Nur ungern habe ich mich entſchloſſen, das zweite Buch (zugleich den zweiten Band) meines Werks in zwei Abtheilungen erſcheinen zu laſſen. Ich hatte auch für den zweiten Band aus denſelben Gründen, die mich beim erſten Bande dazu beſtimm - ten, die Methode des bogenweiſen Druckens beibehalten, und ſchon im März 1853 den Druck der erſten Bogen beginnen laſ - ſen. Ich durfte mich der Hoffnung hingeben, daß das zweite Buch meines Werks im Sommerſemeſter dieſes Jahres fertig werden würde. Allein ſeit Anfang des Semeſters bemächtigte ſich meiner eine körperliche und geiſtige Abſpannung, die mich zwar an meinen ſonſtigen Arbeiten nicht hinderte, ein eigentlich produktives Arbeiten aber unendlich erſchwerte, und dies gerade bei einem Punkt, der mehr als irgend ein anderer die ganze Kraft in Anſpruch nahm. Es iſt das Kapitel über die juriſtiſche Technik, mit dem die zweite Abtheilung beginnen wird. Daſſelbe mit ſchwacher Hand und mit mattem Sinn zu bearbeiten oder richtiger, da ich leider Monate lang nicht anders habe arbeiten können, das ſo gearbeitete in den Druck zu geben, widerſtrebte mir; dazu war mir der Gegenſtand ſelbſt zu lieb. Es blieb mirIVVorrede.nichts übrig, als die Arbeit einige Zeit auszuſetzen, um mich wieder etwas zu erholen. Um aber vor den Gedanken an das Buch auf einige Zeit wirklich Ruhe zu haben, ſchien es mir ge - rathen, das fertig gewordene zu publiciren, und da ſich gerade ein paſſender Abſchnitt darbot, ſo habe ich mich hierzu entſchloſ - ſen. Die zweite Abtheilung, welche minder ſtark werden dürfte, als die erſte, übrigens mit fortlaufender Paginirung gedruckt werden ſoll, hoffe ich im nächſten Jahre zu abſolviren. Im dritten Bande wird ſodann das dritte Buch (das neuere römiſche Recht enthaltend) folgen.
Gießen 14. October 1854.
XXII. Die Aufgabe des vorliegenden Buchs beſteht in der Charakteriſtik des ſpezifiſch römiſchen oder ſtrengen Rechtsſy - ſtems (jus strictum). Es braucht wohl nicht erſt daran erin - nert zu werden, wie ſich unſere Aufgabe zu der der römiſchen Rechtsgeſchichte verhält,1)Es iſt nicht meine Schuld, wenn das Verhältniß der von mir in die - ſem Werk verfolgten Aufgabe zu der der römiſchen Rechtsgeſchichte nicht Je - dem klar geworden iſt z. B. nicht meinem Recenſenten in den Heidelb. Jahr - büchern (Herrn Brackenhoeft). Ich habe jenes Verhältniß in der Einleitung möglichſt deutlich angegeben, für den genannten Herrn ſcheint aber noch ein höherer Grad von Deutlichkeit nöthig zu ſein, als man ihn füglich, ohne ſeine Leſer zu beleidigen, anwenden darf. daß es uns nämlich nicht abgeſehen iſt auf eine Darſtellung der einzelnen Rechtsinſtitute, nicht darauf, das Werden, die allmählige Entwicklung des Einzelnen wie des Ganzen, kurz die hiſtoriſche Bewegung innerhalb des Syſtems zu verfolgen. Wir erfaſſen vielmehr das Syſtem in ſeiner Totalität und als fertige Thatſache und werden nur ver - ſuchen, die leitenden Ideen, oder um einen frühern Ausdruck zu gebrauchen, den pſychiſchen Organismus deſſelben zu ermit - teln. Darum müſſen wir denn hier, wie überall, auf die römi - ſche Rechtsgeſchichte als auf eine weſentliche Ergänzung unſeres Verſuchs verweiſen.
1*4Zweites Buch — das ſpezifiſch röm. Rechtsſyſtem.Wie gelangen wir nun zu dieſem Syſtem? Es iſt zu dem Zweck faſt durchgehends eine künſtliche Scheidung nöthig, eine Anwendung jener Methode, die wir in der Einleitung angege - ben und zu rechtfertigen verſucht haben, und deren Rechtferti - gung alſo hier nicht erſt zur Frage ſteht. Aus dem, was ſicher und unzweifelhaft der alten oder der neuen Zeit angehört, ſuchen wir den verſchiedenen Bauſtyl beider Zeiten kennen zu lernen, und nach dieſem Bauſtyl beſtimmen wir dann die Stücke, hin - ſichtlich deren eine ſolche äußere Gewißheit nicht beſteht. Es iſt ein gewaltiges Gebäude, das wir vor uns haben; wir wiſſen, daß es zu zwei verſchiedenen Zeiten aufgeführt wurde, und es kömmt darauf an, den urſprünglichen Bau — die feſte Burg des strictum jus — unter dem modernen Ueberbau zu erkennen. Iſt auch mancher Theil deſſelben völlig verändert, niedergeriſſen, in Trümmer zerfallen: überall ragt doch noch das unverwüſt - liche Mauerwerk der alten Zeit hervor und macht es uns mög - lich, den Bauſtyl und den Plan des urſprünglichen Baus zu er - kennen.
Eine feſte Burg haben wir dies alte Recht genannt, und dieſer Vergleich mag geeignet ſein, den Eindruck zu bezeichnen, den es hervorruft. Eckig und ſteif, eng und niedrig wie in den Burgen des Mittelalters erſcheinen uns die Räume, die wir dort antreffen, aber um ſo feſter und dauerhafter iſt das Mauer - werk; was an Bequemlichkeit abging, erſetzte die Sicherheit. Und wie in jenen Burgen, umfängt uns hier der Geiſt einer Achtung gebietenden Vergangenheit, die Erinnerung eines ker - nigen Geſchlechts, wilder, gewaltiger Kraft, und die Geſchichte ſelbſt wird uns hier erſt recht lebendig und verſtändlich.
Der allmählige Ausbau jenes Syſtems, das Vordringen deſſelben bis zu ſeinen äußerſten Conſequenzen hat ſich über mehre Jahrhunderte hingezogen, und manche dieſer Conſequen - zen mag erſt in der folgenden Periode ins Bewußtſein getreten ſein, wie umgekehrt die Vorboten und Anfänge des folgenden Syſtems ſchon in dieſe Periode fallen. Nach unſern in der Ein -5Einleitung. §. 22.leitung (§. 5) ausgeſprochenen methodologiſchen Grundſätzen werden wir hier nun das ſyſtematiſche Moment auf Koſten des chronologiſchen geltend machen, alſo uns das zweite Syſtem in ſeiner ganzen Fülle und Ausdehnung zu vergegenwärtigen und in ſeiner Eigenthümlichkeit zu ſchildern ſuchen. Bei dieſer Cha - rakteriſtik nehmen wir auf einige Erſcheinungen, die dem Grund - charakter des Syſtems nicht entſprechen, zunächſt keine Rückſicht, werden dieſelben aber ſpäter (Abſch. I Kap. 4: Freiere Bildun - gen) berühren, und dort wird der geeignete Ort ſein, um uns wegen dieſes Verfahrens zu rechtfertigen. Wenn alſo mancher Leſer bei der Ueberſicht des gegenwärtigen Syſtems eine Berück - ſichtigung des jus gentium mit Befremden vermiſſen wird, ſo werde ich ihn nur auf jenes Kapitel verweiſen können, wo er das Nöthige darüber finden wird.
Nach welchen innern Kriterien ich nun das, was ich dem ältern Syſtem vindicire, beſtimme, letzteres ſelbſt ſtofflich ab - gränze, darüber kann ich hier gleichfalls noch keine Antwort geben; ich müßte zu dem Zweck vieles anticipiren, was nur im Zuſammenhange des Syſtems ſelbſt ſeine Rechtfertigung finden kann. Auch hier muß ich alſo zunächſt die Antwort ſchuldig bleiben.
Was die chronologiſche Abgränzung des Syſtems anbetrifft, ſo habe ich bereits im §. 6 angegeben, daß ich die Bildung deſſelben in die zweite Hälfte der Königszeit verlege, die Blüthe - zeit deſſelben in das vierte bis ſechste Jahrhundert der Stadt, die erſten Anfänge aber einer neuen freieren Rechtsbildung in das ſiebente Jahrhundert. Nur für den völlig Unkundigen braucht bemerkt zu werden, daß dieſer letzte Zeitpunkt nicht als Endpunkt des zweiten Syſtems aufzufaſſen iſt, daß vielmehr über der Bil - dung des dritten und der allmähligen Umgeſtaltung des gegen - wärtigen Syſtems noch viele Jahrhunderte verfloſſen. Der Zeit nach wird ſich alſo unſere Darſtellung von jetzt an vorzugsweiſe in der Glanzperiode der römiſchen Republik verweilen, ohne daß wir aber, wie bereits bemerkt, auf eine ſtoffliche Ergänzung des6Zweites Buch — das ſpezifiſch röm. Rechtsſyſtem.Syſtems vermittelſt eines uns erſt durch die ſpätere Zeit gebote - nen Materials damit Verzicht leiſten wollten.
Daß wir fortan unſere Aufmerkſamkeit vorzugsweiſe dem Privatrecht zuwenden, darüber wird ſchwerlich ein Kundiger mit uns rechten. Es iſt nicht bloß die beſondere Beziehung deſſelben zur modernen Welt, die uns dazu veranlaßt, ſondern der Vorſprung, den das Privatrecht und der mit ihm in engſter Verbindung ſtehende Prozeß vor den übrigen Theilen des Rechts gewann, bringt dies von ſelbſt mit ſich. Dieſer Vor - ſprung beſteht theils darin, daß dieſer Theil des Rechts ſich weit mehr objektivirt, abgelagert hat (§. 24), theils in der bekann - ten hohen wiſſenſchaftlichen Cultur, die ihm zu Theil geworden iſt. Allerdings läßt ſich erſt in der folgenden Periode von einer eigentlichen Wiſſenſchaft des Rechts ſprechen, aber das natür - liche Genie des Volks hat doch bereits an dem gegenwärtigen Syſtem ſich in einer Weiſe bethätigt, die vielleicht mehr unſere Bewunderung zu erregen verdient, als die ausgezeichneten Lei - ſtungen der ſpätern Jurisprudenz. Letztere ſteht unſerm heutigen wiſſenſchaftlichen Bewußtſein näher, und daher rührt es, daß ihr die Anerkennung in ſo reichem Maße zuſtrömt, während das Verdienſt der frühern Zeit, die, wenn ich ſo ſagen darf, die Dogmatik des Rechts erſt aus dem Groben herausarbeiten mußte, weniger in die Augen ſpringt. Und doch war es dieſe Arbeit, die über den Werth des römiſchen Rechts eigentlich ent - ſchied, und der die ſpätere Wiſſenſchaft den urbaren, geebneten Boden verdankte, ohne den ihre Erfolge ſich nicht hätten denken laſſen. Ich hebe dies mit beſonderm Nachdruck hervor, weil ich von vornherein der Meinung vorbeugen möchte, als verdanke das römiſche Recht ſeine Größe der römiſchen Rechtswiſſenſchaft, als beginne alſo auch die Glanzperiode der römiſchen Rechtsge - ſchichte erſt mit unſerm dritten Syſtem. Sie beginnt ſchon jetzt, und erheiſchte es auch nicht die hiſtoriſche Gründlichkeit, dem ältern Recht die gebührende Beachtung zuzuwenden: der innere Werth desſelben, ſein eigner geiſtiger Gehalt würde ſie ihm7Einleitung. §. 22.ſichern; es iſt ein Gegenſtand, der bei aller ſeiner Einfachheit und Roheit doch dem geiſtigen Bedürfniß die vollſte Befriedi - gung zu gewähren vermag.
Das vorliegende Buch zerfällt in drei Abſchnitte.
Es ſollen in dieſem Abſchnitt die allgemeinen Charakterzüge und leitenden Gedanken des ältern Rechts entwickelt werden, und zwar wenden wir uns
Während ſie uns das Wollen des römiſchen Geiſtes auf dem Gebiete des Rechts bezeichnen, ſtellt uns, ganz ihren Zwecken dienſtbar,
Nachdem wir hiermit die allgemeinſten Charakterzüge gefun - den, werfen wir
In concreterer Geſtalt und in einem zuſammenhängenden Bilde werden uns jene allgemeinen Ideen
Die abſtracten Rechtsſätze finden aber ihr Verſtändniß erſt in der Wirklichkeit, und darum faſſen wir ſchließlich
Der Verfall des gegenwärtigen Syſtems wird am Anfang des folgenden Buchs ſeine Stelle finden.
XXIII. Wir ſuchen uns zunächſt des äußern Eindrucks be - wußt zu werden, den das ältere Recht auf uns macht — bei dem großen Contraſte, den daſſelbe zu dem der heutigen Zeit bildet, eine nicht eben ſchwierige Aufgabe. Für die heutige Zeit würde jener Geſichtspunkt kaum mehr als eine negative Aus - beute liefern, nämlich die, daß das Recht äußerlich gar nicht ſichtbar hervortritt. Man könnte ſagen, daß das Recht heutzu - tage ſeine Einwirkungen auf dynamiſchem Wege ausübt, in ſeiner Jugend aber auf mechaniſchem, alſo durch ſichtbare Vor - richtungen und Operationen. Wie die Wärme oder Electricität die Körper, ſo durchdringt heutzutage das Recht die Wirklichkeit; es iſt derſelben völlig immanent, und ſeine Bewegung und Wirkſamkeit entzieht ſich in der Regel dem Auge. Ein heutiges Rechtsgeſchäft wie farblos iſt es in der Regel, wie wenig hat es einen feſten, ſcharf abgegränzten Körper. Bald verſchwimmt es als einzelner Moment eines Geſprächs, nichts verräth äußer - lich, daß hier ein Rechtsgeſchäft hat abgeſchloſſen werden ſollen,10Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.bald wird es unter Abweſenden auf brieflichem Wege errichtet, bald ſogar muß ſeine Exiſtenz erſt durch Schlußfolgerungen ge - wonnen werden. 2)Daß die Bemerkung im Text auch auf den Prozeß Anwendung findet, braucht wohl nicht erſt bemerkt zu werden. Der Kriminalprozeß hat freilich durch die bekannten Reformen der Gegenwart ein anderes Aeußere bekommen, aber noch vor kurzer Zeit führte er ſowohl wie noch heutzutage der Civilpro - zeß eine bloß papierne Exiſtenz. Auf dem Papiere begonnen, auf dem Papiere entſchieden boten beide kein dramatiſches Moment dar und traten ſichtbar nur in ihren Wirkungen hervor. Man hätte der Juſtiz ſtatt des Schwertes eine Feder zum Attribut geben mögen, denn einem Vogel waren die Federn kaum nöthi - ger, als ihr, nur daß ſie bei ihr die entgegengeſetzten Wirkungen hervorbrach - ten, die Schnelligkeit im umgekehrten Verhältniß zum Federn-Aufwand ſtand.
Dieſe Unſichtbarkeit der Bewegung und der Operationen des heutigen Rechts, dieſe ſeine unplaſtiſche Natur ſoll uns hier als Folie für das ältere römiſche Recht dienen, ohne daß wir im übrigen verkennen wollen, daß jene Eigenſchaft, ähnlich wie der abſtracte Charakter einer ausgebildeten Sprache eine höhere Bil - dungsſtufe bezeichnet, als der plaſtiſche Charakter des Rechts und die bildliche, concrete Ausdrucksweiſe der Sprache. Wie aber letztere in dieſer ihrer unvollkommenen Geſtalt etwas un - gemein Anziehendes hat, ſo auch das Recht. Bei beiden feſſelt uns der Reiz der Jugendfriſche, man darf jene Eigenſchaft als einen Vorzug der Jugend anerkennen, ohne gegen das Alter, mit dem ſie ſich einmal nicht verträgt, ungerecht zu ſein.
Der phyſiognomiſche Ausdruck des ältern römiſchen Rechts, den wir jetzt wieder zu geben verſuchen, iſt der Ausdruck der Jugend des Rechts und hat daher Aehnlichkeit mit dem aller Rechte auf derſelben Altersſtufe. Der Charakter deſſelben beſteht namentlich in der Oeffentlichkeit des ganzen Lebens und in der Plaſtik der Formen, in denen letzteres ſich bewegt.
Verſetzen wir uns jetzt in das alte Rom, ſo iſt das Erſte, was uns in die Augen fällt, das helle Sonnenlicht der Oeffent - lichkeit, das über die ganze Rechtswelt ausgebreitet iſt. Es11I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Oeffentlichkeit — §. 23.zieht uns zuerſt zum Forum hin, wo auf ſeinem Tribunal, unter freiem Himmel und unter den Augen des römiſchen Volks der Prätor Gerichtstag hält. Hier und nur hier arbeitet in älterer Zeit die Civiljuſtiz; daß der Prätor auch in ſeinem Hauſe und wo man ihn ſonſt traf, angegangen werden und Verfügungen erlaſſen konnte, kam erſt in der ſpätern Zeit mehr auf. 3)Puchta Inſtitutionen Bd. 2 §. 158.Hier verſammeln ſich die Partheien, begleitet von ihren Freunden und rechtskundigen Beiſtänden. In eigner Perſon müſſen ſie erſcheinen und ihre Anträge ſtellen, Stellvertretung oder gar ſchriftliche Verhandlung widerſtrebt dem Geiſte des ältern Rechts. Und zwar beide müſſen ſie erſcheinen, damit der Pro - zeß den Anfang nehmen könne; ſtellt die Gegenparthei ſich nicht, ſo miſcht der Prätor ſich nicht hinein (B. 1. S. 155). Bei dem Eigenthumsprozeß müſſen ſogar die Sachen ſelbſt mitgebracht werden, oder, ſind ſie unbewegliche, ſo verfügt der Prätor ſich ſelbſt mit den Partheien an Ort und Stelle. Ebenſo müſſen Perſonen und Sachen, über die unter Mitwirkung des Prätors eine rechtliche Dispoſition getroffen werden ſoll, zur Stelle ge - ſchafft werden. Den fernern Gang des Prozeſſes verfolgen wir nicht; was auch geſchieht, erfolgt öffentlich, ſo z. B. auch die Vernehmung der Zeugen. Im Exekutionsverfahren zeigt ſich ſchließlich die Oeffentlichkeit noch in der dreimaligen öffentlichen Ausſtellung des Verurtheilten, berechnet darauf, die Thatſache ſeiner Verurtheilung zu Jedermanns Kunde zu bringen — eine Anfrage an das Volk, ob Niemand geneigt iſt, ihn auszulöſen. In einem noch höhern Grade beherrſchte die Oeffentlichkeit das peinliche Verfahren. Wenn über dem Haupte eines Bürgers das blutige Schwert der Gerechtigkeit ſchwebte, ſo war dies eine Nationalſache. Das ganze Volk wird entboten, um zu Gericht zu ſitzen, die Anklage vorher veröffentlicht, ſo daß Jeder, der et - was von der Sache weiß, ſei es zur Ueberführung des Ange - klagten oder zu ſeiner Entlaſtung, ſich melden kann. Der Ange -12Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.ſchuldigte ſelbſt geht frei einher und benutzt die Zeit im Intereſſe ſeiner Vertheidigung. Kein Kerker entzieht ihn der Oeffentlich - keit, keine Scene des blutigen Dramas ſpielt bei verſchloſſenen Thüren. Der Tag der Entſcheidung iſt gekommen, das Volk, längſt vorbereitet über die Sache, ſitzt zu Gericht. Nie hat es eine majeſtätiſchere richterliche Verſammlung gegeben, nie wohl eine Oeffentlichkeit, die für die Lüge ſo erdrückend, für die Wahr - heit ſo erhebend wirken mußte, wie dieſe. Die Verhandlungen ſind beendet, und es erfolgt die Abſtimmung. Auch dieſer Akt iſt charakteriſtiſch durch ſeine Oeffentlichkeit, d. h. er erfolgt münd - lich; jeder hat den Muth, oder ſoll den Muth haben, ſeine Mei - nung frei zu geſtehen. In ſpäterer Zeit änderte ſich dies; um der Unſelbſtändigkeit der Stimmenden zu Hülfe zu kommen, ward in der erſten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts ſowohl bei den Volksgerichten als bei andern Volksverſammlungen die heimliche d. h. ſchriftliche Abſtimmung (per tabellas) eingeführt.
Die Oeffentlichkeit des Rechts verkehrs4)Gneiſt (Die formellen Verträge des neuern römiſchen Obligationen - rechts S. 483 — 485) hat mit Recht auf den Gegenſatz aufmerkſam gemacht, den in dieſer Beziehung das griechiſche Recht bildet, „ deſſen üblichſte Form (Deponirung verſchloſſener Urkunden) offenbar darauf berechnet war, das Ge - ſchäft nöthigenfalls den Augen Dritter zu verbergen. “iſt uns aus frühern Ausführungen ſchon größtentheils bekannt; ich erinnere an die öffentlich garantirten Geſchäfte (B. 1 S. 206 u. fl.), die Vornahme derſelben vor der Volksverſammlung oder den 5 das Volk vertretenden Zeugen (mancipatio, nexum), und vor dem Prätor (in jure cessio u. ſ. w.). 5)Als einzelnes Beiſpiel möge noch genannt ſein die bei der Bürgſchaft vorgeſchriebene Oeffentlichkeit; ſ. Gajus III §. 123: praedicat palam et de - claret et de qua re satis accipiat et quot sponsores aut fidepromissores in eam obligationem accepturus sit. Als beſonders charak - teriſtiſch hebe ich die Oeffentlichkeit der Teſtamente hervor, die ſich, als die Errichtung der Teſtamente in den Comitien abge - kommen, in vermindertem Maße noch in dem mündlichen Man -13I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Oeffentlichkeit — §. 23.cipationsteſtament erhielt. 6)Die Einführung ſchriftlicher Teſtamente, mittelſt deren eine Verheim - lichung des letzten Willens möglich ward, gehört meiner Anſicht nach der ſpä - tern Zeit an. Für dieſe Anſicht berufe ich mich hier nur auf die Herrſchaft der Oeffentlichkeit in dieſem Syſtem. Die tabulae des Teſtaments paſſen in die ältere Zeit ebenſowenig, als die tabellae bei der Abſtimmung in den Comi - tien. Eine weitere Begründung würde hier zu weit führen.Nirgends würde uns wohl die Oeffentlichkeit ſo am unrechten Ort und ſo hinderlich erſcheinen, als bei den Teſtamenten, und in ſpäterer Zeit war man aus guten Gründen in Rom derſelben Anſicht. In der öffentlichen Errichtung der Teſtamente erblicke ich ebenſo wie in der öffentli - chen Abſtimmung einen Beweis moraliſcher Selbſtändigkeit. Es liegt in der Natur letztwilliger Dispoſitionen, daß ſie häufig die Anſprüche und Erwartungen, zu denen Verwandte und Freunde des Teſtators ſich berechtigt halten, durchkreuzen, den Einen zur Dankbarkeit verpflichten und dafür einen Andern verletzen. Die Sitte, derartige Beſtimmungen öffentlich zu treffen, ſetzt alſo im allgemeinen einen gewiſſen Muth voraus, den Muth, ſich dem Haß und der Verfolgung der in ihren Erwartungen getäuſchten Per - ſonen auszuſetzen. Das heimliche Teſtament iſt das Palladium der Feigheit, in vielen Fällen ſogar der Deckmantel und dadurch das Mittel des Betruges,7)Dieſer Geſichtspunkt wird im Titel 16 §. 1 der Novellen Theodos II (Hänel Novellae constitutiones imperatorum etc. S. 61) ausdrücklich an - erkannt. Die Compilatoren Juſtinians haben dieſen Paſſus bei ihrem Auszuge in der L. 21 Cod. de test. (6. 23) weggelaſſen. Natura, heißt es dort, ta - lis est hominum, ut quosdam diligant, alios timeant, quibusdam sint officiosae gratiae debitores, alios suspicentur, quorundam fidem intelli - gant eligendam, aliis nihil credendum existiment, nec tamen au - deant, de singulis quae sentiant, confiteri. Ideo veteres testamenta scripta testibus offerebant oblatarumque eis tabularum per - hiberi testimonium postulabant. Sed .... eo res processit, — ut dum sua quisque nonnunquam judicia publicare formidat, dum testibus testamenti sua non audet secreta commit - tere, ne suis facultatibus inhiantes offendat, intesta - tus mori, quam sua mentis arcana periculose patiatur exprimere. eine Mine, Perſonen gelegt, die14Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.man in offener Weiſe nicht zu verletzen wagte, und die erſt ex - plodirt, wenn der Urheber ſelbſt in Sicherheit iſt und unter den Folgen nicht mehr zu leiden braucht. In der Kaiſerzeit dienten ſie oft in dieſer Weiſe; ein in oſtenſibler Weiſe mündlich errich - tetes Teſtament bedachte die Perſonen, deren Gunſt man ſich erwerben wollte, ein hinterher errichtetes ſchriftliches hob, ohne daß ſie etwas davon erfuhren, das frühere wieder auf, oder man verſicherte dieſe Perſonen der geſchehenen Einſetzung, und erſt der Tod enthüllte den ihnen geſpielten Betrug. 8)Schon dem Auguſt wurde ein ähnlicher Streich geſpielt, wie Valerius Maximus lib. III c. 8 §. 6 mittheilt, woſelbſt noch mehre derartige ächte Schurkenſtreiche berichtet werden.
Ich kann nicht unterlaſſen, noch auf zwei Einrichtungen auf - merkſam zu machen, die beide — nur in verſchiedenen Regionen — dieſelbe Beſtimmung haben, nämlich die Cenſusrollen und die Hausbücher. Beide ſind hervorgegangen aus dem großen Ordnungsſinn der Römer, und gehören inſofern hierher, als die Cenſusrollen den Stand des Privatvermögens zur Kenntniß des Staats bringen, die Hausbücher aber dem Eigenthümer ſelbſt und unter Umſtänden auch dritten Perſonen eine beſtän - dige Einſicht und Ueberſicht ſeiner Vermögensverhältniſſe ge - währen. Solche Einrichtungen gedeihen nur bei allgemeiner Gewiſſenhaftigkeit und Ehrlichkeit, ſie ſetzen Vertrauen und Zu - verläßigkeit voraus; wo dieſe Eigenſchaften in der Maſſe fehlen, wo man Urſache hat, das Tageslicht zu ſcheuen, erfüllen ſie nicht ihren Zweck. Für das Syſtem des Perſonalcredits9)Mit dem vielleicht auch die für die Bürgſchaft im ältern Recht vorge - ſchriebene öffentliche Verkündigung zuſammenhängt. S. Note 5. haben ſie ohne Zweifel eine große Bedeutung gehabt, und man darf gewiß in dem allmähligen äußerlichen und innerlichen Abſterben beider Einrichtungen die vorzüglichſten Urſachen erblicken, denen das Realcredit-Syſtem ſeine in ſpäterer Zeit immer mehr Ueber - hand nehmende Bedeutung und entſchiedene Präponderanz ver - dankt. Letzteres iſt ebenſo ſehr wie die Heimlichkeit der Abſtim -15I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Plaſtik des Rechts — §. 23.mung und der Teſtamentserrichtung das Reſultat der Angſt und des Mißtrauens — ebenſo ſehr ein Zeichen der ſpätern Zeit, wie umgekehrt der Perſonalcredit mit ſeiner Publicität der Vermö - gensverhältniſſe und die Oeffentlichkeit der Abſtimmung und Teſtamentserrichtung ein Zeichen der frühern. Indem wir als allgemein bekannt vorausſetzen, in welchem Grade die Oeffent - lichkeit das ganze politiſche Leben der Römer durchdrang, machen wir ſchließlich nur noch darauf aufmerkſam, wie dieſe Eigenſchaft ſich auch in den Verbrechen äußerte. Das ältere Rom kannte nicht die heimlichen Schurken und Verbrecher, gegen die das ſpätere ſich zu wehren hatte, die Erbſchleicher, Giftmiſcher, die Fälſcher, Betrüger, Denuncianten u. ſ. w. Mord, Todtſchlag, Raub, Gewalt, Diebſtahl u. ſ. w. waren die Verbrechen der alten Zeit.
So hat ſich uns alſo die Oeffentlichkeit als ein Grundzug der alten Zeit bewährt. Es iſt wohl kaum nöthig, darauf hinzu - weiſen, welches Streiflicht ſie auf den ſittlichen und ſocialen Zu - ſtand des Volks wirft, und welche Vortheile ſie mit ſich führte. Hervorgegangen iſt ſie, wie es mir ſcheint, aus der urſprünglichen Innigkeit der Verbindung zwiſchen dem Individuum und der Gemeinde, ſie iſt, dürfte man ſagen, nur die äußere Erſchei - nungsform der primitiven Gemeinſchaftlichkeit des Lebens und der Intereſſen. Sie ſetzte ein gutes Gewiſſen und moraliſchen Muth voraus und führte eine große Sicherheit des Verkehrs wie der Rechtspflege in ihrem Gefolge mit ſich.
Eine zweite Eigenſchaft, die uns bei der äußeren Betrach - tung des ältern Rechts ſofort in die Augen ſpringt, iſt die Pla - ſtik deſſelben. Die Plaſtik des Rechts äußert ſich in den für den Rechtsverkehr vorgeſchriebenen Formen, und ihr praktiſcher Nutzen beſteht darin, die innerliche Verſchiedenheit äußerlich darzuſtellen, das Innere gewiſſermaßen an die Oberfläche zu rücken. Nur hiernach, nicht nach der Quantität und dem phy - ſiognomiſchen Ausdruck und Zuſchnitt der verſchiedenen Formen beurtheilt ſich ihr Werth vom praktiſchen Standpunkt aus. Es16Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.kann alſo ein Recht einen unendlichen Reichthum an Formen, ſymboliſchen Handlungen u. ſ. w. haben, und doch dieſen prak - tiſchen Anforderungen der Plaſtik nicht entſprechen, wenn näm - lich der äußerlichen Formen und Darſtellungsmittel mehr ſind, als der inneren Unterſchiede, der Zeichen mehr, als der Begriffe. Das innerlich Bedeutungsloſe erlangt hier eine äußere Anerken - nung, die wenn auch fürs Leben nicht gerade nachtheilig wirkt, doch die geiſtige Erfaſſung des Rechts erſchwert. Das germani - ſche Recht gewährt uns ein Beiſpiel für dieſe überwuchernde Kraft des plaſtiſchen Triebes; die Phantaſie, die ſinnige Natur des germaniſchen Charakters hat hier auf Koſten des juriſtiſchen Verſtandes ſich geltend gemacht.
Der praktiſche Werth jener Plaſtik beſtimmt ſich ferner nicht nach dem Zuſchnitt der Formen. Die Formen ſollen weiter nichts, als den Begriff ſignaliſiren; ob ſie dies aber, wie im germaniſchen Recht, in poetiſcher, gemüthvoller Weiſe thun, oder, wie im römiſchen, in proſaiſcher, höchſt nüchterner Weiſe, ob ſie nebenbei zum ſymboliſchen Ausdruck tiefſinniger Gedan - ken, inniger Gefühle u. ſ. w. benutzt werden, oder ſich einfach auf den Dienſt beſchränken, den ſie leiſten ſollen, äußerliche Kri - terien innerer Verſchiedenheiten zu ſein — dieſer Unterſchied iſt für die Charakteriſtik des Volksgeiſtes bezeichnend, für den ju - riſtiſchen Werth jener Plaſtik aber völlig gleichgültig.
Wenn wir hiernach nun die Plaſtik des ältern römiſchen Rechts beurtheilen, ſo beſchränkt ſich dieſelbe einfach auf den angegebenen praktiſchen Geſichtspunkt. Die Formen, die ſie zu dieſem Zweck verwendet, ſind der Zahl nach gering10)Wohl zu beachten die Formen, die rechtlich nöthig waren. Das römiſche Leben kannte eine Menge Formen, denen jene Bedeutung nicht zu - kam; um ein Beiſpiel anzuführen, ſo waren die Eingehung und Aufhebung der Ehe ſpäterhin nicht an die Beachtung der Hochzeitsgebräuche, beziehungs - weiſe die Zurückgabe und die Zurückforderung der Schlüſſel gebunden, unge - achtet man im Leben dieſe Form beobachtete. Von manchen juriſtiſchen Ge - bräuchen mag uns übrigens auch keine Kunde erhalten ſein. und ihrem17I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Plaſtik des Rechts — §. 23.phyſiognomiſchen Ausdruck nach nüchtern und proſaiſch. Sie enthalten wenig mehr, als was der juriſtiſche Zweck ſelbſt mit ſich bringt (z. B. das perſönliche Erſcheinen der Partheien, die Zuziehung und Anrufung der Zeugen, das Ausſprechen der For - mel), oder was zum äußern Ausdruck des innern Vorganges er - forderlich ſchien (z. B. das Berühren der Sache mit der Hand zum Zeichen des beabſichtigten Eigenthumserwerbs, das zum Schein vorgenommene Zuwägen des Erzes als äußere Motivi - rung einer eingegangenen oder aufgehobenen Obligation, der Scheinkampf bei der Vindikation (B. 1 S. 153), der Gebrauch des Speres (B. 1 S. 110, 111) u. ſ. w. 11)Es verdiente dieſer Gegenſtand wohl eine neue Bearbeitung. Es exiſtirt darüber eine Schrift von Everard Otto de jurisprudentia symbolica exercitationum trias Traj. ad Rhen. 1730, die den Vorläufer eines meines Wiſſens nicht erſchienenen größeren Werkes bilden ſollte. Für das deutſche Recht hat Reyſcher in ſeinen Beiträgen zur Kunde des deutſchen Rechts Heft 1 (über die Symbolik des deutſchen Rechts) Tübingen 1833 eine dankenswerthe, aber der Vermehrung fähige Zuſammenſtellung geliefert.Die beiden Hauptgeſchäftsformen, die mancipatio und in jure cessio, laſſen ſich ſogar rationell analyſiren, ſie enthalten keinen Zuſatz von Symbolik, ſondern was dem ähnelt, wie z. B. die Wagſchaale und das Einwerfen des Erzes, iſt nichts als ein vor der Ein - führung des gemünzten Geldes nothwendiger, ſpäter durch die Macht der Gewohnheit beibehaltener materieller Beſtandtheil des Geſchäfts ſelbſt.
Der römiſche Verkehr bewegte ſich zum größten Theil in die - ſen beiden Formen, und dieſe bei Eigenthumsübertragungen an beweglichen wie unbeweglichen Sachen, beim Verkauf von Scla - ven wie Hauskindern, bei der Adoption, der Ehe, der Emanci - pation, Manumiſſion, der Errichtung des Teſtaments, der Ein - gehung und Löſung der Nexus-Schuld u. ſ. w. immer wieder - kehrende Solennität der mancipatio und in jure cessio gibt dem Verkehr in ſeinem Aeußern etwas Monotones. Zur Charakteri - ſtik der römiſchen Nationalität im Gegenſatz der deutſchen kannJhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 218Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.man dies hervorheben und immerhin erſterer den Vorwurf der Nüchternheit machen und letzterer den Vorzug „ der Poeſie im Recht “laſſen. Aber es iſt ſchon oben bemerkt, daß dies den prak - tiſchen Werth der Plaſtik des Rechts gar nicht berührt, und man darf gerade in der Einfachheit, Nüchternheit und Dürftigkeit der römiſchen Plaſtik eine Bethätigung der rein juriſtiſchen Anſchau - ungsweiſe der Römer erblicken. Von welchem Nutzen die Spar - ſamkeit im Recht iſt,12)In §. 27 werden wir darauf zurückkommen. liegt auf der Hand; der Verkehr be - herrſcht leichter zwei Formen, als zwanzig, und die Jurispru - denz kann die Theorie derſelben um ſo ſchärfer und genauer aus - bilden, je weniger ihrer ſind.
Wenn nun aber verſchiedene Geſchäfte mittelſt derſelben Form abgeſchloſſen wurden, worin lag denn das Unterſcheidende derſelben? In der Verſchiedenheit des Inhalts und der derſelben entſprechenden Formel. Die Gefahr der Verwechslung war für jeden, der das Geſchäft mit angeſehen und angehört hatte, un - denkbar. Daß ein Rechtsgeſchäft vor ſich gehe, verkündete die Form; welches, der Gegenſtand und Inhalt, und damit war den Anforderungen des Verkehrs vollkommen genügt. Unſerm heutigen Recht läßt ſich ein Gleiches nicht nachrühmen. Unſere Formloſigkeit, vor der nur einige Geſchäfte wie das Teſtament und der Wechſel ſich bewahrt haben, macht es oft ſehr ſchwer, wenn nicht unmöglich, zu beſtimmen, ob ein Rechtsgeſchäft und wel - ches von den Partheien intendirt war. Auch bei den Römern ka - men in älterer Zeit Geſchäfte vor, die nicht in eine rechtliche Form eingekleidet zu werden pflegten; wir werden ſie an einer andern Stelle betrachten und zu zeigen verſuchen, daß es keine Rechts - geſchäfte im Sinne des ältern Rechts waren und der Beihülfe deſſelben weder theilhaftig waren, noch auch derſelben bedurften. Ein wahrhaftes Rechtsgeſchäft iſt für die ältere Zeit nur das, was in Form Rechtens auftritt, äußerlich ſich als ſolches kund gibt. Formloſigkeit widerſtrebt der innerſten Natur der alten19I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Plaſtik des Rechts — §. 23.Römer — dies lehrt uns das ganze römiſche Alterthum. Wer daſſelbe einer Betrachtung in dieſer Rückſicht unterwerfen will, wird finden, daß daſſelbe von der Tendenz beſeelt iſt, die innern Unterſchiede durch äußere Zeichen ſichtbar zu machen, und wo war dieſe Tendenz mehr am Platz, als gerade im Recht? So wie der Senator, Ritter, der Freie, Mündige, Unmündige, der Angeklagte u. ſ. w. an ſeinem Kleide kenntlich iſt, ſo ſoll auch das Rechtsgeſchäft durch ſeine juriſtiſche Uniform, wenn ich ſo ſagen darf, ſeine toga civilis äußerlich erkennbar ſein. Fehlt dieſelbe, ſo liegt darin ausgeſprochen, daß die Partheien ein Rechtsgeſchäft gar nicht intendirt haben, denn ſonſt würden ſie daſſelbe in die erforderliche Form eingekleidet haben.
Es iſt oben die Unſichtbarkeit der Bewegung des heutigen Rechtsverkehrs als die Folge der unplaſtiſchen Natur deſſelben bezeichnet. Für das römiſche Recht können wir alſo umgekehrt der eben erörterten Plaſtik deſſelben auch den Ausdruck der Sicht - barkeit und Erkennbarkeit des Rechtsverkehrs geben. Es tritt keine rechtliche Wirkung ein, die nicht eine äußere, mechaniſche Urſache hätte. Das mindeſte, was verlangt wird, iſt doch das Erſcheinen und die perſönliche Thätigkeit der Partheien ſelbſt, wenn auch letztere, wie z. B. bei der Stipulation, ſich ohne weitere äußerliche Handlung auf ein bloßes Ausſprechen von Worten beſchränkt.
Wir wenden uns jetzt dem inneren Organismus des ältern Rechts zu und zwar werden wir zuerſt (§. 24 — 30) den Verſuch machen, die Grundtriebe der ganzen Rechtsbildung aufzufinden. Dieſelben laſſen ſich ſubjektiv aus der Seele des römiſchen Volks heraus auch als die Ideale des römiſchen Rechtsgefühls bezeich - nen; was der ſubjektiven Anſchauung des Volks als zu erreichen - des Ziel, als Ideal vorſchwebt, wird objektiv im Recht ſelbſt als Tendenz der Rechtsbildung hervortreten. Was erſcheint nun dem2*20Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.römiſchen Rechtsgefühl als letztes Ziel des ganzen Rechts, wel - chen höchſten Anforderungen hat letzteres zu genügen — das iſt die Frage, auf die uns die folgende Darſtellung eine Antwort ertheilen ſoll. Ich beantworte jene Frage mittelſt der Annahme von drei Grundtrieben, die ich in Ermangelung beſſerer Aus - drücke den Selbſtändigkeitstrieb des Rechts, den Gleichheits - trieb und den Macht - und Freiheitstrieb nenne, und zu deren Betrachtung im Einzelnen wir jetzt übergehen.
XXIV. Die Selbſtändigkeit des Rechts bezeichnet uns viel - leicht das ſchwierigſte Problem, das es ſowohl für die philoſo - phiſche Erforſchung als die praktiſche Verwirklichung des Rechts gibt. Die Philoſophie hat ſich viel damit beſchäftigt, die be - griffliche Selbſtändigkeit des Rechts, den Unterſchied deſſelben von der Moral u. ſ. w. nachzuweiſen; wir werden bei der vor - liegenden Aufgabe dieſe gefährlichen Höhen der Spekulation wenig berühren. Der Zielpunkt unſerer Bemühungen, die praktiſche Selbſtändigkeit des Rechts, liegt niedriger, aber bis jetzt führt noch keine gebahnte Straße hin,13)Ueber die „ Unabhängigkeit der Juſtiz oder die Freiheit des Rechts in England und den Vereinigten Staaten “exiſtirt eine Broſchüre von einem Bogen von Franz Lieber (Prof. der Staatsphiloſophie und des Staatshaus - haltes an der Univerſität von Süd-Carolina) Heidelb. 1848, die manche be - herzigungswerthe Bemerkungen für das heutige Recht enthält, mir für meine Zwecke aber gar keine Förderung gewähren konnte. und ich muß21I. Der Selbſtändigkeitstrieb. — Die Extreme. §. 24.daher den Leſer um Entſchuldigung bitten, wenn der Weg, den ich ihn führen werde, nicht der gangbarſte und kürzeſte iſt; um dieſen zu finden, dazu bedarf es fortgeſetzter Verſuche verſchiede - ner Perſonen. Möge der vorliegende Verſuch die Aufmerkſam - keit auf dieſen Punkt hinlenken und bald durch einen beſſern verdrängt werden! Ich will nur noch bemerken, daß ich es bei dem von mir eingeſchlagenen Wege nicht habe vermeiden können, manche Punkte bereits oberflächlich zu berühren, die wir erſt ſpäter näher werden kennen lernen — was beiläufig geſagt ſich im Verlauf dieſes Buchs noch öfter wiederholen wird und bei der Natur des Themas, bei dem die Fäden des Geflechtes ſich beſtändig kreuzen, unvermeidlich iſt.
Möge die Philoſophie nun immerhin ſich rühmen, uns die Selbſtändigkeit des Rechts in der Idee nachgewieſen zu haben: ein anderes Ding iſt es um das lebendige Recht der Wirklich - keit, ein anderes Ding um die Idee, dieſen Schatten, den das Recht der Wirklichkeit in die einſame Kammer des Philoſophen wirft. Denn jenes iſt hineingeſtellt mitten in die Strömung des Lebens, in den Kampf erbitterter Partheien und auf einander prallender Gegenſätze, ausgeſetzt dem Sturm der Leidenſchaften, die hier toben, beſtimmt, den Anforderungen, Intereſſen, Beſtre - bungen des Lebens gerecht zu werden. Welche Schwierigkeiten findet die der Idee des Rechts zukommende Selbſtändigkeit hier vor, um ſich geltend zu machen, welche Schwankungen ſtatt jenes ruhigen Gleichgewichts, in dem das Recht der Idee ſich befindet!
Die zwei äußerſten Punkte, zwiſchen denen das Recht der Wirklichkeit beſtändig oscillirt, ſind das Extrem der Unſelbſtän - digkeit auf der einen, das Extrem der Selbſtändigkeit auf der andern Seite. Bei der Neigung nach jener Seite fehlt dem Recht, um es allgemein auszudrücken, das Vermögen der innern Selbſtbeſtimmung und die Kraft, äußere Einflüſſe, die ſeiner Natur widerſtreben, zurückzuweiſen, im Uebrigen aber kann dieſe Unſelbſtändigkeit ihrem Grade, ihrer Art und ihren Urſachen nach22Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.ſehr verſchieden ſein. Es kann dem Recht fehlen an der innern Freiheit, wenn es nämlich noch nicht zum Selbſtbewußtſein, zur Scheidung ſeiner ſelbſt von Moral, Religion, Politik gelangt iſt; an der äußern Freiheit, die freilich nur die Folge der ge - ringen moraliſchen Achtung iſt, die das Recht genießt, wenn nämlich die rohe Gewalt ihm die Spontaneität ſeiner Bewe - gung verwehrt. Als Gründe, die eine Richtung nach dieſer Seite hin herbeiführen, nenne ich z. B. eine vorwiegend reli - giöſe Weltanſchauung des Volks, Charakterſchwäche, Mangel des Gefühls der perſönlichen Freiheit, Unbeſtändigkeit, leiden - ſchaftliche Reizbarkeit des Volkscharakters.
Während nun das Recht leicht nach dieſer Seite hingezogen wird, iſt die Neigung deſſelben nach Seiten des entgegengeſetz - ten Extrems ungleich weniger zu beſorgen. Letztere würde darin beſtehen, daß das Recht ſich von ſeiner natürlichen Abhängigkeit vom Leben loszumachen, ſich auf ſich ſelbſt zurückzuziehen und ſich bloß aus ſich ſelbſt zu beſtimmen verſuchte. Die Reception des römiſchen Rechts bei den neuern Völkern gewährt uns ein Beiſpiel dafür. Es iſt merkwürdig, wie empfindlich die große Maſſe für eine Deklination nach dieſer Seite iſt, während ſie durch beträchtliche Abweichungen nach der andern Seite kaum alterirt wird, und es zeigt, wie gering das Verſtändniß für die Aufgabe des Rechts, wie verkehrt der Maßſtab iſt, den man an daſſelbe anlegt. Als das normale Recht denkt man ſich das „ Recht, das mit uns geboren “— jenes mephiſtopheliſche Trug - bild, hinter dem ſich der Abgrund der Willkühr und Selbſtver - nichtung öffnet; verlangt, daß das Recht gleichen Schritt halte mit der Bewegung der Zeit, allen ihren Anforderungen gerecht werde, alle ihre Einfälle legaliſire, und ahnt nicht, daß ein ſolches alles eignen Halts entbehrendes, willen - und charakter - loſes Recht bald zum feilen Werkzeug der augenblicklichen Ge - walt herabſinken würde. Jene Exaggeration der Selbſtändigkeit mit ihrer noch ſo weit getriebenen, man nenne es Starrheit, Rückſichtsloſigkeit gegen die Intereſſen und Bedürfniſſe der Ge -23I. Der Selbſtändigkeitstrieb. — Die Extreme. §. 24.genwart, tyranniſchen Handhabung der Rechtsconſequenz, ſie iſt in der That nur die Uebertreibung einer Eigenſchaft, die den Adel und die Hoheit des Rechts ausmacht, die Verirrung nach Seiten der Kraft, von der eine Umkehr leicht möglich iſt, wäh - rend das entgegengeſetzte Extrem der gefügigen Hingebung des Rechts an die Bewegung des Lebens das Zeichen einer morali - ſchen Aſthenie iſt. Daß Feſtigkeit, unerſchütterliche Ruhe, Rück - ſichtsloſigkeit Cardinaltugenden des Rechts ſind, das hat der Inſtinkt der Völker von jeher herausgefühlt; mit Stolz geden - ken ſie der Vorfälle ihrer Geſchichte, wo das Recht dieſe Eigen - ſchaften in eclatanter Weiſe bewährt und ſelbſt, ſo zu ſagen, mit trotzigem Uebermuth dem Leben Hohn geſprochen hat.
Wie und woran ſich nun der Selbſtändigkeitstrieb des Rechts äußert, das werden wir am ältern römiſchen Recht nachzuweiſen verſuchen. Es hat vielleicht kein anderes gegeben, das ſo wie dieſes vom Geiſte der Unabhängigkeit und ich möchte faſt hinzu - fügen des Trotzes beſeelt geweſen iſt, und an dem man daher das Walten jenes Selbſtändigkeitstriebes ſo gut ſtudiren könnte. Worauf wir vor allem unſer Augenmerk zu richten haben wer - den, iſt die innere Organiſation, die Technik und Methode, durch die das Recht ſeine Selbſtändigkeit ſicherzuſtellen ſucht. Dieſer Punkt iſt bisher viel zu wenig beachtet, und das Verſtändniß dafür ſcheint nicht ſo leicht zu ſein, während der Zweck ſelbſt, der durch jenes Mittel verfolgt wird, im Allgemeinen auch dem ungebildeten Rechtsgefühl als Poſtulat vorſchwebt. Daß das Recht unabhängig und ſelbſtändig ſich verwirklichen ſoll, daß alſo z. B. das religiöſe und politiſche Glaubensbekenntniß, das Anſehn, Verdienſt, die Würdigkeit der Perſon, die Stellung im Leben Niemandem ſchaden oder nützen, Gunſt und Abneigung keinen Einfluß äußern, das Recht gegen alle ein gleiches Maß anwenden, daß die äußere Macht ſich keine Eingriffe in das Rechtsgebiet erlauben ſolle u. ſ. w., das fühlt Jedermann. Aber auffallend iſt es, daß nicht bloß das einfache Rechtsgefühl ſich mit dem Wege, den das Recht zu jenem Zwecke einſchlägt,24Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.im Widerſpruch fühlt, ſondern daß ſelbſt die Wiſſenſchaft noch bis zu einem gewiſſen Grade mit dieſem Gefühl zu ſympathiſi - ren ſcheint, und darum werde ich mich hier ausführlicher er - gehen, als das unmittelbare Verſtändniß des römiſchen Rechts es erfordert.
Wir werden folgende vier Punkte ins Auge faſſen, von denen die drei erſten die Selbſtändigkeit des Rechts hinſichtlich ſeiner innern Entwicklung, der letztere die Selbſtändigkeit deſſelben hinſichtlich ſeiner äußern Verwirklichung zum Gegenſtande hat.
Die Sitte und das Geſetz, geſchriebenes und ungeſchriebenes Recht — Bedeutung dieſes Gegenſatzes für die Selbſtändigkeit des Rechts — Verhalten des ältern Rechts zu dieſem Gegenſatz (Pri - vatrecht — öffentliches Recht — die Volksgerichte —).
XXV. Wir beginnen mit dem erſten und einfachſten Schritt, den das Recht auf der Bahn der Selbſtändigkeit machen kann, und der doch in ſeinen Folgen unendlich wichtiger iſt, als man gewöhnlich annimmt, dem Fortſchritt deſſelben von dem Syſtem des ungeſchriebenen zu dem des geſchriebenen Rechts, von der Sitte und Gewohnheit zum Geſetz.
Die Frage von der Entſtehung des Rechts bildet einen Hauptdivergenzpunkt zwiſchen der Lehre des vorigen und der des jetzigen Jahrhunderts. Jener zufolge entſtand das Recht auf regulärem Wege durch die Geſetzgebung und nur aus -25I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.nahmsweiſe auf gewohnheitsrechtlichem Wege. Der Geſetzgeber verſorgt den Staat mit Geſetzen, das Recht iſt alſo im weſent - lichen nur die Summe der erlaſſenen Geſetze, das Produkt legis - lativer Willkühr oder Weisheit — dem Volk iſt es etwas von vornherein Fremdes, äußerlich Angepaßtes oder Aufgedrunge - nes. So die alte Lehre. Nach der neuern Anſicht iſt das Recht urſprünglich ein Produkt der unmittelbaren Thätigkeit des Volks - geiſtes. Das nationale Rechtsgefühl verwirklichte ſich durch die That ſelbſt und ſtellte ſich äußerlich in der Sitte dar (Gewohn - heitsrecht). Im Lauf der Zeit tritt als zweite Rechtsquelle die Geſetzgebung hinzu, nicht gerade ſtets Neues ſchaffend, ſondern oft nur das Beſtehende formulirend. Neben ihr dauert aber jene erſte Quelle, das nationale Rechtsgefühl mit ſeiner unmittelbaren Verwirklichung im Gewohnheitsrecht, als völlig gleichberechtigt fort, und nicht etwa als eine unvollkommne, bloß tolerirte Art der Rechtsbildung, ſondern als die eigentlich naturgemäße, nor - male. Das Gewohnheitsrecht läßt ſich recht eigentlich als das Schoßkind der neuern Jurisprudenz bezeichnen, und es ſcheint, als ob man ſich verpflichtet gefühlt hätte, es für die Vernachläſ - ſigung, die es früher erfahren, durch eine blinde Liebe zu ent - ſchädigen. 14)Indem ich dieſe Bogen zum Druck abſchicke, bringt mir die Tages - preſſe eine intereſſante Beſtätigung dieſes Urtheils, nämlich ein Bruchſtück aus einer Rede Stahls über die Aufhebung der Gemeinde-Ordnung vom 11. März 1850, welches nach der Augsb. Allg. Zeitung 1853 Nr. 15 S. 228 alſo lautet: „ Die Form der Codifikation zerſtört oder lockert wenigſtens über - all die feſten ſtetigen Rechtsverhältniſſe, das feſte ſtetige Rechtsbewußtſein; ſie zerſtört jedenfalls die Naivität des Rechtsbewußtſeins; ſie iſt darum am ſchädlichſten für die ländliche Bevölkerung, denn wenn dieſe aus ſolcher Unſchuld geriſſen und zu der Reflexion aufgefordert wird, ob nicht ganz ent - gegengeſetzte Zuſtände beſtehen könnten, als gegenwärtig, dann iſt für ſie kein Halt mehr und keine Ehrfurcht vor dem Rechte. “
Das Neue und Verdienſtliche dieſer Anſicht beſteht darin, daß ſie erſtens an die Stelle der bis dahin gelehrten äußeren me - chaniſchen Produktion des Rechts durch legislative Reflexion26Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.eine unmittelbare, ſ. g. organiſche Entſtehungsweiſe deſſelben ſetzte, ein Hervorquellen deſſelben aus dem Born des nationa - len Rechtsgefühls, und ſodann daß ſie, indem ſie dem Recht ſeine breite nationale Grundlage und damit ſeine ſittliche Würde zurückgab, eine Verſöhnung des ſubjektiven Rechtsgefühls mit der äußern Thatſache des objektiven Rechts anbahnte, es dem ſubjektiven Geiſt, der ſich früher mit dieſer Thatſache nicht in - nerlich eins fühlen konnte und ſich in unbefriedigter Sehnſucht in die öden Wüſteneien des Naturrechts flüchtete, möglich machte, ſich in dieſer äußern Welt heimiſch zu fühlen als in einer Schöpfung, an der er ſelbſt mit arbeitet; ihn lehrte, in dieſer Schöpfung nur den Ausdruck deſſen zu finden, was er ſelbſt dunkel und unvollkommen in ſich trägt.
Wie aber ſo leicht eine neue Wahrheit im erſten Uebermuth über ihr Ziel hinausſchießt und in Einſeitigkeiten verfällt, ſo ſcheint es auch hier gegangen zu ſein, ohne daß ich damit im mindeſten das hohe Verdienſt der Urheber und erſten Ver - fechter der neuen Lehre ſchmählern will; jede neue tief eingrei - fende Wahrheit hat meiner Anſicht nach bei ihrem erſten Auftre - ten das Recht der Einſeitigkeit.
Der Vorwurf, den ich dieſer Lehre zu machen habe, beſteht darin, daß ſie Gewohnheitsrecht und geſetzliches Recht auf eine Stufe ſtellt und den ungeheuern Fortſchritt, den das Recht durch ſeinen Uebergang von jenem zu dieſem macht, ignorirt. Um die - ſen Fortſchritt nachzuweiſen, werden wir beide Exiſtenzformen des Rechts miteinander vergleichen.
Jener primitive Zuſtand des Rechts, von dem aus das Recht eines jeden Volks ſich erhoben hat, und der in vereinzelter Weiſe noch heutzutage als Gewohnheitsrecht vorkommt, hat auf den erſten Blick für die bloße Gefühlsbetrachtung etwas ſehr Ver - führeriſches, und zwar aus demſelben Grunde, aus dem eine nüchterne Kritik ihn als einen höchſt unvollkommnen zu bezeich - nen hat. Dieſe ſcheinbare Vollkommenheit und wirkliche Unvoll - kommenheit iſt die Harmonie und Einheit, die dieſen Zuſtand27I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.beherrſcht. Eins iſt hier das Recht mit dem Subjekt — es ent - ſteht und lebt in dem Gefühl der Individuen —; eins mit dem Leben — es geht ganz aus demſelben hervor; eins mit der Zeit — es ſchreitet ſtets mit ihr fort, bleibt nicht, wie das Ge - ſetz, hinter ihr zurück. Einig endlich in ſich iſt die ganze Rechts - auffaſſung; kein Widerſpruch von Geſetzen. Die Entſcheidung wird nicht genommen aus einem einzelnen Paragraphen, ſon - dern aus der Fülle der totalen Rechtsanſchauung. Dieſe durch - gehende Einheit, dieſer friedliche Zuſammenhang aber iſt gerade das Zeichen der Unvollkommenheit; der Fortſchritt des Rechts beſteht in der Zerſtörung jenes natürli - chen Zuſammenhanges und in unausgeſetzter Trennung und Iſolirung.
Durch den Ausdruck: Gewohnheitsrecht hat man ſich die unbefangene Auffaſſung vielleicht nicht wenig erſchwert. Die Römer, die einerſeits freilich auch von einem jus, quod moribus introductum est ſprechen, gebrauchen doch andererſeits gern die Ausdrücke: mores majorum, consuetudo, usus longaevus, und in dieſen Ausdrücken, die ich am liebſten durch Sitte wie - dergeben möchte, liegt der richtige Geſichtspunkt ausgeſprochen. Auf der primitiven Stufe, die wir hier zu betrachten haben, iſt das Recht, wenn auch ſubſtantiell, ſo doch noch nicht formell vorhanden, d. h. nicht als ein ſelbſtändiger, von der Moral qualitativ verſchiedener Begriff. An der Stelle des Dualismus von Recht und Moral haben wir hier noch eine einzige ſittliche Subſtanz, die ſich ſubjektiv als ſittliches Gefühl, äußerlich als Sitte darſtellt. Jener Unterſchied des Rechts und der Moral mag ſich ſubjektiv bereits in manchen Fällen als eine graduelle Differenz in der Stärke des Pflichtgefühls ankündigen, allein er iſt noch nicht im Ganzen vorhanden, noch nicht objektiv fixirt. Das Gefühl, das der Sitte zu Grunde liegt, trägt vermöge ſeiner Unbeſtimmtheit die Möglichkeit eines Schwankens nach beiden Seiten in ſich. Es iſt die ſittliche Subſtanz im Zuſtande der Flüſſigkeit, das Chaos, in dem die Elemente der ſittlichen28Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.Welt noch ungeſchieden durcheinander wogen, und aus dem erſt höchſt allmählig die einzelnen Bildungen ſich ablagern. Ein Windſtoß, wenn man mir das Bild erlaubt,15)Eine Bitte, die ich ganz beſonders an meinen geſtrengen bilderſtürme - riſchen Kritikus an der Moldau gerichtet haben will, der mich im Leipziger Centralblatt wegen zu unmäßigen Bilder-Verbrauchs in Behandlung genom - men hat. Um ihm zu zeigen, daß ich, wenn auch zu ſchwach, um die mir ver - ſchriebene Bilder-Diät oder Enthaltſamkeit inne zu halten, es doch an dem nöthigen Reſpekt nicht fehlen laſſe, ſo erkläre ich hiermit feierlichſt, daß fortan bei jedem Bilde, das ich gebrauchen werde, und mithin auch bei dem Wind - ſtoß im Text, durch den ich ihn vielleicht in höchſt bedenklicher Weiſe erſchreckt haben werde, mit Rückſicht auf ihn hinzugedacht werden ſoll: mit Erlaubniß zu ſagen. treibt die flüſſige Maſſe bald hierhin, bald dorthin, bald mehr nach Seiten des Rechts, bald mehr nach Seiten der Moral; in dieſem Falle äußert ſich das Gefühl als unbedingtes Gebot, in jenem Falle, der an ſich gar nicht verſchieden war, als freie Anforderung. Der Grund liegt darin, daß die ſittliche Subſtanz mit der Sub - jektivität noch ganz zuſammenfällt, alſo wie alles rein Innerliche den Schwankungen der ſubjektiven Stimmung unterworfen iſt. Jene Gleichmäßigkeit, die wir oben als eine der Cardinaleigen - ſchaften des Rechts hingeſtellt haben, iſt hier alſo noch nicht vorhanden; es fehlt dem Recht noch die Feſtigkeit und Härte, die gerade ſein Weſen ausmacht und es von der Moral unter - ſcheidet. Dieſer Zuſtand der Flüſſigkeit, in dem es ſich befindet, iſt der Zuſtand ſeiner höchſten Unſelbſtändigkeit, und es wäre vielleicht am richtigſten, es noch gar nicht Recht zu nennen, ſondern dieſen Zuſtand als den der Identität des Rechts und Moral unter dem Namen der Sitte dem Recht gegenüber zu ſtellen.
Mit dieſer Vorſtufe hat nun, wie bereits bemerkt, das Recht aller Völker begonnen, und nach Verſchiedenheit der Volksindi - vidualitäten ſich bald länger, bald kürzer darauf verweilt. 16)Die griechiſche Bezeichnung des Rechts, δίκη (S. B. 1 S. 204 Anm. 114) iſt dieſem Grund und Boden entwachſen.29I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.Wir haben aber nicht nöthig, in die entlegenſten Zeiten der Ge - ſchichte des Rechts zurückzuſteigen, um dieſe Vorſtufe kennen zu lernen; das Schauſpiel der gewohnheitsrechtlichen Bildung wiederholt ſich, wenn auch in vereinzelten Anwendungen, täg - lich unter unſern Augen, und an ihm können wir von dem eben Geſagten die Probe machen. Wie viele verſchiedenartige Motive zur urſprünglichen Bildung einer Gewohnheit mitwirken können, das Gefühl der Zweckmäßigkeit, der Verpflichtung, die vis iner - tiae u. ſ. w., will ich gar nicht in Anſchlag bringen. Die con - ſtante Handlungsweiſe — das äußere Requiſit der gewohnheits - rechtlichen Doctrin — ſei einmal unzweifelhaft vorhanden, ebenſo das innere Requiſit, das in den handelnden Perſonen herr - ſchende Gefühl der Nothwendigkeit. Nach der Theorie iſt jetzt das Gewohnheitsrecht fertig. Aber wie, gibt es denn nicht eine doppelte Art der Nothwendigkeit, eine rechtliche und ſitt - liche? Wenn das unbeſtimmte Gefühl: „ ſo müſſe es geſchehen “ſich zu dem Bewußtſein rechtlicher Nothwendigkeit erho - ben hat, dann freilich iſt die Sache einfach; der Prozeß der gewohnheitsrechtlichen Bildung hat hier ſeinen äußerſten und höchſten Punkt erreicht. Wie aber, wenn jenes Gefühl bloß das der ſittlichen Verpflichtung war, oder wenn es die nähere Beſtimmtheit darüber, welcher von beiden Arten es angehöre, noch gar nicht gewonnen? Und letzteres iſt ja der gewöhnliche Fall, wenigſtens werden die meiſten Gewohnheitsrechte, bevor ſie jenen äußerſten Punkt erreicht haben, längere Zeit hindurch ſich in dieſem Stadium befunden haben. Wie ſollen ſie auf dieſer Stufe charakteriſirt werden? Soll man ſie aus dem Ge - biete des Rechts ganz ausweiſen, weil ſie auf den Unterſchied zwiſchen Recht und Moral, der für ſie ein Anachronismus iſt, nicht reagiren? Ihnen aufgeben, innerlich nachzureifen und dann ſich wieder zu ſtellen?
Wer ſelbſt aus eigner Erfahrung Verſuche des Beweiſes eines ſpeziellen Gewohnheitsrechts kennt, wird mir einräumen, daß hier überall das zu Tage kommt, was ich als das Weſen30Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.der Sitte oder des ungeſchriebenen Rechts bezeichnet habe: die Unbeſtimmtheit. Er wird mir einräumen, daß je nach der Ver - ſchiedenheit der Perſonen das Gefühl der Nothwendigkeit bald ſchwerer, bald leichter empfunden wird d. h. bald mehr als Rechtsgefühl, bald mehr als Glaube einer bloß moraliſchen Verpflichtung. Und ebenſo lehrt die Erfahrung, daß je nach Verſchiedenheit des Richters derſelbe Beweis des Gewohnheits - rechts bald für erbracht, bald für mißlungen erklärt wird. Die Theorie des Gewohnheitsrechts möge ſich noch ſo ſehr ihrer vermeintlichen Beſtimmtheit rühmen, ſie möge ihr „ Rechtsge - fühl “als Quelle des Gewohnheitsrechts in abſtracto noch ſo ſehr zu dem Gefühl einer bloß moraliſchen Verpflichtung in Gegen - ſatz ſtellen: im Leben ſchwimmen beide nur zu oft zu einem Fluidum zuſammen, und Unbeſtimmtheit iſt der reguläre Cha - rakterzug der gewohnheitsrechtlichen Bildung.
Je weniger nun dem Bisherigen nach das Recht in ſeinem primitiven Zuſtand bereits innere Feſtigkeit und Beſtimmtheit gewonnen hat, je mehr die Möglichkeit eines Schwankens in ſeiner Natur begründet iſt, um ſo höhern Werth hat auf dieſer Stufe die Tugend der Gerechtigkeit. In ihr erhebt ſich das Recht zu dem Beſtreben, ſich frei zu machen von dem Wechſel der Stimmungen, dem Einfluſſe aller perſönlichen Bezüge u. ſ. w., und eine Gleichheit der rechtlichen Behandlung eintreten zu laſſen; es iſt die erſte Regung des Selbſtändigkeitstriebes des Rechts. 17)Liegt dies nicht auch in dem römiſchen Ausdruck Iustitia? Die Ständigkeit, Selbſtändigkeit des Rechts iſt ja das Ziel der Gerechtigkeit.Die Gerechtigkeit hat hier noch mit der ganzen Gefühlsſubſtanz zu ringen, von der ſie umgeben iſt, und nur ein ungewöhnlicher Grad von Einſicht und Charakterfeſtigkeit iſt dieſer Aufgabe gewachſen. Daher auch die außerordentliche Anerkennung, die ſie findet, und die für die ſpätern Entwick - lungsſtufen des Rechts keinen Sinn haben würde. In unſerm heutigen Recht iſt das Verdienſt der Gerechtigkeit ein unendlich31I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.geringeres; ſie liegt zum größten Theil ſchon in der Conſtruk - tion unſeres Rechts, und was das Subjekt dazu thut, iſt nichts beſonderes. Seitdem das Recht in ſich ſelbſt den Pro - zeß der Ueberwindung des bloßen Gefühlsſtand - punktes durchgemacht hat, iſt dieſe Arbeit dem ein - zelnen Subjekt erſpart oder wenigſtens bedeutend erleichtert; was früher mühſam geſucht und gefunden wer - den mußte und nur von Auserwählten gefunden ward, es liegt jetzt offen da und läßt ſich erlernen ohne großes Talent.
In demſelben Maße, in dem nun ein Volk das Bedürfniß nach Gerechtigkeit d. h. nach Gleichmäßigkeit empfindet, wird es den Trieb in ſich fühlen, ſich von dem Zufall der bloß individuellen Gerechtigkeit unabhängig zu machen, die Gerechtigkeit immer mehr aus der Sphäre ſubjektiver Eingebung in das Recht ſelbſt hinein zu verlegen. Das Mittel dazu iſt das Geſetz. Das Geſetz iſt der Akt, wodurch das Recht aus dem Zuſtand der Naivität heraus - tritt und in officieller Weiſe zum Selbſtbewußtſein gelangt. Scheinbar iſt dieſer Vorgang nicht ſo ſehr bedeutend, und doch ruft er in ſeiner Verallgemeinerung eine Reihe der wichtigſten Veränderungen im Recht ſelbſt hervor. Jede einzelne dieſer Ver - änderungen hat ihre Kehrſeite, und für den, der ſich an dieſe Kehrſeiten hält und überſieht, daß kein Fortſchritt in der Welt davon frei iſt, kann der Anſchein entſtehn, als ob jener primäre Zuſtand doch das eigentliche Paradies, das Auftreten der Ge - ſetzgebung aber den Sündenfall des Rechts bezeichne. Denn nach allen jenen Seiten hin, nach denen früher im Recht Har - monie und Einheit herrſchte, wird dieſelbe jetzt wie mit dem Sündenfall zerriſſen. Eins war früher das Recht mit dem ſub - jektiven Gefühl. Jetzt trennen ſich beide; an die Stelle des ſub - jektiv Innerlichen tritt etwas objektiv Aeußerliches. Nicht das iſt mehr Rechtens, was in der Bruſt des Subjekts lebt, ſondern der todte Buchſtabe. Eins war früher das Recht mit dem Le - ben; wie letzteres ſich bewegte und geſtaltete, ſo auch jenes, das Recht war nie hinter der Zeit zurück, ſtand nie mit ihren Bedürf -32Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.niſſen in Widerſpruch. Mit dem Geſetz hört dieſe Einheit auf. Das Recht ſteht nicht mehr innerhalb des Lebens, wenn ich ſo ſagen darf, ſondern außerhalb deſſelben, außerhalb der Bewe - gung und richtet von außen her ſeine Gebote an daſſelbe. Das Geſetz erſtarrt in demſelben Moment, in dem es verzeichnet wird, während das Leben in unausgeſetzter Bewegung bleibt, und doch ſoll letzteres ſich der todten Satzung der Vergangen - heit fügen!
Auch hinſichtlich der Art der Beurtheilung der concreten Rechtsverhältniſſe bereitet ſich mit dem Syſtem des geſchriebe - nen Rechts eine Veränderung vor, die gleichfalls ſcheinbar eine große Verſchlechterung enthält. Das Rechtsgefühl war etwas Ungetheiltes, Einiges, kein Theil deſſelben arbeitete für ſich allein; es war ein Spiegel, der die concreten Rechtsverhält - niſſe mit einem Male in ihrer ganzen Erſcheinung, in allen ihren Bezügen, nach allen Seiten hin erfaßte. Wie aber jetzt? Der Spiegel iſt in Stücken zerfallen, und aus den Splittern und Stücken ſind die ſchmalen Paragraphen eines Geſetzes oder Geſetzbuches gemacht. In ihnen hat der concrete Fall ſich abzu - ſpiegeln, erſt in dieſem Paragraph von dieſer Seite, dann in jenem von jener Seite. So alſo vollſtändige Zerſtücklung ſtatt der Einheit!
Es iſt nun leicht, wie man ſieht, die Kehrſeiten des geſchrie - benen Rechts aufzudecken und bei Schwärmern und Urtheils - loſen eine Sehnſucht nach dem „ Recht, das mit uns geboren, “zu erregen. Die Wahrheit hat hier nicht ſo leichtes Spiel, denn ſie befindet ſich von vornherein mit der Gefühlsnatur im Men - ſchen in Widerſpruch. Die Tendenz des Rechts nach Selbſtän - digkeit und Objektivität, als deren Ausfluß das Geſetz erſcheint, hat ja von vornherein zum Zweck, die Herrſchaft des Ge - fühls im Recht zu brechen, und die ganze Methode, Tech - nik, Conſtruktion des Rechts iſt darauf berechnet. Erklärlich, daß das Gefühl, das ſich dadurch in ſeinem innerſten Weſen bedroht fühlt, ſich dagegen ſträubt und daß, jemehr in einem Volke oder33I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.Individuum die Gefühlsnatur prävalirt, es ihm um ſo ſchwieriger ſällt, ſich mit der ganzen Weiſe des Rechts zu befreunden. Man ſieht, alle jene Veränderungen, die das Syſtem des geſchriebe - nen Rechts hervorruft, beruhen auf Trennung und Iſolirung, und wir haben hier Gelegenheit, die Wahrheit der obigen Be - merkung, daß der Fortſchritt des Rechts in Trennung beſteht, zu erproben. Wie das ſelbſtändige Leben des Kindes erſt durch Trennung von der Mutter begründet wird, ſo auch das des Rechts erſt durch die Ablöſung von dem nationalen Rechtsge - fühl, in dem es ſeinen Urſprung fand. Dieſe Ablöſung vollzieht das Geſetz. Allerdings erleidet das Recht jetzt eine gewiſſe Ein - buße, es verliert jene Flüſſigkeit und Beweglichkeit, allein die Einbuße ſteht in keinem Verhältniß zu dem Gewinn, d. i. der Zunahme des Rechts an Feſtigkeit, Beſtimmtheit, Gleichmäßig - keit, kurz an Selbſtändigkeit. Theils nämlich vermag auch das geſchriebene Recht ſich eine gewiſſe Elaſticität zu erhalten — das dritte Syſtem wird uns dies in lehrreicher Weiſe veranſchauli - chen — und iſt ja im Stande, der Entwicklung des Verkehrs und der nationalen Rechtsanſchauung durch entſprechende Aen - derungen ſeiner ſelbſt zu folgen; theils aber iſt die Beſtimmtheit, Sicherheit, Gleichmäßigkeit, Ruhe, Feſtigkeit des Rechts für das Leben unendlich viel wichtiger, als die Fähigkeit, ſich letzterem ſtets in jedem Augenblick und für jedes einzelne Verhältniß zu akkommodiren. Denn die Verhältniſſe, in denen ſich das recht - liche Leben der Gattung darſtellt, ſind nicht ſo individuell, daß ſie ſich nicht typiſch durch das Geſetz normiren ließen; es kömmt nur darauf an, daß das Geſetz in ſeiner Klaſſificirung weit ge - nug ins Detail hinabſteigt. Und ebenſo wenig ſind ſie ſo ver - änderlich, daß ſie ſich nicht ohne Zwang auf längere Zeit einer und derſelben Regel fügen könnten.
Der poſitive Fortſchritt, den das Recht mit ſeiner Aufzeichnung macht, läßt ſich mit einem Wort bezeichnen als Uebergang aus der ſubjektiven Innerlichkeit zur objektiven Aeu - ßerlichkeit. Hiermit hat daſſelbe zunächſt die Selbſtändigkeit inJhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 334Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.der Form gewonnen. Die Sitte, in der es ſich früher darſtellte, war eine ihm nichts weniger als eigenthümliche Form; auch das rein Zweckmäßige, das zum Recht nicht die entfernteſte Beziehung hat, kann Sitte ſein. Das Geſetz hingegen iſt die ausſchließliche Form des Rechts. Was Sitte iſt, iſt nicht darum ſchon Recht, wohl aber, was Geſetz iſt. So iſt alſo der Unbeſtimmtheit des Rechts hinſichtlich der Form fortan ein Ende gemacht. Ferner und vor allem aber iſt damit die wichtigſte Eigenſchaft des Rechts, die Gleichmäßigkeit, angebahnt. Während früher das Recht, wie das Bild im Waſſer, den Fluctuationen des reflekti - renden Gegenſtandes mit unterworfen war, wird es jetzt reflec - tirt aus einem Spiegel, der keiner Bewegung fähig iſt. Freilich kömmt es auch bei dieſem Spiegel, wie bei jedem, darauf an, wer hinein ſieht; auch das Geſetz ſchließt, wie alles Objektive, wenn es vom Subjekt erfaßt wird, den Einfluß der ſubjektiven Verſchiedenheiten und der Stimmungen deſſelben Subjekts nicht völlig aus, aber es iſt doch ein objektiver Anhaltspunkt gewon - nen, den Schwankungen der ſubjektiven Anſicht, den Einflüſſen des Gefühls bis zu einem gewiſſen Grade ein Damm entgegen - geſetzt. Aus einer Sache des Gefühls wird das Recht jetzt ein Gegenſtand der Erkenntniß, es wird logiſch berechenbar, ob - jektiv meßbar. Die Intuition macht folgeweiſe immer mehr dem discurſiven Denken Platz. Das Mangelhafte der Beurtheilung der Rechtsverhältniſſe nach dem Totaleindruck, von der oben die Rede war, beſteht darin, daß auf die Hervorbringung des Totaleindrucks leicht unbewußter Weiſe unberechtigte Einflüſſe mitwirken. Eine genaue Vergleichung der verſchiedenen Fälle iſt nicht möglich, wenn man ſie bloß in ihrer Totalität auffaßt, ſondern es iſt wie bei der chemiſchen Vergleichung der Kör - per eine Auflöſung derſelben in ihre Grundbeſtandtheile, ein Zerlegen und ſtückweiſes Vergleichen und Abwägen derſelben er - forderlich. Wir werden an einer ſpätern Stelle Gelegenheit er - halten, die juriſtiſche Scheidekunſt in ihrer innerſten Werkſtätte zu beobachten und gehen daher hier auf dieſen Punkt nicht weiter ein,35I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.kehren vielmehr jetzt zum ältern römiſchen Recht zurück, indem wir daſſelbe unter dem Geſichtspunkt betrachten, der im bisheri - gen entwickelt iſt.
Den Römern konnte es ihrer ganzen Natur nach nicht be - ſchieden ſein, lange in dem naiven Zuſtande der Sitte zu verharren. Für ein Recht, das wenigſtens nach ſeiner pri - vatrechtlichen Seite hin, wie kein anderes, vom Selbſtändig - keitstriebe beſeelt war, verſteht ſich eine entſchiedene Hinneigung zum Syſtem des geſchriebenen Rechts ganz von ſelbſt. Es iſt in dieſer Beziehung bezeichnend, daß die ſpätere Zeit die Einrich - tungen der Urzeit, offenbare Naturprodukte, wenn ich ſo ſagen darf, auf Geſetze des Romulus und Numa zurückführte. Dem römiſchen Geiſt erſchien es als das Natürliche, daß die Reflexion und das Bewußtſein die ſittliche Welt zu geſtalten oder das Vorhandene wenigſtens in Form des Geſetzes zu erfaſſen und darzuſtellen habe (B. 1 S. 93).
Jene älteſte Zeit mit ihren angeblichen Geſetzen liegt nun außer unſerm Geſichtskreiſe. Dagegen gibt uns das Recht der Republik das Bild einer regen Thätigkeit der Geſetzgebung, auf die wir aber hier im Einzelnen begreiflicherweiſe nicht eingehen können. Die hervorragendſte Erſcheinung dieſer Periode iſt die Zwölftafelgeſetzgebung, die Grundlage des ganzen zweiten Sy - ſtems. Im Weſentlichen enthält dieſelbe nur eine Codifikation des beſtehenden Rechts, und war, wie ähnliche Erſcheinungen bei andern Völkern z. B. bei den Germanen zur Zeit der Völker - wanderung, durch eine fühlbar gewordene Unſicherheit des Rechts veranlaßt, wenigſtens wird uns von ſpätern Referenten dieſes Motiv angegeben. 18)Pomponius in L. 2 §. 3 de orig. jur. (1. 2) iterumque coepit populus Romanus incerto magis jure et consuetudine uti, quam per le - gem latam. In der Regel ſind es bedeutende Störungen der bisherigen Lebensverhältniſſe der Völker, die eine ſolche Unſicherheit und mit ihr das Bedürfniß der Codifi - kation herbeiführen, namentlich ſtarke Zuflüſſe neuer ethniſcher3*36Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.Elemente, Aenderungen in dem Compoſitionsverhältniß der Volksſchichten u. ſ. w. In Rom lag der Grund in der durch die Vertreibung der Könige verſchobenen Stellung der Patricier und Plebejer, und die Plebs war es, auf deren Rechnung das Verdienſt fällt, jene für die ganze römiſche Rechtsentwicklung unendlich folgenreiche Maßregel der Codifikation des beſtehen - den Rechts erzwungen zu haben. Die Abſicht war auf eine er - ſchöpfende Formulirung des geſammten geltenden Rechts gerich - tet, daß dieſelbe aber nur annäherungsweiſe zu erreichen war, braucht kaum bemerkt zu werden (S. B. 1 S. 18 u. fl.) Ein näheres Eingehen auf dieſes Zwölftafelngeſetz iſt hier nicht am Ort, da dem Geſichtspunkt, den wir gegenwärtig verfolgen, mit der Verweiſung auf die bloße Thatſache jener Codifikation ein Genüge geſchehen iſt; nach andern Seiten hin werden wir noch öfter auf jenes Geſetz zurückkommen müſſen.
Wir haben bisher dem ältern Recht im allgemeinen eine Hinneigung zum Syſtem des geſchriebenen Rechts vindicirt, dieſe Behauptung bedarf aber einer nähern Beſtimmung hinſicht - lich der einzelnen Theile des Rechts. Auf dem Gebiete des Pri - vatrechts und Civilprozeſſes tritt jene Tendenz am entſchieden - ſten hervor, weniger im Staatsrecht, am wenigſten im Krimi - nalrecht.
Auf jenem erſten Gebiete herrſchte dieſe Tendenz meiner An - ſicht nach völlig exkluſiv d. h. das Geſetz war hier die einzige Rechtsquelle, das Gewohnheitsrecht war prinzipiell ausgeſchloſ - ſen. 19)Puchta Gewohnheitsrecht B. 1 S. 16 ſcheint gerade entgegengeſetz - ter Anſicht zu ſein, der rechtshiſtoriſchen Compendien, in denen natürlich für jede Periode die Wirkſamkeit des Gewohnheitsrechts vorausgeſetzt wird, gar nicht zu gedenken. Puchta meint ſogar, bei den Römern habe der Gegenſatz zwiſchen geſetzlichem und Gewohnheitsrecht durchaus nicht die Wirkſamkeit erhalten, welche ihm in unſerer Zeit zu Theil geworden ſei. Wenn er ſich dafür aber auf die interpretatio beruft, welche nur als eine Fortſetzung desDieſe Behauptung bedarf freilich, um nicht mißverſtan -37I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.den zu werden, einer nähern Erläuterung, und zwar wird letz - tere ſich am einfachſten in der Weiſe geben laſſen, daß wir jene Behauptung gegen die möglichen Einwürfe, auf die ſie gefaßt ſein muß, vertheidigen. Man wird uns zuerſt einwenden, daß vieles in der Sitte beſtand, wovon ſich im geſchriebenen Recht keine Spur fand. Dies iſt allerdings unzweifelhaft, aber es relevirt aus dem Grunde nichts, weil der Sitte oder Gewohn - heit als ſolcher keine rechtlich verbindende Kraft zukam. Zugege - ben, daß es z. B. ganz allgemein üblich war bei Ausübung des jus necis ac vitae von Seiten des Vaters die Verwandten zu - zuziehen (Familiengerichte, B. 1 S. 179), die formloſen Aufla - gen des Teſtators an den Erben (die Fideicommiſſe) zu erfüllen: wer im einzelnen Fall ſich über dieſe Sitte hinwegſetzen wollte, mochte es thun. Der Prätor würde den verlacht haben, der einen Anſpruch auf „ das allgemein herrſchende und in der Ge - wohnheit ſich ausprägende Gefühl rechtlicher Nothwendigkeit “hätte ſtützen wollen. Es iſt nicht bedeutungslos, daß die Klagen des ältern Rechts legis actiones heißen, die des ſpätern Rechts actiones ſchlechthin. Eine lex iſt die normale Grundlage einer jeden Klage des ältern Rechts,20)Gaj. IV. §. 11 … quia legibus proditae erant. alle legis actiones beruhen auf Geſetzen, theils auf den Zwölf Tafeln, theils auf ſpätern. 21)Gaj. IV. §. 11 — 29. Nur die legis actio per pignoris capionem ſtand in einem Fall moribus zu, Gaj. IV. §. 27, aber es iſt nicht außer Acht zu laſſen, daß ſie keine Klage war und nicht einmal vor Gericht vorgenommen werden mußte, Gaj. ibid. §. 29.Die Bedeutung der Sitte für das ältere Recht werden wir im letzten Abſchnitt dieſes Buchs ins Auge faſſen; ſie war eine19)geſchriebenen Rechts betrachtet worden ſei, ſo ſpricht dies eher gegen, als für ſeine Meinung; und er ſelbſt erkennt (S. 24) auch den „ Vorzug des ge - ſetzlich niedergeſchriebenen Rechts der Zwölf Tafeln an, an welches alles an - dere Recht angeſchloſſen wurde, wodurch es denn allerdings als ein damit identiſches anerkannt wurde, andererſeits aber eine ſekundäre Stelle gegen das geſetzliche erhielt. “ Wir werden in §. 27 auf die interpre - tatio zurückkommen.38Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.ſehr hohe, aber trotzdem beſtand zwiſchen der Sitte und dem Recht eine unüberſteigliche Scheidewand, und ein Inſtitut der Sitte (quod in facto consistit, magis facti quam juris est) konnte nur durch ein Geſetz, nicht aber, was ja das Weſen des Gewohnheitsrechts ausmacht, durch ſich ſelbſt und aus eigner Autorität rechtliche Exiſtenz erlangen. Es iſt mir kein Beiſpiel einer gewohnheitsrechtlichen Bildung aus dieſer Periode be - kannt, während umgekehrt die meiſten wichtigen Aenderungen im Civilrecht wie im Prozeß ſich auf Geſetze zurückführen laſſen. Allerdings gab es eine reichhaltige Quelle der Rechtsbildung neben dem Geſetz, die interpretatio (§. 27), aber ſie ſtellte ſich nicht als ſelbſtändige Production außer und über, ſondern als bloße Entwicklung des Geſetzes unter daſſelbe. Wir wiſ - ſen, daß ſie manchen Rechtsſätzen das Leben gab, die im Geſetz nicht enthalten waren, daß materiell alſo hier eine Art gewohn - heitsrechtlicher Bildung Statt fand, aber formell und nach An - ſicht der Römer prätendirte ſie dies nicht, ſondern ſtützte ſich und ihre Reſultate auf das Geſetz ſelbſt, fügte ſich dem Sy - ſtem des geſchriebenen Rechts als Ergänzung und Erläute - rung ein.
Ich fürchte kaum, daß man meiner Anſicht den Vorwurf in - nerlicher Unwahrſcheinlichkeit mache, in dem Sinne nämlich, daß ja die ſtrenge Feſthaltung des Syſtems des geſchriebenen Rechts dem Verkehr eine Feſſel auferlegt, ihn in ſeiner freien Bewegung gehemmt hätte. Denn für alle Verhältniſſe, die der Autonomie zugänglich waren, bot das Prinzip der Autonomie, das im ältern Recht im ausgedehnteſten Maße Anerkennung gefun - den, eine ausreichende Hülfe; hinſichtlich anderer Verhältniſſe aber ſorgte theils die Interpretatio, theils die Geſetzgebung, die ja, wenn irgendwo, ſo im ältern Rom, mit den Intereſſen des Volks und Lebens völlig vertraut und ihnen dienſtbar war, für die Befriedigung etwaiger rechtlicher Bedürfniſſe. Iſt doch eine ſolche ausſchließliche Beſtreitung des rechtlichen Verkehrs - bedürfniſſes mit Geſetzen auch anderwärts, wo die Verhältniſſe39I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.viel weniger günſtig ſind, zum Prinzip erhoben z. B. im öſter - reichiſchen Geſetzbuch.
Die im bisherigen vertheidigte Anſicht wird ſich mit allge - meinen Quellen-Aeußerungen weder erweiſen, noch widerlegen laſſen. 22)Lt eres alſo z. B. nicht dadurch, daß ſpätere Referenten im allge - meinen von mores majorum ſprechen. Die richtige Art der Widerlegung wäre die durch Beiſpiele von gewohnheitsrechtlichen Bildungen, die erwieſe - nermaßen aus dieſer Periode ſtammen (wohin ich die querela inofficiosi nicht rechne, ſ. drittes Syſtem). Will man mit allgemeinen Quellen-Aeußerungen operiren, was meiner Anſicht nach zu nichts führt, ſo könnte ich mich z. B. berufen auf Pomponius, der die Aufhebung des unſichern Ge - wohnheitsrechts als Motiv der Zwölf-Tafeln-Geſetzgebung angibt (L. 2 §. 4 de orig. juris), und für die Zeit nach den Zwölf Tafeln zwar die interpretatio, nicht aber das eigentliche Gewohnheitsrecht als Beſtand - theil des Rechts anführt. Er nennt §. 6 drei Beſtandtheile des Rechts: die XII, die interpretatio und die legis actiones, und bei der Tripertita des Ae - lius (§. 38) kehren ſie und nur ſie wieder; von einem Gewohnheitsrecht keine Rede.Für mich liegt der entſcheidende Grund in dem Cha - rakter und der ganzen Tendenz des ältern Rechts, namentlich in ſeinem Streben nach äußerer Beſtimmtheit und ſeinem Forma - lismus. Wie es dem ältern Recht widerſtrebte, dem Vertrage d. i. dem formloſen individuellen Willen eine juriſtiſche Wirk - ſamkeit zuzugeſtehen, ſo war es auch ſeiner Natur zuwider, dem formloſen allgemeinen oder ſ. g. objektiven Willen d. h. dem Gewohnheitsrecht eine ſolche einzuräumen. Nicht darin, daß beide formlos ſind, liegt ihre Unvollkommenheit, ſondern darin, daß ihnen mit der Form auch die Beſtimmtheit abgeht. Ob Je - mand ſich durch ein formloſes Verſprechen bloß moraliſch oder juriſtiſch hat binden wollen, iſt unter Umſtänden ebenſo zwei - felhaft, als ob einer Gewohnheit das Gefühl rechtlicher Noth - wendigkeit oder das einer bloß moraliſchen Verpflichtung zu Grunde liegt. Der Formalismus (§. 34) iſt einer der hervor - ragendſten Grundzüge des ältern Rechts. Wie derſelbe nun im Privatrecht zu den formellen Verträgen, im Prozeß zu den feſten40Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.Klagformeln führte,23)Dem Willen des Volks war hier in der Form eine beſtimmte, feſte Gränze geſetzt, wie Pomponius ſich in der L. 2 §. 6 de orig. jur. ausdrückt: quas actiones ne populus, prout vellet, institueret, certas solennesque esse voluerunt. Ausſchließung des bloß materiellen formlo - ſen Volkswillens iſt aber in höchſter Potenz ausgedrückt: Ausſchließung des Gewohnheitsrechts. ſo bei den Rechtsquellen, wenn er ſich nicht hier allein verläugnen ſollte, zur Feſthaltung des Syſtems des geſchriebenen Rechts gegenüber dem des ungeſchriebenen. 24)Die Ausſprüche der ſpätern Juriſten über das Gewohnheitsrecht ſind für die ältere Zeit nicht zu benutzen. Der Grund, mit dem z. B. Julian die Kraft des Gewohnheitsrechts rechtfertigen will: nam quid interest suffragio suo populus voluntatem suam declaret an rebus ipsis et factis (L. 32 de legib. ) charakteriſirt ihn und ſeine Zeit. Zur Blüthezeit des Formalismus würde kein Juriſt ſo gefragt haben. Den Geiſt jener ſpätern Zeit werden wir im dritten Syſtem kennen lernen.
Unſere bisherige Ausführung hatte das Privatrecht und den Civilprozeß zum Gegenſtande. In ungleich geringerem Grade als bei ihnen zeigte ſich die Tendenz, von der hier die Rede iſt, auf dem Gebiete des Staatsrechts. Während die weſentliche Summe der für jene beiden Disciplinen geltenden Normen in den Geſetzen, den Klagformeln und der Interpretatio fixirt war, beſtand im Staatsrecht zwiſchen der Wirklichkeit deſſelben und ſeiner geſetzlichen Formulirung eine beträchtliche Differenz. Das römiſche Staatsrecht war noch zum großen Theil in der Sphäre des Gefühls befangen und iſt darum auch mit den Römern un - tergegangen. Man darf annehmen, daß dem römiſchen Magi - ſtrat und Richter die Normen, nach denen er Recht zu ſprechen hatte, wenn auch in objektiv unvollkommner, aber doch in einer für ihn genügenden Weiſe vorgezeichnet waren. Ganz anders war die Lage des römiſchen Magiſtrats in ſtaatsrechtli - cher Beziehung. Denn wie er ſein Amt zu verwalten hatte, wie weit ſich ſeine Macht erſtreckte u. ſ. w., das lehrten ihn die Geſetze nur zum allergeringſten Theil, das mußte ihm ſein Takt ſagen, oder mußte er der öffentlichen Meinung ablauſchen. Wir Neuern41I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.pflegen wohl über die Unbeſtimmtheit in der römiſchen Verfaſ - ſung zu klagen, über den Mangel feſter Gränzen zwiſchen den verſchiedenen Gewalten u. ſ. w., denn uns iſt das politiſche Abcirklungs - und Abrichtungsſyſtem, das die Einſicht, den po - litiſchen Takt und den guten Willen entbehrlich machen und einer Verfaſſung die mechaniſche, unausbleibliche Regelmäßig - keit eines Uhrwerkes geben will, zur zweiten Natur geworden. Jene vielen politiſchen Wegweiſer, die in unſeren Verfaſſungen aufgeſtellt ſind, jene Schlagbäume und Zäune u. ſ. w. ſie fan - den ſich in der römiſchen Verfaſſung nicht verzeichnet; die Rö - mer trafen von ſelbſt den rechten Weg. Den Beamten war ein ſehr weiter Spielraum für ihre Gewalt eingeräumt, aber die ſtillſchweigende Vorausſetzung dieſer Conceſſion war die takt - volle, den Umſtänden angemeſſene Benutzung dieſer Gewalt. Wie aber, wenn dieſe Erwartung ausnahmsweiſe nicht in Er - füllung ging? Ein ſehr ausgedehntes Schutzmittel gewährte das Veto der übrigen Magiſtrate und der Tribunen. Dies Veto war der Ausdruck des lebendigen ungeſchriebenen römiſchen Staats - rechts. Wie die ſittenrichterliche Gewalt des römiſchen Cenſors eine Perſonifikation des römiſchen Sittlichkeitsgefühls enthielt, durch keinen Buchſtaben gebunden, ſondern ganz dem perſönli - chen Ermeſſen anheimgeſtellt, ſo jenes Veto eine Perſonifikation des römiſchen Staatsrechts und der römiſchen Politik; wie die Cenſur ein Correktiv und Temperament der privatrechtlichen Gewalt des paterfamilias gewährte, ſo dies Veto das Correk - tiv und Temperament der ſtaatsrechtlichen Gewalt der Beamten. Um nun anderer Mittel z. B. der Auſpicien (B. 1 S. 329), des Collegiums der Augurn, das wir früher (B. 1 S. 331) als höchſten politiſchen Caſſationshof bezeichneten, der Oberaufſicht des Senats u. ſ. w. nicht zu gedenken, ſo blieb als letztes und äußerſtes Sicherungsmittel die Furcht vor einer nach Niederle - gung des Amts drohenden Anklage und Unterſuchung. Nicht bloß Uebertretungen der Geſetze, ſondern auch Handlungen, die dem Geiſt der Verfaſſung zuwider liefen, eine Nicht-Achtung42Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.der öffentlichen Meinung, eine Nachläßigkeit, Ungeſchicklichkeit u. ſ. w. enthielten, alſo z. B. eine mißbräuchliche Ausübung des Veto25)Z. B. Livius V. 29. zogen eine ſolche Anklage und Verurtheilung nach ſich. 26)Auf die Volksgerichte werden wir gleich übergehen. Beiſpiele der Verurtheilung von Beamten auf Grund ſolcher Handlungen ſ. bei E. Platner Quaestiones de jure criminum Romano. S. 14 u. fl.
Der Grund der bisher erörterten Verſchiedenheit zwiſchen dem Staatsrecht und Privatrecht liegt auf der Hand. Der pri - vatrechtliche Verkehr läßt ſich ohne Nachtheil feſten, unbeugſa - men Regeln unterordnen; er bewegt ſich in denſelben ſtereoty - pen Formen, und Regelmäßigkeit, Sicherheit, Berechenbarkeit iſt gerade das, was er erſtrebt; je genauer und beſtimmter ihm alſo ſeine Bahnen vorgezeichnet werden, deſto vortheilhafter für ihn. Anders der Staat und das öffentliche Leben. Die Lagen, in die er hineingetrieben wird, ſo wie die zu ergreifenden Maß - regeln ſind nicht im voraus berechenbar, er muß auf das Unge - wöhnliche gefaßt ſein, muß alſo in ſeiner Verfaſſung die nöthige Biegſamkeit und Elaſticität beſitzen, um dem Ungewöhnlichen begegnen zu können. Iſt dies nicht der Fall, hat vielmehr eine politiſche Kurzſichtigkeit ſeine Verfaſſung nach dem Muſter eines Uhrwerks zugeſchnitten, ſo bringt ein ungewöhnliches Ereigniß entweder eine Lähmung hervor oder wird die Veranlaſſung zum gewaltſamen Umſturz der Verfaſſung. Es beweiſt den hohen politiſchen Inſtinkt der Römer, daß ſie, ſo ſehr ſie auch von ih - rem Privatrecht her an die größtmöglichſte Fixirung und Objek - tivirung des Rechts gewöhnt waren, doch dieſer Richtung für das Gebiet des öffentlichen Rechts nur in beſchränkter Weiſe huldigten.
In einem noch höhern Grade, als vom Staatsrecht gilt dieſe Bemerkung vom Kriminalrecht. Der eigentliche Ablage -43I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.rungsprozeß deſſelben begann erſt gegen das Ende der Republik mit dem Aufkommen der die Volksgerichte vertretenden ſtändi - gen Commiſſionen (quaestiones perpetuae). So lange das Volk ſelbſt in ſeinen Comitien die Strafgerichtsbarkeit ausübte, war dieſe Form des Prozeſſes einer Fixirung der materiellen ſtraf - rechtlichen Grundſätze mindeſtens geſagt ungünſtig. Allerdings enthielten die Zwölf Tafeln einige ſpezielle criminaliſtiſche Be - ſtimmungen und namentlich den allgemeinen Grundſatz, daß Kapitalſtrafen nur von den Centuriatcomitien erkannt werden dürften, auch werden in einigen Fällen leges und mores als Anhaltspunkte für die Anklage erwähnt,27)Liv. XXVI. 3 … quominus seu legibus, seu moribus mallet, anquireret. jedoch beweiſt die Art und Weiſe, wie das Volk die ihm zuſtehende Gewalt aus - übte, daß es ſich im allgemeinen durch Regeln nicht gebunden erachtete, ſondern dem Totaleindruck des Falles, der Eingebung des Augenblicks, ja, wir möchten von unſerm heutigen Stand - punkt ſagen, der reinen Laune und Willkühr folgte. Wie verſchieden ward oft ein und daſſelbe Verbrechen beſtraft, und welche Gründe, die nach unſerer heutigen Auffaſſung mit der Strafwürdigkeit des Angeklagten nichts gemein haben, gaben hier nicht ſelten den Ausſchlag! 28)S. hierüber die in Note 26 citirte Schrift von Platner quaest. I und Geib Geſchichte des römiſchen Kriminalprozeſſes S. 125 — 128.
Man hat jene Strafgerichtsbarkeit des Volks als eine Ver - einigung der geſetzgebenden und richterlichen Gewalt bezeichnet, die Urtheile Geſetze für den einzelnen Fall genannt,29)Geib a. a. O. S. 126: „ Gleich wie nach griechiſchen Rechtsbe - griffen war es auch in Rom entſchiedener Grundgedanke, daß die Richter in Criminalſachen nicht bloß Diener des Geſetzes ſeien und als ſolche unter denſelben ſtünden, ſondern daß ſie zugleich gewiſſermaßen als deſſen Be - herrſcher betrachtet werden müßten und daher ſo oft dies die Umſtände ver - langten, ſogar über daſſelbe ſich erhoben, gleichſam die Geſetzgeber für den einzelnen Fall vorſtellen ſollten. “ S. 127: „ Das Volk war nicht bloß überall der Sache nach Geſetzgeber und Richter, ſondern es vermengte auf dieſe und die -44Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.ſer Geſichtspunkt iſt allerdings zutreffend. Woher aber dieſe Erſcheinung, daß das Volk des Rechts jene Trennung zwiſchen Recht und Rechtsanwendung, die eins der erſten Requiſite für die Selbſtändigkeit und Gleichmäßigkeit des Rechts iſt, auf dem Gebiete des Kriminalrechts ſo ſpät vollzogen hat? daß, während das ganze Civilrecht im höchſten Grade von der Tendenz nach Feſtigkeit, Beſtimmtheit, Objektivität, Gleichmäßigkeit durch - drungen iſt, das Kriminalrecht ſich ſo lange im gerade entgegen - geſetzten Zuſtande der äußerſten Flüſſigkeit und völligen Befan - genheit in der Subjektivität der Gefühlsſtimmung zu erhalten vermochte? Es hängt dies, wie ich glaube, mit der antiken Vorſtellungsweiſe von dem Verhältniß des Bürgers zum Staat zuſammen. Nach unſerer heutigen Auffaſſung iſt dies ein bloß rechtliches, d. h. der Staat verlangt von ſeinen Mitgliedern eine äußere Handlungsweiſe, die Geſinnung, aus der ſie hervorgeht, iſt ihm dabei nicht weſentlich. Der antike Staat hingegen ver - langt nicht Handlungen, ſondern eine beſtimmte Geſinnung, aus der die nöthigen Handlungen dann von ſelbſt im reichſten Maße und in ſchönſter, edelſter Weiſe hervorquellen, die Ge - ſinnung der vollſten Liebe und Hingebung. Seine Anforderung iſt alſo ſittlicher, innerlicher Art, die des heutigen Staats rechtlicher, äußerlicher. Nicht durch ein äußeres legales Handeln konnte ſich der Grieche und Römer mit ſeinem Staat ab - finden, nicht auf dem Fuße gegenſeitiger Abrechnung ſtanden ſie zu einander, bei dem es wohl gar nicht einmal für unehrenhaft gilt, den Staat zu übervortheilen, wie dies bei uns der Fall iſt; ſondern der Bürger gehörte mit allem, was er war und hatte, dem Staat an. Kein Geſetz brauchte ihn zu lehren, wie er ſich äußerlich gegen den Staat zu verhalten habe, ſo wenig wie die Liebe ſolcher äußeren Anweiſungen bedarf; das eigne Gefühl29)Weiſe auch ſehr häufig der Zeit nach jene beiden Eigenſchaften, und dieſelben floſſen eben daher ſo ſehr zuſammen, daß ſie ſelbſt im Begriff ſich kaum von einander unterſcheiden laſſen. “.45I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.ſagte ihm dies. Darum war denn auch die ſtrafrechtliche Cen - ſur, die der Staat gegen die Bürger ausübte, nicht auf einzelne, äußere Handlungen gerichtet, ſondern ſie umfaßte, wie der Staat ſelbſt, das Individuum in ſeiner ganzen Perſönlichkeit, und die ſtrafbare Handlung, die bei uns die Bedeutung hat, Gegenſtand der Unterſuchung zu ſein, hatte im Alterthum nur die, letztere zu veranlaſſen. Das Volk und der Verbrecher ſtehen ſich hier in ihrer Totalität gegenüber; nicht einzelne Rechts - ſätze und Handlungen. 30)Ein auf gleicher Stufe ſtehendes germaniſches Inſtitut war das der Eideshelfer, inſofern nämlich als auch in ihm ſich die Trennung zwiſchen That und Thäter noch nicht vollzogen hatte, die Eideshelfer vielmehr in derſelben Weiſe, wie das Volk in den judiciis publicis ſtatt der That den Charakter des Thäters ins Auge faßte, ſtatt der zu beweiſenden Handlung die Glaub - würdigkeit des Beweisführers beſchworen.Das Volk mit ſeiner ganzen Denk - und Gefühlsweiſe iſt der Spiegel, worin der Verbrecher ſich in ſeiner ganzen ſittlichen Exiſtenz beſchauen und zur Erkenntniß ſeines Abfalls vom nationalen Weſen gelangen ſoll; es iſt das nationale Gewiſſen, das hier in ſeiner ganzen Stärke an ihn herantritt, und dem gegenüber er ſich nicht mit der Ausflucht der Unkenntniß oder des Mangels an ausdrücklichen geſetzlichen Ver - boten entſchuldigen kann. 31)Civem, ſagt Platner a. a. O. S. 8, scire debere ex notione reipublicae, cui adscriptus est, quae peccata sint fugienda, si in poe - nam incurrere nolit. Legem hic omnino deesse dici nequit, verum enim vero lex, qua poena infligitur, est illa omnium civium communis con - scientia, quae cum uno quoque quasi nascitur et adolescit, ita ut a ne - mine ignorari possit, qui vinculo reipublicae illigatus teneatur. Nicht die That wird ſchließlich an ihm geſtraft, ſondern die Geſinnung aus der ſie gefloſſen, und die mit der That keineswegs erſt entſtanden, ſondern nur bei Gelegenheit derſelben offenkundig geworden iſt; nicht die Ueber - eilung einer ſchwachen Stunde, ſondern der Werth des ganzen Lebens wird einer Prüfung unterworfen.
Es hat nun dieſe ganze Behandlungsweiſe das Anziehende und Beſtechende, das das Recht auf dem Gefühlsſtandpunkt46Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.überhaupt zu haben pflegt, auch hier aber ſoll man ſich nicht darüber täuſchen, daß dieſe Behandlungsweiſe, ſo ſehr ſie auch relativ berechtigt war, doch einer unvollkommneren Stufe der Rechtsentwicklung angehörte. Jenes Recht, das für den einzel - nen Fall zugleich geſchaffen und angewandt wurde, wie war es doch von der augenblicklichen Stimmung des Volks, von poli - tiſchen Rückſichten und Einflüſſen, kurz von Zufällen abhängig, die mit der Strafwürdigkeit des Angeklagten nichts gemein hat - ten! Wie das Gewiſſen des Einzelnen nicht zu jeder Zeit gleich lebendig iſt, ſo auch nicht jenes perſönlich gewordne nationale Gewiſſen; je nach Umſtänden bald erregt und reizbar, bald mehr apathiſch, durch künſtliche Mittel, durch Rede und Gegenrede, die ſich ganz conſequent vorzugsweiſe in der Gefühlsſphäre be - wegten, excitirt oder beſänftigt gewährte es dem Angeſchuldigten in der That nicht die Garantie der wahren d. i. ſich ſelbſt gleich bleibenden Gerechtigkeit. Auch hier läßt ſich letztere nur feſtſtel - len auf dem Wege der Scheidung, alſo der Aufhebung jener Identität des Geſetzgebers und Richters, der Befreiung des Rechts von den Einflüſſen der Politik, der augenblicklichen Stimmung u. ſ. w. durch feſten objektiven Niederſchlag, der Trennung der That von der Perſönlichkeit des Thäters — einem Wege, den das römiſche Recht gegen das Ende der Republik eingeſchlagen, die moderne Welt beibehalten hat, und den ſie auch nie wieder verlaſſen wird.
Das Reſultat unſerer Prüfung des ältern Rechts beſteht darin, daß das Maß, in dem der Trieb nach äußerer Fixirung in demſelben hervortrat, nach den verſchiedenen Seiten des Rechts ein verſchiedenes war, die rein privatrechtliche Seite deſ - ſelben in eben dem Grade von dieſem Triebe beherrſcht ward, als die öffentliche Seite deſſelben ihm Widerſtand leiſtete. In dieſer Verſchiedenheit erblicke ich wiederum einen Hauptgrund47I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.des Vorſprunges, den die wiſſenſchaftliche Cultur des Privat - rechts vor der des Kriminalrechts erlangt hat. 32)In Deutſchland haben entgegengeſetzte Urſachen entgegengeſetzte Wirkungen zur Folge gehabt, wenigſtens finde ich den Grund, warum das Kriminalrecht in ſeiner wiſſenſchaftlichen Ausbildung das deutſche Privatrecht überflügelt hat, vorzugsweiſe in der gemeinrechtlichen Fixirung deſſelben durch die Carolina.Als letzteres in den Geſetzen über die quaestiones perpetuae ſich abzulagern begann, hatte erſteres bereits ſeit Jahrhunderten die Vortheile des Zuſtandes der Feſtigkeit genoſſen, wozu noch kam, daß die - ſer Ablagerungsprozeß dort in die Zeiten der Auflöſung der Re - publik fiel, und daß auch die folgenden Jahrhunderte einer ruhigen Entwicklung des Vorhandenen nichts weniger als gün - ſtig waren, während das Privatrecht es in dieſer Beziehung ſehr glücklich traf.
Ausſcheidung fremdartiger Elemente — abgeſonderte Befriedi - gung derſelben, des religiöſen im Fas, des moraliſchen und poli - tiſch-ökonomiſchen in der Cenſur — die Cenſur ein Ableiter für das Recht. — Scharfer Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral.
XXVI. Wir haben im bisherigen bloß die Bedeutung der Form des Rechts ins Auge gefaßt; aber mit der Form allein iſt es nicht gethan. Was nützt der Uebergang von der Sitte zum Geſetz, wenn nicht zugleich das Recht ſich innerlich zu ſich ſelbſt erhebt, ſondern wenn, wie dies z. B. in den orientaliſchen Geſetz - und Religionsbüchern der Fall iſt, der geſammte ſittliche Stoff, der ſich im Volk entwickelt hat, ungeſichtet und unge - trennt in das Geſetzbuch hinübergeleitet wird? Jener primitive Zuſtand, von dem wir im vorigen Paragraphen geſprochen, ſoll in der Weiſe ein Ende nehmen, daß die verſchiedenen Elemente der ſittlichen Subſtanz: Religion, Recht, Moral u. ſ. w. ſich innerlich ſcheiden; wo dies nicht der Fall iſt, dennoch aber jener48Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.Fortgang von der mehr oder minder freien Sitte zu dem Geſetz Statt findet, ſtiftet derſelbe mehr Schaden als Nutzen. Denn es erſtarrt hier auch der Theil der ſittlichen Welt, der flüſſig bleiben ſollte, auf dem der ſittliche Geiſt ſich frei muß bewegen können;33)Der Orient gewährt ſchlagende Belege. S. namentlich die meiſter - hafte Schilderung des Orients in Hegels Philoſophie der Geſchichte. es iſt die Verſteinerung der ſittlichen Welt auf ihrer niederſten Entwicklungsſtufe.
Wenn wir nun die Anforderung ſtellen, es ſolle das Recht ſich frei machen von jener Gemeinſchaft und ſich zu ſich ſelbſt erheben, ſo ſetzen wir damit voraus, daß das Recht ſein Maß und Ziel in ſich ſelbſt trage, daß es alſo nicht eine bloße Form ſei, deren Eigenthümlichkeit in dem äußern Zwange beſtehe, und die jeden beliebigen Inhalt in ſich aufnehmen dürfe. Allerdings iſt nicht zu läugnen, daß das Recht nach Verſchiedenheit der Völker und Zeiten bald dieſen, bald jenen Inhalt hat, und im - mer iſt der beſtimmte Inhalt in dem beſtimmten Staat Rechtens, allein vom Standpunkt unſerer Anſicht aus werden wir uns bei dieſer Thatſache nicht beruhigen, ſondern den Inhalt ſelbſt einer Prüfung unterwerfen, ob er z. B. eigentlicher Rechtsſtoff, wenn ich ſo ſagen darf, oder nur geſetzlich normirte Moral, Zweck - mäßigkeit u. ſ. w. iſt. Wir werden darnach alſo die verſchiede - nen Rechte und Geſetzgebungen in Hinſicht auf ihren ſpezifiſchen Rechts-Gehalt mit einander vergleichen dürfen.
Unſere Darſtellung berührt hier einen bedenklichen Punkt; es iſt das Kap Horn der Rechtsphiloſophie. Ich glaube mir eher den Dank, als den Vorwurf des Leſers zu verdienen, wenn ich mich dieſem Punkt nicht zu nahe wage, ſondern ihn vielmehr, ſo weit unſer Zweck es verſtattet, in möglichſt weiter Entfer - nung zu umſchiffen verſuche. 34)Ich bemerke, daß ich mich, was den Unterſchied von Recht und Mo - ral anbetrifft, zu der Anſicht von Stahl Rechtsphiloſ. 2. Aufl. B. II. Abth. 1 S. 161 bekenne.Dies iſt in der Weiſe möglich,49I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.daß ich dem Leſer einige charakteriſtiſche Züge des ältern Rechts vorführe, deren Bedeutung für unſere Frage ſich auch ohne lange Vorrede begreifen läßt.
Für die innere Selbſtändigkeit des Rechts iſt nun zuerſt der bereits früher (§. 18) entwickelte Gegenſatz zwiſchen jus und fas bedeutungsvoll; es iſt auf dieſe Bedeutung ſchon an jener Stelle (B. 1 S. 258) kurz hingewieſen. Die religiöſe Subſtanz, die im primitiven Zuſtande das ganze Recht durchdringt, iſt ver - mittelſt des fas extrahirt, und das jus damit nach dieſer Seite hin frei geworden, von einem hemmenden fremdartigen Beſtand - theil gereinigt. Jener Dualismus reicht unzweifelhaft weit über Rom hinaus; er ſteht bereits an der Schwelle der Geſchichte des eigentlichen römiſchen Rechts. Ob er zugleich ein ethniſcher geweſen und durch das Zuſammentreffen zweier Völker, von denen das eine das Recht als fas, das andere es als jus erfaßt hatte, nach Rom gekommen, oder ob er das Werk Eines Volkes ge - weſen, bleibe dahingeſtellt; für das römiſche Recht, das ihn be - reits vorfand, war er eine außerordentlich werthvolle Mitgift. Er verſetzte von vornherein den römiſchen Geiſt auf eine Höhe der Rechtsanſchauung, zu der es manche orientaliſche Völker nie gebracht haben.
Wie nun das urſprünglich im Recht vorhandene religiöſe Element, wenn ich ſo ſagen darf, in das fas entwich, ſo das, was nach Ausſcheidung dieſes Elements noch an fremdartigen Subſtanzen und Motiven im Recht verblieb, in die Cenſur. Hier wie dort ward das hemmende Element nicht einfach zur Seite geſchoben und abgethan; der römiſche Inſtinkt fand ein beſſeres Mittel, das Recht ſicher zu ſtellen. Er wies jenem Ele - ment ein abgeſondertes Feld außerhalb des Rechts an, wo es ſeine volle Befriedigung fand und eben darum nicht in Verſu - chung kam, ſie ſich innerhalb des Rechts und auf Koſten deſſel - ben zu verſchaffen. Was waren dies für fremdartige Sub - ſtanzen? Die beſte Antwort wird uns darauf die Cenſur ſelbſtJhering, Geiſt des röm. Rechts. II. 450Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.ertheilen; ich brauche nicht zu bemerken, daß hier nur die ſitten - richterliche Seite derſelben gemeint iſt. 35)Die Verbindung derſelben mit der cenſualen Seite iſt nicht ſo auf - fällig, als es auf den erſten Blick ſcheinen möchte. Nach dieſer letzten Seite hin hatte die Cenſur die Statiſtik der Nationalkraft zu ihrem Gegenſtande, und damit war die Brücke zu ihrer andern Seite geſchlagen, nämlich zu der Sorge für die Erhaltung der Nationalkraft. Letztere iſt aber nicht bloß phy - ſiſcher und materieller, ſondern auch ſittlicher Art.