plebejiſcher Sinnesweiſe enthalten ſoll, erſt mit dem Er - ſtarken des Plebejerthums auftreten zu laſſen. Dieſe Anſicht hat keinen weitern Grund für ſich, als die vorgefaßte Meinung, daß jene Idee mit dem Prinzip des älteſten Staats unverträg - lich geweſen. Ich hoffe zeigen zu können, daß dieſe Meinung auf einem Irrthum beruht, der römiſche Geiſt vielmehr von Anfang an die Kraft beſeſſen hat, beide Prinzipien, das des Privatrechts und des Staats, aus ſich hervorzutreiben und bei - den gerecht zu werden.

Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 11162Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.

II. Familienprinzip und Wehrverfaſſung, die Faktoren der organiſirten Gemeinſchaft.

Vorbemerkung.

XIII. In der Rechtsanſchauung, die wir bisher erörtert haben, lag gleichmäßig eine negative und poſitive, eine abſto - ßende und vereinigende Kraft. Eine negative und abſtoßende, inſofern ſie den Fremden als rechtlos, ihn ſelbſt und alle ſeine Habe als Gegenſtand der Erbeutung hinſtellt; eine poſitive und vereinigende Kraft, inſofern ſie die Verwirklichung des Rechts lediglich dem Subjekt überläßt und damit daſſelbe veranlaßt, ſich fremder Hülfe zu verſichern, die Gemeinſchaft zu ſuchen. Gerade jene Feindſeligkeit, die der Idee des Rechts urſprünglich inne wohnt, kettet, ſo paradox dies klingt, die Gemeinſchaft um ſo feſter; die Rechtloſigkeit des Menſchen erzeugt die Rechtsfähigkeit des Bürgers. Indem wir die weitere Aus - führung dieſes Gedankens dem §. 16 vorbehalten müſſen, ge - nügt hier die Bemerkung, daß unſer Prinzip des ſubjektiven Willens bereits den Keim ſtaatlicher Gemeinſchaft in ſich trägt und uns zur Betrachtung deſſelben den Weg bahnt.

Das Schutzbedürfniß führt zur Gemeinſchaft, aber im Laufe der Zeit wirkt letztere auf das ſubjektive Rechtsprinzip im hohen Grade zurück. Iſt dies ſchon im älteſten römiſchen Recht der Fall, erſcheint hier mit andern Worten der Staat noch als eine bloße Vereinigung gleichberechtigter Individuen, eine Verbrüde - rung zum Schutz und Trutz oder beruht er, wie der heutige, be - reits auf Ueber - und Unterordnung? Die Frage iſt von großer Wichtigkeit, und es iſt nichts verkehrter, als den altrömiſchen Staat, weil in ihm ein König, geſetzgebende, richterliche Ge - walt u. ſ. w. auftreten, mit unſerm heutigen auf eine Linie zu ſtellen. Das weſentliche ſind die Ideen, worauf die königliche, geſetzgebende Gewalt u. ſ. w. ſich ſtützen, und ſie können in1632. Der Staat allgemeine Betrachtung. §. 13.verſchiedenen Verfaſſungen himmelweit auseinander gehen. Hin - ſichtlich der richterlichen Gewalt habe ich im vorigen Para - graphen darzuthun geſucht, daß ſie nicht aus der Idee ſtaatlicher Ueberordnung, ſondern aus dem Prinzip des ſubjektiven Wil - lens hervorgegangen iſt; ſchon dies eine Beiſpiel muß uns be - hutſam machen, uns lehren, daß wir uns nicht dabei beruhi - gen dürfen, im alten römiſchen Staate die weſentlichen Be - ſtandtheile des heutigen wiedergefunden zu haben, ſondern daß wir vor allem den ſpecifiſch-ſtaatlichen Gehalt derſelben einer Prüfung unterwerfen müſſen.

Dies ſoll nun im nachfolgenden geſchehen, und ich hoffe zeigen zu können, daß dieſer Gehalt, nämlich die Idee der Un - terordnung der Individuen unter die Staatsgewalt, ein außer - ordentlich geringer iſt, ſich nämlich beſchränkt auf das militäri - ſche Intereſſe. Die Idee der Unterordnung erſcheint meiner Anſicht nach in Rom urſprünglich zuerſt im Heerweſen. Eine unabweisbare Nothwendigkeit ſchließt hier das Verhältniß der Coordination der Individuen aus und ſetzt das der Subordi - nation an deren Stelle. Im übrigen aber, ſoweit dieſe Rückſicht nicht entgegentritt, iſt Coordination das reguläre Verhältniß der Gemeinſchaft, und ſowohl die geſetzgebende als ſtrafrichter - liche und polizeiliche Gewalt fügen ſich dieſem Geſichtspunkt.

Die Form dieſes coordinirten Verhältniſſes wird beſtimmt durch das Familienprinzip, es iſt die des Geſchlechterſtaats. Die älteſte römiſche Verfaſſung enthält ſonach eine Combination zweier Prinzipien, eines coordinirenden, des Familienprinzips, und eines ſubordinirenden, der Wehrverfaſſung. Der älteſte Staat ſteht mit ſeinen Füßen im Familienprinzip, mit ſeinen Spitzen und Mittelgliedern in der Wehrverfaſſung, d. h. die Gentes und die Stellung der Individuen innerhalb derſelben werden durch jenes Prinzip, die Curien, Tribus mit dem - nig und den Vorſtänden ſämmtlicher Genoſſenſchaften durch das militäriſche Intereſſe beſtimmt. Wir wollen, bevor wir die Ge - ſtalt, die dieſe beiden Prinzipien dem römiſchen Staat und Recht11*164Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.gegeben haben, kennen lernen, dieſelben einer flüchtigen allge - meinen Betrachtung unterwerfen.

Die Familie oder die verwandſchaftliche Verbindung iſt auf den höhern Stufen der Rechtsbildung wenigſtens in ihren ent - fernteren Schwingungen ein durchaus freies Verhältniß der in - dividuellen Liebe. Von weſentlicher Bedeutung für den Staat ſind nur die zwei engſten Familienverhältniſſe, die Ehe und das elterliche Verhältniß, und hinſichtlich ihrer iſt er berechtigt und verpflichtet, ſelbſt durch Rechtsvorſchriften, ſoweit dies möglich iſt, dafür zu ſorgen, daß dieſe beiden Hauptquellen der Sittlichkeit nicht getrübt werden. Ueber dieſe beiden Kreiſe hinaus überläßt der Staat die Familie ſich ſelbſt, ihrer eignen ſittlichen Lebenskraft d. h. der Liebe. Die Erfahrung aber zeigt, daß dieſe Lebenskraft eine ſchwache iſt. Mit jeder Generation werden die Schwingungen einer Familie weiter; neue und engere Bande beeinträchtigen die ererbten, und mit der raſch abnehmenden Liebe und der Pflege der Verwandſchaft verliert ſich allmählig auch die Erinnerung derſelben.

Ganz anders auf den niedrigen Stufen des ſtaatlichen Le - bens. Es läßt ſich im allgemeinen der Satz aufſtellen, daß die äußere, rechtliche Organiſation der Familie im umgekehrten Verhältniß zur Reife der Staatsentwicklung ſteht; je unvoll - kommner letztere, deſto ausgebildeter jene und umgekehrt. Der Grund liegt auf der Hand. Im entwickelten Staat hat die Fa - milie weder für ihn ſelbſt, noch für das Individunm ein recht - liches Intereſſe; der Staat ſteht im unmittelbaren Verhältniß zum Einzelnen, und letzterer beſitzt an ihm ſeinen rechtlichen Schutz. Wo aber der Staat erſt in der Bildung begriffen und darum unvermögend iſt, rechtliche Hülfe zu gewähren, da be - friedigt ſich das Bedürfniß derſelben durch ein gegenſeitiges Schutz - und Trutzbündniß der einzelnen Individuen, und zwar liegt es am nächſten, das bereits von der Natur ſelbſt dargebo - tene Verhältniß der Familienverbindung dazu zu verwenden. Letztere erlangt auf dieſe Weiſe durch die Hülfloſigkeit des Staats1652. Der Staat allgemeine Betrachtung. §. 13.eine ganz andere Stellung und Bedeutung und eine ganz an - dere Feſtigkeit, als ihr im entwickelten Staat zukömmt; ſie dient als Surrogat des Staats, und nimmt als ſolches bedeutende politiſche Elemente in ſich auf.

Im Laufe der Zeit verwandelt ſich die durch das ſtaatliche Prinzip beſtimmte Familie in einen durch das Familienprinzip beſtimmten Staat. Mehre Familien vereinigen ſich, eine Fa - milie erweitert ſich zu einem Geſchlecht oder Stamm, der ſeiner - ſeits ſich wieder in mehre Zweige, Geſchlechter und Familien ſpaltet. So entſteht der Geſchlechterſtaat, ein Geſchiebe von kleinern oder größern compakten Einheiten, die urſprünglich die Verwandſchaft zum Prinzip hatten. Die Verbindung dieſes Geſchlechterſtaates iſt ungleich loſer, als die jener kleineren Kreiſe in ſich. In letzteren liegt die eigentliche Lebenskraft der Verfaſſung; ſie ſind Staaten im Kleinen, die ſich zu einem Staatenbund vereinigt haben.

Der Geſchlechterſtaat in ſeiner Jugendkraft bezeichnet nicht bloß eine beſtimmte Form ſtaatlicher Verbindung, ſondern eine beſtimmte Stufe der geſammten politiſchen und rechtlichen Ent - wicklung. Einerſeits gibt die politiſche Function der Familie ihr auch in privatrechtlicher Beziehung eine eigenthümliche Geſtal - tung, die wiederum auf das Vermögen zurückwirkt. Anderer - ſeits aber influirt die privatrechtliche Natur dieſes Verhältniſſes auf den Staat ſelbſt und die ganze politiſche Geſinnungsweiſe. Dies bewährt ſich auch in der excluſiven Stellung des Staats nach außen hin. Da nur derjenige politiſch berechtigt iſt, der zu einem Geſchlecht gehört, die Geſchlechter alſo die Pforten des Staats ſind, ſo wird der Einlaß Fremder in den Staat ſehr erſchwert; er ſetzt ja Aufnahme in die enge, über die bloß poli - tiſchen Intereſſen weit hinausreichende Verbindung eines Ge - ſchlechts voraus.

Findet nun eine Reception Fremder auf das Staats gebiet ohne Aufnahme in die Geſchlechter in einem irgend erheb - lichen Maße Statt, ſo liegt in dieſem Verhältniß der Keim166Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.einer reichen politiſchen Entwicklung. Je mehr die Klaſſe dieſer Staatsangehörigen, die von der activen Theilnahme am Staat ausgeſchloſſen ſind und ſich als Unterthanen des herrſchenden Standes bezeichnen laſſen, an numeriſcher Stärke und Wohl - ſtand zunimmt, um ſo mehr ſtrebt ſie, ihre rechtliche Stellung zu verbeſſern, und dieſe Beſtrebungen mit der ewigen Friction, die ſie hervorrufen, ſind für die ganze Rechts - und Staatsent - wicklung von den wohlthätigſten Folgen. Sie ſpornen auf beiden Seiten die vorhandenen Kräfte auf ihr höchſtes Maß und er - ſchließen eine unverſiegbare Quelle politiſcher Intelligenz und Thatkraft. Es iſt dies Verhältniß treffend verglichen77)Von Göttling Geſchichte der röm. Staatsverf. S. 285. Wenn er aber hinzufügt: bis der härtere Stein des plebejiſchen Prinzips den wei - cheren des patriciſchen mürbe gerieben hatte , ſo mag dieſe Vertheilung der Härte und Weichheit für die beiden Mühlſteine durchaus zutreffen, für Pa - tricier und Plebejer aber nichts weniger, als das. mit zwei aufeinander gefügten Mühlſteinen, durch deren Bewegung das wahre politiſche Leben erſt hervortritt ; man könnte auch auf die Funken verweiſen, die dem Feuerſtein entſprühen, wenn der Stahl ihn trifft.

Neben dem Geſchlechterſtaat gibt es noch einen andern Aus - fluß des Familienprinzips, den patriarchaliſchen Staat. Der Unterſchied beider liegt darin, daß die Familie dort bloß zur rechtlichen Baſis des Staats gemacht wird, hier aber den Pro - totypus der ganzen Verfaſſung und Verwaltung gewährt. Das Verhältniß der ſtaatlichen Unterordnung iſt dem der Kinder zum Vater nachgebildet, die Macht des Staatsoberhauptes iſt eine erweiterte väterliche Gewalt und wird in dieſem Geiſte gehand - habt. Beide Ausflüſſe des Familienprinzips können in einer und derſelben Staatsverfaſſung zuſammentreffen; der Geſchlechter - ſtaat begründet dann das Verhältniß in der Seitenlinie , die politiſche Verbrüderung; der Patriarchalſtaat das Verhält - niß in auf - und abſteigender Linie , die politiſche patria potestas.

1672. Der Staat allgemeine Betrachtung. §. 13.

Es iſt nun bemerkenswerth, daß dieſer zweite Ausfluß des Familienprinzips in Rom nicht oder nicht mehr hervortritt. Die Punkte, die er ſonſt einnehmen würde, nämlich die der Ueber - und Unterordnung, fallen hier der Wehrverfaſſung zu. Die Wehrverfaſſung ſteht auf der Stufenleiter von Formen der ſtaat - lichen Gemeinſchaft höher, als die Familienverfaſſung; inſofern ſie nämlich erſtens nicht ein bloßes Naturprodukt, ſondern ein Werk menſchlicher Ordnung und Einſicht iſt, und zweitens trotz der härtern Disciplin, die ſie in den Staat hineinbringt, doch der privatrechtlichen Freiheit einen größeren Spielraum gewährt, die politiſche und privatrechtliche Exiſtenz des Individuums nicht in dem Grade vermengt, wie dies in der Familienverfaſſung geſchieht. Sie tritt als Form des Staats nicht ſelten auf, na - mentlich gern in Verbindung mit dem Grundeigenthum, näm - lich im Lehnsſtaat wie z. B. bei den Germanen und Osmanen, und dann auch wie in Rom und bei den Germanen zur Zeit ihres erſten Auftretens in der Geſchichte in Verbindung mit dem Familienprinzip. Mit dem Patriarchalſtaat iſt ſie incompatibel; die demſelben eigenthümliche Vererbung der Staatsämter würde ihrem Intereſſe ſchnurſtracks entgegenlaufen, und ebenſo iſt auch die ſtaatliche Unterordnung, die beide begründen, ihrem Geiſt nach eine völlig verſchiedene. Es liegt die Vermuthung nahe, daß wo wir, wie bei den alten Römern und Germanen, die Wehrverfaſſung in Verbindung mit dem Geſchlechterſtaat auf - treten ſehen, erſtere den Patriarchalſtaat verdrängt hat. Der urſprünglich dieſe beiden Ausflüſſe des Familienprinzips in ſich vereinigende Familienſtaat erwies ſich bei fortgeſetzter kriegeri - ſcher Lebensweiſe unzureichend. Das militäriſche Intereſſe war prädominirend und bewirkte, daß die erblichen Würden des Pa - triarchalſtaats den nach perſönlicher Tüchtigkeit vergebenen mi - litäriſchen Aemtern Platz machten, die Geſchlechtereintheilung aber ſich den Anforderungen der Wehrverfaſſung fügte.

Indem wir uns jetzt unſerer eigentlichen Aufgabe zuwenden, bemerken wir, daß dieſelbe nicht bloß darin beſteht, darzuthun,168Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.daß der ältere römiſche Staat auf dem Familienprinzip und der Wehrverfaſſung beruhte, ſondern ebenſowohl darin den Ein - fluß nachzuweiſen, den dieſe beiden Motive auf das ganze Recht ausgeübt haben. Wir befolgen dabei folgende Anord - nung:

  • 1. Das Familienprinzip.
    • a. das Weſen der Gentilverbindung §. 14.
    • b. Stellung des Individuums zur Gemeinſchaft §. 15.
    • c. Stellung außerhalb der Gentilverbindung §. 16.
  • 2. Der Einfluß der Wehrverfaſſung auf Staat und Recht §. 17.
1. Das Familienprinzip.
Die Gentilverbindung Die Gens eine Familie im Großen und ein Staat im Kleinen Einfluß auf das geſammte Recht.

XIV. Der römiſche Geſchlechterſtaat gleicht einer Pyramide. Die Baſis deſſelben bilden dreihundert Gentes, die in pyrami - daliſcher Abſtufung zuerſt in dreißig Curien, ſodann in drei Tribus und endlich in die perſönliche Spitze des Ganzen, den König, zuſammenlaufen. Nur die Gentes ſtehen hier zur Be - trachtung; es iſt bereits im vorigen Paragraphen bemerkt, daß nur ſie dem Familienprinzip, die Curien und Tribus aber ſowie das Königthum der Wehrverfaſſung angehören. Daß die Gen - tes in der That auf dem Familienprinzip beruhen, iſt zwar in Abrede geſtellt, allein man hat dabei auf Unweſentliches Ge - wicht gelegt. Ob nämlich alle Mitglieder einer Gens wirklich denſelben Stammvater gehabt haben, ob die Idee der Verwand - ſchaft ſich im Laufe der Zeit völlig verloren und die Gens ſich in eine gewöhnliche politiſche Corporation verwandelt hat, das iſt gleichgültig. Das weſentliche iſt, ob die Gens in ihrem gan - zen Geiſt und Zuſchnitt urſprünglich auf der Idee der Familien - verbindung beruht, und ein Blick, ſollte man ſagen, müßte dies1692. Der Staat 1. Familienprinzip die Gentilverbindung. §. 14.zur Evidenz erheben. Die Sprache gibt uns in der Bezeich - nung gens, Geſchlecht, den deutlichſten Fingerzeig. 78)Gens, genus vom Sanskr. dschan, geboren werden. Der Name decuria bezeichnet die gens von Seiten ihrer Stellung in der Wehrverfaſ - ſung. S. §. 17.

Wir wenden uns zuerſt der inneren Organiſation der Gens zu und faſſen das Reſultat der folgenden Ausführung in den Satz zuſammen, daß die Gens die Identität der Familie und des Staats iſt, ſich, wie man es will, als eine Familie mit ſtaatsrechtlichem Charakter und als ein Staat mit familienarti - gem Charakter bezeichnen läßt. Sie geht hervor aus der Fami - lie und bewahrt ſich die Innigkeit dieſer Verbindung; indem ſie aber andererſeits eine politiſche Größe wird, wirkt dieſe ihre politiſche Seite ebenſo ſehr auf ihre familienrechtliche Seite zu - rück, wie letztere auf jene. Beide Seiten laufen ſo in einander über, daß eine genaue Scheidung derſelben kaum möglich iſt.

Da die Gentilitätsverbindung ſchon früh ihre weſentliche Bedeutung verlor, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß un - ſere Nachrichten über ſie nur dürftig und unvollſtändig ſind. Aber es ragen doch noch einzelne erhaltene Punkte hervor, aus denen ſich mit Hülfe ſonſtiger hiſtoriſcher Analogien und der inneren Conſequenz der Sache ſelbſt das Weſen jener Verbin - dung beſtimmen läßt. Wir wollen dieſen Verſuch machen.

Die Verbindung, die die Gens begründet, umfaßt die ganze Exiſtenz des Einzelnen; alle Intereſſen, die ſein Leben bewe - gen, weiſen ihn auf ſie zurück und finden innerhalb ihrer theils ihre ausſchließliche Befriedigung, theils wenigſtens Anknü - pfungspunkte. Die Verehrung der Götter wie der Waffendienſt und die Ausübung politiſcher Thätigkeit führt die Gentilen ſtets wieder zuſammen. In den heiligſten und ernſteſten Momenten des Lebens, im Tempel wie auf dem Schlachtfelde, ſtehen ſie ſich zur Seite; Schande und Ehre, Glück und Unglück iſt ge - meinſam. Der Glanz und der Ruhm der Gens kömmt dem Ein -170Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.zelnen zu Gute, wie umgekehrt ſeine Thaten auf ſie Schatten oder Licht werfen. Darum nimmt die Gens an den Schickſalen und Handlungen des Einzelnen das lebendigſte Intereſſe; er ſteht ja zu ihr nicht in dem loſen Verbande eines Corporations - mitgliedes, das nur gemeinſame Rechte mit ihr auszuüben hat, ſondern in dem eines Familienmitgliedes, deſſen Wohl und Wehe, Schande und Ehre die ganze Familie berühren.

Dies äußert ſich auf doppelte Weiſe, nämlich theils in dem Anrecht, das der Einzelne an die Gens, theils in dem, das ſie an ihn hat. Jenes beſteht in dem Anſpruch auf Schutz und Un - terſtützung, dieſes in den Beſchränkungen, denen der Einzelne im Intereſſe der Gens unterworfen iſt.

Die gegenſeitige Unterſtützungspflicht der Verwandten iſt einer der natürlichſten und regulärſten Ausflüſſe des Familien - prinzips. Die Form, in der, und das Maß, bis zu dem ſie Statt findet, iſt bei verſchiedenen Völkern verſchieden; ſo ſteigert ſie ſich bei einigen bis zur Blutrache, bei andern wie z. B. den Germanen äußert ſie ſich in der Verpflichtung, einen Antheil am Wehrgeld beizuſteuern. 79)S. von Sybel Entſtehung des deutſchen Königthums S. 20 und flg. und Waitz deutſche Verfaſſungsgeſchichte B. 1 S. 212 215 u. Beil. 1 von der ſ. g. Geſammtbürgſchaft.

Was nun den Umfang dieſer Verpflichtung im älteſten - miſchen Recht anbetrifft, ſo wird zunächſt die Annahme einer rechtlichen Vertretungspflicht ſchwerlich auf Widerſpruch ſto - ßen. Ein Anwendungsfall derſelben iſt uns ausdrücklich be - zeugt, nämlich die Vormundſchaft. 80)Cicero de invent. II. 50 nennt zwar nur die cura prodigi, es kann aber ſchon wegen des durchgehenden Parallelismus zwiſchen Erbrecht und Vormundſchaft keinem Zweifel unterliegen, daß die Gentilen, wie ſie hinter den Agnaten zur Erbſchaft, ſo auch hinter ihnen zur Tutel gerufen waren. S. des weitern Rudorff das Recht der Vormundſchaft B. 1 S. 210 u. flg.Fehlte es nämlich an ei - nem Vormunde, ſo traten zur Aushülfe die Gentilen ein. Dies iſt begreiflicherweiſe nicht ſo zu verſtehen, als ob ſämmtliche1712. Der Staat 1. Familienprinzip Verpflichtung der Gens. §. 14.Mitglieder der Gens die Vormundſchaft geführt hätten, ſondern durch ein Dekret derſelben wurde ſie einem unter ihnen übertra - gen. Die Vorſorge der Gens beſchränkte ſich aber nicht bloß auf die Beſtellung des Vormundes, ſondern ſchloß ohne Zweifel auch eine Beaufſichtigung deſſelben in ſich. Dem unfähi - gen und verdächtigen Vormund gab die Gens auf, ſein Amt niederzulegen oder zu cediren; ſträubte er ſich, ſo konnte ſie ur - ſprünglich gewiß ſelbſt ſeine Abſetzung verfügen, im ſpätern Recht aber dieſelbe dadurch herbeiführen, daß ſie Einen aus ihrer Mitte zur Anſtellung der actio suspecti tutoris veran - laßte. Dieſe Klage war eine Popularklage, die jeder aus dem Volk erheben konnte, und das ältere Recht kennt noch einige andere, mittelſt deren Jemand in gleicher Weiſe das Intereſſe einer andern Perſon wahrnehmen kann. Sie bilden zu der Strenge, mit der dies Recht im übrigen an der Sachlegitima - tion feſthält, einen auffallenden Gegenſatz, und ich bin geneigt, ſie als Ausflüſſe des Familienprinzips aufzufaſſen. 81)Die ſpätern römiſchen Juriſten nehmen an, daß das ältere Recht hier ſeinen Grundſatz: nemo alieno nomine lege agere potest verlaſſen habe. Allein nach der im Text verſuchten Anknüpfung dieſer Klage an die alte Gentilverfaſſung würde die vermeintliche Singularität verſchwinden. Die Gens iſt nicht irregulärerweiſe berechtigt, für ihr hülfloſes Mitglied eine Klage erheben zu laſſen, ſondern ſie iſt verpflichtet, ſich ſeiner an - zunehmen. Die angeſtellte Klage macht alſo zunächſt Recht und Pflicht der Gens ſelbſt geltend, und nur mittelbar kömmt ſie dem Intereſſirten zu Gute.Wenn Jemand außer Stand war ſich ſelbſt zu vertheidigen und dem Mangel durch Beſtellung eines Vormundes nicht abzuhelfen war, ſo lag es, wenn nicht die nächſten Verwandten ſich ſeiner annahmen, der Gens ob, ihm den nöthigen Schutz zu erthei - len. Dahin gehört z. B. der Fall, wenn er ſich in feindlicher Gefangenſchaft befand. Sein zurückgelaſſenes Vermögen war hier ohne Aufſicht, es bedurfte offenbar eines Schutzes. Das ſpätere Recht gewährt denſelben in Form einer Popularklage,172Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.der actio furti gegen jeden, der Sachen aus dieſem Vermögen entwandt hat; im älteſten Recht erſetzte die Gentilitätsverbin - dung dieſen Mangel. Hierher gehört ferner der Fall, wenn ein Gentile unrechtmäßigerweiſe in Rom ſelbſt in Haft gehalten wurde, ſei es als angeblicher Sklave oder wegen behaupteter Schuld. Trat hier nicht aus eignem Antriebe Jemand als vin - dex libertatis auf, ſo war es Sache der Gens, für die Beſtel - lung eines ſolchen Sorge zu tragen. Sie verfolgt damit nicht bloß ihr eignes Intereſſe, ſondern erfüllt zugleich eine ihr oblie - gende Pflicht. Derſelbe Geſichtspunkt wird, wenn eins ihrer Mitglieder erſchlagen, und kein näherer Verwandter vorhanden oder fähig war, ihn zu rächen, ihr das Rächeramt übertragen haben. Noch in ſpäterer Zeit wird es den Verwandten zur Pflicht gemacht, in rechtlichem Wege den Mörder zu verfolgen; was aber in ſpäterer Zeit in Form der Klage bewirkt wird, geſchah urſprünglich in Form der Selbſthülfe. In einer Einrichtung, die auf ein angebliches Geſetz des Numa zurückgeführt ward, läßt ſich noch eine Spur der alten Blutrache erkennen. 82)Serv. ad Virg. Eclog. IV. 43. In legibus Numae cautum est, ut si quis imprudens occidisset hominem pro capite occisi agnatis (nach der glücklichen Conjektur von Huſchke ſtatt des handſchriftlichen et natis) ejus in concione offerret arietem.Wenn Jemand einen andern aus Verſehn getödtet hatte, ſo mußte er den Verwandten deſſelben einen Widder ſtellen; es war der Sündenbock, an dem ſie ſtatt ſeiner die Todesſtrafe vollzogen. 83)Fest. Subigere arietem in eodem libro Antistius esse ait dare arietem, qui pro se agatur, caedatur. Ueber den Zweck des Opfers laufen die Anſichten freilich ſehr auseinander. S. Rein das röm. Kriminalrecht S. 403. Die im Text vorgetragene iſt die von Platner Quaest. de jure crimin. p. 37.Das vergoſſene Blut forderte wieder Blut; hatten die Ver - wandten im Fall des unvorſätzlichen Todtſchlages dieſe For - derung geltend zu machen, ſo galt das um ſo eher im Fall des Mordes.

1732. Der Staat. 1. Familienprinzip. Unterſtützungspflicht d. Gens. §. 14.

Wie das Unvermögen des einzelnen Gentilen, ſich ſelbſt zu rächen oder ſein Recht geltend zu machen, die Gens zur Rache oder zum Beiſtand verpflichtete, ſo legte auch pekuniäres Unver - mögen deſſelben ihr die Verpflichtung zur Unterſtützung auf. Die Klaſſiker84)S. die Zeugniſſe bei Walter Röm. Rechtsgeſch. Buch 1 Kap. 2. Anm. 40 42. bezeugen uns dies für den Fall des Loskaufes aus feindlicher Gefangenſchaft, für ſchwere, ungewöhnliche Staatsabgaben und ſelbſt für die über ein einzelnes Mitglied verhängten Geldbußen. Ob dieſe Verpflichtung mehr ſittlicher, als juriſtiſcher Art war, ob ſie im letztern Fall ſogar, wie dies bei den Germanen hinſichtlich der Pflicht, einen Theil des Wehr - geldes zu entrichten, Statt fand,85)Das angelſächſiſche Recht iſt in dieſer Beziehung am weiteſten ge - gangen, indem es neben den Verwandten die gegyldan d. h. nach Sybels treffender Bezeichnungsweiſe die Erſatzmänner der alten Gentilen, zu einem Drittheil, eventuell zur Hälfte des Wehrgeldes heranzog. von dritten Perſonen gel - tend gemacht werden konnte, ob ſie alſo mit andern Worten eine eventuelle Haftungspflicht der Gens in ſich ſchloß, läßt ſich nicht beſtimmen. Dagegen darf man annehmen, daß es ein Ehrenpunkt für die Gens war, ihre durch unverſchuldete Armuth in Noth z. B. in Schuldhaft gerathenen Mitglieder nicht im Stich zu laſſen. Ob ſie in feindlicher Gefangenſchaft oder in Rom ſelbſt im Kerker ſchmachteten und den Verkauf trans Ti - berim zu gewärtigen hatten, war in der That gleichgültig.

Die erforderliche Beiſteuer mochte theils durch freiwillige Beiträge aufgebracht, theils durch ein Dekret der Gens ausge - ſchrieben werden. Es iſt denkbar, daß auch das Vermögen der Gens, worüber nachher ein mehres, für ſolche Zwecke in An - ſpruch genommen ward.

Dieſe gegenſeitige Unterſtützungspflicht, man möchte ſie eine Aſſekuranz gegen Noth und Unbill nennen, gab den Patriciern den Plebejern gegenüber ein außerordentliches Uebergewicht. In dieſer privatrechtlichen Verbrüderung lag vielleicht ebenſo174Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.ſehr der Grund ihrer unverwüſtlichen Widerſtandskraft, als in ihrer dominirenden ſtaatsrechtlichen Stellung.

Es liegt auf der Hand, daß dieſem Anrecht, das der Ein - zelne an der Gens hatte, Beſchränkungen und Verpflichtungen von ſeiner Seite correſpondiren mußten. War er auf die Gens, ſo war ſie wiederum auf ihn verwieſen; beide Seiten dieſes Verhältniſſes waren Ausflüſſe deſſelben Familienprinzips und bedingten ſich gegenſeitig.

Der Geſichtspunkt, der dieſen Beſchränkungen, die wir gleich im einzelnen kennen lernen wollen, zu Grunde liegt, iſt der eines coordinirten Verhältniſſes ſämmtlicher Gentilen, das gegenſeitige Rechte und Verpflichtungen mit ſich führt. Ich muß dieſe Bemerkung um ſo mehr betonen, als der Anſchein mit ihr in Widerſpruch ſteht, die richtige Auffaſſung jenes Verhältniſ - ſes meiner Anſicht nach aber eine den engen Kreis der Gens weit überragende Bedeutung hat. Es ſoll im folgenden Para - graphen nachgewieſen werden, daß auch das Verhältniß des Einzelnen ſowie der Gens zum Geſammtſtaat das der Coordina - tion iſt, und nur innerhalb der Wehrverfaſſung eine Subordi - nation hervortritt. Inſofern nun der Geſammtſtaat nur eine Gens im vergrößerten Maßſtabe iſt, ſowie man die Gens einen Staat im verkleinerten nennen kann, müſſen wir bereits hier jenes durchgehende Verhältniß der ſtaatlichen Gemeinſchaft ge - nau ins Auge faſſen. Die Beſchränkungen, die wir hier finden werden, wiederholen ſich dort; überzeugen wir uns hier gleich, daß ſie nicht auf der Idee ſtaatlicher Unterordnung beruhen.

Die Gens iſt nichts, als der Complex ſämmtlicher Gentilen, und ihre Bezeichnung mit dem Ausdruck: gentiles drückt mit einem Wort das wahre Weſen derſelben aus. Iſt ſie nämlich nur der Complex der Gentilen, ſo kann ſie auch keine höhere Macht haben, als letztere ſelbſt oder mit andern Worten das einzelne Mitglied ſteht nicht unter der Gens, ſondern neben den Gentilen. Das Verhältniß wird dadurch kein anderes, daß dieſelben einen aus ihrer Mitte zum Vorſteher (decurio) wäh -1752. Der Staat 1. Familienprinzip Beſchränkung d. Gentilen. §. 14.len. Abgeſehen von ſeiner militäriſchen Function, nach der er ſeinen Namen trägt, hat er nichts zu befehlen, ſondern nur die Verhandlungen der Gens zu leiten und in ihrem Namen das Opfer darzubringen. Die Conſervirung des urſprünglichen Fa - milienbandes in der Gens beſchränkt ſich auf das Verhältniß der Brüder untereinander; das der patria potestas iſt weder in der Gens noch in dem Geſammtſtaat ſtaatsrechtlich nach - gebildet.

Wenn nun dies coordinirte Verhältniß der Verbrüderung dem Einzelnen Beſchränkungen auferlegt, ſo ſind dieſelben nicht anders aufzufaſſen, als der Preis, um den er der Vortheile die - ſes Verhältniſſes theilhaftig iſt; ſie tragen keinen andern Cha - rakter, als die Beſchränkungen, denen ſich Jemand durch Ein - tritt in irgend eine privatrechtliche Verbindung, ja durch Ab - ſchluß eines Vertrages unterwirft. Wenn das Mitglied einer ſolchen Verbindung ſich durch ſein Benehmen derſelben unwür - dig macht, was liegt näher, als ihn zu exkludiren? Eine an - dere Bewandtniß aber hat es auch nicht mit jener ſittenrichter - lichen Gewalt der Gens, von der uns als einzelnes Beiſpiel die Verdammung des Gedächtniſſes eines unwürdigen Gentilen nach ſeinem Tode ſo wie der Beſchluß, daß Niemand fortan ſeinen Namen tragen ſolle, gemeldet wird. Man hat darauf den gewiß unbedenklichen Schluß gebaut, daß jenes Mitglied bei Lebzeiten die Strafe des Ausſchluſſes aus der Gens erlitten haben würde. Das enge Verhältniß der Gentilen und die So - lidarität ihrer Ehre ſchloß eine ſolche Sorge für die ſittliche Reinheit und den guten Namen ihrer Genoſſenſchaft nothwen - digerweiſe in ſich.

Als geringere Strafe erſcheint die Ausſchließung von dem gentilitiſchen Gottesdienſt. Andere Strafen werden uns zwar nicht bezeugt, allein ſie ſind mittelbar durch jene beiden möglich gemacht. Wenn die Gens z. B. über ein Mitglied, das ſich gegen ſie vergangen, eine Geldſtrafe verhängt hatte, ſo brauchte letzteres ſich dem Beſchluß zwar nicht zu fügen denn wie176Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.konnten ſeine Genoſſen ihn ſtrafen, ihm etwas von dem Sei - nigen entziehen? aber andererſeits konnten letztere dann er - klären, daß ſie ihn nicht länger beim Gottesdienſt oder über - haupt nicht länger in ihrer Mitte dulden wollten. In dieſer Negative lag das indirekte Zwangsmittel zur Entrichtung der poſitiven Strafe. Dieſe Entrichtung ſtützte ſich alſo auf die eigne Wahl des Beſtraften, auf ſeine Einwilligung, und ich darf hier, wo uns zum erſten Mal auf dem Gebiete des älteſten Rechts die Strafe begegnet, gleich darauf aufmerkſam machen, daß auch ſie ſich jenem Fundamentalgrundſatz fügt, den wir in §. 12 in dem ältern Civilprozeß nachgewieſen haben, daß näm - lich der ſubjektive Wille der Urquell der Berechtigung und Ver - pflichtung iſt. Wie dort die manus injectio auf indirektem Wege die vertragsmäßige Unterwerfung unter den Richter bewirkt, ſo hier die Ausſicht auf Ausſtoßung aus der Gens die Unterwer - fung unter das gefällte Strafurtheil.

Dies negative Strafmittel erſetzte alſo der Gens vollſtändig den Mangel einer poſitiven Strafgewalt oder richtiger ſie ſchloß letztere dem Erfolg nach in ſich, ähnlich wie die Excommunica - tion für die kirchliche Strafgewalt im Mittelalter dieſelbe Be - deutung hatte. Es war damit der Gens möglich gemacht, eine ſittenrichterliche Gewalt über das einzelne Mitglied auszuüben, auf indirektem Wege jene, ſoll ich ſagen, theoretiſch unbe - ſchränkte Freiheit des Individuums in höchſt wirkſamer Weiſe zu temperiren. Es iſt nun meine feſte Ueberzeugung, daß dies in ausgedehntem Maße geſchah, und zwar ſtütze ich ſie auf fol - gende Erwägung. Es war eine ächt römiſche Idee, daß zwar die individuelle Freiheit eines möglichen Mißbrauches wegen rechtlich nicht beſchränkt zu werden brauche oder dürfe, dem Mißbrauch aber auf anderm Wege, nämlich durch die ſittenpo - lizeiliche Gewalt des Cenſors geſteuert werden müſſe. Wenn nun dieſes für unſere Auffaſſung im hohen Grade befremdliche Eingreifen des Cenſors in das Privatleben der römiſchen Sin - nesweiſe ſelbſt zur Zeit der höchſten Freiheitsentwicklung nicht1772. Der Staat 1. Familienprinzip. Gentil. Sittenpolizei. §. 14.widerſtrebte, ſo darf man um ſo ehr der ältern Zeit eine gleiche Anſicht unterlegen. Theils nämlich, weil dieſe Idee überhaupt eine patriarchaliſche, kindlich naive iſt, theils und vor allem aber weil dieſe ſittenrichterliche Gewalt in der alten Gentilver - faſſung ungleich motivirter iſt, als in der ſpätern. Daß ein öffentlicher Beamter den Bürger wegen Unfleißes, Leichtſinnes u. ſ. w. zur Verantwortung zieht, hat etwas viel herberes, ent - hält eine weit draſtiſchere Remedur, als wenn die Genoſſen, die ihn im Nothfall unterſtützen ſollen, dies thun. Hinſichtlich der letztern iſt es ein durch ihr eigenes Intereſſe und die Rückſicht auf den guten Ruf ihrer Genoſſenſchaft gebotenes Sicherungs - mittel; es ſind Familienmitglieder, die ihm eine Warnung er - theilen, und kein Dritter wird hinzugezogen. Jene ſittenrichter - liche Gewalt des Cenſors hat in der Familie ihren natürlichen Ausgangspunkt.

Weit entfernt alſo, die Einführung der ſittenrichterlichen Gewalt in Rom von der der Cenſur an zu datiren, erblicke ich in letzterer nichts als die ſpätere Geſtalt einer uralten Einrich - tung, eine Handhabung derſelben von Seiten des Geſammt - ſtaats gegenüber Plebejern ſowohl wie Patriciern, wäh - rend dieſelbe bis dahin an die patriciſche Gentilverfaſſung ge - knüpft geweſen war. Es iſt bezeichnend, daß die Cenſur zwei Jahre nach der lex Canuleja, die den Plebejern das connubium mit den Patriciern verlieh, eingeführt ward, und daß ſie in demſelben Maße an Macht und Einfluß zunimmt, wie die alte Gentilverfaſſung abnimmt. Nachdem durch jenes Geſetz die fa - milienrechtliche Scheidewand zwiſchen Patriciern und Plebejern niedergeriſſen war, legte die Cenſur den Keim zu einer Verall - gemeinerung jener urſprünglich patriciſchen Sittenpolizei. Die Idee war eine alte, die Form eine neue und bedingt durch den Mangel des Gentilitätsverbandes bei den Plebejern. Die Straf - mittel, die dem Cenſor zu Gebote ſtanden, hatten denſelben Charakter, wie die der Gens, nämlich den der Ausſchließung (von der Tribus, dem Senat, den Rittern); ſie beruhten aufJhering, Geiſt d. röm. Rechts. 12178Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.derſelben Idee, wie bei ihr, nämlich daß die Gemeinſchaft kein Recht habe, den Einzelnen wegen ſeiner Unwürdigkeit zu ſtrafen, wohl aber ſich von ihm loszuſagen.

Dieſe charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit der cenſoriniſchen Strafen möge noch als Argument für meine Anſicht aufgeführt werden. 86)Es wird auch der Spruch der Gens gerade wie der des Cenſors nota genannt. Liv. VI. 20 gentilicia nota adjecta. Der wahre, innere Grund derſelben aber liegt darin, daß die römiſche Sittenpolizei ein Ausfluß des Familien - prinzips iſt, in dem Maße, daß die Handhabung derſelben von Seiten des Cenſors nicht bloß berechtigt, auf eine frühere Ausübung derſelben durch die Gens zurückzuſchließen, ſondern ſelbſt erſt vermittelſt dieſer Anknüpfung an die Familie verſtänd - lich wird. Jene Gewalt des Cenſors konnte nur dadurch gedei - hen, daß ſie ein Pfropfreis von der der Gens war; auf dem Boden der Gentilverfaſſung hatte ſie ſich erſt bilden und entwickeln müſſen, um ſodann auch außerhalb deſſelben fortzukommen.

Dem bisherigen nach wird es keinem Bedenken unterliegen, dieſer Sittenpolizei in ihrer urſprünglichen Geſtalt mindeſtens denſelben Umfang zuzuweiſen, den ſie ſpäter in den Händen des Cenſors hat. Es iſt aber bekannt, daß der Cenſor nicht bloß wegen grauſamer, unehrenhafter, unſittlicher Handlungen zur Verantwortung zog, ſondern auch wegen verkehrter oder leicht - ſinniger ökonomiſcher Lebensweiſe. Sein Einſchreiten läßt ſich auf den Geſichtspunkt zurückführen, daß es Statt fand, wo Jemand der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, unter der das Recht ihm eine unbeſchränkte Freiheit zugeſtanden hatte, näm - lich der eines würdigen, verſtändigen Gebrauchs nicht entſpro - chen; es gewährte das außerhalb des Privatrechts liegende Tem - perament und Gegengewicht jener extremen Freiheit. So dürfen wir der gleichen Gewalt der Gens dieſelbe Bedeutung für die älteſte Zeit beilegen. Sie vermittelt das Prinzip des ſubjektiven Willens, das als ſolches kein höheres ſittliches Motiv enthält,1792. Der Staat 1. Familienprinzip. Gentil. Sittenpolizei. §. 14.ſondern das reine Produkt des Egoismus iſt und die unſitt - lichſten Conſequenzen in ſich ſchließt, mit der Sittlichkeit. Sie ſchützt die Kinder, Frauen und Sklaven, die jenes Prinzip der Gewalt des Hausherrn ohne Einſchränkungen überliefert, gegen grauſame und tyranniſche Behandlung. Glaubte der Vater oder Ehemann zur Ausübung ſeines jus necis ac vitae berechtigt zu ſein, ſo lag nichts näher, als die Gens zur Aſſi - ſtenz aufzufordern, und die Familiengerichte der ſpätern Zeit ſind ſchwerlich das Produkt dieſer ſpätern Zeit,87)Klenze Zeitſchr. für hiſt. Rechtsw. Bd. 6 S. 21 u. flg. ſondern fin - den ihren natürlichen Ausgangspunkt in der Gentilverfaſſung, in der Sittenpolizei der Gens ſowohl als in ihrer Verpflich - tung, ſich auch ihrer in der patria potestas ſtehenden Mitglie - der anzunehmen. Die Gens mahnt ferner den Verſchwender, der nach der Conſequenz des Eigenthumsbegriffes das Erbthum ſeiner Väter durchbringen und die Seinen darben laſſen, ja ſie ſelbſt verkaufen kann, dem Unfug Einhalt zu thun. Beachtet er die Mahnung nicht, ſo entzieht ſie ihm die Vermögensadmi - niſtration durch eine cura prodigi. Daß wir in letzterer einen Ausfluß und Reſt des Familienprinzips vor uns haben, bedarf wohl keiner Bemerkung; ſie ſichert ebenſo ſehr das Erbrecht der nächſten Verwandten des Verſchwenders, wie die Gens ſelbſt gegen die Gefahr, daß letzterer ihr demnächſt zur Laſt falle.

Indem wir jetzt dieſe ſittenpolizeiliche Gewalt der Gens ver - laſſen, mögen wir auch hier, wie wir es oben hinſichtlich ihrer Unterſtützungspflicht thaten, der politiſchen Bedeutung derſel - ben gedenken. Dieſe Gewalt verlieh der feſten korporativen Stellung der Patricier erſt ihren Abſchluß. Ein Stand, der feſt zuſammenhält und ſeine Mitglieder in der Noth unterſtützt, wird immer ein bedeutendes Uebergewicht über alle andern ha - ben. Dies Uebergewicht läßt ſich aber nur dann dauernd be - haupten, wenn ein höherer Grad der Ehre und ſittlicher Reinheit den Widerſpruch, der ſich ſtets dagegen erheben wird, verſöhnt. 12*180Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.Durch ſittenpolizeiliche Gewalt der Corporation über ihre Mit - glieder kann dies letzte Gut nicht geſchaffen, wohl aber erhalten und gefördert werden, und jene Einfachheit und Reinheit pa - triciſcher Sitte, die ſelbſt der Parteihaß der Plebejer nicht in Abrede zu ſtellen wagte,88) Niemals wird ihnen von den Plebejern Mangel an sanctitas und castitas vorgeworfen. Rubino Unterſuchungen über röm. Verf. u. Geſch. B. 1 S. 230 Anm. 3, der auch das Zeugniß von Cicero de republ. II. 34 anführt: quum honore longe antecellerent ceteris, voluptatibus erant inferiores. und die begreiflicherweiſe die poli - tiſche Poſition der Patricier außerordentlich verſtärken mußte, ſie kömmt vor allem mit auf Rechnung jener gentilitiſchen Sitten - polizei. Der praktiſche Inſtinkt der Römer hatte von vornherein erkannt, daß die Freiheit, um Macht zu ſein, ſich ſelbſt Schran - ken auflegen muß, und jener wilde Sinn, aus dem das Prin - zip des ſubjektiven Willens hervorging, nahm keinen Anſtoß daran, daß dies Prinzip dem Erfolge nach Beſchränkungen unterworfen ward, die ſelbſt unſerm ſiechen Perſönlichkeitsge - fühl als unerträgliche Bevormundung erſcheinen würden. Der weſentliche Unterſchied liegt freilich darin, daß dieſe Beſchrän - kungen in Rom das Werk des eignen Willens waren, den gern gezahlten Preis enthielten, um den man ein Gut er - kaufte, das in dieſem Prinzip ſelbſt nicht lag, nämlich Schutz, Hülfe und Unterſtützung von Seiten der Genoſſen.

Faſſen wir jetzt die übrigen Beſchränkungen ins Auge, die die Gentilverfaſſung nach ſich zog. Von dem in derſelben liegenden Autonomierecht der Gens braucht weiter nichts geſagt zu wer - den, als daß auch hier die bindende Kraft ihrer Beſchlüſſe ſich auf vertragsmäßige gegenſeitige Verpflichtung der einzelnen Mit - glieder zurückführen läßt. Der Wirkung nach kommen dieſe Beſchlüſſe Geſetzen gleich, der Form nach ſind ſie Verabredungen der einzelnen Gentilen. Auch das Geſetz knüpft in Rom an den Geſichtspunkt des Vertrages ſämmtlicher Einzelnen d. h. an unſer Prinzip des ſubjektiven Willens an, und wir werden im1812. Der Staat 1. Familienprinzip. Einfluß auf die Ehe. §. 14.folgenden Paragraphen den Verſuch machen, die geſetzgebende Gewalt des Geſammtſtaats ebenſowohl unter dieſen Geſichts - punkt zu bringen, wie hier die der Gens.

Die Beſchränkungen, die wir jetzt noch kennen zu lernen ha - ben, beziehen ſich auf das ältere Familien - und Vermögens - recht. Wir dürfen dabei auch diejenigen berückſichtigen, die, ohne gerade im Intereſſe der Gens eingeführt zu ſein, ſich doch als Conſequenzen oder Ausflüſſe des Familienprinzips darſtel - len. Als ſolche erſcheinen uns namentlich die hinſichtlich der Ehe Statt findenden. Im ſpätern römiſchen Recht iſt die Ehe ein ſehr profanes und hinſichtlich ihrer Dauer ganz in das Belieben der Gatten geſtelltes Verhältniß. Im ältern Staat, der ganz auf das Familienprinzip gebaut war, ward ſie mit be - ſonderm Ernſt behandelt. Die Eingehung war ein religiöſer Akt, und die Auflöſung derſelben nur in ſehr wenig Fällen und nur unter Mitwirkung der Prieſter möglich. Zehn Zeugen nah - men bei beiden Akten Theil; ſie vertraten entweder die zehn Gentes der Curie oder die zehn Curien der Tribus, zu der der Mann gehörte. In ihrer Zuziehung liegt der Gedanke ausge - ſprochen, daß die Ehe des Einzelnen für den ganzen Stamm Bedeutung und Intereſſe hat, ein öffentliches Ereigniß iſt. Viel - leicht hatte dieſe Form auch den praktiſchen Zweck, die juriſtiſche Möglichkeit der Ehe zu conſtatiren. Dieſe juriſtiſche Möglichkeit war vor allem bedingt durch das connubium. Letzteres iſt nicht zu verwechſeln mit einem Eheverbot. Das römiſche Recht erlaubte ſich nicht89)Wie z. B. das Recht orientaliſcher Völker. Selbſt bei den Sachſen ſoll Ehe zwiſchen Nicht-Standesgenoſſen bei Todesſtrafe verboten geweſen ſein. S. Waitz deutſche Verfaſſungsgeſch. B. 1 S. 84 Anm. 2. den Eingriff in die private Rechtsſphäre, Verbin - dungen mit Perſonen, denen das connubium fehlte, zu unter - ſagen; ſondern es beſchränkte ſich darauf, dieſen Verbindungen den Charakter einer römiſchen Ehe abzuſprechen d. h. auf Frau und Kinder fand das römiſche Familienrecht keine Anwen -182Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.dung, und die ganze Nachkommenſchaft war von der Gens aus - geſchloſſen. Auch dieſe Beſchränkung des connubium ſtellt ſich alſo wieder nicht als eine abſolut bindende dar, ſondern als eine ſolche, der man ſich freiwillig unterwarf, um ſeinen Kin - dern das Gentilitätsrecht zu ſichern. Die Idee des connubium iſt übrigens für die Rechtsanſchauung, mit der wir uns hier beſchäftigen, ganz charakteriſch. Sie beruht auf jenem horror alieni, der die Kehrſeite des feſten, familienartigen Zuſam - menhaltens bildet, auf jenem Beſtreben, alle fremdartigen Ele - mente fernzuhalten und ſich nur aus ſich ſelbſt zu ergänzen. 90)Die Beſchränkung der Freigelaſſenen weiblichen Geſchlechts, nicht aus der Gens herauszuheirathen, beruhte auf einem andern Grunde, nämlich auf dem Intereſſe der Gens, dieſelben in ihrem Hörigkeitsverhältniß zu ihr zu erhalten. Durch Verheirathung mit einem zu einer andern Gens gehöri - gen Freigelaſſenen oder Klienten trat die Freigelaſſene aus jenem Verbande heraus. Mitunter wurde dies, d. h. die gentis enuptio, bewilligt.Seiner urſprünglichen Idee nach war das connubium auf die Mitglieder des Geſchlechterſtaats beſchränkt; über ſie hinaus mußte es ſelbſt ſtammverwandten Völkern erſt verliehen oder mit ihnen vereinbart werden.

Wo die Familie frei und beweglich iſt, kann auch das Ver - mögen es ſein; wo jene gebunden iſt, zieht dies für letztere die - ſelbe Folge nach ſich. Die römiſche Gentilverfaſſung war nicht vereinbar mit der vermögensrechtlichen Freiheit der ſpätern Zeit, letztere kann ſich erſt auf den Trümmern jener gebildet haben. Sollte die Gens ſtetig und feſt ſein, ſo mußte ſie ein feſtes ma - terielles Fundament unter ſich haben, es mußte eine gewiſſe Verbindung zwiſchen ihr und dem in ihr befindlichen Vermögen geſichert ſein. Wir haben bereits die Sittenpolizei der Gens als ein Mittel kennen lernen, der Dilapidation des Vermögens vorzubeugen, aber es war nur von beſchränkter Wirkſamkeit. Denn wie, wenn ein Mitglied mit ſeinem ganzen Vermögen in eine andere Gens übertreten oder es in ſeinem Teſtament Nicht - mitgliedern zuwenden wollte? War dies unbedingt erlaubt, ſo1832. Der Staat 1. Familienprinzip. Einfluß aufs Vermögen. §. 14.konnte eine Gens verarmen, die Laſten derſelben hätten für den Einzelnen in demſelben Maße drückender, der Trieb, ſich ihnen durch Austritt aus der Gens zu entziehen, in eben dem Grade ſtärker werden können.

Von dieſer politiſchen Bedeutung des Vermögens ausge - hend haben manche ſich zu der Annahme verleiten laſſen, das Privateigenthum an Grund und Boden für den älteſten Staat völlig zu läugnen und den ager publicus an deſſen Stelle zu ſetzen. 91)Wenn man an dieſem ager publicus ein vererbliches und veräußerliches Recht der Benutzung annehmen will, ſo führt man in der That das Privateigenthum, das man läugnen will, unter anderm Namen wie - der ein. Der Sache nach wäre dies Recht ebenſo gut Privateigenthum ge - weſen wie das an Provinzialgrundſtücken, die theoretiſch im Eigenthum des römiſchen Staats ſtanden, und das Intereſſe der Gentilverfaſſung hätte ge - gen die freie Veräußerlichkeit unter Lebenden und im Teſtament ebenſo geſchützt ſein müſſen, wie wir es nachher im Text ausführen werden.Es ſcheint mir dies aber ein gefährlicher, weit über ſein Ziel hinausfliegender Schluß zu ſein. 92)Huſchke hat ihn meiner Anſicht nach mit Recht als einen Grund - irrthum Niebuhrs bezeichnet.Unſere Quellen widerſprechen dieſer Annahme mehr, als daß ſie dieſelbe beſtäti - gen,93)S. Walter Rechtsgeſchichte Buch 1 Kap. 2. Anm. 4 10. und abgeſehen von ihnen müßte man die dringendſten allgemeinen Gründe haben, um einem Volke, bei dem das Prinzip des Privatrechts von Anfang an in größter Schärfe und Beſtimmtheit hervortritt, gerade das wichtigſte Eigenthum, nämlich das an Grund und Boden, abzuſprechen. Zur Zeit der XII Tafeln erſcheint letzteres bereits in ausgebildeter Geſtalt,94)Ich erinnere z. B. an die Beſtimmung der XII Tafeln über die Uſucapion unbeweglicher Sachen, die Servituten u. ſ. w. keine Spur, kein leiſer Anklang findet ſich darin von dem an - geblichen frühern Zuſtande. Hatte jenes plebejiſche Prinzip, dem man das Privateigenthum an Grund und Boden zuweiſt, bereits zur Zeit der XII Tafeln das patriciſche Prinzip ſo voll - ſtändig und ſeit ſo langer Zeit über den Haufen geſtürzt, daß184Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.auch nicht eine einzige Reminiscenz davon übrig geblieben? Und dies ſoll beim Grundeigenthum und noch dazu während der Dauer des Geſchlechterſtaats geſchehen ſein? zwei Ver - hältniſſen, an denen ſich jene bekannte conſervative Kraft der römiſchen Rechtsideen im verdoppelten und vervierfachten Maße hätte bewähren müſſen? Dies hätte ferner durch die Plebejer ge - ſchehen ſollen, ſie, die damals noch in einer ſehr beſcheidenen und gedrückten Stellung lebten, ſie, die nach jener Annahme Privateigenthum an Grund und Boden kannten und gar kein Intereſſe daran hatten, den Patriciern daſſelbe aufzuzwingen?

Die ganze Anſicht enthält eine Häufung von Undenkbarkei - ten und einen Verſtoß gegen den ſonſtigen Charakter der - miſchen Rechtsbildung, indem ſie ihr zumuthet, daß ſie ihre gewohnte Langſamkeit, Gleichmäßigkeit und Entwicklung von innen heraus dies eine Mal völlig hätte verläugnen, an ſich ſelbſt hätte untreu werden ſollen. Eine der fundamentalſten Einrichtungen des römiſchen Staats hätte in der erſten Hälfte der Königszeit noch in Blüthe ſtehen und bereits in der zweiten Hälfte in ihr gerades Gegentheil umſchlagen müſſen. Und dieſe coloſſale Revolution des ganzen Rechtszuſtandes denn in ihren Folgen war ſie das wird nur motivirt durch den Sieg eines angeblich von vornherein völlig entgegengeſetzten Prin - zips; nicht durch inneres Bedürfniß, nicht durch Entwicklung von innen heraus, ſondern durch die Macht des plebejiſchen Beiſpiels und durch äußeres Hineintragen eines an ſich Frem - den. Ohne Erſchütterungen wäre dieſe Revolution vorüberge - gangen, keine Spur davon hätte ſich in der Erinnerung des Volks, keine leiſe Reminiscenz im Recht ſelbſt erhalten! Das freie unbeſchränkte Privateigenthum aber, wie es bei den Ple - bejern beſtanden, hätte jetzt an die Stelle treten ſollen, ohne daß die Gentilverfaſſung, deren innerſtes Weſen ſich dagegen ſträubte, ſofort den Todesſtoß erhalten hätte?

Nein, es iſt dieſelbe Verkehrtheit, das urſprüngliche Pri - vateigenthum innerhalb des Geſchlechterſtaates zu läugnen, als1852. Der Staat 1. Familienprinzip. Einfluß aufs Vermögen. §. 14.dann mit einem Salto mortale ins entgegengeſetzte Extrem ein völlig freies und ungebundenes Privateigenthum anzunehmen. Die Wahrheit liegt zwiſchen beiden Extremen in der Mitte. Es gab nämlich von jeher in Rom an Grund und Boden theils öffentliches theils ein durch das Intereſſe der Gens gebundenes Privateigenthum.

Das öffentliche Eigenthum des Staats, der ager publicus, iſt bekannt. Es unterliegt für mich aber keinem Zweifel, daß dies Verhältniß ſich keineswegs auf den Geſammtſtaat be - ſchränkte, vielmehr innerhalb jeder Gens ſich wiederholte, ja ehr umgekehrt von der Gens auf den Geſammtſtaat, als von letz - terem auf jene übertragen wurde. Ich berufe mich darauf, daß die Gens den Staat im Kleinen darſtellt, daß von den drei In - tereſſen, die ihren höchſten Brennpunkt im Geſammtſtaat fin - den, den politiſchen, religiöſen und militäriſchen, jedes an der Gens ihren niedern hat, daß, wenn zur Verſehung jener In - tereſſen dort das Verhältniß des ager publicus nöthig iſt, es hier mindeſtens ebenſo unentbehrlich erſcheinen muß. Der Schwerpunkt und die Laſten des älteſten Staates ruhen nicht ſowohl in und auf ihm ſelber, als in und auf den Gentes; be - durfte er für das Dach, das er über die einzelnen Geſchlechter - häuſer ſpannte, und das auf ihnen als auf ſeinen Pfeilern ruhte, des ager publicus, ſo war daſſelbe Bedürfniß für die ein - zelne Gens in einem noch höhern Grade vorhanden.

Die Benutzung der Gentilgrundſtücke läßt ſich auf verſchie - denartige Weiſe denken, theils nämlich als eine allen Gentilen gemeinſame und unentgeltliche, theils als eine getheilte und entgeltliche, etwa auf Grund einer unter ihnen vorgenomme - nen Verpachtung an die Meiſtbietenden. Das erſte Verhältniß fand zweifellos hinſichtlich der Gentilbegräbniſſe Statt;95)Göttling Geſch. der röm. Staatsverf. §. 40 a. E. im germaniſchen Geſchlechterſtaat finden wir es auch bei Ackerland,96)Caesar de bello Gallico IV. 1 VI. 22. S. darüber namentlich von Sybel Entſtehung des deutſchen Königthums S. 5 u. flg.186Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.für Weideland iſt es bei weitem das natürlichſte, und hierfür wird es auch in Rom vorgekommen ſein.

Jene Gemeinſamkeitsverhältniſſe haben ſich nun, abgeſehen vom Gentilbegräbniß, im ſpätern Recht nicht mehr erhalten, wohl aber, wie ich glaube, eine wichtige, mittelbare, von ihrer Beziehung zur Gentilverfaſſung befreite Nachwirkung derſelben die Popularklagen. Dieſe Klagen ſind eine merkwürdige Er - ſcheinung; nicht bloß vom Standpunkt unſeres heutigen öffent - lichen Rechts aus, indem nämlich mittelſt ihrer Privatperſonen eine unter beſtimmte Rechtsgrundſätze geſtellte Polizei aus - üben,97)Solche Popularklagen gibt das römiſche Recht jedem, der Luſt hat, z. B. gegen den, der an öffentlichen Plätzen, Landſtraßen, Gewäſſern u. ſ. w. polizeiwidrige Aenderungen vorgenommen, aus ſeinem Fenſter oder von ſeinem Dache Sachen hängen hat, die herunter zu fallen drohen und dadurch die Paſſage gefährden u. ſ. w. ſondern auch von dem des römiſchen, inſofern näm - lich dies Recht im übrigen aufs allerſtrengſte an dem Grundſatz der Sachlegitimation des Klägers feſthält, hier aber ſogar Kla - gen gewährt, die nicht im geringſten ein ſpezielles Intereſſe deſ - ſelben vorausſetzen.

Das Befremdende dieſer Erſcheinung verſchwindet, wenn man ſie mit jener eigenthümlichen Gemeinſamkeit des Rechts, wie ſie innerhalb der Gentilverfaſſung Statt fand, in Beziehung ſetzt. Die Sachen der Gens gehörten ſämmtlichen Gentilen zuſammen. 98)Nicht ihr als einer juriſtiſchen Perſon; das iſt eine Abſtraction, deren erſt der entwickelte juriſtiſche Verſtand fähig iſt, die wir alſo nicht in die Kindheitszeit des Rechts verlegen dürfen.Dies Recht unterſchied ſich von dem, was Je - manden als Einzelnen zuſtand, dadurch, daß es kein exkluſives, ſondern ein ihm mit ſeinen Genoſſen ungetheilt-gemeinſames und ſodann, daß es kein veräußerliches, ſondern ein untrennbar mit der corporativen Gemeinſchaft verknüpftes war eine Art des Rechts, die im deutſchen Recht ſehr verbreitet, im ſpätern römiſchen aber dem Prinzip der Exkluſivität des Rechts erlegen1872. Der Staat 1. Familienprinzip. Gentilvermögen. §. 14.iſt. 99)d. h. das ungetheilt-gemeinſame Eigenthum aller Mitglieder einer Corporation ward ſpäter als Eigenthum einer juriſtiſchen Perſon darge - ſtellt. Es wird vielleicht die Zeit kommen, wo man dieſen Schritt wieder zu - rückmacht und mit Aufgabe dieſer Fiction jenes natürliche Verhältniß juri - ſtiſch zu conſtruiren verſucht. Wenn der Verſuch erſt für das deutſche Recht befriedigend gelungen iſt, wird dies für das römiſche Recht ſchwerlich ohne Einfluß bleiben.Die Popularklagen ſind nun ihrer urſprünglichen Idee nach beſtimmt, jenes eigenthümliche Verhältniß des ungetheilt-gemeinſamen Rechts zu ſchützen. Jedes Mitglied iſt an ſich klagberechtigt; wer wirklich Klage erhebt z. B. wegen Verletzung des gemeinſamen Begräbniſſes, der ver - tritt dadurch, daß er ſein eigenes Recht geltend macht, zu - gleich das Intereſſe ſeiner Genoſſen. Sein Klagfundament aber liegt in ſeinem eignen Recht, und der Umſtand, daß ſeine Thätigkeit zugleich den andern zu Gute kömmt, gibt ihr keines - weges den Charakter der Stellvertretung. 100)Es läßt ſich hier der Satz anwenden, den die L. 12 pr. de reb. auct. jud. (42. 5) enthält: aliquid ex ordine facit et ideo ceteris quoque prodest. Dieſe Klagen laſ - ſen ſich alſo wegen jener familienartigen Gemeinſamkeit, die ſie zu ſchützen beſtimmt ſind, als Ausflüſſe des Familienprinzips bezeichnen. Wenn die ſpätern römiſchen Juriſten in ihnen eine Ausnahme von dem Grundſatz: nemo alieno nomine lege agere potest erblicken, nämlich als ob der Kläger mittelſt ihrer das Recht und Intereſſe des Staats vertrete, ſo iſt dies von ihrem Standpunkt aus richtig, für die ältere Zeit aber verkehrt, und zwar ſelbſt für die res publicae verkehrt. Denn ſowie die Gen - tilſachen nicht im Eigenthum der Gens als gedachter juriſtiſcher Perſönlichkeit, ſondern in dem der Gentilen ſtehen, ſo auch die res publicae nicht in dem des Staats, ſondern ſämmtlicher Staats - angehörigen. Der einzelne alſo, der z. B. wegen Verletzung der Landſtraße klagt, ſtützt ſich auf ſein eignes Recht und In - tereſſe, nur daß die Beziehung dieſer Sache zu ihm hier eine ſchwächere und weniger in die Augen ſpringende iſt, als bei188Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.den Gentilgrundſtücken. Je ausgedehnter der Kreis derer wird, die zur ungetheilt-gemeinſamen Benutzung und zur klageweiſen Geltendmachung derſelben berufen ſind, um ſo mehr kann ſich der Geſichtspunkt, daß jeder hier ſein eignes Recht ausübt, der Beobachtung entziehen, und er mußte völlig verdrängt und aus - geſchloſſen werden, als die Jurisprudenz die Theorie der juri - ſtiſchen Perſonen aufbrachte und durchführte. An den res pu - blicae hatte jetzt der Staat als beſonderes Rechtsſubjekt Eigen - thum; und wenn dennoch nach wie vor der Einzelne dieſerhalb klagte, ſo konnte man fortan in ihm nur einen Vertreter er - blicken.

Neben dem Geſammteigenthum der Gentilen gab es nun, wie wir oben zu begründen verſuchten, auch Privateigenthum an unbeweglichen wie beweglichen Sachen. Es iſt bereits be - merkt, daß die Ungebundenheit, mit der ſich ſpäter die Idee des Eigenthums entwickelt, mit der Gentilverfaſſung unvereinbar war. Welcher Art die Beſchränkungen waren, denen die Dispo - ſitionsbefugniß des Eigenthümers im Intereſſe der Gens un - terlag, läßt ſich für die Veräußerung einzelner Sachen nicht näher beſtimmen. 101)Von der gänzlichen Entziehung der Dispoſitionsbefugniß durch eine cura prodigi iſt bereits oben die Rede geweſen.

Dahingegen glaube ich nachweiſen zu können, daß die Gens gegen die Gefahr, ein Geſammtvermögen zu ver - lieren, geſichert war. Ein ſolcher Verluſt war für ſie auf dop - pelte Weiſe möglich, nämlich theils durch Austritt, theils durch teſtamentariſche Dispoſitionen ihrer Mitglieder. Was jenen erſten Fall anbetrifft, ſo ging das römiſche Recht von der An - ſicht aus, daß dem Bürger der Austritt aus dem Staatsver - bande jeder Zeit frei ſtehe, und damit ſeine Rechte wie ſeine Pflichten gegen den Staat und die Einzelnen erlöſchen. Die Gens konnte von ihrem Standpunkt aus der Aufgabe des Staatsbürgerrechts nichts in den Weg legen; wer von ihr1892. Der Staat 1. Familienprinzip. Veräußerung d. Vermög. §. 14.nichts mehr begehrte, von dem durfte ſie auch ihrerſeits nichts fordern. In dieſer Freizügigkeit lag auch in der That keine ſonderliche Gefahr, wie wir in §. 16 ſehen werden. Ganz anders aber ſtand die Sache, wenn Jemand ſeine Gens ver - laſſen wollte, nicht um ſein Staatsbürgerrecht aufzugeben, ſon - dern um in eine andere Gens überzutreten; ein Erfolg, der auf dem Wege der Arrogation erreicht werden konnte, indem nämlich der Austretende ſich von einem Mitgliede der neuen Gens als Sohn annehmen ließ. Sein ganzes Vermögen fiel damit dem Adoptivvater zu, kam alſo aus ſeiner bisherigen Gens heraus. 102)Die in adoptionem datio konnte gleichfalls einen Uebertritt in eine fremde Gens begründen, allein hier ging kein Vermögen mit über, weil der Hausſohn vermögensunfähig war, und darum brauchte man hier dem Willen des Vaters keine Beſchränkung aufzulegen.Derſelbe Erfolg konnte dadurch eintreten, daß Jemand das Mitglied einer andern Gens zum Erben ein - ſetzte. In beiden Fällen hieng aber nach älterm Recht dieſe Dispoſition weder ganz von der Zuſtimmung der betheiligten Gens ab, noch war ſie ganz ins Belieben des Subjekts ge - ſtellt. Das Syſtem der öffentlichen Garantie, das bereits S. 141 angedeutet ward, und das wir im folgenden Paragra - phen näher kennen lernen werden, gab dem Volk Gelegenheit, den Conflikt zwiſchen dem Intereſſe der Gens und dem Willen eines ihrer Mitglieder je nach Befund der Umſtände zu Gunſten des einen oder andern Theils zu ſchlichten. Es konnte eben - ſowohl Vorausſetzungen geben, unter denen jene beiden Maß - regeln durchaus gerechtfertigt und wohl gar dem Intereſſe des Staats förderlich erſchienen, als umgekehrte Fälle, in denen der Widerſpruch der Gens zu reſpectiren war. Die der Ab - ſtimmung des Volks vorausgehende Verhandlung gab den intereſſirten Perſonen, wozu bei der Arrogation auch die Gläu - biger gehörten, Gelegenheit, ihr Intereſſe geltend zu machen. Wenn wir aber annehmen, daß urſprünglich in den zum Zweck der Teſtamentserrichtung und der Arrogation abgehaltenen Co -190Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.mitien wirklich eine Abſtimmung erfolgt ſei, ſo darf wegen der nähern Begründung dieſer Behauptung auf §. 11 u. 15 verwie - ſen und mag an dieſer Stelle nur darauf aufmerkſam gemacht werden, wie ſehr uns auch die Stellung der Gens zu derſelben Annahme drängt.

Wir haben im bisherigen die innere Organiſation der Gens betrachtet, und damit iſt das Weſentliche der Gentilver - faſſung angegeben. Das Verhältniß der Gentes zum Ge - ſammtſtaat läßt ſich für unſern Zweck mit wenig Worten erle - digen. Letzterer iſt ein Staatenbund, der ſeinem letzten Grunde nach auf den Gentes beruht. Nach den Gentes ſind die Rechte und Laſten des Staats vertheilt, mit dem einzelnen Bürger ſteht der Staat in keiner unmittelbaren politiſchen Beziehung. Die Curien und Tribus ſind Zuſammenſetzungen der Gentes, deren urſprüngliches Motiv ich in dem Intereſſe der Wehrverfaſſung erblicke; ihre politiſche Bedeutung und ihre corporative In - nigkeit tritt gegen die der Gentes ganz in den Hintergrund. Letztere ſind ſittlich und juriſtiſch am ſtärkſten entwickelt, die Verbindung wird loſer, je weiter ſie hinaufſteigt, und der Ge - ſammtſtaat ſteht nicht über den Gentes, ſondern beſteht aus ihnen d. h. ſeine Macht iſt nur die Summe der ihrigen. Wie die Gens nur ein coordinirtes Verhältniß der Gentilen begrün - det, ſo auch der Geſammtſtaat nur eine coordinirte Verbindung der einzelnen Gentes. Die weitere Ausführung dieſes Ge - dankens verſchieben wir paſſender auf den nächſten Paragraphen und gedenken hier nur noch, bevor wir die Gens verlaſſen, der Rückwirkung, die ſie unſerer Anſicht nach auf die Familie aus - geübt hat.

Im ältern römiſchen Recht hat ſich die Familie von ihrer natürlichen Baſis, der Blutsverwandtſchaft, weit entfernt. Blutsverwandtſchaft iſt hier eine ſo ziemlich gleichgültige That - ſache geworden; die civilen Verwandten, die Agnaten, haben1912. Der Staat 1. Familienprinzip. Agnation. §. 14.die Blutsverwandten, die Cognaten, in den Hintergrund ge - drängt. Der entfernteſte Agnat und die Gentilen ſchließen den emancipirten Sohn beim Tode ſeines Vaters oder den Enkel bei dem ſeines mütterlichen Großvaters von der Erbſchaft aus; beiden dem Verſtorbenen ſo nahe ſtehenden Perſonen, vielleicht ſeinen einzigen Deſcendenten, erkennt das Recht, das in ihnen nur Fremde erblickt, kein Erbrecht zu, ſelbſt nicht an letzter Stelle. Woher dieſe ſcheinbare Härte? Sie war eine Conſe - quenz der formaliſtiſchen Behandlung des Verwandtſchaftsver - hältniſſes, die durch die politiſche Function deſſelben in der Gentilverfaſſung nothwendig gemacht wurde. Indem die Fa - milie eine politiſche Corporation wird, nimmt ſie nothwendi - gerweiſe Beſtandtheile in ſich auf, legt ſich Beſchränkungen auf, die ihrem urſprünglichen Weſen, der Einheit des Bluts und der Liebe, fremd ſind. Es bereitet ſich damit eine Spaltung, die Möglichkeit eines Auseinanderfallens der natürlichen und juri - ſtiſchen Familie vor; dieſe durch das Geſetz mit den weſentlich - ſten rechtlichen Vortheilen des Familienverhältniſſes ausgeſtat - tet, jene derſelben beraubt und nur auf das freie Walten der individuellen Liebe angewieſen. Aus der Oppoſition, in der ſich die natürliche Familienliebe in einem ſolchen Fall zu der juriſtiſchen Behandlungsweiſe fühlte, ging das Beſtreben her - vor, der natürlichen Familie durch Rechtsgeſchäfte zu erſetzen, was das Geſetz ihr verſagt hatte, namentlich alſo durch Teſta - mente das Erbrecht. Bei den vor-römiſchen Völkern trat die Fa - milie der teſtamentariſchen Freiheit entgegen, bei den Römern treibt ſie durch ihre theilweiſe verſchobene Stellung dieſelbe her - vor, wenigſtens läßt ſich dieſe Stellung als zureichender Grund bezeichnen, der das Bedürfniß der Teſtamente in Rom motivirt, während man abgeſehn davon auf eine ſolche Motivirung ver - zichten, annehmen müßte, daß die Teſtamente nicht einem ſitt - lichen Motive, ſondern der Willkühr, dem Widerſpruch gegen die bei allen Völkern bemerkbare Verbindung des Erbrechts mit der Familie ihren Urſprung verdankten. Im Zweifel darf man192Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.vermuthen, daß ein Rechtsinſtitut an dem Punkt zuerſt zum Vorſchein gekommen iſt, wo das Bedürfniß nach demſelben am dringendſten war. Wir haben für die römiſchen Teſtamente einen ſolchen Punkt aufgedeckt und halten es für wahrſcheinli - cher, daß daſſelbe ſittliche Motiv, dem das Erbrecht überhaupt ſeine Exiſtenz verdankt, und das gerade in der älteſten Verfaſ - ſung eine ſo mächtige Wirkſamkeit entfaltet, das der Familien - liebe, auch die Teſtamente hervorgerufen, als daß die bloße Willkühr dies hätte vollbringen können; daß mit andern Wor - ten die Teſtamente nicht als Widerſacher, ſondern als Diene - rinnen der Familie in der Geſchichte des Rechts auftreten.

Der Staat vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus Die publiciſtiſche Societät der Individuen Baſirung der Strafge - walt auf Rache, der geſetzgebenden Gewalt und des Rechts - ſchutzes auf Vertrag lex und jus Dualismus der vom Staat anerkannten und der bloß ſubjektiven Rechte.

XV. Der Weg, den wir bisher zurückgelegt haben, hat uns vom Individuum aus durch die Familie zur Gens geführt, und wenn wir jetzt den letzten Schritt machen, den von der Gens zum Staat, ſo iſt es nicht ſowohl der Punkt, bei dem wir damit anlangen, der unſere Aufmerkſamkeit in Anſpruch nehmen ſoll jene vielbeſprochene älteſte Verfaſſung des - miſchen Staats , als der Schritt ſelbſt, den wir zu dem Zweck zu thun haben. Unſere Frage iſt nämlich die: erſcheint der Staat gegenüber den Ideen, die wir bisher haben kennen ler - nen, als Schritt oder als Sprung, mit andern Worten mittelſt ihrer conſtruirbar oder als etwas ſpezifiſch Neues?

Dieſe Frage mag befremdend erſcheinen; denn iſt, kann man ſagen, der Staat gegenüber den Individuen nicht ſtets etwas ſpezifiſch Neues, iſt er nicht eine von ihnen verſchiedene, ihnen übergeordnete Macht, thätig werdend durch eigne Organe und Vertreter, ein Weſen höherer Art mit höheren Zwecken und1932. Der Staat Verhältniß zum ſubjektiven Prinzip. §. 15.höheren Mitteln? Das iſt allerdings der Staat der Gegenwart, aber es iſt nichts verkehrter, als dieſe Auffaſſung überall, wo der Staat in der Geſchichte ſich zeigt, zu ſupponiren; denn ſie ſelbſt ſowohl wie der Staat, dem ſie entſpricht, iſt das Werk eines langen hiſtoriſchen Prozeſſes. Uns erſcheint dieſe Auf - faſſung ſo natürlich, daß wir nur gar zu leicht in den Fehler verfallen, ſie in die Vergangenheit zu übertragen, während doch letztere mit ihrem Staat völlig andere Ideen verband. So wie ein und derſelbe Gegenſtand in verſchiedenen Sprachen von ſehr verſchiedenen Geſichtspunkten aus benannt ſein kann, der - mer ſich, wenn er das lateiniſche Wort gebrauchte, den Gegen - ſtand von einer ganz andern Seite, in ganz anderer Weiſe dachte, als wir bei dem entſprechenden Ausdruck unſerer Sprache, ſo iſt es auch mit dem Staat und allen ſeinen Gewalten und Functionen der Fall. Civitas, res publica bezeichnet denſelben Gegenſtand, den wir Staat nennen, lex überſetzen wir mit Geſetz, judex mit Richter, poena mit Strafe u. ſ. w., und es erſcheint uns unbedenklich, den älteſten römiſchen Staat, weil wir leges und judices in ihm antreffen, mit einer geſetzgeben - den und richterlichen Gewalt auszuſtatten. An dieſen moder - nen Ausdrücken klebt aber die ganze Staatsanſchauung unſeres Jahrhunderts; unbewußt tragen wir mit jedem Wort etwas Falſches in den römiſchen Staat hinein und überſetzen ihn in unſere heutige Vorſtellungsweiſe.

Dieſer Fehler iſt es, den ich im folgenden unausgeſetzt be - kämpfen werde. Ich hoffe zeigen zu können, daß der älteſte römiſche Staat auf ganz andern Ideen beruhte, als die wir mit dem Staat verbinden, daß die Römer unter res publica, jus publicum, judex, poena publica u. ſ. w. ſich etwas ganz an - ders dachten, als wir unter den entſprechenden Ausdrücken un - ſerer Sprache, ſich dies alles nämlich dachten vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus. Dieſes Prinzip haben wir oben §. 10 12 als den Ausgangspunkt der ganzen römiſchen Rechts - anſchauung kennen lernen, von dieſem bereits gewonnenenJhering, Geiſt d. röm. Rechts. 13194Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.Punkt aus müſſen wir uns den Staat zu conſtruiren ſuchen. Möge vorläufig unſer Verſuch den Schein einer aprioriſtiſchen Conſtruction auf ſich laden, im Verlaufe der Darſtellung wird dieſer Schein hoffentlich mehr und mehr ſchwinden, und ich halte meinen Zweck für völlig erreicht, wenn mir ſchließlich nur die bloße Möglichkeit meiner Anſicht zugeſtanden wird. Die erwieſene Möglichkeit einer Entſtehung des römiſchen Staats aus dem ſubjektiven Prinzip heraus hat für die Annahme ihrer Wirklichkeit daſſelbe Gewicht, das man jeder Hypotheſe ein - räumt, die zwei hiſtoriſch beglaubigte Punkte durch eine Ver - bindungslinie zu verknüpfen weiß. Da die Geſchichte wie die Natur keine Sprünge kennt, da beide das Größte aus dem klein - ſten Keim hervorgehn laſſen, ſo ſind wir ganz in unſerm Recht, wenn wir für den Staat und ſeine Inſtitutionen uns nach ge - ringen Anfängen umſehn, ſie an jenes ſittliche Minimum, das wir bisher gefunden haben, anzuknüpfen verſuchen.

Vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus ſtellt ſich die ſtaatliche Gemeinſchaft als ein Vertragsverhältniß dar. Der Zuſtand der Verträglichkeit, in dem der Einzelne mit dem Einzelnen lebt, iſt die Folge eines ausdrücklichen oder ſtill - ſchweigenden Vertrages, der Friede, pax, die des pactum. Das begründete Gemeinſchaftsverhältniß aber iſt das der Gleichheit, der Coordination, und nach innen hin läßt ſich unter Aufrechthaltung dieſes Geſichtspunktes eine Rechts - und Staatsentwicklung denken, wie dies im folgenden nachge - wieſen werden ſoll. Aber ſowie Gefahren von außen drohen, treibt die Macht der Umſtände, das Bedürfniß der Selbſterhal - tung das Subordinationsverhältniß hervor. Der äußere Feind kömmt der Entwicklung des Staats zu Hülfe, zwingt ihm eine ſtreng militäriſche Ordnung und Verfaſſung auf, die zwar zu - nächſt nur zur Abwehr des Feindes beſtimmt iſt, unvermerkt aber eine Rückwirkung auf die innere Organiſation des Staats1952. Der Staat publiciſt. Societät öffentl. Rechte. §. 15.ſelbſt ausübt. Wir werden nun dieſen Punkt, von dem aus in Rom die Idee ſtaatlicher Ober - und Unterordnung ſich ent - wickelt hat, bei Gelegenheit der Wehrverfaſſung ins Auge faſ - ſen, hier aber uns zunächſt auf jenes Verhältniß der Coordina - tion, wie es durch das ſubjektive Prinzip gegeben iſt, beſchrän - ken, und zwar indem wir uns die Conſequenzen deſſelben für den Staat und ſeine Verfaſſung im einzelnen vergegenwärtigen.

1. Der Staat verhält ſich zu den Bürgern ebenſo, wie die Gens zu den Gentilen d. h. er iſt nichts von ihnen verſchiede - nes, nichts außer und über ihnen, ſondern der Staat ſind ſie ſelbſt, Staat und Volk iſt gleichbedeutend. Wenn die natürlichen Perſonen bei der Bildung der Gens der Abſtraction einer von ihnen verſchiedenen Perſönlichkeit noch nicht erlegen ſind, ſo folgt daraus, daß das bloße Addiren mehrer Gentes zu einem Geſammtſtaate, das Zuſammentreten mehrer Perſo - nen auf der einen mit mehren Perſonen auf der andern Seite dies Verhältniß nicht ändert. Beide Verhältniſſe laſſen ſich mit einer Societät vergleichen und im Gegenſatz dazu das Ver - hältniß des heutigen und auch des ſpätern römiſchen Staats zu den Bürgern als das einer juriſtiſchen Perſon zu ihren Mit - gliedern. Aus dieſem Hauptgeſichtspunkt folgt nun:

2. Soweit dieſe publiciſtiſche Societät reicht, erſcheint als Subjekt der daraus fließenden Rechte, als Vertreter ihrer In - tereſſen nicht der Staat, ſondern das geſammte Volk, die ſämmtlichen Bürger und folglich auch jeder einzelne derſelben. Privatrechte und öffentliche Rechte unterſcheiden ſich nicht durch Verſchiedenheit des Subjekts von einander; Subjekt iſt für beide die natürliche Perſon, und der Unterſchied liegt nur darin, daß die Privatrechte auf den Einzelnen eine ausſchließ - liche Beziehung haben, während an den öffentlichen jeder par - ticipirt. Der Ausdruck für jene ausſchließliche Beziehung iſt proprium (pro privo),103)Wegfall des v wie bei dewa, divus, deus. Pott a. a. O. B. 1 S. 266. für dieſe dem Volk gemeinſamen13*196Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.Intereſſen populicum, publicum, popularis. Res publica, nach ſpäterer Auffaſſung der Staat als Perſönlichkeit gedacht, be - zeichnet daher urſprünglich nichts weiter, als was allen ge - meinſam iſt, res publicae die einzelnen Sachen der publiciſti - ſchen Societät z. B. öffentliche Wege, Plätze u. ſ. w., an denen jeder gleiches Recht hat. 104)Dieſer Geſichtspunkt iſt namentlich bei der Geſchichte des ager publicus nicht außer Acht zu laſſen. Er iſt das Gemeinde-Land ſämmtlicher Patricier, ein gemeinſchaftliches, ungetheiltes Eigenthum derſelben, und von dieſem Geſichtspunkt aus konnten ſie die darauf zielenden Beſtrebungen der Plebejer im vollen Gefühl ihres Rechts als Angriffe auf ihr Eigenthum zu - rückweiſen.

Wenn nun die einzelnen Individuen als Subjekte der öf - fentlichen Rechte aufzufaſſen, die öffentlichen Intereſſen nichts ſind, als die Intereſſen Aller und darum auch jedes Einzelnen, ſo folgt daraus, daß jeder Einzelne berufen und berechtigt iſt, dieſe Intereſſen wahrzunehmen, eine Verletzung derſelben zu verhindern, oder, wenn ſie geſchehen, ſich in derſelben Weiſe Genugthuung zu verſchaffen, wie in ſeinen Privatangelegenhei - ten. Hinſichtlich letzterer beſtand das urſprüngliche Mittel in der Selbſthülfe, und erſt im Laufe der Zeit ward daſſelbe durch die Klage verdrängt. Denſelben Entwicklungsgang dürfen wir auch hier annehmen, und zwar können wir dabei in gleicher Weiſe, wie auf dem Gebiete des Privatrechts, eine Selbſthülfe im engern Sinn und eine Privatrache unterſcheiden. Eine Beeinträchtigung des freien Gebrauchs der öffentlichen Sachen, eine Gefährdung der Sicherheit der Paſſage u. ſ. w. würde nur zur Selbſthülfe im engern Sinn Veranlaſſung gegeben haben, ſie enthält keine Verletzung der Perſönlichkeit des Berechtigten. In ſpäterer Zeit tritt an die Stelle dieſer vom Volk in form - loſer Weiſe gehandhabten Polizei die actio popularis, über die bereits bei Gelegenheit eines ähnlichen Verhältniſſes innerhalb der Gens (S. 187) das nöthige bemerkt iſt. Wie ſehr ſich in der actio popularis, die jeder Bürger als ſolcher anſtellen1972. Der Staat vindicta publica. §. 15.kann, die ganze Auffaſſung, um die es uns hier zu thun iſt, daß nämlich die Bürger, nicht der Staat das Subjekt der öf - fentlichen Rechte ſind, abſpiegelte, darauf braucht wohl nicht erſt beſonders aufmerkſam gemacht zu werden.

Die Privatrache hatte Genugthuung für eine zugefügte Unbill zum Zweck, die Handlung, die ſie veranlaßte, war ein delictum privatum, bezog ſich ausſchließlich auf das Recht dieſer verletz - ten Perſon. War aber durch das Delikt dem ganzen Volk eine Unbill zugefügt (delictum, crimen publicum) und dies war mittelbar auch bei einer Handlung möglich, die zunächſt nur gegen eine Privatperſon gerichtet war ſo verſtand ſich auch hier die Rache des Verletzten von ſelbſt, das ganze Volk übte Rache (vindicta publica). In einzelnen Spuren ſchimmert die - ſer primitive Zuſtand, von dem die Geſchichte uns bei andern Völkern ſo viele Beiſpiele gewährt und täglich unter unſern Augen wiederholt, noch deutlich genug durch. 105)Rubino Unterſuchungen über römiſche Verf. S. 478 u. f. hebt die Provokation als einen geringen Ueberreſt einer in der Vorzeit gegen die innern Feinde der Staatsgeſellſchaft üblichen Volksjuſtiz hervor.Den fal - ſchen Zeugen ſtürzte das Volk vom tarpejiſchen Felſen, und den homo sacer, über den wir erſt bei Gelegenheit des religiö - ſen Prinzips handeln können, ſchlug todt, wer da Luſt hatte. Wie nun aus der Privatrache ſich die Klage auf Privatſtrafe entwickelte, ſo aus der vindicta publica die auf öffentliche Strafe (judicium publicum). In ſpäterer Zeit, als der Staat, nicht die Totalität der Einzelnen als der Verletzte aufgefaßt wird, fallen Delikt und Verbrechen, Privat - und öffentliche Strafe ſowohl ihrem Begriff als der Form des Verfahrens nach weit auseinander, allein das urſprüngliche iſt auch hier die Identität der Gegenſätze, wie ſie ſich noch darin ausſpricht, daß die Aus - drücke delictum, vindicta, poena ebenſowohl von Verbrechen als Privatdelikten gebraucht wurden.

Der Uebergang von der Volksjuſtiz zur organiſirten Straf -198Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.rechtspflege erfolgte weit früher, als der der Privatrache zu dem Syſtem der Privatſtrafen. Zur Zeit der XII Tafeln, wo dieſe Umwandlung hinſichtlich der Privatrache noch im Werden be - griffen iſt, war ſie hinſichtlich der vindicta publica bereits voll - ſtändig abgeſchloſſen. Woher dieſe Erſcheinung? Vielleicht da - her, weil die öffentliche Rache, ich möchte ſagen, weit unbehol - fener, ſchwerfälliger und darum weniger lebensfähig war, als die Privatrache. Während nämlich bei letzterer nur zwei Per - ſonen ſich gegenüber ſtanden, der endliche Zweck der Rache alſo, die Satisfaction, ſich hier durch einen Vertrag beider Perſonen leicht erreichen ließ, drohten dem Thäter bei der öffentlichen Rache ſo viel Gegner, als Verletzte und verletzt war ja jeder Bürger es nützte ihm alſo nichts, ſich mit Einem oder Mehren von ihnen abzufinden, denn es blieben immer nicht - abgefundene Perſonen übrig. Das einzige Mittel zur Erle - digung der Sache beſtand darin, mit dem geſammten, in den Comitien verſammelten Volk oder mit Einem, der daſſelbe in dieſer Beziehung zu vertreten ermächtigt war, den Abfindungs - vertrag abzuſchließen. Die Organiſirung der Strafrechtspflege war alſo in der That ein Fortſchritt im Intereſſe des Ver - brechers. Statt daß ihm früher Rache drohte, wo er ſtand und ging, ſtatt daß dieſelbe früher völlig maßlos und unbe - ſtimmt war, und kein Vertrag, keine Berufung auf bereits er - littene Strafe ihn gegen eine abermalige Zufügung derſelben ſchützte, gewährte ihm jene Veränderung nicht bloß den Vor - theil einer beſtimmten, definitiv feſtgeſtellten Strafe, ſondern auch die Möglichkeit, auf die Feſtſtellung derſelben zu influiren.

Die erkannte Strafe ließ ſich wie die Privatſtrafe unter ei - nen doppelten Geſichtspunkt bringen, unter den einer Abfin - dung der Rache und den einer in veränderter Form vollzogenen Ausübung derſelben. Von beiden Geſichtspunkten aus war ein Uebergang von der Volksjuſtiz zur Strafrechtspflege mög - lich. Sie gehen übrigens ſo in einander über, daß man ſich ſchwerlich ausſchließlich für den einen oder andern entſcheiden1992. Der Staat vindicta publica. §. 15.kann. Auch der Geiſt, in dem das römiſche Volk zur Zeit der Republik die Strafgerichtsbarkeit handhabte, verträgt gleich - mäßig die Unterlegung des einen wie des andern Geſichtspunk - tes. Bei den Verhandlungen, die vor dem Volke Statt fan - den, hing der Erfolg bekanntlich nicht ſo ſehr von der Größe und Strafwürdigkeit des Verbrechens ab, als von dem Maße, in dem das Rachegefühl des Volks erregt, die Verletzung empfunden ward. An einem verhaßten Bürger rächte ſich das Volk bei Gelegenheit eines verhältnißmäßig leichten Verbre - chens, und bei einem ſchweren Verbrechen, das aber von einem populären Bürger verübt war, ließ es mit ſich handeln und ſich deſſen gute Geſinnung und dem Staat geleiſtete Dienſte als Abfindungspreis gefallen.

Der Verſuch, die Strafgewalt des Volks aus dem Ge - ſichtspunkt zu erklären, daß das Verbrechen alle verletzt hat und darum auch die Rache aller herausfordert, würde dieſe Gewalt mit der Grundidee, die wir hier verfolgen, daß näm - lich der Einzelne der Maſſe coordinirt ſei, in Uebereinſtimmung bringen. Die erkannten Strafen, wenn ſie auch in Todesſtrafe, Exil, Beſchlagnahme des Vermögens u. ſ. w. beſtanden, wei - ſen durchaus nicht auf eine Ueber - und Unterordnung, auf eine Macht über Leben und Tod hin. Die Privatrache, bei der ja zwiſchen dem Verbrecher und dem Verletzten zweifellos ein coordinirtes Verhältniß Statt fand, gewährt faſt zu jeder Strafe ein Seitenſtück. Zur Todesſtrafe ich erinnere an den nächtlichen Dieb, den Ehebrecher, den Banquerotteur; zum Verkauf in fremde Sklaverei, den das Volk bei dem, der ſich zum Cenſus oder zur Aushebung nicht geſtellt hatte (dem in - census und infrequens), vornahm ich verweiſe auf den zah - lungsunfähigen Schuldner; zur publicatio bonorum auch der Gläubiger nimmt das zurückgelaſſene Vermögen ſeines Schuldners in Beſitz. Hinſichtlich des Exils bedarf es keiner Bemerkung, daß das Recht der Ausſchließung, welches jeder200Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.Geſellſchaft zuſteht, niemals eine Ueberordnung vorausſetzt, ſondern ſich rein vom Standpunkt der Societät aus ergibt.

Den bisher entwickelten Ideen ſteht die Anſicht entgegen, daß das Volk erſt zur Zeit der Republik in den Beſitz der Straf - gewalt gekommen, letztere früher den Händen des Königs an - vertraut geweſen und einen urſprünglichen Beſtandtheil der - niglichen Gewalt gebildet haben ſolle. So ſehr dieſe Anſicht durch unſere Quellen unterſtützt zu ſein ſcheint, ſo halte ich ſie doch für verkehrt. Allerdings ſtand dem Könige eine ſehr wirk - ſame Strafgewalt zu, wir werden aber in §. 17 nachweiſen, daß ſie ſowohl wie die ganze Würde des Königs urſprünglich rein militäriſcher Natur war. Es muß zugegeben werden, daß ſie im Laufe der Zeit die Strafgerichtsbarkeit des Volks beein - trächtigte, ja ſie ganz in den Schatten drängte, und ich hoffe, an der angegebenen Stelle dies leicht erklären und motiviren zu können, finde es auch ganz begreiflich, daß unſere Quellen nur den König als Innehaber der Strafgewalt erwähnen. Aber andererſeits ward doch dem Volk nicht jeglicher Antheil an der Strafrechtspflege entzogen, wie das Provokationsrecht beweiſt (§. 17), und einzelne Spuren der vindicta publica haben ſich erhalten.

Wenn nun zur Zeit der Republik das Volk im Beſitz der höchſten Strafgerichtsbarkeit erſcheint, ſo haben wir uns dies nicht ſo zu denken, als ob das Volk erſt jetzt erhalten hätte, was es bis dahin nie gehabt hatte, ſondern die ganze Aende - rung gegenüber der Königszeit beſtand darin, daß die militä - riſche Strafgewalt, die bis dahin auch innerhalb Roms com - petent geweſen und mit Ueberſchreitung ihrer Schranken die Strafgerichtsbarkeit des Volks beeinträchtigt hatte, von Rom exilirt d. h. den Magiſtraten, ſolange ſie in Rom verweilten, das militäriſche imperium und als Sinnbild deſſelben die Beile von den fasces genommen wurden .106)Cicero de republ. I. 40. Noster populus in pace et domi im -. Mit jedem Diktator2012. Der Staat Das Geſetz ein Vertrag Aller. §. 15.kehrten das imperium und die Beile vorübergehend zurück, und die ganze Strafrechtspflege ward dann nach Kriegsrecht geübt.

Wir erinnern jetzt des Zuſammenhanges wegen an den Satz, von dem wir ausgingen, nämlich daß nicht der Staat, ſondern das geſammte Volk und mithin jeder Einzelne das Sub - jekt des jus publicum war. Iſt dieſer Satz richtig, ſo muß er wie von den aus dem jus publicum fließenden Rechten ſo auch von den durch daſſelbe auferlegten Pflichten gelten, und in der That gewährt uns das römiſche Völkerrecht eine ſchlagende Conſequenz. Ein mit einem fremden Volke abgeſchloſſener Ver - trag verpflichtet nicht die beiderſeitigen Staatsgewalten, ſon - dern ſämmtliche Angehörige beider Völker, darum wird der Einzelne, der dieſen Vertrag verletzt, weil er damit eine ihm obliegende Verpflichtung gebrochen, dem fremden Volk überlie - fert. Krieg und Frieden zwiſchen zwei Staaten iſt Krieg und Frieden zwiſchen ſämmtlichen Individuen.

3. Wille des Staats iſt Wille der Individuen, Geſetz ein Vertrag, wodurch ſich letztere gegen - ſeitig zu einer gewiſſen Handlungsweiſe ver - pflichten, das Recht im objektiven Sinn die dar - aus entſtehende Verpflichtung Aller. Nicht der Staat, ſondern die Individuen ſind das Subjekt der geſetzgebenden Gewalt; auch letztere alſo erhebt ſich wie die ſtrafrichterliche vom Boden des ſubjektiven Prinzips aus, die urſprüngliche Form, in der ſie erſcheint, iſt nicht die eines Gebotes und Ver - botes über Gehorchende, ſondern einer zwiſchen gleichgeſtellten Perſonen getroffenen Uebereinkunft eine Entwicklung des Rechts im objektiven Sinn aus dem Vertrage heraus, die ſich vielerwärts nachweiſen läßt. 107)In Deutſchland z. B. bei der Geſchichte der landſtändiſchen Ver -

106)perat et ipsis magistratibus minatur, recusat, appellat, provocat; in bello sic paret ut regi.

202Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Da das Geſetz die Geſammtheit binden ſoll, ſo muß es auch von ihr erlaſſen werden; es iſt nichts, als eine auf das ganze Volk angewandte Obligationsform. Ebenſo wie bei der Obli - girung Einzelner Frage und Antwort (Stipulationsform) - thig iſt, ſo auch hier; das Volk wird rogirt108)Lex rogatur, testes rogati (aufs Mancipationsteſtament hin - übergenommen von dem testamentum in comitiis calatis) arrogatio (bei - läufig geſagt liegt in dieſem bei der Teſtamentserrichtung und der Arrogation vorkommenden Ausdruck rogare ein neuer Beweisgrund für die Anſicht, daß bei beiden Akten eine wirkliche Abſtimmung des Volks vorgekommen iſt). Uebrigens hat bereits Rubino a. a. O. S. 255 in der Form der Befragung und Abſtimmung des Volks die Aehnlichkeit mit der Stipulation erkannt, ohne aber freilich im übrigen den Weg, den ich hier eingeſchlagen habe, zu betreten. und ertheilt durch Abſtimmung ſeine Antwort. Im Geiſte dieſes urſprüng - lichen Verhältniſſes nennt daher ein römiſcher Juriſt109)Papinian in L. 1 de legib. (1. 3). das Geſetz eine communis reipublicae sponsio.

Etymologiſch weiſt uns der Ausdruck lex auf die Vorſtel - lung des Legens hin, lex wäre alſo etwa gleichbedeutend mit Auflage. 110)Auch unſer deutſches Legen, Liegen iſt von Geſetz und Verpflich - tung gebraucht z. B. Auflage, Obliegenheit, alth. lag, das Geſetz. Die Etymologen ſtreiten aber darüber, ob neben der Wurzel leg im Sinne von zuſammenſuchen, ſammeln (legere in der Bedeutung von Leſen = das Sam - meln, Zuſammenleſen der Buchſtaben) noch eine eigne Wurzel λεχ (legen, lectum = worauf man ſich legt d. i. Bett, lex = Auf-lag-e) anzuneh - men iſt. Pott a. a. O. S. 257, 258.Der Sprachgebrauch, der dieſen Ausdruck gleich - mäßig von Geſetzen wie von Privatvereinbarungen111)Z. B. vendere, dare hac lege, lex commissoria, leges vena - lium vendendorum u. ſ. w. ge - braucht, zeigt, daß beide urſprünglich in der Vorſtellung der Römer auf einer Linie ſtanden. Geſetz und Vertrag ſind ur - ſprünglich nicht durch ihre intenſive, ſondern bloß durch ihre extenſive Wirkſamkeit unterſchieden, ebenſo wie die vindicta107)faſſung. Das Staatsrecht erſcheint hier als der Inbegriff der den Ständen vertragsmäßig eingeräumten Rechte.2032. Der Staat Das Geſetz ein Vertrag Aller. §. 15.publica und privata. Eine lex publica iſt ein Vertrag Aller, und umgekehrt eine Privatvereinbarung ein Geſetz für die bei - den Contrahenten. Wie nun der Privatvertrag, um wirkſam zu ſein, die Angelegenheiten der Contrahenten zum Gegen - ſtande haben muß, ſo gleichfalls der öffentliche Vertrag, die lex, die Intereſſen ſämmtlicher Bürger. Der Satz: jus publi - cum privatorum pactis mutari non potest, läßt ſich dahin um - drehen: jus privatum pactis publicis mutari non potest, d. h. das Geſetz ſoll keine lex privi d. i. privi-legium einfüh - ren. 112)Der bekannte Satz aus den XII Tafeln: privilegia ne irro - ganto.

Die Wirkung des Geſetzes für den Einzelnen iſt die eines Vertrages, den er ſelbſt mit abgeſchloſſen hat. 113)Ob er für oder gegen das Geſetz ſtimmte, oder an der Abſtim - mung keinen Antheil nahm, iſt für dieſe Auffaſſung gleichgültig. Indem er im Staate bleibt, erkennt er das Geſetz hinterher auch für ſich als bin - dend an.Eine Ueber - tretung des Geſetzes iſt alſo die Verletzung einer übernommenen Verbindlichkeit, und je nachdem das Volk ſelbſt oder ein Ein - zelner das Subjekt iſt, dem das jener Verbindlichkeit correſpon - dirende Recht zugedacht war, und das mithin durch die Ver - letzung deſſelben beeinträchtigt wird, kann das Volk oder der Einzelne zur Selbſthülfe ſchreiten.

Dieſe Wirkung des Geſetzes, daß jeder gebunden wird, drückt der Ausdruck jus aus. Lex bezeichnet den Grund des Rechts, den Akt des Auferlegens, jus die Folge, den dauern - den Zuſtand des Gebundenſeins. Die lex publica begründet das jus im objektiven Sinn, die Rechtsſätze; die lex privata, der Vertrag, das jus im ſubjektiven Sinn, die Berechtigung. Wie Geſetz und Vertrag, die ſpäter ſo weit auseinander gehn, urſprünglich identiſch geweſen ſind, ſo auch Recht im objektiven und ſubjektiven Sinn.

204Erſtes Buch Ausgangspunkte des röm. Rechts.

Jus114)Von der Sanskrit-Wurzel ju verbinden , von der auch jugum, das deutſche Joch, jumentum, jungere und eine Menge anderer Wörter in verſchiedenen Sprachen ſtammt. S. des weitern Pott a. a. O. S. 213. Aus dieſer Wurzel erklärt Pott auch das ſeltſame Zuſammentreffen der zwei Bedeutungen von jus, nämlich Recht und Brühe. Im Lettiſchen findet ſich nach ſeiner Angabe das Wort jaut d. h. Mehl mit Waſſer einrühren, ver - binden. Unſer deutſches Jauche iſt vielleicht daſſelbe Wort mit jus im Sinn von Brühe. Intereſſant iſt die Verſchiedenheit der römiſchen und griechiſchen Bezeichnung des Rechtsbegriffs. Beide Sprachen bedienen ſich zu dem Zweck verſchiedener Wurzeln, die übrigens in jeder derſelben vorkom - men, die griechiſche der Wurzel dic (δίκη), zeigen, weiſen, von der in der lateiniſchen Sprache dicere, digitus u. ſ. w. ſtammt, letztere der Wurzel ju, von der in der griechiſchen Sprache ζυγὸν, jugum. Das griechiſche Wort entſpricht unſerm deutſchen Weiſe und hat, wie letzteres, die dop - pelte Bedeutung von Art und Weiſe und die von Norm, Regel (wie im Deutſchen z. B. die Geſang weiſe). Δίκαιος iſt ſeiner urſprünglichen Be - deutung nach der, der die Art befolgt, der Art-ige. Das beide Bedeutungen vermittelnde Moment iſt das des Muſters, Vorbildes; aus dem Vorbilde, der Präcedenz wird Brauch, Sitte, Recht. Die griechiſche Sprache faßt alſo bei ihrer Bezeichnung des Rechtsbegriffs das Moment des Hergebrachten, Ueblichen ins Auge, die Entſtehung aus der Gewohnheit, die lateiniſche Sprache die Wirkung, nämlich die verbindende Kraft des Rechts. Ich brauche nicht hinzuzufügen, welche Auffaſſung die höhere iſt. iſt das Band, das Bindende, die Rechtsnorm und zwar jus im objektiven Sinn das, welches alle bindet, allen eine Pflicht auflegt, beziehungsweiſe ein Anrecht gewährt, jus im ſubjektiven Sinn das bloß einen Einzelnen bindet und da - durch einem andern ein Recht gewährt. Dieſer letztere hat durch die zwiſchen ihnen beiden vereinbarte lex eine auf ſie beſchränkte Rechtsnorm des Inhalts, daß der andere dies und das leiſten ſolle, ins Leben gerufen, und da die Handhabung, Vollzie - hung derſelben ihm zuſteht (jus ei est), ſo iſt das Recht ſein (jus ejus est). Die Normen, die die Geſammtheit ſich geſetzt hat oder ſtillſchweigend anerkennt, und über deren Befolgung ſie wacht, verhalten ſich zu ihr in derſelben Weiſe, d. h. ſie erſcheinen ſubjektiv als Berechtigung.

Wir gehen jetzt zu einem Punkt von hoher Wichtigkeit über,2052. Der Staat Verhältniß zum Privatrecht. §. 15.bei dem unſere Ausführung über das Prinzip des ſubjektiven Willens gewiſſermaßen ihre Probe zu beſtehen hat, es iſt dies nämlich:

4. Das Verhältniß des Staats zum Privatrecht.

Nach einer verbreiteten Anſicht, die auf den erſten Blick et - was Scheinbares hat, hätte das Privatrecht in älteſter Zeit in völliger Abhängigkeit vom Staat geſtanden und ſich erſt nach und nach daraus befreit, während umgekehrt unſer Prinzip des ſubjektiven Willens uns zur Annahme des gerade entgegenge - ſetzten Extrems zwingt, nämlich der urſprünglichen völligen Unabhängigkeit des Privatrechts vom Staat. Der Schein, den jene Anſicht für ſich hat, beſteht in den öffentlichen Formen, in denen das Privatrecht jener Zeit auftritt, ſo wie in der Gegen - ſatzloſigkeit des geſammten Rechts, die wir in §. 19 berühren werden. Aber gerade jene Formen beweiſen, daß der Staat an ſich mit dem Privatrecht nichts zu thun hat, ſie werden eben nur angewandt, um ihn mit demſelben in eine Beziehung zu ſetzen, die von vornherein nicht exiſtirt. Jene Gegenſatzloſigkeit aber beſteht nicht darin, daß der Staat das Privatrecht, ſondern das Privatrecht den Staat dominirt d. h. daß der Staat nach pri - vatrechtlichen Prinzipien conſtruirt iſt. Es wäre gegen alle Geſchichte, daß der Staat das Privatrecht aus ſich ſollte ge - boren haben; das Gefühl der individuellen Selbſtändigkeit iſt das abſolut erſte, und erſt im mühſamen, allmähligen Kampfe mit demſelben gelangt das Staatsprinzip zur Herrſchaft.

Die von uns eben behauptete urſprüngliche Selbſtändigkeit des Privatrechts iſt eine nothwendige Conſequenz des Prinzips des ſubjektiven Willens. Der Staat kann auf indirektem Wege einen Einfluß auf das Privatrecht ausüben, z. B. durch Ent - ziehung politiſcher Rechte (Cenſor), aber er hat keine direkte Macht über daſſelbe. Er hat das Privatrecht nicht verliehen und darf es darum auch nicht beſchränken. Die Gemeinſchaft, deren Ausdruck er iſt, beſchränkt ſich auf die öffentlichen d. h. 206Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Allen gemeinſamen Intereſſen; nur ſie bilden den Gegenſtand ſei - ner Sorgfalt, den Gegenſtand des allgemeinen Vertrages, der lex publica. Das Privatrecht aber hat ſeinen Grund in der Privat - perſon ſelbſt, letztere ſelbſt muß es durch eigne Thätigkeit begrün - den und geltend machen; die ganze privatrechtliche Sphäre liegt außerhalb des Bereiches des Staats, ſo wie die perſönlichen Verhältniſſe eines Geſellſchafters außerhalb des der Societät. Selbſt als der Staat immer mehr in dieſe Sphäre eingriff, be - ſchränkend und ſchützend, läßt ſich doch noch deutlich jene Grund - anſicht von dem Verhältniß des Staats zum Privatrecht erken - nen, wie dies im zweiten Syſtem nachgewieſen werden ſoll. Indem wir dieſer Erörterung hier nicht vorgreifen, beſchränken wir uns darauf, den Punkt aufzuſuchen, an dem ſich das Gebiet des Privatrechts der Einwirkung des Staats zuerſt öffnet, und die daraus zwiſchen beiden entſtehenden Beziehungen ins Auge zu faſſen.

Wir ſind bei unſerer Darſtellung der Selbſthülfe bereits auf dieſen Punkt gelangt (S. 141) es war die Sicherung der Rechtsgeſchäfte durch Einholung der Garantie des Volks und wir nehmen den Faden der Entwicklung, den wir dort fallen laſſen mußten, hier wieder auf. Die Hauptgeſchäfte des älteſten Rechts wurden unter öffentlicher Garantie vorgenom - men, alle wichtigeren Rechte ſtützten ſich entweder unmittelbar oder mittelbar auf Anerkennung und Zuſicherung von Seiten des Volks. Unmittelbar erfolgte dieſe Garantie bei dem testa - mentum in comitiis calatis und in procinctu und der arrogatio, mittelbar bei der mancipatio (S. oben S. 141) mit ihren ver - ſchiedenen Anwendungsfällen wie z. B. dem nexum und der Eingehung der Ehe durch coemptio, bei der confarreatio (S. oben S. 181) der usucapio (S. unten) dem census. Die in jure cessio, eine Schein-Vindikation, bei der die Partheien darüber einig waren, daß dem Kläger das in Anſpruch genom - mene Recht zugeſprochen werden ſollte, ließe ſich gleichfalls unter dieſen Geſichtspunkt bringen; denn der Spruch des Prätors2072. Der Staat Garantie der Rechte durch das Volk. §. 15.ſtützte ſich mittelbar auf die Autorität des Volks, das ihn ge - wählt hatte. Dieſe Geſchäftsform aber gehört nicht mehr dem Syſtem der Selbſthülfe an, ſondern einer Zeit, die das recht - liche Verfahren bereits mit einer gewiſſen Freiheit zu handhaben verſtand, inſofern ſie es nämlich zum Mittel für einen fremden Zweck machte. Gewiß iſt auch, nachdem die in jure cessio einmal aufgekommen, der Kreis ihrer Anwendbarkeit erſt nach und nach erweitert, und manche rechtliche Dispoſition, die mittelſt ihrer getroffen werden konnte, mag urſprünglich in einer anderen Form vorgenommen ſein, von der wir jetzt keine Kunde mehr haben. So möchte ich z. B. für die Freilaſſung die Be - wirkung derſelben durch vindicta d. h. in jure cessio für eine neuere, bequemere, weil jeder Zeit anwendbare Form halten (wie denn auch von den Römern ſelbſt der erſte Fall ihrer An - wendung im richtigen Takt erſt in den Anfang der Republik gelegt wird) gegenüber der älteren, läſtigeren, weil nur alle 5 Jahr anwendbaren, Form durch census. Jene ſteht zu dieſer in demſelben Verhältniß der Erleichterung hinſichtlich der Zeit und der Vornahme des Akts, als das Mancipationsteſtament zu der nur zwei Mal im Jahr Statt findenden Teſtamentser - richtung vor den Comitien. Die Freilaſſung durch census ge - währt uns einen unzweifelhaften Fall der mittelbaren Volks - garantie; gewiß wurde dieſe Form auch bei andern Geſchäften z. B. Beſtellung von Urbanalſervituten, Uebertragung von Eigenthum u. ſ. w. benutzt. Aber während für die Freilaſſung die neuere Form der in jure cessio die ältere nicht verdrängt hat, iſt dies vielleicht bei manchen andern der Fall geweſen, und in der in jure cessio mögen ebenſoſehr längſt bekannte, an läſtigere Formen geknüpfte Geſchäfte ſich verjüngt, wie andere in ihr zuerſt eine ſicherſtellende Form gewonnen haben. Darum iſt es mir ſehr bedenklich, von der Anwendbarkeit der in jure cessio Schlüſſe auf das älteſte Recht zu ziehen; ſie hat in mei - nen Augen nicht jenen urſprünglichen Charakter, wie die übrigen eben genannten Formen.

208Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts

Mit Hülfe nun der bisher betrachteten Formen des älteſten Rechts ließen ſich alle wichtigeren Rechte unter Garantie des Volks ſtellen. Die Freiheit durch den census, die Ehe durch confarreatio und coemtio und folglich auch die väterliche Ge - walt über die aus dieſer Ehe erzeugten Kinder, die Begründung der letzteren ohne Ehe durch arrogatio (die adoptio im engern Sinn erfolgt in Form der in jure cessio), die Vormundſchaft durch Teſtament, das Eigenthum und die Ruſticalſervituten durch mancipatio (Urbanal - und perſönliche Servituten durch in jure cessio), Obligationen durch nexum, Erbeseinſetzung, Legate u. ſ. w. durch die beiden öfters genannten Teſtaments - formen.

Die Bedeutung dieſer Volksgarantie für die Entwicklung des Rechts beſteht in folgendem. Zuerſt in unmittelbar prakti - ſcher Beziehung darin, daß ſie der Selbſthülfe den höchſten Grad der Sicherheit verlieh, indem ſie die Verſuche des Widerſtandes in der Geburt unterdrückte; der Widerſtand gegen den, der auf Grund eines vom Volk garantirten Geſchäfts zur Selbſthülfe ſchritt, war Widerſtand gegen das geſammte Volk, eine Provo - kation aller Bürger, ihre Schutzpflicht zu erfüllen. Sodann aber in rechtsphiloſophiſcher Beziehung darin, daß dieſe Volks - garantie das Medium wird, durch das der Rechtsbegriff ſelbſt eine höhere Stufe beſchritt. Das Concrete war hier, wie ſo oft in der Geſchichte des römiſchen Rechts, die Brücke zum Ab - ſtracten; aus dem Schutz der Rechte entwickelte ſich der Schutz des Rechts. Die üblich gewordene Gewährleiſtung der ein - zelnen concreten Privat-Rechte ſetzt als Bodenſatz die Idee an, daß das Privatrecht im abſtracten Sinn Gegenſtand der Fürſorge und der Gewährleiſtung des Staats ſei, und aus der Berechtigung der Gemeinde, die nachgeſuchte Garantie an Be - dingungen zu knüpfen, entwickelt ſich die Idee, daß der Staat berechtigt ſei, durch beſchränkende Geſetze in das Gebiet des Privatrechts einzugreifen. Berechtigt der Schutz der Rechte zu Beſchränkungen, ſo auch der Schutz des Rechts.

2092. Der Staat öffentl. garantirte Rechte. §. 15.

Die urſprünglichſte Form alſo, in der die ſchützende und beſchränkende Macht des Staats auf dem Gebiete des Privat - rechts ſich zeigt, iſt die eines Vertragsverhältniſſes. Die Gemeinde ſichert durch Vertrag ihren Schutz zu, und der Nach - ſuchende läßt ſich die Bedingungen gefallen, an die die Gemeinde dieſe Garantie knüpft. Beides alſo, der Schutz wie dieſer Kauf - preis deſſelben, ſtützt ſich auf den freien Willen der Partheien, beruht auf einem coordinirten Verhältniß. Begehrt der Berechtigte die Garantie des Volks nicht, ſo kann dieſes ihn nicht beſchränken; ſein eigner Wille erſchließt die Privatrechts - ſphäre der Einwirkung des Staats.

Während aber dieſe Zuziehung des Staats urſprünglich ganz vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus erfolgt und einerſeits als eine Conſolidirung dieſes Prinzips aufgefaßt werden kann, liegt andererſeits darin doch bereits der Keim einer Abſchwächung deſſelben. Es entſteht ein Gegenſatz des ſub - jektiven Prinzips und der Intervention von Seiten des Staats, es erhebt ſich innerhalb des Rechts der Dualismus der öffent - lich garantirten und nicht garantirten Rechte, und es iſt begreiflich, daß die erſteren die letzteren überflügeln und herabdrücken. Fragen wir zunächſt, wie ſich dies Verhält - niß innerhalb des Syſtems der Selbſthülfe ſtellte, ſo war der Innehaber eines nicht garantirten Rechts zur Selbſthülfe ſo gut berechtigt, wie der eines garantirten, und nur in der Beziehung war ſeine Lage eine ungünſtigere, daß der Erfolg der Selbſthülfe ihm vom Volk nicht verbürgt war. Sein Recht konnte aber trotzdem ſo zweifellos ſein z. B. wenn ein Delikt gegen ihn verübt war, daß es ihn keine Mühe koſtete, den nöthi - gen Beiſtand zu gewinnen. Es gab manche Fälle, in denen man die Garantie des Volks gar nicht im voraus nachſuchen konnte, nämlich bei allen Delikten, andere, in denen man wegen Unbedeutendheit des Objekts dies zu unterlaſſen pflegte.

Die Divergenz zwiſchen den garantirten und nicht garan - tirten Rechten nahm aber in eben dem Maße zu, als das Sy -Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 14201[210]Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ſtem der Klagen ſich conſolidirte. Nicht als ob eine Klage, dieſe Form, in der ſich ſpäter der Schutz der Gemeinde wirkſam erweiſt, nur für garantirte Rechte gegeben worden wäre; viel - leicht zeichnete ſie ſich in dieſem Falle durch den Zuſatz ex jure Quiritium (ſ. u.) und ein eigenthümliches Verfahren115)War vielleicht der Centumviralgerichtshof für die Geltendmachung der öffentlich garantirten Rechte beſtimmt? Die Zuſage des Schutzes, die das Volk unmittelbar oder durch Repräſentanten gegeben, wäre hier durch einen Ausſchuß des Volks gelöſt. Alle Fälle, die Cicero in der bekannten Stelle de oratore I. c. 38. der Competenz dieſes Gerichtshofes zuweiſt, gehören zur Klaſſe der garantirten; die jura gentilitatum, agnationum, geſtützt auf die ſtaatsrechtlich anerkannte Verbindung der Gens und die ur - ſprünglich römiſche d. h. durch confarreatio, coemtio oder usus begründete Ehe mit manus; die jura testamentorum und tutelarum auf lex und öffent - liches Teſtament; die jura mancipationum, nexorum, parietum, lumiuum u. ſ. w. auf die Mancipationsform und die in jure cessio; hinſichtlich der usucapio ſ. S. 212. Daß im Centumviralgericht der Staat in einer enge - ren Beziehung zum Individuum erſcheint, als bei dem judex privatus, hat man herausgefühlt, den Grund davon aber darin geſucht (Puchta, Curſus der Inſtit. B. 2. §. 153), daß der Staat hier ſein Intereſſe geltend mache was dem Zweck der Rechtspflege gegenüber weniger wahrſcheinlich iſt , während nach meiner Vermuthung es ſich als höchſt natürlich ergibt, daß der Staat oder das Volk den rechtlichen Schutz ſolcher Verhältniſſe, die aus - drücklich unter ſeine Garantie geſtellt ſind, ſelbſt in die Hände nimmt und nicht dem judex privatus überweiſt, wenigſtens nicht gegen den Willen des Berechtigten. Erſt hier war für meine Auffaſſung des älteſten Rechts der paſſende Ort, das Centumviralgericht zu erwähnen, was ich nur bemerke, um mich zu rechtfertigen, wenn ich daſſelbe bei der Entſtehung des Richteramts mit Stillſchweigen überging. aus in allen Fällen, in denen eine Garantieertheilung von Seiten des Volks von jeher entweder nicht möglich oder nicht üblich war, mußte nicht weniger eine Klage zugeſtanden werden. Da - hingegen blieb ſie verſagt, wenn Jemand bei Rechtsgeſchäften, die garantirt zu werden pflegten, die nöthige Form nicht beob - achtet hatte. Darin aber liegt das Beſondere dieſes Falles und es bewährt ſich daran, wie feſt das ſubjektive Prinzip in der römiſchen Rechtsanſicht wurzelte daß hier dennoch ein2112. Der Staat öffentl. garantirte Rechte. §. 15.Recht angenommen ward, ein Recht freilich von ſehr geringer praktiſcher Bedeutung und nicht durch Klage geſchützt, aber den - noch ein Recht. Wer eine Ehe abgeſchloſſen hatte ohne die Form der confarreatio oder coemtio, bekam weder an der Frau, noch den Kindern die römiſche potestas; aber es war doch nach der natürlichen Rechtsanſicht (naturalis ratio) eine Ehe. Wer ſich eine Sache, die mancipirt zu werden pflegte, ohne Mancipations - form hatte zu eigen geben laſſen, bekam daran kein römiſches Eigenthum, war nicht zur Vindikation berechtigt, aber nach natürlicher Rechtsanſicht galt er als Eigenthümer. Inſofern man nun Recht und Klage mit einander identificirte, mußte man in dieſen und ähnlichen Fällen die Exiſtenz eines Rechtes verneinen und den begründeten Zuſtand als eine bloß faktiſche Ausübung deſſelben bezeichnen (in facto magis consistit, quam in jure); inſofern man dies Verhältniß aber vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus beurtheilte, mußte man ſagen: nach der naturalis ratio liegt hier ein Rechtsverhältniß vor, dem es nur an der Anerkennung von Seiten des Staats gebricht.

Man könnte mir einwenden, das angebliche Rechtsverhält - niß beſtehe in nichts anderm, als daß Jemand, der objektiv kein Recht erworben, weil er die nöthigen Formen vernachläſſigt habe, ſich dennoch einbilde, ein Recht zu haben. Allein gerade dieſer Einwand charakteriſirt den Gegenſatz der heutigen und altrömiſchen Auffaſſung. Für uns, die wir den Staat als die Quelle des Rechts betrachten, würde in jenem Falle nichts, als die ſubjektive Einbildung eines Rechts vorliegen; für die Römer aber, die den ſubjektiven Willen als letzten Grund des Rechts auffaßten, fiel der Begriff des Rechtes und des Staats - ſchutzes aus einander. Wie es Rechte gab, bevor der Staat ſie ſchützte, ſo auch, nachdem letzteres die Regel geworden war, ohne daß er ſie ſchützte. Nur die Klage, nicht das Recht ſelbſt gewährt und entzieht der Staat. 116)Cicero pro Caecina c. 26 und c. 33. Nam ut perveniat ad meSpricht der Richter ein14*212Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.in Anſpruch genommenes Recht ab, ſo heißt das genauer aus - gedrückt: er erklärt bloß die Unzuläſſigkeit der Klage, nicht die Nichtexiſtenz des Rechts ſelbſt. Ebenſo bezieht ſich die geſammte Thätigkeit des Prätors nur auf die Klage; er verleiht, verwei - gert Klagen, ohne daß dadurch das Recht ſelbſt getroffen würde, und wenn er einem Berechtigten die faktiſche Ausübung des Rechts völlig entzogen hätte und ihm jegliche rechtliche Geltend - machung deſſelben verwehrte, das Recht ſelbſt kann er nicht auf - heben. Die ganze Privatrechtspflege auch der ſpätern Zeit weiſt auf dieſen Geſichtspunkt hin.

Worin lag nun die praktiſche Realität eines vom Staat nicht anerkannten, aber nach natürlicher Anſicht vorhandenen Rechts? Sie lag theils in der Macht dieſer Anſicht ſelbſt d. h. in der thatſächlichen Anerkennung, die man unter dem Einfluſſe einer ſolchen Rechtsanſchauung einem derartigen Recht zukom - men ließ, theils in der formloſen Selbſthülfe, ſoweit dieſelbe erfolgreich war d. h. in ihrer Richtung auf Schutz im Beſitz,117)In Anwendung auf eine obligatio naturalis beſtand dies in der soluti retentio gegenüber der condictio indebiti. theils bei einigen Rechten in einem Inſtitut, das den Uebergang derſelben in rechtlich anerkannte vermittelte, der Uſucapion. Letztere bildet für dieſe Rechte die Brücke vom ſubjektiven Prinzip zum Gebiet des Staatsſchutzes; ſie verſchafft dem vom Stand - punkt des ſubjektiven Prinzips aus vorhandenen Recht wir wollen es ein rein ſubjektives nennen den Charakter eines öffentlich anerkannten. Eine formloſe öffentliche Anerkennung kann man darin finden, daß jenes Recht längere Zeit hindurch116)fundus, testamento alicujus fieri potest; ut retineam, quod meum factum est, sine jure civili non potest. Fundus a patre relinqui potest, at usu - capio fundi, hoc est finis sollicitudinis ac periculi litium non a patre relinquitur, sed a legibus. Aquaeductus, haustus, iter, actus a patre, sed rata auctoritas harum rerum omnium a jure civili sumitur. Pri - mum illud concedis non quidquid populus jusserit, ratum esse oportere u. ſ. w.2132. Der Staat rein ſubjektive Rechte. §. 15.unangetaſtet geblieben. Dieſe ſtillſchweigende Anerkennung in der Uſucapion verhält ſich zur ausdrücklichen in der Mancipa - tionsform, wie die ſtillſchweigende Anerkennung von Rechts - ſätzen durch den usus, das Gewohnheitsrecht, zur ausdrücklichen durch eine lex. Die Uſucapion iſt keine Conſequenz des ſub - jektiven Prinzips, ſondern ein Glied vom Syſtem der Staats - garantie; darum findet ſie ſowenig wie irgend eine Form, durch welche die Staatsgarantie ausdrücklich ertheilt wird, auf Nicht - römer oder auf Provinzialgrundſtücke Anwendung.

Die ſpätere Entwicklung der ſubjektiven Rechte fällt in eine zu ferne Zeit, als daß wir ſie hier berückſichtigen könnten; es genügt uns, in ihnen den letzten Reſt der urſprünglichen Selbſtändigkeit des ſubjektiven Prinzips, der Unabhängigkeit des Privatrechts vom Staat nachgewieſen zu haben. Der Dualismus zwiſchen ihnen und den vom Staate anerkannten Rechten reicht ſeinem Keime nach in die älteſten Zeiten, viel - leicht weit über Rom hinauf; er begann mit dem erſten Ge - ſchäft, das unter den Schutz der Gemeinde geſtellt wurde. Die erſte Form deſſelben war die des Gegenſatzes zwiſchen ſpeziell vom Volk garantirten Rechtsgeſchäften und allen übrigen Recht erzeugenden Thatſachen, die zweite Form die des Gegenſatzes zwiſchen allen vom Staat anerkannten und nicht anerkannten d. h. klagbaren und klagloſen Rechten, von denen jene wiederum in concret und abſtract anerkannte zerfielen, erſtere ſich ſtützend auf eine von Seiten des Volks mittelbar oder unmittelbar vor - genommene Genehmigung des einzelnen Geſchäfts, dieſe auf einen allgemeinen, ſie abſtract anerkennenden Rechtsſatz.

Aus dieſer ſpätern Verſchiebung des urſprünglichen Gegen - ſatzes erklärt es ſich vielleicht, daß jene für die ganze Entwicklung des Rechtsbegriffs ſo außerordentlich bedeutungsvolle concrete Anerkennung der Rechtsgeſchäfte durch das Volk von den römi - ſchen Juriſten ſo wenig beachtet wird; auch kömmt ja hinzu, daß ſie nur beim alten testamentum in comitiis calatis und der arrogatio direkt zu Tage liegt, bei der Mancipation, Uſucapion214Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.u. ſ. w. erſt durch Schlußfolgerungen ermittelt werden muß. Innerhalb des Klagenſyſtems ſtanden die garantirten Geſchäfte, möchte ich ſagen, in Reih und Glied, während ſie früher die Vorkämpfer geweſen waren, welche der Idee des Staatsſchutzes erſt Bahn brechen mußten. Als dies geſchehen, als ſie das Pri - vatrecht von ſeinem Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus auf dem natürlichſten Wege mit dem Staat zuſammengebracht hatten, da war ihre Aufgabe beendet, ihre wahre Bedeutung dahin und konnte in Vergeſſenheit gerathen. Aber hat die Sprache, die treue Pflegerin ſo mancher Reminiscenzen, uns keine Spur jenes älteſten Dualismus innerhalb des Rechts auf - bewahrt? Vielleicht ſteckt eine ſolche Spur in dem viel beſtrit - tenen Ausdruck jus Quiritium. Einen Anhaltspunkt für dieſe Vermuthung gewährt uns die Vindikation und Mancipation ex jure Quiritium. Ein leerer Zuſatz kann dieſer Ausdruck bei der Vindikation118)Gaj. IV. §. 16. nicht geweſen ſein, das widerſtrebt der Weiſe der Römer, ihrer allbekannten Genauigkeit in der Formulirung der Klagen. Derſelbe kann alſo nicht bloß bedeutet haben, daß dieſe Klage nach ſtreng römiſchem Recht beurtheilt werden ſolle, wie hätte er dann bei den andern Klagen des ſtreng römiſchen jus civile fehlen können? Er hat eine engere Bedeutung gehabt, eine höhere Gradation des römiſchen Rechts ſelbſt aus - gedrückt, und eine ſolche hat ſich uns ergeben bei den vom Volk garantirten Rechten. Im Formular des Mancipationsteſtaments werden die Quiriten ausdrücklich als testes aufgerufen, bei der gewöhnlichen Mancipation119)Gaj. I. §. 119. wird auf das Recht der Quiriten Bezug genommen. Wenn nun die auf ſolche Weiſe erworbenen Rechte durch eine Vindikation ex jure Quiritium120)Ob der Zuſatz früher bei jeder Vindikation vorkam, ob er nicht in ſpäterer Zeit, als er ſeine Bedeutung verloren, hier aufgenommen, dort weg - gelaſſen wurde u. ſ. w., das läßt ſich nicht ermitteln. geltend gemacht werden und zwar geltend gemacht vor dem Centum -2152. Der Staat Rechte ex jure Quiritium. §. 15.viralgerichtshofe, ſo liegt es nahe, in dieſem Ausdruck eine Hin - weiſung auf die Eigenthümlichkeit dieſes ganzen Verhältniſſes zu erblicken. Ein Recht ex jure Quiritium würde alſo ein nach der Weiſe der Quiriten unter den Schutz der Gemeinde geſtelltes Recht ſein, ausgezeichnet im Syſtem der Selbſthülfe durch Ver - bot und Erfolgloſigkeit des Widerſtandes gegen die Selbſthülfe, im Klagenſyſtem durch den von dem Centumviralgericht als einer das Volk vertretenden Behörde ertheilten Schutz. 121)Den Schutz des Volks anrufen hieß Quiritare. Varro de ling. lat. VI. 68. Quiritare dicitur is, qui Quiritum fidem clamans implorat. Fides Quiritium darum, weil und inſofern das Recht unter dem Schutz der Quiriten ſtand, ihre fides alſo erforderte, daß ſie denſelben gewährten. Fides iſt daher der ſtehende Ausdruck ſ. die Beiſpiele bei Brissonius de voc. ac formul. lib. VIII. c. 21.Wie es ſich übrigens mit dieſer Vermuthung über den Sinn jenes Ausdrucks auch verhalten möge, für das materielle Reſultat der obigen Ausführung iſt dies gleichgültig.

Es bleibt uns jetzt noch ein Punkt übrig, an dem wir gleich - falls die Wirkſamkeit der im bisherigen verfolgten Ideen zu er - proben hätten, nämlich das Königthum. Daſſelbe entſpricht nun zwar nach einer Seite hin dem ſubjektiven Prinzip, inſofern nämlich die Wahl des Königs ſich als ein Vertrag zwiſchen Volk und König bezeichnen läßt, allein andererſeits reicht es da - durch über daſſelbe hinaus, daß es von vornherein ein Verhält - niß der Ueber - und Unterordnung begründet und wird daher am zweckmäßigſten bei Gelegenheit der Wehrverfaſſung (§. 17) zu betrachten ſein.

Bevor wir den Gegenſtand, der uns bisher beſchäftigte, ver - laſſen, mögen mir noch einige Bemerkungen über den Werth der gefundenen Reſultate verſtattet ſein. Dürfen wir ſie Reſultate nennen, oder ſind ſie nicht vielmehr reine Conſtruktionen? Ich216Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.räume gern ein, daß ich conſtruirt habe, allein wer mir dies ver - wehren will, der beſtreite mir vorher das Recht, aus gegebenen Thatſachen Schlüſſe zu ziehen, läugne den Satz, daß die Rechts - anſchauung jeder Periode der Geſchichte eine einige iſt, keine Widerſprüche in ſich ſchließen kann. Bequem iſt es, die Geſchichte gleich mit einem großen Kapital von Begriffen beginnen zu laſſen, den erſten Aeußerungen der Staats - und Rechtsbildung von vornherein unſere heutigen Ideen unterzulegen, res publica, lex, poena, judex u. ſ. w. mit Staat, Geſetz, Strafe, Richter u. ſ. w. zu überſetzen dann iſt man mit einem Male über alle Schwierigkeiten hinweg. Aber trägt man hier nicht mehr hinein, als ich mit allen meinen Conſtruktionen? Der Gedanke, der mich geleitet hat, iſt der: man darf ſich nicht beruhigen bei den äußern Formen des Staats - und Rechtslebens, denn ſie können bei äußerer Aehnlichkeit unendlich verſchieden ſein, ſon - dern es kömmt darauf an, ihren inneren Gehalt d. h. die Ideen, auf denen ſie beruhen, zu ermitteln. Nun gewährt noch das ſpätere römiſche Recht Anhaltspunkte genug, um dieſe Operation wenigſtens hinſichtlich einiger Punkte vorzunehmen. Wenn aber an ihnen eine beſtimmte Rechts - und Staatsanſchauung ſich manifeſtirt, ſo kann dieſelbe ſich nicht ſelbſt widerſprochen haben, wir ſind berechtigt, ihre nothwendigen Vorausſetzungen und Conſequenzen zu entwickeln und uns die ganze Rechtswelt im Geiſte dieſer Anſchauung zu denken. Ein mehres haben wir nicht gethan. Wir haben uns den Staat gedacht vom Stand - punkt des ſubjektiven Prinzips aus, unter der Herrſchaft privat - rechtlicher Auffaſſung. Das Gewicht der ſpeziellen äußern Gründe, die uns zur Einnahme dieſes Standpunktes veran - laßten, wird verſtärkt durch naheliegende122)Wenn wir unſern Blick auch nur auf Deutſchland beſchränken, ſo finden wir ſchon genug Analogien. Der Lehnsſtaat war ein Staat mit pri - vatrechtlicher Conſtruktion, die Patrimonialgerichtsbarkeit beruht auf privat - rechtlicher Auffaſſung des Richteramtes; die Capitulationen der Churfürſten mit dem Kaiſer, die Verträge der Stände mit dem Landesherrn u. ſ. w. ge - hiſtoriſche Ana -2172. Der Staat Bedeutung des Vertrages. §. 15.logien, ſo wie durch die Natur der Sache ſelbſt. Dem menſch - lichen Geiſte iſt die Abſtraction eines Staates als eines von den natürlichen Perſonen verſchiedenen und ihnen übergeordne - ten Weſens nichts weniger als angeboren, ſondern erſt durch ein langes Beſtehen und Wirken der Staatsgewalt mühſam ab - gerungen. Die urſprüngliche, kindliche Anſicht erblickt in der Staatsgewalt nur das Recht und die Macht dieſer concreten Perſon (Patrimonialſtaat) oder ſämmtlicher Perſonen, die zu ihm gehören (Republik), und in dieſem Geiſte wird dieſe Macht urſprünglich gehandhabt.

Wenn wir alſo Veranlaſſung genug hatten zu dem Verſuch, dem älteſten Staat eine rein privatrechtliche Auffaſſung unter zu legen, ſo haben wir, glaube ich, keine Urſache, dieſen Ver - ſuch zu bereuen. Er hat uns mehr gezeigt, als die bloße prak - tiſche Möglichkeit eines von rein privatrechtlichen Ideen getragenen Staats, er hat uns einen Blick in die innerſte Bil - dungsgeſchichte des römiſchen Rechts und Staats thun laſſen und uns auf die verſteckten Wurzeln mancher Inſtitute aufmerk - ſam gemacht. Ich hebe hier vor allem hervor die urſprüngliche Identität der lex publica und lex privata, des jus im objek - tiven und ſubjektiven Sinn, der vindicta publica und privata und ſodann namentlich die hohe Bedeutung des Ver - trages. Der Vertrag iſt das Mittel, wodurch das Recht aus dem primitiven Zuſtand unmittelbarer Exiſtenz und Verwirk - lichung im Leben heraustritt und feſte Formen gewinnt. Dem Gewohnheitsrecht gegenüber, das eben der Zuſtand der Unmit - telbarkeit des Rechts iſt, tritt im Geſetz eine Aenderung und Er - weiterung des Rechts durch gemeinſamen Vertrag auf. Die vindicta privata und publica führen durch Vertrag zur poena122)währen Seitenſtücke zu meiner Auffaſſung der lex als eines Vertrages, die Baſirung der Rechtsfähigkeit der Juden als kaiſerlicher Kammerknechte auf den erwirkten kaiſerlichen Schutz ein Seitenſtück zu meiner Anſicht von der ver - tragsmäßigen Garantie der Rechte durch das Volk, das Fehderecht des Mit - telalters zu meinem Syſtem der Selbſthülfe u. ſ. w.218Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.und damit zur Entſtehung der Klagen auf Privatſtrafen und der Strafrechtspflege. Der Selbſthülfe entkeimt zuerſt durch den Vertrag die ſchiedsrichterliche Entſcheidung, ſodann das Rich - teramt und der Civilprozeß. Vertrag iſt das Medium, wodurch Staat und Privatrecht zuerſt in Berührung treten; aus der vertragsmäßigen Garantie der Rechte entwickelt ſich die Idee von der Garantie des Rechts durch den Staat und der Unterwürfig - keit des Privatrechts unter den geſetzgeberiſchen Willen des Staats. Als Vertrag läßt ſich auch die Wahl der Könige und Magiſtrate bezeichnen, auf Vertrag beruht, wie wir im folgen - den Paragraphen ſehen werden, das ganze Völkerrecht. So knüpft alſo die Entſtehung der Geſetzgebung, der Strafrechts - pflege, des Civilprozeſſes, des Beamtenthums ſo wie die Idee des öffentlichen Rechtsſchutzes an den Vertrag an, der ſtaatlichen Gemeinſchaft ſelbſt liegt der Vertragsgeſichtspunkt zu Grunde, das ganze Völkerrecht löſt ſich in Verträge auf. Es nimmt ſich faſt ſo aus, als ob uns hier das älteſte römiſche Recht als Be - leg für die Wahrheit der naturrechtlichen Conſtruktion des Staats hätte dienen ſollen, und im vorigen Jahrhundert zur Zeit der Herrſchaft des Naturrechts würde der eben hervorgehobene Ge - ſichtspunkt auf eine ebenſo günſtige Aufnahme haben rechnen dürfen, wie er jetzt unter der Ungunſt eines partiellen Zuſam - mentreffens mit naturrechtlichen Ideen leiden kann. Dies Zu - ſammentreffen iſt kein zufälliges. Der Vertragsſtandpunkt iſt die niedrigſte Stufe, die der Staat ſelbſt ſowohl als die wiſſen - ſchaftliche Betrachtung deſſelben einnehmen kann; kein Wunder, daß auf ihm das Naturrecht und das älteſte römiſche Recht ſich begegnen. Wie in Rom der Staat ſelbſt dieſen Standpunkt im Lauf der Zeit praktiſch überwand, ſo hat auch unſere heutige Theorie des Staats ihn zurückgelegt, aber mögen wir im Beſitz einer würdigeren Auffaſſung des Staats die relative Berechti - gung jenes Standpunktes nicht verkennen und nicht mit der - ſelben Einſeitigkeit, mit der die naturrechtliche Doctrin ihre der Kindheitszeit des Staats entſprechende Anſicht dem Staat über -2192. Der Staat Stellung außerhalb deſſelben. §. 16.haupt unterlegte, ſo umgekehrt unſere heutige dem Mannesalter entnommene Auffaſſung deſſelben auf alle Zeiten übertragen. Fiel jene Doctrin in den Fehler, den Staat zu verflachen und zu erniedrigen, ſo droht uns die Gefahr, von der Höhe unſeres heutigen Standpunktes die wirklichen Flächen und Niederungen in der Geſchichte des Staats zu überſehn, ſo ſind wir geneigt der Frage nach dem Werden des Staats und Rechts lieber gänz - lich auszuweichen und beide für gewiſſermaßen auf übernatür - liche Weiſe von Gott fertig in die Welt geſetzte Inſtitutionen zu erklären, als zuzugeben, daß ſie in proſaiſcher Weiſe durch Menſchenhand gemacht ſind. Der Romantik unſerer heutigen hiſtoriſchen Anſicht könnte ein Zuſatz von etwas derber Proſa gar nicht ſchaden, und es heißt gewiß den Gott, den man in der Geſchichte ſucht, würdiger erkennen, wenn man ihn im Menſchenwerk nachweiſt, wenn man zeigt, daß er auf die natürlichſte und verſtändlichſte Weiſe durch den frei handelnden Menſchen aus dem Kleinſten das Höchſte hervorbringt, als wenn man ihn auf übernatürliche Weiſe durch Wunder thätig werden läßt.

Stellung außerhalb der Gemeinſchaft Volle Negation des Rechts, der Kriegsfuß Relative Berechtigung dieſes Stand - punktes Milderungen Einfluß des Handels Das hospi - tium Entſtehung des internationalen Rechts aus dem Ver - trage heraus Die Clientel, precarium und peculium.

XVI. Es iſt bereits früher (S. 100) bemerkt, daß das römiſche Recht ſich nie zur praktiſchen Anerkennung der Rechts - ſubjektivität des Menſchen als ſolchen erhoben hat. Daſſelbe beſchränkt die Rechtsfähigkeit auf die römiſchen Bürger und die Mitglieder der Staaten, mit denen Rom Verträge abgeſchloſſen hat. Neben dem Zugeſtändniß, daß die Menſchen nach dem theoretiſchen jus naturale frei geboren würden, lehren doch noch die klaſſiſchen Juriſten als praktiſches Recht den Satz:123)L. 5. §. 2. de capt. (49. 15). si220Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.cum gente aliqua neque amicitiam neque hospitium neque foedus amicitiae causa factum habemus, hi hostes quidem non sunt, quod autem ex nostro ad eos pervenerit, illorum fit et liber homo noster ab eis captus servus fit eorum. Idemque est, si ab illis ad nos aliquid perveniat. Der Kriegsfuß alſo gilt noch zu ihrer Zeit als das von vornherein gegebene völker - rechtliche Verhältniß, der Friede, pax, iſt erſt das Reſultat des pacisci. Jener Kriegsfuß iſt aber völlig gleichbedeutend mit gänzlicher Rechtloſigkeit aller dem Staat, mit dem man nicht paciscirt hat, angehörigen Individuen.

Dieſe Auffaſſung, die uns noch in ſo ſpäter Zeit ausdrück - lich bezeugt wird, ergibt ſich nun für die älteſte Zeit als eine ſo nothwendige Conſequenz des ganzen Rechts, daß wir, auch ver - laſſen von allen poſitiven Zeugniſſen, ſie mit völliger Sicherheit ſupponiren dürften. Die Anerkennung der privatrechtlichen Rechtsfähigkeit des Fremden würde eine totale Scheidung des Privatrechts vom öffentlichen, eine Selbſtändigkeit beider vor - ausſetzen. Wir haben aber geſehen, daß dieſe beiden Seiten des Rechts urſprünglich ganz und gar in einander verwachſen ſind, daß ferner die Idee des vom Staate zu leiſtenden Rechtsſchutzes an einen mit dem Staat geſchloſſenen Vertrag anknüpft. Wie hätte ein Fremder den Schutz des römiſchen Volks oder der Magiſtrate fordern können, da die Bürger ſelbſt ſich denſelben erſt ausdrücklich zuſichern laſſen mußten? Wie konnte er ſich auf römiſche Geſetze berufen, die doch nur eine Vereinbarung der römiſchen Bürger unter ſich enthielten, wie Theil zu nehmen begehren an Inſtitutionen, die ſie für ſich eingeführt?

Das römiſche Recht iſt wie der Staat für die Römer da, oder näher bezeichnet es iſt beſchränkt auf die Gentilitätsverbin - dung. Gentilität und volle Rechtsfähigkeit, Nicht-Gentilität und volle Rechtloſigkeit iſt urſprünglich gleichbedeutend, es gibt von vornherein keine Gradationen der Rechtsfähigkeit. Nur wer innerhalb der Gens ſteht, iſt ingenuus; wer draußen ſteht, der ex-gens iſt rechtlos, elend, extrarius est, qui extra focum,2212. Der Staat Stellung außerhalb deſſelben Exil. §. 16.sacramentum jusque sit,124)Festus sub voc. extrarium. ſeine Ausſchließung iſt eine totale, auch die Religion baut ihm keine Brücke, denn auch ſie iſt ein Inſtitut dieſes Staates. Es iſt ein ſeltſames Spiel des Zu - falls, daß egens gerade das Loos des exgens ausdrückt, und die Römer leiteten wirklich egens von gens ab125)Festus sub voc. egens velut exgens, cui ne gens quidem sit reliqua. Möglich wäre dieſe Ableitung, man denke z. B. an iners (von ars), de-mens u. ſ. w., und ohne das Zeitwort egeo würde man nicht in Ver - ſuchung kommen nach einer andern zu ſuchen. Es iſt auch denkbar, daß in dem einen Wort ſich exgens von gens und egens von egeo zuſammengefunden hätten; es wäre nicht das einzige Mal, daß ſo etwas vorgekommen wäre. eine Ableitung, die wenn ſie richtig wäre, für jene Anſchauung eben - ſo bezeichnend wäre, wie im Deutſchen das Wort Elend (Aus - land). Eine unzweifelhafte Spur jener Anſchauung hat uns die Sprache in dem Wort hostis erhalten, es bedeutet urſprüng - lich den Gaſt, den Fremden und den Feind. 126)Hostis iſt daſſelbe Wort mit dem Goth. gasts und dem Mittel - hochdeutſchen gast, und letztere haben dieſelbe Doppelbedeutung. Ueber die Verwandſchaft des g und h ſ. Pott a. a. O. B. 1. S. 143. und über die muthmaßliche Ableitung von Sanskr. ghas eſſen daſelbſt S. 279. Der ur - ſprüngliche Sinn dieſer Wörter wäre alſo: der Bewirthete. Hostire (ſchla - gen) und hostia (Schlachtopfer) haben ſich davon freilich weit entfernt.In dieſer Doppelbedeutung drückt ſich treffend die Unbeſtimmtheit des Looſes der Fremden aus, daß ſie nämlich eben ſowohl die Be - handlung von Gäſten als die von Feinden gewärtigen mußten.

Mit dieſer urſprünglichen Rechtloſigkeit des Fremden hängt die Furchtbarkeit des Exils nach antiker Vorſtellung zuſammen. Das Exil der heutigen Zeit iſt nicht ein Schatten von dem des Alterthums, es beſteht nur in einem Wechſel des Wohnorts, dem Verluſt der Heimath. Eine ſolche Strafe raubt nicht das Glück ſelbſt, ſondern nur die lokale Form, in der man es bisher genoß; überall findet der Verwieſene Anerkennung ſeiner Per - ſönlichkeit und Schutz ſeines Rechts. Ganz anders die urſprüng - liche Geſtalt des Exils im Alterthum. Der Fremde iſt rechtlos;222Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.wer daher ausgeſtoßen wird aus der Gemeinſchaft ſeiner Ge - noſſen oder wegen Verbrechen ſich flüchtet, deſſen harrt, möchte ich ſagen, das Loos des Wildes auf dem Felde, das unſtät, ruhelos umherirrt und gejagt wird, wo es ſich blicken läßt. Alles, was ihm theuer war, läßt der Verbannte daheim, ſeinen Heerd, ſeine Genoſſen, den Frieden des Rechts und die gemein - ſame Verehrung der Götter, und was er mit ſich nimmt, iſt das Gefühl des unſäglichen Elends, die Ausſicht auf ein dem Zu - fall, der Verfolgung, Entbehrung u. ſ. w. Preis gegebenes Leben, auf Knechtſchaft oder eine von der Willkühr und Gnade ſeiner Schutzherrn abhängige und durch Demüthigungen aller Art erkaufte Freiheit. Wird er angegriffen und verfolgt, ſo ſtehen ihm keine Genoſſen zur Seite; fällt er im Kampf, ſo gibt es für ihn keine Freunde, die ihn rächen, ihm daheim ein Tod - tenopfer bereiten und ſeinem unſtätt irrenden Schatten Ruhe verſchaffen.

Das iſt das Exil des Alterthums in ſeiner urſprünglichen Geſtalt. Es enthält nicht, wie ſpäter, eine bloße capitis demi - nutio magna, den Verluſt des Bürgerrechts, ſondern den bür - gerlichen Tod, die Verſtoßung des Menſchen von dem Boden des Rechts in eine grauenvolle Einöde, in einen Zuſtand der Schande und Rechtloſigkeit. Darum erſchien das Exil den - mern noch in ſpäter Zeit, als demſelben die ſchärfſten Spitzen bereits abgebrochen waren, dennoch als eine ſo ſchwere Strafe, daß man dem wegen eines Verbrechens in Anklagezuſtand Ver - ſetzten bis zum Augenblick des Urtheils es frei ſtellte, durch frei - williges Exil die Unterſuchung nieder zu ſchlagen.

Die im bisherigen dargeſtellte Rechtsanſchauung, wornach das Recht urſprünglich mit dem Staat völlig zuſammenfällt und mit der höchſten Exkluſivität nach außen hin beginnt, mag auf den erſten Blick als eine der Entwicklung des Rechtsbegriffes in der Geſchichte hinderliche erſcheinen, während ſie ſich doch bei näherm Nachdenken gerade umgekehrt als höchſt förderlich ergibt, als die ſchützende Decke, die den Embryo des Rechts und Staats2232. Der Staat Stellung außerhalb deſſelben. §. 16.umgibt und ihm unentbehrlich iſt. Ich erblicke in ihr eins der wirkſamſten Mittel, das die Geſchichte für die Bildung und Erhaltung der Staaten in Bewegung geſetzt hat. Indem näm - lich jene Anſicht den Staat zum Fundament der geſammten ſitt - lichen Exiſtenz des Individuums macht, ihn in der Wüſte der Rechtloſigkeit und Willkühr als die Oaſe des Rechts und Frie - dens erſcheinen läßt, treibt ſie die Individuen aus dieſer Wüſte in den Staat hinein und kettet ſie mit eiſernen Banden an die - ſen Staat feſt. Er iſt ihnen ihr Alles, ihn zu verlaſſen heißt ſich ſelbſt aufzugeben; ſein Sturz bedeckt ihr ganzes Glück mit Trümmern. An den Austritt aus dem Staat ſo wie an den Un - tergang deſſelben knüpft ſich die Ausſicht auf den Verluſt der Per - ſönlichkeit, den Untergang des geſammten Privatglücks, und ſo wird der Selbſterhaltungstrieb des Individuums in doppelter Be - ziehung eins der wirkſamſten Mittel der Erhaltung des Staats ſelbſt, zuerſt nämlich indem er dem Staat die vorhandenen Kräfte ſichert, ſodann aber indem er ſie bei einer Gefährdung deſſelben von außen her auf ihr höchſtes Maß ſpannt. In erſte - rer Beziehung nämlich iſt es für den entſtehenden Staat ſehr wichtig, von dem verhältnißmäßig geringen Bevölkerungs - Kapital, mit dem er beginnt, nichts einzubüßen, während es umgekehrt für den erwachſenen Staat vortheilhaft ſein kann, ſich der nicht verwendbaren Ueberſchüſſe dieſes Kapitals durch Colonien, Auswanderungen u. ſ. w. zu entledigen. Jener be - darf eines feſten Verſchluſſes, dieſer mitunter eines Ventils, jener befindet ſich in dieſer Beziehung in einer weit ungünſtige - ren Lage, als dieſer. Während letzterer ein in der Schule der Zucht und Ordnung aufgewachſenes Volk vorfindet, das mit tauſend Banden in ſich und mit ihm verkettet iſt, Banden, die nur das Reſultat eines langjährigen Prozeſſes ſind, ſoll erſterer die rauhe Schule der Zucht und Ordnung erſt beginnen, ohne dem unbändigen Sinne, der dieſer Zucht widerſtrebt, ohne dem Reiz des Wanderlebens, der Verſuchung ſich von der Gemein - ſchaft los zu reißen, ein anderes Gegengewicht gegenüber ſtellen224Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.zu können, als das Recht, das er gewährt und ſchützt. Wäre der Werth dieſer Gabe für jene Zeit nicht ein unendlich höherer, als heutzutage, wäre bereits jene Zeit zur praktiſchen Aner - kennung der Rechtsſubjektivität des Menſchen als ſolchen ge - langt, wie hätte das Recht jenen Dienſt leiſten können? Wer heutzutage ſich einmal entſchloſſen hat, den Staat, dem er bis - her angehörte, zu verlaſſen, den hält die Rückſicht auf das Recht nicht zurück, denn wohin er geht, findet er eine Rechtsatmo - ſphäre vor, nimmt ſeine Rechtsfähigkeit mit ſich, ja kann ſogar in dieſer Beziehung gewinnen. Wer aber in jener Zeit, von der wir hier ſprechen, aus der Staatsverbindung, in der er ſtand, heraus treten wollte, der ließ ſein Recht zurück, trat aus der Rechtsatmoſphäre, die ſich für ihn nur über dieſen Staat lagerte, in die Stickluft der Rechtloſigkeit, die dieſen Staat von allen Seiten umgab. Der Selbſterhaltungstrieb alſo feſſelte ihn an dieſen Staat, und ſo übte der Staat mittelſt des Rechts eine Anziehungskraft aus, von der wir keine Ahnung mehr haben, und Recht, Freiheit, Vermögen u. ſ. w. ſo wie der Staat ſelbſt als Schirmherr derſelben erſchienen durch die Folie der Rechtloſigkeit als unſchätzbare Güter, deren Werth jeder kannte. Mit dem Wegfallen dieſer Folie in der neuern Welt hat ſich die Werthſchätzung des Rechts bedeutend vermindert, iſt das Recht, möchte ich ſagen, aus einem Gegenſtande des Privateigenthums, den jedes Volk ausſchließlich auf ſich bezieht, eine res commu - nis omnium, wie Luft und Waſſer geworden, an der jeder Menſch, der Einheimiſche wie der Fremde, participirt, und deren Werth man überſieht, weil man ſie überall vorfindet.

Dies alſo die eine Wirkung der hier in Rede ſtehenden ur - ſprünglichen Rechtsanſicht; ſie reſervirt dem Staat die vorhan - denen Kräfte. Die zweite ſetzten wir darin, daß ſie zum Schutz des Staats die vorhandenen Kräfte auf ihr höchſtes Maß ſpannt. Bei jedem Angriff auf Einzelne wie auf Staaten richtet ſich die höhere oder geringere Spannung der vorhandenen Wi - derſtandskraft nach dem Werth oder der ſubjektiven Werth -2252. Der Staat Stellung außerhalb deſſelben. §. 16.ſchätzung der bedrohten Güter. Zu dieſen Gütern gehörte nun für den Fall eines Krieges in der Zeit, von der wir hier ſprechen, die totale Privatexiſtenz ſämmtlicher Staatsangehörigen. Unter - liegen war ihnen gleichbedeutend mit Verluſt des Lebens oder der Freiheit, Ehre, Familie und des Vermögens. Ihre eigne Selbſterhaltung war alſo von der des Staats abhängig; es trifft auch hier der im vorigen Paragraphen ausgeſprochene Satz zu: der Staat ſind ſie ſelbſt. So erſcheint alſo jenes Ver - hältniß der Individuen zum Staat, vermöge deſſen der indivi - duelle Selbſterhaltungstrieb ganz und gar dem Staate dienſt - bar wird, als das Mittel, wodurch die Geſchichte dem jungen Staat das Leben ſichert, ihn zwingt ſtets mit der ganzen Kraft der Verzweiflung um ſeine Exiſtenz zu ringen. Durch die häu - figen Frictionen, die ſie in dieſer Zeit herbeiführt, und die inten - ſive Stärke derſelben bringt ſie raſch die ſchlummernden Kräfte zur vollſten Entwicklung. Dem heutigen Staat iſt eine ſolche Spannung ſeiner Widerſtandskraft gar nicht möglich. Unſere heutige Scheidung des Staats und der Individuen bewährt ſich auch im Kriege; der Staat führt mit dem Staat Krieg, und ſo viele Poſten auch das individuelle Wohl, die nationale Ehre, das religiöſe oder confeſſionelle Intereſſe u. ſ. w. auf ſeine Hypothek eingetragen und mithin zu retten hat, der rein privatrechtlichen Exiſtenz, Freiheit, Familie, Vermögen droht ſein Sturz nicht den Untergang, der Selbſterhaltungstrieb alſo der gemeinen Natur, der an jenen höhern Gütern keinen Antheil hat, iſt dabei weniger intereſſirt. 127)Unſer moderne Staat hat ein ganz geeignetes Mittel entdeckt, um auch das materielle Privatintereſſe unmittelbar an ſeiner Erhaltung zu be - theiligen, die Staatsſchulden. In anderer und freilich ungleich unvollkommne - rer Weiſe, als der Staat des Alterthums, umſpannt er damit das Privatver - mögen. Die Wirkſamkeit dieſes Mittels reicht übrigens über ſein eignes Staatsgebiet hinaus; eine Anleihe im Ausland iſt ein Anker, den der Staat dort auswirft, unter Umſtänden eine wirkſamere Allianz, als ein mit der

Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 15226Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

An die bisher erörterte urſprüngliche Rechtloſigkeit des Nichtbürgers knüpft die fernere Entwicklung des römiſchen Rechts in mannigfacher Weiſe an. Zuerſt nämlich das Sachen - recht mit ſeinem Recht der Beute, das wir früher (§. 10) als die Wurzel des römiſchen Eigenthumsbegriffs bezeichnet haben. Das römiſche Eigenthum entſteht durch die Bethätigung römi - ſcher Kraft am rechtloſen Fremden. Aber wenn es einerſeits ſich auf den Krieg ſtützt und ihn veranlaßt, ſo birgt es anderer - ſeits in ſich auch die Keime des friedlichen Verkehrs. Austauſch der Eigenthumsgegenſtände baut die Brücke zwiſchen den iſolir - ten oder befeindeten Völkern, und dem Soldaten, der den Krieg brachte, folgt der Kaufmann, der den Frieden ſucht. Der Han - del iſt nicht bloß daheim für die Entwicklung des Privatrechts die treibende Kraft, ſondern auch für die Ausbildung des Völ - kerrechts. Für den Handel mit ſeiner unaufhaltſam thätigen, expanſiven Tendenz iſt die auf die Scholle beſchränkte Natur des Rechts am fühlbarſten und läſtigſten; wie er die Hemmniſſe des freien Verkehrs hinwegzuräumen ſtrebt, die die Natur ihm ent - gegenſetzt, ſo auch die, welche eine beſchränkte Rechtsanſicht ihm bereitet. Er iſt es, der gegenüber der Exkluſivität der nationa - len Rechtsanſicht das kosmopolitiſche Element im römiſchen Recht zur Exiſtenz und Ausbildung gebracht hat. Ein Zwiſchen - händler war der erſte Vorkämpfer der Cultur; er vermittelte mit dem Austauſch der materiellen Güter auch den der geiſtigen128)Ich kann mir nicht verſagen darauf aufmerkſam zu machen, wie die lateiniſche Sprache ſelbſt darauf hinweiſt. Ihr Interpres, der Vermittler und Ausleger, iſt urſprünglich nichts, als unſer Zwiſchenhändler. Das Wort ſtammt her von inter und pretium, bezeichnet alſo einen, der den Preis zwiſchen trägt. Dieſer Zwiſchenhändler war der erſte Dollmetſch und Ver - mittler, und auf dieſe beſonders in die Augen fallende Eigenſchaft hat ſich ſpäter der Sinn des Wortes reducirt.127)Staatsregierung abgeſchloſſener Allianzvertrag. Das materielle Intereſſe des Auslands, das durch dieſes und andere Mittel an dem Beſtehen unſeres Staats betheiligt wird, iſt ein mächtigerer Bundesgenoſſe, als nationale Sympathieen, und unter den Friedensapoſteln einer der wirkſamſten.2272. Der Staat Die Fremden das hospitium. §. 16.und bahnte die Straßen des Friedens. In demſelben Maße, in dem der Handel zunahm, wurden dieſe Straßen geebneter und ausgedehnter, ſo daß ſie zuletzt über den größten Theil der bekannten Welt reichten. Was das Chriſtenthum in dieſer Be - ziehung der modernen Welt leiſtete, erſetzte der alten der Handel.

In welcher Weiſe verfuhr er dabei? Die beſchränkteſte Form, deren er ſich bediente, war das hospitium,129)Von hostem petere, den Fremden einladen. das von unſerer heutigen Gaſtfreundſchaft ebenſoweit entfernt iſt, wie aus demſelben Grunde das Exil des Alterthums von unſerer heutigen Verbannung. Der Zweck des hospitium liegt nämlich nicht ſowohl in der gaſtlichen Aufnahme, obgleich es auch auf dieſe mit gerichtet iſt, als in der gegenſeitigen Zuſicherung des Rechtsſchutzes; es macht die Recht - und Schutzloſigkeit des hostis dadurch unſchädlich, daß der Gaſtfreund ihn unter ſeinen rechtlichen Schutz nimmt und deſſen Rechtsanſprüche als die ſeinigen vor Gericht vertritt. Gegen Betrug und Treuloſigkeit des Gaſtfreundes ſelbſt gewährte das Recht keinen Schutz denn der hostis ſtand ja außerhalb des Rechts einen um ſo höhern aber die Religion und Sitte. Gerade dieſe Schutzloſig - keit deſſelben und das von ſeiner Seite bewieſene höchſte Ver - trauen ſtempelten einen Mißbrauch deſſelben zu einem der infa - mirendſten und ſchmählichſten Vergehen, die das Alterthum kannte.

Ein betriebſamer Kaufmann mochte nun aller Orten Gaſt - freunde ſuchen, allein für einen ausgebreiteten Handelsverkehr reichte doch dieſe private Gaſtfreundſchaft nicht aus, und ſo gingen öfter Staat und Staat dies Verhältniß mit einander ein (hospitium publice datum). Eine höhere Stufe in der Ent - wicklung des internationalen Verkehrs bezeichnete es, als man Staatsverträge abſchloß, wodurch den Angehörigen des einen Staats gegen die des andern ſtatt des mittelbaren, abgeleiteten Schutzes, den das hospitium gewährte, ein unmittelbarer Schutz15*228Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ausgewirkt wurde. Die Formen, in denen er ertheilt wurde, waren gewiß ſehr verſchieden und wechſelnd; die höchſte Spitze derſelben beſtand in der Verleihung des römiſchen commercium, wodurch dem Fremden Theilnahme am römiſchen Vermögens - recht, alſo auch Provokation auf den vom Staat gewährten Rechtsſchutz freigeſtellt wurde. Hiermit reicht das römiſche Recht bereits an die Höhe unſerer heutigen Rechtsentwicklung an, auf der wir den Fremden nach unſerm Recht beurtheilen, nur mit dem freilich ſehr wichtigen Unterſchiede, daß dies in Rom Folge eines beſonders ertheilten Privilegiums oder eines Staats - vertrages war, bei uns aber Anwendung eines allgemeinen Grundſatzes, Wirkung einer höhern Rechtsanſchauung iſt.

Die Ertheilung des commercium war aber bei den - mern nichts weniger als die reguläre Form, in der der interna - tionale Rechtsverkehr vermittelt wurde. Am Ende des fünften Jahrhunderts der Stadt finden wir in Rom einen eignen Ge - richtshof für die Rechtsſtreitigkeiten der Peregrinen und Römer, den des Praetor peregrinus, und es entwickelt ſich hier auf Grundlage der bisherigen Staatsverträge und unter Mitwirkung der Theorie und Praxis ein allgemeines internationales Han - delsrecht, das jus gentium, das wir erſt im dritten Syſtem, wo ſeine Rückwirkungen auf das römiſche Recht kenntlich her - vortreten, ins Auge faſſen werden. Der Einführung jener Ma - giſtratur aber gingen andere Formen vorher, von denen uns nur hinſichtlich einiger wie z. B. der von den Fetialen vorzu - nehmenden clarigatio und des bald ſtändigen, bald im einzelnen Fall eingeſetzten und mit ihm aufhörenden Rekuperatorengerichts dürftige Kunde erhalten iſt. 130)Ich verweiſe wegen dieſer Inſtitute beiſpielsweiſe auf Puchta Curſus der Inſtit. B. 1 §. 83.So intereſſant es wäre, die all - mählige Ausbildung des internationalen Rechtsverkehrs im einzel - nen verfolgen zu können, ſo dürfen und müſſen wir uns hier doch mit dem allgemeinen Geſichtspunkt begnügen, daß jener Rechts -2292. Der Staat Der internationale Rechtsverkehr. §. 16.verkehr nur das Werk ſpezieller zwiſchen den einzelnen Staaten abgeſchloſſener Verträge war und der Ausdehnung wie der Art und dem Maß nach durch ſie beſtimmt war. Das internatio - nale Recht löſte ſich alſo auf in Rechte, die zwei Völker ſich für ihren Verkehr gegenſeitig eingeräumt hatten, erſcheint als ein Inbegriff von Vertragsnormen, die gegenüber dieſem Volke dieſen, gegenüber jenem einen andern Inhalt hatten. Der Ver - trag, deſſen ſchöpferiſche Kraft uns ſchon im Innern des Staats bei ſo manchem Inſtitute begegnet iſt, zeigt ſich uns auch hier wieder in gleicher Weiſe wirkſam. Wie er im Innern den Ue - bergang von der öffentlichen und Privatſelbſthülfe zur Crimi - nal - und Civilgerichtsbarkeit vermittelt, ſo hier den von dem primitiven Kriegsfuß zur rechtlichen Organiſirung des interna - tionalen Verkehrs. Vom Standpunkt unſerer heutigen Rechts - anſicht aus, der nichts natürlicher erſcheint, als daß auch der Fremde den Rechtsſchutz unſeres Staates in Anſpruch nehmen könne, betrachten wir die praktiſche Verwirklichung dieſer An - ſicht, die Thatſache, daß das über den civiliſirten Theil der Welt ſich ausſpannende Gebiet des Rechts dem Menſchen als ſolchem, ſei er Staatsbürger oder Fremder die freiſte Bewegung möglich macht, als eine nothwendige, ſich von ſelbſt verſtehende und denken nicht daran, wie allmählig und mühſam das Recht, nachdem es einmal ſich von ſeiner engumgränzten Heimath, dem einzelnen Staat, loszureißen und weitere Kreiſe zu ſuchen wagte, ſich jeden Zoll Landes hat erkämpfen müſſen. Was uns heutzutage in der Natur des Rechts ſelbſt zu liegen ſcheint, iſt zum großen Theil nichts weniger als eine dem Menſchen - Geſchlecht von vornherein mitgegebene Anſchauung und ver - dankt ſeine praktiſche Realität nicht der Macht der rechtlichen Ueberzeugung, der Idee der Gerechtigkeit, ſondern iſt das Werk einer durch materielle Gründe, durch die Noth des Lebens und den Drang der Umſtände in Bewegung geſetzten und erhaltenen und durch Motive der Zweckmäßigkeit geleiteten menſch - lichen Thätigkeit. Erſt wenn dieſe Kräfte die ſchwerſte Arbeit230Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.verrichtet haben, zieht die Idee der Gerechtigkeit ein und nimmt das Werk als ein ihr gebührendes Eigenthum in Beſitz und unter ihren Schutz.

Die Exkluſivität des Staats und Rechts, die wir bisher in ihrer Richtung nach außen hin verfolgten, muß ſich auch im Innern an denen bewährt haben, die, ohne Aufnahme in die Gentilverbindung zu erreichen, ſich auf dem Staatsgebiet nie - derzulaſſen wünſchten. Ihre rechtliche Lage war von vornherein der des hostis völlig gleich, und wie letzterer urſprünglich nur mittelbar durch das hospitium rechtlichen Schutz gewinnen konnte, ſo auch ſie nur dadurch, daß ſie ſich als Clienten unter das Patronat eines römiſchen Bürgers ſtellten. Dies Verhält - niß iſt ſeinem Grunde, Zwecke und Weſen nach dem hospitium völlig gleich; wie dieſes, veranlaßt durch die mangelnde Rechts - fähigkeit des einen Theils, berechnet auf mittelbaren Erſatz der - ſelben durch die Rechtsfähigkeit des andern Theils und lediglich durch die Sitte geſchützt. Der Punkt, in dem es abweicht, liegt in der Gegenleiſtung. Denn während dieſelbe beim hospitium in der Erwiderung des gewährten Schutzes liegt, fällt dies beim Clienten natürlich hinweg, und es tritt Dienſtpflicht dafür an die Stelle, und inſofern war das Verhältniß faktiſch ein abhängigeres. Dieſe Abhängigkeit prägt ſich auch in den Aus - drücken patronus und cliens (Höriger)131)Von cluere, κλύειν, hören. Im Deutſchen haben wir das Hören in demſelben Sinn z. B. Gehorſam, gehorchen, angehörig, Höriger. aus. Der erſte Aus - druck ſtellt dies Verhältniß als eine Nachbildung der väterlichen Gewalt dar, und mit dieſer Bezeichnung hat die Sprache das Weſen deſſelben treffend ausgedrückt. Wie der Sohn hat auch der Client keine Rechte gegen den, der Vaterſtelle an ihm ver -2312. Der Staat Die Nichtbürger Die Clientel. §. 16.tritt; rechtlich ſind beide gänzlich ſeiner Gewalt unterworfen. Nur die Sitte und die Pietät des Verhältniſſes ſchützt beide gegen den Mißbrauch dieſer Gewalt. Ein angebliches Geſetz von Romulus erklärte den Patron für vogelfrei, der ſeinen Cli - enten betrogen, und auf der Stufenleiter der Pflichten, die uns Gellius aufbewahrt hat, nahm die gegen den Clienten eine aus - gezeichnete Stelle ein. 132)Gellius V c. 13 patrem primum, deinde patronum proxi - mum nomen habere .... neque clientes sine summa infamia deseri possunt.

War jener Vergleich des Patronats mit der patria potestas nicht bloß von der perſönlichen Seite des Verhältniſſes herge - nommen, ſondern auch für die vermögensrechtliche Stellung der Clienten zutreffend, ſo würde letztere ſich nach den Grundſätzen über das Pekulium des Hausſohns beſtimmen laſſen. Faktiſch zwar können beide ein eignes Vermögen haben, allein juriſtiſch gilt ihr Gewalthaber als Subjekt deſſelben und vertritt ſie ſo - wohl activ als paſſiv gegenüber dritten Perſonen. Dieſe active Vertretung, die Klagerhebung für den Clienten, iſt der Zweck des Verhältniſſes;133)Daher patronus noch in ſpäterer Zeit = Fürſprecher. juriſtiſch erſcheint ſie aber nicht als Stell - vertretung, ſondern als Geltendmachung eines dem Patron ſelbſt zuſtehenden Rechts. Bei der paſſiven Vertretung, die eine nothwendige Folge des Verhältniſſes war, haftete der Patron vielleicht nach Analogie der Pekulien - und der Noxal-Klage d. h. je nach Umſtänden bis zum Betrage des Vermögens ſeines Clienten oder auf Auslieferung (noxae deditio) ſeiner Perſon. Während aber, um dieſe active und paſſive Vertretung möglich zu machen, der Patron juriſtiſch als Innehaber jenes Vermö - gens angeſehn wird, alſo auch die unbeſchränkteſte Dispoſitions - befugniß über daſſelbe hat, ſo daß er z. B. es dem Clienten völlig entziehen kann, legt die Sitte dem Patron mancherlei Beſchränkungen auf und verpflichtet ihn, dem Clienten das232Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Maß faktiſcher Selbſtändigkeit, das, ſei es hergebracht, ſei es durch Vereinbarung mit ihm feſtgeſtellt iſt, unverkümmert zu gewähren, das Vermögen des Clienten faktiſch nicht als das ſeinige zu betrachten. Es gab zwar Nothfälle, in denen er ohne Anſtand dem Clienten eine Contribution auferlegen konnte,134)z. B. wenn er eine Tochter auszuſteuern, ſich ſelbſt oder Familien - mitglieder aus feindlicher Gefangenſchaft loszukaufen, ungewöhnliche Abga - ben, Sühnen, Brüche u. ſ. w. zu entrichten hatte. ebenſo war es in der Ordnung, daß der Client für den ihm ge - währten Schutz Dienſte leiſtete; allein dieſe Leiſtungen fanden an der Sitte ihr Maß, und die Vereinbarungen beider Par - theien, die rechtlich völlig wirkungslos waren, an ihr ihren Schutz. Bei dem Tode des Clienten war der Patron ſeiner Verpflichtung ledig, konnte alſo das Vermögen einziehen, und nur wenn Kinder vorhanden waren, mochte es Ehrenſache für ihn ſein, es ihnen zu laſſen. 135)Dieſes aus dem Eigenthum des Patrons fließende Recht, den Nachlaß des Clienten an ſich zu ziehen, ließe ſich als der Ausgangspunkt des patronatiſchen Erbrechts bezeichnen.

Es iſt begreiflich, daß dies Verhältniß von Seiten des Patrons, der um eine geringe Leiſtung wichtige Vortheile ein - tauſchte, bereitwillig ſowohl mit dem Clienten ſelbſt als deſſen Nachkommenſchaft fortgeſetzt wurde, und daß ſein eignes Inter - eſſe ihn veranlaßte, ſeine Clienten gut zu behandeln und mög - lichſt günſtig zu ſtellen, ſowohl um ihnen keinen Grund zu ge - ben, das Verhältniß aufzuheben was ihnen nämlich ſchwer - lich verweigert werden konnte als um neue zu gewinnen. Für den, der Land genug und Arbeitskräfte zu wenig beſaß, mochte es ein vortheilhaftes Geſchäft ſein, durch unentgeltliche Ueberlaſſung kleiner Parzellen Landes Clienten an ſich zu ziehen und ſeine Arbeitskräfte damit zu vermehren. Dieſe Verleihung von Land, die an ſich dem Weſen des Inſtituts fremd iſt,136)Im Gegenſatz zum Vaſallenthum des Mittelalters, an das Nie -2332. Der Staat Die Nichtbürger Die Clientel. §. 16.war ein ſehr wirkſames Mittel, den Clienten an der Aufrecht - haltung des Verhältniſſes zu intereſſiren und mochte als ſolches in allgemeinen Gebrauch kommen137)Darauf zielt wohl die oft benutzte Stelle von Feſtus: Patres se - natores ideo appellati sunt, quia agrorum partes attribuebant tenuiori - bus perinde ac liberis propriis. Die letzten Worte drücken das Verhältniß treffender aus, als es auf den erſten Blick ſcheint. und die uns von Diony - ſius bezeugte Thatſache bewirken, daß das Verhältniß von bei - den Seiten von einer Generation auf die andere überging. Zur Erklärung dieſer Erſcheinung braucht man nicht mit Niebuhr im Widerſpruch mit Dionyſius zu der Annahme zu greifen, daß jenes Verhältniß von Seiten des Clienten unauflösbar gewe - ſen; das beiderſeitige Intereſſe, die Macht der Gewohnheit, die untergeordnete Stellung des Clienten u. ſ. w. konnten auch ohne dieſe Vorausſetzung daſſelbe Reſultat herbeiführen.

Auffallend iſt das Schweigen der lateiniſchen Sprache über die vermögensrechtliche Seite jenes Verhältniſſes; es wird uns kein Ausdruck für jene Landverleihung an den Clienten berichtet, kein Ausdruck für das Clienten-Vermögen, ungeachtet daſſelbe doch von den bonis eines römiſchen pater familias, dem pa - trimonium, der familia (dem Hausſtand deſſelben, Perſo - nen und Sachen gleichmäßig umfaſſend) ſich rechtlich ſo ſehr un - terſchied. Auffallend nenne ich dies Schweigen, weil wichtige Unterſchiede, die im Leben ſelbſt in auffälliger Weiſe hervortre - ten, auch in der Sprache ſich abzuſpiegeln pflegen. Die lateini - ſche Sprache muß Ausdrücke für jene Verhältniſſe gehabt haben; ſind dieſelben mit letztern ſelbſt untergegangen, oder ſollten ſie vielleicht mit veränderter Bedeutung in der neuern lateiniſchen Sprache noch fortexiſtiren? Ich nehme letzteres an und erblicke im precarium138)Savigny Recht des Beſitzes §. 42 hat bereits eine ähnliche Anſicht und peculium zwei Ausdrücke und Inſtitute,136)buhr bei Gelegenheit der Clientel erinnert (röm. Geſch. B. 1 S. 342), und das ſein rechtliches Fundament nicht in der Schutzloſigkeit des Vaſallen, ſon - dern in dem ihm verliehenen Lehn hatte.234Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.die urſprünglich dem Clientelarverhältniß angehörten. Beide ſtehen außer dem Boden des eigentlichen Rechts, ſind Inſtitute, von denen die ſpätern römiſchen Juriſten ſagen: magis facti sunt, quam juris, die Clientel ſelbſt aber konnte nur Inſtitute von dieſem Charakter kennen. Sodann aber ſind beide, wie die Clientel ſelbſt, Verhältniſſe auf Gnade und Ungnade, nicht durch das Recht geſchützt, jeden Augenblick widerruflich. Es läßt ſich das clientelariſche Vermögensrecht, wie es ſeiner juriſti - ſchen Natur und innern Conſequenz nach ſein mußte, nicht bloß ohne Zwang unter die Grundſätze jener beiden Inſtitute brin - gen, ſondern ich glaube, daß dieſe Anknüpfung auf letztere ſelbſt einiges Licht wirft.

Ich denke mir die Sache in folgender Weiſe. Precarium hieß alles, was der Patron dem Clienten auf deſſen Bitten (preces, daher precarium) zum Gebrauch einräumte; am häufig - ſten war dies wohl ein Grundſtück, doch mochte auch Wohnung (ein Anknüpfungspunkt für die habitatio des ſpätern Rechts) nicht ſelten verliehen werden. Der beliebige Widerruf deſſelben verſtand ſich nach dem Verhältniß, in dem beide Perſonen zu einander ſtanden, von ſelbſt, er brauchte weder ausgemacht zu werden, noch konnte ein Verzicht darauf irgendwie juriſtiſch wirkſam ſein. Eine civilrechtliche Obligation war auf beiden Seiten undenkbar; es konnte weder der Patron ſich obligiren, dem Clienten die Sache eine beſtimmte Zeit zu laſſen, noch letzterer, ſie demnächſt zurückzugeben. Begehrte der Patron ſie zurück, ſo nahm er ſie. Dritten Perſonen gegenüber mochte der Client ſich zur Wehr ſetzen, dem Patron gegenüber war dies ſelbſt dann unzuläſſig, wenn letzterer vor Ablauf der dem Clienten zu - geſicherten Nutzungszeit die Sache herausbegehrte. Als das pre - carium ſich von ſeiner urſprünglichen Beziehung zum Clientelar -138)von precarium aufgeſtellt. Ich wurde durch den Zuſammenhang darauf geführt, ohne mir anfänglich jenes Zuſammentreffens mit Savigny, das übrigens auch nur partiell iſt, bewußt zu ſein.2352. Der Staat Die Nichtbürger Clientel, precarium. §. 16.verhältniß ablöſte und auch zwiſchen römiſchen Bürgern vorkam, behielt es doch dieſe ſeine Structur bei und nahm keinen obli - gatoriſchen Zuſatz in ſich auf, ſo daß weder der Verleiher an ſein Verſprechen, die Sache dem Empfänger eine beſtimmte Zeit zu laſſen, gebunden war, nach letzterer in Form einer Obligation zur Zurückgabe gezwungen werden konnte. Ein precarium zwi - ſchen Römern eingegangen hieß nichts anders, als Stellung des Verhältniſſes unter das Recht der patronatiſchen Leihe, ich darf mich vielleicht des Vergleichs mit dem deutſchen Hofrecht bedienen. Von Anwendung der Grundſätze des römiſchen Rechts konnte hier keine Rede ſein, das Verhältniß ſelbſt verdankte ja ſeine Entſtehung der Unanwendbarkeit dieſer Grundſätze, und ſeine beſtimmt ausgebildete, jedem geläufige, durch den Namen ſelbſt angedeutete Natur widerſtrebte jedem Gedanken an eine Obligation. Den Vereinbarungen beider Partheien über Art, Zeit u. ſ. w. der Rückgabe obligatoriſche Wirkung beizulegen, hätte in alter Zeit nichts geheißen, als ein precarium zu gleicher Zeit eingehen und nicht eingehen; römiſches Recht und nicht - römiſches Recht gleichmäßig zur Anwendung zu bringen. Pre - carium und rechtliche Möglichkeit eines obligatoriſchen Ver - hältniſſes zwiſchen beiden Theilen waren von vornherein abſo - lute Widerſprüche, und es gehörten viele Jahrhunderte dazu, um den Charakter des precarium ſo zu verwiſchen, daß man keinen Anſtand mehr zu nehmen brauchte, die Theorie der Inno - minatcontrakte darauf anzuwenden.

Das Vermögen, das der Client ſich ſelbſt erworben hatte, ſein Inventar und Vieh hieß peculium und ſtand unter denſel - ben Grundſätzen, nach denen im neuern Recht das peculium des Hausſohns und Sklaven beurtheilt wird d. h. faktiſch ge - hörte es zwar dem Clienten, juriſtiſch aber galt der Patron als Eigenthümer deſſelben. Der Name weiſt auf die Beziehung die - ſes Vermögens zur Landwirthſchaft hin; wörtlich überſetzt be - deutet er kleines Vieh d. h. einen von der Hauptheerde geſon - derten Viehſtand. Dieſer Wink, den die Etymologie uns über236Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.den urſprünglichen Inhalt des peculium gibt, iſt für unſere Frage nicht außer Acht zu laſſen; er weiſt uns nämlich auf einen von dem des Hauptgutes getrennten landwirthſchaftlichen Be - trieb hin, und ich brauche nicht zu ſagen, wie viel natürlicher es iſt, uns den Clienten als Subjekt deſſelben zu denken, denn den Hausſohn oder den Sklaven. Bei jenem enthält dieſes Neben - oder kleine Vieh einen charakteriſtiſchen Hinweis auf das nothwendige Verhältniß, in dem er, etwa nach Art unſerer heutigen Tagelöhner auf den Gütern, mit ſeiner Landwirth - ſchaft zu der des Patrons ſtand. Bei dem Sohn erſcheint die darin ausgedrückte ſeparirte Landwirthſchaft ungleich weniger wahrſcheinlich, beim Sklaven unbegreiflich. Am Vermögen des Clienten bildete ſich der Begriff des peculium aus, hier war das Bedürfniß der Sonderung eines kleineren Vermögens von dem Hauptvermögen des Herrn am dringendſten, oder die Son - derung war hier ſchon durch das Verhältniß ſelbſt gegeben; dem Sohn oder Sklaven ein Sondervermögen einzuräumen war nichts weniger als nothwendig; wenn es aber geſchah, lag es nahe, den bereits bekannten Ausdruck peculium darauf zu über - tragen. Vielleicht dürfte man ſagen, daß ähnlich wie das precarium ſo auch das peculium aus einem urſprünglich clien - telariſchen Inſtitut ein allgemein römiſches geworden ſei. Iſt dieſe Vermuthung richtig, ſo konnte Feſtus in der [Note 137] mitgetheilten Stelle mit Recht die vermögensrechtliche Stellung der Clienten und Kinder identificiren; die Worte perinde ac liberis propriis enthalten dann nicht bloß einen äußerlichen Vergleich beider Claſſen von Perſonen, ſondern den ihrer recht - lichen Lage, und ebenſo drückt unter dieſer Vorausſetzung der im Wort patronus liegende Vergleich mit pater die juriſtiſche Natur des Verhältniſſes erſchöpfend aus.

Hier, wo uns dieſe Clientel nur von einer beſtimmten Seite intereſſirt, nämlich als ein durch die Rechtloſigkeit des Nicht - bürgers hervorgerufenes Inſtitut, genügt uns das bisher Ge - ſagte. Wir haben in ihr den nothwendigen Ausgangspunkt des2372. Der Staat Nichtbürger Clientel. §. 16.Rechts der dem Staat angehörigen Nichtbürger erkannt, und es kann in meinen Augen nicht zweifelhaft ſein, daß alle Nichtbürger, alſo urſprünglich auch die Freigelaſſenen139)Daß ich mit Niebuhr Röm. Geſch. 4. Aufl. B. 1 S. 622, Göttling röm. Staatsverf. S. 147 u. a. den Freigelaſſenen für die älteſte Zeit das Bürgerrecht abſpreche, bedarf, glaube ich, keiner Rechtfertigung. in dieſem Verhältniß ſtanden. Der Strenge des Rechtsbegriffs nach war daſſelbe gar kein rechtliches, aber wenn es, möchte ich ſagen, auch der Form des Rechts entbehrte, ſo barg es doch eine rechtliche Subſtanz in ſich. Die feſten Grundſätze, die ſich durch die Sitte über das Verhältniß zwiſchen Patron und Clienten ausgebildet hatten, der indirekte Schutz, den das Cri - minalrecht mit ſeiner Beſtrafung der fraus patroni gewährte, machten die Lage des Clienten zu einer ziemlich geſicherten und den Mangel einer Klage gegen den Patron ſelbſt weniger fühl - bar. Ideen von einem Recht niederer Art ſetzten ſich dem Inſti - tut an, es condenſirte und conſolidirte ſich in der Anſicht des Volks zu einem Rechtsverhältniß, das nur in der Art ſeines Schutzes von den übrigen abwich,140)Hinſichtlich der perſönlichen und vermögensrechtlichen Stellung der Kinder gebraucht derſelbe Prozeß der Entwicklung vom Factum zum Recht oder von der nur durch die Sitte gebundenen Willkühr des Vaters zur Aner - kennung der privatrechtlichen Selbſtändigkeit des Kindes unendlich viel längere Zeit; es braucht wohl nicht geſagt zu werden, worin der Grund der Verſchie - denheit liegt. und ſo mochte ein Schritt vorbereitet werden und als ein wenig bedeutungsvoller erſcheinen, der im Grunde die Vernichtung des Inſtituts ſelber enthält, nämlich der, daß dem Clienten das Recht der eignen Klage verliehen ward. Von der alten Unfähigkeit des Clien - ten, Klage zu erheben, blieb als Reminiscenz noch die, daß er ohne ſpezielle Erlaubniß des Prätors ſeinen Patron nicht in jus vociren d. h. ihn wider ſeinen Willen nicht verklagen durfte. Jener Schritt ſelbſt aber ward gewiß weſentlich beſchleunigt238Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.durch den Vorſprung, den das Plebejerthum in dieſer Bezie - hung erlangt hatte. Mit den Plebejern aber ſind wir über die Ausgangspunkte des Rechts bereits weit hinaus, in ihnen iſt jene Trennung des Privatrechts vom öffentlichen, die gerade dem urſprünglichen Charakter des Rechts ſo ſehr widerſtrebt, bereits im weſentlichen vollzogen. In ihnen begegnet uns im Innern des römiſchen Staats jenes commercium zwiſchen Bürgern und Nichtbürgern, das wir oben S. 228 in ſeiner internationalen Beziehung haben kennen lernen, und es iſt nicht unmöglich, daß das commercium erſt nach außen hin durch Vertrag zwiſchen zwei verſchiedenen Völkern hat ins Leben ge - rufen werden müſſen, um ſodann auch im Innern des Staats zwiſchen den Bürgern und Nichtbürgern Anwendung zu finden. Das Völkerrecht iſt vielleicht die Stätte, wo ſich jene Trennung des Privatrechts vom Staat vollzog, die commercielle Berüh - rung mit einem fremden Volk der Impuls zu dieſem Fortſchritt, der dann, nachdem er einmal nach außen hin vollzogen, dem Staat ſelbſt im Innern auf die natürlichſte Weiſe dadurch zu gute kommen, ich möchte ſagen aufgezwungen werden konnte, daß Mitglieder des fremden Volks ſich dauernd auf ſein Gebiet überſiedelten und ſo das commercium von außen in ihn hin - einbrachten, das er, der für ſeine ihm angehörigen Nichtbürger nur die niedere Form des Clientelarverhältniſſes kannte, von dieſer niederſten Stufe aus weit langſamer würde erreicht ha - ben. Verhält ſich dies in dieſer Weiſe, ſo würden wir in dieſer Rückwirkung der friedlichen Berührung des Staats mit dem Ausland auf ſeine eigne innere Organiſation ein Seitenſtück zu der Rückwirkung ſeiner feindlichen Berührung mit dem Aus - land haben, die bereits früher angedeutet und der Gegenſtand iſt, zu dem wir jetzt übergehn.

2392. Der Staat. 2 die Wehrverfaſſung. §. 17.
2. Einfluß der Wehrverfaſſung auf Staat und Recht.
Vortheilhafter Einfluß des Krieges auf die Verfaſſung Die Staatsverfaſſung eine Wehrverfaſſung Die militäriſche Ein - theilung des Volks Prinzip der Subordination Das im - perium Militäriſcher Charakter des Königthums Strafge - walt Einfluß der Wehrverfaſſung auf die Erziehung des Volks Sinn für äußere Ordnung und Geſetzlichkeit.

XVII. Daß der Krieg auf die Entwicklung des Rechts und Staats den heilſamſten Einfluß ausüben kann, iſt weniger pa - radox, als es klingt. Ein Krieg zur rechten Zeit kann dieſe Ent - wicklung in wenig Jahren mehr fördern, als Jahrhunderte friedlicher Exiſtenz. Einem Gewitter gleich reinigt er die Luft, macht der politiſchen und moraliſchen Stagnation ein raſches Ende, wirft das morſche Gebäude einer ſchwerfälligen Staats - verfaſſung und drückender ſocialer Inſtitutionen mit einem Stoße zu Boden und macht ſo einen politiſchen und ſocialen Verjüngungsprozeß nothwendig. Was dem alterſchwachen Staat vielleicht das Leben koſtet, dient bei einem andern dazu, ihn zur Anſpannung ſeiner Kräfte zu zwingen, ein neues, friſches Leben in ihm anzuregen.

Bei den Römern war der Krieg bekanntlich nicht ein Aus - nahmszuſtand, ſondern die Regel; es war die Schule, in der ſie groß geworden ſind, und deren eigenthümlicher, ſtählender Einfluß ſich auch in ihrem Recht vielfältig erkennen läßt. Schon an der älteſten Verfaſſung, die Rom mitbringt, iſt derſelbe nachweisbar; ſie iſt, möchte ich ſagen, eine Rüſtung, die zwar dem Kriege ihren Urſprung verdankt und für ihn beſtimmt iſt, die Rom aber, um ſtets gerüſtet zu ſein, auch im Frieden nicht ablegt. Dank der kriegeriſchen Geſinnungs - und Lebensweiſe der Römer, die ſie dauernd in dieſer kampfbereiten Lage erhielt, denn darin eben daß dieſe Lage keine vorübergehende, ſondern ein perpetuirliche Schule der militäriſchen Zucht war, lag ein240Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.unſchätzbarer Vortheil. Die Unbändigkeit des römiſchen Sin - nes, die der ruhigen, friedlichen Exiſtenz widerſtrebte und ſtets der Kriege bedurfte, fand in der durch dieſe Kriege bedingten militäriſchen Disciplin ihr Gegengewicht, band ſich ſelbſt die Ruthe, durch die ſie erzogen werden ſollte. Das älteſte Rom war ein immerwährendes Lager; die Ordnung und ſtrenge Zucht des Lagers regierten hier, und die Staatsverfaſſung ging auf in der Wehrverfaſſung. Bei andern Völkern ward das Lager abgebrochen, wenn der Krieg beendet war; die Kriegsverfaſ - ſung mit ihrer Disciplin war nur für den vorübergehenden Zu - ſtand der Spannung beſtimmt; mit dem Frieden fiel ſie, möchte ich ſagen, in die behaglichere Form einer Friedensverfaſſung zurück. 141)So ließen manche germaniſche Völkerſtämme die vortheilhaften Einrichtungen, zu denen ſie bei Ausbruch eines Krieges griffen, und die bei nicht bloß vorübergehender Exiſtenz den Keim einer heilſamen politiſchen Ent - wicklung hätten abgeben können, fallen, ſowie der Krieg beendet war. Caesar de b. g. VI, 23: Quum bellum civitas aut illatum defendit aut infert, magistratus, qui ei bello praesint, ut vitae necisque habeant potestatem, deliguntur. In pace nullus communis magistratus, sed u. ſ. w. Aus Waitz deutſcher Verfaſſungsgeſchichte B. 1 S. 101 entnehme ich eine andere Stelle Beda hist. eccl. V, 10: Non enim habent regem iidem antiqui Saxones, sed satrapas plurimos suae genti praepositos, qui ingruente belli articulo mittunt aequaliter sortes, et quemcunque sors ostenderit, hunc tempore belli ducem omnes sequuntur; huic obtemperant, peracto autem bello rursum aequalis potentiae fiunt satrapae. Die Einheit und die Disciplin dauerte nur ſo lange, als die Noth, wie es ja auch mit der Energie bei manchen Individuen der Fall zu ſein pflegt. Das Glück für die Römer lag darin, daß ihre Vorfah - ren, denen ſie ihre Verfaſſung verdankten, in beſtändiger Noth geweſen waren.

Den Kern der folgenden Ausführung können wir in den Satz zuſammenfaſſen: das militäriſche Intereſſe iſt das Motiv, das den Staat um einen Gedanken bereichert, den wir bis jetzt noch nicht kennen, den der Ueber - und Unterordnung, und dem Geſchlechterſtaat die Form der Wehrverfaſſung aufzwingt. Nicht2412. Einfluß der Wehrverfaſſung Volk und Heer identiſch. §. 17.in Rom iſt dieſe Bildung vor ſich gegangen, das Königthum und die ſonſtigen militäriſch-politiſchen Inſtitutionen erſcheinen hier bereits als fertige, auf den neuen Staat nur übertragene; aber wenn wir auch hinſichtlich ihrer, wie wir es bisher gethan haben, nach einem Ausgangspunkt ſuchen, die Ideen zu ermitteln ſtreben, denen ſie entwachſen ſind, ſo werden wir, glaube ich, ſtets auf jenes militäriſche Intereſſe zurückgewieſen, wie dies jetzt ausgeführt werden ſoll.

Betrachten wir zuerſt die Eintheilung des Volks. Es ergibt ſich auf den erſten Blick, daß dieſelbe etwas gemachtes iſt. Die 10 Curien der Tribus, die 10 Gentes der Curien ſind nicht das Reſultat einer ſ. g. organiſchen Entwicklung, ſondern ſie ſind mit Abſicht und eines Zweckes wegen eingerichtet. Worin be - ſtand dieſer Zweck? Fragen wir uns, wo das Bedürfniß einer Eintheilung des Volks zuerſt und am dringendſten ſich zeigt. Ohne Zweifel im Heerweſen. Die erſte vom Staat eingeführte mechaniſche Ordnung iſt die Schlachtordnung, hier bedarf es vor allem einer nach einem durchgehenden Zahlenverhältniß geregelten Eintheilung des Volks. Bei den Römern und man - chen germaniſchen Völkern finden wir das Decimalſyſtem,142)Bei einigen auch das Duodecimalſyſtem. S. Waitz a. a. O. Beil. 2 S. 275 u. flg. bei letztern iſt die militäriſche Beſtimmung der Eintheilung aus - gemacht, bei den Römern kann ſie meiner Anſicht nach keinem gegründeten Zweifel unterliegen. Man laſſe ſich dadurch nicht irre machen, daß dieſe Eintheilung zugleich politiſche und reli - giöſe Beziehungen hat, es beſteht eben das Charakteriſtiſche der ganzen Verfaſſung darin, daß die Wehrverfaſſung die Grundformen des Staats beſtimmt, die religiöſen und poli - tiſchen Intereſſen aber ſich der dadurch gegebenen Ordnung an - ſchmiegen. Man könnte das Verhältniß vielleicht am beſten in der Weiſe ausdrücken, daß man ſagt: das Volk iſt Heer,143)Bei den Germanen fand urſprünglich dieſelbe Identität des Volks und Heeres Statt. S. Waitz a. a. O. S. 32.Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 16242Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.das ganze Heer hat ſeinen Gottesdienſt und ſeine politiſchen Functionen, ebenſo aber auch jede Heeresabtheilung. Die Cu - rie iſt nicht eine politiſche Genoſſenſchaft, die zugleich religiöſe und militäriſche Bedeutung hat, noch weniger eine religiöſe Einheit, die auch politiſche und militäriſche Functionen aus - übt,144)Es iſt freilich ſelbſt dieſe Anſicht ausgeſprochen, die aber ſo wie das Buch ſelbſt, in dem dies geſchehen, keine Beachtung verdient. Zinser - ling Histoire Romaine tom 1. Varsovie 1824. S. 93: Partout, il est fait mention de curies, on voit, qu’il n’est question que de religion! ſondern ſie iſt eine dauernde Heeresabtheilung oder, weil das Volk und Heer gleichbedeutend ſind, eine Abtheilung des Volks. Auch die Gens iſt eine Heeresabtheilung, aber keine gemachte; gemacht iſt bloß die Zahl der Gentes. Inſo - fern die Aufrechthaltung dieſer Zahl aber nicht dem Zufall der natürlichen Fortpflanzung überlaſſen werden konnte, für eine ſei es durch Ausſterben oder auf ſonſtige Weiſe ausgefallene Gens vielmehr eine neue gebildet werden mußte, greift aber auch, wenn ich ſo ſagen darf, die Kunſt in dieſen ſonſt der Na - tur anheimfallenden Kreis der Gens ein.

Die Schlachtordnung alſo iſt der erſte Fall der Ordnung, aber damit letztere im Kriege ihre Dienſte leiſte, muß ſie auch im Frieden aufrecht erhalten werden. Das Volk, das nach Be - endigung des Krieges heimkehrt, behält ſeine Heeres einthei - lung bei, ja es bleibt Heer, der Frieden zeigt uns im Volk nur das Heer in Ruhe, wie der Krieg im Heere das Volk in Thätigkeit. 145)Exercitus d. h. außerhalb der Burg, ex-arce. Exarcere, exer - cere im Felde ſein, den Feind angreifen oder abwehren, daher thätig ſein, üben. So knüpft der Begriff des Uebens urſprünglich an die kriegeriſche Thätigkeit an; Uebung iſt kriegeriſche Uebung, das Volk in Uebung exercitus. Volksverſammlungen ſind alſo Heeresverſamm - lungen, nur der Oberbefehlshaber kann ſie berufen,146)calare, daher classis = Volk, classis procincta = Heer. S. die Zeugniſſe bei Huſchke Verf. des Serv. Tull. S. 134. und die2432. Einfluß der Wehrverfaſſung Heer und Volk identiſch. §. 17.einzelnen Abtheilungen verſammeln ſich unter ihren militäri - ſchen Vorgeſetzten. Wer das dienſtfähige Alter noch nicht er - reicht oder bereits überſchritten hat, kann mithin an der Volks - verſammlung keinen Antheil nehmen. Die Alten, die senes, bilden den Senatus, der keinen Beſchluß zu faſſen, ſondern nur Rath zu ertheilen hat; ihr Alter ſetzt ſie dazu und nur dazu in Stand, und jene Einrichtung des Senats iſt nichts, als die verfaſſungsmäßige Geſtaltung des Einfluſſes, den Alter und Erfahrung immer ausüben. Aber mit der den Alten fehlenden Kraft, gefaßte Beſchlüſſe auszuführen, fehlt ihnen auch die Fähigkeit, an der Beſchlußnahme des Volks Theil zu nehmen. In den Volksverſammlungen erſcheinen alſo nur die Jungen, die Krieger, nur ſie haben einen Willen, denn als Wille gilt nur der thatkräftige, der das Gewollte auszuführen vermag. Das Volk, populus, iſt daher gleichbedeutend mit der Maſſe der Jungen, was die Etymologie beſtätigt,147)Ich nehme die Ableitung an, die Kuhn zur älteſten Geſchichte der indogerm. Völker S. 4 angibt, nämlich von pulus, jung. Seiner Mitthei - lung nach ſoll in den Veden noch die Form puli in Zuſammenſetzungen vor - kommen. Auch puer, pubes u. ſ. w. gehört hierhin. Im Lateiniſchen haben wir disci-pulus, Lehrjunge, mani-pulus, eine Handvoll Junger, und po - pulus, worin die erſte Sylbe nach Kuhn durch Reduplikation entſtanden iſt. Pott, der ſonſt in etymologiſchen Dingen mein Führer iſt, hat eine andere Ableitung. B. 1 S. 193. und ebenſo jung mit waffenfähig. Pubes, mündig, wird Jemand und da - mit Mitglied des populus, ſowie er dienſtfähig iſt; wer die Waffen führen kann, bedarf keines tutor mehr und darf mit - ſtimmen in der Volksverſammlung.

Es iſt bereits früher (S. 113) der Verſuch gemacht, in den Ausdrücken curiae, decuriae, welche die Abtheilungen des Volks bezeichnen, etymologiſch eine militäriſche Beziehung nach - zuweiſen. Vir iſt der Krieger (S. 112), conviria oder curia, alſo eine Gemeinſchaft derſelben, eine Mannſchaft, decemvi -16*244Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ria, decuria eine kleinere Abtheilung von 10 Mann. 148)Wie bei allen ſolchen eine Zahl enthaltenden Ausdrücken bleibt der Name derſelbe, auch wenn die Zahl im Laufe der Zeit ſich ändert.Der letzte Ausdruck bezeichnet die Gens von Seiten ihrer Stellung in der Wehrverfaſſung, der Ausdruck gens abſolut als einen Verein der durch Geburt Verbundenen. Die urſprüngliche Wehrverfaſſung enthält 10 Curien, jede Curie 10 Decurien, alſo im Ganzen 100 Decurien; durch die Vereinigung von drei in dieſer Weiſe organiſirten Völkern verdreifachte ſich in Rom dieſe Zahl.

Die Etymologie lehrt uns alſo, daß die comitia curiata ur - ſprünglich Verſammlungen des Heeres geweſen, und der Aus - druck Quirites, mit dem das Volk angeredet wird, gewährt uns ein anderes Argument. Die etymologiſche Erklärung deſſelben iſt gleichfalls bereits S. 103 gegeben, und darnach bedeutet er die Krieger, die die quiris, die dienſtmäßige Lanze, tragen. Populus Romanus Quiritium iſt alſo die junge römiſche Mann - ſchaft der Lanzenträger, das Heer in ſeinen Verſammlungen. Man muß ſich dadurch nur nicht irre machen laſſen, daß der Ausdruck Quirites ſpäter, als die Begriffe Volk und Heer prak - tiſch auseinander gefallen waren, die Bürger bezeichnete, und ſeine Anwendung auf die Soldaten einen Schimpf enthielt; eine ſolche Abnutzung des Ausdruckes durch Umgeſtaltung der Sache ſelbſt iſt nichts ungewöhnliches. Ebenſo wenig darf uns die ſpätere Competenz der Curiatcomitien über ihre urſprüngliche Beſtimmung und ihren urſprünglichen Charakter täuſchen.

Nachdem die Verfaſſung des Servius Tullius, die ganz im Geiſte der Idee, mit der wir uns hier beſchäftigen, die Wehr - verfaſſung als Fundament des Staats beibehielt,149)Dies zeigt ſich auch in der militäriſchen Form der Abhaltung der Centuriatcomitien. Das Volk erſchien in den Centuriatcomitien dem Be - griff der centuriae gemäß als bewaffnetes Heer, in ſeine Centurien und unter ſeine Fähnlein geordnet, die Centurionen an der Spitze, daher man auch die Anſagung von Centuriatcomitien exercitum (zum Unterſchiede vom längere2452. Einfluß der Wehrverfaſſung Heer und Volk identiſch. §. 17.Zeit beſtanden hatte, konnte es für alle, die nur den gegen - wärtigen Beſtand der Centuriat - und Curiat-Comitien kann - ten, den Anſchein gewinnen, als ob letztere mit der Wehrver - faſſung nichts gemein gehabt hätten. Allein der Kenner des Alterthums wußte das Gegentheil,150)S. z. B. Livius V. 52. Comitia curiata, quae rem militarem continent. und in der Verlei - hung des imperium, des militäriſchen Oberbefehls, die nach wie vor den Curiatcomitien vorbehalten blieb,151)Cic. de leg. agr. II. 12. Consuli, si legem curiatam non ha - bet, attingere rem militarem non licet. dauerte noch ein wichtiger Ueberreſt ihres militäriſchen Charakters fort. Daß die Curiatcomitien innerhalb, die Centuriatcomitien außerhalb der Stadt auf dem Campus Martius Statt fanden, hängt mit der Geſchichte des imperium zuſammen. In der Königszeit er - ſtreckte ſich der Heerbann, das imperium, auch auf die Stadt, folglich konnten die Verſammlungen des Heeres auch in der Stadt gehalten werden, mit dem Königthum aber wurde dies imperium aus der Stadt exilirt, und die Centuriatcomitien der ſervianiſchen Wehrverfaſſung, die erſt jetzt wieder ins Leben traten, wurden conſequenterweiſe vor die Stadt und zwar in bezeichnender Weiſe auf das dem Kriegsgott gewidmete Feld verlegt. 152)Gellius XV, 27. quia exercitum extra urbem imperari oporteat, intra urbem imperari jus non sit, propterea centuriata in campo Martio haberi. Liv. 39, 15. cum vexillo in arce posito comitio - rum causa exercitus eductus esset. Daß die Curiatcomitien berufen wurden (calata), während die Centuriatcomitien in militäriſcher Weiſe durch Hornbläſer entboten wurden, ſteht ihrem militäriſchen Charak - ter ebenſowenig im Wege; jene Berufung war ein an die Be - fehlshaber der Curien (ſpäter für gewiſſe Zwecke durch die Lic - toren vertreten) gerichteter Befehl, die Mannſchaft zu ver - ſammeln.

149)Kriegsheere auch wohl exercitum urbanum) imperare, ihre Entlaſſung exercitum remittere nannte. Huſchke Verf. des Serv. Tull. S. 414.

246Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Wir wenden uns jetzt dem Königthum zu oder, um gleich unſere Anſicht über die Stellung deſſelben zur römiſchen Ver - faſſung auszuſprechen, der Heerführung und dem damit gege - benen Prinzip der Subordination. Die Anſichten über den Ur - ſprung und den Charakter des römiſchen Königthums gehen weit auseinander,153)Hat man doch unter Ableitung des Wortes rex von ῥέζειν, opfern, jenen Urſprung in ein Prieſterthum ſetzen wollen. es iſt hier aber nicht der Ort, ſie zu kri - tiſiren, und beſchränke ich mich auf Mittheilung und Begrün - dung meiner eigenen.

Rex, der Richtende (von reg-ere), heißt der König, nicht weil er richtet im juriſtiſchen, ſondern im militäriſchen Sinn. Wie die militäriſche Ordnung bei einem kriegeriſchen Volk die wichtigſte, älteſte und der Ausgangspunkt für die politiſche iſt, ſo auch das Amt des Heerführers, der dieſe äußerliche, mecha - niſche Ordnung einrichtet und erhält, unentbehrlicher und älter, als das des Magiſtrats, der die abſtractere Ordnung und Ein - richtung des Staats überwacht. An Wichtigkeit gewinnt letzte - res erſt in Folge der zunehmenden Einmiſchung des Staats in Intereſſen, die früher ſich ſelbſt überlaſſen geweſen waren. In älteſter Zeit aber treten die politiſchen Functionen des - nigs gegen ſeine militäriſchen weit in den Schatten. Ein mu - thiger, geſchickter Feldherr war einem kriegeriſchen Volke we - ſentlicher, als ein weiſer Friedensfürſt. Der Akt der erſten Unterordnung vollzieht ſich bei jenem leichter, als bei dieſem. Nun beruht aber in der That die Macht des Königs auf einer ſolchen freiwilligen Unterordnung, auf Wahl. Man muß ſich des republikaniſchen Geiſtes erinnern, aus dem das römiſche Recht hervorgegangen iſt, jener Ideen der perſönlichen Freiheit, der Coordination der Individuen, der Abneigung gegen die Einmi - ſchung der Staatsbeamten u. ſ. w., um beurtheilen zu können, daß der Durchbruch des Subordinationsprinzips, und das iſt ja das Königthum, nur an einem Punkt geſchehen konnte, an dem es2472. Einfluß der Wehrverfaſſung das Königthum. §. 17.die wichtigſten Intereſſen galt, und die unabweisbare Rothwen - digkeit der Unterordnung jedem einleuchten mußte, und dieſer Punkt war die Wehrverfaſſung. Der erſte rex war nichts als ein Feldherr, den man mit Rückſicht auf ſeine militäriſche Tüch - tigkeit wählte, und dem man die unentbehrliche Macht eines ſol - chen, eine unumſchränkte Gewalt, imperium, verlieh. Aber während derſelbe bei den Germanen abtrat, ſowie der Krieg beendet, behielten die Vorfahren der Römer ihn lebenslänglich bei. Da das ganze Volk beſtändig auf dem Kriegsfuß blieb, ſo konnte als weſentliches Glied der Heerverfaſſung auch der Feldherr nicht fehlen. Damit war aber der Uebergang vom Feldherrnthum zum Königthum gebahnt. Wenn das Volk auch im Frieden Heer iſt, ſo wird leicht aus dem Feldherrn ein König. Die Identität oder Ungetrenntheit der militäriſchen und politiſchen Functionen, die in den untern Kreiſen des Staats wahrnehmbar iſt, muß ſich auch bis in die Spitze hinein wie - derholen. Das Heer kann nicht zuſammentreten, ohne daß der Feldherr es beruft, es kann nicht beſchließen, ohne daß er dem - ſelben Anträge vorlegt; die politiſche Thätigkeit des Heeres bedingt eine gleiche Thätigkeit auf Seiten des Feldherrn, er iſt nothwendigerweiſe das politiſche Oberhaupt des Volks, weil daſſelbe ſeine politiſchen Functionen als Heer ausübt.

So wie nun die politiſche Macht des Königs nur als Aus - fluß und Appendix ſeiner militäriſchen Gewalt erſcheint, ebenſo ſeine religiöſe Stellung und Machtbefugniß. Wie könnte er eine Schlacht wagen, ohne ſich vorher durch Auſpicien der Zu - ſtimmung der Götter verſichert zu haben, und wie könnte er auf ihren Beiſtand rechnen, ohne ſie durch Opfer ſich und ſeinem Heere geneigt gemacht zu haben? Das jus auspicandi und das Opferprieſterthum iſt ihm durch ſeine militäriſche Würde noth - wendig gegeben. Die Religion erſcheint bei den Römern als unzertrennliche Begleiterin jeder wichtigen Inſtitution, jeder Verbindung im Innern des Staats und nach außen hin, jeder Würde und jeder wichtigen Maßregel des öffentlichen und Pri -248Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.vatlebens. Aber was wohl zu beachten: als Begleiterin. Sie erhebt nicht den Anſpruch auf Selbſtändigkeit, wie ſie es im Orient oder im Chriſtenthum thut, ſie begehrt nicht, daß der König, um für das Volk opfern zu können, erſt von ihr mit prieſterlicher Weihe ausgeſtattet ſei, ſo wenig wie der Haus - vater, um für die Seinen daſſelbe zu thun, deſſen bedarf. Die Götter Roms verlangten nicht die Vermittlung der Prieſter, um ſich verehren zu laſſen, letztere mochten die Weiſe lehren, die den Göttern wohlgefällig war, aber die Fähigkeit, für ſich und alle, die er vertrat, ſich ihnen zu nahen, wohnte jedem inne.

So erſcheint alſo die königliche Würde nicht als eine Cu - mulation dreier ſelbſtändiger Gewalten, der militäriſchen, po - litiſchen und religiöſen, der König iſt nicht Feldherr, politiſches Oberhaupt und Prieſter, ſondern er iſt Feldherr, und in dieſer Qualität iſt er zugleich berechtigt, das Heer zu politiſchen Zwecken zu verſammeln und für daſſelbe zu opfern. 154)Daſſelbe wiederholte ſich in den kleineren Kreiſen der Curien und der Gentes mit den Vorſtehern derſelben, den Curionen und den Decurio - nen, wie denn überhaupt die Verfaſſung des älteſten Staats auf Imitation beruht.Die Unterſcheidung jener drei Qualitäten, die Ablöſung einzelner Machtausflüſſe derſelben und ihre Geſtaltung zu eignen Aem - tern iſt erſt das Werk eines längern Entwicklungsprozeſſes. Von dieſem ſpätern Standpunkt aus konnte man das impe - rium155)Die etymologiſche Abſtammung des Wortes iſt noch nicht ermit - telt. Man hat wohl an parere (gehorchen), par (gleich) gedacht, allein im Oskiſchen findet ſich die Form embratur für imperator und macht eine andere Ableitung wahrſcheinlich. als Inbegriff dreier verſchiedenen Gewalten bezeich - nen, ſeiner urſprünglichen Natur nach iſt es nichts, als mili - täriſcher Oberbefehl. Wie es das Weſen der militäriſchen Dis - ciplin erheiſcht, lag darin das Recht über Leben und Tod (gla - dii potestas), angedeutet durch die Beile auf den fasces, und2492. Einfluß der Wehrverfaſſung das Königthum. §. 17.dieſes Recht mußte dem gewählten König erſt durch einen be - ſonderen Beſchluß der Comitien übertragen werden. Dieſer Akt enthält die vertragsmäßige Unterwerfung des Heeres unter den Oberbefehl des Gewählten, und darum mußte letzterer ſelbſt zugegen ſein, um dieſen Vertrag mit demſelben abzuſchlie - ßen, mußte ſelbſt der Verſammlung den Antrag ſtellen.

Auch das imperium alſo läßt ſich auf einen Vertrag zurück - führen, aber auch nur die Verleihung deſſelben. Die Fort - dauer und die Ausübung deſſelben im einzelnen Fall iſt von der Einwilligung des Volks unabhängig; es begründet, ſowie es ertheilt iſt, ein dauerndes Subjektionsverhältniß. Der Umfang deſſelben ward durch das militäriſche Intereſſe beſtimmt; ſoweit letzteres, ſo weit jenes, bei einem kriegeriſchen Volk aber reicht jenes Intereſſe außerordentlich weit. In dem imperium lag natürlich das Recht, die militäriſche Disciplin durch eine un - beſchränkte Strafgewalt aufrecht zu erhalten. Was dem Feld - herrn zur Zeit der Republik nicht verſagt ward, konnte auch dem König nicht fehlen. An ſich war dieſe militäriſche Straf - gewalt mit der des Volks durchaus verträglich; beide bewegten ſich ja in ganz verſchiedenen Kreiſen, die eine war auf den Sol - daten, die andere auf den Bürger verwieſen. Zur Zeit der Re - publik wurden dieſe Kreiſe ſtreng inne gehalten, und nur, wenn man in der Noth zur Ernennung eines Dictators ſchritt der heutigen Verhängung des Belagerungszuſtandes oder Prokla - mirung des Standrechts ward die ganze Bevölkerung unter die Strenge des Kriegsgeſetzes geſtellt. Zur Königszeit hin - gegen hatte jene militäriſche Strafgerichtsbarkeit eine ungleich größere Ausdehnung und griff mit eiſerner Hand auch ins bür - gerliche Leben ein. Man braucht aber dieſe Ausdehnung nicht als ein Werk der reinen Gewalt, als eine Uſurpation der - nige zu betrachten, ſondern es laſſen ſich Geſichtspunkte auf - finden, die dieſelbe motiviren, wenigſtens begreiflich machen. Zunächſt nämlich war ja die militäriſche Gewalt des Königs keinesweges auf die Zeit des Marſches beſchränkt, für die Dauer250Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.des Friedens und des Aufenthaltes in Rom ſelbſt aber ſuspen - dirt. Behielt das Volk ſeine Qualität als Heer auch in Rom bei, ſo dauerte auch die Disciplin und mit ihr die militäriſche Strafgewalt fort. Die Disciplin iſt aber ein ſehr elaſtiſcher Begriff und ließ ſich in den Händen eines herrſchſüchtigen - nigs ohne Gewaltſamkeit ſo ſpannen, daß von einem dienſt - fähigen Bürger kaum ein Verbrechen begangen werden konnte, das der König, wenn er wollte, nicht hätte beſtrafen dürfen. Ein zweiter Geſichtspunkt gab dem König eine Strafgewalt auch über die nicht mehr zum aktiven Herr gehörigen Perſonen. Als Befehlshaber der bewaffneten Macht ſollte er den Staat gegen ſeine Feinde ſchützen, die öffentliche Sicherheit, wo ſie geſtört war, wieder herſtellen. Ob dieſe Feinde aber äußere oder innere und im letzteren Fall der militäriſchen Strafgewalt unterworfen waren oder nicht, machte keinen Unterſchied; ſie verfielen gleichmäßig der Schärfe des Schwertes. So wenig das Volk das Schickſal gefangener Feinde zu beſtimmen hatte, ſondern wie dies dem Feldherrn allein überlaſſen blieb, ſo auch die Beſtrafung der inneren Feinde. 156)Daß der König den perduellis richtete, geht aus dem bekannten Fall des Horatius hervor, ebenſo richtet Brutus als Innehaber des impe - rium die Verſchwornen, welche dem Tarquinius die Stadt verrathen wollten. Auch im letztern Fall lag eine perduellio vor, und es ſcheint mir nicht ſtatt - haft aus den hier und anderwärts gebrauchten Ausdrücken: proditores, pro - ditio u. ſ. w. mit Rubino S. 466 u. ſ. ein eignes Verbrechen der proditio im Gegenſatz der perduellio zu bilden. Wäre es ſtatthaft, ſo würde aber auch dieſes Verbrechen nach dem im Text aufgeſtellten Geſichtspunkt der Strafgerichtsbarkeit des Königs anheim gefallen ſein.Die Sprache gibt uns dieſe Gleichheit beider durch den Ausdruck perduellio157)Perduellis (von para, ſehr, und duellum, dem ſpätern bellum) Festus sub voc. hostis apud antiquos peregrinus dicebatur et qui nunc hostis, perduellis. zu er - kennen; perduellis iſt die Bethätigung feindſeliger Geſinnung von Seiten eines römiſchen Bürgers. 158)L. 11 ad leg. Iul. maj. (48. 4 ): Perduellionis reus est, hostili animo adversus rem publicam vel principem animatus. Wer ſeinerſeits als2512. Einfluß der Wehrverfaſſung das Königthum. §. 17.Feind verfährt, gegen den wird auch wieder ſo verfahren, d. h. der König richtet ihn nach Kriegsrecht, und eine Provokation ans Volk iſt unſtatthaft.

Wie weit nun immerhin ſelbſt über dieſe Geſichtspunkte hinaus die Strafgerichtsbarkeit des Königs ſich ausgedehnt ha - ben möge, der urſprüngliche Grund und das Gebiet derſelben lag innerhalb der Wehrverfaſſung. Hier erſcheint ihre Bildung ebenſo begreiflich, ja nothwendig, wie ſie umgekehrt abgeſehn davon gegenüber den Ideen über vindicta publica räthſelhaft ſein würde. Daß ſie von hier aus Uebergriffe in das Gebiet der Strafgerichtsbarkeit des Volks machte, iſt gleichfalls er - klärlich, und ich erblicke in der gegen die Urtheilsſprüche der Könige eingelegten Provokation ans Volk nichts, als eine Ab - wehr dieſer Uebergriffe, eine Reklamation des Volksgerichts in Fällen, wo der Verurtheilte die Competenz des Königs glaubte beſtreiten zu dürfen159)Alſo nicht eine Appellation an eine höhere Inſtanz, ſondern wenn man will, eine Nichtigkeitsbeſchwerde wegen Incompetenz. Bei militäriſchen Vergehn fiel die Provokation aus dieſem Grunde hinweg, denn für ſie war ja die Competenz des Königs zweifellos, und hierauf ſind die Nachrichten zu be - ziehen, welche die Zuläßigkeit der Provokation in der Königszeit verneinen. Bei gemeinen Verbrechen hingegen waren die Volksgerichte competent, und wenn hier dennoch der König eingeſchritten war, ſo mochte der Verurtheilte auf ſein competentes Gericht provociren; hierauf beziehe ich die Nachrichten, welche bezeugen, provocationem etiam a regibus fuisse. In dem bekann - ten Fall des Horatius (Liv. I. 25, 26) enthielt die Verſtattung der Provo - kation eine große Vergünſtigung, denn Horatius tödtete die Schweſter, als er mit dem ſiegreichen Heere in Rom einzog, alſo als Soldat. Dies war der Grund, der dieſe Provokation ſo auffällig machte, und warum der Vater des Fabius (Liv. VIII. 33) ſich auf ſie berief, denn auch er wollte eine Pro - vokation gegen ein militäriſches Vergehen verſtattet wiſſen. und ein Intereſſe daran hatte, dies zu thun. Es braucht aber nicht ausgeführt zu werden, daß und warum bei dieſem Conflikt beider Strafgewalten die Lage des Königs eine unendlich viel günſtigere war, als die des Volks, das erſt durch den König zuſammenberufen werden mußte. 252Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Kein Wunder, daß es im Lauf der Zeit ſeinen Antheil an der Strafrechtspflege auf das Minimum beſchränkt ſah, das der König ihm einzuräumen für gut fand.

Hat uns die bisherige Darſtellung gezeigt, daß die Wehr - verfaſſung mit ihrer Volkseintheilung und dem Königthum ei - nen bedeutenden Einfluß auf die äußere Organiſation des Staats ausgeübt hat, ſo bleibt uns jetzt ihre mittelbare Einwirkung auf die Entwicklung des römiſchen Rechts, und ſo wenig die - ſelbe auf den erſten Blick in die Augen fällt, ſo wird man doch, wie ich glaube, bei näherer Prüfung nicht umhin können, ſie als höchſt nachhaltig und bedeutungsvoll anzuerkennen.

Mit der Wehrverfaſſung tritt auf dem Schauplatz der Bil - dungsgeſchichte des Staats und Rechts, auf dem wir bisher nur das privatrechtliche Prinzip des ſubjektiven Willens in un - gehemmter Weiſe ſich bewegen ſahen, ein neues Prinzip auf, das der Ueber - und Unterordnung, zunächſt zwar beſchränkt auf den Kreis der militäriſchen Intereſſen, aber ſelbſt in dieſer Beſchränkung ein heilſames Schutzmittel gegen die dem ſub - jektiven Prinzip drohende Gefahr einer Selbſtverzehrung, ge - gen den verführeriſchen Reiz, den berauſchenden und zugleich ſchwächenden Einfluß einer zügelloſen Begeiſterung für Freiheit und Unabhängigkeit. Wir bedauern die Völker, in deren Bruſt nie der edle Funke einer ſolchen Begeiſterung gefallen, dieſer Funke, der wie ein elektriſcher Strahl belebend, erwärmend und zündend durch den ganzen Organismus dringt; aber wehe andererſeits den Völkern, in denen der Trieb der Freiheit kein Maß, kein Gegengewicht vorfindet und der Funke zur verzeh - renden Flamme emporlodert! Von den drei Völkern, dem grie - chiſchen, römiſchen und germaniſchen, die einſt ein Volk bilde - ten, hatte jedes den Sinn für individuelle und politiſche Freiheit2532. Einfluß der Wehrverfaſſung Sinn für Ordnung. §. 17.und Unabhängigkeit bei ſeiner Trennung mitgenommen und entwickelte denſelben in eigenthümlicher Weiſe, aber nur das römiſche war ſo glücklich, die Schule der ſtrengen Zucht und Ordnung, in der jener Sinn erſt wahrhaft durchgebildet ward, zu finden und lange genug zu benutzen. Der Freiheitstrieb der Römer war Jahrhunderte lang unzertrennlich verbunden mit dem Sinn für Ordnung und Geſetzlichkeit, und erſt der Verfall Roms zeigt uns das Gegentheil. Jene Schule nun, was brauche ich es zu ſagen, daß es die Wehrverfaſſung war? jene eiſerne Zuchtruthe der militäriſchen Disciplin, die wie ein Zauberſtab den Sinn für äußere Ordnung und Geſetzlichkeit im Menſchen hervortreibt. Dieſer Sinn iſt allerdings nur eine untergeord - nete Form des ſittlichen Geiſtes, er hat etwas unfreies, beruht mehr auf mechaniſcher Gewöhnung, als auf innerlicher ſitt - licher Durchbildung, iſt mehr auf die äußere Form und ſtereo - type Gleichmäßigkeit der Ordnung, als auf ihr inneres Weſen gerichtet. Seine relative Berechtigung bedarf aber kaum des Nachweiſes; es gibt Völker und Zeiten, in denen die militä - riſche Disciplin erſt jenen Sinn ausbilden muß, damit eine höhere Stufe der Sittlichkeit überhaupt ermöglicht werde. In Zeiten der Noth, wenn die Fieberhitze des Freiheitstaumels den Staat und die Ordnung zu verzehren droht, treibt der Inſtinkt die Völker zu auswärtigen Kriegen und mit ihnen zu den eiſen - haltigen Quellen der militäriſchen Disciplin, an denen ſie mit dem Sinn für Ordnung und Gehorſam am raſcheſten ihre Ge - ſundheit wieder finden. Nicht in der Strenge der Zucht allein liegt die heilende Kraft der militäriſchen Disciplin; ein despo - tiſches Regiment kann ſie darin weit überbieten und entnervt und demoraliſirt doch ein Volk mehr, als daß es daſſelbe ſtählt. Während letzteres aber nur die Strenge der Willkühr übt, handhabt die militäriſche Disciplin die Strenge der Ord - nung, und es gibt vielleicht kein Verhältniß, welches in dem Grade die Nothwendigkeit der äußern Ordnung dem Menſchen begreiflich macht, und ihm eine ſo unvertilgbare Abneigung254Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.gegen alle Unordnung, Regelloſigkeit u. ſ. w. einprägt, als die militäriſche Zucht.

Das römiſche Volk der Königszeit war nun ſo glücklich, eine Verfaſſung mitzubringen, die daſſelbe im Frieden wie im Krieg in dieſer Zucht erhielt. Nachdem es darin ſeine Erziehung ge - funden,160)Die Römer ſelbſt erkannten dies an; ſ. z. B. Livius lib. II. 1 in ſeiner Reflexion über die Königszeit. der Geiſt der Ordnung und Geſetzlichkeit dem Volk zur zweiten Natur geworden, mochte dieſe Schule ohne Gefahr auf die Zeiten des Krieges beſchränkt werden. Die Erobe - rungsſucht der Römer ſtürzte ſie unaufhörlich in neue Kriege und wandte damit jeder neuen Generation den Vortheil einer militäriſchen Erziehung zu. Der Krieg lehrte den Werth der Ordnung kennen, der Frieden den der Freiheit, und die Jugend des römiſchen Volks erwarb ſich in der ſtrengen Schule des Gehorſams, die übrigens ſchon im Hauſe mit der patria potestas begann, die Würdigkeit und Fähigkeit zum Herrſchen.

In der Geſchichte des römiſchen Volks wie in dem Recht ſelbſt tritt der Einfluß jener Erziehung in höchſtem Grade her - vor, und es gereicht wahrlich unſerer römiſchen Rechtshiſtorie, die für das unbedeutendſte ein ſo ſcharfes Auge hat, wenig zur Ehre, daß ſie ſich erſt von Hegel161)Philoſ. der Geſchichte. Die römiſche Welt. Abſchn. 1. über den Grund und die Art des römiſchen Geſetzlichkeitsſinnes aufmerkſam machen laſ - ſen mußte oder richtiger geſagt trotzdem nicht aufmerkſam wurde. Es iſt bereits oben (S. 96, 97) bemerkt, daß Hegels Auffaſ - ſung der Bildung des römiſchen Rechts und Staats outrirt iſt, aber ſeine Hervorhebung des Einfluſſes, den die militäriſche Disciplin auf die römiſche Sinnesweiſe ausübte,162)In der Ausgabe von 1840 z. B. auf S. 346: Denn ſie (die Stiftung des Staats) führt unmittelbar die härteſte Disciplin mit ſich, ſowie die Aufopferung für den Zweck des Bundes. Ein Staat, der ſich ſelbſt erſt gebildet hat und auf Gewalt beruht, muß mit Gewalt zuſammengehalten werden. Es iſt da nicht ein ſittlicher, liberaler Zuſammenhang, ſondern ein iſt eine2552. Einfluß der Wehrverfaſſung Sinn für Ordnung. §. 17.durch ihre Wahrheit überraſchende Beobachtung, deren Werth am erſten vom Rechtshiſtoriker anerkannt werden ſollte, inſofern nur er den Fingerzeig, den ſie gibt, weiter verfolgen kann. Jener Formalismus des römiſchen Rechts, den wir im zweiten Syſtem als einen der hervorſtechendſten Charakterzüge deſſelben kennen lernen werden, wo fände er, wenn man ihn nicht un - vermittelt und unerklärt als einfache Thatſache ſtehn laſſen will, einen beſſern Anknüpfungspunkt, als in dem Formalismus der militäriſchen Disciplin? Was iſt er anders, als wie letzterer die Ordnung der Ordnung wegen, die Disciplin der Rechts - geſchäfte, die auf ſtrenge Gleichmäßigkeit unerbittlich hält und jedes Verſehn, jede an ſich gleichgültige, bedeutungsloſe Ab - weichung von der äußern Ordnung unnachſichtlich ſtraft? Für das römiſche Recht enthält er dieſelbe Schule der Zucht und Ordnung, die das Volk im Lager fand. Hier im Lager wurde das Volk an jene Subordination, an jene Strenge des Buch - ſtabens gewöhnt, die es nachher in den Formen ſeines Rechts - lebens wiederfand, und ein im Dienſt ergrauter Feldherr hätte nicht mit größerer Pedanterie und Strenge die äußere Ordnung des Rechtsverkehrs feſtſtellen und beaufſichtigen können, als die Juriſten zur Zeit der Republik. Den ſegensreichen Einfluß, den dieſe militäriſche Disciplinirung der Rechtsgeſchäfte auf die Entwicklung des römiſchen Rechts ausübte, können wir erſt im zweiten Syſtem ſchildern, aber ſchon hier iſt der Ort zu der Bemerkung, daß an der Größe des römiſchen Rechts der kriege - riſche Sinn der Bevölkerung einen Hauptantheil des Verdien - ſtes hat, und daß für die ſegensreichen Rückwirkungen des Krieges auf Recht und Staat, deren wir am Anfang dieſes Paragraphen gedachten, gerade das römiſche Recht einen ſprechenden Beleg enthält.

162)gezwungener Zuſtand der Subordination, der ſich aus ſolchem Urſprunge herleitet; vor allem aber S. 350, wo er namentlich auch hervorhebt, daß die Plebs im Aufſtande und in der Auflöſung der geſetzlichen Ordnung ſo oft durch das bloß Formelle wieder zur Ruhe gebracht ſei.

256Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

III. Das religiöſe Prinzip mit ſeinem Einfluß auf Recht und Staat.

Das fas Handhabung deſſelben durch das Pontifikalcollegium Prozeß vor dem geiſtlichen Gericht (legis actio sacramento) Hervortreten des religiöſen Einfluſſes in den verſchiedenen Theilen des Rechts, namentlich im Strafrecht der homo sa - cer Die Strafe als religiöſes Sühnemittel.

XVIII. Recht und Religion ſind ein Zwillingspaar, das überall, wohin wir in der Geſchichte blicken, ſeine Kinderjahre in innigſter Gemeinſchaft verbringt, ſich gegenſeitig helfend und ergänzend. Soweit beide, wenn ſie zur Selbſtſtändigkeit und Kraft gelangt ſind, auch auseinander gehn mögen, ohne ſich die Löſung ihrer Aufgabe zu erſchweren, ſo unentbehrlich ſind ſie ſich doch in jener Periode der Schwäche und Unſelbſtändig - keit. Was würde aus dem Recht, wenn es von vornherein als eitel Menſchenwerk in der Geſchichte aufträte, wenn nicht die Religion daſſelbe mit göttlicher Weihe ausſtattete? Was ein Volk aus der eignen Mitte ſchöpfen ſoll, ſagt treffend Jakob Grimm,163)Zeitſchrift für geſch. Rechtswiſſ. B. 2 S. 28. wird ſeines gleichen, was es mit Händen anfaſſen darf, wird entweiht; ohne Unnahbarkeit wäre kein Heiligthum, woran der Menſch hangen und haften ſoll, gegründet. Jeder Keim, der ſich erſchließen ſoll, bedarf zuerſt des Schutzes gegen äußere Betaſtung, eines ſtillen, ungeſtörten Wachsthums von innen heraus. Die zarte Schöpfung des Rechts, die unter plum - per Betaſtung, unter den Eingriffen und Angriffen der Will - kühr, Laune, Rohheit erliegen würde, ſichert ſich gegen dieſel - ben, indem es ſich mit dem Heiligenſchein religiöſer Weihe umgibt. In demſelben Maße, in dem dieſer Glanz erblaßt, dürfen wir auf die Zunahme der eignen Kraft des Rechts ſchlie - ßen, und je mehr ein Volk zur Cultur des Rechts und Staats2573. Das religiöſe Prinzip das Fas. §. 18.berufen iſt, um ſo früher kann es jener Beihülfe der Religion entrathen, um ſo früher gelangt es dazu, Staat und Recht ihrer ſelbſt, nicht der Götter wegen zu achten und heilig zu halten.

Wir haben nun ein Volk vor uns, das einerſeits ebenſo ſehr zur Cultur jener beiden Inſtitutionen prädeſtinirt war, wie es andererſeits dauernd der Religion die größte Beachtung ſchenkte. Erſt bei der Charakteriſtik des römiſchen Geiſtes (§. 20) werden wir Gelegenheit haben, das praktiſche Verhältniß, in dem die Religion zur römiſchen Welt ſtand, zu unterſuchen, hier hingegen, wo uns noch die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts beſchäftigen, die vielleicht weit über Rom hinaufreichen, beſchränken wir uns auf den Antheil, den das religiöſe Prinzip am Bau jener Welt genommen hat, auf die Spuren des reli - giöſen Einfluſſes im älteſten Recht und Staat. Dieſer Ein - fluß hat ſich im Laufe der Zeit ehr vermindert, als vermehrt; wo alſo der Zufall der hiſtoriſchen Ueberlieferung uns denſelben erſt in ſpäterer Zeit wahrnehmbar macht, dürfen wir ihn min - deſtens in demſelben Umfang auch für die älteſte Zeit annehmen.

Wir beginnen unſere Darſtellung mit dem Begriff, der alle Einflüſſe der Religion auf Staat und Recht in ſich begreift, es iſt der des Fas. 164)Die Sanskrit-Wurzel bhâ, von der man dies Wort abzuleiten pflegt, bedeutet: ſcheinen, daher auch das griech. φαίνειν und φάος das Licht. Pott a. a. O. S. 194: Verwandt damit ſind φημί und fari von der Wurzel bhash (ſprechen). Pott S. 271. Es waltet hier ein ähnlicher Zuſammenhang zwiſchen ſcheinen, zeigen und ſagen (mit Worten zeigen), wie bei dicere (S. 153 Anm. 69). Fas iſt etymologiſch alſo entweder das Scheinende, das Licht, oder eine Weiſung (der Götter), ein Götter - ausſpruch, wie fatum. Das Fas ſchließt ſowohl die Religion, ſo - weit ſie rechtliche Geſtaltung annimmt, alſo in unſerer heutigen Sprache das Kirchenrecht in ſich, als das Privat - und öffent - liche Recht, ſoweit es eine religiöſe Beziehung hat ein Unter - ſchied, den wir benutzen können, um uns den Umfang des FasJhering, Geiſt d. röm. Rechts. 17258Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.klar zu machen, der übrigens im Fas ſelbſt nicht hervortritt. Zu dem Jus, das wir in §. 15 haben kennen lernen, geſellt ſich alſo im Fas ein Seitenſtück, und dieſer Gegenſatz iſt von hoher Bedeutung. Er zeigt uns, daß die Scheidung zwiſchen profa - nem und religiöſem Recht, die wir im Orient vergebens ſuchen, in Rom von altersher vollbracht iſt.

Nicht das ganze Recht hat einen religiöſen Charakter, die religiöſe Subſtanz durchdringt, wenn ich ſo ſagen darf, nicht mehr den ganzen Organismus, ſondern Gott und Menſchen, Religion und Staat haben ſich bereits getheilt, eine Gränzſchei - dung vorgenommen. Das Jus iſt Menſchenſatzung und als ſolche veränderlich, bildſam. Die bindende Kraft deſſelben be - ruht auf der gemeinſamen Vereinbarung des Volks, die Nicht - achtung deſſelben verletzt bloß menſchliche Intereſſen. Das Fas hingegen ſtützt ſich auf den Willen der Götter, iſt alſo unabän - derlich, inſoweit nicht die Götter ſelbſt eine Neuerung belieben; die Uebertretung deſſelben enthält einen Frevel gegen die Göt - ter. Mit dem Fas blickt das römiſche Recht, möchte ich ſagen, nach dem Orient, mit dem Jus nach dem Occident; jenes iſt die ſtabile, dieſes die progreſſive Seite deſſelben. So bewährt alſo dieſer ſprachlich ausgeprägte, d. h. zum Bewußtſein ge - kommene Dualismus des Rechts, dem wir beim erſten Eintritt in unſer Gebiet begegnen, bereits die zerſetzende Kraft des - miſchen Geiſtes. In culturhiſtoriſcher Beziehung iſt er eine ſehr beachtenswerthe Erſcheinung und bezeichnet einen höchſt wich - tigen Fortſchritt des menſchlichen Selbſtbewußtſeins.

Stellte dieſer Dualismus ſich nun auch äußerlich dar durch eine Verſchiedenheit der Behörden, die die beiden Seiten des Rechts zur Anwendung zu bringen hatten? Allerdings. Zwar ſchloß das Königthum an ſich auch die volle geiſtliche Gewalt in ſich, allein wenn ſchon Romulus nach der Sage aus jeder Tribus einen Augur beſtellt, wenn Numa das Pontificalcolle - gium und Ancus die Fetialen einführt, ſo heißt das nichts an - ders, als die Einſetzung dieſer drei geiſtlichen Aemter verliert2593. Das religiöſe Prinzip das Fas, die pontifices. §. 18.ſich in graues Alterthum, iſt eine der urſprünglichſten Einrich - tungen, die Rom kennt. Die Innehaber dieſer Aemter waren aber die Träger und Pfleger des Fas. Den weltlichen Beam - ten verblieben zwar ſtets die unentbehrlichen religiöſen Functio - nen ihres Amtes, wie z. B. die Auſpicien und Opfer, aber Zweifel, Streitfälle, Verſtöße gegen die religiöſe Ordnung u. ſ. w. fielen ausſchließlich der Cognition jener geiſtlichen Beamten anheim. 165)Hinſichtlich der pontifices iſt dies zur Genüge bekannt, hinſichtlich der Fetialen darf ich auf jede Schrift verweiſen, in der ſie berührt werden, z. B. Rubino a. a. O. S. 170 flg. (in der ſolennen Formel bei Livius I, 32 wird ausdrücklich auf das Fas Beziehung genommen: audiat fas), von den Augurn erwähnen die Quellen manche Ausſprüche über das Fas z. B. den berühmten des Attus Navius (Livius I, 36) u. andere (Rubino S. 219, 220).Ihre urſprüngliche Function ſcheint we - nig anders als begutachtender Natur geweſen zu ſein, aber, wie ſo oft, gewann auch hier das Gutachten bald den Einfluß des Richterſpruches. Das Pontificalcollegium wenigſtens dür - fen wir als ein geiſtliches Gericht bezeichnen und brauchen, wenn wir mit dieſer Bezeichnung an die geiſtlichen Gerichte des Mittelalters erinnern, eine nähere Vergleichung beider keines - wegs zu ſcheuen. Wir wollen die geiſtliche Gerichtsbarkeit die - ſes Collegiums, inſoweit ſie auf das römiſche Civilrecht einen Einfluß ausgeübt hat, einer nähern Betrachtung unterwerfen. Es iſt in der That eine überraſchende Erſcheinung, daß faſt die - ſelben civiliſtiſchen Lehren, an denen im Mittelalter die Legis - lation des Pontifex Romanus ſich verſuchte, und deren prakti - ſche Anwendung den geiſtlichen Gerichten zuſtand, bereits vor mehr als einem Jahrtauſend der Pflege des Pontifex maximus anvertraut waren,166)Es waren dies namentlich die Lehren von der Ehe, den Verwand - ſchaftsgraden als Ehehinderniſſen, dem Trauerjahr, dem Eide, dem Votum, den Teſtamenten. Auch die Sorge für dem Kalender findet ſich bei beiden. und nachdem ſie in der Praxis des Pon - tificalcollegiums, beziehungsweiſe der geiſtlichen Gerichte, ihre Ausbildung gefunden hatten, mit dem Prozeß ſelbſt in die welt - lichen Gerichte ihrer Zeit übergingen. Das Fas des alten Rom17*260Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.iſt das jus canonicum des ſpätern; zu beiden Zeiten gab es das jus utrumque, in dem ſowohl geiſtliche wie weltliche Richter bewandert ſein mußten. Zu dem jus pontificium, qua ex parte cum jure civili conjunctum esset (Cic. Brut. c. 42) gehörte, wie Rubino167)Rubino in ſeinem bekannten Werk S. 218 hat meines Wiſſens zuerſt den Zuſammenhang des jus civile mit dem jus pontificium in Anre - gung gebracht und an einzelnen Punkten nachgewieſen. Möchte er das Ver - dienſt, das er ſich dadurch erworben, noch erhöhen, indem er ſelbſt ſich zu einer umfaſſenderen Behandlung dieſes Gegenſtandes, von dem er mit Recht wichtige Aufſchlüſſe über den Entwicklungsgang der römiſchen Jurisprudenz erwartet, entſchlöſſe! Hüllmanns Jus pontificium der Römer hat den Ge - genſtand nach der Seite, nach der er uns hier intereſſirt, wenig gefördert. bemerkt hat, namentlich das Familienrecht, und es finden ſich noch in den Pandekten Spuren der Pontifi - caljurisprudenz. Ob eine Ehe gültig vollzogen, um Rubino ſelbſt reden zu laſſen, ob ein Eheverbot überſchritten ſei, ob rechtmäßige Vaterſchaft und Verwandſchaft beſtanden habe, war ebenſo ſehr von Einfluß auf die Verpflichtung zur Trauer, zur Vollziehung der Sacra, zur Expiation des Inceſtes, als auf bürgerliche Verhältniſſe. Aehnliches mußte auch im Sachen - recht z. B. bei Eigenthumsfragen, ſo oft es ſich um die Unter - ſcheidung heiliger Orte von Privatgrundſtücken handelte, ins - beſondere aber bei Erbſchaften wegen der damit verbundenen Sacra und in vielen andern Fällen vorkommen. Hieraus mußte die Wechſelwirkung entſtehen, daß die an dem einen Ort an - genommenen Regeln an dem andern nicht unbeachtet bleiben konnten; es läßt ſich jedoch vorausſetzen, daß ſich hierbei in ältern Zeiten das Uebergewicht auf die Seite der Prieſter, ſchon wegen ihrer umfaſſenden Gelehrſamkeit, neigte. Aber der Einfluß der Pontifices auf das Civilrecht war doch wohl ein noch unmittelbarerer, als hier angenommen iſt; es gab wahr - ſcheinlich Klagen und Anſprüche, die, wie im Mittelalter, ur - ſprünglich nur bei dem geiſtlichen Gericht erhoben werden konn - ten,168)Dies möchte ich z. B. annehmen hinſichtlich der Anſprüche, die andere, die wenn auch beim weltlichen Gericht durch -2613. Das religiöſe Prinzip das Fas, die pontifices. §. 18.zuführen, doch erſt eine Entſcheidung des Pontificalcollegiums über eine Präjudicialfrage des Fas vorausſetzten. Außer den bereits von Rubino und in der Note hervorgehobenen Beiſpie - len nenne ich als ſolche Lehren, die dem geiſtlichen Recht ihre Ausbildung verdankten, namentlich die Lehre von der Zeit,169)Vor allem die computatio civilis, über deren Anwendung auf die Begründung der manus durch usus ein Ausſpruch des Pontifex Quint. Mu - cius von Gellius III. 2 mitgetheilt wird, den Schalttag u. ſ. w. der pignoris capio,170)Inſoweit ſie eine Beziehung auf das geiſtliche Recht hatte. Die XII Tafeln erkannten ſie in dieſer Richtung an. Gajus IV. §. 28. von dem votum,171)Wenn Beamte oder das Volk ein Votum ablegten, ſo pflegte der Pontifex maximus die Formel vorzuſagen Liv. XXXI. 9, XXXVI. 2, XLI. 21. Valerius Maximus VIII, 13, 2 rühmt es dem Metellus nach, daß er senex admodum pont. max. creatus tutelam caeremoniarum per duos et viginti annos neque ore in votis nuncupandis haesitante, neque gessit. Brissonius de vocibus ac formul. lib. l cap. 128. die Römer ſelbſt nennen auch die usucapio pro herede. Bei einigen Rechtsge - ſchäften wie der Eingehung der Ehe durch confarreatio, der arrogatio und dem testamentum in comitiis calatis fand eine Zuziehung des Pontifex maximus oder des ganzen Collegium Statt, und damit war der geiſtlichen Jurisprudenz die Gele - genheit gegeben, auf die Theorie dieſer Rechtsgeſchäfte zu in - fluiren. 172)Mit Recht hebt Rubino S. 213 hervor, daß es ſich hierbei nicht bloß oder auch nur vorzugsweiſe um die sacra gehandelt habe.Auch auf die Ausbildung des Kriminalrechts muß168)ſich auf ein Begräbniß bezogen, alſo namentlich hinſichtlich der actio fune - raria (nachher ins Edikt des Prätors übertragen, ihrer ganzen Structur nach aber unverkennbar nicht unter dem Einfluß civiliſtiſcher Ideen entſtanden), hinſichtlich der legis actio sacramento (ſ. u.). Noch zu Papinians Zeit konnte der Erbe zur Erfüllung der vom Teſtator in ſeinem Teſtament ihm zur Pflicht gemachten Errichtung eines Monuments durch das Pontifical - collegium gezwungen werden, L. 50. §. 1 de her. pet. (5. 3) tamen Principali vel Pontificali autoritate compelluntur ad obsequium supre - mae voluntatis. Daß die jura sepulchrorum dem indignus, dem die Erbſchaft entzogen ward (L. 33 de relig. 11. 7) und dem suus heres, der ſich abſtinirte (L. 6 ibid.) verblieben, war gegen die Conſequenz des Civil - rechts, und ich möchte dieſe Abnormität dem Einfluß des geiſtlichen Rechts zuſchreiben.262Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ſie eingewirkt haben, denn aus den Pontificalbüchern wußte die ſpätere Zeit, daß unter den Königen von den Straferkenntniſ - ſen derſelben eine Provokation aus Volk Statt gefunden, und ohne praktiſche Veranlaſſung hätten jene Bücher dieſe Notiz nicht aufgenommen. Das Pontificalcollegium muß alſo in einer uns unbekannten Weiſe bei der Provokation zugezogen worden ſein, und der religiöſe Charakter des älteſten Strafrechts, den wir nachher kennen lernen werden, macht es wahrſcheinlich, daß dieſe Mitwirkung nicht bloß auf den Fall der Provokation beſchränkt war, ſondern überall Statt fand, wo das Verbrechen als ein Frevel gegen die Götter aufgefaßt werden konnte. Ob die ſelbſtändige Strafgewalt der Pontifices ſich auf die von geiſtlichen Perſonen begangenen Verbrechen gegen die Religion beſchränkte, iſt ſtreitig. 173)Geib Geſchichte des röm. Kriminalprozeſſes S. 74 u. flg. ver - theidigt im Widerſpruch mit der gangbaren Anſicht die Beſchränkung auf den im Text bezeichneten ſehr engen Kreis.Wenn aber der Verführer einer veſtaliſchen Jungfrau von ihnen mit dem Tode beſtraft wird,174)Livius XXII, 5, 7. ſo macht ſchon dies eine Beiſpiel eine weitere Ausdehnung ihrer Strafgewalt gewiß.

Nach den Berichten ſpäterer Referenten175)Z. B. Pomponius in L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2 ) Valer. Max. II. 5 §. 2. Auch Livius IX, 46 ſpricht ſchon von einem jus civile repositum in penetralibus pontificum. wäre in den er - ſten Jahrhunderten der Republik die Kenntniß, Fortbildung und Handhabung des Civilrechts ausſchließlich bei jenem Collegium geweſen. Wenn unſere heutige Kritik dieſer Nach - richt keinen Glauben ſchenken will, ſo iſt ſie gewiß inſoweit in ihrem Recht, als ſie es für undenkbar erklärt, daß das Recht aus einem Gemeingut des Volks eine Geheimlehre der Ponti - fices hätte werden ſollen. Andererſeits aber geht ſie zu weit, wenn ſie jene Nachricht bloß darauf reduciren will, daß die For - mulare für rechtliche Geſchäfte vorzugsweiſe bei den Pontifices2633. Das religiöſe Prinzip geiſtliches Gericht. Eid. §. 18.aufbewahrt geweſen ſeien. 176)Rubino a. a. O. S. 225.Damit jene übereinſtimmende Tradition von der ausſchließlichen Handhabung und Geheim - haltung des Rechts durch die Pontifices ſich bilden konnte, muß den Pontifices mindeſtens ein bedeutender Antheil an der Rechtspflege zugeſtanden haben, eine Gerichtsbarkeit, die nicht bloß auf rein religiöſe Intereſſen beſchränkt war, ſondern ins bürgerliche Leben, in den privatrechtlichen Verkehr in ſehr be - merklicher Weiſe eingriff. Es kömmt darauf an, einen Geſichts - punkt aufzufinden, der dieſe Ausdehnung der geiſtlichen Ge - richtsbarkeit auf profane Geſchäfte motivirt, d. h. ein Mittel, eine Form anzugeben, wodurch dieſen Geſchäften eine religiöſe Beziehung gegeben und dadurch die Competenz des geiſtlichen Gerichts begründet werden konnte. Als ein ſolches Mittel ſtellt ſich der promiſſoriſche Eid dar; jedem Verſprechen, jedem Rechtsgeſchäft kann er als Beſtärkungsmittel hinzugefügt wer - den, und die tägliche Erfahrung lehrt uns den Gebrauch dieſes Mittels. Der Verkehr pflegt namentlich dann und da zu dem - ſelben zu greifen, wo er ſich durch das Recht in ſeiner freien Bewegung gehemmt ſieht. 177)So im Mittelalter beim Eindringen des römiſchen Rechts gegen - über manchen Beſtimmungen deſſelben, die mit den bisherigen Sitten und Ideen in Widerſpruch traten z. B. der Unzuläſſigkeit der Erbverzichte. Ebenſo gegenüber dem verkehrswidrigen Verbot der Zinſen durch das kanoniſche Recht.Geſchäfte, für die keine rechtlich bindende Form exiſtirt, oder die materiellen Beſchränkungen unterliegen, die dem Verkehr läſtig ſind, flüchten ſich vom Bo - den des Rechts auf den der Religion, und der Eid erweiſt ſich trotz des mangelnden äußern Zwanges in der Regel als ein ebenſo wirkſames Bindemittel, als das Recht. Den Römern war von altersher die Anwendung dieſes Mittels ſehr geläu - fig.178)Auch der aſſertoriſche Eid als Mittel zur Entſcheidung von Rechts - ſtreitigkeiten war bei ihnen ſowohl in als außer dem Prozeß im ausgedehnte - Die Beamte leiſteten den Eid auf die Geſetze, die Sol -264Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.daten bei der Aushebung den Dienſteid (sacramentum), dann den Lagereid,179)Gellius XVI, 4. und unter einander urſprünglich freiwillig, ſpäter nach Vorſchrift, den Eid, nicht die Flucht zu ergreifen, ihre Reihen nur aus gewiſſen Gründen zu verlaſſen180)Ruperti Handbuch der römiſchen Alterthümer. Theil 2. S. 883. u. ſ. w. Die Benutzung des promiſſoriſchen Eides für den Rechtsverkehr wird uns von Dionys ausdrücklich bezeugt,181)Dionys. I, 40. und manche theils bereits benutzte, theils überſehene Argumente bekräftigen ſein Zeugniß. Daß sponsio, das ſolenne Verſprechen, etymo - logiſch auf ein religiöſes Bindemittel hinweiſt, iſt ſchon von den Römern bemerkt. 182)Festus voc. spondere ex Graeco dictum ait, quod ii σπον - δάς interpositis rebus divinis faciant. Gaj. III. §. 93 quamvis dicatur a Graeca voce figurata esse. σπένδω, σπονδή bezeichnet ur - ſprünglich die Libation (Spende), daher σπονδαί der Friedensſchluß, das Bündniß, bei deſſen Abſchluß dieſe Libationen vor allem vorkamen.Daß dies Bindemittel der Eid ge - weſen, ſagt Feſtus, indem er consponsor durch conjurator erklärt. 183)sub voce: consponsor. Ich weiß nicht, ob Jemand bereits auf dieſes höchſt wichtige Argument aufmerkſam gemacht hat, aber in der Schrift, worin zuletzt die sponsio berührt und als ein in religiöſer Form abgelegtes Verſprechen aufgefaßt iſt (Girtanner die Bürgſchaft nach gem. Civilrecht. Jena 1850. Buch 1 Kap. 3 §. 3) vermiſſe ich es. Wenn consponsor = con - jurator, ſo iſt sponsor derjenige, der ſich eidlich zur Erfüllung eines Ver - ſprechens verpflichtet hat. Zur Annahme einer ſakralen Form der Obligatio - nen haben ſich übrigens ſchon Manche veranlaßt geſehn z. B. Huſchke das Nexum S. 101, 102. Danz Rechtsgeſchichte B. 2 S. 107.Beachtung verdient ferner der unzweifelhaft reli - giöſe Charakter der völkerrechtlichen sponsio184)Osenbrüggen de jure belli et pacis S. 77 u. flg. Der Feldherr, der eine vom Volk nicht genehmigte sponsio abgeſchloſſen, ward dem Feinde überliefert ut populus religione solvatur oder ut populus R. scelere impio sit solutus . Cicero de leg. II, 16 gebraucht sponsio beim votum: voti sponsio, qua obligamur deo. und der Finger -178)ſten Gebrauch. Die Cenſusangaben erfolgten eidlich Liv. XLIII, 14: com - mune omnium civium jusjurandum; Gellius IV, 20: de uxoribus so - lemne jusjurandum. Huſchke Verf. des Serv. Tullius. S. 574.2653. Das religiöſe Prinzip geiſtliches Gericht. Eid. §. 18.zeig, den uns die Etymologie in den Wörtern jurare und jura - mentum gewährt. Woher kommen beide zu der Bedeutung des Schwörens? Sie ſtammen von jus, Band, Recht, würden alſo wörtlich überſetzt bedeuten: ein Band, einen Bund, ein Recht begründen, beziehungsweiſe: ein Bindemittel, ein Mittel des Rechts. Wenn ſie aber durch den Sprachgebrauch die aus - ſchließliche Bedeutung des Schwörens und eines Eides erhalten haben, ſo darf man daraus, glaube ich, entnehmen, daß ſich verbinden, ein Recht begründen und ſchwören lange Zeit hin - durch für gleichbedeutend gegolten haben muß. Die Wirkung, das Sich verpflichten, trat dann ſpäter zurück gegen die Urſache, das Schwören, und ſo erhält jurare ſeine neuere Bedeutung.

Die eidliche Bekräftigung eines Verſprechens mochte na - mentlich da üblich ſein, wo daſſelbe juriſtiſch unwirkſam gewe - ſen ſein würde. 185)Z. B. die Verträge zwiſchen Patron und Clienten; daher vielleicht noch im neuern Recht die jurata operarum promissio des Freigelaſſenen. Ferner Verſprechen, denen keine res zu Grunde lag. (S. zweites Syſtem.)Wenn der Eid nicht erfüllt wurde, wenn Zweifel und Streitigkeiten hinſichtlich deſſelben ſich erhoben, ſo lag es am nächſten, die Pontifices anzugehn. 186)Dionys. II, 73: Ποντὶφικες γὰϱ δικάζουσιν τὰς ἱεϱὰς δίκας ἁπάσας ἰδιώταις τε καὶ ἄϱχουσι καὶ λειτουϱγοῖς ϑεῶν.Ob ſie wie die geiſtlichen Gerichte des Mittelalters berechtigt waren, den, der den Eid abgeleiſtet hatte, wir wollen ihn den Beklagten nennen, zur Verantwortung zu ziehen, bleibe dahin geſtellt. Aber wenn beide Partheien ſich einig waren, erfolgte Unter - ſuchung und Urtheil, und zwar, wie ich glaube, in der Weiſe, daß jede von ihnen für den Fall des Unterliegens ein Succum - benzgeld (sacramentum) deponirte, welches demnächſt an ei - nen Tempel fiel. Dies Succumbenzgeld enthält je nach dem Ausgang des Prozeſſes die Strafe für den gebrochenen Eid oder die fälſchliche Beſchuldigung der Eidbrüchigkeit. Der Ruf der Rechtskenntniß, in dem die Pontifices ſtanden, der Vorzug der Ständigkeit der Behörde, einer conſtanten Praxis und Tradi -266Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.tion, den dieſes Gericht vor dem weltlichen Richter voraus hatte, konnte auch im Fall eines gewöhnlichen Rechtsſtreites, bei dem es ſich nicht um einen Eid handelte, es den Partheien wünſchenswerth machen, denſelben vor das geiſtliche Gericht zur Entſcheidung zu bringen. Die Kompetenz deſſelben, wenn man überhaupt hierbei von einer Kompetenz ſprechen will, ließ ſich jeden Augenblick durch Ableiſtung eines auf den Rechtsſtreit bezüglichen Eides begründen, vielleicht ward auch der Eid durch Fiction erſetzt, ſo daß es lediglich auf Depoſition des sacra - mentum ankam. 187)Die Depoſition erfolgte, wie Varro de L. L. V. 180 uns berich - tet, bei der pons ad pontem deponebant qui judicio vicerat, suum sacramentum e sacro auferebat. Die pons war die pons sublicius, von der Varro den Namen der pontifices ableitete (ib. V. 15), und an der letztere zu opfern hatten. Ruperti Handb. der röm. Alterth. Thl. 2 Abth. 2 S. 565. Die Depoſition erfolgte alſo bei den Pontifices.Dies iſt die legis actio sacramento in ih - rer urſprünglichen Geſtalt. Je ſeltener der Eid ward, um ſo eher konnte man ſich daran gewöhnen, unter der actio sacra - mento, die urſprünglich Eides-Klage bedeutete denn sacra - mentum188)Später vorzugsweiſe beim Soldateneid in Gebrauch geblieben. Daß sacrare, sacramentum u. ſ. w. auch abgeſehn von dieſem Fall eine beſondere Beziehung zum Eide hat, dafür berufe ich mich auf folgende Stel - len des Feſtus: sub voc: Sacramento dicitur quod [jurisjurandi sa - crati] one interposita actum est; [unde quis sacramen] to dicitur inter - rogari, quia [jusjurandum interponitur] etc., sub voc: Sacrosanctum dicitur, quod jurejurando interposito est institutum etc. Uebrigens brauche ich wohl kaum zu bemerken, daß für die im Text vorgetragene An - ſicht die Bedeutung des Wortes sacramentum nur ein einzelnes Argument bildet, die eigentliche Beweiskraft aber in dem Geſammtzuſammenhang des Ganzen ruht, und ich darf hinzuſetzen, daß ich ſelbſt auf jenes Argument erſt aufmerkſam geworden bin, nachdem jener Geſammtzuſammenhang mir die vertheidigte Anſicht aufgedrungen hatte. heißt ſonſt der Eid eine Klage mit Succum - benzſtrafe, und unter sacramentum ſelbſt das Succumbenzgeld zu verſtehen. Der Uebertragung einer ſolchen der religiöſen Be - ziehungen entkleideten Prozeßform auf die weltlichen Gerichte ſtand nichts im Wege, und ſo erfolgte dieſelbe, in ähnlicher2673. Das religiöſe Prinzip legis actio sacramento. §. 18.Weiſe, wie viele Jahrhunderte ſpäter der bei den geiſtlichen Ge - richten des Mittelalters ausgebildete Prozeß auf die weltlichen Gerichte überging. Das Succumbenzgeld fiel aber conſequen - terweiſe nicht mehr an die Götter, ſondern an den Staat. 189)Gaj. IV. §. 17 in publicum cadebat (Prozeß vor dem weltlichen Gericht), Festus sub voc: Sacramentum .... quod consumebatur in re - bus divinis (beim geiſtlichen Gericht).

Die hier aufgeſtellte Anſicht erklärt es, wie das Pontifical - collegium zu einer ſo ausgebreiteten und generellen Gerichts - barkeit in rein weltlichen Dingen gelangen konnte, daß ſich ſpä - ter daraus die Sage von einer ausſchließlichen Handhabung der Civilrechtspflege durch die Pontifices bildete. Der natür - lichen Anziehungskraft, die das Pontificalcollegium, wie oben bereits erwähnt, aus manchen Gründen ausüben mußte, bot die actio sacramento eine entſprechende, überall anwendbare Form. Was man von den Pontifices begehrte, war mehr ein Gutachten, als ein Urtheil in unſerem heutigen Sinn, wie noch aus der Erkenntnißform: sacramentum justum esse und aus der früher bereits entwickelten allgemeinen Function des römi - ſchen Richters (§. 12) hervorgeht. Jenes Gutachten wurde aber in beſtimmten Formen nachgeſucht und ertheilt, und daß die Kenntniß dieſes Verfahrens und der Praxis des geiſtlichen Ge - richts Niemanden in dem Maße zu eigen ſein konnte, als den Pontifices ſelbſt, verſteht ſich von ſelbſt. Daraus machte eine ſpätere Zeit die Fabel von der Geheimhaltung des Civilrechts durch die Pontifices.

Das römiſche Recht hat der Praxis des geiſtlichen Gerichts gewiß viel zu danken, nicht bloß wegen der relativ hohen In - telligenz und Rechtskunde, die ſich bei denſelben fand, ſondern vor allem darum, weil ſich hier am erſten eine conſtante Praxis bilden konnte und bildete. Es war hier nicht einem Einzelnen die Rechtspflege anvertraut, wie bei dem Könige, Conſul und Prätor, ſondern einer Behörde und zwar, was268Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.noch mehr ſagen will, einer geiſtlichen. Die Macht der Tradi - tion hielt hier den Einflüſſen der individuellen Meinung das Gegengewicht, der Wechſel der Mitglieder des Gerichts war unſchädlich. So war das geiſtliche Gericht der paſſende, abge - legene Ort, an dem der Ablagerungs-Prozeß des Rechts, wenn ich ſo ſagen darf, der Uebergang deſſelben aus dem Zuſtande der Flüſſigkeit und Formloſigkeit in den der Feſtigkeit und for - mellen Beſtimmtheit am ſicherſten und raſcheſten erfolgen konnte.

Vielleicht haben wir uns mit dem Pontificalcollegium als der Behörde, in der das Fas ſich äußerlich darſtellte, ſchon zu weit von der älteſten Zeit entfernt, und wir kehren jetzt zu der - ſelben zurück, um die urſprünglichen Beziehungen der Religion zu Staat und Recht kennen zu lernen.

Schon der Grund und Boden, den wir betreten, zeigt uns die Einwirkungen der Religion. Götter, Staat und Indivi - duen hatten ſich zu gleichen Theilen darin getheilt, aber nicht bloß das Drittheil der Götter genießt des Schutzes derſelben, auch die Mauern der Stadt, die Gränzen der Privatgrund - ſtücke, wie Steine, Bäume und Gräben, die Früchte auf dem Felde u. ſ. w. participiren daran, und wer die Mauern ver - letzt, die Gränzen verrückt, die Früchte bei nächtlicher Weile ſtiehlt, der verſündigt ſich gegen die Götter und ladet den Zorn derſelben und die ſchwerſte Strafe auf ſich.

Aber näher, als der Boden, ſteht den Göttern die ſittliche Welt, die ſich darauf erhebt. Der Staat mit ſeiner Ordnung iſt durch einen religiöſen Weiheakt unter den Schutz derſelben geſtellt, gewiſſermaßen zu einem Gotteshaus gemacht, an dem man ohne Willen der Götter, die es bewohnen, nichts ändern darf. Wer gegen dieſe heilige Ordnung des Staats frevelt, verſündigt ſich daher auch gegen die Götter. Kein Theil dieſes Gebäudes, das nicht einem beſondern Gotte heilig wäre. Po -2693. Das religiöſe Prinzip Staatsreligion. §. 18.litiſche Verbindung ohne religiöſe iſt den - mern undenkbar, daher hat nicht bloß jede Gens, Curie und Tribus ihre beſondere Gottesverehrung, ſondern wenn Rom mit andern Völkern eine dauernde politiſche Gemeinſchaft eingehen will, ſo muß auch eine religiöſe Gemeinſchaft begrün - det werden. Aus dieſem Grunde nimmt Rom die Götter aller Völker, die es mit ſich vereinigt, in ſich auf, wie es ſeinerſeits letztere zum Jupiter Capitolinus als dem Schirmherrn des ge - ſammten römiſchen Staates zuläßt. Die Götter ſind Staats - götter; ihr Gebiet kann nicht weiter reichen, als das des Staats, aber nothwendigerweiſe auch ſo weit, als dieſes, ſo daß es ſich in demſelben Maße erweitert, als der Staat ſich ausdehnt, und andererſeits verengt, ſo weit dies bei letzterm der Fall iſt. Politiſche Trennung des Volks hob daher die ur - ſprünglich nationelle Einheit des Cultus auf,190)Ich kann mir nicht verſagen aus den an trefflichen Aufſchlüſſen reichen Studien und Andeutungen im Gebiete des altrömiſchen Bodens und Cultus von Ambroſch Heft 1. Bresl. 1839 eine hierher gehörige Bemerkung abdrucken zu laſſen: War auch, heißt es dort S. 178, Jupiter und Juno aus einer allen Lateinern gemeinſamen Anſchauung hervorgegangen, ſo wurde doch dieſe Einheit der Anſchauung zu einer vielfachen, als in Alba, Präneſte, Gabii, Rom ſich ein politiſches Leben geſtaltete; der Nationalgott wurde ein römiſcher, gabiniſcher u. ſ. w. ſomit auch die religio Gabina für Rom eine peregrina, kurz: die urſprünglich-nationelle Einheit des Cul - tus durch die politiſche Sonderung des Volks aufgeho - ben, ſo daß, falls nun die Glieder der Nation ſich wieder im Lauf ihrer po - litiſchen Entwicklung begegneten, die Gemeinſchaft der Götter erſt nach einem völkerrechtlichen Vertrag eintreten konnte. Natürlich war dies Ver - hältniß der Peregrinität ein gegenſeitiges. Der Römer galt in Lavi - nium vor dem letzten Frieden mit den Lateinern in Bezug auf die sacra La - nuvina als Fremder, wie der Lanuviner in Rom in Bezug auf die sacra pu - blica des römiſchen Volks. mit jedem Staat, der ſich in mehre auflöſte, ſpaltete ſich auch die Gott - heit in ebenſo viel beſondere ſich fortan fremd gegenüberſtehende Götter. Politiſche und religiöſe Peregrinität deckten ſich, wie umgekehrt politiſche und religiöſe Gemeinſchaft. Der Nicht -270Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.bürger kann die Götter Roms nicht verehren, der Bür - ger muß es, durch Anbetung fremder Götter würde er ſeine ſtaatsbürgerlichen Pflichten verletzen.

Wer den Staat oder irgend eine politiſche Einheit repräſen - tirt, vertritt dieſelben auch den Göttern gegenüber, die Beam - ten ſind geborne Prieſter; die religiöſen Functionen bilden fortwährend einen nothwendigen Beſtandtheil ihrer Amtsthä - tigkeit. Die Kenntniß des Ritus mögen ſie ſich immerhin von Perſonen des geiſtlichen Standes ſuppeditiren laſſen, aber die religiöſe Handlung ſelbſt geht von ihnen aus, die Fähigkeit iſt ihnen durch das Staatsamt verliehen. Der König, wie ſpäter der Conſul, opfert und ſtellt die Auſpicien an in Rom wie im Felde.

Sich die Gunſt der Götter zu erhalten, iſt die erſte Sorge des Staats,191)Liv. XXX VIII, 48: civitas, quae omnibus rebus incipiendis gerendisque deos adhibet. Cicero de nat. deor. II, 2: civitas, quae nunquam profecto sine summa placatione deorum immortalium tanta esse potuisset. und mit Aengſtlichkeit wacht er ihres Dien - ſtes. Opfer, Feſte und Spiele reihen ſich eins ans andere, jede Unthat, jedes Verſehn, das die Götter reizen könnte, wird geſühnt, jedes Zeichen und Wunder, aus dem ſich ihr Wille entnehmen läßt, beachtet, und wenn ſie dennoch zürnen d. h. wenn Rom Unglück hat, ſo erſchöpfen ſich Prieſter und Zei - chendeuter in Nachforſchungen, um den Grund zu ermitteln, und Volk, Senat und Beamte in Gelübden, Beſchlüſſen und wohlgefälligen Werken, um die Götter wieder geneigt zu machen. Bei jeder wichtigen Unternehmung verſichert man ſich zuerſt durch Auſpicien ihrer Zuſtimmung, Opfer und Gebet er - öffnen die Verhandlungen, und je nach Art derſelben ſind im Fas die Tage beſtimmt, an denen ſie Statt finden können. Auch zu weltlichem Thun verſammelt man ſich an heiliger Stätte; ſo diente den Curien und dem Senat ein Tempel zum Verſamm -2713. Das religiöſe Prinzip publiciſtiſche Seite des Fas. §. 18.lungsort, und die Beamten pflegten von einem Tempel aus die Concionen zu halten. 192)Rubino a. a. O. S. 241.

Ein Verſtoß gegen das Fas macht jede ſtaatsrechtliche Hand - lung nichtig. Das Fas aber enthält nicht bloß Vorſchriften über die äußere Form der Geſchäfte, ſondern eine Menge ma - teriell ſtaatsrechtlicher Grundſätze. 193)Darum pflegte, wer einen Geſetzvorſchlag zu machen hatte, die offenbar aus älteſter Zeit ſtammende Klauſel hinzuzufügen: si quid fas non sit rogari, ejus rei hac lege nihil rogato. Wir haben bereits er - wähnt, daß die älteſte Verfaſſung religiös geweiht war, aber auch zur Zeit der Republik dauern die Beziehungen zwiſchen Religion und Staatsrecht fort. So z. B. war es gegen das Fas, daß der Dictator länger als 6 Monat im Amt blieb, ſo waren die leges sacratae mit den Tribunen, die ſie einführten, durch den Eid des ganzen Volks unter den Schutz der Religion geſtellt, und jeder, der ſie verletzte, für sacer erklärt. Hier lei - ſtete die Religion auch den Plebejern einmal den Dienſt, ihre politiſchen Rechte zu ſchützen, während ſie ſonſt gerade umge - kehrt ihnen dadurch hinderlich war, daß ſie die Vorrechte der Patricier unter ihren Schutz genommen hatte. Dadurch daß die älteſte Verfaſſung durch und durch mit religiöſen Elementen verwachſen war, ward ſie ein mächtiges Vollwerk. Den Pa - triciern, die daſſelbe gegen die andringenden Plebejer zu ver - theidigen ſuchten, ſtanden die Götter zur Seite, und religiöſe Ideen unterſtützen und adelten den politiſchen Widerſtand.

Wie die Einzelnen zur Bekräftigung ihrer Verpflichtungen zum Eide griffen, ſo auch der Staat ſelbſt. Es iſt bereits frü - her des Eides der Soldaten, der Beamten und ſo eben des des ganzen Volks gedacht, der Hauptfall aber iſt der des völ - kerrechtlichen Vertrages, mochte derſelbe nun vom Feldherrn einſeitig und unter Vorbehalt der Genehmigung des Volks ab - geſchloſſen werden (die sponsio) oder im Auftrage des272Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Volks von den Fetialen (das foedus). 194)Beruhte der Name des pater patratus, der den Eid ableiſtete, vielleicht auf der Idee, daß er das römiſche Volk nach außen hin ebenſo ver - trete, wie der Vater ſeine Kinder? Die völkerrechtliche noxae deditio wäre dadurch mit der privatrechtlichen von Seiten des Vaters auf denſelben Ge - ſichtspunkt zurückgeführt.Gerade für das Völker - recht, das den Gedanken des Rechts zu allen Zeiten am mühſam - ſten realiſirt, war die Unterſtützung von Seiten der Religion am unentbehrlichſten. Die beiderſeitigen Götter überwachten die beſchwornen Verträge, und darum wurden auch die Urkun - den derſelben im Tempel des capitoliniſchen Jupiter, dieſem religiöſen Centralpunkt des geſammten Staates, aufbewahrt. 195)Hartung Relig. der Römer Bd. 2 S. 11.Erhebung eines Krieges gegen ein Volk, mit dem früher ein ſolcher Vertrag abgeſchloſſen, war daher eine religiöſe Frage und erforderte zunächſt einen religiös-völkerrechtlichen Prozeß gegen das wortbrüchige Volk und ſodann den Ausſpruch der Fetialen, daß der Krieg ein purum piumque bellum ſei. Der beſchloſſene Krieg ward von ihnen in feierlicher Weiſe angekün - digt. So kleidete ſich Krieg und Frieden in religiöſe Formen!

Der Theil des Rechts, an dem der Einfluß religiöſer Ideen bei allen Völkern auf einer gewiſſen Stufe ihrer Entwicklung in beſonders hohem Grade hervortritt, iſt das Strafrecht. Auch das römiſche Recht beſtätigt dieſe Beobachtung. Im Privat - recht ſind nur mit Mühe einige religiöſe Beziehungen und Spu - ren wahrnehmbar,196)Sie ſind bereits gelegentlich angegeben, nämlich die Eingehung der Ehe durch confarreatio, die eidliche Bekräftigung der Verträge, die Zu - ziehung der Pontifices zur arrogatio und zum testamentum in comitiis ca - latis. im Kriminalrecht hingegen hat die reli - giöſe Anſchauung recht eigentlich ihren Sitz aufgeſchlagen. Die beiden Grundbegriffe deſſelben, das Verbrechen und die Strafe, erſcheinen der älteſten Zeit im Lichte dieſer Auffaſſung, das Verbrechen als Vergehn gegen die Gottheit, die Strafe als Sühnemittel. Wenn wir uns bei dieſem Punkt etwas verweilen,2733. Das religiöſe Prinzip der homo sacer. §. 18.ſo wird dies darin ſeine Rechtfertigung finden, daß es ſich hier nicht um vereinzelte Spuren des religiöſen Prinzips handelt, ſondern um eine Fundamentalanſchauung, einen uns bisher noch unbekannt gebliebenen Ausgangspunkt des ganzen Straf - rechts.

Nicht jedes Unrecht oder Vergehn, wenn es auch die vin - dicta des Einzelnen wie des Volks oder die Strafgewalt des Königs in Thätigkeit verſetzte, erſchien als ein Frevel gegen die Götter. Der Dieb, der Räuber hatten ſich gegen Menſchen ver - gangen, und Menſchen forderten Strafe von ihnen. Aber ge - wiſſe Verbrechen ſchloſſen zugleich eine Verletzung der Götter in ſich und zogen den Zorn und die Rache derſelben auf das ſchuldige Haupt herab. Die Entweihung der Altäre, die Schän - dung einer veſtaliſchen Jungfrau enthielt einen unmittelbaren Frevel gegen die Götter, der Fluch der von ihren Kindern miß - handelten Eltern, die Klagen des von ſeinem Patron verrathe - nen Clienten drangen zu ihrem Ohr, vergoſſenes Blut ſchrie um Rache gen Himmel. Welche Verbrechen alle dieſer Auffaſſung unterlagen, können wir nicht mehr beſtimmen, aber der Unter - ſchied der bloß gegen Menſchen und der zugleich auch gegen die Götter gerichteten Verbrechen iſt völlig unzweifelhaft. Die Folge dieſer letzteren, die wir fortan vorzugsweiſe Verbrechen nennen werden, beſtand darin, daß der Verbrecher ein homo sacer wurde d. i. den Göttern heilig, ihrer Rache verfallen. Es war dies nicht ſowohl eine Strafe, als ein Zuſtand des Verbre - chers, der mit ſeiner That ſelbſt gegeben war, der Zuſtand der Verworfenheit und weltlicher und religiöſer Acht.

Die Sacertät war meiner Anſicht nach die nothwendige Folge einer jeden That, die im Geiſte der ältern Auffaſſung als Verbrechen betrachtet wurde. Der Verbrecher hatte die Rache der Götter und Menſchen auf ſich geladen und war, ſo lange er ſich nicht mit beiden ausgeſöhnt hatte, von ihrer Gemein - ſchaft ausgeſchloſſen. Nicht nahen durfte ſich der Unreine den Altären, um durch Opfer die zürnenden Götter zu erwei -Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 18274Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.chen,197)Festus sub voc. sacer .... neque fas est, eum immolari (lies immolare). und die Menſchen flohen ſeine verpeſtete Nähe, wenn nicht Jemand es für ein gutes Werk hielt, ihn aus der Welt zu ſchaffen, was jedem frei ſtand. 198)Man hat, weil man ſich in die alte Zeit nicht hinein zu verſetzen vermochte, dies beſtritten oder, was daſſelbe iſt, es dadurch beſchränkt, daß der Verbrecher erſt durch Urtheil habe für sacer erklärt werden müſſen. Es iſt hier nicht der Ort zu einer eingehenden Polemik; aber die Stelle von Feſtus, sacer mons, die dieſer Anſicht mit den Worten: homo sacer est, quem populus judicavit ob maleficium eine ſcheinbare Unterſtützung gewährt, widerlegt ſie zugleich mit den Worten: nam lege tribunitia prima cavetur: si quis eum, qui eo plebiscito sacer sit [d. h. alſo nach der juri - ſtiſchen Redeweiſe der Römer: unmittelbar, durch die That ſelbſt, ipso jure, wie der techniſche Ausdruck lautete,] occiderit, parricida ne sit. Jene Worte: quem populus judicavit ſind zu überſetzen: der der Volksjuſtiz ver - fallen war, den das Volk d. i. die Maſſe richtete.Auf keinen Fall aber durfte er ſo ungeſühnt unter den Seinen bleiben, die Güter der menſchlichen Gemeinſchaft und unter ihnen vor allem die Symbole der Reinheit, Feuer und Waſſer, konnte man nicht mit ihm theilen, ohne ſie zu verunehren, den Verächter der Göt - ter nicht unter ſich dulden, ohne ſelbſt einen Antheil der Schuld auf ſich zu laden. Denn nach einer im Alterthum ſehr verbrei - teten Anſicht droht bei jedem Verbrechen die Gefahr, daß der Zorn der Götter ſich nicht auf das Haupt des Schuldigen be - ſchränke, ſondern ſich auch gegen das Gemeinweſen wende, deſſen Mitglied er war. 199)Darum pflegten Schwörende, wenn ſie für den Fall der Eid - brüchigkeit die Strafe des Himmels auf ſich herabbeſchworen, einen Vorbe - halt zu Gunſten des Gemeinweſens hinzuzufügen Festus sub voce lapidem si sciens fallo, tum me Diespiter salva urbe arceque bonis ejiciat etc. Die Römer aber waren in religiöſen Dingen bekanntlich ſehr ängſtlich, und religiöſe Reinheit und Reinigung des Einzelnen wie des Volks lag ihnen ſehr am Herzen. 200)Ich erinnere an die censualis lustratio des Volks, die Reinigung der Kinder, (Fest. sub voc. lustrici) der Familie des Verſtorbenen (Fest. Daraus erklärt es ſich denn, daß, wenn der Ver -2753. Das religiöſe Prinzip der homo sacer. §. 18.brecher ſich ſelbſt durch ſeine Flucht faktiſch von der Gemein - ſchaft ausgeſchloſſen hatte, noch ein Beſchluß des Volks erfolgte, wodurch daſſelbe ihn auch ſeinerſeits ausſtieß. Dies war die aqua et igni interdictio. Sie iſt nämlich nicht eine gewöhnliche Verbannung, ſondern ſie hat eine religiöſe Beziehung, es be - thätigt ſich in ihr die Sorge für die Erhaltung der Reinheit der Gemeinſchaft durch Säuberung derſelben von unreinen Elemen - ten. Denn Feuer201)So erklärt ſich das Zuſammentreffen von πῦϱ und Feuer mit pu - rus, rein, exfir, Reinigungsmittel (Festus h. v.), februare reinigen. und Waſſer ſind Symbole der Reinheit, und bei keinem Akte, der eine Gemeinſchaft mit religiöſen Be - ziehungen begründen ſoll, z. B. dem Opfer, das Gott und Men - ſchen einigt, der Eingehung der Ehe, eines Bündniſſes u. ſ. w. dürfen ſie fehlen. 202)S. Hartung Religion der Römer Thl. 1 S. 198 flg. Pellegrino Andeutung über den urſprünglichen Religionsunterſchied der Patricier und Plebejer S. 27 flg. Serv. ad Virg. Aen. IV, 103: aqua et igne adhibitis u. XII, 119: Sane ad facienda foedera aqua et ignis adhibentur. Festus sub voc. facem u. aqua. Nicht alſo als zum Leben unentbehrliche Elemente, wie man gewöhnlich ſagt, werden ſie dem flüchtigen Verbrecher daheim verweigert, ſondern mit ihnen als den Sym - bolen einer reinen Gemeinſchaft, die der Verbrecher durch fer - nern Gebrauch verunreinigen würde, wird ihm ſeine Theilnahme an dieſer Gemeinſchaft entzogen. Was er an Gütern daheim läßt, wird zum Tempel gebracht und zum Dienſt der Götter ver - wandt,203)Hinſichtlich des Vermögens der Hingerichteten wird uns von Isidor VI, 29 berichtet: supplicia dicuntur supplicationes, quae fiebant de bonis passorum supplicia. Das Vermögen des homo sacer wird in manchen wirklichen und angeblichen Geſetzen ausdrücklich einem beſtimmten Tem - pel, namentlich dem der Ceres zugewieſen z. B. in den leges sacratae Liv. III, 55. und ſo, indem die Gemeinde ſich von der Perſon wie der Habe des Verbrechers losſagt, darf ſie der Hoffnung200)sub voc. : denicales) das piaculum für den freigeſprochenen Horatier (Liv. I, 26) u. ſ. w.18*276Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.leben, daß die Götter die That eines ihrer Mitglieder ſie nicht werde entgelten laſſen.

Auf dem homo sacer ſelbſt aber ruhte lebenslänglich der Fluch der Götter und Menſchen, und wagte er es je in ſeine Heimath zurückzukehren, ſo mochte, wer da wollte, die Welt von ihm befreien. Gab es nun kein Mittel dieſem lebensläng - lichen Elend zu entgehn, mit Göttern und Menſchen ſich aus - zuſöhnen? Konnte doch die ſchwerſte Buße und der Tod ſelbſt, wenn er dieſe Entſühnung bewirkte, Manchem wünſchenswer - ther erſcheinen, als ein dauernder Zuſtand der Verworfenheit. Jenes Mittel was brauche ich es zu nennen? war die Strafe. Nicht als Uebel erſcheint ſie uns hier, ſondern als ein Mittel, das vom Uebel befreit. Die Sacertät, und wenn ſie ewig dauerte, trägt nicht den Keim der Verſöhnung in ſich, denn ſie iſt nur der Riß, aber der Riß verwächſt nicht von ſelbſt, der Unreine wird nicht durch bloßen Ablauf der Zeit wieder rein, ſondern es bedarf eines Heil - und Reinigungsmittels. Wenn wir nun nachweiſen können, daß das älteſte römiſche Recht wirklich von dieſer Auffaſſung der Strafe als eines Reinigungs - mittels ausgegangen iſt, ſo iſt letztere damit in den beſtimmte - ſten Gegenſatz zur Sacertät geſtellt, ſo kann dieſe ſelbſt nicht gleichfalls als Strafe gegolten haben.

Wenden wir uns nun mit unſerer Frage zuerſt an jene un - trügliche Zeugin primitiver Rechtsanſchauungen, die Etymolo - gie, ſo gewährt ſie uns auch hier wieder höchſt werthvolle Auf - ſchlüſſe. Poena, worin man wie im griechiſchen ποινή zunächſt das Sühnegeld erblicken will,204)S. z. B. Rubino a. a. O. S. 460: wer ſie erleidet, gibt ſie (dat, solvit, pendit), wer ſie zufügen will, fordert ſie ein (petit, expetit, exigit), wer ſie vollzieht, nimmt ſie an (sumit, capit, habet poenas). Rein Kriminalrecht der Römer S. 284 will gar nur eine Privatgenugthuung darin finden. weiſt etymologiſch auf die Idee der Reinheit hin,205)Pott Etymol. Unterſ. B. 1 S. 252. Damit zuſammenhängend ſind pu-rus, πῦϱ, pu-tus, pu-teus, pu-nire. ebenſo castigatio (castum agere),2773. Das religiöſe Prinzip der homo sacer. §. 18.der incastus, incestus, der Schmutzige, wird dadurch gerei - nigt, und luere, büßen, namentlich auch in Verbindung poenas luere, iſt lavere, lavare, waſchen. 206)In dieſem urſprünglichen Sinn hat ſich luere noch in lustrum, lustratio, lustricus u. ſ. w. erhalten.Supplicium, die Todes - ſtrafe, führt etymologiſch auf Beſänftigung der Götter zurück (sub-placare, supplex).

Tritt nun in den Strafen ſelbſt dieſelbe religiöſe Beziehung hervor? Hinſichtlich der Todes - und Vermögensſtrafe läßt es ſich darthun und iſt bereits von Andern geſchehn. Man hat, was zunächſt die Todesſtrafe im allgemeinen anbetrifft, auf die beim supplicium üblichen supplicationes verwieſen, hinſichtlich der Vollziehung derſelben durch Erhenkung auf den den unterirdi - ſchen Göttern gewidmeten arbor infelix, hinſichtlich der Ent - hauptung auf die Verhüllung des Hauptes, die Analogie des Opferbeiles207)Statt Anderer nenne ich Platner de jure criminum Rom. p. 36 sq. und auch die Menſchenopfer der Urzeit208)Niebuhr Röm. Geſch. B. 1 S. 557. Nein Röm. Kriminalrecht S. 34. da - mit in Verbindung gebracht. Lehrreich für dieſe Frage iſt auch der bekannte Fall des Horatius. Ut caedes manifesta, ſagt Livius, aliquo tamen piaculo lueretur, imperatum patri, ut filium expiaret pecunia publica. Hätte den Mörder alſo die eigentlich verdiente Todesſtrafe getroffen, ſo würde es dieſer Entſühnung nicht bedurft haben.

Die religiöſe Beziehung der Vermögens ſtrafen tritt un - verkennbar in der Conſekration des Vermögens hervor, die die Sacertät noch lange überlebte. 209)Z. B. in der perduellio. Cicero pro domo c. 47. Plinius hist. nat. 7, 47. Strafgelder, die ad pios usus beſtimmt waren, werden noch ſpät erwähnt,210)Livius X, 23. 33. 47. und eine ur - ſprüngliche religiöſe Beziehung darf man auch bei ihnen wohl vorausſetzen. Uebrigens erwuchs der consecratio bonorum in der publicatio bonorum eine gefährliche Concurrentin; in dem -278Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ſelben Maße, als die religiöſe Auffaſſung des Kriminalrechts einer profanen Platz machte, verlor die Sacertät und mit ihr die Conſekration an Terrain, und der Staat übte, wo kein re - ligiöſes Bedenken entgegen ſtand, die Vermögensentziehung im eignen Intereſſe aus,211)Z. B. bei den Decemvirn Liv. III, 58: bona publicata sunt. wie er ja gleichfalls ſpäterhin das sa - cramentum aus Civilprozeſſen (S. 267 Anm. 189) ſich aneignete. Wer mit der herrſchenden Meinung die Sacertät und die aqua et igni interdictio als Strafen auffaßt, dem bieten auch ſie Bei - ſpiele des religiöſen Charakters derſelben dar. Wie aus der bisherigen Darſtellung hervorgeht, theile ich dieſe Meinung nicht, und es iſt jetzt an der Zeit, uns wegen der von uns auf - geſtellten Anſicht über die Sacertät zu rechtfertigen.

Jener Geſichtspunkt, vermöge deſſen die Strafe als Reini - gungsmittel erſcheint, ſchließt die Sacertät vom Syſtem der Strafen aus. Für letztere bleibt alſo kein anderer Platz übrig, als die Zeit vor Vollziehung der Strafe, und keine andere Be - deutung, als die eines Zuſtandes der Verworfenheit und Ver - dammniß, aus dem erſt die Strafe den Verbrecher errettet. Die Sacertät iſt alſo der Nullpunkt des Kriminalrechts in religiöſer Beziehung, ähnlich wie die vindicta publica und privata es in profaner Beziehung iſt, und im Geiſte des Racheprinzips, das die Völker, wenn ſie es für ſich ſelbſt anerkennen, auch auf ihre Götter übertragen, dürfen wir ſie als den Zuſtand des der Rache der Götter verfallenen Verbrechers bezeichnen. Durch dieſe Auf - faſſung reiht ſich nun die Sacertät als eine Vorſtufe der Strafe in den Geſammtzuſammenhang der ſtrafrechtlichen Entwicklung natürlich ein, während ſie, als Strafe betrachtet, den Grund - charakter der Strafe verläugnet. Wie die vindicta publica und privata zur Vereinbarung über die Strafe drängen, ſo auch die Sacertät. In allen drei Fällen erſcheint die Strafe, möchte ich ſagen, eingeleitet und präparirt, wie die Conſonanz durch die Diſſonanz, in allen drei Fällen iſt dieſe Auflöſung der Diſſonanz2793. Das religiöſe Prinzip der homo sacer. §. 18.ein Fortſchritt, ein Gewinn im Intereſſe des Schuldigen wie des Rechtszuſtandes. Die Sacertät ſchloß ein unbegränztes Maß des Uebels in ſich, und jede Strafe an Leib und Leben wie an Ehre und Vermögen war darin faktiſch bereits enthalten, denn dem sacer als dem religiös und rechtlich Ge - ächteten mochte jedes Uebel zugefügt werden, und entzog er ſich demſelben durch Flucht, ſo trat wenigſtens die Recht - und Ehr - loſigkeit, die aqua et igni interdictio212)Die darum auch nicht als Strafe gilt. Ein Uebel war ſie, aber keins, das den Schuldigen mit der Gemeinſchaft wieder verſöhnt. Cicero pro Caecina c. 34: Exilium enim non supplicium est, sed perfugium portusque supplicii. Nam qui volunt poenam subterfugere aut aliquam calamitatem, eo solum vertunt u. ſ. w. und die Conſekration des Vermögens ein. So läßt ſich die Sacertät auch als der ur - ſprüngliche Inbegriff aller ſpätern Strafübel bezeichnen.

Die Sacertät iſt im bisherigen als der unmittelbare Aus - druck der ſittlichen Entrüſtung des Volks aufgefaßt, im Gegen - ſatz zu der Anſicht, die in ihr eine legislative Schöpfung findet; auch hierüber muß ich mich erklären. Daß ein Geſetz zuerſt die Acht eingeführt haben ſoll, hat nichts widerſtrebendes; daß aber der Geſichtspunkt, der Verbrecher habe ſich gegen die Göt - ter vergangen und das iſt ja das Weſentliche bei der Sacer - tät das Wort legislativer Beſtimmung ſein ſollte, ſcheint mir eben ſo unglaublich, als daß die Infamie ihren Urſprung der Geſetzgebung verdanke. Solche Inſtitute, wie die Sacertät und Infamie, kann der Geſetzgeber, wenn ſie einmal vorhanden ſind, benutzen, normiren, umgeſtalten; aber er vermag dies auch nur dadurch, daß er an die beſtehende Anſicht, an den Abſcheu des Volks vor dem, der durch eigne That sacer und infamis gewor - den, anknüpft. Die ſittliche Entrüſtung, die beide Inſtitute in ſich ſchließen, und ohne die ſie nichts ſind, läßt ſich durch ihn nicht hineintragen, und andererſeits wartet ſie, um ſich Genug - thuung zu verſchaffen, nicht erſt auf ihn. Gibt man dies für die Infamie zu, ungeachtet ſie ſpäter als ein geſetzlich regulirtes280Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.Inſtitut erſcheint, ſo darf man auch, um daſſelbe für die Sacer - tät anzunehmen, daran keinen Anſtoß nehmen, daß ſie ſpäter der Geſetzgebung in die Hände fällt. Dieſe ſpätere Entwicklung der Sacertät, bei der ſie ſich immer mehr von ihrem urſprüng - lichen Weſen entfernt und zuletzt zu einer bloßen Vermögensent - ziehung zuſammenſchrumpft, hat kein Intereſſe mehr für uns.

Indem wir jetzt die Religion mit ihrer Einwirkung auf das Recht verlaſſen, gedenken wir ſchließlich noch des mildernden Einfluſſes, mit dem ſie bei mancherlei Anläſſen der Strenge der Strafe entgegentrat. Die römiſchen Götter, mit der einen Hand die Beleidigungen rächend, die ihnen widerfahren, ſtreckten ſchützend die andere über die Verfolgten und Schutzloſen aus. Es gab heilige Orte und Zeiten, an denen Verfolgung und Strafe ruhte. Vor dem Zorn des Hausherrn flohen die Unter - gebenen zum Hausaltar, vor der Rache des Verletzten der Schul - dige zum Tempel oder zum Aſyl. An die Idee des Aſyls knüpft Roms Entſtehung an, und wenn hier gleich das Aſyl als Mittel zu politiſchen Zwecken erſcheint, ſo iſt es doch die Religion, die daſſelbe unantaſtbar macht. 213)Hartung Relig. der Römer B. 2 S. 57.An den Lectiſternien, wo Haß und Zank ruhte, nahm man den Gefangenen die Feſſeln ab und hielt es für eine Gewiſſensſache, ſie nachher wieder anzulegen. 214)Liv. V, 13 .... jurgiis ac litibus temperatum; vinctis quoque demta in eos dies vincula; religioni deinde fuisse, quibus eam opem Dii tulissent, vinciri. An den Saturnalien, dem Feſte des Gottes, der Segen und Wohlleben ſpendete, ließ man auch Sklaven und Verbrecher an der allgemeinen Freude Theil nehmen. Jene koſteten vor - übergehend das Glück der Freiheit, dieſe entließ man dauernd ihren Ketten die ſie dem Gotte zu bringen pflegten, der ſie davon befreit hatte. 215)Hartung a. a. O. II. S. 125, 126.Wenn der Prieſter des Jupiter (flamen dialis) ein Haus betrat, in dem ſich ein Gefeſſelter befand, ſo gebot das Fas, ihm ſeine Banden abzunehmen und über das Dach aus dem281Gemeinſame Betrachtung derſelben. §. 19.Hauſe zu ſchaffen. Wenn Jemand, der zur Geißelung abgeführt ward, ihm begegnete und ihm zu Füßen fiel, ſo mußte die Exe - kution aufgeſchoben werden. 216)Gellius X, 15.So durchbrach die Religion ge - wiß noch in manchen Fällen die ſtrenge Ordnung des Rechts und des bürgerlichen Lebens, und auch in die kalte römiſche Rechtswelt fällt doch, zurückgeſtrahlt von den Göttern, der warme Sonnenblick eines menſchlichen Gefühls.

Gemeinſames aller dieſer Ausgangspunkte.

XIX. Der normale Charakter einer Anfangsbildung be - ſteht in der Einheit ohne Verſchiedenheit, d. h. der Gebunden - heit der Gegenſätze, der Unſelbſtändigkeit der einzelnen Theile. Bevor die Unterſchiede, die dem Keime nach in ihr bereits vor - handen ſind, ſich regen und bewegen dürfen, muß eine Zeit vor - ausgegangen ſein, die das Moment der Einheit möglichſt kräftig, wenn auch einſeitig entwickelte, ſoll anders letzteres nicht im verfrühten Kampf der Gegenſätze raſch erliegen. Zu dieſer Be - merkung veranlaßt uns ein Rückblick auf unſere bisherige Dar - ſtellung. Der Grundzug des bisher geſchilderten Rechtsſyſtems wenn wir es nämlich ein Syſtem nennen wollen, worüber unten das Weitere beſteht eben in jener urſprünglichen Ge - bundenheit der Gegenſätze, jener Unſelbſtändigkeit, Ununter - ſchiedenheit der einzelnen Theile deſſelben. Erſt jetzt, nachdem wir die Ausgangspunkte des Rechts im Einzelnen haben kennen lernen, iſt es uns möglich gemacht, dieſe ſie alle gemeinſchaftlich betreffende Bemerkung unter Bezugnahme auf frühere Ausfüh - rungen raſch zu erledigen.

Wir erinnern daran, daß es ſich hier nur um die ur -282Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.ſprüngliche Geſtalt dieſes Syſtems handelt, nicht um die, in der es in Rom ſelbſt auftritt, denn hier begegnen uns ſchon gleich von vornherein manche Gegenſätze, von denen einige be - reits erwähnt, andere an gelegener Stelle nachgetragen werden ſollen. Richten wir unſern Blick zuerſt auf den Staat, ſo zeigte uns das Gentilitätsprinzip die Identität des Staats und der Familie, den Staat mit familienartiger Organiſation, die Fa - milie mit politiſchen Functionen. Unſere Ausführung über das Verhältniß des Staats zum ſubjektiven Prinzip (§. 15) hat uns die urſprüngliche Identität des Staats und des Volks, der Ge - ſetzgebung und des Vertrages, der vindicta publica und privata nachgewieſen; unſere Darſtellung der Wehrverfaſſung die Iden - tität der militäriſchen und politiſchen Ordnung, der Volks - und Heeres-Verſammlung, des Feldherrn und Königs. Die Reli - gion fügt ſich ganz dieſer Ordnung; politiſche Verbindungen ſind zugleich religiöſe, die politiſche Gewalt ſchließt die religiöſe in ſich, politiſche Peregrinität iſt religiöſe Peregrinität.

Faſſen wir die Rechtsſphäre des Individuums ins Auge, ſo erinnere ich an die urſprüngliche Identität der Selbſthülfe und der Rache, hervorgehend aus der Identificirung des Ver - mögens mit der Perſon, an die Unzertrennlichkeit des öffent - lichen und Privatrechts. Verluſt jenes iſt Verluſt dieſes, man - gelnde Theilnahme an jenem ſchließt die privatrechtliche Rechts - fähigkeit aus, und die Ertheilung jener erfordert Aufnahme in die Gens, alſo in eine an privatrechtlichen Beziehungen reiche Gemeinſchaft. Die rein privatrechtliche Exekution führt umge - kehrt zum bürgerlichen Tode, zum Verluſt der geſammten Rechts - fähigkeit.

Doch es möge der Beiſpiele genug ſein! Es reicht ſchon eine oberflächliche Betrachtung jenes Syſtems hin, um ſich zu überzeugen, daß die Fäden, die ſpäter weit aus einander gehen, hier nahe in einem engverſchlungenen Knoten vereint ſind. Das Reich des Gegenſatzes beſchränkt ſich urſprünglich auf das Ver -283Gemeinſame Betrachtung derſelben. §. 19.hältniß des Staates nach außen hin, und hier iſt der Gegenſatz ein klaffender, eine vollſtändige Negation alles deſſen, was der Staat im Innern in ſich birgt.

Wir haben von einem urſprünglichen Syſtem dieſer Aus - gangspunkte geſprochen; dürfen wir dies? Der Sinn der Frage iſt folgender. Es iſt möglich, daß das römiſche Volk, das aus verſchiedenen Volksſtämmen zu einem Volke zuſammenwuchs, von jedem derſelben irgend ein Element ſeiner ſittlichen Welt überkam, von dem einen, bei dem der Einfluß der Religion prävalirte, etwa das religiöſe, von dem andern, deſſen Sinn vorzugsweiſe auf Krieg gerichtet war, das militäriſche, von dem dritten das rein privatrechtliche. Und in der That iſt die Be - hauptung aufgeſtellt, daß das römiſche Recht aus einer ſolchen Miſchung entſtanden, und der Verſuch gemacht, es auf ſeine ethniſchen Urbeſtandtheile zurückzuführen. 217)Göttling römiſche Staatsverfaſſung. Einleitung.Sind wir nun für unſere Ausgangspunkte des römiſchen Rechts zu derſelben Annahme gezwungen, ſei es durch äußere hiſtoriſche Zengniſſe, ſei es durch innere Gründe? Bei einem kriegeriſchen Volke, das in beſtändiger Bewegung begriffen iſt, verſteht ſich der Einfluß des militäriſchen Intereſſes auf die Verfaſſung von ſelbſt. Das Geſchlechterprinzip fügt ſich dem Zweck des Ganzen ungezwun - gen ein, und das ſubjektive Prinzip mit ſeiner Erbeutung und Selbſthülfe findet kaum eine paſſendere Stätte, als bei einem ſolchen Volke. Und das religiöſe Prinzip? So wenig an ſich die religiöſe Stimmung dem kriegeriſchen Sinn widerſtrebt, ſo könnte man doch am erſten in Verſuchung kommen, in einigen Spuren des religiöſen Prinzips im römiſchen Recht Reſte eines religiös gefärbten Rechtsſyſtems zu erblicken, das bei einem andern Volke ſeine Ausbildung erhalten hätte. Wir ſtellen dieſe Spuren, und zur Vergleichung die entſprechenden Punkte des profanen Syſtems, hier zuſammen.

284Erſtes Buch Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.

Dieſe Spuren ſind aber meiner Anſicht nach nicht genügend, um darauf jenen Schluß zu bauen; höchſtens würden die beiden Formen der Ehe einen ſchwachen Anhaltspunkt gewähren. 218)Man könnte fragen: woher für ein und daſſelbe Volk zwei Formen der Ehe? Allein dieſe Mehrheit der Eingehungsarten der Ehe iſt gar nicht auffällig. Das moſaiſche Recht kennt zwei Eingehungsarten, mit und ohne Verkauf (Michaelis moſaiſch. Recht B. II. §. 85, 86) das indiſche acht, frei - lich auf wunderlichen Unterſchieden beruhende Arten der Ehe (von Bohlen das alte Indien B. 2 S. 141 fl.) in den ſlaviſchen Ländern findet ſich in chriſt - licher Zeit neben der kanoniſchen Form der Eingehung noch die alte weltliche (Maciejowski Slaviſche Rechtsgeſchichte B. 2 §. 194), und ſelbſt die Gegen - wart mit ihrer Civilehe kann uns als Beiſpiel dienen.

So wenig nun auch das älteſte römiſche Recht uns ſichere Spuren einer ſynkretiſtiſchen Entſtehungsgeſchichte darbietet, ſo darf man doch die Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit der letzte - ren keineswegs in Abrede ſtellen, nur daß man bis jetzt wenig - ſtens darauf verzichten muß, die urſprünglichen verſchiedenen Elemente des Rechts nachzuweiſen. Aber die Annahme einer ſolchen urſprünglichen Verſchiedenheit im Recht iſt mit der An - nahme einer ethniſchen Verſchiedenheit der Urelemente der - miſchen Bevölkerung hinlänglich gerechtfertigt. Für unſern jetzi - gen Zweck genügt die Bemerkung, daß ſich eine Beziehung der285Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.verſchiedenen von uns aufgeſtellten Ausgangspunkte auf natio - nale Gegenſätze nicht rechtfertigen läßt. 219)In §. 20 kommen wir auf die Frage nach der ſynkretiſtiſchen Bil - dung des römiſchen Rechts noch einmal zurück.

Der Weg, den wir bisher zurückgelegt haben, um zu den Quellen des römiſchen Rechts zu gelangen, war von der Art, daß uns die Vermuthung faſt beſtändig eine Brücke ſchlagen mußte. Mögen wir ihn im Einzelnen öfter verfehlt haben wie wäre das bei der Natur der Aufgabe auch anders möglich? das erreichte Ziel halte ich im Allgemeinen für das richtige. Wir dürfen jetzt dies ſchlüpfrige Terrain verlaſſen, um uns dem römiſchen Volk, das mit dem im bisherigen entwickelten Kapital von Ideen und Einrichtungen ſeine Arbeit begann, zu - zuwenden.

Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen Ausgangspunkten.

1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes und die Prädeſtination deſſelben zur Cultur des Rechts.

XX. Man hat die Bemerkung gemacht, daß die aus einer Miſchung verſchiedener nationaler Elemente entſtandenen Völker ſich durch nachhaltige Kraft auszeichnen, und für das römiſche Volk und dasjenige, welches unter den neuern die meiſte Aehn - lichkeit mit demſelben hat, das engliſche, trifft dieſe Bemerkung in hohem Grade zu. Liegt der Grund darin, daß die Entſtehung dieſer Völker mit ſchweren Geburtswehen verbunden war, daß ſie ſich erſt unter gewaltigen Anſtrengungen, nach vorheriger Ue - berwindung der durch die Verſchiedenheit der Abſtammung ge - gebenen Gegenſätze in Sitte, Recht u. ſ. w. das Gut erwerben mußten, das andern Völkern als das bloße Reſultat ihres län - gern Beſtehens mühelos zufiel die Nationalität? Uebt die Kraftanſtrengung, mit der die Exiſtenz des Volks beginnt,286Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.eine dauernde Nachwirkung auf ſeinen Charakter aus? Der Grund liegt wohl in etwas anderm, nämlich darin, daß jener Bildungsprozeß die Nationalitäten, die er zur Einheit verbinden ſoll, nicht bloß in ihrem innerſten Weſen erregt und zerſetzt, ſondern von ihnen nur das Feſte, Kernige, Eiſerne übrig läßt. Das Feuer, das dem Metall unſchädlich iſt, verbrennt und ver - flüchtigt die brennbaren und ätheriſchen Subſtanzen. Was von den Eigenthümlichkeiten der verſchiedenen Nationalitäten dieſe Feuerprobe nicht beſtehen kann, geht unter; was ſich gehalten hat und in der neu gebildeten Nationalität fortdauert, hat damit ſeine feuerfeſte Natur bewährt. So gewinnt der Charakter des aus dieſen Elementen gebildeten Volks an Energie, Ernſt, Strenge, Härte, Lebensklugheit, was er an Kindlichkeit, Naivi - tät, Laune und allen Eigenſchaften, die eine gewiſſe Harmloſig - keit der Lebensanſchauung und ein ungetrübtes äußeres Glück vorausſetzen, einbüßt ein Charakter, gemacht, die Welt zu beherrſchen, nicht ſie zu gewinnen. Solche Völker ſind es, die, wie ſie ihrerſeits die Werke der Phantaſie von andern Völkern entlehnen müſſen, letztern dafür Einrichtungen und Geſetze zu - rückgeben können. Denn ſie, mit ihrer nüchternen Lebensanſicht und ihrer der Uebereilungen und des Wankelmuths unfähigen Natur ſind vor allem zur Cultur des Rechts berufen. Aus der Gegenwart liefert uns England mit ſeinen Staatseinrichtungen, aus dem Alterthum Rom mit ſeinem Privatrecht den Beleg zu dieſer Behauptung.

So iſt alſo gleich die Bildungsgeſchichte des römiſchen Volks für das Recht bedeutungsvoll. Die erſte Scene der - miſchen Rechtsgeſchichte beginnt mit einer Gegenüberſtellung und folgeweiſe einer Kritik der Einrichtungen und Rechtsan - ſchauungen, die jeder der drei Stämme, der latiniſche, ſabiniſche und etruriſche, mit brachte, und endet mit einer Auswahl unter denſelben von Seiten des neu entſtandenen römiſchen Volks. Die Geſchichte hat es uns zwar verwehrt, einen Blick hinter den Vorhang zu werfen, und öffnet ihn erſt, als das römiſche287Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.Recht fertig da ſteht. Aber können wir uns die Vorgeſchichte in anderer Weiſe ausmalen? Wenn drei Völker mit verſchiede - nen Einrichtungen, Sitten und Rechtsanſichten ſich zu einem Staat zuſammenthun, wenn ſchließlich nur ein einiges Recht übrig bleibt, an dem keine Spuren nationalen Gegenſatzes er - kennbar ſind, ſo muß nothwendigerweiſe der Widerſpruch aus - geglichen, d. h. alſo das Eine oder Andere geopfert worden ſein. Dieſer Läuterungsprozeß, bei dem die Schlacken ausgeſchieden wurden, und nur das Kernige zurückblieb, erforderte keine ge - waltſamen Mittel. Wo Starkes und Schwaches ſich im Leben zum freien Kampf begegnen, verleiht das innere Uebergewicht, das jenem inne wohnt, von ſelbſt den Sieg.

Drücken wir dieſen Vorgang, bei dem die Stammesver - ſchiedenheiten im Intereſſe des Staats überwunden werden, dahin aus, daß das Staats - und Rechts-Prinzip hier das der Nationalität überwältigt, ſo haben wir damit bereits für das erſte Auftreten Roms den Satz gewonnen, der auch die ſpätere Bedeutung Roms, deſſen eigenthümliche univerſalhiſtoriſche Stellung und Aufgabe bezeichnet. An keinen Namen knüpft ſich ſo, wie an den Roms, der Gedanke eines Confliktes zwiſchen dem Nationalitäts - und dem abſtrakten Staats - und Rechts - Prinzip oder, wenn man dabei auch die kirchliche Bedeutung des modernen Roms mit ins Auge faſſen darf, der Gedanke des Gegenſatzes der Nationalität und allgemeiner, ſupranationaler Tendenzen. Die geiſtige Subſtanz, die Rom in ſich birgt, iſt ein Scheidewaſſer, das, ſowie es mit dem lebendigen Organis - mus einer Nationalität in Berührung tritt, ihn ſchmerzhaft er - regt, ja wohl gar zerſetzt und auflöſt. Mit der eignen nationa - len Selbſtüberwindung beginnt die Geſchichte Roms, ihr höchſter Glanzpunkt zeigt uns den römiſchen Staat, ſtehend an der Gränzſcheide der antiken und modernen Welt, zu ſeinen Füßen, zermalmt und zerrieben die Völker der damaligen Zeit. Nach dem Sturz dieſer politiſchen Weltherrſchaft erhebt ſich auf der - ſelben Stätte die Weltherrſchaft der Kirche, eine Herrſchaft des288Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.Geiſtes, mächtiger noch, als die des Schwertes, und, als wäre dadurch jener Centraliſations - und Expanſionstrieb des römiſchen Geiſtes ſo lange nach dem Untergang des römiſchen Volks von neuem wieder angeregt, die Weltherrſchaft des römiſchen Rechts. Wehe der Nationalität, wenn Rom ſich naht ſo möchte man rufen vom untergeordneten Standpunkt der Natio - nalität aus. Wenn wir aber gedenken, daß die Beſonderheit und Trennung nicht das Ziel der Geſchichte iſt, ſondern die Gemein - ſchaft und Einheit, daß die Individualität der Menſchen und Völker durch das Moment der Allgemeinheit nicht zerſtört, ſon - dern geadelt und erhoben wird, dann werden wir in Rom nicht den Würgengel der Nationalitäten, den Geiſt, der bloß verneint, erblicken, ſondern einen Träger und Vorkämpfer der Idee der Univerſalität gegenüber der einſeitigen, beſchränkten Herrſchaft des Nationalitätsprinzips. Freilich ohne ſchmerzhafte Berüh - rung fremder Nationalitäten hat Rom ſeine Aufgabe nicht er - füllen können. Wie die Schärfe des Schwertes den Völkern der alten Welt blutige Wunden ſchlug, ſo die Schärfe des Be - griffs, die im römiſchen Recht hervortritt, dem nationalen Rechtsleben der modernen Welt. Aber die Wunden und Schmer - zen ſind der Preis der Kur.

Von dieſem Standpunkt aus begrüßen wir das römiſche Volk bei ſeinem Eintritt in die Welt mit den treffenden Worten Huſchke’s220)Verfaſſung des Servius Tullius. Vorrede S. 17. als eins jener Centralvölker, in denen ſich die auseinandergegangenen Strahlen der Menſchheit wie in einem Brennpunkt ſammeln. Da ſchon ſeine Bildungsgeſchichte uns Anlaß gegeben hat, ſeiner Miſſion und Eigenthümlichkeit zu ge - denken, und da im ſpätern Verlauf der Darſtellung das römiſche Volk gegenüber ſeinem Werk, dem Recht, zurücktritt, ſo halte ich es am geeignetſten, den Charakter des römiſchen Volks und deſſen eigenthümliche Prädeſtination zur Cultur des Rechts be - reits an dieſer Stelle zur Sprache zu bringen.

2891. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.

Der Nachweis jener Prädeſtination erfordert ein Eingehn in die Eigenſchaften, den Charakter wie die intellektuelle Be - gabung des römiſchen Volks; nicht als ob daraus jene Präde - ſtination ſelbſt erklärt werden ſollte denn für ſie läßt ſich kein anderer Grund angeben, als daß einmal die Geſchichte den - mern dieſe Miſſion der Cultur des Rechts zuertheilt hatte. Nicht weil die Römer dieſe und jene Eigenſchaften hatten, wa - ren ſie zur Cultur des Rechts prädeſtinirt, ſondern umgekehrt, weil ihnen nach der Oekonomie der Geſchichte dieſe Aufgabe zu - gefallen war, waren ſie ſubjektiv zur Löſung derſelben befähigt. Es iſt aber von Intereſſe, dieſe Befähigung im Einzelnen zu verfolgen, nachzuweiſen, wie der hiſtoriſche Beruf der Römer ihr ganzes Weſen durchdringt, Eigenſchaften, Kräfte, Einrich - tungen hervorruft, die ſämmtlich dem Zweck jener Aufgabe dienſt - bar ſind.

Es möge vorher noch mit wenig Worten die angebliche Abſtammung und Aehnlichkeit der Römer von und mit den Grie - chen berührt werden. In der That ſind beide Völker in ihren Be - ſtrebungen und in ihrer Begabung ſo unendlich verſchieden, daß man Mühe hat, über der Verſchiedenheit die Aehnlichkeit aufzu - finden. Aber ſchon die Römer der ſpätern Zeit gefielen ſich in der Idee von den Griechen abzuſtammen, und man beutete die vorhandenen Aehnlichkeiten in Sprache, Recht, Religion theils und vorzugsweiſe die Reſte der urſprünglichen Gemein - ſchaft aller indogermaniſchen Völker, theils die Reſultate ſpäte - rer Berührung beider Völker in dieſem Sinne aus. Es hat auch für die moderne Philologie eine Zeit gegeben, wo dieſer Irrthum an der Tagesordnung und verzeihlich war, wo man berechtigt war, namentlich die Verwandſchaft der griechiſchen und lateiniſchen Sprache aus der Annahme zu erklären, daß letztere eine Tochter der erſteren ſei. 221)Dieſe Annahme hat auf die etymologiſche Beſtimmung römiſcher Rechtsausdrücke und damit auf die Auffaſſung der durch ſie bezeichneten In -Das Studium desJhering, Geiſt d. röm. Rechts. 19290Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.Sanskrit hat nachgewieſen, daß dieſe Annahme eine irrige, die lateiniſche Sprache vielmehr eine Schweſter der griechiſchen iſt, die die gemeinſame Mutterſprache in vielen Stücken reiner und getreuer bewahrt hat, als letztere. 222)Pott hat ſich an vielen Stellen ſeines oft citirten Werkes hierüber ausgeſprochen z. B. B. 1. S. XXVIII, S. 75, B. 2. S. 433 u. fl.Das Verhältniß der Sprachen aber bezeichnet das der Völker ſelbſt; ſie ſind Ge - ſchwiſter, die einſt mit den übrigen indogermaniſchen Völkern unter einem Dache lebten, und als ſie ſich trennten, eine ge - meinſame Ausſtattung an Sprache, Sitte, Religion u. ſ. w. mitnahmen. 223)Ein gewiſſer Grad der Cultur war damals bereits erreicht. Das Gottesbewußtſein war entwickelt (in den meiſten Sprachen hat ſich noch das Wort dewa, Gott, erhalten. Pott B. 1. S. LVI), die Stufe des Noma - denthums zurückgelegt, man kannte Häuſer, Dörfer, den Pflug, Müh - len u. ſ. w. Vergleiche hierüber Kuhn zur älteſten Geſchichte der indogerma - niſchen Völker. S. 12, 16, 17.Aber wie verſchieden entwickelte ſich ihr Cha - rakter nach jener Trennung, wie weit ging Recht, Religion, Sprache u. ſ. w. bei den verſchiedenen Völkern aus einander. Was insbeſondere das Recht anbetrifft, ſo iſt bis jetzt zwar der Verſuch noch nicht gemacht, die Spuren der urſprünglichen Rechts-Gemeinſchaft aller indogermaniſchen Völker zu ſammeln, allein ſo viel läßt ſich ſchon jetzt ſagen, daß die Sprache wenig Aufſchlüſſe gewähren wird. Für den Begriff des Rechts wie die meiſten Inſtitute deſſelben hat jede indogermaniſche Sprache eine andere, dieſelben von einer verſchiedenen Seite auffaſſende Bezeichnung. Was alſo auch die indogermaniſche Völker-Fa - milie an gemeinſamen Rechtseinrichtungen urſprünglich beſaß: die Thätigkeit der Sprache in der Bezeichnung derſelben d. h. das Erwachen des Bewußtſeins über dieſelben fällt in die Zeit nach der Trennung. Dies gilt nun insbeſondere auch von dem Verhältniß des griechiſchen zum römiſchen Recht. So groß auch die Zahl der in der griechiſchen und lateiniſchen Sprache gleich221)ſtitute ſelbſt einen ſehr nachtheiligen Einfluß ausgeübt; namentlich in Hüll - manns Grundverfaſſung und Ballhorn-Roſen über dominium. 2911. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.lautenden und gleich bedeutenden Ausdrücke ſein mag: die Rechts - terminologie beider iſt völlig verſchieden, jedes der beiden Völ - ker hat alſo die begriffliche Erfaſſung und Geſtaltung ſeines Rechts völlig ſelbſtändig vollbracht. Was man auch an ein - zelnen Einrichtungen, Geſetzen, Gebräuchen u. ſ. w., die Grie - chen und Römern gemeinſchaftlich waren, aufzählen möge: auf keinem Gebiet läßt ſich die Unabhängigkeit der Römer von den Griechen und die Eigenthümlichkeit ihres ganzen Weſens ſo leicht und ſicher erkennen, als auf dem des Rechts.

Das Weſen des römiſchen Geiſtes. 224)Der Philoſoph von Fach möge es mir verzeihen, wenn ich mich im folgenden an einer Aufgabe der Philoſophie der Geſchichte vergreife, der meine Kräfte nicht gewachſen ſind; hätte ich es gedurft, gern wäre ich ihr ausge - wichen. Nur mit Widerſtreben habe ich die folgende Ausführung dem Druck übergeben, und nur nachdem das Vorrücken des Drucks mich zwang, dieſen Punkt, an dem ich lange nutzlos mich abgemüht habe, zu verlaſſen. Daß eine Aufzählung aller Eigenſchaften des römiſchen Charakters nicht genügte, brauche ich kaum zu ſagen. Eine ſolche Aufzählung, die das ganze geiſtige und leibliche Beſitzthum des Volks inventariſirt und in ihrer Genauigkeit wohl gar auch den Hausthieren als Gehülfen des Menſchen bei der Arbeit einen freundlichen Blick zuwirft, erſcheint mir nicht beſſer, als die Charakte - riſtik eines Steckbriefes. Man erfährt daraus, daß die allgemein menſch - liche Natur ſich auch bei dieſem Volk nicht verläugnet habe, dieſe und jene Eigenſchaften ſich hier in dieſem und jenem Grade wieder fanden, aber das eigentlich Spezifiſche und durch eine bloße Addition an Eigenſchaften nicht Wiederzugebende der Volksindividualität bleibt dabei unberückſichtigt. Auf letzteres, das allen jenen Eigenſchaften Richtung und Ausdruck gibt, habe ich im folgenden mein Augenmerk gerichtet, ohne es für erforderlich zu halten, es ins Einzelne hinein zu verfolgen.

Haben wir oben die Bedeutung Roms in die Geltend - machung einer abſtrakten Allgemeinheit in Staat und Recht gegenüber der Partikularität des Nationalitätsprinzips geſetzt, ſo könnte, wer vom römiſchen Volkscharakter nichts wüßte,19*292Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.glauben, als ob ſein Weſen in kosmopolitiſcher Allgemeinheit beſtände. Wer aber die Römer nur irgendwie kennt, weiß, daß kaum ein anderes Volk eine ſo unverwüſtliche Nationalität be - ſeſſen und ſo feſt daran gehalten, wie ſie. Nicht der Abſperrung bedurfte dieſe Nationalität, um ſich rein zu halten, nicht der Abwehr fremder Elemente; ſie forderte alle Völker heraus, ſich mit ihr zu meſſen, nahm maſſenweis fremde Elemente in ſich auf, aber raſch zerſetzt aſſimilirten ſich dieſelben dem römiſchen Weſen, ohne ihrerſeits Rückwirkungen auf daſſelbe auszuüben. In der Blüthezeit Roms, auf die wir uns bei dieſer Charakte - riſtik beſchränken, ſteht die römiſche Nationalität da wie ein Fels im Meere, an dem die Völker der alten Welt wie Wogen ſich brechen.

Wie verträgt ſich mit dieſer Energie, die das Nationalitäts - prinzip in Rom entfaltet, jene univerſelle, antinationale Miſſion des römiſchen Volks? Das univerſelle Moment im römiſchen Charakter geht hervor aus einer Eigenſchaft, die nach der einen Seite ebenſowohl eine expanſive, univerſelle, wie nach der an - dern eine contraktive, exkluſive Tendenz hat der Selbſtſucht. Die Selbſtſucht, die ſich ſelbſt zum Mittelpunkt der Welt macht, alles nur auf ſich bezieht, kömmt nicht in Gefahr, ſich zu ver - geſſen, ihre partikulariſtiſch-exkluſive Stellung aufzugeben; ihre Univerſalität beſteht bloß darin, daß ſie alles begehrt. Dieſe Expanſionskraft des Begehrungsvermögens wie ſehr ſie im - merhin mit der engherzigſten Geſinnung verbunden ſein möge, dient doch objektiv der Geſchichte als ein ſehr wirkſames Mittel für den Gedanken der Univerſalität. Rom liefert uns dazu den glänzendſten Beleg.

Selbſtſucht alſo iſt das Motiv der römiſchen Univerſalität, Selbſtſucht und damit wenden wir uns unſerer eigentlichen Aufgabe zu der Grundzug des römiſchen Weſens. Es gibt nun eine kleinliche Selbſtſucht, kleinlich in moraliſcher und in - tellektueller Beziehung, kurzſichtig in ihren Berechnungen, ohne Energie in der Ausführung, in augenblicklichen, kleinlichen Vor -2931. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.theilen ihre Befriedigung findend. Es gibt aber auch eine gran - dioſe Selbſtſucht, großartig durch die Ziele, die ſie ſich geſetzt hat, bewundernswürdig in ihren Conceptionen, ihrer Logik und Fernſichtigkeit, imponirend durch die eiſerne Energie, die Aus - dauer und Hingebung, mit der ſie ihre fernen Ziele verfolgt. Dieſe zweite Art der Selbſtſucht gewährt uns das Schauſpiel der vollſten Anſpannung der moraliſchen und intellektuellen Kräfte, ſie iſt die Quelle großartiger Thaten und Tugenden. Kein Charakter iſt ſo geeignet, um ihre Natur kennen zu lernen, als der römiſche. Es hat kein Intereſſe, die römiſche Selbſt - ſucht in ihren nächſten, kleinlichen Schwingungen zu verfolgen, in jenen Eigenſchaften der Habſucht, des Geizes, der Härte und Liebloſigkeit u. ſ. w.; hier zeigt ſie ſich noch in ihrer gan - zen Nacktheit. Aber in demſelben Maße, in dem die Verhält - niſſe, in denen das Individuum ſteht, und die Zwecke, denen es ſich widmet, ſteigen, werden die Einwirkungen der Selbſt - ſucht unkenntlicher, ihre Formen glänzender, und auf dem - henpunkt römiſcher Größe, der Hingebung an den römiſchen Staat, überwindet ſich ſogar die individuelle Selbſtſucht, um ſich ſelbſt der des Staats zum Opfer zu bringen.

Es klingt paradox, daß auch jene Eigenſchaften des römi - ſchen Charakters, wie die Tapferkeit, Vaterlandsliebe, Religiö - ſität, die Achtung vor dem Geſetz u. ſ. w., Tugenden, die ſchein - bar keine Beziehung zur Selbſtſucht haben oder wohl gar eine Entäußerung derſelben vorausſetzen, dennoch ihre Wurzeln in der Selbſtſucht finden ſollen. Um ſich davon zu überzeugen, muß man nur den richtigen Standpunkt der Betrachtung wäh - len, nicht die römiſchen Individuen, ſondern das Walten des römiſchen Volksgeiſtes ins Auge faſſen.

Wenn ein Volk von einem Gedanken ganz und gar durch - drungen iſt, ſein ganzes Weſen, Sein und Thun in dieſem einen Gedanken aufgeht, ſo geſtaltet ſich natürlich der Charakter deſſel - ben dem entſprechend. Die Tugenden, die Kräfte kommen zur Entwicklung, die jenem Zweck am förderlichſten ſind. Jene294Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.Selbſtſucht nun, die wir oben charakteriſirt haben, erfordert zu ihrem moraliſchen Apparat eine hohe Energie des Charakters, Tapferkeit, Selbſtüberwindung, Ausdauer, Hingabe des In - dividuums an den allgemeinen Zweck, kurz die Eigenſchaften, die wir bei den Römern wahrnehmen. Objektiv betrachtet ſind dieſelben alſo der nationalen Selbſtſucht dienſtbar, wenn auch ſubjektiv die Ausbildung und Bethätigung derſelben gerade eine Selbſtverläugnung enthalten ſollte. Das einzelne Subjekt wird hier ohne ſein Wiſſen und Wollen durch den Nationalgeiſt be - ſtimmt; ob es ſich ſeiner Beſtimmung bewußt iſt oder nicht, iſt völlig gleichgültig. Von ſeinem Standpunkt aus mag die ein - zelne Handlung aus dem Pflichtgefühl oder unmittelbar aus dem unbewußten Drange der innerſten Natur heraus hervorge - gangen ſein; daß es dieſe Natur hat, daß ihm dies als Pflicht erſcheint, das iſt dem Walten des Nationalgeiſtes zuzuſchreiben. Letzterer geſtaltet den Volkscharakter, die ſittlichen Inſtitutionen, das ganze Leben in der Weiſe, in der ſie ſeinen Zwecken am förderlichſten ſind.

An dieſem Objektivirungsprozeß der nationalen Selbſtſucht hat allerdings auch die Reflexion, die bewußte Berechnung ihren Antheil224 a)Es hätte dieſer Punkt etwas mehr hervorgehoben werden können; ich benutze die Correktur, um dies einigermaßen nachzuholen. Den Römern war es Bedürfniß, die Dinge zu geſtalten, es widerſtrebte ihnen, ſie nach der Theorie der Naturwüchſigkeit ſich ſelbſt zu überlaſſen. Es iſt bereits S. 93 darauf auf - merkſam gemacht, wie dieſer Zug auch in der römiſchen Sage hervortritt, und Keiner, der mit dieſer Rückſicht die römiſche Welt betrachtet, wird den großen Antheil, den die Reflexion, Abſichtlichkeit u. ſ. w. an ihr hat, verkennen kön - nen; überall iſt ein Trieb nach intellektueller Erfaſſung und Beherrſchung des Vorhandenen, ſo wie die nachhelfende und organiſirende Hand des Menſchen wahrnehmbar. Kein Theil des Staatslebens, ſagt Rubino a. a. O. S. 205, blieb, wie die Geſtalt aller Inſtitute deſſelben beweiſt, der ſpontanen Bewe - gung überlaſſen, noch beruhte er auf einer Maſſe unverbundener Traditionen; überall gibt ſich das Beſtreben kund, einen oberſten Grundſatz zum Bewußt - ſein zu bringen und ihn mit der ſtrengſten Conſequenz durch die Einzelnheiten aller Regeln, Formen, Symbole durchzuführen. gerade der römiſche Volkscharakter verträgt bei2951. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.ſeiner durchaus praktiſchen Richtung mehr, als ein anderer die Suppoſition eines bewußten, abſichtlichen Thuns aber die Hauptrolle ſpielt doch dabei der unvergleichliche nationale In - ſtinkt. Was iſt dieſer Inſtinkt, iſt er eine Naturanlage, die ſich nicht weiter begründen läßt, eine primäre Eigenſchaft des römi - ſchen Geiſtes? Ich erblicke in ihm nur die Folge jener Richtung auf praktiſche Zwecke, jener zur zweiten Natur gewordenen Ge - wohnheit der Römer, ihre ganze geiſtige und moraliſche Kraft im Dienſt der Selbſtſucht zu verwenden. Die Römer können, möchte ich behaupten, nichts zweckwidriges thun; bewußt oder unbewußt betrachten ſie alles unter dem Geſichtspunkt der Zweck - mäßigkeit, und wie die Griechen auch ohne Abſicht und Bewußt - ſein das Schöne finden, weil ihr ganzes Weſen von der Idee des Schönen durchdrungen iſt, ſo treffen die Römer mechaniſch das Zweckmäßige.

Die Idee der Zweckmäßigkeit alſo iſt das Prisma römiſcher Anſchauung, und den ſchlagendſten Beweis dafür bietet uns die römiſche Götterwelt. 225)Ich verweiſe des weitern auf Hegel in ſeiner Religionsphiloſophie Theil 2, Abſch. 2. der die römiſche Religion ganz treffend als die Religion der Zweckmäßigkeit bezeichnet.Die Römer konnten nur anerkennen und ehren, was einen Zweck hatte; Götter, die ohne beſtimm - ten Beruf bloß ſich ſelbſt gelebt hätten, wären ihnen als Müßig - gänger erſchienen. Darum hatte jeder römiſche Gott ſeinen praktiſchen Wirkungskreis, ſo zu ſagen, ſeinen Poſten, für den und von dem er lebte. Das Prinzip der Theilung der Arbeit war in der römiſchen Götterlehre ins Lächerliche getrieben, die römiſche Erfindungsgabe war unerſchöpflich darin, neue Ge - ſchäftszweige, Verrichtungen und Handlangerdienſte aufzuſuchen, wofür ſich ein eigner Gott anſtellen ließ. Es gab kein Intereſſe, ſo nichtig und unbedeutend, keinen Moment des menſchlichen Lebens, von der Geburt bis zum Tode, des Landbaus, von der Saat bis zur Erndte u. ſ. w., deſſen Obhut der proſaiſche Sinn der Römer nicht einem ſehr langweiligen Gott anvertraut296Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.hätte. 226)Ich verweiſe vor allem auf die Abhandlung von Ambroſch über die Religionsbücher der Römer. Bonn 1843. S. 11 u. fl.Dieſe Götter gehn aber, wie die Römer ſelbſt, ganz und gar in ihren Zwecken auf, ſind nichts als perſonificirte Zwecke.

Auch die Religioſität der Römer, von ihnen ſelbſt und an - dern ſo viel geprieſen, war im weſentlichen durch das Motiv der Zweckmäßigkeit oder der Selbſtſucht beſtimmt. Die Römer ehrten die Götter nicht, weil ſie Götter waren, ſondern damit letztere ihnen dafür ihren Beiſtand zuwendeten. Das Maß der Beiſtandsbedürftigkeit, der Noth, in der man ſich befand, war zugleich das der römiſchen Religiöſität. Natürlich unterhielt man auch in glücklichen Zeiten ein gutes Vernehmen mit den Göttern und ließ es an nichts fehlen, worauf ſie einmal ein Recht hatten; man zahlte ihnen, wenn es erlaubt iſt, das obige Bild weiter auszuführen, ihren Gehalt, den Preis, um den ſie im allge - meinen Rom ihre Gunſt bewahrten, unverkürzt aus. Begehrte Jemand aber außergewöhnliche Dienſtleiſtungen von ihnen der Staat, wie die Einzelnen ſo mußte er, da auch die Göt - ter nichts umſonſt thaten, ſie dafür entſprechend entſchädigen. Eine beliebte Form, um die Götter zu gewinnen, war das Vo - tum; beliebt nämlich, weil man dabei am ſicherſten ging d. h. den Göttern erſt ſeinerſeits das Verſprechen zu leiſten hatte, wenn ſie ihrerſeits den erwarteten Dienſt erwieſen hatten. Das Votum enthält eine Uebertragung des Obligationenrechts auf die Götter und bewegte ſich auch in der Terminologie deſſelben.

Je ehr dies Urtheil über die römiſche Religiöſität, das den Egoismus zur Triebfeder derſelben macht, auf Widerſpruch ſtoßen wird, und je weniger der Verſuch einer ausführlichen Begründung deſſelben hier am Ort ſein würde, um ſo mehr muß ich an die obige Bemerkung von dem inſtinktartigen Walten des römiſchen Geiſtes erinnern. Es iſt nicht meine Meinung, als ob bewußte Abſicht und Berechnung in Rom mit dem heiligſten2971. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.ihr Spiel getrieben hätten,227)Dies iſt natürlich ſchon behauptet, es entſprach der rationaliſtiſchen Anſicht, die in der Religion nur ein Werk der Täuſchung und Berechnung zu erblicken vermochte. S. z. B. Buchholz Philoſoph. Unterſuchungen über die Römer. 3 B. Berlin 1819, ein Werk, in dem die Philoſophie ſich auf den Titel beſchränkt. B. 1. S. 144 u. fl. Die religiöſen Feſte werden S. 147 für nichts weiter erklärt, als Mittel, wodurch die römiſche Regierung die Auf - merkſamkeit des großen Haufens von ſich ab und auf andere Gegenſtände hinleitete. aber ebenſo wenig kann ich glau - ben, daß in der Religion allein ſich die römiſche Sinnesweiſe ſollte verläugnet haben. An einer andern Stelle (§. 21) erhal - ten wir Gelegenheit zu zeigen, wie die religiöſen Inſtitutionen ſich den Zwecken des römiſchen Staats fügten. So verkehrt es ſein würde auf Grund dieſer Thatſache den Römern die Mei - nung unterzuſchieben, als ob dieſe Inſtitutionen und die Götter ſelbſt nur ein Werkzeug in den Händen des römiſchen Staats ſein ſollten, ſo iſt doch ſoviel gewiß, daß objektiv jene Inſtitutio - nen dem Staat die weſentlichſten Dienſte leiſteten. Den Grund davon kann man aber nur in jener Eigenſchaft des römiſchen Geiſtes ſuchen, vermöge deren er allem und jedem, was inner - halb der römiſchen Welt zur Erſcheinung kam, wie wenig es auch ſeinem Urſprunge nach mit der Nützlichkeitsidee in Be - ziehung ſtand, eine praktiſche Seite abzugewinnen wußte. 228)An dem engliſchen Volk kann man ähnliche Beobachtungen machen. Wie manche Erſcheinung läßt ſich auch hier aufführen, die aus ſittlichen Mo - tiven hervorgegangen, wie z. B. die Sklaven-Emancipationsbeſtrebungen, das Miſſionsweſen u. ſ. w., deren ſich ſofort der praktiſche Geiſt der Nation zu politiſchen Zwecken mit großem Erfolg bemächtigt hat.

Bewährt ſich dieſer Trieb ſelbſt auf dem religiöſen Gebiet, um wie viel mehr auf dem der profanen Welt.

Dieſe Welt im Ganzen und Großen enthält den Triumph der Idee der Zweckmäßigkeit; ſie ſelbſt ſowie alle intellektuellen und moraliſchen Kräfte, die innerhalb derſelben thätig werden, ſind der Zwecke wegen da, mit Rückſicht auf ſie beſtimmt und ge - ſtaltet. Die Selbſtſucht iſt die Triebfeder des Ganzen; jene ganze Schöpfung mit allen ihren Inſtitutionen und allen den298Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.Tugenden, die ſich an ihr bethätigen, läßt ſich als die Objekti - vität, als der Organismus der nationalen Selbſtſucht be - zeichnen.

Dieſer Ausdruck bezeichnet vielleicht am kürzeſten die Art und Weiſe, in der ſich dieſe Selbſtſucht bethätigt. Die römi - ſchen Inſtitutionen, Tugenden u. ſ. w. ordnen ſich zu einem Organismus zuſammen, der durch den Gedanken der Selbſt - ſucht getrieben wird. Dieſe Triebkraft aber offenbart ſich nur in der Structur und Thätigkeit des Ganzen, nicht der ein - zelnen Theile; letztere werden nicht ſelbſtändig durch das Motiv der Selbſtſucht, ſondern durch das Bedürfniß des Geſammt - organismus beſtimmt, und gerade dadurch, daß ſie den unmittel - baren Einflüſſen der Selbſtſucht nicht ausgeſetzt ſind, werden ſie um ſo geeignetere Werkzeuge derſelben. Die Virtuoſität der römiſchen Selbſtſucht bewährt ſich daran, daß ſie ſtets den Geſammtzuſammenhang vor Augen hat und nie auf Koſten deſſelben eine momentane Befriedigung erſtrebt.

Machen wir dies durch Beiſpiele klar. Die kleinliche, kurz - ſichtige Selbſtſucht hat nur den einzelnen Vortheil im Auge, ſie verfolgt ihn nöthigenfalls auf Koſten des Rechts, der Ehre, des Vaterlandes, kurz in einer Weiſe, die, wenn ſie allgemein wäre, die zweckwidrigſte von der Welt wäre. Der Römer hin - gegen weiß, daß ſein individuelles Wohl durch das des Staats bedingt iſt, ſeine Selbſtſucht umſpannt alſo zugleich den Staat. Er weiß, daß ſtrenge Befolgung und Handhabung der Geſetze dem allgemeinen und folglich auch ſeinem eignen Intereſſe ent - ſpricht. Er weiß, daß Vortheile, die durch Ehrloſigkeit, Feig - heit u. ſ. w. erkauft werden, bloß ſcheinbare ſind, daß die Selbſt - ſucht nur in Verbindung mit der Ehre, Tapferkeit, Rechtlich - keit u. ſ. w. dauerhafte Reſultate erringen kann. Dies Wiſſen iſt aber zugleich ein Sollen und Wollen, d. h. das nationale Pflichtgefühl gebietet dem Römer eine ſolche Handlungsweiſe, und die Energie des Volks bewährt ſich daran, daß es dieſem Pflichten-Codex der nationalen Selbſtſucht blindlings nachlebt. 2991. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.So verfolgt dann der Römer nicht den ſubjektiven Vortheil auf Koſten des Staats, nicht den momentanen Gewinn auf Koſten des Endziels, nicht die materiellen Güter auf Koſten der imma - teriellen, ſondern er ordnet das relativ Niedrige dem relativ Höhern, das Einzelne dem Allgemeinen unter. Und ſchließlich alles dies doch nur im Intereſſe einer weitſichtigen Selbſtſucht. Faßt man nun eine einzelne Tugend ins Auge, die Tapferkeit, die Vaterlandsliebe, die Achtung vor dem Geſetz u. a., ſo iſt die[ Beziehung] derſelben zur Selbſtſucht gar nicht wahrzuneh - men, ja ſie ſcheint geradezu eine Entäußerung derſelben zu ent - halten. Es iſt nicht anders, als wenn man aus dem Leben eines Individuums einzelne Akte der Selbſtüberwindung herausgrei - fen wollte, die in der That weit entfernt eine Entäußerung der Selbſtſucht zu bezeugen gerade eine Bethätigung derſelben ent - hielten jene Opfer der relativ niedrigen Regungen der Selbſt - ſucht, die um ſo unerläßlicher ſind, je entfernter und großartiger das endliche Ziel iſt, das man ſich geſteckt hat. Die römiſche Selbſtſucht beſchränkt ſich darauf, den Operationsplan zu dicti - ren, jeder Kraft die richtige Stellung anzuweiſen und ihr die Behauptung derſelben zur Pflicht zu machen. Die ausführen - den Gewalten nehmen die Vorſtellung des großen Ziels, das ihrer harrt, ſowie das Bewußtſein, daß ihre Thätigkeit zur Er - reichung deſſelben unerläßlich ſei, mit. Dies genügt ihnen, damit iſt ihre Selbſtſucht abgefunden, und jetzt reflektiren, fragen und zweifeln ſie nicht, ſondern ſie handeln und handeln mit ganzer Hingebung, unermüdlicher Ausdauer, eiſerner Kraft.

So läßt ſich der römiſche Charakter mit ſeinen Tugenden und Fehlern als das Syſtem des disciplinirten Egoismus be - zeichnen. Der Hauptgrundſatz dieſes Syſtems iſt, daß das Un - tergeordnete dem Höhern, das Individuum dem Staat, der ein - zelne Fall der abſtrakten Regel, der Moment dem dauernden Zuſtand geopfert werden müſſe. Dieſe Anforderung, objektiv in der That nichts, als ein Ausfluß der Zweckmäßigkeitsidee, iſt durch die nationale Anſicht zur ethiſchen Nothwendigkeit,300Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.Sittlichkeit, Pflicht geſtempelt, und die gewaltige moraliſche Kraft des römiſchen Volks bewährt ſich vor allem an der Be - reitwilligkeit, mit der es ſich dieſem, wenn ich ſo ſagen darf, conventionellen Pflichtencodex fügt, ſich der durch die bloße Nützlichkeitsidee diktirten Nothwendigkeit unbedingt unterwirft. Sich ſelbſt zu bezwingen iſt ſchwerer, als Andere; ein Volk, dem bei der höchſten Freiheitsliebe dennoch die Tugend der Selbſtüberwindung zur zweiten Natur geworden, iſt zur Herr - ſchaft über andere berufen. Aber der Preis der römiſchen Größe war freilich ein theurer. Der unerſättliche Dämon der römiſchen Selbſtſucht opfert alles ſeinem Zweck, das Glück und Blut der eignen Bürger, wie die Nationalität fremder Völker. Gemüth und Phantaſie ſchrecken vor ſeinem eiſigen Hauch zurück, die Gra - zien fliehen ſeine Nähe; für ihn ſelbſt hat nur Werth, was Zweck oder Mittel zum Zweck iſt. Die Welt, die ihm gehört, iſt eine ent - ſeelte, der ſchönſten Güter beraubte, eine Welt, nicht von Men - ſchen, ſondern von abſtrakten Maximen und Regeln regiert eine großartige Maſchinerie, bewundernswürdig durch ihre Feſtigkeit, die Gleichmäßigkeit und Sicherheit, mit der ſie arbei - tet, durch die Kraft, die ſie entwickelt, alles zermalmend, was ſich ihr widerſetzt, aber eben eine Maſchine; ihr Herr war zu - gleich ihr Sklave.

Die bisherige Darſtellung hat uns den Weg gebahnt zu einer Aufgabe, mit der wir uns dem eigentlichen Gegenſtand dieſer Schrift, dem Recht, wieder nähern, das iſt die Prädeſti - nation des römiſchen Volks zur Cultur des Rechts. Das Recht iſt der höchſte Punkt der römiſchen Welt. Wer ſie und das - miſche Weſen kennen lernen will, muß ſich auf dieſen Punkt ver - ſetzen. Nicht bloß die Sinnes - und Denkweiſe der Römer tritt uns hier im hellſten Licht entgegen, ſondern an keinem Punkte offen - bart ſich zugleich ſo ſehr der Umfang und die Art ihrer geſamm - ten moraliſchen und intellektuellen Begabung. Wer die Schrift - züge des Rechts zu leſen verſteht, dem melden ſie mehr von den Römern, als alle Berichte ihrer Hiſtoriker zu thun vermögen.

3011. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.

Aus der obigen Entwicklung über das Weſen des römi - ſchen Geiſtes ergibt ſich, warum und nach welcher Seite hin derſelbe in ſo hohem Grade zur Cultur des Rechts berufen war. Das Recht iſt die Religion der Selbſtſucht, am Recht kann und darf die Idee der objektiven Zweckmäßigkeit wenn auch nicht ausſchließlich, ſo doch in einem ausgezeichneten Grade ſich be - thätigen, und gerade nach dieſer Seite hin hat der römiſche Geiſt das Recht erfaßt und ausgebildet. Den Römern iſt es von alters her gelungen, das Recht aus dem Bereich des Ge - fühls in das des berechnenden Verſtandes zu verſetzen, aus dem Recht einen von den Einflüſſen der momentanen ſubjektiv-ſitt - lichen Anſicht unabhängigen, äußern Mechanismus zu machen, den jeder, ſei er Römer oder Nichtrömer, ſobald er die Con - ſtruktion deſſelben kennen gelernt hat, handhaben kann. Dieſe Losreißung des Rechts vom ſubjektiv-ſittlichen Gefühl, ſeine Veräußerlichung und Objektivirung iſt für die Geſchichte des Rechts daſſelbe, was für die Culturgeſchichte die Erfindung der Buchſtabenſchrift das Recht iſt damit darſtellbar und lesbar geworden. Sie bezeichnet den Sieg der Zweckmäßigkeitsidee über das ſubjektive Sittlichkeitsgefühl; erſt von jetzt an kann er - ſtere ihre Thätigkeit am Recht ungeſtört entfalten.

Nicht der einzelne Fall aber iſt Objekt ihrer Thätigkeit, ſondern die abſtrakte Regel. Der ein - zelne Fall wird der allgemeinen Regel untergeordnet, geopfert; es iſt dieſelbe Hingabe des relativ Niedrigen an das Höhere, die wir oben (S. 298) als charakteriſtiſchen Zug der römiſchen Zweckmäßigkeitstheorie haben kennen lernen. Dieſe Unterord - nung iſt ein Poſtulat der Zweckmäßigkeit, ſie gewährt dem Ver - kehr erſt die nöthige Sicherheit, indem ſie ihm gleichmäßige, im voraus zu berechnende Entſcheidungen der Rechtsſtreitig - keiten in Ausſicht ſtellt. Die praktiſche Verwirklichung dieſer Unterordnung aber iſt in der That nicht ſo leicht, wie ſie ſcheint; nur zu oft ſetzt das ſubjektive Rechtsgefühl ihr Widerſpruch ent - gegen, und es gehört Charakterfeſtigkeit oder die Sicherheit302Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.einer habituellen juriſtiſchen Anſchauungsweiſe dazu, um dieſem Widerſpruch jeden Einfluß auf ſich zu verſagen, die abſtrakte Regel der Regel wegen anzuwenden. Dieſe rückſichtsloſe Un - terordnung des einzelnen Falls unter die abſtrakte Regel, ich möchte ſie die Tyrannei der juriſtiſchen Disciplin nennen, war den Römern von früh auf eben ſo geläufig und verſtändlich, als die unerbittliche Handhabung einer eiſernen militäriſchen Disciplin im Felde. Wir werden ſehen, daß das römiſche Recht jener Eigenſchaft nicht weniger ſeine Größe verdankt, als der römiſche Staat die ſeinige dieſer letzten.

Nicht das ſittliche Gefühl, nicht die Gerechtigkeit erfordert dieſe eiſerne Disciplin ich kann es nicht genug hervorheben, ſon - dern bloß die Zweckmäßigkeit. Die wahre Gerechtigkeit begehrt etwas mehr, als jene mechaniſche Gleichheit, die das Reſultat einer ſolchen Tyrannei der todten Regel iſt; die ächte, innere Gleichheit, die ihr entſpricht, iſt auf dieſem Wege nicht zu ge - winnen. Das unbefangene ſittliche Gefühl ſträubt ſich dagegen, daß eine Rechtsfrage wie ein Rechenexempel gelöſ’t, das Recht zu einer Maſchine erniedrigt werden ſoll. Ich müßte die Cha - rakteriſtik des zweiten Syſtems hier anticipiren, um nachzu - weiſen, wie ſehr die oben entwickelte Richtung des römiſchen Geiſtes auf praktiſche Zwecke vortheilhaft auf die techniſche Aus - bildung des Rechts eingewirkt hat. Daß im Syſtem des dis - ciplinirten Egoismus das Recht eine Hauptſtelle einnimmt, daß alſo die Römer ihr Hauptaugenmerk auf das Recht richten, ſich zur Cultur der praktiſchen Seite des Rechts vorzugsweiſe be - rufen fühlen mußten das, glaube ich, bedarf wohl keines langen Beweiſes.

Wie ſehr die Römer ſich zum Recht hingezogen fühlten, welche hervorragende Stelle daſſelbe in der römiſchen Anſicht einnahm, iſt zur Genüge bekannt. Was dem Volke Gottes die Religion, dem griechiſchen die Kunſt, das war den Römern Recht und Staat, der Gegenſtand des Nationalſtolzes allen fremden Völkern gegenüber, der Punkt, an dem ſie ſich ihrer3031. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.Ueberlegenheit am meiſten bewußt waren, der Magnet des Ehr - geizes und der Kraft. Wenn das Volk Gottes ſeine Propheten, und Griechenland ſeine Philoſophen, Künſtler und Dichter am höchſten verehrte, ſo traf dieſe Verehrung in Rom die Bürger, die ſich um den Staat verdient gemacht oder das Recht ſei es durch ihre Handlungsweiſe, wie Brutus und Regulus, ver - herrlicht oder durch ihren Scharfſinn gefördert hatten. Wie hoch ein Volk einen Beruf, eine Kunſt, Wiſſenſchaft u. ſ. w. ſtellt, dafür bietet die Achtung, die ſie den Individuen, die ſich dem fraglichen Beruf widmen, erweiſt, den natürlichſten Maßſtab dar. Rom trieb die Künſtler aus der Stadt, die Perſonen geiſt - lichen Standes bildeten als ſolche nirgends weniger einen Gegenſtand der Verehrung, als in Rom,229)S. den folgenden Paragraphen. und die Juriſten umgekehrt haben nirgends eine größere Popularität, einen höhern Einfluß und höhere Achtung genoſſen. Die Macht, die das Recht über die Römer ausübte, beſchränkte ſich nicht auf den Verſtand, beruhte nicht bloß darin, daß ſie ſich im Recht in ihrem Elemente fühlten, ſich hier ihrer Virtuoſität bewußt waren; ihr Stolz war nicht bloß intellektueller, ſondern mora - liſcher Art. Wohl mochten ſie in erſterer Beziehung ſich rühmen, daß kein Volk ſo weiſe Geſetze, ſo erprobte Einrichtungen beſitze, kein Volk es in der Erkenntniß des Rechts ſo weit gebracht, wie ſie; höher aber ſtand ihnen doch der Ruhm, daß nirgends das Recht die Herrſchaft ausübte, nirgends die Gebote deſſelben ſo befolgt wurden, als zu Rom. Dieſe moraliſche Achtung vor dem Recht, die bereitwillige Unterordnung des Römers unter die Satzungen des Rechts, die Gerechtigkeitsliebe des Volks, der Abſcheu deſſelben vor Rechtsverletzungen, das Gefühl der Sicherheit, das in Rom das Recht verlieh, das Vertrauen auf den Sieg deſſelben das eben iſt es, was den Römer am meiſten mit Stolz erfüllen konnte. Glänzende Beweiſe einer ſolchen Geſinnung ſtellte die öffentliche Meinung ebenſo hoch,304Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.wie es grobe Verſtöße gegen dieſelbe brandmarkte. Eine Rechts - verletzung führte den Sturz des Königthums und des Decem - virats herbei, und den Anfang der neuen Zeit, die Einführung der Republik, bezeichnet ein Triumph der Gerechtigkeit über die elterliche Liebe, die Hinrichtung der Söhne des Brutus durch den eignen Vater. Dieſe moraliſche Macht des Rechts über die Gemüther, dieſe Unfähigkeit des Römers, möchte ich ſagen, ohne das Recht zu exiſtiren, verläugnet ſich auch im Ver - kehr mit fremden Völkern nicht. Mit welcher Spitzfindigkeit der römiſche Staat mitunter auch den Buchſtaben des Rechts gegen - über fremden Völkern zu handhaben, die Politik ſich in den Mantel des Rechts zu hüllen verſtand, ihre Politik erkannte ſich gebunden durch die Prinzipien des Rechts und wagte ihnen nicht offenbar Hohn zu ſprechen. Dieſelben völkerrechtlichen Grundſätze, die Rom gegen andere Völker geltend machte, er - kannte es auch in ihrem ganzen Umfang gegen ſich ſelbſt an. Einem ſolchen Volke war es daher auch Bedürfniß und blieb ihm vorbehalten, den privatrechtlichen Verkehr mit Auswärtigen juriſtiſch zu organiſiren (jus gentium).

Die Anziehungskraft, die das Recht auf den römiſchen Geiſt ausübte, mögen wir von ſeinem Standpunkt aus dadurch zu motiviren verſuchen, daß das Recht für ſeine Zwecke von äußerſter Wichtigkeit war. Aber der Grund, warum die - mer ſo ſehr des Rechts bedurften, lag wiederum darin, daß die Geſchichte ihrer für das Recht bedurfte. Ihr eignes In - tereſſe zwang ſie, die Miſſion zu erfüllen, die ihnen hinſichtlich des Rechts zugedacht war; ſich ſelbſt lebend dienten ſie der Welt.

Haben wir im bisherigen die vorwiegende Richtung des römiſchen Geiſtes auf das Recht als eine nothwendige zu zeigen verſucht, ſo reiht ſich daran die Frage, welche Mittel ſtanden demſelben zu Gebote, um ſeine Aufgabe am Recht zu erfüllen, welchen Umſtänden, welchen Eigenſchaften des römiſchen Volks u. ſ. w. haben wir es zuzuſchreiben, daß jene Aufgabe in einem3051. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.ſo hohen Grade gelang. In der Regel beantwortet man dieſe Frage mit einer Verweiſung auf die intellektuelle Begabung der Römer, ihren ſcharfen, zerſetzenden Verſtand, ihren praktiſchen Takt u. ſ. w., und der Einfluß dieſes Moments iſt allerdings ſo in die Augen ſpringend, daß ich darüber kein Wort verlieren mag. Aber was man nur zu oft vergißt, und was doch meiner Anſicht nach für das ältere Recht viel weſentlicher, iſt die mo - raliſche Kraft, die Willensenergie des römiſchen Volks.

Das Recht iſt nicht Ueberzeugung, Anſicht, Wiſſen u. ſ. w. kurz keine intellektuelle Größe, ſondern eine moraliſche, es iſt Wille. Nur der Wille vermag dem Recht das zu geben, worin das Weſen deſſelben beruht die Wirklichkeit, nur er hat eine real geſtaltende, ſchöpferiſche Kraft. Ein Volk möge intellektuell noch ſo begabt ſein, fehlt ihm die moraliſche Kraft, die Energie und Beharrlichkeit des Willens, ſo wird das Recht nie bei dem - ſelben gedeihen. Seine Geſetze ſind nichts anders, als die guten Vorſätze eines charakterloſen Menſchen, Eingebungen des Augenblicks, die die Wirklichkeit Lügen ſtraft und der folgende Augenblick verdrängt. Nur die Rechtsſätze und rechtlichen Inſti - tutionen, die aus der Wirklichkeit des Lebens hervorgehn, haben Beſtand und einen um ſo feſteren, dauerhafteren, als ſie durch die moraliſche Kraft des Volks getragen werden. Ihre Feſtig - keit und Dauerhaftigkeit iſt ſogar die Vorausſetzung ihrer tech - niſch-juriſtiſchen Vollendung. Wie kann das geiſtige Auge des Verſtandes das Recht erforſchen, wenn der Wille nicht ver - mögend iſt, das Objekt der Beobachtung mit feſter Hand zu halten? Wie troſtlos unter einer ſolchen Vorausſetzung der Beruf, ſich geiſtig in das Objekt zu verſenken, der unſtäten, wankelmüthigen Wirklichkeit eine Theorie abzugewinnen! Wie unſicher die Ausſicht, die entdeckten Wahrheiten in Wirklichkeit umzuſetzen, wie werthlos der Beſitz einer Lehre, die nur auf dem Papiere ſteht! Die beſſern geiſtigen Kräfte der Nation wenden ſich mit Unmuth von dieſer Beſchäftigung ab; die phi - loſophiſche Ergründung des Rechts im allgemeinen mag ſie an -Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 20306Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.ziehen das Recht, wie es iſt, d. h. die juriſtiſch-praktiſche Bearbeitung und techniſche Vervollkommnung deſſelben hat keinen Reiz für ſie. Darum kann eine Jurisprudenz nur bei einem willensſtarken Volk gedeihen; ohne Liebe, ohne Hingabe an ihren Gegenſtand iſt ſie ein kümmerliches Ding, dieſe Liebe aber iſt nicht möglich, wenn das Recht keinen innern Halt in ſich hat und wo das Volk oder die Zeit ihn nicht beſitzt, wie ſollte das Recht dazu kommen?

Kein Recht iſt geeigneter, uns dieſe Bedeutung des Wil - lensmoments, und die Wechſelwirkung zwiſchen moraliſcher und intellektueller Kraft zu veranſchaulichen, als das ältere römiſche; einer Zeit, wie der unſrigen, kann es als Spiegel dienen, wo - rin ſie erkennt, was ihr fehlt. Was jene beiden Kräfte aus dem ältern römiſchen Recht gemacht haben, wie ſie unmittelbar in den Inſtituten deſſelben ſich bethätigen, das wird das fol - gende Syſtem lehren, hier aber möge es mir erlaubt ſein, an einigen allgemeinen Tendenzen und Eigenſchaften des römiſchen Charakters ſowohl die gewaltige Kraft, die dem römiſchen Volk innewohnte, als die Relevanz moraliſcher Eigenſchaf - ten für die techniſche Ausbildung des Rechts zu veranſchaulichen.

Ich hebe zuerſt zwei Eigenſchaften hervor, die ſich beide nur nach verſchiedenen Seiten hin als Ausflüſſe eines feſten, energiſchen Willens bezeichnen laſſen, die Conſequenz und die conſervative Tendenz des römiſchen Charakters. Etwas wirklich wollen, heißt es ganz und dauernd wollen; Conſequenz und Ausdauer ſind die Kennzeichen und unzertrennlichen Begleiter der Willensſtärke.

Der Verſtand mag die Conſequenzen ziehen, aber der Wille iſt es, der ſie verwirklicht. Hier iſt ſo recht Gelegenheit gegeben ſich von der Wahrheit der obigen Bemerkung, daß auf dem Ge - biete des Rechts Wille und Verſtand nur gemeinſchaftlich ope - riren können, zu überzeugen. Wenn das römiſche Recht ſich mehr als irgend ein anderes durch ſeine Logik auszeichnet, ſo3071. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.gebührt das Verdienſt nicht ſo ſehr dem Verſtande, der ſie er - kannte, als dem Willen, der ſich praktiſch ihr unterordnete, und ihr erſt dadurch reale Exiſtenz verſchaffte. Dieſe praktiſche Realität jener Logik, die bereitwillige Unterordnung des römi - ſchen Volks unter, ich darf ſagen, die rückſichtsloſeſte Tyrannei der Conſequenz iſt viel bewundernswürdiger, als die höchſte Anſpannung der bloß intellektuellen Conſequenz. Wenn andere Völker für ihre religiöſen Ueberzeugungen gelitten haben, ſo hat das römiſche Volk es für ſeine rechtlichen. Daß die römiſche Rechtswiſſenſchaft ein einfaches, conſequentes Recht vorfand, das war das moraliſche Verdienſt des frühern römiſchen Volks, das trotz ſeines Freiheitsgefühls ſich das Joch einer eiſer - nen Conſequenz Jahrhunderte lang hatte gefallen laſſen. Daß es ein Joch war und worin das Drückende deſſelben beſtand, wird das folgende Syſtem zeigen.

Die Wechſelwirkung zwiſchen Verſtand und Wille tritt hier noch an einem Punkte ſchlagend hervor; es iſt dies jene dem Kenner des römiſchen Rechts wohlbekannte Weiſe der Römer, die Conſequenz mit dem praktiſchen Bedürfniß durch Kunſtgriffe, auf Umwegen u. ſ. w. zu vermitteln. Der moraliſche Wi - derwille der Römer gegen eine Uebertretung oder Nichtachtung der einmal anerkannten Prinzipien drückt und preßt, möchte ich ſagen, den Verſtand, ſeinen ganzen Scharfſinn aufzubieten, um Mittel und Wege zu finden, durch die jene Vermittlung der Conſequenz mit dem praktiſchen Bedürfniß ſich erreichen läßt. Die Noth macht erfinderiſch. Mögen die Erfindungen der - mer mitunter immerhin den Vorwurf einer hohlen Sophiſtik, einer bloßen Scheinconſequenz und wohl gar der Abſurdität ver - dienen, unläugbar iſt es, daß dieſer Conflikt zwiſchen der Con - ſequenz und dem praktiſchen Bedürfniß die juriſtiſche Erfin - dungsgabe der Römer zum größten Vortheil der techniſchen Vollendung des Rechts in Bewegung geſetzt und ausgebildet hat. Ein Volk von noch ſo hoher intellektueller, aber geringer mora - liſcher Kraft wird dieſen moraliſchen Nothſtand und damit auch20*308Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.den vortheilhaften Einfluß deſſelben auf die juriſtiſche Ausbil - dung ſeines Rechts nie kennen lernen; wo die Conſequenzen ſeines Rechts zu praktiſchen Unzuträglichkeiten führen, ſetzt es ſich einfach über dieſelben hinweg. Dem Laien wird dies heut - zutage als höchſt natürlich und nothwendig erſcheinen, dem Ju - riſten fällt es oft ſchwer ſich vom Gegentheil zu überzeugen.

Die eben gemachte Bemerkung gilt auch von der conſerva - tiven Tendenz der Römer, der wir uns jetzt zuwenden. Auch ſie war ein mächtiger Hebel für den römiſchen Scharfſinn; die Anhänglichkeit an das althergebrachte Recht rief, wo ſie ſich durch unabweisbare Anforderungen des ſtets in der Fortbildung begriffenen Lebens gefährdet ſah, die juriſtiſche Kunſt zu Hülfe oder ſagen wir, trieb ſie hervor. Die Bedürfniſſe der Gegen - wart mit den Traditionen der Vergangenheit zu vermitteln, erſteren gerecht zu werden, ohne nach Form und Inhalt mit den Ueberlieferungen der Vorzeit zu brechen, den Verkehr zu disci - pliniren, die rechtsbildende Kraft in die rechten Bahnen zu lei - ten, das war Jahrhunderte lang in Rom der edle ächt vater - ländiſche Beruf der juriſtiſchen Kunſt. In demſelben Maße, in dem die Schwierigkeit dieſer Aufgabe ſtieg, ſtieg ſie ſelbſt.

Des Zuſammenhanges wegen haben wir hier zuerſt des Einfluſſes gedacht, den die conſervative Tendenz ähnlich wie die Conſequenz auf die Entwicklung der juriſtiſchen Kunſt ausgeübt hat. Indem wir die genauere Betrachtung dieſes Einfluſſes der Stelle vorbehalten, wo derſelbe uns in der Geſchichte des Rechts begegnet, beſchränken wir uns auf den eben hervorgehobenen Geſichtspunkt und eine Verweiſung auf die obige Bemerkung, (S. 305) daß eine gewiſſe Stetigkeit des Rechts für die in - tellektuelle Entwicklung deſſelben unentbehrlich iſt.

Dieſe Stetigkeit tritt nun in der Geſchichte des römiſchen Rechts im höchſten Grade hervor,230)Es iſt dies ſo bekannt, und der Verlauf der Darſtellung wird uns noch ſo manche Belege dafür geben, daß ich es für überflüſſig halte, dies hier weiter auszuführen. und daß ſie bei den -3091. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.mern nicht wie im Orient in einer negativen Eigenſchaft der mangelnden Bildungsfähigkeit ihren Grund hat, ſondern in Charakterfeſtigkeit und Beharrlichkeit, das braucht kaum geſagt zu werden. Es gibt einen Conſervatismus der Angſt, der nicht den Muth hat, einer neuen Zeit ins Angeſicht zu blicken und durch ſeine Kurzſichtigkeit ſeinen eignen Beſtrebungen mehr hin - derlich, als förderlich wird; mit dieſem hat der römiſche keine Gemeinſchaft. Die Römer haben ſich nie geſcheut, einer neuen Zeit gerecht zu werden, alte Einrichtungen, die ſich überlebt hatten, fallen zu laſſen, neue einzuführen, und der flüchtigſte Blick auf das römiſche Recht genügt, um ſich zu überzeugen, daß im Innern deſſelben Revolutionen vor ſich gegangen ſind, die nirgends ihres gleichen finden. Aber dieſe Revolutionen waren freilich wie die, welche die Natur durchgemacht hat, nicht das Werk einer wilden Kraft, die in kurzer Zeit ſich erſchöpft und nur ſtoßweiſe wirken kann. Sie vollziehen ſich höchſt all - mählig und unmerklich, die neuen Ideen und Tendenzen treten anfänglich ſchüchtern und faſt nur verſuchsweiſe auf, das Be - ſtehende ſetzt ihnen einen gewaltigen Widerſtand entgegen, und ihr endlicher Sieg beruht nie auf einer Ueberrumpelung oder einer Uebereilung, ſondern auf dem hinlänglich erprobten Ue - bergewicht ihrer Kraft. 231)Dieſe Langſamkeit der Entwicklung geben die Römer ſelbſt als Grund der Vorzüglichkeit ihrer Verfaſſung an. S. z. B. Cicero de republ. II. c. 1… ob hanc causam praestare nostrae civitatis statum ceteris civi - tatibus .... quod nostra respublica non unius esset ingenio, sed multo - rum, nec unius hominis vita, sed aliquot constituta saeculis et aeta - tibus. Dem Neuen muß der Zutritt ſchwer gemacht werden, daſſelbe muß ſich ſeine Aufnahme erſt mühſam und allmählig erkämpfen; wo dies nicht der Fall, hat es auch keine Ausſicht auf Dauer leicht gewonnen, wird es auch leicht wieder aufgegeben. Ein Volk, das, wie das römiſche und engliſche, feſt am Alten hängt und dem Neuen nur weicht, wenn der Widerſtand unmöglich geworden, hält dieſes Neue anderer -310Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.ſeits auch um ſo feſter. Denn dieſelbe Kraft, die der Neuerung den Zutritt erſchwerte, wendet ſich ihr zu, ſobald ſie denſelben erzwungen hat.

Eine Kraft aber iſt es und nicht die bloße vis inertiae, in der die conſervative Tendenz des römiſchen Volks ihren Grund hat; es iſt die Kraft, mit der ein feſter Charakter die Grund - ſätze aufrecht hält, die er ſich einmal gebildet hat, die Gleich - mäßigkeit und Ausdauer, die bei Individuen wie Völkern das Kennzeichen der Energie ſind.

Die moraliſche Kraft, die dem römiſchen Geiſte innewohnte, erprobt ſich aufs glänzendſte an den Gegenſätzen, die im Ver - lauf der Geſchichte in Rom auftreten, ich meine ſowohl Gegen - ſätze in der Bevölkerung, wie die der urſprünglichen drei Tribus, der Patricier und Plebejer, als Gegenſätze im Recht, wie vor allem den Dualismus des jus civile und jus gentium. Das Maß der moraliſchen Kraft, die einem Volk beſchieden, erkennt man vielleicht am beſten an ſeinem Verhalten gegenüber derar - tigen Gegenſätzen, ſo wie ja auch für das Individuum die Wi - derſprüche der menſchlichen Natur der Prüfſtein des Charakters ſind. Ein ſchwacher Charakter iſt bei beiden der Spielball die - ſer Gegenſätze; die Einheit im Weſen, der feſte Punkt fehlt, und der Prozeß endet ſich mit einer moraliſchen Auflöſung. Es bewährt bereits eine gewiſſe Kraft, aber doch andererſeits eine Schwäche und einen Mangel an Selbſtvertrauen, wenn man dem Gegenſatz zu entrinnen oder ihn gewaltſam zu unterdrücken ſucht. Es iſt das Vorrecht der wahren Kraft, die Gegenſätze ſich frei entwickeln und bekämpfen zu laſſen, ohne die innere Einheit dadurch einzubüßen; jene Gegenſätze zurückzuführen auf ihre relative Berechtigung und als die verſchiedenen Seiten erſcheinen zu laſſen, in denen ſich die Einheit in vollendeter Weiſe darſtellt.

Bedürfte es der Belege für dieſe Behauptung, die Gegen - wart könnte ſie uns in Menge gewähren; ich verzichte darauf und beſchränke mich lediglich auf Rom. Die römiſche Welt3111. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.liefert uns den Beweis, bis zu welchem Grade die wahre Kraft die Gegenſätze zu ertragen und wie ſie ſich derſelben zu ihrer eignen Stärkung zu bedienen vermag. Um der ethniſchen Ver - ſchiedenheit der urſprünglichen Bevölkerung nicht zu gedenken, ſo erinnere ich vor allem an den Gegenſatz der Patricier und Plebejer. Wie gewaltig war hier der Stoß und der Gegenſtoß, von welcher Dauer der Kampf! Und doch: hat derſelbe je den römiſchen Staat geſchwächt, auf die Einheit des Staats und Volks, das gemeinſame Nationalbewußtſein nachtheilig einge - wirkt, hat nicht gerade umgekehrt die Vertheilung der progreſ - ſiven und conſervativen Kräfte und Beſtrebungen auf zwei ver - ſchiedene Volksmaſſen für die politiſche Entwicklung unendlich vortheilhaft gewirkt?

Um ein anderes Beiſpiel zu wählen, ſo gedenke ich des Gegenſatzes zwiſchen dem individuellen Freiheitstriebe und dem Prinzip ſtaatlicher Unordnung. Wo wären beide kräftiger ent - wickelt, als in Rom! Das höchſte Maß der privatrechtlichen und politiſchen Freiheit auf der einen, die freigebigſte Dotirung und die Popularität des Beamtenthums, der bereitwilligſte Ge - horſam auf der andern Seite.

Das römiſche Volk unter der äußerſten Strenge des Kriegs - geſetzes ſowohl im Felde als, wenn ein Diktator ernannt war, auch daheim; der freie Römer wegen ſeines Privatlebens vor den Cenſor geladen; die Volksverſammlungen in mannigfaltig - ſter Weiſe abhängig von dem Beamten. Und andererſeits da - gegen die Souveränität und der Stolz und die Eiferſucht des Volks auf ſeine Freiheit, die unumſchränkte privatrechtliche Au - tonomie des Individuums. Ein Blick auf die Geſchichte lehrt, wie ſchwer es den Völkern fällt, das Gleichgewicht zwiſchen Freiheit und Gehorſam herzuſtellen; es iſt der beſte Prüfſtein ihrer moraliſchen Kraft.

Ich führte oben auch den Gegenſatz zwiſchen dem jus civile und jus gentium an; es iſt der zwiſchen Nationalität und Uni - verſalität des Rechts. Den anderen Völkern iſt dies letzte312Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.Moment durch die Reception des römiſchen Rechts von außen und auf Koſten des Moments der Nationalität aufgezwungen. In Rom entwickelt ſich dieſer Gegenſatz auf natürlichem Wege von innen heraus, und beiden Momenten wird die freiſte, vollſte Entfaltung zu Theil, ohne daß das Gleichgewicht des Rechts dadurch geſtört, die Einheit deſſelben gefährdet worden wäre.

Wer den von uns aufgeſtellten Geſichtspunkt an der Ver - faſſung Roms zur Zeit der Republik erproben will, dem bietet ſie mit ihren vielen latenten Widerſprüchen reichen Stoff. Die Gewalten, die wir hier finden, die verſchiedenen Volksverſamm - lungen, der Senat, das Beamtenthum, ſchloſſen die rechtliche Möglichkeit der Unverträglichkeit und Gegenſätzlichkeit im hohen Grade in ſich; das Tribunat war ja ſogar die erklärte Negation, der autoriſirte Widerſpruch. Einer Zeit, wie der unſrigen, die in ihren Verfaſſungen die Kreiſe der verſchiedenen Staats - gewalten aufs genaueſte abzirkelt und dennoch das tägliche Schauſpiel der Entzweiung derſelben vor Augen hat, muß es als ein Wunder erſcheinen, daß die römiſche Verfaſſung bei allem Stoff des Widerſpruchs und der Gegenſätzlichkeit, der in ihr lag, das gerade entgegengeſetzte Schauſpiel darbietet. Das Wunder iſt aber nichts, als die einfache Wirkung der moraliſchen Kraft, die das römiſche Volk charakteriſirt. Mit feſter Hand weiß ſie die Gewalten zu zügeln und zum harmoniſchen Zuſam - menwirken zu veranlaſſen. In dieſer Kraft liegt überall in der römiſchen Welt der Grund der Einheit, die wir hier wahrneh - men; ſie kann es wagen, die Gegenſätze zu entfeſſeln, weil ſie den Conflikt derſelben nicht zu befürchten hat.

Ich darf hieran eine Bemerkung reihen, mit der ich die bisherige Betrachtung beſchließe; ſie betrifft die centraliſirende Tendenz des römiſchen Geiſtes. Für die Rechts - und Staats - entwicklung iſt der Umſtand, daß ſie auf die Stadt Rom be - ſchränkt war, daß Rom trotz der Ausdehnung des Reichs doch der lebendige Mittelpunkt des Ganzen, der Sitz der Intelligenz, des politiſchen Lebens, Handels u. ſ. w. blieb, von allergrößtem3131. Prädeſtination des röm. Geiſtes zur Cultur des Rechts. §. 20.Einfluß geweſen. Dieſe Thatſache kann ich aber nicht als eine glückliche Fügung des Schickſals, als einen äußern Zufall gelten laſſen, ſondern ich erblicke in ihr ebenſowohl einen Ausfluß römiſcher Eigenthümlichkeit, wie man die entgegengeſetzte Er - ſcheinung, die uns Deutſchland darbietet, die Zerſplitterung deſſelben, den Mangel an einem politiſchen oder geiſtigen Cen - tralpunkt, auf eine entgegengeſetzte Eigenſchaft des deutſchen Charakters zurückführt. Die dauernde Concentrirung des römi - ſchen Lebens auf die Stadt Rom iſt ein Verdienſt des römiſchen Geiſtes, eine Bethätigung des Centraliſationstriebes, der den Römern überhaupt eigenthümlich iſt. Wie dieſer Trieb mit dem römiſchen Weſen und der hiſtoriſchen Aufgabe des römiſchen Volks zuſammenhängt, braucht wohl nicht geſagt zu werden, und ebenſo wenig, warum derſelbe für keine Seite der geſamm - ten Exiſtenz eines Volks ſo vortheilhaft iſt, als für das Recht.

Ich habe durch die bisherigen allgemeinen Betrachtungen die Geduld des Leſers vielleicht ſchon zu ſehr auf die Probe ge - ſtellt, als daß ich ſie noch weiter fortſetzen möchte. Ich hätte ſie mir völlig erſparen können, wenn es nicht galt, dem verbreite - ten Vorurtheil entgegen zu treten, als ob das Recht vorzugs - weiſe vom Verſtande ſein Heil zu erwarten habe. Wäre dies Vorurtheil begründet, ſo wäre es unerklärlich, wie die Römer die Griechen, denen ſie in geiſtiger Beziehung ſo tief unterge - ordnet waren, dennoch auf dem Gebiete des Rechts ſo weit übertreffen konnten. Zu zeigen, worin das Uebergewicht der Römer lag, wie nämlich erſtens die ganze Richtung des römi - ſchen Geiſtes ihn vorzugsweiſe dem Recht zuführen mußte, und wie zweitens die moraliſche Kraft der Römer dem Verſtande bei ſeiner Arbeit am Recht weſentlich behülflich war und dieſe Ar - beit erſt wahrhaft fruchtbringend machte das war die Auf - gabe, auf die es hier ankam.

314Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.

2. Verhalten des römiſchen Geiſtes zu den gegebenen Ausgangspunkten.

XXI. Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts, die wir früher haben kennen lernen, geben uns die erſte Gelegenheit, die ſo eben charakteriſirte Eigenthümlichkeit des römiſchen Gei - ſtes daran zu erproben. Jene Ausgangspunkte als ſolche ent - halten an ſich noch nichts eigenthümliches; die ihnen zu Grunde liegenden Prinzipien werden ſich in den Rechten der meiſten Völker nachweiſen laſſen. Was das römiſche anbetrifft, ſo reichen ſie, wie früher bereits bemerkt, weit über Rom hinaus, und es mag ſich noch manches Einzelne, das wir oben bei Gelegenheit derſelben haben kennen lernen, aus der frühern Gemeinſchaft aller indogermaniſchen Völker herſchreiben.

Wie ſehr aber immerhin die Anfänge des Rechts bei den meiſten Völkern ſich gleichen mögen, die allmählige Entwicklung der Volksindividualität, die Verſchiedenheit der Schickſale und äußeren Verhältniſſe wirkt bald auf das Recht zurück. Bei man - chen Völkern dauern jene Ausgangsprinzipien noch lange fort, aber ihr inneres Verhältniß zu einander wird ein anderes, bald überwiegt das eine Prinzip, bald das andere. Manches Volk ſtreift umgekehrt früh die Formen ſeiner Kindheit ab und nimmt vollendetere an; kurz die fernern Wege gehen weit aus einander.

Wir wollen jetzt unterſuchen, welche Schickſale jene Aus - gangsprinzipien in Rom gefunden haben, und wir wenden uns zuerſt dem religiöſen zu, weil dies meiner Anſicht nach am früh - ſten ſeine urſprüngliche Bedeutung verliert und am erſten eine abgeſonderte Darſtellung verträgt.

Heftet man ſeinen Blick bloß auf die äußere Erſcheinung, ſo ſollte man glauben, daß das religiöſe Prinzip noch lange in Rom in vollſter Kraft beſtanden habe. Wohin man ſieht, im öffentlichen wie im Privatleben, drängt ſich noch bis gegen das Ende der Republik die Religion in den Vordergrund; kein3152. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.wichtiger Akt deſſelben, dem ſie nicht aſſiſtirte. Und trotzdem muß ich entſchieden in Abrede ſtellen, daß die Religion in Rom zur Zeit der Republik auf Recht und Staat einen beſtimmenden Einfluß ausgeübt hat. 232)Wenn ich, ohne eigne Studien über die römiſche Religion haben anſtellen zu können, und in dieſer Beziehung alſo von meinen Gewährsmän - nern abhängig, dennoch in meinem Urtheil mich von ihnen emancipirt habe, ſo wird man darin keine Anmaßung erblicken. Der Romaniſt, der den römi - ſchen Charakter gerade von ſeiner eigenthümlichſten Seite am meiſten kennen lernt, ſteht, wie ich glaube, auf einem Standpunkt, von dem aus ſich minde - ſtens manches in der Religion am beſten begreifen läßt. Möge ich im folgen - den die Farben auch etwas zu ſtark aufgetragen haben, gegenüber einer Rich - tung, die den Einfluß des religiöſen Moments auf die römiſche Welt ent - ſchieden übertreibt, iſt ein Outriren nach der andern Seite hin vielleicht gerade an der Zeit.Nicht darauf kommt es an, ob ſie äußerlich überall hervortritt, an allem Antheil nimmt, ob ihre Formen beobachtet, ihre Gebote befolgt werden dies Alles war der Fall und doch trägt es nichts aus. Das Weſentliche iſt, daß der römiſche Geiſt die Religion in das Verhältniß eines Mittels zum Zweck herabdrückte, daß ſie im römiſchen Staat nicht Herrin, ſondern Dienerin war. Ich wiederhole die bereits im vorigen Paragraphen eingelegte Verwahrung, daß meine Meinung nicht dahin geht, als ob die Römer in bewuß - ter Schlechtigkeit mit dem Heiligſten ihr Spiel getrieben hät - ten,233)So faßte man früher wohl die Sache auf, und Polybius VI, 56 ging mit einem ſchlechten Beiſpiel voran. Er betrachtet die römiſche Religion bloß als ein Mittel, beſtimmt, die große Menge durch Furcht vor den Göttern in Zaum zu halten, von dem herrſchenden Stande mit dieſer bewußten In - tention ausgebildet und in Anwendung gebracht. ſondern daß es eine im Weſen des römiſchen Charak - ters liegende Nothwendigkeit war, unbewußt und inſtinktartig alle Dinge ſeinen Zwecken unterzuordnen, ihnen die Seite ab - zugewinnen, nach der hin ſie für dieſe Zwecke die größte Brauch - barkeit beſaßen. Dies praktiſche Verhältniß der Religion zum römiſchen Staat und Leben will ich jetzt nachzuweiſen verſuchen.

Unſere Unterſuchung wendet ſich natürlicherweiſe vorzüglich316Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.der Seite der römiſchen Religion und Kirchenverfaſſung zu, die zu Staat und Recht eine praktiſche Beziehung hatte. Die ausſchließlich religiöſe Seite derſelben hat für uns nur ein ne - gatives Intereſſe, inſofern ſie uns nämlich zeigt, wie weit ſie hinter der erſten zurückſtand. Die Prieſterthümer, die dieſer Seite angehörten,234)Die Pontifices, Augurn, Fetialen und Decemvirn haben eine ganz andere Stellung, und ſie ſind hier natürlich nicht gemeint, ſondern nur die eigentlichen Geiſtlichen, die flamines, der rex sacrificulus, die Veſtalinnen u. ſ. w. waren als politiſch einflußlos wenig geſucht und darum von den Plebejern bei ihren Kämpfen um die geiſtlichen Stellen gar nicht begehrt. 235)Es kam vor, daß ausſchweifende junge Leute zur Strafe vom Pont. max. zu flamines beſtimmt wurden (capti). Liv. XXVII. 8.Bei der Aeußerlich - keit der ganzen römiſchen Religiöſität läßt ſich an einen ſittlichen Einfluß der Prieſter auf das Volk, wie er anderwärts ſo oft vorkommt, gar nicht denken. Bei einem wirklich religiöſen Volke beſchränkt die Religion ſich nicht auf ſich ſelbſt, auf ihre Dogmen und Formen, ſondern ſie durchdringt und erfaßt das ganze ſittliche Leben der Nation. Der Beruf der Prieſter iſt dem entſprechend von derſelben Ausdehnung, ſie ſind moraliſche Bildner des Volks und haben als ſolche den größten Einfluß auf daſſelbe. Ganz anders bei den Römern. Die Prieſter ſind hier bloß Diener der Götter, und ihre Aufgabe beſchränkt ſich auf die Verrichtung oder Ueberwachung des äußern Dienſtes, das religiöſe Dogma tritt dem gegenüber in den Hintergrund, ja kömmt in den letzten Jahrhunderten der Republik faſt ganz in Vergeſſenheit, ſo daß jener Dienſt vielfach nichts als eine mechaniſche Vornahme unverſtandner und dadurch bedeutungs - los gewordner Formen ward und nur durch den conſervativen Trieb der Römer ſo lange ſein kümmerliches Daſein friſtete. Bei einer ſolchen Beſchränkung auf das rein Ceremonielle konnten dieſe Prieſter keinen Einfluß aufs Leben gewinnen, und was keinen Einfluß hatte, war in Rom auch wenig ge -3172. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.achtet. 236)Siehe z. B. Liv. XXVII, 8. Die flamines Diales hatten das Recht, im Senat zu erſcheinen, wagten aber nicht, es auszuüben rem in - termissam per multos annos ob indignitatem priorum flaminum, und als C. Flaccus es zum erſten Mal wieder in Anſpruch zu nehmen wagte und ſeinen Anſpruch durchſetzte, war, wie Livius ſagt, nur eine Stimme darüber: magis sanctitate vitae, quam sacerdotii jure rem eam flaminem obtinuisse. Einen ſehr charakteriſtiſchen Gegenſatz zu ihnen bil - det die ſittenrichterliche Gewalt des Cenſors; die von der Reli - gion verſäumte Moral flüchtet ſich zum Staat, und er über - nimmt das Amt des moraliſchen Lehr - und Zuchtmeiſters.

Wenden wir uns jetzt einer andern Seite der Religion zu, die ihre praktiſchen Beziehungen zum Staat umfaßt. Wir ſahen bei Gelegenheit des religiöſen Prinzips (§. 18), daß die Staats - verfaſſung durch und durch mit religiöſen Elementen verſetzt war, und daß auch das Privat - und Strafrecht mannigfaltige Einwirkungen jenes Prinzips aufzuweiſen hatten. Die An - ſchauung, aus der dieſe Einwirkungen hervorgegangen waren, war eine tief religiöſe geweſen; letztere verweiſen uns auf das innige Verhältniß, in dem das Volk ſich die Götter zu ſich und ſeinem ganzen Sein dachte, auf den Antheil, den die Götter jener Anſicht zufolge an dem Staat und dem menſchlichen Trei - ben nehmen, auf das innere Bedürfniß des Volks, für ſeine Ein - richtungen eine höhere Weihe zu ſuchen und ſeine Handlungen ganz dem Willen der Götter anzupaſſen. Aber wie ſo oft, über - dauerte auch hier die äußere Einrichtung lange den Geiſt, aus dem ſie hervorgegangen; jene blieb, dieſer wurde ein anderer.

Schon die römiſche Königszeit iſt nicht mehr von jener Geſinnung beſeelt, aus der die religiöſen Einrichtungen hervor - gegangen ſind,237)Ich freue mich, für dieſe Anſicht eine Autorität wie die von Am - broſch in ſeinen öfter citirten Studien u. ſ. w. S. 57. anführen zu können: So viel iſt gewiß, daß jener Zuſtand der Ruhe und Einförmigkeit, in wel - chem allein jenes an tauſend Obſervanzen geknüpfte Prieſterthum und Reli - gionsſyſtem entſtehen konnte, ſchon in der Königszeit Aenderungen erlitt. Die Sage hat dieſen Uebergang von Religion und Frieden zu Irreligiöſität der Anfang der Republik und die erſten318Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.Jahrhunderte derſelben bezeichnen aber eine entſchiedene Hinten - anſetzung der religiöſen Traditionen,238)Ambroſch a. a. O. S. 64 Anm. 111 ſetzt den Anfang des Ver - falls der pontificiſchen Theologie ſowie der Auguraldisciplin in die Zeit nach dem zweiten puniſchen Kriege. S. auch S. 66. Was mußte vorhergegangen ſein, ehe ein ſolcher Verfall der Lehre möglich war! Daß ſich bereits vor dem erſten puniſchen Krieg Spuren der ſinkenden Achtung vor der Religion nachweiſen laſſen, hat er ſelbſt bemerkt. S. 65 Anm. 116. motivirt freilich durch dringende Umſtände, aber undenkbar, wenn der religiöſe Geiſt noch der alte geweſen wäre. Dieſe zwingenden Umſtände wa - ren die Ueberhebung des Königthums und die wachſende Macht und Oppoſition der Plebejer, jene führte zur Aufhebung des Königthums, einer ſchreienden Verletzung der inaugurirten Ver - faſſung, die durch die Scheinfortdauer des Königthums im rex sacrificulus wenig verdeckt ward und als Präcedenz, auf die die Plebejer ſtets verweiſen konnten,239)Wie dies auch geſchah. Liv. IV c. 6. beſonders gefährlich dieſe zu ſo manchen Conceſſionen, die eben ſo viele Verſtöße gegen das Fas waren. Ein von wahrhaft religiöſer Geſinnung beſeeltes Volk hätte ehr die Plebejer aus der Stadt ziehen laſ - ſen oder bis zum letzten Blutstropfen Widerſtand geleiſtet, als daß es ihnen z. B. das connubium240)Der Geſichtspunkt, der daſſelbe ausſchloß, lag darin: quod nemo plebejus auspicia haberet ideoque decemviros connubium diremisse, ne incerta prole auspicia turbarentur. eingeräumt oder, wenn237)und Unfrieden, dieſe Verwandlung eines geiſtlichen Königthums in ein welt - liches, nicht anzudeuten vergeſſen. Der Eroberer Tullus iſt der alten Satzun - gen der Religion unkundig, vernachläſſigt ſie, erſcheint als Feind der Götter. Sein Nachfolger, mit welchem unverkennbar ein höheres politiſches Leben ſeinen Anfang nimmt, macht ſich und das Königthum freier von den Oblie - genheiten der Religion, indem er einen nicht geringen Theil ſeiner geiſtlichen Functionen berechtigten Stellvertretern übergibt. Noch mehr überwiegt unter den folgenden Regierungen die politiſche Richtung ....... Der letzte König Roms ſteht als ein Verächter einheimiſcher Religionsweiſen, als Anhänger ausländiſcher Culten da. Der Plan des ältern Tarquinius, die alte inau - girirte Verfaſſung durch Einrichtung von drei neuen Tribus eigenmächtig um - zugeſtalten, iſt für den Geiſt jener Zeit gleichfalls ſehr charakteriſtiſch.3192. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.einmal eingeräumt, Ehen mit ihnen eingegangen, ſie zum Con - ſulat zugelaſſen u. ſ. w., und ebenſo hätte es, anſtatt das - nigthum aufzuheben, für den vertriebenen Tarquinius einen andern gewählt.

Man thut daher den Patriciern ſchwerlich Unrecht, wenn man annimmt, daß die Idee der religiöſen Unverletzlichkeit der Verfaſſung, die ſie ſo gern als Vorwand benutzten, um den Forderungen der Plebejer auszuweichen, ihre unbeſchränkte Ge - walt über die Gemüther bereits verloren hatte. Uebrigens iſt die Emancipation des Staats von der Religion und die ſchon ſo früh erfolgende Entkräftung des religiöſen Prinzips vorzugs - weiſe auf Rechnung der Plebejer zu ſetzen; ihre politiſchen Be - ſtrebungen führten jenes Reſultat mit Nothwendigkeit herbei. Jede Niederlage der Patricier war zugleich eine Niederlage des religiöſen Prinzips, jeder Sieg der Plebejer ein Sieg über die Idee der religiöſen Unantaſtbarkeit des Staatsrechts. Für die römiſche Religiöſität überhaupt iſt es von unheilvollen Folgen geweſen, daß das religiöſe Prinzip in der alten Verfaſſung ei - nen zuweit vorgeſchobenen Poſten bildete, eine zu ſehr exponirte Stellung einnahm und daher von den politiſchen Partheikäm - pfen ſtets berührt wurde. Zu ſehen, wie die Religion ihre Po - ſitionen nach und nach aufgab, und ich möchte ſagen, den Kür - zern zog das mußte auf die religiöſe Geſinnung beider Par - theien überhaupt die nachtheiligſte Rückwirkung äußern, es hieß, ſie zu der Einſicht bringen, daß das politiſche Intereſſe in Rom ſtärker ſei, als das religiöſe. Inſofern daran nun die Miſſion des römiſchen Volks ſich bewährt, können wir ſagen, daß die Plebejer, indem ſie die Patricier mit Gewalt aus den Banden des religiöſen Prinzips befreiten, etwas Großes und Hohes leiſteten; ſie zwangen ſie Römer zu werden.

Jener Rückzug der Religion aus der Verfaſſung erſtreckte ſich nicht weiter, als das Intereſſe der Plebejer es erheiſchte,320Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.und es verblieb ihr innerhalb der Verfaſſung noch ein beträcht - licher Raum, auf dem ſie einen unbeſtrittenen Einfluß ausüben konnte. Aber die Macht, die ihr hier gelaſſen, gehörte in der That nicht ihr ſelbſt, ſondern dem Staat. Die Römer hatten bei jenen Partheikämpfen gelernt, die Religion dem politiſchen Intereſſe unterzuordnen; ihre ferneren Leiſtungen machten die - ſer Schule Ehre. Darin beruhte ja, wie wir früher gezeigt, das römiſche Weſen, daß alles, was auf dem Boden der römiſchen Welt wuchs und beſtand, den Zwecken derſelben dienſtbar wer - den mußte. Die Religion, durch die oft wiederholten Schläge ihrer wahren lebendigen Kraft beraubt, fügte ſich leicht, und dieſe Fügſamkeit, die den Anlaß zu einem Conflikt mit dem po - litiſchen Intereſſe zu vermeiden verſtand, gewährte ihr den Schein der Macht und Unabhängigkeit. Der römiſche Staat ent - ſprach in allen Dingen ihren Satzungen und Geboten, ſchien ſich ganz ihrer Autorität zu unterwerfen, aber er konnte es ſon - der Gefahr thun, denn ihre Gebote waren ſo eingerichtet, wie ſie ihm am beſten paßten, und ihre Autorität bekräftigte nur das, was er ſelbſt wollte, ſo daß er im Endreſultat die Mit - wirkung dieſer Bundesgenoſſin gewann, ohne ſeinerſeits we - ſentliche Opfer dafür gebracht zu haben. 241)Man könnte mir den Einwurf machen: was nützte die Mitwirkung der Religion, da ſie dem bisherigen nach ihrer wahren lebendigen Kraft be - raubt war. Es ließe ſich darauf erwidern, zunächſt daß das von mir ange - nommene Verhältniß zwiſchen der Religion und Politik für die höhern Kreiſe der Bevölkerung, in denen es ja im Grunde allein praktiſch wurde, Statt gefunden haben kann, ohne daß daſſelbe für die große Maſſe gegolten hätte. Für Ciceros Zeit trifft dies bekanntlich zu; Unglauben oben, Aberglauben unten! Wir haben aber nicht nöthig für die ältere Zeit zu dieſer immer ſehr mißlichen Annahme zu greifen, vielmehr, glaube ich, kann die menſchliche Natur uns den ſcheinbaren Widerſpruch löſen. Wenn man glaubt, was man wünſcht, wenn alſo der Wille dem Glauben die Richtung vorſchreibt, ſo ſollte ein ſolcher Glaube gar keine Macht über uns haben, und doch wie groß kann dieſe Macht ſein. Dieſer Selbſtbetrug liegt einmal tief in der menſchlichen Natur, und in welchem Maßſtabe und mit welchem Erfolge ein ganzes Volk deſſelben fähig iſt, das lehrt uns vielleicht keins ſo ſehr, wie das römiſche.

3212. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.

Wir wollen jetzt die Richtigkeit dieſer Auffaſſung an den hauptſächlichſten hierher gehörigen religiös-politiſchen Einrich - tungen, Grundſätzen u. ſ. w. nachzuweiſen verſuchen. 242)Manche gute Bemerkungen finden ſich bei Beaufort la republ. Rom. lib. I c. V. Wer - fen wir zuerſt einen Blick auf die mit der Handhabung oder Ue - berwachung derſelben betrauten Perſonen. Es gehören hierhin die Pontifices, die Augurn, die Fetialen und die Bewahrer der ſibylliniſchen Bücher. Alle dieſe Perſonen hatten einen großen Einfluß, aber derſelbe war bedingt durch eine von der Staatsbehörde an ſie gerichtete Aufforde - rung in Function zu treten. Sie antworteten nur, wenn und wie ſie gefragt wurden, ihnen ſelbſt fehlte die Initiative. Der Beamte konnte, wenn er wollte, die Auſpicien allein vor - nehmen, oder einen Zeichendeuter zuziehn, der nicht zum Colle - gium der Augurn gehörte; eine ohne ſeine Aufforderung von einem Augur vorgenommene Beobachtung band ihn nicht. 243)S. über die Stellung der Augurn namentlich die lehrreiche Aus - führung von Rubino a. a. O. S. 44 62. und über die der Fetialen eben - daſelbſt S. 170 u. flg. Ueber die Bewahrer der ſibylliniſchen Bücher ſ. Hartung röm. Relig. B. 1. S. 135.Das Collegium konnte wegen eines Fehlers bei Anſtellung der Auſpicien den vorgenommenen Akt z. B. die Wahl eines Be - amten in den Comitien, für nichtig erklären, aber meines Wiſ - ſens nur, wenn es befragt war. Die Fetialen entſchieden völ - kerrechtliche Streitfragen, aber gleichfalls nur, wenn ſie aufge - fordert waren. Die Pontifices waren die Wächter des geiſtli - chen Rechts, höchſt geachtet und einflußreich, aber bei einem241)Mangel ächter Religiöſität und an deren Stelle ein Aberglaube, der trotzdem daß er in der Regel nur das ſieht, was ihm lieb iſt, dennoch eine große Macht über das Volk ausübt! Man begehrte Zeichen, aber ſie ſollten und mußten günſtige ſein im erſten puniſchen Krieg ließ P. Claudius die Hüh - ner, die das gewünſchte Zeichen verweigerten, ins Meer werfen ſie waren natürlich in der Regel ganz nach Wunſch, und trotzdem hob es den Muth des Heeres, wenn es hieß, daß die Zeichen ſehr günſtig ausgefallen!Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 21322Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.Conflikt mit dem Willen des Volks machtlos. Von ihren Straf - erkenntniſſen konnte ans Volk appellirt werden, und umgekehrt kam es ſpäter vor, daß das Volk ihre freiſprechenden Urtheile kaſſirte, ja ſogar ſchon im fünften Jahrhunderte der Stadt, daß das Volk den Pontifex maximus zwang, eine dienſtliche Hand - lung vorzunehmen, die er aus Gründen des geiſtlichen Rechts für unſtatthaft erklärt hatte. 244)Livius IX c. 46: coactusque consensu populi Cornelius Bar - batus Pontifex maximus praeire verba, quum more majorum negaret nisi consulem aut imperatorem posse templum dedicare.

Wie groß oder wie klein nun immerhin der Einfluß ſein mochte, der dieſen Perſonen zuſtand: vergeſſen wir nicht, daß alle jene Aemter als Staatsämter betrachtet und verwaltet wurden. Sie fielen Perſonen zu, die bisher ganz dem Staat gelebt hatten und mit der Uebernahme jener Aemter weder ihre politiſche Laufbahn als geſchloſſen, die Gunſt des Volks alſo fortan als überflüſſig betrachteten, noch dem Intereſſe des Staats irgendwie entfremdet wurden. Ein Standesintereſſe verführte ſie nicht, ihre Gewalt auf Koſten des Staats zu miß - brauchen und auszudehnen; an dieſem, wie an jedem andern Platze fühlten ſie ſich nur als Bürger und Römer, und die Ge - ſinnung, die ſie als ſolche beſeelte, leitete ſie auch bei der Ver - waltung ihres Amts. Oft mochte dieſe Geſinnung einen mög - lichen Conflikt des geiſtlichen Rechts mit dem politiſchen In - tereſſe ſchon im Keim erſticken; ſie beſtimmte ja den Geiſt, mit dem man die heiligen Bücher, die Zeichen u. ſ. w. auffaßte, und ein dem Staat ergebener Pontifex und Augur gab, ohne ſich einer Schlechtigkeit und der Abſichtlichkeit bewußt zu ſein, ihnen die Deutung, die dem politiſchen Bedürfniß am meiſten entſprach. Als die Patricier noch im Alleinbeſitz jener Stellen waren, bedienten ſie ſich derſelben im Intereſſe ihrer Par - thei;245)Z. B. Liv. IV c. 7. (a. 310 U.C.) augurum decreto perinde was bereits damals im Intereſſe der Parthei möglich war, war es auch ſpäter in dem des Vaterlandes.

3232. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.

Ich darf hier noch auf die von Manchen246)Z. B. Rubino a. a. O. S. 204 Anm.: Es braucht hier nur kurz an das ſpätere Verfahren in Bezug auf die haruspices, die ſibylliniſchen Bücher, die vates, die Aufnahme der griechiſchen Culte und vieles Andere erinnert zu werden, was zu einem Schluſſe auf die Vorzeit berechtigt. Un - empfänglich gegen den Eindruck neuer religiöſer Erſcheinungen und Künſte blieben die principes nicht, ſie zogen ſie in ihren Kreis, verarbeiteten und be - nutzten ſie in ihrer Weiſe. Mäcen empfahl dieſe Maxime dem Auguſtus [Dio Cassius LII, 36. Hartung röm. Relig. I S. 236]: Wahrſagung müßte zwar ſein, doch ſo, daß ſie durch öffentliche dem Staate bekannte Diener, nicht durch herumziehende Betrüger ausgeübt werde. Auguſt be - folgte ſie treulich, und ſeine Erfindung des jus respondendi enthält nur eine Uebertragung derſelben Maxime auf die Juriſten. Puchta Curſus der Inſtit. B. 1 S. 559. bereits gemachte Beobachtung aufmerkſam machen, daß es römiſche Regierungs - maxime war, den religiöſen Strömungen, denen man zu wei - chen für nöthig hielt, von Staatswegen ein beſtimmtes Bett vorzuzeichnen und ſie dadurch in Abhängigkeit zu bringen. Oeffentliche Anerkennung und Gleichſtellung eines neuen Cul - tus ſchien den Römern weniger gefährlich, als die bloße Dul - dung deſſelben; wo eine Unterdrückung deſſelben nicht mehr möglich war, entſchloß man ſich zu jener, und vom bloß politi - ſchen Standpunkt beurtheilt, bewährte man damit einen richti - gern Blick, als die neuere Zeit mit ihrer Mittelſtufe bloß tolerirter Glaubensbekenntniſſe. Rom kannte keine Prieſter, die durch245)ac vitio, creati honore abiere (tribuni militum), quod C. Curtius, qui comitiis eorum praefuerat, parum recte tabernaculum cepisset. Liv. VIII c. 23. (a. 428 U. C.) consulti augures vitiosum videri dictato - rem pronuntiaverunt. Eam rem tribuni suspectam infamem - que criminando fecerunt. nec quemque mortalium exstare, qui se vidisse aut audivisse quid dicat, quod auspicium dirimeret, neque augures divinare Romae sedentes potuisse, quid in castris consuli vitii obvenisset. Cui non apparere, quod plebejus dictator sit, id vitium auguribus visum. Schon im Jahre 293 läßt Livius III c. 10 einen Aus - ſpruch der Duumviri librorum sacrorum durch die Tribunen verdächtigen: id factum ad impediendam legem tribuni criminabantur ingensque ad - erat certamen. 21*324Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.hemmende Verbote zum Groll gegen den Staat veranlaßt, ihre Macht über die Gemüther zum Nachtheil des Staats benutzt hätten; die Macht, die ſie beſaßen, gehörte ihm, weil er, wenn er ſie überhaupt in der Stadt duldete, ſie ohne rechtliche Zurück - ſetzung der ihm dienſtbaren politiſch-religiöſen Hierarchie ein - verleibte.

Wenden wir uns jetzt den Einrichtungen, Formen, Dogma u. ſ. w. der römiſchen Religion zu, ſoweit ſie eine prakti - ſche Beziehung zum Staat haben, ſo gibt es in der ganzen römiſchen Welt ſchwerlich eine widerwärtigere Erſcheinung, als ſie uns darbieten die Traditionen einer von tief reli - giöſem Gefühl beſeelten Vorzeit verſteinert zu bloßen Formen und unter den Händen eines ſie für ſeine Zwecke geſtaltenden Verſtandes. Nicht darin liegt das Widerwärtige, daß jener Geiſt, aus dem ſie hervorgegangen, aus ihnen gewichen und ſie ſelbſt dennoch fortdauern dieſe Erſcheinung wiederholt ſich täglich ſondern daß der geiſt - und gemüthloſe Verſtand ſich ihrer bemächtigt, mit der Abſicht zwar einerſeits ſie zu er - halten,247)Es wäre eine höchſt intereſſante Aufgabe, die ſich hier aber natür - lich nicht behandeln läßt, die Aehnlichkeiten zwiſchen der römiſchen Jurispru - denz und der Behandlung der Religion nachzuweiſen. Dieſelben Erſcheinun - gen, die jene uns darbietet (wie z. B. der Formalismus, die Conſequenz, die Fictionen, die Scheingeſchäfte u. ſ. w. ſelbſt manche materielle Grundſätze) wiederholen ſich hier, aber mit gerade entgegengeſetzter Wirkung was dem Recht angemeſſen war und die Ausbildung deſſelben im höchſten Grade beför - derte, war für die Religion in demſelben Grade nachtheilig und entfremdete ſie immer mehr ihrem wahren Weſen. Juriſtiſche Fragen theologiſch behan - delt zu ſehn iſt noch erträglicher, als theologiſche Fragen juriſtiſch. Rubino a. a. O. S. 219 Not. 2 macht darauf aufmerkſam, daß charakteriſtiſch ge - nug für die römiſche Denkweiſe die justi atque injusti seientia auch die Re - ligion umfaßte. Dem Juriſten iſt die Legaldefinition der Jurisprudenz als einer rerum divinarum atque humanarum notitia, justi atque injusti scientia (L. 10 §. 2 de just. et jure) bekannt, und ebenſo daß die Lehre von den sacra zum jus publicum gezählt wird (L. 1 §. 2 ibid.). andererſeits aber doch ſie ſeinen Zwecken anzupaſ -3252. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.ſen. Dieſe Verſündigung des Verſtandes an einem Gegenſtande, dem er ewig fern bleiben ſollte, dieſer bewußte oder unbewußte Jeſuitismus, der die gleichgültigen Formen beobachtet, weil ſie ihm nicht hinderlich ſind, und die wirklichen Hinderniſſe, die die Religion ihm entgegenſetzt, mit elender Sophiſtik aus dem Wege räumt, dies Gemiſch von Aberglauben und einer an religiöſen Dingen ſich bethätigenden Schlauheit und juriſtiſchen Kunſt es iſt die abſtoßende Schattenſeite des römiſchen Cha - rakters, aber höchſt geeignet, um das wahre Weſen deſſelben daran zu erkennen.

Prüfen wir denn einmal die religiöſen Grundſätze und For - men, auf deren ſtrenge Beachtung ſich im Grunde das Lob re - ducirt, das man der römiſchen Religiöſität in ſo übertriebenem Maße geſpendet hat;248)Hartung a. a. O. I. S. 186 ſagt z. B.: ſo muß man den ältern Römern nachrühmen, daß ſie eine ſo allgemeine, ſo durchreichende und ſo unerſchütterliche Religiöſität beſeſſen und geübt haben, wie kaum ein an - deres Volk der Erde. ſtimmen ſie nicht ganz zu den welt - lichen Zwecken der Römer? Ihre politiſchen Inſtitutionen ge - nießen den Schutz religiöſer Weihe aber die Religion iſt füg - ſam genug, ſich auf Verlangen allen Aenderungen zu unterzie - hen. Die religiöſe Beziehung kann, wie ein äußeres Gewand, den Verhältniſſen umgehängt und wieder entzogen werden. Die Inauguration läßt ſich bei günſtigen Auſpicien rückgängig ma - chen,249)Schon von Tarquinius dem Jüngern erzählt Livius I c. 55: ex - augurare fana sacellaque statuit omnium sacellorum exaugurationes admittebant aves. die durch confarreatio in religiöſe Weihe eingegan - gene Ehe durch diffarreatio löſen, die Heiligkeit des Orts wie - der aufheben, ſelbſt die Götter können zum Umzug aus dieſem Tempel in einen andern gezwungen werden. Umgekehrt iſt dieſe Weihe nicht durch die religiöſe Beziehung des Gegenſtandes bedingt, ſie läßt ſich jeder Inſtitution ertheilen. Die Sacertät326Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.beruhte urſprünglich auf dem ſittlichen Abſcheu vor dem Frevel gegen die Götter, die Geſetzgebung aber disponirte über dies durch religiöſe Ideen getragene und bedingte Inſtitut wie über ein gewöhnliches Strafmittel, wandte es z. B. als das poli - tiſch brauchbarſte Mittel zum Schutz der Tribunen an.

Die Fetialen ſollten bei der Kriegsankündigung den Speer in Feindes Land werfen aber als dieſe Vorſchrift bei der Ausdehnung des Reichs beſchwerlich wurde, half man ſich, in - dem man einen Platz vor dem Tempel der Bellona durch einen gefangenen Soldaten des Pyrrhus ankaufen ließ und ihn als Feindes Land behandelte. 250)Die Stellen bei Hartung a. a. O. II. S. 271.Der Feldherr, den ein Unfall be - troffen, ſollte in Rom ſelbſt neue günſtige Auſpicien erwarten; auch von dieſer läſtigen Vorſchrift befreiten ſich die Römer in ähnlicher Weiſe ein beliebiger Platz auf dem Kriegsſchau - platz ward zum ager Romanus gemacht und hier die Erneue - rung der Auſpicien vorgenommen. 251)Die Stellen bei Rubino a. a. O. S. 89.Das gelobte Opfer ſollte gebracht werden aber man muß wiſſen, ſagt Servius,252)ad Aen. II, 116. Hartung a. a. O. I S. 160. daß bei den Opfern der Schein für die Wirklichkeit genommen wird; wenn daher ſchwer aufzutreibende Thiere zum Opfer ge - fordert werden, ſo formt man dieſelben von Brod oder Wachs und bringt die Bilder dar; ſtatt der erforderlichen Hirſchkühe ſchlachtete man Schaafe, nannte ſie aber Hirſchkühe. Der Fla - men Dialis durfte nicht ſchwören, der Magiſtrat mußte ſei - nen Amtseid leiſten, beide Aemter waren alſo unvereinbar. Als man dennoch einen Flamen Dialis zum Aedilen wählte,253)a. U. C. 552. Liv. XXXI, 50. und zwar zufälligerweiſe gerade einen ſolchen, der wegen ſeiner Strenge allgemeines Aufſehn erregt hatte,254)Liv. XXVII, 8, worauf Ambroſch S. 67 Anm. 127 aufmerkſam macht. In Note 236 war bereits von ihm die Rede. ſo half man ſich3272. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.dadurch, daß man einen Stellvertreter für ihn ſchwören ließ, und der ſtrenge Verfechter des geiſtlichen Rechts nahm daran keinen Anſtoß, daß ein Volksbeſchluß ausdrücklich beſtimmt hatte, was übrigens ſich ja auch von ſelbſt verſtand, daß es ſo angeſehn werden ſollte, als hätte er ſelbſt geſchworen, daß alſo im Grunde ihm nur der Akt des Schwörens, nicht aber der Eid ſelbſt abgenommen war. Der Feſttag ſollte geheiligt werden, für eine bewußte Uebertretung dieſes Gebots nicht ein - mal eine Sühne möglich ſein aber dem praktiſchen Bedürf - niß ordnete die Religion ſich unter, nothwendige Arbeit durfte auch an Feſttagen verrichtet werden. 255)Hartung a. a. O. I S. 188.

Statt mehr einzelne Beiſpiele anzuführen, will ich lieber einmal eine ganze Lehre des geiſtlichen Rechts, die für den Staat gerade von der eingreifendſten Bedeutung war, einer Prüfung unterwerfen, die Lehre von den Auſpicien und Zei - chen. 256)Eine ſo große Rolle die Auſpicien, Vorbedeutungen u. ſ. w. auch im römiſchen Privatleben ſpielten, ſo iſt es doch höchſt charakteriſtiſch, daß wir im römiſchen Privatrecht auch nicht die geringſte Spur eines Einfluſſes derſelben nachzuweiſen im Stande ſind. Zwar iſt in einer neuern Schrift der abentheuer - liche Verſuch gemacht, dem omen einen ſolchen Einfluß zu vindiciren, doch hat der Verfaſſer ſeine gegen die römiſche Jurisprudenz begangene Jugendſünde dadurch wieder gut gemacht, daß er ihr frühzeitig den Rücken gewandt hat. Die abergläubiſchen Ideen des Volks prallten an dem Meiſterſtücke der juri - ſtiſchen Vernunft kraftlos ab. Die juriſtiſche Behandlung des Eides gewährt einen ſchlagenden Beweis, wie ſehr das Gebiet des Privatrechts ſich gegen jegliche, ihm an ſich fremde Idee abzuſchließen wußte. Der promiſſoriſche Eid war juriſtiſch völlig wirkungslos (man erinnere ſich dabei des Gegen - ſatzes wegen an das Kanoniſche Recht), der aſſertoriſche bloß unter dem Ge - ſichtspunkt des Vergleichs aufgefaßt, einerlei ob wahr oder falſch geſchworen. Contemta jurisjurandi religio satis deum habet ultorem (L. 2 Cod. de reb. cred. 4. 1). Es war ein Bedürfniß des religiöſen Gefühls, für eine einigermaßen wichtige Handlung die Zuſtimmung der Göt -328Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.ter einzuholen, und dem Glauben thaten der Himmel und die Vögel als Götterboten den Willen der Götter kund. Eine ſpä - tere Zeit brachte noch manche andere Erkenntnißmittel hinzu, das Freſſen der Hühner, die Eingeweide des Opferthieres u. ſ. w., und der Glaube war geſchäftig, ſelbſt den Handlungen der Menſchen, Unfällen gewöhnlicher Art, den Namen u. ſ. w. einen Glück oder Unglück ankündenden Sinn abzugewinnen.

Daneben aber verläugnete ſich doch die römiſche Schlauheit nicht, die Lehre von den Vorzeichen war ſo eingerichtet, daß nicht der Menſch den Zeichen, ſondern die Zeichen dem Men - ſchen untergeben waren.

Wir müſſen die eigentlichen Auſpicien, die nach den Regeln der Kunſt beobachtet und gedeutet wurden, von den bloßen An - zeichen unterſcheiden, die ſich ungeſucht darboten. Was letztere anbetrifft, ſo lehrte man,257)Hartung a. a. O. I S. 101 Servius ad Aen.: nam nostri arbitrii est, visa omina vel improbare vel recipere. daß ſie ganz in der Hand deſſen ſeien, der ſie beobachtet hatte, er konnte ſie annehmen (accipio omen) oder zurückweiſen (ad me non pertinet), ja ihnen eine andere Richtung258)Durch Schlauheit und ſelbſt durch Betrug konnte man ſich ein Zeichen aneignen, das einem Andern zu Theil geworden. Ich verweiſe z. B. auf den von dem Prieſter der Diana verübten Betrug, von dem Livius I, 45 erzählt, auf einen ähnlichen, aber durch Vorſicht von der andern Seite ver - eitelten Verſuch, den Plinius Hist. natur. lib. XXVIII cap. II §. 15 be - richtet: ( transiturum fuisse fatum in Etruriam, ni prae - moniti .. legati Romani respondissent etc.). und Bedeutung geben. Sowie er im Au - genblick, wo ſie von ihm bemerkt wurden, der zunächſt ſich aufdrängenden ungünſtigen Bedeutung eine paſſende günſtige zu ſubſtituiren wußte, ſo war die Kraft des Zeichens gebrochen, die anſcheinende Drohung in eine Verheißung verwandelt. 259)Hartung a. a. O. I S. 101, der unter andern das bekannte Bei - ſpiel von Cäſar anführt, der, als er an der afrikaniſchen Küſte aus dem Schiff3292. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.Ein ungünſtiges Zeichen, das von dem Handelnden nicht be - obachtet wurde, hatte keine Bedeutung für ihn, darum pflegte man beim Opfer ſich das Geſicht zu verhüllen, um kein Zeichen wahrzunehmen, und beim Ausſprechen feierlicher Gebete, Ei - desformeln u. ſ. w. einen Flötenbläſer ſpielen zu laſſen, um auch die Ohren zu ſichern. 260)Plin. Hist. nat. lib. XXVIII. c. 2 §. 11 tibicinem canere, ne quid aliud exaudiatur.

Was nun die Auſpicien anbetrifft, ſo enthält die Augural - disciplin einen recht ſchlagenden Beweis meiner obigen Behaup - tung. Sie war ſtreng, ſehr ſtreng, was die genaue Beobach - tung der Formen anbetraf, aber wer die Formen genau erfüllte, der konnte viel erreichen. Wie wohlthätig einerſeits dieſe Strenge, die an den geringſten Formfehler Nichtigkeit des ganzen Akts knüpfte! wie geeignet, um ſtaatsrechtliche Akte z. B. Wahl eines untauglichen Beamten von Seiten des Volks, durch die man überrumpelt war, hinterher wieder zu entkräf - ten! 261)Es ſind Beiſpiele bereits oben Note 245 vorgekommen.Andererſeits aber wie fügſam jene Disciplin, wenn es galt, ſchlechte oder gute Zeichen aufzufinden! Der Grund - ſatz, der bei Geſetzen galt, daß das ſpätere das frühere auf - hebe, war auch auf die Auſpicien übertragen262)Rubino a. a. O. S. 69 Anm. 1 und die dort citirten Stellen von Servius ad Aen. II, 691: si dissimilia sunt posteriora, solvuntur priora. XII, 183: in auguriis prima posterioribus cedere. und gab die Auſpicien ganz in die Hand des Suchenden. Geſetzt es ſollte durch ſie eine Maßregel hintertrieben, eine von unruhigem Geiſt beſeelte Volksverſammlung geſprengt werden, ſo ſetzte der die Auſpicien beobachtende Beamte ſeine Beobachtung ſo lange fort, bis er endlich ein ungünſtiges Auſpicium erhalten hatte. Um - gekehrt, wenn es darauf ankam, ein günſtiges zu gewinnen;259)ans Land ſprang, ſtürzte und ſich ſchnell faſſend ausrief: ich habe Dich, Afrika.330Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.er ſtellte ſeine Beobachtung ein, ſowie er das Gewünſchte er - halten, alle vorhergehenden ungünſtigen Zeichen wurden durch das letzte günſtige entkräftet. Um eine Volksverſammlung zu hintertreiben, genügte es ſogar, daß an demſelben Tage irgend ein magistratus, ſelbſt ein minor, ein servare de coelo vorge - nommen und dem Convokanten davon Anzeige gemacht hatte. 263)Einerlei, ob die Beobachtung eine günſtige oder ungünſtige ge - weſen war, der bloße Akt des servare de coelo war ausreichend. S. Ru - bino a. a. O. S. 74 u. f.

Die Himmelszeichen, wenn ſie auch dem Suchenden bei be - harrlicher Fortſetzung ſeiner Beobachtung endlich zu Theil wer - den mußten, konnten doch einige Zeit auf ſich warten laſſen. Im Felde, wo oft der Augenblick entſcheidet, bedurfte man ſolcher Zeichen, auf deren ſofortiges Eintreten ſich zählen ließ, wie z. B. das tripudium, das Freſſen der Hühner. 264)Es kam darauf an, daß ſie gierig über das Eſſen herfielen, und daß beim Freſſen etwas von dem vorgeſetzten Futter auf die Erde fiel für ausgehungerte Hühner, namentlich wenn man das Futter darnach wählte, eben keine ſehr ſchwierige Zumuthung!Zu dem Zweck führte jeder Feldherr Hühner mit ſich, die im beſtändigen Zuſtande des Hungers gehalten wurden, und es iſt wohl über - flüſſig zu bemerken, wie ſehr dies Zeichen in der Gewalt des Suchenden war. Von den ſibylliniſchen Büchern läßt ſich, wie es ſcheint, daſſelbe behaupten, ſie waren ſo unbeſtimmt abge - faßt, ſo vieldeutig, daß man alles, was man wollte, aus ih - nen herausleſen konnte. 265)Hartung a. a. O. I S. 135.

Es verdient wohl beachtet zu werden, daß in allen dieſen Fällen ſubjektiv gar kein Betrug erforderlich war, vielmehr die Religion die Regeln und Einrichtungen ſo elaſtiſch gemacht hatte, daß ſie ſich auch bei ſtrenger Beobachtung derſelben ſtets den augenblicklichen Zwecken fügten. Mochte ſie es verantworten, daß ſie die Zeichen in die Hände des Suchenden gegeben, letz -3312. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.teren ſelbſt konnte kein Vorwurf treffen, wenn er das fand, was er im Intereſſe des Staats ſuchte.

Vom religiöſen Standpunkt aus hat dieſe Entartung eines urſprünglich aus religiöſem Bedürfniß hervorgegangenen Inſti - tuts etwas Widerwärtiges, und ſie beweiſt den frühen Verfall der wahrhaft innerlichen Religiöſität in Rom. Letztere würde ſich nicht in der Weiſe an den Göttern haben verſündigen kön - nen, daß ſie die Nachſuchung ihrer Zuſtimmung zur leeren Poſſe herabgewürdigt hätte. Faßt man aber das ganze Inſtitut mit ſeinen in den Willen der Staatsregierung gegebenen geiſt - lichen Beamten, Zeichen, Nichtigkeitsgründen u. ſ. w., wie man es muß, als ein politiſches Inſtitut auf, ſo verdient es freilich von dieſem Standpunkt aus eben ſo hoch geſtellt zu werden, wie es in religiöſer Beziehung niedrig ſteht. Die aus - gezeichnete Brauchbarkeit des Inſtituts ſetze ich nicht ſowohl in ſeine poſitive Seite, daß es nämlich der Regierung als Mittel diente, dem Volk Vertrauen einzuflößen, ihren Anordnungen durch die eingeholte Zuſtimmung der Götter Auctorität und Ge - horſam zu verſchaffen, als vielmehr in ſeine negative Function d. i. ſeine Macht, politiſche Maßregeln zu hemmen und zu ent - kräften. Ungünſtige Auſpicien, ja das bloße servare de coelo gewährten das legale Mittel, eine angeſetzte Volksverſammlung zu vertagen, und bei einer vorübergehenden leidenſchaftlichen Erregung des Volks war dies ſchon ein großer Gewinn. Form - fehler, bei Abhaltung der Auſpicien vorgekommen, machten es möglich, Uebereilungen, Mißgriffe der Beamten und des Volks, die ſonſt durch kein verfaſſungsmäßiges Mittel mehr zu redreſſiren waren, als nichtig aus dem Wege zu räumen,266)Ich verweiſe z. B. auf den Fall in Note 245, die Ernennung des Diktators betreffend, Liv. VIII, 23. ſo daß man das Collegium der Augurn, das über dieſe Nichtigkeitsfälle erkannte, als höchſten politiſchen Caſſationshof bezeichnen könnte.

332Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.

Das ſchließliche Reſultat unſerer Erörterung beſteht darin, daß das religiöſe Prinzip die Bedeutung, die wir ihm bei der Bil - dungsgeſchichte des Rechts vindiciren mußten, für die Zeit des ſpezifiſch-römiſchen Rechts verloren hat. Die religiös-rechtli - chen Inſtitute und Formen dauern zwar äußerlich noch lange fort, allein der Geiſt iſt gewichen, die römiſche Sittlichkeit wur - zelt nicht mehr in der Religion, ſondern im Staats - und Rechts - prinzip. Die Blüthezeit der Republik liefert uns den Beweis, welch eine ſittliche Kraft das bloße Staats - und Rechtsprinzip, ſobald es den Menſchen ganz und gar durchdrungen hat, zu entwickeln vermag. 267)Darauf macht ſchon Auguſtinus in einer von Ambroſch angeführ - ten Stelle, de civit. Dei V, 12 aufmerkſam: qui (Romani) causa ho - noris, laudis et gloriae consulerent patriae, in qua ipsam gloriam requirebant salutemque ejus saluti suae praeponere non dubitarent, pro isto uno vitio i. e. amore laudis, pecuniae cupidita - tem et multa alia vitia comprimentes. Die Allgewalt dieſes Prinzips bethä - tigte ſich auch daran, daß es die Religion in ihren Beziehungen zur Politik zu einem bloßen Mittel zum Zweck herabdrückte. Daß dies Mittel nicht zu ſchlechten Zwecken, ſondern im wahren Intereſſe des Staats, daß es mit Mäßigung und äu - ßerm Anſtand benutzt ward, und die Römer nicht durch eine zu raſche Abnutzung es gehäſſig und werthlos machten davon haben wir den Grund weniger in der Religion ſelbſt, als in dem politiſchen Takt und Charakter der Römer zu ſuchen.

Was nun die drei übrigen Ausgangspunkte des römiſchen Rechts anbetrifft, ſo dürfen wir den einen derſelben, das ſub - jektive Prinzip, hier mit der Bemerkung erledigen, daß das fol - gende Syſtem vorzugsweiſe als ſein Werk aufzufaſſen iſt, wir dort alſo Gelegenheit erhalten werden, dies Prinzip in ſeiner3332. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.ganzen ſpätern Ausdehnung, auf dem Höhenpunkte ſeiner Kraft und Vollendung kennen zu lernen. Wie es ſich hiſtoriſch ent - wickelt hat, welche Bedeutung die Beſtrebungen der Plebejer, die Zwölftafelgeſetzgebung u. ſ. w. dafür haben, das gehört nicht hierher, und müſſen wir der römiſchen Rechtsgeſchichte überlaſſen. Für unſern Zweck genügt es zu wiſſen, daß die - miſche Rechtsbildung vorzugsweiſe dies Prinzip herausgreift, in meiſterhaft conſequenter Weiſe entwickelt und daſſelbe von den beſchränkenden Einflüſſen der übrigen Ausgangsprinzipien befreit. Dieſe Entwicklung des ſubjektiven Prinzips ſteht im umgekehrten Verhältniß mit der der beiden andern Prinzipien. Ihre Zeit war dahin, das römiſche Volk, das über den Ge - genſatz der Patricier und Plebejer ſich erhob, bedurfte anderer Formen und Prinzipien, als die Urbevölkerung Roms. Dauern auch manche der hierher gehörigen Einrichtungen äußerlich fort: ihre innere Bedeutung, ihre conſtitutive, productive Kraft iſt, wie die der Religion, erloſchen, und wir können uns hier von ihnen auf immer trennen; das folgende Syſtem wird ihrer nicht mehr gedenken. Da wir hier nicht, wie bei dem religiöſen Prin - zip, Veranlaſſung haben, der herrſchenden Anſicht entgegenzu - treten, ſo kann die Trennung raſch von Statten gehn. Was zuerſt das Familienprinzip anbetrifft, ſo nimmt die Bedeutung deſſelben ſowohl in politiſcher wie privatrechtlicher Beziehung in demſelben Maße ab, als die Macht der Plebejer wächſt. Auch hier haben ſie wieder das Verdienſt, einen für die Entwicklung des politiſchen Lebens ſowohl wie für die freie Entfaltung des Privatrechts höchſt wichtigen Fortſchritt erzwungen zu haben. In letzterer Beziehung enthält ihre urſprüngliche Stellung die Unabhängigkeit des Privatrechts vom öffentlichen Recht und die des Vermögensrechts von der Familie. Ihnen verdankt alſo das reine, vom Einfluß des Familienprinzips emancipirte Pri - vatrecht ſeinen Urſprung, und dies iſt eben das ſpätere römiſche Privatrecht. In politiſcher Beziehung vertreten ſie die Berech -334Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.tigung der perſönlichen Kraft, ſowohl der geiſtigen und ſittlichen als der materiellen, gegenüber dem Recht der Geburt, die Su - periorität des freien Willens gegenüber einer durch die Natur beſtimmten Nothwendigkeit, das lebendige Bedürfniß und Recht der Gegenwart gegenüber den ererbten Satzungen der Vergan - genheit. Der Punkt, auf dem dies plebejiſche Prinzip auf Ko - ſten des Familienprinzips zuerſt zum Durchbruch kömmt, iſt die Wehrverfaſſung. Das militäriſche Intereſſe ſetzt ſich vielleicht überall am leichteſten über das Prinzip der Geburt hinweg. Die Servianiſche Verfaſſung, deren vorherrſchend militäriſche Beſtimmung bereits (S. 244) erwähnt ward, zeigt uns Patri - cier und Plebejer zu einem Heer vereint, als Maßſtab der Wehrpflicht und des Stimmrechts, ſoweit es den Centuriat - comitien zuſtand, das Vermögen. Das Vermögen aber iſt nichts als die materielle Kraft des Einzelnen, und im hohen Grade dem Wechſel unterworfen, iſt zu erwerben und zu ver - lieren, es bildet alſo den entſchiedenſten Gegenſatz zum Fami - lienprinzip. Daſſelbe praktiſch als Maßſtab politiſcher Pflichten und Rechte aufzuſtellen, wenn auch anfänglich in noch ſo be - ſchränkter Weiſe, hieß dem Geſchlechterſtaat die Art an die Wurzel legen. Es war dies aber nicht eine vereinzelte Erſchei - nung, ſondern es tritt in der Regierung der drei letzten Könige überhaupt die Tendenz hervor, ſich von den Traditionen und dem Stabilitätsprinzip des Geſchlechterſtaats frei zu machen. Die Reaction gegen dieſe Richtung ging zwar aus ihrem Kampfe mit dem Königthum ſiegreich hervor, daß ſie aber nach und nach dem Plebejerthum weichen mußte und ſchließlich völlig erlag, iſt bekannt. Die Schilderung dieſes Kampfes gehört nicht hier - her; daß er, anſtatt die vorhandenen Kräfte zu ſchwächen, ſie umgekehrt im höchſten Grade anſpannte und entwickelte, iſt be - reits oben (S. 166) erwähnt. 268)Daß einzelne Ausflüſſe des Familienprinzips im römiſchen

3352. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.

Das militäriſche Prinzip, dem wir uns jetzt zuwenden, hatte dem Königthum das Leben gegeben, aber das Königthum hielt ſich nicht innerhalb der Schranken, die jenes Prinzip ihm an - wies (S. 249 252). Die fortgeſetzte Ueberhebung deſſelben, die endliche Ausartung deſſelben in Willkühr führte ſeinen Sturz herbei, ohne daß aber damit auch das imperium ſelbſt aufgeho - ben worden wäre. Bekannt iſt aber, daß dem imperium für den Umfang der Stadt Rom die ſchärfſte Spitze das Recht über Leben und Tod abgebrochen ward, ſo wie daß es im Fall der Ernennung eines Diktators vorübergehend ſeine alte Vollgewalt wieder erhielt. Der politiſche Inſtinkt der Römer fühlte es heraus, daß die königliche Gewalt nicht abſolut ver - werflich geweſen, daß der Mißbrauch, den ſie ſich hatte zu Schulden kommen laſſen, vorzugsweiſe in der lebenslänglichen Dauer ſeinen Grund gehabt hätte, daß aber eine raſch vorüber - gehende Wiederherſtellung derſelben, bei der die Gefahr eines Mißbrauchs ungleich weniger zu befürchten war,269)Die Diktatur durfte bekanntlich nur 6 Monate dauern. für Zeiten eines politiſchen Fiebertaumels das einzige genügende Heilmit - tel ſein könne. So bewahrte ſich die römiſche Verfaſſung neben der Ausbreitung der politiſchen Gewalt über Volk, Senat und Beamte auch die Möglichkeit einer äußerſten Concentrirung der - ſelben in den Händen eines Einzelnen, neben der Wucht ſchwer - fälliger republikaniſcher Inſtitutionen die Schnellkraft einer ab - ſoluten Monarchie. Im Felde blieb das imperium immer in ungeſchwächter Kraft270)Intereſſante Belege dazu finden ſich im Titel der Pandekten de re militari (49. 16) und de captivis (49. 15); aus letzteren kann ich mir nicht verſagen das Bruchſtück einer Stelle vom Juriſten Paulus mit - zutheilen, L. 19 §. 7: Filius quoque familias transfuga non potest beſtehen, und wenn in der Königszeit268)Staat und Recht d. h. als ganz allgemeine Einrichtungen fortdauerten, iſt bereits früher erwähnt z. B. die Cenſur (S. 177), die cura prodigi (S. 179), die actio popularis (S. 171).336Erſtes Buch Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.das ganze Volk unausgeſetzt unter der Zuchtruthe der militäri - ſchen Disciplin geſtanden hatte, ſo machte noch Jahrhunderte lang jede Generation wenigſtens in ihrer Jugend die heilſame Schule der militäriſchen Erziehung durch. Der Kriegsdienſt war die Vorſtufe und Vorbereitung zum eigentlichen Staats - dienſt, und von wie heilſamen Folgen dies für den römiſchen Charakter war, iſt bereits früher (S. 254, 255) bemerkt.

270)postliminio reverti neque vivo patre, quia pater sic illum amisit, quemadmodum patria, et quia disciplina castrorum anti - quior fuit parentibus Romanis, quam caritas libero - rum; aus jenem Titel L. 3 §. 15: In bello qui rem a Duce prohibi - tam fecit aut mandata non servavit, capite punitur, etiamsi res bene gesserit.

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TextGeist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung
Author Rudolf von Jhering
Extent357 images; 101088 tokens; 13855 types; 728880 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationGeist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung Erster Theil Rudolf von Jhering. . XII, 336 S. Breitkopf und HärtelLeipzig1852.

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MPI f. europäische Rechtsgeschichte Frankfurt MPIER, NB 6/6177 [1]

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ClassificationFachtext; Recht; Wissenschaft; Jura; core; ready; china

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