PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Das Staatsrecht des Deutſchen Reiches.
Erſter Band.
[II][III]
Das Staatsrecht des Deutſchen Reiches.
Erſter Band.
Tübingen,1876. Verlag der H. Laupp’ſchen Buchhandlung.
[IV]

Druck von H. Laupp in Tübingen.

[V]

Vorwort.

In den erſten Jahren nach Gründung des Norddeutſchen Bundes wendete ſich das öffentliche Intereſſe naturgemäß der politiſchen Würdigung der Neugeſtaltung Deutſchlands zu. Die großen Ereigniſſe, welche dieſer Gründung vorangegangen waren, hatten die politiſchen Leidenſchaften des Volkes in unge - wöhnlichem Grade erregt. Die neue Verfaſſung war für Jeden, der an dem politiſchen Leben der Nation Antheil nahm, ein Gegen - ſtand der Sympathie oder Antipathie, alſo des Gefühls. Ob die neue Schöpfung Beſtand haben werde oder nicht, ob ſie zur Ver - einigung oder zur Zerreißung Deutſchlands führen werde, ob ſie die Wohlfahrt des Deutſchen Volkes fördern oder hindern werde, das waren die Fragen, welche Erörterung verdienten und fanden. Von untergeordneter Wichtigkeit erſchien es dagegen, in welcher Art die neuentſtandenen Zuſtände rechtlich zu definiren und welche Rechtsbegriffe auf ſie anwendbar ſeien. Die nächſte Aufgabe be - ſtand nicht in der Durchführung ſchulgerechter Conſtruktionen, ſon - dern in der Vollbringung einer geſchichtlichen That.

Im Laufe der Zeit ändert ſich dies vollſtändig. Je längeren und je feſteren Beſtand die neue Verfaſſungsform hat, deſto müßi - ger erſcheinen die Betrachtungen darüber, ob ihre Einführung für heilſam oder für ſchädlich zu erachten ſei. Die Errichtung des Norddeutſchen Bundes und die Erweiterung deſſelben zum Deut - ſchen Reich erſcheint immer mehr und mehr als eine unabänderliche Thatſache, in welche auch derjenige ſich ſchicken muß, dem ſie un - erwünſcht iſt. Die Verfaſſung des Reiches iſt nicht mehr der Gegen - ſtand des Parteiſtreites, ſondern ſie iſt die gemeinſame Grundlage für alle Parteien und ihre Kämpfe geworden; dagegen gewinnt das Verſtändniß dieſer Verfaſſung ſelbſt, die Erkenntniß ihrerVIVorwort.Grundprinzipien und der aus den letzteren herzuleitenden Folge - ſätze und die wiſſenſchaftliche Beherrſchung der neu geſchaffenen Rechtsbildungen ein immer ſteigendes Intereſſe. Mit dem Ausbau der Verfaſſung und mit ihrer Durchführung gliedern ſich die Ver - hältniſſe des neuen öffentlichen Rechts immer feiner und reicher, es wird immer ſchwieriger, zugleich aber auch wichtiger, in den einzelnen Erſcheinungen des öffentlichen Rechtslebens die einheit - lichen Grundſätze und leitenden Principien feſtzuhalten; es ent - ſtehen durch die Praxis ſelbſt in unerſchöpflicher Fülle neue Fragen und Zweifel, welche nicht nach dem politiſchen Wunſch oder der politiſchen Macht, ſondern nach den Grundſätzen des beſtehenden Rechts entſchieden werden müſſen. Nachdem die That der Neuge - ſtaltung Deutſchlands vollbracht iſt, entſteht das Bedürfniß, ſich zum Bewußtſein zu bringen, worin dieſe That beſtanden hat, welchen Erfolg ſie bewirkt hat.

Die Befriedigung dieſes Bedürfniſſes iſt eine Aufgabe der Rechtswiſſenſchaft. Mit einer bloßen Zuſammenſtellung der Artikel der Reichsverfaſſung und der Reichsgeſetze unter gewiſſen Ueber - ſchriften kann ſie nicht gelöſt werden; ebenſowenig durch die Hin - zufügung von Stellen aus den Motiven der Geſetzesvorlagen und aus den Verhandlungen des Reichstages, welche meiſtens doch nur Erwägungen de lege ferenda enthalten. Es handelt ſich vielmehr um die Analyſe der neu entſtandenen öffentlich rechtlichen Ver - hältniſſe, um die Feſtſtellung der juriſtiſchen Natur derſelben und um die Auffindung der allgemeineren Rechtsbegriffe, denen ſie untergeordnet ſind. Man darf ſich über dieſe Aufgabe nicht mit der Verſicherung hinwegſetzen, daß die Verfaſſung des Deutſchen Reiches ſo eigenartig ſei, daß ſie unter keine der herkömmlichen juriſtiſchen Begriffskategorien paſſe. Eigenthümlich iſt der Deutſchen Verfaſſung, ſowie jeder concreten Rechtsbildung, nur die thatſäch - liche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe; dagegen iſt die Schaffung eines neuen Rechtsinſtitutes, welches einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt nicht un - tergeordnet werden kann, gerade ſo unmöglich wie die Erfindung einer neuen logiſchen Kategorie oder die Entſtehung einer neuen Naturkraft. Es kann ſchwierig ſein, bei einer neuen Erſcheinung im Rechtsleben zu erkennen, aus welchen juriſtiſchen Elementen das rechtliche Weſen derſelben zuſammengeſetzt iſt; aber die wiſſen -VIIVorwort.ſchaftliche Behandlung des Rechts beſteht eben darin, daß ſie die Erſcheinungen des Rechtslebens nicht nur beſchreibt, ſondern er - klärt und auf allgemeine Begriffe zurückführt.

Mit der Auffindung der allgemeinen Principien iſt die Auf - gabe noch nicht vollſtändig gelöſt; es müſſen auch die, aus den gefundenen Principien ſich ergebenden Folgerungen entwickelt werden und es muß ihre Uebereinſtimmung mit den thatſächlich beſtehen - den Einrichtungen und den poſitiven Anordnungen der Geſetze dar - gethan werden.

Bei dem Verſuch, das Staatsrecht des Deutſchen Reiches in der angegebenen Weiſe zu erörtern, zeigt ſich ſofort der innere, unauflösliche Zuſammenhang des Verfaſſungsrechts mit den übrigen Gebieten der Rechtswiſſenſchaft, namentlich mit dem Strafrecht, und es macht ſich die Thatſache bemerkbar, daß ein erheblicher Theil des Staatsrechts nicht in der Verfaſſung, ſondern in dem Strafgeſetzbuch ſeinen geſetzlichen Ausdruck gefunden hat. Dieſe ſtaatsrechtliche Seite der Strafgeſetze erfordert um ſo eingehendere Berückſichtigung, als in der bisherigen Literatur die Publiciſten gewöhnlich den Strafrechtslehrern, die Kriminaliſten den Staats - rechtslehrern ſie überlaſſen haben. Es läßt ſich ferner die Unterſchei - dung des Reichsſtaatsrechts von dem Landesſtaatsrecht nicht ſtreng durchführen; beide ergänzen ſich gegenſeitig und ſtehen zu einander in vielfachen Wechſelbeziehungen. Eine große Zahl von wiſſenſchaftlichen Begriffen und Rechtsinſtituten iſt dem Reichsrecht und dem Staatsrecht der einzelnen Bundesſtaaten gemeinſam, ſo daß auch die theoretiſche Erörterung derſelben Reichsrecht und Landes - ſtaatsrecht umfaſſen muß. Endlich ergiebt ſich, daß auf dem Ge - biete des Staatsrechts zahlreiche Begriffe wiederkehren, welche ihre wiſſenſchaftliche Feſtſtellung und Durchbildung zwar auf dem Gebiete des Privatrechts gefunden haben, welche ihrem Weſen nach aber nicht Begriffe des Privatrechts ſondern allgemeine Be - griffe des Rechtes ſind. Nur müſſen ſie allerdings von den ſpezi - fiſch privatrechtlichen Merkmalen gereinigt werden. Die einfache Uebertragung civilrechtlicher Begriffe und Regeln auf die ſtaats - rechtlichen Verhältniſſe iſt der richtigen Erkenntniß der letzteren gewiß nicht förderlich; die civiliſtiſche Behandlung des Staats - rechts iſt eine verkehrte. Aber unter der Verurtheilung der civili - ſtiſchen Methode verſteckt ſich oft die Abneigung gegen die juriſtiſcheVIIIVorwort.Behandlung des Staatsrechts und indem man die Privatrechtsbegriffe vermeiden will, verſtößt man die Rechtsbegriffe überhaupt, um ſie durch philoſophiſche und politiſche Betrachtungen zu erſetzen. Im Allgemeinen hat die Wiſſenſchaft des Privatrechts vor allen anderen Rechtsdisciplinen einen ſo großen Vorſprung gewonnen, daß die letzteren ſich nicht zu ſcheuen brauchen, bei ihrer reiferen Schweſter zu lernen und bei dem heutigen Zuſtande der ſtaatsrechtlichen und insbeſondere reichsrechtlichen Literatur iſt weit weniger zu fürchten, daß ſie zu civiliſtiſch, als daß ſie unjuriſtiſch wird und auf das Niveau der politiſchen Tagesliteratur hinabſinkt.

Von dieſen Geſichtspunkten aus iſt die folgende Darſtellung des Staatsrechts des Deutſchen Reiches unternommen worden, deren Anfang in dem vorliegenden erſten Bande veröffentlicht wird. Derſelbe umfaßt diejenigen Lehren, welche die eigentliche rechtliche Struktur des Reiches, ſein juriſtiſches Weſen, ſeine Grundlagen und ſeine Organiſation betreffen. Die Darſtellung derjenigen Re - geln, welche die Lebensthätigkeit des Reiches in formeller und materieller Hinſicht beherrſchen, wird der zweite Band enthalten.

Von der bisherigen Literatur des Reichsrechts konnte die zweite Auflage des Werkes von Ludwig v. Rönne, deren erſter Band während des Druckes des vorliegenden Buches erſchienen iſt (Leipzig 1876), nicht mehr berückſichtigt werden.

Mehr noch zu bedauern iſt es, daß die Ergebniſſe der Reichs - tags-Seſſion 1875 / 76 keine Verwerthung mehr finden konnten. Je - doch ſind die Veränderungen der Behörden-Organiſation, welche mit dem 1. Januar 1876 eingetreten ſind, in den Nachträgen am Schluſſe des Bandes aufgeführt worden.

[IX]

Inhalts-Verzeichniß.

  • Erſtes Kapitel. Die Entſtehungsgeſchichte des Deutſchen Reichs.
  • Seite
  • §. 1. Die Auflöſung des Deutſchen Bundes3
  • §. 2. Die Gründung des norddeutſchen Bundes9
  • §. 3. Das Verhältniß des norddeutſchen Bundes zu den ſüddeutſchen Staaten34
  • §. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches37
  • §. 5. Die Redaktion der Reichsverfaſſung48
  • §. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen52
  • Zweites Kapitel. Die rechtliche Natur des Reiches.
  • §. 7. Das Reich als Rechtsſubject56
  • §. 8. Der Begriff des Bundesſtaates70
  • Drittes Kapitel. Das Verhältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten.
  • §. 9. Das Subject der Reichsgewalt85
  • §. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich94
  • §. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten109
  • §. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten124
  • Viertes Kapitel. Die natürlichen Grundlagen des Reiches. Volk und Land.
  • I. Abſchnitt. Reichs-Angehörige.
  • §. 13. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur der Reichs-Angehörigkeit130
  • §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen137
  • §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts148
  • §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat156
  • §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit162
  • §. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit171
  • §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung175
  • X
  • Seite
  • II. Abſchnitt. Bundes-Gebiet.
  • §. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur182
  • §. 21. Gebiets-Veränderungen186
  • §. 22. Der Schutz des Gebietes192
  • §. 23. Die räumliche Begrenzung der Kompetenz der Behörden200
  • Fünftes Kapitel. Die Organiſation der Reichsgewalt.
  • I. Abſchnitt. Der Kaiſer.
  • §. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums206
  • §. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte214
  • §. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte220
  • II. Abſchnitt. Der Bundesrath.
  • §. 27. Allgemeine Erörterung ſeines Weſens230
  • §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe234
  • §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches250
  • §. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes272
  • §. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe281
  • III. Abſchnitt. Die Reichsbehörden und Reichsbeamten.
  • A. Die Reichsbehörden.
  • §. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden291
  • §. 33. Der Reichskanzler306
  • §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden313
  • §. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden349
  • §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden359
  • B. Die Reichsbeamten.
  • §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten381
  • §. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten401
  • §. 39. Die Amts-Kaution410
  • §. 40. Die Pflichten und Beſchränkungen der Reichsbeamten418
  • §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung432
  • §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten459
  • §. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche475
  • §. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suſpenſion478
  • §. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes487
  • §. 46. Einfluß des Beamten-Verhältniſſes auf andere rechtliche Verhält - niſſe495
  • IV. Abſchnitt. Der Reichstag.
  • §. 47. Allgemeine Charakteriſtik498
  • §. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages505
  • §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht523
  • §. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages556
  • XI
  • §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte559
  • §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder570
  • §. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft575
  • Sechſtes Kapitel. Die Sonderſtellung Elſaß-Lothringens im Reiche.
  • §. 54. Bundesglied und Reichsland578
  • §. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen604
  • Nachträge613
[XII][1]

Literatur-Ueberſicht *.

  • Archiv des Norddeutſchen Bundes von Glaſer. Berlin 1867.
  • Archiv des Norddeutſchen Bundes und des Zollvereins (reſp. des Reichs) von Koller Berlin Kortkampf ſeit 1868.
  • Annalen des Norddeutſchen Bundes und des Zollvereins (reſp. des deut - ſchen Reiches) von Hirth ſeit 1868 (Berlin u. Leipzig).
  • v. Martitz, Betrachtungen über die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes. Leipzg. 1868.
  • Hermann Schulze, Einleitung in das deutſche Staatsrecht. Leipz. 1867. S. 365 474.
  • R. Römer, Die Verf. des Nordd. Bundes und die ſüddeutſche, insbeſ. württemberg. Freiheit. Tübingen 1867.
  • Hierſemenzel, Die Verfaſſung des Nordd. Bundes. Berlin 1867.
  • Das Verfaſſungs - und Verwaltungsrecht des Nordd. Bundes und des Deutſchen Zoll - und Handelsvereins. 2 Bde. Berlin 1868 1870.
  • Gg. Meyer, Grundzüge des Norddeutſchen Bundesrechts. Lpzg. 1868.
  • Das Bundesſtaatsrecht der Nordamerik. Union, der Schweiz und des Nordd. Bundes zuſammengeſtellt von einem Juriſten. München 1868.
  • Fr. Thudichum, Verfaſſungsrecht des Norddeutſchen Bundes und des Deut - ſchen Zollvereins. Tübingen 1870.
  • v. Gerber, Grundzüge eines Syſtems des Deutſchen Staatsrechts. 2. Aufl. Leipz. 1869. Beilage IV. Der Norddeutſche Bund (S. 237 250).
  • v. Rönne, Das Staatsrecht der Preuß. Monarchie. 3te Aufl. I. Band 2te Abth. S. 717 836. Leipzig 1870.
  • G. A. Grotefend, Das Deutſche Staatsrecht der Gegenwart. Berlin 1869. S. 784 812.
  • Fr. v. Holtzendorff, Jahrbuch für Geſetzgebung, Verwaltung und Rechts - pflege des Deutſchen Reiches. Leipzig ſeit 1871.
  • Zeitſchrift für Reichs - und Landesrecht mit beſonderer Rückſicht auf Bayern von Hauſer. Nördlingen ſeit 1874.
  • Zeitſchrift für das Privat - und öffentliche Recht der Gegenwart von Grünhut. Wien ſeit 1874.
  • Auerbach, Das neue Deutſche Reich und ſeine Verfaſſung. Berlin 1871.
  • Hauſer, Die Verfaſſung des Deutſchen Reiches. Nördl. 1871.
  • 2
  • Riedel, Die Reichsverfaſſungsurkunde v. 16. April 1871. Nördl. 1871.
  • Gg. Meyer, Staatsrechtl. Erörterungen über die Deutſche Reichsverfaſſung. Leipz. 1872.
  • J. Pözl, Das Bayeriſche Verfaſſungsrecht auf der Grundlage des Reichs - rechtes. Supplem. zur IV. Aufl. des Bayr. Verfaſſungsr. München 1872.
  • v. Rönne, Das Verfaſſungsrecht des Deutſchen Reiches. Leipz. 1872. (Auch in Hirth’s Annalen 1871 S. 1 312 und 1872 S. 421 fg.).
  • J. v. Held, Die Verfaſſung des Deutſchen Reiches. Leipz. 1872.
  • M. Seydel, Commentar zur Verfaſſungs-Urkunde für das Deutſche Reich. Würzb. 1873.
  • J. Bender, Grundzüge des Verfaſſungs-Rechtes des Deutſchen Reiches. Caſſel u. Göttingen 1873.
  • Weſterkamp, Ueber die Reichsverfaſſung. Hannover 1873.
  • Hänel, Studien zum Deutſchen Staatsrechte. I. Die vertragsmäßigen Ele - mente der Deutſchen Reichsverfaſſung. Leipz. 1873.
  • Rob. von Mohl, Das deutſche Reichsſtaatsrecht. Tübingen 1873.
  • Koller, Die Verfaſſung des Deutſchen Reiches. Erſtes Heft. Berlin 1875. Die Monographien, Abhandlungen und Kommentare einzelner Reichsge - ſetze werden bei den betreffenden Abſchnitten angegeben werden.
*Ausführliche Literatur-Angaben über den Norddeutſchen Bund und das deutſche Reich enthalten die deutſchen Monatshefte des Reichsan - zeigers. Bd. III. (1874) S. 55 fg. Ferner Mühlbrecht, Allgemeine Bibliographie der Staats - und Rechts - wiſſenſchaft. W. N. Schulze, Die reichsrechtl. Literatur ſeit Entſtehung des norddeutſchen Bundes, 1867 bis Ende 1874. Leipz. 1875. Eine treffliche zuſammenfaſſende Darſtellung der Literatur des Reichsrechts hat v. Pözl in der kritiſchen Vierteljahresſchrift Bd. XVI. S. 63 ff. 161 ff. gegeben.
*[3]

Erſtes Kapitel. Die Entſtehungsgeſchichte des Deutſchen Reichs1)Das urkundliche Material für die Gründungsgeſchichte des Nordd. Bun - des iſt enthalten in Glaſer’s Archiv des Nordd. Bundes. Berlin 1867. Aegidi und Klauhold, das Staatsarchiv. Bd. 10 und folgende. Ham - burg 1866 ff. Am Vollſtändigſten und Ueberſichtlichſten L. Hahn. Zwei Jahre preußiſch-deutſcher Politik 1866 1867. Berlin 1868. Für die Grün - dung des Deutſchen Reiches findet ſich das Wichtigſte in den Druckſachen des Reichstages des Nordd. Bundes von 1870. Ferner in Koller’s Archiv des Nordd. Bundes und Zollvereins, in Hirth’s Annalen des Nordd. Bundes (reſp. des Deutſchen Reichs); in v. Bezold’s Materialien der Deutſchen Reichsverfaſſung. 3 Bde. 1872 und L. Hahn, der Krieg Deut - ſchlands gegen Frankreich und die Gründung des Deutſchen Kaiſerreichs. Die Deutſche Politik 1867 1871. Berlin 1871..

§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.

Als am 14. Juni 1866 die deutſche Bundesverſammlung auf Antrag Oeſterreichs den Beſchluß gefaßt hatte, die Mobilmachung des VII., VIII., IX. und X., d. h. ſämmtlicher nicht öſterreichiſchen und nicht preußiſchen, Bundes-Armeecorps anzuordnen, obwohl der Preußiſche Geſandte gegen jede geſchäftliche Behandlung des Antrages, als formell und materiell bundeswidrig, Namens ſeiner Regierung Proteſt eingelegt hatte, erklärte derſelbe Geſandte ſofort nach der Beſchlußfaſſung im Namen und auf Befehl Seiner Majeſtät des Königs: daß Preußen den bisherigen Bundesvertrag für gebrochen und deshalb nicht mehr verbindlich anſieht, denſelben viel - mehr als erloſchen betrachten und behandeln wird 2)Hahn, Zwei Jahre S. 124 fg. Glaſer, Archiv I, 1. S. 27.. An dieſen Vorgang knüpften ſich mehrere bundesrechtliche Streit - fragen; ob der Antrag Oeſterreichs materiell zuläſſig geweſen, ob ſeine geſchäftliche Behandlung im Einklang mit den Vorſchriften1*4§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.des Bundesrechts ſich gehalten, ob die Abſtimmung und Beſchluß - faſſung namentlich mit Rückſicht auf die Vota in der 16. Curie ordnungsmäßig ſtattgefunden, ob der Austritt Preußens aus dem Bunde rechtlich ſtatthaft war1)Vgl. darüber Schulze, Einleit. in das deutſche Staatsrecht (Neue Ausgabe 1867) S. 379 fg.. Alle dieſe Fragen haben das praktiſche Intereſſe vollſtändig verloren; der Fortbeſtand des deut - ſchen Bundes war nicht mehr von der juriſtiſchen Löſung ſtaats - rechtlicher Streitigkeiten, ſondern von dem Gange weltgeſchichtlicher Ereigniſſe abhängig. Der Bund wurde von den letzteren zu Grabe getragen. Aber die thatſächliche Beendigung des Bundesverhält - niſſes hat auch ihre, nach allen Seiten hin vollkommene, formelle rechtliche Sanction erhalten. Der deutſche Bund war ein völker - rechtlicher Verein, der nach Art. I. der Bundesacte unauflöslich war. Es konnte daher allerdings kein einzelner Staat willkührlich aus demſelben ausſcheiden; durch übereinſtimmenden Willensent - ſchluß aller, zu dem Bunde gehörenden Staaten war ſeine Auf - löſung aber zuläſſig, da das Bundesverhältniß unbezweifelt den Charakter eines völkerrechtlichen Vertragsverhältniſſes hatte2)Auf die Austritts-Erklärung Preußens in der Sitzung der Bundesver - ſamml. v. 14. Juni 1866 erwiderte das Präſidium: Der deutſche Bund iſt nach Art. I. der Bundesacte ein unauflöslicher Verein, auf deſſen ungeſchmä - lerten Fortbeſtand das geſammte Deutſchland, ſowie jede ein - zelne Bundesregierung ein Recht hat, und nach Art. V. der Wiener Schlußacte kann der Austritt aus dieſem Vereine keinem Mitgliede deſſelben freiſtehen. Dies iſt im Weſentlichen richtig; abgeſehen davon, daß das geſammte Deutſchland kein ſtaatliches Gemeinweſen, überhaupt kein Rechts - ſubject war und deshalb auch kein Recht haben konnte; Rechte hatten nur die einzelnen Bundesglieder. Das Gleiche gilt von dem unveräußerlichen und unverjährbaren Recht des deutſchen Volkes auf eine ganz Deutſch - land umfaſſende politiſche Verbindung , von welchem Zachariä in der Vor - rede der 3ten Auflage (1866) ſeines deutſchen Staats - und Bundesrechts Bd. II. ſpricht.. Dieſe Willensübereinſtimmung ſämmtlicher Bundesmitglieder, ſo weit ſie die Kataſtrophe von 1866 überdauert haben, iſt erfolgt und in rechtswirkſamer Weiſe erklärt worden und zwar durch nachſtehende Acte:

Zuerſt ſchied aus der Reihe der ſelbſtſtändigen Bundes - mitglieder der König von Dänemark als Herzog von Holſtein und Lauenburg aus; indem derſelbe durch den Wiener5§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.Frieden vom 30. Oktob. 1864 Art. 3 auf alle ſeine Rechte auf die Herzogthümer Schleswig, Holſtein und Lauenburg zu Gunſten des Königs von Preußen und des Kaiſers von Oeſterreich ver - zichtete, en s’engageant à reconnaître les dispositions, quel Leurs dites Majestés prendront à l’égard de ces duchés.

Dadurch ſind allerdings die Herzogthümer Holſtein und Lauen - burg aus dem deutſchen Bund nicht ausgeſchieden; die Wahrung ihrer Rechte war aber fortan in die Hände der Souveräne von Preußen und Oeſterreich, und nachdem Oeſterreich ſeine Rechte auf Lauenburg durch die Gaſteiner Convention v. 14. Auguſt 1865 Art. IX. und auf Schleswig-Holſtein durch den Nikolsburger Frieden Art. III. an Preußen abgetreten hatte, in die Preußens allein gelegt.

Sodann beantragte in der Sitzung vom 19. Mai 1866 der König der Niederlande die Entlaſſung des Herzogthums Limburg aus dem deutſchen Bunde1)Staatsarchiv XI. Nro. 2227.; der Antrag kam aber nicht mehr zur ordnungsmäßigen Erledigung.

Nachdem Preußen am 14. Juni 1866 ſeinen Austritt aus dem deutſchen Bunde erklärt hatte, folgten ſeinem Beiſpiele2)Wir entnehmen dieſe chronologiſche Zuſammenſtellung Schulze’s Ein - leitung in das deutſche Staatsrecht. (Neue Ausg. 1867). S. 399 Note 3, dem auch Thudichum, Verfaſſungsr. des Nordd. Bundes S. 3 folgt.:

  • den 21. Juni Oldenburg und Lippe-Detmold.
  • den 23. Juni Sachſen-Altenburg.
  • den 25. Juni Anhalt, Schwarzburg-Sondershauſen, Waldeck.
  • den 29. Juni Schwarzburg-Rudolſtadt, Schaumburg-Lippe, Hamburg, Bremen, Lübeck.
  • den 1. Juli Coburg-Gotha, Reuß j. L., Mecklenburg.
  • den 5. Juli Sachſen Weimar.
  • den 26. Juli Sachſen-Meiningen.
  • den 2. Auguſt Baden.
  • den 4. Auguſt Braunſchweig.

Oeſterreich erkennt im Art. II. des Präliminarfriedens - vertrages von Nikolsburg v. 26. Juli 18663)Staatsarch. XI. 2364. Hahn S. 188. Glaſer S. 32. die Auflöſung des bisherigen deutſchen Bundes an und6§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.gibt ſeine Zuſtimmung zu einer neuen Geſtaltung Deutſch - lands ohne Betheiligung des Oeſterreichiſchen Kaiſerſtaates.

Die Beſtimmungen des Nikolsburger Friedens wurden aner - kannt und der Beitritt zu denſelben, ſoweit ſie die Zukunft Deutſch - lands betreffen, erklärt von

  • Württemberg im Berliner Frieden v. 13. Aug. 1866 Art. IX .
    1)Staatsarch. XI. 2372. Hahn S. 198. Glaſer S. 41.
    1).
  • Baden im Berliner Frieden v. 17. Aug. 1866 Art. X.
    2)Staatsarch. XI. 2374. Hahn S. 199. Glaſer S. 49.
    2).
  • Bayern im Berliner Frieden v. 22. Aug. 1866. Art. V.
    3)Staatsarch. XI. 2373. Hahn S. 200. Glaſer S. 44.
    3).
  • Großh. Heſſen im Berliner Frieden v. 3. Spt. 1866 Art. XIII .
    4)Staatsarch. XI. 2375. Hahn S. 202. Glaſer S. 61.
    4).
  • Reuß ä. L. im Berliner Frieden v. 26. Sept. 1866 Art. I.
    5)Staatsarch. XI. 2430. Glaſer S. 72.
    5).
  • Sachſen-Meiningen im Berliner Frieden v. 8. Oct. 1866 Art. I.
    6)Staatsarch. XI. 2432. Glaſer S. 70.
    6).
  • Königr. Sachſen im Berliner Frieden v. 21. Oct. 1866 Art. II .
    7)Staatsarch. XI. 2434. Hahn S. 205. Glaſer S. 52.
    7).

Das Königreich Hannover, das Kurfürſtenthum Heſſen, das Herzogthum Naſſau und die freie Stadt Frankfurt hatten durch den Krieg ihre Exiſtenz als Staaten verloren und waren ebenſo wie die Elbherzogthümer mit dem Preußiſchen Staate vereinigt worden.

Luxemburg und Limburg hielten ſich von der Theilnahme an den Bundestags-Verhandlungen ſeit der Austrittserklärung Preu - ßens fern und erkannten die Auflöſung des deutſchen Bundes und die neue politiſche Geſtaltung Deutſchlands im Londoner Vertrag vom 11. Mai 1867 ausdrücklich an8)Schon die Rede des Prinzen-Statthalters Heinrich bei Eröffnung der Luxemburger Ständeverſammlung v. 29. Oktober 1866 ſprach die Anerkennung der Auflöſung des deutſchen Bundes aus. Sie iſt auszugsweiſe abgedruckt im Staatsarchiv XII. 2449..

Von allen Mitgliedern des ehemaligen deutſchen Bundes mit alleiniger Ausnahme Liechtenſtein’s liegt demnach, ſoweit ſie ihre ſtaatliche Exiſtenz bewahrt haben, das ausdrückliche, in bindender völkerrechtlicher Form abgegebene Einverſtändniß mit der Auf - löſung des deutſchen Bundes vor9)Eine ernſthafte Unterſuchung, ob Liechtenſtein der Auflöſung des deutſchen Bundes ein Veto entgegenzuſetzen berechtigt geweſen wäre, verbietet.

7§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.

Aber nicht nur einzeln haben alle deutſche Staaten dieſe Anerkennung abgegeben, ſondern auch der Bundestag ſelbſt, der freilich ſeit dem Ausbruch der Feindſeligkeiten immer mehr einge - ſchrumpft war, ſich aber immer noch als das verfaſſungsmäßige Organ des Bundes anſah, faßte in ſeiner letzten Sitzung am 24. Auguſt 1866 zu Augsburg den Beſchluß: nachdem in Folge der Kriegsereigniſſe und Friedensverhand - lungen der deutſche Bund als aufgelöſt betrachtet werden muß, ſeine Thätigkeit mit der heutigen Sitzung zu beendigen, auch hiervon die bei ihm beglaubigten Vertreter auswärtiger Regierungen zu benachrichtigen.

Der deutſche Bund war entſtanden nicht durch die völlig freie Entſchließung ſeiner Mitglieder, ſondern unter der Mitwirkung der beim Wiener Friedenscongreß vertretenen Europäiſchen Mächte. Er war ein Theil der allgemeinen politiſchen Geſtaltung Europa’s, die unter gegenſeitiger Zuſtimmung der Großmächte geſchaffen worden war; die Bundesacte bildet einen Beſtandtheil der Wiener Congreßacte von 18151)Die erſten elf Artikel wurden ſogar der Congreßakte ſelbſt einverleibt, außerdem wurde die Bundesacte in ihrem vollſtändigen Umfange als Beilage für einen Beſtandtheil der Wiener Congreßakte erklärt..

Die Europäiſchen Großmächte hatten daher an der ſtaatlichen Neubildung Deutſchlands nicht nur das politiſche Intereſſe, welches alle Kulturſtaaten der Welt daran nahmen, ſondern es konnte aus völkerrechtlichen Gründen ihre beſondere Zuſtimmung zur Auf - löſung des unter ihrer Mitwirkung begründeten deutſchen Bundes erforderlich erſcheinen. Auch dieſem Erforderniß iſt Ge - nüge geſchehen durch den internationalen Londoner Vertrag v. 11. Mai 18672)Hahn, S. 586. Glaſer, Arch. I. 4. S. 125 ff., welcher die Neutralität Luxemburgs unter die Collectivgarantie der Europäiſchen Großmächte mit Einſchluß Italiens ſtellte, indem der Art. 6 dieſes Vertrages ausdrücklich auf die Auflöſung des deutſchen Bundes Bezug nimmt.

9)ſich von ſelbſt, da die Exiſtenz eines ſouverainen Gemeinweſens wie Liech - tenſtein eine Ironie des Staatsbegriffes iſt. Für das juriſtiſche Gewiſſen aber, welches für die Auflöſung des deutſchen Bundes Einſtimmigkeit erfordert, mag es genügen, daß Liechtenſtein gegen die Auflöſung des Bundesverhält - niſſes keinen Widerſpruch erhoben, ſich thatſächlich gefügt und in concludenter Weiſe ſeine Einwilligung ſtillſchweigend erklärt hat.

8§. 1. Die Auflöſung des deutſchen Bundes.

Der deutſche Bund war kein ſtaatliches Gemeinweſen, ſondern ein Gebilde des Völkerrechts; er ſtand in rechtlicher Beziehung lediglich unter völkerrechtlichen Regeln. Auch ſeine Auflöſung iſt ausſchließlich nach völkerrechtlichen Grundſätzen zu beurtheilen. Für Zweifel, wie ſie die Beendigungsweiſe des alten deutſchen Reiches in Be - treff der rechtlichen Würdigung des Vorganges hervorrief1)Vgl. H. Schulze, Einleitung S. 281 Note 10., bietet die Auflöſung des deutſchen Bundes keinen Raum. Mag man politiſch über die Ereigniſſe des Jahres 1866 denken wie man wolle, mag man die Auflöſung des alten völkerrechtlichen Staaten - verbandes vielleicht beklagen: für die rechtliche Beurtheilung kommt nur die Thatſache in Betracht, daß die Auflöſung des Bundes - verhältniſſes unter dem einſtimmigen Conſens aller Staaten erfolgt iſt, welche einen Rechtsanſpruch auf deſſen Fortbeſtand hätten gel - tend machen können.

Es ergiebt ſich zugleich noch ein anderes Reſultat. Man kann die Auflöſung des deutſchen Bundes auch hinſichtlich ihrer recht - lichen Wirkungen nicht mit der des alten deutſchen Reiches auf gleiche Linie ſtellen2)So namentlich Zachariä in der angef. Vorrede S. IV. u. Schulze a. a. O. S. 403. Im Weſentlichen auch v. Rönne Reichsverfaſſung S. 27. u. Preuß. Staatsr. I. 2 S. 740 (3. Aufl.).. Das Reich hatte ſtaatliche Rechte, war überhaupt ein ſtaatliches, formell mit ſouveräner Gewalt ausge - ſtattetes Subject. In ſeine Rechte konnte daher eine Succeſſion ſtattfinden und zwar ſuccedirte in der That jeder Staatsſouverän für ſein Gebiet in diejenigen Hoheitsrechte, welche das Reich bis zu ſeiner Auflöſung hatte. Das Reich konnte ferner Geſetze geben, welche wegen ihres Urſprungs formell gemeinrechtliche Kraft und Geltung hatten und welche trotz der Auflöſung des Reiches dieſe Bedeutung behielten, bis ſie durch die ſouverain gewordene Landes - ſtaatsgewalt beſeitigt wurden. Der deutſche Bund war ein völker - rechtliches Verhältniß. Mit ſeiner Auflöſung war daſſelbe nach allen Seiten hin beendet; es wurde freilich nicht rückwärts an - nullirt, aber für die Zukunft vollſtändig beſeitigt; es giebt weder eine Succeſſion in Bundesrechte, noch eine Fortwirkung von Bundesbeſchlüſſen, ſoweit nicht erworbene Rechte durch die - ſelben zu Zeiten des Bundes ſchon begründet waren. Der Bund9§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.hatte keinerlei geſetzgebende Gewalt. Weder die Bundesacte noch die Wiener Schlußacte ſind Geſetze, trotzdem ſie Grundgeſetze des deutſchen Bundes hießen; kein Bundesbeſchluß war ein Geſetz, ſelbſt wenn er Bundesgeſetz genannt wurde, ſondern nur eine Ver - einbarung über die von den einzelnen Staaten zu erlaſſenden Ge - ſetze oder über das völkerrechtliche Bundesverhältniß der Einzel - ſtaaten ſelbſt. Der Mißbrauch, der mit dem Worte Bundesrecht getrieben wurde, iſt allerdings weit verbreitet geweſen; für die juriſtiſche Betrachtung iſt aber nicht der Klang des Wortes, ſondern die rechtliche Natur der Sache maaßgebend. Ein, von dem Landes - recht der einzelnen Staaten verſchiedenes Bundesrecht, das einen anderen Inhalt als die vertragsmäßige Normirung des Bundesverhältniſſes und deren Ausführung im Einzelnen hatte, gab es nicht. Alles, ſelbſt durch Bundesbeſchlüſſe provozirte und in allen deutſchen Staaten gleichmäßig geltende Recht war ohne Ausnahme nicht Bundesrecht ſondern Landesrecht1)Thudichum S. 6.. Dieſes Recht iſt daher auch durch die Auflöſung des deutſchen Bundes nicht beſeitigt worden, eben weil es kein Bundesrecht war. Da - gegen iſt alles Bundesrecht, d. h. der Inbegriff aller vertrags - mäßigen und ſtatutariſchen Beſtimmungen über den völkerrechtlichen Verein, welcher unter den deutſchen Staaten mit der Bezeichnung deutſcher Bund beſtanden hat, mit der Auflöſung dieſes Vereins gegenſtandslos geworden und vollſtändig und in allen Beziehungen in Wegfall gekommen.

§ 2. Die Gründung des Norddeutſchen Bundes.

Die Vorgeſchichte des Norddeutſchen Bundes reicht in die Zeiten des ehemaligen deutſchen Bundes hinauf. Schon im Jahre 1863 erklärte Fürſt Bismarck bei Erörterung des Oeſterreichiſchen Reformprojects in einer Denkſchrift des Staatsminiſte - riums vom 15. September 18632)Auszugsweiſe auch bei Hahn S. 60. Anm. für die wichtigſte und weſentlichſte Reform der Bundesverfaſſung, die Einfügung einer National-Vertretung, welche berufen ſei, die Sonderintereſſen der einzelnen Staaten im Intereſſe der Geſammt - heit Deutſchlands zur Einheit zu vermitteln , und er verlangte10§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.im Gegenſatz zu der von Oeſterreich unter dem Beifall der Mittel - ſtaaten in Vorſchlag gebrachten Delegirten-Verſammlung: eine Verſammlung, die aus dem ganzen Deutſchland nach dem Maß - ſtabe der Bevölkerung durch direkte Wahlen hervorgeht 1)Vergl. die Darſtellung des öſterreich. Reformprojekts und ſeines Schick - ſals bei Schulze Einleitung S. 337 ff. und ebendaſelbſt (2. Ausg.) S. 406 ff. die Erörterung über die deutſche Politik des Grafen Bismarck 1862 1866. . Eine weitere Verfolgung dieſes politiſchen Programmes war durch die Geſtaltung, welche die ſchleswig-holſteiniſche Angelegenheit durch den am 15. November 1863 erfolgten Tod des Königs Friedrich VII. von Dänemark erhielt, namentlich durch das Zuſammengehen der beiden deutſchen Großmächte und durch den gemeinſamen Gegen - ſatz, in welchem ſie ſich zur Mehrzahl der deutſchen Mittel - und Kleinſtaaten befanden, zunächſt unthunlich. Als aber der Conflict zwiſchen Preußen und Oeſterreich im Jahre 1866 drohender wurde, ſtellte Fürſt Bismarck die Bundesreform wieder in den Vorder - grund. Und mit Recht. Nicht um einen Länderzuwachs zum Preußiſchen Staatsgebiet, und ſei er auch von ſolcher Wichtigkeit wie die Elbherzogthümer, ſollte der gewaltige und gefährliche Kampf unter den deutſchen Großmächten und der Krieg gegen die mit Oeſterreich verbündeten deutſchen Bruderſtämme gewagt werden. Wurde er glücklich zu Ende geführt, ſo mußte der auf Deutſch - land laſtende Dualismus der beiden Großmächte, die Zerſplitterung der Nation in ſtaatlich mit einander nicht verbundene Parcellen, die darauf beruhende politiſche Ohnmacht nach Außen und Zer - fahrenheit im Innern beſeitigt werden. Darin liegt die hiſtoriſch - politiſche, die ſittliche Berechtigung des Krieges von 1866, daß er nicht im Sonderintereſſe Preußens, ſondern in dem Geſammtin - tereſſe Deutſchlands geführt wurde und daß von Anfang an nicht die Vergrößerung Preußens, ſondern die Erlöſung Deutſchlands von dem politiſchen Elend, welches die Verträge von 1815 über daſſelbe gebracht haben, das hohe Ziel des Kampfes war2)Es mag hier daran erinnert werden, daß Fürſt Bismarck in der Sitzung des Preuß. Abg. -Hauſes vom 13. Juni ausdrücklich erklärte, daß die Idee der Annexion der Elbherzogth. hervorgerufen werde, durch die Weigerung, Preußen billige, ja im Intereſſe Deutſchlands ſogar ganz nothwendige Zugeſtändniſſe zu machen und daß Preußen noch am 14. Juni 1866 den deutſchen Staaten, welche ſich mit ihm zur Herſtellung einer deutſchen Verfaſſung ver -.

11§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.

Am 14. März 1866 berührte das offizielle Organ der Preu - ßiſchen Regierung, die Provinzial-Correſpondenz, die Nothwendig - keit, bei der Entſcheidung der ſchleswig-holſteiniſchen Angelegenheit auch die Reform der Bundesverhältniſſe in Frage zu ziehen; ſie erinnerte an die in der Denkſchrift vom 15. September 1863 vom Preußiſchen Staatsminiſterium dargelegten Grundſätze und erklärte: die Preußiſche Regierung würde, falls jetzt die Nothwendigkeit hervorträte, die Umbildung der Bundesverhältniſſe wieder ins Auge zu faſſen, vermuthlich an ihre Vorſchläge in der erwähnten Denk - ſchrift wieder anknüpfen 1)Hahn S. 37..

Bald darauf, am 24. März 1866, richtete Fürſt Bismark an die Vertreter Preußens bei den deutſchen[Regierungen] eine Cir - cular-Depeſche2)Hahn S. 43 ff., welche eine ſcharfe Kritik der Bundesverhältniſſe enthält und die Nothwendigkeit einer Bundesreform den deutſchen Regierungen dringend ans Herz legt3)Bemerkenswerth iſt folgende Stelle: Wenn wir Deutſchlands nicht ſicher ſind, iſt unſere Stellung gerade wegen unſerer geographiſchen Lage gefährdeter, als die der meiſten andern europäiſchen Staaten; das Schickſal Preußens aber wird das Schickſal Deutſchlands nach ſich ziehen, und wir zweifeln nicht, daß, wenn Preußens Kraft einmal gebrochen wäre, Deutſchland an der Politik der europäiſchen Nationen nur noch paſſiv betheiligt bleiben würde. .... Wenn der deutſche Bund in ſeiner jetzigen Geſtalt und mit ſeinen jetzigen politiſchen und militäriſchen Einrichtungen den großen, europäiſchen Kriſen, die aus mehr als einer Urſache jeden Augenblick auftauchen können, entgegen gehen ſoll, ſo iſt nur zu ſehr zu befürchten, daß er ſeiner Aufgabe erliegen und Deutſch - land vor dem Schickſale Polens nicht ſchützen werde. .

Am 9. April 1866 ſtellte Preußen am Bundestage den An - trag auf eine Reform des deutſchen Bundes4)Hahn S. 60 65.. In der Erklärung des Preußiſchen Bundestags-Geſandten wird die Nothwendigkeit einer Umgeſtaltung der Bundesverfaſſung nachgewieſen, namentlich aber darauf der größte Nachdruck gelegt, daß weder die einſeitigen Verhandlungen unter den Regierungen, noch die Debatten und Beſchlüſſe einer gewählten Verſammlung allein im Stande wären, eine Neugeſtaltung des nationalen Verfaſſungswerkes zu ſchaffen,2)einigen würden, die Integrität ihres Gebietes gewährleiſtete. Vgl. Hahn S. 128 ff. Staatsarch. XI. Nr. 2322 und 2324. (An Hannover, Sachſen und Kurheſſen gerichtete, ſogenannte Sommationen.)12§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.daß vielmehr nur durch ein Zuſammenwirken beider Factoren das Ziel erreicht werden könne. Für die zu wählende Verſammlung ſchlug Preußen das allgemeine Stimmrecht und directe Wahlen vor und demgemäß ging der Antrag dahin:

Hohe Bundesverſammlung wolle beſchließen: eine aus directen Wahlen und allgemeinem Stimm - recht der ganzen Nation hervorgehende Verſammlung für einen noch näher zu beſtimmenden Tag einzuberufen, um die Vorlagen der deutſchen Regierungen über eine Reform der Bundesverfaſſung entgegenzunehmen und zu berathen; in der Zwiſchenzeit aber, bis zum Zuſammentritt derſelben, durch Verſtändigung der Regierungen unter einander dieſe Vorlage feſtzuſtellen.

Die Bundes-Verſammlung verwies den Antrag an eine Com - miſſion von 9 Mitgliedern, die am 26. April gewählt wurde; ſchon am 27. April erließ Fürſt Bismarck eine neue Circular-Depeſche an die Preuß. Vertreter bei den deutſchen Regierungen1)bei Hahn S. 67., in welcher er nochmals betonte, daß die Beſtimmung des Termins der Parla - ments-Eröffnung vor Beginn der Regierungsverhandlungen über die Reformvorlagen der Kern des Antrages vom 9. April ſei. Mit der Ablehnung dieſer Frage wäre die ernſtliche Behand - lung der Bundesreform überhaupt thatſächlich abgelehnt.

Als die Bundesreform-Commiſſion ihre Berathungen am 11. Mai 1866 begann, ſkizzirte der Preußiſche Geſandte die Reform - Pläne ſeiner Regierung näher, indem er 8 Punkte formulirte2)Hahn S. 69.. Sie betrafen die Einführung einer periodiſch einzuberufenden National - vertretung in den Bundesorganismus mit der Wirkung, daß die bisher erforderliche Stimmeneinheit der Bundesglieder durch Beſchluß - faſſung der Nationalvertretung auf ſpeciell bezeichneten Gebieten der künftigen Bundesgeſetzgebung erſetzt werden ſolle (Nro. a); ferner die Feſtſtellung der Kompetenz (Nro. b e); endlich Organi - ſation des Konſulatweſens, Gründung einer deutſchen Kriegsmarine und Reviſion der Bundeskriegsverfaſſung (Nro. f h). Dieſe Preußiſchen Vorſchläge ſind darum von höchſter Bedeutung, weil ſie die Grundlinien der ſpäteren Verfaſſung enthalten und gewiſſer -13§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.maſſen die rechtsgeſchichtliche Brücke zwiſchen der alten Bundes - Verfaſſung und der neuen Bundesſtaats-Verfaſſung bilden. Es war zum erſten Male, daß die Umriſſe des neu zu ſchaffenden Bau’s deutlich entgegen traten.

Es war zugleich zum letzten Male, daß eine Bundes - reform angeſtrebt wurde. Zwiſchen den Preußiſchen Vorſchlägen vom 11. Mai 1866 und den alsbald zu erwähnenden vom 10. Juni 1866 liegt eine ſtaatsrechtlich überaus bedeutſame Kluft. Die erſteren haben die Fortdauer des Bundes, die letzteren ſeine Auflöſung zur Vorausſetzung; wären die Reform-Vorſchläge vom 11. Mai von Erfolg geweſen, ſo beſtünde zwiſchen dem alten Bunde und dem heutigen Verfaſſungszuſtande rechtliche Con - tinuität; die Ereigniſſe vom 14. Juni 1866 haben dieſelbe zer - ſtört; der Bund wurde vernichtet, nicht reformirt; und es mußte erſt wieder die Grundlage zu einem ſtaatsrechtlichen Neubau ge - ſchaffen werden.

Unmittelbar vor der Kataſtrophe, am 10. Juni 1866 richtete Fürſt Bismarck an die deutſchen Regierungen eine Circular-Depeſche1)Hahn S. 123., in welcher er ihnen Grundzüge zu einer neuen Bundes - verfaſſung zur Erwägung mittheilte und ſie erſuchte, ſich zu - gleich über die Frage ſchlüſſig machen zu wollen, ob ſie eventuell, wenn in der Zwiſchenzeit bei der drohenden Kriegsgefahr die bisherigen Bun - desverhältniſſe ſich löſen ſollten, einem auf der Baſis dieſer Modifikationen des alten Bundesvertrages neu zu errichtenden Bunde beizutreten geneigt ſein würden.

Die Grundzüge 2)Hahn S. 121. Glaſer I. 1. S. 29. gehen davon aus, daß das Bundesgebiet aus denjenigen Staaten beſteht, welche bisher dem Bunde an - gehört haben, mit Ausnahme der öſterreichiſchen und niederländi - ſchen Landestheile (Art I). Es ſollten demnach die nicht zum ehe - maligen Bunde gehörenden Landestheile Preußens und Schleswig eingeſchloſſen werden, Oeſterreich und die niederländiſchen Landes - theile3)d. h. Limburg; denn Luxemburg ſteht mit Holland nur in Perſonal - ausſcheiden. Die Beziehungen des Bundes zu den deutſchen14§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.Landestheilen des öſterreichiſchen Kaiſerſtaates ſollten durch beſondere Verträge geregelt werden (Art. X). Der Machtſtellung Bayerns ſollte dadurch Rechnung getragen werden, daß die Land - macht des Bundes in 2 Bundesheere, die Nordarmee und die Süd - armee eingetheilt und in Krieg und Frieden der König von Preußen Bundes-Oberfeldherr der Nordarmee, der König von Bayern Bundes-Oberfeldherr der Südarmee ſein ſollte (Art. IX). Im Uebrigen ſtimmen die Grundzüge nicht nur ſachlich, ſondern zum Theil ſelbſt hinſichtlich des Ausdrucks ſo ſehr mit der ſpäteren Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes überein, daß man ſie mit Recht als den erſten Entwurf der Norddeutſchen Bundesverfaſſung be - zeichnen kann.

Der in der Note vom 10. Juni vorhergeſehene Fall trat ſehr bald ein. Der Bundesbeſchluß vom 14. Juni 1866 bewirkte die Sprengung des Bundesverhältniſſes. Der Preußiſche Bundestags - Geſandte verband mit der Austritts-Erklärung Preußens aus dem Bunde ſogleich die Aufforderung, eine neue Form für die Einheit der deutſchen Nation zu vereinbaren und erklärte die Bereitwil - ligkeit der Preußiſchen Regierung einen neuen Bund mit denjenigen deutſchen Regierungen zu ſchließen, welche ihr dazu die Hand reichen wollen 1)Hahn S. 126. Vgl. die Preuß. Proclamation An das deutſche Volk vom 16. Juni 1866. (Hahn S. 134.).

Die Verwirklichung dieſes Planes wurde durch den raſchen und glücklichen Verlauf des Krieges in unerwarteter Weiſe ge - fördert, zugleich aber in Beziehung auf die ſüddeutſchen Staaten näher präciſirt. Die weſentliche Vorausſetzung des neuen Bundes, der Ausſchluß Oeſterreichs, gleichzeitig aber die Unter - ſcheidung zwiſchen den nördlich vom Main gelegenen und den ſüd - lichen Staaten Deutſchlands wurde Oeſterreich gegenüber völker - rechtlich feſtgeſtellt durch Art. II. des Präliminar-Friedens von Nicolsburg vom 26. Juli 1866, mit welchem Art. IV. des Prager Friedensvertrages vom 23. Auguſt 1866 abgeſehen von einem Zu -3)Union, iſt alſo kein niederländiſcher Landestheil. Daß die Abſicht Preußens nur auf den Austritt Limburgs gerichtet war, ergiebt ſich auch aus der, dem Art. I. beigefügten Parentheſe: Für dieſe iſt der Austritt aus dem Bunde ſchon vor Kurzem beantragt worden , was ſich nur auf Limburg beziehen konnte. Siehe oben S. 5.15§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.ſatz am Schluß wörtlich gleichlautend iſt1)Die Provinzial-Correſpondenz vom 5. Sept. 1866 ſagt: Mit Recht erkennen erleuchtete deutſche Patrioten vom national-deutſchen, wie vom Preußiſchen Standpunkte in dem Artikel des Friedensvertrages, durch welchen eine neue Geſtaltung Deutſchlands ohne Betheiligung des öſterreichiſchen Kaiſer - ſtaates anerkannt iſt, die höchſte Errungenſchaft, den edelſten Siegespreis der Preußiſchen Waffen. Vergl. Herm. Schulze, die Friedensbeſtimmungen in ihrem Verhältniß zur Neugeſtaltung Deutſchlands. Breslau 1866.. Dieſer Artikel enthält vier Sätze. Er lautet:

  • (I.) Seine Majeſtät der Kaiſer von Oeſterreich erkennt die Auflöſung des bisherigen deutſchen Bundes an und
  • (II. ) gibt ſeine Zuſtimmung zu einer neuen Geſtaltung Deutſch - lands ohne Betheiligung des öſterreichiſchen Kaiſerſtaates.
  • (III.) Ebenſo verſpricht Seine Majeſtät das engere Bundes - verhältniß anzuerkennen, welches Seine Majeſtät der König von Preußen nördlich von der Linie des Mains begründen wird
    2)Vgl. Nikolsb. Fr. Art. V. und Prager Frieden Art. VI. Ver - ſprechen Preußens, den Territorialbeſtand Sachſens zu erhalten. Dagegen verſpricht S. Majeſtät der Kaiſer von Oeſterreich, die von S. Majeſtät dem Könige von Preußen in Norddeutſchland herzuſtellenden neuen Einrichtungen, einſchließlich der Territorial-Veränderungen, anzuerkennen.
    2), und
  • (IV. ) erklärt ſich damit einverſtanden, daß die ſüdlich von dieſer Linie gelegenen deutſchen Staaten in einen Verein zuſammentreten, deſſen nationale Verbindung mit dem norddeutſchen Bunde der näheren Verſtändigung zwiſchen beiden vorbehalten bleibt
    3)Vergl. über die Bedeutung dieſes 4. Satzes Aegidi, die völkerrechtl. Grundlagen einer neuen Geſtaltung Deutſchlands, in der Zeitſchrift für deutſches Staatsrecht. 1867. S. 522 ff. und Römer Verf. des nordd. Bundes (Tübingen 1867) S. 68 ff.
    3).

Der Prager Friedensvertrag ſetzt hinzu: und der eine internationale unabhängige Exiſtenz haben wird.

Begriff und Name des Norddeutſchen Bundes erſcheint in offiziellen Aktenſtücken zum erſten Male im Nikolsburger Präli - minar-Vertrag.

Sämmtliche mit Preußen im Kriege befindlich geweſene Staaten traten in den mit ihnen feſtgeſtellten Friedensverträgen dieſen Be - ſtimmungen bei. (Siehe oben S. 6).

Damit war zunächſt nur die negative Vorausſetzung für16§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.die Errichtung des Norddeutſchen Bundes, die Beſeitigung des Widerſpruchs der Mitglieder des ehemaligen deutſchen Bundes, gegeben. Die poſitive Schöpfung erfolgte durch folgende That - ſachen:

Am 16. Juni 1866, ſogleich nach dem Austritte Preußens aus dem Bunde, wurde von Preußen mittelſt identiſcher Noten ſämmtlichen norddeutſchen Staaten mit Ausnahme von Hannover, Sachſen, Kurheſſen, Heſſen-Darmſtadt und Luxemburg der Vor - ſchlag zu einem Bündniß gemacht, welches nur von Sachſen - Meiningen und Reuß ältere Linie abgelehnt, von allen übrigen angenommen wurde. Nach einem mit dieſen Staaten ſtattgehabten Schriftenwechſel wurde durch eine Preußiſche Circular-Depeſche vom 4. Auguſt1)Hahn S. 462. der Entwurf eines Bündniß-Vertrages vorgelegt und am 18. Auguſt 1866 zu Berlin ein Bündniß-Vertrag definitiv abgeſchloſſen2)Hahn S. 463. Glaſer I, 1. S. 78..

Die urſprünglichen Contrahenten dieſes Vertrages waren Preußen, Sachſen-Weimar, Oldenburg, Braunſchweig, Sachſen - Altenburg, Sachſen-Coburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Sonders - hauſen, Schwarzburg-Rudolſtadt, Waldeck, Reuß j. L., Schaum - burg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen, Hamburg.

Dieſen 16 Staaten geſellten ſich ſofort am 21. Auguſt die beiden Mecklenburg hinzu, unter dem Vorbehalte der ſtändiſchen Genehmigung3)Hahn S. 464. Glaſer S. 79.. Reuß ältere Linie trat durch den Friedensver - trag vom 26. September Art. 1.4)Staatsarchiv XI. 2430. Glaſer S. 72., Sachſen-Meiningen durch den Friedensvertrag vom 8. October Art. 1.5)Staatsarch. XI. 2432. Glaſer S. 70., Königreich Sachſen durch den Friedensvertrag vom 21. Oktober Art. 26)Staatsarch. XI. 2434. Glaſer S. 52. dem Bünd - nißvertrage bei.

Heſſen-Darmſtadt endlich übernahm in dem Frieden vom 3. September 18667)Staatsarch. XI. 2375. Glaſer S. 61. Art. 14. Abſ. 2 die Verpflichtung, mit ſeinen ſämmtlichen nördlich des Mains liegenden Gebietstheilen auf der Baſis der in den Reformvorſchlägen vom 10. Juni 186617§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.aufgeſtellten Grundſätze in den Norddeutſchen Bund einzu - treten.

Dieſer Bündniß-Vertrag vom 18. Auguſt 1866 bildet die völkerrechtliche Grundlage für die Errichtung des Norddeutſchen Bundes und ſein Verhältniß zu der nachmaligen Bundesverfaſſung iſt für die geſammte ſtaatsrechtliche Auffaſſung des Norddeutſchen Bundes und des deutſchen Reiches von ſo großer Wichtigkeit, daß ein näheres Eingehen auf ſeinen Inhalt uner - läßlich iſt.

Der Vertrag vom 18. Auguſt 1866 ſteht im ſchärfſten Gegen - ſatz zu dem Bundesvertrage von 1815. Der letztere ſchuf eine politiſche Organiſation Deutſchlands, ſein Inhalt war demgemäß auf die Dauer berechnet; der Bund war ein beſtändiger d. h. ein unauflöslicher, von dem ſich kein Mitglied losſagen durfte, für den kein vorausbeſtimmter Endtermin fixirt war; ſein Zweck zwar nach Art. 2 und 6 der Bundes-Acte ein für alle Zeiten realiſir - barer1)Art. 2. Der Zweck des Bundes iſt Erhaltung der äußeren und in - neren Sicherheit Deutſchlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutſchen Staaten. Art. 6 erwähnt gemeinnützige Anordnungen. ; die Bundesacte enthielt die Verfaſſung des Bundes, ſoweit man den Ausdruck Verfaſſung von einem vertragsmäßigen Rechts - verhältniß gebrauchen darf.

Das Bündniß vom 18. Auguſt 1866 iſt in allen dieſen Be - ziehungen verſchieden. Die Dauer des Bündniſſes iſt durch Art. 6 auf ein Jahr feſtgeſetzt; mit Ablauf dieſes Zeitraumes erloſch der Vertrag von ſelbſt, falls er nicht ſchon vorher durch Gründung eines dauernden Bundesverhältniſſes erledigt wurde2)Vgl. die Rede des Fürſten Bismarck in der Reichstags-Sitzung vom 4. März 1867. (Sten. Ber. S. 41.).

Die Pflichten, welche die Contrahenten gegen einander über - nahmen, laſſen ſich auf zwei Punkte zurückführen.

1) Sie ſchloſſen ein Offenſiv - und Defenſiv-Bündniß zur Er - haltung der Unabhängigkeit und Integrität, ſowie der inneren und äußeren Sicherheit ihrer Staaten (Art. 1) und ſtellten ihre Truppen unter den Oberbefehl des Königs von Preußen, mit dem Vorbehalt, daß die Leiſtungen während des Kriegs durch beſondere Verabredungen geregelt werden (Art. 4).

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 218§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.

2) Sie verpflichteten ſich, die Zwecke des Bündniſſes definitiv durch eine Bundesverfaſſung ſicher zu ſtellen (Art. 2) und verein - barten in dieſer Beziehung vier Sätze:

  • a) Die Preußiſchen Grundzüge vom 10. Juni 1866 ſollten die Baſis der Bundesverfaſſung bilden (Art. 2).
  • b) Die Verfaſſung ſollte unter Mitwirkung eines gemeinſchaft - lich zu berufenden Parlaments feſtgeſtellt werden (Art. 2).
  • c) Zur Erreichung dieſes Zweckes verſprachen die Regierungen, gleichzeitig mit Preußen die auf Grund des Reichswahl - Geſetzes vom 12. April 1849 vorzunehmenden Wahlen der Abgeordneten zum Parlament anzuordnen und Letzteres ge - meinſchaftlich mit Preußen einzuberufen (Art. 5).
  • d) Sie verpflichteten ſich, Bevollmächtigte nach Berlin zu ſenden, um nach Maßgabe der Grundzüge vom 10. Juni den Entwurf der Bundesverfaſſung feſtzuſtellen, welcher dem Parlament zur Berathung und Vereinbarung vorgelegt werden ſollte (Art. 5).

Außerdem enthielt der Vertrag nur noch die Beſtimmung, daß alle unter den Verbündeten beſtehenden Verträge und Ueber - einkünfte in Kraft bleiben, ſoweit ſie nicht durch dieſes Bündniß ſelbſt ausdrücklich modificirt werden (Art. 3).

Außer der für ein Jahr geſchloſſenen Offenſiv - und Defenſiv - Allianz verpflichten ſich demnach die Contrahenten zu einer ein - maligen Leiſtung, zu einer, ihrer Natur nach nicht wiederkehren könnenden Handlung, nämlich zur Herſtellung einer Bundes - Verfaſſung. Sie gründen nicht einen Bund, ſondern ſie verpflichten ſich, einen Bund zu gründen; ſie vereinbaren nicht eine Verfaſſung, ſondern ſie vereinbaren einen Modus behufs Feſtſtellung einer Ver - faſſung1)Hänel Studien zum deutſchen Staatsrechte. Leipzig 1873. I. S. 69 fg..

Der Art. 10 der Bundes-Acte behielt der Bundesverſammlung die Abfaſſung der Grundgeſetze des Bundes und deſſen organiſche Einrichtung vor oder nach dem Wortlaute der Wiener Schluß - acte vom 15. Mai 1820 die deutſchen Staaten übernahmen die Verpflichtung, den Beſtimmungen der Bundesakte eine zweck - mäßige Entwickelung und mithin dem Bundesverein ſelbſt die erforderliche Vollendung zu ſichern . Der Art. 6 des Bündniß -19§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.Vertrages vom 18. Auguſt 1866 ſetzt die Dauer des Bünd - niſſes bis zum Abſchluß des neuen Bundes-Verhält - niſſes feſt. Dieſer Abſchluß iſt nicht die Prolongation, nicht die Entwicklung und Vollendung, ſondern die Beendigung des Auguſt-Bündniſſes und zwar die Beendigung durch Erfüllung. Der Norddeutſche Bund iſt nicht am 18. Auguſt 1866 gegründet worden; Sachſen-Meiningen, Reuß. ä. L. und Königreich Sachſen treten in den mit ihnen abgeſchloſſenen Friedensverträgen nicht dem Norddeutſchen Bunde, ſondern dem Bündniß-Vertrage vom 18. Auguſt 1866 bei, und ebenſo verpflichtet ſich Heſſen-Darmſtadt nicht, mit ſeinen nördlich des Mains gelegenen Gebietstheilen in den ſchon beſtehenden Norddeutſchen Bund, ſondern in den zu gründenden einzutreten.

Der Bündniß-Vertrag vom 18. Auguſt 1866 und die ihn er - weiternden Friedensverträge begründen gegenſeitige völkerrecht - liche Pflichten und Rechte. Kam die Herſtellung des Bundes nach Maßgabe der in dem Auguſtbündniß vereinbarten Modalitäten zu Stande, ſo durfte keiner der Contrahenten von dieſem Bunde ſich fern halten, keiner von demſelben ausgeſchloſſen werden. Die Pflicht und das Recht der Antheilnahme ſowohl an den zur Her - ſtellung des Bundes in Ausſicht genommenen Verhandlungen als auch an dem Bunde ſelbſt waren für alle Contrahenten des Ver - trages wechſelſeitig feſtgeſtellt.

Das Auguſt-Bündniß iſt die alleinige völkerrechtliche Baſis für die Errichtung des Bundes, in keiner Hinſicht dagegen die ſtaatsrechtliche Grundlage des Norddeutſchen Bundes ſelbſt.

Die Feſtſtellung dieſer Thatſache iſt von größter Bedeutung, weil ihre Verdunkelung zur Rechtfertigung einer völlig haltloſen Theorie über die rechtliche Natur des Norddeutſchen Bundes und des deutſchen Reiches verwerthet worden iſt.

Die contrahirenden Regierungen begannen mit der Erfüllung der ihnen obliegenden Verpflichtung, indem ſie ihren Landtagen ein Wahlgeſetz für den Reichstag vorlegten, welches ſich ſo eng als möglich an das Wahlgeſetz von 1849 anlehnte. Gleich an - fangs ſtieß aber das Werk der Conſtituirung des Bundes auf eine ſehr ernſtliche Schwierigkeit an einer Stelle, wo man ſie kaum er - wartet hätte. Das Preußiſche Abgeordnetenhaus wollte das gemeinſame Parlament nicht mit der Befugniß ausſtatten, die2*20§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.Verfaſſung mit den Regierungen zu vereinbaren, ſondern nur ſie zu berathen; die Majorität deſſelben konnte die Neigung, partikulariſtiſche Rechte dem geſammten Gemeinweſen gegenüber zu verklauſuliren 1)Vgl. die Rede des Fürſten Bismarck in der Sitzung des Preuß. Abg. - Hauſes vom 12. September 1866., nicht unterdrücken; es ſollte die zwiſchen dem Parlament Norddeutſchlands und den norddeutſchen Regierungen zu vereinbarende Verfaſſung noch einer Superreviſion und Ge - nehmigung durch den Preußiſchen Landtag und mithin, da das gleiche Recht jedem anderen norddeutſchen Staat nicht verſagt werden konnte, durch mehr als 20 landſtändiſche Verſammlungen vorbehalten werden. Durch das Auguſtbündniß waren die Re - gierungen nur verpflichtet, eine mit dem Reichstage verein - barte Bundesverfaſſung anzunehmen; jeder Verſuch eines Einzel - landtages an der Feſtſtellung dieſer Verfaſſung poſitiven Antheil zu nehmen, hätte ſie ihrer vertragsmäßigen Verpflichtung entbun - den. Die Hoffnung auf die Herſtellung des Bundes hing jetzt nicht nur davon ab, daß die Vereinbarung zwiſchen den Regie - rungen und dem Norddeutſchen Reichstage gelingen werde, ſondern daß auch ſämmtliche Landtage der Verſuchung, die vereinbarte Verfaſſung verbeſſern zu wollen, widerſtehen würden. Auch an den Beſtimmungen des Wahlgeſetzes wurde amendirt2)Vgl. den Commiſſionsbericht des Abg. -Hauſes (Berichterſtatter Tweſten) v. 4. Sept. 1866. (auch bei Hahn S. 467 ff.), obwohl die vertragsmäßige Verpflichtung der Regierungen ausdrücklich darauf gerichtet war, die Wahlen auf Grund des Reichs-Wahlge - ſetzes vom 12. April 1849 vornehmen zu laſſen.

Deſſenungeachtet fügte ſich die Regierung und vermochte auch das Herrenhaus der von dem Abgeordneten-Hauſe beliebten Faſ - ſung zuzuſtimmen3)Vgl. die Erklärung des Regierungs-Commiſſars im Herrenhauſe vom 17. September 1866. Auch bei Hahn S. 478.; ſo daß am 15. Oktober 1866 das Wahlgeſetz für Preußen publizirt und kurz darauf in dem Jadegebiet und in den neuerworbenen Landestheilen durch königliche Verordnung ein - geführt werden konnte4)Preuß. Geſetz S. 1866. S. 735. 738. 891. 895.. Auch in allen übrigen Staaten wurde auf verfaſſungsmäßigem Wege das Wahlgeſetz für den Reichstag zu Stande gebracht; in einigen, namentlich in Mecklenburg, dem21§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.vom Preußiſchen Abgeordneten-Hauſe gegebenen Beiſpiele folgend, nicht ohne erhebliche Modifikationen des Reichswahlgeſetzes von 18491)Eine vollſtändige Sammlung aller dieſer Wahlgeſetze und der zu ihrer Ausführung ergangenen Verordnungen und Reglements enthält das 2. Heft des I. Bandes von Glaſer’s Archiv des Nordd. Bundes.; und in der überwiegenden Mehrzahl wurde dem zu wählen - den Reichstage nur die Befugniß zur Berathung der Verfaſſung ertheilt.

Es konnte mithin die eine, der im Art. 5 des Auguſtbünd - niſſes übernommenen Verpflichtungen, die Parlamentswahlen an - zuordnen und das Parlament gemeinſam einzuberufen, von allen Staaten erfüllt werden.

Ebenſo wurde die zweite daſelbſt ſtipulirte Vereinbarung aus - geführt. Bevollmächtigte Vertreter aller verbündeten Staaten traten auf Grund von Einladungsſchreiben, welche die Preußiſche Regierung am 21. November erlaſſen hatte, am 15. Dezember 1866 in Berlin zu Conferenzen zuſammen, um einen Entwurf einer Ver - faſſung zu vereinbaren.

Fürſt Bismarck legte Namens der Preußiſchen Regierung einen Entwurf vor2)Veröffentlicht zuerſt von Hänel in den Studien zum deutſchen Staats - recht (Leipzig 1873) I. S. 270 ff. ; über den Entwurf brachte aber bereits die Pro - vinzial-Correſpondenz vom 19. Dezember 1866 ausführliche Mittheilungen. Vgl. Hahn S. 483 485., welcher eine weitere Ausführung der Grund - züge vom 10. Juni 1866 iſt und im Hinblick auf die letzteren als der II. Entwurf der Verfaſſung bezeichnet werden kann. Die Verhandlungen über dieſen Entwurf waren vertrauliche; über die Diskuſſion der einzelnen Artikel und die von den Regierungen geſtellten Amendements ſind Protokolle nicht veröffentlicht worden. Dagegen ſind die Reſultate der Berathungen in der Form von Protokollen feſtgeſtellt und publizirt worden. Es giebt vier ſolcher Protokolle.

Das erſte vom 18. Januar 18673)Stenogr. Berichte des verfaſſungber. Reichstags. Anlage Nr. 8. und 10. Hahn S. 486. Glaſer I, 3. S. 1. Staatsarchiv XII. 2725 (S. 353). über die erſte förmliche Sitzung conſtatirt den einſtimmigen Beſchluß der Bevollmächtigten, daß die Krone Preußen dem einzuberufenden Reichstage gegenüber zur einheitlichen Vertretung der verbündeten Regierungen ermächtigt22§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.und zur Ausübung der in Art. 14 und 25 des Entwurfs er - wähnten Rechte (Einberufung, Eröffnung, Vertagung, Schließung, Auflöſung des Reichstages) befugt ſein ſolle.

Bei weitem wichtiger iſt das zweite Protokoll vom 28. Ja - nuar 18671)Stenograph. Berichte des verf. Reichstags. Anlagen S. 19. Hahn S. 487. Glaſer I, 3. S. 6. Staatsarch. XII. S. 357.. Die Sitzung war anberaumt worden, um die vertraulich gepflogenen Berathungen zu einem vorläufigen Abſchluß zu bringen. Zu dieſem Zwecke hatten die Preußiſchen Bevoll - mächtigten ſich der Aufgabe unterzogen, aus den von den übrigen Herren Bevollmächtigten formulirten zahlreichen Amendements diejenigen auszuwählen und zu bearbeiten, welche die Mehrzahl der geäußerten Wünſche befriedigen dürften, ohne den Prin - zipien des Entwurfs entgegenzulaufen.

Dieſe Arbeit hatte zu einer Umgeſtaltung des Entwurfs vom 15. Dezember 1866 geführt; war zunächſt aber auf den 8. Ab - ſchnitt vom Poſtweſen und den 11. Abſchnitt vom Bundeskriegs - weſen noch nicht erſtreckt worden. Der Preußiſche Bevollmächtigte erklärte zugleich, daß die königliche Regierung ſich in Betreff der Abſchnitte, auf welche dieſe Arbeit ſich bezieht, zu ferneren Aende - rungen nicht verſtehen könne.

Das Protokoll berichtet nun weiter:

Nachdem die bezeichneten, von Preußen angenommenen Amen - dements vorgeleſen und discutirt waren, vereinigten die Herren Bevollmächtigten ſich zu der Erklärung: daß ſie die auf dieſe Weiſe amendirten Abſchnitte des Verf. -Entwurfs als vorläufig feſt - geſtellt betrachten und demgemäß deren Vorlegung an den Reichs - tag genehmigen, unter dem Vorbehalte jedoch, daß es den hohen verbündeten Regierungen unbenommen bleibe, wenn das vollſtändige Reſultat der Conferenz vorliegen wird, in ihrer definitiven Er - klärung auf die heute angenommenen Abſchnitte zurückzukommen2)Außerdem gaben beide Mecklenburg noch eine Erklärung ab in Be - ziehung auf die Uebergangs-Beſtimmungen, welche hinſichtlich des Einſchluſſes dieſer Staaten in die Zollgränze u. ſ. w. erforderlich wären..

Das dritte Protokoll vom 7. Februar 18673)Stenogr. Berichte Anlagen S. 21. Glaſer I. 3. S. 10. Hahn 488. Staatsarch. XII. S. 358. enthält hinſichtlich der Abſchnitte über das Poſtweſen und das Kriegsweſen23§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.dieſelbe Feſtſtellung wie das 2. Protokoll hinſichtlich der übrigen Theile des Entwurfes; ſo daß das zweite und dritte Protokoll zuſammen den Entwurf, wie er dem Reichstage (mit neuer Numeri - rung der Artikel) vorgelegt werden ſollte, definitiv feſtſtellten1)Vgl. Stenogr. Berichte a. a. O. S. 22.. Dieſer Entwurf iſt demnach der III. Entwurf der Verfaſſung.

Neben dieſen, die Feſtſtellung des Entwurfs enthaltenden Protokollen gibt es noch ein viertes, ebenfalls am 7. Februar 1867 aufgenommenes Schlußprotokoll, welches Erklärungen einzelner Bevollmächtigten enthält2)Stenogr. Berichte a. a. O. S. 23. Glaſer I. 3. S. 15. Hahn 489. Staatsarchiv XII. S. 359.. Die überwiegende Mehr - zahl derſelben betrifft Fragen vorübergehender Bedeutung, welche inzwiſchen längſt erledigt ſind3)Derartige Vorbehalte und Erklärungen gaben ab: Heſſen wegen Kaſtel und Koſtheim, wegen des Waaren-Verkehrs mit Südheſſen, wegen Ver - theilung der Poſtüberſchüſſe, wegen einer Militär-Convention; Mecklenburg wegen einer Entſchädigung für Aufhebung des Elbzolles, wegen des Mecklenb. - Franzöſ. Handelsvertrages, wegen des Fahnen-Eides; Braunſchweig wegen des Dislocationsrechts des Bundesfeldherrn; die meiſten thüringiſchen Staaten wegen der Militairlaſten; die Hanſeſtädte wegen des Averſums, der Bundesflagge und des Conſulatsweſens, der Koſten der Lokal-Poſt-Ein - richtungen., einige andere enthalten politiſche Wünſche, auf deren Durchführung die Staaten im Intereſſe des baldigen Zuſtandekommens der Verfaſſung verzichten4)Beſonders Oldenburg und Sachſen-Coburg-Gotha, welche ein Oberhaus, Bundesminiſterien, Vereinbarung des Militair-Etats ſtatt des Pauſchquantums und ein Bundesgericht wünſchten., einige end - lich beziehen ſich auf die Auslegung einiger Artikel des Entwurfs5)Namentlich über die Bedeutung des Wortes Bevölkerung in Art. 57 (Sachſen und die Hanſeſtädte) und über die Fortdauer der Auſträgalgerichte trotz Art. 68 (Heſſen und Hamburg.). Auch dieſes Protokoll conſtatirt aber, daß ſämmtliche Bevollmächtigte trotz ihrer beſonderen Erklärungen darüber einverſtanden ſeien, daß der in amendirter Form definitiv feſtgeſtellte Ver - faſſungs-Entwurf Namens der Geſammtheit der in der Con - ferenz vertretenen Regierungen durch die Krone Preußen dem Reichstage vorgelegt werde.

Nachdem die allgemeinen Wahlen am 12. Februar 1867 ſtatt - gefunden hatten, berief der König von Preußen in Ausführung24§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.des am 18. Januar gefaßten Beſchluſſes der Bevollmächtigten ſämmtlicher Staaten durch Patent vom 13. Febr. 1867 den Reichs - tag des norddeutſchen Bundes auf Sonntag den 24. Februar 1867 nach Berlin.

In der Thronrede, mit welcher der Reichstag eröffnet wurde, iſt der Entwurf, welcher Namens der Regierungen dem Reichstag vorgelegt werden ſollte, dahin charakteriſirt, daß die verbündeten Regierungen, im Anſchluſſe an gewohnte frühere Verhältniſſe, ſich über eine An - zahl beſtimmter und begrenzter, aber factiſch bedeutſamer Einrichtungen verſtändigt haben, welche eben ſo im Bereiche der unmittelbaren Möglichkeit, wie des zweifelloſen Bedürf - niſſes liegen.

Für das Verſtändniß der Verfaſſung iſt dieſer Geſichtspunkt von größter Wichtigkeit; trotzdem rechtlich die Continuität mit den Verhältniſſen des deutſchen Bundes gelöst war, iſt ſie den - noch ſo viel wie möglich erhalten worden. Der Bundestag mit ſeinem Plenum und mit ſeinen Ausſchüſſen und Matrikularbeiträgen, der Zollverein und manche andere Inſtitution der älteren Zeit bilden die Grundlage der zunächſt ins Leben gerufenen Einrichtungen; die Einfügung des Parlaments, die Erſetzung der früher erforderten Einſtimmigkeit durch Majoritätsbeſchlüſſe, die Erweiterung der Kompe - tenz auf das geſammte Gebiet der Verkehrs-Verhältniſſe, die Organi - ſation des Bundesheeres, der Marine, der Diplomatie, des Kon - ſulatweſens das ſind die weſentlichen Neuerungen.

Es iſt das Programm, welches der Preußiſche Antrag vom 9. April 1866 verfolgte, mit den durch die veränderten politiſchen Verhältniſſe nothwendig gewordenen Modifikationen durchgeführt; bei der Neugründung des Bundes blieben dieſelben Geſichts - punkte maßgebend von denen aus die Bundesreform angeſtrebt worden war.

Bei den Berathungen des Reichstages fehlte es nicht an einer Fluth von Abänderungs-Vorſchlägen, unter denen ſich viele befan - den, die wie Fürſt Bismark ſagte von Allem, was wir gethan und geleiſtet haben, abſtrahiren, von dem in der Geſchichte unerhörten Fall, daß die Regierungen von 30 Millionen Deutſchen ſich nicht blos dem Wortlaute nach, wie bei der alten Bundesacte, ſondern auch dem Geiſte nach über einen ſolchen Entwurf geeinigt25§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.haben, keine Notiz nehmen. Der Werth recht zahlreicher An - träge beſteht lediglich in den durch ſie hervorgerufenen Widerleg - ungen Seitens der Bundescommiſſare; indem die letzteren Grund und Tragweite der in dem Entwurf enthaltenen Beſtimmungen entwickelten und dadurch theilweiſe dem Mangel an Motiven ab - halfen, von deren Ausarbeitung theils aus Rückſicht auf den Zeit - aufwand theils auf die Schwierigkeit ihrer Feſtſtellung Abſtand ge - nommen worden war1)Erklärung des Fürſten Bismarck v. 11. März 1867. Stenogr. Berichte S. 135..

Im Allgemeinen aber hielt der Reichstag an den Grundge - gedanken des Entwurfs feſt, lehnte alle mit demſelben in unverein - barem Contraſt ſtehende Abänderungen ab und erwarb ſich das Verdienſt, den Entwurf an einer bedeutenden Anzahl von Stellen erheblich verbeſſert zu haben2)Fürſt Bismarck gab in der Sitzung vom 15. April 1867 (Stenogr. Berichte S. 695) eine Ueberſicht der etwa 40 Punkte, in denen der Reichstag Abänderungen beſchloſſen hatte und erklärte, daß die Regierungen darin zum Theil zweifelloſe Verbeſſerungen erkannt haben , während ihnen bei einem andern Theile die Annahme nicht leicht geworden. Eine erhebliche Diffe - renz blieb nur beſtehen hinſichtlich der Sicherſtellung der Heereseinrichtungen und der Bewilligung von Diäten. In Beziehung auf den erſten Punkt einigte man ſich über eine temporäre Fixirung des Präſenzſtandes mit einem Pauſch - quantum, in dem zweiten Punkt gab der Reichstag nach..

Am 16. April 1867 hat der Reichstag die Berathung des Entwurfs zu Ende geführt und ihn in der Geſtalt, wie er aus dieſer Berathung hervorgegangen iſt, mit 230 gegen 533)Darunter 11 Polen und 5 Abgeordnete der Stadt Berlin!! (Hahn S. 599). Stim - men angenommen. An demſelben Tage traten die Commiſſarien der verbündeten Regierungen zu einer Sitzung zuſammen und be - ſchloſſen einſtimmig: den Verfaſſungs-Entwurf, wie er aus der Schlußberathung des Reichstages hervorgegangen iſt, anzunehmen4)Das Protokoll iſt dem Reichstag am 17. April 1866 mitgetheilt worden. (Stenogr. Berichte S. 731.) Noch an demſelben Tage wurde der Reichstag mit einer Thronrede geſchloſſen, welche dem Gefühle aufrichtiger Genugthuung über das Zuſtandekommen des nationalen Werkes beredten Ausdruck gab..

Die rechtliche Lage, welche durch dieſe Beſchlüſſe geſchaffen wurde, bedarf einer näheren Fixirung. Die Errichtung des26§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.norddeutſchen Bundes war noch nicht erfolgt; von allen anderen Gründen abgeſehen ſchon deshalb nicht, weil dem Reichstage durch die Mehrzahl der Wahlgeſetze nur die Befugniß zur Berathung einer Bundesverfaſſung ertheilt worden war. Unter den verbündeten Staaten beſtand vielmehr dasjenige Rechts - verhältniß, welches durch das Auguſtbündniß und die daſſelbe in Bezug nehmenden Friedensverträge geſchaffen war, im Weſentlichen unverändert fort. Nur war der Art. 5 deſſelben erledigt durch vollſtändige Erfüllung und der Art. 2 war inhaltlich näher be - ſtimmt; die Verpflichtung und Berechtigung der Staaten, einem Bunde anzugehören, deſſen Verfaſſung unter Mitwirkung eines gemeinſchaftlich zu berufenden Parlaments vereinbart werden ſollte, hatte ſich ſpezialiſirt zu der Pflicht und dem Recht, einem Bunde mit der am 16. April 1867 feſtgeſtellten Verfaſſung anzugehören. Es war nunmehr eine Verfaſſung den Beſtimmungen des Auguſt - Bündniſſes gemäß vereinbart worden; die wechſelſeitige Pflicht, einen Bund zu gründen, konnte jetzt durch dieſe Gründung ſelbſt erfüllt werden.

Hierzu aber waren die Regierungen der verbündeten Staaten nach dem Staatsrecht der letzteren ohne Zuſtimmung der Landes - vertretungen nicht befugt. Sie konnten nicht in einen Bund ein - treten, der nach Maaßgabe der Verfaſſung vom 16. April 1867 organiſirt war, ohne eine in der Form des verfaſſungsändernden Geſetzes ertheilte Ermächtigung, weil durch dieſen Eintritt die Verfaſſung jedes Einzelſtaates auf das Tiefſte verändert und dem Staate wie ſeinen Angehörigen finanzielle Laſten auferlegt wurden. Demgemäß bedurfte die von ihnen erklärte Annahme der Bundes - verfaſſung mindeſtens der nachträglichen, ordnungsmäßigen Ge - nehmigung der Geſetzgebungsfactoren ihrer reſp. Staaten1)Voraus war die landſtändiſche Genehmigung ertheilt worden in Braun - ſchweig und Bremen..

In allen zum Norddeutſchen Bunde gehörenden Staaten iſt dieſe Genehmigung unter Beobachtung der verfaſſungsmäßigen Form-Vorſchriften ertheilt und in allen einzelnen Staaten iſt die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes in der für Geſetzes-Pub - likationen vorgeſchriebenen Form verkündet worden2)Sämmtliche Publikations-Patente ſind abgedruckt in Glaſer’s Archiv des Nordd. Bundes I. Heft 4. S. 117 ff.. Alle dieſe27§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.Publikationspatente enthalten außer der Publikationsclauſel die Beſtimmung, daß dieſe Verfaſſung in den betreffenden Staatsge - bieten am 1. Juli 1867 in Kraft treten ſoll 1)Dieſe Klauſel fehlt nur in dem Braunſchweigiſchen Patent vom 15. Juni 1867, welches ſich auf die bloße Verkündigung zur Nachachtung beſchränkt. (Siehe S. 26. Note 1)..

Die juriſtiſche Bedeutung dieſes legislativen Aktes iſt mehr - fach mißverſtanden worden.

Seydel2)Commentar z. Verf. -Urkunde S. 5 fg. ſchließt aus dieſen Publikationen, daß die mit dem norddeutſchen Reichstage vereinbarte Verfaſſung gleich - mäßiges Landesgeſetz ſämmtlicher verbündeten Staaten ge - worden ſei3)Einigen Publikationspatenten liegt dieſelbe Rechts-Anſchauung zu Grunde; ſo wurde die Verf. in Oldenburg verkündet als Geſetz für das Großherzogthum , in Schwarzburg-Rudolſtadt als Landesgeſetz ; das Lübecker Patent erwähnt die Zuſtimmung der[Bürgerſchaft] zu deren geſetzlicher Geltung für den Lübeckiſchen Freiſtaat. Auch H. Schulze Ein - leitung S. 473 nimmt an, daß die Bundesverfaſſung durch die Pu - blikation Landesgeſetz und integrirender Theil der Landesverfaſſung geworden iſt. . Die norddeutſche Bundesverfaſſung ſei Landesrecht jedes Bundesſtaates geworden, nicht mehr, nicht weniger. Er zieht daraus die Folgerung, daß alle auf Grund der Bundesverfaſſung erlaſſenen Geſetze ihre Giltigkeit von einem Landesverfaſſungs - geſetze ableiten, alſo wieder Landesgeſetze ſeien und verwerthet dieſe Sätze für die juriſtiſche Conſtruction des Reiches.

Die Unrichtigkeit dieſer Auffaſſung iſt in durchſchlagender Weiſe von Hänel Studien I. S. 53 ff. 75 ff. dargethan worden. Er macht mit Recht geltend, daß die Bundesverfaſſung einen für das Landesgeſetz jedes einzelnen Staates unmöglichen Inhalt hat; ſie ſetzt einen Verein von Staaten voraus, deſſen Organiſation ſie beſtimmt, ein Landesgeſetz aber kann nur ſolche Gegenſtände recht - lich regeln, welche in das Herrſchaftsgebiet dieſes Staates fallen, nicht ſolche, welche die Coexiſtenz mehrerer Staaten vorausſetzen. Die rechtliche Regelung eines ſolchen Coëxiſtenzverhältniſſes liegt über den Bereich des Herrſchaftsverhältniſſes jedes einzelnen Staates und damit irgend eines Landesgeſetzes hinaus. Der nord - deutſche Bund und ſeine Verfaſſung konnte darum auch nicht durch28§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.eine Summe übereinſtimmender Partikulargeſetze zur thatſächlichen und rechtlichen Exiſtenz gelangen .

Hänel a. a. O. S. 76 findet in der Mitwirkung der Landes - vertretungen eine doppelte rechtliche Bedeutung; zunächſt die An - erkennung, daß die Bundesverfaſſung den durch das Auguſtbünd - niß begründeten Pflichten und Rechten entſpreche; ſodann die negative Funktion, diejenigen Beſtimmungen der Verfaſſung und der Geſetze der Einzelſtaaten auf verfaſſungsmäßigem Wege außer Wirkſamkeit zu ſetzen, welche den in Ausſicht genommenen unmit - telbaren Wirkungen und Ermächtigungen des norddeutſchen Bundes und ſeiner Verfaſſung im Wege ſtanden.

Auch dieſe Auffaſſung iſt nicht zutreffend. Der erſte Punkt iſt nicht nur unrichtig, ſondern auch unweſentlich. Die überwiegende Mehrzahl der Landesvertretungen war nicht gehindert, die Bundes - verfaſſung zu verwerfen, ſelbſt wenn ſie anerkannte, daß die Ver - faſſung den Beſtimmungen des Auguſtbündniſſes entſpreche, indem die Landtage ſich das Recht der Verwerfung ausdrücklich dadurch vorbehalten hatten, daß ſie die Wahlen nur für einen berathenden Reichstag genehmigten. Wofern man in der Genehmigung des Wahlgeſetzes mit Hänel überhaupt eine Zuſtimmung der Landes - vertretungen zu dem Auguſtbündniß erblicken will, iſt dieſe Zu - ſtimmung jedenfalls nur mit dem Vorbehalt ertheilt worden, daß über Annahme oder Verwerfung der Verfaſſung die Entſchließung frei bleibe. Ebenſo wenig war aber ein Landtag gehindert, die Bundesverfaſſung zu acceptiren, trotzdem ſie ſich ſeiner Anſicht nach von den Beſtimmungen des Auguſtbündniſſes entfernte1)Dies iſt in der That der Fall, indem die Verfaſſung die Competenz des Bundes viel weiter beſtimmt als dies die Grundzüge v. 10. Juni 1866 thaten. Dies hob ſchon bei den Berathungen der Bevollmächtigten der Ver - treter Hamburgs in Beziehung auf die Flagge der Handelsſchiffe hervor. Vgl. die Anlage vom 15. Januar zu dem Schlußprotokoll vom 7. Februar 1867. (Stenogr. Berichte des verfaſſ. Reichst. Anlagen S. 26. Glaſer I, 3 S. 22. Staatsarchiv XII. S. 366.). Die Er - klärung der Landtage ging auch gar nicht dahin, daß die Bundes - verfaſſung der Prüfung unter dieſem Geſichtspunkte unterworfen worden ſei; keines von allen Publikationspatenten enthält ein der - artiges Urtheil.

Bei weitem beachtenswerther iſt der zweite, von Hänel betonte29§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.Geſichtspunkt. Darnach ſoll die Publikation der Verfaſſung in den einzelnen Staaten eine lediglich negative Bedeutung haben, nämlich die Aufhebung der entgegenſtehenden Beſtimmungen der Landesgeſetze. In jedem Staate würde mithin dieſe Publikation etwas Anderes bedeuten, da in jedem Staate ein anderer Inbegriff von Rechtsſätzen aufgehoben wurde; nicht die Einführung der Bundesverfaſſung, ſondern die Aufhebung eines Stückes der Landesverfaſſung wäre der Sinn und Inhalt der Publikationsge - ſetze. Damit hätte man aber Nichts erreicht, als in das Landes - recht jedes einzelnen Staates ein ungeheures Loch geſchlagen, es geradezu zerſtört; eine poſitive Schöpfung wäre nicht vollführt worden. Es bleibt immer noch der Sprung über eine unüber - brückte Kluft übrig. Wie gewann die Bundesverfaſſung eine poſi - tive Grundlage der geſetzlichen Geltung? Die bloße Zerſtörung des Landes-Verfaſſungsrechts aller einzelnen Staaten kann ihr die - ſelbe doch nicht bieten.

Hänel a. a. O. antwortet hierauf, indem er die Gründung des norddeutſchen Bundes darauf zurückführt, daß diejenigen Organe des Wollens und Handelns, welche die mit dem Reichstag vereinbarte Bundesverfaſſung vorgeſehen hatte, in das Leben treten mußten und der hiermit organiſirte Bund die Bundesverfaſſung als ſeine oberſte rechtliche Willensbeſtimmung ſich aneignen mußte. Dies iſt aber ein offenbarer Cirkel und ſchließ - lich Nichts Anderes als eine ſchwach umhüllte generatio aequivoca. Denn einerſeits ſoll die Bundesverfaſſung beſtimmen, welche Organe in das Leben treten müſſen und dann ſoll erſt wieder der hier - mit organiſirte Bund ſich die Bundesverfaſſung aneignen.

Das logiſche Verhältniß wird von Hänel geradezu umgekehrt. Die Einführung der Norddeutſchen Verfaſſung hatte die Folge, daß ſie in jedem einzelnen Deutſchen Staate das damit im Wider - ſpruch ſtehende Landesrecht beſeitigte1)Die meiſten Publikationspatente erwähnen dieſe Folge als ſelbſt - verſtändlich gar nicht; diejenigen, welche darauf hinweiſen, nämlich die von Weimar und Schwarzburg-Sondershauſen, erklären, daß durch dieſe Ver - faſſung die beſtehenden Landesgeſetze ..... als abgeändert zu betrachten ſind. , aber die Aufhebung eines noch ſo großen Beſtandtheiles des Landesrechts konnte niemals30§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.die Folge haben, daß nunmehr die Bundesverfaſſung Geltung erlangte.

Die richtige Auffaſſung iſt wohl folgende: die Form des Ge - ſetzes iſt bekanntlich im modernen Staatsrecht nicht blos dann an - wendbar, wenn eine Rechtsregel in einem Staat ſanctionirt werden ſoll, ſondern für jede Willenserklärung des Staates, für welche die Uebereinſtimmung des Landesherrn und der Landesvertretung erforderlich iſt. Das Wort Geſetz hat eine doppelte Bedeutung, eine materielle und eine formelle. Das Geſetz im formellen Sinne iſt eine Form der Willenserklärung des Staates, gleichviel worin ihr Inhalt beſteht. Die Gründung des Norddeutſchen Bundes, der gleichzeitige Eintritt der norddeutſchen Staaten in denſelben, kann nicht als die Aufſtellung einer Rechtsregel oder eines Com - plexes von Rechtsregeln angeſehen werden, ſondern als eine That, als eine Rechtshandlung der norddeutſchen Staaten. Die Staaten vollzogen als willens - und handlungsfähige Perſonen durch Gründung des Norddeutſchen[Bundes] einen Willens-Ent - ſchluß. Die Art und Weiſe wie dieſer Entſchluß erklärt und verwirklicht wurde, beſtand darin, daß jeder Staat in der Form des Geſetzes d. h. unter Conſtatirung der Uebereinſtimmung der Krone und der Volksvertretung, ihn öffentlich bekundete und dadurch zugleich ſeine Regierung ermächtigte und verpflichtete, alle zur Ausführung dieſes Entſchluſſes erforderlichen Maßregeln zu treffen.

Der Entſchluß in den Norddeutſchen Bund einzutreten, konnte aber in keiner anderen Weiſe mit der erforderlichen Beſtimmtheit ausgedrückt werden als durch Bezugnahme reſp. Mittheilung der Verfaſſung deſſelben. In ihr allein war der präciſe Ausdruck ſeines Zweckes, ſeines Mitgliederbeſtandes und Gebietsumfanges, ſeiner Kompetenz, ſeiner Verfaſſungseinrichtungen u. ſ. w. gegeben. Der Name Norddeutſcher Bund erhält nur durch die Bundesver - faſſung einen concreten und feſt beſtimmten Inhalt. Sie mußte daher mitpublicirt werden.

Die Klauſel: Die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes tritt in dem Gebiete des Staates X am 1. Juli 1867 in Kraft, welche die Einführungspatente haben, iſt vollkommen identiſch mit dem Satze:31§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. Der Staat X tritt am 1. Juli 1867 in den Norddeutſchen Bund ein.

Denn die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes konnte in einem Einzelſtaat gar nicht anders in Kraft treten, als durch Gründung des Norddeutſchen Bundes, reſp. Eintreten in denſelben; und kein Staat konnte anders in den Norddeutſchen Bund ein - treten als dadurch, daß die Verfaſſung des letzteren in ſeinem Ge - biete in Kraft trat.

Hieraus ergiebt ſich: Nicht die Norddeutſche Bundesverfaſſung iſt ein übereinſtimmendes Landesgeſetz der Einzelſtaaten, nicht ihre Sanction wird für jeden Staat beſonders von der Landesſtaats - gewalt ertheilt, ſondern der Entſchluß des Staates, in den durch dieſe Verfaſſung definirten Bund einzutreten, iſt in jedem Einzelſtaat durch Landesgeſetz erklärt worden. Object der Publi - kationsgeſetze vom Juni 1867 ſind nicht die Beſtimmungen der Norddeutſchen Bundesverfaſſung an ſich, ſondern Object iſt die Erklärung des Beitritts zu demjenigen Bunde, welcher in dieſer Verfaſſung definirt iſt. Kein Staat war im Stande, dieſe Ver - faſſung bei ſich als Landesgeſetz einzuführen, wol aber konnte jeder Staat für ſeine (ideelle) Perſon in der Form des Geſetzes erklären, daß er am 1. Juli 1867 an der Errichtung des Norddeutſchen Bundes Theil nehmen werde. Nicht die zahlreichen Beſtimmungen der Bundesverfaſſung ſind von jedem Einzelſtaat für ſein Gebiet als Landesgeſetz eingeführt worden, ſondern die Publikationspatente ſanctioniren nur einen einzigen Satz, der überall derſelbe iſt, und der lautet: Der Staat X gehört vom 1. Juli 1867 an zum nord - deutſchen Bunde.

Eben darum aber haben dieſe Publicationspatente keinen bloß negativen Inhalt, wie Hänel annimmt, indem ſie das mit der Norddeutſchen Bundesverfaſſung im Widerſpruch ſtehende Verfaſ - ſungsrecht der Einzelſtaaten aufheben. Hänel will für den Nord - deutſchen Bund erſt die Bahn frei machen, indem er die Hinder - niſſe, welche die Landesverfaſſungen bieten, durch die Publikations - geſetze beſeitigen und dann in den geſchaffenen freien Raum den Norddeutſchen Bund eintreten läßt. Dies iſt undenkbar. Man kann ſich keinen Staat auch nur während einer Secunde in einem Zuſtande denken, in welchem ſein Verfaſſungsrecht in ſoweit auf - gehoben iſt, als es mit der Bundesverfaſſung im Widerſpruch32§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.ſteht, und in welchem der Norddeutſche Bund doch noch nicht ins Leben getreten iſt1)Nach Hänel S. 77 trat erſt am 26. Juli 1867 durch das Publikan - dum des Königs von Preußen der neue Bund an die Stelle des Bündnißver - trages vom 18. Auguſt 1866; der Nordd. Bund datirt erſt vom 26. Juli 1867. Dagegen die Aufhebung der partikulären Landesverfaſſungs-Rechtsſätze, welche mit der Nordd. Bundesverfaſſung collidirten, trat am 1. Juli 1867 ein; ſo daß ein Zwiſchenraum von 26 Tagen bleibt..

Der Eintritt in den Norddeutſchen Bund iſt das Frühere, iſt Grund und Urſache, die Abänderung der damit unvereinbaren Be - ſtimmungen der Landesverfaſſungen das Spätere, die Folge und Wirkung. Die Publikationspatente haben überall einen poſitiven und identiſchen Inhalt, die Erklärung des Beitritts zum Nord - deutſchen Bunde, nicht einen negativen und in jedem Staate anderen Inhalt, die Beſeitigung von Landesgeſetzen2)Auch in der Preuß. Thronrede vom 24. Juni 1867 wird dies ange - deutet: Durch die Zuſtimmung der Preuß. Landesvertre - tung zur Errichtung des Nordd. Bundes ſind nunmehr alle Vor - bedingungen für die Geltung der Verfaſſung deſſelben in Preußen erfüllt..

Die Publikationsgeſetze und die zu ihrer Durchführung er - folgten Regierungshandlungen ſind die definitive und vollſtändige Erfüllung des Auguſtbündniſſes. Sie ſtellen die Handlung dar, zu welcher ſich die Staaten gegenſeitig verpflichtet hatten, nämlich die Gründung des Bundes. Mit dieſer Gründung war das Auguſtbündniß nach der ausdrücklichen Beſtimmung in Art. VI deſſelben erloſchen. Am 1. Juli 1867 war der Norddeutſche Bund errichtet, nicht früher und auch nicht ſpäter. Als am 14. Juli 1867 der König von Preußen den Grafen von Bismarck zum Bundes - kanzler des Norddeutſchen Bundes ernannte, am 26. Juli 1867 die Einführung des Bundesgeſetzblattes anordnete und in der erſten Nummer deſſelben die Verfaſſung deſſelben abdrucken ließ, war der Norddeutſche Bund ſchon vorhanden und die Verfaſſung des - ſelben bereits in Geltung. König Wilhelm handelte bereits auf Grund derſelben Kraft der durch dieſe Verfaſſung ihm übertragenen Rechte. Dieſe Publikation iſt keine Sanction der Verfaſſung; das Publikandum vom 26. Juli 1867, mit welchem das Bundes - Geſetzblatt beginnt, enthält keine Clauſel, welche dieſer Verfaſſung Geſetzeskraft beilegt, ſondern der König thut kund und fügt im Namen des Norddeutſchen Bundes zu wiſſen , daß33§. 2. Die Gründung des nordd. Bundes.die Norddeutſche Bundesverfaſſung folgt deren Wortlaut unter dem 25. Juni d. J. verkündet worden und am 1. Juli die Geſetzeskraft erlangt hat. Indem der König dies zur öffent - lichen Kenntniß bringt, erklärt er zugleich, die durch die Verfaſ - ſung ihm übertragenen Rechte, Befugniſſe und Pflichten zu über - nehmen1)Vgl. auch G. Meyer Staatsr. Erörterungen S. 60. 61..

Der Vorgang der Gründung kann auch nicht Anders gedacht werden. Der norddeutſche Bund konnte ohne eine beſtimmte Ver - faſſung nicht zur Exiſtenz kommen und folglich konnte die Sanction dieſer Verfaſſung nicht von ihm ausgehen. Das Problem, daß ein erſt zu gründendes Staatsgebilde ſich ſelbſt die Bedingungen ſeiner Entſtehung ſchafft, gleicht der Quadratur des Cirkels. Der Bund wurde in das Leben gerufen von Staaten, die vor ihm da waren und ſich zu dieſem Zwecke vereinigt hatten: ſie haben ihm ſeine Verfaſſung gegeben; er hat gleich bei ſeiner Geburt ſeine Konſtitution und Organiſation mit auf die Welt gebracht. Aber ſie haben dieſe Verfaſſung ihm gegeben, nicht ſich ſelbſt; daraus folgt, daß dieſe Gründung nicht unter den Geſichtspunkt des Lan - desgeſetzes gebracht werden darf, ſondern als eine freie Willens - that aller bei der Gründung betheiligter Staaten aufzufaſſen iſt. Zur Vornahme derſelben war für den Souverain jedes Staates die Zuſtimmung der Landesvertretung erforderlich, und aus dieſem Grunde ergab ſich die Nothwendigkeit, daß der Willensentſchluß des Staates in der Form des Geſetzes erklärt werden mußte2)Thudichum S. 51 conſtruirt die Entſtehung des Nordd. Bundes in anderer Art. Er ſagt: Dieſer Bundesſtaat iſt am 1. Juli 1867 ins Leben getreten vermöge Vereinbarung aller betheiligten Regierungen mit dem aus allgemeinen directen Wahlen hervorgegangenen Reichstag des Bundes, eine Vereinbarung, welche für jedes Bundesland ihre beſondere Gültigkeit erlangt hat durch die verfaſſungsmäßige Zuſtimmung der Landesvertretung deſſelben und die Verkündigung im Landesgeſetzblatt. Dies beruht auf einem höchſt ſonderbaren Mißverſtändniß. Darnach ſoll nämlich der Norddeutſche Bund beruhen auf einer Vereinbarung, welche zwiſchen den verbündeten Regierungen einerſeits und dem berathenden Reichstage andererſeits zu Stande gekommen iſt. Der Reichstag aber konnte nicht contrahiren, er war kein Rechtsſubject, er vertrat keinen Staat, er vertrat nicht einmal im eigentlichen Sinne des Staatsrechts das Volk; denn eine ſtaatsrechtlich wirkſame Vertretung des Volkes ſetzt die ſtaatliche Organiſation deſſelben ſchon voraus. Politiſch kam dem berathenden Reichstage die Autorität eines Parlaments im vollſten.

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 334§. 3. Das Verhältniß des nordd. Bundes zu den ſüdd. Staaten.

§ 3. Das Verhältniß des Norddeutſchen Bundes zu den ſüddeutſchen Staaten.

Durch den Prager Frieden Art. IV hatte Preußen ſich Oeſterreich gegenüber verpflichtet, das engere Bundesverhältniß nach Süden hin nicht über die Linie des Mains auszudehnen; den ſüddeutſchen Staaten ſollte vielmehr freiſtehen, in einen Verein zuſammenzutreten, der mit dem norddeutſchen Bunde zwar über eine nationale Verbindung ſich ſollte verſtändigen dür - fen, aber eine internationale, unabhängige Exiſtenz haben ſollte.

Zur Bildung des Südbundes kam es nicht und daher auch nicht zur näheren Verſtändigung des Südbundes und Nordbun - des; wol aber gelang alsbald eine ſehr nahe Verſtändigung zwi - ſchen dem Norddeutſchen Bunde und den einzelnen ſüddeutſchen Staaten, welche ein ungleich feſteres Einheitsband um alle deut - ſchen Staaten (mit Ausnahme Oeſterreichs) ſchlang als es jemals zu den Zeiten des alten Deutſchen Bundes beſtanden hatte1)Von den zahlloſen verläumderiſchen Vorwürfen, mit denen die Preu - ßiſche Politik von 1866 überſchüttet wurde, iſt keiner von der Wahrheit weiter entfernt, als der, daß die Mainlinie eine Zerreißung Deutſchlands bewirkt habe; ſie bedeutete nur einen graduellen Unterſchied in der Vereinigung Deutſchlands, in dem die Staaten nördlich des Mains enger unter einander verbunden waren, als mit den Staaten ſüdlich des Mains und dieſe unter ſich. Im Vergleich zu dem, was der Deutſche Bund gewährte, war auch dieſe weniger enge Verbindung ein unermeßlicher Fortſchritt.. Da dieſe Zuſtände nur vorübergehende Bedeutung hatten, ſo ge - nügt es, dieſelben ganz kurz zu ſcizziren.

2)Maaße zu; rechtlich war er nur eine Verſammlung, vom Volke gewählter politiſcher Vertrauensmänner oder Sachverſtändiger, welche über den von den verbündeten Regierungen vorgelegten Verfaſſungsentwurf ein Gutachten abzu - geben hatte. Die Vereinbarung zwiſchen den Bundesregierungen und dem Reichstage war nur die Ausgleichung der Anſichten über die dem Bunde zu gebende Verfaſſung, welche aber allerdings für die Erfüllung des Auguſt - bündniſſes eine weſentliche Vorausſetzung war. Eine Vereinbarung im Sinne des Vertrages ſchloſſen lediglich die Regierungen unter einander. In derſelben Richtung wie Thudichum argumentirt Weſterkamp S. 21 u. 28; er nimmt aber 3 Klaſſen von Kontrahenten bei der Norddeutſchen Bundesver - faſſung an, nämlich 1. die Fürſten und die freien Städte. 2. die Bevöl - kerungen der einzelnen Staaten, repräſentirt durch ihre geſetzlichen Vertreter; 3. das Norddeutſche Volk in ſeiner Geſammtheit, repräſentirt durch den kon - ſtituirenden Reichstag. Richtig betont die blos berathende Function des Reichstages G. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen S. 57 Note 3; eine entgegengeſetzte Theorie verſucht Hänel I. S. 71 zu begründen.

35§. 3. Das Verhältniß des nordd. Bundes zu den ſüdd. Staaten.

Das Verhältniß des Norddeutſchen Bundes zu den vier ſüd - deutſchen Staaten war, abgeſehen von der nationalen Baſis, ein rein völkerrechtliches, vertragsmäßiges, und war begründet durch folgende Verträge:

1) Gleichzeitig mit den Friedensverträgen wurden zwiſchen Preußen und den ſüddeutſchen Staaten Schutz - und Trutz - bündniſſe geſchloſſen1)Sie tragen, mit Ausnahme des Heſſiſchen, daſſelbe Datum, wie die be - treffenden Friedensverträge, wurden zunächſt aber geheim gehalten und erſt im April 1867 veröffentlicht. Ihr Wortlaut iſt gedruckt bei Hahn S. 212; Glaſer I, 3 S. 39 fg. 53. Staatsarchiv XII, 2734. Sie wurden in den ſüddeutſchen Staaten, außer in Bayern, den Landtagen zur Genehmigung vor - gelegt und dieſe wurde ihnen überall ertheilt. Siehe die näheren Angaben bei Thudichum S. 29. 30., durch welche ſich die Kontrahenten ge - genſeitig die Integrität des Gebietes ihrer bezüglichen Länder garantirten und ſich verpflichteten, im Falle eines Krieges ihre volle Kriegsmacht zu dieſem Zwecke einander zur Verfügung zu ſtellen. Für dieſen Fall wurde der Oberbefehl über die Truppen der ſüddeutſchen Staaten dem Könige von Preußen übertragen. Dadurch wurde der einzige Werth, welchen der ehemalige Bund hatte, nämlich die Kollectivgarantie aller Deutſchen Staaten für die Integrität des Bundesgebietes wieder hergeſtellt, zugleich aber eine Einheitlichkeit des Oberbefehls über die Deutſche Armee für den Kriegsfall begründet, wie ſie zu den Zeiten des Deutſchen Bundes nicht einmal angeſtrebt werden konnte. Der franzöſiſche Krieg brachte frühzeitig die Gelegenheit, um den hohen Werth dieſer Feſtſetzungen zu erproben.

Um die Schutz - und Trutzbündniſſe wirkſam erfüllen zu kön - nen, verabredeten die ſüddeutſchen Staaten auf einer in Stuttgart abgehaltenen Conferenz am 5. Februar 1867 ihre Streitkräfte den Prinzipien der Preußiſchen Wehrverfaſſung gemäß zu orga - niſiren2)Die Vereinbarung iſt gedruckt bei Glaſer I, 3 S. 42 und im Staats - archiv XII, 2733..

Zur Ergänzung des Zuſammenhanges des Defenſivſyſtems von Süddeutſchland und dem des Norddeutſchen Bundes diente ferner die Errichtung einer ſüddeutſchen Feſtungscommiſſion durch den Münchener Vertrag vom 10. October 1868 und die Errichtung3*36§. 3. Das Verhältniß des nordd. Bundes zu den ſüdd. Staaten.einer gemeinſchaftlichen Inſpizirungscommiſſion für die Feſtungen Ulm, Raſtatt, Landau und Mainz durch Protokoll vom 6. Juli 18691)Beide Urkunden ſind gedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1579 ff..

2) Nicht minder bedeutſam war der Zollvereins-Ver - trag vom 8. Juli 1867. Er erhielt nicht blos die Freiheit des Waarenverkehrs und die Einheitlichkeit des Zollgebietes in Bezie - hung auf Süddeutſchland in dem vor Ausbruch des Krieges vor - handenen Umfange aufrecht, ſondern gab dem Vereine zum erſten Male eine feſtere Organiſation und eine ſichere Gewähr der Dauer2)Vgl. den Bericht der vereinigten Ausſchüſſe für Zoll - und Steuerweſen und für Handel und Verkehr des Nordd. Bundesrathes v. 24. Auguſt 1867. (Hirth’s Annalen 1868 S. 1 ff. ) und Thudichum a. a. O. S. 39 fg.. Die Verfaſſung des Zollvereins war der Verfaſſung des Nord - deutſchen Bundes ſo völlig analog, daß ſie wie ein Schatten er - ſcheint, den die Reichs verfaſſung vor ſich her warf.

3) Außerdem wurden die vor dem Kriege abgeſchloſſenen Ver - träge und Uebereinkünfte, ſoweit ſie mit der neuen politiſchen Geſtaltung Deutſchlands vereinbar waren, wieder in Kraft geſetzt3)Ausdrücklich iſt dies vereinbart im Friedensſchluß mit Bayern Art. 8 und mit Heſſen Art. 8. und ergänzt durch den Vertrag über die Salzſteuer vom 8. Mai 1867, durch den Poſtvertrag vom 20. April 1868, durch Verträge über die ſogenannte militäriſche Freizügigkeit und über die Ge - währung der Rechtshülfe zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und Baden u. ſ. w.

In der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes war überdies der Eintritt ſüddeutſcher Staaten beſonders vorgeſehen, indem Art. 79 Abſ. 2 beſtimmte: Der Eintritt der ſüddeutſchen Staaten oder eines derſelben in den Bund erfolgt auf den Vorſchlag des Bundes-Prä - ſidiums im Wege der Bundesgeſetzgebung.

Einer der Abgeordneten, welche die Aufnahme dieſer Beſtim - mung in die Verfaſſung beantragt haben, Lasker, erläuterte dieſelbe durch die Erklärung4)Stenogr. Berichte des verfaſſ. Reichst. S. 685.: Wir wollen durch unſer Amen - dement ausdrücken, daß wir den Beitritt der ſüddeutſchen Staaten nicht für eine Veränderung der Bundes-Idee halten, daß 37§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.alſo dieſer Beitritt nichts weiter iſt als eine innere Angelegenheit welche geregelt wird nicht durch Aenderung der Verfaſſung, ſon - dern durch Geſetze.

Der Norddeutſche Bund war von Anfang an darauf ange - legt, zum Deutſchen Reiche erweitert zu werden. Es hing ledig - lich von den politiſchen Verhältniſſen Europa’s und den eigenen Wünſchen der ſüddeutſchen Staaten und Bevölkerungen ab, wann die Vollendung der ſtaatlichen Wiedergeburt Deutſchlands erfolgen ſollte. Der glorreiche Krieg, welcher zur Abwehr des franzöſiſchen Angriffs vom Norddeutſchen Bunde und den ſüddeutſchen Staaten gemeinſchaftlich in treuer Erfüllung der Schutzbündniſſe geführt wurde, beſeitigte nicht nur die Hinderniſſe, welche bis dahin dem Beitritt der ſüddeutſchen Staaten entgegenſtanden, ſondern er gab durch die Wiedererwerbung von Elſaß-Lothringen der politi - ſchen Neugeſtaltung Deutſchlands einen Abſchluß, der die kühnſten patriotiſchen Wünſche übertraf.

§ 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.

Ueber den äußeren Hergang der Verhandlungen, welche zur Gründung des Deutſchen Reiches geführt haben, gab der Präſident des Bundeskanzler-Amts, Staatsminiſter Delbrück in der Sitzung des Norddeutſchen Reichstages vom 5. Dez. 1870 einen Bericht, der theils wegen ſeines offiziellen Charakters theils wegen ſeiner Vollſtändigkeit und Klarheit in ſeinem eigentlich re - ferirenden Theile hier wörtlich folgen mag: Die Initiative kam von Bayern. Die Königl. Baye - riſche Regierung gab im Laufe des September dem Bundes - präſidium zu erkennen, daß die Entwicklung der politiſchen Verhältniſſe Deutſchlands, wie ſie durch die kriegeriſchen Ereigniſſe herbeigeführt ſei, nach ihrer Ueberzeugung es bedinge, von dem Boden der völkerrechtlichen Verträge, welche bisher die ſüddeutſchen Staaten mit dem Norddeut - ſchen Bunde verbanden, ab zu einem Verfaſſungsbündniſſe überzugehen. Sie verband mit dieſer Mittheilung den Ausdruck des Wunſches, mit einem Bevollmächtigten des Präſidiums über die Vorſchläge in Beſprechung zu treten, welche ſie zur Ausführung ihres Gedankens vorbereitet hatte. Das Präſidium beeilte ſich, dieſem Wunſche zu ent -38§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.ſprechen, und es wurde mir der Befehl zu Theil, mich zu dieſem Zwecke nach München zu begeben. Der Zweck war nicht eine Verhandlung, ſondern eine Anhörung der Vor - ſchläge, die von der Königl. Bayeriſchen Regierung vorbe - reitet waren, eine Beſprechung dieſer Vorſchläge aus der Kenntniß der Verhältniſſe heraus, die mir meiner Stellung nach beiwohnte; die einzige Inſtruktion, welche ich erhielt, war die, mich jeder Aeußerung zu enthalten, welche gedeu - tet werden könnte, als ob das Präſidium im jetzigen Mo - ment geſonnen ſei, auf die freien Entſchließungen eines treuen und bewährten Alliirten auch nur den entfernteſten Druck auszuüben. Die Beſprechungen in München fanden ſtatt und wurden weſentlich gefördert dadurch, daß die Königl. Württembergiſche Regierung durch eines ihrer Mit - glieder an dieſen Beſprechungen theilnahm. Während das Ergebniß dieſer Beſprechungen der Erwägung des Bundes - Präſidiums unterlag, wurde von Stuttgart der Wunſch ausgeſprochen, die in München eingeleiteten Beſprechungen in Verſailles fortzuſetzen und zu ergänzen, namentlich nach der militairiſchen Seite hin, indem der Königl. Württem - bergiſche Vertreter in München nicht in der Lage geweſen war, ſich über dieſen vorzugsweiſe wichtigen Theil der Verfaſſung weiter, als in einigen allgemeinen Andeutungen zu äußern. Gleichzeitig mit dieſer Anregung erfolgte der offizielle Antrag Badens auf Eintritt in den Norddeutſchen Bund.

Das Präſidium konnte nicht zögern, dieſen Anregungen zu entſprechen, und ſowohl die Königl. Württembergiſche als die Großherzogl. Badiſche Regierung zur Entſendung von Bevollmächtigten nach Verſailles einzuladen. Es gab gleichzeitig davon nach München Nachricht, indem es zur Wahl ſtellte, entweder ebenfalls in Verſailles die Münche - ner Beſprechungen fortzuſetzen, oder, wenn es vorgezogen werden ſollte, das Ergebniß der Verhandlungen mit den anderen dort vertretenen Deutſchen Staaten abzuwarten, um ſodann die Verhandlungen in München wieder aufzu - nehmen. Endlich erklärte auch die Großherzogl. Heſſiſche Regierung ihren Entſchluß, mit dem ſüdlichen Theil ihres39§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.Gebietes in den Bund einzutreten, und ſo geſchah es, daß in der zweiten Hälfte des Octobers Vertreter der ſämmt - lichen ſüddeutſchen Staaten in Verſailles zuſammentraten, um über die Gründung eines Deutſchen Bun - des zu verhandeln. Die Verhandlungen mit Württemberg, mit Baden und mit Heſſen führten ſehr bald zu der Ueber - zeugung, daß es ohne große Schwierigkeiten gelingen werde, auf Grundlage der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes zu einer Verſtändigung zu gelangen; die Verhandlungen mit Bayern boten Anfangs größere Schwierigkeiten und es war auf den eigenen Wunſch des Königl. Bayeriſchen Bevollmächtigten, daß zunächſt die Verhandlungen mit den drei anderen ſüddeutſchen Staaten fortgeſetzt wurden. Die Königlich Bayeriſchen Bevollmächtigten fühlten das Bedürf - niß, nicht ihrerſeits durch die ſich darbietenden Schwierig - keiten den Abſchluß mit den anderen Staaten zu verzögern. So kam es, daß gegen Mitte des November die Verſtän - digung mit den drei anderen ſüddeutſchen Staaten zum Abſchluß gekommen war. Ein unvorhergeſehener Zufall verhinderte es, daß gleich am 15. November Württemberg an der mit ihm bereits in allen Hauptpunkten feſtgeſetzten Verſtändigung theilnahm. Es wurde deshalb zunächſt mit Baden und mit Heſſen abgeſchloſſen. Während dem wur - den die Verhandlungen mit Bayern wieder aufgenommen oder fortgeſetzt; ſie führten raſcher, als es Anfangs er - wartet werden durfte, zum Abſchluß, der in dem Vertrage vom 23. November vorliegt. Am 25. November erfolgte alsdann auf Grund der in Verſailles bereits feſtgeſtellten Verſtändigung der Abſchluß mit Württemberg.

Die Reſultate der hier erwähnten Verhandlungen ſind nieder - gelegt in folgenden Urkunden:

I. Vertrag zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde, Baden und Heſſen, geſchloſſen zu Verſailles, den 15. No - vember 18701)Bundesgeſ. -Bl. 1870 S. 650..

Dieſem Vertrage iſt beigegeben eine Verfaſſung des Deut -40§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.ſchen Bundes 1)ebendaſ. S. 627., welche eine Redaction der Verfaſſung des Nord - deutſchen Bundes mit einer Reihe von Abänderungen iſt, die theils durch die Aufnahme Badens und Südheſſens von ſelbſt erforder - lich waren, theils auf den in Verſailles gepflogenen Verhandlungen beruhten. Der Vertrag ſelbſt enthält die Feſtſetzung, daß dieſe Verfaſſung am 1. Januar 1871 in Wirkſamkeit treten ſoll und daß der Vertrag nach erlangter Zuſtimmung der geſetzgebenden Faktoren des Norddeutſchen Bundes, Badens und Heſſens im Laufe des Monats Dezember ratifizirt werden ſoll.

Es iſt jedoch die Einſchränkung hinzugefügt worden, daß die Gemeinſchaft der Ausgaben für das Landheer für Baden und Heſſen und die Beſtimmungen der Art. 49 52 über die Poſten und Telegraphen für Baden erſt mit dem 1. Januar 1872 in Wirkſamkeit treten ſollen. Im Uebrigen wurden noch unter 9 Nummern beſondere Erklärungen über die Anwendung oder Aus - legung einzelner Verfaſſungs-Artikel vereinbart.

II. Zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde, Baden und Heſſen einerſeits und Württemberg andererſeits wurden abgeſchloſſen:

1. Der Vertrag von Berlin vom 25. Nov. 18702)Bundes-Geſ. -Bl. 1870 S. 654.. Derſelbe enthält im Art. 1 die Beſtimmung, daß Württemberg dem Vertrage von Verſailles vom 15. November dergeſtalt bei - tritt, daß alle in der dort vereinbarten Verfaſſung enthaltenen Beſtimmungen auf Württemberg volle Anwendung finden. Art. 2 enthält einige auf Württemberg bezügliche Sonderbeſtimmungen. Art. 3 betrifft die einzuholende Genehmigung der Volksvertretun - gen und die Auswechſelung der Ratifikationen.

2. Das Schlußprotokoll von Berlin vom 25. Novem - ber 18703)Bundes-Geſ. -Bl. 1870 S. 657. enthält die Ausdehnung der Mehrzahl der im Ver - ſailler Protokoll niedergelegten Erklärungen auch auf Württemberg und 2 Beſtimmungen, welche den Eiſenbahntarif und die Vorrechte der Poſt betreffen.

3. Die Militair-Konvention zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und Württemberg von 〈…〉 den 〈…〉 Nov. 18704)Bundes-Geſ. -Bl. 1870 S. 658..

41§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.

III. Zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und Bayern wurden feſtgeſtellt:

1. Der Vertrag von Verſailles vom 23. Novem - ber 18701)Reichs-Geſ. -Bl. 1871 S. 9.. Derſelbe enthält 6 Artikel folgenden Inhalts:

  • a) Art. I. beſtimmt: die Staaten des Norddeutſchen Bundes und das Königreich Bayern ſchließen einen ewigen Bund, welchem Baden und Heſſen ſchon beigetreten ſind und zu welchem der Beitritt Württemberg’s in Ausſicht ſteht
    2)Der Vertrag mit Württemberg iſt zwei Tage ſpäter unterzeichnet worden.
    2). Dieſer Bund heißt der Deutſche Bund.
  • b) Art. II enthält die Verfaſſung dieſes Bundes. Es iſt die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes mit einer erheb - lichen Anzahl von Abänderungen.
  • c) Art. III führt eine Anzahl von Sonderbeſtimmungen auf, welche ſich auf Bayern beziehen und die Anwendung der vereinbarten Verfaſſung auf dieſes Königreich beſchränken.
  • d) Art. IV enthält eine Uebergangsbeſtimmung über den Zeitpunkt, in welchem die Gemeinſchaft der Militair-Ausgaben und der Zölle und Verbrauchsſteuern beginnen ſoll.
  • e) Art. V reproduzirt eine, auch in dem Badiſch-Heſſiſchen Vertrage ſich findende Erklärung, daß Sonderrechte nur mit Zu - ſtimmung des berechtigten Bundesſtaates abgeändert werden können und ſichert insbeſondere die Anwendung dieſes Grundſatzes auf die im Art. III enthaltenen Beſtimmungen.
  • f) Art. VI ſetzt feſt, daß der Vertrag am 1. Januar 1871 in Wirkſamkeit treten und nach eingeholter Genehmigung der Volksvertretungen im Laufe des Monats Dezember ratifizirt wer - den ſoll.

2. Das Schlußprotokoll von Verſailles vom 23. November 18703)Reichs-Geſ. -Bl. 1871 S. 23.. Daſſelbe enthält eine Anzahl von Erläuterungen, Beſchränkungen, Ergänzungen, welche ſich theils auf die Bundesverfaſſung überhaupt theils auf deren Anwendung auf Bayern beziehen. Art. 16 legt den Beſtimmungen dieſes Protokolls dieſelbe verbindliche Kraft bei wie dem Vertrage vom gleichen Datum.

42§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.

Hinſichtlich des Verhältniſſes, in welchem dieſe verſchiedenen, mit den ſüddeutſchen Staaten abgeſchloſſenen Verträge zu einander ſtehen, iſt ein Umſtand von erheblicher Bedeutung, welchen Staats - miniſter Delbrück in der oben in Bezug genommenen Rede in folgender Weiſe angegeben hat: Als mit Württemberg, Baden und Heſſen verhandelt wurde, waren die Wünſche Bayern’s bekannt. Es fand von Seiten des Präſidiums keinen Anſtand, einer Zahl dieſer Wünſche ſofort zu entſprechen. Es wurde davon, wie es nicht anders ſein konnte, den übrigen verhandeln - den Staaten Mittheilung gemacht; ſie eigneten ſich die Bayeriſchen Amendements an, und ſo ſind in die An - lage des Protokolls vom 15. November eine Anzahl Be - ſtimmungen aufgenommen, welche eigentlich, wenn ich ſo ſagen darf, Bayeriſchen Urſprungs ſind, welche der Initia - tive Bayerns ihren Urſprung verdankten.

Aus dieſer Thatſache erklärt ſich, daß Baden und Heſſen nicht einfach die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes mit den in Folge ihres Beitritts ſelbſtverſtändlichen formellen Abänderun - gen annahmen, ſondern daß dem Vertrage vom 15. Nov. 1870 eine Verfaſſung beigelegt wurde, welche von der des Norddeutſchen Bundes mehrfach und zwar in der Tendenz abweicht, um den von Bayern erhobenen Wünſchen zu genügen, obwohl die Zuge - hörigkeit Bayerns zum Bunde in dieſer Verfaſſungsredaction ſelbſt nicht vorausgeſetzt iſt.

IV. Endlich iſt am 8. Dezember 1870 noch ein Vertrag zu Berlin unterzeichnet worden, in welchem Württemberg, Baden und Heſſen dem zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und Bayern geſchloſſenen Vertrage, und Bayern, ſoweit dies noch erforderlich war, den zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und Baden, Heſſen und Württemberg abgeſchloſſenen Verträgen, nebſt Anlagen, Pro - tokollen und Militair-Konvention zuſtimmten.

V. In formeller Beziehung erfuhr die unter den deutſchen Staaten vereinbarte Verfaſſung dadurch eine wichtige Veränderung, daß auf Anregung des Königs von Bayern einſtimmig vereinbart wurde, daß der deutſche Bund den Namen Deutſches Reich er - halte und daß die Ausübung der Präſidialrechte des Bundes mit43§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.Führung des Titels eines Deutſchen Kaiſers verbunden werde1)Vgl. die Stenogr. Ber. des Nordd. Reichstages vom 5., 8. u. 9. De - zember 1870 S. 76. 150. 167..

Es erhebt ſich nun die Frage nach der juriſtiſchen Bedeu - tung und Wirkung dieſer Vorgänge. Die Beantwortung derſelben iſt durch die Ausführungen über die Gründung des Norddeutſchen Bundes im Weſentlichen vorbereitet und erleichtert.

Die Verſailler November-Verträge finden ihre Analogie in dem Berliner Auguſtbündniß von 1866. Sie ſind durchaus völkerrechtlicher Natur; ſie begründen ver - tragsmäßige Rechte und Pflichten. Der Inhalt derſelben beſteht für den Norddeutſchen Bund in der Pflicht und dem dieſer Pflicht correſpondirenden Rechte am 1. Januar 1871 die ſüddeutſchen Staaten unter den mit denſelben vereinbarten Bedingungen in den Bund aufzunehmen, für jeden der Süddeut - ſchen Staaten in der Pflicht und dem dieſer Pflicht correſpon - direnden Rechte am 1. Januar 1871 dem Bunde beizutreten. Verſchieden von den Auguſt-Verträgen von 1866 ſind die No - vember-Verträge von 1870 nur in folgenden Beziehungen:

1) Während die Contrahenten der Auguſtbündniſſe lauter von einander völlig unabhängige Staaten waren, welche über - einkamen, unter ſich einen Bund zu errichten, wurden die No - vember-Verträge geſchloſſen auf der einen Seite von dem Nord - deutſchen Bunde als Einheit und auf der anderen Seite von den einzelnen ſüddeutſchen Staaten. Der unter den Norddeutſchen Staaten bereits beſtehende Bund wird nicht beendigt und aufgelöſt, um durch einen neuen Bund erſetzt zu werden, ſondern er wird erweitert und modifizirt. Während zwiſchen dem alten deutſchen Bunde und dem Norddeutſchen Bunde keine Rechtscontinuität beſteht, iſt dieſelbe zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und dem Reiche gewahrt2)Vgl. Auerbach S. 56. 59 fg. Meyer Erörterungen S. 61. - nel S. 82. v. Mohl S. 51. Anderer Anſicht iſt nur Riedel S. 77.. Die Reichsgründung war keine Neuſchöpfung ſondern eine Reform des Norddeutſchen Bundes, eine in der Verfaſſung des letzteren ſelbſt vorgeſehene Erweiterung und Umbildung deſſelben. Im Württemberger Vertrage heißt es ausdrücklich, daß die Contra -44§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.henten, von dem Wunſche geleitet, die Geltung der vereinbarten Verfaſſung auf Württemberg auszudehnen, verabreden, daß Württemberg dieſer Verfaſſung beitritt; und wenn auch der Badiſch-Heſſiſche und der Bayriſche Vertrag von der Gründung eines deutſchen Bundes reden, ſo iſt doch nirgends angedeutet, daß dieſer Gründung die Auflöſung des Norddeutſchen Bundes vorhergehen ſolle, daß dieſelbe überhaupt etwas Anderes ſei als die Ausdehnung, Erweiterung und Modification des Norddeutſchen Bundes, der natürlich formell in ſeiner alten Geſtalt nicht mehr fortdauern kann, neben der neuen größeren Geſtalt, zu der er ſich fort entwickeln ſollte.

2) Die Auguſtbündniſſe verabredeten nicht eine beſtimmte Verfaſſung, welche der Norddeutſche Bund haben ſollte, ſondern zunächſt einen Modus, wie eine Verfaſſung für denſelben verein - bart werden ſollte. Die November-Verträge bedurften dieſes Vorſpiels nicht; die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes war die von ſelbſt gegebene Grundlage auch für die Einrichtungen des erweiterten Bundes. Man konnte daher ſofort die Verfaſſung des letzteren entwerfen. Daraus ergiebt ſich folgender Satz: Das Rechtsverhältniß zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und den ſüddeutſchen Staaten war nach Abſchluß der November-Verträge ganz analog dem Rechtsverhältniſſe, welches unter den norddeut - ſchen Staaten ſeit dem 16. April 1867, d. h. ſeit Vereinbarung des Verfaſſungs-Entwurfs unter den norddeutſchen Regierungen nach Schluß der Berathungen des Reichstages, aber vor dem 1. Juli 1867 beſtand. Die Anlage zum Baden-Heſſiſchen Ver - trage (nebſt den mit Württemberg vereinbarten Modificationen) war ein Verfaſſungs-Entwurf, für den Fall, daß Bayern dem Bunde nicht beitreten ſollte; der Art. II des Bayeriſchen Vertrages war ein Verfaſſungs-Entwurf für den entgegen - geſetzten Fall. Der Deutſche Bund ſelbſt war durch dieſe Ver - träge und Verfaſſungsentwürfe noch nicht exiſtent geworden, ſon - dern es war nur eine vollſtändige Willensübereinſtimmung erzielt worden, wie dieſer Bund beſchaffen ſein ſollte. Das deutſche Reich iſt nicht am 15 / 23. November 1870 gegründet worden mit einem dies a quo (1. Januar 1871), ſondern es iſt am 15 / 23. November 1870 vertragsmäßig ſtipulirt worden, daß am 1. Ja -45§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.nuar 1871 das deutſche Reich gegründet werden ſollte, daß an dieſem Tage die Verfaſſung deſſelben in Kraft treten ſollte.

3) Die Genehmigung der Volksvertretungen des Norddeut - ſchen Bundes und der 4 ſüddeutſchen Staaten beziehen ſich auf dieſe Gründung d. h. im Norddeutſchen Bunde auf die Erwei - terung deſſelben durch Aufnahme der ſüddeutſchen Staaten, in den ſüddeutſchen Staaten auf deren Eintritt in den Bund. Die Reichs - verfaſſung iſt in den ſüddeutſchen Staaten nicht als Landesgeſetz eingeführt worden; es wäre dies eben ſo unmöglich geweſen, wie die Einführung der Norddeutſchen Bundesverfaſſung als Landes - geſetze der Norddeutſchen Staaten1)Siehe oben S. 27 ff.. Der Eintritt der Süddeut - ſchen Staaten in den Bund hat zwar eine höchſt eingreifende Ver - änderung ihres Landesrechtes bewirkt und zur Folge gehabt, aber nur dieſer Eintritt ſelbſt iſt ein Willensakt der ſüddeutſchen Staa - ten geweſen, die Einrichtungen des Bundes ſind nicht Objecte der Staatsgewalt und mithin auch nicht der Geſetzgebung der ſüddeut - ſchen Staaten.

Auch formell war in den Süddeutſchen Staaten der Vorgang dieſem Sachverhalt entſprechend, indem nicht die Bundesverfaſſung als ſolche geſetzlich ſanctionirt wurde, ſondern die Verträge un - ter Conſtatirung der ihnen zu Theil gewordenen landſtändiſchen Genehmigung und der erfolgten Ratifizirung verkündet wurden2)Badiſches u. Heſſiſches Regierungsblatt v. 31. Dezem - ber 1870. Württemberg Regierungsbl. 1871 Nr. 1. Bayeriſches Geſetzbl. 1871 Nr. 22 S. 149. In den 3 erſten Staaten wurde dann noch beſonders der Bayeriſche Vertrag verkündigt. Vgl. Thudichum in v. Hol - zendorffs Jahrb. I S. 5 Note 2..

Dagegen hat die Zuſtimmung des Norddeutſchen Reichstages eine etwas abweichende Bedeutung. Auch hier war ſie Geneh - migung der Verträge 3)Der Reichstag nahm an dem Vertrage mit Bayern drei unerhebliche Faſſungs-Aenderungen vor, welche ſowohl vom Bundesrath und von Bayern als auch von den anderen ſüddeutſchen Staaten acceptirt wurden. und damit ſtaatsrechtliche Ermächtigung der Bundesregierung, die zur Ausführung der Verträge erforder - lichen Handlungen vorzunehmen. Aber zugleich gehörte zur Aus - führung dieſer Verträge eine Veränderung der bisher geltenden Bundesverfaſſung, und zwar nicht nur redactionell durch46§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.Erwähnung der neu aufgenommenen Staaten bei der Beſtimmung des Bundesgebiets, der Stimmen im Bundesrath, der Reichstags - Abgeordneten, und nicht nur ergänzend durch Aufnahme der auf die neu aufgenommenen Staaten bezüglichen Sonderbe - ſtimmungen hinſichtlich der Bier - und Branntweinſteuer, der Poſt - und Telegraphen-Verwaltung, des Militairweſens u. ſ. w.; ſon - dern es ſollte zugleich die Rechtsordnung, welche für die Mitglie - der des Norddeutſchen Bundes galt, erheblich verändert werden, z. B. durch Erweiterung der Bundeskompetenz auf Vereins - und Preßweſen, durch Erſchwerung der Erforderniſſe für Verfaſſungs - änderungen u. ſ. w. Die Abänderung der beſtehenden Bundes - verfaſſung war die Bedingung der Erweiterung des Bundes. Die Genehmigung der November-Verträge Seitens des Reichstages des Norddeutſchen Bundes und Seitens des Bundesrathes deſſelben war daher zugleich Zuſtimmung zu einer Aenderung der Ver - faſſung, welche für dieſen Fall nach der beſonderen Beſtimmung des Art. 79 der Verf. im Wege der einfachen Geſetzgebung er - folgen konnte1)Die Vorlage der Verträge, ſowie die nachträgliche Aenderung derſelben durch Aufnahme der Worte Kaiſer und Reich wurde als Geſetzes - Vorlage behandelt, d. h. einer dreimaligen Berathung unterzogen. Vgl. auch die Bemerkung des Präſidenten Simſon Stenogr. Ber. des II. außer - ordentl. Reichst. 1870 S. 151.. Formell wurde aber auch im Norddeutſchen Bunde derſelbe Weg beſchritten, wie in den Süddeutſchen Staaten. Das zu Berlin am 31. Dez. 1870 ausgegebene Bundesgeſetzblatt enthält lediglich die Verträge mit Baden-Heſſen und Württemberg und die Verfaſſung des Deutſchen Bundes nur als Beilage des erſteren; das Bundesgeſetzblatt vom 31. Januar 1871 enthält in derſelben Art den Bayriſchen Bündniß-Vertrag. Eine Umgeſtal - tung der bisherigen Norddeutſchen Bundes-Verfaſſung zur neu vereinbarten Reichsverfaſſung in der Form des Geſetzes fehlte noch. Es war hier einmal das Gegenſtück gegeben zu dem häufiger vorkommenden Falle, daß die Form des Geſetzes Anwen - dung findet, wenn es ſich nicht um Acte der Geſetzgebung im ma - teriellen Sinne handelt; die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes war materiell abgeändert und die Zuſtimmung der dazu befugten Bundesorgane war materiell ertheilt worden, aber die Form des47§. 4. Die Gründung des Deutſchen Reiches.Geſetzes hatte nicht Anwendung gefunden. Die Nachholung dieſer Form war dem Reiche ſelbſt nach ſeiner definitiven Gründung vorbehalten.

Die Gründung deſſelben erfolgte am 1. Januar 1871 und zwar auch in Beziehung auf Bayern; denn obgleich die Bayriſche Landesvertretung erſt am 21. Januar 1871 den Vertrag geneh - migte und die Ratificationen deſſelben erſt am 29. Januar 1871 ausgetauſcht wurden, ſo enthält doch der Vertrag ſelbſt die Be - ſtimmung, daß er am 1. Januar 1871 in Wirkſamkeit treten ſoll und dieſe Beſtimmung wurde mit genehmigt1)Vgl. Verhandlungen des Reichstages 1871 Stenogr. Berichte S. 787 ff. Thudichum in Holzendorff’s Jahrb. I. 1 S. 5. v. Rönne S. 25. Rie - del S. 4.. Die Verzögerung der Genehmigung des Bayriſchen Landtages ſuspendirte nicht die rechtzeitige Erfüllung des Vertrages, ſondern die Verſagung der Genehmigung hätte ſie reſolvirt, die Erfüllung erfolgte unter der ſelbſtverſtändlichen Vorausſetzung (iuris conditio) der nachfolgenden Ratihabirung Seitens des bayriſchen Landtages. Am 1. Januar 1871 iſt die in den November-Verträgen feſtge - ſtellte Verfaſſung in geſetzliche Geltung getreten. Die Gründung des Deutſchen Reiches ſtellt ſich wie die Errichtung des Nord - deutſchen Bundes als eine Handlung dar, welche der Nord - deutſche Bund, Heſſen, Baden, Württemberg und Bayern am 1. Januar 1871 vollzogen und durch welche ſie die November - Verträge erfüllten. Am 18. Januar 1871 erließ der König von Preußen vom Hauptquartier Verſailles aus eine Proklamation an das deutſche Volk, worin er die Annahme des kaiſerlichen Ti - tels bekannt machte.

Das rechtliche Intereſſe, welches Oeſterreich an der Vereini - gung der ſüddeutſchen Staaten mit dem Norddeutſchen Bunde wegen des Artikels 4 des Prager Friedens hatte, wurde auf diplomatiſchem Wege gewahrt und erledigt, indem der Kanzler des Norddeutſchen Bundes der kaiſ. Oeſterreichiſchen Regierung am 14. Dezember 1870 formelle Anzeige machte und darauf Oeſterreich durch eine Note vom 26. Dezember 1870 der Errich - tung des Deutſchen Reiches ausdrücklich zuſtimmte und das Reich formell anerkannte.

48§. 5. Die Redaction der Reichsverfaſſung.

§ 5. Die Redaktion der Reichsverfaſſung.

Das neugegründete Reich unterzog ſich alsbald der Aufgabe, ſeine Verfaſſung ordnungsmäßig zu redigiren. Die Publikation der Verträge enthielt zwei von einander ſehr abweichende Redac - tionen, die eine, wie ſie im Badiſch-Heſſiſchen, die andere, wie ſie im Bayeriſchen Vertrage vereinbart war, und überdies die im Württembergiſchen Vertrage ſtipulirten Veränderungen und Vor - behalte. Die Ausdrucksweiſe ließ die Conſequenz vermiſſen, indem die Bezeichnungen Kaiſer und Reich zunächſt nur an zwei Stellen vorläufig Aufnahme gefunden hatten. Es kam das ſchon vorhin berührte Moment hinzu, daß formell der Reichstag nur einen Vertrag über die Abänderung der Norddeutſchen Verfaſſung ge - nehmigt hatte, die Abänderung ſelbſt aber nicht direct, ſondern nur in dieſer Vertrags-Genehmigung ausgeſprochen war.

Dem erſten Reichstage wurde deshalb der Entwurf einer Reichsverfaſſung vorgelegt; derſelbe wurde am 14. April 1871 von dem Reichstage genehmigt und am 16. April 1871 als Reichs - geſetz verkündigt.

Das Reichsgeſetz vom 16. April enthält zwei von ein - ander ſcharf getrennte Beſtandtheile, die Redaction der Verfaſſung ſelbſt und das Publikationsgeſetz.

I. Die Verfaſſungs-Urkunde.

Dieſelbe ſchließt ſich an die im Bayeriſchen Vertrage vereinbarte Faſſung an, modifizirt dieſelbe aber in folgenden Punkten:

1) Die im Verſailler Schlußprotokoll unter Nr. XV vorſorg - licher Weiſe getroffene Beſtimmung, daß, wenn ſich ergeben ſollte, daß in Folge des mangelhaft (in Verſailles) vorliegenden Mate - rials bei Aufführung des Wortlautes der Bundesverfaſſung ein Irrthum unterlaufen iſt, die contrahirenden Theile ſich deſſen Be - richtigung vorbehalten, iſt erledigt worden durch correcte Feſtſtel - lung des Wortlautes.

2) Die im Art. 2 des Vertrages mit Württemberg die - ſem Staate zugeſicherten Sonderrechte und die im Art. III des Bayeriſchen Vertrages vereinbarten Beſchränkungen der An - wendbarkeit der Verfaſſung auf Bayern ſind in den Text der Verfaſſung ſelbſt aufgenommen worden. Dabei iſt eine Incon -49§. 5. Die Redaktion der Reichsverfaſſung.gruenz zwiſchen dem Württembergiſchen und Bayeriſchen Vertrage betreffend das Recht zum Abſchluß von Poſtverträgen mit außer - deutſchen Nachbarſtaaten im Art. 52 Abſ. 3 ausgeglichen worden; nur der Württembergiſche Vertrag erwähnte dieſes Recht, der Bayeriſche nicht; in der Reichsverfaſiung iſt es beiden Staaten gleichmäßig zugeſtanden.

3) Die in dem Baden-Heſſiſchen Schlußprotokoll und in dem Bayeriſchen Vertrage unter Nr. V enthaltene Erklärung, daß be - ſtimmte Rechte einzelner Bundesſtaaten nur mit Zuſtimmung der letzteren abgeändert werden können, iſt in die Verfaſſung ſelbſt als Art. 78 Abſ. 2 aufgenommen worden.

4) Die Uebergangsbeſtimmungen über die Termine, an denen Norddeutſche Bundesgeſetze in den ſüddeutſchen Staaten in Kraft treten ſollten, welche als Art. 80 der Norddeutſchen Bundesverfaſ - ſung angehängt worden waren, ſind aus der Reichsverfaſſung weg - gelaſſen und in das Publikationsgeſetz aufgenommen worden.

5) Endlich enthält die Reichsverfaſſung eine materielle Abänderung der vereinbarten Verfaſſung, indem der durch den Bayriſchen Vertrag Art. II. § 6 geſchaffene Ausſchuß des Bundes - rathes für die auswärtigen Angelegenheiten, außer den Bevoll - mächtigten von Bayern, Sachſen und Württemberg, aus zwei vom Bundesrath alljährlich zu wählenden Bevollmächtigten anderer Bundesſtaaten beſtehen ſoll.

II. Das Publikations-Geſetz.

1) Daſſelbe verfügt in § 1, daß die beigefügte Verfaſſungs - urkunde für das Deutſche Reich an die Stelle der zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und den Großherzogthümern Baden und Heſſen vereinbarten Verfaſſung des Deutſchen Bundes, ſowie der mit den Königreichen Bayern und Württemberg über den Beitritt zu dieſer Verfaſſung geſchloſſenen Verträge vom 23. u. 25. No - vember 1870 tritt.

Damit ſind dieſe Verträge als ſolche nicht aufgehoben oder modifizirt1)So Hänel S. 87 90 und die meiſten Schriftſteller.; dieſelben bilden für alle Ewigkeit die völkerrechtliche Grundlage, auf welcher die Gründung des Reiches erfolgt iſt. Der Eingang der Reichsverfaſſung leiſtet vielmehr ausdrücklichesLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 450§. 5. Die Redaction der Reichsverfaſſung.Zeugniß für dieſe hiſtoriſche völkerrechtliche Grundlage der Reichs - gründung durch Bezugnahme auf den Vertrag, den der Nord - deutſche Bund mit den ſüddeutſchen Staaten geſchloſſen. Ebenſo wenig wird das durch dieſe Verträge begründete Rechtsver - hältniß durch das Publikationsgeſetz tangirt, daſſelbe war vielmehr ſchon am 1. Januar 1871 erloſchen durch vollſtändige gegenſeitige Erfüllung. Schon am 1. Januar 1871 trat an die Stelle des Vertrages die Verfaſſung und zwar diejenige Verfaſ - ſung, welche in den Novemberverträgen vereinbart worden war. Dagegen wird durch das Publikations-Geſetz die formelle Gel - tung dieſer, am 1. Januar 1871 auf Grund der No - vember-Verträge in Kraft getretenen Bundesver - faſſung beſeitigt und bei materieller Aufrechterhaltung ihres Inhalts durch die formelle Geltung der Reichsverfaſſung vom 16. April 1871 erſetzt.

Da das Bundesgeſetzblatt (Nr. 16), welches das Publikations - geſetz enthält, zu Berlin den 20. April 1871 ausgegeben worden iſt, ſo iſt nach Art 2 dieſe Ablöſung der alten (November -) Re - daction durch die neue Redaction im ganzen Reiche am 4. Mai 1871 erfolgt.

Das Inkrafttreten dieſer Verfaſſungs-Redaktion iſt nicht mehr als Vertrags-Erfüllung anzuſehen und beruht nicht auf den vertragsmäßigen Vereinbarungen, ſondern es beruht auf der ge - ſetzgebenden Gewalt des Reiches, wie dieſelbe durch die Verfaſſung vom 1. Januar 1871 begründet worden war, Das Publikations - Geſetz hat die gewöhnliche Eingangsformel der Reichsgeſetze: Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutſcher Kaiſer, König von Preu - ßen ꝛc. verordnen hiermit im Namen des Deutſchen Reiches, nach erfolgter Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichs - tages.

2) Die im Art. 80 der in den November-Verträgen verein - barten Verfaſſung enthaltenen Uebergangsbeſtimmungen über die Einführung der im Norddeutſchen Bunde ergangenen Geſetze in den ſüddeutſchen Staaten ſind durch § 2 des Publikations-Geſetzes in Kraft erhalten worden. Es wird zugleich beigefügt: Die dort bezeichneten Geſetze ſind Reichsgeſetze. Es wird dadurch der Rechtsgrund ihrer Geltung angegeben; ſie gelten nicht als gleich - lautende Landesgeſetze, über deren Einführung die Deutſchen51§. 5. Die Redaction der Reichsverfaſſung.Staaten ſich verſtändigt haben, wie ehemals zur Zeit des früheren Bundes über Wechſel-Ordnung und Handelsgeſetzbuch, ſondern ſie gelten, weil das Reich ſie erlaſſen hat. Daſſelbe gilt auch für das Königreich Bayern, in welchem durch das Reichsgeſetz vom 22. April 1871 (B. -G.-Bl. S. 87) zahlreiche Norddeutſche Bun - desgeſetze als Reichsgeſetze eingeführt worden ſind.

3) Endlich beſtimmt § 3: Die Vereinbarungen in dem zu Verſailles am 15. November 1870 aufgenommenen Protokoll, in der Verhandlung zu Berlin vom 25. November 1870, dem Schluß - protokoll vom 23. November 1870, ſowie unter IV des Vertrages mit Bayern vom 23. November 1870 werden durch dieſes Geſetz nicht berührt. Als Grund, warum dieſe Beſtim - mungen nicht in die Verfaſſung ſelbſt aufgenommen worden ſind, wird in den Motiven1)Reichstag 1871. Druckſachen Nr. 4. angegeben: ihr theils vorübergehender, theils erläuternder, theils adminiſtrativer Charakter; hinzugefügt wird: Ihre fortdauernde Geltung iſt durch § 3 des Einf. Geſ. außer Zweifel geſtellt.

Der § 3 verhält ſich aber dieſen Beſtimmungen gegenüber ganz negativ; er conſtatirt nur, daß das Publikationsgeſetz der Reichsverfaſſung ſie nicht berührt; er ſtattet weder die Geltung der Beſtimmungen mit einem neuen Rechtsgrunde, dem der ge - ſetzlichen Sanctionirung aus, noch verändert er den urſprünglichen Charakter ihrer Feſtſtellung2)Vgl. Hänel Studien I. S. 89.. Soweit die Beſtimmungen der Schlußprotokolle ꝛc. aus ſachlichen oder rechtlichen Gründen un - wirkſam geworden oder ihre Kraft verloren haben, werden ſie durch § 3 des Einf. Geſetzes nicht geſtützt und aufrecht erhalten oder gar wieder hergeſtellt.

III. Das in der beſchriebenen Art zum formellen Abſchluſſe gelangte Verfaſſungswerk des Deutſchen Reiches hat nachträglich folgende Abänderungen erfahren:

  • Art. 28 Abſ. 2 wurde aufgehoben durch Geſ. v. 24. Febr. 1873 (R. -G.-Bl. S. 45)
  • Art. 4 Nr. 9 erhielt einen Zuſatz durch Geſ. v. 3. März 1873 (R. -G.-Bl. S. 47)
4*52§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.
  • Art. 4 Nr. 13 wurde abgeändert durch Geſ. v. 20. Dezember 1873 (R. -G.-Bl. S. 379)

abgeſehen von der Erweiterung des Reichsgebietes durch die Er - werbung von Elſaß-Lothringen, welche noch einer beſonderen Er - örterung bedarf.

§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.

I. Der völkerrechtliche Titel für die Zugehörigkeit Elſaß-Lothringens zum Reiche iſt der Präliminar-Friedens - Vertrag von Verſailles vom 26. Febr 18711)R. -G.-Bl. 1871 S. 215 fg.. Derſelbe iſt ab - geſchloſſen zwiſchen dem Deutſchen Reich und Frankreich. Die Miniſter der drei ſüddeutſchen Staaten, welche neben dem Reichs - kanzler an dem Abſchluß des Vertrages Theil nahmen, werden ſo wie der letztere durch den Zuſatz: représentant l’Empire ger - manique charakteriſirt. Die einzelnen Deutſchen Staaten hatten durch die Reichsgründung, alſo ſeit dem 1. Januar 1871 die Fähigkeit, Friedensverträge zu ſchließen, an das Reich abgegeben2)Der Beitritt der ſüddeutſchen Bevollmächtigten zu dem Vertrage wird in einer Schlußbemerkung zu demſelben damit motivirt, daß die Königreiche Bayern und Württemberg und das Großherzogthum Baden als Verbün - dete Preußens an dem gegenwärtigen Kriege theilgenommen haben und jetzt zum Deutſchen Reiche gehören. . Im Artikel I verzichtet Frankreich auf die daſelbſt angeführten Gebiete zu Gunſten des Deutſchen Reichs (en faveur de l’Em - pire allemand) und es wird eben daſelbſt ausgeſprochen: Das Deutſche Reich wird dieſe Gebiete für immer mit vollem Souveränetäts - und Eigenthumsrechte beſitzen.

Der definitive Friedensvertrag von Frankfurt vom 10. Mai 18713)R. -G.-Bl. 1871 S. 223 fg., welcher zwiſchen dem Deutſchen Kaiſer und der Franzöſiſchen Republik geſchloſſen worden iſt, beſtätigt dieſe Abtretungen mit einer im Art. 1 näher feſtgeſtellten Abwei - chung, der zu Folge einerſeits bei Belfort das bei Frankreich verbleibende, andererſeits bei Thionville das an Deutſchland ab - zutretende Gebiet erweitert wurde. Durch den Zuſatz-Artikel 3 zum Frankfurter Frieden4)R. -G.-Bl. 1871 S. 237. wurde das, an Frankreich zurück -53§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.übertragene Gebiet bei Belfort noch um eine Anzahl von Dör - fern vermehrt.

Auch dieſem Vertrage ſind durch ein in Berlin am 15. Mai 1871 unterzeichnetes Protokoll die Bevollmächtigten der drei ſüd - deutſchen Staaten Namens ihrer Souveraine beigetretreten1)R. -G.-Bl. 1871 S. 238 fg..

Die Ratifikationen des Friedensvertrages ſind, nachdem die Franzöſiſche National-Verſammlung am 18. Mai denſelben geneh - migt hatte, am 20. Mai 1871 zu Frankfurt a / M. ausgetauſcht worden2)R. -G.-Bl. 1871 S. 240..

Eine nachträgliche Abänderung hat der Umfang des an das Deutſche Reich abgetretenen Gebietes erfahren durch den Zuſatz - vertrag von Berlin vom 12. Oktober 1871 Art. 103)R. -G.-Bl. 1871 S. 367. 368. Vgl. auch die von der Grenzregulirungs - Kommiſſion vereinbarten Conventionen vom 24 / 27 und 28 / 31. Auguſt 1872 im Geſetzbl. f. Elſaß-Lothringen 1873 S. 283. 287., in welchem ein Paar Gemeinden an Frankreich zurückgegeben wurden.

II. Staatsrechtlich beruht die Zugehörigkeit von Elſaß und Lothringen zum Deutſchen Reiche auf dem Reichsgeſetz vom 9. Juni 18714)R. -G.-Bl. 1871 S. 212., deſſen erſter Paragraph beſtimmt, daß die von Frankreich abgetretenen Gebiete in der in den vor - ſtehend aufgeführten Verträgen feſtgeſtellten Begrenzung mit dem Deutſchen Reiche für immer vereinigt werden. § 3 deſſelben Geſetzes überträgt die Ausübung der Staatsgewalt in Elſaß und Lothringen dem Kaiſer, der jedoch bis zum Eintritt der Wirkſamkeit der Reichsverfaſſung bei Ausübung der Geſetz - gebung an die Zuſtimmung des Bundesraths und bei der Auf - nahme von Anleihen, durch welche irgend eine Belaſtung des Reichs herbeigeführt wird, auch an die Zuſtimmung des Reichs - tages gebunden wurde.

Die Verfaſſung des Deutſchen Reiches ſollte in Elſaß und Lothringen am 1. Januar 1873 in Wirkſamkeit treten; durch Reichsgeſetz vom 20. Juni 18725)R. -G .. Bl. 1872 S. 208. iſt dieſer Termin auf den 1. Januar 1874 verlegt worden.

54§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.

Das Geſetz vom 9. Juni 1871 § 2 ertheilte aber die Er - mächtigung, daß durch Verordnung des Kaiſers mit Zuſtimmung des Bundesrathes einzelne Theile der Verfaſſung ſchon früher eingeführt werden können und beſtimmte, daß Art. 3 der Reichs - verfaſſung (Indigenat) ſofort in Wirkſamkeit trete.

Auf Grund dieſer Ermächtigung ſind in Elſaß und Lothrin - gen eingeführt worden am 1. Januar 1872:

  • Art. 33 (Einheit des Zollgebiets) durch Verordnung vom 17. Juli 1871
    1)Geſetzbl. f. Elſaß-Lothr. 1871 S. 247.
    1)
  • Abſchnitt VIII, betreffend das Poſt - und Telegraphenweſen, durch Verordnung vom 14. Oktober 1871
    2)ebendaſ. S. 347.
    2)
  • Abſchnitt VII, betreffend das Eiſenbahnweſen, durch Verord - nung vom 11. Dezember 1871
    3)ebendaſ. S. 371.
    3)

am 14. Februar 18724)vgl. Geſ. v. 3. Juli 1871 § 2 (ebendaſ. S. 2). Die Muſterung begann aber erſt im Oktober 1872.:

  • Die Art. 57. 58. 59. 61. 63 65 (Militairweſen) und das Kriegsdienſtgeſetz vom 9. November 1867 durch Verord - nung vom 23. Januar 1872
    5)ebendaſ. 1872 S. 83 fg.
    5).

Das Reichsgeſetz vom 25. Juni 18736)R. -G.-Bl. 1873 S. 161. Geſ. Bl. f. Elſ. -Lothr. S. 131. endlich führte die Reichsverfaſſung als Ganzes vom 1. Januar 1874 ab in Elſaß und Lothringen ein. Eine neue Redaktion der Verfaſſung, in welcher auf das Reichsland Rückſicht genommen wäre, hat nicht ſtattgefunden; es ſind lediglich die beiden Aenderungen, welche die Geſetze vom 24. Februar 1873 und 3. März 1873 an dem Wortlaut der Verfaſſung vorgenommen hatten, bei der Publikation berückſichtigt worden7)Die durch Geſ. v. 20. Dez. 1873 erfolgte Abänderung des Art. 4 Nr. 13 der Verf. konnte natürlich nicht berückſichtigt werden. Eine beſondere Pu - blikation dieſes Geſetzes für Elſaß-Lothringen hat damals nicht ſtattgefunden; die am 20. Dez. 1873 im Reichsgeſetzblatt erfolgte hatte für Elſaß-Lothringen keine ſtaatsrechtliche Wirkung, da Art. 2 der Reichsverf. daſelbſt erſt am 1. Januar 1874 in Geltung trat. So ergab ſich das ſonderbare Reſultat, daß die durch Geſ. v. 20. Dezember 1873 feſtgeſtellte Abänderung des Textes der Reichsverfaſſung in Elſaß-Lothringen keine geſetzliche Kraft erlangt hatte. Erſt.

55§. 6. Die Erwerbung von Elſaß-Lothringen.

Dagegen hat das Einführungsgeſetz ſelbſt die Beſtimmung getroffen, daß dem in Art. 1 bezeichneten Bundesgebiete das Ge - biet des Reichslandes Elſaß-Lothringen hinzutritt, daß in Elſaß - Lothringen 15 Abgeordnete zum Reichstage gewählt werden, daß bis auf Weiteres die in Art. 35 erwähnte Beſteuerung des in - ländiſchen Bieres der inneren Geſetzgebung vorbehalten bleibt und daß bis auf Weiteres die durch Art. 40 aufrecht erhaltenen Be - ſchränkungen, welchen die Erhebung von Kommunal-Abgaben nach Art. 5 des Zollvereinsvertrages unterliegt, auf die in Elſaß-Loth - ringen beſtehenden Beſtimmungen über das Octroi keine Anwen - dung finden.

Schon das Reichsgeſetz vom 9. Juni 1871 § 3 hat die An - ordnung getroffen, daß nach Einführung der Reichsverfaſſung bis zu anderweitiger Regelung durch Reichsgeſetz das Recht der Geſetz - gebung auch in den der Reichsgeſetzgebung in den Bundesſtaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten in Elſaß-Lothringen dem Reiche zuſteht. Dieſe Beſtimmung iſt am 1. Januar 1874 in Geltung getreten mit der Modifikation, daß der Kaiſer unter Zuſtimmung des Bundesrathes, während der Reichstag nicht verſammelt iſt, Verordnungen mit geſetzlicher Kraft erlaſſen kann, welche Nichts enthalten dürfen, was der Verfaſſung oder den in Elſaß-Lothrin - gen geltenden Reichsgeſetzen zuwider iſt. Solche Verordnungen ſind dem Reichstage bei deſſen nächſtem Zuſammentritt zur[Genehmi - gung] vorzulegen und ſie treten außer Kraft, ſobald die Geneh - migung verſagt wird1)Geſ. v. 25. Juni 1873 § 8..

Trotzdem die Reichsverfaſſung durch dieſe Geſetzgebungs-Acte in Elſaß und Lothringen zur vollen und uneingeſchränkten for - mellen Geltung gekommen iſt, ergiebt ſich dennoch bei näherer Betrachtung für das Reichsland eine rechtliche Stellung im Reiche, welche von derjenigen der Bundesſtaaten in den weſentlichſten Beziehungen durchaus verſchieden iſt.

7)durch das Geſ. v. 8. Febr. 1875 (Geſetzbl. f. Elſ. -Lothr. S. 9) iſt das Verſe - hen beſeitigt worden.

56§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.

Zweites Kapitel. Die rechtliche Natur des Reiches.

§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.

Die Aufſuchung der höheren juriſtiſchen Begriffs-Kategorie, welcher das Reich unterzuordnen iſt, fällt zuſammen mit der Frage: Iſt das Reich ein Staat oder iſt es eine Ver - einigung von Staaten zur gemeinſamen Er - füllung ſtaatlicher Aufgaben?

Der begriffliche Gegenſatz, um den es ſich handelt, iſt genau derſelbe, wie auf dem Gebiete des Privatrechtes der Gegenſatz zwiſchen der juriſtiſchen Perſon und der Geſellſchaft. Die Orga - niſation, die Dauer auf unbeſtimmte Zeit, die Fülle der dem Reiche überwieſenen Machtmittel, die Zahl der ihm obliegenden Aufgaben genügen nicht zur Entſcheidung dieſer Frage. Sowie auf dem Gebiete des Privatrechtes in ſehr zahlreichen Fällen die - ſelbe Aufgabe, derſelbe Zweck ſowohl in der Rechtsform der ju - riſtiſchen Perſon als auch in der der Geſellſchaft erfüllt werden kann und ſowie die innere Einrichtung einer Sozietät ſich der Verfaſſung einer juriſtiſchen Perſon überaus nähern und andererſeits die Verfaſſung einer juriſtiſchen Perſon Elemente aus der Sozietät in bedeutendem Umfange in ſich aufnehmen kann, immerhin aber juriſtiſche Perſon und Geſellſchaft begriffliche Gegenſätze ſind, zwiſchen denen eine nicht zu überbrückende Kluft bleibt: ſo laſſen ſich auch ſtaatliche Aufgaben von unermeßlicher Bedeutung nicht nur durch Staaten, ſondern auch durch Verbände von Staaten löſen, ſo kann im Verband von Staaten eine feſte Zuſammenfü - gung der Theilnehmer, im Staat eine weitreichende Sonderberech - tigung der einzelnen Glieder beſtehen. Aber trotz aller thatſächlich vorhandenen Uebergänge und Mittelbildungen iſt niemals ein Staat ein Staatenbund und niemals ein Staatenbund ein Staat; es giebt kein politiſches Gebilde, das beides zugleich iſt, denn das Eine iſt die Negation des Andern1)Sehr treffend äußert ſich bereits Welcker wichtige Urkunden für den Rechtszuſtand der Deutſchen Nation 1844 S. 43 über die logiſche Unmöglich - keit einer Miſchung von Bundesſtaat und Staatenbund. Dagegen wirft Gro -.

57§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.

Der Gegenſatz zwiſchen juriſtiſcher Perſon und Sozietät läßt ſich am Kürzeſten dahin formuliren: Die juriſtiſche Perſon iſt ein Rechtsſubject, die Sozietät ein Rechtsverhältniß. So iſt auch der Staatenbund ein Rechtsverhältniß unter Staaten, alſo kein Rechtsſubject; der Staat dagegen eine organiſirte Ein - heit, eine Perſon, alſo kein Rechtsverhältniß1)Ganz abweichend iſt die Auffaſſung Hänel’s. Er ſagt, Studien I. S. 42: Auch der Staatenbund iſt juriſtiſche Perſon, gleichzeitig aber ſoll er ein vertragsmäßiges Verhältniß der Einzelſtaaten unter einander darſtellen. . Selbſtverſtändlich ſchließt dies nicht aus, daß zwiſchen dem Staat und ſeinen Mit - gliedern Rechtsverhältniſſe beſtehen, wie auch zwiſchen den Korpo - rationen des Privatrechtes und ihren Mitgliedern.

Jeder Staatenverband, mögen demſelben noch ſo weitreichende und wichtige ſtaatliche Aufgaben zugewieſen ſein, iſt ſeiner juri - ſtiſchen Natur nach kein Gebilde des Staatsrechts, ſondern des Völkerrechts; jeder Staat dagegen, mag ſein Gefüge noch ſo locker und der Zuſammenhang ſeiner Glieder noch ſo loſe ſein, ſchließt, ſoweit die ſtaatliche Organiſation reicht, die Anwendung völker - rechtlicher Grundſätze aus. Die rechtliche Grundlage des Staaten - verbandes wie der Sozietät iſt der Vertrag, die rechtliche Grund - lage des Staates wie der Korporation des Privatrechts iſt die Verfaſſung, das Statut.

Das Weſen der juriſtiſchen Perſon beſteht in der ſelbſt - ſtändigen Rechtsfähigkeit, welche ihrerſeits wieder eine ſelbſtſtändige Willensfähigkeit vorausſetzt. Für die juriſtiſche Per - ſon des Privatrechts ſind Rechtsfähigkeit und Willensfähigkeit be - ſchränkt auf das Gebiet des Vermögensrechtes; für den Staat, die juriſtiſche Perſon des öffentlichen Rechtes, erſtreckt ſich Rechts - fähigkeit und Willensfähigkeit auf das Gebiet des öffentlichen Rechts, der Herrſchafts - oder Hoheitsrechte2)Ueber die Perſönlichkeit des Staates als den Ausgangspunkt für die juriſtiſche Behandlung des Staatsrechts iſt auf die vortrefflichen Ausfüh -.

1)tefend Deutſches Staatsrecht § 18. 19 bei ſeiner Charakteriſirung des Nord - deutſchen Bundes beide Begriffe völlig durcheinander. Nach ihm haben die Bundesſtaaten ſich nur verpflichtet, gewiſſe Angelegenheiten des öffentlichen Lebens gemeinſam regeln zu wollen, deſſenungeachtet ſei dieſer Bund ein wirklicher Bundesſtaat mit durchaus ſtaatlichem Charakter; und doch wird dann hinzugefügt: allein es iſt dieſer Bundesſtaat kein wirklicher Staat.

58§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.

Die juriſtiſche Perſönlichkeit des Staates beſteht darin, daß der Staat ſelbſtſtändige Herrſchaftsrechte behufs Durch - führung ſeiner Aufgaben und Pflichten und einen ſelbſtſtändigen Herrſchaftswillen hat. Grade darin liegt das Unterſcheidende aller Arten von Staaten gegenüber allen Arten von Staaten - Verbänden.

Bei dem Staatenverband iſt der Wille des Bundes nur der Ausdruck des gemeinſamen Willens der Mitglieder; und zwar auch dann, wenn die Einrichtung getroffen iſt, daß die Minorität ihren Willen dem der Majorität unterwirft. Dagegen bei dem Staate, auch dem zuſammengeſetzten, iſt der Wille des Staates verſchieden von dem Willen ſeiner Mitglieder; er iſt nicht die Summe ihrer Willen, ſondern ein ihnen gegenüber ſelbſtſtändiger Wille, auch wenn die Mitglieder berufen ſind, an dem Zuſtande - kommen des Staatswillens mitzuwirken.

Bei dem Staatenverbande ſtehen die öffentlichen Herrſchafts - rechte der einzelnen verbundenen Staaten, jedem für ſein Gebiet zu, wenngleich die Einrichtung beſteht, daß dieſe Rechte gemein - ſchaftlich oder übereinſtimmend ausgeübt werden. Die dem Staate, auch dem zuſammengeſetzten, zuſtehenden Hoheitsrechte ſind nicht Rechte ſeiner Mitglieder, die der Staat gleichſam als gemein - ſchaftlicher Verwalter für Alle ausübt, ſondern dieſe Rechte ſtehen dem Staate ſelbſtſtändig zu; die Mitglieder haben keinen Theil an ihnen, auch dann nicht, wenn ſie ſelbſt zur Ausübung dieſer Rechte berufen ſind. Die Rechte des Staates ſind nicht Rechte der Mitglieder, ſondern Rechte über die Mitglieder.

Die correcte Formulirung der Frage nach der juriſtiſchen Natur des Deutſchen Reiches iſt daher die: Iſt das Reich eine juriſtiſche Perſon des öffentlichen Rechts oder iſt es ein Rechtsverhältniß unter den Deutſchen Staaten, welche das Reich bilden oder ſich zum Reich verbunden haben?

Während die überwiegende Mehrzahl der Schriftſteller über das Recht des Norddeutſchen Bundes und des Deutſchen Reiches ſich für die ſtaatliche Natur entſcheidet1)Aufgeführt ſind dieſe Schriftſteller bei G. Meyer Erörterungen S. 81, hat Seydel den2)rungen v. Gerber’s Grundzüge S. 2 u. S. 219 fg. (Beilage II) hinzu - weiſen.59§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.Verſuch unternommen, das Reich als einen Staatenbund aufzu - faſſen und die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung von dieſem Prinzip aus zu erklären.

Dieſer Verſuch iſt um ſo beachtenswerther als die Gründe, welche man für den ſtaatlichen Charakter des Reiches anzuführen pflegt, zum Theil in der That nicht zwingend ſind, ſondern ſich mit dem Charakter des Reiches als Staatenbund vereinigen laſſen.

Seydel geht davon aus, daß der Staat die höchſte, voll - kommene Einigung iſt für die Menſchen, die er umfaßt; daß der ihn beherrſchende Wille ein einheitlicher ſein muß; daß mithin der herkömmliche Begriff des Bundesſtaates, der eine Theilung der Souveränetät vorausſetzt, ein wiſſenſchaftlich unmöglicher ſei, weil er im Widerſpruch ſteht mit dem Weſen des Staates. Wenn daher mehrere bisher ſelbſtſtändige Staaten ſich vereinigen, ſo ſeien nur zwei Fälle denkbar. Entweder die Vereinigung ſei ein Staat, dann hören die vereinigten Staaten auf, es zu ſein; oder die vereinigten Staaten bleiben Staaten, dann könne die Verei - nigung kein Staat, ſondern nur ein Staatenbund ſein1)Seydel Kommentar S. 8.. Mit dieſem Oberſatz ſind wir, wie ſich aus dem folgenden Paragra - phen näher ergeben wird, in einer weſentlichen Beziehung einver - ſtanden.

Seydel2)a. a. O. S. 9 fg. argumentirt nun weiter: Aus der Entſtehungs - geſchichte des Norddeutſchen Bundes und des Reiches ergebe ſich, daß die Staaten, die ſich zu ihm vereinigten, einen Vertrag ſchloſſen zur gemeinſamen Ausübung einzelner beſtimmter Souveränetätsrechte, daß ſie aber nicht ihre eigene ſtaatliche Exi - ſtenz vernichten wollten. Dies werde beſtätigt durch den Wortlaut der Verfaſſung, namentlich durch den Eingang derſelben, der die vertragſchließenden Souveräne aufführt und das Deutſche Reich als einen ewigen Bund bezeichnet und durch die in der Verfaſſung mehrfach wiederkehrende Bezeichnung der Bundesglieder als Staa - ten. Ergiebt ſich hieraus, daß die Glieder des Reiches Staaten geblieben ſind, ſo folge mit Nothwendigkeit, daß das Reich kein Staat, ſondern ein Bündniß von Staaten ſei.

1)und Brie Bundesſtaat I S. 81 fg. Hinzuzufügen iſt noch Koller Verf. des D. R. S 76 ff.

60§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.

Es ſind alſo zwei Gründe, auf welche dieſe Theorie ſich ſtützt; erſtens die Entſtehungsart des Reiches1)In dieſer Hinſicht ſtimmt mit Seydel überein G. Meyer Staatsrechtl. Erörterungen S. 56 ff. und zweitens die verfaſ - ſungsmäßige Anerkennung der Bundesglieder als Staaten.

Die Berufung auf die Entſtehungsgeſchichte des Norddeutſchen Bundes, beziehentl. des Deutſchen Reiches, iſt von Hänel2)Studien zum Deutſchen Staatsrechte I S. 31 fg. 68 fg. in ſo trefflicher Weiſe widerlegt worden, daß ſeinen Ausführungen kaum etwas Weſentliches hinzugefügt werden kann. Aus der That - ſache, daß die Norddeutſchen Staaten durch einen völkerrechtlichen Vertrag ſich gegenſeitig verpflichtet haben, einen Bund zu gründen, folgt ebenſo wenig, daß dieſer Bund ſelbſt einen vertragsmäßigen völkerrechtlichen Charakter habe, wie auf privatrechtlichem Gebiete daraus, daß mehrere Perſonen behufs Gründung einer juriſtiſchen Perſon, z. B. eines Actienvereins, einen Vertrag unter einander abſchließen, die Folgerung gerechtfertigt wäre, daß dieſer Verein ſelbſt ein obligatoriſches Verhältniß der Gründer ſei3)Hänel S. 32 fg. beſonders S. 34.. Die Ent - ſtehungsgeſchichte des Norddeutſchen Bundes läßt, wie oben aus - geführt worden iſt4)Vgl. oben S. 17 ff. 30., eine andere Auffaſſung nicht zu als die, daß durch die Errichtung des Norddeutſchen Bundes der Vertrag vom 18. Auguſt 1866 erfüllt wurde. Damit hörte das vertrags - mäßige Verhältniß auf und die ſtaatsrechtliche Organiſa - tion trat an ſeine Stelle5)Logiſch ungenau iſt die Ausdrucksweiſe v. Rönne’s S. 36: der Vertrag der Deutſchen Staaten hat .... die rechtliche Natur einer paktirten Verfaſſung erhalten, wodurch die Vertragseigenſchaft in die zweite Linie getreten iſt. Der Vertrag kann nicht die Natur einer Ver - faſſung erhalten; der Bund kann nicht in erſter Linie Staatseigenſchaft und in zweiter Linie Vertragseigenſchaft haben. Das vertragsmäßige Verhält - niß (nicht der Vertrag ſelbſt) hat vielmehr durch Erfüllung aufgehört. Vgl. Seydel S. 6.. Wenn Seydel6)a. a. O. S. 5. behauptet, der Bündnißvertrag ſei nicht auf eine einmalige Leiſtung, ſondern auf Begründung immerwährender gegenſeitiger Verpflichtungen gegangen; durch das Zuſtandekommen der Verfaſſung ſei der Ver - trag daher keineswegs vollſtändig erfüllt worden, er habe im Ge - gentheil nun erſt thatſächliche Bedeutung erlangt, ſo hat er61§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.für dieſe Auffaſſung nicht nur keine Gründe beigebracht, ſondern der Wortlaut des Bündnißvertrages vom 16. Auguſt 1866, die Beſchränkung der Dauer des Bündniſſes auf längſtens ein Jahr, die Mitwirkung eines Reichstages bei Feſtſtellung der Verfaſſung, ſtehen ihr entgegen1)Vgl. Hänel S. 69 ff. und oben S. 19. 26..

Auch aus den Vorgängen bei Gründung des Deutſchen Rei - ches iſt Nichts zu entnehmen, was für ein vertragsmäßiges Ver - hältniß der Mitglieder zu einander in das Gewicht fiele. Die November-Verträge begründeten allerdings vertragsmäßige Rechte und Pflichten der Contrahenten; aber der Inhalt derſelben bezog ſich nur auf den Eintritt und die Aufnahme der ſüddeutſchen Staaten in den unter den Norddeutſchen Staaten bereits beſtehen - den Bund. Mit dem erfolgten Eintritt waren dieſe vertragsmä - ßigen Rechte und Pflichten durch Erfüllung erloſchen2)Siehe oben S. 43.. Jeden - falls wurde das für die Norddeutſchen Staaten bereits beſtehende Bundesverhältniß nicht in ſeiner rechtlichen Natur verändert, ſondern nur erweitert; hatte daher der Norddeutſche Bund den Charakter eines Staates, ſo kommt derſelbe auch dem zum Deut - ſchen Reiche erweiterten Bunde zu3)Hänel S. 79 fg.. Endlich wird die Annahme, daß die Abſicht der vertragſchließenden Theile auf die Begründung eines völkerrechtlichen Verhältniſſes von fortdauernd vertragsmä - ßigem Charakter gerichtet war, durch die Thatſache widerlegt, daß die definitive Redaction der Grundſätze, über welche man ſich bei den Verhandlungen über die Aufnahme der ſüddeutſchen Staaten geeinigt hatte, nicht in der Form eines Vertrages, ſondern in der Form eines Verfaſſungs-Geſetzes erfolgte4)Hänel S. 89. Siehe oben S. 49. 50..

Man kann ſich daher auch nicht auf den Eingang der Ver - faſſung berufen, um die Vertragsnatur des Reiches darzuthun. Derſelbe conſtatirt nur, daß die Gründung des Reiches durch den freien ungezwungenen Willen der ſouveränen Staaten, in Folge eines unter ihnen abgeſchloſſenen Vertrages ſtattgefunden hat5)v. Mohl Reichsſtaatsrecht S. 49.. Man darf aber nicht das Rechtsverhältniß, welches zur62§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.Gründung des Reiches geführt hat, identifiziren mit der Inſtitu - tion, welche durch dieſe Gründung geſchaffen worden iſt.

Es bleibt demnach wenn die Berufung auf die Entſtehungs - geſchichte des Reiches zurückgewieſen wird nur das logiſche Argument Seydel’s übrig, daß das Deutſche Reich deshalb kein Staat ſein könne, weil die Mitglieder deſſelben Staaten ſeien. Dieſes Argument enthält eine petitio principii und reduzirt ſich auf einen Wortſtreit um den Ausdruck Staat.

Zuzugeben iſt, daß es eine oberſte und höchſte Gewalt geben muß, die keiner anderen irdiſchen Gewalt unterworfen iſt, die in Wahrheit die potestas suprema, ſouverän und folglich untheilbar iſt. Es folgt allerdings aus dem Begriff der Souveränetät, daß es keine doppelte und keine getheilte Souveränetät giebt1)Siehe den folgenden Paragraphen.. Da nun in der politiſchen und ſtaatsrechtlichen Literatur der Einheits - ſtaat als die einfachſte und regelmäßige Form gewöhnlich den Erörterungen über den Staat zu Grunde gelegt und kurzweg mit dem Staate überhaupt identifizirt wird, ſo iſt es erklärlich, daß man regelmäßig den unabhängigen, iſolirten, alſo ſouveränen Staat in das Auge faßt, um den logiſchen Begriff des Staates zu abſtrahiren und mithin die Souveränetät als ein weſentliches Moment dieſes Begriffes hinſtellt. So wenig man beſtreiten kann, daß in der ſtaatsrechtlichen Theorie dieſe Begriffsbeſtimmung des Staates die faſt ausſchließlich herrſchende iſt, ſo gewiß iſt es doch andererſeits, daß der Sprachgebrauch dieſe doctrinäre Definition vom Staate widerlegt. Zur Zeit des ehemaligen Deutſchen Reiches hat man nicht angeſtanden, die nicht ſouveränen Deutſchen Landes - herrſchaften Staaten zu nennen2)Zahlreiche, leicht zu vermehrende Belege giebt Brie S. 28 fg. (Note 17 26). Für die ältere Zeit iſt auch zu vergleichen Limnäns Jus public. imp. Rom. I, 1, 10. I, 7, 65 sqq. IV, 7 u. a. In der doctrinären Termi - nologie des Reichsrechts wird der Ausdruck status urſprünglich grade im Ge - genſatz zu der ſouveränen Reichsgewalt gebraucht.; die Mitglieder der Amerika - niſchen Union heißen Staaten; Rumänien, Serbien, Tunis, Tri - polis, Aegypten und andere nicht ſouveräne politiſche Gebilde be - zeichnet man als Staaten. Es fehlt auch in der Literatur des Deutſchen Staatsrechts nicht an gewichtigen Stimmen, welche die63§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.Souveränetät nicht zu den weſentlichen Merkmalen des Staats - begriffes zählen1)v. Mohl Encyclop. der Staatswiſſenſch. (2. Aufl.) S. 86: Unrichtig iſt die Forderung der Souveränetät, wenn darunter vollſtändige Unabhängig - keit von äußeren Einflüſſen verſtanden ſein ſoll .... Die tägliche Erfahrung zeigt, daß es politiſche Geſtaltungen giebt, welche in jeder Beziehung die Auf - gabe eines Staates erfüllen und die Rechte eines ſolchen ausüben, aber doch nicht ganz unabhängig von einer außer ihnen ſtehenden Gewalt ſind. Sol - chen Verbindungen iſt die Bezeichnung als Staat niemals verweigert worden. Auch v. Gerber Grundz. S. 22 rechnet die Souveränetät nicht zu den weſentlichen Merkmalen des Staatsbegriffes, trotzdem er in der Regel als ein Vertreter dieſer Anſicht citirt wird. Er ſagt nur: Soll die Staatsgewalt ganz ihrer Idee entſprechen .... ſo muß ſie ſouverän ſein und in der Anm. 5 fügt er erläuternd hinzu: Souveräne - tät iſt nicht ſelbſt Staatsgewalt, ſondern bezeichnet nur eine Eigenſchaft der vollkommenen Staatsgewalt. Er giebt daher die Exiſtenz einer unvoll - kommenen, nicht ſouveränen Staatsgewalt zu. Am beſtimmteſten erklärt ſich G. Meyer, Erörterungen S. 4 fg., gegen das Erforderniß der Souveräne - tät. Vgl. auch v. Pözl im Staatswörterbuch von Bluntſchli und Brater II. S. 285. Hartmann Inſtitutionen des Völkerrechts S. 23..

Wenn mehrere bisher unabhängige Staaten in eine ſolche Verbindung mit einander treten, daß ſie eine höhere Gewalt über ſich haben, ſo hören ſie zwar auf, ſouverän zu ſein, aber ſie brauchen nicht aufzuhören, Staaten zu ſein. Den bisher unabhän - gigen Staaten kann eine ſolche Fülle von Herrſchafts - und Hoheits - rechten, von Aufgaben für die Ordnung des Gemeinweſens und von Machtmitteln zu ihrer Durchführung verbleiben, die neuer - ſchaffene höhere Gewalt kann ſich auf ein ſo geringes Maaß von Herrſchaftsrechten und ſtaatlichen Aufgaben beſchränken, die Glieder können das, was ſie durch ihre Unterordnung unter die höhere Gewalt einbüßen, dadurch, daß ſie an der Ausübung dieſer höheren Gewalt ſelbſt Antheil erlangen, in ſo reichem Maaße erſetzt erhalten, daß es dem allgemeinen Sprachgebrauch und den dem Volke ge - läufigen Anſchauungen vollſtändig entſpricht, dieſe Glieder Staaten zu nennen. Es iſt ganz erklärlich, daß man den bisher ſouverän geweſenen Staaten, welche thatſächlich einen großen Theil ihrer Herrſchaftsrechte und ihrer Aufgaben behalten und keineswegs ihre politiſche Exiſtenz einbüßen, die Bezeichnung Staaten läßt und für die neu geſchaffene höhere Gewalt ein anderes Wort, wie Bund oder Reich, anwendet, anſtatt daß man der Schuldefinition64§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.vom Staate zu Liebe für die bisherigen Staaten dieſen Ausdruck außer Anwendung ſetzt1)Auch die Frankfurter Reichsverf., die doch unzweifelhaft die Cen - tralgewalt mit der Souveränetät ausſtatten wollte, ſpricht von den einzelnen Deutſchen Staaten z. B. § 5. 12. 13. 17. 186 und oft.. Und ſie heißen nicht bloß Staaten, ſie ſind es auch; denn ſie ſind nicht zu bloßen Verwaltungs - Diſtricten des Reiches herabgeſunken, ſondern ſelbſtſtändig berechtigte Subjecte höchſt umfaſſender und wichtiger öffentlicher Hoheitsrechte geblieben.

Es iſt mithin kein logiſcher Widerſpruch, daß ſowohl das Reich als auch ſeine Glieder ſtaatlichen Charakter haben, ſofern man nur nicht den Sinn unterſchiebt, daß beide gleichzeitig ſou - verän ſeien; man kann daher daraus, daß die Glieder des Reiches Staaten ſind und verfaſſungsmäßig als ſolche bezeichnet werden, nicht die Schlußfolgerung ziehen, daß das Reich kein ſtaatliches Weſen ſein könne.

Wenden wir uns nach dieſer Widerlegung entgegenſtehender Anſichten der poſitiven Beantwortung der Frage zu, ſo kömmt es gemäß unſerer obenſtehenden Ausführung hierbei darauf an zu er - mitteln, ob das Reich ſelbſtſtändige Rechte den Einzelſtaaten gegenüber hat. Entſcheidend ſind nicht Umfang nnd Wichtigkeit der vom Reiche gehandhabten Befugniſſe, ſondern die rechtliche Unab - hängigkeit der dem Reiche zuſtehenden Willens - und Rechtsſphäre von derjenigen der Einzelſtaaten. Dieſe Selbſtſtändigkeit ergiebt fich aus Folgendem:

1. Das Reich hat zur Herſtellung ſeines Willens eigene Or - gane, welche nicht eine Vereinigung der Willensorgane der Einzelſtaaten und ebenſowenig gemeinſchaftliche Organe der Regierungen und Bevölkerungen der Einzelſtaaten ſind2)Der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 nennt im Art. 7 den Bundesrath des Zollvereins das gemeinſchaftliche Organ der Regierungen und das Zollparlament die gemeinſchaftliche Vertretung der Bevölkerungen. In dem entſprechenden Art. 5 der Nordd. Bundesverf. und der jetzigen Reichsverf. fehlen dieſe Charakteriſirungen, welche den Zweck hatten, die vertragsmäßige Natur des Zollvereins im Gegenſatz zu einem ſtaatlichen Organismus her - vorzuheben.. Ein Beſchluß des Bundesraths kann nicht vertreten oder erſetzt werden durch einen Austauſch von übereinſtimmenden Erklärungen ſämmt - licher Einzelſtaats-Regierungen; ein Beſchluß des Reichstages kann65§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.nicht vertreten oder erſetzt werden durch übereinſtimmende Beſchlüſſe ſämmtlicher Landtage der Einzelſtaaten. Ein in allen deutſchen Staaten mit gleichem Wortlaut erlaſſenes Geſetz wird dadurch, daß dieſe Staaten untereinander übereinkommen, nur nach gegenſeitiger Verſtändigung und allſeitiger Zuſtimmung dieſes Geſetz zu verän - dern oder aufzuheben, noch kein Reichsgeſetz und verlangt nicht die Kraft eines ſolchen; es ſteht auf gleicher Stufe mit den Landes - geſetzen und kann durch ein Reichsgeſetz, welches nur mit der ver - faſſungsmäßigen Bundesraths-Majorität beſchloſſen worden iſt, in allen Staaten beſeitigt werden. Andererſeits kann ein Reichs - geſetz dadurch nicht weggeſchafft werden, daß ſämmtliche Staaten ſeine Aufhebung beſchließen, falls der Reichstag in die Aufhebung nicht einwilligt.

Bundesrath und Reichstag ſind daher nicht Apparate, um den Sonderwillen der Einzelſtaaten zu ſammeln und das Reſultat dieſer zuſammengezählten Einzelwillen herzuſtellen, ſondern ſie ſind Organe für die Herſtellung eines ſelbſtſtändigen, einheitlichen Willens, der in Contraſt treten kann ſelbſt mit den überein - ſtimmenden Willens-Entſchlüſſen ſämmtlicher Ein - zelſtaaten. Das iſt der entſcheidende Punkt; an ihm allein wird es völlig klar, daß der Wille des Reiches nicht die Summe der Willen der Einzelſtaaten, auch nicht der Majorität derſelben, iſt.

2. Das Reich hat zur Durchführung ſeiner Wil - lensentſchlüſſe ſeine eigenen Organe, welche nicht gemeinſchaft - liche Organe der verbündeten Einzelſtaaten ſind. Der Reichs - kanzler iſt weder dem Souverän noch dem Landtag irgend eines Einzelſtaates verantwortlich, ſondern nur dem Kaiſer und Bundesrath und dem Reichstage1)Siehe unten §. 33. Die Reichsbeamten ſind nicht Beamte der verbündeten Regierungen2)Während z. B. im Zollverein die Vereinsbevollmächtigten und Kon - trolleure Beamte der einzelnen Vereinsſtaaten waren, die nur für gemein - ſame Zwecke vom Präſidium verwendet wurden. Vgl. Zollvereinsvertr. vom 8. Juli 1867. Schlußprotokoll Ziff. 15 Abſ. 1 zum Art. 20.; ſie werden nicht in ihrem Namen ernannt und für ſie vereidigt, ſondern ſie werden vom Kaiſer er - nannt und für das Reich vereidigt; ſie ſind keinerlei Disciplinar - gewalt der Landesregierungen, ſondern ausſchließlich der Discipli -Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 566§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.nargewalt der Reichsregierung unterworfen1)Reichsbeamtengeſetz § 80 ff.; ſie haben keinerlei Anſprüche auf Gehalt und Penſionsbezüge gegen die Kaſſen der Einzelſtaaten, ſondern allein gegen die Reichskaſſe2)Reichsbeamtengeſetz § 151.. Der Reichs - dienſt wird nicht als eine Abart des Staatsdienſtes, ſondern als der Gegenſatz deſſelben bezeichnet3)Reichsbeamtengeſetz § 30. 46. 52 Z. 3. 57 Z. 2 u. a.. Das Reichs-Oberhan - delsgericht und das Bundesamt für das Heimath - weſen erlaſſen ihre Entſcheidungen Im Namen des Deutſchen Reichs, nicht im Namen der verbündeten deutſchen Souveräne4)Wäre das Reichs-Oberhandelsgericht ein gemeinſchaftliches Gericht der Deutſchen Staaten, wie das Ober-Appell. -Gericht zu Jena es für die thürin - giſchen Staaten iſt, ſo müßte es in jeder Sache im Namen desjenigen Sou - veräns erkennen, deſſen Gerichte in den Vorinſtanzen erkannt haben..

3. Das Reich hat Hoheitsrechte, welche ihrem Inhalt nach nicht Hoheitsrechte der Einzelſtaaten ſein können, die alſo auch nicht gemeinſchaftlich ausgeübt werden, ſondern welche ſelbſtſtändige Rechte des Reiches über die Einzelſtaaten ſind.

Bei der überwiegenden Mehrzahl der dem deutſchen Reiche zuſtehenden Befugniſſe läßt ſich zwar theoretiſch die Anſchauung durchführen, daß dieſelben de jure den einzelnen Staaten für ihre Gebiete zuſtehen, dem Reiche nur die gemeinſame Ausübung über - tragen ſei. Es fehlt aber an jedem formellen Grunde in dem Wortlaut der Reichsverfaſſung5)Art. 2 und Art. 5 ſprechen zwar von der Ausübung der Ge - ſetzgebung, aber nur um die Wirkungen und die Art des Zuſtandekommens der Reichsgeſetze zu beſtimmen. Nach Art. 4 u. 35 hat das Reich die Geſetz - gebung, nach Art. 50 gehört dem Kaiſer die obere Leitung der Poſt - und Telegraphen-Verwaltung an. Vgl. Hänel Studien I. S. 52. und an jedem materiellen Grunde in den Einrichtungen des Reiches, um eine ſolche künſtliche Unter - ſcheidung zwiſchen dem Recht ſelbſt und der Befugniß zur Aus - übung deſſelben zu rechtfertigen. Wären die dem Reiche zuſtehen - den Machtvollkommenheiten nicht Befugniſſe ex jure proprio, ſon - dern ihm nur delegirt, ſo müßten ſie doch durch die eigentlich Berechtigten irgend wie rechtlich vinkulirt, bedingt oder beſchränkt ſein; dies iſt aber nicht der Fall und es erweiſt ſich daher die Unterſcheidung zwiſchen dem Recht ſelbſt und der Befugniß zur Ausübung deſſelben nicht nur als eine künſtliche, ſondern auch67§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.zugleich als eine willkührliche1)Hänel a. a. O.. Beſteht aber der Zweck jeder juriſtiſchen Conſtruktion darin, ein einheitliches Prinzip für die rechtliche Beurtheilung eines Inbegriffs von Thatbeſtänden und Rechtsbeziehungen zu finden, ſo erweiſt ſich jene künſtliche und willkührliche Conſtruktion als unmöglich, wenn unter den dem Reich zuſtehenden Gerechtſamen auch ſolche ſich befinden, welche nicht als die Ausübung fremder Rechte aufgefaßt werden können. Solche Rechte hat das Reich in der That und zwar ſowohl gegen die Angehörigen des Reiches als an dem Gebiet. Es wird unten näher ausgeführt werden, daß es Unterthanenpflichten gegen das Reich giebt, ſowohl zum ſtaatsbürgerlichen Gehorſam als zur ſtaats - bürgerlichen Treue, die nach Inhalt und Weſen verſchieden ſind von den Unterthanenpflichten gegen die Einzelſtaaten, und daß dem Reiche am Bundesgebiet als Einheit eine Gebietshoheit zukömmt, welche ſich ſehr beſtimmt unterſcheiden läßt von der Staatsgewalt des Einzelſtaates an ſeinem Landesgebiete.

4. Endlich fällt für die ſelbſtſtändige Willens - und Rechts - fähigkeit, alſo für die Perſönlichkeit des Reiches der Umſtand ins Gewicht, daß daſſelbe durch einen Majoritätsbeſchluß und in der Form eines Geſetzes ſeine eigene Zuſtändigkeit nach Art. 78 Abſ. 1. erweitern kann2)Vgl. über dieſe Befugniß des Reiches, die demſelben eine Zeit lang beſtritten worden iſt, unten bei der Lehre von der Reichsgeſetzgebung..

Schon die im Art. 4 dem Reiche zugewieſene Competenz iſt eine ſo umfaſſende, daß es faſt keine Seite des ſtaatlichen Lebens giebt, die nicht von ihr direct oder indirect betroffen wird. Für die Annahme eines bloß vertragsmäßigen Verhältnißes der Deut - ſchen Staaten zur gemeinſamen Ausübung gewiſſer Hoheitsrechte iſt ſchon dieſe Kompetenz von zu unbeſtimmter Begrenzung, von zu ungemeſſener Dehnbarkeit. Daß hier der Einzelſtaat auf ſeine individuelle Einwilligung verzichtet und die Entſchließung der Majorität von Bundesrath und Reichstag als die ihn bindende Norm anerkennt, iſt bereits die Schaffung einer höheren, über dem Willen des Einzelſtaates ſtehenden Willensmacht. Die Ge - ſammtheit der im Art. 4 dem Reiche zugewieſenen Angelegenheiten läßt ſich nicht mehr als eine Ausleſe einzelner Staatsaufgaben5*68§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.und Hoheitsrechte auffaſſen, wie dies vom Zollverein, Poſtverein u. ſ. w. mit Recht geſagt werden konnte, ſondern ſie ergreift den Staat in allen Theilen ſeiner Lebensthätigkeit. Wenn bei einem Sozietätsverhältniß das Majoritätsprinzip anerkannt iſt, was immer nur als Ausnahme gelten kann, ſo iſt doch vertragsmäßig der Geltungsbereich des Majoritätswillens auf ſo genau beſtimmte Gegenſtände oder Zwecke beſchränkt, daß alle denkbaren Beſchlüſſe der Majorität nur als Oscillationen innerhalb einer, von allen Geſellſchaftern vertragsmäßig, d. h. einſtimmig feſtgeſtellten Linie erſcheinen. Im Vergleiche zu den allgemeinen Lebenszwecken und Lebensaufgaben der Geſellſchafter ſind die Zwecke und Aufgaben der Sozietät untergeordnete oder wenigſtens feſtbeſtimmte und aus - geſonderte; und innerhalb der vertragsmäßig feſtſtehenden und nur mit Einſtimmigkeit abzuändernden Grundlagen der Sozietät, iſt das den Majoritätsbeſchlüſſen überlaſſene Gebiet ein ſo geringfü - giges, daß jeder Geſellſchafter durch den Abſchluß des Geſellſchafts - vertrages es für nicht erheblich erklärt, wenn er mit ſeiner Anſicht innerhalb dieſer Grenzen einmal nicht die Majorität erlangen ſollte. Ein naheliegendes Beiſpiel eines öffentlich rechtlichen Sozietätsver - hältniſſes bietet auch in dieſer Beziehung der Zollverein, bei wel - chem ſeit 1867 das Majoritätsprinzip zwar anerkannt war, der aber nicht nur auf eine Thätigkeit beſchränkt war, die verſchwin - dend klein erſcheint gegen die Geſammtheit der Lebensaufgaben eines Staates, ſondern der auch innerhalb dieſer Thätigkeit die Majori - tät nur in den durch den Art. 3 und 7 des Vertrages feſtgezogenen Grenzen entſcheiden ließ.

Wenn dagegen Art. 4 der Reichsverfaſſung allein in Nr. 13 das geſammte Civilrecht, Strafrecht und Prozeßrecht der Geſetzge - bung des Reiches unterwirft, ſo iſt damit ſchon dem Reiche eine Competenz zugewieſen, welche jede Lebensaufgabe, jeden Zweig der Thätigkeit, jedes Recht und jede Pflicht aller Einzelſtaaten treffen kann. Jeder Staat hat ſchon jetzt, bei dem im Art. 4 normirten Umfange der Reichskompetenz nicht einzelne, feſtbeſtimmte, oder gar verhälnißmäßig untergeordnete Angelegenheiten, ſondern ſich ſelbſt in ſeiner Totalität, in dem innerſten Kern ſeines Weſens, ſeiner Aufgaben, ſeiner Zwecke einer Beſchlußfaſſung unterworfen, die gegen ſeinen Willen ausfallen kann. Kein Staat kann er - meſſen, welche Wege ihn die Reichsgeſetzgebung lediglich unter69§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.Beſchränkung auf die im Art. 4 begränzte Kompetenz in ſeinen wichtigſten wirthſchaftlichen und politiſchen Lebensfunktionen führen kann. Bei einer ſo ausgedehnten Kompetenz das Prinzip der Ma - joritätsbeſchlüſſe anerkennen, heißt nicht, ſich mit Gleichberechtigten zur gemeinſamen Durchführung beſtimmter Zwecke und Willensent - ſchlüſſe vergeſellſchaften, ſondern ſich dem Willen der Geſammtheit als einem höheren Willen unterwerfen.

Wollte man aber auch darauf allein Gewicht legen, daß die Kompetenz überhaupt begrenzt iſt, nicht auf die Art, wie ſie be - grenzt iſt, wollte man die Fülle der im Art. 4 aufgeführten An - gelegenheiten noch als einzelne und beſtimmte Hoheitsrechte gelten laſſen, ſo macht doch Art. 78 auch dieſen Standpunkt unhaltbar. Denn nach Art 78 iſt, ſoweit nicht der zweite Abſatz hinſichtlich der Individualrechte einzelner Staaten eine für die Beurtheilung des Ganzen unerhebliche Schranke zieht, dem Reich die rechtliche Befugniß gegeben, durch Majoritätsbeſchluß ſeine Kompetenz ſchran - kenlos auszudehnen, ſo weit nur der Bereich ſeiner phyſiſchen Macht und ſeines vernunftgemäßen Wollens reicht. Daß die dazu erforderliche Majorität eine verſtärkte iſt, wirkt politiſch als eine ſtarke Sicherheit, rechtlich kommt es nur darauf an, daß nicht Einſtimmigkeit der Bundesſtaaten erfordert iſt. Daß der einzelne Staat in der Minderheit bleiben kann, daß er verfaſſungsmäßig verpflichtet iſt, die Einwirkung des Reiches auf ſolche Hoheitsrechte zu dulden, die bei der Gründung des Reiches demſelben nicht zu - gewieſen worden ſind, ſelbſt wenn er dieſer Ausdehnung ſeinen Widerſpruch entgegenſetzt, das macht ihn zum Object eines höheren Willens. Der Einfluß, den der Einzelſtaat auf das Zuſtande - kommen und die Durchführung dieſes höheren Willens hat, kann politiſch nicht nur ein Erſatz für die verlorene Unabhängigkeit, ſondern ein hoher Gewinn ſein; für die logiſch juriſtiſche Betrach - tung iſt entſcheidend, daß der Einzelſtaat in der Minorität bleiben kann, daß ſein Wille nicht der höchſte, letzte, endgültige iſt.

Nicht nur materiell iſt eine Kompetenz-Erweiterung des Reiches von dem Erforderniß der Einſtimmigkeit frei, auch formell erfolgt dieſelbe nicht durch einen Vertrag, ſondern durch ein Geſetz, nicht in der Geſtalt der Bethätigung oder Ausübung des Willens der Einzelſtaaten, ſondern in der Geſtalt einer ſie bindenden Rechts - norm, der Bethätigung eines über ihnen ſtehenden Herrſchafts -70§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.willens. Es iſt eine unabweisbare Konſequenz aus Art. 78, daß die geſammte Rechtsſphäre der Einzelſtaaten zur Dispoſition des verfaſſungsmäßig erklärten Willens des Reiches ſteht.

Nimmt man zu dem Allen noch hinzu, daß die Zugehörigkeit zum Reiche von keinem einzelnen Staate willkürlich gelöſt werden darf, daß es keine rechtliche Möglichkeit des Ausſcheidens aus dem Reiche giebt und es mithin nicht von dem Willen des Einzelſtaates abhängig iſt, ob er dieſer dem Reiche übertragenen Machtfülle unterworfen bleiben will oder nicht, ſo muß man den Beweis als erbracht anerkennen, daß das Reich ein ſelbſtſtändiges Willens - und Rechtsſubject, eine ſtaatsrechtliche Perſon iſt. Und da nach dem Eingange der Verfaſſung das Reich gegründet iſt zum Schutze des Bundesgebiets und des innerhalb deſ - ſelben gültigen Rechts, ſowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutſchen Volkes, da dem Reiche daher eine Willens - und Handlungsſphäre von ſolchem Umfange zuge - wieſen iſt, wie er überhaupt nur möglich iſt für die Willens - und Handlungsſphäre eines Staates, da die Bethätigung dieſes Wollens und Handelns auf ein beſtimmtes Gebiet und eine beſtimmte Be - völkerung ſich erſtreckt, da ſie rechtlich normirt und geordnet iſt, ſo entſpricht das Reich allen begrifflichen Erforderniſſen und Merk - malen eines Staates.

§ 8. Der Begriff des Bundesſtaates.

Im einfachen Staate ſind Land und Leute unmittelbar der Herrſchaft, den Hoheitsrechten des Staates unterworfen, die Staatsgewalt richtet ſich direct gegen das dem Staate zugehörige Gebiet und die auf demſelben anſäſſigen Bewohner. Mitglieder des Staates ſind die einzelnen Individuen, und als ſolche ſind ſie das Object der dem Staate zuſtehenden öffentlichen Rechte (Un - terthanen).

Der zuſammengeſetzte Staat unterſcheidet ſich hievon dadurch, daß eine doppelte (oder mehrfache) Gliederung ſtattfindet. Land und Leute ſind zunächſt einer Unter-Staatsgewalt unterworfen und die Staaten einer Ober-Staatsgewalt, welche wir mit dem Ausdruck Reichsgewalt bezeichnen. Das directe, unmittelbare Ob - ject der in der Reichsgewalt enthaltenen Herrſchaftsrechte ſind die Staaten; die Staaten als Einheiten, als juriſtiſche Perſonen71§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.des öffentlichen Rechts ſind die Mitglieder, die Unterthanen des Reiches. Die Gebiete der Gliedſtaaten ſind mittelbar Reichsgebiet, die Bürger der Gliedſtaaten ſind mittelbar Reichsunterthanen. Das Weſen des Reiches beſteht in der Mediatiſirung der Staaten, nicht in ihrer Unterdrückung oder Auflöſung; der Gliedſtaat iſt nach Unten Herr, nach Oben Unterthan.

Es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß die Reichsgewalt in einzel - nen Beziehungen ihre Hoheitsrechte direct gegen das Reichsgebiet oder gegen die einzelnen Angehörigen des Reichs ausübt; daß ſie durch die Einzelſtaatsgewalt hindurch unmittelbar auf das natür - liche Subſtrat jedes ſtaatlichen Gebildes, Land und Leute, einwirkt. Hinſichtlich beſtimmter Bethätigungen der Reichsgewalt können die Einzelſtaaten nicht blos mediatiſirt, ſondern gänzlich außer Func - tion geſetzt ſein und für dieſe Hoheitsrechte des Reiches ſind dann nicht die Staaten, ſondern die Bürger und das Reichsgebiet die unmittelbaren Objecte.

Andererſeits iſt es ebenſo wenig erforderlich, daß die Staats - gewalt der Einzelſtaaten in allen Beziehungen mediatiſirt iſt, die Reichsgewalt auf allen Gebieten des ſtaatlichen Lebens Herrſchafts - rechte entfaltet. Es kann den Gliedſtaaten ein Kreis von Aufga - ben verbleiben, von welchem ſich das Reich in Folge bewußter und gewollter Selbſtbeſchränkung fern hält und dieſen Aufgaben entſprechend kann den Gliedſtaaten ein Inbegriff von Hoheits - rechten zuſtehen, hinſichtlich deſſen ſie keine höhere ſtaatliche Ge - walt über ſich haben, hinſichtlich deſſen ihre Mediatiſirung that - ſächlich nicht durchgeführt iſt.

Das Weſen des zuſammengeſetzten Staates wird dadurch aber nicht verändert, daß ſein Begriff nicht ſchablonenmäßig verwirk - licht wird. Das weſentliche Merkmal des Begriffes beſteht darin, daß zwei (oder mehrere) Staatsgewalten übereinander auf - gebaut ſind, ſo daß die Reichsgewalt Staaten zu Unterthanen hat. Man kann daher den zuſammengeſetzten Staat treffend Staatenſtaat nennen.

Nicht jeder zuſammengeſetzte Staat iſt Bundes - ſtaat. Die Reichsgewalt kann nämlich entweder von der Staats - gewalt der Gliedſtaaten losgelöſt ſein, ſo daß die Gliedſtaaten einem von ihnen oder einem Dritten unterworfen ſind. Dies iſt der Fall bei der Unterordnung ſogen. Vaſſallenſtaaten unter einen72§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.Lehnsherrn1)Nach v. Mohl Reichsſtaatsrecht S. 43. 44 beſteht eine derartige Ver - faſſung in Japan.. Ein Beiſpiel giebt das alte Deutſche Reich, inſo - fern man die Landesherren als Träger der Territorial-Staatsge - walt, den Kaiſer als Träger der Reichsgewalt gelten laſſen will. Auf eine ſolche Staatsform wendet man die Bezeichnung Bundes - ſtaat nicht an; die Staaten ſind nicht mit einander als prinzi - piell gleichberechtigte verbunden, ſondern ſie ſtehen zu einem Su - zerain im Verhältniß der Unterordnung1)Vgl. über den Gegenſatz des Bundesverhältniſſes und des Suzeräne - tätsverhältniſſes Heffter, Europ. Völkerr. § 19. 20. Meyer, Erörter. S. 11.. Die Reichsgewalt kann aber auch der Geſammtheit der Gliedſtaaten, die letztere als begriffliche Einheit gedacht, zu ſtehen. Die Träger der Landes - Staatsgewalt bilden dann zuſammengenommen die juriſtiſche Per - ſon des öffentlichen Rechts, welche das Subject der, unter dem Namen Reichsgewalt zuſammengefaßten, Hoheits - oder Herrſchafts - rechte iſt. Das nennt man einen Bundesſtaat. Die einzelnen Gliedſtaaten ſind nicht in dem Sinne mediatiſirt, daß ſie einem von ihnen oder einem Fremden unterworfen ſind, ſon - dern ſie ſind vereinigt zur Herſtellung eines Gemeinweſens höherer Ordnung. Sie ſind nicht einem, von ihnen verſchiedenen phyſiſchen Herrn, ſondern einer ideellen Perſon, deren Subſtrat ſie ſelbſt ſind, ſtaatlich untergeordnet. So wie in der einfachen Demokratie jeder Bürger Unterthan, d. h. Object der Staatsgewalt, und doch zugleich mit betheiligt an der Sou - veränetät, alſo Subject der Staatsgewalt iſt, ſo iſt in dem Bun - desſtaat jeder Einzelſtaat für ſich betrachtet Object der Reichsge - walt, als Mitglied der juriſtiſchen Perſon des Bundesſtaates be - trachtet, antheilsmäßig berechtigtes Subject der Reichsgewalt. Der Antheil iſt nicht nach Art der Sozietät oder des Miteigenthums des Privatrechts Sonderrecht der Gliedſtaaten, die Hoheits - rechte des Reiches ſtehen nicht pro diviso oder pro indiviso den Einzelſtaaten zu, ſondern der Antheil der Einzelſtaaten beſteht lediglich in der Mitgliedſchaft am Reich und in dem hierauf beruhenden Recht, an dem Zuſtandekommen und der Bethätigung des Willens des Reiches Theil zu nehmen und mitzuwirken.

Das iſt der juriſtiſche Begriff des Bundesſtaates, wie er in73§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.der Verfaſſung des Deutſchen Reiches ſeine Verwirklichung gefun - den hat; von dieſem Prinzip aus iſt das ſtaatsrechtliche Ver - hältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten einheitlich nach logiſchen Regeln zu erklären und zu entwickeln.

Der hier gegebene Begriff des Bundesſtaates iſt ſehr abwei - chend von der in der Theorie herrſchenden Definition. Die Ge - genſätze beſtehen in folgenden Punkten:

1) Nach der von Waitz aufgeſtellten Begriffsbeſtimmung, die bis in die neueſte Zeit die faſt ausſchließliche und unbeſtrittene Herrſchaft behauptete1)Ueber die Dogmengeſchichte des Bundesſtaatsbegriffes vgl. Brie der Bundesſtaat I. Abtheilung. Leipzig 1874., beſteht das Weſen des Bundesſtaates in der Theilung der Souveränetät. Auf gewiſſen Gebieten des ſtaatlichen Lebens ſei der Geſammtſtaat, auf gewiſſen anderen Gebieten der Einzelſtaat ſouverän; Geſammtſtaat ſowohl wie Einzelſtaat ſeien wirkliche Staaten und es ſei für jeden Staat das erſte Erforderniß, daß er ſelbſtändig ſei, unabhängig von jeder ihm ſelbſt fremden Gewalt. Nur da iſt ein Bundesſtaat vor - handen, wo die Souveränetät nicht dem einen und nicht dem andern ſondern beiden, dem Geſammtſtaat (der Centralgewalt) und dem Einzelſtaat (der Einzelſtaatsgewalt) jedem innerhalb ſeiner Sphäre zuſteht. (Waitz Polit. S. 166.) Verſteht man unter der Souveränetät im ſtaatsrechtlichen Sinne aber wie dies allge - mein geſchieht die oberſte, höchſte, nur ſich ſelbſt beſtimmende Macht, ſo ſchließt dieſer Begriff das Merkmal der Unbeſchränktheit logiſch ein und folglich auch das Merkmal der Untheilbarkeit, denn eine getheilte Souveränetät wäre eine beſchränkte Souveränetät, eine halbe Souveränetät2)v. Mohl Encycl. (2. Aufl.) S. 367 ſagt zwar: Es beſteht für die Gliedſtaaten keine beſchränkte, ſondern eine getheilte Souveräne - tät, aber er ſagt nicht, wie man ſich eine Theilung der Souveränetät ohne Beſchränkung denken könne. Waitz S. 166 ſagt: Nur der Umfang nicht der Inhalt der Souveränetät iſt beſchränkt; aber er ſagt nicht, wodurch ſich eine Beſchränkung des Umfangs von einer Beſchränkung des Inhalts un - terſcheide; eine Souveränetät von beſchränktem Umfang hat doch auch einen beſchränkten Inhalt., die nicht, wie Heffter Völkerr. S. 19 ſagt beinahe ein Widerſpruch, ſondern eine vollkommene con - tradictio in adjecto iſt. Bei allen Mängeln, welche den Ausfüh - rungen Seydel’s anhaften, iſt es als ein Verdienſt ſeiner Ab - handlung in der Zeitſchrift für die geſammten Staatswiſſenſchaften74§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.Bd. 28 und der Einleitung zu ſeinem Commentar der Reichsverf. hervorzuheben, daß er gegen die Theilbarkeit der Souveränetät ſich mit Entſchiedenheit erklärt und auf den Widerſpruch hingewieſen hat, der in faſt allen neueren Darſtellungen des Staatsrechts ſich findet, daß einerſeits die Einheit und Untheilbarkeit als zum Weſen der Staatsgewalt und andererſeits die Theilung der Staatsgewalt als zum Weſen des Bundesſtaats gehörig bezeichnet wird. Auch Held1)Verf. des Deutſchen Reichs. Leipzig 1872 S. 19. 22 ff. Vgl. Held Syſtem des Verfaſſungsrechtes I. 392 fg. und dazu Brie 145. erklärt eine Theilung der Souveränetät nach Inhalt und Innehabung für eine abſolute Unmöglichkeit. Denn ſchon der Verſuch dazu müßte die Folge haben, daß jeder Theil und ſein Inhaber ſich in jedem Falle einer Colliſion mit einem andern Theil und deſſen Inhaber als ſolchem, entweder über dieſen ſtellte und deſſen Souveränetät aufhöbe, oder unter denſelben ge - riethe und ſonach ſeine eigene Souveränetät verlöre.

Es iſt in der That eine Chimäre, die ſtaatlichen Aufgaben dergeſtalt in zwei Theile zerlegen zu wollen, daß auf jedem dieſer beiden Theile eine geſonderte Staatsgewalt unabhängig von der andern herrſche. Das Geſammtleben der Nation läßt ſich ſo wenig auseinanderreißen, wie das Leben des Menſchen; alle Aufgaben und Zwecke des Staates und demgemäß alle Einrichtungen und Herrſchaftsrechte des Staates ſtehen in Wechſelwirkung und be - ſtimmen ſich gegenſeitig. Keine Seite des ſtaatlichen Lebens läßt ſich iſoliren und ohne Rückſicht auf die geſammte Ordnung des Staates für ſich verfolgen. Es erhebt ſich daher ſofort die Frage, ob die Einzelſtaatsgewalt bei der Durchführung der ihr verbliebe - nen ſtaatlichen Aufgaben ſich innerhalb der von der Geſammt - ſtaatsgewalt aufgeſtellten Normen halten muß, oder ob um - gekehrt die in den Einzelſtaaten beſtehenden Normen eine Schranke bilden für die Ausübung der Centralſtaatsgewalt. Findet die Einzelſtaatsgewalt an den von der Centralgewalt aufgeſtellten Normen eine Schranke, welche ihr von Außen, von einem ihr frem - den Willen geſetzt iſt, ſo iſt damit ihre Souveränetät verneint; ſie iſt dann auch auf dem ihr verbliebenen Felde ſtaatlicher Thä - tigkeit nicht mehr ſouverän, da ſie auch auf dieſem Gebiete un - mittelbar oder mittelbar die Einwirkungen der Centralgewalt ver - ſpürt und ſich ihnen zu fügen, rechtlich verbunden iſt2)Sehr gut äußert ſich darüber v. Held 163..

75§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.

Ebenſo iſt es eine Chimäre, die Competenz der Geſammt - ſtaatsgewalt in der Art von der Competenz der Einzelſtaatsgewalt abgränzen zu wollen, daß kein Gebiet übrig bleibt, für welches es zweifelhaft iſt, welcher Staatsgewalt die Competenz zuſteht, und daß die Abgränzung für alle Zeit unabänderlich dieſelbe bleibt. Es entſteht alſo auch hier die Frage, wer hat den Zweifel über die Competenzgränze zu entſcheiden, die Centralgewalt oder der Einzelſtaat, und wer hat über eine Veränderung der Competenz zu befinden. Weiſen die Einzelſtaaten durch ihren Willen dem Bunde die Gränzen ſeiner ſtaatlichen Befugniſſe zu oder empfan - gen ſie umgekehrt von der Centralgewalt die rechtliche Begränzung ihrer Willensſphäre? Nur eins von beiden iſt möglich und die Beantwortung der Frage enthält zugleich die Entſcheidung, wer ſouverän iſt, die Centralgewalt oder der Einzelſtaat.

Vollkommen treffend ſagt Hänel S. 149: In der Rechts - macht des Staates über ſeine Competenz liegt die oberſte Bedin - gung der Selbſtgenugſamkeit, der Kernpunkt ſeiner Souveränetät. In Anwendung auf das Reich kömmt Hänel S. 240 zu dem Schluß, daß das Reich ausſchließlich ſouverän iſt denn mit der ſouveränen Beſtimmung ſeiner eigenen Competenz beſtimmt es in endgültiger entſcheidender Weiſe über den Umfang der Compe - tenz der Einzelſtaaten, die um deswillen ſouverän nicht ſein können. Damit iſt das Reich eine Potenz über den Einzelſtaaten auch in der Rechtsſphäre, welche nach Maßgabe der beſtehenden Beſtimmungen der Verfaſſung ihrer Selbſtändigkeit und ihrer Wirkſamkeit nach der Weiſe von Staaten anheim fällt. Ebenſo haben ſchon vorher aus demſelben Grunde Auerbach S. 92 und Meyer Erörter. S. 82 den Einzelſtaaten die Sou - veränetät abgeſprochen1)Meyer nimmt zwar die Reſervatrechte aus und erklärt hinſichtlich dieſer die Einzelſtaaten für ſouverän; indeß wird hier der Begriff der Souveränetät verwechſelt mit der Zuſicherung der Unentziehbarkeit eines Rechts..

In einer Theilung der Souveränetät iſt daher das Weſen des Bundesſtaates nicht zu ſehen; die Souveränetät ſteht im Staa - tenbund ganz den Einzelſtaaten, im Bundesſtaat ganz dem Geſammtſtaat zu.

2) Im Zuſammenhange mit ſeiner Auffaſſung von dem We - ſen des Bundesſtaates fordert Waitz, daß die Bundesſtaatsge -76§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.walt ihre Herrſchaftsrechte nicht durch Vermittlung der Einzelſtaaten, ſondern direct gegen die Untertha - nen ausübe; er hält es daher für weſentlich für die Exiſtenz eines Bundesſtaates, daß die Bundesgewalt Geſetze mit unmittel - bar verpflichtender Kraft gebe und ſie auch ſelbſt ausführe1)Waitz Polit. S. 186 ff. vgl. Brie 110.. Er verlangt nicht nur eine directe ſtaatsrechtliche Beziehung zwiſchen der Centralgewalt und den einzelnen Staatsbürgern, ſondern er erklärt gradezu eine Unterordnung der Einzelſtaaten unter den Geſammtſtaat für grundſätzlich ausgeſchloſſen2)Vgl. auch H. Schulze Einleitung in das Deutſche Staatsr. 206.. Ganz unrichtig iſt nach Waitz S. 166 die Anſicht: Das Weſen des Bundesſtaates ſei, daß hier Staaten die Unterthanen ſeien und daß für die Re - gierungen der Gliedſtaaten eine wahre Gehorſams - und Unter - thanenpflicht beſtehe. Der Geſammtſtaat ſelbſt ſei nur ein Staat wie die Einzelſtaaten, freilich nicht räumlich, aber dem Begriff und Recht nach dieſem nebengeordnet3)Waitz S. 213. Vgl. Brie 117..

Verwirft man die Theilung der Souveränetät, ſo fällt auch die Nebenordnung und Gleichberechtigung von Bundesſtaatsgewalt und Einzelſtaatsgewalt fort; im Bundesſtaat ſind die Einzelſtaaten der Centralgewalt untergeordnet4)Richtig ſagt ſchon Welcker, Wichtige Urkunden für den Rechts - zuſtand der Deutſchen Nation 1844 S. 36: Die Natur des Bundesſtaates beſteht darin, daß er ſeiner rechtlichen Weſenheit nach noch ein ſtaatsrechtlicher Verein von Staaten, ein Staat in höherer Inſtanz oder ein Oberſtaat iſt. In dieſem Sinne ſchreibt er den Gliedſtaaten S. 38: eine beſchränkte, eine halbe Souveränetät d. h. gar keine Souveränetät zu.. Dies wird übrigens von vielen Staatsrechts-Lehrern, die im Uebrigen der Waitz’ſchen Auffaſſung folgen, anerkannt, wenngleich nicht immer mit derſelben Beſtimmtheit und ohne Aufklärung, wie ſich die Souveränetät der Einzelſtaaten mit ihrer Unterordnung verträgt5)Hierher gehören Zachariä, Pözl, Eſcher. Ferner Zöpfl, Meyer, v. Mohl. Nachweiſungen giebt Brie I. S. 133 Note 60. 134 Note 70. 136 fg. 143 Note 118. 144 Note 122. 163 Note 18. Am beſtimmte - ſten äußert ſich Stahl in ſeiner Abhandlung über Die Deutſche Reichsver - faſſung. Berlin 1849 S. 78: Im Bundesſtaat iſt die Souveränetät bei der Centralgewalt, dieſe iſt daher eine obrigkeitliche Gewalt über die.

77§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.

Dagegen wird mit um ſo größerer Einmüthigkeit als weſent - lich für den Bundesſtaatsbegriff das Erforderniß aufgeſtellt, daß die obrigkeitlichen Hoheitsrechte der Centralgewalt unmittelbar gegen die einzelnen Bürger gerichtet ſeien, nicht gegen die Glied - ſtaaten und durch deren Vermittlung gegen die Individuen. v. Gerber S. 24 Note 3 definirt den Bundesſtaat als eine zwar auf einen gewiſſen Kreis beſchränkte, innerhalb deſſelben aber wirkliche Staatsgewalt mit unmittelbarer Beherrſchung des Volks. v. Martitz beginnt ſeine Betrachtungen über die Ver - faſſung des Norddeutſchen Bundes mit der Bemerkung, daß, wie man auch über den begrifflichen Unterſchied des Staatenbundes vom Bundesſtaate denken möge, man unzweifelhaft das we - ſentliche Moment deſſelben immer nur in der Art der Wirkſam - keit ſuchen müſſe, welche die Bundesgewalt zugewieſen erhält, worunter er die unmittelbare Ausübung der Hoheitsrechte meint. G. Meyer Staatsr. Erörter. S. 13, welcher die Lehre von der Theilung der Souveränetät verwirft, ſagt: Man muß jedes Bundesverhältniß, in welchem die Bundesgewalt nur eine Herrſchaft über die Staatsgewalten der Einzelſtaaten ausübt, als Staatenbund (!), ein ſolches, in welchem ſie unmittelbar über die Staatsangehörigen herrſcht, als Bundesſtaat bezeichnen.

H. Schulze Einleitung S. 432, und die Mehrzahl der Schriftſteller über die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes und Deutſchen Reiches ſchreiben dem Norddeutſchen Bunde grade des - halb den Charakter des Bundesſtaates zu, weil die Bundesgewalt innerhalb ihrer Sphäre keineswegs blos auf die Vermittelung der Einzelſtaaten, auf die Re - quiſition der Einzelregierungen angewieſen iſt, ſondern weil ſie ſich an die einzelnen Bürger wendet, unmittelbar ein - greift und durch ihre eigenen Organe verwaltet1)Ganz in derſelben Weiſe erklärt Zachariä die Verf. -Aender. nach Art. 78 S. 19 den Nordd. Bund, trotzdem er nicht vollſtändig und nicht rein die Prinzipien des Bundesſtaats verwirklicht, deshalb für einen Bundesſtaat, weil er die Befugniß hat, für die Glieder (Individuen) unmittelbar verbind - liches Recht zu ſchaffen..

Unter den Anhängern der herrſchenden Theorie vom Bundes -5)Einzelſtaaten und deren Regierungen, wenn dieſen auch eine große Sphäre der Selbſtſtändigkeit belaſſen iſt. 78§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.ſtaat ſind v. Mohl1)Encycl. der Staatsw. 376 Note 9 (2. Aufl.) Reichsſtaatsr. S. 29 Note 1. und v. Holtzendorff2)Encycl. der Rechtsw. (2. Aufl.) I. 792. Vgl. Brie 174. die einzigen, welche die unmittelbare Herrſchaft der Centralgewalt über die ein - zelnen Staatsangehörigen für nicht weſentlich und charakteri - ſtiſch für den Bundesſtaatsbegriff erklären.

Man muß aber noch einen Schritt weiter gehen als dieſe Schriftſteller. Grade das iſt weſentlich für den Begriff des Staa - tenſtaats oder zuſammengeſetzten Staates und folglich auch für den Bundesſtaat, der nur eine Art deſſelben iſt, daß ſich die Central - gewalt zum Zweck der Erreichung der ſtaatlichen Aufgaben der Gliedſtaaten bedient.

Es iſt begreiflich, daß man den Bundesſtaat vollkommen nach dem Muſter des Einheitsſtaates organiſirt ſich denkt, wenn man von der Theilung der Souveränetät ausgeht und ſowohl den Bundesſtaat als den Einheitsſtaat als einen partiellen Staat charakteriſirt. Im Gegenſatz zum Staatenbund fordert man dann für den Bundesſtaat unmittelbare Vollſtreckung der Herrſchaftsrechte. Erblickt man aber in dem Bundesſtaat einen Staat über den Einzelſtaaten, ein ſouveränes politiſches Gemeinweſen, welchem die Totalität der ſtaatlichen Aufgaben ſeinem idealen Zwecke gemäß obliegt, und der ſich zur Durchführung dieſer Aufgaben der Glied - ſtaaten bedient, ſo erlangt für die Begriffsbeſtimmung nicht die Aehnlichkeit des Bundesſtaats mit dem Einheitsſtaat, ſondern die Verſchiedenheit die weſentliche Bedeutung. Gegen den Staatenbund hin iſt der Begriff des Bundesſtaates hinlänglich ab - gegränzt dadurch, daß der letztere eben ein Staat d. h. ein Rechts - ſubject iſt, der Staatenbund ein völkerrechtliches Geſellſchaftsver - hältniß; gegen den Einheitsſtaat unterſcheidet er ſich dadurch, daß er zwiſchen ſich und den einzelnen Angehörigen noch Staaten hat, die ihm ſubordinirt ſind.

Die Geſetzgebung des Nordd. Bundes und des deutſchen Rei - ches giebt zahlreiche Beiſpiele von der Ausübung ſtaatlicher Herr - ſchafts-Rechte Seitens der Bundesgewalt gegen die Einzel - ſtaaten. Das Verbot, die Freizügigkeit zu beſchränken im Art. 3 Abſ. 2 der Verf., das Verbot, Eingangs - Durchgangs - oder Ausgangszölle zu erheben, im Art. 33 Abſ. 2. Art. 35 der Verf. 79§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.und im Zollgeſetz, das Verbot der Doppelbeſteuerung, der Erhebung von Abgaben von der Flößerei, der Geſtattung von öffentlichen Spielbanken, der Emiſſion von Papiergeld u. ſ. w. richten ſich ganz direct und zweifellos gegen die Staaten. Aber ſo lange die Einzelſtaaten die Gerichtsgewalt als ein ſelbſtſtändiges Recht haben, iſt auch das Strafgeſetzbuch eine Norm, welche das Reich den Ein - zelſtaaten ſetzt, wie die Einzelſtaaten mittelſt ihrer Gerichts - behörden die Strafjuſtiz wahrzunehmen haben, und ebenſo lange iſt eine Reichsprozeß-Ordnung eine Norm für die Einzelſtaaten, wie ſie durch ihre Gerichte für die Entſcheidung von Rechtsſtrei - tigkeiten Sorge zu tragen haben1)Auch das Verbot der Schuldhaft, der Beſchlagnahme von Arbeitslöh - nen, das Rechtshülfe-Geſetz, die Gewerbe-Ordnung, das Geſetz über Erwerb und Verluſt der Staatsangehörigkeit und zahlreiche andere Geſetze ſind ganz oder theilweiſe Rechtsnormen für die Staaten.. Daß dieſe Reichsgeſetze Seitens der Einzelſtaaten nicht beſonders verkündet zu werden brauchen und daß kein Einzelſtaat befugt iſt, mit rechtl. Wirkſamkeit An - ordnungen zu treffen, welche den Reichsgeſetzen widerſprechen, ſteht in keiner Weiſe dem Satze entgegen, daß die Reichsgeſetze ihrem Inhalte nach zum großen Theil Rechtsnormen ſind, welche die Lebensthätigkeit der Einzelſtaaten, ihre Befugniſſe, Rechte und Pflichten, regeln.

Dem Reiche gegenüber ſtehen die Staaten dafür ein, daß die Reichsgeſetze innerhalb des Staatsgebietes von den Verwaltungs - Behörden und Gerichten befolgt und durchgeführt werden; eine unmittelbare Abhängigkeit der Behörden von der Centralgewalt des Reiches beſteht in der Regel nicht, auch auf den von der Geſetz - gebung des Reiches beherrſchten Gebieten nicht. Werden Reichs - geſetze in einem Bundesſtaat verletzt, ſo kann das Reich der Regel nach keine unmittelbare Remedur eintreten laſſen, ſondern es kann nur den Staat anhalten, das Reichsgeſetz zu beachten oder zu vollziehen. Dem Staat gegenüber macht das Reich ſein obrigkeit - liches Herrſchaftsrecht geltend, und wenn es zur zwangsweiſen Durchführung kommt, wird die Execution gegen den widerſpenſtigen Staat vollſtreckt. Von derſelben betroffen werden alle Mitglieder deſſelben, ſchuldige und unſchuldige, ohne Rückſicht darauf, ob ſie gerade an der Verletzung der Reichsgeſetze Theil genommen80§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.haben oder nicht. Sie werden von der Execution des Reiches be - troffen, weil ſie Mitglieder des Staates ſind, der ſeine Bundes - pflichten nicht erfüllt, und weil das Reich ſeine Herrſchaftsrechte gegen dieſen Staat znr Geltung bringt. Bei einem Bundesſtaat nach der herrſchenden Begriffsbeſtimmung wäre für eine Bundes - execution gar kein Raum, denn wenn Bundesſtaat und Einzelſtaaten ganz getrennte Sphären haben, partielle Staaten ſind, die neben einander beſtehen und ihre Aufgaben mit eigenen Mitteln ver - wirklichen, ſo müßte es ja an einem Gebiete fehlen, auf welchem der Bundesſtaat den Einzelſtaat zur Pflichterfüllung anhalten könnte.

Allerdings binden die Reichsgeſetze nicht nur die Staaten als ſolche, ſondern auch deren Angehörige, ohne daß es einer Pu - blikation der Geſetze von Seiten der Einzelſtaaten bedarf. Es iſt aber nicht zuzugeben, daß hieraus eine unmittelbar Unterordnung der Bevölkerung unter die Reichsgewalt in der Art folgt, daß die einzelnen Individuen auf den der Reichsgeſetzgebung unterſtellten Gebieten von dem Einzelſtaat emancipirt ſeien. Dieſe Vorſtellung iſt wohl im Weſentlichen verſchuldet durch die doctrinäre Gegen - überſtellung von Staatenbund und Bundesſtaat. Im Staatenbund kann von einer geſetzgebenden Gewalt des Vereins keine Rede ſein; Geſetze können nur die einzelnen Staaten geben; der Bund kann nur die Grundſätze feſtſtellen, welche die einzelnen Staaten hierbei befolgen ſollen. Wenn auch ein Bundesbeſchluß als Geſetz bezeichnet wird, er iſt niemals etwas Anderes als eine Vereinbarung über eine zu veranſtaltende Geſetzgebung. Erſt die Verkündigung als Landesgeſetz und ſie allein iſt wirkliche Geſetzgebung.

Im Bundesſtaat iſt der Erlaß eines Bundesgeſetzes kein bloßes Gebot an die Einzelſtaaten, daß ſie beſtimmte Rechtsnormen er - laſſen ſollen, obwohl dies begrifflich wohl auch zuläſſig wäre, ſondern in der Regel die Sanction eines Rechtsſatzes ſelbſt. Dieſer Rechtsſatz bindet nicht bloß die Staaten als ſolche, ſondern auch die Individuen, welche den Einzelſtaaten angehören, und zwar gerade darum, weil ſie ihnen angehören. Er gilt nicht blos für die Staaten, ſondern auch in den Staaten, weil die Staaten mit Land und Leuten der Centralgewalt unterworfen ſind. Das Bun - desgeſetz bildet einen Theil der Rechtsordnung nicht bloß des Ganzen, ſondern auch ſeiner Beſtandtheile, nämlich der Einzel -81§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.ſtaaten1)Dies iſt wol auch die Auffaſſung Welcker’s a. a. O. S. 37.. Eine Verkündigung der Reichsgeſetze Seitens der Ein - zelſtaaten wäre im Bundesſtaate widerſinnig, wofern man unter der Verkündigung nicht etwa bloß eine Bekanntmachung, ſondern die Erklärung der Sanction verſteht. Denn ein Geſetz kann nicht von demjenigen verkündigt werden, dem es gegeben iſt. Eine Verkündigung der Bundesſtaats-Geſetze Seitens der Einzelſtaaten hätte nicht mehr Sinn, als wenn die einzelnen Gemeinden ihren Mitgliedern, die einzelnen Bürger ſich ſelbſt, ihren Familienge - noſſen, Gewerbegehülfen u. ſ. w. die Staatsgeſetze und obrigkeit - lichen Verordnungen verkündigen wollten.

Ganz richtig iſt es daher, daß im Bundesſtaat das Bundes - geſetz direct und unmittelbar die Angehörigen der Einzelſtaaten bindet; ganz unrichtig iſt es aber hieraus zu folgern, daß die Angehörigen der Einzelſtaaten, losgelöſt von der Staatsgewalt der letzteren, der Reichsgewalt unmittelbar unterworfen ſeien.

In Beziehung auf die Verwaltung und auf die Vollziehung der Geſetze unterſcheidet ſich der Bundesſtaat vom Staatenbunde ſehr beſtimmt dadurch, daß der letztere eine eigene Verwaltung und Geſetzesvollziehung gar nicht haben kann, während der Bun - desſtaat dazu befähigt iſt. Aber es iſt nicht nothwendig, daß er von dieſer Befähigung überall und in allen Richtungen Gebrauch macht; er hat vielmehr die Wahl, ob er ſelbſt für die Durchfüh - rung der Geſetze und die Verwaltung ſorgen oder ob er dieſelbe den Einzelſtaaten überlaſſen oder übertragen will.

Der eigentliche Beweis für die Richtigkeit der Anſicht, daß ſich die Reichsgewalt regelmäßig an die Einzelſtaaten wendet und durch deren Vermittlung Land und Leute beherrſcht, wird durch die geſammte folgende Darſtellung erbracht werden.

3) Es iſt endlich als ein begriffliches Erforderniß des Bun - desſtaates von Waitz und zahlreichen Anhängern ſeiner Theorie hingeſtellt worden, daß die Einzelſtaaten von der Leitung der Ge - ſammt-Angelegenheiten ausgeſchloſſen ſeien, daß die Regierung in keiner Weiſe in Abhängigkeit von den Einzelſtaaten ſtehe. Da - rum ſei jede Delegation durch dieſe unbedingt ausgeſchloſſen; weder die Regierungen der Einzelſtaaten noch ihre Volksvertretungen können das Organ beſtellen, welches die Leitung der für die Ge -Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 682§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.ſammtheit der Nation gemeinſamen Angelegenheiten beſorgen ſoll, auf welche die Einzelſtaaten ihre Einwirkung gar nicht zu erſtrecken haben.

Ein durch die Einzelſtaaten beſtelltes Collegium von Bevoll - mächtigten, wie es den Staatenbund charakteriſirt, hält Waitz für allein genügend, um jeden Gedanken an einen Bundesſtaat aus - zuſchließen1)Politik S. 173 fg..

Das gerade Gegentheil hievon iſt richtig. Da die norddeutſche Bundesverfaſſung dieſem Erforderniß des doctrinären Bundesſtaats - begriffs durch die Inſtitution des Bundesrathes direct widerſprach, ſo haben ſehr zahlreiche Schriftſteller, welche trotzdem den Nordd. Bund als wirklichen Bundesſtaat charakteriſirten, dieſes Erforder - niß für kein weſentliches erachtet, es gleichſam von einem Essen - tiale zu einem Naturale degradirt, ſo daß es aus hiſtoriſch-poli - tiſchen Zweckmäßigkeitsgründen abgeändert werden könne, oder ſie haben die Organiſation der Bundesgewalt für begrifflich gleichgültig erklärt2)Nachweiſungen aus der Literatur in großer Zahl bei Brie S. 175 ff.. Dies iſt eine halbe Wahrheit, eine Verwechslung der species mit dem genus, des Bundesſtaates mit dem zuſammen - geſetzten Staat.

Der zuſammengeſetzte Staat oder Staatenſtaat verlangt eine Staatsgewalt, welche über den Einzelſtaatsgewalten ſteht und[folglich] begrifflich von den letzeren verſchieden iſt. Sowie aber im Einheitsſtaat die Souveränetät nicht immer den gleichen Träger hat, ſondern bald der Geſammtheit der Bürger bald einer einzel - nen phyſiſchen Perſon zuſtehen kann und man darnach die Demo - kratie, die Monarchie u. ſ. w. unterſcheidet, ſo kann auch die Staatsgewalt im Staatenſtaat der Geſammtheit der Mitgliedsſtaaten oder Einem von ihnen, (von andern denkbaren, aber nicht prak - tiſchen Möglichkeiten abgeſehen) zuſtehen. Von einem Bunde ſpricht man nur im erſten Falle. Es gibt kein einziges Beiſpiel eines zuſammengeſetzten Staatsweſens, welches man als Bund oder Bundesſtaat je bezeichnet hätte, in welchem nicht den Einzelſtaaten ein Antheil an dem Zuſtandekommen und der Bethätigung des Geſammtſtaats-Willens zugeſtanden hätte3)Vgl. oben S. 72. Auch in der Schweizer-Verf. v. 1848, auf welche man ſich gewöhnlich für die entgegengeſetzte Anſicht beruft, ſind die Kantone. Richtig iſt daher, daß83§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.für das genus, den zuſammengeſetzten Staat, eine beſtimmte Or - ganiſation kein begriffliches Erforderniß iſt; dagegen die species, der Bundesſtaat, wird gerade durch eine gewiſſe Form dieſer Or - ganiſation, nämlich durch die Betheiligung der Einzelſtaaten an der Herſtellung des Geſammtwillens, begrifflich beſtimmt1)Welcker, a. a. O., welcher Bundesſtaat und zuſammengeſetzten Staat identifizirt, erachtet S. 41. 42 einen Bundesrath oder einen Senat zwar für erforderlich, aber mehr aus politiſchen, als begrifflichen Gründen..

4) Im Widerſpruch mit der herrſchenden Theorie hat Hänel Studien I S. 63 fg. eine neue Begriffsbeſtimmung des Bundes - ſtaates gegeben. Er erklärt ſich gegen die Theilung der Souve - ränetät, gegen die mechaniſche Zerreißung der ſtaatlichen Aufgaben durch eine Competenzlinie, auf deren einer Seite die Bundesgewalt auf deren anderer Seite die Einzelſtaatsgewalt herrſche, als gingen ſie ſich einander nichts an2)Rüttimann Nordamerik. Bundesſtaatsr. I. § 54 S. 49 drückt die herrſchende Vorſtellung am ſchärfſten aus, in dem er ſagt: Jeder Theil bewegt ſich in der ihm zugewieſenen Sphäre mit der gleichen Freiheit, wie wenn der andere Theil gar nicht vorhanden wäre. (!). Den Begriff des Staates findet er weder in dem Bundesſtaat noch in dem Einzelſtaat noch gleich - zeitig in beiden in ihrer Sonderſtellung betrachtet, ſondern nur in dem organiſchen Miteinander und dem planmäßigen Zuſammenwirken beider. Nicht der Einzelſtaat, nicht der Ge - ſammtſtaat ſind Staaten ſchlechthin, ſie ſind nur nach der Weiſe von Staaten organiſirte und handelnde politiſche Gemeinweſen. Staat ſchlechthin iſt nur der Bundesſtaat als die Totalität beider3)Eine ähnliche Auffaſſung entwickelt Fricker in der Tübinger Zeit - ſchrift für die geſammte Staatswiſſ. Bd. 28 S. 351 ff..

So richtig dieſe Auffaſſung iſt, wenn man den Staat lediglich als objective Inſtitution, als rechtliche Ordnung der Geſellſchaft zur Erfüllung der Cultur-Aufgaben ſich denkt, ſo wenig iſt ſie ausreichend als Prinzip für die juriſtiſche Entwicklung des Bundes -3)an der Bundesgewalt betheiltigt, indem nach Art. 69 der Ständerath aus 44 Abgeordneten der Kantone beſteht, von denen jeder Kanton 2 Abgeordnete wählt und nach Art. 114 eine revidirte Bundesverf. Kraft erlangt, wenn ſie nicht nur von der Mehrheit der ſtimmenden Schweizerbürger, ſondern von der Mehrheit der Kantone angenommen iſt. Desgl. nach der Verfaſſung der Vereinigten Staaten, Sect. 3 Art. 1, indem der Senat aus zwei Depu - tirten eines jeden Staates zuſammengeſetzt iſt.6*84§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.ſtaatsrechts. Denn hiefür iſt es vor Allem nothwendig den Staat als Subject von Rechten aufzufaſſen. Subjecte von Herrſchafts - rechten, von obrigkeitlichen Befugniſſen, ſind ſowohl der Bundes - ſtaat als der Einzelſtaat und für die Abgrenzung der beiderſeitigen Rechtsſphäre iſt es daher unerläßlich ſie einander gegenüber zu ſtellen. Da auch der Einzelſtaat wichtige und umfaſſende ſtaatliche Aufgaben zu erfüllen und zu dieſem Zweck kraft eigenen Rechts obrigkeitliche Herrſchaftsbefugniſſe ſeinen Unterthanen und ſeinem Gebiete gegenüber hat, ſo ſind allerdings beide, ſowohl der Bundesſtaat als der Einzelſtaat, in ihrer Sonderſtellung betrachtet, Staaten; nur daß die Einzelſtaaten nicht ſou - verain, ſondern dem Bundesſtaat unterworfen ſind. Wenn man dagegen beide zuſammen nur als den Staat gelten laſſen will, wenn man im Bundesſtaat einen Geſammtorganismus erblickt, in welchem beſtimmte Funktionen den Einzelſtaaten zuge - wieſen ſind, ſo geht der begriffliche Unterſchied zwiſchen dem Bundesſtaat und dem dezentraliſirten Einheitsſtaat verloren und es erſcheinen die Einzelſtaaten als Einrichtungen des Bun - desſtaats, als Theile ſeiner Organiſation. Der Staat als An - ſtalt zu Erfüllung des geſammten Inbegriffs ſeiner Kultur-Auf - gaben iſt auch durch das Zuſammenwirken von Bundesſtaat und Einzelſtaat noch nicht vollkommen gegeben; auch Kreiſe und Ge - meinden, und andere Selbſtverwaltungskörper aller Art ſind weſentliche Beſtandtheile des Geſammtorganismus, ſind Glieder des Ganzen. Zum Staat ſchlechthin gehören auch ſie. Das Weſen des Bundesſtaats aber beruht grade darauf, daß er Glie - der mit individueller ſtaatlicher Sonderexiſtenz vorausſetzt.

Hänel verkennt den wahren Sachverhalt auch nicht; denn er bezeichnet S. 66 als das Unterſcheidungsmerkmal des Bundes - ſtaates vom Einheitsſtaate eine ſo loſe Gliederung des Ganzen

daß die Einzelſtaaten, den Begriff der Selbſtverwaltung durchbrechend, nach der Weiſe eines Staates d. h. zu eigenem Rechte und nach eigenen Geſetzen ſtaatliche Aufgaben vollziehen.

Wenn die Einzelſtaaten aber nach der Weiſe eines Staates ſtaatliche Aufgaben vollziehen, ſo iſt kein Grund vorhanden, ſich gegen ihre Anerkennung als Staaten zu ſträuben. Bei einer politiſchen Würdigung des Bundesſtaates als Form der geſell -85§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.ſchaftlichen Organiſation iſt es genügend, die Einzelſtaaten als Gliederungen des Geſammt-Organismus anzuſehen; für die recht - lichen Beziehungen iſt es erforderlich Bundesſtaat und Einzel - ſtaat als Subjecte von ſtaatlichen Rechten und Pflichten aufzu - faſſen. Bei der von Hänel gegebenen Begriffsbeſtimmung tritt es aber insbeſondere nicht hervor, daß die dem Bundesſtaat zu - kommenden Hoheitsrechte grade den Einzelſtaaten gegenüber wirk - ſam werden, daß die Bundesſtaatsgewalt die Einzelſtaaten, die - ſelben als Perſonen gedacht, beherrſcht, ihnen Rechtsnormen giebt, welche ihr Handeln und Wirken rechtlich beſtimmen, und regel - mäßig erſt durch ſie hindurch, alſo mittelbar, eine Beherrſchung der einzelnen Staatsangehörigen bewirkt. Unter allen Schrift - ſtellern aber, welche bisher den Begriff des Bundesſtaates feſtzu - ſtellen verſucht haben, iſt Hänel der hier vertretenen Anſicht am nächſten gekommen1)Neuerdings hat auch von Treitſchke in einer Abhandlung in den Preuß. Jahrb. Novemb. 1874 (Bd. 34 S. 513) ſich von der herrſchenden Anſicht über den Begriff des Bundesſtaates losgeſagt und anerkannt, daß die Souveränetät allein und ungetheilt dem Geſammtſtaat, nicht den Gliedſtaaten zuſteht. Seine Ausführungen, die übrigens mehr auf hiſtoriſchen und politi - ſchen Erwägungen, als auf juriſtiſchen Deduktionen beruhen, beziehen ſich aber vorzugsweiſe auf den Nordamerikaniſchen und Schweizeriſchen Bundesſtaat. Für Deutſchland verſucht v. Treitſchke den Begriff des Reiches im Gegenſatz zum Bundesſtaat zu conſtruiren und dieſen Gegenſatz findet er in der prä - valirenden Macht Preußens und der monarchiſchen Spitze des Reiches in dem Könige von Preußen als Kaiſer. So wenig verkannt werden kann, von wie überaus großer Bedeutung dieſe Thatſachen in politiſcher Hinſicht ſind und dem Deutſchen Reiche für alle ſeine Lebensfunktionen einen Charakter aufprägen, der von der Vereinigung der Nordamerikaniſchen Staaten und Schweizeriſchen Kantone weit verſchieden iſt, ſo iſt doch für die ſtaatsrechtliche Betrachtung feſtzuhalten, daß der Kaiſer nicht Souverän, nicht Monarch des Reiches iſt..

Drittes Kapitel. Das Verhältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten.

§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.

Wenn man von dem Grundſatz ausgeht, daß der Staat eine juriſtiſche Perſon des öffentlichen Rechts iſt, ſo kann die Frage,86§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.wer das Subject der Staatsgewalt iſt, gar nicht anders beant - wortet werden, als: der Staat ſelbſt. Alles, was man für die juriſtiſche Conſtruction und wiſſenſchaftliche Durchbildung des Staatsrechts durch die Perſonifikation des Staates gewinnt, opfert man ſofort wieder auf, wenn man den Monarchen oder das Volk oder wen ſonſt für das Subject der Staatsgewalt, für den eigent - lichen Souverän erklärt. Denn man entzieht dadurch dem Staat eben das, was ihn im Rechtsſinn zur Perſon macht, nämlich die Eigenſchaft Subject von Rechten zu ſein, man macht ihn zum Object eines fremden Rechts1)So ſagt z. B. Seydel Comment. S. 99. Der Staat iſt der Gegen - ſtand der Souveränetät. oder löſt ihn auf in ein Aggregat von Befugniſſen eines Menſchen oder einer Vielheit von Menſchen. Man braucht nur an die juriſtiſchen Perſonen des Privatrechts ſich zu erinnern, um ſofort zu begreifen, daß, wenn man nicht die Privatrechts-Perſon ſelbſt als das Subject ihrer Vermögens - rechte anſieht, ſondern etwa ihren Vorſtand oder ihre General - verſammlung, oder die Deſtinatäre, denen das Vermögen zu Gute kommt, man die Annahme der juriſtiſchen Perſon wieder aufhebt, eine ſelbſtſtändige, durch logiſche Abſtraction erkannte Perſönlich - keit nicht mehr übrig bleibt. Ebenſo verſchwindet die Perſönlich - keit des Staates als das Subject von obrigkeitlichen Herrſchafts - rechten, wenn man den Inbegriff aller dieſer Rechte, die Staats - gewalt, nicht dem Staate, dem organiſchen Gemeinweſen ſelbſt, ſondern dem Fürſten oder dem Parlament oder beiden zuſammen oder ſonſt einem, von dem Staate ſelbſt begrifflich verſchiedenen Subjecte beilegt2)Für die Begründung der Staatsſouveränetät in dem entwickelten Sinne ſind zu vgl. Zachariä Deutſch. Staatsr. I. § 18. Schulze Einleitung in das Deutſche Staatsr. § 49. 53. Bluntſchli Allgem. Staatsr. II. S. 10 fg. v. Mohl Encyclopäd. (2. Aufl.) S. 116 u. beſonders v. Gerber Grundzüge § 7 Note 1 und S. 219 ff. (Beilage II.) Abweichender Anſicht iſt namentlich Zöpfl I. § 54..

Wendet man dieſes allgemeine Prinzip auf das Deutſche Reich an, ſo ergiebt ſich, daß das Subject der Reichsge - walt nur das Reich ſelbſt ſein kann als ſelbſtſtän - dige ideale Perſönlichkeit, deren Grundlage die Geſammtheit der Deutſchen Einzelſtaaten iſt3)So v. Gerber S. 244. Nur nimmt er, ſeinem Begriffe des Bundes -.

87§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.

Im Gegenſatz dazu hat ſich die Anſchauung geltend gemacht, daß den einzelnen Deutſchen Staaten als ſtaatsrechtliche Sozietät verbunden gedacht, die Reichsgewalt zuſteht. Zu gemeinſchaftlicher Ausübung beſtimmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete zuſtehender Befugniſſe ſeien ſie einen Bund eingegangen und die Reichsgewalt ſtehe ihnen daher gemeinſchaftlich zu nach Art des Condominium pro indiviso oder der Ganerbſchaft1)So namentlich Seydel Commentar S. 89, der die Bildung des Reiches mit der Zuſammenlegung mehrerer, verſchiedenen Perſonen gehörigen Grundſtücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht.. Dieſe Theorie leugnet überhaupt den ſtaatlichen Charakter des Reiches und die Selbſtſtändigkeit der dem Reiche zuſtehenden Hoheitsrechte. Für die Einzelſtaaten iſt ſie nur ſcheinbar günſtiger, denn die Rechte der Einzelſtaaten ſind ihrem Inhalte nach keine größeren, wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So - zietät oder wenn man ſie als Mitglieder einer juriſtiſchen Per - ſon denkt.

Jede juriſtiſche Perſon iſt nun aber an ſich willens - und handlungsunfähig; ſie bedarf eines Vertreters, ſie bedarf willens - und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand - lungen als Wille und Rechtshandlungen der Perſon gelten. Dies gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch ergiebt ſich die Nothwendigkeit eines Trägers der ſtaatlichen Ge - walt, der an und für ſich (von Natur) willens - und handlungs - fähig iſt. Auch dieſer Träger der Staatsgewalt wird Souverän genannt, indem er die dem Staat als gedachte Perſon zuſtehende rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für unſere Kulturperiode allein in Betracht kommenden Staatsformen kann dieſer Träger der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch ſein, oder die Geſammtheit aller Mitglieder des Staates.

Im Deutſchen Reich iſt das letztere Prinzip adoptirt. Das3)ſtaates gemäß, als Grundlage das in den Einzelſtaaten gruppirte (Nord) - Deutſche Volk an. Nach unſerer Auffaſſung iſt das deutſche Volk allerdings das letzte natürliche Subſtrat, jedoch zunächſt und unmittelbar nur für die Einzelſtaaten und erſt dieſe, als öffentlichrechtliche Perſonen ſind das Subſtrat des Reiches. An v. Gerber ſchließt ſich faſt wörtlich an v. Rönne S. 29, jedoch mit dem komiſchen Mißverſtändniß, daß er die Einzelſtaaten des Reiches als natürliche Grundlage des Deutſchen Volkes (!) erklärt. Vgl. ferner v. Held Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50.88§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.Deutſche Reich iſt keine Monarchie, ſondern wenn man den Ausdruck auf eine Vielheit juriſtiſcher Perſonen anwenden könnte eine Demokratie. Das heißt: Träger der Souve - ränetät des Reiches ſind die ſämmtlichen Mitglieder des Reiches, nicht der Kaiſer1)Fürſt Bismarck: Die Souveränetät ruht nicht beim Kaiſer, ſie ruht bei der Geſammtheit der verbündeten Regierungen (Stenogr. Bericht d. Reichst. I. Sitzungsper. 1871 S. 299.) In der Literatur herrſcht darüber volles Einverſtändniß, daß der Kaiſer nicht Souverän des Reiches iſt. Trotz - dem beruht nach v. Rönne S. 29 Note 4 die Deutſche Reichsverfaſſung auf dem ſogen. monarchiſchen Prinzip in der richtigen (!) Auffaſſung dieſes Ausdruckes. Auch v. Treitſchke a. a. O. S. 538 ſchreibt dem Kaiſer eine wirkliche monarchiſche Gewalt zu; ſie zeigt ſich formell in der Kriegs - herrlichkeit und der Vertretung des Reichs nach Außen, thatſächlich in der Leitung der geſammten Reichspolitik. Richtig Grotefend Staatsr. § 751; jedoch erklärt derſelbe im § 767 den Bundesrath (!) als das Subject der ſouveränen Macht des Bundes..

Hier zeigt es ſich zunächſt von Wichtigkeit, den Begriff des Bundesſtaates feſt und ohne Schwanken im Auge zu behalten. Mitglieder des Reiches ſind nicht die einzelnen Bürger und ſie ſind auch nicht zuſammengenommen Träger der Reichsgewalt; Mit - glieder des Reiches ſind vielmehr die einzelnen Staaten und ſie ſämmtlich ſind an der Reichsgewalt mitbetheiligt, grade ſo wie in der Demokratie die vollberechtigten Staatsbürger an der Staatsgewalt. Das Deutſche Reich iſt nicht eine juriſtiſche Per - ſon von 40 Millionen Mitgliedern, ſondern von 25 Mitgliedern2)Reichsverf. Art. 6 zählt die Mitglieder des Bundes auf. Vgl. Art. 7. 19. 41 Abſ. 1..

Da nun dieſe Mitglieder ſelbſt wieder Staaten ſind, ſo wie - derholt ſich bei ihnen das, aus der Natur der juriſtiſchen Perſon ſich ergebende, Gebot nach einer Vertretung3)Auf dem Gebiete des Privatrechts würde man ein vollſtändiges Ana - logon haben, wenn die Aktien eines beſtimmten Aktienvereins im Beſitz von lauter Aktienvereinen wären.. Mit Ausnahme der freien Städte ſind alle Deutſche Staaten Monarchien; die Landesherrn ſind daher die allein berechtigten Träger der Staats - gewalt und als ſolche üben ſie auch die Mitgliedſchaftsrechte im Deutſchen Reich, den Antheil ihrer Staaten an der Reichsgewalt aus. In den freien Städten ſind die freien Bürgerſchaften, als89§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.Einheiten gedacht, das Subject der Staatsgewalt und als ſolche Mitglieder des Reiches1)Der Hamburger iſt ſowenig wie der Anhaltiner Reichsmitglied; die Hamburger Bürgerſchaft iſt es in derſelben Weiſe wie der Fürſt von Anhalt..

In dieſem Sinne kann man daher ſagen, daß die Deut - ſchen Fürſten und freien Städte in ihrer Geſammt - heit die Träger oder Inhaber der Reichsſouveränetät ſind2)So v. Martitz 45 ff. G. Meyer Nordd. Bundesr. 60 (vgl. deſſen Er - örterungen S. 43.). Grotefend § 751 S. 785.. Der Ausdruck kann aber zu einer mißverſtändlichen Auffaſſung führen3)Thudichum Verf. -R. des Nordd. B. S. 60 Note 1 ſpricht dieſes Mißverſtändniß ausdrücklich aus, indem er ſagt, daß unter den Bundesglie - dern oder Mitgliedern des Bundes nicht die Bundesſtaaten, ſondern die Bundesfürſten und die Senate der 3 Hanſeſtädte zu verſtehen ſeien. (Vgl. jedoch denſelben im Jahrb. I. S. 21 Note 3). Ebenſo ſagt Meyer S. 65 Note 1, die preuß. Vertreter im Bundesrathe ſeien keine Vertreter des Staates Preußen, ſondern des Königs von Preußen (!). Auch Seydel S. 15 u. 97 verwerthet dieſes Mißverſtändniß zu Schlußfolgerungen. Richtig und treffend v. Held S. 103. 104.. Denn die Deutſchen Fürſten ſind nicht für ihre Perſon, ſondern nur als Oberhäupter und Vertreter ihrer Staaten Mit-Träger der Reichsgewalt. Wenn ein Deutſcher Landesherr abdankt oder ſonſt in rechtlicher Weiſe die Vertretung ſeines Staa - tes verliert, ſo verliert er zugleich den Antheil an der Reichsge - walt; im Falle einer Regentſchaft iſt nicht der nominelle Monarch ſondern der Regent Mitſouverän des Reiches. Es kann im Deut - ſchen Reiche keine Perſonaliſten geben4)Vgl. v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 10.. Das Deutſche Reich iſt kein Fürſtenbund, ſondern ein aus den Deutſchen Staaten ge - bildeter Staat. Daß nach dem Eingange der Verfaſſung die Fürſten den Bund geſchloſſen haben, iſt ein Einwand, der kaum ernſthaft erhoben werden kann, denn bei Errichtung des Norddeutſchen Bundes und des Deutſchen Reiches handelten die Deutſchen Souveräne nicht als Privatperſonen, ſondern als Staats - Oberhäupter und die Deutſchen Staaten wurden, wie es in Mo - narchien nicht anders ſein kann, durch ihre Landesherren vertreten. Sollte in irgend einem Deutſchen Staate einmal eine Aenderung der Verfaſſungsform eintreten, ſo bleibt der Staat mitberechtigt an der Reichsgewalt, wenngleich er keinen Fürſten mehr hat, und90§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.ſollten zwei Deutſche Staaten in einer Perſonal-Union verbunden werden, ſo bleibt für jeden der Mitantheil an der Reichsgewalt gewahrt und unverändert, wenngleich ſie beide nur einen Für - ſten, d. h. einen identiſchen Vertreter, haben1)Daß Lauenburg im Bundesrathe keine Stimme führt, beruht nicht, wie Geo. Meyer Nordd. Bundesrecht S. 65 Note 1 und ihm faſt wörtlich folgend v. Rönne 148 Note 2 irrthümlich meinen, darauf, daß die Preuß. Ver - treter im Bundesrath gleichzeitig auch Mandatare des Herzogs von Lauenburg ſind, ſondern auf einem davon durchweg verſchiedenen Grunde. Siehe unten §. 28..

Aus dem Grundſatz, daß der Einzelſtaat als Mitglied des Reichs mitberechtigt an der Reichsgewalt iſt, ergiebt ſich ferner, daß die Ausübung dieſer Mitgliedſchaft eine Lebensthätigkeit des Staates iſt, die im innigſten Zuſammenhange mit den übrigen Bethätigungen des ſtaatlichen Lebens ſteht und daß der Landesherr bei der Ausübung dieſer Seite des ſtaatlichen Handelns keine andere Stellung hat, als ſie ihm das öffentliche Recht ſeines Staates überhaupt anweiſt. Die Ausübung der Mitgliedſchaft am Reich, die ſich namentlich, wenngleich nicht ausſchließlich, in der Inſtruction der Vertreter des Staates im Bundesrath bethätigt, kann daher nicht getrennt oder losgelöſt werden von der Regierung des Staates; ſie iſt keine perſönliche Prärogative des Landesherren, hinſichtlich deren er freier geſtellt oder willkührlicher zu handeln befugt wäre, als ſonſt bei der Leitung der Regierungsgeſchäfte. Die Inſtruction der Bundesrathsmitglieder gehört eben zu den Regie - rungsgeſchäften des Einzelſtaats und Alles, was ſtaatsrechtlich oder factiſch einen Einfluß hat auf das Zuſtandekommen des Staats - willens, hat dieſen Einfluß auch hinſichtlich der Ausübung der Reichsmitgliedſchaft. Der Landesherr muß ſich daher der verfaſ - ſungsmäßigen Behörden bedienen, welchen die Centralleitung der Regierungsgeſchäfte des Landes obliegt, um die Mitgliedſchaft am Reiche auszuüben, d. h. die Inſtruction der Bundesmitglieder muß entweder durch Vermittlung der Central-Staatsbehörde, des Staats-Miniſteriums, erfolgen oder, falls der Landesherr direct und perſönlich ſeine Vertreter am Bundesrath inſtruirt, ſo bedarf dies, wie jeder andere landesherrliche Regierungsact, zu ſeiner ſtaatsrechtlichen Gültigkeit der Contraſignatur eines verantwort - lichen Miniſters2)Vgl. Grotefend Staatsr. §. 754. Daß dieſe Contraſignatur durch die. Die herrſchende Lehre von der völligen91§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.Trennung der bundesſtaatlichen Sphäre von der einzelſtaatlichen zeigt ſich auch an dieſem Punkte als verfehlt; die Einheitlichkeit des Staats und die Untheilbarkeit ſeines Willens bewährt ſich für den Einzelſtaat darin, daß die Führung der Landesregierung und die Ausübung des Antheils an der Reichsgewalt nicht aus - einandergeriſſen werden können, ſondern ſich gegenſeitig beſtimmen und zuſammengenommen die volle Lebensthätigkeit des Staats darſtellen.

Eine wichtige ſtaatsrechtliche Conſequenz dieſes Satzes beſteht darin, daß die Regierung des Einzelſtaates nach Maßgabe des Staatsrechts dieſes Staates politiſch und rechtlich verantwortlich bleibt für die Art und Weiſe, wie ſie die Mitglied - ſchaft am Reich ausübt1)Am Beſtimmteſten und ganz unzweideutig iſt dies ausgeſprochen wor - den von Fürſt Bismarck im Verfaſſungberathenden Reichstage Sten. Ber. 393. 397. Vgl. ferner Lasker u. nochmals Fürſt Bismarck im Reichstag v. 1867 Sten. Ber. 135. 137. Vgl. Hierſemenzel II. 293 fg. In der Litera - tur wird dieſe Verantwortlichkeit anerkannt von Hauſer S. 35. v. Bezold im Jahrb. II. (1873) S. 334. Auerbach 102 Note. Grotefend §. 754 S. 788. v. Mohl S. 277 fg. Die entgegengeſetzte Anſicht vertreten nament - lich Hänel S. 221; ferner v. Rönne Staatsr. d. Preuß. M. I. 2. S. 699 ff. (3. Aufl.) Meyer Grundz. 85. Thudichum 117. Riedel 26..

Man hat dies mehrfach mißverſtanden und dann in Folge dieſes Mißverſtändniſſes den Rechtsſatz ſelbſt verworfen.

Zunächſt handelt es ſich nicht, um die Rechtsgültigkeit der im Bundesrath abgegebenen Abſtimmung. Der Landesherr iſt nach dem Staatsrecht der Monarchie der alleinige und aus - ſchließlich befugte Vertreter des Staates Dritten gegenüber. Die gültige Abgabe einer Stimme im Bundesrath hat keine andere Vorausſetzung, als die formell ordnungsmäßige Legitimation des Bevollmächtigten, welche demſelben von dem Landesherrn bez. von dem Miniſter deſſelben ertheilt wird. Ganz unberührt von der ausſchließlichen Befugniß des Landesherren, den Bevollmächtigten im Bundesrath zu ernennen und mit einer Legitimation zu ver - ſehen, und von der rechtlichen Wirkung der von einem gehörig2)Reichsverfaſſung nicht vorgeſchrieben iſt, was Meyer Grundzüge S. 85 hervorhebt, iſt gänzlich unerheblich. Ueber die Frage, ob die Inſtruction der Bundesraths-Bevollmächtigten von der Zuſtimmung der Landtage landes - geſetzlich abhängig gemacht werden darf, vgl. unten §. 28.92§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.legitimirten Bevollmächtigten abgegebenen Stimme bleibt die Frage, nach welchen ſtaatsrechtlichen Grundſätzen die Inſtruction des Bevollmächtigten zu beurtheilen iſt1)Vgl. unten §. 28..

Die Verantwortlichkeit bezieht ſich ferner nicht auf die Be - ſchlüſſe des Bundesraths2)Auf dieſem Mißverſtändniß beruhen die Ausführungen von Hierſe - menzel II. 300, Meyer Grundzüge 85 ff., Thudichum Verf. der Nordd. B. S. 117 u. v. Treitſchke in den Preuß. Jahrb. Bd. 34 S. 538., noch viel weniger auf Reichsgeſetze, bei denen der Bundesrath überdies durch die Zuſtimmung des Reichstages gedeckt iſt. Der Einzelſtaat ſteht unter dem Reich; weder hat die Einzelregierung den Beruf und die Verpflichtung die Regierungshandlungen des Reiches zu rechtfertigen und zu verantworten, noch hat der Einzellandtag die Berechtigung, eine ſolche Rechtfertigung und Verantwortung zu fordern. Eine par - lamentariſche Verantwortlichkeit beſteht für die Reichsregierung einzig und allein dem Reichstage gegenüber.

Es handelt ſich vielmehr lediglich um die Verantwortung für Regierungshandlungen des Einzelſtaates, d. h. um die Verantwortung für die Inſtructions-Ertheilung an die Vertreter des Staates im Bundesrath, reſp. für die Unterlaſſung einer In - ſtructions-Ertheilung, wo eine ſolche durch das Intereſſe des Ein - zelſtaates geboten geweſen wäre. Ob eine derartige Regierungs - handlung oder Unterlaſſung überhaupt geeignet iſt, eine juriſti - ſche Verantwortlichkeit zu begründen, iſt ausſchließlich nach dem Staatsrecht, insbeſondere nach dem Miniſter-Verantwortlichkeits - Geſetz des einzelnen Staates zu entſcheiden3)Vgl. auch v. Mohl 64 fg. Wo eine Miniſter-Anklage geſtattet iſt wegen Handlungen, welche dem Landeswohl nachtheilig ſind, kann ſehr wohl auch das Verhalten der Landesregierung im Bundesrath den Grund einer ſolchen Anklage abgeben; ebenſo die Thatſache, daß eine Regierung lange Zeit hindurch die Ernennung eines Vertreters im Bundesrath ganz unterläßt. So geſtattet das Badiſche Geſ. über die Verantw. der Miniſter v. 20. Febr. 1868 §. 67 a die Miniſter. -Anklage wegen ſchwerer Gefährdung der Sicherheit oder Wohlfahrt des Staates. Vgl. Samuely Miniſterverantwortl. 80. 81. Hinſichtl. Bayerns vgl. Pözl S. 598 Note 5..

Eine politiſche (parlamentariſche) Verantwortlichkeit iſt in jedem Falle vorhanden und keine Regierung wäre berechtigt, eine Rechtfertigung ihres Verhaltens und eine Darlegung der Gründe93§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.deſſelben ihrer Landesvertretung gegenüber mit dem Hinweiſe ab - zulehnen, daß die in Rede ſtehende Angelegenheit Reichsſache ſei; denn die Inſtructions-Ertheilung an die Vertreter des Staates im Bundesrath iſt in der That niemals Reichsſache, ſondern im - mer eine Regierungs-Angelegenheit des Einzelſtaates1)Auch der Hinweis auf die parlamentar. Controlle durch den Reichstag iſt gänzlich unpaſſend. Der Reichstag iſt niemals in der Lage, die Regierun - gen der Einzelſtaaten zur Darlegung der Gründe ihres Verhaltens zu veran - laſſen. Die Vertreter des einzelnen Staates können ſich immer darauf beru - fen, daß ſie lediglich ihrer Inſtruction gemäß abzuſtimmen haben und daß ſie die Motive der ihnen ertheilten Inſtructionen nicht zu prüfen befugt ſind, ja dieſelben gar nicht zu kennen brauchen. Eine Discuſſion über die Inſtruc - tion der Vertreter im Bundesrath iſt eine häusliche Angelegenheit der Einzel - ſtaaten und kann lediglich zwiſchen den verantwortlichen Leitern der Regierung und der Volksvertretung des Einzelſtaates ſtatt haben.. Ganz unberührt von dieſem Grundſatz bleibt natürlich die materielle Würdigung der Gründe, welche die Regierung eines Einzelſtaates veranlaſſen können, im Intereſſe des Wohles der Geſammtheit ein Opfer zu bringen. Es iſt eine aus der Reichsangehörigkeit des Staats ſich von ſelbſt ergebende politiſche Pflicht, nicht lediglich das partikulariſtiſche Intereſſe, ſondern gleichzeitig das allgemeine Intereſſe des Reiches zu fördern.

Wenn man den Antheil der Einzelſtaaten an der Reichsge - walt, wie er ſo eben entwickelt worden iſt, in Betracht zieht, ſo ergiebt ſich zugleich, in welchem Sinne man den Einzelſtaaten den Charakter der Souveränetät beilegen kann.

Der Einzelſtaat iſt dem Reich gegenüber, wie wir bereits dargethan haben, nicht ſouverän, und da es keine Beſchränkung und folglich auch keine Theilung der Souveränetät geben kann, auch nicht innerhalb ſeiner Sphäre ſouverän. Aber der Ein - zelſtaat iſt an dieſer, über ihm ſtehenden Gewalt mitbetheiligt; die Deutſchen Staaten ſind nicht Einem von ihnen oder einem fremden Machthaber unterworfen, ſondern ſie ſind als einzelne der von ihnen ſelbſt gebildeten Geſammtheit unterworfen. Inner - halb des Bundesraths findet die Souveränetät einer jeden Regie - rung ihren unbeſtrittenen Ausdruck ſagte Fürſt Bismarck im ver - faſſungber. Reichstage2)Stenogr. Ber. 388.. Die Deutſchen Staaten ſind als Geſammtheit ſouverän.

94§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.

Daraus rechtfertigt es ſich vollkommen, daß die Landes - herren der Einzelſtaaten ihre perſönliche Souveränetät und alle damit verbundenen ſtaatlichen und völkerrechtlichen Ehrenrechte ungeſchmälert behalten haben und daß auch die Einzelſtaaten als ſolche ebenfalls die völkerrechtlichen Ehrenrechte der ſouveränen Staaten noch jetzt ausüben. Gegen die Bezeichnung der Einzel - ſtaaten als ſouverän iſt daher vom ſtaatsrechtlichen Standpunkt nichts einzuwenden, wenn man dabei nicht an das Verhältniß der Einzelſtaaten dem Reiche gegenüber, ſondern an das Verhält - niß der Mitbetheiligung der Einzelſtaaten an der Reichs - gewalt denkt.

Von einer durchaus abweichenden Anſicht über das Subject der Reichsgewalt gehen mehrere Schriftſteller1)Thudichum Verf. -Recht S. 101 fg. v. Mohl S. 50. Vgl. auch Pözl 106 Note 2. aus, welche als Träger der Reichsgewalt den Kaiſer, den Bundesrath und den Reichstag bezeichnen. Es bedarf aber kaum einer weiteren Aus - führung, daß hier der Träger der ſouveränen Gewalt mit den Organen der Reichs-Regierung verwechſelt iſt2)Es iſt ein ähnlicher Irrthum als wollte man in der Nordamerik. Union oder in der Schweiz nicht das Amerikaniſche Volk oder das Schweizer Volk, ſondern die parlamentariſchen Körperſchaften und Präſidenten dieſer Bundesſtaaten als Träger der Souveränetät erklären..

§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.

Das Verhältniß der Unterordnung der Einzelſtaaten unter die Reichsgewalt iſt ein dreifach verſchiedenes.

1) Für gewiſſe Hoheitsrechte ſind die Einzelſtaaten außer Funk - tion geſetzt; das Reich erfüllt ſeine Aufgaben mit ſeinen eigenen Hülfs - mitteln und macht die ihm zuſtehenden Rechte ſelbſtſtändig und direct geltend. Das iſt zunächſt hinſichtlich der Geſetzgebung des Reiches der Fall, indem die Reichs-Geſetze mit begrifflicher Nothwendigkeit ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen er - halten. Aber auch auf einzelnen Gebieten der Staatsverwaltung, z. B. Conſulatweſen, auswärtige Angelegenheiten, Marine, obere Poſt - und Telegraphenverwaltung u. ſ. w. hat das Reich ſich von den Einzelſtaaten völlig emancipirt und ſich ſeinen eigenen Apparat zur Ausübung ſeiner Lebensthätigkeit geſchaffen. Soweit dies ge -95§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.ſchehen iſt, iſt der Kreis der den Einzelſtaaten obliegenden Auf - gaben und der dazu erforderlichen Befugniſſe verengt. Würde das Reich die Geſammtheit der ſtaatlichen Aufgaben in dieſer Weiſe ſelbſt übernehmen, ſo würde die Exiſtenz der Einzelſtaaten beendigt ſein und die Fortdauer ihrer Namen wäre eine hiſtoriſche Remini - ſcenz wie es heut die Namen der mittelalterlichen Herzogthümer und Grafſchaften ſind. Höchſtens als Provinzen des Reichs könnten die Gebiete der Einzelſtaaten eine Bedeutung behalten.

2) Für einen großen Kreis von Hoheitsrechten des Reiches ſind die Einzelſtaaten Selbſtverwaltungs-Körper. Der Begriff der Selbſtverwaltung wird hier in einem Sinne genommen, der von der herrſchenden Lehre erheblich abweicht, und da im Folgenden dieſer Begriff vielfach Verwendung finden wird, ſo iſt es unerläßlich, ſeinen Inhalt hier näher feſtzuſtellen.

Das Wort Selbſtverwaltung iſt in Nachbildung des eng - liſchen Ausdrucks selfgovernment vorzugsweiſe durch die zahlreichen ausgezeichneten Schriften Gneiſt’s über das engliſche Verwal - tungsrecht in allgemeinen Gebrauch gekommen und zu einem poli - tiſchen Schlagworte geworden. Gneiſt ſelbſt hat faſt ausſchließlich die politiſche Bedeutung der Verwaltung mittelſt unbeſoldeter Ehrenämter entwickelt und den Gegenſatz einerſeits zu einer büreau - kratiſchen Verwaltung durch beſoldete Berufsbeamte andererſeits zu der Thätigkeit beſchließender, aber nicht verwaltender, Deputir - ten-Collegien anſchaulich gemacht. Er hat ſtets mit dem größten Nachdruck hervorgehoben, daß das Syſtem der Selbſtverwaltung der Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Geſellſchaft und das in England bewährt gefundene Mittel ſei, um die collidirenden egoi - ſtiſchen Intereſſen der verſchiedenen ſocialen Klaſſen einer ſtaatlichen Rechtsordnung zu unterwerfen. Im Hinblick auf die poſitive Ge - ſtaltung der engliſchen Einrichtungen definirt er den Begriff des selfgovernment als eine innere Landesverwaltung der Kreiſe und Ortsge - meinden nach den Geſetzen des Landes durch perſön - liche Ehrenämter, unter Aufbringung der Koſten durch communale Grundſteuern (Selfgovernment, Communalverfaſſung. 3. Aufl. S. 882 fg.).

Gneiſt wird nicht müde, in allen ſeinen Schriften hervorzu - heben, daß die Selbſtverwaltung nicht der Gegenſatz der Staats -96§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.verwaltung, ſondern eine Unterart der Staatsverwaltung iſt. Alle Aemter des selfgovernment haben den reinen Amtscharakter, alle Rechte und Ehren, alle Pflichten und Verantwortlichkeiten der Staatsämter1)a. a. O. S. 883. Vgl. Gneiſt Preuß. Kreis-Ordnung 1870 S. 9 u. Verwaltung, Juſtiz, Rechtsweg 1869 S. 98 fg.. Nicht die Staatsverwaltung ſondern die Mi - niſterverwaltung, d. h. die Verwaltung durch beſoldete Berufs - perſonen, bildet nach der Auffaſſung von Gneiſt den Gegenſatz zur Selbſtverwaltung und in ſeiner Schrift: Der Rechtsſtaat Berl. 1872 S. 161 fg. führt er aus, daß die Wiedereinführung oder weitere Ausbildung des Ehrenamtes der archimediſche Punkt des Rechtsſtaates ſei, weil die Verwaltung durch beſoldete Beamte wegen der Ernennungs - Beförderungs - und Abſetzungsbe - fugniß des Chefs Parteiverwaltung ſei, während das Ehrenamt ſich nicht parteimäßig behandeln laſſe.

Dieſe Auffaſſung des Begriffes der Selbſtverwaltung iſt ſchnell herrſchend geworden und es könnten unzählige Zeugniſſe aus poli - tiſchen Reden, Flugſchriften und Zeitungsartikeln dafür beigebracht werden, daß man ſich faſt allgemein daran gewöhnt hat, Selbſt - verwaltung und Verwaltung mittelſt Ehrenämtern zu identifiziren.

Indeß ſo wichtig in politiſcher Beziehung das Syſtem der Ehrenämter iſt, ſo ſehr die Reaction gegen die übermäßige und einſeitige Ausbildung der büreaucratiſchen Beamtenverwaltung ein Merkmal unſerer Zeit iſt und in dem Worte Selbſtverwaltung ein politiſches Schlagwort geſucht und gefunden hat, ſo erweiſt ſich doch für die ſtaatsrechtliche, d. h. juriſtiſche, Betrachtung der Organiſation des Staates der von Gneiſt zur Herrſchaft gebrachte Begriff der Selbſtverwaltung als nicht hinlänglich beſtimmt und nicht conſequent verwendbar.

Die Dotirung eines Amtes mit einer Beſoldung iſt weder für den Begriff des Amtes noch für die amtlichen Pflichten und Rechte maßgebend2)Vgl. unten §. 32. §. 37 ff.. Es fehlt vor Allem an einer feſten Grenze zwiſchen Ehrenämtern und beſoldeten Aemtern; denn der Begriff des Ehrenamtes ſchließt den Erſatz von Koſten, von Diäten und Reiſegeldern, von Repräſentationsgebühren u. ſ. w. nicht aus; auch nicht eine Remuneration mit einer Pauſchſumme, aus der dergleichen Koſten zu tragen ſind. Wo iſt da die Grenze zwiſchen97§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.der Remuneration des Ehrenamtes und der Beſoldung des Berufs - amtes? Die geſchichtliche Entwicklung des Brandenburgiſch-Preu - ſiſchen Landrathsamtes1)Vgl. die literar. Nachweiſungen bei v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1. §. 265. liefert ein höchſt bedeutſames und an - ſchauliches Beiſpiel dafür, wie leicht das Ehrenamt in ein Berufs - amt, die Koſtenentſchädigung mittelſt einer Pauſchſumme in einen, mit dem Amt verbundenen Gehalt übergehen kann. Andererſeits gibt es auch unbeſoldete Staatsämter. Iſt der unbeſoldete Gerichts - oder Regierungs-Aſſeſſor ein Beamter der Selbſtverwaltung? Hat der Geſandte, der doppelt ſo viel auszugeben genöthigt iſt, als ſeine Amtseinkünfte betragen, ein Ehrenamt?

Auch Alles, was von der Selbſtverwaltung in der herrſchen - den Bedeutung des Wortes ausgeſagt wird, die Unpartheilichkeit in der Ernennung und Entlaſſung, die Ausübung der obrigkeit - lichen Functionen nach Maßgabe der Geſetze, die Rechtscontrollen in den Formen des contradictoriſchen Verfahrens vor unabhängi - gen Gerichten, iſt auf die Verwaltung durch beſoldete Berufsbe - amte anwendbar und nach den Grundſätzen des Rechtsſtaates von jeder Form der Verwaltung geltend.

Ebenſowenig iſt die Decentraliſation ein für die Selbſtver - waltung characteriſtiſches Moment, worauf mit vielen Andern Schulze Preuß. Staatsr. § 127. 128 beſonderes Gewicht legt. Bei völlig büreaucratiſcher Staatsverwaltung kann die Decentra - liſation im größten Maaße erreicht werden durch Beſchränkung der Beſchwerden und anderen Rechtsmitteln, durch Ausſtattung der untern Inſtanzen mit weitreichenden Befugniſſen.

Die unjuriſtiſche Definition der Selbſtverwaltung als einer Verwaltung durch Ehrenämter hat zu immer weiterer Abirrung geführt. Man definirt die Selbſtverwaltung geradezu als Selbſt - thätigkeit der Bürger2)Gneiſt Preuß. Kreis-Ordn. S. 11. Das an jedem Punkt Entſchei - dende iſt die gewohnheitsmäßige Selbſtthätigkeit im Staatsberuf. . Als ob bezahlte und berufsmäßige Thä - tigkeit im Staatsdienſte keine Selbſtthätigkeit wäre, als ob die Hunderttauſende von Berufsbeamten der Militair - Finanz - Ge - richts - Polizeiverwaltung u. ſ. w. ihre Geſchäfte ohne Selbſtthä - tigkeit erledigen könnten oder keine Staatsbürger wären.

Man betont aber nicht nur ein begrifflich ganz unerheblichesLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 798§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.Moment, ſondern man verliert darüber das Weſen der Sache ganz aus den Augen, indem man vergißt, daß es ſich um obrigkeit - liche Funktionen, um die Ausübung ſtaatlicher Hoheitsrechte handelt.

Gneiſt unterſcheidet das Syſtem des obrigkeitlichen Self - governments und das Syſtem der wirthſchaftlichen Selbſt - verwaltung. Im Sinne des Selfgovernments, welches der eng - liſchen Parlamentsverfaſſung zu Grunde liegt, in dem Sinne des älteren, ungetrübten Verfaſſungsrechts ſind Gegenſtände der Selbſt - verwaltung nach Gneiſt’s Worten (Preuß. Kreis-Ordn. S. 9., Self - government, Communalverf. und Verwaltungsger. in England 3. Aufl. S. 882): nicht eigene Rechte, nicht geſellſchaftliche In - tereſſen, ſondern die ſtaatlichen Funktionen der innern Landesver - waltung; der Geſchworenendienſt, die Verwaltung der Sicherheits - und Wohlfahrtspolizei, die Militäraushebungen und das Landwehr - ſyſtem, die Armen - Schul - und Wegeverwaltung, die Erhebung und Verwaltung der Communalſteuern und des communalen Stamm - vermögens, wo ein ſolches vorhanden doch ſo, daß alle Ver - mögensverwaltung hier nur als Mittel zum Zweck der Erfüllung ſtaatlicher Pflichten erſcheint. Dieſer Umfang der Selbſtverwaltung ergiebt ſich aus der Natur der Staatsgeſchäfte. Es ſind die Functionen der örtlich thätigen Staatsgewalt, die ſich zur Handhabung im Nachbarverbande eignen 1)Vgl. auch die anſchauliche Darſtellung in Gneiſt’s Verwaltung, Ju - ſtiz, Rechtsweg S. 95 ff..

Im Gegenſatz hierzu conſtruirt Gneiſt ein Syſtem der wirthſchaftlichen Selbſtverwaltung, welches eine örtliche Gruppi - rung von Intereſſen bedeute und welches ſeinen Ausdruck in ge - wählten Localvertretungen und in der Verwaltung durch beſoldete Unterbeamte der letzern finde. Gegenſtände dieſer Selbſtverwaltung ſind nach Gneiſt (Communalverf. S. 941) nicht die Funktionen des örtlich thätigen Staats, ſondern die wirthſchaftlichen In - tereſſen des Verbandes: an erſter Stelle die Verwaltung des eigenen Vermögens, ſodann die Armenpflege, die Geſundheitspflege, Wegeverwaltung, die Beſorgung des örtlichen Polizeidienſtes. Die eigentlichen Gegenſtände des selfgovernment dagegen: der Ge - ſchworenendienſt, das Decernat der Sicherheits - und Wohlfahrts -99§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.polizei, die Militäraushebung und Einquartierung, die Steuer - jurisdiction der directen Staats - und Communalſteuern, rechnet die Geſellſchaft überhaupt nicht mehr zu ihrer Selbſtverwaltung.

Aus einer Vergleichung dieſer beiden Stellen ergiebt ſich, daß nur ſcheinbar die wirthſchaftliche Selbſtverwaltung im Sinne Gneiſt’s auf andere Gegenſtände wie die obrigkeitliche Selbſtverwaltung ſich erſtreckt. Das Verzeichniß der zu dem obrigkeitlichen Selfgovern - ment gehörenden Functionen iſt nur größer; was der wirthſchaft - lichen Selbſtverwaltung zugerechnet wird, nämlich Armenpflege, Geſundheitspflege, die ja doch ein Theil der Sicherheits - und Wohlfahrtspolizei und in einigen Beziehungen ein Theil der Ar - menpflege iſt, Wegeverwaltung, Ortspolizeiverwaltung, Ver - waltung des Communalvermögens, findet ſich auch in dem von Gneiſt aufgeſtellten Verzeichniß der Gegenſtände der obrigkeitlichen Selbſtverwaltung. Es ſind auch in der That lauter Aufgaben, denen ſich der Staat nicht entziehen kann, die ihrer Natur nach Staatsgeſchäfte ſind. Wie alle großen Aufgaben des Staates haben auch ſie eine wirthſchaftliche Bedeutung und können ſie ohne finan - zielle Mittel nicht durchgeführt werden; ebenſo wenig aber iſt ihre Durchführung möglich ohne die Staatsgewalt im Sinne einer obrig - keitlichen Herrſchaft, ohne die Macht des Staates, zu befehlen und zu verbieten. Auch in dieſen Gebieten der Verwaltung wird das Hoheitsrecht des Staates wirkſam. Der von Gneiſt betonte Gegenſatz berührt nicht ſowohl das Object der Selbſt - verwaltung, als die Organiſation derſelben; ſeine Darſtellung gipfelt in dem Nachweiſe, daß in den gewählten Verſammlungen mehr die wirthſchaftlichen Intereſſen der geſellſchaftlichen Klaſſen als die ſtaatlichen Intereſſen zur Geltung kommen, daß dem alten engliſchen Friedensrichter-Amt ein anderes politiſches Syſtem als den boards zu Grunde liegt. Am deutlichſten tritt dieſer Gedanke hervor in ſeinen vortrefflichen Ausführungen in Verwaltung, Juſtiz, Rechtsweg S. 102 ff. In dieſer Hinſicht kann man ihm vollkom - men zuſtimmen und ſein Urtheil über die politiſche Bedeutung ge - wählter Lokalvertretungen adoptiren. Dagegen hört der Begriff der Selbſtverwaltung auf, ein juriſtiſch begränzter zu ſein, wenn man die Fähigkeit juriſtiſcher Perſonen zur Vermögens-Adminiſtra - tion nach Maßgabe ihrer Korporationsverfaſſung und nach den Regeln des Privatrechts dazu zählt. Dieſer Vorwurf trifft Gneiſt7*100§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.ſelbſt nicht; ſeine Ausdrucksweiſe aber hat die Veranlaſſung gege - ben, unter wirthſchaftlicher Selbſtverwaltung die Beſeitigung oder Einſchränkung der Bevormundung von Gemeinde-Verbänden hin - ſichtlich der Verwaltung ihres privatrechtlichen Vermögens zu ver - ſtehen; ja ſelbſt die Handlungsfähigkeit der einzelnen Menſchen innerhalb der rechtlichen Schranken als Selbſtverwaltung zu be - zeichnen. Aus dieſem doctrinären Begriff der Selbſtverwaltung iſt jede Spur von ſtaatsrechtlichem, überhaupt von juriſtiſchem, Inhalte entſchwunden. Die äußerſte Linie iſt in dieſer Richtung wohl er - reicht worden von Hermann Rösler das ſociale Verwaltungs - recht. 1872. I. S. 43 fg. Er ſagt:

Die Selbſtverwaltung im materiellen Sinne bedeutet die rechtliche Anerkennung der Wahrheit, daß die Entwicklung der Menſchen auf ihrer eigenen, geſellſchaftlich bedingten Thä - tigkeit beruht, und ſie beſteht in der rechtmäßigen Durchführung der ſocialen Freiheit in allen Verhältniſſen des Culturlebens. Die Selbſtverwaltung verleiht (sic!) den Einzelnen ein beſtimmtes Gebiet unabhängiger Thätigkeit gegenüber den Verwal - tungsorganen und namentlich auch gegenüber dem Staate; ſie verleiht aber zugleich den Einzelnen einen beſtimmenden Einfluß auf die Bildung und die Thätigkeit der Verwaltungsorgane ſelbſt 1)Keineswegs richtiger, ſondern noch unklarer ſind die Bemerkungen in Tellkampfs Schrift Die Selbſtverwaltung Berlin 1872 S. 15 ſg. 31 fg. über das Weſen der Selbſtverwaltung und über ihre Bedeutung für den Rechts - und Verfaſſungsſtaat. .

Für dieſe Charakteriſtik der Selbſtverwaltung beruft ſich der Verf. auf Gneiſt, nur rectifizirt er ihn dahin, daß auch eigene Rechte und geſellſchaftliche Intereſſen Gegenſtand der Selbſtver - waltung ſeien, indem er ihn auf den Mündel aufmerkſam macht, der mündig wird und zur Selbſtverwaltung übergeht. (!)

Welche Theorie der Selbſtverwaltung auf ſolcher Grundlage erbaut wird, kann man wohl ahnen. Als allgemeine Sätze ſtellt Rösler folgende hin:

1. Alle Selbſtverwaltung im materiellen Sinne beruht noth - wendig auf der Freiheit des natürlichen (!) Lebens und des Ge - wiſſens, ſowie auf Freiheit der Religion, der Wiſſenſchaft und der Kunſt.

2. Die freie Entſcheidung und Thätigkeit müſſen in allen An -101§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.gelegenheiten gewahrt bleiben, in denen ſie als ſittliche Nothwendig - keit empfunden werden. Dazu die Note: z. B. bei der Begründung rein perſönlicher Verhältniſſe, namentlich bei der Eheſchlie - ßung, Wahl des Glaubensbekenntniſſes, geiſtiger Mittheilung und Verbindung mit andern. u. ſ. w.

Dahin führt die Begriffsbeſtimmung der Selbſtverwaltung als freie, unbeſoldete Selbſtthätigkeit der Bürger, daß ſchließlich Hei - rathen, Zeitungleſen, Briefſchreiben und vielleicht auch Eſſen, Trinken und Tabakrauchen zum Bereich der Selbſtverwaltung gehören, da der Staat freilich alles dieſes für ſeine Bürger nicht beſorgen kann, und die freie Entſcheidung und Thätigkeit in dieſen Dingen gewiß von Jedem als ſittliche Nothwendigkeit empfunden wird.

Um den Begriff der Selbſtverwaltung für das Staatsrecht zu beſtimmen, muß man von einem andern Geſichtspunkt ausgehen. Selbſtverwaltung iſt nicht der Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Geſellſchaft , ſondern der Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Unter - than1)Die bürgerliche Geſellſchaft oder ſociale Gemeinſchaft iſt weder Rechtsſubject noch Object von Rechten noch ein rechtlich beſtimmtes Verhältniß; ſie iſt überhaupt kein Rechtsbegriff, mithin auch kein Begriff des Staatsrechts. So bedeutſam der Begriff für Volkswirthſchaftslehre und Politik ſein mag, ſo unbrauchbar und verwirrend iſt er für die Rechtswiſſenſchaft.. Anſtatt daß der Staat ſeine obrigkeitlichen Herrſchafts - rechte direct durchführt, überträgt er die Durchführung an Per - ſonen, die ihm zwar unterworfen ſind, die aber ihm gegenüber eine beſondere öffentliche Rechtsſphäre, eine begrifflich verſchiedene Exi - ſtenz haben. Selbſtverwaltung beruht auf der Selbſtbeſchrän - kung des Staates hinſichtlich der Durchführung ſeiner Auf - gaben und der Geltendmachung ſeiner obrigkeitlichen Herrſchaftsrechte auf die Aufſtellung der dafür maßgebenden Normen und auf die Controlle ihrer Befolgung, während die Handhabung dieſer Normen ſelbſt Zwiſchengliedern übertragen wird. Es iſt ganz unrichtig, in der Selbſtverwaltung die freie Thätigkeit der einzelnen Bürger zu ſehen. Der einzelne Bürger ſteht auch den Organen der Selbſt - verwaltung als Unterthan, als Object obrigkeitlicher Rechte gegen - über; nicht die natürliche Freiheit des Einzelnen bethätigt ſich in der Selbſtverwaltung, ſondern die ſtaatliche Herrſchaft, der obrig - keitliche Zwang über den Einzelnen. Nur iſt es andererſeits nicht102§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.der Staat ſelbſt, der dieſen Zwang handhabt, ſondern ein öffent - lich rechtliches Subject, das zwiſchen den Staat und den Einzelnen geſtellt iſt und das vom Staat zur Durchführung ſeiner Aufgaben verwendet wird.

Dieſer Zwiſchenbau zwiſchen Staatsgewalt und Staatsbürger kann verſchieden organiſirt ſein. Es können die Mittelglieder monarchiſch gebildet ſein; dies war der Fall bei den Immunitäts - herren des Mittelalters, bei den zu Landesherren gewordenen Für - ſten und Grafen des alten Reiches, bei den mit Gerichtsbarkeit und Ortspolizeigewat ausgeſtatteten Grundherren. Dem feudalen Staat entſpricht der patrimoniale Charakter der Selbſtverwaltungs - Aemter. Patrimonialgerichtsbarkeit und gutsherrliche Polizei ſind demnach nicht, wie man gewöhnlich ſagt, der Gegenſatz der Selbſtverwaltung, ſondern eine Bethätigung, eine Form derſelben; aber allerdings eine Form, die im Widerſpruch ſteht mit den Prin - zipien des heutigen Staatsrechts und den ſein ganzes Weſen be - herrſchenden Ideen.

Es können ferner die Mittelglieder in der Geſtalt der juriſti - ſchen Perſonen des öffentlichen Rechts, alſo corporativ organiſirt ſein, als örtlich begränzte Verbände, die ihre rechtlich normirte Verfaſſung haben und als Subjecte von öffentlichen (obrigkeitlichen) Rechten und Pflichten fungiren. Selbſtverwaltungskörper dieſer Art waren in Deutſchland im Mittelalter die Städte und freien Landgemeinden und auch in England nimmt die Geſchichte des Self - governments ihren Ausgangspunkt von der Bildung öffentlich recht - licher Corporationen. Vgl. Stein, Verwaltungslehre 2. Aufl. I. 2. S. 160 fg. Die Verwandlung der feudalen Selbſtverwaltungs - ämter in corporative, beziehentlich die Neubildung corporativer Verbände und die Beauftragung derſelben mit obrigkeitlichen Ge - ſchäften, die bisher der Staat ſelbſt durch eigene Beamte ausge - führt hat, das iſt die politiſche That unſerer Zeit, die man ſoweit es ſich um die Beſeitigung der gutsherrlichen Polizei dabei handelte ungenau die Einführung der Selbſtverwaltung nennt, indem man eine Geſtalt der Selbſtverwaltung für den Begriff derſelben nimmt.

Für das richtige Verſtändniß der Selbſtverwaltung hat Lo - renz Stein in der zweiten Auflage ſeiner Verwaltungslehre I. Theil 2. Abth. (Stuttg. 1869) in ſo fern einen bedeutenden Fort -103§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.ſchritt angebahnt, als er den Begriff des Verwaltungskör - pers im Gegenſatz zum Regierungsorgan entwickelt, und die öffentlich rechtliche (juriſtiſche) Perſönlichkeit des Verwaltungskör - pers als begriffliches Erforderniß deſſelben dargethan hat1)Auch H. Schulze Preuß. Staatsr. II. S. 3 hebt die juriſtiſche Per - ſönlichkeit der korporativen Verbände, denen die Selbſtverwaltung übertragen iſt, mit Nachdruck hervor. Zu den beſten Erörterungen über das Weſen der Selbſtverwaltung gehören die kurzen Ausführungen von Ernſt Meier in v. Holtzendorff’s Encyclopädie I. 2. Aufl. S. 853 fg.. Dieſes Reſultat wird aber theils dadurch verdüſtert, daß Stein die Selbſt - verwaltungskörper mit den Vertretungen und Vereinen in Zuſammenhang bringt und aus ihnen ein Syſtem der freien Verwaltung combinirt, theils in ſeinem ſtaatsrechtlichen Werth verkümmert, indem er die Selbſtverwaltung ſtützt auf die örtlich begrenzte aber ſachlich unbegrenzte Gemeinſchaft, die durch den Grundbeſitz und ſeine Intereſſen und Verhältniſſe gegeben wird (S. 128). Die Rechtsſphäre der Selbſtverwaltungs - körper iſt keine ſachlich unbegränzte, der Grundbeſitz iſt nicht die alleinige Quelle der in dem Selbſtverwaltungskörper zur Erſchei - nung kommenden Gemeinſchaft. Das natürliche Subſtrat des Selbſtverwaltungskörpers iſt ganz daſſelbe wie dasjenige des Staates: ein örtlich begrenztes Gebiet und die auf demſelben anſäſſigen Staatsbürger, und die recht - liche Quelle ſeiner Befugniſſe iſt das ſouveräne Herrſchaftsrecht des Staates, welcher dem Selbſtverwal - tungskörper die ſelbſtſtändige Handhabung obrigkeitlicher Rechte und Pflichten übertragen reſp., wo er denſelben vorgefunden, über - laſſen hat.

Selbſtverwaltung bedeutet ſeinem Wortſinn nach den Gegen - ſatz zum Verwaltet-werden. Wird von einem politiſchen Körper ausgeſagt, daß er ſich ſelbſt verwaltet, ſo ſetzt das begrifflich immer eine höhere Macht voraus, von der er auch verwaltet werden könnte. Das Wort iſt daher unanwendbar von der höchſten, oberſten, wirklich ſouveränen Macht, da bei ihr ein Verwaltet - werden unmöglich und undenkbar iſt2)Eine Folge der herrſchenden Lehre von der Selbſtverwaltung iſt die, daß man ſelbſt die Volksvertretung dahin rechnet. So ſagt z. B. Weſter - kamp Reichsverfaſſung S. 232: die Selbſtverwaltung innerhalb des Deut -. Dagegen findet der Begriff104§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.der Selbſtverwaltung überall da Anwendung, wo eine obere Gewalt die ihr zuſtehenden Hoheitsrechte nicht unmittelbar mittelſt eines eigenen, zu ihrer ausſchließlichen Dispoſition ſtehenden Appa - rates durchführt, ſondern ſich darauf beſchränkt, die Normen für die Ausübung dieſer Hoheitsrechte aufzuſtellen und ihre Durch - führung zu beaufſichtigen, während die Durchführung ſelbſt niedern, untergeordneten politiſchen Körpern übertragen oder überlaſſen iſt. Ob die Verwaltung durch beſoldete Berufsbeamte oder durch unbe - ſoldete Inhaber von Ehrenämtern beſorgt wird, iſt für den Be - griff der Selbſtverwaltung unerheblich. Die communale Ver - waltung durch beſoldete, auf lange Zeit oder lebenslänglich ange - ſtellte Bürgermeiſter bleibt Selbſtverwaltung; die Thätigkeit unbe - ſoldeter Conſuln oder der unbeſoldeten Mitglieder der Reichsſchul - denkommiſſion iſt unter keinem Geſichtspunkt Selbſtverwaltung. Im einzelnen Staate iſt Selbſtverwaltung diejenige obrigkeitliche Verwaltung, welche nicht durch Behörden und Beamte des Staates, oder da dieſe Behörden nur Organe oder Apparate des Staates ſind, nicht durch den Staat ſelbſt, ſondern durch ihm zwar untergeordnete, aber innerhalb ihres Wirkungskreiſes ſelbſtſtändige Corporationen oder Einzelperſonen verſehen wird.

Im Reich iſt der Einzelſtaat eine, innerhalb ſeines Wirkungs - kreiſes ſelbſtſtändige Perſon (Corporation), welche unter der ſou - veränen Geſetzgebung und Aufſicht des Reiches die Verwaltung führt. Der Art. 4 der Reichsverfaſſung normirt prinzipiell das Verhältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten in der Art, daß die in dieſem Artikel aufgeführten Angelegenheiten der Beaufſichtigung Seitens des Reichs und der Geſetzgebung deſſelben unterliegen.

Das Reich iſt demnach dem Prinzip nach auf diejenigen Be - fugniſſe beſchränkt, welche der Selbſtverwaltung gegenüber be - ſtehen, die das Complement der Selbſtverwaltung bilden, ſie nega - tiv im Gegenſatz zur eigenen und directen Verwaltung durch die ſouveräne Gewalt beſtimmen, nämlich auf die Aufſtellung der Nor - men und die Beaufſichtigung ihrer Befolgung. Die Durchführung und Handhabung der Geſetze dagegen iſt auf das Reich nicht übergegangen, folglich den Einzelſtaaten verblieben. Jedoch hat2)ſchen Reiches beſteht in der ausgedehnten Einwirkung, welche der aus Vertre - tern des Deutſchen Volkes beſtehende Reichstag auf alle Reichsangelegenheiten ausübt. 105§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.die Reichsverfaſſung ſelbſt dieſes Prinzip, wie bereits S. 94 ausge - führt iſt, in einzelnen Beziehungen durchbrochen und kraft der dem Reiche zuſtehenden ſouveränen Gewalt kann es durch ein, nach Art. 78 zu Stande gekommenes, die Verfaſſung abänderndes Ge - ſetz die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten für gewiſſe Angelegen - heiten beſeitigen oder beſchränken. Das Maaß der den Einzel - ſtaaten überlaſſenen Selbſtverwaltung iſt auf den verſchiedenen Gebieten der ſtaatlichen Thätigkeit höchſt mannigfach beſtimmt. Während z. B. die Handhabung der Gewerbepolizei den Einzel - ſtaaten vollſtändig verblieben iſt und das Reich in der Gewerbe - ordnung nur die Rechtsgrundſätze, nach denen die Verwaltung zu führen iſt, aufgeſtellt hat, iſt die Selbſtverwaltung der Zölle an feſte Formen und Regeln gebunden und einer ſtetigen, unmittel - baren Controlle unterworfen. Bei der Darſtellung der einzelnen Verwaltungszweige wird die Gränzlinie der Verwaltungscompetenz des Reichs und der Einzelſtaaten näher feſtgeſtellt werden.

3) Neben den der Geſetzgebung und Aufſicht des Reichs un - terſtellten Angelegenheiten iſt noch ein großer Kreis von öffentlich rechtlichen Funktionen vorhanden, welche den Einzelſtaaten ver - blieben ſind. Es gehört dahin zunächſt die Organiſation der Ein - zelſtaaten ſelbſt, die Normirung des Thronfolgerechts, Wahlrechts, der Beamtenverfaſſung, der Provinzial -, Kreis - und Gemeindever - faſſung, ferner das geſammte Gebiet der directen Steuern, das Unterrichtsweſen u. ſ. w. Hinſichtlich dieſer Angelegenheiten ſind die Einzelſtaaten nicht Selbſtverwaltungskörper des Reiches, ſondern ihre Stellung iſt eine freiere und unabhängigere, indem ſie weder der Geſetzgebung noch der Oberaufſicht des Reiches unterworfen ſind. Freilich können dieſe Angelegen - heiten nicht völlig getrennt und losgelöſt werden von denjenigen, auf denen das Reich competent iſt; die verſchiedenen Lebensfunc - tionen des Staates hängen innerlich ſo feſt zuſammen, durchdringen und beſtimmen ſich gegenſeitig ſo vielfach, ſind ſo ineinander ge - ſchlungen und verwickelt, daß es unmöglich iſt, ſie durch einen tiefen Schnitt von einander zu trennen oder zwiſchen ihnen eine Competenzgrenze wie eine chineſiſche Mauer aufzurichten. Die Einzelſtaaten empfinden auf allen Gebieten des ſtaatlichen Lebens die höhere Macht, der ſie unterworfen ſind, da ſie ſich nur inner - halb des Raumes bewegen können, den die Reichsgeſetzgebung106§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.ihnen frei läßt. Aber ein ſolcher Raum iſt vorhanden; er iſt durch das Reich begränzt, aber nicht abſorbirt.

Aus dieſem Grunde erweiſt es ſich als unrichtig, wenn man ſagt, die Einzelſtaaten ſeien zu Verwaltungs-Diſtricten des Reiches geworden, ſie hätten aufgehört, Staaten zu ſein. Sie haben viel - mehr eine Fülle obrigkeitlicher Befugniſſe und öffentlich rechtlicher Macht kraft eigenen Rechts; nicht durch Uebertragung vom Reich; nicht als Organe, deren ſich das Reich bedient zur Erfül - lung ſeiner Aufgaben, zur Durchführung ſeines Willens, ſon - dern als ſelbſtſtändige Rechtsſubjecte mit eigener Rechtsſphäre, mit eigener Willens - und Handlungsfreiheit. Dadurch eben unter - ſcheidet ſich der zuſammengeſetzte Staat von dem decentraliſirten Einheitsſtaat, beziehentlich der Gliedſtaat vom Selbſtverwaltungs - Körper. Allerdings iſt eine Einſchränkung hinzuzufügen. Das Reich hat nämlich nach Art. 78 ideell eine unbegrenzte Kompetenz; es kann die verfaſſungsmäßig geſtellte Gränze zwiſchen ſeiner Machtſphäre und der Machtſphäre der Einzelſtaaten in der Form der Verfaſſungs-Aenderung einſeitig d. h. ohne Zuſtimmung der einzelnen Gliedſtaaten verändern; es kann alſo den Gliedſtaaten die ihnen verbliebenen Hoheitsrechte entziehen. In einem gewiſſen Sinne kann man daher ſagen, daß die Einzelſtaaten ihre obrig - keitlichen Rechte nur durch die Duldung des Reiches, nur preca - rio, haben, daß ideell das Reich die ſtaatliche Gewalt in voller Integrität beſitze und daß die Einzelſtaaten auch diejenigen Rechte, auf welche ſich die Kompetenz des Reiches nicht erſtreckt, ebenſo wie diejenigen, welche ihnen das Reich innerhalb ſeiner Kompetenz zuweiſt, nur durch den Willen des Reiches haben.

Damit iſt aber nur geſagt, was überhaupt von allen Rechten gilt, auch von ſämmtlichen Berechtigungen des Privatrechts, daß ſie nämlich nur beſtehen, ſo lange eine höhere ſtaatliche Macht ſie duldet. Es iſt gewiß, daß der ſouveräne Staat Eigenthum, Lehn - recht, die Gültigkeit gewiſſer Obligationen, die väterliche Ge - walt u. ſ. w. abzuſchaffen vermag; daß jeder Staatsbürger jedes einzelne Vermögensrecht nur hat in dem Umfange und ſo lange, als der Staat es duldet. Aber deſſen ungeachtet wäre es eine verkehrte Anſchauung, alle dinglichen und Forderungsrechte der Individuen als vom Staate abgeleitete, von ihm übertragene107§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.Rechte zu bezeichnen; der Staat iſt nicht poſitiv Urſprung und Quelle, Schöpfer und Träger dieſer Rechte, ſondern ſein Wille iſt nur ein negatives Erforderniß, indem Rechte, welche der Staat nicht duldet, nicht entſtehen oder fortbeſtehen können.

Ganz in derſelben Weiſe können die obrigkeitlichen Hoheits - rechte der Einzelſtaaten allerdings nicht ausgeübt werden und überhaupt nicht fortbeſtehen, ſo weit das Reich ihre Ausübung oder Fortexiſtenz nicht ferner duldet; aber deſſenungeachtet wurzeln dieſe Rechte der Einzelſtaaten nicht im Willen des Reiches und ſind nicht aus der Machtfülle des Reiches abgeleitet, ſondern ſie haben ihren poſitiven Grund in der hiſtoriſchen Thatſache, daß die Einzelſtaaten älter ſind als das Reich, daß ſie ſouveräne Gemeinweſen waren, bevor das Reich gegründet worden iſt.

Das Verhältniß der Einzelſtaaten zum Reich kann juriſtiſch nicht darnach beſtimmt werden, wie es ſich im Laufe der geſchicht - lichen Entwicklung einmal geſtalten könnte, ſondern darnach, wie es nach dem gegenwärtig gültigen Recht geregelt iſt. Der jetzige Rechtszuſtand aber iſt der, daß den Einzelſtaaten ein Gebiet ſtaatlicher Thätigkeit und Macht verblieben iſt, auf welchem ſie, und nicht das Reich, die Herren ſind.

Ebenſo unrichtig iſt es aber, die Einzelſtaaten hinſichtlich der ihnen verbliebenen Sphäre als ſouverän zu bezeichnen1)Vgl. oben S. 74 ff..

Der Unterſchied dieſer Sphäre gegen diejenigen Gebiete, auf denen das Reich nach Art. 4 competent iſt, beſteht nur darin, daß die Einzelſtaaten nicht bloß die Selbſtverwaltung haben, ſondern daß ſie auch die rechtlichen Normen dieſer Verwaltung aufſtellen, die Ziele, Zwecke und Mittel der Verwaltung rechtlich beſtimmen. Das iſt das weſentliche Unterſcheidungsmerkmal zwiſchen den zur Kompetenz des Reiches gezogenen Gebieten und den nicht dazu gehörigen, daß auf den erſteren das Reich die Rechtsnormen der Verwaltung giebt, auf den letzteren der Einzelſtaat. Auf den letzteren Gebieten hat der Einzelſtaat die Selbſtgeſetzgebung, die Autonomie.

Der Begriff der Autonomie iſt dem der Selbſtverwaltung analog und wird mit ihm nicht ſelten zuſammengeworfen. In108§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.früherer Zeit verſtand man auch unter Autonomie, gerade wie jetzt vielfach unter Selbſtverwaltung, die natürliche Freiheit des Menſchen, ſeine Rechtsverhältniſſe durch Willensacte zu ordnen1)Vgl. darüber v. Gerber Geſ. Juriſt. Abh. I. S. 36..

Dieſer Begriff iſt kein Rechtsbegriff, ſondern nur der Aus - druck für die rechtlich anerkannte Willens - und Handlungsfähigkeit. Autonomie iſt, im juriſtiſchen Sinne, immer eine geſetzgebende Gewalt. Aber ſie ſteht im Gegenſatz zur Souveränetät. Selbſt - geſetzgebung kann man nur demjenigen Gemeinweſen als beſondere Eigenſchaft zuſchreiben, dem die Geſetze auch von einer über ihm ſtehenden Gewalt gegeben werden könnten; die wahrhaft ſou - veräne Gewalt kann keine Geſetze von außen erhalten, es würde daher eine ſelbſtverſtändliche Trivialität ſein, von ihr auszuſagen, daß ſie die Befugniß habe, ſich ſelbſt Geſetze zu geben. Autono - mie, als ein juriſtiſch relevanter Begriff ſetzt daher eine nicht ſouveräne, öffentlich rechtliche Gewalt voraus, der die Befugniß zuſteht, kraft eigenen Rechts, nicht auf Grund bloßer Delegation, verbindliche Rechtsnormen aufzuſtellen. Der Mangel der Souveräne - tät tritt bei dieſer Geſetzgebungsgewalt zu Tage, indem ſie ſich innerhalb der Gränzen halten muß, die der Souverän der Auto - nomie geſteckt hat, und indem ſie keine Rechtsnormen aufſtellen kann, welche den vom Souverän aufgeſtellten widerſprechen. Die erſte dieſer beiden Schranken iſt für die Einzelſtaaten aufgerichtet durch Art. 78 Abſ. 1 der Reichsverfaſſung, welcher dem Reich die Be - fugniß giebt, die Gränzlinien der Autonomie der Einzelſtaaten nach ſeinem Belieben zu verrücken; die zweite Schranke enthält Art. 2 der Reichsverfaſſung, wonach die Reichsgeſetze den Landes - geſetzen vorgehen2)Ein Beiſpiel dafür, daß ſelbſt hinſichtlich des Landes verfaſſungs - rechtes die Einzelſtaaten zwar Autonomie haben, jedoch nicht ſouverän ſind, giebt der §. 49 des Reichsmilitärgeſetzes vom 2. Mai 1874 (R. -G.-Bl. S. 59), welcher ausſpricht, daß für Militärperſonen die Berechtigung zum Wählen in Betreff der einzelnen Landesvertretungen ruht und daß beſondere Militär - Wahlbezirke nicht gebildet werden dürfen. Hierdurch iſt namentlich das Preuß. Wahlgeſetz vom 30. Mai 1849 § 9 verändert worden..

Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß ſoweit die Autonomie der Einzelſtaaten reicht, ihnen auch die Verwaltung (Regierung) im vollen Umfange zuſteht.

109§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Faſſen wir das Reſultat dieſer Erörterungen zuſammen, ſo ergiebt ſich, daß die Einzelſtaaten, abgeſehen davon, daß ſie Mit - glieder des Reiches und als ſolche antheilsmäßig an der Reichs - gewalt mitberechtigt ſind, dem Reiche unterworfen ſind

  • a) theils als Beſtandtheile, als bloß geographiſche Diſtricte, in denen die Reichsgewalt ſich direct und unmittelbar be - thätigt;
  • b) theils als Selbſtverwaltungskörper, welche die Durchführung und Handhabung der Reichsgewalt nach den vom Reich ge - gebenen Normen und unter Aufſicht des Reichs vermitteln;
  • c) als autonome, (nicht ſouveräne) Staaten.

§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten1)Vgl. meine Abhandlung in Hirth’s Annalen 1874. S. 1487 1524. Eine ausführliche Entgegnung auf dieſelbe hat Löning ebendaſelbſt 1875 S. 337 ff. veröffentlicht, welche in ihren weſentlichen Reſultaten mit der von Hänel Studien I. S. 183 ff. entwickelten Theorie übereinſtimmt..

Aus der Natur des Bundesſtaates als einer aus Staaten be - ſtehenden öffentlich rechtlichen Corporation ergiebt ſich, daß die Mitglieds-Staaten Rechte, ſowie auch Pflichten haben. Die Or - ganiſation einer juriſtiſchen Perſon iſt ſelbſt ein Gegenſtand der objectiven Rechtsordnung und ſie erzeugt ſubjective Berechtigungen, Befugniſſe, die rechtlich begränzt und rechtlich geſchützt ſind, für ihre Mitglieder. Den Rechten entſprechen dann öffentlichrechtliche Pflichten.

Dieſe Rechte ſind aber nicht durchweg von gleicher juriſtiſcher Natur; ihr Verhältniß zur Mitgliedſchaft an ſich iſt vielmehr ein verſchiedenes und dadurch ergeben ſich Unterſchiede von practiſcher Bedeutung für dieſe Rechte ſelbſt. Es laſſen ſich folgende Kate - gorien unterſcheiden.

I. Mitgliedſchaftsrechte. Die Mitgliedſchaft bei jeder juriſtiſchen Perſon iſt ein Complex von Rechten und Pflichten und kann in einzelne Befugniſſe und Verpflichtungen aufgelöſt werden. Dieſe Rechte und Pflichten ſind lediglich das Reſultat oder der Reflex der Korporations-Verfaſſung, die Wirkung der Korporations - Verfaſſung auf die einzelnen Mitglieder2)Laband a. a. O. S. 1501. 1502..

Dies gilt auch vom deutſchen Reich. Die dem Reiche oblie -110§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.genden ſtaatlichen Aufgaben involviren einerſeits Beſchränkungen der Mitgliedſtaaten, indem die zur Erfüllung dieſer Aufgaben er - forderlichen Hoheitsrechte dem Einzelſtaat entzogen und auf das Reich übertragen ſind; ſie begründen aber andererſeits Rechte der Einzelſtaaten und ihrer Angehörigen, daß das Reich dieſe Aufgaben auch für ſie und zu ihren Gunſten erfüllt.

Rechte dieſer Art ſind der Anſpruch jedes Staates auf den diplomatiſchen und militäriſchen Schutz gegen Rechtsverletzungen Seitens des Auslandes und Seitens anderer Bundesſtaaten und der Anſpruch, daß das Reich die ihm obliegende Pflege der Wohl - fahrt des deutſchen Volkes allen zum Reiche gehörenden Theilen gleichmäßig angedeihen läßt1)Eingang zur Reichs-Verfaſſung.. Die Thätigkeit der Reichs-Geſandt - ſchaften und Konſulate, der Reichsgerichte und anderen Reichsbehör - den, die Einrichtung und die Verwaltung der Poſt und Telegraphie, die Kontrole des Eiſenbahnweſens im Intereſſe des Verkehrs und der militäriſchen Leiſtungsfähigkeit, die Förderung der Erwerbs - fähigkeit der Nation durch Handels - und Schiffahrtsverträge und durch Regelung und Handhabung des Zollweſens u. ſ. w. alles dieſes liegt dem Reich für jeden zu ihm gehörenden Staat ob und begründet nicht nur Beſchränkungen der dem einzelnen Staate zu - ſtehenden Gewalt, ſondern in demſelben Maaße und Umfange auch Anſprüche deſſelben auf die Fürſorge des Reiches.

Entſprechend dieſen Rechten der Einzelſtaaten auf den Schutz und die Wohlfahrtspflege Seitens des Reiches ſind die Pflichten des Einzelſtaates zur antheilsmäßigen Tragung der militäriſchen und finanziellen Laſten.

Aber auch nach einer anderen Richtung involvirt die Mitglied - ſchaft Rechte der Einzelſtaaten, indem dieſelben betheiligt ſind an den Organen, durch welche das Reich ſeinen Willen äußert und bethätigt. Hierhin gehört das Recht jedes Staates auf diejenige Anzahl von Stimmen im Bundesrath, welche nach dem im Art. 6 feſtgeſtellten Grundſatz ihm zukommen, und der Anſpruch, daß die von ihm abgegebene Abſtimmung bei der Feſtſtellung der Be - ſchlüſſe des Bundesraths Berückſichtigung findet. Ferner das Recht jedes Staates auf antheilsmäßige[Vertretung] ſeiner Bevölkerung im Reichstage nach Maaßgabe des dem Reichswahlgeſetz zu Grunde111§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.liegenden Wahlſyſtems. Endlich das Recht jedes Staates, daß ſeine Angehörigen unter den gleichen Bedingungen wie die Ange - hörigen der andern Staaten zur Bekleidung von Reichsämtern be - fähigt, daß ſie von denſelben nicht grundſätzlich ausgeſchloſſen ſind.

Aus der Natur dieſer Rechte als unmittelbarer Wirkungen der Reichsverfaſſung ergeben ſich zwei Rechtsſätze.

1. Die Rechte der Einzelſtaaten können ſich mit jeder Aende - rung der Verfaſſung ändern, ja auch ohne Abänderung der Ver - faſſungs-Urkunde in Folge der dem Reiche zuſtehenden Geſetzgebung. So iſt z. B. durch das Geſ. über die Rechtsverhältniſſe der zum dienſtlichen Gebrauche einer Reichsverwaltung beſtimmten Gegen - ſtände v. 28 Mai 1873 und durch das Geſ. über die Errichtung eines Reichs-Eiſenbahn-Amtes vom 3. Juli 1873 eine ſolche Aen - derung der Mitgliedſchafts-Rechte der Einzelſtaaten eingetreten.

Es iſt demgemäß der Inhalt der Mitgliedſchaftsrechte ein wechſelnder. Beſtimmt wird derſelbe einſeitig vom Reich durch die von ihm ausgehenden Willensakte, welche theils im Wege der verfaſſungsändernden theils im Wege der einfachen Geſetzgebung theils auch im Wege eines Beſchluſſes des Bundesraths, ſo weit die Kompetenz des letzeren ſich erſtreckt, erfolgen können. Der einzelne Staat kann nur durch ſeine Abſtimmung im Bundes - rath auf die Erhaltung oder Erweiterung ſeiner Rechte oder auf die Einſchränkung ſeiner Pflichten hinwirken; hat das Reich ſeinen Willen in verfaſſungsmäßiger Weiſe erklärt, ſo iſt der Wille des einzelnen Staates unerheblich. Die Geſammtheit der einzelnen Staaten erſcheint tamquam unum corpus und der Theil wird durch die Veränderung des Ganzen ohne Weiteres mitbetroffen.

Die einzelnen in der Mitgliedſchaft enthaltenen Rechte und Pflichten der Staaten ſind daher dem Reiche gegenüber nicht iura quaesita, die nicht ohne Zuſtimmung der einzelnen Staaten ein - geſchränkt oder beſeitigt werden können. Ebenſo wenig ſind die in der Mitgliedſchaft begründeten Pflichten ihrem Umfange nach definitiv begränzt, ſo daß ſie nicht ohne Zuſtimmung der einzelnen Staaten erſchwert werden können. Wol aber können ſich aus der Mitgliedſchaft einzelne Rechte und Pflichten ablöſen als perfekt ge - wordene Wirkungen, als ſelbſtändig gewordene Rechte und Pflichten, die man der Mitgliedſchaft gegenüber mit ſeparirten Früchten ver -112§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.gleichen kann1)Laband a. a. O. S. 1502.. Dahin gehört z. B. der Anſpruch der einzelnen Staaten auf die Poſtüberſchüſſe gemäß Art. 51 der R. -V. und § 3 des Geſ. vom 10. März 1870 oder auf die Vergütung der Er - hebungskoſten für Zölle und Verbrauchsabgaben gemäß Art. 38 der R. -V. rückſichtlich der bereits abgelaufenen Zeit. Das Reich kann allerdings jeder Zeit die angeführten Geſetzesbeſtimmungen ändern; würde das Reich dies aber mit rückwirkender Kraft thun, ſo würde es dadurch zweifellos in iura quaesita einzelner Staaten eingreifen. Rückſichtlich der Pflichten der Staaten liefern die Matrikular-Beiträge ein analoges Veiſpiel; das Reich kann jeder Zeit für dieſelben einen neuen Vertheilungs-Maaßſtaab einführen; für die Zeit aber bis zu dieſer Aenderung hat der Einzelſtaat ein erworbenes Recht, daß die bis dahin fällig ge - wordenen Beiträge nach den beſtehenden Grundſätzen berechnet werden.

2. Die Mitgliedſchaftsrechte ſind grundſätzlich für alle Staaten dieſelben, nicht etwa in dem Sinne, daß ſie für alle Staaten abſolut gleich ſind, ſondern daß auf alle Staaten dieſelben Rechtsregeln Anwendung finden. Bei der Begründung des Nord - deutſchen Bundes und dem Hinzutritt der Süddeutſchen Staaten ſtanden ſich die, bis dahin ſouveränen Deutſchen Staaten als völlig gleichberechtigte Perſönlichkeiten gegenüber und auf der An - erkennung dieſer Gleichberechtigung, der Koexiſtenz aneinander ebenbürtiger ſtaatlicher Perſonen beruht das Bundesverhältniß, der bundesſtaatliche Charakter des Reiches. Es iſt nicht ausge - ſchloſſen, daß nicht einzelnen Staaten Sonderrechte eingeräumt werden, durch welche die Laſten und Pflichten der übrigen nicht erſchwert werden, wie z. B. die Kompetenz-Beſchränkungen des Reiches hinſichtlich der ſüddeutſchen Staaten; es iſt ferner zu - läſſig, einzelnen Staaten mit Zuſtimmung aller übrigen Prä - rogativen beizulegen, wie z. B. die Präſidialrechte Preußens; es iſt endlich vollkommen zuläſſig, einem Staat größere Laſten auf - zuerlegen oder ihm größere Opfer an Hoheitsrechten zuzumuthen, wie andern, aber es ſetzt dies ſeine ſpezielle Einwilligung vor - aus2)Beiſpiele ſind die Ausantwortung der Preuß. Marine und aller Ma - rine-Etabiſſements an das Reich ohne Entſchädigung, die Abfindung des Für -.

113§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Von dieſen Fällen abgeſehen hat die Reichsverfaſſung aber den Grundſatz, daß alle Bundesſtaaten gleiche Rechte und Laſten haben, überall durchgeführt, wenngleich er als ein allgemeines Prinzip nicht ausgeſprochen worden iſt. Den deutlichſten Ausdruck hat er im Art. 58 hinſichtlich der Koſten und Laſten des Kriegs - weſens gefunden, ferner im Art. 70 hinſichtlich der Vertheilung der Matrikular-Beiträge. Aber auch in allen andern Beziehungen finden Belaſtungen und Beſchränkungen einzelner Staaten über das Maaß hinaus, welches für Alle als Regel gilt, nicht ſtatt und es muß als ein allgemeines Prinzip für die Reichsgeſetzgebung überhaupt anerkannt werden, daß jede Abweichung von der Gleich - berechtigung zu Ungunſten eines oder einzelner Mitglieder des Reiches deren ſpezielle Zuſtimmung erfordert1)Laband a. a. O. S. 1514. 1515. Wenn Löning a. a. O. S. 359 ff. gegen die Annahme eines ſolchen Sonderrechts polemiſirt, ſo iſt ſeine Polemik inſofern gegenſtandslos, als ich den Anſpruch jedes Einzelſtaates auf gleiche Behandlung gerade für das Gegentheil eines Sonderrechts, für den, allen Mitgliedern gleichmäßig zu Gute kommenden Ausfluß der Mitgliedſchaft, für ein Mitgliedſchafts-Recht erklärt habe. Wenn er aber den Rechts - ſatz ſelbſt, daß die Verletzung dieſes Mitgliedſchafts-Rechtes ohne Zuſtimmung des Berechtigten nicht zuläſſig ſei, beſtreitet, ſo hätte es m. E. dafür gewich - tigerer Gründe bedurft, als daß der Rechtsſatz in der Regel entbehrlich ſei, weil ſeine Verletzung ſchon durch die Ehrlichkeit und Gerechtigkeit ſich ver - biete, und daß er unter Umſtänden unbequem ſein könne..

II. Sonderrechte einzelner Mitglieder (iura singularia). Unter Sonderrechten verſteht man beſtimmte Rechte einzelner Bundesſtaaten in deren Verhältniß zur Geſammtheit, welche Abweichungen von der ſonſt geltenden Regel zu Gunſten eines oder einzelner Staaten bilden. Sie ergeben ſich nicht aus der An - wendung der verfaſſungs - oder geſetzmäßigen Prinzipien, ſondern ſie beruhen auf der Nichtanwendung derſelben; ſie ſind nicht Reflexwir - kungen der Verfaſſung, ſondern Modifikationen derſelben2)Laband a. a. O. S. 1502. 1503.. Immer handelt es ſich dabei um Rechte der Mitglieder in deren Verhältniß zur Geſammtheit, nicht um Rechte, welche den einzelnen Staaten außer aller Beziehung zum Reiche zuſtehen. Man könnte daher wohl auch die Sonderrechte als eine Unterart der Mitgliedſchafts -2)ſten Thurn-Taxis für ſein Poſtregal auf Koſten Preußens, die zeitweiſe Ver - wendung preußiſcher Beamtenkräfte, namentlich in den Miniſterien, für Reichs - zwecke u. dgl.Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 8114§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.rechte bezeichnen; jedoch ſind ſie nicht ohne Weiteres in der Mit - gliedſchaft enthalten, ſondern ſie bedürfen eines beſonderen Titels. Dieſer Titel kann entweder ein Vertrag zwiſchen dem Reich und dem Einzelſtaat ſein oder ein legislatoriſcher Akt des Reiches, und der letztere wieder in dreifacher Abſtufung, entweder eine Beſtim - mung der Verfaſſung, oder ein einfaches Geſetz oder ein Beſchluß des Bundesraths innerhalb der demſelben zuſtehenden Kompetenz1)Vgl. zu dem Folgenden Laband a. a. O. S. 1507 fg. Ein Beiſpiel für die Begründung von Sonderrechten durch einen Bundesraths-Be - ſchluß liefert die Reichsſchulkommiſſion. Durch einen Beſchluß vom 19. Fe - bruar 1875 (Protok. §. 143 S. 131) hat der Bundesrath beſtimmt, daß von den 6 Mitgliedern, aus denen dieſe Kommiſſion beſteht, Preußen, Bayern, Sachſen und Württemberg je ein Mitglied ernennen; ferner daß ein Mitglied alternirend von Baden, Heſſen, Elſaß-Lothringen und Mecklenburg-Schwerin in der angegebenen Reihenfolge jedesmal auf zwei Jahre ernannt wird; endlich daß ein Mitglied alternirend von den übrigen Bundesſtaaten und zwar nach der Reihenfolge im Art. 6 der R. -V. jedesmal auf zwei Jahre ernannt wird.. Dieſe Form ihrer Begründung iſt von Einfluß hinſichtlich der Form, welche zu ihrer Aufhebung erforderlich iſt.

Ihrem Inhalte nach ſind die Sonderrechte:

1. Beſchränkungen der Kompetenz des Reiches, indem einzelnen Staaten Hoheitsrechte vorbehalten ſind, welche hinſichtlich der übrigen dem Reiche zuſtehen. Dieſe Rechte nennt man daher Reſervatrechte. In der Norddeutſchen Bundesverfaſſung hatten lediglich die Hanſeſtädte das Reſervatrecht, daß ſie als Freihäfen außerhalb der gemeinſchaftlichen Zollgränze bleiben, bis ſie ihren Einſchluß in dieſelbe beantragen. Nachdem Lübeck den Einſchluß beantragt hat, iſt im Art. 34 der Reichs-Verfaſſung für Hamburg und Bremen dieſes Sonderrecht anerkannt worden2)Daß dieſes Recht unter dem Schutz des Art. 78 Abſ. 2 ſteht, zeigt ſehr treffend gegen Hänel a. a. O. S. 200, der ſich auf die Aufnahme - becks durch Bundesrathsbeſchluß als Präzedenzfall beruft, Löning a. a. O. S. 365 fg.. Bei dem Hinzutritt der ſüddeutſchen Staaten zum Reiche haben ſich dieſelben folgende Sonderrechte reſervirt:

  • Baden. Die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins und Bieres bleibt der Landesgeſetzgebung vorbehalten und der Ertrag dieſer Steuern verbleibt Baden
    3)Reichsverf. 35 Abſ. 2. 38.
    3).
115§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Württemberg

  • a) Die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins und Bieres bleibt der Landesgeſetzgebung vorbehalten und der Ertrag dieſer Steuern verbleibt Württemberg
    1)Reichsverf. 35 Abſ. 2. 38.
    1).
  • b) das Recht des Reiches gemäß Art. 45 der Reichsverfaſſung auf die Einführung des Einpfennigtarifs für den Eiſenbahn-Transport der in dieſem Artikel genannten Gegenſtände bei größeren Entfernungen hinzuwirken, iſt beſchränkt durch die Beſtimmung des Schlußprotokolls vom 25. November 1870 Nr. 2
    2) Zu Art. 45 der Verfaſſung wurde anerkannt, daß auf den Württemb. Eiſenbahnen bei ihren Bau -, Betriebs - und Verkehrsverhältniſſen nicht alle in dieſem Art. aufgeführten Transportgegenſtände in allen Gattungen von Ver - kehren zum Einpfennig-Satz befördert werden können. Der praktiſche Sinn dieſer Beſtimmung iſt der, daß die Einführung des Einpfennig-Satzes in Württemberg nicht ohne die Zuſtimmung der Württembergiſchen Regierung erfolgen kann.
    2).
  • c) die Einrichtung und Verwaltung des Poſt - und Tele - graphenweſens und die Einnahmen der Poſt und Telegraphie ſind Württemberg reſervirt. Ebenſo der Erlaß der reglementariſchen und Tarifbeſtimmungen für den in - ternen Verkehr Württembergs, ſowohl der Poſt als auch der telegraphiſchen Korreſpondenz. Desgleichen die ver - tragsmäßige Regelung des unmittelbaren Poſt - und Tele - graphen-Verkehrs Württembergs mit ſeinen dem Reiche nicht angehörenden Nachbarſtaaten d. h. mit der Schweiz
    3)Art. 52 der Reichsverf.
    3). Endlich iſt die Geſetzgebungs-Kompetenz des Reiches hin - ſichtlich der Vorrechte der Poſt in Beziehung auf den internen Verkehr Württembergs in ſo weit beſchränkt, als nur mit Zuſtimmung Württembergs der Poſt Vorrechte beigelegt werden können, welche derſelben nach der gegen - wärtigen Geſetzgebung in Württemberg nicht zuſtehen
    4)Schlußprotok. vom 25. November 1870 Nr. 3.
    4).
  • d) Die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung über das Reichs - kriegsweſen (XI. Abſchnitt Art. 57 68) finden in Württemberg nach näherer Beſtimmung der Militär-Kon - vention vom 21 / 25. November 1870 Anwendung.
8*116§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Bayern.

  • a) Die Beaufſichtigung und Geſetzgebung des Reiches iſt aus - geſchloſſen hinſichtlich der Heimaths - und Niederlaſ - ſungsverhältniſſe
    1)R. -V. Art. 4 Nr. 1.
    1), wohin auch das Verehelichungs - weſen, ſoweit es mit den Heimaths - und Niederlaſſungs - verhältniſſen in Zuſammenhang ſteht, gehört
    2)Schlußprotokoll vom 23. Nov. 1870 Z. I.
    2).
  • b) Eine reichsgeſetzliche Regelung des Immobiliar-Ver - ſicherungsweſens kann in Bayern nur mit Zuſtim - mung der Bayeriſchen Regierung Geltung erlangen
    3)Schlußprotokoll Z. IV.
    3).
  • c) hinſichtlich der Beſteuerung des inländiſchen Branntweins und Bieres hat Bayern daſſelbe Reſervatrecht wie Ba - den und Württemberg
    4)R. -V. Art. 35 Abſ. 2. Art. 38.
    4).
  • d) Die dem Reiche in den Artikeln 42 46 der Reichsverfaſ - ſung beigelegten Rechte hinſichtlich des Eiſenbahn-We - ſens haben für Bayern keine Geltung; jedoch kann das Reich auch Bayern gegenüber im Wege der Geſetzgebung einheitliche Normen für die Konſtruktion und Ausrüſtung der für die Landesvertheidigung wichtigen Eiſenbahnen aufſtellen.
  • e) Hinſichtlich des Poſt - und Telegraphenweſens hat Bayern daſſelbe Reſervatrecht wie Württemberg, abgeſehen von dem Vorbehalt Württembergs wegen der Vorrechte der Poſt
    5)R. -V. Art. 52.
    5).
  • f) Die Beſtimmungen des XI. Abſchnitts (Art. 57 64) der Reichsverfaſſung über das Reichskriegsweſen kommen in Bayern nur nach Maaßgabe des Bündnißvertrages vom 23. November 1870 unter III. §. 5 zur Anwendung.
  • g) Das Recht des Reiches zur Aufſtellung des Militär-Etats iſt Bayern gegenüber nur nach näherer Anordnung der Schlußbeſtimmung zum XII. Abſchnitt der Reichsverfaſſung auszuüben.
  • h) Die Kompetenz der Normal-Eichungskommiſſion iſt in Bayern ausgeſchloſſen gemäß §. 3 des Geſ. v. 26. Nov. 1871.
117§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

2. Eine zweite Klaſſe von Sonderrechten beſteht in einer be - vorzugten Stellung einzelner Staaten hinſichtlich der Organiſa - tion des Reiches. Solche Rechte haben

  • a) Preußen. Dem Könige von Preußen ſteht das Präſi - dium des Bundes zu; dies ſchließt alle in der Reichsver - faſſung oder den Reichsgeſetzen dem Kaiſer oder Präſidium beigelegten Vorrechte in ſich
    1)R. -R. Art. 11.
    1).
  • b) Bayern hat folgende Sonderrechte:
    • α) Es hat 6 Stimmen im Bundesrath, während ihm nach dem in der Reichsverfaſſung zu Grunde gelegten Prinzip, wonach jeder Staat ſo viele Stimmen im Bundesrath hat, als er in dem Plenum des ehemaligen Deutſchen Bundes hatte, nur 4 Stimmen zukommen würden
      2)R. -V. Art. 6.
      2).
    • β) Es hat einen ſtändigen Sitz in dem Bundesraths-Aus - ſchuß für das Landheer und die Feſtungen
      3)R. -V. Art. 8. Abſ. 2.
      3).
    • γ) Es führt den Vorſitz in dem Ausſchuß für die auswär - tigen Angelegenheiten
      4)R. -V. Art. 8 Abſ. 3.
      4).
    • δ) Bayern hat den Anſpruch auf die Stellvertretung im Vorſitz des Bundesrathes
      5)Schlußprotokoll vom 23. Nov. 1870 Z. IX.
      5).
    • ε) Die Bayeriſchen Geſandten ſollen bevollmächtigt werden, die Reichsgeſandten in Verhinderungsfällen zu vertreten
      6)Schlußprotokoll Z. VII.
      6).
  • c) Württemberg und Sachſen haben ſtändige Sitze in den Bundesraths-Ausſchüſſen für das Landheer und die Feſtungen und für die auswärtigen Angelegenheiten
    7)R. -V. Art. 8 Abſ. 2. Württemb. Milit. -Konv. Art. 15 Abſ. 2. Sächſ. Militärconvent. Art. 2.
    7).

3. Endlich giebt es noch Sonderrechte, welche in finan - ziellen Begünſtigungen einzelner Staaten beſtehen. Dieſelben wer - den an den betreffenden Stellen Erwähnung finden8)Sie ſind zuſammengeſtellt bei Laband a. a. O. S. 1512 ff..

Das Weſen der Sonderrechte beſteht darin, daß ſie nur mit Zuſtimmung des berechtigten Staates aufgehoben werden118§, 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.können. Es iſt dies in einzelnen Anwendungen anerkannt, z. B. im Württembergiſchen Schlußprotokoll Z. 3, im Bayriſchen Schluß - protokoll Z. IV, im Art. 34 der Reichsverfaſſung, welcher die Aufnahme der Hanſeſtädte in das Zollgebiet von einem Antrage derſelben abhängig macht. Auch die Beſtimmung des Art. 78 Abſ. 1, wonach Verfaſſungs-Aenderungen im Wege der Geſetzge - bung zuläſſig ſind, läßt das materielle Erforderniß der Zuſtim - mung des berechtigten Staates bei der Aufhebung von Sonder - rechten unberührt. In dem Badiſch-Heſſiſchen Schlußprotokoll Ziffer 8 wurde dies allſeitig als ſelbſtverſtändlich conſtatirt; dieſelbe Beſtimmung wurde in das Bayeriſche Verfaſſungs-Bünd - niß Ziffer V aufgenommen und ſpäter bei der definitiven Redak - tion der Reichsverfaſſung dieſer als Art. 78 Abſ. 2 beigefügt1)Ueber die Controverſe, welche ſich an dieſen Satz der Verfaſſung an - knüpft, vgl. Laband a. a. O. S. 1487 u. 1516 ff.. Das Erforderniß der Zuſtimmung des berechtigten Staates hat damit Nichts zu thun, daß Vorſchriften der Verfaſſung geändert werden, ſondern nur damit, daß beſtimmte Rechte einzelner Bun - desſtaaten in deren Verhältniß zur Geſammtheit verändert oder beſeitigt werden ſollen. Daſſelbe gilt daher auch von Sonder - rechten, welche nicht in der Verfaſſung feſtgeſtellt worden ſind2)Dies beſtreiten Hänel und Löning an den oben angeführten Stel - len. Die Großherzogl. Heſſiſche Regierung hat mit Bezug auf die im Pro - tokoll vom 15. Nov. 1870 Ziffer 4 enthaltene Beſtimmung über die Vergütung für die poſtaliſche Benutzung der Eiſenbahnen, bei der Beſchlußfaſſung im Bun - desrathe über einen Geſetzentwurf, betreffend Abänderung des §. 4 des Poſt - geſetzes, mit Recht den Standpunkt feſtgehalten, daß die Leiſtungen der Eiſen - bahnen des Großherzogthums für Poſtzwecke ꝛc. durch weitere Verſtändi - gung mit der Heſſiſchen Regierung geregelt werden müſſen. In den verei - nigten (V. u. VI.) Bundesraths-Ausſchüſſen ergab ſich bei der Abſtimmung über einen darauf bezüglichen Antrag Stimmengleichheit; im Plenum des Bundesrathes kam die Frage nicht zur Entſcheidung, da Heſſen ſich eventuell mit den in dem Geſetzentwurfe enthaltenen Beſtimmungen einverſtanden erklärte. Protokolle des Bundesrathes 1875 §. 70 S. 63..

Zu unterſcheiden von Sonderrechten ſind aber wider - rufliche Begünſtigungen einzelner Staaten, z. B. der zeitweiſe Aufſchub der Einführung von Reichsgeſetzen, wie er in den Bünd - nißverträgen mit den ſüddeutſchen Staaten verabredet wurde, oder finanzielle Begünſtigungen auf Widerruf.

119§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.

Eine beſtimmte Form für die Aufhebung von Sonderrechten iſt weder durch poſitives Recht vorgeſchrieben, noch aus der Natur der Sonderrechte abzuleiten. Es genügt in vielen Fällen ein that - ſächlicher Verzicht1)So z. B. wenn Württemberg auf ſeinen Eiſenbahnen den Einpfennig - Tarif einführen oder der Poſt dieſelben Vorrechte beilegen würde, die ihr nach dem Reichspoſtgeſetz zuſtehen.. Iſt das Sonderrecht aber gleichzeitig ein Beſtandtheil der Verfaſſung, ſo bedarf es außer der Zuſtimmung des berechtigten Staates auch der für Verfaſſungsänderungen im Art. 78 Abſ. 1 vorgeſchriebenen Form. Ein förmlicher Staats - vertrag zwiſchen dem Reich und dem Einzelſtaat iſt in keinem Falle für erforderlich zu erachten, da das Reich wegen ſeiner ſou - veränen Macht über ſeine Glieder ſich ſtets der Form des Ge - ſetzes bedienen kann2)Die entgegengeſetzte Anſicht vertritt Hänel S. 236 ff., dem Löning S. 347 beiſtimmt, ſo weit dieſe Sonderrechte in der Form des Vertrages ge - gründet worden ſind, d. h. ſoweit ſie in Beſtimmungen der Schlußprotokolle enthalten ſind, die nicht in die jetzige Redaction der Reichsverfaſſung Aufnahme gefunden haben und durch §. 3 des Publikationsgeſetzes zur Reichsverf. in Geltung erhalten worden ſind.. Es iſt nur nothwendig, daß es bei Aus - übung dieſer Macht die materiellen Schranken beobachtet, welche ihm der Rechtsſatz zieht, daß wohlbegründete Rechte nicht ohne Zuſtimmung des Berechtigten aufgehoben werden dürfen.

In der Zuſtimmung eines berechtigten Staates zu einem Geſetz, welches ein Sonderrecht aufhebt oder beſchränkt, iſt zugleich ein Verzicht auf dieſes Sonderrecht enthalten. Wenn daher im Bundesrath die Stimme des berechtigten Staates unter der, dem Geſetz zuſtimmenden Majorität ſich befindet, ſo iſt dies zur rechts - gültigen Beſeitigung des Sonderrechts genügend3)Es wurde auch praktiſch demgemäß verfahren, als das Reichs-Poſtge - ſetz vom 28. Oktober 1871 das Vorrecht der Poſt auf ausſchließliche Beför - derung politiſcher Zeitungen in Württemberg, wo es bis dahin nicht beſtand, einführte, alſo die im Württemb. Protokoll vom 25. Nov. 1870 unter 3 ent - haltene Feſtſetzung abänderte. Hänel a. a. O. S. 237. Vgl. ferner den S. 118 Note 2 mitgetheilten Fall aus dem Protokoll des Bundesrathes vom 1875 §. 70.. Ein Zuſtim - mung des Landtages des berechtigten Einzelſtaates iſt nicht erfor - derlich, weder eine vorgängige vor der Beſchlußfaſſung des Bun - desrathes noch eine nachträgliche behufs der Ratihabition des Reichsgeſetzes. Bei allen Geſetzgebungsacten des Reiches wird der120§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.Wille der Bundesſtaaten, welche bei dieſen Akten mit zu wirken berufen ſind, durch ihre Abſtimmung im Bundesrath erklärt. Eine andere Form, wie der einzelne Staat bei Beſchlüſſen des Reiches ſeinen beſonderen Willen zu erklären habe, kennt die Reichsver - faſſung nicht1)Vgl. Hänel S. 211 und in Betreff der Verhandlungen über dieſe Frage im Reichstage und den ſüddeutſchen Kammern S. 214 ff. Die Litera - tur ebendaſelbſt S. 220 Note 116. Ferner die ausführliche Erörterung bei Seydel S. 266 ff.. Es ergiebt ſich dies aus dem oben entwickelten Grundſatz, daß der Wille des Reiches nicht die Summe der Wil - len der Einzelſtaaten iſt, ſondern ein einheitlicher, ſelbſtſtändiger Geſammtwille, an deſſen Herſtellung die Bundesſtaaten antheils - mäßig mitwirken und zwar mitwirken durch das Organ des Bun - desrathes2)In dieſem Sinne äußert ſich auch ein Bericht des Bundesraths-Aus - ſchuſſes für Zoll - und Steuerweſen vom 9. Febr. 1875 betreffend den Anſchluß der Bremiſchen Gebiete Vegeſack und Aumund an das Zollgebiet. (Druckſachen des Bundesr. Seſſion 1874 / 75 Nr. 26.) Der Senat der freien Stadt Bremen wird nach der abgegebenen Erklärung einem Beſchluſſe des Bundesrathes, wel - cher der Anſicht des Ausſchuſſes entſpricht, nicht widerſprechen (d. h. zuſtimmen). Der gemachte Zuſatz das Einverſtändniß der Bremer Bürgerſchaft vorausge - ſetzt, hat nicht die Bedeutung einer eigentlichen Bedingung, ſo daß die abge - gebene Erklärung, ſo lange dieſe Bedingung nicht erfüllt wäre, nicht ertheilt oder bei der Nichterfüllung wieder erloſchen wäre. Es kann damit nur auf ein internes Verhältniß hingedeutet ſein, welches nach der Anſicht des Senats geordnet werden muß, und von welchem die Beſchlüſſe des Bundesrathes nicht weiter abhängig ſein können. .

Ein Reichsgeſetz, welches unter Beobachtung der Vorſchriften des Art. 78 Abſ. 1 und 2 zu Stande gekommen iſt, hat demnach verbindliche Kraft, auch wenn der Landtag des Einzelſtaates, deſſen Sonderrechte beſeitigt werden, gegen die Aufhebung derſelben pro - teſtirt hat; und, da nach Art. 2 die Reichsgeſetze den Landesge - ſetzen vorgehen, ſelbſt dann, wenn durch ein Landesgeſetz ange - ordnet iſt, daß der Verzicht auf ein Sonderrecht nur nach vor - gängiger Genehmigung des Landtages erfolgen dürfe3)Auch in dieſer Beziehung beſteht kein Unterſchied zwiſchen den in der Verfaſſung ſelbſt erwähnten Sonderrechten und den neben der Verf. beſtehenden, in den Schlußprotokollen feſtgeſetzten Sonderrechten..

Die Zuläſſigkeit eines ſolchen Landesgeſetzes kann jedoch nicht verneint werden. Denn da das Reichsgeſetz nicht gültig zuſtande121§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.kommt, wenn der Einzelſtaat gegen daſſelbe ſich erklärt, und ebenſo wenig, wenn er ſich der Abſtimmung enthält, ſondern nur, wenn derſelbe poſitiv ſeine Einwilligung, alſo ſeinen Verzicht auf das Sonderrecht ausſpricht, ſo handelt die Regierung des Einzelſtaates bei ihrer zuſtimmenden Erklärung ſtets in doppelter Eigen - ſchaft, einerſeits als Mitglied des Reiches, andererſeits als ein dem Reiche ſelbſtſtändig gegenüberſtehendes Rechtsſubject, welches an das Reich ein Recht aufopfert. In dieſer letzteren Eigenſchaft führt die Regierung nicht ein ſtaatsrechtliches Geſchäft des Reiches, ſondern ein ſtaatsrechtliches Geſchäft des Einzelſtaates und es iſt daher auch Sache des Einzelſtaates, die Grundſätze aufzuſtellen, nach denen dieſes Geſchäft zu führen iſt. Soll z. B. Hamburg in das Zollgebiet oder Württemberg in die gemeinſame Poſtverwaltung eintreten, ſo iſt dieſer Act ſowohl von dem Intereſſe des Reiches aus, als auch von dem Intereſſe der genannten Einzelſtaaten aus zu prüfen und zu beſchließen und es muß zwiſchen dem Reich und dem betreffenden Einzelſtaat ein Conſens1)Was nicht zu verwechſeln iſt damit, daß formell ein Vertrag geſchloſ - ſen werden müſſe. erzielt werden. So weit es ſich um den Willensentſchluß des Reichs handelt, iſt der - ſelbe von der Zuſtimmung und Mitwirkung der partikulären Volksvertretungen emancipirt; ſoweit die ſpecielle Zuſtimmung des Einzelſtaates erforderlich iſt, handelt es ſich um einen Willensact des Einzelſtaates, bei welchem deſſen Regierung die Regeln des Landesſtaatsrechts befolgen muß. Würde unter Verletzung dieſer Regeln der Vertreter Hamburgs im Bundesrath der Aufnahme Hamburgs in das Zollgebiet oder der Vertreter Württembergs dem Anſchluß dieſes Staates an die Reichspoſtverwaltung zuſtim - men, ſo wäre das in dieſer Art zu Stande gekommene Reichsgeſetz auch für Hamburg und Württemberg verbindlich, weil die Reichs - verfaſſung lediglich dieſe Zuſtimmung im Bundesrath erfordert; aber die Regierungen dieſer Staaten könnten nach Maßgabe des betref - fenden Landesrechts wegen ihres Verhaltens zur Verantwortung gezogen werden2)In dieſem Reſultate iſt Hänel a. a. O. S. 222 im Weſentlichen übereinſtimmend. Vgl. unten §. 28..

III. Rechte der Bundesſtaaten als Einzelner. (Jura singulorum.) Die Mitgliedſchaft bei einer Corporation122§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.abſorbirt nicht die Rechtsſphäre der Mitglieder; die letzteren hören dadurch, daß ſie Theile einer höheren Geſammtheit werden, nicht auf Individual-Exiſtenzen zu ſein mit ſelbſtſtändiger Perſönlichkeit. Es ergiebt ſich daraus eine Scheidung derjenigen Rechte, welche durch die Mitgliedſchaft, d. h. durch das Verhältniß zur Geſammt - heit hervorgerufen und begründet werden, und derjenigen Rechte, welche den Mitgliedern ut singulis, als Sonder-Perſönlichkeiten, zuſtehen. Dieſe Scheidung wird durch den Zweck und die Auf - gabe der Korporation und durch die zur Erreichung dieſes Zwecks der Korporation verfaſſungsmäßig zugewieſenen Mittel, oder mit einem Worte: durch die Kompetenz der Korporation näher beſtimmt. Alles, was der Kompetenz der Korporation entzogen iſt, bildet den Bereich der iura singulorum ihrer Mitglieder1)Dies iſt auch der techniſche Begriff der iura singulorum im Gegen - ſatz zu Sonderrechten (iura singularia) im alten Deutſchen Reichsrecht. Laband a. a. O. S. 1489 fg. Vgl. namentlich Häberlin Handbuch des Teutſchen Staatsrechts I. S. 585 ff..

Dieſe allgemeinen, aus der Natur der Korporation ſich erge - benden Sätze finden auch auf das Deutſche Reich Anwendung. Die Bundesſtaaten als ſolche, als einzelne, ſind nicht völlig im Reich aufgegangen, ihre Rechtsſphäre iſt nicht vollſtändig vom Reich aufgeſogen worden. Soweit das Reich competent iſt, bilden die Staaten tamquam unum corpus und ſind an der rechtlichen Gewalt des Reiches nur als Mitglieder betheiligt, ſoweit dagegen die Kompetenz des Reiches ausgeſchloſſen iſt, ſind die Staaten als individuelle Perſonen des öffentlichen Rechts, als Einzelne, Sub - jecte der Staatsgewalt.

Der Kreis der iura singulorum wird daher beſtimmt durch die der Reichskompetenz gezogenen Gränzen. Demnach gehören dahin:

  • 1) Alle fiskaliſchen Rechte der Einzelſtaaten, ſoweit nicht die zu Zwecken der Verwaltung dienenden Gegenſtände mit der Verwaltung ſelbſt auf das Reich übergegangen ſind, nach näherer Beſtimmung des Reichsgeſetzes vom 28. Mai 1873.
  • 2) Die Selbſtverwaltungsbefugniſſe der Einzelſtaaten hinſicht - lich der, der Geſetzgebung und Beaufſichtigung des Reiches unter - liegenden Angelegenheiten.
123§. 11. Die Rechte der Einzelſtaaten.
  • 3) Die Autonomie der Einzelſtaaten hinſichtlich der außerhalb der Reichskompetenz liegenden Angelegenheiten.

Die Begränzung dieſer Jura singulorum iſt ausſchließlich Sache des Reiches1)Vgl. Laband a. a. O. S. 1505.. Da das Reich ſeine Kompetenz unter Be - obachtung der im Art. 78 aufgeſtellten Regeln erweitern kann, ſo iſt es ihm anheimgeſtellt, den Kreis der iura singulorum einſeitig enger oder weiter abzuſtecken. Nach der umfaſſenden Zweckbeſtim - mung des Reiches im Eingange der Verfaſſung und der ſachlich unbegränzten Zuläſſigkeit der Verfaſſungs-Aenderung, alſo auch der Kompetenz-Erweiterung nach Art. 78, giebt es keine Hoheits - rechte der Einzelſtaaten, welche iura singulorum bleiben müſſen, die nach der Natur des Reiches den Character der iura singulo - rum haben. Die Jura singulorum in dem hier entwickelten Sinne ſind demnach keine iura quaesita, welche dem Einzelſtaat nur mit ſeiner Zuſtimmung entzogen werden könnten2)Im Gegenſatz zu den Sonderrechten einzelner Staaten in dem sub. II entwickelten Sinne. Die zu Gunſten einzelner Staaten beſonders feſtgeſetzten Kompetenz-Beſchränkungen des Reiches begründen zugleich iura quaesita und iura singularia. Es könnte auffallend erſcheinen, daß grade dieſe Ho - heitsrechte mit einem ſo viel wirkſameren Schutz umgeben ſind, als alle übri - gen, z. Th. doch viel erheblicheren obrigkeitlichen Rechte derſelben Staaten. Dies erklärt ſich aber ſehr wohl. Bei jeder anderen Kompetenz-Erweiterung des Reiches wird allen Staaten gleichmäßig eine Einbuße von Rechten zu - gemuthet und es erſcheint daher als ein ausreichender Schutz, daß 14 Stimmen im Bundesrath im Stande ſind, ſie abzulehnen; bei der Aufhebung von Son - derrechten brauchen die anderen Staaten nur zuzuſtimmen, daß Befugniſſe, die ſie ſelbſt bereits dem Reiche abgetreten haben, nun auch dem Sonderbe - rechtigten entzogen werden..

Aber ſo lange die Rechtsſphäre des Reiches durch eine be - ſtimmte Linie abgegränzt iſt, kann jeder einzelne Staat verlangen, daß ſich die Reichsgewalt eines Uebergriffs in das jenſeits dieſer Linie liegende Gebiet enthalte. Dies gilt nicht nur von der ver - faſſungsmäßig feſtgeſtellten Kompetenz, über welche hinaus auch die Reichsgeſetzgebung nicht ſich erſtrecken darf, ohne daß den Erforderniſſen der Verfaſſungsänderung Rechnung getragen wird; ſondern eben ſo auch von der durch gewöhnliche Reichsge - ſetze näher beſtimmten Sphäre der Selbſtverwaltung und Landes - geſetzgebung, welche der Bundesrath bei ſeinen Verordnungen und124§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.der Reichskanzler ſowie alle übrigen Reichsbehörden bei ihren Verfügungen reſpektiren müſſen.

§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.

Das Reich als Bundesſtaat ſetzt nach dem von uns entwickelten Begriff deſſelben autonome Staaten als Mitglieder voraus. Es entſteht daher die Frage, in wie weit die Fortexiſtenz der einzelnen Staaten durch die Reichsverfaſſung geboten oder gewährleiſtet iſt. Bei der Beantwortung derſelben iſt aber zunächſt die Frageſtellung ſelbſt näher zu präciſiren, denn es kommen hier ſehr verſchiedene Geſichtspunkte in Betracht, deren Vermengung eine richtige Beant - wortung unmöglich macht.

Man deducirt die verfaſſungsmäßige Garantie der Einzelſtaaten öfters aus dem Weſen des Bundesſtaates und leitet daraus die Nothwendigkeit einer Beſchränkung der Reichscompetenz auf ein ſolches Maaß ab, daß für die Einzelſtaaten noch Raum genug übrig bleibt, um wirklich als Staaten bezeichnet werden zu können. Dieſe Deduction hat zunächſt mit unſerer Frage Nichts zu thun; denn der Begriff des Bundesſtaates würde beſtehen bleiben, wenn auch das eine oder andere der Mitglieder verſchwinden ſollte. Man muß zugeben, daß das deutſche Reich als Bundesſtaat nicht gedacht werden kann ohne autonome Staaten; aber es läßt ſich gewiß nicht behaupten, daß das deutſche Reich aufhören würde ein Bundes - ſtaat zu ſein, wenn es ſtatt aus 25 Staaten aus 24 oder aus 18 beſtünde. Aus dieſer Erwägung folgt daher niemals eine reichs - verfaſſungsmäßige Garantie der thatſächlich vorhandenen einzelnen Staaten. Ferner hat aber die Reichsverfaſſung nirgends eine Grenze gezogen, wo die Kompetenz-Erweiterung des Reiches Halt machen müſſe. Die Möglichkeit, daß im Laufe der Zeit die ein - zelnen Staaten ſo feſt mit einander verwachſen, daß die ihnen verbleibende Autonomie bis zur Inhaltsloſigkeit zuſammenſchrumpft, iſt durch den Art. 78 allerdings gegeben. Die Kompetenz-Aus - dehnung des Reiches hat keine begriffliche Schranke, ſondern nur eine factiſche Erſchwerung durch die im Art. 78 für Verfaſſungs - Aenderungen erforderte Majorität erhalten. Es iſt freilich wahr, daß, wenn das Reich ſeine Kompetenz immer weiter und weiter ausdehnt, es ſchließlich aufhören würde, ein Bundesſtaat zu ſein; aber es iſt in der Verfaſſung ja nirgends ausgeſprochen, daß das125§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.Reich für alle Zeit ein Bundesſtaat ſein und bleiben müſſe. Die Verfaſſung geſtattet ebenſo wohl die Fortentwicklung in decentrali - ſirender, föderaliſtiſcher Richtung als die Conſolidirung zum Ein - heitsſtaat1)Abweichender Anſicht ſcheint v. Gerber zu ſein, indem er Grundz. S. 245 Note 2 eine Erweiterung der Kompetenz nur für zuläſſig erklärt, ſofern es ſich nicht um eine grundſätzliche Aenderung der Bundesanlage (?) und Verſchiebung der Gewaltverhältniſſe (?), ſondern nur um eine Entwicklung der ſchon in der Bundesverf. liegenden Prinzipien handelt. .

Aus dem Weſen des Bundesſtaates ergibt ſich jedoch in einer andern Richtung eine Garantie der Exiſtenz der Einzelſtaaten und zwar aus der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Mitglieder2)Vgl Laband in Hirth’s Annalen 1874 S. 1515.. Nach den oben S. 112 fg. entwickelten Grundſätzen muß es als unzuläſſig erachtet werden, daß einzelnen Staaten ohne ihre Zu - ſtimmung durch Reichsgeſetz Hoheitsrechte entzogen werden, welche den übrigen Staaten verbleiben. Daraus folgt, daß um ſo weniger einzelne Staaten ohne ihre Zuſtimmung ganz aufgehoben, etwa mit andern vereinigt oder zu Reichsland erklärt, werden können3)G. Meyer Erörterungen S. 65 hat daher Unrecht, wenn er ſagt, daß derjenige, der den Vertragscharakter der Bundesverfaſſung gänzlich leugnet, conſequenter Weiſe der Reichsgewalt das Recht zuſprechen müßte, die Exiſtenz der einzelnen Staaten ſelbſt gegen deren Willen durch Abänderungen des Artikels 1 aufzuheben.. Wenn die Frage daher etwa ſo geſtellt wird, ob die Exiſtenz des zum Bunde gehörenden Staates X. durch die Reichsverfaſſung ge - währleiſtet wird, ſo iſt dies in dem Sinne zu bejahen, daß dieſer Staat als einzelner vor der Unterdrückung durch die Reichs - gewalt allerdings geſchützt iſt; nicht aber in dem Sinne, daß der Staat X. nicht gleichzeitig mit allen übrigen Bundes - gliedern ſeine ſtaatliche Individualität verlieren und im Reichs - ſtaat aufgehen könnte4)Dieſen Unterſchied überſieht Riedel S. 8.. Hiergegen haben die Staaten keinen andern Schutz als den, daß 14 Stimmen im Bundesrath genügen, um jede Kompetenz-Erweiterung des Reiches zu verhindern, und dieſer Schutz dürfte ſich für ſehr lange Zeit als völlig genügend er - weiſen.

Völlig zweifellos iſt es ferner, daß die Reichsverfaſſung jeden Bundesſtaat vor gewaltſamen und widerrechtlichen Angriffen ſichert. 126§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.Der Bund, der nach dem Eingange der Reichsverfaſſung zum Schutze des innerhalb des Bundesgebietes gültigen Rechts geſchloſſen worden iſt, iſt dadurch zum Wächter der Exiſtenz und Integrität ſeiner Gliedſtaaten geſetzt.

Die Frage, um welche es ſich handelt, iſt daher lediglich die, ob die rechtmäßige Vereinigung mehrerer Staaten zu Einem, ſei es in Folge des gültigen Thronfolgerechts, ſei es in Folge rechtsgültiger Staatsverträge, nur unter der, in der Form der Verfaſſungs-Aenderung auszuſprechenden Genehmigung des Reiches erfolgen dürfe. Dieſe Frage würde zu bejahen ſein, wenn die Reichsverfaſſung die Fortdauer derjenigen Staaten, welche bei der Reichsgründung vorhanden waren und noch jetzt beſtehen, aus - drücklich oder ſtillſchweigend anordnen würde. In dieſem Falle würde jeder Rechtsſatz eines partikulären Thronfolgerechts, welcher zur Vereinigung eines Staates mit einem andern oder zur Zer - theilung eines Staates führen würde, der Reichsverfaſſung wider - ſprechen und folglich nach Art. 2 der R. -V. aufgehoben ſein, und aus demſelben Grunde würde jeder Staatsvertrag, durch welchen zwei Bundesglieder zu einem Staate ſich vereinigen, unwirkſam ſein, ſo lange das Reich ihn nicht ſanctionirt hat. Einen ſolchen Rechtsſatz enthält die Reichsverfaſſung aber nicht.

Die deutſchen Staaten werden an 3 Stellen der Verfaſſung namentlich aufgeführt; im Eingange, im Art. 1 und im Art. 6.

Der Eingang zur Verfaſſung berichtet, daß der König von Preußen im Namen des Norddeutſchen Bundes und die ſüddeutſchen Souveräne einen ewigen Bund ſchließen. Dieſe Eingangsformel enthält überhaupt keinen Rechtsſatz, ſondern iſt bloß referirend; ſie bekundet nur die Thatſache, daß das Reich durch den freien Willensentſchluß der deutſchen Souveräne errichtet worden iſt1)v. Martitz S. 9 folgert aus der vertragsmäßigen Vereinigung der Deutſchen Fürſten zur Gründung des Nordd. Bundes, daß die Verſchmelzung zweier Bundesſtaaten zu einem nur unter Genehmigung ſämmtlicher Bundesſtaaten rechtlich zuläſſig ſei. Ihm folgen G. Meyer Grundzüge 47. (der aber Erörterungen S. 65 Note 1 ſeine Anſicht modifizirt) und im Weſentlichen, wenngleich ſehr unklar, Riedel 77. 80. Beſonders lebhaft ver - tritt Seydel Commentar S. 16. 30 dieſe Anſicht. Vgl. dagegen: Thu - dichum S. 62 Note 3. v. Rönne 38. Hänel I. S. 92 ff. u. oben S. 49. 50.. Am wenigſten aber kann man aus dieſer Eingangsformel den Rechts -127§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.ſatz ableiten, daß die darin genannten Staaten fortbeſtehen müſſen, da ja der Norddeutſche Bund gerade durch die Gründung des deutſchen Reiches ſeine Exiſtenz als beſonderes ſtaatliches Gemein - weſen verloren hat.

Art. 1 betrifft, was durch ſeine Ueberſchrift noch beſon - ders hervorgehoben iſt, das Bundesgebiet und normirt, wie weit es ſich erſtreckt. Anſtatt die Grenzen deſſelben zu beſchreiben, zählt Art. 1 die Theile auf, aus denen es beſteht. Er nennt demgemäß diejenigen Staaten, deren Staatsgebiete zuſam - men das Bundesgebiet bilden. Davon aber ſteht im Art. 1 Nichts, daß dieſe Theile als ſolche fortbeſtehen müſſen. Die innere Eintheilung des Bundesgebietes in 25 Staatsgebiete iſt nicht Gegenſtand einer Anordnung des Art. 1, ſondern die äußere Abgrenzung des Gebietes, welches den Territorialbeſtand des Reiches bildet1)Thudichum S. 61.. Falls etwa einmal die beiden Mecklenburg zu einem Staate vereinigt und Sachſen-Koburg-Gotha in zwei Staaten getrennt werden ſollten, ſo würde zwar die Aufzählung in Art. 1 den thatſächlichen Verhältniſſen nicht mehr entſprechend ſein, aber die ſtaatsrechtliche Vorſchrift über die Ausdehnung und den Beſtand des Bundesgebietes wäre nicht verletzt.

Der Ausdruck: Das Bundesgebiet beſteht aus den Staa - ten Preußen u. ſ. w. iſt ein offenbar incorrecter2)Er ſtammt her aus den Grundzügen vom 10. Juni 1866. Siehe oben S. 13.; das Wort Staat kann nur in dem Sinne von Staatsgebiet verſtanden werden3)Der Art. 1 lautet nicht: Der Bund beſteht aus den Staaten; er betrifft nicht die Mitglieder des Bundes, ſondern das Gebiet deſſelben.. Ganz deutlich tritt dies hervor in dem Art. 1 der Verf. des Nordd. Bundes: Das Bundesgebiet beſteht aus den Staaten Preußen u. ſ. w .... und aus den nördlich vom Main be - legenen Theilen des Großherzogth. Heſſen. Dieſe Theile bildeten keinen Staat, wohl aber ein Gebiet.

Es wird dies ferner beſtätigt durch §. 2 des Geſ. v. 25. Juni 1873 Dem im Art. 1 der Verf. bezeichneten Bundesgebiete tritt das Gebiet des Reichslandes Elſaß-Lothringen hinzu 4)Elſaß-Lothringen iſt nicht Mitglied des Bundes, wohl aber Bundes - gebiet.. 128§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.Der Art. 1 ſpricht daher nur den Rechtsſatz aus, daß das Gebiet der in ihm aufgezählten Staaten dem Reiche nicht entzogen und kein anderweitiges Gebiet dem Reiche einverleibt werden darf, ohne daß das Reich ſelbſt in den Formen der Verfaſſungs-Aenderung zuſtimmt; aber Art. 1 verfügt nicht, daß die in ihm erwähnten Staaten Staaten bleiben müſſen.

Art. 6 endlich betrifft die Vertheilung der Stimmen im Bundes - rath. Aus der Faſſung, welche dieſer Artikel in der Norddeutſchen Bundesverfaſſung und ebenſo in der mit Baden, Heſſen und Würt - temberg vereinbarten deutſchen Bundesverfaſſung gehabt hat, er - giebt ſich zweifellos, daß der verfaſſungsmäßige Grund - ſatz, welchen Art. 6 normirt, nur der iſt, daß die Stimmfüh - rung ſich nach Maaßgabe der Vorſchriften für das Plenum des ehemaligen Deutſchen Bundes vertheilt 1)Löning a. a. O. S. 368 wendet zwar ein, es enthalte dieſer Satz nicht die Aufſtellung eines allgemeinen Grundgeſetzes, ſondern nur die Angabe des hiſtoriſchen Grundes. Aber es iſt nicht abzuſehen, warum nicht ein Ver - faſſungs-Grundſatz ebenſo wohl hiſtoriſchen Verhältniſſen wie rationellen Er - wägungen entnommen werden könne. Das Princip für die Vertheilung der Stimmen iſt allerdings nicht logiſch geboten, ſondern hiſtoriſch gegeben; aber daraus folgt doch nicht, daß es überhaupt kein Prinzip iſt.. Lediglich als Conſe - quenz dieſes Prinzips wird das Regiſter der den einzelnen Staaten zuſtehenden Stimmen beigefügt; durch die Worte ſo daß, mit denen dieſes Regiſter beginnt, wird deutlich hervorgehoben, daß die folgende Aufzählung der Staaten und der ihnen zuſtehen - den Stimmen, nicht den Charakter einer ſelbſtſtändigen Rechts - ſatzung hat, ſondern nur die factiſche Durchführung des ſanctio - nirten Prinzips enthält.

Da Bayern im Zollbundesrath jedoch durch Zutheilung von 6 Stimmen begünſtigt wurde, ſo ließ man im Art. 8 §. 1 des Zollvertrages vom 8. Juli 1867 das Prinzip ganz weg und ſtellte nur das Regiſter der Stimmen auf und ebenſo wurde in dem Ver - faſſungs-Bündniß mit Bayern die jetzige Faſſung des Artikels 6 verabredet, welche die ausdrückliche Erwähnung des für die Stim - menvertheilung maaßgebenden Prinzips zwar vermeidet, es dadurch aber doch als materiell fortwirkend anerkennt, daß die Preußen zuſtehenden 17 Stimmen mit den ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurheſſen, Holſtein, Naſſau und Frankfurt ge -129§. 12. Die Exiſtenz der Einzelſtaaten.rechtfertigt werden. Das Wort ehemalig kann keinen andern Sinn haben als die Bezugnahme auf den Bundestag.

Aus dieſen Erwägungen folgt, daß Art. 6 der Reichsverf. in ſeinem dispoſitiven Beſtande eine Beſtimmung trifft über die Stimmen der thatſächlich vorhandenen 25 Staaten, nicht aber eine Anordnung über das Vorhandenſein der 25 in ihm ge - nannten Staaten1)Eingehende und intereſſante Erörterungen über dieſe Frage fanden mit Bezug auf den Acceſſions-Vertrag mit Waldeck in der Sitzung des Preuß. Abg. -Hauſes vom 11. Dez. 1867 Statt. Der Reichskanzler bemerkte, (Stenogr. Ber. I. S. 338): daß die Waldeck’ſche Stimme und deren Bezeichnung, ſowie die bisherige Stimmenzahl einen integrirenden Theil der Bundesverf. bilden, daß alſo um eine dieſer Stimmen verſchwinden zu laſſen, eine Aenderung der Bundesverf. unvermeidlich wäre. Allein wenn die Stimme eines Staates auf einen andern mit dem Staate ſelbſt übergeht, ſo verſchwindet weder die Stimme noch ändert ſich die Stimmenzahl. Auch die Bemerkungen des Reichs - kanzlers (ebendaſ. S. 341), daß ein Vertrag unzuläſſig ſei, durch welchen ein Bundesfürſt ſich verpflichte, ſeine Stimme ruhen zu laſſen, treffen nicht den Fall, daß zwei Staaten mit einander verſchmelzen und in Folge deſſen ein Fürſt zwei oder mehrere Stimmen cumulire.. Allerdings würde eine Aenderung in dem vorhandenen Beſtande der deutſchen Bundesſtaaten eine formelle Aenderung des Wortlautes des Art. 6 und möglicher Weiſe2)Tritt keine Aenderung des Art. 6 ein, ſo würde die Stimme des un - tergegangenen Staates auf den Staat übergehen, in welchen er einverleibt worden iſt. Dadurch könnte allerdings ein immer noch ſehr kleiner Staat 2 oder 3 Stimmen erlangen, oder Preußen eine große Stimmenzahl vereinigen, überhaupt das Verhältniß der Stimmführung verändert werden; dies iſt aber nur die Folge davon, daß das Prinzip der Stimmenvertheilung von einer hiſtoriſchen Thatſache, der Stimmführung im Plenum des ehemaligen Deutſchen Bundes entnommen iſt. Thudichum S. 62 meint, daß bei einer Vereini - gung zweier Staaten die Stimme des einverleibten Staates wegfallen würde, giebt aber für ſeine Anſicht keinen Grund an. Unbeſtimmt äußert ſich v. Mohl S. 10. Die richtige Anſicht hat der Abg. Waldeck im Preuß. Abg. -Hauſe am 11. Dez. 1867 entwickelt. (Stenogr. Ber. I. 343.) eine Modifizirung des dem Artikel zu Grunde liegenden Prinzips der Stimmen-Vertheilung zur Folge haben; dagegen würde ſie nicht in ihrer rechtlichen Gültigkeit von einer Aenderung des Art. 6 bedingt ſein.

Ergiebt ſich ſonach, daß die Reichsverfaſſung keine poſitive Anordnung enthält, welche eine Aenderung in der Zahl und dem Beſtande der Mitglieder des Reiches unterſagt, und iſt ebenſowenigLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 9130§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.aus dem Weſen des Reiches als Bundesſtaat eine ſolche Unver - änderlichkeit des Mitglieder-Beſtandes herzuleiten, ſo folgt, daß alle Rechtstitel, welche zur rechtmäßigen Verſchmelzung Deutſcher Staaten mit einander führen könnten, nämlich Thronfolgerechte und Verträge nach dem Vorbilde der zwiſchen Preußen und den Hohenzollern’ſchen Fürſtenthümern abgeſchloſſenen mit voller Wirkung fortbeſtehen und gerade nach dem Eingange der Reichsverf. vom Reich geſchützt werden ſollen1)Auch die Succeſſionsrechte Deutſcher Bundesfürſten an außerdeutſchen Territorien und die Succeſſionsrechte von Perſonen, die nicht zu den Deutſchen Bundesfürſten gehören, an Deutſchen Territorien ſind durch die Reichsverfaſ - ſung rechtlich nicht beſeitigt worden. Nur verſteht es ſich von ſelbſt, daß durch den Eintritt derartiger Succeſſionsfälle die Vorſchrift des Art. 1 über das Bundes gebiet nicht alterirt werden würde. Was v. Mohl S. 19 ff. im entgegengeſetzten Sinne ausführt, beſteht lediglich aus politiſchen, nicht aus juriſt. Erwägungen. Im Nordd. Bunde lieferte Heſſen-Darmſtadt ein Beiſpiel für die Möglichkeit, daß ein Bundesfürſt auch ein Territorium be - herrſchen könne, welches nicht zum Bundesgebiet gehört. Es wird dadurch am ſchlagendſten die Behauptung widerlegt, daß die Unzuläſſigkeit der Real - union mit einem auswärtigen Staat aus der Natur des Bundes folgt und daß dies ſo einleuchtend ſei wie die Regel, daß Niemand zwei Herren dienen kann . So Thudichum S. 63. Dagegen erachtet derſelbe Schriftſteller eine Perſonal-Union für geſtattet. Ebenſo v. Rönne S. 39. Riedel 76 fg. Die richtige Anſicht findet ſich bei Hirſemenzel I. S. 5 (Note 4 zu Art. 1)..

Viertes Kapitel. Die natürlichen Grundlagen des Reiches. (Volk und Land).

Erſter Abſchnitt. Reichs-Angehörige*)Literatur. v. Flottwell, Was bedeutet das Deutſche Heimathweſen. Potsdam 1867..

§. 13. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.

Die herrſchende Theorie vom Weſen des Bundesſtaates führt nothwendig zur Annahme eines getheilten oder doppelten Bürger -131§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.rechts. Da der Geſammtſtaat und der Gliedſtaat zwei einander nebengeordnete Staaten ſein ſollen, unter denen die Souveränetät getheilt ſei, ſo ergiebt ſich, daß der Einzelne in gewiſſen Beziehungen dem einen, in anderen Beziehungen dem anderen Staate angehört, daß er Bürger zweier coordinirter Staaten iſt, daß aber ſein Bür - gerrecht, da keiner dieſer beiden Staaten ein vollſtändiger Staat iſt, in keinem derſelben ein volles Staatsbürgerrecht iſt. Am Be - ſtimmteſten ſpricht ſchon v. Mohl Bundesſtaatsrecht der Vereinigten Staaten S. 380 dies aus: Da der Bund aus zweierlei Staaten beſteht, dem Bundesſtaate und den einzelnen Bundesgliedern, ſo ſteht auch den Bewohnern ein zweifaches Bürgerrecht zu, das des ſpeziellen Staats, welchen ſie bewohnen, und dann das allgemeine Bürgerrecht des Bundes. Waitz Politik S. 171 citirt mit voller Zuſtimmung eine Aeußerung des Herrn von Radowitz, welcher mit Beziehung auf die 1849 in Ausſicht genommene Verfaſſung ſagt: Daher ſteht in gewiſſen Beziehungen jeder Deutſche unter der Centralgewalt, in anderen Beziehungen unter der einzelnen Staatsgewalt, in keiner Beziehung aber unter beiden zugleich 1)Vgl. auch die bei Waitz S. 172 angeführte Aeußerung Tocque - ville’s. In ähnlicher Art ſagt Schulze Preuß. Staatsr. II. 358: Wäh - rend in einem Einheitsſtaate ein doppeltes Indigenat in dieſem und zugleich in einem fremden Staate ſich als Irregularität darſtellt, hat in einem Bun -,*)Brückner, Ueber das gemeinſame Indigenat. Gotha 1867.v. Groß im Gerichtsſaal. Zeitſchr. f. Strafrecht u. Strafprozeß. Bd. XIX. S. 330 ff. (1867).[Goltdammer] Archiv für Preußiſches Strafrecht. Bd. XVI. S. 449 ff. (1868).Landgraff in den Preuß. Jahrbüchern. 1869. S. 226 ff.Derſelbe Ausführungen zu dem Reichs - und Staatsangehörigkeits-Geſetz in Hirth’s Annalen. Bd. III. S. 625 ff. 1870.Kletke, Das norddeutſche Bundes-Indigenat. Berlin 1871.Stolp, Deutſche Reichsangehörigkeits - u. Heimathsgeſetzgebung. Berlin 1872.Auch Arnoldt, Freizügigkeit und Unterſtützungswohnſitz. Berlin 1872 iſt hier anzuführen.Riedel, Reichsverfaſſungs-Urkunde. Nördl. 1871. S. 84 ff. S. 249 279 (Kommentar zum Reichsgeſetz v. 1. Juni 1870).Böhlau, Die Wandelung des Heimathsrechts in Mecklenburg-Schwerin. Jena 1873. (Separat-Abdruck aus Hildebrand’s Jahrbüchern f. Natio - nalökon. u. Statiſtik. Bd. XIX.)v. Martitz, Das Recht der Staatsangehörigkeit im internationalen Verkehr. In Hirth’s Annalen 1875. S. 793 ff. 1113 ff.9*132§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.und Waitz ſelbſt erklärt S. 200: Die Angehörigen eines Bun - desſtaates bilden Ein Volk, das eine doppelte ſtaatliche Organiſation empfangen hat; an der einen nehmen ſie Theil, in welchem Ein - zelſtaat ſie auch wohnen; denn nicht durch dieſen, ſondern unabhängig von demſelben, ſind ſie Bürger des Geſammtſtaates.

Dieſe Anſchauung iſt mit der Theorie vom Bundesſtaat zu faſt allgemeiner Herrſchaft gelangt und die überwiegende Mehrzahl aller Schriftſteller über das Recht des Nordd. Bundes und des Deutſchen Reiches iſt nicht nur darüber vollkommen einverſtanden, daß es neben dem Staatsbürgerrecht ein davon begrifflich verſchie - denes Reichsbürgerrecht oder Reichs-Indigenat giebt, ſondern ſie begründet auch gerade damit ihre Charakteriſtik des Reiches als eines Bundesſtaates1)Vgl. z. B. Schulze Einleitung in das d. Staatsr. S. 432. 443. v. Gerber Grundz. S. 240. v. Rönne Verf. des Deutſch. Reichs S. 32..

Sowie aber an der Verfaſſung des deutſchen Reichs die bis - herige Theorie vom Weſen des Bundesſtaates überhaupt Schiffbruch leidet, ſo auch insbeſondere in Beziehung auf das Reichs - und Staatsbürgerrecht. Jeder Verſuch, den Inhalt dieſer beiden Bür - gerrechte gegeneinander abzugränzen, erweiſt ſich ſofort und nach allen Richtungen hin als unmöglich; es giebt nicht zwei Sphären hinſichtlich des ſtaatlichen Lebens, von denen die eine durch das Reichsbürgerthum, die andere durch das Landesbürgerthum aus - gefüllt würde. Auf welches Gebiet ſtaatlichen Lebens man auch den Blick richtet, faſt nirgends kann man beſtimmen, wo der Ein - zelne Staatsbürger wo er Reichsbürger iſt; in der Regel iſt er beides zugleich.

In das entgegengeſetzte Extrem verfällt Seydel. Er leugnet ganz das Vorhandenſein eines Reichsbürgerrechts; in conſequenter Durchführung ſeiner Grundanſchauung, daß das Reich ein Staaten - bund ſei, nimmt er nur das einfache Unterthanenverhältniß dem eigenen Staate gegenüber an. Indem der Einzelne der Bundes - gewalt gehorcht, gehorcht er ihr als der von ſeinem Staate be - ſtellten Gewalt, er gehorcht ſeiner eigenen Staatsgewalt. (S. 43.) 1)desſtaate jeder Bürger mit Nothwendigkeit ein doppeltes Indigenat, wie ſich ſein ganzes politiſches Leben in einer zweifachen Sphäre, der des Centralſtaates und der des Einzelſtaates, bewegt. 133§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.Zur Begründung ſeiner Anſicht macht Seydel geltend, daß Art. 3 der Reichsverf. von einem Reichsbürgerrecht gar nicht handelt und alle in dieſem Artikel gewährleiſteten Rechte nicht im Ver - hältniß zum Reich begründet ſind, ſondern den Staatsbürgern eines Bundesſtaates in den andern einzelnen[Bundesſtaaten] zu - ſtehen, wie ſie ihnen ebenſo vertragsmäßig auch in außerdeutſchen Staaten zugeſichert werden können. Seydel ſelbſt ſieht ſich aber genöthigt, ſeine Theorie zu verleugnen, indem er S. 45 erklärt, daß er als praktiſchen Inhalt des Bundesbürgerrechts höchſtens das Reichstagswahlrecht zu nennen wüßte, und unmittelbar da - rauf unter 8 Nummern einen Katalog der Rechte und Pflichten, welche ſich allenfalls unter dem Begriffe eines Bundesindigenats zuſammenfaſſen ließen, aufſtellt1)Daß Seydel hier Bundesindigenat in demſelben Sinne wie Bundes - bürgerrecht nimmt, ergiebt ſich außer aus dem Zuſammenhange auch daraus, daß er dieſe Aufzählung mit dem aktiven und paſſiven Reichstagswahlrecht be - ginnt.. Er kann ſich daher der That - ſache doch nicht verſchließen, daß die Reichs-Angehörigkeit ein ſtaatsrechtlich relevanter Begriff und die gemeinſame Vorausſetzung oder der Rechtsgrund einer Reihe von Rechten und Pflichten iſt.

Das richtige Verhältniß des Landesbürgerrechts zum Reichs - bürgerrecht ergiebt ſich aus dem von uns entwickelten Weſen des Bundesſtaates. Der Bundesſtaat iſt ein zuſammengeſetzter Staat, deſſen Mitglieder die Einzelſtaaten ſind, die Bundesſtaatsgewalt iſt eine ſouveräne Gewalt über den Einzelſtaaten. Die Einzelſtaaten können nicht getrennt von ihrem Subſtrat, ihren Angehörigen, dem Reiche unterworfen ſein, ſondern natürlicher Weiſe nur mit Land und Leuten. Die Herrſchaftsrechte des Reiches über die Staaten involviren daher zugleich Herrſchaftsrechte über die Angehörigen dieſer Staaten, gleichviel in welcher Form ſie geltend gemacht werden; die Pflichten, welche das Reich den Einzelſtaaten abge - nommen hat, um ſie ſelbſt an ihrer Stelle auszuüben, erfüllt es für die Angehörigen der Staaten. Die Bürger des Einzelſtaates haben daher gegen die Reichsgewalt Unterthanen-Pflichten und ſtaatsbürgerliche Rechte. Weil der Einzelne ein Angehöriger des Staates Preußen oder Sachſen iſt und weil der Staat Preußen und der Staat Sachſen zum Reiche gehören und der Reichsgewalt unterworfen ſind, darum iſt der Preuße und der Sachſe ein134§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.Angehöriger des Reichs und der Reichsgewalt unterthan. Man braucht nur den oben angeführten Satz von Waitz umzukehren und man erhält den vollkommen getreuen Ausdruck der Wahrheit. Die Angehörigen eines Bundesſtaates ſind nicht unabhängig von demſelben, ſondern durch dieſen Bürger des Geſammtſtaates. Der Einzelne hat nicht zwei Staatsgewalten über ſich, welche einander nebengeordnet ſind und von denen eine jede einen Theil der obrigkeitlichen Rechte in ſich ſchließt; ſondern er hat zwei Staatsgewalten über ſich, welche einander übergeordnet ſind. Man kann das Reich einer An - zahl von Häuſern vergleichen, über welche eine gemeinſame Kuppel gewölbt iſt; die Inſaſſen wohnen nicht theilweiſe unter dem Sepa - rat-Dach ihres Hauſes und theilweiſe unter der gemeinſamen Kup - pel, ſondern unter beiden zugleich. Die Reichsangehörigkeit iſt keine ſelbſtſtändige Eigenſchaft, ſondern ſie drückt mit einem Worte zwei verbundene Eigenſchaften aus, nämlich daß Jemand einem Staate angehört, welcher dem Reiche angehört. Die Reichsunter - thänigkeit iſt keine unmittelbare, ſondern eine mittelbare; die Ein - zelſtaatsgewalt bildet das Medium.

Die herrſchende Theorie ſtützt ſich vorzüglich darauf, daß die Reichsgeſetze ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen erhalten. Hierin erblickt man den Ausdruck der un - mittelbaren Herrſchaft des Reiches über die Angehörigen; während man eine mittelbare Unterordnung nur dann annimmt, wenn eine landesgeſetzliche Publikation hinzukommen muß, um den Bundes - geſetzen Geltung zu verſchaffen. Es iſt oben S. 80 ff. bereits ge - zeigt worden, daß dieſe Beweisführung unhaltbar iſt.

Der Erlaß des Reichsſtrafgeſetzbuchs, des Preßgeſetzes, der Gewerbe-Ordnung iſt allerdings kein bloßer Beſchluß, wie die Ein - zelſtaaten die Handhabung der Strafjuſtiz, des Preßweſens, des Gewerbe-Weſens geſetzlich zu normiren haben, ebenſo wenig aber eine Emanzipation des einzelnen Staatsbürgers von ſeiner Staatsgewalt, und eine directe Unterwerfung unter die obrigkeit - liche Hoheit des Reiches, ſondern eine Aufſtellung von Rechts - normen über die Handhabung der Strafjuſtiz, des Preßweſens, des Gewerbe-Weſens, die der Einzelſtaat als ſolcher, zugleich aber auch alle ſeine Behörden und Angehörigen zu befolgen und zu be - achten haben.

135§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.

Aus der verbindlichen Kraft der Reichsgeſetze, ohne daß die - ſelben Seitens der Einzelſtaaten publizirt werden, folgt daher Nichts für die Frage, ob die Individuen unmittelbar oder durch Vermittlung der Einzelſtaaten der Reichsgewalt unterworfen ſind. Ebenſo wenig kann dies daraus gefolgert werden, daß das Reich für einige Zweige ſeiner Thätigkeit einen eigenen Behörden-Appa - rat mit Exekutiv-Gewalt hat. Denn wie wir oben näher aus - geführt haben, widerſpricht es dem Begriff des Bundesſtaates nicht, wenn die Centralgewalt einzelne Befugniſſe der Selbſt - verwaltung den Einzelſtaaten entzieht und ſich ſelbſt beilegt.

Geht man von der Anſchauung aus, daß das Reich eine ſtaatliche Einigung der deutſchen Staaten iſt, ſo ergiebt ſich für das Verhältniß von Staatsbürgerrecht und Reichsbürgerrecht Folgendes:

1. Das Staatsbürgerrecht iſt das primäre Verhältniß; es zieht ohne Weiteres das Reichsbürgerrecht nach ſich. Wer Bür - ger eines zum Reich gehörenden Staates iſt, der bedarf keines beſonderen Erwerbsactes um das Reichsbürgerrecht zu erlangen, er nimmt als Mitglied ſeines Staates am Reiche Theil. Er kann aber nicht Reichs-Angehöriger ſein ohne einem deutſchen Einzelſtaat anzugehören; denn das unmittelbare Subſtrat des Reiches ſind die deutſchen Staaten, nicht das deutſche Volk. (Siehe oben S. 86 fg.) Das Staatsbürgerrecht iſt daher die weſentliche Vorausſetzung zur Erlangung des Reichsindigenats. Es kann Niemand Reichsbürger werden, der nicht in irgend einem deutſchen Staat die Staatsangehörigkeit erworben hat; es giebt keine Natu - raliſation durch das Reich unmittelbar1)Bekanntlich beſteht in der Nordamerikaniſchen Union das umgekehrte Verhältniß. Das Bundesbürgerrecht iſt das primäre Verhältniß; wer Bun - desbürger iſt erwirbt durch den Wohnſitz das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat. Der Fremde kann demnach nur von der Union naturaliſirt werden, nicht vom Einzelſtaat.. Ebenſo wenig kann die Reichsangehörigkeit für denjenigen fortdauern, der aufgehört hat, einem deutſchen Staate anzugehören; man kann nicht das Reichs - bürgerrecht ſich vorbehalten, wenn man die Staatsangehörigkeit aufgiebt oder verliert.

  • Reichsgeſ. v. 1. Juni 1870 § 1. Die Bundesangehörig -136§. 13. Begriff u. ſtaatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit.keit wird durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundes - ſtaate erworben und erliſcht mit deren Verluſt
    1)Landgraff S. 627 Beide Rechte ſind wie ein Recht mit einander verbunden, ſie werden ipso iure gemeinſam erworben und verloren, ſie machen zwei Theile eines untheilbaren Ganzen aus. Wörtlich gleichlautend iſt die Aeußerung v. Rönne’s S. 104.
    1).

2. Die Staatsangehörigkeit kann wechſeln, während das Reichsbürgerrecht unverändert bleibt, wenn der Einzelne nur nicht aus dem Kreiſe der zum Reiche verbundenen Staaten ausſcheidet. Der Wechſel der Staatsangehörigkeit innerhalb des Reiches löſt das politiſche Band, in welchem ſich der Einzelne befindet, nicht vollſtändig und begründet kein völlig neues; wer in einen anderen deutſchen Staat überwandert, rückt nur an ein anderes Glied der - ſelben feſtgeſchloſſenen Kette. Eine Veränderung der ſouve - ränen Staats-Gewalt, welcher er unterworfen iſt, vollzieht ſich für ihn nicht; nur die mit Autonomie und Selbſtverwaltung aus - geſtattete Unter-Staatsgewalt wird vertauſcht. Dies hat zwei ſehr bedeutende Rechtsfolgen.

a) Jeder Angehörige eines deutſchen Staates kann in jedem anderen deutſchen Staate, in welchem er ſeine Niederlaſſung be - wirkt, die Aufnahme als Staatsbürger verlangen2)Reichsgeſ. vom 1. Juni 1870 §. 7. Siehe unten §. 17.. Kein Staat darf ſich gegen die Mitglieder der übrigen Staaten abſchließen oder ihre Aufnahme an läſtige Bedingungen, Einzugsgelder, Ge - bühren u. dgl. knüpfen. Die Gemeinſamkeit des Reichsverbandes begründet unter den Angehörigen aller einzelnen Staaten die po - litiſche Freizügigkeit 3)Der Ausdruck rührt her von dem Heſſiſchen Bundesbevollmächtigten Hofmann. (Stenogr. Berichte des Reichstages 1870 S. 82.). Die wichtigſten ſtaatlichen Aufgaben werden für das ganze Reich gemeinſchaftlich gelöſt und deshalb kann derjenige, der dem Ganzen bereits angehört, von einem einzelnen Theile nicht als ein Fremder abgeſtoßen werden4)Der Rechtsgrund iſt nicht mit John in v. Holtzendorff’s Handbuch des Deutſchen Strafrechts III. 1. S. 9 Note 7 in dem ſubjectiven Reichsbür - gerrecht des Einzelnen zu ſehen, welches für ihn einen wohlerworbenen Rechts - anſpruch gegen jeden deutſchen Einzelſtaat auf Verleihung der Staatsange - hörigkeit begründe, ſondern in der Unterordnung aller Einzelſtaaten unter das Reich, in ihrer Verbindung zu einem Geſammtſtaat..

b) Es kann Jemand gleichzeitig mehreren deutſchen Staaten317[137]§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.angehören. Da die weſentlichſten politiſchen Intereſſen für alle dieſelben ſind, ſo kann die gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren deutſchen Staaten keine erhebliche Colliſion der Pflichten der Treue und des Gehorſams begründen. Es fallen daher die aus der ethiſchen Natur des Staatsbürgerverhältniſſes entnommenen Gründe, welche faſt regelmäßig es ausſchließen, daß Jemand gleichzeitig mehreren Staaten angehört1)Vgl. v. Martitz in Hirth’s Annalen 1875 S. 805., für die im deutſchen Reich verbun - denen Staaten fort.

§ 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.

Die Reichsangehörigen haben gegen das Reich dieſelben Pflich - ten, welche in jedem Staate den Staatsangehörigen obliegen, näm - lich zum verfaſſungsmäßigen Gehorſam und zur Treue.

1. Die Gehorſamspflicht.

Das Weſen der Zugehörigkeit zu einem ſtaatlichen Organis - mus beſteht in der Unterthanenſchaft, d. h. in der Unterwerfung unter die obrigkeitliche Herrſchermacht. Der Bürger iſt als Ein - zelner Object der obrigkeitlichen Rechte des Staates; die Willens - ſphäre des Staates richtet ſich gegen ihn und verpflichtet ihn zu Handlungen, Leiſtungen und Unterlaſſungen behufs Durchführung der dem Staate obliegenden Aufgaben2)Dieſe Auffaſſung u. juriſt. Formulirung des Verhältniſſes der Staats - gewalt zur Perſon des Staatsbürgers iſt mit voller Klarheit hingeſtellt wor - den von v. Gerber Grundz. §. 15 17. Sie hat mehrfachen Widerſpruch erfahren, in der Tübinger Zeitſchrift f. d. geſ. Staatsw. Bd. 22 S. 434, in Haimerl’s Oeſterr. Vierteljahresſchr. Bd. 17 (Literaturbl. S. 19 ff. ), und namentlich von Schulze in Aegidi’s Zeitſchr. I. S. 424 ff. Hierauf hat v. Gerber in der zweiten Aufl. S. 222 ff. (Beilage II. ) ſo meiſterhaft replicirt, daß es genügt, auf dieſe Ausführungen hinzuweiſen. Die Analogie auf privatrechtlichem Gebiete darf allerdings nicht in den Inſtituten des Sachenrechts, ſondern nur in den Gewaltverhältniſſen des Familien - rechts geſucht werden.. Der Angehörige eines deutſchen Staates iſt nun der Staatsgewalt ſeines Staates und mit dieſem Staat der darüber ſtehenden, ſouveränen Gewalt des Reiches unterthan. Daraus ergiebt ſich, daß der Inhalt des Staatsbürgerrechts und der des Reichsbürgerrechts ſich zu einander ganz ſo verhalten, wie die Kom -138§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.petenz der Staatsgewalt zu der des Reiches. So - weit das Reich ſeine eigene Kompetenz beſchränkt und die einzelnen Staaten eine ſelbſtſtändige Lebensthätigkeit entfalten läßt, beſchränkt das Reich auch das Maaß ſeiner obrigkeitlichen Herrſcher-Rechte und läßt die Einzelſtaaten in deren Beſitz; in demſelben Umfange iſt daher der Einzelne Object der Territorial-Staatsgewalt, Lan - desunterthan, Staatsbürger. In allen Beziehungen dagegen, in denen das Reich ſeine ſtaatliche Macht entfaltet, obrigkeitliche Herrſchaftsrechte ausübt, iſt der Einzelne das Object der Reichs - gewalt, ſei es nun daß das Reich ſeine Gewalt unmittelbar oder durch Vermittlung und Verwendung der Staatsgewalt des Einzel - ſtaates zur Geltung bringt. Die Reichangehörigkeit iſt weſentlich Reichsunterthanenſchaft, d. h. die Pflicht den Geboten und Ver - boten der Reichsgewalt, welche in geſetzlicher, dem Recht entſpre - chender Weiſe erlaſſen werden, Gehorſam zu leiſten. Da nun die Kompetenz des Reiches und die der Einzelſtaaten vielfach ineinander geſchlungen iſt und die letzteren auch auf den dem Reich zugewie - ſenen Gebieten des Staatslebens regelmäßig Selbſtverwaltung haben, ſo läßt ſich die in der Reichsunterthanenſchaft liegende Ge - horſamspflicht nicht von der in der Landesangehörigkeit begründeten äußerlich abgrenzen. Wer einem ſtrafrichterlichen Erkenntniß oder der Verfügung einer Zollbehörde nachkömmt, wer den Anordnungen der Militärbehörde gemäß ſich zur Aushebung geſtellt, u. ſ. w. der leiſtet gleichzeitig dem Reich Gehorſam, welches die Straf - Zoll - und Militärgeſetze erlaſſen hat, und dem Einzel - ſtaat, welcher dieſe Geſetze handhabt1)Vom Standpunkte der herrſchenden Bundesſtaatstheorie aus bleibt einem conſequent denkenden Juriſten gegenüber dieſer durchweg hervortreten - den Verquickung und Verbindung von Staatsbürger - und Reichsbürger-Pflich - ten Nichts Anderes übrig, als einfach die Augen vor ihr zu verſchließen. Nur ſo kann man es erklären, wenn v. Gerber S. 240 ſagt: Der Bürger des Nordd. Bundes ſteht unter einer doppelten Regierung, der ſeines Einzel - ſtaates und des Bundesſtaates; aber jede dieſer beiden Regierungen hat ihre beſondern, im Ganzen vollſtändig getrennte Sphäre der Wirkſamkeit. (!). Es iſt daher unmöglich, die Pflichten einzeln aufzuzählen, welche das Reichsbürgerrecht involvirt und ihnen diejenigen gegenüber zuſtellen, welche mit dem Staatsbürgerrecht verknüpft ſind. Auch die Pflichten, die139§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.Reichsſteuern zu entrichten und die vom Reich angeordneten Heer - dienſte zu leiſten, ſind nicht von den Hoheitsrechten des Einzel - ſtaates losgelöſt1)Aus der Einheit des Deutſchen Heeres nach Art. 63 der R. -V. ergiebt ſich aber, daß jeder Deutſche nicht blos in ſeinem Heimathsſtaat, ſondern auch in jedem anderen Bundesſtaate, in welchem er zur Zeit des Eintritts in das militärpflichtige Alter ſeinen Wohnſitz hat oder in welchen er vor erfolgter endgültigen Entſcheidung über ſeine aktive Dienſtpflicht verzieht, ſeine Militär - pflicht erfüllen kann und daß er ſeinem Heimathsſtaate gegenüber von der militäriſchen Dienſtpflicht frei wird, wenn er dieſelbe in irgend einem Bundes - ſtaate erfüllt hat. R. -V. Art. 3 Abſ. 5. Geſ. vom 9. November 1867 §. 17. Man nennt dies die militäriſche Freizügigkeit. und in keinem Falle erſchöpfen ſie die durch die Reichsangehörigkeit begründete Unterthanen-Pflicht2)Gewöhnlich werden nur dieſe Pflichten, die doch nur Anwendungsfälle der allgemeinen Gehorſamspflicht ſind, hervorgehoben. So Thudichum V. -R. S. 73. G. Meyer Grundzüge S. 109. v. Rönne S. 103. Von den richtigen Geſichtspunkten geht aus Pözl, das Bayr. Verf. -Recht auf den Grundl. des Reichsrechts S. 31 fg..

2. Die Treuverpflichtung.

Dieſelbe iſt juriſtiſch in ihrer negativen Richtung von Bedeutung d. h. ſie involvirt die Rechtspflicht zur Unterlaſſung von Handlungen, welche auf die Beſchädigung des Staates ab - zielen.

Der Staat bedroht ſolche Handlungen zwar auch mit Strafe, wenn ſie von einem Ausländer begangen werden; ja in den ſchwer - ſten Fällen ſelbſt dann, wenn ſie ein Ausländer im Auslande begeht3)R. -Str.-G.-B. §. 4 Nr. 1.. Aber es beruht dies nicht darauf, daß der Ausländer durch ſeine Handlung eine Rechtspflicht verletzt, ſondern auf dem politiſchen Intereſſe des Staates, ſich durch die Strafdrohungen gegen feindliche Angriffe zu ſchützen, von wem dieſelben auch aus - gehen.

Der Verrath ſetzt nach dem Sinne des Wortes und dem Rechtsbewußtſein des Volkes die Verletzung eines Treuverhält - niſſes, der Hoch - und Landesverrath den Treubruch des Staats - genoſſen gegen den Staat und das Vaterland voraus4)Wenngleich das Strafgeſetzbuch Inländer und Ausländer wegen der - jenigen Handlungen, welche den objectiven Thatbeſtand des Hochverrathes und Landesverathes bilden, z. Th. mit der gleichen Strafe bedroht, und dieſe. In140§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.analoger Weiſe beruht die ſtrafrechtliche Ausſonderung der Maje - ſtätsbeleidigung als eines beſonderen Delicts auf der Verpflichtung des Staats-Angehörigen zur Treue und Pietät gegen den Träger der Staatsgewalt oder den vornehmſten Vertreter des Staates1)Schütze S. 225 fg. 245. 247.. Hoch - und Landesverrath und Majeſtätsbeleidigung enthalten, weil ſie zu den Staatsverbrechen gehören, ein ſubjectives Moment von ſtaatsrechtlicher Natur und ſo wie der Begriff des Bundesſtaates ſich von Einfluß zeigt auf die geſetzliche Feſtſtellung ihres That - beſtandes, ſo iſt auch umgekehrt aus den ſtrafrechtlichen Beſtim - mungen über dieſe Delicte eine Beleuchtung des Unterthanen - Verhältniſſes zu gewinnen2)Vgl. Heinze Staatsrechtl. u. ſtrafrechtl. Erörterungen zu dem Entw. 1870 S. 53 flg. 61 fg. Knitſchky das Verbrechen des Hochverraths Jena 1874 S. 123 ff..

Aus dem Begriffe des Bundesſtaates folgt nun, daß die Verpflichtung zur Treue ſvwohl gegen den Gliedſtaat, dem Jemand angehört, als auch gegen den Geſammtſtaat begründet iſt; daß demnach feindſelige Handlungen ſowohl gegen jenen wie gegen dieſen durch das ſubjective Moment des Treubruches zum Verrath im eigentlichen Sinne geſtempelt werden. Ebenſo iſt die Beleidigung des Oberhauptes des Reiches in gleicher Weiſe wie die Beleidigung des eigenen Landesherrn eine Verletzung der mit der Unterthanen - Treue verbundenen Pietätspflicht.

Dagegen fehlt es an dieſer ſubjectiven Treuverpflichtung im Verhältniß zu den anderen Einzelſtaaten und ihren Landesherren.

Damit iſt natürlich nicht geſagt, daß eine ſolche Handlung ſtraflos bleiben müſſe. Es ergiebt ſich vielmehr aus dem freund - ſchaftlichen Verhältniß der Staaten, aus der Solidarität ihrer Intereſſen und der ſogen. comitas nationum, daß feindliche Hand - lungen gegen befreundete Staaten und Beleidigungen ihrer Sou - veräne unter der Bedingung der Reciprocität beſtraft werden. 4)Handlungen gemeinſam mit dem Namen Hochverrath reſp. Landesverrath be - zeichnet, ſo bleibt doch in ſubjectiver Hinſicht immerhin der Unterſchied beſtehen, daß der Staatsangehörige die ſeinem Staate ſchuldige Treue bricht, der Ausländer nicht. Vgl. Schütze Lehrbuch des Deutſchen Strafrechts S. 230 Note 5. Schwarze Kommentar S. 286. Manche wollen allerdings hiervon ganz abſehen, ſo Berner Lehrb. S. 231. John in Holtzendorff’s Handb. III. 1. S. 15.141§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.Schon dieſes Prinzip würde genügen, um feindliche Handlungen gegen irgend einen Bundesſtaat und Beleidigung irgend eines Bundesfürſten unter Strafe zn ſtellen. Die bundesſtaatliche Eini - gung derſelben hat aber noch weiter gehende Folgen. Die übrigen Gliedſtaaten außer demjenigen, welchem der Thäter angehört, ſind mehr als befreundete Staaten, ſie ſind verbündete d. h. Theile des geſammtſtaatlichen Organismus1)Vgl. Schwarze Kommentar zum St. -G.-B. Allgem. Bemerk. zu §§. 80 93. John a. a. O. III. 1. S. 5.. Daraus folgt zunächſt der Wegfall der Bedingung der Reciprozität. Durch das gemeine Strafgeſetz, welches allgemein die feindliche Handlung gegen jeden zum Bunde gehörenden Staat und die Beleidigung der Bundesfürſten mit Strafe bedroht, iſt dieſe Bedingung von ſelbſt erfüllt. Ueberdies rechtfertigt ſich aber auch eine höhere Normirung des Strafmaaßes durch das enge ſtaatsrechtliche und nationale Band, welches die Gliedſtaaten umſchlingt, durch die höhere Gemeinſamkeit der Intereſſen, welche unter ihnen beſteht, durch die größere Entwicklung des Verkehrs unter ihren Angehö - rigen und durch den Antheil, welchen die Landesherren aller ein - zelnen Staaten an der Reichsgewalt haben2)Eine völlige Gleichſtellung des Hoch - und Landesverrathes gegen den eigenen Staat mit dem (Quaſi -) Hoch - u. Landesverrath gegen einen andern Deutſchen Staat iſt dadurch aber noch nicht geboten. Was John a. a. O. S. 7 ff. in dieſer Richtung ausführt, iſt von der Idee des Einheitsſtaates, nicht der des Bundesſtaates beherrſcht. Andererſeits geht Knitſchky a. a. O. S. 127. 128 ganz fehl, wenn er meint, daß das Verhältniß zwiſchen den einzel - nen Gliedern des Reiches nur als ein völkerrechtliches aufgefaßt werden kann..

Es ergiebt ſich daher hinſichtlich der Unterthanen des Reiches eine dreifache Abſtufung des Verbrechensbegriffs nach Maaßgabe der Staats-Angehörigkeit:

  • a) Der eigentliche Landesverrath und die eigentliche Majeſtäts - beleidigung richtet ſich entweder gegen das Reich und deſſen Oberhaupt oder gegen den eigenen Staat und deſſen Lan - desherrn. Gleichgeſtellt iſt der Staat und deſſen Landes - herr in deſſen Gebiet man ſich unter dem Schutze deſſelben aufhält. (Siehe unten § 22. III.)
  • b) Feindliche Handlungen gegen andere Bundesſtaaten oder Beleidigungen anderer Bundesfürſten, als der unter a) ge - nannten.
142§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.
  • c) Feindliche Handlungen gegen befreundete, nicht zum Reiche gehörende Staaten und Beleidigungen ihrer Landesherren, deren Stafbarkeit unter der Bedingung der Reciprozität ſteht.

Dieſe dreifache Gliederung hat das Reichsſtrafgeſetzbuch in der That durchgeführt bei dem hochverrätheriſchen Mordverſuch (§ 80. 81. 102. ) und der Fürſten-Beleidigung. In dem zweiten Theile des R. -Str.-G.-B.’-s behandelt der 2. Abſchnitt gleichmäßig die Beleidigung des Kaiſers und des eigenen Landesherrn, der 3. Abſchnitt die Beleidigung anderer Bundesfürſten, der 4. Ab - ſchnit § 103 die Beleidigung von Landesherren nicht zum deutſchen Reiche gehörender Staaten, welche ſtrafbar iſt, wofern dem deut - ſchen Reiche die Gegenſeitigkeit verbürgt iſt1)Hinſichtlich der Abſtufung des Strafmaaßes beſtimmt beiſpielsweiſe §. 95 für die Beleidigung des Kaiſers oder des eigenen Landesherren Gefäng - niß oder Feſtungshaft von 2 Monaten bis zu 5 Jahren, §. 99 für die Be - leidigung eines Landesfürſten Gefängiß oder Feſtungshaft von 1 Monat bis zu 3 Jahren, §. 103 für die Beleidigung des Landesherrn eines fremden Staates Gefängniß oder Feſtungshaft von 1 Monat bis zu 2 Jahren..

In dieſen Beſtimmungen ſpiegelt ſich das ſtaatsrechtliche Ver - hältniß getreu wieder. Das Unterthanenverhältniß beſteht zum eigenen Staate und zum Reiche und deshalb ſind in jedem Staate der eigene Landesherr und der Kaiſer (als Oberhaupt des Reiches2)Der Kaiſer iſt zwar nicht der Souverän des Reiches, hat aber in der Reichsverfaſſung eine ſo hervorragende Stellung, daß er als Oberhaupt des Reiches denſelben ſtrafrechtlichen Schutz genießt, als wäre er der Souverän. Der Deutſche, der nicht zugleich Preuße iſt, iſt zwar nicht Unterthan des Kai - ſers, aber Unterthan des Reichs. Vollſtändig verkennt dies Knitſchky a. a. O. S. 125 u. 129 fg. mit einem höheren ſtrafrechtlichen Schutze gegen Thätlichkeiten und Beleidigungen ausgeſtattet wie die anderen deutſchen Landesherren, während andererſeits die ſtaatliche Zuſammengehörigkeit der deutſchen Staaten in der Unterſcheidung zwiſchen Bundesfürſten und fremden Landesherren einen Ausdruck gefunden hat.

Was diejenigen Handlungen anlangt, welche den objectiven Thatbeſtand des Hoch - und Landesverrathes bilden, ſo ergibt ſich zunächſt aus dem ſtaatlichen Charakter des Reiches ein bemerkens - werther Unterſchied gegen das zur Zeit des deutſchen Bundes gültig143§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.geweſene Recht. Gegen den deutſchen Bund konnte ein Hochverrath oder Landesverrath nicht begangen werden; das Bundesverhältniß war kein Gegenſtand eines Staatsverbrechens, der Bund hatte keine Staatsangehörigen1)Klüber Oeffentl. Recht §. 184 Note 6 S. 240 (4. Aufl.).. Allerdings beſtimmte der, in allen Bundesſtaaten publizirte Bundesbeſchluß v. 18. Auguſt 18362)Sitz XVI. Prot. §. 226., daß die gegen die Exiſtenz, Integrität, Sicherheit oder Verfaſſung des deutſchen Bundes gerichteten Handlungen in dem Staate, in dem der Thäter Unterthan iſt, als Hochverrath, Lan - desverrath oder unter einer anderen Benennung geſtraft werden ſollen, unter welcher die gleiche Handlung, gegen den einzelnen Staat ſelbſt begangen, zu ſtrafen ſein würde. In dieſem Beſchluß ſelbſt aber wird als Grund angegeben, daß die Verfaſſung des deutſchen Bundes auch ein Theil der Landesverfaſſung ſei. Die Bundesinſtitutionen hatten daher keinen ſelbſtändigen oder unmittelbaren Schutz, ſondern nur mittelbar durch den Schutz der Verfaſſungs-Einrichtungen der einzelnen Staaten; Unterneh - mungen gegen den Bund waren nur ſtrafbar als Hoch - oder Lan - desverrath gegen den Einzelſtaat3)Vgl. Heffter im N. Arch. des Criminalrechts 1840 S. 223 ff. und Lehrbuch des Strafr. §. 203 Note 5..

Durch den Art. 74 der Verfaſſung hat ſich dieſes Verhältniß vollſtändig geändert. Zwar lehnt er ſich in ſeiner Faſſung an den Wortlaut des Bundesbeſchluſſes von 1836 an, weil es zur Zeit der Errichtung des Norddeutſchen Bundes noch kein gemeines Straf - recht gab; aber er beſtimmt nicht, daß der Hochverrath oder Lan - desverraty gegen das Reich als Hoch - oder Landesverrath gegen den einzelnen Staat, in deſſen Gebiet die That verübt worden iſt, anzuſehen ſei, ſondern daß er ebenſo wie der Hoch - oder Lan - desverrath in den einzelnen Staaten zu beſtrafen ſei4) Nach Maßgabe der in den letzteren beſtehenden oder künftig in Wirk - ſamkeit tretenden Geſetze. . Gegen - ſtand des Verbrechens iſt nicht der Einzelſtaat in ſeiner Eigenſchaft als Bundesglied, ſondern das Reich ſelbſt5)Schütze Lehrbuch S. 228.. Das Reichs-Straf - Geſetz-Buch hat die partikulären Geſetze beſeitigt und die Beſtra - fung des Hoch - und Landesverrathes ſowohl gegen das Reich als144§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.auch gegen die einzelnen Staaten geregelt. Im §. 81 wird das Unternehmen, die Verfaſſung des Deutſchen Reichs gewaltſam zu ändern oder das Bundesgebiet ganz oder theilweiſe einem frem - den Staate gewaltſam einzuverleiben oder einen Theil deſſelben vom Ganzen loszureißen, als ein ſelbſtſtändiger Thatbeſtand des Hochverraths anerkannt und völlig gleichartig neben den Fall ge - ſtellt, daß ein gleiches Unternehmen gegen einen Bundesſtaat ge - richtet wird. Ebenſo führt der §. 92 die Gefährdung des Wohles und der Rechte des Deutſchen Reiches neben der Gefährdung des Wohles und der Rechte eines Bundesſtaates auf. Das Reich erſcheint auch in dieſer Beziehung als Staat, nicht als Staaten - bund. Endlich ſind der Bundesrath und der Reichstag und ſeine Mitglieder grade ebenſo wie die geſetzgebenden Verſammlungen der einzelnen Staaten und deren Mitglieder gegen gewaltſame Angriffe und gegen Beleidigungen geſchützt. Reichs-Straf-Geſetz - Buch §. 105. 106. 196. 197.

Aber auch in einer anderen Beziehung hängt die ſtrafrecht - liche Geſtaltung des Landesverrathes mit der bundesſtaatlichen Verfaſſung des Reiches zuſammen. Die Kompetenz-Abgränzung zwiſchen Reich und Einzelſtaat, welche, wie wir ausgeführt haben, für die Beſtimmung der Unterthanen-Pflichten maßgebend iſt, hat auch zur Folge, daß ein Landesverrath in gewiſſen Fällen nur gegen das Reich, nicht gegen den Einzelſtaat verübt werden kann.

Bekanntlich theilt man den Landesverrath ein in den mili - täriſchen und diplomatiſchen. Der militäriſche Landesver - rath beſteht in der Aufreizung eines fremden Staates zum Kriege gegen das Vaterland oder in der Unterſtützung, Begünſtigung und Vorſchubleiſtung des Feindes nach ausgebrochenem Kriege. Da nun die einzelnen Staaten das Recht der Kriegsführung nicht haben, dieſes vielmehr ausſchließlich dem Reich zuſteht, ſo kann ſich ein ſogenannter militäriſcher oder Kriegs-Landesverrath niemals gegen einen Gliedſtaat, ſondern immer nur gegen den Geſammtſtaat richten1)Der von einigen Kommentatoren zum R. -Str.-G.-B., z. B. Oppen - hoff zu §. 88 Note 1. Schütze Lehrb. S. 240 Note 37 erwähnte Fall, daß nur ein Bundesſtaat mit einem ausländiſchen Staate ſich im Kriege befindet, iſt aus ſtaatsrechtlichen Gründen unmöglich. Vgl. John a. a. O. S. 47. und es kömmt daher auch in ſubjectiver Beziehung le - diglich die Reichsangehörigkeit, nicht die Staatsangehörigkeit in145§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.Betracht. Demgemäß bedrohen die §§. 87 90 einen Deutſchen, welcher die daſelbſt angeführten Handlungen gegen das Deutſche Reich oder deſſen Bundesgenoſſen verübt, mit Strafe1)John a. a. O. S. 48..

In einem inneren Zuſammenhange damit ſteht die Beſtimmung des Geſetzes über die Bundes - und Staatsangehörigkeit v. 1. Juni 1870 §. 20 Deutſche, welche ſich im Auslande aufhalten, können ihrer Staatsangehörigkeit durch einen Beſchluß der Centralbehörde ihres Heimathsſtaates verluſtig erkärt werden, wenn ſie im Falle eines Krieges oder einer Kriegsgefahr einer durch das Bundespräſidium für das ganze Bundesgebiet anzu - ordnenden ausdrücklichen Aufforderung zur Rückkehr binnen der darin beſtimmten Friſt keine Folge leiſten.

Auch dieſe Beſtimmung hat ihren Grund in der Verpflichtung zur Treue aller Reichsangehörigen gegen das Reich in denjenigen Angelegenheiten, die allgemeine Reichsintereſſen betreffen und iſt für das Verhältniß von Staatsbürgerrecht und Reichsbürgerrecht ſehr bezeichnend. Der Kriegszuſtand und die Kriegsgefahr bedro - hen das Reich als Ganzes; der Aufenthalt von Deutſchen im Auslande zu ſolcher Zeit kann daher nur mit der Unterthanen - treue gegen das Reich, nicht gegen einen einzelnen Staat, colli - diren. Deshalb iſt die Aufforderung zur Rückkehr vom Kaiſer, nicht von den einzelnen Staaten zu erlaſſen. Die Aufforderung darf ferner nicht für die Angehörigen eines oder einiger Staaten ge - ſchehen, ſondern ſie iſt gleichzeitig für die Angehörigen aller Bun - desſtaaten, oder wie das Geſetz ſehr ungeſchickt ſagt für das ganze Bundesgebiet 2)Da die Aufforderung an die im Auslande ſich aufhaltenden Deutſchen gerichtet iſt, ſo hat ſie keine Beziehung auf das Bundesgebiet. Nicht in territorialer, ſondern in perſonaler Hinſicht ſoll ſie eine generelle, d. h. an die Angehörigen aller Staaten gerichtete ſein., anzuordnen.

Aber das Reichsbürgerrecht kann nicht für ſich allein und nicht unmittelbar entzogen werden: es kann nur verloren gehen mit und durch den Verluſt der Staatsangehörigkeit in dem betref - fenden Einzelſtaat. Deshalb droht das Reichsgeſetz für die dem Reich gegenüber gezeigte Entfremdung vom Vaterland den Verluſt der Staats angehörigkeit an und ermächtigt die CentralbehördeLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 10146§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.des Heimathsſtaates dieſen Verluſt durch einen Beſchluß zu erklären. Die Entziehung der Reichsangehörigkeit wird dadurch bewirkt, daß das Fundament, auf welchem ſie ruht, ihr genommen wird. Die innere Einheit von Staats - und Reichsbürgerrecht tritt hier mit beſonderer Deutlichkeit hervor und ebenſo wird es an - ſchaulich, wie die Unterthanen-Pflicht gegen den Staat ſich an dem Punkte von ſelbſt in die Unterthanen-Pflicht gegen das Reich ver - wandelt, wo das Reich die Erfüllung der ſtaatlichen Zwecke dem Einzelſtaate abgenommen hat.

Der ſogenannte diplomatiſche Landesverrath, wel - cher in der Mittheilung von Staatsgeheimniſſen oder Urkunden, in der Vernichtung von Aktenſtücken oder Beweismitteln behufs Gefährdung ſtaatlicher Rechte oder in der Führung eines Staats - geſchäfts mit einer andern Regierung zum Nachtheil des Staates, welcher den Auftrag dazu ertheilt hat, beſteht, kann ſeinem objec - tiven Thatbeſtande nach eben ſowohl gegen das Reich, wie gegen jeden einzelnen Staat verübt werden und es hätte daher in dieſen Fällen ſehr wohl ein Unterſchied gemacht werden können, ob die feindliche (verrätheriſche) Handlung gegen das Reich reſp. den eigenen Bundesſtaat oder ob ſie gegen einen anderen Bun - desſtaat gerichtet iſt. Dieſe Unterſcheidung iſt aber natürlich nur dann möglich, wenn man in ſubjectiver Beziehung überhaupt die Angehörigkeit zum Deutſchen Reich als Requiſit des Verbrechens erfordert. Dies iſt in dem Reichs-Straf-Geſetze weder beim Hoch - verrath noch bei den erwähnten Fällen des Landesverrathes ge - ſchehen. Der §. 92 ſagt nicht: Ein Deutſcher, welcher vorſätzlich u. ſ. w. ſondern: Wer vorſätzlich u. ſ. w. 1)Trotz dieſer allgemeinen Faſſung nimmt Berner Lehrb. §. 239 an, daß nur ein Inländer einen diplomatiſchen Landesverrath begehen könne. Auch John in Holtzendorff’s Handbuch des d. Strafr. III. 1. S. 53 ſagt ohne Angabe eines Grundes, daß für die Fälle des §. 92 Nr. 1 u. 2 als Subject ein Deutſcher vorausgeſetzt ſei. Vgl. dagegen Schütze S. 243. Oppenhoff zu §. 92 Note 2. Rudorff zu §. 92 Note 1. Schwarze S. 286. und hat ſomit den Zuſammenhang der in dieſem Paragraphen aufgeführten Fälle des Landesverrathes mit der in der Staatsangehörigkeit begrün - deten Treuverpflichtung gelöſt2)Ueber das Bedenkliche dieſes Verfahrens vergl. Heinze a. a. D. S. 64 ff.; Inländer und Ausländer ſind147§. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen.einander völlig gleichgeſtellt1)Dadurch wird natürlich nicht ausgeſchloſſen, daß bei der Straf - Ausmeſſung vom Richter das ſubjective Moment gewürdigt und der Verrath des eigenen Staates ſtrenger beſtraft wird, als die gleiche Handlung eines Ausländers beſtraft werden würde. Vgl. auch Schütze S. 231.; nur daß ein Inländer auch wegen eines im Auslande begangenen Landesverrathes zur Strafe gezo - gen werden kann. (Reichs-Straf-Geſetz-Buch §. 4 Z. 2.)

Dadurch war es von ſelbſt ausgeſchloſſen, den Landesverrath, welchen ein Deutſcher gegen den eigenen Staat verübt, von dem Landesverrath, welchen ein Deutſcher gegen einen anderen Bun - desſtaat verübt, zu unterſcheiden, und der Staatsangehörigkeit innerhalb des Deutſchen Reiches in dieſer Richtung eine ſtrafrecht - liche Wirkſamkeit beizulegen. Das Reichsſtrafgeſetzbuch ignorirt an dieſer Stelle und zwar nach Ausweis der Motive S. 83 ff. mit Bewußtſein und Abſicht die Fortdauer eines beſonderen ſtaatlichen Angehörigkeits-Verhältniſſes zwiſchen dem Einzelnen und ſeinem Heimathsſtaate und geht davon aus, daß man im ganzen Bundesgebiet jeden Bundesangehörigen als Inländer auffaſſen müſſe. Dem ethiſchen und rechtlichen Bewußtſein des Volkes dürfte es freilich anſtößig erſcheinen, daß der Angehörige des Einzelſtaates R, der ein Geheimniß des Einzelſtaates S ſeinem eigenen Staate verrathen hat, überall in Deutſchland ebenſo ſtraf - bar, alſo auch von ſeinem eigenen Heimathsſtaat ebenſo zur ſtrafrechtlichen Verantwortung zu ziehen wäre, wie wegen irgend eines Privatverbrechens2)Vgl. Heinze a. a. O. S. 65. Wenn John a. a. O. S. 54 zur Rechtfertigung des Strafgeſetzb. ſich auf die Anſchauung beruft, daß durch die Verletzung des Theils das Ganze verletzt erſcheint, ſo iſt zu erwidern: 1) daß dieſe Anſchauung falſch iſt, in ſo weit das Intereſſe des Theils ver - ſchieden iſt von dem Intereſſe des Ganzen und 2) daß es ſtrafrechtlich nicht gleichgültig iſt, ob Jemand denjenigen Theil des Ganzen, dem er ſelbſt an - gehört, verletzt oder einen andern Theil deſſelben Ganzen..

So wie die Strafe des Kriegs-Landesverraths eine Analogie in dem oben erörterten Verluſt der Staatsangehörigkeit auf Grund des §. 20 des Geſ. vom 1. Juni 1870 hat, ſo auch der ſogen. diplomat. Landesverrath. Daſſelbe Geſetz beſtimmt im §. 22.

Tritt ein Deutſcher ohne Erlaubniß ſeiner Regierung in fremde Staatsdienſte, ſo kann die Centralbehörde ſeines Heimathſtaates denſelben durch Beſchluß ſeiner Staatsan -10*148§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.gehörigkeit verluſtig erklären, wenn er einer ausdrücklichen Aufforderung zum Austritte binnen der darin beſtimmten Friſt keine Folge leiſtet.

Unter fremden Staatsdienſten ſind nur Dienſte bei einem nicht zum Reiche gehörenden Staate zu verſtehen; weder der Reichsdienſt noch der Dienſt bei einem andern Bundesſtaat iſt ein fremder Staatsdienſt. Dagegen iſt ein feindliches Verhalten des außerdeutſchen Staates nicht vorausgeſetzt, der fremde Staat kann ein befreundeter (im Sinne des R. -St.-G.-B. Thl. II. Abſchn. 4) ſein. Der Eintritt in ſeine Dienſte kann gleichwohl eine Ent - fremdung vom Heimathsſtaat bekunden oder eine Colliſion der übernommenen Amtspflichten mit der Treupflicht gegen den Hei - mathsſtaat herbeiführen. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit zieht zwar auch in dem Falle des §. 22 den Verluſt der Reichs - angehörigkeit nach ſich, aber nur deshalb weil beide Eigenſchaften mit einander untrennbar verbunden ſind; dagegen iſt das Reich als ſolches bei der Entziehung der Staatsangehörigkeit nicht be - theiligt, weder beim Erlaß der Aufforderung zur Rückkehr noch bei dem Beſchluß der Expatriirung. Wenn Jemand mit Erlaub - niß ſeiner Regierung bei einer fremden Macht dient, ſo verbleibt ihm ſeine Staatsangehörigkeit (§. 23 des angef. Geſetzes); d. h. er kann von ſeiner Regierung nicht durch Androhung der Entzie - hung der Staatsangehörigkeit zum Austritte genöthigt werden1)Riedel S. 269..

§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.

Vollkommen entſprechend den Unterthanenpflichten gegen das Reich ſind die reichsbürgerlichen Rechte. Es ſind dies die gewöhnlichen ſtaatsbürgerlichen Rechte innerhalb der dem Reiche zugewieſenen Kompetenz. Das Reichs - bürgerrecht enthält Nichts, was nicht auch das Staatsbürgerrecht in dem ſouveränen Einheitsſtaat enthalten würde; es iſt nichts Anderes als das Staatsbürgerrecht in denjenigen Beziehungen, in denen das Reich an die Stelle des Einzelſtaates getreten iſt.

Der Begriff des Staatsbürgerrechts wird in der Literatur faſt durchweg in einem Sinne genommen, in welchem völlig Ver -149§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.ſchiedenes zuſammengeworfen wird. Man rechnet darunter theils die ſogenannten politiſchen Rechte, theils die bürgerlichen Rechte, das heißt die Vorrechte des Einheimiſchen vor den Fremden, theils die ſogenannten Freiheitsrechte oder Grundrechte1)Ueber die gemeinrechtliche Theorie vgl. die ausführlichen Darſtel - lungen bei Klüber §. 257 (4. Aufl. S. 364). Maurenbrecher Grund - ſätze §. 57 (S. 79). Weiß Syſtem des Deutſchen Staatsrechts §. 273 ff. Zöpfl II. §. 281 ff. und beſonders Zachariä I. §. 85 ff. (3. Aufl. S. 430 558). Von denſelben Gedanken gehen die Darſteller der Partikular - rechte aus, unter ihnen ſind hervorzuheben v. Mohl Staatsr. des Königreichs Württemberg I. §. 69 (2. Aufl. S. 323 ff.). v. Pözl bayer. Verfaſſungsr. §. 27 ff. (4. Aufl. S. 61 98). v. Rönne Staatsr. der Preuß. Monarchie I. §. 89 ff. Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 376 ff.. Die beiden letzten Kategorien ſind überhaupt keine Rechte im ſubjectiven Sinne. Die Vorrechte des Einheimiſchen vor den Fremden ſind lediglich die Negation der Belaſtungen oder Be - ſchränkungen, denen Fremde unterworfen ſind, haben aber keinen poſitiven Inhalt und zerfließen ſofort in Nichts, wenn der Staat Fremde den Einheimiſchen gleich behandelt. Die Freiheitsrechte oder Grundrechte ſind Normen für die Staatsgewalt, welche dieſelbe ſich ſelbſt giebt, ſie bilden Schranken für die Machtbefugniſſe der Behörden, ſie ſichern dem Einzelnen ſeine natürliche Handlungs - freiheit in beſtimmtem Umfange, aber ſie begründen nicht ſubjective Rechte der Staatsbürger. Sie ſind keine Rechte, denn ſie haben kein Object2)Vgl. die vortrefflichen Ausführungen v. Gerbers Ueber öffentliche Rechte (Tübingen 1852) S. 76 ff. beſonders S. 79 und Grundzüge des Staats - rechts §. 10 Note 5 und §. 17. Auch Zachariä Staatsr. I. S. 443 (§. 87 Note 1) erkennt an, daß es ſich bei den ſogen. Freiheits - oder Grundrechten nicht um ſubjective Rechte der Einzelnen, ſondern um Schranken der Regie - rungsgewalt handelt; behält jedoch die alte Sitte bei, dieſe objectiven Regie - rungs-Normen als Rechte der Staatsbürger darzuſtellen. Dieſe Sitte iſt die herrſchende geblieben und hat ſich auch in der Literatur des Bundes - und Reichsrechts eingeniſtet und ſo findet man bei Thudichum, G. Meyer, Riedel und anderen Schriftſtellern das reichsbürgerliche Recht auf Paß - und Gewerbefreiheit, auf freie Verehelichung, auf Briefgeheimniß u. ſ. w.; alſo das ſubjective Recht, bei Reiſen keinen Paß, beim Gewerbebetrieb keine Conceſſion, bei der Verehelichung keinen polizeilichen Conſens zu bedürfen! Wenn Thudichum S. 524 unter den Freiheitsrechten ſogar auch die Ein - ſchränkung der Beſchlagnahme von Arbeitslöhnen und der Schuldhaft aufführt, ſo iſt nicht einzuſehen, warum nicht auch der geſammte Inhalt des Handelsgeſetz - buches und der Wechſelordnung hierher gezogen werden könnte und weshalb.

150§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.

Als Inhalt des Staatsbürgerrechts iſt vielmehr nur anzuer - kennen, der Anſpruch des einzelnen Staatsbürgers auf die Er - füllung der Aufgaben, welche der Staat ſeinen Angehörigen gegen - über übernommen hat und zwar ſowohl nach Außen als im Innern und auf die verfaſſungsmäßige Antheilnahme an dem ſtaatlichen Leben ſelbſt. Dem entſprechend giebt es auch ein Reichsbürger - recht, welches allen Angehörigen des Reiches ohne Rückſicht auf den Einzelſtaat zuſteht und gegen das Reich unmittelbar gerichtet iſt, mit dreifachem Inhalt: Schutz im Auslande, Schutz im Inlande und Theilnahme am Verfaſſungsleben des Reiches.

1) Der Anſpruch auf Schutz im Auslande. Grade in dieſer Beziehung iſt das Reich am Vollſtändigſten an die Stelle der Einzelſtaaten getreten und hat ihnen ihre Pflichten abgenommen. Die Reichsverfaſſung ſelbſt beſtimmt Art. 3 Abſ. 6 dem Auslande gegenüber haben alle Deut - ſchen gleichmäßig Anſpruch auf den Schutz des Reichs.

Nicht blos die Einzelſtaaten haben einen Anſpruch an das Reich, daß dieſes ihre Angehörigen dem Auslande gegenüber ſchützt1)Siehe oben S. 110., ſondern alle Deutſchen haben dieſen Anſpruch unmittel - bar. Durch den Art. 4 Nro. 7 der R. -Verf. iſt die Kompetenz des Reiches dieſer Aufgabe gemäß erſtreckt auf die Organiſation eines gemeinſamen Schutzes des deutſchen Handels im Auslande, der deutſchen Schifffahrt und ihrer Flagge zur See und Anordnung gemeinſamer konſulariſcher Vertretung, welche vom Reiche ausge - ſtattet wird. Zur Gewährung des Schutzes hat das Reich Ge - ſandtſchaften eingerichtet und Konſulate organiſirt und zur wirkſamen Durchführung verfügt es über das Heer und die Kriegsmarine.

Auch hier ſind die Einzelſtaaten übrigens nicht völlig elimi - nirt und durch das Reich keineswegs gänzlich verdrängt. Eine Trennung von Centralgewalt und Einzelſtaatsgewalt, wie ſie die herrſchende Bundesſtaats-Theorie lehrt, daß auf gewiſſen Gebieten nur das Reich, auf anderen nur der Einzelſtaat Hoheitsrechte hat, beſteht nicht einmal hier, wo die Machtbefugniſſe des Reiches am2)man z. B. die Freiheitsrechte eines Deutſchen, Wechſel zu traſſiren und zu acceptiren, zu domiziliren und zu indoſſiren, aus dem Syſtem des Staatsrechts ſo erbarmungslos ausſtößt.151§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.meiſten entwickelt ſind. Denn abgeſehen davon, daß es den Ein - zelſtaaten unbenommen iſt, Landes-Geſandtſchaften zu unter - halten, denen der Schutz und die Vertretung der Intereſſen der Landes-Angehörigen zunächſt obliegt, beſtimmt auch hinſichtlich der Konſulate, zu deren Errichtung das Reich ausſchließlich be - fugt iſt1)Nur interimiſtiſch ließ Art. 56 der R. -V. Landesconſulate beſtehen bis die Organiſation der Deutſchen Konſulate vollendet war., der §. 3 Abſ. 2 des Geſetzes v. 8. Nov. 1867 In beſonderen, das Intereſſe (eines einzelnen Bundes - ſtaates oder) einzelner Bundesangehörigen betreffenden Ge - ſchäftsangelegenheiten berichten ſie an die Regierung des Staates, (um deſſen beſonderes Intereſſe es ſich handelt, oder) dem die betheiligte Privatperſon ange - hört; auch kann ihnen in ſolchen Angelegenheiten die Regierung eines Bundesſtaates Aufträge ertheilen und un - mittelbare Berichtserſtattung verlangen .

Hiernach iſt es den Einzelſtaaten unbenommen, ſich ſelbſt ihrer Angehörigen im Auslande anzunehmen und kein Deutſcher iſt ge - hindert, ſich an die Regierung ſeines Heimathsſtaates zu wenden und ihre Fürſorge für ſeine Intereſſen zu verlangen. Aber er iſt auf ſie nicht angewieſen. Die Organe des Reiches, Geſandt - ſchaften und Konſulate, ſind ihm unmittelbar zugänglich, eben - ſo das Auswärtige Amt des Reiches, und das Reich allein verfügt über die Machtmittel, um den Schutz dem Auslande gegenüber fühlbar und wirkſam zu machen.

2) In den inneren Angelegenheiten entſpricht der Pflicht des Staatsbürgers zur Tragung der ſtaatsbürgerlichen Laſten, zum Gehorſam und zur Treue ſein Recht, an den Wohlthaten des ſtaatlichen Gemeinweſens Theil zu nehmen.

Die urſprünglichſte, natürlichſte und im Ganzen auch die wichtigſte Seite des Staatsbürgerrechts in dem entwickelten Sinne iſt der Anſpruch, im Staate d. h. im Gebiet und unter dem Schutz des Staates leben zu dürfen. Das iſt der weſentliche Unterſchied zwiſchen der rechtlichen Stellung des Staatsangehörigen und derjenigen des Fremden, daß der letztere im Staat geduldet wird, der erſtere berechtigt iſt, im Staate zu leben.

Zwar iſt die Duldung von Fremden, welche friedlich und152§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.den Geſetzen gemäß ſich halten, eine völkerrechtliche Pflicht; aber es iſt unbezweifelt, daß jeder Staat ganz unabhängig und frei prüfen kann, ob er den ferneren Aufenthalt eines Ausländers in ſeinem Gebiet als mit ſeinem Intereſſe verträglich erachtet und daß er, falls er dies verneint, jeden Ausländer aus ſeinem Ge - biet verweiſen kann1)Es iſt ſchon oft hervorgehoben worden, daß der weſentlichſte Inhalt des Indigenats oder der Staatsangehörigkeit in dem Wohnrecht beſteht. Vgl. z. B. Zöpfl II. §. 298 und beſonders v. Bar International. Privat - u. Strafrecht S. 83 fg. Auch [Goldammer] Archiv für Preuß. Strafrecht Bd. XVI. S. 453. Indeß iſt feſtzuhalten, daß ein Wohnrecht vertragsmä - ßig auch einem Fremden eingeräumt werden kann, was in früherer Zeit z. B. hinſichtlich der Juden öfters vorkam. (Vgl. Otto Stobbe die Juden in Deutſchl. während des Mittelalters S. 23 ff. ), und daß andererſeits das Wohnrecht den Inhalt der durch die Staatsangehörigkeit begründeten Rechte nicht erſchöpft.. Eine Landesverweiſung der Staatsangehörigen dagegen giebt es nicht2)Im früheren Recht kam dieſelbe allerdings vor; mit dem modernen Staatsbegriff iſt ſie ganz unvereinbar. Vgl. auch Zachariä II. S. 301. Die bei Zöpfl II §. 298 Note 3 angeführten Verfaſſungsbeſtimmungen. v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 2 §. 335. v. Martitz in Hirth’s Annalen 1875 S. 800.. Der Staatsangehörige, der ſich gegen die Geſetze vergeht, kann nach Maaßgabe derſelben beſtraft, aber niemals aus dem Staatsgebiete verwieſen werden. Demgemäß kann kein Reichs angehöriger aus dem Reichsgebiet verwieſen werden, weder aus polizeilichen noch ſtrafrechtlichen Gründen. Durch das Geſetz über die Freizügigkeit v. 1. Nov. 1867 §. 13) Jeder Bundesangehörige hat das Recht, innerhalb des Bundes - gebietes an jedem Orte ſich aufzuhalten oder niederzulaſſen, wo er eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen ſich zu verſchaffen im Stande iſt. iſt dieſes ſtaatsbür - gerliche Grundrecht gewährleiſtet. Das Strafgeſetzbuch kennt dem entſprechend die Strafe der Landesverweiſung gegen Reichsange - hörige nicht, wohl aber gegen Ausländer (§. 39 Abſ. 2 §. 284 Abſ. 2. §. 362 Abſ. 3). Das Geſetz, betreffend den Orden der Geſellſchaft Jeſu, vom 4. Juli 1872 unterſcheidet im §. 2, ob die Jeſuiten Ausländer oder Inländer ſind; im erſteren Falle können ſie ausgewieſen, im letztern Falle internirt werden4)Der Regierungs-Entwurf wollte allerdings Reichsangehörige und aus - ländiſche Jeſuiten gleichſtellen; auf den Antrag des Abgeordneten Meyer (Thorn). Endlich das153§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.Geſetz vom 4. Mai 1874, betreffend die Verhinderung der unbe - fugten Ausübung von Kirchenämtern, geſtattet zwar im äußerſten Falle die Ausweiſung des renitenten Geiſtlichen, erfordert aber, daß derſelbe zuvor ſeiner Staatsangehörigkeit durch Verfügung der Centralbehörde ſeines Heimathsſtaates verluſtig erklärt werde und ſichert durch den § 4 ausdrücklich die Conſequenz, daß dieſer Verluſt der Staatsangehörigkeit den Verluſt der Reichsangehörig - keit nach ſich zieht, indem er ſeine Wirkung gleichzeitig auf alle einzelnen Bundesſtaaten erſtreckt1) Perſonen, welche nach den Vorſchriften dieſes Geſetzes ihrer Staats - angehörigkeit in einem Bundesſtaate verluſtig erklärt worden ſind, verlieren dieſelbe auch in jedem anderen Bundesſtaate und können ohne Geneh - migung des Bundesraths in keinem Bundesſtaate die Staatsangehörigkeit von neuem erwerben. .

Im engſten Zuſammenhange mit dem entwickelten Prinzip ſteht der weitere Rechtsſatz: Ein Reichsangehöriger darf in keinem Falle einem ausländiſchen Staat aus - geliefert werden. Auch dies iſt ein weſentlicher Beſtandtheil des Reichsbürgerrechts, das Wort in ſeiner wahren, juriſtiſchen Bedeutung genommen. Der Grundſatz, welcher ſeinen Platz in der Reichsverfaſſung verdiente, iſt geſetzlich ſanktionirt im Reichs-Strafgeſetzbuch § 9. Ein Deutſcher darf einer ausländiſchen Regierung zur Verfolgung oder Beſtrafung nicht überliefert werden2)Auch zu anderen Zwecken nicht. Wenn z. B. im Falle eines Krieges eine befreundete Regierung ſich erbieten würde, verwundete Deutſche Krieger zur Verpflegung und Heilung zu übernehmen, ſo dürften doch Deutſche Sol - daten wider ihren Willen nicht an ausländiſche Lazarethe abgeliefert werden..

Er iſt außerdem in ſämmtlichen völkerrechtlichen Verträgen, welche das Reich mit auswärtigen Staaten über die Auslieferung von Verbrechern abgeſchloſſen hat, ausnahmslos anerkannt wor - den3)Vertr. mit Nordamerika vom 16. Juni 1852 Art. 3 reſp. vom 22. Februar 1868 Art. 3 (B. -G.-Bl. 1868 S. 229. 234); mit Belgien vom 9. Februar 1870 Art. 2 (B. -G.-Bl. 1870 S. 57); mit Italien vom 31. Oktober 1871 Art. 2 (R. -G.-Bl. 1871 S. 449) u. Uebereinkunft v. 8. Auguſt.

4)aber, welcher hervorhob, daß ein ſolcher Verluſt des Indigenats den Grund - ſätzen des modernen Rechts überall widerſtreitet, verbeſſerte der Reichstag das Geſetz in dem angegebenen Sinne.

154§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.

Das ſtaatsbürgerliche Recht, dem Staat auch thatſächlich ange - hören zu dürfen, beſchränkt ſich aber nicht auf das bloße Exiſtiren in dem Gebiet, in der Luft des Heimathsſtaates; ſondern es er - hält ſeinen bedeutungsvollen Inhalt in dem Anſpruch, daß die Fürſorge des Staates für Aufrechthaltung der Rechtsordnung und zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt auch Jedem zu Theil werde, d. h. daß die beſtehenden Geſetze, welche für ihn Rechte begründen oder ſeinem Intereſſe förderlich ſind, auch wirklich zu ſeinen Gunſten angewendet werden. Im Einzelnen läßt ſich dieſes Recht ebenſo wenig ſpezialiſiren, wie die Gehorſamspflicht; beide empfangen gleichmäßig ihren Inhalt durch die Lebensthätigkeit des Staates ſelbſt. Dem Begriff des Bundesſtaates als eines zwei - fach gegliederten Staates gemäß iſt dieſes Recht ſowohl gegen den Einzelſtaat als gegen das Reich gerichtet, aber die Grenze zwiſchen dem Reichsbürgerrecht und dem Staatsbürgerrecht läßt ſich auch hier nicht anders fixiren, wie bei der Unterthanenpflicht d. h. ledig - lich durch den Hinweis auf die Kompetenzgrenze. So wie die Einzelſtaaten und das Reich auf allen Gebieten gemeinſam thätig ſind und zuſammenwirken und ſich in ihrer Kompetenz gegenſeitig ablöſen, ſo wie ſie zuſammen die Staatsaufgabe erfüllen, ſo richtet ſich auch das Recht des einzelnen Staatsbürgers, von dieſer Fürſorge nicht ausgeſchloſſen zu werden, bald gegen den Einzelſtaat bald gegen das Reich. In letzterer Beziehung kann man als Bethätigungen dieſes Rechts oder als Mittel ſeiner Gel - tendmachung anſehen: die Appellation an die Reichsgerichte, die Beſchwerdeführung bei den Reichsbehörden und die Einreichung von Petitionen bei dem Reichstage.

In einer Hinſicht hat dieſes Recht einen prägnanten Ausdruck in der Reichsverfaſſung gefunden. Nach der Einleitung zur R. -V. gehört zu den Aufgaben des Reiches der Schutz des Rechtes in dem Bundesgebiet; die Handhabung dieſes Schutzes iſt indeß zum größten Theile den Einzelſtaaten überlaſſen. Wenn aber ein einzelner Staat dieſer fundamentalſten Aufgabe nicht nachkommt und der Fall einer Juſtizverweigerung eintritt, ſo liegt es nach Art. 773)1873 wegen Uebernahme von Auszuweiſenden Art. 4 (Centralbl. I. S. 282); mit Großbritannien vom 14. Mai 1872 Art. 2 (R. -G.-Bl. 1872 S. 232); mit der Schweiz vom 24. Januar 1874 Art. 2 (R. -G.-Bl. 1874 S. 115).155§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.der Reichs-Verfaſſung dem Bundesrathe ob1)Siehe unten §. 29 III. , Beſchwerden anzu - nehmen und zu prüfen, und darauf die gerichtliche Hülfe bei der Bundesregierung, die zu der Beſchwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken.

Dieſer Verfaſſungsſatz iſt die Ergänzung zu dem Art. 3 Abſ. 6, welcher dem Deutſchen den Schutz des Reiches dem Auslande gegenüber verheißt und beide zuſammen bilden den Inhalt des ſtaatlichen Rechts des Reichsbürgers auf Schutz, des Correlats ſeiner Pflicht zur Treue.

3) Endlich begründet die Staatsangehörigkeit den Anſpruch auf Antheilnahme an dem Verfaſſungsleben, der Willensthätigkeit des Staates, oder wie man, im Anſchluß an die franzöſiſche Ter - minologie gewöhnlich ſagt, die politiſchen Rechte. Es folgt dies zwar nicht aus dem Begriff und Weſen des Staates ſelbſt, wohl aber aus der Verfaſſungsform des ſogen. conſtitutionellen Staates, welche das deutſche Reich angenommen hat. Es iſt auch dieſer Anſpruch nicht durch die Thatſache der Staatsangehörigkeit allein mit Nothwendigkeit gegeben, wie die Pflicht zum Gehorſam und der Anſpruch auf Schutz; ſondern die Staatsangehörigkeit bildet nur die weſentliche Vorausſetzung und das eigentliche Fundament dieſer Rechte. Um zur Ausübung derſelben berechtigt zu ſein, kann das Geſetz auch noch andere Vorausſetzungen, namentlich männliches Geſchlecht, ein beſtimmtes Alter, Unbeſcholtenheit, Aufenthalt oder Wohnſitz von beſtimmter Dauer u. dgl. verlangen.

Da das Reich, wie oben bereits ausgeführt worden iſt, ſeine eigenen Organe zur Herſtellung und Ausführung ſeines Willens hat, d. h. Organe, die nicht Organe der Einzelſtaaten ſind, ſondern dem Reiche unmittelbar angehören; da insbeſondere der Reichstag keine Delegirten-Verſammlung der Einzellandtage oder der Bevöl - kerung der Einzelſtaaten iſt, ſo iſt auch das aktive Reichstags - Wahlrecht unmittelbar auf die Reichsangehörigkeit gegründet und die Ausübung dieſes Rechts iſt an keine territoriale Landes - grenze innerhalb des Reiches gebunden. Ebenſo iſt das ſogen. paſſive Wahlrecht oder richtiger die Qualification zum Reichstags - mitglied im ganzen Reich durch die Reichsangehörigkeit gegeben. In Preußen, Sachſen, Bayern iſt nicht bloß der Preuße, Sachſe156§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.oder Bayer, ſondern jeder Deutſche zur Theilnahme an den Reichs - tagswahlen berechtigt und wählbar1)Vgl. unten §. 47 und §. 49..

4) Regelmäßig wird zu den ſtaatsbürgerlichen oder politiſchen Rechten auch die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter ge - zählt, Allein dies iſt kein Recht im ſubjectiven Sinn, denn Nie - mand hat einen Anſpruch darauf, im Staatsdienſt angeſtellt zu werden und ein öffentliches Amt zu erhalten2)Richtig hervorgehoben im Verfaſſunggeb. Reichstage von dem Heſſ. Bundescommiſſar Hofmann. (Sten. Ber. 244.). Es handelt ſich hier vielmehr lediglich um einen objectiven Rechtsſatz, welcher die Vorausſetzungen betrifft, an welche die Qualifikation der Perſonen, die im Staatsdienſt Verwendung finden dürfen, geknüpft iſt. Nicht ein ſubjectives Recht des einzelnen Staatsangehörigen, ſondern eine objectiv-rechtliche Schranke der Staatsregierung wird durch den Rechtsſatz, daß nur Staatsangehörige im Staatsdienſt angeſtellt werden dürfen, begründet. In die Lehre vom Staatsbürgerrecht gehört dieſer Satz daher keinesfalls. Für das Reichsrecht beſteht er aber überhaupt nicht; die Reichsregierung iſt nicht gehindert, Ausländer in den Reichsdienſt zu berufen3)Das Geſetz über Errichtung des Oberhandelsgerichts für den Nordd. Bund vom 12. Juni 1869 §. 6 behielt ausdrücklich die Ernennung von öffent - lichen Lehrern des Rechts an einer Deutſchen Univerſität vor; alſo auch von ſüdd. Profeſſoren, welche damals für den Nordd. Bund Ausländer waren.. Im Gegentheil be - ſtimmt das Geſetz v. 1. Juni 1870 ausdrücklich, daß der Aus - länder durch ſeine Anſtellung im Reichsdienſt die Staatsangehö - rigkeit (mithin auch das Reichsbürgerrecht,) in demjenigen Bun - desſtaate, erwirbt, in welchem er ſeinen dienſtlichen Wohnſitz hat. Es iſt alſo das Reichsbürgerrecht nicht Vorausſetzung, ſondern Wirkung der Anſtellung im Reichsdienſt; eine Natura - liſation des Ausländers braucht ſeiner Anſtellung nicht voraus zu gehen, ſondern ſie wird durch ſeine Berufung zu dem Reichs - amt erſetzt. Auch materiell iſt es daher unrichtig, die Fähigkeit zur Bekleidung von Reichsämtern zum Inhalt des Reichsbürger - rechts zu machen.

§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.

Die vorſtehenden Erörterungen ebnen den Weg, um nun auch den Inhalt des Staatsbürgerrechts im Einzelſtaat und das Ver -157§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.hältniß deſſelben zum Reichsbürgerrecht näher zu beſtimmen. Nie - mandem kann es entgehen, wie ſehr das Staats bürgerrecht durch die Zuſammenfaſſung der deutſchen Staaten zu einem Geſammt - ſtaat afficirt, in ſeinem Inhalt beſchränkt und an ſeiner Wichtig - keit verringert worden iſt. Aber es iſt nicht beſeitigt worden; es iſt im Gegentheil die unerläßliche Grundlage und Vorausſetzung des Reichsbürgerrechts geworden. Die einzelnen Staaten wären keine Staaten mehr, wenn ſie keine Staatsbürger hätten. Das Reich wäre kein Bundesſtaat, ſondern ein Einheitsſtaat, wenn das Staatsbürgerrecht in den Einzelſtaaten in dem Reichsbürgerrecht untergegangen wäre. Der Satz, daß jeder Angehörige des Reiches in jedem Einzelſtaate als Inländer zu behandeln iſt, deſſen recht - liche Bedeutung wir bald näher feſtſtellen werden1)Vgl. unten §. 19., iſt nicht identiſch mit dem Satz, daß jeder Angehörige des Reiches in jedem dazu gehörenden Staate Staatsbürger ſei.

Im Allgemeinen iſt für die Grenze zwiſchen Staats - und Reichsbürgerrecht ſchon oben die Kompetenzgrenze zwiſchen Staats - und Reichsgewalt als maaßgebend bezeichnet worden. Im Ein - zelnen folgt daraus:

1) Soweit die Einzelſtaaten im Beſitz ſtaatlicher Hoheitsrechte geblieben ſind, iſt der Staatsbürger ihnen unterworfen, zum Gehorſam verpflichtet, Object der Einzelſtaatsgewalt. Er ſteht unter ihrer Jurisdiction, Polizei, Finanzhoheit. Aus der ſouveränen Gewalt des Reiches über die einzelnen Staaten folgt aber, daß die Einzelſtaaten ihre Hoheitsrechte nicht im Widerſpruch mit den verfaſſungsmäßig erlaſſenen Anordnungen des Reiches ausüben dürfen und daß jede Ausübung von Hoheitsrechten, die mit den Anordnungen des Reiches collidirt, rechtsunwirkſam und nichtig iſt.

2) Der Staatsbürger hat ſeinem Heimathsſtaat gegenüber Anſpruch auf Schutz im Auslande und zwar auch in den Ge - bieten der übrigen Bundesſtaaten, ſoweit der Einzelſtaat rechtlich und factiſch noch in der Lage iſt, dieſen Schutz zu gewähren. Die einzelnen Staaten können ſowohl im Reichs-Auslande als im Reichs - Inlande bei den anderen Bundesſtaaten Geſandtſchaften halten, was bekanntlich auch theilweiſe geſchieht. Denſelben liegt die Vertretung der Privat-Intereſſen ihrer Staats-Angehörigen ob. 158§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.Dieſer Schutz kann verwirklicht werden theils durch eine direkte Reclamation bei der Regierung des auswärtigen oder verbündeten Staates, theils durch eine Anregung bei der Centralbehörde des Reiches, daß daſſelbe ſich des Angehörigen des reclamirenden Ein - zelſtaates annehme, theils durch eine förmliche Beſchwerde einer Bundesregierung bei dem Reich, wenn ein Einzelſtaat zum Nach - theil der Angehörigen eines anderen Anordnungen der Reichsver - faſſung oder anderer Reichsgeſetze verletzt.

3) Das Wohnrecht in dem Staate, dem man angehört, hat durch das jedem Reichsangehörigen eingeräumte Wohnrecht im ganzen Reichsgebiet ſehr weſentliche Modifikationen erfahren, und zwar nicht blos eine bedeutungsvolle Erweiterung, ſondern auch ſehr wichtige Einſchränkungen.

Für einen beſonderen Fall giebt es auch jetzt noch eine Aus - weiſung von Reichsangehörigen aus dem Gebiete eines deutſchen Staates, zu welchem ſie nicht ſtaatsangehörig ſind, ſo daß ſich die Staatsangehörigkeit als das ſtärkere, wirkſamere Rechts - verhältniß erweiſt. Da nämlich das Geſetz über den Unterſtützungs - wohnſitz in Bayern nicht eingeführt worden und nach dem Schluß - protokoll vom 23. November 1870 Ziffer III. der Gotha’er Ver - trag vom 15. Juli 1851 für das Verhältniß Bayerns zu dem übrigen Bundesgebiet in Geltung geblieben iſt, ſo können auf Grund des §. 1 Lit. a. des gedachten Vertrages die andern Deut - ſchen Staaten von Bayern und Bayern von den anderen Deut - ſchen Staaten die Uebernahme von hülfsbedürftigen Staats - angehörigen verlangen, was einer Ausweiſung von Reichsangehö - rigen aus dem Einzelſtaatsterritorium gleichkömmt. Dagegen kann kein Staat nach der gedachten Convention §. 1 Lit. b. von einem andern die Uebernahme ſolcher Perſonen verlangen, welche ihm ſelbſt angehörig geworden ſind.

Im Uebrigen aber hat das Wohnrecht im Bundesgebiet und die durch das Freizügigkeits-Geſetz durchgeführte Einheitlichkeit des Bundesgebiets in Beziehung auf Aufenthalt und Niederlaſſung die Wirkung, daß in mehreren Fällen der Staatsangehörige aus dem Gebiete ſeines eigenen Heimathsſtaates ausgewieſen werden kann, dagegen nicht aus dem Bundesgebiete. Das Wohnrecht im Bundesgebiet hat gleichſam das Wohnrecht in einem einzelnen Theile deſſelben, nämlich im Gebiete des Heimathsſtaates, abſorbirt. Dieſe Fälle ſind folgende:

159§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.

a) Das Freizügigkeits-Geſetz vom 1. Nov. 1867 §. 3 Abſ. 2 beſtimmt Solchen Perſonen, welche derartigen (nämlich polizeilichen) Aufenthaltsbeſchränkungen in einem Bundesſtaate unterlie - gen, oder welche in einem Bundesſtaate innerhalb der letzten zwölf Monate wegen wiederholten Bettelns oder wegen wiederholter Landſtreicherei beſtraft worden ſind, kann der Aufenthalt in jedem anderen Bundes - ſtaate von der Landespolizeibehörde verweigert werden.

Alſo nicht blos den Angehörigen eines anderen Bundes - ſtaates1)So verſteht, wie es ſcheint, Thudichum S. 534 dieſes Geſetz., ſondern auch den eigenen Angehörigen kann der Aufenthalt im Staatsgebiet verweigert werden, wenn dieſelben in einem andern Bundesſtaate die in dieſem Artikel erwähnten Be - ſtrafungen erlitten haben.

b) Ein zweiter Fall betrifft reichsangehörige Jeſuiten und renitente Geiſtliche nach den Geſetzen vom 4. Juli 1872 §. 2 und vom 4. Mai 1874 §. 1. Denſelben kann der Aufenthalt in be - ſtimmten Bezirken oder Orten verſagt oder angewieſen werden. Durch die ausdrückliche, unwiderſprochene Erklärung des Abg. Meyer (Thorn), von welchem die zum Geſetz erhobene Faſſung des Jeſuitengeſetzes vorgeſchlagen worden iſt, wurde in der Sitzung des Reichstages vom 17. Juni 1872 conſtatirt: daß die Gren - zen der einzelnen Bundesſtaaten hier nicht in Betracht kommen; es ſoll alſo vollſtändig möglich ſein, daß Jemand, der in Mainz, in Heſſen-Darmſtadt Inländer iſt, alſo ein Heſſe, von Heſ - ſen ausgeſchloſſen oder in einen andern Bundesſtaat hinein - gewieſen werde. Es würde ſonſt bei der geringen Ausdehnung vieler Bundesſtaaten die Maßregel leicht einen völlig illuſoriſchen Charakter annehmen können 2)Stenogr. Ber. 1872 S. 1061. Vgl. Hirth’s Annalen 1872 S. 1188.. Zum Zweck der Internirung ſteht der Landespolizeibehörde in dieſem Falle nicht nur das Lan - desterritorium, ſondern das ganze Bundes gebiet zur Verfügung.

c) Sodann kann eine thatſächliche Ausweiſung von Staats - angehörigen aus dem Staatsgebiet in ein anderes zum Reich ge - höriges Gebiet auf Grund des Geſetzes über den Unter - ſtützungswohnſitz vorkommen. Wenn Jemand nämlich in160§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.ſeinem Heimathsſtaat das Staatsbürgerrecht behalten, in einem andern Bundesſtaat dagegen den Unterſtützungswohnſitz erworben hat und dann in hülfsbedürftigem Zuſtand in ſeinen Heimathsſtaat zurückkehrt, ſo kann er zum Zweck ſeiner Verpflegung an den ver - pflichteten Armenverband ausgewieſen, alſo aus dem Gebiet ſeines Heimatsſtaats entfernt werden1)Freizügigkeitsgeſ. vom 1. November 1867 §. 5. Unterſtützungswohn - ſitzgeſetz vom 6. Juni 1870 §. 6 und §. 55. Vgl. auch Riedel S. 258..

d) Vor Allem wichtig aber iſt der im §. 23 des Geſetzes über die Gewährung der Rechtshülfe vom 21. Juni 1869 ausgeſprochene Grundſatz, daß ein Bundesſtaat ſeine eigenen An - gehörigen den Gerichten eines anderen Bundesſtaates zum Zweck der Verfolgung oder Beſtrafung wegen einer im Gebiete des re - quirirenden Bundesſtaates verübten, ſtrafbaren Handlung aus - zuliefern verpflichtet iſt. Hier iſt im Intereſſe der einheitlichen Strafrechtspflege im Reich die Kraft des Staatsbürgerrechts in den Einzelſtaaten völlig gebrochen2)Es ergiebt ſich hier aber eine, durch die Faſſung des §. 25 des gedach - ten Geſetzes hervorgerufene, ſchwierige Frage. Nach dem §. 25 findet nämlich bis zum Erlaſſe eines gemeinſamen Strafgeſetzbuchs die Auslieferung in einer Reihe von Fällen nicht ſtatt, insbeſondere nach Nr. 2, wenn die Hand - lung nach den Geſetzen des Staates, in deſſen Gebiete der Beſchuldigte oder Verurtheilte ſich befindet, nicht mit Strafe bedroht iſt. Es frägt ſich nun, ob ſeit dem Erlaß des Strafgeſetzbuchs die Auslieferung auch verlangt werden kann, wenn die Handlung nicht nach dem Strafgeſetzbuch und ebenſowenig nach den Landesgeſetzen des requirirten Staates, ſondern nur nach den Landesgeſetzen des requirirenden Staates ſtrafbar iſt. Faßt man die Worte bis zum Erlaſſe eines gemeinſamen Strafgeſetzbuchs als eine bloße Feſtſtellung eines fixen terminus ad quem, ohne auf den Grund dieſer Beſtimmung zu achten, ſo wäre die Auslieferungspflicht mit dem Tage des Inkrafttretens eine unbeſchränkte geworden. Geht man aber davon aus, daß der Sinn der Beſtimmung der iſt, daß kein Staat Perſonen zum Zweck der Beſtrafung ausliefern ſoll, denen eine nach dem Recht dieſes Staates ſtrafbare Handlung überhaupt nicht zur Laſt fällt, ſo haben die Worte: bis zum Er - laſſe eines gemeinſamen[Stafgeſetzbuchs] den Sinn: ſo lange das materielle Strafrecht in den Bundesſtaaten nicht einheitlich normirt iſt. Bei dieſer Auslegung beſteht daher die Beſtimmung des §. 25 Z. 2 noch in Kraft hin - ſichtlich derjenigen Materien, welche das R. -St.-G.-B. nicht einheitlich geregelt hat und hinſichtlich deren die Einzelſtaaten die ſtrafrechtliche Autonomie behal - ten haben. Die Auslieferung könnte daher nur gefordert werden, wenn die Handlung ſowohl nach dem Landesgeſetz des requirirenden, als auch nach dem Landesgeſetz des requirirten Staates ſtrafbar iſt..

161§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.

4) Die Fortdauer des Staatsbürgerrechts in den Einzelſtaaten zeigt ſich beſonders deutlich und wirkſam hinſichtlich der ſogen. politiſchen Rechte. In Beziehung auf das politiſche Sonderleben der Einzelſtaaten, auf den Antheil der Bevölkerung an der ver - faſſungsmäßigen Herſtellung und Ausführung des Staats-Willens innerhalb der den Einzelſtaaten verbliebenen Sphäre, iſt die Staatsangehörigkeit maaßgebend geblieben und die Angehörigen der anderen Bundesſtaaten ſind in dieſer Hinſicht Ausländer, Fremde. Es gilt dies namentlich von dem wichtigſten dieſer Rechte, dem Wahlrecht; für die Landtage der Einzelſtaaten können, falls nicht das partikuläre Staatsrecht eine Ausnahme zuläßt, nur Angehörige des Staates wählen oder an ihnen als Mitglieder Theil nehmen. An keinem Punkte kann man Reichsbürgerrecht und Staatsbürgerrecht ſchärfer auseinanderhalten als durch den Gegen - ſatz zwiſchen Reichstagswahlrecht und Landtagswahlrecht. Hier allein ſind beide wirklich getrennt.

Der Autonomie der Einzelſtaaten iſt es auch überlaſſen, das Maaß der politiſchen Rechte und die Vorausſetzungen ihrer Aus - übung, welche außer der Staatsangehörigkeit ſelbſt erfordert werden, wie Alter, Geſchlecht, Domizil, Entrichtung direkter Steuern u. ſ. w. zu beſtimmen. Nur in Einer Hinſicht hat das Reich hier den Einzelſtaaten eine Schranke aufgerichtet durch das Reichsgeſetz vom 3. Juli 1869: Alle noch beſtehenden, aus der Verſchiedenheit des reli - giöſen Bekenntniſſes hergeleiteten Beſchränkungen der bür - gerlichen und ſtaatsbürgerlichen Rechte werden hier - durch aufgehoben. Insbeſondere ſoll die Befähigung zur Theilnahme an der Gemeinde - und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Aemter vom religiöſen Bekennt - niß unabhängig ſein.

Mit dem Reichsbürgerrecht hat der Inhalt dieſes Ge - ſetzes gar nichts zu thun; im Norddeutſchen Bunde und im Reiche hat es Beſchränkungen der reichsbürgerlichen Rechte wegen irgend eines religiöſen Bekenntniſſes niemals gegeben; ſie konnten daher auch nicht aufgehoben werden. Ein Recht der Glaubensfreiheit oder der Bekenntnißfreiheit , das durch das Reichsindige - nat begründet und durch dieſes Geſetz gewährleiſtet worden ſei, iſt ein juriſtiſches Unding; denn der Deutſche hat die Fähigkeit,Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 11162§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.ſeine eigenen religiöſen Ueberzeugungen zu haben und zu bekennen, von der Natur, nicht vom Recht. Um zu glauben, was man will, bedarf man des Reiches nicht. Aufgehoben iſt vielmehr nur der Mißbrauch der Staatsgewalt, an die Ausübung dieſer natür - lichen Fähigkeit Strafen, Rechtsnachtheile und politiſche Be - ſchränkungen zu knüpfen. Das Geſetz bezieht ſich nur auf die Einzelſtaaten und ſtellt einen gemeinrechtlichen Grundſatz des öffent - lichen Rechts auf, der ſeine praktiſche Anwendung innerhalb der Einzelſtaaten findet; für das Reich ſelbſt iſt das Geſetz ganz gegenſtandslos.

Das Reich greift hier ausnahmsweiſe in das Verfaſſungsrecht der Einzelſtaaten ein, indem es der Einzelſtaatsgewalt eine Schranke ſetzt, die ſie hindert, die Gewiſſensfreiheit anzutaſten. Nicht das Verfaſſungsrecht des Reichs wird durch dieſes Geſetz berührt, ſondern es wird ein gemeinrechtlicher Grundſatz des Territorial - Staatsrechts reichsgeſetzlich ſanctionirt. Es darf demgemäß kein Staat ein beſtimmtes Glaubensbekenntniß zur Vorausſetzung für die Ausübung des Wahlrechts und der anderen politiſchen Rechte erklären. Im Uebrigen dagegen iſt es jedem Staate unbenommen, die Vorausſetzungen der politiſchen Rechte nach eigener Willkühr feſtzuſetzen1)Eine ausdrückliche Anerkennung hat dieſer Rechtsſatz in dem Bayer. Schlußprotokoll vom 23. Nov. 1870 Z. II. gefunden..

§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.

Bei dem engen, untrennbaren Zuſammenhange zwiſchen Staatsangehörigkeit und Reichsangehörigkeit war es erforderlich, die rechtlichen Vorausſetzungen für den Erwerb und Verluſt der Staatsangehörigkeit reichsgeſetzlich zu ordnen. Dies iſt geſchehen durch das Reichsgeſetz vom 1. Juli 18702)Das Geſetz enthielt einige beſondere Beſtimmungen hinſichlich der ſüd - deutſchen Staaten (§. 1 Abſ. 2 §. 8 Abſ. 3 §. 16), welche durch den Hinzu - tritt derſelben zum Reich ihre Anwendbarkeit verloren haben und formell auf - gehoben worden ſind durch das R. -G. vom 22. April 1871 §. 9. (R. -G.-B. S. 89.). Es iſt in Geltung getreten am 1. Januar 1871. In Folge Geſetzes vom 21. Juli 1870 ſind aber die §§. 17 und 20 ſofort in Wirkſam - keit geſetzt worden. In Baden, Südheſſen und Württemberg gilt163§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.das Geſetz ſeit dem 1. Januar 1871. In Bayern iſt es einge - führt durch das Reichsgeſetz vom 22. April 1871 und iſt, da dieſes Geſetz in dem am 29. April 1871 ausgegebenen Reichsgeſetzblatt verkündet worden iſt, am 13. Mai 1871 in Geltung getreten1)Riedel S. 271.. In Elſaß-Lothringen iſt das Geſetz eingeführt worden durch Ver - ordnung vom 8. Januar 1873 Art. 2. Dieſelbe iſt im Reichs - geſetzblatt zwar erſt in der am 17. März 1873 ausgegebenen Nummer, im Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen dagegen ſchon in der am 14. Januar 1873 ausgegebenen Nummer publi - cirt worden. Bei dieſen Publicationen iſt der §. 27, wonach das Geſetz am 1. Januar 1871 in Kraft tritt, zwar unverändert mit aufgenommen worden, es beruht dies aber lediglich auf einem Redaktionsfehler der Einf. -Verordn. vom 8. Januar 1873; denn man kann unmöglich annehmen, daß der Geſetzgeber dem Geſetz rückwirkende Kraft und zwar bis auf einen Zeitpunkt, in welchem Elſaß-Lothringen noch gar nicht zum Deutſchen Reiche gehörte, habe beilegen wollen.

Nach den Vorſchriften dieſes Geſetzes wird die Staatsange - hörigkeit begründet theils ipso iure durch familienrechtliche Ver - hältniſſe theils durch einen ſtaatsrechtlichen Willensact, durch Ver - leihung.

I. Auf Grund familienrechtlicher Verhältniſſe wird die Staats - angehörigkeit erworben

1) Durch die Geburt; und zwar erwerben eheliche Kinder eines Deutſchen die Staatsangehörigkeit des Vaters, uneheliche Kinder einer Deutſchen die Staatsangehörigkeit der Mutter. (§. 3.)

Es iſt gleichgültig, ob die Geburt im Inlande oder Auslande erfolgt; ebenſo iſt es unerheblich, ob die Geburt innerhalb Deutſch - lands im Gebiet des Heimathsſtaates des Vaters (reſp. der Mut - ter) oder in dem Gebiete eines andern Bundesſtaates ſtattgefunden hat; und zwar macht auch die Begründung eines wirklichen Wohn - ſitzes der Eltern außerhalb des Heimathsſtaates keinen Unterſchied hinſichtlich der Staatsangehörigkeit der Kinder2)Der §. 3 des Geſetzes ſagt ganz allgemein: Durch die Geburt, auch wenn dieſe im Auslande erfolgt, erwerben ꝛc. . Wenn daher preußiſche Eheleute ihren Wohnſitz in Sachſen haben, ſo ſind die11*164§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.daſelbſt geborenen und erzogenen Kinder nicht Sachſen, ſondern Preußen. Da nun die Staatsangehörigkeit durch den Aufenthalt in dem Gebiet anderer Bundesſtaaten nicht verloren geht, gleich - viel wie lange derſelbe dauert, und ebenſo wenig die Staatsange - hörigkeit durch Aufenthalt oder Begründung eines Wohnſitzes er - worben wird (§. 12 des Geſetzes), ſo können Familien, welche aus einem Bundesſtaat in einen andern überſiedeln, ohne die Staatsangehörigkeit zu ändern, für eine unabſehbare Reihe von Generationen die Staatsangehörigkeit in demjenigen Staate behal - ten, dem ſie am 1. Januar 1871 angehört haben. In Verbin - dung mit der Freizügigkeit, welche innerhalb des ganzen Reichs - gebietes beſteht, wird dieſer Grundſatz es daher im Lauf der Zeit immer ſchwieriger machen, die Staatsangehörigkeit feſtzuſtellen, und an großen Verkehrs-Mittelpunkten mit ſchnell wechſelnder Bevölkerung wird bald in verhältnißmäßig kurzer Zeit auch die anſäſſige Bevölkerung aus Staatsangehörigen der verſchiedenſten Bundesſtaaten zuſammengeſetzt ſein, von denen Jeder ſeine Staats - angehörigkeit in alle Ewigkeit vererben und in jeden beliebigen Bundesſtaat mitnehmen kann. Es muß dies nothwendig dahin führen, die Staatsangehörigkeit immer mehr der Reichsangehörig - keit gegenüber zurücktreten zu laſſen1)Vgl. unten den Abſchnitt über Elſaß-Lothringen. Daſelbſt gilt bereits ein durchaus anderes Prinzip..

Bei der Beurtheilung der Frage, ob ein Kind aus einer gül - tigen oder aus einer nichtigen Ehe entſproſſen iſt, ob es alſo der Staatsangehörigkeit des Vaters oder derjenigen der Mutter folgt, kömmt nach allgemeinen Grundſätzen über die Herrſchaft der Rechts - normen hinſichtlich der materiellen Erforderniſſe der Ehe das Recht des erſten Ehedomizils, hinſichtlich der Form der Eheſchlie - ßung das Recht des Orts, an welchem dieſelbe ſtattgefunden hat2)Stobbe Deutſches Privatr. I. 203. 204. Förſter Preuß. Privatr. I. §. 11 Nr. 5. Beſeler Deutſches Privatr. I. S. 115 (3. Aufl.). Böhlau Mecklenb. Landr. I. S. 441. 469 ff. Hinſchius Kommentar zum Perſonen - ſtandsgeſ. S. 163 ff. Abw. Anſicht v. Savigny Syſtem Bd. 8 S. 357. v. Gerber Privatr. §. 32 Note 18. Zu bemerken iſt jedoch, daß Kinder aus einer formell gültig eingegangenen, aus materiellen Gründen anfechtbaren Ehe, welche vor der gerichtlichen Nichtigkeits-Erklärung geboren ſind, als eheliche gelten. Roth u. Meibom Kurheſſ. Privatr. I. S. 354 Note 25. S. 477. In, zur Anwendung.

165§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.

2) Durch Legitimation eines unehelichen Kindes Seitens eines Deutſchen erwirbt das Kind die Staatsangehörigkeit des Vaters (§. 4) und verliert gleichzeitig ſeine bisherige Staatsan - gehörigkeit (§. 13 Nr. 4.) Hat die Mutter des Kindes dieſelbe Staatsangehörigkeit wie der Vater, ſo kann die Legitimation dieſe Folge ſelbſtverſtändlich nicht haben, weil das Kind in dieſem Falle die Staatsangehörigkeit des Vaters ſchon von Geburt an hat. Die Legitimation hat nur dann Wirkſamkeit, wenn ſie den geſetzlichen Beſtimmungen gemäß erfolgt iſt. Entſcheidend ſind in dieſer Hinſicht die Geſetze des Ortes, wo der Vater zur Zeit der Legi - timation ſeinen Wohnſitz hat1)Eine Zuſammenſtellung der in den verſchiedenen Rechtsgebieten Deutſch - lands geltenden Grundſätze über die Legitimation giebt Hinſchius Kommen - tar zum Perſonenſtandsgeſetz S. 82 ff.; und zwar gilt dies auch für die Legitimation durch nachfolgende Ehe2)Vgl. Roth Bayer. Civilr. I. S. 140 Note 47.. Die Adoption bewirkt den Erwerb der Staatsangehörigkeit nicht3)Ueber den Grund vgl. die Motive zu §. 2 des Geſetzes (S. 157)..

3) Die Verheirathung mit einem Deutſchen begründet für die Ehefrau die Staatsangehörigkeit des Mannes (§. 5.)4)Auf Kinder aus einer früheren Ehe oder auf uneheliche Kinder erſtreckt die Verheirathung der Mutter ihre Wirkung nicht. Da in Bayern das Bun - desgeſ. vom 4. Mai 1868 über die Aufhebung der polizeilichen Beſchränkungen der Eheſchließung keine Geltung erlangt hat, ſo begründet in Bayern die Ver - heirathung einer Nichtbayerin mit einem Bayer für die erſtere nur dann die bayeriſche Staatsangehörigkeit, wenn das im bayer. Geſ. vom 16. April 1868 Art. 33 u. 39 vorgeſchriebene Verehelichungszeugniß erholt worden iſt. Siehe Riedel S. 255 fg. Hinſchius a. a. O. S. 159 fg..

2)Betreff der Frage, ob Kinder, welche während der Ehe geboren, aber vor Eingehung derſelben erzeugt worden ſind, als eheliche gelten, wie nach dem Preuß. Landr. II. 2 §. 1, oder als uneheliche, wie nach dem gemeinen Recht, vgl. Hinſchius Kommentar zum Perſonenſtandsgeſetz von 1875 S. 71 ff., oder endlich ob ihre Ehelichkeit von einer ausdrücklichen oder ſtillſchweigenden Anerkennung des Ehemannes abhängig gemacht iſt, wie nach dem Königl. Sächſ. Bürgerl. Geſetzb. §. 1776, vgl. auch Code civil Art. 314, entſcheidet der Wohnort des Ehemannes (Vaters) zur Zeit der Geburt des Kindes. Das Kind hat aber in allen Fällen die Staatsangehörigkeit des Ehemanns, da ſeine Mutter ſeit ihrer Verheirathung die Staatsangehörigkeit des letztern theilt; dem Kinde alſo, mag es als ehelich oder unehelich gelten, dieſelbe Staatsan - gehörigkeit, im einen Falle wegen des Vaters, im andern wegen der Mutter, zu Theil wird.

166§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.

II. Die Verleihung der Staatsangehörigkeit iſt ein Verwaltungsact, zu deſſen Vornahme die höhere Verwaltungs - behörde des Staates competent iſt. Als ſolche gilt im Gegenſatz zur Ortspolizei-Behörde die Verwaltungsbehörde zweiter Inſtanz, die Bezirks - oder Kreisregierung1)Die Inſtruction der Sache, die Entgegennahme der Geſuche, protokol - lariſche Vernehmung u. ſ. w. kann jedoch von der Lokalbehörde erfolgen.

Die Verleihung iſt ein ſtaatliches Rechtsgeſchäft, welches die Form der Schriftlichkeit, d. h. eine von der competenten Be - hörde ausgeſtellte Urkunde erfordert. (§. 6.) Das Rechtsgeſchäft iſt ein zweiſeitiges, indem es die Acceptation der Staatsangehö - rigkeit Seitens des aufzunehmenden Bürgers erfordert2)Seine Analogie findet dieſer ſtaatsrechtliche Vertrag auf dem Gebiete des Privatrechts natürlich nicht in den Contracten des Obligationenrechts, ſondern in den familienrechtlichen Verträgen, insbeſondere in der Adoption.. Regel - mäßig wird dieſe Acceptation ſchon vorher erklärt, indem die Verleihung nur auf Grund eines Geſuches erfolgt (§. 7)3)Minderjährige bedürfen demgemäß zur Stellung des Geſuchs der - terlichen oder vormundſchaftlichen Genehmigung. Vgl. Landgraff S. 635.; in allen Fällen aber treten die Wirkungen der Verleihung erſt ein mit dem Zeitpunkte der Aushändigung der Verleihungs - urkunde (§. 10), durch deren Entgegennahme die Acceptation der Verleihung in concludenter Weiſe erklärt wird4)Das Geſetz begnügt ſich nicht mit der Ausfertigung der Urkunde ſondern es verlangt deren Aushändigung. Ob dieſelbe ſtattgefunden hat oder nicht, iſt nach den allgemeinen Grundſätzen über die Inſinuation obrigkeitlicher Verfügungen zu beurtheilen; ſie kann demnach ſtatt an den Auf - zunehmenden ſelbſt auch an deſſen Angehörige oder legitimirte Bevollmächtigte erfolgen. Kann jedoch eine Aushändigung thatſächlich nicht ſtattfinden, ſo wird die Verleihung der Staatsangehörigkeit nicht perfekt und kann demnach auch keine Rechtswirkungen haben. Vgl. über die frühere preußiſche Praxis v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2 S. 125 Note 3 (3. Aufl.). Da die Ehe - frau und die noch unter väterlicher Gewalt ſtehenden minderjäh - rigen Kinder der Regel nach die Statusverhältniſſe, insbeſondere auch die Staatsangehörigkeit des Hausherrn theilen, ſo erſtreckt ſich die Verleihung der Staatsangehörigkeit auch auf ſie mit5)Auf großjährige Kinder, welche ſich unter väterlicher Gewalt befinden, erſtreckt ſich die Verleihung nicht mit; denſelben muß vielmehr die Staatsan - gehörigkeit beſonders verliehen werden. Die Motive geben als Grund an, daß die Feſtſtellung der Thatſache, daß ſie unter väterlicher Gewalt ſtehen, häufig ſehr zweifelhaft iſt. Vgl. Landgraff S. 634. 635. Riedel 262.. 167§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.Dieſer Satz iſt aber nur von dispoſitiver Kraft; die Contrahenten können ihn durch eine entgegenſtehende Vereinbarung ausſchließen; ſei es, daß der Ehemann oder Vater die Staatsangehörigkeit nicht für alle ſeiner Gewalt unterworfenen Angehörigen erwerben will, ſei es, daß die Verwaltungsbehörde ſie nicht allen ertheilen will1)§. 11. Die Verleihung der Staatsangehörigkeit erſtreckt ſich, inſofern nicht dabei eine Ausnahme gemacht wird, zugleich auf die Ehe - frau und die noch unter väterlicher Gewalt ſtehenden minderjährigen Kinder. .

Abgeſehen von dieſen allgemeinen Regeln ſind die Voraus - ſetzungen der Verleihung verſchieden, je nachdem ein Angehöriger eines Deutſchen Bundesſtaates oder ein Ausländer ſie verlangt. Dieſe Verſchiedenheit hat ihren Ausdruck auch in der techniſchen Bezeichnung gefunden, indem das Geſetz die Verleihung im erſten Falle Aufnahme, im zweiten Falle Naturaliſation nennt.

1) Die Aufnahme eines Deutſchen ſetzt außer dem Geſuche um Ertheilung und dem Nachweiſe, daß er einem deutſchen Bun - desſtaate angehöre2)Geſ. über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 §. 2., alſo das Reichsindigenat bereits habe, nur voraus, den Nachweis, daß er in dem Bundesſtaate, in welchem er die Aufnahme nachſucht, ſich niedergelaſſen habe. (Geſ. §. 7)3)Die Verleihung der Staatsangehörigkeit an Deutſche, welche ſich nicht im Staatsgebiete niederlaſſen, z. B. die Ertheilung eines Ehren-Staatsbürger - rechts, iſt demnach unzuläſſig. Vgl. auch Riedel S. 258 unter 3 b. .

Unter der Niederlaſſung iſt nach der feſtſtehenden Termino - logie der Reichsgeſetzgebung die Begründung eines Wohnſitzes (Domizils) im Gegenſatz zum bloßen Aufenthalt zu verſtehen. So zweifellos es nun iſt, daß ein bereits begründeter Wohnſitz trotz des Aufenthalts an anderen Orten fortbeſtehen kann, Wohnſitz und Aufenthaltsort demnach verſchieden ſein können, ſo gewiß iſt es doch andererſeits, daß die Begründung eines neuen Wohn - ſitzes ohne Aufenthalt daſelbſt nicht erfolgen kann, und daß namentlich derjenige, welcher an einem Orte ſich aufzuhalten gar nicht befugt iſt, deſſen Aufenthalt dort nicht geduldet wird, ſich daſelbſt auch nicht niederlaſſen kann. Soweit daher ein Bundes - ſtaat befugt iſt, den Angehörigen anderer Bundesſtaaten in ſeinem Gebiet den Aufenthalt zu verſagen, kann er auch eine Nie - derlaſſung derſelben in ſeinem Gebiete verwehren und mithin168§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.den Eintritt der Vorausſetzung hindern, an welche das Geſetz das Recht auf Verleihung der Staatsangehörigkeit knüpft. Die Gründe, welche einen Bundesſtaat berechtigen, einem Angehörigen eines anderen Bundesſtaates in ſeinem Gebiet den Aufenthalt zu ver - ſagen, ſind reichsgeſetzlich feſtgeſtellt in dem Freizügigkeitsgeſ. v. 1. Nov. 1867 §§. 2 bis 51)Dieſe Gründe ſind: bei unſelbſtſtändigen, d. h. einer familienrechtlichen Gewalt unterworfenen Perſonen Mangel der Genehmigung des Gewalthabers, (§. 2), polizeiliche Aufenthaltsbeſchränkungen beſtrafter Perſonen (§. 3), Man - gel hinreichender Kräfte zur Beſchaffung des nothdürftigen Lebensunterhalts, wobei das Geſetz unterſcheidet, zwiſchen der Geſtattung, an einem Orte anzu - ziehen (§. 4), und der Entziehung der Erlaubniß nach erfolgtem Anzuge den Aufenthalt fortzuſetzen (§. 5). Eine eingehende Erläuterung dieſer Beſtimmun - gen giebt Arnoldt. Die Freizügigkeit und der Unterſtützungswohnſitz. Berlin 1872. S. 33 60.; dieſelben Gründe berechtigen ihn demnach, einem Angehörigen eines anderen Bundesſtaates die Ver - leihung der Staatsangehörigkeit zu verſagen. Dieſe Folgerung, welche nach den vorſtehenden Erörterungen ſich von ſelbſt ergiebt, iſt von dem Geſetz ausdrücklich gezogen worden, indem es im §. 7 die Clauſel hinzugefügt hat ſofern kein Grund vorliegt, welcher nach den §§. 2 bis 5 des Geſetzes über die Freizügigkeit vom 1. Nov. 1867 die Abweiſung eines Neuanziehenden oder die Verſagung der Fortſetzung des Aufenthalts rechtfertigt.

Dieſer Zuſatz begründet aber, ebenſo wie die §§. 2 bis 5 des Freizügigkeitsgeſetzes, für die Staaten nur eine Berechtigung, keine Verpflichtung zur Abweiſung einwandernder Reichsbürger; er iſt eine Beſchränkung ihrer reichsgeſetzlichen Pflicht, die An - gehörigen anderer Bundesſtaaten als Staatsbürger aufzunehmen, aber kein Verbot2)§. 7 des Geſ. ſagt: die Aufnahme-Urkunde wird jedem Angehörigen eines anderen Bundesſtaates ertheilt d. h. ſie muß ertheilt werden, der Staat darf die Verleihung nicht verſagen, ſofern kein Grund vorliegt ꝛc.. Es iſt daher keinem Staate verwehrt, trotz - dem einer der Verſagungs-Gründe des Geſetzes vorliegt, die Staats - angehörigkeit, und damit auch das Recht zum Aufenthalt und der Niederlaſſung, einem bisherigen Angehörigen eines anderen Bun - desſtaates zu ertheilen.

2) Die Naturaliſation darf Ausländern nur ertheilt werden, wenn die im §. 8 des Geſetzes aufgeführten Vorausſetzungen169§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.begründet ſind. Die Einzelſtaaten dürfen demnach von keiner dieſer Vorausſetzungen einen Ausländer dispenſiren; es iſt ihnen vom Reich verboten, das Staatsbürgerrecht an Perſonen zu ertheilen, welche den Erforderniſſen des §. 8 nicht genügen1)Der Grund iſt der, daß die Staatsangehörigkeit in einem Bundes - ſtaate das Recht begründet, in jedem andern Bundesſtaate die Aufnahme zu verlangen; der Ausländer könnte ſich daher in einem Bundesſtaate unter erleichterten Bedingungen naturaliſiren, und dann in einem anderen Bun - desſtaate aufnehmen laſſen. Deshalb iſt das im §. 8 des Geſ. aufgeführte Minimum von Erforderniſſen ius cogens.. Da - gegen iſt es ihnen unbenommen, die Vorausſetzungen der Aufnahme durch partikuläre Geſetze oder Verwaltungsvorſchriften zu er - ſchweren oder auch das Geſuch des Ausländers ohne Angabe von Gründen abzuweiſen; da kein Ausländer ein Recht auf Natu - raliſation, kein Bundesſtaat eine Pflicht zur Ertheilung derſelben hat2)Riedel S. 259. 260. Thatſächlich wird ein Staat von dieſer Be - fugniß nicht leicht Gebrauch machen, da die von ihm eingeführten Erſchwerun - gen der Naturaliſation auf dem in der vorigen Note angegebenen Wege um - gangen werden können. Indeß iſt es z. B. einem Staate unverwehrt, für die Ertheilung von Naturaliſations-Urkunden Stempel - und Ausfertigungs - gebühren zu erheben, während die Ertheilung von Aufnahme-Urkunden koſtenfrei erfolgen muß. §. 24 Abſ. 1. Ueber die Höhe der für die Natu - raliſation zu zahlenden Koſten, ſagt das Geſetz Nichts; ihre Normirung iſt daher den Einzelſtaaten überlaſſen. Die Annahme von Landgraff S. 648, daß die Naturaliſations-Urkunde wie die Entlaſſungsurkunde zu behandeln ſei, weil die Nichterwähnung der dafür zuläſſigen Gebühren angeblich auf einem Redaktionsverſehen beruht, iſt unbegründet. Auch iſt zu beachten, daß beide Fälle nicht analog ſind; denn hohe Gebühren für die Entlaſſungs-Ur - kunde kämen einer Auswanderungs-Steuer gleich; hier handelt es ſich um Zahlungen, die Inländer leiſten, bei der Naturaliſation um Zahlungen, welche von Ausländern erhoben werden. In Bayern iſt von der Befugniß, die Naturaliſation von Ausländern an erſchwerende Bedingungen zu knüpfen in - ſofern Gebrauch gemacht worden, als der Miniſt. -Erl. vom 9. Mai 1871 Nr. 5 (bei Riedel S. 274) verfügt, daß Ausländern die Naturaliſation in der Regel nur dann zu ertheilen ſei, wenn ſie nachweiſen, daß ſie für den Fall der Naturaliſation, ſofort die Heimat in einer bayeriſchen Gemeinde erhalten..

Die Vorausſetzungen der Naturaliſation ſind

  • a) Dispoſitionsfähigkeit des Aufzunehmenden nach dem Recht ſeiner bisherigen Heimath.

Der Mangel der Dispoſitionsfähigkeit kann ergänzt werden durch die Zuſtimmung des Vaters, Vormunds oder Kurators.

170§. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit.
  • b) Unbeſcholtener Lebenswandel.
  • c) eigene Wohnung oder ein Unterkommen an dem Orte der beabſichtigten Niederlaſſung.
  • d) die Fähigkeit, an dieſem Orte nach den daſelbſt beſtehenden Verhältniſſen ſich und ihre Angehörigen zu ernähren.

Die Beweislaſt für das Vorhandenſein dieſer 4 Voraus - ſetzungen trägt der Aufzunehmende; bevor aber die Verwaltungs - behörde dieſen Beweis für geführt erachtet[und] demnach die Naturaliſations-Urkunde ertheilt, iſt ſie verpflichtet, die Gemeinde, beziehungsweiſe den Armenverband desjenigen Ortes, wo der Aufzunehmende ſich niederlaſſen will, in Beziehung auf die Erfor - derniſſe unter b. c. d. mit ihrer Erklärung zu hören. (§. 8 Abſ. 2.) Ein contradictoriſches Verfahren mit förmlichem Urtheil findet aber, im Falle die Gemeinde der Naturaliſation widerſpricht, nicht ſtatt; die Entſcheidung erfolgt durch Beſchluß1)Trotz dieſes Gehörs, welches die Gemeinde bei den Verhandlungen über die Naturaliſation findet, ſind aber Naturaliſation und Aufnahme in einen beſtimmten Gemeindeverband oder Erwerb des Gemeindebürgerrechts von ein - ander völlig unabhängig. Landgraff S. 639..

3) Sowohl die Aufnahme als die Naturaliſation kann ſtill - ſchweigend d. h. ohne Ertheilung einer Urkunde verliehen wer - den, wenn Jemand, der dem Staate bisher nicht angehört hat, in dem unmittelbaren oder mittelbaren Staatsdienſt oder in dem Kirchen - Schul - oder Kommunaldienſt angeſtellt wird und wenn er für dieſe Anſtellung: eine von der Regierung oder von einer Central - oder höheren Verwaltungsbehörde eines Bundesſtaates vollzo - gene oder beſtätigte Beſtallung erhält.

Eine ſolche Urkunde gilt zugleich als Aufnahme - oder Natu - raliſations-Urkunde; wenn nicht das Gegentheil in ihr ſelbſt durch Vorbehalt der bisherigen Staatsangehörigkeit ausgedrückt wird. (Art. 9 Abſ. 1)2)Landgraff S. 633 verkennt das Weſen dieſes Erwerbsgrundes, wenn er ihn nicht mit der Verleihung, ſondern mit den familienrechtlichen Erwerbs - gründen zuſammenſtellt. Im Geſetz hat er ſeine richtige Stelle in dem von der Verleihung handelnden Theile gefunden..

Wenn ein Ausländer im Reichsdienſt angeſtellt wird, ſo wird derſelbe ſtillſchweigend naturaliſirt von demjenigen171§. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.Bundesſtaat, in welchem er ſeinen dienſtlichen Wohnſitz hat1)d. h. ſeinen erſten Dienſtwohnſitz. Bei einer Verſetzung in das Ge - biet eines andern Bundesſtaates ändert ſich die Staatsangehörigkeit des Reichs - beamten nicht; denn zu dieſer Zeit iſt er nicht mehr Ausländer, ſondern Reichsangehöriger. Wenn ein Deutſcher im Reichsdienſt angeſtellt wird, ſo ändert ſich ſeine Staatsangehörigkeit nicht, wenngleich ſein dienſtlicher Wohn - ſitz außerhalb ſeines Heimathsſtaates iſt. Die entgegengeſetzte Anſicht von Riedel S. 261 Nr. 6 iſt irrig.. (Art. 9 Abſ. 2.) Für den Fall, daß der im Reichsdienſte ange - ſtellte Ausländer ſeinen dienſtlichen Wohnſitz im Auslande hat, iſt eine geſetzliche Regelung bisher nicht ergangen. Ein ſolcher Reichs - beamter bleibt daher Ausländer.

§ 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.

Derſelbe erfolgt aus Gründen, die denen des Erwerbs analog ſind; alſo entweder ipso iure durch Verhälniſſe des Familienrechts oder durch zweiſeitiges Rechtsgeſchäft; dazu tritt aber noch der Verluſt wegen langer Abweſenheit und die Entziehung zur Strafe.

I. Aus familienrechtlichen Gründen hört die Staats - angehörigkeit auf

1) bei unehelichen Kindern durch eine den geſetzlichen Beſtim - mungen gemäß erfolgte Legitimation, falls der Vater einem an - dern Staate angehört als die Mutter. (§. 13 Nro. 4.)

2) bei einer Deutſchen durch Verheirathung mit dem Ange - hörigen eines andern Bundesſtaates oder mit einem Ausländer. (§. 13 Nro. 5.)

II. Die Entlaſſung iſt der contrarius actus der Verleihung und in der juriſtiſchen Geſtaltung ihr völlig gleichartig. Auch die Entlaſſung iſt ein zweiſeitiges, die Willensübereinſtimmung der beiden Parteien erforderndes Rechtsgeſchäft, welches zu ſeiner Per - fection der Schriftform, der Ausfertigung und Zuſtellung2)Siehe oben S. 166 Note 4. einer Urkunde Seitens der höheren Verwaltungsbehörde des Heimaths - ſtaates, bedarf. (§ 13 Nr. 1, §. 14, §. 18 Abſ. 1.) Damit aber die Entlaſſung nicht als Scheingeſchäft geſchloſſen werde, durch welches Jemand ſich den ſtaatsbürgerlichen Pflichten entziehen würde, ohne auf die Vortheile der Staatsgemeinſchaft zu verzichten, ſo wird die Entlaſſung unwirkſam, wenn der Entlaſſene nicht binnen 6 Monaten vom Tage der Aushändigung der Entlaſſungs -172§. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.Urkunde an entweder ſeinen Wohnſitz außerhalb des Bundes - gebiets verlegt oder die Staatsangehörigkeit in einem anderen Bundesſtaate erwirbt, wozu wie oben erörtert die Nieder - laſſung in dem Gebiete des letzteren erforderlich iſt. (§. 18 Abſ. 2)1)Das Geſetz ſagt: Die Entlaſſung wird unwirkſam, wenn . Eine Unwirkſamkeits-Erklärung der Entlaſſung iſt nicht vorgeſchrieben und auch nicht ſachlich erforderlich. Es kann daher auch nicht bezweifelt werden, daß die Entlaſſung von Anfang an unwirkſam geweſen iſt, nicht erſt es nachträglich wird und daß mithin auch in der Zwiſchenzeit die ſtaatsbürgerlichen Pflichten erfüllt werden müſſen. Vgl. Landgraff S. 643. Die Annahme Böhlau’s a. a. O. S. 35 Note 168, daß während der ſechsmonatl. Friſt pendente conditione resolutiva die Bundesangehörigkeit ohne Staatsan - gehörigkeit ſelbſtſtändig fortbeſteht, wird durch das Geſetz in keiner Weiſe gerechtfertigt.. Die Entlaſſung erſtreckt ſich, wie die Verleihung auf die der familienrechtlichen Gewalt des Entlaſſenen unterworfenen Per - ſonen, ſoweit nicht eine Ausnahme feſtgeſetzt iſt. (§. 19.)

In Betreff der Vorausſetzungen der Entlaſſung wird ähnlich wie bei der Verleihung unterſchieden, ob der Staatsangehörige nur in einen andern Bundesſtaat verzieht, alſo die Reichsange - hörigkeit beibehält, oder ob er aus dem Reiche auswandert.

1) Die Entlaſſung zum Zweck der Ueberſieblung innerhalb des Bundesgebietes wird jedem Staatsangehörigen er - theilt, welcher nachweiſt, daß er in einem anderen Bundesſtaate die Staatsangehörigkeit erworben hat. (§. 15 Abſ. 1.) Wer alſo die Verleihungs-Urkunde eines anderen Bundesſtaates vorlegt, muß auf ſeinen Antrag2)Wenn er dieſen Antrag nicht ſtellt, verbleibt ihm die Staatsangehörig - keit ſeines bisherigen Heimathsſtaates; es kann daher ein Deutſcher gleichzeitig mehreren, ja ſogar allen Bundesſtaaten als Staatsbürger angehören. die Entlaſſungs-Urkunde ſeines bis - herigen Heimathsſtaates erhalten und zwar koſtenfrei. (§. 24 Abſ. 1.)

2) Die Entlaſſung behufs Auswanderung d. h. die Entlaſſung, welche das Aufhören der Reichsangehörigkeit zur Folge hat, darf von den Einzelſtaaten nicht ertheilt werden ſol - chen Perſonen, welche ſich durch die Entlaſſung ihrer Militärpflicht entziehen wollen3)Das Geſ. §. 15 Abſ. 2 führt drei Kategorien ſolcher Perſonen auf, nämlich: 1) Wehrpflichtige, im Alter vom vollendeten 17. bis zum voll - endeten 20. Lebensjahre, wenn ſie nicht ein Zeugniß der Kreis-Erſatz-Kommiſ - ſion beibringen, daß ſie die Entlaſſung nicht blos in der Abſicht nachſuchen, um ſich der Dienſtpflicht zu entziehen. 2) Militärperſonen, welche zum. Es darf daher an ſolche Perſonen die Ent -173§. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.laſſung nur dann ertheilt werden, wenn ſie nachweiſen, daß ſie in einem andern Bundesſtaate die Staatsangehörigkeit erworben haben. Von dieſer Vorſchrift darf kein Staat dispenſiren, ande - rerſeits darf er die Entlaſſung nicht verweigern oder an erſchwerte Bedingungen knüpfen (§. 17), auch für die Ertheilung der Ent - laſſungs-Urkunde nicht mehr als höchſtens einen Thaler an Ge - bühren erheben (§. 24 Abſ. 2)1)Man nennt dieſe, den Einzelſtaaten gegebene Rechtsnorm bisweilen die Auswanderungs-Freiheit und ſtempelt ſie zu einem ſogen. Grundrecht..

Ferner ermächtigt das Geſetz den Kaiſer, für die Zeit eines Krieges oder einer Kriegsgefahr im Wege der Verordnung beſon - dere Beſtimmungen zu erlaſſen. (§. 17).

III. Die Staatsangehörigkeit kann verloren gehen für einen Deutſchen, wenn er ſich zehn Jahre lang ununterbrochen im Auslande aufhält. Dieſer Erlöſchungsgrund qualifizirt ſich juriſtiſch als Nichtgebrauch2)Das Geſetz knüpft den Verluſt an den 10 jährigen Aufenthalt, auch ohne daß ein neuer Wohnſitz begründet wird, alſo an ein rein thatſäch - liches Verhältniß. Daher kömmt die Willens - und Handlungs fähigkeit nicht in Betracht, welche wol für die Niederlaſſung, nicht aber für den Aufent - halt erforderlich iſt. Demgemäß fehlt es an jedem Grunde, für Minder - jährige die Friſt erſt mit dem Eintritt der Vollfährigkeit beginnen zu laſſen, wie Landgraff S. 645 annimmt. Man muß im Gegentheil ſogar auch für Geiſteskranke an den 10 jährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Auslande den Verluſt der Staatsangehörigkeit knüpfen.. So lange der Abweſende ſeine Staatsangehörigkeit manifeſtirt, tritt der Erlöſchungsgrund nicht ein; daher beginnt die Friſt, wenn der Austretende ſich im Beſitze eines Reiſepapieres oder Heimathsſcheines befindet, erſt mit dem Ablauf dieſer Papiere3)Den Landesregierungen iſt die Feſtſetzung ihrer Gültigkeits-Dauer überlaſſen.; ſie wird unterbrochen, wenn ſich der Abweſende in die Matrikel eines Bundeskonſulats eintragen läßt, und ihr Lauf beginnt von Neuem erſt mit dem auf die Löſchung in der Matrikel folgenden Tage. (§. 21 Abſ. 1)4)Vgl. Konſulats-Geſetz v. 8. Nov. 1867 §. 12 (R. -G.-Bl. S. 139).. Der Verluſt3)ſtehenden Heere oder zur Flotte gehören, Offiziere des Beurlaubtenſtandes und Beamte, bevor ſie aus dem Dienſte entlaſſen ſind. 3) Die zur Reſerve des ſtehenden Heeres oder zur Flotte und die zur Landwehr und Seewehr ge - hörigen und nicht als Offiziere angeſtellten Perſonen, nachdem ſie zum activen Dienſt einberufen worden ſind. Vgl. ferner Reichsmilitärgeſetz vom 2. Mai 1874 §. 60 (R. -G.-Bl. S. 61.)174§. 18. Der Verluſt der Staatsangehörigkeit.der Staatsangehörigkeit erſtreckt ſich natürlich nicht mit auf die Ehefrau und die minderjährigen Kinder des Abweſenden, wenn die letzteren im Bundesgebiet zurückgeblieben ſind. Das Geſ. §. 21 Abſ. 2 aber ſagt: der Verluſt erſtreckt ſich zugleich auf die genannten Perſonen, ſoweit ſie ſich bei dem Ehemanne, bezie - hungsweiſe Vater befinden. Dieſe poſitive Formulirung läßt den Fall unentſchieden, wenn auch die Kinder zwar 10 Jahre lang von Deutſchland abweſend ſind, aber ſich nicht bei dem Vater befinden. Auf Grund des Abſ. 1 des §. 21 iſt auch bei ihnen der Verluſt als eingetreten anzuſehen. Für die beim Erlaſſe dieſes Geſetzes im Auslande ſich aufhaltenden Angehörigen derjenigen Bundesſtaaten, nach deren Geſetzen die Staatsangehörigkeit durch einen zehnjährigen oder längeren Aufenthalt im Auslande verloren ging, wird der Lauf dieſer Friſt durch das Geſetz nicht unter - brochen. (§. 25 Abſ. 1.) Dieſe Staaten ſind den Motiven zu Folge Peußen (ältere Provinzen), Kgr. Sachſen, Mecklenburg, Großh. Sachſen, Oldenburg, Anhalt, Schwarzb. -Rud., Waldeck, Reuß, Lübeck und Hamburg. Für die Angehörigen der übrigen Bundesſtaaten beginnt die Friſt mit dem Tage der Wirkſamkeit dieſes Geſetzes. (§. 25 Abſ. 2.)

Weſentlich erleichtert iſt der Wiedererwerb der Staats - (reſp. Reichs -) Angehörigkeit, welche durch bloßen Nichtgebrauch erloſchen iſt. Es iſt nämlich jeder deutſche Staat, in deſſen Gebiet ein Deutſcher ſich niederläßt, der ſeine Staatsangehörigkeit durch 10jährige Abweſenheit im Auslande alſo ohne Entlaſſungs - Vertrag verloren hat, verpflichtet, demſelben die Aufnahme - Urkunde auf Verlangen zu ertheilen (§. 21 Abſ. 5); es ſind alſo auf denſelben nicht die von Ausländern, ſondern die von Reichs - angehörigen geltenden Beſtimmungen anzuwenden. Außerdem iſt der frühere Heimathsſtaat1)In dieſer Hinſicht erweiſt ſich demnach die Staatsangehörigkeit im Gegenſatz zur Reichsangehörigkeit wirkſam. berechtigt (aber nicht verpflichtet), ſeinen ehemaligen Angehörigen, auch ohne daß ſie ſich in ſeinem Gebiete niederlaſſen, die Staatsangehörigkeit wieder zu verleihen, alſo ihnen gegen die Folgen der langen Abweſenheit eine in integrum restitutio zu ertheilen. Vorausgeſetzt iſt jedoch in dieſem Falle, daß ſie nicht inzwiſchen eine andere Staatsange - hörigkeit erworben haben. (§. 21 Abſ. 4.)

175§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.

Die Reichsregierung iſt ermächtigt, durch Staatsvertrag mit ausländiſchen Staaten die zehnjährige Friſt für Deutſche, welche ſich in einem Staate des Auslandes1)Nicht im Auslande ſchlechtweg, ſondern in demſelben Staate wäh - rend der ganzen Friſt. mindeſtens fünf Jahre lang ununterbrochen aufhalten, bis auf eine fünfjährige zu ver - mindern2)Veranlaſſung hierzu war der Art. 1 des Vertrages mit Nordamerika vom 22. Februar 1868 (G. -Bl. S. 228). Es ſollte nicht nur dieſer Vertrag in Kraft bleiben, ſondern der Reichsregierung auch die Möglichkeit gewährt werden, ähnliche Verträge mit anderen Staaten zu ſchließen. Ueber dieſen Vertrag vgl. Thudichum S. 94 ff. und v. Martitz in Hirth’s Annalen 1875 S. 827 ff.. (§. 21 Abſ. 3.)

IV. Durch einſeitigen Rechtsact der Staatsregierung kann die Staatsangehörigkeit entzogen werden in den bereits oben erörterten Fällen des §. 20 und §. 22 des Geſ. v. 1 Juni 1870 und des Geſ. v. 4. Mai 1874. (Siehe S. 145. 147 fg. 153.) Die Entzie - hung erfolgt im Verwaltungswege durch einen Beſchluß; competent dazu iſt nur die Centralbehörde, nicht wie bei der Ertheilung der Entlaſſung auf Antrag die höhere Verwaltungsbehörde. Ueber die Wiederverleihung der Staatsangehörigkeit an Perſonen, denen dieſelbe entzogen worden iſt, beſtimmt das Geſetz vom 1. Juni 1870 Nichts. Dagegen enthält §. 4 des Geſ. v. 4. Mai 1874 die Anordnung, daß Perſonen, welche nach den Vorſchriften dieſes Geſetzes ihrer Staatsangehörigkeit in einem Bundesſtaate verluſtig erklärt worden ſind, ohne Genehmigung des Bundes - raths in keinem Bundesſtaate die Staatsangehö - rigkeit von neuem erwerben können. Sollen die §§. 20 und 22 des Geſ. v. 1 Juni 1870 nicht illuſoriſch und wirkungs - los ſein, ſo muß dieſes Prinzip auch auf diejenigen Perſonen aus - gedehnt werden, welche nach Maaßgabe dieſer Paragraphen ihre Staatsangehörigkeit verloren haben. Durch die völlige Analogie der Fälle könnte die extenſive Interpretation des § 4 cit. gerecht - fertigt erſcheinen, wenn ihr nicht der Charakter des Geſetzes vom 4. Mai 1874 als eines Ausnahmegeſetzes entgegen ſtände.

§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.

Der Artikel 3 der Reichsverfaſſung ſtellt den Grundſatz an die Spitze:176§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.Für ganz Deutſchland beſteht ein gemeinſames Indigenat mit der Wirkung, daß der Ange - hörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesſtaates in jedem anderen Bundesſtaate als Inländer zu behandeln iſt.

Dieſes Indigenat iſt in der Literatur faſt durchweg mit dem Reichsbürgerrecht identifizirt worden und man hat vorzugsweiſe in ihm den Inhalt des Reichsbürgerrechts zu finden geglaubt1)Riedel S. 85 fg. u. v. Pözl S. 7 ff. unterſcheiden zwar im An - ſchluß an die im Bayeriſchen Staatsrecht längſt übliche Auseinanderhaltung von Indigenat und Staatsbürgerrecht dem Begriffe nach richtig das Reichs - indigenat von den reichsbürgerlichen Rechten und Pflichten, nicht aber in Hinſicht auf den Inhalt beider..

Aus den einzelnen Conſequenzen dieſes Prinzips hat man reichsbürgerliche Grundrechte gemacht, namentlich das Recht zum Wohnſitz, zum Gewerbebetrieb, zur Erwerbung von Grundſtü - cken u. ſ. w.

Dies iſt unrichtig. Ein ſubjectives, individuelles Recht be - gründet der Art. 3 überhaupt gar nicht; auch dann nicht, wenn man ſelbſt zugeben könnte, daß die Aufhebung von Be - ſchränkungen der natürlichen Handlungsfähigkeit, z. B. die ſogen. Zugfreiheit, Gewerbefreiheit, Preßfreiheit u. ſ. w. als ſubjective Rechte der Einzelnen logiſch gedacht werden können. Denn der Art. 3 enthält auch hiervon Nichts. Er ſagt nicht, jeder Deutſche hat das Recht zum feſten Wohnſitz, zum Gewerbebetriebe u. ſ. w. im ganzen Bundesgebiet; ſondern als Conſequenzen des durch ihn begründeten Indigenats hebt er hervor, daß der Ange - hörige eines jeden Bundesſtaates in jedem andern Bundesſtaate zum feſten Wohnſitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Aemtern, zur Erwerbung von Grundſtücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechtes und zum Genuſſe aller ſonſtigen bürgerlichen Rechte unter denſelben Vorausſe - tzungen wie der Einheimiſche zuzulaſſen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsſchutzes dem - ſelben gleich zu behandeln iſt.

Ueber die Vorausſetzungen und Bedingungen der Niederlaſſung, des Gewerbebetriebes, der Anſtellung im Staatsdienſt, der Rechts - verfolgung und des Rechtsſchutzes u. ſ. w. enthält der Art. 3 der177§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.Verf. demnach gar keine Anordnung; er verfügt nur die gleiche Behandlung aller Reichsangehörigen wie der Angehörigen des eigenen Staates. Er enthält daher keine poſitive Beſtimmung über die Rechte der Reichsangehörigen, ſondern lediglich den negativen Satz: Kein Deutſcher darf in rechtlicher Beziehung ungünſtigeren Regeln unterworfen werden als der Angehörige des eigenen Staates1)Nicht einmal ein Wohnrecht im Bundesgebiet hat der Art. 3 ge - währt; denn wofern das Landesgeſetz die Ausweiſung von Inländern ge - ſtattete, konnten alle Bundesangehörigen ausgewieſen werden. Erſt das Frei - zügigkeitsgeſetz hat dem Reichsangehörigen das Recht, im ganzen Bun - desgebiet ſich aufzuhalten und ſich niederzulaſſen, gewährleiſtet. Daher iſt die Ausführung in Goltdammer’s Archiv Bd. XVI. S. 466 nicht ganz correct..

Der Art. 3 ſtellt demnach nur einen objectiven Rechts - ſatz hin, für deſſen Anwendung das Reich und folglich auch das Reichsbürgerrecht gar keine logiſch-nothwendige Vorausſetzung iſt. Auch jeder Einheitsſtaat kann den Grundſatz geſetzlich feſtſtellen, daß alle rechtlichen Beſchränkungen der Ausländer aufgehoben wer - den, daß Ausländer und Staatsangehörige vor dem Geſetze gleich zu behandeln ſeien; ebenſo können völlig unabhängige Staaten vertragsmäßig vereinbaren, daß ſie wechſelſeitig die Unterthanen der andern wie die eigenen behandeln wollen. Deshalb konnte Art. 3 der R. -V. in Elſaß-Lothringen durch das Geſ. v. 9. Juni 1871 ſofort in Wirkſamkeit geſetzt werden, lange Zeit vor Ein - führung der Reichsverfaſſung, und es war ſeine Einführung gerade dort wegen der rigoroſen Härte, mit welcher das franzöſiſche Recht Ausländer behandelt, beſonders dringend geboten und von prak - tiſcher Wirkſamkeit. Das Indigenat des Art. 3 iſt daher kein Aus - fluß des Reichsbürgerrechts und kann andererſeits ebenſowenig dazu dienen, das Reichsbürgerrecht zu conſtruiren2)Im Weſentlichen richtig Rud. Brückner Ueber das gemeinſ. Indi - genat. Gotha 1867 und Seydel Commentar S. 44. Auch bei den Ver - handlungen im verfaſſungberathenden Reichstage wurde die wahre Bedeutung des Art. 3 ſehr richtig charakteriſirt; namentlich von v. Wächter (Sten. Ber. S. 251) und von Braun-Wiesbaden (S. 253). Dagegen kann man den Sinn des Art. 3 kaum unrichtiger wiedergeben, als dies in einem Bericht des Bundes-Ausſchuſſes für Juſtizweſen v. 12. Dezember 1868 (Hirth’s Annalen II. S. 14) in dem an die Spitze geſtellten Satze geſchehen iſt: Nach Art. 3 ſollen kraft des in der Verf. anerkannten Bundes-Indigenats die Angehörigen des einen.

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 12178§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.

Es hat dies nicht mehr Berechtigung, als wenn man etwa aus der Aufhebung des Paßzwanges für Ausländer1)Geſetz vom 12. Oktober 1867 §. 2. oder aus der Pflicht der Ortsarmenverbände, hülfsbedürftige Ausländer vorläufig zu unterſtützen2)Geſetz vom 6. Juni 1870 §. 60., ein ſubjectives Nichtreichsbürger-Recht herleiten wollte. Der Art. 3 war in materieller Beziehung völlig wirkungslos, ſoweit bei Einführung der Verf. in den einzelnen Staaten Angehörige anderer deutſcher Staaten oder überhaupt Fremde den eigenen Staatsbürgern bereits gleich behandelt wurden und er begründet auch jetzt nirgends einen Anſpruch der Deutſchen, vor Ausländern bevorzugt oder begünſtigt zu werden, ſondern eben nur nicht ſchlechter als die Angehörigen des Staates behandelt zu werden. Seine praktiſche Bedeutung läßt ſich vielmehr in folgende zwei Rechtsſätze zuſammenfaſſen:

1. Alle in den einzelnen deutſchen Staaten beſtehenden Rechtsregeln, wonach Fremde ungünſtiger als die eigenen Staats - angehörigen zu behandeln ſind, werden in Anſehung der Ange - hörigen der übrigen Bundesſtaaten aufgehoben.

2. Kein deutſcher Staat darf künftig im Wege der Geſetz - gebung oder Verwaltung Anordnungen treffen, durch welche recht - liche Ungleichheiten zwiſchen den eigenen Angehörigen und den Angehörigen der übrigen deutſchen Staaten begründet werden3)Im Art. 3 iſt die praktiſche Tragweite des im Abſ. 1 ausgeſprochenen Grundſatzes noch beſonders im Abſ. 2 hervorgehoben. Kein Deutſcher darf in der Ausübung dieſer Befugniß durch die Obrigkeit ſeiner Heimath oder durch die Obrigkeit eines andern Bundesſtaates beſchränkt werden. .

Der erſte dieſer Sätze brachte eine weitreichende Aenderung der Partikularrechte der einzelnen Staaten hervor, der zweite enthielt ein Verbot an die Einzelſtaaten, eine Beſchränkung ihrer Autonomie und Regierungsgewalt. Eine gemeinrechtliche Norm von poſitivem, materiellem Inhalt enthält keiner derſelben. Hätte man den richtigen Sinn des Art. 3 von Anfang an feſtgehalten, ſo würden viele der zahlreichen Zweifel, zu denen er Veranlaſſung gegeben hat, gar nicht entſtanden ſein. Es iſt die Anſicht ver - treten worden, daß der Art. 3 nur einen legislatoriſchen Grund -2)Bundesſtaats zugleich als Angehörige der anderen Bundes - ſtaaten gelten. 179§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.ſatz enthalte, der für den Richter nicht anwendbar ſei, ſondern erſt durch Ausführungsgeſetze anwendbar gemacht werden müſſe1)Dieſe Anſicht entwickelt ausführlich v. Groß im Gerichtsſaal Bd. 19 (1867) S. 329 ff., beſ. 340 und ein Erk. des Appellations-Gerichts zu Gotha in Goltdammer’s Archiv Bd. XVI. S. 472..

Dies iſt unrichtig; der Art. 3 war kraft des erſten von uns entwickelten, in ihm enthaltenen Satzes ſofort anwendbar; er hob in der That eine Reihe von Vorſchriften aller deutſchen Partikular - rechte theilweiſe (nämlich in Anſehung der Angehörigen der übrigen Bundesſtaaten) auf2)z. B. die Verpflichtung der Ausländer, Kaution für Prozeßkoſten zu erlegen, die Eigenſchaft eines Ausländers als causa arresti, ferner namentlich die Zuläſſigkeit, Ausländer aus dem Lande zu verweiſen. Vgl. die Zuſammenſtellung der Streitfragen, welche dem oben S. 177 Anm. 2 erwähnten Ausſchußbericht beigegeben iſt, in Hirth’s Annalen II. S. 25 fg. Auch die nur für Ausländer begründeten beſonderen Gerichts - ſtände ſind für Reichsangehörige nicht mehr maaßgebend. Urth. des Reichs - Oberhandels-Gerichts Bd. 2 S. 206 ff., Bd. 3 S. 395 ff., Bd. 5 S. 368, Bd. 12 S. 138 ff., Bd. 15 S. 1 ff. Der in den Fürſtenthümern Schwarzburg beſtehende Territorial-Retract wird von den Landesgerich - ten für aufgehoben erachtet (Hirth’s Annalen II. S. 28 Nr. 11); der in Mecklenburg beſtehende Orts-Einwohner-Retract (ex iure incolatus) bleibt von Art. 3 unberührt. Böhlau Heimathsrecht S. 28..

Aber ebenſo wenig hat der Art. 3 die Verſchiedenheit der einzelnen Partikularrechte hinweggeſchafft und einheitliches, gleiches Recht an deren Stelle geſetzt; auch für den Angehörigen des Reiches waren Rechtsſchutz und Rechtsverfolgung, Niederlaſſung und Gewerbebetrieb nicht überall im Reich gleich geordnet, ſondern er begegnete überall denjenigen Bedingungen und Beſchränkungen, welche das Landesrecht aufſtellt3)Eine Vertheidigung der hier bekämpften Anſicht hat namentlich in Be - ziehung auf die ſtrafprozeſſualiſchen Kompetenz-Regeln verſucht Spinola in Goltdammer’s Archiv Bd. XX. S. 321 ff. Gegen ihn erklären ſich mit aus - führlicher Widerlegung ſeiner Gründe Schwarze und Francke ebendaſelbſt Bd. XXI. S. 64 fg. u. S. 73 ff..

Es bleibt ferner für die Ausübung der ſtaatsbürgerlichen Rechte im eigentlichen Wortſinne das Staatsbürgerrecht des betref - fenden Staates nach Maaßgabe des Landesſtaatsrechts Voraus - ſetzung; der Art. 3 ſtellt in dieſer Hinſicht die Reichsangehörigen nicht in der Art einander gleich, daß die Angehörigen des einen Bundesſtaates zugleich als Angehörige der andern Bundesſtaaten12*180§. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfaſſung.gelten. (Vgl. oben S. 177 Note 2.) Daher ſind z. B. in Meck - lenburg landesfremde, aber reichsangehörige, Rittergutsbeſitzer von der Ausübung der Landſtandſchaft und der obrigkeitlichen, po - lizeilichen oder gerichtsherrlichen Rechte ausgeſchloſſen1)Mecklenb. Verordn. vom 28. Dezember 1872 §. 5. Böhlau a. a. O. S. 30 Note 141. S. 33 Note 155..

Die Reichsangehörigkeit hat im Art. 3 demnach nur die Be - deutung, daß ſie eine Grenze ſetzt für die durch den Art. 3 be - wirkte Modifikation der Partikularrechte. Die Reichsverfaſſung hat die Beſtimmungen der letzteren vollſtändig unangetaſtet gelaſſen in Anſehung der nicht-reichsangehörigen Fremden; die Abänderung der Partikularrechte kömmt nur den Angehörigen der Bundesſtaaten zu Gute2)Daß dies begrifflich etwas weſentlich Anderes iſt als die Conſtituirung ſubjectiver Rechte, bedarf wol keiner Ausführung. Der volksmäßige Sprachgebrauch kann hier allerdings leicht irre führen. Wenn z. B. die für Ehefrauen beſtehenden Beſchränkungen für Handelsfrauen aufgehoben werden, ſo ſagt man wol, die Handelsfrauen haben das Recht, ſelbſtändig Prozeſſe zu führen u. ſ. w.; in Wahrheit aber handelt es ſich nicht um Rechte, ſondern um Rechtsregeln..

Aus dieſen Ausführungen ergiebt ſich, daß die praktiſche Be - deutung des Art. 3 in materieller Beziehung die Fortdauer der Partikularrechte der Einzelſtaaten zur weſentlichen Vor - ausſetzung hat und daß die praktiſche Bedeutung in demſelben Umfange aufhört, als die Ausbildung des gemeinen Rechts fort - ſchreitet. Denn jedes Reichsgeſetz hebt nach Art. 2 von ſelbſt alle collidirenden Landesgeſetze auf und ſetzt der Autonomie der Ein - zelſtaaten eine unantaſtbare Schranke; es bedarf daher der beiden im Art. 3 enthaltenen Rechtsſätze nicht, um die in einem Reichs - geſetz enthaltenen Rechtsregeln gleichmäßig für alle Deutſche in jedem Einzelſtaate zur Geltung zu bringen.

Die Geſetze über die Freizügigkeit, über den Unterſtützungs - wohnſitz, über die Gewährung der Rechtshülfe, über die Beſeitigung der Doppelbeſteuerung, die Gewerbeordnung, das Strafgeſetzbuch und die in Ausſicht ſtehenden Prozeß-Ordnungen haben materiell die Vorausſetzungen und Bedingungen der Niederlaſſung, des Ge - werbebetriebes, des Rechtsſchutzes und der Rechtsverfolgung für alle Deutſche und für das ganze Reichsgebiet einheitlich und gleichmäßig geregelt und es iſt daher in dieſen Materien die rechtliche Möglich -181§. 19. Das Indigenat. des Art. 3 der Reichsverfaſſung.keit gar nicht mehr vorhanden, daß für die Angehörigen eines einzelnen Staates günſtigere oder überhaupt andere Vorſchriften als für die Angehörigen der übrigen deutſchen Staaten beſtehen. Soweit iſt daher der Art. 3 erledigt, für ſeine Anwendung kein Raum mehr geblieben1)Man kann auch nicht ſagen, daß das Reichsbürgerrecht im ſubj. Sinn wenn nicht durch Art. 3, ſo doch jedenfalls jetzt durch dieſe Geſetze, gleichſam die Ausführungsgeſetze des Art. 3, einen materiellen Rechtsinhalt bekommen habe. Nach Maßgabe der Gewerbe-Ordnung ein Gewerbe betreiben oder nach Maßgabe des Freizügigkeitsgeſetzes einen Wohnſitz begründen zu dürfen, iſt ebenſo wenig ein Recht im ſubjectiven Sinn, als nach Maaßgabe des Civil - rechts Darlehnsgläubiger, Miether, Servitutberechtigter oder Eigenthümer werden zu dürfen. Will man hier von einem Rechte reden, ſo iſt es nur das eine, weit umfaſſende Recht, unter dem Schutz der Geſetze zu ſtehen, welches wie oben S. 154 ausgeführt, allerdings in dem Staats - reſp. Reichsbürgerrecht ent - halten iſt.. Seine Bedeutung hat er aber noch nicht verloren; denn abgeſehen von ſämmtlichen, noch nicht gemeinrecht - lich (reichsgeſetzlich) normirten Gebieten, z. B. der direkten Steuern, des Privatrechts u. ſ. w.2)Ueber die Auslegung des Wortes Ausländer im Art. 84 der Wechſ. - Ordn. vgl. Urth. des Reichs-Oberhandelsgerichts Bd. 6 S. 357 ff., erweiſt er ſich wirkſam in einer materiellen und in einer formellen Beziehung.

1. Materiell iſt er eine Schranke für die Autonomie der Einzelſtaaten, ſoweit die oben erwähnten Reichsgeſetze dieſelbe fortbeſtehen laſſen. Dies gilt namentlich von der Landesgeſetz - gebung in Strafſachen und in Gewerbe-Angelegenheiten, welche das Einf. -Geſ. zum Strafgeſetzb. §. 2, 5 und 8 und die Gewerbe - Ordnung §. 7, 8, 9, 21, 23, 28 u. ſ. w. in großem Umfange aufrecht erhalten haben.

2. Formell iſt er auch eine Schranke für die Reichs - geſetzgebung, welche zwar die oben erwähnten und ſpäter noch zu erlaſſenden Geſetze im Wege der einfachen Geſetzgebung verändern oder aufheben kann, welche aber den für Verfaſſungsänderungen vorgeſchriebenen Erforderniſſen genügen müßte, wenn ein ſolches ſpäteres Geſetz den Grundſatz der Rechtsgleichheit unter Einheimiſchen und den Angehörigen anderer Bundesſtaaten etwa verletzen ſollte.

Hierauf beſchränkt ſich aber auch die ſtaatsrechtliche Bedeutung des Art. 3. Die Einzelbeſtimmungen der Geſetze, zu deren Erlaß er Veranlaſſung gegeben hat, namentlich der Geſetze182§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.über die Freizügigkeit, über den Unterſtützungswohnſitz, über die Gewährung der Rechtshülfe, der Gewerbe-Ordnung u. ſ. w. ge - hören nicht in eine Darſtellung des Reichsſtaatsrechts.

Zweiter Abſchnitt. Bundesgebiet.

§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur.

Daß zum Begriff des Staates ein Gebiet erforderlich iſt, wird in der Theorie nicht in Zweifel gezogen; ebenſo wenig daß die Staatsgewalt eine Herrſchaft an dieſem Gebiet von öffentlich recht - lichem Inhalt, die ſogen. Gebietshoheit, involvirt. Es ergiebt ſich hieraus von ſelbſt, daß auch die Centralgewalt im Bundesſtaat nicht ohne Gebietshoheit gedacht werden kann. Dagegen fehlt es an einer wiſſenſchaftlichen Erörterung der Frage, wie ſich im Bundesſtaat die Gebietshoheit der Bundesgewalt zu der Gebiets - hoheit der Einzelſtaatsgewalt verhält. Für die Theorie von der Theilung der Souveränetät wäre eine ſolche Unterſuchung auch recht unbequem geweſen, da die Identität des Territoriums, auf welches die beiden nebengeordneten Staatsgewalten ſich erſtrecken, ein ſehr erhebliches Hinderniß für die völlige Trennung ihrer beiden Sphären darbietet; und für die politiſchen Reformbeſtre - bungen zur Zeit des deutſchen Bundes, denen die Erkenntniß des begrifflichen Unterſchiedes zwiſchen Bundesſtaat und Staatenbund ſo viel zu danken hat, lag kein praktiſcher Anlaß vor, dieſe Frage a priori zu löſen.

Erſt die Reichsverfaſſung hat eine poſitive Grundlage für die ſtaatsrechtliche Erörterung der hier in Betracht kommenden Rechts - verhältniſſe geſchaffen und der Theorie die Aufgabe geſtellt, Be - griff und Weſen der Reichsangehörigkeit nicht nur in Bezug auf die Perſonen, ſondern auch in Bezug auf das Gebiet aufzuklären. Die bisherigen Bearbeiter des deutſchen Staatsrechts ſind der Löſung dieſer Aufgabe aber ausgewichen und haben bisweilen zum Erſatz einige ſtatiſtiſche Notizen über Umfang, Flächeninhalt, Bevölkerungszahl u. ſ. w. gegeben, als wollten ſie nicht ein Reichs - ſtaatsrecht ſondern ein Lehrbuch der Geographie verfaſſen1)So namentlich Thudichum S. 53 ff. v. Mohl Reichsſtaatsrecht S. 8 ff. Bluntſchli Staatslehre für Gebildete (1874) S. 345 fg., bis -183§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.weilen die Frage nach dem Recht des Reichs am Reichsgebiet mit der Frage nach dem Mitgliederbeſtande des Reiches verwechſelt oder zuſammengeworfen1)So v. Rönne S. 33 fg. auch Seydel Comment. S. 29 fg. u. a. Ebenſo giebt Grotefend deutſches Staatsr. §. 324 nicht viel mehr als eine Aufzählung der im Art. 1 der Verf. genannten Staaten..

Auch nach einer anderen Richtung hin iſt die Bedeutung der Frage noch näher feſtzuſtellen. Es liegt in der Natur jeder poli - tiſchen Einrichtung, daß ſie räumlich begränzt iſt, daß ſie ein Gebiet hat2)Zu den ſonderbarſten Curioſitäten der Literatur des Reichsſtaatsrechts gehört die Schrift von H. Beta Das Neue Deutſche Reich. 1871, in welcher es dem Deutſchen Reiche zum Vorwurf gemacht wird, daß es ein räumlich begränztes Gebiet habe und nicht alle in der ganzen Welt zerſtreut lebenden Deutſche umfaſſe, überhaupt nicht kosmopolitiſch ſei.. In dieſer Hinſicht iſt daher zwar auch der Staat auf ein Gebiet begränzt; aber die Begriffe Staat und Gebiet brauchen nicht zuſammenzufallen. Auch der Staatenbund hat ſein Bundes - gebiet; man ſpricht von dem Deutſch-Oeſterreichiſchen Poſtgebiet, vom Zollvereins-Gebiet u. ſ. w., und man kann andererſeits inner - halb jedes Staates nach den verſchiedenſten Rückſichten Gebiete unterſcheiden, z. B. Geltungsgebiete einzelner Geſetze oder Ver - waltungs-Einrichtungen. Es iſt daher ſtaatsrechtlich völlig werth - los, diejenigen Angelegenheiten aufzuzählen, in welchen das deutſche Reich ein Gebiet bildet3)So z. B. Riedel S. 9 ff., der dahin nicht blos die räumliche Com - petenz der Normal-Eichungskommiſſion, des Oberhandelsgerichts und des Bun - desamts für das Heimathsweſen, ſondern ſogar Marine, Schifffahrt und Con - ſulatweſen zählt.; denn nicht die territoriale Abgränzung irgend einer Einrichtung iſt entſcheidend, ſondern das rechtliche Verhältniß, welches ein räumlich begrenztes Stück der Erdober - fläche zu einer rechtlich relevanten Einheit macht. Nicht daß die zum deutſchen Reiche gehörenden Länder in vielen Beziehungen zugleich die Grenzen für eine Reihe von Einrichtungen ſind und den räumlichen Geltungsbereich einer Reihe von Geſetzen bilden, iſt ſtaatsrechtlich erheblich, ſondern von Bedeutung iſt, daß das Gebiet des Reiches das Object der ſtaatlichen Reichsgewalt iſt und durch die letztere zu einer ſtaatsrechtlichen Einheit gemacht wird.

In Beziehung auf das Weſen der Gebietshoheit kann man die ältere Anſicht, wonach die Gebietshoheit einen beſonderen Be -184§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.ſtandtheil der Staatsgewalt ausmacht und beſtimmte, einzelne Befugniſſe involvirt, wohl als beſeitigt anſehen1)Sie wird noch vertreten von Zöpfl II. §. 443, der auf dieſelbe 5 Rechte und 2 Ausflüſſe (nämlich die Anwendung der statuta realia und den Gerichtsſtand der Forenſen, den ſogen. Landſaſſiat) zurückführt.. Die Gebiets - hoheit iſt die Staatsgewalt ſelbſt in ihrer Richtung auf das Land, die Ausübung der dem Staate zuſtehenden Herrſchaftsrechte über ſeinen räumlichen Machtbereich2)Am ſchärfſten iſt dieſer Begriff präciſirt von v. Gerber Grundzüge §. 22. Vgl. auch den Artikel Staatsgebiet von Brockhaus in v. Holtzen - dorffs Rechtslexicon Bd. II. . Sie iſt analog dem Hoheits - recht über die Staatsangehörigen. Land und Leute ſind zwei weſentliche Vorausſetzungen, oder wenn man den Ausdruck vor - zieht: Subſtrate des Staates; Land und Leute ſind die Objecte der ſtaatlichen Herrſchaftsrechte. Die Staatsgewalt iſt ein Ge - waltverhältniß gegenüber den Unterthanen, ein ſtaatsrechtliches Sachenrecht gegenüber dem Territorium3)Die Gebietshoheit iſt kein Eigenthum im Sinne des Privatrechts, ſo wenig wie die Staatsgewalt über die Unterthanen privatrechtliche potestas oder mundium iſt. Der Satz, daß die Gebietshoheit nicht dominium ſondern imperium ſei, iſt faſt zum ſtaatsrechtlichen Gemeinplatz geworden. Ihrem Inhalte nach iſt die Gebietshoheit nur ſtaatsrechtlicher Natur, es ſind nur obrigkeitliche Hoheitsrechte, welche ſie involvirt. Aber ſo wie das Herrſchafts - recht über die Unterthanen eine Analogie findet an den familienrechtlichen Gewaltverhältniſſen; ſo die Gebietshoheit an dem ſachenrechtlichen Eigenthum. Die allgemeine Begriffskategorie der ausſchließlichen und totalen Herrſchaft über eine körperliche Sache iſt dieſelbe, nur die Art der Herrſchaft, ihr Zweck und Inhalt, ſind verſchieden. Die Analogie tritt am deutlichſten hervor im Völkerrecht, wo das Territorium eines Staates im Verhältniß zu an - deren Staaten in völlig gleichartiger Weiſe wie das Eigenthum in privatrecht - licher Beziehung behandelt wird. Vgl. Klüber Völkerr. §. 128. Heffter Völkerr. §. 64 ff. Hartmann Inſtitut. des prakt. Völkerrechts (Hannover 1874) §. 58 fg. Die Analogie zwiſchen der Gebietshoheit und dem Eigen - thumsrecht wird zwar in Abrede geſtellt von Fricker Vom Staatsgebiet. Tübingen 1867, aber ſeine Gründe ſind nicht ſtichhaltig. Er beruft ſich darauf, daß der Staat nur einen kleinen Theil der Bodenfläche zu ſeiner Benutzung ergreift, die Hauptmaſſe dagegen dem Eigenthum des Einzelnen überläßt. (S. 15 ff.) Allein grade die Verſchiedenheit der öffentl. und der privatrechtlichen Herrſchaft geſtattet, daß beide Herrſchaften gleichzeitig an demſelben Ob - ject beſtehen; dagegen giebt es an demſelben Grund und Boden gleichzeitig weder zwei Eigenthumsrechte noch zwei Staatsherrſchaften und ſo weit der Staat Eigenthum im Privatrechtsſinne hat, iſt er nicht Perſon des öffentlichen Rechts ſondern Fiskus. Ebenſo wenig kann die begriffliche Analogie zwiſchen.

185§. 20. Begriff und ſtaatsrechtliche Natur des Bundesgebietes.

Wenn man von dieſem Begriffe ausgeht, ſo ergiebt ſich daß im Reiche in ähnlicher Weiſe eine doppelte Gebietshoheit beſteht, wie eine doppelte Unterthanen-Hoheit. Die Staaten ſind mit Land und Leuten der Reichsgewalt unterthan. Ihre Gebietshoheit haben ſie in ſoweit behalten, als ihnen Herrſchaftsrechte geblieben ſind; ſie iſt auf das Reich übergegangen, ſo weit das Reich die Hoheits - rechte der Einzelſtaaten auf ſich vereinigt hat1)Vgl. auch Rüttimann Nordamerik. Bundesſtaatsr. I. §. 58.. Die Kompetenz - Grenze zwiſchen Reich und Einzelſtaat iſt zugleich die Grenze, welche die Gebietshoheit des Reiches am Reichsgebiet von der Gebietshoheit der Staaten am Staatsgebiet ſcheidet.

Es ſind zwei hiervon, nach verſchiedenen Richtungen abwei - chende Anſichten geltend gemacht worden. Bei der Berathung der neuen Redaktion der Reichsverf. äußerte Fürſt Bismarck in der Sitzung des Reichstages v. 1. April 18712)Stenogr. Ber. S. 95. hinſichtlich des An - trages anſtatt Bundesgebiet den Ausdruck Reichsgebiet in der Verf. zu ſetzen:

Bei den Worten Reichsgebiet und Bundesgebiet gebe ich gern zu, daß der Unterſchied ſich nicht nothwendig und ſcharf fühlbar macht. Es kommt aber auf den ſprachlichen Begriff an, den man mit Reich und Gebiet verbindet. Wir haben geglaubt, daß auch da, weil die Souveränität, die Landeshoheit, die Territorialhoheit bei den einzelnen Staaten verblieben iſt, bei Bezeichnung des Geſammtgebietes der Be - griff des Bundesverhältniſſes in den Vordergrund zu ſtellen ſei.

Auf dieſe Aeußerung berufen ſich manche Schriftſteller für die Behauptung, daß das Reich als ſolches keine Gebietshoheit habe3)So beſonders Seydel Comment. S. 28 fg..

Andererſeits geht die Behauptung, daß das Bundesgebiet ein wahres einheitliches Staatsgebiet ſei, innerhalb deſſen von Aus - land und Inland nicht mehr die Rede ſein könne 4)So äußert ſich z. B. Schulze Einleit. S. 441. Ganz ähnlich Das, viel zu weit. 3)Eigenthum und Gebietshoheit damit widerlegt werden, daß das Gebiet ein weſentliches Moment im Begriff des Staates ſei und daß deshalb es kein Recht des Staates an ſeinem Gebiet geben könne. (S. 17 fg. 23 fg.) Grade dieſes ausſchließliche Herrſchaftsrecht am Gebiet iſt für den Staatsbegriff we - ſentlich.186§. 21. Gebiets-Veränderungen.Die Binnen-Grenzen der deutſchen Staaten ſind noch immer von höchſt bedeutungsvoller Wichtigkeit.

Beſteht am deutſchen Land eine doppelte Gebietshoheit, ſo iſt dies doch keine in der Art getheilte, daß gewiſſe Herrſchaftsbe - fugniſſe dem Reich, gewiſſe andere dem Einzelſtaat in völliger begrifflicher und praktiſcher Trennung zuſtehen. Sondern die Sou - veränetät hat auch in dieſer Beziehung das Reich, die Einzelſtaaten haben die Rechte der Autonomie und Selbſtverwaltung in ihren Territorien.

Die oben dargelegte Verknüpfung von Reichsgewalt und Staatsgewalt zeigt ſich grade in den Wirkungen der ſtaatlichen Gewalt auf das Gebiet am deutlichſten.

Im Einzelnen beſtimmt ſich das Verhältniß von Reich und Staat hinſichtlich des Gebietes durch folgende Rechtsſätze.

§. 21. Gebiets-Veränderungen.

I. Der Umfang des Bundesgebietes iſt durch die Verf. Art. 1 reichsgeſetzlich beſtimmt. Nach dieſem Artikel giebt es kein Bundesgebiet, welches nicht einem Staate angehört. Der Artikel ſagt: Das Bundesgebiet beſteht aus den Staaten Preußen u. ſ. w. Derſelbe Grundſatz, der die Reichsangehörigkeit der Perſon von der Angehörigkeit zu einem Bundesſtaat abhängig macht, gilt auch hinſichtlich des Gebietes. Durch die Erwerbung von Elſaß-Lothringen iſt auch in dieſer Hinſicht eine Anomalie begründet, die im Zuſammenhange mit der ſtaatsrechtlichen Stel - lung des Reichslandes erörtert werden muß.

Der Art. 1 enthält aber auch noch ein anderes Prinzip. So wie jeder Angehörige eines Bundesſtaates Reichsangehöriger iſt, ſo iſt das ganze Gebiet jedes Einzelſtaates, welches ihm bei Gründung des Reiches zuſtand, Bundesgebiet. Es giebt nach Art. 1 kein Bundesgebiet, welches nicht Staatsgebiet, und kein Staatsgebiet der Bundesſtaaten, welches nicht Bundesgebiet iſt.

Da nun die räumliche Erſtreckung einés Staates ohne deſſen Willen nicht verändert werden kann, ſo ergiebt ſich, daß das Bundesgebiet nicht ohne den in verfaſſungsmäßiger Form erklär - ten Willen des Reiches abgeändert werden kann; d. h. daß ein4)Bundesſtaatsr. der Nordamerik. Union, der Schweiz und des Nordd. Bundes zuſammengeſtellt von einem Juriſten. München 1868 S. 14.187§. 21. Gebiets-Veränderungen.in den Formen der Verfaſſungs-Aenderung (Art. 78 Abſ. 1) be - ſchloſſenes Reichsgeſetz dazu erforderlich iſt. Hieraus ergeben ſich zwei unzweifelhafte Rechtsſätze; nämlich:

1. Kein Staat darf Gebietstheile ohne Genehmigung des Reiches an einen außerdeutſchen Staat abtreten oder aus dem Reichsgebiet loslöſen; es iſt hierzu ein verfaſſungsänderndes Reichsgeſetz erforderlich.

2. Erwerbungen von außerdeutſchem Lande, welche ein Einzelſtaat macht, gehören nicht ipso iure zum Bundesgebiet; es iſt hierzu ebenfalls ein verfaſſungsänderndes Reichsgeſetz erforderlich.

Zweifelhaft kann es dagegen erſcheinen, ob das Reich befugt iſt, Gebietstheile eines Einzelſtaates ohne deſſen Zuſtimmung an außerdeutſche Staaten abzutreten oder aus dem Bundesgebiet auszuſchließen, und ob es dem Einzelſtaat verwehrt iſt, ohne Zu - ſtimmung des Reiches außerdeutſche Gebietstheile zu erwerben, welche nicht dem Bundesgebiet einverleibt werden.

1) Bei der erſten dieſer beiden Fragen iſt zu unterſcheiden zwiſchen freiwilligen (im Frieden getroffenen) Maßregeln und ge - zwungenen Abtretungen (Friedensbedingungen).

a) Das Recht des Reiches einzelne Theile eines Staates aus dem Reichsgebiet auszuſchließen, ohne die Zuſtimmung dieſes Staates z. B. der Gebietstheile Preußens mit polniſch redender Bevölkerung iſt unbedingt zu verneinen. Jeder Staat hat ein Recht auf die Mitgliedſchaft für ſeinen Geſammtbeſtand, in ſeiner Integrität. Er kann weder ganz noch theilweiſe aus dem Reich ausgeſchloſſen1)Vgl. auch v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 11., er kann nicht in ſeinem Beſtande zerriſſen und zer - ſplittert werden, indem ein Theil ſeines Gebietes aus der im Reiche vollzogenen ſtaatlichen Einigung herausgeriſſen wird. Es ergiebt ſich dies aus dem, was oben §. 11 über die Mitgliedſchafts - rechte der Einzelſtaaten entwickelt worden iſt.

Ebenſo muß aber auch die Befugniß des Reiches, Gebiets - theile eines Bundesſtaates ohne deſſen Zuſtimmung an einen außerdeutſchen Staat freiwillig abzutreten, verneint werden. Das Reich kann nicht einem einzelnen Staate das Opfer einer Einbuße an Land und Leuten auferlegen, wenn dieſer Staat nicht freiwillig es übernimmt. Es kömmt grade hier das in der Mitgliedſchaft enthaltene Recht jedes Einzelſtaates auf gleichmäßige Behandlung188§. 21. Gebiets-Veränderungen.mit allen andern, die Unzuläſſigkeit ihm höhere Laſten und größere, beſondere Opfer zuzumuthen, welches wir oben S. 112. 125 entwickelt haben, zur Anwendung. Daher könnte z. B. das Deutſche Reich nordſchleswigſche Diſtricte nicht ohne die beſondere Zuſtimmung des Preußiſchen Staates an Dänemark abtreten, ſo wenig wie bayriſche ohne die Zuſtimmung Bayerns an Oeſterreich.

In formeller Beziehung iſt zwiſchen den beiden Fällen der Ausſchließung aus dem Reich und der Abtretung aber ein Unter - ſchied. Soll ein Theil eines Staatsgebietes zwar dieſem Staat verbleiben, aber aus dem Reich ausgeſchloſſen werden, ſo genügt ein Reichsgeſetz nach Art. 78, welchem der davon betroffene Staat im Bundesrath zuſtimmt; denn es handelt ſich hier lediglich um eine Aenderung des Bundesgebietes, nicht um eine Aenderung des Staatsgebietes. Soll dagegen ein Theil eines Staatsgebietes an einen auswärtigen Staat abgetreten werden, ſo iſt ſowohl ein ver - faſſungsänderndes Staatsgeſetz des Einzelſtaates als auch ein nach Art. 78 zu Stande gekommenes Reichsgeſetz erforderlich; denn es handelt ſich hier zugleich um eine Aenderung des Staatsgebietes und des Bundesgebietes1)Sollte einmal ein Theil von Schleswig an Dänemark abgetreten wer - den, ſo müßte demnach zuerſt der Preuß. Landtag in verfaſſungsmäßiger Weiſe einem Geſetz zuſtimmen, welches die abzutretenden Gebiete zum Zweck ihrer Abtretung aus dem Preuß. Staate ausſcheidet oder welches die Preuß. Regierung ermächtigt, einem Reichsgeſetz zuzuſtimmen, welches dieſe Abtre - tung anordnen wird. Vgl. die Verhandlungen des verfaſſungsgebenden Reichs - tages vom 18. März 1867 (Stenogr. Ber. I. 219. 220) u. Seydel S. 33 fg. Unklar Hierſemenzel I. S. 6 und ihm nachſchreibend v. Rönne S. 40 Note 4. Abweichender Anſicht Thudichum S. 57..

b) Anders geſtaltet ſich die Frage hinſichtlich der in einem Friedensſchluß zugeſtandenen Abtretung von Bundesgebiet. Hier iſt die Zuſtimmung des Staates, deſſen Gebiet abgetreten werden muß, ſtaatsrechtlich nicht erforderlich. Zwar nicht aus dem Grunde, weil im Falle des Krieges die Rechte der Einzel - ſtaaten ruhten oder das Prinzip der Gleichberechtigung ſuspendirt wäre. Das Reich hat vielmehr grade im Kriege die Pflicht, ſie alle gleichmäßig zu ſchützen und zu vertreten. Aber die Erfüllung dieſer Pflicht kann thatſächlich unmöglich ſein. Wenn nach einem unglücklichen Kriege das Reich im Friedensſchluß zur Abtretung von Bundesgebiet ſich entſchließt, ſo erklärt es eben dadurch, daß18[189]§. 21. Gebiets-Veränderungen.es ſeine Pflicht, das Bundesgebiet und alle zu ihm gehörenden Einzelſtaaten zu ſchützen, nicht ferner erfüllen kann, oder daß es dieſer Pflicht wegen der Größe der Opfer, wegen der Gefahr noch größerer Verluſte oder aus anderen politiſchen Erwägungen nicht weiter als geſchehen, nachkommen will1)Vgl. Hartmann Inſtitut. des Völkerrechts S. 170.. Die höhere Gewalt, welche die Abtretung erzwingt und welche nicht aus dem rechtlichen Organismus des Reiches ſelbſt ſtammt, ſondern von Außen an daſſelbe herantritt, iſt der Grund, wegen deſſen der Staat, deſſen Gebiet ganz oder theilweiſe abgetreten wird, dieſen casus tragen muß. Es bedarf keiner Ausführung der politiſchen Nachtheile, ja der Abſurditäten, zu welchen der Satz führen würde, daß das Reich in keinem Friedensſchluſſe Gebietstheile eines Bundesſtaates ohne deſſen Zuſtimmung abtreten könne2)Dies behauptet Seydel S. 29.; es würde dies jedem Einzelſtaat ein Recht darauf geben, in das eigene Unglück den Ruin und Untergang des ganzen Reiches hineinzuziehen. Die Reichsverfaſſung ſelbſt ſchließt aber eine ſolche Annahme auch dadurch aus, daß ſie im Art. 11 Abſ. 1 dem Kaiſer die Be - fugniß ertheilt, Frieden zu ſchließen, ohne dieſer Befug - niß irgend eine Einſchränkung hinzuzufügen, als daß nach Abſ. 3 in gewiſſen Fällen die Zuſtimmung des Bundesrathes und die Genehmigung des Reichstages erforderlich iſt. Der Schutz der Einzelſtaaten liegt in dieſem Falle nicht in einem formalen Rechts - ſatz, ſondern in der thatſächlichen Solidarität der Intereſſen, da jede erzwungene Abtretung von Bundesgebiet nicht blos den Ein - zelſtaat, zu dem es gehört, ſondern ebenſo ſchwer auch das Reich als Ganzes trifft.

2. Die zweite Frage, ob es einem Deutſchen Staate verwehrt iſt, außerdeutſches Gebiet ohne Zuſtimmung des Reiches zu erwer - ben, welches dem Reichsgebiet nicht einverleibt wird, iſt ohne praktiſche Bedeutung. Da die Reichsverfaſſung an keiner Stelle dies unterſagt und die Deduction, daß aus dem Weſen des Bundes - ſtaates die Unzuläſſigkeit eines ſolchen Erwerbes ſich ergäbe, durch die Hinweiſung auf die Stellung des Großherzogthums Heſſen im Norddeutſchen Bunde ihre Widerlegung findet, ſo iſt dieſe Frage zu verneinen3)Vgl. Hierſemenzel S. 4. Riedel S. 80. v. Rönne S. 37.. Zuzugeben iſt aber, daß ſowohl nach dem Art. 1190§. 21. Gebiets-Veränderungen.der R. -Verf. als nach dem Verfaſſungs-Organismus des Reiches der Fall, daß ein Staat nicht mit ſeinem ganzen Gebiet dem Reich angehört, als ein anormaler, wenn auch nicht verfaſſungsmäßig verbotener, anzuſehen wäre.

II. Der Umfang der Staatsgebiete innerhalb des Reiches iſt weder durch die Reichsverfaſſung beſtimmt noch unterliegen Abänderungen der Verfügung und Genehmigung des Reiches. Grade hier zeigt ſich die Gebietshoheit der Einzelſtaaten ſehr deut - lich und ſie äußert ihre Wirkungen in negativer und poſitiver Richtung.

1. Die negative Richtung, der Ausſchluß einer anderen Ver - fügungsgewalt über das Staatsgebiet, äußert ſich dem Reiche gegenüber in dem Satze: Das Reich iſt nicht befugt, die Grenzen der einzelnen deutſchen Staaten ohne deren Zuſtimmung zu verändern; es darf nicht aus Zweckmäßigkeitsgründen oder aus anderen Motiven die Gebiete der einzelnen Staaten abrunden oder zuſammenlegen oder gar der Größe nach ausgleichen. Die Integrität der Mitglieder des Reiches ſteht nicht zur Verfügung der Reichsgewalt; die Mitglieder haben vielmehr ein verfaſſungsmäßiges Recht, daß das Reich ihre Inte - grität ſchütze. In dieſem Sinne verſtanden iſt die oben erwähnte Aeußerung des Reichskanzlers, daß die Landeshoheit bei den ein - zelnen Staaten geblieben iſt, richtig. Die Gebiete der Staaten ſind eben nicht Provinzen, Verwaltungsdiſtricte des Reiches. Es bewährt ſich hier die Behauptung, daß auch noch andere Maß - regeln des Reiches als die im Art. 78 Abſ. 2 erwähnten Verfaſ - ſungs-Aenderungen der beſonderen Zuſtimmung einzelner Staaten bedürfen1)Siehe oben S. 113. 118 fg..

2. In poſitiver Richtung kommt die Gebietshoheit der Ein - zelſtaaten zur Geltung, indem es den Einzelſtaaten frei - ſteht, die Binnen-Grenzen ihrer Gebiete zu verän -3)Seydel S. 30. Abweichender Anſicht ſind G. Meyer Staatsrechtl. Erörter. (1872) S. 68 und v. Mohl S. 22. 25. Daß politiſche Bedenken im einzelnen Falle entgegenſtehen können, iſt dem Letzteren zuzugeben; indeß doch nicht immer. Was würde es dem Deutſchen Reich ſchaden, wenn ein Deutſcher Landesherr etwa einmal kraft Erbrechts oder Kaufes ſouveräner Fürſt von Lichtenſtein oder Monaco würde? In keinem Falle genügen politiſche Beden - ken zur Aufſtellung eines Rechtsſatzes.191§. 21. Gebiets-Veränderungen.dern, durch Abtretung oder Austauſch, ohne daß ſie dazu der Zuſtimmung des Reiches bedürfen. Eine Gebiets-Abtretung unter den deutſchen Staaten hat an politiſcher Bedeutung faſt den größten Theil eingebüßt; denn das abgetretene Stück bleibt, wenn es auch die Staatsangehörigkeit wechſelt, der ſouveränen Reichsgewalt, der Reichsgeſetzgebung, den vom Reich erforderten Laſten und Leiſtungen u. ſ. w. in derſelben Weiſe wie bisher unterworfen. Gebietsabtretungen unter den Bundesſtaaten verhalten ſich zu Gebietsabtretungen unter den ſouveränen Staaten etwa wie Ueberwanderungen zu Auswanderungen. Für das Reich beſteht der Regel nach gar kein rechtliches Intereſſe, ob ein Stück des Bundesgebietes zu dieſem oder jenem Einzelſtaat gehört. Selbſt - verſtändlich iſt es, daß kein Stück des Bundesgebietes den Hoheits - rechten des Reiches ohne Zuſtimmung des letzteren dadurch entzogen werden kann, daß es an einen, mit Reſervatrechten ausgeſtatteten Staat, z. B. an Bayern abgetreten wird; es könnte an Bayern nur in derjenigen rechtlichen Lage, in welcher es ſich vor der Ab - tretung befand, übergehen.

Ebenſo iſt es ſelbſtverſtändlich, daß, wenngleich die Abtretung von Gebietstheilen an einen andern deutſchen Staat der Reichs - genehmigung nicht bedarf, dennoch ein Reichsgeſetz in dem Falle erforderlich iſt, wenn zugleich das Stimmen-Verhältniß im Bun - desrath und die Abgränzung der Reichstags-Wahlkreiſe verändert werden ſollen. Endlich iſt es zweifellos, daß, wenn Gebietsver - änderungen zugleich eine Veränderung der Bevölkerungs - zahlen herbeiführen, die Berückſichtigung dieſes Umſtandes bei allen Vertheilungen von Laſten und Rechten, welche nach Maaß - gabe der Bevölkerungsziffern erfolgen, z. B. der Matrikular-Bei - träge, der Rekruten-Geſtellung, der Reichskaſſenſcheine, nicht direkt unter den Staaten, welche den Gebiets-Austauſch vornehmen, be - wirkt werden kann, ſondern eines Bundesraths-Beſchluſſes bedarf1)Vgl. z. B. Bundesraths-Protok. 1874 §. 348 S. 244 fg., über den Preuß. -Oldenburg. Gebiets-Austauſch vom 8. April 1873 und Bundesraths - Protok. 1875 §. 229 S. 194 wegen Wolde und der Theilung des Kommunion - harzes..

Einzelne Schriftſteller gehen in Verkennung des wahren Sach - verhältniſſes ſo weit, daß ſie zu Grenzveränderungen unter deutſchen Staaten nicht blos Genehmigung des Reiches, ſondern ſogar die192§. 22. Der Schutz des Gebietes.Einwilligung ſämmtlicher Bundesglieder verlangen1)Namentlich v. Martitz S. 10 u. G. Meyer Grundz. S. 47, der jedoch ſpäter, Staatsr. Erörter. S. 65 ſeine Anſicht dahin modifizirt hat, daß er nicht Zuſtimmung aller Einzelſtaaten, ſondern nur die des Reiches verlangt. Dieſe Schriftſteller berufen ſich auf die Vertrags-Natur des Bundes; dagegen verwirft der entſchiedenſte Vertheidiger dieſer Theorie, Seydel S. 30 aus - drücklich die in Rede ſtehende Conſequenz. Die richtige Anſicht haben auch Thudichum S. 61. Riedel S. 80. v. Rönne S. 37.. Die richtige Anſicht iſt jedoch nicht nur in der Theorie die herrſchende, ſondern iſt auch in der Praxis befolgt worden, indem ſeit Gründung des Norddeutſchen Bundes eine große Zahl von Gebietsveränderungen und Gränzregulirungen unter den deutſchen Staaten ſtattgefunden haben, ohne daß jemals die Zuſtimmung des Norddeutſchen Bundes oder des Deutſchen Reiches ertheilt worden iſt2)Gebietsveränderungen in Deutſchland ſeit 1867: vgl. Ernſt Meier. Ueber den Abſchluß von Staatsverträgen (1874) S. 253 ff. 1. Preuß. Geſ. vom 23. März 1873 über die veränderte Abgrenzung des Jadegebietes.2. Vertrag zwiſchen Preußen und Sachſen-Altenburg vom 9. Juni 1868 und das Preuß. Geſetz vom 3. April 1869, wodurch die zu Altenburg gehörigen Theile der Dörfer Willſchütz und Gräfendorf gegen den unter preuß. Lan - deshoheit ſtehenden Theil von Königshofen ausgetauſcht wurden.3. Vertrag zwiſchen Preußen und Bremen v. 8. Dezember 1869 wegen Er - weiterung des Bremerhaven-Diſtricts.4. Rezeß zwiſchen Preußen und Mecklenb. -Schwerin über Regulirung der Landeshoheitsgrenzen in den Dörfern Suckow, Drenikow und Prorep vom 12. Oktober 1872.5. Gebiets-Austauſch zwiſchen Sachſen-Weimar und Sachſen-Coburg-Gotha. (Geogr. Jahrbuch III. S. 17. Petermann’s Mittheilungen. Ergänzungs - heft 33 S. 11 Anm. 24 u. 30.)6. Theilung des Communions-Gebietes am Unterharz zwiſchen Braunſchweig und Preußen durch Vertrag vom 9. März 1874. Preuß. Geſetz-Samml. S. 295 ff..

§. 22. Der Schutz des Gebietes.

I. Der Zweck und die Aufgabe des Reiches iſt der Schutz des Bundesgebiets. (Einl. der R. -V.) Dieſer Aufgabe und den zu ihrer Durchführung dienenden Hoheitsrechten gegenüber iſt das Bundesgebiet eine Einheit. Im Staatenbund beſteht zwar auch die gemeinſame Aufgabe zum Schutz des Bundesgebietes; hier wird ſie aber erfüllt durch eine Collectivgarantie für die Integrität193§. 22. Der Schutz des Gebietes.der einzelnen Staatsgebiete; jeder Staat iſt verpflichtet, den übrigen behufs Vertheidigung ihrer Gebiete zu helfen; das Bundesgebiet iſt lediglich die Summe der unter dieſen Schutz geſtellten Staats - gebiete. Im Bundesſtaat wird durch einen feindlichen Angriff oder durch einen unbefugten Eingriff eines auswärtigen Staates nicht blos der Staat, deſſen Gebiet davon betroffen iſt, ſondern der Bund ſelbſt als völkerrechtlich anerkanntes, ſtaatliches Rechtsſub - ject verletzt. Das Reich vertheidigt ſein eigenes Recht, wenn es Angriffe (oder Eingriffe) auf das Bundesgebiet zurückweiſt, während im Staatenbund die nicht unmittelbar verletzten Staaten durch Leiſtung der Bundeshülfe ihre vertragsmäßige Pflicht zur Vertheidigung eines fremden Rechts erfüllen.

Dieſer Pflicht des Reiches, das Bundesgebiet als Einheit zu ſchützen, entſpricht das ausſchließliche Recht des Reiches, auswär - tigen Staaten gegenüber die Gebietshoheit über das ganze Bundes - gebiet wahrzunehmen und im Inneren des Reiches alle Anordnungen zu treffen, welche zur Vertheidigung des Bundesgebietes erforder - lich ſind.

1. Dem Auslande gegenüber hat das Reich am Bun - desgebiet alle diejenigen Rechte, welche nach den Grundſätzen des Völkerrechts dem Souverän des Einheitsſtaates an ſeinem Staats - gebiet zuſtehen und die in dem Satz ſich zuſammenfaſſen laſſen, daß jeder andere Staat, ſoweit ihm nicht rechtsgültig Staatsſervi - tuten beſtellt ſind, die Ausübung von Hoheitsrechten an dem Bun - desgebiet unterlaſſen muß. Hier tritt aber der Unterſchied von Bundesſtaat und Staatenbund und die dem erſteren zuſtehende ſtelbſtſtändige Gebietshoheit in einer ſehr bemerkenswerthen Weiſe hervor. Im Staatenbund kann jeder einzelne Staat einem aus - wärtigen Staate Staatsſervituten beſtellen, ihm die Ausübung von Hoheitsrechten erlauben, Truppen-Durchzüge durch das Land oder Stationirung von Kriegsſchiffen in den Häfen ihm geſtatten, Kar - tell-Konventionen zur Ermöglichung von Gränzüberſchreitungen be - hufs Verfolgung von Schmugglern, Forſtfrevlern u. ſ. w. ab - ſchließen. Die übrigen Staaten und die Bundes-Organe haben kein Einſpruchsrecht gegen ſolche ſelbſtgewollte und bewilligte Be - ſchränkungen der dem einzelnen Staate zuſtehenden Gebietshoheit; ſie haben nur Bundeshülfe zu leiſten, bei feindlichen und wider - rechtlichen Angriffen.

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 13194§. 22. Der Schutz des Gebietes.

Im Reiche, als einem Bundesſtaate, kann kein Einzelſtaat einem fremden Staate Eingriffe in die Gebietshoheit geſtatten; dies kann nur das Reich ſelbſt. Die Beſtellung von Staatsſervituten, die Erlaubniß von Truppendurchmärſchen, der Abſchluß von Kar - tell-Konventionen, ſowie jede andere Einſchränkung der Gebiets - hoheit zu Gunſten eines außerdeutſchen Staates kann für das geſammte Bundesgebiet und jeden Theil deſſelben nur vom Reiche gewährt werden. Die Reichsverfaſſung ſchließt zwar keineswegs das Recht der Einzelſtaaten aus, auch mit auswärtigen Staaten Verträge zu ſchließen; dieſe Verträge dürfen aber keinen Inhalt haben, welcher mit der Souveränetät des Reiches im Widerſpruch ſteht und ein ſolcher Widerſpruch würde vorhanden ſein, wenn einem fremden Staate die Ausübung ſtaatlicher Hoheitsrechte in einem Theile des Bundesgebietes eingeräumt werden würde.

Ebenſo wenig kann der Einzelſtaat feindliche Angriffe eines auswärtigen Staates dulden oder verzeihen oder mit ihm über die zu leiſtende Genugthuung ſich verſtändigen; denn nicht blos der Ein - zelſtaat, ſondern das Reich ſelbſt erſcheint als verletzt und an - gegriffen. Obwohl weder die Reichsverfaſſung noch die Reichsge - ſetze das Prinzip ſelbſt allgemein ausſprechen, ſo tritt es doch in einer Reihe von Anwendungsfällen zu Tage.

a) Nach R. -V. Art. 11 hat der Kaiſer das Recht, im Namen des Reiches Krieg zu erklären, und zwar ohne daß die Zuſtimmung des Bundesrathes erforderlich iſt, wenn ein Angriff auf das Bundesgebiet oder deſſen Küſten erfolgt. Dieſes Recht iſt nicht nur unabhängig davon, daß der Einzelſtaat, gegen deſſen Gebiet der Angriff erfolgt iſt, die Hülfe des Reiches verlangt; ſondern es beſteht ſelbſt dann, wenn der Einzelſtaat gegen dieſe Hülfe proteſtiren und ſich direct mit dem Gegner vergleichen wollte.

b) Der Eintritt von Angehörigen fremder Staaten in das Bundesgebiet unterliegt der Geſetzgebung und Beaufſichtigung des Reiches, indem Art. 4 Z. 1 der R. -V. das Paßweſen und die Fremdenpolizei der Reichscompetenz zuweiſt. Das Geſetz über das Paßweſen v. 12. Oktob. 1867 §. 9 ermächtigt den Kaiſer durch Verordnung die Paßpflichtigkeit überhaupt oder für einen beſtimmten Bezirk oder zu Reiſen aus und nach beſtimmten Staaten des Auslandes vorübergehend einzuführen, wenn die Sicherheit des Bundes oder eines einzelnen Bundesſtaates oder die öffentliche195§. 22. Der Schutz des Gebietes.Ordnung durch Krieg, innere Unruhen oder ſonſtige Ereigniſſe bedroht erſcheint. Die Einzelſtaaten haben keine Ermächtigung dieſer Art für ihr Gebiet.

c) Ebenſo unterliegt der Waarenverkehr mit dem Auslande der Regelung durch das Reich, welchem die ausſchließliche Befug - niß zur Zollgeſetzgebung, zur Erhebung von Abgaben von fremden Schiffen oder deren Ladungen gemäß Art. 54 Abſ. 6 der R. -V., zum Abſchluß von Handels - und Schifffahrtsverträgen und zur Verfügung von Gränzſperren zuſteht1)In Bezug auf den letzten Punkt hat das Geſetz vom 7. April 1869 die Verwaltungsbehörden der einzelnen Staaten verpflichtet und er - mächtigt , wenn die Einſchleppung der Rinderpeſt zu befürchten iſt, Beſchrän - kungen und Verbote der Einfuhr zu erlaſſen. Sobald eine Regierung in die Lage kommt, ein Einfuhrverbot zu erlaſſen, zu verändern oder aufzuheben, muß ſie dem Bundespräſidium davon Mittheilung machen und erforderlichen Falls kann der Reichskanzler ſelbſtſtändig Anordnungen treffen. (Geſ. §. 1. 2. 9. 12.) Die Behörden der Einzelſtaaten erlaſſen das Einfuhrverbot daher nicht in Ausübung eines Hoheitsrechtes des Einzelſtaates, ſondern kraft beſon - derer Delegation in Ausübung eines Hoheitsrechtes des Reiches und nach Maaßgabe der vom Reich erlaſſenen Inſtruktion. Vgl. die Revid. Inſtr. v. 9. Juni 1873 §. 1 10. (R. -G.-Bl. S. 147). Anwendungsfälle dieſer Gebiets - hoheit des Reiches ſind ferner das vom Kaiſer erlaſſene Verbot der Einfuhr von Reben zum Verpflanzen v. 11. Febr. 1873. (R. -G.-Bl. S. 43) und das Verbot der Einfuhr von Kartoffeln aus Amerika v. 26. Febr. 1875 (R. -G.-Bl. S. 135.) Auch Ausfuhrverbote kann nur das Reich erlaſſen, ſo wie im Nordd. Bunde dieſelbe nur von dem Bundespräſidium verordnet werden konnten. Die Beſtimmungen des Art. 4 des Zollvereins-Vertrages vom 8. Juli 1867 ſind durch den Eintritt der ſüddeutſchen Staaten in das Reich unanwendbar ge - worden, da ſie von einander unabhängige, ſouveräne Staaten vorausſetzen. Auch das Pferde-Ausfuhrverbot v. 4. März 1875 (R. -G.-Bl. S. 159) iſt im Namen des Deutſchen Reichs verordnet worden, jedoch in einer dem Deut - ſchen Reichsrecht gänzlich unbekannten Form, nämlich: nach erfolgter Zuſtim - mung der Bundesregierungen. .

d) Auch der Abſchluß von Verträgen mit auswärtigen Staaten über die Herſtellung von Eiſenbahn-Verbindungen, würde, wenn in ſolchen Verträgen zu Gunſten des Auslandes Beſchränkungen der Gebietshoheit zugeſtanden werden ſollten, Sache des Reiches, nicht des Einzelſtaates ſein2)Der Sächſ. -Oeſterreich. Eiſenbahn-Vertrag vom 29. September 1869, in der Königl. Sächſ. Geſetzſammlung publicirt am 15. Mai 1871, begründet nur Rechte Sachſens im Böhmiſchen Gebiet, keine Beſchränkungen der Sächſ. Gebietshoheit zu Gunſten Oeſterreichs. Die Eiſenbahnverträge mit dem Aus -.

13*196§. 22. Der Schutz des Gebietes.

2. Im Innern des Bundesgebietes hat das Reich entſprechend der ihm obliegenden Schutzpflicht das Recht, die zur Vertheidigung und Sicherung erforderlichen Maaßregeln anzuordnen, ohne Rückſicht auf die Landesgrenzen und die Gebietshoheit des Einzelſtaates. Auch hier erſcheint das Bundesgebiet als Einheit. Anwendungsfälle ſind folgende:

a) Der Kaiſer hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes die kriegsbereite Aufſtellung eines jeden Theils des Reichsheeres anzuordnen (R. -V. Art. 63 Abſ. 4), ſowie Feſtungen innerhalb des Bundesgebietes anzulegen (R. -V. Art. 65). Die Zuſtimmung des Einzelſtaates, in deſſen Gebiet die Anlage gemacht wird, iſt nicht erforderlich, abgeſehen von Bayern, welchem in dem Vertrage von Verſailles Z. III §. 5 Nro. V in dieſer Beziehung ein Son - derrecht zugeſtanden worden iſt. In untrennbarem Zuſammenhange damit ſteht die Befugniß, die zur Anlage fortifikatoriſcher Werke erforderlichen Grundſtücke zu expropriiren und die in der Umge - bung von Feſtungen liegenden Grundſtücke Gebrauchs-Beſchrän - kungen zu unterwerfen1)Geſ. vom 21. Dezember 1871 (Rayon-Geſetz) R. -G.-Bl. S. 459..

b) Der Kaiſer kann, wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht iſt, einen jeden Theil deſſelben in Kriegs - zuſtand erklären, R. -V. Art. 68. Auch dieſes Recht iſt für Bayern bis zum Erlaß eines Reichsgeſetzes ausgeſchloſſen2)Vertr. v. Verſailles Z. III. §. 5 Nr. VI. . Bei der Abgränzung des in Kriegszuſtand zu erklärenden Theiles des Bundesgebietes braucht der Kaiſer nicht die Gränzen der einzelnen Staatsgebiete zu berückſichtigen; ſie ſind in dieſer Beziehung nicht vorhanden3)Die Verordnung vom 21. Juli 1870 erklärte in Kriegszuſtand die Bezirke des 8., 11., 10., 9., 2. und 1. Armeekorps. .

c) Das Reich iſt befugt, Eiſenbahnen, welche im Intereſſe der Vertheidigung Deutſchlands oder im Intereſſe des gemeinſamen Verkehrs für nothwendig erachtet werden, anzulegen und zwar auch gegen den Widerſpruch der Bundesglieder, deren Gebiet die2)lande, welche Preußiſches Gebiet betreffen, ſind ſeit der Gründung des Reiches im Namen des Reiches geſchloſſen worden; nämlich der Vertrag mit Rußland vom 8. Juli 1871, mit der Niederlande vom 18. Auguſt 1871, mit Oeſterreich vom 21. Mai 1872 (R. -G.-Bl. 1872 S. 23. 39. 353 ) u. ſ. w. Vgl. Ernſt Meier Abſchluß von Staatsverträgen S. 272.197§. 22. Der Schutz des Gebietes.Eiſenbahnen durchſchneiden. R. -V. Art. 41. Dem Reich ſteht behufs Durchführung einer ſolchen Eiſenbahn-Anlage das Expro - priationsrecht zu und, falls die Anlage einem Privat-Unternehmer konzeſſionirt wird, kann das Reich denſelben mit dem Expropria - tionsrechte ausſtatten. Wenn das Reich von dieſer Befugniß Ge - brauch macht, wird die in Folge deſſen angelegte Eiſenbahn aber keineswegs völlig von der Gebietshoheit des Staates eximirt und gleichſam reichsunmittelbar; ſondern es beſteht auch ihr gegenüber die Landeshoheit des Einzelſtaates in demjenigen Umfange fort, in welchem die R. -V. ſie überhaupt hat beſtehen laſſen. Dies hat der Art. 41 der R. -V. hervorgehoben durch die Clauſel: unbe - ſchadet der Landeshoheitsrechte. Grade hier zeigt ſich wieder, daß einerſeits die Souveränetät des Reiches keine die Hoheitsrechte der Einzelſtaaten vernichtende, erſchöpfende iſt und daß andererſeits die Hoheitsrechte der Einzelſtaaten keine ſouveräne d. h. unbe - ſchränkte ſind; denn eine Gebietshoheit ohne Widerſpruchsrecht gegen Eingriffe einer andern Gewalt in das Gebiet iſt keine ſouveräne.

II. Im Verhältniß der einzelnen Bundesſtaaten zu einander iſt die Gebietshoheit derſelben am Staatsterritorium zwar keineswegs beſeitigt, aber durch die Unterordnung unter die ſouveräne Reichsgewalt ſehr erheblich an Kraft geſchwächt und ge - lockert. Es gilt dies namentlich von der negativen Richtung der Territorialgewalt, d. h. von der Abſchließung des Staatsgebiets gegen Außen. Durch die Zollgeſetzgebung iſt das ganze Bundes - gebiet dem Waaren-Verkehr frei gegeben und Reſte der Gebiets - hoheit der einzelnen Staaten beſtehen in dieſer Beziehung nur, ſo weit die ſüddeutſchen Staaten von der Bier - und Branntweinſteuer - Gemeinſchaft eximirt ſind. Durch das Freizügigkeits - und Staats - angehörigkeits-Geſetz iſt für den Perſonen-Verkehr das ganze Bun - desgebiet zur Einheit geworden. Durch den 7. und 8. Abſchnitt der Reichsverfaſſung iſt in Beziehung auf das Eiſenbahn - Poſt - und Telegraphenweſen eine Abſchließung der einzelnen Staatsge - biete gegen die übrigen deutſchen Gebiete unmöglich gemacht wor - den. Daſſelbe iſt durch den Art. 54 der R. -V. geſchehen hinſicht - lich der Seehäfen und aller natürlichen und künſtlichen Waſſer - ſtraßen. Demgemäß iſt die Abſperrung ihres Gebietes den Ein - zelſtaaten überhaupt nicht mehr geſtattet; gegen das Reichs-Ausland nicht, weil das Reich hierzu ausſchließlich befugt iſt, gegen das198§. 22. Der Schutz des Gebietes.übrige Bundesgebiet nicht, weil dies mit der bundesſtaatlichen Einigung unverträglich iſt.

In ihrer poſitiven Richtung dagegen beſteht die Gebietshoheit der Einzelſtaaten in demſelben Umfange fort wie ihre Staatsgewalt überhaupt, was z. B. in Anſehung der Enteignungs-Befugniß, der Regalien, des Rechts auf herrenloſe oder verlaſſene Grundſtücke deutlich zu Tage tritt.

Eine beſondere Betrachtung erfordert nur noch die Ausweiſung und die Internirung.

1. Das Reichs-Strafgeſetzbuch geſtattet in einigen Fällen die Ausweiſung von Ausländern aus dem Bundesgebiete. Nach §. 39 Nro. 2 iſt die höhere Landespolizeibehörde befugt, den Aus - länder, gegen welchen auf Polizei-Aufſicht erkannt iſt, aus dem Bundesgebiete zu verweiſen. Vgl. §. 284. 362. Obwohl die Aus - weiſung von der Behörde des Einzelſtaates verfügt wird, erſtreckt ſie ihre Wirkung auf das ganze Bundesgebiet. In der Staats - gewalt des einzelnen Bundesſtaates kann unmöglich die Befugniß enthalten ſein, Jemanden aus den Gebieten der übrigen Bundes - ſtaaten auszuweiſen. Es handelt ſich vielmehr hier um eine An - wendung der ſelbſtändigen Gebietshoheit des Reiches am Bundes - gebiet; die Landespolizeibehörden üben ein Hoheitsrecht des Reiches, nicht ihres Staates aus, welches ihnen durch §. 39 des St. -G.-B. zur Handhabung übertragen iſt1)Es verhält ſich hier alſo ebenſo wie mit dem Recht, Einfuhrverbote auf Grund des Geſ. vom 7. April 1869 zu erlaſſen.. Es ſteht damit im Einklang, daß die in einem Staate verfügte Ausweiſung in den übrigen Staaten keiner Beſtätigung für deren Gebiete bedarf und daß es unzuläſſig iſt, daß die Landespolizei-Behörde eines Einzelſtaates die Ausweiſung nur für das Gebiet dieſes Staates verfüge. Dieſer Bedeutung der Verweiſung entſpricht es auch, daß dieſelbe in dem vom Reichskanzler-Amt herausgegebenen Central-Blatt für das deutſche Reich bekannt gemacht wird2)Ueber die ſeltenen Fälle, in denen eine Ausweiſung von Reichsange - hörigen aus dem Gebiet des Einzelſtaates vorkommen kann, vgl. oben S. 158..

2. Die Internirung innerhalb des Bundesgebietes iſt im Allgemeinen den Staatsbehörden nicht geſtattet; ſie ſteht im Wider - ſpruch mit dem reichsgeſetzlich ſanctionirten Grundſatz der Frei - zügigkeit und kann auch Fremden gegenüber wegen der §§. 5 und 6199§. 22. Der Schutz des Gebietes.des Einführungs-Geſetzes zum Strafgeſetzbuch nicht in Anwendung gebracht werden. Nur ausnahmsweiſe iſt ſie zugelaſſen gegen reichsangehörige Jeſuiten und renitente Geiſtliche auf Grund der Reichsgeſ. v. 4. Juli 1872 und v. 4. Mai 1874 und zwar kann auch hier die Landespolizeibehörde1)Bundesrathsbeſchl. vom 5. Juli 1872 Nr. 3. (R. -G.-Bl. S. 254). Geſ. vom 4. Mai 1874 §. 1. die Internirung in dem Ge - biete eines anderen Staates verfügen2)Siehe oben S. 159.. Es bedarf keiner Ausführung, daß auch hier die Landesbehörde kraft geſetzlicher Delegation ein Hoheitsrecht des Reiches handhabt, obwohl nicht verkannt werden kann, daß dieſe Anordnungen nicht ganz im Ein - klang ſtehen mit den Grenzen, welche im Uebrigen zwiſchen der Gebietshoheit des Reiches und der der Einzelſtaaten feſtgehalten werden.

III. Neben dem Schutz des Gebiets gegen auswärtige Staaten kömmt noch der Schutzdes Gebietes gegen verbrecheriſche Unternehmungen in Betracht. Auch hier zeigt ſich, daß das Bundesgebiet weder die bloße Summe der Staatsgebiete iſt, noch daß die Staatsgebiete ihre Sonderexiſtenz verloren und im Bun - desgebiet aufgegangen ſind; vielmehr iſt das Bundesgebiet die höhere Einheit, welche die Staatsgebiete umſchließt.

1. Der §. 81 des R. -St.-G. unterſcheidet zwei von einander völlig getrennte, mit denſelben Strafen bedrohte Fälle des Hoch - verrathes, die dem Gegenſatz von Bundesgebiet und Staatsgebiet entſprechen: Er beſtimmt:

Wer es unternimmt:

  • 3) Das Bundesgebiet ganz oder theilweiſe einem fremden Staate gewaltſam einzuverleiben oder einen Theil deſſelben vom Ganzen loszureißen, oder
  • 4) das Gebiet eines Bundesſtaates ganz oder theil - weiſe einem anderen Bundesſtaate gewaltſam einzuverlei - ben oder einen Theil deſſelben vom Ganzen loszureißen

wird wegen Hochverraths .... beſtraft.

Daß es ſich hier um zwei verſchiedene Objecte des Hochverrathes handelt, daß das Reich ſelbſtſtändig einen Schutz in Anſehung des Bundesgebietes und jeder Staat ſelbſtſtändig einen Schutz in Anſehung ſeines Staatsgebiets erhalten hat, zeigt der200§. 22. Der Schutz des Gebietes.Wortlaut. Es handelt ſich aber keineswegs blos um eine begriff - liche Unterſcheidung; ſondern es laſſen ſich ſehr wohl Unterneh - mungen denken, in denen nicht gleichzeitig in ideeller Concurrenz beide Fälle des Hochverraths vorliegen, ſondern nur entweder der eine oder der andere. So würde z. B. das Unternehmen, die Provinz Poſen zwar beim Königreich Preußen zu belaſſen, aber ſie gewaltſam vom Reiche loszureißen, nur unter Nro 31)Die Aufzählung bei John in Holtzendorff’s Handb. des Deutſchen Strafrechts III, 1 S. 14, wonach der Hochverrath gegen das Bundesgebiet in doppelter Weiſe begangen werden kann, indem entweder ein Theil des Bundesgebiets einem fremden Staat einverleibt werden oder aus demſelben ein neuer ſelbſtändiger, dem Reich nicht angehöriger Staat gemacht werden ſoll, iſt nicht erſchöpfend.; da - gegen das Unternehmen, die Provinz Hannover zwar beim Reiche zu belaſſen, aber ſie gewaltſam vom Königreich Preußen loszu - reißen, nur unter Nro. 4 fallen.

2. In ähnlicher Weiſe wie beim Hochverrath kömmt das Ge - biet in Betracht bei denjenigen ſtrafbaren Handlungen, zu deren Thatbeſtand es gehört, daß ſie gegen das Oberhaupt des Reiches oder eines Bundesſtaates2)Beziehentl. gegen den Regenten oder gegen ein Mitglied des landes - herrlichen Hauſes. verübt werden. Der Kaiſer iſt gegen hochverrätheriſche Mord-Unternehmungen und gegen Beleidigungen im ganzen Bundesgebiet durch die gleichen Strafandrohungen ge - ſchützt; dagegen ſind die Landesherren gegen dieſelben Verbrechen nur dann mit einem ebenſo ſtarken ſtrafrechtlichen Schutz wie der eigene Landesherr des Thäters umgeben, wenn die verbrecheriſche That in dem Gebiete ihres Staates verübt worden iſt. St. -G.-B. §. 80. 94 bis 97.

3. Endlich ſtellt auch Str. -G.-B. §. 361 Nro. 2 die Gebiets - hoheit des Reiches und die der Einzelſtaaten dadurch unter gleichen Schutz, daß er denjenigen mit Strafe bedroht: der, nachdem er des Bundesgebietes oder des Gebietes eines Bundes - ſtaates verwieſen iſt, ohne Erlaubniß zurückkehrt.

§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.

Am deutlichſten markirt ſich das Nebeneinander-Beſtehen der ſtelbſtſtändigen Gebietshoheit des Reiches am Bundesgebiet und201§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.der Gebietshoheit der Bundesglieder an ihren Staatsgebieten an der Kompetenz der Behörden1)Vollkommen analoge Grundſätze gelten von der Befugniß zum Erlaß von Geſetzen und Verordnungen..

I. Soweit die eigene Verwaltung des Reiches ſich erſtreckt, giebt es innerhalb des Bundesgebiets keine Gränzen. Es tritt dies nicht ſowohl dort hervor, wo das ganze Bundesgebiet reſp. das ganze, nicht kraft beſonderer Reſervatrechte eximirte Bundesgebiet überhaupt ein untheilba - rer Bezirk iſt, z. B. hinſichtlich des Kompetenzbereiches des Oberhandelsgerichts, des Bundesamtes für das Heimathsweſen, des Eiſenbahn-Amtes u. ſ. w., als grade bei den Verwaltungs - Reſſorts, bei denen das Bundesgebiet in Bezirke abgetheilt iſt. Für die Abgränzung dieſer Bezirke ſind die Gränzen der einzelnen Staaten nicht vorhanden; ſofern ſie dennoch zuſammenfallen, iſt dies die Folge von Zweckmäßigkeits-Erwägungen nicht von Rechts - gründen. Das Reich kann mehrere Staatsgebiete und Gebietstheile verſchiedener Staaten zu einem Verwaltungsbezirk vereinigen und in einem einzelnen Staate mehrere getrennte Verwaltungsbezirke einrichten. Den umfaſſendſten Gebrauch hat das Reich von dieſer Befugniß gemacht bei der Abgränzung der Oberpoſtbezirke und der Bezirke der Telegraphen-Direktionen, der Bezirke der Disciplinar-Kammern, ſowie der Armee - Korps-Bezirke. Die ſelbſtſtändige Verwaltung Bayern’s und Württemberg’s hinſichtlich des Poſt - und Telegraphenweſens und die ſelbſtſtändige Armeeverwaltung Bayern’s, Sachſen’s und Württemberg’s verleihen hier den Gebietsgrenzen dieſer Staaten eine Bedeutung, welche im Uebrigen den Staatsgrenzen völlig ermangelt2)Beiſpiele für die Zuſammenlegung von Gebietstheilen verſchiedener Staaten zu einem Oberpoſt-Bezirk enthält das Reichsgeſetzblatt in großer Zahl; z. B. die Allerh. Erlaſſe vom 25. Nov. 1868, 24. April 1869, 14. März 1871, 14. Nov. 1871, 5. März 1873, 4. Dez. 1873; nicht minder ſind in Preußen Oberpoſtbezirke vereinigt, in Sachſen und Baden die Staatsgebiete unter zwei Oberpoſtdirektionen getheilt worden. Hinſichtlich der Telegraphen-Verwaltung iſt z. B. das Mecklenb. Gebiet der Direktion in Hamburg, das Hohenzollernſche Gebiet der Direktion in Carlsruhe unterſtellt. Erl. vom 16. April 1870 und vom 19. Dez. 1871. (R. -G.-Bl. 1870 S. 274. 1872 S. 1); Gebietstheile Preußens gehören zum Bezirk der Direktion in Dresden u. ſ. w.. Nur wird die Landeshoheit der Einzelſtaaten in202§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.ſo weit berückſichtigt, als den einzelnen Landesregierungen von den Ernennungen der Reichs-Poſt - und Telegraphen-Beamten, ſoweit dieſelben ihre Gebiete betreffen, und von den ihre Kontin - gente betreffenden Veränderungen, Avancements und Ernennungen Mittheilung erhalten. (R. -V. Art. 50. 66.)

Zu erwähnen iſt hier auch das Recht des Kaiſers, inner - halb des Bundesgebietes die Garniſonen zu beſtimmen (R. -V. Art. 63 Abſ. 4) und andererſeits das Recht der Einzel - ſtaaten, zu polizeilichen Zwecken nicht blos ihre eigenen Truppen zu verwenden, ſondern auch alle anderen Truppentheile des Reichs - heeres, welche in ihren Ländergebieten dislocirt ſind, zu requiriren. (R. -V. Art. 66 Abſ. 2.)

Ueber die Bedeutung, welche für die Reichstags-Wahlbezirke ausnahmsweiſe den Staatsgebieten zukömmt, vgl. unten §. 47.

II. Soweit die Selbſtverwaltung der Einzel - ſtaaten ſich erſtreckt und zwar gleichviel, ob dem Reiche die Geſetzgebung und Aufſicht zuſteht oder ob die Einzelſtaaten auch die Autonomie haben kömmt die Gebietshoheit der Einzelſtaaten zu voller Geltung.

Für die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchs - Abgaben, für die Thätigkeit der Eichungsämter, der Strandämter, für die Handhabung der Gewerbe-Ordnung, für die Zuſtändigkeit der Gerichte auch in Handels - und Wechſelſachen, Strafſachen und anderen reichsgeſetzlich geregelten Materien beſteht das Terri - torialprinzip innerhalb der Einzelſtaaten in demſelben Umfange, wie hinſichtlich der Erhebung directer Steuern, der Aufſicht über Kirchen und Schulen, über Gemeinden, über Forſten und Berg - werke. Dem Reiche iſt hier ein Eingriff in die Gebietshoheit2)Ueber die Abgränzung der Bezirke der Disciplinarkammern vgl. die Verordn. vom 11. Juli 1873 (R. -G.-Bl. S. 293), welche nicht blos die kleineren Staaten benachbarten Bezirken zulegt, ſondern auch ſie an verſchie - dene Bezirke weiſt, z. B. der Heſſiſche Kreis Wimpfen gehört nicht nach Darm - ſtadt, ſondern nach Karlsruhe u. ſ. w. Die Eintheilung des Bundesgebietes in Armee-Korps-Bezirke, derſelben in Diviſions - und Brigade-Bezirke und derſelben je nach Umfang und Bevölkerungszahl in Landwehr - Bataillons - und Landwehr-Kompagniebezirke überläßt das Reichs-Militärgeſetz vom 1. Mai 1874 §. 5 dem Reiche. Eine Ueberſicht der Armeekorps-Bezirke und ihrer Bevölkerungszahlen findet man in Hirth’s Annalen 1874 S. 500 fg.203§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.eines einzelnen Staates, eine Beſtimmung über die Abgränzung, Zuſammenlegung oder Theilung der Verwaltungs-Diſtricte u. dgl. entzogen. Es ſteht ihm frei, auf verfaſſungsmäßigem Wege den Bereich der Selbſtverwaltung aller einzelnen Staaten einzuſchrän - ken und den der Reichsverwaltung auszudehnen; aber nicht über die von ihm reichsgeſetzlich gezogenen und für alle Staaten gelten - den Grenzen der Selbſtverwaltung in die Gebietshoheit eines oder mehrerer einzelnen Staaten überzugreifen. Es wäre dies eine Verletzung von iura singulorum. (ſiehe oben S. 122 fg.)

Ebenſo wenig aber können die Behörden eines Bundesſtaates Hoheitsrechte auf dem Gebiete eines andern ausüben, ſelbſt wenn die Ausübung dieſer Hoheitsrechte für das ganze Bundesgebiet einheitlich geregelt iſt. Denn die Landesbehörden ſind eben auch hinſichtlich ſolcher Materien nicht Willens-Werkzeuge (Organe) des Reiches, ſondern der Einzelſtaaten. Dagegen ergiebt ſich aus der bundesſtaatlichen Einigung der Einzelſtaaten die gegenſeitige Pflicht zur Hülfe, insbeſondere zur Erledigung ordnungsmäßig ergangener Requiſitionen.

Dieſe Grundſätze ſind reichsgeſetzlich anerkannt und im Ein - zelnen geregelt für die Handhabung der Rechtspflege durch das Geſetz, betreffend die Gewährung der Rechtshülfe vom 21. Juni 1869. Die territoriale Begränzung der Zuſtändigkeit der Landes - gerichte iſt das Prinzip, von welchem dieſes Geſetz ausgeht1)Einzelne Anwendungsfälle enthalten §. 30 Abſ. 2. §. 40 Abſ. 2.; aber die Gerichte des ganzen Bundesgebietes haben ſich gegenſeitig Rechtshülfe zu leiſten, gleichviel ob das erſuchende und das er - ſuchte Gericht demſelben Bundesſtaate oder ob ſie verſchiedenen Bundesſtaaten angehören. (§. 1 §. 20). Nur ausnahmsweiſe geſtattet der §. 30 Abſ. 1 Sicherheitsbeamten eines Bundesſtaates, inbeſondere Gendarmen, die einer ſtrafbaren Handlung verdächti - gen Perſonen unmittelbar nach verübter That, oder unmittelbar nachdem dieſelben betroffen worden ſind, im Wege der Nach - eile bis in benachbarte Staatsgebiete zu verfolgen und daſelbſt feſtzunehmen.

Ganz ähnliche Grundſätze ſanctionirt das Zollcartel vom 11. Mai 1833 Art. 2 6, deſſen fortdauernde Geltung durch204§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.Art. 3 §. 7 des Zollvereinsvertrages vom 8. Juli 1867 und R. -Verf. Art. 40 gewährleiſtet iſt1)Vgl. auch das Geſetz zur Sicherung der Zollgrenze vom 1. Juli 1869 Art. 17. (B. -G.-Bl. S. 374) und das Brauſteuer-Geſetz vom 31. Mai 1872 §. 42 (R. -G.-Bl. S. 166.).

Der Bundesrath hat ferner am 2. Februar 1874 beſchloſſen (Protokolle §. 63), daß die Gemeindebehörden des Bundes - gebietes einander zum Zwecke der vorläufigen Vollſtreckung ihrer auf Grund des §. 108 der Gewerbe-Ordnung ergehenden Entſchei - dungen nach den über die Rechtshülfe geltenden allgemeinen Grund - ſätzen Beiſtand zu leiſten haben.

Im Weſentlichen geht auch der Entwurf des Gerichtsverfaſ - ſungsgeſetzes von dieſen Prinzipien aus, obgleich die Faſſung deſſelben eine ſo unklare iſt, daß ſie zu vielfachen Zweifeln Anlaß bietet. §. 4 erklärt die Gerichte für Staatsgerichte, ſie ſind alſo nicht Organe des Reiches, ſondern der einzelnen Staaten; §. 137 aber ſtellt den Grundſatz auf, daß ein Gericht Amtshand - lungen außerhalb ſeines Bezirks ohne Zuſtimmung des Amtsge - richts des Orts vornehmen darf, wenn Gefahr im Verzuge obwaltet in dieſem Falle alſo wol auch außerhalb des Staats - gebietes. §. 127 verpflichtet die Gerichte, ſich in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen Rechtshülfe zu leiſten und §. 134 ordnet an, daß, wenn eine Freiheitsſtrafe in dem Bezirke eines anderen Gerichts vollſtreckt oder ein in dem Bezirke eines anderen Gerichts befindlicher Verurtheilter zum Zwecke der Straf - verbüßung ergriffen und abgeliefert werden ſoll, der Staatsanwalt bei dem Landgerichte des Bezirks um die Ausführung zu erſuchen iſt. Die Sicherheitsbeamten eines Bundesſtaates ſind nach §. 138 ermächtigt, die Verfolgung eines Flüchtigen auf das Gebiet eines benachbarten Bundesſtaates fortzuſetzen und den Flüchtigen daſelbſt zu ergreifen; der Ergriffene muß aber unverzüglich an die nächſte Polizeibehörde des Bundesſtaats, in welchem er ergrif - fen wurde, abgeführt werden.

In ſofern ſtimmen die Beſtimmungen des Entwurfs mit den bundesſtaatlichen Prinzipien und den bereits gegenwärtig gelten - den Grundſätzen im Weſentlichen überein. Dazwiſchen aber findet ſich der §. 131, welcher lautet:205§. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden.Die Herbeiführung der zum Zwecke von Vollſtreckungen, Ladungen und Zuſtellungen erforderlichen Handlungen erfolgt nach Vorſchrift der Prozeßordnungen ohne Rückſicht darauf, ob die Handlungen in dem Bundesſtaate, welchem das Prozeßgericht angehört, oder in einem anderen Bun - desſtaate vorzunehmen ſind.

Der hier aufgeſtellte Satz führt auf den Einheitsſtaat oder auf einen Bundesſtaat, in welchem die Rechtspflege Bundesſache iſt und alle Gerichte Bundesgerichte ſind, zurück1)Die Motive (Druckſachen des Reichstages von 1874 / 5 Bd. I. Nr. 4) S. 193 ſagen ausdrücklich: Ein Unterſchied, ob er Gerichtsvollzieher und das in Betracht kommende Prozeßgericht, vor welches zu laden iſt oder deſſen Entſcheidungen zu vollſtrecken ſind, demſelben oder verſchiedenen Bundesſtaaten angehören, iſt nicht gemacht. ; abgeſehen von der Schwierigkeit, was man ſich unter Herbeiführung einer Handlung, welche zum Zwecke von Vollſtreckungen u. ſ. w. erforderlich iſt, zu denken habe.

Eine Aeußerung der fortdauernden Gebietshoheit der Einzel - ſtaaten iſt auch das Recht derſelben, den von auswärtigen Staa - ten beſtellten Konſuln für ihr Gebiet das Exequatur zu ertheilen. Es handelt ſich hierbei nicht, wie bei der Ernennung von Konſuln um die einheitliche Vertretung des Reiches dem Auslande gegen - über, ſondern umgekehrt um die Wahrung der Intereſſen von Angehörigen auswärtiger Staaten im Reichsgebiete. Die Erlaub - niß, einen Konſul zur Wahrung ſolcher Intereſſen zu beſtellen und die Anerkennung deſſelben, d. h. die Einräumung derjenigen Rechte, welche nach Grundſätzen des Völkerrechts oder beſonderen Verträgen, Konſuln zuſtehen, an die von dem auswärtigen Staate für dieſes Amt auserſehene Perſon, kann jeder Staat für den Umfang ſeines Gebietes ertheilen2)Es iſt dies ausdrücklich allſeitig anerkannt worden im Bayriſchen Schlußprotokoll Nr. XII. R. -G.-Bl. 1871 S. 25.. Ein Hoheitsrecht des Rei - ches wird dadurch nicht berührt. Nur kann ſelbſtverſtändlich kein Einzelſtaat einem fremden Konſul Rechte beilegen, welche mit Reichsgeſetzen, mit Verträgen, welche das Reich abgeſchloſſen hat, oder mit der dem Reiche zuſtehenden, völkerrechtlichen Souveräne - tät in Widerſpruch ſtehen.

206§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.

Fünftes Kapitel. Die Organiſation der Reichsgewalt.

Erſter Abſchnitt. Der Kaiſer.

§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.

Die Norddeutſche Bundesverfaſſung kannte den kaiſerlichen Titel oder einen, ihm in ſtaatsrechtlicher Beziehung entſprechenden nicht. Diejenigen Rechte, welche nach der jetzigen Verfaſſung kai - ſerliche ſind, ſtanden dem Oberhaupte des Norddeutſchen Bundes unter drei Bezeichnungen zu. Die meiſten derſelben gehörten ihm als Präſidium des Bundes; insbeſondere die völkerrechtliche Vertretung des Bundes, die Berufung, Eröffnung und Schließung des Bundesrathes und Reichstages, die Ernennung des Bundes - kanzlers, die Ausfertigung und Verkündigung der Bundesgeſetze, die Ernennung und Entlaſſung der Bundesbeamten und die Ober - aufſicht über alle Zweige der Bundesverwaltung1)Nordd. B. -V. Art. 11. 12. 15. 17. 18. 36 Abſ. 2. 50. 56 u. ſ. w.. Der Bundes - feldherr dagegen hatte den Oberbefehl über die geſammte Bundes - armee, die Oberaufſicht über die Vollzähligkeit und Kriegstüchtig - keit aller Truppentheile, das Recht zur Inſpection derſelben, die Beſtimmung des Präſenzſtandes und der Gliederung der Contin - gente, die Befugniß, innerhalb des Bundesgebietes Feſtungen an - zulegen und die Mitglieder der Bundesraths-Ausſchüſſe für das Landheer und die Feſtungen und für das Seeweſen zu ernennen2)Nordd. B. -V. Art. 62. 63. 64. 65. 8 Abſ. 2.. Ebenſo ſtand ihm als Bundesfeldherrn das Recht zu, jeden Theil des Bundesgebietes in Kriegszuſtand zu erklären, ſowie die Voll - ſtreckung einer etwa erforderlichen Bundesexecution3)ebenda Art. 68. 19.. Der König von Preußen endlich hatte den Oberbefehl über die Bundes - Kriegsmarine und die Beſtimmung über Organiſation und Zuſam - menſetzung derſelben4)Art. 53..

207§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.

Dieſe Dreitheilung war nicht zufällig oder lediglich Folge mangelhafter Faſſung, ſondern überlegt und beabſichtigt1)Bei der Berathung der Verfaſſung wurde allerdings die Anſicht ge - äußert, daß dieſe Ausdrücke identiſch ſeien. Vgl. v. Rönne Verf. -R. S. 151 Note 7. Meyer Grundz. S. 80.. Das Bundespräſidium wird nach der Verfaſſung des Norddeut - ſchen Bundes immer nur als die Spitze des Bundesrathes und in engem Zuſammenhange mit demſelben gedacht2)Vgl. beſonders Art. 7 und Art. 8 Abſ. 2. Art. 11 Abſ. 2. Art. 16. Art. 37 Abſ. 2. Art. 56 Abſ. 1. Art. 61 Abſ. 2.; es iſt in ſehr vielen Fällen in ſeinen Handlungen von der Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichstages abhängig; die vom Bundespräſidium ernannten Beamten ſind Bundesbeamte3)Art. 18.; alle vom Bundesprä - ſidium erlaſſenen Anordnungen bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers4)Art. 17.. Die Rechte dagegen, welche das Bundesoberhaupt als Bundesfeldherr oder in ſeiner Eigenſchaft als König von Preußen ausübt, erſcheinen in weniger engem Zu - ſammenhange mit der Bundesorganiſation. Die Offiziere, Beamten und Mannſchaften der Marine wurden nach der Norddeutſchen Bundesverfaſſung nicht für den Bund, ſondern für Sr. Majeſtät den König von Preußen vereidet5)Art. 53 Abſ. 1; in den Fahneneid der Trup - pen wurde die Clauſel aufgenommen, den Befehlen des Bun - desfeldherrn unbedingt Folge zu leiſten6)Art. 64. Cabinets-Ordre vom 14. Dez. 1867. Koller Archiv I, 678. Thudichum Bundesverf. 382 Note 2.; für die Anord - nungen des Bundesfeldherrn war nach der Verf. des Nordd. Bundes das Erforderniß der Contraſignatur des Bundeskanzlers nicht vorgeſchrieben7)Hierſemenzel Verf. des Nordd. Bundes S. 77. Grotefend Staatsr. §. 771 Note 3, Die Frage war übrigens controvers; vgl. Meyer Grundzüge S. 83 und Erörterungen S. 48.; die Geſchäfte der Marine - und Heeres - verwaltung reſſortirten nicht vom Bundeskanzler-Amte. Eine ein - heitliche Bezeichnung für den Träger dieſer Rechte hat erſt das Norddeutſche Strafgeſetzbuch Art. 80. 94. 95 eingeführt, welches ihn als Bundesoberhaupt bezeichnet und zu den in der Verfaſſung begründeten ſtaatsrechtlichen Befugniſſen deſſelben208§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.einen ausgezeichneten ſtrafrechtlichen Schutz gegen Beleidigungen hinzufügte1)Die Annahme Knitſchky’s Hochverrath S. 125, daß dadurch eine Aenderung der ſtaatsrechtlichen Stellung des Königs von Preußen begründet und er als Inhaber der Landeshoheit im Reiche angeſehen werde, iſt nicht gerechtfertigt..

Bei Feſtſtellung der Verträge mit den ſüddeutſchen Staaten iſt die oben berührte Dreitheilung nicht verſchwunden; es iſt zu - nächſt nur an einer Stelle der Kaiſertitel eingefügt worden, nämlich im Art. 11 Abſ. 1:

Das Präſidium des Bundes ſteht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutſcher Kaiſer führt.

In der am 31. Dezember 1870 publizirten Verfaſſung des Deutſchen Bundes iſt zwar im Art. 19 der Ausdruck Bundesfeld - herr durch den Ausdruck Bundespräſidium erſetzt, der Art. 53 aber erwähnt den Preußiſchen Oberbefehl über die Marine und beſtimmt, daß die Organiſation und Zuſammenſetzung derſelben Sr. Majeſtät dem Könige von Preußen zuſteht, und in den Art. 62 68 erſcheint der Bundesfeldherr wie in der früheren Verfaſſung des Nordd. Bundes. Das Gleiche iſt der Fall in der Würtembergiſchen Militär-Convention, welche an keiner Stelle das Bundespräſidium erwähnt, ſondern nur von Sr. Majeſtät dem Könige von Preußen als Bundesfeldherrn oder dem Bundes - feldherrn ſchlechthin ſpricht, und in dem Vertrage mit Bayern v. 23. Nov. 1870 unter III §. 5 III. IV, der ebenfalls nur den Bundesfeldherrn in militäriſchen Angelegenheiten kennt2)Dagegen wird in dem Schlußprotokoll Z. VII. die Bevollmächtigung der Bayer. Geſandten zur Bertretung der Bundesgeſandten zugeſichert von Sr. Majeſtät dem Könige von Preußen kraft der Allerhöchſtihnen zuſtehenden Präſidialrechte. .

Erſt die jetzt geltende Redaction der Reichsverfaſſung hat ſo - wohl bei den Beſtimmungen über die Marine als bei denjenigen über das Reichskriegsweſen die Bezeichnung Kaiſer durchgeführt und damit die frühere Dreitheilung, oder falls man den König von Preußen mit dem Bundesfeldherrn für ganz identiſch halten will, die frühere Zweitheilung der dem Bundesoberhaupte zuſtehen - den Befugniſſe formell beſeitigt. Auch in der Redaction des Straf - geſetzbuchs für das deutſche Reich iſt an die Stelle des Bundes - oberhauptes der Kaiſer getreten.

209§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.

Die jetzige Reichsverfaſſung hat in den Artikeln 5 Abſ. 2, 7 Abſ. 2 und 3, 8 Abſ. 1 und 371)Die Zuſammenſtellung von Thudichum in v. Holzendorff’s Jahrb. I. S. 11 iſt nicht ganz vollſtändig. den Ausdruck Präſidium beibehalten; im Uebrigen durchweg den Ausdruck Kaiſer an die Stelle geſetzt. Daß beide Ausdrücke ſachlich ganz daſſelbe bedeuten, ergiebt ſich aus der oben erwähnten Faſſung des Art. 11 Abſ. 1. Noch beſtimmter und klarer iſt dies ausgeſprochen in dem Schrei - ben des Königs von Bayern an den König von Preußen, durch welches die Anregung zur Wiederherſtellung des Kaiſertitels gegeben wurde. In demſelben heißt es2)St. -B. des Nordd. Reichstages 1870. II. außerord. Seſſ. S. 76.:

Ich habe Mich daher an die deutſchen Fürſten mit dem Vorſchlage gewendet, gemeinſchaftlich mit Mir bei Eurer Majeſtät in Anregung zu bringen, daß die Ausübung der Präſi - dialrechte des Bundes mit Führung des Titels eines deut - ſchen Kaiſers verbunden werde 3)Uebereinſtimmend damit iſt die Erklärung des St. -Min. Delbrück vom 8. Dez. 1870 bei Einbringung des Geſ. -Entw. über die Aufnahme der Bezeichnung Kaiſer und Reich. Die Bezeichnung Kaiſer ſollte darnach zu - nächſt nur aufgenommen werden: an der Stelle der Bundesverfaſſung, welche die Präſidialſtellung der Krone Preußen bezeichnet. Stenogr. Ber. II. außerord. Seſſ. 1870. S. 167..

Durch die conſequente Durchführung der Bezeichnung Kaiſer in der Reichsverfaſſung iſt indeß auch eine ſachliche Aenderung be - wirkt worden, trotzdem nach der ausdrücklichen Angabe der Motive, mit denen die neue Redaction dem Reichstage vorgelegt wurde4)I. Seſſion 1871. Druckſachen Nr. 4., materielle Aenderungen des beſtehenden Verfaſſungsrechts nicht beabſichtigt worden ſind und bei den Berathungen des Reichstages die gleiche Intention vom Abg. Lasker und dem Fürſten Bismarck ſehr beſtimmt betont worden iſt5)Stenogr. Berichte S. 95.. Denn die Beſtimmung des Art. 17, daß die Anordnungen und Verfügungen des Kaiſers im Namen des Reiches erlaſſen werden und zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedürfen, erſtreckt ſich nunmehr auch auf alle diejenigen Anordnungen des Kaiſers, welche ſich auf die Marine beziehen oder welche nach der früheren Verfaſſung nicht dem Bundespräſidium, ſondern dem Bundesfeldherrn zuſtanden. La〈…〉〈…〉 and, Reichsſtaatsrecht. I. 14210§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.Alle Anordnungen, welche in der Norddeutſchen Bundesverfaſſung und den zu ihrer Durchführung erlaſſenen Geſetzen das Bundes - präſidium betrafen, ſind nunmehr auf den geſammten Kreis der kaiſerlichen Rechte und Pflichten ausgedehnt und verallgemeinert worden.

Aber das iſt allerdings feſtzuhalten, daß eine neue ſtaats - rechtliche Inſtitution durch die Wiederherſtellung der Kaiſerwürde nicht geſchaffen worden iſt. Der Begriff des Bundespräſidiums iſt durch die Verknüpfung deſſelben mit dem Kaiſertitel nicht verän - dert worden. Aus den geſchichtlichen Vorgängen, die zur Wieder - Aufrichtung des Kaiſertitels führten, aus den Motiven und Er - klärungen, mit denen die Vorlage der jetzigen Verfaſſungs-Redac - tion und deren Berathung begleitet wurde, und vor Allem aus dem Art. 11 der Reichsverfaſſung ſelbſt, ergiebt ſich mit unzwei - felhafter Gewißheit, daß das Kaiſerthum ganz und vollkommen identiſch iſt mit dem Bundespräſidium, und daß es, abgeſehen von dem Titel und den demſelben entſprechenden Inſignien keine Rechte enthält als die Präſidialrechte1)Man ſollte es kaum für nöthig halten, darauf aufmerkſam zu machen, daß Bundespräſidium etwas ganz Anderes iſt, als Bundesrathspräſidium ; und doch hat Grotefend Staatsrecht §. 769 es fertig gebracht, den König von Preußen zum Vorſitzenden des Bundesraths (!) zu erklären..

Die Feſtſtellung der ſtaatsrechtlichen Natur des Kaiſerthums iſt nicht ohne Schwierigkeiten, da ein aus Monarchien zuſammen - geſetzter Bundesſtaat ohne Vorgang in der Geſchichte iſt. Aus dem Umſtande, daß der Kaiſertitel bisher nur zur Bezeichnung des Monarchenrechts verwendet worden iſt, können Schlüſſe nicht gezogen werden, da Art. 11 der R. -V. ausdrücklich dem Kaiſer nicht die Souveränetät des Reiches, ſondern das Präſidium des Bundes beilegt. Es kann vielmehr dieſer Begriff nur aus der Natur des Reiches als eines Bundesſtaates gefunden werden.

Er ergeben ſich ſofort zwei Sätze negativen Inhalts.

1. Der Kaiſer iſt nicht Monarch des Reich es d. h. Souverän deſſelben; die Reichsgewalt ſteht nicht ihm, ſondern der Geſammtheit der Deutſchen Bundesfürſten und freien Städte, alſo einem von ihm begrifflich verſchiedenen Subject zu2)Siehe oben §. 9.; wo er für das Reich Willenserklärungen abgiebt oder Handlungen vornimmt, handelt er nicht im eigenen Namen, ſondern im Namen211§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.des Reiches1)R. -V. Art. 17.; wo dem Reichstage gegenüber das Subject der Reichsgewalt in Betracht kommt, alſo in dem ſtaatsrechtlichen Verhältniß der Organe des Reiches zu einander, handelt er im Namen der verbündeten Regierungen2)So z. B. bei Eröffnung und Schließung des Reichstages..

2. Der Kaiſer iſt nicht Präſident in dem Sinne, wie dies Wort in democratiſchen Staaten genommen wird, d. h. Beam - ter des Reiches. Er wird nicht von dem Souverän des Reiches ernannt, er iſt nicht abſetzbar, er iſt nicht verantwortlich; er iſt Nie - mandes Unterthan; er hat die Präſidialrechte kraft eigenen Rechtes.

Auch eine Theilung der Centralgewalt unter die Geſammt - heit der Mitglieder und die Präſidialmacht, welche v. Martitz Betrachtungen S. 48 annimmt, kann nicht zugegeben werden. Eine Theilung der Souveränetät iſt begrifflich unmöglich3)Vgl. Meyer Grundz. S. 63 Erörter. S. 47..

Man darf daraus, daß der Kaiſer weder Souverän noch Beamter des Reiches iſt, nicht mit Held4)Verf. des Deutſchen Reichs S. 86 102, beſ. S. 98. ſchließen, daß das Deutſche Kaiſerthum etwas Unfertiges und Widerſpruchsvolles iſt, noch mit v. Mohl ganz davon abſehen, den Begriff des Kaiſer - thums theoretiſch feſtzuſtellen und zu conſtruiren5)Deutſches Reichsſtaatsrecht 282. 289..

Dieſe Feſtſtellung des Begriffes läßt ſich gewinnen, wenn man die Thatſache im Auge behält, daß der Kaiſer Mitglied des Rei - ches iſt. Er kann nicht Beamter ſein wie der Präſident einer Repu - blik, weil er Mitſouverän iſt, und er kann nicht Monarch ſein, weil er nicht alleiniger Souverän iſt. Aber er iſt kein Mitglied des Reiches lediglich wie die übrigen Bundesfürſten, ſondern ein bevorrechtetes, ein mit weitreichenden Sonderrechten6)iura singularia, nicht iura singulorum. Siehe oben S. 113. 117. ausgeſtattetes Mitglied. Das Recht auf das Bundespräſidium iſt ein Sonderrecht des Königs von Preußen, nur daß es ſich nicht auf die Kompetenz des Reiches gegenüber der Einzelſtaatsgewalt bezieht, wie die ſüddeutſchen Reſervatrechte, ſondern auf den An - theil an der Willensthätigkeit des Reiches ſelbſt. Es ergeben ſich hieraus eine Reihe der wichtigſten Rechtsſätze, ſowohl in Bezug auf das Subject als auf den Inhalt der kaiſerlichen Rechte.

14*212§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.

Vor Allem iſt klar, daß die Stellung des Kaiſers im Reiche durch die kaiſerlichen Rechte allein gar nicht vollſtändig gegeben iſt; ſie finden ihre nothwendige Ergänzung in den Mitglied - ſchaftsrechten Preußens. Nur wenn man die Mitgliedſchafts - rechte, welche Preußen mit allen übrigen Deutſchen Staaten ge - mein hat, mit dem Sonderrecht, welches durch ſeine Präſidial - befugniſſe gebildet wird, zuſammenaddirt, erhält man die volle Summe der dem Kaiſer zuſtehenden Rechte und ein vollſtändiges Bild der Stellung des Kaiſers im Reiche. Denkt man ſich Je - manden, der nicht zugleich Landesherr eines Deutſchen Staates, alſo nicht Mitglied des Reiches iſt1)in dem oben S. 88 fg. entwickelten Sinne., ausgeſtattet mit allen kaiſer - lichen Rechten der Reichsverfaſſung und der auf Grund derſelben erlaſſenen Geſetze, ſo hat man ein Zerrbild des Kaiſers, das in die Reichsverfaſſung nach keiner Richtung paßt. Denkt man ſich den Landesherrn eines der kleineren Staaten mit den Präſidial - befugniſſen ausgeſtattet, ſo könnte man formell juriſtiſch die von dem Kaiſer geltenden Grundſätze auf ihn zwar anwenden, that - ſächlich und politiſch betrachtet wäre das Kaiſerthum aber etwas durchaus Verſchiedenes von dem, was es wirklich iſt. Nur dadurch daß man die Präſidialbefugniſſe in untrennbaren Zuſammenhang bringt mit den, der Krone Preußen zuſtehenden Mitgliedſchafts - rechten, ja daß man das Recht auf die Ausübung dieſer Präſidialbefugniſſe als ein zu dieſen Mitglied - ſchaftsrechten acceſſoriſches Vorrecht (Sonderrecht) Preußens auffaßt, gewinnt man den ſtaatsrechtlichen Begriff des Kaiſers. Wenn nach Art. 5 Abſ. 2 und Art. 37 die Stimme des Präſidiums, nach Art. 9 Abſ. 2 die Präſidialſtimme bei der Beſchlußfaſſung des Bundesraths den Ausſchlag giebt, wenn nach Art. 8 in jedem der dauernden Bundesraths-Ausſchüſſe das Präſidium vertreten ſein muß, ſo iſt Präſidium und Preußen hier völlig identiſch; es iſt bei der ſchärfſten logiſchen Unterſchei - dung unmöglich, einen begrifflichen Unterſchied zwiſchen der ſieb - zehnfachen Stimme Preußens und der Präſidialſtimme aufzuſtellen oder ſie im Gegenſatz zu einander zu denken. (Vgl. unten §. 28.)

Die wichtige Conſequenz dieſer Auffaſſung iſt der Satz, daß die Ausübung der Mitgliedſchaftsrechte Preußens und die Hand -213§. 24. Die ſtaatsrechtliche Natur des Kaiſerthums.habung der kaiſerlichen Präſidialbefugniſſe unter keinen Umſtänden und in keinem Falle getrennt und an verſchiedene Subjecte ver - theilt ſein können.

Es ergiebt ſich ferner, in welchem Sinne der oft wiederholte Satz richtig iſt, der Kaiſer ſei den Bundesfürſten nicht überge - ordnet, ſondern primus inter pares. Richtig iſt dies nur hinſicht - lich der Mitgliedſchaftsrechte, die der Kaiſer neben den Präſidial - rechten hat; dieſe ſtehen allen Deutſchen Staaten prinzipiell gleich - mäßig zu; in Beziehung auf ſie ſind die Bundesfürſten von den Sonderrechten abgeſehen pares und der König von Preu - ßen als Landesherr des hervorragendſten und größten der Mit - gliedsſtaaten iſt unter ihnen primus. Hinſichtlich der eigentlichen Kaiſerrechte giebt es keine pares, weil es überhaupt nicht mehrere Berechtigte giebt. Die Präſidialrechte ſtehen nicht mehreren Bun - desfürſten collectiv oder nach räumlich begränzten Theilen des Bundesgebietes1)Bekanntlich ſollte nach den Preuß. Reformvorſchlägen vom 10. Juni 1866 der König von Preußen Bundes-Oberfeldherr der Nordarmee, der - nig von Bayern Bundes-Oberfeldherr der Südarmee werden., ſondern dem Könige von Preußen allein zu.

Man muß nun aber ferner unterſcheiden zwiſchen dem Rechte auf die kaiſerliche Stellung und dem Inhalt der letzteren ſelbſt.

Ihrem Inhalte nach ſind die Rechte des Kaiſers nicht Rechte Preußens, ſondern des Reiches. Der Kaiſer übt als ein Organ des Reiches die dem letzteren zuſtehenden Souveränetätsrechte aus, ſoweit die Verfaſſung oder Geſetze des Reiches ihn dazu berufen. Da die einzelnen Deutſchen Staaten und ihre Landesherren der Souveränetät des Reiches untergeordnet ſind, ſo ſind ſie auch dem Kaiſer, als dem verfaſſungsmäßigen Willensorgan des Reiches untergeordnet; zwar nicht dem Kaiſer als phyſiſcher Perſon, ſon - dern begrifflich nur dem Reich als ideeller oder juriſtiſcher Perſon, wirkſam wird dieſe Unterordnung aber gegenüber dem Kaiſer inſo - fern, als er einen bedeutenden Theil der dem Reiche zuſtehenden ſtaatlichen Hoheitsrechte handhabt und verwaltet.

Hieraus und aus dem oben entwickelten Begriff des Bundes - ſtaates folgt weiter, daß der Kaiſer nicht Collectiv-Mandatar der einzelnen Deutſchen Bundesfürſten oder Bundesſtaaten iſt2)Dies iſt die Auffaſſung Seydel’s Commentar S. 91. 112.. Er leitet ſeine Machtbefugniſſe und Hoheitsrechte nicht ab von den214§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.Bundesgliedern, welche als Einzelne unter der Souveränetät des Reiches ſtehen, ſondern von dem Reiche ſelbſt, welches eine ſouveräne Gewalt über den Bundesſtaaten iſt. Sind auch die Bundesglieder in ihrer Geſammtheit Subject der Reichsgewalt, ſo ſind ſie doch als Einzelne Unterthanen der Reichsgewalt, wäh - rend der Kaiſer das Organ derſelben iſt. Und zwar iſt der Kaiſer der einzige Bundesfürſt, welcher individuell einen Antheil an der Regierung des Reiches hat. Alle übrigen Bundesfürſten haben als einzelne keinerlei Functionen an der Lebensthätigkeit des Reiches auszuüben, ſondern nur als Geſammtheit durch das Inſtrument des Bundesraths. Der Kaiſer iſt das einzige Bun - bes mitglied, welches zugleich Organ der Reichsgewalt iſt.

Es folgt endlich hieraus, daß zwar das Recht auf die Kai - ſerwürde ein Sonderrecht Preußens iſt, die einzelnen Präſi - dialbefugniſſe ſelbſt dagegen nicht unter den Begriff der Sonderrechte eines Mitgliedes fallen. Vielmehr bilden die Präſidialbefugniſſe einen Theil der Organiſation, welchen die Reichsgewalt erhalten hat und ſind mithin nicht ſubjective Rechte des Preußiſchen Staates und ſeines Königs. Die Bezeichnungen König von Preußen und Deutſcher Kaiſer beziehen ſich zwar mit rechtlicher Nothwen - digkeit ſtets auf dieſelbe Perſon, aber ſie charakteriſiren zwei ver - ſchiedene ſtaatsrechtliche Stellungen derſelben. Hinſichtlich der Ausübung und Handhabung der Präſidialbefugniſſe kann demnach in keiner Beziehung das Staatsrecht der Preußiſchen Monarchie, ſondern lediglich das Reichsrecht Anwendung finden. Für die Beſchränkung oder Aufhebung einzelner Präſidial-Befugniſſe durch ein Reichsgeſetz iſt der Satz, daß ſie keine Preußiſchen Sonder - rechte ſind, inſofern, als die Präſidialbefugniſſe in der Verfaſſungs - Urkunde ſelbſt ſanctionirt ſind, praktiſch unerheblich, da die Stimme Preußens immer in der Lage iſt, eine Verfaſſungs-Aenderung abzuwenden. Soweit aber durch einfache Reichsgeſetze dem Kaiſer Rechte beigelegt werden, iſt es von Wichtigkeit, feſtzuhalten, daß die von den Sonderrechten einzelner Staaten geltenden Regeln auf dieſelben nicht anwendbar ſind.

§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.

Art. 11 der Norddeutſchen Bundesverfaſſung beſtimmte: Das Präſidium des Bundes ſteht der Krone Preußen zu; in215§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.der jetzigen Reichsverfaſſung lautet der Satz: Das Präſidium des Bundes ſteht dem Könige von Preußen zu. Dieſe Faſ - ſungs-Aenderung war nothwendig, wegen der Hinzufügung des Relativſatzes: welcher den Namen Deutſcher Kaiſer führt. Man hat in dieſer Faſſungsänderung auch eine materielle Aenderung finden wollen, indem ſie die Anwendung der Preußiſchen Beſtim - mungen über Regentſchaft auf das Reich ausſchließe1)Auerbach S. 106. Vgl. auch v. Mohl S. 285.; dieſe Annahme iſt jedoch bereits mehrfach widerlegt worden2)Riedel S. 103. Thudichum in Holtzendorff’s Jahrbuch I. S. 25 Note 4 und beſonders Seydel Comm. S. 112 fg.. König von Preußen bedeutet genau daſſelbe wie Krone Preußen , nämlich den Träger der Preuß. Krone.

Aber auch abgeſehen von dieſer Frage der Wort-Interpreta - tion hat man die Anwendung der Preußiſchen Verfaſſungs-Beſtim - mungen für den Fall der Nothwendigkeit einer Regentſchaft aus ſachlichen Gründen für unzuläſſig erklärt. v. Rönne, Verfaſ - ſungsrecht des Deutſchen Reichs S. 157 glaubt, daß es nicht zuläſſig ſein würde, wie die Art. 56 u. 57 der Preuß. V. -U. beſtimmen, die beiden Häuſer des Preußiſchen Landtages zur Ent - ſcheidung über die Nothwendigkeit der Regentſchaft für das Deutſche Reich zu berufen, und, wenn kein volljähriger Agnat vorhanden iſt, den Regenten durch die beiden Häuſer des Preußiſchen Land - tages erwählen zu laſſen, ſo wie auch die Regierung des Deutſchen Reiches proviſoriſch durch das Preußiſche Staatsminiſterium führen zu laſſen. In weiterer Ausführung dieſes Gedankens und ſach - lich ganz übereinſtimmend äußert ſich v. Mohl Reichsſtaatsrecht S. 284 fg .3)Vgl. auch v. Pözl Supplement zum Bayr. Verf. -Recht S. 106 Note 3..

Es liegt hier unſeres Ermeſſens eine vollſtändige Verkennung des im Art. 11 der R. -V. ausgeſprochenen Rechtsprinzips vor.

Das Deutſche Kaiſerthum iſt kein Recht, welches ſelbſtſtändig d. h. unabhängig von der Krone Preußens erworben oder ausge - übt werden könnte; es iſt ein Acceſſorium der Preußiſchen Krone. Das Reichsrecht enthält daher auch über den Erwerb der Kaiſer - würde keinen einzigen Rechtsſatz und könnte keinen aufſtellen, ohne den im Art. 11 der R. -V. enthaltenen Rechtsgrundſatz für gewiſſe Eventualitäten zu beſeitigen. Würde der Erwerb der Kaiſerwürde216§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.irgend eine Vorausſetzung mehr oder weniger oder anders haben als der Erwerb der Preußiſchen Krone, ſo wäre die Möglichkeit gegeben, daß Deutſches Kaiſerthum und Preußiſches Königthum auseinanderfallen. Ihre dauernde verfaſſungsmäßige Vereinigung in demſelben Subject iſt nur möglich, wenn entweder das Reichs - recht poſitiv die Grundſätze über den Erwerb der Kaiſerkrone regelt und beſtimmt: Wer Kaiſer iſt, iſt zugleich ipso iure immer auch König von Preußen; oder wenn das Reich vollſtändig die geſammte Ordnung des Rechts auf die Krone dem Preußiſchen Staatsrecht überläßt und ſich auf den einfachen Rechtsſatz beſchränkt: Die Kaiſerwürde folgt ipso iure der Preußiſchen Königskrone. Daß das Letztere geſchehen, der Erwerb des Preußiſchen Throns das prius, das Präſidium des Bundes das Acceſſorium iſt, kann einem Zweifel nicht unterliegen.

In der That handelt es ſich daher bei Anwendung des Art. 11 der R. -V. gar nicht um eine Anwendung Preußiſcher Verfaſ - ſungsſätze auf das Reich oder um eine Einwirkung Preußiſcher Staatsorgane auf Reichsangelegenheiten. Dieſe Einwirkung iſt eine faktiſche, keine rechtliche. Die Anordnungen der Preußiſchen Verfaſſung über Thronfolgerecht und Regentſchaft finden nur in Preußen Anwendung, der Preußiſche Landtag und das Preußiſche Staatsminiſterium handeln nur für Preußen. Die Einrichtung einer Regentſchaft in Preußen iſt eine ausſchließlich Preußiſche Staatsaction. Aber das Reichsrecht knüpft kraft eines objectiven Rechtsſatzes, deſſen Wirkung der Willensmacht des Preußiſchen Landtages gänzlich entzogen iſt und ebenſo ohne jeden Willensact und ohne jede Beſchlußfaſſung des Bundesraths und Reichstages eintritt, an die Erlangung der Preußiſchen Krone die Folge des Erwerbes der Kaiſerwürde an. Das rechtliche Intereſſe des Rei - ches iſt auf den einen Punkt beſchränkt, daß dieſelbe Perſon die Rechte der Preußiſchen Krone und die Präſidialbefugniſſe ausübe; es erſtreckt ſich nicht auf die Normirung der Regeln, nach denen die Preußiſche Krone erworben wird.

Dieſe Sätze werden unbeſtritten und unbezweifelt anerkannt hinſichtlich des eigentlichen Thronfolgerechts. Es ergiebt ſich na - mentlich aus ihnen die Conſequenz, daß eine Abänderung des Preußiſchen Thronfolgerechts reſp. der Hausgeſetze des Königlichen Hauſes Hohenzollern nach Maaßgabe des Preußiſchen Staatsrechts217§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.erfolgen kann und daß, wenn ſie verfaſſungsgemäß in Preußen erfolgt iſt, ſie thatſächlich auch für die Succeſſion in die Kaiſer - würde entſcheidend iſt, ohne daß ein Reichsgeſetz ihr Anerkennung und Beſtätigung zu verleihen braucht. Das Preußiſche Thron - folgerecht iſt formell kein Reichsrecht.

Es iſt nun durchaus nicht einzuſehen, warum dieſelben Grund - ſätze nicht vollſtändig zur Geltung kommen ſollen, wenn eine Re - gentſchaft in Preußen erforderlich wird1)v. Gerber Grundz. §. 34 Note 4. (S. 101): Der Fall des Ein - tritts der Regentſchaft iſt ein unvollkommener Fall der Thronerledigung. Es iſt zwar ein Monarch vorhanden, aber ein ſolcher, der das Monarchenrecht nicht ausüben kann; inſoweit iſt der Thron leer. . Die Präſidialbefug - niſſe haften nicht an dem Titel eines Königs von Preußen und ſind nicht Rechte, welche dem Könige für ſeine Perſon, d. h. unabhängig von ſeiner ſtaatsrechtlichen Stellung in Preußen, zu - kommen. Das Recht auf die Kaiſerwürde iſt ein Recht der Preu - ßiſchen Krone; der König hat es in ſeiner Eigenſchaft als Monarch des Preußiſchen Staates. Sowie der Staat Preußen eigentlich das Mitglied des Reiches, ſein König nur der verfaſſungsmäßige Vertreter iſt, ſo iſt auch das Sonderrecht auf die Kaiſerwürde im letzten Grunde ein Recht des Preußiſchen Staates, zu deſſen Geltendmachung und Ausübung der König von Preußen beru - fen iſt.

Wenn alſo nach Grundſätzen des Preußiſchen Staatsrechts der König durch einen Regenten vertreten werden muß, ſo iſt der Vertreter berufen, ihn in allen Rechten und Pflichten der Krone zu vertreten und mithin auch die Präſidialſtellung im Reiche ein - zunehmen. Der Titel des Kaiſers, wird allerdings demjenigen zukommen, welcher den Titel des Königs von Preußen führt und dem quoad ius auch die Preußiſche Krone zuſteht; die Ausübung der Preußiſchen Kronrechte aber iſt untheilbar und deshalb erſtreckt ſie ſich auch im Falle der Regentſchaft nothwendig auf das, der Preußiſchen Krone zuſtehende Präſidium des Bundes2)Vgl. Seydel S. 114. Iſt einmal das Präſidium ein Recht der Krone Preußen, dann kann es von Niemand Anderem ausgeübt werden als von dem, der die anderen Kronrechte wahrnimmt. Eine Vertheilung dieſer Rechte an Verſchiedene wäre dem Geiſte der Reichsverfaſſung entgegen; denn das Präſidium ſteht mit der preußiſchen Königskrone nicht in Perſonalunion, ſondern es iſt ein preußiſches Recht im Bunde. .

218§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.

Damit iſt dann aber von ſelbſt die Folge gegeben, daß über die Normirung der Fälle, in welchen eine Regentſchaft eingerichtet werden muß, über das Recht zur Uebernahme der Regentſchaft, über die geſetzliche Fürſorge für den Fall, daß kein volljähriger Agnat vorhanden iſt, über das eventuell eintretende Wahlrecht des Landtages, über die interimiſtiſche Führung der Regierung durch das Staatsminiſterium und über den Antritt der Regent - ſchaft, einzig und allein die Beſtimmungen der Preußiſchen Ver - faſſung (Art. 56 58) zur Anwendung kommen können. Die Einrichtung einer Regentſchaft in Preußen iſt für das Reich ganz ebenſo wie ein Thronwechſel in Preußen, der durch Todesfall herbeigeführt wird, ein thatſächliches Ereigniß, deſſen Folgen es hinnehmen muß.

Auch in einer anderen Richtung hat eine Beſtimmung der Preußiſchen Verfaſſungs-Urkunde zu Bedenken hinſichtlich des Er - werbes der kaiſerlichen Rechte Veranlaſſung gegeben. Im Art. 54 der Pr. V. -U. wird nämlich dem Könige von Preußen die Ablei - ſtung eines Verfaſſungseides zur Pflicht gemacht. Hieraus folgert nun v. Rönne a. a. O. S. 157, daß, ſowie der Nachfolger in der Preußiſchen Krone, wenn er es unterlaſſen oder ſich aus - drücklich weigern ſollte, der Verpflichtung des Abſ. 2 des Art. 54 nachzukommen, rechtlich nicht befugt iſt, die durch die Preuß. Verfaſſungsurk. mit der Preußiſchen Krone verbundenen Regie - rungsrechte auszuüben, derſelbe auch rechtlich nicht die Befugniß hat, die durch die Verfaſſung des deutſchen Reiches nur dem jedes - maligen Inhaber der Preußiſchen Krone übertragenen Regierungs - rechte auszuüben. Uebereinſtimmend hiermit iſt v. Mohl Reichs - ſtaatsr. S. 284. Dieſe Folgerung für das Reichsrecht wäre richtig, wenn der von v. Rönne angenomme Satz des Preußiſchen Staats - rechtes begründet wäre. In ſeinem Staatsrecht der Preußiſchen Monarchie I §. 1851)(3. Aufl. I. 2 S. 588 fg.) führt er aus, daß die Ableiſtung des Eides eine Bedingung der Ausübung der verfaſſungsmäßigen Rechte des Königs ſei und daß im Falle der Verweigerung des Ver - faſſungseides die Regierung des Königs vorläufig eine rein that - ſächliche, nicht aber eine rechtliche und verfaſſungsmäßige ſei2)Die Theorie beruht auf den Ausführungen v. Mohl’s in deſſen Württemb. Staatsr. I. S. 172 ff.. 219§. 25. Das Subject der kaiſerlichen Rechte.Dieſe Auffaſſung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die Preuß. Verf. -Urk. ſie ausdrücklich beſtätigen würde; da dieſelbe aber über die Folgen der Verweigerung oder Verzögerung der Eidesleiſtung gar Nichts beſtimmt, ſo muß die von v. Rönne aufgeſtellte Theorie, weil ſie mit den Grundſätzen des monarchiſchen Staatsrechts im Widerſpruch ſteht, verworfen werden. Der Erwerb der Krone erfolgt, wie allgemein anerkannt und auch von v. Rönne nicht bezweifelt wird, ipso iure im Augenblick der Erledigung des Thrones. Der Regierungs-Nachfolger wird daher König und zwar mit allen verfaſſungsmäßigen Rechten aus - geſtatteter König, bevor er nur die Möglichkeit hat, den Eid zu leiſten. Er muß mit Nothwendigkeit vor Leiſtung des Eides Regierungshandlungen vornehmen, z. B. die Einberufung und Eröffnung des Landtages, in deſſen Gegenwart er den Eid leiſten ſoll. Er iſt auch ſchon vor Leiſtung des Eides und ohne denſelben ſtaatsrechtlich zur unverbrüchlichen Beobachtung der Verfaſſung verpflichtet. Die Leiſtung des Eides iſt eine verfaſſungsmäßige Pflicht des Königs; die Verzögerung oder Verweigerung der Eides - leiſtung eine Pflichtverſäumniß, eine Verfaſſungsverletzung. Die - ſelbe iſt aber mit keiner andern Rechtsfolge bedroht als andere Verfaſſungs-Verletzungen Seitens des Königs. Niemals hat eine ſolche die Rechtswirkung, daß der König mit Verluſt der Krone beſtraft werden könnte. Darauf läuft aber die Theorie v. Rönne’s hinaus. Denn der im Moment des Anfalls ipso iure vollendete Erwerb der Krone kann nicht rückwärts annullirt werden, ſondern die Krone könnte nur, nachdem die Verweigerung oder ungebühr - liche Verzögerung der Eidesleiſtung vom Landtage conſtatirt wor - den, dem Könige entzogen werden. Dies iſt eine Theorie, welche das Weſen des Monarchenrechts verleugnet und in dem Prinzip der Volks - oder Parlaments - Souveränetät wurzelt1)Vgl. Held Syſtem des Verfaſſungsr. II. S. 272 Note 2 u. S. 295 Note 1. Zachariä Staatsr. I. §. 56 Note 8 (S. 302). Schulze Preuß. Staatsr. I. §. 63 S. 203 fg..

Welche Mittel der Preußiſche Landtag nach Preußiſchem Staatsrecht hat, um Verfaſſungs-Verletzungen Seitens des Königs zu verhindern, reſp. die Ableiſtung des Verfaſſungseides zu erzwin - gen, kann hier unerörtert bleiben; es genügt, daß er in keinem Falle befugt iſt, den König abzuſetzen. Für das Reich iſt dies220§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.allein von Bedeutung. Eine wirkliche oder angebliche Verletzung der Preußiſchen Verfaſſung durch den König von Preußen iſt eine innere Angelegenheit des preußiſchen Staates und dem Reiche ge - genüber ohne Rechtswirkung. Der Art. 11 macht das Recht des Königs von Preußen auf das Präſidium des Reiches nicht von der Bedingung abhängig, daß derſelbe die Preußiſche Verfaſſung nicht verletze. Eine Einmiſchung in innere Angelegenheiten des Preuß. Staates ſteht dem Reiche nicht zu, es ſei denn, daß auf Grund des Art. 76 Abſ. 2 der R. -V. die Vermittlung oder Regelung einer Preuß. Verfaſſungsſtreitigkeit von Seiten des Reiches durch Anrufen eines Theiles herbeigeführt wird.

Was die materielle Normirung des Preußiſchen Thronfolge - rechts anlangt, ſo ſteht dieſelbe im Einklang mit den gemeinrecht - lichen Grundſätzen, welche in allen deutſchen Fürſtenhäuſern zur Anwendung kommen1)Vgl. darüber Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 178 ff. Preuß. V. -U. Art. 53. Die Krone iſt den Königl. Hausgeſetzen gemäß erblich in dem Mannsſtamme des Königl. Hauſes nach dem Rechte der Erſtgeburt und nach der agnatiſchen Linealfolge. .

Ueber den Regierungs-Antritt des Kaiſers enthält die Reichs - verfaſſung keine Vorſchrift; derſelbe iſt demnach an keinerlei Forma - lität rechtlich gebunden.

§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.

Die mit dem Präſidium des Bundes verknüpften Rechte ſind theils perſönliche oder Ehrenrechte theils Regierungsrechte.

I. Perſönliche Rechte.

Die Reichsverfaſſung iſt mit der Ausſtattung des Bundes - oberhauptes mit perſönlichen und Ehrenrechten ſehr karg. Sie war aus zwei Gründen dazu veranlaßt; erſtens weil der an die Spitze des (Nordd. Bundes) Reiches berufene Bundesfürſt als Monarch einer Europäiſchen Großmacht bereits im Beſitze aller Ehrenrechte ſich befand, welche gekrönten Häuptern zukommen; und zweitens weil man die übrigen Bundesfürſten ihm gegenüber nicht zurück - ſetzen und die denſelben gebührende perſönliche Ehrenſtellung von Souveränen nicht verletzen wollte. Die Norddeutſche Bundesver - faſſung kannte überhaupt gar kein Ehrenrecht des Präſidiums; die221§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.Reichsverfaſſung kennt nur ein einziges, den Titel: Deutſcher Kaiſer.

1. Dieſer Titel hat einen andern Charakter, als die ſonſt üblichen, aus früherer Zeit herſtammenden Titel der Landesherren. Die letzteren beziehen ſich auf den Beſitz eines Gebietes, ſind Herrſchafts-Titel; ſie ſind ein Nachklang der patrimonialen oder feudalen, d. h. der privatrechtlichen Auffaſſung des Staates. Der Landesherr wird in derſelben Art bezeichnet, nur mit höherem Titel, wie der Privatbeſitzer einer Standes-Herrſchaft oder eines Ritterguts. Der Titel Deutſcher Kaiſer iſt ein obrigkeitlicher Titel, er bezieht ſich lediglich auf die ſtaatsrechtliche Stellung ſeines Trägers; er iſt ſeinem Weſen nach im Gegenſatz zu den ein Beſitzrecht andeutenden Titulaturen ein Amts-Titel1)Es ſoll damit natürlich nicht geſagt werden, daß der Kaiſer ein Reichs - beamter ſei (ſiehe oben S. 211), ſondern nur die Natur des Titels charac - teriſirt werden..

Aeußerlich zeigt ſich dieſer Unterſchied in der von der Regel abweichenden Form; der Titel heißt nicht Kaiſer von Deutſchland ſondern Deutſcher Kaiſer; es fehlt die ſachenrechtliche Beziehung auf ein Gebiet als Object. Wichtiger iſt die materielle Verſchie - denheit. Die ſonſt üblichen Titel der Souveräne werden von den - ſelben, ebenſo wie Namen, ganz allgemein d. h. für alle denkbaren Beziehungen und Verhältniſſe geführt. Dagegen ſollte nach dem Wortlaut des Briefes des Königs von Bayern, welcher die Annahme des Kaiſertitels in Anregung brachte, die Ausübung der Präſidialrechte des Bundes mit Führung des Titels eines Deutſchen Kaiſers verbunden werden und in der Proclama - tion von Verſailles vom 18. Januar 1871 erklärte der Kaiſer bei Verkündigung der Annahme der Kaiſerwürde: Demgemäß werden Wir und Unſere Nachfolger an der Krone Preußen fortan den Kaiſerlichen Titel in allen Unſeren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutſchen Reiches führen.

Es iſt demgemäß ſtreng genommen und dem Charakter des kaiſerlichen Titels als eines obrigkeitlichen entſprechend, die Füh - rung deſſelben beſchränkt auf die Angelegenheiten des Reiches, auf die Ausübung der Präſidialbefugniſſe, alſo auf diejenigen Fälle, in denen kaiſerliche Funktionen verrichtet werden; dagegen222§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.iſt er nicht anwendbar, wenn der Kaiſer in ſeiner[Eigenſchaft] als König von Preußen oder als Herzog von Lauenburg u. ſ. w. in Betracht kommt1)Bei dem Erlaß Preußiſcher Staatsgeſetze, Königl. Verordnungen für Preußen, Beſtallungs - und Entlaſſungs-Urkunden für Preuß. Beamte u. ſ. w. wird demgemäß der Titel Deutſcher Kaiſer nicht gebraucht..

Thatſächlich wird dies zwar nicht durchweg beobachtet. Jeder Titel, auch der reine Amtstitel, dient nicht blos zur Bezeichnung eines Kreiſes von Rechten und Pflichten, einer Stellung oder eines Wirkungskreiſes, ſondern ſeine Führung iſt ein perſönliches Ehrenrecht. Darauf beruht der allgemeine Gebrauch, daß man Titel zur individualiſirenden Bezeichnung einer beſtimmten Perſon verwendet, ohne die ſachliche Bedeutung des Titels in Betracht zu ziehen. Ebenſo wie man einem Beamten ſeinen Amtstitel auch in allen nicht amtlichen Verhältniſſen und Beziehungen beilegt, lediglich als ehrende Bezeichnung ſeiner Perſon, ſo wird auch der kaiſerliche Titel ganz allgemein zur Bezeichnung ſeines Trägers angewendet, wenngleich derſelbe nicht in ſeiner Eigenſchaft als Oberhaupt des Reiches in Betracht kommt.

Die Natur des kaiſerlichen Titels zeigt ſich aber darin, daß neben demſelben der Titel des Königs von Preußen nicht außer Anwendung gekommen iſt, wie dies ſonſt regelmäßig der Fall iſt, wenn ein höherer Titel zu einem gleichartigen, niedrigeren hinzu - tritt. Der Titel Deutſcher Kaiſer deckt den Titel König von Preußen nicht; er iſt nicht der höhere; er iſt ihm überhaupt nicht homogen; er bezeichnet nur einen Theil der Rechte und eine be - ſondere Ehrenſtellung des Königs von Preußen. Deshalb wird in offiziellen Aktenſtücken der Titel Deutſcher Kaiſer nicht allein und ſelbſtſtändig gebraucht, ſondern der Titel König von Preußen hinzugefügt2)Ebenſo auf den auf Preuß. Münzſtätten geprägten Reichsgoldmünzen., ſelbſt wenn es ſich um Reichs-Angelegenheiten, z. B. die Verkündigung von Reichsgeſetzen oder den Abſchluß von völ - kerrechtlichen Verträgen des Reiches handelt3)Eine Ausnahme macht die Eidesformel für den Dienſteid der unmit - telbaren Reichsbeamten. R. -G.-Bl. 1871 S. 303., während anderer - ſeits in Angelegenheiten des Preußiſchen Staates der Titel König von Preußen ſelbſtſtändig geführt wird.

223§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.

2. Die Erblichkeit der Kaiſerwürde, welche ſich aus dem Art. 11 der R. -V. ergiebt, findet einen Ausdruck theils in der Formel von Gottes Gnaden, theils darin, daß der Kronprinz von Preußen den Titel Kronprinz des deutſchen Reiches und das Prädikat Kaiſerliche Hoheit führt, neben welchen Bezeichnungen die Benennungen Kronprinz von Preußen und reſp. König - liche Hoheit beibehalten werden. Dieſe Würde und das damit verbundene Prädikat geht auf jeden künftigen Thronfolger an der Preußiſchen Krone ohne Weiteres über1)Allerh. Erlaß des Kaiſers vom 18. Januar 1871. Preuß. Min. -Bl. der inneren Verw. 1871 S. 2. Thudichum im Jahrb. von v. Holtzendorff I. S. 6. v. Rönne S. 156 Note 1 b. .

3. Nicht nur der Kaiſer für ſeine Perſon, ſondern auch die von ihm kraft ſeiner Präſidial-Befugniſſe ernannten Behörden und Beamten ſind als kaiſerliche zu bezeichnen. Es iſt dies ausdrück - lich beſtimmt worden durch den Allerh. Erlaß vom 3. Aug. 1871 Nro. 1 (R. -G.-Bl. 1871 S. 318) und entſpricht der Uebung. Ebenſo können das Prädikat Kaiſerlich die in der kaiſerlichen Hofhaltung angeſtellten Privatbeamten und Diener, Hoflieferanten und dergleichen Perſonen führen2)Die unbefugte Führung des Prädicats Kaiſerlich fällt nicht unter R. -Str.-G.-B. §. 360 Nr. 8, wenn nicht zugleich die unbefugte Annahme eines Titels damit verbunden iſt.. Dagegen werden die preußi - ſchen Staatsbehörden und Beamten nicht als kaiſerliche, ſondern lediglich als königliche bezeichnet.

4. Mit dem Kaiſerlichen Titel iſt die Kaiſerkrone, die Führung des Kaiſerlichen Wappens und der Kaiſerlichen Standarte verbunden. Dieſe Inſignien ſind feſtgeſtellt worden durch einen Allerhöchſten Erlaß vom 3. Auguſt 1871 Nro 2 und 33)R. -G.-Bl. 1871 S. 318 mit der Berichtigung S. 458. Das Kaiſer - liche Wappen iſt der ſchwarze, einköpfige, rechtsſehende Adler mit rothem Schnabel, Zunge und Klauen, ohne Scepter und Reichsapfel, auf dem Bruſt - ſchilde den mit dem Hohenzollern-Schilde belegten Preußiſchen Adler, über demſelben die Krone in der Form der Krone Karl’s des Großen, jedoch mit zwei ſich kreuzenden Bügeln. Die Kaiſerl. Standarte enthält in gelbem Grunde das eiſerne Kreuz, belegt mit dem Kaiſerlichen, von der Kette des Schwarzen Adler-Ordens umgebenen Wappen im gelben Felde und in den vier Eckfeldern des Fahnentuchs abwechſelnd den Kaiſerlichen Adler und die Kaiſerliche Krone. Vgl. Graf Stillfried. Die Attribute des Neuen.

224§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.

5. Das Kaiſerliche Wappen iſt durch die Beſtimmung des Reichs - Strafgeſetzb. Art. 360 Z. 7 gegen den Mißbrauch durch unbefugte Abbildung zur Bezeichnung von Waaren auf Aushängeſchildern oder Etiketten verwendet zu werden, geſchützt. Durch einen Allerh. Erl. v. 16. März 18721)R. -G.-Bl. S. 90. hat der Kaiſer aber allen Deutſchen Fabrikanten 2)Alſo nicht Fremden und ebenſo wenig Deutſchen Kaufleuten, welche die Waaren nicht fabriziren, ſondern ſie nur detailliren und verpacken. Jedoch wird die Beſtimmung thatſächlich nicht ſtrict interpretirt. den Gebrauch und die Abbildung des kaiſer - lichen Adlers in der durch den Erlaß vom 3. Aug. 1871 feſtge - ſtellten Form geſtattet; ausgeſchloſſen iſt jedoch die Form eines Wappenſchildes3)Bekanntm. des Reichskanzlers v. 11. April 1872. (R. -G.-Bl. S. 93.).

6. Pekuniäre Vorrechte, insbeſondere eine ſogen. Civilliſte, ſind mit der Kaiſerwürde nicht verbunden. In Beziehung auf die Hofhaltung und auf die ſogenannte Repräſentation iſt ein Unter - ſchied zwiſchen den durch die Stellung als König von Preußen und den durch die Stellung als Deutſcher Kaiſer verurſachten Koſten nicht durchführbar; es läßt ſich nicht einmal die Behaup - tung begründen, daß durch die kaiſerliche Würde größere Reprä - ſentationskoſten verurſacht werden, als ſie auch durch die Stellung eines Königs von Preußen geboten ſind. Die Dotation der Krone iſt ausſchließlich Sache des Preußiſchen Staates. Die Erhabenheit der kaiſerlichen Würde wird dadurch, daß ſie mit keinen pekuniären Vortheilen verbunden iſt, noch erhöht.

II. Regierungsrechte.

Eine Erörterung der einzelnen Befugniſſe, welche die Reichs - verfaſſung und die Reichsgeſetze dem Kaiſer auf den verſchiedenen Gebieten der Staatsthätigkeit beilegen, kann nur bei der ſpeziellen Darſtellung dieſer Gebiete gegeben werden; denn die kaiſerlichen Befugniſſe ſtehen überall im engſten Zuſammenhange mit den Funk - tionen der übrigen Organe des Reiches und der materiellen Rege - lung der einzelnen Reichsverwaltungszweige4)In der Literatur des Deutſchen Reichsſtaatsrechts iſt es üblich gewor - den, Kataloge der kaiſerlichen Rechte aufzuſtellen. So z. B. bei Thudichum. Welche Rechte d. 3)Deutſchen Reiches. Abgebildet, beſchrieben und erläutert. Mit 16 Tafeln 2. Aufl. Berlin 1874.225§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.d. h. ſtaatliche Funktionen der Kaiſer z. B. in Zollſachen, Militär - ſachen, Angelegenheiten der Poſt - und Telegraphie u. ſ. w. hat, läßt ſich nur bei der Darſtellung des Zoll - Militär - Poſt - und Telegraphen-Weſens u. ſ. w. entwickeln, wenn nicht der innere, ſachliche Zuſammenhang zerſtört werden ſoll. Dagegen iſt es von weſentlicher Bedeutung, die Stelle, welche der Kaiſer im Organis - mus des Reiches einnimmt, juriſtiſch zu beſtimmen und gerade dieſe Aufgabe iſt in der bisherigen Literatur des Reichsſtaatsrechts ganz vernachläſſigt worden.

Den Ausgangspunkt muß auch hier die rechtliche Natur des Reiches und das Weſen des Bundesſtaates bilden. Das Reich iſt wie oben entwickelt worden iſt eine Corporation des öffent - lichen Rechts, deren Mitglieder die einzelnen Deutſchen Staaten, beziehungsweiſe deren Landesherren als Vertreter der Staaten ſind. In der Reichsverfaſſung kehren demgemäß die allgemeinen Grundzüge der Korporationsverfaſſung wieder und die Organe des Reiches haben ihr Analogon in den Organen der Privatcorporation; nur daß ihre Stellung von den Prinzipien des öffentlichen Rechts, nicht von denen des Privatrechts beherrſcht wird, alle ihre Rechte auf die Ausübung von Hoheits - oder Herrſchaftsrechten ſich beziehen und in untrennbarem Zuſammenhange mit den Pflichten zur Er - füllung der ſtaatlichen Aufgaben des Reiches ſtehen. In dieſer öffentlichrechtlichen Korporation, welche das Reich iſt, iſt der Kaiſer dasjenige Organ, welches man bei der Privatcorporation den Vor - ſtand oder Director nennt, und ſeine Befugniſſe und Pflichten, ſeine ſozuſagen amtlichen Funktionen entſprechen im Weſent - lichen den Befugniſſen und Pflichten, welche der Vorſtand oder Director einer juriſtiſchen Perſon überhaupt hat.

Es ſind dies im Weſentlichen folgende:

1. Der Kaiſer iſt der alleinige, ausſchließliche Vertreter des Reiches Dritten gegenüber.

Damit iſt natürlich nicht geſagt, daß der Umfang ſeiner Vertretungsbefugniß, ſeiner Vollmacht, ein unbegrenzter,4)Nordd. Bundesverf. S. 125, v. Gerber S. 246, Hauſer S. 72 ff., Rie - del S. 29 ff., Meyer Erörter. S. 52, Weſterkamp S. 145, v. Rönne S. 157 ff. u. beſ. v. Mohl S. 283 ff. Dieſe Aufzählungen ſind unvollſtändig und meiſtens ohne dogmatiſche Geſichtspunkte; ſie bieten kaum den Nutzen, wie das Wortregiſter des Reichsgeſetzblattes von 1871 unter dem Wort: Kaiſer.Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 15226§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.allumfaſſender iſt; daß der Kaiſer rechtlich befugt ſei, mit verbind - licher Kraft für das Reich, jeden Vertrag abzuſchließen, der ihm beliebt. Er kann hierin ſehr wohl an die Zuſtimmung des Bun - desrathes und Reichstages gebunden oder durch Reichsgeſetze mate - riell beſchränkt ſein, was in der That der Fall iſt1)Vgl. R. -V. Art. 11 Abſ. 3..

Aber das Reich hat keinen andern Vertreter als den Kaiſer, beziehentlich die von ihm ernannten Beamten als deſſen Gehülfen. Weder der Bundesrath allein noch Bundesrath und Reichstag zuſammen, noch die einzelnen deutſchen Landes - herren in Perſon können für das Reich einen Vertrag abſchließen; der Kaiſer allein iſt zur Vertretung des Reiches befugt; für das Reich kann kein Vertrags-Verhältniß begründet werden, ohne daß der Kaiſer es contrahirt.

Es folgt ferner aus dieſem Grundſatz, daß alle vom Kaiſer im Namen des deutſchen Reiches innerhalb ſeiner verfaſſungs - mäßigen Vertretungsbefugniß abgeſchloſſenen Verträge für das Reich rechtswirkſam ſind, Rechte und Pflichten für das Reich be - gründen.

Dieſe Funktion des Kaiſers als Vertreter des Reiches iſt in der Reichsverfaſſung Art. 11 Abſ. 1 für die völkerrechtlichen Beziehungen anerkannt: Der Kaiſer hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reiches Krieg zu erklären und Frieden zu ſchließen, Bündniſſe und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen.

Allein es iſt unrichtig, die Vertretung des Reiches durch den Kaiſer auf die völkerrechtlichen Beziehungen des Reiches zu be - ſchränken. Der Kaiſer iſt auch in allen übrigen Beziehungen, in welche das Reich zu dritten Perſonen treten kann, ſein Vertreter. Insbeſondere auch bei allen privatrechtlichen (fiskaliſchen) Erwerbungen für das Reich und Belaſtungen des Reiches. Zur Aufnahme von Anleihen und zur Uebernahme von Garantien zu Laſten des Reiches, zur Veräußerung von Reichsvermögen, zur Erwerbung von Vermögen für das Reich und zu allen anderen privatrechtlichen Geſchäften des Reichsfiskus mit Dritten iſt allein der Kaiſer, beziehentlich der von ihm zu ſeiner Vertretung ermäch -227§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.tigte und von ihm ernannte Reichsbeamte, der auf ſeinen Befehl und in ſeinem Namen handelt, befugt. Nicht minder iſt der Kaiſer der Vertreter des Reiches bei allen Rechtsbeziehungen zwiſchen dem Reiche und den Einzelſtaaten. Bei der Begründung oder Geltend - machung von Rechten und Pflichten zwiſchen dem Reich und einem Gliedſtaat wird der letztere durch ſeinen Landesherrn, die Ge - ſammtheit (das Reich) durch den Kaiſer vertreten.

Auch bei der Ernennung der Reichsbeamten handelt der Kaiſer als Vertreter des Reiches, in ſoweit dadurch der Beamte vermö - gensrechtliche Anſprüche gegen die Reichskaſſe erwirbt. Wenn das Reich im Wege der Geſetzgebung Rechtsnormen aufſtellt, ſo iſt es der Kaiſer, der ſie im Namen des Reiches verordnet, wie die Eingangsformel jedes Reichsgeſetzes lehrt. Der Kaiſer iſt alſo der Vertreter des Reiches nicht nur in völkerrechtlicher, ſondern auch in ſtaatsrechtlicher und privatrechtlicher Beziehung.

2. Dem Kaiſer liegt die Regierung des Reiches ob. Es entſpricht dies der Befugniß und Verpflichtung des Vor - ſtandes einer Privatcorporation zur Geſchäftsführung. Be - grifflich beruht der Gegenſatz der Geſchäftsführung und der Ver - tretung darauf, das die erſtere eine lediglich innere Angelegenheit der Corporation iſt, welche die Vornahme aller, zur Erfüllung der Zwecke der Corporation erforderlichen Handlungen und Maßregeln umfaßt, während die Vertretung nur Dritten gegenüber in Betracht kommt und darin beſteht, daß für die Corporation Dritten gegen - über durch den Vertreter Rechts-Verhältniſſe begründet werden.

Dieſer Unterſchied iſt auch für das Staatsrecht von ſehr großer Bedeutung. Was man gewöhnlich Verwaltung oder auch in un - paſſender Weiſe Executive nennt und woraus die frühere Theorie irrthümlich eine executive Gewalt gemacht hat, entſpricht dieſem Begriff der Geſchäftsführung, der für die Corporationen und Geſell - ſchaften des Privatrechts längſt erkannt und feſtgeſtellt iſt. Er unterſcheidet ſich von ihm nur durch die Art der Geſchäfte; die Geſchäfte des Staates ſind öffentlichrechtlichen Inhalts, ſie betreffen die Erfüllung der Aufgaben und Zwecke des Staates, die Hand - habung der ihm zukommenden Hoheitsrechte, die Förderung ſeines Gedeihens; ſie ſind Regierungsgeſchäfte.

Bei einem Theile dieſer Geſchäfte iſt der Kaiſer durch Ver - faſſung oder Geſetz an die Mitwirkung anderer Organe gebunden,15*228§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.nämlich des Bundesrathes und des Reichstages oder auch an die der Einzelſtaaten. Es iſt ferner nicht zweifelhaft, daß bei Füh - rung der Regierungsgeſchäfte die Reichsgeſetze nicht verletzt werden dürfen; daß vielmehr die letzteren theils poſitiv den Inhalt der Regierungsthätigkeit beſtimmen, theils negativ rechtliche Schranken für die Handlungsfreiheit des Kaiſers bei der ihm obliegenden Regierungsthätigkeit ſind.

Im Allgemeinen aber iſt der Kaiſer das mit der Führung der Regierungsgeſchäfte betraute Organ des Reiches. Es äußert ſich dieſe, dem Kaiſer obliegende Funktion in folgenden Haupt - richtungen:

a) Die Thätigkeit der übrigen Organe des Reiches, des Bun - desrathes und Reichstages, wird von dem Kaiſer in Gang erhalten und gewiſſermaßen regulirt1)Auch in dieſer Hinſicht bietet die Einwirkung des Kaiſers auf die Thätigkeit des Bundesrathes und Reichstages vielfache Analogien zu dem Ein - fluß des Vorſtandes einer juriſtiſchen Perſon des Privatrechts auf die Func - tionen des Verwaltungsrathes oder Curatoriums oder der Generalverſammlung in Beziehung auf die Einberufung, den Vorſitz, die Ausfertigung und Feſt - ſtellung der Beſchlüſſe u. ſ. w.. Im ſteht es zu, den Bundesrath und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu ſchließen (Art. 12); er ernennt den Vorſitzenden des Bundesrathes (Art. 15); er bringt die von den Bundesgliedern gemachten Vor - ſchläge im Bundesrathe zur Berathung (Art. 7 Abſ. 2); in ſeinem Namen werden die Beſchlüſſe des Bundesrathes an den Reichstag gebracht (Art. 16); und nach erzielter Uebereinſtimmung zwiſchen Bundesrath und Reichstag ſteht ihm die Ausfertigung und Ver - kündigung der Reichsgeſetze zu. (Art. 17.)

b) Dem Kaiſer liegt die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgeſetze ob (Art. 17, 36 Abſ. 2) und theils die Reichsver - faſſung ſelbſt theils eine bedeutende Anzahl von Reichsgeſetzen er - mächtigen ihn zum Erlaß von Adminiſtrativ-Verordnungen, welche zur Ausführung einzelner Reichsgeſetze erforderlich ſind.

c) Der Kaiſer ernennt nach freiem Belieben den Reichskanz - ler, den verantwortlichen Miniſter des Reiches, und kann ihn nach freiem Belieben in den Ruheſtand verſetzen2)R. -V. Art. 15. Reichsbeamten-Geſetz §. 25.. Dadurch iſt dem Kaiſer die oberſte Leitung der Regierung übertragen; er beſtimmt229§. 26. Der Inhalt der kaiſerlichen Rechte.die Richtung der Politik, die Zielpunkte der ſtaatlichen Geſchäfts - führung des Reiches. Wenn auch thatſächlich die Führung der Geſchäfte dem Reichskanzler obliegt, ſo iſt derſelbe doch rechtlich lediglich das Willenswerkzeug und der Gehülfe des Kaiſers.

Auch die übrigen Reichsbeamten werden der Regel nach vom Kaiſer ernannt und erforderlichen Falles entlaſſen oder in den Ruheſtand verſetzt1)Siehe unten die Lehre von den Reichsbehörden und den Reichs - beamten.. (R. -V. Art. 18.)

d) Dem Kaiſer liegt die Wahrnehmung der auswärtigen Be - ziehungen des Reiches ob, die Aufrechthaltung des diplomatiſchen Verkehrs2)Natürlich nur, inſofern der Kaiſer denſelben für erforderlich oder nütz - lich erachtet. Aus dieſer, in der Natur der Regierungsthätigkeit liegenden Handlungsfreiheit macht v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 310 ein beſonderes, dem Kaiſer zuſtehendes unbeſchränktes Recht der Abbrechung des diplomatiſchen Verkehres. , die Anbahnung und Führung von Verhandlungen über abzuſchließende völkerrechtliche Verträge, die Wahrnehmung der Intereſſen des Reiches, ſeiner Mitglieder und ſeiner Ange - hörigen fremden Staaten gegenüber. R. -V. Art. 11. 56.

3. Der Kaiſer iſt der Verwalter der Machtmittel des Reiches.

Auch in dieſer Beziehung iſt ſeine Stellung derjenigen analog, welche der Vorſtand einer privatrechtlichen Korporation hat. Nur darf man nicht vergeſſen, daß eine Privatrechts-Korporation keine anderen Machtmitteln hat als pekuniäre und keine andere Admini - ſtration als Vermögensverwaltung. Für den Vorſtand einer Privat - korporation äußert ſich die hier in Betracht kommende Funktion etwa darin, daß er die Vereinskaſſe unter ſeinem Verſchluß hat. Der Staat dagegen gebietet auch über Machtmittel öffentlich recht - licher Natur, über die ſtaatlich organiſirten Streitkräfte. Die Ver - waltung dieſer Machtmittel findet ihren ſchärfſten Ausdruck in dem Oberbefehl über das Heer und die Kriegsmarine und in der Ausübung dieſes Oberbefehls nicht nur zur Bekämpfung äußerer Feinde, ſondern, wenn es erforderlich iſt, auch zur Vollſtreckung der Execution gegen Bundesglieder, welche ihre verfaſſungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllen (Art. 19), und zur Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit im Innern, wenn dieſelbe in einem230§. 27. Weſen des Bundesrathes.Theile des Bundesgebiets bedroht iſt, durch Erklärung deſſelben in Kriegszuſtand. (Art. 68.)

4. Endlich hat der Kaiſer die dem Reiche zuſtehende Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen auszuüben1)Geſ. vom 9. Juni 1871 §. 3.. Es iſt dies eine Funktion des Kaiſers, welche zwar durch die Orga - niſation des Reiches ſelbſt nicht gegeben und in der Reichsverfaſ - ſung ſelbſt in keiner Art vorgeſehen iſt; welche aber mit ihr auch nicht im Widerſpruch ſteht, ſondern ſich mit der Befugniß des Kaiſers zur Leitung der Regierung, zur Führung der Geſchäfte des Reiches leicht und ungezwungen verbindet. Bei der ſehr ano - malen Rechtsſtellung des Reichslandes im Vergleich zu den Bun - desgliedern kann auch das ſtaatsrechtliche Verhältniß des Kaiſers zum Reichslande ſeine nähere Erörterung erſt in dem, Elſaß-Loth - ringen gewidmeten, beſonderen Abſchnitte finden.

Zweiter Abſchnitt. Der Bundesrath.

§. 27. Allgemeine Erörterung ſeines Weſens.

Der Bundesrath iſt die eigenthümlichſte Inſtitution des deut - ſchen Reiches. Man hat ihn vielfach angegriffen, weil er weder mit der herkömmlichen Theorie vom Bundesſtaat vereinbar iſt, noch in die Schablone der konſtitutionellen Monarchie paßt; und man hat ihn andererſeits als die kühnſte und glücklichſte Schöp - fung des Gründers des Norddeutſchen Bundes bezeichnet, als die geiſtvollſte Erfindung ſeiner politiſchen Geſtaltungskraft gerühmt2)Unter den kritiſchen Beurtheilungen des Bundesrathes ſind aus der wiſſenſchaftlichen Literatur hervorzuheben: v. Martitz Betrachtungen S. 45 fg. Thudichum Verf. -Recht S. 118 fg. Meyer Grundz. S. 102 fg. Seydel Commentar S. 99. v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 239 fg. Weſter - kamp S. 97 fg., 110 fg., 153 fg. v. Held Verf. des Deutſchen Reichs S. 103 118. Die Schrift von Auguſt Winter Der Bundesrath und die Reichsoberhausfrage. Tübingen 1872 halte ich für durchweg verfehlt.. Beide Auffaſſungen ſind nicht begründet. Daß die Verfaſſung des deutſchen Reiches weder der früher herrſchenden Theorie vom Bun - desſtaat noch der doctrinären Form der konſtitutionellen Monarchie entſpricht, iſt wahr, aber kein Vorwurf; und andererſeits iſt der Bundesrath bei der Gründung des Nordd. Bundes überhaupt nicht231§. 27. Weſen des Bundesrathes.erdacht und erfunden worden, ſondern gleichſam von ſelbſt ent - ſtanden, hiſtoriſch gegeben geweſen. Die politiſche Genialität des Fürſten Bismarck zeigte ſich nicht ſowohl in der Schöpfung des Bundesrathes, ſondern darin, daß er ihn nicht verwarf, trotzdem derſelbe mit der Theorie vom Bundesſtaate und der konſtitutio - nellen Doctrin in unverſöhnbarem Contraſt zu ſtehen ſchien. Wenn für irgend ein Inſtitut des jetzigen deutſchen Reichsſtaatsrechtes die hiſtoriſchen Wurzeln klar erkennbar ſind und für das juriſtiſche Verſtändniß verwerthet werden können, ſo iſt es der Bundes - rath1)Grade im Gegenſatz hierzu nennt ihn v. Mohl S. 228. 230 eine ganz eigenthümlich kühne Schöpfung und eine proles sine matre creata. .

Es iſt hier daran zu erinnern, daß vor der Gründung des Norddeutſchen Bundes die Preußiſche Regierung die Reform des deutſchen Bundes durch Einfügung einer Volksvertretung, Abſchaf - fung des Prinzips der Einſtimmigkeit und Erweiterung der Com - petenz angeſtrebt hat. Dieſer Gedanke wurde bei der Neugründung des Norddeutſchen Bundes feſtgehalten. Er führte von ſelbſt zu den Grundlinien der Organiſation des letzteren und dieſe Grund - linien waren ſchon vor der Errichtung des Norddeutſchen Bundes in Folge des Auguſtbündniſſes verwirklicht, gleichſam proviſoriſch eingeführt. Die Commiſſäre der deutſchen Regierungen, welche im Winter 1866 in Berlin zuſammentraten, um den Verfaſſungsent - wurf zu berathen, bildeten zuſammen ein Collegium, welches im Weſentlichen dem alten Bundestags-Plenum entſprach, d. h. ſie waren zu einem Kongreß vereinigte, nach Inſtructionen ſtimmende und beſchließende Bevollmächtigte völkerrechtlich verbundener Re - gierungen, das Präſidium und die Leitung der Geſchäfte fiel natur - gemäß dem erſten Vertreter Preußens zu und man hatte in dem in Ausſicht genommenen und im Februar 1867 zuſammentretenden Reichstage das Zuſammenwirken von Bundesrath und Reichstag vor Augen. Man brauchte in der That keine Organiſation zu erfinden, ſondern nur die Einrichtungen, welche ſchon vorhanden waren und welche gleichſam der natürliche Ausdruck der gegebenen Verhältniſſe, der Reflex der hiſtoriſch entſtandenen Thatſachen waren, rechtlich zu fixiren und näher zu beſtimmen2)Auch für die Neugeſtaltung des Zollvereins im Jahre 1867 ergab ſich dieſelbe Organiſation von ſelbſt..

232§. 27. Weſen des Bundesrathes.

Dies iſt nicht nur für die politiſche Würdigung, ſondern in höherem Grade noch für die Erkenntniß des juriſtiſchen Weſens des Bundesrathes von Bedeutung. Der Bundesrath vereinigt in ſich zwei Eigenſchaften, er hat eine Doppelnatur; die eine entſpricht ſeiner hiſtoriſchen Abkunft vom alten Bundestage; die andere ent - ſpringt aus der Natur und den Bedürfniſſen des neu gegründeten Bundesſtaates. In dieſer Doppelnatur liegt die Schwierigkeit für die ſtaatsrechtliche Begriffsbeſtimmung des Bundesrathes, die Un - möglichkeit ihn mit den herkömmlichen Inſtitutionen zu identifiziren. Dieſe Doppelnatur entſpricht aber vollkommen dem Grundbau des deutſchen Reiches; ſie correſpondirt vollſtändig mit der Doppel - ſtellung des Kaiſers. Sowie der Kaiſer theils Mitgliedſchaftsrechte hat als König von Preußen theils Organ des Reiches iſt und als ſolches die Präſidialbefugniſſe ausübt; ſo dient auch der Bundes - rath theils zur Ausübung und[Geltendmachung] der Mitglied - ſchaftsrechte der einzelnen Bundesſtaaten theils als ein Organ des Reiches, das letztere als begriffliche Einheit, als ſtaatliche Perſon genommen.

Man hat den Bundesrath mit einem Oberhauſe oder Staaten - hauſe verglichen1)Am breiteſten führt dies aus Winter a. a. O. S. 58 ff.. Der Bundesrath ſteht aber zu jeder Art von parlamentariſcher Körperſchaft im ſchroffſten Gegenſatz; denn die Mitglieder des Bundesrathes ſtimmen nicht nach freier, indivi - dueller Ueberzeugung, ſondern nach den ihnen ertheilten Inſtruc - tionen und ſind ihrer Regierung verantwortlich für ihr Verhalten im Bundesrath. Gleichwohl iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß der Bundesrath thatſächlich im Reich in einzelnen Richtungen ähn - liche Dienſte wohl zu leiſten vermag, wie ſie von einem Oberhauſe oder Staatenhauſe geleiſtet werden können. Jede Vergleichung zwiſchen dem Bundesrathe und einem Staatenhauſe ſieht aber gänz - lich ab von dem Weſen der Inſtitution, von dem ſtaatsrechtlichen Charakter derſelben und faßt nur factiſche, zufällige Aehnlichkeiten ins Auge.

Man hat den Bundesrath und ſeine Ausſchüſſe andererſeits mit Miniſterien verglichen2)v. Gerber Grundz. S. 248 ſcheint an eine Verbindung beider Func - tionen zu denken, in dem er ſagt: Der Bundesrath iſt keineswegs mit einem bloßen Oberhauſe zu vergleichen, vielmehr hat er auch den Charakter eines. Von dieſem Vergleiche gilt ganz daſſelbe. 233§. 27. Weſen des Bundesrathes.Der Bundesrath vermag thatſächlich in vereinzelten Beziehungen ähnliche Dienſte dem Reiche zu leiſten, wie ſie anderswo wohl von Miniſterien geleiſtet werden; ſeinem Begriffe und juriſtiſchen Weſen nach ſteht er zu einem Miniſterium in nicht minder ſcharfem Contraſt wie zu einem Parlament, denn er wird nicht von dem oberſten Chef der Regierung, vom Kaiſer, ernannt und ſeine Auf - gabe beſteht nicht darin, die Führung der Regierungsgeſchäfte im Namen und Auftrage des Kaiſers zu beſorgen, ſondern er ſteht dem Kaiſer als ein zweites Organ des Reiches, ebenſo wie der Reichstag, in voller Unabhänigkeit gegenüber1)Man kann den Bundesrath des Deutſchen Reiches daher auch nicht in Parallele ſtellen mit dem Schweizeriſchen Bundesrath, der ein Regierungs - collegium iſt, noch mit dem Schweizeriſchen Ständerath, der ein Staatenhaus, eine parlamentariſche Körperſchaft iſt. Bundesverf. vom 29. Mai 1874 Art. 95 fg. Art. 80 fg..

Will man Vergleichungen zum beſſeren Verſtändniß der Natur des Bundesrathes verwerthen, ſo bietet ſich hierzu der Reichstag des alten deutſchen Reiches dar2)Vgl. auch v. Mohl S. 230 und Gierke das alte und das neue Deutſche Reich S. 25. 26. (Deutſche Zeit - und Streit-Fragen. III. Jahrgang Heft 35. 1874.). Freilich thatſächlich kann die Verſchiedenheit zwiſchen beiden Körperſchaften größer kaum ge - dacht werden, als ſie wirklich iſt; in ſeinem juriſtiſchen Weſen aber entſprach der alte Reichstag dem jetzigen Bundesrath, denn er war einerſeits ein Willensorgan des Reiches als des ſouveränen deut - ſchen Staates und andererſeies kamen in ihm und durch ihn die individuellen Mitgliedſchaftsrechte der Glieder des Reiches, der Stände, zur Geltung und Ausübung.

In dem Bundesrath ſind dieſe beiden, hervorgehobenen Func - tionen mit einander zwar in enge Verbindung und Wechſelwirkung geſetzt; für die theoretiſche Erkenntniß ſeines juriſtiſchen Weſens aber iſt ihre begriffliche Unterſcheidung geboten.

2)höchſten Regierungscollegiums ꝛc. ꝛc. v. Rönne S. 148 hat dies wörtlich nach - geſchrieben. Allein der Bundesrath iſt keines von beiden. Auch nach der von einem Juriſten gemachten Zuſammenſtellung des Bundesſtaatsrechts der Nordamerik. Union, der Schweiz und des Norddeutſchen Bundes, Mün - chen 1868, S. 35 ſind die Befugniſſe des Bundesrathes theils die eines Ober - hauſes, theils die eines Staatsrathes, theils die eines Bundesminiſteriums. Vgl. auch v. Held S. 113 Nr. 63.

234§. 26. Die Staatenrechte im Bundesrathe.

§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.

I. Innerhalb des Bundesrathes findet die Souveränetät einer jeden Regierung ihren unbeſtrittenen Ausdruck , ſagte Fürſt Bis - marck in dem zur Berathung der Nordd. Bundesverfaſſung einbe - rufenen Reichstage am 27. März 18671)Stenogr. Ber. S. 388.. Die Souveränetät der einzelnen Staaten iſt in Wahrheit wie oben ausgeführt worden iſt ein Antheil an der Souveränetät des Reiches und dieſer Antheil wird ausgeübt durch die Theilnahme der einzelnen Staaten am Bundesrathe. Jedes Mitglied des Reiches hat als ſolches ein Anrecht auf Theilnahme am Bundesrathe und andererſeits iſt die Mitgliedſchaft am Bunde das unerläßliche Fundament für die Theilnahme am Bundesrathe. Hieraus folgt:

1. Der Kaiſer als ſolcher, d. h. als Organ des Reiches, hat nicht die Befugniß, Mitglieder des Bundesrathes zu ernennen oder in irgend einer anderen Art an der Thätigkeit des Bundes - rathes Theil zu nehmen; nur der König von Preußen als Mitglied des Reiches hat einen Antheil am Bundesrath. Die Reichsverfaſſung ſpricht zwar an mehreren Stellen (Art. 5 Abſ. 2. Art. 7 Abſ. 3. Art. 37) von einer Stimme des Präſidiums oder einer Präſidialſtimme, und im Art. 8 von einer Vertretung des Präſidiums in den Bundesraths-Ausſchüſſen; allein der Bundes - rath hat nach Art. 6 der Verf. keine anderen Mitglieder als Ver - treter der Mitglieder des Bundes und außer den Stimmen, welche Preußen nach Art. 6 im Bundesrathe führt, giebt es keine, dem Kaiſer zuſtehende Stimmen. Die Präſidialſtimme iſt ſonach nicht die kaiſerliche Stimme, ſondern die preußiſche2)Fürſt Bismarck im Nordd. Reichstage am 16. April 1869: Die Inſtruktion des Preußiſchen Bevollmächtigten wird beſchloſſen in dem Preu - ßiſchen Miniſterium ebenſo wie die des Sächſiſchen Bevollmächtigten im Säch - ſiſchen Miniſterium; letztere geht aus von Sr. Maj. dem Könige von Sachſen, und die meinige in letzter Inſtanz nicht von dem Präſidium des Bundes, ſondern von Sr. Maj. dem Könige von Preußen. .

2. Elſaß-Lothringen hat keine Stimme im Bundes - rathe und kann keine haben. Es beruht dies nicht auf den prak - tiſchen Schwierigkeiten, wie die Vertreter von Elſaß-Lothringen ernannt und mit Inſtruktionen verſehen werden ſollen, ſondern235§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.auf dem prinzipiellen Grunde, daß Elſaß-Lothringen nicht Mitglied des Reiches, ſondern Reichsland iſt1)Vgl. unten §. 54..

3. Der Bundesrath bietet keinen Raum für die Aufnahme von Vertretern einzelner Bevölkerungsklaſſen oder von Individuen von hervorragender Stellung oder ausgezeichneten Verdienſten, ſondern einzig und allein von Vertretern von Staaten des Bun - des. Darum iſt z. B. der Anſpruch der ehemals reichsunmittel - baren Landesherren (der ſogen. Mediatiſirten oder Standesherren) auf eine Theilnahme am Bundesrath mit dem Weſen des letzteren gänzlich unvereinbar2)Dies iſt verkannt von Prof. Biſchof. Denkſchrift betreffend das fürſtl. und gräfl. Geſammthaus Schönburg und deſſen Anrecht auf Einräumung von Sitz und Stimme im hohen Bundesrathe des Norddeutſchen Bundes. Gießen 1871..

4. Die Stimmen der einzelnen Staaten im Bundesrathe ſind nach demſelben Verhältniß vertheilt wie im ehemaligen Plenum des Bundestages3)Vgl. oben S. 128., mit der alleinigen Ausnahme, daß Bayern ſtatt vier Stimmen ſechs Stimmen erhalten hat4)Dies iſt alſo ein Sonderrecht (ius singulare) zu Gunſten Bayerns. Siehe oben S. 117 und Laband in Hirth’s Annalen 1874 S. 1510 fg. Wenn Löning ebendaſ. 1875 S. 369 die Stimmrechte ſämmtlicher Staaten als Sonderrechte erklärt, ſo beruht dies auf einem Verkennen des Begriffes Sonderrecht. Ein ſolches muß immer einer Regel als Aus - nahme gegenüber ſtehen. Andererſeits kann ich aber auch der von v. Mohl S. 234 aufgeſtellten Anſicht nicht beitreten, daß einzelnen Staaten ohne deren Zuſtimmung durch ein verfaſſungsänderndes Geſetz ihre Stimmrechte entzogen oder daß ſie zu Kurien vereinigt werden können. Denn aus der prinzipiellen Gleichheit der Mitgliedſchaftsrechte folgt, daß, ſo lange das dem Art. 6 zu Grunde liegende Prinzip verfaſſungsmäßig beſteht, es auf alle Staaten gleichmäßig Anwendung finden muß. Vgl. Laband a. a. O. S. 1511..

Für Preußen nebſt Lauenburg ergeben ſich daraus 17 Stim - men, indem es die ehemaligen Stimmen von Preußen (4), Hannover (4), Kurheſſen (3), Holſtein-Lauenburg (3)5)Das Holſtein im ehemaligen Bundestage zukommende Stimmrecht be - ruhte gemäß dem Protokoll der Bundesverſ. vom 5. November 1816 §. 3 pro indiviso auch auf Lauenburg. Dies iſt der Grund, warum für Lauenburg, trotzdem es mit dem Preuß. Staate nicht vereinigt iſt, im Bundesrathe keine beſondere Stimme geführt wird. Vgl. über abweichende Auffaſſungen oben S. 90 Note 1., Naſſau (2) 236§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.und Frankfurt (1) in Folge der im Jahre 1866 erfolgten Ge - biets-Erwerbungen vereinigt. Sachſen und Württemberg führen je 4, Baden und Heſſen je 3, Mecklenburg-Schwerin und Braun - ſchweig je 2 Stimmen, die übrigen 17 Staaten je eine Stimme; ſo daß die Geſammtzahl der Stimmen 58 beträgt. So wenig es im Bundesrathe eine Stimme giebt, die nicht einem Mitgliede des Bundes angehört, ſo wenig giebt es ein Mitglied des Bundes, welchem eine Stimme im Bundesrathe verſagt wäre.

II. Die verfaſſungsmäßige Stimmenzahl im Bundesrathe iſt für jeden Deutſchen Staat Inhalt eines ſubjectiven Rechts, deſſen Ausübung von ſeiner individuellen Willensent - ſchließung beſtimmt wird.

Dieſes Prinzip ſchließt eine große Reihe von wichtigen Con - ſequenzen in ſich.

1) Zunächſt bedarf die Frage einer Unterſuchung, in wiefern dem Rechte eines Einzelſtaates auf eine Stimme im Bundesrathe die Pflicht correſpondirt, dieſes Recht auch auszuüben und an den Beſchlüſſen des Bundesrathes wirklichen Antheil zu nehmen. Eine Beantwortung dieſer Frage iſt nur möglich, wenn man zwei rechtliche Beziehungen, die hier zugleich in Betracht kommen kön - nen, ſcharf auseinanderhält, nämlich die Beziehung der Regie - rung eines Einzelſtaates zu dieſem Einzelſtaate ſelbſt und die Beziehung des Einzelſtaates zum Reich.

In der erſten Richtung iſt nicht zu bezweifeln, daß zu den Pflichten der Regierung auch die Wahrnehmung der Rechte des Staates im Bundesrath gehört. Ein Miniſter, der es unterlaſſen würde, einen Bevollmächtigten im Bundesrath zu ernennen oder denſelben mit Inſtruktionen zu verſehen, würde die ihm obliegende Sorgfalt in der Führung der Regierungsgeſchäfte verletzen: er würde bei fortgeſetzter Nichtausübung ſeines Rechts die Intereſſen ſeines Staates tief ſchädigen und ihn ſeines berechtigten Einfluſſes auf die Reichsangelegenheiten berauben. Er würde wegen eines ſolchen Verhaltens innerhalb des Einzelſtaates, deſſen Regie - rung er führt, nach Maaßgabe des Staatsrechts deſſelben verant - wortlich gemacht, alſo nach Umſtänden auch durch Anklage verfolgt werden können. Es entſpricht alſo dem Recht der Regierung, die Mitgliedſchaftsrechte des Staates im Bundesrathe auszuüben, in Anſehung des berechtigten Staates die Pflicht, die Mitglied -237§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.ſchaftsrechte im Intereſſe des Staates auszuüben, weil dieſe Aus - übung ein Theil der Regierungsthätigkeit und der dabei zu be - obachtenden Sorgfalt iſt.

In dem Verhältniß zwiſchen Reich und Einzelſtaat beantwor - tet ſich die Frage dagegen in entgegengeſetzter Richtung. Zwar iſt vom politiſchen Geſichtspunkt aus gewiß nicht zu verkennen, daß jeder Deutſche Staat die Pflicht hat, die Intereſſen des Rei - ches zu fördern und dies durch Antheilnahme an den Berathungen und Beſchlüſſen des Bundesrathes zu bethätigen. Das eigene politiſche Intereſſe des Einzelſtaates wird auch dahin drängen, daß dieſes Gebot der Staatsklugheit von ſeiner Regierung nicht verletzt wird. Aber eine rechtliche Pflicht des Einzelſtaates dem Reiche gegenüber, für eine Vertretung und Stimmabgabe im Bun - desrathe Sorge zu tragen beſteht nicht. Es verhält ſich hier ganz ebenſo wie mit den Reichstags-Mitgliedern, welche zwar ein Recht, und gewiß auch eine politiſche, ethiſche, Pflicht haben, an den Ar - beiten und Beſchlüſſen des Reichstages Theil zu nehmen, aber keine Rechtspflicht dieſes Inhalts. Ein Staat, der ſich vom Bun - desrath, oder ein Reichstags-Abgeordneter, der ſich vom Reichstag fern hält, verübt kein juriſtiſches Unrecht. Es beruht dies bei beiden auf demſelben Grunde. Der einzelne Staat iſt ebenſo wenig wie der einzelne Abgeordnete ein Organ des Reiches, übt keine Lebens - oder Willensfunctionen des Reiches aus; und mit dieſem Mangel eines Rechts, für das Reich zu handeln, entfällt auch die Pflicht, es zu thun. Nur der Bundesrath als Ganzes wie der Reichstag als Ganzes ſind Organe des Reiches und des - halb ſtaatsrechtlich verbunden, die ihnen übertragenen Functionen auch auszuüben1)Es iſt zwar zuzugeben, daß wenn alle einzelnen Bundesſtaaten ihre Thätigkeit im Bundesrath und alle einzelnen Abgeordneten ihre Thätigkeit im Reichstage einſtellen würden, auch Bundesrath und Reichstag als Ganzes nicht mehr in Funktion treten könnten; ein ſolcher Fall ſetzt aber eine ſolche Erſchütterung der thatſächlichen Grundlagen, auf denen die Reichsverfaſſung beruht, voraus, daß dieſe Verfaſſung ſelbſt nicht mehr fortdauern könnte; und es iſt daher begreiflich, daß ſie für dieſen Fall keine Rechtsnormen enthält..

Hinſichtlich des Bundesrathes iſt es in der Reichs-Verfaſſung ausdrücklich anerkannt, daß es von dem freien, nur durch politiſche Rückſichten beſtimmten Willensentſchluß der Einzelſtaaten abhängig238§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.iſt, ob ſie ihre Mitgliedſchaftsrechte im Bundesrathe ausüben wol - len oder nicht. Denn Art. 7 ſagt in Beziehung auf die Beſchluß - faſſung des Bundesrathes: Nicht vertretene oder nicht inſtruirte Stim - men werden nicht gezählt.

Hier iſt ausdrücklich die Möglichkeit hingeſtellt, daß ein Staat entweder gar nicht ſich vertreten läßt oder daß er ſeinen Vertreter im einzelnen Falle nicht inſtruirt, alſo ſein Stimmrecht nicht aus - übt. Es iſt auch die Rechtsfolge eines ſolchen Verhaltens beſtimmt normirt. Sie beſteht nicht darin, daß der Einzelſtaat vom Reiche angehalten werden könnte, ſeine Stimme abzugeben; ſondern darin daß der Staat, welcher auf die Ausübung ſeines Stimmrechts verzichtet, bei der Beſchlußfaſſung des Bundesraths unberückſichtigt bleibt1)Auch Fürſt Bismarck hat bei der Verhandlung über den Waldeck - ſchen Acceſſions-Vertrag im Preuß. Abgeordneten-Hauſe am 11. Dezember 1867 (Stenogr. Berichte I. S. 341) anerkannt, daß es dem Fürſten von Waldeck völlig frei ſtehe, die ihm zuſtehende Stimme im Bundesrath ruhen zu laſſen.. Im Zuſammenhange damit ſteht der Grundſatz, daß zur Beſchlußfähigkeit des Bundesrathes keine beſtimmte Anzahl von Stimmen erforderlich iſt2)In der Reichsverfaſſung dadurch anerkannt, daß im Gegenſatz zu den Beſtimmungen über den Reichstag für die Bundesrathsbeſchlüſſe kein Minimum der Stimmenzahl angeordnet iſt. v. Rönne S. 149. Weſterkamp S. 100. Seydel S. 105.. Damit entfällt das rechtliche Intereſſe des Reiches daran, daß die Einzelſtaaten von ihren Mitgliedſchaftsrechten im Bundesrath Gebrauch machen. Der Bundesrath, als ein unentbehrliches Organ des Reiches, deſſen Funktionen es nicht miſſen kann, wird in ſeiner Thätigkeit dadurch nicht gehemmt, daß ein oder einige Einzelſtaaten ihr Stimmrecht nicht ausüben.

2) Die Theilnahme an dem Bundesrath wird Seitens der Einzelſtaaten ausgeübt durch Geſchäftsträger, welche die R. -V. in demſelben Art. 6 als Vertreter und Bevollmächtigte be - zeichnet. Beide Ausdrücke bedeuten daſſelbe; ſie beziehen ſich auf den Gegenſatz zu den an Aufträge und Inſtruktionen nicht gebun - denen Reichstags-Abgeordneten. In der Abſtimmung des Bevoll - mächtigten kommt nicht ſein ſubjectiver Wille, auch nicht die per -239§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.ſönliche Anſicht ſeines Landesherrn, ſondern der ſtaatliche Wille des Bundesgliedes zum Ausdrucke1)Fürſt Bismarck charakteriſirte in ſeiner berühmten Rede im Reichs - tage vom 19. April 1871 die Stimmen im Bundesrathe in folgender Art: Nach der Erfurter Verfaſſung ſtimmte im Staatenhauſe nicht der Staat, ſondern das Individuum; es war Jemand ernannt worden (ich weiß nicht, ob auf Lebenszeit oder limitirt), aber er ſtimmte nicht nach Inſtruktionen, ſondern nach ſeiner Ueberzeugung. So leicht wiegen die Stimmen im Bun - desrathe nicht; da ſtimmt nicht der Freiherr v. Frieſen, ſondern das König - reich Sachſen ſtimmt durch ihn, nach ſeiner Inſtruktion giebt er ein Votum ab, was ſorgfältig deſtillirt iſt aus all den Kräften, die zum öffentlichen Leben in Sachſen mitwirken. In dem Votum iſt die Diagonale aller der Kräfte, die in Sachſen thätig ſind, um das Staatsweſen zu bilden. Analog iſt es in den Hanſeſtädten, in den republikaniſchen Gliedern; es iſt das ganze Gewicht einer reichen, großen, mächtigen, intelligenten Handelsſtadt, was ſich Ihnen in dem Votum der Stadt Hamburg im Bundesrath darſtellt, und nicht das Votum eines Hamburgers, der nach ſeiner perſönlichen Ueberzeugung ſo oder ſo votiren kann. Die Vota im Bundesrath nehmen für ſich die Achtung in Anſpruch, die man dem geſammten Staatsweſen eines der Bundesglieder ſchuldig iſt. .

Hieraus ergeben ſich folgende Sätze:

a) Da nicht die einzelnen Bevollmächtigten als Individuen, ſondern die Staaten im Bundesrathe Stimmen haben, ſo kann jedes Mitglied des Reiches, welches mehrere Stimmen im Bundes - rath führt, die Geſammtheit der zuſtändigen Stimmen nur ein - heitlich abgeben. Es iſt dies im Art. 6 der R. -V. beſonders aus - geſprochen; verſteht ſich aber von ſelbſt, da es vernunftwidrig iſt, daß ein Staat gleichzeitig zwei oder mehr ſich widerſprechende Willen habe.

b) Die Anzahl der Stimmen, welche ein Staat im Bundes - rath führt, iſt ganz unabhängig von der Anzahl der Bevollmäch - tigten, welche als ſeine Vertreter an der Bundesrathsſitzung Theil nehmen. Nach Ausweis der Protokolle des Bundesrathes iſt die Anzahl der Perſonen, welche an den Sitzungen Theil nehmen, ſehr viel geringer als die Anzahl der Stimmen, welche im Bundesrath geführt werden; indem von den größeren Staaten in der Regel nur ein oder zwei Bevollmächtigte anweſend ſind und die kleineren ſehr häufig durch einen, mit Subſtitutions-Vollmacht verſehenen Vertreter eines anderen Bundesgliedes ihre Stimmen abgeben. Für die Berathung und Discuſſion iſt dies unter Umſtänden von240§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.Belang, für die Abſtimmung iſt es völlig unerheblich1)Nehmen mehrere Vertreter deſſelben Staates an der Bundesrathsſitzung Theil, ſo iſt einer von ihnen mit der Stimmführung betraut; führt ein Mit - glied des Bundesrathes die Stimmen mehrerer Staaten, ſo giebt er das Vo - tum jedes Staates beſonders ab.; denn nicht die Bevollmächtigten, ſondern die Staaten ſtimmen ab.

c) Aus der Stellung, welche den Bundesraths-Bevollmäch - tigten zukömmt, ergiebt ſich ferner der im Art. 9 der Verfaſſung ausgeſprochene Satz, daß Niemand gleichzeitig Mitglied des Bun - desrathes und des Reichstages ſein kann. Denn derjenige, welcher beiden Körperſchaften angehört, müßte als Mitglied des Bundes - rathes nach der ihm ertheilten Inſtruktion, als Mitglied des Reichstages nach freier perſönlicher Ueberzeugung ſtimmen. Es könnte daher Jemand, der beiden Körperſchaften angehört, in die Lage kommen, im Reichstage diejenige Maßregel zu bekämpfen, welcher er im Bundesrathe zugeſtimmt hat, und umgekehrt.

Dagegen ſteht es jedem Mitgliede des Bundesrathes frei, im Reichstage die Anſichten ſeiner Regierung zu vertreten und zwar auch dann, wenn dieſelben von der Majorität des Bun - desrathes nicht adoptirt worden ſind. R. -Verf. Art. 9.

d) Die Mitglieder des Bundesrathes ſind nicht Beamte des Reiches. Sie beziehen aus Reichsmitteln keinen Gehalt; ſie ſind nicht der Disciplinargewalt des Reiches unterworfen; ſie können für ihre Abſtimmungen und ihre anderweitige Thätigkeit im Bun - desrathe weder vom Bundesrathe ſelbſt noch vom Kaiſer oder vom Reichstage in irgend einer Form zur Rechenſchaft gezogen werden. Sie ſind vielmehr bevollmächtigte Geſchäftsträger der Einzelſtaaten. Eine indirecte Anerkennung hat dieſer, aus der Natur des Bun - desrathes ſich ergebende Satz in der R. -V. Art 10 gefunden: Dem Kaiſer liegt es ob, den Mitgliedern des Bundes - rathes den üblichen diplomatiſchen Schutz zu ge - währen.

Dadurch iſt ihnen und dem zu ihrer Hülfe ihnen beigegebenen Perſonal, ſoweit ſie nicht Preußiſche Staatsangehörige ſind, die Exterritorialität der Preußiſchen (Landes -) Staatsgewalt gegenüber gewährleiſtet2)Was in Folge der Reichsangehörigkeit von geringer praktiſcher Bedeu - tung iſt, abgeſehen von der Exemtion von direkten Steuern. und ihnen der Genuß derjenigen Vorrechte zuge -241§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.ſichert, welche nach der Uebung des Völkerrechts diplomatiſchen Geſchäftsträgern zukommen1)Thudichum Verf. -Recht S. 106. Seydel Comment. S. 111. v. Mohl S. 276..

e) Dagegen iſt der Bundesraths-Bevollmächtigte Mandatar und in der Regel auch Beamter des Einzelſtaates, welchen er vertritt. Er iſt daher ſeiner Regierung verantwortlich dafür, daß er ſeinen Inſtruktionen gemäß geſtimmt habe; nicht minder aber für ſeine anderweitige amtliche Thätigkeit, namentlich für die ihm obliegende Bericht-Erſtattung an die Regierung über die Vorgänge am Bundesrathe.

Wenn der Bevollmächtigte was die Regel iſt zugleich Beamter des von ihm vertretenen Staates iſt, ſo beſtimmt ſich ſeine Verantwortlichkeit nach dem, in dieſem Staate geltenden Beamten - geſetz2)v. Mohl S. 277 fg.; er iſt ferner der Disciplinargewalt ſeiner Regierung unter - worfen und er bezieht aus den Mitteln des Einzelſtaates ſeinen Gehalt.

f) Da die Anzahl der Bevollmächtigten weder das Stimmen - verhältniß im Bundesrath noch die Finanzen des Reiches berührt, ſo iſt es prinzipiell den Einzelſtaaten überlaſſen, wie viele Be - vollmächtigte zum Bundesrathe ſie ernennen wollen. Da aber eine unbegränzte Anzahl von Bevollmächtigten eine große Beläſtigung und Erſchwerung des Geſchäftsganges herbeiführen könnte, ſo hat die R. -V. Art. 6 Abſ. 2 ein Maximum feſtgeſetzt durch die Beſtim - mung: Jedes Mitglied des Bundes kann3) kann , nicht muß . ſo viel Bevollmächtigte zum Bundesrathe ernennen, wie es Stimmen hat.

Ueberdies ſteht es jedem Bundesſtaate frei, Stellvertreter für die Bevollmächtigten zum Bundesrathe zu ernennen.

3) Die Ertheilung der Inſtruktion an die Bevollmächtigten iſt ein Regierungs-Geſchäft des Einzelſtaates und ſteht unter den Regeln des Landesſtaatsrechts4)Vgl. oben §. 9 S. 90 fg..

Daß bei der Inſtruktionsertheilung die Geſammt-Intereſſen des Reiches berückſichtigt werden, iſt eine patriotiſche Pflicht, ja eine politiſche Nothwendigkeit; rechtlich iſt es aber jedem StaateLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 16242§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.unverwehrt, ſein egoiſtiſches, partikuläres Intereſſe dabei allein im Auge zu behalten.

Der Miniſter, welcher die Inſtruktion ertheilt oder gegenge - zeichnet hat, iſt für dieſe Regierungshandlung nach Maaßgabe des öffentlichen Rechts ſeines Staates verantwortlich1)Siehe oben S. 91 Note 1.. Man kann es daher auch nicht für unzuläſſig erachten, wenn in einer beſon - ders wichtigen und das Intereſſe eines einzelnen Staates in hohem Grade berührenden Angelegenheit die Regierung dieſes Staates dadurch ihre Verantwortlichkeit zu erleichtern, und ſich zu decken ſucht, daß ſie vor Ertheilung der Inſtruktion an den Bundesraths - Bevollmächtigten die Anſicht des Landtages einholt und im Einver - ſtändniß mit demſelben ihr Verhalten im Bundesrath beſtimmt. Ja es kann dies unter Umſtänden für eine Regierung eine poli - tiſche oder auch rechtliche Pflicht ſein; jedenfalls ſteht das Reichs - recht in keiner Weiſe dem entgegen, daß in den einzelnen Staaten die Regierungen wichtige Staatsgeſchäfte, zu denen die Ertheilung der Inſtruktionen an die Bundesraths-Bevollmächtigten gehören kann, nur in Uebereinſtimmung mit der Volksvertretung vornehmen.

Hiernach beantwortet ſich auch die mehrfach erörterte Frage, ob es zuläſſig iſt, daß durch ein partikuläres Staatsgeſetz die In - ſtruirung des Bundesraths-Bevollmächtigten von der vorgängigen Zuſtimmung des Landtages abhängig gemacht werde.

Die Reichsverfaſſung ſelbſt beſtimmt darüber Nichts. Sie begnügt ſich mit der Abſtimmung des Bevollmächtigten im Bundes - rath, ohne die materiellen Vorausſetzungen zu berühren, unter wel - chen der Bevollmächtigte zur Abgabe ſeiner Stimme befugt ſei. Das Reich iſt weder berechtigt noch verpflichtet zu prüfen, ob die Inſtruktion dem Staatsrecht des Einzelſtaates gemäß ertheilt oder dem politiſchen Intereſſe deſſelben entſprechend ſei. Ganz unrichtig aber iſt das argumentum a contrario, daß, weil das Reich über die materiellen Erforderniſſe einer rechtsgültigen Inſtruktion keine Vorſchriften aufſtellt und ſich überhaupt um dieſelben nicht be - kümmert, es den Einzelſtaaten unterſagt ſei, für die Inſtruktions - Ertheilung materielle Bedingungen aufzuſtellen und insbeſondere eine Mitwirkung der Landtage anzuordnen2)Dies iſt die Beweisführung Seydel’s Comment. S. 97. 270. Vgl. auch Hänel Studien I. S. 219.. Die Reichsverfaſ -243§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.ſung normirt lediglich die Abſtimmung im Bundesrathe, aber mit keinem Worte die Inſtruktionsertheilung, welche res interna jedes einzelnen Staates iſt. Sie enthält daher auch weder ausdrücklich noch ſtillſchweigend den Grundſatz, daß die Ertheilung der In - ſtruktion an die Bevollmächtigten ausſchließlich den Landesherren, beziehentlich den Staatsregierungen zuſtehen müſſe.

Die ganze Frage hat übrigens, abgeſehen von der Aufhebung von Individualrechten von Bundesgliedern, ein lediglich theoreti - ſches Intereſſe. Praktiſch dürfte es wohl nicht leicht ſich ereignen, daß ein Staat ein Geſetz erließe, welches dem Landtage eine Mitwirkung bei der Inſtruktion der Bevollmächtigten einräumte. Denn abgeſehen davon, daß die Landesherren kaum geneigt ſein werden, ein ſo wichtiges Regierungsrecht aufzuopfern, würde das Geſetz keine andere Wirkung haben, als daß der Staat ſein Stimm - recht im Bundesrathe in allen Fällen einbüßen würde, in denen es unthunlich iſt, den Landtag vorher zu befragen, oder in denen die Regierung dem Votum des Landtages nicht beipflichten könnte. Der Bevollmächtigte des Staates wäre dann nicht inſtruirt und die Stimme deſſelben würde bei der Beſchlußfaſſung des Bundes - rathes einfach nicht gezählt werden. Ein ſolches Geſetz würde nicht den Einfluß des Landtages des Einzelſtaates auf die Wil - lensentſchlüſſe des Reiches erhöhen, ſondern den Einfluß des Ein - zelſtaates auf die Bundesraths-Beſchlüſſe überhaupt vernichten; der gegen die Regierung geführte Streich träfe den Staat. Auch iſt nicht zu verkennen, daß auch aus anderen politiſchen Gründen ein ſolches Geſetz verwerflich wäre, da das Volk in ſeiner Geſammtheit durch den Reichstag eine Vertretung erhalten hat, neben welcher die Volksvertretungen der einzelnen Staaten zurück - treten müſſen.

Anders verhält es ſich bei der Aufopferung von Sonderrech - ten oder der Uebernahme beſonderer Laſten und Beſchränkungen, überhaupt bei Beſchlüſſen des Bundesrathes, welche nur mit Zu - ſtimmung eines einzelnen Staates gefaßt werden können. Da hier eine poſitive Erklärung des betreffenden Staates erforderlich iſt, kann der Beſchluß des Bundesrathes nicht rechtswirkſam ge - faßt werden, ſo lange der Bevollmächtigte nicht in der Lage iſt, die zuſtimmende Erklärung abzugeben. Eine landesgeſetzliche Vor - ſchrift, daß die Regierung ohne Genehmigung des Landtages nicht16*244§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.befugt ſei, ihren Bevollmächtigten im Bundesrathe zu inſtruiren, der Aufhebung von Sonderrechten zuzuſtimmen, würde daher von praktiſchem Erfolge ſein und eine Erſchwerung der reichsgeſetzlichen Aufhebung der Sonderrechte bilden1)Vgl. oben S. 120 fg..

4) Die Ausübung der den Einzelſtaaten zuſtehenden Rechte im Bundesſtaate bedarf noch nach einer anderen Richtung einer näheren juriſtiſchen Beſtimmung. Die Bundesraths-Mitglieder ſind Vertreter der Einzelſtaaten, Bevollmächtigte derſelben. In der rechtswiſſenſchaftlichen Literatur herrſchte bis in die neuere Zeit eine verwirrende Identifizirung von Vollmacht und Mandat oder Auftrag. Erſt ſeit verhältnißmäßig kurzer Zeit iſt auf dem Gebiete des Civilrechts, namentlich des Handelsrechts, der Gegen - ſatz beider Begriffe ſcharf feſtgeſtellt worden. Die Vollmacht oder Vertretung bezieht ſich auf das Verhältniß zu Dritten, auf die Fähigkeit des Stellvertreters, Willenserklärungen mit rechtlicher Wirkung für den Principal abzugeben; der Auftrag betrifft die innere Seite, das Rechtsverhältniß des Mandatars zum Auftrag - geber; die Uebernahme des Auftrags begründet die Pflicht des Beauftragten, für den Auftraggeber und ſeinem Willen gemäß Rechtsgeſchäfte zu erledigen.

In der Stellung der Bundesraths-Bevollmächtigten ſind eben - falls dieſe beiden Rechtsbeziehungen zu unterſcheiden. Dem Reiche und den übrigen Bundesgliedern gegenüber kommt die Vollmacht und nur ſie allein in Betracht; gegenüber dem Heimathsſtaate der Auftrag. Die Vertretungsbefugniß oder Vollmacht iſt lediglich die formelle Ermächtigung, daß der Bevollmächtigte die Stimme des Staates im Bundesrath führen ſoll, ohne darüber Auskunft zu geben, wie er ſie abgeben ſoll; der Auftrag kann nicht blos dahin gehen, wie der Bevollmächtigte ſtimmen ſoll, ſondern auch, daß er nicht ſtimmen, ſich der Abſtimmung enthalten ſoll.

Es ergeben ſich aus dieſer Unterſcheidung folgende Rechtsſätze:

a) Der Bundesrath hat das Recht und die Pflicht, die Voll - macht oder Legitimation ſeiner Mitglieder zu prüfen2)v. Pözl S. 112 Note 1. v. Rönne S. 149.. Dieſe Prüfung erſtreckt ſich in der Regel nur darauf, daß in einer for - mell ordnungsmäßigen Urkunde die Vertretung des Staates im245§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.Bundesrathe und die Führung der Stimmen Demjenigen über - tragen worden iſt, welcher ſich als Bevollmächtigter des Staates gerirt. Sie kann aber auch darauf ſich erſtrecken, ob die Voll - macht von dem befugten Vertreter des Staates ausgeſtellt iſt. Falls in einem Bundesſtaate etwa mehrere Prätendenten um den Thron ſtreiten oder wenn ein Uſurpator deſſelben ſich bemächtigt hat, ſo kann der Bundesrath die ſich meldenden Vertreter dieſes Staates entweder ſämmtlich zurückweiſen wegen nicht gehörig er - folgter Legitimation oder einen von ihnen zulaſſen und dadurch implicite den Vollmachtsgeber deſſelben als den zur Vertretung des Staates befugten Landesherrn anerkennen1)Siehe unten §. 29..

Der Reichskanzler als der Vorſitzende des Bundesrathes und Miniſter des Kaiſers prüft die Vollmacht der Bundesrathsmitglie - der, ſoweit dieſe Prüfung nicht materielle Rechtsfragen, ſondern nur die formelle Legitimation betrifft, und bringt die Ernennungen der Bundesraths-Bevollmächtigten durch das Reichsgeſetzblatt zur öffentlichen Kenntniß.

b) Der Bundesrath hat weder die Pflicht noch das Recht, den Auftrag oder die Inſtruktion ſeiner Mitglieder zu prü - fen2)Thudichum Verf. -R. S. 102. Seydel S. 97. Weſterkamp S. 98. v. Mohl S. 253.. Er hat nicht darüber zu wachen, daß die Bevollmächtigten ihrer Inſtruktion gemäß ſtimmen und es hat auf die Wirkung der Abſtimmung gar keinen Einfluß, falls ſich etwa herausſtellen ſollte, daß ein Bevollmächtigter ohne Inſtruktion oder gar gegen die ihm ertheilte Inſtruktion geſtimmt habe3)Dadurch wird natürlich nicht ausgeſchloſſen, daß der Bundesrath nicht aus einem ſolchen Vorgange Veranlaſſung nehmen könnte, den gefaßten Be - ſchluß aus freien Stücken wieder aufzuheben, wofern dies nicht aus andern Gründen unmöglich iſt. v. Rönne S. 149. 150. v. Mohl S. 254.. Die[Abſtimmung] iſt ein Formal-Akt, deſſen rechtsverbindliche Kraft theils auf der Voll - macht theils auf der geſchäftsordnungs mäßigen Behandlung der Angelegenheit beruht, deſſen Rechtswirkſamkeit aber von den Motiven der Abſtimmung gelöſt und ihnen gegenüber ſelbſtſtändig iſt. Die Inſtruktion erſcheint lediglich als ein Motiv für die Abſtim - mung und es iſt daher für die Rechtswirkſamkeit der letzteren un -246§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.erheblich, ob die Abſtimmung, ſo wie ſie erfolgt iſt, wirklich durch die erhaltene Inſtruktion gerechtfertigt erſcheint oder nicht1)Dies gilt auch von der im Bundesrath erklärten Zuſtimmung zur Auf - hebung von Sonderrechten. Siehe oben S. 119 121..

5) Der Antheil der einzelnen Staaten an der, dem Bundes - rathe zugewieſenen Thätigkeit erſtreckt ſich gleichmäßig für alle Staaten auf die geſammte, dem Bundesrath zuſtehende Kompetenz. Auch wenn ein Beſchluß des Bundesrathes, ſei es über eine Ge - ſetzesvorlage, ſei es über eine Einrichtung oder eine Verwaltungs - maaßregel, thatſächlich nur einen Theil des Bundesgebietes oder der Bundesglieder betrifft, ſo iſt doch die Geſammtheit aller Staaten berechtigt, an der Beſchlußfaſſung Theil zu nehmen. Denn es handelt ſich auch bei ſolchen Angelegenheiten um das Intereſſe des Reiches als eines Ganzen, nicht um das zufällig gemeinſame Intereſſe einiger Bundesglieder.

Dieſes Princip erleidet jedoch eine Modifikation in Folge der, den Süddeutſchen Staaten zugeſtandenen Reſervatrechte. Inſoweit das Reich von der Ausübung einzelner Hoheitsrechte in den Süd - deutſchen Staaten ausgeſchloſſen iſt, ſind auch die Süddeutſchen Staaten von der Theilnahme an dieſer Ausübung ausgeſchloſſen. Die Beſchränkung der Reichsgewalt einzelnen Mitgliedern gegen - über hat ihr Correlat in der Beſchränkung des Antheils dieſer Mitglieder an der Reichsgewalt. Die R. -V. gibt dieſem Gedanken in Art. 7 Abſ. 4. einen Ausdruck durch die Beſtimmung: Bei der Beſchlußfaſſung über eine Angelegenheit, welche nach den Beſtimmungen dieſer Verfaſſung nicht dem ganzen Reiche gemeinſchaftlich iſt, werden die Stimmen nur der - jenigen Bundesſtaaten gezählt, welchen die Angelegenheit gemeinſchaftlich iſt2)Vgl. hierüber Thudichum in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 23..

Die Beſchränkung des Stimmrechts tritt nach dem klaren Wortlaut dieſer Beſtimmung nur ein bei denjenigen Angelegen - heiten, welche nach der Verfaſſung nicht gemeinſchaftlich ſind; dagegen nicht bei Bundesraths-Beſchlüſſen, welche ſich thatſächlich nur auf einen Theil des Bundesgebietes oder der Bundes-Mit - glieder beſchränken, oder welche ſich auf Reichsgeſetze beziehen, welche nicht für das ganze Bundesgebiet erlaſſen worden ſind3)Vgl. Staatsmin. Delbrück im II. Außerordentl. Reichstage 1870..

247§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.

Ausgeſchloſſen iſt demgemäß das Stimmrecht Bayerns, Württembergs und Badens in allen, die Branntwein - und Bier - ſteuer betreffenden Angelegenheiten (R. -V. Art. 35. 38. ), das Stimmrecht Bayerns und Württembergs in denjenigen Angelegen - heiten, welche die Verwaltung der Reichs-Poſt - und Telegraphen - Anſtalt betreffen (R. V. Art. 52), das Stimmrechts Bayerns in Angelegenheiten, welche die Beaufſichtigung und Geſetzgebung des Reiches über die Heimaths - und Niederlaſſungsverhältniſſe angehen (R. -V. Art 4 Nro 1), und welche zu den, dem Reiche in den Art. 42 46 Abſ. 1 der R. -V. eingeräumten Hoheitsrechten hin - ſichtlich des Eiſenbahnweſens gehören.

Nichtausgeſchloſſen iſt das Stimmrecht Hamburgs und Bremens in Zoll - und Steuer-Angelegenheiten; denn abgeſehen davon, daß Gebietstheile des Hamburger Staates in das Zoll - Gebiet eingeſchloſſen ſind, entrichten dieſe Staaten an Stelle der indirekten Steuern Averſa an das Reich1)Staatsmin. Delbrück a. a. O. S. 123. und haben nach Art. 35 der R. -V. die Autonomie über das geſammte Zollweſen und die in dieſem Artikel aufgeführten Steuern verloren. Ebenſowenig iſt das Stimmrecht Bayerns in Angelegenheiten der Heeresver - waltung ausgeſchloſſen, da der vom Reiche aufgeſtellte Militär - Etat auch die, für das Bayeriſche Contingent zu verwendenden Geldbeträge, wenngleich in einer Geſammtſumme, feſtſetzt und für die Verwendung dieſer Geldſumme die Anſätze des Reichsetats zur Richtſchnur dienen2)Staatsmin. Delbrück a. a. O. S. 122., und weil auch im Uebrigen Bayern ver - pflichtet iſt, in Bezug auf Organiſation, Formation, Ausbildung und Gebühren und hinſichtlich der Mobilmachung volle Ueberein - ſtimmung mit den für das Bundesheer beſtehenden Normen her - zuſtellen3)Bayer. Bündniß-Vertrag III. §. 5 sub III. Abſ. 2. (R. -G.-Bl. 1871 S. 20.).

3)Stenogr. Ber. S. 125. Völlig unrichtig iſt die von Seydel Comment. S. 105 aus Art. 7 Abſ. 4 gezogene Folgerung: Wo daher die Gemeinſam - keit der Angelegenheit für das einzelne Bundesglied aufhört, hört auch der Bundesrath auf Organ für Wahrnehmung der Intereſſen dieſes Bundesgliedes zu ſein. Nicht die Gemeinſamkeit des Intereſſes, ſondern die verfaſſungs - mäßige Kompetenz des Reiches iſt maßgebend.

248§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.

III. Dadurch, daß in dem Bundesrathe die einzelnen deut - ſchen Staaten als Individuen zur Geltung kommen und die Bun - desraths-Mitglieder die Stellung von bevollmächtigten Geſchäfts - trägern der Regierungen der Bundesſtaaten haben, ergibt ſich, daß der Bundesrath den Gliedern des Reiches ſehr weſentliche Dienſte als Communikations-Mittel zu leiſten vermag. Die deutſchen Regierungen müſſen unter einander in fortwähren - dem Meinungs-Austauſche ſtehen; ſie müſſen über alle Fragen des Staatslebens, welche in die Kompetenz der Reichsgewalt ein - ſchlagen oder Geſammt-Intereſſen des Reiches berühren, ihre An - ſichten und Abſichten ſich gegenſeitig mittheilen. Nur dadurch kann es verhütet werden, daß einzelne Staaten oder Staatengruppen eine Sonderpolitik treiben, daß Meinungsdifferenzen zu Conflikten ausarten, daß unter den Regierungen Mißtrauen und Verdächti - gungen aufkommen und daß der Zwang der Majoritäten-Tyrannei an die Stelle aufrichtiger Verſtändigung und freudigen Zuſam - menwirkens tritt. In dieſer Beziehung iſt der Bundesrath, was die ehemalige Bundesverſammlung hätte ſein ſollen, ein zweck - mäßiger Erſatz für eine unüberſehbare Menge von Cirkular - depeſchen und identiſchen Noten, welche jede Bundesregierung an alle übrigen in jeder ſchwebenden Angelegenheit richten müßte. Das Bundesraths-Mitglied iſt das Sprachrohr, durch welches jede Regierung gleichzeitig zu allen übrigen ſpricht und zugleich das Hörrohr, durch welches ſie die Erklärungen aller übrigen ver - nimmt1)Hierauf beruht es, daß, obwohl rechtlich der Bevollmächtigte nach der, von ſeiner Regierung ihm ertheilten Inſtruktion zu ſtimmen hat, thatſäch - lich er durch ſeine Berichte die Entſchließungen ſeiner Regierung beeinfluſſen kann, ſo daß er mehr ſeine Regierung inſtruirt, als er von ihr inſtruirt wird..

In einer ſpeziellen Richtung hat dieſe Fähigkeit des Bundes - rathes, den Regierungen als Communikations-Mittel zu dienen, eine Verwerthung und verfaſſungsmäßige Regelung gefunden, durch die Bildung des Bundesraths-Ausſchuſſes für die aus - wärtigen Angelegenheiten.

Dieſer Ausſchuß iſt geſchaffen worden durch den Bayeriſchen Vertrag v. 23 Nov. 1870 Art. II §. 6, und ſollte nach demſelben aus den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern, Sachſen und Württemberg unter dem Vorſitze Bayerns beſtehen. Bei der Re -249§. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe.daktion der Reichsverfaſſung wurde er aber verſtärkt durch zwei, vom Bundesrathe alljährlich zu wählende Bevollmächtigte anderer Bundesſtaaten1)In den Motiven (I. Seſſ. 1871 Druckſ. 4) wird darüber bemerkt, daß dieſe Beſtimmung auf den Wunſch mehrerer Bundesſtaaten unter voller Zuſtimmung der beiden Kontrahenten des Vertrages vom 23. November ge - troffen worden ſei..

Dieſer Ausſchuß iſt durchaus verſchieden von den übrigen, durch die Norddeutſche Bundesverfaſſung bereits vorgeſehenen Bun - desraths-Ausſchüſſen und entſpricht einer ganz anderen Funktion des Bundesrathes wie die letzteren, obwohl er im Art. 8 der R. -V. neben denſelben Platz gefunden hat. In allen, den übrigen Aus - ſchüſſen zugewieſenen Funktionen erſcheint der Bundesrath durchweg als ein Willensorgan des Reiches, als ein Theil des Regierungs - Apparates des Reiches; in dem Ausſchuſſe für die auswärtigen Angelegenheiten dagegen als ein Communikations-Mittel der Einzel - ſtaaten. Dieſer Ausſchuß hat Nichts zu thun mit der Inſtruirung der diplomatiſchen Geſchäftsträger, mit dem Abſchluß internationaler Verträge, mit der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten; er kann nicht Namens des Reiches wollen oder handeln, beſchließen oder verfügen oder Beſchlüſſe des Bundesrathes in auswärtigen Angelegenheiten vorbereiten. Er iſt nur dazu da, um Mittheilun - gen über die auswärtigen Beziehungen des Reiches zu empfangen und die Anſichten der Einzel-Regierungen über dieſe Mittheilun - gen auszutauſchen; er dient lediglich zur Information der Bun - desregierungen über den Stand der auswärtigen Politik und zur Discuſſion dieſer Politik, ihrer Zielpunkte und Wege2)Staatsmin. Delbrück im Nordd. Reichst. 1870. II. Aufl. Seſſion. Sten. Ber. S. 140..

Daraus erklärt es ſich, daß in dieſem Ausſchuſſe und zwar nur in dieſem, Preußen nicht vertreten iſt, da eine Informirung des Kaiſers über den Stand der auswärtigen Politik, deren oberſte Leitung ihm ſelbſt zuſteht, widerſinnig wäre3)Es iſt im Nordd. Reichstage bei der Diskuſſion über den Bayeriſchen Vertrag von dem Abgeordneten Lasker die Frage angeregt worden, ob der Vorſitzende dieſes Ausſchuſſes berechtigt ſei, ihn außerhalb Berlins zuſam - mentreten zu laſſen. Darauf erwiederte Staatsminiſter Delbrück, er glaube daß aus der Verf. ſelbſt unzweifelhaft folge, daß der Ausſchuß einer Körper - ſchaft, deren Berufung dem Präſidium zuſteht, nur an dem Orte tagen kann,.

250§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

Dieſer Ausſchuß bildet aber keineswegs ein Hinderniß, daß nicht auch dem Plenum des Bundesrathes unmittelbar Mittheilun - gen über die auswärtigen Angelegenheiten des Reiches gemacht werden, wie dies bereits vor Bildung dieſes Ausſchuſſes wieder - holt geſchehen iſt1)Vgl. z. B. Protokolle des Bundesrathes von 1871 §. 52. 93. 121..

§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

Ein völlig anderes Bild gewährt die Inſtitution des Bundes - rathes, wenn man denſelben als Ganzes betrachtet. Das Recht des Einzelſtaates conſumirt ſich durch die im Bundesrath erfolgte Abſtimmung; nur bis zu dieſem Moment erſcheint die Individua - lität des einzelnen Staates als maaßgebend2)Nicht im Widerſpruch hiermit ſteht die Beſtimmung des Art. 9 der R. -V., daß jedes Mitglied des Bundesrathes das Recht hat, im Reichstage die Anſichten ſeiner Regierung zu vertreten, auch dann, wenn dieſelben von der Majorität des Bundesrathes nicht adoptirt worden ſind. Denn überall, wo zu einem Willensact des Reiches die Zuſtimmung des Reichstages erfor - derlich iſt, hat die Beſchlußfaſſung des Bundesrathes über die zu machende Vorlage nur die Bedeutung eines präparatoriſchen Actes.. Sobald der Bun - desrath einen Beſchluß gefaßt hat oder ſofern er in irgend einer Beziehung als Einheit, als Geſammtheit rechtlich in Betracht kommt, iſt er ein Willens - und Handlungs-Organ des Reiches, übt er die ſouveräne, über den Einzſtaaten ſtehende Reichsgewalt aus. Ein Bundesraths-Beſchluß entſteht zwar durch die Willens-Entſchlüſſe der einzelnen Staaten, aber er iſt nicht eine übereinſtimmende Willenserklärung der letzteren oder der Majorität derſelben, ſon -3)wo die Körperſchaft ſelbſt tagt. (Stenogr. Ber. a. a. O. S. 141.) Unzwei - felhaft dürfte dies wohl nicht ſein. Dagegen ergiebt ſich aus der thatſäch - lichen Bedeutung dieſes Ausſchuſſes, daß er an keinem Orte Informationen über die auswärtige Politik des Reiches erhalten kann, als da, wo der Reichs - kanzler in der Lage und Willens iſt, ihm dieſelbe zu geben und daß ebenſo wenig eine Diskuſſion dieſer Politik in Abweſenheit des Reichskanzlers auf denſelben Eindruck zu machen im Stande iſt. Daß aber gerade nur Berlin der Verſammlungsort dieſes Ausſchuſſes ſein könne, läßt ſich ſchwerlich behaup - ten. Was hätte z. B. im Wege geſtanden, wenn ein ſolcher Ausſchuß ſchon vor dem Ausbruch des franzöſ. Krieges beſtanden hätte, denſelben nach Ems einzuberufen oder ſpäter nach Verſailles? Im Allgemeinen beſteht aber auch für den Ausſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten die im §. 20 der Ge - ſchäfts-Ordnung des Bundesrathes ausgeſprochene Regel, daß die Bundes - raths-Ausſchüſſe ſich am Sitze des Bundesrathes verſammeln.251§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.dern er iſt die Willenserklärung eines ſelbſtſtändigen, öffentlich rechtlichen Subjekts, welchem die ſtaatliche Herrſchaft über die Ein - zelſtaaten zuſteht, das aber durch die Geſammtheit der letzteren gebildet wird.

Es mag hier nochmals daran erinnert werden, was oben S. 388 fg. bereits ausgeführt worden iſt, daß dem Bundesrath nicht die Souveränetät zuſteht, daß er nicht Subjekt der Reichsgewalt iſt1)Das Verhältniß iſt daſſelbe wie bei privatrechtlichen Korporationen das Verhältniß der Beſchlüſſe der General-Verſammlung zu den Abſtimmungen und anderen Willensbethätigungen der einzelnen Mitglieder.. Er iſt nur ein Organ, deſſen ſich dieſes Subjekt zur Aus - übung gewiſſer Funktionen bedient. Sowie in dieſem ideellen Subjekt die Perſonen der Mitglieder, aus denen es gebildet iſt, als Individuen verſchwinden, ſo erſcheint auch der Bundesrath als Einheit, ſobald er an der Ausübung der Reichsgewalt und an der Durchführung der dem Reiche obliegenden Aufgaben Antheil nimmt.

Man kann daher auch nicht behaupten, die Souveränetät des Reiches ſei zwiſchen Bundesrath und Kaiſer getheilt. Die ſouveräne Gewalt iſt untheilbar und weder dem Bundesrath noch dem Kaiſer ſteht ein Theil derſelben zu; ſie gehört vielmehr ganz und vollſtändig der Geſammtheit der deutſchen Staaten. Aber die Funktionen der Staatsthätigkeit, die Leiſtung der ſtaatlichen Arbeit im Reich, die Handhabung der ſouveränen Gewalt auf verſchiedenen Gebieten des ſtaatlichen Lebens ſind an mehrere Organe vertheilt und von dem Zuſammenwirken derſelben abhän - gig gemacht. Die Art dieſer Vertheilung beruht oft mehr auf politiſchen Gründen und Zweckmäßigkeits-Erwägungen als auf juri - ſtiſchen Principien und logiſchen Conſequenzen. Mit einer Defini - tion des Bundesrathes den Wirkungskreis deſſelben ſo zu beſtim - men, daß Alles was ihm obliegt, eingeſchloſſen, und alles Andere ausgeſchloſſen iſt, erweiſt ſich als unmöglich.

Wohl aber kann man die Stellung des Bundesrathes im Or - ganismus des Reiches näher beſtimmen, namentlich im Gegenſatz zu der Stellung des Kaiſers.

Schon aus den dem Kaiſer zugewieſenen Funktionen ergibt ſich, was für den Bundesrath übrig bleibt. Dem Kaiſer ſteht zu:252§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.die Vertretung nach Außen, die Führung der Regierungsgeſchäfte, die Verwaltung der Machtmittel (Oberbefehl). Daraus folgt, daß der Schwerpunkt der dem Bundesrath zugewieſenen Thätigkeit in der Aufſtellung der Rechtsregeln und der allgemeinen Verwaltungs - normen ruht. Der Bundesrath iſt das Geſetzgebungs - organ des Reiches; ſeine Thätigkeit übt er aus theils unter Mitwirkung des Reichstages (Geſetze), theils ſelbſtſtändig (Ver - ordnungen).

Hierauf iſt er aber allerdings nicht beſchränkt, es ſteht ihm vielmehr bei den wichtigſten Verwaltungsgeſchäften und Regie - rungshandlungen eine Mitwirkung zu. Der Bundesrath iſt daher nicht blos Geſetzgebungs-Organ, ſondern auch Verwaltungs - Organ des Reiches. In einzelnen Fällen iſt er auch berufen, für die Aufrechthaltung der Rechts-Ordnung im Reiche mit - zuwirken. Aber es beſteht zwiſchen dieſen Aufgaben des Bundes - rathes eine große Verſchiedenheit. Daß der Bundesrath die Ge - ſetze und Verordnungen beſchließt, iſt die Regel; ſollen für das Reich gültige Rechtsnormen ohne Beſchlußfaſſung des Bundes - rathes zu Stande kommen, z. B. durch Allerh. Erlaß des Kaiſers, ſo muß dies durch ein Geſetz beſonders beſtimmt ſein. Da - gegen daß der Bundesrath eine Mitwirkung an den eigentlichen Regierungsgeſchäften hat, iſt die Ausnahme; die Mitwirkung des Bundesrathes und die daraus reſultirende Beſchränkung des Kaiſers, beziehentlich des Reichskanzlers, erſtreckt ſich nur ſoweit, als ſie durch geſetzliche Beſtimmung angeordnet iſt. Dadurch recht - fertigt ſich die principielle Charakteriſirung des Bundesrathes als des für die Geſetzgebung beſtimmten Organs des Reiches1)Vgl. auch v. Martitz S. 52 fg. v. Gerber Grundzüge S. 248. Thudichum S. 107..

Wenn man die Stellung, welche der Kaiſer im Reich ein - nimmt, vergleichen kann mit der Stellung des Vorſtandes einer (privatrechtlichen) Korporation, ſo laſſen ſich die Funktionen des Bundesrathes vergleichen mit den Funktionen der Generalverſamm - lung und des von ihr eingeſetzten Ausſchuſſes, des ſogen. Ver - waltungsrathes. Der Bundesrath iſt die Verſammlung ſämmtlicher Mitglieder des Reiches, reſp. deren Bevollmächtigten, entſpricht alſo dem Begriff der Generalverſammlung; und wie regelmäßig253§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.der letzteren die Beſchlußfaſſung zuſteht über alle Statuten-Aende - rungen, über den Wirthſchaftsplan und die Rechnungslegung, und über alle wichtigen Unternehmungen und Geſchäfte, ſo erſtreckt ſich auch die Kompetenz des Bundesrathes auf die Geſetzgebung, auf die Finanzwirthſchaft des Reichs und auf wichtige Verwaltungs - akte, ſowie auf den Abſchluß völkerrechtlicher Verträge. Man darf aber dieſer Vergleichung des Bundesrathes mit der General-Ver - ſammlung einer Korporation keine größere Bedeutung beilegen, als ſie beanſprucht, nämlich eines Mittels zur allgemeinen Charakte - riſirung der ſtaatsrechtlichen Stellung des Bundesrathes im Reich.

I. Der Bundesrath als Organ der Geſetzgebung.

Die Reichsverfaſſung weiſt dieſe Funktion dem Bundesrathe zu theils im Art. 5 theils im Art. 7. In dem zuerſt erwähnten Artikel wird der allgemeine Grundſatz ausgeſprochen: Die Reichs - geſetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrath und den Reichs - tag ; es werden demnach hier die Requiſite eines Reichsgeſetzes im formellen Wortſinne aufgeführt. Der Art. 7 dagegen behan - delt das Recht des Bundesrathes zur Geſetzgebung im materiellen Sinne, d. h. zur Aufſtellung allgemeiner Normen, und er unter - ſcheidet demgemäß zwiſchen Geſetzen (im formellen Sinne) und Verordnungen. Er ſtellt 3 Kategorien von Gegenſtänden auf, welche der Beſchlußfaſſung des Bundesrathes unterliegen, von denen die erſten beiden vollſtändig, die dritte wenigſtens zum Theil die Aufſtellung von Rechtsſätzen berühren.

Nach dem Art. 7 beſchließt der Bundesrath:

1) über die dem Reichstage zu machenden Vorla - gen und die von demſelben gefaßten Beſchlüſſe.

Dieſe Kategorie fällt mit der Geſetzgebung im formellen Sinne zuſammen, da zu einem Geſetz die Uebereinſtimmung von Bun - desrath und Reichstag gehört1)Dieſe Beſtimmung reicht aber noch etwas weiter als die Geſetzgebung, indem auch die, dem Reichstage vorzulegenden Rechnungen, Berichte und dgl. der Beſchlußfaſſung des Bundesraths unterliegen. Seydel S. 101..

2) über die zur Ausführung der Reichsgeſetze er - forderlichen allgemeinen Verwaltungsvorſchriften und Einrichtungen.

254§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

Hierdurch wird dem Bundesrathe die ſogenannte Verord - nungs-Gewalt übertragen; d. h. er hat die Befugniß und Obliegenheit, die Verwaltungs-Verordnungen zur Ausführung der Reichsgeſetze zu erlaſſen1)Thudichum in v. Holtzendorffs Jahrb. I. S. 22 Note 1 Seydel Commentar S. 102 und in Hirth’s Annalen 1874 S. 1143 fg.. Andere als Ausführungs-Verordnungen, Verordnungen mit interimiſtiſcher Geſetzeskraft oder Noth-Verordnun - gen kennt die Reichsverfaſſung nicht2)Ueber Elſaß-Lothringen ſiehe unten §. 54.. Die allgemeinen Verwal - tungsvorſchriften und Einrichtungen ſtehen im Gegenſatz zu den Verfügungen im einzelnen Falle, d. h. zu der Erledigung ſpezieller Verwaltungs - oder Regierungs-Geſchäfte, welche Sache des Kaiſers und der Reichsbehörden iſt. Derartige Verfügungen werden aber auch Verordnungen genannt, namentlich wenn ſie vom Kaiſer ſelbſt vollzogen werden. Der begriffliche Gegenſatz beruht darin, daß die allgemeine, d. h. eigentliche, Verordnung die Aufſtellung einer Regel, die Verfügung die Erledigung eines ſtaatlichen Geſchäftes iſt, z. B. die Einberufung und Schließung der Sitzungen des Bundesrathes und Reichstages.

Der Grundſatz, daß Adminiſtrativ-Verordnungen vom Bun - desrathe zu erlaſſen ſind, geſtattet aber Ausnahmen3)v. Rönne S. 159 freilich kehrt das Verhältniß gradezu um und be - ruft ſich dafür (Note 7) ganz naiv auf Art. 7 Nr. 2 der R. -V.. Der Art. 7 fügt daher der Nro. 2 die Clauſel zu: ſofern nicht durch Reichsgeſetz etwas Anderes beſtimmt iſt.

Dieſes Andere kann darin beſtehen:

  • a) daß die Zuſtimmung des Reichstages vorbehalten, alſo ein Reichsgeſetz erforderlich iſt;
  • b) daß dem Kaiſer der Erlaß der Ausführungsverordnung übertragen wird;
  • c) daß der Reichskanzler oder eine andere Reichsbe - hörde die erforderlichen Vorſchriften erlaſſen ſoll;
  • d) daß die Einzelſtaaten die zur Ausführung der Reichs - geſetze nothwendigen Anordnungen zu treffen haben.

Im Allgemeinen hat die Reichsgeſetzgebung an dem Grund - ſatz feſtgehalten, daß Ausführungs-Verordnungen und überhaupt allgemeine Regeln für die Verwaltung vom Bundesrathe zu er -255§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.laſſen ſind; deſſen ungeachtet enthält die Reichsgeſetzgebung für jede der 4 angegebenen Abweichungen von der Regel des Art. 7 Ziff. 2 nicht wenige Anwendungsfälle, welche in ihrem ſachlichen Zuſammenhange bei der Darſtellung der einzelnen Verwaltungs - zweige zur Erörterung gelangen werden.

II. Der Bundesrath als Organ der Verwaltung.

Der Bundesrath iſt nicht in dem Sinne eine Verwaltungs - behörde des Reiches, daß er ſelbſtſtändig Verfügungen erlaſſen und ihre Ausführung unmittelbar erzwingen könnte. Die thatſächliche Durchführung aller Verwaltungsmaaßregeln des Reiches iſt viel - mehr Sache des Kaiſers und der von ihm ernannten Behörden. Eine materielle Betheiligung des Bundesrathes an der Führung der Verwaltung des Reiches findet aber ſtatt entweder in der Form, daß für einen Verwaltungsact der Weg der Geſetzgebung vorgeſchrieben iſt, z. B. zur Aufnahme einer Anleihe, oder in der Art, daß der Kaiſer zu einer von ihm vorzunehmenden Regierungs - handlung der Zuſtimmung des Bundesrathes bedarf, oder ſie einem Beſchluß des Bundesrathes gemäß vornehmen muß.

Die Fälle, in denen dem Bundesrathe in dieſer Art ein An - theil an der Verwaltung eingeräumt iſt, können durch jedes neue Geſetz von Jahr zu Jahr ſich vermehren oder verändern. Eine prinzipielle, aus dem Weſen des Bundesrathes logiſch abzuleitende Abgränzung derſelben, giebt es nicht. Andererſeits braucht man ſich aber nicht darauf zu beſchränken, einen bloßen Katalog dieſer Fälle, wie er ſich aus dem Wort - und Sachregiſter des Reichs - geſetzblattes ergiebt, zuſammenzuſtellen; ſondern es iſt eine Grup - pirung der dem Bundesrathe zugewieſenen Verwaltungs-Funktionen nach allgemeineren Geſichtspunkten möglich.

1) Die weitreichendſte Bedeutung hat in dieſer Richtung die in der R. -V. Art. 7 unter Z. 3 enthaltene Beſtimmung. Den beiden bereits erwähnten Kategorien von Gegenſtänden, welche der Beſchlußfaſſung des Bundesrathes unterliegen, wird als dritte hin - zugefügt: Der Bundesrath beſchließt über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgeſetze oder der vorſtehend erwähnten Vorſchriften oder Einrichtungen hervortreten.

Der Sinn dieſer Beſtimmung iſt wegen der ſehr ſchlechten256§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.Faſſung derſelben ſchwer zu ermitteln. In den beiden erſten Kate - gorien des Art. 7 iſt das Object des Beſchluſſes angegeben, die an den Reichstag zu bringende Vorlage oder die Genehmigung oder Verwerfung des vom Reichstage gefaßten Beſchluſſes und die zu erlaſſende Adminiſtrativ-Verordnung; bei der dritten Kategorie iſt das Motiv oder die Veranlaſſung des Beſchluſſes hervorge - hoben. Denn der Bundesrath beſchließt nicht die Mängel, welche hervortreten, ſondern er faßt einen Beſchluß wegen der Mängel, welche hervortreten. Auch die Abſtellung dieſer Mängel1)So umſchreibt z. B. Riedel S. 24 dieſe Verfaſſungs-Beſtimmung. iſt nicht der Inhalt, ſondern der Zweck ſeines Beſchluſſes.

Werden die Mängel hervorgerufen durch ein Reichsgeſetz ſelbſt, indem ſich bei richtiger Anwendung deſſelben zeigt, daß es auf die thatſächlich beſtehenden Lebensverhältniſſe nicht paßt, ſo kann nicht anders abgeholfen werden als durch eine Abänderung des Geſetzes, zu welcher die Genehmigung des Reichstages erforderlich iſt. In - halt des Bundesrathsbeſchlußes iſt demnach in dieſem Falle eine dem Reichstage zu machende Vorlage und ein ſolcher Beſchluß fällt mithin unter die erſte Kategorie des Art. 7.

Wenn die Mängel aber hervorgerufen werden durch die zur Ausführung des Geſetzes erlaſſenen Verordnungen oder durch das Fehlen derſelben, beziehentlich durch ihre Unvollſtändigkeit oder Undeutlichkeit, ſo kann der Bundesrath Adminiſtrativ-Verordnungen erlaſſen oder ſie ändern, ergänzen, verbeſſern. Ein derartiger Beſchluß fällt unter die zweite Kategorie des Art. 7.

Soll die unter Ziffer 3 aufgeführte Kategorie nicht völlig überflüſſig und nichtsſagend ſein, ſo müſſen dem Bundesrathe noch weitergehende Befugniſſe zuſtehen, als die durch Z. 1 und Z. 2 bereits gegebenen; er muß aus Anlaß von Mängeln noch andere Beſchlüſſe zu faſſen berechtigt ſein, als Geſetzesvorlagen und Aus - führungs-Verordnungen.

Von welcher Art dieſe Beſchlüſſe ſein können, ergiebt ſich nicht aus dem Wortlaut des Art. 7, wohl aber aus ſeiner Entſtehungs - geſchichte.

In der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes fehlt ein ent - ſprechender Artikel. Dagegen gewährt dieſe Verfaſſung dem Bun - desrath in Beziehung auf Zölle und Verbrauchsſteuern eine eigen -257§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.thümliche Stellung im Verwaltungs-Organismus, welche ſich hiſto - riſch erklärt.

In dem alten Zollverein waren alle dabei betheiligten Staaten von einander unabhängig und ſouverän und es verſtand ſich daher von ſelbſt, daß die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Ab - gaben ihnen zuſtand. Bei dem Intereſſe, welches jeder einzelne Staat daran hatte, daß dieſe Verwaltung überall den Zollvereins - verträgen entſprechend und übereinſtimmend geführt wurde, traf man die Einrichtung, die Zoll - und Steuerbehörden der Vereins - ſtaaten durch Bevollmächtigte controliren zu laſſen. Wurden von dieſen Bevollmächtigten Anzeigen erſtattet über unrichtige Anwen - dung oder über Mängel, welche bei der Ausführung der Zoll - vereinsverträge hervortraten, ſo wurde die Angelegenheit, falls ſie nicht durch eine Entſcheidung der Centralbehörde des betreffenden Staates erledigt wurde, auf den Zollvereins-Conferenzen erörtert und eine gleichmäßige Handhabung des Tarifs oder eine überein - ſtimmende Einrichtung vereinbart. Ein ſolcher Beſchluß der Zoll - vereins-Conferenz hatte, grade wie ein Beſchluß des Frankfurter Bundestages, den Charakter einer völkerrechtlichen Vertragsſchlie - ßung. Da ſich aus der Natur des Zollvereins das Erforderniß der Einſtimmigkeit für die Beſchlüſſe der Zollconferenz ergab, ſo war eine präciſe Abgränzung ihrer Competenz kein Bedürfniß. Man begnügte ſich daher, der Verſammlung der Konferenz-Bevoll - mächtigten zuzuweiſen: Die Verhandlung über alle Beſchwer - den und Mängel welche in Beziehung auf die Ausführung des Grundvertrages ..... wahrgenommen worden ſind1)Zollvereinsv. vom 16. Mai 1865 Art. 34 sub a. .

Auch bei Gründung des Norddeutſchen Bundes blieb die im Zollverein ausgebildete Verwaltungs-Organiſation im Weſentlichen unverändert; abgeſehen davon, daß die zur Controle der Zoll - und Steuerbehörden der einzelnen Staaten dienenden Bevollmäch - tigten vom Präſidium ernannt wurden. Dem Bundesrathe wurde daher im Art. 37 zugewieſen unter Z. 1 die Mitwirkung bei dem Erlaß von Zoll - und Steuergeſetzen und dem Abſchluſſe von Handelsverträgen, unter Z. 2 der Erlaß von Adminiſtrativ-Ver - ordnungen, und unter Z. 3. die Beſchlußfaſſung:Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 17258§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. über Mängel, welche bei der Ausführung der gemein - ſchaftlichen Geſetzgebung (Art. 35) hervortreten alſo mit ausdrücklicher, durch die Anführung des Art. 35 bewirkter Beſchränkung auf die Zoll - und Steuergeſetze und im Anſchluß an die Faſſung des Art. 34 des Zollvereins-Vertrages von 1865.

Auch der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 Art. 8 §. 12 wiederholt dieſelbe Beſtimmung und in der Reichsverfaſſung iſt nur eine redactionelle Aenderung eingetreten. Der Zoll-Bundes - rath war gleichſam der Erbe der Zollconferenz, nur befreit von dem Drucke des Unanimitätsprinzips1)Schlußprotokoll v. 8. Juli 1867 Nr. 9 zu Art. 8 §. 12 des Zollver - eins-Vertrages: Die Functionen, welche durch die im §. 1 des gegenwärtigen Protokolls bezeichneten Beſtimmungen, Abreden und Vereinbarungen der Ge - neral-Conferenz übertragen ſind, gehen auf den Bundesrath des Zollvereins über. .

Art. 36 Abſ. 2 der Reichsverfaſſung verleiht dem Kaiſer das Recht und die Pflicht, die Einhaltung des geſetzlichen Ver - fahrens Seitens der Landesbehörden durch Reichsbeamte, welche er den Zoll - und Steuerämtern und den Directivbehörden beiordnet, zu überwachen. Abſ. 3 fügt hinzu: Die von dieſen Beamten über Mängel bei der Ausführung der gemeinſchaftlichen Geſetzgebung (Art. 35) gemachten An - zeigen werden dem Bundesrathe zur Beſchlußnahme vor - gelegt.

Das Verhältniß zwiſchen Kaiſer und Bundesrath iſt daher hier nicht zweifelhaft. Der Kaiſer hat hinſichtlich der Ueberwachung der Einzelſtaaten das formelle Recht der Ernennung und Beiord - nung der Reichszollcontroleure und Bevollmächtigten. Die materielle Entſcheidung aber über die von ihnen erſtatteten Anzeigen und die Sicherung gleichmäßiger Auslegung und Handhabung der Zoll - und Steuergeſetze iſt dem Bundesrath zugewieſen. Er iſt in dieſer Hinſicht an die Stelle der alten Zollvereins-Conferenz getreten, nur daß ſeine Beſchlüſſe nicht mehr den Charakter des völkerrecht - lichen Vertrages, ſondern den der Entſcheidung einer oberſten Behörde haben. Der Bundesrath iſt in Zoll - und Steuerſachen eine Central-Verwaltungsbehörde des Reiches, die über den Selbſtverwaltungs-Behörden der Einzelſtaaten ſtehende Control - behörde, welche wie ein höchſter Verwaltungsgerichtshof dafür259§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.Sorge trägt, daß die den Einzelſtaaten überlaſſene Selbſtverwal - tung in Zoll - und Steuerſachen nicht zu ungleichartiger Auslegung und Handhabung der Reichsgeſetze führt. Dem Kaiſer bezieh. den von ihm ernannten Reichsbeamten, insbeſondere dem Reichskanzler, liegt es dann wieder ob, die Befolgung der vom Bundesrath ge - troffenen Entſcheidungen Seitens der Landesbehörden zu veranlaſſen und zu überwachen.

Bei der Redaction der Reichsverfaſſung, welche bei den Ver - handlungen in Verſailles mit den ſüddeutſchen Staaten vereinbart worden iſt, wurde im Anſchluß an die im Zollvereins-Vertrage enthaltene Beſtimmung der Art. 7 über die der Beſchlußfaſſung des Bundesrathes unterliegenden Angelegenheiten feſtgeſtellt, der in der jetzigen Redaction wiederkehrt.

Schon vor dem Abſchluß der Verträge mit den Süddeutſchen Staaten hatte ſich im Nordd. Bunde die Praxis Eingang verſchafft, daß Zweifel über die Anwendung von Reichsgeſetzen und Bedenken, welche bei Handhabung derſelben entſtanden, dem Bundesrathe zur Beſchlußfaſſung vorgelegt wurden. Bei der Generaldebatte über dieſe Verträge im Reichstage von 1870 konnte daher Staats - miniſter von Delbrück nicht ohne Grund von der neuen For - mulirung des Art. 7 ſagen1)II. Außerord. Seſſ. 1870. Stenogr. Ber. S. 68., daß ſie eine ins Gewicht fallende materielle Bedeutung nicht habe. Er fügte hinzu: Es wurde Werth gelegt auf dieſe Zuſammenfaſſung, um an einem Ort klar zu ſtellen die eigentlichen Zuſtändig - keiten des Bundesraths, deren Ergründung aus der Bun - desverfaſſung ſelbſt nicht ohne ein gewiſſes Studium mög - lich war. Eine materielle Aenderung des Beſtehenden iſt damit kaum herbeigeführt.

Wenn nach dieſer Ausſage demnach thatſächlich die Befugniſſe des Bundesrathes durch Art. 7. Ziffer 3 der Reichsverfaſſung nicht weſentlich erweitert worden ſind, ſo iſt es doch unzweifelhaft, daß ſie dadurch erſt ein ſtaatsrechtliches Fundament erhalten haben, welches nach der Nordd. Bundesverfaſſung nur in Bezug auf Zoll - und Steuer-Angelegenheiten vorhanden war.

Die Tragweite dieſer Beſtimmung zeigt ſich namentlich in dem Verhältniß des Bundesrathes zum Kaiſer und ſeinem Miniſter,17*260§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.dem Reichskanzler. Nach Art. 17 der Reichsverfaſſung ſteht dem Kaiſer die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgeſetze zu. Nach dem Urſprunge des Art 7. in dem Zollvereinsvertrage und dem Art. 37 der Norddeutſchen Bundesverfaſſung kann es nun keinem Zweifel unterliegen, daß Art. 7 Ziff. 3 ſich zu Art. 17 gerade ebenſo verhält, wie der 3. Abſatz des Art. 36 zu dem zweiten Abſatz deſſelben Artikels; d. h. dieſelbe Abgränzung der Kompetenz, welche für Zoll - und Steuerſachen, in Art. 36 erfolgt iſt, iſt durch Art. 7 Ziff. 3 und 17 auf alle der Reichsgeſetzgebung unterliegenden Gegenſtände ausgedehnt worden1)Im Weſentlichen beſteht daſſelbe Verhältniß auch zwiſchen Art. 7 Ziff. 1 und Art. 16. Der Bundesrath beſchließt, welche Vorlagen dem Reichstage zu machen ſind; der Kaiſer läßt dieſelben nach Maßgabe der Beſchlüſſe des Bundesrathes an den Reichstag bringen..

Dem Kaiſer liegt es daher ob, die zur Controle der Einzel - ſtaaten etwa erforderlichen und durch Reichsgeſetze vorgeſehenen Beamten zu ernennen, namentlich aber gehen vom Kaiſer d. h. von dem von ihm ernannten Reichskanzler oder den Reſſortbehör - den des Reiches die Verfügungen aus, welche zur Durchfüh - rung der vom Bundesrathe getroffenen Entſcheidungen erforderlich ſind. Der Bundesrath dagegen fällt die materielle Entſcheidung über die Auslegung oder Handhabung der Reichsgeſetze oder über eine allgemeine Einrichtung behufs Abhülfe der Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgeſetze hervorgetreten ſind2)Sehr richtig äußerte ſich der Abg. Lasker im Reichstag 1870. II. auß. Seſſ. Stenogr. Ber. S. 122: Den zweiten Theil, welcher die Abhilfe der Mängel dem Bundesrathe überweiſt, verſtehe ich dahin, daß die thatſäch - liche Exekution allein durch das Bundeskanzler-Amt vermittelt wird, daß der Bundesrath irgend welche Mängel als vorhanden konſtatirt und Abhilfe be - ſchließt und daß dieſe dann durch die Beamten des Bundeskanzlers oder durch das Bundeskanzler-Amt unter der Leitung des Bundeskanzlers erfolgen muß. Ich glaube die Beſtimmungen der Verfaſſung nicht mißzuverſtehen und in dieſer Einſchränkung begrüße ich ſie als eine vortheilhafte Organiſation. Weſterkamp S. 157 findet das Verhältniß des Bundesrathes und des Kaiſers nicht völlig klar; freilich, wenn ſeine Darſtellung deſſelben richtig wäre, ſo wäre es völlig unklar..

Es ſteht dieſe, dem Bundesrath zugewieſene Kompetenz im engſten Zuſammenhange mit der ihm übertragenen Geſetzgebungs - Funktion und die Beſchlußfaſſung über Mängel, d. h. über die richtige Handhabung der Reichsgeſetze und über Abhülfe der her -261§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.vorgetretenen Uebelſtände fließt in unmerklichen Abſtufungen und Uebergängen an der einen Grenzlinie mit dem Erlaß allgemeiner Verwaltungsverordnungen, an der anderen mit der Fällung eines verwaltungsgerichtlichen Urtheils zuſammen.

Daraus ergeben ſich aber auch zugleich die Schranken, welche der durch Art 7 Ziff. 3 begründeten Kompetenz des Bundesrathes geſetzt ſind. Dem Bundesrath ſteht keine Entſcheidung zu in allen denjeni - gen Angelegenheiten, die durch Reichsgeſetz einer Reichsbehörde überwieſen ſind. Dazu gehören vor Allem die eigentlichen Rechts - ſtreitigkeiten, welche eine richterliche Entſcheidung d. h. eine lediglich durch Rechtsſätze beſtimmte Beurtheilung erfordern, alſo insbeſondere die, der Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Heimaths - amts, des Reichs-Eiſenbahnamts, nach §. 5 Ziff. 4 des Geſ. v. 27. Juni 1873 (Rg. -Bl. S. 165) u. ſ. w. unterliegenden Streit - fälle. Ebenſo aber auch diejenigen Angelegenheiten, deren Erledi - gung zum Reſſort der Reichs-Verwaltungsämter gehört. Es iſt ferner die durch Art. 7 Ziff. 3 für den Bundesrath begründete Kompetenz ausgeſchloſſen, ſoweit die Reichsverfaſſung ſelbſt eine Ausnahme macht, was namentlich durch Art. 63 Abſ. 3. hinſicht - lich der Militär-Angelegenheiten zu Gunſten des Kaiſers geſchehen iſt. Andererſeits findet die Kompetenz des Bundesrathes eine Schranke an dem Selbſtverwaltungsrecht der Einzelſtaaten. Der Bundesrath bildet keine Inſtanz über den Centralbehörden der Einzelſtaaten, ſo daß an ihn im Wege der Beſchwerde oder des Rekurſes der einzelne Fall zur definitiven Entſcheidung gezogen werden könnte1)Vgl. Laband in Hirth’s Annalen 1873 S. 484.. Der Bundesrath kann keine von den Behörden der Einzelſtaaten getroffene Entſcheidung caſſiren, nicht auf Ver - urtheilung oder Freiſprechung erkennen, den Behörden der Einzel - ſtaaten keine Anweiſung ertheilen; der Bundesrath kann nur darüber einen Ausſpruch thun, welchen Inhalt die allgemeine Pflicht aller Bundesſtaaten, die Reichsgeſetze zu beobachten, in Anſehung des ſpeziellen, den Gegenſtand des Beſchluſſes bildenden Punkt hat.

2) Ein ähnliches Verhältniß zwiſchen Bundesrath und Kaiſer wie es durch Art. 7 Abſ. 3. und Art. 17 und durch Art. 36 Abſ. 2 und Art. 36 Abſ. 3. normirt iſt, beſteht auch hinſichtlich der Er - nennung gewiſſer Reichsbeamten. Die Ernennung ſelbſt262§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.erfolgt in allen Fällen vom Kaiſer R. -V. Art. 18.; formell kann der Bundesrath niemals einen Beamten anſtellen. Aber materiell ſteht ihm für gewiſſe Beamten-Kategorien eine Entſcheidung zu, indem er entweder die Beamten geradezu wählt, ſo daß der Kaiſer auf die bloße Form der Ernennung der vom Bundesrath gewähl - ten Individuen beſchränkt iſt, oder indem der Kaiſer die Beamten nach Vernehmung des Bundesrathes oder eines Ausſchuſſes deſſel - ben anſtellt. Das Letztere iſt vorgeſchrieben im Art. 36 der R. -V., wonach der Kaiſer die zur Controlle der Zoll - und Steuerbehörden beſtimmten Reichsbeamten nach Vernehmung des Ausſchuſſes des Bundesrathes für Zoll - und Steuerweſen den Bundesbehörden beiordnet, und im Art. 56, welcher beſtimmt, daß der Kaiſer die Konſuln nach Vernehmung des Ausſchuſſes für Handel und Ver - kehr anſtellt.

Ein Wahlrecht oder Vorſchlagsrecht hat der Bundesrath hin - ſichtlich der Mitglieder des Rechnungshofes1)Geſ. v. 4. Juli 1868 §. 2 (B. -G.-Bl. S. 433.), des Oberhandels - gerichts2)Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 3 (B. -G.-Bl. S. 201.), des Bundesamtes für das Heimathsweſen3)Geſ. v. 6. Juni 1870 §. 42 (B. -G.-Bl. S. 368.), der Dis - ciplinarkammern und des Disciplinarhofes4)Geſ. v. 31. März 1873 §. 39 (R. -G.-Bl. S. 68.), der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds5)Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 11 (R. -G.-Bl. S. 120.) und des Reichsbank-Direktoriums6)Bankgeſ. v. 14. März 1875 §. 27 Abſ. 3 (R. -G.-Bl. S. 184.).

3) Auch bei gewiſſen Regierungsacten, welche eine hervor - ragende politiſche Bedeutung entweder ihrer Natur nach immer haben oder doch unter Umſtänden haben können, iſt die Entſchlie - ßung des Kaiſers gebunden. Ihm ſteht es zwar zu, den Regie - rungsact ſelbſt und formell ohne Mitwirkung des Bundesrathes zu vollziehen; aber er iſt dazu nur befugt, nachdem er die Zu - ſtimmung des Bundesrathes eingeholt hat.

Bei Ausübung der Vertretungsbefugniß für das Reich bedarf der Kaiſer dieſer Zuſtimmung:

  • a) zur Erklärung des Krieges, es ſei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder deſſen Küſten erfolgt. R. -V. Art. 11 Abſ. 1.
  • b) zum Abſchluß von Verträgen mit fremden Staaten, inſoweit263§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.ſie ſich auf ſolche Gegenſtände beziehen, welche nach Art. 4 der R. -V. in den Bereich der Reichsgeſetzgebung gehören. R. -V. Art. 11 Abſ. 2.

Auf dem Gebiete der inneren Politik bedarf der Kaiſer eines zuſtimmenden Beſchluſſes des Bundesrathes

  • a) zur Vollſtreckung der Execution gegen Bundesglieder. R. -V. Art. 19.
  • b) zur Auflöſung des Reichstages während der Legislatur - Periode. R. -V. Art. 24.

4) Eine beſondere Stellung nimmt der Bundesrath ein bei allen die Finanzwirthſchaft des Reiches betreffenden An - gelegenheiten. Hier ſind ihm zum Theil Funktionen beigelegt, welche auf anderen Gebieten der Kaiſer oder der Reichskanzler ausüben oder welche nach anderen Verfaſſungen die Landtage den geſchäftsführenden Regierungs-Behörden gegenüber wahrnehmen, während nach der Reichsverfaſſung Bundesrath und Reichstag gleich - mäßig daran Antheil nehmen.

Die Feſtſtellung des Reichshaushalts-Etats in der, dem Reichs - tage vorzulegenden Geſtalt, ſowie die Beſchlußfaſſung über die von dem Reichstage vorgenommenen Abänderungen, ferner die Geneh - migung einer Anleihe ſowie der Uebernahme einer Garantie zu Laſten des Reiches ſteht dem Bundesrathe zu, weil der Weg der Geſetzgebung vorgeſchrieben iſt. Der Bundesrath hat aber über - dies die Abrechnungen der Einzelſtaaten über die von ihnen für Rechnung des Reiches erhobenen Zölle und Abgaben zu prüfen und den von der Kaſſe jedes Bundesſtaates der Reichskaſſe ſchuldigen Be - trag feſtzuſtellen (Art. 39). Der Bundesrath iſt auch in dieſer Hin - ſicht an die Stelle der ehemaligen Generalzollconferenz getreten1)Zollv. -Vertr. v. 16. Mai 1865 Art. 34 sub b)..

Ferner iſt der Reichskanzler verpflichtet über die Verwendung aller Einnahmen des Reiches dem Bundesrathe zur Entlaſtung jährlich Rechnung zu legen. (Art. 72.) In Durchführung des Princips, daß die Finanz-Angelegenheiten des Reiches zur Kompe - tenz des Bundesrathes gehören hat das Geſ. v. 19. Juni 1868 §. 4 (B. -Bl. S. 339) beſtimmt, daß 3 Mitglieder des Bundes - rathes zur Bundesſchulden-Kommiſſion gehören und in §. 7 die - ſelben Verpflichtungen der Bundesſchulden-Kommiſſion dem Bun -264§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.desrathe gegenüber auferlegt, welche der preußiſchen Staatsſchulden - Kommiſſion dem preuß. Landtage gegenüber obliegen. Der Bun - desrath ernennt ferner drei Mitglieder des Reichsbank-Kuratoriums. Geſ. v. 14. März 1875 §. 25 (Rg. -Bl. S. 184).

Es iſt ſchon erwähnt worden, daß zufolge Geſ. vom 4 Juli 1868 §. 2 (B. -Bl. S. 433) die zum Rechnungshof des deutſchen Reiches neu hinzutretenden Mitglieder vom Bundesrathe gewählt werden. Ebenſo hat der Bundesrath die Mitglieder der Ver - waltung des Reichs-Invalidenfonds zu wählen. Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 11 (Rg. -Bl. S. 120).

Ferner kann der Kaiſer über den Reichskriegsſchatz nur unter vorgängig oder nachträglich einzuholender Zuſtimmung des Bundes - rathes verfügen; ſeine Anordnungen über Verwaltung des Reichs - kriegsſchatzes unterliegen der Zuſtimmung des Bundesrathes und die Reichsſchulden-Kommiſſion hat jährlich dem Bundesrathe über den Beſtand des Reichskriegsſchatzes Bericht zu erſtatten. Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 1. 3. (Rg. -Bl. S. 4031)Daſſelbe gilt von dem Bericht über die Verwaltung des Reichs-Inva - lidenfonds. Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 14 (R. -G. Bl. S. 121.).

Auch die vom Reichskanzler zu erlaſſenden Verfügungen über die Ausprägung von Goldmünzen ſind an die Zuſtimmung des Bundesrathes geknüpft. Geſ. v. 4. Dezbr. 1871 §. 6 Abſ. 2. (R. -Bl. S. 405).

Das Bankgeſetz vom 14. März 1875 §. 36. 40. 41. 44. 47 legt dem Bundesrath eine höchſt umfaſſende Zuſtändigkeit bei.

Einnahmen aus der Veräußerung entbehrlich werdender Fe - ſtungs-Grundſtücke oder anderer im Beſitz der Reichsverwaltung befindlicher Grundſtücke dürfen nur unter Genehmigung des Bun - desrathes verausgabt werden. Geſ. v. 8. Juli 1872 Art. IV. (Rg. -Bl. S. 290) und Geſ. v. 25. Mai 1873 §. 11 (Rg. -Bl. S. 115).

Andererſeits ſind dem Bundesrath hinſichtlich der Vergütung von Kriegsleiſtungen weitgehende Befugniſſe eingeräumt durch das Geſ. v. 13. Juni 1873 (Rg. -Bl. S. 1292)Die Bekanntmachung v. 19. Juni 1871 §. 10 (R. -G.-Bl. S. 258) über die Inhaberpapiere mit Prämien ermächtigte das Reichskanzler-Amt zum Er - laß von Ergänzungs-Vorſchriften, nach Anhörung des Ausſchuſſes für Rech - nungsweſen. .

Daß in Finanz-Angelegenheiten dem Bundesrath eine ſo aus -265§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.gedehnte Kompetenz zugewieſen wird, erklärt ſich daraus, daß die Regierung des Reiches auf Koſten aller Bundesſtaaten geführt wird und in ihrem finanziellen Reſultat jeden Einzelſtaat mittelſt der von ihm zu zahlenden Matrikularbeiträge berührt. Deshalb ſind der Kaiſer und der von ihm ernannte Reichskanzler in der Freiheit der Geſchäftsführung, welche ihnen im Uebrigen gelaſſen iſt, gerade in finanzieller Beziehung beſchränkt und an die Con - trole und Zuſtimmung des Bundesrathes und wie unten näher ausgeführt werden wird, des Reichtages gebunden.

5) Neben den vorſtehend erörterten 4 Kategorien von Ver - waltungsbefugniſſen des Bundesrathes, die ſich auf beſtimmte all - gemeinere Geſichtspunkte zurückführen laſſen, enthalten die Reichs - geſetze noch eine Anzahl von ſpeziellen Punkten, über welche dem Bundesrath die Beſchlußfaſſung zugewieſen iſt, ohne daß man aus denſelben ein einheitliches Princip für die Kompetenzbeſtimmung des Bundesrathes abſtrahiren kann. So unterliegt z. B. der Be - ſchlußfaſſung des Bundesrathes die Abgränzung der elſaß - lothringen’ſchen Wahlkreiſe für den deutſchen Reichstag1)Geſ. v. 25. Juni 1873 §. 6 (R. -G.-Bl. S. 162.); die Bezirke der Disciplinarkammern werden vom Kaiſer im Einver - nehmen mit dem Bundesrathe abgegrenzt2)Geſ. v. 31. März 1873 §. 88 (R. -G.-Bl. S. 77.); die Jurisdictions - bezirke der einzelnen Conſuln werden vom Reichskanzler nach Ver - nehmung des Bundesraths-Ausſchuſſes für Handel und Verkehr beſtimmt3)Geſ. v. 8. Nov. 1867 §. 23 (B. -G.-Bl. S. 141.).

Ferner ſteht die Aufhebung beſtehender Zollausſchlüſſe dem Bundesrath zu4)Zollv. -Vertrag v. 8. Juli 1867 Art. 6..

Zu erwähnen iſt ferner die Beſtimmung in Art. 46 der R. -V. Die Zuſtimmung des Bundesrathsausſchuſſes für das Landheer und die Feſtungen iſt auch erforderlich zu einer Abweichung von dem vorgeſchriebenen Vertheilungsmaaßſtaabe des Rekrutenbedarfs5)Reichs-Militär-Geſetz v. 2. Mai 1874 §. 9 (R. -G.-Bl. S. 47.).

Dergleichen Beſtimmungen werden im ſpeziellen Theil bei der Darſtellung der einzelnen Verwaltungszweige Erwähnung finden6)Daß nach §. 4 des Geſ. v. 4. Mai 1874 (R. -G.-Bl. S. 44) zur Wie - dererwerbung der Staats-Angehörigkeit die Genehmigung des Bundesrathes erforderlich iſt, wurde bereits oben S. 175 erörtert..

266§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

III. Der Bundesrath als Organ der Rechtspflege.

Die Funktionen, welche dem Bundesrath behufs Aufrechthal - tung der Rechts-Ordnung zugewieſen ſind, haben zum Theil ſchon Erwähnung gefunden. Es ſind folgende:

1. Die dem Bundesrathe in Art. 7 Abſ. 3 übertragene Be - ſchlußfaſſung über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichs - geſetze hervortreten, ſchließt in gewiſſem Grade eine Verwaltungs - Jurisdiktion in ſich, indem der Beſchluß ein Urtheil darüber ent - halten kann, ob eine Beſtimmung eines Reichsgeſetzes oder einer Bundesraths-Verordnung richtig oder falſch ausgelegt reſp. ange - wendet worden iſt. Gewöhnlich hat ein ſolcher Beſchluß aber nicht die formelle Kraft einer Entſcheidung. Die Angelegenheit, welche Veranlaſſung zu dem Beſchluß gegeben, kann längſt definitiv er - ledigt ſein oder aus Gründen, welche mit der vom Bundesrath beſchloſſenen Geſetzes-Auslegung in keinem Zuſammenhange ſtehen, ihre Erledigung finden. Auch erfolgt dieſelbe formell der Regel nach durch die competenten Behörden des Einzelſtaates oder, ſo weit das Reich die Verwaltung ſelbſt führt, durch die Central - Verwaltungsbehörden des Reiches. Der Beſchluß des Bundes - rathes dient den oberſten Verwaltungsbehörden eben nur als Richtſchnur1)Ein anſchauliches Beiſpiel liefert folgender Vorgang: In der Bundes - raths-Sitzung vom 27. Febr. 1871 (Protok. §. 48) theilte der Vorſitzende mit, daß zwiſchen dem Bundeskanzler-Amt einerſeits und dem Senat zu Bremen andererſeits eine Meinungsverſchiedenheit darüber obwaltet, ob eine in Bremen erlaſſene, das Betreten von Privathäuſern durch Hauſirer verbietende Verord - nung mit der Reichs-Gewerbe-Ordnung im Widerſpruch ſtehe oder nicht. Auf ſeinen Antrag wurde beſchloſſen, den IV. Ausſchuß mit der Berichterſtattung zu beauftragen. Auf den Bericht des Ausſchuſſes beſchloß der Bundesrath am 12. Nov. 1871 (Protok. §. 553), daß die Verordn. mit den Abſichten, welche zur Feſt - ſtellung des Titels 3 der Gew. -Ordn. in ſeiner jetzigen Faſſung geführt haben, nicht im Einklange ſtehe. Der Bevollmächtigte für Bremen erklärte darauf, daß der Senat die Verordn. wieder aufheben werde..

In einzelnen Fällen ſteht dem Bundesrath oder Bundesraths - Ausſchüſſen aber eine formell wirkſame, verwaltungsgerichtliche Entſcheidung zu.

So beſtimmt das Geſ. v. 30. Mai 1873 Art. IV Abſ. 2267§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.(R. -G.-Bl. S. 124) in Beziehung auf das Recht der Feſtungsſtädte, die für den öffentlichen Verkehr nothwendige Erweiterung der Thore und Thorbrücken, ſoweit ein fortifikatoriſches Intereſſe nicht ent - gegenſteht, auf Koſten des Reiches zu verlangen: Die Entſcheidung darüber, ob und welche Erweiterungen im Intereſſe des Verkehrs nothwendig und fortifikatoriſch zuläſſig ſind, wird in letzter Inſtanz durch die vereinigten Ausſchüſſe des[Bundesraths] für Handel und Verkehr und für das Landheer und die Feſtungen getroffen.

Hinſichtlich der Zuerkennung von Penſionen weiſt das Reichs - Beamtengeſetz vom 31. Mai 1873 §. 39, 51, 52, 68 dem Bundes - rath eine Beſchlußfaſſung zu, welche ebenfalls hierher gerechnet werden kann. Insbeſondere aber beſtimmt §. 66 des erwähnten Geſetzes, daß die definitive Entſcheidung über die zwangsweiſe Ver - ſetzung eines Reichsbeamten in den Ruheſtand bei denjenigen Be - amten, welche keine kaiſerliche Beſtallung erhalten, vom Bundes - rathe, bei denjenigen, welche eine kaiſerlich Beſtallung erhalten, vom Kaiſer im Einvernehmen mit dem Bundesrathe er - folgt1)Materiell entſcheidet alſo auch hier der Bundesrath. Daß der Form nach der Kaiſer entſcheidet iſt unerläßlich wegen des von ihm unterzeichneten Anſtellungs-Patentes.. Bis zum Erlaß des Reichsbeamten-Geſetzes hatte der Bun - desrath über die Berufskonſuln eine Zuſtändigkeit als Disziplinar - hof2)Geſ. v. 8. Nov. 1867 §. 8 (B. -G.-Bl. S. 139.).

2. Auch der nach Art. 19 der R. -V. dem Bundesrath zuſtehende Beſchluß, daß gegen ein Bundesglied die Execution vollſtreckt wer - den ſoll, involvirt eine richterliche Sentenz, indem er ein Urtheil darüber enthält, daß das Bundesglied ſeine verfaſſungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllt hat3)Vgl. Laband in Hirth’s Annalen 1873 S. 485. 486.. Es kann die Bundes-Execution nicht anders als ein Act der Adminiſtrativ-Juſtiz aufgefaßt werden, die dem Reich gegen die Einzelſtaaten als nothwendiges Correlat der den Einzelſtaaten gewährten, umfaſſenden Selbſtverwaltung zuſteht.

3. Gemäß Art. 77 der R. -V. bildet der Bundesrath die oberſte Rekurs-Inſtanz, wenn in einem Bundesſtaate der Fall einer Juſtiz -268§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.verweigerung eintritt1)Der Artikel iſt wörtlich gleichlautend mit dem Art. 29 der Wiener Schlußakte, mit der alleinigen Abänderung, daß ſtatt Bundesverſammlung Bundesrath geſetzt worden iſt. In die Verfaſſung des Nordd. Bundes wurde er auf Antrag des Abg. Wiggers aufgenommen. Vgl. Sten. Ber. des ver - faſſungber. Reichstages 1867 S. 672. Ueber den Art. 29 cit. ſind zu verglei - chen Klüber Oeff. R. §. 169. Zöpfl I. §. 156. Zachariä II. §. 281.. Ueber eine Beſchwerde dieſer Art hat der Bundesrath lediglich nach Rechtsgrundſätzen zu entſcheiden und zwar iſt ihm im Art. 77 zur Pflicht gemacht, die Beſchwerde nach der Verfaſſung und den beſtehenden Geſetzen des betreffenden Bun - desſtaates zu beurtheilen 2)Es ſteht dabei dem Bundesrathe frei, ſich das Gutachten eines oberſten Gerichtshofes oder anderer Sachverſtändigen ertheilen zu laſſen.. Desgleichen iſt die Würdigung der Frage, ob die in der Beſchwerde vorgebrachten Thatſachen erwieſen ſind, eine richterliche. Mit dem vom Bundesrathe gefällten Ur - theile, daß der Fall verweigerter oder gehemmter Rechtspflege vorliege, verbindet ſich dann die weitere Funktion, bei der Bun - desregierung, die zu der Beſchwerde Anlaß gegeben hat, die gerichtliche Hülfe zu bewirken.

4. Nach Art. 76 Abſ. 1 der R. -V. iſt der Bundesrath berufen, Streitigkeiten zwiſchen verſchiedenen Bundesſtaaten, ſofern die - ſelben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichtsbehörden zu entſcheiden ſind, auf Anrufen des einen Theiles zu erledigen. Er iſt in den von dieſem Artikel berührten Fällen an die Stelle der Auſträgal-Inſtanz des ehemaligen Bundes ge - treten. Wenngleich dem Bundesrath keinerlei Vorſchriften gegeben ſind über die Art der Erledigung ſtaatsrechtlicher Streitigkeiten unter den Bundesgliedern und ſein Beſtreben naturgemäß auf Her - beiführung eines Vergleiches gerichtet ſein wird, ſo iſt doch das äußerſte und definitive Mittel der Erledigung ein Richterſpruch, der zwangsweiſe vollſtreckt werden kann. Der Art. 76 Abſ. 1 iſt ſo weit gefaßt, daß er es dem Bundesrath überläßt, ob er den Richterſpruch, falls ein gütlicher Vergleich nicht gelingt, ſelbſt fällen will oder ob er ein Gerichtscollegium, eine Juriſten-Fakultät oder andere Sachverſtändige mit der Fällung des Urtheils betrauen will3)Vgl. die Erklärung des Bundescommiſſ. v. Savigny im Verfaſ - ſungber. Reichstag v. 1867 S. 664 und die Bemerkungen des Abg. Dr. Za - chariä ebendaſ. S. 670. Vgl. ferner Thudichum S. 110.. Aber auch wenn der Bundesrath den letzteren Weg wählt,269§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.bildet er die eigentliche Inſtanz; das Collegium, welchem er die Entſcheidung der Streitfrage aufträgt, hat keine eigene Competenz, ſondern erſtattet nur ein ſachverſtändiges Gutachten, welches nur dadurch bindende Kraft und rechtliche Bedeutung erlangt, daß es der Bundesrath beſtätigt.

Aus der Natur der Sache ergiebt ſich, daß es den ſtreitenden Staaten unbenommen iſt, durch Compromiß oder durch irgend eine Form der Austräge ihren Zwiſt zu entſcheiden. Der Art. 76 will nicht dem Bundesrath eine ausſchließende richterliche Kompetenz bei Streitigkeiten unter den deutſchen Staaten beilegen, ſondern er will nur ein Mittel gewähren, um den Landfrieden für alle Fälle aufrecht halten zu können. Da der Krieg unter den im Reiche ſtaatlich verbundenen Gliedern abſolut ausgeſchloſſen iſt, ſo muß eine Inſtanz vorhanden ſein, welche Streitigkeiten zu erledigen vermag, wenn alle ſonſt zuläſſigen Mittel einer friedlichen Ent - ſcheidung erſchöpft ſind. Deshalb iſt die Kompetenz des Bundes - rathes dann nicht begründet, wenn keiner der ſtreitenden Staaten ſeine Einmiſchung anruft.

Ueber das Verfahren, welches der Bundesrath einzuſchlagen hat, wenn derſelbe angerufen wird, hat weder die Geſetzgebung noch die Praxis bisher Regeln aufgeſtellt. Es ſteht aber nichts im Wege und würde ſich aus praktiſchen Gründen wohl empfehlen, diejenigen Vorſchriften zur Anwendung zu bringen, welche zu Zeiten des deutſchen Bundes für das Bundes-Auſträgal-Verfahren beſtanden haben1)Vgl. über das Bundes-Auſträgal-Verfahren Klüber §. 172 ff. Zöpfl I. §. 159 ff. Zachariä II. §. 267. 270 fg., woſelbſt auch die Literatur an - gegeben iſt..

Auch in dem, in der Wiener Schlußacte Art. 30 vorgeſehenen Falle, daß Forderungen von Privatperſonen deshalb nicht befrie - digt werden können, weil die Verpflichtung, denſelben Genüge zu leiſten, zwiſchen mehreren Bundesgliedern zweifelhaft oder beſtritten iſt2)Das Nähere bei Klüber §. 176. Zöpfl I. §. 157. Zacharia II. §. 273., wird der Bundesrath regelmäßig entweder wegen Art. 76 Abſ. 1 oder wegen Art 77 zur Erledigung der Streitfrage com - petent ſein3)Es iſt allerdings zuzugeben, daß Fälle denkbar ſind, welche weder, ſoweit nicht in Folge des Geſetzes vom 6. Juni270§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.1870 §. 37 ff. das Reichsamt für das Heimathsweſen zur Ent - ſcheidung berufen oder etwa die Kompetenz des Reichs-Oberhandels - gerichts begründet iſt.

5. An der äußerſten Grenze einer richterlichen oder quaſirich - terlichen Thätigkeit ſteht endlich die durch Art. 76 Abſ. 2 dem Bundesrath zugewieſene Aufgabe.

Verfaſſungsſtreitigkeiten1)Nicht jede Behauptung, daß ein Geſetzgebungs - oder Verwaltungs-Akt einer Bundesregierung verfaſſungs widrig ſei, begründet eine Verfaſſungs - Streitigkeit. Mit Recht iſt in dem Protokoll des Bundesrathes 1874 §. 94 (S. 70) hervorgehoben, daß die von einer Korporation (im con - creten Falle: der Magiſtrat der Stadt Roſtock) aufgeſtellte Behauptung, daß ein von den verfaſſungsmäßigen Faktoren der Landesgeſetzgebung vereinbartes Geſetz der Landesverfaſſung nicht entſpreche, eine Verfaſſungsſtreitigkeit im Sinne des Art. 76 Abſ. 2 überhaupt nicht begründe. in ſolchen Bundesſtaaten, in deren Verfaſſung nicht eine Behörde zur Entſcheidung ſolcher Streitigkeiten beſtimmt iſt, hat auf Anrufen eines Theiles der Bundesrath gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege der Reichsgeſetzgebung zur Erledigung zu bringen.

Nach dieſem Artikel iſt die Berechtigung des Bundesrathes zur Einmiſchung in die Verfaſſungsſtreitigkeit in einem Einzelſtaat davon abhängig gemacht, daß einer der ſtreitenden Theile ihn anruft. Es iſt aber zweifellos, daß, wenn die Verfaſſungsſtreitig - keit dahin führen ſollte, daß die Regierung des Bundesſtaates ihre Bundespflichten nicht erfüllt, insbeſondere wenn ſie verhindert wird, die Matrikularbeiträge zu entrichten oder für die Handhabung der Reichsgeſetze Sorge zu tragen, der Bundesrath aus eigenem Ent - ſchluß auf Grund des Art. 19 einſchreiten kann. Ferner iſt das Reich, alſo zunächſt der Bundesrath als deſſen Organ, auch ohne Anrufen der ſtreitenden Theile zu einem Einſchreiten nicht nur berechtigt, ſondern ſogar genöthigt, wenn in einem Bundesſtaat der Thron ſelbſt unter mehreren Prätendenten ſtreitig iſt; weil die Mitgliedſchaft dieſes Staates durch das Oberhaupt deſſelben aus - geübt wird, der Landesherr daher der Anerkennung als Bundes - Mitglied bedarf und das Reich formelle Gewißheit haben muß, wer der berechtigte Monarch des Bundesſtaates iſt.

3)unter Art. 76 Abſ. 1 noch unter Art. 77 fallen; derartige Fälle werden aber gewiß in der Praxis höchſt ſelten vorkommen.

271§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

In allen Fällen aber, in denen die Verfaſſungsſtreitigkeit das Verhältniß des Einzelſtaates zum Reich nicht berührt, ſondern eine innere Angelegenheit des erſteren bleibt, iſt das Reich nur competent, wenn es angerufen wird. So lange das Staatsrecht1)Der Art. 76 ſagt Verfaſſung ; es braucht dies aber nicht gerade die Verfaſſungs-Urkunde oder das Verfaſſungs-Geſetz zu ſein. des betref - fenden Bundesgliedes ſelbſt die Mittel zu einer rechtlichen Löſung des Streites bietet, iſt die Intervention des Reiches ausgeſchloſſen. Ebenſo wenn die ſtreitenden Theile auf Schiedsrichter ſich einigen. Das Reich tritt nur ſubſidiär zur Löſung des Conflictes ein.

Zunächſt iſt es nun Sache des Bundesrathes, den gütlichen Aus - gleich zu verſuchen. In den Verhältniſſen iſt es gegeben, daß der Bundesrath ſeinen Einfluß vorzüglich auf die Regierung auszuüben im Stande iſt; in ſehr viel geringerem Grade auf die Landesver - tretung. Doch iſt die Bedeutung der Thatſache, daß der Bundes - rath entweder vollſtändig oder wenigſtens bis zu einer gewiſſen Linie auf der Seite der Regierung ſteht, auch für die von der Landesvertretung einzunehmende Haltung nicht zu unterſchätzen.

Wenn der Verſuch gütlicher Ausgleichung nicht gelingt, ſo hat der Bundesrath im Einverſtändniß mit dem Reichstage, alſo im Wege der Reichsgeſetzgebung die Streitigkeit zu erledigen. Daraus, daß die Form der Geſetzgebung vorgeſchrieben iſt, folgt keines - wegs, daß die Entſcheidung nicht materiell die Bedeutung eines Richterſpruches habe. Es muß im Gegentheil als ein ideelles Poſtulat eines ſolchen Geſetzes aufgeſtellt werden, daß es das be - ſtehende Recht declarirt. Denn es handelt ſich um Erledigung von Verfaſſungsſtreitigkeiten d. h. von Rechtsſtreitigkeiten und die Organe des Reiches treten nur dann in Function, wenn nicht verfaſſungsmäßig eine Behörde zur Entſcheidung ſolcher Streitig - keiten beſtimmt iſt, ſie haben alſo offenbar eine Aufgabe, wie ſie einer ſolchen Behörde obliegt, d. h. eine richterliche. Es laſſen ſich auch wohl Fälle von Verfaſſungsſtreitigkeiten denken, in denen das Recht ſo zweifellos iſt, daß Bundesrath und Reichstag über - einſtimmend es zur Geltung bringen.

Der Weg der Geſetzgebung geſtattet aber ganz anderen Mo - tiven als juriſtiſchen und ganz anderen Erwägungen als richter - lichen einen ſehr erheblichen Einfluß2)Vgl. v. Martitz Betrachtungen ꝛc. S. 29 fg.. Bundesrath und Reichs -272§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.tag haben andere Aufgaben im Reich zu erfüllen, als Recht zu ſprechen und ſind deshalb auch in einer Weiſe eingerichtet, die am wenigſten auf die Bedürfniſſe der Rechtspflege berechnet iſt. Die Bundesraths-Mitglieder ſtimmen nach Inſtruktionen, die Reichstags-Mitglieder unter dem Einfluß politiſcher Anſchauungen und Tendenzen. Wenn zwei ſolche Körperſchaften, von denen keine ihrer allgemeinen Anlage nach geeignet iſt, die Rolle eines Gerichts - hofes zu übernehmen, ſich zu einem übereinſtimmenden Votum vereinigen müſſen, um die Entſcheidung eines Rechtsſtreites zu finden, ſo iſt die Wahrſcheinlichkeit, daß dieſe Entſcheidung lediglich nach Rechtsgrundſätzen erfolgen werde, keine ſehr große.

Die Reichsverfaſſung verlangt auch nicht, daß dieſe Entſchei - dung eine, der Sache nach, richterliche ſein müſſe.

Die Erledigung der Verfaſſungsſtreitigkeit kann auch er - folgen durch Veränderung der Verfaſſung oder durch Außerkraft - ſetzung des beſtehenden Verfaſſungsrechts für den einzelnen Fall. Die im Art. 2 der R. -V. den Reichsgeſetzen beigelegte Wirkung, daß ſie den Landesgeſetzen vorgehen, kömmt auch einem auf Grund des Art. 76 Abſ. 2 erlaſſenen Reichsgeſetze zu, welches das bis - herige Staatsrecht eines Bundesgliedes modifizirt.

Es iſt dies in zweifacher Beziehung bemerkenswerth. Erſtens ergiebt ſich auch hieraus, daß nicht der einzelne Bundesſtaat auf dem ſeiner Autonomie überlaſſenen Gebiete ſouverän iſt, ſondern daß über ihm die Reichsgewalt als die wirklich höchſte, ſouveräne Gewalt ſteht. Zweitens zeigt ſich an der hier erörterten Function der Reichsorgane, ſowie überhaupt an der Geſammtheit der dem Bundesrathe zugewieſenen Thätigkeit, daß Geſetzgebung, Verwal - tung und Rechtspflege nicht von einander ſcharf abgegränzte Ge - biete haben, ſondern daß ſie lediglich Formen ſind, in welchen die eine und untheilbare, der einheitlichen Perſönlichkeit des Staa - tes entſprechende, Staatsgewalt zur Erſcheinung kommt und wirk - ſam wird.

§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.

Die hier in Betracht kommenden Rechtsſätze ſind theils in der Verfaſſung ſelbſt enthalten, theils in der Geſchäfts-Ord - nung für den Bundesrath des Deutſchen Reiches formulirt. Dieſelbe iſt in der Sitzung des Bundesrathes vom 27. Febr. 1871273§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.beſchloſſen worden1)Gedruckt 1871 in der Königl. Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei zu Ber - lin. 18 Seiten.. Geſetzliche Kraft kömmt derſelben nicht zu; ſie iſt daher auch im Reichsgeſetzblatt nicht verkündet worden und ſie unterliegt der Abänderung und Ergänzung durch Bundesraths - Beſchluß.

I. Der Bundesrath iſt keine ſtändige Verſammlung, wie es der Bundestag in Frankfurt a. M. war oder wie es dem Begriff eines Reichsminiſteriums entſprechen würde, ſondern er tritt nur zeitweiſe auf Berufung zuſammen.

1. Die Berufung des Bundesrathes und ebenſo die Er - öffnung, Vertagung und Schließung deſſelben ſteht dem Kaiſer zu. R. -V. Art. 12. Der Bundesrath kann ſich demgemäß nicht aus eigener Initiative verſammeln und ein Beſchluß, welchen derſelbe etwa faſſen würde vor ſeiner Eröffnung oder nach ſeiner Vertagung oder Schließung durch den Kaiſer, wäre verfaſſungs - widrig und deshalb nichtig.

2. Im Allgemeinen iſt es in die freie Entſchließung des Kai - ſers geſtellt, ob er den Bundesrath berufen will oder nicht; hier - von giebt es aber zwei Ausnahmen, indem eine Berufung des Bundesrathes erfolgen muß,

a) wenn der Reichstag einberufen wird. R. -V. Art. 13. So lange der Reichstag verſammelt iſt, muß auch der Bundesrath einberufen ſein, da der Bundesrath über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die vom Reichstage gefaßten Beſchlüſſe zu beſchließen hat. Es kann aber der Bundesrath allein ohne den Reichstag, einberufen werden, was namentlich wegen der Vorberei - tung der dem Reichstage zu machenden Vorlagen erforderlich iſt.

b) wenn ein Drittel der Stimmenzahl des Bundesrathes die Berufung verlangt. R. -V. Art. 14. Da der Bundesrath 58 Stimmen zählt, 19 Stimmen alſo nicht vollſtändig ein Drittel ausmachen, ſo müſſen, wenn der Kaiſer nicht kraft eigener Befug - niß den Bundesrath einberufen will, 20 Stimmen zu dem Ver - langen auf Berufung ſich vereinigen.

3. Da der Reichstag und mithin auch der Bundesrath all - jährlich berufen werden müſſen (R. -V. Art. 13), ſo unterſcheidet man ordentliche und außerordentliche Sitzungsperioden des Bun -Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 18274§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.desrathes. Die erſteren ſind diejenigen, welche mit den ordent - lichen Sitzungsperioden des Reichstages zuſammenfallen, unbeſcha - det der Abweichung, daß ſie früher eröffnet und ſpäter geſchloſſen werden können. Außerordentliche Seſſionen ſind alle übrigen Fälle, in denen der Bundesrath berufen wird. Eine ſtaatsrecht - liche Bedeutung hat die Unterſcheidung nicht. Zwiſchen den ver - ſchiedenen Seſſionen des Bundesrathes beſteht das ſogen. Prinzip der Kontinuität; d. h. Angelegenheiten, welche in einer Sitzungs-Periode nicht völlig erledigt ſind, werden in einer fol - genden Sitzungs-Periode an dem Punkte, bis zu welchem ſie ge - diehen ſind, fortgeführt. Es iſt nicht erforderlich, daß ſie den geſchäftsordnungsmäßigen Weg der Behandlung nochmals von Anfang an durchmachen.

II. Der Vorſitz im Bundesrathe und die Lei - tung der Geſchäfte ſteht dem Reichskanzler zu, wel - cher vom Kaiſer zu ernennen iſt. R. -V. Art. 15 Abſ. 1.

1) Der Vorſitz im Bundesrathe iſt ein von der Prä - ſidialſtellung des Königs von Preußen abgeleitetes Recht. Dem Präſidium Preußens im Bunde entſpricht das Präſidium des ſtimmführenden Bevollmächtigten Preußens im Bundesrathe. Die Reichsverfaſſung giebt dieſem Verhältniß keinen unmittelbaren und beſtimmten Ausdruck; denn ſie knüpft den Vorſitz im Bundes - rathe nicht an die Eigenſchaft, Preußiſcher Bevollmächtigter zu ſein, ſondern an die Eigenſchaft, Reichskanzler zu ſein. Sachlich beſteht aber kein Unterſchied, da der Reichskanzler immer zugleich Preußiſcher Bevollmächtigter zum Bundesrathe ſein muß; denn der Kaiſer als ſolcher kann keine Bundesraths-Mitglieder ernen - nen, ſondern nur der König von Preußen1)Siehe oben S. 234., der Reichskanzler aber muß zu Folge Art. 15 Mitglied des Bundesrathes ſein und zwar ein vom Kaiſer ernanntes, woraus ſich von ſelbſt ergiebt, daß der Reichskanzler immer zu den vom Kaiſer als König von Preußen ernannten Bevollmächtigten gehören muß, oder mit an - deren Worten, daß der Reichskanzler immer zugleich auch der (ſtimmführende) Bevollmächtigte des Preußiſchen Staates iſt2)Vgl. auch unten §. 33.. In der alsbald zu erwähnenden Beſtimmung des Bayer. Schluß -275§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.protokolls über die Stellvertretung im Vorſitz hat das juriſtiſche Weſen des Verhältniſſes einen concreten Ausdruck gefunden.

2) Der Reichskanzler kann ſich durch jedes andere Mitglied des Bundesrathes vermöge ſchriftlicher Subſtitution vertreten laſſen. R. -V. Art. 15 Abſ. 2.

Es iſt hierzu weder die Genehmigung des Kaiſers erforder - lich, noch iſt eine beſtimmte Rangordnung unter den Staaten oder unter den Bevollmächtigten, in Bezug auf das Vicepräſidium ver - faſſungsmäßig vorgeſchrieben. Das Bayr. Schlußprotok. vom 23. Nov. 1870 Ziff. IX. beſtimmt aber: Der Königl. preuß. Bevollmächtigte erkannte es als ein Recht der Bayeriſchen Regierung an, daß ihr Vertreter im Falle der Verhinderung Preußens den Vorſitz im Bundesrathe führe.

Hier iſt zuvörderſt ausgeſprochen, daß der Vorſitz im Bun - desrathe nicht auf dem Amte des Reichskanzlers ruht, ſondern ein Recht Preußens iſt, ſo wie das Vicepräſidium ein Recht Bayerns iſt. Demgemäß tritt der Anſpruch Bayerns auf den ſtellvertretenden Vorſitz nicht ein im Falle der Verhinderung des Reichskanzlers; ſondern im Falle der Verhinderung Preußens1)In der Bundesraths-Sitzung vom 18. Dezember 1874, in welcher nur ein einziger Preußiſcher Bevollmächtigter, der Staats-Miniſter Delbrück anweſend war, trat derſelbe während der Sitzung wegen anderweiter Dienſt - geſchäfte den Vorſitz an den Bayeriſchen Staats-Miniſter v. Pfretzſchner ab. Protok. 1874 §. 563.. Der Reichskanzler kann daher einen anderen Preußiſchen Be - vollmächtigten ſich ſubſtituiren, aber nicht mit Uebergehung Bayerns den Bevollmächtigten eines anderen Staates.

Sodann aber ergiebt ſich, daß das Recht Bayerns lediglich auf einer Zuſicherung Preußens beruht, welchen Gebrauch der Reichskanzler als Preuß. Bevollmächtigter von ſeiner Subſtitutions - befugniß machen werde, während der verfaſſungsrechtliche Grund - ſatz ſelbſt, daß der Reichskanzler ſich durch jedes andere Mitglied des Bundesrathes vertreten laſſen könne, unverändert fortbeſteht. Demnach kann der Reichskanzler mit Uebergehung der übrigen Preußiſchen Bevollmächtigten den Bayeriſchen ſich ſubſtituiren und falls die Bayeriſchen Bevollmächtigten nicht anweſend oder verhindert ſind, den Bevollmächtigten jedes anderen Staates.

18*276§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.

Endlich iſt feſtzuhalten, daß die Krone Bayern nicht das Vice - präſidium des Bundes, ſondern der Bayeriſche Bevollmächtigte den ſtellvertretenden Vorſitz im Bundesrathe zu beanſpru - chen hat.

3) Die Leitung der Geſchäfte, welche nach dem Art. 15 der R. -V. dem Reichskanzler zuſteht, iſt in der Geſchäftsordnung des Bundesrathes näher ſpezialiſirt. Demnach hat der Reichs - kanzler die Sitzungen anzuberaumen und zu eröffnen1)Geſch. -Ordn. §. 1. 4.. An ihn gelangen die Mittheilungen des Reichstages, die Anträge der ein - zelnen Bundesſtaaten und alle ſonſtigen an den Bundesrath gerich - teten Eingaben2)Geſch. -Ordn. §. 7. 8.. Der Reichskanzler kann Eingaben, die un - zweifelhaft nicht zum Geſchäftskreiſe des Bundesrathes gehören, ſofort ſelbſt in geeigneter Weiſe erledigen und Beſchwerden, aus denen nicht erhellt, daß der geſetzliche Inſtanzenzug erſchöpft iſt, zur Zeit zurückweiſen 3)Geſch. -Ordn. §. 8 Abſ. 2..

Die in dieſer Weiſe nicht erledigten Angelegenheiten werden vom Reichskanzler entweder auf die Tages-Ordnung der nächſten Sitzung gebracht oder, wenn ſie ſich auf eine, bereits einem Aus - ſchuß überwieſene Vorlage beziehen, dieſem Ausſchuß vorgelegt, wovon dem Bundesrath in der nächſten Sitzung Anzeige gemacht wird4)Geſch. -Ordn. §. 7. 8 Abſ. 1 u. 3. Die auf Grund des §. 66 al. 2 des Reichsbeamten-Geſetzes eingehenden Rekurſe werden von dem Vorſitzenden ohne Vortrag im Plenum, unmittelbar dem Ausſchuß für Juſtizweſen über - wieſen. Protok. 1874 §. 116 (S. 82.). Der Reichskanzler hat die zur Ausführung der Beſchlüſſe des Bundesrathes erforderlichen Verfügungen zu treffen5)Geſch. -Ordn. §. 15..

III. Ueber die Sitzungen des Bundesrathes und die Ord - nung des Geſchäftsganges beſtehen folgende Regeln.

1) Die Bevollmächtigten werden ſchriftlich zu den Sitzungen eingeladen. Die Einladungen werden vorbehaltlich ganz dringender Fälle am Tage vor der Sitzung den Mitgliedern des Bundes - rathes zugeſtellt6)Geſch. -Ordn. §. 1..

2) Außer der Adreſſe und der Zeit der Sitzung ſind in der Einladung, ſoweit als möglich, die Gegenſtände der Berathung277§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.anzugeben. Es iſt daher nicht ausgeſchloſſen, daß Gegenſtände zur Berathung kommen, welche in der, in der Einladung enthaltenen Tages-Ordnung nicht aufgeführt ſind. Ausgenommen iſt jedoch die Wahl für einen Ausſchuß; ſie darf nur vorgenommen werden, wenn ſie in der Einladung ausdrücklich angekündigt iſt1)Geſch. -Ordn. ebenda. Auch für andere Wahlen, z. B. der Mitglieder der Reichsſchulden-Kommiſſion u. dgl., wird in der Regel vorher der Tag, an welchem ſie vorgenommen werden ſollen, feſtgeſetzt..

3) Jeder Bevollmächtigte, welcher im Bundesrathe eine Stimme führt, iſt befugt einen andern Bevollmächtigten ſich zu ſubſtituiren. Dem Reichskanzler wird von jeder Subſtitution unverzüglich Mit - theilung gemacht. Die Subſtitution bleibt, wenn der Bevollmäch - tigte, welcher ſie ertheilt hat, ſtirbt, ſo lange in Kraft, bis der Vollmachtgeber (Landesherr, Senat) des Verſtorbenen wegen Füh - rung der Stimme eine andere Verfügung getroffen hat2)Geſch. -Ordn. §. 2..

4) Die Eröffnung der Sitzung durch den Reichskanzler kann erfolgen, ſobald die beſtimmte Stunde geſchlagen hat3)Geſch. -Ordn. §. 4..

5) Die Ordnung der Sitze richtet ſich nach der Reihenfolge, in welcher die Bundesſtaaten im Art. 6 der R. -V. aufgeführt ſind. In derſelben Ordnung erfolgt die Abſtimmung. Wenn ein Be - vollmächtigter die Stimmen mehrerer Bundesſtaaten führt, ſo hat derſelbe ſie einzeln an der, jedem Staate zukommenden Stelle ab - zugeben4)Geſch. -Ordn. §. 5..

6) Den Anfang der Sitzung macht die Feſtſtellung des Pro - tokolls der letzten Sitzung. Hierauf folgen die vom Reichskanzler und den einzelnen Bevollmächtigten Namens ihrer Regierungen zu machenden Mittheilungen und einzubringenden Anträge; ſodann die Vornahme der weiter auf die Tagesordnung geſetzten oder ſonſt, dem Antrage des Reichskanzlers gemäß zu verhandelnden Gegenſtände und endlich findet Verabredung über die nächſte Sitzung und vorläufige Anzeige der Gegenſtände ſtatt, welche darin vor - kommen dürften5)Geſch. -Ordn. §. 11. 12. 13..

7) Ueber jede Sitzung wird ein Protokoll aufgenommen.

Daſſelbe muß enthalten:

278§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.
  • a) die Namen der anweſenden Bevollmächtigten und des Pro - tokollführers
  • b) die Gegenſtände der Berathung
  • c) die geſtellten Anträge und
  • d) die gefaßten Beſchlüſſe
    1)Geſch. -Ordn. §. 14 Abſ. 1.
    1).

Protokollführer iſt ein Beamter, welchen der Bundesrath auf Vorſchlag des Reichskanzlers wählt. Wird der Vorſchlag des Reichskanzlers vom Bundesrath nicht angenommen, ſo erfolgt ein neuer Vorſchlag2)Geſch. -Ordn. §. 14 Abſ. 2..

Ein Bericht, welcher die Gegenſtände der Verhandlung und den weſentlichen Inhalt der Beſchlüſſe kurz zuſammenfaßt, wird unmittelbar nach jeder Sitzung des Bundesrathes durch den Reichs - Anzeiger zur allgemeinen Kenntniß gebracht3)Geſch. -Ordn. §. 23 Abſ. 1. Protok. 1872 §. 424..

Außerdem iſt eine, in größern Zeitabſchnitten erfolgende, für die Oeffentlichkeit beſtimmte Ausgabe der Bundesraths-Verhandlun - gen, welche den Inhalt der Protokolle und der Druckſachen, ſoweit ſich dieſelben zur Veröffentlichung eignen, enthält, in Ausſicht ge - nommen. Die Veranſtaltung dieſer Ausgabe ſoll durch das Reichs - kanzleramt im Einvernehmen mit dem Ausſchuſſe für die Geſchäfts - ordnung erfolgen.

Nicht für die Oeffentlichkeit beſtimmte Abdrücke der Protokolle, werden für den Gebrauch der Reichs - und Landesbehörden angefer - tigt. Sie ſind in Paragraphen abgetheilt, welche immer durch ein Jahr fortlaufende Nummern haben. Sie führen den Titel:

Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrathes des Deutſchen Reiches. Seſſion .... Berlin. Geh. Ober-Hof - buchdruckerei. Fol.

Dazu gehört eine Sammlung der Anträge, Motive, Berichte, und anderen Anlagen, welche in derſelben Ausſtattung wie die Protokolle erſcheint unter dem Titel:

Druckſachen zu den Verhandlungen des Bundesrathes des Deutſchen Reiches. Seſſion .... Berlin. Geh. Ober. -Hofbuch - druckerei. Fol.

Die auf Elſaß-Lothringen bezüglichen Verhandlungen werden279§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.beſonders geſammelt und gedruckt mit beſonderer Zählung der Bundesraths-Sitzungen und der Paragraphen der Protokolle.

8) Der Beſchlußnahme des Bundesrathes unterliegt zunächſt die geſchäftliche Behandlung des Gegenſtandes. Dieſelbe kann in dreifacher Art erfolgen1)Geſch. -Ordn. §. 12.:

  • a) der Bundesrath entſcheidet ſich dafür, über die Sache ſelbſt ſofort oder nach einer zu beſtimmenden Friſt zu berathen und zu beſchließen.
  • b) Der Bundesrath verweiſt die Angelegenheit an einen der ſtändigen Ausſchüſſe. In dieſem Falle kann der Bundes - rath gleichzeitig die Form, in welcher der Ausſchuß Bericht zu erſtatten hat, bezeichnen
    2)Protok. 1872 §. 87. Geſch. -Ordn. §. 18 Abſ. 5.
    2).
  • c) Der Bundesrath beſchließt, die Angelegenheit einem beſon - ders zu wählenden (außerordentlichen) Ausſchuß zu über - weiſen. Alsdann iſt gleichzeitig darüber Beſchluß zu faſſen, aus wie vielen Mitgliedern dieſer Ausſchuß beſtehen ſoll.

Wenn wegen Mangels an Inſtruktion die Ausſetzung einer Abſtimmung beantragt wird, ſo entſcheidet der Bundesrath über dieſen Antrag, eventuell über den Tag, an welchem die ausgeſetzte Abſtimmung erfolgen ſoll.

IV. Ueber die Beſchlußfaſſung des Bundesrathes gilt im Allgemeinen die Regel3)R. -V. Art. 5., daß dieſelbe mit einfacher Mehr - heit erfolgt und daß bei der Stimmengleichheit die Präſidial - ſtimme entſcheidet, d. h. daß dasjenige Votum zum Beſchluß er - hoben iſt,[] für welches die 17 Stimmen Preußens ſich erklärt haben4)v. Mohl S. 236 nimmt an, daß wenn an einer Beſchlußfaſſung gar kein preußiſcher Bevollmächtigter Theil nimmt, ſo daß Bayern den Vorſitz in Vertretung führte, die Bayriſchen Stimmen im Falle der Stimmengleichheit den Ausſchlag geben. Dies iſt zweifellos unrichtig. Denn das Schlußprotok. Z. IX ſpricht nur von dem Vorſitz im Bundesrathe, nicht von einer ſtellvertretenden Ausübung anderer Präſidialrechte. Die Präſidialſtimme iſt nicht identiſch mit der Stimme des Vorſitzenden im Bundesrathe, ſondern mit der Stimme des Bundespräſidiums d. i. Preußens. Vgl. S. 234 u. 276..

Bei der Berechnung der Majorität kommen nur die wirklich abgegebenen Stimmen in Betracht. Es werden daher nicht280§. 30. Die formelle Erledigung der Geſchäfte des Bundesrathes.gezählt die Stimmen der Staaten, welche im einzelnen Falle nicht ſtimmberechtigt ſind, wenn über eine Angelegenheit zu beſchließen iſt, welche nach den Beſtimmungen der Verfaſſung nicht dem ganzen Reiche gemeinſchaftlich iſt, und ferner diejenigen Stimmen, welche nicht vertreten oder nicht inſtruirt ſind.

Von dem Grundſatz, daß die einfache Stimmenmehrheit ent - ſcheidet, gibt es aber zwei Ausnahmen1)Art. 78 Abſ. 2 bildet keine Ausnahme von den Regeln über die Be - ſchlußfaſſung des Bundesrathes. Die Zuſtimmung des einzelnen Bundesſtaa - tes zur Aufhebung eines ihm zuſtehenden Sonderrechts iſt ein neben dem Bundesrathsbeſchluß ſtehendes (materielles) Erforderniß. Anderer Anſicht v. Mohl S. 236.:

1) Veränderungen der Verfaſſung ſind abgelehnt, wenn ſie 14 Stimmen gegen ſich haben. Art. 78 Abſ. 1. Die Vorfrage, ob der Geſetzesvorſchlag eine Veränderung der Verfaſ - ſung enthält oder nicht, wird durch dieſe Vorſchrift nicht berührt; denn dieſe Vorfrage betrifft nicht eine Abänderung, ſondern eine Auslegung der Verfaſſung. Sie wird daher durch einfache Mehr - heit entſchieden2)Anderer Anſicht Seydel S. 104. 105..

2) In einer Anzahl von Fällen genügt die Mehrheit der Stimmen nur dann zur Faſſung eines Beſchluſſes, wenn in dieſer Mehrheit die Präſidialſtimme, d. h. die Stimme Preußens ent - halten iſt. In dieſen Fällen beſteht nicht, wie man gewöhnlich ſagt3)So z. B. v. Martitz Betrachtungen S. 42. Hierſemenzel I. S. 39 Note 6. Riedel S. 28. 97. v. Rönne S. 154., ein Veto des Kaiſers gegenüber einem Bundesrathsbeſchluß; ſondern es liegt die Annahme eines Vorſchlages von Seiten des Bundesrathes überhaupt nicht vor4)Vgl. Meyer Grundzüge S. 69 Erörterungen S. 51. Weſterkamp S. 95.. Trotzdem ſich die Mehrheit für den Vorſchlag erklärt hat, iſt der Vorſchlag von dem Bundesrath verworfen worden, weil die Annahme deſſelben an die zweifache Vorausſetzung gebunden iſt, daß die Mehrheit der Stimmen ſich dafür erklärt und daß in dieſer Mehrheit die Preußiſchen Stimmen enthalten ſind5)Correct iſt die Faſſung des §. 3 der Geſch. -Ordn. des Bundesrathes.. Dieſes zweifache Erforderniß iſt durch die Ver - faſſung aufgeſtellt in folgenden Fällen6)R. -V. Art. 7 Abſ. 3.:

281§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.

a) bei Beſchlüſſen über Geſetzes-Vorſchläge, welche Aenderungen in den beſtehenden Einrichtungen des Militärweſens und der Kriegsmarine herbeiführen1)R. -V. Art. 5 Abſ. 2. Vgl. Geſch. -Ordn. §. 3 Ziffer 1..

b) bei Beſchlüſſen über Geſetzes-Vorſchläge, welche Aenderungen in dem Zollweſen, oder in der Beſteuerung des im Bundesgebiete gewonnenen Salzes und Tabaks, bereiteten Brannt - weins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländiſchen Er - zeugniſſen dargeſtellten Zuckers und Syrups herbeiführen2)R. -V. Art. 5 Abſ. 2. Art. 35..

c) bei Beſchlüſſen über die Abänderung von Verwal - tungs-Vorſchriften und Einrichtungen, welche zur Aus - führung der unter b aufgeführten Zoll - und Steuergeſetze ſowie derjenigen Reichsgeſetze beſtehen, welche den gegenſeitigen Schutz der in den einzelnen Bundesſtaaten erhobenen Verbrauchsabgaben gegen Hinterziehungen oder die in den Zollausſchlüſſen zur Siche - rung der gemeinſammen Zollgrenze erforderlichen Maaßregeln be - treffen3)R. -V. Art. 37 verglichen mit Art. 35..

d) Endlich kann man noch hierher rechnen die Beſchlußfaſſung über die Auflöſung des Reichstages während der Dauer der Legislatur-Periode4)R. -V. Art. 24.. Die Geſchäfts-Ordn. des Bundesrathes Art. 3. Ziff. 3. ſtellt dieſen Fall hierher5)Ebenſo Thudichum V. -R. S. 104. Riedel S. 28. v. Rönne S. 151. v. Mohl S. 237.; die Reichsverfaſſung führt ihn im Art. 5 nicht auf. Im praktiſchen Erfolge iſt dies gleichgültig; für die theoretiſche Betrachtung beſteht aber allerdings der Unterſchied, daß zu der Auflöſung des Reichstages die Zu - ſtimmung des Kaiſers als eines vom Bundesrath verſchie - denen, ſelbſtſtändigen Organs des Reiches erforderlich iſt, bei der Beſchlußfaſſung über die in Art. 5. 35 und 37 aufgeführten Gegenſtände die Stimme des Präſidiums d. h. die Stimme Preußens im Bundesrathe den Ausſchlag gibt, wenn ſie ſich für die Aufrechthaltung der beſtehenden Einrichtungen ausſpricht.

§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.

I. Die Bundesraths-Ausſchüſſe ſind Kommiſſionen des Bun - desrathes zur Vorbereitung der Bundesrathsbeſchlüſſe. Der Regel282§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.nach ſind die Ausſchüſſe nicht competent, Angelegenheiten definitiv zu erledigen oder Adminiſtrativ-Verordnungen zu erlaſſen, ſondern ihre Hauptaufgabe beſteht in der Bericht-Erſtattung an das Ple - num; ausnahmsweiſe iſt aber einzelnen Ausſchüſſen die ſelbſtſtän - dige Erledigung gewiſſer Sachen übertragen.

Wenn der Vergleich des Bundesrathes mit einem Reichs - Miniſterium oben S. 233 als gänzlich unpaſſend bezeichnet werden mußte, ſo iſt die Charakteriſirung der Bundesraths-Ausſchüſſe, als verſähen dieſelben Funktionen von Miniſterien1)So z. B. v. Martitz S. 66. Hauſer S. 71. Auerbach S. 64., noch um Vieles irriger und ungerechtfertigter, obwohl ſie durch eine gelegentliche Bemerkung des Fürſten Bismarck in der Sitzung des Reichstages v. 16. April 1869 ſcheinbar beſtätigt wird. Denn ſie ſind keine Behörden, am wenigſten ſolche, denen die Oberleitung der laufen - den Verwaltung obliegt. Die Ausſchüſſe ſtehen vielmehr im All - gemeinen zu dem Bundesrath in einem ähnlichen Verhältniß wie die Kommiſſionen des Reichstages zu dem Plenum deſſelben2)Richtig Weſterkamp S. 159. Vgl. auch Tweſten im Verfaſſ. Reichstag 1867. Stenogr. Berichte S. 355 und Miniſter Delbrück in der Reichstagsſitzung vom 29. Mai 1873. Stenogr. Ber. S. 899. Die vollſtän - digſte Begriffs-Verwirrung ſpricht ſich in der Beſchreibung aus, welche v. Rönne S. 152 von den Bundesraths-Ausſchüſſen zum Beſten giebt. Er ſagt: die Ausſchüſſe des Bundesrathes haben im Weſentlichen nur berathende oder rein geſchäftliche (!?) Funktionen; es wird ihre Thätigkeit wenn der Gegenſtand der Berathung zur Kompetenz des Bundesrathes gehört, von die - ſem, ſonſt (?) aber von dem Kaiſer vorgeſchrieben (!). In allen übrigen (?) Beziehungen ſind die Mitglieder der Ausſchüſſe nur ſachverſtändige Ver - trauensmänner (!). Abgeſehen davon, daß nicht abzuſehen iſt, wo der Gegen - ſatz zu geſchäftlichen Funktionen zu ſuchen iſt, haben daher nach v. Rönne die Ausſchüſſe des Bundesrathes auch über ſolche Gegenſtände zu berathen, die gar nicht zur Kompetenz des Bundesrathes gehören und zwar ſoll ihnen dieſe Thätigkeit vom Kaiſer vorgeſchrieben werden. Und neben dieſen beiden Kreiſen von Gegenſtänden, die entweder zur Kompetenz des Bundesrathes ge - hören oder nicht, kennt v. Rönne noch übrige Beziehungen, in denen die Mitglieder der Ausſchüſſe angeblich ſachverſtändige Vertrauensmänner ſind. Weſſen Vertrauen ſie in dieſen Beziehungen auf ſich vereinigen, hütet ſich v. Rönne zu ſagen; ſachverſtändig aber brauchen die Mitglieder des Aus - ſchuſſes ſo wenig zu ſein, daß ſie gerade bei techniſchen Fragen bei ihren Be - rathungen Sachverſtändige zuzuziehen pflegen..

Die Ausſchüſſe werden entweder für eine einzelne Angelegen - heit beſonders niedergeſetzt und heißen alsdann außerordent -283§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.liche1)Zu dieſer Klaſſe gehören auch der Ausſchuß für die Verfaſſung und der Ausſchuß für die Geſchäfts-Ordnung, welche 1871 für die gegenwärtige Seſſion gebildet wurden Protok. 1871 §. 6; dann aber in jeder Seſſion er - neuert wurden. Vgl. z. B. Protok. 1874 §. 15. 1875 §. 179 (S. 155)., oder ſie beſtehen für gewiſſe Kategorien von Geſchäften als dauernde, ſtändige, ordentliche2)Fürſt Bismarck im verf. Reichstage 26. März 1867. (Sten. Ber. S. 355): Was den Ausdruck dauernd anbelangt, ſo iſt derſelbe dahin gemeint geweſen, daß dies nicht Ausſchüſſe ſein ſollen, die Einmal ad hoc zu einem beſtimmten Zweck gewählt werden, ſondern ſolche Ausſchüſſe, welche ſtets exiſtiren ſollen. Ob ſie immer verſammelt ſein ſollen, ob ſie auch dann in Thätigkeit ſein ſollen, wenn der Bundesrath nicht verſammelt iſt, hängt von den Beſchlüſſen des Bundesrathes ab und von der Bedürfnißfrage. . Unter den letzteren iſt der Ausſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten durchaus anomal und eigenthümlich, da derſelbe wie bereits oben ausge - führt worden iſt, lediglich zur Information der Bundesregierungen über den Stand der auswärtigen Politik dient. Wenn von die - ſem Ausſchuß hier zunächſt abgeſehen wird, ſo laſſen ſich über die dauernden Ausſchüſſe folgende allgemeine Rechtsſätze auf - ſtellen.

1) Die Ausſchüſſe werden gebildet aus der Mitte des Bun - desrathes3)R. -V. Art. 8 Abſ. 1. d. h. es kann Niemand Mitglied eines Ausſchuſſes ſein, welcher nicht Bevollmächtigter zum Bundesrath iſt.

2) Die Zuſammenſetzung der Ausſchüſſe erfolgt bei Beginn jeder Seſſion des Bundesrathes; beziehentlich alljährlich, wenn außerordentliche Bundesraths-Sitzungen nicht ſtattfinden. Nach der Geſch. -Ordn. des Bundesraths §. 17 erfolgt die Erneuerung der Ausſchüſſe nur bei dem Beginn jeder ordentlichen Seſſion des Bundesrathes, alſo von Jahr zu Jahr. Die ausſcheidenden Mit - glieder ſind wieder wählbar4)R. -V. Art. 8 Abſ. 2..

3) In jedem dauernden Ausſchuſſe müſſen mindeſtens 5 Staaten vertreten ſein und unter dieſen muß ſich das Präſidium oder richtiger ausgedrückt Preußen befinden. Nach einem Bundes - rathsbeſchluß von 18715)Protokoll §. 21. und der Geſchäftsordnung des B. -R. §. 16 iſt die Zahl von 5 Mitgliedern aber nur für den Ausſchuß für das Seeweſen beibehalten worden; alle übrigen Ausſchüſſe284§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.beſtehen aus 7 Mitgliedern1)Von dem 8. Ausſchuß wird hier abgeſehen. Auch die Ausſchüſſe für die Verfaſſung und für die Geſchäftsordn. beſtehen aus ſieben Mitgliedern.. Neben den Mitgliedern können auch Stellvertreter ernannt werden.

4) Innerhalb der Ausſchüſſe führt jeder Staat nur Eine Stimme. R. -V. Art. 8. Wenn jedoch mehrere Ausſchüſſe zu ge - meinſchaftlicher Berathung zuſammentreten, ſo hat jedes Mitglied eine Stimme2)Geſch. -Ordn. §. 18 Abſ. 1..

5) Die Zuſammenſetzung der Ausſchüſſe erfolgt durch Wahl des Bundesrathes, abgeſehen von den Ausſchüſſen für das Land - heer und die Feſtungen und für das Seeweſen, für welche beſon - dere Regeln gelten. Der Art. 8 der R. -V. ſagt: die Mitglieder der anderen Ausſchüſſe werden von dem Bundesrathe gewählt. Da unter Mitgliedern des Ausſchuſſes unmöglich Mitglieder des Bundes verſtanden werden können, ſondern diejenigen Bun - desraths-Bevollmächtigten, welche den Ausſchuß bilden ſollen, ſo ergiebt ſich nach dem Wortlaute der Verf., daß der Bundesrath diejenigen Perſonen zu wählen hat, welche den Ausſchuß bilden ſollen, wobei er nur die Vorſchrift beachten muß, daß in jedem Ausſchuß Preußen und noch mindeſtens 4 andere Staaten ver - treten ſind. Wenn demnach ein Staat mehrere Bundesraths-Be - vollmächtigte ernannt hat, ſo iſt nach dem Wortlaut des Art. 8. durch die Wahl des Bundesrathes zu beſtimmen, welcher von die - ſen Bevollmächtigten in einen gewiſſen Ausſchuß eintreten ſolle.

In der Geſchäfts-Ordnung des Bundesrathes iſt das Verfahren aber abgeändert worden. Es iſt der Grundſatz daſelbſt anerkannt, daß die in einem Ausſchuſſe vertretenen Staaten die Mitglieder des Ausſchuſſes aus ihren Bevollmächtigten oder den für die letz - teren ernannten Stellvertretern ernennen3)Geſch. -Ordn. §. 17 Abſ. 3.. Daraus ergiebt ſich, daß in Beziehung auf die preußiſchen Bevollmächtigten jede Wahl des Bundesrathes ganz wegfällt; der König von Preußen (das Präſidium) ernennt aus den preuß. Bevollmächtigten für jeden Ausſchuß ſeinen Vertreter. Daſſelbe gilt von Bayern hinſichtlich ſeines Vertreters in dem Ausſchuſſe für das Landheer und die Feſtungen. In Betreff der übrigen Mitglieder findet die Wahl des Bundesrathes in der Art ſtatt, daß ſie auf die Bundesſtaaten285§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.gerichtet iſt, welche bei dem Ausſchuſſe durch Mitglieder oder Stell - vertreter betheiligt ſein ſollen1)Die Wahl der Ausſchuß-Mitglieder erfolgt alſo gewiſſermaßen indirect; der Bundesrath wählt den Staat und die Regierung des gewählten Staates deſignirt aus der Zahl ihrer Bevollmächtigten ihren Vertreter im Ausſchuß..

Die Wahl erfolgt durch geheime Abſtimmung. Es iſt für die Wahlen keine Ausnahme gemacht hinſichtlich der Anzahl der Stimmen, welche jeder Staat im Bundesrathe führt; ebenſo - wenig hinſichtlich des Verfaſſungs-Grundſatzes, daß dieſe Stimmen nur einheitlich abgegeben werden können. Da nun bei einer geheimen Ahſtimmung dies nicht zu conſtatiren wäre, wenn jeder Bevollmächtigte eines mit mehreren Stimmen ausgeſtatteten Staates an der Wahl Theil nehmen würde, ſo folgt, daß für diejenigen Staaten, welche mehrere Stimmen haben, nur der ſtimmführende Bevollmächtigte Stimmzettel abzugeben hat, und zwar ſo viele, als dem Staate Simmen zukommen2)Ob dieſes Verfahren in der That bei den im Bundesrath ſtattfinden - den Wahlen beobachtet wird, iſt aus der Geſch. -Ordn. nicht mit Beſtimmtheit zu entnehmen; ebenſo wenig aus den Protokollen des Bundesraths..

Für die Wahl gilt principiell das Erforderniß der abſoluten Stimmen-Mehrheit; ergiebt ſich dieſelbe bei der erſten Abſtimmung nicht, ſo findet eine zweite Wahl ſtatt, bei welcher die relative Stimmen-Mehrheit und im Falle der Stimmengleichheit, ſoweit nöthig, das Loos entſcheidet3)Geſch. -Ordn. §. 17 Abſ. 2. Protok. 1872 §. 87..

6) Den Vorſitz in den dauernden Ausſchüſſen (immer den achten ausgenommen) führt der Bevollmächtigte Preußens4)Geſch. -Ordn. §. 18 Abſ. 2.. Die Mitglieder der Ausſchüſſe verſammeln ſich auf Einladung des Vor - ſitzenden zur Erledigung ihrer Geſchäfte am Sitze des Bundesrathes5)Geſch. -Ordn. §. 20 Abſ. 2.. Die Wahl der Referenten erfolgt auf Vorſchlag des Vorſitzenden mittelſt Vereinbarung, oder in Ermangelung einer ſolchen durch Abſtimmung des Ausſchuſſes6)Geſch. -Ordn. §. 18 Abſ. 3..

7) Die Geſchäfte der Ausſchüſſe beſtehen hauptſächlich in der Abfaſſung der Berichte an den Bundesrath. Ob der Bericht münd - lich oder ſchriftlich erſtattet werden ſoll, iſt von dem Ausſchuſſe ſelbſt zu beſtimmen, ſofern nicht der Bundesrath bei Ueberweiſung286§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.der Sache die Form der Berichterſtattung bereits vorgeſchrieben hatte1)Geſch. -Ordn. §. 18 Abſ. 5..

Den Ausſchüſſen werden die zu ihren Arbeiten nöthigen Be - amten zur Verfügung geſtellt2)R. -V. Art. 8 Abſ. 4.. Auch ſind die Mitglieder des Ausſchuſſes befugt, bei den Berathungen deſſelben ſich der Hülfe geeigneter Beamten, (Regierungs-Kommiſſare, Dezernenten der Miniſterien, und anderer Sachverſtändigen) zu bedienen; die letz - teren dürfen aber nicht ſelbſtſtändig die Stimme ihres Staates führen, ſondern haben nur die Aufgabe, Auskunft zu ertheilen. Solche, von den Ausſchuß-Mitgliedern zu ihrer Hülfe zugezogene Beamte, ſowie ſtellvertretende Bevollmächtigte, können auch Theil nehmen an den Berathungen des Bundesrathes über diejenigen Gegenſtände, bei deren Berathung im Ausſchuſſe ſie mitgewirkt haben3)Geſch. -Ordn. §. 18 Abſ. 6 §. 19. In den Protokollen des Bundes - rathes wird die Theilnahme ſolcher Beamter oder Stellvertreter jedesmal regiſtrirt..

Die definitive Erledigung durch den Ausſchuß ſelbſt iſt, ab - geſehen von den durch Reichsgeſetze einem Ausſchuß zugewieſenen Geſchäften, der Regel nach ausgeſchloſſen. Es gilt dies ausnahms - los hinſichtlich der Beſchlüſſe des Reichstages und der Anträge einer Bundesregierung. Nur Eingaben an den Bundesrath, die nach Inhalt und Form zum Vortrag im Plenum nicht geeignet erſcheinen, kann der Ausſchuß einfach zu den Akten geben4)Geſch. -Ordn. §. 18 Abſ. 4..

8) Die dauernden Ausſchüſſe können auch dann in Thätigkeit treten, wenn der Bundesrath nicht verſammelt iſt, alſo in der Zwiſchenzeit zwiſchen den Seſſionen des Bundesrathes5)F. Bismarck im Verfaſſungber. Reichst. Stenogr. Ber. S. 356.. Die Aus - ſchuß-Mitglieder werden alsdann von dem Vorſitzenden des Aus - ſchuſſes nach Berlin einberufen. Wenn in der Zwiſchenzeit von dem Ausſchuß ſchriftliche Berichte feſtgeſtellt werden, ſo bleiben dieſelben nicht bis zur Eröffnung der Bundesrathsſitzung liegen, ſondern ſie werden ſofort gedruckt und vertheilt6)Geſch. -Ordn. §. 20..

II. Neben dieſen allgemeinen Regeln gelten für die einzelnen dauernden Ausſchüſſe noch folgende, beſondere Vorſchriften:

287§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.

1. Der Ausſchuß für das Landheer und die Fe - ſtungen. (7 Mitglieder.)

Ein Mitglied deſſelben ernennt Bayern, die übrigen der Kaiſer1)R. -B. Art. 8 Abſ. 2.. Durch die Württembergiſche Militär-Konvention Art. 15 Abſ. 2 und durch die Sächſiſche Militär-Konvention Art. 2 iſt den beiden Königreichen die Zuſicherung ertheilt worden, jederzeit in dem Ausſchuſſe vertreten zu ſein. Das Ernennungsrecht hat daher der Kaiſer auch hinſichtlich des Württembergiſchen und Sächſiſchen Mitgliedes2)R. -V. a. a. O. Bayern hat einen ſtändigen Sitz; die übrigen Mitglieder .... werden vom Kaiſer ernannt. , nur die Ausübung dieſes Rechtes iſt beſchränkt. Thatſächlich erfolgt jedoch dieſe Ausübung in der Art, daß der Kaiſer die Staaten bezeichnet, dieſen die Ernennung der Bevollmächtigten überlaſſend3)Protok. 1871 §. 32: der Vorſitzende brachte ferner zur Kenntniß, daß durch Erlaß des Kaiſers für die diesjährige Seſſion des Bundesrathes ernannt ſind zu Mitgliedern und zwar:1. des Ausſch. des Bundesr. f. das Landh. u. die Feſtungen, in welchem Preußen und Bayern auf Grund der Verf. vertreten ſind: Königreich Sachſen, Württemberg, Mecklenburg-Schwerin, Sachſen - Koburg, Anhalt. 2. des Ausſch. des B. für das Seeweſen, in welchem Preußen auf Grund der Verf. vertreten iſt: Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Lübeck, Bremen. Vgl. Protok. 1874 §. 5. 1875 §. 177.. Die Selbſtſtändigkeit der Militär - Verwaltung des Württembergiſchen und Sächſiſchen Armeecorps würde übrigens auch ohne beſondere Zuſicherung eine Vertretung dieſer beiden Staaten in dem Ausſchuſſe als geboten erſcheinen laſſen.

Neben der Bericht-Erſtattung an den Bundesrath in allen, das Militärweſen und die Feſtungen angehenden Angelegenheiten liegt dieſem Ausſchuß die Vermittelung der laufenden dienſtlichen Beziehungen zwiſchen der Königl. Preußiſchen Militär-Verwaltung und den Bundesſtaaten mit ſelbſtſtändiger Militär-Verwaltung ob4)R. -V. Art. 63 Abſ. 5. Sächſ. u. Württemb. Milit. -Convent. a. a. O. Abweichend davon beſtimmt das Bayer. Verfaſſungsbündniß III. §. 5 Z. III. Abſ. 6: Zur ſteten gegenſeitigen Information in den durch dieſe Vereinbarung geſchaffenen militäriſchen Beziehungen erhalten die Militär-Bevoll - mächtigten in Berlin und München über die einſchlägigen Anordnungen entſprechende Mittheilung durch die reſp. Kriegsminiſterien..

288§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.

Die durch das Geſ. v. 2. Mai 1874 §. 9 dieſem Ausſchuß zugewieſene Beſchlußfaſſung über Abweichungen von dem geſetzlichen Maßſtabe der Vertheilung des Rekrutenbedarfs, ſowie die ihm in Gemeinſchaft mit dem vierten Ausſchuß zuſtehende Entſcheidung über die Erweiterung von Feſtungs-Thoren ꝛc. nach dem Geſ. v. 30. Mai 1873 Art. IV ſind bereits oben erwähnt worden.

2. Der Ausſchuß für das Seeweſen. (5 Mit - glieder.)

Die Mitglieder deſſelben werden vom Kaiſer ernannt1)R. -V. Art. 8 Abſ. 2. und zwar ebenfalls in der Art, daß der Kaiſer die Staaten be - zeichnet, welche in dieſem Ausſchuß vertreten ſein ſollen2)Siehe S. 287 Note 3.. Zu den Geſchäften, welche dieſem Ausſchuſſe obliegen gehört nach §. 9 des Geſ. vom 9. Nov. 1867 die Vertheilung der für die Kriegs - marine erforderlichen Rekruten auf die einzelnen Bundesſtaaten.

Der Ausdruck für das Seeweſen läßt eine Mißdeutung zu, indem er auch die Handelsmarine mit umfaßt. Es iſt aber zwei - fellos, daß dieſer Ausſchuß für die Kriegs-Marine beſtimmt iſt, was ſchon daraus ſich ergiebt, daß nach der Terminologie der Nordd. Bundesverfaſſung ſeine Mitglieder von dem Bundesfeld - herrn ernannt werden. Die Angelegenheiten der Handesmarine gehören im Allgemeinen zu dem Geſchäftskreis des vierten Aus - ſchuſſes, was nicht ausſchließt, daß bei den zahlreichen Berührungs - punkten zwiſchen der Kriegs - und Handels-Marine beide Ausſchüſſe vereinigt berathen3)Vgl. Fürſt Bismarck im verfaſſungber. Reichstag. Stenogr. Ber. S. 355..

3. Der Ausſchuß für Zoll - und Steuerweſen. (7 Mitglieder, 1 Stellvertreter.)

Dieſem Ausſchuß iſt durch die Reichsverf. Art. 36 eine Mit - wirkung bei der Ernennung der Reichsbeamten zur Controlle der Zoll - und Steuerverwaltung zugewieſen. Im Zuſammenhange damit ſteht die Beſtimmung der Geſch. -Ordn. §. 21 Abſ. 1, daß der Ausſchuß von dem Reichskanzler in fortlaufender Kenntniß von den Berichten dieſer Reichsbeamten gehalten und über die Aenderungen in dem Perſonal dieſer Beamten vernommen wird.

Der Ausſchuß hat aber eine noch weiterreichende Kompetenz. 289§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.Es iſt oben näher dargelegt worden, welche Stellung der Bundes - rath nach Art. 36 Abſ. 3 bei der Verwaltung der Zölle und Ver - brauchsſteuern einnimmt. Die Wahrnehmung dieſer Funktion iſt, wenn der Bundesrath nicht verſammelt iſt, in dringenden Fällen dem dritten Ausſchuß im Einvernehmen mit dem vierten unter Vorbehalt der Genehmigung des Plenums übertragen. Die Geſch. - Ordn. §. 21 Abſ. 2 beſtimmt: Er (der dritte Ausſchuß) iſt, wenn der Bundesrath nicht verſammelt iſt, befugt, über die zur Aus - führung der im Art. 35 der Bundesverf. bezeichneten Geſetze die - nenden Verwaltungs-Vorſchriften und Einrichtungen in dringlichen Fällen und nach Einvernehmen mit dem Ausſchuß für Handel und Verkehr Beſchluß zu faſſen. Er hat ſolche Beſchlüſſe dem Bundesrathe bei deſſen nächſtem Zuſammentreten zur nachträglichen Genehmigung vorzulegen.

4. Der Ausſchuß für Handel und Verkehr. (7 Mit - glieder 1 Stellvertreter.)

Das Zuſammenwirken dieſes Ausſchuſſes mit dem erſten, zweiten und dritten hat bereits Erwähnung gefunden; ebenſo oben S. 265 ſeine Theilnahme an der Abgränzung der Jurisdictions - Bezirke der Konſuln. Nach Art. 56 Abſ. 1 der R. -V. ſtellt der Kaiſer die Konſuln nach Vernehmung dieſes Ausſchuſſes an1)Siehe oben Seite 262..

5. Der Ausſchuß für Eiſenbahnen, Poſt und Telegraphen. (7 Mitglieder.)

Wenn auf Grund des Art. 46 der R. -V. bei eintretenden Nothſtänden der Kaiſer einen niedrigeren Spezialtarif für den Eiſenbahn-Transport von Lebensmitteln anordnet, ſo iſt der Tarif auf Vorſchlag dieſes Ausſchuſſes feſtzuſtellen2)R. -V. Art. 46 Abſ. 1..

6. Der Ausſchuß für Juſtizweſen. (7 Mitglieder, 1 Stellvertreter.)

7. Der Ausſchuß für Rechnungsweſen. (7 Mit - glieder, 1 Stellvertreter.)

Dieſem Ausſchuß liegt in Bezug auf das Finanzweſen des Reiches eine ſehr bedeutende Thätigkeit ob.

Die Reichsverfaſſung ſelbſt hat im Art. 39 ihm eine Controle hinſichtlich der finanziellen Reſultate der Zoll - und Steuerverwal -Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 19290§. 31. Die Bundesraths-Ausſchüſſe.tung zugewieſen, indem die Quartal - und Jahres-Abſchlüſſe in überſichtlichen Zuſammenſtellungen von den Directivbehörden der Bundesſtaaten ihm einzuſenden ſind, worauf er von drei zu drei Monaten den von der Kaſſe jedes Bundesſtaates der Reichskaſſe ſchuldigen Betrag vorläufig feſtſetzt, von dieſer Feſtſtellung den Bundesrath (durch Vermittelung des Reichskanzlers)1)Geſch. -Ordn. §. 22 Ziff. 2. und die Bundesſtaaten in Kenntniß ſetzt und dem Bundesrathe Bericht abſtattet. In dieſer Beziehung iſt der Ausſchuß an die Stelle des ehemaligen Centralbureaus des Zollvereins getreten. Art. 39 der R. -V. zeigt durch ſeine ganze Faſſung ſeinen Urſprung aus dem Art. 29 des Zollvereins-Vertrages v. 16. Mai 1865.

Ueberdies aber iſt dieſer Ausſchuß gewiſſermaßen die Budget - Kommiſſion des Bundesrathes. Sowohl der Entwurf des Reichs - haushalts-Etats als auch die Jahresrechnung über die Verwendung der Einnahmen des Reiches werden ihm vom Reichskanzler vor - gelegt, von ihm geprüft und zur Beſchlußnahme des Bundesrathes vorbereitet2)Geſch. -Ordn. §. 22 Z. 1.. Bei der Prüfung des Etats-Entwurfes haben aber die bei den einzelnen Etatstiteln betheiligten anderen Ausſchüſſe mitzuwirken; der 7. Ausſchuß vertritt den Bedürfniſſen der Ver - waltungszweige gegenüber im Allgemeinen die ſpezifiſch finanziellen Geſichtspunkte.

Damit im Zuſammenhange ſteht die Aufgabe dieſes Aus - ſchuſſes, ſich von dem Kaſſen - und Rechnungsweſen des Reiches in Kenntniß zu erhalten3)Geſch. -Ordn. §. 22 Z. 3. Vgl. unten den Abſchnitt vom Finanzweſen.

Ferner ſind die 3 aus der Mitte des Bundesrathes zu ent - nehmenden Mitglieder der Bundesſchulden-Kommiſſion der jedes - malige Vorſitzende und zwei Mitglieder dieſes Ausſchuſſes4)Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 4. (B. -G.-Bl. S. 339.).

8. Der Ausſchuß für die auswärtigen Angele - genheiten.

Bei dieſem allein iſt die Anzahl der Mitglieder durch die Verfaſſung Art. 8 Abſ. 3 feſtbeſtimmt; er beſteht aus den Bevoll - mächtigten Bayerns, Sachſens und Württembergs und zweier vom Bundesrath zu wählenden Staaten. In dieſer Art wenigſtens wird nach der Geſch. -Ordn. die Vorſchrift der Verf., daß die Be -291§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.vollmächtigten zu wählen ſind, ausgeführt. In Bezug auf die Zuſammenſetzung unterſcheidet ſich dieſer Ausſchuß von den übrigen ferner dadurch, daß die Verfaſſung ſelbſt die Wahl der beiden Mitglieder alljährlich, nicht bei jeder Seſſion des Bundesrathes in Ausſicht nimmt1)Vgl. oben S. 283.. Ueber die ihm zugewieſenen Funktionen ſiehe S. 249.

9. Der Ausſchuß für Elſaß-Lothringen. (7 Mit - glieder, 2 Stellvertreter.)

Die Einrichtung dieſes Ausſchuſſes beruht auf einem Bundes - raths-Beſchluß vom 27. Mai 18712)Protok. 1871 §. 272. Die Wahl von 2 Stellvertretern wurde erſt etwas ſpäter beſchloſſen. Protok. 1871 §. 307.. Die Thätigkeit, welche dem - ſelben obliegt, iſt eine ſehr vielſeitige, da dem Reichslande gegen - über der Bundesrath bei weitem umfaſſendere Regierungs-Funk - tionen wahrzunehmen hat, wie gegenüber den Bundesſtaaten3)Vgl. unten den Abſchnitt über das Reichsland.. Der Ausſchuß für Elſaß-Lothringen unterſcheidet ſich von allen übrigen Bundesraths-Ausſchüſſen dadurch ganz ſpezifiſch, daß er nicht für ein ſachlich abgegrenztes Reſſort, ſondern für ein räum - lich begränztes Gebiet beſtellt iſt. Alle Zweige der ſtaatlichen Ordnung und der Verwaltung können den Gegenſtand ſeiner Be - rathung und Beſchlußfaſſung bilden. Aus dieſem Grunde aber kömmt es grade bei dieſem Ausſchuß beſonders häufig vor, daß er mit einem der übrigen Ausſchüſſe, zu deren Reſſort die betref - fende Angelegenheit in ſachlicher Beziehung gehört, vereinigt beräth und beſchließt.

Dritter Abſchnitt. Die Reichsbehörden und Reichsbeamten.

A. Die Reichsbehörden4)Eine Ueberſicht über dieſelben gewährt das im Reichskanzler-Amt be - arbeitete Handbuch des Deutſchen Reiches für 1874. Berlin v. Decker..

§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.

I. Dem bundesſtaatlichen Charakter des Reiches und dem oben dargelegten Verhältniß der Einzelſtaaten zum Reich entſprechend,19*292§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.iſt im Allgemeinen die Durchführung der ſtaatlichen Aufgaben und die Beſorgung der einzelnen ſtaatlichen Geſchäfte der Selbſt - verwaltung der Einzelſtaaten überlaſſen, das Reich da - gegen auf die Aufſtellung der Normen für dieſe Verwaltung und auf ihre Kontrole beſchränkt. Daraus ergiebt ſich, daß das Reich einen viel geringeren Apparat von Behörden und Aemtern bedarf, als Einzelſtaaten von ähnlicher Größe ihn bei dem heutigen Um - fange und der Vielgeſtaltigkeit der ſtaatlichen Geſchäfte nöthig haben; daß man aber andererſeits einen ſehr großen Theil der Behörden und Beamten der Einzelſtaaten in demſelben Sinne als mittelbare Reichsbehörden und Reichsbeamte bezeichnen kann, wie man die Behörden und Beamten der Gemeinden, der Kreiſe oder anderer Selbſtverwaltungs-Körper innerhalb der Einzelſtaaten mittelbare Staatsbehörden und Staatsbeamte nennt. Sowie der Deutſche Staat im vollen Sinne des Wortes und im vollen Umfange ſeiner Aufgaben nur durch Reich und Einzelſtaat zu - ſammen verwirklicht wird (ſiehe oben S. 83 fg. ), ſo werden auch die zur Durchführung dieſer Aufgaben dienenden Geſchäfte nur durch das Zuſammenwirken von Reichs - und Landesbehörden er - ledigt und die letzteren bilden einen ſehr großen Beſtandtheil des kunſtvollen Apparates von Behörden, mittelſt deſſen das Reich ſeine Lebensfunktionen ausübt. Aber grade ſo wie es für die ſtaatsrechtliche Beſtimmung des Verhältniſſes von Reich und Ein - zelſtaat weſentlich iſt, beide in ihrem Gegenſatz zu einander auf - zufaſſen, als von einander unabhängige Subjecte verſchiedener Hoheitsrechte, ſo iſt es auch für die Darſtellung der Behörden - Organiſation geboten, die Reichsbehörden im Gegenſatz zu den Landesbehörden zu nehmen und nur diejenigen Aemter darunter zu verſtehen, welche unmittelbar dem Reiche angehören und diejenigen ſtaatlichen Geſchäfte des Reiches erledigen, welche nicht der Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten übertragen oder überlaſ - ſen ſind.

Der Kreis der dem Reiche obliegenden ſtaatlichen Geſchäfte hat ſich ſeit der Gründung des Norddeutſchen Bundes fortwährend vermehrt und demgemäß iſt die Zahl der zu ihrer Erledigung be - ſtimmten Aemter von Jahr zu Jahr gewachſen.

Nach der Verfaſſung, wie ſie bei Gründung des Norddeutſchen Bundes feſtgeſtellt wurde, ſtand dem Reiche außer der Aufſicht293§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.über die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten eine eigene Verwaltung nur zu hinſichtlich der Poſt - und Telegraphie, und auf Grund der Art. 11 und 56 die Möglichkeit, eine eigene Verwaltung der aus - wärtigen Angelegenheiten und des Konſulatsweſens einzurichten. Mit der Ausübung der dem Reiche zuſtehenden Geſetzgebungsbe - fugniß, mit der Ausdehnung der Reichsfinanzwirthſchaft, mit dem Erwerb von Elſaß-Lothringen, mit der Herſtellung einheitlicher Einrichtungen haben ſich auch zahlreiche laufende Geſchäfte, die das Reich unmittelbar beſorgen muß, herausgebildet und in Folge davon hat ſich der Behörden-Organismus des Reiches mehr und mehr verzweigt. Zu einem prinzipiellen Abſchluß iſt dieſe Ent - wicklung noch nicht gelangt; ſie trägt, wie alles Hiſtoriſch-Entſtan - dene den Charakter des Zufälligen, des Willkührlichen und Ver - änderlichen.

II. Ein Staatsamt iſt ein durch das öffentliche Recht be - gränzter Kreis von ſtaatlichen Geſchäften1)Vgl. Pözl in Bluntſchli und Brater’s Staatswörterb. I. S. 204 ff. Artikel Amt. v. Seybold Das Inſtitut der Aemter. München 1854 und dazu Zöpfl in den Heidelberger Jahrbüchern 1854 S. 760 fg.. Ein Staatsamt iſt niemals ein Rechtsſubject und hat niemals Befugniſſe irgend welcher Art; es iſt vielmehr ſtets eine objective Inſtitution, ein Inbegriff von Geſchäften. Da aber ſtaatliche Geſchäfte nur durchgeführt werden können durch Ausübung der dem Staate zuſtehenden Hoheitsrechte2)Unter Staatsamt verſteht man zwar oft auch einen Kreis von Ge - ſchäften rein wirthſchaftlichen Inhalts, z. B. behufs der Verwaltung von Forſten, Domänen, Bergwerken, Fabriken, Eiſenbahnen u. ſ. w., welche dem Fiskus gehören. Der ſtaatliche Charakter kömmt bei dieſen Aemtern nur dann in Betracht, wenn ſie zugleich die Handhabung der Polizei, der öffentlichen Wohlfahrtspflege mit einſchließen. Sonſt ſind dieſe Aemter ſtreng genommen nicht ſtaatliche, ſondern fiskaliſche und rückſichtlich des Wir - kungskreiſes nicht unterſchieden von der Verwaltung von Forſten, Bergwerken, Eiſenbahnen u. ſ. w., welche Privatperſonen gehören. Man nennt ja auch allgemein Perſonen, welche zur Führung von wirthſchaftlichen Geſchäften von Privatleuten dauernd angeſtellt ſind, Beamte. Vgl. Bluntſchli Allgemeines Staatsr. II. S. 121 (4. Aufl.), ſo enthält der Auftrag zur Führung ſtaatlicher Geſchäfte zugleich immer auch eine Delegation derjenigen Hoheitsrechte des Staates, welche zur Führung der Geſchäfte er - forderlich ſind. Wer daher ein obrigkeitliches Staatsamt führt,294§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.der übt immer zugleich die Staatsgewalt aus; aber nicht als ein ſubjectives, ihm perſönlich zuſtehendes Recht, ſondern lediglich als Correlat der ihm obliegenden Geſchäfte. Die Delegation der Staatsgewalt oder einzelner, in derſelben enthaltenen Machtbefug - niſſe kann niemals getrennt gedacht werden von der Pflicht, die - jenigen Geſchäfte zu führen, welche den Wirkungskreis eines Amtes bilden. Es gehört demnach zu einem Amte nicht nur ein Kreis von ſtaatlichen Geſchäften, ſondern auch ein entſprechender Kreis von öffentlich-rechtlichen Befugniſſen (Hoheitsrechten), eine Amts - gewalt. Man kann deshalb das Amt ſelbſt perſonifiziren und als das dauernde Subject von ſtaatlichen Hoheitsrechten und ſtaatlichen Pflichten ſich denken, im Gegenſatz zu dem Beamten, dem das Amt zeitweilig übertragen iſt. In dieſem Sinne nennt man das Amt eine Behörde. Auch der Ausdruck Behörde bedeutet nicht eine Perſon (Beamten), ſondern eine Inſtitution; aber im Gegenſatz zum Amt nicht einen Kreis von Geſchäften, ſondern das ideelle Subject derjenigen Rechte und Pflichten, welche mit der Führung der, zu einem Amte geeinigten Geſchäfte verknüpft ſind.

Allein auch die Behörde iſt niemals ſelbſtſtändig berechtig - tes Subject, ſondern nur der Staat ſelbſt iſt das wirkliche Rechtsſub - ject aller Hoheitsrechte. Die Staatsgewalt iſt nicht getheilt unter die Behörden, ſo daß jeder der letzteren ein, ihrer Kompe - tenz entſprechender Antheil an der Staatsgewalt zuſtünde, ſondern die Behörden ſind nur Apparate des Staates, mittelſt deren er ſeine Staatsgewalt ausübt. Das Verhältniß der Behörden zum Staat iſt auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts genau daſſelbe wie das Verhältniß der einzelnen Staatskaſſen (ſogen. fiskaliſchen Stationen) zum Fiskus auf dem Gebiet des Privatrechts. Daß man die einzelnen fiskaliſchen Stationen äußerlich und rechnungs - mäßig wie ſelbſtſtändige juriſtiſche Perſonen behandelt, beruht lediglich auf techniſchen Gründen der Zweckmäßigkeit; ſie werden dadurch nicht zu wirklichen juriſtiſchen Perſonen des Privatrechts. Ebenſo beruht die formelle Behandlung der Behörden als wären ſie Inhaber von ſtaatlichen Hoheitsrechten nur auf Gründen tech - niſcher Art, auf Rückſichten der Zweckmäßigkeit. Sie fungiren äußer - lich ſo, als wären ſie Subjecte von Befugniſſen, welche in der Staatsgewalt enthalten ſind; in Wirklichkeit ſind ſie aber nicht295§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.berechtigte Subjecte, ſondern nur der Staat ſelbſt iſt das alleinige Subject der geſammten und ungetheilten Staatsgewalt. Amtsge - walt iſt Nichts anderes als Staatsgewalt. Es folgt hieraus, daß niemals eine Behörde dem Staate gegenüber ein ſubjectives Recht hat. Dadurch iſt der begriffliche Gegenſatz zwiſchen einer Staatsbehörde und einem Selbſtverwaltungs-Körper, oder dem Inhaber eines patrimonialen (feudalen) Hoheitsrechts gegeben. Nur den Unterthanen gegenüber erſcheint die Behörde als Subject von Hoheitsrechten, indem ſie gewiſſermaſſen die concrete Mani - feſtation des Staates darſtellt und mit dem Staate ſelbſt identiſch wird. Im Verhältniß zum Staate dagegen hat die Behörde nur etwa die Bedeutung wie ein Rad oder eine Schraube an einer Maſchinerie.

Es kann daher der Staat nach freiem Ermeſſen den Geſchäfts - kreis einer Behörde verändern, erweitern oder verengern, auf eine andere Behörde übertragen u. ſ. w. und dadurch die öffentlich - rechtlichen Befugniſſe, welche eine Behörde bis dahin ausgeübt hat, ihr ganz oder theilweiſe entziehen, ohne daß die Behörde ein Widerſpruchsrecht dagegen hat. Wenn ein gewiſſer Kreis von Geſchäften einer Behörde abgenommen und einer anderen über - tragen wird, ſo finden darauf in keiner Beziehung die Grund - ſätze von der Succeſſion in Rechte Anwendung, weder von der Univerſal-Succeſſion noch von der Singular-Succeſſion, denn es hat ein Uebergang ſubjectiver Rechte überhaupt nicht ſtattgefunden. Wenn Jemand, ſei es eine Privatperſon oder eine andere Staats - behörde unbefugter Weiſe oder mit Ueberſchreitung ihrer Kompetenz in den Geſchäftskreis einer Behörde eingreift, ſo iſt dies nicht die Verletzung eines ſubjectiven Rechts dieſer Behörde oder ihrer Mitglieder, ſondern eine Verletzung der objectiven Rechts-Ordnung. Es kann weder durch Privat-Transactionen unter den betheiligten Behörden oder Beamten eine derartige Störung der objectiven Grundſätze über die planmäßige Vertheilung der ſtaatlichen Ge - ſchäfte geſühnt oder legaliſirt werden, noch hat andererſeits die Behörde oder der Beamte wegen eines Eingriffes in die Kompe - tenz einen ſubjectiven Anſpruch auf eine Genugthuung irgend wel - cher Art.

III. Auf Grund dieſer allgemeinen Sätze über das Weſen296§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.der Staatsämter und Staatsbehörden läßt ſich nun der juriſtiſche Begriff der Reichsbehörden und ihre ſtaatsrechtliche Stellung im Verfaſſungsbau des Reiches beſtimmen1)Die bisherige Literatur des Reichsſtaatsrechts bietet hierfür Nichts. In der überwiegenden Mehrzahl aller hierher gehörenden Werke wird dieſe Lehre völlig übergangen. Die kurze Darſtellung in Thudichum’s Verfaſ - ſungsr. des Nordd. Bundes S. 219 iſt durch die inzwiſchen erfolgte Fortbil - dung des Reichsrechts antiquirt. Die dürftigen Bemerkungen bei v. Rönne S. 181 ff. ſind völlig unbrauchbar; eine ſtaatsrechtliche Erörterung des Be - hörden-Organismus fehlt bei ihm gänzlich. v. Held Verf. des Deutſchen Reiches S. 168 ff. beſchränkt ſich auf eine politiſche Kritik und vermag auch hier in der Reichsverfaſſung faſt Nichts als ein widerſpruchsvolles Chaos zu erblicken..

1) Reichsbehörden ſind diejenigen Behörden, welche Geſchäfte des Reiches führen und ihre Autorität unmittelbar von der Reichsgewalt ableiten.

Dadurch iſt das unterſcheidende Merkmal zwiſchen Reichs - und Landesbehörden gegeben.

Nicht entſcheidend iſt der Umſtand, ob die Mitglieder der Behörde Reichsbeamte im Sinne des Reichsbeamten-Geſetzes vom 31. März 1873 ſind oder nicht. Der Begriff der Reichsbeamten wie ihn dieſes Geſetz aufſtellt, reicht zum Theil viel weiter2)Siehe unten §. 37., zum Theil giebt es Reichsbehörden, deren Mitglieder nicht Reichsbeamte ſind3)z. B. Die Reichsſchulden-Kommiſſion, das Kuratorium der Reichs - bank u. a.. Der Regel nach ſind aber die Mitglieder der Reichsbe - hörden zugleich Reichsbeamte.

Ebenſo wenig iſt der Umſtand entſcheidend, ob die Mitglieder der Behörden vom Kaiſer oder in deſſen Auftrage ernannt werden oder nicht. Denn es iſt völlig zuläſſig, daß der Bundesrath oder Reichstag Mitglieder der Behörden ernennt4)Nicht blos ſie zur Ernennung dem Kaiſer vorſchlägt. Auch hier bieten die Reichsſchulden-Kommiſſion und das Bank-Kuratorium Beiſpiele; ferner die Reichstags-Beamten u. a. oder daß die Einzelſtaaten befugt ſind, Reichsbehörden zu beſetzen5)z. B. die unteren Aemter der Poſt - und Telegraphen-Verwaltung.. Die Regel iſt aber auch hier, daß der Kaiſer die Reichsämter be - ſetzt und dieſe Regel iſt verfaſſungsmäßig anerkannt durch den297§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.Satz des Art. 18 der R. -V. der Kaiſer ernennt die Reichsbeam - ten 1)Man darf aber Reichsbeamte und Reichsbehörden nicht völlig identi - fiziren. (Siehe unten § 37)..

Begrifflich unerheblich iſt es ferner, daß die Thätigkeit der Be - hörden durch Geſetze und Verordnungen des Reiches geregelt wird. Denn auch die Landesbehörden haben die Reichsgeſetze zu handhaben und können in ihrer amtlichen Thätigkeit durch die vom Reiche er - gangenen Vorſchriften ebenſo vollſtändig wie die Reichsbehörden ge - bunden ſein; während andererſeits das Reichs-Oberhandelsgericht neben dem Reichsrecht auch die partikulären Prozeß-Ordnungen und Civilrechts-Geſetze der einzelnen Staaten zur Geltung bringt. Im Allgemeinen gilt aber der Grundſatz, daß die Thätigkeit der Reichs - behörden nicht durch die Autonomie der Einzelſtaaten geregelt wird, wohl aber die Landesbehörden derſelben unterworfen ſind.

Endlich iſt es von Wichtigkeit feſtzuhalten, daß Reichsbehörden und Landesbehörden nicht in der Art Gegenſätze ſind, daß nicht eine Behörde beides zugleich ſein kann. Freilich nicht hinſichtlich deſſelben Geſchäfts; ein Geſchäft kann immer nur entweder ein Geſchäft des Reiches oder ein Geſchäft des einzelnen Staates, nicht beides zugleich ſein. Aber es beſteht kein Hinderniß, daß nicht einer Behörde eines Einzelſtaates neben dem ihr übertragenen Kreiſe von Staatsgeſchäften auch noch ein Kreis von Reichsgeſchäften zu - wieſen wird und ihr die dazu erforderliche Reichsgewalt delegirt wird. Beſonders häufig tritt der Fall bei preuß. Staatsbehörden ein, daß ſie gleichzeitig Reichsbehörden ſind2)Die Oberrechnungskammer als Rechnungshof des Deutſchen Reichs, die Hauptverwaltung der Staatsſchulden als Reichsſchulden-Verwaltung, die Generalſtaatskaſſe als Reichshauptkaſſe, das General-Auditoriat als Marine - Juſtizbehörde, das Appellationsgericht in Stettin als Ober-Konſulargericht u. ſ. w..

Dagegen iſt für den Unterſchied zwiſchen Reichsbehörden und Landesbehörden entſcheidend das Recht der Einzelſtaaten auf Selbſt - verwaltung. Soweit dem Einzelſtaate nach der Verfaſſung und den Geſetzen des Reiches die Verwaltung als eigenes Recht zuſteht, iſt die Führung dieſer Verwaltung ein Geſchäft des Einzelſtaates, nicht des Reiches, und die Ausſtattung einer Behörde mit der zur Führung dieſer Geſchäfte erforderlichen Amtsgewalt hat ihre Quelle in der Staatsgewalt des Einzelſtaates. Deshalb ſind die298§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.Gerichte, welche das Reichsſtrafgeſetzbuch, das Reichshandelsgeſetz - buch u. ſ. w. anwenden, die Zollbehörden mit Ausnahme der kaiſerlichen Zollämter in Hamburg und Bremen, die Eichungsämter, Strandämter, Heimathsämter u. ſ. w. Landesbehörden.

Aus demſelben Grunde ſind alle Militär-Verwaltungs-Behör - den nicht Reichsbehörden, ſondern Landesbehörden, und zwar nicht nur in Bayern, ſondern im ganzen Reiche. Denn die Reichsverf. überträgt zwar den Oberbefehl auf den Kaiſer, ſtattet das Reich mit der uneingeſchränkten Befugniß zur Militärgeſetzgebung aus und macht die geſammten Koſten des Militärweſens zu einem Theile der Reichsfinanzwirthſchaft; aber ſie entzieht den einzelnen Staaten weder die ſogen. Militärhoheit noch die eigene Militär - Verwaltung. Soweit durch Militär-Konventionen die Deutſchen Staaten auf dieſe Rechte verzichtet haben, iſt die Ausübung der - ſelben auf Preußen übergegangen; das preußiſche Kriegsmini - ſterium iſt aber ebenſo wenig eine Reichsbehörde wie das württem - bergiſche und das ſächſiſche1)In dem Verzeichniß der Reichsbehörden im R. -G-Bl. 1874 S. 136 werden dieſe 3 Kriegsminiſterien zwar als oberſte Reichsbehörden bezeichnet und ebenſo werden hier die übrigen Militärbehörden aufgeführt. Dieſes Ver - zeichniß bezieht ſich aber auf das Reichsbeamten-Geſetz und es iſt deshalb der Ausdruck Reichsbehörde in demjenigen Sinne genommen, welcher der in dem cit. Geſetz gegebenen Definition von Reichs beamten entſpricht. und von dieſen Landesbehörden iſt das Bayeriſche Kriegsminiſterium nur durch die größere Selbſt - ſtändigkeit und Unabhängigkeit dem Reiche gegenüber, aber nicht hinſichtlich des Rechtsgrundes ſeiner Amtsgewalt, verſchieden. Nur in Bezug auf das preußiſche Kreigsminiſterium iſt dies in ſoweit einzuſchränken, daß daſſelbe in einigen Beziehungen zugleich als Reichsbehörde fungirt, indem es zur Ausübung der dem Reiche zuſtehenden oberſten Leitung und Kontrole in Angelegenheiten der Heeresverwaltung dient.

2) Da ein Reichsamt ein durch Rechtsvorſchriften begränzter Kreis von Geſchäften des Reiches iſt, ſo ergiebt ſich hieraus auch das Verhältniß der Reichsbehörden zu den übrigen Organen des Reiches.

Der Geſchäftsführer des Reiches iſt der Kaiſer. Daraus folgt, daß alle Inhaber von Reichsämtern Gehülfen des Kaiſers ſind, da ſie Geſchäfte beſorgen, welche ideell dem Kaiſer obliegen. 299§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.Dies iſt nicht in dem Sinne zu verſtehen, als ob es in das will - kürliche Belieben des Kaiſers geſtellt wäre, die Geſchäfte unter die Reichsbehörden zu vertheilen, oder nach Luſt und Laune Ge - ſchäfte untergeordneter Art bald ſelbſt zu erledigen bald ſie Reichs - behörden zu überlaſſen. Die Reichsbehörden ſind vielmehr von Rechtswegen dem Kaiſer beigeordnet, damit er ſich ihrer bei der Führung der Reichsgeſchäfte bediene, ſo daß er die Geſchäfte nicht anders als durch die vermittelnde Thätigkeit der Behörden führen kann und darf. Es iſt ferner der Kreis derjenigen Geſchäfte, welche die einzelnen Behörden zu erledigen haben, durch Rechts - Vorſchriften abgegrenzt, ſo daß ihre Kompetenz-Beſtimmung ein Theil der ſtaatlichen Rechtsordnung iſt, welche der Kaiſer einſeitig nicht ändern kann. Auch empfangen die Behörden die Anweiſung, nach welchen Geſichtspunkten ſie die zu ihrem Reſſort gehörenden Geſchäfte zu erledigen haben, zum größten Theil durch die Ge - ſetze des Reiches, und auch in den, nicht geſetzlich normirten Be - ziehungen nicht von dem perſönlichen (privaten) Willen des Kaiſers, ſondern von dem in ſtaatsrechtlichen Formen erklärten, (ſtaatlichen) Willen deſſelben.

Aber die Behörden haben kein ſubjectives Recht darauf, daß ihnen die Erledigung und Führung von Geſchäften des Reiches zuſtehe; ein ſolches Recht hat nur der Kaiſer, welchem nach der R. -V. Art. 17 die Ueberwachung der Ausführung der Reichsge - ſetze zuſteht. Dem Bundesrath und dem Reichstage gegenüber erſcheint der Inbegriff aller Befugniſſe, welche ſämmtlichen Reichs - behörden zuſtehen, als ein Antheil des Kaiſers an dem Verfaſſungs - leben des Reiches. Wenn andererſeits in einem Reichsgeſetze die Erledigung ſtaatlicher Geſchäfte oder der Erlaß von Anordnungen dem Kaiſer zugeſchrieben wird, ſo bedeutet dies die Erledigung dieſer Geſchäfte durch die Reichsbehörden, mit Ausſchluß nicht nur der Einzelſtaaten, ſondern auch des Bundesrathes und des Reichstages.

In dieſer Art ſind alle den Reichsbehörden zuſtehenden Be - fugniſſe enthalten und umſchloſſen von dem einheitlichen Rechte des Kaiſers, der kaiſerlichen Prärogative, und das Recht des Kaiſers zur Geſchäftsführung für das Reich kömmt anders nicht zur Erſcheinung und Wirkung als in der Differenzirung durch300§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.die amtliche Thätigkeit der verſchiedenen Reichsbehörden1)Vgl. über die Stellung der Staatsdiener zum Monarchen im monar - chiſchen Einheitsſtaat Gönner Vom Staatsdienſt S. 30 ff. v. Gerber Grundzüge S. 227 fg. (Beilage II.) Die dagegen von Schulze in Aegidi’s Zeitſchrift für Deutſches Staatsr. I. S. 445 erhobenen Einwendungen ſcheinen mir nicht ſtichhaltig zu ſein.. Mit Recht werden daher alle Reichsbehörden als Kaiſerliche Behörden bezeichnet.

Dieſem Grundſatz iſt es vollkommen entſprechend, daß der Regel nach alle Reichsbeamten vom Kaiſer ernannt und entlaſſen werden. Durch die Ernennung ertheilt der Kaiſer den Auftrag, diejenigen Geſchäfte zu führen, welche zu dem geſetzlich beſtimmten Wirkungskreiſe des verliehenen Amtes gehören; und ſelbſt, wenn der Kaiſer durch ein Vorſchlagsrecht des Bundesrathes hinſichtlich der Auswahl der Perſonen, welche zu einem Reichsamt berufen werden ſollen, beſchränkt iſt, ſo geht doch formell der öffentlich rechtliche Auftrag in der Regel von ihm aus.

Insbeſondere aber kömmt die rechtliche Stellung der Reichs - beamten als Gehülfen des Kaiſers dadurch zur Geltung, daß die wichtigſten derſelben, und zwar gerade diejenigen, deren Geſchäfts - führung am wenigſten durch Geſetze normirt iſt, folglich am meiſten vom freien Ermeſſen beſtimmt wird, durch Kaiſerliche Verfügung einſtweilig in den Ruheſtand verſetzt werden können2)Reichsbeamtengeſetz §. 25..

3) Die Stellung der Reichsbehörden zum Kaiſer iſt aber un - geachtet des im Vorſtehenden entwickelten Satzes nicht dieſelbe wie die Stellung der Landesbehörden zum Landesherrn. Es iſt oben hervorgehoben worden, daß zu einem Amt außer einem Kreiſe von Geſchäften auch ein Kreis ſtaatlicher Machtbefugniſſe gehört; daß in der Ertheilung eines Amtes neben dem Auftrage zur Er - ledigung der Geſchäfte auch eine Delegation von Hoheitsrechten enthalten iſt, daß in jedem Amt die Staatsgewalt ſich manifeſtirt. In der Monarchie iſt der Monarch der alleinige Träger der Staats - gewalt; von ihm geht daher nicht nur der Auftrag zur Geſchäfts - führung ſondern auch die Delegation der Staatsgewalt aus. Nach der Reichsverfaſſung ſteht die Reichsgewalt nicht dem Kaiſer zu, ſondern der Geſammtheit der Deutſchen Staaten (reſp. deren Lan - desherren). Die Delegation der Amtsgewalt der Reichsbehörden301§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.iſt daher nicht einfach auf den Kaiſer zurückzuführen wie die Er - theilung des Amtsauftrages; ſondern auf das ideelle Subjekt der Reichsgewalt. Die Amtsgewalt der Reichsbehörden iſt nicht kaiſer - liche Gewalt, ſondern Reichsgewalt. Während in den monarchiſchen Staaten landesherrliche Gewalt und Staatsgewalt daſſelbe iſt, iſt der Kaiſer Mitglied und Organ des Reiches, aber nicht Souverän deſſelben.

Im Einklange mit dieſer theoretiſchen Unterſcheidung ſteht der Rechtsſatz, daß alle Verordnungen des Bundesrathes, welche derſelbe innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit beſchließt, von den Reichsbehörden befolgt und ausgeführt werden müſſen, ohne daß der Kaiſer die Befolgung derſelben zu genehmigen braucht oder auch nur zur Ertheilung dieſer Genehmigung ermächtigt wäre. Dies gilt auch in dem Falle, daß der Bundesrath ſeinen Beſchluß gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Kaiſers gefaßt hat. Im monarchiſchen Einheitsſtaat kann es keine für die Behörden maßgebenden Vorſchriften geben, welche nicht wenigſtens formell und in letzter Quelle auf dem Willen und der Sanction des Landesherrn beruhen; im Reiche werden ſolche Vorſchriften fort - während von einem Organe, welches dem Kaiſer gegenüber völlig unabhängig iſt und ſeine Beſchlüſſe im Widerſpruch mit dem Willen des Kaiſers faſſen kann, aufgeſtellt und ſind für den Wir - kungskreis und die Machtbefugniſſe der Behörden mitbeſtimmend. Daher ſind die Reichsbehörden nicht ſchlechthin kaiſerliche Behörden.

IV. Das im Art 18 der R. -V. dem Kaiſer zuertheilte Recht, die Reichsbeamten zu ernennen und erforderlichen Falles zu ent - laſſen, ſchließt keineswegs eine Befugniß des Kaiſers ein, Reichs - ämter zu errichten oder aufzuheben. Die Frage, wer befugt iſt, eine Aenderung des Aemter-Organismus anzuordnen, iſt nicht mit einem einzigen Satze zu beantworten, ſondern erfordert folgende Unterſcheidungen.

Zunächſt iſt es zweifellos, daß das Finanzrecht von Einfluß auf die Befugniß zur Schaffung neuer Aemter iſt. Schon bei der Berathung des Bundeshaushalts-Geſetzes für 1868 faßte der Reichs - tag die Reſolution, daß die Errichtung neuer Behörden oder Be - amtenſtellen, ſowie die Erhöhung von Beamtengehalten nicht ohne vorgängige Bewilligung des Reichstages[durch] den Staatshaushalts -302§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.Etat oder durch ein beſonderes Kreditgeſetz erfolgen dürfe1)Stenogr. Ber. 1867 S. 118 fg. Vgl. Thudichum S. 220.. Die Reichsregierung hat ſich dieſer Auffaſſung angeſchloſſen; in der Praxis iſt ſie befolgt worden und der Geſetz-Entwurf über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches v. 29. Okt. 1874 hat dieſelbe geſetzlich ſanctioniren wollen, indem §. 8 die Beſtimmung enthält2)Druckſachen des Reichstages II. Seſſ. 1874 Nr. 9.: Gehalt und andere ſtändige Dienſtemolumente dürfen nur auf Grund des Etats oder eines ſonſtigen Geſetzes verliehen werden.

Aus dieſem Princip ergeben ſich zwei Rechtsſätze.

1) Der Kaiſer iſt nicht befugt, und ebenſowenig der Bundes - rath, ohne Genehmigung des Reichstages neue Reichsämter mit Fonds zu dotiren.

2) Die Genehmigung des Reichstages zur Errichtung neuer oder zur Erweiterung beſtehender Reichsämter braucht nicht in einem beſonderen Geſetz ausgeſprochen zu werden, ſondern das Etatsgeſetz eines Jahres kann die dauernde geſetzliche Grundlage für die Organiſation und Dotirung einer Reichsbehörde ſein3)Dies iſt vielfach der Fall, z. B. hinſichtlich des Reichskanzler-Amtes, der Admiralität u. ſ. w..

Mit dieſen zwei Sätzen iſt die Frage aber nur geſtreift, nicht erſchöpfend gelöſt. Es bleibt daneben noch die Möglichkeit zur Schaffung unbeſoldeter Aemter, zur Aufhebung be - ſtehender Aemter, zur Veränderung des Wirkungskreiſes und der Geſchäftsvertheilung der Behörden; überhaupt zu allen Ver - änderungen des Behörden-Syſtems, welche keine Etats-Ueberſchrei - tungen verurſachen.

Als Ausgangspunkt zur Beantwortung dieſer Fragen muß man den Grundſatz anerkennen, daß jede Behörde ſowohl für den ihr oblie - genden Geſchäftskreis als für die ihr delegirte Staatsgewalt eine ge - ſetzliche Beſtimmung zur Grundlage bedarf. Das Geſetz kann dieſe Grundlage aber in zweifacher Weiſe darbieten. Entweder unmittelbar, indem es die Errichtung einer beſtimmten Behörde von feſt normirter Organiſation und Wirkſamkeit anordnet, oder mittelbar, indem es der Reichsregierung Aufgaben zuweiſt, zu deren Durchführung die Errich - tung von Aemtern erforderlich iſt. Auf ſpezieller geſetzlicher Anordnung303§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.beruhen z. B. das Oberhandelsgericht, das Bundesamt für das Heimathweſen, die entſcheidenden Disciplinarbehörden, die Ver - waltung des Invalidenfonds u. ſ. w.; auf einer mittelbaren geſetz - lichen Grundlage die Reichs-Zoll-Kontrolbehörden, die Poſt - und Telegraphen-Behörden, die Bankſtellen, die Geſandtſchaften, Kon - ſulate u. ſ. w.

Iſt nun in einem Geſetze die Errichtung einer oder mehrerer beſtimmter Behörden angeordnet, ſo daß unmittelbar durch Ver - fügung die Bildung derſelben erfolgen kann, ſo gehört es zu der Machtvollkommenheit des Kaiſers1)Vorausgeſetzt, daß die erforderlichen Geldmittel durch den Etat oder ein beſonderes ſogen. Kredit-Geſetz bewilligt ſind., die Behörden in das Leben zu rufen, da es ſich in dieſem Falle lediglich um die Aus - führung eines Verwaltungsgeſchäftes handelt. Wenn dagegen nur mittelbar durch Reichsgeſetze die Bildung von Behörden ange - ordnet iſt, inſofern die letzteren zur Ausführung der Reichsgeſetze erforderlich ſind, ſo tritt die Regel in Art 7 Ziff. 2 der R. -V. ein, daß der Bundesrath beſchließt, über die zur Ausführung der Reichsgeſetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorſchriften und Einrichtungen . Die Errichtung von Behörden gehört zu den zur Ausführung der Reichsgeſetze erforderlichen Einrichtun - gen. Die Verfügung des Kaiſers, welche eine ſolche Behörde in das Leben ruft, ſetzt daher außer der mittelbaren Grundlage, welche das Geſetz gibt, die unmittelbare Grundlage eines Bundes - raths-Beſchluſſes (Ausführungs-Verordnung) voraus2)So kann z. B. der Kaiſer außer den geſetzlich angeordneten Discipli - narkammern, auch noch andere im Einvernehmen mit dem Bundesrath er - richten. Geſ. vom 31. März 1873 §. 87. Ferner beſtimmt der Bundesrath die Plätze, an denen Reichsbank-Hauptſtellen zu errichten ſind. Bankgeſ. vom 14. März 1875 §. 36 u. ſ. w..

Da die Regel des Art 7 Ziff. 2 aber nur eintritt, ſofern nicht durch Reichsgeſetz etwas Anderes beſtimmt iſt , ſo ergiebt ſich, daß die Befugniß des Bundesrathes ausgeſchloſſen ſein und daß dem Kaiſer das Recht, Reichsämter innerhalb der durch das Finanzrecht gezogenen Schranken zu errichten, zwar zuſtehen kann, daß dies aber eine beſondere geſetzliche Beſtimmung erfordert. Eine ſolche iſt z. B. enthalten im Art 53 der R. -V. hinſichtlich der Marine, ferner in Art. 48 Abſ. 2 verbunden mit304§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.Art. 50 Abſ. 2 hinſichtlich der Poſt - und Telegraphen-Behörden, im Art 11 hinſichtlich der Beglaubigung von Geſandten; ferner wohl auch in dem Geſetz wegen Errichtung eines R. -Eiſenbahn - Amtes v. 27. Juni 1873 hinſichtlich der Ernennung von Reichs - Eiſenbahn-Kommiſſaren u. a.

Dieſelben Grundſätze müſſen auch hinſichtlich der Aufhebung von Aemtern gelten. Behörden, welche unmittelbar auf geſetzlicher Anordnung beruhen, können nur auf Grund eines Geſetzes aufge - hoben werden. Wenn die Errichtung einer Behörde auf Grund eines Bundesraths-Beſchluſſes erfolgt iſt, ſo erfordert auch die Wieder-Aufhebung derſelben einen Bundesraths-Beſchluß. Soweit endlich dem Kaiſer die Organiſation und adminiſtrative Einrichtung eines Verwaltungszweiges übertragen iſt, ſteht demſelben auch die Befugniß zu, Behörden aufzuheben1)Dies iſt z. B. hinſichtlich einiger Oberpoſt-Direktionen, Telegraphen - Direktionen, Marine-Behörden u. ſ. w. geſchehen..

V. Für die Gliederung des Behördenſyſtems des Reiches iſt das Prinzip der Centraliſation in der ſtrengſten Art durchgeführt. Die Reichsverfaſſung ſanctionirt dieſes Prinzip zwar nicht direct, aber dennoch in zwingender Weiſe. Nach dem Art. 17 bedürfen nämlich alle Anordnungen und Verfügungen des Kaiſers zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, wel - cher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. Da nun der Kaiſer für ſämmtliche Geſchäftszweige des Reiches die oberſte Spitze bildet und für alle Anordnungen und Verfügungen deſſelben die Gegenzeichnung des Reichskanzlers erforderlich iſt, ſo ergiebt ſich, daß der Reichskanzler der einzige und alleinige Miniſter des Kai - ſers iſt, und daß es kein Reſſort der Reichsverwaltung geben kann, deſſen oberſter Chef nicht der Reichskanzler wäre. Der Reichs - kanzler hat unter allen Beamten des Reiches keinen Collegen, ſondern nur Gehülfen. Unter den Arten der Reichsbeamten, die man unterſcheiden kann, bildet der Reichskanzler eine Art für ſich, ausgezeichnet durch das Merkmal der ſogenannten politiſchen Ver - antwortlichkeit, d. h. der oberſten, ſelbſtſtändigen Entſcheidung, ſo lange ihn der Kaiſer an der Spitze der Geſchäfte beläßt.

Die Reichsgeſchäfte ſind nach ſachlichen Rückſichten zu Reichs - ämtern gruppirt und Reichsbehörden überwieſen, von denen zwar305§. 32. Begriff und Syſtem der Reichsbehörden.jede wieder einen Vorſtand (Präſident, Director, Staatsſekretär) hat, die aber ſämmtlich dem Reichskanzler untergeordnet ſind.

Unter dieſen Reichsämtern oder Reichsbehörden laſſen ſich aber zwei, von einander ſehr verſchiedene Arten unterſcheiden, nämlich Behörden für die Verwaltung und Behörden für die Rechtſprechung.

Den Gegenſatz zwiſchen dieſen beiden Arten von Behörden in Beziehung auf den Behörden-Organismus kann man dahin formu - liren, daß die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers rückſichtlich der Verwaltungsbehörden einen poſitiven, rückſichtlich der recht - ſprechenden Behörden einen negativen Inhalt hat.

Bei den erſteren erſtreckt ſich die Verantwortlichkeit des Reichs - kanzlers auf den materiellen Inhalt ihrer Verfügungen und An - ordnungen. Er kann daher in wichtigen Angelegenheiten materiell ſelbſt entſcheiden und beſtimmen, was geſchehen ſoll. Die Reichs - behörden ſind gewiſſermaßen nur ſeine Bureaus und haben eine Selbſtſtändigkeit des Dezernates nur inſoweit, als der Reichskanzler ſie ihnen geſtattet. Bei den rechtſprechenden Behörden erſtreckt ſich die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nur darauf, daß die Thätigkeit derſelben nicht geſtört und gehindert wird, daß insbe - ſondere Einwirkungen der Verwaltungsbehörden nicht in rechts - widriger Weiſe ſich geltend machen; dagegen nicht auf den Inhalt der Entſcheidungen, für welche ausſchließlich das geltende Recht maaßgebend iſt. Daher kann der Reichskanzler in die Geſchäfte dieſer Behörden materiell nicht eingreifen oder ſtatt ihrer ſelbſt entſcheiden. Seine Verantwortlichkeit geht dahin, daß dieſe Be - hörden im Stande ſind, ihre Funktionen in verfaſſungsmäßiger Unabhängigkeit auszuüben, aber nicht dahin, wie ſie dieſelben ausüben. Für die Beſchlußfaſſung dieſer Behörden gilt demgemäß auch das Kollegialſyſtem. Hinſichtlich ihres geſchäftlichen Wirkungs - kreiſes ſind daher die rechtſprechenden Reichsbehörden dem Reichs - kanzler überhaupt nicht untergeordnet; dagegen hat der Reichs - kanzler ihnen gegenüber diejenigen Befugniſſe, welche nach den Grundſätzen des deutſchen Landesſtaatsrechts dem Juſtizminiſter den Landesgerichten gegenüber zukommen, d. h. die Oberaufſicht über die Juſtiz verwaltung, die Aufſtellung des Etats, die Ge - genzeichnung der kaiſerlichen Anſtellungs - und Entlaſſungs-Dekrete für die Mitglieder.

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 20306§. 33. Der Reichskanzler.

Zwiſchen den verwaltenden und den rechtſprechenden Behörden giebt es aber noch eine Mittelſtufe, die von einer Anzahl von Finanzbehörden gebildet wird, welche zwar unter der oberen Lei - tung des Reichskanzlers ſtehen, für die Geſetzmäßigkeit ihrer Amts - handlungen aber ſelbſtſtändig und unbedingt verantwortlich ſind.

Sonach zerfallen die Reichsbehörden in Beziehung auf ihre Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit in 4 Klaſſen:

  • 1. Der Reichskanzler.
  • 2. Verwaltungsbehörden.
  • 3. Selbſtſtändige Finanzbehörden.
  • 4. Richterliche Behörden.

§. 33. Der Reichskanzler.

Die juriſtiſche Definition der Stellung, welche der Reichs - kanzler einnimmt, bietet ganz ähnliche Schwierigkeiten dar, wie die juriſtiſche Begriffsbeſtimmung von Kaiſer und Bundesrath, denn der Reichskanzler vereinigt in ſeiner Perſon ſo verſchieden - artige Amtsbefugniſſe und Amtspflichten, daß es unmöglich er - ſcheint, eine der herkömmlichen ſtaatsrechtlichen Kategorien aufzu - finden, unter welche er vollkommen paßt. Die Schwierigkeiten ſind aber ganz in derſelben Weiſe zu löſen, wie dies hinſichtlich des Kaiſers und des Bundesrathes geſchehen iſt. Der Reichs - kanzler vereinigt in ſich eine Doppelſtellung; er iſt theils das Organ, durch welches der König von Preußen ſeine Mitglied - ſchaftsrechte im Reiche ausübt, theils der oberſte Reichs-Beamte, der kaiſerliche Reichsminiſter. Nur wenn man beide Stellungen auseinanderhält, verſchwindet das ſcheinbar Widerſpruchsvolle und gewinnt namentlich auch die verwickelte Lehre von der Verant - wortlichkeit des Reichskanzlers1)Die Darſtellung dieſer Lehre bei v. Rönne S. 181 ff. kann als ein unübertroffenes Muſter von Verworrenheit gelten. Klarheit.

I. Der Reichskanzler als Bevollmächtigter des Königs von Preußen.

1. Durch den Art. 15 der R. -V. iſt die rechtliche Nothwen - digkeit gegeben, daß der Reichskanzler Preußiſcher Bevollmäch - tigter im Bundesrathe iſt. Zwar läßt der Wortlaut auf den307§. 33. Der Reichskanzler.erſten Blick die Deutung zu, daß der Kaiſer auch einen Bevoll - mächtigten eines andern Staates zum Reichskanzler ernennen und ihm den Vorſitz im Bundesrathe und die Leitung der Geſchäfte übertragen kann; bei näherer Erwägung erweiſt ſich dieſe Deutung aber als rechtlich unmöglich, ganz abgeſehen von den thatſäch - lichen Gründen, welche es als völlig unzuläſſig erſcheinen laſſen, daß der Reichskanzler nicht zugleich Preußiſcher Bevollmächtigter ſei. Denn jedes Bundesmitglied kann jederzeit ſeine Bevollmächtigten aus dem[Bundesrathe] abberufen, den Reichskanzler aber ernennt der Kaiſer und kann nur der Kaiſer entlaſſen. Wäre es nun möglich, daß der Kaiſer den Bevollmächtigten eines anderen Staates zum Reichskanzler ernennt, ſo könnte ſich der Fall ereignen, daß dieſer Staat die Ernennung zum Bundesraths-Mitglied zurücknimmt, der Kaiſer dagegen die Entlaſſung dem Reichskanzler nicht ertheilt; es würde alsdann der Reichskanzler nicht zugleich Mitglied des Bundesrathes ſein, was nach Art. 15 der Verfaſſung unzuläſ - ſig iſt. Der Reichskanzler führt demnach mit rechtlicher Nothwen - digkeit im Bundesrathe die Präſidialſtimme Preußens als Bevoll - mächtigter des Königs. Vgl. oben S. 274.

2. Die Bundesraths-Mitglieder ſind keine Reichsbeamten und haben in keiner Hinſicht die Rechten und Pflichten derſelben; eben - ſowenig hat das einzelne Mitglied des Bundesrathes in irgend einer Beziehung die Funktionen einer Reichsbehörde. Dies gilt vollſtändig auch vom Reichskanzler. Weder als Mitglied des Bun - desrathes noch als Vorſitzender deſſelben iſt der Reichskanzler Reichsbeamter und wenn er im Bundesrathe die Präſidial-Befug - niſſe ausübt, handelt er nicht als Reichsbehörde, ſondern als Be - vollmächtigter des Königs von Preußen. Er iſt daher an die In - ſtructionen gebunden, welche ihm der König von Preußen ertheilt und dieſem gegenüber verantwortlich dafür, daß er ſeiner Inſtruc - tion gemäß gehandelt hat1)Vgl. die Aeußerungen des Fürſten Bismark im Verfaſſungberathenden Reichstage von 1867 Stenogr. Ber. S. 376 und beſ. 393; ferner im Nordd. Reichstage von 1869 am 16. April S. 401 ff. (Siehe oben S. 234 Note 2).. Von einer Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegen den Bundesrath und Reichstag für die Art und Weiſe, wie er die Präſidialſtimme führt oder die übrigen Preußiſchen Rechte im Bundesrathe handhabt, kann daher ebenſo20*308§. 33. Der Reichskanzler.wenig die Rede ſein, wie von einer derartigen Verantwortlichkeit des Bevollmächtigten irgend eines andern Bundesgliedes.

3. Die Bevollmächtigten der einzelnen Staaten brauchen nicht nothwendig auch Beamte derſelben zu ſein; ebenſo iſt es nicht nothwendig, daß der Reichskanzler Preußiſcher Beamter, insbeſon - dere Preußiſcher Staatsminiſter iſt. Man kann im Gegentheil behaupten, daß die wachſende Geſchäftslaſt des Reichskanzlers als Reichsminiſter es immer mehr verbieten wird, daß er zu - gleich in Wirklichkeit Chef eines preußiſchen Miniſteriums iſt. Staatsrechtlich iſt es auch keineswegs erforderlich, daß der Reichskanzler zugleich Preußiſcher Miniſter der Auswärtigen An - gelegenheiten iſt; denn nachdem die geſammte Leitung der aus - wärtigen Angelegenheiten auf das Reich übergegangen iſt, bedarf der Preußiſche Staat eines Miniſters der auswärtigen Angelegen - heiten gar nicht mehr. Dieſe Stelle iſt neben der des Reichs - kanzlers eine faſt bloß nominelle1)Das Preuß. Miniſterium der auswärt. Angel. hat nur noch die Be - ziehungen Preußens zu den anderen Bundes ſtaaten wahrzunehmen und die Aufſicht über die Preuß. Geſandten an den Deutſchen Höfen zu führen., welche aus dem Behördenor - ganismus des Preußiſchen Staates jeden Augenblick geſtrichen werden und dadurch ihre Scheinexiſtenz verlieren kann, ſo daß es unmöglich ſein würde, daß der Reichskanzler zugleich Preußi - ſcher Miniſter des Auswärtigen wäre. Thatſächliche, poli - tiſche Gründe zwingender Natur machen es aber nothwendig, daß der Reichskanzler, gerade weil er der ſtimmführende Bundesraths - Bevollmächtigte Preußens iſt, an den Berathungen des Preußiſchen Staatsminiſteriums Antheil zu nehmen befugt iſt, daß ihm der Ehrenvorſitz bei dieſen Berathungen zuſteht, und daß nicht nur der Deutſche Kaiſer und der König von Preußen, ſondern auch der kaiſerliche Reichsminiſter und der erſte, leitende preußiſche Staatsminiſter identiſch ſind.

Hiernach beantwortet ſich die Frage, nach der Verantwortlich - keit des Reichskanzlers gegenüber dem Preußiſchen Landtage. Sollte einmal der Fall eintreten, daß der Reichskanzler nicht zu - gleich Preuß. Staatsminiſter iſt, daß er vielmehr ſeine Inſtruk - tionen vom Preußiſchen Staatsminiſterium einfach zugeſchickt erhält, ſo würden die Grundſätze von der parlamentariſchen Miniſter - Verantwortlichkeit auf ihn ganz und gar unanwendbar ſein; ſeine309§. 33. Der Reichskanzler.Verantwortlichkeit beſtände vielmehr nur dem Preußiſchen Staats - miniſterium gegenüber und wäre darauf beſchränkt, daß er ſeinen Inſtruktionen gemäß geſtimmt habe. Iſt aber der Reichskanzler ſelbſt Preußiſcher Staatsminiſter und nimmt er folglich ſelbſt Antheil an der Feſtſtellung der Vorſchriften, wie ſich die Preu - ßiſchen Bevollmächtigten im Bundesrathe zu verhalten haben, ſo iſt er nach Maaßgabe des Preußiſchen Staatsrechts hierfür ebenſo verantwortlich, wie dies oben ganz allgemein hinſichtlich der In - ſtruktions-Ertheilung für die Regierungen aller Bundesſtaaten entwickelt worden iſt. Dagegen kann von einer Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für ſeine Thätigkeit als Reichs miniſter dem Preuß. Landtage gegenüber in keiner Art die Rede ſein; als ſolcher führt er nicht preußiſche Staatsgeſchäfte, ſondern Reichs - geſchäfte.

II. Der Reichskanzler als Reichsminiſter des Kaiſers.

Während der Reichskanzler im Bundesrathe preu - ßiſcher Bevollmächtigter iſt, iſt der Reichskanzler außerhalb des Bundesrathes Reichsbehörde und zwar iſt er, wie bereits ausgeführt worden iſt, der einzige verantwortliche Miniſter des Reiches. Die Miniſterialbefugniſſe im Reiche ſind nun aber wegen des bundesſtaatlichen Charakters deſſelben nicht ganz dieſelben wie im Einheitsſtaate. Das allgemeine Grundprinzip läßt ſich dahin beſtimmen, daß der Reichskanzler als der Miniſter und Gehülfe des Kaiſers alle diejenigen Geſchäfte auszuführen hat, welche die Prärogative des Kaiſers bilden. Die Funktionen des Reichskanzlers ſind demnach auf folgende Kategorien zurückzu - führen:

1) Da der Kaiſer der Vertreter des Deutſchen Reiches iſt, ſo iſt der Reichskanzler auswärtigen Staaten und überhaupt allen Dritten gegenüber, mit denen das Reich in Rechts - verhältniſſen ſteht oder mit denen es in ein Rechtsverhältniß treten will, legitimirt, die Rechte des Reiches wahrzunehmen, Ver - handlungen zu führen, Verträge zu vereinbaren, Leiſtungen ent - gegenzunehmen und zu gewähren. Der Reichskanzler bedarf hierzu regelmäßig keiner Spezial-Vollmacht, wenngleich es nicht ausge - ſchloſſen iſt, daß der Kaiſer ihm bei beſonders wichtigen Verhand -310§. 33. Der Reichskanzler.lungen eine ſolche ertheilt. Soll dagegen nicht der Reichskanzler, ſondern irgend ein anderer Bevollmächtigter das Reich (den Kai - ſer) Dritten gegenüber vertreten, ſo iſt dazu regelmäßig eine be - ſondere Vollmacht erforderlich, welche entweder der Kaiſer ſelbſt unter Contraſignatur des Reichskanzlers ertheilt oder welche der Reichskanzler kraft ſeiner General-Vollmacht ausſtellt (Subſtitu - tionsvollmacht). Ausgenommen ſind nur diejenigen Geſchäfte, welche zu dem geſetzlichen oder herkömmlichen Geſchäfts - kreiſe der, dem Reichskanzler unterſtellten Reichsbehörden (Geſandt - ſchaften, Konſulate, Verwaltungsbehörden, Finanzbehörden) gehö - ren; für dieſe Geſchäfte haben die reſſortmäßigen Behörden die Vollmacht, ſie in rechtswirkſamer Weiſe für das Reich abzuſchlie - ßen und es liegt in der Anſtellung eines Reichsbeamten zugleich die Ertheilung der Vollmacht, das Reich innerhalb ſeiner Amts - befugniſſe zu vertreten. So wie aber die Verwaltungsbehörden des Reiches dem Reichskanzler als ihrem Chef untergeordnet ſind, ſo iſt auch ihre Vollmacht zur Vertretung des Reiches von der General-Vollmacht des Reichskanzlers abgezweigt und ihr gleichſam untergeordnet.

Dies Alles gilt nicht nur von internationalen Verträgen und Verträgen ſtaatsrechtlichen Inhaltes ſondern auch von den vermö - gensrechtlichen Geſchäften des Reichsfiskus.

2) Da der Kaiſer die Thätigkeit der übrigen Organe des Reiches im Gange zu erhalten und zu reguliren hat, ſo liegen dem Reichskanzler die hierzu erforderlichen Geſchäfte ob. Er hat die erforderlichen Veranſtaltungen zu treffen, damit der Bundes - rath und der Reichstag, wenn ſie einberufen ſind, ihre Sitzungen halten können; er hat die Verfügungen zu erlaſſen, welche zur Ausführung der Beſchlüſſe des Bundesrathes erforderlich ſind1)Geſch. -Ordn. des Bundesrathes §. 15., er prüft die Legitimation der Bevollmächtigten2)oben S. 245.; er über - mittelt die von dem Bundesrathe beſchloſſenen Vorlagen dem Reichstage3)Es folgt dies daraus, daß dieſe Vorlagen im Namen des Kaiſers an den Reichstag gebracht werden. R. -V. Art. 16.; ebenſo werden die Beſchlüſſe des Reichstages, In - terpellationen, Erledigungen von Reichstags-Mandaten dem Reichs -311§. 33. Der Reichskanzler.kanzler angezeigt1)Geſch. -Ordn. des Reichstages §. 30. 63. 66. und es liegt dem Reichskanzler ob, ſie zur Kenntniß des Bundesrathes zu bringen reſp. dem Kaiſer über die Beſchlüſſe des Bundesrathes und des Reichstages Vortrag zu halten.

3) Soweit die eigene Verwaltung des Reiches ſich erſtreckt, iſt der Reichskanzler als Gehülfe und Vertreter des Kaiſers der oberſte Chef und Leiter. In dieſer Beziehung iſt ſeine Stellung völlig entſprechend der Stellung eines Miniſters im Einzelſtaate2)Es gehört hierher der Erlaß von Adminiſtrativ-Verordnungen, ſoweit derſelbe durch die Verfaſſung oder Reichsgeſetze dem Kaiſer oder dem Reichs - kanzler direct übertragen iſt; der Erlaß von Inſtruktionen an die Behörden; die Vorbereitung der vom Kaiſer zu vollziehenden Ernennungen und Entlaſſungen von Reichsbeamten; die definitive Entſcheidung auf Beſchwerden über Unter - behörden des Reiches; die Verfügung auf Berichte der Behörden; die Vorbe - reitung der Geſetzesvorlagen und Etats-Entwürfe u. ſ. w.. Jedoch iſt er nicht auf ein einzelnes Reſſort beſchränkt; er hat nicht gleichberechtigte Collegen neben ſich, mit denen er ſich in die Geſchäfte theilt, ſondern ſeine Kompetenz hat denſelben Umfang wie die Verwaltungskompetenz des Reiches.

4) Soweit das Recht der Einzelſtaaten auf Selbſtverwaltung reicht, liegt dem Kaiſer die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgeſetze ob (R. -V. Art. 17) und ebenmäßig dem Reichs - kanzler die hiezu erforderliche Thätigkeit. Beſchwerden und An - zeigen über Verletzungen der Reichsgeſetze in den einzelnen Staa - ten ſind demnach an den Reichskanzler zu richten; er hat die er - forderlichen thatſächlichen Feſtſtellungen zu machen und die Ver - fügungen an die Regierungen zu erlaſſen. Inſoweit der Bundes - rath nach Art. 7 Z. 3 in ſolchen Fällen zur Beſchlußfaſſung kom - petent iſt, hat der Reichskanzler an den Bundesrath eine Vorlage gelangen zu laſſen und für die Ausführung und Befolgung des vom Bundesrathe gefaßten Beſchluſſes Sorge zu tragen3)Siehe oben S. 259 fg..

5) Endlich iſt der Reichskanzler der verantwortliche leitende Miniſter für Elſaß-Lothingen, da durch das Geſetz vom 9. Juni 1871 die Ausübung der Staatsgewalt im Reichslande dem Kaiſer übertragen iſt. Im §. 4 des angef. Geſetzes iſt ausdrücklich an - geordnet, daß alle Anordnungen und Verfügungen des Kaiſers in Ausübung dieſer Staatsgewalt zu ihrer Gültigkeit der Gegen -312§. 33. Der Reichskanzler.zeichnung des Reichskanzlers bedürfen, der dadurch die Verant - wortlichkeit übernimmt.

6) Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, von welcher Art. 17 der R. -V. ſpricht, bezieht ſich ſelbſtverſtändlich nur auf ſeine Thätigkeit als Reichsminiſter, nicht als BundesrathsBevoll - mächtigter. Dieſe Verantwortlichkeit iſt nicht zu einem Rechtsin - ſtitut geſtaltet; es fehlt an Anordnungen, worauf ſie ſich erſtreckt, wer befugt iſt, ſie geltend zu machen, welches Verfahren dabei einzuhalten iſt, welche Wirkungen mit ihr verknüpft ſind. Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers iſt daher nur ein politiſches Prinzip, das ſeiner Verwirklichung durch Rechtsſätze noch harrt, welches aber doch als ſolches nicht ganz wirkungslos iſt, ſondern die ſogenannte politiſche oder moraliſche Verantwortlichkeit des Reichskanzlers begründet. Die praktiſche Folge derſelben beſteht im Weſentlichen darin, daß der Reichskanzler ſich der politiſchen Nothwendigkeit nicht entziehen kann, auf Angriffe gegen ſeine Geſchäftsführung im Bundesrath und Reichstag Rede zu ſtehen. Für die Beantwortung der Frage nach dem Umfange dieſer Ver - antwortlichkeit ſind nun die vorſtehenden Erörterungen von Belang und es ergiebt ſich daraus der Unterſchied zwiſchen der Verant - wortlichkeit des Reichskanzlers und der Verantwortlichkeit des Miniſters eines Einzelſtaates. Die Verantwortlichkeit reicht ſo weit wie die Kompetenz. Auf dem Gebiete der eigenen Verwal - tung des Reiches iſt daher der Reichskanzler verantwortlich dafür, daß die geſammte amtliche Thätigkeit der Reichsbehörden den Geſetzen des Reiches gemäß geſchieht und von den einheitlichen Grundgedanken der äußeren und inneren Politik, welche das Reich verfolgt, durchdrungen iſt. Dagegen auf dem Gebiete der Selbſt - verwaltung der Einzelſtaaten iſt der Reichskanzler nur dafür ver - antwortlich, daß die dem Reiche zuſtehende Ueberwachung wirkſam gehandhabt wird1)Vgl. die Rede des Fürſten Bismarck in der Reichstags-Sitzung vom 1. Dezember 1874. Stenogr. Ber. S. 421.. Die Amtsthätigkeit der Landesbe - hörden innerhalb des den Einzelſtaaten überlaſſenen Selbſtverwal - tungs-Bereiches hat der Reichskanzler nicht zu vertreten; hier kommen vielmehr die Grundſätze des Landesſtaatsrechts über die313§. 34. Die Reichsverwaltungs-Behörden.Verantwortlichkeit der Miniſter für ihre Geſchäftsführung zur An - wendung1)Dieſelbe beſteht neben der Ueberwachung Seitens des Reiches fort, jedoch mit der ſelbſtverſtändlichen Modification, daß ein Verfahren einer Bun - desregierung, welches vom Reich als im Einklang ſtehend mit den Reichsge - ſetzen anerkannt worden iſt, von den Organen des Einzelſtaates nicht als Verletzung der Reichsgeſetze erklärt werden kann..

§. 34. Die Reichsverwaltungs-Behörden.

Die Verwaltungsgeſchäfte des Reiches ſind in folgender Art zu Aemtern gruppirt und beſonderen Behörden übertragen.

I. Das Reichskanzler-Amt.

Durch den Allerhöchſten Präſidial-Erlaß v. 12. Auguſt 1867 (B. -G.-Bl. S. 29) iſt unter dem Namen Bundeskanzler-Amt eine Behörde errichtet worden für die dem Bundeskanzler obliegende Verwaltung und Beaufſichtigung der, durch die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes zu Gegenſtänden der Bundesverwaltung gewordenen, beziehungsweiſe unter die Aufſicht des Bundes-Präſidiums geſtellten Angelegenheiten, ſowie für die dem Bundeskanzler zuſtehende Bearbeitung der übrigen Bundes-Angelegen - heiten.

Durch das Etatsgeſetz für 1868 wurden die Geldmittel für dieſe Behörde bewilligt und in den Etatsgeſetzen der folgenden Jahre die Bewilligungen im Verhältniß der fortſchreitenden Ver - größerung dieſer Behörde erhöht. An Stelle der urſprünglichen Bezeichnung wurde durch Allerh. Erlaß v. 12. Mai 1871 (R. -G. - Bl. S. 102) der Name Reichskanzler-Amt geſetzt.

Dem Allerh. Erl. v. 12. Auguſt 1867 gemäß war der Ge - ſchäfts-Umfang des Bundeskanzler-Amtes ein ganz umfaſſender und erſtreckte ſich auf alle Obliegenheiten, welche dem Bundeskanzler zugewieſen waren. Dieſelben werden in dieſem Erlaß ganz richtig in 3 Kategorien getheilt:

  • a) die Verwaltung der Angelegenheiten, welche zu Gegenſtän - den der Bundesverwaltung geworden waren; (un - mittelbare Bundesverwaltung)
314§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
  • b) Die Beaufſichtigung der Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten.
  • c) Die Bearbeitung der übrigen Regierungsgeſchäfte, insbeſondere die Vorbereitung von Geſetzentwürfen, der ge - ſchäftliche Verkehr mit dem Bundesrath und Reichstag, die Wahrnehmung der handelspolitiſchen Intereſſen bei Ver - handlungen mit auswärtigen Staaten über Handels - Zoll - Schiffahrts-Verträge, Aufſtellung des Bundeshaushaltsetats und Führung der Bundes-Finanzwirthſchaft u. ſ. w.

Ausgenommen von dem Geſchäftskreis des Bundeskanzler - Amtes waren die Auswärtigen Angelegenheiten, weil dieſelben zur Zeit der Errichtung des Bundeskanzler-Amtes einen Zweig der Preußiſchen Staatsverwaltung bildeten; nur das Bundes-Konſu - latsweſen wurde dem Bundeskanzler-Amt zugewieſen, von der Kompetenz deſſelben aber wieder getrennt, als das Reich die Aus - wärtigen Angelegenheiten vollſtändig in eigene Verwaltung über - nahm.

Ausgenommen waren ferner die Marine-Angelegenheiten, weil nach der Verf. des Nordd. Bundes Art. 53 die Verwaltung der - ſelben und der Oberbefehl über die Kriegsmarine nicht dem Bun - des-Präſidium, ſondern dem Könige von Preußen zugewieſen war. Daſſelbe gilt von dem Oberbefehl über das Heer und von der Ober-Aufſicht über die Verwaltung deſſelben. (Art. 63 fg.)

Endlich waren ſelbſtverſtändlich ausgenommen von dem Ge - ſchäftskreiſe des Bundeskanzler-Amtes alle diejenigen Angelegen - heiten, welche durch beſondere Geſetze oder Verordnungen anderen Behörden zugewieſen wurden.

Dieſe Grundſätze ſind noch jetzt maaßgebend für die Kompe - tenz des Reichskanzler-Amtes und für ſein Verhältniß zu den anderen oberſten Reichsbehörden.

Sieht man von der Verwaltung des Konſulatsweſens ab, welche nur vorübergehend dem Bundeskanzler-Amt übertragen war, ſo gab es für die eigene Verwaltung des Reiches urſprünglich[nur] 2 Reſſorts, Poſt und Telegraphie. Durch den Allerh. Erlaß vom 18. Dezemb. 1867 (B. -G.-Bl. S. 328) wurden daher zwei beſondere Abtheilungen (I und II) des Bundeskanzler-Amtes für dieſe Geſchäfte unter den Bezeichnungen General-Poſtamt und General-Direktion der Telegraphen gebildet; die übrigen Ge -315§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.ſchäfte, welche das Bundeskanzler-Amt zu verſehen hat, wurden unter dem Namen Central-Abtheilung zuſammengefaßt.

In Folge der Erwerbung des Reichslandes und der dem Reichskanzler durch das Geſ. v. 9. Juni 1871 zugewieſenen Leitung der Landesverwaltung wurde eine neue (III) Abtheilung für Elſaß - Lothringen gebildet und endlich ſeit dem 1. Januar 1875 nach vorgängiger Genehmigung im Reichshaushalts-Etat eine IV Ab - theilung unter der Bezeichnung Reichsjuſtiz-Amt errichtet.

An der Spitze des Reichskanzler-Amts ſteht ein Präſident, welcher als der ſtändige Vertreter des Reichskanzlers anzuſehen iſt; an der Spitze jeder Abtheilung ein Direktor. Obgleich dieſe ver - ſchiedenen Abtheilungen des Reichskanzler-Amtes im Weſentlichen getrennte Geſchäfts-Sphären haben, ſo haben ſie doch keineswegs den ſtaatsrechtlichen Charakter verſchiedener Behörden, die gegen einander ſelbſtſtändig wären. Bei vielen Angelegenheiten iſt ein Zuſammenwirken der verſchiedenen Abtheilungen unerläßlich und bei allen iſt es dem Ermeſſen des Präſidenten überlaſſen, welchem Dezernat er dieſelben zuweiſen will. Die Geſchäftsvertheilung unter die Abtheilungen des Reichskanzler-Amtes hat keinen ſtaats - rechtlichen, ſondern einen techniſchen Charakter; die Abtheilungen ſind nicht anzuſehen wie verſchiedene Miniſterien, ſondern wie Abtheilungen deſſelben Miniſteriums. Juriſtiſch gelten alle Verfügungen des Reichskanzler-Amtes als Verfügungen des Reichs - kanzlers und werden auch der Regel nach mit dieſer Firma ge - zeichnet; der Präſident des Reichskanzler-Amtes, die Direktoren und die ein eigenes Dezernat führenden Räthe ſind immer nur Vertreter des Reichskanzlers.

1. Die Central-Abtheilung.

Der generelle Umfang des Geſchäfts-Auftrages, den der Erl. vom 12. Auguſt 1867 für das Bundeskanzler-Amt feſtſetzte, iſt der Central-Abtheilung deſſelben verblieben und es reſſortiren von derſelben deshalb auch alle Reichsbehörden, die nicht ausdrücklich ausgenommen ſind.

Zu den Geſchäften der Central-Abtheilung gehört demnach: die Aufſicht über die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten; die Ver - mittelung des geſchäftlichen Verkehrs zwiſchen Bundesrath, Reichs - tag und Reichskanzler; die Aufſtellung des Etats-Entwurfs und die Ausführung des geſetzlich feſtgeſtellten Etats, ſowie die ge -316§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.ſammte Finanzwirthſchaft und Vermögensverwaltung des Reiches; die Bearbeitung der handelspolitiſchen Angelegenheiten; die Aus - führung und die Controle der Ausführung der Reichsgeſetze über Maaß, Gewicht, Münzweſen, Papiergeld, Banken; die Kontrole der Erhebung der Zölle und Verbrauchsſteuern, ſowie die Abrech - nung mit den Einzelſtaaten1)Vgl. den Allerh. Erl. v. 16. Nov. 1867 (B. -G.-Bl. 1868 S. 9)., die Bearbeitung der Perſonalien für die von der Central-Abtheilung reſſortirenden Behörden und in gleichem Umfange das Penſionsweſen. Eine vollſtändige Auf - zählung der Competenz läßt ſich aber nicht geben, da die Central - Abtheilung ſubſidiär alle Geſchäfte zu erledigen hat, welche nicht einem anderen Reichsamt zugewieſen ſind.

Diejenigen Verwaltungs-Behörden, welche von der Central - Abtheilung reſſortiren, ſind folgende:

a) Die Reichshauptkaſſe. Die Wahrnehmung der Cen - tral-Kaſſengeſchäfte des Norddeutſchen Bundes wurde auf Grund einer, mit der Preuß. Regierung getroffenen Vereinbarung der Königl. Preuß. General-Staatskaſſe in Berlin übertragen, welche in Bundes-Angelegenheiten den amtlichen Verkehr unter der Be - nennung Generalkaſſe des Norddeutſchen Bundes führte2)Bekanntm. vom 21. Januar 1868 (B. -G.-Bl. S. 1).. Dieſe Bezeichnung wurde ſeit dem 1. Juni 1871 durch die Benennung Reichshauptkaſſe erſetzt3)Bekanntm. vom 1. Juni 1871 (R. -G.-Bl. S. 126)..

Ueber die Abrechnungen zwiſchen der Reichshauptkaſſe und den Landeskaſſen der Bundesſtaaten ſind unter dem 13. Januar 1872 vom Reichskanzler im Einverſtändniß mit dem Ausſchuſſe des Bundesrathes für Rechnungsweſen Beſtimmungen erlaſſen worden4)Abgedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1489 ff..

b) Die Verwaltung des Reichskriegsſchatzes. Dieſelbe iſt durch das Geſ. vom 11. Nov. 1871 §. 3 (R. -G.-Bl. S. 403) dem Reichskanzler übertragen, welcher dieſelbe nach den darüber mit Zuſtimmung des Bundesrathes ergehenden Anordnungen des Kaiſers unter Kontrole der Reichsſchulden-Kommiſſion zu führen hat. Dieſe Anordnungen ſind getroffen worden in der Verordn. v. 22. Januar 1874 (R. -G.-Bl. S. 9). Die Beſtände, Ausgaben317§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.und Einnahmen des Reichskriegsſchatzes werden verwaltet von der Rendantur des Reichskriegsſchatzes, deren Beamte der Reichs - kanzler ernennt und über welche ein vom Reichskanzler beſtellter Kurator die Aufſicht führt1)Verordn. vom 22. Januar 1874 §. 2 u. 3..

Ohne beſondere Anweiſung des Reichskanzlers darf bei dem Reichskriegsſchatze nichts verausgabt oder vereinnahmt werden2)Verordn. vom 22. Januar 1874 §. 6 Abſ. 1..

c) Das Statiſtiſche Amt3)Vgl. über die Statiſtik des Deutſchen Reiches die trefflichen Abhand - lungen von Meitzen in v. Holtzendorffs Jahrb. des Deutſchen Reiches I. S. 527 ff. II. S. 277 317 und beſ. III. S. 375 412 . Die Entſtehungsgeſchichte deſſelben knüpft an das, ſeit dem Jahr 1834 in Thätigkeit geweſene Central-Bureau des Zollvereins an, welchem von der I. Gene - ralzollconferenz im Jahre 1836 die Zuſammenſtellung einer Statiſtik des Handelsverkehrs im Zollvereine übertragen wurde4)Hauptprotok. §. 19.. Da weder die Einrichtungen noch die Leiſtungen dieſes Centralbureaus den geſteigerten Anſprüchen an die Statiſtik genügten, ſo trat auf Anord - nung des Zollbundesrathes v. 2 Juni 1869 im Jan. 1870 eine Kom - miſſion zuſammen, welche Vorſchläge über die weitere Ausbildung der Zollvereins-Statiſtik machen ſollte. Während der Berathungen dieſer Kommiſſion erweiterte und modifizirte ſich die derſelben geſtellte Aufgabe durch die Gründung des Deutſchen Reiches. Auf Grund der von der Kommiſſion erſtatteten Gutachten5)Vgl. Hirth’s Annalen 1870 S. 21 ff. u. namentlich 1872 S. 69 ff. und eines die Vorſchläge der Kommiſſion befürwortenden Berichtes der Bundes - raths-Ausſchüſſe für Zoll - und Steuerweſen und für Handel und Verkehr v. 14. Nov. 18716)Druckſachen des Bundesrathes 1871 Nr. 170. beſchloß der Bundesrath, daß ein zugleich das Centralbureau erſetzendes ſtatiſtiſches Centralorgan für das Deutſche Reich zur techniſchen und wiſſenſchaftlichen Ver - arbeitung des einlaufenden Materials und zur Begutachtung ſtati - ſtiſcher Fragen ins Leben gerufen werde7)Protokolle 1871 §. 643 Z. X. (S. 304.).

Mit dem Entwurf eines Nachtrags-Etats-Geſetzes f. 1872 wurde dem Reichstage eine Denkſchrift betreffend den Etat für das ſtatiſtiſche Amt vorgelegt, in welcher die von dieſem Amte318§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.zu erfüllenden Aufgaben näher dargelegt werden1)Druckſachen d. Deutſchen Reichstages 1872 Nr. 8. Ein Auszug daraus auch in Hirth’s Annalen 1872 S. 1547 ff.. Nach dem der Reichstag dieſe Vorſchläge genehmigt hatte und durch das Nachtrags-Etatsgeſetzes v. 20. Juni 1872 Kap. 1. Tit. 6.) die erforderlichen Geldmittel fortdauernd bewilligt worden waren2)R-G. -Bl. 1872 S. 206., trat das ſtatiſtiſche Amt am 21. Juli 1872 in Thätigkeit.

Die Geſchäfts-Inſtruktion, deren Erlaß durch einen Beſchluß des Bundesrathes v. 9. März 1872 (Protok. §. 57) dem Reichs - kanzler übertragen worden war, iſt vom 23. Juni 18723)Vgl. Meitzen im Jahrb. des Deutſchen Reichs III. S. 380.. Die Aufgaben des Statiſt. Amtes ſind darnach von doppelter Art; erſtens die Sammlung, Prüfung und wiſſenſchaftliche Bearbeitung des für die Reichsſtatiſtik zu liefernden Materials und geeignetenfalls die Veröffentlichung der Ergebniſſe; zweitens hat das ſtatiſtiſche Amt auf Anordnung des Reichskanzleramtes ſtatiſtiſche Nachweiſungen aufzuſtellen und über ſtatiſtiſche Fragen Gutachten zu erſtatten.

Es iſt zur Vereinfachung des Geſchäftsverfahrens dem Statiſt. Amte der unmittelbare Verkehr mit den ſtatiſtiſchen Central - behörden der Bundesſtaaten und inſofern dergleichen nicht beſtehen, mit den Landesbehörden, von denen es direkte Einſendungen er - hält, geſtattet. Nur zur Erledigung von Anſtänden, welche durch direkte Correſpondenz nicht ausgeglichen werden können, iſt die Ver - mittlung des Reichskanzleramtes nachzuſuchen4)Vgl. Bundesraths-Protok. 1873 §. 215..

Das Statiſtiſche Amt beſteht zur Zeit aus einem Direktor und zwei ſtändigen Mitgliedern, ſowie den erforderlichen Bureau - beamten.

d) Die Normal-Eichungs-Kommiſſion. Die geſetz - liche Grundlage dieſer Behörde bildet Art. 18 der Maaß - und Gewichts-Ordnung v. 17. Aug. 1868 (B. G.Bl. S. 476). In Aus - führung dieſes Geſetzes wurde die in Rede ſtehende Reichsbehörde am 16. Februar 1869 errichtet5)Bekanntm. des Bundeskanzlers. B. -G.-Bl. 1869 S. 46. und derſelben am 21. Juli 1869 vom Reichskanzler eine Inſtruktion ertheilt6)v. Rönne S. 194. Nach einer daſelbſt Note 2 befindlichen Notiz iſt dieſelbe im Preuß. Min. -Bl. der inneren Verw. 1869 S. 171 abgedruckt.. Die geſetzlichen319§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.Aufgaben der N. -E.-K. ſind nach dem cit. Art. 18 folgende. Ihr liegt ob:

  • Die Aufſicht darüber, daß im geſammten Reichsgebiet
    1)mit Ausnahme Bayern’s.
    1) das Eichungsweſen nach übereinſtimmenden Regeln und dem Intereſſe des Verkehrs entſprechend gehandhabt werde;
  • die Anfertigung und Verabfolgung der Normale (§. 9 des Geſetzes) und ſoweit nöthig auch der Eichungsnormale (§. 15 eod.) an die Eichungsſtellen der Bundesſtaaten;
  • der Erlaß der näheren Vorſchriften über Material, Ge - ſtalt, Bezeichnung und ſonſtige Beſchaffenheit der Maaße und Gewichte, Waagen, Meßwerzeuge;
  • der Erlaß von Anordnungen über das bei der Eichung und Stempelung zu beobachtende Verfahren, der Taxen für die von den Eichungsſtellen zu erhebenden Gebühren und über alle die techniſche Seite des Eichungsweſens be - treffenden Gegenſtände
    2)Die von der Normal-Eich. -Komm. erlaſſenen Verordnungen werden im Reichsgeſetzbl. und im Centralbl. für das Deutſche Reich veröffentlicht. Die neue Redaktion der Eichgebühren-Taxe iſt vom 24. Dezember 1874. (Central - blatt 1875 S. 94 ff.)
    2).

Die von der Normal-Eich. -Kommiſſion erlaſſenen Anordnun - gen werden nicht mit der Firma des Reichskanzlers gezeichnet, ſondern unter ihrem eigenen Namen erlaſſen.

Die Eichungsbehörden der[Bundesſtaaten] ſind Landesbehör - den; die N. -E-K. ſteht aber mit den oberen Eichungsbehörden der Staaten in direktem Geſchäftsverkehr und kann innerhalb ihrer Kompetenz ſie mit Anweiſung verſehen; den Verkehr mit den ein - zelnen (unteren) Eichungsſtellen vermitteln die Landesbehörden.

Nur in Elſaß-Lothringen beſteht ein etwas abweichendes Ver - hältniß; indem die Eichungs-Inſpektion in Straßburg in Beziehung auf die techniſche Geſchäftsführung der Normal - Eichungs-Kommiſſion, im Uebrigen dem Oberpräſidenten, unmittel - bar untergeordnet iſt3)R. -G. vom 19. Dez. 1874 §. 7. (R. -G.-Bl. 1875 S. 3.).

Für Bayern iſt der Wirkungskreis der N. -E.-K. formell ganz ausgeſchloſſen; es iſt für dieſen Bundesſtaat eine beſondere N. -E.-K. in Beſtand erhalten. Die bayeriſche N. -E.-K. muß aber320§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. die von ihr anzuwendenden Normale von der N. -E.-K. des Deut - ſchen Reiches beziehen; die Vorſchriften über Material, Geſtalt, Be - zeichnung und ſonſtige Beſchaffenheit der Maaße und Gewichte, über die Bedingungen der Stempelfähigkeit der Waagen, über die Einrichtung der ſonſtigen Meßwerkzeuge, ſowie über die Zulaſſung anderweiter Geräthſchaften zur Eichung und Stempelung gleich - förmig mit denen der N. -E -. K. des Reiches erlaſſen, und das bei der Eichung und Stempelung zu beobachtende Verfahren, ſowie die von Seiten der Eichungsſtellen inne zu haltenden Fehlergren - zen gleichmäßig beſtimmen 1)R. -G. v. 22. Nov. 1871 §. 3. (R. -G.-Bl. S. 397)..

Die Normal-Eichungs-Kommiſſion des Reiches beſteht nur aus dem Direktor, einem ſtändigen Hülfsbeamten, und dem Bureau - und Kanzleiperſonal. Außerdem aber werden der Kommiſſion vom Reichskanzler auf Vorſchlag des Direktors Mitglieder beigeordnet, welche immer auf 5 Jahre ernannt werden und ihr Amt als un - beſoldetes Ehrenamt führen2)Nach dem Handbuch f. das Deutſche Reich von 1874 S. 50 ſind 9 Beigeordnete ernannt.. Sie treten nur bei beſonderen Anläſſen mit dem Direktor zu gemeinſamer Berathung zuſammen und bilden alsdann mit ihm die ſog. Plenar-Verſammlung . Die erwähnte Inſtruktion vom 21. Juli 1869 beſtimmt die zur Bera - thung und Beſchlußfaſſung der Plenar-Verſammlung gehörenden Gegenſtände und die Geſchäfts-Ordnung derſelben3)v. Rönne a. a. O. S. 194..

e) Das Zoll - und Steuer-Rechnungs-Bureau.

Die Abrechnung über die erhobenen Zoll - und Steuerbeträge unter den einzelnen Staaten beſorgte das Centralbureau des Zoll - Vereins. Seit der im Jahre 1872 erfolgten Aufhebung dieſes Bureau’s hat das preußiſche Finanzminiſterium, Abtheilung für die Verwaltung der indirekten Steuern, die Zoll - und Steuer-Rech - nungsarbeiten des Reiches übernommen und läßt ſie durch das erwähnte Bureau ausführen. In Beziehung auf dieſe Arbeiten fungirt das Preußiſche Finanzminiſterium ſonach als Reichsbehörde und wird von der principiellen Unterordnung aller verwaltenden Reichsbehörden unter den Reichskanzler mit betroffen.

321§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

f) Reichs-Bevollmächtigte und Stationskon - troleure für die Kontrole der Zölle und Verbrauchs - ſteuern.

Dieſelben ſind an die Stelle der ehemaligen Zollvereins-Be - vollmächtigten und Kontroleure getreten. Ueber ihre Aufgaben und Befugniſſe ſind noch jetzt maaßgebend die im Art. 20 des Zoll - Vereins-Vertrages enthaltenen Beſtimmungen1)Vgl. darüber meine Darſtellung des Reichsfinanzrechts in Hirth’s Annalen 1873 S. 474 ff. ; ſowie v. Aufſeß ebendaſ. S. 299 ff. u. 1874 S. 99.. Die Reichsbe - vollmächtigten ſind den Direktivbehörden der einzelnen Staaten beigeordnet; ſie haben ſich eine vollſtändige Kenntnißnahme von der Art und Weiſe, wie die Geſchäfte der Zoll - und Steuerver - waltung von den Landesbehörden geführt werden, zu verſchaffen und Fehler und Mängel, welche dabei zu Tage treten, zu moniren2)Bevollmächtigte ſind beſtellt in Königsberg, Stettin, Breslau, Magde - burg, Altona, Hannover, Cöln, München, Dresden, Carlsruhe, Darmſtadt, Schwerin und Straßburg.. Die Stations-Kontroleure ſind den Zoll - oder Steuerämtern bei - geordnet; ſie ſind den Bevollmächtigten dienſtlich untergeben und empfangen von ihnen amtliche[Aufträge]3)Verzeichniſſe der Reichs-Kontrol-Beamten enthält das Centralblatt des Deutſchen Reiches 1873 S. 29 fg. u. 1875 S. 337 ff. In demſelben Blatte werden auch alle Veränderungen im Perſonal und den Amtsbezirken bekannt gemacht..

Ueber die Kaiſerl. Hauptzollämter in Hamburg u. Bremen vgl. Hirth’s Annalen 1873 S. 471 Note 2.

g) Der Reichskommiſſarius für das Auswande - rungsweſen in Hamburg.

Die Vorkommniſſe auf dem Auswandererſchiffe Leibnitz gaben im Jahre 1868 dem Bundesrathe Veranlaſſung, die dem Reiche nach R. -V. Art. 4 Ziff. 1 a. E. zuſtehende Beaufſichtigung der Beſtimmungen über die Auswanderung nach außerdeutſchen Ländern zu verwirklichen. Die Verordnungen der einzelnen Re - gierungen, zu deren Staatsgebieten die Auswanderungshäfen ge - hören, wurden unter Einverſtändniß des Bundesrathes revidirt und es wurde ein Reichskommiſſarius ernannt, welcher die Aus - führung dieſer Verordnungen zu beaufſichtigen hatte. In den erſten Jahren wurden die Koſten des Amtes aus dem DispoſitionsfondsLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 21322§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.beſtritten; durch das Reichsetatsgeſetz für 1874 vom 5. Juli 1873 wurden ſie als fortdauernde Ausgabe bewilligt. (Kapit 1. Tit. 10.)1)R. -G.-Bl. 1873 S. 304..

Der Reichskommiſſarius hat ſeinen Wohnſitz in Hamburg; ſeine Thätigkeit erſtreckt ſich aber auch auf Bremen und Stettin und die anderen Auswanderungshäfen. Die Handhabung der das Auswanderungsweſen betreffenden Vorſchriften iſt zunächſt Sache der Landesbehörden; der Reichskommiſſarius hat aber in ganz ähnlicher Art wie die Reichszollbevollmächtigten ſich zunächſt über alle Anordnnungen und Maaßregeln in vollſtändiger Kenntniß zu erhalten, dann eine fortwährende Kontrole zu üben über die Art und Weiſe, wie die Verordnungen ausgeführt werden, Revi - ſionen der in Expedition begriffenen Auswanderungsſchiffe vorzu - nehmen, ferner, ſobald er hinſichtlich des Raumes, der Sorge für die Geſundheit, der Vorräthe an Nahrungsmitteln, Arzneimitteln u. ſ. w. Mängel bemerkt, den zuſtändigen Behörden Anzeige zu machen und auf Abhülfe zu dringen, endlich wenn eine ſolche Ab - hülfe nicht erfolgt, ſeinerſeits dem Reichskanzler zu berichten2)Vgl. die Erkl. des Bundesraths-Kommiſſar Geh. R. Michaelis in der Sitzung des Reichstages v. 9. Juni 1873. (Sten. Ber. S. 1015.) Ein Bericht über die Thätigkeit des Reichskommiſſars von 1869 bis 1874 iſt ab - gedruckt in Hirth’s Annalen 1875 S. 1107 ff..

h) Inſpektoren für die Steuermanns - und Schif - ferprüfungen.

Die Gewerbe-Ordnung v. 21. Juni 1869 §. 31 (B. G.-Bl. S. 253) hat den Bundesrath ermächtigt, die Vorſchriften über den Nachweis der Befähigung für Seeſchiffer, Seeſteuerleute und Lootſen zu erlaſſen. Dieſe Vorſchriften ſind ergangen durch die Verordnung des Bundesrathes vom 25. Sept. 1869 (B. G.-Bl. S. 660 fg.). In dem §. 21 derſelben iſt der Erlaß von Anord - nungen über das Prüfungsverfahren und über die Zuſammenſetzung der Prüfungskommiſſionen vorbehalten worden und dieſer Vorbe - halt hat durch die Bekanntmachung v. 30. Mai 1870 (B. G.-Bl. S. 314 ff. ) ſeine Erledigung gefunden3)Vgl. über die Vorverhandlungen Romberg in v. Holtzendorff’s Jahrb. des D. R. I. S. 365 ff.. Nach den Anordnun - gen über die Prüfung der Seeſchiffer und Seeleute für große323§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.Fahrt §. 23 und über die Prüfung der Seeſchiffer für kleine Fahrt §. 20 (B. G.-Bl. 1870 S. 320. 325) beſtellt der Reichskanzler nach Anhörung des Bundesraths-Ausſchuſſes für Handel und Verkehr die erforderliche Anzahl von Inſpektoren, welche darauf zu achten haben, daß die in Bezug auf die Prüfungen erlaſſenen Vorſchriften befolgt und daß überall gleichmäßige Anforderungen an die Prüf - linge geſtellt werden. Die Prüfungskommiſſionen ſelbſt werden von den Landesregierungen beſtellt; die Reichs-Inſpektoren ſind aber befugt, den Prüfungen und den Verhandlungen der Prüfungs - kommiſſionen beizuwohnen und von den ſchriftlichen Prüfungs - Arbeiten Einſicht zu nehmen, bei der mündlichen Prüfung einzelne Materien zu bezeichnen, aus welchen den Prüflingen Fragen vor - zulegen ſind, ſowie gegen die Entſcheidung der Prüfungskommiſſion Einſpruch zu erheben, falls dieſe den beſtehenden Vorſchriften zuwider einem Prüflinge das Prädikat beſtanden oder mit Auszeichnung beſtanden ſtatt des Prädikats nicht beſtanden zu ertheilen be - abſichtigt. Gelingt es in einem ſolchen Falle nicht, eine Verſtän - digung herbeizuführen, ſo hat der Inſpektor ſofort dem Reichs - kanzler Bericht zu erſtatten, welcher demnächſt in der Sache end - gültig entſcheidet.

Zur Zeit beſtehen drei Inſpektionsbezirke, nämlich für die in der Provinz Hannover, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg und Bremen, für die in Schleswig-Holſtein, Lübeck und Hamburg, und für die in den Provinzen Preußen und Pommern abzuhal - tenden Prüfungen1)Handbuch des Deutſchen Reiches 1874 S. 37..

i) Inſpektoren für das Schiffsvermeſſungs - weſen.

Die auf Grund des Art. 54 der R. -V. vom Bundesrathe erlaſſene Schiffsvermeſſungs-Ordnung v. 5. Juli 1872 (R. -G.-Bl. S. 270 ff. )2)Vgl. darüber Romberg in v. Holtzendorff’s Jahrb. III. S. 313 ff. hat zwar den Einzelſtaaten die Beſtellung ſowohl der Vermeſſungsbehörden als der Reviſionsbehörden übertragen, dem Reichskanzler aber die Aufſicht über das Schiffs-Vermeſſungs - weſen zugewieſen (§. 21).

Der Reichskanzler übt dieſelbe aus durch Inſpektoren, welche er nach Anhörung der Bundesraths-Ausſchüſſe für das Seeweſen21*324§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.und für Handel und Verkehr beſtellt. Die Inſpektoren ſind befugt, der Aufnahme der Meſſungen beizuwohnen, die Richtigkeit der Maaße zu prüfen, von den Aufzeichnungen und Berechnungen der Vermeſſungs - und Reviſions-Behörden Einſicht zu nehmen und auf vorgefundene Mängel aufmerkſam zu machen.

Es ſind zwei Inſpektions-Bezirke gebildet worden, von denen der eine die Oſtſeehäfen, der andere die Nordſeehäfen umfaßt1)Centralbl. des Deutſchen Reiches 1873 S. 35..

k) Kommiſſionen für einmalige Aufgaben.

Aus der generellen Natur der der Central-Abtheilung des Reichskanzleramts zuſtehenden Kompetenz ergiebt ſich, daß von ihr der Regel nach auch diejenigen Kommiſſionen reſſortiren, welche zur Erledigung einzelner Aufgaben Seitens des Reiches eingeſetzt werden und denen der Charakter organiſcher Reichsbehörden ab - geht. Solche Kommiſſionen ſind ſchon wiederholt niedergeſetzt worden; ſo z. B. die Reichskommiſſion für die Wiener Weltaus - ſtellung, die Cholera-Kommiſſion, Kommiſſion für Medizinalſtatiſtik, für Forſt-Statiſtik, für das Apotheker-Weſen, die Kommiſſionen für die Ausarbeitung der großen Juſtizgeſetze, für die Weltaus - ſtellung in Philadelphia u. ſ. w.

Eine dauernd errichtete, aber nicht ſtändig arbeitende, ſondern nur von Zeit zu Zeit zuſammentretende Kommiſſion iſt die Reichs - Schulkommiſſion, welche die Klaſſifizirung und die Kon - trole der zur Ausſtellung der Qualifikationszeugniſſe für die Be - rechtigung zum einjährigen Militärdienſte befugten höheren Lehr - anſtalten auszuüben hat2)Beſchluß des Bundesrathes vom 21. Dez. 1868 (Protok. §. 337). Die Koſten der Kommiſſion wurden bis 1873 aus dem Dispoſitionsfonds des Reichskanzlers beſtritten; das Etatsgeſetz für 1874 hat dieſelben unter den fortdauernden Ausgaben angeſetzt. (Kapitel 1 Titel 11).. Die Kommiſſion beſteht aus 6 Mit - gliedern3)Bundesrathsbeſchluß v. 31. Januar 1875 (Protok. §. 68.), Preußen, Bayern, Sachſen und Württemberg ernennen je ein Mitglied; ein Mitglied wird alternirend von Baden, Heſſen, Elſaß-Lothringen und Mecklenburg-Schwerin in der angegebenen Reihenfolge jedesmal auf zwei Jahre ernannt; ein Mitglied wird alternirend von den übrigen Bundesſtaaten und zwar nach der Reihenfolge im Art. 6 der Verf. jedesmal auf zwei Jahre ernannt4)Bundesrathsbeſchl. vom 19. Februar 1875 (Protok. §. 143)..

325§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

2) Die I. Abtheilung oder das General-Poſtamt1)Allerh. Präſidialerlaß vom 18. Dez. 1867. B. -G.-Bl. S. 328. Vgl. Fiſcher in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 428 ff..

Dieſelbe ſteht unter der Leitung des General-Poſt-Direktors und zerfällt nach der Allerh. Ordre v. 16. Nov. 1872 in zwei Geſchäfts-Abtheilungen, nämlich:

Die techniſche Abtheilung, welcher das Inſtruktions-Bureau, das Auslandsbureau, das Kontrol-Bureau der Poſtanweiſungen, das Kurs-Bureau, das Poſt-Zeug-Amt und das Bureau für Poſt - Statiſtik zugewieſen ſind; und

Die Abtheilung für das Etats - und Kaſſenweſen, zu welcher das Rechnungs-Bureau, das Perſonal-Bureau, das Bau-Bureau, das Poſt-Abrechnungs-Bureau mit dem Auslande und das Poſt-Zeitungsamt gehören.

Da nach dem Art. 48 der R. -V. das Poſtweſen für das geſammte Gebiet des Deutſchen Reiches als einheitliche Staats - Anſtalt verwaltet wird, ſo ſteht auch das Poſtweſen in Elſaß-Loth - ringen unter dem General-Poſtamt, nicht unter der Abtheilung für Elſ. -Lothr. Die amtlichen Befugniſſe des General-Poſtamts ergeben ſich aus dem Art. 50 der R. -V., da diejenigen Rechte, welche in dieſem Artikel dem Kaiſer zugeſchrieben werden, durch die geſchäftliche Wirkſamkeit des General-Poſtamtes ausgeübt wer - den2)Dem General-Poſt-Amt ſteht außerdem die Verwaltung der Kaiſer - Wilhelm-Stiftung zu. Geſ. v. 20. Juni 1872 (R. -G.-Bl. S. 210.) Allerh. Erl. vom 29. Auguſt 1872 (R. -G.-Bl. S. 373 fg.). Hinſichtlich Bayerns und Württembergs erſtreckt ſich die Kom - petenz des General-Poſtamtes, da dieſen Staaten die ſelbſtſtändige Verwaltung ihrer Poſtanſtalten durch Art. 52 der R. -V. gewähr - leiſtet iſt, nur auf die Wahrnehmung der Geſchäfte, welche ſich auf die Geſetzgebung und auf das Verhältniß zu anderen Poſt - verwaltungen beziehen.

Von dem General-Poſtamt reſſortiren:

a) Die Ober-Poſt-Direktionen. Dieſelben ſind die mittleren Behörden; ſie ſind dem General-Poſtamt untergeordnet und führen ihrerſeits die Aufſicht über die Lokal-Poſtanſtalten. Die Grundlage für die Abgrenzung ihrer Bezirke bildet für Preußen die Eintheilung des Staates in Regierungsbezirke; mit Gründung des Norddeutſchen Bundes ſind aber durch Allerh. Erlaße zahl -326§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.reiche Abänderungen der Ober-Poſtdirektions-Bezirke vorgenommen worden1)Dieſelben ſind im Bundes - reſp. Reichsgeſetzblatt veröffentlicht.. Zur Zeit beſtehen in dem Gebiete der Reichs-Poſtver - waltung 37 Ober-Poſtdirektionen2)Arnsberg, Berlin, Braunſchweig, Bremen, Breslau, Carlsruhe, Caſſel, Coblenz, Cöln, Cöslin, Conſtanz, Danzig, Darmſtadt, Dresden, Düſſeldorf, Er - furt, Frankfurt a. M., Frankfurt a. O., Gumbinnen, Halle, Hamburg, Hannover, Kiel, Königsberg i. Pr., Leipzig, Liegnitz, Magdeburg, Metz, Münſter, Olden - burg, Oppeln, Poſen, Potsdam, Schwerin, Stettin, Straßburg, Trier.. Außerdem ſind dem Gene - ral-Poſtamt unmittelbar untergeordnet das Ober-Poſtamt in Lübeck und das Deutſche Reichs-Poſtamt in Conſtantinopel.

b) Von den Ober-Poſtdirektionen reſſortiren die Poſtanſtal - ten, welche nach dem Umfange ihres Geſchäftsbetriebs in Poſt - ämter, Poſtverwaltungen und Poſt-Expeditionen zerfallen3)Verzeichniſſe derſelben enthalten das Centralblatt für das D. R.; das Handbuch für das Deutſche Reich und das Poſthandbuch. Auch werden in dem zuerſt genannten Blatte Quartal-Ueberſichten über die im Deutſchen Poſtgebiete eingerichteten u. aufgehobenen Poſtanſtalten veröffentlicht.. Ueber - dies ſind an kleinen Orten, an denen der Dienſtbetrieb ein ſehr einfacher iſt, Poſt-Agenturen eingerichtet worden, deren Ver - waltung von Ortseinwohnern gegen geringe Entſchädigung als Nebengeſchäft übernommen wird4)Vgl. die Inſtruktion für Poſtagenturen vom 1. Mai 1871 im Poſt - Amtsblatt 1871 S. 52 ff.

3) Die II. Abtheilung oder die General-Direk - tion der Telegraphen.

Die Beſtimmungen der Art. 48 50 der R. -V. beziehen ſich gleichmäßig auf das Poſt - und Telegraphenweſen, ebenſo umfaßt das in Art. 52 anerkannte Sonderrecht Bayerns und Württembergs die Telegraphen-Verwaltung mit, ſo daß die Kompetenz dieſer Abtheilung im Allgemeinen derjenigen des General-Poſtamtes analog iſt.

Der General-Direktion der Telegraphen ſind unmittelbar untergeordnet

a) Die Telegraphen-Direktionen. Die Bezirke der - ſelben ſind nicht abgegrenzt im Anſchluß an die Grenzen der Staaten und Regierungsbezirke, wie dies im allgemeinen für die Abgränzung der Bezirke der Ober-Poſtdirektionen als Princip und Ausgangspunkt gilt, ſondern maaßgebend ſind die großen Haupt -327§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.Eiſenbahnen-Linien, da denſelben die wichtigſten Telegraphen-Linien und deren Verzweigungen folgen. Die Bezirke der Telegraphen - Direktionen ſind demnach nicht nur meiſtens bedeutend größer als die der Ober-Poſtdirektionen, ſondern auch viel unabhängiger von den politiſchen Grenzen. Zur Zeit beſtehen in dem Gebiet der Reichs-Telegraphen-Verwaltung 12 Telegraphen-Direktionen1)Berlin, Breslau, Carlsruhe, Cöln, Dresden, Frankfurt a. M., Halle, Hamburg, Hannover, Königsberg, Stettin, Straßburg..

b) Den Telegraphen-Direktionen ſind wieder untergeordnet die Telegraphen-Stationen, welche je nach ihrem Geſchäfts - umfange in 3 Klaſſen zerfallen. In der Regel hat der Vorſteher einer Station 1. Klaſſe den Titel Telegraphen-Inſpektor, der Vorſteher einer Station 2. Klaſſe den Titel Telegraphen-Sekretär, der Vorſteher einer Station 3. Klaſſe den Titel Obertelegraphiſt. An kleinen Orten mit unbedeutendem Depeſchenverkehr ſind die Telegraphenſtationen ſehr häufig mit Poſtanſtalten kombinirt; auch können Privat-Perſonen d. h. Perſonen, die weder Beamte der Poſt - noch der Telegraphenverwaltung ſind, zur Beſorgung der Geſchäfte einer Telegraphenſtation engagirt werden.

4) Die III. Abtheilung oder Abtheilung für El - ſaß-Lothringen bearbeitet alle dem Reichskanzler zugewieſenen Geſchäfte der Lan - desverwaltung von Elſaß-Lothringen. Sie bildet unter der Leitung und Verantwortlichkeit des Reichskanzlers das Miniſterium für die Verwaltung des Reichslandes mit der oben bereits her - vorgehobenen Modifikation, daß die Abtheilungen des Reichskanz - leramtes in keiner Hinſicht als völlig geſonderte Behörden an - zuſehen ſind, ſondern bei zahlreichen Geſchäften zuſammenwirken.

Abgeſehen von der Betheiligung der Central-Abtheilung bei allen Angelegenheiten von allgemeinerem politiſchen, handelspoli - tiſchen oder finanziellen Intereſſe, gehört das Dezernat in den Angelegenheiten des Poſt - Telegraphen - und Juſtizweſens Elſaß - Lothringen zu dem Geſchäftskreis der I. II. und IV. Abtheilung. Dagegen iſt andererſeits der III. Abtheilung überwieſen die Lei - tung der Verwaltung der Reichs-Eiſenbahnen. Von dieſer Abthei - lung reſſortiren:

a) Der Oberpräſident von Elſaß-Lothringen in Straß -328§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.burg. Die amtlichen Befugniſſe deſſelben ſind im Allgemeinen durch das Geſetz vom 30. Dez. 1871 über die Einrichtung der Verwaltung von Elſaß-Lothringen geregelt1)Geſetzblatt für Elſaß-Lothr. 1872 S. 49 ff..

Nach §. 4 und 5 dieſes Geſetzes ſteht der Ober-Präſident unmittelbar unter dem Reichskanzler, deſſen Bureau für die elſaß-lothringiſchen Verwaltungsgeſchäfte aber die III. Abtheilung des Reichskanzleramtes iſt. Der Ober-Präſident iſt die oberſte Verwaltungsbehörde in Elſaß-Lothringen; er führt die Aufſicht über die Behörden der Landesverwaltung, ſowie über die zu denſelben gehörigen und denſelben unterſtellten Beamten. Außer denjenigen Geſchäften, welche nach §. 6 des citirten Geſetzes oder durch An - ordnungen der ſpeziellen Geſetze, welche über einzelne Vewaltungs - Zweige ergangen ſind, der unmittelbaren Verwaltung und Ent - ſcheidung des Oberpräſidenten überwieſen ſind, hat derſelbe für die gleichmäßige Ausführung der Geſetze und Verordnungen, ſowie der Anordnungen des Reichskanzlers zu ſorgen und darüber zu wachen, daß die Verwaltung regelmäßig und nach übereinſtimmen - den Grundſätzen gehandhabt werde.

b) Die Kaiſerliche General-Direktion der Eiſen - bahnen in Elſaß-Lothringen. Dieſelbe iſt errichtet wor - den auf Grund des Allerh. Erl. v. 9. Dezemb. 18712)R. -G.-Bl. 1871 S. 480. Geſetzbl. für Elſatz-Lothr. 1872 S. 4., in wel - chem angeordnet iſt, daß dieſe Behörde vom Reichskanzleramte unmittelbar reſſortiren ſoll und daß ihre Aufgabe in dem voll - ſtändigen Ausbau, der Verwaltung und dem Betriebe der Reichs - Eiſenbahnen in E. -L. beſteht. Durch die Uebereinkunft v. 11. Juni 18723)R. -G.-Bl. S. 330 ff. iſt dieſer Behörde auch die Verwaltung und der Betrieb der Wilhelm-Luxemburg-Eiſenbahnen übertragen worden. Für die ſpezielle Leitung dieſes Betriebes beſtellt die General-Direktion einen Beamten in Luxemburg, welcher befugt iſt, ſie in allen den Betrieb der Bahnen betreffenden Angelegenheiten zu vertreten4)Uebereinkunft vom 11. Juni 1872 §. 4..

5) Das Reichs-Juſtiz-Amt. (IV. Abtheilung.)

In dem Entwurfe eines Etatsgeſetzes für 1875 wurde die Errichtung einer Abtheilung des Reichskanzleramtes für das Juſtiz -329§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.weſen in Ausſicht genommen und dieſer Vorſchlag in einer Denk - ſchrift begründet1)Dieſelbe iſt gedruckt in der Anlage I. S. 19 zum Reichs-Haushalts - Etat für 1875., welche den Wirkungskreis der neu zu errichtenden Abtheilung angab. Nachdem der Reichstag dieſer Erweiterung des Reichskanzleramtes ſeine Zuſtimmung ertheilt hatte2)Die Verhandlungen darüber ſtehen in den Stenogr. Berichten 1874 / 75 Bd. I. S. 418 ff. und in dem Etats-Geſetz vom 27. Dezember 1874 die erforderlichen Geldmittel bewilligt worden waren, trat im Jahre 1875 die neue Abtheilung in Thätigkeit. Ihre Aufgaben beziehen ſich theils auf das ganze Reich theils auf die Angelegenheiten von Elſaß-Lothringen.

Für das Reich liegt der Juſtiz-Abtheilung ob die Vorberei - tung der in das Gebiet der Rechtspflege einſchlagenden Geſetzent - würfe, womit zugleich die Vertretung derſelben in den Bundes - raths-Ausſchüſſen, ſowie in Verbindung mit den Bundesraths-Be - vollmächtigten im Reichstage, verknüpft iſt. Auch die nicht in das Gebiet der Rechts-Pflege einſchlagenden Geſetzentwürfe hat das Reichs-Juſtizamt zu begutachten, ſoweit eine Prüfung derſelben vom juridiſchen Standpunkte aus geboten erſcheint. Ferner hat dieſe Behörde die Ausführungsbeſtimmungen zu den Juſtizgeſetzen zu bearbeiten und die Ausführung der Reichsjuſtizgeſetze Seitens der Einzelſtaaten zu überwachen.

Von eigentlichen Verwaltungsgeſchäften iſt dem Reichs-Juſtiz - amt zugewieſen die Bearbeitung der Angelegenheiten, welche das Reichs-Oberhandels-Gericht, den Disciplinarhof und die Discipli - narkammern betreffen.

Für Elſaß-Lothringen hat das Reichs-Juſtizamt diejenigen Geſchäfte zu erledigen, welche gewöhnlich dem Juſtizminiſterium obliegen. Die Geſchäfte, welche lediglich die Juſtizverwaltung be - treffen, gehören demnach ausſchließlich zu dem Dezernat dieſer Abtheilung, während diejenigen Angelegenheiten, welche zugleich das Finanzweſen oder die allgemeine Landesverwaltung berühren, alſo die Juſtiz -, Etats - und Kaſſenſachen, die Ablöſung der ver - käuflichen Stellen im Juſtizdienſt, die Gerichts-Organiſation, Kom - petenzſtreitigkeiten zwiſchen Juſtiz - und Verwaltungsbehörden und Geſetzentwürfe, gemeinſchaftlich von dem Reichs-Juſtizamt und der (III.) Abtheilung für Elſaß-Lothringen zu bearbeiten ſind.

330§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

Von dieſer Abtheilung reſſortiren demnach in Beziehung auf die Juſtiz-Verwaltung das Appellationsgericht und die General-Prokuratur zu Colmar und die dieſen Behör - den untergeordneten elſaß-lothringiſchen Juſtizbehörden.

II. Das Auswärtige Amt.

In der erſten Zeit nach Gründung des Norddeutſchen Bun - des wurden die auswärtigen Angelegenheiten deſſelben von dem Preußiſchen Miniſterium verſehen. Nachdem aber das Preußiſche Abgeordneten-Haus bei der Berathung des Preußiſchen Staats - haushalts-Etats für 1868 und wiederholt im folgenden Jahre beſchloſſen hatte, die Regierung aufzufordern, dafür Sorge zu tragen, daß das Miniſterium der auswärtigen Angelegenheiten, die Geſandtſchaften und Conſulate auf den Etat des Norddeutſchen Bundes übernommen werden, und nachdem der Reichstag des Norddeutſchen Bundes am 17. Juni 1868 einen übereinſtimmen - den Beſchluß gefaßt hatte1)Die näheren Angaben bei v. Rönne S. 57 Note 3., ſtimmte auch der Bundesrath dieſer Maaßregel zu und es wurden in den Bundes-Haushalts-Etat für 1870 die Koſten aufgenommen2)Vgl. die Verhandlungen darüber in den Stenogr. Ber. des Reichsta - ges 1869 I. S. 505 519.. Seit dem 1. Januar 1870 iſt demnach das bisherige Preußiſche Miniſterium der auswärtigen Angelegenheiten in eine unmittelbare Bundesbehörde umgewan - delt worden. Es wurde nicht mit dem Reichskanzler-Amt ver - bunden, ſondern ſteht unter dem Namen Auswärtiges Amt des Deutſchen Reiches ſelbſtſtändig neben dem Reichskanzler-Amt; es iſt der verantwortlichen Leitung des Reichskanzlers unterſtellt, hat aber einen beſonderen Präſidenten vom Range eines Miniſters, welcher den Titel Staats-Sekretär führt.

Für die Geſchäfts-Vertheilung und die dienſtlichen Funktionen des Auswärtigen Amtes ſind ſeinem Urſprunge entſprechend die Vorſchriften maaßgebend geblieben, welche für das Preuß. Mini - ſterium der auswärtigen Angelegenheiten erlaſſen worden ſind3)Die Grundlage bildet die Preuß. Verordn. vom 27 Oktober 1810 (Preuß. Geſ. S. 1810 S. 21.) Vgl. v. Rönne S. 198 und derſelbe Preuß. Staatsr. II. 1 S. 135 ff. und I. 2 S. 810.. Danach zerfällt das Auswärtige Amt in 2 Abtheilungen.

331§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

Die erſte Abtheilung, welche unmittelbar von dem Staats-Sekretär geleitet wird, bearbeitet die Angelegenheiten der höheren Politik, die kirchlichen Angelegenheiten, die Generalien, Perſonalien, alle das Cäremoniell betreffenden Fragen, den Verkehr mit den Geſandtſchaften anderer Staaten, die Etats - und Kaſſen - Sachen.

Die zweite Abtheilung, an deren Spitze ein Direktor ſteht, bearbeitet die Angelegenheiten des Handels und Verkehrs, das Konſulatsweſen, die ſtaatsrechtlichen und civilrechtlichen Ge - ſchäfte, die Privatangelegenheiten der Deutſchen im Auslande, die Gegenſtände, welche das Juſtiz -, Polizei - und Poſtweſen, die Aus - wanderung, die Schiffs-Angelegenheiten, die Grenzſachen und Ausgleichungen mit fremden Staaten betreffen1)Ich entnehme dieſe Aufzählung der Geſchäfte, welche den beiden Ab - theilungen obliegen, dem Handbuch für das Deutſche Reich 1874 S. 51..

Von dem auswärtigen Amte reſſortiren:

1) Die Geſandtſchaften des Deutſchen Reiches im Auslande2)Die Preußiſchen Geſandtſchaften an den Deutſchen Höfen ſind dem Preußiſchen Miniſterium der Auswärtigen Angelegenheiten unterſtellt.. Dem Range nach zerfallen die Vorſteher der diplomatiſchen Miſſionen in Botſchafter, Geſandte, Miniſter-Reſi - denten und Geſchäftsträger.

Wenn der Fall eintritt, daß auf Grund des Schlußprotok. vom 23. November 1870 Z. VII (R. -G.-Bl. 1871 S. 24) die Bayeriſchen Geſandten zur Vertretung der Reichsgeſandten bevoll - mächtigt werden, ſo ſind ſie verpflichtet, den vom Auswärtigen Amte erhaltenen Inſtruktionen Folge zu leiſten und demſelben für ihre amtliche Thätigkeit Rede zu ſtehen; den Charakter von Reichsbeamten erhalten ſie aber durch die Vertretungsvollmacht nicht, da ſie nicht eine Anſtellung im Reichsdienſte haben, ſondern nur interimiſtiſch die Wahrnehmung von Geſchäften des Reichs übernehmen. Sie ſind daher nicht der Disciplinar-Gewalt des Reichs unterworfen und ihre Verantwortlichkeit kann nur durch Vermittlung der Königl. Bayeriſchen Regierung geltend gemacht werden.

2) Die Reichskonſulate3)Vgl. Reitz Das Deutſche Conſularweſen im Dezemberheft 1871 der. Die Organiſation derſelben, ſowie die Amtsrechte und Pflichten der Reichskonſuln ſind ge -332§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.regelt durch das Geſetz vom 8. November 1867 (B. -G.-Bl. 1867). Nach dieſem Geſetz beſteht die allgemeine Aufgabe der Reichskon - ſuln darin, das Intereſſe des Reiches, namentlich in Bezug auf Handel, Verkehr und Schifffahrt thunlichſt zu ſchützen und zu fördern und die Beobachtung der Staatsverträge zu überwachen. Sie haben ferner den Angehörigen des Reiches und anderer be - freundeter Staaten in ihren Angelegenheiten Rath und Beiſtand zu gewähren. Die ihnen obliegenden amtlichen Pflichten ſind im Einzelnen aufgeführt in den §§. 12 38 des erwähnten Geſetzes, welches durch das Geſetz vom 4. Mai 1870 betreffend die Ehe - ſchließung und die Beurkundung des Perſonenſtandes von Reichs - angehörigen im Auslande1)B. -G.-Bl. 1870 S. 599. Aufrecht erhalten und zum Theil erweitert durch das R. -G. vom 6. Februar 1875 §. 85. und durch die Seemanns-Ordnung vom 27. Dezember 1872 §. 42)R. -G.-Bl. 1872 S. 409. ergänzt worden iſt. Eine aus - führliche Dienſt-Inſtruktion für die Reichskonſuln hat der Reichs - kanzler am 6. Juni 1871 erlaſſen3)Abgedruckt in Hirth’s Annalen 1871 S. 607 ff., ferner eine beſondere In - ſtruktion über die Gewährung des Schutzes im Türkiſchen Reiche mit Einſchluß von Aegypten, Rumänien und Serbien, ſowie in China und Japan am 1. Mai 18724)Gedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1263 ff.. Außerdem beſtimmt ſich der Geſchäftskreis der Reichskonſuln durch den Inhalt der vom Reiche abgeſchloſſenen Conſular-Verträge5)Vgl. Reitz in Hirth’s Annalen 1872 S. 1281 ff..

Die Konſuln ſind entweder Wahlkonſuln, welche ihr Amt als unbeſoldetes Ehrenamt verwalten und deren Anſtellung jederzeit ohne Entſchädigung widerruflich iſt6)Konſulatsgeſetz §. 9. 10. Es ſollen vorzugsweiſe dazu Kaufleute ernannt werden, welchen das Reichsindigenat zuſteht., oder Berufs - konſuln, welche beſoldete Reichsbeamte ſind7)Konſulatsgeſetz §. 7 8.. Alle Reichs - konſuln erhalten eine Kaiſerliche Beſtallung8)Verordn. vom 23. November 1874 §. 2. R. -G.-Bl. S. 135..

3)Zeitſchrift: Im Neuen Reich. Derſelbe in Hirth’s Annalen 1874 S. 70 fg. Lammers in v. Holtzendorffs Jahrb. I. S. 239 ff. II. S. 127. III. S. 290. Döhl Das Conſularweſen des Deutſchen Reiches. Bremen 1873. Hänel und Leſſe. Geſetzgeb. des Deutſchen Reiches über Konſularweſen und See - ſchifffahrt. Berlin 1875.

333§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

Die Reichskonſulate ſind entweder Generalkonſulate oder Kon - ſulate oder Vizekonſulate. In einer Anzahl von Bezirken ſind einem Generalkonſulate mehrere Konſulate und Vizekonſulate, oder auch einem Konſulate Vizekonſulate untergeordnet, ſo daß die Ober - leitung und Ueberwachung der zu ihrem Sprengel gehörigen Kon - ſulate und Vizekonſulate dem Generalkonſul reſp. Konſul zuſteht1)Inſtrukt. vom 6. Juni 1871 §. 2. Beiſpiele dafür ſind die General - konſulate in Livorno, Neapel, Trieſt, Peſt, Riga, Alexandrien, Jeruſalem, New-York u. ſ. w., die Konſulate in Dünkirchen, Marſeille, Amſterdam, Rotterdam, Gothenburg u. ſ. w. Eine Ueberſicht gewährt das Verzeichniß der Konſulate im Handbuch des Deutſchen Reiches.. Ueberdies haben die Reichs-Geſandtſchaften, falls im Lande der Reſidenz des Conſuls eine ſolche beſteht, die Aufſicht über die Geſchäftsführung zu handhaben. Berichte allgemeinen Inhalts haben die Konſuln daher in der Regel, wenn im Lande ihrer Reſidenz ein Kaiſerl. Geſandter beglaubigt iſt, durch deſſen Hand zu ſenden und ebenſo haben diejenigen Conſuln und Vicekonſuln, welche einem Generalconſul unterſtehen, ihre Berichte allgemeinen Inhaltes durch die Hand des Generalkonſuls gehen zu laſſen.

Den Konſuln iſt es geſtattet nach zuvor eingeholter Geneh - migung des Reichskanzlers in ihrem Amtsbezirke Konſular - Agenten zu beſtellen. Dieſelben ſind aber keine ſelbſtſtändigen Organe des Reiches, ſie haben vielmehr nur die Beſtimmung, dem Conſul bei Ausübung ſeiner Funktionen zur Hand zu gehen3)Konſulargeſetz §. 11.. Sie handeln daher ſtets nur im Auftrage des Konſuls und unter deſſen Verantwortlichkeit und es können ihnen nur ſolche Amts - handlungen übertragen werden, welche keine obrigkeitlichen Befugniſſe vorausſetzen4)Inſtrukt. zu §. 11 cit. Döhl a. a. O. S. 46..

3. Wiſſenſchaftliche Inſtitute des Reiches im Aus - lande, insbeſondere die archäologiſchen Anſtalten in Rom und in Athen5)Die Anſtalt in Athen iſt eine Zweiganſtalt der in Rom. Vgl. Etat für das Auswärtige Amt für 1875 S. 38..

III. Die Admiralität.

Die Verfaſſung des Nordd. Bundes Art. 53 beſtimmte, daß die Bundes-Kriegsmarine eine einheitliche iſt und daß der zur2)Inſtruktion vom 6. Juli 1871 §. 3.334§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.Gründung und Erhaltung der Kriegsflotte und der damit zuſam - menhängenden Anſtalten erforderliche Aufwand aus der Bundes - kaſſe beſtritten wird; ſie ſtellte aber die Kriegsmarine nicht unter den Oberbefehl und die Verwaltung des Präſidiums, ſondern ſie enthielt die Anordnung, daß die Bundeskriegsmarine unter Preu - ßiſchem Oberbefehl ſteht und daß die Organiſation und Zuſam - menſetzung derſelben Seiner Majeſtät dem Könige von Preußen obliegt, welcher die Offiziere und Beamten der Marine ernennt. In Folge dieſer Verfaſſungs-Beſtimmungen wurden ſeit Gründung des Nordd. Bundes die für die Kriegs-Marine erforder - lichen Ausgaben zwar in den Etat des Bundes aufgenommen; es wurden aber weder für den Oberbefehl noch für die Verwaltung der Marine Bundesbehörden errichtet, ſondern die dafür beſtehen - den Preußiſchen Behörden blieben in Wirkſamkeit. Für Preu - ßen waren zur Zeit der Gründung des Nordd. Bundes in dieſer Beziehung die Anordnungen des Allerh. Erl. v. 16. April 18611)Preuß. Geſ. S. 1861 S. 205. und des vom Könige vollzogenen Regulatives v. 30. April 18612)Preuß. Min. -Bl. d. inneren Verw. 1861 S. 153. Die Darſtellung bei v. Rönne Pr. Staatsr. II. 1 S. 144 und die Mittheilung in Hirth’s Annalen 1870 S. 188 fg. ſind im Weſentlichen Auszüge aus dieſem Re - gulativ. maaßgebend. Nach dem Erl. v. 16. April 1861 beſtanden für die Marine-Angelegenheiten zwei geſonderte Behörden, die eine für den Oberbefehl, unter der Bezeichnung: Oberkommando der Marine, die andere für die Verwaltung unter dem Namen: Marine-Miniſterium. Das erwähnte Regulativ ordnete das gegenſeitige Verhältniß der beiden Behörden. Der Oberbefehls - haber der Marine hatte dieſelbe Stellung wie ein kommandirender General; er ſtand unter dem unmittelbaren Befehl des Königs; er war zugleich General-Inſpekteur der Marine; ihm waren unter eigener Verantwortlichkeit alle im activen Dienſte befindlichen ma - ritimen Streitkräfte direct untergeordnet; er hatte dem Marine - Miniſter gegenüber dieſelbe Stellung wie ein kommandirender General dem Kriegsminiſterium gegenüber. Der Marine-Miniſter war der Chef der Marine-Verwaltung und hatte als ſolcher die - ſelben Pflichten und Rechte, welche dem Kriegsminiſter als Chef der Armee-Verwaltung überwieſen ſind. Einige Anſtalten reſſor -335§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.tirten gemeinſchaftlich von dem Oberkommando und dem Miniſte - rium. Das Marine-Miniſterium war durch Allerh. Erl. v. 16. April 1861 dem damaligen Kriegs-Miniſter v. Roon neben ſeinem bisherigen Reſſort übertragen. Unter ſeiner Oberaufſicht und Ver - antwortlichkeit leitete die Geſchäfte des Marine-Miniſteriums ein Präſes , welcher die Rechte und Pflichten eines Departements - Direktors im Kriegs-Miniſterium hatte.

Dieſe Organiſation beſtand unverändert bis zum Jahre 1871 fort. Nachdem aber die Stelle des Oberbefehlshabers der Marine erledigt war und durch eine Königl. Ordre v. 29. Juli 1870 in - terimiſtiſch die Funktionen des Oberkommando’s dem Marine - Miniſterium übertragen worden waren, erging am 15. Juni 1871 ein Allerh. Erlaß, welcher beſtimmte, daß das Oberkommando der Marine als geſonderte Behörde aufgehoben bleibt und ſeine Funk - tionen auf das Marine-Miniſterium übergehen. Gleichzeitig wurde das Regulativ v. 30. April 1861, welches das Nebeneinander - Beſtehen zweier Marine-Behörden vorausſetzt, durch ein neues, auf die vereinfachte Organiſation paſſendes Regulativ erſetzt. Dieſer Allerh. Erl. iſt gerichtet an den Reichskanzler und an den (Preu - ßiſchen) Marine-Miniſter, iſt von dieſen beiden gegengezeichnet, und iſt ſowohl im Reichsgeſetzblatt (S. 272) als auch in der Preuß. Geſetzſammlung veröffentlicht. Es war dies auch erforderlich, denn er betraf die Organiſation einer Preußiſchen Behörde, deren Koſten aber im Reichshaushalts-Etat normirt waren und welche in der Reichsverfaſſung wenigſtens z. Th. ihre geſetzliche Grund - lage hatte. Da die Verbindung der Stellung des Preußiſchen Kriegsminiſters und der des Preuß. Marineminiſters fortdauerte, ſo wurde auch der Präſes als unmittelbarer Leiter der Geſchäfte des Marine-Miniſteriums beibehalten. Nach dem Regulativ v. 15. Juni 1871 Z. 3 iſt derſelbe in allen Beziehungen der ſtetige Ver - treter des Miniſters, ihm iſt das geſammte Perſonal des Marine - Miniſteriums untergeben, ſowie ſämmtliche Perſonen und Behörden der Marine-Verwaltung. Derſelbe iſt mitverantwortlich für eine geregelte, einheitliche und ſachgemäße Behandlung der Geſchäfte der geſammten Marine-Verwaltung. Er entſcheidet nnd unterzeichnet ſelbſtſtändig in allen den Angelegenheiten, in denen der Miniſter ſich die Entſcheidung nicht vorbehalten hat.

Von einer Oberaufſicht und Oberleitung des Reichskanzlers336§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.und einer Verantwortlichkeit deſſelben iſt weder in dem Erl. v. 15. Juni 1871 noch in dem Regulativ die Rede; die Verantwortlich - keit des Reichskanzlers beſtand aber jedenfalls für die Beobachtung des durch Reichsgeſetz feſtgeſtellten Etats. Die Reorganiſation der oberſten Marinebehörde, welche durch den Allerh. Erl. v. 1871 angeordnet worden war, kam in dem Reichshaushalts-Etat für 1872 zur Erſcheinung1)Insbeſondere durch die Erhöhung der im Titel 1 aufgeführten Aus - gaben für das Miniſterium, indem die Zahl der Räthe und Geh. Sekretäre vermehrt wurde, und durch eine entſprechende Verminderung der im Titel 8 unter a. enthaltenen Poſitionen für das Militär-Perſonal. Haupt-Etat für 1872 Anlage V S. 16. 36. und erhielt durch die Bewilligung des Etats Seitens des Reichstages deſſen Zuſtimmung.

War ſchon nach der Verf. des Nordd. Bundes die völlige Trennung der Marine-Verwaltung von der Verwaltung des Bun - des und ihre vollſtändige Uebertragung auf eine Preußiſche Behörde anomal, ſo war dieſe Einrichtung nach der Redaktion der Reichs - verfaſſung vom 16. April 1871 gradezu verfaſſungswidrig. Denn der Art. 53 derſelben kennt keinen Preußiſchen Oberbefehl und keine Verwaltungsbefugniſſe des Königs von Preußen mehr, ſon - dern ſpricht lediglich vom Kaiſer. Der Kaiſer aber hat nur einen verantwortlichen Miniſter und das iſt der Reichskanzler. Dieſer Mißſtand wurde beſeitigt durch den Allerh. Erlaß v. 1. Januar 1872, der lediglich an den Reichskanzler gerichtet, von ihm gegen - gezeichnet und nur durch das Reichsgeſetzblatt (1872 S. 5) ver - öffentlich worden iſt. Nach dieſem Erlaß ſoll die durch das Regu - lativ v. 15. Juni 1871 geſchaffene, einheitliche, obere Marinebe - hörde fortdauern, aber fortan den Namen Kaiſerliche Admiralität führen und einen Chef zum Vorſtande erhalten, welcher die Ver - waltung unter der Verantwortlichkeit des Reichskanz - lers und den Oberbefehl nach den Anordnungen des Kaiſers zu führen hat.

Seit dieſem Erlaß iſt die Admiralität eine Reichsbehörde, welche neben dem Reichskanzler-Amte und dem Auswärtigen Amte, beiden coordinirt, unter dem Reichskanzler ſteht und welche ebenſo, wie die beiden anderen großen Centralbehörden des Reiches einen Chef von Rang und Stellung eines (Preußiſchen) Staatsminiſters337§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.hat. Für die Einrichtung und den Geſchäftskreis der Admiralität iſt das Regulat. v. 15. Juni 1871 noch in Geltung.

Der Chef der Admiralität vereinigt in ſeiner Perſon die Dienſtbefugniſſe des Oberkommando’s und die Rechte und Pflichten des Verwaltungschefs. Behufs der Kontrole über die Ausführung der Kaiſerl. Befehle und der reglementar. Miniſterial - vorſchriften werden die Theile der Marine regelmäßigen Inſpizi - rungen unterworfen, die entweder im Namen des Kaiſers durch den General-Inſpekteur der Marine, oder im Auftrage des Marineminiſters durch einen älteren Seeoffizier wahrzunehmen ſind. Der General-Inſpekteur hat über das Reſultat der Inſpizirungen dem Kaiſer direct zu berichten1)Die näheren Beſtimmungen enthält das Regulat. vom 15. Juni 1871 Ziff. 7.. Außerdem kann der Chef der Admiralität zur Löſung ſchwieriger Fragen organiſatoriſcher und techniſcher Natur einen Admiralitätsrath berufen und dieſem die Fragen zur Begutachtung vorlegen. Den Vorſitz des Admira - litätsrathes führt der Chef; der General-Inſpekteur iſt ſtändiges Mitglied; außerdem beſteht derſelbe aus den vom Chef bezeich - neten Mitgliedern der Admiralität und anderen, von ihm dazu berufenen Seeoffizieren, Beamten und Technikern.

Der doppelte Urſprung und Geſchäftskreis der Admiralität zeigt ſich ſowohl in ihrer Einrichtung als in den von ihr reſſorti - renden Behörden. Die der Admiralität obliegenden Geſchäfte ſind in Dezernate eingetheilt, von denen die militäriſchen zu einer Abtheilung und die techniſchen ebenfalls zu einer Abtheilung (De - partement) zuſamengefaßt ſind.

An der Spitze der militäriſchen Abtheilung ſteht unter dem Chef der Admiralität der Chef des Stabes, an der Spitze des techniſchen Departements ein Direktor der Admiralität. Außer - dem gehören zum Geſchäftskreiſe der Admiralität noch eine Anzahl von Allgemeinen Dezernaten 2)Für Bauweſen; für Etats - und Kaſſen-Angelegenheiten; für Garniſon - Verwaltung ꝛc. ; für Servis, Reiſekoſten und Tagegelder; für Juſtiz-Angele - genheiten; für Rechnungs-Reviſion. Ueber das Dezernat für Rechnungs-Re - viſion, welches bis zum 1. Okt. 1872 zu den Geſchäften der Marine-Intendan - tur gehörte, vgl. den Allerh. Erl. vom 18. Juni 1872. R. -G.-Bl. S. 361. und das Hydrographiſche Bu - reau.

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 22338§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.

Für die von der Admiralität reſſortirenden Behörden iſt das Prinzip entſcheidend, daß die geſammte Marine in 2 Flottenſta - tionen getheilt iſt, welche man den Diviſionen eines Armeecorps vergleichen kann. Die eine iſt die der Oſtſee mit dem Reichskriegsha - fen Kiel, die andere iſt die der Nordſee mit dem Reichskriegshafen Wilhelmshaven. Die maritime Grenze zwiſchen den beiden Bezir - ken bildet das Breiten-Parallel von Skagen. Zu beiden Flotten - ſtationen gehören ſowohl Kommando-Behörden als auch Verwal - tungs-Behörden nebſt Schiffswerften, Bildungs - und wiſſenſchaft - lichen Anſtalten.

Dieſem allgemeinen Organiſations-Prinzip gemäß gliedern ſich die, von der Admiralität reſſortirenden Behörden in folgen - der Art1)Die folgenden Angaben entnehme ich dem Handbuch[des] Deutſchen Reiches 1874 S. 98 ff..

1. Kommando-Behörden.

  • a) Die beiden Marine-Stations-Kommandos zu Kiel und Wilhelmshaven, an deren Spitze als Marine-Stations - Chef je ein See-Offizier mit den Befugniſſen eines Divi - ſions-Kommandeurs der Armee ſteht. Dieſelben verſehen die Funktionen eines militäriſchen Befehlshabers aller zur Station gehörenden Perſonen, Befeſtigungen, Schiffe und Fahrzeuge, ſowie eines Inſpekteurs der techniſchen und Bildungs-Inſtitute.
  • b) Die beiden Matroſen-Diviſionen in Kiel und in Wilhelmshaven. Zu jeder derſelben gehören 4 Abtheilungen; der Kommandeur hat im Allgemeinen die Rechte und Pflichten eines Regiments-Kommandeurs, der Abtheilungsführer die eines Bataillons-Kommandeurs.
  • c) Die beiden Werft-Diviſionen in Kiel und in Wil - helmshaven. Sie beſtehen aus einer Maſchiniſten-Abthei - lung und einer Handwerker-Abtheilung; bezüglich des Kom - mandeurs und der Abtheilungsführer gilt das bei den Matroſen-Diviſionen Geſagte.
  • d) Die Schiffsjungen-Abtheilung zu Friedrichsort. Sie hat den Zweck, Matroſen und Unteroffiziere heranzubilden;339§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.der Kommandeur hat die Rechte und Pflichten eines deta - chirten Bataillons-Kommandeurs.
  • e) Das Seebataillon, mit dem Stabe und 4 Kompagnien in Kiel, 2 Kompagnien in Wilhelmshaven. Daſſelbe iſt vorzugsweiſe für den Wacht - und Garniſondienſt in den Marine-Etabliſſements und an Bord der Kriegsſchiffe be - ſtimmt. Der Kommandeur hat die Rechte und Pflichten eines Regiments-Kommandeurs. Attachirt iſt die Stabswache, welche den Polizei - dienſt auf den Werften zu verſehen hat.
  • f) Die See-Artillerie-Abtheilung, mit dem Stabe und 2 Kompagnien in Friedrichsort, 1 Komp. in Wilhelms - haven, zur Vertheidigung der Hafen - und Küſtenbefeſti - gungen und zur Ausführung artilleriſtiſcher Arbeiten. Der Kommandeur hat die Rechte und Pflichten eines Regiments - Kommandeurs.
  • g) Die Kommandantur zu Kiel. Von derſelben reſſortirt der Garniſondienſt, die Garniſon-Polizei, die Aufſicht über die Garniſon - und Lazareth-Anſtalten und die Handhabung der Gerichtsbarkeit über die Garniſon.

2. Verwaltungs-Behörden.

  • a) Die beiden Marine-Stations-Intendanturen zu Kiel und zu Wilhelmshaven. Ihre Einrichtung beruht auf dem Allerh. Erlaß v. 18. Juni 1872 (R. -G.-Bl. S. 361); ſie ſind ſeit dem 1. Okt. 1872 an die Stelle der ehemal. Preuß. Marine-In - tendantur getreten. Jede Intendantur zerfällt in zwei Abtheilungen, von denen die erſte das Kaſſenweſen der Schiffe und Marine - theile, die Gehalts - und Löhnungs-Kompetenzen, das Proviant - weſen und Bekleidungsweſen, die zweite die Garniſon-Verwal - tungen, die ökonomiſche Verwaltung der Lazarethe und Bildungs - Anſtalten, die Garniſon-Bauſachen, die Servis - und Naturalquar - tier-Angelegenheiten zu bearbeiten hat.
  • b) Die drei Werften zu Danzig, Kiel und Wilhelmshaven. Dieſelben ſind der Admiralität unmittelbar untergeordnet. Ihr Geſchäftskreis umfaßt Schiffbau, Maſchinenbau, Hafenbau, Aus - rüſtung, Armirung, ſowie alle Verwaltungs-Angelegenheiten der Werft. An der Spitze jeder Werft ſteht ein See-Offizier als Ober-Werft-Direktor. Unter ihm fungiren für die einzelnen22*340§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.Geſchäftszweige als Referenten und Vorſteher je 6 Werft-Direk - toren
    1)Der Ausrüſtungs-Direktor (See-Offizier), der Artillerie-Direktor, der Schiffbau-Direktor, der Maſchinenbau-Direktor, der Hafenbau-Direktor, der Verwaltungs-Direktor.
    1), denen die Ingenieure zugeordnet ſind.
  • c) Die beiden Marine-Artillerie-Depots zu Kiel und zu Wilhelmshaven.

3. Wiſſenſchaftliche Anſtalten.

  • a) Die Marine-Akademie zu Kiel hat die Aufgabe, den See-Offizieren Gelegenheit zu einer höheren wiſſenſchaftlichen Ausbildung in den Berufsfächern zu geben.
  • b) Die Marine-Schule zu Kiel. Dieſelbe bildet die Ka - detten zur See-Kadetten-Prüfung und die in der erſten See-Offi - ziers-Prüfung beſtandenen Unter-Lieutenants zur See zur See - Offizier-Berufs-Prüfung vor.
  • c) Das Hydrographiſche Büreau der Kaiſerlichen Ad - miralität
    2)Ueber Einrichtung und Geſchäfts-Umfang deſſelben giebt der Hauptetat der Kaiſerlichen Marine für 1875 S. 24 u. S. 30 den erforderlichen Aufſchluß. Von ihm reſſortirt das Obſervatorium zu Wilhelmshaven.
    2).
  • d) Die Deutſche Seewarte in Hamburg
    3)Vgl. Druckſachen des Reichstages II. Seſſion 1874 Nr. 57.
    3).

Unter dieſem Namen beſtand ſeit 1868 in Hamburg eine Privat-Anſtalt, welche ſich die Erforſchung der meteorologiſchen und phyſikaliſchen Verhältniſſe des Meeres zur Aufgabe geſtellt hatte und für die Handelsmarine ungefähr daſſelbe leiſtete, was das hydrographiſche Büreau der Admiralität für die Kriegsmarine zu thun beſtimmt war. Seit dem Jahre 1870 ſind dieſem Inſtitute Jahreszuſchüſſe aus Reichsmitteln gewährt worden, um ſeine Er - haltung zu ſichern. Da dieſes Inſtitut jedoch den Bedürfniſſen nicht zu genügen vermochte, was durch eine im Jahre 1873 auf Veranlaſſung des Reichskanzler-Amtes zuſammenberufene Kommiſ - ſion nautiſcher und meteorologiſcher Sachverſtändiger beſtätigt wurde, ſo beſchloß die Reichsregierung, daſſelbe in eine Reichs-Anſtalt umzuwandeln und legte zu dieſem Zwecke dem Reichstage am 18. Nov. 1874 einen beſonderen Geſetz-Entwurf vor.

In dem Geſetz v. 9. Januar 1875 §. 1 (R. -G.-Bl. S. 11) wird die Aufgabe dieſer Anſtalt dahin beſtimmt: Die Kenntniß341§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.der Naturverhältniſſe des Meeres, ſoweit dieſe für die Schifffahrt von Intereſſe ſind, ſowie die Kenntniß der Witterungserſcheinungen an den Deutſchen Küſten zu fördern und zur Sicherung und Er - leichterung des Schifffahrtsverkehrs zu verwerthen. Im Uebrigen ſoll der Geſchäftskreis der Seewarte, ihre Einrichtung und Ver - waltung im Einvernehmen mit dem Bundesrathe durch Kaiſerliche Verordnung feſtgeſtellt werden. (§. 4.) Es iſt aber im §. 2 des Geſetzes ausdrücklich angeordnet, daß die Seewarte zum Reſſort der Kaiſerlichen Admiralität gehört.

Untergeordnet ſind ihr die an geeigneten Küſtenplätzen errich - teten Beobachtungs - und Signalſtellen.

IV. Das Reichs-Eiſenbahn-Amt.

Durch das Geſetz v. 27. Juni 1873 (R. -G.-Al. S. 164) iſt unter dieſem Namen eine Reichsbehörde in Berlin eingerichtet worden, welche im §. 1 des Geſetzes als eine ſelbſtſtändige Cen - tralbehörde bezeichnet wird und über welche §. 3 eod. beſtimmt, daß ſie ihre Geſchäfte unter Verantwortlichkeit und nach den An - weiſungen des Reichskanzlers führt. Durch dieſe Beſtimmungen iſt dem Reichs-Eiſenbahn-Amt eine Stelle nicht innerhalb des Reichskanzler-Amts gegeben worden, wie dem Reichs-Juſtiz-Amt, ſondern neben demſelben, wie dem Auswärtigen Amte und der Admiralität.

Die Behörde beſteht aus einem Vorſitzenden, welcher nach der im Geſetz vom 30. Juni 1873 gegebenen Klaſſifikation der Reichs - beamten (R. -G.-Bl. S. 169) den Direktoren im Reichskanzleramt gleichgeſtellt iſt, und der erforderlichen Anzahl von Räthen. Außerdem können im Falle des Bedürfniſſes Reichs-Eiſenbahn - Kommiſſare beſtellt werden, welche vom Reichs-Eiſenbahn-Amte ihre Inſtructionen empfangen. Ihre Abſendung iſt für den Fall vorbehalten, daß die dem Reiche zuſtehende Aufſicht an Ort und Stelle gehandhabt werden ſoll. Der Vorſitzende und die Mitglieder des Reichs-Eiſenbahn-Amtes, ſowie die Kommiſſare werden vom Kaiſer ernannt, die Ernennung der Subaltern - und Unterbeamten iſt dem Reichskanzler übertragen. (§. 2 Abſ. 1 des cit. Geſ.)

Das Reichs-Eiſenbahn-Amt hat die Aufgabe, die in den Art. 41 47 der R. -V. dem Reiche zugeſchriebenen Befugniſſe hinſicht - lich des Eiſenbahnweſens zu handhaben. Das Verhältniß des342§. 34. Der Reichs-Verwaltungsbehörden.Reichs-Eiſenbahn-Amtes zum Bundesrath iſt daſſelbe, welches zwiſchen anderen Verwaltungsbehörden des Reiches, z. B. dem Generalpoſtamt, und dem Bundesamt beſteht. An der dem Bun - desrath nach Art. 7 der Reichs-Verfaſſung zuſtehenden Kompetenz, allgemeine Anordnungen zu erlaſſen, iſt durch die Errichtung des Reichs-Eiſenbahn-Amtes Nichts geändert worden; das Reichs-Eiſen - bahn-Amt verwaltet vielmehr als ſelbſtſtändige Behörde nur ſolche Geſchäfte, welche, falls das Reichs-Eiſenbahn-Amt nicht exiſtiren würde, der Central-Abtheilung des Reichskanzler-Amtes kraft ihres univerſellen und ſubſidiären Geſchäftsauftrages obliegen würden.

In Folge des im Art. 46 Abſ. 2 der Reichs-Verfaſſung be - gründeten Sonderrechts Bayern’s ergiebt ſich, daß die Thätigkeit des Reichs-Eiſenbahn-Amtes Bayern gegenüber im Weſentlichen aus - geſchloſſen iſt. Nur ſoweit die Art. 41. 46 Abſ. 3 und 47 der Reichs-Verfaſſung Veranlaſſung zu einem Einſchreiten des Reichs - Eiſenbahn-Amtes oder zu einer Vorbereitung oder Begutachtung von Geſetz-Entwürfen geben ſollten, würde die Kompetenz des Reichs-Eiſenbahn-Amtes auch auf Bayern ſich erſtrecken.

Da die im Art. 41 und 46 Abſ. 3 erwähnten Befugniſſe des Reiches nur im Wege der Geſetzgebung ausgeübt werden können, ſo erſtreckt ſich die Verwaltungscompetenz (Oberaufſicht) des Reiches nur auf folgende Punkte: Aufſtellung einheitlicher Normen für die Anlage und Ausrüſtung im Intereſſe des Verkehrs und der Sicherheit, Erlaß eines Bau-Reglements, Betriebs-Reglements, Bahnpolizei-Reglements (Art. 42. 43 ); Controle der Fahrpläne für den Perſonen - und Güterverkehr (Art. 44); das Tarifweſen (Art. 45. 46 ); Leiſtungen für militäriſche Zwecke. (Art. 47)1)Nach dem vorläufigen Entwurf eines Eiſenbahn-Geſetzes vom April 1875 Art. 2 u. 3 ſoll die geſammte unmittelbare Aufſicht über das Ei - ſenbahnweſen dem Reiche übertragen werden und den Landesregierungen nur ein engbegränzter Kreis einzelner Befugniſſe überlaſſen bleiben.. In allen dieſen Beziehungen können allgemeine Verordnungen nur vom Bundesrathe erlaſſen werden; dem Reichs-Eiſenbahn-Amt aber liegt es ob, die allgemeine, dem Reiche nach Art. 4 der Reichs-Verfaſſung zuſtehende Aufſicht über das Eiſenbahn-Weſen wahrzunehmen und auf Abſtellung der hervortretenden Mängel und Mißſtände hinzuwirken, ſodann aber namentlich: für die Aus - führung der in der Reichsverfaſſung enthaltenen Beſtimmungen,343§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.ſowie der ſonſtigen auf das Eiſenbahn-Weſen bezüglichen Geſetze und verfaſſungsmäßigen Vorſchriften (zu denen die verfaſſungs - mäßigen Bundesraths-Verordnungen gehören) Sorge zu tra - gen 1)R. -G. vom 27. Juli 1873 §. 4 Z. 2.. Zu dieſem Zwecke iſt das Reichs-Eiſenbahn-Amt befugt, innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit über alle Einrichtungen und Maaß - regeln von den Eiſenbahn-Verwaltungen Auskunft zu fordern.

Die ſouveräne Reichsgewalt in Eiſenbahn-Angelegenheiten wird auf 3 verſchiedenen Wegen zur Geltung gebracht, je nach - dem ſich eine Verfügung des Reichs-Eiſenbahn-Amtes gegen die Verwaltung von Reichs-Eiſenbahnen, von Staats-Eiſenbahnen oder von Privat-Eiſenbahnen richtet. Am einfachſten geſtaltet ſich die Sache den Reichseiſenbahnen gegenüber, da die Verwaltung derſelben in letzter Inſtanz dem Reichskanzler zuſteht2)Die Verwaltung der Reichs-Eiſenbahnen iſt, wie oben S. 328 bereits erwähnt worden, dem Reichskanzleramte, Abtheilung für Elſaß-Lothringen, unterſtellt.; derſelbe bringt daher die Verfügungen des Reichs-Eiſenbahn-Amtes unmit - telbar zum Vollzuge, indem er die ihm untergeordneten Verwal - tungsbehörden mit der erforderlichen Anweiſung verſieht.

Den Privatbahnen gegenüber iſt das Reichs-Eiſenbahn - Amt ausgeſtattet worden mit allen denjenigen Befugniſſen, welche den Aufſichtsbehörden der betreffenden Bundesſtaaten nach Maaß - gabe der einzelnen Partikularrechte zuſtehen. Jedoch kann das Reichs-Eiſenbahn-Amt keine direkten Zwangsmaaßregeln verfügen, ſondern es muß ſich an die Eiſenbahn-Aufſichtsbehörden der Ein - zelſtaaten wenden, welche nach §. 5 Z. 1 des Geſetzes v. 27. Juni 1873 gehalten ſind, den deshalb an ſie ergehenden Requi - ſitionen zu entſprechen.

Endlich den Staats-Eiſenbahn-Verwaltungen gegen - über hat das Reich keine anderen Mittel als ihm überhaupt gegen die Regierungen der Einzelſtaaten zuſtehen; nämlich einen Beſchluß des Bundesraths nach Art. 7 Nro. 3 oder eine Verfügung des Kaiſers auf Grund des Art. 17 der Reichs-Verfaſſung und äußerſten Falles die Vollſtreckung der Exekution nach Art. 19 der Reichs - Verfaſſung.

Ueber den Recurs gegen Verfügungen des Reichs-Eiſenbahn - Amtes ſiehe unten §. 36.

344§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.
V. Die Reichsbank-Behörden1)Vgl. Bamberger Materialien zum Bankgeſ. In Hirth’s Annalen 1875 S. 835 ff. Sonnemann Bemerkungen zum Reichs-Bankgeſ. Ebenda S. 1027 ff..

Die auf Grund des Reichsgeſetzes vom 14. März 1875 (R. G.-Bl. S. 177) errichtete Reichsbank2)Da die Errichtung der Reichsbank im Weſentlichen eine Umwandlung der Preußiſchen Bank in eine Reichsbank war, ſo trägt die Reichsbank hin - ſichtlich ihrer Organiſation ſehr deutlich den Stempel dieſes Urſprungs und viele Beſtimmungen des Reichsbankgeſetzes lehnen ſich eng an die Preuß. Bank-Ordnung vom 5. Oktober 1846 an. Vgl. über dieſelbe v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 S. 146 ff. iſt eine von dem Fis - kus des Reiches verſchiedene, ihm gegenüber ſelbſtſtändige juri - ſtiſche Perſon privatrechtlichen Charakters3)Bankgeſetz §. 12.. Die ihr zugewieſene Aufgabe, den Geldumlauf im geſammten Reichs - gebiete zu regeln, die Zahlungs-Ausgleichungen zu erleichtern und für die Nutzbarmachung verfügbaren Kapitals zu ſorgen , greift aber zugleich ein in die dem Reiche obliegende öffentlich rechtliche Pflicht zur Pflege der Wohlfahrt des deutſchen Volkes (Einl. zur R. -V.) Daſſelbe gilt von dem ihr übertragenen Rechte zur Ausgabe von Banknoten. Das Reich ſteht demgemäß in einem doppelten Verhältniß zur Reichsbank, in einem privatrechtlichen und einem öffentlich rechtlichen. Das privatrechtliche Verhältniß beruht da - rauf, daß der Reichsfiskus Mitglied der, den Namen Reichs - bank führenden, juriſtiſchen Perſon iſt, an dem Reingewinn der - ſelben einen Antheil hat und zur Vertretung und Geſchäftsführung für dieſe juriſtiſche Perſon befugt iſt. Das öffentlich rechtliche Verhältniß kann man im Anſchluß an die ältere ſtaatsrechtliche Ausdrucksweiſe als Bankhoheit bezeichnen; es beſteht in der ſtaatlichen Aufſicht über den Wirkungskreis und die Tendenzen der Bank, in der Wahrnehmung der volkswirthſchaftlichen, handels - politiſchen, finanziellen Intereſſen des Reiches der Reichsbank ge - genüber. Der Gegenſatz dieſer beiden Verhältniſſe läßt ſich auch in der Art ausdrücken, daß in der erſten Beziehung das Reich innerhalb der juriſtiſchen Perſon, welche Reichsbank heißt, eine rechtliche Stellung hat, in der zweiten Beziehung über dieſer privatrechtlichen Perſon ſteht. Das Reich hat innerhalb der Reichsbank Rechte deſſelben Charakters, wie ſie der Direktor oder345§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.Vorſtand irgend einer Aktiengeſellſchaft ebenfalls hat; über die Reichsbank aber übt das Reich als Perſon des öffentlichen Rechts Hoheitsrechte aus, wie ſie ihm auch Privat-Banken gegenüber zuſtehen1)Ueber die dem Reichskanzler zuſtehende ſtaatliche Aufſicht über die Privatbanken, welche Noten ausgeben, enthält das Bankgeſetz §. 48 ff. die erforderlichen Beſtimmungen..

Dieſem doppelten Verhältniß des Reiches zur Reichsbank entſpricht es, daß zwei verſchiedene Reichsbank-Behörden beſtehen, von denen die eine das Hoheitsrecht des Reiches, die Aufſicht über die Reichsbank, die andere das privatrechtliche Mitgliedſchafts - recht des Reiches, die Leitung der Reichsbank, wahrzunehmen hat. Die begriffliche Verſchiedenheit beider Behörden und der ihnen obliegenden Funktionen wird nur dadurch thatſächlich etwas verdunkelt, daß dieſelbe Perſon, nämlich der Reichskanzler, an der Spitze beider ſteht.

1. Das Bank-Kuratorium2)Ueber das ehemalige Preuß. Bank-Kuratorium vgl. die Königl. Ver - ordnung vom 3. November 1817 (Preuß. Geſ. -Samml. S. 295) §§. 5 8 und die Cab. -Ordre vom 11. April 1846 (Preuß. Geſ. -Samml. S. 153)..

Dies iſt die Behörde zur Handhabung des ſtaatlichen Hoheits - rechtes. Mit der Führung der Bankgeſchäfte und der Vertretung der Reichsbank hat ſie Nichts zu thun; ihr liegt vielmehr ob die dem Reiche zuſtehende Aufſicht über die Reichs-Bank auszuüben 3)Bankgeſetz §. 25 Abſ. 1..

Den Vorſitz dieſer Behörde führt der Reichskanzler. Sie beſteht außerdem aus vier Mitgliedern, von denen eines der Kaiſer ernennt, die drei anderen der Bundesrath wählt. Das Kurato - rium iſt keine ſtändig arbeitende Behörde; es verſammelt ſich viel - mehr nur vierteljährlich einmal und empfängt in dieſen Verſamm - lungen einen Bericht über den Zuſtand der Bank und alle darauf Bezug habenden Gegenſtände und es wird ihm eine allgemeine Rechenſchaft von allen Operationen und Geſchäftseinrichtungen der Bank ertheilt4)Bankgeſetz §. 25 Abſ. 2..

Von einer Beſchlußfaſſung des Bank-Kuratoriums ſchweigt das Geſetz vollſtändig. Anordnungen, welche für die Leitung der Reichsbank verbindliche Kraft hätten, kann das Bank-Kuratorium als ſolches nicht treffen; wohl aber kann der Reichskanzler als346§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.Direktor der Reichsbank Anſichten oder Wünſche, welche bei einer Sitzung des Kuratoriums geäußert worden ſind, ohne Weiteres zur Geltung bringen wenn er will.

Dagegen iſt nicht zu bezweifeln, daß das Bank-Kuratorium, wenn es hinſichtlich der Geſchäftsleitung der Reichsbank Mängel oder Unzuträglichkeiten oder gar Geſetzeswidrigkeiten bemerkt, da - rüber dem Bundesrath einen Bericht erſtatten und dadurch ein Einſchreiten des Bundesrathes nach Art. 7 der R. -V hervorrufen kann. Hierzu bedarf es aber allerdings eines förmlichen Beſchluſſes des Bank-Kuratoriums gar nicht. Die vom Bundesrath gewähl - ten Mitglieder können die Bemerkungen, zu welchen ihnen der Bericht über den Zuſtand und die Operationen der Reichsbank etwa Veranlaſſung giebt, der Regierung des Staates, den ſie im Bundesrathe vertreten, mittheilen und es ſteht dann nach Art. 7 Abſ. 2 der R. -V. jedem Bundesgliede frei, Vorſchläge dem Bun - desrathe zu machen.

Der praktiſche Zweck des Bank-Kuratoriums iſt jedenfalls vorzugsweiſe darin zu ſehen, den Regierungen der Einzelſtaaten einen Einblick in die Geſchäftslage und Einrichtungen der Bank zu ermöglichen.

2. Das Bank-Direktorium1)Vgl. die Preuß. Bank-Ordnung vom 5. Oktober 1846 §§. 55 ff..

Die Reichsbank iſt organiſirt nach der allgemeinen Schablone, nach welcher die Verfaſſung faſt aller Korporationen und insbe - ſondere aller Aktien-Vereine gebildet iſt.

Die Organe der juriſtiſchen Perſon ſind einerſeits die Gene - ral-Verſammlung der Mitglieder und ein von derſelben ge - bildeter, mit der Wahrnehmung ihrer Rechte betrauter Ausſchuß, der gewöhnlich Aufſichtsrath oder Verwaltungsrath heißt, für die Kontrole, Beſchlußfaſſung über allgemeine Einrichtungen, Anordnungen wichtiger Maßregeln, Statutenänderungen u. dgl. und andererſeits der Vorſtand oder Direktor für Vertretung und Geſchäftsführung. Bei der Reichsbank iſt dieſe Organiſation in der Art durchgeführt, daß die Eigenthümer der Bank-Antheile (Aktionäre) die Generalverſammlung bilden und aus ihrer Mitte den Centralausſchuß (Aufſichtsrath) wählen2)Bankgeſ. §§. 30 34. Bankſtatut v. 21. Mai 1875 §. 16 ff. (R. -G.-Bl. S. 206). Von dem Central-Ausſchuß werden wieder zum Zweck der fortlau -, daß das347§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.Reich dagegen die Funktionen des Vorſtandes oder Direktors ausübt und zwar unter dem Namen Bank-Direktorium .

Das Bank-Direktorium iſt demnach keine Behörde mit öffentlich rechtlicher Amtsgewalt, ſondern eine Vertetung des Reichsfiskus; dadurch aber unterſchieden von allen anderen fiskaliſchen Behörden oder Stationen, daß der Reichsfiskus durch ſie nicht unmittelbar als Perſon des Privatrechtes dem Publikum gegenüber vertreten, reſp. berechtigt und verpflichtet wird, ſondern daß der Reichsfiskus nur als Mitglied und Vorſtand einer ande - ren privatrechtlichen Perſon, nämlich der Bank, auftritt. Das Bank-Direktorium iſt demnach der Reichs-Bank gegenüber Ver - treter des Reichsfiskus und befugt, alle Rechte auszuüben, welche dem Reichsfiskus als Mitglied der Reichsbank zuſtehen; dagegen dem Publikum gegenüber iſt das Bank-Direktorium Ver - treter der Reichsbank. Das Reichsbank-Direktorium iſt die verwaltende und ausführende, ſowie die, die Reichsbank nach außen vertretende Behörde 1)Bankgeſetz §. 27 Abſ. 1..

Das Direktorium beſteht aus einem Präſidenten und Mit - gliedern, welche auf den Vorſchlag des Bundesrathes vom Kaiſer auf Lebenszeit ernannt werden. Es faßt ſeine Beſchlüſſe zwar nach Stimmenmehrheit, iſt aber keine unabhängige, collegialiſche Behörde, ſondern es hat bei ſeiner Verwaltung überall den Vorſchriften und Weiſungen des Reichskanzlers Folge zu leiſten2)Bankgeſetz §. 27 Abſ. 2. .

Der eigentliche Direktor der Reichsbank iſt der Reichskanzler; das Bank-Direktorium iſt nur ſein Bureau, ſein Hülfsperſonal, deſſen er ſich in ſeiner Eigenſchaft als Bank-Direktor bedient3)Der Reichskanzler iſt an die Stelle des ehemaligen Chefs der Preuß. Bank , nämlich des Preuß. Handels-Miniſters, getreten. Vgl. v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 S. 149 Note 3..

Die dem Reiche zuſtehende Leitung der Bank wird vom Reichskanzler, und unter dieſem von dem Reichsbank - Direktorium ausgeübt4)Bankgeſetz §. 26 Abſ. 1. . Der Reichskanzler leitet die geſammte Bankverwaltung innerhalb der Beſtimmungen des Bankgeſetzes2)fenden ſpeciellen Kontrole drei Deputirte und ebenſoviele Stellvertreter gewählt. Bankgeſetz §. 34. Bankſtatut §. 24.348§. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden.und Bankſtatutes. Er erläßt die Geſchäftsanweiſungen für das Reichsbank-Direktorium und für die Zweiganſtalten, ſowie die Dienſtinſtruktionen für die Beamten der Bank, und verfügt die erforderlichen Abänderungen der[beſtehenden] Geſchäftsanweiſungen und Dienſtinſtruktionen 1)Bankgeſetz §. 26 Abſ. 2..

Es kann demnach keinem Zweifel unterliegen, daß die ſtaats - rechtliche und politiſche Verantwortlichkeit für die geſammte Leitung der Reichsbank nicht dem Reichsbank-Direktorium, ſondern dem Reichskanzler obliegt.

In Behinderungsfällen des Reichskanzlers wird die Leitung durch einen vom Kaiſer hierfür ernannten Stellvertreter wahrge - nommen. Die Subſtitutions-Befugniß des Reichskanzlers iſt ſonach ausgeſchloſſen.

Den Beamten der Reichsbank ſind die Rechte und Pflichten der Reichsbeamten beigelegt2)Bankgeſetz §. 28 Abſ. 1.; ſtreng genommen ſind ſie aber nicht Beamte des Reiches, ſondern Beamte der vom Reich ver - ſchiedenen juriſtiſchen Perſon, welche Reichsbank heißt. Man könnte nur den vieldeutigen Namen der mittelbaren Reichsbeamten auf ſie anwenden, wegen der Rechte des Reiches an der Reichsbank. In finanzieller Hinſicht tritt das wahre juriſtiſche Verhältniß klar hervor, indem die Beſoldungen, Penſionen und ſonſtigen Dienſtbe - züge, ſowie die Penſionen und Unterſtützungen für ihre Hinter - bliebenen nicht von der Reichskaſſe, ſondern von der Reichsbank getragen werden3)Bankgeſetz §. 28 Abſ. 2. Jedoch iſt ebendaſelbſt beſtimmt, daß der Beſoldungs - und Penſionsetat des Reichsbank-Direktoriums jährlich durch den Reichshaushalts-Etat, der der übrigen Beamten jährlich vom Kaiſer im Ein - vernehmen mit dem Bundesrath auf den Antrag des Reichskanzlers feſtge - ſetzt wird..

Von dem Bank-Direktorium reſſortiren die Zweig-Nieder - laſſungen der Reichsbank, welche nach Größe und Bedeutung ihres Geſchäfts-Umfanges in 3 Klaſſen zerfallen:

a) Reichsbank-Hauptſtellen. Sie ſind an, vom Bun - desrathe zu beſtimmenden, größeren Plätzen zu errichten und ſtehen unter Leitung eines aus wenigſtens 2 Mitgliedern beſtehenden Vorſtandes und unter Aufſicht eines vom Kaiſer ernannten Bank - Kommiſſarius. Sie ſind dadurch ausgezeichnet, daß in Nachbil -349§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.dung des Centralausſchuſſes und der Bankdeputirten bei ihnen Bezirksausſchüſſe gebildet und Beigeordnete ernannt werden1)Bankgeſetz §. 36. Bankſtatut §. 27 29. Auch hier lieferte die Preuß. Bank-Ordnung von 1846 §§. 104 111 das Vorbild..

d) Reichsbank-Stellen. Dieſelben ſind dem Bank - Direktorium unmittelbar untergeordnet und werden auf Anordnung des Reichskanzlers errichtet2)Bankgeſetz §. 37..

c) Reichsbank-Kommanditen oder Agenturen. Sie ſind einer andern Zweig-Niederlaſſung der Bank unterge - ordnet. Ihre Errichtung ſteht dem Bank-Direktorium zu3)Bankgeſetz a. a. O..

§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.

I. Die Reichsſchulden-Verwaltung.

Der Preußiſchen Hauptverwaltung der Staatsſchulden iſt die Wahrnehmung der mit der Verwaltung der Reichsſchulden verbundenen Geſchäfte unter der angegebenen Benennung über - tragen, jedoch mit der Maaßgabe, daß die obere Leitung dem Reichskanzler zuſteht. Es iſt dieſe Anordnung zuerſt getroffen worden durch das Geſetz vom 19. Juni 1868 über die Verwaltung der auf Grund des Geſetzes vom 9. Nov. 1867 aufzunehmenden Bundes-Anleihe §§. 1 und 2 (B. -G.-Bl. S. 339); ſie iſt dann hinſichtlich aller ſpäteren Anleihen4)Insbeſondere auch in dem Geſetz vom 27. Januar 1875 (R. -G.-Bl. S. 18). Die früheren Anleihen des Nordd. Bundes ſind getilgt. und Emiſſionen von Schatz - ſcheinen wiederholt worden. Auch die Ausfertigung der Reichs - kaſſenſcheine iſt dieſer Behörde übertragen durch das Geſ. v. 30. Apil 1874 §. 6. (R. -G.-Bl. S. 41.)

Auf die amtliche Thätigkeit und ſtaatsrechtliche Stellung der Reichsſchulden-Verwaltung findet das Preuß. Geſetz vom 24. Februar 1850 (Preuß. Geſ. -Samml. S. 57) Anwendung. Durch den §. 6 dieſes Geſetzes iſt feſtgeſetzt, daß die Hauptverwaltung der Staatsſchulden für eine Reihe der wichtigſten, ihr obliegenden Geſchäfte unbedingt verantwortlich iſt; in allen übrigen Beziehungen aber iſt es ihr zur Pflicht gemacht, den Anordnungen und Anweiſungen des Finanzminiſters Folge zu leiſten5)Vgl. v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 1 S. 449 ff.. Der350§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.Direktor und die Mitglieder der Hauptverwaltung der Staats - ſchulden müſſen vor Antritt ihres Amtes in öffentlicher Sitzung des Obertribunals einen Eid ſchwören, daß ſie ſich von Erfüllung ihrer Pflichten und der ihnen mit eigener Verantwortlichkeit über - tragenen Obliegenheiten durch keine Anweiſungen oder Verord - nungen irgend einer Art abhalten laſſen wollen1)Preuß. Geſetz vom 24. Februar 1850 §. 9. (Geſ. -Samml. S. 59.).

Für die Reichsſchulden-Verwaltung iſt an die Stelle des Preuß. Finanzminiſters der Reichskanzler getreten; es iſt aber der Kreis der im §. 6 cit. aufgeführten Geſchäfte noch darauf erſtreckt worden, daß eine Konvertirung der Schuldverſchreibungen nur auf Grund eines Geſetzes, und nachdem die etwa erforderlichen Mittel bewilligt ſind, vorgenommen werden darf2)Geſetz vom 19. Juni 1868 §. 1..

Der Direktor und die Mitglieder der Hauptverwaltung der Staatsſchulden haben zu Protokoll zu erklären, daß ſie den von ihnen nach §. 9 des Preuß. Geſetzes geleiſteten Eid auch für die Verwaltung der Reichsſchulden als maaßgebend[anerkennen]3)Geſetz vom 19. Juni 1868 §. 3

Durch die im Vorſtehenden erwähnten geſetzlichen Beſtim - mungen iſt einerſeits die Reichsſchulden-Verwaltung hinſichtlich des ihr obliegenden Geſchäftskreiſes mit einer Unabhängigkeit dem Reichskanzler gegenüber ausgeſtattet, welche anderen Verwaltungs - behörden nicht zukommt, indem ſie Anordnungen des Reichskanz - lers, welche mit den geſetzlichen Vorſchriften nicht in Einklang ſtehen, keine Folge leiſten darf; andererſeits iſt die Verantwort - lichkeit des Reichskanzlers ausgeſchloſſen, ſoweit die eigene, unbe - dingte Verantwortlichkeit der Reichsſchulden-Verwaltung reicht.

Die Stellung dieſer Finanzbehörde zum Reichskanzler iſt daher verſchieden ſowohl von der Stellung der Verwaltungsbehörden als von der Stellung der richterlichen Behörden. Auf die Geſchäfts - führung der erſteren hat der Reichskanzler vollen und entſcheiden - den Einfluß, ſie ſind ſtaatsrechtlich lediglich ſeine Büreaus; auf die Geſchäftsführung der letzteren hat der Reichskanzler materiell gar keinen Einfluß, ſie entſcheiden ganz ſelbſtſtändig nach Maaß - gabe der Geſetze. Die Reichsſchulden-Verwaltung dagegen ſteht unter der oberen Leitung des Reichskanzlers und kann daher von ihm Anweiſungen erhalten, welche von ihr befolgt werden351§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.müſſen; aber die Reichsſchulden-Verwaltung hat das Recht und die Pflicht, ſelbſtſtändig und unabhängig zu prüfen, ob die Anordnung des Reichskanzlers in Uebereinſtimmung mit den geſetzlichen Vorſchriften ſich befindet.

Man kann daher auch nicht ſagen, daß die Reichsſchulden - Verwaltung vom Reichskanzler-Amt reſſortirt; da ſie hinſicht - lich ihrer amtlichen Thätigkeit von demſelben nicht abhängig iſt. Nur die Koſten, welche für die Verwaltung der Reichsſchulden an Preußen zu vergüten ſind, werden im Etats-Geſetz bisher bei dem Etat des Reichskanzler-Amtes angeſetzt, die Zahlungen aus dieſem Etats-Fonds werden vom Reichskanzler-Amt angewieſen und kommen bei dieſem Fonds zur Verrechnung1)In dem Handb. für das Deutſche Reich für 1874, welches im Reichs - kanzler-Amt bearbeitet worden iſt, wird die Reichs-Schulden-Verwaltung unter dem Reſſort der Central-Abtheilung des Reichskanzler-Amtes aufgeführt; ebenſo z. B. das Heimathsamt, der Disziplinarhof und die Disziplinarkam - mern u. ſ. w. Es beruht dies aber nur darauf, daß in dieſem Handbuch die Behörden nicht nach irgend einem ſtaatsrechtlichen Geſichtspunkte gruppirt ſind, ſondern wie es ſcheint in allgemeiner Anlehnung an das Etatsgeſetz unſyſte - matiſch[aufgeführt] werden..

II. Die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds.

In dem Geſetz vom 23. Mai 1873 (R. -G.-Bl. S. 117), durch welches die Gründung des Invalidenfonds im Betrage von 187 Millionen Thalern erfolgt iſt, wird zur Verwaltung deſſelben die Errichtung einer Behörde angeordnet (§. 11), welche von der allgemeinen Finanzverwaltung abgeſondert und ſelbſtſtändig ſein, jedoch der oberen Leitung des Reichskanzlers inſoweit unterliegen ſoll, als dies mit der ihr nach §. 12 dieſes Geſetzes beigelegten Unabhängigkeit vereinbar iſt. Der hier erwähnte §. 12 erklärt, daß der Vorſitzende und die Mitglieder der Verwaltung des Reichs - Invalidenfonds für die geſetzmäßige Anlage, Verrechnung und Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds unbedingt verant - wortlich ſind, und er fordert von ihnen vor Antrit ihres Amtes die Ableiſtung eines beſonderen Eides, der in öffentlicher Sitzung des Reichs-Oberhandelsgerichts zu ſchwören iſt, daß ſie ſich von Erfüllung dieſer ihnen mit eigener Verantwortlichkeit obliegenden Pflichten durch keine Anweiſung oder Verordnungen irgend einer Art abhalten laſſen wollen.

352§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.

Das Geſetz v. 23. Mai 1873 ſchließt ſich demnach vollkommen an die Grundſätze an, welche das Preuß. Geſetz v. 23. Februar 1850 ſanktionirt hat, und der Verwaltung des Reichs-Inva - lidenfonds iſt eine durchaus ähnliche Stellung wie der Reichs - Schuldenverwaltung gegeben worden. Die obere Leitung des Reichskanzlers ermächtigt denſelben, verbindliche Anordnungen und Verfügungen zu erlaſſen, welche die Verwaltung des Reichs-In - validen-Fonds befolgen muß1)Fälle dieſer Art ergeben ſich aus §. 5 u. 8 des Geſetzes vom 23. Mai 1873 ſelbſt; ferner aus §. 10 Abſ. 2; §. 11. 12. 13. 14 Abſ. 3 des Regula - tivs vom 11. Juni 1874. (R. -G.-Bl. S. 104.); aber die unbedingte Verant - wortlichkeit der Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds ermäch - tigt und verpflichtet dieſelbe, zunächſt unabhängig und ſelbſtſtändig zu prüfen, ob die vom Reichskanzler ertheilte Anordnung mit den für die Anlage, Verrechnung und Verwaltung des Reichs-Invali - den-Fonds gegebenen geſetzlichen Beſtimmungen vereinbar iſt. Nur wenn dieſe Frage bejahend entſchieden wird, iſt die Anordnung des Reichskanzlers von der Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds zur Ausführung zu bringen. Es ergiebt ſich hieraus zugleich, daß der Reichskanzler für die Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds die Verantwortlichkeit nur in demſelben Umfange trägt wie hin - ſichtlich der Verwaltung der Reichsſchulden.

Im Einklang mit dieſer Unabhängigkeit der Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds ſteht die Regel, daß für die Beſchlüſſe dieſer Behörde das Collegialſyſtem gilt, d. h. daß ſie nach Stim - menmehrheit gefaßt werden und der Vorſitzende nur im Falle der Stimmengleichheit den Ausſchlag giebt2)Geſetz §. 11 Abſ. 2. Vgl. Regulativ §. 4..

Der Vorſitzende wird vom Kaiſer auf Lebenszeit ernannt. Sein Amt iſt ein beſoldetes Berufsamt und es iſt ihm die Ueber - nahme von Nebenämtern oder mit Remunerationen verbundenen Nebenbeſchäftigungen unterſagt. Die Mitglieder werden vom Bun - desrath jedesmal auf 3 Jahre gewählt; es ſind Bundesraths-Mit - glieder, welche das Amt als beſoldetes Nebenamt verwalten3)Vgl. Etat für 1874 Anlage XIV., für 1875 Anlage X. . Die Ernennung des Bureauperſonals iſt dem Vorſitzenden über - tragen.

Die Geſchäfts-Inſtruktion, welche nach §. 11 des Geſetzes353§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.vom Reichskanzler im Einvernehmen mit dem Bundesrath zu er - laſſen und im Reichsgeſetzblatt zu veröffentlichen war, iſt am 11. Juli 1874 ergangen. (R. -G.-Bl. S. 104 ff.)

Die Selbſtſtändigkeit dieſer Behörde dem Reichskanzler-Amte gegenüber iſt auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß über die im Etatsgeſetz für die Verwaltung des Invalidenfonds bewilligten Beträge dem Vorſitzenden die Verfügung nach Maßgabe des Spe - zialetats zuſteht1)Regul. vom 11. Juni 1874 §. 10.; d. h. daß er alle aus dieſem Fonds zu lei - ſtenden Zahlungen anweiſt und daß eine beſondere Kaſſenführung und Verrechnung dieſes Fonds ſtattfindet, welche der Reichs-Haupt - kaſſe obliegt2) Derſelben wird alljährlich über den Verwaltungskoſtenfonds ein auf Grund des Reichshaushalts-Etats und ſeiner Unterlagen aufgeſtellter, vom Kaiſer vollzogener Spezialetat als Grundlage für die Buchführung und Rech - nungslegung zugefertigt. Regul. a. a. O..

Außer dem Reichs-Invalidenfonds verwaltet dieſe Behörde, im Weſentlichen nach gleichen Grundſätzen und Formen: den Reichs-Feſtungs-Baufonds3)Geſ. vom 30. Mai 1873 Art. III. (R. -G.-Bl. S. 123). den Fonds zur Errichtung des Reichstags-Gebäudes4)Geſ. vom 8. Juli 1873 §. 1 Abſ. 2. (R. -G.-Bl. S. 217. 218)..

Zur Ausführung der ihr obliegenden Geſchäfte bedient ſich die in Rede ſtehende Behörde der Rendantur des Reichs - Invalidenfonds, beſtehend aus dem Rendanten und dem Buchhalter. Die Obliegenheiten der Rendantur ſind durch eine Geſchäfts-Anweiſung geregelt, welche die Verwaltung des R. -J.-F.’s unter vorheriger Zuſtimmung des Reichskanzlers zu erlaſſen ermäch - tigt worden iſt5)Regulat. §. 8..

Im Uebrigen iſt die Verwaltung des R. -J.-F’s. durch das R. -G. vom 23. Mai 1873 angewieſen, theils die Vermittelung der Reichs-Hauptkaſſe theils die Vermittelung von Bank - häuſern, welche der Reichskanzler im Einvernehmen mit dem Bundesrath bezeichnet, in Anſpruch zu nehmen6)Geſ. vom 23. Mai 1873 §. 5 §. 7. Die vom Reichskanzler urſprüng - lich bezeichneten Bankhäuſer ſind die Preuß. Bank (Reichsbank), die Seehand - lung und die Königl. Bayer. Bank in Nürnberg. Bundesraths-Protokoll 1873 §. 620. Vgl. Wagner in v. Holtzendorffs Jahrb. III. S. 139 fg..

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 23354§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
III. Die Reichsſchuldenkommiſſion.

Auch dieſe Behörde iſt eine vollkommene Nachbildung der Preußiſchen Staats-Schulden-Kommiſſion1)Vgl. das Preuß. Geſetz vom 24. Februar 1850 §. 1.. In den Behörden - Organismus des Reiches iſt ſie eingeführt worden durch das Ge - ſetz vom 19. Juni 1868. Sie beſteht aus drei Mitgliedern des Bundesrathes und zwar aus dem jedesmaligen Vorſitzenden und zwei Mitgliedern des Ausſchuſſes für das Rechnungsweſen, aus drei Mitgliedern des Reichstages und aus dem Chefpräſidenten des Rechnungshofes2)Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 4.. Der Bundesrath wählt die von ihm zu deputirenden Mitglieder von Seſſion zu Seſſion, was darauf beruht, daß die Ausſchüſſe des Bundesrathes für jede Seſſion neu gebildet werden; die aus dem Reichstage zu ernennenden Mitglieder der Kommiſſion werden entſprechend der Legislatur-Periode des Reichstages auf drei Jahre gewählt3)Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 5. Bgl. Preuß. Geſetz vom 24. Februar 1850 §. 11..

Wie ſich aus der Zuſammenſetzung der Kommiſſion bereits entnehmen läßt, iſt dieſelbe völlig unabhängig und ſelbſtſtändig und keiner Reichsbehörde in irgend einer Beziehung untergeordnet. Nur dem Bundesrath und dem Reichstage gegenüber hat die Kommiſſion amtliche Pflichten und Verantwortlichkeit4)Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 7 verglichen mit dem Preuß. Geſetz vom 24. Februar 1850 §. 1.. Für die Beſchlüſſe der Kommiſſion gilt deshalb auch das Collegialſyſtem, d. h. Beſchlußfaſſung nach Stimmen-Mehrheit; zur Beſchlußfähig - keit iſt die Anweſenheit von wenigſtens 5 Mitgliedern erforderlich; den Vorſitz führt der Vorſitzende des Bundesraths-Ausſchuſſes für Rechnungsweſen oder bei deſſen Behinderung ein anderes, dem Bundesrathe angehöriges Mitglied der Kommiſſion5)Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 6..

Der Reichs-Schuldenkommiſſion liegt ob die Aufſicht:

  • 1) über die Reichs-Schulden-Verwaltung
    6)Geſ. vom 19. Juni 1868 §. 1 u. 4 vergl. mit dem Preuß. Geſetz vom 24. Febr. 1850 §. 1 Abſ. 2 u. §. 14.
    6)

6)Es ſind jedoch ſpäter noch mehrere andere hinzugefügt worden. Protokoll des Bundesr. 1874 §. 467. 495.

355§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.
  • 2) über die Verwaltung des Reichs-Kriegsſchatzes
    1)Geſ. vom 11. Nov. 1871 §. 3. Verordn. vom 22. Jan. 1874 §. 15.
    1)
  • 3) über die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds
    2)Geſ. vom 23. Mai 1873 §. 13.
    2), ein - ſchließlich des Reichs-Feſtungsbaufonds und des Fonds für den Bau des Reichstagsgebäudes
    3)Geſ. vom 30. Mai 1873 Art. III. u. Geſ. vom 8. Juli 1873 §. 1.
    3)
  • 4) über die An - und Ausfertigung, Einziehung und Vernich - tung der Reichsbank-Noten
    4)Bankgeſ. vom 14. März 1875 §. 16. Zu dieſem Zwecke tritt der Kommiſſion ein vom Kaiſer ernanntes Mitglied hinzu.
    4) und Reichskaſſenſcheine
    5)Geſ. vom 30. April 1874 §. 7.
    5).

Außer der fortwährenden Kontrole über die angeführten Verwaltungen und den einzelnen, zum Zwecke dieſer Kontrole der Reichs-Schuldenkommiſſion obliegenden Funktionen6)z. B. ihrer Theilnahme bei der Außerkursſetzung und Wiederinkurs - ſetzung der für den Invalidenfonds erworbenen Schuldverſchreibungen. Geſetz vom 23. Mai 1873 §. 4., hat dieſe Kommiſſion vorzüglich die Aufgabe, alljährlich bei dem regelmä - ßigen Zuſammentritt des Reichstages über ihre Thätigkeit, ſowie über die Ergebniſſe der unter ihre Aufſicht geſtellten Verwaltun - gen in dem verfloſſenen Jahre einen Bericht zu erſtatten7)Preuß. Geſ. vom 24. Februar 1850 §. 15. Geſ. vom 11. Nov. 1871 §. 3 Abſ. 3. Geſ. vom 23. Mai 1873 §. 14. Vgl. den Abſchnitt über den Reichstag..

IV. Der Rechnungshof des Deutſchen Reiches8)Vgl. Laband Finanzrecht des Deutſchen Reichs Kap. IV Abſchn. 3 (in Hirth’s Annalen 1873 S. 552 ff..

Durch das Geſetz vom 4. Juli 1868 (B. -G.-Bl. S. 433) wurde die Kontrole der Staatsrechnungen des Nordd. Bundes für die Jahre 1867 1869 der Preußiſchen Oberrechnungs - kammer unter der Benennung Rechnungshof des Norddeutſchen Bundes übertragen, indem zu dieſem Zwecke eine dem Bedürf - niß entſprechende Vermehrung ihrer Mitglieder in der Art vor - geſehen wurde, daß die neu hinzutretenden Mitglieder vom Bun - desrathe gewählt und vom Bundespräſidium angeſtellt werden. Das preußiſche Recht über die Reviſion der Rechnungen wurde auf den Bund übertragen. Zu Folge §. 3 des erwähnten Geſetzes führt die Ober-Rechnungskammer die ihr obliegende Kontrole des23*356§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.Bundeshaushalts nach Maaßgabe derjenigen Vorſchriften, welche für ihre Wirkſamkeit als Preußiſche Rechnungs-Reviſionsbehörde gegenwärtig (1868) gelten. Dieſelben Rechte und Pflichten, welche ihr in dieſer letzteren Eigenſchaft den Preußiſchen Behör - den und Beamten gegenüber beigelegt ſind, ſtehen ihr in ihrer Eigenſchaft als Rechnungshof des Norddeutſchen Bundes den Bun - desbehörden und Beamten gegenüber zu. Der Bundeskanzler erläßt im Einvernehmen mit dem Bundesrathe eine Inſtruktion für die Oberrechnungskammer als Rechnungshof des Nordd. Bun - des (§. 5 des cit. Geſetzes).

Die Beſtimmungen des Geſetzes vom 4. Juli 1868 ſind dann von Jahr zu Jahr wiederholt und erſtreckt worden1)Geſetze v. 11. März 1870, 28. Oktober 1871, 5. Juli 1872, 22. Juni 1873, 11. Februar 1875.; unter Ver - änderung der Benennung in Rechnungshof des Deutſchen Reiches.

Nachdem jedoch in Preußen ein Geſetz vom 27. März 1872 über die Ober-Rechnungskammer erlaſſen worden iſt2)Preuß. Geſ. -Samml. 1872 S. 278 ff., ſind die Beſtimmungen dieſes Geſetzes an die Stelle der älteren, im §. 3 des Geſetzes vom 4. Juli 1868 aufgeführten Vorſchriften getre - ten3)Reichsgeſ. vom 11. Februar 1875 (R. -G.-Bl. S. 61).. Eine in Uebereinſtimmung mit dieſen geſetzlichen Beſtimmun - gen ſtehende Inſtruktion iſt am 5. März 1875 vom Reichskanzler erlaſſen worden4)Abgedruckt im Centralblatt für das Deutſche Reich 1875 S. 157 ff. Durch dieſelbe iſt die ältere Inſtruktion für den Rechnungshof des Nordd. Bundes vom 28. Mai 1869 aufgehoben worden. (§. 40.).

Die ſtaatsrechtliche Stellung des Rechnungshofes im Behörden - Organismus des Reiches beſtimmt ſich demnach nach Analogie der im Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 enthaltenen Anord - nungen. §. 1 deſſelben bezeichnet die Oberrechnungskammer als eine dem Könige unmittelbar untergeordnete, den Miniſtern gegen - über ſelbſtſtändige Behörde. Demgemäß ſteht der Rechnungshof nicht unter der oberen Leitung des Reichskanzlers; er iſt ihm gegenüber vielmehr völlig unabhängig und nur dem Kaiſer un - mittelbar untergeben.

Für die Prüfung der dem Reichstage vorzulegenden allgemeinen Rechnungen und die von dem Rechnungshof aufzuſtellenden Bemer -357§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.kungen über dieſelben trägt der Rechnungshof nach §. 18 a. a. O. die ſelbſtſtändige, unbedingte Verantwortlichkeit, wodurch die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für die vom dem Rechnungs - hof geführten Geſchäfte ausgeſchloſſen iſt.

Der Rechnungshof hat demnach dem Reichskanzler und den übrigen Reichsbehörden gegenüber eine ebenſo unabhängige Stel - lung wie ein oberſter Gerichtshof.

Dieſelbe iſt dadurch geſichert, daß die Mitglieder des Rech - nungshofes in Beziehung auf die Verſetzung in ein anderes Amt, über die einſtweilige und über die zwangsweiſe Verſetzung in den Ruheſtand, über Disciplinarbeſtrafung und über vorläufige Dienſt - enthebung von den Vorſchriften des Reichsbeamten-Geſetzes vom 31. März 1873 ausgenommen1)Reichsbeamten-Geſetz §. 158. und den richterlichen Beamten gleichgeſtellt ſind2)Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 §. 5..

Auch in finanzieller Hinſicht iſt der Rechnungshof von den Verwaltungsbehörden vollſtändig emancipirt, indem dem Präſiden - ten des Rechnungshofes die Verwaltung der Gelder, Grundſtücke, Gebäude, Inventarienſtücke und Materialien, welche für den Dienſt des Rechnungshofes beſtimmt ſind, desgleichen die Vertretung des Fiskus bei den auf dieſe Vermögensverwaltung bezüglichen Ver - trägen und Prozeſſen übertragen iſt3)Inſtrukt. vom 5. März 1875 §. 18 (Centralbl. S. 160)..

Für die Amtsthätigkeit des Rechnungshofes gilt das Colle - gial-Syſtem. Der Vorſitzende giebt nur bei gleicher Theilung der Stimmen den Ausſchlag. Zwar wird die Reviſion und Prü - fung der einzelnen Rechnungen durch allgemeine Feſtſtellungen auf die Beamten möglichſt gleichmäßig und dauernd vertheilt, und zwar dergeſtalt, daß die Geſchäftskreiſe der einzelnen Departe - mentsräthe nach den verſchiedenen Verwaltungszweigen und die - jenigen der einzelnen Reviſionsbeamten nach Bezirken oder nach Materien abgegrenzt werden, und daß der Regel nach kein Re - viſionsbeamter in zwei verſchiedenen Bureau’s beſchäftigt und der Uebergang der Beamten von einem Geſchäftskreiſe zu einem an - deren möglichſt vermieden wird4)Inſtrukt. §. 3.. Für alle wichtigeren Angele - heiten iſt aber die kollegialiſche Berathung und Beſchlußfaſſung358§. 35. Die ſelbſtſtändigen Reichs-Finanzbehörden.angeordnet theils durch das Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 §. 81)Nämlich bei Berichten an den Kaiſer, an Bundesrath und Reichstag, bei Aufſtellung oder Abänderung allgemeiner Grundſätze oder Inſtruktionen und bei der Abgabe von Gutachten über Anordnungen der oberſten Verwal - tungsbehörden. theils durch die Inſtruktion vom 5. März 1875 §. 82)Unter 5 Nummern von ſehr weitreichender Faſſung ſind hier die Fälle gruppirt. Zur Ergänzung kömmt außerdem noch §. 15 der Inſtruktion in Betracht.. Es finden daher regelmäßige Sitzungen des Kollegiums ſtatt, bei denen die Mitglieder zu erſcheinen verpflichtet ſind. Die Ab - ſtimmungen erfolgen in der durch das Dienſtalter beſtimmten Reihenfolge, ſo daß zuerſt der jüngſte Rath und zuletzt der Vor - ſitzende ſeine Stimme abgiebt. Ueber die Stellung der Fragen ſowie über das Ergebniß der Abſtimmung entſcheidet im Falle einer Meinungsverſchiedenheit das Kollegium. Bei getheilten Stimmen bleibt es der Minderheit oder den einzelnen Mitgliedern derſelben überlaſſen, ihr abweichendes Votum ſchriftlich zu begrün - den und den betreffenden Akten beizufügen3)Inſtruktion §. 7.. Der Präſident iſt berechtigt, die Ausführung eines Beſchluſſes des Kollegiums einſt - weilen zu beanſtanden, muß jedoch in einem ſolchen Falle binnen 14 Tagen, vom Tage der erſten Beſchlußfaſſung an gerechnet, die Angelegenheit zur nochmaligen Berathung und Abſtimmung brin - gen und die Mitglieder des Kollegiums hiervon ſpäteſtens drei Tage vor der diesfälligen Sitzung in Kenntniß ſetzen. Bei dem durch die zweite Abſtimmung feſtgeſtellten Beſchluſſe behält es ſein Bewenden4)Inſtruktion §. 16..

Der Geſchäftskreis des Rechnungshofes erſtreckt ſich auf die Prüfung und Feſtſtellung der Rechnungen

  • 1) über den geſammten Haushalt des Deutſchen Reiches
    5)Vgl. die oben S. 356 Note 1 citirten Geſetze und die Erörterungen in meiner Darſtellung des Finanzrechts a. a. O. S. 553 fg.
    5)
  • 2) über den Zugang und Abgang von Reichs-Eigenthum und
  • 3) über die Reichsſchulden-Verwaltung
    6)R. -G. vom 4. Juli. 1868 §. 1 (B. -G.-Bl. S. 433). Preuß. Geſ. von 27. März 1872 §. 1 u. §. 10.
    6)
  • 4) über die Verausgabung und beſtimmungsmäßige Verwen -359§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.dung der den einzelnen Regierungen aus der franzöſiſchen Kriegskoſten-Entſchädigung zu gewährenden Beträge für gemeinſame Kriegs-Ausgaben
    1)R. -G. vom 8. Juli 1872 Art. V. letzter Abſ. (R. -G.-Bl. S. 291).
    1).
  • 5) über die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds (mit Ein - ſchluß des Feſtungsbaufonds und des Fonds für das Reichstags-Gebäude)
    2)R. -G. vom 23. Mai 1873 §. 14 (R. -G.-Bl. S. 122). Inſtrukt. vom 11. Juni 1874 §. 15. 16 (R. -G.-Bl. S. 107).
    2).
  • 6) über die Verwaltung des Reichskriegsſchatzes
    3)Verordn. vom 22. Januar 1874 §. 16 (R. -G.-Bl. S. 12).
    3).
  • 7) über die Verwaltung der Reichsbank
    4)R. -G. vom 14. März 1875 §. 29 (R. -G.-Bl. S. 185).
    4).
  • 8) über den geſammten Landeshaushalt von Elſaß-Lothrin - gen
    5)Geſetze für[Elſ. -Lothr.] vom 30. Dezember 1871 §. 20 (G. -Bl. 1872 S. 55) u. vom 6. Oktober 1873 (G. -Bl. S. 261) R. -G. vom 11. Febr. 1875 (R. -G.-B. S. 61).
    5), ſo wie die Reviſion über die Rechnungen der De - poſiten-Verwaltung in Elſaß-Lothringen
    6)Elſ. -Lothr.-Geſetz vom 4. November 1872 §. 3 (G. -Bl. S. 766).
    6).

Die Erörterung der verſchiedenen Richtungen, in welchen der Rechnungshof dieſe Prüfungen vorzunehmen hat, der Mittel, welche ihm zur Durchführung der ihm obliegenden Kontrole zu Gebote ſtehen, und der ſtaatsrechtlichen Bedeutung der von ihm gefaßten Beſchlüſſe wird in der ſpeziellen Darſtellung des Finanzrechtes ihren Platz finden.

§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

Das weſentliche Merkmal der richterlichen Behörden iſt nicht in der geſicherten Stellung ihrer Mitglieder gegen Entlaſſung, Verſetzung in den Ruheſtand, Verſetzung in eine andere Stelle, disciplinariſche Maaßregelung u. ſ. w. zu ſehen, ſondern in der Unabhängigkeit ihrer Entſcheidungen von Anordnungen der vor - geſetzten Behörden, insbeſondere des Reichskanzlers, in dem Rechte und der Pflicht, die Entſcheidungen lediglich nach eigener ſachlicher Würdigung und rechtlicher Ueberzeugung zu geben, und folgeweiſe in dem Ausſchluß jeder Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für den Inhalt dieſer Entſcheidungen7)Siehe oben S. 305.. Die unabhängigere Stellung360§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.der richterlichen Beamten iſt nur ein Mittel, um die unabhängige Amtsthätigkeit der rechtſprechenden Behörden zu garantiren; aber ſie iſt keineswegs weſentlich und unerläßlich; es giebt zahlreiche, zur Rechtſprechung berufene Behörden, welche nicht aus richterlichen Beamten beſtehen. Die rechtſprechenden Behörden ſind ebenſowenig auf das Gebiet der eigentlichen Juſtiz beſchränkt; es laſſen ſich vielmehr drei Kategorien derſelben unterſcheiden: Juſtizgerichte, Disciplinargerichte, Verwaltungsgerichte.

A. Reichsjuſtizgerichte.
I. Das Reichs-Oberhandelsgericht1)Vgl. Leſſe in der Zeitſchr. für das geſammte Handelsr. Bd. XIV. S. 59 ff. Endemann in Buſch’s Archiv für Theorie u. Praxis des Han - delsr. Bd. 17 S. XLVII ff. Niſſen in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 496 ff. II. S. 261 ff. Sachs ebendaſ. III. S. 341 fg. und beſ. Goldſchmidt Handbuch des Handelsrechts. I. Bd. 2. Aufl. §. 20 S. 147 155..

Als durch das im Jahre 1869 dem Reichstage vorgelegte Geſetz die deutſche Wechſel-Ordnung und das deutſche Handels - Geſetzbuch zu Bundesgeſetzen erklärt und dadurch vor partikulari - ſtiſchen Abänderungen mittelſt der Landesgeſetzgebung geſchützt wer - den ſollten, erwies ſich die Einſetzung eines gemeinſamen oberſten Gerichtshofes für Wechſel - und Handelsſachen als nothwendig, um der Gefahr einer abweichenden Entwickelung des einheitlichen Rechts durch die Praxis und Judikatur vorzubeugen2)Reichstagsverhandl. 1869. Anlagen S. 250. Vgl. auch die Erklärung des Bundesraths-Bevollmächtigten Pape im Reichstag am 10. April 1869. Stenogr. Berichte I. S. 285 fg. .

Auf Antrag der Königl. Sächſiſchen Regierung wurde daher die Errichtung eines oberſten Gerichtshofes für den Norddeutſchen Bund in Ausſicht genommen, welcher in Handels - und Wechſel - ſachen an die Stelle der oberſten Gerichtshöfe der einzelnen Staa - ten treten ſollte3)Ueber die Vorgeſchichte dieſes Antrages vgl. Goldſchmidt a. a. O. S. 147. 148 und Behrend in ſeiner Zeitſchrift für Geſetzgebung und Rechtspflege in Preußen III. S. 200 ff. Der im Auftrage der Sächſi - ſchen Regierung von dem Ober-Appellationsrath Tauchnitz ausgearbei - tete Geſetz-Entwurf wurde nebſt Motiven am 23. Februar 1869 dem Bundes - rath vorgelegt. Der Juſtiz-Ausſchuß empfahl mittelſt Berichtes vom 22. März 1869 deſſen Annahme und der Bundesrath trat dieſem Antrage bei. Nachdem. Eine alsbaldige Verwirklichung fand dieſer361§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.Entſchluß durch das Bundesgeſetz vom 12. Juni 1869 (B. -G.-Bl. S. 201), welches die Errichtung dieſes Gerichshofes in Leipzig anordnete und über die Organiſation und Kompetenz deſſelben die erforderlichen Anordnungen traf. Durch V. v. 22. Juni 1870 (B. -G.-Bl. S. 418) wurde der Beginn ſeiner Wirk - ſamkeit auf den 5. Auguſt 1870 feſtgeſetzt. Bei dem Hinzutritt der Süddeutſchen Staaten wurde das Geſetz auf Süddeutſchland ausgedehnt; auf Bayern durch Geſ. vom 22. April 1871 §. 5 (R. -G.-Bl. S. 89).

Seit dem 2. Sept. 1871 führt der Gerichtshof den Namen Reichs-Oberhandelsgericht und zwar auf Grund der im R. -Geſ. v. 16. April 1871 §. 2 Abſ. 2 enthaltenen Beſtimmung1)Der Plenarbeſchl. vom 2. September 1871 iſt mitgetheilt in den Ent - ſcheidungen des Oberhandelsger. II. S. 448.. Dieſer Gerichtshof erkennt nicht Namens der einzelnen oberſten Landes - gerichte, an deren Stelle er getreten iſt, beziehentlich Namens der einzelnen Landesherren, aus deren Staaten die Rechtsſachen an ihn devolvirt ſind, ſondern durch ihn kömmt die Gerichtsgewalt des Reiches zur Ausübung2)Des Landesherren findet in der Urtheils-Ausfertigung keine Erwäh - nung ſtatt. Die Urtheils-Ausfertigungen werden mit der Ueberſchrift verſehen: Im Namen des Deutſchen Reiches. Sofern nach den Landesgeſetzen die Vollſtreckungsklauſel im Namen des Landesherrn ertheilt wird, wird ſtatt des Landesherrn gleichfalls das Deutſche Reich bezeichnet, z. B. Im Namen des Deutſchen Reiches ſofort vollſtreckbar. Regulativ vom 9. Juli 1874 §. 13. 14. (Centralblatt 1874 S. 277). Vgl. auch Goldſchmidt a. a. O. S. 152.. Die einzelnen Staaten haben demge - mäß auch kein Präſentations - oder Mitbeſetzungsrecht, ſondern die Präſidenten und Mitglieder werden auf Vorſchlag des Bundes - rathes vom Kaiſer ernannt3)Geſ. vom 12. Juni 1869 §. 3. und ſind Reichsbeamte4)ebenda §. 5..

Der Gerichtshof kann auf Grund eines Beſchluſſes des Bun - desrathes in mehrere Senate getheilt werden5)ebenda §. 8 Abſ. 1.. Gegenwärtig iſt3)auch der Reichstag dem Geſetzentwurf mit einigen Abänderungen zugeſtimmt hatte (die Verhandlungen darüber finden ſich in den Stenogr. Berichten des Reichstages von 1869 I. S. 285 ff. II. S. 784 ff., 983 ff. ), ſanctionirte ihn der Bundesrath mit Zweidrittel-Majorität, was von Erheblichkeit war wegen der durch dieſes Geſetz bewirkten Kompetenz-Erweiterung.362§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.derſelbe in drei Senategetheilt1)Bis zum 31. Auguſt 1871 beſtand der Gerichtshof aus einem Senat; vom 1. September 1871 bis zum 31. Auguſt 1874 aus zwei Senaten. Vgl. Entſcheidungen II. S. 449 u. XII. S. 441. Bundesraths-Protok. 1874 §. 336., deren Vorſitz dem Präſidenten, dem erſten und dem zweiten Vicepräſidenten zuſteht, vorbehaltlich der Befugniß des Präſidenten, den Vorſitz in einzelnen Sitzungen des zweiten oder dritten Senats zu übernehmen2)Regulativ vom 9. Juli 1874 §. 4. Außerdem wird für die Zeit der Gerichtsferien (1. Juli bis 1. September) zur Bearbeitung der Ferienſachen ein ſogenannter Ferienſenat gebildet. Regulativ §. 30.. Jedes Mitglied muß einem Senat als ſtändiges Mitglied angehören und jeder Senat einſchließlich des Vorſitzenden aus mindeſtens 7 Mitgliedern beſtehen3)Regulativ §. 5. Vgl. Geſetz §. 8 Abſ. 3.. Zur Faſſung gültiger Beſchlüſſe iſt die Theilnahme von mindeſtens ſieben Mitgliedern, einſchließlich des Vorſitzenden erforderlich4)Die Anzahl iſt daher keine geſchloſſene, feſt beſtimmte, ſondern nur die Minimalzahl iſt feſtgeſetzt.. Die Beſchlußfaſſung erfolgt nach Majorität, ohne daß der Vorſitzende einen Stich-Entſcheid hat; die Zahl der Mit - glieder, welche bei der Faſſung eines Beſchlußes eine entſcheidende Stimme führen, muß daher in allen Fällen eine ungerade ſein5)Geſetz vom 12. Juni 1869 §. 7. Auch im Falle einer Meinungsver - ſchiedenheit über die Stellung der Fragen oder über das Ergebniß der Ab - ſtimmung entſcheidet der Gerichtshof. Regulativ §. 22..

Die Zuſammenſetzung der Senate erfolgt durch den Präſiden - ten, mindeſtens auf die Dauer eines Gerichtsjahres; ebenſo die Bezeichnung der Mitglieder, denen für die Verhinderungsfälle die Vertretung obliegt6)ebenda §. 8 Abſ. 2.. Auch die Vertheilung der Sachen unter die Senate iſt vorläufig für jeden einzelnen Fall dem Präſidenten übertragen7)Regulativ §. 6..

Jeder Senat bearbeitet die ihm zugetheilten Sachen ſelbſtſtän - dig8)Regulativ §. 7.. In einer Reihe von Fällen iſt aber eine Entſcheidung des Plenums erforderlich. Insbeſondere muß, wenn die Anſicht eines Senates über eine Rechtsfrage von einer früheren Anſicht deſſelben Senats oder eines anderen Senats oder des Plenums abweicht, dieſe Rechtsfrage vor der Sachentſcheidung vor das Ple -363§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.num gebracht werden, deſſen Anſicht für die Entſcheidung der Sache, welche zu der Plenarberathung Veranlaſſung gegeben hat, maaßgebend iſt1)Geſ. §. 9.. Ferner iſt ein Plenarbeſchluß erforderlich in Disciplinarſachen oder bei der unfreiwilligen Verſetzung eines Mit - gliedes in den Ruheſtand2)Geſ. §. 23. 24. 25 Abſ. 4.. Ueberdies ſind in dem Geſchäfts - Regulativ §. 8 auf Grund der im Geſetz v. 12. Juni 1869 §. 11 ertheilten Ermächtigung eine Reihe von Angelegenheiten vor das Plenum verwieſen. Ueber die Plenar-Entſcheidungen wird ein be - ſonderes Präjudizien-Buch in drei gleichlautenden, zum Gebrauche der drei Senate[beſtimmten] Exemplaren geführt3)Auch jeder Senat führt ein Präjudizienbuch, in welches die von ihm getroffenen wichtigeren Entſcheidungen eingetragen werden. Die in das Prä - judizienbuch eines Senats eingetragenen Entſcheidungen ſind in den beiden anderen Senaten durch deren Vorſitzende zum Vortrag zu bringen und in eine beſondere Abtheilung der Präjudizienbücher dieſer Senate abſchriftlich zu über - tragen. Regulativ §. 9..

Durch dieſe Anordnungen ſoll trotz der Theilung des Gerichts - hofes in drei Senate die Einheitlichkeit deſſelben und die Gleich - artigkeit ſeiner Rechtſprechung geſichert werden.

Dem Gerichtshof iſt die Abfaſſung ſeines Geſchäfts-Regula - tivs übertragen; daſſelbe bedarf jedoch der Beſtätigung des Bun - desrathes4)Geſetz vom 12. Juni 1869 §. 11. Das Geſchäftsregulativ v. 11. Mai 1871 iſt abgedruckt in den Entſcheidungen des O. -H.-G. II. S. 7 ff., das neue Regulativ vom 9. Juli 1874 im Centralblatt des Deutſchen Reiches S. 275 ff. und in Hirth’s Annalen 1874 S. 1537 ff..

Die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichtes iſt wäh - rend ſeines Beſtehens fortwährend erweitert worden. Sie umfaßt gegenwärtig folgende Rechtsangelegenheiten:

  • 1) bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten über Handelsſachen
    5)Geſetz vom 12. Juni 1869 §. 1. So lange es an einer gemeinſamen Reichs-Prozeß-Ordnung fehlt, erſtreckt ſich die Kompetenz des Reichsgerichts in Handelsſachen in jedem Rechtsgebiet ſo weit, als nach der Gerichtsverfaſſung und dem Rechtsmittelſyſtem deſſelben das oberſte Landesgericht zuſtändig ſein würde. Geſetz §. 12. Vgl. dazu Endemann a. a. O. S. LXXXV. u. Goldſchmidt a. a. O. S. 152. 153.
    5).

Zu den Handelsſachen gehören:

  • a) Die im §. 13 des Geſetzes vom 12. Juni 1869 aufgeführ -364§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.ten Rechtsſachen; jedoch mit der Erweiterung, daß, wenn nach den Landesgeſetzen die Klage noch in anderen als den in dieſem Paragraphen bezeichneten bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten vor das Handelsgericht erſter Inſtanz gewieſen iſt, auch dieſe Sachen im Sinne des Geſetzes v. 12. Juni 1869 als Handelsſachen anzu - ſehen ſind.
  • b) Der urſprüngliche Begriff der Handelsſachen iſt erweitert worden durch das Geſ. v. 11. Juni 1870 Art. 174 u. Art. 208
    1)B. -G.-Bl. S. 376. 378.
    1), indem Kommanditgeſellſchaften auf Aktien und Aktiengeſellſchaften, auch dann, wenn der Gegenſtand des Unternehmens nicht in Han - delsgeſchäften beſteht, als Handelsgeſellſchaften gelten ; das ſoll heißen: dem Handelsrecht und insbeſondere den in Betreff der Kaufleute gegebenen Beſtimmungen unterworfen ſind. (H. -G.-B. Art. 5.)
  • c) Durch das Geſetz über Markenſchutz v. 30. Nov. 1874 §. 19 (R. -G.-Bl. S. 146) iſt beſtimmt worden, daß alle bürger - liche Rechtsſtreitigkeiten, in welchen durch die Klage ein Anſpruch auf Grund dieſes Geſetzes erhoben wird, im Sinne der Reichs - und Landesgeſetze als Handelsſachen gelten.
  • d) Das Bankgeſetz v. 14. März 1875 §. 50 (R. -G.-Bl. S. 193) erklärt den Rechtsſtreit über die Entziehung der Befug - niß einer Privatbank zur Ausgabe von Noten für eine Handels - ſache im Sinne der Reichs - und Landesgeſetze.
  • 2) Entſchädigungs-Anſprüche gegen den Reichsfiskus auf Grund des Geſetzes v. 1. Juni 1870 über die Aufhebung der Abgaben von der Flößerei werden in letzter Inſtanz von dem R. -O.-H.-G. entſchieden
    2)R. -G. vom 1. Juni 1870 §. 2 Abſ. 3 (B. -G.-Bl. S. 313).
    2).
  • 3) Bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche nach dem Reichsgeſetz über das Urheberrecht v. 11 Juni 1870 zu beurtheilen ſind
    3)R. -G. vom 11. Juni 1870 §. 32 (B. -G.-Bl. S. 346).
    3).
  • 4) Die Entſcheidung letzter Inſtanz in allen vor den Kon - ſulargerichten verhandelten Rechtsſachen, ſowohl bürgerlichen als ſtrafrechtlichen
    4)R. -G. v. 22. April 1871 §. 3 (R. -G.-Bl. S. 88). Siehe unten S. 366 fg.
    4).
  • 5) Entſchädigungs-Anſprüche wegen der bei dem Betriebe von365§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.Eiſenbahnen, Bergwerken u. ſ. w. herbeigeführten Töd - tungen und Körperverletzungen
    1)R. -G. vom 7. Juni 1871 §. 10 (R. -G.-Bl. S. 209).
    1).
  • 6) Das Reichsbeamten-Geſetz v. 31. Mai 1873 hat die Zuſtändigkeit der R. -O.-H.-G. in letzter Inſtanz begründet bei Rechtsſtreitigkeiten:
  • a) über vermögensrechtliche Anſprüche der Reichs-Beamten aus ihrem Dienſtverhältniß, insbeſondere auf Beſoldung, Wartegeld oder Penſion, ſowie über die den Hinterbliebenen der Reichs-Be - amten geſetzlich gewährten Rechts-Anſprüche auf Bewilligungen
    2)Geſ. vom 31. März 1873 §. 149 ff. (R. -G.-Bl. S. 88).
    2).
  • b) über vermögensrechtliche Anſprüche gegen Reichsbeamte wegen Defekten und wegen Ueberſchreitung ihrer amtlichen Befug - niſſe oder pflichtwidriger Unterlaſſung von Amtshandlungen
    3)Geſ. vom 31. März 1873 §. 153. 154 (R. -G.-Bl. S. 89).
    3).
  • 7) Die Strandungs-Ordnung v. 17 Mai 1873 §. 44 (R. -G. - Bl. S. 82) hat die Beſtimmungen des Geſ. v. 12. Juni 1869 ausgedehnt auf bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten, welche auf die Ber - gung außer dem Falle der Seenoth ſich beziehen.
  • 8) Als Disciplinar-Behörde entſcheidet das Reichs-Oberhan - delsgericht theils über die eigenen Mitglieder auf Grund des Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 23 26, theils gegen die Rechtsanwalte und Advokaten, welche in den bei demſelben anhängigen Rechts - ſachen thätig ſind, auf Grund des Reichsgeſ. v. 29. März 1873. (R. -G.-Bl. S. 60)
    4)Zu dem letzteren Geſetz iſt zu vergleichen Kanngießer Recht der Deutſchen Reichsbeamten S. 270 ff.
    4).
  • 9) Endlich iſt das R. -O.-H.-G. als oberſter Gerichtshof für Elſaß-Lothringen an die Stelle des Kaſſationshofes zu Paris getreten
    5)Geſ. vom 14. Juni 1871 (R. -G.-Bl. S. 315).
    5). In dieſer Eigenſchaft iſt es nicht im ſtren - gen Sinne Reichsgericht, ſondern ebenſo wie alle Gerichte der unteren Inſtanzen in Elſaß-Lothringen Landesgericht
    6)Vgl. unten den Abſchnitt über das Reichsland. §. 54.
    6); jedoch iſt im Reichsland das Reich zugleich Subjekt der Landesſtaats - gewalt. Seine Kompetenz beſtimmt ſich nach den in Elſaß-Loth - ringen für den oberſten Gerichtshof geltenden Geſetzen, alſo vor - läufig nach dem franz. Recht
    7)Geſ. vom 14. Juni 1871 §. 2.
    7).
366§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

In formeller Hinſicht gilt die Vorſchrift, daß das R. -O.-H.-G. alle Urtheile auf Grund des Geſ. v. 14. Juni 1871 unter der Bezeichnung: Das Reichs-Oberhandelsgericht als oberſter Gerichts - hof für Elſaß und Lothringen erläßt1)Regulativ vom 9. Juli 1874 §. 35. (Centralblatt S. 281.).

II. Die Reichs-Konſular-Gerichte.

1) Den Reichskonſuln ſteht eine volle Gerichtsbarkeit ſowohl in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten als in Strafſachen mit Einſchluß der Polizei-Jurisdiktion zu, wenn ſie in Ländern reſidiren, in welchen ihnen durch Herkommen oder durch Staatsverträge die Ausübung der Gerichtsbarkeit geſtattet iſt2)Konſulatsgeſetz vom 8. November 1867 §. 22 Abſ. 1. Dieſe Länder ſind die Türkei nebſt den ihrer Oberhoheit unterworfenen Ländern, vgl. jedoch für Egypten das R. -G. vom 30. März 1874 (R. -G.-Bl. S. 23); ferner Perſien, (Vertrag vom 11. Juni 1873 Art 13 R. -G.-Bl. S. 358); China, Siam, Japan (Vertr. v. 20. Febr. 1869 B. -G.-Bl. 1870 S. 1)..

Die Ausübung der Konſulargerichtsbarkeit ſteht jedoch nur denjenigen Konſuln zu, denen ſie vom Reichskanzler unter Anwei - ſung eines Jurisdiktionsbezirkes ſpeziell übertragen wird3)Allgem. Dienſt-Inſtruktion für die Konſuln vom 6. Juni 1871 zu §§. 22 24 in Hirth’s Annalen 1871 S. 630.. Die Jurisdiktionsbezirke der einzelnen Konſuln werden von dem Reichs - kanzler nach Vernehmung des Bundesraths-Ausſchuſſes für Han - del und Verkehr beſtimmt4)Konſulatsgeſetz §. 23. Vgl. Reichsgeſetzbl. 1871 S. 373. 374..

Unterworfen ſind der Konſulargerichtsbarkeit alle in den Kon - ſular-Jurisdiktionsbezirken wohnenden oder ſich aufhaltenden Reichs - angehörigen und Schutzgenoſſen5)Konſulatsgeſetz §. 22 Abſ. 2. Für politiſche Verbrechen und Vergehen welche innerhalb des Deutſchen Reiches oder in Beziehung auf daſſelbe verübt ſind, beſteht jedoch die ſpezielle Zuſtändigkeit des Preuß. Staatsgerichtshofes. Preuß. Geſetz vom 25. April 1853 (Geſetz-Samml. S. 162). Preuß. Geſetz über die Konſulargerichtsbarkeit vom 29. Juni 1865 §. 45 (B. -G.-Bl. 1867 S. 153). Reichskonſulargeſetz a. a. O. Ueber den Begriff der Schutzge - noſſen vgl. Beſchluß des Reichs-Oberhandelsgerichts vom 2. Febr. 1875. Entſcheidungen Bd. XVI. S. 17 ff. Auch abgedruckt im Centralblatt 1875 S. 283 ff..

Für die Ausübung der Konſular-Gerichtsbarkeit iſt bis zum Erlaſſe eines Reichsgeſetzes das Preußiſche Geſetz über die Gerichtsbarkeit der Konſuln v. 29. Juni 1865 für maaßgebend367§. 26. Die richterlichen Reichsbehörden.erklärt, demſelben alſo die Kraft eines Reichsgeſetzes beigelegt worden1)Es iſt abgedruckt im B. -G.-Bl. 1867 S. 144 ff. Zu dieſem Geſetze iſt eine Inſtruktion des Miniſters der auswärt. Angel. und des Juſtiz-Mini - ſters am 6. November 1865 ergangen, welche noch jetzt von Bedeutung iſt. Sie iſt gedruckt im Preuß. Juſt. -Miniſt.-Bl. 1865 S. 235 ff. u. bei Döhl Konſularweſen S. 194 ff., jedoch ſind die den preußiſchen Miniſtern und Geſand - ten übertragenen Befugniſſe auf den Reichskanzler übergegangen2)Konſulatsgeſetz §. 24..

Die Konſulargerichtsbarkeit wird von dem Vorſteher eines Konſulates ausgeübt; in Ermangelung eines Konſuls von dem Kanzler der Geſandtſchaft, falls eine ſolche in dem Jurisdiktions - bezirk beſteht3)Preuß. Geſetz vom 29. Juni 1865 §§. 3. 5.. Auf die mit Gerichtsbarkeit verſehenen Kon - ſuln und Geſandtſchaftskanzler ſind die für die richterlichen Beam - ten beſtehenden Vorſchriften über Befähigung, Ernennung, Dauer der Anſtellung, Amtsverluſt, Dienſtentlaſſung, Verſetzung in den Ruheſtand und Amtsſuspenſion nicht anwendbar4)ebenda §. 6..

Die Gerichtsbarkeit wird ausgeübt entweder von dem Kon - ſul allein, oder von dem Konſulargericht. Daſſelbe beſteht aus dem Konſul als Vorſitzenden und zwei Beiſitzern, welche der Kon - ſul am Anfang jedes Jahres für die Dauer deſſelben aus den achtbaren Gerichtseingeſeſſenen oder in Ermangelung ſolcher aus ſonſtigen achtbaren Einwohnern ſeines Bezirkes ernennt. Für die Beiſitzer ſind zugleich Stellvertreter zu ernennen. Die Beiſitzer und deren Vertreter werden vor dem Antritt ihres Amtes auf unpar - teiiſche und gewiſſenhafte Erfüllung ihrer Amtspflichten beeidigt. Den Beiſitzern ſteht unbeſchränktes Stimmrecht zu5)ebenda §. 8 12..

Der Konſul hat die Perſonen zu beſtimmen und in ein Ver - zeichniß einzutragen, welche in den zu ſeiner Gerichtsbarkeit ge - hörigen Sachen die Funktionen der Rechtsanwalte auszuüben haben6)ebenda §. 15..

Sowohl für die materielle Entſcheidung als für das Verfahren ſind in Ermangelung von Reichsgeſetzen die in dem Geltungsge - biete des Preuß. Allg. Landrechts erlaſſenen Preußiſchen Rechts - vorſchriften zur Anwendung zu bringen7)Konſulatsgeſetz §. 24 Abſ. 2. Darnach beginnt die verbindliche.

368§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

Auch hinſichtlich der Gerichtskoſten iſt der dem Preuß. Geſ. v. 29. Juni 1865 angehängte Tarif vom 24. Okt. 1865 durch das Reichsgeſ. v. 1. Juli 1872 §. 8 (R. -G.-Bl. S. 426) in Kraft erhalten worden.

Für alle zur Zuſtändigkeit der Konſuln gehörigen Rechtsſachen, ſowohl Civilſachen als Criminalſachen, wird die Gerichtsbarkeit der zweiten Inſtanz von dem Appellationsgericht in Stet - tin ausgeübt1)Preuß. Geſetz §. 23. 50. Ausgenommen ſind nur Schwurgerichts - Sachen in dem Falle, wenn ein inländiſches Schwurgericht competent iſt. Ebenda §. 43., welches ſeit Gründung des Reiches als Reichs - Oberkonſulargericht fungirt. Die Entſcheidung dritter Inſtanz, ſoweit eine ſolche nach den in Betracht kommenden Prozeß-Vor - ſchriften zuläſſig iſt, hat das Reichsgeſ. v. 22 April 1871 §. 3 (R. -G.-Bl. S. 88) von dem Preuß. Obertribunal auf das Reichs - Oberhandelsgericht übertragen.

2) Auch in denjenigen Staaten, in denen eine Konſular-Ju - risdiktion nicht beſteht, können die Reichskonſuln einzelne ge - richtliche Handlungen vornehmen und zwar nach folgenden Regeln:

a) Allen Reichskonſulaten liegen die Amtsfunktionen der Seemanns-Aemter ob2)Seemanns-Ordnung vom 27. Dezember 1872 §. 4. Hierher gehört namentlich die von dem Seemanns-Amt zu treffende vorläufige Ent - ſcheidung von Rechtsſtreitigkeiten zwiſchen Schiffsleuten und Schiffer §. 105. (R. -G.-Bl. S. 409 und 431).; es ſind ihnen ferner Unterſuchungen und Beſcheinigungen richterlichen Charakters übertragen in dem Han - delsgeſetzbuch Art. 499 bei dem Verkauf eines Schiffes und Art. 686 bei der Ausſtellung eines Bodmereibriefes, und in dem Geſ. v. 25. Okt. 1867 §. 16 (R. -G.-B. S. 38) in Betreff der Aus - ſtellung interimiſtiſcher Schiffs-Certifikate3)Vgl. Konſulatsgeſetz §. 37.; endlich ſind ſie er - mächtigt Verklarungen aufzunehmen4)Konſulatsgeſetz §. 36. In Deutſchland ſind hierzu nur die Gerichte zuſtändig. Handelsgeſetzbuch Art. 492..

7)Kraft der Reichsgeſetze in den Konſular-Jurisdiktionsbezirken nach Ablauf von 6 Monaten, von dem Tage gerechnet, an welchem dieſelben durch das R. -G.-Bl. verkündet worden ſind. Preuß. Geſetz vom 29. Juni 1865 §. 16. 17. 20. 35. 36. In Handelsſachen kommt jedoch vor dem Preuß. Partikularrecht zu - nächſt das in den Konſulatsbezirken geltende Handelsgewohnheitsrecht zur An - wendung. Handelsgeſetzbuch Art. 1. Preuß. Geſetz §. 16.

369§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

b) Einzelnen Reichs-Konſuln kann vom Reichskanzler die Befugniß zur Abhörung von Zeugen und zur Abnahme von Eiden beigelegt werden, mit der Wirkung, daß die von dieſen Konſuln aufgenommenen Verhandlungen den Verhandlungen der zuſtändigen inländiſchen Behörden gleichſtehen1)Konſulatsgeſetz §. 20..

III. Die Marine-Strafgerichte.

Die zur Kaiſerlichen Marine gehörenden Militärperſonen, ſo - wohl die Perſonen des Soldatenſtandes als die Beamten, ſind der Strafgerichtsbarkeit der ordentlichen Gerichte entzogen und der - jenigen der militäriſchen Marinegerichte unterworfen. Da die Marine der Staatsgewalt der Bundesglieder, auch der Preußens, völlig entzogen iſt, Verwaltung, Oberbefehl, Ernennung aller Offi - ziere und Beamten dem Kaiſer zuſteht, und alle in Marine-Ange - legenheiten zur Ausübung gelangenden Hoheitsrechte auch Bethäti - gungen der Reichsgewalt ſind, ſo ergiebt ſich, daß die Marine - Gerichte im ſtaatsrechtlichen Sinne Reichsſtrafgerichte ſind.

Die Gerichtsbarkeit wird ausgeübt von der Kommandatur in Kiel und von den Stationschefs der beiden Marineſtationen der Oſtſee und Nordſee in Kiel und Wilhelmshaven unter Zuziehung eines Stations-Auditeurs, ferner von den Kommandanten der in Dienſt geſtellten Schiffe unter Zuziehung des Geſchwader-Auditeurs, ſowie von der Kaiſerlichen Admiralität, in welcher ein beſonderes Dezernat (J.) für Militär-Juſtizgeſchäfte beſteht. Als oberſter Marine-Gerichtshof fungirt das Königl. Preuß. General-Audito - riat in Berlin.

B. Reichs-Disciplinar-Gerichte.

Dieſelben ſind keine ſtändigen Behörden; ſie treten nur zu - ſammen im Falle des Bedürfniſſes. Die Mitglieder verſehen ihr Amt als ein unbeſoldetes Nebenamt; erhalten jedoch, wenn ſie an dem Orte, an welchem das Gericht zuſammentritt, nicht wohnhaft ſind, Reiſegelder und Diäten. Aus dem §. 93 des Reichsbeamten - Geſetzes v. 31. März 1873 ergiebt ſich, daß zu Mitgliedern der entſcheidenden Disciplinarbehörden nur Beamte im Reichs - oder Staatsdienſt ernannt werden können, indem daſelbſt angeordnetLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 24370§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.iſt, daß die Mitglieder der Disciplinargerichte das ihnen über - tragene Nebenamt ſo lange innehaben, wie das zur Zeit ihrer Ernennung von ihnen bekleidete Reichs - oder Staatsamt 1)Bei den zu Mitgliedern des Disciplinarhofes ernannten Mitgliedern des Bundesrathes iſt unter dem von ihnen bekleideten Staatsamt die Be - vollmächtigung zum Bundesrathe zu verſtehen..

Dadurch iſt der, der richterlichen Stellung entſprechende Cha - rakter der Inamovibilität für die Mitglieder der Disciplinargerichte inſoweit gewahrt, als dies bei einem Nebenamte thunlich iſt. Die Mitglieder werden vom Bundesrath gewählt, vom Kaiſer ernannt und für die Erfüllung der Obliegenheiten ihres Amtes ver - pflichtet2)Geſetz vom 31. März 1873 §. 93..

Die Geſchäfts-Ordnung der Disciplinarbehörden wird durch ein vom Disciplinarhof zu entwerfendes und vom Bundesrath zu beſtätigendes Regulativ normirt3)cit. Geſetz §. 92.. Daſſelbe iſt ohne Datum veröffentlicht im Centralblatt f. d. Deutſche Reich v. 19. Dezember 1873 S. 390 ff. Die prozeßualiſchen Grundſätze des Disciplinar - verfahrens ſind in dem Reichs-Beamten-Geſetz §. 80 ff. beſonders §. 94 ff., feſtgeſtellt.

Als Reichs-Disciplinar-Gerichte fungiren folgende Behörden.

I. Disciplinar-Untergerichte.
1) Die Disciplinarkammern.

Die Errichtung von Disciplinarkammern iſt durch §. 87 des citirten Geſetzes angeordnet an folgenden Orten: Potsdam, Frank - furt a. O., Königsberg, Danzig, Stettin, Köslin, Bromberg, Poſen, Magdeburg, Erfurt, Breslau, Liegnitz, Oppeln, Münſter, Arnsberg, Düſſeldorf, Köln, Trier, Darmſtadt, Frankfurt a. M., Kaſſel, Hannover, Schleswig, Leipzig, Karlsruhe, Schwerin, Lübeck und Bremen4)Das Verzeichniß der Mitglieder ſämmtlicher Disciplinar-Kammern iſt veröffentlicht im Centralblatt 1873 S. 238 ff..

Es iſt aber dem kaiſer das Recht vorbehalten, im Einver - nehmen mit dem Bundesrath auch an anderen Orten Disciplinar - kammern zu errichten. In Ausübung dieſes Rechtes ſind Disci - plinar-Kammern in Stuttgart und Straßburg errichtet worden5)Die Kaiſerliche Verordnung vom 7. Januar 1874 wegen Errichtung.

371§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.

Den einzelnen Disciplinarkammern ſind beſtimmte Jurisdik - tions-Bezirke zugewieſen, welche vom Kaiſer im Einvernehmen mit dem Bundesrathe abgegrenzt werden. (§. 88 Abſ. 1.) Die Feſtſtellung dieſer Bezirke iſt erfolgt durch die Verordnung v. 11. Juli 1873. (R. -G.-Bl. S. 293.) Zuſtändig iſt diejenige Kammer, in deren Bezirk der Angeſchuldigte zur Zeit der Einleitung des förmlichen Disciplinarverfahrens ſeinen dienſtlichen Wohnſitz hat. (§. 88 Abſ. 2)1)Das förmliche Disciplinar-Verfahren iſt der auf Entfernung aus dem Amte gerichtete Disciplinar-Prozeß. Die Einleitung deſſelben geſchieht durch Verfügung der oberſten Reichsbehörde. Reichsbeamten-Geſetz §. 84..

Für Reichsbeamte, welche ihren dienſtlichen Wohnſitz im Aus - lande haben, iſt die Disciplinarkammer in Potsdam zuſtändig; ausgenommen ſind die Beamten der Reichs-Eiſenbahn-Verwaltung, für welche die Disciplinarkammer in Straßburg competent iſt2)Geſetz vom 5. November 1874 (R. -G.-Bl. S. 128.) Es ſind dies namentlich die im Großh. Luxemburg ſtationirten Eiſenbahnbeamten und die Stationsbeamten in Baſel..

Iſt die Zuſtändigkeit verſchiedener Disciplinarkammern ſtrei - tig, ſo entſcheidet der Disciplinarhof über dieſelbe. Ebenſo wird, wenn eine Disciplinarkammer rekuſirt wird, vom Disciplinarhof eine andere an deren Stelle ernannt3)Reichsbeamtengeſetz §. 90..

Hinſichtlich der Perſonen erſtreckt ſich die Zuſtändigkeit der Disciplinarkammern auf alle Reichsbeamte im Sinne des Geſetzes v. 31. März 1873 §. 1, welche nicht durch eine beſondere geſetz - liche Vorſchrift davon ausgenommen ſind.

Jede Disciplinarkammer beſteht aus ſieben Mitgliedern, von denen der Präſident und wenigſtens drei andere Mitglieder in richterlicher Stellung in einem Bundesſtaate ſein müſſen. Die Verhandlung und Entſcheidung in den einzelnen Disciplinarſachen erfolgt aber durch fünf Mitglieder. Der Vorſitzende und wenig - ſtens zwei Beiſitzer müſſen zu den richterlichen Mitgliedern gehören4)cit. Geſetz §. 89. Die Zahl der in der Sitzung mitwirkenden Mitglie -. 5)der Kammer in Straßburg mit dem Bezirk Elſaß-Lothringen iſt im Reichs - Geſetzblatt von 1874 S. 3 publicirt. Die Kaiſerl. Verordnung wegen Errich - tung der Kammer in Stuttgart iſt nicht publizirt worden; die Kammer in Stuttgart wird aber in der Verordn. vom 11. Juli 1873 über die Abgrenzung der Bezirke der Disciplinarkammern mit aufgeführt und die Ernennung ihrer Mitglieder iſt veröffentlicht im Centralblatt 1873 S. 389.24*372§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.Ueber die Reihenfolge, in welcher die richterlichen Mitglieder berufen werden, enthält das Regulativ §. 4 genaue Vorſchriften. Die Reihenfolge beſtimmt ſich nach dem Dienſtalter, ſo daß die älteren Mitglieder vor den jüngeren zur Theilnahme berufen ſind1)Die übrigen Vorſchriften des §. 4 beziehen ſich auf die Vertretung richterlicher Mitglieder, wenn ſie verhindert oder an Stelle des verhinderten Präſidenten zur Uebernahme des Vorſitzes berufen ſind.. Die nicht richterlichen Mitglieder beruft der Präſident für die einzelnen Sitzungen thunlichſt aus dem Verwaltungszweige, welchem der Angeſchuldigte angehört2)Regulativ §. 5 Abſ. 2.. Bei Entſcheidungen und Beſchlüſſen, welche auf Grund einer mündlichen Verhandlung erlaſſen werden, dürfen nur Mitglieder mitwirken, vor welchen die mündliche Ver - handlung ſtattgefunden hat3)Regulativ §. 6..

Der Präſident führt in allen Sitzungen den Vorſitz; ernennt den Dezernenten oder Referenten und nach Befinden einen Kor - referenten; ihm liegt die Leitung und Beaufſichtigung des ganzen Geſchäftsganges ob; er zeichnet die Konzepte aller Verfügungen, vollzieht alle Reinſchriften und dekretirt in allen, das Kollegium als ſolches betreffenden Angelegenheiten4)Regulativ §. 9. 13. 18..

Alle Beſchlüſſe und Entſcheidungen werden nach Stimmen - Mehrheit gefaßt5)Die Stimme des Präſidenten giebt bei Stimmengleichheit den Aus - ſchlag; bei mündlichen Verhandlungen und Entſcheidungen kann dieſer Fall nicht vorkommen (Geſetz §. 89), wohl aber bei anderen Beſchlüſſen. (Regulativ §. 2. 7. 9 Abſ. 4.); im Falle einer Meinungs-Verſchiedenheit über die Stellung der Fragen oder über das Ergebniß der Abſtimmung entſcheidet das Kollegium. Die Ausfertigungen der Entſcheidungen ſind mit der Ueberſchrift zu verſehen: Im Namen des Deutſchen Reiches6)Regulativ §. 15..

2) Die Militär-Disciplinar-Kommiſſionen7)Vgl. die Motive zu dem Geſetz-Entwurf vom 8. April 1872. Druckſ. des Reichstages 1872 Bd. I. Nr. 9 S. 47 ff. Die Darſtellung bei Kann - gießer Recht der Reichsbeamten S. 214 lehnt ſich eng an die Motive an..

In Betreff der Militärbeamten, welche ausſchließlich unter4)der iſt eine feſt geſchloſſene und darf einſchließlich des Vorſitzenden nicht mehr als fünf betragen. Vgl. Regulativ §. 3.373§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.Militärbefehlshabern ſtehen, tritt an die Stelle der Disciplinar - kammer die Disciplinarkommiſſion. (Geſetz vom 31. März 1873 §. 121.)

Die Kompetenz derſelben ergiebt ſich aus folgenden Sätzen:

Die Kompetenz iſt ausgeſchloſſen hinſichtlich aller Per - ſonen des Soldatenſtandes (Geſ. §. 157), über welche die mili - täriſchen Vorgeſetzten die Disciplinar-Strafgewalt ausüben gemäß der Disciplinar-Strafordnung für das deutſche Heer vom 31. Okto - ber 1872 und der Disciplinar-Strafordnung für die Kaiſerliche Marine vom 23. November 1872. Ferner hinſichtlich der richter - lichen Militär-Juſtizbeamten, Auditeure, (Geſ. §. 158), hin - ſichtlich deren die Vorſchriften der Landesgeſetze Anwendung finden1)In Betreff der Auditeure der unter Preußiſcher Verwaltung ſte - henden Kontingente und der Marine-Auditeure finden die Vorſchriften des Preuß. Geſetzes vom 7. Mai 1851 über die Dienſtvergehen der Richter (Geſ. - Sammlung S. 218), insbeſondere §. 70. 72 Anwendung. Darnach iſt das General-Auditoriat das zuſtändige Disciplinar-Gericht für die Auditeure, das Ober-Tribunal das zuſtändige Disciplinar-Gericht für die Mitglieder des Ge - neral-Auditoriats. Vgl. auch Militär-Strafgerichts-Ordn. §. 86 ff. (B. -G.-Bl. 1867 S. 248.) Ausführliche Mittheilungen aus den Motiven des Reichsbe - amtengeſetzes bei Kanngießer S. 245 ff.. Sodann hinſichtlich derjenigen Beamten des Militärs und der Marine, welche ſich in einem doppelten Unterordnungs-Ver - hältniß, einerſeits zu einem Militär-Befehlshaber, andererſeits zu einer ihnen vorgeſetzten Verwaltungsbehörde befinden. Dieſelben ſtehen bei Verletzung der Dienſt-Vorſchriften, welche die Grund - lage ihrer Amtswirkſamkeit bilden, unter der Disciplinar-Gewalt der vorgeſetzten Verwaltungsbehörde; hinſichtlich aller übrigen zur Disciplinar-Beſtrafung geeigneten Handlungen iſt der vorgeſetzte Militär-Befehlshaber zuſtändig2)Motive a. a. O. S. 48. Daſelbſt wird hinzugefügt: Wo die Gren - zen dieſer beiden Subordinations-Verhältniſſe zweifelhaft ſein ſollten, müſſen bei Ausübung der Disciplinarſtrafgewalt die für dieſe Beamten ertheilten be - ſonderen Dienſtvorſchriften und Inſtruktionen berückſichtigt werden. . Wenn gegen ſolche Militär - oder Marine-Beamte im Wege des Disciplinarverfahrens auf Amts - Entſetzung erkannt werden ſoll, ſo iſt die Disciplinar-Kammer zuſtändig und es finden alle, in dem Geſetz vom 31. März 1873 gegebenen Vorſchriften über die Zuſammenſetzung der Disciplinar - Kammern volle Anwendung3)Motive a. a. O. Kanngießer S. 215.. Hinſichtlich derjenigen Militär -374§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.Beamten, welche ausſchließlich unter Militär-Befehlshabern ſtehen, treten hinſichtlich aller Strafen, welche nicht in Entlaſſung beſtehen, die Vorſchriften der Militär - (reſp. Marine -) Disciplinar - Straf-Ordnungen ein. (Geſetz §. 123)1)Vgl. Militär-Disciplinar-Ordnung §§. 32. 33. Marine-Disciplinar - Ordnung §§. 16. 17 und 32. 33..

Es bleiben mithin für die Kompetenz der Disciplinar-Kom - miſſionen lediglich die Fälle übrig, in welchen es ſich um die dis - ciplinariſche[Amtsentſetzung] eines Militär - oder Marine-Beamten handelt, welcher ausſchließlich unter Militärbefehlshabern ſteht2)Im Bundesgeſetzblatt von 1867 S. 289 unter Z. 1 findet ſich ein Verzeichniß derjenigen Militär-Beamten, welche in einem doppelten Unterordnungsverhältniß ſtehen; dabei iſt die Bemerkung hinzugefügt, daß alle anderen Militärbeamten nur ihren vorgeſetzten Militär-Befehlshabern untergeordnet ſind. Das letztere iſt alſo die Regel. Bei der Marine findet das umgekehrte Verhältniß ſtatt. Regelmäßig ſtehen alle Marine-Beamten in einem doppelten Unterordnungs-Verhältniß; es kann aber auch das Gegentheil vorkommen, z. B. ein Marinedepot-Beamter der Disciplin des Intendanten entzogen und derjenigen eines Seeoffiziers unterſtellt werden. Vgl. Motive a. a. O. S. 48. 49..

Die Disciplinarkommiſſionen werden gebildet:

  • für jedes Armee-Korps am Garniſonorte des General-Kom - mando’s,
  • für jede der beiden Flottenſtationen an dem Stationsort.

Jede Disciplinar-Kommiſſion für das Heer beſteht aus einem Oberſten als Vorſitzenden und ſechs anderen Mitgliedern, von denen 3 zu den Stabs-Offizieren, Hauptleuten oder Rittmeiſtern, die übrigen zu den oberen Beamten der Militär-Verwaltung gehören müſſen. Jede Disciplinar-Kommiſſion für die Marine beſteht aus einem Kapitän zur See als Vorſitzenden und ſechs anderen Mit - gliedern, von denen 3 zu den Stabs-Offizieren der Marine oder zu den Kapitän-Lieutenants, die übrigen zu den oberen Beamten der Marine-Verwaltung gehören müſſen3)Geſetz §. 121 Abſ. 2. 3..

Die Mitglieder der Kommiſſion werden von der oberſten Reichs - behörde ernannt4)ebendaſ. Abſ. 3. Darunter iſt zu verſtehen gemäß der Verordn. vom 23. November 1874 (R. -G.-Bl. S. 136) die Kaiſerl. Admiralität und das preußiſche, ſächſiſche, württembergiſche Kriegsminiſterium..

Der kommandirende General des Armeekorps, beziehungsweiſe375§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.der Chef der Kaiſerl. Admiralität verfügt die Einleitung der Unter - ſuchung und ernennt den Vorunterſuchungs-Beamten; die Verrich - tungen der Staatsanwaltſchaft werden von dem Korps-Auditeur, beziehungsweiſe dem Marine-Stations-Auditeur wahrgenommen1)Geſetz §. 120. 122.. Im Uebrigen finden die Vorſchriften, welche für die Disciplinar - Kammern gegeben ſind, analoge Anwendung2)Der Ausdruck Disciplinar-Behörde umfaßt beide Arten..

II. Oberſte Disziplinar-Gerichte.
1. Der Disciplinarhof.

Derſelbe entſcheidet in zweiter und letzter Inſtanz in allen denjenigen Disciplinar-Prozeſſen, welche in erſter Inſtanz vor die Disciplinar-Kammern oder vor die Militär-Disciplinar-Kommiſ - ſionen gehören3)Geſetz §. 121 Abſ. 1 ſetzt nur in erſter Inſtanz an Stelle der Dis - ciplinar-Kammern die Kommiſſionen; die allgemeine, im §. 86 enthaltene Vor - ſchrift über die zweite Inſtanz bleibt unberührt..

Auch der Disciplinarhof iſt keine ſtändige Behörde; er tritt im Falle des Bedürfniſſes am Sitze des Reichs-Oberhandelsgerichts zuſammen4)Geſetz §. 87 Abſ. 3.. Er beſteht aus elf Mitgliedern. Unter denſelben müſſen wenigſtens vier zu den Bevollmächtigten zum Bundesrathe, der Präſident und wenigſtens fünf zu den Mitgliedern des Reichs - Oberhandelsgerichts gehören5)Geſetz §. 91 Abſ. 1. Die Bundesraths-Mitglieder nehmen ihre Stelle im Disciplinarhof gleich nach dem Präſidenten oder deſſen Vertreter, alſo vor den übrigen Mitgliedern ein und rangiren unter einander nach der Reihen - folge, welche für ſie im Bundesrathe beſteht. Zur Vertretung des Präſidenten iſt aber der Vice-Präſident des Reichs-Oberhandelsgerichts, eventuell das äl - teſte, dem Disciplinarhofe angehörende Mitglied des Reichs-Oberhandelsgerichts berufen. Regulativ §. 23 Nr. 4.. Ueber die Ernennung derſelben gelten dieſelben Regeln wie bei den Disziplinarkammern. (§. 93.)

In den einzelnen Disciplinarſachen erfolgt die mündliche Ver - handlung und Entſcheidung durch 7 Mitglieder. Der Vorſitzende und wenigſtens drei Beiſitzer müſſen zu den richterlichen Mitglie - dern gehören6)Geſetz §. 91 Abſ. 2. Die Zahl iſt eine geſchloſſene. Vgl. Regulativ §. 23 Nr. 2.. Soweit ſich hieraus nicht Abänderungen ergeben,376§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.gelten für den Geſchäftsgang beim Disciplinarhof dieſelben Vor - ſchriften, welche für die Disciplinarkammern erlaſſen ſind.

2. Das Reichs-Oberhandelsgericht und Das Bundesamt für das Heimathweſen

entſcheiden in erſter und letzter Inſtanz über ihre Mitglieder1)Hinſichtlich der übrigen Beamten dieſer Behörden iſt die Kompetenz der Disciplinarkammern und des Disciplinarhofes nicht beſchränkt. in denjenigen Fällen, in welchen nach den §§. 23 26 des Geſetzes vom 12. Juni 1869 Amtsverluſt, Suspenſion vom Amte oder unfreiwillige Verſetzung in den Ruheſtand zuläſſig iſt2)Geſetz vom 12. Juni 1869 a. a. O. Geſetz vom 6. Juni 1870 §. 43. Geſetz vom 31. März 1873 §. 158. Die Mitglieder und Beamten des Rech - nungshofes unterliegen der Disciplinar-Gewalt des Reiches oder einer Reichsbehörde überhaupt gar nicht, ſondern derjenigen Preußens, welche durch das Obertribunal für den Präſidenten und die Mitglieder, durch die Ober-Rechnungskammer für die übrigen Beamten ausgeübt wird. Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 §. 5 u. §. 6. (Preuß. Geſ. -Samml. S. 278.) Nur übt hinſichtlich der vom Reiche angeſtellten Mitglieder der Reichskanzler die im §. 5 cit. dem Preuß. Staatsminiſterium und Juſtizminiſter zugewie - ſene Zuſtändigkeit aus. Vgl. Kanngießer a. a. O. S. 249.. Das Reichs-Oberhandelsgericht iſt außerdem gegen die Rechtsanwalte und Advokaten, welche in den bei demſelben anhängigen Rechts - ſachen thätig ſind, mit denjenigen Disciplinarbefugniſſen ausge - ſtattet, welche dem oberſten Gerichtshofe des Bundesſtaates, an deſſen Stelle das Reichs-Oberhandelsgericht getreten iſt, unter gleichen Umſtänden zuſtehen würden3)Die näheren Anordnungen enthält das Geſetz vvm 29. März 1873. (R. -G.-Bl. S. 60. 61.).

Ueber das Preuß. General-Auditoriat als Disciplinarhof für die Auditeure der Kaiſerl. Marine ſiehe oben S. 373 Note 1.

C. Reichs-Verwaltungsgerichte.

Hierher gehören diejenigen Behörden des Reiches, welche über die Anwendung und Auslegung von Verwaltungsgeſetzen Urtheile von rechtlicher Wirkſamkeit abgeben und hinſichtlich dieſer Thätigkeit der oberen Leitung des Reichskanzlers oder einer anderen Verwal - tungsbehörde nicht unterworfen ſind, ſondern ihre Entſcheidungen nach unabhängiger individueller Rechtsüberzeugung fällen. Hiermit iſt von ſelbſt auch die eigene Verantwortlichkeit dieſer Behörden für ihre amtliche Wirkſamkeit und der Ausſchluß der Verantwort -377§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.lichkeit des Reichskanzlers gegeben. Es ſcheiden daher aus dieſem Begriffe aus, ſowohl die oberen Verwaltungsbehörden, welche zwar ebenfalls thatſächlich über die Anwendung und Auslegung von Verwaltungsvorſchriften fortwährend zu entſcheiden haben, jedoch den Anordnungen des Reichskanzlers Folge zu leiſten verpflichtet ſind, als auch der Bundesrath ſelbſt, der vielfach die Funktionen eines oberſten Verwaltungsgerichtshofes des Reiches ausübt1)Siehe oben S. 266 fg. u. Laband in Hirth’s Annalen 1873 S. 484 ff., deſſen Mitglieder aber nach den ihnen ertheilten Inſtruktionen ſtimmen müſſen. An einem Reichs-Verwaltungsgerichte von genereller Zu - ſtändigkeit fehlt es; die bisher errichteten Behörden zur Entſchei - dung der hierher gehörenden Rechtsfragen ſind Specialgerichte von eng umgränzter Kompetenz.

Es ſind folgende:

I. Das Bundesamt für das Heimathweſen.

Daſſelbe iſt errichtet durch das Bundesgeſetz über den Unter - ſtützungswohnſitz vom 6. Juni 1870 §. 42 ff. (B. -G.-Bl. S. 368.) Es iſt eine ſtändige und kollegiale Behörde, welche ihren Sitz in Berlin hat. Sie beſteht aus einem Vorſitzenden und mindeſtens vier Mitgliedern; der Vorſitzende ſowohl als auch mindeſtens die die Hälfte der Mitglieder muß die Qualifikation zum höheren Richteramte im Staate ihrer Angehörigkeit beſitzen2)§. 42 cit. Der Ausdruck des Geſetzes: im Staate ihrer Angehörig - keit iſt ein redactioneller Mißgriff, indem er bei wörtlicher Interpretation den Sinn ergiebt, daß das einzelne Mitglied des Bundesamtes in demjenigen Staate die Qualifikation zum höheren Richteramte beſitzen muß, zu welchem es nach dem Geſetz vom 1. Juni 1870 ſtaatsangehörig iſt. Der Sinn iſt aber der, daß der Beamte, welcher Mitglied des Bundesamtes werden ſoll, in dem - jenigen Staat, aus deſſen Dienſt er in den Reichsdienſt berufen wird, die Qualifikation zum höheren Richteramte haben muß. Denn nach dem Art 3 der R. -V. und dem Geſetz vom 1. Juni 1870 iſt nicht die Staats-Angehörig - keit, ſondern die Reichsangehörigkeit für die Qualifikation zum Staatsdienſt in den Bundesſtaaten von Belang. Der §. 42 des cit. Geſetzes will ſicherlich keine andere Beſtimmung aufſtellen als der §. 89 des Reichsbeamtengeſetzes in Betreff der Disciplinarbehörden, wo es heißt: Der Präſident und wenig - ſtens 3 andere Mitglieder müſſen in richterlicher Stellung in einem Bundes - ſtaate ſein. . Der Vor - ſitzende und die Mitglieder werden auf Vorſchlag des Bundesrathes vom Kaiſer auf Lebenszeit ernannt und ſind den Mitgliedern des378§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.Reichs-Oberhandelsgerichtes in Beziehung auf Verſetzung in ein anderes Amt, die einſtweilige und die zwangsweiſe Verſetzung in den Ruheſtand, Disziplinar-Beſtrafung und vorläufige Die iſt-Ent - hebung gleichſtellt1)§. 43 cit. Geſetz vom 31. März 1873 §. 158..

Jedoch kann das Amt als Mitglied dieſer Behörde als ein Nebenamt verliehen werden. Daſſelbe unterſcheidet ſich aber von der, ebenfalls als Nebenamt zu ertheilenden Mitgliedſchaft eines Disciplinargerichts dadurch, daß es nicht erliſcht, wenn der In - haber aus dem zur Zeit ſeiner Ernennung von ihm bekleideten Hauptamt ausſcheidet, ſondern daß es auf Lebenszeit ertheilt wird2)Da aber das Bundesamt in Berlin ſeinen Sitz hat, ſo geht die Mitgliedſchaft verloren, wenn ein Mitglied ein Amt annimmt, mit welchem ein außerhalb Berlins gelegener dienſtlicher Wohnſitz verbunden iſt. Vgl. Protokoll des Bundesraths 1875 §. 73.. In allen Fällen, gleichviel ob das Amt als ein volles oder als ein Nebenamt übertragen wird, iſt es ein beſoldetes3)Nach dem Reichs-Etat für 1875 iſt die Stelle des Präſidenten und die eines Mitgliedes voll beſoldet; die drei anderen Stellen werden als Ne - benämter verwaltet und ſind mit 1,500 Mark jährlich dotirt. Anlage I. zum Etat S. 10. 11. Ebenſo nach dem Etat für 1876. Anlage I. S. 12..

Die Kompetenz des Bundesamtes für das Heimathweſen er - gibt ſich aus §. 41 und §. 52 des Geſetzes vom 6. Juni 1870. Das Bundesamt entſcheidet nach §. 41 in letzter Inſtanz in Strei - tigkeiten zwiſchen verſchiedenen Armenverbänden über die öffentliche Unterſtützung Hülfsbedürftiger, ſofern die ſtreitenden Armenver - bände verſchiedenen Bundesſtaaten angehören. Soweit jedoch die Organiſation oder örtliche Abgrenzung der einzelnen Armen - verbände Gegenſtand des Streites iſt, bewendet es endgültig bei der Entſcheidung der höchſten landesgeſetzlichen Inſtanz. Da das Geſetz vom 6. Juni 1870 in Bayern und in Elſaß-Lothringen nicht eingeführt iſt, ſo ergiebt ſich, daß die Kompetenz des Bun - desamtes für das Heimathweſen für dieſe Gebiete ausgeſchloſ - ſen iſt.

Nach §. 52 cit. iſt es ferner den Einzelſtaaten überlaſſen, im Wege der Landesgeſetzgebung zu beſtimmen, daß die Entſcheidung letzter Inſtanz in Streitigkeiten zwiſchen Armenverbänden deſſel - ben Staates über die Pflicht zur Unterſtützung Hülfsbedürf -379§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.tiger dem Bundesamt übertragen werde. Von dieſer Ermächtigung haben Gebrauch gemacht: Preußen, Heſſen, Sachſen-Weimar - Eiſenach, Braunſchweig, Sachſen-Altenburg, Sachſen-Coburg-Gotha, Anhalt, beide Schwarzburg, Reuß j. L., Lippe, Lübeck und Lauen - burg1)Handbuch des Deutſchen Reiches für 1874 S. 37..

Sowohl die materiellen Rechtsgrundſätze als das zu beobach - tende Prozeßverfahren ſind durch das Geſetz vom 6. Juni 1870 geregelt2)Vgl. Eger in Gruchot’s Beiträgen zur Erläuterung des Deutſchen Rechts. Bd 19 (Neue Folge Bd. 4) S. 87 ff.; der Geſchäftsgang iſt durch ein Regulativ geordnet, welches das Bundesamt ſelbſt zu entwerfen und dem Bundesrathe zur Beſtätigung einzureichen hatte3)Geſetz §. 45. Das Regulativ iſt vom 6. Januar 1873 datirt und im Centralblatt für das Deutſche Reich 1873 S. 4 ff. gedruckt..

Eine gültige Entſcheidung des Bundesamtes erfordert die An - weſenheit von mindeſtens drei Mitgliedern, von denen mindeſtens Eines die richterliche Qualifikation haben muß. Die Zahl iſt ſo - nach keine geſchloſſene; in allen Fällen aber muß die Zahl der Mitglieder, welche bei der Faſſung eines Beſchluſſes eine entſchei - dende Stimme führen, eine ungerade ſein4)Geſetz §. 44. Iſt die Zahl der bei der Erledigung einer Sache mit - wirkenden Mitgliedern eine gerade, ſo führt dasjenige Mitglied, welches zuletzt ernannt iſt, und bei gleichem Dienſtalter dasjenige, welches der Geburt nach das jüngere iſt, nur eine berathende Stimme. .

Die Entſcheidung des Bundesamtes erfolgt gebührenfrei in öffentlicher Sitzung nach erfolgter Ladung und Anhörung der Par - teien5)Geſetz §. 50 Abſ. 1.. Die Vorſchriften über den Geſchäftsgang, die Leitung des Verfahrens, die Frageſtellung und Abſtimmung, Protokollführung, die Geſchäftscontrolen u. ſ. w., welche das erwähnte Regulativ aufſtellt, entſprechen den für collegialiſche Gerichtsbehörden üblichen Anordnungen.

Die endgültigen Entſcheidungen werden Im Namen des Deutſchen Reichs erlaſſen6)Regulativ §. 9.. Die wichtigeren derſelben werden im Centralblatt für das deutſche Reich veröffentlicht7)Eine Sammlung der Entſcheidungen des Bundesamtes, herausgegeben von Wohlers, erſcheint ſeit 1873 in Berlin (Vahlen)..

380§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.
II. Das verſtärkte Reichs-Eiſenbahn-Amt.

Das Geſetz vom 27. Juni 1873 §. 5 Z. 4 (R. -G.-Bl. S. 165) hat folgende Beſtimmung:

Wird gegen eine von dem Reichs-Eiſenbahn-Amte verfügte Maßregel Gegenvorſtellung erhoben auf Grund der Behauptung, daß jene Maßregel in den Geſetzen und rechtsgültigen Vorſchriften nicht begründet ſei, ſo hat das durch Zuziehung von richterlichen Beamten zu verſtärkende Reichs-Eiſenbahn-Amt über die Gegen - vorſtellung immer ſelbſtſtändig und unter eigener Verant - wortlichkeit in kollegialer Berathung und Beſchlußfaſſung zu befinden.

Die Gegenvorſtellung kann erhoben werden entweder von der Kaiſerl. Verwaltung der Reichs-Eiſenbahnen (reſp. dem Reichs - kanzler-Amt als der vorgeſetzten Behörde derſelben), oder von der Verwaltung einer Staats-Eiſenbahn (reſp. derjenigen Bundesre - gierung, von welcher dieſelbe reſſortirt), oder von der Verwaltung einer Privat-Eiſenbahn. Sie iſt gerichtet gegen eine vom Reichs - Eiſenbahnamt verfügte Anordnung; die Entſcheidung betrifft aber niemals die Frage der Zweckmäßigkeit oder irgend eine Frage tech - niſcher Natur, ſondern lediglich die Rechtsfrage, ob die vom Reichs-Eiſenbahn-Amt erlaſſene Verfügung in den Geſetzen und rechtsgültigen Vorſchriften begründet ſei. Die Entſcheidung hat demnach immer den Charakter eines verwaltungs-gerichtlichen Ur - theils und das verſtärkte Reichs-Eiſenbahn-Amt hat bei Fällung dieſes Urtheils die Stellung eines Gerichtshofes. Ueber den kol - legialiſchen Geſchäftsgang und die dem Präſidenten zuſtehenden Befugniſſe hat der Bundesrath auf Grund des Geſetzes vom 27. Juni 1873 ein Regulativ erlaſſen1)Daſſelbe iſt vom 5. Januar 1874. Abgedruckt im Centralblatt S. 27 ff., welches die ſehr lückenhaften Anordnungen des Geſetzes ergänzt.

Die Einleitung des Verfahrens ſteht dem Reichskanzler zu. Bei demſelben iſt die Gegenvorſtellung d. h. die Beſchwerde über die Rechtswidrigkeit einer Verfügung des Reichs-Eiſenbahn - Amtes zu erheben und der Reichskanzler überweiſt die Sache an das verſtärkte Reichs-Eiſenbahn-Amt2)Regulativ §. 1.. Ebenſo wird der endgültig381§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.gefaßte Beſchluß in formeller Ausfertigung dem Reichskanzler zur weiteren Veranlaſſung überreicht1)Regulativ §. 9..

Thatſächliche Erhebungen, welche zur Klarſtellung des Sach - verhältniſſes zuvörderſt erforderlich ſcheinen, werden von dem Präſidenten angeordnet2)Regulativ §. 2.. Für die kollegiale Berathung und Be - ſchlußfaſſung ernennt der Präſident einen Referenten und Correfe - renten, von denen einer aus den hinzugezogenen richterlichen Be - amten gewählt werden muß. Die Berichte ſind ſchriftlich zu er - ſtatten. Nach Eingang derſelben beraumt der Präſident eine Si - tzung an, zu welcher ſämmtliche Mitglieder des Reichs-Eiſenbahn - Amtes und die zur Verſtärkung deſſelben zugezogenen richterlichen Beamten einzuladen ſind. Zur Beſchlußfähigkeit gehört die An - weſenheit von mindeſtens drei Mitgliedern des Reichs-Eiſenbahn - Amtes (einſchließlich des Präſidenten) und zweier richterlicher Be - amter. Iſt einer der letzteren verhindert, ſo tritt ſein Stellver - treter für ihn ein, der ein für allemal ernannt wird3)Regulativ §. 3. 4.. Der Präſident leitet die Verhandlungen; ſtellt die Fragen und ſammelt die Stimmen. Ueber eine Meinungsverſchiedenheit in Betreff der Frageſtellung oder über das Ergebniß der Abſtimmung entſcheidet das Kollegium nach Stimmenmehrheit. Die Stimme des Präſi - denten giebt bei Stimmengleichheit den Ausſchlag. Der von dem Kollegium endgültig gefaßte Beſchluß iſt mit den Gründen von ſämmtlichen Mitgliedern in der Urſchrift zu vollziehen; die Aus - fertigung iſt von dem Präſidenten zu unterſchreiben4)Regulativ §. 5. 7..

Die beiden richterlichen Beamten und deren Stellvertreter werden vom Kaiſer ernannt5)Centralblatt 1874 S. 74.. Sie verwalten ihr Amt als unbe - ſoldetes Nebenamt, erhalten aber für die Theilnahme an den Sitzungen Reiſekoſten und Diäten6)Vgl. Etat für 1875 Anl. VI Ausgabe Titel 3 Poſ. 1. Etat für 1876 Kapitel 65 Titel 7..

III. Die Reichs-Rayonkommiſſion.

Nach dem Geſetze vom 21. Dezember 1871 über die Beſchrän - kungen des Grundeigenthums in der Umgebung von Feſtungen382§. 36. Die richterlichen Reichsbehörden.(R. -G.-Bl. S. 459) iſt innerhalb ſämmtlicher Rayons zur Vornahme baulicher Veränderungen, zu allen, die Terrain-Oberfläche modifi - zirenden Anlagen, Aufſtapelungen u. ſ. w. nach näherer Vorſchrift der §§. 13 25 die vor dem Beginn der Ausführung einzuholende Genehmigung der Feſtungs-Kommandantur erforderlich1)Die näheren Vorſchriften über das Geſuch und über die von der Kom - mandantur auszufertigende Genehmigung ſind in dem cit. Geſetz §§. 26 28 gegeben..

Gegen die Entſcheidung der Kommandantur, wie gegen alle Anordnungen derſelben, iſt in Rayon-Angelegenheiten binnen einer vierwöchentlichen Präkluſivfriſt von der Zuſtellung ab, der Rekurs zuläſſig. Die Entſcheidung auf den Rekurs erfolgt endgültig durch die Reichs-Rayonkommiſſion 2)§. 29 Abſ. 1 des cit. Geſ..

Außer dieſer Entſcheidung in der Rekurs-Inſtanz iſt die Rayonkommiſſion, auch ohne daß es eines Rekurſes bedarf, zuſtän - dig, die Projekte größerer Anlagen (Chauſſeen, Deiche, Eiſenbahnen u. ſ. w.), welche in den Rayons der Feſtungen und feſten Plätze ausgeführt werden ſollen, zu prüfen und in Gemeinſchaft mit der betreffenden Centralverwaltungsbehörde definitiv feſtzuſtellen3)§. 30 a. a. O..

Die Reichs-Rayonkommiſſion iſt eine ſtändige Militärkommiſ - ſion; ſie wird vom Kaiſer berufen und alle Bundesſtaaten, in deren Gebieten Feſtungen liegen, müſſen in derſelben vertreten ſein4)§. 31 a. a. O. Da die Kommiſſion eine Militär-Kommiſſion iſt, ſo geht die Vertretung derjenigen Staaten, welche ihre geſammte Militär-Ver - waltung auf Preußen übertragen haben, dadurch auf Preußen mit über. Des - halb ſind Baden (Raſtatt) und Heſſen (Mainz) nicht in der Rayonkommiſſion vertreten, ſondern nur Preußen, Bayern, Württemberg und Sachſen. Die Mitglieder derſelben ſind in dem Handbuch des Deutſchen Reiches für 1874 S. 50 aufgeführt..

B. Die Reichsbeamten5)Frh. v. Zedlitz-Neukirch Die Rechtsverhältniſſe der Reichsbeamten. Geſetz vom 31. März 1873. Berlin 1874. Kanngießer Das Recht der Deutſchen Reichsbeamten. Geſetz vom 31. März 1873. Berlin 1874..

§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.

I. Das Geſetz vom 31. März 1873 gibt keine Definition des Begriffes Beamter , ſondern ſetzt denſelben voraus; es beſtimmt383§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.im §. 1 lediglich, welche Beamte als Reichsbeamte anzuſehen ſeien. Es muß daher zunächſt dieſer allgemeinere Begriff, über den weder in der Literatur Uebereinſtimmung beſteht, noch der Sprach - gebrauch Sicherheit gewährt, feſtgeſtellt werden. Die Bildung des Wortes weiſt auf den Begriff des Amtes zurück1)über denſelben oben S. 293 fg. und es er - ſcheint als ſehr naheliegend, denjenigen dem ein Staatsamt über - tragen iſt, einen Staatsbeamten2)In der Literatur iſt dieſe Begriffsbeſtimmung ſehr üblich; vgl; z. B. Leiſt Staatsr. §. 99 Maurenbrecher Grundſätze des heutigen Deutſchen Staatsr. §. 159 (S. 278). Zöpfl Bd. II. §. 513 Ziff. III. (S. 772) v. Pözl in Bluntſchli und Braters Staatswörterbuch IX S. 686. Grotefend §. 668 Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 315 u. v. a., und dem entſprechend denjeni - gen, dem ein Reichsamt übertragen iſt, einen Reichsbeamten zu nennen. Dies iſt aber nur in einer Beziehung zutreffend, inſo - fern nämlich die Anſtellung eines Beamten nicht anders erfolgen kann, als zu dem Zwecke der Uebertragung eines Amtes und in der Regel die Ernennung zum Beamten und die Uebertragung eines Geſchäftskreiſes gleichzeitig erfolgen.

Es iſt richtig, daß die Ablegung einer Staatsprüfung Nie - manden zum Beamten macht, ſondern nur die Qualifikation ver - ſchafft, um gewiſſe Aemter erlangen zu können; daß ebenſo wenig die Verleihung eines Beamten-Titels die Eigenſchaft als Beamter begründet; daß endlich der Bezug eines dauernden Einkommens aus Staatsmitteln, z. B. einer Penſion oder Rente, nicht genügend iſt, um Jemanden als Beamten erſcheinen zu laſſen3)So definirt z. B. das Königl. Sächſ. Staatsdienergeſ. v. 7. März 1835 §. 1 als Staatsdiener alle, welche aus der Staatskaſſe einen beſtimmten jährlichen Gehalt beziehen. Vgl. Maurenbrecher a. a. O. Weiß Staatsr. S. 795.. Aber es kann Jemand ſehr wohl Beamter bleiben, ohne daß er ein Amt verwaltet, indem er zur Dispoſition geſtellt, vom Amte ſus - pendirt oder beurlaubt iſt. Es iſt auch möglich, daß Jemand zum Beamten ernannt wird, die Uebertragung eines beſtimm - ten Amtes aber noch vorbehalten bleibt. Es iſt ſomit die Mög - lichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß es Beamte ohne Amt gibt.

Noch weniger aber decken ſich der Begriff des Amtes und derjenige des Beamten in der Richtung, daß jeder, welcher ein Staatsamt übernimmt, dadurch zum Staatsbeamten würde. Der Begriff des Amtes iſt weiter als der des Beamten; es gibt Be -384§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.hörden, deren Mitglieder nicht Beamte zu ſein brauchen. Ein Schwurgericht iſt zweifellos eine Behörde und die Funktionen eines Geſchworenen ſind ein Amt, aber ein Geſchworener iſt deſſen un - geachtet kein Beamter. Es gehört vielmehr zum Begriff eines Staats-Beamten außer der Uebernahme eines Staats-Amtes noch ein zweites Begriffs-Moment, nämlich der Eintritt in ein Dienſtverhältniß zum Staate.

Eine ausdrückliche Anerkennung hat dieſe Begriffs-Verſchie - denheit in der Reichsgeſetzgebung gefunden und zwar im Straf - Geſetzbuch.

§. 359. Unter Beamten im Sinne dieſes Strafgeſetzes ſind zu verſtehen alle im Dienſte des Reiches oder in unmittel - barem Dienſte eines Bundesſtaates, auf Lebenszeit, auf Zeit oder nur vorläufig angeſtellte Perſonen, ohne Unterſchied, ob ſie einen Dienſteid geleiſtet haben oder nicht, ingleichen Notare, nicht aber Advokaten und Anwalte.

Dagegen lautet §. 31 Abſ. 2: Unter öffentlichen Aem - tern im Sinne dieſes Strafgeſetzes ſind die Advokatur, die An - waltſchaft ünd das Notariat, ſowie der Geſchworenen - und Schöf - fendienſt mitbegriffen.

Das Strafgeſetzbuch gibt an dieſen beiden Stellen allerdings keine allgemein gültigen Begriffsbeſtimmungen, ſondern erklärt nur Beamte und Aemter im Sinne dieſes Strafge - ſetzes; aber es conſtatirt doch, daß dieſe Begriffe von verſchiede - nem Umfange ſind.

Im Einklange hiermit ſteht, daß die mit Uebernahme eines Amtes verbundenen Pflichten nicht identiſch ſind mit den Pflichten eines Beamten. Das Strafgeſetzbuch behandelt im 28. Abſchnitt (§. 331 ff. ) die Verbrechen und Vergehen, im Amte . Es ſpricht im §. 333 von der Verleitung eines Mitgliedes der be - waffneten Macht zu einer Verletzung einer Amts - oder Dienſt - pflicht, im §. 334 von Amtsverletzungen der Schiedsrichter, Ge - ſchworenen und Schöffen, im §. 337 und 338 von Geiſtlichen und anderen Religionsdienern, im §. 352 und 356 von Advokaten, Anwalten und anderen Rechtsbeiſtänden.

Alle dieſe Perſonen-Klaſſen ſind keine Staats-Beamten, aber ſie haben ein Amt und können deßhalb Verbrechen und Vergehen im Amte verüben. Dagegen ſprechen die Disciplinargeſetze385§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.ſtets nur von Dienſtvergehen der Beamten, ſo auch §. 72 des Reichs-Beamtengeſetzes, und daſſelbe Geſetz erklärt im §. 119, daß die Vorſchriften der §§. 84 118 auch in Anſehung der einſt - weilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten gelten. Ein Dienſt - vergehen kann daher auch derjenige begehen, welcher kein Amt hat, wofern er nur Beamter iſt, d. h. im Staatsdienſte ſteht.

Da es ſonach Beamte gibt, welche kein Amt verwalten, und andererſeits Verwalter von öffentlichen Aemtern, welche nicht Beamte ſind, ſo folgt, daß nicht das Amt für den Begriff des Beamten ausſchlaggebend iſt. Charakteriſtiſch iſt vielmehr das Dienſtverhältniß.

Hiermit iſt der Begriff eines Staatsbeamten aber noch nicht genügend beſtimmt, weil nicht jedes Dienſtverhältniß zum Staate die Beamten-Eigenſchaft begründet, ſondern ein beſonders gearte - tes Dienſtverhältniß erforderlich iſt. Die Pflicht zur Leiſtung von Dienſten kann nämlich auf einem dreifachen Rechtsgrunde be - ruhen. Sie kann nach Analogie der Dienſtmiethe des Privatrechts durch einen Vertrag begründet werden, bei welchem die Contra - henten gleichberechtigt und unabhängig einander gegenüber ſtehen. In dieſem Falle beſteht keine Unterordnung desjenigen, der die Dienſte leiſtet, gegen denjenigen, dem ſie geleiſtet werden; es wird kein weitergehendes Recht unter den Contrahenten begründet als der Anſpruch auf Erfüllung der verſprochenen Dienſtleiſtung und der Gegenanſpruch auf den dafür zugeſicherten Lohn. Auch der Staat kann Dienſtverträge dieſer Art abſchließen, z. B. mit Bau - Unternehmern, welche die Herſtellung von Feſtungswerken, Eiſen - bahnen, Wegen u. ſ. w. übernehmen, mit Lithographen, welche den Druck von Staatspapiergeld beſorgen u. ſ. w. Der Inhalt eines ſolchen Vertrages braucht nicht mit Nothwendigkeit privatrecht - lich zu ſein; auch die Beſorgung von obrigkeitlichen Geſchäften kann gegen Entgeld in der Art der privatrechtlichen Dienſtmiethe über - tragen werden, z. B. die Erhebung von Abgaben oder Gebühren für die Staatskaſſe u. dgl., obwohl aus Gründen der Politik nur höchſt ſelten die Führung von obrigkeitlichen Geſchäften im Wege des Contrakts übertragen werden wird.

Wer ein Dienſtverhältniß der angegebenen Art1)Die Art der Dienſte iſt nicht entſcheidend; dieſelben Dienſte, welche mit demLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 25386§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.Staate eingeht, ſo daß er dem letzteren als gleichberechtigter Con - trahent gegenüber ſteht, wird kein Staatsbeamter.

Die Pflicht zur Leiſtung von Dienſten kann ferner beruhen auf einem Gewalts-Verhältniß, welches nicht durch den freien Willens-Entſchluß der Betheiligten begründet iſt, ſondern ohne denſelben beſteht. Auf dem Gebiete des Privatrechts liefert die väterliche Gewalt und das in derſelben enthaltene Recht des Vaters auf häusliche oder gewerbliche Dienſtleiſtungen der Hauskinder das deutlichſte Beiſpiel. In ähnlicher Art begründet die Hoheit des Staates über ſeine Angehörigen das Recht des Staates auf Dienſte und die Pflicht der Angehörigen, dieſelben zu leiſten. Die Erfüllung dieſer Unterthanen - oder Bürger-Pflichten erzeugt aber ebenfalls nicht das Beamten-Verhältniß. Wer dem Staate Dienſte leiſtet als Soldat durch Erfüllung der allgemeinen Wehrpflicht, als Geſchworener oder Schöffe durch Erfüllung der Gerichtspflicht, durch Uebernahme von Vormundſchaften, als Mitglied von Steuer - Einſchätzungskommiſſionen u. dgl. iſt kein Beamter, trotzdem er einen Kreis ſtaatlicher, ja ſogar obrigkeitlicher, Geſchäfte verſieht, alſo ein Amt hat, und dem Staate dient. Der Grund iſt nicht darin zu ſehen, daß er ſein Amt nicht dauernd verwaltet, ſondern darin, daß ſeine Dienſtpflicht nichts Anderes iſt als die Unter - thanenpflicht und in derſelben enthalten iſt.

Es giebt nun aber eine dritte Klaſſe von Dienſtverhältniſſen, bei welchen die beiden charakteriſtiſchen Momente der eben erörter - ten Klaſſen verbunden ſind, d. h. welche einerſeits durch freie Willens-Uebereinſtimmung, alſo durch Vertrag begründet wer - den, andererſeits aber ihrem Inhalte nach ein Gewalts-Verhält - niß ſind.

Die Geſchichte des Privatrechts liefert hiefür ein klaſſiſches Beiſpiel durch die Vaſſallität. Die Commendation des mittelalter -1)feſt angeſtellte Beamte leiſten, kann der Staat in anderen Fällen durch einen Arbeits-Vertrag ſich verſchaffen; der angeſtellte Baumeiſter und der nicht an - geſtellte Bau-Unternehmer, der Syndikus einer Behörde, der Mitglied derſelben iſt, und der Rechts-Anwalt, der von ihr zur Durchführung eines fiskaliſchen Rechtsanſpruchs engagirt iſt, der Kanzlei-Beamte und der zur Aushülfe hin - zugezogene Schreiber u. ſ. w. unterſcheiden ſich nicht von einander durch die Art ihrer Dienſte, ſondern durch die Art des rechtlichen Verhältniſſes zum Staate, welches ſie zur Leiſtung der Dienſte verpflichtet.387§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.lichen Rechtes war ein Vertrag, aber kein Vertrag des Obligatio - nenrechts; zwiſchen Senior und Vaſſall, dem Lehnsherrn und Lehnsmann beſtand ein Gewaltsverhältniß, welches ethiſcher Natur war, auf beſonderer Treue und Ergebenheit beruhte, eine beſon - dere Dienſtpflicht begründete. Die Commendation erzeugte kein (obligatoriſches) Contractsverhältniß, ſondern ein Verhältniß der Ueber - und Unterordnung, eine potestas. Eine Verletzung der Dienſtpflicht des Lehnsmannes war nicht die Nichterfüllung einer Obligation, ſondern ein Vergehen, eine Felonie; die Rechte des Lehnsherrn waren keine Forderungs-Rechte, ſondern Hoheitsrechte. Seine Gegenleiſtungen beſtanden weſentlich in der Pflicht zum Schutze. Die Gewährung eines beneficium war urſprünglich nicht weſentlich, wenngleich von jeher üblich. Der Inhalt des Verhältniſſes wird nicht durch gegenſeitiges dare facere praestare oportere, ſondern durch mundeburdium (defensio) und fides gebildet.

Von derſelben Art iſt das Dienſtverhältniß des Staats - beamten zum Staate, nur daß es nicht privatrechtlicher, ſon - dern öffentlich rechtlicher Natur iſt1)v. Gerber Grundzüge §. 36 Note 1 weiſt zwar auf dieſe Analogie hin; im Uebrigen iſt aber ſeine Auffaſſung des juriſtiſchen Verhältniſſes eine von der hier vorgetragenen ſehr abweichende.. Es ſetzt voraus die Begründung durch einen Vertrag, d. h. durch einen ſpeziellen Conſens für jeden einzelnen Fall. Der Staat muß den Willen erklären, die individuell beſtimmte Perſon in ſeinen Dienſt zu nehmen, und der Beamte muß einwilligen, in dieſen Dienſt zu treten. Aber dieſer Vertrag iſt kein Contract des Obligationen - rechts, ſondern er begründet ein Gewaltsverhältniß des Staates, eine beſondere Gehorſams-Treue - und Dienſtpflicht des Beamten, andererſeits eine Pflicht des Staates zum Schutze und zur Ge - währung des zugeſicherten Dienſteinkommens.

Weſentlich iſt auch hier die Verpflichtung des Staates, den Beamten in Ausübung ſeiner Dienſtpflicht zu ſchützen; die Gewährung eines Dienſteinkommens iſt die Regel, aber iſt nicht weſentlich. Eine Verletzung der Dienſtpflicht Seitens des Beamten iſt kein Contractsbruch, ſondern ein Vergehen (Disciplinarvergehen) entſprechend der Felonie des Lehnsmanns.

Die Erfüllung der Beamtenpflichten iſt nicht Contracts-Er -25*388§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.füllung, ſondern Erfüllung der übernommenen Treue und Gehor - ſamspflicht1)Die richtige Auffaſſung des Beamten-Verhältniſſes finde ich in der neueren ſtaatsrechtlichen Literatur bei Schmitthenner Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsr. Gießen 1845 S. 509. Er ſagt: Das or - ganiſche Verhältniß des Staatsdienſtes wird, wo nicht Jemand ein Amt durch Geburt erwirbt, durch Vertrag eingegangen. Der Staatsdienſt iſt nicht, wie etwa der gemeine Militärdienſt, eine Pflicht, welche der Regent durch Befehl und Geſetz auferlegen kann. Wenn Manche, wie z. B. Hegel (Rechtsphiloſ. §. 75. 294) ſich hiergegen erklären, ſo beruht dies einfach auf dem Irrthum, daß ſie den Vertrag im Allgemeinen mit einer bloßen Art deſſelben, dem Ver - trag des abſtracten Vermögensrechts, namentlich dem obligatoriſchen gleich - ſetzen. Es iſt freilich kein Obligationsverhältniß, ſondern ein beſonderes öffent - liches, folglich ein organiſches Subjectionsverhältniß, welches durch den Staats - dienſtvertrag gegründet wird, wie ſchon daraus hervorgeht, daß der Staat nicht ein bloßes Klagerecht, ſondern das Recht zu Befehl und Zwang erhält. Auch Welcker in ſeinem Staatslexikon Bd. 12 S. 300 im Art. Staats - dienſt hat eine ſehr ähnliche Auffaſſung; jedoch bezeichnet er das Rechtsver - hältniß des Beamten zum Staat als ein gemiſchtes , nämlich theils privat - rechtliches theils öffentlichrechtliches, was ich für unrichtig halte..

Mithin unterſcheidet ſich der Dienſt des Beamten dadurch von dem Dienſt des Unterthanen, daß der letztere ihn leiſten muß, ohne daß er ſich durch ſeinen freien Willensentſchluß dazu ver - pflichtet hat, und dadurch von dem Dienſt desjenigen, den der Staat gemiethet hat, daß der letztere dem Staate als gleichberech - tigter Contrahent gegenüber ſteht. Die, durch dieſen doppelten Gegenſatz beſtimmte Art des Dienſtverhältniſſes liefert das ent - ſcheidende, weſentliche Kriterium des juriſtiſchen Begriffes des Beamten.

Iſt dieſe Definition richtig, ſo folgt zugleich daraus, daß eine Reihe von anderen Kriterien, welche in der Literatur öfters als begriffsbeſtimmend angegeben werden, nicht von Erheblichkeit iſt.

Nicht entſcheidend iſt der Anſpruch auf Gehalt2)In der älteren Literatur wird durchweg hierauf das entſcheidende Gewicht gelegt; aber auch die neueſten Darſtellungen gehen faſt ausnahmslos von der Anſchauung aus, daß eine Beſoldung nicht blos ein Naturale, ſondern ein Essentiale des Beamten-Verhältniſſes ſei. Vgl. z. B. Schulze a. a. O. I. S. 336. Richtig Bluntſchli Allgemeines Staatsr. S. 125.; es gibt auch unbeſoldete Staatsbeamte z. B. Wahlkonſuln, ſogen. Hono - rar-Profeſſoren u. ſ. w.

Das Reichsbeamtengeſetz erwähnt im Art. 16 Abſ. 2 und389§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.Art. 21 Abſ. 2 ausdrücklich die Wahlkonſuln als eine Art der Reichsbeamten; desgleichen ſind die im auswärtigen Dienſte des Reiches unentgeldlich beſchäftigten Attachés Reichsbeamte. An - dererſeits ſind z. B. die Mitglieder der Reichs-Schulkommiſſion, obgleich ſie aus Reichsmitteln eine Remuneration erhalten, nicht Reichsbeamte.

Ebenſowenig entſcheidend iſt die Dauer der Amts-Ueber - tragung. Es kömmt ſehr häufig vor, daß einem Beamten ein amtlicher Wirkungskreis auf ganz kurze Zeit übertragen wird, daß ein Amt überhaupt nur vorübergehend beſteht oder nur interimi - ſtiſch von einer gewiſſen Perſon verwaltet wird. Die Beamten - qualität der letzteren bleibt davon ganz unberührt1)Sehr verbreitet iſt in der neueren Staatsrechts-Theorie die Behaup - tung, daß die dauernde Uebertragung eines Amtes für den Begriff des Beamten weſentlich ſei. Vgl. z. B. Zachariä II. §. 133. 134. v. Gerber S. 109. Die Dauer iſt nicht einmal für den Begriff des Amtes weſentlich; es können vorübergehende Bedürfniſſe des Staates vorübergehende Geſchäfte erzeugen, zu deren Erledigung zeitweilig Aemter eingerichtet werden. Wenn man aber auch zugeben will, daß das Wort Amt nur einen dauernd ab - gegränzten ſtaatlichen Geſchäftskreis bezeichnet, ſo iſt es doch eine offenkun - dige Begriffs-Verwechslung, wenn man für den Staatsdiener die dauernde Uebertragung eines beſtimmten Amtes erfordert. Alsdann wären der Regie - rungsrath, welcher interimiſtiſch als Hülfsarbeiter in das Miniſterium berufen wird, oder der Aſſeſſor, welcher mit der Vertretung eines in den Reichstag gewählten Landrathes beauftragt wird, keine Beamten. Das Staatsdiener - Verhältniß kann ein dauerndes, lebenslängliches ſein; ebenſo kann das Amt ein dauerndes ſein; ohne daß der Schluß daraus gerechtfertigt wäre, daß die Uebertragung eines beſtimmten Amtes an einen beſtimmten Staatsdiener eine dauernde ſein müſſe. Allein es iſt auch nicht einmal zuzugeben, daß das Staatsdiener-Verhältniß ſeiner Natur nach nothwendig ein dauerndes ſei. Vgl. Maurenbrecher §. 160. Grotefend §. 668. Zöpfl II. §. 516. Das Staatsrecht aller Deutſchen Staaten und insbeſondere auch das Reichsbe - amtengeſetz §. 32 kennt Beamte, welche auf Probe, Kündigung oder Wie - derruf angeſtellt ſind und im §. 38 ſogar Beamte, welche für ein ſeiner Natur nach vorübergehendes Geſchäft angenommen werden. Vgl. auch Strafgeſetz - buch §. 359..

Auch das iſt unerheblich, ob die Geſchäfte, welche einem Be - amten obliegen, obrigkeitlicher Natur oder techniſcher Art ſind. Eine feſte Grenze zwiſchen beiden Arten iſt ſehr ſchwer zu ziehen, da bei ſehr vielen Aemtern techniſche und obrigkeitliche Geſchäfte mit einander verbunden ſind. Die ganze Unterſcheidung, auf welche in390§. 37. Der Begriff des Reichsbeamten.allen Darſtellungen des Staatsrechts ein großes Gewicht gelegt wird, iſt aber gänzlich unpraktiſch. Die im Staatsdienſte angeſtellten Perſonen, welche die Domänen und Forſten, die Eiſen - bahnen und Bergwerke, die Magazine und induſtriellen Etabliſſe - ments des Staates verwalten, welche an den Univerſitäten und Gymnaſien Unterricht ertheilen, oder welche als Geſandte den diplomatiſchen Dienſt leiſten, ſind nicht weniger als Staatsbeamte zu erachten, wie Polizeibeamte und Richter1)Richtig Zöpfl II. §. 513 Note 3. Das Reichsbeamtengeſetz macht keinen Unterſchied zwiſchen Beamten mit obrigkeitlichen Funktionen und ſolchen mit techniſchen oder wirthſchaftlichen Funktionen. Die bei der Ver - waltung der Reichs-Eiſenbahnen oder der Reichsbank, bei der Seewarte in Hamburg oder dem Archäolog. Inſtitut in Rom angeſtellten Perſonen ſind Reichsbeamte, ſo gut wie die Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts oder des Reichskanzleramts..

Sodann macht es für den Beamten-Begriff keinen Unterſchied, ob die Dienſte höherer oder niederer Art ſind, d. h. ob ſie ver - bunden ſind mit einer Dekretur, mit der Fällung von Entſcheidun - gen und dem Erlaß von Verfügungen, oder ob ſie lediglich in der Ausführung von dienſtlichen Befehlen beſtehen. Von Wichtig - keit kann dies ſein für die Klaſſifizirung der Beamten und für das Maaß von Rechten, melches dem Beamten zukömmt; denn es iſt ſelbſtverſtändlich, daß keineswegs alle Beamte dieſelbe recht - liche Stellung dem Staate gegenüber haben. Aber für den Be - griff der Staatsbeamten iſt es unerheblich, von welcher Gattung die Geſchäfte ſind, welche der Staat verlangt. Auch die Boten, Heizer, Portiers und Kaſtellane in den Dienſtgebäuden des Staa - tes ſind Staatsbeamte, wenngleich ſie als Unterbeamte eine be - ſondere Klaſſe derſelben bilden , wofern ſie nur angeſtellt ſind , d. h. nicht in einem privatrechtlichen Miethsverhältniß zum Fiskus ſtehen2)Die Thatſache, daß das Unterperſonal der Behörden ſehr häufig nur nach Art der Dienſtboten gemiethet wird, ſowie daß die Rechte, welche die Staatsdienergeſetze der Einzelſtaaten den Staatsbeamten zuſichern, meiſtens nur den höheren Beamten eingeräumt wurden, hatte die Wirkung, daß man in der Literatur ſich vielfach abmühte, zwiſchen den eigentlichen Staatsbe - amten und dem Hülfsperſonal einen begrifflichen Gegenſatz aufzuſtellen. Vgl. namentlich Heffter Beiträge S. 113 ff. Ferner Marquardſen in Rot - teck’s Staatslexicon 3. Aufl. I. S. 483. Bluntſchli II. S. 122. Pözl in Bluntſchli und Braters Staatswörterbuch IX. S. 687. Zachariä §. 133.

391§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.

Für das Reichsrecht iſt es durch das durch Verord. v. 30. Juni 1873 publizirte Verzeichniß der Reichsbeamten (R. -G.-Bl. S. 169 fg. ) unzweifelhaft, daß auch die Unterbeamten zu den Reichsbeamten gehören.

Endlich iſt zu erwähnen, daß der Staatsbeamte in der Wahr - nehmung ſeiner Amtsgeſchäfte nicht nothwendig ſeinen weſent - lichen oder gar ausſchließlichen Lebensberuf zu haben braucht. Der Geſichtspunkt, daß der Beamte ſich regelmäßig dem Staats - dienſt berufsmäßig widmet, daß er in der Erfüllung ſeiner dienſt - lichen Pflichten ſeine Lebensaufgabe erblickt, daß das Beamtenrecht demgemäß ein Berufs - und Standesrecht iſt, hat politiſch ſeine hohe Berechtigung und vielſeitige Bedeutung und iſt auch juriſtiſch in mehrfacher Hinſicht von Wichtigkeit1)Im politiſchen Kampfe gegen das abſolutiſtiſche Syſtem des perſönlichen Regiments, welches in den Beamten nur fürſtliche Civil - und Militär-Bediente erblickte, iſt die Anerkennung dieſes Grundſatzes errungen worden. Nachdem er in der Literatur ſchon öfters angedeutet worden war, insbeſondere auch in der verdienſtlichen Abhandlung Heffter’s in ſeinen Beiträgen zum Deutſchen Staatsrecht S. 106 ff., fand er eine glänzende und höchſt feſſelnd geſchriebene Darlegung in der trefflichen Schrift von Perthes Der Staatsdienſt in Preu - ßen. (Hamburg 1838), insbeſondere S. 44 ff. Dieſe mehr politiſch als juri - ſtiſch gehaltene Monographie war von nachhaltigem Einfluß auf die ſpätere Literatur. Seitdem kehrt der Satz immer und immer wieder in allen Erör - terungen über den Staatsdienſt; auch in ſolchen, die ſtreng juriſtiſch gehalten ſind, wie z. B. bei v. Gerber §. 36. Mit übermäßigem Pathos iſt dieſer Grundſatz betont und als der eigentliche Kernpunkt des ganzen Beamtenbegrif - fes ausgegeben worden von Lorenz Stein Verwaltungslehre I. 1 S. 207 ff., dem hierin Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 315. 323 ff. ſich anſchließt. Für das Staatsrecht aber iſt zur Zeit nichts dringender nöthig als die Erkenntniß, daß ſich eine juriſtiſche Deduktion nicht erſetzen läßt durch hiſtoriſch-politiſche, ethiſche und ſociale Betrachtungen. . Aber wenn es ſich2)(II. S. 19). Schulze I. S. 315. v. Gerber S. 110 Note 11. Mau - renbrecher §. 160 ſagt: Sie ſind durchaus als Staatsdiener nicht zu be - trachten, obgleich ſie dem Namen nach und der Formen ihrer Anſtellung wegen häufig als ſolche paſſiren. (!) Dem bureaukratiſchen Dünkel mochte es nicht behagen, daß der Herr Rath und der Bote unter dieſelbe juriſtiſche Begriffs - Kategorie gehören ſollten. Aber es iſt ſchon oben S. 385 Note 1 hervorgehoben, daß nicht die Art der Dienſte, ſondern die Art des Dienſtverhältniſſes (der Anſtellung) für die Eigenſchaft eines Beamten entſcheidend iſt. Das Reichs - beamtengeſetz unterſcheidet zwiſchen oberen und unteren Reichsbeamten nicht und die Motive vom 8. April 1872 (Druckſachen des Reichstages von 1872 Nr. 9 S. 30. 31) erklären ſich ausdrücklich gegen eine ſolche Unter - ſcheidung.392§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.darum handelt, einen rechtswiſſenſchaftlichen, für juriſtiſche Deduk - tionen brauchbaren Begriff aufzuſtellen, ſo iſt es ein Gebot der Logik, die weſentlichen Momente ſcharf auszuſcheiden von Allem, was für den Begriff kein essentiale iſt. Für den Begriff des Beamten iſt es nun keineswegs weſentlich, daß der dem Beamten übertragene Geſchäftskreis einen ſo großen Umfang hat, daß er die Leiſtungskraft des Beamten abſorbirt, ſeine Thätigkeit ausfüllt, den ausſchließlichen oder weſentlichen Beruf deſſelben bildet. Ein[Staatsamt] kann ſehr wohl eine Nebenbeſchäftigung des Beam - ten bilden.

Für das Reichsrecht iſt auch hier jeder Zweifel ausgeſchloſſen durch das Reichsbeamtengeſetz §. 38, welches ausdrücklich Reichs - beamte erwähnt, deren Zeit und Kräfte durch die ihnen über - tragenen Geſchäfte nur nebenbei in Anſpruch genommen werden.

Wenngleich das Reichsbeamten-Geſetz den Begriff des Beam - ten nicht definirt, ſo ergiebt ſich doch aus den im Vorſtehenden angeführten Beſtimmungen deſſelben, daß zu den weſentlichen Momenten dieſes Begriffes nicht gehören: eine Beſoldung, die dauernde Uebertragung eines Amtes, Handhabung obrigkeitlicher Hoheits-Rechte, Selbſtſtändigkeit der Verfügung oder Entſchei - dung, Ausfüllung des Lebensberufes durch die Bekleidung des Amtes alſo gerade diejenigen Momente, welche regelmäßig als die erheblichen und weſentlichen angeführt werden. Das öffent - lichrechtliche Dienſtverhältniß bleibt vielmehr als das allein weſent - liche Begriffs-Moment übrig.

Daſſelbe bedarf indeß noch einer näheren jnriſtiſchen Beſtim - mung. Es iſt bereits hervorgehoben worden, daß daſſelbe weder auf einer obligatoriſchen Verpflichtung noch auf einer Unterthänig - keit beruht. Hiermit iſt der Gegenſatz gegen die bisher in der Literatur herrſchenden Theorien gegeben. In der älteren Zeit dachte man ausſchließlich an ein Dienſtverhältniß nach Art des Privatrechtes1)Ueber die verſchiedenen Anſichten vgl. Gönner S. 13 ff. Heffter a. a. O. S. 128 ff. Zachariä Staatsrecht II. §. 135. Daſelbſt S. 15 ff. iſt die ſehr reiche Literatur angegeben.. Man begann, im Einklang mit den politiſchen Zuſtänden, wie ſie bis zum vorigen Jahrhundert herrſchend waren, mit der Auffaſſung des Rechtsverhältniſſes als Prekarium2)Als Vertreter dieſer Anſicht werden vorzugsweiſe citirt Lud. Hugo. 393ß. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.Die Einſicht aber, daß der Beamte ein Recht auf Belohnung haben müſſe, führte dahin, eine Dienſtmiethe anzunehmen1)z. B. Strube Rechtl. Bedenken Th. III. Nr. 144 S. 510. Dieſelbe Auffaſſung findet ſich noch in einem Erk. des Appellat. -Gerichts zu Leipzig vom 3. September 1863. Wochenbl. für merkw. Rechtsfälle von 1864 S. 81 ff.. Bald fand man auch dies unpaſſend und unwürdig, weil der Staats - dienſt nicht zu den operae illiberales zu zählen ſei, und ging zum Mandat über2)z. B. Harprecht Consil. respons. 93 Nr. 77. Ebenſo noch das Erk. des Preuß. Obertribunals vom 17. März 1865. Entſcheidungen Bd. 52 S. 321 ff.. Da auch dies als durchaus unzutreffend ſich erwies, nahm man ſeine Zuflucht zu der nichtsſagenden Formel des Innominat-Contracts und man kam ſchließlich dazu, einen eigenthümlichen, beſonders gearteten Staatsdienſt-Ver - trag aufzuſtellen3)Am eingehendſten, unter Widerlegung der anderen Anſichten, Seuffert Vom Verhältniß des Staats und der Diener des Staates (Würzburg 1793) S. 16 fg. und v. der Becke Von Staatsämtern und Staatsdienern (Heilbronn 1797) S. 36 ff. Ferner Leiſt Staatsr. §. 100. Jordan Lehrbuch §. 72 II. (Vgl die bei Grotefend §. 669 Note 2 mitgetheilte Stelle daraus.) Klüber Oeffentl. Recht §. 492 S. 720. Auch Buddeus in Weiske’s Rechtslexik. I. S. 744 hält noch an der Annahme eines privatrechtlichen Staatsdienſtvertra - ges feſt; ebenſo Feuerbach Lehrb. des peinl. R §. 477. Schwankend und unbeſtimmt Mittermaier in Erſch und Gruber’s Encyclop. Art. Amt. .

Einen Wendepunkt bildet die geiſtreiche Schrift von Gönner Der Staatsdienſt aus dem Geſichtspunkte des Rechts und der National-Oekonomie betrachtet (1808). Er widerlegt die privat - rechtliche Auffaſſung des Staatsdienſtverhältniſſes in allen ihren Färbungen in energiſcher Weiſe und ſtützt das Dienſtverhältniß auf die Staatsgewalt, auf die Unterthanenpflicht4)Gönner a. a. O. S. 27. Jede Arbeit für den Staat, welche der Unterthan leiſtet, iſt Staatsdienſt. S. 49 ff. Die Leiſtung der Staatsdienſte haftet auf der vereinigten Kraft der Unterthanen. Dienſte ſtehen wie die Steuern unter den Regeln der Finanzwiſſenſchaft. S. 56 ff. und beſ. 83 ff. Staatsdienſte ſind eine Staatslaſt; ſie werden von den Einzelnen nach Maß - gabe ihrer Kräfte, Talente und Kenntniſſe gefordert. . Dieſe Anſicht2)de statu region. Germ. c. III. §. 34 Myler ab Ehrenbach Hypar - cholog. cap. III. §. 32. Böhmer Exercit. ad Pandectas p. 767 fg. und derſelbe in der Dissert. de iure princip. circa dimiss. ministr. Halae 1716 cap. II. §. 16, wo die älteren Vertreter angeführt ſind.394§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.wurde ſeitdem die vorwiegende. Die Dienſtpflicht des Staatsbe - amten wurde als potenzirte Unterthanen-Pflicht erklärt und dem Staat das Recht beigelegt, die Unterthanen zum Eintritt in den Staatsdienſt zu zwingen1)Der Beamte ſchließe keinen Vertrag mit dem Staate, ſondern erfülle ſeine Pflicht. Eine Ausnahme ſei nur vorhanden, wenn ein Ausländer zu einem Staatsdienſt berufen werde; hier werde ein Vertrag geſchloſſen. Gönner S. 93 ff.. Heffter a. a. O. S. 126 nimmt ein ſolches Recht des Staates im Princip an, ſtellt aber einige auf Billigkeitsgründen beruhende Einſchränkungen ſeiner Ausübung auf2)Derſelbe faßt dann das durch Ausübung dieſes Zwangsrecht entſtehende Rechtsverhältniß wieder ganz privatrechtlich auf, als eine Obligation quasi ex contractu, nach Analogie der Tutel, ſo daß der Staat dem Beamten leiſten ſolle quod ex bona fide dare facere oportet. S. 130 ff. Conſequenter Weiſe müßte dies doch auch für den Beamten gelten und ſo gelangt man wieder völlig in die privatrechtliche Contractslehre. Da auch ſchon Seuffert a. a. O. S. 9 ff., die Pflicht jedes Unterthanen zum Staatsdienſte behauptet und dem - gemäß annimmt, daß Jeder, den der Staat in ſeinen Dienſt beruft, den An - ſtellungsvertrag abſchließen muß, ſo iſt dieſe Anſicht von der Heffters nicht weſentlich verſchieden. Zwangsvertrag oder Quaſivertrag iſt bloßer Wortſtreit.. Perthes a. a. O. S. 52 fg., beſ. S. 55, führt dieſe Anſicht noch prinzipieller durch und ſieht nur in dem Andrange zum Staatsdienſt einen Grund, ſtatt den Unwilligen zu zwingen, lieber den ſich freiwillig Meldenden zu nehmen. Völlig auf dem - ſelben Standpunkte ſteht Dahlmann Politik (3. Aufl.) S. 271 ff. (§. 251 255) und in der neueſten Literatur klingt dieſe Theorie noch fort, indem die Anſtellung des Staatsbeamten faſt allgemein als ein einſeitiger Akt des Staates angeſehen wird3)Zachariä II. S. 30 (§. 136) will das Zwangsrecht des Staates als Regel nicht anerkennen, wohl aber im Falle eines Nothſtandes nach den Grundſätzen des ius eminens. Im Prinzip geſteht er alſo doch das Zwangs - recht dem Staate zu und beſchränkt nur deſſen Ausübung..

Dieſe Theorie beruht einfach darauf, daß man ſich keinen anderen Vertrag denken konnte als einen obligatoriſchen, und daß man daher eine Dienſtpflicht, welche nicht als contraktliche aufgefaßt werden kann, nur als Unterthanenpflicht zu conſtruiren vermochte. Ihr liegt ferner eine Verwechslung zu Grunde zwiſchen der Begründung des Staats - diener-Verhältniſſes und der Verleihung eines Amtes. Ein Amt kann auch auferlegt werden ohne Begründung des Staatsdiener-Verhältniſ - ſes, als ſtaatsbürgerliche Laſt, als Reihedienſt. Die Pflicht, Vormund -395§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.ſchaften zu führen, Geſchworener oder Schöffe zu ſein, Aemter der Selbſtverwaltung zu übernehmen u. ſ. w. ſind Beiſpiele, die jede weitere Erörterung überflüſſig machen. Sie zeigen deutlich, daß es neben der contractlichen privatrechtlichen Dienſtverpflichtung gegen den Staat noch zwei Arten des Dienſtverhältniſſes zum Staate giebt, die Uebernahme eines Staatsamtes auf Grund der Staats-Unterthänigkeit und die Uebernahme eines Staatsamtes auf Grund des Eintrittes in den Staatsdienſt. Die erſtere iſt das Gegentheil des Staatsbeamten-Verhältniſſes, ſie erfolgt unfreiwillig d. h. ohne Nothwendigkeit der Zuſtimmung, die letztere freiwillig, d. h. auf Grund eines Conſenſes. Beide Arten haben Manches mit einander gemein: die Delegation der Staatsgewalt auf den Inhaber des Amtes, ſoweit die Zuſtändigkeit des letzteren reicht; die Verantwortlichkeit für die geſetzmäßige Handhabung der Amts - gewalt; die Pflicht zum amtlichen Gehorſam gegen rechtmäßige Verfügungen der vorgeſetzten Behörde; der Schutz bei Ausübung der amtlichen Geſchäfte gegen Angriffe, Beleidigungen, Wider - ſtand; die Anwendbarkeit der ſtrafgeſetzlichen Vorſchriften über Verbrechen und Vergehen im Amte.

Aber das rechtliche Verhältniß zwiſchen dem Staate und dem Inhaber des Amtes iſt in den beiden Fällen ein verſchiedenes. Es zeigt ſich dies ſchon darin, daß der Staatsdiener in einem Rechtsverhältniß zum Staate auch dann ſteht, wenn er thatſächlich kein Amt verwaltet; derjenige dagegen, welcher ſtaatliche Geſchäfte in Erfüllung ſeiner Unterthanenpflicht führt, die mit dieſer Ge - ſchäftsführung verbundenen Rechte und Pflichten nur ſo lange hat, als er das Amt bekleidet.

Das Dienſtverhältniß des Staatsbeamten beruht auf einem Vertrage, durch welchen, ganz ähnlich wie bei der alten Commendation, der Beamte ſich dem Staate hingibt , eine beſondere Dienſt - pflicht und Treue übernimmt, eine beſondere Ergebenheit und einen beſonderen Gehorſam angelobt, und durch welchen der Staat dieſes Verſprechen ſowie das ihm angebotene beſondere Ge - waltsverhältniß annimmt und dem Beamten dafür Schutz und gewöhnlich auch Lebens-Unterhalt zuſichert.

Von der lehnrechtlichen Commendation und anderen analogen Verträgen des Privatrechts unterſcheidet ſich der Eintritt in den Staatsdienſt aber durch Beſtimmung und Zweck der verſprochenen396§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.Dienſte. Der Staatsbeamte verſpricht Dienſte nicht im Privat - Intereſſe irgend eines Herrn und zur Förderung der individuellen Vortheile deſſelben, ſondern er gelobt ſeine Dienſte zur Förderung und Durchführung ſtaatlicher Aufgaben, zum Wohle des allge - meinen Beſten. Nicht ohne Grund beginnt das Preuß. Allgem. Landr. Thl. II. Tit. 10 §. 1 die Regelung des Staatsdienerrechts mit dem Satze: Militär - und Civilbediente ſind vorzüglich beſtimmt, die Sicherheit, die gute Ordnung und den Wohlſtand des Staates unterhalten und befördern zu helfen.

Aber nicht nur objektiv oder paſſiv ſind ſie hierzu beſtimmt, ſondern ſie haben ſich ſelbſt durch eigenen Entſchluß dazu be - ſtimmt. Sie haben ſich dem Staate freiwillig angeboten, ihm zur Förderung ſeines Wohlſtandes zu helfen. Die Dienſte derſelben empfangen daher nach Inhalt und Umfang ihre Regelung durch das Intereſſe und durch die Rechts-Ordnung des Staates, nicht durch contractmäßige Fixirung und andererſeits nicht durch indi - viduelles Belieben und perſönliche Willkühr. Für Zwecke, die der Staat nicht als die ſeinigen anerkennt, für Geſchäfte, die in der Geſetzgebung und Einrichtung des Staates keine Rechtfertigung finden, für Dienſte, die außer Zuſammenhang mit der Förderung des öffentlichen Wohles ſtehen, hat der Staatsbeamte ſich nicht verpflichtet; noch viel weniger für Handlungen oder Zwecke, die der Staat unterſagt oder ausſchließt. Hierin liegt das Princip, um die Grenzen beſtimmen zu können, wie weit der dienſtliche Gehorſam des Beamten reicht; hierin liegt zugleich die Vermitt - lung der beiden Sätze, daß die Dienſtpflicht des Beamten eine unbeſtimmte, ungemeſſene, ſeine ganze Perſönlichkeit erfaſſende iſt, und daß er dennoch nicht verbunden iſt, irgend welche andere Dienſte als amtliche zu leiſten. Durch dieſe Zweckbeſtimmung der an - gelobten Dienſte gehört der Staatsbeamten-Vertrag dem öffentlichen Recht an; wegen ihr iſt er der Beurtheilung nach ſtaatsrechtlichen Geſichtspunkten unterworfen und ſie allein unterſcheidet das Rechts - verhältniß der Staatsbeamten von dem der techniſchen und wirth - ſchaftlichen Beamten der juriſtiſchen und phyſiſchen Privat-Per - ſonen.

III. Wenn man die vorſtehende Begriffsbeſtimmung auf die Reichsbeamten anwendet, ſo ergibt ſich, daß nicht Jeder, welcher397§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.ein Reichsamt bekleidet, Reichsbeamter iſt. Es ſcheiden vielmehr aus der Zahl der Reichsbeamten aus, weil ein Dienſtverhältniß zum Reich nicht begründet iſt:

  • 1) Die vom Reichstage und Bundesrathe gewählten Mitglieder der Reichsſchuldenkommiſſion
    1)Siehe oben S. 354.
    1).
  • 2) Die vom Bundesrathe erwählten Mitglieder der Verwal - tung des Reichs-Invalidenfonds
    2)Siehe oben S. 352. Vgl. Kanngießer S. 19.
    2).
  • 3) Die vom Bundesrathe erwählten Mitglieder des Bank - kuratoriums
    3)Siehe oben S. 354.
    3).
  • 4) Die Mitglieder der Preußiſchen Behörden, welche zugleich Reichsgeſchäfte führen, (mit Ausnahme des Rechnungshofes), alſo des Preuß. Finanzminiſteriums
    4)als Zoll - und Steuer-Rechnungsbureau. Siehe S. 320.
    4), der General-Staatskaſſe
    5)als Reichs-Hauptkaſſe. Siehe S. 316.
    5), der Hauptverwaltung der Staatsſchulden
    6)als Reichs-Schulden-Verwaltung. Siehe S. 349.
    6), des Appellationsgerichtes zu Stettin
    7)als Ober-Konſulargericht. Siehe S. 368.
    7), des General-Auditoriats
    8)als oberſtes Marinegericht. Siehe S. 369.
    8).
  • 5) Die Bayeriſchen Geſandten, welche zur Vertretung von Reichsgeſandten bevollmächtigt werden. Siehe oben S. 331.
  • 6) Die Mitglieder der Reichs-Schulkommiſſion
    9)Siehe oben S. 324.
    9).
  • 7) Die Mitglieder der Reichs-Rayonkommiſſion
    10)Siehe oben S. 381. fg.
    10).
  • 8) Diejenigen Mitglieder der Normal-Eichungskommiſſion, welche derſelben zur Bildung der ſogen. Plenar-Verſammlung beitreten
    11)Siehe oben S. 320.
    11).

III. Das Reichsgeſetz vom 31. März 1873 §. 1.12)Dieſes Geſetz iſt zuerſt 1869, dann 1870, dann 1872, endlich 1873 dem Reichstage vorgelegt worden. Vgl. über die Schickſale des Geſetzentwurfs Kanngießer a. a. O. S. 3 ff. Die Berathung, in welcher der Wortlaut des Geſetzes im Weſentlichen feſtgeſtellt wurde, iſt die des Jahres 1872. Die von der Regierung ausgearbeiteten Motive finden ſich in den Druckſachen des Deutſchen Reichstages 1872 Bd. I. Nr. 9. beſtimmt: Reichs-Beamter im Sinne dieſes Geſetzes iſt jeder Be -398§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.amte, welcher entweder vom Kaiſer angeſtellt oder nach Vorſchrift der Reichsverfaſſung den Anordnungen des Kaiſers Folge zu leiſten verpflichtet iſt 1)Dieſe Definition iſt wörtlich entnommen dem Geſetz vom 2. Juni 1869 über die Kautionen der Bundesbeamten §. 1 (B. -G.-Bl. S. 161); nur daß hier ſelbſtverſtändlich ſtatt Kaiſer Bundespräſidium ſtand..

Es gibt ſonach zwei Klaſſen von Reichs-Beamten im Sinne dieſes Geſetzes.

1. Die erſte Klaſſe bilden die vom Kaiſer oder in ſeinem Auftrage kraft Delegation angeſtellten Beamten des Reiches. Da der Art. 18 der Reichsverf. beſtimmt: Der Kaiſer ernennt die Reichsbeamten , ſo iſt die Begriffs-Beſtimmung dieſer Klaſſe nichts - ſagend. Es kann zwar wie ſoeben ausgeführt worden iſt Reichsbehörden geben, welche der Kaiſer nicht oder nicht aus - ſchließlich beſetzt; aber nach dem Art. 18 verſteht es ſich für die Reichsbeamten von ſelbſt, daß ſie vom Kaiſer oder in deſſen Namen kraft kaiſerlicher Ermächtigung ernannt ſind. Die erſte Kate - gorie des §. cit. ſagt weiter Nichts als: Reichsbeamter im Sinne dieſes Geſetzes iſt jeder Beamte, welcher Reichsbeamter iſt.

Eine praktiſche Bedeutung erlangt die Definition des §. 1 lediglich wegen der Hinzufügung der zweiten Kategorie.

2. Die zweite Klaſſe umfaßt Perſonen, welche nicht Reichs - beamte, ſondern Beamte der Einzelſtaaten ſind, trotzdem aber nach Vorſchrift der Reichsverfaſſung den Anordnungen des Kaiſers Folge zu leiſten verpflichtet ſind. Der §. 1 will ſagen: Dieſes Geſetz findet Anwendung nicht nur auf die Reichsbeamten, ſondern auch auf diejenigen Beamten der Einzelſtaaten, welche u. ſ. w. Durch die Geſetze vom 2. Juni 1869 und vom 31. März 1873 ſind die praktiſchen Uebelſtände zum Theil beſeitigt worden, welche ſich aus den Anordnungen der Reichsverf. über die Anſtellung der Beamten der Poſt - nnd Telegraphen-Verwaltung und über das Heerweſen ergeben mußten. Die im Art 50. Abſ. 5 der R. -V. aufgeführten Poſt - und Telegraphen-Beamten werden nicht vom Kaiſer, ſondern von den Landesherren ernannt, ſoweit nicht beſondere Conventionen eine Ausnahme begründen. Sie ſind mithin Landesbeamte2)Es iſt dies vom Präſidenten des Reichskanzler-Amtes ausdrücklich an - erkannt worden bei der Berathung des Beamten-Geſetzes im Reichstage von 1868. Ebenſo iſt die Militär-Ver -399§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.waltung und die Ernennung der Militärbeamten den Einzelſtaaten überlaſſen, ſoweit nicht beſondere Conventionen ein Anderes be - ſtimmen. (Art. 66.) Trotzdem ſind dieſe Beamten dem Reichs - beamten-Geſetz unterworfen, wofern ſie nach Vorſchrift der Reichs - verfaſſung den Anordnungen des Kaiſers Folge zu leiſten ver - pflichtet ſind. Durch dieſe Klauſel werden ausgenommen die Poſt - und Telegraphenbeamten in Bayern und Württemberg und die Militärbeamten in Bayern, wegen der dieſen Staaten verfaſſungs - mäßig eingeräumten Sonderrechte hinſichtlich der Poſt - und Tele - graphen-Verwaltung und reſp. Heeresverwaltung.

Der Art. 50 der Reichs-Verfaſſung enthält ausdrücklich die Beſtimmung, daß ſämmtliche Beamte der Poſt - und Telegra - phenverwaltung verpflichtet ſind, den Kaiſerlichen Anordnungen Folge zu leiſten. Dagegen findet ſich eine ähnliche Beſtimmung hinſichtlich der Militärbeamten in der Reichs-Verfaſſung nicht. Der Art. 63 überträgt dem Kaiſer in Krieg und Frieden den Befehl über die geſammte Landmacht des Reiches und Art. 64 verpflichtet alle Deutſchen Truppen den Befehlen des Kaiſers unbedingte Folge zu leiſten. Der militäriſche Oberbefehl iſt aber nicht identiſch mit der Leitung der Verwaltung des Heerweſens. Deſſen ungeachtet iſt es zweifellos, daß die Geſetze vom 2. Juni 1869 und 31. März 1873 auf die Militärbeamten (ausgenommen die bayeriſchen) Anwendung finden1)Vgl. die Motive von 1872 S. 30. Das R. -G. vom 31. März 1873 §. 120 ff. erwähnt ſie ausdrücklich; ebenſo das Verz. der Reichsbeamten vom 30. Juni 1873 (R. -G.-Bl. S. 169); vgl. ferner die Verordn. v. 5. Juli 1871 (R. -G.-Bl. S. 308) u. ſ. w..

Unter die Anordnungen des Reichsbeamtengeſetzes gehören2)(Stenogr. Ber. S. 556). Ferner in einem Erlaß des Preuß. Miniſters des Innern vom 9. Juli 1869 (Min. -Bl. für die Preuß. innere Verwaltung 1869 S. 161.) In demſelben Sinne hat das Preuß. Kammergericht entſchieden durch Urtheil vom 1. November 1869 (in demſelben Miniſt. -Blatt 1870 S. 52). Nach Erlaß des Reichsbeamten-Geſetzes iſt derſelbe Satz mit ſeinen Con - ſequenzen feſtgehalten worden von dem Kaiſerl. Disciplinarhofe in der Entſcheidung vom 2. April 1874 (Centralbl. für das Deutſche Reich 1874 S. 145 fg.) Der II. Senat des Reichs-Oberhandelsger. hat zwar in dem Urth. vom 5. März 1874 (Entſcheidungen Bd. 13 S. 29 ff. ) ausgeführt, daß mit dem Tage der Geſetzeskraft des Geſetzes vom 31. März 1873 die nicht vom Kaiſer ernannten Poſtbeamten Reichsbeamte wurden; aber es iſt hier die Einſchränkung hinzuzufügen: im Sinne dieſes Geſetzes. 400§. 37. Der Begriff der Reichsbeamten.dagegen nicht diejenigen Beamten der Einzelſtaaten, welche zwar die Reichsgeſetze und Bundesrathsbeſchlüſſe handhaben und deren Amtsführung der Oberaufſicht des Reiches unterliegt, welche aber in keinem dienſtlichen Unterordnungs-Verhältniß zu den oberen Reichsbehörden und ſomit zum Kaiſer ſtehen, alſo beiſpielsweiſe die Beamten der Zollverwaltung, der Eiſenbahn-Verwaltung, der Seemanns-Aemter u. ſ. w.1)Die Motive a. a. O. ſagen: Es handelt ſich (im §. 1) nur um dieje - nigen Beamten, welche in einem vom Reiche unmittelbar geleiteten Verwaltungs - zweige thätig ſind..

Die Verordnung vom 29. Juni 1871 (R. -G.-Bl. S. 303) bezeichnet in der Ueberſchrift die Reichsbeamten, deren Anſtellung vom Kaiſer ausgeht, als unmittelbare2)ebenſo ſchon die Verordn. vom 3. Dez. 1867 (B. -G.-Bl. S. 327.); der Allerh. Erlaß vom 3. Auguſt 1871 (R. -G.-Bl. S. 318) als kaiſerliche. Im Gegenſatz hierzu ergiebt ſich für die Beamten der zweiten, im §. 1 des Reichsbeamten-Geſetzes aufgeführten Kategorie die Bezeichnung: mittelbare Reichsbeamte 3)Man könnte auch ſagen: landesherrliche Reichsbeamte. , welche für dieſelben üblich gewor - den iſt4)Vgl. das oben citirte Erk. des Disciplinarhofes im Centralbl. 1874 S. 145..

Die mittelbaren Reichsbeamten ſind daher wohl zu unterſchei - den von denjenigen Beamten der Einzelſtaaten, welche in einem Verwaltungszweige thätig ſind, hinſichtlich deſſen das Reich auf die Geſetzgebung und Oberaufſicht beſchränkt iſt5)Die Bezeichnung mittelbare Reichsbeamte wäre an und für ſich auch auf dieſe Beamten anwendbar. Vgl. oben S. 292..

3) Durch beſondere geſetzliche Anordnungen ſind die Rechte und Pflichten der Reichsbeamten beigelegt worden:

  • a) den Reichstags-Beamten. Geſetz vom 31. März 1873 §. 156.
  • b) den Beamten der Reichsbank. Geſetz vom 14. März 1875 §. 28.

4) Zu den Reichsbeamten gehören begrifflich auch die Elſaß - Lothringiſchen Landes-Beamten. Das Geſetz vom 31. März 1873 iſt auf die Rechtsverhältniſſe der elſaß-lothringiſchen Lan - desbeamten, welche ein Dienſteinkommen aus der Landeskaſſe401§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.beziehen, ſowie der Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen ausgedehnt worden durch das Geſetz vom 23 Dezember 18731)Geſetzbl. für Elſ. -Lothr. S. 479. Ausgenommen von der Geltung deſſelben ſind die Lehrer an der Univerſität Straßburg und Mitglieder geiſt - licher Kongregationen, welche Stellen im Staatsdienſte oder in öffentlichen Lehranſtalten verſehen. Geſetz vom 23. Dezember 1873 Art. IX. . Die Unterſcheidung zwiſchen Reichsbeamten und elſaß-lothringiſchen Landesbeamten iſt nur in finanzieller Hinſicht von rechtlicher Be - deutung. Vgl. hierüber unten §§ 54. 55.

5) Auf Perſonen des Soldatenſtandes findet das Reichsgeſetz vom 31. März 1873 keine Anwendung, ausgenommen die in den §§. 134 148 enthaltenen Beſtimmungen über Defekte2)Reichsgeſ. vom 31. März 1873 §. 157. Siehe unten §. 41.. Obwohl Offiziere dem allgemeinen Begriff eines Staatsbeamten ſich unter - ordnen, ſo iſt es doch in der militäriſchen Disciplin und der Or - ganiſation des Heeres begründet, daß das dienſtliche Verhältniß der Offiziere und Unteroffiziere anderen Regeln unterworfen iſt, wie dasjenige der Civil - und Militärbeamten.

§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.

I. Die herrſchende Theorie führt die Begründung des Staats - diener-Verhältniſſes auf einen einſeitigen Akt des Staats zu - rück. Gönner, Heffter, Perthes, Dahlmann an den oben angegebenen Orten haben in conſequenter Durchführung ihrer Anſicht, daß die Uebernahme eines Amtes eine Pflicht ſei, die Anſtellung eines Beamten als Ausfluß der ſtaatlichen Herrſchaft angeſehen3)Perthes a. a. O. S. 55: Nicht auf einem Vertrage ruht die Ue - bernahme des Amtes, denn die Pflicht hört nicht auf Pflicht zu ſein, wenn der, welchem ſie obliegt, mit Freuden erfüllt .... So iſt auch der vom Lan - desherrn Auserleſene verpflichtet das Amt zu übernehmen, auf ſeine Einwilli - gung kömmt es hier ſo wenig, wie bei der Entrichtung der Steuern oder Er - füllung ſonſtiger Unterthanenpflichten an. . Aber auch diejenigen Juriſten, welche prinzipiell das Zwangsrecht des Staates zum Eintritt in den Staatsdienſt ver - werfen, halten daran feſt, daß die Anſtellung eines Beamten kein Vertrag, ſondern ein einſeitiger Willensakt des Staates ſei. DasLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 26402§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.Anſtellungsdecret, ſagt man, habe den juriſtiſchen Charakter eines Privilegiums, einer lex specialis1)So Zöpfl Staatsr. II. §. 515. Zachariä II. §. 135 (S. 27.) v. Gerber §. 37. Bluntſchli Allgem. Staatsr. II. S. 124 (der jedoch den Ausdruck Specialgeſetz deshalb vermieden wiſſen will, weil die Anſtel - lung in der Regel nicht durch den geſetzgebenden Körper erfolgt). Pözl im Staatswörterbuch Bd. IX S. 688 und Bayr. Verfaſſungsr. §. 199 Note 2 (S. 495). v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 §. 328. Vgl. ferner Mau - renbrecher §. 161. Grotefend §. 673. Schulze Preuß. Staatsr. I. §. 99. Selbſt Schmitthenner, der die Anſtellung richtig als einen Ver - trag des öffentlichen Rechts auffaßt, legt deſſenungeachtet S. 506 dem Anſtel - lungsdekret den Charakter einer lex specialis bei. .

Allein, wenn man auch davon abſehen will, daß bei den An - ſtellungs-Dekreten die Form der Geſetzgebung nicht Anwendung findet, ſo iſt doch nicht zu verkennen, daß auch materiell die An - ſtellung von Staatsbeamten kein Act der Geſetzgebung, ſondern ein Rechtsgeſchäft iſt.

Der Landesherr, welcher die für den Staatsdienſt erforder - lichen Arbeitskräfte durch Anſtellung von Beamten anſchafft, er - ledigt dadurch ſtaatliche Verwaltungs-Geſchäfte, aber er ſtellt nicht für jeden einzelnen Fall eine beſondere Rechtsnorm auf. Wie faſt alle Verwaltungsgeſchäfte werden auch die Anſtellungen in der Form der Verfügung erledigt; aber eine ſolche Verfügung iſt keine Ver - ordnung im techniſchen Sinne. Man verkehrt doch wahrlich den materiellen Begriff des Geſetzes einer ſcholaſtiſchen Formel zu Liebe in ſein Gegentheil, wenn man annimmt, daß die Millionen von Anſtellungsdekreten der Beamten ebenſo viele Spezialgeſetze ſeien. Man kömmt mit dieſer Formel aber überhaupt nur aus bei den Staatsbeamten, da nur der Staat Geſetze erlaſſen kann, während doch die Anſtellung von Staatsbeamten und die Anſtellung von Privatbeamten unter eine gemeinſame Begriffs-Kategorie fallen. Die Anſtellung eines Eiſenbahn-Beamten an einer Privatbahn iſt ein Rechtsgeſchäft, an einer Staatsbahn ſoll ſie ein Geſetzgebungs - Akt ſein! Der königl. Förſter ſoll durch lex specialis ſein Amt haben, der Förſter des Standesherrn durch Vertrag! Den Beamten der Städte und Landgemeinden ſchreibt man die Eigenſchaft mit - telbarer Staatsbeamten zu und in jedem Falle ſind ſie öffentliche Beamte. Haben nun auch die Gemeinden die Befugniß, Spezial - geſetze zu erlaſſen und machen ſie von derſelben bei der Ernennung403§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.der Communalbeamten Gebrauch oder ſchließen ſie bei Anſtellung ihrer Beamten Rechtsgeſchäfte mit denſelben ab? Da unzweifel - haft das Letztere der Fall iſt, ſo paßt die Theorie von der lex specialis auf die mittelbaren Staatsbeamten gewiß nicht.

Man beruft ſich für dieſe Theorie darauf, daß bei der An - ſtellung eines Staatsbeamten der Regel nach kein Raum für freie Vereinbarung der Contrahenten ſei; Obliegenheiten und Pflichten des Amtes einerſeits und die Rechte des Beamten auf Gehalt und Penſion, auf Titel und Rang u. ſ. w. andererſeits ſtünden durch objective Regeln feſt und können nicht durch ſpezielle Verabredungen verändert werden; es werde alſo kein Vertrag geſchloſſen, ſondern ein ideell bereits geſchaffenes Amt werde dem Beamten verliehen1)Gönner S. 84. 87. Heffter a. a. O. S. 129. 130 : Das Amt wird nicht erſt durch einen Vertrag, eine conventio geſchaffen, es iſt ſchon vorhanden und wird nur jedesmal durch einen Regierungsakt bei einer neuen Anſtellung für ein beſtimmtes Individuum ins Leben gerufen. Vgl. ferner L. Stein Verwaltungslehre I. 1 S. 239 ff.. Hier iſt zunächſt zu entgegnen, was bereits oben ausgeführt wurde, daß die Uebertragung eines Amtes etwas Anderes iſt als die Anſtellung Jemandes im Staatsdienſt; und daß es ferner doch Beamte giebt, mit welchen die ihnen zuzugeſtehenden Rechte in jedem einzelnen Falle wenigſtens theilweiſe vereinbart werden. Insbeſondere aber iſt es für die rechtliche Natur des Anſtellungs - Aktes ganz unerheblich, welcher Spielraum der freien Willens - Einigung über den Inhalt des Rechtsverhältniſſes gegeben iſt. Wer einen Brief der Poſt zur Beförderung übergiebt, ſchließt doch ſicherlich einen Vertrag mit derſelben ab und doch iſt der Inhalt dieſes Vertrages nach allen Beziehungen unabänderlich feſtgeſtellt. Nur darauf kommt es für den Begriff des Vertrages an, daß der freie übereinſtimmende Wille der Contrahenten zum Abſchluß des Rechtsgeſchäftes erforderlich ſei; der Inhalt des dadurch be - gründeten Rechtsverhältniſſes kann ſtereotyp und unabänderlich feſtſtehen2)Wenn Bluntſchli a. a. O. S. 124 Note 5 behauptet, daß die An - frage, ob jemand ein Amt annehmen würde und die Zuſage deſſelben noch keinen Vertrag bewirkt, ſo darf man wohl fragen, warum nicht, da doch ſonſt Offerte und Annahme das Zuſtandekommen eines Vertrages bewirken..

Grade gegen die Theorie von der lex specialis ſpricht es aber,26*404§ 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.daß bei der Anſtellung jedes einzelnen Beamten beſondere und eigenthümliche Grundſätze nicht aufgeſtellt werden dürfen, daß viel - mehr Rechte und Pflichten des Beamten objectiv feſtſtehen und für ihre Beurtheilung aus dem Anſtellungs-Decret regelmäßig Nichts, aus den allgemeinen Staatsgeſetzen Alles zu entnehmen iſt.

Ein gewöhnlicher Vertrag des Obligationenrechts iſt die An - ſtellung eines Staatsbeamten allerdings nicht; das daraus hervor - gehende Rechtsverhältniß iſt kein privatrechtliches, contraktliches; aber deſſen ungeachtet beruht der Eintritt eines Beamten und die Aufnahme deſſelben in den Staatsdienſt auf dem von beiden Seiten, in rechtsverbindlicher Form erklärten Conſenſe, iſt alſo ein zweiſeitiges Rechtsgeſchäft, d. h. ein Vertrag1)v. Gerber §. 37 Note 1 hebt trotz ſeiner Behauptung, daß die An - ſtellung in die Claſſe der Privilegien gehört, ganz richtig hervor, daß die Bedeutung, welche der Vertrag bei der Begründung des Staatsdienſtverhält - niſſes hat, derjenigen ähnlich iſt, welche dem Vertrage bei der Eingehung einer Ehe zukömmt. Der Inhalt des ehelichen Verhältniſſes iſt kein vertragsmäßig normirter, aber deſſen ungeachtet bleibt doch die Eheſchließung ein Vertrag..

Eine Analogie zu dieſem ſtaatsrechtlichen Vertrage liefert die oben §. 17 dargeſtellte Verleihung der Staats-Angehörigkeit. Beide begründen ein Unterordnungs - und Gewalts-Verhältniß, nur daß das letztere bei dem Anſtellungs-Vertrage einen viel intenſiveren Inhalt hat. Das Anſtellungs-Dekret entſpricht der Aufnahme - oder Naturaliſations-Urkunde und hat für die Perfektion des Ge - ſchäftes ganz dieſelbe Bedeutung wie dieſe.

II. Ueber die Anſtellung der unmittelbaren Reichsbeamten gelten folgende Rechtsregeln.

1. Befugt im Namen des Reiches Beamte anzuſtellen, iſt der Kaiſer als der Geſchäftsführer des Reiches. R. -V. Art. 18. Er iſt wie bei allen Regierungsgeſchäften hierbei an die Beobachtung der Reichsgeſetze gebunden; er kann daher den Anſtellungsvertrag nicht unter willkührlichen Bedingungen abſchließen, er kann den Reichsbeamten keine größeren Rechte zugeſtehen und andererſeits ihnen keine ungünſtigere Stellung anweiſen, als mit den Reichs - geſetzen vereinbar iſt. Der Anſtellungs-Vertrag ſelbſt kann nur vom Kaiſer oder in deſſen Auftrag abgeſchloſſen werden; dies ſchließt aber nicht aus, daß nicht der Bundesrath ein Vorſchlags -405§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.recht habe oder wegen der Anſtellung gewiſſer Beamten vorher gehört werden muß1)Siehe oben S. 262..

So wie der Kaiſer hinſichtlich aller Regierungsgeſchäfte die Befugniß hat, dieſelben den geſetzlich errichteten Behörden zu dele - giren, ſo kann auch die Anſtellung von Reichsbeamten durch Dele - gation Reichsbehörden übertragen ſein2)Ein Verbot oder eine Beſchränkung dieſer Delegationsbefugniß iſt im Art. 18 der R. -V. nicht enthalten.. Der Reichskanzler als der kaiſerliche Miniſter iſt auch für dieſe Geſchäfte zuſtändig, ſo - weit nicht entweder der Kaiſer dieſelben zu eigener Entſcheidung ſich vorbehalten hat oder durch ſpezielle Vorſchrift eine andere Reichsbehörde mit ihnen beauftragt iſt.

Durch die Verordnung vom 23. Nov. 1874 §. 2 (R. -G.-Bl. S. 135) iſt beſtimmt, daß eine Kaiſerliche Beſtallung er - halten:

a) Die Mitglieder der höheren Reichsbehörden3)Das Verzeichniß derſelben ſteht im R. -G.-Bl. 1874 S. 136 ff., ſowie die - jenigen Reichsbeamten, welche nach ihrer dienſtlichen Stellung den - ſelben vorgehen oder gleichſtehen;

b) die Konſuln ſowohl Berufskonſuln als Wahlkonſuln.

Dagegen werden nach §. 3 a. a. O. die Anſtellungs-Urkunden der übrigen Reichsbeamten im Namen des Kaiſers vom Reichs - kanzler oder von den durch denſelben dazu ermächtigten Behör - den ertheilt. Der Reichskanzler hat ſonach in dieſer Hinſicht eine generelle Subſtitutions-Vollmacht. Soweit durch Reichsgeſetz oder vertragsmäßig4)Dies bezieht ſich nur auf die ſogen. mittelbaren Reichsbeamten (Mili - tär - Poſt - Telegraphen-Beamte). eine abweichende Beſtimmung getroffen iſt, bleibt dieſelbe ſelbſtverſtändlich in Kraft. (§. 4.) Die Reichsgeſetze ent - halten mehrfach Anordnungen, welche theils dem Reichskanzler theils den Chefs von Behörden die Ernennung gewiſſer Beamter übertragen5)Beiſpiele: Das Geſetz vom 12. [Juni] 1869 §. 4 überträgt beim R. -O.-H.-G. die Ernennung der Sekretäre dem Reichskanzler, die Ernen - nung der übrigen Subaltern - und Unterbeamten dem Präſiden - ten des Gerichtshofes. Das Geſetz vom 23. März 1873 §. 11 Abſ. 2 über - trägt dem Vorſitzenden der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds die Ernen - nung des Bureauperſonals (alſo mit Einſchluß der Sekretäre). Dage -.

406§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.

2. Bezüglich der Perſon des Anzuſtellenden gilt als ein all - gemeiner Grundſatz nur die Vorſchrift des Strafgeſetzbuches, daß die Verurtheilung zur Zuchthausſtrafe die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter von Rechtswegen zur Folge hat (§. 31) und daß die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, während der im Urtheil beſtimmten Zeit die Unfähigkeit bewirkt, öffentliche Aemter zu erlangen. (§. 34.) Die Unfähigkeit, ein öffentliches Amt zu erlangen, ſchließt aber die Unfähigkeit, im Staatsdienſt angeſtellt zu werden, in ſich; weil dieſe Anſtellung eben nur zu dem Zwecke erfolgen darf, daß der Angeſtellte ein öffentliches Amt bekleide.

Im Uebrigen iſt die Befähigung, im Reichsdienſt angeſtellt zu werden, an beſondere Vorausſetzungen nicht gebunden; insbe - ſondere iſt weder Reichsangehörigkeit, noch Großjährigkeit noch Freiheit von der väterlichen Gewalt erforderlich1)Vgl. Kanngießer S. 24. Auch männliches Geſchlecht iſt reichsge - ſetzlich nicht erforderlich; der Anſtellung von Frauen und Mädchen im Poſt - und Telegraphendienſt ſteht kein rechtliches Hinderniß entgegen. Das Verzeich - niß der Reichsbeamten im R. -G.-Bl. 1874 S. 179 erwähnt vielmehr ausdrück - lich die Telegraphen-Gehülfinnen im Großherzogth. Baden..

Dagegen iſt für die Uebertragung einzelner Aemter eine ſpe - zielle Qualifikation erforderlich, nämlich für die Berufskonſuln (Geſ. v. 8. Nov. 1867 §. 7), für die Mitglieder des Oberhandels - gerichts (Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 6), des Bundesamtes für das Heimathsweſen (Geſ. v. 6. Juni 1870 §. 42), der Disciplinar - Behörden (Reichsbeamtengeſ. §. 89, 91, 121), der zur Verſtär - kung des Reichs-Eiſenbahn-Amtes hinzu zu ziehenden Beamten (Geſ. 5)gen das Geſetz vom 27. Juni 1873 §. 2 überträgt die Ernennung der Sub - altern - und Unterbeamten bei dem Reichs-Eiſenbahn-Amt dem Reichs - kanzler. Ein Prinzip ſcheint alſo nicht zu beſtehen, da bei den drei an - gegebenen Behörden drei verſchiedene Anordnungen erlaſſen worden ſind. Bei der Ober-Rechnungskammer ernennt der Präſident alle Beamten mit Aus - nahme der Mitglieder. (Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 §. 6 Abſ. 1. Geſ. -Samml. S. 279.) Dies findet auch auf den Rechnungshof des Reiches Anwendung. Inſtrukt. vom 5. März 1875 §. 17. Centralbl. S. 160. Bisweilen iſt dem Reichskanzler die Ernennung von Reichsbeamten übertragen, jedoch nach Anhörung von Bundesraths-Ausſchüſſen; ſo z. B. hin - ſichtlich der Inſpectoren für die Steuermanns - und Schifferprüfungen (B. -G.-Bl. 1870 S. 320. 325) und der Inſpektoren für das Schiffsvermeſſungsweſen. (Verordn. vom 5. Juli 1872 §. 21. R. -G.-Bl. S. 277).407§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.v. 27. Juni 1873 §. 5 Nro. 4) und für die richterlichen Militär - reſp. Marine-Juſtizbeamten (Geſ. v. 2. Mai 1874 §. 7.)

3. Die Form, in welcher der Anſtellungs-Vertrag geſchloſſen wird, beſtimmt ſich durch §. 4 des Beamtengeſetzes. Jeder Reichs - beamte erhält bei ſeiner Anſtellung eine Anſtellungs-Ur - kunde. Dadurch iſt der mündliche Abſchluß des Rechtsgeſchäfts ausgeſchloſſen. Die Anſtellungs-Urkunde heißt Beſtallung 1)Verordn. vom 31. März 1873. R. -G.-Bl. S. 135.. Soweit einer Behörde die Ernennungs-Befugniß delegirt iſt, iſt eine ſchriftliche Eröffnung dieſer Behörde an den Beamten genü - gend2)Motive S. 31.. Die Ausſtellung einer ſchriftlichen Erklärung des Beamten über ſeinen Eintritt in den Reichsdienſt findet nicht Statt. Der Vertrag wird vielmehr abgeſchloſſen durch die Aushändigung der Anſtellungs-Urkunde, d. h. durch die vorbehaltsloſe Annahme der - ſelben Seitens des Beamten. Correſpondenzen über den Eintritt in den Reichsdienſt und über die Bedingungen deſſelben, welche zwiſchen dem anzuſtellenden Beamten und der zuſtändigen Reichs - behörde ſtattgefunden haben, ſind lediglich Vorverhandlungen und begründen niemals einen rechtlichen Anſpruch weder für die Reichs - regierung auf Uebernahme des Amtes noch für den Beamten auf Anſtellung. Erſt mit der Ausſtellung und der Annahme der Be - ſtallung wird der Vertrag perfekt.

4. Die Wirkungen des Vertrages beginnen im Allgemeinen mit dem Moment der Perfektion des Vertrages; alſo mit dem Empfange des Anſtellungs-Dekretes3)Die herrſchende Anſicht, welche in der Anſtellungs-Urkunde eine lex specialis erblickt, läßt die Wirkungen mit dem Datum des Decrets beginnen. Vgl. z. B. Zachariä II. S. 33 und v. Gerber S. 117. Wie ſollen aber für den Beamten Pflichten erwachſen, ſo lange er von ſeiner Anſtellung noch Nichts weiß? Man hilft ſich damit, daß man die Pflichten ſpäter entſtehen läßt, als die Rechte des Beamten! Vgl. Pözl im Staatswörterbuch IX. S. 692.. Von dieſem Zeitpunkte an entſteht für den Beamten die Pflicht zum dienſtlichen Gehorſam, zur Befolgung der Disciplinar-Vorſchriften, die Be - ſchränkung hinſichtlich der Uebernahme anderer Aemter u. ſ. w. und ebenſo die Befugniß zur Führung des Amtstitels und der übrigen mit der Beamtenſtellung verbundenen Vorrechte, z. B. der Steuer - Bevorzugungen. Hiervon giebt es aber 2 Ausnahmen:

408§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.

a) Der Anſpruch auf ein Dienſt-Einkommen beginnt in Er - mangelung beſonderer Feſtſetzungen mit dem Tage des Amts - Antritts, falls mit dem übertragenen Amte ein Dienſteinkommen verbunden iſt. Reichsgeſ. §. 41)Es kann demnach in der Beſtallung der Zeitpunkt, von dem an das Gehalt zu zahlen iſt, hinausgeſchoben oder auf einen ſchon vergangenen Tag, z. B. den Anfang des Vierteljahres oder Monats, zurückdatirt werden. Ent - hält die Beſtallung darüber Nichts, ſo entſcheidet der Tag, an dem die Amts - geſchäfte thatſächlich übernommen worden ſind. Unter Umſtänden wenn z. B. der Beamte ſogleich um Urlaub bittet kann dies erheblich ſpäter ſein, als der Beginn der Beamten-Eigenſchaft..

b) Für die Berechnung der Dienſtzeit behufs Feſtſtellung der Penſion kömmt weder das Datum der Beſtallung noch der Tag der Aushändigung derſelben in Betracht; es beſtehen vielmehr ſpe - zielle Beſtimmungen in den §§. 45 ff. Vgl. darüber unten §. 42.

5. Die Ableiſtung eines Dienſt-Eides iſt zur Perfektion des Anſtellungs-Vertrages nicht erforderlich, wohl aber zur Ueber - nahme eines Reichsamtes2)In den Motiven S. 31 wird richtig hervorgehoben, daß die Eigen - ſchaft eines Beamten als Reichsbeamter nicht durch die vorherige Ableiſtung des Eides bedingt wird. Gewöhnlich wird die Anſtellung und die Uebernahme eines Amtes nicht genügend unterſchieden..

Vor dem Dienſt-Antritt iſt jeder Reichs-Beamte auf die Erfüllung aller Obliegenheiten des ihm übertragenen Amtes eidlich zu verpflichten. (§. 3 des Reichsgeſ.)

Die Möglichkeit, daß ein Beamter auch ſchon vor Ableiſtung des Eides im Reichsdienſte Verwendung findet, iſt nicht ausge - ſchloſſen; ſie wird im §. 45 Abſ. 2 des Reichsgeſetzes ausdrücklich erwähnt. Die Verwendung eines nicht vereideten Beamten zur Erledigung amtlicher Geſchäfte iſt aber ordnungswidrig und bewirkt, ſoweit es ſich um richterliche Geſchäfte handelt, nach einem allgemein anerkannten Prozeß-Grundſatze die Nichtigkeit des Ver - fahrens3)Vgl. Zachariä a. a. O. II. S. 34..

Wenn ein Beamter vor ſeiner Vereidigung bereits ein Amt verwaltet, ſo iſt ſeine Verantwortlichkeit ganz dieſelbe, als hätte er den Dienſteid abgeleiſtet. Ausdrücklich iſt dies in Beziehung auf die ſtrafrechtliche Verantwortlichkeit für Verbrechen und Ver - gehen im Amte durch das Strafgeſetzb. §. 359 anerkannt4) Unter Beamten im Sinne dieſes Strafgeſetzes ſind zu verſtehen alle.

409§. 38. Die Anſtellung der Reichsbeamten.

Die allgemeine Formel des Dienſteides der unmittelbaren Reichsbeamten iſt durch Verordn. v. 29. Juni 1871 (R. -G.-Bl. 1871 S. 303) feſtgeſtellt worden. Sie lautet:

Ich N. N. ſchwöre zu Gott dem Allmächtigen und Allwiſ - ſenden, daß, nachdem ich zum Beamten des Deutſchen Reichs beſtellt worden bin, ich in dieſer meiner Eigenſchaft Seiner Majeſtät dem Deutſchen Kaiſer treu und gehorſam ſein, die Reichsverfaſſung und die Geſetze des Reiches be - obachten und alle mir vermöge meines Amtes obliegenden Pflichten nach meinem beſten Wiſſen und Gewiſſen genau erfüllen will, ſo wahr mir Gott helfe u. ſ. w.

Durch ſpezielle geſetzliche Vorſchriften ſind aber andere Eides - formeln angeordnet für die Konſuln1)Geſetz vom 8. November 1867 §. 4. (B. -G.-Bl. S. 138). und für den Vorſitzenden und die Mitglieder der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds2)Geſetz vom 23. Mai 1873 §. 12 (R. -G.-Bl. S. 121). Siehe oben S. 351. Ueber die Mitglieder der Reichsſchulden-Verwaltung ſiehe oben S. 349 fg..

Hinſichtlich der mittelbaren Reichsbeamten beſtimmt Art. 50 der Reichs-Verfaſſung, daß in den Dienſteid der Poſt - und Telegraphen-Verwaltung die Verpflichtung aufzunehmen iſt, den Kaiſerlichen Anordnungen Folge zu leiſten. Durch einen Bundes - raths-Beſchluß iſt dieſelbe Formel auch für die anderen mittelbaren Reichsbeamten (Militärbeamte) angeordnet worden3)Er wird ohne Angabe des Datums erwähnt in den Motiven zum Reichsbeamten-Geſetz S. 31..

6. Die öffentliche Bekanntmachung der Ernennung von Reichs - beamten oder der Uebertragung eines Reichsamtes iſt geſetzlich nicht vorgeſchrieben; dieſelbe findet aber in jedem Falle Statt. Für die Begründung des Dienſtverhältniſſes iſt die Bekanntmachung un - weſentlich; hinſichtlich der Uebertragung eines Amtes muß dieſelbe aber für erforderlich erachtet werden, wofern mit dem Amte obrig - keitliche Befugniſſe oder eine Vertretungsbefugniß zum Abſchluß von Rechtsgeſchäften verbunden iſt, um den Beamten Dritten gegen - über zu legitimiren. Ueber die Form der Bekanntmachung fehlt es ſowohl an geſetzlichen Vorſchriften als an feſten Grundſätzen der Praxis. Manche Ernennungen wurden bis incl. 1872 durch4)...... Perſonen, ohne Unterſchied, ob ſie einen Dienſteid geleiſtet haben oder nicht. 410§. 39. Die Amts-Kaution.das Reichsgeſetzblatt bekannt gemacht1)Wäre die Theorie richtig, daß jede Anſtellung eines Beamten eine lex specialis ſei, ſo würde ſie, da Art. 2 der R. -V. keine Ausnahme kennt, nur durch Verkündigung im Reichsgeſetzblatte und zwar erſt von dem in dieſem Art. angegebenen Termine an verbindliche Kraft erlangen. Auch hieran erweiſt ſich die Unrichtigkeit der Theorie., nämlich außer der des Reichskanzlers die der Konſuln, der Zollbevollmächtigten und Kon - troleure, der Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Bun - desamts für das Heimathweſen. Seit der Schöpfung des Central - blattes des Deutſchen Reiches (1873) dient daſſelbe zur Publikation von Ernennungen; außerdem werden Perſonal-Veränderungen im Reichs-Anzeiger und in den von den einzelnen Reſſort-Verwaltungen herausgegebenen Amtsblättern zur öffentlichen Kenntniß gebracht.

§. 39. Die Amts-Kaution.

Schon vor Erlaß des Reichsbeamten-Geſetzes iſt durch ein Bundesgeſetz vom 2. Juni 1869 (B. -G.-Bl. S. 161 ff. ), welches bei der Reichsgründung auf Süddeutſchland ausgedehnt und durch Geſetz vom 11. Dezember 1871 (Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen S. 386) in Elſaß-Lothringen eingeführt worden iſt, das Kautions - weſen der unmittelbaren und mittelbaren Reichsbeamten geregelt worden. Die Grundſätze, welche dieſes Geſetz und die zur Aus - führung deſſelben ergangenen Verordnungen aufſtellen, ſind fol - gende:

I. Nothwendigkeit der Kautionsbeſtellung.

Beamte, welchen die Verwaltung einer dem Reiche gehörigen Kaſſe oder eines dem Reiche gehörigen Magazins, oder die An - nahme, die Aufbewahrung oder der Transport von, dem Reiche gehörigen oder ihm anvertrauten Geldern oder geldwerthen Ge - genſtänden obliegt, haben dem Reiche für ihr Dienſtverhältniß Kaution zu leiſten 2)Durch Kaiſerl. Verordn., welche im Einvernehmen mit dem Bundes - rathe zu erlaſſen iſt, ſollen die Klaſſen der Beamten, welche Kaution zu ſtellen haben, und die Beträge der Kautionen beſtimmt werden. (Geſ. §. 3.) Zur Ausführung dieſes Geſetzes ſind folgende Kaiſerl. Verordnungen er - gangen:a) vom 29. Juni 1869 (G. -Bl. S. 285) über die Beamten der Poſt - und Telegraphenverwaltung und des Eichungsweſens. Dieſelbe iſt abgeän -. (§. 2 des Geſetzes.)

411§. 39. Die Amts-Kaution.

Der Grund für die Kautionsleiſtung iſt nicht die Anſtellung im Staatsdienſt, ſondern die mit dieſer Anſtellung gleichzeitig übertragene Vermögens-Verwaltung oder Aufbewahrung, alſo ein mit der Anſtellung im Staatsdienſt verbundenes Accidens. Es iſt daher falſch und vielfach irreführend, von einer Kautions - pflicht der Reichsbeamten oder gewiſſer Klaſſen derſelben zu reden1)So z. B. Thudichum S. 233. v. Rönne Verfaſſungsr. des Deut - ſchen Reiches S. 203. Der Ausdruck Kautionspflicht oder auch Kautions - pflichtigkeit entſpricht zwar der allgemeinen, vulgären Redeweiſe; um ſo mehr iſt es aber geboten, das juriſtiſche Weſen des Verhältniſſes feſt im Auge zu behalten. Die Reichsgeſetze ſprechen nicht nur von kautionspflichtigen Beam - ten, ſondern auch häufig von kautionspflichtigen Aemtern (!) und im Geſ. vom 2. Juni 1869 begegnet man ſogar einem kautionspflichtigen Bundes - Dienſtverhältniß (!!) z. B. §. 9. 13.. Die Leiſtung einer Kaution iſt nicht die Erfüllung einer Beamtenpflicht, ſondern eine Vorbedingung zur Erlangung eines gewiſſen Amtes und mithin zur Anſtellung behufs Uebernahme dieſes Amtes. Ein Beamter, welcher die vorgeſchriebene Kaution nicht erlegt, begeht keine Pflichtverletzung, ſondern er erfüllt eine Bedingung, unter welcher ſeine Anſtellung geſchehen iſt, nicht. Nicht aus der Uebertragung eines Amtes ergiebt ſich die Pflicht, Kaution zu beſtellen, ſondern vor der Uebertragung gewiſſer Aemter iſt die Kautionsleiſtung erforderlich. Die Regeln über die Kautionen gehören nicht zur Lehre von den Pflichten der Beamten, ſondern von der Anſtellung der Beamten.

Dieſer Geſichtspunkt iſt für die rechtliche Beurtheilung des ganzen Verhältniſſes von großer Bedeutung. Zunächſt wird der - ſelbe durch folgende Sätze beſtätigt:

1) Die Beſtellung der Amtskaution iſt vor der Einfüh - rung des Beamten in das kautionspflichtige Amt zu bewirken. (§. 7 Abſ. 1.)

2)dert und ergänzt worden durch Verordn. v. 14. Juli 1871 (R. -G.-Bl. S. 316) und durch Verordn. vom 12. Juli 1873 (R. -G.-Bl. S. 298).b) vom 5. Juli 1871 (R. -G.-Bl. S. 308) über die Beamten der Militär - und Marine-Verwaltung.c) vom 27. Februar 1872 (R. -G.-Bl. S. 59) über die Beamten der Reichs - Eiſenbahn-Verwaltung.d) vom 6. Juli 1874 (R. -G.-Bl. S. 109) über die bei dem Auswärtigen Amte, der Verwaltung des Invalidenfonds und im Bureau des Reichs - tags angeſtellten Beamten.

412§. 39. Die Amts-Kaution.

Es kann jedoch ausnahmsweiſe durch die vorgeſetzte Dienſt - behörde dem Beamten geſtattet werden, die Beſchaffung der Kau - tion durch Anſammlung von Gehaltsabzügen zu bewirken. Die nähere Beſtimmung der Fälle, in denen dies ſtattfinden darf und der Art, wie die Anſammlung zu erfolgen hat, iſt einer kaiſer - lichen, im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlaſſenden Verordnung vorbehalten1)Die Verordn. v. 29. Juni 1869 Art. 4 (B. -G.-Bl. S. 287) ge - ſtattet bei den Unterbeamten und kontraktl. Dienern der Poſt - und Tele - graphen-Verwaltung die Anſammlung der Kaution durch Gehalts-Ab - züge im Betrage von 1 bis 3 Thlr. monatlich nach Ermeſſen der vorge - ſetzten Dienſtbehörde. Außerdem ermächtigt die V. vom 14. Juli 1871 Art. 2 (R. -G.-Bl. S. 316) das General-Poſtamt ſolchen Beam - ten, welche in Folge der eingetretenen Veränderung in den Perſonalverhält - niſſen und im Dienſtbetriebe der Poſtverwaltung eine mit Kautionspflicht, be - ziehentlich mit höherer Kautionspflicht verbundene Dienſtſtellung erhalten und die für dieſe Stellung erforderliche Kaution auf einmal zu beſchaffen außer Stande ſind, die nachträgliche Beſchaffung der Kaution durch Anſammlung von angemeſſenen Gehaltsabzügen zu geſtatten. Durch die Verordn. vom 12. Juli 1873 (R. -G.-Bl. S. 298) ſind dann generell das General-Poſt - amt ſowie die General-Direktion der Telegraphen ermächtigt worden, die nachträgliche Anſammlung von Kautionen durch Gehalts-Abzüge von min - deſtens 50 Thlr. jährlich ausnahmsweiſe zu geſtatten; jedoch findet dies keine Anwendung auf Beamte, welche an der Verwaltung einer Ober-Poſtkaſſe oder Ober-Telegraphen-Kaſſe theilnehmen oder die Vorſteherſtelle eines Poſtamtes bekleiden. Für die Beamten der Militär - und Marine-Verwaltung iſt durch V. vom 5. Juli 1871 Art. 3 (R. -G.-Bl. S. 313) angeordnet, daß die vorgeſetzte Dienſtbehörde die ſucceſſive Anſammlung von Kau - tionen geſtatten darf durch Gehaltsabzüge, welche bei Unterbeamten (und kon - traktlichen Dienern) nicht weniger als 1 3 Thlr. monatlich, bei anderen Be - amten nicht weniger als 50 Thlr. jährlich betragen. Dieſe Beſtimmungen finden aber keine Anwendung auf Beamte in Rendanten - oder in Vorſtands - ſtellungen, ſowie auf ſolche Beamte, deren Kaution den einjährigen Betrag ihres Dienſteinkommens überſteigt. Außerdem hat die V. v. 14. Januar 1873 (R. -G.-Bl. S. 37) verfügt, daß Feldbeamten der Militär-Verwaltung von dem vorgeſetzten Feldintendanten unter deſſen eigener Verantwortlichkeit die nachträgl. Anſammlung der Kaution durch Gehaltsabzüge von mindeſtens 50 Thlr. jährlich geſtattet werden darf. In Beziehung auf die bei der Verwaltung der Reichseiſenbah - nen angeſtellten Beamten beſtimmt die Verordn. vom 27. Februar 1872 §. 3 (R. -G.-Bl. S. 60), daß denjenigen Beamten, welche die Hälfte ihres penſions - fähigen Jahresgehalts oder diätariſchen Jahreseinkommens oder einen geringe -.

413§. 39. Die Amts-Kaution.

2) Wenn ein Reichsbeamter zu der Zeit, zu welcher für die Erlangung gewiſſer Aemter die Beſtellung einer gewiſſen Kaution vorgeſchrieben wird, bereits ein von dieſen Vorſchriften berührtes Amt bekleidet, für welches es der Kautionsleiſtung nach den bis dahin geltenden Vorſchriften entweder überhaupt nicht, oder nur in einer geringeren Höhe oder in einer andern als der nunmehr vorgeſchriebenen Art bedurfte, ſo kann er wider ſeinen Willen nicht angehalten werden, eine Kaution zu ſtellen oder die geſtellte Kau - tion zu erhöhen, beziehungsweiſe durch eine den nachträglich er - laſſenen Vorſchriften entſprechende Kaution zu erſetzen1)R. -G. vom 2. Juni 1869 §. 16.. Auch dieſer Rechtsſatz beruht darauf, daß die Erlegung einer Kaution keine Pflicht iſt, die aus der Amtsführung erwächſt, ſondern eine Bedingung für die Erlangung eines Amtes.

Falls einem ſolchen Beamten aber eine Gehalts-Erhöhung zu Theil wird, ſo kann der Mehrbetrag des Gehaltes ganz oder zum Theil zur Anſammlung der Kaution verwendet werden. Die näheren Beſtimmungen darüber ſind durch Verordnung zu erlaſſen2)Die Verordnung vom 14. Dezember 1872 Art. 1 (R. -G.-Bl. S. 434) ordnet an, daß Kautionserhöhungen, zu welchen Beamte lediglich in Folge einer mit Beförderung nicht verbundenen Gehaltserhöhung verpflichtet ſind, durch Anſammlung angemeſſener Gehaltsabzüge aufgebracht werden, deren Höhe die vorgeſetzte Dienſtbehörde beſtimmt. Im Art. 3 dieſer Verordn. wird Art. 4 der V. vom 5. Juli 1871 ausdrücklich aufgehoben; aber auch Art. 5 der V. vom 29. Juni 1869 und §. 4 der V. vom 27. Febr. 1872 ſind ebenfalls aufgehoben..

3) Es iſt durchaus gleichgültig, ob die Kaution von dem Be - amten ſelbſt beſtellt wird, oder ob ſie ein Anderer für ihn leiſtet,1)ren Betrag als Kaution zu beſtellen haben, von der Generaldirektion der Reichs-Eiſenbahnen geſtattet werden kann, die Kaution nachträglich durch Anſammlung von Gehaltsabzügen aufzubringen, welche nicht weniger als 1 Thlr monatlich betragen. Die Verodn. vom. 6. Juli 1874 Art. 3 (R. -G.-Bl. S. 110) läßt die Geſtattung einer nachträglichen Kautions-Anſammlung zu bei dem Buchhalter und Kaſſendiener bei der Legationskaſſe und bei dem Buchhalter und Kaſſen - diener bei der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds (aber nicht bei dem Rendanten), ſo daß die Gehaltsabzüge bei den Buchhaltern mindeſtens 50 Thlr. jährlich, bei den Kaſſendienern mindeſtens 1 3 Thlr. monatlich betragen. Die Erlaubniß iſt von dem Auswärt. Amte, beziehentlich der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds zu ertheilen.414§. 39. Die Amts-Kaution.wofern nur dem Reiche an der Kaution dieſelben Rechte zugeſichert werden, welche ihm an einer durch den Beamten ſelbſt geſtellten Kaution zugeſtanden haben würden1)R. -G. vom 2. Juni 1869 §. 4..

Im Zuſammenhange hiermit ſteht der Satz, daß wenn ein kautionspflichtiger Reichsbeamter gleichzeitig ein kautionspflichtiges Amt im Dienſte eines Bundesſtaates bekleidet , die dem Bundes - ſtaate beſtellte Kaution mit Zuſtimmung der zuſtändigen Behörde des Bundesſtaates und nach vorgängiger Vereinbarung darüber, wie viel von dem Geſammtbetrage der Kaution auf jedes der beiden Aemter zu rechnen iſt, zugleich für die Verwaltung des Reichs - amtes haftbar erklärt werden kann2)R. -G. §. 9. Einige hierauf bezügliche Preußiſche Miniſterial-Verfü - gungen ſind abgedruckt bei Kanngießer S. 277..

Auch braucht ein Beamter, welcher gleichzeitig mehrere Reichs - ämter verwaltet, nur einmal Kaution zu leiſten und zwar in dem Betrage, daß er den Anforderungen desjenigen von ihm bekleide - ten Reichsamtes genügt, für welches der höchſte Kautionsſatz vor - geſchrieben iſt3)R. -G. § 8..

4) Endlich iſt zu erwähnen, daß die Leiſtung einer Kaution nicht bloß den Reichsbeamten obliegt, ſondern auch den kon - traktlichen Dienern, falls ihnen die Aufbewahrung oder der Transport von Geldern oder geldwerthen Sachen des Reiches über - tragen iſt4)Vgl. z. B. die Verordn. vom 29. Juni 1869 Art. 4 und Verordn. v. 5. Juli 1871 Art. 3.; woraus ebenfalls ſich ergiebt, daß die Kautionsbe - ſtellung keine im Beamtenverhältniß begründete Pflicht iſt.

II. Rechtliche Natur der Kautionsbeſtellung.

Die Beſtellung einer Kaution iſt entweder ein Nebenvertrag privatrechtlichen Inhaltes, welcher mit dem Anſtellungsvertrage des Beamten verbunden reſp. von ihm bei der Uebernahme eines Amtes abgeſchloſſen wird, oder ein ſelbſtſtändiger Vertrag, den ein Dritter mit dem Reiche abſchließt, um die Anſtellung eines Beam - ten zu ermöglichen. Da die Kaution nur durch Fauſtpfand beſtellt werden kann (§. 5 Abſ. 2 des Geſ. ), ſo charakteriſirt ſich dieſer Vertrag als ein Unterpfands-Vertrag (contract. pigneraticius).

Im Einzelnen gelten darüber folgende Regeln:

415§. 39. Die Amts-Kaution.

1) Object des Fauſtpfandes dürfen nur ſein auf den Inha - ber lautende Obligationen über Schulden des Reiches oder eines einzelnen Bundesſtaates, welche zu ihrem Nennwerthe angerechnet werden1)Geſ. §. 5 Abſ. 1. Es kann jedoch die Einzahlung von baarem Gelde zum Ankauf eines Werthpapieres geſtattet werden, ſo daß der Staat (z. B. die Ober-Poſtkaſſe oder Telegraphenkaſſe) den Einkauf vermittelt. Vgl. In - ſtruktion vom 16. Juni 1869 über die Kautionen der Poſtbeamten §. 9. (Kanngießer S. 286).. Dem Kautionsbeſteller werden die Zinsſcheine für einen 4 Jahre nicht überſteigenden Zeitraum belaſſen, beziehungsweiſe nach Ablauf dieſes Zeitraums oder nach Ausreichung neuer Zins - ſcheine verabfolgt2)Geſetz §. 6 Abſ. 3..

2) Die Form des Pfandvertrages richtet ſich nach Vorſchrift der Landesgeſetze; in der Regel bedarf es daher einer ſchriftlichen Erklärung nicht, ſondern es genügt die Uebergabe der zu hinter - legenden Werthpapiere. Wenn aber die Kautionsbeſtellung nicht von dem Beamten ſelbſt, ſondern von einem Dritten erfolgt, ſo wird die Ausſtellung einer beſonderen Kautions-Verſchreibung er - fordert3)Vgl. die citirte Inſtruktion vom 16. Juni 1869 (und die gleichlautende für die Telegraphen-Beamten vom 28. Juli 1869) §. 7. Es iſt zugleich ein Formular für dieſe Verſchreibungen beigefügt.. Wenn der Beſteller der Kaution minderjährig iſt oder unter väterlicher Gewalt ſteht oder in ehel. Gütergemein - ſchaft lebt, ſo bedarf es zur Abſchließung des Vertrages der Zu - ſtimmung des Vormunds, Vaters oder der Ehefrau4)Die Behörden haben auch dieſe Genehmigungen ſich in ſchriftlicher Form ertheilen zu laſſen..

Der Kautionsvertrag wird erſt völlig abgeſchloſſen, wenn die zuſtändige Behörde die hinterlegten Papiere geprüft und als ge - nügend und ordnungsmäßig befunden hat. Erſt jetzt iſt die Ueber - gabe derſelben durch die Empfangnahme Seitens der Reichsbehörde rechtlich vollendet. Ueber den Empfang dieſer Papiere ertheilt die Behörde dem Beſteller der Kaution eine Beſcheinigung. So - bald der Empfangsſchein über die Niederlegung ertheilt iſt, iſt das Fauſtpfandrecht an den niedergelegten Werthpapieren mit voller rechtlicher Wirkung erworben5)Geſetz §. 6 Abſ. 2..

3) Die Amtskaution haftet dem Reiche für alle von416§. 39. Die Amts-Kaution.dem Beamten aus ſeiner Amtsführung zu vertretenden Schäden und Mängel an Kapital und Zinſen, ſowie an gerichtlichen und außergerichtlichen Koſten der Ermittelung des Schadens1)Geſetz §. 10..

Dem Beamten gegenüber hat das Reich an der Kaution alle diejenigen Rechte, welche an dem Orte, wo der Beamte innerhalb des Reichsgebietes ſeinen dienſtlichen Wohnſitz hat oder zuletzt ge - habt hat, kraft der dort geltenden Landesgeſetzgebung der Landes - regierung an den Amtskautionen ihrer Beamten beigelegt ſind2)Geſetz vom 2. Juni 1869 §. 12 Abſ. 1 und v. 31. März 1873 §. 20.. Liegt der betreffende Ort im Auslande, ſo ſind diejenigen Beſtim - mungen maaßgebend, welche in Anwendung gekommen wären, wenn der Beamte ſeinen dienſtlichen Wohnſitz in Berlin gehabt hätte3)Geſetz vom 2. Juni 1869 §. 12 Abſ. 2. Dieſe ſpecielle Beſtimmung iſt durch die allgemeine Vorſchrift im Geſetz vom 31. März 1873 §. 19 nicht aufgehoben..

Dritten Perſonen gegenüber, welche an den hinterlegten In - haber-Papieren ein früher gegründetes Eigenthum, Pfandrecht oder ſonſtiges dingliches Recht behaupten, kommen die Vorſchriften im Handelsgeſetzbuch Art. 306 Abſ. 2 Art. 307 zur Anwen - dung, da hinſichtlich des redlichen Erwerbs von Inhaber-Papieren dieſe Regeln auch dann gelten, wenn ſie nicht von einem Kauf - mann in deſſen Handelsbetrieb verpfändet werden4)H. -G.-B. Art. 307 enthält eine Rechtsregel des allgem. bürgerlichen Rechts, nicht blos des Handelsrechts. Vgl. Goldſchmidt Zeitſchrift für Handelsr. IX. S. 57. 58. Anſchütz u. v. Völderndorff Komment. zum H. -G.-B. III. S. 161. v. Hahn Komment. II. S. 151 (2. Aufl.)..

Im Falle des Konkurſes des Kautionsbeſtellers iſt das Reich nicht verpflichtet, die verpfändeten Werthpapiere in die Konkurs - maſſe einzuliefern5)Geſetz vom 2. Juni 1869 §. 11 Abſ. 2..

4) Die Geltendmachung des Pfandrechts erfolgt, wenn eine Forderung, für welche die Kaution haftet, zur Execution ſteht6)Gleichviel ob auf Grund eines rechtskräftigen Erkenntniſſes oder eines vollſtreckbaren, adminiſtrativen Beſchluſſes. Vgl. Geſetz vom 31. März 1873 §. 139. 143. 144., in der Art, daß die vorgeſetzte Dienſtbehörde des Beam - ten die Werthpapiere bis zur Höhe der Forderung an einer inner -417§. 39. Die Amts-Kaution.halb des Bundesgebietes belegenen, von ihr zu beſtimmenden Börſe außergerichtlich verkaufen läßt. Der Kautionsbeſteller iſt in ſolchem Falle zur Ausantwortung der ihm belaſſenen noch nicht fälligen Zinsſcheine verpflichtet, event. zur Erlegung des Geld - werthes derſelben1)Geſetz §. 11 Abſ. 1. Für die Beitreibung dieſes Betrages kommen die Regeln zur Anwendung, welche für die exekutiviſche Beitreibung öffentlicher Abgaben gelten..

Die vorgeſetzte Dienſtbehörde iſt jedoch, falls ſie es vorziehen ſollte, nicht gehindert, das Pfandrecht in den gewöhnlichen Formen des Civilrechts, insbeſondere alſo durch gerichtlichen, exekutiviſchen Verkauf der Werthpapiere geltend zu machen. Dagegen iſt ſie nicht be - rechtigt zu einem außergerichtlichen Verkauf außerhalb einer Börſe z. B. unmittelbar an einen Banquier in dem Geſchäftslokale deſſelben.

5) Das Reich iſt verpflichtet, die empfangenen Kau - tionen aufzubewahren. Die oberſte Reſſortbehörde beſtimmt diejenigen Kaſſen, welchen die Aufbewahrung, beziehungsweiſe An - ſammlung der Kautionen obliegt2)Geſetz §. 6 Abſ. 1. Denſelben Behörden, denen die Aufbewahrung der Werthpapiere obliegt, iſt auch die Anſammlung der Kautionen durch Ge - halts-Abzüge übertragen. Verordn. vom 29. Juni 1869 Art. 6. Verordn. vom 5. Juli 1871 Art. 7. Verordn. vom 27. Febr. 1872 Art. 5. Verordn. vom 6. Juli 1874 Art. 5.. Das Reich haftet für ſorg - fältige custodia nach den vom Fauſtpfand-Vertrage geltenden Re - geln. Der Kaſſe, welcher die Aufbewahrung übertragen iſt, liegt auch die Einziehung der neuen Zinsſcheine ob, dagegen nicht die Verpflichtung, die Auslooſung der niedergelegten Werthpapiere zu überwachen3)Geſetz §. 6 Abſ. 3.. Nachtheile, welche dem Eigenthümer der Kau - tion daraus erwachſen, daß er die erfolgte Verlooſung oder Kün - digung des Papiers nicht rechtzeitig zur Kenntniß bringt, ſind von dem Reich nicht zu vertreten4)Vgl. über das im Falle der Verlooſung zu beobachtende Verfahren die Inſtrukt. vom 16 / 28. Juli 1869 §. 11. (Kanngießer S. 287)..

6) Wird das Dienſtverhältniß, für welches die Kaution ge - leiſtet worden iſt, beendet, ſo iſt das Reich verpflichtet, die Kau - tion dem Kautionsbeſteller oder deſſen Erben oder deſſen Rechts - nachfolger zurückzugeben5)Geſetz. § 13.. Die Rückgabe ſetzt voraus:

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 27418§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.

a) Die amtliche Feſtſtellung, daß aus dem Dienſtverhältniß Erſatz für Schäden und Koſten nicht mehr zu leiſten iſt1)In dieſer Hinſicht beſtimmen die erwähnten Inſtruktionen §. 21, daß bei den Rendanten, Buchhaltern und Hülfs-Buchhaltern der Ober-Poſtkaſſen gewartet werden muß, bis von dem Rechnungshof die Decharge über die Jahres - Rechnung für dasjenige Jahr ertheilt worden iſt, in welchem die betreffenden Beamten aus dem Dienſte geſchieden ſind. Bei den übrigen Beamten, Unter - beamten und kontraktl. Dienern iſt zu warten, bis ſeit Vornahme der letzten dienſtlichen Handlung des Beamten ein Jahr und ein Monat verſtrichen iſt. Hinſichtlich der Vorſteher der Poſt-Anſtalten und Telegraphen-Stationen, welche zugleich Führer der Hauptkaſſen bei denſelben ſind, muß nach Ablauf der dreizehnmonatlichen Friſt event. noch das Ergebniß der Rechnungs-Reviſion in Bezug auf dasjenige Jahr abgewartet werden, in welchem der betreffende Beamte aus dem Dienſte getreten iſt..

b) Die Aushändigung des quittirten Empfangsſcheines. Iſt derſelbe verloren, ſo iſt das gerichtliche Amortiſationsverfahren einzuleiten und an Stelle des Empfangsſcheines das Amortiſations - Dokument einzureichen. Von der Beibringung deſſelben kann jedoch nach Ermeſſen der vorgeſetzten Dienſtbehörde abgeſehen werden und es iſt alsdann von dem Kautionsbeſteller eine Urkunde auszuſtellen, in welcher er verſichert, daß er den Empfangsſchein weder zedirt noch verpfändet habe, daß derſelbe ihm vielmehr ab - handen gekommen ſei, und in welcher er den Schein für kraftlos und alle Anſprüche aus demſelben für erloſchen erkärt.

c) wenn die Kaution einem Andern, als dem Beſteller zurück - gegeben werden ſoll, die Beifügung der Urkunden, aus denen ſich der Uebergang des Forderungsrechtes auf Reſtitution der Kaution ergibt, alſo des Erbes-Legitimations-Atteſtes, der Ceſſions-Ur - kunde u. dgl.

§. 40. Die Pflichten und Beſchränkungen der Reichsbeamten.

Aus dem Anſtellungsvertrage ergeben ſich für den Beamten drei Pflichten, die Pflicht zur Verwaltung des übertragenen Amtes, die Pflicht zur Treue und zum geſetzmäßigen Gehorſam gegen die vorgeſetzte Behörde, und die Pflicht eines achtungswürdigen Ver - haltens. Außerdem ſind mit der Beamtenſtellung einige Beſchrän - kungen der Handlungsfreiheit verbunden.

419§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
I. Die Pflicht zur Amtsführung.

Jeder Reichsbeamte hat die Verpflichtung, das ihm über - tragene Amt der Verfaſſung und den Geſetzen entſprechend gewiſ - ſenhaft wahrzunehmen . R. -G. §. 10.

Die Pflicht zur Amtsführung iſt eine Pflicht zur Arbeits - leiſtung. Dieſelbe iſt nicht fixirt, ſondern beſtimmt ſich quantitativ nach dem wechſelnden Geſchäfts-Umfange des Amtes, qualitativ durch die dem Beamten obliegende Treuverpflichtung, welche von ihm die Aufwendung des größten Fleißes, der größten Sorgfalt, die Anſpannung aller Kräfte erfordert.

Die Pflicht kann, abgeſehen von unvollkommener Erfüllung durch langſame oder ſchlechte Erledigung der Amtsgeſchäfte, theils durch die Weigerung einzelne, zum amtlichen Geſchäfts-Kreiſe gehörige Geſchäfte zu erledigen, theils durch generelle Nichterledi - gung der Geſchäfte (Verlaſſen des Amtes) verletzt werden.

1) Von der Vornahme einzelner amtlicher Geſchäfte kann der Beamte auf ſeinen Antrag von der vorgeſetzten Dienſtbehörde dispenſirt werden. Die, den Vorſtehern der einzelnen Be - hörden zugewieſene Funktion der Geſchäftsvertheilung ſchließt die Befugniß in ſich, Beamten einzelne Geſchäfte, die ihnen ſpeziell zugewieſen ſind oder nach dem allgemeinen, für die Geſchäftsver - theilung erlaſſenen Anordnungen zufallen, abzunehmen1)Vgl. z. B. die Inſtrukt. für den Rechnungshof vom 5. März 1875 §. 14 Nr. 2 (Centralbl. S. 159)..

Ein Recht auf Dispenſation iſt für die Beamten in dem Falle anzunehmen, wenn das von ihnen zu erledigende Geſchäft ihr eigenes Privat-Intereſſe oder dasjenige ihrer Angehörigen be - rührt. Für die Richter iſt es ein gemeinrechtlich anerkannter, unbezweifelter Grundſatz, daß ſie von der Ausübung des Richter - amtes kraft Geſetzes in allen ſolchen Sachen ausgeſchloſſen ſind2)Vgl. Entwurf der Civilprozeß-Ordn. §. 41. Entw. der Strafprozeß - Ordnung §. 16..

Die analoge Anwendung des gleichen Grundſatzes auf andere Beamte, denen in Verwaltungsſachen ein Verfügungs - oder Ent - ſcheidungsrecht zuſteht, erſcheint ebenſowohl durch das Intereſſe des Staates als durch das des Beamten, der nicht unnöthiger Weiſe in eine Kolliſion gebracht werden ſoll, geboten.

27*420§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.

2) Zum zeitweiſen Verlaſſen des Amtes bedarf der Beamte eines Urlaubs. Die Vorſchriften über den Urlaub der Reichs - beamten und deren Stellvertretung werden vom Kaiſer erlaſſen. (§. 14 Abſ. 1 des R. -G.)

Die hier vorbehaltene Verordnung iſt am 2. Nov. 1874 er - gangen. (R. -G.-Bl. S. 129.) Dieſelbe ſtellt folgende Grund - ſätze auf:

Die Anträge auf Urlaubsbewilligung ſind unter Angabe der Veranlaſſung und des Zweckes der unmittelbar vorge - ſetzten Behörde oder dem unmittelbar vorgeſetzten Beamten einzu - reichen. Dieſe Behörde iſt aber nicht nothwendig zur Ertheilung des Urlaubs zuſtändig; vielmehr beſtimmt der Reichskanzler die Stellen, welche zur Ertheilung von Urlaub berechtigt ſind, ſowie die Zeiträume, für welche von denſelben Urlaub gewährt werden darf1)Specielle, durch die Verordn. vom 2. Nov. 1874 §. 8 in Geltung er - haltene Beſtimmungen über Urlaubs-Bewilligungen ſind getroffen in dem Re - gulativ für das Bundesamt für das Heimathsweſen vom 6. Januar 1873 §. 3 (Centralbl. S. 5); in dem Regulat. für die Disciplinarbehörden vom 12. Dez. 1873 §. 8 (Centralbl. S. 391); in dem Regulativ für das Oberhandelsgericht vom 9. Juli 1874 §. 30. 31 (Centralbl. S. 280); vgl. auch das Regulat. für den Rechnungshof vom 5. März 1875 §. 17 (Centralbl. S. 160); in der In - ſtrukt. für die Konſuln vom 6. Juni 1871 zu §. 6. (Hirth’s Annalen 1871 S. 613.) Ferner in dem Reglement über die Serviskompetenz der Truppen im Frieden vom 20. Februar 1868 §§. 48 61 und in der Beilage 3 zu dem Reglement vom 9. Dezember 1873 hinſichtlich des Marine-Zahlmeiſter-Per - ſonals.. Wird ein Urlaub zur Wiederherſtellung der Geſund - heit nachgeſucht, ſo iſt dem Antrage eine ärztliche Beſcheinigung beizufügen; die Beibringung dieſer Beſcheinigung kann aber von der Stelle, welcher die Entſcheidung über den Antrag zuſteht, aus - nahmsweiſe erlaſſen werden.

Die Stelle, welche den Urlaub ertheilt, hat für die Vertre - tung des beurlaubten Beamten Sorge zu tragen und zugleich feſt - zuſetzen, in wie weit die dem Beurlaubten zur Beſtreitung von Dienſtaufwandskoſten (nicht zu verwechſeln mit dem Dienſteinkom - men) bewilligten Bezüge dem Vertreter zu überweiſen ſind.

Der beurlaubte Beamte hat dafür zu ſorgen, daß ihm wäh - rend der Abweſenheit von ſeinem Wohnort Verfügungen der vor - geſetzten Behörden zugeſtellt werden können. Die Urlaubsbewilli -421§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.gung kann jederzeit zurückgenommen werden, wenn das dienſtliche Intereſſe es erheiſcht. Für Militär - und Marine-Beamte erliſcht jede Urlaubsbewilligung, wenn die Kriegsbereitſchaft oder die Mo - bilmachung der bewaffneten Macht oder einer Abtheilung der - ſelben angeordnet wird, mit der Bekanntmachung dieſer An - ordnung.

In Krankheitsfällen findet ein Abzug vom Gehalte nicht ſtatt; die Stellvertretungskoſten fallen der Reichskaſſe zur Laſt1)Reichsbeamtengeſetz §. 14 Abſ. 2.. Daſ - ſelbe gilt, wenn der Urlaub Monate oder weniger beträgt. Bei einem Urlaub von mehr als bis 6 Monaten (außer in Krankheitsfällen) findet für den anderthalb Monate überſteigenden Zeitraum ein Abzug von dem Dienſteinkommen des Beurlaubten im Betrage der Hälfte deſſelben ſtatt; bei fernerem Urlaub wird das ganze Dienſteinkommen einbehalten2)Verordn. vom 2. Nov. 1874 §. 6 Abſ. 1.. Bei Berechnung der Abzüge für Theile von Monaten werden die letzteren ſtets zu 30 Tagen angenommen.

Von dieſen Regeln darf nur mit Genehmigung der oberſten Reichsbehörde eine Abweichung bewilligt werden3)ebendaſ. Abſ. 2. Dies gilt auch von den mittelbaren Reichsbeamten, da dieſelben ihren Gehalt auf Reichskoſten beziehen..

Ein Beamter, welcher ſich ohne den vorſchriftsmäßigen Urlaub von ſeinem Amte entfernt hält, oder den ertheilten Urlaub über - ſchreitet, iſt, wenn ihm nicht beſondere Entſchuldigungsgründe zur Seite ſtehen, für die Zeit der unerlaubten Entfernung ſeines (vol - len) Dienſteinkommens verluſtig4)Reichsbeamtengeſetz §. 14 Abſ. 3..

Die Reichsbeamten haben das Recht, ohne Nachſuchung von Urlaub ihr Amt zu verlaſſen, um in den Reichstag einzutreten. Reichsverf. Art. 21 Abſ. 1. In dieſem Falle findet ein Abzug vom Gehalte nicht ſtatt; die Stellvertretungskoſten fallen der Reichs - kaſſe zur Laſt5)Reichsbeamtengeſ. §. 14 Abſ. 2..

Wird ein Beamter zum Verlaſſen ſeines Amtes dadurch ge - nöthigt, daß er zur perſönlichen Erfüllung einer ſtaatsbürgerlichen Pflicht berufen wird, z. B. als Geſchworener, Landwehr-Offizier, Zeuge u. dgl., ſo bedarf er zwar keines Urlaubs, iſt aber422§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.verpflichtet, ſeinem unmittelbaren Vorgeſetzten davon Anzeige zu machen.

II. Die Pflicht zur Treue und zum Gehorſam.

Da dieſe Pflicht einen vorzugsweiſe ethiſchen Charakter hat, ſo wird das eidliche Gelöbniß ihrer Erfüllung erfordert und da - durch eine moraliſche Garantie ihrer Erfüllung geſucht. Rechtlich läßt ſich ihr Inhalt nicht erſchöpfend darſtellen und ihre volle Er - füllung nicht wirkſam erzwingen; nur offenkundige Verletzungen derſelben können eine Ahndung finden. Für die rechtliche Beur - theilung dieſer Pflicht laſſen ſich folgende Sätze aufſtellen.

1. In der Pflicht zur Treue iſt die Pflicht zur Verſchwie - genheit enthalten. §. 11 des Reichsgeſetzes beſtimmt: Ueber die vermöge ſeines Amtes ihm bekannt gewordenen Angelegen - heiten, deren Geheimhaltung ihrer Natur nach erforderlich oder von ſeinem Vorgeſetzten vorgeſchrieben iſt, hat der Beamte Ver - ſchwiegenheit zu beobachten, auch nachdem das Dienſtverhältniß aufgelöſt iſt. Im Zuſammenhange hiemit ſtehen die im §. 12 a. a. O. enthaltenen Vorſchriften, daß ein Reichsbeamter, bevor er als Sachverſtändiger ein außergerichtliches Gutachten abgiebt, dazu die Genehmigung ſeiner vorgeſetzten Behörde einholen muß, und daß er, auch wenn er nicht mehr im Dienſte iſt, ein Zeugniß in Betreff derjenigen Thatſachen, auf welche die Verpflichtung zur Amtsverſchwiegenheit ſich bezieht, inſoweit zu verweigern verpflichtet iſt, als er nicht dieſer Verpflichtung in dem einzelnen Falle durch die vorgeſetzte oder zuletzt vorgeſetzt geweſene Dienſt-Behörde ent - bunden iſt.

2. Die Pflicht zum Gehorſam findet in der oben entwickelten rechtlichen Natur des Staatsdienſt-Vertrages ebenſowohl ihre Be - gründung als ihre Beſchränkung. Das ſyſtematiſche, oder wenn man den Ausdruck vorzieht, das organiſche Zuſammenwirken der Behörden, die Einheit und Ordnung in der Verrichtung der ſtaat - lichen Geſchäfte, die Leitung der Regierung durch den Kaiſer und den von ihm ernannten Reichskanzler und die anderen Chefs der Reſſort-Verwaltungen könnten ohne die Pflicht aller Reichs - beamten, den vorgeſetzten Behörden oder Beamten gehorſam zu ſein, nicht beſtehen. Durch den Staatsdienſtvertrag wird für den Staat nicht ein Forderungsrecht, ſondern eine Gewalt begründet423§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.und der Beamte verpflichtet ſich nicht blos Arbeit zu leiſten, ſon - dern zu gehorchen.

Aber die Verpflichtung des Beamten iſt beſchränkt auf die Erfüllung amtlicher Geſchäfte; er dient nicht dem Vorgeſetz - ten, ſondern mit dieſem gemeinſam dem Staate; er tritt in den Staatsdienſt ein, um ein ſtaatliches Amt zu übernehmen; welche Geſchäfte aber einem Amte zufallen, normirt der Staat. Der Beamte iſt daher nicht verpflichtet, Geſchäfte auszuführen, welche entweder thatſächlich oder aus Rechtsgründen keine amtlichen ſind oder ſein können1)Vgl. Pfeiffer Prakt. Ausf. III. S. 375 ff.. Der §. 10 des Reichsbeamten-Geſetzes beſchränkt demgemäß die Verpflichtung des Beamten dahin, daß er das ihm übertragene Amt der Verfaſſung und den Geſetzen entſprechend gewiſſenhaft wahrnehme.

Geringe Schwierigkeiten macht die Einſchränkung, daß der Beamte ſolchen Anordnungen der vorgeſetzten Behörde nicht nach - zukommen braucht, welche thatſächlich nicht amtliche Geſchäfte zum Inhalte haben; z. B. Anforderungen eines höheren Beamten an Unterbeamte zur Leiſtung von häuslichen Dienſten, oder Anord - nungen, die in das Privatleben des Beamten eingreifen, z. B. eine gewiſſe Zeitung zu halten oder nicht zu halten oder die Kirche zu beſuchen u. dgl. Die Nichtbefolgung ſolcher Vorſchriften iſt keine Verletzung der Dienſtpflicht; ebenſo wenig iſt aber dem Be - amten ihre freiwillige Befolgung verwehrt oder für ihn mit Rechts - nachtheilen verbunden.

Bei weitem wichtiger und ſchwieriger iſt die juriſtiſche Fixi - rung der anderen Einſchränkung, daß der Beamte Anordnungen der vorgeſetzten Behörde nicht zu befolgen verbunden iſt, welche zwar ihrem Inhalte nach Amtsgeſchäfte betreffen, welche aber aus Rechtsgründen ihm nicht aufgetragen werden dürfen. Geſchäfte, zu deren Vornahme eine Behörde nach den beſtehenden Rechtsvor - ſchriften nicht befugt iſt oder die ihr ausdrücklich unterſagt ſind, können keine Amtsgeſchäfte ſein, da das Amt ſeinem Begriffe nach ein vom Staate zugewieſener und begränzter Inbe - griff von Geſchäften iſt. Die Befolgung ſolcher Befehle iſt daher für den Beamten keine res merae facultatis. Denn wenn er die mit ſeinem Amte verbundene Amtsgewalt zur Durchführung rechts -424§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.widriger Befehle gebraucht, ſo treten die Rechtsfolgen gegen ihn ein, welche ſich aus dem im §. 13 des Beamtengeſetzes ausge - ſprochenen Grundſatze ergeben: Jeder Reichsbeamte iſt für die Geſetzmäßigkeit ſeiner amtlichen Handlungen verantwortlich. (Siehe unten §. 41.)

Wenn andererſeits der Beamte geſetzmäßige Befehle nicht be - folgt, weil er ſie für geſetzwidrig hält, ſo begeht er eine Verletzung der Dienſtpflicht, ein Dienſtvergehen, und kann überdies eine ſtraf - rechtliche oder privatrechtliche Verantwortlichkeit wegen der Unter - laſſung auf ſich laden.

Die Prüfung der Geſetzmäßigkeit aller dienſtlichen Anordnungen muß daher von jedem Beamten und zwar aufeigene Gefahr vorgenommen werden.

Darum iſt es von Wichtigkeit feſtzuſtellen, worauf ſich dieſe Prüfung zu erſtrecken hat1)In der neueren Staatsrechts-Literatur begegnet man öfters der Lehre, daß der Beamte, welchem ein geſetzwidriger Befehl ertheilt worden iſt, bei der Oberbehörde zu remonſtriren verpflichtet ſei, wenn aber ſeine Vorſtellung fruchtlos bleibe, dann den Befehl ausführen müſſe. So namentlich Gönner S. 202 ( mit beſcheidener Freimüthigkeit ). Bluntſchli Allgem. Staatsr. II. S. 138. v. Mohl Württemb. Staatsr. I. S. 775. 780. v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 S. 428. Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 326 ff. v. Gerber S. 113. Dieſe Theorie, obwohl ſie in manche kleinſtaatliche Verfaſſungen ſich ein - geſchlichen hat, iſt keine Löſung der Frage, ſondern eine praktiſch werthloſe Umgehung derſelben. Ein rechtswidriger und an ſich nichtiger Befehl kann dadurch nicht Rechtswirkſamkeit erlangen, daß er zweimal ertheilt wird; ein Beamter, dem die Befolgung eines Befehles unterſagt iſt, kann nicht dadurch, daß er dies der Oberbehörde gegenüber ausgeſprochen hat, nunmehr zur Aus - führung dieſes Befehles verpflichtet und befugt werden. Würde die Theorie wirklich Geltung haben, ſo könnte ſich jeder Beamte durch eine zum Schein vorgebrachte Remonſtration decken, oder es könnte die vorgeſetzte Behörde ihrem Befehl gleich eine Klauſel beifügen, welche der Unterbehörde andeutet, daß Remonſtrationen fruchtlos ſein würden. Uebrigens würde es aber wol keine Behörde für angemeſſen erachten, mit den Unterbehörden ſich in einen fortwährenden Meinungs-Austauſch darüber einzulaſſen, ob und aus welchen Gründen ihre Entſcheidungen dem Recht und den Geſetzen gemäß ſind. Das Reichsbeamten-Geſetz ſchließt die Anwendung jener Theorie ſicherlich aus, denn es legt dem Beamten weder eine Pflicht zu ſolchen Vorſtellungen an die vorgeſetzte Behörde auf, noch macht der §. 13 eine Ausnahme für den Fall, daß der Beamte dergleichen Remonſtrationen erhoben hat. Die Löſung der Frage iſt nicht darin zu ſuchen, daß man dem Beamten. Würde man dieſelbe auf die Frage425§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.ausdehnen, ob die vorgeſetzte Behörde die beſtehenden Rechtsvor - ſchriften materiell richtig ausgelegt und angewendet hat, ſo würde man das Syſtem der Behörden-Organiſation und die Unterord - nung der niederen Behörden unter die oberen nicht nur zerſtören, ſondern geradezu auf den Kopf ſtellen. Die untere Behörde und der niedriger geſtellte Beamte hätte das Recht und die Pflicht, die Entſcheidungen und Verfügungen der oberen Behörde und des vorgeſetzten Beamten einer Ueberprüfung zu unterziehen und es würde demnach nicht das Reichs-Oberhandelsgericht, ſondern der Kreisgerichts-Executor, nicht das Finanzminiſterium oder die Ober - zolldirektion ſondern der Zolleinnehmer in Wahrheit die letzte In - ſtanz ſein. In allen Fällen, in welchen die höhere Inſtanz eine andere Rechtsanſicht wie die niedere feſthält, müßte ſie auch die Durchführung unmittelbar und ohne Mitwirkung der niederen Inſtanz übernehmen oder gewärtigen, daß die letztere ihre Dienſte verweigert. Ein ſolches Syſtem iſt keineswegs undenkbar oder unerhört: es beſtand wenigſtens theilweiſe im Mittelalter, wo ein Urtheil der unteren Inſtanz nur angefochten werden konnte durch die ſogen. Urtheilsſchelte d. h. durch eine Klage gegen den Richter und die Urtheilsfinder wegen Rechtsverletzung oder Amtsmiß - brauchs bei dem höheren Richter, und wo der letztere ſein Erkennt - niß ſelbſt zur Vollſtreckung brachte. Das unbedingte und unbe - ſchränkte Prüfungsrecht bringt eben die unbedingte und unbe - ſchränkte Verantwortlichkeit als Correlat mit ſich.

In dem heutigen Staate dagegen wird in den verſchiedenen, einander übergeordneten oder auch nebengeordneten Behörden die einheitliche Staatsgewalt thätig; die Behörden ſind durchweg auf ein Zuſammenwirken angewieſen und es iſt daher eine Vollziehung der ſtaatlichen Geſchäfte gar nicht denkbar, wenn nicht jeder Be - amte Entſcheidungen, Verfügungen und Requiſitionen befolgt, ohne die materielle Richtigkeit und Rechtmäßigkeit ſeinerſeits nochmals zu prüfen und ohne von dem Ausfall dieſer Prüfung es abhängig zu machen, ob er ſeine Mitwirkung leiſten oder verſagen will.

Die Prüfungspflicht des Beamten erſtreckt ſich vielmehr ledig -1)eine Zwiſchenverhandlung mit dem Vorgeſetzten auferlegt, alſo gewiſſermaaßen ſtatt eines prompten, einen ſchleppenden Gehorſam von ihm verlangt, ſondern dadurch, daß man feſt beſtimmt, wieweit ſich die eigene, ſelbſtſtändige Verant - wortlichkeit des Beamten erſtreckt.426§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.lich auf die formelle Rechtmäßigkeit der ihm ertheilten Vorſchriften und zerlegt ſich in 3 Fragen: Iſt die befehlende Behörde compe - tent, den Befehl zu erlaſſen? Iſt der beauftragte Beamte compe - tent, die ihm aufgetragene Handlung vorzunehmen? Iſt der Be - fehl in der vorſchriftsmäßigen Form ertheilt worden?

1) Der letzte dieſer drei Punkte iſt praktiſch gewöhnlich von untergeordneter Wichtigkeit und giebt zu Zweifeln ſelten Anlaß. In der Theorie und Geſetzgebung beſteht, wenn die Frage über - haupt berührt wird, kaum eine Meinungs-Verſchiedenheit darüber, daß Befehle oder Verfügungen, welche nicht in vorſchriftsmäßiger amtlicher Form ertheilt werden, keine verbindliche Kraft haben1)Einige Verfaſſungen, welche dieſen Rechtsſatz enthalten, ſtellt Zachariä II. §. 137 Note 14 zuſammen. Vgl. ferner Bluntſchli a. a. O. II. S. 137. v. Mohl a. a. O. v. Pözl Bayr. Verfaſſungsr. S. 510. Schulze a. a. O. S. 327.. Es iſt jedoch feſt zu halten, daß eine allgemeine Regel über die Form amtlicher Verfügungen nicht beſteht, daß vielmehr in zahl - reichen Fällen mündliche Anordnungen des Vorgeſetzten an die ihm untergebenen Beamten völlig zuläſſig ſind2)Für alle ſchriftlichen Verfügungen iſt die Unterſchrift des zur Vertre - tung der Behörde legitimirten Beamten erforderlich; für Erkenntniſſe die Be - obachtung der für die Urtheils-Ausfertigungen vorgeſchriebenen Formen; für Verfügungen des Kaiſers die Gegenzeichnung des Reichskanzlers..

2) Der Beamte hat ſelbſtſtändig und mit eigener Verantwort - lichkeit zu prüfen, ob die ihm zuſtehende Amtsgewalt ihn ermächtigt, die ihm aufgetragene Handlung vorzunehmen. Wenn die Vor - nahme der aufgetragenen Handlung nicht zum Geſchäftskreiſe des beauftragten Beamten gehört oder ihm nach den für ihn geltenden Rechtsvorſchriften unterſagt iſt, ſo iſt er weder berechtigt noch ver - pflichtet, dem Befehl Folge zu leiſten. Dieſe Prüfung erſtreckt ſich aber auch nur auf die formelle Seite, d. h. nicht darauf, ob durch die ihm aufgetragene Handlung materiell das geltende Recht verwirklicht oder verletzt wird, ſondern ob er zur Vornahme der - artiger Handlungen überhaupt befugt iſt, ſowohl mit Rückſicht auf die territoriale Begrenzung ſeiner Amtsgewalt als auch mit Rück - ſicht auf die ſachliche Begrenzung derſelben.

Ein Erkenntniß des Preuß. Obertribunals v. 17. Nov. 1871 hat den richtigen Grundſatz aufgeſtellt, daß ein vollſtrecken -427§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.der Beamter nur dann in der rechtmäßigen Ausübung ſeines Amtes ſich befand, wenn demſelben ſowohl in örtlicher als in ſachlicher Beziehung die Zuſtändigkeit beigewohnt habe, daß er alſo im All - gemeinen befugt geweſen ſei, Vollſtreckungshandlungen der frag - lichen Art am betreffenden Orte vorzunehmen.

Der Rechtsſatz beruht darauf, daß der vorgeſetzte Beamte nicht im Stande iſt, die geſetzlich feſtgeſtellte Kompetenz der ihm untergebenen Beamten zu erweitern und deshalb demſelben auch keine dienſtlichen Befehle mit verbindlicher Kraft zu ertheilen ver - mag, welche außerhalb des Umfanges dieſer geſetzlichen Zuſtändig - keit fallen2)Wenn durch Inſtruktionen oder andere dienſtliche Anordnungen einer vorgeſetzten Behörde der Geſchäftskreis eines Beamten begränzt iſt, ſo kann er durch Anordnungen der vorgeſetzten Behörde, ſo weit deren Zuſtändigkeit reicht, erweitert oder verändert werden und ſoweit ſind daher auch dienſtliche Befehle verbindlich.. Die Pflicht zu prüfen, ob ein Beamter zur Vor - nahme ſolcher Handlungen, wie die ihm aufgetragene, im Allge - meinen befugt ſei, muthet demſelben auch keine Entſcheidung zu, welche ſeine geiſtigen Kräfte überſteigt, da im Allgemeinen jeder Beamte ſeine formelle (abſtracte) Zuſtändigkeit kennen muß. In allen Fällen aber, in denen eine Behörde geſetzlich berufen iſt, über die Zuſtändigkeit einer Behörde oder eines Beamten eine Entſcheidung zu fällen, namentlich alſo in denjenigen Fällen, in welchen ein Juſtiz-Gerichtshof oder ein Verwaltungsgericht über die hinſichtlich der Zuſtändigkeit beſtehenden Rechtsvorſchriften mit formeller Wirkſamkeit zu urtheilen berufen iſt, ſchafft ein ergan - genes Urtheil formelle Gewißheit und ſchließt für den beauftragten Beamten ebenſowohl das Recht zu ſelbſtſtändiger Prüfung als die Verantworlichkeit für die Vollziehung des ihm ertheilten Befehls aus3)Vgl. das Erk. des Preuß. Obertribunals vom 1. Juni 1872 bei Oppenhoff a. a. O. Note 16. Mit der Pflicht eines Beamten, Befehlen der vorgeſetzten Behörde nachzukommen, hat die Pflicht einer Behörde, den Requiſitionen anderer Behörden zu genügen, eine unverkennbare Analogie; zur Unterſtützung der hier entwickelten Rechtsſätze können daher die §§. 37 u. 38 des Geſ. über Gewährung der Rechtshülfe (B. -G.-Bl. 1869 S. 313) in Bezug genommen werden, wonach das requirirte Gericht zu prüfen hat, ob es zur Vornahme der beantragten Handlung kompetent ſei, und eine rechtliche Entſcheidung dieſer Frage von den Gerichten des Staates, welchem. 1)Oppenhoff Strafgeſetzb. §. 113 Note 12.

428§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.

3) Die ſelbſtſtändige Prüfung des beauftragten Beamten er - ſtreckt ſich endlich darauf, ob die Stelle, welche ihm den Befehl ertheilt hat, dazu kompetent war. Dieſer Rechtsſatz beruht darauf, daß Behörden und Beamte durch ihre Verfügungen nicht im Stande ſind, ihre eigene Kompetenz zn erweitern und daß deshalb Anord - nungen, welche außerhalb dieſer Kompetenz liegen, rechtlich nicht als amtliche gelten können. Die Pflicht der Beamten, den Ver - fügungen der ihnen vorgeſetzten Behörden Folge zu leiſten, wird in vielen Geſetzen darauf beſchränkt, daß die Behörde den Befehl innerhalb der Grenzen ihrer Zuſtändigkeit erlaſſen hat1)Vgl. die von Zachariä a. a. O. angegebenen Geſetze., und auch in der Literatur wird dieſe Schranke öfters erwähnt. Soweit aber ein Beamter, einem Befehle nachzukommen, nicht verpflichtet iſt, handelt er auf eigene Gefahr, wenn er ihm dennoch nachkömmt; man darf daher nicht blos negativ von einer Beſchränkung der Gehorſamspflicht reden, ſondern der Beamte trägt poſitiv die Ver - antwortlichkeit, daß der von ihm zur Ausführung gebrachte Befehl ihm von der zuſtändigen Behörde ertheilt worden iſt.

Auch hier handelt es ſich aber nur um die Prüfung der for - mellen oder abſtrakten Zuſtändigkeit. Ein Erk. des Preuß. Ober - Tribunals v. 19. Januar 1872 führt aus2)Vgl. Goltdammer’s Archiv Bd. XX. S. 94. Kanngießer S. 48.:

In dem Merkmal der Rechtmäßigkeit iſt das Poſtulat ent - halten, daß der Befehl um deſſen Vollſtreckung es ſich handelt, an den untergeordneten Beamten von der örtlich und ſachlich zu - ſtändigen Behörde erlaſſen, daß Behörde oder Beamter, von dem er ausgegangen, bei deſſen Erlaß im Allgemeinen (in abstracto) innerhalb des Kreiſes ihrer Befugniſſe ſich gehalten. Ob dies der Fall ſei, hat der untergebene Beamte zu prüfen; dagegen hat er nicht zu unterſuchen, ob die vorgeſetzte Behörde im einzelnen Fall von ihren Amtsbefugniſſen einen angemeſſenen Gebrauch gemacht.

Ebenſo gilt hier das oben Bemerkte, wenn eine richterliche Inſtanz zur rechtlichen Entſcheidung der Zuſtändigkeit vorhanden iſt3)Uebereinſtimmend hiermit verordnet das Rechtshülfe-Geſetz §. 1,.

1)das erſuchte Gericht angehört, im geordneten Inſtanzenzuge herbeigeführt werden kann.

429§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
III. Die Pflicht eines achtungswürdigen Verhaltens.

Das Dienſtverhältniß, welches zwiſchen dem Staat und dem Beamten beſteht, begründet für den Staat ein rechtliches Intereſſe, daß der Beamte auch abgeſehen von ſeiner amtlichen Thätigkeit ſich ſo beträgt, wie es Ehre und Sitte erfordern. Der Beamte, welcher Hoheitsrechte des Staates handhabt und mit einer Ver - tretungsbefugniß für den Staat ausgeſtattet iſt, darf nicht einen Lebenswandel führen, der ihn um Anſehen und Achtung bringt. Denn das Volk kann die abſtracte Unterſcheidung zwiſchen dem Beamten als Vertreter des Staates und dem Beamten als Privat - perſon nicht feſthalten; es erblickt in dem Beamten den einheit - lichen Menſchen; es zollt ihm in ſeiner ſtaatlichen Stellung keine Achtung, wenn er dieſelbe in ſeinem Privatleben verloren hat, und es geht von der natürlichen Vorausſetzung aus, daß der Be - amte für ſeine amtlichen Geſchäfte keine größere ſittliche Feſtigkeit, keinen höheren Grad von Ernſt, Fleiß und Gewiſſenhaftigkeit auf - wendet, als er in ſeinem außeramtlichen Lebenswandel bethätigt. Deshalb leidet der Staat ſelbſt darunter, wenn ſeine Beamten ſich nicht achtungswürdig führen, abgeſehen von der Gefahr, daß ein Beamter von unehrenhaftem oder unſittlichem Betragen auch vor Amtsvergehen weniger Scheu haben könnte.

Der Staat verlangt daher von ſeinen Beamten mit Recht, daß ſie nicht nur in ihrer amtlichen Thätigkeit ſondern in ihrem geſammten Lebenswandel den Anforderungen der Ehre und Sitte genügen und der Beamte übernimmt durch den Eintritt in den Staatsdienſt die Pflicht, dieſem Verlangen zu entſprechen. Das Reichsbeamten-Geſetz §. 10 beſtimmt demgemäß: Jeder Reichsbeamte hat die Verpflichtung, .... durch ſein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung, die ſein Beruf erfordert, ſich würdig zu zeigen. Es ergiebt ſich hieraus, daß ein Beamter trotz tadelloſer Erfüllung der amtlichen Obliegenheiten durch ſein außeramtliches Verhalten ſeine Dienſtpflicht verletzen kann1)In der ſtaatsrechtlichen Literatur iſt eine andere Begründung herkömm -.

3)daß das erſuchte Gericht die Rechtshülfe ſelbſt dann nicht verweigern darf, wenn es die Zuſtändigkeit des erſuchenden Gerichts nicht für begründet hält. Dagegen wird das erſuchte Gericht prüfen müſſen, ob die requirirende Behörde überhaupt ein Gericht iſt, ob die verlangte Handlung eine Prozeßhandlung iſt u. ſ. w.

430§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.

Auch hier iſt aber feſtzuhalten, daß es ſich nicht um die Nicht - erfüllung einer obligatoriſchen (contractlichen) Pflicht, ſondern um die Verletzung eines Treu - und Gewaltsverhältniſſes handelt. Der Staatsbeamte verletzt durch unehrenhaftes Betragen ſeine Dienſtpflicht in ähnlicher Art wie ehemals der Vaſſall durch ehr - loſe Verbrechen, die nicht gegen den Lehnsherrn gerichtet waren (Quaſifelonie), ſeine Lehnstreue und ſeine Lehnspflicht verletzte.

IV. Die Beſchränkungen der Reichs-Beamten.

Zu unterſcheiden von den aus dem Anſtellungs-Vertrage ſich ergebenden Pflichten, deren Erfüllung dem Reichsbeamten ob - liegt, ſind mit der Stellung eines Reichsbeamten einige Beſchrän - kungen des letzteren verknüpft, welche zur Sicherung voller Pflicht - erfüllung oder zur Verhütung von Kolliſionen zwiſchen verſchiedenen Pflichten ihm auferlegt ſind. Außer der bereits erwähnten Vor - ſchrift, daß ein Reichsbeamter, bevor er als Sachverſtändiger ein1)lich. Man geht davon aus, daß der Staatsdienſt ein Lebensberuf iſt, die Staatsbeamten zuſammen einen Ehrenſtand bilden und daß deshalb jeder Beamte neben ſeiner Dienſtpflicht noch eine Standespflicht habe, welche er durch ſeinen außeramtlichen Wandel nicht verletzen dürfe. Vgl. Perthes S. 44 fg. L. Stein Verwaltungslehre I. 1 S. 235 fg. (2. Aufl.) Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 323. Kanngießer S. 49. Dieſe Auffaſſung iſt nicht zutreffend. Aus ihr würde nicht ein Recht des Staates zum disciplinariſchen Einſchreiten gegen Beamte wegen ihres außer - amtlichen Verhaltens, ſondern ein Recht der Berufsgenoſſen auf Beſtra - fung oder Ausſchließung von der Standesgemeinſchaft folgen. Sodann aber iſt die Annahme, daß der Beamtenſtand ein beſonderer Ehrenſtand ſei, nicht juriſtiſch durchführbar, da alle anſtändigen Berufsarten rechtlich gleiche Ehre haben. Warum ſollte der vom Staate angeſtellte Eiſenbahn-Beamte oder Bankbuchhalter einen ehrenvolleren Stand haben als der von einer Privat-Ge - ſellſchaft angeſtellte Eiſenbahn - oder Bankbeamte? Der Rechtsſatz gilt aber auch gar nicht nur für Staatsbeamte; er gilt auch für Beamte der Privatge - ſellſchaften, die ebenfalls durch unſittlichen Lebenswandel ihre Dienſtpflicht verletzen; ja jeder Handlungsgehülfe kann vom Prinzipal entlaſſen werden, wenn er ſich einem unſittlichen Lebenswandel ergiebt (Handelsgeſetzb. Art. 64 Nr. 6); das Gleiche gilt von gewerblichen Geſellen und Gehülfen, Lehrlingen und Fabrikarbeitern (Gewerbe-Ordn. §. 111. 120. 127 ), ſowie von Dienſtboten. Es handelt ſich demnach nicht um einen beſonderen Rechtsſatz, der nur für den Stand der Staatsdiener gilt, ſondern um die Anwendung eines allgemei - nen Rechtsprinzips, welches nur dadurch modifizirt wird, daß der Staat ſeinen Beamten nicht als gleichberechtigte Partei, ſondern als Herr gegen - über ſteht.431§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.außergerichtliches Gutachten abgiebt, dazu die Genehmigung ſeiner vorgeſetzten Behörde einzuholen hat, ſind folgende Beſtimmungen hier zu erwähnen:

1) Jeder Reichsbeamte bedarf zur Annahme von Geſchenken oder Belohnungen in Bezug auf ſein Amt der Genehmigung der oberſten Reichsbehörde. Geſ. §. 15 Abſ. 2.

2) Die vom Kaiſer angeſtellten Beamten dürfen Titel, Ehrenzeichen, Geſchenke, Gehalts-Bezüge oder Remunerationen von andern Regenten oder Regierungen nur mit Genehmigung des Kaiſers annehmen. Geſ. §. 15 Abſ. 1.

Unter dem vom Kaiſer angeſtellten Beamten ſind auch die in ſeinem Auftrage angeſtellten, alſo alle unmittelbaren Reichs - beamten zu verſtehen, ſo daß die in Rede ſtehende Beſtimmung einen rechtlichen Unterſchied zwiſchen unmittelbaren und mittelbaren Reichsbeamten begründet. Die letzteren bedürfen zur Annahme von Titeln und Ehrenzeichen, ſowie von Geſchenken oder Remune - rationen, welche ihnen nicht mit Bezug auf ihr Amt gegeben wer - den, von anderen Regenten oder Regierungen der Genehmigung des Kaiſers nicht; in wiefern ſie die Erlaubniß ihres Landesherrn dazu bedürfen, beſtimmt ſich nach den darüber beſtehenden landes - geſetzlichen Vorſchriften, welche durch die Anordnung des §. 15 des Reichsgeſetzes nicht berührt werden1)Vgl. die Motive zum Entwurf dieſes Geſetzes S. 32.. Die unmittelbaren Reichsbeamten dürfen auch von ihrem eigenen Landesherrn Titel, Ehrenzeichen u. ſ. w. nur mit Genehmigung des Kaiſers an - nehmen.

3) Mit Ausnahme der Wahl-Konſuln und der einſtweilen in in den Ruheſtand verſetzten Beamten darf kein Reichsbeamter ohne vorgängige Genehmigung der oberſten Reichsbehörde ein Neben - amt oder eine mit fortlaufender Remuneration verbundene Neben - beſchäftigung übernehmen oder ein Gewerbe betreiben2)Berufskonſuln dürfen keine kaufmänniſchen Geſchäfte betreiben. Geſ. vom 8. November 1867 §. 8 Abſ. 5 (B. -G.-Bl. S. 139.) Dem Vor - ſitzenden der Verwaltung des Invalidenfonds dürfen Neben - ämter oder mit Remunerationen verbundene Nebenbeſchäftigungen weder über - tragen noch von ihm übernommen werden. Geſ. vom 23. Mai 1873 §. 11 (R. -G.-Bl. S. 120) Das Gleiche gilt von dem Präſidenten und den Mitgliedern des Rechnungshofes. Preuß. Geſetz vom 27. März 1872 §. 4. Vgl. ferner. Dieſelbe432§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Genehmigung iſt zu dem Eintritt eines Reichsbeamten in den Vorſtand, Verwaltungs - oder Aufſichtsrath einer jeden auf Erwerb gerichteten Geſellſchaft erforderlich1)Daß die Erwerbs - und Wirthſchafts-Genoſſenſchaften auch hierunter fallen, iſt nicht zweifelhaft. Ein Antrag, ſie auszunehmen, wurde vom Reichs - tage abgelehnt. (Stenogr. Berichte 1872 S. 904.); ſie darf jedoch nicht er - theilt werden, ſofern die Stelle mittelbar oder unmittelbar mit einer Remuneration verbunden iſt. Die ertheilte Genehmigung iſt jederzeit widerruflich. Geſ. §. 162)Auszüge aus den Verhandlungen des Reichstages, welche dieſer Feſt - ſtellung des Paragraphen vorausgingen, giebt Kanngießer S. 73 ff..

4) Für Militärbeamte finden überdies Anwendung die in §§. 40. 41. 43. 47. des Militärgeſetzes v. 2. Mai 1874 getroffenen Be - ſtimmungen; für Reichsbankbeamte die Vorſchrift im §. 28 des Geſ. v. 14. März 1875, daß ſie Antheilſcheine der Reichsbank nicht beſitzen dürfen.

§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.

Die Verletzung der den Beamten obliegenden Pflichten kann Rechtsfolgen dreifacher Art herbeiführen, nämlich ſtrafrechtliche, privatrechtliche und disciplinariſche. Die letzteren ſind die eigent - lich ſtaatsrechtlichen Folgen der Pflichtverletzung; ſie beruhen auf der ſtaatlichen Natur des Beamten-Verhältniſſes und haben keine anderweitigen Vorausſetzungen, als die Verletzung der durch den Staatsdienſt begründeten Pflichten. Dagegen treten die privatrechtlichen Folgen nur ein, wenn mit der Pflichtverletzung noch eine Vermögensbeſchädigung verbunden iſt und die ſtrafrecht - lichen Folgen treten ebenfalls nicht wegen jeder Art von Pflicht - verletzung ein, ſondern nur wegen ſolcher, welche zugleich den Thatbeſtand eines ſtrafbaren Delictes bilden. Andererſeits treten die disciplinariſchen Folgen einer Pflichtverletzung nur bei eigent - lichen Beamten ein, während die ſtrafrechtliche und privatrechtliche Verantwortlichkeit auch Platz greifen kann bei Verletzungen der Amtspflicht Seitens ſolcher Perſonen, die ein Amt haben ohne Staatsdiener (Beamte) zu ſein. (Siehe oben S. 384). Die drei Arten2)Geſetz vom 27. Juni 1873 §. 2 Abſ. 3, wonach Perſonen, welche bei der Ver - waltung einer Deutſchen Eiſenbahn betheiligt ſind, keinerlei Thätigkeit bei dem Reichs-Eiſenbahn-Amt oder als Reichs-Eiſenbahn-Kommiſſare ausüben können.433§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.von Rechtsfolgen ſchließen ſich einander nicht gegenſeitig aus, ſie ſtehen nicht in alternativer Konkurrenz, ſondern ſie können gleichzeitig neben einander eintreten, wofern in dem pflichtwidrigen Verhalten des Beamten die Vorausſetzungen für alle 3 Arten von Rechts - folgen enthalten ſind.

I. Die ſtrafrechtlichen Folgen.

Welche Pflichtverletzungen eines Beamten eine öffentliche Strafe nach ſich ziehen, läßt ſich nicht aus dem Begriff des Staats - amtes logiſch herleiten oder a priori conſtruiren1)Vgl. auch Schütze Lehrbuch des Deutſchen Strafrechts S. 522 und derſelbe in v. Holtzend. Rechtslexikon I. S. 62 (2. Aufl.). Es iſt dies vielmehr nur nach den poſitiven Beſtimmungen des Strafgeſetzes feſtzuſtellen und Gründe der Geſetzgebungspolitik allein entſcheiden darüber, welche Handlungen oder Unterlaſſungen eines Beamten als ſo ſchwere Verletzungen der Rechtsordnung oder als ſo ge - fährliche Bedrohungen der öffentlichen Wohlfahrt erſcheinen, daß der Staat mit den Mitteln des Strafrechtes ſich gegen ſie wen - den muß. Es verſteht ſich nach dem Grundſatz nulla poena sine lege von ſelbſt, daß eine öffentliche Beſtrafung eines Beamten nur dann eintreten kann, wenn ſeine Handlung den Vorausſetzungen einer beſtimmten Strafandrohung entſpricht; daß dagegen die fri - volſte Verletzung der Amtspflicht und das unwürdigſte Verhalten eines Beamten keine ſtrafrechtliche Ahndung finden kann, wenn der Thatbeſtand eines ſpeziellen Delicts dadurch nicht gegeben iſt. Dadurch unterſcheidet ſich in höchſt charakteriſtiſcher Art die öffent - liche Beſtrafung von der disciplinariſchen. Es giebt kein (crimi - nelles) Verbrechen oder Vergehen der Amtspflicht-Verletzung; ſon - dern es giebt nur einzelne, beſtimmt normirte Verletzungen der Amtspflicht, welche nicht blos das zwiſchen dem Staat und dem Beamten beſtehende Dienſtverhältniß, ſondern die allgemeine ſtaat - liche Ordnung, das geſellſchaftliche Zuſammenleben im Staate ſtören und deshalb mit öffentlicher Strafe bedroht ſind. Im Ge - genſatz dazu giebt es kein Syſtem der Disciplinar-Vergehen, keine durch feſtbeſtimmte Thatbeſtände charakteriſirte Arten von Discipli - nar-Vergehen, ſondern nur ein einziges, generelles, nämlich die Verletzung der Amtspflicht, und nur graduell verſchieden kann dieLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 28434§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Schwere der Verletzung ſein und dem entſprechend die Größe der Disciplinarſtrafe abgeſtuft werden.

Die criminell ſtrafbaren Verletzungen der Amtspflicht zer - fallen aber wieder in zwei Klaſſen1)Vgl. Dollman im Bluntſchli-Brater’ſchen Staatswörterb. I. S. 219. Ueber die ſyſtematiſche Stellung der Amtsvergehen iſt zu vgl. Alois Zucker Skizze zu einer Monographie der Amtsverbrechen. Prag 1870. Für die ſtaatsrechtliche Seite dieſer Lehre enthält die Schrift Nichts.. Sie können nämlich ent - weder beſtehen in Handlungen, welche an ſich und allgemein ſtraf - bar ſind, welche aber mit einer größeren Strafe bedroht ſind, falls ein Beamter ſie verübt, ſo daß der Umſtand, daß ein Beamter der Thäter iſt, einen Qualifikationsgrund, einen erſchwerenden Umſtand, bildet. Oder ſie können in Handlungen beſtehen, welche nur dann ſtrafbar ſind, wenn ein Beamter ſie verübt, oder welche thatſächlich nur von Beamten verübt werden können, ſo daß es zum weſentlichen Thatbe - ſtand des Delicts gehört, daß ein Beamter Thäter iſt. Die erſteren nennt man uneigentliche, die letzteren eigentliche Amtsdelicte2)Die Grenzlinie zwiſchen beiden iſt aber eine ſchwankende und es hängt vielfach von ſubjectiven Auffaſſungen ab, ob ein Delict zu der einen oder an - deren Klaſſe gezählt wird, da man jede Qualification eines verbreche - riſchen Thatbeſtandes auch als beſondere Verbrechens-Art bezeichnen und be - handeln kann. Vgl. Rüdorff Kommentar zum St. -G.-B. S. 450. Meves in v. Holtzend. Handb. des Strafrechts III. S. 946. Ferner Schütze a. a. O. Berner Lehrbuch des Deutſchen Strafrechts S. 548 ff..

1. Die uneigentlichen Amtsdelicte.

Die Unmöglichkeit, durch eine logiſche Begriffsbeſtimmung die Grenze der Amtsdelicte zu beſtimmen, tritt bei den uneigentlichen Amtsdelicten am deutlichſten hervor; denn bei jeder ſtrafbaren Handlung ohne Ausnahme kann der Umſtand, daß ein Staatsbe - amter ſie verübt hat, für den Richter ein Strafausmeſſungsmoment, und mithin auch ein Erſchwerungsgrund ſein. Der Geſetzgeber wird es daher bei vielen, ja bei den meiſten Kategorien von ſtraf - baren Handlungen dem Ermeſſen des Richters überlaſſen können, in wie weit dem Umſtande, daß ein Staatsbeamter der Thäter iſt, für die Würdigung der ſubjektiven Schuld Gewicht beizulegen ſei. Nur wenn der Geſetzgeber für dieſen Fall eine erheblich ſchwerere Strafe androhen will, als ſie ſonſt auf die ſtrafbare Handlung geſetzt iſt, insbeſondere die Nebenſtrafe der Unfähigkeit zur Be - kleidung öffentlicher Aemter, oder wenn er auf den Richter einen435§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Zwang ausüben will, die Beamtenqualität des Thäters unbedingt mit in Betracht zu ziehen, wird er neben die allgemeine Strafbeſtim - mung über eine gewiſſe Handlung noch eine ſpezielle Strafbeſtim - mung für den Fall ſetzen, daß ein Beamter ſie verübt. Dadurch entſteht neben dem allgemeinen Delict ein Amtsdelict von iden - tiſchem oder ähnlichem Thatbeſtand aber mit höherer Strafdrohung. Es ergiebt ſich hieraus, daß die uneigentlichen Amtsdelicte durch ihren objektiven Thatbeſtand keinerlei Beziehung zum Staats - recht haben; in dieſer Hinſicht vielmehr die ſtrafrechtlichen Geſichts - punkte ausſchließlich und vollſtändig zur Anwendung gelangen. Nur der ſubjektive Thatbeſtand, die Thäterſchaft eines Beamten, verleiht dieſen Delikten eine ſtaatsrechtliche Bedeutung. Die im Reichsſtrafgeſetzbuch formulirten uneigentlichen Amtsdelicte laſſen ſich nach folgenden Geſichtspunkten gruppiren:

a) Handlungen ſtrafbarer Natur werden dadurch beſonders qualifizirt und in höherem Grade ſtrafbar, daß ein Beamter ſie gegen Perſonen oder Sachen verübt, welche demſelben in Folge ſeines Amtes zur Fürſorge oder Obhut anvertraut ſind. Dies iſt das übereinſtimmende und charakteriſtiſche Merkmal des größten Theiles der uneigentlichen Amtsdelicte.

Solche beſondere, ſchwerere Strafdrohungen ſind gerichtet:

  • α) gegen einen Beamten, der mit Perſonen, gegen welche er eine Unterſuchung zu führen hat oder welche ſeiner Obhut anvertraut ſind, unzüchtige Handlungen vor - nimmt; ſowie gegen einen Beamten, welcher in Gefängniſſen oder öffentlichen Anſtalten beſchäftigt oder angeſtellt iſt, wenn er mit den in das Gefängniß oder in die Anſtalt aufgenommenen Perſonen unzüchtige Handlungen vornimmt. §. 174 Z. 2. und 3
    1)Vgl. auch §. 181 Abſ. 2.
    1);
  • β) gegen einen Beamten, welcher einen Gefangenen, deſſen Beaufſichtigung, Begleitung oder Bewachung ihm anver - traut iſt, ſchuldbarer Weiſe entweichen läßt oder deſſen Befreiung bewirkt oder befördert. §. 347 verglichen mit §. 121.
  • γ) gegen einen Beamten, welcher eine ihm amtlich anver - traute oder zugängliche Urkunde vorſätzlich vernichtet, bei28*436§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Seite ſchafft, beſchädigt oder verfälſcht. §. 348 Abſ. 2. 349. vergl. mit §. 133.
  • δ) gegen einen Beamten, welcher Gelder oder andere Sachen, die er in amtlicher Eigenſchaft empfangen oder in Gewahrſam hat, unterſchägt. §. 350 vrgl. mit §. 246.
  • ε) gegen einen Poſtbeamten, welcher die der Poſt anver - trauten Briefe oder Packete in anderen, als den im Geſetze vorgeſehenen Fällen eröffnet oder unterdrückt ꝛc. §. 354 vrgl. mit §. 299.
  • ζ) gegen einen Telegraphenbeamten, welcher die einer Tele - graphen-Anſtaltanvertrauten Depeſchen verfälſcht oder rechtswidrig eröffnet, unterdrückt, mittheilt ꝛc. §. 355. vrgl. mit §. 299.
  • η) gegen einen Advokaten, welcher bei den ihm vermöge ſeiner amtlichen Eigenſchaft anvertrauten An - gelegenheiten in derſelben Rechtsſache beiden Parteien durch Rath oder Beiſtand pflichtwidrig dient. §. 356. vrgl. mit §. 266.

b) Einige andere ſtrafbare Handlungen, die auf Anwendung phyſiſcher Gewalt beruhen, werden deshalb an einem Beamten härter beſtraft, als an anderen Perſonen, weil die ihm anver - traute Amtsgewalt ihm die Begehung der That erleichtert und weil die auf den Widerſtand gegen Beamte, die ſich in recht - mäßiger Ausübung ihres Amtes befinden, geſetzte Strafe den Widerſtand gegen Mißbrauch der Amtsgewalt erſchwert und gefährlich macht. Der hiedurch gegebene Anreiz zur Verübung der That ſoll durch die Verſchärfung der Strafandrohung wieder ausgeglichen werden. Die hierher gehörenden Fälle ſind Körper - verletzung, Freiheitsberaubung und Hausfriedensbruch. §. 340. 341. 342 verglichen mit §. 223 fg., §. 239 und §. 123.

c) Endlich wird für gewiſſe Handlungen, falls ſie von Be - amten verübt werden, der Verluſt der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter oder gewiſſer Aemter als Nebenſtrafe angedroht, nämlich für die Theilnahme an verbotenen Verbindungen §. 128. Abſ. 2. §. 129 Abſ. 2., ferner gegen Eiſenbahn - und Telegra - phen-Beamte, welche durch Vernachläſſigung der ihnen obliegenden Pflichten den Transport auf einer Eiſenbahn in Gefahr ſetzen oder die Benutzung der Telegraphen-Anſtalt verhindern oder ſtören437§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.§. 316 Abſ. 2. §. 318 Abſ. 2. §. 319., endlich in den im §. 358 auf - geführten Fällen, ſoweit dieſelben zu den uneigentlichen Amsdelicten gehören.

2. Die eigentlichen Amtsdelicte.

Die hierher gehörenden Verbrechen und Vergehen haben nicht nur durch ihren ſubjektiven, ſondern auch durch ihren objektiven Thatbeſtand eine ſtaatsrechtliche Bedeutung. Es ſind Principien des Staatsrechts oder der Politik, welche in ihnen enthalten ſind und welche eine rechtliche Anerkennung und rechtlichen Schutz da - durch eben empfangen, daß Handlungen, die mit ihnen im Wider - ſpruch ſtehen, mit Strafe bedroht ſind. Man kann aus den ein - zelnen Vorſchriften des Strafgeſetzes durch Abſtraction dieſe Grund - ſätze gewinnen, welche logiſch im Vergleich zu den ſtrafrechtlichen Beſtimmungen das prius ſind, da die letzteren nur zu ihrem Schutze gegeben ſind. Im Anſchluß an die von Binding gewählte Aus - drucksweiſe kann man ſagen, die Normen, welche den Strafbe - ſtimmungen über die eigentlichen Amtsdelicte zu Grunde liegen, ſind ſtaats rechtlichen Inhaltes. Eine Aufſuchung und Formuli - rung dieſer Normen iſt aber rechtlich nicht von erheblichem Werth.

Denn ſolche Normen ſind in ihrer Allgemeinheit keine Rechtsſätze, weder ſtaatsrechtliche noch ſtrafrechtliche1)Insbeſondere ſind ſie auch keine Rechtsſätze des ungeſetzten Rechts oder durch konkludente Handlungen erklärte Rechtsſätze wie Binding Die Normen I. S. 66 fg. annimmt.. Nur in ſoweit, als einzelne, beſtimmte Arten ihrer Verletzung zum That - beſtand eines Delictes erklärt worden ſind, erlangen dieſe allge - meineren Principien rechtliche Bedeutung; der ganze übrige Inhalt hat nur den Charakter eines moraliſchen oder politiſchen Princips, eines Geſetzgebungs-Motives. Solche Principien, welche an ſich nicht zu Rechtsſätzen erklärt ſind, aber ſpeziellen Rechts - Vorſchriften zur gemeinſamen Grundlage dienen, ſind folgende:

1) Kein Beamter ſoll aus dem ihm anvertrauten Amt rechts - widrigen Gewinn ziehen.

Darum iſt mit Strafe bedroht die Annahme von Geſchenken für amtliche Handlungen (§. 331), die Paſſiv-Beſtechung (§. 332. 334), die Erhebung übermäßiger Gebühren oder Abgaben oder die Rückbehaltung ungerechtfertigter Abzüge (§. 352. 353).

2) Kein Beamter ſoll die ihm übertragene Amtsgewalt miß -438§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.brauchen. Unter der Amtsgewalt iſt hier aber nicht nur die Exe - kutivgewalt verſtanden, ſondern auch die amtliche Funktion der richterlichen Beamten, durch Urtheile formelles Recht zu ſchaffen, und die amtliche Funktion Beamter, durch Notariats-Akte, Rechts - verhältniſſe zu begründen oder zu bekunden oder rechtlich erhebliche Thatſachen feſtzuſtellen.

Darum iſt mit Strafe bedroht die widerrechtliche Nöthigung Jemandes zu einer Handlung, Duldung oder Unterlaſſung durch Mißbrauch der Amtsgewalt oder durch Androhung eines beſtimmten Mißbrauchs (§. 339); die Erpreſſung von Geſtändnißen in einer Unterſuchung durch Anwendung von Zwangsmitteln (§. 343); die widerrechtliche Eröffnung einer Unterſuchung (§. 344) oder die widerrechtliche Vollſtreckung von Strafen, von denen der Beamte weiß, daß ſie überhaupt nicht oder nicht der Art oder dem Maaße nach vollſtreckt werden dürfen (§. 345); ebenſo ein Beginnen, welches darauf abzielt, Jemanden rechtswidrig der geſetzlichen Strafe zu entziehen oder eine erkannte Strafe nicht dem Geſetz gemäß zum Vollzuge zu bringen (§. 346). Ferner aber die vorſätzliche Beugung des Rechts zu Gunſten oder zum Nachtheil einer Partei Seitens eines Beamten oder Schiedsrichters bei der Leitung oder Entſcheidung einer Rechtsſache (§. 336) und die vorſätzliche falſche Beurkundung einer rechtlich erheblichen Thatſache, wenn die Be - urkundung Seitens eines Beamten, welcher zur Aufnahme öffent - licher Urkunden befugt iſt, innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit erfolgt. §. 348. Hierher kann man auch die Fälle der §§. 337. 338. 351 ſtellen.

3) Kein Beamter ſoll die Gehorſamspflicht der ihm unterge - benen Beamten mißbrauchen.

Deshalb iſt mit Strafe bedroht ein Amtsvorgeſetzter, welcher dieſen Grundſatz poſitiv dadurch verletzt, daß er ſeine Untergebenen zu einer ſtrafbaren Handlung im Amte vorſätzlich verleitet oder zu verleiten unternimmt; ebenſo ein Beamter, der ihn negativ d. h. durch Unterlaſſungen verletzt, indem er eine ſolche ſtrafbare Handlung ſeiner Untergebenen wiſſentlich geſchehen läßt oder durch Nichtausübung der ihm übertragenen Aufſicht oder Kontrole ermög - licht. §. 3571)Ueber das Verhältniß dieſes Paragraphen zu §. 48 (Anſtiftung) vgl. Meves a. a. O. S. 1012..

439§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.
II. Die privatrechtlichen Folgen.

Ein Beamter kann durch Pflichtverletzungen eine Verbind - lichkeit zum Schadens-Erſatz auf ſich laden; aber nicht jede Pflicht - verletzung hat dieſe Folge. Vor allem muß die Pflichtverletzung des Beamten eine Vermögens-Beſchädigung eines Anderen herbei - geführt haben, weil es ſonſt an der weſentlichen Vorausſetzung der Schadens-Erſatzpflicht mangelt1)Vgl. Pfeiffer Prakt. Ausführungen III. S. 372.; überdies aber begründet nicht jedes pflichtwidrige Verhalten eines Beamten, durch welches eine Vermögensbeſchädigung entſtanden iſt, in allen Fällen eine Erſatz-Verbindlichkeit, ſondern nur diejenigen welche den im Civil - recht aufgeſtellten Vorausſetzungen der Schadens-Erſatzpflicht ent - ſpricht.

Bei der rechtlichen Beurtheilung dieſer Frage, ſind nun zwei Fälle oder Rechtsbeziehungen zu unterſcheiden; der Beamte kann durch ſein Verſchulden in Führung der amtlichen Geſchäfte den Fiskus ſelbſt beſchädigen oder einen Dritten. Mit Dritten ſteht der Beamte als ſolcher in keinerlei Rechtsverhältniß; es kann demnach keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn er durch ein Ver - ſehen einen Dritten beſchädigt, nur die Grundſätze von der außer - kontractlichen Entſchädigungspflicht zur Anwendung kommen können. Zu dem Staate, der ihn angeſtellt, ſteht der Beamte da - gegen in einem Dienſtverhältniß; die ſorgfältige Führung der Amtsgeſchäfte gehört zu den, durch den Anſtellungsvertrag über - nommenen Pflichten; ein Verſehen in der Amtsführung könnte daher, ſoweit es die Vermögens-Verwaltung des Staates angeht, als contractliche culpa, nach Analogie der vom Mandat oder der Dienſtmiethe geltenden Regeln aufgefaßt werden. Indeß hier zeigt ſich die praktiſche Conſequenz des oben näher ausgeführten Grundſatzes, daß die Anſtellung eines Beamten kein privatrecht - licher Contract und das dadurch begründete Verhältniß kein obli - gatoriſches iſt. Auch darf man nicht zu der Hypotheſe ſeine Zu - flucht nehmen, daß neben der ſtaatsrechtlichen Anſtellung durch die Zuweiſung eines mit Vermögensverwaltung verbundenen Amtes ein Mandat oder Quaſi-Mandat ertheilt werde und daß demge - gemäß der Beamte theils in einem öffentlichrechtlichen theils in einem kontractlichen Verhältniß zum Staate ſtehe. Die Uebertra -440§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.gung einer Vermögensverwaltung oder gewiſſer, auf das Staats - Vermögen Einfluß habender Geſchäfte iſt kein Nebenvertrag, ſondern die unmittelbare Rechtsfolge der Anſtellung behufs Ueber - nahme eines gewiſſen Amtes1)Der entgegengeſetzten Anſicht würde derſelbe Irrthum zu Grunde liegen, wie der älteren Theorie über die ehel. Gütergemeinſchaft, welche neben der Eheſchließung noch den Abſchluß einer societas omnium bonorum unter den Ehegatten fingirte..

Nur iſt allerdings zuzugeben, daß ein Mandatsverhältniß im einzelnen Falle durch beſondere Willenserklärung zwiſchen dem Staat und einem Beamten begründet werden kann; daß z. B. ein Beamter, der den Auftrag übernommen hat, für den Staat ein Grundſtück oder ein Kriegsſchiff oder Materialien anzuſchaffen, oder den Bau von Gebäuden, Brücken, Wegen u. dgl. zu leiten, oder mit einer anderen Verwaltung eine Abrechnung vorzunehmen, unter Umſtänden zum Fiskus in dem Rechtsverhältniß eines Man - datars ſtehen kann. Daraus allein aber, daß zu einem amtlichen Geſchäftskreiſe auch Geſchäfte von vermögensrechtlicher Bedeutung gehören, ergiebt ſich noch kein privatrechtliches Verhältniß zwiſchen dem Staat und dem Beamten.

Hieraus folgt, daß auch dem Fiskus gegenüber die Pflicht des Beamten zum Schadenserſatz für Verſehen in der Amtsführung im privatrechtlichen Sinne eine außerkontractliche iſt und mithin unter denſelben Grundſätzen ſteht, wie die Schadens - erſatzpflicht gegen Dritte. Dies wird auch anerkannt im Preuß. Allg. Ldr. II. 10 §. 90, woſelbſt die Haftung des Beamten gegen den Staat und die Haftung deſſelben gegen einzelne Privatper - ſonen ganz gleichgeſtellt werden.

Eine Ausnahme von den allgemeinen Regeln macht nur die Haf - tung der Beamten für ſogenannte Defekte, für welche in dem Reichs - beamten-Geſetz Spezialbeſtimmungen erlaſſen ſind. Es iſt demnach zu unterſcheiden zwiſchen der Schadenserſatzpflicht für Verſchuldung im Allgemeinen und der Haftung für Defecte insbeſondere.

1. Schadenserſatz-Pflicht der Beamten im All - gemeinen.

Das Reichsbeamtengeſetz hat darüber nur zwei Beſtimmungen, nämlich im §. 13 den allgemeinen Grundſatz, daßjeder Beamte für die Geſetzmäßigkeit ſeiner amtlichen Handlun -441§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.gen verantwortlich iſt, und im §. 154 Vorſchriften über die Zuſtändigkeit der Gerichte und über das Verfahren in Rechtsſtrei - tigkeiten über Vermögensanſprüche gegen Reichsbeamte.

a) Der im §. 13 ausgeſprochene Satz ſchneidet dem Beamten bei Anſprüchen, welche gegen ihn wegen geſetzwidriger Hand - lungen und Unterlaſſungen erhoben werden, den Einwand ab, daß er die Handlung oder Unterlaſſung auf Befehl des dienſtlichen Vorgeſetzten begangen habe. Die Tragweite dieſes Satzes iſt bereits oben S. 424 fg. erörtert worden. So weit die Gehorſamspflicht des untergebenen Beamten reicht, iſt er auch vor der civilrechtlichen Verantwortlicheit für die ihm befohlenen Handlungen gedeckt; ſo - weit er nicht zum Gehorſam verpflichtet iſt, handelt er auf eigene Verantwortlichkeit. Der Reichs-Beamte, welcher auf Grund eines ihm ertheilten, dienſtlichen Befehls eine amtliche Handlung vor - nimmt oder unterläßt, haftet demnach, wie oben ausgeführt wor - den iſt, für die formelle Geſetzmäßigkeit ſeines Verhaltens. Der dienſtliche Befehl befreit ihn von dieſer Haftung nicht.

Der §. 13 erkennt außerdem aber poſitiv an, ganz abgeſehen davon, ob der Beamte auf Grund eines Befehls oder aus eigener Initiative gehandelt hat, daß eine Ungeſetzmäßigkeit eines Beamten ſtets von ihm vertreten werden muß, gleichviel ob der Beamte mit dem Bewußtſein der Ungeſetzmäßigkeit (dolo) gehan - delt hat oder ſich darüber im Irrthum befand. Ein Irrthum über die Ungeſetzmäßigkeit ſeines amtlichen Verhaltens iſt ſtets ein unentſchuldbarer und gilt als ein von ihm zu vertretendes Verſehen.

Dies findet ſeine volle Beſtätigung durch die Faſſung des §. 154, welcher die Erhebung von Vermögens-Anſprüchen gegen Reichsbeamte wegen Ueberſchreitung ihrer amtlichen Befugniſſe oder pflichtwidriger Unterlaſſung von Amtshandlungen als zu - läſſig vorausſetzt.

b) Die Pflichtwidrigkeit des Beamten braucht aber nicht noth - wendig eine Geſetzwidrigkeit zu ſein; ſie kann auch in einer Ver - letzung der ihm obliegenden Sorgfalt beſtehen, insbeſondere in einem techniſchen Fehler1)z. B. Unachtſamkeit bei der Aufbewahrung von Urkunden oder Akten oder bei dem Verſchluß der Amtslokale, techniſche Fehler bei Bauten, beim Betriebe der Eiſenbahn, Poſt oder Telegraphie u. drgl.. In wie weit der Beamte für442§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.ſolche Verſehen haftet, hat das Reichsgeſetz nicht beſtimmt. Es entſcheiden daher die Grundſätze der Partikularrechte, welche für die Beurtheilung der Schadenserſatzpflicht zur Anwendung kom - men1)Dies ſind die Geſetze des Ortes, an welchem die pflichtwidrige Hand - lung vorgenommen worden iſt oder die pflichtwidrig unterlaſſene Handlung hätte vorgenommen werden müſſen (statuta loci delicti commissi).. Ueberall haftet der Beamte für dolus und culpa lata; in wie weit er auch für mäßiges und geringes Verſehen einſteht, iſt in den einzelnen Partikularrechten ſehr verſchieden beſtimmt2)Dieſe Frage kann als eine rein privatrechtliche hier unerörtert bleiben. Vgl. Preuß. Landr. II. 10 §. 88 ff. und dazu Förſter Preuß. Privatr. II. §. 154 Sächſ. Geſetzb. §. 1506. 1507 u. dazu Siebenhaar, Pöſch - mann Comm. II. S. 385. Code civ. Art. 1382. 1383. Für das ſogen. gemeine Recht Pfeiffer Prakt. Ausführungen Bd. II. S. 363 ff. Schlayer Zeitſchr. für Civilrecht und Prozeß N. -F. Bd. 13 S. 120 ff. Buddeus in Weiske’s Rechtslex. I. S. 229 ff. und Windſcheid Pandekten II. §. 470, woſelbſt weitere Literatur-Angaben. Ferner Zöpfl Staatsr. II. §. 519.. Hat der Beamte auf Befehl ſeines Vorgeſetzten oder in genauer Befolgung der ihm ertheilten Inſtruktion gehandelt, ſo trifft die Verantwortlichkeit nicht ihn, ſondern denjenigen Beamten, welcher den Befehl oder die Inſtruktion ertheilt hat; denn der Beamte muß dieſem Befehle, wofern er kein geſetzwidriger iſt, gehorchen; er iſt daher in dieſem Falle niemals in culpa.

c) Ebenſo wenig hat das Reichsgeſetz Beſtimmungen darüber getroffen, ob der Beamte nur den poſitiven Schaden (damnum emergens) oder das volle Intereſſe zu erſetzen hat; ob er nur für die unmittelbaren oder auch für die mittelbaren Folgen ſeiner Handlung oder Unterlaſſung einſtehen muß; ob und in wie weit er durch ein concurrirendes Verſehen des Beſchädigten befreit wird; wann die Klage auf Schadenserſatz verjährt; ob der Beamte nur ſubſidiär oder direct haftet; ob Mitglieder collegialiſcher Be - hörden ſolidariſch oder pra rata haften u. ſ. w. In allen dieſen Beziehungen kommen daher ebenfalls die Grundſätze des Civil - rechts zur Anwendung3)Dagegen ſind unanwendbar die Vorſchriften über Erhebung des Kom - petenzconflictes, alſo namentlich die Vorſchriften des Preuß. Geſetzes vom 13. Februar 1854.; ſo daß die Haftbarkeit der Reichsbeam - ten in den verſchiedenen Rechtsgebieten ſehr ungleich iſt.

d) Das Reichsgeſetz beſtimmt im §. 154, daß bei vermögens -443§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.rechtlichen Anſprüchen gegen Reichs-Beamte, ſowohl dasjenige Ge - richt zuſtändig iſt, in deſſen Bezirk der Beamte zur Zeit der Ver - letzung ſeiner Amtspflicht ſeinen Wohnſitz hatte, als dasjenige, in deſſen Bezirk derſelbe zur Zeit der Erhebung der Klage ſeinen Wohnſitz hat. Es normirt ferner die Zuläſſigkeit der Rechtsmittel; eine Beſtimmung, welche nur bis zur Einführung der Reichs-Civil - prozeß-Ordnung Bedeutung hat. Endlich erklärt es in letzter In - ſtanz das Reichs-Oberhandels-Gericht für zuſtändig.

Alle dieſe Beſtimmungen des §. 154 ſind aber nur gegeben für Rechtsſtreitigkeiten über Vermögens-Anſprüche gegen Reichs - beamte wegen Ueberſchreitung ihrer amtlichen Befugniſſe oder pflichtwidriger Unterlaſſung von Amtshandlungen.

Nach dieſem Wortlaut treten demnach die Regeln des §. 154 und namentlich die Zuſtändigkeit des Oberhandelsgerichts nur ein, wenn die Klage geſtützt iſt entweder auf eine geſetzwidrige Handlung (Kompetenz-Ueberſchreitung) oder auf eine pflicht - widrige Unterlaſſung; dagegen wird der Fall nicht mit eingeſchloſſen, wenn der Beamte innerhalb ſeiner amtlichen Be - fugniſſe, alſo ohne Verletzung des Geſetzes aber mit Verletzung der erforderlichen Sorgfalt gehandelt hat1)Wird z. B. gegen einen Reichseiſenbahn-Beamten auf Schadenserſatz geklagt, weil er ein vorgeſchriebenes Signal überhaupt nicht gegeben hat, ſo iſt der §. 154 anwendbar; wird aber die Klage darauf gegründet, daß er ein unrichtiges Signal gegeben hat, ſo iſt der §. 154 nicht anwendbar, denn es liegt weder eine Ueberſchreitung der amtlichen Befugniſſe noch eine Unterlaſſung von Amtshandlungen vor. Im erſten Falle wäre demnach das R. -O.-H.-G. zuſtändig; im zweiten Falle nicht. Ob dies wirklich die Ab - ſicht des Geſetzgebers geweſen iſt, muß dahin geſtellt bleiben..

2. Erſatz-Pflicht für Defekte.

Für dieſen ſpeziellen Theil der Lehre von der Erſatzpflicht iſt durch die §§. 134 bis 148 des Reichsbeamten-Geſetzes, im engſten Anſchluß an die Preuß. Verordnung vom 24. Januar 1844 (Geſ. - Samml. S. 52), hinſichtlich der Reichsbeamten gemeines Recht ge - ſchaffen und insbeſondere ein eigenthümliches Verfahren zur Feſt - ſtellung und Beitreibung des Erſatzes für Defekte eingeführt worden.

a) Der Begriff der Defekte iſt geſetzlich nicht definirt; aber in der Praxis des Verwaltungsrechts feſtgeſtellt. Man verſteht444§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.darunter den Fall, daß der thatſächliche Beſtand einer Kaſſe oder eines Magazins geringer iſt als der rechnungsmäßige Sollbeſtand. Der Begriff des Defektes iſt daher weiter als der der Unterſchla - gung; er umfaßt auch das Manco, welches durch Sorgloſigkeit des Beamten, welchem die Obhut über die Kaſſe oder das Ma - gazin obliegt, entſtanden iſt. Andererſeits fällt aber nicht darunter der Fall, wenn der Beamte aus der Kaſſe oder dem Magazin Ausgaben gemacht hat, welche nicht hätten gemacht werden ſollen, oder wenn er ſie an einen nicht gehörig legitimirten Empfänger gemacht hat u. dergl., wofern nur die Zahlung oder Verausga - bung rechnungsmäßig erfolgt und mit Belägen nachgewieſen iſt1)Erk. des Preuß. Gerichtshofes zur Entſcheid. der Kom - petenz-Konflikte v. 25. Oktober 1856 (Juſt. -Min.-Bl. S. 54). Kann - gießer S. 231.. Keinen Unterſchied macht es, ob der Defekt Reichsvermögen be - trifft oder Privatvermögen, welches von einer Reichsbehörde ver - waltet wird2)Reichsbeamtengeſ. §. 134., oder welches vermöge beſonderer amtlicher Anord - nung in den Gewahrſam eines Reichsbeamten gekommen iſt3)ebendaſ. §. 136..

b) Die Feſtſtellung der Defekte iſt zunächſt von derjenigen Behörde zu bewirken, zu deren Geſchäftskreiſe die unmittelbare Aufſicht über die Kaſſe oder das Magazin gehört. Dieſe Feſt - ſtellung erſtreckt ſich zugleich darauf, ob ein Reichsbeamter und event. welcher Beamte für den Defekt zu haften hat und wie hoch bei einem Defekt an Materialien die zu erſtattende Summe in Gelde zu berechnen iſt4)§. 134. 135 des Geſetzes..

Die Behörde hat einen motivirten Beſchluß über den Betrag des Defektes, den zum Erſatz verpflichteten Beamten und den Grund ſeiner Verpflichtung abzufaſſen. Sind alle dieſe Punkte hinſichtlich eines Theiles des Defektes klar, während hinſichtlich eines anderen Theiles noch weitere Ermittelungen erforderlich ſind, ſo kann der Beſchluß zunächſt über den Theil abgefaßt werden unter Vorbehalt weiterer Beſchlüſſe. Der Beſchluß iſt vollſtreckbar, falls die Behörde die Eigenſchaft einer höheren Reichsbehörde hat; in allen anderen Fällen bedarf der Beſchluß der Prüfung und Genehmigung der vorgeſetzten höheren Reichsbehörde. Von dem445§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Beſchluſſe iſt der oberſten Reichsbehörde unverzüglich Kenntniß zu geben und es bleibt derſelben in allen Fällen unbenommen, einzuſchreiten und den Beſchluß ſelbſt abzufaſſen oder zu berich - tigen1)§. 137 139 a. a. O..

c) Der Beſchluß kann auf die unmittelbare Verpflichtung zum Erſatz des Defekts gerichtet werden gegen jeden Beamten, welcher der Unterſchlagung als Thäter oder Theilnehmer nach der Ueberzeugung der Reichsbehörde überführt iſt; ferner, ſofern der Defekt nach der Ueberzeugung der Reichsbehörde durch grobes Verſehen entſtanden iſt, gegen diejenigen Beamten, welchen die Kaſſe u. ſ. w. zur Verwaltung übergeben war, auf Höhe des ganzen Defektes, und gegen jeden anderen Beamten, der an der Einnahme oder Ausgabe, der Erhebung, der Abliefe - rung oder dem Transport von Kaſſengeldern oder anderen Gegen - ſtänden vermöge ſeiner dienſtlichen Stellung theilzunehmen hatte, auf Höhe des in ſeinen Gewahrſam gekommenen Betrages2)§. 141 a. a. O..

Trifft aber den Beamten ein nur mäßiges oder geringes Verſehen, ſo iſt er zwar von der Pflicht zum Erſatz nicht frei, falls er nach den civilrechtlichen Beſtimmungen dafür haftet; aber es muß der Weg des gewöhnlichen Prozeſſes beſchritten werden. Ebenſo iſt das Defekten-Verfahren unzuläſſig gegen die Erben des Beamten oder gegen Dritte, welche in Folge des Defektes bereichert ſind. Dagegen macht es keinen Unterſchied, ob der Beamte noch im aktiven Dienſte oder bereits penſionirt iſt.

d) Der von der zuſtändigen Behörde abgefaßte Beſchluß iſt vollſtreckbar. In dem Beſchluſſe iſt zugleich zu beſtimmen, welche Vollſtreckungs - oder Sicherheitsmaaßregeln behufs des Er - ſatzes des Defekts zu ergreifen ſind. Entſcheidend dafür ſind die Geſetze des Bundesſtaates, in welchem dieſe Maaßregeln erfolgen3)§. 140 a. a. O.. Verbleibt der zum Erſatz verpflichtete Beamte in der Verwaltung des Amtes, ſo iſt die Kaution deſſelben zunächſt nicht in Angriff zu nehmen, ſondern er hat anderweite Sicherheit zu leiſten, wi - drigenfalls die Exekution in ſein übriges Vermögen vollſtreckt wird4)§. 142 a. a. O..

446§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.

Die Verwaltungsbehörde erſucht die zuſtändigen Gerichte, Vollſtreckungsbeamten oder Hypothekenbehörden um Vollſtreckung. Dieſelben haben der Requiſition ſchleunig, ohne vorgängiges Zah - lungsmandat zu genügen, falls kein Anſtand obwaltet; auf eine Beurtheilung der Rechtmäßigkeit des Beſchluſſes einzugehen, ſind ſie nicht befugt1)§. 143 a. a. O.. Iſt der Reichsbeamte im Konkurſe oder neh - men andere Gläubiger Vermögensobjekte deſſelben in Anſpruch, aus denen das Reich Erſatz des Defektes zu erlangen ſucht, ſo hat das Reich daſſelbe Vorzugsrecht, welches nach dem an dem dienſtlichen Wohnort des Beamten geltenden Rechte dem Staate am Vermögen der Staatsbeamten zuſteht2)§. 20 Nr. 2 a. a. O..

e) Dem Beamten, welcher durch Beſchluß zur Erſtattung des Defectes für verpflichtet erklärt wird, ſteht ſowohl hinſichtlich des Betrages als hinſichtlich der Erſatzverbindlichkeit außer der Be - ſchwerde im Inſtanzenzug der Rechtsweg zu.

Für die Anſtellung der Klage beſteht eine Präcluſivfriſt von einem Jahre, die mit dem Tage beginnt, an welchem der Beſchluß dem Beamten bekannt gemacht iſt, oder falls der Beamte an ſeinem Wohnorte nicht zu treffen iſt, an welchem der Beſchluß abgefaßt iſt. Ueber die Wahrheit der thatſächlichen Behauptungen der Parteien hat das Gericht nach ſeiner freien aus dem Inbegriff der Verhandlungen und Beweiſe geſchöpften Ueberzeugung zu ent - ſcheiden; jedoch bleiben die Vorſchriften der Landesgeſetze über den Beweis durch Eid, ſowie über die Beweiskraft öffentlicher Urkunden unberührt3)§. 144 a. a. O. Ueber die[Vertheilung] der Beweislaſt entſcheiden die allgemeinen Rechtsgrundſätze; daß der Beamte die Kläger-Rolle übernehmen muß, ändert in dieſer Beziehung nichts.. Auf Antrag des Beamten hat das Ge - richt darüber Beſchluß zu faſſen, ob die Zwangsvollſtreckung fort - zuſetzen oder einſtweilen einzuſtellen ſei. Die Einſtellung erfolgt, wenn die Fortſetzung der Zwangsvollſtreckung für den Beamten einen ſchwer erſetzlichen Nachtheil zur Folge haben würde; jedoch ſind in dieſem Falle auf Antrag der Reichsbehörde vom Gericht die erforderlichen Sicherheitsmaaßregeln herbeizuführen4)§. 145 a. a. O..

Der Reichsfiskus wird in dem Rechtsſtreit vertreten durch447§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.die höhere Reichsbehörde, welche den Defektbeſchluß abgefaßt oder für vollſtreckbar erklärt hat; eventuell durch die oberſte Reichsbe - hörde. Ohne Rückſicht auf die Beſchwerdeſumme kann der Rechts - ſtreit bis in die dritte Inſtanz verfolgt werden; dieſelbe wird vom Reichs-Oberhandelsgericht gebildet1)§. 152. 153 a. a. O..

f) Wenn eine nahe und dringende Gefahr vorhanden iſt, daß ein Beamter, gegen welchen die Zwangsvollſtreckung zuläſſig iſt, ſich auf flüchtigen Fuß ſetzen oder ſein Vermögen der Verwendung zum Erſatz des Defekts entziehen werde, ſo kann die unmittelbar vorgeſetzte Behörde, auch wenn ſie nicht die Eigenſchaft einer - heren Reichsbehörde hat, oder der unmittelbar vorgeſetzte Beamte das abzugsfähige Gehalt und nöthigenfalls das übrige bewegliche Vermögen des Beamten vorläufig in Beſchlag nehmen. Der vor - geſetzten höheren Reichsbehörde iſt ungeſäumt Anzeige davon zu machen und deren Genehmigung einzuholen2)§. 146 a. a. O..

Auf Antrag des von der Beſchlagnahme betroffenen Beamten hat das Gericht, in deſſen Bezirk die Beſchlagnahme ſtattgefunden hat, anzuordnen, daß binnen einer zu beſtimmenden Friſt der ordnungsmäßige Defekt-Beſchluß beizubringen ſei. Wird dieſer Anordnung nicht Folge geleiſtet, ſo iſt auf weiteren Antrag des Beamten die Beſchlagnahme ſofort aufzuheben. Erfolgt der De - fektbeſchluß rechtzeitig, ſo kann das Gericht des Beſchlagnahme - Ortes den Arreſt nicht aufheben, ſondern es bleibt alsdann dem Beamten überlaſſen, den Rechtsſtreit nach Vorſchrift des §. 144, alſo bei dem ordentlichen Richter des Reichsfiskus, zu erheben3)§. 147 a. a. O..

g) Für das Defekten-Verfahren im Verwaltungswege werden Gebühren und Stempel nicht berechnet4)§. 148 a. a. O..

h) Die Vorſchriften des Reichs-Beamten-Geſetzes über das Defekten-Verfahren (§§. 134 148) finden auch auf Perſonen des Soldatenſtandes Anwendung5)§. 157 a. a. O..

III. Die disciplinariſchen Folgen.

In der Disciplinar-Beſtrafung der Beamten wegen Verletzung ihrer Dienſtpflicht kömmt die juriſtiſche Natur des Beamten-Ver -448§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.hältniſſes am reinſten zum Ausdruck. Wenn man von der oben dargelegten Auffaſſung des Anſtellungs-Vertrages ausgeht, ſo er - giebt ſich von ſelbſt der Rechtsgrund, der Inhalt und Umfang und der Zweck der Disciplinargewalt. In der ſtaatsrechtlichen und ſtrafrechtlichen Literatur und in zahlreichen von ihr beeinfluß - ten Geſetzen wird die Disciplinar-Beſtrafung in Zuſammenhang gebracht mit der öffentlichen Strafgewalt und es ergeben ſich als - dann große Schwierigkeiten hinſichtlich der Beſtimmung des gegen - ſeitigen Verhältniſſes derſelben.

Das Disciplinarrecht erſcheint nach der herrſchenden Auffaſ - ſung als ein Spezial-Strafrecht für Beamte; Disciplinar-Ver - gehen ſind eine Klaſſe von Amts-Vergehen; Disciplinar-Strafen treten als Ergänzung zu dem Syſtem der öffentlichen Strafen hinzu; das Disciplinar-Verfahren erſcheint als eine Abart des Straf-Prozeſſes1)Von Einfluß auf die Doctrin wurde insbeſondere ein Aufſatz von Heffter im Neuen Arch. des Kriminalrechts Bd. 13 (1832) S. 48 ff., wo - ſelbſt Disciplinarvergehen und Vergehen im Amt völlig vermengt ſind. Ganz ähnlich Buddeus in Weiske’s Rechtslexikon I. S. 220 fg. Ferner Mitter - maier zu Feuerbach’s Lehrb. §. 477 Note I. u. IV. (14. Aufl. S. 749 ff.) Berner Lehrb. S. 548 behandelt die Disciplinarvergehen als leichtere, mit Kriminalſtrafe verſchonte Amtsvergehen. Schütze Lehrb. S. 522 u. in v. Holtzendorff’s Rechtslexikon I. S. 62 (2. Aufl. ) erklärt ausdrücklich, daß ſich Amtsdelicte und Disciplinarvergehen nicht begrifflich oder grundſätzlich unetrſcheiden. Auf demſelben Standpunkte ſteht auch Meves in v. Holtzend. Handb. des Strafrechts III. S. 939 fg. Vgl. ferner Bülau im Bluntſchli - Brater’ſchen Staatslex. Bd. III. S. 140 und v. Pölz ebendaſ. Bd. IX. S. 696 ff., welche zwar die thatſächlichen Unterſchiede zwiſchen Disciplinargewalt und Strafgewalt richtig charakteriſiren, beide aber als im Weſentlichen gleich - artig anſehen.. Von dieſem Geſichtspunkte aus macht die alte Regel ne bis in idem große Schwierigkeiten; denn man kann nur in der gezwungenſten Weiſe es erklären, daß ein Beamter wegen derſelben ſtrafbaren Handlung ſowohl kriminell als auch dis - ciplinariſch verfolgt und beſtraft werden kann. Nicht minder ſchwie - rig iſt es, ſich mit der Lehre von der Strafverjährung abzufinden und die Thatſache zu erklären, daß die Verjährung der Strafverfol - gung nicht nothwendig die Disciplinar-Beſtrafung ausſchließt. Völlig unmöglich aber erſcheint es, zwiſchen den kriminellen Amtsvergehen und den Disciplinar-Vergehen eine Gränzlinie aufzuſtellen; beide449§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.können die öffentliche Ordnung verletzen, beide können gegen die Wohlfahrt und Sicherheit des Staates gerichtet ſein, beide können mit Vorſatz oder aus Fahrläſſigkeit begangen werden; die Schwere des Vergehens unterſcheidet ſie nicht, denn es giebt geringfügige Amtsvergehen, welche mit öffentlicher Strafe bedroht ſind; für den Thatbeſtand der Amtsvergehen und für den Thatbeſtand der Dienſt - vergehen giebt es keinen logiſchen Gegenſatz, der beide Begriffe von einander zu ſcheiden vermag. Die Verfolgung der ſtrafbaren Hand - lungen iſt eine Pflicht des Staates, welcher ſich die dazu beſtellten Be - hörden nicht entziehen dürfen; die Handhabung der Disciplin iſt in das Ermeſſen der Behörden geſtellt; ſie können Nachſicht üben und Pflichtverletzungen hingehen laſſen; Disciplinarvergehen können demnach keine Unterart der Kriminalvergehen ſein.

Alle dieſe Schwierigkeiten ſind die Folgen des falſchen Aus - gangspunktes, den man wählt. Trotzdem zwiſchen dem Kriminal - recht und dem Disciplinarrecht äußerlich eine große Aehnlichkeit beſteht, in dem beide durch das Mittel der Strafe verwirklicht werden, darf man den Begriff des Disciplinarrechts nicht im Ge - genſatz und in der Vergleichung zum Strafrecht, ſondern zum Privatrecht ſuchen. Er fällt zuſammen mit dem Gegenſatz der obligatoriſchen Vertragsverhältniſſe und der Gewaltsverhältniſſe.

In contractlichen Verhältniſſen hat jeder Theil gegen den andern eine Klage auf Erfüllung oder auf Erſatz des Intereſſe wegen Nichterfüllung oder nicht ordentlicher Erfüllung. Jedes doloſe oder culpoſe Verhalten eines Kontrahenten, durch welches er die ordnungsmäßige oder vertragsmäßige Leiſtung vereitelt, begründet für den andern Kontrahenten eine Klage auf das Intereſſe.

Bei den Dienſtverhältniſſen oder Gewaltverhältniſſen dagegen tritt an die Stelle der Forderung der Befehl und an die Stelle der Klage der Zwang. Die Disciplinargewalt iſt das Recht zur Ausübung dieſes Zwanges. Es beſtand im Mittelalter gegen Lehnsmannen und gegen Miniſterialen; es beſtand bis in die neuere Zeit gegen Leibeigene und gegen Dienſtboten; es beſteht noch jetzt in dem Züchtigungsrecht der Eltern und Lehrherren, in dem Recht des Schiffsführers gegen die Mannſchaft, im Heere und in der Marine. Hierin liegt auch das Weſen der Discipli - nargewalt des Staates gegen ſeine Beamte; es iſt das Mittel,Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 29450§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.um die Erfüllung der Dienſtpflicht zu erzwingen. Der Staat be - darf hierzu keiner Klage vor den Gerichten, denn er ſteht ſeinen Beamten nicht als gleichberechtigte Partei, ſondern als Dienſtherr gegenüber. Die privatrechtliche Klage würde ihm auch nichts nützen, denn der Schaden, der ihm durch Nichterfüllung oder nicht ordnungsmäßige Erfüllung erwächſt, iſt nur ſelten in Geld zu ſchätzen und durch Leiſtung des pekuniären Intereſſes auszugleichen. Andererſeits iſt der Staat auf ſeine Disciplinargewalt beſchränkt; er hat keine privatrechtliche Klage gegen ſeine Beamten auf Erfül - lung der Dienſtpflicht; es giebt keine Exekution, durch welche die - ſelben zur Leiſtung ihrer amtlichen Dienſte angehalten werden können1)Von dieſen Grundſätzen beſteht in Deutſchland lediglich in Mecklen - burg eine Ausnahme, welche durch die feudalen (patrimonialen) Elemente, die ſich in der Verfaſſung dieſes Staates erhalten haben, begründet iſt. In zahl - reichen Fällen können nach Mecklenburgiſchem Recht die Obrigkeiten zur Er - füllung ihrer amtlichen Pflichten durch ein, in den Formen des Civilprozeſſes ſich bewegendes gerichtliches Verfahren angehalten werden, welches auf Klage eines Fiskals eingeleitet wird. Das Gericht entſcheidet wie unter gleichſtehenden Parteien in contraktlichen Verhältniſſen. So weit das fiskaliſche gerichtliche Prozeßverfahren ſtattfindet, iſt aber das Disciplinarverfahren gegen die Beamten ausgeſchloſſen und es wird daher durch dieſe Ausnahme die juriſtiſche Natur des Disciplinarverfahrens und ſein Verhältniß zum Klagerecht des Privatrechts recht deutlich beſtätigt. Vgl. darüber Trotſche Mecklenb. Civilpr. Bd. II. S. 225 ff. (1868) und beſonders die Motive zur Reichs-Civilprozeß-Ordn. von 1874 S. 487. In der Literatur findet ſich ein Anklang an die richtige juriſtiſche Begriffsbeſtimmung der Disciplinargewalt bei Pfeiffer Prakt. Ausf. III. S. 401 ff..

Alſo nicht ſtatt der Ahndung von Verbrechen und Vergehen durch die Strafjuſtiz tritt die Disciplinarſtrafe ein, ſondern ſie ſteht an Stelle der Kontraktsklage auf Leiſtung. Die Regel ne bis in idem wird nicht dadurch verletzt, daß die Disciplinargewalt neben der öffentlichen Beſtrafung geltend gemacht wird, ſondern ſie würde dadurch verletzt werden, wenn der Staat neben der Handhabung des Disciplinarzwanges noch eine vermögensrechtliche Contractsklage auf Erfüllung der Amtspflichten hätte. Die Straf - mittel der Disciplin bewegen ſich in dem Rahmen der durch das Dienſtverhältniß begründeten Gewalt und haben nichts gemein mit dem Syſtem der öffentlichen Strafen; nur zufällig gehört die451§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Geldſtrafe beiden an. Die Verjährung der Strafverfolgung be - rührt ſich nicht mit dem Disciplinarzwang zur Pflichterfüllung. Ferner iſt der Thatbeſtand der ſogenannten Disciplinarvergehen kein ſtrafrechtlicher; es giebt kein erſchöpfendes Syſtem und keine ſpezifiſch verſchiedenen Arten der Disciplinarvergehen; man kann keinen Katalog derſelben aufſtellen, wie ein Strafgeſetzbuch die Verbrechen und Vergehen mit abſchließender Vollſtändigkeit aufzu - zählen vermag, wenngleich man oft Verſuche gemacht hat, derglei - chen aufzuſtellen, ſo wenig wie es ein Syſtem von privatrechtlichen Vertrags-Verletzungen und geſetzlich zu normirende Thatbeſtände der letzteren gibt. Jede ſchuldbare Nichterfüllung der Dienſtpflicht iſt ein Disciplinar-Vergehen, oder beſſer geſagt, iſt geeignet, eine Reaktion des Dienſtherrn vermittelſt ſeiner Disciplinargewalt her - vorzurufen. Nur zufällig kann eine und dieſelbe That gleichzeitig unter das Strafgeſetz fallen und eine Verletzung der Dienſtpflicht enthalten. Endlich iſt die Ausübung des Disciplinarzwanges ein Recht, keine juriſtiſche Pflicht des Staates, wie die Geltendmachung einer Forderung ein Recht, aber keine Pflicht des Gläubigers iſt1)Heffter a. a. O. S. 177 nennt die Disciplinargewalt ein Privat - recht des Staates, dem ſich der Diener bei Eingehung des Dienſtverhält - niſſes ſtillſchweigend unterwirft, kein allgemeines Recht der ganzen Staatsge - meinde, wie das Strafrecht. .

Von dieſen Geſichtspunkten aus laſſen ſich die Vorſchriften des Reichsbeamten-Geſetzes über die Disciplinar-Vergehen in einen inneren wiſſenſchaftlichen Zuſammenhang bringen.

1) Der Begriff wird in §. 72 des Geſetzes dahin formu - lirt: Ein Reichsbeamter, welcher die ihm obliegenden Pflichten (§. 10) verletzt, begeht ein Dienſtvergehen und hat die Disciplinar - Beſtrafung verwirkt. Dieſe Definition iſt zwar nicht ſchön for - mulirt, aber richtig. Dienſtvergehen iſt Verletzung der Dienſtpflicht. Aus dem Umfang der Dienſtpflicht läßt ſich daher entnehmen, welche Handlungen oder Unterlaſſungen den Thatbeſtand eines Dienſtvergehens bilden können; entſprechend den 3 Pflichten, welche aus dem Anſtellungsvertrage hervorgehen, kann man die Dienſt - vergehen klaſſifiziren.

a) Verletzungen der Pflicht zur Amtsführung. Hierhin gehört die ſchuldbare Weigerung, Geſchäfte zu erledigen;29*452§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Unfleiß, Sorgloſigkeit, Saumſeligkeit u. dgl. in der Führung der Amtsgeſchäfte; insbeſondere Verlaſſen des Amtes ohne Urlaub oder Ueberſchreiten des Urlaubs ohne entſchuldigende Gründe.

b) Verletzungen der Pflicht zur Treue und zum Gehorſam. Hierunter fallen Widerſpänſtigkeit und Ungehorſam gegen amtliche Befehle welche, innerhalb der Zuſtändigkeit der vorge - ſetzten Behörde ertheilt ſind; Verletzung der Amtsverſchwiegenheit; Veruntreuung von Geldern und Materialien. Ebenſo kann hierher ein Verhalten des Beamten in ſeinem Amte fallen, welches darauf ab - zielt, den von der Reichsregierung angeſtellten Erfolg gewiſſer Maaß - regeln zu vereiteln und die Pläne und Abſichten der Regierung durch bewußtes Entgegenwirken oder durch Läſſigkeit in der Ausführung der Anordnungen zu durchkreuzen. Zweifellos kann aber die Ausübung des Wahlrechtes oder die Thätigkeit als Land - tags - oder Reichstags-Mitglied, bei welcher ſich der Beamte aus - ſchließlich nach ſeiner ſubjektiven Ueberzeugung zu beſtimmen hat, niemals als ſchuldbare Verletzung der Treue erachtet und discipli - nariſch beſtraft werden.

c) Verletzungen der Pflicht eines achtungswürdi - gen Verhaltens. Hierhin gehört jedes Benehmen des Beam - ten, ſowohl in ſeinem Amte als außerhalb deſſelben, welches der Sitte und Ehre widerſpricht und geeignet iſt, ihn in der allge - meinen Achtung herabzuſetzen, gleichviel ob die Handlung zugleich unter die Strafgeſetze fällt oder nicht. Es kann eine Handlung ſtrafbar ſein und dennoch kein Disciplinarvergehen, z. B. fahr - läſſige Brandſtiftung durch Wegwerfen eines Zündhölzchens, fahr - läſſige Körperverletzung oder Tödtung bei einer Jagd u. dgl. ; es kann andererſeits eine Handlung oder Unterlaſſung ein ſchweres Dienſtvergehen ſein, ohne nach Strafrecht verfolgbar zu ſein, z. B. Trunkenheit, leichtſinniges Schuldenmachen, Hazardſpiel u. dgl., wenn dadurch öffentliches Aergerniß gegeben und das allgemeine Sittlichkeits-Gefühl verletzt wird.

d) Hierzu kommen noch Verletzungen der den Beamten aufer - legten Beſchränkungen durch unbefugte Annahme von Remu - nerationen, Orden, Nebenämtern, durch Betrieb eines Gewerbes u. dgl.

2) Die Disciplinarſtrafen ſind keine öffentlichen Strafen; ſie bewegen ſich in dem Rahmen des durch die Anſtellung begrün -453§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.deten Dienſtverhältniſſes. Sie beſtehen entweder in Ordnungs - ſtrafen oder in Entfernung aus dem Amte. (§. 73)1)Mit Rückſicht hierauf unterſcheidet man gewöhnlich die niedere oder blos correktive und die höhere oder reinigende Disciplinargewalt. So Heffter a. a. O. S. 75. Buddeus Rechtslexikon I. S. 223, Schaper in von Holtzendorff’s Rechtslex. I. S. 389. Auch die Motive zu §. §. 72 bis 124 des R. Beamtengeſetzes unterſcheiden die korrektive und die epurirende Disciplin vermittelſt Strafen, die außerhalb des Gebietes der Kriminalität liegen ..

a) Die Ordnungsſtrafen (§. 74) ſind in aufſteigender Reihenfolge Warnung, Verweis und Geldſtrafe. Warnung und Verweis ſind zu unterſcheiden von Ermahnungen, Zurechtweiſungen oder Rügen, welche der Vorgeſetzte gegen den untergebenen Be - amten kraft der ihm zuſtehenden Geſchäftsleitung und Oberaufſicht ausſpricht2)In der Literatur werden Ermahnungen und Verwarnungen öfters gar nicht unterſchieden, z. B. Heffter a. a. O. S. 73. 79. Buddeus a. a. S. 224. Vgl. dagegen Kanngießer S. 157.. Warnung und Verweis unterſcheiden ſich hiervon dadurch, daß ſie dem Unterbeamten gegenüber eine von ihm be - gangene Verletzung der Dienſtpflicht conſtatiren und ſich als Folge dieſer Verletzung, als Reaktion dagegen, kundgeben; während bei der kraft der Oberaufſicht ertheilten Ermahnung oder Rüge grade die formelle Conſtatirung des Dienſtvergehens dem Unterbeamten erlaſſen wird.

Für Geldſtrafen iſt ein Maximum geſetzt, welches bei beſolde - ten Beamten in dem Betrage des einmonatlichen Dienſtein - kommens, bei unbeſoldeten Beamten im Betrage von 30 Thlr. beſteht3)Da der Regel nach die Reichsbeamten beſoldet ſind, ſo iſt durch das Maximum auch die Geldſtrafe in rechtliche Beziehung zu dem durch die An - ſtellung begründeten Rechtsverhälniſſe geſetzt..

Geldſtrafe kann mit Verweis verbunden werden.

b) Die Entfernung aus dem Amte (§. 75) iſt entweder Strafverſetzung oder Dienſtentlaſſung4)Eine ſcholaſtiſch-canoniſtiſche Darſtellung der Arten der Amtsentſetzung bei Heffter a. a. O. S. 53 ff. Buddeus S. 225. Vgl. ferner Bülau im Staatswörterb. III. S. 141. 142 und v. Pözl ebendaſ. IX. S. 713 ff.. Die Strafverſetzung erfolgt durch Uebertragung eines anderen Amtes von gleichem454§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Range1)Degradation iſt demnach ausgeſchloſſen. Vgl. Motive S. 42., aber mit Verminderung des Dienſt-Einkommens um höchſtens ein Fünftel. Indeß kann der Beamte in ein Amt von gleichem Dienſteinkommen verſetzt und ihm ſtatt der Verminderung des Gehaltes eine Geldſtrafe auferlegt werden, welche ein Drittel des Dienſteinkommens eines Jahres nicht überſteigt. Die Beſtim - mung des Amtes, in welches der Beamte verſetzt werden ſoll, liegt nicht der entſcheidenden Disciplinar-Behörde ob, ſondern die oberſte Reichsbehörde hat die Strafverſetzung in Ausführung zu bringen.

Die Dienſtentlaſſung hat den Verluſt des Titels und Penſions-Anſpruchs zur Folge. Wenn das Amtsverhältniß vor Beendigung des Disciplinar-Verfahrens bereits aufgehört hat, ſo wird ſtatt auf Dienſtentlaſſung auf Verluſt von Titel und Pen - ſions-Anſpruch erkannt, falls nicht der Beamte freiwillig darauf verzichtet. Wenn beſondere Umſtände eine mildere Beurtheilung zulaſſen, ſo kann die Disciplinar-Behörde in ihrer Entſcheidung feſtſetzen, daß dem Angeſchuldigten ein Theil des geſetzlichen Pen - ſions-Betrages auf Lebenszeit oder auf gewiſſe Jahre zu belaſſen ſei. Dieſe Grundſätze können auch den einſtweilig in den Ruhe - ſtand verſetzten Beamten gegenüber zur Anwendung kommen. (§. 119.)

3) Aus der juriſtiſchen Natur der Disciplinar-Gewalt als Folge des Dienſtverhältniſſes ergiebt ſich ferner, daß dieſelbe mit der Löſung des Dienſtverhältniſſes ihr Ende findet und kein weitergehendes Strafübel als die völlige Aufhebung des Dienſtver - hältniſſes dem Beamten zugefügt werden kann. Demnach muß die Einſtellung des Disciplinar-Verfahrens erfolgen, ſobald der Ange - ſchuldigte ſeine Entlaſſung aus dem Reichsdienſte mit Verzicht auf Titel, Gehalt und Penſionsanſpruch nachſucht, vorausgeſetzt, daß er ſeine amtlichen Geſchäfte bereits erledigt und über eine ihm etwa anvertraute Verwaltung von Reichsvermögen vollſtändige Rechnung gelegt hat. Die Verhängung einer Ordnungsſtrafe iſt in dieſem Falle ebenſowenig zuläſſig, wie die Entlaſſung aus dem Dienſte durch Erkenntniß. Die Koſten des eingeſtellten Verfahrens fallen dem Angeſchuldigten zur Laſt. (§. 75 und §. 100.)

4) Auch in Betreff der Strafausmeſſung kömmt in455§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Betracht, daß die Disciplinarſtrafe nicht die öffentliche Strafe er - gänzen oder vertreten, ſondern die Erfüllung der Dienſtpflicht ſichern und deren Verletzung ahnden ſoll. Deshalb iſt die Strafe mit beſonderer Rückſicht auf die geſammte Führung des An - geſchuldigten zu ermeſſen. (§. 76.) Denn ſowie ſich die Erfüllung der Dienſtpflicht nicht aus einer Anzahl einzelner Handlungen zuſammenſetzt, ſondern das geſammte Leben des Beamten umſchließt, ſo iſt auch die Handlung, durch welche die Dienſtpflicht verletzt wird, nicht als vereinzelte That, ſondern im Zuſammenhang mit dem allgemeinen dienſtlichen Verhalten zu beurtheilen.

5) Ueber das Verhältniß des Disciplinar-Ver - fahrens zu dem öffentlichen Strafverfahren gelten folgende Regeln. Begrifflich beſteht zwiſchen ihnen gar kein innerer Zuſammenhang; beide ſind in ihren Vorausſetzungen, Zwecken und Wirkungen von einander ganz unabhängig und es iſt daher ebenſowohl möglich, daß das eine Verfahren eintritt ohne das andere nach ſich zu ziehen, als daß beide mit einander cumulirt werden1)Beachtenswerthe, wenngleich das wahre Verhältniß nicht völlig treffende Bemerkungen darüber finden ſich in den Vorarbeiten zum Preuß. Strafgeſetzb. ; nämlich in dem Promemoria v. 13. Oktob. 1847 v. Madihn, v. Ammon und Grimm. Auszüge daraus bei Beſeler Kommentar zum Preuß. St. -G.-B. S. 547. Vgl. ferner Goltdammer Materialien I. S. 137 ff. II. S. 667. Auch Binding in ſeiner Beſprechung des Oeſterr. Entwurfes eines Strafgeſetzes von 1874 (in Grünhut’s Zeitſchrift für. d. Privat - und öffentl. R. der Gegenw. Bd. II. S. 684) erklärt den Grundſatz für richtig, daß eine Disciplinarſtrafe nicht eine Strafe im Rechtsſinne ſei.. Aus Zweckmäßigkeits-Rückſichten iſt es aber ausge - ſchloſſen, daß beide Verfahren gleichzeitig neben einander ſtatt - finden. Es liegt ſowohl in dem Intereſſe des Beamten als in dem der Strafjuſtiz, daß nicht dieſelbe Handlung zum Gegenſtand einer doppelten Unterſuchung gemacht wird; abgeſehen davon, daß die ſtrafrichterliche Entſcheidung jedes Disciplinar-Verfahren über - flüſſig machen kann. Es iſt demnach im §. 77 des R. -G. ange - ordnet worden, daß im Laufe einer gerichtlichen Unterſuchung ge - gen den Angeſchuldigten ein Disciplinarverfahren wegen der nämlichen Thatſachen nicht eingeleitet werden darf, und daß das Disciplinarverfahren, wenn im Laufe deſſelben wegen der nämlichen Thatſachen eine gerichtliche Unterſuchung gegen den Angeſchuldigten456§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.eröffnet wird, bis zur Beendigung des gerichtlichen Verfahrens ausgeſetzt werden muß1)Vgl. Motive S. 43..

Führt das Strafverfahren zu einer Verurtheilung des Ange - ſchuldigten, ſo bleibt in denjenigen Fällen für ein nachfolgendes Disciplinar-Verfahren kein Raum, in welchen die Verurtheilung den Verluſt des Amtes nach ſich zieht (Strafgeſetzb. §. 33. 35. ) oder direkt den Verluſt des Amtes ausſpricht. Hat die Verur - theilung dagegen den Verluſt des Amtes nicht zur Folge gehabt, ſo bleibt es dem freien Ermeſſen der zuſtändigen Behörde über - laſſen, ob außerdem noch das Disciplinarverfahren einzuleiten oder fortzuſetzen ſei (§. 78 Abſ. 2). Es beſteht durchaus kein Hinder - niß, daß der Beamte nicht neben der kriminellen Beſtrafung noch disciplinariſch wegen derſelben Handlung oder Unterlaſſung be - ſtraft wird.

Führt das Strafverfahren zu einer Freiſprechung, ſo beſteht ebenfalls kein Hinderniß, ein Disciplinarverfahren einzuleiten. Nur würde es dem oben angeführten Weſen deſſelben völlig wider - ſprechen, wenn es dazu verwendet werden ſollte, um eine kriminelle Strafe nachzuholen oder zu erſetzen, welche der Strafrichter zu ver - hängen abgelehnt hat. Niemals kann daher das Disciplinarver - fahren eine nochmalige Feſtſtellung und Prüfung der Frage be - zwecken, ob die Handlung des Beamten dem geſetzlichen Thatbe - ſtande eines Verbrechens oder Vergehens entſpricht und deshalb ſtrafbar ſei. Das Disciplinar-Verfahren kann vielmehr nur da - rauf gerichtet ſein, ob die Handlungsweiſe des Beamten gleich - viel, wie ſie dem Strafrecht gegenüber zu beurtheilen iſt eine Verletzung ſeiner Dienſtpflicht ſei (§. 78 Abſ. 1). Trotz Frei - ſprechung vor dem Strafrichter kann der Beamte wegen derſelben Handlung mit der ſchwerſten Disciplinar-Strafe, der Dienſtent - laſſung, belegt werden2)Wenn z. B. ein Beamter im Amtslokale oder auf öffentlicher Straße in vollſtändiger Trunkenheit ein Vergehen verübt, aber wegen mangelnder Zu - rechnungsfähigkeit freigeſprochen worden iſt..

6) Das Verhältniß der Disciplinar-Beſtrafung zu der privatrechtlichen Erſatzpflicht ergiebt ſich aus den oben entwickelten Grundſätzen. Die Disciplinargewalt ſchließt jede457§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.Klage des Staates gegen den Beamten auf Leiſtung der Dienſt - pflichten oder auf Leiſtung des Intereſſe wegen Nichterfüllung oder nicht ordentlicher Erfüllung der Dienſtpflichten aus. Dagegen bleibt von ihr unberührt die Pflicht des Beamten zum Schadens - erſatz wegen pflichtwidriger Handlungen oder Unterlaſſungen. Dieſe Schadens-Erſatzpflicht iſt, wie oben S. 439 fg. dargethan, auch dem Fiskus gegenüber eine außerkontraktliche und hat Nichts zu thun mit den aus dem Anſtellungs-Vertrage hervorgehenden Pflich - ten. Durch das Disciplinar-Verfahren wird daher weder die Klage auf Schadens-Erſatz vor den Civilgerichten noch das Defektenver - fahren berührt; die Erſatzpflicht wird durch die Disciplinarſtrafe nicht ausgeſchloſſen, ſie kann aber auch nicht von der Disciplinar - behörde rechtskräftig feſtgeſtellt werden. (RG. §. 79.)

7) Die Kompetenz zur Verhängung von Disciplinar - ſtrafen iſt nach der Größe der Strafe verſchieden beſtimmt.

a) Warnungen und Verweiſe kann jeder Dienſt - vorgeſetzte den ihm untergeordneten Reichsbeamten ertheilen (§. 80).

b) Geldſtrafen können verhängt werden von der ober - ſten Reichsbehörde gegen alle Reichsbeamten bis zum höchſten zu - läſſigen Betrage; von den derſelben unmittelbar untergeordneten Behörden und Vorſtehern von Behörden bis zum Betrage von 10 Thlr.; von den den letzteren untergeordneten Behörden und Vorſtehern von Behörden bis zum Betrage von 3 Thlr. (§. 81.)

c) Entfernung aus dem Amte kann nur durch ein Erkenntniß der entſcheidenden Disciplinarbehörden, Disciplinar - kammern und Disciplinarhof, ausgeſprochen werden. (§. 84.)

8) Das Verfahren1)Ueber die früher in dieſer Beziehung herrſchenden Rechts-Anſichten vgl. Heffter a. a. O. S. 181 fg. iſt ebenfalls verſchieden, je nach - dem nur eine Ordnungsſtrafe verhängt oder die Entfernung aus dem Amte betrieben wird.

a) Für Ordnungsſtrafen gelten die Formen der Verwaltungsgeſchäfte, d. h. ſie werden durch Ver - fügung verhängt. Die Verfügung iſt mit Gründen verſehen entweder ſchriftlich auszufertigen, oder zu Protokoll zu erklären. Vor der Verhängung einer Ordnungsſtrafe iſt dem Beamten Ge - legenheit zu geben, ſich über die ihm zur Laſt gelegte Verletzung458§. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung.ſeiner amtlichen Pflichten zu verantworten1) Iſt eine Geldſtrafe für den Fall der Nichterledigung einer ſpe - ciellen dienſtlichen Verfügung binnen einer beſtimmten Friſt angedroht, ſo kann nach Ablauf der Friſt die Geldſtrafe ohne Weiteres feſtgeſtellt werden . (§. 82 Abſ. 3.). Gegen die Ver - hangung von Ordnungsſtrafen findet nur Beſchwerde im Inſtanzen - zuge ſtatt. (§. 82. 83.)

b) Die Entfernung aus dem Amte ſetzt ein contra - diktoriſches, nach den Formen des accuſatoriſchen Strafprozeſſes normirtes Verfahren voraus, welches aus einer ſchriftlichen Vor - unterſuchung und einer mündlichen Verhandlung beſteht. Die oberſte Reichsbehörde verfügt die Einleitung, ernennt den unter - ſuchungsführenden Beamten und diejenigen Beamten, welche die Verrichtungen der Staatsanwaltſchaft wahrzunehmen haben. (§. 84. 85)2)Da das Disciplinarverfahren zwar dem Strafverfahren nachgebildet, aber keine Abart deſſelben iſt und niemals zu einer öffentlichen Strafe führen kann, ſo iſt die Verhaftung, vorläufige Feſtnahme oder Vorführung des An - geſchuldigten unzuläſſig. (§. 94 Abſ. 2.). Nach Beendigung der Vorunterſuchung werden die Akten an die oberſte Reichsbehörde eingeſandt, nachdem dem Angeſchul - digten der Inhalt der erhobenen Beweismittel mitgetheilt worden iſt. Die oberſte Reichsbehörde kann mit Rückſicht auf den Aus - fall der Vorunterſuchung das Verfahren einſtellen und geeigneten Falles eine Ordnungsſtrafe verhängen oder die Verweiſung der Sache vor die Disciplinarkammer beſchließen. Im letzteren Falle iſt von dem Beamten der Staats-Anwaltſchaft eine Anſchuldigungs - ſchrift anzufertigen, welche dem Angeſchuldigten abſchriftlich mit - zutheilen iſt. Der Angeſchuldigte kann ſich des Beiſtandes eines Advokaten oder Rechtsanwalts bedienen. Ueber die mündliche Ver - handlung gelten die gewöhnlichen Vorſchriften des Strafprozeſſes. Sie iſt öffentlich; aus beſondern Gründen kann durch Be - ſchluß der Disciplinarkammer die Oeffentlichkeit ausgeſchloſſen oder auf beſtimmte Perſonen beſchränkt werden. Sowohl der Staats - anwaltſchaft als dem Angeſchuldigten ſteht gegen das Erkenntniß der Disciplinarkammer die Berufung an den Disciplinarhof offen, welche binnen einer vierwöchentlichen Friſt anzumelden iſt. (§. §. 94 bis 117.)

9) Der Kaiſer hat das Recht, die von den Disciplinarbe -459§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.hörden verhängten Strafen zu erlaſſen oder zu mildern. (§. 118.) Durch dieſen Satz wird das Begnadigungsrecht des Kaiſers nicht nur auch in Beziehung auf die mittelbaren Reichsbeamten aner - kannt, ſondern zugleich das Begnadigungsrecht der betreffenden Landesherren, welche die mittelbaren Reichsbeamten angeſtellt haben, ausgeſchloſſen1)Ob für die Württembergiſchen Militärbeamten durch Art. 5 der Militair-Convention v. 21 / 25. Nov. 1870 eine Ausnahme begründet iſt, oder ob das daſelbſt erwähnte Begnadigungsrecht des Königs ſich hinſichtlich der Militairbeamten auf ſtrafrechtliche Erkenntniſſe beſchränkt, iſt zweifelhaft..

10) Für das Disciplinar-Verfahren werden weder Gebühren noch Stempel, ſondern nur baare Auslagen in Anſatz gebracht. Die durch das förmliche Disciplinar-Verfahren entſtehenden baaren Auslagen2)Die Tagegelder und Reiſekoſten der zu Sitzungen der entſcheidenden Disciplinarbehörde reiſenden Mitglieder ſind nicht hierzu zu rechnen. Kann - gießer S. 219. (Zeugengebühren u. dgl. ) hat der Angeſchuldigte, wenn er verurtheilt wird, ganz oder theilweiſe zu erſtatten. Ueber die Erſtattungspflicht entſcheidet das Disciplinar-Erkenntniß (§. 124). Zur Dekung der Koſten kann derjenige Theil des Gehalts oder Wartegeldes verwendet werden, welcher nach Vorſchrift der §. §. 128. 132 innebehalten wird.

11) Ueber die Specialvorſchriften, welche hinſichtlich der Marine - und Militärbeamten erlaſſen ſind, vgl. oben S. 372 ff.

12) Auf die Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Bundesamts für das Heimathsweſen, des Rechnungshofes des deutſchen Reiches und auf richterliche Militär-Juſtizbeamte finden die Vorſchriften des Reichsbeamten-Geſetzes über Disciplinarbe - ſtrafung keine Anwendung. R. -G. §. 158 Abſ. 1.

§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.

Aus dem Anſtellungs-Vertrage erlangt der Beamte das Recht auf Schutz in Ausübung ſeiner dienſtlichen Thätigkeit, ferner auf Erſatz der von ihm gemachten Auslagen und Verwendungen bei Beſorgung der Amtsgeſchäfte, endlich der Regel nach (aber nicht nothwendig) auf Gewährung des Lebens-Unterhaltes durch den Staat. Auch die Befugniß, die dem Amte entſprechenden Titel zu führen, kann allenfalls hieher gezählt werden.

460§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.

In allen dieſen Beziehungen erweist ſich das Staatsdienſt - Verhältniß vollkommen gleichartig mit anderen Gewalt - und Dienſt - Verhältniſſen und namentlich liegt die Analogie mit der Vaſſalität in ihrer urſprünglichen Form vor Augen, welche ebenfalls weſent - lich die Verpflichtung des Herrn zum Schutz und regelmäßig, aber nicht nothwendig, zur Gewährung des Unterhaltes (in der Form des Beneficium) begründete.

Dagegen iſt die weitverbreitete Lehre1)Vgl. u. A. Seuffert Verhältn. des Staates §. 64. S. 115. Gönner S. 219 ff. Leiſt Staatsr. §. 101. S. 314. Perthes S. 110 ff. Pözl im Staatswörterb. IX. S. 701. Zachariä II. §. 139 S. 51. Grotefend §. 690. (S. 713.) Bluntſchli Allg. Staatsr. (4. Aufl.) II. S. 132. 133. Auch Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 334. (woſelbſt die Amtsbefugniſſe den eigenen Rechten der Beamten zwar gegenüber geſtellt, aber doch als Rechte der Beamten behandelt werden.), daß der Beamte ein Recht auf das Amt oder auf die mit dem Amt verbundene Gewalt und auf die Ausübung obrigkeitlicher Befugniſſe habe, völlig un - richtig. Die obrigkeitlichen Rechte, welche der Beamte handhabt, ſind nicht ſeine Rechte, ſondern Rechte des Staates; mit ihrer Handhabung bethätigt er nicht ein ihm zuſtehendes Recht, ſondern er erfüllt eine ihm obliegende Pflicht; er iſt nicht das Subjekt dieſer Rechte, ſondern das Inſtrument, vermittelſt deſſen der Staat dieſelben ausübt2)Vgl. oben S. 293 ff..

I. Das Recht auf Schutz.

Da der heutige Staat ſeiner weſentlichen Aufgabe gemäß alle ſeine Angehörigen vor rechtswidrigen Angriffen ſchützt, ſo bedarf es keines hierauf gerichteten ſpeciellen Rechtes der Beamten. So weit aber der Staat von ſeinen Beamten ſtaatliche Dienſte erfor - dert, iſt er verbunden, ſie in Ausübung dieſer Dienſte zu ſchützen. Hieraus ergiebt ſich ein beſonderer Schutz, der mit der dienſtlichen Stellung des Beamten im engſten Zuſammenhange ſteht und ſich von dem allgemeinen Schutz aller Staatsangehörigen (ſiehe oben S. 150 fg. ) unterſcheidet. Es iſt zwar nicht zu verkennen, daß der Staat durch Gewährung dieſes Schutzes nicht blos den Beamten, ſondern zugleich ſich ſelbſt ſchützt und daß man deßhalb wohl berechtigt iſt, alle Angriffe gegen die Beamten in Beziehung461§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.auf die Ausübung ihres Amtes als Angriffe gegen die Staats - gewalt ſelbſt aufzufaſſen. Allein nicht blos der Staat, ſondern auch der Beamte für ſeine Perſon, der amtliche Hand - lungen vorzunehmen verpflichtet iſt, wird das Objekt des Angriffes und folgeweiſe das Objekt des Schutzes.

Der Staat befriedigt dieſen Anſpruch des Beamten, in Aus - übung ſeines Amtes geſchützt zu werden, vermittelſt der Strafge - walt, indem er Verletzungen des Beamten in Beziehung auf ſein Amt unter Strafdrohungen ſtellt. Hieher gehören folgende Be - ſtimmungen:

Mit Strafe iſt bedroht im §. 113 des R. -St.-G.-B’s., wer einen Beamten, welcher zur Vollſtreckung von Geſetzen, von Befehlen und Anordnungen der Verwaltungsbehörden oder von Urtheilen und Verfügungen der Gerichte berufen iſt, in der rechtmäßigen Ausübung ſeines Amtes durch Gewalt oder durch Bedrohung mit Gewalt Widerſtand leiſtet1)Vgl. John in v. Holtzendorff’s Handb. des Strafrechts Bd. III. S. 115 ff. Hiller Die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung. Würzb. 1873.. Vgl. Zollgeſetz v. 1. Juli 1869 §. 161. (BG. Bl. S. 363).

2) Wer es unternimmt, durch Gewalt oder Drohung eine Behörde oder einen Beamten zur Vornahme oder Unterlaſſung einer Amtshandlung zu nöthigen, wird mit Gefängniß beſtraft. R. -St.-G.-B. §. 1142)Vgl. Heinze in Goldtammer’s Archiv Bd. XVII. S. 738 ff. John a. a. O. S. 125 ff..

3) Die Beleidigung eines Beamten in Beziehung auf ſeinen Beruf iſt zwar im Reichsgeſetzb. nicht mehr wie im Preuß. St. - G. -B. §. 102 zu einem beſonderen Delict gemacht und mit einer höheren Strafe bedroht wie die Beleidigung überhaupt. Wohl aber kann der Umſtand, daß ein Beamter in Beziehung auf ſein Amt beleidigt worden iſt, als Strafzumeſſungsgrund in Betracht kommen3)Oppenhoff Kommentar Note 1 zu §. 196.. Außerdem hat aber das R. -St.-G.-B. §. 196 beſtimmt, daß, wenn die Beleidigung gegen eine Behörde oder einen Beamten, während ſie in der Ausübung ihres Berufes begriffen ſind, oder in Beziehung auf ihren Beruf, begangen iſt, außer den unmittel - bar Betheiligten auch deren amtliche Vorgeſetzte das Recht haben, den Strafantrag zu ſtellen.

462§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.
II. Der Anſpruch auf Erſatz der Auslagen und Verwendungen.

Nach den Grundſätzen der modernen ſtaatlichen Finanzwirth - ſchaft kömmt der Beamte der Regel nach nicht in die Lage, aus eigenen Mitteln Auslagen für den Staat zu machen; vielmehr ſind für die finanziellen Bedürfniſſe der einzelnen Verwaltungs - ſtellen durch den Etat Fonds ausgeworfen, welche von den dafür eingerichteten Klaſſen verwaltet werden und auf welche alle, zur Beſtreitung von Amtsbedürfniſſen erforderlichen Zahlungen anzu - weiſen ſind. Trotzdem giebt es gewiſſe Bezüge der Beamten, welche rechtlich durchaus verſchieden ſind von dem Gehalte, indem ſie nicht eine Rente für den Lebens-Unterhalt des Beamten, ſondern ein Aequivalent für Auslagen und Verwendungen deſſelben in Ausübung ſeines Amtes ſind. Sie kommen daher weder bei der Verſetzung in ein anderes Amt, noch bei der einſtweiligen Ver - ſetzung in den Ruheſtand, noch bei der Penſionirung in Anrech - nung1)Vgl. auch Pfeiffer Prakt. Ausführ. Bd. V. S. 263 fg.. Thatſächlich können die Beträge, welche dem Beamten erſetzt werden, zwar die von ihm wirklich gemachten baaren Aus - lagen überſchreiten und deshalb können derartige Bezüge einen Theil des Dienſteinkommens bilden, der thatſächlich eine Gehalts - Erhöhung darſtellt: im Rechtsſinne aber ſind ſie nicht Einnahmen des Beamten, ſondern lediglich Erſatz von Auslagen. Hierhin ge - hören folgende Arten:

1) Pauſchſummen für Bureaubedürfniſſe, Portokoſten und andere im Dienſte zu machende Ausgaben. Durch den Reichs - Etat werden diejenigen Fälle, in denen Pauſchquanta bezahlt werden, ſowie die Beträge derſelben feſtgeſtellt.

2) Repräſentations-Gelder. Mit gewiſſen Aemtern iſt die Pflicht verbunden, einen Aufwand zu treiben, der nicht in dem Intereſſe des Beamten, ſondern vorzugsweiſe in dem des Staates liegt. So wie die Hofhaltung nicht nur ein perſönliches Bedürfniß des Landesherrn, ſondern ein politiſches Bedürfniß des Staates befriedigt, ſo iſt auch die Haushaltung gewiſſer Beamter nicht blos auf die Befriedigung ihrer perſönlichen Lebensbedürfniſſe gerichtet, ſondern zugleich durch Bedürfniſſe der amtlichen Stellung beeinflußt. Deshalb wird ſolchen Beamten abgeſondert von ihrem463§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.Gehalte ein Betrag zur Beſtreitung dieſer, durch die Repräſen - tationspflicht gebotenen Mehrausgaben zugewieſen. Für die Reichs - beamten ſind die Fälle, in denen Repräſentations-Koſten zu er - ſetzen ſind, ſowie die Höhe der Beträge durch den Reichsetat feſt - geſtellt.

3) Tagegelder und Fuhrkoſten bei dienſtlicher Beſchäfti - gung der Beamten außerhalb ihres Wohnorts und Umzugs - koſten im Falle ihrer Verſetzung. Die Höhe der Beträge, welche zur Vergütung dieſer Koſten zu entrichten ſind, wird durch eine, im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlaſſende Verordnung des Kaiſers geregelt. Reichsbeamtengeſ. §. 18. Zur Ausführung dieſer Beſtimmung ſind folgende Verordnungen ergangen:

a) Die Verordnung v. 21. Juni 1875 (R. -G.-Bl. S. 249). Dieſelbe unterſcheidet hinſichtlich der Höhe der Tage - gelder 7 Klaſſen von Reichsbeamten. (§. 1.) Erfordert eine Dienſtreiſe einen außergewöhnlichen Koſtenaufwand, ſo kann der Tagegelderſatz von der oberſten Reichsbehörde angemeſſen er - höht werden. (§. 2.) Andererſeits erhalten etatsmäßig angeſtellte Beamte, welche vorübergehend außerhalb ihres Wohnorts bei einer Behörde beſchäftigt werden, nur für den erſten Monat dieſer Beſchäftigung die vollen Tagegelder neben ihrer etatsmäßigen Beſoldung. Für die fernere Zeit, ſowie bei der Verwendung nicht etatsmäßig angeſtellter Beamten werden die Beträge der zu ge - währenden Tagegelder von der vorgeſetzten Behörde beſtimmt. (§. 3.) Für die Dauer der Hin - und Rückreiſe ſind in jedem Falle die vollen Tagegelder zu zahlen.

Hinſichtlich der Fuhrkoſten wird unterſchieden, ob die Dienſtreiſen auf Eiſenbahnen oder Dampfſchiffen gemacht werden können oder nicht. Hiernach und nach dem Range der Beamten beſtimmt ſich die für das Kilometer zu zahlende Vergütung. (§. 4 7.) Beamte, welche zum Zweck von Reiſen innerhalb ihres Amtsbezirks eine Pauſchſumme für Tagegelder oder Fuhrkoſten oder Unterhaltung von Fuhrwerk oder Pferden beziehen, können Tagegelder oder Fuhrkoſten nach Maßgabe dieſer Verordnung nur liquidiren, wenn ſie Dienſtgeſchäfte außerhalb ihres Amtsbezirkes ausgeführt haben. (§. 8.)

Für die Umzugskoſten iſt maaßgebend theils der Rang des Beamten theils die Entfernung. Die Koſten beſtehen theils464§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.in allgemeinen Koſten der Domizil-Verlegung theils in Trans - portkoſten. Bei Berechnung der Entfernung wird die kürzeſte, fahrbare Straßen-Verbindung zu Grunde gelegt; bei Beſtimmung des Ranges die Stellung, aus welcher nicht in welche der Beamte verſetzt wird. Beamte ohne Familie erhalten nur die Hälfte der regulären Vergütung. Iſt mit der Verſetzung eine Einkom - mensverbeſſerung verbunden, ſo kömmt die Hälfte des Jahresbe - trages derſelben von der Vergütungsſumme in Abzug.

Außer dieſen Umzugskoſten wird dem Beamten der Mieths - zins vergütet, welchen er für die Wohnung an ſeinem bisherigen Aufenthaltsorte für die Zeit von dem Verlaſſen des letzteren bis zu dem Zeitpunkt hat aufwenden müſſen, mit welchem die Auf - löſung des Miethsverhältniſſes möglich wurde; längſtens jedoch für einen neunmonatlichen Zeitraum. Hat der Beamte im eigenen Hauſe gewohnt, ſo kann demſelben eine Entſchädigung höchſtens bis zum halbjährigen Betrage des ortsüblichen Miethswerthes der von ihm benutzten Wohnung gewährt werden.

Eine Vergütung für Umzugskoſten findet nicht ſtatt, wenn die Verſetzung lediglich auf den Antrag des Beamten erfolgte. Die nicht etatsmäßig angeſtellten Beamten erhalten bei Verſetzungen nur perſönliche Fuhrkoſten und Tagegelder. Perſonen, welche, ohne vorher im Reichsdienſt geſtanden zu haben, in denſelben übernommen werden, kann eine durch die oberſte Reichsbehörde feſtzuſetzende Vergütung für Umzugskoſten gewährt werden, welche den für Reichsbeamte beſtehenden Satz nicht überſteigen ſoll. (§§. 10 18.)

b) Die Verordnung v. 5. Juli 1875 (R. -G.-Bl. S. 253) enthält ſpezielle Beſtimmungen über die Höhe der Tagegelder, Fuhrkoſten und Umzugskoſten, welche den Beamten der Reichs - Eiſenbahnverwaltung und der Poſtverwaltung zu vergüten ſind. Mit Rückſicht auf die dieſen Beamten zu gewährende freie Fahrt und Gepäckbeförderung und die in ihrem Berufe ſelbſt liegende Veranlaſſung zu häufigen Dienſtreiſen ſind die Entſchädigungs - ſätze theils niedriger bemeſſen theils iſt gar keine Entſchädigung zu ertheilen.

4) Unter dem Namen Funktionszulagen erhalten nach Maaßgabe des Etats mehrere Reichsbeamte Geldbeträge, welche theils Pauchſummen für Bureaukoſten u. dgl. Auslagen theils465§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.Vergütungen für beſondere Mühewaltungen ſind, denen ſich der Beamte neben den eigentlichen Geſchäften ſeines Amtes unterzieht. Denſelben Charakter haben die ſogenannten Remunerationen. Von dem Gehalt unterſcheiden ſie ſich dadurch, daß ſie eine Ver - gütung für aufgewendete Arbeit ſind. Ferner erhalten Beamte, denen eine Kaſſen-Verwaltung obliegt, Mancogelder zum Er - ſatz für kleine Verluſte, für welche ihnen Vertretung obliegt. End - lich werden in gewiſſen Fällen den Beamten ſogen. Lokalzulagen gewährt; ſie ſind ein Erſatz dafür, daß der Beamte ein noth - wendiges Domizil hat, mithin den Theuerungsverhältniſſen des Ortes, wo ſein dienſtlicher Wohnſitz iſt, ſich nicht entziehen kann.

III. Der Anſpruch auf Lebens-Unterhalt.

1) Da die Beamten gewöhnlich ihre ganze Lebensthätigkeit dem Dienſte widmen, daher neben dem Staatsdienſt keinen Erwerbsberuf haben können, ſo übernimmt der Staat regelmäßig die Ver - pflichtung, ſie ſtandesmäßig zu unterhalten. Für den Begriff des Staatsdiener-Verhältniſſes iſt dies zwar nicht weſent - lich, es giebt auch unbeſoldete Staats - und Reichsbeamte; die überwiegende Mehrzahl der Reichsbeamten, ſowie der Staatsbe - amten, erhält jedoch eine Beſoldung. Es bedarf gegenwärtig keiner Ausführung mehr, daß die Beſoldung keine Lohnzahlung iſt, wie ſie der Dienſtmiethe entſpricht; die Beſoldung iſt vielmehr eine mit der Verwaltung eines Amtes verbundene Rente, mittelſt deren der Staat den Beamten alimentirt1)Vgl. v. Gerber Grundzüge §. 36 Note 11. Bluntſchli II. S. 134. Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 336. Förſter Preuß. Privatr. II. §. 141. Note 66.. Die Höhe dieſer Rente beſtimmt ſich nicht nach dem Maaße oder der Schwierigkeit der Arbeit und iſt nicht nach dem Umfange der Geſchäfte wechſelnd, ſondern ſie beſtimmt ſich theils nach der ſocialen Stellung, welche der Träger eines Amtes einnimmt, theils nach dem Geſichtspunkt, ob das Amt den Lebensberuf deſſelben erfüllt oder ein ſogenanntes Nebenamt iſt, welches noch für eine andere Erwerbsthätigkeit neben ſich Raum läßt. Mit der blos negativen Bemerkung aber, daß die Beſoldung keine Lohnzahlung ſei, wird der juriſtiſche Charakter derſelben ebenſowenig beſtimmt, wie mit der Angabe, daß ſie auf einem öffentlich rechtlichen Titel beruhe; vielmehr iſt charakteriſtiſchLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 30466§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.für ſie, daß ſie eine ſtandesgemäße Alimentirung des Beamten iſt1)In der früheren Literatur iſt ſtatt deſſen der Geſichtspunkt herrſchend, daß die Beſoldung eine Entſchädigung dafür ſei, daß derjenige Staatsbürger, der ein Amt verwaltet, dem Staate mehr Dienſte leiſtet, als er bei gleicher Vertheilung der erforderlichen Dienſte auf alle Staatsbürger zu leiſten haben würde. So namentlich Gönner S. 101 ff.. Aus dieſer juriſtiſchen Natur der Rente ergeben ſich folgende Rechtsſätze, die bei jeder anderen Auffaſſung nicht als Conſequenzen, ſondern als Singularitäten erſcheinen2)In faſt allen Darſtellungen des Staatsrechts laſſen die Erörterungen über die Beſoldungen der Beamten feſte rechtliche Geſichtspunkte und principielle Conſtruction vermiſſen. Man vgl. z. B. Zöpfl II. §. 517. Zachariä II. §. 139. Grotefend §. 691. fg. v. Mohl Württemb. Staatsr. II. §. 163 S. 114 ff. v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 §. 336 S. 450 ff. Eine überſicht - liche Darſtellung der Rechtsvorſchriften in den einzelnen deutſchen Staaten giebt Pözl im Staatswörterb. Bd IX. S. 702 ff..

a) Die Forderung iſt nicht bedingt durch wirkliche Leiſtung der amtlichen Dienſte. Die Beſoldung iſt dem Beamten auch dann zu zahlen, wenn er durch Krankheit oder durch Mitgliedſchaft im Reichstage an der Wahrnehmung des Dienſtes verhindert iſt3)Reichsgeſ. §. 14 Abſ. 2. Vgl. Förſter a. a. O. oder bei kürzerem Urlaub4)V. v. 2. Nov. 1874. (R. -G.-Bl. S. 129) Siehe oben S. 421.. Bei pflichtwidrigem Verlaſſen des Amtes ohne Urlaub iſt der Beamte aber für die Zeit der uner - laubten Entfernung des Dienſteinkommens verluſtig5)Reichsgeſ. §. 14 Abſ. 3. Auch privatrechtliche Alimenten-Anſprüche fallen bekanntlich wegen Pflichtverletzungen fort. Vgl. Windſcheid Pandekten II. §. 475 Note 8.. Die For - derung beſteht ferner wenn auch in gemindertem Betrage fort, wenn der Beamte einſtweilig oder definitiv in den Ruheſtand verſetzt wird. (Siehe unten S. 470 fg.)

b) Die Gehaltsbezüge ſind dem Beamten im Voraus zu be - zahlen, wie dies dem Weſen der Alimentation entſpricht6)Vgl. Preuß. Allg. Landr. I. 16 §. 61.. Die Bezahlung erfolgt der Regel nach monatlich im Voraus; dem Bundesrath iſt es aber überlaſſen, diejenigen Beamten zu beſtimmen, an welche die Gehaltszahlung vierteljährlich ſtattfinden ſoll7)Reichsgeſ. §. 5 Abſ. 1. Die Bundesraths-Verordnung iſt am 5. Juli 1873 ergangen. Centralbl. 1873 S. 211..

c) Wenn der Beamte bei Beginn des Monats im Dienſte467§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.war, ſo iſt der Beſoldungs-Anſpruch für den ganzen Monat er - worben. (Sterbemonat)1)Vgl. Reichsgeſ. §. 7. 27. 55. 60. 69. 128..

d) Die Beſoldung der Beamten kann von Gläubigern derſel - ben nicht völlig mit Beſchlag belegt werden. Daß ſie theilweiſe als Befriedigungsobjekt in Anſpruch genommen werden kann, be - ruht darauf, daß ſie dem Beamten mehr als nothdürftigen, daß ſie ihm ſtandesgemäßen Unterhalt gewährt. Soweit ſie zu dem nothdürftigen Unterhalt erforderlich, iſt ſie überhaupt kein Exe - kutions-Objekt. Das Reichsgeſetz §. 19 hat vorläufig die Beſtim - mungen der Landesgeſetze über die Beſchlagnahme der Beſoldungen der Staatsbeamten auf die Reichsbeamten ausgedehnt2)Vgl. die Motive S. 34.; die Reichs-Civilprozeß-Ordnung wird auch in dieſer Beziehung gemeines Recht ſchaffen3)Entw. der Civilpr. -Ordn. §. 696 Nro. 8..

d) Im engſten Zuſammenhange mit dieſem Satz ſteht die Rechtsregel, daß die Reichsbeamten den auf die Zahlung von Dienſteinkünften, Wartegeldern oder Penſionen ihnen zuſtehenden Anſpruch mit rechtlicher Wirkung nur in ſoweit cediren, verpfänden oder ſonſt übertragen können, als dieſe Dienſteinkünfte der Be - ſchlagnahme unterliegen4)Reichsgeſ. §. 6 Abſ. 1.. Denn ſoweit die Beſoldung zur Noth - durft des Beamten gehört, iſt ſie unübertragbar5)Vgl. Pr. Allg. L. -R. I. 19 §. 22. Förſter a. a. O. §. 99. S. 630. Die gewöhnliche Angabe der Lehrbücher, daß der Anſpruch auf die Beſoldung unübertragbar ſei, weil er ein höchſt perſönlicher ſei, iſt keine Erklärung oder Begründung, ſondern eine Tautologie, ein idem per idem und überdies unrichtig..

Soweit die Gehaltsforderung übertragbar bleibt, iſt zur Siche - rung der Reichskaſſe, welche das Gehalt auszuzahlen hat, vorge - ſchrieben, daß die Benachrichtigung an die Kaſſe durch eine der - ſelben auszuhändigende öffentliche Urkunde erfolgen muß6)Reichsgeſ. §. 6 Abſ. 2. Aus den Verhandlungen des Reichstages hier - über giebt Kanngießer S. 235 ausführliche Excerpte..

2) Das Recht auf den Bezug der Beſoldung beginnt mit dem, in dem Anſtellungsvertrage vereinbarten Tage; iſt ein ſolcher nicht feſtgeſetzt, mit dem Tage des Amtsantritts7)R. -G. §. 4.. Wenn in dem Reichshaushalts-Etat Gehalts-Erhöhungen vorgeſehen werden, ſo30*468§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.begründet dies für die betreffenden Beamten keinen rechtlichen Anſpruch auf den erhöhten Gehalt, ſondern nur für die Reichs - regierung die Ermächtigung, Gehaltserhöhungen zu bewilligen. Der Beamte erlangt dem Reichsfiskus gegenüber einen Rechtsanſpruch auf Gehaltszulagen erſt mit dem Tage dieſer Bewilligung1)R. -G. ebendaſ.. Das Gleiche gilt aber auch in dem Falle, wenn die Regierung die Ge - haltszulage bewilligt hat, ohne nach dem Etat dazu ermächtigt zu ſein. Der Reichsregierung bleibt es dann überlaſſen, dem Bun - desrath und Reichstage gegenüber ihr Verhalten zu rechtfertigen; die Rechte des Beamten werden durch eine etwaige Meinungs - Verſchiedenheit zwiſchen den Organen des Reiches über Etats-An - gelegenheiten nicht berührt2)Vgl. Laband Das Budgetrecht. Berlin 1871 S. 33 fg. Dem Bundesrath und Reichstag gegenüber kann die Reichsregierung dadurch ihre Befugniſſe überſchreiten; vgl. oben S. 301 fg. Dem Beamten gegenüber hat ſie kraft der ihr zuſtehenden Geſchäftsführung und Vertretung den Reichsfiskus ver - pflichtet. Anderer Anſicht iſt Ernſt Meier Abſchluß von Staatsverträgen. 1874 S. 53 fg..

3) Das Dienſteinkommen der Reichsbeamten ſetzt ſich aus zwei Beſtandtheilen zuſammen, einem feſten und einem veränder - lichen.

a) Der feſte Beſtandtheil, die eigentliche Beſoldung richtet ſich nach der dienſtlichen Stellung der Beamten und unter den Beam - ten gleicher Stellung nach dem Dienſtalter, inſofern ſie derartig in Klaſſen abgetheilt ſind, daß die jüngſten Beamten derſelben Kate - gorie weniger, die älteſten mehr als den Durchſchnitts-Gehalt beziehen.

b) Der veränderliche Beſtandtheil iſt der Wohnungsgeld - zuſchuß, über deſſen Bewilligung und Abmeſſung das Geſetz vom 30. Juni 1873 (R. -G.-Bl. S. 166 fg.) Vorſchriften erlaſſen hat. Die Bedingungen für den Anſpruch auf dieſen Zuſchuß be - beſtehen darin, daß die Reichsbeamten ihren dienſtlichen Wohn - ſitz in Deutſchland haben, daß ſie eine etatsmäßige Stelle be - kleiden, und daß ſie eine Beſoldung aus der Reichskaſſe beziehen. (§. 1.) Ausgeſchloſſen ſind demnach alle Geſandten, diplomat. Agenten, Konſuln und andere Reichsbeamte, welche im Auslande ihren dienſtlichen Wohnſitz haben, weil in den Beſoldungen und den Repräſentationsgeldern, welche denſelben gewährt werden, auf469§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.die beſonderen Preisverhältniſſe ihrer Aufenthaltsorte bereits Rück - ſicht genommen iſt. Ferner ſind alle diejenigen Reichsbeamten ausgenommen, denen gegenüber das Reich die Pflicht, für ihren Lebensunterhalt zu ſorgen, nicht trägt. Hierhin gehören ſowohl die unbeſoldeten Beamten als auch die nur kommiſſariſch beſchäf - tigten Hülfsarbeiter, welche keine etatsmäßige Stelle haben, ſon - dern Remunerationen beziehen. Endlich ſind durch die ausdrück - liche Anordnung des §. 9 des Reichsgeſetzes die Beamten der Reichs-Eiſenbahnverwaltung ausgenommen und zwar aus demſelben Grunde, wie diejenigen Beamten, welche ihren dienſtlichen Wohn - ſitz außerhalb des Bundesgebietes haben1)Motive S. 12. (Druckſ. des Reichstages von 1873 Bd. III. Nro. 125.).

Die Höhe des Wohnungsgeld-Zuſchuſſes beſtimmt ſich theils nach dem, mit einem Amte verbundenen Range nicht nach dem einem Beamten etwa perſönlich beigelegten höheren Range theils nach den Wohnungspreiſen der Orte, in welchen die Behörden ihren Sitz haben. In der erſten Beziehung ſind die Reichsbeamten in 5 Klaſſen (Direktoren der oberſten Behörden, vortragende Räthe der oberſten Behörden, Mitglieder der übrigen Behörden, Subalternbeamte, Unterbeamte) und die Wohnorte ebenfalls in 5 Klaſſen getheilt, über welchen noch Berlin als eine Klaſſe für ſich ſteht.

Beamte, welche mehr als eine Stelle bekleiden, erhalten den Woh - nungsgeldzuſchuß nur für diejenige Stelle, welche auf den höchſten Satz Anſpruch giebt. (§. 5.) Wird die Beſoldung eines Beamten theils aus Reichsmitteln theils aus Staatsmitteln bezahlt, ſo er - hält der Beamte auch nur diejenige Quote des tarifmäßigen Woh - nungsgeldes, welche dem auf die Reichskaſſe übernommenen Be - ſoldungstheile entſpricht. (§. 6.) Falls der Beamte eine Dienſt - wohnung inne hat oder eine beſonders bewilligte Miethsentſchädi - gung bezieht, ſo fällt der Wohnungsgeldzuſchuß fort. (§. 7.)

Der Wohnungsgeldzuſchuß gilt in rechtlicher Beziehung als ein Beſtandtheil der Beſoldung; er unterſcheidet ſich von dem feſten Betrage derſelben nur in drei Punkten. Bei einer Verſetzung tritt an die Stelle des Satzes, der dem bisherigen Wohnort entſpricht, der dem neuen Wohnorte entſprechende; wenn ſich der Betrag deſſelben dadurch vermindert, hat der Beamte keinen Entſchädi -470§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.gungs-Anſpruch. Ferner bleibt bei Berechnung der Umzugskoſten - Vergütungen der Wohnungsgeldzuſchuß außer Anſatz; d. h. es gilt nicht als abzugsfähige Einkommensverbeſſerung, wenn mit der Stelle, in welche ein Beamter verſetzt wird, ein höheres Wohnungs - geld verbunden iſt. Endlich wird bei Bemeſſung des Wartegeldes und der Penſion nicht derjenige Betrag des Wohnungsgeldzuſchuſſes in Anſatz gebracht, den der Beamte thatſächlich zuletzt gehabt hat, ſon - dern der Durchſchnittsſatz der 5 Servisklaſſen1)Berlin bleibt demnach bei der Berechnung des Durchſchnitts außer Anſatz.. (Geſ. §. 4 und 8.) Derſelbe Betrag wird in Anſchlag zu bringen ſein bei Be - rechnung der Höhe der etwa zu leiſtenden Amtskaution2)Für Preußen iſt jedoch entſchieden, daß der Wohnungsgeldzuſchuß hier - bei ganz außer Anſatz bleibt. Kanngießer S. 32 Nr. 4..

c) Ausnahmsweiſe können zu dem Dienſteinkommen auch noch Einnahmen von unbeſtimmter, wechſelnder Höhe treten, z. B. Ge - bühren, Erträge von Grundſtücken, Tantiemen u. dgl .3)Vgl. Reichsbeamtengeſ. §. 42 Nr. 2. u. 3..

4) Der Anſpruch auf das Dienſteinkomm en hört nicht auf, wenn das Reich dem Beamten die Verwaltung des Amtes entzieht. Denn, wie bereits oben ausgeführt, iſt das Staatsdienerverhältniß nicht gleichbedeutend mit der Führung eines Amtes und die letztere nicht die weſentliche Vorausſetzung für den Anſpruch des Beamten auf Lebens-Unterhalt. Auch der einſtweilig in den Ruheſtand verſetzte Beamte hat demnach dieſen Anſpruch; indeß ermäßigt ſich der Regel nach die Höhe deſſelben4)Es beruht dies darauf, daß die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten von der Beſchränkung befreit ſind, Nebenämter zu übernehmen oder Gewerbe zu betreiben. Reichsbeamtengeſ. §. 16. Abſ. 3.. Der Betrag des Dienſt - Einkommens, welcher den einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten zu zahlen iſt, heißt das Wartegeld. Daſſelbe beträgt drei Viertheile des Gehalts5)mit Hinzurechnung des Wohnungsgeldzuſchuſſes. Geſ. v. 30. Juni 1873 §. 8., jedoch nicht weniger als 150 Thlr. und nicht mehr als 3000 Thlr. jährlich6)Reichsbeamtengeſ. §. 26.. Das Wartegeld ſteht im Uebrigen vollkommen unter den vom Dienſteinkommen über - haupt ſtehenden Regeln7)Reichsbeamtengeſ. §. 27. 31.. Das Recht auf den Bezug des Warte -471§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.geldes ruht, wenn und ſo lange der Beamte in Folge einer Wiederanſtellung oder Beſchäftigung im Reichs - oder im Staats - dienſte ein Dienſteinkommen bezieht, inſoweit als der Betrag dieſes neuen Dienſteinkommens unter Hinzurechnung des Wartegeldes dem Betrage des von dem Beamten vor der einſtweiligen Ver - ſetzung in den Ruheſtand bezogenen Dienſteinkommens überſteigt1)Reichsgeſ. §. 30. Jedoch findet bei vorübergehender Beſchäftigung gegen Tagegelder oder Remunerationen für die erſten 6 Monate keine Ver - kürzung des Wartegeldes ſtatt.. Das Recht auf das Wartegeld erliſcht, wenn der Beamte im Reichs - dienſte ein Amt wieder erhält, mit welchem ein dem früher von ihm bezogenen Dienſteinkommen mindeſtens gleiches Dienſteinkom - men verbunden iſt, oder wenn der Beamte entlaſſen wird. Außer - dem wird der Beamte des Wartegeldes verluſtig, wenn er die Reichs-Angehörigkeit verliert oder ohne Genehmigung des Reichs - kanzlers ſeinen Wohnſitz außerhalb des Bundesgebietes nimmt2)Reichsgeſ. §. 29..

5) Der Anſpruch auf Lebens-Unterhalt erliſcht nicht mit dem Staatsdienſt-Verhältniß ſelbſt, wenn die Beendigung deſſelben ohne Schuld des Beamten herbeigeführt wird. Da dem Beamten andere Erwerbsquellen der Regel nach verſchloſſen ſind, er daher in der Regel für ſein Alter ein Kapital nicht erſparen kann, ſo dauert die Pflicht des Staates zur Gewährung des Lebensunter - haltes fort, wenngleich der Beamte wegen Dienſtunfähigkeit dauernd in den Ruheſtand verſetzt wird. Der Betrag iſt auch hier ver - mindert und führt die Bezeichnung: Penſion. Bedingung iſt, daß der Beamte eine Dienſtzeit von wenigſtens 10 Jahren zurückgelegt hat3)ebendaſ. §. 34. oder daß er bei Ausübung des Dienſtes oder aus Veran - laſſung deſſelben ohne eigene Verſchuldung dienſtunfähig geworden iſt4)ebendaſ. §. 36.. Beamte, welche keine in den Beſoldungs-Etats aufgeführte Stelle bekleiden oder welche nur ein Nebenamt bekleiden5)ausgenommen, wenn eine etatsmäßige Stelle als Nebenamt blei - bend verliehen iſt. Reichsgeſ. §. 44. oder ausdrücklich nur für eine beſtimmte Zeit oder für ein ſeiner Na - tur nach vorübergehendes Geſchäft angenommen werden, haben keinen geſetzlichen Anſpruch auf Penſion. Auch wenn es an472§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.den Bedingungen des Penſions-Anſpruches fehlt, kann dem Beamten bei vorhandener Bedürftigkeit durch Beſchluß des Bundesrathes eine Penſion entweder auf beſtimmte Zeit oder lebenslänglich be - willigt werden1)ebendaſ. §. 39.. Die Penſion beträgt nach vollendetem 10. Dienſt - jahre 20 / 802)eben ſo viel in dem im §. 36 cit. erwähnten Falle. und ſteigt von da ab mit jedem weiter zurückgeleg - ten Dienſtjahre um 1 / 80 des Dienſteinkommens; der höchſte Betrag aber iſt ¾ dieſes Einkommens3)Reichsgeſ. §. 41..

Das Dienſteinkommen iſt das zuletzt von dem Beamten be - zogene4)beziehentl. das zur Zeit der Verſetzung in den einſtweiligen Ruheſtand bezogene Reichsgeſ. §. 42 letzter Abſ.; jedoch nur das wirkliche Einkommen, nicht die Summen, welche für Repräſentations - oder Dienſtaufwands-Koſten vergütet werden, ebenſowenig Ortszulagen und Remunerationen5)Die näheren Beſtimmungen enthält das Reichsgeſ. §. 42. 44. vgl. dazu Kanngießer S. 131 ff..

Ueber die Berechnung der Dienſtzeit ſind in den §§. 45 52 des Beamtengeſetzes eine Reihe von detaillirten Vorſchriften ge - geben. Sie beginnt der Regel nach mit dem Tage der erſten eidlichen Verpflichtung für den Reichsdienſt; es wird ihr aber bis - weilen ein Zeitraum hinzugerechnet, während deſſen der Beamte nicht im Reichsdienſt thätig war6)z. B. im Dienſt eines Bundesſtaates oder im aktiven Militärdienſt; vgl. §. 46. 47. Fakultativ in den Fällen des §. 52., theils wird eine Zeit doppelt oder ſonſt in höherem Betrage angerechnet7)z. B. Feldzüge, Aufenthalt in ſchädlichem Klima; vgl. §. 49. 51., theils bleibt ein Theil außer Anſatz8)z. B. Dienſt vor Beginn des 18. Lebensjahres, Kriegsgefangenſchaft oder Feſtungs-Arreſt; nach Vorſchrift der §. §. 48. 50..

Das Recht auf die Penſion ruht, wenn ein Penſionär die Reichsangehörigkeit verliert, bis zu etwaiger Wiedererlangung der - ſelben, und wenn ein Penſionär in den Reichsdienſt oder in den Staatsdienſt eines Bundesgliedes wieder eintritt, inſoweit der Be - trag ſeines neuen Dienſteinkommens unter Hinzurechnung der Pen - ſion den Betrag des von ihm vor der Penſionirung bezogenen Dienſteinkommens überſteigt9)Reichsgeſ. §. 57 60..

473§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.

Für die Mitglieder des Oberhandelsgerichts kommen hinſicht - lich der Penſion an Stelle der Vorſchriften des Beamtengeſetzes die ſpeziellen Beſtimmungen im §. 25 des Geſ. v. 12. Juni 1869 zur Anwendung.

6) Endlich erſtreckt ſich die Pflicht des Reiches zum Unter - halte ſeiner Beamten theilweiſe auch auf die Hinterbliebenen der - ſelben, welche nicht im Augenblicke des Todes des Beamten in eine hilfloſe Lage verſetzt werden ſollen. Unter den Hinterbliebenen ſind nicht die Erben zu verſtehen, ſondern Verwandte, für welche der Beamte der muthmaßliche Ernährer war. Ein geſetzliches Recht auf die zu gewährenden Leiſtungen haben nur die Wittwe und eheliche Nachkommen; es kann jedoch mit Genehmigung der oberſten Reichsbehörde in Ermangelung dieſer Angehörigen die Leiſtung auch dann gewährt werden, wenn der Verſtorbene Eltern, Geſchwiſter, Geſchwiſterkinder oder Pflegekinder, deren Ernährer er war, in Bedürftigkeit hinterläßt, oder wenn der Nachlaß nicht ausreicht, um die Koſten der letzten Krankheit und der Beerdigung zu decken1)Reichsgeſ. §. 8. 31. 69 Abſ. 2.. Die vorgeſetzte Dienſtbehörde beſtimmt, an wen die Zahlung zu leiſten iſt. Da auch dieſe Leiſtungen den rechtlichen Charakter der Alimente oder der Unterſtützung haben, ſo ſind ſie der Beſchlagnahme nicht unterworfen. In Betreff der Höhe der - ſelben ſind drei Fälle zu unterſcheiden.

a) War der Beamte zur Zeit ſeines Todes im Dienſte, d. h. mit der Wahrnehmung einer etatsmäßigen Stelle betraut, ſo er - halten die Hinterbliebenen für das auf den Sterbemonat folgende Vierteljahr noch die volle Beſoldung des Verſtorbenen; das ſogen. Gnadenquartal2)R. -G. §. 7. Es kann jedoch vertragsmäßig dem Beamten reſp. ſeinen Hinterbliebenen vor Eintritt in den Reichsdienſt ein weitergehendes Recht zu - geſichert ſein.. Als Beſoldung iſt nur das wirk - liche Dienſteinkommen, nicht Vergütung für baare Auslagen an - zuſehen.

Während derſelben Zeit iſt die hinterbliebene Familie noch im Genuſſe der von dem verſtorbenen Beamten bewohnten Dienſt - wohnung zu belaſſen; hinterläßt der Beamte keine Familie, ſo haben die Erben eine vom Todestage an zu rechnende dreißig - tägige Friſt zur Räumung der Dienſtwohnung. Arbeits - und474§. 42. Die Rechte der Reichsbeamten.Seſſionszimmer, ſowie ſonſtige für den amtlichen Gebrauch be - ſtimmte Lokalitäten müſſen ſofort geräumt werden1)R. -G. §. 9..

b) Wenn der Beamte zur Zeit des Todes einſtweilig in den Ruheſtand verſetzt war, ſo erhalten die Hinterbliebenen das Gnaden - quartal von dem Wartegeld2)R. -G. § 31..

c) War der Beamte bei ſeinem Tode penſionirt, ſo wird den Hinterbliebenen die Penſion noch für den auf den Sterbemonat folgenden Monat gezahlt3)R. -G. §. 69. An wen die Zahlung erfolgt, beſtimmt die oberſte Reichs - behörde, nicht die vorgeſetzte Dienſtbehörde, wie bei dem Gnadenquartal, weil penſionirte Beamte keine vorgeſetzte Dienſtbehörde haben..

IV. Perſönliche Ehrenrechte.

1) Die Reichsbeamten haben das Recht auf die Führung des, ihrer Dienſtſtellung entſprechenden oder ihnen beſonders beigelegten Titels; die unmittelbaren Reichsbeamten auch auf die Bezeich - nung als kaiſerliche 4)Erl. v. 3. Aug. 1871 Nr. 1. (R. -G-Bl. S. 318.).

Gehört zu ihrer Stellung eine Amtskleidung, ſo haben ſie die Befugniß, reſp. die Verpflichtung, ſoweit dies im dienſtlichen In - tereſſe vorgeſchrieben iſt, dieſelbe zu tragen.

Das unbefugte Tragen einer Uniform, ſowie die unbefugte Annahme eines Titels ſind Uebertretungen und nach §. 360 Nr. 8 des R. -St.-G.-B’s. ſtrafbar. Auch iſt im Reichsbeamtengeſ. der Titel dadurch als ein ſubjectives Recht des Beamten anerkannt, daß es im §. 100 einen Verzicht auf den Titel erfordert und daß nach §. 75 Nr. 2 die Dienſtentlaſſung im Disciplinarverfahren den Verluſt des Titels von Rechtswegen zur Folge hat.

Titel und Uniform der Reichsbeamten werden durch kaiſerliche Verordnung beſtimmt. Reichsbeamtengeſ. §. 17.

2) Das eben citirte Geſetz erwähnt auch den Rang. In dieſer Beziehung iſt aber wohl zu unterſcheiden zwiſchen dem Rang der Behörden und dem perſönlichen Rang der Beamten. Der Rang einer Behörde iſt der Ausdruck der Stellung der - ſelben im Behörden-Organismus, das Verhältniß der Unterord - nung oder Gleichordnung zu anderen Behörden. Der Rang der475§. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche.Behörden iſt in amtlicher Beziehung auch maßgebend für den Dienſt - rang der Beamten, welche Subalterne, Mitglieder oder Direktoren dieſer Behörden ſind und rechtlich von Erheblichkeit für die Höhe der Diäten, Fuhrkoſten, Umzugskoſten und Wohnungsgeldzuſchüſſe.

Davon begrifflich verſchieden iſt der perſönliche Rang der Beamten. Obwohl durch das Amt der Regel nach ein beſtimmter Perſonal-Rang begründet wird, ſo kann doch theils ein Amt zur Verwaltung übertragen werden, ohne daß zugleich Titel und Rang verliehen wird, und es kann andererſeits ein höherer Rang einem Beamten beigelegt werden, als an und für ſich mit ſeinem Amte verknüpft iſt. Der Rang iſt ſtreng genommen kein Recht, welches eine Ausübung geſtattet, ſondern ſo wie Alter, Geſchlecht und Stand eine Eigenſchaft, die möglicher Weiſe die Vorausſetzung für Rechte iſt. Für das Reichsrecht iſt dies nicht der Fall; der perſönliche Rang begründet keinerlei Rechte und es iſt überhaupt zweifelhaft, ob das Reichsrecht eine andere Klaſſifizirung der Reichsbeamten als nach dem Range der von ihnen bekleideten Stellen kennt1)Byzantiniſche Einrichtungen, die ſich im Preußiſchen und anderen Staaten conſervirt haben, ſind nicht ganz ohne Einfluß geblieben. Nach der Verordn. v. 7. Febr. 1817 (Geſ. -Samml. S. 61) zerfallen die Preuß. Beamten in eine große Zahl von Klaſſen . Vgl. von Rönne Preuß. Staatsr. II. 1. S. 442 fg. und Kanngießer S. 79. 80. Das Reichsrecht kennt nun zwar keine ſolche Klaſſen , trotzdem beſtimmt ein kaiſerl. Erl. vom 1. April 1871 (R. -G.-Bl. S. 103), daß die Poſträthe und die Ober-Poſträthe der vierten Rathsklaſſe angehören, die Oberpoſträthe jedoch vor den Poſträthen rangiren ſollen. Ein Allerh. Erl. v. 27. Dez. 1871 (R. -G.-Bl. S. 7) ferner verleiht den Telegraphen - Direktoren den Rang der Ober-Regierungsräthe und Ober-Forſtmeiſter . Ober - Regierungsräthe und Ober-Forſtmeiſter gibt es aber im Behörden-Organismus des Reiches gar nicht, abgeſehen von Elſ. -Lothr..

§. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche.

Ueber vermögensrechtliche Anſprüche der Reichsbeamten aus ihrem Dienſtverhältniß findet der Rechtsweg ſtatt2)Reichsgeſ. §. 149..

Wegen dieſes Rechtsſatzes wird ſehr häufig das Staatsdiener - Verhältniß als ein gemiſchtes, d. h. theils öffentlich rechtliches theils privatrechtliches bezeichnet3)Vgl. z. B. Heffter S. 131. Pfeiffer Prakt. Ausf. III. S. 352 ff. Welcker Staatslexikon Bd. 12 S. 300. Zöpfl II. §. 514 (S. 776) Zachariä II. §. 135 v. Gerber Grundz. §. 36 Note 11. v. Pözl. Es beruht dies auf einer476§. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche.Verwechslung von klagbaren Anſprüchen mit civilrechtlichen1)Vgl. Förſter a. a. O. (§. 141 Note 66).. Wenn man aber auch der erwähnten Auffaſſung beiſtimmt, ſo iſt damit ein poſitiver Rechtsſatz nicht gewonnen. Denn es iſt ſicher, daß der vermögensrechtliche Anſpruch der Beamten ſich nicht nach den Regeln irgend eines, im Privatrecht normirten contractlichen oder quaſicontractlichen Rechtsverhältniſſes beurtheilen läßt; daß er vielmehr ſeinen Rechtsgrund in dem öffentlich rechtlichen, durch den Anſtellungsvertrag begründeten Rechtsverhältniß hat und aus ihm ſeinen Inhalt empfängt. Die Frage reduzirt ſich im letzten Grunde auf einen Schulſtreit über die richtige Definition des Gegenſatzes von öffentlichem Recht und Privatrecht und iſt praktiſch nicht von Belang.

Andererſeits haben manche Deutſche Partikularrechte für die Geltendmachung der vermögensrechtlichen Anſprüche der Staats - diener den Rechtsweg ausgeſchloſſen, weil das Rechtsverhältniß kein privatrechtliches ſei. Auch dies iſt nicht ſchlüſſig; denn aus öffentlich rechtlichen Verhältniſſen können ſubjektive Rechte hervor - gehen, welche im Wege des Prozeſſes geltend gemacht und geſchützt werden können. Daß der Staat gegen den Beamten keine Klage auf Erfüllung der Dienſtpflicht hat, iſt kein Grund, dem Beamten die Klage gegen den Staat auf Erfüllung ſeiner pekuniären Ver - pflichtungen zu verſagen. Denn der Staat hat zum Erſatz ſeiner Klage die Disciplinargewalt, der Beamte nicht2)Auch bei privatrechtlichen Gewaltverhältniſſen kann der Untergebene den Anſpruch auf Alimentirung im Wege der Klage geltend machen, ſo die Ehe - frau und die Kinder, ebenſo im älteren Recht der Lehensmann ſeine Anſprüche auf das Beneficium u. ſ. w..

Ueber die prozeßualiſche Geltendmachung der vermögensrecht - lichen Anſprüche hat das Reichsgeſetz folgende Regeln aufgeſtellt.

1) Im §. 149 werden hervorgehoben die Anſprüche auf Be - ſoldung, Wartegeld oder Penſion und die geſetzlich gewährten An - ſprüche der Hinterbliebenen auf Bewilligungen. Dieſe Aufzählung iſt aber nicht ausſchließend, ſondern nur exemplifikativ, wie deut - lich aus dem Worte insbeſondere hervorgeht. Es iſt daher der Rechtsweg auch zuläſſig über die Anſprüche auf Diäten, Fuhr -3)im Staatswörterb. IX. S. 689 und Verf. -R. §. 198 Nr. 3. (S. 494). Schulze I. S. 316 u. v. a.477§. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Anſprüche.koſten und Umzugskoſten, ſowie über zugeſicherte Repräſentations - gelder, Ortszulagen und andere Dienſtemolumente. Ebenſo über die Zuläſſigkeit von Gehaltsabzügen. (§. 14.) Dagegen iſt eine Cog - nition der Gerichte ausgeſchloſſen in allen Fällen, in denen es von der Entſchließung der oberſten Reichsbehörden oder des Bundes - rathes abhängig gemacht iſt, ob einem Reichsbeamten oder ſeinen Hinterbliebenen etwas bewilligt reſp. in Abzug gebracht werden ſoll oder nicht; alſo in den Fällen der §§. 8. 37. 39. 52. 68 Abſ. 21)Auch die Beſtimmung im letzten Abſatz des §. 75 kömmt hier in Be - tracht. 128 Abſ. 2. des Beamtengeſetzes, und der §§. 5. Abſ. 2 und 6 Abſ. 2 der V. v. 2. Nov. 1874.

2) Bevor eine Klage zuläſſig iſt, muß zunächſt feſtſtehen, daß die Reichsregierung die Anſprüche des Beamten nicht anerkennen will, d. h, es muß die Entſcheidung der oberſten Reichsbehörde eingeholt werden, da die Verfügungen der unteren Inſtanzen nicht die definitive Weigerung der Reichsregierung enthalten, den Anſprüchen des Beamten gerecht zu werden. (§. 150.)

3) Für die Anſtellung der Klage beſteht eine präkluſiviſche, d. h. den Verluſt des Klagerechts bewirkende, Friſt von 6 Monaten, welche von dem Tage an zu berechnen iſt, an welchem dem Be - theiligten die Entſcheidung der oberſten Reichsbehörde bekannt ge - macht worden iſt. (§. 150.)

4) Der Reichsfiskus wird vertreten durch die höhere (d. h. mittlere) Reichsbehörde, unter welcher der Reichsbeamte ſteht oder geſtanden hat, oder falls er direkt unter der oberſten Reichsbe - hörde ſteht oder geſtanden hat, durch die oberſte Reichsbehörde. §. 151 Abſ. 1.

5) Die Klage iſt bei demjenigen Gerichte anzubringen, in deſſen Bezirke die betreffende Behörde ihren Sitz hat; in letzter Inſtanz entſcheidet an Stelle des nach den Landesgeſetzen zuſtän - digen oberſten Gerichtshofes das Reichs-Oberhandelsgericht. §. 151 Abſ. 2. 152 Abſ. 2.

6) Bis zum Erlaß einer gemeinen Civil-Prozeß-Ordnung ſind Beſtimmungen über die Rechtsmittel getroffen, welche ohne Rückſicht auf die Größe des Streitgegenſtandes die Verfolgung des Pro - zeſſes durch drei Inſtanzen ermöglichen. §. 152 Abſ. 1.

478§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.

7) Die in dem Gewaltsverhältniß des Reiches gegen den Beamten begründeten Befugniſſe in Beziehung auf einſtweilige oder definitive Verſetzung in den Ruheſtand, Suſpenſion, Verſetzung in ein anderes Amt, Dienſtentlaſſung, Verhängung von Ordnungs - ſtrafen u. ſ. w. unterliegen der richterlichen Beurtheilung nicht; es ſind vielmehr die von der zuſtändigen Verwaltungs - oder Disciplinarbehörde hierüber ergangenen Entſcheidungen für die Be - urtheilung der vor dem Gerichte geltend gemachten vermögens - rechtlichen Anſprüche maßgebend §. 155.

§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.

Aus der begrifflichen Unterſcheidung zwiſchen dem, durch den Anſtellungsvertrag begründeten Dienſtverhältniß und der Führung eines Amtes ergiebt ſich, daß die Verwaltung eines beſtimmten Amtes weder zu den Rechten des Beamten gehört noch für die Fortdauer des Staatsdienerverhältniſſes weſentlich iſt. Die herr - ſchende Theorie, welche das Weſen der Anſtellung in der Ver - leihung eines Amtes ſieht, führt zu dem Reſultate, daß in allen Fällen, in welchem einem Beamten das Amt entzogen wird, zu - gleich das Staatsdiener-Verhältniß ſein Ende findet. Die ſelbſt - verſtändliche Folge davon wäre, daß auch der Anſpruch des Be - amten auf Gehalt aufhört; da nun unbezweifelt der Beamte kein Recht auf das Amt hat, der Staat vielmehr jederzeit ihm die amtlichen Geſchäfte entziehen kann, ſo müßte ſich conſequenter Weiſe der Schluß ergeben, daß dem Beamten gleichzeitig mit dem Amte auch die Beſoldung genommen werden kann. Dieſes praktiſche Reſultat aber widerſpricht zu ſehr dem wirklich beſtehenden Rechte. Man hilft ſich deshalb in der Theorie mit der Annahme, entweder daß aus Billigkeits-Rückſichten der Beamte zu entſchädigen ſei oder daß die privatrechtliche Seite des Verhältniſſes fortdauere, wäh - rend die ſtaatsrechtliche erlöſche.

Eine Aufhebung des Staatsdienſt-Verhältniſſes wird der herrſchenden Theorie zufolge dadurch herbeigeführt, daß das Amt, welches ein Staatsdiener bisher bekleidet hat, ganz beſeitigt wird1)Leiſt §. 102 Nr. 8. Heffter a. a. O. S. 136 Maurenbrecher §. 163 Nr. 2.. Konſequenter Weiſe müßte ſie aber bei jeder Verſetzung in ein479§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.anderes Amt eine Aufhebung des bisherigen Verhältniſſes und die gleichzeitige Neubegründung eines anderen, alſo ein Analogon zur Novation, annehmen. Hinſichtlich der einſtweiligen Verſetzung in den Ruheſtand endlich iſt vom Standpunkte dieſer Theorie aus jede juriſtiſche Erklärung unmöglich, da hier offenbar Rechte und Pflichten der Beamten fortdauern, trotzdem die Führung eines Amtes aufhört; man begnügt ſich daher mit einigen politiſchen Erwägungen de lege ferenda oder mit dem einfachen Hinweiſe auf die poſitiven Beſtimmungen der Staatsdiener-Geſetze1)Zachariä II. §. 143 145. v. Mohl II. §. 164 fg. v. Pözl §. 205. Schulze I. 102. Faſt ohne Ausnahme werden in allen Darſtel - lungen des Staatsdiener-Rechts die Verſetzung in den Ruheſtand und die Suſ - penſion als Beendigungs - Arten des Staatsdiener-Verhältniſſes behandelt, wodurch ſie unter einen ganz unrichtigen Geſichtspunkt gebracht werden..

Es iſt vielmehr davon auszugehen, daß die Führung eines Amtes nur der Zweck iſt, zu welchem Beamte angeſtellt werden und daß die aus der Anſtellung ſelbſt hervorgehenden Rechte und Pflichten unabhängig davon, daß der Beamte ein beſtimmtes Amt thatſächlich führt, fortbeſtehen können. Sowie aber die Regierung gehindert iſt, Beamte anzuſtellen, namentlich beſoldete, die ſie nicht bedarf oder für welche etatsmäßige Stellen nicht beſtehen, ſo iſt ſie auch beſchränkt darin, angeſtellten Beamten die Führung der Amtsgeſchäfte abzunehmen. Nicht rechtliche, ſondern politiſche, namentlich finanzielle Gründe2)Vgl. auch v. Gerber Grundz. §. 38. ſind es, auf denen dieſe Beſchrän - kungen beruhen. Die Rückſicht auf das Intereſſe des Beamten ſelbſt, auf die Wahrung ſeiner Unabhängigkeit, auf die Sicherung ſeiner Lebensſtellung kömmt dabei wohl weſentlich mit in Betracht; aber das Recht des Staates ſeinen Beamten die ihnen übertra - genen Aemter zu entziehen, iſt nicht durch das ihm gegenüberſtehende ſubjektive Recht des Beamten beſchränkt, ſondern durch den eigenen Willen des Staates, durch eine auf politiſchen Erwägungen be - ruhende, geſetzlich ausgeſprochene Selbſtbeſchränkung des Staates, welche für die Regierung allerdings maaßgebend und bindend iſt wie jeder geſetzlich erklärte Staatswille.

Von dieſem Geſichtspunkte aus ergiebt ſich eine Unterſcheidung zwiſchen den rechtlichen Schranken, welche der Dispoſition der Re - gierung über die Beamten aus Gründen des öffentlichen Rechtes480§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.gezogen ſind, und den thatſächlichen Schranken, welche durch die auf dem Anſtellungsvertrage beruhenden Rechte des Beamten gegeben ſind. Dieſe thatſächlichen Schranken beſtehen nun darin, daß die Regierung dem Beamten, falls ſie ihm das Amt abnimmt, das ihm gebührende Dienſteinkommen fortgewähren muß und daß ſie ſeine Ehre nicht durch eine Degradation antaſten darf; die rechtlichen Schranken dagegen beſtimmen die geſetzlichen Voraus - ſetzungen, unter denen der Regierung es geſtattet oder geboten iſt, einem Beamten die Führung eines Amtes zu entziehen. Es ſind in dieſer Beziehung folgende Fälle zu unterſcheiden.

I. Verſetzung in ein anderes Amt.

1) Jeder Reichsbeamte muß ſich die Verſetzung in ein anderes Amt gefallen laſſen, wenn daſſelbe von nicht geringerem Range und etatsmäßigem Dienſteinkommen iſt. R. -G. §. 23. Die Um - zugskoſten ſind dem Beamten zu vergüten, falls nicht die Ver - ſetzung auf ſeinen eigenen Antrag erfolgt iſt.

Unter dem Range iſt der dienſtliche Rang des Amtes zu verſtehen; der ſogen. perſönliche Rang iſt auch hier rechtlich uner - heblich und der Beamte iſt nicht genöthigt, in eine niedrigere Stelle einzutreten, wenngleich ihm zugeſichert wird, daß er perſönlich auch fortan zu den Räthen der oder jener Klaſſe gehören ſoll. Unter dem Dienſteinkommen iſt, wie oben ausgeführt wurde, die Entſchädigung für beſondere Dienſtunkoſten nicht mit begriffen und ebenſo wenig kommt es in Betracht, ob dem Beamten durch die Verſetzung die Gelegenheit zur Verwaltung von Nebenämtern ent - zogen wird.

2) Die Regierung iſt berechtigt, die Verſetzung zu verfügen, wenn es das dienſtliche Bedürfniß erfordert , d. h. ſie iſt hierin unbeſchränkt, da ſie allein über die Bedürfniſſe des Dienſtes zu entſcheiden hat.

3) Das Recht der Reichsregierung iſt auch den mittelbaren Beamten gegenüber ohne Einſchränkung anerkannt; ſie haben da - her kein Recht des Widerſpruchs, wenn ſie in das Gebiet eines anderen Bundesſtaates verſetzt werden. Zu unterſcheiden davon iſt das Verhältniß des Reiches zur Regierung des Einzelſtaates. Der Staat, aus deſſen Gebiet der Beamte verſetzt wird, hat kein Wider - ſpruchsrecht, daß ihm der Beamte durch Verſetzung nicht entzogen werde; dagegen kann die Verſetzung nicht in ein ſolches Amt er -481§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.folgen, deſſen Beſetzung dem Einzelſtaat, nicht dem Reich zuſteht, ohne Zuſtimmung des Einzelſtaats.

4) Die Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Bundes - Amts für das Heimathsweſen und des Rechnungshofes und richter - liche Militär-Juſtizbeamte können nicht ohne ihre Zuſtimmung in ein anderes Amt verſetzt werden1)Reichsbeamtengeſ. §. 158. Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 23. Geſ. v. 6. Juni 1870 §. 43. Pr. Geſ. vom 27. März 1872 §. 5 (über die Ober-Rechnungs - kammer)..

5) Ueber die Vorausſetzungen und Wirkungen der Straf - verſetzung vrgl. oben S. 453 fg.

II. Einſtweilige Verſetzung in den Ruheſtand. (Stellung zur Dispoſition).

1) Die Reichsregierung iſt befugt

a) jeden Reichsbeamten einſtweilig in den Ruheſtand zu verſetzen, wenn das von ihm verwaltete Amt in Folge einer Um - bildung der Reichsbehörden aufhört. R. -G. §. 24.

Soweit zu einer ſolchen Umbildung ein Geſetz erforderlich iſt, bildet der Erlaß deſſelben daher eine Vorausſetzung für die Stel - lung zur Dispoſition.

b) Jederzeit, auch ohne daß die erwähnte Vorausſetzung ge - geben iſt, können durch kaiſerliche Verfügung gewiſſe Beamte einſt - weilig in den Ruheſtand verſetzt werden, bei denen eine fort - dauernde Uebereinſtimmung in principiellen Anſichten mit der leiten - den Autorität nothwendig iſt 2)So ſagen die Motive zum Beamtengeſetz. S. 35.. Nach dem §. 25 des Geſetzes ſind es folgende:

  • Der Reichskanzler;
  • Der Präſident des Reichskanzler-Amts, der Chef der Ad - miralität, der Staatsſekretär im Auswärtigen Amte;
  • Die Direktoren und Abtheilungschefs im Reichskanzleramte und in den einzelnen Abtheilungen deſſelben, ſowie im Auswärtigen Amte und in den Miniſterien, die vor - tragenden Räthe und etatsmäßigen Hülfsarbeiter im AuswärtigenAmte;
  • Die Militär - und Marine-Intendanten;
  • Die diplomatiſchen Agenten einſchließlich der Konſuln.
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 31482§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.

Außerdem der Vorſitzende des Reichs-Eiſenbahn-Amtes. (Geſ. v. 27. Juni 1873 §. 2 Abſ. 2.)

2) Die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten haben folgende Rechte:

  • a) ſie behalten die perſönlichen Ehrenrechte.
  • b) ſie beziehen das geſetzliche Wartegeld.
  • c) ſie erhalten, falls ſie ihren dienſtlichen Wohnſitz im Aus - lande haben, die Entſchädigung für die Koſten des Umzugs nach dem innerhalb des Reiches von ihnen gewählten Wohn - orte (R. -G. §. 40) und ebenſo, falls ſie wieder ein Amt er - halten, die Umzugskoſten wie im Falle einer Verſetzung (R. -G. §. 28).

3) Hinſichtlich der Pflichten entſcheidet das Princip, daß alle Pflichten und Beſchränkungen der Reichsbeamten auch für die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten fortdauern, welche nicht ledig - lich auf der Führung eines Amtes (dem aktiven Dienſt) beruhen. Im Einzelnen ergeben ſich hieraus folgende Conſequenzen:

a) Die Pflicht zur Amtsführung iſt ſuſpendirt, aber nicht aufgehoben. Die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten ſind darum verpflichtet, ein ihrer Berufsbildung entſpre - chendes Reichsamt unter denſelben Vorausſetzungen zu übernehmen, unter denen ein im aktiven Dienſt ſtehender Reichsbeamter die Verſetzung in ein anderes Amt ſich gefallen laſſen muß, widrigen - falls ſie des Wartegeldes verluſtig ſind1)R. -G. §. 28..

Hierauf beruht die weitere Pflicht dieſer Beamten, die Reichs - angehörigkeit und den Wohnſitz im Bundesgebiete beizubehalten. Wollen ſie ihren Wohnſitz außerhalb des Bundesgebietes nehmen, ſo bedürfen ſie dazu der Genehmigung des Reichskanzlers, alſo gleichſam eines Urlaubs. Die Verletzung dieſer Pflicht zieht, entſprechend dem Verlaſſen des Amtes ohne Urlaub oder mit Ueberſchreitung deſſelben, den Verluſt des Gehaltes (Wartegeldes) nach ſich2)R. -G. §. 29 Nro. 2. und 3. und kann möglicher Weiſe Veranlaſſung zu discipli - nariſchem Einſchreiten geben.

b) Die Pflicht zur Treue dauert unverändert fort und demgemäß die Pflicht zur Amtsverſchwiegenheit. Die in den §§. 11 und 12 des Reichsbeamtengeſetzes enthaltenen Vorſchrif -483§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.ten finden daher auf die zur Dispoſition geſtellten Reichsbeamten volle Anwendung.

c) Die Pflicht eines achtungswürdigen Verhaltens beſteht ebenfalls unvermindert fort. R. -G. §. 10.

d) In Anſehung der Beſchränkungen, denen Reichsbe - amte unterliegen, gelten die in §. 15 Abſ. 1. des Geſetzes aufge - ſtellten Vorſchriften über die Annahme von Titeln, Ehrenzeichen, Geſchenken u. ſ. w. auch für die einſtweilig in den Ruheſtand ver - ſetzten Reichsbeamten; dagegen iſt die Vorſchrift des §. 15 Abſ. 2 auf ſie unanwendbar, weil dieſelbe die actuelle Verwaltung eines Amtes vorausſetzt. Von der Beſchränkung hinſichtlich der Ueber - nahme von Nebenämtern oder remunerirten Nebenbeſchäftigungen oder des Betriebes eines Gewerbes ſind die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten durch die ausdrückliche Anordnung des §. 16 Abſ. 3 befreit.

e) Die Verletzung der Dienſtpflichten kann auch für die zur Dispoſition geſtellten Reichsbeamten disciplinariſche Folgen haben. Allein da ſie ein Amt nicht verwalten, ſo ſind ſie auch der Discipli - nargewalt einer vorgeſetzten Dienſtbehörde nicht unter - worfen; wohl aber kann das förmliche Disciplinar-Verfahren vor den entſcheidenden Disciplinarbehörden gegen ſie eingeleitet werden. Für die Zuſtändigkeit iſt der letzte dienſtliche Wohnſitz der Be - amten entſcheidend1)R. -G. §. 119..

4) Da die einſtweilige Verſetzung in den Ruheſtand das Be - amtenverhältniß nicht löst, ſo kömmt bei Berechnung der Dienſt - zeit die Zeit mit in Anrechnung, während welcher ein Beamter zur Dispoſition geſtellt war2)R. -G. §. 46. Nro. 1., und die Vorſchriften über Sus - penſion, Dienſtentlaſſung, Penſionirung und Dienſtentſetzung ſind auch auf die einſtweilig in den Ruheſtand verſetzten Beamten an - wendbar3)Vgl. R. -G. §. 42 letzter Abſ. §. 119. §. 132..

5) Auf die im §. 158 des Reichsbeamtengeſetzes aufgeführten Beamten finden die Beſtimmungen über die einſtweilige Verſetzung in den Ruheſtand keine Anwendung.

III. Vorläufige Dienſtenthebung. (Suspenſion.)

1) Hinſichtlich der Zuläſſigkeit derſelben ſind drei Fälle31*484§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.zu unterſcheiden, indem die Suspenſion vom Amte theils von Rechts - wegen eintritt, theils im ordentlichen Wege verfügt werden kann, theils mit beſchränkten Wirkungen außerordentlicher Weiſe ſtatthaben kann.

a) Kraft des Geſetzes tritt die Suspenſion vom Amte ein:

α) wenn im gerichtlichen Strafverfahren die Verhaftung des Reichsbeamten beſchloſſen worden iſt. Sie dauert bis zum Ablauf des zehnten Tages nach Wiederaufhebung des Verhaftungs - Beſchluſſes1)§. 125 Nro. 1. §. 126. Zur Rechtfertigung der zehntägigen Friſt ſagen die Motive S. 49: Der in ein Strafverfahren verwickelte Beamte kann, ohne daß das Anſehen des Amtes leidet, nicht unmittelbar aus der Unter - ſuchungs - oder Strafhaft in ſein Amt zurücktreten. Die Friſt dient dann auch dazu, Zeit zu einer Entſchließung zu laſſen, ob nicht das Disciplinarverfahren einzuleiten und die Suspenſion zu verfügen iſt. .

β) wenn gegen den Beamten ein noch nicht rechtskräftig ge - wordenes gerichtliches Urtheil erlaſſen iſt, welches den Verluſt des Amtes kraft des Geſetzes nach ſich zieht2)§. 125 Nro. 1. Vgl. den folgenden §.. Die Suspenſion dauert ſo lange, bis entweder das Urtheil ſeine Rechtskraft erlangt oder bis zum Ablauf des zehnten Tages nach eingetretener Rechtskraft desjenigen Urtheils höherer Inſtanz, durch welches der angeſchul - digte Beamte zu einer anderen Strafe als der bezeichneten ver - urtheilt wird; falls aber das rechtskräftige Urtheil auf Freiheits - ſtrafe lautet, bis das Urtheil vollſtreckt iſt3)§. 126 Abſ. 1. u. 2..

γ) wenn im Disciplinar-Verfahren eine noch nicht rechts - kräftige Entſcheidung ergangen iſt, welche auf Dienſtentlaſſung lautet. Die Suspenſion dauert bis die in der Disciplinarſache ergangene Entſcheidung die Rechtskraft erlangt4)§. 125 Nro. 2. §. 126 Abſ. 3..

δ) Gegen die Mitglieder des Oberhandelsgerichtes und des Bundesamtes für das Heimathweſen tritt von Rechtswegen die vorläufige Dienſtenthebung nur ein, wenn die Unterſuchungshaft gegen ſie verhängt wird5)Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 24 Abſ. 2. v. 6. Juni 1870 §. 43..

Hinſichtlich der Mitglieder des Rechnungshofes kommen die Vorſchriften des Preuß. Geſ. v. 27. März 1872, hinſichtlich der485§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.richterlichen Militär-Juſtiz-Beamten die Vorſchriften der betreffenden Particularrechte in Anwendung1)Reichsbeamtengeſ. §. 158..

b) Durch Verfügung der oberſten Reichsbehörde kann ein Beamter vorläufig des Dienſtes enthoben werden, wenn gegen ihn ein gerichtliches Verfahren eingeleitet oder die Einleitung eines förmlichen Disciplinar-Verfahrens (§. 84) verfügt wird. Auch im Laufe des einen oder anderen Verfahrens bis zur rechtskräftigen Entſcheidung kann dieſe Verfügung noch getroffen werden2)R. -G. §. 127..

Gegen ein Mitglied des Oberhandelsgerichtes kann, falls eine Unterſuchung gegen daſſelbe eingeleitet wird, das Oberhandels - Gericht mittelſt Plenarbeſchluſſes die Suspenſion vom Amte für die Dauer der Unterſuchung ausſprechen3)Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 24 Abſ. 1.. Für die Mitglieder des Bundesamtes für das Heimathweſen ſteht dieſelbe Befugniß dem Plenum des Bundesamtes zu4)Geſ. v. 6. Juni 1870 §. 43..

c) Wenn Gefahr im Verzuge iſt, kann einem Beamten auch von ſolchen Vorgeſetzten, die ſeine Suspenſion zu verfügen nicht ermächtigt ſind, die Ausübung der Amtsverrichtungen vor - läufig unterſagt werden. Es iſt aber darüber ſofort an die oberſte Reichsbehörde zu berichten, von deren Entſcheidung und Maßnahme es abhängt, ob ſich die Unterſagung der Amtsverrichtungen in eine ordentliche Suspenſion verwandelt oder ob ſie hinwegfällt5)R. -G. §. 131..

2) Die Wirkungen der vorläufigen Dienſtenthebung ſind folgende:

a) Die Pflicht des Beamten zur Führung der Amtsgeſchäfte wird nicht nur ſuspendirt, ſondern gleichzeitig ihm auch die mit dieſer Pflicht verbundene Handhabung der Staatsgewalt und Ver - tretungsbefugniß (die Amtsgewalt) entzogen, ſo daß die von ihm dennoch vorgenommenen Dienſtgeſchäfte rechtlich nicht als Amts - handlungen anzuſehen ſind. Ob zugleich der Thatbeſtand eines ſtraf - baren Mißbrauchs der Amtsgewalt oder eines anderen Verbrechens oder Vergehens vorliegt, iſt nur nach Lage des einzelnen Falles zu beurtheilen.

b) Der Anſpruch des Beamten auf Gehalt wird durch die486§. 44. Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suspenſion.vorläufige Dienſtenthebung nicht berührt1)Vgl. Pfeiffer Prakt. Ausführungen III. S. 360 ff. 518 fg., wohl aber findet eine theilweiſe Innebehaltung des Gehaltes ſtatt vom Ablauf des Monats ab, in welchem die Suspenſion verfügt iſt2)R. -G. §. 128 Abſ. 1. Wenn der Gehalt vierteljährlich vorausbezahlt iſt, ſo kann eine theilweiſe Wiedereinziehung nicht ſtattfinden; denn das Geſetz ſpricht nur vom Innebehalten des Gehaltes. Es iſt eine Beſchlagnahme oder Retention des Gehaltes zur Deckung der Koſten oder Geldſtrafen angeordnet, welche vorausſetzt, daß der Gehalt noch nicht ausgezahlt iſt. Anderer Anſicht Kanngießer S. 223 Nro. 2.. Die Innebehaltung betrifft in der Regel die Hälfte des wirklichen Dienſteinkommens d. h. ohne die für Dienſtunkoſten beſtimmten Beträge; in Fällen der Noth des Beamten kann die oberſte Reichsbehörde die Inne - behaltung des Dienſteinkommens auf den vierten Theil beſchränken3)§. 128 Abſ. 1. u. 2.. Den einſtweilen in den Ruheſtand verſetzten Beamten wird ein Viertel des Wartegelds inne behalten, wenn im Disciplinarver - fahren eine noch nicht rechtskräftige Entſcheidung ergangen iſt, welche auf Dienſtentlaſſung lautet4)R. -G. §. 132..

Wird ein Mitglied des Oberhandelsgerichts oder des Bundes - amtes für das Heimathweſen vom Amte ſuspendirt, ſo wird das Recht auf den Genuß des vollen Gehalts während der Dauer der Suspenſion nicht berührt5)Geſ. v. 12. Juni 1868 §. 24 Abſ. 3. Geſ. v. 6. Juni 1870 §. 43..

Die Gehaltskürzung tritt ferner nicht ein, wenn die Voll - ſtreckung eines auf Freiheitsſtrafe lautenden Urtheils ohne Schuld des Verurtheilten aufgehalten oder unterbrochen wird, für die Zeit des Aufenthalts oder der Unterbrechung; ebenſo für die zehntägige Friſt nach Aufhebung der Haft reſp. nach der Verurtheilung, wenn nicht vor Ablauf derſelben die Suspenſion vom Amte im Wege des Disciplinarverfahrens beſchloſſen wird6)R: - G. §. 126 Abſ. 2..

Auch die vorläufige Unterſagung der Ausübung von Amts - Verrichtungen bewirkt keine Innebehaltung des Dienſteinkommens7)R. -G. §. 131 Abſ. 2..

c) Im Uebrigen dauern die Rechte und Pflichten des Beamten während der Zeit ſeiner vorläufigen Dienſtenthebung unverändert fort8)Er darf ſich daher auch nicht eigenmächtig von ſeinem Amtsſitze ent -.

487§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

3) Die Suspenſion vom Amte hört auf entweder mit der Entfernung des Beamten aus dem Amte oder mit dem Wieder-Eintritt deſſelben in die Amtsgeſchäfte; im letzteren Falle iſt jedoch zu unterſcheiden, ob der Beamte gänzlich frei geſprochen worden iſt, oder ob die entſcheidende Disciplinarbehörde ihn mit einer Ordnungsſtrafe belegt hat.

a) wenn der Beamte freigeſprochen worden iſt, ſo muß ihm der innebehaltene Theil des Gehaltes vollſtändig nachgezahlt werden1)R. -G. §. 130 Abſ. 1..

b) wenn der Beamte mit einer Ordnungsſtrafe belegt wird, ſo iſt ihm der innebehaltene Theil inſoweit auszuzahlen, als der - ſelbe nicht zur Deckung der ihn treffenden Unterſuchungskoſten und der Ordnungsſtrafe erforderlich iſt. Für Stellvertretungskoſten findet ein Abzug nicht ſtatt2)R. -G. §. 130 Abſ. 2..

c) wenn der Beamte aus dem Amte entfernt wird, ſo iſt der innebehaltene Theil des Gehaltes zu den Stellvertretungskoſten und der Reſt zu den Unterſuchungskoſten des Disciplinarverfahrens zu verwenden3)R. -G. §. 128 Abſ. 4. Zu den Stellvertretungskoſten iſt der Beamte nicht verpflichtet, einen weiteren Beitrag zu leiſten, für die Koſten des Disciplinar - Verfahrens haftet er dagegen mit ſeinem Vermögen. §. 124 Abſ. 2.. Dem Beamten iſt auf Verlangen ein Nachweis über die Verwendung zu machen; jedoch kann er Erinnerungen dagegen im Rechtswege nicht geltend machen, ſondern nur im Wege der Beſchwerde. Der durch die erwähnten Koſten nicht aufge - brauchte Theil des zurückbehaltenen Einkommens wird dem Be - amten nachgezahlt4)R. -G. §. 129..

§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

Die Beendigungsarten zerfallen ihrer praktiſchen Bedeutung nach in zwei Klaſſen, indem entweder mit der Aufhebung des Dienſt - verhältniſſes alle durch daſſelbe begründeten Rechte des Beamten, ſowohl die Ehrenrechte als die Vermögensrechte, aufhören, oder Titel und Rang und Anſpruch auf Lebensunterhalt (Penſion) fort - dauern.

8)fernen. Vgl. die Entſch. des Appellat. -Gerichts zu Leipzig im Wochenbl. f. merkw. Rechtsf. von 1864 S. 81 fg.

488§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

I. Ohne Anſpruch auf Penſion und Amtstitel wird das Dienſtverhältniß beendigt:

1) Auf Antrag des Beamten, welcher ſeine Entlaſſung fordert. Dieſelbe kann demſelben nicht verweigert werden. Obwohl das Reichsgeſetz dieſen Grundſatz nicht ausdrücklich ausſpricht, ſo beruht er nicht nur auf einer allgemeinen Rechtsüberzeugung1)Vgl. Pözl im Staatswörterb. Bd. IX. S. 713. Zachariä II §. 142 S. 63 ff. Schulze I. S. 346 fg., einem wirklichen gemeinen Gewohnheitsrecht, ſondern er ergiebt ſich aus der Natur des Beamten-Verhältniſſes2)Nur diejenigen Juriſten, welche in der Uebernahme eines Staatsamtes lediglich die Erfüllung einer Unterthanenpflicht finden, erklären die Niederle - gung des Amtes für unſtatthaft, z. B. Gönner S. 258. Auch in dieſem Punkte zeigt ſich aber der Gegenſatz zwiſchen der Erfüllung von Unter - thanenpflichten durch Uebernahme eines Amtes und dem freiwilligen Eintritt in das Staatsdiener-Verhältniß.. Daſſelbe er - fordert von dem Beamten nicht beſtimmt begränzte Leiſtungen, ſondern die Hingabe ſeiner ganzen Perſönlichkeit an den Staat zur Förderung des Staatswohls, Treue, Opferwilligkeit, Berufs - freudigkeit; es kann daher Niemand gezwungen in einem ſolchen Dienſt gehalten werden. Aber das Recht des Beamten, das Dienſt - verhältniß jeder Zeit aufzulöſen, wird auch noch dadurch begründet, daß es das Correlat zu der Disciplinargewalt des Staates iſt. Staat und Beamter ſtehen einander nicht wie gleichberechtigte Parteien, ſondern wie Herr und Diener gegenüber; der Staat hat ſein Hoheitsrecht, ſeine Disciplinargewalt, um den Diener zu zwingen; der Beamte hat den Schutz ſeiner Freiheit und Perſön - lichkeit in dem Recht, den Dienſt zu kündigen und ſich dem dadurch begründeten Zwange zu entziehen. Ohne dieſes Recht wäre der Staatsdienſt Sclaverei.

Wenn ein Beamter von dieſem Rechte Gebrauch macht, ſo hat er bis zur Ertheilung der Entlaſſung noch alle Rechte und Pflichten des Beamten und er hat daher die Amtsgeſchäfte noch bis zu dieſem Zeitpunkte zu führen. Die Entlaſſung der Reichs - beamten verfügt der Kaiſer, beziehentl. die von ihm dazu ermächtigte Reichsbehörde3)Reichsverf. Art. 18 Abſ. 1.. Hinſichtlich der mittelbaren Reichsbeamten kann es aber keinem Zweifel unterliegen, daß ſie ihre Entlaſſung von dem Staate (Landesherrn) zu erhalten haben, der ſie angeſtellt hat.

489§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

2) Der Staat hat dagegen der Regel nach nicht das Recht, das Dienſtverhältniß einſeitig zu löſen. Zahlreiche praktiſche Gründe ſprechen gegen dieſes Recht1)Es bedarf keiner Wiederholung derſelben, da die Frage für das Reichs - recht entſchieden iſt. In älterer Zeit iſt ſie Gegenſtand der vielſeitigſten Er - örterungen geworden. Eine Ueberſicht der Literatur und der in derſelben auf - geſtellten Anſichten giebt Zachariä II. §. 143 ff; kürzer auch Schulze I. S. 349. Vgl. ferner Welcker’s Artikel Staatsdienſt in ſeinem Staats - lexikon und L. v. Stein Verwaltungslehre I. 1. S. 241 fg. 246.. Juriſtiſch iſt die Folge - rung nicht begründet, daß, weil der Beamte jederzeit aus dem Dienſte zu ſcheiden berechtigt iſt, auch der Staat befugt ſein müſſe, ihn jederzeit zu entlaſſen; denn durch den Anſtellungsvertrag ent - ſtehen durchaus ungleiche Rechte und Pflichten für Staat und Beamten. Der Staat hat im Weſentlichen keine andere Leiſtung als die Zahlung des Gehaltes zu gewähren, der Beamte ſetzt ſeine Perſönlichkeit und in der Mehrzahl der Fälle ſeine ganze Lebens - thätigkeit ein; das Intereſſe des Staates iſt überdies gewahrt durch das Recht, einſeitig das Dienſtverhältniß im Wege des Disciplinarverfahrens aufzuheben. Das Reichsbeamten-Geſetz hat daher im §. 2 die Beſtimmung getroffen, daß die Reichsbeamten als auf Lebenszeit angeſtellt gelten, ſoweit die Anſtellung der Reichsbeamten nicht unter dem ausdrücklichen Vorbehalt des Widerrufs oder der Kündigung erfolgt2)Auch bei den Beamten der Einzelſtaaten ſpricht eine Rechtsvermuthung für die Lebenslänglichkeit der Anſtellung, vgl. Pfeiffer Prakt. Ausf. Bd. V. S. 259 Nro. 9..

Von dieſem Vorbehalt wird nach einer aus der Preußiſchen Verwaltungspraxis3)Regierungs-Inſtrukt. v. 23. Oktob. 1817 §. 12. Vgl. von Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 S. 410. (§. 330 IV.) herübergenommenen Regel Gebrauch gemacht bei denjenigen Unterbeamten, deren Dienſt keine Ausbildung er - fordert, ſondern größtentheils nur mechaniſch iſt4)Stenogr. Berichte des Reichstags 1872. I. S. 133. 134.. Außerdem giebt es einige Kategorien von Beamten im Reſſort des Auswärtigen Amtes, der Marine - und Militär-Verwaltung, der Poſt - und Tele - graphen-Verwaltung und der Verwaltung der Reichseiſenbahnen, welche auf Probe, Kündigung oder Widerruf angeſtellt werden5)Der Reichskanzler hat dem Reichstage 1872 das Verzeichniß dieſer Beamten vorgelegt. Druckſachen des Reichstages Nro. 144..

490§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

Die Entlaſſung von Beamten, welche unter einem ſolchen Vorbehalte angeſtellt ſind, erfolgt durch diejenige Behörde, welche die Anſtellung verfügt hat; in Anſehung der mittelbaren Reichsbe - amten alſo durch die Landesbehörde1)Reichsgeſ. §. 32..

3) Von Rechtswegen hört das Dienſtverhältniß auf durch ein rechtskräftiges richterliches Erkenntniß, wenn durch daſſelbe der Beamte zu einer Zuchthausſtrafe verurtheilt wird2)R. -St.-G.-B. §. 31. oder wenn ihm die bürgerlichen Ehrenrechte oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter aberkannt werden3)R. -St.-G.-B. §§. 33. 35. 36. 358. Vgl. 319., oder wenn auf den Ver - luſt der von dem Verurtheilten bekleideten öffentlichen Aemter er - kannt wird4)R. -St.-G.-B. §§. 81. 83. 84. 87 91. 94. 95..

Strengere Vorſchriften beſtehen für die Mitglieder des Reichs - Oberhandelsgerichts und des Bundesamtes für das Heimathsweſen. Ihr Dienſtverhältniß hört auf durch rechtskräftige Verurtheilung zum Amtsverluſte, zu einer entehrenden Strafe, zu einer nicht entehrenden Freiheitsſtrafe von längerer als ein - jähriger Dauer oder wegen eines entehrenden Ver - brechens oder Vergehens zu einer Strafe. Entſteht Zweifel darüber,[ob] einer der angeführten Fälle vorliege, ſo wird hier - über im Plenum des Oberhandelsgerichts, beziehentlich des Bun - desamtes, entſchieden5)Geſ. v. 12. Juni 1869 §. 23. Geſ. v. 6. Juni 1870. §. 43..

4) Dienſtentlaſſung im Disciplinarverfahren6)R. -G. §. 75. Nro. 2. Vgl. oben S. 454..

II. Mit Anſpruch auf Penſion und Amtstitel wird das Beamten-Verhältniß beendigt durch Verſetzung des Beamten in den Ruheſtand wegen Dienſtunfähigkeit. Sowohl der Beamte als der Staat ſind berechtigt im Falle der Dienſtunfähigkeit des Beamten die Verſetzung deſſelben in den Ruheſtand zu verlangen und es ſind demgemäß zwei Fälle zu unter - ſcheiden:

1) Penſionirung auf Antrag des Beamten.

a) Jeder Reichsbeamte, welcher ſein Dienſteinkommen aus der Reichskaſſe bezieht, iſt berechtigt ſeine Penſionirung zu491§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.verlangen, wenn er nach einer Dienſtzeit von wenigſtens zehn Jahren in Folge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche ſeiner körperlichen oder geiſtigen Kräfte zu der Erfüllung ſeiner Amtspflichten dauernd unfähig wird1)R. -G. §. 34..

Daſſelbe Recht haben auch die unter dem Vorbehalte des Widerrufs angeſtellten Beamten, wenn ſie eine etatsmäßige Stelle bekleiden; iſt die von ihnen bekleidete Stelle in den Beſoldungs - Etats nicht aufgeführt, ſo haben ſie zwar keinen geſetzlichen An - ſpruch auf Penſion, es kann ihnen aber bei ihrer Verſetzung in den Ruheſtand eine Penſion bewilligt werden2)R. -G. §. 37..

b) Jeder Reichsbeamte iſt auch ſchon vor Ablauf einer zehn - jährigen Dienſtzeit berechtigt, ſeine Penſionirung zu verlangen, wenn die Dienſtunfähigkeit die Folge einer Krankheit, Verwundung oder ſonſtigen Beſchädigung iſt, welche der Beamte bei Ausübung des Dienſtes oder aus Veranlaſſung deſſelben ohne eigene Ver - ſchuldung ſich zugezogen hat3)R. -G. § 36..

Wenn außer dieſem Falle die Dienſtunfähigkeit vor Vollen - dung des zehnten Dienſtjahres eintritt, ſo hat der Beamte zwar keinen geſetzlichen Anſpruch auf Penſion4)ausgenommen die Mitglieder des Oberhandelsgerichts. Geſ. v. 12. Juni 1869. §. 25. Reichsbeamtengeſ. §. 158 Abſ. 2.; bei vorhandener Be - dürftigkeit kann ihm aber durch Beſchluß des Bundesrathes eine Penſion auf beſtimmte Zeit oder lebenslänglich bewilligt werden5)R. -G. §. 39..

c) Der Reichskanzler, der Präſident des Reichskanzler-Amtes, der Chef der Kaiſerlichen Admiralität und der Staatsſekretär im Auswärtigen Amte können auch ohne eingetretene Dienſt - unfähigkeit ihre Entlaſſung fordern und haben einen Anſpruch auf die geſetzliche Penſion, wenn ſie mindeſtens zwei Jahre das betreffende Amt bekleidet haben6)R. -G. §. 35. Der Mindeſtbetrag der Penſion beträgt ein Viertel des etatsmäßigen Gehalts; im Uebrigen kommen die allgemeinen Vorſchriften über die Penſion zur Anwendung..

d) Der Beamte, welcher ſeine Penſionirung nachſucht, muß den Beweis ſeiner Dienſtunfähigkeit und, ſoweit es erforderlich, den Beweis, daß die Dienſtunfähigkeit in Folge des Dienſtes ein -492§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.getreten iſt (§. 36), erbringen. Es iſt jedoch im Allgemeinen ge - nügend, wenn die unmittelbar vorgeſetzte Dienſtbehörde des ſeine Penſionirung nachſuchenden Beamten die Erklärung abgiebt, daß ſie nach pflichtmäßigem Ermeſſen den Beamten für unfähig halte, ſeine Amtspflichten ferner zu erfüllen. Dieſe Erklärung iſt aber für die Behörde, welche über die Verſetzung in den Ruheſtand zu entſcheiden hat, nicht bindend; die letztere Behörde kann theils andere Beweismittel erfordern, theils die beigebrachten Beweismittel der vorgeſetzten Dienſtbehörde entgegen für ausreichend erachten1)R. -G. §. 53..

e) Ueber das Verlangen des Beamten, penſionirt zu werden, findet ein Verfahren im Rechtswege nicht ſtatt. Die oberſte Reichs - behörde hat vielmehr zu entſcheiden, ob und zu welchem Zeitpunkte dem Antrage ſtattzugeben iſt, ſowie ob und welche Penſion dem Beamten zuſteht. Bei denjenigen Beamten, welche eine Kaiſerliche Beſtallung erhalten haben, iſt die Genehmigung der Kaiſers zur Verſetzung in den Ruheſtand erforderlich2)R. -G. §. 54.. Die Entſcheidung der oberſten Verwaltungsbehörde iſt, wenn der Beamte ſeinen Anſpruch auf Penſion vor Gericht verfolgt, für die Beurtheilung dieſes Anſpruchs maßgebend3)R. -G. §. 155..

2. Penſionirung auf Verlangen der Reichsre - gierung.

a) Ohne eingetretene Dienſtunfähigkeit können jederzeit ent - laſſen werden der Reichskanzler, der Präſident des Reichskanzler - Amtes, der Chef der Kaiſerlichen Admiralität und der Staats - Sekretär im Auswärtigen Amte. Sie haben den Anſpruch auf Penſion, wenn ſie mindeſtens zwei Jahre das betreffende Amt be - kleidet haben4)R. -G. §. 35..

b) Jeder Reichsbeamte kann von dem Zeitpunkte ab, mit welchem die Penſionsberechtigung für ihn eingetreten iſt, wider ſeinen Willen penſionirt werden, wenn er durch Blindheit, Taub - heit oder ein ſonſtiges Gebrechen oder wegen Schwäche ſeiner körperlichen oder geiſtigen Kräfte zu der Erfüllung ſeiner Amts - pflichten dauernd unfähig iſt5)R. -G. §. 61.. Das Verlangen der Regierung493§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.iſt dem Beamten, reſp. einem demſelben hierzu beſonders zu be - ſtellenden Kurator, von der vorgeſetzten Dienſtbehörde unter An - gabe der Gründe und des zu gewährenden Penſionsbetrages mit - zutheilen. Erhebt der Beamte innerhalb ſechs Wochen keine Ein - wendung, ſo wird ebenſo verfahren, als hätte der Beamte ſeine Penſionirung beantragt; er erhält jedoch den vollen Gehalt noch bis zum Ablauf desjenigen Vierteljahres, welches auf den Monat folgt, in dem ihm die Verfügung über die erfolgte Verſetzung in den Ruheſtand mitgetheilt iſt1)R. -G. §. 63..

Erhebt der Beamte jedoch Widerſpruch, ſo findet ein ver - waltungsgerichtliches Verfahren mit Ausſchluß des Rechtsweges2)R. -G. §. 155. ſtatt. Die oberſte Reichsbehörde hat zu beſchließen, ob daſſelbe eintreten ſoll, und den Beamten zu ernennen, welchem die Inſtruk - tion der Sache obliegt. Der letztere hat die ſtreitigen Thatſachen zu erörtern und die Zeugen und Sachverſtändigen zu vernehmen. Zu den Verhandlungen iſt ein vereideter Protokollführer zuzuziehen. Der Beamte, welcher in den Ruheſtand verſetzt werden ſoll, oder deſſen Kurator, kann den Verhandlungen beiwohnen und zum Schluß ſeine Erklärung abgeben und ſeinen Antrag ſtellen. Die geſchloſſenen Akten werden der oberſten Reichsbehörde eingereicht, welche eine Vervollſtändigung der Ermittelungen anordnen kann3)R. -G. §. 64. 65. Abſ. 1..

Die Entſcheidung erfolgt in Betreff derjenigen Beamten, welche eine Kaiſerliche Beſtallung erhalten haben, vom Kaiſer im Einvernehmen mit dem Bundesrathe; in Betreff der übrigen Be - amten von der oberſten Reichsbehörde, gegen deren Entſcheidung aber dem Beamten binnen einer Friſt von vier Wochen nach dem Empfang derſelben der Rekurs an den Bundesrath zuſteht4)R. -G. §. 66. Die oberſte Reichsbehörde kann jedoch des Rekursrechtes ungeachtet, dem Beamten die weitere Amtsverwaltung unterſagen, nicht aber den Gehalt ihm verkürzen..

Die Zahlung des vollen Gehaltes dauert bis zum Ablauf des Vierteljahres das auf den Monat folgt, in welchem dem in Ruheſtand verſetzten Beamten die Entſcheidung des Kaiſers oder der oberſten Reichsbehörde zugeſtellt worden iſt5)R. -G. §. 67. Alſo nicht das Datum der Entſcheidung, ſondern das der Inſinuation iſt maßgebend..

494§. 45. Die Beendigung des Dienſtverhältniſſes.

Die baaren Auslagen für die durch die Schuld des zu pen - ſionirenden Beamten veranlaßten erfolgloſen Ermittelungen fallen demſelben zur Laſt; andere Koſten werden für das Verfahren nicht in Anſatz gebracht1)R. -G. §. 65 Abſ. 2..

c) Vor dem Zeitpunkte, mit welchem die Penſionsberechtigung eintreten würde, kann ein dienſtunfähig gewordener Reichsbeamter nach denſelben Vorſchriften unfreiwillig in den Ruheſtand verſetzt werden, wenn ihm diejenige Penſion bewilligt wird, welche ihm bei Erreichung des vorgedachten Zeitpunktes zuſtehen würde. Hierzu iſt aber eine mit Zuſtimmung des Bundesrathes zu erlaſſende Verfügung der Reichsbehörde erforderlich2)R. -G. §. 68 Abſ. 2..

Wird dem Beamten dieſe Penſion nicht gewährt, ſo kann er gegen ſeinen Willen nur unter Beobachtung derjenigen Formen, welche für das förmliche Disciplinar-Verfahren vorgeſchrieben ſind, in den Ruheſtand verſetzt werden3)R. -G. §. 68 Abſ. 1. Die Disciplinarbehörde hat in dieſem Falle über den Betrag der zu gewährenden Penſion zu entſcheiden. §. 75 letzter Abſ..

d) Die Vorſchriften des Reichsbeamtengeſetzes über die un - freiwillige Verſetzung in den Ruheſtand finden keine Anwendung auf die im §. 158 dieſes Geſetzes aufgeführten Reichsbeamten. Statt ihrer gelten die Beſtimmungen des Preuß. Geſ. v. 7. Mai 1851 §. 56 634)B. -G.-Bl. v. 1869 S. 209. (Anlage zum Geſ. v. 12. Juni 1869.). Sie weichen darin ab, daß der Beſchluß über die Verſetzung in den Ruheſtand, ſowohl was die Einleitung des Verfahrens als die Entſcheidung nach Feſtſtellung des Thatbeſtan - des anlangt, nicht von der oberſten Verwaltungsbehörde reſp. dem Bundesrathe, ſondern von dem Plenum des Oberhandelsgerichts und des Bundesamtes für das Heimathweſen hinſichtlich der Mit - glieder dieſer Behörden, des Preuß. Obertribunals hinſichtlich der Mitglieder des Rechnungshofes5)Preuß. Geſ. v. 27. März 1872 §. 5. und General-Auditoriats6)Preuß. Geſ. v. 7. Mai 1851 §. 75., und vom Preuß. General-Auditoriat hinſichtlich der Marine-Auditeure und der Auditeure der unter Preußiſcher Verwaltung ſtehenden Kontigente7)Preuß Geſ. v. 7. Mai 1851 a. a. O zu faſſen iſt.

495§. 46. Einfluß des Beamten-Verhältniſſes auf and. rechtl. Verhältniſſe.

§. 46. Einfluß des Beamten-Verhältniſſes auf andere rechtliche Verhältniſſe.

Das Staatsdiener-Verhältniß kann rechtliche Erheblichkeit in mehrfachen Beziehungen haben, welche nicht mit dem Anſtellungs - Vertrage und den durch denſelben begründeten Rechten und Pflich - ten in nothwendigem, logiſchem Zuſammenhang ſtehen. Es können nämlich für Beamte Rechtsregeln aufgeſtellt ſein, welche das zwi - ſchen dem Staate und dem Beamten beſtehende Rechtsverhältniß nicht zum Objekt haben, ſondern nur zum Motiv; ſei es, daß ſie die Anwendbarkeit allgemeiner Rechtsſätze auf Beamte ausſchließen, weil durch dieſelben die volle Erfüllung der Beamtenpflichten beinträchtigt werden könnte, ſei es, daß ſie ſpezielle Rechtsſätze aufſtellen, für deren Anwendung die Beamten-Eigenſchaft Vorausſetzung iſt, um den thatſächlichen Verhältniſſen Rechnung zu tragen, welche bei Gelegenheit der Amtsführung entſtehen können. Die hier in Be - tracht kommenden Rechtsſätze betreffen theils den Gerichtsſtand der Beamten, theils Befreiungen derſelben von allgemeinen ſtaatsbür - gerlichen Laſten, theils Beſchränkungen oder Begünſtigungen der - ſelben in privatrechtlichen Verhältniſſen.

Hinſichtlich des Gerichtsſtandes beſteht die Nothwendigkeit, für den Fall, daß der Beamte im Auslande ſeinen Amtsſitz hat, die Zuſtändigkeit eines inländiſchen Gerichtes anzuordnen, und es kann ferner im Inlande für den Beamten ein dienſtlicher Wohnſitz (domicilium necessarium) mit der Wirkung beſtehen, daß derſelbe einen allgemeinen Gerichtsſtand begründet, ſelbſt wenn der Beamte thatſächlich ſeinen Wohnſitz in einem andern Gerichtsſprengel, etwa in einem Nachbarorte ſeines Amtsſitzes hat.

In Betreff der Befreiungen von allgemeinen Laſten kommen in Betracht Begünſtigungen oder Befreiungen rückſichtlich der Be - ſteuerung, der Verpflichtung zur Uebernahme von Vormundſchaften, von Gemeindeämtern, des Geſchworenen-Dienſtes.

In privatrechtlichen Verhältniſſen betreffen die für Beamte ge - gebenen Spezialvorſchriften Beſchränkungen der Zwangsvollſtreckung und der Arreſtlegung auf das Dienſteinkommen, die Aufhebung von Mieths-Verträgen im Falle der Verſetzung, die Mitwirkung einer Staatsbehörde bei der Siegelung des Nachlaſſes eines Staatsbe - amten, die Nothwendigkeit von Eheconſenſen, die Vorrechte des496§. 46. Der Einfluß des Beamten-Verhältniſſes.Fiskus bei vermögensrechtlichen Anſprüchen gegen den Beamten in und außerhalb des Concurſes.

In allen dieſen Beziehungen hat das Reichsbeamten-Geſetz §. 19 den Grundſatz aufgeſtellt, daß, ſofern nicht durch Reichsge - ſetz Beſtimmung getroffen iſt, die aktiven und die aus dem Dienſt geſchiedenen Reichsbeamten nach denſelben Rechtsvorſchriften zu beurtheilen ſind, welche an ihren Wohnorten für die aktiven, be - ziehungsweiſe aus dem Dienſte geſchiedenen Staatsbeamten gelten. In den verſchiedenen Rechtsgebieten Deutſchlands ſind demnach die rechtl. Verhältniſſe der Reichsbeamten verſchieden normirt; dagegen ſind Reichsbeamte und Landesbeamte in jedem einzelnen Rechtsge - biet gleichgeſtellt.

Für diejenigen Reichsbeamten, deren Wohnort außerhalb der Bundesſtaaten ſich befindet, kommen hinſichtlich dieſer Rechts - verhältniſſe vor Deutſchen Behörden die geſetzlichen Beſtimmungen ihres Heimathsſtaates und in Ermangelung eines ſolchen, die Vorſchriften des Preußiſchen Rechts zur Anwendung 1)Reichsgeſ. §. 19 Abſ. 1.. Unter dem Heimathsſtaat iſt derjenige Deutſche Staat zu verſtehen, in welchem der Reichsbeamte die Staatsangehörigkeit hat. Unter der Ermangelung eines Heimathsſtaates iſt daher gemeint in Ermangelung der Reichsangehörigkeit ; ſo daß nicht etwa das Recht des Heimathsſtaates eines im Reichsdienſt angeſtellten Aus - länders Anwendung finden darf, was nach der Wortfaſſung des §. 19 allerdings bei buchſtäblicher Interpretation nicht ausgeſchloſſen iſt. Für den anderen Fall, der wohl öfter vorkommen mag2)Siehe oben S. 137., daß ein Reichsbeamter in mehreren Deutſchen Staaten ſtaats - angehörig iſt, hat das Geſetz keine Beſtimmung getroffen, welches Staates Geſetzgebung alsdann maaßgebend iſt, und ebenſo wenig, was unter den Vorſchriften des Preußiſchen Rechts zu verſtehen iſt, wenn in den verſchiedenen Rechtsgebieten Preußens verſchiedene Vorſchriften gelten3)Nach Analogie des §. 12 des Kautionsgeſ. v. 2. Juni 1869 und des §. 21 des Beamtengeſetzes iſt in dieſem Falle unter dem Preußiſchen Recht wohl das in Berlin geltende Recht zu verſtehen. Warum man ſich bei § 19 nicht an die beſſere Faſſung des §. 12 des Kautionsgeſetzes angeſchloſſen hat, iſt nicht erfindlich..

497auf andere rechtliche Verhältniſſe.

Hinſichtlich des Gerichtsſtandes derjenigen Reichs - beamten, deren dienſtlicher Wohnſitz ſich im Auslande befindet, hat das Reichs-Beamtengeſetz §. 211)Wiederholt im Entw. der Civilprozeß-Ordn. §. 16. folgende Anordnungen ge - troffen:

Sie behalten den ordentlichen perſönlichen Gerichtsſtand, welchen ſie in ihrem Heimathsſtaate hatten2)Wenn demnach Jemand in den diplomatiſchen Dienſt des Reiches ein - tritt, und ſogleich im Auslande verwendet wird, ſo behält er, wie lange er auch außerhalb des Reiches ſeinen dienſtlichen Wohnſitz hat, immer denjenigen Gerichtsſtand bei, welchen er in ſeinem Heimathsſtaat vor ſeinem Eintritt in den Reichsdienſt hatte. Ein Gerichtsſtand in Berlin wird für ihn nicht da - durch begründet.. In Ermange - lung eines ſolchen Gerichtsſtandes iſt ihr ordentlicher perſönlicher Gerichtsſtand in der Hauptſtadt des Heimathsſtaates begründet3)Dieſe Beſtimmung kann zu ſonderbaren Conſequenzen führen. Ein Sachſe, welcher ſeinen Wohnſitz in Hamburg oder Stettin ſeit langer Zeit ge - habt hat, wird als Berufskonſul in das Ausland geſchickt. Sein Heimaths - ſtaat iſt Sachſen, ſeinen ordentlichen perſönlichen Gerichtsſtand hatte er dem - nach nicht in ſeinem Heimathsſtaat; mithin wird für ihn durch ſeine Ueber - ſiedlung in den ausländiſchen Wohnort ſein bisheriger Gerichtsſtand von Ham - burg oder Stettin nach Dresden übertragen!. Hat der Reichsbeamte keinen Heimathsſtaat d. h. mangelt ihm die Reichsangehörigkeit, ſo iſt ſein Gerichtsſtand vor dem Stadtgericht zu Berlin begründet. Ausgenommen von dieſen Beſtimmungen ſind die Wahlkonſuln, welche an dem Orte ihres Wohnſitzes ihren ordentlichen Gerichtsſtand haben. Befindet ſich der dienſtliche Wohnſitz des Reichsbeamten in einem Lande, in welchem Reichs - Konſular-Gerichtsbarkeit beſteht, ſo kann der Beamte zugleich dieſer Gerichtsbarkeit nach Maßgabe des Geſetzes vom 8. Nov. 1867 unterliegen4)R. -G. §. 22..

In Betreff der Militärbeamten ſind die Vorſchriften der Landesgeſetze durch die im Reichsmilitärgeſetz v. 2. Mai 1874 §. 39 ff. getroffenen Anordnungen theils aufgehoben theils aus - drücklich in Kraft erhalten z. B. in den §§. 45. 46. 48.

Hinſichtlich des Eheconſenſes iſt im §. 40 des citirten Geſetzes angeordnet, daß die Militärperſonen des Friedensſtandes zu ihrer Verheirathung der Genehmigung ihrer Vorgeſetzten be - dürfen; im Reichsgeſetz über die Eheſchließung v. 6. Febr. 1875Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 32498§ 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.§. 38 ſind die Vorſchriften, welche die Ehe der Militärper - ſonen, der Landesbeamten und der Ausländer von einer Erlaubniß abhängig machen, in Kraft erhalten worden. Für die Civil-Beamten des Reiches iſt demnach ein Conſens nicht erfor - derlich1)Hinſchius Kommentar zu dieſem Geſetz S. 131 Note 88. Ganz zweifellos iſt dieſe Auslegung übrigens nicht. Man könnte auch argumentiren: Die Reichsbeamten unterliegen nach §. 19 des Beamtengeſetzes den Rechtsvor - ſchriften, welche an ihrem Domizil für die Landesbeamten beſtehen, folglich auch den nach §. 38 des Geſ. v. 6. Febr. 1875 in Kraft erhaltenen Vorſchriften über die Nothwendigkeit eines Eheconſenſes. Aus den Motiven zu dieſem Ge - ſetz (Druckſ. des Reichstages 1874 / 75 III. Nro. 153 S. 33 zu §. 37 des Entw. ) ergiebt ſich aber deutlich, daß durch den Ausdruck Landesbeamte die Reichs - beamten ausgeſchloſſen werden ſollten..

Eine weitere Ausgleichung der gegenwärtig noch beſtehenden Verſchiedenheiten wird durch die allgemeine Civilprozeß -2)Entw. der Civilpr. -Ordn. v. 1874 §. 664 Nro. 6 und 7. §. 682. 696. 736. 757. und Konkurs-Ordnung3)Entw. der Konk. -Ordn. v. 1875 §. 54 Nro. 5. bewirkt werden.

Im Übrigen iſt die Thatſache, daß die Rechtsverhältniſſe der Reichsbeamten in einzelnen Beziehungen durch die Landesgeſetze normirt werden, ebenſo eine Folge des bundesſtaatlichen Charakters des Reiches, wie die gegenüberſtehende Thatſache, daß die Rechtsverhältniſſe der Landesbeamten in zahlreichen Punkten durch Reichsgeſetze geregelt ſind.

Vierter Abſchnitt. Der Reichstag.

§. 47. Allgemeine Charakteriſtik.

Die Inſtitution des Reichstages des Deutſchen Reiches bietet ſtaatsrechtlich keine Schwierigkeiten dar wie Kaiſerthum und Bun - desrath, da ſie keine neue und der Reichsverfaſſung eigenthümliche Einrichtung iſt, ſondern dem im conſtitutionellen Staatsrecht längſt wiſſenſchaftlich erörterten Begriff der ſogenannten Volksvertretung entſpricht. In politiſcher Beziehung nimmt das Deutſche Reich zwar unter allen großen Staaten auch in dieſer Hinſicht eine be - ſondere Stellung ein, weil hier das Einkammerſyſtem mit einem499§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.allgemeinen, faſt unbeſchränkten Wahlrecht verbunden und dem Reichstage eine höchſt ausgedehnte Kompetenz eingeräumt iſt; ſo daß die Forderungen der demokratiſchen Partei in der Deutſchen Reichsverfaſſung in ungewöhnlichem Grade befriedigt worden ſind. Für die ſtaatsrechtliche Conſtruktion des Reichstages als eines Organs des Reiches und für die rein juriſtiſche Beſtimmung der ihm obliegenden Funktionen iſt dies aber nicht von erheblicher Be - deutung. Seinem Begriff und Weſen und ſeiner Stellung im Verfaſſungsbau des Reiches nach unterſcheidet ſich der Reichstag nicht von anderen Volksvertretungen, Parlamenten, Kammern, Landtagen1)Daß der Reichstag keine eigenartige Schöpfung iſt, zeigt ſich äußerlich ſchon darin, daß der ihn betreffende Abſchnitt der Reichsverfaſſung die Origi - nalität vermiſſen läßt, welche die übrigen Abſchnitte derſelben in ſo hohem Grade auszeichnet. Alle Artikel dieſes Abſchnittes ſind Artikeln der Preuß. Verf. -Urkunde v. 31. Januar 1850 nachgebildet, z. Th. ihnen wörtlich ent - nommen, wie folgende Zuſammenſtellung zeigt. Reichsverf.Preuß. Verf.2178 Abſ. 2. 3.22 Abſ. 1.79 Abſ. 2.Preßgeſ. v. 12. Mai 1851 §. 38.23(81 Abſ. 3.)2473255126522778 Abſ. 1.288029833084 Abſ. 1.3184 Abſ. 2 4.32(85)Hinſichtlich dieſes Theils des Reichsrechts kömmt daher dem Preuß. Staats - recht für die hiſtoriſche und dogmatiſche Erörterung eine erhöhte Bedeutung zu..

Eine beſondere Unterſuchung erfordert allein die Frage, welchen Einfluß der bundesſtaatliche Charakter des Reiches auf die Inſtitution des Reichstages ausübt. Es wäre an und für ſich möglich geweſen, das für die Bildung des Bundesrathes maaß - gebende Princip auf den Reichstag inſofern anzuwenden, daß die Bevölkerungen der Einzelſtaaten Abgeordnete wählen, welche im Reichstage zwar zu einem einheitlichen Collegium ſich vereinigen,32*500§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.welche aber nicht das Deutſche Volk als Geſammtheit, ſondern das Volk der einzelnen Staaten, in denen ſie gewählt ſind, zu vertreten haben. Auf dieſem Gedanken beruhte der in dem Oeſterreichiſchen Reformprojekt von 1863 enthaltene Vorſchlag einer ſogenannten Delegirten-Verſammlung. Schon damals hob der Bericht des Preußiſchen Staatsminiſteriums v. 15. Sept. 1863 hervor, daß eine ſolche Verſammlung auf die Vertretung von Partikular - Intereſſen, nicht von Deutſchen Intereſſen hingewieſen iſt und daß das Spiel und Widerſpiel dynaſtiſcher und partikulariſtiſcher Intereſſen ſein Gegengewicht und ſein Correctiv in einer wahren, aus direkter Betheiligung der ganzen Nation hervorgehenden National-Vertretung finden muß 1)Hahn Zwei Jahre Preuß. -deutſch. Politik S. 60..

Derſelbe Geſichtspunkt wurde bei den Preußiſchen Reform - Vorſchlägen von 1866 entſchieden betont und feſtgehalten und er hat in der Norddeutſchen Bundesverfaſſung einen klaren und un - zweideutigen Ausdruck im Art. 29 gefunden: Die Mitglieder des Reichstages ſind Vertreter des ge - ſammten Volkes und an Aufträge und Inſtruktionen nicht gebunden.

Bei der Erweiterung des Norddeutſchen Bundes zum Deutſchen Reiche wurde dieſer Charakter des Reichstages zwar beibehalten und der Art. 29 deshalb unverändert gelaſſen, es wurde aber zu Art. 28 der Zuſatz beigefügt: Bei der Beſchlußfaſſung über eine Angelegenheit, welche nach den Beſtimmungen dieſer Verfaſſung nicht dem ganzen Bunde gemeinſchaftlich iſt, werden die Stimmen nur der - jenigen Mitglieder gezählt, die in Bundesſtaaten gewählt ſind, welchen die Angelegenheit gemeinſchaftlich iſt.

Dieſe Beſtimmung war analog der im Art. 7 Abſ. 4. vom Bundesrath getroffenen Anordnung. Während die letztere aber mit dem Weſen des Bundesrathes, der aus Vertretern der ein - zelnen Bundesglieder beſteht, vollkommen übereinſtimmt2)Ganz und gar verkannt wird dieſer Unterſchied von Weſterkamp S. 108. 109. Note., ſtand Art. 28 Abſ. 2 im ſchärfſten Widerſpruch mit dem Weſen des Reichstages, deſſen Mitglieder nach Art. 29 nicht Vertreter der Bevölkerungen einzelner Staaten, ſondern des geſammten Volkes501§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.ſind1)Dies wurde ſehr richtig hervorgehoben vom Abg. Freih. von Hover - beck und dem Abg. Hirſch im Nordd. Reichstage von 1870. II. Seſſ. Stenogr. Ber. S. 123. 124.. Da die logiſche Inconſequenz auch praktiſche Uebelſtände mit ſich brachte, ſo wurde bereits durch das Reichsgeſetz vom 24. Febr. 1873 (R. -G.-Bl. S. 45.) dieſe, den 2. Abſatz des Art. 28 bildende, Verfaſſungsbeſtimmung wieder beſeitigt2)Seydel Kommentar S. 139 142 verwerthete Art. 28 Abſ. 2 zur Be - gründung der Theorie, daß die Abgeordneten Vertreter der Bevölkerung des Staates ſind, in dem ſie gewählt wurden, und glaubte Art 29 für eine poli - tiſche Phraſe erklären zu dürfen. Durch die Aufhebung des Art. 28 Abſ. 2 iſt dieſer Deduction der Boden entzogen worden..

In dem Reichstage hat ſomit die dem Deutſchen Reiche an - gehörende Bevölkerung als Geſammtheit eine einheitliche Vertre - tung gefunden. Mitgliedſchaftsrechte der einzelnen Bun - desglieder kommen in keiner Beziehung mittelſt des Reichstages zur Ausübung, ſondern der Reichstag iſt ausſchließlich ein Organ des Reiches als einer über den Einzelſtaaten ſtehenden ſtaatlichen Ordnung. Demgemäß iſt es auch keineswegs inconſequent, daß Elſaß-Lothringen nicht im Bundesrathe, wohl aber im Reichstage vertreten iſt. Im Bundesrathe kann es nicht vertreten ſein, weil es nicht Mitglied des Bundes iſt; zum Reichstage muß es Abgeordnete zu wählen berechtigt ſein, weil die Bevölkerung von Elſaß-Lothringen ſtaatsrechtlich ein Theil des Deutſchen Volkes iſt.

Dem Weſen des Reichstages als einer Vertretung des geſamm - ten Deutſchen Volkes entſprechend iſt die Beſtimmung des Wahl - geſetzes vom 31. Mai 1869 §. 1. (B. -G.-Bl. S. 145): Wähler für den Deutſchen Reichstag iſt jeder Deutſche in dem Bundesſtaate, wo er ſeinen Wohnſitz hat.

Wären die in Preußen, Sachſen, Bayern gewählten Reichs - tags-Abgeordneten Vertreter der Angehörigen dieſer Staaten, ſo könnten landesfremde Reichsangehörige an den Wahlen keinen Antheil nehmen3)Seydel S. 142 ſetzt ſich über die Beſtimmung des §. 1 mit der Bemerkung hinweg, daß ſie eine aus praktiſchen Gründen ſehr wohl zu rechtfertigende Anomalie enthält. ; iſt der Reichstags-Abgeordnete aber ein Ver - treter des geſammten Deutſchen Volkes, ſo genügt die Reichs-An - gehörigkeit zur Begründung des Wahlrechts und es kann daſſelbe502§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.ausgeübt werden, wo immer der Reichs-Angehörige im Deutſchen Reichsgebiete ſeinen Wohnſitz hat.

Nur in einer Beziehung erweiſt ſich der bundesſtaatliche Charakter des Reiches auch hinſichtlich des Reichstages als wirk - ſam und zwar in Bezug auf die Abgränzung der Wahlkreiſe. Das Princip, daß der Reichstag eine Vertretung des geſammten Volkes iſt, würde bei conſequenter Durchführung die Wirkung äußern, daß die Wahlkreiſe ohne Rückſicht auf die Gränzen der Einzel - ſtaaten ausſchließlich nach der Einwohnerzahl und nach örtlichen Verhältniſſen abgegränzt würden. Dieſe Conſequenz iſt jedoch nicht gezogen worden. Nach dem Wahlgeſetz v. 31. Mai 1869 §. 5 werden die Abgeordneten gewählt in jedem Bundesſtaate. Kein Wahlkreis umfaßt Gebiete verſchiedener Staaten. In einem Bun - desſtaate, deſſen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, wird trotzdem Ein Abgeordneter gewählt. Der Grundſatz, daß jeder Wahlkreis einen räumlich zuſammenhängenden, möglichſt abgerunde - ten Bezirk bilden ſolle, erleidet eine Ausnahme hinſichtlich der Enclaven. In dem Wahlgeſetz, dem dazu erlaſſenen Reglement v. 28. Mai 1870 Anlage C. (B. -G.-Bl. S. 289) und dem Art. 20 der R. -V. wird ein Katalog aufgeſtellt, wie viele Abgeordnete auf die einzelnen Staaten kommen. Hiernach kommt, wäh - rend in ſubjektiver Beziehung die Staatsangehörigkeit der Wähler für die Wahlberechtigung juriſtiſch unerheblich iſt, in räumlicher Beziehung die Staatsangehörigkeit des Gebietes in Betracht und da thatſächlich die überwiegende Maſſe der Bevölkerung eines Ge - bietes die Staatsangehörigkeit des letzteren theilt, ſo iſt in Rückſicht auf die Bildung der Wahlkörper die Gliederung des geſammten Deutſchen Volkes in Bevölkerungen der Einzelſtaaten keineswegs ganz wirkungslos.

II. Von den Mitgliedern des Reichstages wird im Art. 29 derſelbe Ausdruck gebraucht wie im Art. 6 von den Mitgliedern des Bundesrathes, ſie ſind Vertreter. Während aber die Bun - desrathsmitglieder grade darum, weil ſie Vertreter der Bundes - glieder ſind, an ihre Aufträge und Inſtruktionen ſich halten müſſen, ſind die Mitglieder des Reichstages als Vertreter des geſammten Volkes an Aufträge und Inſtruktionen nicht gebunden. Die praktiſche Tendenz dieſer Beſtimmung iſt zwar nur die, den Ge - danken auszuſchließen, daß der einzelne Reichstags-Abgeordnete503§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.ein Bevollmächtigter oder Mandatar desjenigen Wahlkörpers ſei, dem er ſeine Berufung in den Reichstag verdankt; für die theore - tiſche Betrachtung ergiebt ſich aber dieſer Satz lediglich als eine logiſche Conſequenz eines viel tiefer liegenden, allgemeinen Princips. Ebenſo wenig wie die Reichstagsmitglieder an Aufträge und Inſtruktionen der einzelnen Wahlkörper gebunden ſind, ebenſowenig ſind ſie an Aufträge und Inſtruktionen des geſammten Volkes gebunden; ſie ſind überhaupt keine Vertreter in dem Sinne, wie dieſer Ausdruck im Art 6 von den Bundesraths-Mitgliedern und wie er in der Rechtswiſſenſchaft techniſch gebraucht wird; ſie haben keine Vollmacht und keinen Auftrag und zwar deshalb nicht, weil es an einem Rechtsſubjekt fehlt, welches ihnen Vollmacht oder Auftrag ertheilen könnte. Die einzelnen Staaten ſind Rechts - ſubjekte, deshalb können ſie im Bundesrath durch Vertreter ihre Rechte und ihren Willen geltend machen. Das geſammte Deutſche Volk hat keine vom Deutſchen Reiche verſchiedene und ihm gegen - über ſelbſtſtändige Perſönlichkeit, iſt kein Rechtsſubjekt und hat juriſtiſch keinen Willen; es iſt daher außer Stande, eine Vollmacht oder einen Auftrag zu ertheilen und Rechte oder Willensacte durch Vertreter auszuüben. Eine poſitive juriſtiſche Bedeutung hat die Be - zeichnung der Reichstagsmitglieder als Vertreter des geſammten Volkes daher nicht; im juriſtiſchen Sinne ſind die Reichstagsmit - glieder Niemandes Vertreter; ihre Befugniſſe ſind nicht von einem anderen Rechtsſubjekt abgeleitete; es giebt keinen einzigen Punkt in der ganzen Rechtsſtellung der Reichstagsmitglieder, der von den Rechtsgrundſätzen über Stellvertretung, Vollmacht oder Man - dat beherrſcht würde. Der Sinn der Redewendung, daß die Mit - glieder des Reichstages Vertreter des geſammten Volkes ſind, iſt vielmehr ausſchließlich ein politiſcher. Der Ausdruck will ſagen: Der Reichstag iſt dasjenige Organ, durch welches der Antheil der Reichsangehörigen an den Willensentſchlüſſen und der Lebensthätig - keit des Reiches vermittelt und ausgeübt wird. Außer dem Kaiſer und Bundesrath hat das Reich noch ein drittes Organ, durch welches jeder einzelne (wahlberechtigte) Reichsangehörige auf die Politik des Reiches mittelbar einen Einfluß ausüben kann, in - dem er nach den Regeln des Wahlgeſetzes bei der Zuſammen - ſetzung dieſes Organes perſönlich mitzuwirken befugt iſt. Mit dieſer Befugniß iſt ſein Recht aber erſchöpft, mag er von ihr bei504§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.der anberaumten Wahl Gebrauch gemacht haben oder nicht. Nur bei der Bildung des Reichstages hat das Volk, d. h. die Ge - ſammtſumme aller einzelnen wahlberechtigten Reichsangehörigen eine rechtliche Mitwirkung am ſtaatlichen Leben des Reiches; es iſt bei jeder Wahl nur ein einmaliger Akt, durch welchen der Reichsangehörige ſein politiſches Recht bethätigt. Als unjuriſtiſch muß dagegen die Auffaſſung bezeichnet werden, daß das Volk durch den Reichstag als ſeine Vertretung fortlaufend einen Antheil an den Staatsgeſchäften des Reiches ausübt. Sowie die Wahl erfolgt iſt, hört jeder Antheil, jede Mitwirkung, jeder rechtlich relevante Einfluß des geſammten Volkes , d. h. aller einzelnen Reichsangehörigen auf die Willensentſchlüſſe des Reiches auf. Der Reichstag iſt innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit ebenſo ſelbſtſtändig be - rechtigt wie der Kaiſer; er iſt in keinem anderen Sinne Vertreter des geſammten Volkes als ſo, wie auch der Kaiſer es iſt. Nur die Berufung erfolgt in verſchiedener Weiſe; die Berufung zum Kaiſerthum iſt allen menſchlichen Willens-Entſchlüſſen entzogen, die Berufung zum Reichstage erfolgt durch Willenshandlungen aller einzelnen (wahlberechtigten) Reichsangehörigen. Die philoſophiſch - hiſtoriſch-politiſche Betrachtung mag ſich daran halten, daß das Volksethos , der lebendig wirkende Nationalgeiſt, das ſitt - liche Bewußtſein des Volkes durch den Reichstag zum Ausdruck kommen; die juriſtiſche Beſtimmung des Weſens des Reichstages darf nicht durch die irreführende Bezeichnung Volksvertretung be - einflußt werden, ſondern man muß feſthalten, daß der Reichstag nur in dem Sinne und nur deshalb eine Volksvertretung heißt, weil jeder einzelne Reichsangehörige, der den Erforderniſſen des Wahlgeſetzes genügt, an der Bildung dieſes Organes des Reiches ſich zu betheiligen vermag. Oder mit anderen Worten: eine Volks - vertretung iſt der Reichstag nicht mit Rückſicht auf ſeine Rechte und Pflichten, ſondern nur mit Rückſicht auf ſeine Bildung und Zuſammenſetzung. Hieraus ergiebt ſich, daß die Reichstags-Abge - ordneten an Inſtruktionen und Aufträge nicht gebunden ſind, daß ſie weder ihren Wählern noch dem Vorſtande einer Partei oder Fraction rechtlich Rechenſchaft ſchuldig ſind für die Ausübung ihrer öffentlichen Befugniſſe und deshalb auch nicht zur Verant - wortung darüber gezogen werden können, ferner daß ihnen die Mitgliedſchaft im Reichstage von ihren Wählern nicht ent -505§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.zogen werden darf, daß ſie gegen ihre Wähler keine Anſprüche auf Erſatz von Koſten und Auslagen haben u. ſ. w.

§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.

In Uebereinſtimmung mit den allgemeinen Grundſätzen des conſtitutionellen Staatsrechts iſt der Reichstag ein Organ des Reiches, welchem zwar eine ſehr weſentliche und wichtige Mitwir - kung bei den Willenshandlungen des Reiches zuſteht, welches aber regelmäßig nicht befugt iſt, dieſe Handlungen ſelbſt vorzunehmen, die Staatsgewalt des Reiches zu handhaben, das Reich zu ver - treten. Die ſtaatsrechtlichen Befugniſſe des Reichstages beſtehen demnach nicht darin, daß ein Theil der dem Reiche zuſtehenden Staatsgewalt von dem Reichstage ausgeübt oder die Machtvollkom - menheit des Reiches durch ihn beſchränkt wird; ſondern Kaiſer und Bundesrath ſind bei der geſammten Regierung des Reiches theils an die Zuſtimmung theils an die Controle des Reichstages gebunden. Es läßt ſich die dem Reichstage zuſtehende Kompetenz grade aus dieſem Grunde nicht in eine Anzahl einzelner, beſtimmter Befugniſſe auflöſen; alle Kataloge1)vgl. z. B. Thudichum S. 212 fg. v. Rönne S. 170 fg. Riedel S. 35 fg. v. Pözl S. 126 fg. der Rechte, welche dem Reichs - tage zuſtehen, geben ein ungenaues und ſchiefes Bild ſeiner ſtaats - rechtlichen und politiſchen Stellung; ſeine Theilnahme am Leben des Reiches durchdringt dieſes Leben in allen Beziehungen und nach allen Richtungen. Keine Aufgabe, welche das Reich als der ſouveräne Deutſche Staat zu erfüllen hat, kein Gebiet des natio - nalen Geſammtlebens, auf welches die Fürſorge des Reiches ſich erſtreckt, bleibt von der Theilnahme und Mitwirkung des Reichs - tages ausgenommen. Materiell reicht die Zuſtändigkeit des Reichstages genau ebenſoweit wie die Zuſtändigkeit des Reiches.

Die Frage nach der Kompetenz des Reichstages iſt vielmehr zurückzuführen auf die Unterſuchung, welche Formen für die Willensthätigkeit des Reiches vorgeſchrieben ſind, um dem Reichs - tage die Mitwirkung und Theilnahme an dieſer Willensthätigkeit zu ſichern. Soweit die Faſſung eines rechtlich verbindlichen Ent - ſchluſſes, die Ausübung eines ſtaatlichen Hoheitsrechts an eine Form gebunden iſt, welche die Zuſtimmung und Mitwirkung des Reichstages in ſich ſchließt, ſoweit iſt der Reichstag an dieſer506§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.Willens-Entſcheidung und an dieſem Hoheitsrechte mitbetheiligt. Dieſe Formen geben die Gränzlinien an, durch welche diejenigen Acte der Reichsgewalt, zu deren Gültigkeit die Zuſtimmung des Reichstages erforderlich iſt, von denen getrennt werden, welche dieſer Zuſtimmung nicht bedürfen.

In dieſer Beziehung kommen folgende Punkte in Betracht:

I. Der Cardinalſatz, welcher für die ſtaatsrechtliche Stellung des Reichstages das eigentliche Fundament bildet, iſt der, daß zu einem Reichsgeſetz ein Reichstagsbeſchluß erforderlich iſt. R. -V. Art. 5. Keine Rechtsſatzung erlangt geſetzliche Gültigkeit, wenn ſie nicht der Reichstag genehmigt hat, es ſei denn, daß ſie eine bloße Ausführungsbeſtimmung eines Geſetzes iſt. (R. -V. Art. 7 Ziff. 2.) Durch dieſen Grundſatz iſt der Regierung des Reiches jede Abänderung des beſtehenden Rechtszuſtandes, jede Maßregel, welche die Herſtellung eines neuen Rechtsſatzes erfordert, jede Auf - hebung geſetzlich begründeter Einrichtungen ohne die Zuſtimmung des Reichstages unmöglich gemacht. Die Wirkung dieſes Prin - cips erſtreckt ſich gleichmäßig auf alle Gebiete der ſtaatlichen Thätigkeit, Rechtspflege, Wohlfahrtspflege, Schutz gegen das Aus - land, Finanzweſen. Die Geſetzgebung iſt nicht ein Theil der Staatsgewalt ſondern eine Form, in welcher ſie ſich äußert; es giebt keine legislative Gewalt, ſondern nur eine Bethätigung der Staatsgewalt in legislativer Form1)Die nähere Darſtellung der Lehre von der Geſetzgebung wird im II. Bande folgen..

Die Zuſtimmung des Reichstages zu Geſetzen kann nicht nur erfolgen, wenn die letzteren vom Bundesrathe vorgeſchlagen ſind, ſondern der Reichstag kann auch ſeinerſeits Geſetze vorſchlagen; er hat das ſogenannte Recht der Initiative. R. -V. Art. 23.

II. Die Form des Geſetzes iſt nicht nur anwendbar bei der Aufſtellung von Rechtsnormen, ſondern auch bei der Beſchlußfaſ - ſung über Verwaltungsgeſchäfte im umfaſſendſten Sinne dieſes Ausdrucks. Soll der Reichstag eine poſitive Mitwirkung an der Erledigung dieſer Geſchäfte, reſp. an der Entſcheidung, ob und wie ſie vorgenommen werden ſollen, erhalten, ſo wird dieſes Re - ſultat dadurch erreicht, daß der Weg der Geſetzgebung vor - geſchrieben wird. Dies iſt in folgenden Fällen geſchehen:

1) Der Reichshaushalts-Etat wird durch ein Geſetz feſtgeſtellt. 507§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.R. -V. Art. 69. Dadurch hat der Reichstag nicht nur Gelegenheit, die Finanzwirthſchaft des Reiches mit zu beherrſchen, und in Aus - ſicht genommene Regierungshandlungen oder Einrichtungen durch Be - willigung oder Verſagung der dazu erforderlichen Geldmittel zu ge - nehmigen oder zu verhindern, ſondern auch die geſammte Verwaltung, die Organiſation und Thätigkeit aller Behörden und alle hervortre - tenden Bedürfniſſe bei der Berathung über die einzelnen Anſätze des Etats ſeiner Controle und Kritik zu unterziehen. Die Vorſchrift, daß der Reichshaushalts-Etat mit Genehmigung des Reichstages feſt - geſtellt werden ſoll, ermöglicht dem Reichstage indirekt eine Ein - wirkung auf alle diejenigen Akte der Reichsregierung, für welche an ſich die Form des Geſetzes nicht vorgeſchrieben iſt. Das Nähere wird bei der Lehre vom Finanzrecht dargeſtellt werden.

2) Die Aufnahme einer Anleihe, ſowie die Uebernahme einer Garantie zu Laſten des Reiches kann nur erfolgen im Wege der Reichsgeſetzgebung. R. -V. Art. 73.

3) Das Geſetz vom 4. Dez. 1871 §. 8 (R. -G.-Bl. S. 414) beſtimmte: Die Verwendung der von Frankreich gezahlten Kriegs - entſchädigung wird durch Reichsgeſetz geregelt. In Folge deſſen ſind die Geſetze v. 15. Juni und 8. Juli 1872 ergangen. Das letztere reſervirt 1 ½ Milliarden und ordnet im Art. VI. (R. -G.-Bl. S. 292) an, daß über dieſen Betrag im Wege der Reichsgeſetz - gebung Beſtimmung getroffen wird, und enthält im Art. VII. (R. -G.-Bl. S. 292) die Beſtimmung, daß über die dem ehemaligen Norddeutſchen Bunde in Gemäßheit dieſes Geſetzes zufallende Ein - nahme im Wege des Reichsgeſetzes verfügt wird.

In einer Reihe von Geſetzen iſt auf Grund dieſer Beſtimmun - gen dann ſowohl die Verwendung des reſervirten Reſtbetrages von 1 ½ Milliarden1)Geſ. v. 29. März, 23. Mai, 30. Mai, 12. Juni, 18. Juni und 8. Juli 1873. Geſ. v. 25. Januar, 9. Februar, 10. Februar 1875., als die Verwendung und Vertheilung des auf den Norddeutſchen Bund entfallenden Antheils2)Geſ. v. 2. Juli 1873 (R. -G.-Bl. S. 185.) Geſ. v. 23. Febr. 1874 §. 4. Geſ. v. 16. Febr. 1875. geregelt oder ge - ſetzliche Anordnung vorbehalten worden3)Geſ. v. 2. Juli 1873 Art. 2 §. 4. 5. Geſ. v. 10. Febr. 1875 §. 2 u. v - 16. Febr. 1875 §. 3.. Dieſe ganze Geſetz - gebung iſt ihrem Inhalte nach theils eine Auseinanderſetzung der an der Kriegskoſten-Entſchädigung betheiligten Intereſſenten, (iu -508§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.dicium communi dividundo), theils ein Complex von Verfügungen, welche die Finanzwirthſchaft des Reiches betreffen. Die Form des Geſetzes hatte lediglich den Zweck, dem Reichstage hierbei die Mit - wirkung zu ſichern.

Der eben beſprochene Fall, in welchem ein großartiges Ver - waltungsgeſchäft in der Form des Geſetzes erledigt worden iſt, hat aber nur die Bedeutung eines Beiſpiels. Es iſt bis jetzt der bedeutendſte und wichtigſte Fall ſeit der Gründung des Norddeutſchen Bundes, in welchem die Form des Geſetzes in dieſer Art Anwen - dung gefunden hat. Principiell beſteht kein Hinderniß, jede denk - bare Verwaltungsmaßregel im Wege der Reichsgeſetzgebung anzu - ordnen, wenn ſie von ſolcher Wichtigkeit iſt, daß es angemeſſen erſcheint, den Reichstag an derſelben zu betheiligen1)So ſchreibt z. B. auch das Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 15 für die Ver - wendung der etwa entbehrlich werdenden Aktivbeſtände des Reichs-Invaliden - fonds eine Beſtimmung durch Reichsgeſetz vor..

4) Verfaſſungsſtreitigkeiten in den Einzelſtaaten ſind nach Art. 76 Abſ. 2 der R. -V. unter den daſelbſt aufgeführten Voraus - ſetzungen im Wege der Reichsgeſetzgebung d. h. unter Mitwir - kung des Reichstages zur Erledigung zu bringen. Vrgl. hierüber oben §. 29 S. 270 fg.

III. Neben der Form des Geſetzes ſteht als faſt ebenſo weit - reichend die Form der Genehmigung. Wo die Genehmigung des Reichstages geſetzlich erfordert wird, iſt demſelben politiſch kein geringeres Mitwirkungsrecht zugeſtanden als bei der Geſetz - gebung. Allein ſtaatsrechtlich beſteht zwiſchen den beiden Formen ein ſehr erheblicher Unterſchied. Für ein Geſetz iſt die Zuſtim - mung des Reichstages begriffliche Vorausſetzung; fehlt es an derſelben, ſo iſt das Geſetz nicht etwa blos unter Verletzung des öffentlichen Rechtes zu Stande gekommen, ſondern es iſt überhaupt gar kein Geſetz. Ein ohne Zuſtimmung des Reichstages erlaſſenes Reichsgeſetz iſt eine contradictio in adjecto. In dem Geſetz er - ſcheinen der Wille des Bundesrathes und der Wille des Reichs - tages nicht getrennt; es enthält nicht zwei Willenserklärungen von identiſchem Inhalt; ſondern das Geſetz nimmt die übereinſtimmenden Mehrheitsbeſchlüſſe von Bundesrath und Reichstag in ſich auf, es verbindet ſie zu einem einheitlichen Akt, zu einer Willenserklärung der einen einheitlichen Reichsgewalt. Im Gegenſatz hierzu iſt die509§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.Genehmigung des Reichstages alsdann vorgeſchrieben, wenn es ſich um Regierungsacte handelt, zu deren Vornahme formell der Bundesrath oder der Kaiſer, reſp. die Reichsbehörden, befugt ſind, die ihrem Weſen nach auch ohne die Zuſtimmung des Reichs - tages vorgenommen werden könnten, deren Vornahme aber den dazu befugten Organen ohne dieſe Zuſtimmung unterſagt iſt. Wer - den dieſe Handlungen deſſen ungeachtet vorgenommen, ſo ſind ſie keineswegs nichtig. Wären ſie es, ſo könnten ſie auch durch nach - trägliche Genehmigung des Reichstages nicht wirkſam werden; ſo wenig wie ein Geſetz, das etwa nach ſeiner eigenen Angabe ohne Zuſtimmung des Reichstages erlaſſen wäre, dadurch gültig werden könnte, daß der Reichstag nachträglich durch eine Reſolution ſich mit ihm einverſtanden erklärt. Vielmehr bedürfen dieſe Handlungen zu ihrer formellen Rechtsbeſtändigkeit nicht der Zuſtimmung des Reichstages. In ſehr zahlreichen Fällen kann die Zuſtimmung des Reichstages gar nicht der Regierungshandlung vorausgehen, ſondern nur ihr nachfolgen.

Die ſtaatsrechtliche Bedeutung der Vorſchrift, daß zu einer Handlung der Regierung die Genehmigung des Reichstages er - forderlich iſt, kann nach Lage des Falles ſehr verſchieden ſein. Es kommt dabei im Weſentlichen auf den Inhalt der Verfügung an; namentlich aber darauf, ob die Zuſtimmung des Reichs - tages im Voraus ertheilt war oder nachträglich einzuholen iſt. War dieſelbe ſchon vorher ertheilt, ſo wird die Regierungshand - lung unbedingt und definitiv wirkſam. Wenn die Genehmigung des Reichstages nachträglich noch einzuholen iſt, ſo erfolgt die Re - gierungshandlung unter dem ausdrücklichen oder ſtillſchweigenden Vorbehalt dieſer Genehmigung. Wird dieſelbe ertheilt, ſo er - ledigt ſich dieſer Vorbehalt und die Regierungshandlung wird in derſelben Art wirkſam, als wäre ſie unbedingt vorgenommen worden. Wenn dagegen die Genehmigung verſagt wird, ſo iſt die Bedingung nicht eingetreten, und die von der Regierung unter dieſer Bedingung abgegebenen Willenserklärungen erlangen ent - weder keine Wirkſamkeit oder verlieren, wenn ſie interimiſtiſch wirkſam waren, durch die Verſagung der Genehmigung (alſo ex nunc) ihre Wirkſamkeit1)Man nennt ſehr häufig, auch in Geſetzen, die vorhergehende Zuſtimmung Ermächtigung , die nachfolgende Ratihabition . Die Analogie mit dem Man -. In beiden Fällen aber, mag die Zuſtimmung510§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.des Reichstages vorausgehen oder nachfolgen, ſteht dieſelbe ſelbſt - ſtändig und unabhängig neben der Willenserklärung der Regie - rung; ſie bildet nicht, wie bei dem Geſetz, einen integrirenden Be - ſtandtheil des ſtaatlichen Willensactes, ſondern eine Willenserklä - rung für ſich. Bei dem Geſetze erklärt der Staat ſeinen Willen in einer Form, welche die Willenserklärungen ſeiner Organe mit einander verſchmilzt; im Falle der Genehmigung einer Regierungs - handlung durch den Reichstag werden die Willenserklärungen der Organe formell getrennt erhalten. Dadurch wird der praktiſche Zweck erreicht, daß Dritten gegenüber das Reich ſeinen Willen durch ſeine zur Vertretung befugten Regierungsorgane erklären kann und daß die ganze Frage, ob die Genehmigung des Reichstages ertheilt worden iſt, ob ſie überhaupt erforderlich iſt, ob ſie unter Einſchrän - kungen oder unter Gegenzugeſtändniſſen der Regierung zu erlangen iſt u. ſ. w. eine gleichſam innere Angelegenheit der Organe des Reiches bleibt.

Man muß es der traditionellen Darſtellung des conſtitutio - nellen Staatsrechts zum Vorwurf machen, daß ſie bei Erörterung der Kompetenz der Volksvertretung neben der Geſetzgebung die Form der Genehmigung ganz außer Betracht läßt1)Es beruht dies offenbar darauf, daß in politiſcher Beziehung beide Formen beinahe gleichwerthig erſcheinen., und zwar umſomehr als der Bereich der Anwendung dieſer Form ein ſehr bedeutender iſt. Für das Reichsſtaatsrecht gehören hierher folgende Fälle:

1) Inſoweit die Verträge mit fremden Staaten ſich auf ſolche Gegenſtände beziehen, welche nach Art. 4. in den Bereich der Reichsgeſetzgebung gehören, iſt zu ihrem Abſchluß die Zuſtim - mung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Ge - nehmigung des Reichstages erforderlich. R. -V. Art. 11 Abſ. 3.

1)dat und der Ratihabition des Civilrechts liegt auch ziemlich nahe; dennoch muß man ſich hüten, dieſe Begriffe des Civilrechts hier einzumengen. Die Re - gierung handelt niemals als Mandatar oder negotiorum gestor des Reichs - tages ſondern nur für das Reich. Die Regierung und der Reichstag ſind nicht zwei, einander ſelbſtſtändig gegenüber ſtehende Rechtsſubjecte wie Man - datar und Mandant oder wie Geſchäftsführer und Prinzipal, ſondern ſie ſind zwei Organe derſelben einheitlichen und untheilbaren juriſtiſchen Perſon, des Reiches.

511§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.

Ein völkerrechtlicher Vertrag wird, ſelbſt wenn er die Rechts - ordnung und die geſetzlich begründeten Einrichtungen des Reiches berührt und verändert, nicht in der Form des Geſetzes, ſondern in der Form der Uebereinkunft verkündet und durch dieſe Verkün - digung verbindlich. Zum Abſchluß von Verträgen mit fremden Staaten iſt der Kaiſer berechtigt; er ertheilt die Vollmacht zur Verhandlung des Vertrages und zur Ratificirung deſſelben.

Es könnte demnach die Abſchließung eines völkerrechtlichen Vertrages zur Umgehung der Form des Geſetzes verwendet werden, indem man eine Abänderung der Rechtsordnung, für welche vor - ausſichtlich die Einwilligung des Reichstages nicht zu erlangen iſt, zum Inhalt eines Vertrages mit irgend einem fremden Staate macht. Gäbe es für die Mitwirkung des Reichstages bei der Auf - ſtellung von Rechtsſätzen keine andere Form als die des Geſetzes und will man völkerrechtliche Verträge nicht in dieſe Form zwängen, ſo hätte die Regierung es in der Hand, die Mitwirkung des Reichs - tages an der Feſtſtellung und Abänderung der Rechtsordnung illuſoriſch zu machen. Hier tritt als eine der Reichsgeſetzgebung gleichſam parallele Form die Genehmigung des Reichstages ein. Der Vertrag braucht nicht in ein Geſetz verwandelt zu werden, ſondern er bleibt, was er ſeinem Urſprung und Weſen nach iſt; und dennoch verbleibt dem Reichstage derſelbe Antheil, den ihm die Form des Geſetzes zutheilt. Da Alles, was Gegenſtand der Geſetzgebung ſein kann, möglicher Weiſe auch zum Gegenſtande eines internationalen Vertrages gemacht werden kann, ſo erſtreckt ſich ideell das Erforderniß der Genehmigung des Reichstages grade ſoweit wie das Erforderniß der Zuſtimmung des Reichstages zu einem Geſetze, wenngleich thatſächlich natürlich die Form des Ge - ſetzes viel ausgedehntere Anwendung findet wie die Form des genehmigten Staatsvertrages 1)Die Lehre vom Abſchluß von Staatsverträgen wird im II. Bande ein - gehender erörtert werden.. Erforderlich iſt die Genehmigung des Reichstages bei allen Verträgen über Gegenſtände, welche in den Bereich der Reichsgeſetzgebung gehören2)Die Hinzufügung der Worte nach Art 4 im Art. 11 der R. -V. enthält keine Einſchränkung und iſt überflüſſig. Denn der Art. 4 gränzt nicht, die Geſetzgebung gegen die Verwaltungs-Verordnung, die Kompetenz des Reichs - tages gegen die Kompetenz des Kaiſers und Bundesraths, ſondern die Kom -.

512§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.

2) Eine vielfache Anwendung findet die Form der Genehmi - gung ſtatt des Geſetzes in Finanz-Angelegenheiten. Zwar fehlt in der Reichsverfaſſung eine Beſtimmung, wie ſie Art. 104 Abſ. 1 der Preuß. -Verf.-Urk. enthält: Zu Etats-Ueberſcheitungen iſt die nachträgliche Genehmigung der Kammern erforderlich, durch welche für dieſe Genehmigung ein völliges Parallelgebiet zu der Feſt - ſtellung des jährlichen Etats in der Form der Geſetzgebung ge - ſchaffen wird. Dadurch, daß dieſe Form nicht ausdrücklich in der Verfaſſung erwähnt wird, ſie iſt aber keineswegs ausgeſchloſſen. In der Praxis des Reichsrechts hat in der That neben der Form eines Nachtrags-Etats-Geſetzes, durch welches der geſetzlich feſtge - ſtellte Etat ergänzt oder verändert wird, die Form der Genehmi - gung der Etats-Ueberſchreitungen unter Uebereinſtimmung der Regierung und des Reichstages ſeit 1872 Anwendung gefunden1)Vgl. über dieſen Punkt die Verhandlungen im Reichstage am 23. Juni 1873. Stenogr. Ber. S. 1344 ff. und der im Jahr 1873 und ſpäter wiederholt vorgelegte Geſetz - entwurf über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches beabſichtigte, dieſe Praxis zu ſanctioniren, indem er im §. 6 vorſchrieb, daß in der, dem Bundesrathe und dem Reichs - tage vorzulegenden Ueberſicht die Etats-Ueberſchreitungen und die außeretatsmäßigen Ausgaben behufs deren nachträglicher Ge - nehmigung beſonders nachzuweiſen ſind.

Auch das Geſetz v. 30. Mai 1873 über den Feſtungsbau Art. VII. (R. -G.-Bl. S. 125) beſtimmt, daß eine Nachweiſung der Ueberſchreitung ſolcher Etats und der außeretatsmäßigen Ein - nahmen und Ausgaben jedesmal ſpäteſtens in dem auf das Etats - jahr folgenden zweiten Jahre dem Bundesrathe und dem Reichs - tage zur nachträglichen Genehmigung vorzulegen iſt. Eine ähn - liche Beſtimmung enthält das Geſetz über das Verwaltungs-Ver - mögen des Reiches vom 25. Mai 1873 §. 10 u. §. 11 (R. -G.-Bl. S. 15)2)Vgl. auch Geſ. v. 8. Juli 1872 Art. IV. (R. -G.-Bl. S. 290) und den Geſetzentw. über die Verwaltung der Einnahmen u. Ausgaben des Reiches §. 2. und §. 3. hinſichtlich der Einnahmen aus der Veräußerung von Gegenſtänden, welche ſich im Beſitz der Reichsverwaltung befinden.

2)petenz des Reiches gegen die der Einzelſtaaten ab. Es giebt keinen Bereich der Reichsgeſetzgebung als den nach Art 4, der jedoch nach Art. 78 ſelbſt wieder veränderlich iſt. Vgl. auch v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 335 Note 1.

513§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.

Aber nicht nur bei Abweichungen vom Etat, ſondern auch bei anderen Verwaltungs-Angelegenheiten von finanzieller Bedeu - tung iſt dieſelbe Form zur Anwendung gelangt. So erfordert z. B. das Bankgeſetz v. 14. März 1875 §. 41 (R. -G.-Bl. S. 189) zur Verlängerung des Privilegiums der Reichsbank über den 1. Januar 1891 hinaus, d. h. zur Unterlaſſung der Kündi - gung, die Zuſtimmung des Reichstages. Auch das Geſ. v. 5. Juni 1869 über die Aufhebung der Portofreiheiten §. 13 Abſ. 2 (B. -G.Bl. S. 143) überließ die Beſtimmungen über die Be - rechnung und Verwendung der dadurch erwachſenden Poſtüber - ſchüſſe der Verſtändigung im Bundesrathe unter Zuſtimmung des Reichstages , es wurde alſo die Form der Geſetzgebung für nicht erforderlich erklärt, wohl aber die Uebereinſtimmung von Bundesrath und Reichstag1)In ganz ähnlicher Art beſtimmt das Geſetz v. 8. Juli 1872 Art. V. (R. -G.Bl. S. 291): Die Feſtſtellung der von den betheiligten Staaten .... liquidirten Beträge erfolgt durch den Bundesrath und den Reichstag. Vgl. dazu den Bericht der Reichstags-Kommiſſion in den Stenogr. Berichten 1874 / 5 Anlagen S. 845 ff. (Aktenſtück Nro. 89.) Der Reichstag beſchloß (Stenogr. Ber. S. 1189), die liquidirten Beträge feſtzuſtellen ; ein Geſetz darüber iſt nicht ergangen..

3) Ein ferneres Gebiet für die Anwendung der Genehmigung liefern die Verordnungen, welche mit interimiſtiſcher Geſetzeskraft erlaſſen werden. Die Reichsverfaſſung ſelbſt kennt zwar keine ſo - genannten Nothſtands-Verordnungen nach Analogie des Art. 63 der Preuß. Verf. -Urk., welcher die Klauſel enthält, daß dieſelben den Kammern bei ihrem nächſten Zuſammentritt zur Genehmigung ſofort vorzulegen ſind. Wohl aber hat das Geſ. v. 25. Juni 1873 über die Einführung der Reichsverf. in Elſaß-Lothringen §. 8 (R. -G.-Bl. S. 162) dem Kaiſer das Recht beigelegt, unter Zu - ſtimmung des Bundesrathes, während der Reichstag nicht ver - ſammelt iſt, Verordnungen mit geſetzlicher Kraft zu erlaſſen, und hinſichtlich derſelben die Anordnung getroffen, daß ſie dem Reichs - tage bei deſſen nächſtem Zuſammentritt zur Genehmigung vorzulegen ſind. Sie treten außer Kraft, ſobald die Geneh - migung verſagt wird2)Die Genehmigung muß pure ertheilt werden. Genehmigung einer ſolchen Verordnung unter Abänderung derſelben gilt als Verwerfung verbunden mit der Aufſtellung eines neuen Geſetz-Entwurfes. Es ergiebt ſich dies aus. Es findet alſo bei dieſen VerordnungenLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 33514§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.durch die Ertheilung der Genehmigung formell keine Verwandlung in Geſetze ſtatt; ſie werden namentlich nicht nochmals als Geſetze publizirt; ſie bleiben Verordnungen, die der Kaiſer mit Zuſtim - mung des Bundesrathes erlaſſen hat. Formell ganz getrennt von ihnen ſteht die Reſolution des Reichstages, welche die Genehmigung ausſpricht; durch den Reichskanzler wird im Geſetzblatt für Elſaß - Lothringen lediglich bekannt gemacht, daß die Genehmigung ertheit worden iſt1)Vgl. Verordn. v. 17. Sept. 1874 über die Geſchäftsſprache der Gerichte (Geſetzbl. f. E. -L. S. 31) und dazu die Bekanntmachung vom 15. November 1874 (ebendaſ. S. 52.) Verordn. v. 5. März 1875 (Geſetzbl. S. 61.) und dazu die Bekanntmachung vom 10. Novemb. 1875 (ebendaſ. S. 188).. Anderſeits ſind ſie nur erlaſſen unter dem Vor - behalt der Genehmigung; die Verſagung derſelben entzieht ihnen analog dem Eintritt einer ex nunc wirkenden Reſolutivbedingung die Geſetzeskraft.

In einzelnen Fällen iſt auch für die Reichsgeſetzgebung eine ähnliche Anordnung getroffen. So ermächtigt z. B. das Brau - ſteuer-Geſetz v. 31. Mai 1872 §. 1. den Bundesrath vorbehaltlich der nachträglichen Genehmigung des Reichstages den gewöhnlichen Steuerſatz von 1 Thlr. 10 Sgr. von Malzſurrogaten für einzelne Stoffe nach Maßgabe ihres Brauwerthes zu ermäßigen.

4) Ein beſonders deutliches Beiſpiel für den Unterſchied zwi - ſchen der Form des Geſetzes und der der Genehmigung des Reichs - tages liefert ferner das Wahlgeſetz vom 31. Mai 1869. Im §. 15 iſt dem Bundesrath der Erlaß des Wahlreglements über - tragen; daſſelbe iſt eine Ausführungs-Verordnung zum Wahlge - ſetz. Auch die Abänderung deſſelben kann daher in der Form der Verordnung erfolgen. Aber §. 15 Abſ. 2 des Wahlgeſetzes beſtimmt, daß das Wahlreglement nur unter Zuſtimmung des Reichstages abgeändert werden kann. Das heißt nicht, daß die Abänderung durch ein Reichsgeſetz erfolgen müſſe, eine Bundesraths-Verordn. iſt vielmehr ausreichend, und auch die eigent - lich angemeſſene correcte Form. Jedoch darf der Bundesrath eine ſolche Verordnung nur erlaſſen, nachdem der Reichstag zu dem Inhalt derſelben ſeine Genehmigung ertheilt hat. Dagegen ent - hält §. 6 des Wahlgeſetzes die Anordnung, daß ein Reichsge -2)dem formalen Charakter der Genehmigung. Vgl. Stenogr. Berichte des Reichs - tages v. 1874 / 5 S. 123 fg. 139. 141.515§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.ſetz die Abgrenzung der Wahlkreiſe beſtimmen wird und bis dahin die gegenwärtigen Wahlkreiſe beizubehalten ſind. Jede Verände - rung derſelben erfordert daher nicht nur eine mit Genehmigung des Reichstages erlaſſene Bundesraths-Verordnung, ſondern ein förmliches Geſetz1)Vgl. das Geſ. v. 20. Juni 1873 (R. -G.-Bl. S. 144) über die Wahl - kreiſe Beuthen und Kattowitz..

5) Endlich iſt hier noch zu erwähnen, daß die von dem Kaiſer (R. -V. Art. 12) zu verfügende Vertagung des Reichstages der Zu - ſtimmung des letzteren bedarf, wenn ſie die Friſt von 30 Tagen überſteigt oder während derſelben Seſſion wiederholt wird. R. -V. Art. 262)Die in Art. 31 der R. -V. erwähnte Genehmigung des Reichstages zur ſtrafrichterlichen Verfolgung oder Verhaftung eines Mitgliedes hat einen an - deren rechtlichen Charakter; vgl. darüber unten §. 52..

IV. Eine andere Reihe von Befugniſſen des Reichstages läßt ſich unter dem gemeinſamen Geſichtspunkte zuſammenfaſſen, daß ſie dem Reichstage eine Controle der geſammten Reichsverwaltung ermöglichen. Abgeſehen von der Berathung des Etats, welche in - direct dieſem Zwecke dient, ſind es folgende ſtaatsrechtliche Formen, in denen der Reichstag die Controle über die Regierung des Reiches übt und durch welche ihm die Ausübung dieſer Funktion geſichert wird.

1) Art. 72 der R. -V. beſtimmt, daß über die Verwendung aller Einnahmen des Reiches durch den Reichskanzler dem Bundes - rathe und dem Reichstage zur Entlaſtung jährlich Rechnung zu legen iſt. Bei der Darſtellung des Finanzrechtes wird dieſer wichtige Verfaſſungs-Grundſatz im Einzelnen erörtert werden; hier genügt es, im Allgemeinen die Stellung zu charakteriſiren, welche durch denſelben dem Reichstage den übrigen Reichsorganen gegen - über gewährt wird. Sowohl die vorläufige Ueberſicht ſämmtlicher Einnahmen und Ausgaben , als die definitive, nach erfolgter Prü - fung durch den Rechnungshof vorzulegende Allgemeine Rechnung erweiſen ſich, wie jede Rechnungslegung, als eine Berichter - ſtattung und zwar als ein Bericht der Reichsregierung über die geſammte Verwaltung in finanzieller Beziehung. Dieſer Be - richt hat einerſeits den Zweck, dem Reichstag den Nachweis zu erbringen, daß die Verwaltung den beſtehenden Vorſchriften und33*516§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.dem Reichshaushalts-Etat gemäß geführt worden iſt, reſp. die thatſächlichen Gründe darzulegen, aus denen Abweichungen von dem Etatsgeſetz ſich ergeben haben, andererſeits die Beweisſtücke und die kalkulatoriſche Feſtſtellung darüber zu liefern, daß die Ein - nahmen und Ausgaben des Reiches in der angegebenen Höhe wirklich ſtattgefunden haben; alſo vulgär ausgedrückt: die Geſetz - lichkeit und Ehrlichkeit der Verwaltung darzulegen1)Eine Ergänzung findet dieſer Bericht durch eine Angabe der im Laufe des Jahrs ſtattgehabten Veränderungen im Grundbeſitz des Reiches. Geſ. v. 25. Mai 1873 §. 12. (R. -G.-Bl. S. 116.). Der Reichs - tag hat das Recht und die Pflicht, dieſen Bericht zu prüfen und, wenn er keine Ausſtellungen gegen denſelben zu erheben hat, der Regierung das Anerkenntniß geſetzmäßiger, ehrlicher und ordent - licher Verwaltung auszuſprechen, indem er ihr Entlaſtung ertheilt .

Reichstag und Bundesrath ertheilen dieſes Anerkenntniß nicht gemeinſchaftlich und ebenſo wenig wird die Uebereinſtimmung beider Organe durch einen einheitlichen Akt erklärt, ſondern jedes der - ſelben giebt ſeine Erklärung ſelbſtſtändig und für ſich ab, beide dem Reichskanzler gegenüber als dem verantwortlichen Chef der Verwaltungsbehörden2)Entſprechend der regelmäßigen Rechnungslegung über die jährliche Verwaltung iſt die einmalige Rechnungslegung über die Kriegskoſten und deren Erſatz, ſowie über die Verwendung der Kriegskoſten-Entſchädigung. Der Reichs - kanzler war durch das Geſ. v. 2. Juli 1873 §. 4 (R. -G.-Bl. S. 186) ver - pflichtet worden, dem Reichstag hierüber bei der nächſten ordentlichen Zu - ſammenkunft Rechenſchaft zu geben. Ebenſo durch das Geſ. v. 27. Ja - nuar 1875 §. 5 über die Anleihe für die Marine und Telegraphenverwaltung. (R. -G.-Bl. S. 19.).

2) Im engſten Zuſammenhange hiermit ſtehen Berichte finanziellen Inhalts, welche dem Reichstage über diejenigen Ver - mögensmaſſen des Reiches zu erſtatten ſind, welche nicht durch die regelmäßige Etatswirthſchaft verbraucht werden, nicht gleichſam durch die Reichskaſſe während des Verwaltungsjahres blos durchlaufen und daher auch nicht durch die allgemeinen Jahresrechnungen nach - gewieſen werden. Dieſe Berichterſtattung liegt ob der Reichs - ſchuldenkommiſſion, welche nach dem Vorbild der Preußiſchen Staats - ſchuldenkommiſſion durch das Geſ. v. 19. Juni 1868 (R. -G.-Bl. S. 339) gebildet worden iſt und zu welcher der Reichstag immer auf 3 Jahre drei Mitglieder zu wählen hat. Dem Reichstage517§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.(u. Bundesrathe) gegenüber hat die Reichsſchuldenkommiſſion die - ſelben Pflichten, welche die Preuß. Staatsſchuldenkommiſſion nach dem Geſetz v. 24. Febr. 1850 dem Preuß. Landtage gegenüber hat1)Geſ. v. 19. Juni 1868 §. 7 (B. -G.-Bl. S. 340.) Vgl. oben S. 354.. Demnach findet der §. 15 dieſes Preußiſchen Geſetzes ana - loge Anwendung, wonach die Schuldenkommiſſion dem Reichstage bei dem jährlichen regelmäßigen Zuſammentritt Bericht zu erſtatten hat über ihre Thätigkeit, ſowie über die Ergebniſſe der unter ihre Aufſicht geſtellten Verwaltung des Schuldenweſens in dem ver - floſſenen Jahre.

Außer dem Berichte über die Reichsſchulden hat die Reichs - ſchuldenkommiſſion dem Reichstage jährlich Berichte zu erſtatten

  • über den Beſtand des Reichs-Kriegsſchatzes
    2)Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 3 (R. -G.-Bl. S. 404.)
    2),
  • über die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds
    3)Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 14 (R. -G.-Bl. S. 121.)
    3),
  • über die Verwaltung des Reichs-Feſtungs-Baufonds
    4)G[e]ſ. v. 30. Mai 1873 Art. III. (R. -G.-Bl. S. 124.)
    4)
  • und des Fonds für Errichtung des Reichstagsgebäudes
    5)Geſ. v. 8. Juli 1873 §. 1 Abſ. 2. (R. -G.-Bl. S. 218.)
    5).

Die Stellung des Reichstages dieſen Berichten gegenüber und die ihm über dieſelbe zuſtehende Beſchlußfaſſung iſt eine doppelte. Die Verwaltung der bezeichneten Vermögensmaſſen ſelbſt iſt nicht Sache der Reichsſchuldenkommiſſion, die eigentliche Verwaltung ſteht beſonderen, dafür eingeſetzten Behörden zu; die Reichsſchulden - kommiſſion iſt vielmehr nur eine gemiſchte Kommiſſion des Bundes - rathes und Reichstages zur Controlirung dieſer Behörden und zur Vorprüfung der von denſelben gelegten Rechnungen und Nachweiſe.

Die Entlaſtung dieſer Behörden kann nicht die Reichsſchulden - kommiſſion ertheilen, ſondern nur Bundesrath und Reichstag ſelbſt; die Kommiſſion kann lediglich über den Ausfall ihrer Prüfung be - richten und falls ſich dabei keine Erinnerungen ergeben haben, die Ertheilung der Entlaſtung beantragen. Der Reichstag hat demnach eine doppelte Entſcheidung abzugeben, einerſeits darüber, ob die Reichsſchuldenkommiſſion durch Erſtattung ihres Berichts ihre ge - ſetzliche Pflicht ordnungsmäßig erfüllt hat, und andererſeits auf Grund dieſes Berichtes darüber, ob die betreffende Finanzbehörde518§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.die ihr obliegende Verwaltung ordnungsmäßig geführt und darüber ordnungsmäßig Rechnung gelegt hat. Wenn der Reichstag beide Fragen bejahend entſcheidet, ſo geſchieht dies in der Form1)Vgl. z. B. Stenogr. Berichte 1873 S. 1190., daß er erſtens erklärt: daß die Reichsſchuldenkommiſſion durch Ueberreichung des .... Berichtes der Beſtimmung des Geſetzes vom .... Genüge gethan habe2)Dieſe Erklärung kann aber vom Reichstage auch ſtillſchweigend abgegeben werden, indem gegen den Bericht keine Ausſtellung erhoben und dem darin enthaltenen Antrage gemäß die Entlaſtung ausgeſprochen wird. Vgl. Stenogr. Berichte 1874 / 5 S. 1190. und daß er ferner beſchließt: der Reichsſchulden-Verwaltung (Verwaltung des Reichskriegs - ſchatzes, Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds) für die im Berichte erörterten Rechnungen Entlaſtung zu ertheilen.

Der rechtliche Charakter dieſer Beſchlüſſe iſt derſelbe, wie bei der Ertheilung der Entlaſtung auf Grund der Jahres-Rechnung. Bundesrath und Reichstag ſtehen auch hier der Finanzverwaltung und der Reichsſchuldenkommiſſion völlig gleichberechtigt und mit denſelben Funktionen gegenüber und geben das Anerkenntniß ordent - licher und geſetzmäßiger Verwaltung getrennt und unabhängig von einander ab.

3) Das Mittel der Berichterſtattung, um dem Reichstag eine Kontrole der Verwaltung zu ermöglichen und zu ſichern, iſt nicht auf die Finanz-Angelegenheiten beſchränkt. Es kann bei allen größeren Verwaltungsoperationen Anwendung finden und die Re - gierung kann ſich aus politiſchen Rückſichten dieſer Berichterſtattung in der Regel kaum entziehen, wenn der Reichstag ſie verlangt.

Eine ſtaatsrechtliche Pflicht der Regierung zur Erſtattung von periodiſchen Berichten beſteht aber nur, wenn dieſelbe durch eine beſondere Geſetzes-Beſtimmung ausdrücklich vorgeſchrieben iſt. Dies iſt z. B. geſchehen durch das Geſetz über die Vereinigung von Elſaß-Lothringen v. 9. Juni 1871 §. 3 Abſ. 3, wonach dem Reichstage bis zur Einführung der R. -V. über die erlaſſenen Ge - ſetze und allgemeinen Anordnungen und über den Fortgang der Verwaltung jährlich Mittheilung zu machen war; ferner durch das Geſ. v. 4. Dez. 1871 §. 11 Abſ. 3 (R. -G.Bl. S. 406) über die519§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.Einziehung der bisherigen Münzen, und durch das Militärgeſetz §. 37 über die Ergebniſſe des Ergänzungsgeſchäfts. (R. -G.-Bl. 1874 S. 55.) Ueberdies hat der Reichstag in der Seſſion von 1872 den Wunſch ausgedrückt, daß der Bundesrath ihm regel - mäßig Mittheilungen mache über die von demſelben gefaßten Ent - ſchließungen auf die von dem Reichstage beſchloſſenen Geſetzent - würfe und Anträge. Der Bundesrath hat beſchloſſen, dieſem Wunſche zu entſprechen1)Vgl. das Schreiben des Reichskanzlers v. 14. März 1873. Stenogr. Berichte 1873. Anlagen Nro. 14. S. 60.. Auch dieſe Ueberſichten der Ent - ſchließungen des Bundesrathes ſind periodiſche Berichte.

Ferner wird die für den Rechnungshof erlaſſene Inſtruktion dem Reichstage bei deſſen nächſten Zuſammentritt mitgetheilt 2)Geſ. v. 4. Juli 1868 §. 5 (B. -G.-Bl. S. 434.).

Auch wenn der Kaiſer auf Grund des Art. 68 der R. -V. einen Theil des Bundesgebietes in Kriegszuſtand erklärt, iſt nach §. 17 des Preuß. Geſ. v. 4. Juli 1851, welches bis zum Erlaß eines Reichsgeſetzes für dieſen Fall Geltung hat, dem Reichstage ſofort, beziehungsweiſe bei ſeinem nächſten Zuſammentreten Rechen - ſchaft zu geben.

Die Rechenſchaft giebt dem Reichstage Gelegenheit zu erklären, ob er die Verhängung des Kriegszuſtandes für gerechtfertigt erachte oder nicht, ohne daß freilich von dieſem Urtheil ſtaatsrechtliche Folgen abhängen3)Anderer Anſicht in Bezug auf das Preußiſche Recht v. Rönne Preuß. Staatsr. I. §. 101 S. 219 ff..

4) Außer den Berichten, welche dem Reichstage von den Reichsbehörden zu erſtatten ſind, iſt demſelben ein Mittel der Kontrole der Reichsverwaltung durch den Art. 23 der R. -V. ge - geben, indem er befugt iſt, an ihn gerichtete Petitionen dem Bun - desrathe reſp. Reichskanzler zu überweiſen4)Man ſpricht deshalb ſehr häufig von einem Petitionsrecht , welches allen Deutſchen auf Grund ihrer Reichsangehörigkeit zuſtehe; z. B. Thu - dichum S. 523. G. Meyer Grundzüge S. 116. v. Rönne S. 171. Seydel S. 151. Riedel S. 48 und beſonders v. Mohl in der Tüb. Zeitſchr. f. Staatswiſſenſch. 1875 Bd. 31 S. 99 ff. Allein abgeſehen, daß das Recht zu petitioniren ein natürliches Recht von ähnlichem Inhalte iſt wie das Recht, Briefe zu ſchreiben oder Lieder zu ſingen, iſt der Reichstag nach Art. 23 keineswegs darauf beſchränkt, Petitionen von Reichsangehörigen ent -. Es liegt in dieſer520§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.Ueberweiſung zugleich ein Urtheil über die Berechtigung der vorgelegten Bitte und, wenn dieſe Bitte thatſächlich auf die Dar - legung von Handlungen oder Unterlaſſungen der Reichsbehörden geſtüzt iſt, eine vom Reichstage gefällte Kritik über das Verfahren der letzteren. Daher gewährt der Art. 23 ein conſtitutionelles Recht des Reichstages, Verletzungen der Geſetze Seitens der Reichs - verwaltung oder der Staatsbehörden auf dem den Einzelſtaaten überlaſſenen Gebiete der Selbſtverwaltung zu rügen und thatſäch - liche Uebelſtände oder Mängel, welche Abhülfe erfordern, in amt - licher Weiſe zu erörtern. Den ſtaatsrechtlichen Inhalt des Peti - tionsrechts bildet nicht die Befugniß der Einzelnen, ſich an den Reichstag mit einer Bitte zu wenden, ſondern die Befugniß des Reichstages zur Ueberweiſung der an ihn gerichteten Petitionen an die Regierungsorgane des Reiches. Wenngleich der vom Reichs - tage gefaßte Beſchluß weder unmittelbar Abhülfe ſchaffen kann, noch für die anderen Organe des Reiches und die Verwaltungs - behörden der Staaten formell bindend iſt, ſo verleiht doch das im Art. 23 der R. -V. anerkannte Recht dem Reichstage gewiſſermaßen die Stellung eines öffentlichrechtlichen Rügegerichts den Verwal - tungsbehörden gegenüber.

V. Die eigentlich ſtaatsrechtlichen Befugniſſe des Reichstages in Bezug auf die Lebensthätigkeit des Reiches ſind durch die im Vorſtehenden aufgezählten Rechte erſchöpft. Hinzuzufügen bleibt nur noch, daß die Ausübung dieſer Befugniſſe des Reichstages den anderen Reichsorganen gegenüber dadurch geſichert iſt, daß dem Reichstage die Regelung ſeiner eigenen, internen Angelegen - heiten zuſteht. Nach Art. 27 der R. -V. hat der Reichstag die Befugniß:

  • 1) die Legitimation ſeiner Mitglieder zu prüfen und darüber zu entſcheiden.

4)gegenzunehmen. Auch Ausländer ſind durch Nichts gehindert, bei dem Reichs - tag Petitionen einzureichen, und der Reichstag iſt nach Art. 23 befugt, auch ſie dem Bundesrathe oder Reichskanzler zu überweiſen. Das Recht beim Deutſchen Reichstage zu petitioniren, wäre daher, wenn überhaupt ein Recht, kein Recht der Deutſchen Reichsbürger, ſondern aller Weltbürger. Nur von einem Rechte des Reichstags in dem im Text entwickelten Sinne kann man ſprechen, wenn man nicht Recht jede Thätigkeit nennen will, welche nicht verboten iſt.

521§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.
  • 2) durch eine Geſchäfts-Ordnung ſeinen Geſchäftsgang und ſeine Disciplin zu regeln.
  • 3) ſeinen Präſidenten, ſeine Vicepräſidenten und Schriftführer zu wählen.
  • 4) Hierzu kömmt noch das im Geſ. v. 31. März 1873 §. 156 (R. -G.-Bl. S. 90) anerkannte Recht, daß der Reichstags-Präſident die Reichstags-Beamten anſtellt und die vorgeſetzte Behörde der - ſelben bildet.

VI. In der ſtaatsrechtlichen Literatur werden faſt allgemein den Volksvertretungen noch einige andere Rechte zugeſchrieben, welche bei näherer Betrachtung keine Rechte ſind, weil ſie keinen rechtlichen Inhalt und keine rechtliche Wirkung haben. Auch in den meiſten Darſtellungen des Reichsrechts haben ſolche Pſeudo - rechte des Reichstages einen Platz gefunden1)Vgl. zu dem Folgenden die Verhandlungen des verfaſſungberathenden Reichstages v. 29. März 1867. Stenogr. Ber. S. 443 ff.. Es ſind nament - lich folgende zwei:

1) Das Recht, Interpellationen an die Reichsregierung zu richten2)Thudichum S. 213 fg. Riedel S. 36 unter 6c. v. Rönne S. 172. v. Mohl S. 336. Meyer Erörterungen S. 50.. Wäre die Regierung verpflichtet, eine Antwort zu er - theilen, wäre alſo der Reichstag befugt, durch ſolenne Frageſtellung die Regierung zur Ertheilung einer Auskunft, zur Ablegung einer Rechenſchaft zu zwingen, ſo wäre das Interpellationsrecht in der That ein Recht von weitreichender ſtaatsrechtlicher Bedeutung3)Viele Verfaſſungen haben ein ſolches Recht anerkannt, insbeſondere auch die Preußiſche Art. 81 Abſ. 3 in Beziehung auf Beſchwerden, welche beim Landtage eingehen.. Allein da unzweifelhaft die Reichsregierung dieſe Verpflichtung nicht hat, ſo iſt das Interpellationsrecht des Reichstages, oder richtiger der Reichstagsmitglieder, weiter nichts als die allgemeine, recht vielen Menſchen zukommende Fähigkeit, an die Regierung Fragen zu ſtellen, welche dieſelbe ja nach ihrem Belieben einer Ant - wort würdigen oder unbeantwortet laſſen kann4)Seydel S. 152, der dieſes Sachverhältniß richtig erkennt, nennt das Recht der Interpellation ein natürliches .. Politiſch mag eine im Reichstage geſtellte Interpellation von der höchſten Wichtig - keit ſein; ſtaatsrechtlich iſt ſie vollſtändig wirkungslos und ohne alle Bedeutung.

522§. 48. Die Zuſtändigkeit des Reichstages.

Man könnte vielleicht darauf Gewicht legen, daß in der Ge - ſchäfts-Ordnung des Reichstages §. 30. 31. die Behandlung der Interpellationen geregelt iſt und dadurch die Stellung von Inter - pellationen ein juriſtiſch beſtimmtes Inſtitut des öffentlichen Rechts geworden ſei. Eine ſolche Auffaſſung würde aber auf einer un - richtigen Würdigung der Geſchäftsordnung beruhen.

Im Laufe jeder Verhandlung des Reichstages kann jedes Reichstagsmitglied über jeden, mit dem Gegenſtande der Verhand - lung in Zuſammenhang ſtehenden Punkt Fragen an den Reichs - kanzler oder den Präſidenten des Reichskanzler-Amts oder einen Regierungskommiſſar richten, ohne daß es irgend welcher Förmlich - keiten bedarf und ohne daß die §§. 30. 31 der Geſch. -Ordn. An - wendung finden. Von dieſer Befugniß iſt in unzähligen Fällen Ge - brauch gemacht worden. Eine Interpellation unterſcheidet ſich von einer ſolchen Anfrage aber dadurch, daß ſie einen Gegenſtand betrifft, der nicht anderweitig zur Verhandlung ſteht, daß ſie einen beſonderen Punkt der Tagesordnung bildet. Es kann nun nicht jedem einzelnen Mitgliede des Reichstages frei ſtehen, beliebige Gegenſtände zur Sprache zu bringen und die Zeit und Arbeitskraft des Reichstages in Anſpruch zu nehmen. Eine Garantie gegen willkührliche und unangemeſſene Interpellationen und einen Schutz der Geſchäfts - Oekonomie hat der Reichstag deshalb durch die Beſtimmung geſucht, daß die Interpellation von 30 Mitgliedern unterzeichnet ſein und dem Präſidenten des Reichstages beſtimmt formulirt überreicht werden muß; ſowie, daß eine Beſprechung des Gegenſtandes nur dann ſtattfindet, wenn mindeſtens 50 Mitglieder darauf antragen. Die Geſchäfts-Ordnung begründet demnach kein Recht des Reichs - tages oder der Reichstagsmitglieder, was ſie ja überhaupt nicht vermag, ſondern ſie legt den Mitgliedern des Reichstages eine Schranke auf, die Zeit des Reichstages durch Fragen an die Regierung zu verbrauchen und die Erledigung der dem Reichstage obliegenden Geſchäfte zu verzögern. Dieſe, im Intereſſe der Ge - ſchäfsordnung gezogenen Beſchränkungen geben aber der Stellung von Interpellationen an den Reichskanzler keinen poſitiven Rechts - Inhalt. Ueberdies iſt noch hervorzuheben, daß niemals vom Reichstage als ſolchem, ſondern immer nur von einem oder mehreren einzelnen Reichstags-Abgeordneten interpellirt wird. Die Stellung eines Antrages bei Gelegenheit einer Interpellation iſt in der523§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.Geſch. -Ordn. §. 31 ausdrücklich für unzuläſſig erklärt, folglich kann auch keine Beſchlußfaſſung ſtattfinden. Niemals übt daher der Reichstag, auch wenn ſich an die Interpellation eine Beſprechung anſchließt, eine ſtaatsrechtliche Funktion aus.

2) Von dem Recht, Adreſſen an den Kaiſer zu richten1)Riedel S. 36 unter 6d. v. Rönne S. 173. v. Mohl S. 336. Meyer Erörter. S. 50., gilt im Weſentlichen daſſelbe. Es beſteht keine Pflicht des Kaiſers, auf die Adreſſe eine Antwort zu ertheilen oder ſie überhaupt auch nur entgegen zu nehmen2)Nach der Preuß. Verf. Art. 81 Abſ. 1 hat jede Kammer für ſich das Recht, Adreſſen an den König zu richten. Dieſem Recht entſpricht dann allerdings die Pflicht des Königs, Adreſſen eines der beiden Häuſer entgegen zu nehmen.. So groß die politiſche Bedeutung einer Adreſſe des Reichstages unter Umſtänden ſein kann, eine ſtaatsrechtliche kömmt ihr niemals zu3)Deshalb iſt auch nicht einzuſehen, warum es dem Reichstage nicht ge - ſtattet ſei, an den Bundesrath Adreſſen zu erlaſſen, wie Seydel S. 151. 152 meint. Vgl. auch v. Held S. 125. Es iſt dies nur nicht üblich.. Jede Verſammlung, wel - cher nicht durch poſitive Rechtsvorſchrift die Erörterung politiſcher Angelegenheiten unterſagt iſt, kann ebenſogut wie der Reichstag Adreſſen an den Kaiſer verfaſſen. Eine ſtaatsrechtliche Funk - tion wird durch den Erlaß einer Adreſſe nicht ausgeübt4)Mit demſelben Grunde könnte man von einem Rechte des Reichstages reden, ein Hoch auf den Kaiſer auszubringen oder ihm zum Geburtstage Glück - wünſche auszudrücken, oder dem Reichstags-Präſidenten für die Leitung der Geſchäfte zu danken u. ſ. w. und daran ändert auch der Umſtand Nichts, daß die Geſch. -Ordn. §. 64. 65. die geſchäftliche Behandlung eines Antrages auf Erlaß einer Adreſſe geregelt hat.

§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

Der Reichstag geht aus allgemeinen und direk - ten Wahlen mit geheimer Abſtimmung hervor. R. -V. Art. 20 Abſ. 1.

In dieſem Verfaſſungsſatz ſind die wichtigſten Grundprincipien für die Zuſammenſetzung des Reichstages enthalten. Die näheren Anordnungen ſind durch das Wahlgeſetz vom 31. Mai 1869524§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.(B. -G.-Bl. S. 145) gegeben1)Dieſes Geſetz beruht im Weſentlichen auf dem Reichswahlgeſetz vom 12. April 1849, welches in dem Bündniß v. 18. Aug. 1866 als Grundlage für die Wahlen zum verfaſſunggebenden Reichstage vereinbart war. Auf dem - ſelben beruhen zunächſt die Wahlgeſetze der Staaten, welche ſich zur Gründung des Nordd. Bundes vereinigt hatten. Siehe oben S. 20 fg. Der Art. 20 der Verf. des Nordd. Bundes erhielt dieſe verſchiedenen Geſetze in Geltung bis zum Erlaß eines Reichsgeſetzes, welches nunmehr an die Stelle derſelben ge - treten iſt.. Daſſelbe iſt in Folge der Bündniß - Verträge mit den ſüddeutſchen Staaten in den Gebieten derſelben als Reichsgeſetz eingeführt2)Mit Baden und Heſſen vereinbarte Verfaſſung Art. 80. I. Nro. 13. Württemb. Vertr. Art. 2 Nro. 6. Bayer. Vertrag III. §. 8. Vgl. Reichsgeſ. v. 16. April 1871 §. 2. (R. -G.-Bl. S. 63.) Im §. 1 u. §. 4 des Wahlge - ſetzes iſt in Folge deſſen ſtatt jeder Norddeutſche jeder Deutſche zu ver - ſtehen. und durch den Abſ. 2 des Art. 20 der R. -V. hinſichtlich der Zahl der in den ſüddeutſchen Staaten zu wählenden Abgeordneten ergänzt worden. In der, dem Reichs - geſetz v. 16. April 1871 entſprechenden Faſſung iſt ſodann das Wahlgeſetz gleichzeitig mit der Reichsverfaſſung ſelbſt durch das Geſ. v. 25. Juni 1873 §. 6 (R. -G.-Bl. S. 162) in Elſaß-Loth - ringen eingeführt worden und daſelbſt am 1. Januar 1874 in Kraft getreten, indem daſſelbe Einführungsgeſetz §. 13 die Zahl der in Elſaß-Lothringen zu wählenden Allgeordneten auf 15 feſt - ſetzte.

Auf Grund der im §. 15 des Wahlgeſetzes ertheilten Ermächti - gung hat der Bundesrath das Wahlreglement v. 28. Mai 1870 (B. -G.-Bl. S. 275) erlaſſen. Die durch den Hinzutritt der ſüddeutſchen Staaten und Elſaß-Lothringens erforderlichen Nach - träge ſind ergangen am 27. Febr. 1871 (R. -G.-Bl. S. 35) und 1. Dez. 1873 (R. -G.-Bl. S. 3743)Außerdem eine redactionelle Abänderung, welche durch eine Verände - rung der Verwaltungs-Organiſation in Lübeck erforderlich wurde, vom 24. Ja - nuar 1872. (R. -G.Bl. S. 38.). Da die Prüfung der Wahlen dem Reichstage zuſteht, ſo enthalten die Reichstagsverhandlungen ein ſehr umfangreiches Material für die Auslegung und Anwen - dung des Wahlgeſetzes und Wahlreglements, welches in Bezug auf die Caſuiſtik einen ähnlichen Werth hat, wie Entſcheidungen eines oberſten Gerichtshofes, wenngleich der Reichstag bei ſeinen525§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.Beſchlüſſen nicht ausſchließlich durch juriſtiſche Erwägungen geleitet wird1)Eine gute Bearbeitung dieſes Materials enthält die Schrift von Rob. von Mohl. Kritiſche Bemerkungen über die Wahlen zum Deutſchen Reichs - tage. Tübingen 1874. (Abdruck aus der Zeitſchr. für die geſ. Staatswiſſen - ſchaft Bd. 30.).

I. Das active Wahlrecht.

Wähler für den Reichstag iſt jeder Deutſche, welcher das fünf und zwanzigſte Lebensjahr zurückge - legt hat2)Wahlgeſ. §. 1.. Da das Geſetz unzweifelhaft3)v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 342. nur Männer für wahlberechtigt erklären wollte, ſo ergiebt ſich, daß das Wahlrecht an drei Vorausſetzungen geknüpft iſt, Reichsangehörigkeit, Alter von mindeſtens 25 Jahren und männliches Geſchlecht. Andere Voraus - ſetzungen, welche zugleich Beſchränkungen des Wahlrechts ſein würden, kennt das Reichsrecht nicht. Jedoch fällt in gewiſſen Fällen die Ausübung des Wahlrechts fort, theils in der Art, daß die Berechtigung zum wählen ruht, d. h. quoad ius fortdauert, theils in der Art, daß ſie zeitweilig ganz aufgehoben (ſuspendirt) iſt.

1) Die Berechtigung zum Wählen iſt quoad ius vorhanden, ihre Ausübung aber ruht:

a) für Perſonen des Soldatenſtandes des Heeres und der Marine ſo lange, als dieſelben ſich bei der Fahne befinden4)Wahlgeſ. §. 2.. Unter den Perſonen des Soldatenſtandes ſind zu verſtehen die zum aktiven Heere gehörigen Militärperſonen, mit Ausnahme der Mili - tärbeamten5)Militärgeſ. v. 2. Mai 1874 §. 49. Welche Perſonen zum aktiven Heere gehören, definirt daſſelbe Geſetz im §. 38..

b) für Perſonen, welche ſich zur Zeit der Wahl nicht in einem Wahlbezirke aufhalten, in welchem ſie ihren Wohnſitz haben. Nur wenn eine Gemeinde in mehrere Wahlbezirke getheilt iſt, genügt es, wenn der Wähler in einem derſelben zur Zeit der Wahl ſeinen Wohnſitz hat6)Wahlgeſ. §. 7. Wer das Wahlrecht in einem Wahlbezirke ausüben will, muß in demſelben oder, im Falle eine Gemeinde in mehrere Wahlbezirke getheilt iſt, in einem derſelben zur Zeit der Wahl ſeinen Wohnſitz haben. Jeder darf nur an Einem Orte wählen. Wahlbezirk iſt nicht identiſch mit Wahlkreis, ſondern mit Abſtimmungsbezirk. Siehe unten.. Eine beſtimmte Dauer des Wohnſitzes wird nicht526§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.erfordert; andererſeits genügt bloßer Aufenthalt nicht um die Aus - übung des Wahlrechts zu begründen, auch wenn er von längerer Dauer iſt.

c) für Perſonen, welche nicht in die Wahlliſten aufgenommen ſind1)Wahlgeſ. §. 8 Abſ. 2. Nur diejenigen ſind zur Theilnahme an der Wahl berechtigt, welche in die Liſte aufgenommen ſind. Vrgl. unten..

2) Von der Berechtigung zum Wählen ſind nicht blos quoad exercitium, ſondern quaod ius ausgeſchloſſen folgende 4 Kategorien2)Wahlgeſ. §. 3..

a) Perſonen, welche unter Vormundſchaft oder Kuratel ſtehen , alſo, da Minderjährige ohnehin nicht wahlberechtigt ſind, gerichtlich erklärte Verſchwender, Geiſteskranke und Gebrechliche, welche unter Kuratel geſtellt ſind. Unter welchen Vorausſetzungen dies eintritt, beſtimmt ſich nach den Partikularrechten.

b) Perſonen, über deren Vermögen Konkurs - oder Fallit - zuſtand gerichtlich eröffnet worden iſt und zwar während der Dauer des Konkurs - oder Fallit-Verfahrens. Da der Ausſchluß der Wahlberechtigung abhängig iſt von der Dauer des Verfahrens, ſo ergiebt ſich, daß die Wahlberechtigung wieder auflebt nicht blos in dem Falle, daß der Konkurs durch Befriedigung der Gläubiger oder durch Akkord beendigt wird, ſondern auch dann, wenn das Verfahren wegen gänzlichen Mangels einer Aktiv-Maſſe eingeſtellt wird oder das vorhandene Aktiv-Vermögen vollſtändig zur Ver - theilung gebracht iſt3)Unter Umſtänden iſt der Gemeinſchuldner, der gar keine Aktiva beſitzt, in dieſer Hinſicht daher beſſer daran, wie derjenige, deſſen Gläubiger faſt volle Befriedigung erhalten, jedoch erſt nach Beendigung einer langwierigen Liqui - dation. Gegen die Beſtimmung überhaupt ſpricht ſich v. Mohl a. a. O. S. 20 aus.. Auch eine Verurtheilung wegen Banke - rutts ändert hieran Nichts, wenn durch dieſelbe nicht zugleich die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt ſind, was jedoch in den Fällen des §. 283 des R. -St.-G.-B.’s nicht zuläſſig iſt.

c) Perſonen, welche eine Armen-Unterſtützung aus öffentlichen oder Gemeinde-Mitteln beziehen, oder im letzten der Wahl vorher - gegangenen Jahre bezogen haben4)Ueber die Bedenken, zu welchen dieſe Faſſung Veranlaſſung giebt, und über die Zweifel, welche Mittel als öffentliche auzuſehen ſeien, vrgl. v. Mohl a. a. O. und Reichsſtaatsr. S. 346 fg. Darüber, daß die Gewährung unent -.

527§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

d) Perſonen, denen in Folge rechtskräftigen Erkenntniſſes der Vollgenuß der ſtaatsbürgerlichen Rechte entzogen iſt, für die Zeit der Entziehung, ſofern ſie nicht in dieſe Rechte wieder einge - ſetzt ſind. Vgl. Reichsſtrafgeſetzbuch §. 34 Nr. 4.

Von dieſer Beſtimmung iſt aber hinſichtlich der Zeitdauer eine Ausnahme gemacht, wenn der Vollgenuß der ſtaatsbürgerlichen Rechte wegen politiſcher Vergehen oder Verbrechen ent - zogen iſt. Alsdann tritt die Berechtigung zum Wählen wieder ein, ſobald die außerdem erkannte Strafe vollſtreckt oder durch Be - gnadigung erlaſſen iſt1)Wahlgeſ. §. 3 Z. 4 Abſ. 2.. Für das Verſtändniß der Gründe, aus denen dieſe Ausnahme hinzugefügt worden iſt, kömmt die That - ſache in Betracht, daß das Wahlgeſetz vor dem Strafgeſetzbuch erlaſſen worden iſt und ſonach noch auf die älteren Landes-Straf - geſetzbücher ſich bezieht. Nach vielen derſelben zogen gewiſſe Strafen, insbeſondere die Zuchthausſtrafe, mit Nothwendigkeit den Verluſt der ſtaatsbürgerlichen Rechte nach ſich und bei ſchweren Fällen des Hochverraths und Landesverrathes, der Majeſtätsbeleidigung, der Verbrechen in Beziehung auf die Ausübung der ſtaatsbürgerlichen Rechte u. ſ. w. mußte auf Zuchthausſtrafe erkannt werden, theils unbedingt, theils wenn nicht mildernde Umſtände angenommen wurden2)Dies galt namentlich auch vom Preuß. Strafgeſetzbuch; vgl. z. B. §§. 63 ff. 74 ff. 78. 82. 83. 91 Abſ. 2 u. ſ. w.. Derartige Beſtimmungen der Strafgeſetze ließen es angemeſſen erſcheinen hinſichtlich des Wahlrechts eine Ausnahme zu machen, wofern das Verbrechen oder Vergehen nicht aus einer ehrloſen Geſinnung, ſondern aus politiſchen Beweggründen ent - ſprungen iſt.

Da eine Aufzählung derjenigen Verbrechen oder Vergehen, bei denen dieſe Ausnahme Platz greifen ſollte, ſchon wegen der Mannigfaltigkeit der herrſchenden Strafgeſetzbücher nicht möglich war, ſo bezeichnete man ſie allgemein als politiſche Vergehen oder Verbrechen. Das iſt nun allerdings kein feſtbeſtimmter Rechts - begriff und weder die älteren Geſetze noch das Reichsſtrafgeſetzbuch bezeichnen beſtimmte Delicte oder Kategorien derſelben als politiſche. Nach dem objektiven Thatbeſtande des Delicts läßt ſich dieſer Begriff4)geldlichen Schulunterrichts keine Armenunterſtützung ſei, vgl. Stenogr. Ber. 1874 I. Seſſ. S. 276.528§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.auch gar nicht beſtimmen, ſondern nur nach dem Motive des Thä - ters. Ein ſehr großer Theil, vielleicht die Mehrzahl, aller Verbre - chensarten kann aus politiſchen Beweggründen verübt werden und andererſeits brauchen die gegen den Staat gerichteten Verbrechen, wie Hochverrath und Landesverrath u. ſ. w., durchaus nicht immer politiſch zu ſein, da ſie auch aus höchſt egoiſtiſchen und ehrloſen Motiven begangen werden können. Da nun die Motive der ver - brecheriſchen That nicht durch rechtskräftiges Erkenntniß feſtgeſtellt werden, ſo fehlt es an einem juriſtiſchen Kriterium dafür, ob eine Verurtheilung wegen eines politiſchen Verbrechens oder Ver - gehens ſtattgefunden hat. Die Handhabung der in Rede ſtehenden Beſtimmung des Wahlgeſetzes müßte daher in der Praxis große Schwierigkeiten machen, wenn nicht das Reichsſtrafgeſetzbuch ihr den größten Theil ihrer praktiſchen Wichtigkeit indirekt entzogen hätte.

Nach dem R. -St.-G.-B. zieht niemals irgend eine Strafe, auch die Zuchthausſtrafe nicht, den Verluſt der bürgerlichen Ehren - rechte nach ſich, ſondern es muß auf dieſe acceſſoriſche Strafe immer beſonders erkannt werden. Neben der Gefängnißſtrafe kann dies nur in den im §. 32 angeführten beiden Fällen geſchehen. Neben der Zuchthausſtrafe kann zwar immer auf den Verluſt der bürger - lichen Ehrenrechte erkannt werden, in allen Fällen aber, wo das Geſetz die Wahl zwiſchen Zuchthaus oder Feſtungshaft geſtattet, darf auf Zuchthaus nur dann erkannt werden, wenn feſtgeſtellt wird, daß die ſtrafbar befundene Handlung aus einer ehrloſen Geſinnung entſprungen iſt1)R. -St.-G.-B. §. 20.. Da nun politiſche Verbrechen und Vergehen grade darin ihr charakteriſtiſches Weſen haben, daß ſie nicht aus einer ehrloſen Geſinnung entſpringen, und der Richter, ſelbſt in den Fällen, in denen er auf Zuchthaus erkennen muß, weil Fe - ſtungshaft nicht alternativ angedroht iſt, nicht genöthigt iſt, zu - gleich die bürgerl. Ehrenrechte abzuerkennen2)Ausgenommen bei Verurtheilungen wegen Meineids (R. -St.-G.-B. §. 161) und der ſchweren Fälle der Kuppelei des §. 181, die hier nicht in Betracht kommen können., ſo ſichert dieſe Be - ſtimmungen des R. -St.-G.-Buchs im Weſentlichen das Reſultat, daß bei allen politiſchen Verbrechen und Vergehen der Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte überhaupt gar nicht durch richterliches Er - kenntniß verhängt wird, und daß andererſeits in den Fällen, in529§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.welchen auf dieſe Strafe erkannt wird, regelmäßig von dem Straf - richter feſtgeſtellt ſein muß, daß die That aus ehrloſer Geſinnung entſprungen ſei, alſo nicht als ein politiſches Verbrechen oder Ver - gehen qualifizirt werden könne.

Für die mit der Aufſtellung der Wählerliſten betrauten Be - hörden ergiebt ſich hieraus die einfache Regel, aus den Liſten alle Perſonen fortzulaſſen, welchen durch rechtskräftiges Erkennt - niß die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt ſind, ohne auf eine Unterſuchung darüber einzugehen, ob die Verurtheilung wegen eines politiſchen Verbrechens oder Vergehens erfolgt ſei.

Zu demſelben Reſultat führt auch die Erwägung, daß §. 34 des R. -St.-G.-B.’s ohne zwiſchen politiſchen und gemeinen Ver - brechen oder Vergehen einen Unterſchied zu machen, an die Aber - kennung der bürgerlichen Ehrenrechte die Wirkung knüpft, daß während der im Urtheile beſtimmten Zeit die Unfähig - keit, in öffentlichen Angelegenheiten zu ſtimmen, zu wählen oder gewählt zu werden, eintritt, und daß das Reichsſtrafgeſetzbuch als das jüngere Reichsgeſetz dem Wahlgeſetz vorgeht. Indeß läßt ſich hier das Bedenken erheben, ob nicht die Anordnung im §. 13 des Wahlgeſetzes als lex specialis von der Modificirung durch das Strafgeſetzbuch als lex generalis ausgenommen ſei; ein Bedenken, welches durch das Einführungs-Geſetz zum Strafgeſetzbuch §. 2 ſich nicht erledigt.

Der praktiſche Schwerpunkt der Beſtimmung des Wahlgeſetzes liegt aber allerdings nicht in dem aktiven Wahlrecht, ſondern in der davon abhängigen Wählbarkeit. Ueber dieſelbe hat der Reichs - tag zu entſcheiden, da ihm die Prüfung der Legitimation ſeiner Mitglieder zuſteht. Hierbei iſt er formell an juriſtiſche Gründe nicht gebunden; er kann vielmehr der Erwägung Raum geben, ob der von einer großen Wählerzahl ernannte Abgeordnete nicht zu - zulaſſen ſei, wenngleich ein rechtskräftiges Erkenntniß demſelben die Ehrenrechte abgeſprochen hat, und er kann in dieſer Erwägung den Begriff der politiſchen Verbrechen und Vergehen ſo verſtehen und dehnen, wie es der einzelne Fall etwa erfordert.

II. Die Wählbarkeit.

Wählbar iſt jeder Wahlberechtigte, welcher einem zum Bunde gehörigen Staate ſeit mindeſtens einem Jahre angehört hat1)Wahlgeſ. §. 4.. DaLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 34530§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.nicht die Ausübung der Funktionen eines Abgeordneten, ſondern die Wählbarkeit in Frage ſteht, ſo ergiebt ſich, daß die ein - jährige Friſt von dem Tage des Wahlactes an zu berechnen iſt, nicht von dem Tage des Zuſammentritts des Reichstages oder gar der Wahlprüfung an, und daß die Wahl Jemandes, der zur Zeit derſelben den Bedingungen des §. 4 des Wahlgeſetzes nicht entſprochen hat, nachträglich durch Ablauf der einjährigen Friſt nicht gültig wird. Erforderlich iſt nur die Reichsangehörigkeit, nicht Aufenthalt oder Wohnſitz im Bundesgebiet.

Außer dem Erforderniß einjähriger Reichs-Angehörigkeit hat die Wählbarkeit ganz dieſelben Vorausſetzungen wie das Wahlrecht. Hier wird es daher von praktiſcher Wichtigkeit, ob Jemand (nach §. 3 des Wahlgeſ. ) von der Berechtigung zum Wählen ausge - ſchloſſen iſt, oder ob dieſe Berechtigung nur ruht oder nicht aus - geübt werden kann1)Dieſer Unterſchied wird überſehen von Thudichum S. 152.. Die im §. 3 aufgeführten Klaſſen von Perſonen ſind nicht wählbar, da ſie nicht wahlberechtigt ſind; wohl aber die Perſonen des ſtehenden Heeres ſowie die zur Zeit der Wahl von ihrem Wohnſitz abweſenden oder in den Liſten über - gangenen Wahlberechtigten.

Eine Beſchränkung der Ausübung der Funktionen eines Reichs - tags-Mitgliedes und mithin eine indirekte Beſchränkung der Wähl - barkeit iſt durch die Beſtimmung des Art. 9 der R. -V., daß Nie - mand gleichzeitig Mitglied des Bundesrathes und des Reichstages ſein kann, gegeben. Zwar iſt die Wahl eines Bundesraths-Mit - gliedes zum Abgeordneten an ſich gültig, der Gewählte kann ſie aber nur annehmen, wenn er aus dem Bundesrathe ausſcheidet; auch der Reichskanzler iſt wählbar, kann die Wahl aber nur an - nehmen, wenn er ſein Amt niederlegt, da der Reichskanzler noth - wendig Mitglied des Bundesrathes ſein muß.

Für nicht wählbar muß man dagegen die Landesherren der Deutſchen Staaten erachten, da ſie die Vollmachtsgeber der Bundesraths-Mitglieder ſind; abgeſehen von dem in der allgemeinen conſtitutionellen Theorie begründeten Bedenken, ob die Deutſchen Landesherren als Träger der ſouveränen Reichsgewalt zugleich Mitglieder des Reichstages ſein können2)Eine kurze Erörterung der Frage, ob der Deutſche Kaiſer wählbar ſei, findet ſich in den Stenogr. Berichten des Reichstages 1874 / 75 S. 579. Da.

531§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

III. Die Zahl der Mitglieder

des Reichstages beſtimmt ſich durch den Grundſatz, daß in jedem Bundesſtaate auf je 100,000 Seelen der Bevölkerungszahl Ein Abgeordneter gewählt wird. Dieſe principielle Regel erleidet aber folgende Modifikationen:

1) Da niemals ein Wahlkreis Gebiete verſchiedener Staaten umfaßt1)Siehe oben S. 502., ſo wird in einem Bundesſtaate, deſſen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, Ein Abgeordneter gewählt. Aus demſelben Grunde wird ein Ueberſchuß von mindeſtens 50,000 Seelen der Geſammtbevölkerung eines Bundesſtaates vollen 100,000 Seelen gleichgerechnet, während ein Ueberſchuß von weniger als 50,000 Seelen unberückſichtigt bleibt2)Wahlgeſ. §. 5 Abſ. 1..

2) In den zum ehemaligen Norddeutſchen Bunde gehörigen Staaten bleibt bis auf weitere geſetzliche Anordnung für die Zahl der Abgeordneten diejenige Bevölkerungszahl maaßgebend, welche den Wahlen zum verfaſſungsgebenden Reichstage zu Grunde gelegen hat. Wahlgeſ. §. 5. Abſ. 1.

In Folge dieſer Beſtimmung iſt für jeden Staat die in dem - ſelben zu wählende Zahl von Abgeordneten fixirt, d. h. nicht von dem Reſultate der periodiſchen Volkszählungen abhängig. Für die Staaten des Norddeutſchen Bundes enthält §. 5 Abſ. 2 des Wahlgeſetzes das Regiſter der auf ſie kommenden Zahlen3)Nämlich Preußen 235, Sachſen 23, Heſſen 3, Mecklenburg-Schwerin 6, Sachſen-Weimar 3, Mecklenburg-Strelitz 1, Oldenburg 3, Braunſchweig 3, Sach - ſen-Meiningen 2, Sachſen-Altenburg 1, Sachſen-Koburg-Gotha 2, Anhalt 2, Schwarzburg-Rudolſtadt 1, Schwarzburg-Sondershauſen 1, Waldeck 1, Reuß ä. L. 1, Reuß j. L. 1, Schaumburg-Lippe 1, Lippe 1, Lauenburg 1, Lübeck 1, Bremen 1, Hamburg 3.; die Geſammt-Summe der Abgeordneten betrug im Norddeutſchen Bunde 297.

3) Dieſen im Norddeutſchen Bunde zur Geltung gelangten Grundſätzen entſprechend iſt auch für die Süddeutſchen Staaten2)der Kaiſer zugleich König von Preußen iſt, ergiebt ſich die Verneinung der Frage. Es iſt dies nicht ganz ohne praktiſche Wichtigkeit; denn wenn es auch höchſt unwahrſcheinlich iſt, daß jemals ein Wahlkreis den Kaiſer oder einen Landesherrn wählen wird, ſo können doch eine Anzahl von Stimmzettel für ihn abgegeben werden und es kann von Bedeutung für das Wahlreſultat wer - den, ob dieſe Stimmzettel als ungültig zu erklären oder bei der Berech - nung der abſoluten Majorität mit in Anſatz zu bringen ſind.34*532§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.und Elſaß-Lothringen die Zahl der in dieſen Gebieten zu wählenden Abgeordneten fixirt worden; für die ſüddeutſchen Staaten im Art. 20 Abſ. 2 der R. -V. auf zuſammen 851)Es werden in Bayern 48, in Württemberg 17, in Baden 14, in Heſſen ſüdlich des Main 6 Abgeordnete gewählt., für Elſaß-Lothringen in dem R. -G. v. 25. Juni 1873 §. 3 auf 15.

Demnach beträgt die Geſammtzahl der Reichstags-Abgeordne - ten 3972)Die mißlungene Faſſung des Art. 20 Abſ. 2, welcher nur die Zahlen der in den ſüddeutſchen Staaten zu wählenden Abgeordneten anführt und trotzdem hinzufügt: und beträgt demnach die Geſammtzahl der Abgeordneten 382 und ſeine thatſächliche Unrichtigkeit ſeit der Ausdehnung der R. -V. auf Elſaß-Lothringen iſt von mir ſchon bei anderer Gelegenheit hervorgehoben worden. Hirth’s Annalen 1874 S. 1512 Note 1..

4) In der Reichsverfaſſung ſelbſt iſt das Princip, nach welchem ſich die Geſammtzahl der Abgeordneten und ihre Vertheilung auf die Einzelſtaaten ergiebt, nicht ſanktionirt worden; es iſt formell kein Verfaſſungsrecht, ſondern einfaches Geſetzesrecht und kann daher ohne die erſchwerenden Vorſchriften des Art. 78 Abſ. 1 verändert werden. Das Wahlgeſetz ſelbſt macht im §. 5. Abſ. 3 den Vor - behalt, daß eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten in Folge der ſteigenden Bevölkerung durch das Geſetz beſtimmt wird. Dieſe Befugniß iſt ſelbſtverſtändlich und bedurfte keines Vorbehaltes; es ſollte dadurch nur hervorgehoben werden, daß die Vermehrung der Bevölkerung nicht ipso iure, alſo ohne Geſetz, eine Steigerung der in den Einzelſtaaten zu wählenden Abgeordneten mit ſich bringt. Aber nicht nur eine Vermehrung, ſondern auch eine Herabſetzung oder anderweitige Vertheilung der Anzahl der Abgeordneten kann durch ein (einfaches) Reichsgeſetz angeordnet werden. Hieran hat ſich auch durch den Art. 20 Abſ. 2 der Reichsverfaſſung, der ledig - lich eine Ergänzung des §. 15 Abſ. 2 des Wahlgeſetzes iſt, Nichts geändert; denn derſelbe enthält ausdrücklich die Klauſel: Bis zu der geſetzlichen Regelung, welche im §. 5 des Wahlgeſetzes vom 31. Mai 1869 vorbehalten iſt 3)Einen ähnlichen Vorbehalt enthält das Geſ. v. 25. Juni 1873 §. 3 hinſichtlich der auf Elſaß-Lothringen kommenden Anzahl., erklärt ſonach für ſeine Abänderung die Vorausſetzungen der Verfaſſungs - Aenderung für nicht erforderlich.

5) Die auf die einzelnen Staaten entfallenden Zahlen von533§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.Abgeordneten bilden nicht den Gegenſtand von Sonderrechten (iura singularia); ſie ſind vielmehr lediglich das Ergebniß der Anwendung eines allgemeinen Princips1)Noch viel weniger paſſen ſie unter den Begriff der iura singulorum im eigentl. Sinne, wie er oben S. 121 fg. entwickelt worden iſt.. Zu einer Aufhebung oder Veränderung dieſes Princips iſt daher nicht die individuelle Zuſtimmung der einzelnen Staaten erforderlich, auch nicht der im Art. 20 Abſ. 2 aufgeführten vier ſüddeutſchen Staaten. R. -V. Art. 78 Abſ. 2 iſt hierauf nicht anwendbar2)Vgl. Laband in Hirth’s Annalen 1874 S. 1512.. Dagegen iſt in dem Princip der Gleichberechtigung aller Mitglieder des Reiches der Satz ent - halten, daß nicht einem oder einigen Staaten ohne ihre Zuſtim - mung diejenige Anzahl von Abgeordneten geſchmälert werden kann, welche ſich für ſie aus der gleichmäßigen Anwendung des allgemeinen Princips ergiebt3)Siehe oben S. 112 und Hirth’s Annalen 1874 S. 1514 fg..

IV. Die Wahlkreiſe.

Jeder Abgeordnete wird in einem beſonderen Wahlkreiſe gewählt 4)Wahlgeſ. §. 6 Abſ. 1.. Für die Bildung der Wahlkreiſe gilt der Grundſatz, daß ſie räumlich abgegrenzt und thunlichſt abgerundet ſein müſſen5)Wahlgeſ. §. 6 Abſ. 3., d. h. jeder Wahlkreis bildet einen geographiſchen Bezirk, in welchem alle, in demſelben wohnenden Wahlberechtigten zu einer Wählerſchaft verbunden ſind ohne Unter - ſchied des Standes oder der ſocialen Klaſſe6)Die Veranlaſſung zu der ſcharfen Hervorhebung dieſes Grundſatzes bot das in Mecklenburg bei den erſten Reichstagswahlen eingeſchlagene Verfahren, die Wahlkörperſchaften nach Domanium, Rittergütern und Städten zu bilden. Staatsminiſter Delbrück bemerkte im Reichstage am 13. Dez. 1869, daß durch die in Rede ſtehende Anordnung des Wahlgeſetzes der Wiederholung dieſes Verfahrens vorgebeugt werden ſollte. Stenogr. Berichte 1869 S. 41.. Die räumliche Abgeſchloſſenheit und Abrundung der Wahlkreiſe erleidet eine Aus - nahme nur durch die Rückſicht auf die Gebietshoheit der Einzel - ſtaaten in Anſehung der Enclaven. (Siehe oben S. 502.)

Ein Reichsgeſetz wird die Abgrenzung der Wahlkreiſe beſtim - men 7)Wahlgeſ. §. 6 Abſ. 4.. Bis dahin ſind die Wahlkreiſe ſo beizubehalten, wie ſie beim Erlaß des Wahlgeſetzes waren, mit Ausnahme derjenigen, welche damals nicht örtlich abgegrenzt und zu einem räumlich zu -534§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.ſammenhängenden Bezirke abgerundet waren. Die letzteren mußten bis zu den nächſten allgemeinen Wahlen der Vorſchrift des §. 6 Abſ. 3 gemäß gebildet werden. Durch dieſe Anordnungen ſind folgende Rechtsſätze gegeben: Diejenige Abgrenzung der Wahlkreiſe, welche bei den erſten Reichstagswahlen im Nordd. Bunde durch Verordnungen der Landes-Regierungen getroffen wurde, vorbe - haltlich der Berichtigung derjenigen Kreiſe, welche nicht räumlich zuſammenhängende Bezirke bildeten, iſt reichsgeſetzlich aufrecht er - halten und zu einer dauernden Einrichtung gemacht worden. Die - ſelbe kann weder durch den Beſchluß des Bundesrathes oder durch kaiſerliche Verordnung noch durch Geſetze oder Verordnungen der Einzelſtaaten abgeändert werden. Jede Abänderung der Wahl - kreiſe erfordert vielmehr ein Reichsgeſetz.

Ein Verzeichniß der Wahlkreiſe, welches den Beſtimmungen des §. 6 des Wahlgeſetzes entſpricht, iſt als Anlage C dem Wahl - reglement vom 28. Mai 1870 beigegeben und im Bundesgeſetzbl. 1870 S. 289 ff. publizirt worden. Eine Abänderung hat daſſelbe dadurch erfahren, daß der ehemalige landräthl. Kreis Beuthen, welcher den 5. u. 6. Wahlkreis des Reg. -Bez. Oppeln umfaßte, in vier landräthliche Kreiſe getheilt worden iſt, von denen nunmehr zwei (Beuthen und Tarnowitz) den 5. und zwei (Kattowitz und Zabrze) den 6. Wahlkreis bilden1)Geſ. v. 20. Juni 1873. R. -G.-Bl. S. 144..

Nach der Gründung des Deutſchen Reiches wurde durch Be - ſchluß des Bundesrathes vom 27. Febr. 1871 das Verzeichniß der Reichstags-Wahlkreiſe durch Feſtſtellung der ſüddeutſchen er - gänzt und dies im R. -G.-Bl. 1871 S. 35 fg. publizirt. Die Kompe - tenz des Bundesrathes zu dieſem Beſchluß gründet ſich auf §. 15 des Wahlgeſetzes. In Bayern war aber durch den Vertrag vom 23. Nov. 1870 III. §. 2 die Abgrenzung der Wahlkreiſe der Lan - des-Regierung überlaſſen, ſo daß das Nachtrags-Verzeichniß vom 27. Febr. 1871 hinſichtlich Bayern’s nur die von der Bayeriſchen Regierung getroffenen Beſtimmungen aufgenommen hat.

Die Abgrenzung der Wahlkreiſe in Elſaß-Lothringen wurde durch das Geſetz von 25. Juni 1873 §. 6 Abſ. 2 dem Bundes - rathe übertragen und iſt durch Beſchluß vom 1. Dezember 1873 (R. -G.-Bl. S. 373) erfolgt.

535§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

V. Die Wahlbezirke.

Jeder Wahlkreis wird zum Zweck der Stimmabgabe in kleinere Bezirke getheilt, welche ebenfalls räumlich abgegrenzt ſein müſſen1)Wahlgeſ. §. 6. Abſ. 2 u. 3.. Die Abgrenzung dieſer Bezirke iſt den Behörden der Einzelſtaaten überlaſſen2)Wahlreglem. §. 6.. Die hierzu nach Maaßgabe der Aemter-Organiſation der einzelnen Staaten zuſtän - digen Behörden führt das als Anlage D dem Wahlreglement bei - gefügte Verzeichniß auf3)R. -G.-Bl. 1870. S. 306 fg. Es ſind regelmäßig für das Land die Kreis behörden (Landrath, Kreisamt), in Bayern die Bezirksämter, in Würt - temberg der Oberamtmann, in Baden die Bezirksräthe; bisweilen auch die Gemeinde - oder Ortsbehörden (z. B. in Sachſen, Mecklenburg-Schwerin, Sach - ſen-Weimar, Braunſchweig); für die Städte regelmäßig die Magiſtrate.. Wenngleich die Abgrenzung unter Be - rückſichtigung der lokalen Verhältniſſe nach dem Ermeſſen der kompetenten Behörden vorzunehmen und erforderlichen Falles ab - zuändern iſt, ſo ſind doch beſtimmte Grundſätze vorgeſchrieben, nach welchen die Behörden verfahren müſſen. Als Regel gilt der Satz, daß jede Ortſchaft (Ortsgemeinde) einen Wahlbezirk für ſich bildet4)Wahlgeſ. §. 6 Abſ. 2. Wahlreglem. §. 7 Abſ. 1..

Dieſe Regel erleidet aber nach 2 Richtungen hin Ausnahmen. Große Ortſchaften können in mehrere Wahlbezirke getheilt wer - den, und da kein Wahlbezirk mehr als 3500 Seelen nach der letzten allgemeinen Volkszählung enthalten darf, ſo iſt eine Theilung großer Ortſchaften vielfach nothwendig5)Wahlreglem. §. 7 Abſ. 3.. Die Er - ſtreckung eines Wahlbezirks über die Grenzen der Ortſchaft hinaus iſt geſtattet für einzelne bewohnte Beſitzungen und kleine Ort - ſchaften; eine Minimalgröße der Einwohnerzahl eines Wahlbezirks iſt jedoch nicht vorgeſchrieben. Ueberdies können ſolche Ortſchaften, in welchen Perſonen, die zur Bildung des Wahlvorſtandes geeignet ſind, ſich nicht in genügender Anzahl vorfinden, mit benachbarten Ortſchaften zu einem Wahlbezirke vereinigt werden6)Wahlreglem. §. 7 Abſ. 2..

VI. Das Wahlverfahren.

1) Die Anordnung der Wahlen und die Feſtſetzung des Tages, an welchem ſie vorzunehmen ſind, erfolgt durch kaiſerliche Verordnung7)Wahlgeſ. §. 14. Wahlreglem. §. 9 Abſ. 1.. Iſt die Legislatur-Periode abgelaufen, ſo ergiebt536§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.ſich eine indirecte Begränzung der Friſt, binnen welcher die Vor - nahme der Wahlen angeordnet werden muß, aus der Vorſchrift des Art. 13 der R. -V., daß die Berufung des Reichstages alljährlich ſtattfindet. Iſt aber der Reichstag aufgelöſt worden, ſo müſſen die Neuwahlen innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen ſtatt - finden1)R. -V. Art. 25. Der Ausdruck: die Wähler müſſen verſammelt wer - den , den dieſer Artikel gebraucht, iſt kein glücklicher. Er ſtammt aus dem Art. 51 der Preuß. Verf. -Urk. Nach dem Preuß. Wahlverfahren werden aller - dings die Wähler in den einzelnen Urwahlbezirken verſammelt, nach dem Reichs - Wahlgeſetz bringt Jeder einzeln ſeinen Stimmzettel zur Wahlurne..

Die Wahlen ſind nach dem Art. 20 der R. -V. allgemeine, das heißt, ſie ſind der Regel nach im ganzen Bundesgebiete an demſelben Tage vorzunehmen2)Wahlgeſ. §. 14. Eine einmalige Ausnahme fand bei den erſten Reichs - tagswahlen in Elſaß-Lothringen ſtatt. Denn da die Reichsverf. und das Wahl - geſetz dort erſt am 1. Jan. 1874 in Kraft traten, ſo mußte mindeſtens noch die im §. 8 des Wahlgeſetzes vorgeſchriebene Friſt von 4 Wochen abgewartet werden. Während im übrigen Reichsgebiet die Wahlen am 10. Januar 1874 ſtattfanden, mußten daher die Wahlen im Reichslande auf den 1. Februar 1874 gelegt werden. R. -G.-Bl. 1873 S. 372. 380. Der Fall könnte als Präcedenz dienen, falls einmal durch außerordentliche Ereigniſſe wie feindliche Occupation, Aufruhr oder drgl. zur Zeit der allgemeinen Wahlen in einem Theil des Bun - desgebietes die regelrechte und freie Vornahme von Wahlen unmöglich ſein ſollte.. Von dieſem Grundſatz ſind, ab - geſehen von der Nothwendigkeit einer engeren Wahl, welche ledig - lich als Fortſetzung der Wahlhandlung zu betrachten iſt, nur fol - gende Fälle ausgenommen

  • a) wenn der Gewählte ablehnt,
  • b) wenn der Reichstag die Wahl für ungültig erklärt,
  • c) wenn ein Abgeordneter während des Laufes der Legisla - turperiode aus dem Reichstage ausſcheidet.

In dieſen Fällen finden partielle Wahlen (Erſatzwahlen) in den betreffenden Wahlkreiſen ſtatt. Dieſelben werden nicht vom Kaiſer oder dem Reichskanzler, ſondern von der zuſtändigen Lan - desbehörde3)d. ſind in Preußen die Bezirks-Regierungen, reſp. Landdroſteien, ebenſo in Bayern die Kreis-Regierungen, Kammer des Innern, und in Elſ. -Lothringen die Bezirkspräſidenten, in den übrigen Staaten die Central-Behörde (Miniſte - rium des Innern, Staatsminiſterium, Senat.) Wahlreglem. Anlage D. anberaumt und zwar ſind ſie von derſelben ſofort zu veranlaſſen4)Wahlreglement §. 34..

537§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

Das Geſetz kennt nur Fälle, in denen einzelne Wahlkreiſe an einem beſonderen Tage eine Wahl vorzunehmen haben, dagegen geſtattet es nicht, daß in einzelnen Wahlbezirken innerhalb eines Wahlkreiſes die Wahlhandlung an einem anderen Tage vorge - nommen werde, als an demjenigen, welcher für den ganzen Wahl - kreis feſtgeſetzt iſt. Wenn daher die Wahl in einem Wahlbezirke nicht vorgenommen werden kann, weil z. B. der Wahlort oder das Wahllokal an dem betreffenden Tage unzugänglich iſt oder weil weder der Wahlvorſteher noch deſſen Stellvertreter ſich ein - findet u. drgl., ſo kann die Abſtimmung in dieſem Bezirke nicht rechtswirkſam nachgeholt werden1)Dem Reichstage bleibt aber die Möglichkeit, wenn ein erheblicher Theil aller Wahlberechtigten durch Elementar-Ereigniſſe an der Ausübung der Wahl gehindert war, die Wahl des ganzen Kreiſes als vereitelt zu erklären und das Wahlreſultat zu kaſſiren. Vgl. über ſolche Fälle die Stenogr. Berichte v. 1871 S. 27 fg. 389 ff. von 1874 / 75 S. 564 ff. und von Mohl, kritiſche Be - merkungen S. 42 fg..

2) Eine nothwendige Vorbereitung der Wahl beſteht in der Anfertigung der Wählerliſten. Für jeden Wahlbezirk iſt eine beſondere Wählerliſte anzulegen, in welche die zum Wählen Be - rechtigten nach Zu - und Vornamen, Alter, Gewerbe und Wohnort eingetragen werden2)Wahlgeſ. §. 8 Abſ. 1. Das Formular dafür enthält die Anlage A des Wahlreglements. (B. -G.-Bl. 1870 S. 283.). Da der Regel nach jede Gemeinde einen Wahlbezirk bildet, ſo wird gewöhnlich in jeder Gemeinde nur eine Liſte anzufertigen ſein. Iſt die Gemeinde in mehrere Bezirke ge - theilt, ſo erfolgt die Aufſtellung der Wählerliſten nach den einzel - nen Bezirken, ſo daß für jeden Bezirk eine beſondere Liſte gefer - tigt wird3)Wahlreglem. §. 1 Abſ. 2.. Beſteht der Wahlbezirk aus mehreren Ortskommunen, ſelbſtſtändigen Gutsbezirken u. ſ. w., ſo wird zunächſt für jeden Kommunal - oder Gutsbezirk die Liſte beſonders angelegt und die Wählerliſte des Wahlbezirkes dadurch gebildet, daß die Wahlvor - ſteher die Wählerliſten der einzelnen zu dem Bezirke gehörigen Gemeinden zuſammenheften4)Wahlreglem. §. 5 Abſ. 2..

Die Pflicht, die Wählerliſten anzulegen, liegt dem Gemeinde - Vorſtande (Ortsvorſtande, Inhaber eines ſelbſtſtändigen Guts - bezirks, Magiſtrat u. ſ. w.) ob. Die Liſte iſt in zwei gleichlau -538§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.tenden Exemplaren aufzuſtellen[und] in derſelben ſind die Wahl - berechtigten in alphabetiſcher Ordnung zu verzeichnen. In den Städten aber iſt es geſtattet, die Wähler zunächſt nach den Straßen und Häuſern zu gruppiren und nur innerhalb jedes Hauſes die Wähler alphabetiſch zu ordnen1)Wahlreglem. §. 1 Abſ. 1..

Späteſtens 4 Wochen vor dem zur Wahl beſtimmten Tage ſind dieſe Liſten zu Jedermanns Einſicht auszulegen und zwar während eines Zeitraumes von mindeſtens 8 Tagen2)Wahlgeſetz §. 8. Abſ. 2. Wahlreglem. §. 2 Abſ. 1.. Der Tag, an welchem die Auslegung der Wählerliſten beginnt, wird von der Staatsbehörde feſtgeſetzt3)Zuſtändig iſt durchweg das Miniſterium des Innern oder die entſpre - chende Centralbehörde; in Elſaß-Lothringen der Oberpräſident. Anlage D zum Wahlreglement.; der Gemeinde-Vorſtand aber iſt verpflichtet, noch vor dem Anfange der Auslegung dieſen Termin unter Angabe des Lokals, in welchem die Auslegung ſtattfindet, und unter Hinweis auf die Befugniß, Reclamationen zu erheben, in ortsüblicher Weiſe bekannt zu machen. Auf der Wählerliſte ſelbſt muß der Gemeinde-Vorſtand beſcheinigen, daß und wie lange die Auslegung geſchehen und daß die vorgeſchriebenen Bekannt - machungen erfolgt ſind4)Wahlregl. §. 2 Abſ. 2. 3. Das Formular in B. -G.-Bl. 1870 S. 284..

Jeder, der die Liſte für unrichtig oder unvollſtändig hält, kann die Berichtigung oder Ergänzung derſelben beantragen5)Wahlgeſ. §. 8. Wahlreglem. §. 3.. Der Antrag kann gerichtet ſein entweder auf Streichung von ein - getragenen Perſonen, welche in dem betreffenden Wahlbezirke zur Ausübung des Wahlrechts nicht befugt ſind, oder auf nachträgliche Eintragung von Wahlberechtigten6)Von Correcturen der Liſte in Bezug auf die Angabe der Vornamen, des Alters oder Gewerbes u. dgl. kann hier abgeſehen werden..

Activ legitimirt zur Stellung derartiger Anträge iſt Jeder, auch derjenige, der in dem Wahlbezirk nicht mit zu ſtimmen befugt iſt, ja der überhaupt kein Wahlrecht hat. Auch Weiber, Kinder, Nichtdeutſche können Anträge auf Berichtigung der Wahlliſte ſtellen7)Mit Unrecht beſchränkt Thudichum S. 140 dieſe Befugniß auf die Bundesangehörigen.. Denn es handelt ſich hier nicht um die Geltendmachung eines539§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.ſubjectiven Rechts, ſondern um eine Mitwirkung bei Erfüllung der, den Ortsvorſtänden obliegenden Pflicht, die Wählerliſten ſo correct wie möglich herzuſtellen. Selbſt wenn ein Wahlberechtigter, der in der Liſte übergangen iſt, ausdrücklich erklärt, daß er in dieſelbe nicht aufgenommen werden wolle, ſo kann doch von jedem Anderen ſeine Aufnahme verlangt werden. Es ſteht ſomit Wahlvereinen oder einzelnen, für die Wahlen ſich intereſſirenden Perſonen frei, die Liſten einer umfaſſenden Reviſion zu unterwerfen und alle da - bei entdeckten Unrichtigkeiten und Unvollſtändigkeiten zur Anzeige zu bringen.

Der Antrag iſt binnen 8 Tagen nach dem Beginn der vor - ſchriftsmäßig bekannt gemachten Auslegung der Liſten zu ſtellen. Später erhobene Reclamationen brauchen nicht berückſichtigt zu werden. Die Anträge ſind bei dem mit der Anfertigung der Liſte betrauten Gemeindevorſtand zu ſtellen, dem es freiſteht, dafür einen Kommiſſar zu ernennen oder eine Kommiſſion niederzuſetzen. Die Anträge müſſen ſchriftlich eingereicht1)Daß ſie eine Namens-Unterſchrift haben, kann nicht als erforderlich erachtet werden, da die Befugniß zur Stellung ſolcher Anträge an keine Vor - ausſetzung gebunden iſt, es ſonach unerheblich iſt, von wem der Antrag aus - geht. oder zu Protokoll erklärt werden und ſoweit ſie ſich auf Behauptungen ſtützen, welche nicht notoriſch (ortskundig) ſind, mit den erforderlichen Beweismitteln verſehen ſein.

Wird die Erinnerung ſofort für begründet erachtet, ſo erfolgt ohne Weiteres die Berichtigung der Liſte. Iſt eine Prüfung er - forderlich, ſo erfolgt eine Entſcheidung über den Antrag durch die zuſtändige Behörde2)Welche Behörde dies iſt, ergiebt ſich aus der Anlage D zum Wahl - reglement. In den ländlichen Bezirken iſt es regelmäßig die Kreisbehörde (Landrath, Amtmann, Kreisdirector, Bezirksamt), in den ſtädtiſchen der Magi - ſtrat; in den Stadtkreiſen in Elſaß-Lothringen der Bezirkspräſident.. Ein contradictoriſches Verfahren iſt in keinem Falle vorgeſchrieben; jedoch iſt es nicht ausgeſchloſſen, den - jenigen deſſen Streichung beantragt worden iſt, ſofern es thunlich iſt, zu Gehör zu verſtatten. Die Entſcheidung iſt durch Vermitt - lung des Gemeindevorſtandes den Betheiligten bekannt zu machen3)Wahlreglem. §. 3 Abſ. 3.. Unter den Betheiligten ſind wohl die Reclamanten und die auf540§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.Grund der Reclamation nachträglich in die Liſten aufgenommenen oder aus denſelben geſtrichenen Perſonen zu verſtehen. Eine Rechts - wirkung iſt an die Unterlaſſung der Benachrichtigung übrigens nicht geknüpft.

Gegen die Entſcheidung der zuſtändigen Behörde giebt es kein Rechtsmittel. Die Entſcheidung über alle Reclamationen muß inner - halb drei Wochen, vom Beginn der Auslegung der Wählerliſte an gerechnet, erfolgen1)Wahlreglem. §. 3. Es enthält dieſer § eine authentiſche Interpretation der Vorſchrift in §. 8 des Wahlgeſetzes, daß Einſprachen innerhalb der näch - ſten 14 Tage zu erledigen ſind , nämlich nach Ablauf der achttägigen Friſt für die Auslegung der Liſten.. Die Gründe der Streichungen und Nach - träge ſind in beiden Exemplaren der Wahlliſte am Rande unter Angabe des Datums kurz zu vermerken und die Belegſtücke, auf Grund deren die Berichtigung erfolgt iſt, ſind dem Haupt-Exem - plare beizuheften.

Am 22ten Tage nach dem Beginne der Auslegung wird die Wählerliſte mittelſt Unterſchrift des Gemeinde-Vorſtandes abge - ſchloſſen und auf dem zweiten Exemplar die völlige Uebereinſtim - mung deſſelben mit dem Haupt-Exemplare beſcheinigt. Nach dem Abſchluß der Wählerliſte iſt jede ſpätere Aufnahme von Wäh - lern in dieſelbe unterſagt2)Wahlreglement §. 4.. Es iſt ſonach die Berückſichtigung von Reclamationen, welche nach Ablauf der achttägigen Friſt ein - gehen, ſowie die nachträgliche Ergänzung der Wahlliſte von Amts - wegen geſetzlich nicht verboten, wofern die Hinzufügung der Wahl - berechtigten nur bis zum 22ten Tage nach Beginn der Auslegung erfolgt3)Die entgegengeſetzte Anſicht vertritt Thudichum S. 140.. Berichtigungen der Liſte durch Streichungen4)Wenn z. B. Jemand, der in die Liſte eingetragen iſt, vor der Wahl in Koncurs geräth oder die ſtaatsbürgerl. Rechte verliert. ſtehen, ſelbſt wenn ſie nach Abſchluß der Wählerliſte erfolgen, nicht im Widerſpruch mit dem Wortlaut des Wahlreglements (§. 4 Abſ. 3); ſie müſſen aber überhaupt außer dem Falle rechtzeitiger Recla - mation für höchſt bedenklich erachtet werden, da ſonſt der Zweck der Auslegung der Liſten völlig vereitelt werden könnte.

Von den beiden Exemplaren der Wählerliſte hat der Gemeinde - vorſtand das Hauptexemplar ſorgfältig aufzubewahren, das zweite541§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.Exemplar dem Wahlvorſteher Behufs Benutzung bei der Wahl zuzuſtellen1)Wahlreglem. §. 5 Abſ. 1..

Vor jeder Wahl iſt die Aufſtellung und Auslegung der Liſte zu wiederholen; ausgenommen ſind nur einzelne Neuwahlen (Er - ſatzwahlen), welche innerhalb eines Jahres nach der letzten allge - meinen Wahl ſtattfinden2)Wahlgeſ. §. 8 Abſ. 2. Wahlreglem. §. 34 Abſ. 3..

Die Kontrole über die ordnungsmäßige Aufſtellung, Aus - legung und Berichtigung der Wählerliſten ſteht denjenigen Behör - den zu, welche die allgemeine Aufſicht über die Gemeindevorſtände und Ortsvorſtände führen.

3. Zur Vorbereitung der Wahlhandlung gehört außer der Feſtſtellung der Wählerliſten noch die Beſtimmung des Lokals und die Ernennung eines Wahlvorſtehers und eines Stell - vertreters deſſelben für jeden Wahlbezirk3)Wahlreglem. §. 8 Abſ. 1.. Es liegt dies der zuſtändigen Behörde ob, über welche die Anlage D zum Wahl - reglement für die Einzelſtaaten Auskunft giebt4)Es ſind meiſtens die Kreisbehörden und für die Städte die Magiſtrate; doch iſt vielfach die Beſtimmung des Wahllokals den Ortsbehörden oder den Wahlvorſtehern ſelbſt übertragen.. Mindeſtens 8 Tage vor dem Wahltermin iſt die Abgrenzung der Wahlbezirke, ferner für jeden Wahlbezirk das Wahllokal, der Wahlvorſteher und Stellvertreter, und die Beſtimmung, daß die Wahlhandlung um 10 Uhr Vormittags beginnt und um 6 Uhr Nachmittags ge - ſchloſſen wird, durch die zu amtlichen Publikationen dienenden Blätter zu veröffentlichen und von den Gemeindevorſtänden in ortsüblicher Weiſe bekannt zu machen5)Wahlreglem. §. 8 Abſ. 2..

Mindeſtens zwei Tage vor dem Wahltermin ernennt der Wahl - vorſteher aus der Zahl der Wähler ſeines Bezirkes einen Proto - tokollführer und 3 bis 6 Beiſitzer, indem er ſie einladet, beim Be - ginn der Wahlhandlung im Wahllokal zur Bildung des Wahl - vorſtandes zu erſcheinen6)Wahlreglem. §. 10.. Ihre Funktion iſt ein unentgeltliches Ehrenamt. Wahlvorſteher, Beiſitzer und Protokollführer dürfen kein unmittelbares Staatsamt bekleiden7)Wahlgeſetz §. 9 Abſ. 2.. Der Wahlvorſtand542§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.wird in der Art konſtituirt, daß der Wahlvorſteher bei Eröffnung der Wahlhandlung den Protokollführer und die Beiſitzer mittelſt Handſchlags an Eidesſtatt verpflichtet1)Wahlregl. §. 12.. Der Wahlvorſtand nimmt an einem Tiſche Platz, der ſo aufgeſtellt wird, daß derſelbe von allen Seiten zugänglich iſt. Auf dieſen Tiſch wird ein verdecktes Gefäß (Wahlurne) zum Hineinlegen der Stimmzettel geſtellt. Vor dem Beginn der Abſtimmung hat ſich der Wahlvorſtand davon zu überzeugen, daß daſſelbe leer iſt2)Wahlreglem. §. 11.. Zu keiner Zeit der Wahlhand - lung dürfen weniger als drei Mitglieder des Wahlvorſtandes ge - genwärtig ſein. Der Wahlvorſtand und der Protokollführer dürfen ſich während der Wahlhandlung nicht gleichzeitig entfernen3)Wahlregl. §. 12 Abſ. 2. 3..

4) Die Stimmabgabe erfolgt durch Stimmzettel, welche in die Wahlurne niedergelegt werden. Die Reichsverfaſſung Art. 20 ſchreibt geheime Abſtimmung vor4)Die Annahme v. Mohl’s Krit. Bemerk. S. 69, daß die Reichsverfaſſ. die Abſtimmung des einzelnen Wählers nicht als eine geheime bezeichnet, be - ruht wohl auf einem Verſehen.; eine Reihe von Beſtim - mungen, welche Wahlgeſetz und Wahlreglement enthalten, haben den Zweck, die Durchführung dieſes Verfaſſungs-Prinzips zu ſichern und gleichzeitig der damit leicht verbundenen Gefahr von Fäl - ſchungen und Betrug vorzubeugen5)Dieſe Beſtimmungen ſind meiſtens dem franzöſiſchen décret réglemen - taire vom 2. Febr. 1852 wörtlich entnommen. v. Mohl a. a. O.. Die erheblichſten ſind fol - gende6)Das in der Verfaſſung ſanctionirte Prinzip hat aber noch vielfach an - dere Conſequenzen; insbeſondere iſt jede obrigkeitliche, namentlich zeugeneidliche Vernehmung von Wählern, wie ſie gewählt haben, unzuläſſig. Vgl. auch Stenogr. Berichte 1874. I. Seſſ. S. 724 fg.:

a) Das Wahlrecht muß in Perſon ausgeübt werden. Abwe - ſende können weder durch Stellvertreter, noch in irgend einer an - dern Art an der Wahl theilnehmen7)Wahlgeſ. §. 10. Wahlregl. §. 14.. Der Wähler tritt an den Wahltiſch und giebt ſeinen Namen, beziehungsweiſe ſeine Wohnung an. Erſt wenn der Protokollführer den Namen des Wählers in der Wählerliſte aufgefunden hat, wird derſelbe zur Ausübung des Wahlrechts zugelaſſen. Der Protokollführer vermerkt neben dem543§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.Namen des Wählers in der Wählerliſte in einer hiezu beſtimmten Rubrik derſelben durch ein Zeichen, daß das Wahlrecht ausgeübt worden ſei, theils um die Anzahl der abgegebenen Stimmen feſt - zuſtellen, theils um einer wiederholten Ausübung des Wahlrechts Seitens deſſelben Wählers vorzubeugen1)Wahlreglem. §. 15. 16..

b) Der Wähler giebt ſeinen Stimmzettel dem Wahlvorſteher oder deſſen Stellvertreter, welcher denſelben uneröffnet in die Wahl - urne legt. Die Stimmzettel müſſen von weißem Papier ſein; ſie dürfen mit keinem äußeren Kennzeichen verſehen ſein; ſie dürfen nicht im Wahllokale geſchrieben werden, ſondern ſind außerhalb des Wahllokals mit dem Namen des Kandidaten, welchem der Wähler ſeine Stimme geben will, handſchriftlich oder im Wege der Vervielfältigung zu verſehen2)Gedruckte Stimmzettel brauchen nicht den Namen des Druckers zu tragen. Reichspreßgeſetz §. 6 Abſ. 2; ja ſie dürfen es nicht wegen Wahlreglem. §. 19 Nr. 4.; ſie dürfen keine Unterſchrift tragen; ſie müſſen derart zuſammengefaltet ſein, daß der auf ihnen verzeichnete Name verdeckt iſt3)Wahlgeſetz §. 10. 11. Wahlregl. §. 15 Abſ. 3. Ueber caſuiſtiſche Streitfragen vgl. v. Mohl a. a. O. S. 78 fg. u. Stenogr. Ber. 1874 / 75 S. 1178 ff..

c) Der Wahlvorſteher hat Stimmzettel, welche hiergegen ver - ſtoßen, zurückzuweiſen und darauf zu achten, daß nicht ſtatt eines mehrere Stimmzettel abgegeben werden4)Wahlreglem. §. 15 Abſ. 4.. Wenn über die Zu - laſſung eines Stimmzettels Zweifel entſtehen oder zwiſchen dem Wahlvorſteher und dem Wähler eine Meinungs-Verſchiedenheit herrſcht, ſo kann der Wahlvorſtand darüber durch Beſchluß eine Entſcheidung treffen5)Wahlreglem. §. 13 Abſ. 2. Dieſe Vorſchrift verpflichtet den Wahlvor - ſteher zwar nicht, einen Beſchluß des Wahlvorſtandes herbeizuführen, aber ſie geſtattet dieſes Verfahren und es wird durch daſſelbe der von v. Mohl a. a. O. S. 82 erörterte Uebelſtand vermieden, daß ein Stimmzettel vom Vorſteher zuerſt als fehlerhaft zurückgewieſen, dann aber doch auf das Verlangen des Wählers in die Urne gelegt und ſchließlich bei der Stimmenzählung vom Wahl - vorſtand als ungültig erklärt wird..

d) Um 6 Uhr Nachmittags wird die Wahl geſchloſſen. Es geſchieht dies durch eine Erklärung des Wahlvorſtehers. Nachdem544§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.dieſelbe erfolgt iſt, dürfen keine Stimmzettel mehr angenommen werden. Der Wahlvorſtand ſtellt hierauf das Reſultat der Stimm - abgabe feſt. Zunächſt erfolgt eine Zählung der uneröffneten Stimm - zettel und der Wähler, welche zu Folge der in der Wählerliſte gemachten Bemerkungen ihr Stimmrecht ausgeübt haben; falls ſich trotz wiederholter Zählung eine Verſchiedenheit ergiebt, ſo iſt dies nebſt dem etwa zur Aufklärung Dienlichen im Protokolle an - zugeben1)Wahlregl. §. 17.. Ein Beiſitzer entfaltet die Stimmzettel, der Vorſteher lieſt dieſelben laut vor, ein anderer bewahrt die Stimmzettel bis zum Ende der Wahlhandlung auf; der Protokollführer nimmt den Namen jedes Kandidaten in das Protokoll auf und vermerkt neben demſelben jede dem Kandidaten zufallende Stimme; in gleicher Weiſe führt ein Beiſitzer eine Gegenliſte2)Wahlregl. §. 18.. Ungültig ſind Stimm - zettel,

  • welche nicht von weißem Papier oder welche mit einem äußeren Kennzeichen verſehen ſind;
  • welche keinen oder keinen lesbaren Namen enthalten;
  • aus welchen die Perſon des Gewählten nicht unzweifelhaft zu erkennen iſt;
  • auf welchen mehr als Ein Name oder der Name einer nicht wählbaren Perſon verzeichnet iſt
    3)Wegen Angabe des Druckers ſiehe oben S. 543 Note 2.
    3);
  • welche einen Proteſt oder Vorbehalt enthalten
    4)Wahlreglem. §. 19 und dazu v. Mohl a. a. O. S. 78 fg.
    4).

Bei Feſtſtellung des Wahlreſultats kommen ungültige Stimmen nicht in Anrechnung. Wird über die Gültigkeit von Stimmzetteln ein Beſchluß des Wahlvorſtandes gefaßt5)Dieſer Beſchluß wird mit Stimmen-Mehrheit gefaßt und iſt, vorbe - haltlich der Prüfung des Reichstages, unanfechtbar. Wahlgeſetz §. 13 Abſ. 1., ſo wird dies im Pro - tokoll mit kurzer Angabe der Gründe bemerkt und die Stimmzettel werden, mit fortlaufenden Nummern verſehen, dem Protokoll bei - geheftet. Alle übrigen Stimmzettel werden, in Papier eingeſchlagen und verſiegelt, vom Wahlvorſteher ſo lange aufbewahrt, bis der Reichstag die Wahl definitiv für gültig erklärt hat6)Wahlreglem. §. 20. 21. Wahlgeſ. §. 13 Abſ. 2.. Das über545§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.die Wahlhandlung aufgenommene Protokoll1)Das Formular dazu liefert Anlage B des Wahlreglem. B. -G.-Bl. 1870 S. 285 fg. iſt von dem Wahl - vorſteher, den Beiſitzern und dem Protokollführer zu unterſchreiben; ebenſo die Wählerliſte und die Gegenliſte2)Wahlregl. §. 16; 18 Abſ. 2; 22..

5) Die Feſtſtellung des Wahlreſultats erfolgt in einer öffentlichen Verhandlung für den ganzen Wahlkreis. Zu dieſem Behufe wird von der zuſtändigen Behörde3)Vgl. Anlage D zum Wahlreglem. In Preußen und Bayern die Be - zirksregierungen (reſp. Landdroſteien), in den andern Staaten das Miniſterium des Innern oder Staatsminiſterium, in Elſaß-Lothringen der Bezirkspräſident. für jeden Wahl - kreis ein Wahlkommiſſär ernannt und dies öffentlich bekannt ge - macht. An denſelben haben die Wahlvorſteher die Wahlprotokolle mit ſämmtlichen zugehörigen Schriftſtücken ungeſäumt einzureichen, jedenfalls ſo frühzeitig, daß ſie ſpäteſtens im Laufe des 3. Tages nach dem Wahltermin in deſſen Hände gelangen4)Wahlregl. §. 25..

Der Termin zur Ermittlung des Wahlergebniſſes iſt der 4. Tag nach dem Wahltermine. Der Wahlkommiſſär beruft zu demſelben in ein von ihm zu beſtimmendes Lokal mindeſtens 6 und höchſtens 12 Wähler aus dem Wahlkreiſe. Dieſelben dürfen ein unmittelbares Staatsamt nicht bekleiden. Außerdem iſt ein Protokollführer, der ebenfalls Wähler ſein muß, zuzuziehen. Bei - ſitzer und Protokollführer werden mittelſt Handſchlags an Eides - ſtatt verpflichtet5)Wahlregl. §. 26..

Aus den Protokollen, welche aus den einzelnen Abſtimmungs - bezirken eingegangen ſind, werden die Reſultate der Wahlen zu - ſammengeſtellt6)Die in den einzelnen Wahlbezirken getroffenen Entſcheidungen über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Stimmzetteln können von dem Wahl - kommiſſarius und ſeinen Beiſitzern nicht abgeändert werden. Siehe S. 544 Note 5. Vgl. Stenogr. Berichte 1874. I. Seſſ. S. 699 ff u. 1874 / 5. S. 1154 fg.. Aus dem darüber aufzunehmenden Protokoll muß die Zahl der Wähler, der gültigen und der ungültigen Stim - men und die Zahl der auf die einzelnen Kandidaten gefallenen Stimmen für jeden einzelnen Wahlbezirk erſichtlich ſein. Auch ſind diejenigen Bedenken zu erwähnen, zu denen die Wahlen in einzelnen Bezirken etwa Veranlaſſung gegeben haben.

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 35546§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

Das Ergebniß wird verkündet, und durch die zu amtlichen Publikationen dienenden Blätter bekannt gemacht1)Wahlregl. §. 27..

Die Wahl erfolgt durch abſolute Stimmenmehrheit aller in einem Wahlkreiſe abgegebenen Stimmen2)Wahlgeſ. §. 12.. Hat ſich dieſelbe auf einen Candidaten vereinigt, ſo wird derſelbe als gewählt proklamirt3)Wahlregl. §. 28 Abſ. 1..

6) Engere Wahl. Wenn eine abſolute Stimmenmehrheit ſich nicht ergeben hat, ſo findet unter den beiden Candidaten, welche die meiſten Stimmen erhalten haben, eine engere Wahl ſtatt4)Wahlgeſ. §. 12 Abſ. 1. Wenn mehrere Kandidaten gleich viele Stim - men haben, ſo entſcheidet das Loos, welches durch die Hand des Wahlkom - miſſars gezogen wird, darüber, welche beiden Kandidaten auf die engere Wahl zu bringen ſind. Wahlregl. §. 30 Abſ. 1.. Der Termin für dieſelbe wird von dem Wahlkommiſſar feſtgeſetzt und darf nicht länger hinausgeſchoben werden als höchſtens 14 Tage nach der Ermittlung des Ergebniſſes der erſten Wahl (alſo 18 Tage nach dem erſten Wahltermine)5)Wahlregl. §. 29.. Die engere Wahl iſt lediglich als Fortſetzung der erſten, reſultatlos gebliebenen Wahl anzuſehen; es bedarf daher nicht der Wiederholung der zur Vorbereitung der Wahl dienenden Maaßregeln. Wahlbezirke, Wahllokale, Wahlvorſteher bleiben unverändert; dieſelben Wähler - liſten werden angewendet; eine wiederholte Auslage und Berich - tigung derſelben findet nicht ſtatt6)Wahlregl. §. 31. Jedoch iſt eine Verlegung der Wahllokale und Er - ſetzung der Wahlvorſteher, wenn ſie nach dem Ermeſſen der zuſtändigen Behörde geboten erſcheint, geſtattet..

Alle Stimmen, welche bei der engeren Wahl auf andere Kandidaten fallen als auf die beiden, unter denen zu wählen iſt, ſind ungültig. Es iſt in der wegen Vornahme der engeren Wahl zu erlaſſenden Bekanntmachung ausdrücklich darauf hinzuweiſen7)Wahlregl. §. 30 Abſ. 2..

Tritt bei der engeren Wahl Stimmengleichheit ein, ſo ent - ſcheidet das Loos, welches durch die Hand des Wahlkommiſſars gezogen wird8)Wahlgeſ. §. 12 Abſ. 2. Wahlregl. §. 32..

547§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

7) Von dem Reſultat der Wahl iſt der Gewählte durch den Wahlkommiſſar in Kenntniß zu ſetzen und zugleich aufzufordern:

  • a) über die Annahme der Wahl ſich zu erklären,
  • b) nachzuweiſen, daß er nach Maaßgabe des Geſetzes wähl - bar ſei.

Dem Gewählten ſteht eine Deliberationsfriſt von 8 Tagen zu, welche von der Zuſtellung der Benachrichtigung an läuft. Der Nachweis der Wählbarkeit iſt für den Erwerb der Reichstags - Mitgliedſchaft nicht weſentlich; derſelbe kann, wenn die Wählbar - keit beſtritten werden ſollte, noch nachträglich geführt werden. Da - gegen muß die Erklärung der Annahme eine ausdrückliche ſein; das Ausbleiben einer Erklärung bis zum Ablauf der Friſt gilt als Ablehnung1)Dem Reichstage bleibt es aber allerdings unbenommen, eine verſpätete Annahme-Erklärung noch als wirkſam anzuſehen.. Die Annahme muß ferner eine uneingeſchränkte ſein; Annahme unter Proteſt oder Vorbehalt gilt ebenfalls als Ablehnung2)Wahlregl. §. 33..

Im Falle der Ablehnung oder Ungültigkeits-Erklärung der Wahl iſt von der zuſtändigen Behörde ſofort eine neue Wahl zu veranlaſſen3)Wahlregl. §. 34..

8) Die geſammten Koſten des Wahlverfahrens werden von den Gemeinden getragen. Ausgenommen ſind allein die Koſten für die Druckformulare zu den Wahlprotokollen der Wahlbezirke und die Koſten für die Ermittlung des Wahlergebniſſes in den Wahlkreiſen, welche den Bundesſtaaten zur Laſt fallen4)Wahlgeſetz §. 16..

VII. Vorſchriften zur Sicherung der Ausübung des Wahlrechts.

Unter dieſen Geſichtspunkt fallen eine Anzahl von Rechtsſätzen, welche in verſchiedenen Geſetzen aufgeſtellt worden ſind. Für ihre allgemeine Beurtheilung und Auffaſſung iſt es von Wichtigkeit, daß ſie weit weniger dem Zwecke dienen, das ſubjective Recht des einzelnen Wahlberechtigten zu ſchützen, obwohl auch dies theilweiſe mit in Betracht kommt, als vielmehr eine Sicherheit dafür zu ge - währen, daß der Reichstag als ein für das Reich ſo weſentliches Organ den für ſeine Zuſammenſetzung aufgeſtellten Verfaſſungs -35*548§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.Prinzipien gemäß auch wirklich gebildet werde. Das durch die in Rede ſtehenden Vorſchriften zu ſchützende Object iſt demnach in erſter Reihe nicht die Wahlberechtigung des Einzelnen, ſondern die verfaſſungsmäßige Organiſation des Reiches, das allgemeine Wahlrecht als Beſtandtheil derſelben, als objective Inſtitution des Verfaſſungsrechts.

Hierher gehören folgende Sätze:

1) Die Wahlberechtigten haben das Recht, zum Betrieb der den Reichstag betreffenden Wahl-Angelegenheiten Vereine zu bilden und in geſchloſſenen Räumen unbewaffnet öffentliche Ver - ſammlungen zu veranſtalten 1)Wahlgeſ. §. 17 Abſ. 1.. Das hier begründete Recht der Wahlberechtigten iſt, juriſtiſch ausgedrückt, die durch Reichs - geſetz erfolgte theilweiſe Aufhebung der landesgeſetzlichen Beſchrän - kungen der natürlichen Fähigkeit, Vereine zu bilden und Verſamm - lungen zu veranſtalten. Nicht dieſe Fähigkeit iſt eine Schöpfung des Rechts, ſondern ihre Beſchränkung2)Wo es gar keine Rechtsſätze über Vereine und Verſammlungen giebt, iſt das ſogen. Vereins - und Verſammlungsrecht am vollſtändigſten und unbeſchränkteſten, weil es eben ſeinem Inhalte nach überhaupt kein Recht iſt.. Den Einzelſtaaten iſt es demnach durch Reichsgeſetz verboten, in Bezug auf Vereine und Verſammlungen, welche zum Betrieb der Reichstags-Wahlangele - genheiten gebildet und veranſtaltet werden, dieſe natürliche Hand - lungsfähigkeit der Wahlberechtigten zu beſchränken3)Im Übrigen ſind dieſe Beſchränkungen und die auf Verle tzungen der - ſelben geſetzten Strafen aufrecht erhalten. Einf. -Geſ. zum St. -G.-B. §. 2 Abſ. 2. Die Uebertretung ſolcher Beſchränkungen wird hier Mißbrauch des Vereins - und Verſammlungsrechts genannt. Ebenſo Einf. -Geſ. für Elſ. -Lothr. vom 30. Aug. 1871 Art. II. Abſ. 2.. Abgeſehen davon, daß dieſe Beſchränkungen nur für Vereine und für öffentliche Verſammlungen, welche in geſchloſſenen Räumen und unbe - waffnet veranſtaltet werden, beſeitigt worden ſind, ſpricht das Reichsgeſetz nur von Wahlberechtigten, ſo daß alſo z. B. Perſonen, welche das 25. Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben, und Perſonen weiblichen Geſchlechts, ſowie Nicht-Reichsangehörige, wenn dieſelben an Wahlvereinen und Wahlverſammlungen Theil nehmen, den ge - wöhnlichen Vorſchriften der Partikularrechte über Vereine und öffentliche Verſammlungen unterliegen.

549§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

Außerdem hat das Reichsgeſetz ausdrücklich in Kraft erhalten die Beſtimmungen der Landesgeſetze über die Anzeige der Ver - ſammlungen und Vereine, ſowie über die Überwachung der - ſelben1)Wahlgeſ. §. 17 Abſ. 2..

2) Sowohl die Wahlhandlung und die Ermittelung des Wahl - ergebniſſes in den Wahlbezirken als die Feſtſtellung des Wahl - reſultates für die Wahlkreiſe ſind öffentlich2)Wahlgeſ. §. 9 Abſ. 1. Wahlreglem. § 26 Abſ. 3.. Es wird da - durch die Ordnungsmäßigkeit und Redlichkeit des Verfahrens unter die Controle der Wahlberechtigten geſtellt. Andererſeits wird die Ordnung und Ruhe der Wahlhandlung dadurch geſichert, daß während derſelben im Wahllokal weder Diskuſſionen ſtattfinden, noch Anſprachen gehalten, noch Beſchlüſſe gefaßt werden dürfen, außer den durch die Leitung des Wahlgeſchäfts bedingten Dis - kuſſionen und Beſchlüſſen des Wahlvorſtandes.

3) Unberechtigten Einwirkungen der Regierung auf die Stim - menabgabe und Feſtſtellung des Wahlergebniſſes und der Mög - lichkeit eines Verdachtes, daß dergleichen vorgekommen ſei, iſt durch die Vorſchrift vorgebeugt, daß die Funktion der Vorſteher, Bei - ſitzer und Protokollführer bei der Wahlhandlung in den Wahlbe - zirken und der Beiſitzer bei der Ermittelung des Wahlergebniſſes in den Wahlkreiſen ein unentgeltliches Ehrenamt iſt und nur von Perſonen ausgeübt werden kann, welche kein unmittelbares Staats - amt bekleiden3)Wahlgeſ. §. 9 Abſ. 2. Wahlreglem. §. 10. 26..

4) Das Reichs-Strafgeſetzbuch hat die freie und ordnungs - mäßige Vornahme der Wahlen durch vier ſpezielle Strafſatzungen geſchützt.

a) Wer einen Deutſchen durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einer ſtrafbaren Handlung verhindert, in Ausübung ſeiner ſtaatsbürgerlichen Rechte zu wählen oder zu ſtimmen, wird mit Gefängniß nicht unter 6 Monaten oder mit Feſtungshaft bis zu 5 Jahren beſtraft. Der Verſuch iſt ſtrafbar. §. 1074)Vgl. Drenkmann in Goltdammer’s Arch. Bd. 17 S. 168 ff. John in v. Holtzendorff’s Handb. des D. Strafr. III. S. 83 ff..

b) Ein Beamter unterliegt dieſer Beſtrafung ſelbſt dann, wenn er die im §. 107 verbotene Handlung ohne Gewalt oder550§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.Drohung, aber durch Mißbrauch ſeiner Amtsgewalt oder Andro - hung eines beſtimmten Mißbrauchs derſelben begangen hat1)Vrgl. hiezu Oppenhoff St. -G.-B. Note 9 zu §. 339 und Meves in v. Holtzendorff’s Handb. III. S. 973 ff. und oben S. 438.. §. 339, Abſ. 3.

c) Wer ein unrichtiges Ergebniß der Wahlhandlung vorſätz - lich herbeiführt, wird, wenn er mit der Sammlung von Wahl - zetteln oder mit der Führung der Beurkundungsverhandlung be - auftragt iſt, mit Gefängniß von 1 Woche bis zu 3 Jahren beſtraft; wenn er nicht mit der Sammlung der Zettel oder einer anderen Verrichtung bei dem Wahlgeſchäfte beauftragt iſt, ſo tritt Gefäng - nißſtrafe bis zu zwei Jahren ein. Auch kann auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. §. 1082)Vergl. v. Mohl krit. Bemerk. S. 57 fg. Drenkmann a. a. O. John a. a. O. S. 87 ff..

d) Wer in einer öffentlichen Angelegenheit ein Wahlrecht kauft oder verkauft3)Die civilrechtlichen Begriffe des Kaufs und Verkaufs kommen hier nicht zur Anwendung. Drenkmann a. a. O. S. 178. John S. 89. Oppen - hoff Strafgeſetzb. Note 3 zu §. 109 und insbeſondere Schwarze Kommen - tar zum St. -G.-B. zu §. 109., wird mit Gefängniß von einem Monat bis zu zwei Jahren beſtraft; auch kann auf Verluſt der bürger - lichen Ehrenrechte erkannt werden. §. 1094)Vgl. v. Mohl a. a. O. S. 61 fg..

Alle nicht unter dieſe 4 Kategorien fallende Handlungen, welche eine Beeinflußung der Wähler bezwecken, ſind, ſofern ſie nicht gegen die allgemeinen Strafgeſetze verſtoßen, erlaubt5)Dahin gehört namentlich die Verbreitung von Lügen; die Erregung phantaſtiſcher Hoffnungen; die Verſicherung, daß die Wahl eines beſtimmten Kandidaten Gott wohlgefällig ſei, die eines anderen Krankheiten und Mißernte u. dergl. Unglücksfälle als Strafen Gottes herbeiführen werde; Bedrohung mit Verluſt der Kundſchaft oder mit Dienſtentlaſſung oder mit Kündigung von Pachtverträgen u. drgl. Alles dies mag man tadeln und beklagen, man muß es aber als Conſequenz des allgemeinen Wahlrechts mit hinnehmen. Andere zu beeinfluſſen und ſich von ihnen beeinfluſſen zu laſſen, iſt ein unantaſtbares Menſchenrecht , welches freilich in den Katalogen der natürlichen Rechte oder Grundrechte gewöhnlich übergangen wird.. Die Freiheit der Wahlbeeinflußung iſt das Correlat des allgemeinen, directen Wahlrechts und ohne ſie iſt die Erzielung einer abſoluten Stimmenmehrheit der Wähler eines Kreiſes kaum zu erwarten. 551§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.Moraliſch mögen die Mittel, welche zur Beeinflußung der Wähler verwendet werden, oft recht verwerflich ſein; rechtlich iſt ein Mittel nur unſtatthaft, wenn es geſetzlich verboten iſt. Die Praxis des Reichstages bei Prüfung der Wahlen iſt auch im Weſentlichen von dem Grundſatz ausgegangen, daß ſolche Beeinflußungen von Wah - len, welche nicht gegen Strafgeſetze verſtoßen, für die Gültigkeit der Wahl ohne Belang ſind1)Eingehende Details bei v. Mohl a. a. O. S. 49 ff. Vergl. auch Bamberger in v. Holtzend. Jahrb. I. S. 160 ff. Sehr empfindlich hat ſich aber der Reichstag wiederholt in dem Falle gezeigt, wenn ein Gensdarm die, jedem andern Menſchen freiſtehende Befugniß, Stimmzettel zu vertheilen, aus - geübt hat. Vgl. z. B. Stenogr. Berichte 1874 I. Seſſ. S. 689 ff. 187⅘ S. 870 ff..

5) Endlich iſt hierher zu zählen die Beſtimmung des Art. 21, Abſ. 1 der Reichsverf. : Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in den Reichstag . Dieſe Beſtimmung ſtellt das allge - meine Wahlrecht in der Richtung ſicher, daß der durch dasſelbe zum Mitglied des Reichstages Berufene nicht durch die ihm dienſt - lich vorgeſetzte Behörde gehindert werden darf, die ihm übertragene Function auszuüben. Die Beſtimmung enthält keinen anderen Satz, als daß der Beamte, welcher ſeinen Dienſt verläßt, um der auf ihn gefallenen Wahl Folge zu leiſten, keine unbefugte und ſchuldbare Verletzung der Dienſtpflichten verübt und daß er keiner Erlaubniß ſeiner vorgeſetzten Behörde zum Eintritt in den Reichstag bedarf. Dagegen enthält dieſer Artikel gar nichts über anderweitige Rechtsfolgen, welche ſich für den Beamten an den Eintritt in den Reichstag knüpfen können, namentlich keine Ent - ſcheidung der Frage, ob ein Abzug vom Gehalte ſtattfindet oder dem Beamten die Stellvertretungskoſten zur Laſt fallen2)Der verfaſſungsber. Reichstag von 1867 hat einen Antrag, die Befrei - ung der Beamten von den Stellvertretungskoſten auszuſprechen, verworfen. Stenogr. Berichte S. 711. Daraus folgt nicht, daß die einzelnen Regierungen den Beamten Gehalts-Abzüge machen oder von ihnen die Stellvertretungskoſten einziehen müſſen oder auch nur dürfen, wie Hierſemenzel I. S. 84. Thu - dichum S. 155. Auerbach S. 112 annehmen; ſondern die Frage iſt in jedem einzelnen Staat und für jede Kategorie von Beamten nach dem parti - kulären Staats - und Verwaltungsrechte zu entſcheiden. Vgl. v. Martitz Be - trachtungen S. 82 Note 77. Meyer, Grundz. S. 100. Riedel S. 112. v. Rönne S. 165 Note c. Seydel S. 145. v. Mohl S. 352. In Preußen werden die Stellvertretungskoſten für die aus Staatsfonds be -. Für552§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.die Reichsbeamten iſt dieſe Entſcheidung aber durch das Reichsgeſ. v. 31. März 1873 §. 14, Abſ. 2 (Rg. -Bl. S. 63) dahin getrof - fen, daß ein Abzug vom Gehalte nicht ſtattfindet und die Stellver - tretungskoſten der Reichskaſſe zur Laſt fallen. Vgl. S. 421.

Zu Zweifeln hat der Ausdruck Beamte in Art. 21, Abſ. 1 Anlaß gegeben. Aus den Verhandlungen des zur Vereinbarung der Verfaſſung berufenen Reichstages iſt Nichts dafür zu entneh - men, welchen Sinn man an dieſer Stelle mit dem Worte Beamte verbunden hat; ebenſo wenig giebt die Reichsverfaſſung ander - wärts eine Definition dieſes Ausdruckes. Sicher iſt nur, daß er außer den Reichsbeamten jedenfalls auch die Beamten der Einzel - ſtaaten mit umfaßt. Es wird daher nach der Behördenverfaſſung und dem öffentlichen Rechte der einzelnen Staaten zu entſcheiden ſein, wer als Beamter derſelben anzuſehen iſt1)v. Pözl S. 125 Note 3 ſagt: Bedienſtete von Privatperſonen oder von Privatgeſellſchaften können weder im Hinblick auf den Wortlaut noch auf die ratio legis unter dieſen Artikel ſubſumirt werden. Riedel S. 112 meint dagegen: Der Ausdruck Beamte muß hier im weiteſten Sinne genommen werden. Hierſemenzel S. 84 und v. Rönne S. 164 Note b) verſtehen unter Beamten auch die mittelbaren Staatsbeamten ; Thudichum S. 154 behauptet dagegen, daß Gemeinde - und Kirchenbeamte keine Befreiung von der Pflicht der Urlaubs-Einholung genießen. Die entgegengeſetzte Anſicht verthei - digt Seydel S. 144. 145. v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 351 iſt ſogar ge - neigt, auch auf die Angeſtellten von Privat-Eiſenbahnen und Dampfſchifffahrts - Linien (ſoll wohl heißen: Geſellſchaften) den Art. 21 anzuwenden. Aus der Zuſammenſtellung des Abſ. 1 und des Abſ. 2 des Art. 21 in einem und dem - ſelben Artikel läßt ſich vielleicht folgern, daß der Ausdruck Beamte auf die im Reichs - oder Staatsdienſte Angeſtellten zu beſchränken iſt, da Abſ. 2 von dieſen handelt..

VIII. Die Wahlprüfungen.

Der Reichstag prüft die Legitimation ſeiner Mitglieder und entſcheidet darüber . R. -V. Art. 27. Die Entſcheidung erfolgt ohne Mitwirkung und Betheiligung des Bundesrathes oder des Reichskanzlers und ſie iſt definitiv; es giebt kein Mittel, wenn der Reichstag einmal eine Wahl für gültig oder für ungültig erklärt hat, dieſe Entſcheidung anzufechten, weder innerhalb noch außerhalb des Reichstages. Daß2)ſoldeten Beamten, welche in den Reichstag eintreten, auf Grund des Staats - miniſt. -Beſchluſſes v. 4. Oktober 1867 (v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2. S. 786) bis auf Weiteres aus Staatsmitteln beſtritten. In Bayern werden eben - falls keine Abzüge für Stellvertretungskoſten gemacht. Riedel a. a. O.553§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.die Entſcheidung materiell den Charakter eines Urtheils hat, alſo nach Grundſätzen des Rechts und der Billigkeit, nicht nach dem politiſchen Partei-Intereſſe, erfolgen ſollte, bedarf keiner Ausfüh - rung; die Gründe für die Abſtimmung der einzelnen Reichstags - Mitglieder ſind aber nicht controllirbar.

Um dem Reichstage die Prüfung der Wahlen zu ermöglichen, ſind von dem Wahlkommiſſar ſämmtliche Wahlakten, ſowohl über die Wahlen in den Bezirken als über die Zuſammenſtellung der Ergebniſſe im Wahlkreiſe, der Staatsbehörde einzureichen und alle dieſe Akten werden durch Vermittelung der Central-Verwaltungs - behörde der Einzelſtaaten dem Reichstage vorgelegt1)Wahlreglem. §. 35 und dazu Anlage D. .

Über das Verfahren hat die Geſchäftsordnung des Reichstages §§. 3 6 die erforderlichen Beſtimmungen getroffen2)Eine eingehende Darſtellung und kritiſche Beleuchtung dieſes Verfahrens giebt v. Mohl krit. Bemerkungen ꝛc. S. 85 fg. Eine Abänderung iſt bereits im Reichstage von 1874 / 75 beantragt worden. Vgl. Stenogr. Berichte. An - lagen II. Nr. 215. (S. 1275).. Nach denſelben zerfällt daſſelbe in die Vorprüfung und in die Entſcheidung.

1) Die Vorprüfung geſchieht in den Abtheilungen. Der Reichstag wird durch das Loos in ſieben Abtheilungen gleicher Mitgliederzahl getheilt, welche ſich ihren Vorſitzenden und Schrift - führer wählen und ohne Rückſicht auf die Zahl der anweſenden Mitglieder beſchlußfähig ſind3)Geſch. -O. §. 2.. Jeder Abtheilung wird eine mög - lichſt gleiche Anzahl der einzelnen Wahlverhandlungen durch das Loos zugetheilt. Die Entſcheidung erfolgt auf den Bericht der Abtheilung durch das Plenum des Reichstages.

2) Eine Entſcheidung des Plenums muß erfolgen

  • a) wenn die Abtheilung ein erhebliches Bedenken findet,
  • b) wenn eine Wahlanfechtung (Proteſt) vorliegt
    4)Über die Frage, ob zur Anfechtung einer Wahl jeder oder nur ein dem betreffendem Wahlkreiſe angehöriger Wähler legitimirt ſei, enthält die Geſch. - Ordn. keine Beſtimmung. Eine Erörterung darüber enthalten die Stenogr. Berichte 1874 I. Seſſ. S. 721 ff., zu einer Entſcheidung aber iſt der Reichstag nicht gelangt.
    4),
  • c) wenn ein Reichstags-Mitglied Einſprache erhebt.

Für die Wahlanfechtungen und Einſprachen beſteht eine prä -554§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.cluſiviſche Friſt von 10 Tagen, welche von der Eröffnung des Reichstages, bei Nachwahlen, die während einer Seſſion ſtatt - finden, von der Feſtſtellung des Wahlergebniſſes an, läuft. Später eingehende Proteſte und Einſprachen bleiben unberück - ſichtigt1)Geſch. -Ordn. §. 4..

Die Entſcheidung kann auf Gültigkeitserklärung, Ungültigkeits - erklärung oder Beanſtandung gehen und im letzteren Falle können die erforderlichen thatſächlichen Feſtſtellungen durch Vermittelung des Reichskanzlers erhoben werden.

Wenn keiner der 3 angegebenen Fälle vorliegt, bedarf es einer Entſcheidung des Plenums nicht. Solche Wahlen werden nach der Vorprüfung durch die Abtheilung vom Präſidenten nachrichtlich zur Kenntniß des Hauſes gebracht, und wenn bis dahin die für Anfechtungen gegebene Friſt von 10 Tagen noch nicht verfloſſen iſt, einſtweilen als gültig betrachtet; nach Ablauf dieſer Friſt ſind ſie definitiv gültig2)Geſch. -Ordn. §. 5..

3) Bis zur Ungültigkeits-Erklärung einer Wahl hat der Ge - wählte Sitz und Stimme im Reichstage3)Nur dürfen Mitglieder, deren Wahl beauſtandet wird, natürlich nicht an der Abſtimmung über die Gültigkeit ihrer eigenen Wahl Theil nehmen, wohl aber alle ihnen nöthig ſcheinenden Aufklärungen geben. Geſch. -Ordn. §. 6.. Ein beſtimmter Termin, bis zu welchem die Vorprüfung der Wahlen oder die Definitiv - Entſcheidung über dieſelben erfolgt ſein müſſe, iſt nicht vorge - ſchrieben.

IX. Erlöſchen der Mitgliedſchaft.

Die Reichstags-Mitgliedſchaft hört auf:

1) durch Ablauf der Legislatur-Periode, welche drei Jahre dauert. R.V. Art. 244)Die Friſt beginnt mit dem Tage der allgemeinen Wahlen. Soll die Legislatur-Periode im einzelnen Falle verlängert werden, ſo iſt dazu ein Geſetz erforderlich, welches den für Verfaſſungs-Aenderungen aufgeſtellten Erforder - niſſen genügt. Vgl. das Geſ. v. 21. Juli 1870. B. -G.-Bl. S. 498..

2) durch Auflöſung des Reichstages während der Legislatur - Periode. R. -V. Art. 24.

3) durch freiwilliges Ausſcheiden eines Mitgliedes. (Sogen. Mandats-Niederlegung)5)Vrgl. Wahlreglem. §. 34 Abſ. 2; hier wird die Zuläſſigkeit des Aus -.

555§. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.

4) Wenn ein Mitglied des Reichstages ein beſoldetes Reichsamt oder in einem Bundesſtaate ein beſoldetes Staatsamt annimmt oder im Reichs - oder Staatsdienſte in ein Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höheres Gehalt verbunden iſt, ſo verliert es Sitz und Stimme in dem Reichstage und kann ſeine Stelle in demſelben nur durch neue Wahl wieder erlangen. R. -V. Art. 21 Abſ. 21)Da dieſe Verfaſſungsbeſtimmung dem Art. 78 Abſ. 3 der Preuß. Verf. - Urk. entnommen iſt, ſo kann in Betreff der Caſuiſtik die ſtaatsrechtl. Praxis Preußens Verwerthung finden. Ueber dieſelbe ſtellt ein reichhaltiges Material zuſammen v. Rönne Preuß. Staatsr. § 118. (3. Aufl. I. 2. S. 394 fg.). Die Entſchei - dung der Frage, ob in einem gegebenen Falle eine dieſer Vor - ausſetzungen thatſächlich vorliegt oder nicht, gehört zur Prüfung der Legitimation der Reichstags-Mitglieder und ſteht deßhalb dem Reichstage allein zu.

5) Die Reichsverfaſſung kennt keinen Fall, in welchem einem Mitgliede Sitz und Stimme im Reichstage zur Strafe entzogen werden kann. Weder durch ſtrafrichterliches Erkenntniß kann der Verluſt der Mitgliedſchaft verhängt werden, noch iſt der Reichstag befugt, wegen dauernder Nichttheilnahme an den Geſchäften des Reichstages oder wegen unehrenhaften Verhaltens ein Mitglied auszuſchließen2)Vrgl. über dieſe Frage die Stenogr. Berichte 1868. S. 296. 454 ff. Thudichum S. 197. 198.. Dagegen kann man die Frage erheben, ob nicht ein Mitglied des Reichstages, welches die Wählbarkeit einbüßt, dadurch von ſelbſt Sitz und Stimme im Reichstage verliert3)Dafür erklären ſich auch, wenngleich ohne Begründung, v. Pözl S. 126, v. Rönne S. 167, Schwarze Commentar zum St. -G.-B. S. 104.. Die Beantwortung der Frage kann zweifelhaft ſein, weil die Beding - ungen, um Mitglied des Reichstages zu werden, nicht dieſelben zu ſein brauchen, wie die Bedingungen, um es zu bleiben.

Allein aus der Natur der Sache darf man wohl unbedenklich die Bejahung der Frage herleiten. Es ergiebt ſich dies zunächſt für den Fall, daß ein Reichstags-Mitglied auswandert und mithin5)ſcheidens, die auf einem allgemeinen Gewohnheitsrecht beruht, implicite aner - kannt. Die Niederlegung des Mandats muß ausdrücklich erklärt werden; aus der Thatſache, daß ein Mitglied ohne Entſchuldigung und ohne ſogen. Ur - laub ſich fortgeſetzt von den Reichstags-Geſchäften fern hält, kann der Verzicht auf die Mitgliedſchaft nicht gefolgert werden.556§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.aufhört, Angehöriger des deutſchen Reiches zu ſein. Wer nicht zum deutſchen Volke gehört, kann auch nicht Vertreter deſſelben ſein. Wenn man aber anerkennt, daß der Wegfall einer Vor - ausſetzung der Wählbarkeit, nämlich der Verluſt der Reichsange - hörigkeit, den Verluſt der Reichstagsmitgliedſchaft nach ſich zieht, ſo muß man conſequenter Weiſe dieſelbe Wirkung auch dann an - nehmen, wenn einer der 4 im Wahlgeſ. §. 3 erwähnten Fälle eintritt, durch welche Wahlrecht und Wählbarkeit zeitweiſe ausge - ſchloſſen werden. Ausdrücklich durch Geſetz entſchieden iſt dies für den Fall, daß einem Reichstags-Mitgliede die bürgerlichen Ehren - rechte aberkannt werden. Denn nach §. 33 des R. -St.-G.-B’s. iſt hiermit der dauernde Verluſt der aus öffentlichen Wahlen für den Verurtheilten hervorgegangenen Rechte verbunden. Ebenſo muß man aber annehmen, daß ein Mitglied des Reichstages Sitz und Stimme in demſelben verliert, wenn über ſein Vermögen der Konkurs eröffnet wird oder wenn er eine Armenunterſtützung aus öffentlichen oder Gemeinde-Mitteln bezieht.

Die Entſcheidung im einzelnen Falle würde, da es ſich auch hier um die Legitimation der Mitglieder handelt, dem Reichstage ſelbſt zuſtehen.

§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.

1) Der Reichstag darf ſich nicht verſammeln und ſeine Thätigkeit beginnen, ohne vom Kaiſer berufen und ohne vom Kaiſer perſönlich oder durch einen von ihm dazu beauftragten Stellvertreter eröffnet zu ſein. R. -V. Art. 121)Vrgl. oben S. 273 die Ausführungen über den gleichen Rechtsſatz hin - ſichtlich des Bundesrathes..

Nach dem Art. 13 der R. -V. findet die Berufung des Reichs - tages alljährlich ſtatt ; es muß alſo der Reichstag in jedem Jahre mindeſtens einmal einberufen werden. Die Befugniß des Kaiſers, den Reichstag mehrmals in einem Jahre einzuberufen, iſt in der Verfaſſung zwar nicht ausdrücklich anerkannt, abgeſehen von dem Falle einer Auflöſung des Reichstages (R. -V. Art. 25); ſie beruht aber auf einem allgemeinen, unzweifelhaften Gewohnheitsrecht und iſt unbeſtritten2)Im Jahre 1870 wurde der Reichstag dreimal einberufen durch Verordn. v. 6. Febr., 15. Juli und 12. November; im Jahre 1871 zweimal durch Ver -. Man unterſcheidet demnach beim Reichstage,557§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.wie beim Bundesrathe, ordentliche und außerordentliche Sitzungs - perioden.

2) Der Reichstag darf nicht gegen den Willen des Kaiſers verſammelt bleiben und ſeine Thätigkeit fortſetzen. Dem Kaiſer ſteht es vielmehr zu, den Reichstag zu vertagen und zu ſchließen. R. -V. Art. 12. Dieſes Recht iſt jedoch in ſo weit eingeſchränkt, daß ohne Zuſtimmung des Reichstages die Vertagung deſſelben die Friſt von 30 Tagen nicht überſteigen und während derſelben Seſſion nicht wiederholt werden darf. R. -V. Art. 26.

Über den rechtlichen Unterſchied der Vertagung und Schließung enthält die Reichsverfaſſung zwar Nichts; nach dem feſtſtehenden parlamentariſchen Sprachgebrauch und der conſtitutionellen Praxis beſteht derſelbe aber darin, daß die Vertagung die Continuität der Reichstagsgeſchäfte nicht unterbricht, wohl aber die Schließung1)Vrgl. darüber v. Rönne Preuß. Staatsr. §. 122 (I. 2 S. 405. ff.). Im Falle einer Vertagung bedarf es daher keiner wiederholten Einberufung und Eröffnung, keiner neuen Conſtituirung des Reichs - tages, keiner neuen Einbringung der unerledigt gebliebenen Vor - lagen und Anträge. Die Geſchäfte werden vielmehr während der Vertagungsfriſt nur ſuspendirt, bei dem Wiederzuſammentritt des Reichstages daher an dem Punkte aufgenommen und fortgeſetzt, an welchem ſie liegen geblieben ſind.

Im Falle der Schließung tritt dagegen das Prinzip der Dis - continuität ein; die neue Sitzung iſt keine Fortſetzung der vorher - gehenden; alle in der letzteren nicht zum Abſchluß gekommenen Reichstagsgeſchäfte müſſen von Anfang an wieder begonnen werden. Daher können auch Reichstags-Kommiſſionen nach Schluß der Sitzungsperiode ihre vorberathende Thätigkeit nicht fortſetzen. Ob - wohl dieſer Satz reichsgeſetzlich nicht direct ausgeſprochen iſt, ſo ſteht er doch in ſo unbezweifelter Geltung2)Die Geſch. -Ordn. §. 67 ſcheint ihn beſtätigen zu wollen, indem ſie be - ſtimmt, daß Geſetzes-Vorlagen, Anträge und Petitionen mit dem Ablaufe der Sitzungs-Periode, in welcher ſie eingebracht und noch nicht zur Beſchlußnahme gediehen ſind, für erledigt (!?) zu erachten ſind., daß eine Abweichung von demſelben nur auf Grund eines beſonderen Reichsgeſetzes zu - läſſig erſcheint. Eine ſolche Ausnahme iſt durch das Geſetz v. 2)ordn. v. 26. Febr. und 5. Oktober; im Jahre 1874 ebenfalls zweimal durch Verordn. v. 20. Januar und v. 20. Oktober.558§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.23. Dezember 1874 (Rg. -Bl. S. 194. 195. ) gemacht worden. Die vom Reichstage zur Vorberathung der Entwürfe eines Gerichts - verfaſſungsgeſetzes, einer Strafproceß-Ordnung und einer Civil - proceß-Ordnung eingeſetzte Kommiſſion wurde ermächtigt, ihre Ver - handlungen nach dem Schluſſe der Seſſion des Reichstages bis zum Beginn der nächſten ordentlichen Seſſion deſſelben fortzu - ſetzen, und im §. 4 deſſelben Geſetzes wurde beſtimmt, daß der Reichstag in einer der folgenden Seſſionen der gegenwärtigen Le - gislaturperiode in die weitere Berathung der genannten Geſetz - entwürfe eintritt. Es ſind alſo hier in Bezug auf die geſchäftliche Behandlung dieſer Vorlagen ausnahmsweiſe die mit der Schließung des Reichstages verbundenen Wirkungen auf das Maaß zurückgeführt worden, welches ſonſt denen der Vertagung des Reichstages zukömmt.

3) Der Reichstag darf ohne Genehmigung des Kaiſers ſich nicht trennen oder ſeine Thätigkeit unterbrechen. Das Recht der Vertagung und Schließung ſteht ausſchließlich dem Kaiſer zu. Nur im nicht techniſchen Sinne wird der Ausdruck Vertagung auch angewendet, wenn der Reichstag eine einzelne Sitzung vor völliger Erledigung der Tagesordnung abbricht oder die nächſte Sitzung um einige Tage hinausſchiebt1)Geſch. -Ordn. §. 34. Der Präſident eröffnet und ſchließt die Sitzung; er verkündet Tag und Stunde der nächſten Sitzung. .

4) Der Reichstag kann vor Ablauf der Legislatur-Periode aufgelöſt werden. Die Auflöſung erfolgt durch eine kaiſerliche Verordnung, welche nur auf Grund eines vom Bundesrathe unter Zuſtimmung des Kaiſers gefaßten Beſchluſſes erlaſſen werden kann2)R. -V. Art. 24. Vrgl. die Eingangsformel zur Verordn. v. 29. Nov. 1873. (RG. -Bl. S. 371).. Wird der Reichstag aufgelöſt, ſo müſſen innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen nach der Auflöſung die Neuwahlen ſtattfinden und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen nach der Auflöſung muß der Reichstag verſammelt werden3)R. -V. Art. 25.. Die Wirkung der Auflöſung beſteht darin, daß dadurch die ſogenannten Reichstagsmandate erlöſchen, d. h. daß die durch die Wahl erfolgte Berufung zum Reichstags-Mitgliede ein Ende findet. Die Auf - löſung kann daher auch erfolgen, wenn der Reichstag nicht ver - ſammelt iſt. Iſt derſelbe verſammelt, ſo hat die Auflöſung ipso559§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.iure und mit Nothwendigkeit die Schließung deſſelben zur Folge; denn es giebt von dem Moment der Auflöſung an keine Reichs - tagsmitglieder mehr, bis durch die Neuwahlen wieder ſolche er - nannt werden. Es folgt hieraus zugleich, daß der einmal aufge - löſte Reichstag nicht nochmals einberufen werden kann1)Die entgegengeſetzte Anſicht vertritt Thudichum S. 165. 166. Gegen denſelben erklärt ſich auch Seydel S. 153..

§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.

Die Reichsverfaſſung hat über die Art und Weiſe, wie der Reichstag ſeine Geſchäfte zu erledigen habe, nur 2 Beſtimmungen getroffen, die eine im Art. 22 über die Öffentlichkeit der Verhand - lungen, die andere im Art. 28 über die Beſchlußfaſſung. Im Übrigen iſt durch den Art. 27 ausgeſprochen, daß der Reichstag ſeinen Geſchäftsgang und ſeine Disciplin durch eine Geſchäfts - Ordnung regelt und ſeinen Präſidenten, ſeine Vicepräſidenten und Schriftführer erwählt. Die formelle Ordnung der Geſchäftsbe - handlung unterliegt daher im Weſentlichen der ſtatutariſchen Feſt - ſtellung des Reichstages. Daraus folgt einerſeits, daß weder der Bundesrath noch die Reichsregierung ein Mitwirkungs - und Ein - ſpruchsrecht bei Feſtſtellung der Geſchäftsordnung haben, ſondern das Belieben des Reichstages allein entſcheidet; andererſeits, daß die Geſchäftsordnung nur die Mitglieder des Reichstages ſelbſt verpflichtet und unter ihnen ſtatutariſches Recht erzeugt, aber keine Rechtsſätze ſanctioniren kann, denen über den Kreis der Reichstagsgenoſſen hinaus in irgend einer Beziehung Kraft und Wirkung zukäme. Namentlich darf man die Geſchäfts-Ordnung nicht paralleliſiren mit einer Verordnung des Kaiſers oder Bun - desrathes2)Dies thut ausdrücklich v. Mohl krit. Bemerkungen ꝛc. S. 12.; bei der letzteren handelt es ſich um eine Bethätigung der Reichsgewalt, um die Ausübung eines ſtaatlichen Hoheitsrechts, die einem Organe des Reiches delegirt iſt; bei der Feſtſtellung der Geſchäftsordnung des Reichstages um eine ſtatutariſche Regelung der internen Angelegenheiten dieſes Organes.

Es folgt ferner daraus, daß die Geſchäftsordnung immer nur für denjenigen Reichstag bindend iſt, der ſie ſich gegeben hat und nur ſo lange, als ſie der Majorität deſſelben behagt. Die Ein - führung, Abänderung und Ergänzung der Geſchäfts-Ordnung iſt560§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.aber an die allgemeinen Bedingungen geknüpft, welche der Art. 28 der R. -V. für alle Beſchlüſſe des Reichstags aufſtellt. Hat der Reichstag alſo einmal eine Geſchäfts-Ordnung angenommen, ſo iſt ſie für ihn als Geſammtheit und für jedes einzelne Mitglied ſo lange bindend, bis ein ordnungsmäßig gefaßter Beſchluß ſie ab - ändert. Da die vom Reichstage des Norddeutſchen Bundes an - genommene Geſchäfts-Ordnung vom 12. Juni 1868 ſich als zweck - mäßig erwieſen hat, ſo iſt ſie von den folgenden Reichstagen immer wieder angenommen worden und bis auf geringfügige und untergeordnete Punkte unverändert geblieben1)Unter den Ergänzungen und Abänderungen, welche dieſelbe erfahren hat, ſind hervorzuheben die Beſchlüſſe vom 9. April 1874 über die Art der Abſtimmung und Zählung (Geſch. -O. §. 52. 52a). Stenogr. Ber. 1874 S. 680 ff. und vom 11. Nov. 1874 (Stenogr. Ber. 1874 / 75 S. 98).. Man darf daher annehmen, da die parlamentariſche Praxis ebenſo wenig wie die gerichtliche und Verwaltungs-Praxis geneigt iſt, hergebrachte und als brauchbar bewährte Übungen ohne dringenden Grund zu verlaſſen und zu verändern, daß mindeſtens die Grundlinien der jetzigen Geſchäfts-Ordnung eine dauerndere Bedeutung für das Recht des Reiches haben, als ihnen theoretiſch nach der Art des Zuſtandekommens der Geſchäftsordnung zugeſchrieben werden kann2)Abdrücke der Geſchäfts-Ordnung des Reichstages finden ſich in Hirth’s Annalen 1868. I. T. 913 ff., in deſſelben Parlaments-Almanach 1869 S. 256 fg. und in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 87 ff. (1871)..

Im Einzelnen gilt über die Geſchäftsformen des Reichstages Folgendes:

1) Die Verhandlungen des Reichstages ſind öf - fentlich. R. -V. Art. 22 Abſ. 1. Die Öffentlichkeit und die durch dieſelbe vermittelte, fortwährende Wechſelwirkung zwiſchen dem Reichstage und der öffentlichen Meinung gehört zum Weſen aller parlamentariſchen Thätigkeit. Die Öffentlichkeit der Verhandlungen des Reichstages iſt aber wieder doppelter Art:

a) Dem Publikum iſt geſtattet, bei den Sitzungen des Reichs - tages zugegen zu ſein. Die Handhabung der Polizei im Sitzungs - Gebäude und in den Zuhörer-Räumen ſteht dem Präſidenten zu; er kann Perſonen, welche von der Tribüne Zeichen des Beifalls oder Mißfallens geben oder ſonſt die Ordnung oder den Anſtand verletzen, entfernen laſſen und, wenn eine ſtörende Unruhe auf561§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.der Tribüne entſteht, anordnen, daß Alle, die ſich zur Zeit darauf befinden, die Tribüne räumen1)Geſch. -Ordn. §§. 59 61..

b) Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant - wortlichkeit frei . R. -V. Art. 22 Abſ. 2. Reichsſtr. -Geſ.-B. §. 12. Im Falle einer Anklage iſt vom Richter feſtzuſtellen, ob ein Bericht wahrheitsgetreu iſt; auszugsweiſe Berichte über die Verhand - lungen können in ſo tendenziöſer Art verfaßt ſein, daß ſie, ob - gleich ſie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge - ſprochen oder geſchehen iſt, dennoch den Sinn der gethanen Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zuſammenhange fälſchen und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten ſind. Noch viel weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur Verleſung gekommenen Aktenſtückes oder eines Satzes aus einer Rede als ein Bericht über Verhandlungen erachtet werden2)Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entſprechen - den §. 38 des Pr. Preßgeſetzes v. 12. Mai 1851 bei Hierſemenzel I. S. 85 ff. Ferner Oppenhoff, R. -Strafgeſetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12..

Der Satz der Verfaſſung ſchließt nicht nur eine gerichtliche Verfolgung, ſondern jede Verantwortlichkeit aus, mithin auch eine disciplinariſche, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt iſt. Er bezieht ſich ferner auf jede Art von Berichten, alſo insbeſondere auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Verſammlungen erſtattet werden. Seine wichtigſte Anwendung aber findet er in Anſehung der durch die Preſſe verbreiteten Berichte.

Nach vielen Verfaſſungen iſt es dem Landtage überlaſſen, durch einen Beſchluß die Oeffentlichkeit auszuſchließen; ſo z. B. auch durch die Preuß. Verf. -Urk. Art. 79. Die Reichsverfaſſung hat eine ſolche Beſtimmung nicht. Die Geſchäfts-Ordnung §. 33 ſucht dies zwar nachzuholen, indem dieſer Paragraph faſt wörtlich dem Art. 79 der Preuß. Verf. -Urk. entnommen iſt; gegenüber der beſtimmten Vorſchrift des Art. 22 der R. -V. aber iſt dieſe Beſtimmung der Geſchäfts-Ordnung rechtsunwirkſam. Es ſteht zwar nichts ent - gegen, daß ſich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat -) Be - ſprechung unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit verſammeln, der ſtaats - rechtliche Charakter einer Reichstags-Verhandlung kömmtLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 36562§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.einer ſolchen Beſprechung aber nicht zu1)Vrgl. Hierſemenzel S. 85. Seydel S. 146. Wenn Seydel aber glaubt, daß ein in geheimer Sitzung gefaßter Beſchluß deshalb nicht als nichtig anzuſehen ſei, weil Art. 22 dieſe Folge nicht ausdrücklich aus - ſpreche, vielmehr eine lex imperfecta ſei, ſo iſt dies unrichtig. Ein in gehei - mer Sitzung von Reichstags-Mitgliedern gefaßter Beſchluß iſt überhaupt kein Reichstags-Beſchluß im Sinne der Verfaſſung, ſondern ein Beſchluß von Privatperſonen. Auch Hierſemenzel geht nicht weit genug, wenn er aus dem Art. 22 nur folgert, daß ein in geheimer Schluß-Berathung gefaßter Plenar-Beſchluß des Reichstags ungültig ſein würde. Denn Art. 22 ſchreibt die Oeffentlichkeit nicht blos für die Beſchlußfaſſung, ſondern allgemein für die Verhandlungen des Reichstages vor. Eine unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit abgehaltene Beſprechung iſt nur eine Verhandlung von Reichs - tags-Mitgliedern, aber keine Verhandlung des Reichstags im Sinne der Ver - faſſung. Die entgegengeſetzte Anſicht vertreten Thudichum S. 192, Riedel S. 112. v. Rönne S. 176. v. Pözl S. 132. Auf die nach Art. 27 dem Reichstage zuſtehende Autonomie kann aber der §. 27 der Geſch. -Ordn. nicht geſtützt werden, weil autonomiſche Feſtſetzungen Verfaſſungsſätze nicht aufheben können.. Auch aus der Faſſung des Art 22 Abſ. 2, welcher von Berichten über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages ſpricht, läßt ſich nicht das argumentum e contrario herleiten, daß es auch nicht öffentliche Sitzungen des Reichstages gebe. Denn theils bilden den Gegenſatz zu den öffentlichen Sitzungen des Reichstages die nicht öffentlichen Sitzungen der Reichstags-Kommiſſionen und Ab - theilungen 2)Vgl. auch v. Mohl Zeitſchr. f. Staatswiſſenſch. Bd. 31 S. 61., theils iſt die Faſſung des Abſ. 2 dem Preuß. Preß - geſetz vom 12. Mai 1851 §. 38 entnommen und es iſt bereits hervorgehoben worden, daß in Preußen allerdings auch nicht öffent - liche Sitzungen der beiden Häuſer des Landtages zuläſſig ſind. Abſ. 1 u. Abſ. 2 des Art. 22 würden miteinander in directem Widerſpruch ſtehen, wenn Abſ. 2 auch nicht öffentliche Sitzungen des Reichstages als zuläſſig vorausſetzen würde.

2) Ueber die Beſchlußfaſſung des Reichstages enthält Art. 28 der R. -V. zwei Rechtsſätze:

a) Der Reichstag beſchließt nach abſoluter Stimmenmehr - heit . Dadurch iſt der Stichentſcheid des Präſidenten ausge - ſchloſſen; im Falle der Stimmengleichheit iſt der Antrag abge - lehnt3)Geſch. -Ordn. §. 48 a. E. Auf Wahlen, die der Reichstag vorzunehmen.

563§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.

b) Zur Gültigkeit der Beſchlußfaſſung iſt die Anweſenheit der Mehrheit der geſetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich. Die geſetzliche Anzahl iſt, gleichviel ob Sitze erledigt ſind oder nicht, 3971)Siehe oben S. 531 fg.. Beſchlußfähig iſt der Reichstag daher nur, wenn mindeſtens 199 Mitglieder anweſend ſind. Die Anweſenheit einer ſo großen Anzahl von Mitgliedern braucht aber nicht bei jeder Beſchlußfaſſung conſtatirt zu werden; die Beſchlußfähigkeit wird in allen Fällen präſumirt, in denen nicht durch Auszählung oder namentliche Abſtimmung das Gegentheil feſtgeſtellt wird. Nur zur Beſchlußfaſſung, nicht zu Verhandlungen des Reichstages iſt die Anweſenheit einer beſtimmten Anzahl von Mitgliedern erforderlich. Debatten können daher fortgeſetzt werden, ſelbſt wenn die Beſchluß - Unfähigkeit des Hauſes conſtatirt iſt2)Vrgl. v. Mohl Zeitſchr. f. Staatswiſſenſch. Bd. 31. S. 94 fg..

3) Dem Reichstag ſteht es zu, ſeinen Präſidenten, ſeine Vicepräſidenten und Schriftführer zu wählen. R. -V. Art. 27. Dieſelben führen die Geſammtbezeichnung Vor - ſtand des Reichstages. Beim Eintritt einer neuen Legislatur - Periode übernimmt zunächſt interimiſtiſch das älteſte Mitglied den Vorſitz, es wird ſodann ein Beſchluß des Reichstages gefaßt3)Hierzu iſt demnach die Anweſenheit einer beſchlußfähigen Anzahl er - forderlich, zur Wahl ſelbſt dagegen nicht. Geſch. -Ordn. §. 7. Denn man kann eine Wahl doch kaum als einen Beſchluß bezeichnen. Die Praxis des Reichs - tages hat ſich aber dafür entſchieden, nur ſolche Wahlen für gültig zu erachten, bei welcher eine beſchlußfähige Anzahl von Stimmen abgegeben worden iſt. Vrgl. namentlich Stenogr. Ber. 1874 / 75 I. S. 14., an welchem folgenden Tage die Wahlen erfolgen ſollen. Die Wahl der Präſidenten und von zwei Vicepräſidenten erfolgt das erſte Mal auf 4 Wochen, dann aber für die übrige Dauer der Seſſion. Sie geſchieht unter Namens-Aufruf durch Stimmzettel nach ab - ſoluter Majorität.

In den folgenden Seſſionen einer Legislatur-Periode ſetzen die Präſidenten der vorangegangenen Seſſion ihre Functionen bis3)hat, finden dieſe Beſtimmungen keine Anwendung. Sie können nach relativer Stimmenmehrheit erfolgen, z. B. die Wahl der Schriftführer, und bei Stim - mengleichheit entſcheidet das Loos. Geſch. -Ordn. §. 7. 8. Für die Wahl der Mitglieder der Reichsſchulden-Komm. iſt abſolute Stimmenmehrheit vorgeſchrie - ben im Geſ. v. 19. Juni 1868 §. 5 (B. -G.-Bl. S. 340).36*564§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.zur vollendeten Wahl des Präſidenten fort und die Präſidenten - wahlen erfolgen ſofort für die ganze Dauer der Seſſion1)Geſch. -Ordn. §. 1. 7 9.. Die Conſtituirung des Reichstags und das Ergebniß der Vorſtands - Wahlen wird durch den Präſidenten dem Kaiſer angezeigt2)Geſch. -Ordn. §. 10..

Der Präſident und in ſeiner Vertretung die Vicepräſidenten nach der Reihenfolge ihrer Erwählung haben die Verhandlungen zu leiten, die Ordnung zu handhaben und den Reichstag nach Außen zu vertreten. Der Präſident befördert die Vorlagen des Bundesrathes und die Anträge der Mitglieder zum Druck und zur Vertheilung, er ſtellt die gefaßten Beſchlüſſe zuſammen, er ver - kündigt die Tages-Ordnung für die nächſte Plenarſitzung, er er - öffnet und ſchließt die Sitzung und verkündet Tag und Stunde der nächſten Sitzung; er vollzieht das Protokoll3)Geſch. -Ordn. §. 11. 15. 17. Abſ. 4. 32. 34. 38..

Der Präſident handhabt die Rede-Ordnung4)Dieſelbe kann natürlich in keiner Weiſe den Satz der Reichsverf. Art. 9 beſchränken oder modifiziren, daß jedes Mitglied des Bundesrathes im Reichs - tage auf Verlangen jederzeit gehört werden muß., führt die Redner - liſte, ertheilt das Wort, er iſt befugt, den Redner auf den Gegen - ſtand der Verhandlung zurückzuweiſen, und zur Ordnung zu rufen5)Geſch. -Ordn. §. 39 ff. Sehr ausführliche Erörterungen darüber bei v. Mohl a. a. O. S. 64 80, woſelbſt eine förmliche Theorie des Rechts zu ſprechen entwickelt iſt.. Gegen den Ordnungsruf kann das Mitglied jedoch ſchriftlich Ein - ſprache thun, worauf der Reichstag in der nächſtfolgenden Sitzung darüber ohne Discuſſion entſcheidet, ob der Ordnungsruf gerecht - fertigt iſt6)Geſch. -Ordn. §. 57..

Vor der Abſtimmung ſtellt der Präſident die Fragen; jedoch kann das Wort darüber begehrt werden und im Falle eines Wider - ſpruchs gegen die vom Präſidenten formulirte Frageſtellung be - ſchließt der Reichstag darüber; unmittelbar vor der Abſtimmung läßt der Präſident die Frage verleſen, ſtellt im Verein mit den Schriftführern das Ergebniß der Abſtimmung feſt und verkündet daſſelbe7)Geſch. -O. §. 48. 51 56..

Den Verkehr zwiſchen dem Reichstage und dem Reichskanzler565§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.vermittelt der Präſident; ſoll eine Adreſſe dem Kaiſer durch eine Deputation überreicht werden, ſo iſt der Präſident der alleinige Wortführer der Deputation1)Geſch. -Ordn. § 63. 65 66..

Der Präſident hat endlich über die Annahme und Entlaſſung des für den Reichstag erforderlichen Verwaltungs - und Dienſtper - ſonals zu beſchließen2)Geſch. -Ordn. §. 12.. Die Anſtellung deſſelben erfolgt nicht auf ſeinen Antrag durch den Kaiſer oder den Reichskanzler, ſondern ſie erfolgt durch den Reichstags-Präſidenten ſelbſt, welcher zugleich die vorgeſetzte Behörde iſt3)Geſetz v. 31. März 1873 §. 156. (Rg. -Bl. S. 90.). Auch über die im Etat ausgeworfene Summe für die Ausgaben zur Deckung der Bedürfniſſe des Reichs - tages ſteht dem Präſidenten die Verfügung zu und er ernennt für die Dauer ſeiner Amtsführung zwei Reichstags-Mitglieder zu Quäſtoren für das Kaſſen - und Rechnungsweſen4)Geſch. -Ordn. §. 12. 14..

4) Die Behandlung aller dem Reichstage gemachten Vorlagen des Bundesrathes und derjenigen von Mitgliedern geſtellten An - träge5)Alle von Reichstags-Mitgliedern ausgehenden Anträge müſſen von min - deſtens 15 Mitgliedern unterzeichnet ſein. Geſch. -Ordn. §. 20 Abſ. 1., welche Geſetzesentwürfe enthalten, beſteht der Regel nach in drei, durch feſte Friſten von einander getrennten, und in ihrer Bedeutung verſchiedenen Berathungen.

a) Die erſte Berathung erfolgt früheſtens am dritten Tage, nachdem der Geſetzesentwurf gedruckt und in die Hände der Mit - glieder gekommen iſt6)Eine Abkürzung dieſer Friſt kann nur dann beſchloſſen werden, wenn ihr nicht 15 anweſende Mitglieder widerſprechen. Geſch. -Ordn. §. 19.. Bei Anträgen, welche von Mitgliedern ausgehen, wird die erſte Berathung damit eröffnet, daß der Antrag - ſteller das Wort zur Begründung erhält. Die erſte Berathung iſt auf eine allgemeine Erörterung der Grundſätze des Entwurfs beſchränkt. Der Beſchluß des Reichstages iſt lediglich darauf ge - richtet, ob eine Kommiſſion mit der Vorberathung des Entwurfs oder einzelner Theile deſſelben zu betrauen iſt oder nicht7)Geſch. -Ordn. §. 16. 20.. Mate - rielle Beſchlüſſe über den Inhalt der Vorlage können in dieſem Stadium nicht gefaßt werden. Daher darf auch nicht die Ueber - weiſung an eine Kommiſſion, mit dem Auftrage, den Geſetzentwurf566§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.in einer beſtimmten Richtung zu amendiren oder zu ergänzen, be - ſchloſſen werden1)Vrgl. hierzu die ſehr eingehenden Debatten des Reichstages v. 18. Nov. 1874 Stenogr. Berichte 1874 / 75 I. S. 220 233..

b) Die zweite Berathung erfolgt früheſtens am zweiten Tage nach dem Abſchluſſe der erſten, und wenn eine Kommiſſion eingeſetzt iſt, am zweiten Tage, nachdem die Kommiſſions-Anträge gedruckt und in die Hände der Mitglieder gekommen ſind. Mit Stimmenmehrheit kann der Reichstag aber eine Abkürzung dieſer Friſt, insbeſondere auch die Vornahme der erſten und zweiten Berathung in derſelben Sitzung beſchließen; indeß muß dieſer Beſchluß an einem früheren Tage als an dem der Berathung ge - faßt werden2)Geſch. -Ordn. §. 19..

Die Discuſſion betrifft die einzelnen Artikel und die zu den - ſelben geſtellten Abänderungs-Vorſchläge. Die letzteren bedürfen keiner Unterſtützung; ſie können in der Zwiſchenzeit und im Laufe der Verhandlung eingebracht werden.

Die Abſtimmung erfolgt über die einzelnen Artikel und Amen - dements. Nach dem Schluſſe der zweiten Berathung ſtellt der Präſident mit Zuziehung der Schriftführer die gefaßten Beſchlüſſe zuſammen. Wird der Entwurf in allen ſeinen Theilen abgelehnt, ſo findet eine weitere Berathung nicht ſtatt3)Geſch. -Ordn. §. 17..

c) Die dritte Berathung hat die eben erwähnte Zuſammen - ſtellung zur Grundlage und findet ſtatt früheſtens am zweiten Tage nach der Vertheilung derſelben, oder, wenn keine abändern - den Beſchlüſſe gefaßt worden ſind, nach dem Abſchluſſe der zweiten Berathung4)Eine Abkürzung dieſer Friſt kann ebenfalls nur dann beſchloſſen werden, wenn ihr nicht 15 anweſende Mitglieder widerſprechen. Geſch. -O. §. 19..

Die Discuſſion betrifft zunächſt die allgemeinen Grundſätze des Entwurfs (Generaldebatte), ſodann die einzelnen Artikel (Spe - zialdebatte). Abänderungs-Vorſchläge dürfen eingebracht werden; ſie bedürfen aber der Unterſtützung von 30 Mitgliedern.

Die Abſtimmung erfolgt über die einzelnen Artikel und Amen - dements. Nach Beendigung der Berathung wird über die Annahme oder Ablehnung des Geſetzesentwurfs im Ganzen abgeſtimmt. Wenn567§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.in dritter Berathung Verbeſſerungs-Anträge angenommen worden ſind, ſo iſt die Schlußabſtimmung auszuſetzen, bis das Büreau die Beſchlüſſe zuſammengeſtellt hat1)Geſch. -O. §. 18..

5) Eine einfachere Behandlung finden Anträge von Mitglie - dern, welche keine Geſetzesentwürfe enthalten2)Ueber Petitionen vgl. v. Mohl a. a. O. S. 99 ff.. Bei denſelben ge - nügt einmalige Berathung und Abſtimmung; Abänderungsvorſchläge bedürfen der Unterſtützung von 30 Mitgliedern. Über den Zeit - punkt, in welchem die Berathung ſtattfinden kann, gilt zwar im Allgemeinen dieſelbe Regel wie bei Geſetzentwürfen, jedoch kann über einen derartigen Antrag, und zwar auch ohne daß er gedruckt vorliegt, in derſelben Sitzung, in welcher er eingebracht iſt, unter Zuſtimmung des Antragſtellers die Berathung und Abſtimmung ſtattfinden, wenn kein Mitglied widerſpricht3)Geſch. -O. §. 21..

Auf Anträge des Bundesrathes, welche keine Geſetzesentwürfe enthalten, kann dieſes, im §. 21 der G. -O. normirte, Verfahren nur mit Zuſtimmung des Bundesrathes angewendet werden4)Geſch. -O. §. 23..

6) Über die Behandlung von Interpellationen und Adreſſen ſiehe oben S. 5225)Vgl. Geſch. -Ordn. §§. 30. 31 und §. 64..

7) Abtheilungen und Kommiſſionen. Die vom Reichstage zu behandelnden Angelegenheiten können zur Vorbe - reitung der Plenarberathung und Beſchlußfaſſung Ausſchüſſen über - wieſen werden. Von denſelben giebt es zwei, von einander ſehr verſchiedene Arten.

a) Abtheilungen. Der Reichstag zerfällt in ſieben Ab - theilungen von möglichſt gleicher Mitgliederzahl. Dieſelben werden durch das Loos gebildet; es gehört daher jedes Mitglied einer Abtheilung und nur einer an. Eine Neubildung der Abtheilungen findet nur ſtatt, wenn der Reichstag auf einen durch 50 Unter - ſchriften unterſtützten Antrag dies beſchließt. Die Abtheilungen ſind ohne Rückſicht auf die Zahl der anweſenden Mitglieder be - ſchlußfähig6)Geſch. -Ordn. §. 2..

568§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.

Den Abtheilungen liegt ob die Vorprüfung der Wahlen1)Geſch. -Ordn. §. 3. Siehe oben S. 553. und die Wahl von Kommiſſionsmitgliedern2)Geſch. -Ordn. §. 24. Abſ. 3..

b) Kommiſſionen. Dieſelben werden gewählt. Es können daher einzelne Mitglieder mehreren Kommiſſionen ange - hören, andere gar keiner. Die Wahl erfolgt wenigſtens ſchein - bar durch die Abtheilungen, indem jede derſelben die gleiche Zahl von Kommiſſions-Mitgliedern durch Stimmzettel nach abſo - luter Mehrheit der anweſenden Mitglieder erwählt3)Geſch. -O. §. 24. Abſ. 3.. In Wirk - lichkeit iſt dies eine leere Form, da die Wahl der Mitglieder der Kommiſſionen von den Vorſtänden der Fractionen vereinbart wird4)S. darüber v. Mohl in der Zeitſchr. f. Staatswiſſenſch. Bd. 31 S. 57 ff.. Die Kommiſſionen können entweder für eine einzelne Angelegen - heit oder für ganze Gruppen von Geſchäften gewählt werden5)Der §. 24 erwähnt 6 ſolche Gruppen; es iſt aber weder erforderlich, daß ſtets dieſe 6 Kommiſſionen gebildet werden, noch iſt es unzuläſſig, für ein - zelne unter dieſe Kategorie fallende Gegenſtände beſondere Kommiſſionen ein - zuſetzen.. Die Aufgabe der Kommiſſion iſt die Vorberathung des ihr über - wieſenen Gegenſtandes und die Berichterſtattung an das Plenum. Der Bericht kann mündlich oder ſchriftlich erſtattet werden; ſchrift - liche Berichte werden gedruckt und an die Mitglieder vertheilt. Der Reichstag kann in jedem Falle einen ſchriftlichen Bericht ver - langen6)Geſch. -Ordn. §. 25..

Die Kommiſſionen ſind nur dann beſchlußfähig, wenn min - deſtens die Hälfte der Mitglieder anweſend iſt. Für das Publikum ſind die Sitzungen der Kommiſſionen nicht öffentlich7)Auch der §. 12 des R. -St.-G.-B.’s findet auf Kommiſſions-Verhand - lungen keine Anwendung. Oppenhoff Note 5 zu dieſem §.; die Reichs - tagsmitglieder ſind aber befugt, auch wenn ſie einer Kommiſſion nicht angehören, den Sitzungen derſelben beizuwohnen. Eine Ausſchließung der Oeffentlichkeit der Kommiſſions-Verhandlungen für Reichstags-Mitglieder kann nur der Reichstag beſchließen8)Geſch. -Ordn. §. 25 Abſ. 5. Vgl. v. Mohl a. a. O. S. 60 fg.. Die Mitglieder des Bundesrathes und Kommiſſare deſſelben können den Abtheilungen und Kommiſſionen mit berathender Stimme bei -569§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.wohnen. Dem Reichskanzler wird daher auch von dem Zuſam - mentritt der Kommiſſionen und von dem Gegenſtande der Ver - handlungen Kenntniß gegeben1)Geſch. -Ordn. §. 27..

Abtheilungen und Kommiſſionen conſtituiren ſich ſelbſtſtändig, wählen ihre Vorſitzenden und Schriftführer und deren Stellver - treter und regeln ihre Tagesordnung ſelbſt. Für die Abtheilungen kann auch der Präſident Sitzungen anberaumen2)Geſch. -Ordn. §. 2. 25. 28. Ueber ſog. freie Kommiſſionen vergl. v. Mohl a. a. O. S. 56..

8) Protokolle. Auch von dieſen giebt es zwei verſchiedene Arten:

a) Die offiziellen Sitzungsprotokolle3)Geſch. -Ordn §§. 35 38.. Das Protokoll jeder Sitzung liegt während der nächſten Sitzung zur Einſicht aus und wird, wenn dagegen bis zum Schluß der Sitzung kein Ein - ſpruch erhoben iſt, als genehmigt erachtet. Wird aber Einſpruch erhoben, welcher ſich durch die Erklärung der darüber zu hörenden Schriftführer nicht heben läßt, ſo entſcheidet der Reichstag darüber4)Von einem Einſpruch gegen die Richtigkeit des Protokolls iſt wohl zu unterſcheiden ein Einſpruch gegen die (materielle) Richtigkeit einer im Protokoll richtig wiedergegebenen Erklärung. Vgl. Stenogr. Berichte 1874. 1. Seſſ S. 113.. Wird der Einſpruch für begründet erachtet, ſo muß noch während der Sitzung eine neue Faſſung der betreffenden Stelle vorgelegt werden. Das Protokoll muß enthalten

  • die gefaßten Beſchlüſſe in wörtlicher Anführung;
  • die Interpellationen in wörtlicher Faſſung nebſt der Be - merkung, ob ſie beantwortet ſind;
  • die amtlichen Anzeigen des Präſidenten.

Das Protokoll wird von dem Präſidenten und zwei Schrift - führern vollzogen und im Archiv des Reichstages aufbewahrt. Durch den Druck werden dieſe Protokolle nicht veröffentlicht. Sie allein haben den Charakter öffentlicher Urkunden über die Reichstags - Beſchlüſſe.

b) Die Stenographiſchen Berichte über die Verhand - lungen. Die Ueberwachung der Reviſion derſelben liegt den Schrift - führern ob5)Geſch. -Ordn. §. 13.. Sie enthalten einen vollſtändigen Bericht der ge -570§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.ſammten Verhandlungen und einen Abdruck der, den Verhandlungen zu Grunde liegenden ſchriftlichen Vorlagen, Anträge und Berichte unter der Bezeichnung Anlagen . Jedes Mitglied iſt außerdem befugt, bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abſtimmungen ſeine von dem Mehrheitsbeſchluſſe abweichende Abſtimmung kurz motivirt ſchriftlich dem Büreau zu übergeben und deren Aufnahme in die ſtenographiſchen Berichte, ohne vorgängige Verleſung in dem Reichstage, zu verlangen1)Geſch. -Ordn. §. 56. Beiſpiele: Stenogr. Berichte 1874 I. Seſſion. S. 110 und 111.. Die ſtenographiſchen Berichte werden gedruckt und erſcheinen nach Legislatur-Perioden und Seſ - ſionen und in chronologiſcher Reihenfolge der Sitzungen geordnet im Buchhandel2)Von dem verfaſſunggebenden Reichstage von 1867 an im Verlage der Buchdruckerei der Norddeutſchen Allgem. Zeitung in Berlin. Eine offizielle Autorität kömmt den Stenogr. Berichten nicht zu. Thudichum S. 196..

§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.

Den Mitgliedern des Reichstages die freie und unabhängige Ausübung der ihnen obliegenden Funktionen zu ſichern, iſt der gemeinſame Zweck einer Reihe von Rechtsvorſchriften. In der Literatur faßt man dieſelben gewöhnlich unter dem Geſichtspunkte auf, daß es ſich hierbei um perſönliche Rechte der Reichs - tagsmitglieder handle3)Vrgl. z. B. v. Pözl S. 129. v. Rönne S. 174. Weſterkamp S. 109. Vgl. ferner Zöpfl II. §. 386 fg.. Dies iſt indeß unrichtig. Alle dieſe Vorſchriften begründen keine ſubjectiven Berechtigungen; ſie ſind vielmehr ihrem Inhalte nach Rechtsſätze des Strafrechts und des Prozeſſes, welche auf politiſchen und ſtaatsrechtlichen Motiven beruhen. Es ſind objective Spezial-Rechtsſätze, nicht durch Privileg begründete ſubjective Rechte, welche beſtimmten Individuen zuſtehen. Die Mitgliedſchaft im Reichstage iſt zwar die Vorausſetzung für die Anwendung dieſer Rechtsvorſchriften, aber die Anwendung derſelben hängt nicht von dem Willen des Mitgliedes ab4)Man könnte mit demſelben Grunde aus jeder Vorſchrift der Prozeß - Ordnungen und des Strafrechts ſubjective Rechte für alle diejenigen herleiten, welche einmal in die Lage kommen, daß dieſe Vorſchrift auf ſie Anwendung findet.. Es iſt dies für die allgemeine theoretiſche Auf -571§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.faſſung dieſer Rechtsſätze von Bedeutung. Die Grundſätze vom Erwerb und Verluſt der ſubjectiven Rechte finden keine Anwendung; kein Reichstags-Mitglied kann wirkſam darauf verzichten oder ſie abtreten; es giebt keine Klage zu ihrer Geltendmachung u. ſ. w. Dagegen unterliegen ſie den Regeln von den objectiven Rechts - ſätzen; insbeſondere können ſie durch ein verfaſſungsmäßig zuſtande gekommenes Geſetz jederzeit verändert oder aufgehoben werden, ohne daß die einzelnen Mitglieder des Reichstages, welche davon betroffen werden, ihre Zuſtimmung zu ertheilen brauchten oder Anſpruch auf Entſchädigung hätten. Die Tendenz aller dieſer Vorſchriften iſt auch in ihrem Endziel nicht, den Mitgliedern des Reichstages eine Rechtswohlthat zu erweiſen, ſondern die ungeſtörte Thätigkeit eines für das Verfaſſungsleben des Reiches ſo wichtigen Organes, wie es der Reichstag iſt, zu ſichern1)Dies wird auch ganz richtig hervorgehoben von v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2. S. 436 fg. (3. Aufl.); nur kommt das Mittel, durch welches dieſes Ziel erreicht wird, unter Umſtänden den einzelnen Reichstags-Mitgliedern zu ſtatten.

Die hierher gehörenden Vorſchriften ſind folgende:

1) Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen ſeiner Abſtimmung oder wegen der in Ausübung ſeines Berufes gethanen Aeußerungen gerichtlich oder disciplinariſch ver - folgt oder ſonſt außerhalb der Verſammlung zur Verantwortung gezogen werden . R. -V. Art. 302)Eine Zuſammenſtellung der Literatur über die ſtrafrechtliche Unverfolg - barkeit der Parlamentsmitglieder wegen ihrer berufsmäßigen Aeußerungen findet ſich bei v. Rönne Preuß. Staatsr. §. 129 Rote 1. (3. Aufl. I. 2. S. 428). Vgl. ferner v. Bar die Redefreiheit der Mitglieder der geſetzgebenden Ver - ſammlungen. Lpz. 1868 und Schulze Preuß. Staatsr. II. S. 165 ff..

Es iſt dies ein allgemeiner Grundſatz des Strafrechts; er kehrt daher auch in Anwendung auf die Mitglieder der Landtage der Einzelſtaaten im R. -Strafgeſetzb. §. 11 wieder. Er läßt aus - drücklich die geſchäftsordnungsmäßige Disciplin innerhalb des Reichs - tages (Ordnungsruf) zu. Wenn der Wortlaut des Artikels unter - ſagt, ein Reichstags-Mitglied gerichtlich oder disciplinariſch oder ſonſt zur Verantwortung zu ziehen, ſo iſt dies nur von einem obrigkeitlichen Ziehen zur Verantwortung zu verſtehen, weil nur dieſes einen rechtlichen Charakter hat3)Im Gegenſatz dazu ſteht eine politiſche Verantwortung, welche von.

572§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.

2) Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied deſſelben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Unterſuchung gezogen oder verhaftet wer - den, außer wenn es bei Ausübung der That oder im Laufe des nächſtfolgenden Tages ergriffen wird. R. -V. Art. 31 Abſ. 1.

Dies iſt eine Regel des Strafprozeſſes. Die Genehmigung des Reichstages iſt eine ſtrafprozeßualiſche Vorausſetzung oder Be - dingung, ohne welche die Behörden eine ſtrafgerichtliche Unterſuchung nicht eröffnen reſp. die Verhaftung nicht vornehmen dürfen1)Daſſelbe gilt von der im §. 197 des R. -St.-G.-B. geforderten Ermäch - tigung , welche der Reichstag, wenn eine Beleidigung gegen ihn begangen worden iſt, zur ſtrafrechtlichen Verfolgung derſelben zu ertheilen hat.. Dieſe Bedingung beſteht nur während der Sitzungsperiode ; d. h. vom Momente der Eröffnung bis zum Momente der Schließung des Reichstages. Wird der Reichstag vertagt, ſo währt die Sitzungs - periode noch fort; die Regel des Art. 31 Abſ. 1 beſteht daher auch während der Vertagungsfriſt.

Auf die Feſtnahme eines Reichstags-Mitgliedes zum Zwecke der Vollſtreckung einer rechtskräftig erkannten Freiheitsſtrafe kann die Vorſchrift des Art. 31 Abſ. 1 ſeinem Wortlaute nach keine Anwendung finden. Ein rechtskräftiges Erkenntniß iſt keine mit Strafe bedrohte Handlung eines Reichstags-Mitgliedes; die Zu - ſammenſtellung der Verhaftung mit dem Ziehen zur Unter - ſuchung deutet darauf hin, daß der Artikel nur von der Unter - ſuchungshaft redet, und namentlich kann die Ausnahme, welche ſich gleichmäßig auf das Ziehen zur Unterſuchung und die Verhaftung erſtreckt, nämlich der Fall der Ergreifung, bei Ausübung der That oder im Laufe des nächſtfolgenden Tages nur von der Unter - ſuchungshaft nicht von der Strafvollſtreckung verſtanden werden. Sodann wird dies auch durch die Analogie der im Abſ. 3 deſſelben Artikels enthaltenen Vorſchrift beſtätigt, wo nur von einer Unterbre - chung der Unterſuchungshaft, nicht der Strafvollſtreckung die Rede iſt.

Daſſelbe Reſultat ergiebt auch die Entſtehungsgeſchichte dieſes3)dem Reichstags-Mitgliede von Fraktionen, Wahlcomitees, Wählerverſammlungen, politiſchen Vereinen, Organen der Preſſe u. ſ. w. etwa gefordert wird. Eine ſolche Forderung kann rechtlich nicht erzwungen werden, iſt rechtlich aber auch nicht unterſagt. Siehe oben S. 504. Ausgeſchloſſen iſt dagegen durch Art. 30 eine gerichtliche Verfolgung im Wege des Eivilprozeſſes wegen Leiſtung von Schadens-Erſatzes.573§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.Artikels. In dem verfaſſungsberathenden Reichstage wurde zu Art. 28 des Entw. ein Zuſatz-Artikel von zwei verſchiedenen Seiten beantragt; der Abgeordnete Ausfeld wünſchte die Aufnahme eines dem §. 117 der Reichsverf. v. 28. März 1849 entſprechenden Zuſatzes, der Abgeordnete Lette empfahl die Anlehnung an die Faſſung des Art. 84 der Preuß. Verf. -Urk. v. 31. Januar 1850. Die letztere Formulirung wurde angenommen, nachdem der Abg. Lette die zwiſchen beiden Faſſungen beſtehenden Unterſchiede her - vorgehoben hatte. (Stenogr. Ber. des verfaſſungg. Reichstages 1867 S. 468.) In Betreff der hier in Betracht kommenden Frage beſteht aber zwiſchen beiden Faſſungen kein Unterſchied. Die Reichsverfaſſung von 1849 §. 117 unterſagt nur die Verhaftung wegen ſtrafrechtlicher Anſchuldigung und die Verhandlungen der Preuß. Rationalverſammlung von 1848 über den jetzigen Artikel 84 laſſen keinen Zweifel, daß der Ausdruck verhaftet, in dieſem Art. auf die Strafvollſtreckung ſich nicht erſtreckt; auch iſt niemals in Preußen in der ſtaatsrechtlichen Praxis die entgegengeſetzte Be - hauptung auch nur erhoben worden1)Vrgl. v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2. S. 436 439 und den treff - lichen Bericht des Abg. Harnier in der Sitzung des Reichstages v. 16. Dez. 1874. Stenogr. Bericht S. 725 ff..

Bei der Vereinbarung der Reichsverfaſſung wurde daher von keiner Seite daran gedacht, den Reichstags-Mitgliedern ein Privi - legium in Beziehung auf die Verbüßung rechtskräftig erkannter Strafen zu ertheilen2)Auch das Berliner Kammergericht hat durch Beſchluß v. 18. Novemb. 1874 die richtige Anſicht zur Geltung gebracht, als es ſich um die Vollſtreckung einer rechtskräftig erkannten Gefängnißſtrafe gegen ein Reichstags-Mitglied, Namens Majunke, handelte. In der dieſerhalb geführten Verhandlung des Reichstages iſt außer der angeführten Berichterſtattung von Harnier nament - lich die vorzügliche Auseinanderſetzung von Gneiſt (Stenogr. Berichte S. 750 ff. ) zu beachten. Auch der Reichstag ſelbſt erkannte die richtige Anſicht dadurch indirect an, daß er unter Ablehnung aller andern Anträge eine Reſolution annahm, nach welcher behufs Aufrechthaltung der Würde des Reichstages (!?) es nothwendig ſei, im Wege der Deklaration reſp. Abänderung der Verfaſſung die Möglichkeit auszuſchließen, daß ein Abgeordneter während der Dauer der Sitzungsperiode ohne Genehmigung des Reichstages verhaftet werde. Der Bundesrath beſchloß, dieſer Reſolution eine Folge nicht zu geben. Reichs-An - zeiger v. 8. Nov. 1875. Ein in der Sitzungs-Periode von 1875 / 76 eingebrachter Antrag auf Abänderung des Art. 31 der R. -V. wurde vom Reichstage am 9. Dez. 1875 verworfen. Stenogr. Ber. S. 471 ff..

574§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.

3) Die gleiche Genehmigung iſt bei einer Verhaftung eines Reichstags-Mitgliedes wegen Schulden erforderlich. R. -V. Art. 31 Abſ. 2. Dieſer Satz enthält eine Regel des Civilprozeſſes1)Vrgl. den Entw. der R. -Civilproc.-Ordn. §. 731.. Nach dem R. -G. vom 29. Mai 1868 §. 1 (B. -G.-Bl. S. 237) iſt der Perſonalarreſt als Executionsmittel in bürgerlichen Rechts - ſachen nur inſoweit für unſtatthaft erklärt, als dadurch die Zahlung einer Geldſumme oder die Leiſtung einer Quantität vertretbarer Sachen oder Werthpapiere erzwungen werden ſoll. Vorſchriften der partikulären Prozeßordnungen, welche den Perſonal-Arreſt zu - laſſen als Exekutionsmittel, um die Leiſtung unvertretbarer (indi - viduell beſtimmter) Sachen oder von Handlungen zu erzwingen, beſtehen noch fort. Ferner hat das erwähnte Reichsgeſetz §. 2 ausdrücklich aufrecht erhalten die geſetzlichen Vorſchriften, welche den Perſonalarreſt geſtatten, um die Einleitung oder Fortſetzung des Prozeßverfahrens oder die gefährdete Exekution in das Ver - mögen des Schuldners zu ſichern (Sicherungsarreſt). Alle dieſe partikulären Prozeßregeln werden durch Art. 31 Abſ. 2 der R. -V. modificirt.

4) Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied deſſelben und jede Unterſuchungs - oder Civil - haft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben. R. -V. Art. 31 Abſ. 3. Durch dieſe Vorſchrift wird dem Reichstage die Befug - niß gegeben, die Unterbrechung eines Strafverfahrens, ſowie einer Unterſuchungs - oder Civilhaft zu verlangen2)Ueber die Unterbrechung der Civilhaft vgl. die übereinſtimmende An - ordnung im Entw. der R. -Civilpr.-Ordn. §. 732 Nr. 1.. Auf eine Straf - vollſtreckung kann der Artikel nicht bezogen werden, weil dieſelbe erſt nach Beendigung des Strafverfahrens eintritt, nicht mehr zum Strafverfahren ſelbſt gehört und weil die ausdrückliche Her - vorhebung jeder Unterſuchungs - oder Civilhaft es unzweifelhaft macht, daß die Strafhaft dieſer Regel nicht mit unterworfen werden ſollte3)Dies iſt auch durch eine conſtante Praxis des Reichstages anerkannt, welche z. B. in den Sitzungen vom 12. März 1874 (Stenogr. Ber. S. 305 ff. ) und v. 21. Nov. 1874 (Stenogr. Ber. 1874 / 75 S. 244 ff. ) beſtätigt wurde und welche ſich an die feſtſtehende Auslegung, die der mit Art. 31 Abſ. 3 über - einſtimmende Art. 84 Abſ. 4 der Preuß. Verf. -Urk. im Preußiſchen Landtage gefunden hat, anlehnt.. Die Unterbrechung des Strafverfahrens u. ſ. w. 575§. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft.tritt nicht ipso jure ein und kein Gericht iſt verpflichtet, eine gegen ein Reichstags-Mitglied ſchwebende Unterſuchung bis nach der Schließung der Sitzungsperiode von Amts wegen auszuſetzen; ſondern es muß der Reichstag aus eigener Initiative von dem Recht des Art. 31 Abſ. 3 Gebrauch machen und die Unterbrechung des Strafverfahrens verlangen. Die Erfüllung dieſes Verlangens erfolgt durch die Vermittelung des Reichskanzlers.

5) Wer ein Mitglied des Reichstages durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einer ſtrafbaren Handlung verhindert, ſich an den Ort der Verſammlung zu begeben oder zu ſtimmen, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Feſtungshaft von gleicher Dauer beſtraft. Sind mildernde Umſtände vorhanden, ſo tritt Feſtungshaft bis zu zwei Jahren ein1)Vgl. hierzu John in v. Holtzendorff’s Handbuch des Strafr. III. S. 81 fg. R. -St.-G.-B. §. 106. Vgl. R. -V. Art. 74.

Dieſe Strafe tritt auch dann ein, wenn die Handlung von einem Beamten, wenn auch ohne Gewalt oder Drohung, aber durch Mißbrauch ſeiner Amtsgewalt oder Androhung eines beſtimmten Mißbrauchs derſelben begangen iſt. R. -St.-G.-B. §. 339 Abſ. 2.

§. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft.

Die Mitglieder des Reichstags dürfen als ſolche keine Be - ſoldung oder Entſchädigung beziehen. R. -V. Art 32. Die Mit - gliedſchaft im Reichstag ſoll nach dieſem Verfaſſungs-Grundſatz den Charakter einer ehrenamtlichen Funktion haben; die mit Ueber - nahme deſſelben verbundenen pekuniären Opfer und Laſten ſollen den einzelnen Mitgliedern zufallen. Der Art. 32 iſt aber eine lex imperfecta2)Vgl. v. Martitz Betrachtungen S. 77. 78.; er droht keine Rechtsnachtheile demjenigen an, welcher als Mitglied des Reichstages eine Beſoldung oder Ent - ſchädigung annimmt, oder welcher einem Mitgliede des Reichstages eine Vergütung gewährt. Weder iſt der Verluſt der Reichstags - Mitgliedſchaft oder eine andere ſtaatsrechtliche Folge an die Ver - letzung des Art. 32 geknüpft, noch hat das Strafgeſetzbuch aus dieſer Verletzung den Thatbeſtand einer ſtrafbaren Handlung ge - macht3)Durch Nichts begründet iſt die Behauptung Thudichum’s S. 209,. Wenn daher Mitglieder einer politiſchen Partei, ein576§. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft.Verein, eine einzelne Perſon u. ſ. w. einem Mitgliede des Reichs - tages in der juriſtiſchen Form einer Schenkung oder irgend eines anderen Rechtsgeſchäfts eine Vermögenszuwendung als Entgelt für die Thätigkeit deſſelben im Reichstage machen und das Reichs - tagsmitglied dieſe Vermögenszuwendung annimmt, ſo knüpfen ſich an dieſen Vorgang weitere Rechtsfolgen nicht an als die in dem Civilrecht begründeten1)Sehr treffend ſagte in dieſer Beziehung Fürſt Bismarck im ver - faſſungsgeb. Reichstage (Stenogr. Ber. S. 727), daß die Regierungen ohne eine ſtrafgeſetzliche Unterlage nur denen etwas verbieten können, denen ſie über - haupt zu befehlen haben. Nur hinſichtlich der Beamten iſt dieſe Erklärung wie Hierſemenzel I. S. 102 ſagt, nicht eindeutig. .

Deſſen ungeachtet iſt die Vorſchrift des Art. 32 keine wirkungs - loſe. Aus ihr ergeben ſich vielmehr folgende Rechtsſätze:

1) Ein civilrechtlicher Vertrag, durch welchen einem Reichstags - Mitgliede eine Beſoldung oder Entſchädigung für ſeine Thätigkeit im Reichstage verſprochen oder zugeſichert wird, iſt rechts - unwirkſam und klaglos. Daſſelbe gilt von teſtamentariſchen An - ordnungen oder von Stiftungen zu dem Zwecke, um Reichstags - Mitgliedern als ſolchen Beſoldungen oder Entſchädigungen zu ge - währen.

2) Die Regierungen der Einzelſtaaten ſind nicht befugt, aus Staatsmitteln den in ihren Gebieten gewählten Reichstagsmitgliedern eine Beſoldung oder Entſchädigung zu gewähren. Denn hierzu könnte die Regierung nur ermächtigt werden entweder dauernd durch ein ſpecielles Landesgeſetz oder für eine einzelne Wirthſchafts -3)daß ein Abgeordneter, welcher eine ihm angebotene Beſoldung oder Entſchä - digung nicht zurückgewieſen hat, als auf ſein Mandat verzichtend ange - ſehen werden müſſe. Ein ſtillſchweigender Verzicht auf das Mandat exiſtirt überhaupt nicht, (ſiehe oben S. 554 Note 5) und überdies widerſtreitet dieſe Fiction der wahren Sachlage durchaus. Ein ſolcher Abgeordneter will erſt recht ſein Mandat behalten und er will zugleich, was er freilich nicht ſoll, eine Beſoldung dafür erhalten. Noch weiter verirrt ſich v. Mohl Reichsſtaatsr. S. 369, welcher Annahme und Anerbieten von Entſchädigungen oder Beſol - dungen für ſtrafbar hält und die §§. 332. 333 des R. -St.-G.-B.’s darauf an - wenden will. Denn dieſe Beſtimmungen des Reichsſtrafgeſetzbuches handeln, ganz abgeſehen von allen anderen, ihre Anwendbarkeit ausſchließenden Gründen, nur von Beamten, und zwar von Beſtechung derſelben, Reichstags-Mitglieder ſind aber keine Beamte und die Zahlung von Entſchädigungen oder Diäten iſt keine Beſtechung.577§. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedſchaft.periode durch das Etatsgeſetz. In beiden Fällen aber wäre die landesgeſetzliche Beſtimmung wegen des Art. 2 der R. -V. ungültig, da ihr die Anordnung des Art. 32 der Reichsverfaſſung vorgehen würde.

3) Die Hauptwirkung des Art. 32 beſteht darin, daß die Reichsregierung nicht befugt iſt, aus Reichsmitteln den Mitgliedern des Reichstages eine Beſoldung oder Entſchädigung zu zahlen und daß, ſo lange der Art. 32 nicht in verfaſſungsmäßiger Form auf - gehoben iſt, keine Geldmittel dafür in den Reichs-Haushalts-Etat aufgenommen werden dürfen. Man hat es indeß für vereinbar mit dieſem Grundſatz erachtet, den Reichstagsmitgliedern während der Sitzungsperioden, ſowie acht Tage vor Beginn und nach Schluß derſelben, freie Fahrt auf den Staats - und Privat-Eiſenbahnen zu gewähren und den letzteren dafür eine Entſchädigung aus Reichs - mitteln zu zahlen, für welche die erforderliche Summe im Reichs - Haushalts-Etat angeſetzt iſt1)Nachtrag zum Etat für 1874. Geſ. vom 18. Febr. 1874. (R. -G.-Bl. S. 15. 16) und Etat für 1875. Fortdauernde Ausgaben. Kapitel 3. (R. -G. - Bl. 1874 S. 175.) Etat für 1876 Kap. 10 a. Mit einer Buchſtaben-Interpretation des Art. 32 läßt ſich dies in Einklang bringen; mit dem Sinne und der ge - ſetzgeberiſchen Tendenz deſſelben nicht. So gut wie auf den Eiſenbahnen freie Fahrt könnte man den Abgeordneten auf Reichskoſten auch in Berlin ſelbſt Fuhrwerke zur unentgeltlichen Benutzung zur Verfügung ſtellen; ſodann aber auch Hotels zur unentgeltlichen Wohnung und Verpflegung, Eintrittskarten in die Theater u. ſ. w. Alles dieſes wäre weder Beſoldung noch Entſchädigung im buchſtäblichen Sinne. Soll aber die Diätenloſigkeit der Abgeordneten, wie dies bei Feſtſtellung dieſes Artikels die beſtimmt ausgeſprochene Abſicht war, ein Correctiv des allgemeinen gleichen Wahlrechts ſein, ſo darf die Reichsregie - rung den Abgeordneten die Koſten, welche ihnen aus der Mitgliedſchaft im Reichstage erwachſen, nicht abnehmen, weder durch Geld noch durch Verſchaffung von Natural-Leiſtungen, wenn nicht die beabſichtigte Wirkung dieſer Verfaſſungs - beſtimmung vereitelt werden ſoll. Bei den Berathungen im Reichstage am 13. Febr. 1874 (Stenogr. Ber. S. 60 fg. ) wurde von dem Staatsminiſter Delbrück darauf Gewicht gelegt, daß die Eiſenbahnen feſte Averſional-Ent - ſchädigungen erhalten, gleichviel ob und in welchem Umfange die einzelnen Mit - glieder des Reichstages von der Fahrkarte Gebrauch machen, dadurch ſeien die Zahlungen von den Perſonen der Herren vollſtändig losgelöſt. Dieſer Um - ſtand ändert aber Nichts an der Thatſache, daß die Reichskaſſe Koſten trägt für Mitglieder des Reichstages als ſolche , welche dieſelben ſonſt aus eigenen Mitteln beſtreiten müßten..

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 37578§. 54. Bundesglied und Reichsland.

Sechſtes Kapitel. Die Sonderſtellung Elſaß-Lothringens im Reich1)Aus der Elſaß-Lothringen betreffenden Literatur ſind nur wenige Schrif - ten zu nennen, welche das ſtaatsrechtl. Verhältniß des Reichslands er - örtern. Hervorzuheben ſind in dieſer Beziehung: Löning Die Verwaltung des General-Gouvernements im Elſaß. Straßb. 1874 S. 178 265 und Mit - ſcher Elſaß-Lothringen unter deutſcher Verwaltung (in den Preuß. Jahr - büchern Bd. XXXIII. S. 269 ff. 388 ff. 552 ff. XXXIV. S. 1 ff. Auch im Separat-Abdruck erſchienen Berlin 1874). Die Aufſätze von Lehfeldt über die Verwaltungs-Einrichtungen von Elſaß und Lothringen in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 557 ff. II. S. 455 ff. berühren ſtaatsrechtliche Fragen nicht. Die Materialien (Entwurf, Motive, Kommiſſionsberichte, Reichstags-Verhand - lungen) zu dem Vereinigungs-Geſetz vom 9. Juni 1871 ſind abgedruckt in Hirth’s Annalen Bd. IV. 1871 S. 845 958..

§. 54. Bundesglied und Reichsland.

Eine eigenartige Stellung im Verfaſſungsbau des Reiches nimmt Elſaß-Lothringen ein, deren juriſtiſche Betrachtung nicht nur zur Vervollſtändigung der Darſtellung des Reichsſtaatsrechts erforderlich, ſondern zum Verſtändniß der Reichsverfaſſung über - haupt von weſentlichem Nutzen iſt.

Der Bundesſtaat iſt, wie oben ausgeführt wurde, eine öffent - lich rechtliche juriſtiſche Perſon, deren Mitglieder Staaten ſind; er ſetzt voraus eine doppelte Staatsgewalt über Land und Volk, den mit Selbſtverwaltung und Autonomie ausgeſtatteten Einzel - ſtaat und über demſelben den ſouveränen Geſammtſtaat. Die Verfaſſung des Deutſchen Reiches kennt demnach keine Beſtand - theile des Reiches, welche der Central-Gewalt unmittelbar unter - worfen ſind oder was daſſelbe bedeutet welche lediglich als Objecte der Reichsgewalt in Betracht kommen, ſondern ſie ſetzt durchweg voraus, daß zwiſchen den einzelnen Territorien reſp. ihren Bevölkerungen und der Reichsgewalt eine Staatsgewalt ſteht und daß dieſe Einzelſtaaten, in welche Gebiet und Bevölkerung des Reiches gegliedert ſind, als Mitglieder des Reiches, als Rechts - ſubjecte oder Perſonen Antheil an dem Reiche haben. Nach dem Art. 1 der R. -V. beſteht das Bundesgebiet aus den in dieſem Artikel genannten Staaten; Artikel 3 der R. -V. und das579§. 54. Bundesglied und Reichsland.Geſ. v. 1. Juni 1870 über die Erwerbung und den Verluſt der Bundes - und Staatsangehörigkeit ſetzen voraus, daß jeder Reichs - angehörige Angehöriger eines Bundesſtaates iſt; nach Art. 6 ff. beſteht der Bundesrath aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes; Art. 19 ſpricht von der zwangsweiſen Anhaltung der Bundesglieder zur Erfüllung ihrer verfaſſungsmäßigen Bundespflichten. Art. 36 überläßt jedem Bundesſtaate die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern, ſoweit derſelbe ſie bisher ausgeübt hat; nach dem Wortlaut des Art. 42 verpflichten ſich die Bundes-Regierungen , die deutſchen Eiſenbahnen im Intereſſe des allgemeinen Verkehrs wie ein einheitliches Netz verwalten zu laſſen. Art. 51 normirt die zeitweiſe Vertheilung der Poſtüberſchüſſe unter die einzelnen Staaten. Art. 54 erwähnt die Kauffahrteiſchiffe, Seehäfen und Waſſerſtraßen aller Bundesſtaaten. Nach Art. 58 ſind die Koſten und Laſten des geſammten Kriegsweſens des Reichs von allen Bundesſtaaten gleichmäßig zu tragen; nach Art. 62 u. 70 ſind die Beiträge zu den Ausgaben des Reiches von den einzelnen Staaten des Bundes zu entrichten. Alle dieſe Anordnungen und noch zahlreiche andere1)Z. B. Art. 33. 35. 38. 39. 41. 56. 59. 66. 67. 76. 77. 78. Abſ. 2. beruhen auf der völlig ſelbſtverſtändlichen Vorausſetzung, daß das Reich lediglich aus Staaten beſteht.

Die Einführung der Reichs-Verfaſſung in Elſaß-Lothringen, nicht blos dem Buchſtaben, ſondern dem Weſen nach, war daher nicht denkbar und nicht möglich, wenn nicht auch hier eine von der Reichsgewalt verſchiedene Staatsgewalt aufgerichtet wurde, d. h. wenn nicht entweder das Gebiet einem oder mehreren deutſchen Staaten zugetheilt oder ein beſonderer Staat aus demſelben ge - macht wurde. Beides iſt aus zwingenden Gründen der Politik nicht geſchehen2)Vgl. den Kommiſſionsbericht des Reichstages v. 16. Mai 1871. Druck - ſachen I. Seſſ. 1871 Nr. 133. S. 3 fg.; die von Frankreich abgetretenen Gebiete wurden vielmehr als ſogen. Reichsland3)Der Ausdruck Reichsland , unmittelbares Reichsland wird offiziell zuerſt gebraucht in den Motiven zum Entwurf des Vereinigungs-Geſetzes. Druckſachen I. Seſſion 1871, Nr. 61. S. 6. Vgl. auch Mitſcher a. a. O. S. 272. Daß man über den ſtaatsrechtlichen Begriff eines Reichslandes ſich mit dem deutſchen Reiche ver -37*580§. 54. Bundesglied und Reichsland.einigt. Deſſen ungeachtet iſt die Verfaſſung des deutſchen Reiches mit wenigen, durch die thatſächliche Erweiterung des Reiches noth - wendig geweſenen Ergänzungen durch das Reichsgeſ. v. 25. Juni 1873 in Elſaß-Lothringen vom 1. Januar 1874 ab eingeführt worden und es iſt dadurch ein Rechtszuſtand geſchaffen worden, welcher für Theorie und Praxis bedeutende Schwierigkeiten darbietet.

Mit Leichtigkeit würden dieſelben zwar beſeitigt werden, wenn man zu der Fiction ſeine Zuflucht nehmen könnte, daß Elſaß - Lothringen ein Staat geworden ſei, wie die anderen deutſchen Gliedſtaaten. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte dieſe Löſung wegen ihrer Einfachheit vielleicht Beifall finden. Da das Reichs - land thatſächlich in vielen Beziehungen ganz analog behandelt wird wie die Gliedſtaaten, ſo kann in der Praxis der tiefe Gegenſatz, welcher zwiſchen Gliedſtaat und Reichsland beſteht, ſehr leicht über - ſehen oder als nicht erheblich erachtet werden, und für die Theorie ſteht auf der Annahme der erwähnten Fiktion ein ſo hoher Preis in der durch ſie gewonnenen Einheitlichkeit der Grundprinzipien des Verfaſſungsrechts für das geſammte Reichsgebiet, daß es ver - lockend iſt, ſich ihrer zu bedienen. Eine Fiktion kann aber hier ſo wenig wie auf anderen Gebieten die wirklich vorhandenen Un - gleichheiten wegſchaffen, ſie kann Praxis und Theorie nicht auf - klären, ſondern nur verwirren, und ſie iſt in keinem Falle eine Löſung, ſondern höchſtens eine Umgehung der Schwierigkeiten.

Elſaß-Lothringen iſt weder dem Reiche noch dem Auslande gegenüber ein ſelbſtſtändig berechtigtes Subjekt von Hoheitsrechten, von ſtaatlichen Befugniſſen und Pflichten, folglich kein Staat, ſondern es iſt ein Beſtandtheil, ein Verwaltungsdiſtrikt des Reiches. Man braucht ſich nur vorzuſtellen, daß ſämmtliche deutſche Staa - ten zu Reichsländern erklärt und in dieſelbe rechtliche Stellung gebracht würden, in welcher ſich Elſaß-Lothringen befindet, um ſofort einzuſehen, daß dadurch die Verfaſſung des Reiches völlig verändert wäre und daß kein Abſchnitt derſelben in ſeinem wahren und urſprünglichen Sinne anwendbar bliebe.

Der Gegenſatz zwiſchen dem Reichslande und3)nicht[vollkommen] klar war, iſt vielfach offen bekannt worden, am unumwun - denſten von dem Berichterſtatter des Reichstages, Abg. Lamey am 20. Mai 1871. (Stenogr. Berichte 1871. I. Seſſ. S. 833.)581§. 54. Bundesglied und Reichsland.den Gliedſtaaten des Reiches fällt vollſtändig zu - ſammen mit dem begrifflichen Gegenſatze zwiſchen dem dezentraliſirten Einheitsſtaate und dem Bun - desſtaate. Würden alle deutſchen Staatsgebiete zu Reichsland erklärt, ſo wäre Deutſchland kein Bundesſtaat mehr und die Staats - gebiete wären einfach Provinzen des Reichs, auch wenn Geſetz - gebung und Verwaltung noch weniger centraliſirt wären wie ge - genwärtig; bleibt in den deutſchen Einzel-Staaten dagegen eine ſelbſtſtändige, nicht in der Reichsgewalt wurzelnde Landeshoheit und Staatsgewalt beſtehen, ſo wird auch der bundesſtaatliche Cha - rakter des Reiches bewahrt, wenngleich die Kompetenz der Reichs - gewalt auf Koſten der Selbſtverwaltung und Autonomie der Ein - zelſtaaten erweitert werden ſollte. Das Maaß der Dezentraliſation kann in dem Einheitsſtaat und in dem Bundesſtaat genau daſſelbe, ja es kann in dem erſteren bedeutend größer ſein; die aus dem Begriffe ſich ergebenden Gegenſätze zwiſchen Einheitsſtaat und Bundesſtaat bleiben beſtehen.

Die Vergleichung zwiſchen dem Verhältniß Elſaß-Lothringens zum Reiche und dem Verhältniß der Gliedſtaaten zum Reiche iſt daher deshalb ſo lehrreich und von ſo weitreichender ſtaatsrecht - licher Bedeutung, weil ſie dazu dient, den Begriff des Bundes - ſtaates nach der Seite des dezentraliſirten Einheitsſtaates hin ab - zugrenzen, während bisher die Theorie ſich ausſchließlich mit der Abgrenzung des Bundesſtaates gegen den Staatenbund beſchäf - tigt hat.

Dieſe Gegenüberſtellung enthält zugleich die Widerlegung eines Einwandes, den man gegen die von uns durchgeführte Theorie, daß im Bundesſtaate die Souveränetät nicht zwiſchen Centralge - walt und Einzelſtaat getheilt iſt, ſondern der Centralgewalt un - getheilt zuſteht, erheben könnte, nämlich daß dadurch der Gegenſatz zwiſchen Bundesſtaat und Einheitsſtaat begrifflich aufgehoben werde. Die Widerlegung dieſes Einwandes wäre überaus erſchwert, wenn ſie rein theoretiſch ſein müßte; durch die Stellung von Elſaß - Lothringen im Reich können nun aber die logiſchen Schlußfolge - rungen zugleich als praktiſch verwirklichte Rechtsſätze dargelegt werden. Beſonders beachtenswerth iſt dabei der Umſtand, daß dieſe Gegenſätze zwiſchen dem Bundesſtaat und dem dezentraliſirten Einheitsſtaat ſich mit der unbezwinglichen Kraft, welche in der582§. 54. Bundesglied und Reichsland.Natur der Dinge liegt, durchgeſetzt und verwirklicht haben, ob - gleich die bisherige Theorie des Staatsrechts und der Politik ſie nicht formulirt und die poſitive Geſetzgebung des Reiches ſie nir - gends mit Bewußtſein anerkannt hat. Das Reich hat im Gegen - theil ſeine Verfaſſung und die Mehrzahl ſeiner Geſetze in Elſaß - Lothringen eingeführt, als wäre der Unterſchied zwiſchen Bundes - glied und Reichsland thatſächlich ohne Bedeutung.

Die ſtaatliche Stellung des Reichslandes unterſcheidet ſich von der ſtaatsrechtlichen Stellung der Gliedſtaaten des Reiches in folgenden Beziehungen.

I. Die Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen iſt ihrem Weſen nach von durchaus anderer Natur als die Staatsgewalt in den deutſchen Bundesſtaaten. Die letztere, welche wir der Kürze wegen Landeshoheit nennen, iſt ihrem Grund und Urſprunge nach völlig unabhängig von der Reichsgewalt. Sie wurzelt nicht in der Souveränetät des Reiches und iſt nicht von ihr abgeleitet; ſie iſt vielmehr älter als die Reichsgewalt. Nicht das Reich hat die Einzelſtaaten conſtituirt, ſondern die Einzelſtaaten haben durch den Act der Reichsgründung die Reichsgewalt in das Leben gerufen; das Reich hat nicht den Landesherren und freien Städten einen Kreis von Hoheitsrechten delegirt, ſondern die Einzelſtaaten haben durch den Eintritt in das Reich ihre Souveränetät auf die Ge - ſammtheit übertragen und ihre Landeshoheit in dem durch die Reichsverfaſſung begrenzten Umfang zurückbehalten.

In allen dieſen Beziehungen gilt vom Reichsland das Gegen - theil. Daſſelbe war vor ſeiner Vereinigung mit dem Reiche kein ſtaatliches Subject, ſondern ein Gebietstheil des franzöſiſchen Staa - tes. Durch den Präliminar-Frieden vom 26. Febr. 1871 Art. 1 verzichtet Frankreich zu Gunſten des Deutſchen Reiches auf alle ſeine Rechte und Anſprüche auf diejenigen Gebiete, welche öſtlich von der nachſtehend verzeichneten Grenze belegen ſind . Das Deutſche Reich wird dieſe Gebiete für immer mit vollem Souveränetäts - und Eigenthumsrechte beſitzen .

Hierdurch wurde die volle Souveränetät über dieſe Gebiete im völkerrechtlichen und ſtaatsrechtlichen Sinne auf das Reich über - tragen1)Der Zeitpunkt, an welchem die Souveränetät überging, iſt der 2. März. Es gab kein dem Reich gegenüber ſelbſtſtändiges und583§. 54. Bundesglied und Reichsland.unabhängiges Subject, welchem die Landes-Hoheit über Elſaß - Lothringen als eigenes Recht zuſtand, ſondern das Reichsland war lediglich Object der Reichsgewalt, welches zur unbeſchränkten Ver - fügung des letzteren ſtand.

Es wäre nun allerdings möglich geweſen, daß das Reich vor der Aufnahme Elſaß-Lothringens in den Reichsverband oder gleich - zeitig mit derſelben, das Reichsland zu einem Staate conſtituirt, ihm eine öffentlich rechtliche Perſönlichkeit beigelegt hätte. Dies iſt aber nicht geſchehen. Das Reich hat vielmehr ſeine Hoheitsrechte uneingeſchränkt und ungeſchmälert behalten. Bei der Vereinigung von Elſaß-Lothringen mit dem Reiche waren Regierung und Reichs - tag darüber völlig einverſtanden, daß das Reichsland den recht - lichen Charakter eines Staates nicht erhalten ſolte1)Motive zum Vereinigungs-Geſetz sub I: Das von Frankreich ab - getretene Gebiet iſt nicht beſtimmt einen mit eigner Staatshoheit bekleideten Bundesſtaat zu bilden; die Landeshoheit über daſſelbe ruht im Reiche. Ferner Kommiſſionsbericht des Reichstags S. 3 fg. u. S. 16. Staatsmini - ſter Delbrück in der Reichstagsſitzung vom 20. Mai 1871. (Stenogr. Ber. S. 826): Die formellen Schwierigkeiten, die in der Stellung eines Landes liegen, welches nicht Theil eines Bundesſtaates und welches auch ſelbſt kein Bundesſtaat iſt dieſe formellen Schwierigkeiten, die ich nicht ver - kenne, können an ſich unmöglich davon abhalten, dem Lande eine ſolche Stel - lung zu geben, wenn man der Ueberzeugung iſt, dieſe Stellung iſt an ſich richtig. Vgl. ferner die Aeußerungen der Reichstags-Mitglieder v. Treitſchke, Wagener, Lasker in derſelben Sitzung des Reichstags. (Stenogr. Berichte 1871. I. Seſſ. S. 815. 819. 828.) Auch Fürſt Bismarck erklärte in der Com - miſſion des Reichstages: Der Begriff eines Reichslandes ſei mit dem eines ſelbſtſtändigen Staatsweſens nicht congruent. (Zweiter Bericht v. 1. Juni 1871. Druckſachen Nr. 169. S. 6.) In der Literatur des Deutſchen Reichsrechts vertritt nur Seydel Comment. S. 31 die Anſicht, daß das Reichsland ein Staat ſei. Da er davon ausgeht, daß das Deutſche Reich kein Geſammt - ſtaat, ſondern eine Verbindung von Staaten ſei, ſo war es für ihn ein Gebot der Logik, auch das Reichsland als Staat aufzufaſſen..

Das Reichsgeſetz vom 9. Juni 1871 §. 3 Abſ. 1 verfügt: Die Staatsgewalt in Elſaß und Lothringen übt der Kaiſer aus. Dies iſt eine Delegation; es iſt die Beſtimmung desjenigen Organes, deſſen ſich das Reich behufs Ausübung ſeiner Staatsgewalt be - dient. Der Kaiſer iſt nicht Landesherr von Elſaß-Lothringen wie1)1871, der Tag der Ratiſikation des Präliminar-Friedens. Vgl. Löning a. a. O. S. 182 fg.584§. 54. Bundesglied und Reichsland.er Landesherr von Preußen und von Lauenburg iſt1)Eine Folge dieſes[Unterſchiedes] iſt die, daß Beleidigungen eines Mit - gliedes des Preußiſchen Königshauſes, welche von Nicht-Preußen in Elſaß - Lothringen verübt werden, nicht nach §§. 96. 97 des R. -St.-G.-B.’s, ſondern nach §. 185 ff. zu beurtheilen ſind. Vgl. das Urtheil des R. -Oberhan - dels-Gerichts als Kaſſationshofes für E. -L. vom 15. Mai 1874 in Puchelt’s Zeitſchrift f. franzöſ. Civilrecht Bd. V. S. 128 fg.; Elſaß - Lothringen ſteht nicht in Perſonal-Union mit dieſen beiden Staaten. Der Kaiſer iſt nicht als Vertreter Elſaß-Lothringens Mitglied des Reiches, ſondern er iſt als Vertreter des Reiches Verwalter der ſtaatlichen Hoheitsrechte über Elſaß-Lothringen. Die Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen wurzelt in der Reichsgewalt, iſt der Ausfluß der letzteren, welche ihr Fundament in dem Friedensvertrage mit Frankreich hat; ſie bildet nicht den Gegenſtand eines dem Reich ſelbſtſtändig gegenüber ſtehenden, von ihm unabhängigen Rechtes eines Landesherrn2)Löning a. a. O. S. 185. Mitſcher a. a. O. S. 273.. Elſaß-Lothringen iſt demnach keine Mo - narchie3)Auch nicht eine Art Monarchie , wie Mitſcher S. 279 ſagt und einige Mitglieder des Reichstages bei der Berathung des Vereinigungs-Geſetzes anzunehmen ſchienen, ſo namentlich v. Treitſchke und Römer. Mit dieſem Ausdrucke ſollte wohl nur der Gegenſatz gegen die republikaniſche Verfaſſungs - form angedeutet werden., denn es hat keinen perſönlichen Landesherrn, und es iſt ebenſowenig eine Republik, denn die Geſammtheit der Elſaß - Lothringer iſt nicht das Subject der Staatsgewalt. Es iſt Beſtand - theil oder Provinz des Reiches. Das Subjekt der Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen iſt das Reich, d. h. die Geſammtheit der zum Reich vereinigten Staaten in ihrer begrifflichen Einheit, in ihrer ſtaatlichen Perſönlichkeit4)Vgl. auch Meyer Erörterungen S. 49; aber nicht, wie Seydel S. 31. 93 annimmt, die deutſchen Souveräne als socii. Derſelbe begriffliche Gegenſatz wie zwiſchen Bundesgliedern und Reichsland beſteht in dem Staats - recht der Nordamerikaniſchen Union zwiſchen Staaten und Territorien. Vrgl. darüber Rüttimann Nordamer. Bundesſtaatsr. II. 2. S. 236 fg..

Deshalb ſind neben dem Kaiſer auch die übrigen Organe des Reiches an der Ausübung der Staatsgewalt mit betheiligt. Schon das Geſetz vom 9. Juni 1871 §. 3 band den Kaiſer bei Ausübung der Geſetzgebung an die Zuſtimmung des Bundesrathes und ſchrieb vor, daß dem Reichstage über die erlaſſenen Geſetze und allge - meinen Anordnungen und über den Fortgang der Verwaltung585§. 54. Bundesglied und Reichsland.jährlich Mittheilung gemacht werde, und ſeit Einführung der Reichs - verfaſſung hat auch der Reichstag ſeinen Antheil an der Geſetzge - bung erhalten1)Geſ. v. 9. Juni 1871 §. 3. Abſ. 4. Geſ. v. 25. Juni 1873 §. 8..

Der Bundesrath bearbeitet die Landes-Angelegenheiten von Elſaß-Lothringen und hat einen eigenen ſtändigen Ausſchuß dafür eingeſetzt. Der Reichskanzler iſt der verantwortliche Chef der geſammten Verwaltung; das Reichs-Oberhandelsgericht iſt der oberſte Gerichtshof für das Reichsland; der Etat des Landes wird vom Reiche feſtgeſtellt und ſeine Durchführung vom Rechnungshofe des Reiches controlirt.

Es fehlt demnach im Reichslande nicht nur an einem Landes - herrn, ſondern auch an einem ſelbſtſtändigen, vom Organismus des Reichs getrennten Regierungs-Apparate, wie ihn die Einzel - ſtaaten beſitzen und bedürfen. Wenn das für Elſaß-Lothringen beſtehende Behörden-Syſtem auch in ſeinen Verzweigungen auf das Reichsland beſchränkt iſt, in ſeinen Spitzen mündet es überall in die Inſtitutionen des Reiches ein und es erweist ſich als ein nur weiter ausgebildeter und reicher gegliederter Beſtandtheil derſelben.

Die Unterſcheidung zwiſchen Reichsgewalt und Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen iſt aber deſſenungeachtet nicht gegenſtandslos, ſie hat nur einen anderen ſtaatsrechtlichen Sinn, wie im übrigen Reich. Die Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen bedeutet den In - begriff derjenigen obrigkeitlichen Hoheitsrechte, welche im übrigen Reichsgebiet nicht dem Reiche, ſondern den Einzelſtaaten zuſtehen, im Gegenſatz zu denjenigen ſtaatsrechtlichen Befugniſſen, welche nach der Reichsverfaſſung der Centralgewalt zuſtehen. Objektiv fällt die Unterſcheidung zwiſchen Reichsgewalt und Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen vollſtändig zuſammen mit der verfaſſungsmäßi - gen Kompetenz-Abgränzung zwiſchen Reich und Einzelſtaat; ſub - jectiv aber ſtehen beide Klaſſen von obrigkeitlichen Befugniſſen im Reichslande demſelben Berechtigten, nicht wie im übrigen Reichsgebiete zwei verſchiedeneu Berechtigten zu.

II. In allen internationalen Beziehungen erſcheint das Reichsland nicht als Staat, ſondern als Beſtandtheil des Reiches. Das Reichsland kann keine Geſandte oder diplomatiſche Geſchäfts - träger empfangen noch entſenden und es kann keine internationalen586§. 54. Bundesglied und Reichsland.Verträge ſchließen, weder mit einem auswärtigen Staate noch mit einem Staate des Reiches. Das Reich allein kann für das Ge - biet des Reichslandes, aber ſtets nur im eigenen Namen, Staatsverträge ſchließen1)Beiſpiele ſind der Vertrag mit Luxemburg v. 3. Juli 1872 über die Auslieferung flüchtiger Verbrecher. (G. -Bl. S. 565); die Vereinbarung mit Oeſterreich-Ungarn über die Verpflegung erkrankter und die Uebernahme aus - gewieſener Landesangehöriger v. 29. April 1874 (G. -Bl. S. 13); das Protok. v. 7. Okt. 1874 über die Feſtſetzung der Diöceſangrenzen zwiſchen Deutſchland und Frankreich (G. -Bl. S. 33).. Der Regierung des Reichslandes ſteht es nur zu, mit den Verwaltungen anderer Staaten Vereinbarungen zu treffen über Verwaltungsgegenſtände, z. B. den Bau und die Unterhaltung von Brücken über den Rhein, die Anlage von Straßen, Kanälen, Eiſenbahnen, u. dgl.2)Hierhin gehört z. B. eine Vereinbarung mit Preußen über die Reviſion der zwiſchen Saarbrücken und Elſaß-Lothringen cirkulirenden Schiffe., wie dies auch ſonſt inner - halb deſſelben Staates unter verſchiedenen Reſſortverwaltungen oder unter benachbarten Kreis - und Provinzialverbänden häufig vorkommt3)Von Bedeutung wird in dieſer Beziehung die finanzielle Selbſtſtändig - keit des Reichslandes. Vgl. unten §. 55. S. 606..

Soweit dadurch Rechte begründet oder Pflichten übernommen werden, handeln die zum Abſchluß ſolcher Vereinbarungen compe - tenten Behörden Elſaß-Lothringens in Vertretung des Reiches und wenn die Verabredungen mit Verwaltungsſtellen auswärtiger Staaten getroffen werden, ſo erhalten ſie ihren völkerrechtlichen Schutz lediglich durch das Reich.

III. Eine Selbſtverwaltung in dem Sinne, wie ſie die Einzelſtaaten nach den oben S. 95 ff. gegebenen Ausführungen haben, hat das Reichsland nicht und kann das Reichsland nicht haben. Denn dieſe Selbſtverwaltung iſt ein Recht der Einzelſtaaten gegenüber dem Reiche. Die Beamten, welche die Selbſtverwal - tung in den Einzelſtaaten des Reiches handhaben, führen nicht Geſchäfte des Reiches, ſondern Geſchäfte ihres Staates; ſie ſind für die Geſetzmäßigkeit ihrer Verwaltung ihrem Staate verantwort - lich; ſie unterliegen zwar der Oberaufſicht des Reiches durch Ver - mittelung ihrer Staatsgewalt, aber ſie haben nicht in einem Beamten des Reiches ihren Reſſortchef. Im Reichsland dagegen kann die Verwaltung zwar decentraliſirt ſein in demſelben587§. 54. Bundesglied und Reichsland.Maße, wie im übrigen Reiche; den oberſten Behörden im Reichs - lande kann ein ganz ebenſo weiter Wirkungskreis mit ſelbſtſtändiger definitiver Entſcheidung zugewieſen ſein, wie er den Regierungen der Einzelſtaaten zuſteht; aber dieſe decentraliſirte Verwaltung iſt und bleibt Reichsverwaltung, nicht Selbſtverwaltung. Das Reich führt nicht nur die Oberaufſicht über dieſe Verwaltung, ſondern die Verwaltung ſelbſt. Dem Kaiſer ſteht in Elſaß-Lothringen die geſammte Verwaltung ganz in derſelben Weiſe zu, wie ihm im übrigen Reichsgebiete die Verwaltung in denjenigen Angelegenheiten zuſteht, in denen die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten ausge - ſchloſſen iſt. Er ernennt die Beamten der Landesverwaltung. Der Reichskanzler als Miniſter des Kaiſers iſt der Chef der geſamm - ten Verwaltung, auch auf den Gebieten, welche in den Gliedſtaaten nicht zur Verwaltungs-Kompetenz des Reiches gehören1)Geſ. v. 9. Juni 1871 §. 4. Der Oberpräſident von Elſaß-Lothringen ſteht unter dem Reichskanzler. Geſ. v. 30. Dezbr. 1871 §. 4 (G. -Bl. f. E. -L. 1872 S. 51.) Der Reichskanzler iſt die oberſte Forſtbehörde. Geſetz vom 30. Dez. 1871 §. 1. (G. -Bl. f. E. -L. 1872 S. 57.) Die Univerſität Straßburg ſteht unter der oberen Leitung und Aufſicht des Reichskanzlers. Geſ. v. 28. April 1872 §. 3. (G. -Bl. S. 166.) Der Reichskanzler iſt die oberſte Bergbehörde. Geſ. v. 16. Dez. 1873 §. 167. (G. -Bl. S. 426.). Es giebt für dieſe Verwaltung keine geſonderte, reichsländiſche Verantwort - lichkeit, ſondern ſie fällt vollſtändig zuſammen mit der allgemeinen, im Art. 17 der R. -V. begründeten Verantwortlichkeit des Reichs - kanzlers2)Der §. 4 des Geſ. v. 9. Juni 1871 iſt wörtlich dem Art. 17 der R. -V. entnommen, nur mit Hinweglaſſung der Vorſchrift, daß die Anordnungen und Verfügungen des Kaiſers im Namen des Reiches erlaſſen werden. .

Deſſen ungeachtet iſt die Unterſcheidung von Reichsverwaltung und Landesverwaltung auch für Elſaß-Lothringen nicht bedeutungs - los. Sie äußert ſich in einer ſehr praktiſchen Beziehung in der Finanzwirthſchaft. Die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten iſt nicht nur ein Recht, ſondern zugleich eine Laſt derſelben, indem ſie die Koſten aus der Landeskaſſe beſtreiten müſſen. Auf das Reichsland iſt dieſer Grundſatz analog angewendet worden, indem es in finanzieller Hinſicht vollkommen wie ein Gliedſtaat des Reiches behandelt wird und deshalb die Koſten aller derjenigen Verwal - tungszweige, welche nach der Reichsverfaſſung von den Einzelſtaaten zu tragen ſind, aus Landesmitteln beſtreiten muß. Theoretiſch588§. 54. Bundesglied und Reichsland.aber bedeutet die Unterſcheidung zwiſchen Reichsverwaltung und Landesverwaltung das Maaß der Decentraliſation der Verwaltung. Es wird dies ſofort anſchaulich, wenn man ſich denkt, daß das Reich noch andere reichsländiſche Gebiete hätte, welche es in der - ſelben Weiſe wie Elſaß-Lothringen verwalten würde. Alsdann wären die Zweige der Reichsverwaltung für das ganze Gebiet des Reiches centraliſirt und nur nach Reſſorts vertheilt, die Zweige der Landesverwaltung dagegen für jedes einzelne Reichs - land geſondert und nach dem Provinzialſyſtem gegliedert, wie dies noch bis in den Anfang dieſes Jahrhunderts theilweiſe in der Preußiſchen Monarchie der Fall war1)Vgl. oben S. 291 über den Unterſchied, welcher zwiſchen dem Geſchäfts - kreis des Bundesraths-Ausſchuſſes für E. -L. und den Geſchäftskreiſen der übri - gen Ausſchüſſe beſteht.. Der Umſtand allein, daß das Reich nur ein einziges Reichsland hat, verhüllt die Thatſache, daß die Landesverwaltung von Elſaß-Lothringen decentraliſirte Reichsverwaltung, daß ſie nicht Staatsverwaltung eines Bundes - gliedes, ſondern Provinzialverwaltung des Reiches iſt2)Das Geſ. v. 30. Dez. 1871 über die Einrichtung der Verwaltung (G. - Bl. 1872 S. 49) ſpricht im §. 5 ganz richtig von Behörden der Landesver - waltung ; d. h. es ſind Reichs behörden zum Zwecke der Landesverwal - tung..

IV. Ganz ähnliche Grundſätze gelten hinſichtlich der Geſetz - gebung. Eine Autonomie in dem Sinne von Selbſtgeſetz - gebungs-Recht, wie ſie den Einzelſtaaten zuſteht, hat das Reichs - land nicht und es iſt unmöglich, ihm dieſelbe zu verleihen, ſo lange es eben Reichsland iſt. Elſaß-Lothringen giebt ſich ſeine Geſetze nicht ſelbſt, ſondern es empfängt ſie von dem Reiche. Das Ver - einigungsgeſetz vom 9. Junt 1871 §. 3 Abſ. 4 erklärt dies mit größter Beſtimmtheit: Nach Einführung der Reichsverfaſſung3)Bis zu dieſem Zeitpunkt war die Geſetzgebung dem Kaiſer delegirt, welcher bei Ausübung dieſes Rechtes an die Zuſtimmung des Bundesrathes gebunden war. Geſ. v. 9. Juni 1871 §. 3. Abſ. 2. ſteht bis zu anderweitiger Regelung durch Reichsgeſetz das Recht der Geſetzgebung auch in den der Reichsgeſetzgebung in den Bundesſtaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten dem Reiche zu.

Es iſt nicht nothwendig, daß die Geſetzgebung für Elſaß -589§. 54. Bundesglied und Reichsland.Lothringen an die Formen gebunden iſt, welche nach der Reichs - verfaſſung für die Reichsgeſetzgebung beſtehen. Der Reichstag und ſelbſt der Bundesrath könnten von der Theilnahme daran ausge - ſchloſſen und eine Vertretung der elſaß-lothringiſchen Bevölkerung könnte zur Theilnahme daran berufen ſein; immerhin aber bliebe das Reich oder der Kaiſer als Stellvertreter und im Namen des Reiches Geſetzgeber d. h. Subjekt des Geſetzgebungsrechts. Es kann mit anderen Worten auch die Reichsgeſetzgebung für die beſonderen Angelegenheiten des Reichslandes decentraliſirt ſein.

Durch das Geſetz v. 3. Juli 1871 §. 1 (G. -Bl. S. 2) iſt angeordnet, daß die für Elſaß-Lothringen erlaſſenen Geſetze und Kaiſerlichen Verordnungen ihre verbindliche Kraft durch ihre Ver - kündigung in einem Geſetzblatt erhalten, welches den Titel Ge - ſetzblatt für Elſaß-Lothringen führt. So lange der Art. 2 der R. -V. im Reichslande keine Geltung hatte, war die Publikation der Ge - ſetze in dem Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen die einzige Art, wie Geſetze des Reiches im Reichsland verkündigt werden konnten. Es iſt dadurch ein äußeres Kriterium geſchaffen, welches die für das Reich und die für das Reichsland erlaſſenen Geſetze von ein - ander ſcheidet. Seit Einführung der Reichsverfaſſung erhalten die vom Reiche erlaſſenen Geſetze, ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung im Reichsgeſetzblatte auch in Elſaß-Lothringen. Es werden aber auch jetzt noch im Reichsgeſetzblatt nur diejenigen Reichsgeſetze publizirt, welche nach Maßgabe des Inhalts der Reichsverfaſſung (Art. 2 der R. -V. ) erlaſſen werden; dagegen nicht diejenigen Geſetze, welche in den der Reichsgeſetzgebung in den Bundesſtaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten auf Grund des Geſ. v. 9. Juni 1872 für Elſaß-Lothringen erlaſſen werden. Die letzteren werden im Geſetzbl. für Elſaß-Lothringen publizirt. Man unterſcheidet daher[auch] jetzt noch in Elſaß-Lothringen Geſetze, welche innerhalb der verfaſſungsmäßigen Kompetenz des Reiches, und Geſetze, welche außerhalb dieſer Kompetenz erlaſſen werden und nennt die letzteren, mit einem nicht ganz zutreffenden Ausdrucke: Landesgeſetze.

Das Geſetz vom 25. Juni 1873, betreffend die Einführung der Verf. des Deutſchen Reiches in Elſaß-Lothringen, ſelbſt be - ſtimmt in §. 4 Abſ. 1: Die in Art. 35 der Verf. erwähnte Beſteuerung des in -590§. 54. Bundesglied und Reichsland.ländiſchen Bieres bleibt der inneren Geſetzgebung bis auf Weiteres vorbehalten.

Was innere Geſetzgebung bedeutet, iſt zwar nicht geſagt, in jedem Fall ſoll der Ausdruck aber einen Gegenſatz zur Reichs - geſetzgebung bezeichnen. Daſſelbe Geſetz ermächtigt im §. 8 den Kaiſer, unter Zuſtimmung des Bundesrathes, während der Reichs - tag nicht verſammelt iſt, Vorordnungen mit interimiſtiſcher, geſetz - licher Kraft zu erlaſſen, welche nichts beſtimmen dürfen, was der Verfaſſung oder den in Elſaß-Lothringen geltenden Reichsgeſetzen zuwider iſt.

Der Ausdruck Reichsgeſetz ſteht hier im Gegenſatz zu den für Elſaß-Lothringen erlaſſenen Partikular-Geſetzen, alſo zu der inneren Geſetzgebung des §. 4.

Der Allerhöchſte Erlaß v. 29. Oktob. 1874 (G. -Bl. S. 37) verfügt die Einrichtung eines Landes-Ausſchuſſes für Elſaß-Loth - ringen, um die Verwaltung bei der Vorbereitung der Landes - geſetze durch die Erfahrung und Sachkunde von Männern be - rathen zu ſehen, welche durch das Vertrauen ihrer Mitbürger aus - gezeichnet ſind. Dieſem Ausſchuſſe ſind Entwürfe von Geſetzen für Elſaß-Lothringen über ſolche Angelegenheiten, welche der Reichs - geſetzgebung durch die Verfaſſung nicht vorbehalten ſind, einſchließ - lich des Landeshaushalts-Etats, vorzulegen.

Auch gegenwärtig iſt daher für Elſaß-Lothringen die innere oder Landesgeſetzgebung von der Reichsgeſetzgebung zu unterſchei - den1)Es iſt hier nur die Rede von der Geſetzgebungs-Gewalt; das Verhält - niß der Reichsgeſetze zu den Landesgeſetzen in Elſaß-Lothringen bietet noch zu anderen Fragen Anlaß, über welche unten das Kapitel von der Geſetzgebung des Reiches zu vergleichen iſt. und bei fortſchreitender Verſchmelzung des Reichslandes mit Deutſchland wird es gewiß möglich ſein, bei dieſer Landesge - ſetzgebung an Stelle des Reichstages eine Vertretung der Bevölke - rung des Reichslandes zur Mitwirkung zu berufen. Aber auch dann wird dieſe Landesgeſetzgebung, wenn Elſaß-Lothringen Reichs - land bleibt, keine Autonomie in dem oben S. 108 entwickelten Sinne, ſondern wie gegenwärtig eine Provinzial-Geſetzgebung des Reiches ſein.

Zu dem elſaß-lothringiſchen Provinzialrecht gehört ferner der geſammte, bei der Erwerbung des Landes vorhanden geweſene Be -591§. 54. Bundesglied und Reichsland.ſtand an Rechtsſätzen, ſoweit derſelbe nicht entweder durch die Trennung des Landes von Frankreich und die Einverleibung in Deutſchland thatſächlich unanwendbar geworden oder durch die vom Reich (Kaiſer) erlaſſenen Landes - oder Reichsgeſetze rechtlich aufgehoben oder verändert worden iſt. Dies gilt nicht blos hin - ſichtlich des Privatrechts und Prozeſſes, ſondern in demſelben Um - fange auch von dem Verwaltungsrecht und überhaupt von den Vor - ſchriften, welche den Inhalt, die Ausübung und die Gränzen der Staatsgewalt betreffen1)Vrgl. Löning a. a. O. S. 189 fg. Mitſcher a. a. O. S. 277. Eine ausdrückliche geſetzliche Anerkennung, daß franzöſ. Geſetze, welche die Befugniſſe der Miniſterien regeln, in Elſaß-Lothringen in Geltung ſtehen , enthält das Geſ. v. 30. Dez. 1871 §. 6 letzter Abſatz. (G. -Bl. 1872 S. 52.).

V. Der Gegenſatz zwiſchen dem Reichslande und den Einzel - ſtaaten, welche Mitglieder des Reiches ſind, zeigt ſich in höchſt prägnanter Weiſe darin, daß Elſaß-Lothringen keine Mitglied - ſchaftsrechte hat. Die Aufgaben, welche das Reich zu erfüllen hat, nämlich das Bundesgebiet und das innerhalb deſſelben gültige Recht zu ſchützen und die Wohlfahrt des Deutſchen Volkes zu pflegen, erfüllt es auch für Elſaß-Lothringen; das Reichsland nimmt an dem ſtaatlichen Leben des Deutſchen Reiches materiell einen uneingeſchränkten Antheil, aber formell nicht als Bundesglied ſon - dern wie eine Provinz. Die Mitgliedſchaftsrechte kommen vorzugs - weiſe zur Geltung und Ausübung im Bundesrathe und es giebt deshalb keinen Mitgliedſtaat, der nicht im Bundesrathe eine Stimme hätte. Das Reichsland dagegen führt im Bundesrath keine Stimme.

Bei der Vereinigung Elſaß-Lothringens mit dem Reiche hatte die Regierung die Abſicht, Elſaß-Lothringen in irgend einer Art einen Antheil am Bundesrathe zu gewähren2)Vgl. die Motive zum Vereinigungs-Geſetz unter II. und den Kom - miſſionsbericht des Reichstags zu Abſ. 3 des §. 2. Ferner erklärte Fürſt von Bismarck in der Reichstagsſitzung v. 3. Juni 1871, es ſei ſein Wunſch, daß die verbündeten Regierungen im Bundesrathe Elſäßer Mitglieder mit conſultativem Votum zulaſſen. (Stenogr. Ber. S. 1001.). Dieſe Abſicht iſt aber unausgeführt geblieben und wird mit Nothwendigkeit ſo lange unausgeführt bleiben müſſen, als Elſaß-Lothringen Reichs - land bleibt. Zwar iſt laut Bekanntmachung v. 14. Mai 18753)R. -G.-Bl. S. 219. der Kaiſerliche Ober-Präſident von Elſaß-Lothringen vom Könige592§. 54. Bundesglied und Reichsland.von Preußen zum Bundesraths-Bevollmächtigten ernannt worden und es iſt dadurch eine neue Gewähr gegeben worden, daß es bei den Verhandlungen und Beſchlüſſen des Bundesrathes weder an genauer Kenntniß der Verhältniſſe des Reichslandes noch an einer wirkſamen Geltendmachung ſeiner Intereſſen fehle; man darf aber ſtaatsrechtlich dieſe Thatſache nicht in der Art auffaſſen, als hätte Preußen von den ihm zuſtehenden 17 Stimmen eine an das Reichs - land abgetreten, deren Inſtruktion vom Kaiſer als ſolchem d. h. im Gegenſatz zum Könige von Preußen ausgehe. Denn nach der Reichsverfaſſung Art. 6 müſſen die den einzelnen Staaten zuſtehen - den Stimmen einheitlich abgegeben werden. Es iſt daher verfaſ - ſungsmäßig unmöglich, daß im Bundesrath jemals die 17 Stimmen Preußens ſich in 16 preußiſche und eine elſaß-lothringiſche zer - legen. Logiſch unmöglich iſt es aber, daß man für Elſaß-Loth - ringen eine oder einige neue Stimmen im Bundesrath errichtet und die Führung derſelben dem Kaiſer als ſolchem zuweiſt. Denn der Kaiſer als ſolcher iſt ein Organ des Reiches; das Reich kann aber ſich ſelbſt gegenüber keinerlei Mitgliedſchaftsrechte ausüben, ſowenig wie irgend eine andere juriſtiſche Perſon ihr eigenes Mit - glied ſein kann.

VI. Ebenſowenig wie das Reichsland Mitgliedſchaftsrechte hat, ebenſowenig hat es auch Sonderrechte1)Der Beſchluß des Bundesrathes v. 19. Febr. 1875 giebt jedoch Elſaß - Lothringen einen Antheil an der Zuſammenſetzung der Reichsſchulkommiſſion. Siehe oben S. 324. Es iſt dies bis jetzt der einzige Fall, in welchem das Reichsland in nicht finanziellen Angelegenheiten wie ein Gliedſtaat behandelt wird; er beruht nicht auf einem ſtaatsrechtlichen Prinzip, ſondern iſt eine Anomalie.. Dagegen iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß für das Reichsland Ausnahmen von reichsverfaſſungsmäßigen Grundſätzen beſtehen, durch welche es thatſächlich in dieſelbe Lage verſetzt wird, wie ſie für einzelne Bundesſtaaten durch die ihnen zuſtehenden Sonderrechte begründet wird. Dies iſt in der That der Fall. Das Geſ. v. 25. Juni 1873 §. 4 ſchließt Elſaß-Lothringen von der Bierſteuer-Gemein - ſchaft aus und §. 5 deſſelben Geſetzes geſtattet bis auf Weiteres die Forterhebung des Octroi in Elſaß-Lothringen. Durch dieſe An - ordnungen iſt das Reichsland aber nicht in diejenige ſtaatsrechtliche Stellung in Betreff der Bierſteuer verſetzt worden, in welcher ſich593§. 54. Bundesglied und Reichsland.die drei ſüddeutſchen Staaten, oder Hamburg und Bremen befinden, ſondern etwa in diejenige, in welcher die Preußiſchen Zollausſchlüſſe oder die thüringiſchen Bezirke Oſtheim und Königsberg ſind1)Auch in finanzieller Beziehung macht ſich dieſer Unterſchied geltend. Vgl. meine Abhandlung über das Finanzrecht des Deutſchen Reichs in Hirth’s Annalen 1873 S. 512. Seine praktiſche Bedeutung hat er indeſſen eingebüßt, ſeitdem die Matrikularbeiträge nach der ortsanweſenden Bevölkerung vertheilt werden. Vgl. §. 55 S. 610., d. h. die beſonderen für Elſaß-Lothringen geltenden Beſtimmungen bilden nicht den Inhalt eines ſubjektiven Rechts, ſondern ſie ſind lediglich beſondere Rechtsſätze. Staatsrechtlich äußert ſich dieſer Unterſchied darin, daß, wenn die Sonderſtellung von Elſaß - Lothringen durch ein Reichsgeſetz aufgehoben wird, die Vorſchrift des Art. 78 Abſ. 2 der R. -V., wonach die Zuſtimmung des be - rechtigten Bundesſtaates erforderlich iſt, keine Anwendung finden kann2)Urſprünglich war das Reichsland auch von der Branntweinſteuer-Ge - meinſchaft ausgenommen. Das Geſ. v. 16. Mai 1873 (Geſetzbl. f. Elſ. -Lothr. S. 67) hat dieſe Sonderſtellung beſeitigt..

VII. Dem Mangel an ſubjectiven Rechten entſpricht es, daß das Reichsland dem Reiche gegenüber auch keine ſubjektiven Pflich - ten hat. Es trägt zwar in demſelben Maaße wie die übrigen Theile des Reiches die militäriſchen und finanziellen Laſten, welche zur Durchführung der dem Reiche obliegenden Aufgaben dienen; aber es trägt dieſe Laſten nicht in der ſtaatsrechtlichen Form wie ein Glied eines Bundesſtaates, ſondern wie ein Landestheil eines Einheitsſtaates3)Ueber die Matrikularbeiträge ſiehe unten §. 55..

Es zeigt ſich dies praktiſch in der Unanwendbarkeit des Art. 19 der R. -V. ; eine Execution gegen das Reichsland iſt unmöglich und undenkbar; es wäre dies eine Execution des Reiches gegen ſich ſelbſt. Nur Bundesglieder, welche dem Reiche gegenüber eine ſelbſtſtändige ſtaatliche Exiſtenz, eine eigene Perſönlichkeit haben, können zur Erfüllung ihrer verfaſſungsmäßigen Bundespflichten im Wege der Execution angehalten werden, nicht aber das Reichs - land, welches ſich ſchon in ſeinem normalen Rechtszuſtand in der - jenigen Lage befindet, in die ein Bundesglied erſt gebracht werden würde, wenn die Execution bis zu ihrem äußerſten Grade gegen daſſelbe zum Vollzuge käme.

Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 38594§. 54. Bundesglied und Reichsland.

VIII. Wenn es richtig iſt, daß das Reichsland kein Staat iſt, ſo ergiebt ſich als nothwendige Folge, daß es auch keine elſaß - lothringiſche Staatsangehörigkeit giebt. Der begriffliche Unter - ſchied zwiſchen Staats-Bürgerrecht und Reichs-Bürgerrecht, der für alle Deutſche Staaten oben §. 13 fg. durchgeführt worden iſt, hat für das Reichsland keinen Raum; die Elſaß-Lothringer ſind Deutſche in derſelben Art, wie die Pommern oder Brandenburger Preußen ſind.

Dieſem Satze ſcheint es zu widerſprechen, daß das Reichsge - ſetz über die Erwerbung und den Verluſt der Bundes - und Staats - angehörigkeit vom 1. Juni 1870 durch Geſ. v. 8. Januar 1873 in Elſaß-Lothringen eingeführt worden iſt, da nach §. 1 dieſes Geſetzes die Bundesangehörigkeit durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundesſtaate erworben wird und mit deren Verluſt er - liſcht. Die Einführung dieſes Geſetzes in Elſaß-Lothringen hat aber materiell nur die Folge, daß dieſelben Thatſachen, welche in den Bundesſtaaten den Erwerb oder Verluſt der Staatsange - hörigkeit und in untrennbarem Zuſammenhange damit den der Reichsangehörigkeit begründen, in Elſaß-Lothringen unmittelbar den Erwerb oder Verluſt der Reichsangehörigkeit bewirken, und daß formell die Behörden des Reichslandes daſſelbe Verfahren beobachten, wie im übrigen Reichsgebiet die Behörden der Einzel - ſtaaten1)Nach dem im Bezirke Unter-Elſaß im Gebrauche befindlichen Formular für die Entlaſſungs-Urkunde, wird dem Auswanderer die Entlaſſung aus der Landesangehörigkeit von Elſ. -Lothr. ertheilt ; nach dem Formular für die Naturaliſation: die Naturaliſation als Landesangehöriger von Elſ. -Lothr. In den Formularen für die Benachrichtigungsſchreiben an das Bezirks-Com - mando heißt es dagegen, daß die Entlaſſung aus der elaß-lothringiſchen Staats - angehörigkeit ertheilt, reſp. N.N. in den elſaß-lothringiſchen Staatsver - band aufgenommen worden ſei..

Dagegen giebt es kein vom Reichsbürgerrecht verſchiedenes Staatsbürgerrecht von Elſaß-Lothringen mit eigenem Inhalt und ſpezifiſchen Rechtswirkungen. Wir haben oben im §. 16 für die Bundesſtaaten als die ſpezifiſchen Rechtswirkungen des Staats - bürgerrechts im Einzelſtaate vier nachgewieſen.

1) Die Gehorſamspflicht gegen die Einzelſtaats - Gewalt. Da in Elſaß-Lothringen die Staatsgewalt mit der595§. 54. Bundesglied und Reichsland.Reichsgewalt zuſammenfällt, eine von der Reichsgewalt verſchiedene Einzelſtaatsgewalt nicht exiſtirt, ſo giebt es auch neben der in der Reichsangehörigkeit begründeten Gehorſamspflicht gegen das Reich keine davon begrifflich oder thatſächlich zu unterſcheidende Gehor - ſamspflicht gegen eine partikuläre Staatsgewalt.

2) Der Anſpruch auf Schutz im Auslande. Den - ſelben kann Elſaß-Lothringen, da es keine internationale Exiſtenz hat, auch nicht in dem ſehr begränzten Maaße geben, in welchem dies den Gliedſtaaten des Deutſchen Reiches noch möglich iſt; vielmehr iſt das Reich allein im Stande für die Angehörigen von Elſaß-Lothringen einzutreten, ſo daß auch hier die Landesange - hörigkeit von Elſaß-Lothringen vollkommen in der Reichsangehörig - keit aufgeht.

3) Das Wohnrecht im Staatsgebiete. Daſſelbe iſt, wie oben S. 158 ff. dargethan worden iſt, durch das Freizügig - keitsgeſ. v. 1. Nov. 1867, welches auch in Elſaß-Lothringen Gel - tung erlangt hat, vollſtändig von dem Wohnrecht im Reichs - gebiete abſorbirt worden.

4) Die Ausübung der politiſchen Rechte, insbe - ſondere des Wahlrechts. An dieſem Punkte vor Allem zeigt ſich, wie oben S. 161 dargelegt worden iſt, die Fortdauer des Staatsbürgerrechts in den Einzelſtaaten; Wahlrecht und Wählbar - keit zu den innerhalb der einzelnen Staaten beſtehenden politiſchen Vertretungen bilden den eigenthümlichen Inhalt deſſelben. Eine durch unmittelbare Wahlen gebildete Landesvertretung von Elſaß - Lothringen giebt es zur Zeit noch nicht; wohl aber Bezirksvertre - tungen, Kreisvertretungen und Gemeinderäthe. Bei dieſen Wahlen könnte ein elſaß-lothringiſches Staatsbürgerrecht im Gegenſatz zu der Reichsangehörigkeit zur Geltung kommen, wenn ein ſolches exiſtirte. Das Geſetz v. 24. Januar 1873 §. 3 u. §. 6 beſtimmt aber in dieſer Beziehung: Wähler iſt jeder Deutſche, welcher das 25. Lebens - jahr zurückgelegt hat und ſich im Vollbeſitz der ſtaatsbürger - lichen Rechte befindet, in der Gemeinde, wo er ſeinen Wohnſitz hat1)Entſprechend iſt die Wählbarkeit beſtimmt. Wählbar iſt jeder Wähler, welcher in dem Bezirke beziehungsweiſe Kreiſe ſeinen Wohnſitz hat, ſowie jeder Deutſche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat und ſich im Vollbeſitz.

38*596§. 54. Bundesglied und Reichsland.

Alſo nicht die Landesangehörigkeit, ſondern die Reichsange - hörigkeit iſt entſcheidend. Jeder Deutſche, gleichviel welchem Ein - zelſtaat er angehört, iſt zur Ausübung des Wahlrechts in Elſaß - Lothringen befugt, wofern er nur im Reichslande wohnt. Es iſt demnach für das Reichsland formell zwar das Reichsgeſetz vom 1. Juni 1870 eingeführt, materiell aber gerade das entgegenge - ſetzte, in Nordamerika geltende Princip verwirklicht worden, wo - nach das Bundesbürgerrecht das primäre Recht und das Staats - bürgerrecht im Einzelſtaat die Folge und Wirkung deſſelben iſt, d. h. der Bundesbürger iſt befugt in demjenigen Staate, in welchem er wohnt, das Wahlrecht und die ſonſt etwa beſtehenden ſtaats - bürgerlichen Rechte auszuüben1)S. oben S. 135. Rüttimann Nordamerikan. Bundesſtaatsr. I. §. 94..

Es ergiebt ſich hieraus, daß das elſaß-lothringiſche Staats - bürgerrecht im Gegenſatz zur Reichsangehörigkeit oder zum Reichs - bürgerrecht genommen, ein völlig inhaltsloſes Recht ohne Rechts - wirkungen wäre; ein ſolches Recht zu fingiren, widerſpricht aber allen Regeln einer vernunftmäßigen juriſtiſchen Conſtruktion.

Zu demſelben Reſultate führt auch eine andere Erwägung. Als Elſaß-Lothringen im Frankfurter Frieden an Deutſchland abgetreten wurde, gab es unzweifelhaft keinen Elſaß-Lothringen’ſchen Staat und keine Elſaß-Lothringen’ſchen Staatsbürger. Die Bewohner dieſer Gebiete waren bis zum Frieden Franzoſen und wurden durch den Frieden, der die Souveränität über Land und Leute an das Deutſche Reich abtrat, Deutſche, ſoweit ſie nicht von der ihnen vorbe - haltenen Auswanderungsfreiheit (ſogen. Option) Gebrauch machten. Durch den Frieden ſelbſt wurde unzweifelhaft ein elſaß-lothringiſcher Staat nicht gebildet und ebenſowenig durch das Vereinigungsgeſetz v. 9. Juni 1871.

Die Zuſatzconvention zum Frankfurter Frieden vom 11. Dez. 1871 unterſcheidet an ſämmtlichen, die Nationalität betreffenden Artikeln zwiſchen der Deutſchen und der franzöſiſchen Nationali - tät; die im Art. 2. im deutſchen Text erwähnten Angehörigen der abgetretenen Gebietstheile werden im franzöſiſchen Text be - zeichnet als » individus originaires des territoires cédés « alſo nicht dem Staatsverbande nach, ſondern der Abſtammung oder1)der ſtaatsbürgerlichen Rechte befindet, ſofern er im Bezirke beziehungsweiſe Kreiſe eine direkte Steuer zahlt. 597§. 54. Bundesglied und Reichsland.Herkunft nach angehörig1)An der Mehrzahl der Stellen ſpricht auch der deutſche Text von Per - ſonen, welche aus den abgetretenen Landestheilen herſtammen . Z. B. Art. 2 Abſ. 3. Art. 4. Art. 10. Schlußprotok. Ziff. 1.; im Art. 6 a. E. iſt ausdrücklich die Rede von Angehörigen der abgetretenen Gebiete, welche deutſche Unterthanen geworden ſind 2)Franzöſ. Text: individus originaires des territeires cédés qui seront devenus sujets allemands. Aehnlich Art. 15.. Die Angehörigen des Reichs - landes waren ſonach zunächſt unmittelbare Unterthanen des Reiches, nicht wie die Angehörigen der anderen Staaten Unterthanen des Heimathsſtaates und mit und durch dieſen Reichsunterthanen. Erſt durch die Einführung des Geſ. v. 1. Juni 1870 in Elſaß-Lothr. durch Geſ. v. 8. Januar 1873 hat die Annahme einer Staats - angehörigkeit im Gegenſatz zur Reichsangehörigkeit in Elſaß-Lothr. eine ſcheinbare geſetzliche Rechtfertigung gewonnen. Dieſes Geſetz erklärt aber im §. 3, daß durch die Geburt eheliche Kinder eines Deutſchen die Staatsangehörigkeit des Vaters, uneheliche Kinder einer Deutſchen die Staatsangehörigkeit der Mutter erwerben; es verleiht alſo Niemandem, der zur Zeit des Erlaſſes dieſes Ge - ſetzes bereits geboren war, eine Staatsangehörigkeit, die er nicht bis dahin ſchon hatte. Ebenſo ſetzen die §§. 4 u. 5 voraus, daß der Vater, welcher ein uneheliches Kind legitimirt, oder der Mann, welcher ſich verheirathet, eine Staatsangehörigkeit bereits hat. Keine Beſtimmung des Geſetzes aber ſagt, daß alle Perſonen, welche bereits vor Einführung deſſelben von Bewohnern Elſaß - Lothringens erzeugt oder legitimirt worden ſind, reſp. einen Be - wohner des Reichslandes geheirathet haben, die elſaß-lothringiſche Staatsangehörigkeit erhalten. Die §§. 3 bis 5 ſind daher in Elſaß-Lothringen überhaupt nur anwendbar, abgeſehen von den in Elſaß-Lothringen eingewanderten Angehörigen der übrigen Bundes - ſtaaten, wenn man Staatsangehörigkeit durch Reichsangehörig - keit erſetzt. Deutſche, Reichsangehörige, ſind die Einwohner des Reichslandes durch den Verſailler oder Frankfurter Frieden gewor - den, nicht durch irgend einen der im Geſetz v. 1. Juni 1870 auf - geführten Erwerbsgründe und dieſe deutſche Reichsangehörigkeit übertragen ſie gemäß §. 3 5 des erwähnten Geſetzes auf Kin - der und Ehefrauen. Es könnte daher von einem Erwerbe der elſaß-lothringiſchen Staatsangehörigkeit nach Maaßgabe des Geſ. 598§. 54. Bundesglied und Reichsland.v. 1. Juni 1870 nur die Rede ſein, bei denjenigen Perſonen, denen dieſelbe durch Aufnahme, Naturaliſation oder Anſtellung verliehen worden iſt.

Hiernach würde nur ein höchſt unbedeutender Bruchtheil der elſaß-lothringenſchen Bevölkerung die ſpezielle Staatsangehörigkeit neben der Reichsangehörigkeit haben, und es würde überdies der Sinn des Geſetzes v. 2. Juni 1870 völlig entſtellt werden. Denn die in demſelben anerkannten Erwerbsgründe der Staatsangehörig - keit würden nicht, wie es die Abſicht des Geſetzes iſt, die gleiche Rechtswirkung haben, ſondern die familienrechtlichen Erwerbsgründe hätten eine völlig andere Wirkung wie die Aufnahme und Natu - raliſation. Auch in dem Geſ. v. 1. Juni 1870 iſt demnach die Angehörigkeit von Elſaß-Lothringen nicht als Staatsangehörigkeit aufzufaſſen, ſondern ganz ſo wie es das Geſ. v. 24. Januar 1873 hinſichtlich des Wahlrechts gethan hat, als Reichsangehörigkeit, verbunden mit dem Wohnſitz im Reichslande. Die Reichsange - hörigkeit geht aber nach den Vorſchriften dieſes Geſetzes nicht ver - loren durch Verlegung des Wohnſitzes in einen andern Bundes - ſtaat oder durch Aufenthalt im Auslande, wenn er nicht zehn Jahre lang ununterbrochen fortdauert. Es kann daher Jemand, welcher in Elſaß-Lothringen die Reichsangehörigkeit erworben hat und dann ſeinen Wohnſitz außerhalb des Reichslandes nimmt, Reichsangehöriger ſein, ohne einem Deutſchen Staate anzugehören, wodurch das dem Geſ. v. 1 Juni 1870 zu Grunde liegende Princip erheblich modifizirt wird. Es zeigt ſich an dieſem Geſetze grade wie an der Reichsverfaſſung, daß ein Geſetz, welches Staaten voraus - ſetzt und für ſie berechnet iſt, nicht kurzweg in einem Reichslande eingeführt werden kann, ohne daß ſich juriſtiſche Unterſchiede und Inconſequenzen ergeben.

Der Begriff eines Angehörigen von Elſaß-Lothringen iſt aber noch in anderen Beziehungen als nur hinſichtlich des Staats - bürgerrechts von Wichtigkeit. Die franzöſiſche Geſetzgebung knüpft an die Eigenſchaft eines Franzoſen zahlreiche Rechts - folgen und dieſe Geſetzgebung hat zum Theil im Reichslande ihre Geltung behalten. Es entſteht daher die Frage, was im Reichs - lande in denjenigen Fällen, in denen das franzöſiſche Recht la qualité de Français erfordert, an Stelle der letzteren zu ſetzen iſt. 599§. 54. Bundesglied und Reichsland.Für die Entſcheidung dieſer Frage kommen folgende Erwägungen in Betracht.

Nach der im Art. 7 und Art. 8 des Code civ. feſtgehaltenen Unterſcheidung zwiſchen droits civils und droits politiques ſteht jeder Franzoſe im Genuß der droits civils, dagegen ſind die droits politiques abhängig: » de la qualité de citoyen, laquelle ne s’acquiert et ne se conserve, que conformément à la loi constitutionelle «. Nicht jeder Franzoſe iſt zugleich citoyen; es iſt demgemäß » Français « nicht Staatsbürger , ſondern Inlän - der zu überſetzen. Die Vorſchriften des Code civ. über Erwerb und Verluſt der Eigenſchaft eines Franzoſen (Elſaß-Lothringers) haben bis zur Einführung des Reichsgeſetzes vom 1. Juni 1870 im Reichsland in partikulärer Geltung geſtanden; der Erwerb und Verluſt der Eigenſchaft eines citoyen dagegen iſt durch die fran - zöſiſchen Verfaſſungs-Geſetze normirt, welche bereits durch den Friedensſchluß mit Deutſchland und die Abtretung des reichslän - diſchen Gebietes ihre Anwendbarkeit verloren haben. Ein Nicht - Franzoſe kann niemals die droits politiques ausüben, denn er kann niemals citoyen ſein; wohl aber kann er die droits civils wie ein Franzoſe ausüben, wenn er mit Erlaubniß des Staates ſeinen Wohnſitz in Frankreich hat und ſich daſelbſt aufhält. Code civ. Art. 13. Das franzöſiſche Recht ſetzt aber allerdings voraus, daß jeder Franzoſe auch Unterthan des franzöſiſchen Staates iſt; wer einem andern Staatsverbande beitritt, verliert nicht blos die Eigenſchaft eines franzöſiſchen citoyen, ſondern auch die Eigenſchaft eines Français. Code civ. Art. 171)Demgemäß hat die franzöſ. Praxis ſtets angenommen, daß, wenn ein Theil des franzöſiſchen Gebietes an einen andern Staat abgetreten wird, die Bewohner des abgetretenen Gebietes die Eigenſchaft von Franzoſen verlieren, wenn ſie ihren Wohnſitz in dem abgetretenen Gebiete beibehalten. Vgl. Dalloz et Vergé, Code civ. annoté. Nr. 97 ff zu Art. 17. (Vol. I. p. 65.) Ferner Löning a. a. O. S. 197, woſelbſt zahlreiche Literatur-Nachweiſungen ge - geben ſind..

Auch für das Reichsland iſt demgemäß die Eigenſchaft eines Inländers davon abhängig, daß man ein Unterthan der im Reichs - lande beſtehenden Staatsgewalt iſt. Daraus folgt aber keines - wegs, daß es eine beſondere elſaß-lothringiſche Staatsgewalt geben müſſe. Das Subject der Staatsgewalt in Elſaß-Lothringen iſt600§. 54. Bundesglied und Reichsland.vielmehr das Deutſche Reich. Vorausſetzung für die Eigenſchaft eines Inländers in Elſaß-Lothringen iſt ſonach nicht ein von der Reichs-Angehörigkeit verſchiedenes Unterthanen-Verhältniß, ſondern nur, daß man Unterthan des Deutſchen Reiches iſt.

Andererſeits iſt der Ausdruck » Français «, wo er ſich in fran - zöſiſchen Geſetzen findet, für das Reichsland nicht wiederzugeben mit jeder Deutſche . Denn die franzöſiſchen Geſetze ſind für das Reichsland im Verhältniß zu dem für ganz Deutſchland geltenden Recht Partikulargeſetze und deshalb ſind für die von dieſem Par - tikularrecht normirten Rechtsſätze die Begriffe Inland und In - länder nach dem Geltungsbereich dieſes Partikularrechts zu be - ſtimmen. Dem Geltungsbereich eines Rechts ſind aber diejenigen Perſonen unterworfen, welche in dem Gebiet deſſelben ihren Wohn - ſitz haben. Hieraus folgt, daß wo in franzöſiſchen Geſetzen die Rede iſt von » Français «, darunter für Elſaß-Lothringen diejenigen Deutſchen zu verſtehen ſind, welche im Reichslande woh - nen. Durch Einführung des Art. 3 der Reichsverf. in Elſ. -Lothr. iſt nun zwar im Weſentlichen die völlige Gleichſtellung aller Deutſchen hinſichtlich der droits civils im Reichslande hergeſtellt und dadurch die Unterſcheidung von elſaß-lothringiſchen Inländern und anderen Deutſchen in den wichtigſten Beziehungen gegenſtands - los geworden.

Immerhin aber ſtehen doch noch geſetzliche Beſtimmungen in Kraft, die keineswegs auf alle Deutſchen, ſondern nur auf elſaß - lothringiſche Angehörige Anwendung finden. Die Angehörigkeit bezieht ſich in dieſen Fällen nicht auf einen Staatsverband, ſondern auf ein Rechtsgebiet.

Auch innerhalb eines Einheits-Staates kann es bekanntlich mehrere Rechtsgebiete geben und die Angehörigkeit zu einem dieſer Rechtsgebiete von rechtlicher Erheblichkeit ſein. Elſaß-Lothringen verhält ſich zum Deutſchen Reich in dieſer Hinſicht ganz ebenſo wie die Rheinprovinz zum Preußiſchen Staate und gerade wie in der Rheinprovinz Français zu überſetzen iſt mit Rheinpreuße , d. h. ein in der Rheinprovinz wohnender Preuße, ohne daß es deshalb eine rheinpreußiſche Staatsangehörigkeit giebt, ſo iſt im Reichsland Fran - çais auszulegen als ein in Elſaß-Lothringen wohnender Deutſcher .

Anwendungsfälle bieten folgende Geſetze:

Code civ. Art 14: L’étranger, même non résidant en601§. 54. Bundesglied und Reichsland.France, pourra être cité devant les tribunaux français pour l’exé - cution des obligations par lui contractées en France avec un Français; il pourra être traduit devant les tribunaux de France pour les obligations par lui contractées en pays etranger en - vers des Français1)Ueber die Frage, vor welchem Gericht ein Ausländer, der in Frank - reich weder Domizil noch Aufenthalt (résidence) hat, zu belangen iſt, vgl. Dalloz et Vergé a. a. O. zu Art. 14 Note 108 115. (Vol I. p. 54.).

Der Art. 3 der R. -V. ändert an der Geltung dieſer Be - ſtimmung, ſoweit ſie den Gerichtsſtand von Nichtdeutſchen be - trifft, Nichts. Ein Angehöriger eines Deutſchen Bundesſtaates, der nicht in Elſaß-Lothringen wohnt, kann auf Grund des Art. 14 nicht im Reichsland belangt werden, denn er iſt kein » étranger «; er kann aber ebenſo wenig auf Grund des Art. 14 gegen einen Ausländer eine Klage vor einem elſaß-lothringiſchen Gerichte an - ſtellen; denn der Art. 14 ſtellt die poſitive Bedingung auf, daß der Ausländer die Verbindlichkeit gegen einen Inländer (Français), d. h. alſo im Reichslande gegen einen Elſaß-Lothringer übernom - men hat2)Ein Erk. des Kaiſerl. Appell-Hofes zu Colmar vom 5. Novbr. 1874 (Puchelt, Zeitſchr. Bd. V. S. 717) nimmt an, daß alle Deutſchen auf Grund des Art. 14 Ausländer im Reichslande belangen können, und hat die Klage eines Handlungshauſes in Mannheim gegen ein Handlungshaus in Lüne - ville bei dem Handelsgericht in Straßburg für zuläſſig erachtet. Mit demſelben Rechte könnte ein Deutſcher, der in Leipzig oder Bremen wohnt und in London mit einem Engländer ein Geſchäft abgeſchloſſen hat, den Engländer vor die elſäſſ. -lothr. Gerichte ziehen. Es beruht dies auf einer unrichtigen Auslegung des Art. 3 der R. -V. Dagegen hat der Königl. Appellhof zu Köln ganz richtig ſtets feſtgehalten, daß das im Art. 14 gewährte Recht nicht jedem Preußen, ſondern nur dem Rheinpreußen zuſtehe. Vgl. die Entſchei - dungen v. 17. Nov. 1842, 27. Januar 1843, 29. April 1844 und beſonders v. 29. März 1853. (Archiv f. das Civil - und Criminalrecht der preuß. Rhein - prov. Bd. XXXIV. 1. 83. XXXV. 1. 62. XXXVII. 2. A. 52. XLVIII. 1. 187). Die Anwendung des Art. 14 gegen Angehörige der Deutſchen Bundesſtaaten war in Rheinpreußen bereits durch Geſ. v. 2. Mai 1823 (G. -S. S. 106) §. 1 und 7 unter der Bedingung der Reciprocität ausgeſchloſſen worden; es beſtand daher thatſächlich daſelbſt derſelbe Rechtszuſtand wie er durch den Art. 3 der R.V. in Elſaß-Lothringen hergeſtellt iſt.. Jeder in Elſaß-Lothringen wohnende Deutſche iſt berechtigt, den Gerichtsſtand auf Grund des Art. 14 in Anſpruch zu nehmen; keineswegs iſt es erforderlich, daß er nach den Regeln des Geſetzes vom 1. Juni 1870 die elſaß-lothringiſche Staatsan -602§. 54. Bundesglied und Reichsland.gehörigkeit erworben habe. Eine ſolche Auslegung würde unter den im Reichslande wohnenden Reichsangehörigen eine Rechtsun - gleichheit bewirken, welche ebenſowohl mit dem Sinne des Art. 14 als mit dem Geſ. v. 1. Juni 1870 in Widerſpruch ſtehen würde.

Das franzöſiſche Geſetz vom 27. Juni 1866 hat dem Art. 5 des Code d’instruction criminelle eine Faſſung gegeben, wonach der Abſ. 2 deſſelben lautet:

Tout Français qui, hors du territoire de France, s’est rendu coupable d’un fait qualifié délit par la loi française peut être poursuivi et jugé en France, si le fait est puni par la législation du pays il a été commis.

Dieſes Geſetz iſt in Geltung geblieben1)Herr Landgerichtsrath Mitſcher in Straßburg hatte die Güte, mich auf dieſes Geſetz aufmerkſam zu machen., ſoweit das Einf. - Geſetz zum Reichsſtrafgeſetzbuch das partikuläre Landesſtrafrecht beſtehen gelaſſen hat2)Vgl. Heinze Verhältn. des Reichsſtrafrechts zu dem Landesſtrafrecht S. 45. Uebrigens hat das R. -St.-G.-B. §. 4 Ziff. 3 denſelben Rechtsgrund - ſatz aufgeſtellt.. Es begründet nicht nur einen Gerichts - ſtand, ſondern außerdem die Anwendung des elſaß-lothringiſchen (franzöſiſchen) Strafgeſetzes auf alle in den Bereich des Landes - ſtrafrechts fallende Vergehen, welche ein Angehöriger von Elſaß - Lothringen außerhalb des Reichslandes verübt hat, wofern die That nach dem Recht des Ortes überhaupt ſtrafbar war.

Derſelbe Grundſatz iſt für weitaus die meiſten und wichtigſten Materien, für welche das Landesſtrafrecht in Geltung erhalten wor - den iſt, in dem erwähnten Geſetz vom 27. Juni 1866 ſogar auch auf alle Uebertretungen ausgedehnt worden3)Vgl. R. -St.-G.-B. §. 6.:

Tout Français, qui s’est rendu coupable de délits et contraventions en matière forestière, rurale, de pêche, de douanes ou de contributions indirectes, sur le territoire de l’un des Etats limitrophes peut être poursuivi et jugé en France d’après la loi française, si cet État autorise la poursuite de ses régni - coles pour les mêmes faits commis en France.

Daß in dieſen Geſetzesſtellen tout Français nicht zu erſetzen iſt durch jeder Deutſche , iſt ſo ſelbſtverſtändlich, daß es keiner Ausführung bedarf; würde man aber an Stelle von tout Français603§. 54. Bundesglied und Reichsland.ſetzen: Jeder Staatsangehörige von Elſaß-Lothringen , ſtatt: Jeder in Elſaß-Lothringen wohnende Deutſche , ſo käme man zu dem ſonderbaren Reſultate, daß wenn zwei Deutſche, welche ihren Wohnſitz im Reichsland haben, von denen aber nur einer die elſaß - lothringiſche Staatsangehörigkeit nach den Vorſchriften des Geſetzes v. 1. Juni 1870 erworben hat, in Baden, der Pfalz oder Luxem - burg ein Vergehen oder eine Uebertretung gegen die Forſtgeſetze gemeinſam verübt haben, der Eine von dem elſäſſiſchen Gericht nach den ſtrengen Vorſchriften des franzöſiſchen Forſtgeſetzes be - ſtraft werden könnte, der Andere nicht.

Endlich iſt noch ein vom Reich erlaſſenes Geſetz zu erwähnen, in welchem der Ausdruck Angehörige von Elſaß-Lothringen vor - kömmt, aber ebenfalls ohne alle Beziehung auf die Staats-An - gehörigkeit. Nach dem Geſ. v. 23. Januar 1872 §. 21)Geſ. -Bl. f. Elſ. -Lothr. S. 85. findet das Geſetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienſte auf die vor dem 1. Januar 1851 geborenen Angehörigen von Elſaß-Lothringen keine Anwendung; ebenſo wenig das Landſturmgeſetz v. 12. Febr. 1875 gemäß der im §. 9 deſſelben enthaltenen Anordnung2)R. -G.-Bl. S. 64. Vgl. Stenogr. Berichte des Reichstages. II. Seſſ. 1874 / 75. S. 956.. Dieſes Geſetz ertheilt dieſe Begünſtigung aber nur denjenigen Per - ſonen, welche bereits damals Elſaß-Lothringen angehörten3)Ob zur Zeit der Abtretung des Reichslandes oder zur Zeit des Erlaſſes jenes Geſetzes kann zweifelhaft ſein. Eine Buchſtaben-Interpretation des Ge - ſetzes würde zu der letzteren Anſicht führen; ſachliche Gründe ſprechen aber dafür, unter den Angehörigen v. Elſ. -Lothr. diejenigen Reichsangehörigen zu verſtehen, welche zur Zeit der Abtretung des Reichslandes in demſelben ihren Wohnſitz hatten und franzöſiſche Unterthanen waren.. Weder wird von Deutſchen, welche nach Elſaß-Lothringen über - wandern und ſich dort eine Aufnahme-Urkunde ertheilen laſſen, dieſe Begünſtigung erworben, noch geht ſie denjenigen Perſonen, denen ſie nach dem Geſetz zuſteht, durch Ueberwanderung in einen deutſchen Staat und Erwerbung des Staatsbürgerrechts in dem - ſelben verloren4)Ebenſo wenig Zuſammenhang mit einer elſaß-lothringiſchen Staats - angehörigkeit hat die Anordnung im Geſ. v. 24. Januar 1873 §. 3. c, daß das Wahlrecht und die[Wählbarkeit] ruht: für Elſaß-Lothringer, welche ſich für die franzöſ. Nationalität erklärt haben, aber nicht ausgewandert ſind . Es iſt

604§. 54. Bundesglied und Reichsland.

IX. Der Gegenſatz zwiſchen dem Reichslande und den Einzel - ſtaaten tritt mit großer Deutlichkeit in Beziehung auf die Ge - bietshoheit entgegen; hier iſt er ganz unverkennbar. Eine Gebietshoheit an den von Frankreich abgetretenen Ländern, welche von der dem Reiche zuſtehenden Gebietshoheit in ähnlicher Art unterſchieden werden könnte, wie die Gebietshoheit der Einzelſtaa - ten an ihren Staatsgebieten, giebt es nicht. Das Reich hat die rechtliche Befugniß, das Reichsland in mehrere, ganz getrennte Verwaltungsbezirke zu zerlegen; Theile deſſelben an benachbarte Bundesſtaaten oder an einen auswärtigen Staat abzutreten oder auszutauſchen; es einem Deutſchen Gliedſtaat einzuverleiben; und überhaupt an dem Reichslande nicht nur diejenigen Hoheitsrechte, welche nach der Reichsverfaſſung zur Kompetenz des Reiches gehören, ſondern in vollem Umfange alle Hoheitsrechte, welche in der Souveränetät enthalten ſind, auszuüben1)Dahin gehört auch das Expropriationsrecht. Vgl. z. B. Geſ. v. 2. Febr. 1872 über die Kriegergrabſtätten §. 4. (G. -Bl. f. Elſ. -Lothr. S. 124.) Ueber den Umfang, in welchem das Reich in den Gebieten der Einzelſtaaten das Ent - eignungsrecht hat, vgl. oben §. 22.. Die Bezeichnung Elſaß-Lothringen’s als eines unmittelbaren Reichslandes hebt grade dieſen Unterſchied von der rechtlichen Stellung der übrigen Theile des Bundesgebietes hervor2)Vgl. auch Mitſcher a. a. O. S. 275.. Wäre Elſaß-Lothringen nicht das einzige Reichsland, wäre es namentlich nicht in der ganzen Länge ſeiner Binnengränze eingeſchloſſen von Gebieten, die einer Landes - hoheit unterliegen, ſo würde noch deutlicher zu Tage treten, daß Elſaß-Lothringen nicht das Staats-Gebiet eines Bundesgliedes, ſondern eine Provinz, ein Verwaltungsdiſtrikt des Reiches iſt, in - dem alsdann aus Zweckmäßigkeits-Gründen vielleicht Theile des Reichslandes mit angränzenden Gebieten zu Verwaltungsdiſtrikten verbunden werden würden.

§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.

Während in den angegebenen Beziehungen zwiſchen dem Reichs - land und den Einzelſtaaten ein tiefgehender Gegenſatz beſteht, wird das Reichsland in finanzieller Hinſicht den Einzelſtaaten voll -4)dies eine Strafe für eine politiſche Demonſtration, denn eine Option ohne Aus - wanderung iſt ohne Rechtswirkung. Vgl. Mitſcher a. a. O. Bd. 34 S. 34.605§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.kommen gleich behandelt1)Vgl. meine Erörterungen hierüber in Hirth’s Annalen 1873 S. 562 ff. Daſelbſt bin ich jedoch noch der herrſchenden Theorie vom Bundesſtaate, welche das Weſen derſelben in einer Theilung der Staatsgewalt findet, gefolgt. Gerade bei der Finanzwirthſchaft tritt die Unrichtigkeit dieſer Theorie am we - nigſten zu Tage, weil die Souveränetät keine weſentliche Vorausſetzung für eine eigene Finanzwirthſchaft iſt.. Es beruht dies darauf, daß es ſich in den hier in Betracht kommenden Beziehungen nicht um ſtaat - liche Hoheitsrechte und ſtaatliche Aufgaben, ſondern um ver - mögensrechtliche Anſprüche und Leiſtungen handelt. Jeder Staat iſt zwar nothwendig auch vermögensrechtliches Subject, aber nicht umgekehrt jeder öffentlich rechtliche Verband mit ſelbſtſtändi - ger privatrechtlicher Perſönlichkeit ein Weſen ſtaatlicher Natur. Grade weil jede Provinz, jeder Bezirk eben ſo gut wie der Staat ein ſelbſtſtändiges Vermögensſubject ſein kann, iſt es möglich, das Reichsland in allen die Finanzwirthſchaft betreffenden Angelegen - heiten vollkommen wie ein Bundesglied zu behandeln2)Vgl. Löning a. a. O. S. 187..

Es wird demgemäß die Landeskaſſe von dem Reichsfis - kus unterſchieden und ebenſo das Landesvermögen von dem im Reichslande befindlichen Reichsvermögen3)Die elſaß-lothringiſchen Eiſenbahnen ſind Reichseigenthum; da - gegen ermächtigt das Geſ. v. 11. Nov. 1872 (G. -Bl. S. 773) den Reichskanzler die Tabackfabrik in Straßburg für Rechnung der Landesver - waltung zu veräußern.. Das Reichs-Geſ. v. 25. Mai 1873 über die Rechts-Verhältniſſe der zum dienſtlichen Gebrauch einer Reichsverwaltung beſtimmten Gegenſtände iſt durch Geſ. v. 8. Dezember 1873 (G. -Bl. S. 387) im Reichslande ein - geführt worden und dadurch nicht nur hinſichtlich des Finanzver - mögens, ſondern auch hinſichtlich des Verwaltungsvermögens das Reichsland in völlig dieſelbe Lage gebracht worden, in welcher die Bundesſtaaten in dieſer Beziehung ſich befinden. Dem activen Landes-Vermögen entſprechend giebt es auch Landes-Schulden4)Geſ. v. 10. Juni 1872 über die Entſchädigung der Inhaber verkäuf - licher Stellen im Juſtizdienſte. (G. -Bl. S. 171 fg.). §. 20: Die Entſchä - digung wird in Obligationen gegeben, welche auf die Landeskaſſe von Elſaß - Lothringen geſtellt ſind. Löning a. a. O. S. 188., welche einerſeits von Schulden der Bezirke oder Kreiſe, andererſeits von Schulden des Reiches verſchieden ſind. Das Subject dieſer606§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.Schulden iſt die Landeskaſſe (der Landesfiskus) von Elſaß-Lothrin - gen, das Reichsland als vermögensrechtliches Rechtsſubject.

Dieſe Trennung der Finanzwirthſchaft Elſaß-Lothringens von der Finanz-Wirthſchaft des Reiches äußert ihre Wirkungen nach vielen Seiten hin und erweckt bisweilen den Anſchein, als wenn Elſaß-Lothringen nicht Reichsland, ſondern ein wirklicher Staat wäre. Es kommen hier folgende Punkte in Betracht:

I. Staatsverträge, welche das Reich mit Rückſicht auf Elſaß-Lothringen ſchließt, und welche Gegenſtände betreffen, welche nicht zu der reichsverfaſſunsmäßigen Kompetenz der Centralver - waltung gehören, werden in ihren finanziellen Wirkungen ſo be - handelt, als wären ſie von Elſaß-Lothringen contrahirt worden. Staatsrechtlich und völkerrechtlich ſind ſie Verträge des Reiches1)Siehe oben S. 586., vermögensrechtlich werden ſie wie Verträge der elſaß-lothringiſchen Landeskaſſe behandelt. Das wichtigſte Beiſpiel iſt die mit Frank - reich am 11. Dez. 1871 zu Frankfurt a. M. geſchloſſene Zuſatz - konvention zum Friedensvertrage. Dieſelbe regelt im Art. 2 die Pflicht zur Zahlung von Penſionen, im Art. 5 die Auszahlung von Gerichtskoſten, ſowie die Einziehung von Geldſtrafen und Koſten, im Art. 8 die Auslieferung von Urkunden, Regiſtern, Schriftſtücken u. ſ. w., im Art. 13 die Erfüllung von Kontrakten, welche die franzöſiſche Regierung mit Bau-Unternehmern u. ſ. w. geſchloſſen hatte2)Einen Fall dieſer Art betrifft das Urtheil des Landgerichts Mülhauſen v. 20. Nov. 1872 in Puchelt’s Zeitſchrift f. Franzöſ. Civilr. IV. S. 189 ff. Ueber die Frage, in wie weit durch die Abtretung Elſaß-Lothringens Forde - rungen und Schulden der franzöſ. Staatskaſſe auf die elſ. -lothr. Landeskaſſe übergegangen ſind, iſt zu vgl. Löning a. a. O. S. 232 ff., im Art. 14 die Uebernahme der Koſten für Anlage und Erhaltung der Kanäle u. ſ. w. In derſelben Weiſe ſind die mit Baden getroffenen Verabredungen wegen des Baues und der Erhaltung von Brücken über den Rhein und die Beſol - dung des Aufſichts-Perſonals, die mit Preußen geſchloſſene Ver - einbarung wegen der Unterhaltungskoſten der gemeinſchaftlichen Saar-Kanalſtrecke von Saargemünd bis Güdingen, die Verträge, welche die Rheinſchifffahrt, insbeſondere die Koſten der Rhein - ſchifffahrts-Central-Kommiſſion betreffen, in Beziehung auf die607§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.Perſon der Contrahenten Verträge des Reiches, in Beziehung auf die pekuniären Wirkungen Verträge der Landeskaſſe1)Das Gleiche gilt von der mit der Stadt Lauterburg getroffenen Feſt - ſetzung wegen Unterhaltung der dortigen Rheinfähre, ſowie von dem zwiſchen der Landeskaſſe und der Aktien-Geſellſchaft für Boden - und Kommunal-Credit zu Straßburg beſtehenden Rechtsverhältniß. Wenn das Geſ. v. 7. Dez. 1873 (G. -Bl. S. 393) den zwiſchen der Staatsregierung und der Stadt Enſisheim am 5. Januar 1870 abgeſchloſſenen Vertrag über den Austauſch von Grundſtücken der Stadt Enſisheim und des Staats genehmigt, ſo iſt auch hier in vermögensrechtl. Beziehung an die Stelle des (franzöſiſchen) Staats der elſaß-lothringiſche Landesfiskus getreten..

II. Die Landesverwaltung wird auf Koſten der Landes - kaſſe geführt und in dieſer Beziehung ganz ſcharf von der Reichs - verwaltung getrennt. Demgemäß hat das Reich in Elſaß-Lothringen keine andere Einnahme-Quellen als diejenigen, welche es auch in den übrigen Theilen des Reiches hat, abgeſehen von den im Finanz - vermögen des Reiches ſtehenden Eiſenbahnen, und andererſeits werden aus der Landeskaſſe alle diejenigen Ausgaben beſtritten, welche auch den Einzelſtaaten wegen der ihnen zuſtehenden Selbſt - verwaltung zur Laſt fallen2)Da die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern im Reichsland größere Koſten verurſacht als die Reichskaſſe dafür erſtattet, ſo iſt der Mehr - betrag aus der Landeskaſſe zu zahlen. Man iſt auf den Gedanken gekommen, dies damit abzuwälzen, daß der Art. 36 der R. -V. auf Elſaß-Lothringen nicht paſſe. Derſelbe ſagt: Die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Ver - brauchsſteuern bleibt jedem Bundesſtaate, ſoweit derſelbe ſie bis - her ausgeübt hat, innerhalb ſeines Gebietes überlaſſen. Das Reichs - land, ſagt man, ſei kein Bundesſtaat und in keinem Falle habe daſſelbe vor der Einverleibung in das Reich die Zollverwaltung ausgeübt. Der Art. 36 der R. -V. paßt allerdings ebenſowenig auf das Reichsland, wie die meiſten anderen Artikel der R. -V., aber die Landeskaſſe von Elſaß-Lothringen hat in demſelben Umfange die Koſten der Provinzial-Verwaltung zu tragen, wie die Bundesſtaaten die Koſten der ſtaatlichen Selbſtverwaltung, und Art. 36 der R. -V. weiſt dem Bereich der letzteren die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern zu..

Dieſer Grundſatz wird auch hinſichtlich derjenigen Behörden durchgeführt, welche gleichzeitig Geſchäfte der Centralverwaltung des Reichs und der Landesverwaltung des Reichslandes führen und es zahlt daher einerſeits die Landeskaſſe einen Beitrag zu den Koſten des Reichskanzler-Amts, Oberhandelsgerichts, Rechnungs - hofes, und anderſeits die Reichskaſſe einen Beitrag zu den Koſten608§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.der Bezirks-Hauptkaſſe zu Straßburg für die Beſorgung der Ge - ſchäfte als Korps-Zahlungsſtelle des 15. Armee-Korps1)Vgl. Etat für Elſaß-Lothringen für 1876. Anlage XII. Einnahme. Titel 2..

Die finanzielle Trennung der Reichsverwaltung und Landes - verwaltung kömmt in ſehr erheblicher Weiſe in dem Unterſchiede zwiſchen Reichsbeamten und elſaß-lothringiſchen Landesbe - amten zur Geltung. Nach der Definition der Reichsbeamten im §. 1 des Geſ. v. 31. März 1873 iſt jeder Beamte, welcher vom Kaiſer angeſtellt iſt, ein Reichsbeamter; dieſe Begriffsbeſtimmung umfaßt daher auch die zum Zwecke der Landesverwaltung des Reichslandes angeſtellten Beamten. Im ſtaatsrechtlichen Sinne ſind auch in der That dieſe Beamte Reichsbeamte, denn das Reich iſt ihr Dienſtherr. Das Reichsgeſetz v. 31. März 1873 findet demgemäß zufolge Geſ. v. 23. Dezbr. 1873 unveränderte Anwen - dung auf die Rechtsverhältniſſe der elſaß-lothringiſchen Landesbe - amten: nur iſt es ergänzt worden durch einige Anordnungen, deren Hinzufügung faſt durchweg dadurch veranlaßt worden iſt, daß die Provinzial-Verwaltung von Elſaß-Lothringen viele Verwaltungs - zweige umfaßt, welche der Central-Verwaltung des Reiches fehlen. In finanzieller Beziehung aber beſteht der wichtige Unterſchied, daß alle zum Zweck der Landesverwaltung angeſtellten Beamten An - ſprüche auf Gehalt, Penſion, Wartegelder, Erſatz von Reiſekoſten und Diäten u. ſ. w. nicht gegen die Reichskaſſe, ſondern gegen die Landeskaſſe haben, und ebenſo für Defekte und Schadenserſatz der letzteren haften. Dem entſprechend haben ſie auch der Landeskaſſe, nicht der Reichskaſſe, Kaution zu leiſten2)Geſ. v. 15. Okt. 1873. G. -Bl. S. 273.. Abgeſehen von den Lehrern und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen, auf deren Rechtsverhältniſſe die Beſtimmungen dieſes Geſetzes ebenfalls An - wendung finden, ergiebt ſich demnach für die elſaß-lothring. Landes - beamten folgende Begriffsbeſtimmung: Elſaß-lothringiſche Landes - beamte ſind diejenigen Reichsbeamten, welche ein Dienſtein - kommen aus der Landeskaſſe beziehen. Sie beziehen nicht deßhalb ihr Dienſteinkommen aus der Landeskaſſe, weil ſie keine Reichsbeamten ſind, ſondern ſie ſind eine Unterart der Reichsbe - amten. Würde aus irgend einem Grunde die Trennung der Finanzwirthſchaft des Reiches von der Finanzwirthſchaft des Reichs -609§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.landes verſchwinden, ſo würde auch ohne Weiteres der Unterſchied zwiſchen den elſaß-lothringiſchen Landesbeamten und den Reichs - beamten in Wegfall kommen.

Die für Elſaß-Lothringen erlaſſenen Geſetze brauchen regel - mäßig für den reichsländiſchen Fiskus die Bezeichnung Landes - kaſſe ; an einzelnen Stellen wird jedoch auch der Ausdruck Staat gebraucht; z. B. im Geſ. 30. Dezemb. 1871 §. 19 Abſ. 21)G. -Bl. 1872 S. 55: In die Bezirkshauptkaſſe fließen ſämmtliche dem Staate zukommende Einnahmen des Bezirks. Der Grund iſt hier offenbar ein ſtyliſtiſcher. Man wollte nicht ſagen: In die Bezirkshauptkaſſe fließen ſämmtliche der Landeshauptkaſſe zukommende Einnahmen. und in dem Geſ. v. 15. Oktob. 1873 über die Amts-Kautionen. Man darf hieraus nicht ſchließen, daß die Reichsgeſetzgebung Elſaß - Lothringen als Staat anerkannt habe; denn es handelt ſich an dieſen Stellen nicht um den Staat als Subjekt von obrigkeitlichen Hoheitsrechten, ſondern um den Staat als Subjekt von Ver - mögensrechten, d. h. als Fiskus.

III. Auch die Koſten der Provinzial-Geſetzgebung, welche mit der den Einzelſtaaten zuſtehenden Autonomie correſpon - dirt, werden aus der Landeskaſſe getragen, nämlich die Her - ſtellungskoſten für das Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen und die durch den Landes-Ausſchuß verurſachten Ausgaben2)Etat für 1876. Ausgaben. Kapit. 4 Tit. 4. und Kapit. 13 Tit. 3.. Es iſt ferner die Feſtſtellung des Landeshaushalts-Etats ſelbſt ein Gegenſtand dieſer Geſetzgebung. Der Etat von Elſaß - Lothringen iſt kein Beſtandtheil des Reichs-Etats; er wird dem Landes-Ausſchuß zur Berathung vorgelegt, durch ein beſon - deres Geſetz feſtgeſtellt und im Geſetzblatt für Elſaß-Lothringen verkündet.

IV. Obwohl das Reichsland, da es nicht Bundesglied iſt, weder Mit gliedſchaftsrechte, noch Sonderrechte, noch Pflichten dem Reiche gegenüber hat, ſo wird doch in allen ver - mögensrechtlichen Beziehungen die Landeskaſſe von Elſaß-Lothringen ganz ebenſo behandelt, als wäre ſie der Fiskus eines Bundes - gliedes. Den Mitgliedſchaftsrechten entſprechend hat ſie den auf das Reichsland entfallenden Antheil an den Reichskaſſenſcheinen erhalten3)Vgl. Geſ. v. 25. Dez. 1874. §. 4. (G. -Bl. S. 58.); den Sonderrechten entſprechend zahlt die LandeskaſſeLaband, Reichsſtaatsrecht. I. 39610§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.das Averſum für die Brauſteuer; den Bundespflichten entſprechend entrichtet ſie an die Reichskaſſe die Matrikularbeiträge.

V. Endlich kömmt in finanzieller Hinſicht auch die Ange - hörigkeit zu Elſaß-Lothringen in Betracht und zwar in doppelter Hinſicht.

1) Gewiſſe Laſten und Rechte werden nach dem Verhältniß der Bevölkerung auf die einzelnen Bundesglieder vertheilt; die Bevölkerung des Reichslandes iſt demnach maßgebend für die Höhe der Matrikularbeiträge und des Bierſteuer-Averſums und ebenſo für die Höhe des auf Elſaß-Lothringen entfallenden Betrages an Reichs-Kaſſenſcheinen. Seitdem die Vertheilung der Matri - kularbeiträge nicht mehr nach der ortsanweſenden ſtaatsangehörigen Bevölkerung, ſondern nach der faktiſchen Bevölkerung erfolgt1)Vgl. Bundes raths-Protokoll 1874 §. 179., bedeutet die Angehörigkeit zu Elſaß-Lothringen in dieſer Hinſicht nicht ein ſtaatsrechtliches Verhältniß, ſondern lediglich die That - ſache des Aufenthalts im Reichsland2)Bei den Volkszählungen wird allerdings auch die ſtaatsangehörige Be - völkerung gezählt und auch für Elſaß-Lothringen iſt bei der Volkszählung am 1. Dez. 1875 dieſe Ermittelung vorgenommen worden. Dieſelbe iſt aber völlig unzuverläſſig und werthlos. Denn die Beantwortung der Frage, welchem Staate man angehört, ſetzt juriſtiſche Kenntniſſe voraus, die nur ein verſchwin - dend kleiner Theil der Perſonen, welche darüber Auskunft geben ſollen, oder der Zähler, welche dieſe Auskunft fordern, beſitzt. Die mit der Controle der Zählung beauftragten Behörden ſind aber nur in ſehr ſeltenen Fällen im Stande, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Angabe in den Zählkarten zu prüfen. Uebrigens legt die Regierung ſelbſt auf die juriſtiſch richtige Beant - wortung dieſer Frage offenbar kein Gewicht, denn in der Inſtruktion für die Zähler, welche der Oberpräſident für die Volkszählung in Elſaß-Lothringen am 26. Sept. 1875 erlaſſen hat, iſt im §. 8 angeordnet, daß alle Landes - beamten als Elſaß-Lothringer einzutragen ſind, während es doch unzweifelhaft iſt, daß der Angehörige eines Deutſchen Staates durch ſeine An - ſtellung in der elſaß-lothringiſchen Landesverwaltung keine Aenderung ſeiner Staatsangehörigkeit erfährt..

2) Das Geſetz über den Unterſtützungswohnſitz iſt im Reichs - lande nicht eingeführt worden; vielmehr iſt der im §. 7 des Frei - zügigkeits-Geſetzes in Bezug genommene Gotha’er Vertrag vom 15. Juli 1851, als Beilage zu dem Einführungsgeſ. v. 8. Januar 1873 im Geſetzbl. f. Elſ. -Lothr. 1873 S. 5 verkündet worden. Im Verhältniß zwiſchen Elſaß-Lothringen einerſeits und Bayern611§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.und den zum Gebiet des Geſetzes über den Unterſtützungswohnſitz gehörenden Staaten andererſeits entſcheiden daher die Beſtimmungen dieſes Vertrages1)Daſſelbe gilt von der Eiſenacher Konvention vom 11. Juli 1853. Bekanntmachung des Reichskanzlers v. 16. Januar 1874. (G. -Bl. S. 1.) Auch Oeſterreich gegenüber kommen dieſelben Grundſätze zur Anwendung. Be - kanntm. v. 29. April 1874. (G. -Bl. S. 13.). Der Wortlaut deſſelben ſetzt Staaten und Staats-Angehörige (Unterthanen) voraus, da er ja von lauter ſouveränen Staaten vereinbart worden iſt. An dieſem Wortlaute ſind bei der Einführung in Elſ. -Lothr. Veränderungen nicht vor - genommen worden. Indeß iſt für die Pflicht zur Uebernahme Hülfsbedürftiger die Unterthanen-Eigenſchaft der letztern nicht weſentlich; auch der Aufenthalt und ſelbſt die Geburt kann nach §. 2 des Vertrags die Uebernahme-Pflicht begründen. Ueber - dies aber ſchließt die Gotha’er Uebereinkunft ſelbſtverſtändlich nicht aus, daß auch ſolche Individuen übernommen werden müſſen, welche nicht Staatsunterthanen ſind, wofern im Uebrigen durch die Geſetze des Landes eine Pflicht zur Unterſtützung derſelben begründet iſt. In der Verwaltungs-Praxis kömmt dieſer Punkt faſt ausſchließlich in Betracht und es iſt demnach die Pflicht zur Uebernahme eines hülfsbedürftigen Individuum thatſächlich nicht davon abhängig, ob daſſelbe in Elſaß-Lothringen Staatsbürger - recht hat, ſondern ob es daſelbſt einen ſogenannten Unterſtützungs - Wohnſitz hat. Gleichviel aber, in welchem Umfange man die Pflicht zur Uebernahme anerkennen will, jedenfalls hat ſie einen weſentlich vermögensrechtlichen Inhalt und ſo wie es innerhalb eines Staates mehrere Landarmen-Verbände geben kann, ſo kann auch das Reichs - land oder jeder Bezirk deſſelben den andern deutſchen Staaten gegenüber wie ein Landarmen-Verband behandelt werden, ohne daß daraus irgend ein Schluß auf die ſtaatsrechtliche Natur des Reichslandes gezogen werden darf.

Die Gleichſtellung der elſaß-lothringiſchen Landeskaſſe mit dem Fiskus der einzelnen Staaten begründet keineswegs eine Ausnahme von der allgemeinen rechtlichen Stellung des Reichslandes, denn ſie betrifft nur die vermögensrechtliche Seite der Finanzwirthſchaft, dagegen nicht die finanziellen Hoheitsrechte. In Elſaß-Lothringen612§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.kann keine Steuer eingeführt oder aufgehoben werden als auf Grund eines vom Reiche erlaſſenen Geſetzes; es kann der Be - völkerung keine Leiſtung auferlegt oder erlaſſen, es kann keine Einnahmequelle und kein Rechtsgrund für Ausgaben geſchaffen werden ohne einen Willensakt des Reiches oder der Organe des - ſelben. Das Reich muß, wenn es erforderlich iſt, zu Ausgaben der Landesverwaltung Zuſchüſſe geben, wie dies z. B. hinſichtlich der Univerſität Straßburg geſchehen iſt, und das Reich iſt an - dererſeits rechtlich befugt, Ueberſchüſſe der Landesverwaltung der Reichskaſſe zu überweiſen. Die Finanzwirthſchaft Elſaß-Lothringens iſt nicht die ſelbſtſtändige Finanzwirthſchaft eines Gliedſtaates, ſon - dern es iſt die abgeſonderte Provinzial-Finanzwirthſchaft des Reiches.

Die Löſung des hohen politiſchen Problems, die deutſchen Völker und Länder dergeſtalt zu einigen, daß die Geſammtheit Lebensfähigkeit und Kraft gewinne und die einzelnen Theile dabei doch ihre individuelle Beſonderheit nicht verlieren und die in ihrer Eigenartigkeit begründeten Intereſſen Berückſichtigung und Pflege finden können, war in zwei verſchiedenen ſtaatsrechtlichen Formen möglich; in der des Bundesſtaates und der des dezentraliſirten Einheitsſtaates. Die Annahme der Reichsverfaſſung hat die erſte Form, die Erklärung Elſaß-Lothringens zum Reichslande die zweite Form verwirklicht. Obgleich die Reichsverf. im Reichslande ein - geführt worden iſt, ſo bildet doch die Exiſtenz des Reichslandes geradezu den Gegenſatz zu dem Prinzip der Reichsverfaſſung.

Ob das deutſche Reich dieſen Dualismus auf die Dauer ver - tragen wird, oder ob das Reichsland im Laufe der Zeit ſich zu einem Staate umwandeln wird, der den andern Gliedſtaaten des Reiches gleichartig iſt und auf den die Reichsverfaſſung nicht nur dem Klang der Worte, ſondern der Sache nach angewendet werden kann, oder ob endlich die Stellung des Reichslandes bereits als der Vorbote einer neuen Verfaſſungsform des deutſchen Reiches anzuſehen iſt, zu welcher ſich die jetzt beſtehende bundesſtaatliche Form fortentwickeln wird, das ſind Fragen, welche nicht in den Kreis des Staatsrechts fallen. Bemerkenswerth iſt aber die That - ſache, daß dieſelben ruhmreichen Ereigniſſe, welche die Erweiterung des Norddeutſchen Bundes zum deutſchen Reiche ermöglichten und die Wiederaufrichtung des deutſchen Staates zum Abſchluß brachten, zugleich dieſem deutſchen Reich durch das Reichsland ein Element613§. 55. Der Landesfiskus von Elſaß-Lothringen.zuführten, welches den ſtaatsrechtlichen Gegenſatz der Reichsver - faſſung darſtellt und vielleicht beſtimmt iſt, den Ausgangspunkt zu einer allmählichen Umgeſtaltung dieſer Reichsverfaſſung ſelbſt zu bilden.

Nachträge.

zu §. 11 S. 109 ff. Der hier entwickelte begriffliche Unter - ſchied zwiſchen Mitgliedſchaftsrechten und Sonderrechten und der Grundſatz daß die letzteren nicht durch Majoritäts-Beſchlüſſe ohne Zuſtimmung des Berechtigten aufgehoben werden können, hat eine erneute Anerkennung gefunden in dem Urth. des Reichs-Ober - handelsgerichts v. 12. Febr. 1875. Entſcheidungen Bd. XVII. S. 131 ff. beſ. 147. 148.

zu §. 17. S. 168 ff. Nach dem Reichsgeſ. v. 1. Juli 1870 erlangt ein Ausländer, welcher im Reichsdienſt angeſtellt wird und ſeinen dienſtlichen Wohnſitz im Auslande hat, durch die Anſtellung ſelbſt die Reichsangehörigkeit nicht (ſiehe oben S. 171); aber er konnte dieſelbe auch nicht auf ſeinen Antrag durch Verleihung er - langen, da den Einzelſtaaten die Naturaliſation von Ausländern nach §. 8 des erwähnten Geſetzes nur geſtattet iſt, wenn dieſe ſich in dem Gebiete des Staates niederlaſſen. Dieſer Grundſatz des §. 8 hat eine Abänderung erfahren durch das Reichsgeſetz v. 20. Dez. 1875 (R. -G.-Bl. S. 342). Daſſelbe ermächtigt nicht nur, ſondern verpflichtet die Bundesſtaaten, Ausländern, welche im Reichsdienſte angeſtellt ſind und ihren dienſtlichen Wohnſitz im Auslande haben, wenn ſie die Verleihung der Staatsangehörigkeit nachſuchen, die Naturaliſations-Urkunde zu ertheilen. Dieſer Grund - ſatz iſt aber beſchränkt auf diejenigen Reichsbeamten, welche ein Dienſteinkommen aus der Reichskaſſe beziehen; ſo daß alſo nament - lich die Wahlkonſuln (vrgl. S. 332) dieſes Rechtes nicht theilhaf - tig ſind.

zu §. 29 S. 250 ff. Den hier dargelegten Rechtsſatz, daß der Bundesrath regelmäßig, d. h. wenn nicht reichsgeſetzlich etwas Anderes beſtimmt iſt, zum Erlaß von Ausführungs-Verordnungen614Nachträge.zu den Reichsgeſetzen befugt und verpflichtet iſt, vertheidigt auch Seydel in Hirth’s Annalen 1876 S. 11 fg.

zu §. 34 S. 316. Die Geſchäfte der Reichshauptkaſſe ſind vom 1. Januar 1876 ab der Preuß. General-Staatskaſſe entzogen und auf Grund des §. 22 des Bankgeſetzes v. 14. März 1875, nach welchem die Reichsbank verpflichtet iſt, ohne Entgelt für Rech - nung des Reiches Zahlungen anzunehmen und bis auf Höhe des Reichsguthabens zu leiſten, und auf Grund des §. 11 des Statutes der Reichsbank v. 21. Mai 1875 (R. -G -. Bl. S. 205) der Reichs - bank-Hauptkaſſe zu Berlin übertragen. Für dieſe Geſchäftsführung bleibt die bisherige Bezeichnung Reichshauptkaſſe beſtehen. Be - kanntmachung des Reichskanzlers v. 29. Dez. 1875. Centralblatt S. 821.

zu §. 34 S. 318 ff. Auf Grund des Reichshaushalts-Geſetzes für 1876. Ausgabe Kapit. 7 Tit. 1 iſt bei der Normal-Eichungs - kommiſſion eine Stelle für einen zweiten wiſſenſchaftlich gebilde - ten Hülfsarbeiter errichtet worden. Vrgl. die Erläuterung in den Anlagen zum Etat I S. 17.

zu §. 34 S. 320. Für das Zoll - und Steuer-Rechnungs - Bureau des Reichskanzler-Amtes ſind ſeit 1874 zwei Beamte an - geſtellt, welche ausſchließlich für das Bureau thätig ſind, während die Stellen des Bureau-Vorſtehers und Buchhalters von Beamten des Preuß. Finanzminiſteriums als Nebenämter verſehen werden. Erläuterungen zum Etat für 1874 Anlage I S. 9. Vrgl. Etat für 1876 Anlage I S. 10. 11.

zu §. 34 S. 320. Durch das Reichshaushalts-Geſetz für 1876 Ausgabe Kapit. 8 (R. -G.-Bl. S. 330) ſind die Geldmittel für die Errichtung eines Geſundheitsamtes bewilligt worden. Eine Denkſchrift, welche in der Anlage I zum Etat für 1876 S. 41 abgedruckt iſt, giebt über die beabſichtigte Einrichtung dieſer Behörde Aufſchluß. Darnach ſoll dieſelbe dem Reichskanzler-Amte unmittelbar untergeordnet ſein und einen lediglich berathenden Karakter tragen. Verwaltungsgeſchäfte hat dieſe Behörde nicht zu erledigen, ſie ſoll vielmehr eine techniſche Unterſtützung des Reichskanzleramtes ſein bei der Ausübung des nach Art. 4 Ziff. 15615Nachträge.der R. -V. dem Reiche zugewieſenen Rechtes der Beaufſichtigung und Geſetzgebung in Angelegenheiten der Medicinal - und Veteri - närpolizei. Zu dieſem Zwecke ſollen die Mitglieder des Geſund - heitsamtes von den hierfür in den einzelnen Bundesſtaaten beſtehen - den Einrichtungen Kenntniß nehmen, die Wirkungen der im Intereſſe der öffentlichen Geſundheitspflege ergriffenen Maßnahmen beobachten und in geeigneten Fällen den Staats - und den Gemeindebehörden Auskunft ertheilen, ſowie eine genügende mediziniſche Statiſtik für Deutſchland herſtellen. Auch ſollen ſie die Entwickelung der Medizinal-Geſetzgebung in außerdeutſchen Ländern verfolgen. Das Geſundheitsamt hat im Behörden-Organismus des Reiches ſeinen Platz neben dem Statiſtiſchen Amt und der Normal-Eichungskom - miſſion und dem entſprechend ſind auch die Rang - und Beſol - dungs-Verhältniſſe des Directors, der Mitglieder und Subaltern - Beamten normirt.

zu §. 34 S. 325 ff. Durch die Kaiſerl. Verordnung vom 22. Dez. 1875 (R. -G.-Bl. S. 379), welche ihrem Inhalte nach und ſoweit ſie das Finanzweſen des Reiches berührt, durch das Reichshaushaltsgeſetz für 1876 die Genehmigung des Bundesrathes und Reichstags erhalten hat, iſt die Stellung der Poſt - und Tele - graphen-Verwaltung im Behördenſyſtem des Reiches weſentlich ver - ändert worden. Beide Verwaltungen ſind ſeit dem 1. Januar 1876 aus dem Reſſort des Reichskanzler-Amtes ausgeſchieden, deſſen bisherige I. und II. Abtheilung mithin aufgehoben ſind. Dagegen ſind beide Verwaltungen einer Centralbehörde unterſtellt, deren Leitung dem General-Poſtmeiſter unter der Verantwortlich - keit des Reichskanzlers übertragen iſt1)Ueber die Gründe, aus denen die Vereinigung der beiden Verwaltungen erfolgt iſt, giebt eine Denkſchrift Auskunft, welche dem Etats-Geſetzentwurf f. 1876 Anlage XIII. S. 35 fg. beigefügt iſt. Der Hauptgrund iſt das un - günſtige finanzielle Ergebniß der Reichs-Telegraphen-Verwaltung. Die Denk - ſchrift iſt auch im Deutſchen Poſtarchiv 1875 Nr. 17 S. 509 ff. abgedruckt.. (§. 1.) Der General - Poſtmeiſter hat demgemäß die Befugniſſe einer oberſten Reichs - behörde (§. 2.) und hat nicht mehr ſeine Stellung innerhalb des Reichskanzler-Amtes, ſondern die oberſte Poſt-Behörde ſteht ebenſo wie Auswärtiges Amt, Admiralität und Eiſenbahnamt neben dem Reichskanzler-Amt. Dieſe Central-Behörde zerfällt in zwei Abthei -616Nachträge.lungen, von denen die eine unter der Bezeichnung General - Poſtamt die Angelegenheiten der Poſtverwaltung, die andere unter dem Namen General-Telegraphenamt die Ange - legenheiten der Telegraphen-Verwaltung bearbeitet. (§. 3.) An der Spitze jeder der beiden Abtheilungen ſteht ein Direktor.

Durch die Vereinigung der beiden Verwaltungen iſt das Neben - einander-Beſtehen von Ober-Poſt-Direktionen und Telegraphen - Direktionen beſeitigt; die Mittelbehörden für beide Verwaltungs - zweige führen die Bezeichnung als Oberpoſt-Direktionen und ſind in Angelegenheiten der Poſtverwaltung dem General - Poſtamt, in Angelegenheiten der Telegraphenverwaltung dem Ge - neral-Telegraphenamt zunächſt untergeordnet. (§. 4.) In Anbe - tracht des dadurch gewachſenen Geſchäftsumfanges ſind einige neue Oberpoſt-Direktionen errichtet, beziehentlich wieder errichtet worden, nämlich in Minden und Bromberg (Erl. v. 15. Okt. 1875 R. -G.-Bl. S. 388) und Aachen (Erl. v. 22. Nov. 1875 ebendaſ. S. 3891)Dieſe 3 Behörden treten demnach den S. 326 Note 2 aufgeführten Be - hörden zu, während die S. 327 Note 1 erwähnten Behörden ſeit dem 1. Jan. 1876 in Wegfall gekommen ſind. Auch iſt die beſondere Stellung, welche bis - her das Oberpoſtamt in Lübeck hatte, beſeitigt worden..

Der Ortsbetrieb des Poſt - und Telegraphendienſtes wird von Poſtämtern wahrgenommen, welche je nach der Bedeutung des Dienſtes als Poſtämter I. II. oder III. Klaſſe bezeichnet werden. Wo die Verhältniſſe ſolches erfordern, können ſie auch getrennt unter der Bezeichnung Poſtamt und Telegraphenamt fungiren2)Vgl. die erwähnte Denkſchrift..

zu §. 34 S. 340. Die im Geſ. v. 9. Januar 1875 §. 4 vor - behaltene Kaiſerl. Verordnung über die Seewarte iſt, nachdem der Reichstag die zu ihrer Durchführung erforderlichen Geldmittel im Etatsgeſetz für 1876 Ausgabe Kapit. 47 bewilligt hat3)Der Entwurf der Verordnung iſt dem Reichstage mit dem Etat ſelbſt vorgelegt worden. Anlage V. S. 91., am 26. Dezember 1875 (R. -G.-Bl. S. 385) ergangen. Darnach ſteht an der Spitze des Inſtitutes ein Direktor; die Geſchäfte werden in vier Abtheilungen bearbeitet, von denen jede einen Vorſtand hat. Die Vertheilung der Geſchäfte iſt lediglich nach wiſſenſchaft - lichen Geſichtspunkten geregelt. Der erſten Abtheilung liegt im Allgemeinen die Sammlung von Beobachtungen über die phyſi -617Nachträge.kaliſchen Verhältniſſe des Meeres, über die meteorologiſchen Erſchei - nungen, die Anſchaffung der wichtigeren Schriften und Karten u. dgl. ob; der zweiten Abtheilung iſt insbeſondere die literariſche Thätig - keit des Inſtitus zugewieſen; die dritte hat die Bearbeitung des Sturmwarnungsweſens; die vierte endlich hat es ausſchließlich mit der Prüfung der Chronometer zu thun.

Von der Seewarte reſſortiren die Agenturen, welche den Verkehr zwiſchen der Seewarte und den Schiffern und Rhedern zu vermitteln, und die Intereſſen der Seewarte wahrzunehmen haben. Sie zerfallen in Agenturen I. und II. Ranges1)Nach dem Etat für 1876 (Anlage V. S. 15) ſind in Ausſicht genommen 3 Agenturen I. Ranges in Neufahrwaſſer, Swinemünde und Bremerhafen und 12 Agenturen II. Ranges..

Ferner reſſortiren von der Seewarte die an geeigneten Punk - ten der Deutſchen Küſte nach Bedarf zu errichtenden Beobach - tungs - und Signalſtationen, von denen jene den meteorolo - giſchen Zwecken der Seewarte, dieſe dem Sturmwarnungs-Weſen dienen2)Nach dem Etat für 1876 a. a. O. ſollen 4 Normal-Beobachtungs-Sta - tionen und 42 Signalſtationen errichtet werden..

Der Erlaß der zur Ausführung dieſer Verordnung erforder - lichen Inſtruktionen iſt der Kaiſerl. Admiralität übertragen. (§. 6.)

zu §. 34 S. 341 ff. Der Geſchäftskreis des Reichseiſen - bahn-Amtes hat eine Erweiterung erfahren durch Art. 10 des Reichsgeſ. v. 20. Dez. 1875 (R. -G.-Bl. S. 321.)

zu §. 34 S. 348. 349. Das Verzeichniß der v. 1. Jan. 1876 ab errichteten Reichsbank-Hauptſtellen und Reichsbank - Stellen iſt durch Bekanntmachung des Reichskanzlers v. 17. Dez. 1875 veröffentlicht worden. Centralblatt S. 802.

zu §. 36 S. 366. Ueber die Einſchränkung der Gerichts - barkeit der Deutſchen Konſuln in Egypten iſt auf Grund des Geſ. v. 30. März 1874 die Verordn. v. 23. Dez. 1875 (R. -G.-Bl. S. 381 fg. ) ergangen.

zu §. 38 S. 405. Die Beamten der Reichsbank, ſoweit ſie nicht nach §§. 27 und 36 des Bankgeſ. vom Kaiſer zu ernennen39*618Nachträge.ſind, werden von dem Reichskanzler oder auf Grund der von dem letzteren ertheilten Ermächtigung von dem Präſidenten des Reichs - bank-Direktoriums angeſtellt. Verordn. v. 19. Dez. 1875 §. 1. (R. -G.-Bl. S. 378.)

zu §. 39 S. 410 fg. Ueber die Kautionsleiſtung der Reichsbank-Beamten ſind die erforderlichen Vorſchriften er - gangen durch die Verordn. v. 23. Dez. 1875. (R. -G.-Bl. S. 380. 381.)

zu §. 42 S. 466 Note 7. Eine Ausdehnung des Kreiſes der Beamten, deren Gehälter vierteljährlich zahlbar ſind, iſt durch einen am 27. Dez. 1875 veröffentlichten Beſchluß des Bundesrathes er - folgt. [Centralblatt] S. 819.

zu §. 45 S. 491. Die reichsgeſetzlichen Vorſchriften über die Penſionsverhältniſſe der Reichsbeamten ſind auf die Reichsbank - beamten durch die Verordn. v. 23. Dez. 1875 §. 1 (R. -G.-Bl. S. 380) ausgedehnt worden.

[619]

[Berichtigungen].

  • S. 25 Note 4 iſt anſtatt 1866 zu leſen 1867 .
  • S. 96 Note der Niederlande zu leſen den Niederlanden .
  • S. 209 Z. 2 8 Abſ. 1 8 Abſ. 2 .
  • S. 251 Z. 6 S. 388 S. 88 .
  • S. 267 Z. 11 31. Mai 31. März .
  • S. 342 Z. 3 Bundesamt Bundesrath .
  • [ S.] 397 Z. 22 III IV .

About this transcription

TextDas Staatsrecht des Deutschen Reiches
Author Paul Laband
Extent645 images; 195930 tokens; 17590 types; 1499344 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDas Staatsrecht des Deutschen Reiches Erster Band Paul Laband. . XI, 618, [1] S. LauppTübingen1876.

Identification

MPI f. europäische Rechtsgeschichte Frankfurt MPIER, NB 6/6012 [1]

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Recht; Wissenschaft; Jura; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:32:24Z
Identifiers
Availability

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Holding LibraryMPI f. europäische Rechtsgeschichte
ShelfmarkFrankfurt MPIER, NB 6/6012 [1]
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