PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Das Staatsrecht des Deutſchen Reiches.
Dritter Band. Zweite Abtheilung.
Nebſt einem das ganze Werk umfaſſenden Sachregiſter.
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Freiburg i. B. und Tübingen1882Akademiſche Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr(Paul Siebeck).
[II]

Druck von H. Laupp in Tübingen.

[III]

Inhalts-Verzeichniß.

  • Elftes Kapitel. Das Gerichtsweſen des Reiches.
  • Seite
  • Seite
  • § 96. Einleitung1
  • § 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit18
  • § 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten46
  • § 99. Die Gerichtsbarkeit des Reiches54
  • § 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe66
  • § 101. Die Gerichte76
  • § 102. Die Staatsanwaltſchaft96
  • § 103. Die Rechtsanwaltſchaft109
  • § 104. Der Gerichtsdienſt125
  • § 105. Die Zeugenpflicht154
  • § 106. Die Koſten und Gebühren183
  • Zwölftes Kapitel. Das Finanzweſen des Reiches.
  • I. Abſchnitt. Das Reichsvermögen.
  • § 107. Der Reichsfiskus190
  • § 108. Das active Reichsvermögen201
  • § 109. Die Reichsſchulden228
  • II. Abſchnitt. Die Einnahmequellen des Reiches.
  • § 110. Ueberſicht240
  • A. Die Zölle und Verbrauchsſteuern.
  • § 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen242
  • § 112. Die Einheit des Zoll - und Handelsgebietes251
  • § 113. Die einheitliche Zoll - und Steuergeſetzgebung268
  • § 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern283
  • § 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten und dem Reiche292
  • § 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs und die ſtatiſtiſche Gebühr301
  • IV
  • Seite
  • B. Die Reichs-Stempelabgaben.
  • § 117. Der Spielkarten-Stempel306
  • § 118. Der Urkunden-Stempel308
  • III. Abſchnitt. Die Finanzwirthſchaft des Reiches.
  • § 119. Allgemeine Charakteriſtik318
  • § 120. Die Einnahmen322
  • § 121. Die Ausgaben325
  • § 122. Die Matrikularbeiträge330
  • IV. Abſchnitt. Das Budgetrecht.
  • § 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Etatsgeſetzes339
  • § 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes353
  • § 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ohne Etats - geſetz367
  • § 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung376
  • Sach-Regiſter392
  • Stellen-Regiſter438
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Elftes Kapitel. Das Gerichtsweſen des Reiches.

§. 96. Einleitung.

I. Der Schutz des innerhalb des Bundesgebiets gültigen Rechtes gehört zu den Zwecken, zu welchen nach den Eingangs - worten der Verfaſſung der Norddeutſche Bund und ebenſo das Deutſche Reich gegründet worden ſind. Die Realiſirung dieſer Aufgabe mußte aber bei Errichtung des Norddeutſchen Bundes zunächſt den Einzelſtaaten vollſtändig überlaſſen bleiben; ein Bundesgericht gehörte nicht zu den Organen, mit denen der neue Bundesſtaat bei ſeiner Schöpfung ausgeſtattet werden konnte. Die Verfaſſung begnügte ſich, den Einzelſtaaten die Handhabung der Rechtspflege zur Pflicht zu machen, indem ſie dem Bundesrath die Befugniß beilegte, Beſchwerden über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege anzunehmen, dieſelben nach der Verfaſſung und den beſtehenden Geſetzen des betreffenden Bundesſtaates zu beurtheilen und, falls die Beſchwerde für begründet gefunden wird, die ge - richtliche Hülfe bei der Bundesregierung, die zu der Beſchwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken. (Verf. Art. 77.) Die ſtaatliche Aufgabe des Bundes wurde demnach beſchränkt auf die Fürſorge, daß die Gliedſtaaten das Recht ſchützen; eine eigene Gerichtsbar - keit behufs unmittelbarer Verwirklichung des Rechtsſchutzes wurde dem Bunde nicht beigelegt1)Eine Ausnahme machten allein die gegen den Nordd. Bund gerichteten hochverrätheriſchen und landesverrätheriſchen Unternehmungen, für welche eine eigene durch das Ober-Appellationsgericht der freien Städte zu Lübeck aus - zuübende Gerichtsbarkeit des Bundes zwar nicht eingeführt, wol aber in Ausſicht genommen wurde. Verf. Art. 75. Sodann ging der Natur der Sache.

Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 12§. 96. Einleitung.

Dagegen wurde dem Bunde die Befugniß zugewieſen, den einzelnen Staaten die Normen vorzuſchreiben, nach welchen ſie den Rechtsſchutz handhaben ſollten, indem die Zuſtändigkeit des Bundes erſtreckt wurde auf die gemeinſame Geſetzgebung über das gerichtliche Verfahren. Verf. Art. 4 Ziff. 13. Die Einzelſtaaten ſollten alſo zwar die Gerichtsbarkeit behalten, dieſelbe aber nicht nach eigener Selbſtbeſtimmung (in ſouverainer Weiſe) ausüben, ſondern nach Anordnung des Reiches. Bis zum Erlaß dieſer gemeinſamen Geſetzgebung blieb allerdings nicht blos die bunte Maſſe der partikularen Rechtsvorſchriften über das Ver - fahren in Geltung, ſondern der Autonomie der Einzelſtaaten war auch ihre Fortbildung und Umgeſtaltung überlaſſen.

Dieſe verfaſſungsmäßigen Prinzipien des Gerichtsweſens in - volvirten zugleich den weiteren Grundſatz, daß die Bethätigungen der Gerichtsbarkeit jedes Einzelſtaates nur innerhalb ſeines Ge - bietes ſtaatsrechtliche Wirkſamkeit haben konnten, da ſie durchaus als Ausübung der den Einzelſtaaten verbliebenen Herrſchaft er - ſchienen. Um aber ein Zuſammenwirken der Einzelſtaaten zum Zweck der Rechtspflege zu ermöglichen, wurde dem Bund die Kom - petenz zugewieſen, Beſtimmungen über die wechſelſeitige Voll - ſtreckung von Erkenntniſſen in Civilſachen und Erledigung von Re - quiſitionen überhaupt zu erlaſſen. Verf. Art. 4 Ziff. 11.

Durch dieſe 3 Punkte nämlich 1) Ausübung der Gerichts - barkeit Seitens der Einzelſtaaten, 2) nach den vom Bund dar - über erlaſſenen Vorſchriften und 3) unter gegenſeitiger vom Bund zu normirender Verpflichtung zur Rechtshülfe, hatte die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes die Grundform für die Geſtaltung des Gerichtsweſens feſtgeſtellt.

In der Reichsverfaſſung ſind die erwähnten 3 Sätze (Art. 77, Art. 4 Ziff. 13 u. Art. 4 Ziff. 11) zwar völlig gleich - lautend mit den entſprechenden Beſtimmungen der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes; bei der Gründung des Reiches war aber der wirklich beſtehende Rechtszuſtand bereits erheblich umgeſtaltet und eine noch viel weiter reichende Veränderung deſſelben war in1)nach diejenige Gerichtsbarkeit auf den Norddeutſchen Bund über, welche mit den vom Bund übernommenen Verwaltungszweigen in untrennbarem Zuſam - menhang ſtand, nämlich die Konſulargerichtsbarkeit und die Marinegerichts - barkeit.3§. 96. Einleitung.Ausſicht genommen und vorbereitet. Der Norddeutſche Bund war in den wenigen Jahren ſeines Beſtehens über die erwähnten Grund - linien hinausgegangen und hatte die verfaſſungsmäßig fixirten Punkte verſchoben.

Er hatte nämlich erſtens eine eigene Gerichtsbarkeit des Bundes anerkannt und organiſirt in dem Geſetz vom 12. Juni 1869 betreffend die Errichtung des Oberhandelsgerichts in Leipzig1)Siehe Bd. I. S. 360 ff. und dieſes Geſetz iſt bei der Errichtung des Deutſchen Reiches als Reichsgeſetz anerkannt und auf die ſüddeutſchen Staaten und El - ſaß-Lothringen ausgedehnt worden. Ohne daß die Frage hier von Neuem erörtert werden ſoll, ob der Erlaß dieſes Geſetzes zur Kompetenz des Norddeutſchen Bundes gehörte oder nicht und ob das Geſetz mit dem Wortlaut der Bundesverfaſſung im Einklang ſteht oder nicht2)Das Geſetz iſt in jedem Falle verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen, da es im Bundesrath mit Zweidrittel-Majorität ſanctionirt worden iſt. Siehe oben Bd. I. S. 360 Anm. 3. Bd. II. S. 37 ff., muß hier doch betont werden, daß es in Wahr - heit die weitaus erheblichſte Aenderung bedeutete, welche der Ver - faſſungszuſtand des Norddeutſchen Bundes überhaupt von ſeiner Begründung bis zur Errichtung des Reiches erfahren hat. Hier wurden nicht den Einzelſtaaten Vorſchriften ertheilt, wie ſie die Gerichtsbarkeit auszuüben haben, ſondern in den zur Zuſtändigkeit des Oberhandelsgerichts gehörenden Sachen wurde ihnen die Ge - richtsbarkeit dritter Inſtanz genommen und auf den Bund über - tragen. Soweit nicht prozeſſualiſche Vorſchriften im Wege ſtanden, d. h. ſoweit nicht die partikularen Regeln über die Rechtsmittel den Parteien die Möglichkeit abſchnitten, die Rechtsſtreitigkeiten an das Oberhandelsgericht zu ziehen, vermochten die Einzelſtaaten jetzt nicht mehr durch ihre Gerichte unbedingt rechtskräftige Entſcheidungen fällen zu laſſen; denn dieſe Entſcheidungen wurden nur unter der Vorausſetzung rechtskräftig, daß ſich die Parteien bei den Urtheilen der territorialen Gerichte beruhigten, indem ſie die Einlegung eines Rechtsmittels unterließen. Es war daher der Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten in den zur Zuſtändigkeit des Ober - handelsgerichts gehörenden Angelegenheiten die Spitze abgebrochen; die von den Landesgerichten gefällten Urtheile waren in vielen Fällen nur noch Etappen im Prozeßgange, die eine Inſtanz, d. h. 1*4§. 96. Einleitung.einen Prozeß abſchnitt, aber nicht nothwendig den Prozeß be - endigten, nicht formelles Recht unter den Parteien ſchufen und nicht (definitiv) vollſtreckbar waren. Eines der wichtigſten Hoheits - rechte, die das allgemeine Staatsrecht überhaupt kennt, war ſonach durch das Geſetz v. 12. Juni 1869 wenngleich in ſachlicher Hinſicht in enger Abgränzung von den Einzelſtaaten auf den Bund übergegangen. Dies war eine Veränderung des Verhält - niſſes zwiſchen Einzelſtaat und Bund von prinzipieller Bedeutung.

Zwar hat die Verfaſſung des Nordd. Bundes nirgends aus - drücklich beſtimmt, daß der Bund keine eigene Gerichtsbarkeit haben ſolle oder daß den Einzelſtaaten der Anſpruch auf unge - ſchmälerten Vollbeſitz dieſes Hoheitsrechts zuſtehe; die ſehr vage Faſſung von Art. 4 Ziff. 13 ließ vielmehr einer Interpretation Raum, wonach die Bundesgeſetzgebung das gerichtliche Verfahren in jeder beliebigen Weiſe regeln konnte, alſo auch ſo, daß die Ge - richtsbarkeit den Einzelſtaaten ganz oder theilweiſe genommen wurde. Allein es beſteht darüber ja allſeitige Uebereinſtimmung, daß die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes in der Art auszulegen war, daß den Einzelſtaaten alle Hoheitsrechte verblieben ſind, welche ihnen nicht durch die Verfaſſung entzogen wurden, da Zweck und Aufgabe dieſer Verfaſſung darin beſtand, nicht die Kompetenz der Einzelſtaaten, ſondern die Kompetenz der Bundesgewalt zu beſtimmen und die Einſchränkungen, welche die Hoheitsrechte der Einzelſtaaten durch Gründung des Bundes erfuhren, feſtzu - ſtellen. Das Schweigen der Verfaſſung über die Errichtung eines Bundesgerichts bedeutete daher die Negirung einer eigenen Ge - richtsbarkeit des Bundes und dies wurde durch die Spezialanord - nungen der Verfaſſung hinſichtlich der Kompetenz des Bundesrathes bei Beſchwerden über Juſtizverweigerung und hinſichtlich der Kom - petenz des Ober-Appellationsgerichts zu Lübeck bei Hochverraths - fällen in unzweifelhafter Weiſe beſtätigt. Das Geſetz vom 12. Juni 1869 enthält daher zwar keine Abänderung derjenigen Sätze, welche die Verfaſſung des Nordd. Bundes ausdrücklich aus - ſpricht, wol aber brachte dieſes Geſetz einen Rechtsſatz über die Zuſtändigkeit des Bundes zur Anerkennung, den die Bundesver - faſſung durch Stillſchweigen ausgeſchloſſen hatte. Dem aus Art. 4 Ziff. 13 folgenden Satze: Die Bundesſtaaten üben die Gerichts - barkeit nach Maßgabe der ihnen vom Bunde darüber ertheilten5§. 96. Einleitung.Vorſchriften aus wurde implicite der Verfaſſungsgrundſatz bei - gefügt: ſie üben ſie auch nur in dem Umfange aus, den der Bund beſtimmt d. h. ſoweit der Bund die Gerichtsbarkeit nicht durch eigene Organe ausübt.

Da nun bei der Gründung des Reiches gleichzeitig mit der Verfaſſung auch das Geſ. v. 12. Juni 1869 Geltung für das ganze Reich erhielt, ſo ergibt ſich, daß die Verfaſſung mit der in dieſem Geſetz enthaltenen Abänderung und Er - gänzung eingeführt worden iſt und daß demnach der Schluß, welchen man aus dem Schweigen der Verf. des Nordd. Bundes über die Bundesgerichtsbarkeit ziehen mußte, aus dem Schweigen der Reichsverfaſſung nicht gezogen werden kann. Das Reich hatte vielmehr von Anfang an eine eigene Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und die verfaſſungsmäßige Kom - petenz, den Umfang derſelben zu beſtimmen. Von dieſer Befugniß hat das Reich auch einen ausgiebigen Gebrauch gemacht, indem es ſeit dem 1. Oktober 1879 an die Stelle des Oberhandelsgerichts das Reichsgericht geſetzt hat, dem eine umfaſſende Zuſtändigkeit in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, ſowie in einigen andern Angelegenheiten beigelegt worden iſt.

Der Norddeutſche Bund hat ferner in dem Geſetz v. 21. Juni 18691)Bundesgeſetzbl. 1869 S. 305 ff. die in der Verf. Art. 4 Ziff. 11 in Ausſicht genommenen Vorſchriften über die Rechtshülfe erlaſſen. Während aber die Verfaſſung nur von der Vollſtreckung von Erkenntniſſen in Civilſachen und der Erledigung von Requiſitionen ſprach, hat das Rechtshülfegeſetz bereits das Prinzip angebahnt, daß die Bethätigungen der den Einzelſtaaten zuſtehenden Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und in Strafſachen ihre Wirkungen auf das ganze Bundesgebiet erſtrecken. In Civilſachen wurde der Grundſatz anerkannt, daß wenn eine Rechtsſtreitigkeit in einem Bundesſtaate rechtshängig geworden oder rechtskräftig entſchieden iſt, die Rechtshängigkeit oder die Rechtskraft vor jedem Gerichte aller Bundesſtaaten geltend gemacht werden kann2)Rechtshülfe-Geſ. §. 19.; daß die Ge - richte des Bundesgebiets ſich gegenſeitig Rechtshülfe zu leiſten haben, ohne Unterſchied, ob das erſuchende und das erſuchte Ge -6§. 96. Einleitung.richt demſelben Bundesſtaate oder ob ſie verſchiedenen Bundes - ſtaaten angehören1)Rechtshülfe-Geſ. §. 1.; daß das Erſuchen direct von Gericht zu Ge - richt ergeht2)§. 2 daſ.; daß die in einem Bundesſtaate ergangenen rechts - kräftigen Erkenntniſſe im ganzen Bundesgebiete vollſtreckbar ſind3)§. 7 ff. daſ. und daß das in einem Bundesſtaate eröffnete Konkursverfahren in Bezug auf das zur Konkursmaſſe gehörige Vermögen und in Be - treff der Beſchränkungen der Verfügungs - und Verwaltungsrechte des Gemeinſchuldners ſeine Wirkung in dem geſammten Bundes - gebiete äußert4)§. 13 daſ.. Aber auch in Strafſachen wurde im Prinzip die Verpflichtung zur Rechtshülfe unter allen Gerichten des Bundes anerkannt5)§. 20 daſ., eine ſehr ausgedehnte Pflicht zur Auslieferung ein - geführt, die ſich auch auf die eigenen Angehörigen des erſuchten Staates erſtreckt6)§. 21 ff. daſ., die Nacheile der Sicherheitsbeamten in be - nachbarte Staatsgebiete geſtattet7)§. 30 daſ., ja ſogar den Gerichten die Pflicht zur Vollſtreckung der in einem anderen Bundesſtaate er - laſſenen Strafurtheile in nicht unerheblichem Umfange auferlegt8)§. 33 daſ..

Nachdem im Wege des Vertrages die Anwendung dieſes Ge - ſetzes auf Baden und Südheſſen ausgedehnt worden war9)Bundes-Geſ. Bl. 1870 S. 67 ff. 607 ff., er - folgte bei der Gründung des Reiches die Erklärung deſſelben zum Reichsgeſetz. Im Deutſchen Reich waren daher von Anfang an die Einzelſtaaten in Betreff der Ausübung der Gerichtsbarkeit in eine viel innigere Wechſelbeziehung zu einander geſetzt als bei Gründung des Norddeutſchen Bundes; ſie waren reichsgeſetzlich verpflichtet, ihre Hoheitsrechte behufs Durchführung des Rechts - ſchutzes einander zur Verfügung zu ſtellen und in weitreichendem Umfange die gerichtlichen Beſchlüſſe, Entſcheidungen und Urteile gegenſeitig anzuerkennen und zu vollſtrecken. War formell auch die Gerichtsbarkeit ein Recht der Bundesſtaaten und als ſolches in ſeiner Ausübung auf das Gebiet des einzelnen Staates be -7§. 96. Einleitung.ſchränkt, ſo erſtreckte ſich materiell doch ſeine Wirkſamkeit auf das ganze Bundesgebiet. Im Prinzip war es bereits entſchieden, daß die Einzelſtaaten hinſichtlich der Gerichtsbarkeit nicht iſolirt und unabhängig ſind, ſondern daß ſie zu einem einheitlichen Rechts - pflege-Syſtem verfaſſungsmäßig verbunden werden. Der vollen und conſequenten Durchführung dieſes Prinzips ſtanden nur die großen Verſchiedenheiten der Gerichtseinrichtungen und der Prozeß - ordnungen noch hindernd im Wege.

Dieſer dritte Punkt war der wichtigſte; die Herſtellung der in der Verf. Art. 4 Ziff. 13 erwähnten gemeinſamen Geſetze über das gerichtliche Verfahren blieb die bedeutendſte, aber freilich auch ſchwierigſte Aufgabe. Auch ihre Löſung wurde bereits während des Beſtehens des Norddeutſchen Bundes in Angriff genommen. Verhältnißmäßig am leichteſten war die Abfaſſung der Civilpro - zeß-Ordnung1)Eine gute Darſtellung der Entſtehungsgeſchichte der Deutſchen Civil - prozeß-Ordnung mit ſachlicher Charakteriſirung der verſchiedenen Entwürfe giebt Hellweg im Arch. f. civil. Praxis Bd. 61 S. 78 140. Daß auch die zahlreichen Kommentare zur Civilproz. O. die Abfaſſung derſelben ausführ - lich darſtellen, bedarf kaum der Erwähnung.. Schon zur Zeit des Deutſchen Bundes (1862) war auf Veranlaſſung des Bundestages eine Commiſſion zu Han - nover zuſammengetreten, an welcher die Vertreter aller größeren Deutſchen Staaten mit Ausnahme Preußens Theil genommen hatten, um den Entwurf zu einer für ganz Deutſchland gemein - ſamen Civilprozeß-Ordnung auszuarbeiten. Dieſe Commiſſion hatte im Jahre 1866 den (ſogen. Hannöveriſchen) Entwurf feſtgeſtellt, der durch den Druck veröffentlicht wurde. Auch in Preußen war bereits 1864 ein Entwurf einer Prozeßordnung berathen und ver - öffentlicht worden. An dieſe beiden Arbeiten knüpfte der Nordd. Bund ſofort an. Der Bundesrath beſchloß ſchon am 2. Oktober 1867 die Einſetzung einer Commiſſion, um den Entwurf einer Pro - zeßordnung in bürgerl. Rechtsſtreitigkeiten unter Zugrundelegung des Preußiſchen und des in Hannover ausgearbeiteten Entwurfs anzufertigen. Im Juli 1870 wurde der Entwurf dem Bundes - rath überreicht, unter dem Vorbehalt ihn einer nochmaligen Re - viſion zu unterziehen. (Sogen. Norddeutſcher Entwurf.)

Durch den Krieg mit Frankreich erfuhren dieſe Arbeiten nicht nur eine Unterbrechung, ſondern in Folge des Hinzutritts der ſüd -8§. 96. Einleitung.deutſchen Staaten auch eine andere Richtung. Das Preuß. Juſtiz - miniſterium unterwarf noch während des Krieges den Norddeutſchen Entwurf einer Umarbeitung und geſtaltete ihn zu einem Entwurf für eine Deutſche Civilprozeßordnung. Auf Beſchluß des Bundes - rathes trat eine neue Commiſſion zur Berathung dieſes Entwurfs im September 1871 in Berlin zuſammen, an welcher Vertreter der ſüddeutſchen Staaten Antheil nahmen. Bereits im Frühjahr 1872 waren die Verhandlungen dieſer Commiſſion ſo weit gediehen, daß der revidirte Entwurf nebſt dem Entwurf eines Einführungs - geſetzes dem Bundesrath vorgelegt werden konnte, der ſeinerſeits noch einige Aenderungen an demſelben vornahm. Bevor jedoch die Vorlage an den Reichstag erfolgte, waren noch die Entwürfe zu mehreren andern Geſetzen über das Gerichtsweſen feſtzuſtellen.

Der Reichstag des Norddeutſchen Bundes hatte am 18. April 1868 den Beſchluß gefaßt, den Bundeskanzler aufzufordern, Ent - würfe eines gemeinſamen Strafrechts und eines gemeinſamen Strafprozeſſes, ſowie der dadurch bedingten Vorſchriften der Ge - richtsorganiſation bald thunlichſt vorbereiten und dem Reichstage vorlegen zu laſſen. Der Bundesrath, der dieſem Beſchluß zu - ſtimmte, erachtete es zugleich für geboten, daß zunächſt mit dem materiellen Strafrecht begonnen werden müſſe. Daher wurde erſt nach Fertigſtellung des Entwurfs eines Strafgeſetzbuches f. den Norddeutſchen Bund die Strafprozeßordnung in Angriff genommen und der Preuß. Juſtizminiſter durch Schreiben des Bundeskanzlers v. 12. Juli 1869 erſucht, die Aufſtellung eines Entwurfes zu veranlaſſen1)Ueber die Geſchichte der Strafproz. Ordnung vgl. außer den in den Kommentaren derſelben enthaltenen Darſtellungen die ausführliche und licht - volle Erörterung von Dochow in v. Holtzendorff’s Handbuch des Deutſchen Strafprozeßrechts I. S. 105 137 und Binding, Grundriß des gem. Deut - ſchen Strafprozeßrechts. 1881. S. 21 ff..

Die Arbeiten, welche aus ſachlichen, hier nicht weiter zu er - örternden Gründen mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbun - den waren, zogen ſich bis zum Ende des Jahres 1872 hin, ſo daß der erſte Entwurf mit Motiven im Januar 1873 dem Bundesrath vorgelegt werden konnte. Der Bundesrath beſchloß, ihn einer Kommiſſion zur Vorberathung zu überweiſen, welche ihn in 3 Le - ſungen einer Durcharbeitung unterwarf. Dieſer zweite Entwurf9§. 96. Einleitung.erfuhr aber vielſeitige Angriffe, weil er die Schwurgerichte gänz - lich beſeitigen und durch Schöffengerichte erſetzen wollte, und da vorauszuſehen war, daß der Reichstag in die Aufhebung der Schwur - gerichte nicht willigen würde, ſo mußte der Entwurf einer noch - maligen Umarbeitung unterworfen werden, ſo daß er erſt im Som - mer 1874 die Geſtalt erhielt, in welcher er an den Reichstag ge - bracht worden iſt.

Daß die Ordnung des Prozeßverfahrens eine beſtimmte Or - ganiſation der Gerichte vorausſetzt, iſt ſelbſtverſtändlich; die Civil - und Strafprozeß-Ordnungen mußten daher entweder ſelbſt die er - forderlichen Anordnungen über die Zuſammenſetzung der Gerichte und ihr gegenſeitiges Verhältniß enthalten oder ſie mußten in dieſer Hinſicht durch ein beſonderes Gerichtsverfaſſungsgeſetz ergänzt werden1)Ueber die Entſtehungsgeſchichte des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes vgl. die Erklärung des Juſtizminiſters Dr. Leonhardt in der Reichstagsſitzung vom 25. Nov. 1876. (Stenogr. Berichte S. 358 ff.). Demgemäß wurde gegen Ende des Jahres 1869 der Preußiſche Juſtizminiſter von dem Bundeskanzler erſucht, die Ausarbeitung eines Geſetzentwurfs zu veranlaſſen, welcher die die Gerichtsverfaſſung betreffenden Vorſchriften enthalte, ſo weit ſie für die Civilrechtspflege nach der kommiſſariſch feſtgeſtellten Ci - vilprozeßordnung nothwendig wurden. Indeß ergab ſich von ſelbſt die Nothwendigkeit, nachdem man auch die Abfaſſung einer Straf - prozeßordnung in’s Auge gefaßt hatte, auch die Strafrechtspflege mitzuberückſichtigen. Der Preuß. Juſtizminiſter ging indeſſen über die Gränzen dieſes Auftrages hinaus; er ließ einen Entwurf aus - arbeiten, der nicht nur die durch die Civil - und Strafprozeß-Ordnung nothwendig gemachten Vorſchriften über die Gerichtseinrichtungen, ſondern eine vollſtändige Regelung der Gerichtsverfaſſung enthielt, ſo daß er ohne Mitwirkung der Landesgeſetzgebungen d. h. ohne Ausführungsgeſetze der Einzelſtaaten hätte in’s Leben treten können. Mit dieſer Ausdehnung erklärten ſich jedoch die Juſtiz - miniſter der größeren Deutſchen Bundesſtaaten, welche zu Berathun - gen über den Entwurf in Berlin ſich verſammelt hatten, nicht einver - ſtanden und es ergab ſich hieraus die Nothwendigkeit, den Entwurf nach dieſem Geſichtspunkt umzuarbeiten d. h. aus einer vollſtän - digen Regelung der Gerichtsverfaſſung eine fragmentariſche zu10§. 96. Einleitung.machen. Der ſo umgearbeitete Entwurf wurde am 12. November 1873 dem Bundesrath vorgelegt. Die Veränderungen, welche die Strafprozeß-Ordnung durch Aufnahme der Schwurgerichte erfuhr, machte eine nochmalige Reviſion auch dieſes Geſetzentwurfs er - forderlich und der letztere wurde in der Geſtalt, in welcher er dem Reichstage vorgelegt werden ſollte, gleichzeitig mit dem Ent - wurf der Strafprozeß-Ordnung vom Bundesrath feſtgeſtellt.

Dadurch, daß der Entwurf des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes ſo - wohl für die Civilproz. O. als auch für die Strafproz. O. eine ſehr weſentliche Ergänzung enthielt, ohne welche die beiden Prozeßord - nungen nicht praktiſch anwendbar geweſen wären, war unter dieſen drei Geſetzentwürfen ein innerer Zuſammenhang entſtanden, ſo daß keiner von ihnen ohne die beiden andern Geſetzeskraft erlangen konnte. Hieraus ergab ſich, daß ſie auch die weiteren legislatori - ſchen Stadien gemeinſam zu durchlaufen hatten. Die 3 Geſetz - entwürfe nebſt den Entwürfen zu den dazu gehörenden 3 Einfüh - rungsgeſetzen wurden dem am 29. Oktober 1874 eröffneten Reichs - tage vorgelegt1)Die Geſetzentwürfe nebſt Motiven ſiehe in den Druckſachen des Reichs - tages von 1874 / 75 Nro. 4. 5. 6. und von ihm einer und derſelben Commiſſion, der ſogen. Reichsjuſtizkommiſſion, zur Vorberathung überwieſen2)Die Berathung erſter Leſung im Reichstage ſiehe ſtenogr. Berichte 1874 / 75 I. S. 275 ff.. Da es unmöglich war, daß die Commiſſion bis zum Ende der Reichstagsſeſſion ihre Aufgabe erledige, ſo wurde ihr durch das Reichsgeſ. v. 23. Dez. 1874 (R. G.Bl. S. 194) die Ermächtigung ertheilt, ihre Verhandlungen nach dem Schluſſe der Seſſion des Reichstages bis zum Beginne der nächſten ordentlichen Seſſion deſſelben fortzuſetzen und dieſe Befugniß wurde durch das Reichsgeſ. v. 1. Februar 1876 (R. G.Bl. S. 15) erneuert. Die Kommiſſion hat die drei Geſetzentwürfe nebſt dem Entwurfe der Einführungs - geſetze in zwei Leſungen durchberathen; die Protokolle ſind ge - druckt3)In einer offiziellen, nicht in den Buchhandel gekommenen Ausgabe und außerdem in den von Hahn veranſtalteten Sammlungen der Materia - lien zu jedem der 3 Geſetze. worden; ſie vertreten einen ausführlichen Kommiſſions - bericht und in manchen Theilen geradezu Motive. Ueberdies er - ſtattete die Kommiſſion zuſammenfaſſende ſchriftliche Berichte11§ 96. Einleitung.an den Reichstag1)Druckſachen des Reichstages v. 1876 Bd. II. Nro. 8. 9. 10 (auch bei Hahn a. a. O.). In der Seſſion des Reichstages von 1876 fand die zweite Berathung der drei Geſetzentwürfe ſtatt2)Vgl. über das Gerichtsverf. Geſetz Stenogr. Berichte 1876 Bd. I. S. 135 165; 175 388; über die Strafprozeß-Ordnung ebendaſ. S. 392 569; über die Civilprozeß-Ordnung ebendaſ. S. 167 175 und 388 392. Alle dieſe Ver - handlungen ſind auch abgedruckt in den betreffenden Materialien von Hahn. und nachdem es gelungen war, durch ein Kompromiß die zwiſchen dem Bundesrath und dem Reichstag hinſichtlich einiger Beſtim - mungen der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfaſſungsge - ſetzes beſtehenden Differenzen auszugleichen, erhielten dieſe Geſetz - entwürfe in 3ter Leſung in der durch die Abmachungen des Kom - promiſſes gebotenen Faſſung die Zuſtimmung des Reichstages3)Stenogr. Berichte 1876 Bd. II. S. 849 1004.. Hierauf wurden ſie ſanctionirt und publizirt; das Gerichtsver - faſſungsgeſetz nebſt Einführungsgeſetz unter dem Datum des 27. Januar 1877 (R. G.Bl. S. 41 ff. ), die Civilprozeßord - ordnung nebſt Einführungsgeſetz vom 30. Januar 1877 (R. G.Bl. S. 83 ff. ), die Strafprozeßordnung nebſt Einführungsgeſetz v. 1. Februar 1877. (R. G.Bl. S. 253 ff.). Als der Zeitpunkt, an welchem die 3 Geſetze im ganzen Umfange des Reichs gleich - zeitig in Kraft treten ſollten, wurde der 1. Oktober 1879 be - ſtimmt4)§. 1 des Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. Es wurde vorbehalten, daß durch Kaiſerl. Verordnung unter Zuſtimmung des Bundesrathes ein früherer Termin feſtgeſetzt werden, von dieſem Vorbehalt wurde aber Seitens der Reichs - regierung kein Gebrauch gemacht..

Auf dieſe 3 Geſetze konnte indeß die im Art. 4 Ziff. 13 der R.V. vorgeſehene Reichsgeſetzgebung ſich nicht beſchränken; ſie er - forderten vielmehr theilweiſe durch ihren eigenen Inhalt noch mehrfache Ergänzungen, wenn in Wirklichkeit das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und in Strafſachen im ganzen Reichsgebiet einheitlich geregelt werden ſollte.

Zunächſt wurde neben der Civilprozeßordnung und als wich - tigſte Ergänzung derſelben der Erlaß einer Konkursordnung in Ausſicht genommen. Ein auf der Preuß. Konk. O. v. 8. Mai 1855 und dem zur Abänderung derſelben erlaſſenen Geſ. v. 12. März 1869 fußender Entwurf wurde auf Grund eines vom Bun -12§. 96. Einleitung.desrath am 21. Febr. 1870 gefaßten Beſchluſſes im Preuß. Juſtiz - miniſterium ausgearbeitet und nebſt Motiven und Anlagen im November 1873 dem Bundesrath vorgelegt, welcher beſchloß, daß dieſer Entwurf einer aus angeſehenen Juriſten und Vertretern des Handelsſtandes beſtehenden Kommiſſion zur Vorberathung über - wieſen werden ſollte. Die Kommiſſion trat im März 1874 in Berlin zuſammen und brachte in 3 Leſungen einen revidirten Ent - wurf zuſtande, der von dem Bundesrathe nur in wenigen Punkten modifizirt wurde. Am 21. Januar 1875 wurde der Geſetzentwurf nebſt dem Entwurf eines Einführungsgeſetzes dem Reichstage vor - gelegt1)Motive in den Druckſachen des Reichstages von 1874 / 7 Nro. 200. und von ihm ohne weſentliche Veränderung in der Seſſion von 1876 genehmigt2)Stenogr. Berichte 1876 S. 569 ff.. Die Konkursordnung trägt das Da - tum v. 10. Februar 1877 und iſt gleichzeitig mit dem Gerichts - verfaſſungsgeſetz (1. Okt. 1879) in Kraft getreten3)R. G.Bl. 1877 S. 351 ff.. Zur Ver - vollſtändigung dieſer vom Reich geregelten Rechtsmaterie iſt ſo - dann noch das Reichsgeſetz v. 21. Juli 1879, betreffend die An - fechtung von Rechtshandlungen eines Schuldners außerhalb des Konkursverfahrens, ergangen4)R. G.Bl. 1879 S. 277 ff..

Eine zweite weſentliche Ergänzung der Prozeßgeſetzgebung be - traf die Ordnung der Rechtsanwaltſchaft. Der von der Reichsregierung vorgelegte Entwurf eines Gerichtsverfaſſungsge - ſetzes enthielt hierüber keine Beſtimmung; die Juſtizkommiſſion des Reichstages ging dagegen von der Anſicht aus, daß die reichs - geſetzliche Regelung der Rechtsanwaltſchaft nicht weniger nothwen - dig ſei, wie die irgend eines andern Theils der Gerichtsverfaſſung, und fügte demgemäß dem Entwurfe des Gerichtsverfaſſungsge - ſetzes einen die Rechtsanwaltſchaft betreffenden Titel hinzu, welcher die Billigung des Reichstages fand. Der Bundesrath erkannte zwar an, daß die Regelung der Rechtsanwaltſchaft im Wege der Reichsgeſetzgebung erfolgen müſſe, erachtete aber die fragmentari - ſchen Beſtimmungen, welche die Juſtizkommiſſion in das Gerichts - verfaſſungsgeſetz aufgenommen hatte, für nicht ausreichend5)Es fehlten namentlich die Beſtimmungen über die Anwaltskammern, Ehrengerichte u. ſ. w. und13§. 96. Einleitung.richtete an den Reichskanzler das Erſuchen, den Entwurf eines Geſetzes über die Rechtsanwaltſchaft ausarbeiten zu laſſen. In Folge des Kompromiſſes, welches der dritten Leſung der Juſtiz - geſetze im Reichstage vorausging, ſtrich der Reichstag aus dem Gerichtsverfaſſungsgeſetz und aus dem hierzu gehörenden Einfüh - rungsgeſetz die auf die Rechtsanwaltſchaft ſich beziehenden Vor - ſchriften gegen die Zuſage der Reichsregierung, daß dieſelbe den Entwurf einer Rechtsanwaltsordnung dem Reichstag ſo frühzeitig vorlegen werde, daß das Geſetz gleichzeitig mit den Prozeßord - nungen in Geltung treten könne. Die Vorlage erfolgte in der Seſſion von 18781)Entwurf mit Motiven in den Druckſachen v. 1878 Nr. 5. Kommiſſions - bericht ebendaf. Nr. 173. und führte zur Vereinbarung des Geſetzes, welches unter der Bezeichnung Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 18782)Reichs-Geſ. Bl. 1878 S. 177 ff publizirt worden und am 1. Oktob. 1879 in Gel - tung getreten iſt.

Eine dritte Ergänzung, deren die Prozeßordnungen und das Gerichtsverfaſſungsgeſetz nothwendig bedurften, betraf das Koſten - und Gebühren-Weſen. Zur Regelung deſſelben wurden er - laſſen das Gerichtskoſten-Geſetz v. 18. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 141 ff. ), die Gebührenordnung f. Gerichtsvollzieher v. 24. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 166 ff. ), die Gebührenordnung für Zeugen und Sachverſtändige v. 30. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 173 ff. )3)Entwürfe und Motive zu den angeführten 3 Geſetzen in den Druck - ſachen des Reichstages 1878 Nro. 76. Kommiſſions-Beſchlüſſe ebendaſ. Nro. 228. und die Gebührenordnung für Rechtsanwälte vom 7. Juli 1879 S. 176 ff4)Entwurf nebſt Motiven in den Druckſachen des Reichstages v. 1879 Nro. 6. Kommiſſions-Beſchlüſſe ebenda. Nr. 137. S. 224.. In Folge vielfacher Klagen über die unerträgliche Höhe der Gerichtsgebühren wurden einige Härten der erwähnten Geſetze gemildert durch das Reichsgeſetz vom 29. Juni 1881, betreffend die Abänderung von Beſtimmungen des Gerichtskoſtengeſetzes und der Gebührenordnung für Gerichtsvollzieher5)R. G.Bl. 1881 S. 178 ff..

Endlich war durch die Herſtellung eines einheitlichen Civil - und Strafprozeßrechts auch Veranlaſſung gegeben, die Ausübung der Konſulargerichtsbarkeit, für welche das Preußiſche14§. 96. Einleitung.Geſetz v. 29. Juni 1865 proviſoriſch in Geltung ſtand1)Siehe Bd. I. S. 366., reichs - geſetzlich zu regeln und ſie, ſoweit die Verſchiedenheit der thatſäch - lichen Verhältniſſe es geſtattete, in Uebereinſtimmung mit den Vor - ſchriften der Reichs-Prozeßgeſetze zu bringen. Zu dieſem Zwecke iſt das Reichsgeſetz über die Konſulargerichtsbarkeit vom 10. Juli 1879 (R. G.Bl. S. 197 ff. ) erlaſſen worden2)Vgl. hiezu die Inſtruction des Reichskanzlers v. 10. Sept. 1879. (Centralbl. für das D. R. 1879 S. 575 ff.).

In den im Vorſtehenden aufgeführten Geſetzen hat im Weſent - lichen die große Reform der Gerichtsverfaſſung und des Prozeß - rechts einen vorläufigen Abſchluß gefunden3)Eine Anzahl kleinerer Geſetze, welche nur einzelne Fragen betreffen, ſind in dieſer Ueberſicht übergangen worden, ſo z. B. das Geſ. über den Sitz des Reichsgerichts v. 11. April 1877 (R. G.Bl. S. 415); das Geſ. betreffend den Uebergang v. Geſchäften auf das Reichsgericht v. 16. Juni 1879 (R. G.Bl. S. 157); die Verordnungen und das Geſetz betreffend die Begründung der Re - viſion in bürgerl. Rechtsſtreitigkeiten u. ſ. w. Bei den betreffenden Materien ſind dieſe Geſetze, ſoweit ſie hier überhaupt von Intereſſe ſind, erwähnt worden.. Bevor aber auf eine Darſtellung des hierdurch gegebenen Rechtszuſtandes einge - gangen wird, iſt die allgemeine Bemerkung voranzuſchicken, daß dieſe Reichsgeſetzgebung weder das ganze Gerichtsweſen und die ganze Gerichtsbarkeit geregelt hat, noch daß derjenige Theil des Gerichtsweſens, welcher von der Reichsgeſetzgebung betroffen wor - den iſt, eine vollſtändige Regelung erfahren hat. Demgemäß findet die Geſetzgebung des Reiches in doppelter Beziehung ihre Ergänzung in der Landesgeſetzgebung; die letztere enthält theils die erforderlichen Ausführungsbeſtimmungen zu den Reichs - geſetzen4)Ein überſichtliches Verzeichniß derſelben giebt Binding a. a. O. S. 36 ff., theils die ſelbſtändige Regelung eines Gebietes, welches von der Reichsgeſetzgebung nicht beherrſcht wird, ſondern nur dem von derſelben normirten Gebiete benachbart iſt, ſo daß die Regelung deſſelben thatſächlich allerdings unter dem Einfluß der reichsgeſetzlichen Einrichtungen und Anordnungen ſteht.

II. Bei der Behandlung des Gerichtsweſens des Deutſchen Reiches entſteht eine eigenthümliche Schwierigkeit hinſichtlich der Auswahl und Abgrenzung der zu erörternden Lehren. Es kann nicht die Aufgabe einer Darſtellung des Reichsſtaatsrechts ſein, den geſammten Strafprozeß und Civilprozeß, das Konkursverfahren,15§. 96. Einleitung.die Ordnung der Anwaltſchaft u. ſ. w. zu erörtern; das Gerichts - verfahren hat von jeher den Gegenſtand eines beſonderen, reich entwickelten Zweiges der Rechtswiſſenſchaft gebildet, der nach ſei - nem Stoff, ſeinen Quellen, ſeiner Literatur von dem Staatsrecht getrennt iſt. Wenngleich die geſammte Wirkſamkeit der Gerichte eine Entfaltung der ſtaatlichen Thätigkeit iſt, durch welche eine der weſentlichſten Staatsaufgaben realiſirt wird, ſo iſt doch das von ihnen zu beobachtende Verfahren nur an gewiſſen Punkten von ſtaatsrechtlichen Prinzipien beeinflußt; im Weſentlichen beruht die Ordnung des Verfahrens auf techniſch-juriſtiſchen Geſichts - punkten, deren Durchführung Garantien einer gerechten, unpartei - iſchen und ſachgemäßen Erledigung der Rechtsſtreitigkeiten gewähren ſoll1)Daher können mehrere Staaten, deren Verfaſſungsrecht eingreifende Verſchiedenheiten zeigt, doch ein im Weſentlichen übereinſtimmendes Prozeß - recht haben.. Andrerſeits kann aber die Aufgabe einer Darſtellung des Staatsrechts auch nicht für genügend gelöſt erachtet werden, wenn man nach dem Vorbilde der meiſten deutſchen Staatsrechts-Schrift - ſteller ſich damit begnügt, die Unabhängigkeit des Richteramtes als ein Poſtulat der modernen Staats - und Rechtsidee hinzuſtellen und die Gränzen zwiſchen Juſtiz und Verwaltung mit größerer oder geringerer Breite zu behandeln. Dieſe Dürftigkeit in der Erörterung einer der wichtigſten ſtaatlichen Lebensfunktionen ſteht mit der Ausführlichkeit, welche anderen weit untergeordneteren Theilen des Staatsbaues zugewendet zu werden pflegt, in einem auffallenden Contraſt, und ſie kann dadurch nicht ausgeglichen wer - den, daß man außer einigen ſcholaſtiſchen Definitionen und Ein - theilungen hiſtoriſche Exkurſe über die Entwicklung des Gerichts - weſens und des Gerichtsverfahrens ſeit dem Mittelalter oder gar ſeit der Römerzeit einſchaltet. Damit kann dem Bedürfniß nach einer wiſſenſchaftlichen, zuſammenhängenden, dogmatiſchen Erörte - rung der Rechtsgrundſätze, welche das Weſen und Wirken des Staates der Gegenwart beherrſchen, nicht abgeholfen werden. Die Aufgabe iſt vielmehr dahin zu beſtimmen, daß die in der Gerichts - barkeit zur Anwendung und Ausübung kommenden Herrſchaftsrechte des Staates nach ihren Vorausſetzungen, ihrem Umfange und der Art ihrer Geltendmachung erkannt und dargeſtellt werden. Die Prozeßgeſetze enthalten neben den umfangreichen Vorſchriften über16§. 96. Einleitung.das Verfahren im weiteſten Sinne des Wortes, die man als die eigentlichen prozeſſualiſchen Rechtsſätze bezeichnen kann, einen ſehr erheblichen Beſtand an ſtaatsrechtlichen Normen. Dieſer Beſtand wird nach dem in der Deutſchen Rechtsliteratur beſtehen - den Herkommen in den Werken über Staatsrecht faſt ganz über - gangen, in den Werken über Civil - und Strafprozeß im Ge - menge mit dem eigentlichen Prozeßrecht behandelt. Wenngleich zugegeben werden muß, daß dieſe Behandlung Seitens der Pro - zeßrechtsſchriftſteller eine vollſtändige, den ganzen Stoff umfaſſende iſt, ſo iſt doch die Beleuchtung dieſes Stoffes eine einſeitige, da ſie eben nicht vom Standpunkt des Staatsrechts, ſondern von dem des Prozeßrechts aus geſchieht und da in Folge deſſen ſtaatsrechtliche und prozeſſualiſche Regeln fortwährend mit einander verknüpft, niemals einander gegenüber geſtellt werden. So wie das Strafgeſetzbuch eine reiche Quelle für das Staatsrecht iſt, deren Verwerthung nicht ausſchließlich den Strafrechtsſchriftſtellern überlaſſen bleiben kann, ſo ſind auch die Prozeßgeſetze auf ihren ſtaatsrechtlichen Inhalt zu unterſuchen und für das Staatsrecht zu verwerthen. Es gilt dies in beſonders hervorragendem Maaße von der Gerichtsverfaſſung, die eine ebenſo weſentliche und erhebliche Bedeutung für das Behördenſyſtem und die Aemter - verfaſſung des Staates wie für die Ordnung des Prozeſſes, der Zuſtändigkeitsnormen, des Verfahrens, der Rechtsmittel u. ſ. w. hat.

Wenn es ſonach für das öffentliche Recht jedes Staates als eine Aufgabe der Wiſſenſchaft hingeſtellt werden muß, die ſtaats - rechtlichen Vorſchriften über die Gerichtsbarkeit von den prozeß - rechtlichen Vorſchriften über das gerichtliche Verfahren auszuſon - dern, ſo bietet für das Staatsrecht des Deutſchen Reiches die Ge - ſetzgebung über das Gerichtsweſen noch eine andere Seite von ſehr weitreichender Bedeutung dar. Sie ſteckt nämlich auf einem ſehr umfaſſenden und wichtigen Gebiete die Gränzen ab, welche der Autonomie und Gerichtsgewalt der Einzelſtaaten gezogen ſind; ſie legt den Einzelſtaaten Verpflichtungen und Beſchränkungen auf; ſie normirt die ihnen auf dem Gebiet der Rechtspflege zuſtehenden Herrſchaftsrechte; in ihr wird der Einfluß des unter den Einzel - ſtaaten beſtehenden bundesſtaatlichen Verhältniſſes und der über ihnen errichteten ſouveränen Reichsgewalt in Bezug auf die Rechts - pflege fixirt.

17§. 96. Einleitung.

Von dieſen Geſichtspunkten aus iſt die folgende Darſtellung unternommen. Freilich iſt eine völlig ſcharfe Trennung der pro - zeſſualiſchen und der ſtaatsrechtlichen Sätze über die Gerichtsbarkeit kaum möglich; bei vielen Punkten kann man zweifelhaft ſein, ob ſie dem einen oder andern Gebiete zuzuweiſen ſeien. Auch die hier folgende Darſtellung hätte ſich noch auf manche andere Lehre erſtrecken und dafür vielleicht den einen oder anderen Punkt über - gehen können; ich bin in dieſer Hinſicht auf tadelnde Urtheile ge - faßt; aber der Verſuch mußte einmal gewagt werden, auf dieſem Gebiete die Gränzen des Deutſchen Staatsrechts richtiger als es bisher geſchehen iſt und als es bisher wol auch möglich war, zu beſtimmen.

Nur einen Punkt möchte ich hier, um Mißverſtändniſſen vor - zubeugen, noch beſonders hervorheben. Die Zwangsmittel gegen die Parteien, welche der Staatsgewalt geſetzlich zu Gebote ſtehen, um im gerichtlichen Verfahren die materielle Wahrheit zu ermitteln und um das Urtheil zu vollſtrecken, bieten zwar unzweifelhaft auch eine Seite für die ſtaatsrechtliche Betrachtung dar; hier fallen aber die Regeln über die Vorausſetzungen, den Umfang und die Formen der Geltendmachung faſt vollſtändig mit den Regeln über das Prozeß-Verfahren zuſammen. Ein näheres Eingehen auf dieſe Materien würde daher in der That dazu nöthigen, ſehr umfang - reiche Partien des Straf - und Civilprozeßrechts hier aufzunehmen, die, aus dem Zuſammenhange mit den übrigen Lehren des Pro - zeßrechts geriſſen, des wiſſenſchaftlichen Intereſſes ermangeln. Hier - hin gehören im Strafprozeß die Befugniſſe der Gerichte und an - deren bei der Strafverfolgung mitwirkenden Behörden zur Beſchlag - nahme, zur Durchſuchung, zur Verhaftung und vorläufigen Feſt - nahme, zur Vorführung des Beſchuldigten, ſowie die geſammte Lehre von der Strafvollſtreckung; im Civilprozeß der Zwang zum perſönlichen Erſcheinen der Parteien in Eheſachen1)Civilproz. O. §. 579. und im Kon - kurſe2)Konk. Ordn. §. 93. 98., die Editionspflicht3)Civilproz. O. §. 387 ff. 394 ff. Im Falle der §§. 133 u. 134 der Civilproz. O. handelt es ſich nicht um eine öffentlich-rechtliche Pflicht, ſondern um ein Beweisrecht der Partei; die Nichtbefolgung der gerichtlichen und ebenfalls die geſammte LehreLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 218§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.von der Zwangsvollſtreckung. Die Darſtellung aller dieſer Rechts - materien iſt daher mit Vorbedacht hier übergangen worden.

III. Auch eine Angabe der Literatur über das gegenwärtige Gerichtsweſen des Deutſchen Reiches ſcheint an dieſer Stelle nicht erforderlich zu ſein. Es iſt allbekannt, eine wie große Zahl von Kommentaren, ſyſtematiſchen Werken, Abhandlungen u. ſ. w. durch den Abſchluß der Reichs-Prozeßgeſetzgebung hervorgerufen worden iſt. Eine, auch nur einigermaßen vollſtändige Aufzählung dieſer Werke würde einen großen Raum beanſpruchen; ſie erſcheint um ſo entbehrlicher als die rechtswiſſenſchaftlichen Zeitſchriften, insbe - ſondere die dem Civilprozeß und dem Strafprozeß vorzugsweiſe gewidmeten, ſich angelegen ſein laſſen, alle dieſe Materie betreffen - den literariſchen Erſcheinungen zu verzeichnen.

§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.

I. Gerichtsbar iſt dem Wortſinne nach Alles, was zum Geſchäftskreiſe oder der Zuſtändigkeit der Gerichte gehört, was ge - eignet iſt, vor Gericht gebracht und daſelbſt verhandelt und erle - digt zu werden; Gerichtsbarkeit im objektiven Sinne iſt die Ge - ſammtheit dieſer Angelegenheiten; Gerichtsbarkeit im ſubjektiven Sinne iſt die Befugniß, dieſe Angelegenheiten in rechtswirkſamer Weiſe zu erledigen, reſp. die zu ihrer Erledigung beſtimmten Ge - richte einzuſetzen und die Art und Weiſe der Erledigung zu regeln. Eine materielle, juriſtiſch verwendbare Definition der Gerichts - barkeit aber kann nicht im Allgemeinen gegeben werden, ſo ſehr man ſich auch bemüht hat, eine ſolche aufzuſtellen, da unter der Bezeichnung Gericht ſehr zahlreiche und verſchiedenartige Be - hörden verſtanden werden und die Abgränzung der Geſchäfte, welche den als Gerichten bezeichneten Behörden zugewieſen ſind, eine wechſelvolle und willkührliche iſt. Nur mit Rückſicht auf ein be - ſtimmtes poſitives Recht und eine beſtimmte poſitive Behörden - verfaſſung kann man die Gerichtsbarkeit definiren, d. h. alle diejenigen Angelegenheiten aufzählen, welche gerichtsbar ſind. Die Gerichtsbarkeit bildet den Gegenſatz zu den durch die Ver - waltungsbehörden zu führenden Geſchäften; aber dieſer Gegenſatz3)Anordnung hat daher keine Zwangsmittel, ſondern lediglich prozeſſualiſche Nach - theile im Gefolge.19§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.fällt nicht zuſammen mit dem Gegenſatz der Verwaltung und Recht - ſprechung; denn die Gerichtsbarkeit umfaßt auch Verwaltungs - geſchäfte, ſoweit dieſelben nämlich den Gerichten obliegen, und es kann andrerſeits den Gerichten die Erledigung gewiſſer Rechts - ſtreitigkeiten entzogen und Verwaltungsbehörden übertragen ſein.

II. Nach den verſchiedenen Kategorien von Gerichten oder nach den verſchiedenen Kategorien der den Gerichten übertragenen Geſchäfte laſſen ſich zahlloſe Eintheilungen der Gerichtsbarkeit aufſtellen1)Eine Zuſammenſtellung ſolcher Eintheilungen iſt praktiſch und theore - tiſch gänzlich werthlos; ſie kann höchſtens gewiſſen ſcholaſtiſchen Gewohnheiten und Neigungen entſprechen; für einen beſtimmten praktiſchen oder theoretiſchen Zweck iſt immer nur eine Eintheilung von Bedeutung.

Für das Reichsſtaatsrecht iſt aber Eine Eintheilung der Gerichtsbarkeit von hervorragender Wichtigkeit, wonach das Ge - ſammtgebiet derſelben in zwei große Theile zerfällt. Der eine dieſer beiden Theile wird gebildet von der ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit, der andere von allen übrigen zur Ge - richtsbarkeit gehörenden Bethätigungen der Staatsgewalt. Die eingreifende ſtaatsrechtliche Bedeutung dieſer Unterſcheidung beſteht darin, daß die Ausübung der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbar - keit durch Reichsgeſetze geregelt, die der übrigen Gerichtsbarkeit zur Zeit noch im Weſentlichen der Autonomie der Einzelſtaaten überlaſſen iſt, daß ſonach das Verhältniß der Einzelſtaaten zum Reich auf dieſen beiden Gebieten ein weſentlich verſchiedenes iſt.

Obgleich im Art. 2 des Einführungsgeſetzes zum Gerichtsver - faſſungsgeſetz der Grundſatz ſanctionirt iſt, daß die Vorſchriften des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes nur auf die ordentliche ſtreitige Gerichts - barkeit und deren Ausübung Anwendung finden, hat die Reichsgeſetz - gebung den Begriff der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit nicht de - finirt. Das Gerichtsverfaſſungsgeſetz hat aber im Art. 12 diejenigen Gerichte aufgezählt, durch welche die ordentliche ſtreitige Gerichts - barkeit ausgeübt wird und im Art. 13 die Zuſtändigkeit dieſer Ge - richte dadurch normirt, daß es ihnen alle bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten und Strafſachen zuweiſt, welche ihnen nicht entzogen ſind, ſei es durch gänzliche Verſagung des Rechtsweges, ſei es durch Errichtung beſonderer Gerichte. Hienach läßt ſich aus der Reichsgeſetzgebung die formale Definition2)Daß die Anordnung des Art. 13 cit. eine ſachliche Begränzung der gewinnen:

2*20§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.

Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit umfaßt diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche vor die im Art. 12 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes aufgezählten (ſogenannten ordentlichen ) Gerichte gehören.

Im Einklange hiemit iſt in den Einführungsgeſetzen zur Civil - prozeßordnung und zur Strafprozeßordnung §. 3 beſtimmt, daß dieſe Prozeßgeſetze auf diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten beziehentl. Strafſachen, welche vor die ordentlichen Gerichte gehören, Anwendung finden; d. h. daß ſie nur für die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit vom Reich erlaſſen ſind.

Nach dieſer Definition der ordentlichen ſtreitigen Gerichts - barkeit wird dieſelbe durch folgende Begriffsmomente, die einer näheren Erörterung bedürfen, beſtimmt:

1. Die ſtreitige Gerichtsbarkeit iſt nicht auf die Fälle beſchränkt, in welchen ein Streit der Parteien zu entſcheiden iſt, ſondern ſie umfaßt auch diejenigen Rechtsangelegenheiten, in wel - chen der Beklagte den Anſpruch des Klägers anerkennt oder die ihm zur Laſt gelegte ſtrafbare Handlung zugeſteht. Als ſtreitig wird die Gerichtsbarkeit nur deshalb bezeichnet, weil dem Ver - klagten oder Angeklagten die Befugniß zuſteht, Widerſpruch gegen den Klageantrag zu erheben und deshalb die rechtliche Mög - lichkeit eines Streites gegeben iſt. Die ſtreitige Gerichtsbarkeit ſetzt Parteien voraus, welche unter einander einen Rechtsſtreit haben können1)Vgl. Hauſer, Gerichtsverfaſſung S. 53 ff. A. S. Schultze, Kon - kursrecht S. 144.. Dieſe rechtliche Möglichkeit iſt maßgebend für die ganze Einrichtung der zur Handhabung der Rechtspflege be - ſtimmten Behörden und für die Struktur des Verfahrens; in der Erledigung des Streites liegt der Schwerpunkt des Prozeſſes. Für den Begriff der ſtreitigen Gerichtsbarkeit als einer ſtaat - lichen Funktion iſt aber die Entſcheidung eines Rechtsſtreites nicht weſentlich, da einerſeits die ſtreitige Gerichtsbarkeit des Staates in zahlreichen Fällen ausgeübt wird, in denen es an einem Streit völlig gebricht, und andererſeits die Entſcheidung eines Rechtsſtreites durch Urtheil auch ohne alle Mitwirkung ſtaat - licher Behörden und ohne Inanſpruchnahme ſtaatlicher Hoheits -2)Gerichtsbarkeit nicht enthält, wird von Löwe, Strafprozeßordn. S. 31 ff. ſehr treffend dargelegt.21§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.rechte erfolgen kann1)Durch Schiedsſpruch oder durch Erkenntniß auswärtiger Gerichte, die im Inlande nicht Verwalter von ſtaatlichen Hoheitsrechten ſind, deren Ur - theile aber trotzdem unter gewiſſen Vorausſetzungen hinſichtlich des unter den Parteien beſtehenden Rechtsverhältniſſes maßgebend ſein können. Civilproz. O. §. 660. 661.. Zwar umfaßt die ſtaatliche Aufgabe der Handhabung des Rechtsſchutzes auch die Verhandlung und Ent - ſcheidung etwaiger Rechtsſtreitigkeiten; aber es iſt hierin nur ein accidentieller Beſtandtheil dieſer Aufgabe zu erblicken, welcher nur unter gewiſſen Vorausſetzungen ſich einmiſcht und welcher unbeſchadet des Weſens der ſtreitigen Gerichtsbarkeit auch fehlen kann.

Hienach erhebt ſich die Frage, worin denn das Weſen der ſtreitigen Gerichtsbarkeit beſteht und in welcher Weiſe die Staatsgewalt in ihr ſich geltend macht. Es bedarf keiner Ausführung, daß die Beantwortung dieſer Frage für das Verſtändniß des Gerichtsweſens als eines Theiles des Staatsweſens, ebenſo aber auch für die Auffaſſung des Prozeſſes, der rechtlichen Natur der Klage, Streiteinlaſſung, Contumaz, des Urtheils u. ſ. w. maßgebend iſt. Dieſe Löſung aber kann nicht gefunden werden von irgend welchen prozeſſuali - ſchen Rechtsbegriffen aus, die vielmehr erſt aus ihr abgeleitet werden können, ſondern nur aus dem Staatsbegriff und den an - erkannten Prinzipien über die Aufgaben des Staates. Hier iſt nun mit Rückſicht auf die heutige Geſtaltung der ſtaatlichen Auf - gaben zwiſchen der Gerichtsbarkeit in privatrechtlichen Angelegen - heiten und derjenigen in öffentlich rechtlichen zu unterſcheiden.

a) In Betreff der bürgerlichen Rechtsverhältniſſe erkennt der Staat die Freiheit der Individuen innerhalb der von der Rechtsordnung gezogenen Schranken an. Inſoweit dieſe Schranken freien Spielraum laſſen, hat der Staat kein Intereſſe daran, wie die privatrechtlichen Verhältniſſe der Einzelnen geſtaltet werden; er ſichert den Individuen grade dadurch einen gewiſſen Kreis per - ſönlicher Freiheit, daß er ihre privatrechtlichen Beziehungen nicht regelt, nicht inhaltlich fixirt. Er hat daher auch nicht die Auf - gabe darüber zu wachen, daß die in Folge dieſer Freiheit begrün - deten Anſprüche im Einklang mit den objektiven Rechtsregeln realiſirt werden. Das bürgerliche Unrecht als ſolches ruft nicht22§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.die Repreſſion des Staates hervor; er iſt nicht der Wächter und Beſchützer der Privatrechte um ihrer ſelbſt willen; er ſtatuirt viel - mehr ebenſo wie in der Begründung, ſo auch in der Geltend - machung der Rechtsanſprüche das Dispoſitionsrecht der Parteien1)Bülow, Dispoſitives Civilprozeßrecht (Arch. f. civil. Praxis Bd. 64) S. 12 ff. Ausgenommen ſind nur diejenigen Verhältniſſe, welche zwar in ge - wiſſen Beziehungen, z. B. prozeſſualiſch, als privatrechtliche behandelt werden, an denen der Staat aber ein Dispoſitionsrecht der Parteien nicht anerkennt, weil ſie öffentlich-rechtlicher Natur ſind, wie z. B. die Ehe.. Der Staat hat daher kein unmittelbares Intereſſe, die Privatrechts - verhältniſſe der ihm unterworfenen Individuen feſtzuſtellen und ſeine Aufgabe kann unmöglich darin beſtehen, den Parteien durch Urtheile der Gerichte authentiſche Belehrungen über das wechſel - ſeitige Maaß ihrer Anſprüche und Verpflichtungen zu ertheilen2)Aus dieſem Grunde iſt in Civilprozeſſen das Gericht nicht befugt, einer Partei etwas zuzuſprechen, was nicht beantragt iſt. Civilpr. O. §. 279..

Die ſtaatliche Aufgabe beſteht vielmehr nur darin, den ihm unterworfenen Perſonen Rechtsſchutz zu gewähren, d. h. den Landfrieden aufrecht zu erhalten und die Selbſthülfe auszuſchließen und dafür dem Einzelnen mittelſt der Staatsgewalt zu ſeinem Rechte zu verhelfen. Die Erfüllung dieſer Aufgabe erkennt der Staat als ſeine Pflicht an und hieraus ergibt ſich, daß der Einzelne ein Recht hat, die Gewährung des Rechtsſchutzes vom Staat zu verlangen, ſo oft er derſelben benöthigt iſt3)Es bedarf wol kaum der Hervorhebung, daß das Recht, welches durch Anſtellung der Klage ausgeübt wird, ſich nicht gegen den Richter, ſondern gegen den Staat richtet. Deſſenungeachtet iſt dieſe Verwechslung ziemlich häufig; ſie macht ſich namentlich auch bemerkbar in den Erörterungen von Wach in Grünhut’s Zeitſchrift Bd. VI. S. 554 ff. und Bd. VII. S. 134 ff., wo ſie zu ſehr unhaltbaren Folgerungen führt. Der Richter kommt nur als Organ des Staates in Betracht und am Prozeß-Rechtsverhältniß iſt nicht der Rich - ter , ſondern der Staat betheiligt. Der Richter, welcher Recht weigert, verletzt allerdings nur ſeine Amtspflicht (Wach VI. S. 555) und hiergegen iſt durch Beſchwerde bei der höheren Inſtanz und durch die Mittel der Dis - ciplinargewalt Abhülfe zu gewinnen; dagegen der Staat, welcher Recht weigert, verletzt die aus ſeinem Zweck ſich ergebende Schutzpflicht; hier giebt es dem ſouverainen Staat gegenüber keine Hülfe, in Deutſchland gegen - über den Einzelſtaaten eine Beſchwerde an das Reich (Bundesrath) auf Grund des Art. 77 der R.V.. Die Klage iſt demnach die Bitte um Gewährung dieſer ſtaatlichen Hülfe; das Geſuch, ein ſubjectives Recht unter23§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.den Schutz des Staates zu nehmen und dadurch ſeine Anerkennung und Verwirklichung zu ſichern, eventuell ſie zu erzwingen. Das Urtheil iſt die Entſcheidung über Gewährung oder Verſagung dieſer Bitte. Dieſes Urtheil iſt durch die Be - antwortung von zwei ganz verſchiedenen Vorfragen beſtimmt; erſtens ob im concreten Falle alle diejenigen Vorausſetzungen vor - handen ſind, unter denen der Staat die Pflicht zur Einſetzung ſeiner Gewalt anerkennt, der Kläger alſo einen Anſpruch gegen den Staat auf Gerichtshülfe hat, und zweitens ob dem Kläger gegen den Verklagten der von ihm behauptete Rechts - anſpruch zuſteht. Die erſte Frage betrifft das ſtaatsrechtliche (Prozeß -) Verhältniß, gehört alſo dem öffentlichen Rechte an; die zweite betrifft das dem Prozeß vorausgehende, zu demſelben nur den Anlaß gebende Rechtsverhältniß und iſt gewöhnlich eine privat - rechtliche1)Auf dieſen, für die wiſſenſchaftliche Erkenntniß des Civilprozeßrechts entſcheidenden Gegenſatz mit Nachdruck hingewieſen zu haben, iſt das große Verdienſt Bülow’s. Vgl. deſſen Lehre von den Prozeßeinreden und Prozeß - vorausſ. Gießen 1868 S. 1 ff. und ſeine trefflichen Abhandlungen im Arch. f. civil. Prax. Bd. 62 S. 75 ff. Bd. 64 S. 8 ff. Vgl. ferner Degenkolb, Einlaſſungszwang und Urteilsnorm Leipz. 1877 S. 26 ff. und beſonders die vorzügliche Ausführung Sohm’s in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. IV. S. 467 ff..

Der Klageantrag braucht ſich mit dem Anſpruch an den Ver - klagten nicht zu decken; er kann auf einen Theil des Anſpruchs gerichtet ſein oder über ihn hinaus gehen; ja er kann wirkſam ge - ſtellt werden, ohne daß dem Kläger in Wahrheit überhaupt ein gültiger Anſpruch an den Verklagten zuſteht2)Vgl. auch Wach, Vorträge über die Civilproz. O. S. 15 Anm.. Die Klage richtet ſich wenigſtens nach dem heutigen Recht nicht gegen den Verklagten mit dem Anſpruch, daß er leiſte, ſondern gegen den Staat, mit dem Antrag, daß er den Verklagten zur Leiſtung zwinge. Der Kläger hat überhaupt gar keinen Rechtsanſpruch an den Verklagten, daß dieſer ſich mit ihm in einen Prozeß ein - laſſe, ſondern er hat an den Verklagten nur den aus dem Privat - rechtsverhältniß reſultirenden Anſpruch auf Leiſtung. Von einer Einlaſſungspflicht des Verklagten, wenn eine ſolche beſtünde3)Zu einer eingehenden Erörterung dieſer in neueſter Zeit vielfach be - handelten Streitfrage liegt an dieſer Stelle keine Veranlaſſung vor., könnte24§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.nur geſprochen werden gegenüber dem Staate, nicht gegenüber dem Kläger1)Es kann keine Verpflichtung des Verklagten exiſtiren, Recht zu geben, wie Wach in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. VII. S. 171 in Uebereinſtimmung mit einer weit verbreiteten Anſchauung ſagt; denn Recht giebt nur der Staat; der Verklagte dagegen giebt dasjenige, worauf ſein dare facere praestare oportere geht, alſo Geld, Gut u. ſ. w.. Einer ſolchen Einlaſſungspflicht bedarf es aber nicht, um den Verklagten der ſtaatlichen Gerichtsbarkeit zu unter - werfen; denn die letztere, welche mit der Staatsgewalt identiſch iſt, ergreift die dem Staate unterworfenen Perſonen ohne ihren Willen und ohne ihr Zuthun2)Vgl. A. S. Schultze a. a. O. S. 147.. Es gibt keine Pflicht, ſich der Staats - gewalt zu unterwerfen , ſondern nur einen Rechtszuſtand des Unter - worfenſeins unter die Staatsgewalt. In manchen Fällen gewährt der Staat ja auch wenigſtens proviſoriſch oder unter Vorbehalten den verlangten Rechtsſchutz auf einſeitigen Vortrag des Klägers. Regelmäßig aber läßt der Staat, bevor er über den Klageantrag befindet, den Verklagten zur Vertheidigung und zur Erhebung des Widerſpruchs zu. Der letztere kann eine doppelte Richtung haben. Er kann die ſtaatsrechtliche Seite des Prozeſſes betreffen d. h. darauf gegründet werden, daß der Verklagte der Gerichts - barkeit des Staates nicht unterworfen ſei oder daß dem Kläger für den von ihm behaupteten Anſpruch aus materiellen oder for - mellen Gründen der Rechtsſchutz des Staates nicht gewährt werden dürfe u. ſ. w. Er kann aber auch die privatrechtliche Grundlage der Klage betreffen d. h. denjenigen Anſpruch des Klägers gegen den Verklagten, für deſſen Durchführung in der Klage die Staats - hülfe verlangt wird. Alsdann iſt zunächſt feſtzuſtellen, ob der Kläger den von ihm behaupteten Rechtsanſpruch darzuthun ver - mocht hat; dieſe Feſtſtellung iſt aber niemals das eigentliche End - ziel des Prozeſſes; ſie iſt nur präparatoriſch für die Hauptentſchei - dung, ob dem Kläger zur Durchführung ſeines Anſpruches die Macht des Staates zu leihen ſei oder nicht. Die Gerichte ſind Verwalter der ſtaatlichen Herrſchermacht und ihre Urtheile ſind keine von Staatswegen ertheilten Rechtsgutachten oder Wahr - ſprüche, ſondern Bethätigungen der Staatsgewalt. Dadurch, daß der Staat durch das Gericht als ſein Organ in der formellen Weiſe des Urtheils den im Tenor bezeichneten Rechtsanſpruch aner -25§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.kennt, wird von ihm ein Recht in concreto1)Ueber den Unterſchied zwiſchen dem ſubjectiven Recht und dem Recht in concreto d. h. der objectiven Feſtſtellung des ſubjektiven Rechts vgl. Bähr, Rechtsſtaat S. 6 Anm. 1 Bülow, Arch. f. civil. Prax. Bd. 62 S. 93 Anm. 72. A. S. Schultze a. a. O. S. 148. ſanctionirt, wie im Geſetz ein Rechtsſatz in abstracto; und ebenſo wie das Geſetz nicht blos die Feſtſtellung und Formulirung eines Rechtsſatzes, ſondern die Ausſtattung deſſelben mit verbindlicher Kraft iſt d. h. den Befehl enthält ihn zu befolgen, ſo iſt auch das Urteil nicht blos Feſtſtellung des concreten Rechts, ſondern zugleich Befehl an den Verklagten, den Rechtsanſpruch zu erfüllen, unter der Drohung, daß im Falle des Zuwiderhandelns auf Verlangen des Klägers die Befolgung dieſes Befehls durch die Staatsgewalt und durch die phyſiſchen Machtmittel des Staates erzwungen werden würde2)Vgl. hierüber die eindringenden Unterſuchungen von Degenkolb §§. 14 ff. Er ſagt S. 100 vom älteren Deutſchen Prozeß: Der Urteilsim - perativ iſt der Imperativ des Geſetzes. . Nur in dem letzteren Beſtandtheil des Urtheils, in der Vollſtreckbarkeitserklärung des Anſpruchs, liegt die ſpezifiſch ſtaats - rechtliche Funktion3)Unter der Vollſtreckung iſt in dieſem Sinn nicht blos die Erzwing - ung von Handlungen, die Wegnahme von Werthobjekten u. dgl. zu verſtehen, ſondern ganz allgemein die Bereitſtellung der ſtaatlichen Macht zur Sicher - ſtellung des ſubjektiven Rechts. Hierin liegt die ſtaatsrechtliche Bedeu - tung der Rechtskraft , die mit der prozeſſualiſchen Bedeutung nicht zuſammenfällt. Die Macht des Staats ſteht hinter dem Urtheil und dieſer Umſtand genügt in der Regel, um den Verurtheilten zur Befolgung des Ur - theilsbefehls zu veranlaſſen, ohne daß es eigentlicher Exekutionsmaßregeln oder gar der Entfaltung phyſiſcher Macht bedarf; die Ausſicht auf dieſelben wirkt bereits als Zwang. Dies gilt auch von den ſog. Feſtſtellungsurtheilen (Civilproz. O. 231)..

Dem ſcheint zwar der äußere Vorgang und der Wortlaut des Urtheils zu widerſprechen; es wiederholt ſich hier aber nur eine Erſcheinung, die auf dem Gebiete des Staatsrechts uns mehrfach entgegentritt, daß nämlich der eigentlich maßgebende, den juriſti - ſchen Vorgang enthaltende Akt zurücktritt gegenüber denjenigen Vorbereitungshandlungen, die aus thatſächlichen Gründen die über - wiegende praktiſche Bedeutung haben. Bei der Geſetzgebung liegt der Schwerpunkt thatſächlich in der definitiven Feſtſtellung des Geſetzentwurfs (Findung der Rechtsregel), die Sanktion dagegen26§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.entzieht ſich faſt der Wahrnehmung1)Vgl. Bd. II. S. 34.; bei den Staatsverträgen beſteht daſſelbe Verhältniß hinſichtlich der Herſtellung des völker - rechtlichen Vertrags und der ſtaatlichen Vollziehbarkeitserklärung2)Vgl. Bd. II. S. 157 ff.,. So iſt auch bei der Erledigung bürgerlicher Rechtsſtreitigkeiten die Feſtſtellung des concreten Rechts allein von praktiſcher Wichtigkeit; daß der urtheilsmäßig anerkannte Rechtsanſpruch unter den Schutz des Staates genommen und eventuell mit den ſtaatlichen Macht - mitteln durchgeführt wird, verſteht ſich von ſelbſt und braucht nicht beſonders erklärt zu werden. Es genügt, wenn das Urtheil ſagt, daß der Verklagte ſchuldig ſei dem Kläger 100 zu zahlen; die Hauptſache, nämlich der ſtaatliche Befehl an den Verklagten, auf Verlangen des Klägers dieſe Summe zu zahlen und die Drohung, daß der Staat nöthigenfalls dies erzwingen würde, bleibt als ſelbſtverſtändlich fort3)Eine Hinweiſung iſt aber nicht ausgeſchloſſen; öfters wird dem Tenor die Klauſel: bei Vermeidung der Exekution hinzugefügt; im mittelalterlichen Verfahren ſchloß ſich an die Findung des Urtheils (Wahrſpruchs der Schöffen) das ihm entſprechende Gebot des Richters. Vgl. Planck, das Deutſche Gerichtsverf. im M.A. I. Bd. S. 301 ff. Parallelen aus anderen Rechtskreiſen laſſen ſich leicht nachweiſen. Vgl. Degenkolb a. a. O. S. 98 ff.. Hieraus wird es erklärlich, daß nach einer faſt allgemein herrſchenden, offenbar durch römiſch rechtliche Prozeßinſtitutionen beeinflußten Anſchauung das Weſen des Ur - theils in der Entſcheidung über das Rechtsverhältniß geſehen, da - gegen der dahinter ſtehende Befehl, dem Urtheil Folge zu leiſten, als etwas Nebenſächliches oder Zufälliges erachtet wird.

Der wahre ſtaatsrechtliche Charakter des rechtskräftigen Ur - theils wird klar, wenn man den Schiedsſpruch und ſeine Wirkungen mit ihm in Vergleich ſtellt. In der Civil-Proz. -Ordn. §. 866 heißt es zwar: Der Schiedsſpruch hat unter den Parteien die Wirkungen eines rechtskräftigen gerichtlichen Urtheils ; dies wird aber ſofort durch die folgenden Beſtimmungen in der bündigſten Weiſe wider - legt, indem in §. 867 aus beſtimmten Gründen die Klage auf Aufhebung des Schiedsſpruches zugelaſſen iſt und nach §. 868 aus dem Schiedsſpruche die Zwangsvollſtreckung nur ſtattfindet, wenn ihre Zuläſſigkeit durch ein Vollſtreckungsurtheil ausge - ſprochen iſt. Dem Schiedsſpruch fehlt alſo gerade die für das27§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.rechtskräftige Urtheil charakteriſtiſche Wirkung; er leitet ſeine Kraft aus dem Schiedsvertrag der Parteien ab und er wirkt daher nach Art des Vertrages; das gerichtliche Urtheil leitet ſeine Kraft aus dem Herrſchaftsrecht des Staates ab und wirkt daher nach Art des Befehles. Der Schiedsſpruch ſchließt prozeſſualiſch ebenſo wie das Anerkenntnis die richterliche Prüfung und Beurtheilung des Rechtsanſpruches aus, aber er ſtellt dem Berechtigten nicht die Zwangsgewalt des Staates zur Durchführung dieſes Anſpruchs zur Verfügung; hierzu bedarf es eines gerichtlichen Urtheils1)Sowohl im Röm. Formularprozeß als in dem mittelalterlichen Ver - fahren iſt die Feſtſtellung des Rechtsanſpruchs (judicium) an Perſonen gewieſen, welche nicht Träger der Staatsgewalt ſind, während die Gerichts gewalt (imperium, bannum) durch Organe des Staates ausgeübt wird. Erſt ſeitdem die beamteten gelehrten Richter beide Funktionen vereinig - ten, konnte die Urtheilsfindung als Bethätigung eines ſtaatlichen Hoheitsrechts, ja als der Kernpunkt der ſtaatlichen Rechtspflege aufgefaßt werden..

b) Auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts iſt die Bedeutung der Gerichtsbarkeit eine etwas andere; ſie iſt hier nur die Form, in welcher ſtaatliche Herrſchaftsrechte durchgeführt werden. Es gilt dies insbeſondere von der, uns hier vorzugs - weiſe intereſſirenden Strafgerichtsbarkeit. Der Staat hat die ſelbſtſtändige Verpflichtung, gegen den Bruch der Rechtsordnung mittelſt ſeiner Strafgewalt zu reagiren; er ſtellt nicht ſeine Macht einem Individuum zum Schutz ſeiner Rechte zur Verfügung, ſon - dern er übt dieſe Macht im eigenen Intereſſe, zur Aufrechterhaltung und Wiederherſtellung ſeiner eigenen Rechtsordnung aus. Es handelt ſich alſo nicht um zwei von einander begrifflich verſchiedene Rechts - beziehungen wie im Civilprozeß (Privatrechtsverhältniß und ſtaat - liche Rechtshülfe), ſondern um eine einheitliche Funktion, die Handhabung der Strafgewalt2)Vgl. Heinze, Zur Phyſiologie des Strafprozeſſes. Im Gerichtsſaal Bd. 28 S. 561 ff. beſonders S. 579.. Damit dieſelbe aber in jedem einzelnen Falle ohne Willkühr und Parteilichkeit ſich vollziehe, iſt ihre Ausübung an einen geſetzlich beſtimmten Weg gewieſen; die Vollſtreckung der Strafe ſoll ſich nicht nach Art der Rache unmit - telbar an die verbrecheriſche That ſchließen, ſondern es ſoll ein Urtheil des Gerichts dazwiſchen treten, durch welches die Schuld und die Strafe nach Maßgabe der objectiven Rechtsnormen und28§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.der Umſtände des Falls feſtgeſtellt werden1)Sowie das Urtheil im Civilprozeß das Recht in concreto feſtſtellt und ſanctionirt, ſo wird dem Staat und dem Angeklagten durch das ſtrafprozeſſua - liſche Urtheil das Strafrecht in concreto gefunden. Hierauf beruht das gemeinſame Moment des Civil - und Strafprozeſſes und die Zuſammenfaſſung beider zum Begriff der ſtreitigen Gerichtsbarkeit. Einen anderen Weg, um das gemeinſame begriffliche Merkmal der Civil - und Straf - gerichtsbarkeit zu beſtimmen, ſchlägt Regelsberger ein in Pözl’s Kritiſcher Vierteljahresſchrift Bd. IV. (1862) S. 52 ff. beſ. S. 65 ff., dem im Weſent - lichen v. Gerber, Grundzüge §. 55 zuſtimmt, den ich aber nicht für rich - tig halte.. Dieſe Feſtſtellung kann nicht erſetzt werden durch Schiedsſpruch oder Anerkenntnis; ſie erfolgt nicht um einen Streit zu ſchlichten; ſie iſt auch nicht bloß im Intereſſe des Angeſchuldigten eingeführt, ſondern ſie ſoll den[Staat ſelbſt] vor dem Mißbrauch ſeiner Staatsgewalt ſchützen und ihm eine Garantie gewähren, daß dieſe Gewalt nach den Ge - boten der Gerechtigkeit gehandhabt werde. Die Strafgerichtsbar - keit fällt daher ſtaatsrechtlich mit der Strafgewalt ſelbſt zuſammen; der Strafprozeß iſt gleichſam der Weg, den die letztere in jedem einzelnen Anwendungsfall zu durchlaufen hat2)In dem Urtheil des Reichsgerichts (III. Strafſenat) v. 11. Juni 1881 (Entſch. in Strafſachen Bd. IV. S. 355 ff. ) heißt es: Die Auf - gabe des Strafproceſſes in jedem konkreten Falle beſteht darin, zu ermitteln und feſtzuſtellen, ob gegen den Angeklagten der Beweis einer ſtrafrechtlichen Schuld geführt worden ſei. Dies iſt zu eng; der Strafprozeß iſt in keinem Falle ein bloßes Beweisverfahren und ſein Endziel iſt nicht die Feſtſtellung der Schuld oder Nichtſchuld des Angeklagten, ſondern die Verhängung einer Strafe oder die Freiſprechung von derſelben.. Während die Verurtheilung im Civilprozeß die Gewährung eines Antrages auf Entfaltung der Staatsgewalt iſt, bedeutet die Verurtheilung im Strafprozeß die Erfüllung einer Bedingung (Voraus - ſetzung), an welche der Staat ſelbſt die Ausübung ſeiner eigenen Gewalt gebunden hat3)Im Gegenſatz hierzu beruht die Darſtellung des Deutſchen Strafver - fahrens von Planck (Göttingen 1857) auf der Anſchauung, daß die Pflicht des Verbrechers, ſich der Strafe zu unterwerfen, den Gegenſtand des Straf - verfahrens bildet und daß durch die öffentliche Klage der Staat ſein Recht auf Strafe gegen den Verbrecher gerichtlich geltend mache. S. 118 a. a. O..

2. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit beſchränkt ſich auf bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und auf Straf -29§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.ſachen1)Gerichtsverf. Geſ. §. 13.; was nicht unter dieſe beiden Kategorien fällt, iſt von ihr ausgeſchloſſen.

a) In der Reichsgeſetzgebung wird der Begriff der bürger - lichen Rechtsſtreitigkeit nirgends definirt; vielmehr wird in den Motiven zum Gerichtsverf. -Geſ. S. 322)Hahn Materialien S. 47. ausdrücklich be - merkt, daß dieſer Begriff keine oder doch nur eine durchaus un - genügende Definition leide und daß es unausführbar ſei, ihn ge - meinſam für alle deutſchen Staaten zu präziſiren, daß dieſer Be - griff aber ungeachtet ſeiner Verſchiedenheit in den verſchiedenen Gebieten des deutſchen Reichs überall geſetzlich ſei es im ge - ſchriebenen oder ungeſchriebenen Rechte fixirt ſei und daß dem - nach für die Beſtimmung einer Sache als bürgerliche Rechtsſtrei - tigkeit in erſter Linie die Reichsgeſetze, in weiterer Linie aber das Landesrecht des einzelnen Staates maßgebend ſei3)Auch die Kommiſſion des Reichstages lehnte es ab, in das Gerichtsverf. Geſ. eine Beſtimmung aufzunehmen, durch welche der Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitigkeit definirt würde. Vgl. Protok. I. Leſ. S. 469 ff. (Hahn S. 672 ff.).

Den Gegenſatz zur bürgerlichen Rechtsſtreitigkeit bildet in der hier in Rede ſtehenden Beziehung die Streitigkeit des öffentlichen Rechts, d. h. die Streitigkeit über ein Rechtsverhältniß, welches gar nicht oder nicht ausſchließlich zur Rechtsſphäre der Individuen ge - hört, ſondern als ein Theil der öffentlichen Rechtsordnung, als Ausfluß der ſtaatlichen Hoheitsrechte oder der Regierungs - und Verwaltungsthätigkeit anzuſehen und aus dieſem Grunde der Privatdispoſition der berechtigten oder verpflichteten Individuen ganz oder theilweiſe entrückt iſt4)Vgl. das Urth. des Reichsgerichts v. 15. Febr. 1881. Entſcheidungen in Civilſachen Bd. 3 S. 410 ff. Eine eingehende und beachtenswerthe Unter - ſuchung über den Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten giebt Hauſer Gerichtsverfaſſung S. 51 ff.. Die Abgränzung des Privat - rechts von dem öffentlichen Rechte iſt die Grundlage für den Gegen - ſatz der bürgerlichen und der nicht bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten. Dieſe Abgränzung iſt nicht a priori zu finden, ſondern ſie iſt be - dingt von dem in dem poſitiven Recht feſtgeſtellten Umfange und der Art der Geltendmachung der ſtaatlichen Hoheitsrechte auf den verſchiedenen Zweigen der ſtaatlichen Thätigkeit. Für einen Theil dieſer Thätigkeit hat das Reich durch ſeine Geſetze die Normen30§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.aufgeſtellt und die Gränzen bezeichnet, bis zu denen ſich das öf - fentliche Recht erſtreckt; inſoweit dient die Geſammtheit der Reichsgeſetzgebung negativ zur Feſtſtellung des Begriffes der bür - gerlichen Rechtsſache; das Reich hat andererſeits auch poſitiv durch eine ſehr umfangreiche Privatrechtsgeſetzgebung, z. B. das Handelsgeſetzbuch und ſeine Ergänzungen, die Wechſelordnung u. ſ. w., einen Kreis von Rechtsverhältniſſen fixirt, welche bürger - lich ſind. Im Uebrigen aber iſt es den Einzelſtaaten und ihrer Geſetzgebung überlaſſen, diejenigen Rechtsverhältniſſe, welche als öffentliche zu erachten und deshalb der Rechtsſphäre der Indi - viduen entrückt ſind, zu beſtimmen. Im Weſentlichen gehen die verſchiedenen Partikularrechte hierbei von gleichmäßigen Grund - ſätzen aus, die ſich aus der Natur der Sache und aus der Gleich - artigkeit der Lebensverhältniſſe und Staatseinrichtungen ergeben, eine volle Uebereinſtimmung in der Abgränzung der bürgerlichen Rechtsverhältniſſe von denen des öffentlichen Rechts beſteht aber keineswegs.

b) Sowie der Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitigkeit auf den Gegenſatz von Privatrecht und öffentlichem Recht hinweiſt, ſo beruht der Begriff der Strafſache, der dem Begriff der öffent - lichen Rechtsſtreitigkeit untergeordnet iſt, auf dem Gegenſatz des Strafrechts gegenüber der Adminiſtrativ - und Disciplinar-Zwangs - gewalt und den zur Durchführung derſelben gegebenen Mitteln. Eine Rechtsſache, bei welcher nicht die Anwendung eines Straf - geſetzes in Frage ſteht und das Endziel des Verfahrens bildet, iſt keine Strafſache . Hier iſt die Gränze verhältnißmäßig ſicherer wie bei den bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten. Zum großen Theil iſt ſie auch hier vom Reiche durch die Strafgeſetzbücher und die einzelnen Strafgeſetze, ſowie durch einzelne Verwaltungsgeſetze ge - zogen1)Vgl. Löwe Strafproz. O. S. 28 ff. (2. Aufl.); zum andern Theil iſt ſie durch die Landes ſtrafgeſetz - gebung beſtimmt. Aber auch hier beſteht keine vollſtändige Gleich - heit des Rechts, da die Autonomie der Einzelſtaaten auf dem ihr überlaſſenen Gebiete den Kreis der ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Intereſſen, die durch Strafſatzungen geſchützt werden, verſchieden abgegränzt hat.

3. Verſagung des Rechtsweges. Wenngleich im31§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.Allgemeinen davon auszugehen iſt, daß die bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten und Strafſachen zur Entſcheidung der Gerichte geſtellt werden, die ſtaats - und verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten da - gegen von anderen Behörden erledigt werden, ſo iſt dieſer Grund - ſatz doch in der Durchführung manchen Schwankungen und Modi - fikationen ausgeſetzt. Insbeſondere können gewiſſe Streitſachen, welche ſich nach der Natur des zu Grunde liegenden Rechtsver - hältniſſes als bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten oder als Strafſachen charakteriſiren, dennoch der Entſcheidung durch die Gerichte entzo - gen und Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten über - wieſen ſein, weil ſich an die Art der Behandlung und Erledigung dieſer Angelegenheiten ein beſonderes verwaltungsrechtliches oder politiſches Intereſſe knüpft. Welche Angelegenheiten dies ſind, iſt nicht durch ein einfaches und gemeingültiges Prinzip beſtimmt; es beantwortet ſich vielmehr dieſe Frage in jedem Einzelſtaate nach dem Geſammtinhalte ſeines Rechts. Von der ordentlichen Gerichts - barkeit ausgeſchloſſen ſind demnach nicht nur alle Angelegenheiten, welche ihrer Natur nach überhaupt keine bürgerlichen Rechtsſtrei - tigkeiten oder Strafſachen ſind, ſondern auch diejenigen Rechtsſachen, welche zwar an ſich dem Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitig - keiten oder Strafſachen ſich unterordnen ließen, für welche aber kraft poſitiver Rechtsvorſchrift die Zuſtändigkeit von Verwaltungs - behörden oder Verwaltungsgerichten begründet iſt. Das Reich hat für eine nicht unerhebliche Anzahl von Fällen die geſetzliche Anordnung getroffen, daß für ſie der Rechtsweg nicht ausgeſchloſ - ſen werden darf1)Vgl. die Zuſammenſtellung dieſer Fälle bei Keller, Gerichtsverf. Geſ. Note 5 u. 6 zu §. 13. Hauſer a. a. O. S. 64 ff. Thilo, Gerichtsverf. Geſ. S. 20 ff., und ebenſo für andere Fälle die Zuſtändigkeit von Verwaltungsbehörden oder des Bundesrathes anerkannt; im Allgemeinen aber hat das Reich es den Einzelſtaaten über - laſſen, die Zuläſſigkeit des Rechtsweges anzuerkennen oder zu ver - ſagen und damit die Linie zu ziehen, welche die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit von andern ſtaatlichen Functionen, insbeſondere von der Verwaltung, abgränzt2)Motive z. Gerichtsverf. Geſ. S. 33 (Hahn S. 48): Die Frage, welche Sachen den Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichten zuzuweiſen ſind, ſteht mit dem materiellen Rechte und dem inneren Staatsrechte der einzelnen. Damit iſt zugleich den Einzel -32§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.ſtaaten die Befugniß gewährt, die Geltungsſphäre der Reichsgeſetze betreffend die Gerichtsverfaſſung und das Prozeßverfahren einzu - ſchränken oder auszudehnen; ja es iſt ihnen mittelbar ſogar ein Einfluß auf den Umfang der Gerichtsbarkeit des Reiches gegeben, indem diejenigen Streitigkeiten, für welche der Rechtsweg bei den Landesgerichten verſagt iſt, auch nicht im Wege der Beſchwerde oder Reviſion zur Entſcheidung des Reichsgerichts gebracht werden können.

4. Ausſchluß der ordentlichen Gerichte. Den Einzelſtaaten ſteht es zwar frei abgeſehen von den in den Reichsgeſetzen für einzelne Fälle getroffenen Spezialanordnungen zu beſtimmen, für welche bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Straf - ſachen der Rechtsweg gänzlich ausgeſchloſſen ſein ſoll; inſoweit der Einzelſtaat aber den Rechtsweg geſtattet, iſt er dann nicht mehr befugt, die Verhandlung und Entſcheidung den ordentlichen Gerichten zu entziehen und beſonderen Gerichten zu übertragen. Hierzu iſt nach dem Gerichtsverf. -Geſ. das Reich allein berechtigt und es kann dieſe Befugniß in zweifacher Weiſe ausüben, theils indem es ſelbſt beſondere Gerichte beſtellt und dieſen gewiſſe Rechtsſachen zuweiſt, theils indem es für gewiſſe Rechtsſachen beſondere Gerichte zuläßt und es den Einzelſtaaten freiſtellt, ob ſie von der Erlaubniß zur Errichtung derſelben Ge - brauch machen wollen. Das Reich hat Beides gethan. Es hat beſondere Gerichte beſtellt, nämlich die Konſulargerichte1)Geſ. über die Konſulargerichtsbark. v. 10. Juli 1879. und die Militärgerichte2)Siehe Bd. III. 1. S. 119. 253 ff., wozu noch im Falle der Verhängung des Belagerungszuſtandes die Kriegsgerichte und Standrechte hinzu - kommen können3)Vgl. Bd. III. 1. S. 45 ff.. Es hat ferner beſondere Gerichte zuge - laſſen4)Gerichtsverf. Geſ. §. 14., nämlich die auf Staatsverträgen beruhenden Rhein - ſchifffahrts - und Elbzollgerichte5)Vgl. hierüber die Motive S. 34 (Hahn S. 49)., agrariſche Gerichte6)Motive S. 35 (Hahn S. 50)., Gemeinde -2)Länder in unlösbarer Verbindung, ſie iſt in den verſchiedenen Staaten ver - ſchieden beantwortet und es mußte in dem Gerichtsverfaſſungsgeſetze, welches in den inneren Staatsorganismus der einzelnen Bundesſtaaten und in das materielle Recht nicht eingreifen darf, von einer gemeinſamen Regelung dieſer Frage Abſtand genommen werden. 33§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.gerichte unter ſehr einſchränkenden Bedingungen1)Eine Gerichtsbarkeit der Gemeindebehörden exiſtirte zur Zeit der Ein - führung der Juſtizgeſetze nur in Württemberg und Baden. Vgl. Motive S. 37 (Hahn S. 51) und Protok. der Reichstagskommiſſion. I. Leſung S. 121 ff. (Hahn S. 407) II. Leſ. S. 578 ff. (Hahn S. 755). Verh. des Reichstages. Stenogr. Berichte 1876 / 77 S. 190 204. (Hahn S. 1141.) Nach der Faſſung, welche die Beſtimmung in Folge des Reichstagsbeſchluſſes erhalten hat, iſt es in Zweifel gezogen worden, ob überhaupt noch von einer Gerichtsbarkeit der Gemeindegerichte oder nur von Gemeinde-Schiedsämtern geſprochen werden könne, da jeder der beiden Parteien gegen das Urtheil die Berufung auf den ordentlichen Rechtsweg zuſteht; indeſſen iſt zu beachten, daß wenn von dieſer Befugniß kein Gebrauch gemacht wird, das Urtheil des Gemeindegerichts von Rechts wegen vollſtreckbar wird., und Gewerbe - gerichte2)Motive S. 38 (Hahn S. 52).. Inſoweit nun bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Straf - ſachen dieſen beſonderen Gerichten zugewieſen ſind, was hinſichtlich der reichsgeſetzlich beſtellten ohne Weiteres eintritt, hinſichtlich der reichsgeſetzlich zugelaſſenen eine Anordnung des Einzelſtaates vor - ausſetzt, ſcheiden auch dieſe Streitigkeiten aus dem Gebiete der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit aus und das Gerichtsver - faſſungsgeſetz ſowie die Reichs-Prozeßordnungen werden für die - ſelben unanwendbar. Die reichsgeſetzliche Beſtellung beſonderer Gerichte bedeutet die Schaffung eines ſingulären oder ſpeziellen Gerichtsverfaſſungs - und Prozeßrechts für gewiſſe Kategorien von Rechtsſtreitigkeiten; die reichsgeſetzliche Zulaſſung beſonderer Gerichte bedeutet eine Erweiterung der Autonomie der Einzelſtaaten, indem dieſelben die Ermächtigung erhalten, für gewiſſe Kategorien von Rechtsſtreitigkeiten an die Stelle des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und der Reichsprozeßordnungen andere Rechtsvorſchriften zu erlaſſen. Von dieſer Autonomie können ſie auch in der Art Gebrauch machen, daß ſie die Gerichtsbarkeit zwar den ordentlichen Landesgerichten belaſſen, daß ſie aber die im Gerichtsverfaſſungsgeſetz vorgeſchriebenen Zuſtändigkeits - normen abändern3)Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. Art. 3 Abſ. 1., daß ſie in Strafſachen ein von der Straf - prozeßordnung4)Einf. Geſ. z. Strafproz. Ordn. Art. 3 Abſ. 2. und in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten ein von der Civilprozeßordnung abweichendes Verfahren vorſchreiben5)Einf. Geſ. z. Civilproz. Ordn. Art. 3 Abſ. 2..

Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 334§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.

Auch hinſichtlich derjenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten, welche zwar den ordentlichen Gerichten zugewieſen ſind, für welche aber ein beſonderes d. h. von den Vorſchriften der Civilprozeß - Ordnung abweichendes Verfahren geſtattet iſt (Aufgebotsſachen, erbſchaftl. Liquidationsverfahren und Streitigkeiten, welche eine Zwangsenteignung betreffen), iſt den Einzelſtaaten eine beſchränkte Autonomie zugeſtanden, indem ſie im Wege der Landesgeſetzgebung die Zuſtändigkeit der ordentlichen Landesgerichte nach anderen als den durch das Gerichtsverfaſſungsgeſetz vorgeſchriebenen Normen beſtimmen dürfen1)Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 3 Abſ. 3..

III. Aus den vorſtehenden Erörterungen ergibt ſich, in wie - weit die Einzelſtaaten befugt ſind, im Wege der Landesgeſetzgebung die Zuſtändigkeit der ordentlichen Gerichte und damit zugleich den Umfang der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit zu beſtimmen. Gänzlich ausgeſchloſſen iſt aber ein Eingriff in die geſetzlich nor - mirte Zuſtändigkeit der Gerichte für einen oder mehrere einzelne Fälle, ſowohl im Wege der Autonomie als auch im Wege der Verwaltung2)Vgl. Motive S. 54 (Hahn S. 64).. Ausnahmegerichte ſind unſtatt - haft. Niemand darf ſeinem geſetzlichen Richter entzogen werden3)Gerichtsverf. Geſ. §. 16. Nur die Kriegsgerichte und Standrechte ſind davon ausgenommen; ihre Errichtung ſetzt jedoch die Verhängung des Belagerungszuſtandes voraus. Vgl. Bd. III. 1. S. 45. Hinſichtl. Bayerns vgl. die Verhandlungen der Reichstags-Kommiſſion I. Leſ. S. 142 ff. (Hahn S. 422 ff. ) Eine Anomalie war das in Elſaß-Lothringen durch V. des Generalgouvernem. v. 19. Dez. 1870 eingeführte ſtändige Kriegsgericht; es iſt aufgehoben worden durch Geſetz v. 24. Januar 1881. (Geſ. Bl. f. Elſ. - Lothr. S. 1.).

1. Zur Sicherung dieſes Verbotes hat das Reich den Grund - ſatz ſanctionirt, daß die Gerichte über die Zuläſſigkeit des Rechtswegs entſcheiden. Auch dieſes Prinzip hat aber eine weit - reichende Einſchränkung erfahren, indem die Einzelſtaaten ermäch - tigt worden ſind, beſondere Behörden einzuſetzen, um Streitig - keiten zwiſchen den Gerichten und den Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges zu ent - ſcheiden. Für die Ausübung dieſer Befugniß ſind den Einzelſtaaten jedoch vom Reich Normativ-Vorſchriften ertheilt worden, durch welche den zur Entſcheidung der Kompetenzconflicte eingeſetzten Behörden35§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.ein gewiſſes Maaß von Unabhängigkeit geſichert werden ſoll1)Gerichtsverf. Geſ. §. 17 Abſ. 2.. Dieſe Vorſchriften betreffen die Zuſammenſetzung der Behörden und das Verfahren. Mindeſtens die Hälfte der Mitglieder muß dem Reichsgericht (oder oberſten Landesgerichte) oder einem Ober - landesgerichte angehören; die Mitglieder müſſen für die Dauer des zur Zeit ihrer Ernennung von ihnen bekleideten Amts oder, falls ſie zu dieſer Zeit ein Amt nicht bekleiden, auf Lebenszeit ernannt werden; eine Enthebung vom Amte kann nur unter den - ſelben Vorausſetzungen wie bei den Mitgliedern des Reichsgerichts ſtattfinden. Die Einſetzung einer ſolchen Behörde entzieht den ordentlichen Gerichten nicht die Befugniß, in allen vor ihnen an - hängigen Sachen über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges zu ent - ſcheiden und ihre eigene Kompetenz zu prüfen; die beſondere Behörde entſcheidet vielmehr nur in dem Falle, wenn ein Antrag darauf geſtellt, der ſog. Kompetenzconflict erhoben worden iſt2)Das Geſetz erfordert einen Kompetenz conflict, d. h. nicht blos Zwei - fel über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges, ſondern Streitigkeiten darüber zwiſchen den Gerichten und Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten., und ein ſolcher Antrag iſt nur ſtatthaft, ſo lange nicht durch rechts - kräftiges Urtheil des Gerichts feſtſteht, daß der Rechtsweg zuläſſig iſt3)Gerichtsverf. Geſ. §. 17 Ziff. 4. Nach dem Wortlaut des Geſetzes iſt es von Reichswegen erlaubt, daß die Erhebung des Kompetenzconflictes gegen ein rechtskräftiges Urtheil des Gerichts, welches die Zuläſſigkeit des Rechtsweges verneint, landesgeſetzlich für ſtatthaft erklärt wird. Vgl. Keller Note 10 zu §. 17 cit. Es kann dies namentlich bei einem ſogen. negativen Kompetenz - conflikt erforderlich ſein, d. h. wenn weder die Gerichte noch die Verwaltungs - behörden zuſtändig ſein wollen.. Das Verfahren der beſonderen Behörde iſt geſetzlich zu regeln; die Entſcheidung muß in öffentlicher Sitzung nach Ladung der Parteien erfolgen; an den Entſcheidungen dürfen Mit - glieder nur in der geſetzlich beſtimmten Anzahl mitwirken und dieſe Anzahl muß eine ungerade ſein und mindeſtens fünf betragen.

Der Einzelſtaat kann auch die Entſcheidung der Kompetenzcon - flicte dem Reichsgericht übertragen; da das letztere aber eine Reichs - behörde iſt, alſo nicht zur unmittelbaren Dispoſition der Einzel - ſtaaten ſteht, ſo muß der Einzelſtaat einen Antrag bei der Reichs - regierung machen, auf Grund deſſen das Reichsgericht durch eine mit Zuſtimmung des Bundesrathes erlaſſene kaiſerliche Verordnung3*36§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.zur Entſcheidung dieſer Streitigkeiten beſtellt wird1)Einführungsgeſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 17 Abſ. 1.. Von dieſer Befugniß hat bisher nur Bremen Gebrauch gemacht2)Verordn. v. 26. Sept. 1879. R. G.Bl. S. 298..

Da das Reichsgericht in dem in Rede ſtehenden Falle an Stelle einer beſonderen Landesbehörde entſcheidet, ſo iſt ſeine Kompetenz auch an dieſelben Vorausſetzungen und Schranken gebunden. Die Landesbehörde kann nun ſelbſtverſtändlich nur Kompetenzſtreitig - keiten unter den Behörden des betreffenden Staates erledigen, über die Hoheitsrechte anderer Bundesſtaaten und die Art ihrer Geltend - machung ſteht ihr keine Entſcheidung zu. Mithin kann die Aus - nahme von dem Grundprinzip, daß die Gerichte über die Zuläſſig - keit des Rechtswegs entſcheiden, überhaupt nur Platz greifen, wenn der Kompetenzconflict von der Behörde desjenigen Staates erhoben wird, dem das mit der Sache befaßte Gericht angehört. Dagegen iſt weder die Behörde eines andern Bundesſtaates noch irgend eine Reichsbehörde3)Vgl. hierüber die Aeußerungen der Abgg. von Puttkamer u. Dr. Bähr in der Reichstagskommiſſion. Protok. S. 487 ff. (Hahn S. 686.) befugt, den Kompetenzconflict zu erheben und andererſeits erſtreckt ſich die Rechtskraft der Urtheile einer zur Entſcheidung von Kompetenzconflicten eingeſetzten Behörde nur auf das Kompetenzverhältniß der Behörden des betreffenden Staates und iſt für die Gerichte und Verwaltungsbehörden eines anderen Staates unmaßgeblich. Dies Alles gilt auch dann, wenn das Reichsgericht zum Kompetenzconflicts-Gericht beſtellt iſt.

2. Der Grundſatz, daß die Gerichte über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges entſcheiden, erſtreckt ſich nicht blos in materieller Rückſicht auf die Frage, wie weit das Gebiet der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit reicht, ſondern auch auf die formellen Vorbedingungen, von denen das Beſchreiten des Rechtsweges ab - hängig gemacht iſt. Soweit nicht in der Straf - und Civilprozeß - Ordnung reichsgeſetzlich Ausnahmen anerkannt ſind, darf die Rechts - verfolgung im Wege des Straf - und Civilprozeſſes nicht erſchwert oder verſagt und namentlich nicht von der Vorprüfung einer Ver - waltungsbehörde abhängig gemacht werden4)Es iſt dies nicht zu verwechſeln mit der Autoriſation zur Prozeßführung, welche untergeordnete Behörden oder die Verwaltungen von Gemeinden, Kor - porationen, Stiftungen u. ſ. w. einholen müſſen. Dieſes Erforderniß iſt ledig -. Jede Anordnung37§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.dieſer Art käme im praktiſchen Reſultat auf eine theilweiſe oder eventuelle Juſtizverweigerung hinaus und widerſpräche ſowohl dem allgemeinen Rechtsbewußtſein des Volkes als auch der ausdrück - lichen Vorſchrift der Reichsverfaſſung1)Reichsverf. Art. 77.. Deſſenungeachtet hat auch in dieſer Beziehung die Reichsgeſetzgebung eine Ausnahme gedul - det. Sie hat die landesgeſetzlichen Vorſchriften unberührt gelaſſen, durch welche die ſtrafrechtliche oder civilrechtliche Verfolgung öffent - licher Beamten wegen der in Ausübung oder in Veranlaſſung der Ausübung ihres Amtes vorgenommenen Handlungen entweder im Falle des Verlangens einer vorgeſetzten Behörde oder unbe - bedingt an die Vorentſcheidung einer beſonderen Behörde gebunden iſt2)Einführungsgeſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 11 Abſ. 2. Vgl. hierzu Hauſer a. a. O. S. 129 ff. u. Löwe, Strafprozeßordn. S. 14 ff.. Durch dieſe Vorentſcheidung iſt feſtzuſtellen, ob der Beamte ſich einer Ueberſchreitung ſeiner Amts - befugniſſe oder der Unterlaſſung einer ihm obliegenden Amtshand - lung ſchuldig gemacht habe. Fällt dieſe Vorentſcheidung im ver - neinenden Sinne aus, ſo iſt die Beſchreitung des Rechtsweges ſo - wohl im civilprozeſſualiſchen als im ſtrafprozeſſualiſchen Verfahren abgeſchnitten; fällt die Vorentſcheidung bejahend aus, ſo hat dies keine weitere Wirkung, als daß eine Vorbedingung für die Eröff - nung des Prozeſſes erfüllt iſt; für das in dieſem Prozeſſe urthei - lende Gericht iſt jene Vorentſcheidung nicht bindend. Um jedoch eine Bürgſchaft zu geben, daß die Vorentſcheidung nicht nach Will - kühr gefällt und zur Verſagung des Rechtsweges mißbraucht werde, hat das Reichsgeſetz die Vorſchrift ertheilt, daß in den Bundes - ſtaaten, in welchen ein oberſter Verwaltungsgerichtshof beſteht, die Vorentſcheidung dieſem, in den anderen Bundesſtaaten dem Reichs - gerichte zuſteht3)Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 11 Ziff. 2. Die Vorſchriften des §. 11 cit. beruhen auf einem Kompromiß. In zweiter Leſung hat der Reichs - tag noch auf der Forderung beharrt, daß die civil - und ſtrafrechtl. Verfolgung der Beamten wegen Verletzung der Amtspflichten an keinerlei erſchwerende Vorausſetzungen geknüpft werde. Vgl. Stenogr. Berichte 1876 S. 373 ff. (Hahn S. 1447.). Die Kompetenz des Reichsgerichtes iſt in die - ſem Falle daher eine ſubſidiäre, nur in Ermangelung eines Ver -4)lich eine Folge des Dienſt-Aufſichtsrechts. Die Fortdauer der hierüber beſtehen - den Rechtsvorſchriften iſt anerkannt in der Civilproz. O. §. 50.38§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.waltungsgerichtshofes begründete; wenn dieſe Vorausſetzung aber gegeben iſt, ſo tritt die Kompetenz des Reichsgerichts kraft Ge - ſetzes ein, ohne daß es einer beſonderen kaiſerl. Verordnung be - darf, durch welche die Vorentſcheidung dem Reichsgericht zugewieſen wird1)Aus demſelben Grunde hört aber auch die Zuſtändigkeit des Reichsge - richts ipso jure auf, wenn in dem betreffenden Staate nachträglich ein Ver - waltungsgerichtshof errichtet wird..

Dieſe Zuſtändigkeit des Reichsgerichts iſt nur in Elſaß - Lothringen und Mecklenburg begründet, da in dieſen Staaten die Vorentſcheidung im Falle des Verlangens der vorgeſetzten Behörde erforderlich iſt2)Elſ. Lothr. Geſ. v. 4. Nov. 1878 §. 11. (Geſetzbl. f. Elſ. Lothr. S. 67), Mecklenb. Schwerin’ſche Verordn. v. 5. Mai 1879 (Reg. Bl. S. 101) und Meck - lenb. Strelitz’ſche Verordn. vom gleichen Tage. (Offiz. Anzeiger S. 137). Vgl. Löwe Note 3 u. 7 zu §. 11 cit. , oberſte Verwaltungsgerichtshöfe dagegen nicht beſtehen.

IV. Hinſichtlich der Frage, welche Perſonen der ordent - lichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, muß man zwiſchen dem prozeſſualiſchen und dem ſtaatsrechtlichen Ge - ſichtspunkt unterſcheiden. In der erſteren Beziehung handelt es ſich um den ſogenannten Gerichtsſtand d. h. um die Zuſtän - digkeit eines oder mehrerer beſtimmter Gerichte in einer concreten Prozeßſache, gleichſam um die Lokaliſirung und Vertheilung der Gerichtsbarkeit nach Rückſichten der Zweckmäßigkeit und Billigkeit auf die einzelnen Gerichte. Die Gerichtsbarkeit an ſich muß über Jemanden begründet ſein, ehe die Frage aufgeworfen werden kann, durch welche Gerichtsbehörde ſie verwirklicht wird. Mittelbar kön - nen aber die Vorſchriften der Prozeßordnungen über den Gerichts - ſtand zur Begränzung der Gerichtsbarkeit dienen; denn inſofern nach dieſen Vorſchriften kein einzelnes Gericht im concreten Falle eine Zuſtändigkeit hat, iſt die Gerichtsbarkeit ſelbſt ausgeſchloſſen. Daher kömmt den Regeln über den Gerichtsſtand mittelbar aller - dings eine ſtaatsrechtliche Bedeutung zu; insbeſondere auch eine internationale; denn ſie begränzen zugleich die inländiſche Gerichts - barkeit gegen die Gerichtsbarkeit der anderen Staaten. Dieſes mittelbare Intereſſe des Staatsrechts bietet aber keine ausreichende Rechtfertigung, um an dieſer Stelle näher auf die complicirte39§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.Lehre vom Gerichtsſtande einzugehen, die ſtets als ein Theil der Prozeßrechtswiſſenſchaft angeſehen und behandelt worden iſt.

Vom ſtaatsrechtlichen Geſichtspunkte aus iſt dagegen die Frage, welche Perſonen der ſtaatlichen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, identiſch mit der Frage, welche Perſonen der Staatsgewalt unterworfen ſind; denn die Gerichtsbarkeit als Ganzes iſt ja nichts Anderes als eine beſtimmte Aeußerung der Staatsgewalt. Nur iſt die Möglichkeit gegeben, daß der Staat auf die Ausübung dieſes Hoheitsrechts gewiſſen Perſonen gegenüber ganz oder zum Theil verzichtet, gegen die er andere Herrſchaftsrechte zur Geltung bringt, daß er ſie von ſeiner Gerichtsbarkeit eximirt.

Den Einzelſtaaten iſt dieſe Befugniß hinſicht - lich der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit entzogen; ſie dürfen keine Exemtionen ertheilen1)Hiervon macht nur der in §. 18 Abſ. 1 des G.V.G. erwähnte Fall eine Ausnahme. Siehe die folgende Anmerkung.. Der Kreis der Perſonen, welche der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, iſt durch das Reich feſtgeſtellt. Daſſelbe hat lediglich folgende Befreiungen anerkannt, welche theils auf völker - rechtlichen, theils auf ſtaatsrechtlichen Gründen beruhen.

1. Befreiungen aus Gründen des Völker - rechts.

a) Exterritorialität und in Folge derſelben vollſtändige Exem - tion von der ganzen inländiſchen Gerichtsbarkeit genießen die Chefs und Mitglieder der bei dem deutſchen Reiche beglaubigten Miſ - ſionen2)Gerichtsverf. Geſ. §. 18 Abſ. 1. Ausgenommen iſt nur der ſelten vor - kommende Fall, daß ſolche Perſonen reichsangehörig ſind; alsdann ſind ſie von der inländiſchen Gerichtsbarkeit nur dann befreit, wenn der Staat, dem ſie angehören, ſich der Gerichtsbarkeit über ſie begeben hat.. Daſſelbe gilt von ihren Familienmitgliedern, ihrem Ge - ſchäftsperſonal und von ſolchen Bedienſteten derſelben, welche nicht Deutſche ſind3)Gerichtsverf. Geſ. §. 19. Die Exterritorialität des Geſchäftsperſonals iſt eine unbedingte, die des Dienſtperſonals iſt auf Nichtdeutſche beſchränkt.. Die Exterritorialität erſtreckt ſich jedoch nicht auf den ausſchließlichen dinglichen Gerichtsſtand in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten4)Gerichtsverf. Geſ. §. 20. Civilproz. O. §. 25..

Die im deutſchen Reiche angeſtellten Konſuln ſind von der40§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.inländiſchen Gerichtsbarkeit nur befreit, inſofern dies in Verträgen des deutſchen Reiches mit anderen Mächten vereinbart worden iſt1)Gerichtsverf. Geſ. §. 21. Der Staatsvertrag iſt daher auch für den Umfang der Befreiung von der inländiſchen Gerichtsbarkeit maßgebend..

b) Geſandte oder andere völkerrechtliche Vertreter auswärtiger Mächte, welche nicht bei dem Reich, ſondern nur bei einem Bun - desſtaate beglaubigt ſind, und ebenſo diplomatiſche Vertreter eines Bundesſtaates bei einem andern Bundesſtaate gelten nur dieſem Bundesſtaate gegenüber als exterritorial und ſind deshalb auch nur von der Gerichtsbarkeit dieſes Staates, nicht von derjeni - gen der übrigen Bundesſtaaten oder des Reiches eximirt2)Gerichtsverf. Geſ. §. 18 Abſ. 2.; ſie können daher bei allen Gerichten außerhalb des Bundesſtaates, bei welchem ſie beglaubigt ſind, im Wege des Civilprozeſſes und des Strafprozeſſes verfolgt werden, wofern nur ein Gerichtsſtand für ſie begründet iſt. Für die Exemtion in dem Bundesſtaat gel - ten im Uebrigen auch für dieſe Geſandtſchaften die in den §§. 19 und 20 des Gerichtsverf. -Geſ. aufgeſtellten Regeln.

c) Die Mitglieder des Bundesrathes haben gemäß Art. 10 der R.V. Anſpruch auf den üblichen diplomatiſchen Schutz, d. h. ſie ſind, ſoweit ſie nicht preußiſche Staatsangehörige ſind, der preußiſchen Staatsgewalt gegenüber exterritorial und wie Geſandte der deutſchen Bundesſtaaten beim König von Preußen anzuſehen3)Vgl. Bd. I. S. 240.. Demgemäß ſind ſie auch von der preußiſchen Gerichtsbarkeit in gleichem Umfange wie diplomatiſche Geſchäftsträger dieſer Art be - freit. Ihr allgemeiner Gerichtsſtand beſtimmt ſich nach §. 16 der Civilproz. -Ordnung und dem entſprechenden §. 11 der Strafproz. - Ordnung.

2. Befreiungen aus Gründen des Staatsrechts.

a) Aus dem Weſen des Monarchenrechts folgt, daß die Be - hörden des Staates gegen den Landesherrn und die Mit - glieder der landesherrlichen Familie keine ſtaatlichen Herrſchaftsrechte und Zwangsmittel zur Anwendung bringen können und daß es daher grundſätzlich eine Gerichtsbarkeit des Staates gegen den Souverain und ſeine Familie nicht gibt. Dies gilt aber nicht von den vermögensrechtlichen Verhältniſſen des Monarchen und ſeiner Familienglieder, indem das Vermögen von41§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.der Perſon getrennt gedacht und dem Landesherrn in ähnlicher Art gegenübergeſtellt wird wie der Fiskus dem Staat als öffent - lichrechtlicher Perſönlichkeit. Die vermögensrechtlichen Verhältniſſe ſtehen unter der allgemeinen Rechtsordnung und unterliegen auch hinſichtlich der Verfolgung von Rechtsanſprüchen im Allgemeinen dem ſonſt geltenden Recht. Indeß ſind hinſichtlich des Gerichts - ſtandes oder hinſichtlich der Zuſammenſetzung der zur Entſcheidung ſolcher Streitigkeiten berufenen Gerichtsbehörden in manchen Staaten beſondere Vorſchriften ergangen und es iſt bisweilen hin - ſichtlich der familienrechtlichen Verhältniſſe und Streitigkeiten die Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeſchloſſen. Dieſe Sonderſtellung der Landesherren und ihrer Familien hat die Reichsgeſetzgebung fortbeſtehen laſſen und ſie gemäß der bundesſtaatlichen Einigung der deutſchen Staaten nicht nur für jeden Landesherrn und ſeine Familie innerhalb ſeines Staatsgebietes ſondern im ganzen Bundes - gebiet zur Geltung gebracht. Soweit beſondere Vorſchriften in dieſer Richtung nicht beſtehen, kommt allerdings das allgemeine Recht zur Anwendung. Demgemäß iſt reichsgeſetzlich angeordnet, daß in Anſehung der Landesherren und der Mitglieder der landes - herrlichen Familien, ſowie der Mitglieder der fürſtlichen Familie Hohenzollern die Beſtimmungen des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes, der Strafprozeßordnung, der Civilprozeßordnung und der Konkurs - ordnung nur inſoweit Anwendung finden, als nicht beſondere Vor - ſchriften der Hausverfaſſungen oder der Landesgeſetze abweichende Beſtimmungen enthalten1)Einführungsgeſetze z. Gerichtsverf. Geſ. §. 5, zur Strafproc. Ordn. §. 4, zur Civilproz. O. §. 5, zur Konk. Ordn. §. 7.. Dieſe Reichsgeſetze haben daher in Anſehung der in Rede ſtehenden Perſonen nur ſubſidiäre Gel - tung und es folgt hieraus, daß nicht blos die zur Zeit der Ein - führung der Reichsgeſetze beſtehenden, ſondern auch die ſpäter er - laſſenen hausgeſetzlichen oder landesgeſetzlichen Vorſchriften den Vorrang vor den Reichsgeſetzen haben.

Aufgehoben iſt jedoch die in einigen Staaten2)Nach Angabe der Motive S. 210 (Hahn S. 184) Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Sachſen-Meiningen; nach den Ausführungen des Abg. Gaupp auch Württemberg. Protok. I. Leſ. S. 438 (Hahn S. 649). in Geltung geweſene Beſchränkung, wonach der Rechtsweg bei Klagen gegen den Landesherrn von der Einwilligung deſſelben abhängig war,42§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.für vermögensrechtliche Anſprüche Dritter d. h. nicht zur landesherrlichen Familie gehörender Perſonen1)Einf. Geſ. z. Civilproz. Ordn. §. 5..

b) Zu den Vorrechten, welche den mediatiſirten ehe - mals reichsſtändiſchen Familien bei Gründung des Rhein - bundes und des deutſchen Bundes eingeräumt worden ſind, ge - hörten auch Privilegien hinſichtlich des Gerichtsſtandes und Exem - tionen von der Gerichtsbarkeit. Mit den Veränderungen der Staats - und Gerichtsverfaſſung im Laufe des Jahrhunderts ſind dieſe Sonderrechte meiſtens aufgehoben oder gegenſtandslos geworden und die Reichsgeſetzgebung hat ſie für das Gebiet der ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit2)Nur für dieſe, nicht für Akte der ſogen. freiwilligen Gerichtsbarkeit, Erbesregulirungen, Vormundſchaftsſachen und andere Familienangelegenheiten u. ſ. w. vollends beſeitigt; nur einen Reſt derſelben hat ſie fortbeſtehen laſſen, nämlich das landesgeſetzlich den Standes - herren gewährte Recht auf Austräge 3)Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. §. 7.. Der Sinn dieſer An - ordnung iſt einigermaßen ſchwer zu verſtehen wegen der ſehr ſon - derbaren Bedeutung, in welchem das Wort Austräge hier ver - wendet iſt4)Die Kommentare zu der angeführten Geſetzesſtelle geben keine genügende Aufklärung.. Seinem wörtlichen und urſprünglichen Sinne nach bedeutet das Wort ein ſchiedsrichterliches Verfahren. In - ſofern nun ein ſolches auf einem für den einzelnen Streitfall unter den Parteien vereinbarten Vertrage beruht, iſt die Zulaſſung des - ſelben keine Exemtion von der Gerichtsbarkeit5)Siehe oben S. 26 ff. und kein Vorrecht eines beſtimmten Standes. Zur Zeit des ehemaligen Deutſchen Reiches hatten aber die reichsunmittelbaren Perſonen ein Recht darauf, daß Klagen, welche von Perſonen gleichen oder höheren Ranges gegen ſie angeſtrengt wurden, nicht vor Territorialgerichten oder Reichs-Untergerichten, ſondern vor einer geordneten Auſträgal - Inſtanz entſchieden wurden. In dieſer Geſtalt bedeutet das Recht auf Austräge eine Exemtion von der Reichs - und Territorial-Ge - richtsbarkeit. Der urſprüngliche Sinn des Inſtituts wurde jedoch inſoweit feſtgehalten, als Austräge nur bei Privatklagen zugelaſſen waren, dagegen in Kriminalſachen nicht ſtatt -43§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.fanden1)Vgl. die Darſtellung von Hermann Schulze. Einleitung in das Deutſche Staatsrecht §. 86.. Allein ein incorrecter Sprachgebrauch verallgemeinerte die Bedeutung des Wortes Austräge , ſo daß ſtatt des poſitiven Sinnes Schiedsgericht darunter jeder Ausſchluß der landesherr - lichen Gerichtsbarkeit verſtanden wurde und das Recht auf Aus - träge gleichbedeutend mit Befreiung von der Gerichtsbarkeit wurde. In dieſem incorrecten Sinne wurde das Wort verwendet von der Rheinbundsacte Art. 28, welche den Mediatiſirten in Kriminalſachen Pairsgerichte zuſicherte und dies in folgender Art ausdrückte: En matière criminelle les princes et comtes actuellement régnans et leurs héritiers jouiront des droits d’austrègues c’est à dire d’être jugés par leurs pairs etc. Dem entſprechend beſtimmt die Kgl. Baieriſche De - claration v. 1807 A. Ziff. 11:

In peinlichen Fällen, mit Ausnahme von Militair-Ver - brechen, genießen die ſubjicirten Fürſten und Grafen und ihre Erben das Recht einer Auſträgal-Inſtanz, nämlich durch Richter ihres Standes gerichtet zu werden.

Da die Deutſche Bundesacte von 1815 Art. XIV. beſtimmte, daß dieſe Baieriſche Verordn. v. 1807 in allen deutſchen Bundesſtaaten als Baſis und Norm bei Feſtſtellung des Rechts - zuſtandes der mittelbar gewordenen Fürſten, Grafen und Herren untergelegt werden ſollte, ſo wurde in mehreren deutſchen Staaten den Standesherren in Strafſachen ein Gericht von Standesgenoſſen gewährt2)Vgl. die Nachweiſungen bei Zachariä, Deutſches Staats - u. Bundes - recht. I. §. 98 Note 7 (3. Aufl. S. 526). und hierauf mißbräuchlich der Ausdruck Auſträgal - Inſtanz angewendet. So beſtimmt z. B. der durch die Preußiſche Ver - ordnung vom 12. Nov. 1855 §. 3 in Kraft erhaltene §. 17 der Inſtr. vom 30. Mai 1820: In peinlichen Sachen, mit Ausnahme der im Kgl. Dienſte begangenen Verbrechen, genießen die Häupter der ſtandesherrlichen Familien, ſofern ſie nicht den Gerichtsſtand eines Obergerichtes vorziehen, einen privilegirten Gerichtsſtand vor Austrägen. Auf dieſen beſonderen Gerichtsſtand vor Aus - trägen in Strafſachen nehmen die Motive des Regierungs-Entw. zum Einführungsgeſ. zum Gerichtsverfaſſungsgeſ. S. 212 (Hahn I S. 185) Bezug und in dieſem Sinne iſt §. 7 cit. zum Geſetz er -44§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.hoben worden1)Vgl. Protok. der Kommiſſion S. 441. (Hahn I. S. 651.). Hieraus folgt, daß in dem §. 7 der Ausdruck Austräge nicht in ſeiner eigentlichen und wörtlichen Bedeutung, ſondern in der ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts üblich gewordenen zu verſtehen iſt, und es ergeben ſich hieraus folgende Rechtsſätze:

α) In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten ſind die Standes - herren von der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht befreit und ihre Austräge ſtehen unter den allgemeinen Regeln von Schiedsverträgen und dem ſchiedsrichterlichen Verfahren. (Civilproz. O. §§. 851 ff.)

β) In peinlichen Sachen ſind die Standesherren von der ordentlichen Gerichtsbarkeit befreit und mit dem Recht auf Aus - träge (Pairsgerichte) in demjenigen Umfange ausgeſtattet, in welchem ihnen dieſes Privilegium bei Einführung des Gerichts - verfaſſungsgeſetzes landesgeſetzlich gewährt war . Ein ſolches Vorrecht kann durch Landesgeſetz nicht mehr neu eingeführt oder ausgedehnt werden.

γ) Inſoweit hienach die Standesherren der ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, kömmt ihnen keinerlei privilegirter Gerichtsſtand, weder in bürgerlichen Rechtsſtrei - tigkeiten noch in Strafſachen, zu2)Vgl. Motive z. Gerichtsverf. Geſ. S. 57. (Hahn S. 66.).

V. So wenig die Einzelſtaaten befugt ſind, Befreiungen von der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit zu gewähren, ebenſowenig iſt es ihnen geſtattet, die letztere oder deren Ausübung zu verleihen oder unter irgend einem Rechtstitel zu übertragen. Die Ge - richte ſind Staatsgerichte3)Gerichtsverf. Geſ. §. 15.. Der Ausdruck Staats - gerichte ſteht hier nicht im Gegenſatz zu Reichsgerichten, über die das Gerichtsverfaſſungsgeſetz ſelbſt ja Beſtimmungen trifft, ſondern im Gegenſatz zu Privatgerichten. Hierdurch ſind alle in Deutſchland noch vorhanden geweſenen Reſte einer patrimonialen, communalen oder kirchlichen Gerichtsbarkeit4)Eine Ueberſicht über die durch das Gerichtsverfaſſungsgeſetz beſeitigten Reſte der Privatgerichtsbarkeit geben die Motive S. 47 ff. (Hahn S. 58 ff.) definitiv und voll - ſtändig beſeitigt und auch für die Zukunft iſt es den Staaten unter - ſagt, Rechte dieſer Art zu ertheilen5)Der reichsgeſetzlich ſanctionirte Grundſatz bezieht ſich aber nur auf die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.. Daſſelbe gilt von dem45§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.Präſentationsrecht für Anſtellungen bei den Gerichten, das ſich als ein Reſt der ehemaligen Privatgerichtsbarkeit vielfach, namentlich zu Gunſten der Standesherren, erhalten hatte. Demnach iſt die Anzahl der Subjekte, welchen die ordentliche ſtreitige Gerichtsbar - keit zuſteht, durch die im Art. 1 der Reichsverf. gegebene Auf - zählung der Staaten, zu denen noch das Reich ſelbſt nebſt dem Reichsland Elſaß-Lothringen hinzukommen, abſchließend begränzt1)Auch die Anſprüche des Hauſes Schönburg auf Ausübung eigener Gerichtsbarkeit wurden nicht anerkannt. Vgl. die Protokolle der Reichstags - kommiſſion I. Leſ. S. 130 ff. (Hahn S. 414 ff.) Stenogr. Berichte des Reichst. 1876 / 77 S. 207 ff. (Hahn S. 1166 ff.). Dagegen iſt es den Deutſchen Staaten unbenommen, unter ein - ander Verträge zu ſchließen, durch welche ein Staat die Gerichts - barkeit ganz oder zum Theil einem anderen Bundesſtaat oder auch dem Reich zur Ausübung überträgt. Es können unter den Staaten nach Analogie der Militärkonventionen2)Siehe Bd. III. 1. S. 26 ff. oder der Vereinbarungen über die Poſtverwaltung3)Vgl. Bd. II. S. 289 ff. auch Gerichtskonventionen ge - ſchloſſen werden. Insbeſondere können auch zwei oder mehrere Deutſche Staaten ſich zur gemeinſchaftlichen Ausübung der Gerichtsbarkeit vereinigen und zu dieſem Zwecke gemeinſchaftliche Gerichte beſtellen; es iſt dies in zahlreichen Fällen theils wegen der geographiſchen Lage theils wegen der Kleinheit der einzelnen Staatsgebiete geſchehen4)Vgl. Motive zum Gerichtsverf. Geſ. S. 31. (Hahn S. 47).. Demgemäß giebt es zwei Arten von Gerichtskonventionen; durch die einen wird die Ausübung der Gerichtsbarkeit in gewiſſem Umfange einem anderen Staate über - tragen, durch die anderen werden Gerichtsgemeinſchaften vereinbart.

Gerichtskonventionen der erſteren Art ſind lediglich zu Gunſten Preußens abgeſchloſſen worden. Die Gerichtsbarkeit im Fürſten - thum Waldeck5)Auf Grund des Vertrages v. 24. Nov. 1877 u. des Waldeck’ſchen Ge - ſetzes v. 1. September 1879 (Regierungsbl. S. 79). und den fürſtl. lippiſchen Enclaven Lipperode und Stift Cappel6)Vertrag zwiſchen Preußen u. Lippe vom 4. Januar 1879 Art. 7 ff. wird im vollen Umfange von den Preußi - ſchen Gerichten gehandhabt; es ſind ferner unterſtellt das Fürſten - thum Birkenfeld dem Preuß. Landgericht zu Saarbrücken und46§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.dem Oberlandesgericht zu Köln1)Vertrag zwiſchen Preußen u. Oldenburg v. 20. Auguſt 1878., das Fürſtenthum Schwarz - burg-Sondershauſen dem Preuß. Landgericht zu Erfurt und dem Oberlandesgericht zu Naumburg2)Vertr. zwiſchen Preußen u. Schwarzburg-Sondershauſen v. 7. Oct. 1878., das Herzogthum Anhalt dem Preuß. Oberlandesgericht zu Naumburg3)Vertrag zwiſchen Preußen u. Anhalt v. 9. Okt. 1878. und das Fürſten - thum Lippe (mit Ausnahme der oben erwähnten Enclaven) dem Preuß. Oberlandesgericht zu Celle4)Vertrag v. 4. Januar 1879.. In den angeführten Fällen ſind den auf die Ausübung ihrer Gerichtsbarkeit verzichtenden Staaten Präſentationsrechte eingeräumt worden.

Gemeinſchaftlich ſind zur Zeit folgende Gerichte: Die Landgerichte zu Meiningen, (zwiſchen Preußen, Meiningen, Coburg-Gotha)5)Vertrag v. 17. Oktob. 1878., zu Rudolſtadt (zwiſchen Preußen, Meiningen und Schwarzb. -Rudolſtadt)6)Vertrag v. 17. Oktob. 1878. zu Gera (zwiſchen Sachſen-Weimar und Reuß j. L.)7)Vertrag v. 18. Mai 1878. nebſt den Schwurgerichten zu Gera und Mei - ningen, (zwiſchen Preußen und den Thüringiſchen Staaten)8)Vertrag v. 11. Nov. 1878. und das Landgericht zu Lübeck (zwiſchen Oldenburg und Lübeck)9)Vertrag v. 29 / 30 Sept. 1878. Indirect iſt hiedurch das Oldenb. Für - ſtenthum Lübeck der Gerichtsbarkeit des Hanſeatiſchen Oberlandesgerichts mit unterworfen.; ferner die Oberlandesgerichte zu Jena (thüringiſche Staaten und Preußen)10)Vertrag v. 19. Febr. 1877 u. 23. April 1878., zu Hamburg (drei Hanſeſtädte)11)Vertrag v. 30. Juni 1878., zu Olden - burg (Herzogth. Oldenburg und Fürſtenth. Schaumburg-Lippe)12)Vertr. v. 23. Okt. 1878. und zu Roſtock (beide Mecklenburg)13)Mecklenb. Ausführungsgeſ. v. 17. Mai 1879 §. 29 ff..

§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.

I. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.

Hinſichtlich der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit iſt das Verhältniß der Deutſchen Staaten ſowohl unter ſich als gegen das47§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.Reich nach bundesſtaatlichen Prinzipien geordnet; die Einzelſtaaten ſind zwar zur Ausübung dieſer Gerichtsbarkeit kraft eigenen Rechts und im eigenen Namen berufen, aber ſie üben dieſes Recht nicht iſolirt, ſondern als Glieder einer höheren Einheit aus und ſie ſind bei dieſer Ausübung nicht ſouverain, d. h. durch ihren eigenen freien Willen beſtimmt, ſondern ſie ſind durch die vom Reiche als einer höheren Potenz ihnen ertheilten Vorſchriften gebunden. Die praktiſche Tragweite dieſes ſtaatsrechtlichen Prinzips ergiebt ſich aus folgenden Erörterungen:

1. Es iſt oben bereits hervorgehoben worden, daß die ſtaats - rechtliche Bedeutung des Urtheils in der Ausſtattung deſſelben mit Rechtskraft oder Vollſtreckbarkeit beſteht, d. h. in dem ſtaat - lichen Befehl dem Urtheil zu genügen, widrigenfalls die phyſiſche Macht des Staates dazu verwendet werden würde, das Urtheil durchzuführen. Die Rechtskraft eines Urtheils beruht auf der Zwangsgewalt, dem Herrſcherrecht, des Staates und iſt deß - halb wie die Staatsgewalt ſelbſt territorial begränzt; ſie reicht nicht über das Gebiet des Staates hinaus, dem das Gericht an - gehört. Dies gilt auch dann, wenn zwei oder mehrere Staaten einen Rechtshilfe-Vertrag abgeſchloſſen haben, durch welchen ſie ſich gegenſeitig zur Vollſtreckung rechtskräftiger Urtheile verpflichten. Hier wirkt die Rechtskraft , welche ein Urtheil in dem Gebiete des einen Staates erlangt hat, in den Gebieten der anderen Staaten nur prozeſſualiſch d. h. in dem Ausſchluß einer nochmaligen richterlichen Erörterung und Prüfung des Streits; ſie beſteht in der Anerkennung und Ausdehnung des Rechtsſatzes res judicata jus facit inter partes auch auf den Fall, daß ein ausländiſches Gericht das Urteil gefällt hat. Dagegen wirkt ſie nicht in ſtaats - rechtlicher Richtung; rechtskräftig im letzteren Sinne d. h. voll - ſtreckbar wird das Urtheil des auswärtigen Gerichts im Inland nur dadurch, daß das inländiſche Gericht es für vollſtreckbar er - klärt. Mag durch den Rechtshilfe-Vertrag hierzu auch eine weit - reichende und an leicht erfüllbare Vorausſetzungen geknüpfte Ver - pflichtung begründet ſein, immer beruht die Vollſtreckbarkeit des Urtheils im Inlande auf dem Befehl der einheimiſchen, nicht dem der fremden Staatsgewalt.

Dieſer Grundſatz, der unter unabhängigen Staaten mit Noth - wendigkeit gilt, weil er aus dem Weſen der Souveränetät der48§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.Staatsgewalt folgt, iſt durch das bundesſtaatliche Verhältniß der Deutſchen Staaten beſeitigt und durch das Prinzip erſetzt worden, daß die (ſtaatsrechtliche) Rechtskraft der Entſcheidungen und End - urtheile der ordentlichen Gerichte ſich auf das ganze Bundesgebiet erſtreckt. Das Gleiche gilt hinſichtlich der Wirkungen der bei einem Gerichte eingetretenen Rechtshängigkeit, ſowie in Bezug auf die verpflichtende Kraft der zur Erledigung der Prozeſſe erforderlichen richterlichen Gebote oder Verbote an Perſonen, die ſich im Bundes - gebiet befinden1)Vgl. Motive zum Gerichtsverfaſſungsgeſ. S. 189. (Hahn S. 168.) Kommiſſionsbericht S. 66 a. E. (Hahn S. 974.).

Mithin übt jeder einzelne Staat eine Gerichtsbarkeit über das ganze Bundesgebiet aus und weder die Gültigkeit noch die Erzwingbarkeit der von ſeinen Gerichten erlaſſenen Befehle iſt da - von bedingt, daß die Perſonen, an welche ſie gerichtet ſind, gerade dieſem Staate angehören oder in ſeinem Gebiete ihren Wohnſitz oder Aufenthalt haben. In dieſer Beziehung bedarf es daher keiner Rechtshilfe unter den Staaten; ſie wäre gegenſtandslos2)Vgl. unten §. 100.. Die Durchführung dieſes Prinzips iſt aber nur möglich, wenn für die Gerichte ſämmtlicher Bundesſtaaten dieſelben Zuſtändigkeitsnormen gelten, weil ſonſt die Gerichtsgewalten der verſchiedenen Staaten mit einander in Colliſion gerathen würden. Daher iſt die Ge - richtsbarkeit jedes einzelnen Staates zwar nach der einen Seite ſehr erheblich erweitert, indem ſie auf das ganze Bundesgebiet ſich erſtreckt; nach der anderen Seite aber weſentlich beſchränkt, indem ſie nur nach Maßgabe der reichsgeſetzlichen Vorſchriften über die Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeübt werden darf. Die in den Reichsgeſetzen enthaltenen Regeln über die ſachliche und örtliche Zuſtändigkeit der Gerichte ſetzen der Gerichtsbarkeit d. h. der Staats - gewalt der Einzelſtaaten feſte Gränzen und entkleiden ſie dadurch des Merkmals der Souveränetät.

2. Die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit jedes Bundesſtaats über das ganze Bundesgebiet erfordert nicht nur einheitliche Nor - men über die Zuſtändigkeit der einzelnen Gerichte, ſondern auch eine Garantie für gleichmäßige und übereinſtimmende Auslegung und Handhabung der Geſetze (Rechtsnormen). Dieſe Garantie kann49§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.der Natur der Sache nach nur in der Uebertragung der Gerichts - barkeit letzter Inſtanz auf das Reich ſelbſt, in der Errichtung eines oberſten Reichsgerichts beſtehen. Auch hierdurch erleidet die Ge - richtsbarkeit der Einzelſtaaten eine weſentliche Beſchränkung, ſie wird durch die Gerichtsbarkeit des Reiches nicht nur ergänzt, ſon - dern beherrſcht; es fehlt ihr die ſelbſtſtändige Spitze, ſie läuft in die Gerichtsbarkeit des Reiches ein, wo ſie erſt ihren Abſchluß findet1)Vgl. den folgenden Paragraphen.. Dies wird ſelbſtverſtändlich dadurch in keiner Weiſe modifizirt, daß nicht in allen Prozeßſachen die Entſcheidung des Reichsgerichts eingeholt werden kann, die Zuſtändigkeit des letzteren vielmehr durch das Rechtsmittelſyſtem beſtimmt und an gewiſſe Vorausſetzungen gebunden iſt; denn dieſe Vorausſetzungen ſind prozeßrechtlicher, nicht ſtaatsrechtlicher Natur; ſie beruhen auf techniſchen Erwägungen und dem Bedürfniß nach einer gewiſſen Oekonomie des Verfahrens; ſie finden in ganz derſelben Weiſe auch in dem Rechtsmittelſyſtem des ſouveränen Einheitsſtaates Berückſichtigung2)Deßhalb kann die Annahme Binding’s, Grundriß des Strafprozeß - rechts S. 44, daß nicht nur die Gerichtsbarkeit des Reiches ſouverain iſt ſondern auch die der Einzelſtaaten, ſoweit ihre Gerichte ſich als höchſte Inſtanz darſtellen , nicht als zutreffend erachtet werden; ſie beruht auf einer Ver - mengung prozeßrechtlicher und ſtaatsrechtlicher Geſichtspunkte..

Dagegen iſt der erwähnte Grundſatz modifizirt worden durch eine reichsgeſetzliche Anordnung von ſpezifiſch ſtaatsrechtlichem Charakter. Das Einf. Geſ. zum Gerichtsverfaſſungsgeſetz beſtimmt nämlich in §. 8 Abſ. 1:

Durch die Geſetzgebung eines Bundesſtaates, in welchem mehrere Oberlandesgerichte errichtet werden, kann die Ver - handlung und Entſcheidung der zur Zuſtändigkeit des Reichs - gerichts gehörenden Reviſionen und Beſchwerden in bürger - lichen Rechtsſtreitigkeiten einem oberſten Landesge - richte zugewieſen werden.

Wenn der thatſächliche Zuſtand der Deutſchen Gerichtsverfaſſung dem Wortlaut dieſer Geſetzesbeſtimmung wirklich entſpräche, ſo würde die letztere in dem ganzen Bau des Deutſchen Verfaſſungs - rechts eine hervorragende Anomalie bilden; nicht das Reich als die übergeordnete ſouveräne Potenz würde den Hoheitsrechten derLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 450§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.ihm untergeordneten Staaten Maaß und Ziel ſetzen, ſondern die Einzelſtaaten würden befugt ſein zu beſtimmen, ob ſie die Gerichts - barkeit in der Reviſionsinſtanz ſelbſt ausüben oder dem Reich zu - weiſen wollen; die Zuſtändigkeit des Reichsgerichts in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten wäre nur eine ſubſidiäre, durch den that - ſächlichen Verzicht der einzelnen Staaten auf Errichtung eines oberſten Landesgerichts bedingte. In Wirklichkeit verhält ſich dies glücklicher Weiſe anders. Zunächſt hat das Reichsgeſ. v. 11. April 1877 über den Sitz des Reichsgerichts (R. G.Bl. S. 415) die An - wendung dieſer Rechtsvorſchrift auf das Königreich Sachſen, in deſſen Gebiet das Reichsgericht ſeinen Sitz erhalten hat, ausge - ſchloſſen und Sachſen hat in Folge deſſen nur ein Oberlandes - gericht errichtet. Ebenſo haben Württemberg und Baden ſich mit der Errichtung je eines Oberlandesgerichts begnügt und in den kleineren Staaten war die Etablirung von mehr als einem Ober - landesgericht von ſelbſt thatſächlich ausgeſchloſſen. Es bleiben daher nur zwei Staaten übrig, in welchen die im angef. Geſetz aufgeſtellte Vorausſetzung des Nebeneinanderbeſtehens mehrerer Oberlandesgerichte thatſächlich verwirklicht iſt, nämlich Preußen und Bayern. Preußen hat darauf verzichtet, von der im §. 8 cit. ihm eingeräumten Befugniß Gebrauch zu machen; der einzige Deutſche Staat, in welchem dieſer Artikel praktiſche Bedeutung erlangt hat, iſt demnach Bayern, welches durch Landesgeſetz v. 23. Februar 18791)Geſetz - u. Verordnungsbl. 1879 S. 273 ff. Art. 42 ff. ein oberſtes Landesgericht in München errichtet hat.

In Wahrheit iſt daher §. 8 cit. Nichts Anderes als die auf faſt allen Gebieten des Reichsſtaatsrechts wiederkehrende clausula baiuvarica, die Anerkennung eines Sonderrechts Bayerns, nur daß es in dieſem Falle nicht wie ſonſt mit klaren Worten, ſondern in ſonderbarer Verhüllung Ausdruck gefunden hat2)Insbeſondere bemühen ſich die Motive zum Gerichtsverf. Geſ. S. 24. 25 (Hahn S. 42) durch viele Redensarten die wahre Tendenz des §. 8 zu ver - decken. Treffender ſind die Gründe für denſelben entwickelt von dem Bayer. Juſtizminiſter v. Fäuſtle in der erſten Berathung im Plenum des Reichs - tages. Stenogr. Berichte 1874 S. 319 ff. (Hahn S. 260) und beſonders in den Verhandlungen der Reichstagskommiſſion Protok. I. Leſ. S. 451 ff. (Hahn S. 659). Die ſachlichen Gründe, durch welche die Beſtimmung gerechtfertigt.

51§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.

Allein dieſelbe iſt mit einer ſehr weſentlichen Einſchränkung verſehen, ohne welche ſie eine Lockerung der bereits erfolgten Ein - fügung Bayerns in den Reichsorganismus bewirkt hätte. Die Zuſtändigkeit des Reichsoberhandelsgerichts nämlich erſtreckte ſich auch auf Bayern, ohne daß es dieſem Staate freigeſtanden hat, durch Landesgeſetz ſich derſelben zu entziehen, und das Reich hatte die rechtliche Befugniß, von der es auch in zahlreichen Fällen Ge - brauch gemacht hat, die Zuſtändigkeit des Reichsoberhandelsgerichts durch beſondere Reichsgeſetze auszudehnen. Dies iſt von dem Reichsoberhandelsgericht auf das Reichsgericht übertragen worden; die Vorſchrift des §. 8 Abſ. 1 cit. findet demnach keine Anwendung auf diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten, welche zur Zuſtän - digkeit des Reichsoberhandelsgerichts gehört haben oder welche durch beſondere Reichsgeſetze dem Reichsgericht zugewieſen werden1)Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 8 Abſ. 2. Hinſichtlich der Entſchei - dung der Vorfrage, ob das oberſte Landesgericht oder das Reichsgericht zu - ſtändig iſt, ſind die Vorſchriften des Geſ. v. 12. Juni 1869 §§. 18 u. 20 ana - log übertragen worden. Einf. Geſ. zur Civilproz. O. §. 7..

Uebrigens gelten die reichsgeſetzlichen Vorſchriften über das Verfahren, ferner die allgemeinen Anordnungen des Gerichtsver - faſſungsgeſetzes und die beſonderen das Reichsgericht betreffenden Vorſchriften deſſelben, ſoweit dieſelben analog anwendbar ſind, auch für das Bayeriſche oberſte Landesgericht als Behörde der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit2)Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 10 und dazu die Motive S. 212 (Hahn S. 185)..

3. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit bildet einen Theil der den Einzelſtaaten verbliebenen oder ihnen vom Reich übertra - genen Selbſtverwaltung in dem Bd. I S. 95 fg. (beſonders S. 104) dargelegten Sinn. Die Einzelſtaaten ſind verpflichtet, die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit nach den im Gerichtsverfaſſungs - geſetz und den Prozeßordnungen gegebenen Vorſchriften zu hand - haben. Die Ueberwachung der Einzelſtaaten, daß ſie dieſer Ver - pflichtung nachkommen, liegt dem Kaiſer ob, die derſelbe vermittelſt2)wird, treffen nur zu für die Zeit bis zum Erlaß eines allgem. Deutſchen Civil - geſetzbuches und in dieſem Sinne iſt der Vorbehalt des §. 8 von vielen Seiten als ein nur proviſoriſcher angeſehen worden. Vgl. die citirten Verhandlungen der Reichstagskommiſſion v. 12. Febr. 1876. Protok. S. 447 ff.4*52§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.des dem Reichskanzler unterſtellten Reichsjuſtizamtes bewirkt1)Reichsverf. Art. 17.. Wenn hierbei Mängel hervortreten, deren Abſtellung die Regierung des Einzelſtaates trotz einer Anregung des Reichskanzlers verwei - gert, ſo entſcheidet der Bundesrath über die richtige Auslegung und Handhabung der Reichsgeſetze2)Reichsverf. Art. 7 Ziff. 3.. Für die Gerichtsbarkeit gel - ten keine, von dieſen allgemeinen Prinzipien abweichende Regeln und es iſt demnach hier einfach auf die Erörterungen zu verwei - ſen, welche Bd. I S. 255 261 und Bd. II S. 232 237 gegeben worden ſind. Nur iſt ſelbſtverſtändlich hierbei zu beachten, daß ſoweit die Regierungen der Einzelſtaaten nicht befugt ſind, auf die Thätigkeit der Gerichte einzuwirken, auch der Reichskanzler nicht befugt iſt, den Regierungen gegenüber unter Berufung auf das kaiſerl. Beaufſichtigungsrecht eine Kontrole und Kritik über die Handhabung der Gerichtsbarkeit auszuüben oder die Unabhängig - keit der Gerichte anzutaſten. Die Kompetenz des Reichskanzlers und event. des Bundesrathes iſt im Weſentlichen auf die Beauf - ſichtigung der Juſtizverwaltung beſchränkt, insbeſondere darauf, daß in den Einzelſtaaten die im Gerichtsverfaſſungsgeſetz vorge - zeichneten Behörden-Organiſationen wirklich durchgeführt, die er - forderlichen Gerichte, Staatsanwaltſchaften u. ſ. w. errichtet und mit qualifizirten Beamten beſetzt werden und daß die Gerichte bei ihren Amtsverrichtungen vor unerlaubten Einwirkungen der Ver - waltungsbehörden u. dgl. gewahrt bleiben3)Vgl. Bd. I. S. 305.. Der Fall einer Juſtiz - verweigerung kann auf dem Gebiet der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit ſeit dem Inkrafttreten der Reichsjuſtizgeſetze nicht leicht vorkommen; ſollten unvorherzuſehende Umſtände ihn dennoch herbeiführen, ſo würde gemäß Art. 77 der R.V. der Bundesrath die Beſchwerde zu prüfen und die Abhülfe zu bewirken haben4)Siehe Bd. I. S. 267. 268..

II. Die reichsgeſetzlich nicht normirte Gerichts - barkeit.

Das geſammte Gebiet der Gerichtsbarkeit, welches nicht unter die Kriterien der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit fällt, iſt der freien Autonomie und Verwaltung Seitens der Einzelſtaaten53§. 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten.überlaſſen, wobei allerdings die Reichsgeſetze über Strafrecht, bürgerliches Recht und über die verſchiedenen Gebiete des öffent - lichen Rechts der Selbſtbeſtimmung der Einzelſtaaten erhebliche Schranken ſetzen.

Für das[Reichsſtaatsrecht] bietet dieſe Materie keinen Anlaß zu ſpeziellen Erörterungen; es gelten keine anderen Rechtsregeln als diejenigen, welche ſich aus dem allgemeinen Unterordnungs - Verhältniß der Bundesſtaaten unter die Reichsgewalt ergeben; in dieſer Beziehung iſt auf die Erörterungen Bd. II S. 231 232 zu verweiſen.

Da die Beſtellung und Organiſation der Behörden, durch welche dieſe Gerichtsbarkeit ausgeübt wird, den Einzelſtaaten über - laſſen iſt, ſo ſteht es ihnen auch frei, dazu die ordentlichen Gerichte zu verwenden und die Zuſtändigkeit derſelben und das von ihnen zu befolgende Verfahren vorzuſchreiben. Nur in einer Beziehung iſt den Einzelſtaaten hier eine Schranke gezogen; es iſt ihnen verboten, andere Geſchäfte der Verwaltung als diejenigen der Juſtizverwaltung den ordentlichen Gerichten zu übertragen1)Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. Art. 4. Ueber den Kreis der Geſchäfte, welche zur Juſtizverwaltung gehören, vgl. die Verhandlungen der Reichstags - kommiſſion Protot. I. Leſ. S. 436 ff. (Hahn S. 647). Abg. Dr. Lasker zählt dahin: Alle Geſchäfte, welche zur Herbeiführung und Vollziehung des Richterſpruchs erforderlich ſeien; auch äußere Angelegenheiten, ſofern ſie zu dem bezeichneten Zwecke erledigt werden müſſen; unter dieſen Geſichtspunkt falle auch die Beſchaffung der Schreibmaterialien, die Aufſicht über die Straf - anſtalten. . Hierdurch iſt der Grundſatz von der Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung, welcher bei Einführung der neuen Gerichts - verfaſſung in allen deutſchen Staaten bis auf ein Paar unbedeu - tende Ausnahmen landesrechtlich bereits durchgeführt war, reichs - geſetzlich ſanctionirt worden, ſo daß den Einzelſtaaten jede Ab - weichung von demſelben unmöglich gemacht worden iſt. Wenngleich daher die praktiſche Wirkung dieſer Beſtimmung nur gering war, ſo kömmt ihr doch ſtaatsrechtlich eine große Tragweite zu, indem ſie eine einſchneidende Beſchränkung der Autonomie der Einzel - ſtaaten enthält. Das Reich verbietet aber nur, Verwaltungsge - ſchäfte den ordentlichen Gerichten zu übertragen, nicht den Richtern ; d. h. es müſſen geſonderte Behörden für die54§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.Rechtspflege und für die Verwaltung eingerichtet werden, da - gegen kann derſelbe Beamte gleichzeitig ein richterliches Amt und ein Verwaltungsamt führen1)Vgl. Kommiſſionsbericht zum Gerichtsverfaſſungsgeſetz S. 75. (Hahn S. 981.).

§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.

1. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.

Unter den im §. 12 des Reichsgeſetzes aufgeführten ordent - lichen Gerichten befindet ſich auch ein Gericht des Reiches, das Reichsgericht . Da nun die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen begreift, welche den ordentlichen Gerichten zugewieſen ſind, ſo iſt die ordent - liche ſtreitige Gerichtsbarkeit des Reiches identiſch mit der Zu - ſtändigkeit des Reichsgerichts in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, gleichviel durch welches Geſetz die Zuſtändigkeit des Reichsgerichts begründet iſt, und gleichviel welches Verfahren von dem Reichsgericht zu be - folgen iſt. Dieſem Begriffe gemäß erſtreckt ſich die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit des Reiches auf folgende Gegenſtände.

1. In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten auf die Entſcheidung

a) über die Rechtsmittel der Beſchwerde und der Berufung gegen die Entſcheidungen der Reichskonſuln und Reichs - Konſulargerichte2)Konſulargerichtsbarkeitsgeſ. §. 18 Abſ. 3. Vgl. unten sub II. .

b) über die Rechtsmittel der Beſchwerde und Reviſion gegen die Entſcheidungen und Endurtheile der Oberlandesgerichte der einzelnen Bundesſtaaten3)Gerichtsverfaſſungsgeſ. §. 135., ausgenommen die bayeriſchen, nach Maßgabe des oben S. 49 ff. erörterten §. 8 des Einf. Geſ. zum Ge - richtsverf. Geſ.

Es ergibt ſich hieraus, daß die einſchränkenden Vorausſetzungen, unter denen das Rechtsmittel der Reviſion geſtattet iſt, zugleich ebenſoviele Einſchränkungen der Gerichtsbarkeit des Reiches ſind und das Verhältniß derſelben zur Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten beſtimmen. Die Vorausſetzungen der Reviſion ſind aber von55§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.zwiefachem Charakter, theils ſind ſie rein prozeßrechtlicher Natur, theils haben ſie eine ſtaatsrechtliche Bedeutung und ſtehen mit dem Verfaſſungs - und Rechtszuſtande des Reiches in Zu - ſammenhang. Rein prozeßrechtlich ſind die Vorſchriften, daß die Reviſion nur ſtattfindet gegen die in der Berufungsinſtanz von den Oberlandesgerichten erlaſſenen Endurtheile1)Civilproz. O. 507., das Reichsgericht alſo nur in dritter Inſtanz entſcheidet; ferner daß ſie nicht auf unrichtige Feſtſtellung oder Beurtheilung des Thatbe - ſtandes geſtützt werden kann; ſowie das Erforderniß der ſogen. Reviſionsſumme (Betrag des Streitgegenſtandes von 1500 Mark)2)Civilproz. O. 508. Ausnahmen ebendaſ. 509 in Verbindung mit Ge - richtsverf. Geſ. §. 70 Abſ. 2.. Dieſelben Vorſchriften können in den Prozeßordnungen aller Staaten mit den verſchiedenſten Verfaſſungen, namentlich auch im iſolirten Einheitsſtaate gelten: ſie beruhen ausſchließlich auf techniſch-prozeſſualiſchen Rückſichten und geben zu einer ſtaatsrecht - lichen Erörterung keinen Anlaß. Anders verhält es ſich mit dem von der Reichsgeſetzgebung für das Rechtsmittel der Reviſion auf - geſtellten Erforderniß, daß daſſelbe nur darauf geſtützt werden kann:

Daß die Entſcheidung auf der Verletzung eines Reichs - geſetzes oder eines Geſetzes, deſſen Geltungsbereich ſich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erſtreckt, beruhe3)Civilproz. O. 511..

Es beſteht hiernach ein Unterſchied zwiſchen Reichsgeſetzen und Landesgeſetzen (partikulären Rechtsnormen); die behauptete Verletzung der erſteren genügt unbedingt zur Begründung der Re - viſion, die Verletzung der letzteren nur dann, wenn ihr Geltungs - bereich ſich über den Bezirk des Berufungsgerichts alſo über einen Oberlandesgerichts-Bezirk hinaus erſtreckt4)Vgl. hiezu die kritiſchen Erörterungen von John in der Zeitſchrift f. die Deutſche Geſetzgebung ꝛc. von Behrend und Dahn. VII. S. 161 ff.. Dieſe Unter - ſcheidung beruht auf dem verſchiedenartigen Intereſſe, welches das Reich an der gleichmäßigen Auslegung und Handhabung der Ge - ſetze hat; daſſelbe iſt theils ein materielles theils ein nur formelles. Inſoweit das Reich den Rechtszuſtand im ganzen Bundesgebiet einheitlich geregelt hat, darf dieſe Einheit nicht durch eine abwei - chende Auslegung der Landesgerichte theilweiſe aufgehoben oder56§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.in Frage geſtellt werden, ſondern es muß eine für das ganze Bundesgebiet maßgebende richterliche Inſtanz zur Wahrung der Einheit beſtehen. Dieſelben Gründe, welche zur Errichtung des Reichs-Oberhandelsgerichts und zur allmäligen Ausdehnung ſeiner Kompetenz führten, rechtfertigen die geſetzliche Anerkennung des allgemeinen Grundſatzes, daß die Auslegung eines Reichsgeſetzes zur Entſcheidung des Reichsgerichts gebracht werden könne. Die Frage, welches Recht das Reich geſetzt hat, wird in dem concreten Rechtsfalle definitiv beantwortet vom Reich ſelbſt durch ſein höch - ſtes Gericht, nicht vom Einzelſtaat1)Dies gilt übrigens auch in dem Falle, wenn das Reichsgeſetz etwa nur für den Bezirk Eines Oberlandesgerichtes Geltung hat.. Die Anordnung in §. 8 Abſ. 2 des Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. giebt die Möglichkeit, dieſem Grundſatze auch für Bayern vollſtändig Geltung zu verſchaffen.

Für diejenigen Materien aber, für welche das Reich einen einheitlichen Rechtszuſtand nicht hergeſtellt, ſondern die Vielgeſtal - tigkeit der Partikularrechte fortbeſtehen gelaſſen hat, beſteht für das Reich kein Intereſſe daran, wie dieſe Geſetze ausgelegt wer - den, wol aber, daß nicht widerſprechende Auslegungen derſelben Rechtsnormen ſich behaupten können, ohne daß in der Gerichts - verfaſſung des Reiches die Möglichkeit einer Ausgleichung des Widerſpruches geboten iſt. Denn da die Gerichtsbarkeit jedes Ein - zelſtaates und die Rechtskraft der Urtheile ſich auf das ganze Bundesgebiet erſtrecken, ſo muß mit Rückſicht auf die Sicherheit der Rechtſprechung und auf das Vertrauen des Volkes zur Rechts - pflege dafür Sorge getragen werden, daß nicht unter den Gerichten des Bundesgebietes hinſichtlich einer und derſelben Rechtsfrage ein unlöslicher Diſſens beſtehe. Für diejenigen Rechtsnormen, welche nur innerhalb des Bezirkes eines Oberlandesgerichtes gelten, iſt durch die Rechtſprechung des letzteren die Einheitlichkeit der Rechtsan - wendung verbürgt und die Möglichkeit eines dauernden Widerſtreites mehrerer hinſichtlich des Inſtanzenzuges von einander unabhängiger Gerichte ausgeſchloſſen; wenn dagegen eine Rechtsnorm außer in dem Bezirk des Berufungsgerichtes mindeſtens noch in dem Bezirk eines Deutſchen Oberlandesgerichts Geltung hat, ſo muß die An - rufung des Reichsgerichts geſtattet ſein, um den Einklang der Rechtsauslegung unter den Oberlandesgerichten zu ſichern2)Wenn die Rechtsnorm nur in dem Bereich Eines Oberlandesgerichts,.

57§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.

Freilich wird dieſer Erfolg durch die Beſtimmung des §. 511 nicht vollſtändig erreicht, ſondern nur für den regelmäßigen Fall, daß die Gerichte nach der lex fori entſcheiden; wenn in einer Rechtsſache ausländiſches Recht oder das Recht eines andern, wenn - gleich zum Deutſchen Reich gehörenden, Rechtsgebietes von einem Oberlandesgerichte in Anwendung zu bringen iſt, kann das letztere von der Auslegung eines anderen Oberlandesgerichtes abweichen, ohne daß durch das Rechtsmittel der Reviſion die Entſcheidung des Reichsgerichts herbeigeführt werden kann1)Vgl. Eccius in Gruchot’s Beiträgen zur Erläuterung des Deutſchen Rechts. Bd. 24 S. 23 ff. und Reuling, reviſible und nichtreviſible Rechts - normen. Berlin 1880. (Separat-Abdr. aus der Juriſt. Wochenſchr. v. 1880.).

Aber auch abgeſehen von dieſer Beſchränkung der Tragweite des im §. 511 cit. aufgeſtellten Prinzips iſt das letztere ſelbſt nicht ein abſolut durchgreifendes, ſondern es ſind Modifikationen deſſelben nach beiden Richtungen geſtattet. Mit Zuſtimmung des Bundesraths kann durch Kaiſerl. Verordnung beſtimmt werden, ſowohl daß die Verletzung von Geſetzen, obgleich deren Geltungs - bereich ſich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erſtreckt, die Reviſion nicht begründe, als auch, daß die Verletzung von Ge - ſetzen, obgleich deren Geltungsbereich ſich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erſtreckt, die Reviſion begründe2)Einf. Geſ. z. Civilproz. O. Art. 6.. Die erſte dieſer beiden Abweichungen betrifft namentlich die Partikular - geſetze älterer Zeit, deren Geltungsgebiete in Folge der Territorial - veränderungen oder der Umgeſtaltung der Gerichtsverfaſſung getheilt worden ſind, ſo daß ſie gegenwärtig in den Bezirken mehrerer Staaten bezieh. mehrerer Oberlandesgerichte liegen3)In dieſer Beziehung hat die V. v. 28. Sept. 1879 §. 1 (R. G.Bl. S. 299) den Grundſatz aufgeſtellt, daß die Reviſion auf die Verletzung anderer Geſetze als derjenigen des gemeinen oder franzöſ. Rechts nur geſtützt werden kann, wenn dieſelben über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus für den.

2)außerdem aber in einem ausländiſchen Gebiet Geltung hat, was hinſicht - lich zahlreicher in Elſaß-Lothringen geltender franzöſiſcher und der in Schles - wig-Holſtein geltenden däniſchen Geſetze zutrifft, ſo iſt die Reviſion nicht be - gründet, obgleich der Wortlaut des §. 511 der Civilproz. O. einer andern Aus - legung Raum giebt. Denn in dieſem Falle kann ein Widerſtreit zwiſchen meh - reren Deutſchen Oberlandesgerichten nicht entſtehen. Vgl. auch Endemann II. S. 454. Dieſes Prinzip hat auch Anerkennung gefunden in der V. v. 28. Septemb. 1879 §. 2. (R. G.Bl. S. 299.)

58§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.

Die andere Modifikation beruht im Einzelnen auf ſehr ver - ſchiedenen Gründen, deren nähere Erörterung für das Reichs - ſtaatsrecht kein Intereſſe hat; zu erwähnen iſt nur, daß die Re - viſion auf die Verletzung einiger Geſetze geſtützt werden kann, die zwar formell nur für einen Bundesſtaat erlaſſen ſind, materiell aber in mehreren übereinſtimmend gelten, wie die neueren auf Grund des Preuß. Berggeſetzes erlaſſenen Berggeſetze oder das Badiſche Landrecht (Franzöſ. Recht)1)Vgl. die V. v. 28. Sept. 1879 §. 7 ff. und das Geſetz v. 15. März 1881 (R. G.Bl. S. 38.).

Eine auf Grund des §. 6 des Einf. Geſ. zur Civilproz. O. er - laſſene Verordnung iſt dem Reichstage bei deſſen nächſtem Zuſam - mentreten zur Genehmigung vorzulegen. Ertheilt der Reichstag die Genehmigung, ſo erlangt die Verordnung formelle Geſetzes - kraft, d. h. ſie kann nur im Wege der Reichsgeſetzgebung abge - ändert oder aufgehoben werden2)Vgl. Bd. II. S. 95.; verſagt der Reichstag die Ge - nehmigung, ſo tritt die Verordnung für die am Tage des Reichs - tagsbeſchluſſes noch nicht anhängigen Prozeſſe außer Kraft3)Einf. Geſ. z. Civilproz. O. Art. 6 Abſ. 2. Auf Grund deſſelben iſt die V. v. 28. Sept. 1879 (R. G.Bl. S. 299) ergangen, welcher der Reichstag in ſeiner Sitzung v. 10. April 1880 die Genehmigung ertheilt hat, jedoch mit Ausſchluß des §. 3 R. G.Bl. 1880 S. 102. Vgl. über die Verordnung die vor - trefflichen Erörterungen von Eccius a. a. O. S. 20 50..

c) Die im Vorſtehenden erörterte Kompetenz des Reichsge - richts erſtreckt ſich nicht auf die vor dem Inkrafttreten der Civil - prozeß-Ordnung anhängig gewordenen Prozeſſe: auf dieſelben fin - den vielmehr bis zur rechtskräftigen Entſcheidung die bisherigen Prozeßgeſetze Anwendung, inſofern nicht die Landesgeſetz - gebung die Civilprozeß-Ordnung auch auf ſolche Prozeſſe in Geltung ſetzt4)Einf. Geſ. z. Civilproz. O. §. 18.. Demgemäß bleibt bis zur völligen Erledigung aller am 1. Oktober 1879 anhängig geweſenen Civilprozeſſe die3)ganzen Umfang mindeſtens zweier Deutſcher Bundesſtaaten oder zweier Pro - vinzen Preußens oder einer preußiſchen Provinz und eines anderen Bundes - ſtaates Geltung erlangt haben. Für Bayern findet dieſe Anwendung hinſicht - lich der vom oberſten Landesgerichte zu entſcheidenden Sachen keine Anwen - dung; hier ſind lediglich 5 Partikularrechte älterer Zeit, deren Geltungsbereich in Bayern ein ſehr geringer iſt, als ſolche bezeichnet, auf welche die Reviſion nicht geſtützt werden kann. §. 6 der angef. Verordnung.59§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.landesgeſetzlich beſtimmte Kompetenz der oberſten Landesgerichte beſtehen und ebenſo die Befugniß der Einzelſtaaten, im Wege der Autonomie (Landesgeſetzgebung) zu beſtimmen, in welchem Ver - fahren und von welcher Behörde die Beendigung dieſer Prozeſſe erfolgen ſolle. Reichsgeſetzlich iſt aber den Einzelſtaaten die Mög - lichkeit eröffnet worden, die Verhandlung und Entſcheidung der - jenigen Sachen, welche nach den bisherigen Prozeßgeſetzen von dem oberſten Landesgerichte zu erledigen geweſen wären, dem Reichs - gerichte zuzuweiſen1)Auch die bei dem Reichs-Oberhandels-Gericht anhängig geweſenen Sachen ſind auf das Reichsgericht übergegangen. Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 14; desgleichen die beim Appellat. Ger. zu Stettin anhängig geweſenen Kon - ſulargerichts-Sachen. Konſular-Gerichtsbarkeits-Geſ. §. 50.. Es geſchieht dies auf Antrag des Bundesſtaates durch eine mit Zuſtimmung des Bundesraths er - laſſene Verordnung2)Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. §. 15.. Von dieſer Befugniß haben Gebrauch ge - macht Preußen, Baden, Oldenburg, Anhalt, Schwarzburg-Sonders - hauſen, Waldeck, Hamburg, Bremen, Lübeck3)Kaiſerl. Verordnungen v. 26. Sept. 1879 R. G.Bl. S. 287 ff.. Behufs Erledig - ung dieſer Prozeſſe können mit Zuſtimmung des Bundesraths durch Kaiſerliche Verordn. bei dem Reichsgerichte vorübergehend Hilfsſenate eingerichtet werden, deren Zuſammenſetzung und Ge - ſchäftsvertheilung der Reichskanzler beſtimmt4)Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. §. 16. Auf Grund deſſelben ſind die Kaiſerl. Verordn. v. 27. Sept. 1879 (R. G.Bl. S. 299) und der Erlaß des Reichskanzlers v. 28. Septemb. 1879 ergangen. Vgl. auch Geſchäfts-Ordnung des Reichsgerichts vom 8. April 1880 (Centralbl. S. 190 ff.) §§. 30 32..

d) Auch in denjenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten, für welche beſondere Gerichte zugelaſſen ſind, kann die Gerichts - barkeit letzter Inſtanz auf Antrag des betreffenden Bundes - ſtaates mit Zuſtimmung des Bundesrathes durch Kaiſ. Verordnung dem Reichsgerichte übertragen werden5)Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. §. 3 Abſ. 2. Inſoweit dies geſchehen iſt, gehören dieſe Sachen in letzter Inſtanz gemäß dem oben §. 97 entwickelten Begriff zur ordentlichen Gerichtsbarkeit..

Die Vorausſetzungen, unter denen ein ſolcher Antrag beim Reich geſtellt werden kann, beſtimmen ſich nach dem inneren Staats - recht des betreffenden Bundesgliedes, insbeſondere auch die Be - antwortung der Frage, ob die Regierung ohne Zuſtimmung des60§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.Landtages zur Stellung des Antrages befugt iſt. Aus der Aus - drucksweiſe des Reichsgeſetzes, welches einen Antrag des Bundes - ſtaates verlangt, kann nicht gefolgert werden, daß die Bundes - regierungen hierzu nicht befugt ſeien; denn der Antrag wird in allen Fällen von der Landesregierung im Namen des Staates beim Bundesrath geſtellt. Dem Bundesrath iſt es zwar unbe - nommen, die Legitimation der betreffenden Regierungen zu prüfen, er iſt hierzu aber nicht verpflichtet, ſondern er kann die Verant - wortung für den Antrag der Regierung überlaſſen. Iſt aber ein - mal die Kaiſerl. Verordnung gemäß §. 3 Abſ. 2 cit. formell ord - nungsgemäß ergangen, ſo iſt die Rechtsgültigkeit derſelben unab - hängig von der Entſcheidung der Frage, ob die betreffende Landes - regierung den Antrag bei der Reichsregierung befugter oder unbe - fugter Weiſe geſtellt hat1)Vgl. Bd. I. S. 119 ff. Bd. II. S. 86 ff. Auch die Prot. der Reichs - tagskomm. S. 433. (Hahn 645.).

Von der Befugniß zur Stellung eines ſolchen Antrags haben Gebrauch gemacht hinſichtlich der in erſter Inſtanz zur Zuſtändig - keit der Generalkommiſſionen oder der dieſen entſprechenden Be - hörden gehörenden Rechtsſtreitigkeiten über Gemeinheitstheilungen, Zuſammenlegungen von Grundſtücken, Ablöſungen u. ſ. w. Preußen, Anhalt, Weimar, Meiningen, beide Schwarzburg, Waldeck und Schaumburg-Lippe2)Kaiſerl. Verordn. v. 26. Septemb. 1879 §. 1 (R. G.Bl. S. 287) und Verordnungen vom gleichen Tage S. 291 ff.; ferner hinſichtlich der bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten der Landesherren und der Mit - glieder des landesherrlichen Hauſes Preußen, Heſſen und Waldeck3)Kaiſerl. Verordn. v. 26. Septemb. 1879 §. 2 (R. G.Bl. S. 288); Ver - ordn. von demſelben Tage für Heſſiſche Sachen (S. 289); für Waldeck’ſche Sachen §. 2 (S. 295.).

2. In Strafſachen.

Das Reichsgericht iſt zuſtändig:

a) in erſter und letzter Inſtanz für die Unterſuchung und Entſcheidung in den Fällen des Hochverraths und des Landesver - rathes, inſofern dieſe Verbrechen gegen den Kaiſer oder das Reich gerichtet ſind4)Gerichtsverf. Geſ. §. 136 Ziff. 1. Der erſte Senat des Reichsgerichts hat bei dieſen Fällen die Funktionen der Strafkammer zu verſehen, während. Hierdurch iſt Art. 75 der Reichsverf. aufgehoben61§ 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.worden, durch welchen prinzipiell bereits die Gerichtsbarkeit des Reichs für Strafſachen der bezeichneten Art anerkannt war1)Vgl. hiezu die Motive des Gerichtsverf. Geſ. S. 149 ff. (Hahn S. 137.). Zu - gleich iſt angeordnet worden, daß in Sachen, in denen das Reichs - gericht in erſter Inſtanz erkannt hat, das Begnadigungsrecht dem Kaiſer zuſteht und die Vollſtreckung von Todesſtrafen erſt dann zuläſſig iſt, wenn die Entſchließung des Kaiſers ergangen iſt, von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen2)Strafproz. O. 484. 485..

b) in zweiter und letzter Inſtanz zur Verhandlung und Entſcheidung über die Rechtsmittel der Berufung und Beſchwerde gegen die Urtheile und Entſcheidungen der Konſularge - richte3)Geſ. über die Konſulargerichtsbark. §, 36.. Auch in dieſen Sachen ſteht das Begnadigungsrecht dem Kaiſer zu4)ebendaſ. §. 42..

c) in zweiter und letzter Inſtanz für die Verhandlung und Entſcheidung über das Rechtsmittel der Reviſion gegen Urtheile der Schwurgerichte5)Gerichtsverf. Geſ. §. 136 Ziff. 2.. Das Rechtsmittel kann nur darauf geſtützt werden, daß das Urtheil auf einer Verletzung des Geſetzes beruhe6)Strafproz. Ordn. §. 376..

d) in zweiter und letzter Inſtanz für die Verhandlung und Entſcheidung über das Rechtsmittel der Reviſion gegen erſtinſtanz - liche Urtheile der Strafkammern der Landgerichte, ſofern das Rechtsmittel nicht ausſchließlich auf Verletzung einer in den Lan - desgeſetzen enthaltenen Rechtsnorm geſtützt wird7)Gerichtsverf. Geſ. §. 136 Ziff. 2. Hierbei iſt zu beachten, daß die Zu - ſtändigkeit des Reichsgerichts nicht nur dann begründet iſt, wenn das Rechts - mittel der Reviſion auf Verletzung eines Reichsſtrafgeſetzes oder der Straf - prozeß-Ordnung geſtützt wird, ſondern auch dann, wenn behauptet wird, daß das Urtheil der Strafkammer auf Verletzung einer vom Reich ſanctionirten ſtaats rechtlichen oder privat rechtlichen Rechtsnorm beruht, was auch bei Strafurtheilen nicht unmöglich iſt. Vgl. auch Löwe Note 3 zu §. 123 a. a. O.. In dieſer Beſchränkung kömmt derſelbe ſtaatsrechtliche Geſichtspunkt zur Gel - tung wie bei der Beſtimmung der Zuſtändigkeit des Reichsgerichts in4)das Hauptverfahren vor dem vereinigten zweiten und dritten Strafſenate ſtatt - findet. §. 138 a. a. O.62§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten. Das vom Reich einheitlich geregelte Strafrecht und Strafprozeßrecht muß gleichmäßig gehandhabt und ausgelegt werden und der Regulator dafür kann nur das vom Reiche ſelbſt eingeſetzte Gericht ſein. Inſoweit dagegen auf dem Gebiete des Strafrechts die Autonomie der Einzelſtaaten ſich er - ſtreckt, kann ihnen auch die Wahrung gleichmäßiger Handhabung der landesgeſetzlichen Vorſchriften überlaſſen werden. Demgemäß entſcheiden die Oberlandesgerichte über das Rechtsmittel der Reviſion, wenn nur die Auslegung landesgeſetzlicher Rechtsnormen in Frage ſteht1)Gerichtsverf. Geſ. §. 123 Ziff. 3. Dies trifft aber auch dann zu, wenn die Reviſion darauf geſtützt wird, daß die Strafkammer die Landesgeſetze eines anderen Bundesſtaates verletzt habe; §. 123 cit. erfordert nur die behauptete Verletzung einer in den Landesgeſetzen enthaltenen Rechtsnorm.. In Strafſachen konnte ſich aber die Reichsgeſetzgebung mit der Unterſcheidung zwiſchen Reichsgeſetzen und Landesgeſetzen begnügen; eine Berückſichtigung von partikulären Rechtsnormen, welche über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus Geltung haben, fiel von ſelbſt fort, da durch das Reichsſtrafgeſetzbuch und die dazu ergangenen Ergänzungen auf dem Gebiet des Strafrechts ein Rechtszuſtand hergeſtellt worden iſt, der für das Civilrecht erſt durch die Einführung des bürgerlichen Geſetzbuchs des Reichs ein - treten wird. Um aber in Staaten mit mehreren Oberlandesgerichten eine widerſtreitende Auslegung des Landesſtrafrechts zu verhüten, iſt dieſen Staaten die Befugniß eingeräumt worden, die Verhand - lung und Entſcheidung der zur Zuſtändigkeit der Oberlandesgerichte gehörenden Reviſionen und Beſchwerden in Strafſachen ausſchließ - lich einem oder mehreren Oberlandesgerichten zuzuweiſen2)Einf Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. §. 9. Hiervon haben die beiden, allein in Betracht kommenden Staaten Preußen und Bayern Gebrauch gemacht. Preuß. Ausführungsgeſ. zum Gerichtsverf. Geſ. v. 24. April 1878 (Preuß. Geſ. Samml. S. 230) §. 50. Bayeriſches Ausf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. v. 23. Febr. 1879 (Bayr. Geſ. u. Verordn. Bl. S. 273.) Art. 41..

e) In dritter Inſtanz iſt das Reichsgericht in Strafſachen regelmäßig nicht zuſtändig. In denjenigen Fällen, in welchen die Strafkammern der Landgerichte in der Berufungsinſtanz urtheilen3)Es ſind diejenigen Fälle, welche in erſter Inſtanz von den Schöffen - gerichten abgeurtheilt werden. Strafproz. O. 354. Gerichtsverf. Geſ. §. 76., geht die Reviſion gegen ihre Urtheile an die Oberlandesgerichte4)Gerichtsverf. Geſ. §. 123 Ziff. 2.. 63§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.Jedoch kann an Stelle derſelben die Zuſtändigkeit des Reichsge - richts begründet werden in Strafſachen wegen Zuwiderhandlungen gegen die Vorſchriften über die Erhebung öffentlicher, in die Reichskaſſe fließender Abgaben und Gefälle, ſofern die Staats - anwaltſchaft bei der Einſendung der Akten an das Reviſionsgericht den Antrag ſtellt, daß der Fall zur Entſcheidung des Reichsgerichts gebracht werde1)Gerichtsverf. Geſ. §. 136 Abſ. 2.. Bei den Reichsſteuergeſetzen iſt eine gleichmäßige Anwendung der zur Sicherung ihrer Durchführung gegebenen Vor - ſchriften für den Reichsfiskus von hervorragendem Intereſſe und aus dieſem Grunde die wenigſtens fakultative Zuſtändigkeit des Reichsgerichts erforderlich. Es handelt ſich hier um eine Modifi - kation eines prozeßrechtlichen Grundſatzes aus einem ſtaatsrecht - lichen Motive.

II. Die beſondere ſtreitige Gerichtsbarkeit.

Da der Begriff der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit durch zwei Momente beſtimmt wird, ſo hat er auf dem Gebiete der ſtreitigen Gerichtsbarkeit ſelbſt einen doppelten Gegenſatz: die Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche durch beſondere Gerichte ausgeübt wird, und die Ge - richtsbarkeit der ordentlichen Gerichte in andern Rechtsſtreitig - keiten als in bürgerlichen Prozeſſen und Strafſachen. In beiden Beziehungen ſteht dem Reich eine Gerichtsbarkeit zu.

1. Die beſonderen Reichsgerichte zur Entſchei - dung von bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen.

a) Die Konſulargerichte2)Der Bd. I. S. 366 ff. dargeſtellte Rechtszuſtand iſt durch das Reichs - geſetz über die Konſulargerichtsbarkeit v. 10. Juli 1879 (R. G.Bl. S. 197) modifizirt worden.. Die Konſulargerichtsbarkeit des Reiches iſt räumlich beſchränkt auf diejenigen Länder, in welchen ihre Ausübung durch Herkommen oder durch Staatsvertrag geſtattet iſt3)Konſular-Gerichtsb. Geſ. §. 1 Abſ. 1. Vgl. Brauer, die Deutſchen Juſtizgeſetze und die Konſulargerichtsbarkeit. Berlin 1879 S. 122 ff.. Dieſe Länder ſind zur Zeit China4)(Preuß.) Staatsvertrag v. 2. Sept. 1861 (Preuß. Geſ. S. 1863 S. 265) Art. 37. 38., Siam5)(Preuß.) Staatsvertr. v. 7. Sept. 1862 (Pr. Geſ. S. 1864 S. 717) Art. 9 ff.,64§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.Japan1)(Zollvereins) Staatsvertr. v. 20. Febr. 1869 (B. G.Bl. 1870 S. 1.) Art. 5 u. 6., Perſien2)Staatsvertr. v. 11. Juni 1873 (R. G.Bl. 1873 S. 351) Art. 13., ſowie die Türkei mit den ihrer Ober - hoheit unterworfenen Ländern3)Auf Grund des Herkommens, das zum Theil einen Stützpunkt in dem alten preußiſch-türkiſchen Vertrage v. 1761 hat., unter denen auch Tunis inbe - griffen iſt. Die Veränderungen in dem Territorialbeſtande der Türkei, welche durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 (R. G.Bl. S. 307) feſtgeſetzt worden ſind, haben zunächſt eine Ver - änderung der beſtehenden Konſular-Gerichtsbarkeit nicht hervorge - rufen; die Fortdauer derſelben im bisherigen Umfange iſt viel - mehr ausdrücklich anerkannt worden für Bulgarien4)Berliner Vertrag Art. 8 Abſ. 4., Ser - bien5)ebendaſ. Art. 37 Abſ. 3., Rumänien6)ebendaſ. Art. 49., ſowie für die türkiſche Provinz Oſt - Rumelien7)ebendaſ. Art. 20.. Auch in Bosnien und der Herzegowina, welche Länder unter Oeſterreichiſche Verwaltung genommen worden ſind, iſt die Konſulargerichtsbarkeit durch den Berliner Vertrag nicht in Fortfall gekommen; das Reichsgeſetz vom 7. Juni 1880 (R. G.Bl. S. 146) hat jedoch die Ermächtigung ertheilt, daß die dem Konſul des Deutſchen Reiches in Serajewo für Bosnien und die Herzego - wina zuſtehende Gerichtsbarkeit mit Zuſtimmung des Bundesrathes durch Kaiſerl. Verordnung eingeſchränkt oder außer Uebung geſetzt werden kann. Auf Grund dieſer Ermächtigung iſt durch Verordn. vom 23. Dezember 1880 (R. G.Bl. S. 191) die Konſulargerichts - barkeit in Bosnien und der Herzegowina vom 1. Januar 1881 ab mit der Maßgabe außer Uebung geſetzt worden, daß die deutſchen Reichsangehörigen und Schutzgenoſſen in dieſen Ländern der Oeſter - reichiſchen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind.

In Egypten iſt die Gerichtsbarkeit der Deutſchen Konſuln durch die auf Grund des Geſetzes vom 30. März 1874 (R. G.Bl. S. 23) erlaſſene Kaiſerl. Verordn. v. 23. Dezemb. 1875 (R. G.Bl. S. 381) eingeſchränkt worden8)Zur Zuſtändigkeit der Deutſchen Konſuln gehören nur noch bürgerliche Klagen um Mobilien und Geldſchulden, bei welchen beide Parteien deutſche Reichsangehörige oder Schutzgenoſſen ſind, ferner Statusfragen, und Strafſachen mit Ausſchluß der im §. 3 der cit. Verordnung aufgeführten Fälle.. Die in dem Geſetz v. 1874 ent -65§. 99. Die Gerichtsbarkeit des Reichs.haltene Zeitbeſchränkung auf die Dauer von 5 Jahren iſt aufge - hoben worden durch das Reichsgeſetz v. 5. Juni 1880 (R. G.Bl. S. 145) und die auf Grund deſſelben erlaſſene Kaiſerl. Verordn. v. 23. Dezemb. 1880 (R. G.Bl. S. 192).

Hinſichtlich der der Gerichtsbarkeit unterworfenen Perſonen iſt die Konſulargerichtsbarkeit beſchränkt auf die in den Konſular - gerichtsbezirken wohnenden oder ſich aufhaltenden Reichsangehörigen und Schutzgenoſſen1)Konſulargerichtsbark. Geſ. §. 1 Abſ. 2. Ueber den Begriff der Schutz - genoſſen vgl. Bd. II. S. 272 ff..

In ſachlicher Beziehung erſtreckt ſich die Gerichtsbarkeit der Konſulargerichte in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten auf alle Pro - zeſſe, welche nach dem Gerichtsverf. Geſetz und der Konkursordnung den Amtsgerichten und Landgerichten zugewieſen ſind, in Straf - ſachen auf alle Fälle, welche zur Kompetenz der Schöffengerichte und Strafkammern gehören2)Konſulargerichtsbark. Geſ. §. 12 Abſ. 1.. Iſt die ſtrafbare Handlung ein zur Zuſtändigkeit des Reichsgerichts oder der Schwurgerichte gehöriges Verbrechen, ſo hat der Konſul die zur Strafverfolgung erforder - lichen Sicherheitsmaßregeln zu treffen, ſowie die Unterſuchungs - handlungen, in Anſehung deren Gefahr im Verzug obwaltet, vor - zunehmen3)ebendaſ. §. 31..

b) Die Marine-Strafgerichte. Vergl. darüber oben Bd. I S. 369 und Bd. III. 1. S. 134. 253 ff.

2. Die Gerichtsbarkeit des Reichsgerichts in an - dern Angelegenheiten als in bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten und Strafſachen.

  • a) Das Reichsgericht entſcheidet über die Berufung gegen Er - kenntniſſe des Patentamtes im Verfahren wegen Erklärung der Nichtigkeit oder wegen Zurücknahme eines Patents
    4)Patentgeſ. §. 32. (Vgl. Bd. II. S. 487.) Reichsgeſ. v. 16. Juni 1879 §. 1. (R. G.Bl. S. 157.)
    4).
  • b) Die disciplinariſchen Befugniſſe des Reichs-Ober - handelsgerichts ſind auf das Reichsgericht übergegangen
    5)Reichsgeſ. v. 16. Juni 1879 §. 1. (R. G.Bl. S. 157.) Vgl. auch Rechts - anwalts-Ordn. §. 90. (Ehrengerichtshof. Siehe unten §. 103.)
    5).
  • c) Das Reichsgericht iſt zuſtändig zur Entſcheidung der ihmLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 566§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.durch Art. 71 Ziff. 1 und Art. 76 der Hamburger Verfaſſung v. 13. Okt. 1879 zugewieſenen Streitfragen zwiſchen dem Ham - burger Senat und der Bürgerſchaft
    1)Reichsgeſ. v. 14. März 1881. (R. G.Bl. S. 37.)
    1).
  • 3. Ueber die Gerichtsbarkeit des Reiches zur Entſcheidung von Streitigkeiten nicht privatrechtlicher Natur zwiſchen verſchiedenen Bundesſtaaten nach Art. 76 der R.V. vgl. Bd. I S. 268 ff.

§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.

Der Grundſatz, daß die Gerichte des Bundesgebietes ſich in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und in Strafſachen gegenſeitig Rechtshülfe zu leiſten haben, ohne daß es einen Unterſchied macht, ob das erſuchende und das erſuchte Gericht demſelben Bundes - ſtaate, oder ob ſie verſchiedenen Bundesſtaaten angehören, iſt be - reits in dem Geſetz des Norddeutſchen Bundes v. 21. Juni 1869 anerkannt worden, deſſen Geltung zunächſt durch Staatsvertrag auf Baden2)Vertrag v. 14. Januar 1870. (B. G.Bl. S. 67.) und Südheſſen3)Vertrag v. 18. März 1870 nebſt Protok. v. 15. Nov. 1870. (B. G.Bl. S. 607. 617.), ſodann bei der Reichsgründung ver - faſſungsmäßig auf das ganze Reichsgebiet ausgedehnt worden iſt4)Verfaſſung des Deutſchen Bundes Art. 80. I. Nr. 19. (B. G.Bl. 1870 S. 648.) Für Bayern: Reichsgeſ. v. 22. April 1871 §. 6. (R. G.Bl. S. 89), für Elſaß-Lothr. : Reichsgeſ. v. 11. Dezemb. 1871. (R. G Bl. S. 445.). Die Beſtimmungen dieſes Geſetzes ſind aber mit der Einführung einer gleichmäßigen Gerichtsverfaſſung und einer gemeinrechtlichen Prozeßordnung zum Theil überflüſſig zum Theil unanwendbar geworden, und ſoweit ſie noch praktiſche Bedeutung behalten haben, ſind ſie in die Reichsjuſtizgeſetze, insbeſondere in das Gerichtsver - faſſungsgeſetz übergegangen. Das Geſetz vom 21. Juni 1869 regelt aber die gegenſeitige Rechtshülfe in bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten und in Strafſachen ohne Unterſcheidung und Ein - ſchränkung, während das Gerichtsverfaſſungsgeſetz und die Prozeß - ordnungen nur für die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit Geltung haben5)Vgl. Motive zum Gerichtsverf. Geſ. S. 189. (Hahn S. 167.). Demgemäß ſind hinſichtlich der Rechtshülfe - Leiſtung drei Kategorien von gerichtlichen Angelegenheiten zu unter - ſcheiden:

67§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.
  • 1. In Betreff der zur ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit ge - hörenden Rechtsſachen kommen die Vorſchriften des Gerichts - verfaſſungsgeſetzes und der Prozeßordnungen zur Anwendung.
  • 2. In Betreff derjenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche zur Zuſtändigkeit der beſonderen Gerichte gehören, ſind die Vorſchriften des Rechtshülfe-Geſetzes v. 21. Juni 1869 in Geltung geblieben.
  • 3. Für alle übrigen Rechtsſachen, insbeſondere für die Gerichts - barkeit der Verwaltungsgerichte, der Disciplinargerichte, für die geſammte freiwillige Gerichtsbarkeit und für die den Ge - richten aufgetragenen Geſchäfte der Juſtizverwaltung fehlt es an reichsgeſetzlichen Normen und es beſteht überhaupt keine reichsgeſetzlich ſanctionirte Pflicht zur Gewährung ge - genſeitiger Rechtshülfe; es kommen vielmehr die Partikular - rechte und die unter den einzelnen Staaten abgeſchloſſenen Verträge zur Anwendung.

I. Rechtshülfe auf dem Gebiet der ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit.

1. Die Gerichtsbarkeit oder Gerichtsgewalt jedes Deutſchen or - dentlichen Gerichtes erſtreckt ſich, wie S. 47 ff. ausgeführt wurde, auf das ganze Reichsgebiet und auf alle in demſelben ſich auf - haltenden Perſonen; dagegen hat jedes Gericht einen räumlich ab - gegränzten Amtsbezirk mit der Bedeutung, daß es Amtshand - lungen außerhalb ſeines Bezirks regelmäßig nicht vornehmen darf1)Gerichtsverf. Geſ. §. 167.. Aus dieſen beiden Sätzen ergiebt ſich der Umfang, in welchem das Verlangen und die Gewährung von Rechtshülfe er - forderlich iſt. Alle Erkenntniſſe, Entſcheidungen und Verfügungen eines Gerichtes ſind für das ganze Reichsgebiet ebenſo rechtswirk - ſam wie für den ſpeziellen Amtsbezirk des Gerichts; es bedarf daher keiner Vermittlung oder Beihülfe eines andern Gerichts, um den gerichtlichen Befehlen oder Urtheilen die Rechtswirkſamkeit beizulegen. Demnach ſind nicht blos alle rechtskräftigen Urtheile im ganzen Reichsgebiete vollſtreckbar, ſondern jedes Gericht kann auch an Perſonen, die ſich außerhalb ſeines Gebietes befinden, rechtsverbindliche Befehle erlaſſen, insbeſondere Zuſtellungen und5*68§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.Ladungen, indem es ſich zum Zweck der Behändigung ſeiner Ver - fügungen an den Adreſſaten der Poſt oder eines im Bezirk des Zuſtellungsortes beſtellten Gerichtsvollziehers bedient; die Hülfe eines andern Gerichts iſt hiezu nicht erforderlich1)Vgl. Motive zum Gerichtsverf. Geſ. S. 189 ff. 194. (Hahn 168. 171.) Die Verwendung eines Gerichtsvollziehers iſt dadurch erleichtert, daß Gerichte, Staatsanwaltſchaften und Gerichtsſchreiber wegen Ertheilung eines Auftrages an einen Gerichtsvollzieher die Mitwirkung des Gerichtsſchreibers des Amts - gerichts in Anſpruch nehmen dürfen, in deſſen Bezirk der Auftrag ausgeführt werden ſoll. Es handelt ſich hierbei um keine Rechtshülfe; die Vermittlung des Gerichtsſchreibers ſoll nur dem Uebelſtande abhelfen, daß das Gericht die Namen der Gerichtsvollzieher in anderen Gerichtsbezirken häufig nicht kennt. Der vom Gerichtsſchreiber beauftragte Gerichtsvollzieher gilt als unmittel - bar von der requirirenden Behörde beauftragt. Gerichtsverf. Geſ. §. 162. Endemann Civilproz. O. I. S. 155.. Dies iſt der Sinn des §. 161 des Gerichtsverf. Geſ. Die[Herbeifüh - rung] der zum Zwecke von Vollſtreckungen, Ladungen und Zu - ſtellungen erforderlichen Handlungen erfolgt nach Vorſchrift der Prozeßordnungen ohne Rückſicht darauf, ob die Handlungen in dem Bundesſtaate, welchem das Prozeßgericht angehört, oder in einem andern Bundesſtaate vorzunehmen ſind.

Dagegen kann ein Gericht außerhalb ſeines Amtsbezirks nicht thätig werden, insbeſondere keinen Augenſchein einnehmen, keine Durchſuchungen vornehmen, keine Zeugen oder Sachverſtändigen abhören, keine Termine abhalten u. ſ. w. Wenn daher in einem Verfahren in Folge der Vorſchriften der Prozeßgeſetze eine rich - terliche Handlung erforderlich wird, welche in einem andern Gerichtsbezirk als in dem des Prozeßgerichts vorzunehmen iſt, ſo muß das Gericht dieſes andern Bezirks um Vornahme der Hand - lung erſucht werden2)Der Ausdruck Rechtshülfe wird auch von dem Falle angewendet, daß ein im Inſtanzenzug vorgeſetzees Gericht (z. B. ein Landgericht oder Oberlandesgericht) ein Amtsgericht ſeines eigenen Bezirks um Vornahme einer richterlichen Handlung erſucht und die Vorſchriften des Gerichtsverfaſſungs - geſetzes umfaſſen auch dieſen Fall; vgl. Löwe Note 6 zu Titel 13 des G. V.G.’s für das Reichsſtaatsrecht iſt aber die gegenſeitige Verpflichtung der Staaten einander durch ihre Gerichtsbehörden Rechtshülfe zu leiſten, vor - wiegend von Intereſſe..

Von dieſem Prinzip giebt es jedoch eine zwiefache Ausnahme; wenn nämlich das Amtsgericht des Ortes ſeine Zuſtimmung zur69§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.Vornahme der Amtshandlung Seitens des erſuchenden Gerichts ertheilt und wenn Gefahr im Verzuge iſt; in dem letzteren Falle iſt nur dem Amtsgericht des Ortes Anzeige zu machen1)Gerichtsverf. Geſ. §. 167.. Ob das Amtsgericht des Orts, welches um Ertheilung der Zuſtimmung erſucht worden iſt, dieſelbe ertheilen oder verſagen will, iſt ganz und gar in ſein amtliches Ermeſſen geſtellt; eine Beſchwerde we - gen verweigerter Zuſtimmung findet nicht ſtatt2)Keller a. a. O. S. 208.: andererſeits hat das Prozeßgericht allein darüber zu befinden, ob Gefahr im Ver - zuge iſt, ohne ſich in Verhandlungen darüber mit dem Amtsgericht des Ortes einlaſſen zu müſſen.

Auf der Berückſichtigung der Gefahr im Verzuge beruht fer - ner die im Anſchluß an die Beſtimmung des Rechtshülfegeſetzes §. 30 getroffene Anordnung des §. 168 des G. V.G.’s, daß die Sicherheitsbeamten eines Bundesſtaates ermächtigt ſind, die Verfolgung eines Flüchtigen auf das Gebiet eines anderen Bundes - ſtaates fortzuſetzen und den Flüchtigen daſelbſt zu ergreifen. Der Ergriffene iſt aber unverzüglich an das nächſte Gericht oder die nächſte Polizeibehörde des Bundesſtaates, in welchem er ergriffen wurde, abzuführen.

2. Das Erſuchen um Rechtshülfe iſt immer an das Amts - gericht zu richten, in deſſen Bezirke die Amtshandlung vorgenommen werden ſoll, ohne Unterſchied, welcher Ordnung das erſuchende Gericht iſt3)Gerichtsverf. Geſ. §. 158.. Nur wenn in einem andern Gerichtsbezirke eine Freiheitsſtrafe vollſtreckt oder ein Verurtheilter zum Zweck der Strafverbüßung ergriffen und abgeliefert werden ſoll, iſt das Er - ſuchen an die Staatsanwaltſchaft bei dem Landgerichte des Bezirks zu richten4)ebendaſ. §. 164..

3. Das erſuchte Amtsgericht darf das Erſuchen nicht ab - lehnen, außer wenn ihm ſelbſt die örtliche Zuſtändigkeit mangelt, das Erſuchen alſo an ein unrichtiges Amtsgericht gerichtet iſt5)In dieſem Falle kann die Ablehnung auch in der Weiſe erfolgen, daß das irrthümlich requirirte Gericht das Erſuchen an das ortszuſtändige Amts - gericht abgiebt., oder wenn die vorzunehmende Handlung nach dem Rechte des er -70§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.ſuchten Gerichts verboten iſt1)ebendaſ. §. 159. Der letztere Fall kann wie die Motive S. 191 (Hahn S. 169) hervorheben bei der Verſchiedenheit des materiellen Rechts und bei der Möglichkeit, daß vor die ordentlichen Gerichte bürgerliche Rechts - ſtreitigkeiten und Strafſachen gewieſen werden, für welche die Prozeßordnungen nicht maßgebend ſind, auch gegenwärtig noch praktiſch werden. Daß auch ab - geſehen hiervon Fälle dieſer Art vorkommen können, zeigen die treffenden Erörterungen von Herzog in Buſch’s Zeitſchrift f. Deutſch. Civilproz. II. S. 362 ff.. Geht das Erſuchen von einem Gericht aus, welches dem erſuchten Gericht im Inſtanzenzuge vor - geſetzt iſt, ſo iſt eine Ablehnung des Erſuchens unbedingt un - ſtatthaft, und zwar auch dann, wenn das höhere Gericht einem andern Staate angehört2)Vgl. die oben S. 45 ff. angeführten Gerichtskonventionen.. Entſteht über die Zuläſſigkeit des Erſuchens ein Streit, ſo entſcheidet auf Antrag der Betheiligten oder des erſuchenden Gerichts das Oberlandesgericht, zu deſſen Bezirk das erſuchte Gericht gehört. Die Entſcheidung deſſelben iſt nur dann anfechtbar, wenn ſie die Rechtshülfe für unzuläſſig er - klärt und das erſuchende und das erſuchte Gericht den Bezirken verſchiedener Oberlandesgerichte angehören; über die Beſchwerde entſcheidet das Reichsgericht3)Gerichtsverf. Geſ. §. 160. Ueber die prozeſſualiſche Behandlung der Be - ſchwerde, die hier nicht intereſſirt, vgl. Motive S. 192 ff. (Hahn S. 170.).

Betrifft das Erſuchen die Ablieferung eines Verurtheilten oder die Vollſtreckung einer Freiheitsſtrafe, iſt daſſelbe alſo nach §. 164 an die Staatsanwaltſchaft bei dem Landgerichte zu richten, ſo geht die Beſchwerde gegen den Staatsanwalt, der das Erſuchen ablehnt, nicht an ein Gericht, da die Staatsanwalt - ſchaft in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten unabhängig iſt, ſondern an den Staatsanwalt des Oberlandesgerichts und die weitere Beſchwerde an die Landesjuſtizverwaltung (Miniſte - rium)4)Motive S. 195 a. E. (Hahn S. 172.).

4. Aus dem Grundſatz, daß die Strafurtheile eines Deutſchen Gerichts im ganzen Reichsgebiet vollſtreckbar ſind, folgt noch nicht, daß ein Deutſcher Staat verpflichtet iſt, die Laſten auf ſich zu nehmen, welche mit der Vollſtreckung der von den Gerichten an - derer Staaten verhängten Freiheitsſtrafen verbunden ſind; es kann vielmehr ſtreng genommen nur verlangt werden, daß der Verur -71§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.theilte zum Zweck der Vollſtreckung an den Staat, deſſen Gerichte die Strafe verhängt haben, abgeliefert werde. Dieſer Grundſatz iſt jedoch modifizirt worden1)Im Anſchluß an §. 33 des Rechtshülfe-Geſetzes., indem die Vollſtreckung einer Frei - heitsſtrafe, welche die Dauer von 6 Wochen2)Ueber die Berechnung der Dauer der Freiheitsſtrafe vgl. Löwe Note 7 zu §. 163 des G.V.G. nicht überſteigt, demjenigen Bundesſtaate auferlegt worden iſt, in welchem der Ver - urtheilte ſich befindet3)Ger. Verf. Geſ. §. 163.. Die ſtaatsrechtliche Bedeutung dieſer Rechtsvorſchrift iſt folgende:

a) Der §. 163 ſtellt keine allgemeine Regel über den Ort der Vollſtreckung von Freiheitsſtrafen auf, ſondern er regelt nur das Verhältniß der einzelnen Bundesſtaaten zu einander. Er beſtimmt insbeſondere nicht, daß eine Freiheitsſtrafe unter 6 Wo - chen in demjenigen Gerichtsbezirk zu vollſtrecken iſt, in welchem der Verurtheilte ſich befindet; es iſt vielmehr die Beſtimmung hier - über den Einzelſtaaten völlig überlaſſen. Geht das Erſuchen um Rechtshülfe demnach an eine Staatsanwaltſchaft, die demſelben Staate angehört wie das Gericht, welches das Urtheil gefällt hat, ſo kann das Erſuchen ebenſowohl auf Vollſtreckung wie auf Ab - lieferung gerichtet werden und es beſtimmt ſich ausſchließlich nach dem Partikularrecht und den Anordnungen der Juſtizverwaltungen, wann das Eine oder das Andere geſchehen ſolle.

Nur für das Verhältniß von Staat zu Staat wirkt die Vor - ſchrift des §. 163 als ein Verbot, die Ablieferung des Verur - theilten über die Landesgränze zu verlangen, beziehentl. einem ſolchen Verlangen, falls es geſtellt wird, zu willfahren4)Die Behörden des Aufenthaltsortes des Verurtheilten ſind alſo nicht blos berechtigt, die Auslieferung abzulehnen, wie Endemann I. S. 156 annimmt, ſondern ſie ſind dazu verpflichtet. Keller Anm. 3 zu §. 163 Löwe Note 4 zu dieſem §. Der letztere bemerkt zutreffend, daß die Bundes - ſtaaten auch nicht befugt ſind, durch Staatsverträge die Zuläſſigkeit der Ablieferung zu erweitern..

b) Die im §. 163 enthaltene Vorſchrift betrifft nur die Frei - heitsſtrafen, welche die Dauer von ſechs Wochen nicht überſteigen, dagegen ſtellt das Geſetz keinerlei Regel auf über die Vollſtreckung von Freiheitsſtrafen von längerer Dauer. Mit dem argumentum a contrario iſt aus dem §. 163 nicht zu ſchließen, daß Strafen72§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.von längerer Dauer in demjenigen Staate vollſtreckt werden müſſen, deſſen Gerichte ſie verhängt haben, ſondern nur daß der Staat, in deſſen Gebiet der Verurtheilte ſich aufhält, nicht ver - pflichtet iſt, ſich der Strafvollſtreckung zu unterziehen. Es iſt dieſem Staate demnach reichsgeſetzlich unverwehrt, freiwillig dies auf ſich zu nehmen, und folglich können die Einzelſtaaten auch unter einander Staatsverträge ſchließen, durch welche ſie hinſicht - lich der Strafvollſtreckung weitergehende Verpflichtungen als die im §. 163 cit. ihnen reichsgeſetzlich auferlegten gegen einander übernehmen1)Vgl. Protok. der Reichstags-Kommiſſion I. Leſung. S. 9 (Hahn S. 323)..

5. Das Gerichtsverfaſſungsgeſetz hat noch nach einer andern Richtung die gleichmäßige Handhabung der Rechtspflege geſichert, indem es dem von der Rechtshülfe handelnden (13ten) Titel die Beſtimmung hinzugefügt hat: Die in einem Bundesſtaate be - ſtehenden Vorſchriften über die Mittheilung von Akten einer öffent - lichen Behörde an ein Gericht dieſes Bundesſtaates kommen auch dann zur Anwendung, wenn das erſuchende Gericht einem anderen Bundesſtaate angehört 2)Gerichtsverf. Geſ. §. 169.. Es bezieht ſich dieſe Vorſchrift nicht eigentlich auf die Rechtshülfe, da ſie nicht die Verpflichtung der Gerichte zur Vornahme einer richterlichen Handlung begründet, ſondern die Pflicht öffentlicher Behörden zur Vorlegung ihrer Akten bei Gericht betrifft. Sie normirt auch keineswegs die Vor - ausſetzungen und den Umfang dieſer Pflicht; ſie überläßt es viel - mehr vollkommen den Regierungen der Staaten Anordnungen über die Mittheilung von Akten an die Gerichte zu treffen; ſie ſtellt lediglich die Regel auf, daß dieſe Anordnungen dieſelben für die Gerichte der anderen Bundesſtaaten wie für die eigenen Gerichte ſein müſſen3)§. 169 Beruht auf dem im Art. 3 Abſ. 1 der R.V. ſanctionirten Grund - princip. Vgl. Bd. I. S. 176 ff. Die Vorſchrift iſt von der Reichstagskom - miſſion in das Geſetz aufgenommen worden. Vgl. Protok. I. Leſung S. 17 ff. (Hahn S. 327.). Jedoch iſt ein Bundesſtaat niemals verpflichtet, die Akten ſeiner Behörden unmittelbar dem Gericht eines andern Bundesſtaates vorzulegen, ſondern ſtets nur durch Vermittlung eines inländiſchen Amtsgerichts, an welches das Erſuchen um Mit - theilung zu richten iſt.

73§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.

6. Die Bundesſtaaten ſind verpflichtet, die gerichtliche Rechts - hülfe einander unentgeldlich zu leiſten. Nur die baaren Auslagen, welche durch eine Ablieferung oder Strafvollſtreckung entſtehen, ſind der erſuchten Behörde von der erſuchenden zu er - ſtatten, wenn dieſe Behörden verſchiedenen Staaten angehören; in allen anderen Fällen können weder Gebühren noch baare Auslagen liquidirt werden. Auch bei der Strafvollſtreckung darf für die allgemeinen Koſten der Gefängnißverwaltung u. dgl. Aufwendungen Nichts in Anrechnung gebracht werden, weil dieſe Koſten nicht baare Auslagen ſind, welche durch die Strafvollſtreckung in dem einzelnen concreten Falle entſtehen1)Gerichtsverf. Geſ. §. 165 Abſ. 1 u. 2. Es iſt noch beſonders in Rück - ſicht auf die Länder mit franzöſ. Einregiſtrirungs-Syſtem hervorgehoben, daß Stempel-Einregiſtrirungsgebühren oder andere öffentliche Abgaben, welchen die von der erſuchenden Behörde überſendeten Schriftſtücke nach dem Rechte der erſuchten Behörde unterliegen, außer Anſatz bleiben. eod. Abſ. 4.. Dieſer Grundſatz gilt aber nur für das Verhältniß der Staaten zu einander, nicht für die Verpflichtung der Parteien zur Tragung der Koſten des Ver - fahrens. Wenn eine zahlungspflichtige Partei vorhanden iſt, was bei bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten regelmäßig, bei Strafſachen dann der Fall iſt, wenn der Angeklagte rechtskräftig verurtheilt worden iſt, ſo ſind von derſelben die Koſten der Rechtshülfe zu erſetzen und die erſuchende Behörde iſt verpflichtet, die Koſten ein - zuziehen und den eingezogenen Betrag der erſuchten Behörde zu überſenden2)Gerichtsverf. Geſ. §. 165 Abſ. 3. Soweit die Einziehung der Koſten nicht gelingt, trägt die erſuchte Behörde den Ausfall; ebenſo ſind die Koſten der Rechtshülfe in Strafſachen für ſie verloren, wenn der Angeſchuldigte wäh - rend des Verfahrens ſtirbt, wenn das Verfahren eingeſtellt wird oder wenn es zur Freiſprechung führt u. ſ. w., weil es in allen dieſen Fällen an einer erſatzpflichtigen Partei fehlt..

II. Rechtshülfe in Sachen der ſtreitigen Gerichts - barkeit, welche zur Zuſtändigkeit der beſonderen Gerichte gehören*)Vgl. Endemann, Die Rechtshülfe im Norddeutſchen Bunde. In der Zeitſchrift f. Geſetzgebung u. Rechtspflege in Preußen Bd. 3 S. 398 ff. (Auch beſonders erſchienen.).

1. Die Pflicht der Gerichte des Bundesgebietes, ſich gegen - ſeitig Rechtshülfe zu leiſten, iſt auch hinſichtlich derjenigen bürger -74§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.lichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche nicht zur ordent - lichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit gehören, reichsgeſetzlich anerkannt und zwar darf die Rechtshülfe von dem erſuchten Gericht auch dann nicht verweigert werden, wenn es die Zuſtändigkeit des er - ſuchenden Gerichts nicht für begründet hält1)Rechtshülfe-Geſ. v. 21. Juni 1869 §. 1..

Es iſt aber reichsgeſetzlich keine Sicherheit dafür gegeben, daß die beſonderen Gerichte der einzelnen Staaten nach übereinſtim - menden Grundſätzen organiſirt ſind und daß ſie nach gleichmäßigen Prozeßordnungen verfahren; es beſteht hinſichtlich derſelben alſo im Weſentlichen noch derſelbe Zuſtand, wie er vor Einführung des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes für die Gerichte überhaupt beſtanden hat. Deshalb ſind die im Rechtshülfegeſetz gegebenen Vorſchriften über die Vorausſetzungen und die Art der Rechtshülfeleiſtung für die zur ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht gehörigen Rechtsſachen in Geltung verblieben.

Für die Konſulargerichtsbarkeit des Reiches ſind jedoch die Vorſchriften des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes über die Rechtshülfe (Tit. 13) für anwendbar erklärt worden2)Konſulargerichtsbarkeitsgeſ. §. 13..

2. Ueber die Zuläſſigkeit der zu leiſtenden Rechtshülfe und über die Rechtmäßigkeit der Verweigerung wird ausſchließlich von den Gerichten des Staates, welchem das erſuchte Gericht ange - hört, im geordneten Inſtanzenzuge entſchieden3)Rechtshülfe-Geſ. §. 38.. Die Regeln der §§. 159 und 160 des Gerichtsverf. Geſetzes finden keine analoge Anwendung; insbeſondere iſt die Kompetenz des Reichsgerichts zur Entſcheidung über Beſchwerden wegen verweigerter Rechtshülfe nicht begründet, wenn ſie demſelben nicht nach Maßgabe der Vor - ſchrift in §. 3 Abſ. 2 des Einführungs-Geſetzes zum Gerichtsverf. Geſetze beſonders übertragen worden iſt4)Siehe oben §. 99 S. 59 ff..

3. Ein weſentlicher Unterſchied beſteht zwiſchen den Anord - nungen des Gerichtsverfaſſungs-Geſetzes und denjenigen des Rechts - hülfe-Geſetzes hinſichtlich der Strafvollſtreckung. Während die von den ordentlichen Gerichten erkannten Freiheitsſtrafen von nicht län - gerer als ſechswöchentlicher Dauer unbedingt von demjenigen Bun - desſtaat zu vollſtrecken ſind, in deſſen Gebiet der Verurtheilte ſich75§. 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe.befindet (Ger. V. Geſ. §. 163), gilt für die von den beſonderen Gerichten verhängten Strafen noch die weitere Einſchränkung, daß die ſtrafbare Handlung, wegen welcher die Strafe erkannt iſt, im Gebiete des Bundesſtaates, in welchem ſich das erſu - chende Gericht befindet, verübt iſt1)Rechtshülfe-Geſ. §. 33 Abſ. 1.. Dieſelbe Einſchränkung gilt hinſichtlich der Auslieferung2)Rechtshülfe-Geſ. §. 21 ff.; auch darf im Falle der Aus - lieferung die Unterſuchung oder Strafvollſtreckung auf andere Handlungen oder Strafen, als diejenigen, wegen welcher die Aus - lieferung erfolgt war, nicht erſtreckt werden3)Rechtshülfe-Geſ. §. 34.. Dieſe Vorſchriften ſind deshalb von erheblicher praktiſcher Bedeutung, weil die Mi - litairgerichte beſondere Gerichte ſind und demnach auf die Re - quiſitionen derſelben nicht die Vorſchriften des Gerichtsverf. Geſetzes, ſondern diejenigen des Rechtshülfe-Geſetzes Anwendung finden4)Das Gleiche gilt von den im Falle eines Belagerungszuſtandes einge - ſetzten Kriegsgerichten und Standrechten..

III. Rechtshülfe Seitens der Gerichte in Sachen, welche nicht zur ſtreitigen Gerichtsbarkeit gehören.

Den Staaten iſt die gegenſeitige Pflicht zur Leiſtung der Rechtshülfe in andern als den vom Geſetz v. 21. Juni 1869 be - troffenen Sachen reichsgeſetzlich nicht auferlegt; dagegen beſteht eine ſolche Verpflichtung in folgenden Fällen:

  • 1. Die Gerichte ſind verpflichtet, dem Patentamte Rechts - hülfe zu leiſten
    5)Patentgeſetz §. 31. (R. G.Bl. 1877 S. 508.)
    5).
  • 2. Die Gerichte ſind verpflichtet, den Anträgen der See - ämter in Betreff der Unterſuchung von Seeunfällen zu ent - ſprechen
    6)Geſ. v. 27. Juli 1877 §. 20. (R. G.Bl. S. 553.)
    6).
  • 3. Endlich iſt noch zu erwähnen, daß die Deutſchen und die Oeſterreich-Ungariſchen Gerichte und Behörden zu gegenſeitiger Rechtshülfe bei Verfolgung und Beſtrafung von Uebertretungen der Zollgeſetze verpflichtet ſind
    7)Handelsvertrag zwiſchen Deutſchland u. Oeſterr. -Ungarn vom 23. Mai 1881 Art. 10. (R. G.Bl. S. 125). Die näheren Anordnungen über die Leiſtung der Rechtshülfe ſind enthalten in dem Zollkartel §§. 17 24. (R. G.Bl. 1881 S. 137 ff.)
    7).
76§. 101. Die Gerichte.

§. 101. Die Gerichte.

Da jede Prozeßordnung eine beſtimmte Gerichtsverfaſſung zur Vorausſetzung hat und ſich auf dieſe bezieht, ſo hat die Geſetzgebung des Reiches bei Erlaß gemeinrechtlicher Prozeßordnungen auch die Grundzüge der Gerichtsorganiſation für das ganze Bundesgebiet einheitlich regeln müſſen. Um die Struktur und den Aufbau der Gerichtsverfaſſung und den Platz, welchen die einzelnen Gerichte dabei einnehmen, richtig würdigen und den Zuſammenhang des Ganzen klar überſehen zu können, iſt es aber nothwendig, daß man die Gerichtsordnung von zwei ganz verſchiedenen Geſichtspunkten aus betrachtet, die man als[den] prozeſſualiſchen und den organiſatoriſchen oder verwaltungsrechtlichen be - zeichnen kann. Von dem prozeſſualiſchen Geſichtspunkte aus er - ſcheinen die Gerichte als beſchließende und erkennende Behörden und ihr gegenſeitiges Verhältniß ergiebt ſich aus ihrer Zuſtändigkeit und ihrer Unter - und Ueberordnung im Inſtanzenzuge. Vom organiſatoriſchen Geſichtspunkte aus betrachtet ſind die Ge - richte adminiſtrative Bildungen, Beſtandtheile des ſtaatlichen Behördenſyſtems, die zwar zu Zwecken der Rechtspflege geſchaffen und dieſer Beſtimmung gemäß eingerichtet ſind, die aber als ſolche gar keine oder wenigſtens regelmäßig keine prozeſſualen Functionen ausüben. Es ergeben ſich hiernach zwei Syſteme von Gerichten, je nachdem die letzteren nach prozeſſualen oder nach organiſatoriſchen Rückſichten gruppirt werden; beide Ordnungen ſtehen mit einander in einem engen Zuſammenhang und beeinfluſſen ſich gegenſeitig, ſind aber doch von einander verſchieden. Für den Civil - und Strafprozeß hat jene, für das Staatsrecht dieſe Seite der Ge - richtsverfaſſung das überwiegende Intereſſe; in dem vom Reich erlaſſenen Gerichtsverfaſſungsgeſetz ſind beide Seiten in kunſtvoller, aber wenig überſichtlicher Weiſe mit einander verſchlungen.

I. Die Ordnung der Gerichte in Bezug auf das Streitverfahren*)Es handelt ſich im Folgenden nicht um eine vollſtändige Darſtellung.

Die moderne Gerichtsverfaſſung iſt dadurch in ſehr eigen - thümlicher Weiſe ausgezeichnet, daß die zur Rechtſprechung conſti -77§. 101. Die Gerichte.tuirten Organe des Staates nicht gleichmäßig und nach demſelben Grundprinzip gebildet ſind, ſondern daß die Zuſammenſetzung der rechtſprechenden Gerichte eine andere iſt in bürgerlichen Prozeſſen als in Strafſachen, eine andere in großen und wichtigen Rechts - ſachen als bei Prozeſſen um geringere Streitgegenſtände, eine andere endlich in den verſchiedenen Inſtanzen. Die Gegenſätze, um welche es ſich hierbei handelt, beſtehen hauptſächlich darin, daß zur Entſcheidung und Urtheilsfällung entweder Einzelrichter oder Collegien berufen werden, daß die letzteren entweder aus lauter im Staatsdienſt angeſtellten, juriſtiſch gebildeten berufsmäßigen Beamten oder aus richterlichen Beamten und Laien zuſammenge - ſetzt werden, daß endlich die Zahl der Mitglieder der Spruch - collegien verſchieden iſt. Daß dieſe Verſchiedenheiten der Structur der Gerichte zugleich tief eingreifende Verſchiedenheiten des gericht - lichen Verfahrens zur Folge haben, bedarf hier keiner näheren Darlegung. Von dieſen Geſichtspunkten aus ſind auf dem Gebiete der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit folgende Kategorien von Rechtsſtreitigkeiten und ihnen entſprechend folgende Arten reſpective Reihen von Gerichten zu unterſcheiden.

1. Bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten.

Dieſelben zerfallen in zwei Klaſſen, die man in Kürze als kleine und große Rechtsſachen bezeichnen kann.

a) Die kleinen Rechtsſachen ſind vermögensrecht - liche Anſprüche, deren Gegenſtand an Geld oder Geldeswerth die Summe von 300 Mark nicht über - ſteigt1)Gerichtsverf. Geſ. §. 23 Ziff. 1., mit Ausnahme der in §. 70 Abſ. 2 des Gerichtsver - faſſungsgeſetzes aufgeführten Anſprüche; ferner ohne Rückſicht auf den Werth des Streitgegenſtandes die in §. 23 Ziff. 2 des Ge - richtsverfaſſungs-Geſetzes aufgeführten Streitigkeiten; endlich die Konkurſe2)Konkurs-Ordn. §§. 64. 202. 208 Abſ. 3..

Für dieſe Rechtsſachen ſind zuſtändig in erſter Inſtanz die Amtsrichter, das ſind zum Richteramt befähigte, berufsmäßig*)dieſer Lehre, welche ihren Platz nur in Werken über das Prozeßrecht finden kann; ſondern nur um die Hervorhebung derjenigen Grundprinzipien, ohne deren Kenntniß auch die organiſatoriſche Seite der Gerichtsordnung nicht ver - ſtändlich iſt.78§. 101. Die Gerichte.angeſtellte Einzelrichter1)Gerichtsverf. Geſ. §. 22 Abſ. 2.. In zweiter Inſtanz entſcheiden als Berufungs - und Beſchwerdegerichte die Civilkammern der Landgerichte2)Gerichtsverf. Geſ. §. 71.; es ſind dies Collegien, welche aus drei zum Richter - amt befähigten, berufsmäßigen Richtern beſtehen3)Gerichtsverf. Geſ. §. 77.. Ein Rechts - mittel gegen Endurtheile der Civilkammern und eine Entſcheidung in dritter Inſtanz findet nicht ſtatt.

b) Die zweite Kategorie umfaßt alle bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten, welche nicht den Amtsgerichten (Einzelrichtern) zuge - wieſen ſind4)Gerichtsverf. Geſ. §. 70., alſo alle vorſtehend nicht aufgeführten civilrechtlichen Anſprüche.

Dieſelben werden in erſter Inſtanz abgeurtheilt von den Civilkammern der Landgerichte in der Beſetzung von drei be - rufsmäßigen Richtern oder, wenn durch die Klage ein Anſpruch geltend gemacht wird, der aus einem der in §. 101 des Gerichts - Verf. Geſ. aufgeführten Rechtsverhältniſſe herrührt, von den Kam - mern für Handelsſachen, wo ſolche von der Landesjuſtiz - verwaltung gebildet worden ſind5)Gerichtsverf. Geſ. §. 100. Die Verhandlung des Rechtsſtreites erfolgt aber nur dann vor der Kammer für Handelsſachen, wenn der Kläger dies in der Klageſchrift beantragt hat, oder wenn bei einer vor die Kammer für Handelsſachen gehörigen, aber vor die Civilkammer gebrachten Klage der Beklagte die Verweiſung des Rechtsſtreits an die Kammer für Handelsſachen beantragt hat; auch iſt der Prozeß auf Antrag vor die Civilkammer zu verweiſen, wenn die Klage durch Antrag auf Feſtſtellung eines Rechtsverhält - niſſes erweitert oder eine Widerklage erhoben wird und die erweiterte Klage oder die Widerklage als Klage nicht vor die Kammer für Handelsſachen ge - hört. Gerichtsverf. Geſ. §. 102. 104. 105. Das Nähere über die Zuſtändig - keitsverhältniſſe der Civilkammern und der Kammern f. Handelsſachen gehört in die Darſtellung des Civilprozeſſes; hier iſt nur der Grundſatz hervorzuheben, daß die Civilkammern die regelmäßigen Gerichte ſind, denen eine all - gemeine Kompetenz zuſteht, während die Kammern für Handelsſachen als Spezial-Kommiſſionen für beſondere Arten von Rechtsſtreitigkeiten an - zuſehen ſind.. Die Kammern für Handels - ſachen als entſcheidende Collegien beſtehen aus einem berufsmäßigen Richter als Vorſitzenden und zwei dem Kaufmannsſtande angehö - renden Handelsrichtern; ſämmtliche Mitglieder haben gleiches Stimmrecht. In Streitigkeiten, welche ſich auf das Rechtsverhält -79§. 101. Die Gerichte.niß zwiſchen Rheder oder Schiffer und Schiffsmannſchaft beziehen, kann die Entſcheidung durch den Vorſitzenden allein erfolgen1)Gerichtsverf. Geſ. §. 109. Motive S. 139 a. E. (Hahn S. 129.).

In zweiter Inſtanz entſcheiden über die Rechtsmittel der Berufung und Beſchwerde die Civilſenate der Oberlandesge - richte in der Beſetzung von fünf rechtsgelehrten Mitgliedern mit Einſchluß des Vorſitzenden2)Gerichtsverf. Geſ. §. 123 Ziff. 1. u. 4. §. 124..

In dritter Inſtanz erkennt auf das Rechtsmittel der Revi - ſion3)Ueber die Vorausſetzungen deſſelben ſiehe oben S. 55., beziehentl. der Beſchwerde, ein Civilſenat des Reichs - gerichts4)In Bayern des oberſten Landesgerichtshofes nach den oben S. 51 entwickelten Kompetenzbeſtimmungen. in der Beſetzung von ſieben rechtsgelehrten Mitglie - dern mit Einſchluß des Vorſitzenden5)Gerichtsverf. Geſ. §. 135. 140..

2. Strafſachen.

Die Straffälle ſind in Beziehung auf die Gerichtszuſtändigkeit in drei Klaſſen zu theilen, zu denen noch als eine beſondere Aus - nahmsklaſſe die zur ausſchließlichen Zuſtändigkeit des Reichsgerichts gehörenden Fälle des Hochverraths und des Landesverraths gegen Kaiſer und Reich hinzutreten6)Gerichtsverf. Geſ. §. 136 Ziff. 1. Siehe oben S. 60.. Die Eintheilung in dieſe drei Klaſſen beruht in der Hauptſache auf der dem materiellen Straf - recht zu Grunde liegenden Eintheilung der ſtrafbaren Handlungen in Uebertretungen, Vergehen und Verbrechen7)Reichs-Strafgeſetzb. §. 1.; ſie fällt aber mit dieſer Eintheilung keineswegs vollkommen zuſammen, vielmehr iſt die Zuſtändigkeit der Gerichte mittlerer und unterſter Ordnung er - heblich erweitert8)Vgl. die ausführlichen Erörterungen hierüber in den Motiven z. Ge - richtsverf. Geſ. S. 65 ff. (Hahn S. 72) und über das poſitive Recht des Reichs Löwe zu §. 1 der Strafprozeß-Ordnung; Schwarze in v. Holtzendorff’s Hand - buch des Strafprozeßrechts II. S. 555 ff. und die Ueberſicht in Binding’s Grundriß §. 26.. Ihr entſprechen als Spruchbehörden erſter Inſtanz die Schöffengerichte, die Strafkammern und die Schwur - gerichte.

1. Die Schöffengerichte ſind Collegien, welche aus einem gelehrten Richter (Amtsrichter) und zwei Schöffen be -80§. 101. Die Gerichte.ſtehen1)Gerichtsverf. Geſ. §. 26.. Die letzteren üben im Allgemeinen, d. h. inſoweit das Geſetz nicht Ausnahmen beſtimmt2)Dieſelben betreffen lediglich die Entſcheidungen über die Zuſammen - ſetzung des Schöffengerichts ſelbſt. Gerichtsverf. Geſetz §§. 52. 53. 54. 56. Vgl. auch Strafproc. Ordn. §. 31. Da dieſe Lehre nur ein ſtrafprozeſſualiſches, kein ſtaatsrechtliches Intereſſe darbietet, ſo iſt hier nicht näher darauf einzugehen., während der Hauptverhand - lung das Richteramt im vollen Umfange und mit gleichem Stimm - rechte wie der Amtsrichter aus3)ebendaſ. §. 30 und dazu die Motive S. 75. (Hahn S. 80.). Bei Forſt - und Feldrügeſachen kann die Mitwirkung der Schöffen durch Anordnung der Landes - geſetze ausgeſchloſſen werden4)Einf. Geſ. zur Strafproc. Ordn. §. 3 Abſ. 3., ſo daß alsdann der Amtsrichter als Einzelrichter entſcheidet; auch kann der Amtsrichter im Falle der Vorführung des Beſchuldigten mit Zuſtimmung der Staats - anwaltſchaft ohne Zuziehung von Schöffen zur Hauptverhandlung ſchreiten, wenn der Beſchuldigte nur wegen Uebertretung verfolgt wird und die ihm zur Laſt gelegte That eingeſteht5)Strafproc. Ordn. §. 211 Abſ. 2..

Die Zuſtändigkeit der Schöffengerichte erſtreckt ſich auf alle Uebertretungen, auf die im §. 27 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes aufgeführten Vergehen, ſowie auf diejenigen Strafſachen, deren Verhandlung und Entſcheidung ihnen von den Strafkammern der Landgerichte gemäß §. 29 und 75 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes überwieſen werden.

In zweiter Inſtanz entſcheiden über Beſchwerden und Be - rufungen gegen Entſcheidungen und Urtheile der Schöffengerichte die Strafkammern6)Gerichtsverf. Geſ. §. 72 Abſ. 1. §. 76. und zwar in der Hauptverhandlung in der Beſetzung mit 5 Mitgliedern, wenn es ſich um ein Ver - gehen handelt, in der Beſetzung mit 3 Mitgliedern bei Ueber - tretungen und in den Fällen der Privatanklage7)Gerichtsverf. Geſ. §. 77.. Laienrichter nehmen an der Entſcheidung in keinem Falle Theil.

In dritter Inſtanz entſcheiden die Strafſenate der Oberlandesgerichte über das Rechtsmittel der Reviſion gegen Urtheile der Strafkammern in der Berufungsinſtanz8)ebendaſ. §. 123 Ziff. 2., gleich - viel ob die Reviſion auf eine Verletzung des Reichsrechts oder des81§. 101. Die Gerichte.Landesrechts geſtützt wird1)Nur in dem Falle des §. 136 Abſ. 2 des Gerichtsverf. Geſetzes (Zu - widerhandlungen gegen die Vorſchriften über die Erhebung öffentlicher in die Reichskaſſe fließender Abgaben und Gefälle) kann die Entſcheidung in dritter Inſtanz an das Reichsgericht gebracht werden. Vgl. oben S. 63.. Die Reviſion kann jedoch nicht be - gründet werden mit der Behauptung, daß eine Rechtsnorm über das Verfahren verletzt worden ſei, mit alleiniger Ausnahme der Vorſchrift des §. 398 der Strafproz. Ordnung2)Strafproz. Ordn. §. 380. Der in Bezug genommene §. 398 betrifft den Fall, daß ein Urtheil in der Reviſionsinſtanz aufgehoben und die Sache an ein Gericht zur anderweiten Verhandlung und Entſcheidung verwieſen worden iſt.. Die Straf - ſenate entſcheiden in der Beſetzung von fünf rechtsgelehrten Richtern mit Einſchluß des Vorſitzenden3)Gerichtsverf. Geſ. §. 124..

2. Die Strafkammern ſind in erſter Inſtanz zuſtändig hinſichtlich aller Vergehen, welche nicht zur Zuſtändigkeit der Schöffengerichte gehören4)Jedoch kann in den im §. 75 a. a. O. aufgezählten Fällen bei Eröff - nung des Hauptverfahrens durch Beſchluß der Strafkammer die Verhandlung und Entſcheidung dem Schöffengericht überwieſen werden., und derjenigen Verbrechen, welche im §. 73 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes aufgeführt ſind; ſie ſind ferner ausſchließlich zuſtändig gleichviel ob die That als Ueber - tretung, Vergehen oder Verbrechen zu erachten iſt bei Zuwider - handlungen gegen die im §. 74 a. a. O. aufgeführten Geſetze. Die Strafkammern beſtehen nur aus berufsmäßigen Richtern und ent - ſcheiden in der Hauptverhandlung in der Beſetzung mit fünf Mit - gliedern, ſonſt in der Beſetzung mit drei Mitgliedern einſchließlich des Vorſitzenden.

Gegen Endurtheile der Strafkammern in erſter Inſtanz iſt nur das Rechtsmittel der Reviſion zuläſſig; über daſſelbe entſchei - den die Strafſenate der Oberlandesgerichte, ſofern die Reviſion ausſchließlich auf die Verletzung einer in den Landesge - ſetzen enthaltenen Rechtsnorm geſtützt wird, die Strafſenate des Reichsgerichts, wenn die Verletzung von Reichsrecht be - hauptet wird5)Gerichtsverf. Geſ. §. 123 Ziff. 3. §. 136 Ziff. 2.. Die Strafſenate des Oberlandesgerichts entſchei - den in der Beſetzung von fünf Mitgliedern, die Strafſenate des Reichsgerichts in der Beſetzung von ſieben Mitgliedern6)ebendaſ. §. 124. §. 140..

Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 682§. 101. Die Gerichte.

Eine dritte Inſtanz iſt in denjenigen Sachen, welche in erſter Inſtanz vor die Strafkammern gehören, nicht gewährt.

Ueber Beſchwerden gegen Entſcheidungen der Strafkammern entſcheiden ſtets die Strafſenate der Oberlandesgerichte, gleichviel ob die Beſchwerde auf Verletzung von landesrechtlichen oder von reichsrechtlichen Vorſchriften gegründet iſt1)ebendaſ. §. 123 Ziff 5..

3. Die Schwurgerichte ſind Gerichte erſter Inſtanz zur Aburtheilung derjenigen Verbrechen, welche nicht zur Zuſtändig - keit der Strafkammern oder des Reichsgerichts gehören2)ebendaſ. §. 80.. Sie ſind ferner zuſtändig für die durch die Preſſe begangenen ſtraf - baren Handlungen, ſo weit dieſe Zuſtändigkeit nach den Landes - geſetzen bei Einführung des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes bereits ge - gründet war3)Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. §. 6.. Es iſt dies der Fall in Baiern und Württemberg und theilweiſe in Baden und Oldenburg4)Vgl. Motive z. Gerichtsverf. Geſ. S. 102 ff. (Hahn S. 101); ferner Keller S. 246. Löwe Note 5 zu §. 6 cit.. Die Schwurgerichte ſind aus zwei Collegien zuſammengeſetzt, einem Collegium von drei berufsmäßigen Richtern und einem Collegium von zwölf Geſchwo - renen5)Ueber die Bildung der Geſchworenenbank vgl. Strafpr. O. §§. 278 ff.. Das letztere iſt nur zur Entſcheidung der Schuldfrage6)Ueber den Begriff der Schuldfrage vgl. Strafproc. O. §. 262; über die rechtliche Bedeutung des Spruchs der Geſchworenen für das Urtheil des Ge - richts Strafproc. Ordn. §. 314 ff. berufen, das erſtere zu allen Entſcheidungen, welche von den er - kennenden Gerichten zu erlaſſen ſind; werden ſolche Entſcheidungen außerhalb der Dauer der Sitzungsperiode erforderlich, ſo erfolgen ſie durch die Strafkammern der Landgerichte7)Gerichtsverf. Geſ. §. 81. 82. Die Motive S. 105 (Hahn S. 103) ſagen: Dieſer Beſtimmung liegt der Gedanke zu Grunde, daß das Schwurgericht für die ganze Sitzungsperiode einen beſonderen Gerichtskörper bil - det, welcher für dieſe Zeit die Thätigkeit der Strafkammer in den bei den Schwurgerichten anhängigen Sachen abſorbirt. .

Ueber das Rechtsmittel der Reviſion gegen Urtheile der Schwurgerichte entſcheiden die Strafſenate des Reichsgerichts8)Gerichtsverf. Geſ. §. 136 Ziff. 2..

83§. 101. Die Gerichte.

II. Die Organiſation der Gerichte.

Das Gerichtsverfaſſungs-Geſetz §. 12 zählt vier Arten von ordentlichen Gerichten auf: Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandes - gerichte und das Reichsgericht. Dieſe Gerichte als ſolche ſind aber keine beſchließenden und erkennenden Organe der ordentlichen Rechts - pflege1)Außerhalb des Gebietes der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit können den Gerichten Geſchäfte zugewieſen werden, welche durch Verhandlungen und Beſchlußfaſſungen in pleno zu erledigen ſind. Plenarbeſchlüſſe des Reichs - gerichts ſind erforderlich in den Fällen der §§. 128. 129. 131 des Gerichts - verf. Geſetzes, ſowie zur Erledigung der im §. 141 ebendaſ. geſtellten Aufgabe. (Ausarbeitung der Geſchäftsordnung.), ſie ſind keine Gerichte im eigentlichen und engen Sinne des Prozeßrechts, ſondern ſie ſind ſtaatliche Behörden, bei wel - chen die Prozeßgerichte gebildet werden oder aus deren Mitte die Prozeßgerichte hervorgehen. Man könnte ſie gleichſam die Kadres nennen, innerhalb deren die erkennenden Gerichte zur Ent - ſtehung kommen. Damit ſoll aber keineswegs geſagt werden, daß dieſe Behörden nur für die Juſtizverwaltung Bedeutung haben. Dieſe Organiſationen ſind vielmehr auch für das Prozeßrecht von der größten Wichtigkeit. Durch dieſelben wird bewirkt, daß die einzelnen von den Prozeßordnungen erforderten Gerichte nicht iſolirt neben einander ſtehen, ſondern zu größeren einheitlichen Behörden zuſammengefaßt werden, ſo daß die Zuſtändigkeit der Einzelrichter und Spruchcollegien im Verhältniß zu der ſie um - faſſenden Gerichtsbehörde lediglich als eine Vertheilung der Geſchäfte, als eine innere Angelegenheit der letzteren erſcheint. Die Prozeßordnungen und andern Geſetze können demgemäß die richterlichen Geſchäfte den Gerichtsbehörden als ſolchen auftragen und die letzteren nach Außen als einheitliche Anſtalten des Staates behandeln. Dadurch wird die Gerichtsverfaſſung weſentlich ver - einfacht; die vielen, nach den verſchiedenen Arten von Streitſachen ſo verſchieden conſtituirten Prozeßgerichte verſchwinden unter der gemeinſamen Firma und einheitlichen Organiſation der erwähnten Gerichtsanſtalten; ſie ſind gleichſam nur Erſcheinungsformen , in denen die letzteren thätig werden. Eine Hauptwirkung dieſer Einrichtung beſteht darin, daß die örtliche Zuſtändigkeit der Gerichte ohne Rückſicht auf die Bildung der verſchiedenen Spruch -6*84§. 101. Die Gerichte.behörden einheitlich geregelt werden kann; die Gerichtsbezirke entſprechen den im §. 12 cit. aufgeführten Gerichten . Man kann daher z. B. nicht von einem Gerichtsbezirk der Civilkammer, ſondern nur von einem Gerichtsbezirk des Landgerichts ſprechen, während andererſeits die ſachliche Zuſtändigkeit genau genommen nicht für das Landgericht, ſondern für ſeine verſchiedenen Kammern normirt iſt.

So erſcheinen die Gerichte, wie ſie §. 12 cit. aufführt, als diejenigen Behörden, welche die ſtaatliche Gerichtsgewalt hand - haben, und in dieſem Sinne ſagt das erwähnte Geſetz mit Recht: Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit wird durch Amtsgerichte u. ſ. w. ausgeübt. Hierdurch werden zugleich ſehr zahlreiche Zweifel und Streitigkeiten hinſichtlich der Kompetenz vermieden.

Sodann hat dieſe adminiſtrative Zuſammenfaſſung der Gerichte den Nutzen, daß ſie eine erhebliche Erſparniß hinſichtlich der An - zahl der erforderlichen Richter und Beamten ermöglicht, da die - ſelben Richter und Beamten an mehreren Spruchkollegien Theil nehmen und ſich gegenſeitig vertreten, ſowie die anderweitigen ge - richtlichen Geſchäfte zweckmäßig unter ſich vertheilen können.

Man darf daher wol behaupten, daß das geſetzgebungs - politiſche und adminiſtrative Problem bei der Ordnung der Ge - richtsverfaſſung gerade darin beſteht, die durch prozeſſualiſche Rück - ſichten und Bedürfniſſe gebotene Vielgeſtaltigkeit der in den einzelnen Prozeſſen zur Beſchlußfaſſung und Urtheilsfällung erfor - derlichen Organe mit einer einfachen Gliederung der Gerichte als Behörden zu verbinden. Je mehr nun aber die Gerichtsver - faſſung als Behördenſyſtem ſich unterſcheidet von der Gerichtsver - faſſung als Prozeßinſtitution, je verſchiedener das Gericht als Staatsanſtalt von dem Gericht im Prozeßverfahren iſt, deſto größere politiſche und juriſtiſche Bedeutung erlangt die Art und Weiſe, wie die für den einzelnen Fall oder für die einzelnen Kategorien von Fällen zuſtändigen Prozeßgerichte gebildet werden, auf welchem Wege ſie aus dem Gerichte als Behörde hervorgehen.

Dieſer Punkt iſt für das heutige Deutſche Staatsrecht von großer Wichtigkeit. Das Reich hat einerſeits den Einzelſtaaten eine ſehr ausgedehnte Freiheit und Selbſtſtändigkeit hinſichtlich der Einrichtung, Dotirung und Organiſation der Gerichtsbehörden über - laſſen und abgeſehen natürlich von dem Reichsgericht nur85§. 101. Die Gerichte.die äußerſten Grundlinien des Juſtizbehördenſyſtems gezogen; es hat andererſeits aber ſehr genaue und zwingende Vorſchriften da - rüber gegeben, wie die für die verſchiedenen Gattungen von Streit - ſachen erforderlichen, beſchließenden und urtheilenden Spruchcolle - gien conſtituirt ſind und wie ſie aus dieſen Behörden gebildet werden. Dies iſt eine der wichtigſten Schranken, welche auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit der Hoheit der Einzelſtaaten durch die ſouveräne Staatsgewalt des Reiches gezogen worden iſt1)In dem Entwurf der Regierungen fanden ſich Beſtimmungen darüber nicht; die Aufnahme derſelben in das Gerichtsverfaſſungs-Geſetz iſt vorzugs - weiſe dem Abg. Dr. Lasker zu danken. Vgl. Protok. der Reichstagskommiſſ. I. Leſ. S. 335 ff. (Hahn S. 569). II. Leſung S. 628 ff. (Hahn S. 794 ff.).

Im Einzelnen gelten für die vier Klaſſen von ordentlichen Gerichten folgende Regeln:

1. Die Amtsgerichte2)Gerichtsverf. Geſ. §. 22.. Sie bilden den Rahmen für die Einzelrichter (Amtsrichter) und die Schöffengerichte.

a) Die Organiſation der Amtsgerichte iſt den Einzelſtaa - ten völlig freigegeben; ſie haben insbeſondere die Befugniß, die Zahl der Richterſtellen an jedem Amtsgericht zu beſtimmen. Iſt das Amtsgericht mit mehreren Amtsrichtern beſetzt, ſo erledigt jeder derſelben die ihm obliegenden Geſchäfte als Einzelrichter. Die Landesjuſtizverwaltung hat die allgemeinen Anordnungen über die Geſchäftsvertheilung zu treffen. Hierbei kann ſie nach Gegen - ſtänden oder nach räumlich begränzten Bezirken oder nach beiden Rückſichten zugleich die Vertheilung der Geſchäfte vornehmen. Wo - fern den einzelnen Amtsrichtern beſtimmte räumlich abgegränzte Bezirke zugewieſen werden, entſtehen innerhalb des Amtsgerichts - bezirkes mehrere Jurisdictionsbezirke der Einzelrichter. Der Be - zirk des Amtsgerichts iſt alſo nicht identiſch mit den Gerichts - bezirken der die Rechtsſtreitigkeiten entſcheidenden Amtsrichter. Allein die Abgränzung dieſer Amtsrichter-Bezirke erſcheint lediglich als ein Akt der Geſchäftsvertheilung, alſo der Gerichtsverwaltung; die Kompetenz des Amtsgerichts erſtreckt ſich als eine einheitliche über ſämmtliche dazu gehörende Amtsrichterbezirke und es kann jeder Zeit gemäß den von der Juſtizverwaltung getroffenen Be - ſtimmungen unter den bei demſelben Amtsgericht angeſtellten Richtern nicht nur eine gegenſeitige Vertretung, ſondern auch ein Austauſch86§. 101. Die Gerichte.der Geſchäftskreiſe ſtattfinden1)Vgl. Motive S. 58. (Hahn S. 67.). Die Vorſchrift: Niemand darf ſeinem geſetzlichen Richter entzogen werden bedeutet demnach in Betreff der Amtsgerichte, welche mit mehreren Richtern beſetzt ſind, nicht einen völligen Ausſchluß der Einwirkung der Juſtizverwaltung auf die Beſtimmung des Richters für den concreten Fall, ſondern nur eine Beſchränkung der freien Auswahl auf die bei dem ein - zelnen Amtsgericht angeſtellten Richter. Wegen der verhältnißmäßig geringen Wichtigkeit der zur Kompetenz der Amtsgerichte gehören - den Sachen hat das Reich keine geſetzlichen Vorſchriften darüber erlaſſen, auf welche Weiſe aus den Mitgliedern des Amtsgerichts die in den einzelnen Fällen beſchließenden und erkennenden Richter beſtimmt werden.

b) Aus demſelben Grunde iſt die Beſtellung von Hülfsrichtern an den Amtsgerichten vom Reiche an keinerlei erſchwerende Be - dingung geknüpft; der Satz des §. 10 des Gerichtsverf. Geſetzes: Die landesgeſetzlichen Beſtimmungen über die Befähigung zur zeitweiligen Wahrnehmung richterlicher Geſchäfte bleiben unberührt , gilt für die Amtsgerichte ohne Einſchränkung. Demnach ſteht es den Staaten frei zu geſtatten, daß die durch Einzelrichter auszu - übende Gerichtsbarkeit ſtatt einem auf Lebenszeit angeſtellten Richter, einem auf beſtimmte oder unbeſtimmte Zeit beauftragten Kommiſ - ſarius übertragen, und zu einem ſolchen Kommiſſarius Jemand beſtellt werde, der den reichsgeſetzlichen Vorſchriften über die Fähigkeit zum Richteramte nicht genügt hat. Die Juſtizverwal - tungen der Einzelſtaaten ſind in dieſer Hinſicht lediglich durch die Landesgeſetze beſchränkt.

c) Die Schöffengerichte werden bei den Amtsgerichten gebildet2)Ger. Verf. Geſ. §. 25., d. h. ſie ſind keine beſonderen, für ſich organiſirten Behörden, ſondern nur Spruchkollegien, welche im Syſtem der Juſtizbehörden unter den Amtsgerichten mit inbegriffen ſind; eine prozeſſuale Form der Amtsgerichte3)Vgl. Motive z. Gerichtsverf. Geſ. S. 31. (Hahn S. 47.). Dem Amtsrichter treten für die Verhandlung und Entſcheidung von Strafſachen zwei Schöf - fen zur Seite4)a. a. O. §. 26.. Wenn das Amtsgericht mit mehreren Richtern beſetzt iſt, ſo ſteht es der Landesjuſtizverwaltung frei, unter den -87§. 101. Die Gerichte.ſelben denjenigen zu beſtimmen, welcher den Vorſitz des Schöffen - gerichts führt, oder anzuordnen, daß der Vorſitz von ihnen ab - wechſelnd geführt werden ſoll; auch kann in dieſen Anordnungen nach Belieben eine Aenderung getroffen werden1)Wenn einem Amtsrichter der Vorſitz im Schöffengericht genommen und die Erledigung anderer Geſchäfte bei demſelben Amtsgerichte übertragen wird, ſo findet §. 8 des Ger. Verf. Geſ. hierauf keine Anwendung, d. h. der Richter hat dagegen kein Widerſpruchsrecht.. Dagegen iſt eine Einwirkung der Verwaltung auf die Auswahl der bei dem einzelnen Fall mitwirkenden Schöffen ausgeſchloſſen, indem die Reihenfolge, in welcher die zur Leiſtung des Schöffendienſtes be - ſtimmten Perſonen an den Sitzungen Theil nehmen, vorher be - ſtimmt wird2)Das Nähere ſiehe unten §. 104. I. .

d) Jedem Amtsgericht, gleichviel ob es mit einem oder meh - reren Richtern beſetzt iſt, ſteht ein Einzelrichter vor, welcher die - jenigen geſchäftlichen Angelegenheiten zu erledigen hat, die dem Amtsgericht als Geſammtbehörde obliegen, insbeſondere die Ver - waltungsgeſchäfte3)Dahin gehört z. B. die Aufſicht und Fürſorge für die zum Gebrauch des Amtsgerichts dienenden Lokalitäten, Inventarſtücke u. ſ. w., ſowie die allgemeine Dienſtaufſicht über die Subalternbeamten des Gerichts und falls daſſelbe mit mehreren Richtern beſetzt iſt, auch über dieſe, ſoweit es ſich um die Ver - theilung und Erledigung der Geſchäfte handelt4)Gerichtsverf. Geſ. §. 22. Vgl. über den Sinn des Wortes Dienſt - aufſicht die Protok. der Reichstagskommiſſion I. Leſung S. 152 (Hahn S. 430)..

2. Die Landgerichte. Dieſelben umfaſſen die Civilkam - mern und Strafkammern, die Schwurgerichte und die Kammern für Handelsſachen. Ueber die Einrichtung der Landgerichte als Geſammtbehörden und die Art der Bildung der Prozeßgerichte gelten folgende reichsgeſetzliche Anordnungen.

a) Die regelmäßigen und weſentlichen Spruchbehörden der Landgerichte ſind die Civil - und Strafkammern; dieſelben müſſen bei allen Landgerichten gebildet werden5)Gerichtsverf. Geſ. §. 59.. Die Zahl der zu bildenden Kammern hängt ebenſo wie die Größe des Landge - richtsbezirks von der Anordnung der Einzelſtaaten ab. Welche Geſchäfte den Civilkammern und welche den Strafkammern oblie - gen, iſt in den Prozeßordnungen beſtimmt. An der Spitze des88§. 101. Die Gerichte.Landgerichts ſteht der Präſident, der zugleich den Vorſitz in einer Kammer übernimmt; den Vorſitz in den übrigen Kammern führen Directoren. Bei der Bildung der einzelnen Kammern kömmt nun Dreierlei in Betracht: die Beſtimmung des Vorſitzenden, die Be - ſtimmung der Mitglieder und, falls mehrere Kammern derſelben Art gebildet werden, die Vertheilung der Geſchäfte unter dieſelben.

α) Der Vorſitz in den einzelnen Kammern wird für das ganze Geſchäftsjahr im Voraus beſtimmt; der Präſident iſt befugt, die Kammer zu wählen, welcher er vorſitzen will; die Vertheilung des Vorſitzes in den übrigen Kammern erfolgt durch den Präſi - denten und die Directoren nach Stimmenmehrheit, indem die Stimme des Präſidenten im Falle der Stimmengleichheit den Ausſchlag giebt1)Gerichtsverf. Geſ. §. 61. Wenn die Directoren, nachdem der Präſident ſeine Wahl getroffen, über die Zutheilung der übrigen Kammern ſich unter einander verſtändigen, kann demnach der Präſident nicht widerſprechen.. Iſt der ordentliche Vorſitzende einer Kammer verhindert, den Vorſitz zu führen, ſo vertritt ihn dasjenige Mitglied der Kammer, welches dem Dienſtalter nach und bei gleichem Dienſt - alter der Geburt nach das älteſte iſt2)a. a. O. §. 65 Abſ. 1. Vom Vorſitz ausgeſchloſſen iſt daher ein zur Vertretung des ſtändigen Vorſitzenden der Kammer zugewieſener Ergänzungs - richter, auch wenn derſelbe dem älteſten ordentlichen Mitgliede der Kammer im Dienſtalter vorgeht. Urth. des Reichsgerichts v. 2. März 1880. Entſch. in Strafſachen I. S. 238.. Daher iſt es ausge - ſchloſſen, daß der Präſident oder Director im Laufe des Geſchäfts - jahres in einer andern Kammer als der ihm zugetheilten den Vor - ſitz in einzelnen Sachen übernimmt oder mit einem andern Vor - ſitzenden die Kammer wechſelt3)Auch iſt es für ausgeſchloſſen zu erachten, daß Jemand den Vorſitz in mehreren Kammern führt. Vgl. Hauck, Gerichtsv. Geſ. S. 99 ff..

β) Vor Beginn des Geſchäftsjahres werden auf die Dauer deſſelben die ſtändigen Mitglieder der einzelnen Kammern, ſo - wie für den Fall ihrer Verhinderung die regelmäßigen Ver - treter beſtimmt. Jeder Richter kann zum Mitgliede mehrerer Kammern beſtimmt werden4)a. a. O. §. 62 Abſ. 1.. Da jede Willkühr in der Zuſammen - ſetzung der Beſchluß - und Spruchcollegien für den einzelnen Fall ausgeſchloſſen ſein ſoll, ſo ſind dieſe Anordnungen ſo zu verſtehen, daß für jedes einzelne ſtändige Mitglied ein beſtimmter Vertreter89§. 101. Die Gerichte.beſtellt wird und daß auch die Reihenfolge feſtgeſetzt wird, in welcher die verſchiedenen Mitglieder der Kammern und ihre regel - mäßigen Vertreter für die einzelnen Sitzungen einzutreten haben1)Vgl. Keller Note 4 u. 5 zu §. 62.. Eine Aenderung in der Zuſammenſetzung der Kammern kann im Laufe des Geſchäftsjahres nur angeordnet werden, wenn dies in Folge Wechſels oder dauernder Verhinderung einzelner Mitglieder des Gerichts erforderlich wird2)Gerichtsverf. Geſ. §. 62 Abſ. 2.. Die Beſtimmung der ſtändigen Mitglieder der Kammern und ihrer regelmäßigen Vertreter er - folgt durch das Präſidium ; daſſelbe beſteht aus dem Präſidenten als Vorſitzenden, den Directoren und dem nach dem Dienſtalter älteſten Mitgliede des Gerichts; die Beſchlußfaſſung erfolgt nach Stimmenmehrheit mit Stichentſcheid des Präſidenten3)§. 63 a. a. O.. Dagegen hat der Präſident ſelbſtſtändig im Falle der Verhinderung des regelmäßigen Vertreters eines Mitgliedes einen zeitweiligen Ver - treter deſſelben zu beſtimmen4)§. 66 a. a. O..

γ) Dieſelben Vorſchriften finden ſinngemäße Anwendung auf die Vertheilung der Geſchäfte unter die Kammern derſelben Art5)§. 62. 63 a. a. O.. Innerhalb der Kammer vertheilt der Vorſitzende die Geſchäfte auf die Mitglieder6)§. 68 ebendaſ..

b) Außer den erwähnten Kammern ſind bei den Landgerichten7)d. h. am Sitze derſelben und aus den Mitgliedern derſelben. Unterſuchungsrichter zu beſtellen. Die Zahl derſelben be - ſtimmt ſich nach dem Bedürfniß; die Beſtellung erfolgt ebenfalls auf die Dauer eines Geſchäftsjahres, aber nicht durch das Präſi - dium des Landgerichts, ſondern durch die Landesjuſtizverwaltung8)§. 60 a. a. O.. Es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß ein Unterſuchungsrichter zugleich Mitglied einer Civil - oder Strafkammer iſt9)Motive S. 93..

c) Eine anomale Bildung bei den Landgerichten entſteht durch die Errichtung einer detachirten Strafkammer an dem Sitze eines zum Landgerichtsbezirke gehörenden Amtsgerichts10)Das Geſetz §. 78 ſpricht zwar von der Bildung der Strafkammer bei. 90§. 101. Die Gerichte.Dieſelbe kann nur erfolgen durch ſpezielle Anordnung der Landes - juſtizverwaltung und nur aus einem einzigen Grunde, nämlich wegen großer Entfernung des Landgerichtsſitzes; einer ſolchen Kammer kann für den Bezirk eines oder mehrerer, zum Landge - richtsbezirk gehörender Amtsgerichte entweder die geſammte Thätig - keit der Strafkammer des Landgerichts oder ein Theil dieſer Thä - tigkeit zugewieſen werden. Sowohl die Begränzung des Bezirks als die Zuweiſung und Abgränzung der Thätigkeit erfolgt durch Anordnung der Landesjuſtizverwaltung1)§. 78 Abſ. 1 cit.. Man darf aber eine derartige Strafkammer ſich nicht als eine gewöhnliche Landgerichts - Strafkammer denken, welche nur entfernt von dem Sitze des Land - gerichts und mit Beſchränkung ihrer Zuſtändigkeit für einen abge - gränzten Theil des Landgerichtsbezirkes errichtet wird. Ihre Bil - dung unterliegt vielmehr ſehr abweichenden Regeln2)Vgl. §. 78 Abſ. 2 a. a. O.. Dieſelbe kann nicht nur mit Mitgliedern des Landgerichts, ſondern auch mit Amtsrichtern desjenigen Bezirks, für welchen die Kammer gebildet wird, beſetzt werden. Sie erhält einen ſtändigen Vorſitzenden, den die Landesjuſtizverwaltung ernennt. Derſelbe braucht nicht Landgerichts-Director zu ſein; er kann aus den Mitgliedern des Landgerichts oder den Amtsrichtern des Bezirks genommen werden. Er gehört nicht zum Präſidium des Landgerichts und das letztere hat keinen Einfluß auf die Zuweiſung des Vorſitzes in einer aus - wärtigen Strafkammer. Er wird ſtändig ernannt d. h. nicht blos auf die Dauer eines Geſchäftsjahres und auch nicht auf belie - bigen Widerruf; iſt der Vorſitz aber als Nebenamt mit einem Haupt - amt verbunden, ſo erfolgt die Ernennung nur für die Dauer des Hauptamtes. Es kann keinem Mitgliede des Langerichts wider ſeinen Willen der Vorſitz in einer auswärtigen Strafkammer als Amtsob - liegenheit übertragen werden. Ferner werden die Amtsrichter, welche den Strafkammern angehören ſollen, durch die Landesjuſtizver -10)einem Amtsgericht ; dies bezieht ſich aber nur auf den örtlichen Sitz der Kammer, nicht auf die Stellung derſelben in dem Organismus der Gerichts - behörden. Die detachirte Strafkammer gehört nicht zum Amtsgericht, ſondern zum Landgericht. Der von ihr handelnde §. 78 cit. hat demgemäß in dem von den Landgerichten handelnden fünften Titel des Gerichtsverf. Geſetzes Platz gefunden.91§. 101. Die Gerichte.waltung berufen; aber nur auf die Dauer des Geſchäftsjahres. Dagegen finden hinſichtlich der Mitglieder des Landgerichts, welche der auswärtigen Strafkammer zugewieſen werden ſollen, die Vor - ſchriften des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes Anwendung; ſie werden alſo durch das Präſidium des Landgerichts bezeichnet.

d) Eine andere anomale Bildung bei den Landgerichten ſind die Kammern für Handelsſachen. Dieſelben können bei den Landgerichten errichtet werden, ſoweit die Landesjuſtizverwal - tung ein Bedürfniß als vorhanden annimmt; ihre Zuſtändigkeit kann für den ganzen Bezirk des Landgerichts oder für örtlich ab - gegrenzte Theile deſſelben normirt werden; ſie können am Sitz des Landgerichts oder an andern Orten des Landgerichtsbezirks ihren Sitz erhalten1)Gerichtsverf. Geſ. §. 100.. Ihnen gehört nur ein berufsmäßiger Richter an, der zugleich den Vorſitz führt. Ueber die Art und Weiſe, wie derſelbe beſtellt wird, hat das Reichsgeſetz Nichts be - ſtimmt; es hat nur die negative Beſtimmung getroffen, daß die für die Bildung der Civilkammern und die Beſtellung ihrer Vor - ſitzenden in den §§. 61 66 gegebenen Vorſchriften auf die Kam - mern für Handelsſachen keine Anwendung finden2)Gerichtsverf. Geſ. §. 67. und es hat zu - gelaſſen, daß für eine außerhalb des Landgerichtsſitzes errichtete Kammer auch ein Amtsrichter zum Vorſitzenden ernannt werde3)Gerichtsverf. Geſ. §. 110.. Auch über die Ernennung der Handelsrichter hat das Geſetz keine andere Beſtimmung, als daß dieſelbe auf gutachtlichen Vor - ſchlag des zur Vertretung des Handelsſtandes berufenen Organes für die Dauer von drei Jahren erfolgt4)ebendaſ. §. 112.; weder die Zahl, noch die Reihenfolge der Dienſtleiſtung, noch die Stellvertretung iſt vom Reiche geregelt. Den Einzelſtaaten iſt demnach eine faſt unbeſchränkte Autonomie hinſichtlich der Einrichtung der Kammern für Handels - ſachen gewährt.

e) Endlich gehören auch die Schwurgerichte nach dem Syſtem der Gerichtsbehörden zu den Landgerichten; ihre organi - ſche Verbindung mit den letzteren iſt aber freilich eine ſehr loſe. Sie unterſcheiden ſich von den bisher erörterten Spruchgerichten ſchon dadurch, daß ſie nicht ſtändig exiſtiren, ſondern nur perio -92§. 101. Die Gerichte.diſch bei den Landgerichten zuſammentreten. Die Anberaumung der Sitzungsperioden ſteht der Landesjuſtizverwaltung zu, falls nicht landesgeſetzlich hierüber andere Vorſchriften beſtehen. Der Vorſitzende des Schwurgerichts wird für jede Sitzungsperiode von dem Präſidenten des Oberlandesgerichts ernannt, welcher hier - bei die Auswahl unter ſämmtlichen Mitgliedern des Oberlandes - gerichtes und aller zu dem Bezirke des Oberlandesgerichts gehörigen Landgerichte hat1)ebendaſ. §. 83 Abſ. 1.. Der Stellvertreter des Vorſitzenden und die beiden andern richterlichen Mitglieder des Gerichts2)Siehe §. 81 daſ., ſo - wie die etwa beizuziehenden Ergänzungsrichter3)Gerichtsverf. Geſ. §. 194 Abſ. 2. werden dagegen vom Präſidenten des Landgerichts aus der Zahl der Mitglieder des Landgerichts beſtimmt4)ebenda §. 83 Abſ. 2..

Die Verbindung des Schwurgerichts mit demjenigen Land - gericht, an deſſen Orte es zuſammentritt, zeigt ſich auch darin, daß, ſo lange die Ernennung des Vorſitzenden nicht erfolgt iſt, der Vor - ſitzende der Strafkammer des Landgerichts die in der Strafprozeß - ordnung dem Vorſitzenden des Gerichts zugewieſenen Geſchäfte er - ledigt5)§. 83 cit. Abſ. 3.. Auch kann die Strafkammer des Landgerichts beſtimmen, daß einzelne Sitzungen des Schwurgerichts nicht am Sitze des Landgerichts, ſondern an einem anderen Orte innerhalb des Schwurgerichtsbezirks abzuhalten ſeien6)§. 98 a. a. O. Ueber die geſchäftlichen Rückſichten , welche zu einem ſolchen Beſchluß Anlaß geben können, vgl. die Motive S. 110. (zu §. 79 des Entwurfs.).

Obgleich nach dieſen Anordnungen der Regel nach zu jedem Landgericht ein Schwurgericht gehört, ſo iſt doch eine Abweichung von dieſer Regel, d. h. die Zuſammenlegung mehrerer Landge - richtsbezirke zu einem Schwurgerichtsbezirke geſtattet, damit wie die Motive S. 110 ſagen die Landesjuſtizverwaltung die Abgrenzung der Landgerichtsbezirke mit Rückſicht auf die ſonſtige Thätigkeit der Landgerichte in der geeignetſten Weiſe treffen kann, ohne hierbei durch die beſondere Rückſicht auf die Bildung der Schwurgerichte bei jedem Landgerichte beengt zu werden. Wenn93§. 101. Die Gerichte.die Landesjuſtizverwaltung von dieſer Befugniß Gebrauch macht, ſo hat das Landgericht1)d. h. die Strafkammer deſſelben., bei welchem die Sitzungen des Schwur - gerichts abgehalten werden, und der Präſident deſſelben die ihnen in den §§. 82 98 des Gerichtsverf. Geſ. zugewieſenen Geſchäfte für den ganzen Schwurgerichtsbezirk wahrzunehmen, und die Mitglieder des Schwurgerichts (mit Einſchluß des Stellvertreters des Vorſitzenden) können aus der Zahl der Mitglieder aller im Schwurgerichtsbezirk belegenen Landgerichte genommen werden2)a. a. O. §. 99..

Die Berufung der Geſchworenen erfolgt nach den im Gerichts - verf. Geſ. §. 85 ff. und in der Strafproz. Ordn. §. 278 ff. gege - benen Vorſchriften3)Vgl. unten §. 104..

f) Eine für alle bei den Landgerichten zu erledigenden richter - lichen Geſchäfte, und für alle bei ihnen zu bildenden Spruchbe - hörden gleichmäßig zu entſcheidende Frage betrifft die Zuläſſigkeit der Zuziehung von Hülfsrichtern. Im Allgemeinen gilt auch für die Landgerichte die im §. 10 des Gerichtsverf. Geſ. auf - geſtellte Regel, daß die landesgeſetzlichen Beſtimmungen über die Befähigung zur zeitweiligen Wahrnehmung richterlicher Geſchäfte unberührt bleiben. Insbeſondere gilt dies auch für diejenigen landesgeſetzlichen Beſtimmungen, nach welchen richterliche Geſchäfte nur von ſtändig d. h. nach §. 6 des Gerichtsverf. Geſ. lebenslänglich angeſtellten Richtern wahrgenommen werden können4)§. 69 Abſ. 3..

Aber auch diejenigen landesgeſetzlichen Vorſchriften, welche die zeitweilige Wahrnehmung einer Richterſtelle oder die zeitweilige Vertretung eines Richters durch eine zum Richteramt nicht be - fähigte Perſon zulaſſen, ſind unberührt geblieben, da eine im Entwurf der Juſtizkommiſſion enthaltene, dies ausdrücklich verbie - tende Beſtimmung aus dem §. 69 des Gerichtsverf. Geſetzes ge - ſtrichen worden iſt, ſonach alſo eine Ausnahme von der Regel des §. 10 für die Landgerichte nicht gemacht worden iſt5)Anderer Anſicht Keller zu §. 69 Anmerk. 3..

Die Ernennung von Hülfsrichtern darf aber Seitens der Juſtizverwaltung nur auf den Antrag des Präſidiums (nicht des94§. 101. Die Gerichte.Präſidenten) erfolgen1)§. 69 Abſ. 1 a. a. O. In dem Antrage iſt, wie ſich von ſelbſt ver - ſteht, das Bedürfniß nachzuweiſen, und zwar muß daſſelbe ſo geartet ſein, daß ihm einerſeits nicht durch die ſtändig ernannten Mitglieder des Landgerichts gemäß §. 62 u. §. 66 a. a. O. abgeholfen werden kann, und daß es andrer - ſeits nicht als ein dauerndes anzuſehen iſt, welches eine Erhöhung der Anzahl der ſtändigen Mitglieder des Gerichts nothwendig macht.. Wird zum Hülfsrichter ein bereits ſtän - dig angeſtellter Richter verwendet, ſo kommen hinſichtlich der Ver - tretung die landesgeſetzlichen Vorſchriften zur Anwendung2)§. 69 cit. Abſ. 3.; wenn dagegen ein nicht ſtändig angeſtellter Richter einem Landgerichte als Hülfsrichter beigeordnet wird, ſo ſind die Landesjuſtizverwal - tungen an die Beobachtung von zwei reichsgeſetzlichen Beſtimmungen gebunden, welche die Unabhängigkeit des Hülfsrichters von der Juſtizverwaltung ſichern ſollen; nämlich erſtens, daß die Beiord - nung, wenn ſie auf beſtimmte Zeit erfolgte, vor Ablauf dieſer Zeit, und wenn ſie auf unbeſtimmte Zeit erfolgte, ſo lange das Bedürfniß, durch welches ſie veranlaßt wurde, fortdauert, nicht widerrufen werden darf3)In der Juſtizkommiſſion des Reichstags iſt wiederholt konſtatirt wor - den, daß unwiderruflich bedeuten ſolle nicht ohne Zuſtimmung des Mitgliedes widerruflich. ; und zweitens, daß wenn mit der Ver - tretung eine Entſchädigung verbunden iſt, dieſe für die ganze Dauer im Voraus feſtzuſtellen iſt4)§. 69 cit. Abſ. 2; vorbehaltlich einer etatsmäßigen Erhöhung der Be - züge. Protok. S. 651. (Hahn S. 811.).

3. Die Oberlandesgerichte. Die Organiſation der - ſelben iſt deshalb ſehr einfach, weil bei ihnen nur die regel - mäßigen Spruchcollegien, die Civil - und Strafſenate , gebil - det werden5)Gerichtsverf. Geſ. §. 120.. An der Spitze des Gerichtshofes ſteht ein Präſi - dent; den Vorſitz in den Senaten führen Senatspräſidenten6)§. 119 cit.; das Präſidium wird gebildet aus dem Präſidenten, den Senatspräſidenten und den beiden älteſten Mitgliedern (Räthen) des Gerichts.

Nach dem Wortlaute des Geſetzes, welches Civil - und Straf - ſenate und neben dem Präſidenten eine Anzahl von Senatspräſidenten erfordert, kann es nicht zweifelhaft ſein, daß an jedem Oberlandes -95§. 101. Die Gerichte.gerichte mehrere Senate gebildet werden müſſen und daß regelmäßig beſondere Senate für Civilſachen und beſondere für Strafſachen zu errichten ſind; indeß kann es nicht für geradezu ausgeſchloſſen erachtet werden, daß einem Senate die Erledigung von Civil - und Strafſachen übertragen wird1)So beſtimmt beiſpielsweiſe die elſaß-lothring. Verordn. vom 29. April 1880 (Geſetzbl. S. 121), daß bei dem Oberlandesgerichte in Colmar zur Er - ledigung der Civilſachen drei Senate beſtehen und daß der dritte Senat zu - gleich Strafſenat iſt..

Ueber die Vertheilung des Vorſitzes und über die Zuweiſung der Räthe zu den einzelnen Senaten, hinſichtlich der Geſchäfts - vertheilung, und hinſichtlich der Ordnung der Vertretung im Falle der Verhinderung gelten die für die Landgerichte gegebenen Vor - ſchriften auch für die Oberlandesgerichte. Zu Hülfsrichtern dürfen jedoch nur ſtändig angeſtellte Richter berufen wer - den2)§. 121 u. 122 a. a. O.. Den Einzelſtaaten iſt im Uebrigen eine Beſchränkung nicht auferlegt; die im §. 69 cit. enthaltenen Vorſchriften über die Hülfs - richter bei den Landgerichten ſind auf die Oberlandesgerichte nicht für anwendbar erklärt; den Einzelſtaaten iſt es jedoch freigeſtellt, die Vorausſetzungen und Bedingungen der Verwendung von ſtändig angeſtellten Hülfsrichtern bei den Oberlandesgerichten zu regeln und auch dieſelbe gänzlich auszuſchließen.

4. Das Reichsgericht3)Vgl. den Artikel Reichsgericht von John im von Holtzendorff’ſchen Rechtslexicon. 3. Aufl. Bd. 3 S. 386 ff.. Die Organiſation des Reichs - gerichts iſt derjenigen der Oberlandesgerichte conform; es wird mit einem Präſidenten und der erforderlichen Anzahl von Senats - präſidenten und Räthen beſetzt; es werden Civil - und Strafſenate gebildet, deren Anzahl der Reichskanzler beſtimmt. Zu dem Präſidium ſind die vier älteſten Mitglieder (Räthe) des Ge - richts zuzuziehen; im Uebrigen finden die in den §§. 61 68 ge - gebenen Vorſchriften über den Vorſitz in den Senaten, die Bildung der letzteren, die Vertheilung der Geſchäfte, die Vertretung im Falle der Verhinderung Anwendung. Dagegen iſt die Zuziehung von Hülfsrichtern für unzuläſſig erklärt4)§. 132 134 a. a. O..

Eigenthümlich iſt dem Reichsgericht eine Einrichtung, welche96§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.dazudien en ſoll, im Intereſſe einer einheitlichen und ſichern Recht - ſprechung Widerſprüche zwiſchen den Urtheilen der Senate zu ver - hüten; nämlich die Verhandlung und Entſcheidung von Rechtsſachen vor vereinigten Senaten und zwar in Civilſachen vor den vereinigten Civilſenaten und in Strafſachen vor den vereinigten Strafſenaten. Die Verweiſung vor die vereinigten Civil - oder Strafſenate findet ſtatt, wenn in einer Rechtsfrage ein Civil - ſenat von einer früheren Entſcheidung eines anderen Civilſenats oder der vereinigten Civilſenate oder ein Strafſenat von einer früheren Entſcheidung eines andern Strafſenats oder der vereinigten Strafſenate abweichen will1)§. 137 a. a. O. Eine Verweiſung findet alſo nicht ſtatt, wenn in der Entſcheidung einer Rechtsfrage ein Civilſenat von der früheren Entſchei - dung eines Strafſenats oder vice versa abweichen will. Motive S. 152. (Hahn S. 139.). Die Zahl der Richter, welche bei Entſcheidungen der vereinigten Senate mitwirken ſollen, iſt nicht beſtimmt; nur iſt die Theilnahme von mindeſtens zwei Drittheilen aller Mitglieder mit Einſchluß des Vorſitzenden erforderlich und die Zahl der Mitglieder, welche eine entſcheidende Stimme führen, muß eine ungerade ſein2)§. 139 a. a. O..

Der Geſchäftsgang bei dem Reichsgericht wird durch eine, vom Plenum deſſelben auszuarbeitende und vom Bundesrath zu be - ſtätigende Geſchäftsordnung geregelt3)§. 141 a. a. O.. Dieſelbe iſt am 8. April 1880 vom Reichskanzler bekannt gemacht und im Centralbl. des Deutſchen Reichs 1880 S. 190 196 abgedruckt worden.

Die über die Organiſation des Reichsgerichts gegebenen Vor - ſchriften finden auch auf die nach §. 8 des Einf. Geſ. zum Gerichts - verfaſſungs-Geſ. errichteten oberſten Landesgerichte, das heißt alſo auf den Kgl. Bayeriſchen Oberſten Landes-Gerichtshof in München, entſprechende Anwendung4)§. 10 des Einf. Geſetzes zum Gerichtsverf. Geſ..

§. 102. Die Staatsanwaltſchaft*)Vgl. Schwarze in v. Holtzendorff’s Handbuch des Strafprozeßrechts Bd. II. S. 582 ff..

I. Die Prozeßordnungen erfordern bei allen Strafſachen und bei gewiſſen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten (Eheſachen, Entmün -97§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.digungsſachen) die Thätigkeit einer von den Gerichten verſchiedenen Behörde, welche die Bezeichnung Staatsanwaltſchaft führt. Hier - durch iſt die Einrichtung einer ſolchen bei dem Reichsgericht er - forderlich gemacht und den Einzelſtaaten die Ver - pflichtung auferlegt worden, für das Beſtehen von Behörden Sorge zu tragen, welche bei den Landesgerichten die der Staatsanwaltſchaft reichsgeſetzlich zugewieſenen Geſchäfte wahr - nehmen. Die prozeſſualiſchen Obliegenheiten und Befug - niſſe der Staatsanwaltſchaft ſind in den Prozeßordnungen normirt; ſie bieten kein ſpezifiſch ſtaatsrechtliches Intereſſe dar. Für das Reichsſtaatsrecht von Belang ſind nur die vom Reiche er - laſſenen Anordnungen, welche die freie Willensbeſtimmung der Einzelſtaaten hinſichtlich der Organiſation dieſer Behörden be - ſchränken, ſowie die Vorſchriften über das gegenſeitige Verhältniß der ſtaatsanwaltſchaftlichen Behörden verſchiedener Einzelſtaaten und des Reichs zu einander, welche im Intereſſe einheitlicher und gleichmäßiger Handhabung der Rechtspflege im Bundesgebiet er - laſſen worden ſind.

Durch die Identität der ſtaatlichen Aufgabe, an deren Er - füllung ſowohl die Gerichte als auch die Staatsanwaltſchaften mitzuwirken berufen ſind, iſt eine Uebereinſtimmung in der Glie - derung beider Gattungen von Behörden, ſowie eine gewiſſe Ana - logie der für dieſelben erlaſſenen reichsgeſetzlichen Vorſchriften ge - boten. Es gelten demnach zuvörderſt auch hier die beiden ober - ſten Grundſätze, welche die deutſche Gerichtsverfaſſung überhaupt beherrſchen, nämlich:

1. Alle zum Zwecke der Rechtspflege dienenden Behörden, mithin auch die Staatsanwaltſchaften, ſind Landesbehörden und ihre Mitglieder Landesbeamte. Ausgenommen iſt allein, wie das Reichsgericht ſelbſt, ſo die beim Reichsgericht beſtehende Staats - anwaltſchaft. Den Einzelſtaaten ſteht daher die Einrichtung und Beſetzung dieſer Behörden, die finanzielle Dotirung derſelben, die Ernennung, Entlaſſung und Penſionirung der dazu gehörenden Beamten, die Dienſtaufſicht über dieſelben, die Regelung der Dis - ciplinar - und anderen Dienſtverhältniſſe u. ſ. w. zu.

2. Bei Ausübung dieſer in der Staatsgewalt der Einzel - ſtaaten enthaltenen Hoheitsrechte beſteht aber ein erheblicher Unter - ſchied zwiſchen dem Gebiete der ordentlichen ſtreitigen Gerichts -Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 798§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.barkeit und den anderen Gebieten der Rechtspflege. Die Thätig - keit der Staatsanwaltſchaft iſt nur auf erſterem reichsgeſetzlich geregelt und deshalb auch nur hier die Organiſation und Glie - derung der Staatsanwaltſchaft in ihren Grundzügen vom Gerichts - verfaſſungsgeſetz vorgezeichnet worden; auf den übrigen Gebieten der Gerichtsbarkeit können die Einzelſtaaten ſowohl die materiellen Amtsverrichtungen und Obliegenheiten der Staatsanwälte als auch die Einrichtung der Staatsanwaltſchaft nach Belieben normiren. Die Autonomie der Einzelſtaaten iſt auf dieſen Gebieten eine völlig freie und demgemäß ſind die kraft dieſer Autonomie getrof - fenen Anordnungen und Einrichtungen kein Gegenſtand des Reichs - ſtaatsrechts; auf dem Gebiete der ordentlichen ſtreitigen Gerichts - barkeit dagegen ſind die Einzelſtaaten auch hinſichtlich der Staats - anwaltſchaften ziemlich beengenden Vorſchriften unterworfen.

II. Die Uebereinſtimmung in der Gliederung der Gerichte und der Staatsanwaltſchaften und das in den Prozeßordnungen geregelte Zuſammenwirken beider Behörden iſt reichsgeſetzlich gewährleiſtet durch das im §. 142 des Gerichtsverf. Geſ. ausgeſprochene Princip: Bei jedem Gerichte ſoll eine Staatsanwalt - ſchaft beſtehen. Es iſt nun im vorhergehenden Paragraphen dargelegt worden, daß das Wort Gericht einen doppelten Sinn hat, einen prozeßrechtlichen und einen ſtaatsrechtlichen (verwaltungs - rechtlichen). Dieſe Unterſcheidung kehrt auch bei der Staatsan - waltſchaft wieder. Die behördliche Organiſation der Staats - anwaltſchaft folgt der Gliederung der Gerichtsbehörden; das ſtaatsanwaltſchaftliche Amt dagegen wird ausgeübt bei den be - ſchließenden und erkennenden Spruchgerichten. In letzterer Hin - ſicht bemerken die Motive S. 163 (Hahn S. 147): Die ſach - liche Zuſtändigkeit der verſchiedenen Organe der Staatsanwaltſchaft beſtimmt ſich nach der Zuſtändigkeit desjenigen Gerichts, welchem das Organ der Staatsanwaltſchaft zugetheilt iſt. Maßgebend ſind diejenigen Normen, welche die Zuſtändigkeit der erkennenden Gerichte regeln. Dagegen entſpricht der vierfachen Abſtufung der Gerichte in Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht und Reichs - gericht eine vierfache Gliederung der Staatsanwaltſchaft1)Gerichtsverf. Geſ. §. 143. Indem das Geſetz hier neben den Amtsge - richten die Schöffengerichte und neben den Landgerichten die Schwurgerichte und die99§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.örtliche Zuſtändigkeit der einzelnen ſtaatsanwaltſchaftlichen Be - hörden wird durch die örtliche Zuſtändigkeit des Gerichts beſtimmt, für welches ſie beſtellt ſind1)ebendaſ. §. 144 Abſ. 1.. In dieſem Sinne ſpricht das Reichsgeſetz von der Staatsanwaltſchaft eines Gerichts , trotzdem es ausdrücklich den Grundſatz anerkennt, daß die Staatsanwalt - ſchaft in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten unabhängig iſt2)ebendaſ. §. 151..

III. Das Gerichtsverfaſſungsgeſetz überläßt zwar den Einzel - ſtaaten die Einrichtung der Staatsanwaltſchaft, es enthält aber einige Vorſchriften, durch welche für dieſe Organiſation ein be - ſtimmtes Grundprinzip aufgeſtellt wird. Daſſelbe iſt dem für die Or - ganiſation der Gerichtsbehörden maßgebenden gerade entgegengeſetzt. Die Staatsanwaltſchaft ſoll nämlich eine einheitliche Behörde ſein, bei welcher die ihr angehörenden Beamten den dienſtlichen Wei - ſungen ihrer Vorgeſetzten hinſichtlich ihrer Amtsverrichtungen Folge zu leiſten verpflichtet ſind. Der Ausdruck Staatsanwaltſchaft um - faßt daher die Geſammtheit der bei den verſchiedenen Gerichten zur Wahrnehmung der ſtaatsanwaltſchaftlichen Functionen beſtellten Staatsanwälte; die Staatsanwaltſchaft eines Gerichts iſt nur eine ſtaatsanwaltſchaftliche Station; alle dieſe Stationen ſind in einer einheitlichen Behördenorganiſation verbunden, für deren Ge - ſammtheit es keine andere Bezeichnung giebt als Staatsanwaltſchaft , allenfalls unter Hinzufügung des Einzelſtaates, dem ſie angehört3)Für das Verſtändniß des Gerichtsverfaſſungs-Geſetzes iſt eine eigen - thümliche Terminologie deſſelben beachtenswerth. Bei den Amtsgerichten und den Schöffengerichten wird das Amt der Staatsanwaltſchaft ausgeübt durch einen oder mehrere Amtsanwälte (§. 143 Ziff. 3); dieſelben gehören zu den Beamten der Staatsanwaltſchaft (§. 144. 147. 148 ), ſie verſehen das Amt der Staatsanwaltſchaft (§. 146); allein ſie werden unter der Bezeich - nung Staatsanwälte nicht mitbegriffen. Dieſe Terminologie iſt auch für die Auslegung der Strafprozeßordnung ſowie der landesgeſetzl. Ausführungsbe - ſtimmungen und der Gerichtskonventionen zu beachten..

Von dieſem Grundprinzip aus ergeben ſich drei Folgeſätze, durch deren geſetzliche Sanctionirung das Reich die Durchführung dieſes Prinzips in den Einzelſtaaten geſichert hat, nämlich:

1. Die Beamten der Staatsanwaltſchaft haben den dienſtlichen1)aufführt, verwiſcht es den Gegenſatz zwiſchen den Gerichtsbehörden und den erkennenden Gerichten.7*100§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.Anweiſungen ihres Vorgeſetzten nachzukommen1)Gerichtsverf. Geſ. §. 147 Abſ. 1.; und zwar, wie die Motive zum Gerichtsverf. Geſetz S. 165 (Hahn S. 149) er - läuternd bemerken, nicht nur den allgemeinen Anordnungen, ſondern auch den in einer ſpeziellen Strafſache ergehenden Anweiſungen. Sie haben nicht das Recht einer ſelbſtſtändigen und unabhängigen, durch die eigene Rechtsüberzeugung allein beſtimmten Entſcheidung hinſichtlich ihrer Dienſtverrichtungen; ſie ſind nicht nur der Auf - ſicht, ſondern auch der Leitung eines Chefs unterworfen2)Vgl. hierüber auch die Verhandlungen der Reichstags-Kommiſſion. Protok. I. Leſ. S. 415 ff. (Hahn S. 632 ff. ), ſowie des Plenums des Reichs - tages. Stenogr. Berichte 1876 S. 310 ff. (Hahn S. 1341 ff.). Die Leitung ſteht dem Reichskanzler hinſichtlich der am Reichsgericht beſtellten Reichsanwaltſchaft (Ober-Reichsanwalt und Reichsanwälte), der Landesjuſtizverwaltung hinſichtlich aller ſtaatsanwaltlichen Be - amten des betreffenden Bundesſtaates zu3)Gerichtsverf. Geſ. §. 148 Abſ. 1 u. 2., alſo in allen Fällen einem Verwaltungschef. Demgemäß hat die Reichsgeſetzgebung die dienſtliche Stellung der Beamten der Staatsanwaltſchaft nicht mit denjenigen ſchützenden Garantien ausgeſtattet, welche die Un - abhängigkeit der Richter gewährleiſten ſollen, ſondern es den Einzel - ſtaaten überlaſſen, darüber Anordnungen zu treffen. Den Ober - Reichsanwalt und die Reichsanwälte aber hat das Geſetz aus - drücklich für nicht richterliche Beamte erklärt4)ebendaſ. §. 149 Abſ. 1. Dieſelbe Beſtimmung findet ſich hinſichtlich der Oberſtaatsanwälte und Staatsanwälte in zahlreichen Ausführungsgeſetzen der Einzelſtaaten. und ſie denjenigen Beamten zugezählt, welche durch Kaiſerliche Verfügung jederzeit mit Gewährung des geſetzlichen Wartegeldes einſtweilig in den Ruheſtand verſetzt werden können5)Gerichtsverf. Geſ. §. 150 Abſ. 2.. Im Zuſammenhange mit dieſer abhängigen und wenig geſicherten dienſtlichen Stellung der Staatsanwälte ſteht das reichsgeſetzliche Verbot, denſelben die Wahrnehmung richterlicher Geſchäfte und eine Dienſtaufſicht über die Richter zu übertragen6)ebendaſ. §. 152..

2. Aus der einheitlichen centraliſtiſchen Organiſation der Staatsanwaltſchaft folgt aber nicht nur die Oberleitung des Juſtiz - miniſteriums über die geſammte Staatsanwaltſchaft des Einzel -101§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.ſtaates, beziehentl. des Reichskanzlers über die Reichsanwalt - ſchaft, ſondern auch die einheitliche Direction der einzelnen Staats - anwaltſchaften (ſtaatsanwaltſchaftlichen Stationen), welche an den Gerichten beſtellt ſind. Dieſelben können weder eine collegialiſche Verfaſſung haben noch aus mehreren gleichberechtigten, von ein - ander unabhängigen Mitgliedern beſtehen, ſondern ſie müſſen einer einheitlichen Spitze unterſtellt ſein. Wenngleich der an einem Ge - richte beſtellten Staatsanwaltſchaft mehrere Beamte zugewieſen werden, ſo iſt doch nur Einer Staatsanwalt im eigentlichen Rechts - ſinne; die Andern ſind nur ſeine Gehülfen oder Vertreter. Das Reichsgeſetz vermeidet zwar, ihnen die Bezeichnung Staatsanwalts - gehülfen beizulegen, es ſtellt ſie aber in ſcharfen juriſtiſchen Gegen - ſatz zu dem erſten Beamten der Staatsanwaltſchaft eines Ge - richts. Die dem letzteren beigeordneten Perſonen gelten als deſſen Vertreter, ſie werden als von ihm beauftragt ange - ſehen, auch ohne daß ſie für die einzelnen Amtsverrichtungen den Nachweis eines beſonderen Auftrages zu erbringen brauchen1)Gerichtsverf. Geſ. §. 145.; ſie führen daher ihre amtlichen Geſchäfte unter der Verantwort - lichkeit des erſten Staatsanwalts , der als ihr unmittelbarer Vorgeſetzter anzuſehen iſt und deſſen Anweiſungen ſie Folge zu leiſten verpflichtet ſind2)Ob dieſer Grundſatz auch auf das Verhältniß mehrerer bei demſelben Amtsgerichte beſtellter Amtsanwälte Anwendung findet, iſt der Anordnung der Einzelſtaaten anheimgegeben. Motive S. 162 a. E. 164. (Hahn S. 147. 148.).

3. Der Grundſatz, daß Niemand ſeinem geſetzlichen Richter entzogen werden ſoll, findet auf die Staatsanwaltſchaft keine ana - loge Anwendung und die Regeln des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes über die Geſchäftsvertheilung bei den Gerichtsbehörden, durch welche jede Willkühr in Betreff der Auswahl oder der Zuſammenſetzung der erkennenden Spruchcollegien für den einzelnen Fall ausgeſchloſſen werden ſoll, bilden einen ſcharfen Gegenſatz zu den für die Staats - anwaltſchaft geltenden Vorſchriften. Abgeſehen von den in der örtlichen Begränzung der Zuſtändigkeit liegenden Schranken hat die Verwaltung das Recht und die Pflicht, für die Wahrnehmung der ſtaatsanwaltſchaftl. Verrichtungen die dafür geeignetſte Per - ſönlichkeit auszuwählen. Nur die an den Gerichten beſtellten Staatsanwaltſchaften (Staatsanwaltſchafts-Stationen) haben eine102§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.rechtlich begränzte Zuſtändigkeit, aber nicht die einzelnen Beamten innerhalb derſelben. Die Zuſtändigkeit der letzteren wird vielmehr umſchloſſen und gleichſam abſorbirt von der des Vorgeſetzten. Dem - gemäß ſind die erſten Beamten der Staatsanwaltſchaft bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten befugt, bei allen Gerichten ihres Bezirks die Amtsverrichtungen der Staatsanwalt - ſchaft ſelbſt zu übernehmen oder mit Wahrnehmung derſelben einen anderen als den zunächſt zuſtändigen Beamten zu beauf - tragen1)Ger. V. Geſ. §. 146 Abſ. 1. Der erſte Beamte der Staatsanwaltſchaft bei dem Oberlandesgericht (Oberſtaatsanwalt) hat daher unter dem Perſonal der Staatsanwaltſchaft bei ſämmtlichen zum Oberlandesgerichts-Bezirk gehörigen Gerichten die freie Auswahl hinſichtlich der Zuweiſung einzelner Sachen oder Geſchäfte. Er kann jedoch nur eine ſolche Perſon wählen, welche die geſetzlich erforderte Qualifikation zur Verrichtung des betreffenden Amtsgeſchäftes hat; insbeſondere dürfen Amtsanwälte nur bei den Amtsgerichten (Schöffengerichten) das Amt der Staatsanwaltſchaft verſehen. ebendaſ. Abſ. 2.. Hierdurch iſt nicht nur die Möglichkeit geboten, für wichtige Sachen, an deren Durchführung in einer gewiſſen Richtung der Staatsbehörde gelegen iſt, erprobte oder beſonders hervor - ragende Kräfte heranzuziehen, ſondern auch den Grundſatz, daß die Beamten der Staatsanwaltſchaft den dienſtlichen Anweiſungen ihres Vorgeſetzten nachzukommen haben, im einzelnen Falle in Einklang zu ſetzen mit der wünſchenswerthen Berückſichtigung der etwa ab - weichenden perſönlichen Auffaſſung, welche der zunächſt zuſtändige Beamte von der Rechtsfrage oder dem Thatbeſtand gewonnen hat.

IV. Die Einheit der Staatsanwaltſchaft iſt zunächſt durch - geführt und verwirklicht innerhalb der einzelnen Bundesſtaaten; jeder Staat hat ſeine Staatsanwaltſchaft, die nur von ihm ab - hängig iſt.

Das Reich hat keine Oberleitung über die Staatsanwaltſchaften der Einzelſtaaten; es beſteht keine Centralbehörde um die Thätig - keit dieſer verſchiedenen Staatsanwaltſchaften im Bundesgebiete in Einklang und Uebereinſtimmung zu erhalten. Die Reichsanwalt - ſchaft bildet eine den Staatsanwaltſchaften der Einzelſtaaten neben - geordnetes Verwaltungsreſſort, nicht eine ihnen übergeordnete Auf - ſichts - und Beſchwerde-Inſtanz. Die Juſtizminiſterien der Einzel - ſtaaten ſind die letzten Quellen, aus denen die Beamten der Staats - anwaltſchaft ihre dienſtlichen Anweiſungen empfangen und Beſchwer -103§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.den über Handlungen oder Unterlaſſungen der Staatsanwälte finden hier ihre definitive Erledigung1)Dieſer Grundſatz iſt auch in allen Gerichtskonventionen anerkannt, in - dem den Regierungen der Einzelſtaaten die Aufſicht und Leitung der Staats - anwaltſchaft in allen aus den betreffenden Staatsgebieten er - wachſenen Rechtsangelegenheiten eingeräumt worden iſt, gleichviel in welcher Weiſe die Ernennung und die Dienſtverhältniſſe der Beamten der Staatsan - waltſchaft im Uebrigen geregelt ſind. Vgl. die Verträge von Preußen-Olden - burg (Birkenfeld) Art. 6 Abſ. 2 und Schlußprot. Ziff. IV. Preußen-Schwarzb. - Sondershauſen Art. 6 Abſ. 2 u. Schlußprot. IV. Preußen-Anhalt Art. 5. Preußen-Lippe Art. 4. Ferner den Thüringiſchen Vertrag Art. 20. Preußen - Meiningen-Koburg (Meiningen) Art. 19 Abſ. 2. Preußen-Meiningen-Rudolſtadt (Rudolſtadt) Art. 18. Weimar-Reuß j. L. (Gera) Art. 14. Hanſeſtädte Art. 27. Oldenburg-Lübeck Art. 28. Oldenburg-Schaumburg-Lippe Art. 16..

Jedoch die Ueberwachung der Ausführung der Reichsge - ſetze, welche nach Art. 17 der R.V. dem Kaiſer zuſteht, erſtreckt ſich auch auf diejenigen Reichsgeſetze, durch welche die Organiſation und Thätigkeit der Staatsanwaltſchaften normirt wird; dem Kaiſer liegt daher allerdings die Fürſorge ob, daß auch dieſe Geſetze von dem Einzelſtaate wirklich ausgeführt und richtig gehandhabt werden. Dieſe Ueberwachung erfolgt aber nicht in einem unmittel - baren Eingreifen in die Behandlung der einzelnen Sache und nicht in der Form eines direkten Verkehrs mit den Staatsanwaltſchaften der einzelnen Staaten, ſondern lediglich durch Verhandlung mit der Regierung des betreffenden Bundesſtaates nach Maßgabe der Bd. II. S. 235 ff. dargeſtellten Regeln. Von dieſer controlliren - den Verwaltung des Reiches hinſichtlich der Staatsanwaltſchaften der Bundesſtaaten iſt wol zu unterſcheiden die unmittelbare Ver - waltung der Reichsanwaltſchaft, welche unter den Bd. II. S. 238 entwickelten Grundſätzen ſteht. Beide Verwaltungsaufgaben wer - den unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers von dem Reichs - juſtizamt durchgeführt.

Aus der Einheitlichkeit der Staatsanwaltſchaft in jedem Ein - zelſtaat und aus der Verpflichtung der Beamten der Staatsan - waltſchaft den dienſtlichen Anweiſungen ihres Vorgeſetzten nachzu - kommen, ergiebt ſich, daß die Grundſätze des Gerichtsverfaſſungs - geſetzes über die Rechtshülfe auf den Verkehr der Staatsan - waltſchaften nicht anwendbar ſind.

Während die Requiſitionen der Gerichte, abgeſehen von den104§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.im §. 159 Abſ. 2 des Gerichtsverf. Geſetzes aufgeführten Aus - nahmen, von dem erſuchten Gerichte nicht abgelehnt werden dürfen, gilt von den Requiſitionen der Staatsanwaltſchaften der gleiche Grundſatz nicht, und zwar auch nicht von dem Verkehr der ſtaats - anwaltſchaftlichen Behörden unter einander, denn dieſer Grundſatz würde die erſuchte Behörde dem Willen einer einem andern Bundesſtaate angehörenden und von dem Juſtizminiſterium des letzteren geleiteten Behörde unterwerfen und damit die Einheit - lichkeit der Staatsanwaltſchaft auflöſen und den erſuchten Beamten in einen unlöslichen Conflict verſetzen zwiſchen der Pflicht, den dienſtlichen Anweiſungen des Vorgeſetzten gehorſam zu ſein, und der Pflicht, dem Erſuchen der requirirenden Behörde nachzukommen, wofern zwiſchen den letzteren und den dienſtlichen Anweiſungen des Vorgeſetzten ein Widerſpruch beſteht. Wenn die Staatsanwalt - ſchaft die Mitwirkung einer andern Behörde beanſprucht, kommen vielmehr folgende Regeln zur Anwendung, gleichviel ob die requi - rirte Behörde demſelben Staate angehört oder einem andern Bun - desſtaate:

1. Wenn die Staatsanwaltſchaft einen Amtsrichter um die Vornahme einer richterlichen Unterſuchungshandlung erſucht, ſo hat der Amtsrichter zu prüfen, ob die beantragte Handlung nach den Umſtänden des Falles geſetzlich zuläſſig iſt1)Strafproz. Ordn. §. 160 Abſ. 2.; es beſteht alſo gerade der entgegengeſetzte Grundſatz wie ihn §. 159 Abſ. 1 des Gerichtsverf. Geſetzes für das Erſuchen der Gerichte aufſtellt.

2. Wenn das Erſuchen an eine, dem requirirenden Staats - anwalt nicht dienſtlich untergebene, ſtaatsanwaltſchaftliche Behörde gerichtet wird, ſo hat die letztere nach freiem Ermeſſen zu prüfen, ob ſie nach Maßgabe der ihr ertheilten dienſtlichen Anweiſungen dem Erſuchen Statt zu geben habe oder nicht. Lehnt ſie die Erledigung ab, ſo iſt dagegen nur der Weg der Beſchwerde an die vorgeſetzte Behörde zuläſſig; die definitive Entſcheidung einer Meinungsverſchiedenheit darüber, ob dem Erſuchen Folge zu leiſten ſei oder nicht, ruht alſo bei dem Juſtizminiſterium, welchem der requirirte Staatsanwalt untergeordnet iſt. Falls ſich hieraus eine Differenz unter den Regierungen verſchiedener Bundesſtaaten ergiebt, ſo würde dieſelbe nach Art. 17 der R.V. durch den Kaiſer105§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.(Reichskanzler) beziehentl. nach Art. 7 Ziff. 3 der R.V. durch Be - ſchluß des Bundesrathes ihre Ausgleichung finden müſſen1)Vgl. Bd. I. S. 260 u. Bd. II. S. 235.. Vgl. jedoch unten sub V. Ziff. 3.

3. Die Beamten des Polizei - und Sicherheitsdienſtes ſind Hülfsbeamte der Staatsanwaltſchaft und in dieſer Eigenſchaft ver - pflichtet, den Anordnungen der Staatsanwälte bei den Landge - richten ihres Bezirks und der dieſen vorgeſetzten Beamten Folge zu leiſten2)Gerichtsverf. Geſ. §. 153 Abſ. 1.; ihnen gegenüber bedarf es daher keines Erſuchens, ſondern ſie werden mit der Vornahme der fraglichen Handlung beauftragt. Die Staatsanwaltſchaft iſt aber auch befugt, durch die Behörden und Beamten des Polizei - und Sicherheitsdienſtes eines anderen Bezirks Ermittelungen jeder Art, mit Ausſchluß eid - licher Vernehmungen, vornehmen zu laſſen und das Erſuchen un - mittelbar an dieſe Behörden und Beamten zu richten, welchem die letzteren zu genügen verpflichtet ſind3)Strafproz. Ordn. §. 159.. Allein dieſe Pflicht können ſie in dem Falle nicht erfüllen, wenn ſie dadurch in Widerſpruch treten würden mit den von ihrer vorgeſetzten Behörde ihnen er - theilten dienſtlichen Anweiſungen oder Aufträgen und ebenſo kann ein Zwang zur Erledigung der Requiſition gegen ſie nur von der vorgeſetzten Behörde d. h. dem Staatsanwalt am Landgericht des Bezirks ausgeübt werden.

Falls daher die requirirte Polizeibehörde ſich weigert, dem Erſuchen Folge zu geben, ſo muß der ihr vorgeſetzte Staatsanwalt am Landgericht erſucht werden, daß er ſie mit der Vornahme der verlangten Handlung beauftrage, und es reduzirt ſich alsdann der Fall auf den ſoeben unter Ziff. 2 erörterten.

V. Der Grundſatz von der Einheit und Unabhängigkeit der Staatsanwaltſchaft jedes einzelnen Bundesſtaates hat einige wich - tige Ausnahmen erfahren, welche mit der Gerichtsverfaſſung in engem Zuſammenhang ſtehen.

1. Der Ober-Reichsanwalt iſt zwar nicht Vorgeſetzter der Staatsanwälte und kann ihnen daher im Allgemeinen keine Befehle ertheilen, in denjenigen Sachen aber, für welche das Reichsgericht in erſter und letzter Inſtanz zuſtändig iſt4)Vgl. Gerichtsverf. Geſ. §. 136 Ziff. 1 (oben S. 60)., haben alle Beamte106§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.der Staatsanwaltſchaft aller Bundesſtaaten ſeinen Anweiſungen Folge zu leiſten1)Ger. Verf. Geſ. §. 147 Abſ. 2..

2. Den erſten Beamten der Staatsanwaltſchaft bei den Ober - landesgerichten und den Landgerichten ſteht das Recht der Aufſicht und Leitung hinſichtlich aller Beamten der Staatsanwaltſchaft ihres Bezirks zu2)Gerichtsverf. Geſ. §. 148 Ziff. 3.. Inſoweit nun der Bezirk eines Land - gerichts oder Oberlandesgerichts aus Gebieten mehrerer Bundes - ſtaaten beſteht, erſtreckt ſich dieſe Zuſtändigkeit und die mit ihr verbundene Befugniß, dienſtliche Anweiſungen und Befehle zu er - theilen, über die Behörden und Beamten dieſer verſchiedenen Staatsgebiete, und es tritt daher hinſichtlich der Einheit und Ge - ſchloſſenheit der Staatsanwaltſchaft mit Einſchluß der Amtsanwälte und der Beamten des Polizei - und Sicherheitsdienſtes an die Stelle des Staates der Gerichtsbezirk. Die durch das Gerichts - verfaſſungsgeſetz erforderten und vertragsmäßig begründeten Ge - richtsgemeinſchaften modifiziren nicht nur die Ausübung des den einzelnen Bundesſtaaten zuſtehenden Rechts der Gerichtsverwal - tung, ſondern zugleich auch die Ausübung derjenigen Hoheitsrechte, welche durch die Thätigkeit der Staatsanwaltſchaft verwirklicht werden, und es zeigt ſich auch auf dieſem Gebiete, auf welchem die Einzelſtaatsgewalt ſo wenig als möglich eingeſchränkt worden iſt, die Wirkung des bundesſtaatlichen Verhältniſſes, welches die Deutſchen Staaten zu einer höheren Einheit verbindet3)Vgl. jedoch hinſichtlich der Leitung der Staatsanwaltſchaften durch die Landesjuſtizverwaltungen in den Gerichtsgemeinſchafts-Bezirken oben S. 103. Note 1..

3. Daſſelbe gilt von einem andern ähnlichen Falle. Da die örtliche Zuſtändigkeit der Beamten der Staatsanwaltſchaft durch die örtliche Zuſtändigkeit des Gerichts beſtimmt wird, für welches ſie beſtellt ſind, ſo ſteht die Verfolgung einer ſtrafbaren Handlung nur der Staatsanwaltſchaft desjenigen Gerichts zu, bei welchem nach den Vorſchriften der Strafprozeßordnung der Gerichtsſtand begründet iſt4)Motive S. 163 a. E. (Hahn S. 148.). Können ſich nun die Beamten der Staatsanwalt - ſchaft verſchiedener Bundesſtaaten nicht darüber einigen, wer von ihnen die Verfolgung zu übernehmen hat, ſo entſcheidet der107§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.ihnen gemeinſam vorgeſetzte Beamte der Staatsanwaltſchaft1)Ein ſolcher exiſtirt nur für die Gebiete, für welche Gerichtsgemeinſchaften beſtehen.; in Ermangelung eines ſolchen der Oberreichsanwalt2)Gerichtsverf. Geſ. §. 144 Abſ. 3..

VI. Nach dem Gerichtsverfaſſungs-Geſetz §. 151 iſt die Staatsanwaltſchaft in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten unabhängig und eine in ſich geſchloſſene und einheitlich geleitete Behörde; durch die Strafprozeß-Ordnung iſt jedoch dieſes Prinzip durchbrochen worden.

Es gilt für die Betreibung der Strafverfolgung Seitens der Staatsanwaltſchaft das ſogenannte Legalitätsprinzip; d. h. die Frage, ob eine Strafverfolgung eintreten ſoll oder nicht, iſt nicht nach Zweckmäßigkeitsrückſichten, politiſchen Erwägungen u. dgl. zu entſcheiden, ſondern die Staatsanwaltſchaft iſt verpflichtet, ſoweit nicht geſetzlich ein Anderes beſtimmt iſt, wegen aller ge - richtlich ſtrafbaren und verfolgbaren Handlungen einzuſchreiten , ſofern zureichende thatſächliche Anhaltspunkte vorliegen3)Strafproz. Ordn. §. 152 Abſ. 2.. In dieſer Geſetzesvorſchrift iſt ein ſtaatsrechtliches Prinzip erſten Ran - ges enthalten; es ſichert dem Einzelnen den Schutz der Strafge - ſetze, indem es die Gewährung deſſelben dem arbiträren Ermeſſen d. h. der Willkühr der Staatsanwaltſchaft entzieht. Allein immer - hin hat die Staatsanwaltſchaft im einzelnen Falle zu prüfen, ob nach dem ihr vorgelegten Material die zur Anzeige gebrachte Hand - lung als ſtrafbar und als gerichtlich verfolgbar zu erachten iſt und ob zureichende thatſächliche Anhaltspunkte zum Beweiſe der ſtrafbaren Handlung vorhanden ſind. Wenn die Prüfung dieſer Fragen einzig und allein der Staatsanwaltſchaft überlaſſen bleibt, ſo iſt die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß ſich hierbei andere Geſichtspunkte geltend machen als die durch die Gerechtigkeit ge - gebenen; denn der zuſtändige Beamte der Staatsanwaltſchaft hat ja nicht nach eigener und unabhängiger Ueberzeugung, ſondern nach den ihm ertheilten Befehlen der ihm vorgeſetzten Behörde zu han - deln; es könnte daher die Verſagung oder Gewährung des ſtraf - gerichtlichen Schutzes von Parteirückſichten oder von Rückſichten auf die amtliche oder ſociale Stellung des Beſchuldigten oder von irgend welchen anderen tendenziöſen Erwägungen abhängig gemacht108§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.werden1)Der Beamte der Staatsanwaltſchaft iſt nach Gerichtsverf. Geſ. §. 147. 148 verpflichtet, auch einem Befehl ſeines Vorgeſetzten reſp. der Juſtizverwal - tung, eine begründete Klage nicht zu erheben, Folge zu leiſten. Vgl. Löwe Anm. 8 zu §. 152 der Str. Pr. O. (S. 394. 2. Aufl.). Aus dieſem Grunde hat der Geſetzgeber einen Weg eröffnet, um die Frage, ob im concreten Falle die geſetzliche Pflicht der Staatsanwaltſchaft zum Einſchreiten begründet iſt oder nicht, von einer unabhängigen d. h. richterlichen Behörde ent - ſcheiden zu laſſen2)Vgl. Fuchs in Holtzendorff’s Handbuch I. S. 450 ff. Voitus Kom - mentar z. Strafproz. O. S. 211 ff. Löwe zu §. 152 Abſ. 2 u. beſ. zu §. 170. Schwarze Kommentar S. 313 ff.. Wenn die ſachlich zunächſt zuſtändige Staats - anwaltſchaft einem bei ihr angebrachten Antrage auf Erhebung der öffentlichen Klage keine Folge giebt oder nach dem Abſchluſſe der Ermittelungen die Einſtellung des Verfahrens verfügt, ſo hat ſie den Antragſteller unter Angabe der Gründe hiervon zu benach - richtigen3)Strafproz. O. §. 169.. Gegen dieſen Beſcheid ſteht dem Antragſteller, wofern er zugleich der Verletzte iſt4)Der Begriff des Verletzten iſt in der Strafproz. Ordn. nicht definirt und in der Literatur ſtreitig. Löwe a. a. O. S. 418 führt aus, daß als Verletzter Jeder anzuſehen iſt, in deſſen Rechtsſphäre die ſtrafbare Handlung unmittelbar oder mittelbar irgendwie eingegriffen hat oder im Falle der Vollendung eingegriffen haben würde. Ebenſo Schwarz a. a. O. S. 316. Dagegen faſſen den Begriff weſentlich enger Voitus S. 212 und Fuchs S. 453., nicht nur die Beſchwerde an den vorgeſetzten Beamten der Staatsanwaltſchaft zu, ſondern auch gegen den ablehnenden Beſcheid des letzteren binnen einem Monat nach der Bekanntmachung der Antrag auf gerichtliche Ent - ſcheidung5)Strafproz. O. §. 170 Abſ. 1. Um frivole oder unbegründete Anträge möglichſt zu verhüten, iſt vorgeſchrieben worden, daß der Antrag von einem Rechtsanwalt unterzeichnet ſein muß.. Zuſtändig zur Entſcheidung iſt in den vor das Reichsgericht gehörigen Sachen das Reichsgericht, in anderen Sa - chen das Oberlandesgericht6)a. a. O. §. 170 Abſ. 3.. Erachtet das Gericht den Antrag für begründet, ſo beſchließt es die Erhebung der öffentlichen Klage und die Staatsanwaltſchaft iſt alsdann zur Durchführung dieſes Beſchluſſes verpflichtet7)a. a. O. §. 173.. Hierdurch wird freilich ebenſowohl die109§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.Unabhängigkeit der Staatsanwaltſchaft von den Gerichten als die einheitliche Leitung der Staatsanwaltſchaft durch ihren Chef durch - brochen; der Beſchluß des Strafſenats des Oberlandesgerichts ent - hält einen für den Staatsanwalt maßgebenden Befehl. Allein es iſt nicht zu verkennen, daß die bloße Zuläſſigkeit des Antrages auf gerichtliche Entſcheidung an ſich ſchon als eine Schutzwehr gegen einen tendenziöſen Mißbrauch des ſogen. Anklage-Monopols der Staatsanwaltſchaft wirkt1)Freilich nur in denjenigen Fällen, in denen ein Verletzter vorhanden iſt; wo durch eine ſtrafbare Handlung lediglich die öffentliche Ordnung ver - letzt iſt, fehlt die rechtliche Garantie gegen eine parteiſche Handhabung des Anklagerechts aus politiſchen oder perſönlichen Motiven. Vgl. Geyer Lehrb. des Strafprozeßrechts (1880) S. 407 ff. und daß hierin die wichtigſte Bedeutung und der eigentliche Werth der Einrichtung zu ſehen iſt, nicht in der materiellen Entſcheidung der einzelnen Fälle, in denen der Verletzte von dieſem Recht Gebrauch macht.

§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft*)Rechtsanwaltsordnung v. 1. Juli 1878. R. G.Bl. S. 177. (Entwurf mit Motiven in den Druckſachen des Reichstages v. 1878 Nr. 5. Kommiſſionsbericht ebendaſ. Nr. 173 Verhandlungen des Reichs - tages v. 1878 Stenograph. Berichte Bd. I. S. 12 ff. Bd. II. S. 1237 ff. S. 1461 ff. Zu vergleichen ſind auch die Verhandlungen der Juſtiz-Kommiſſion des Reichstages über das Gerichtsverf. Geſ. S. 257 ff. 404 ff. 495 ff. 721 ff. Gebühren-Ordnung für Rechtsanwälte v. 7. Juli 1879. R. G.Bl. S. 176. (Entwurf in den Druckſachen des Reichstags v. 1879 Nr. 6. Ver - handlungen des Reichstages v. 1879 Stenogr. Berichte Bd. I. S. 17 ff. Bd. II. S. 894 ff. 1573. 1679.) Kommentare zur R.A.O. von Völk Nördlingen 1878, von Fr. Meyer Berlin 1879 (in Die Juſtizgeſetzgebung des Deutſchen Reichs von Sarwey und Thilo II. Abth. 1. Bd.) und von Sydow Berlin 1879. Vgl. auch En - demann Civilprozeß Bd. III. S. 553 ff. Kommentar zur Gebührenordnung von Fr. Meyer 1879 (a. a. O. II. Abth. 3. Bd.).

Die rechtliche Ordnung der Rechtsanwaltſchaft im Deutſchen Reiche iſt bisher vom Standpunkt des Staatsrechts aus noch nicht betrachtet worden und doch iſt ſie durch die bundesſtaatliche Ordnung des Gerichtsweſens, ja man kann faſt ſagen durch die ganze bundesſtaatliche Ordnung des Reiches beherrſcht und aus dieſem Grunde nicht ohne ſtaatsrechtliches Intereſſe. Es ſollen110§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.hier nur diejenigen Punkte hervorgehoben und erörtert werden, welche das öffentliche Recht betreffen; eine vollſtändige Dar - ſtellung der Rechtsanwalts-Ordnung gehört nicht in den Rahmen des Reichsſtaatsrechts; ebenſowenig das Verhältniß zwiſchen Rechtsanwalt und Partei.

Das ſtaatsrechtliche Intereſſe beruht auf dem engen Zuſam - menhange der Anwaltſchaftsordnung mit der Gerichtsverfaſſung und in Folge deſſen mit den ſtaatlichen Hoheitsrechten. In dieſer Beziehung hat nun aber die Organiſation der Rechtsanwaltſchaft einen höchſt eigenthümlichen Charakter, der ſich aus einer eigen - artigen Doppelſtellung des Rechtsanwalts herleitet. In dem Berufe des Rechtsanwalts ſind zwei Stellungen verbunden, die ſonſt ganz getrennt ſind, ja meiſtens unvereinbar ſcheinen, nämlich die Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes und der Betrieb eines Privatgewerbes; freilich decken ſich beide nicht vollkommen; das Geſchäft des Rechtsanwalts umfaßt auch Vieles Andere als die Ausübung öffentlich rechtlicher Functionen, aber immerhin bildet dieſe den wichtigſten Theil ſeines Gewerbes.

Wenn geſagt wird, der Rechtsanwalt bekleide ein öffentliches Amt, ſo muß daran erinnert werden, was oben Bd. I. S. 383 ff. bereits ausgeführt worden iſt, daß der Begriff des Amtes und der - jenige des Beamten keineswegs zuſammenfallen. Der Rechtsan - walt hat ein öffentliches Amt und er iſt doch kein Beamter1)Beides wird ausdrücklich beſtätigt im Strafgeſetzbuch §. 31. Abſ. 2. u §. 359. Siehe oben Bd. I. S. 384.; er verſieht ſein Amt nicht kraft einer Dienſtpflicht, ſondern er macht aus der Uebernahme des Amtes ein Gewerbe. Auch ſind die den Inhalt ſeiner Amtsthätigkeit bildenden Geſchäfte nicht Staatsgeſchäfte im ſtricten Sinne; ſie gehören nicht zur Verwal - tung der ſtaatlichen Herrſchaftsrechte, zur unmittelbaren Verwirk - lichung der ſtaatlichen Aufgaben; der Rechtsanwalt hat überhaupt nicht Geſchäfte des Staates als eines individuellen Rechtsſubjects wahrzunehmen, wol aber Geſchäfte, die in der objectiven Rechts - ordnung des Staats als nothwendig zur Durchführung der ſtaat - lichen Aufgaben vorausgeſetzt und begründet ſind. Die Prozeß - ordnungen des Reiches ſetzen nämlich die Theilnahme von Rechts - anwälten an der Führung der Prozeſſe voraus. Die Civilprozeß -111§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.Ordn. hat im §. 74 die unbedingte und ausdrückliche Vorſchrift aufgeſtellt, daß die Parteien vor den Landgerichten und vor allen Gerichten höherer Inſtanz ſich durch einen bei dem Prozeßgerichte zugelaſſenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten vertreten laſſen müſſen; und die Strafproz. Ordn. hat die Form des contradictori - ſchen Anklage-Verfahrens durchgeführt, ſie geſtattet ausnahmslos dem Beſchuldigten, ſich in jeder Lage des Verfahrens eines Ver - theidigers zu bedienen, ſie erklärt für gewiſſe Sachen die Beſtellung eines Vertheidigers für nothwendig und ſie geht von der Annahme aus, daß in der Regel Rechtsanwälte zu Vertheidigern gewählt oder beſtellt werden1)Strafproz. Ordn. §. 138. 144.. Daß bei den Gerichten Rechtsanwälte zugelaſſen ſind, daß überhaupt Perſonen vorhanden ſind, welche als rechtsverſtändige Prozeßbevollmächtigte, Anwälte und Verthei - diger ſich mit der Vertretung der Parteien und der Wahrnehmung ihrer rechtlichen Intereſſen befaſſen, wird in den Prozeßordnungen als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Nur unter dieſer Annahme ſind die Vorſchriften der Prozeßordnungen durchführbar, die ſtaat - liche Aufgabe der Handhabung des Rechtsſchutzes ſoll und kann nach Maßgabe des beſtehenden Rechts nur unter Mitwirkung von Rechtsanwälten realiſirt werden. Die berufsmäßige Thätigkeit der Rechtsanwälte iſt demnach für den Staat nothwendig; ſie iſt ein durch die ſtaatliche Rechtsordnung ſelbſt erforderter Faktor der Rechtspflege und man kann daher die Rechtsanwaltſchaft in der - ſelben Weiſe wie die Staatsanwaltſchaft als eine Inſtitution an - ſehen, welche einen Beſtandtheil der Gerichtsverfaſſung im weiteren Sinne bildet. Zwar läßt ſich von faſt allen Berufsarten und Ge - werben ſagen, daß ſie für die gedeihliche Entwicklung und das Beſtehen des Staates nothwendig oder nützlich ſind, aber während die übrigen Gewerbe wirthſchaftlichen oder geſellſchaftlichen Bedürf - niſſen dienen, hat der Rechtsanwalt ſein Arbeitsfeld auf einem Gebiet, das ganz eigentlich zur Entfaltung der weſentlichſten Staats - thätigkeit dient; er iſt ein Mitarbeiter an der Rechtspflege. In dieſem Sinne ſind die Berufsgeſchäfte des Rechtsanwalts als ein öffentliches Amt zu bezeichnen. Hieraus ergeben ſich aber zahlreiche Conſequenzen. Der Staat, welcher die Function des Rechtsanwalts dem Syſtem ſeines Gerichtsweſens einverleibt, muß112§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.auch die Garantien dafür haben, daß dieſe Thätigkeit den von ihm geſtellten Anforderungen entſpreche. Er muß daher die Be - dingungen normiren, unter welchen er Jemanden zur Rechtsanwalt - ſchaft zuläßt, er muß über die Amtsführung der Rechtsanwälte eine gewiſſe Aufſicht führen, eine Disciplinargewalt organiſiren, unter gewiſſen Vorausſetzungen auch die Entfernung aus dem Amte ermöglichen; er kann ferner den Rechtsanwälten gewiſſe ſpezielle Amtspflichten auferlegen. Ja es kann dieſer Geſichtspunkt ſo weit feſtgehalten werden, daß die Rechtsanwälte geradezu wie Staats - beamte behandelt, von der Regierung für beſtimmte Stellen er - nannt, verſetzt, entlaſſen werden u. ſ. w. und daß ſie von anderen Staatsbeamten ſich hauptſächlich nur dadurch unterſcheiden, daß ſie nicht einen feſten Gehalt beziehen, ſondern auf die für ihre Amtsverrichtungen zu erhebenden Gebühren angewieſen ſind. Das war im Weſentlichen der Standpunkt des früheren Preußiſchen Rechts.

Andererſeits kann man davon ausgehen, daß wenngleich die Thätigkeit der Rechtsanwaltſchaft im Ganzen einen integrirenden Beſtandtheil der öffentlichen Rechtspflege bildet, doch im einzelnen Falle die Arbeit des Rechtsanwalts im Intereſſe der Privatper - ſonen gegen Entgeld in Anſpruch genommen wird und daß ſie nicht Staatsgeſchäfte im eigentlichen Sinn verſehen, ſondern für eigene Rechnung ihren Kunden Dienſte leiſten. Von dieſem Ge - ſichtspunkte aus erſcheint die Praxis des Rechtsanwalts als eine gewerbliche Thätigkeit, bei welcher der Staat nicht direct intereſſirt iſt, ſondern für welche er nur die Bedingungen des Betriebes normirt. Von dieſer Grundlage aus gelangt man zu dem ſoge - nannten Syſtem der freien Advokatur und die Rechtsanwalts-Ord - nung iſt alsdann lediglich ein beſonderer Theil der Gewerbe - Ordnung.

Würde nun die Reichsgeſetzgebung eines dieſer beiden Sy - ſteme angenommen und conſequent durchgeführt haben, ſo würden keinerlei ſtaatsrechtliche Schwierigkeiten entſtanden ſein und die Rechtsanwalts-Ordnung keinen Anlaß zu ſtaatsrechtlichen Erörte - rungen darbieten. Falls man die Rechtsanwälte als Beamte vel quasi behandelt hätte, ſo würde jeder Landesherr für ſeine Ge - richte und der Kaiſer für das Reichsgericht die erforderliche An - zahl von Rechtsanwälten zu ernennen haben; die amtliche Thätigkeit113§. 108. Die Rechtsanwaltſchaft.derſelben wäre auf die Gränzen des betreffenden Staatsgebietes reſp. auf die Zuſtändigkeit des betreffenden Gerichts beſchränkt; man hätte es den Einzelſtaaten überlaſſen können, die Geſchäfts - und Dienſtverhältniſſe ihrer Rechtsanwälte zu regeln. Von dieſer Anſchauung gingen die Bundesregierungen bei dem erſten Entwurf des Gerichtsverf. Geſetzes aus, welcher gar keine Beſtimmungen über die Rechtsanwaltſchaft enthielt1)Die jetzt geltende Rechtsanwalts-Ordnung hat ihren erſten Urſprung in Anträgen, welche in der Reichstags-Kommiſſion bei Berathung des Gerichts - verfaſſungsgeſetzes geſtellt worden ſind. Vgl. Protok. I. Leſ. S. 257 bis 317. (Hahn S. 509 ff.).

Würde man andererſeits das Syſtem der freien Advokatur eingeführt haben, ſo hätte in nothwendiger Conſequenz des Art. 3 der Reichsverf. und der allgemeinen Prinzipien der Gewerbe-Ord - nung das Reich nur die Bedingungen für die Zulaſſung zu dieſem Gewerbebetriebe zn regeln gehabt, im Uebrigen wäre die Aus - übung deſſelben im ganzen Bundesgebiete frei und jeder Beſchränk - ung durch die Einzelſtaaten entzogen geweſen, etwa wie der Ge - werbebetrieb der Aerzte oder der Seeſchiffer.

Die Reichsgeſetzgebung hat aber einen Mittelweg eingeſchlagen; ſie hat die Rechtsanwaltſchaft in einer Weiſe geordnet, die äußerſt complizirt iſt, weil ſie zum Theil den Amtscharakter der Rechts - anwaltſchaft und die demſelben entſprechenden Hoheitsrechte der Einzelſtaaten, zum Theil die Freiheit des Gewerbebetriebes zur Grundlage genommen hat. Die Ausübung der Rechtsanwaltſchaft iſt freigegeben, aber doch zugleich an die ſtaatliche Zulaſſung geknüpft; ſie erſtreckt ſich auf das ganze Reich und iſt doch zugleich lokali - ſirt; der Rechtsanwalt hat amtliche Obliegenheiten, die er unter gewiſſen Umſtänden auch wider ſeinen Willen erfüllen muß, er iſt einer Disciplinargewalt unterworfen, aber er hat andererſeits keinen ſtaatlichen Vorgeſetzten und keine Beamtendienſtpflichten; die Rechtsan - waltsordnung iſt ebenſowohl eine Ergänzung des Gerichtsverfaſſungs - geſetzes als der Gewerbeordnung. Für das Reichsſtaatsrecht aber iſt es namentlich von Wichtigkeit die Gränzlinie feſtzuſtellen, inner - halb deren den Einzelſtaaten noch die Bethätigung von Hoheits - rechten und die Durchführung eines eigenen ſtaatlichen Willens verblieben iſt; von einer Souveränetät der Einzelſtaaten iſt auchLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 8114§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.hier ſo wenig wie auf anderen Gebieten des ſtaatlichen Lebens etwas wahrzunehmen.

I. Zulaſſung zur Rechtsanwaltſchaft.

1. Der oberſte Grundſatz iſt der, daß Niemand Rechtsanwalt werden kann, ohne daß er von der Landes juſtizverwaltung (be - ziehentl. beim Reichsgericht vom Präſidium deſſelben) zugelaſſen worden iſt1)R.A.O. §. 3. 99., daß die Zulaſſung aber nicht vom freien Belieben der Landesjuſtizverwaltung abhängig iſt, ſondern daß die Ent - ſcheidung über die Zulaſſung nach den vom Reich erlaſſenen Vor - ſchriften getroffen werden muß. In dieſem Satze findet ein im ge - genwärtigen Deutſchen Reichsrecht häufig wiederkehrendes Prinzip eine neue Anwendung: die formale Ausübung der Hoheitsrechte geht im einzelnen Falle von der Einzelſtaatsgewalt aus, die ma - terielle Regelung aber, wie das Hoheitsrecht zu handhaben iſt, wird vom Reich gegeben; der Einzelſtaat bringt dem Unterthanen gegenüber ſeinen Willen zur Geltung, er empfängt aber vom Reich den Befehl, was er wollen muß und wie er den Willen zu erklären hat. So wie den Einzelſtaaten die ſogenannte Juſtiz - hoheit verblieben iſt, aber Gerichtsverfaſſung und Prozeßordnungen, alſo der Inbegriff der Rechtsnormen über die Ausübung der Ju - ſtizhoheit, vom Reich ihnen vorgeſchrieben ſind, ſo kömmt ihre Ju - ſtizhoheit (Staatsgewalt) auch zur Anerkennung, indem ſie den Rechtsanwälten die Zulaſſung ertheilen oder verſagen, aber ihr Wille iſt hierbei kein freier, ſondern ein vom Reich gebundener.

2. Befähigt zur Rechtsanwaltſchaft iſt nur derjenige, wel - cher die Fähigkeit zum Richteramt erlangt hat2)R.A.O. §. 1. Uebergangsbeſtimmungen ebendaſ. §. 108.; in Er - mangelung dieſer Vorausſetzung darf die Zulaſſung nicht ertheilt werden. Die Bedingungen für die Befähigung zum Richteramt ſind nun aber vom Reich nicht ausreichend geregelt, indem es an Vorſchriften und Kontrolen hinſichtlich der beiden juriſtiſchen Prü - fungen fehlt; in Folge deſſen iſt keine Landesjuſtizverwaltung ge - halten, die in einem anderen Staate beſtandenen Prüfungen an - zuerkennen3)Gerichtsverf. Geſ. §. 2. Siehe unten §. 104. II. , ſie ſoll aber auch andererſeits hieran nicht durch115§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.Landesgeſetz gehindert werden. Hieraus ergiebt ſich für die Zu - laſſung zur Rechtsanwaltſchaft ganz daſſelbe Reſultat, wie für die Anſtellung in einem Richteramt; die Juſtizverwaltung jedes Staates kann den in einem anderen Bundesſtaate beſtandenen juriſt. Prü - fungen Wirkſamkeit zuerkennen oder verſagen.

3. Berechtigt die Zulaſſung zur Rechtsanwaltſchaft zu ver - langen iſt Jeder in demjenigen Staate, in welchem er die zum Richteramte befähigende Prüfung beſtanden hat, und ſein Antrag darf nur aus den in der Rechtsanwaltsordnung bezeichneten Grün - den abgelehnt werden1)R.A.O. §. 4. Bei einem mehreren Bundesſtaaten gemeinſamen Gerichte muß Jeder zugelaſſen werden, der in einem dieſer Staaten die Fähigkeit zum Richteramte erlangt hat.. Dieſe Gründe zerfallen in zwei Kate - gorien; die einen ſind ſolche, wegen deren die Zulaſſung abge - lehnt werden muß2)ebendaſ. §. 5., die anderen ſolche, wegen deren ſie verſagt werden kann3)ebendaſ. §. 6.; die erſteren, denen praktiſch die größere Be - deutung zukömmt, betreffen den Mangel der Ehrenhaftigkeit und Unbeſcholtenheit, den Betrieb einer mit dem Beruf oder der Würde eines Rechtsanwalts nicht vereinbaren Beſchäftigung, kör - perliche Gebrechen oder Schwäche der geiſtigen und körperlichen Kräfte u. dgl .4)Ueber die einzelnen Beſtimmungen, deren nähere Erörterung kein ſtaatsrechtliches Intereſſe hat, vgl. die Kommentare zur R.A.O. von Völk S. 26 ff. und von Meyer S. 17 ff.. Soweit bei der Beurtheilung dieſer Abwei - ſungsgründe ein diskretionäres Ermeſſen Platz finden kann, iſt überdies der Landesjuſtizverwaltung die ſelbſtſtändige Entſchei - dung entzogen; ſie iſt an das Gutachten des Vorſtandes der An - waltskammer gebunden5)R.A.O. §. 5 Ziff. 4. 5. 6. Wird die Zulaſſung verſagt, ſo iſt auf Verlangen des Antragſtellers über den Grund der Verſagung im ehrengericht - lichen Verfahren zu entſcheiden. Vgl. §. 16 ebendaſ. und ſie hat in allen Fällen vor der Entſcheidung dieſes Gutachten einzuholen6)ebendaſ. §. 3. Abſ. 2.. Durch dieſe Beſtim - mungen iſt allerdings die Rechtsanwaltſchaft de facto für Alle, welche die juriſtiſchen Prüfungen beſtanden haben und vollkommen an Recht, Ehre und Geſundheit ſind, innerhalb des Staates, in welchem die Prüfung abgelegt worden iſt, freigegeben; die8*116§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.Zulaſſung iſt nichts weiter als eine formale Anerkennung, daß kein Ausſchließungsgrund vorliegt1)Unter den 3 fakultativen Verſagungsgründen des §. 6 modifizirt nur der erſte dieſes Prinzip. Er geſtattet den Landesjuſtizverwaltungen, die Zu - laſſung zu verſagen, wenn der Antragſteller, nachdem er die Fähigkeit zur Rechtsanwaltſchaft erlangt hatte, während eines Zeitraums von drei Jahren weder als Rechtsanwalt zugelaſſen iſt, noch ein Reichs -, Staats - oder Gemeinde - amt bekleidet hat, noch im Juſtizdienſt oder als Lehrer des Rechts an einer Deutſchen Univerſität thätig geweſen iſt. Hierdurch iſt denjenigen Perſonen, welche zwar die juriſt. Prüfungen beſtanden haben, ſpäter aber längere Zeit hindurch von einer mit der Berufsthätigkeit des Rechtsanwalts in innerem Zuſammenhange ſtehenden Beſchäftigung ſich ferngehalten haben, zwar nicht die Fähigkeit, wol aber der Rechts-Anſpruch auf Zulaſſung verſagt worden..

4. Die Zulaſſung iſt lokaliſirt d. h. ſie erfolgt bei einem beſtimmten Gerichte2)R.A.O. §. 8.. In gewiſſen geſetzlich beſtimmten Fällen iſt der bei einem Gerichte zugelaſſene Anwalt auch bei einem an - dern, an dem Orte ſeines Wohnſitzes befindlichen Kollegialgericht oder bei dem Oberlandesgericht oder auch ſelbſt bei einem benach - barten Landgericht zuzulaſſen; die Entſcheidung darüber iſt nicht der Landesjuſtizverwaltung anheimgegeben, ſondern von dem Gut - achten des Oberlandesgerichts abhängig gemacht3)R.A.O. §. 9. 10. 12.. Hierbei iſt nicht das Intereſſe des Antragſtellers, ſondern dasjenige der Rechts - pflege Ausſchlag gebend und daher das Gutachten darauf zu rich - ten, ob die Zulaſſung dem Intereſſe der Rechtspflege förderlich ſei. Der freien Entſchließung der Landesjuſtizverwaltung iſt es jedoch anheimgegeben, Rechtsanwälte, welche an einem Landgericht zugelaſſen ſind, deſſen Bezirk einem gemeinſchaftlichen Ober - landesgericht unterſtellt iſt, bei dem letzteren zuzulaſſen, auch wenn daſſelbe an einem andern Orte ſeinen Sitz hat4)R.A.O. §. 11. Vgl. über einen ähnlichen Fall (in Heſſen) §. 114 daſ.. Wer in einem Staate zur Zulaſſung berechtigt iſt, hat unter ſämmtlichen Gerichten dieſes Staates die freie Auswahl; nur wenn an einem Gerichte ein Richter angeſtellt iſt, welcher mit dem Antragſteller verwandt oder verſchwägert iſt, kann die Zulaſſung an dieſem Gerichte ver - ſagt werden5)R.A.O. §. 14.. Dagegen iſt die Landesjuſtizverwaltung nicht be - fugt, die Zahl der Rechtsanwaltsſtellen bei den einzelnen Gerichten117§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.des Landes zu fixiren oder den Antrag auf Zulaſſung wegen man - gelnden Bedürfniſſes zurückzuweiſen1)R.A.O. §. 13.. Demgemäß kann ein Rechts - anwalt auch nach freiem Belieben das Gericht, bei dem er zuge - laſſen iſt, mit einem andern Gericht deſſelben Staates vertauſchen und dort die Zulaſſung begehren, welche ihm nur verſagt werden kann, wenn gegen ihn eine Klage im ehrengerichtlichen Verfahren erhoben iſt oder gegen ihn innerhalb der letzten zwei Jahre im ehrengerichtlichen Verfahren auf Verweis oder auf Geldſtrafe von mehr als 150 Mark erkannt worden iſt2)R.A.O. §. 15.. Unter dieſen Be - ſchränkungen iſt daher die Freizügigkeit der Rechtsanwälte anerkannt.

Die Zulaſſung bei dem Reichsgericht erfolgt durch das Präſidium des Reichsgerichts 3)Siehe oben S. 95., welches nach freiem Ermeſſen entſcheidet4)R.A.O. §. 99. Nur kann es Niemanden zulaſſen, dem die Befähigung zum Richteramt mangelt oder ein geſetzlicher Ausſchließungsgrund (§. 5) ent - gegenſteht.. Die Zulaſſung zur Rechtsanwaltſchaft bei dem Reichs - gericht iſt mit der Zulaſſung bei einem andern Gericht unver - einbar5)R.A.O. §. 100 Abſ. 1..

5. Nach der erſten Zulaſſung wird der Rechtsanwalt in öffent - licher Sitzung des Gerichts auf die gewiſſenhafte Erfüllung ſeiner Pflichten vereidigt6)R.A.O. §. 17.. Bei jedem Gericht iſt eine Liſte der bei demſelben zugelaſſenen und vereidigten Rechtsanwälte zu führen; erſt mit der Eintragung beginnt die Befugniß zur Aus - übung der Rechtsanwaltſchaft7)R.A.O. §. 20.. Stirbt der Rechtsanwalt oder giebt er die Zulaſſung auf oder wird dieſelbe zurückgenommen (ſiehe unten) oder verliert er durch Urtheil die Fähigkeit zur Aus - übung der Rechtsanwaltſchaft, ſo iſt die Eintragung in der Liſte zu löſchen8)R.A.O. §. 24.. Eintragungen und Löſchungen ſind von dem Gericht durch den Reichsanzeiger bekannt zu machen.

118§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.

II. Rechte und Pflichten der Rechtsanwälte.

1. Befugniß zum Gewerbebetrieb. Es ſind in dieſer Beziehung drei Kategorien von Rechtsſachen zu unter - ſcheiden:

a) Inſoweit eine Vertretung durch Anwälte geboten iſt, (Ci - vilproz. Ordn. §. 74; im ſogen. Anwaltsprozeß), kann nur ein bei dem Prozeßgerichte zugelaſſener Rechtsanwalt die Vertretung als Prozeßbevollmächtigter übernehmen; jedoch iſt jeder Rechtsanwalt befugt in der mündlichen Verhand - lung die Ausführung der Parteirechte und falls ihm der bei dem Prozeßgericht zum Prozeßbevollmächtigten beſtellte Rechtsanwalt die Vertretung überträgt, auch dieſe zu übernehmen1)R.A.O. §. 27. Nur die bei dem Reichsgericht zugelaſſenen Rechtsan - wälte dürfen bei keinem anderen Gerichte auftreten und von einem bei dem Reichsgericht nicht zugelaſſenen Rechtsanwalt nicht vertreten werden. R.A.O. §. 100 Abſ. 2. §. 101..

b) In denjenigen Sachen, auf welche die Strafprozeßordnung, die Civilproz. Ordnung und die Konkursordnung Anwendung finden, iſt jeder Rechtsanwalt auf Grund der Zulaſſung bei einem Gericht befugt, vor jedem Gericht innerhalb des Reichs Ver - theidigungen zu führen, als Beiſtand aufzutreten und ſoweit eine Vertretung durch Anwälte nicht geboten iſt (vor den Amtsgerichten), die Vertretung zu übernehmen2)R.A.O. §. 26. Ausgenommen die Rechtsanwälte am Reichsgericht.. Durch dieſe Beſtimmung ſind demnach die territorialen Gränzen der Juſtizhoheit beſeitigt; ſoweit im ganzen Reich ein einheitliches Verfahren, eine einheitliche Ge - richtsverfaſſung, und eine gemeinverbindliche Rechtskraft der gericht - lichen Urtheile beſteht, ſoweit wirkt auch die von einem Staate ertheilte Zulaſſung als Rechtsanwalt auf das ganze Bundesgebiet. Die ſogen. Lokaliſirung der Rechtsanwälte ſchließt nicht den Ge - werbebetrieb derſelben im ganzen Bundesgebiet aus; ſie wirkt nur hinſichtlich der Vertretung im Anwaltsprozeß3)Nur hat die Partei keinen Anſpruch auf Erſatz der Mehrkoſten, welche durch die Zuziehung eines nicht am Sitz des Prozeßgerichts wohnhaften Anwaltes entſtehen. R.A.O. §. 18 Abſ. 5. Vgl. Civilproz. Ordn. §. 87 Abſ. 2..

c) In denjenigen Sachen, in welchen die drei Reichsprozeß - geſetze nicht zur Anwendung kommen, gleichviel ob ſie vor den119§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.ordentlichen Gerichten oder vor beſonderen Gerichten verhandelt werden, beſtimmt ſich die Befugniß zur Ausübung der Rechts - anwaltſchaft ausſchließlich nach den Vorſchriften der Landesgeſetze. Die Autonomie, welche den Einzelſtaaten hinſichtlich der nicht zur ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit gehörenden Sachen verblieben iſt, erſtreckt ſich conſequenter Weiſe auch auf die Rechtsanwaltſchaft.

2. Pflicht zur Uebernahme von Aufträgen. Im Allgemeinen beſteht für den Rechtsanwalt keine Verpflichtung, Auf - träge, durch welche ſeine Berufsthätigkeit in Anſpruch genommen wird, anzunehmen; ſein eigenes Erwerbs-Intereſſe erſcheint als eine genügende Garantie, um ſeine Dienſtleiſtungen dem Publikum, welches dieſelben wünſcht, zu ſichern. Es iſt im Gegentheil dem Rechtsanwalt zur Pflicht gemacht, ſeine Berufsthätigkeit zu ver - ſagen, wenn ſie für eine pflichtwidrige Handlung in Anſpruch ge - nommen wird, wenn er in derſelben Sache bereits einer andern Partei im entgegengeſetzten Intereſſe gedient hat und wenn er in derſelben Angelegenheit bereits als Richter thätig geweſen iſt1)R.A.O. §. 31.. Dem Rechtsanwalt iſt nur die Pflicht auferlegt, denjenigen, der ſeine Dienſte beanſprucht, nicht darüber im Ungewiſſen zu laſſen, daß er ſie ihm nicht gewähren wolle; er muß ihm die Ablehnung des Antrages ohne Verzug anzeigen, widrigenfalls er den durch die Verzögerung erwachſenen Schaden erſetzen muß2)R.A.O. §. 30..

Allein da die Thätigkeit eines Rechtsanwalts im Prozeß theils durch Geſetz erfordert wird theils durch die Beſchaffenheit unſeres materiellen und Prozeß-Rechts factiſch vielfach unentbehrlich iſt, ſo muß eine Abhülfe gegen die Gefahr gegeben ſein, daß eine Partei außer Stande iſt, die Dienſte eines Rechtsanwalts zu finden. In dieſem Sinne liegt dem Rechtsanwalt im Gegenſatz zu dem ge - wöhnlichen Privatgewerbetreibenden eine öffentliche Dienſt - pflicht ob, zu deren Erfüllung er Seitens des Staates angehalten werden kann.

Es geſchieht dies in der Art, daß das Prozeßgericht einer Partei auf Antrag einen Rechtsanwalt zur Wahrnehmung ihrer Rechte beiordnet; die Auswahl deſſelben erfolgt durch den Vor - ſitzenden des Gerichts aus der Zahl der bei dieſem zugelaſſenen120§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.Rechtsanwälte1)R.A.O. §. 36. Gegen die Verfügung ſteht der Partei und dem Rechts - anwalt die Beſchwerde nach Maßgabe der Civilproz. Ordn. §. 530 ff. zu.. Eine Beiordnung erfolgt im Civilprozeß in denjenigen Sachen, in welchen eine Vertretung durch Anwälte ge - boten iſt, wenn der Partei das Armenrecht bewilligt worden iſt2)Civilproz. Ordn. §. 106 ff. Auch in ſolchen Fällen, in denen eine Ver - tretung durch Anwälte nicht geboten iſt, R.A.O. §. 34. oder wenn ſie einen zu ihrer Vertretung geneigten Anwalt nicht findet und die Rechtsverfolgung oder Rechtsvertheidigung nicht muthwillig oder ausſichtslos erſcheint3)R.A.O. §. 33; jedoch kann der Rechtsanwalt einen Gebühren-Vorſchuß verlangen. §. 38., und in Entmündigungs - ſachen4)Civilproz. Ordn. §§. 609. 620 Abſ. 3. 626 Abſ. 2.. Im Strafprozeß kann das Gericht auf Antrag oder von Amtswegen einen Rechtsanwalt zum Vertheidiger beſtellen5)Strafproz. Ordn. §. 141. 144. R.A.O. §. 39..

Außerdem haben die Rechtsanwälte die geſetzliche Verpflich - tung, den im Vorbereitungsdienſte bei ihnen beſchäftigten Referen - daren Anleitung und Gelegenheit zu praktiſchen Arbeiten zu geben6)R.A.O. §. 40..

3. Reſidenzpflicht. Der Rechtsanwalt muß an dem Orte des Gerichts, bei welchem er zugelaſſen iſt, ſeinen Wohnſitz nehmen7)R.A.O. §. 18. Daſelbſt ſind auch für die Fälle, in denen ein Rechts - anwalt bei mehreren Gerichten zugelaſſen iſt, Vorſchriften über den Wohnſitz gegeben., und falls er auch bei einem andern Gericht zugelaſſen iſt, muß er einen an dem Ort deſſelben wohnhaften ſtändigen Zu - ſtellungsbevollmächtigten beſtellen8)R.A.O. §. 19 Abſ. 1.. Wenn der Rechtsanwalt ſeinen Wohnſitz binnen drei Monaten ſeit Mittheilung des die Zulaſſung ausſprechenden Beſcheides nicht genommen hat oder ſeinen Wohn - ſitz aufgiebt, muß die Zulaſſung deſſelben zurückgenommen werden; iſt der Rechtsanwalt bei einem Gericht, an deſſen Ort er nicht wohnhaft iſt, zugelaſſen worden, ſo iſt die Zulaſſung bei dieſem Gericht zurückzunehmen, wenn er einen Monat lang verſäumt hat, einen dort wohnhaften Zuſtellungsbevollmächtigten zu ernennen9)R.A.O. §. 21.. Wenn der Rechtsanwalt ſich über eine Woche hinaus von ſeinem121§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.Wohnſitze entfernen will, muß er für ſeine Stellvertretung ſorgen1)Ueber die Beſtellung des Stellvertreters ſiehe R.A.O. §. 25. und dem Vorſitzenden des Gerichts, bei welchem er zugelaſſen iſt, ſowie dem Amtsgericht, in deſſen Bezirk er ſeinen Wohnſitz hat, Anzeige machen und den Stellvertreter benennen2)R.A.O. §. 29..

4. Der Rechtsanwalt iſt endlich in derſelben Art wie der Staatsbeamte zu einem achtungswürdigen Verhalten in Ausübung ſeines Berufes ſowie außerhalb deſſelben verpflichtet3)R.A.O. §. 28..

III. Anwaltskammern.

Die innerhalb des Bezirks eines Oberlandesgerichts zuge - laſſenen Rechtsanwälte, ſowie die bei dem Reichsgerichte zugelaſſenen Rechtsanwälte ſind zu gewerblichen Innungen vereinigt, welche die Bezeichnung Anwaltskammern führen4)R.A.O. §. 41 Abſ. 1. §. 102 Abſ. 1. Die bei dem Oberſten Landes - gericht in München zugelaſſenen Rechtsanwälte gehören zur Kammer des Ober - landesgerichts-Bezirks. §. 105.. Die Zuge - hörigkeit zur Anwaltskammer tritt für alle Rechtsanwälte des Be - zirks von Rechtswegen ein. Die Kammer iſt vermögensfähig5)R.A.O. §. 49 Ziff. 5., hat einen Vorſtand, deſſen Mitglieder durch Wahl beſtimmt wer - den6)ebenda §. 42 ff., ſie hält Verſammlungen ab7)ebenda §. 52 ff.; ſie kann die Geſchäftsord - nung für ſich und den Vorſtand feſtſtellen8)§. 48 Ziff. 1. und den Mitgliedern Beiträge zur Beſtreitung des für die gemeinſchaftlichen Angelegen - heiten erforderlichen Aufwandes auferlegen9)§. 48 Ziff. 2.. Die Kammer hat ihren Sitz am Orte des Oberlandesgerichts10)§. 41 Abſ. 2. und der Präſident des letzteren hat die Aufſicht über den Geſchäftsbetrieb des Vor - ſtandes zu führen und über Beſchwerden, welche denſelben betreffen, zu entſcheiden11)§. 59. Das Oberlandesgericht (nicht der Präſident) kann geſetzwidrige Beſchlüſſe oder Wahlen der Kammer oder des Vorſtandes aufheben. Für die Rechtsänwälte am Reichsgericht tritt das letztere an die Stelle des Ober - landesgerichts. §. 98..

122§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.

Der Vorſtand hat die Disciplinar-Strafgewalt über die Mit - glieder zu handhaben, auf Antrag Streitigkeiten unter den Mit - gliedern der Kammer oder zwiſchen einem Mitgliede und deſſen Auftraggeber zu vermitteln, Gutachten auf Erfordern der Landes - juſtizverwaltung oder der Gerichte zu erſtatten und das Vermögen der Kammer zu verwalten1)a. a. O. §. 49.. Sowohl der Vorſtand als auch die Kammer ſind berechtigt, Vorſtellungen und Anträge, welche das Intereſſe der Rechtspflege oder der Rechtsanwaltſchaft betreffen, an die Landesjuſtizverwaltung zu richten2)a. a. O. §. 50.. Der Anwaltskammer bei dem Reichsgericht ſteht dieſelbe Befugniß gegenüber dem Reichs - kanzler zu3)ebenda §. 98.. Die Geſchäfte des Vorſtandes werden unentgeldlich geführt4)ebenda §. 51.; die Wahl zum Mitgliede darf nur derjenige ablehnen, der das 65. Lebensjahr vollendet hat, und wer die letzten vier Jahre Mitglied des Vorſtandes geweſen iſt, für die nächſten vier Jahre5)ebenda §. 45.. Der Vorſitzende hat jährlich der Landesjuſtizverwaltung und dem Oberlandesgericht einen ſchriftlichen Bericht über die Thätigkeit der Kammer und des Vorſtandes zu erſtatten6)ebend. §. 61. Hinſichtlich des Reichsgerichts vgl. §. 98..

IV. Disciplinar-Strafgewalt.

Die Rechtsanwälte ſind in Hinſicht auf die Verletzung der ihnen obliegenden Berufspflichten einer Disciplinargewalt unter - worfen, welche ſich in ihrem Begriff und Weſen von der Discipli - nargewalt über Beamte in Nichts unterſcheidet7)Vgl. Bd. I. S. 447 ff.. Die Hand - habung derſelben iſt den Vorſtänden der Anwaltskammern über - tragen, wie ja auch bei andern Gewerbetreibenden die Innungs - vorſtände eine, bisweilen weitreichende Disciplinargewalt haben; nur iſt freilich bei der Ausübung der Disciplinargewalt über Rechts - anwälte der Staat in höherem Grade intereſſirt als bei anderen Gewerben. Durch das Reichsgeſetz iſt daher nicht nur die Hand - habung der Disciplinargewalt über Rechtsanwälte bis in das Ein - zelne geregelt, ſondern es iſt auch eine Mitwirkung der Staats -123§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.behörden (Gerichte und Staatsanwaltſchaft) gewährt und den Ur - theilen der Disciplinar-Spruchbehörden formelle Rechtskraft (Voll - ſtreckbarkeit) beigelegt worden. Im Einzelnen gelten folgende Rechtsſätze:

1. Die Disciplinarſtrafen ſind die gewöhnlichen, nämlich Warnung, Verweis, Geldſtrafe (bis zu 3000 Mark) und an Stelle der Entfernung aus dem Staatsdienſt Ausſchließung von der Rechtsanwaltſchaft1)R.A.O. §. 63. Vgl. Bd. I. S. 453.. Jede Handlung oder Unterlaſſung, welche eine Pflichtverletzung darſtellt, kann das disciplinariſche Ein - ſchreiten begründen, ohne Rückſicht darauf ob auch ein öffentliches Strafverfahren wegen deſſelben Thatbeſtandes eintritt oder nicht; jedoch iſt während der Dauer des öffentlichen Strafverfahrens das Disciplinarverfahren unſtatthaft2)R.A.O. §. 65. Hier werden dieſelben Grundſätze wiederholt, welche das Reichsbeamtengeſetz §. 77. 78 aufgeſtellt hat. Vgl. Bd. I. S. 455 ff.. Eine Verletzung der dem Rechts - anwalt obliegenden Pflichten kann aber erſt verübt werden, nach - dem dieſe Pflichten begründet ſind, d. h. nach der Zulaſſung; deshalb iſt im Allgemeinen ein disciplinariſches Vorgehen wegen Handlungen, welche ein Rechtsanwalt vor ſeiner Zulaſſung be - gangen hat, unſtatthaft; ausgenommen ſind nur ſolche Handlungen, welche die Ausſchließung von der Rechtsanwaltſchaft begründen3)R.A.O. §. 64..

2. Als Disciplinarbehörde erſter Inſtanz fungirt der Vorſtand derjenigen Kammer, welcher der Angeſchuldigte zur Zeit der Erhebung der Klage angehört. Der Vorſtand übt dieſe Funktion aus unter der Bezeichnung als Ehrengericht und in der Beſetzung von fünf Mitgliedern4)a. a. O. §. 67; nämlich dem Vorſitzenden, ſeinem Stellvertreter und drei vom Vorſtande gewählten Mitgliedern, für welche zugleich Stellvertreter in beſtimmter Reihenfolge bezeichnet werden.. Für das Verfahren kom - men die Vorſchriften der Strafprozeßordnung über das Verfahren in den zur Zuſtändigkeit der Landgerichte gehörigen Strafſachen zur Anwendung; dieſelben ſind jedoch durch eine große Zahl von beſonderen Vorſchriften ergänzt und abgeändert5)a. a. O. §. 66 ff.. Die Verrich - tungen der Staatsanwaltſchaft werden von der Staatsanwaltſchaft bei dem Oberlandesgerichte wahrgenommen6)a. a. O. §. 92.; mit der Führung124§. 103. Die Rechtsanwaltſchaft.der Vorunterſuchung wird ein Richter durch den Präſidenten des Oberlandesgerichts beauftragt1)a. a. O. §. 71.; als Gerichtsſchreiber iſt ein dem Vorſtande nicht angehörender, am Sitze der Kammer wohnhafter Rechtsanwalt zuzuziehen2)ebend. §. 81..

Für die Verhandlung und Entſcheidung über das Rechtsmittel der Beſchwerde iſt das Oberlandesgericht zuſtändig3)ebenda §. 89; beziehentl. das Reichsgericht §. 98., für das Verfahren gelten die Vorſchriften der Strafprozeßordnung4)ebenda §. 91..

3. Gegen die Urtheile des Ehrengerichts iſt das Rechtsmittel der Berufung zuläſſig5)a. a. O. §. 90 Abſ. 1.. Ueber daſſelbe entſcheidet der Ehrenge - richtshof, welcher aus dem Präſidenten des Reichsgerichts als Vorſitzenden, drei Mitgliedern des Reichsgerichts und drei Mit - gliedern der Anwaltskammer bei dem Reichsgerichte6)Sie werden gemäß §§. 62. 63. 133 des Gerichtsverf. Gefetzes beſtimmt, beziehentlich von der Kammer vor Beginn des Geſchäftsjahres auf die Dauer deſſelben gewählt. R.A.O. §. 90 Abſ. 2 u. 3. Die Mitglieder des Ehrengerichts - hofes können nicht zugleich dem Ehrengericht angehören. R.A.O. §. 102 Abſ. 2. Ueber die Beſtimmung der Stellvertreter ſiehe §. 90 Abſ. 4 u. 5. beſteht. Auf das Verfahren finden im Allgemeinen die Regeln der Strafproz. - Ordn. Anwendung7)So wie die in §. 91 citirten Paragraphen der R.A.O.; die Verrichtungen der Staatsanwaltſchaft werden von der Reichsanwaltſchaft wahrgenommen.

4. Die Vollſtreckung einer auf Geldſtrafe lautenden Entſchei - dung erfolgt nach den Vorſchriften über die Vollſtreckung der Ur - theile in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten; ſie wird von dem Schrift - führer des Vorſtandes betrieben. Die Geldſtrafen fließen zur Kaſſe der Kammer8)a. a. O. §. 97.. Lautet das Urtheil auf Ausſchließung von der Rechtsanwaltſchaft, ſo tritt dieſe mit der Rechtskraft des Urtheils ein. Der Schriftführer des Vorſtandes hat den Gerichten, bei welchen der Rechtsanwalt zugelaſſen war und der Landesjuſtizver - waltung hiervon Anzeige zu machen unter Mittheilung einer mit der Beſcheinigung der Vollſtreckbarkeit verſehenen beglaubigten Ab - ſchrift der Urtheilsformel9)a. a. O. §. 96..

V. Die Gebühren und Auslagen,

welche die Rechts -125§. 104. Der Gerichtsdienſt.anwälte für ihre Berufsthätigkeit erheben dürfen, ſind vom Reich in der Gebühren-Ordnung v. 7. Juli 1879 (R. G.Bl. S. 176) ge - regelt. Dieſes Geſetz findet ebenfalls nur Anwendung auf die zur ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit gehörenden Rechtsangelegen - heiten; die Gebühren für andere Berufsverrichtungen unterliegen der Autonomie der Einzelſtaaten.

VI. In den Konſulatsgerichtsbezirken

findet die R.A.O. keine Anwendung; weder iſt die Befähigung zur Rechts - anwaltſchaft an beſtimmte geſetzliche Vorausſetzungen gebunden, noch iſt ein Recht auf Zulaſſung anerkannt und ebenſo wenig be - ſteht eine Disciplinarordnung. Vielmehr hat der Konſul nach eigenem Ermeſſen die Perſonen zu beſtimmen, welche zur Aus - übung der Rechtsanwaltſchaft zuzulaſſen ſind, und er kann die Zu - laſſung widerrufen. Gegen die Verfügung des Konſuls, durch welche der Antrag auf Zulaſſung abgelehnt oder die ertheilte Zu - laſſung zurückgenommen wird, iſt die Beſchwerde an den Reichs - kanzler ſtatthaft1)Konſulargerichtsbarkeits-Geſ. §. 11 und hierzu die Inſtrukt. v. 10. Sep - tember 1879. (Centralbl. f. d. Deutſche Reich S. 575 ff.). Das Verzeichniß der zur Ausübung der Rechts - anwaltſchaft zugelaſſenen Perſonen iſt in ortsüblicher Weiſe be - kannt zu machen und dem Reichskanzler anzuzeigen. Die Gebüh - renordnung für Rechtsanwälte v. 7. Juli 1879 findet auch in den ſtreitigen Rechtsſachen, welche bei den Konſulatsgerichten anhängig ſind, Anwendung, jedoch nur ſubſidiär d. h. ſoweit nicht die Gebühren der Rechtsanwälte durch Ortsgebrauch geregelt ſind2)Konſulargerichtsbarkeits-Geſ. §. 44..

§. 104. Der Gerichtsdienſt.

Dieſelben Rechtsformen, in denen überhaupt der Staat die für die Erledigung ſeiner Aufgaben erforderlichen Arbeitskräfte und Dienſte ſich verſchafft, finden auch auf dem Gebiete der Rechts - pflege Anwendung. Von dieſen Formen3)Vgl. Bd. I. S. 385 ff. bietet die Dienſtmiethe, d. h. der privatrechtliche Vertrag des Fiskus mit Privat - perſonen über Arbeitsleiſtungen, der für die Juſtizverwaltung nicht minder wichtig und unentbehrlich iſt wie für die andern Verwal - tungszweige, kein ſtaatsrechtliches Intereſſe dar. Die öffentlich rechtliche Pflicht zur Uebernahme und Führung gerichtlicher126§. 104. Der Gerichtsdienſt.Geſchäfte kann aber ebenſo wie die militäriſche Dienſtpflicht auf zwei verſchiedenen Rechtsgründen beruhen, entweder auf einem ſtaat - lichen Zwang, d. h. auf einer geſetzlichen Anordnung, welche der Unterthan befolgen muß, ohne daß es auf ſeine Einwilligung hierzu ankömmt, oder auf einem öffentlich rechtlichen zweiſeitigen Rechtsgeſchäft, durch welches der Unterthan freiwillig zur Führung gerichtlicher Amtsgeſchäfte ſich verpflichtet. Aber auch die freiwillige Uebernahme von Gerichtsgeſchäften kann wieder in doppelter Weiſe erfolgen; entweder nämlich durch Eintritt in den berufsmäßigen Staatsdienſt, wodurch ſich der Beamte dem Landesherrn zur Leiſtung ſtaatlicher Arbeit verpflichtet und ſich ihm behufs Uebernahme eines Amtes zur Verfügung ſtellt, oder ohne Begründung eines Staatsdienſt-Verhältniſſes durch unent - geldliche Uebernahme einer richterlichen Stellung in der Geſtalt des Ehrenamtes. Hiernach ſind in ſtaatsrechtlicher Hinſicht drei Arten von Gerichtsdienſten zu unterſcheiden, der geſetzliche Gerichtsdienſt der Schöffen und Geſchworenen, der berufsmäßige Dienſt der Juſtizbeamten und der Ehrendienſt der Handelsrichter und Beiſitzer der Konſulargerichte. Daß unter dieſen Arten von Dienſten derjenige der berufsmäßigen Staatsbeamten von über - wiegender Bedeutung und Wichtigkeit iſt, beruht nicht auf dem Weſen der Gerichtsbarkeit, ſondern auf dem eigenthümlichen Cha - rakter unſeres Rechts, insbeſondere des Privatrechts, und der da - durch bedingten Verfaſſung der Gerichte.

I. Der geſetzliche Gerichtsdienſt*)Vgl. Hermann Seuffert, Erörterungen über die Beſetzung der Schöffengerichte und Schwurgerichte. Breslau 1879. Schwarze in v. Holtzen - dorff’s Handbuch des Strafprozeßrechts Bd. II. (1879) S. 567 ff. und Bin - ding Grundriß S. 63 ff..

Die Pflicht zum Dienſt als Schöffe und Geſchworener ent - ſpricht, trotz aller Verſchiedenheit in Betreff ihres Inhaltes und ihrer thatſächlichen Verwirklichung, ſowohl ihrem Rechtsgrunde als ihrer juriſtiſchen Geſtaltung nach der allgemeinen Wehrpflicht; und ebenſo wie die letztere gehört die allgemeine Gerichtspflicht zu den - jenigen Unterthanenpflichten, welche die urſprünglichſten und tiefſten Grundlagen des Staates bilden, auf denen die älteſten Verfaſſungen weſentlich beruhten. Der moderne Staat macht freilich von dieſer127§. 104. Der Gerichtsdienſt.Unterthanenpflicht einen ſehr beſchränkten Gebrauch und dem ent - ſprechend iſt die thatſächliche Bedeutung der allgemeinen Gerichts - pflicht und die durch ſie bewirkte Belaſtung der Unterthanen un - endlich geringer als dies bei der allgemeinen Wehrpflicht der Fall iſt, ſo daß die ſtaatsrechtliche Gleichartigkeit beider nicht nur dem Volke, ſondern auch den Juriſten kaum zum Bewußtſein kömmt.

1. Die allgemeine Gerichtspflicht iſt die ſtaats - bürgerliche Verpflichtung zur Dienſtleiſtung in den Gerichten des Staates. Der Dienſt beſteht in der Theilnahme an der Urtheils - findung und Beſchlußfaſſung und an den hiezu erforder - lichen, in den Prozeßordnungen näher geregelten gerichtlichen Ver - handlungen und Geſchäften. Ein ſolcher Dienſt wird vom Staat gegenwärtig aber nur in Anſpruch genommen bei der Strafrechts - pflege und auch hier nur bei den Schöffengerichten und bei den Schwurgerichten, ſo daß die allgemeine Gerichtspflicht keine andere Verwendung findet als in der Wahrnehmung der Funktionen eines Schöffen oder eines Geſchworenen1)Hierzu kömmt noch als ein Anhängſel die Dienſtleiſtung der Vertrauens - männer in dem Ausſchuß, welcher die Jahresliſten aufſtellt. Siehe unten Ziff. 4.. An und für ſich erzeugt die Gerichtspflicht ſo wenig wie die Wehrpflicht eine ſubjektive Ver - pflichtung zu einer beſtimmten Dienſtleiſtung; hierzu iſt in jedem einzelnen concreten Falle der hinzukommende Befehl des Staates, die Einberufung als Schöffe oder Geſchworener, erforderlich2)Vgl. oben Bd. III. 1. S. 139..

2. Die Gerichtspflicht iſt eine ſtaatsbürgerliche oder Unterthanen-Pflicht; der Ausländer iſt ihr nicht unterworfen; nur Staatsangehörige ſind zur Mitwirkung an der ſtaatlichen Gerichts - barkeit berufen und verpflichtet. So wie nun aber im Deutſchen Reich die Strafgerichtsbarkeit der Einzelſtaaten ſich auf das ganze Reichsgebiet erſtreckt und in letzter Inſtanz in der Gerichtsbarkeit des Reichs zuſammengefaßt iſt, ſo kömmt auch bei Leiſtung der Gerichtspflicht nicht die Staatsangehörigkeit, ſondern die Reichs - angehörigkeit in Betracht. Jeder Deutſche iſt verpflichtet, der Einberufung zum Schöffen - oder Geſchworenendienſt bei dem Ge - richt, in deſſen Bezirk er ſeinen Wohnſitz hat, Folge zu leiſten, gleichviel ob er dem betreffenden Bundesſtaate angehört oder nicht3)Die paſſende Analogie hiezu bildet wol nicht das Reichstagswahlrecht, auf welches Seuffert S. 16 hinweiſt, ſondern der Grundſatz, daß die. 128§. 104. Der Gerichtsdienſt.Ausländer ſind aber nicht nur vom Gerichtsdienſt frei, ſondern ſie ſind auch geſetzlich zur Wahrnehmung der Funktionen eines Schöffen oder Geſchworenen für unfähig erklärt1)Gerichtsverf. Geſ. §. 31. 84..

Die Rechtsregeln über die Vorausſetzungen, die Geltend - machung, den Umfang und die Erfüllung der geſetzlichen Gerichts - dienſtpflicht ſind vom Reich feſtgeſtellt; der Autonomie der Einzel - ſtaaten iſt in dieſer Hinſicht ein ſehr enger Spielraum geſtattet. Dies beruht theils auf dem Einfluß, welchen dieſe Regeln auf die Zuſammenſetzung und den Charakter der erkennenden Strafgerichte ausüben, theils auf dem ſoeben dargelegten Grundſatz, daß dieſe Dienſte von allen Reichsangehörigen im ganzen Bundesgebiete in Anſpruch genommen werden können. Es zeigt ſich hierin ein bemerkenswerther Gegenſatz zwiſchen der geſetzlichen und der frei - willig übernommenen Gerichtsdienſtpflicht, welche nur gegenüber dem Gerichtsherrn (Dienſtherrn) beſteht und deren Regelung faſt ganz der Landesgeſetzgebung überlaſſen iſt.

3. Die Gerichtspflicht iſt eine allgemeine Unterthanen - pflicht, von welcher es keine anderen Befreiungsgründe giebt als die im Geſetz anerkannten. Mit Rückſicht auf die Natur der zu leiſtenden Dienſte iſt aber der Kreis der Perſonen, von denen die - ſelben wirklich verlangt werden, durch Rechtsſätze erheblich be - ſchränkt2)Es wird hier ganz abgeſehen von den thatſächlichen Verhältniſſen, welche viele Perſonen als ungeeignet zur Leiſtung von Gerichtsdienſten erſchei - nen laſſen, insbeſondere Mangel an Kenntniſſen, untergeordnete ſociale Stellung u. drgl..

Dieſe Beſchränkungen beruhen zum Theil darauf, daß die Dienſte der Schöffen und Geſchworenen in der Führung eines öffentlichen Amtes beſtehen und daher diejenigen Perſonen dazu nicht berufen werden ſollen, welche zur Bekleidung eines öffentlichen Amtes dieſer Art unfähig oder untauglich ſind oder welche ſich in einem öffentlichen Dienſtverhältniß bereits befinden, mit welchem das Schöffen - und Geſchworenen-Amt unvereinbar ſcheint. Zum andern Theil beruhen die Beſchränkungen der Dienſtpflicht auf billiger Berückſichtigung ſolcher perſönlicher Verhältniſſe, welche3)Wehrpflicht am Ort des dauernden Aufenthalts zu erfüllen iſt. Siehe Bd. III. 1. S. 148.129§. 104. Der Gerichtsdienſt.die Erfüllung für den Verpflichteten beſonders drückend machen. Der Staat kann ſolche Verhältniſſe bei der Gerichtspflicht in einem viel größeren Maaße wie bei der Wehrpflicht berückſichtigen wegen des geringen Umfanges, in welchem die geſetzlichen Gerichtsdienſte zur Verwendung kommen. Hieraus ergeben ſich folgende vier Ka - tegorien:

a) Ausgeſchloſſen von dem Schöffen - und Geſchworenen - dienſt als unfähig zur Bekleidung des Amtes ſind diejenigen Perſonen, welche in Folge ſtrafgerichtlicher Verurtheilung die Be - fähigung dazu verloren haben, oder gegen welche das Hauptver - fahren wegen eines Verbrechens oder Vergehens eröffnet iſt, das die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte oder der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter zur Folge haben kann, ſowie Perſonen, welche in Folge gerichtlicher Anordnung in der Ver - fügung über ihr Vermögen beſchränkt ſind1)Gerichtsverf. Geſ. § 32. 85 Abſ. 2.. Außerdem ſind wie oben S. 128 bereits bemerkt wurde, Ausländer unfähig das Amt eines Schöffen oder Geſchworenen zu bekleiden. Die Mit - wirkung einer ſolchen, von der Ausübung des Richteramtes kraft des Geſetzes ausgeſchloſſenen Perſon an dem Urtheil iſt eine Verletzung des Geſetzes, auf welche die Reviſion geſtützt werden kann2)Strafprozeß-Ordn. §. 377 Ziff. 2. Der Amtsrichter hat daher von Amts - wegen darauf zu ſehen, daß kein Unfähiger auf die Dienſtliſten (Jahresliſten, Vorſchlagsliſten) geſetzt werde..

b) Untauglich zum Amte eines Schöffen und Geſchwore - nen, ſo daß ſie zu demſelben nicht berufen werden ſollen, ſind Perſonen mit geiſtigen oder körperlichen Gebrechen3)Der Grund, weshalb man ſolche Perſonen nicht geſetzlich für unfähig zur Ausübung des Schöffen - und Geſchworenen-Amts erklärt hat, war der, daß man frivole Nichtigkeitsbeſchwerden wegen angeblicher körperlicher oder geiſtiger Gebrechen eines Schöffen oder Geſchworenen verhüten wollte. Vgl. Protok. der Reichstagskomm. I. Leſung S. 219 ff. (Hahn S. 480.); Perſonen, welche das 30te Lebensjahr noch nicht vollendet haben; Perſonen, welche den Wohnſitz in der Gemeinde noch nicht zwei volle Jahre haben; Perſonen, welche für ſich oder ihre Familie Armenunter - ſtützung4)Vgl. über dieſen Begriff Seuffert a. a. O. S. 19 ff. aus öffentlichen Mitteln empfangen oder in den drei letz -Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 9130§. 104. Der Gerichtsdienſt.ten Jahren empfangen haben1)Gerichtsverf. Geſ. §. 33. Ziff. 3 §. 85 Abſ. 2. Maßgebend für die Feſtſtellung des Lebensalters, Dauer des Wohnſitzes und den Empfang einer Armenunter - ſtützung iſt die Zeit der Aufſtellung der Urliſte. (Siehe unten.), ſowie Dienſtboten2)Gerichtsverf. Geſ. §. 33 Ziff. 5. §. 85 Abſ. 2.. Das Verbot, ſolche Perſonen zum Gerichtsdienſt heranzuziehen, iſt kein prozeß - rechtliches, ſondern ein verwaltungs rechtliches; d. h. es iſt ein an die Behörden gerichtetes Verbot, eine ſolche Perſon einzu - berufen (auf die Liſte zu ſetzen); wenn ſie aber trotz des Verbotes an einem Urtheil als Schöffe oder Geſchworener mitgewirkt hat, ſo begründet dies keine Nichtigkeit deſſelben. Andrerſeits iſt das Verbot von Amtswegen zu berückſichtigen und die Geltendmachung deſſelben an keine Friſt gebunden.

c) Ungeeignet zur Ausübung des Schöffen - oder Geſchwor - nenamtes wegen eines andern öffentlichen Dienſtverhält - niſſes (ſogen. Incompatibilität) ſind Miniſter und Mit - glieder der Senate der freien Hanſeſtädte; ſowie diejenigen Reichs - beamten und Landesbeamten, welche auf Grund der Geſetze jeder - zeit einſtweilig in den Ruheſtand verſetzt werden können4)Unter dieſem Ausdruck laſſen ſich m. E. die auf Widerruf oder Kün - digung angeſtellten Beamten nicht ſubſumiren. Anderer Anſicht Seuffert S. 61.; ferner richterliche Beamte5)Hierunter ſind richterliche Juſtiz beamte zu verſtehen, nicht Verwal - tungsbeamte, welche ein richterliches Nebenamt verſehen oder eine Verwaltungs - jurisdiction ausüben. Vgl. Seuffert S. 25 ff. Keinen Unterſchied macht es aber, ob die richterlichen Beamten an einem ordentlichen Gericht oder an einem Sondergericht angeſtellt ſind. Vgl. Löwe S. 49 Note 3a., Beamte der Staatsanwaltſchaft und gericht - liche und polizeiliche Vollſtreckungsbeamte; ſodann Religionsdiener und Volksſchullehrer, und endlich die dem aktiven Heere oder der aktiven Marine angehörenden Militärperſonen6)Gerichtsverf. Geſ. §. 34. 85 Abſ. 2. Ueber den Begriff dieſer zuletzt erwähnten Militairperſonen vgl. §. 38 des Milit. Geſ. und dazu die Erörte - rungen oben Bd. III. 1. S. 244 u. S. 263 Note 3..

Den Einzelſtaaten iſt es überdies freigeſtellt, im Wege der Landesgeſetzgebung noch andere höhere Verwaltungsbeamte zu bezeichnen, welche zu dem Amte eines Schöffen oder Geſchworenen3)Nach der canoniſtiſch-ſcholaſtiſchen Redeweiſe würde man das Verbot als ein impedimentum impediens tantum bezeichnen können.131§. 104. Der Gerichtsdienſt.nicht berufen werden ſollen1)Gerichtsverf. Geſ. § 34 Abſ. 2.. Von dieſer Ermächtigung haben die meiſten Staaten Gebrauch gemacht2)Vgl. von den Ausführungsgeſetzen zum Gerichtsverf. Geſetz Preußen §. 33. Bayern §. 23. 34. Sachſen §. 24. Württemberg Art. 19. Baden §. 4. Heſſen Art. 15. Mecklenburg-Schwerin (und Strelitz) §. 7. 27. Großh. Sachſen §. 16. 24. Oldenburg Art. 1. (Fürſtenth. Lübeck Art. 13. Fürſtenth. Birkenfeld Art. 16.) Sachſen-Mei - ningen §. 18. 27. Sachſen-Altenburg §. 20. 32. Coburg - Gotha §. 17. 25. Anhalt §. 21. 32. Sondershauſen §. 18. 27. Rudolſtadt §. 15. 23. Waldeck Art. 4. Reuß ä. L. §. 16. 24 Reuß j. L. §. 16. 24. Bremen §. 74. 81. Ueber die Bedenken, zu wel - chen einige dieſer Ausführungsgeſetze, namentlich das Heſſiſche, hinſichtlich ihres Verhältniſſes zu §. 34 des Gerichtsverfaſſungs-Geſetzes Anlaß geben, vgl. Seuffert S. 44 ff., woſelbſt eine überſichtliche Darſtellung der Ent - ſtehungsgeſchichte des §. 34 ſich findet..

Die rechtliche Bedeutung dieſes Verbotes iſt dieſelbe wie ſie unter b) dargethan worden iſt.

d) In Berückſichtigung perſönlicher Verhältniſſe ſind befugt, die Berufung zum Amte eines Schöffen oder Geſchworenen ab - zulehnen: Mitglieder einer deutſchen geſetzgebenden Verſamm - lung; Aerzte; Apotheker, welche keine Gehülfen haben; Perſonen, welche das 65te Lebensjahr vollendet haben; Perſonen, welche glaubhaft machen, daß ſie den mit der Ausübung des Amts ver - bundenen Aufwand zu tragen nicht vermögen; ſowie Perſonen, welche im letzten Geſchäftsjahre die Verpflichtung eines Geſchwo - renen oder an wenigſtens 5 Sitzungstagen die Verpflichtung eines Schöffen erfüllt haben3)Gerichtsverf. Geſ. §. 35. 85 Abſ. 2.. Die Einzelſtaaten ſind nicht befugt, an - deren als den hier aufgeführten Klaſſen von Perſonen die gleiche Berechtigung einzuräumen4)Daher können ſie z. B. auch den Häuptern und Angehörigen der ehe - mals reichsſtändiſchen oder reichsritterſchaftl. Familien Befreiung von der Pflicht zum Schöffen - oder Geſchworenendienſt nicht gewähren..

Hinſichtlich dieſer Perſonen beſteht weder ein prozeßrechtliches Verbot ihrer Mitwirkung an der Urtheilsfindung, noch ein ver - waltungsrechtliches Verbot ihrer Einberufung; ſie genießen eine Befreiung von der Gerichtspflicht, die lediglich auf einer Berückſichtigung ihrer perſönlichen Verhältniſſe beruht, deren Gel - tendmachung daher auch von ihrem Belieben abhängt.

9*132§. 104. Der Gerichtsdienſt.

4. Entſcheidung über die Dienſtpflicht.

a) Die Urliſte. Der Vorſteher einer jeden Gemeinde (oder Gemeindeverbandes) hat alljährlich ein Verzeichniß aller in der Gemeinde wohnhaften Perſonen anzufertigen, welche zu dem Amte eines Schöffen oder Geſchworenen berufen werden können. In dieſer der Rekrutirungs-Stammrolle vergleichbaren Urliſte ſind demnach alle Gemeinde-Mitglieder aufzuführen, welche nicht geſetz - lich als unfähig (§. 32), untauglich (§. 33) oder unverwendbar (§. 34) zum Schöffen - und Geſchwornen-Dienſt bezeichnet ſind. Die Urliſte iſt in der Gemeinde eine Woche lang zu Jedermanns Ein - ſicht auszulegen, nachdem der Zeitpunkt der Auslegung vorher öffentlich bekannt gemacht worden iſt1)Die näheren Anordnungen über die Art der Auslegung und Bekannt - machung ſind den Einzelſtaaten überlaſſen. Löwe Note 3 zu §. 36 des G.V.G.. Innerhalb dieſer Friſt kann von Jedem2)Auch von demjenigen, der nicht gerichtsdienſtpflichtig iſt. Vgl. Motive S. 82. Seuffert S. 2. Keller S. 65. Löwe Note 1 zu §. 37 des G.V.G. gegen die Richtigkeit oder Vollſtändigkeit der Liſte ſchriftlich oder zu Protokoll Einſprache erhoben werden; das Begehren kann auf Streichung oder auf Hinzufügung von Per - ſonen oder auf Berichtigung in der Bezeichnung der eingetragenen Perſonen gerichtet ſein. Der Gemeindevorſteher ſendet die Urliſte nebſt den erhobenen Einſprachen und den ihm erforderlich erſchei - nenden Bemerkungen an den Amtsrichter des Bezirks und benach - richtigt denſelben von den nach Abſendung der Urliſte etwa er - forderlich werdenden Berichtigungen. Der Amtsrichter ſtellt die Urliſten des Bezirks zuſammen; er prüft, ob die öffentliche Be - kanntmachung und Offenlegung ſtattgefunden hat und veranlaßt die Abſtellung etwaiger Mängel3)Gerichtsverf. Geſ. §. 36 39. §. 85 Abſ. 1..

b) Die Dienſtliſten. Zur Entſcheidung über die gegen die Urliſte erhobenen Einſprachen und zur Auswahl der Perſonen, welche als Schöffen und Geſchworene einzuberufen ſind, tritt bei dem Amtsgericht alljährlich ein Ausſchuß zuſammen, der aus dem Amtsrichter als Vorſitzenden, einem Staatsverwaltungsbeamten und ſieben aus den Einwohnern des Amtsgerichtsbezirks gewählten Vertrauensmännern beſteht4)Der Verwaltungsbeamte wird von der Landes-Regierung ernannt; die Wahl der Vertrauensmänner erfolgt nach Anordnung der Landesgeſetze durch. Er bietet eine gewiſſe Analogie133§. 104. Der Gerichtsdienſt.mit den Erſatzbehörden dar (Bd. III. 1. S. 155 ff.) Zur Beſchlußfähig - keit des Ausſchuſſes genügt die Anweſenheit des Vorſitzenden, des Verwaltungsbeamten und dreier Vertrauensmänner; die Beſchluß - faſſung erfolgt nach Majorität mit Stichentſcheid des Vorſitzenden. Gegen die Entſcheidungen des Ausſchuſſes über die gegen die Ur - liſte erhobenen Einſprachen findet Beſchwerde nicht ſtatt1)Gerichtsverf. Geſ. §. 40. 87. Nur für den Fall, daß der Ausſchuß Je - manden trotz erhobener Einſprache auf die Geſchworenen-Vorſchlagsliſte ſetzt, iſt ſeine Entſcheidung nicht endgültig. Siehe unten.. Im Uebrigen iſt das Verfahren behufs Auswahl der Schöffen von dem Verfahren behufs Auswahl der Geſchworenen verſchieden.

α) Die Schöffenliſte. Die Landesjuſtizverwaltung be - ſtimmt die Zahl der Schöffen, welche für jedes Amtsgericht erfor - derlich ſind, in der Art, daß vorausſichtlich Jeder höchſtens zu fünf ordentlichen Sitzungstagen im Jahre herangezogen wird (Haupt - ſchöffen), ſowie die Zahl derjenigen Perſonen, welche an die Stelle wegfallender Schöffen treten (Hülfsſchöffen). Der Ausſchuß wählt aus der berichtigten Urliſte für das nächſte Geſchäftsjahr die erforderliche Zahl von Hauptſchöffen und er wählt ferner unter den im Sitze des Amtsgerichts oder in deſſen nächſter Um - gebung wohnenden Perſonen die Hülfsſchöffen. Die Namen der erwählten Hauptſchöffen und Hülfsſchöffen werden bei jedem Amts - gericht in geſonderte Verzeichniſſe (Jahresliſten) aufgenommen. Die Reihenfolge, in welcher die Hauptſchöffen an den einzelnen ordentlichen Sitzungen des Jahres Theil nehmen, wird durch Aus - looſung in öffentlicher Sitzung des Amtsgerichts beſtimmt2)Der Amtsrichter zieht das Loos, der Gerichtsſchreiber nimmt über die Auslooſung ein Protokoll auf.; die Reihenfolge, in welcher die Hülfsſchöffen zum Erſatz herange - zogen werden, iſt vom Ausſchuß feſtzuſtellen. Die Tage der ordent - lichen Sitzungen des Schöffengerichts werden für das ganze Jahr im Voraus beſtimmt3)Gerichtsverf. Geſ. §. 42 45. Wird eine außerordentliche Sitzung er - orderlich, ſo findet dafür eine beſondere Auslooſung ſtatt. ebenda §. 48..

β) Die Geſchworenenliſte. Die Bildung der Geſchwore - nenliſte unterſcheidet ſich im Weſentlichen dadurch von der Bildung4)die Vertretungen der Communalverbände, event. durch den Amtsrichter. Sämmt - liche Ausführungsgeſ. der Einzelſtaaten enthalten die erforderlichen Beſtim - mungen.134§. 104. Der Gerichtsdienſt.der Schöffenliſte, daß der oben erwähnte Ausſchuß nicht ein Wahl - recht, ſondern nur ein Vorſchlagsrecht hat. Die Landesjuſtizver - waltung beſtimmt die Zahl der von jedem Amtsgerichtsbezirke zu ſtellenden Geſchworenen und der Ausſchuß erwählt aus der Ur - liſte die dreifache Anzahl von Perſonen, welche er für das nächſte Geſchäftsjahr zu Geſchworenen präſentirt. Das Verzeich - niß derſelben heißt Vorſchlagsliſte. Dieſe wird nebſt den Einſprachen, welche ſich auf die in dieſelbe aufgenommenen Per - ſonen beziehen, an den Präſidenten des Landgerichts überſendet. Das Landgericht entſcheidet in einer Sitzung, an welcher 5 Mit - glieder mit Einſchluß des Präſidenten und der Direktoren Theil nehmen, endgültig über die Einſprachen und wählt ſodann aus der Vorſchlagsliſte die beſtimmte Zahl von Hauptgeſchworenen und Hülfsgeſchworenen; die letzteren unter den am Sitzungsorte des Schwurgerichts oder in deſſen nächſter Umgebung wohnenden Per - ſonen. Die Verzeichniſſe der Haupt - und Hülfs-Geſchworenen heißen Jahresliſten. Aus den in die Jahresliſte eingetragenen Hauptgeſchworenen werden von dem Präſidenten des Landgerichts für jede Schwurgerichts-Periode 30 Hauptgeſchworene ausge - looſt1)Die Auslooſung erfolgt ſpäteſtens 2 Wochen vor Beginn der Schwur - gerichts-Sitzungen in öffentlicher Sitzung des Landgerichts, an welcher der Präſident und zwei Mitglieder Theil nehmen in Gegenwart des Staatsanwalts. Der Gerichtsſchreiber nimmt darüber ein Protokoll auf.; das Verzeichniß derſelben heißt die Spruchliſte; es iſt vom Landgericht dem ernannten Vorſitzenden des Schwurge - richts zu überſenden2)Gerichtsverf. Geſ. §§. 85 92..

Die in der Spruchliſte aufgeführten Geſchworenen ſind ver - pflichtet bei den Sitzungen des Schwurgerichts zu erſcheinen; an der Urtheilsſprechung nehmen aber nur 12 Geſchworene Theil3)Gerichtsverf. Geſ. §. 81., welche man mit dem Namen Geſchworenenbank bezeichnet. Die Bildung der Geſchwornenbank erfolgt bei Beginn der Haupt - verhandlung gemäß dem in der Strafprozeß-Ordnung §§. 278 ff. normirten Verfahren.

5. Die Einberufung zum Gerichtsdienſt.

a) Die Schöffen werden zur Leiſtung des Gerichtsdienſtes einberufen, indem der Amtsrichter ſie von ihrer Auslooſung und135§. 104. Der Gerichtsdienſt.von den Sitzungstagen, an welchen ſie in Thätigkeit zu treten haben, unter Hinweis auf die geſetzlichen Folgen des Ausbleibens in Kenntniß ſetzt1)Gerichtsverf. Geſ. §. 46.. Dieſe Benachrichtigung hat zugleich die Be - deutung der Geſtellungsordre für die angegebenen Sitzungstage. Eine Aenderung in der beſtimmten Reihenfolge kann auf überein - ſtimmenden Antrag der betheiligten Schöffen von dem Amtsrichter bewilligt werden, jedoch nur, wofern die in den betreffenden Sitzun - gen zu verhandelnden Sachen noch nicht beſtimmt ſind2)ebendaſ. §. 47.. Wird die Zuziehung von Hülfsſchöffen erforderlich, ſo werden ſie durch den Amtsrichter berufen und zwar in der Regel nach der Reihen - folge der Jahresliſte3)Vgl. §. 49 a. a. O. und hierzu die Erläuterungen von Löwe.. Die in der Spruchliſte verzeichneten Ge - ſchworenen werden von dem für das Schwurgericht ernannten Vorſitzenden zur Eröffnungsſitzung des Schwurgerichts unter Hin - weis auf die geſetzlichen Folgen des Ausbleibens geladen; zwiſchen der Zuſtellung der Ladung und der Eröffnungsſitzung ſoll thunlichſt die Friſt von einer Woche, jedoch mindeſtens von drei Tagen liegen4)§. 93 ebenda..

b) Gegen die Einberufung zum Schöffendienſt kann von dem Einberufenen reclamirt werden; die Befreiungsgründe5)Das Gerichtsverfaſſungsgeſetz nennt die Excuſationsgründe Ablehnungs - gründe ; den Ausdruck Ablehnung verwendet aber gleichzeitig die Straf - proz. Ordn. (und ebenſo die Civilprozeß-Ordnung §. 42 ff. ) für den Fall, daß ein Richter, Schöffe oder Geſchworener von einer Partei als unfähig oder ungeeignet erklärt wird, in dem concreten Falle eine richterliche Thätig - keit auszuüben. Die Ablehnung im letzteren Sinn betrifft die Conſtituirung des Gerichts und die Gründe, auf welche ſie geſtützt werden kann, ſind pro - zeßrechtlicher Natur; die Ablehnungsgründe des Gerichtsverfaſſungs - geſetzes dagegen betreffen die Dienſtpflicht und ſind verwaltungsrecht - licher Natur. Dieſe Unterſcheidung iſt praktiſch von Belang bei der Beur - theilung der Reviſion, Strafproz. O. §. 377 Ziff. 1 3; denn die Prozeß-Par - teien haben ein rechtliches Intereſſe an der geſetzmäßigen Conſtituirung des Gerichts, aber nicht an der richtigen Geltendmachung der Gerichtsdienſtpflicht. ſind innerhalb einer Woche, nachdem der betheiligte Schöffe von ſeiner Einberufung in Kenntniß geſetzt worden iſt, oder falls ihre Ent - ſtehung oder Bekanntwerdung in eine ſpätere Zeit fällt, binnen einer Woche von dieſem Zeitpunkt an, geltend zu machen. Ueber136§. 104. Der Gerichtsdienſt.das Geſuch entſcheidet der Amtsrichter nach Anhörung der Staats - anwaltſchaft, gegen ſeine Entſcheidung iſt die Beſchwerde unſtatt - haft. Wenn nicht die Dienſtpflicht überhaupt in Abrede geſtellt wird, ſondern nur Entbindung von der Dienſtleiſtung an beſtimm - ten Sitzungstagen wegen eingetretener Hinderungsgründe bean - tragt wird, ſo hat der Amtsrichter über das Geſuch zu befinden; er kann auch die Gewährung davon abhängig machen, daß für den Antragſteller ein anderer für das Dienſtjahr beſtimmter Schöffe eintritt1)§. 53. 54 a. a. O..

Wenn die zum Geſchworenendienſt einberufenen Perſonen Befreiungs - oder Hinderungsgründe geltend machen, ſo erfolgt die Entſcheidung nach Anhörung der Staatsanwaltſchaft durch die richterlichen Mitglieder, und ſo lange das Schwurgericht nicht zu - ſammengetreten iſt, durch den ernannten Vorſitzenden des Schwur - gerichts. Beſchwerde findet nicht ſtatt2)§. 94 Abſ. 1. a. a. O..

c) Es kann vorkommen, daß Perſonen, welche zum Schöffen - oder Geſchworenendienſt bereits einberufen worden ſind, nachträg - lich von der wirklichen Leiſtung des Dienſtes ausgeſchloſſen oder befreit werden müſſen und zwar auch dann, wenn ſie ſelbſt keinen Antrag darauf ſtellen oder einem geſtellten Antrage widerſprechen. Die Gründe hierzu können theils die Dienſtpflicht, theils das Rich - teramt betreffen, oder mit andern Worten entweder verwaltungs - rechtlicher oder prozeßrechtlicher Art ſein. Das erſte iſt der Fall, wenn nachträglich Umſtände eintreten oder bekannt werden, aus denen ſich ergiebt, daß ein auf die Jahresliſte oder Spruchliſte geſetzte Perſon zur Ausübung des Schöffen - oder Geſchworenen - Amtes unfähig iſt3)Gerichtsverf. §. 31. 32. oder nicht berufen werden ſoll4)Gerichtsverf. Geſ. §. 33. 34.; das letztere iſt der Fall, wenn Gründe vorhanden iſt, kraft denen eine zum Schöffen - oder Geſchworenendienſt einberufene Perſon in der con - creten Prozeßſache von der Ausübung des Richteramtes kraft Ge - ſetzes ausgeſchloſſen iſt5)Strafproz. Ordn. §. 22. 31. 32., oder von einer Partei abgelehnt werden darf6)Strafproz. Ordn. §. 24.. Das Verfahren, um dieſe Perſonen von der Mitwirkung137§. 104. Der Gerichtsdienſt.an der Verhandlung und Entſcheidung fern zu halten, iſt aber verſchieden, je nachdem es ſich um einen Schöffen oder um einen Geſchworenen handelt.

α) Schöffen. Ergiebt ſich nachträglich, daß eine Perſon, die auf der Jahresliſte ſteht, zum Schöffenamt unfähig iſt, ſo wird ſie von der Liſte geſtrichen; wenn Umſtände eintreten oder be - kannt werden, bei deren Vorhandenſein eine Berufung dieſer Perſon zum Schöffenamte nicht erfolgen ſoll, ſo unterbleibt fernerhin, ohne daß eine Streichung ſtattfindet, die Heranziehung derſelben zur Dienſtleiſtung1)Fällt im Laufe des Geſchäftsjahres das Berufungshinderniß fort, ſo kann ein ſolcher Schöffe, da er auf der Liſte ſtehen geblieben iſt, wieder zum Dienſt einberufen werden. Vgl. Keller Note 5 u. 6 zu §. 52 des Gerichts - verf. Geſ.. Die Entſcheidung über das Vorhandenſein der Unfähigkeit oder der Gründe, welche die Berufung ausſchließen, erfolgt durch den Amtsrichter allein nach Anhörung der Staats - anwaltſchaft und des betheiligten Schöffen, ohne daß eine Beſchwerde gegen die Entſcheidung ſtatthaft iſt2)Gerichtsverf. Geſ. §. 52.. Ueber die Ausſchließung oder die Ablehnung von Schöffen aus prozeßrechtlichen Grün - den entſcheidet der Amtsrichter nach den in der Strafprozeß-Ord - nung §. 24 ff. gegebenen Vorſchriften3)Strafproz. Ordn. §. 31 Abſ. 2.; gegen den Beſchluß, durch welchen ein Ablehnungsgeſuch für begründet erklärt wird, findet überhaupt kein Rechtsmittel ſtatt und der Beſchluß, durch welchen das Geſuch zurückgewieſen wird, kann nicht für ſich allein, ſondern nur mit dem Urtheil, an deſſen Findung der Schöffe Theil genommen hat, angefochten werden4)Strafproz. Ordn. §. 28..

β) Geſchworene. Das Verfahren behufs Bildung der Geſchworenenbank giebt Gelegenheit die Unfähigkeits -, Ausſchlie - ßungs - und Ablehnungsgründe zugleich zur Erledigung zu brin - gen5)Dies iſt wol der Grund, warum §. 52 des Gerichtsverf. Geſ. in dem von den Schwurgerichten handelnden Titel weder in Bezug genommen noch mutatis mutandis wiederholt worden iſt. Anderer Anſicht Seuffert S. 4.. Von den in der Spruchliſte aufgeführten Perſonen ſind von der Auslooſung diejenigen auszuſcheiden, welche zum Ge - ſchwornen-Amt unfähig oder von der Ausübung des Amts in der zu verhandelnden Sache kraft Geſetzes ausgeſchloſſen ſind. Die138§. 104. Der Gerichtsdienſt.Ausſcheidung eines Geſchworenen erfolgt nach Anhörung deſſelben durch Beſchluß der richterlichen Mitglieder des Schwurgerichts; Beſchwerde iſt unſtatthaft1)Strafprozeß-Ordn. §. 279. Dagegen kann durch Reviſion das Urtheil angefochten und dieſelbe darauf geſtützt werden, daß ein Unfähiger oder kraft Geſetzes von der Ausübung des Amtes Ausgeſchloſſener als Geſchworener mit - gewirkt hat. Strafproz. Ordn. §. 377. Ziff. 1.. Ein für unfähig Erklärter iſt in der Spruchliſte zu ſtreichen. Ueber die Ablehnung von Geſchwo - renen findet ein richterlicher Spruch überhaupt nicht ſtatt; die Staatsanwaltſchaft und der Angeklagte haben das Recht, von den ausgelooſten Geſchworenen ſo viele abzulehnen, als Namen über zwölf in der Urne ſich befinden; die eine Hälfte der Ablehnungen ſteht der Staatsanwaltſchaft die andere dem Angeklagten zu. Die Angabe von Gründen iſt unzuläſſig2)Strafproz. Ordn. §. 282 ff. Die Bildung der Geſchwornenbank wird in der Reichsgeſetzgebung nicht unter dem Geſichtspunkt der Gerichtspflicht, ſondern unter dem des Strafverfahrens betrachtet und iſt deshalb nicht im Gerichtsverfaſſungsgeſ., ſondern in der Strafprozeßordnung geregelt worden. Vgl. Motive z. Gerichtsverf. Geſ. S. 108 a. E. 109. (Hahn S. 106.).

6. Der aktive Gerichtsdienſt.

a) Der Dienſt der Schöffen und Geſchworenen beſteht in der Wahrnehmung eines richterlichen Amtes3)Gerichtsverf. Geſ. §. 31. 84. Strafgeſetzb. §. 31. Abſ. 2.. Schöffen und Ge - ſchworene ſind zwar keine Beamte und haben weder die An - ſprüche noch die Verpflichtungen, welche aus einem durch An - ſtellung begründeten Dienſtverhältniß hervorgehen, wol aber haben ſie alle Rechte und Pflichten, welche mit der Führung eines öffent - lichen Amtes verbunden ſind4)Vgl. Bd. I. S. 383. 384.; ſie genießen einerſeits den ſtaat - lichen Schutz bei Ausübung des Amtes, und ſie unterliegen andrer - ſeits bei ſchuldbarem Mißbrauch der ihnen übertragenen Amtsge - walt den Beſtimmungen dee Strafgeſetzbuchs über Verbrechen und Vergehen im Amte5)Siehe Bd. I. S. 433 ff. Für Geſchworene und Schöffen kömmt in dieſer Beziehung aber lediglich Strafgeſetzb. §. 334 (Beſtechung) in Betracht, da die Motive ihrer Abſtimmung bei der Urtheilsſprechung jeder Controle entrückt ſind.. Der Inhalt der mit dem Schöffen - und Geſchworenen-Amt verbundenen Obliegenheiten beſtimmt ſich durch die Vorſchriften der Strafprozeßordnung; äußerlich betrachtet beſteht139§. 104. Der Gerichtsdienſt.er in der Theilnahme an den Sitzungen des Gerichts und in der Abſtimmung über die nach Maßgabe der Prozeßordnung vorge - legten Fragen1)Bei den in der Spruchliſte aufgeführten Geſchworenen beſteht der active Dienſt zunächſt nur darin, ſich rechtzeitig in der Sitzung einzufinden; die Pflicht zur Theilnahme an der Verhandlung und Urtheilsfindung iſt nur eine eventuelle und wird nur bei denjenigen Geſchworenen verwirklicht, mit welchen die Geſchworenenbank beſetzt wird.. Kein Schöffe oder Geſchworener darf ſich wäh - rend der Verhandlung entfernen, ohne daß der Vorſitzende des Ge - richts es geſtattet und eine Unterbrechung der Verhandlung an - ordnet2)Strafproz. Ordn. §. §. 225. 227., und kein Schöffe oder Geſchworener darf die Abgabe ſeiner Stimme verweigern, auch nicht aus dem Grunde, weil er bei der Abſtimmung über eine vorhergegangene Frage in der Minderheit geblieben iſt3)Gerichtsverf. Geſ. §. 197.. In prozeſſualiſcher Hinſicht ſind die Funktionen der Schöffen und die der Geſchworenen allerdings ſehr erheblich verſchieden; die Schöffen üben während der Hauptver - handlung das Richteramt in vollem Umfange und mit gleichem Stimmrechte wie die Amtsrichter aus4)Gerichtsverf. Geſ. §. 30., die Geſchworenen dagegen haben als ein von den richterlichen Mitgliedern des Schwurge - richts geſondertes Collegium zu berathen und nur die ihnen vor - gelegten, die Schuld des Angeklagten betreffenden Fragen mit Ja oder Nein zu beantworten5)Strafprozeß-Ordn. §. 290 ff.. Zu den gemeinſamen Pflichten der Schöffen und Geſchworenen gehört die Amtsverſchwiegenheit über den Hergang bei der Berathung und Abſtimmung6)Gerichtsverf. Geſ. §. 200..

Schöffen und Geſchworene werden vereidigt7)Landesgeſetze können den Mitgliedern gewiſſer Religionsgeſellſchaften den Gebrauch beſtimmter Betheuerungsformeln an Stelle des Eides geſtatten.; die Schöffen bei ihrer erſten Dienſtleiſtung in öffentlicher Sitzung, ihre Beeidi - gung gilt für die Dauer des Geſchäftsjahres8)Gerichtsverf. Geſ. §. 51, woſelbſt die Eidesformel feſtgeſtellt iſt.; die Geſchworenen nach Bildung der Geſchworenenbank in Gegenwart derjenigen An - geklagten, über welche ſie richten ſollen9)Strafproz. Ordn. §. 288. Daſelbſt auch die Eidesformel..

b) Der Umfang der Dienſtpflicht. Hinſichtlich des Schöffen -140§. 104. Der Gerichtsdienſt.dienſtes gilt die Regel, daß der einzelne Hauptſchöffe an höchſtens fünf Sitzungstagen im Jahre den Dienſt zu leiſten hat1)Gerichtsverf. Geſ. §. 43 Abſ. 2.; wenn die Geſchäfte jedoch die Anberaumung außerordentlicher Sitzungen erforderlich machen, ſo kann eine Mehrbelaſtung der Schöffen noth - wendig werden, welche dieſelben ſich gefallen laſſen müſſen2)Gerichtsverf. Geſ. §. 48 Abſ. 1.. Auch müſſen ſie bis zur Beendigung der Sitzung ausharren, wenn die Dauer derſelben ſich über die dafür anberaumte Zeit (Sitzungstag) hinaus erſtreckt3)ebendaſ. §. 50.. Die Dienſtpflicht der Geſchworenen be - ſchränkt ſich auf eine Sitzungsperiode des Schwurgerichts; diejenigen Geſchworenen, welche bereits in einer Sitzungsperiode ihre Verpflichtung erfüllt haben, werden daher in demſelben Ge - ſchäftsjahr bei einer ſpäteren Feſtſtellung der Spruchliſte der Aus - looſung nur dann wieder unterworfen, wenn dies von ihnen ſelbſt beantragt wird4)ebendaſ. §. 91 Abſ. 2. Wenn ſich die Sitzungsperiode über den End - termin des Geſchäftsjahres hinaus erſtreckt, ſo bleiben die zu der - ſelben einberufenen Geſchworenen bis zum Schluſſe der Sitzungen zur Mitwirkung verpflichtet5)ebenda §. 95..

Die Dienſtpflicht der Hülfsſchöffen und Hülfsgeſchworenen iſt nur eine eventuelle Dienſtpflicht, deren Umfang ſich durch das Bedürfniß nach Maßgabe der thatſächlichen Umſtände beſtimmt. In einem und demſelben Geſchäftsjahre ſoll Niemand zugleich zum Geſchworenen und zum Schöffen beſtimmt werden6)ebenda §. 97. Es handelt ſich hier nicht um die Unvereinbarkeit des Schöffen - und Geſchworenen-Amtes , wie Seuffert S. 65 meint, ſondern um eine Begränzung des Umfangs der Dienſtpflicht. Niemand ſoll doppelt belaſtet werden. und wer in einem Geſchäftsjahre den Dienſt als Geſchworener oder an wenig - ſtens 5 Sitzungstagen den Dienſt als Schöffe geleiſtet hat, kann in dem folgenden Jahre die Einberufung ablehnen7)ebenda §. 35 Ziff. 2. §. 85 Abſ. 2..

c) Die Gegenleiſtung des Staates. Die Erfüllung der Gerichtsdienſtpflicht iſt eine unentgeldliche Leiſtung8)Das Gerichtsverfaſſungs-Geſ. drückt dies in der Art aus, daß es die Aemter der Schöffen und Geſchworenen für Ehrenämter erklärt. §. 31. 84.; die141§. 104. Der Gerichtsdienſt.Gegenleiſtung des Staates für dieſelbe iſt die Gewährung des Rechtsſchutzes, die Aufrechthaltung der Rechtsordnung1)Auch in dieſer Hinſicht gelten von der Gerichtspflicht dieſelben Grund - ſätze wie von der Wehrpflicht. Vgl. Bd. III. 1. S. 171.. Nur für die Reiſekoſten erhalten Geſchworene und Schöffen, ſowie die Ver - trauensmänner des Ausſchuſſes, eine Vergütung, deren Höhe von den Einzelſtaaten beſtimmt wird2)Gerichtsverf. Geſ. §. 55. §. 96 Abſ. 1..

7. Die Verletzung der Dienſtpflicht.

a) Die ſchuldbare Nichterfüllung der Dienſtpflicht wird an Geſchworenen und Schöffen ſowie an den Vertrauensmännern des Ausſchuſſes mit einer Ordnungsſtrafe von 5 bis zu 1000 Mark und dem Erſatz der verurſachten Koſten beſtraft3)In den §§. 46 u. 93 ebenda iſt angeordnet, daß die Einberufung der Schöffen und Geſchworenen unter Hinweis auf die geſetzlichen Folgen des Ausbleibens erfolgen ſoll. Darauf hat man die Meinung geſtützt, daß wenn die Androhung der Beſtrafung in der Ladung unterblieben iſt, eine Verurtheilung wegen Nicht - erſcheinens unſtatthaft ſei. Seuffert S. 82 Löwe Note 2 zu §. 56 (in der zweiten Auflage hat jedoch Löwe ſeine Anſicht geändert). Allein die §§. 46 u. 93 enthalten nur Vorſchriften für die Amtsrichter und Schwurgerichtsvor - ſitzenden über Geſchäfte der Gerichtsverwaltung; im §. 56, der den Thatbeſtand des Delicts beſtimmt, iſt die Beſtrafung von einer Androhung derſelben oder von einer ordnungsmäßigen Ladung nicht abhängig gemacht und die Nicht - beachtung der Vorſchrift des §. 46 oder 93 Seitens des Richters giebt dem Schöffen oder Geſchworenen kein Recht, ſich ſeinerſeits der Erfüllung der Ge - richtspflicht zu entziehen. Uebereinſtimmend Keller S. 70.. Der Thatbeſtand kann darin beſtehen, daß der zum Dienſt Einberufene ſich ohne genügende Eutſchuldigung nicht rechtzeitig einfindet oder darin, daß er ſich ſeinen Obliegenheiten entzieht z. B. durch Verwei - gerung des Eides oder der Abſtimmung, oder auch durch ſein Ver - halten während der Verhandlung. Das Verfahren iſt nicht das ſtrafprozeſſualiſche, ſondern ein außerordentliches. Die Verurthei - lung wird, ohne daß es vorheriger Ladung und rechtlichen Ge - hörs des Säumigen bedarf, nach Anhörung der Staatsanwalt - ſchaft vom Amtsrichter hinſichtlich der Schöffen und Vertrauens - männer, von den richterlichen Mitgliedern des Schwurgerichts hin - ſichtlich der Geſchworenen ausgeſprochen. Dieſem Verfahren ohne Gehör entſpricht es, daß die Verurtheilung einen nur proviſoriſchen Charakter hat; ſie kann ganz oder theilweiſe zurückgenommen wer -142§. 104. Der Gerichtsdienſt.den, wenn nachträglich genügende Entſchuldigung ſtattfindet1)Die Zurücknahme erfolgt von denſelben Richtern; iſt die Sitzungsperiode des Schwurgerichts geſchloſſen, durch die Strafkammer des Landgerichts. Ge - richtsverf. Geſ. §. 82.. Dem Verurtheilten ſteht das Rechtsmittel der Beſchwerde nach den Vor - ſchriften der Strafprozeß-Ordnung zu2)Gerichtsverf. Geſ. §. 56. 96 Abſ. 2..

b) Die Vorſpiegelung unwahrer Thatſachen als Ent - ſchuldigung um ſich dem Dienſt als Geſchworener oder Schöffe zu entziehen, bildet den Thatbeſtand eines Vergehens und iſt mit Gefängniß bis zu zwei Monaten bedroht3)Strafgeſetzb. §. 138.. Die Zuſtändigkeit des Gerichts und das Verfahren beſtimmen ſich nach den Vor - ſchriften der Strafprozeß-Ordnung.

II. Der berufsmäßige Juſtizdienſt.

Die Regeln, welche im Allgemeinen für das Staatsbeamten - Verhältniß gelten, finden auch auf die Juſtizbeamten Anwendung; die im Reichsdienſt angeſtellten Juſtizbeamten ſtehen daher unter den Vorſchriften des Geſetzes v. 31. März 1873, die Landesjuſtiz - beamten unter den partikulären Geſetzen über die Rechtsverhält - niſſe der Staatsdiener. Das Reich hat in dieſer Beziehung die Autonomie der Einzelſtaaten nicht beſchränkt und die fortdauernde Vielgeſtaltigkeit der Dienſtverhältniſſe der Juſtizbeamten im Reich zugelaſſen. Es iſt dies ein ſtaatsrechtlich ſehr bedeutſamer Unter - ſchied zwiſchen der Regelung des Gerichtsweſens und derjenigen des Militärweſens. Während die den Einzelſtaaten gelaſſene Kon - tingentsherrlichkeit nicht als ein Hinderniß angeſehen worden iſt, die Dienſtverhältniſſe der Offiziere und Militärbeamten materiell ganz gleichmäßig für ſämmtliche Staaten und Kontingente zu re - geln, wurde es als ein in der Gerichtsherrlichkeit oder Juſtizhoheit der einzelnen Staaten begründetes Recht derſelben erachtet, daß ihnen die rechtliche Normirung der Dienſtverhältniſſe der Juſtiz - beamten überlaſſen bleibe4)Vgl. die Verhandlungen des Reichstages v. 18. Nov. 1876. Stenogr. Berichte S. 179 ff. (Hahn S. 1121 ff.) Die realen Gründe des Unterſchiedes beſtehen theils darin, daß eine volle Gleichmäßigkeit der militäriſchen Ein - richtungen durchgeführt werden ſollte, die für die gerichtlichen Einrichtungen. Nur die Form, in welcher ſich143§. 104. Der Gerichtsdienſt.dieſe Autonomie zu bethätigen habe, iſt für einige Punkte vom Reich feſtgeſtellt worden, indem die Landesjuſtiz verwaltungen die Ermächtigung erhalten haben, die Geſchäftseinrichtung der Ge - richtsſchreiberei bei den Landesgerichten, ſowie die Dienſt - und Geſchäftsverhältniſſe der mit den Zuſtellungen, Ladungen und Voll - ſtreckungen zu betrauenden Beamten (Gerichtsvollzieher) zu be - ſtimmen1)Gerichtsverf. Geſ. §. 154. 155. Für das Reichsgericht ſind die entſpre - chenden Beſtimmungen vom Reichskanzler zu erlaſſen..

Das gewöhnliche Dienſtverhältniß der Juſtizbeamten wird aber in eingreifender Weiſe modifizirt, wenn dem Beamten ein Richteramt übertragen wird. Für dieſen Fall treten beſondere Vorſchriften in Kraft, um die Unabhängigkeit der Richter zu ver - ſtärken und zu ſichern2)Nicht die Anſtellung im Juſtizdienſt , ſondern die Uebertragung des Richteramtes iſt entſcheidend; wenn ein Richter in die Juſtizverwaltung oder in die Staatsanwaltſchaft übertritt, verlieren daher die für richterliche Beamte geltenden beſonderen Vorſchriften ipso jure ihre Anwendbarkeit auf ihn; andrerſeits kann auch gewiſſen in anderen Reſſorts angeſtellten Beamten mit Rückſicht auf das von ihnen verwaltete Amt die rechtliche Sonderſtellung der richterlichen Beamten gewährt werden, z. B. den Auditeuren, Mitgliedern von Verwaltungsgerichten u. ſ. w.. Demgemäß hebt ſich aus der Geſammt - maſſe der Beamten und insbeſondere aus derjenigen der Juſtiz - beamten als eine rechtlich ausgezeichnete Kategorie die der rich - terlichen Beamten hervor. Nur für die verhältnißmäßig kleine Zahl von richterlichen Beamten des Reichs hat die Reichs - geſetzgebung die dienſtlichen Rechtsverhältniſſe vollſtändig geregelt; hinſichtlich der richterlichen Beamten der Einzelſtaaten hat die Reichsgeſetzgebung ſich darauf beſchränkt, der Autonomie der letz - teren durch Aufſtellungen von Normativbeſtimmungen Schranken zu ziehen.

1. Normativbeſtimmungen für die richterlichen Landesbeamten.

a) Damit eine einigermaßen gleiche Vorbildung der richter - lichen Beamten im ganzen Bundesgebiete geſichert werde, iſt die Fähigkeit zum Richteramt von Reichswegen an gewiſſe Voraus -4)nicht beabſichtigt wurde, theils und vorzüglich darin, daß die Koſten des Heerweſens vom Reich, diejenigen des Gerichtsweſens von den Einzelſtaaten beſtritten werden.144§. 104. Der Gerichtsdienſt.ſetzungen gebunden, von denen kein Einzelſtaat abgehen darf. Um die Qualifikation zu erwerben, iſt die Ablegung zweier Prüfungen erfordert. Der erſten Prüfung muß ein mindeſtens dreijähriges Studium der Rechtswiſſenſchaft auf einer Univerſität vorangehen und von dieſem Zeitraum ſind wenigſtens drei Halbjahre auf einer Deutſchen d. h. im Bundesgebiete gelegenen Univerſität zu ver - bringen. Zwiſchen der erſten und zweiten Prüfung muß ein Zeit - raum von mindeſtens drei Jahren liegen, der im Dienſte bei den Gerichten und bei den Rechtsanwälten zu verwenden iſt, auch zum Theil bei der Staatsanwaltſchaft verwendet werden kann1)Ger. Verf. Geſ. §. 2 Abſ. 1 3. Die Rechtsanwälte ſind verpflichtet, den Referendaren Anleitung und Beſchäftigung zu geben. R.A.O. §. 40. Siehe oben S. 120. Die Beſchäftigung bei den Rechtsanwälten iſt obligato - riſch; die Landesjuſtizverwaltung kann nicht davon dispenſiren. Vgl. Stenogr. Ber. des Reichst. 1876 S. 175 ff.. Auf dieſe wenigen Beſtimmungen, die nur eine ganz äußerliche Ord - nung der Ausbildung für das Richteramt enthalten, hat ſich die Reichsgeſetzgebung beſchränkt. Es fehlt nicht nur eine materielle Regelung des Univerſitätsſtudiums2)Auch die Ablegung des Abiturienten-Examens auf einem Gymnaſium iſt reichsgeſetzlich nicht erfordert. und der Art und Weiſe des Vorbereitungsdienſtes, ſondern insbeſondere auch eine allgemeine Prüfungsordnung3)Der Grund für dieſe Zurückhaltung war die Rückſicht auf die ſogen. Juſtizhoheit der Einzelſtaaten; der Regierungs-Entwurf des Gerichtsverf. Geſ. enthielt gar keine Beſtimmungen über die Befähigung zum Richteramt; was das Geſetz darüber ſagt, iſt erſt von der Reichstagskommiſſion hinzugefügt worden. Vgl. die intereſſanten Verhandlungen derſelben in den Protokollen 1. Leſung S. 73 ff. (Hahn S. 371 ff.). Den Einzelſtaaten iſt daher der Erlaß von Vorſchriften über die Zuſammenſetzung der Prüfungskommiſſionen, über die Gegenſtände der Prüfungen, über die Art und Weiſe, in welcher dieſelben vorzunehmen ſind, über die an die Kandidaten zu ſtellenden Anforderungen u. ſ. w., überlaſſen. Ebenſo iſt es den Einzelſtaaten freigeſtellt, die Beſchäftigung der Referendarien bei den Gerichten, Rechtsanwälten und Staatsanwaltſchaften zu regeln und die Vertheilung der Vorbereitungszeit zu beſtimmen; ja ſie dürfen ſogar anordnen, daß ein Theil der letzteren, jedoch höchſtens ein Jahr, im Dienſte bei Verwaltungsbehörden verwendet werden muß oder verwendet werden darf4)Gerichtsverf. Geſ. §. 2. Abſ. 4.. Die reichsgeſetzlich145§. 104. Der Gerichtsdienſt.vorgeſchriebenen Zeiträume von je 3 Jahren für das Univerſitäts - ſtudium und für den Vorbereitungsdienſt ſind übrigens nur Mi - nimalanforderungen, über welche die Einzelſtaaten hinausgehen dürfen1)Gerichtsverf. Geſ. a. a. O. und über die ſie zum Theil hinausgegangen ſind. Hie - nach fehlt es an allen reellen und praktiſch wirkſamen Garantien dafür, daß die Vorbildung der richterlichen Beamten in den ver - ſchiedenen Bundesſtaaten eine übereinſtimmende und das von ihnen erforderte Maaß von Kenntniſſen das gleiche iſt und demgemäß konnte das Reich auch keinen Zwang dahin ausüben, daß die in einem Bundesſtaate beſtandene Prüfung oder verwendete Vorbe - reitungszeit von allen anderen Bundesſtaaten anerkannt werde. Nur fakultativ iſt den Bundesſtaaten die Befugniß gewährt, den - jenigen, der in einem andern Bundesſtaate die erſte Prüfung be - ſtanden hat, zur Vorbereitung für den Juſtizdienſt und zur zwei - ten Prüfung zuzulaſſen, ferner die in einem andern Bundesſtaate auf die Vorbereitung verwendete Zeit anzurechnen2)ebendaſ. §. 3., und endlich ſolchen Perſonen richterliche Aemter zu übertragen, welche in einem andern Bundesſtaate die Fähigkeit zum Richteramt erlangt haben3)ebendaſ. §. 5. Dieſe Beſtimmung erſtreckt ſich auch auf diejenigen Per - ſonen, welche in einem Bundesſtaate vor dem Inkrafttreten des Gerichtsverf. - Geſetzes die Fähigkeit zum Richteramte erworben haben, ſelbſt wenn die Er - forderniſſe der früheren Geſetze unter dem vom Gerichtsverf. Geſ. aufgeſtellten Minimum zurückgeblieben waren..

Außerdem ſind die ordentlichen öffentlichen Lehrer des Rechts an den Deutſchen Univerſitäten reichsgeſetzlich als zum Richteramte befähigt erklärt worden4)ebendaſ. §. 4..

Die vom Reich vorgeſchriebenen Erforderniſſe um die Fähig - keit zum Richteramt zu erlangen, ſind aber für die Einzelſtaaten nur dann obligatoriſch, wenn es ſich um die dauernde Verleihung eines wirklichen Richteramtes handelt, nicht um die zeitweilige Wahrnehmung richterlicher Geſchäfte.

In dieſem Punkte hat das Gerichtsverf. Geſ. die landes - geſetzlichen Beſtimmungen unberührt gelaſſen5)ebenda §. 10.; der Autonomie der Einzelſtaaten iſt es daher anheim gegeben zu beſtimmen, daßLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 10146§. 104. Der Gerichtsdienſt.Perſonen, denen die reichsgeſetzlich erforderte Fähigkeit zur Be - kleidung eines Richteramtes fehlt, dennoch fähig ſind, die mit einem Richteramte verbundenen Geſchäfte zeitweilig wahrzunehmen. In - deß iſt hier eine Unterſcheidung zu machen. Die zeitweilige Wahr - nehmung richterlicher Geſchäfte kann entweder einzelne richterliche Handlungen, z. B. Vernehmung von Zeugen, Aufnahme von Er - klärungen, Vereidigungen u. ſ. w., oder den geſammten zu einem richterlichen Amte gehörenden Geſchäftskreis betreffen1)Vgl. auch Protok. der Reichstagskommiſſ. II. Leſung S. 648 ff. (Hahn S. 809.). Hinſichtlich des Erlaſſes von Vorſchriften über die Uebertragung einzelner richterlicher Geſchäfte an Perſonen, denen die Fähigkeit zum Richteramt mangelt, ſind die Einzelſtaaten gänzlich ungehindert2)Die Ausführungsgeſetze der meiſten Einzelſtaaten geſtatten, daß Refe - rendare mit der Wahrnehmung einzelner richterlicher Geſchäfte betraut werden, erklären ſie aber für unfähig zur Urtheilsfällung, zur Aufnahme letztwilliger Verfügungen, zur Entſcheidung über Durchſuchungen, Beſchlagnahmen und Ver - haftungen, ſowie zu den Geſchäften des Amtsrichters bei Bildung der Schöffen - gerichte und Schwurgerichte. So Preußen §. 2, ſämmtliche thürin - giſche Staaten, beide Lippe, Elſaß-Lothringen, Oldenburg u. a. Aehnlich Sachſen §. 21. Baden §. 11. Auch die 3 freien Städte.; hinſichtlich der zeitweiligen Uebertragung eines Richteramtes an eine zur Bekleidung deſſelben unfähige Perſon ſind ſie dagegen durch die Vorſchriften des §. 122 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes über die Berufung von Hülfsrichtern in die Civil - und Strafſenate der Oberlandesgerichte beſchränkt3)In Betreff der Hülfsrichter bei Landgerichten vgl. oben S. 93.. Auch dürfen Staats - anwälte richterliche Geſchäfte nicht wahrnehmen4)Gerichtsverf. Geſ. §. 152..

b) Die Ernennung der Richter erfolgt auf Lebenszeit5)Gerichtsverf. Geſ. §. 6.; daſſelbe gilt zwar auch von der überwiegenden Mehrzahl der anderen Beamten, insbeſondere der berufsmäßig vorgebildeten, hinſichtlich der Richter iſt aber den Einzelſtaaten jede Abweichung von dieſer Regel verboten.

c) In derſelben Weiſe iſt in Betreff der vermögens - rechtlichen Anſprüche der Richter aus ihrem Dienſtverhält - niſſe dasjenige vom Reichsgeſetz zum zwingenden Recht erklärt, was bei andern Beamten regelmäßig ſtattfindet, nämlich daß die Richter147§. 104. Der Gerichtsdienſt.ein feſtes Gehalt mit Ausſchluß von Gebühren beziehen1)Ger. Verf. Geſ. §. 7. Der Anſpruch auf Erſatz der Auslagen und Ver - wendungen (ſiehe oben Bd. I. S. 462 ff. ) wird hiervon nicht berührt. und daß ihnen zur Geltendmachung der vermögensrechtlichen Anſprüche aus ihrem Dienſtverhältniſſe, insbeſondere auf Gehalt, Wartegeld oder Ruhegehalt der Rechtsweg freiſteht2)Gerichtsverf. Geſ. §. 9. Vgl. Bd. I. §. 43..

d) Die wichtigſte Modifikation der allgemeinen Regeln über das Beamtenverhältniß zu Gunſten der richterlichen Beamten be - trifft die Verſetzung, Stellung zur Dispoſition, Suſpenſion und Dienſtentlaſſung3)Vgl. Bd. I. §. 44. 45..

Abgeſehen von den Fällen, in welchen die Suſpenſion vom Amte kraft Geſetzes eintritt, kann ein Richter wider ſeinen Willen nur auf Grund einer richterlichen Entſcheidung dauernd oder zeitweiſe ſeines Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in Ruheſtand verſetzt werden4)Gerichtsverf. Geſ. §. 8. Abſ. 1.. Das Verfahren zur Herbeiführung einer ſolchen richterlichen Entſcheidung ſowie die Gründe, auf welche ſie geſtützt werden kann, müſſen im Wege des Geſetzes beſtimmt werden5)ebendaſ. So lange in einem Bundesſtaat ein ſolches Geſetz nicht er - laſſen iſt, bleibt die Geltung des §. 8 ſuſpendirt. Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. §. 13. Dieſe Beſtimmung iſt nach ihrer praktiſchen Bedeutung eine clausula bajuvarica. Nach dem bayeriſchen Recht hat die Landesregierung die Befugniß, im Intereſſe des Dienſtes einen Richter an eine andere Richter - ſtelle gleicher Klaſſe oder zeitweilig oder dauernd in den Ruheſtand zu verſetzen; dafür iſt dem Richter verfaſſungsmäßig die Unentziehbarkeit des Titels, Ranges und vollen Gehaltes auch im Ruheſtand gewährleiſtet. Dieſe Rechtsſätze ſind für Bayern aufrecht erhalten worden, bis im Wege der Landesgeſetzgebung eine Regelung nach dem im Gerichtverf. Gef. §. 8. aufgeſtellten Prinzip erfolgt. Vgl. die Verhandlungen der Reichstagskommiſſ. Protok. II. Leſ. S. 569 ff. (Hahn S. 748 ff. ) u. S. 758 (Hahn S. 892)..

Hierdurch iſt ausgeſchloſſen, daß ein Richter wider ſeinen Willen im Intereſſe des Dienſtes , d. h. nach Belieben der Ver - waltungsbehörden oder aus Zweckmäßigkeitsrückſichten verſetzt oder aus dem Dienſte entlaſſen werde; es iſt zu jeder Veränderung ſeiner dienſtlichen Stellung im Wege der Verwaltungsverfügung ſeine Einwilligung erforderlich. Eine Ausnahme hiervon iſt nur für den Fall einer Veränderung in der Organiſation der Gerichte10*148§. 104. Der Gerichtsdienſt.oder ihrer Bezirke anerkannt; bei einer Gerichts-Reorganiſation ſind die Landesjuſtizverwaltungen befugt, unfreiwillige Verſetzungen an ein anderes Gericht, auch niederer Ordnung, oder Entfernungen vom Amte, jedoch immer nur unter Belaſſung des vollen Gehalts zu verfügen1)ebenda §. 8 Abſ. 3. Außerdem ſind die Landesjuſtizverwaltungen er - mächtigt worden, innerhalb zweier Jahre nach dem Inkrafttreten des Gerichts - verfaſſungs-Geſetzes bei nothwendiger Einziehung von Richterſtellen die unfrei - willige Verſetzung eines Richters an ein anderes Gericht von gleicher Ord - nung unter Belaſſung des vollen Gehalts und Erſtattung der Umzugskoſten zu verfügen. Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. §. 21..

Es iſt ferner durch die angeführten Beſtimmungen des §. 8 den Einzelſtaaten eine gewiſſe Schranke gezogen hinſichtlich der Regelung der Disciplinarverhältniſſe; die Richter ſind vor Will - kührlichkeiten der Juſtizverwaltung geſchützt und haben im Falle einer Disciplinar-Verfolgung einen Anſpruch auf rechtliches Gehör und auf richterliche Entſcheidung2)Jedoch nur, ſofern es ſich um Verſetzung oder Entlaſſung aus dem Amte handelt; über die Verhängung anderer Disciplinarſtrafen (Verweiſe, Geldſtrafen) hat das Reichsgeſetz gar keine Beſtimmung getroffen, durch welche den Einzelſtaaten eine Norm vorgeſchrieben worden wäre.. Dagegen fehlt es an einer materiell gleichmäßigen Regelung des Disciplinarrechtes für die richterlichen Beamten; das Reichsgeſetz hat nicht einmal die allge - meinſten Grundprincipien darüber aufgeſtellt, weder über die Gründe, aus denen Suſpenſion, Verſetzung oder Entlaſſung zuläſſig iſt, noch über das Disciplinarverfahren, noch endlich über die Bildung und Zuſammenſetzung der richterlichen Disciplinarbehörden. In allen dieſen Beziehungen iſt die Autonomie der Einzelſtaaten eine ſachlich ganz unbeſchränkte und nur an die formale Schranke gebunden, daß der Weg der Geſetzgebung innegehalten werde.

Endlich iſt hervorzuheben, daß die Tragweite des §. 8 nicht ſo weit reicht, als ſein Wortlaut zu ſagen ſcheint; er bezieht ſich nur auf ein disciplinariſches Einſchreiten und läßt die ander - weitigen Vorſchriften über die unfreiwillige Verſetzung oder Ent - laſſung der Richter aus ihrem Amte unberührt; ſo namentlich die Anordnung, daß gewiſſe Verwandte oder Verſchwägerte nicht Mit - glieder deſſelben Gerichtes ſein können3)Vgl. z. B. Bayer. Ausf. Geſ. v. 23. Febr. 1879 Art. 5. Heſſiſches Geſ. v. 31. Mai 1879 Art. 2. Mecklenburg-Schwerin §. 73. Mecklenburg-Strelitz und daß alſo, wenn149§. 104. Der Gerichtsdienſt.Mitglieder eines Gerichtes ſich verſchwägern, eines von ihnen ſein Amt niederlegen oder eine Verſetzung ſich gefallen laſſen muß, ſowie die Beſtimmungen über die Emeritirung von Richtern bei Erreichung eines gewiſſen Lebensalters1)Protok. I. Leſ. S. 575 (Hahn S. 753 vgl. auch S. 919)..

2. Das Dienſtverhältniß der richterlichen Reichs - beamten.

Richterliche Reichsbeamte ſind nur der Präſident, die Senats - präſidenten und die Räthe des Reichsgerichts2)Zu den richterlichen Reichsbeamten gehören allerdings auch die Marine - Auditeure, vgl. Bd. I. S. 369, auf dieſelben finden aber nicht die Vorſchriften des Gerichtsverf. Geſetzes, ſondern die Regeln des Militärrechts Anwendung. Siehe oben Bd. III. 1. S. 119 ff. S. 134.; dagegen ſind die mit Gerichtsbarkeit ausgeſtatteten Reichskonſuln nicht richter - liche Beamte3)Dies wird im §. 13 des Konſulargerichtsbarkeits-Geſetzes durch das argumentum e contrario beſtätigt, indem nur Titel 13 16, nicht auch Titel 1 und 9 des G.V.G. auf die Konſulargerichte für anwendbar erklärt werden.. Für die richterlichen Reichsbeamten gelten die Vorſchriften des Reichsbeamten-Geſetzes v. 31. März 1873, welche jedoch durch folgende, dem Geſetz v. 12. Juni 1869 über die Er - richtung des Reichsoberhandelsgerichts nachgebildete, Beſtimmungen modifizirt ſind:

a) Befähigt zum Mitgliede des Reichsgerichts ernannt zu werden, iſt jeder, welcher in einem Bundesſtaate die Fähigkeit zum Richteramte erlangt und das fünfunddreißigſte Lebens - jahr vollendet hat4)Gerichtsverf. Geſ. §. 127 Abſ. 2.. Die Ernennung erfolgt vom Kaiſer auf Vorſchlag des Bundesrathes5)§. 127 Abſ. 1 ebenda. Dieſe Mitwirkung des Bundesrathes iſt Gegen - ſtand lebhafter Verhandlungen geweſen. Vgl. Protok. I. Leſ. S. 391 ff. (Hahn S. 612 ff.); Präſentationsrechte ein - zelner Staaten für gewiſſe Stellen oder nach einem beſtimmten Turnus ſind geſetzlich nicht anerkannt.

b) Die Anſtellung geſchieht auf Lebenszeit und gegen ein feſtes Gehalt6)Ger. Verf. Geſ. §. 6. u. 7..

c) Die vorläufige Enthebung (Suſpenſion) vom Amte tritt3)§. 67. Lübeck §. 5. Hinſichtl. Elſaß-Lothr. ſiehe Keller Note 4 zu §. 8 des Gerichtsverf. Geſetzes. Auch die Verträge über die Errichtung gemeinſamer Ge - richte enthalten z. Th. Beſtimmungen dieſer Art.150§. 104. Der Gerichtsdienſt.von Rechtswegen ein, wenn gegen ein Mitglied des Reichsgerichts die Unterſuchungshaft verhängt wird, und zwar für die Dauer derſelben; es kann außerdem durch Plenarbeſchluß des Reichs - gerichts nach Anhörung des Ober-Reichsanwalts die vorläufige Enthebung eines Mitgliedes von ſeinem Amte ausgeſprochen wer - den, wenn gegen daſſelbe das Hauptverfahren wegens eines Ver - brechens oder Vergehens eröffnet worden iſt1)Ger. Verf. Geſ. §. 129..

d) Die Entfernung eines Mitgliedes des Reichsgerichts aus dem Amte unter Verluſt des Gehaltes kann durch Plenarbeſchluß des Reichsgerichts nach Anhörung des Mitgliedes und des Ober - Reichsanwalts ausgeſprochen werden, wenn das Mitglied zu einer Strafe wegen einer entehrenden Handlung oder zu einer Freiheits - ſtrafe von längerer als einjähriger Dauer rechtskräftig verurtheilt worden iſt2)Ger. Verf. Geſ. §. 128. Daneben finden ſelbſtverſtändlich auch die Be - ſtimmungen des Reichsſtrafgeſetzbuchs §. 31 u. §. 33. §. 35 Abſ. 2 Anwendung. Vgl. Bd. I. S. 490..

e) Wenn ein Mitglied durch ein körperliches Gebrechen oder durch Schwäche ſeiner körperlichen oder geiſtigen Kräfte zur Er - füllung ſeiner Amtspflichten dauernd unfähig wird, trotzdem aber die Verſetzung in den Ruheſtand nicht beantragt und auch der Aufforderung binnen einer beſtimmten Friſt dieſen Antrag zu ſtellen, nicht Folge leiſtet, ſo kann nach Anhörung des Mitgliedes und des Ober-Reichsanwalts durch Plenarbeſchluß des Reichsgerichts die Verſetzung in den Ruheſtand ausgeſprochen werden3)Ger. Verf. Geſ. §. 131. Das Ruhegehalt berechnet ſich abweichend von den Vorſchriften des Reichsbeamtengeſetzes gemäß den im §. 25 Abſ. 2 u. 3 des Geſetzes v. 12. Juni 1869 bereits ſanctionirten Regeln. Gerichtsverf. - Geſ. §. 130. Vgl. Bd. I. S. 472. 473..

III. Der Gerichtsdienſt im Ehrenamt.

1. Die Handelsrichter werden ernannt und zwar auf gut - achtlichen Vorſchlag des zur Vertretung des Handelsſtandes be - rufenen Organs4)Gerichtsverf. Geſ. §. 112. Den Einzelſtaaten iſt die nähere Bezeichnung dieſes Organes überlaſſen.. Das Reichsgeſetz ſagt zwar nicht ausdrück - lich, von wem die Ernennung erfolgt; da alle Staatsämter aber im Zweifel vom Staatsoberhaupt verliehen werden, ſo iſt dies bei151§. 104. Der Gerichtsdienſt.dem Mangel einer entgegenſtehenden Beſtimmung auch von dem Amt der Handelsrichter anzunehmen, und ſämmtliche Ausführungs - geſetze der Einzelſtaaten, welche ſich überhaupt mit dem Inſtitut der Handelsrichter beſchäftigen, beſtätigen dies ausdrücklich1)Vgl. die Ausführungsgeſetze zum Gerichtsverf. Geſetz für Preußen §. 7. Bayern Art. 1. Württemberg §. 21. Baden §. 8. Braun - ſchweig §. 6. Elſaß-Lothringen §. 1. In den freien Städten übt der Senat das Ernennungsrecht aus. Lübeck §. 4. 29. Bremen §. 85. Hamburg §. 76.. In dieſer landesherrlichen Ernennung der Handelsrichter liegt der prinzipielle Gegenſatz zwiſchen dem Rechtsgrund ihrer Dienſtpflicht und demjenigen der Dienſtpflicht der Schöffen und Geſchworenen; es findet nicht eine durch Geſetz geregelte Heranziehung zur Aus - übung einer allgemeinen Unterthanenpflicht ſtatt, ſondern die Berufung einzelner, als beſonders geeignet erachteter Per - ſonen durch den freien, durch einen gutachtlichen Vorſchlag gelenkten Entſchluß des Landesherrn.

Dem entſprechend hat das Reichsgeſetz auch keine Verpflich - tung zur Uebernahme des Amtes eines Handelsrichters ſanctionirt und die Weigerung mit keiner Strafe bedroht. Es fehlt zwar andererſeits an einer ausdrücklichen Beſtimmung, daß das Amt abgelehnt werden kann, und es ſind daher die Einzelſtaaten aller - dings formell nicht gehindert, im Wege der Landesgeſetzgebung die Annahme der Ernennung für obligatoriſch zu erklären2)Es wird dies auch in den Motiven zum Gerichtsverf. Geſ. S. 134 (Hahn S. 125) hervorgehoben. Gebrauch davon haben nur Bremen (Ausf. Geſ. §. 87) und Hamburg (Ausf. Geſ. §. 77) gemacht.; aber die ganze rechtliche Geſtaltung, welche dieſe Inſtitution im Gerichts - verfaſſungsgeſetz erhalten hat, deutet darauf hin, daß das Amt eines Handelsrichters Niemandem wider ſeinen Willen aufgedrungen werden ſoll3)Dies gilt thatſächlich auch in Bremen und Hamburg; wer nicht Handelsrichter werden will, wird auch nicht dazu ernannt.. Es ergiebt ſich dies ſchon daraus, daß das Reichs - geſetz zwar die Fähigkeit zur Bekleidung des Amtes geregelt, aber nicht die Exkuſationsgründe feſtgeſtellt hat, daß ferner der Dienſt der Handelsrichter nicht auf die Theilnahme an einigen Sitzungen beſchränkt iſt, ſondern ſich auf einen Zeitraum von län - gerer Dauer erſtreckt, und daß endlich die Handelsrichter in Bezug152§. 104. Der Gerichtsdienſt.auf ihre Rechte und Pflichten den richterlichen Beamten gleichge - ſtellt werden1)Dieſe Auffaſſung findet auch eine Beſtätigung in den Motiven S. 129 (Hahn S. 121), woſelbſt es heißt: Auch ein Erſatz der dem Handelsrichter für die etwaigen Reiſen zum Gerichtsort erwachſenden Koſten kann ihm nicht zugeſichert werden. Der außerhalb des Gerichtsorts wohnhafte Kaufmann, der eine Ernennung als Handelsrichter annimmt, läßt ſich dadurch gefallen, daß der Staat während ſeiner Amtsperiode auf ſeine Dienſte am Gerichtsort rechnen kann. .

Die Regelung der Dienſtverhältniſſe der Handelsrichter iſt im Allgemeinen den Einzelſtaaten überlaſſen; das Reichsgeſetz hat ſich darauf beſchränkt, einige Normativbeſtimmungen aufzuſtellen, an welche die Einzelſtaaten gebunden ſind. Auch hierin zeigt ſich die ſtaatsrechtliche Gleichartigkeit des Dienſtverhältniſſes der Han - delsrichter und der berufsmäßigen richterlichen Beamten und der Gegenſatz zu der geſetzlichen Dienſtpflicht der Schöffen und Ge - ſchworenen.

2. Aus dieſen Erörterungen ergiebt ſich, daß die Handels - richter Beamte ſind; ihre Dienſtpflicht beruht auf einer von ihnen acceptirten Anſtellung, einem öffentlichrechtlichen Dienſtvertrage. Der oben Bd. I. §. 37 entwickelte Begriff des Beamten paßt vollkommen auf den Handelsrichter. Dem entſpricht es, daß das Reichsgeſetz ihnen ausdrücklich während der Dauer ihres Amtes in Beziehung auf daſſelbe alle Rechte und Pflichten richterlicher Beamten zuſchreibt2)Gerichtsverf. Geſ. §. 116.. Sie haben daher die Verpflichtung zur Wahrnehmung der Amtsgeſchäfte, ſie bedürfen eines Urlaubs, um davon dispenſirt zu werden, ſie ſind zur Bewahrung des Amts - geheimniſſes verbunden3)Deshalb ſind im §. 200 des angef. Geſ., welcher den Schöffen und Geſchworenen die Amtsverſchwiegenheit auferlegt, die Handelsrichter mit Recht übergangen, da ſich für ſie dieſe Pflicht von ſelbſt aus ihrer Beamtenſtellung ergiebt.; ſie müſſen in demſelben Umfange wie andere Richter den Befehlen der vorgeſetzten Behörden Folge lei - ſten; ſie haben insbeſondere auch die Pflicht eines achtungswür - digen Verhaltens in und außer dem Amt; die für Richter be - ſtehenden Beſchränkungen hinſichtlich der Annahme von Titel, Or - den und Ehrenzeichen, von Geſchenken oder Belohnungen u. ſ. w. finden auch auf ſie Anwendung. Die Handelsrichter ſind daher153§. 104. Der Gerichtsdienſt.auch der Beamten disciplinargewalt unterworfen und zwar nach den für richterliche Beamte geltenden Regeln, ſoweit nicht Landesgeſetze für ſie ſpezielle Vorſchriften enthalten1)Daher unterliegt auch ihr außeramtliches Verhalten der Discipli - nargewalt. Vgl. Motive S. 137 (Hahn S. 127.). Ebenſo ſind die Handelsrichter im Sinne des Strafgeſetzbuchs als Beamte anzuſehen; ſie fallen unter die im §. 359 deſſelben ge - gebene Begriffsbeſtimmung, während Schöffen und Geſchworene nicht darunter fallen2)Vgl. Oppenhof Strafgeſetzb. 5. Ausgabe. Note 16. u. 18 zu §. 359.. Auch die Vorſchrift des Gerichtsverf. Geſ. §. 34 Ziff. 5 findet auf ſie Anwendung3)Motive S. 80 (Hahn S. 84)..

3. Dagegen iſt der Staatsdienſt der Handelsrichter kein be - rufsmäßiger; ſie führen das Amt als Ehrenamt, das heißt unentgeldlich4)Gerichtsverf. Geſ. §. 111.; es finden daher auch die Regeln über Be - förderung, Verſetzung an eine andere Stelle oder in den Ruhe - ſtand auf ſie keine Anwendung; namentlich gilt für ſie nicht das landesgeſetzliche Verbot des Gewerbebetriebes oder des Eintritts in den Vorſtand oder Aufſichtsrath eines Aktienvereins oder einer Erwerbsgeſellſchaft.

4. Die Regeln über die Befähigung zum Richteramt gelten für Handelsrichter nicht5)Gerichtsverf. Geſ. §. 11.; dagegen iſt die Befähigung zu dieſem Amt an folgende 4 Vorausſetzungen geknüpft6)Gerichtsverf. Geſ. §. 113 Abſ. 1.:

  • a) Reichsangehörigkeit,
  • b) Vollendung des dreißigſten Lebensjahres,
  • c) Wohnſitz in dem Bezirke der Kammer für Handelsſachen,
  • d) zum Handelsrichter kann nur ernannt werden, wer als Kaufmann oder als Vorſtand einer Aktiengeſellſchaft in das Handelsregiſter eingetragen oder eingetragen geweſen iſt; an Seeplätzen können Handelsrichter auch aus dem Kreiſe der Schifffahrtskundigen ernannt werden
    7)ebenda §. 114.
    7).

Ausgeſchloſſen ſind außer den Perſonen, denen aus ſtrafrechtlichen Gründen die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter fehlt,154§. 105. Die Zeugenpflicht.diejenigen, welche in Folge gerichtlicher Anordnung in der Ver - fügung über ihr Vermögen beſchränkt ſind1)ebendaſ. §. 113 Abſ. 2..

5. Der Grundſatz, daß die Ernennung der Richter auf Lebens - zeit erfolgt, findet auf Handelsrichter keine Anwendung; ſie werden für die Dauer von drei Jahren ernannt, können aber nach Ablauf dieſer Zeit wieder ernannt werden2)ebenda §. 112.. Wenn ein Handelsrichter während dieſer Zeit eine derjenigen Eigenſchaften verliert, von denen die Befähigung zum Handelsrichteramt abhängig iſt, ſo er - folgt ſeine Enthebung vom Amte, falls er dieſelbe nicht ſelbſt bei dem Landesherrn (oder Senat) beantragt, durch Richterſpruch. Die Entſcheidung erfolgt nach Anhörung des Betheiligten durch den erſten Civilſenat des Oberlandesgerichts3)ebenda §. 117..

6. Die Beiſitzer der Konſulargerichte ſind den Han - delsrichtern in Beziehung auf die ſtaatsrechtliche Natur ihrer Amts - führung an die Seite zu ſtellen; auch ſie werden für einen ge - wiſſen Zeitraum ernannt, es beſteht keine Verpflichtung das Amt zu übernehmen, und daſſelbe wird als Ehrenamt d. h. unentgeldlich geführt. Die Ernennung erfolgt durch den Konſul, eine kaiſerliche Beſtallung wird nicht ertheilt; die Amts - periode dauert ein Jahr, nach deſſen Ablauf eine Wieder-Er - nennung derſelben Perſonen geſtattet iſt. Fähig zu Beiſitzern er - nannt zu werden ſind alle achtbaren Gerichtseingeſeſſenen und in deren Ermangelung alle ſonſtigen achtbaren Einwohner des Konſularbezirks; es iſt alſo nicht einmal die Reichsangehörigkeit ein abſolutes Erforderniß4)Geſ. über die Konſulargerichtsbarkeit v. 10. Juli 1879. §. 7..

§. 105. Die Zeugenpflicht*)Wahlberg in Grünhut’s Zeitſchrift Bd. I. (1874) S. 171 ff. Do - chow, der Zeugnißzwang. Jena 1877. Fr. Oetker in Goltdammer’s Archiv Bd. 26 S. 113 ff. v. Schrutka-Rechtenſtamm, Zeugnißpflicht und Zeugnißzwang im öſterr. Civilproz. Wien 1879. Geyer in v. Holtzen -.

I. Die Verpflichtung, einer Behörde auf Erfordern eine Aus - ſage über das Wiſſen oder Nichtwiſſen von Thatſachen zu machen,155§. 105. Die Zeugenpflicht.kann auf einem zwiefachen Rechtsgrunde beruhen: auf Vertrag oder auf Geſetz. Das ältere germaniſche Recht kannte nur die freiwillig übernommene, vertragsmäßige Zeugenpflicht (testes ro - gati, tracti1)Ebenſo das Römiſche Recht vor Juſtinian für den Civilprozeß; vgl. Wetzell Civilprozeß §. 23 Note 38 (S. 214) v. Schrutka a. a. O. S. 33 ff.); erſt allmälig wurde die geſetzliche Verpflichtung zur Zeugnißablegung für gewiſſe Fälle anerkannt und nach und nach in weiterem Umfang durchgeführt2)Eine nähere Darſtellung dieſer für die geſammte Rechtsgeſchichte wich - tigen Entwicklung kann hier nicht gegeben werden..

Die vertragsmäßige Zeugenpflicht iſt im Weſentlichen eine Pflicht gegen die Partei, wenngleich der Staat zur Erzwingung ihrer Erfüllung behülflich iſt; die geſetzliche Zeugenpflicht iſt ihrer Natur nach eine Pflicht gegen den Staat, und zwar auch dann, wenn ſie nur auf den Antrag einer Partei und im Vermögens - Intereſſe derſelben in Anſpruch genommen wird. Die freiwillig übernommene und die geſetzliche Zeugenpflicht ſind ihrer Natur und ihrem Urſprung nach grundverſchiedene Rechtsbildungen, welche verſchiedenen Zuſtänden des Staates und des Rechtsſchutzes ent - ſprechen. Im heutigen Recht ſind nur noch Reſte der vertrags - mäßigen Zeugenpflicht in dem Inſtitut der Solennitäts - und Ur - kundszeugen vorhanden; die Zeugenpflicht iſt gegenwärtig eine auf Geſetz beruhende öffentlichrechtliche Verpflichtung, welche der Staat auferlegt und deren Erfüllung er im öffentlichen Intereſſe und mit den Mitteln der Staatsgewalt erzwingt.

Die geſetzliche Zeugenpflicht iſt begrifflich nicht beſchränkt auf die Verpflichtung, den Gerichten Ausſagen zu machen und noch viel weniger objectiv auf Thatſachen, welche in einem Straf - prozeß oder Civilprozeß von Erheblichkeit ſind; ſie kann allen Be - hörden gegenüber beſtehen und für alle denkbaren ſtaatlichen Zwecke in Anſpruch genommen werden. Ihrer hiſtoriſchen Ausbildung gemäß iſt aber die Zeugenpflicht eine Gerichtspflicht; ſie wurde vom Staate nur für die Zwecke der Rechtspflege in Anſpruch ge - nommen, nachdem die auf zufälliger Kenntniß beruhende Ausſage*)dorff’s Handbuch des Strafproz. I. S. 268 ff., ſowie deſſen Lehrb. des Straf - prozeßrechts S. 510 ff. v. Lilienthal in v. Holtzendorff’s Rechtslexi - con (3. Aufl.) Bd. III. S. 1420 ff. Daſelbſt S. 1432 ein Verzeichniß der Li - teratur.156§. 105. Die Zeugenpflicht.von Privatperſonen als ein im Prozeß zuläſſiges Beweismittel Anerkennung gefunden hatte. Man darf aber dieſe beiden Dinge, die prozeſſualiſche Zuläſſigkeit des Zeugenbeweiſes und die ſtaatsrechtliche Zeugenpflicht nicht verwechſeln1)Wenn ein Prozeßverfahren wie das altgermaniſche einen Zeugenbeweis überhaupt nicht oder nur in ganz engen Gränzen kennt, ſo giebt es allerdings auch keine geſetzliche Zeugenpflicht; es kann aber der Zeugenbeweis ohne geſetzliche Zeugenpflicht eingeführt werden und zwar nicht blos der Beweis mit Urkundszeugen, die unter Einwilligung beider Parteien gleich beim Ab - ſchluß des Rechtsgeſchäfts als Zeugen deſignirt worden ſind, und ſich gegen Entgeld (Wiſſenspfennige, Urkundsgeld) oder unentgeldlich zur Ablegung des Zeugniſſes für den Fall, daß daſſelbe erforderlich wird, verpflichtet haben, ſon - dern auch der Beweis mit Zeugen aus zufälliger Kenntniß, deren Ausfindig - machung und Production den Parteien überlaſſen iſt. Die Geſchichte des mittelalterlichen Prozeßrechts bietet in dieſer Beziehung einen reichen Stoff.. Für das Staatsrecht kömmt nur die letztere in Betracht; für die wiſſenſchaftliche Erkenntniß ihrer Vorausſetzungen, ihres Umfanges und ihres Inhaltes iſt es aber von größter Wichtigkeit, die Grund - ſätze des Prozeßrechts über den Zeugenbeweis und die Grundſätze des Staatsrechts über die Zeugenpflicht ſcharf auseinanderzuhalten; es kann einerſeits im Prozeß ein Zeugenbeweis ohne correſpon - dirende Zeugenpflicht geſtattet ſein und es kann andererſeits eine Zeugenpflicht auch außerhalb des Prozeſſes durchgeführt werden. Regelmäßig iſt aber im heutigen Recht die eidliche Vernehmung von Zeugen nur den Gerichten übertragen und ebenſo kann der Zwang zur Erfüllung der Zeugenpflicht regelmäßig nur von den Gerichten geübt werden. Aus dieſen Gründen erſcheint die Zeugenpflicht im Großen und Ganzen als eine zu Zwecken der Rechtspflege be - ſtehende Laſt und ihre Geltendmachung als eine Bethätigung der Gerichtsbarkeit. Soweit die letztere vom Reich geordnet iſt, erſtreckt ſich dieſe Regelung auch auf die Zeugenpflicht, nicht blos auf den Zeugenbeweis.

Es ergiebt ſich hieraus ein ſehr wichtiger und in ſeinen prak - tiſchen Conſequenzen weitreichender Satz, nämlich daß eine einheit - liche, umfaſſende und gleichmäßige Normirung der Zeugenpflicht in Deutſchland fehlt. Nur für die zur ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit gehörenden Angelegenheiten iſt in den drei Reichsprozeßordnungen und außerdem für einzelne ſpezielle Fälle in beſonderen Reichsgeſetzen die Zeugenpflicht reichsgeſetzlich aner -157§. 105. Die Zeugenpflicht.kannt und hinſichtlich ihres Umfanges und der Art und Weiſe ihrer Geltendmachung geregelt worden. Die Einzelſtaaten können in dieſer Beziehung das Maß der Zeugenpflicht weder einſchränken noch ausdehnen, da dies eine Abänderung reichsgeſetzlicher Anord - nungen ſein würde, wozu die Einzelſtaaten außer Stande ſind. Dagegen iſt für alle anderen Angelegenheiten, mögen ſie zum Ge - biet der Gerichtsbarkeit gehören oder zu dem der Verwaltung, mögen ſie der Kompetenz der ordentlichen Gerichte zugewieſen oder anderen Behörden übertragen ſein, die Zeugenpflicht der autonomen Regelung der Einzelſtaaten überlaſſen. Soweit aber nicht durch Landesgeſetze in dieſen Sachen eine Zeugenpflicht begründet iſt, beſteht eine ſolche nicht; die Vorſchriften der Strafprozeß - und Civilprozeß-Ordnung finden außerhalb des Gebietes der ordent - lichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit an und für ſich1)d. h. wenn ſie nicht durch beſondere landesgeſetzliche Anord - nung auch auf andere Angelegenheiten für anwendbar erklärt worden ſind. keine Anwen - dung. In allen von den erwähnten Reichsgeſetzen nicht berührten Fällen iſt daher lediglich nach dem Partikularrecht der Einzelſtaaten zu beurtheilen, wer zeugenpflichtig iſt, in welchen Angelegenheiten und gegen welche Behörden die Pflicht zur Ablegung des Zeug - niſſes erfüllt werden muß und welche Rechtsfolgen die Nichter - füllung hat2)Uebereinſtimmend Löwe Note 6 zu §. 51 und Note 1 zu §. 69 der Strafproz. Ordn. u. v. Lilienthal a. a. O. S. 1428..

Da uns hier nur eine Darſtellung des Reichsſtaatsrechts obliegt, ſo fällt dieſer ganze Theil der Lehre von der Zeugen - pflicht, für den es an reichsgeſetzlichen Vorſchriften gänzlich man - gelt, außerhalb unſerer Aufgabe; wir beſchränken uns im Folgen - den ausſchließlich auf die Darſtellung der reichsgeſetzlich geordneten Zeugenpflicht.

II. Das Recht auf Erfüllung der Zeugenpflicht. Es handelt ſich hier um die Frage, welche Behörden können die Ablegung eines Zeugniſſes verlangen und in welchen Angelegen - heiten? Auch hier iſt die ſcharfe Trennung der prozeſſualiſchen und der ſtaatsrechtlichen Seite an die Spitze zu ſtellen. Der Satz, daß ein Beamter zur Vernehmung von Zeugen befugt iſt, kann einen doppelten Sinn haben; einen prozeſſualiſchen d. h. 158§. 105. Die Zeugenpflicht.daß die von ihm vorgenommene Befragung und Vereidigung des Zeugen und die von ihm verfaßte Protokollirung ſeiner Aus - ſage eine ordnungsmäßige, den Formvorſchriften über das Ver - fahren entſprechende iſt; oder einen ſtaatsrechtlichen, d. h. daß ſein Befehl, der Zeugenpflicht zu genügen, ein verbindlicher und zwingender iſt. So iſt z. B. die einem Reichskonſul vom Reichskanzler auf Grund des §. 20 des Konſulatsgeſetzes ertheilte Befugniß zur eidlichen Vernehmung von Zeugen von lediglich pro - zeſſualiſcher Bedeutung; ſie begründet für Niemanden eine ſtaats - rechtliche Verpflichtung, ſich zeugeneidlich vernehmen zu laſſen1)Sie ſteht in dieſer Beziehung auf einer Linie mit den Beſtimmungen der Ausführungsgeſetze zum Gerichtsverf. Geſetz darüber, ob Referendare be - fugt ſind, Zeugen eidlich zu vernehmen oder nicht..

Befugt die Erfüllung der Zeugenpflicht zu gebieten, ſind:

1. Die ordentlichen Gerichte in den zu ihrer Kom - petenz gehörenden Strafſachen2)Strafproz. Ordn. §. 48 ff., bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten3)Civilproz. Ordn. §. 338 ff., und Konkurſen4)Concurs-Ordn. §. 67.. Der Staatsanwaltſchaft ſteht in Strafſachen die Befugniß nicht zu, die Ablegung eines Zeug - niſſes zu verlangen5)Die Staatsanwaltſchaft iſt zwar nach §. 159 der Strafproz. O. befugt, Ermittlungen jeder Art, mit Ausſchluß eidlicher Vernehmungen, entweder ſelbſt vorzunehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizei - und Sicher - heitsdienſtes vornehmen zu laſſen , aber nur ſoweit das Publikum frei - willig ſich bereit finden läßt, den Beamten der Staatsanwaltſchaft oder Polizei Auskunft zu geben; eine Verpflichtung hierzu iſt in keinem Falle begründet und kann auch landesgeſetzlich hinſichtlich der zur ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit gehörenden Angelegenheiten nicht eingeführt werden., und noch viel weniger haben die Polizei - behörden ein ſolches Recht; iſt zum Zweck der Vorbereitung der öffentlichen Klage eine Zeugenvernehmung erforderlich, ſo muß die Staatsanwaltſchaft den Amtsrichter um Vornahme dieſer Handlung erſuchen6)Strafproz. O. §. 160.. Ebenſowenig ſteht in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten einem Schiedsrichter dieſe Befugniß zu; zwar können Schieds - richter wie die Civilproz. Ordn. §. 861 ſagt Zeugen vernehmen, welche freiwillig vor ihnen erſcheinen, ohne daß ſie dieſelben vereidigen dürfen; dieſe Befugniß aber hat jeder Menſch von ſelbſt,159§. 105. Die Zeugenpflicht.ohne daß er einer geſetzlichen Ermächtigung dazu bedarf. Ergiebt ſich in einem ſchieds richterlichen Verfahren die Nothwendigkeit, je - manden zur Ablegung eines Zeugniſſes anzuhalten oder ihm einen Zeugeneid abzunehmen, ſo muß auch hier ein Antrag an das or - dentliche Gericht gemacht werden1)Civilproz. Ordn. §. 862..

2. Die Konſulargerichte haben in demſelben Umfange und nach denſelben Regeln wie die ordentlichen Gerichte die Be - fugniß zur Erzwingung der Zeugenpflicht, da auf das Verfahren dieſer Gerichte in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Konkurs - ſachen die Civilprozeß-Ordnung und die Konkurs-Ordnung2)Geſ. über die Konſulargerichtsbarkeit v. 10. Juli 1879 §. 14. 15. und auf das Verfahren in Strafſachen die Strafprozeß-Ordnung3)ebendaſ. §. 21 ff. für anwendbar erklärt ſind4)Eine ſpezielle Beſtätigung der Befugniß des Konſuls zur eidlichen Ver - nehmung von Zeugen findet ſich ebendaſ. §. 39..

3. Die durch §. 26 des Geſetzes gegen die Socialdemokratie v. 21. Oktob. 1878 eingeſetzte Kommiſſion zur Entſcheidung über Beſchwerden hat das Recht zur Zeugenvernehmung und zur Geltendmachung des Zeugenzwanges nach Maßgabe der Civil - prozeßordnung5)Geſ. v. 21. Okt. 1878 §. 27 Abſ. 1. R. G.Bl. S. 357..

4. In einer Reihe von Fällen, die nicht zur ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit gehören, iſt reichsgeſetzlich die Zeugenpflicht anerkannt; jedoch hinſichtlich der Geltendmachung derſelben eine bemerkenswerthe Unterſcheidung gemacht. Die Behörden, zu deren Reſſort dieſe Angelegenheiten gehören, ſind befugt in dem von ihnen einzuſchlagenden Verfahren Zeugen zu vernehmen, ohne daß ſie der Mithülfe der Gerichte bedürfen, falls der Zeuge ihren Anordnungen Folge leiſtet; in Beziehung auf die Erzwingung der Zeugnißablegung dagegen, alſo in ſtaatsrechtlicher Hin - ſicht, müſſen dieſe Behörden ſich an die ordentlichen Gerichte wen - den, denen es zur Pflicht gemacht iſt, einem darauf gerichteten Erſuchen zu entſprechen. Es beſteht alſo die Zeugenpflicht zwar dieſen Behörden gegenüber, ihre Erfüllung aber kann nur mittel - bar von denſeben erzwungen werden. Dieſe Fälle ſind folgende:

a) Die Poſtbehörden ſind im Strafverfahren bei Poſt -160§. 105. Die Zeugenpflicht.und Portodefraudationen befugt, Zeugen vorzuladen und zu vernehmen. Weigert ſich ein Zeuge der Vorladung Folge zu leiſten, ſo wird er dazu auf Requiſition der Poſtbehörden durch das Gericht in gleicher Art, wie bei gerichtlichen Vorladungen angehalten1)Geſetz über das Poſtweſen v. 28. Okt. 1871 §. 38 (R. G.Bl. S. 355)..

b) Das Patentamt kann im Verfahren wegen Erklärung der Nichtigkeit oder wegen Zurücknahme eines Patentes die Ver - nehmung von Zeugen anordnen. Auf die Zeugen finden die Vor - ſchriften der Civilprozeß-Ordnung auch hinſichtlich der Erfüllung der Zeugenpflicht Anwendung2)Patentgeſetz v. 25. Mai 1877 §. 29 (R. G.Bl. S. 507).. Jedoch erfolgt die Feſtſetzung einer Strafe gegen Zeugen, welche nicht erſcheinen, oder ihre Aus - ſage oder deren Beeidigung verweigern, ſowie die Vorführung eines nicht erſchienenen Zeugen auf Erſuchen durch die Gerichte3)Patentgeſ. §. 31..

c) Die Seeämter und das Ober-Seeamt ſind bei der Unterſuchung von Seeunfällen zur Vernehmung von Zeugen be - fugt. Ueber die Zeugenpflicht finden die Vorſchriften der Straf - proz. Ordn. entſprechende Anwendung. Die Feſtſetzung und Voll - ſtreckung von Strafen gegen Zeugen, ſowie die Vorführung eines nicht erſchienenen Zeugen erfolgt aber auf Erſuchen durch das zuſtändige Gericht4)Geſ. betreffend die Unterſuchung von Seeunfällen vom 27. Juli 1877 §. 19. 30 (R. G.Bl. S. 553. 555)..

d) Die Ehrengerichte der Rechtsanwalts-Kammern haben die Befugniß zur Vernehmung von Zeugen und es beſteht ihnen gegenüber die Zeugenpflicht in dem durch die Strafprozeß - Ordnung normirten Umfang5)Rechtsanwalts-Ordn. §. 66. 86.; die Verhängung von Zwangsmaß - regeln und die Feſtſetzung von Strafen zur Durchführung der Zeugenpflicht erfolgt aber auf Erſuchen durch das Amtsgericht, in deſſen Bezirk der Zeuge ſeinen Wohnſitz oder Aufenthalt hat6)Rechtanwalts-Ordn. §. 87..

4. Es iſt mehrfach die Behauptung aufgeſtellt worden, daß durch §. 40 des Rechtshülfe-Geſetzes eine allgemeine, durch die Gerichte geltend zu machende Zeugenpflicht begründet ſei. Das erwähnte Geſetz lautet: Jeder [Nord] Deutſche iſt verpflichtet,161§. 105. Die Zeugenpflicht.auf Anordnung des Civil - oder Strafgerichts vor demſelben zum Zwecke ſeiner Vernehmung als Zeuge zu erſcheinen, auch wenn er einem andern Bundesſtaate angehört. Würde dieſe Beſtimmung in der That die Bedeutung haben, daß man verpflichtet iſt, jeder Anordnung eines Gerichts, ſich als Zeuge vernehmen zu laſſen, nachzukommen, ſo wäre die Zeugenpflicht ihrem Umfange nach eine unbeſchränkte und nur an die formelle Vorausſetzung gebunden, daß ihre Erfüllung durch ein Gericht geltend gemacht werde. Mit andern Worten: jede Behörde irgend welcher Art könnte in allen Angelegenheiten, gleichviel was ſie betreffen, jeden Deut - ſchen zur Zeugenausſage zwingen, indem ſie ſich zu dieſem Behufe an das zuſtändige Gericht wendet und daſſelbe um die Verneh - mung des Zeugen erſucht. Die vorſtehend unter Ziff. 4 aufge - führten Fälle wären nur einzelne Anwendungen eines ganz allge - meinen Prinzips des öffentlichen Rechts. In dieſer Beziehung iſt nun aber bevor auf den wirklichen Sinn des citirten Geſetzes eingegangen wird ein Punkt hervorzuheben, der in der Pra - xis ſelbſt von den angeſehenſten Gerichtshöfen öfters überſehen worden iſt. Man muß nämlich unterſcheiden zwiſchen der Pflicht der Gerichte, einem Erſuchen anderer Behörden zu genügen, und der Pflicht des Unterthanen zur Ablegung des Zeugniſſes. Es iſt im Allgemeinen davon auszugehen, daß ſich alle Behörden eines Staates gegenſeitig zu helfen und zu unterſtützen haben und daß ſie nicht befugt ſind, amtliche Erſuchen zurückzuweiſen, wofern die - ſelben nicht die Vornahme einer in den Geſetzen verbotenen oder ihre Zuſtändigkeit überſchreitenden Handlung ihnen zumuthen. Dies gilt von den Gerichten nicht minder wie von anderen Behörden. Wenn daher irgend eine Behörde in irgend einer Angelegenheit die eidliche Vernehmung eines Zeugen für erforderlich erachtet, ſo ſteht Nichts im Wege, das zuſtändige Gericht um dieſe Verneh - mung zu erſuchen und das letztere wird dieſes Erſuchen der Regel nach nicht ablehnen dürfen, vorausgeſetzt, daß der bezeichnete Zeuge bereit iſt, eine eidliche Ausſage zu machen. Auch wer nicht ver - pflichtet iſt, ſich vernehmen zu laſſen, wird ja in ſehr vielen Fällen dennoch ſein Zeugniß nicht verweigern und die Funktion des er - ſuchten Gerichts beſteht darin, dieſes Zeugniß in eine authentiſche und beweisfähige Form zu bringen. Ganz verſchieden davon iſt aber die Frage, ob Jemand wider ſeinen Willen gezwungen wer -Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 11162§. 105. Die Zeugenpflicht.den kann, ein Zeugniß abzulegen. Die Pflicht eines Gerichts, einer Requiſition zu genügen, ſchließt nicht die Pflicht des Einzelnen in ſich, zur Erledigung dieſer Requiſition mitzuwirken, und verleiht dem Gericht nicht die Befugniß einen Zwang auszuüben, der in den Geſetzen nicht begründet iſt. Im Falle der berechtigten Zeug - nißverweigerung würde daher das requirirte Gericht dem Erſuchen dadurch genügen, daß es die Zeugnißverweigerung conſtatirt.

Was nun die erwähnte Beſtimmung des Rechtshülfe-Geſetzes anlangt, ſo bezieht ſich dieſelbe gar nicht auf den objektiven Umfang der Zeugenpflicht, ſondern auf den ſubjektiven, d. h. auf den Kreis der verpflichteten Perſonen. Der Schwerpunkt der Rechtsvorſchrift liegt in den Worten: auch wenn er einem andern Bundesſtaate angehört. Das Geſetz verfügt, daß jeder Deutſche nicht blos den Gerichten des Staates, welchem er angehört, ſondern allen Gerichten im ganzen Bundesgebiet gegenüber zeugenpflichtig iſt; aber es ſagt nicht, daß jeder Deutſche in unbedingter und unbeſchränkter Weiſe zeugenpflichtig iſt. Das Rechtshülfe-Geſetz ließ vielmehr in dieſer Beziehung die Landesgeſetze unberührt und hat dies in unzweifelhafter Weiſe ausgeſprochen, indem es der er - wähnten Beſtimmung den Satz beifügte: Dieſe Vorſchrift findet keine Anwendung auf Perſonen, welche nach dem am Wohnſitze derſelben geltenden Rechte nicht verbunden ſind, perſönlich vor Gericht zu erſcheinen oder in der betreffenden Sache Zeug - niß abzulegen. Soweit demnach objektiv eine Zeugenpflicht nach den Partikularrechten nicht beſtanden hat, iſt eine ſolche auch durch das Rechtshülfegeſetz nicht eingeführt worden. Außerdem iſt nicht zu überſehen, daß ſich dieſes Geſetz überhaupt nur auf bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen bezieht und neben den Anordnungen des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und der drei Reichsprozeßordnungen nur noch für diejenigen bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten und Strafſachen, welche nicht zur ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit gehören, in Geltung ſteht, aber nicht auf Verwaltungsſachen anwendbar iſt.

6. Nach dieſen Erörterungen iſt nun auch die ziemlich ſchwie - rige Frage zu entſcheiden, ob im Disciplinar-Verfahren gegen Beamte eine erzwingbare Zeugnißpflicht beſteht und in welchem Umfange. Hier iſt zunächſt der Gedanke abzuweiſen, daß die Vor - ſchriften der Civilprozeß-Ordnung analoge Anwendung finden163§. 105. Die Zeugenpflicht.könnten, wie Dochow a. a. O. S. 58 vorſchlägt. Denn wenn es auch ganz richtig iſt, daß die Handhabung der Disciplinarge - walt an Stelle der Contraktsklage auf Leiſtung ſteht und den Zweck hat, die Erfüllung der Dienſtpflicht des Beamten zu er - zwingen1)Vgl. Bd. I. S. 447 ff., ſo iſt doch eben die Disciplinaranklage keine bürger - liche Contraktsklage, ſondern ein ſtatt derſelben gegebenes Mittel und das Disciplinarverfahren iſt keinenfalls eine bürgerliche Rechtsſtreitigkeit, welche vor die ordentlichen Gerichte gehört.

Ebenſowenig iſt aber die Strafprozeß-Ordnung an und für ſich hier maßgebend. Das Disciplinar-Verfahren iſt zwar dem Strafverfahren nachgebildet und eine große Zahl der in der Strafprozeß-Ordnung enthaltenen Regeln kann auf das Disci - plinarverfahren entſprechende Anwendung erhalten, aber dieſe Aus - dehnung ſetzt eine Anordnung des Geſetzgebers voraus. Denn die Strafprozeß-Ordnung v. 1. Febr. 1877 iſt nicht, wie vielfach behauptet wird2)Vgl. die Erörterung in der Deutſchen Verkehrszeitung 1877 S. 134 ff., eine allgemeine Strafprozeß-Ordnung, welche für jedes auf Verhängung einer Strafe gerichtete Verfahren ſub - ſidiär in Anwendung gebracht werden kann, ſondern ſie iſt reichs - geſetzlich nur eingeführt für diejenigen Strafſachen, welche vor die ordentlichen Gerichte gehören. Selbſt wenn man daher was unrichtig wäre die Disciplinarſachen als eine Unterart der Strafſachen anſehen wollte, ſo fehlt es bei ihnen doch immer noch an der Vorausſetzung, daß ſie vor die ordent - lichen Gerichte gehören. Auch iſt wol zu beachten, daß wenn man auch in prozeſſualer Hinſicht die Adoptirung des in der Straf - prozeßordnung den ordentlichen Gerichten vorgeſchriebenen Ver - fahrens Seitens anderer Behörden für unbedenklich erachten könnte, dies doch nicht in gleicher Weiſe von den ſtaatsrecht - rechtlichen Verpflichtungen der Unterthanen Geltung hat. Auf Grund der Strafprozeßordnung kann daher ein Zeugnißzwang im Disciplinar-Verfahren nicht geltend gemacht werden. Hieraus folgt aber freilich nicht, daß ein ſolcher Zwang überhaupt nicht zuläſſig ſei; er kann vielmehr durch andere Geſetze begründet ſein3)Vgl. Löwe Note 1 zu §. 69 der St. Proz. O.. In dieſer Hinſicht ſind folgende Rechtsſätze feſtzuhalten.

11*164§. 105. Die Zeugenpflicht.

a) Die Einzelſtaaten ſind hinſichtlich des Disciplinarrechts völlig autonom und von Reichswegen ungehindert, die Zeugen - pflicht für Zwecke der Disciplin einzuführen. Soweit durch ältere Geſetze eine Zeugenpflicht und ein Zeugenzwang im Discplinar - verfahren begründet war, iſt durch Einführung der Strafprozeß - Ordnung Nichts daran geändert worden1)wol aber möglicher Weiſe durch die landesgeſetzlich ausgeſprochene gänzliche Aufhebung der älteren Geſetze.. Auch ſteht es den Einzelſtaaten völlig frei, die Beſtimmungen der Strafproz. -Ordnung über die Zeugenpflicht auf das Disciplinarverfahren mit oder ohne Veränderungen für anwendbar zu erklären. Ein näheres Eingehen auf den Rechtszuſtand, der in dieſer Hinſicht zur Zeit in den ein - zelnen Bundesſtaaten beſteht, liegt nicht in unſerer Aufgabe; es genügt die Darlegung des Prinzips2)Vgl. für Preußen: v. Lilienthal a. a. O. S. 1429, deſſen Erörte - rung auf dem richtigen Prinzip beruht..

b) Für das Reichsſtaatsrecht kömmt ausſchließlich das Reichsbeamten-Geſetz v. 31. März 1873 in Betracht. Daſſelbe enthält zwar keine Vorſchrift, welche ausdrücklich und zweifellos die Zeugenpflicht im Disciplinarverfahren ſanctionirt, aus dem Zuſammenhange ſeiner Beſtimmungen ergibt ſich dies aber als der Wille des Geſetzgebers. Zunächſt iſt ein contradiktoriſches Verfahren mit Beweiserhebungen gerade in Disciplinarſachen ohne den Zeugenzwang nur ſchwer durchführbar, da es einem wegen Verletzung der Dienſtpflicht zur Verantwortung gezogenen Beamten verhältnißmäßig leicht gelingen wird, die Belaſtungszeugen zur Verweigerung der Ausſage zu beſtimmen, wenn dies von ihrem freien Belieben abhängig iſt. Der Geſetzgeber kann daher ver - nünftiger Weiſe nicht ein beſtimmt geartetes Disciplinarverfahren anordnen, zugleich aber die zur Durchführung deſſelben unentbehr - lichen Machtmittel verſagen wollen. Das Reichsbeamten-Geſetz enthält ferner mehrfache Beſtimmungen, welche das Recht zum Zeugenzwang ſtillſchweigend vorausſetzen. Nach §. 94 werden die Zeugen in der Vorunterſuchung vernommen und nach Befinden vereidigt; nach §. 96 kann die Staatsanwaltſchaft eine Ergänzung der Vorunterſuchung, alſo auch die Vernehmung weiterer Zeugen beantragen; nach §. 106 muß die Vernehmung der Zeugen auf Antrag der Staatsanwaltſchaft oder des Angeſchuldigten in der165§. 105. Die Zeugenpflicht.mündlichen Verhandlung erfolgen, ſofern die Thatſachen erheblich ſind, über welche die Vernehmung ſtattfinden ſoll; nach §. 107 iſt die Vernehmung eines Zeugen durch einen beauftragten Be - amten geſtattet, wenn dem Erſcheinen deſſelben vor der Disciplinar - kammer Krankheit, große Entfernung oder andere unabwendbare Hinderniſſe entgegenſtehen; hierdurch iſt e contrario die Geſtellungs - pflicht des Zeugen anerkannt, wenn dergleichen Entſchuldigungs - gründe nicht vorliegen; es wäre aber ſinnlos, die Pflicht der Zeugen vor der Disciplinarkammer zu erſcheinen, aber nicht die Pflicht ihr eine Ausſage zu machen, geſetzlich anzuerkennen. Hier - nach ergiebt ſich als der Sinn des Geſetzes, daß die Zeugenpflicht im Disciplinarverfahren gegenüber den Disciplinarkammern und dem Disciplinarhofe (§. 116 Abſ. 4 des Geſ. ) beſteht1)Vgl. auch den S. 163 N. 2 citirten Aufſatz in der Deutſchen Verkehrs - zeitung. Anderer Anſicht iſt v. Lilienthal a. a. O..

In dem Reichsgeſetz fehlen aber Vorſchriften über die Gel - tendmachung des Zeugenzwanges und über die zuläſſigen Zwangs - mittel. Dieſe Unvollſtändigkeit blieb bei dem Erlaſſe des Geſetzes nicht unbemerkt; man war ſich bewußt, daß die Vorſchriften des Beamtengeſetzes über das Disciplinarverfahren einer Ergänzung bedürfen und dieſe Ergänzungen ſollten die Strafprozeß-Ordnungen der Einzelſtaaten bieten2)In den Motiven zum Reichsbeamtengeſetz (vgl. Druckſachen des Reichstages 1872 Nr. 9) S. 43 ff. iſt dies wiederholt hervorgehoben; nament - lich heißt es daſelbſt S. 44: Ueber die Beweisaufnahme, namentlich die Ver - nehmung von Zeugen, deren Vorladung, Zwang zum Erſcheinen und Beeidigung, werden die Regeln des gewöhnlichen Strafver - fahrens gelten müſſen. . An die Stelle der letzteren iſt jetzt die Reichs-Strafprozeß-Ordnung getreten und ſo ergiebt ſich denn als Reſultat, daß die Vorſchriften derſelben über die Zeugenpflicht und den Zeugenzwang im Disciplinar-Verfahren gegen diejenigen Be - amten, auf welche das Reichsbeamtengeſetz v. 31. März 1873 An - wendung findet, Geltung haben.

III. Die zeugenpflichtigen Perſonen. Die Zeugen - pflicht iſt keine Unterthanenpflicht3)Die Anſicht, daß die Zeugenpflicht eine ſtaatsbürgerliche Pflicht ſei, iſt ſehr verbreitet. Auch Dochow a. a. O. S. 28 ff. hält noch an ihr feſt; ebenſo Glaſer in v. Holtzendorff’s Rechtslexicon III. S. 1403 (3. Aufl. 1881). wie die Wehrpflicht oder wie die Gerichtspflicht der Schöffen und Geſchworenen, ſondern ſie iſt166§. 105. Die Zeugenpflicht.lediglich der Reflex eines Zwanges, den die Staatsgewalt zum Zweck der Handhabung des Rechtsſchutzes ausübt, ſie iſt ein An - wendungsfall des Gehorſams gegen die Gerichtsgewalt. Nicht die perſönliche Staats - oder Reichsangehörigkeit iſt eine Voraus - ſetzung der Zeugenpflicht, ſondern dieſelbe trifft jeden, der that - ſächlich d. h. räumlich der Staatsgewalt unterworfen iſt. Es ergeben ſich hieraus folgende Conſequenzen:

1. Perſonen, welche ſich im Inlande aufhalten, ſind zeugenpflichtig, gleichviel ob ſie reichsange - hörig oder fremd ſind. Hiervon ſind nur diejenigen Per - ſonen ausgenommen, welche von der Gerichtsgewalt eximirt ſind; das ſind die Landesherren und die Mitglieder der landesherrlichen Familien, denen die fürſtliche Familie Hohenzollern gleichgeſtellt iſt, und die Chefs und Mitglieder der beim Deutſchen Reich be - glaubigten Miſſionen nach näherer Anordnung der §§. 18 21 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes1)Vgl. oben S. 39 ff. Vgl. Motive zum Gerichtsverf. Geſ. S. 56. (Hahn S. 65 a. E.). Durch dieſe auf der ſtaats - rechtlichen oder völkerrechtlichen Stellung der erwähnten Perſonen beruhenden Exemtion wird aber ſelbſtverſtändlich nicht ausgeſchloſſen, daß ſie als Zeugen vernommen werden können, wenn ſie dazu ſich bereit finden laſſen2)Für die Vernehmung der Landesherren und der Mitglieder der landes - herrlichen Familien iſt in der Strafproz. Ordn. §. 71 und in der Civilproz. O. §. 340 ein beſonderes Verfahren angeordnet oder geſtattet Durch dieſe Vor - ſchriften wird keine ſtaatsrechtliche Zeugenpflicht dieſer Perſonen d. h. die Zuläſſigkeit eines ſtaatlichen Zwanges gegen dieſelben anerkannt, ſondern nur eine Abweichung von dem gewöhnlichen Verfahren für den Fall eingeführt, daß eine der erwähnten Perſonen geneigt iſt, eine Zeugenausſage zu machen. In der Literatur über die Reichsprozeß-Ordnungen wird dies durchweg über - ſehen, aber wol nur, weil hier die ſtaatsrechtlichen Geſichtspunkte gegenüber den prozeßrechtlichen überhaupt zu kurz kommen.. Abgeſehen von dieſen Perſonen giebt es keine Befreiungen von der Zeugenpflicht in ab - stracto, d. h. keine perſönliche Exemtion von der allgemeinen Ver - pflichtung, dem Befehle der Gerichte zur Ablegung eines Zeugniſſes zu gehorchen; die Fälle, in welchen eine Verweigerung des Zeug - niſſes geſtattet iſt, treffen nicht die Zeugenpflicht, ſondern ſetzen beſondere Umſtände der concreten Prozeßſache voraus.

So wenig es Befreiungen von der Zeugenpflicht giebt, eben -167§. 105. Die Zeugenpflicht.ſowenig giebt es eine rechtliche Unfähigkeit zur Erfüllung derſelben1)Auch der wegen Meineids Verurtheilte iſt im Falle des §. 161 des Strafgeſetzb. nicht unfähig zur Ablegung einer Zeugenausſage, ſondern nur zur Ableiſtung eines Zeugen eides. Vgl. Strafproc. O. §. 56 Ziff. 2 Civil - proc. Ordn. §. 358 Ziff. 2. Dagegen kennt das Strafgeſetzb. Art. 34 Ziff. 5 die Strafe der Unfähigkeit Zeuge bei Aufnahme von Urkunden zu ſein ; dies iſt aber kein Fall der geſetzlichen Zeugenpflicht, ſondern der freiwilligen Uebernahme einer Notariatsfunction (vertragsmäßigen Zeugenpflicht).. Es kann zwar prozeſſualiſche Gründe geben, wonach gewiſſe Perſonen überhaupt oder für beſondere Fälle als untauglich zur Erbringung eines Zeugenbeweiſes erachtet werden und ſolange das Prozeßrecht der ſogen. formellen Beweistheorie folgte, gab es bekanntlich ſolche Gründe in erheblicher Zahl; der - artige Vorſchriften des Prozeßrechts über den Zeugenbeweis ſind aber wol zu unterſcheiden von den Regeln des Staatsrechts über die Zeugenpflicht.

2. Perſonen, welche ſich im Auslande befinden, ſind nicht zeugenpflichtig, ohne Unterſchied ob ſie reichsangehörig ſind oder einem fremden Staat an - gehören; denn die inländiſche Gerichtsbarkeit erſtreckt ſich nicht über die Gränzen des Bundesgebietes hinaus. Nur in denjenigen Fällen, in denen ausnahmsweiſe im Auslande eine Gerichtsbarkeit des Reiches oder der Bundesſtaaten ausgeübt wird, beſteht inner - halb des Umfanges derſelben auch eine Zeugenpflicht; dieſe Aus - nahmen ſind die Konſulargerichtsbarkeit2)Konſulargerichtsbark. Geſ. §. 14. 21. und die Gerichtsbarkeit der Marine - und Militärgerichte, wenn Marinetheile oder Truppen - körper ſich im Auslande befinden.

Allerdings können auch Perſonen, die ſich im Auslande auf - halten, in den vor inländiſchen Gerichten ſchwebenden Rechtsſachen als Zeugen vernommen und zu dieſem Zwecke entweder vor das inländiſche Gericht (eventuell vor einen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen befugten Reichskonſul) geladen oder auf Grund einer Requiſition vor dem Gericht ihres Aufenthaltsortes verhört wer - den. Allein im erſten Falle iſt es von dem freien Willen des Zeugen abhängig, ob er ſich zum Zwecke ſeiner Vernehmung an das inländiſche Gericht begeben will; einen Zwang kann das letz - tere gegen ihn weder thatſächlich ausüben, noch iſt es rechtlich dazu168§. 105. Die Zeugenpflicht.befugt und demgemäß iſt eine Zeugenpflicht im ſtaatsrechtlichen Sinne hier nicht vorhanden. Im Falle der Requiſition eines aus - ländiſchen Gerichts aber iſt die Erfüllung der Zeugenpflicht Gehor - ſam gegen die Staatsgewalt (Gerichtsbarkeit) des Staates, in deſſen Gebiet ſich der Zeuge aufhält, nicht Gehorſam gegen das requirirende Gericht. Der erſuchte Staat ſtellt ſeine Gewalt dem erſuchenden Staate zu Dienſten, ohne Unterſchied ob das Erſuchen durch Vermittelung des auswärtigen Amtes und der diplomatiſchen Vertretung oder direct von Gericht zu Gericht ergeht. Dies gilt auch dann, wenn der auswärtige Staat ſich durch Staatsvertrag dem Deutſchen Reich verpflichtet hat, Requiſitionen um Zeugen - vernehmungen zu genügen1)Dies iſt geſchehen für Zeugenvernehmungen in nicht politiſchen Strafſachen in den ſog. Auslieferungsverträgen mit Italien v. 31. Oktob. 1871 §. 12 (R. G.Bl. S. 454), mit der Schweiz v. 24. Jan. 1874 Art. 12 (R. G.Bl. S. 118), mit Belgien v. 24. Dezember 1874 Art. 13 (R. G.Bl. 1875 S. 84), mit Luxemburg v. 9. März 1876 Art. 13 (R. G.Bl. S. 229), mit Braſilien v. 17. Septemb. 1877 Art. 14. (R. G.Bl. 1878 S. 303), mit Schweden und Norwegen v. 19. Januar 1878 Art. 12. 13. (R. G.Bl. S. 121), mit Spanien v. 2. Mai 1878 Art. 13 (R. G.Bl. S. 223).. Hiernach iſt auch die öfters erörterte Controverſe, ob hinſichtlich der Vernehmung eines im Auslande wohnenden Zeugen das Recht des Prozeßgerichts oder das Recht des requirirten Gerichts zur Anwendung komme, leicht zu ent - ſcheiden; man muß nur auch hier die prozeſſualiſchen Sätze von dem Zeugenbeweis und die ſtaatsrechtlichen Sätze von der Zeugen - pflicht auseinander halten. In wiefern eine Perſon ein beweis - fähiges Zeugniß ablegen kann, welche Beweiskraft ihre Ausſage hat, welche Formen bei ihrer Vernehmung zu beobachten ſind, um ihrer Ausſage Beweiskraft zu ſichern u. ſ. w., iſt von dem Pro - zeßgericht nach ſeinem Prozeßrecht zu beurtheilen, da dies einen integrirenden Beſtandtheil der dem Prozeßgericht obliegenden Er - ledigung des Rechtsſtreites bildet; dagegen ob Jemand zeugen - pflichtig iſt oder das Zeugniß verweigern darf und welche Rechts - folgen eine unbegründete Weigerung nach ſich zieht, iſt von dem erſuchten Gericht und zwar nach dem Recht, welches im Gebiet deſſelben gilt, zu beurtheilen, da es ſich hier lediglich um Aus -169§. 105. Die Zeugenpflicht.übung der Gerichtsgewalt desjenigen Staates handelt, in deſſen Gebiet und unter deſſen Schutz der Zeuge ſich befindet1)Vgl. v. Bar Internation. Privat - u. Strafrecht S. 458 ff. 578. Bülow im civil. Arch. Bd. 64 S. 51 ff. Schrutka a. a. O. S. 245 ff..

IV. Aus der dargelegten juriſtiſchen Natur der Zeugenpflicht als eines bloßen Reflexes der ſtaatlichen Gerichtsgewalt ergiebt ſich noch ein anderer Unterſchied gegen die Gerichtspflicht. Die letztere iſt räumlich beſchränkt auf den Gerichtsbezirk, in welchem der Verpflichtete ſeinen Wohnſitz hat; die Zeugenpflicht dagegen erſtreckt ſich über das ganze Bundesgebiet, entſprechend der Ge - richtsbarkeit der ordentlichen Gerichte. Es kann daher ein Gericht zwar der Regel nach nur innerhalb ſeines Bezirks einen Zeugen vernehmen und vereidigen, es kann aber den Befehl ſich vor ihm zur Erfüllung der Zeugenpflicht einzufinden, an jede im Bundes - gebiet befindliche Perſon mit verbindlicher Kraft erlaſſen. Das Gericht hat daher hinſichtlich der außerhalb ſeines Bezirks wohn - haften Zeugen die Wahl zwiſchen zwei Wegen zur Geltendmachung der Zeugenpflicht, entweder die Ladung behufs unmittelbarer Vernehmung, die durch die Mündlichkeit des Verfahrens und das Prinzip der freien Beweiswürdigung als die Regel geboten und in vielen Fällen unentbehrlich iſt, oder die Requiſition des zuſtändigen Amtsgerichts um Vernehmung des Zeugen zu Proto - koll2)Die Vorausſetzungen, unter welchen die Vernehmung des Zeugen durch einen beauftragten oder erſuchten Richter (ausnahmsweiſe) angeordnet werden kann, ſind normirt in der StrafprozeßO. §. 222 u. in der Civilproz. O. §. 340.. Ein Recht auf die letztere Art der Vernehmung haben die zeugenpflichtigen Perſonen nicht; ausgenommen ſind hiervon nur folgende Kategorien:

1. Der Reichskanzler, die Miniſter eines Bundesſtaates, die Mitglieder der Senate der freien Hanſeſtädte, die Vorſtände der oberſten Reichsbehörden und die Vorſtände der Miniſterien ſind an ihrem Amtsſitze oder, wenn ſie ſich außerhalb deſſelben auf - halten, an ihrem Aufenthaltsorte zu vernehmen. Zu einer Ab - weichung hiervon bedarf es in Betreff des Reichskanzlers der Ge - nehmigung des Kaiſers, in Betreff der Miniſter der Genehmigung des Landesherrn, in Betreff der Mitglieder der Senate der Hanſe - ſtädte der Genehmigung des Senats, in Betreff der übrigen vor -170§. 105. Die Zeugenpflicht.bezeichneten Beamten der Genehmigung ihres unmittelbaren Vor - geſetzten1)Strafproz. Ordn. §. 49 Abſ. 1. u. 3. Civilproc. O. §. 347 Abſ. 1 u. 3..

2. Die Mitglieder des Bundesrathes ſind während ihres Auf - enthaltes am Sitze des Bundesrathes an dieſem Sitze, und die Mitglieder einer Deutſchen geſetzgebenden Verſammlung während der Sitzungsperiode und2)d. h. wenn beide Vorausſetzungen zuſammentreffen. Löwe Note 8 zu §. 49 cit. ihres Aufenthalts am Orte der Ver - ſammlung an dieſem Orte zu vernehmen. Zur Abweichung hier - von bedarf es in Betreff der Mitglieder des Bundesraths der Genehmigung des Landesherrn, in Betreff der Mitglieder einer geſetzgebenden Verſammlung der Genehmigung der letzteren3)Strafproc. Ordn. §. 49 Abſ. 2 u. 3. Civilproz. O. §. 347 Abſ. 2 u. 3..

V. Der Inhalt der Zeugenpflicht. Die Zeugen - pflicht hat einen dreifachen Inhalt und löſt ſich demnach in drei Beſtandtheile auf, die in mancher Hinſicht verſchiedenen Regeln unterliegen, nämlich die Pflicht vor Gericht zu erſcheinen (Ge - ſtellungspflicht), die Pflicht die wahrheitsgemäße Ausſage zu ma - chen (Zeugnißpflicht) und die Pflicht, den Zeugeneid zu leiſten.

1. Die Geſtellungspflicht. Wer von einem Gericht als Zeuge geladen iſt, muß dieſem Befehle gemäß ſich vor dem Gericht ſtellen; dies gilt auch von den eben erwähnten hohen Beamten u. ſ. w., welche im §. 49 der Strafproc. O. u. im §. 347 der Civilpr. Ordn. aufgeführt ſind; ihr Privilegium beſteht allein darin, daß die Geſtellungspflicht für ſie auf die Gerichte eines gewiſſen Ortes beſchränkt iſt. Die Geſtellungspflicht iſt derjenige Beſtandtheil der Zeugenpflicht, der den weiteſten Umfang und eine unbedingte Erzwingbarkeit hat; auch diejenigen Perſonen, welche im gegebenen Falle zur Verweigerung der Ausſage geſetzlich be - rechtigt ſind, müſſen der Ladung Folge leiſten. Eine ordnungs - mäßige Ladung muß den Hinweis auf die geſetzlichen Folgen des Ausbleibens enthalten, in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten überdies die Bezeichnung der Parteien und die Thatſachen, über welche die Vernehmung erfolgen ſoll4)Strafproz. O. §. 48 Abſ. 1. Civilproc. O. §. 342. Die Ladung erfolgt auf Anordnung des Gerichts. Im Strafprozeß werden jedoch die zur Haupt - verhandlung erforderlichen Ladungen von der Staatsanwaltſchaft bewirkt und. Die Verletzung der Geſtellungs -171§. 105. Die Zeugenpflicht.pflicht von Seiten eines ordnungsmäßig geladenen Zeugen hat folgende Wirkungen:

a) der ausgebliebene Zeuge iſt in die durch das Ausbleiben verurſachten Koſten, ſowie zu einer Geldſtrafe bis zu 300 Mark und für den Fall, daß dieſe nicht beigetrieben werden kann, zur Strafe der Haft bis zu 6 Wochen zu verurtheilen. Im Falle wiederholten Ausbleibens kann die Strafe noch einmal erkannt werden1)Dagegen iſt eine öftere als zweimalige Beſtrafung des Zeugen in dem - ſelben Prozeß oder wegen deſſelben Gegenſtandes der Befragung ausgeſchloſſen. In den Kommentaren zur Strafproz. O. wird öfters der wiederholten Ladung die neue Ladung gegenübergeſtellt, ſo daß z. B. ein Zeuge erſt zur Vor - unterſuchung, dann zur Hauptverhandlung u. ſ. w. immer von Neuem und jedesmal wiederholt geladen und für ſein Ausbleiben beſtraft werden könnte. Dadurch würde die Abſicht des Geſetzes, die Ungehorſamsfolgen auf ein Ma - ximum zu begränzen, vereitelt werden. Der prozeſſualiſche Begriff der Ladung und die Sylbenſtecherei, ob eine Ladung eine neue oder eine wiederholte ſei, kann nicht allein entſcheiden; es kommt auch auf den Geſichtspunkt an, daß die Zeugenpflicht eine öffentliche Laſt iſt, deren Schwere ſich durch die Folgen ihrer Nichterfüllung weſentlich mit bemißt, ſo daß dieſe Folgen nicht in das Unbegränzte ausgedehnt werden dürfen. Vgl. Voitus Kontro - verſen II. S. 19 ff .. woſelbſt die Aeußerungen der Kommentatoren mitgetheilt ſind. Die richtige Anſicht wird vertreten beſonders von Geyer in Holtzen - dorff’s Handbuch I. S. 271 und von Bindung Grundriß S. 115, indeß hat der erſtere ſeine Meinung geändert. (Lehrbuch des Strafprozeßrechts S. 513.). Eines Antrages auf Verhängung der Strafe bedarf es auch in Civilprozeſſen nicht. Iſt das Ausbleiben des Zeugen genügend entſchuldigt, ſo unterbleibt die Verurtheilung in Strafe und Koſten; erfolgt nachträglich genügende Entſchuldigung, ſo wer - den die gegen den Zeugen getroffenenen Anordnungen wieder auf - gehoben2)Strafproz. Ordn. §. 50 Abſ. 1 u. 2. Civilpr. O. §§. 345. 346..

Dieſe Strafen haben den Charakter der Ordnungsſtrafen4)zwar entweder auf Anordnung des Vorſitzenden des Gerichtes oder aus eigener Entſchließung. Strafproc. O. §§. 213. 220. 221 Abſ. 2; und dem Angeklagten ſteht das Recht zu, Perſonen auch unmittelbar laden zu laſſen, indem er den Gerichtsvollzieher mit der Ladung beauftragt. ebendaſ. §§. 219. 38. Im Civil - proceß wird die Ladung der Zeugen von dem Gerichtsſchreiber unter Bezug - nahme auf den Beweisbeſchluß ausgefertigt und von Amtswegen zugeſtellt. Civilproz. Ordn. §. 342. Die Ladung einer dem aktiven Heere oder der aktiven Marine angehörenden Perſon des Soldatenſtandes erfolgt durch Erſuchen der Militärbehörde. Strafproc. O. §. 48 Abſ. 2. Civilproc. O. §. 343. Vgl. hierzu die Feſtſtellung des Begriffs Militärbehörde im Centralbl. des D. R. 1880 S. 480.172§. 105. Die Zeugenpflicht.wegen Verletzung der Gehorſamspflicht, grade ſo wie dies von der Verletzung der Melde - oder Geſtellungspflicht der Wehrpflichtigen oder von der Verletzung der Gerichtspflicht der Schöffen und Ge - ſchworenen gilt. Das unentſchuldigte Ausbleiben eines ordnungs - mäßig geladenen Zeugen bildet nicht den Thatbeſtand eines De - licts im Sinne des öffentlichen Strafrechts, ſondern einen Unge - horſamsfall gegen einen ſtaatlichen Spezialbefehl und die Strafe hat demgemäß nicht den Charakter einer öffentlichen Strafe, ſon - dern eines Mittels um die gehörige Erfüllung der Gehorſams - pflicht zu ſichern1)Geyer a. a. O.. Die Verurtheilung in Strafe und Koſten er - folgt daher ohne Einleitung eines beſonderen Strafverfahrens durch dasjenige Gericht, vor welches der Zeuge geladen war (Prozeß - gericht, auch die Civilkammern, Unterſuchungsrichter, requirirter Richter), als Incidentpunkt des Prozeſſes, in welchem die Ladung erfolgt iſt2)Vgl. z. B. Civilproz. O. §. 365.. Nur gegen eine dem aktiven Heere oder der aktiven Marine angehörende Militärperſon erfolgt die Feſtſetzung und Vollſtreckung der Strafe auf Erſuchen durch das Militärgericht3)Dem Militärgericht ſteht nicht blos die Ausmeſſung und Vollſtreckung der Strafe, ſondern auch die Entſcheidung über die Strafbarkeit zu. Siehe Voitus Kontroverſen I. S. 20 ff..

b) Der ausgebliebene Zeuge kann zwangsweiſe vorge - führt werden; in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten jedoch nur im Falle wiederholten Ausbleibens. Die Vorführung einer dem ak - tiven Heere oder der aktiven Marine angehörenden Militärperſon erfolgt durch Erſuchen der Militärbehörde4)Strafproz. O. §. 50. Civilproz. O. §. 345 Abſ. 2. Centralbl. 1880 S. 481.. Die zwangsweiſe Vorführung wird durch die Verurtheilung des Zeugen in Koſten und Ordnungsſtrafe nicht ausgeſchloſſen.

c) Wer, als Zeuge berufen, ſein Ausbleiben durch Vorſpiege - lung einer unwahren Thatſache entſchuldigt, wird mit Gefängniß bis zu zwei Monaten beſtraft5)Strafgeſetzb. Art. 138 Abſ. 1. Vgl. über die entſprechende Vorſchrift bei der Gerichtspflicht oben S. 142, bei der Wehrpflicht III. 1 S. 146. 154.. Dies iſt ein öffentliches Delict, auf welches die Vorſchriften des Strafgeſetzbuches und der Straf - proceß-Ordnung uneingeſchränkt Anwendung finden; es handelt ſich hierbei nicht um Sicherung oder Erzwingung des Gehorſams,173§. 105. Die Zeugenpflicht.ſondern um Beſtrafung eines Vergehens; daher werden auch durch dieſe Beſtrafung die auf das Nichterſcheinen geſetzten Ordnungs - ſtrafen nicht ausgeſchloſſen1)Strafgeſetzb. Art. 138 Abſ. 3..

2) Die Pflicht zur Ausſage (Zeugnißpflicht). Der Zeuge iſt verpflichtet über ſeine perſönlichen Verhältniſſe (Alter, Re - ligion, Stand u. ſ. w.) und über diejenigen Umſtände, welche ſeine Glaubwürdigkeit in der vorliegenden Frage betreffen, Auskunft zu ertheilen und im Zuſammenhange anzugeben, was ihm über den Gegenſtand ſeiner Vernehmung bekannt iſt2)Strafproc. O. §§. 67. 68. Civilproc. O. §§. 360. 361.. Die Erfüllung dieſer Pflicht kann jedoch von dem Zeugen unter gewiſſen Umſtänden abgelehnt werden, wenn er durch Abgabe des Zeugniſſes in eine Colliſion mit ſeinem eigenen Intereſſe oder mit andern Pflichten, auf die der Staat Rückſicht nimmt, gerathen würde. Dieſe Aus - nahmen von der Zeugenpflicht ſind von ſehr verſchiedener recht - licher Natur; denn die letztere beſtimmt ſich nicht nach dem Weſen der Zeugenpflicht, ſondern nach dem Weſen derjenigen Intereſſen oder Pflichten, auf deren Berückſichtigung die Ausnahmen beruhen. Es beſteht namentlich darin eine Verſchiedenheit, daß der Grund der Verweigerung entweder im eigenen Intereſſe des Zeugen oder ſeiner Angehörigen oder in einem ihm fremden Intereſſe liegen kann, da ſich hiernach beſtimmt, ob die Verweigerung des Zeug - niſſes von dem eigenen Belieben des Zeugen oder von dem Willen eines Dritten abhängig iſt. Die Ausnahmen von der Pflicht zur Zeugenausſage ſind demgemäß auf zwei Kategorien zurückzu - führen:

a) Im eigenen Intereſſe des Zeugen. Die Angehörigen des Beſchuldigten (im Strafprozeß) oder einer Partei (im Civilprozeß) ſind zur Verweigerung des Zeugniſſes berechtigt und vor ihrer Vernehmung hierüber zu belehren. Als Angehörige gelten in dieſer Hinſicht der Verlobte, der Ehegatte, auch wenn die Ehe nicht mehr beſteht, und diejenigen Perſonen, welche in gerader Linie verwandt, verſchwägert oder durch Adoption verbunden oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt oder bis zum zweiten Grade verſchwägert ſind, auch wenn die Ehe, durch welche die Schwägerſchaft begründet iſt,174§. 105. Die Zeugenpflicht.nicht mehr beſteht1)Strafproz. Ordn. §. 51. Civilproz. O. §. 348 Z. 1 3.. In Civilprozeſſen darf jedoch auch der An - gehörige einer Partei das Zeugniß nicht verweigern über die Er - richtung und den Inhalt eines Rechtsgeſchäfts, bei deſſen Errich - tung er als Zeuge zugezogen war2)In der Zuziehung eines Urkundszeugen und der Uebernahme der Funktion eines ſolchen liegt der Abſchluß eines Zeugenvertrages, welcher eine weitergehende Zeugnißpflicht als die auf Geſetz beruhende begründet., ferner über Geburten, Ver - heirathungen oder Sterbefälle von Familiengliedern, ſowie über Thatſachen, welche die durch das Familienverhältniß bedingten Vermögensangelegenheiten betreffen; endlich über diejenigen auf das ſtreitige Rechtsverhältniß ſich beziehenden Handlungen, welche von ihm ſelbſt als Rechtsvorgänger oder Vertreter einer Partei vorgenommen ſein ſollen3)Civilproz. O. §. 350 Ziff. 1 4..

In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten kann andererſeits die Aus - kunft verweigert werden auf Fragen, welche der Zeuge nicht würde beantworten können, ohne ein Kunſt - oder Gewerbegeheimniß zu offenbaren; oder deren Beantwortung ihm oder einem ſeiner An - gehörigen zur Unehre gereichen oder die Gefahr ſtrafgerichtlicher Verfolgungen zuziehen würde; endlich deren Beantwortung ihm oder einem ſeiner Angehörigen einen unmittelbaren Vermögens - ſchaden verurſachen würde, jedoch auch hier mit Ausſchluß der im §. 350 der Civilpr. O. aufgeführten Fälle4)Civilproz. O. §. 349.. Es iſt dieſe Beſchrän - kung der Zeugenpflicht ſchon durch die praktiſche Erwägung ge - boten, daß ſonſt ein Prozeß zu dem Zwecke angeſtellt werden könnte, um von Jemandem eine Zeugenausſage zu ſeinem eigenen Nachtheil zu erzwingen; ſie iſt aber auch abgeſehen hiervon be - rechtigt, da der Staat ſeinen Unterthanen und Schutzgenoſſen keine Pflicht auferlegen ſoll, welche dieſelben nöthigen könnte, ſich ſelbſt oder ihre Angehörigen zu verrathen, zu beſchädigen oder zu ent - ehren. Deſſenungeachtet iſt im Strafprozeß dieſes Prinzip nur in ſehr unvollkommener Weiſe und in ſehr engen Gränzen anerkannt worden, indem der Geſetzgeber von der Annahme aus - geht, daß im ſtrafprozeſſualiſchen Verfahren ein Mißbrauch des Zeugnißzwanges zu andern Zwecken als den durch die Strafrechts - pflege gebotenen nicht zu befürchten ſei und daß das ſtaatliche175§. 105. Die Zeugenpflicht.Intereſſe an der Strafrechtspflege dem Privatintereſſe vorgehe. Demnach iſt ein Zeuge nur berechtigt, die Auskunft auf ſolche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihm ſelbſt oder einem ſeiner Angehörigen die Gefahr ſtrafgerichtlicher Verfolgung zuziehen würde1)Strafproz. O. §. 54. Vgl. hierzu die Bemerkungen von Löwe..

b) Im fremden Intereſſe. Zur Verweigerung des Zeugniſſes ſind berechtigt Geiſtliche in Anſehung desjenigen, was ihnen bei der Ausübung der Seelſorge anvertraut iſt, und alle anderen Perſonen, welchen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes Thatſachen anvertraut ſind, deren Geheimhaltung durch die Natur derſelben oder durch geſetzliche Vorſchrift geboten iſt, in Betreff der Thatſachen, auf welche die Verpflichtung zur Ver - ſchwiegenheit ſich bezieht2)Civilproz. O. §. 348 Abſ. 1 Ziff. 4. 5.. Hierher gehört auch die Pflicht zur Bewahrung des Dienſtgeheimniſſes Seitens der Beamten; die Wir - kung dieſer Pflicht reicht aber weiter, indem die Beamten zur Ver - weigerung des Zeugniſſes nicht blos berechtigt, ſondern dienſtlich verpflichtet ſind. Der Richter ſoll in den angegebenen Fällen die Verpflichtung zur Verſchwiegenheit auch dann berückſichtigen, wenn das Zeugniß nicht verweigert wird, indem er die Vernehmung der Zeugen auf ſolche Thatſachen nicht zu richten hat, in Anſehung welcher erhellt, daß ohne Verletzung der Verpflichtung zur Ver - ſchwiegenheit ein Zeugniß nicht abgelegt werden kann3)Civilproz. O. §. 348 Abſ. 3.. Da dieſer Weigerungsgrund aber nicht im eigenen Intereſſe des Zeugen wurzelt, ſondern im Intereſſe desjenigen, deſſen Geheimniß er kennt, ſo fällt das Recht zur Verweigerung des Zeugniſſes fort, wenn der Zeuge von der Verpflichtung zur Verſchwiegenheit ent - bunden iſt4)Civilproz. O. §. 350 Abſ. 2. Hinſichtlich der Reichsbeamten ſiehe Reichs - beamtengeſetz §. 12 (Bd. I. S. 422)..

Auch dieſes Prinzip iſt aber im Strafprozeß ſehr erheblich eingeſchränkt; der Staat berückſichtigt die Pflicht zur Verſchwiegen - heit in großem Umfange, wo es ſich um einen Streit über ver - mögensrechtliche Intereſſen handelt, dagegen in viel geringerem Maaße bei der Strafverfolgung. Hier ſind zur Verweigerung der Ausſage nur berechtigt: Geiſtliche in Anſehung desjenigen, was176§. 105. Die Zeugenpflicht.ihnen bei Ausübung der Seelſorge anvertraut iſt; Verthei - diger des Beſchuldigten in Anſehung desjenigen, was ihnen in dieſer ihrer Eigenſchaft anvertraut iſt, falls ſie nicht von der Ver - pflichtung zur Verſchwiegenheit entbunden ſind; und unter der gleichen Einſchränkung Rechtsanwälte und Aerzte in An - ſehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung ihres Berufes anver - traut iſt1)Strafproz. O. §. 52.. Oeffentliche Beamte ſind nicht nur befugt, ſondern auch verpflichtet, über Umſtände, auf welche ſich ihre Pflicht zur Amtsverſchwiegenheit bezieht, die Zeugenausſage auch im Straf - prozeß zu verweigern, und es iſt den Gerichten verboten, ſie über ſolche Umſtände zu vernehmen. Auch dieſe Beſchränkung der Zeug - nißpflicht fällt aber fort, wenn die vorgeſetzte Dienſtbehörde des Beamten (oder bei Beamten außer Dienſt die ihnen zuletzt vor - geſetzt geweſene Dienſtbehörde) die Vernehmung deſſelben geneh - migt2)Für den Reichskanzler bedarf es der Genehmigung des Kaiſers, für die Miniſter der Genehmigung des Landesherrn, für die Mitglieder der Se - nate der freien Hanſeſtädte der Genehmigung des Senats., und dieſe Genehmigung darf nur verſagt werden, wenn die Ablegung des Zeugniſſes dem Wohle des Reiches oder eines Bundesſtaates Nachtheil bereiten würde3)Strafproz. O. §. 53..

Wird die Ablegung des Zeugniſſes ohne Grund oder nach Verwerfung des vorgeſchützten Grundes verweigert4)Ueber das Verfahren behufs Entſcheidung über die Zeugnißpflicht vgl. Civilproz. O. §. 351 354 und Strafproz. O. §. 55., ſo hat dies vollkommen analoge Wirkungen wie die Verletzung der Geſtellungs - pflicht des Zeugen, nämlich:

a) Der Zeuge iſt in die durch die Zeugnißverweigerung ver - urſachten Koſten, ſowie zu einer Geldſtrafe bis zu 300 M. und für den Fall, daß dieſe nicht beigetrieben werden kann, zur Strafe der Haft bis zu ſechs Wochen zu verurtheilen5)Strafproz. O. §. 69 Abſ. 1. Civilproz. O. §. 355 Abſ. 1.. Die Strafe hat den Charakter der Ordnungsſtrafe und es gilt von ihr in allen Beziehungen was oben S. 172 von der Ordnungsſtrafe wegen unentſchuldigten Ausbleibens geſagt iſt.

b) Es kann auf den Zeugen ein Zwang zur Ablegung des Zeugniſſes ausgeübt werden, indem das Prozeßgericht (der177§. 105. Die Zeugenpflicht.Unterſuchungsrichter ꝛc. ꝛc. ) ihn in Haft nehmen läßt. Die Haft darf nicht über die Zeit der Beendigung des Verfahrens in der Inſtanz ausgedehnt werden, da mit dieſem Zeitpunkt die weſent - liche Vorausſetzung für Erfüllung der Zeugenpflicht fortfällt. Das Maximum der Zwangshaft beträgt im Strafprozeß die Zeit von 6 Monaten und bei Uebertretungen die Zeit von 6 Wochen1)Strafproz. O. §. 69 Abſ. 2 u. 4. In dem Verfahren zur Unterſuchung der Seeunfälle findet die Anordnung der Haft zur Erzwingung eines Zeug - niſſes nicht ſtatt. Reichsgeſ. v. 27. Juli 1877 §. 19 Abſ. 2.. In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten kann die Zwangshaft nur im Falle wiederholter Weigerung des Zeugen und nur auf Antrag der Pro - zeßpartei angeordnet werden und es finden auf dieſelbe die Vor - ſchriften über die Haft im Zwangsvollſtreckungsverfahren entſpre - chende Anwendung2)Civilproz. O. §. 355 Abſ. 2. In Entmündigungsſachen kann die Anord - nung der Haft von Amtswegen erfolgen. Civilpr. O. §. 597 Abſ. 4.. Hiernach hat die Partei, welche den An - trag ſtellt, die Koſten, welche durch die Haft entſtehen, einſchließ - lich der Verpflegungskoſten von Monat zu Monat vorauszuzahlen und die Haft darf die Dauer von 6 Monaten nicht überſteigen3)Civilproz. O. §§. 792. 794..

Gegen eine dem aktiven Heere oder der aktiven Marine an - gehörende Militärperſon erfolgt die Feſtſetzung und Vollſtreckung der Strafe und der Zwangshaft auf Erſuchen durch das Militär - gericht4)Strafproz. O. §. 69 Abſ. 5. Civilproz. O. §. 355 Abſ. 4..

3. Die Pflicht zur Eidesleiſtung.

Der Zeuge muß vor ſeiner Vernehmung den Eid leiſten, daß er nach beſtem Wiſſen die reine Wahrheit ſagen, nichts verſchwei - gen und nichts hinzuſetzen werden5)Da die Vernehmung des Zeugen auch die Perſonal - und General - fragen mitumfaßt, ſo muß die Beeidigung des Zeugen vor der Beantwortung derſelben erfolgen. Urth. des Reichsgerichts v. 30. Nov. 1881. (Entſcheidungen in Strafſachen Bd. 3 S. 80.); die Vereidigung kann jedoch aus beſonderen Gründen bis nach Abſchluß der Vernehmung aus - geſetzt werden, in dieſem Falle lautet die Eidesformel aſſertoriſch, daß der Zeuge nach beſtem Wiſſen die reine Wahrheit geſagt, nichts verſchwiegen und nichts hinzugeſetzt habe6)Strafproz. O. §§. 60. 61. Civilproz. O. §§. 356. 357.. Der Schwur erfolgt unter Anrufung Gottes, des Allmächtigen und All -Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 12178§. 105. Die Zeugenpflicht.wiſſenden und ſchließt mit den Worten So wahr mir Gott helfe 1)Strafproz. O. §. 62. Civilproz. O. §. 443.; der Eidesleiſtung wird gleichgeachtet, wenn ein Mit - glied einer Religionsgeſellſchaft, welcher das Geſetz den Gebrauch gewiſſer Betheuerungsformeln an Stelle des Eides geſtattet, eine Erklärung unter der Betheuerungsformel dieſer Religions-Geſell - ſchaft abgiebt2)Strafproz. O. §. 64. Civilpr. O. §. 446..

Aus dem Inhalt des Eides folgt, daß alle Gründe, welche einen Zeugen zur Verweigerung der Ausſage berechtigen, ihn auch von der Eidesleiſtung befreien; dagegen kann der Zeuge zur eid - lichen Verſicherung der Thatſache, auf welche er die Weigerung des Zeugniſſes ſtützt, angehalten werden, wenn er dieſelbe nicht in an - derer Art glaubhaft zu machen vermag3)Strafproz. O. §. 55. Civilpr. O. §. 351 Abſ. 2..

Allein die Pflicht zur Eidesleiſtung tritt nicht in allen Fällen ein, in denen der Zeuge eine Ausſage gemacht hat oder ſie zu machen bereit iſt; vielmehr beſtehen folgende Ausnahmen:

a) Der Eid darf nicht abgenommen werden ſolchen Perſonen, die zur Zeit der Vernehmung das 16. Lebensjahr noch nicht voll - endet oder wegen mangelnder Verſtandesreife oder wegen Ver - ſtandesſchwäche von dem Weſen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorſtellung haben; ſowie denjenigen Perſonen, welche rechtlich unfähig ſind, den Zeugeneid zu leiſten4)Strafproz. O. §. 56 Ziff. 1 u. 2. Civilpr. O. §. 358 Ziff. 1 u. 2. Vgl. Strafgeſetzb. Art. 161..

b) Unbeeidigt zu vernehmen ſind im Civilprozeß Perſonen, welche bei dem Ausgange des Rechtsſtreits unmittelbar betheiligt ſind5)Civilproz. O. §. 358 Ziff. 4; jedoch kann das Prozeßgericht die nach - trägliche Beeidigung anordnen.; im Strafprozeß diejenigen Perſonen, welche hinſichtlich der den Gegenſtand der Unterſuchung bildenden That als Theil - nehmer, Begünſtiger oder Hehler verdächtig oder bereits verur - theilt ſind6)Strafproz. O. §. 56 Ziff. 3. Die ſtreitige Frage, ob im Strafverfahren auch außer den Fällen der §§. 56. 57 die Beeidigung eines vernommenen Zeugen unterbleiben darf, iſt rein prozeſſualiſcher Natur, denn ſie betrifft nicht die Zeugenpflicht, ſondern das Zeugenbeweis-Verfahren. Eine Erörterung derſelben giebt Voitus Kontroverſen Bd. I. S. 176 ff. 295 ff..

179§. 105. Die Zeugenpflicht.

c) Wer zur Verweigerung des Zeugniſſes berechtigt iſt, weil er zum Beſchuldigten in einem Verhältniß der Angehörigkeit ſteht, deſſenungeachtet aber eine Ausſage macht, kann die Beeidigung des Zeugniſſes verweigern und iſt über dieſes Recht zu belehren. Wenn er zur Leiſtung des Eides bereit iſt, hängt es von dem richterlichen Ermeſſen ab, ob er unbeeidigt zu vernehmen oder zu beeidigen iſt1)Strafproz. O. §. 57.. Ebenſo ſind in Civilprozeſſen Zeugen, welche zur Verweigerung des Zeugniſſes berechtigt ſind, weil ſie Angehörige einer Partei ſind, oder welche die Auskunft über Fragen ablehnen dürfen, deren Beantwortung ihnen oder einem ihrer Angehörigen einen unmittelbaren Vermögens-Schaden verurſachen, oder zur Unehre gereichen oder die Gefahr ſtrafgerichtlicher Verfolgung zu - ziehen würde, welche deſſenungeachtet aber eine Zeugenausſage machen, von der Eidesleiſtung frei; das Prozeßgericht kann je - doch ihre nachträgliche Beeidigung anordnen2)Civilproz. O. §. 358 Ziff. 3..

d) In Civilprozeſſen können die Parteien auf die Beeidigung von Zeugen verzichten3)Civilproz. O. §. 356 Abſ. 2..

Die unberechtigte Weigerung der Leiſtung des Zeugeneides hat ganz dieſelben Rechtsfolgen wie die unberechtigte Verweigerung der Ausſage, nämlich Verurtheilung zu den durch die Eidesver - weigerung verurſachten Koſten, Geldſtrafe bis zu 300 M., an deren Stelle im Unvermögensfall Haft bis zu ſechs Wochen tritt, und nach Ermeſſen des Gerichts Haft zur Erzwingung der Eides - leiſtung4)Civilpr. O. §. 355. Strafproz. O. §. 69..

VI. Die Gegenleiſtung des Staates. Die Zeugen - pflicht iſt nicht unentgeltlich zu erfüllen. Jeder Zeuge ohne Unterſchied des Berufes, Alters oder Geſchlechts erhält auf ſei - nen Antrag eine Entſchädigung für Zeitverſäumniß, wofern mit der letzteren nach der Lebensſtellung des Zeugen eine Beeinträch - tigung ſeines Erwerbes verbunden iſt5)Gebührenordnung v. 30. Juni 1878 §. 2. 5.. Wenn das Erſcheinen des Zeugen eine Reiſe erforderlich macht, ſo hat er außerdem An - ſpruch auf Erſtattung der Koſten, welche durch die Reiſe und den12*180§. 105. Die Zeugenpflicht.Aufenthalt am Orte der Vernehmung verurſacht werden1)Civilpr. O. §. 366. Strafproz. O. §. 70. Verordn. über die Errichtung des Patentamts v. 18. Juni 1877 §. 12 (R. G.Bl. S. 536). Gebühren-Ordn. §. 6 ff.. Dieſer Anſpruch richtet ſich gegen die Staatskaſſe, wenn die Ladung des Zeugen von dem Richter oder der Staatsanwaltſchaft erfolgt iſt. In Civilprozeſſen kann das Gericht die Ladung davon abhängig machen, daß der Beweisführer einen Vorſchuß zur Deckung der Staatskaſſe wegen der durch die Vernehmung des Zeugen erwach - ſenden Auslagen hinterlegt2)Civilpr. O. §. 344.. In Strafprozeſſen kann der Ange - klagte Perſonen, deren Ladung der Richter ablehnt, unmittelbar laden; einer ſolchen Ladung braucht der Zeuge aber nur Folge zu leiſten, wenn ihm die geſetzliche Entſchädigung für Reiſekoſten und Verſäumniß baar dargeboten oder deren Hinterlegung bei dem Gerichtsſchreiber nachgewieſen wird; auf Antrag des Angeklagten kann jedoch das Gericht die Uebernahme auf die Staatskaſſe be - ſchließen3)Strafproz. O. §. 219..

Die Höhe der zu zahlenden Gebühren und Entſchädigungen iſt in der Gebühren-Ordnung vom 30. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 173) beſtimmt. Sie gilt für alle ordentlichen Gerichte im ganzen Bundes - gebiet und für die Konſulargerichte4)Geſ. über die Konſular-Gerichtsbarkeit §. 44..

Wenn der Zeuge außerhalb des Bezirks des Gerichtes, vor welches er geladen iſt, ſeinen Aufenthaltsort hat und die Gebühren nach dem Rechte des Aufenthaltsortes höher ſind, ſo können die höheren Beträge gefordert werden5)Gerichtsverf. Geſ. §. 166 Abſ. 2. Nach der Entſtehungsgeſchichte dieſer Vorſchrift iſt es zweifelhaft, ob ſie auch auf die im Ausland wohnenden Zeugen und die höheren Gebührenſätze des ausländiſchen Rechts bezogen werden darf. Sie iſt von der Reichstagskommiſſion (Protok. I. Leſung S. 10 ff. Hahn S. 323 ff. ) beſchloſſen worden mit Rückſicht auf die Verſchiedenheit der Gebührenſätze, welche damals innerhalb des Bundesgebietes be - ſtanden haben und zwar bei Erörterung der Vorſchriften des Gerichtsver - faſſungsgeſetzes über die Rechtshülfe, welche ja nur unter den Gerichten des Bundesgebietes Geltung haben (abgeſehen von den Konſulargerichten). Da - her erklärt ſich, daß die Beſtimmung in dem Titel von der Rechtshülfe ihren Platz gefunden hat, wohin ſie ihrem Inhalte nach nicht gehört. Durch den Erlaß einer Zeugen-Gebühren-Ordnung für das ganze Reich iſt je -.

181§. 105. Die Zeugenpflicht.

VII. Die Pflicht zur Erſtattung ſachverſtändiger Gutachten iſt der Zeugenpflicht analog. Nicht nur prozeßrecht - lich ſteht der Beweis durch Sachverſtändige hinſichtlich des Ver - fahrens zum großen Theil unter denſelben Regeln wie der Zeugen - beweis, ſondern auch ſtaatsrechtlich ſind beide Pflichten gleich - artig1)Auf die Verſchiedenheit zwiſchen der Stellung der Zeugen und der Stellung der Sachverſtändigen im Prozeß iſt hier nicht näher einzugehen. Vgl. hierüber Seuffert Civilprozeß-Ordnung S. 433 ff. Schwarze Straf - proz. Ordn. S. 207 und die daſelbſt Citirten. Ferner Wach Vorträge S. 57 ff. und Binding Grundriß S. 109 ff. und insbeſondere die eingehende hiſtori - ſche und dogmatiſche Erörterung von Obermeyer Die Lehre von den Sach - verſtändigen im Civilprozeß. München 1880.. Nur inſofern macht ſich ein erheblicher Unterſchied bemerk - bar, als die freiwillige Uebernahme dieſer Pflicht in weitem Um - fang zur Anwendung kommt, ſo daß die geſetzliche Verpflich - tung nur ſubſidiär geltend gemacht wird. Es ſind gutachten - pflichtig2)Civilproz. O. §. 372. Strafproz. O. §. 75.:

  • 1) Perſonen, welche zur Erſtattung von Gutachten der erfor - derten Art öffentlich beſtellt ſind, alſo ſich zur Erſtattung derſelben freiwillig verbindlich gemacht haben.
  • 2) Perſonen, welche ſich zur Erſtattung des Gutachtens in der concreten Rechtsſache vor Gericht bereit erklärt haben.
  • 3) Perſonen, welche die Wiſſenſchaft, die Kunſt oder das Ge - werbe, deren Kenntniß Vorausſetzung der Begutachtung iſt, öffent - lich zum Erwerbe ausüben oder zur Ausübung derſelben öffentlich beſtellt oder ermächtigt ſind.

5)doch die Vorausſetzung, von welcher §. 166 ausgeht, in Wegfall gekommen und Abſ. 2 kann keine Anwendung finden, wenn der Zeuge innerhalb des Bundes - gebietes ſich aufhält. Da nun aber die erwähnte Gebühren-Ordnung und das Gerichtskoſtengeſetz gleichzeitig in Kraft getreten ſind und nicht anzunehmen iſt, daß der Geſetzgeber eine Anordnung erläßt, und gleichzeitig die Voraus - ſetzungen ihrer Anwendbarkeit beſeitigt, ſo muß dieſe Anordnung ſo ausgelegt werden, daß ſie eine rechtliche Wirkſamkeit behält, und dies iſt nur der Fall, wenn man ſie auch auf diejenigen vor ein inländiſches Gericht geladenen Zeu - gen, welche im Auslande ihren Aufenthaltsort haben, bezieht. Auch praktiſche Erwägungen ſprechen hierfür; da der Staat keine geſetzlichen Zwangsmittel gegen ſolche Zeugen hat, ſondern darauf angewieſen iſt, daß die letzteren frei - willig der Ladung Folge leiſten, ſo würde er ſeinem eigenen Intereſſe durch ungenügende Entſchädigung des Zeugen entgegenhandeln.

182§. 105. Die Zeugenpflicht.

Wenn Perſonen zur Erſtattung von Gutachten gewiſſer Art öffentlich beſtellt ſind, ſo ſollen andere Perſonen nur dann als Sachverſtändige berufen werden, wenn beſondere Umſtände es er - fordern1)Civilproz. O. §. 369 Abſ. 2. Strafproz. O. §. 73.; hierin liegt die Anerkennung der Subſidiarität der ge - ſetzlichen Begutachtungspflicht.

Dieſelben Gründe, welche einen Zeugen berechtigen, das Zeug - niß zu verweigern, berechtigen einen Sachverſtändigen zur Ver - weigerung des Gutachtens2)Strafproz. O. §. 76 Abſ. 1. Civilproz. O. §. 373. Desgleichen gilt das Verbot, einen öffentlichen Beamten als Sachverſtändigen zu vernehmen, wenn die vorgeſetzte Behörde des Beamten erklärt, daß die Vernehmung den dienſt - lichen Intereſſen Nachtheile bereiten würde.; die Unterſchiede, welche in dieſer Beziehung zwiſchen dem Strafverfahren und dem Civilprozeß hin - ſichtlich der Zeugenpflicht beſtehen, gelten daher auch für die Pflicht als Sachverſtändiger zu fungiren. Allein praktiſch iſt dies von geringer Bedeutung; denn das Gericht iſt befugt, auch aus an - deren Gründen d. h. nach freiem Ermeſſen einen Sachverſtän - digen von der Verpflichtung zur Erſtattung des Gutachtens zu ent - binden, und da nach der Natur der Sache die Fähigkeit zur Be - gutachtung nicht wie die zur Zeugenausſage auf eine oder einige in - dividuell beſtimmte, unvertretbare Perſonen beſchränkt iſt, ſondern den Behörden und Parteien faſt immer die Auswahl unter einer größeren Zahl von Sachverſtändigen frei ſteht, ſo kann man trotz der formellen Anerkennung der geſetzlichen Begutachtungspflicht annehmen, daß in der Regel Niemand gegen ſeinen begründeten Widerſpruch zur Abgabe gerichtlicher Gutachten angehalten wird. Dem entſpricht es, daß ein Zwang zur Abgabe des Gutachtens durch Vorführung oder durch Haft nicht ausgeübt werden darf. Iſt ein zur Erſtattung des Gutachtens (freiwillig oder geſetzlich) verpflichteter Sachverſtändiger gegen den Befehl des Gerichts un - gehorſam, indem er auf Vorladung nicht erſcheint oder indem er ſich weigert, das Gutachten zu ertheilen oder den erforderlichen Eid zu leiſten, ſo iſt er zum Erſatz der dadurch verurſachten Koſten und in eine Ordnungsſtrafe bis zu 300 Mark zu verurtheilen, die im Falle wiederholten Ungehorſams noch einmal und zwar bis zu 600 Mark verhängt werden kann3)Strafproz. O. §. 77. Civilproz. O. §. 374. Gegen Militärperſonen im. Die Subſtituirung183§. 106. Die Koſten und Gebühren.einer Freiheitsſtrafe im Unvermögensfall iſt unzuläſſig. Der Sach - verſtändige hat nicht nur auf Entſchädigung für Zeitverſäumniß und auf Erſtattung der ihm verurſachten Koſten, ſondern außerdem auf angemeſſene Vergütung für ſeine Mühewaltung Anſpruch1)Strafprozeß-Ordn. §. 84. Civilproz. O. §. 378. Verordn. über die Ein - richtung des Patentamts v. 18. Juni 1877 §. 12 (R. G Bl. S. 536).. Die näheren Vorſchriften hierüber ſind in dem Geſetz v. 30. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 173) enthalten.

§. 106. Die Koſten und Gebühren*)Pfafferoth, Das Deutſche Gerichtskoſtenweſen 2. Aufl. 1880. (In Sarwey und Thilo’s Juſtizgeſetzgebung II. Abth. 2. Bd.)..

Zwiſchen der ſtaatsrechtlichen Geſtaltung des Heerweſens und derjenigen des Gerichtsweſens im Deutſchen Reiche beſteht eine der weſentlichſten Verſchiedenheiten darin, daß die Koſten des geſamm - ten Heerweſens gemeinſchaftliche ſind, dagegen die Koſten des Ge - richtsweſens von demjenigen getragen werden, dem die Gerichts - barkeit zuſteht, alſo in der Hauptſache von den Einzelſtaaten und nur hinſichtlich der durch Reichsbehörden ausgeübten Gerichtsbar - keit von dem Reiche. Da die Gerichtsbarkeit aber zugleich eine Quelle ſehr erheblicher Einnahmen iſt, ſo gilt der gleiche Grund - ſatz ſelbſtverſtändlich auch von den Gerichtsgefällen; ſie bilden ein Correlat der mit Ausübung der Gerichtsbarkeit verknüpften Finanz - laſten. Man kann Beides in dem Grundſatz zuſammenfaſſen: Das Reich und die Einzelſtaaten üben die ihnen zuſtehende Ge - richtsbarkeit für eigene Rechnung aus. Hierin liegt der Grund für die erheblich größere Freiheit der Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten auf dem Gebiet der Rechtspflege wie auf dem - jenigen des Heerweſens. Allein von einer ſouveränen Selbſtbe - ſtimmung der Einzelſtaaten iſt auch in dieſer Hinſicht keine Rede; ſie ſind vielmehr in den wichtigſten Beziehungen durch die vom Reiche aufgeſtellten Normen gebunden und auf die Anwendung derſelben in den einzelnen Fällen beſchränkt. Es gilt dies nament - lich von denjenigen Einnahmen, welche einen unmittelbaren Zu - ſammenhang mit der Gewährung des Rechtsſchutzes in den ein - zelnen Rechtsſachen haben und die deshalb mit der Einheitlichkeit3)activen Dienſt erfolgt die Feſtſetzung und die Vollſtreckung der Strafe auf Erſuchen durch die Militärgerichte.184§. 106. Die Koſten und Gebühren.der Gerichtsorganiſation und des gerichtlichen Verfahrens gleich - mäßig geregelt werden mußten, von den Prozeßkoſten. Um das Verhältniß der Autonomie der Einzelſtaaten zu der Geſetzgebung des Reiches zu beſtimmen, iſt daher im Weſentlichen folgende Unterſcheidung zu machen:

Die Autonomie der Einzelſtaaten beſteht hinſichtlich aller der - jenigen Koſten, welche als Staatsverwaltungskoſten von den Staatskaſſen zu tragen ſind, da in dieſer Hinſicht für das Reich keine Veranlaſſung zur Bevormundung der Einzelſtaaten gegeben war; dagegen greift die Reichsgeſetzgebung Platz hinſicht - lich aller derjenigen Koſten, welche von den Parteien zu tragen ſind, und zwar auch dann, wenn die Beträge zunächſt von der Staatskaſſe zu zahlen und von den Parteien nur eventuell ihr zu erſetzen ſind, wie z. B. Gebühren für Zeugen und Sachverſtändige.

Aus dieſem Prinzip ergiebt ſich, daß ſich die Autonomie der Einzelſtaaten erſtreckt: auf alle ſächlichen Ausgaben der Gerichtsverwaltung, auf die Höhe der Reiſekoſten, welche den Schöffen, Geſchworenen und Mitgliedern des Ausſchuſſes zur Auf - ſtellung der Dienſtliſten zu gewähren ſind, und insbeſondere auf die Normirung der Gehalte und anderen Dienſteinkünfte ſowie der Penſionsverhältniſſe aller im Juſtizdienſte berufsmäßig ange - ſtellten Beamten mit Einſchluß der richterlichen. Für die Juſtiz - beamten giebt es keine vom Reiche aufgeſtellten Normalbeſoldungs - ſätze wie für die Offiziere und Militärbeamten.

Dagegen erſtreckt ſich die Reichsgeſetzgebung unter Ausſchluß der einzelſtaatlichen Autonomie für den Bereich der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit auf folgende Punkte:

1. Die Verpflichtungsgründe zur Zahlung oder zur Erſtattung von Prozeßkoſten. Dieſelben ſind in den Prozeß - Ordnungen beſtimmt1)Strafproz. O. §§. 497 505. Civilproz. O. §. 87 ff. u. a. O. Gerichts - koſtengeſetz §. 86 ff.. Die Frage, wer zur Tragung der Prozeß - koſten verpflichtet iſt, bildet einen Nebenbeſtandtheil jeder rechts - hängigen Sache und iſt in jedem einzelnen Falle ex officio durch richterliche Entſcheidung feſtzuſtellen2)Strafproz. O. §. 496. Civilproz. O. §. 279 Abſ. 2.. Eine nähere Erörterung dieſer Verpflichtungsgründe iſt ohne ſtaatsrechtliches Intereſſe; ſie185§. 106. Die Koſten und Gebühren.beruhen auf dem durch die Natur der Sache gebotenen Prinzip, daß derjenigen Partei die Koſten des Verfahrens oder einzelner Theile deſſelben aufzuerlegen ſind, welche dieſe Koſten veranlaßt hat1)Hierüber finden ſich Erläuterungen in ſämmtlichen Kommentaren zu den 3 Prozeßordnungen. Ferner für den Strafprozeß: Meves in v. Holtzendorff’s Handbuch Bd. II. S. 497, Wieding in v. Holtzendorff’s Rechtslexikon Bd. II. S. 567 und Binding Grundriß S. 147 ff. Für den Civilprozeß: Endemann Civilproz. Bd. III. S. 577 ff. Hin - ſchius im citirten Rechtslexikon Bd. II. S. 569 und beſonders Fitting Reichscivilprozeß §. 94 ff. Vgl. auch Menger in Grünhut’s Zeitſchrift Bd. VII. S. 656 ff.. Hervorzuheben iſt in dieſer Hinſicht nur, daß die noth - wendigen Auslagen, welche einem freigeſprochenen oder außer Verfolgung geſetzten Angeſchuldigten erwachſen ſind, der Staats - kaſſe auferlegt werden können2)Strafproz. O. §. 499 Abſ. 2. §. 505 Abſ. 1..

2. Die Verpflichtungsgründe zur Sicherheits - leiſtung. Im Strafprozeß kann vor der gerichtlichen Ent - ſcheidung über einen Antrag auf Strafverfolgung dem Antrag - ſteller die Leiſtung einer Sicherheit für die durch das Verfahren über den Antrag und durch die Unterſuchung der Staatskaſſe und dem Beſchuldigten vorausſichtlich erwachſenden Koſten durch Be - ſchluß des Gerichts auferlegt werden3)Strafproz. Ordn. §. 174..

In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und bei Strafſachen in dem Verfahren auf erhobene Privatklage beſteht eine zweifache Verpflichtung zur Sicherheitsleiſtung, ſowohl dem Gegner als dem Fiskus gegenüber.

a) Der Gegenpartei iſt auf deren Verlangen Sicherheit wegen der Prozeßkoſten zu leiſten von einem Ausländer, wel - cher als Kläger auftritt, ſoweit nicht eine der im §. 102 Ziff. 1 5 der Civilpr. O. aufgeführten Ausnahmen begründet iſt4)Civilproz. Ordn. §. 102. 103. Strafproz. O. §. 419..

b) Dem Fiskus iſt Sicherheit für die Koſten unter dem Namen Gebührenvorſchuß zu leiſten. Der Gebührenvor - ſchuß iſt von dem Antragſteller für jede Inſtanz zu entrichten, auch von dem Widerkläger und im Falle wechſelſeitig eingelegter Rechts - mittel von jeder Partei5)Gerichtskoſtengeſ. §. 81.; ferner im Konkursverfahren von dem186§. 106. Die Koſten und Gebühren.Antragſteller bei dem Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens, bei der Anmeldung einer Konkursforderung nach dem Ablaufe der Anmeldefriſt, und bei dem Antrag auf Anordnung einer Sicher - heitsmaßregel (Konk. O. §. 183 Abſ. 2)1)Gerichtskoſtengeſ. §. 82.; endlich in Strafſachen von dem Privatkläger oder demjenigen, welcher als Privatkläger eine Berufung oder Reviſion einlegt oder Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt, ſowie von dem Nebenkläger, welcher eine Berufung oder Reviſion einlegt2)Gerichtskoſtengeſ. §. 83.. In Strafſachen beträgt der Gebührenvorſchuß 10 Mark für jede Inſtanz, in bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten ſoviel, wie die höchſte Gebühr, welche für einen Akt der Inſtanz zum Anſatze kommen kann; für Ausländer, welche als Kläger auftreten, wird der Betrag verdreifacht, wofern nicht eine der im §. 85 Ziff. 1 6 des Gerichtskoſtengeſetzes aufge - führten Ausnahmen begründet iſt3)Gerichtskoſtengeſ. §. 81. 83. 85.. Außerdem iſt in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und im Strafverfahren auf erhobene Privat - klage bei jedem Antrag auf Vornahme einer Handlung, mit wel - cher baare Auslagen verbunden ſind, ein zur Deckung derſelben hinreichender Vorſchuß an den Antragſteller zu zahlen4)Gerichtskoſtengeſ. §. 84..

3. Befreiungsgründe von der Pflicht zur Zahlung der Gebühren oder des Gebührenvorſchuſſes können im Wege der Au - tonomie von jedem Staate für das Verfahren vor ſeinen Gerichten anerkannt werden; demgemäß ſind die landesgeſetzlichen Vorſchriften, welche für gewiſſe Rechtsſachen oder für gewiſſe Perſonen in dem Verfahren vor den Landesgerichten Gebührenfreiheit gewähren, durch die Reichsgeſetzgebung unberührt geblieben5)Gerichtskoſtengeſ. §. 98 Abſ. 2.. Für das Verfahren vor dem Reichsgerichte kann die Befreiung von Gebühren durch Kaiſerl. Verordnung mit Zuſtimmung des Bundesraths ge - währt werden6)Gerichtskoſtengeſ. §. 98 Abſ. 3..

Jedoch ſind reichsgeſetzlich folgende Befreiungen von Gebühren und Gebührenvorſchuß anerkannt:

a) Volle Gebührenfreiheit ſteht zu dem Reich in dem187§. 106. Die Koſten und Gebühren.Verfahren vor den Landesgerichten und den Bundesſtaaten in dem Verfahren vor dem Reichsgerichte1)Gerichtskoſtengeſ. §. 98 Abſ. 1. Die Gebührenfreiheit involvirt aber nicht die Befreiung von der Pflicht, die erwachſenden Auslagen zu erſetzen. In dem Gerichtskoſtengeſetz werden durchweg Gebühren und Auslagen ſcharf von einander unterſchieden..

b) Befreiung von der Sicherheitsleiſtung für die Prozeßkoſten und einſtweilige Befreiung von der Berichtigung der rückſtän - digen und künftig erwachſenden Gerichtskoſten, einſchließlich der Gebühren der Beamten, der den Zeugen und den Sachverſtändigen zu gewährenden Vergütung und der ſonſtigen baaren Auslagen, ſowie der Stempelſteuer erlangt eine Partei in bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten durch Bewilligung des Armenrechts2)Civilproz. O. §. 107 Ziff. 1 und 2. Die Vorſchriften der Civilproz. O. über das Armenrecht finden auch auf Konkursſachen Anwendung. Konk. O. §. 65.. Auf Be - willigung des Armenrechts hat nur Anſpruch, wer außer Stande iſt, ohne Beeinträchtigung des für ihn und ſeine Familie nothwen - digen Unterhalts die Koſten des Prozeſſes zu beſtreiten3)Der Nachweis iſt zu führen durch eine von der obrigkeitlichen Be - hörde der Partei ausgeſtelltes Zeugniß. Civilproz. O. §. 109 Abſ. 2.; es iſt zu verſagen, wenn die beabſichtigte Rechtsverfolgung oder Rechts - vertheidigung muthwillig oder ausſichtslos erſcheint4)Civilproz. O. §. 106 Abſ. 1..

Ausländer haben auf das Armenrecht nur inſoweit Anſpruch, als die Gegenſeitigkeit verbürgt iſt5)ebendaſ. Abſ. 2., was in der Regel nur durch Abſchluß eines Staatsvertrages geſchehen kann6)Vgl. z. B. die Vereinbarung mit Belgien v. 18. Oktober 1878, mit Luxemburg v. 12. Juni 1879, mit Italien v. 1. Oktob. 1879 (R. G.Bl. 1879 S. 316. 318. 312.). Ueber das Ge - ſuch um Bewilligung des Armenrechts entſcheidet das Prozeßge - richt und zwar erfolgt die Bewilligung für jede Inſtanz beſonders7)Civilproz. O. §§. 109. 110. 117. 118. Daher kann nach Erledigung einer Inſtanz für dieſelbe das Armenrecht nicht mehr bewilligt werden. Beſchl. des Reichsgerichts v. 27. Juli 1880. Entſcheidungen in Civilſachen Bd. II. S. 378.. Das Armenrecht kann zu jeder Zeit entzogen werden, wenn ſich ergiebt, daß eine Vorausſetzung der Bewilligung nicht vorhanden war oder nicht mehr vorhanden iſt, und es erliſcht mit dem Tode der Perſon, welcher es bewilligt iſt8)Civilproz. O. §§. 112. 113.. Sobald die Partei, der188§. 106. Die Koſten und Gebühren.das Armenrecht gewährt iſt, ohne Beeinträchtigung des für ſie und ihre Familie nothwendigen Unterhalts dazu im Stande iſt, beſteht für ſie die Verpflichtung zur Nachzahlung der Beträge, von deren Berichtigung ſie einſtweilen befreit war1)Civilproz. O. §. 116..

c) Den Gerichten iſt die Befugniß ertheilt, Gebühren, welche durch eine unrichtige Behandlung der Sache ohne Schuld der Betheiligten entſtanden ſind, niederzuſchlagen und für ab - weiſende Beſcheide, wenn der Antrag auf nicht anzurechnender Un - kenntniß der Verhältniſſe oder auf Unwiſſenheit beruht, Gebüh - renfreiheit zu gewähren2)Gerichtskoſtengeſetz §. 6..

4. Reichsgeſetzlich feſtgeſtellt iſt die Höhe der Gebühren für das gerichtliche Verfahren3)Gerichtskoſtengeſetz §. 18 78. Geſetz v. 29. Juni 1881 (R. G.Bl. S. 178 ff.) Art. 1. ſowie das Verzeichniß derjenigen baaren Auslagen, welche außer den Gebühren erhoben werden dürfen4)Gerichtskoſtengeſ. §. 79. Geſ. v. 29. Juni 1881 Art. 2.. Daſſelbe gilt von den Gebühren und Auslagen, welche Gerichtsvollzieher für die ihnen obliegenden Geſchäfte in den vor die ordentlichen Gerichte gehörigen Rechtsſachen erheben dürfen, jedoch nur inſoweit eine der 3 Prozeßordnungen Anwendung findet5)Gebührenordnung für Gerichtsvollzieher v. 24. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 166 ff.). Geſ. v. 29. Juni 1881 Art. 3.. In dieſer Hinſicht iſt indeſſen der Autonomie der Einzelſtaaten ein, freilich ſehr beſchränkter, Spielraum gewährt6)§§. 24 u. 25 der citirten Gebühren-Ordnung.. Endlich ſind auch die den Zeugen und Sachverſtändigen in den zur ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit gehörenden Rechtsſachen zu gewährenden Ver - gütungen in dem Reichsgeſ. v. 30. Juli 1878 (R. G.Bl. S. 173) feſtgeſetzt.

5. Zum Zweck der Einziehung von Gebühren und Auslagen ſind die Behörden im ganzen Bundesgebiet einander Beiſtand zu leiſten verpflichtet. Die näheren Anordnungen hierüber ſind vom Bundesrath zu erlaſſen7)Gerichtskoſtengeſetz §. 99.. Auf Grund dieſer Ermächtigung hat der Bundesrath in der Sitzung vom 23. April 1880 eine An - weiſung beſchloſſen8)Dieſelbe iſt abgedruckt im Centralbl. f. d. D. Reich 1880 S. 278..

189§. 106. Die Koſten und Gebühren.

Ueber die Einziehung und Verrechnung der für die Geſchäfte des Reichsgerichts in Anſatz kommenden Koſten iſt vom Bun - desrath am 21. Juni 1879 eine Dienſtweiſung beſchloſſen wor - den1)Abgedruckt im Centralbl. f. d. D. Reich 1879 S. 473 ff.. Ueber die Koſten und Gebühren der Konſularge - richte vgl. §. 44 des Geſetzes über die Konſulargerichtsbarkeit und die hierzu ergangene Inſtruction des Reichskanzlers v. 10. Sep - tember 18792)Centralbl. f. das D. R. 1879 S. 578..

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Zwölftes Kapitel. Das Finanzweſen des Reiches.

Erſter Abſchnitt. Das Reichsvermögen.

§. 107. Der Reichsfiskus*)Vgl. außer meinen Erörterungen in Hirth’s Annalen 1873 S. 408 ff. Seydel Das D. Reich als Privatrechtsſubject in Behrend und Dahn’s Zeitſchrift f. die Deutſche Geſetzgebung Bd. VII. S. 226 ff. (1874); Böhlau Mecklenburgiſches Landrecht Bd. III. 1. Abth. S. 4 ff. (1880); Reincke Betrachtungen über Entſtehung und Rechtsſtellung des Deutſchen Reichsfiskus in (Gruchot’s) Beiträgen zur Erläuterung des Deutſchen Rechts von Raſſow und Küntzel. Bd. 23 S. 481 ff. (1879)..

I. Die Frage, ob das Deutſche Reich in vermögensrechtlicher Beziehung nach Art einer Societät oder nach Art einer Korporation conſtituirt iſt und ob es nicht blos eine Reichskaſſe als Vereins - kaſſe, ſondern einen wirklichen Reichsfiskus als ſelbſtſtändiges Vermögensſubject giebt, iſt in der Verfaſſungs-Urkunde ſelbſt nicht unmittelbar und ausdrücklich beantwortet. Der Ausdruck Bundes - fiskus oder Reichsfiskus kommt darin nicht vor; ebenſowenig iſt ein ſelbſtſtändiges Vermögen des Reiches erwähnt. Es giebt nur gemeinſchaftliche Einnahmen und Ausgaben der Reichskaſſe , deren Differenz durch Beiträge der einzelnen Bundesſtaaten ge - deckt werden ſoll; auch kann in Fällen eines außerordentlichen Be - dürfniſſes die Aufnahme einer Anleihe zu Laſten des Reiches erfolgen1)Vgl. R.V. Art. 70. 73; ferner Art. 38. 39. 49. 53.. Die Annahme einer privatrechtlichen Perſönlichkeit iſt durch dieſe Beſtimmungen nicht nothwendig geboten; ſie laſſen die Conſtruction eines unter den Bundesmitgliedern beſtehenden Ge -191§. 107. Der Reichsfiskus.ſellſchafts-Verhältniſſes zu1)Annalen a. a. O. S. 408. Die Anſicht, daß im Nordd. Bunde ein Bundesfiskus juriſtiſch nicht exiſtirte, wurde von v. Martitz Betrachtungen ꝛc. S. 35 vertreten, dem Seydel a. a. O. S. 227 zuſtimmt.; und es hat wol auch thatſächlich bei der Errichtung des Norddeutſchen Bundes darüber keine Klarheit beſtanden, ob ſich der Begriff des Fiskus dem neu geſchaffenen politiſchen Organismus werde einfügen laſſen oder ob das die Ver - faſſung des Zollvereins beherrſchende Societätsprincip auch in das neue Bundesverhältniß werde herübergenommen werden können und ſich als ausreichend erweiſen würde. Für die Finanz wirth - ſchaft des Bundes war das zuletzt erwähnte Princip nicht nur Anfangs maßgebend, ſondern noch gegenwärtig beherrſcht es das Finanzweſen des Reiches.

Allein die Exiſtenz eines Reichsfiskus im juriſtiſchen Sinne des Wortes d. h. als eines von der privatrechtlichen Perſönlichkeit der Bundesglieder verſchiedenen und ihnen gegenüber unabhängigen Privatrechtsſubjekts ergiebt ſich aus der ſtaatsrechtlichen Natur des Reiches als eines Bundesſtaats. Denn da es ein unbezweifelter Satz des gemeinen Rechts iſt, daß jeder Staat ipso jure eine ſelbſt - ſtändige, unabhängige privatrechtliche Perſönlichkeit hat, ohne daß ſie ihm durch ausdrückliche Geſetzesbeſtimmung beigelegt zu werden braucht, ſo nimmt auch der Bundesſtaat, der ja ein wahrer und wirklicher Staat iſt, an dieſer allgemeinen Eigenſchaft aller Staaten Theil2)Annalen S. 409. 410. Uebereinſtimmend Böhlau S. 5. Zorn in v. Holzendorff’s Rechtslexicon Bd. III. S. 376.. Seitdem der Deutſche Bundesſtaat ſeine politiſche Thätig - keit entfaltet und fortgebildet hat, iſt auch in der Geſetzgebung der Reichsfiskus poſitiv anerkannt worden und die rechtliche Exiſtenz deſſelben unterliegt zur Zeit keinem Zweifel mehr3)Die Geſetze aus der Zeit des Nordd. Bundes vermeiden Anfangs noch den Ausdruck Bundesfiskus und umſchreiben ihn mit Worten wie Bundes - mittel, Bundeskoſten, Bundeskaſſe oder durch Angabe der zu ſeiner Vertretung befugten Behörde. Siehe die näheren Nachweiſungen Annalen S. 410 a. E. Die Bezeichnung Bundesfiskus findet ſich zuerſt in dem Geſetz v. 1. Juni 1870 über die Flößerei-Abgaben. Seit Gründung des Deutſchen Reiches da - gegen wird der Ausdruck Reichsfiskus in der Reichsgeſetzgebung durchweg angewendet..

II. Der Reichsfiskus iſt identiſch mit dem Reich; er bezeichnet das Reich als Vermögensſubjekt. Daraus folgt, daß es nur192§. 107. Der Reichsfiskus.Einen Reichsfiskus giebt. Sowie das Reich in ſtaatsrechtlicher Hinſicht eine Perſon, d. h. ein einheitliches Subjekt von Hoheits - rechten iſt, trotz der großen Verſchiedenheit der Formen und Regeln, welche für die Ausübung der einzelnen Hoheitsrechte gelten, ſo iſt auch das Reich in privatrechtlicher Hinſicht eine Perſon d. h. ein einheitliches Subjekt von Vermögensrechten, unbeſchadet der Mannig - faltigkeit von Vorſchriften, nach denen die Verwaltung der ver - ſchiedenen Vermögensmaſſen ſich richtet. Da die einzelnen Ver - mögensmaſſen (Fonds) aber theils rechnungsmäßig von einander geſondert werden müſſen, um ſie ihrem beſtimmungsmäßigen Zweck zu erhalten, theils die Verwaltung derſelben im engſten Zuſammen - hange mit der Organiſation der einzelnen Reſſorts geordnet iſt, ſo liegt es nahe, den Reichsfiskus dieſer Gliederung entſprechend zu ſpecialiſiren und z. B. einen Poſtfiskus oder Marinefiskus aus dem allgemeinen Reichsfiskus herauszuheben. Dieſer Sprach - gebrauch findet ſich auch in der Reichsgeſetzgebung1)z. B. Militärpenſionsgeſetz v. 27. Juni 1871. §. 116.; er darf aber nicht dazu verleiten, mehrere von einander ſelbſtſtändige d. h. als Perſonen des Privatrechts conſtituirte Specialfisci des Reiches an - zunehmen. Es ſind nur Bezeichnungen des einheitlichen Reichs - fiskus mit Bezug auf einzelne Fonds oder einzelne Verwaltungs - zweige.

Hieraus ergiebt ſich eine für das Finanzrecht ſehr wichtige Con - ſequenz. Durch die Einheit des Reichsfiskus iſt es nämlich abſolut ausgeſchloſſen, daß unter den Spezial - oder Reſſort-Fisci Rechts - verhältniſſe irgend welcher Art beſtehen; nur formell d. h. rech - nungsmäßig können und müſſen die einzelnen Stationen des Fiskus mit einander wie ſelbſtſtändige Rechtsſubjekte verkehren2)So können ſie z. B. von einander Gebühren und Koſten, ja ſogar Ab - gaben erheben, einander Vorſchüſſe machen, Vermögensobjekte ſich übertragen, Vereinbarungen unter einander treffen. Prozeſſe unter verſchiedenen Sta - tionen deſſelben Fiskus ſind dagegen als unzuläſſig zu erachten; denn, wenn es auch denkbar iſt, daß in der Form des Civilprozeſſes ein gerichtliches Urtheil darüber herbeigeführt wird, ob ein gewiſſer Anſpruch oder eine gewiſſe Verbindlichkeit zu dieſem oder jenem fiskaliſchen Vermögenscomplex gehört, ſo gebricht es doch an der für jeden wirklichen Prozeß unentbehrlichen Verſchieden - heit der Parteien., um die Ordnung und Ueberſichtlichkeit der Staatswirthſchaft aufrecht zu erhalten, ſowie auch in einer umfangreichen Privatwirthſchaft die193§. 107. Der Reichsfiskus.einzelnen Kaſſen oder Fonds rechnungsmäßig wie verſchiedene Per - ſonen behandelt zu werden pflegen.

Dagegen iſt es unmöglich, daß der Verwaltung eines Reſſorts actuell wirkſame, reell exiſtirende Anſprüche gegen den Reichsfiskus oder ein anderes Reſſort deſſelben zuſtehen; da eine Perſon nicht vermögensrechtliche Verpflichtungen gegen ſich ſelbſt haben kann. Dieſer Satz gilt auch von ſolchen Fonds, welche durch Geſetz einem beſtimmten Zweck in der Art zugewieſen worden ſind, daß der Regierung jede anderweitige Verwendung unterſagt iſt, z. B. vom Reichskriegsſchatz oder dem Invalidenfonds; ſie ſind zwar verwal - tungsrechtlich von dem übrigen Vermögen des Reichs ausgeſchieden, aber nicht der Subſtanz nach1)Treffend äußert ſich hierüber Böhlau S. 10..

Andererſeits ſind vom Fiskus des Reiches wohl zu unter - ſcheiden ſolche Vermögensmaſſen, welche der Verwaltung einer Reichsbehörde unterſtellt ſind oder welche mittelbar den Intereſſen des Reiches dienen, deren Eigenthum aber nicht dem Reiche zuſteht. Dies gilt insbeſondere von der Reichsbank2)Vgl. Bd. II. §. 73. und von den vom Reiche verwalteten Stiftungen3)Kaiſer-Wilhelm-Stiftung f. die Angehörigen der Deutſchen Reichs-Poſt - verwaltung. (Geſ. v. 20. Juni 1872 R. G.Bl. S. 210.) Generalſtabsſtiftung. (Geſ. v. 31. Mai 1877 R. G.Bl. S. 523.) Garantiefonds der mittelſt Kgl. Ordre v. 26. Dezemb. 1871 zu Berlin begründeten Lebensverſicherungsanſtalt für die Armee und Marine . (Geſetz vom 29. April 1878 Art. I. (R. G.Bl. 1878 S. 85.).

Völlig verſchieden vom Reichsfiskus iſt auch der Fiskus von Elſaß-Lothringen; denn wenngleich die Landeshoheit über das Reichsland dem Reich zuſteht, ſo iſt doch die Finanzwirthſchaft des Landes von der des Reiches ganz ebenſo getrennt, wie die Finanz - wirthſchaft der Bundesſtaaten4)Siehe Bd. I. §. 55..

III. Das Nebeneinanderbeſtehen des Reichsfiskus und der Fisci der Einzelſtaaten iſt durch das bundesſtaatliche Verhältniß ſelbſt gegeben; es entſpricht der Doppelſtaatsgewalt des Reiches und der Bundesglieder. Die Unterſcheidung der beiden Fisci iſt aber nicht in allen Fällen eine einfache und zweifelsfreie. Im Allgemeinen gilt der in der Natur der Sache begründete Rechts -Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 13194§. 107. Der Reichsfiskus.ſatz, daß die vermögensrechtlichen Befugniſſe und Verpflichtungen des Reichs, beziehungsweiſe der Einzelſtaaten, den Verwaltungs - befugniſſen entſprechen, daß demnach in allen Reſſorts, auf welche ſich die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten erſtreckt, die bei Aus - übung der letzteren entſtehenden vermögensrechtlichen Verhältniſſe den betreffenden Staatsfiskus angehen, während für den Reichs - fiskus Rechte und Verbindlichkeiten nur aus denjenigen Rechts - geſchäften entſtehen, welche entweder durch Reichsbehörden oder von Landesbehörden im Namen des Reiches abgeſchloſſen wer - den. Dieſer Rechtsſatz darf aber nicht verwechſelt werden mit der verbreiteten Annahme, daß der Reichsfiskus diejenigen Reſſorts umfaſſe, welche für Rechnung des Reiches verwaltet werden. Wenngleich die Reichsverwaltung meiſtens für Rechnung des Rei - ches, die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten für Rechnung der letz - teren geführt wird, ſo trifft dies doch keineswegs immer zu. Ins - beſondere wird die Verwaltung der Militär-Angelegenheiten von den Einzelſtaaten für Rechnung des Reiches und nach den im Reichs - etat gegebenen Anſätzen geführt; der Militärfiskus iſt aber nicht Reichsfiskus, ſondern er iſt identiſch mit dem Fiskus derjenigen Staaten, welche eine ſelbſtſtändige Militärverwaltung haben1)Vgl. Bd. III. 1. S. 8. 57 ff. 310 u. 311. Eine Ausnahme beſteht hinſicht - lich der Vergütungen für Erfüllung der Militärlaſten und für die Rayonbe - ſchränkungen; ſiehe Bd. III. 1. S. 316 ff ... Ebenſo wird die Erhebung der Zölle und Verbrauchsabgaben von den Einzelſtaaten für Rechnung des Reiches beſorgt; aber auch hier iſt der Zoll - und Steuerfiskus unbeſtritten Landesfiskus2)Vgl. das Urth. des Reichsger. v. 1. Juli 1881. Entſch. in Civilſachen Bd. V. S. 41 ff.. Andererſeits war der Poſtfiskus , abgeſehen von Bayern und Württemberg, ſchon zu der Zeit Reichsfiskus, als noch gemäß Art. 51 der R.V. die Poſtüberſchüſſe den Einzelſtaaten zu Gute gerechnet wurden3)Vgl. darüber Annalen a. a. O. S. 513 ff., und inſoweit gegenwärtig die von Reichs - behörden erhobenen Abgaben theilweiſe den Einzelſtaaten zuge - wieſen werden, treffen doch die vermögensrechtlichen Anſprüche und Verpflichtungen, welche aus dieſen Verwaltungsgeſchäften reſul - tiren, den Reichsfiskus allein. In allen Fällen, in denen die Ein - zelſtaaten Verwaltungsgeſchäfte für Rechnung des Reiches oder195§. 107. Der Reichsfiskus.die Reichsbehörden Verwaltungsgeſchäfte für Rechnung der Einzel - ſtaaten verſehen, entſtehen zweierlei vermögensrechtliche Be - ziehungen; Dritten gegenüber wird formell der Fiskus des - jenigen Gemeinweſens verpflichtet und berechtigt, zu deſſen Ver - waltungskompetenz das betreffende Geſchäft gehört; materiell aber wird das pekuniäre Reſultat auf denjenigen Fiskus übertragen, für deſſen Rechnung die Verwaltung geführt wird.

IV. Die Vertretung des Reichsfiskus beſtimmt ſich durch die Organiſation der Reichsbehörden und durch die Kompe - tenz, welche den einzelnen Behörden und Beamten nach den Vor - ſchriften der Geſetze und Verordnungen zuſteht. In dieſer Be - ziehung iſt auf die Darſtellung der einzelnen Verwaltungen zu ver - weiſen, bei welcher auch auf die Vertretung des Fiskus Rückſicht genommen worden iſt1)Vergleiche auch Böhlau a. a. O. S. 11 ff.. Als allgemeiner Grundſatz iſt feſtzuhalten, daß ſubſidiär, d. h. ſoweit nicht durch beſondere Anordnung einer andern Behörde die Vertretungsbefugniß ertheilt iſt, die Ver - tretung des Reichsfiskus dem Reichskanzler zuſteht.

Die verwaltungsrechtlichen Vorſchriften regeln auch die Ver - tretung des Fiskus in Prozeſſen und zwar ſind es meiſtens die oberen Behörden, welche zur Prozeßführung berufen ſind2)Vorſchriften dieſer Art finden ſich in den Reichsgeſetzen in großer Zahl. Beiſpiele hierfür ſind folgende: Geſ. über die Portofreiheiten v. 5. Juni 1869 (B. G.Bl. S. 141) §. 7. Poſtgeſetz v. 28. Oktob. 1871 (R. G.Bl. S. 347) §. 13. Flößerei-Abgaben-Geſetz v. 1. Juni 1870 §. 2 (B. G.Bl. S. 313). Militärpenſions-Geſetz v. 27. Juni 1871 §. 116. Kriegsleiſtungsgeſetz vom 13. Juni 1873 §. 34. Feſtungsrayon-Geſetz v. 21. Dez. 1871 §. 42. Reichs - beamtengeſetz §. 151 153. Inſtruction f. den Rechnungshof v. 5. März 1875 §. 18 (Bd. I. S. 357). Spezielle Vorſchriften beſtehen hinſichtlich derjenigen Behörden, welche bei der Pfändung des Dienſteinkommens der Offiziere und Beamten den Militär-Fiskus als Drittſchuldner im Sinne der §§. 730 ff. der Civilproz. Ordn. zu vertreten haben. Verzeichniſſe derſelben ſind bekannt ge - macht im Centralbl. des D. R. 1881 S. 385 (Preußen); S. 446 (Sachſen); S. 472 (Württemberg); 1882 S. 92 (Bayern).. Mit - telbar beſtimmt ſich hierdurch auch der Gerichtsſtand des Reichsfiskus, indem §. 20 der Civilproz. Ordnung den Grund - ſatz ſanctionirt hat:

Der allgemeine Gerichtsſtand des Fiskus wird durch den Sitz der Behörde beſtimmt, welche berufen iſt, den Fiskus in dem Rechtsſtreite zu vertreten.

13*196§. 107. Der Reichsfiskus.

Der Reichsfiskus hat demnach, obgleich er eine einheitliche Rechtsperſönlichkeit iſt, keinen einheitlichen allgemeinen Gerichts - ſtand; der letztere beſtimmt ſich vielmehr nach den Geſchäftskreiſen der zur Prozeßvertretung berufenen Behörden. Deſſenungeachtet iſt dieſer Gerichtsſtand des Fiskus keine Singularität; er ent - ſpricht dem Gerichtsſtande der Niederlaſſung nach §. 22 der Civilproz. Ordn. Jede fiskaliſche Station iſt einer Niederlaſſung im Sinne dieſes Paragraphen gleichzuachten und als Zweignieder - laſſung des (einheitlichen) Reichsfiskus zu bezeichnen.

V. Für den Reichsfiskus gelten in jedem Rechtsgebiete die - jenigen Rechtsregeln, welche die dort geltende Geſetzgebung hin - ſichtlich des einheimiſchen Staatsfiskus aufſtellt; er nimmt daher auch Theil an den landesgeſetzlich anerkannten fiskaliſchen Privi - legien. Es folgt dieſe Regel aus der Natur des Bundesſtaates. Eine Anzahl von Aufgaben des Staates ſind an das Reich über - gegangen, deren Durchführung nicht blos vermittelſt der Ausübung von Hoheitsrechten (Staatsgewalt), ſondern auch vermittelſt des Abſchluſſes vermögensrechtlicher Geſchäfte erfolgt oder welche ver - mögensrechtliche Verhältniſſe hervorbringen. Dieſelben Gründe, auf denen die Nothwendigkeit beruht, daß jeder Staat zugleich Subjekt von Herrſchaftsrechten und von Privatrechten iſt, führen auch zu der Conſequenz, daß, ſoweit die Reichsgewalt an die Stelle der Einzelſtaatsgewalt getreten iſt, auch der Reichsfiskus die Stelle des Landesfiskus eingenommen hat und daß demnach die Rechts - grundſätze, welche vor der Gründung des Bundes für den ein - heitlichen Fiskus des Staates gegolten haben, nunmehr ſowohl für den Reichsfiskus als auch für den Landesfiskus in Geltung ſtehen1)Vgl. Annalen a. a. O. S. 411. Uebereinſtimmend: Seydel a. a. O. S. 236 ff. Dernburg Preuß. Privatr. I. §. 57 (3. Aufl. S. 122) Meyer Staatsrecht §. 208. Mandry der civilrechtl. Inhalt der Reichsgeſetze S. 114. Zorn im Rechtslexicon a. a. O. S. 376. Böhlau S. 17. Schulze, Deutſches Staatsrecht I S. 578 und beſonders Reincke a. a. O. S. 486 ff. Auch das Preuß. Obertribunal hat dieſe Anſicht gebilligt, Entſcheidungen Bd. 70 S. 217 ff. ; freilich mit ſehr bedenklicher Motivirung. Eine Anwen - dung hat dieſelbe auch gefunden im Reichsgeſetz v. 25. Mai 1873 §. 1 Abſ. 2. Vgl. auch Reichsſtempel-Geſetz v. 1. Juli 1881 §. 29. Die entgegengeſetzte Mei - nung wird nur von Förſter Theorie und Praxis des preuß. Privatrechts IV. S. 395 ff. vertheidigt; ſeine Deduction beruht aber auf der unrichtigen Unterſtellung, daß der Reichsfiskus in den Gebieten der Bundesſtaaten, insbe - ſondere in Preußen, als ein fremder Fiskus anzuſehen ſei..

197§. 107. Der Reichsfiskus.

Der Reichsfiskus hat demnach kein einheitliches Recht; inſoweit die Verſchiedenheit der Partikularrechte im Bundesgebiet noch fortbeſteht, trifft dieſelbe auch den Reichsfiskus, und inſoweit das Partikularrecht der Fortbildung und Veränderung durch die Autonomie der Einzelſtaaten unterliegt, können die Rechtsvor - ſchriften über die privilegia fisci nicht nur hinſichtlich des Landes - fiskus, ſondern auch hinſichtlich des Reichsfiskus im Wege der Landesgeſetzgebung abgeändert werden1)Siehe Annalen a. a. O. S. 412. Reincke S. 496. Dies iſt auch anerkannt und als ein bedenklicher Zuſtand bezeichnet worden von dem Bundeskommiſſar v. Möller in der Sitzung des Reichstages v. 26. April 1873 (Stenogr. Berichte I. S. 356)..

Es kann ſich nun aber im einzelnen Rechtsfalle die Frage er - heben, welches der verſchiedenen Partikularrechte auf den Reichs - fiskus in Anwendung zu bringen iſt. Da ein Sonderrecht für den Fiskus in dieſer Hinſicht nicht beſteht, ſo müſſen die allgemeinen, freilich controverſen Regeln über die örtliche Geltung der Rechts - ſätze Platz greifen. Für die dinglichen Rechte, namentlich für die Rechtsverhältniſſe an Grundſtücken geſtaltet ſich die Beantwortung der Frage einfach; ſie ſind nach den statuta rei sitae zu beur - theilen. Ebenſo einfach und zweifellos iſt der Satz, daß in Betreff der Form der Geſchäfte das Recht des Ortes, an welchem der Vertrag abgeſchloſſen worden iſt, entſcheidet. Für die materielle Beurtheilung der Schuldverhältniſſe kömmt in der Regel das Recht des Erfüllungsortes zur Anwendung; als Erfüllungsort iſt aber in der Mehrzahl der Fälle der Wohnort des Schuldners anzuſehen. Demnach muß in vielen Fällen die Frage, nach welchem Rechte die Verpflichtungen und Vorrechte des Reichsfiskus zu beurtheilen ſind, praktiſch zuſammenfallen mit der Frage: Wo hat der Reichsfiskus ſeinen Wohnſitz? Dieſe Frage iſt ganz ebenſo zu beantworten, wie es oben hinſichtlich des allgemeinen Gerichts - ſtandes geſchehen iſt. Jede zur Vertretung des Reichsfiskus be - fugte Behörde (fiskaliſche Station) iſt als eine Zweignieder - laſſung des Reichsfiskus anzuſehen, deren amtlicher Sitz für den zu ihrer Zuſtändigkeit gehörenden Kreis von Geſchäften ein (Spezial -) Wohnſitz des Reichsfiskus iſt. Berlin iſt daher zwar der generelle Wohnſitz des Reichsfiskus, weil der Reichs - kanzler dort ſeinen Amtsſitz hat, dem, wie bereits erwähnt worden198§. 107. Der Reichsfiskus.iſt, eine generelle, ſubſidiäre Befugniß zur Vertretung des Reichs - fiskus zuſteht; daneben giebt es aber ſo viele Spezial-Wohnſitze des Reichsfiskus als es mit Vertretungsbefugniß ausgeſtattete Reichsbehörden giebt. Als das Reſultat dieſer Erörterung iſt da - her der Satz zu formuliren, daß die Rechtsverhältniſſe des Fiskus nach dem Rechte des Ortes zu beurtheilen ſind, an welchem die im concreten Falle zur Vertretung des Fiskus zuſtändige Behörde ihren Amtsſitz hat1)Vgl. die treffenden Ausführungen von Reincke S. 495 ff. Dagegen behauptet Dernburg a. a. O., daß das Reich in Berlin ſein Quaſidomizil habe und daher der Reichsfiskus der Regel nach den Rechtsgrundſätzen des in Berlin geltenden preußiſchen Landrechts reſp., inſoweit daſſelbe in Betracht kommen könnte, des märkiſchen Provinzialrechts unterſtehe (S. 121 Note 10), und er erklärt es (S. 122 Note 12) für ſelbſtverſtändlich, daß auch nichtpreußiſche Stationen des Reichsfiskus die gleichen fiskaliſchen Vorrechte wie die in Preußen ſelbſt belegenen haben, da der Reichsfiskus eine einheitliche Perſönlichkeit iſt. Aber dieſer Grund beweiſt Nichts; denn auch phyſiſche Perſonen, die doch ge - wiß einheitlich ſind, können mehrere Wohnſitze haben und nach verſchiedenen Rechten beurtheilt werden..

Unter den privilegia fisci laſſen ſich drei Gruppen unter - ſcheiden:

1. Prozeſſualiſche Vorrechte. Dieſelben ſind durch die Reichsjuſtizgeſetze auf folgende beſchränkt:

  • a) Das Reich iſt in dem Verfahren vor den Landesgerichten von Zahlung der Gebühren befreit
    2)Gerichtskoſtengeſ. §. 98.
    2).
  • b) In Konkurſen ſteht die Reichskaſſe in Anſehung der zu - rückgehaltenen oder in Beſchlag genommenen zoll - und ſteuerpflich - tigen Sachen dem Fauſtpfandgläubiger gleich
    3)Konkurs-Ordn. §. 41 Ziff. 1.
    3), und ſie hat einen Anſpruch auf vorzugsweiſe Befriedigung hinſichtlich ihrer Forde - rungen wegen öffentlicher Abgaben, welche im letzten Jahre vor der Eröffnung des Verfahrens fällig geworden ſind
    4)Konkurs-Ordn. §. 54 Ziff. 2.
    4).
  • c) Aufrechterhalten ſind die landes geſetzlichen Vorſchriften über die Zwangsvollſtreckung wegen Geldforderungen gegen den Fiskus, inſoweit nicht dingliche Rechte verfolgt werden
    5)Einf. Geſ. zur Civilproz. Ordn. §. 15 Ziff. 4.
    5).

2. Privatrechtliche Privilegien. Eine Aufzählung199§. 107. Der Reichsfiskus.der Beſtimmungen der einzelnen Partikularrechte iſt ohne ſtaats - rechtliches Intereſſe, zumal dieſelben den modernen Rechtsanſchau - ungen und der gegenwärtigen Staatsauffaſſung größtentheils ſo wenig entſprechen, daß das zu erwartende Reichscivilgeſetzbuch vor - ausſichtlich ſie erheblich einſchränken oder ganz beſeitigen wird1)Vgl. über das Römiſche Recht, deſſen Beſtimmungen zum großen Theil antiquirt ſind Weiske in ſeinem Rechtslexicon Bd. IV. S. 303 ff. Für Preußen: Förſter IV. S. 394 und Dernburg I. §. 57; für Bayern Roth Bayer. Civilrecht I. §. 34; für Württemberg Rey - ſcher Privatrecht III. §. 777; für Kgr. Sachſen: B. G. Schmidt Vor - leſungen I. §. 22 S. 71; für das Franzöſ. Recht: Dalloz Jurisprudence générale Tome XXXVII. Art. Priviléges et hypothèques nro. 533 ff., Aubry et Rau Cours de droit civil français (4. édit.) §. 263 bis. (III. S. 177 ff. ) v. Möller’ſche Sammlung der in Elſ. Lothr. geltenden Geſetze Bd. I. B. Note 671. 673. 689..

3. Steuerbefreiungen. Die Steuerfreiheit iſt das prak - tiſch wichtigſte Vorrecht des Fiskus. Im Einzelſtaate verſteht ſich die Freiheit des Fiskus von allen für die Staatskaſſe zu erhebenden direkten Steuern, Stempelabgaben und Gebühren von ſelbſt wegen der Identität des Fiskus und der Staatskaſſe. Für den Reichsfiskus folgt aus dieſem Argument aber nur die Freiheit deſſelben von denjenigen Abgaben, welche in die Reichskaſſe fließen; dagegen beſteht kein in der Sache ſelbſt liegendes Hinderniß, daß der Reichsfiskus Steuern und Gebühren den Einzelſtaaten zn ent - richten habe, ſowie andererſeits auch die Fisci der Einzelſtaaten der Beſteuerung durch die Bundesgewalt unterworfen ſind und Gebühren an die Reichskaſſe zahlen. Indeß iſt für den Fiskus des Reiches die Freiheit von Staats ſteuern anerkannt, theils weil der Reichsfiskus in jedem einzelnen Bundesſtaate als ein - heimiſcher Fiskus zu erachten iſt und die Verwaltungsthätigkeit des Reichs im Intereſſe der Geſammtheit ausgeübt wird, theils weil die Koſten des Reiches von den Bundesgliedern gemeinſchaft - lich zu tragen ſind. In letzterer Beziehung iſt zu beachten, daß die Koſten des Reiches, ſoweit ſie nicht durch die eigenen Einnah - men des letzteren gedeckt werden, durch Matrikularbeiträge der Einzelſtaaten aufgebracht werden und daher den letzteren nicht die Befugniß zugeſtanden werden kann, durch eine in ihr Belieben geſtellte Steuergeſetzgebung ſich Gegenforderungen gegen den Reichs - fiskus zu verſchaffen, die ſie gegen die Matrikularbeiträge auf -200§. 107. Der Reichsfiskus.rechnen könnten. Eine ausdrückliche Anerkennung hat der Rechts - grundſatz, daß der Reichsfiskus in jedem Gliedſtaate des Bundes dem Landesfiskus gleichgeſtellt iſt, in dem Geſetz vom 25. Mai 1873 §. 1 Abſ. 2 gefunden:

Hinſichtlich der Befreiung von Steuern und ſonſtigen ding - lichen Laſten ſind die im Eigenthum des Reiches befindlichen Gegenſtände den im Eigenthume des einzelnen Staates be - findlichen gleichartigen Gegenſtänden gleichgeſtellt.

Auch die Reichsbank und ihre Zweiganſtalten ſind im ge - ſammten Reichsgebiete frei von ſtaatlichen Einkommen - und Ge - werbeſteuern1)Bankgeſetz v. 14. März 1875 §. 21 (R. G.Bl. S. 183)..

Dagegen beſteht durchaus kein Grund, aus welchem der Reichs - fiskus in irgend einem Theile des Bundesgebietes eine beſſere Stellung als der Landesfiskus beanſpruchen könnte.

Von dieſem Prinzip aus iſt die beſtrittene Frage zu ent - ſcheiden, ob der Reichsfiskus der Kommunal-Beſteuerung unter - liegt. Inſoweit der Landesfiskus von der Entrichtung der Kom - munalſteuer befreit iſt, wird auch dem Reichsfiskus das gleiche Recht zuzuſprechen ſein, da dieſelben Gründe, auf denen die Kom - munalſteuerfreiheit des Landesfiskus beruht, auch für den Reichs - fiskus Geltung haben, weil auch dieſer einheimiſcher Fiskus iſt. Wenn dagegen in einem Bundesſtaate die Finanzwirthſchaft der Kommunen auf Grund der Landesgeſetze in der Weiſe geregelt iſt, daß fiskaliſches Eigenthum oder ein fiskaliſcher Gewerbebetrieb zu den Koſten des Gemeindehaushalts beitragspflichtig iſt, ſo muß dies den Reichsfiskus in demſelben Umfange wie den Landesfiskus treffen, da ja auch den Etabliſſements des Reiches die kommunalen Einrichtungen und Anlagen in vollem Maaße zu Gute kommen. Hinſichtlich der von den Kommunen erhobenen Grundſteuer - und Gebäudeſteuer-Beträge iſt dies durch das citirte Reichs - geſetz ausdrücklich anerkannt; für die indirecten Abgaben (ſtädtiſches Octroi, Gasſteuer u. dgl. ) verſteht ſich die Steuerpflicht von ſelbſt; auch der Entrichtung einer Kommunal-Gewerbeſteuer kann ſich der Reichsfiskus nicht entziehen, falls er ein ſteuerpflich - tiges Gewerbe betreibt2)Die Poſt und Telegraphie iſt als induſtrielles Unternehmen. Dagegen iſt es in hohem Grade zwei -201§. 108. Das active Reichsvermögen.felhaft, ob der Reichsfiskus von den Kommunen einer Einkom - menſteuer unterworfen werden kann. In der Praxis wird dies von den Reichsbehörden verneint und die Reichsregierung hat in der Seſſion des Reichstages von 1874 / 75 den Entwurf eines Ge - ſetzes vorgelegt, welches ausdrücklich ausſprechen ſollte, daß das Reich von allen auf das Einkommen gelegten Steuern frei ſein ſollte; der Entwurf hat jedoch nicht die Zuſtimmung des Reichs - tages erhalten1)Druckſachen des Reichstages II. Seſſ. 1874 / 75 Nr. 22. Der Entwurf gelangte überhaupt nicht über die erſte Leſung hinaus, bei welcher ſich eine große Meinungsverſchiedenheit ergab. Vgl. Stenogr. Ber. I. S. 143 ff. 266 ff. Die formalen Gründe für die Befreiung des Reichsfiskus, welche aus der Sou - veränetät des Reiches hergenommen worden ſind, beweiſen allerdings zu viel, da ſie gegen jede Belaſtung des Reichsfiskus, auch mit der Grundſteuer, ſprechen würden; dagegen ſind die ſachlichen Bedenken gegen die lokale Be - ſteuerung des Reichseinkommens in der That ſchwerwiegend. Für die Steuer - pflicht des Reichsfiskus erklärt ſich Walcker in Hartmann’s Zeitſchr. f. Geſetzgebung u. Praxis des öffentl. Rechts II. S. 121 ff. (1876.).

§. 108. Das active Reichsvermögen.

Das fiskaliſche Vermögen zerfällt in zwei Arten, die ſowohl in finanzwiſſenſchaftlicher als in ſtaatsrechtlicher Hinſicht vielfach verſchiedenen Regeln unterſtellt ſind, nämlich in Finanzvermögen und in Verwaltungsvermögen2)Vgl. meine Abhandlung über das Reichsfinanzrecht in Hirth’s Annalen 1873 S. 412 ff. Eine ziemlich vollſtändige und großentheils wortgetreue Re - produktion meiner Ausführungen findet ſich bei v. Rönne Staatsr. des D. R. II. 1. S. 70 ff. (2. Aufl. 1877)..

Unter Verwaltungsvermögen ſind alle diejenigen Werthobjecte zu verſtehen, welche den für die Erfüllung der ſtaatlichen Zwecke und Aufgaben erforderlichen Apparat bilden, alſo zum Dienſte der Behörden und zum Betriebe der Staatsanſtalten gehören: das2)nicht anzuſehen; dagegen würde, wenn das Tabaksmonopol eingeführt werden ſollte, der Betrieb einer Tabaksmanufactur zweifellos als induſtrieller Gewerbebetrieb zu erachten ſein. Auch den Reichsbank-Niederlaſſungen iſt Befreiung von der Kommunalſteuer nicht gewährt; es folgt dies mittelſt argum. e contrario aus §. 21 des Bankgeſetzes und iſt poſitiv bei den Ver - handl. des Reichstages ausgeſprochen worden. Stenogr. Berichte 1874 / 75 Bd. II. S. 1342 ff. Vgl. auch die hiermit übereinſtimmende Entſcheidung des bayer. Verwaltungs-Gerichtshofes v. 17. Dez. 1880 (bei A. Reger Ent - ſcheidungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden. Bd. I. S. 427 ff.)202§. 108. Das active Reichsvermögen.Inventar des Staates. Die charakteriſtiſche Eigenſchaft dieſer Vermögensobjekte beſteht darin, daß ſie nicht freies, disponibles Kapital, ſondern hinſichtlich ihrer Verwendung durch ihre Zweck - beſtimmung gebunden ſind1)Dies ſchließt aber weder den Kapitalswerth noch den finanziellen Nutzen dieſes Vermögens aus, da die Benutzung und Verwendung deſſelben Seitens der Verwaltungsbehörden den Baaraufwand (z. B. die Zahlung von Mieths - preiſen für Amtslokale) erübrigt oder vermindert.. Das Finanzvermögen dagegen dient nicht direct den Staatszwecken, ſondern ſetzt die Regierung durch ſeinen Kapitalswerth oder deſſen Erträge in die Lage, einen Theil der für die Durchführung der Staatszwecke erforderlichen Koſten beſtreiten zu können; es iſt werbendes oder wirth - ſchaftliches Vermögen des Staates. Da Erwerb, Beſitz und Verwaltung dieſes Vermögens nicht ſelbſt einen Zweck des Staates bilden, ſondern demſelben nur indirect die Erfüllung ſeiner Auf - gaben erleichtern ſollen, ſo iſt die Anlage und Verwaltung dieſer Kapitalien eine freie, d. h. lediglich durch politiſche und finanz - wiſſenſchaftliche Rückſichten beſtimmte. Das Verwaltungsvermögen iſt weſentliches, durch den Staatszweck erfordertes Vermögen des Fiskus; das Finanzvermögen iſt zufälliges, durch die hi - ſtoriſche Entwicklung der Finanzwirthſchaft dem Fiskus überliefertes Vermögen. Als Subject des Finanzvermögens erſcheint der Staat als Kapitaliſt, der ſein Vermögen zu ſeinem pekuniären Vortheil ausbeutet; als Subject des Verwaltungsvermögens ſtellt der Fis - kus ſein Vermögen dem öffentlichen Dienſt zu Gebot. Daraus ergiebt ſich, daß das Finanzvermögen im Weſentlichen unter den allgemeinen Regeln des Privatrechts ſteht, während dieſelben hin - ſichtlich des Verwaltungsvermögens durch verwaltungsrechtliche Sätze nicht unweſentlich modifizirt ſind.

A. Das Finanzvermögen.

Weder der norddeutſche Bund noch das Deutſche Reich haben bei ihrer Entſtehung freies, werbendes Vermögen beſeſſen, da den Bundesgliedern die Abtretung eines ſolchen an das Reich nicht auferlegt wurde. Durch den glücklichen Ausgang des Franzöſiſchen Krieges aber iſt das Deutſche Reich früher, als es nach der natür - lichen Entwicklung ſeiner Finanzwirthſchaft zu erwarten geweſen iſt, in den Beſitz von Finanzvermögen gekommen, indem ein Theil203§. 108. Das active Reichsvermögen.der Kriegskoſten-Entſchädigung zur Bildung eines ſolchen verwendet wurde. Hierher gehören:

I. Die Reichs-Eiſenbahnen in Elſaß-Lothringen. Durch den Zuſatz-Artikel 1 zum Frankfurter Frieden vom 10. Mai 1871 hat die Deutſche Regierung die in den abgetretenen Gebiets - theilen gelegenen, früher der Franzöſiſchen Oſtbahn-Geſellſchaft ge - hörig geweſenen Eiſenbahnen für den Preis von 325 Millionen Francs (260 Mill. Mark), die auf die Franzöſiſche Kriegsentſchä - digung in Abzug gebracht worden ſind, erworben. Dieſes Beſitz - thum iſt ſeitdem theils durch Beſchaffung von Betriebsmitteln und Ausrüſtungsgegenſtänden verbeſſert, theils durch den Erwerb oder die Herſtellung neuer Strecken ſehr erheblich vermehrt worden. Die Geldmittel hierzu ſind zum größten Theile vom Reich bewilligt worden, insbeſondere durch die Reichsgeſetze vom 22. Nov. 1871 (R. G.Bl. S. 396); vom 15. Juni 1872 (R. G.Bl. S. 209), vom 18. Juni 1873 (R. G.Bl. S. 143); vom 21. Mai 1877 (R. G.Bl. S. 513); vom 8. Mai 1878 (R. G.Bl. S. 93), vom 9. Juli 1879 (R. G.Bl. S. 195) und vom 24. Mai 1881 (R. G.Bl. S. 93). Hier - zu treten jedoch noch Bewilligungen der Bezirke und Gemeinden und andere Subventionen. Die Länge der durch den Frankfurter Frieden erworbenen Strecken betrug 763,19 Kilometer; hinzuge - kommen ſind bis Ende 1881 528,48 Kilometer (ungefähr 69 %), ſo daß zu dieſem Zeitpunkte der Geſammtbeſitz des Reiches an im Betriebe befindlichen Eiſenbahnſtrecken 1291,67 Kilom. betrug. Die geſammten Herſtellungs - und Ausrüſtungskoſten des Bahnnetzes ergeben eine Summe von rund 433 Millionen Mark; indeß iſt hierbei in Betracht zu ziehen, daß der gemäß dem Frankfurter Frieden an die Oſtbahn gezahlte Kaufpreis die wirklichen Her - ſtellungskoſten der damals vorhandenen Strecken um rund 91½ Mill. Mark überſteigt, ſo daß ſich der gegenwärtige Kapitalwerth des Reichseiſenbahn-Netzes auf ungefähr 342 Millionen Mark berechnet. Im Zuſammenhange mit der Verwaltung der Reichs-Eiſenbahnen in Elſaß-Lothringen hat die Reichsregierung auch den Betrieb der Wilhelm-Luxemburg-Bahnen in dem Großherzogthum Luxemburg bis zum 31. Dezember 1912 übernommen1)Frankfurter Friedensvertrag. Zuſatz-Art. 1 §. 2 Ziff. 6 (R. G.Bl. 1871 S. 236) Vertrag zwiſchen Deutſchland und Luxemburg v. 11. Juni 1872. Reichsgeſ. v. 15. Juli 1872 (R. G.Bl. S. 329).. Für die Ausrüſtung,204§. 108. Das active Reichsvermögen.Erneuerung und Vervollſtändigung derſelben ſind bis zum Schluſſe des Etatsjahres 1880 / 81 ebenfalls rund Millionen Mark ver - wendet worden. Obwohl dieſe Eiſenbahn mit den im Eigenthum des Reiches ſtehenden wie ein einheitliches Unternehmen verwaltet wird, ſo iſt doch die Rechnungsführung eine geſonderte1)Die Grundſätze, nach welchen die Betriebsrechnung aufzuſtellen iſt, ſind in dem erwähnten Vertrage §. 11 vereinbart. (R. G.Bl. 1872 S. 334.) Her - vorzuheben iſt hier, daß von dem von der Deutſchen Verwaltung auf die Ver - beſſerung der Bahn verwendeten Kapital, und zwar vom Tage der Veraus - gabung ab, 5 Prozent Zinſen den Betriebsausgaben hinzuzurechnen ſind.. Von der Netto-Einnahme ſind vorweg zu beſtreiten die an die Wilhelm - Luxemburg-Geſellſchaft zu zahlende Jahrespacht von 2 Mill. Mark und ein Betrag zum Zwecke der Amortiſirung des von der deut - ſchen Verwaltung zur Verbeſſerung der Bahn innerhalb des abge - laufenen Betriebsjahres aufgewendeten Kapitals, deſſen Höhe der - art zu bemeſſen iſt, daß bei jährlicher Fortzahlung des gleichen Betrages die völlige Tilgung bis zum Schluſſe der Pachtzeit er - möglicht wird. Der verbleibende Reſt wird zum vollen Betrage behufs allmäliger Erſtattung der von der Großherzogl. Regierung der Wilhelm-Luxemburg-Geſellſchaft gewährten Staatsſubvention von 8 Millionen Franks an die luxemburgiſche Regierung gezahlt. So lange die Subvention nicht völlig erſtattet iſt, verzichtet die Deutſche Regierung auf jede Theilnahme an dem aus dem Unter - nehmen ſich ergebenden Reingewinn. Nach vollſtändiger Rück - zahlung der Subvention wird der disponible Reſt des Nettoertrages zu gleichen Theilen zwiſchen Luxemburg und dem Deutſchen Reiche getheilt2)§. 12 des citirten Vertrages. Nach den bisherigen finanziellen Ergeb - niſſen des Betriebes der Luxemburgiſchen Eiſenbahnen iſt die Wahrſcheinlich - keit ſehr gering, daß das Unternehmen dem Reichsfiskus einen Gewinn ab - werfen wird..

Die obere Leitung der Reichseiſenbahnen-Verwaltung iſt einem Reichsamt übertragen, welches durch Erlaß v. 27. Mai 1878 von dem Reichskanzleramt abgezweigt und als eine beſondere, dem Reichskanzler unmittelbar unterſtellte Centralbehörde conſtituirt worden iſt3)Reichsgeſetzbl. 1879 S. 193..

II. Der Kriegsſchatz4)Reichsgeſetz v. 11. Nov. 1871 (R. G.Bl. S. 403). Motive zum. 1. Aus der von Frankreich ent -205§. 108. Das active Reichsvermögen.richteten Kriegsentſchädigung wurde der Betrag von 40 Millionen Thalern (120 Mill. Mark) zur Bildung eines in gemünzten Gelde verwahrlich niederzulegenden Kriegsſchatzes verwendet, über welchen nur zu Ausgaben für Zwecke der Mobilmachung verfügt werden darf1)Die Bildung des Reichskriegsſchatzes wurde in dem Geſetz v. 11. Nov. 1871 §. 1 an die Bedingung geknüpft, daß der Preußiſche Staatsſchatz, welcher für den Norddeutſchen Bund als Kriegsſchatz gedient hatte, aufgehoben werde. Dieſe Bedingung iſt durch das Preuß. Geſ. v. 18. Dezemb. 1871 (Geſetz-Samml. S. 593) erfüllt worden.. Die Verwendung des Schatzes ſetzt daher nicht nothwen - dig voraus, daß ein Krieg des Reiches bereits ausgebrochen ſei oder bevorſtehe, ſondern jede Mobiliſirung des Heeres oder eines Theiles deſſelben, gleichviel aus welchen Gründen dieſelbe ange - ordnet wird, iſt genügend um die Inanſpruchnahme des Kriegs - ſchatzes zu rechtfertigen. Erſtreckt ſich die Mobilmachung auf das Bayeriſche Kontingent, ſo iſt ein entſprechender Theil des Schatzes dem König von Bayern zur Beſtreitung der Mobilmachungskoſten zur Verfügung zu ſtellen, weil das Prinzip der gleichen Verthei - lung der Laſten und Ausgaben für die bewaffnete Macht auch auf Bayern Anwendung findet, jedoch ſo, daß dieſem Staate die ſelbſt - ſtändige Verwaltung und Verausgabung zuſteht2)Vgl. Stenogr. Ber. a. a. O. S. 30 u. oben Bd. III. 1. S. 57.. Die Verwen - dung des Schatzes darf nur erfolgen auf Grund einer Kaiſerlichen Anordnung, ſo wie ja eine ſolche auch ſtets zur Mobilmachung des Heeres oder eines Theiles deſſelben erforderlich iſt3)Hinſichtlich des bayeriſchen Kontingents ſiehe oben Bd. III. 1. S. 40.. Die kaiſerliche Anordnung bedarf der vorgängig oder nachträglich ein - zuholenden Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages4)Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 1 Abſ. 2. Mit Recht hebt Meier in v. S. 401 hervor, daß nicht zu erſehen iſt, welche rechtliche Folgen eintreten, wenn nach thatſächlich erfolgter Verwendung des Reichskriegsſchatzes die Ge - nehmigung verſagt wird.; zweifellos kann dieſer Vorſchrift auch in der Art genügt werden, daß die Zuſtimmung des Bundesrathes vorgängig, diejenige des Reichstages nachträglich eingeholt wird.

4)Regierungs-Entwurf in den Druckſachen des Reichstages v. 1871. 2. Seſſ. Nro. 5; Kommiſſionsbericht ebendaſ. Nr. 30; Verhandlungen Stenogr. Berichte I. S. 24 ff. 117 ff. 148 ff. Vgl. Ad. Wagner in v. Holtzendorff’s Jahrbuch III (1874) S. 152 ff. Ernſt Meier in v. Holtzendorff’s Rechtslexicon Bd. III. S. 397 ff.

206§. 108. Das active Reichsvermögen.

2. Die Verwaltung des Reichskriegsſchatzes iſt dem Reichs - kanzler übertragen. Die Regeln, nach welchen dieſelbe zu führen iſt, ſind durch eine unter Zuſtimmung des Bundesrathes zu er - laſſende kaiſerliche Verordnung feſtzuſtellen1)Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 3 Abſ. 1.. Dieſe Verordnung iſt unter dem 22. Januar 1874 ergangen2)Reichsgeſetzbl. 1874 S. 9 ff.. Sie verfügt die Niederlegung des Schatzes in dem Juliusthurm der Citadelle von Spandau und die Einſetzung einer Rendantur und eines vom Reichskanzler zu beſtellenden Curators behufs Rechnungsführung und Beaufſichtigung. Sie regelt die Rechnungsführung, Buch - führung und Reviſion der Beſtände und trifft Anordnungen, um jede Gefährdung oder mißbräuchliche Verwendung des Schatzes zu verhüten.

3. Die Verwaltung iſt unter die Kontrole der Reichsſchulden - Kommiſſion geſtellt; dieſelbe erhält von dem Reichskanzler alljähr - lich eine Nachweiſung über den Beſtand des Reichskriegsſchatzes und außerdem in kürzeſter Friſt Mittheilung von allen in An - ſehung deſſelben ergehenden Anordnungen und vorkommenden Ver - änderungen. Sie hat die Befugniß, ſich von dem Vorhandenſein und der ſicheren Aufbewahrung der Beſtände des Reichskriegs - ſchatzes Ueberzeugung zu verſchaffen3)Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 3 Abſ. 2.. Zu dieſem Zwecke hat der Curator die Reichsſchulden-Commiſſion zu den jährlich vorzuneh - menden Reviſionen einzuladen und er iſt verpflichtet, ſo oft die Kommiſſion es außerdem für nöthig findet, ſich von dem Vor - handenſein und der ſicheren Aufbewahrung des Schatzes Ueber - zeugung zu verſchaffen, das hierzu Erforderliche zu veranlaſſen4)Verordn. v. 22. Januar 1874 §. 15.. Die Reichsſchulden-Kommiſſion hat dem Bundesrathe und dem Reichstage bei deren regelmäßigem jährlichen Zuſammentritt Be - richt zu erſtatten5)Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 3 Abſ. 3..

4. Der Reichskriegsſchatz hat keine laufenden Einnahmen, da er in gemünztem Gelde deponirt iſt6)Unter Geld ſind nur die reichsgeſetzlich anerkannten Zahlungs - mittel zu verſtehen. Vgl. Bd. II. §. 74. Ausgeſchloſſen ſind daher nicht blos Metallbarren und Reichskaſſenſcheine, ſondern auch ausländiſche Gold - und Silbermünzen.; er kann daher in keinem207§. 108. Das active Reichsvermögen.Falle über den geſetzlich fixirten Betrag von 120 Mill. Mark hin - aus anwachſen. Aber auch im Falle einer eingetretenen Vermin - derung iſt die Wiederherſtellung deſſelben durch geſetzlich feſtſtehende Einnahmen nicht geſichert. Nur ſolche Einnahmen des Reiches ſind zu ſeiner Wiederherſtellung zu verwenden, welche aus andern als den im Reichshaushalts-Etat aufgeführten Bezugsquellen fließen1)Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 2 Ziff. 1.. Hierher gehören die ſogenannten außerordentlichen Einnahmen der einzelnen Reichsverwaltungen nicht, denn ſie ſind im Etat vorgeſehen. Da nun der Fall, daß der Reichsfiskus durch Schenkungen, Erbſchaften, Vermächtniſſe u. ſ. w. baare Kapitalien erwirbt, praktiſch nicht leicht vorkömmt, ſo iſt wol nur daran zu denken, daß nach einem glücklich beendigten Kriege der Reichsſchatz aus einer etwa vom Beſiegten entrichteten Kriegskoſten-Entſchä - digung wieder aufgefüllt werden kann, ohne daß hierzu die Genehmigung des Reichstages erforderlich iſt2)Vgl. Meier a. a. O. S. 400.. Ab - geſehen hiervon kann der Reichskriegsſchatz nur nach den im Reichs - haushalts-Etat zu treffenden Beſtimmungen ergänzt werden3)Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 2 Ziff. 2..

III. Der Invalidenfonds. 1. Unter dieſem Namen wurde ein Kapital von 187 Millionen Thalern (561 Mill. Mark) aus der franzöſiſchen Kriegskoſten-Entſchädigung entnommen, um die Beſtreitung derjenigen Ausgaben ſicher zu ſtellen, welche dem Reiche auf Grund des Militärpenſionsgeſetzes vom 27. Juni 18714)Vgl. oben Bd. III. 1. S. 277 ff. zur Laſt fallen5)R.G. v. 23. Mai 1873 §. 1 (R. G.Bl. S. 117).. Zu den letzteren treten hinzu die auf Grund der Novelle zum Penſionsgeſetz vom 4. April 1874 von der Reichs - kaſſe zu leiſtenden Zahlungen6)R.G. v. 4. April 1874 §. 24 (R. G.Bl. S. 29). Auch die Koſten, welche durch die Bearbeitung der Invalidenſachen in Folge des Krieges von 1870 / 71 erwachſen, werden aus dem Invalidenfonds beſtritten, indem die be - treffenden Beträge als Zuſchüſſe zu den Militärkoſten den 4 Staaten mit eigner Militärverwaltung gezahlt werden. R.G. v. 23. Mai 1873 §. 7.. Da ſich jedoch herausſtellte, daß die Erträge und Beſtände des Fonds durch die Beſtreitung dieſer Ausgaben nicht aufgebraucht werden, ſo wurden noch andere Zah - lungen auf den Invalidenfonds übernommen, welche mit dem ur -208§. 108. Das active Reichsvermögen.ſprünglichen Zweck des letzteren in ſachlicher Beziehung ſtehen. Dieſe Leiſtungen ſind bis jetzt folgende:

  • a) Vom 1. April 1877 ab die Ausgaben des Reichs an Pen - ſionen und Unterſtützungen für Angehörige der vormals ſchleswig - holſteiniſchen Armee und deren Wittwen und Waiſen
    1)R.G. v. 11. Mai 1877 §. 1 Ziff. a. (R. G.Bl. S. 495).
    1).
  • b) Vom gleichen Zeitpunkt ab die dem Reichshaushalt zur Laſt fallenden
    2)Siehe oben Bd. III. 1. S. 275. 276.
    2) Penſionen und Penſionserhöhungen für Militär - perſonen und Militärbeamte der Landarmee und der Marine, welche vor 1870 / 71 invalide und zur Fortſetzung des aktiven Militär - dienſtes unfähig geworden ſind, ſowie Penſionen und Unterſtützungen für Hinterbliebene der in den Kriegen vor 1870 / 71 gefallenen Mi - litärperſonen der Landarmee und der Marine
    3)R.G. v. 11. Mai 1877 §. 1 Ziff. b. u. c. (R. G.Bl. S. 495).
    3).
  • c) Vom 1. April 1878 ab auch die bisher aus preußiſchen und oldenburgiſchen Landesfonds gezahlten Penſionen und Unter - ſtützungen an frühere Angehörige der vormals ſchleswig-holſtein - ſchen und der däniſchen Armee, ſowie an Wittwen und Waiſen ſolcher Angehöriger und die bisher aus ſächſiſchen Landesfonds gezahlten Zuſchüſſe zu Militärpenſionen und Unterſtützungen
    4)R.G. v. 17. Juni 1878 Ziff. 1 u. 2 (R. G.Bl. S. 127).
    4).
  • d) Vom gleichen Tage ab die Ehrenzulagen an die Inhaber des Eiſernen Kreuzes von 1870 / 71
    5)R.G. v. 2. Juni 1878 §. 4 (R. G.Bl. S. 100). Vgl. Bd. III. 1. S. 292 ff.
    5).
  • e) Vom 1. April 1879 ab die auf Grund der Zuſatzkonven - tion zum Frankfurter Frieden v. 11. Dezemb. 1871 Art. 2 zu zahlenden Penſionen für ehemalige franzöſiſche Militärperſonen und deren Angehörige
    6)R.G. v. 30. März 1879 §. 2 Ziff. 1. (R. G.Bl. S. 119.)
    6).
  • f) Vom gleichen Zeitpunkte ab die bisher aus dem Etat für die Verwaltung des Reichsheeres gedeckten Koſten der Invaliden - inſtitute
    7)R.G. v. 30. März 1879 §. 2 Ziff. 2. Siehe Bd. III. 1. S. 289 Note 2.
    7).
  • g) Von demſelben Tage an ſind auch die aus dem Dispo - ſitionsfonds des Kaiſers zu Gnadenbewilligungen aller Art bisher bewilligten und fernerhin zu bewilligenden Unterſtützungen und Er - ziehungsbeihülfen für Wittwen und Kinder der in Folge des209§. 108. Das active Reichsvermögen.Krieges von 1870 / 71 für invalide erklärten und demnächſt ver - ſtorbenen Militärperſonen bis zur Höhe von 350000 Mark jähr - lich aus den Mitteln des Invalidenfonds zu beſtreiten
    1)R.G. v. 30. März 1879 §. 3.
    1).

Endlich iſt zu erwähnen, daß die Koſten, welche durch die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds ſelbſt entſtehen, aus den Erträgen deſſelben beſtritten werden2)R.G. v. 23. Mai 1873 §. 7. Nur die Ausgaben an Wittwen - und Waiſengeldern für Hinterbliebene von Beamten der Verwaltung des Reichs - invalidenfonds fallen geſetzlich nicht dieſem zur Laſt, ſondern ſind aus allge - meinen Reichsmitteln zu beſtreiten..

Unter den vorſtehend aufgeführten Beträgen ſind die Zahlun - gen der Invalidenpenſionen u. ſ. w. in Folge der Kriege vor 1870, ferner die Zahlungen an ehemalige franzöſ. Militärperſonen und endlich die Koſten der Invalideninſtitute ſolche, an denen Bayern wegen der ihm zuſtehenden eigenen Militärverwaltung keinen An - theil zu tragen hat3)Die Penſionen ꝛc. ꝛc. auf Grund der Reichspenſionsgeſetze von 1871 und 1874 werden auch für das bayeriſche Kontingent unmittelbar für Rech - nung des Reichsinvalidenfonds bezahlt. Ebenſo ſind die Penſionen u. ſ. w. für die Angehörigen der ehemals ſchleswig-holſt. Armee gemeinſchaftlich zu tragen auf Grund des Vertrages v. Verſailles v. 23. Nov. 1870 Art. 79 Ziff. 9 u. Ziff. 27.; demgemäß wird ihm zur Beſtreitung gleich - artiger Ausgaben alljährlich aus den Mitteln des Invalidenfonds eine Summe überwieſen, welche nach dem Verhältniß der Kopf - ſtärke des bayeriſchen Kontingents zu jenen der übrigen Theile des Reichsheeres bemeſſen wird4)R. Geſ. v. 11. Mai 1877 §. 1 Abſ. 2 (R. G.Bl. S. 495). R.G. vom 17. Juni 1878 letzter Abſ. (R. G.Bl. S. 128). R.G. v. 30. März 1879 §. 2 Abſ. 2 (R. G.Bl. S. 119)..

2. Bei Beſtimmung der Höhe des Invalidenfonds iſt die Ge - ſetzgebung davon ausgegangen, daß durch die aus ihm zu beſtrei - tenden Ausgaben nicht nur der Zinſenertrag, ſondern nach und nach auch der Kapitalbeſtand des Fonds aufgebraucht werden ſoll. Von dieſem Geſichtspunkt aus ergeben ſich die Grundſätze, welche für die Verwaltung des Fonds maßgebend ſind und welche ſich dahin zuſammenfaſſen laſſen, daß die dem Fonds überwieſenen Gelder in der Art zinsbar anzulegen ſind, daß ſowohl der Zins - ertrag als das Kapital ſichergeſtellt und die allmählige Verwen -Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 14210§. 108. Das active Reichsvermögen.dung des letzteren ermöglicht wird. Um jede gewagte Speku - lation auszuſchließen, beſtimmt das Geſetz ſelbſt die Kategorien von Werthpapieren, in denen die Anlage des Fonds erfolgen darf, ebenſo die Art und Weiſe ihrer Verwahrung und Verwerthung1)Geſ. v. 23. Mai 1873 §§. 2 5. Geſ. v. 23. Febr 1876 §. 1 (R. G.Bl. S. 24). Geſ. v. 30. März 1879 §. 1 (R. G.Bl. S. 119)..

Obgleich nun der Invalidenfonds durch die geſetzliche Zweck - beſtimmung und abgeſonderte Verwaltung als ein beſonderer Ver - mögenscomplex aus dem allgemeinen Reichsvermögen ausgeſchieden iſt, ſo beſteht doch zwiſchen ihm und dem allgemeinen Staatshaus - halt des Reiches ein enger Zuſammenhang, da die aus dem In - validenfonds zu beſtreitenden Ausgaben nothwendige ſind, zu deren Leiſtung das Reich auch ohne die Exiſtenz jenes Fonds ver - pflichtet wäre und die es daher in dem Falle, daß der Invaliden - fonds aufgebraucht ſein würde, fortleiſten müßte. Aus dieſem Grunde ſind für jedes Jahr die Zinseinnahmen des Reichs-In - validenfonds und die zur Ergänzung derſelben flüſſig zu machenden Kapitalbeſtände im Reichshaushalts-Etat feſtzuſetzen. Zinſen - überſchüſſe wachſen dem Reichs-Invalidenfonds unter keinen Umſtänden zu, ſondern ſind in die Reichskaſſe abzuführen und in die Einnahmen des Reichshaushalts-Etats einzuſtellen2)Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 7.. Wenn dagegen durch eine Mehreinnahme an Zinſen und durch eine Minder - ausgabe an Penſionen u. ſ. w. der Kapitalzuſchuß in der im Reichshaushalts-Etat vorgeſehenen Höhe nicht erforderlich wird, ſo fällt der hierdurch erſparte Betrag nicht als Einnahme der Reichs - kaſſe zu, ſondern er verbleibt dem Kapitalbeſtande des Invaliden - fonds, ſowie im umgekehrten Falle ein Mehrbedarf durch einen höheren Kapitalzuſchuß des Invalidenfonds zu decken wäre. Wenn durch das Erlöſchen der auf den Invalidenfonds angewieſenen Penſionen, und anderen Zahlungsverpflichtungen Activbeſtände des Invalidenfonds entbehrlich werden, ſo iſt über die Verwendung derſelben durch Reichsgeſetz Beſtimmung zu treffen3)Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 15. d. h. die disponibel gewordenen Beträge ſind nicht von Rechtswegen als Einnahmen im Etat in Anſatz zu bringen, ſondern ſie bleiben ſo lange ein freies, keinem beſtimmten Zweck gewidmetes Aktivver -211§. 108. Das active Reichsvermögen.mögen des Reiches, bis über die Verwendung deſſelben die Ueber - einſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages erzielt wird1)Die Zinſen dieſes Fonds würden dagegen etatsmäßige Einnahmen bilden d. h. dem Fonds nicht zuwachſen. Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 7..

3. Für die Verwaltung des Fonds iſt eine beſondere Behörde mit dem Amtsſitz in Berlin errichtet worden, deren ſtaatsrechtliche Stellung, Zuſammenſetzung und Geſchäftsthätigkeit bereits oben Bd. I. S. 351 ff. erörtert worden iſt2)Hinzuzufügen iſt, daß der von dem Vorſitzenden und den Mitgliedern zu leiſtende Eid nunmehr in öffentlicher Sitzung des Reichsgerichts (ſtatt Reichs - Oberhandelsgerichts) zu ſchwören iſt. Reichsgeſ. v. 16. Juni 1879 §. 1 (R. G.Bl. S. 157).. Sie iſt unter die fort - laufende Aufſicht der Reichsſchulden-Kommiſſion geſtellt, welche befugt iſt, ſich jederzeit Ueberzeugung davon zu verſchaffen, in welcher Weiſe die Kapitalmittel des Fonds zinsbar belegt ſind, Reviſionen vorzunehmen und Bemerkungen und Anſichten über die Geſchäftslage und Geſchäftsführung der Verwaltung zugehen zu laſſen, welche dieſe zum Gegenſtande einer Beſchlußnahme machen muß3)Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 13. Vgl. auch §. 4 ebenda.. Ueber ihre Thätigkeit und über die Ergebniſſe der Ver - waltung des Reichs-Invalidenfonds erſtattet die Reichsſchulden - Kommiſſion dem Reichstage bei ſeinem jährlichen regelmäßigen Zu - ſammentritt Bericht und legt ihm mindeſtens in jedem dritten Jahre (ſeit 1879) eine Bilanz vor, in welcher außer den Aktiv - beſtänden der zeitige Kapitalwerth der dem Fonds obliegenden Verbindlichkeiten ſpeziell angegeben ſein muß4)Geſ. v. 23. Mai 1873 §. 14..

Zur Wahrnehmung dieſer Geſchäfte iſt die Reichsſchulden - Kommiſſion durch 5 Mitglieder verſtärkt worden, von denen zwei vom Bundesrath und drei vom Reichstage gewählt werden; an den übrigen Geſchäften der Kommiſſion nehmen dieſe Mitglieder nicht Theil5)Geſ. v. 23. Februar 1876 §. 13 (R. G.Bl. S. 24)..

IV. Durch die Franzöſiſche Kriegskoſten-Entſchädigung iſt das Reich in die Lage verſetzt worden, für die Herſtellung von noth - wendigen oder nützlichen Bauten Fonds zu reſerviren. Obgleich dieſe Fonds von Anfang an dazu beſtimmt ſind, aufgebraucht zu werden, vertheilt ſich doch die thatſächliche Verwendung derſelben14*212§. 108. Das active Reichsvermögen.auf einen längeren Zeitraum und während deſſelben tragen die nicht verbrauchten Beſtände Zinſen, welche der Reichskaſſe zu - fließen und als Einnahme in dem Etat aufzuführen ſind. Für dieſe Zeit ſind die in Rede ſtehenden Fonds daher werbendes (Finanz -) Vermögen des Reiches.

Hierhin gehören zur Zeit1)Ein großer Theil dieſer Beträge iſt beſtimmungsgemäß verwendet und bereits aufgebraucht; die Aufzählung derſelben iſt ohne ſtaatsrechtliches Intereſſe. noch folgende Kapitalbeſtände:

1. Der Reichs-Feſtungsbaufonds. Das Geſetz vom 30. Mai 18732)R. G.Bl. 1873 S. 123. hat den Betrag von 216 Millionen Mark zur zeitgemäßen Umgeſtaltung und Ausrüſtung der Deutſchen Feſtun - gen (ausgenommen die in Elſaß-Lothringen befindlichen) reſervirt und davon 57 Mill. M. dem Reichskanzler für 1873 und 1874 zur Verfügung geſtellt, aus dem Reſtbetrag einen beſondern Fonds gebildet, welcher nach Maßgabe des Geſetzes über den Reichs - Invalidenfonds v. 23. Mai 1873 zinsbar angelegt3)Modifikationen der Vorſchriften über die Anlage des Fonds ſind in Art. III Abſ. 1 des citirten Geſetzes enthalten. Die Geſchäftsanweiſung vom 11. Juni 1874 (R. G.Bl. S. 104) findet mit Ausnahme des §. 9 auch auf den Feſtungsbaufonds Anwendung (§. 16 der citirten Geſchäfts-Anweiſung). und von der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds unter der oberen Leitung des Reichskanzlers und unter der Kontrole der Reichs-Schulden - kommiſſion verwaltet wird. Die Zinſen einnahmen des Fonds wachſen dem letzteren nicht zu, ſondern ſind im Etat als Einnahme anzuſetzen und zur Beſtreitung der gemeinſchaftlichen Ausgaben zu verwenden4)Geſ. v. 30 Mai 1873 Art. III Abſ. 3.; die aus dem Fonds zu leiſtenden Ausgaben ſind daher ausſchließlich durch Flüſſigmachung von Kapitalbeſtänden zu beſtreiten5)Art. III Abſ. 2 eod. und die Höhe dieſer Beträge iſt durch die Reichs - haushalts-Etats der betreffenden Jahre feſtzuſtellen6)Art. II u. VII eod. . Aus dieſem Fonds ſind vorſchußweiſe auch andere Ausgaben als die im Art. I. des Geſetzes v. 30. Mai 1873 vorgeſehenen beſtritten und die Rückerſtattung der varauslegten Beträge aus anderen Einnahmen des Reiches vorgeſehen worden7)Sämmtliche Etatsgeſetze des deutſchen Reiches ſeit dem Geſ. v. 25 Dez. 1875 (R. G.Bl. S. 325) enthalten im §. 7 darüber Anordnungen..

213§. 108. Das active Reichsvermögen.

Ein beſonderer Fonds zur Wiederherſtellung, Vervollſtändigung und Ausrüſtung der in Elſaß-Lothringen gelegenen Feſtungen, ſowie zur Erbauung und Einrichtung von Kaſernen, Lazareth - und Maga - zinanſtalten in den offenen Garniſonſtädten von Elſaß-Lothringen iſt durch Geſetz v. 8. Juli 1872 Art. I. der franzöſ. Kriegskoſten - Entſchädigung entnommen worden1)R. G.Bl. 1872 S. 289.. Er iſt durch Geſ. v. 9. Febr. 1875 §. 1 auf 128942850 M. erhöht worden2)R. G.Bl. 1875 S. 59. und überdies ſind für die Koſten der Erweiterung der Umwallung von Straßburg noch diejenigen 17 Millionen Mark beſtimmt worden, welche von der Stadt Straßburg für die durch dieſe Hinausſchiebung der Umwallung entbehrlich werdenden Grundſtücke zu entrichten ſind3)Geſ. v. 14 Febr. 1875 §. 1 (R. G.Bl. S. 62).. Es beruht dieſe Summe darauf, daß die Herſtellung der neuen Umwallung von Straßburg 20 Millionen M. erforderte, während das Geſ. v. 8. Juli 1872 für dieſen Zweck nur 3 Mill. M. zur Verfügung geſtellt hatte4)Der Vertrag zwiſchen dem Reichsfiskus und der Stadt Straßburg iſt am 2. Dezember 1875 geſchloſſen worden (Druckſ. des Reichstags v. 1875 Nro. 186). Von dem Betrage von 17 Mill. iſt in Abzug zu bringen der Preis für das vom Reich zurückerworbene Terrain für die Univerſitätsbauten; der Reſt (15965373 M.) iſt vom Jahre 1879 ab in Jahresraten von einer Million abzutragen und iſt unverzinslich. Da die Koſten der Herſtellung der neuen Umwallung aber ſogleich bei der Vornahme der Arbeit gedeckt werden mußten, ſo iſt gerade hierfür der Reichsfeſtungsbaufonds in Anſpruch genom - men worden. Vgl. S. 212 Note 7.. Eine abgeſonderte Verwaltung iſt für den elſaß-lothringiſchen Feſtungsfonds nicht eingerichtet worden; ebenſo wenig iſt eine Beſtimmung über die während der Bauzeit aufgelaufenen Zinſenerträge ergangen; für dieſelben gelten daher diejenigen Grundſätze, welche von den Zinſenerträgen der franzöſ. Kriegskoſten-Entſchädigung überhaupt gelten d. h. ſie ſind als ein Acceſſorium der letzteren zu behandeln.

2. Der Reichs-Eiſenbahnbaufonds. Inſoweit die - jenigen Beträge, welche §. 1 des Geſ. v. 18. Juni 1873 für Her - ſtellung und Verbeſſerung der Reichseiſenbahnen aus der franzöſ. Kriegskoſten-Entſchädigung angewieſen hat, erſt im Jahre 1874 und ſpäter zur Verwendung kommen, ſind dieſelben vom Reichs - kanzler nach Maßgabe der Beſtimmungen in §§. 2 u. 3 des Ge -214§. 108. Das active Reichsvermögen.ſetzes über den Invalidenfonds vom 23. Mai 1873 zinsbar an - zulegen1)Geſ. v. 18. Juni 1873 § 2 (R. G Bl. S. 144). Modifizirt durch das Geſ. v. 23. Febr. 1876 §. 2.. Die aufkommenden Zinſen wachſen dem Fonds nicht zu, ſind daher alljährlich in den Reichshaushalts-Etat aufzu - nehmen.

3. Der Reichstagsgebäudefonds. Das Geſ. vom 8. Juli 1873 §. 1 Ziff. 32)R. G.Bl. 1873 S. 217. reſervirte aus der Franzöſ. Kriegs - koſten-Entſchädigung den Betrag von 24 Mill. Mark für Errichtung des Reichstagsgebäudes und beſtimmte, daß dieſer Fonds bis zur geſetzlichen Verfügung darüber nach den Beſtimmungen im Art. III. des Geſetzes über den Feſtungsbaufonds zinsbar anzulegen und zu verwalten iſt. Die Zinſen wachſen nach der Anordnung dieſes Geſetzes dem Fonds zu. Da ſich aber die Entſcheidung über die Ausführung des Bau’s, namentlich über den Bauplatz, in uner - warteter Weiſe verzögerte und in Folge deſſen der Fonds in einem das Bedürfniß überſteigenden Maße anwachſen mußte, ſo ordnete das Geſetz vom 11. Mai 1877 §. 23)R. G.Bl. 1877 S. 496. an, daß die Zinſen dieſes Fonds demſelben fortan nur inſoweit zuwachſen, als über die - ſelben nicht durch den Reichshaushalts-Etat zur Beſtreitung anderer Ausgaben Beſtimmung getroffen wird d. h. daß ſie als Einnahme in Anſatz zu bringen ſind4)Der Vollſtändigkeit wegen mag hier erwähnt werden, daß auch die aus der Reichskaſſe für den Bau eines allgemeinen Kollegienhauſes in Straß - burg auf Grund der Etatsgeſetze überwieſenen Mittel zeitweilig zinsbar ange - legt worden ſind und daß der hiervon bis zum Schluß des Etatsjahres 1880 / 81 aufgekommene Zinſenertrag in Folge eines Monitums des Rechnungshofes als Einnahme des Reiches verrechnet worden iſt. (Ueberſicht ꝛc. für 1880 / 81 S. 372.).

V. Die gewerblichen Betriebe des Reiches ſind abgeſehen von den Reichseiſenbahnen, der Poſt - und Telegraphenanſtalt und dem Antheil des Reiches an dem Reingewinn der Reichsbank folgende:

1. Das Reich giebt in Gemeinſchaft mit Preußen unter dem Titel Deutſcher Reichs - und Preußiſcher Staats - Anzeiger eine täglich in Berlin erſcheinende Zeitung heraus, welche namentlich zur Inſertion amtlicher Kundmachungen dient. 215§. 108. Das active Reichsvermögen.An dem Reinertrage dieſes Preßunternehmens iſt der Preußiſche Fiskus mit , der Reichsfiskus mit betheiligt1)Im Etat für 1882 / 83 iſt die Einnahme des Reiches aus dieſem Be - triebe auf 37940 M. beziffert..

2. Die Reichsdruckerei. Durch das Reichsgeſ. v. 23. Mai 18772)R. G.Bl. 1877 S. 500. wurde der Reichskanzler ermächtigt, das von Decker’ſche Grundſtück in Berlin nebſt der darauf befindlichen Druckerei (für den Betrag von 6780000 Mark) käuflich zu erwerben. Die de - finitive Dispoſition über das Grundſtück wurde bis dahin vorbe - halten, daß über die Bauſtelle für das zu errichtende Reichstags - gebäude die Entſcheidung getroffen iſt; der Betrieb der Druckerei wurde inzwiſchen fortgeführt, jedoch mit der Beſchränkung auf die unmittelbaren Zwecke des Reiches und des Preußiſchen Staates. Das Reichsgeſ. v. 15. Mai 18793)R. G.Bl. 1879 S. 139. Motive zum Geſetzentwurf in den Druckſachen des Reichstages von 1879 Nro. 152. ermächtigte den Reichskanzler, auch die Preuß. Staatsdruckerei käuflich für das Reich zu erwerben (für 3573000 Mark) und dieſelbe mit der ehemaligen v. Decker - ſchen Druckerei zu verſchmelzen. Die hierdurch hergeſtellte Reichs - druckerei ſoll vorwiegend für die Bedürfniſſe des Reiches und des Preußiſchen Staates verwendet werden; ausnahmsweiſe iſt es dieſer Anſtalt aber auch geſtattet, von Privatperſonen Werke zum Druck anzunehmen, durch deren Veröffentlichung wiſſenſchaftliche oder Kunſtintereſſen weſentlich zu fördern ſind4)Vgl. Druckſachen des Reichstages v. 1879 Nr. 272 S. 1622.. Im Allgemeinen gilt die reichsgeſetzliche Vorſchrift, daß die Beſtimmungen über den Umfang des Betriebes der Reichsdruckerei alljährlich durch den Reichshaushalts-Etat getroffen werden5)R.G. v. 15. Mai 1879 §. 3 (R. G.Bl. S. 139). Im Etat für 1882 / 83 iſt der Ueberſchuß der Reichsdruckerei auf 1051240 M. veranſchlagt..

Die Verwaltung der Reichsdruckerei erfolgt durch eine dem General-Poſtmeiſter unterſtellte Behörde, welche die Be - zeichnung Direktion der Reichsdruckerei führt6)Bekanntmachung v. 29. Juli 1879 (Centralbl. des d. R. 1879 S. 493)..

VI. Die Betriebsfonds. Da dieſe Fonds durch die Be - dürfniſſe der Verwaltung nicht abſorbirt werden, ſondern nach vollſtändiger etatsmäßiger Leiſtung aller Einnahmen und Aus -216§. 108. Das active Reichsvermögen.gaben als Kaſſenüberſchuß erſcheinen und falls ſie aus irgend einem Grunde entbehrlich werden ſollten zur freien Verfügung des Reiches ſtehen, ſo ſind ſie dem Finanzvermögen deſſelben zu - zuzählen1)Hier iſt aber nur von den ſtändigen Betriebsfonds die Rede, nicht von vorübergehenden Verſtärkungen der Betriebsmittel der Reichskaſſen durch Begebung von Schatzſcheinen. Vgl. unten §. 109. I. . Ihr wirthſchaftlicher Nutzen beſteht darin, daß die mit der Benutzung des Verwaltungscredits verbundenen Koſten und Aufwendungen erſpart werden. Die erſte Anlage ſolcher Fonds erfolgte durch das Etatsgeſetz für 1872, indem auch für dieſes Bedürfniß die Mittel der Befriedigung aus der franzöſ. Kriegs - koſten-Entſchädigung genommen worden ſind2)Vgl. Annalen 1873 S. 415 fg. und die daſelbſt in Bezug genom - mene Denkſchrift in den Druckſachen des Reichstags II. Seſſ. 1871 Nro. 111.. Die damals für dieſe Zwecke beſtimmten Summen wurden aber im Laufe der Jahre mit dem wachſenden Umfang der Finanzwirthſchaft des Reiches ungenügend und mußten erhöht werden. Insbeſondere hat das Etatsgeſetz für 1882 / 83 dieſem Bedürfniß Abhülfe verſchafft3)Vgl. den detaillirten Nachweis dieſes Bedürfniſſes in der Denkſchrift zum Etatsgeſetz-Entwurf S. 49 ff. (Druckſ. des Reichstages 1881 / 82 Nr. 5).. Der Betriebsfonds zerfällt aber wieder in 4 verſchiedene Fonds:

a) Der Betriebsfonds der Reichs-Hauptkaſſe iſt durch den Etat von 1872 in Höhe von 6 Millionen Mark dotirt worden. Er dient generell allen auf Rechnung des Reiches zu führenden Verwaltungen, für welche nicht einer der nachfolgend bezeichneten Spezialfonds beſtimmt iſt4)Insbeſondere ſind die Legationskaſſe, ſowie die Geſandtſchaften und Konſulate aus dieſem Fonds mit Betriebsmitteln in Höhe von 750000 M. ausgeſtattet worden.. Zur vorübergehenden Verſtärkung dieſes Fonds iſt der Reichskanzler durch die Etatsgeſetze der ein - zelnen Jahre zur Ausgabe von Schatzanweiſungen ermächtigt wor - den5)Durch das Etats-Geſetz v. 15 Febr. 1882 §. 3 (R. G.Bl. S. 11) iſt der Maximalbetrag derſelben auf 70 Millionen Mark erhöht worden..

b) Der Betriebsfonds der Reichsdruckerei. Derſelbe iſt durch das Etatsgeſetz für 1882 / 83 mit 400000 Mark ausgeſtattet worden.

c) Der Betriebsfonds der Reichs-Poſt - und Telegra - phenverwaltung; durch das Etatsgeſetz für 1872 wurde der -217§. 108. Das active Reichsvermögen.ſelbe auf 5250000 M. feſtgeſetzt, durch das Etatsgeſetz für 1882 / 83 um 8750000 M. erhöht, ſo daß derſelbe 14 Mill. M. beträgt. An dieſem Betriebsfonds haben Bayern und Württemberg keinen Antheil, da ſie die Poſt - und Telegraphenverwaltung ſelbſtändig und für eigene Rechnung führen; demgemäß haben ſie auch zur Bildung dieſes Fonds nicht beigetragen.

d) Ausſtattung der Truppenkaſſen. Für dieſen Zweck hat der Etat für 1872 die Summe von 18810000 M. ausge - worfen. Da das Reich eine eigene Militärverwaltung nicht hat, ſo iſt dieſe Summe antheilsmäßig den vier Staaten mit eigener Kontingentsverwaltung als eiſerner Vorſchuß d. h. als unkünd - bares und unverzinsliches Darlehen vom Reiche überwieſen worden.

B. Das Verwaltungsvermögen.

Bei Errichtung des Norddeutſchen Bundes wurden der Bun - desgewalt einzelne Verwaltungszweige ganz oder theilweiſe über - tragen, ohne daß eine Beſtimmung darüber getroffen wurde, welche Rechte dem Bunde an den, dieſen Verwaltungszweigen dienenden Vermögensobjekten zukommen. Eine völlige Neuausſtattung iſt für dieſe Verwaltungen nicht erfolgt; die Bundesbehörden, welche an Stelle der bisherigen Landesbehörden traten, übernahmen zu - gleich mit ihren Amtsgeſchäften auch den dienſtlichen Gebrauch des Verwaltungsinventars. Hierzu kamen dann aber ſehr bald Neu - anſchaffungen, Reparatur - und Erweiterungsbauten und andere Erwerbungen aus Bundesmitteln. An dieſem Zuſtande iſt durch die Gründung des Reiches Nichts geändert worden; die Reichs - verfaſſung enthält ebenſowenig wie die Verf. des Nordd. Bundes eine Regelung dieſer Materie. Thatſächlich wurden durch die Reichsgründung die Verhältniſſe aber noch complizirter, da außer dem Eigenthum des Reiches und der Einzelſtaaten nun auch noch das Eigenthum des Nordd. Bundes in Betracht kam und weil den ſüddeutſchen Staaten Sonderrechte hinſichtlich des Militärweſens und der Poſt - und Telegraphenverwaltung eingeräumt wurden, welche auch für die Rechte an den Vermögensſtücken dieſer Ver - waltungen von Belang waren.

Das geſammte Verwaltungs-Inventar des Reichs zerfiel nun nach privatrechtlichen Geſichtspunkten in zwei große Maſſen, die ſich als Eigenthum des Reichsfiskus und als Eigenthum der Landes -218§. 108. Das active Reichsvermögen.fisci gegenüberſtanden. Die erſtere wurde gebildet durch alle ſeit Gründung des Reiches (resp. Nordd. Bundes) aus Reichsmitteln angeſchafften Vermögensſtücke; die letztere aus den von den Einzel - ſtaaten eingebrachten Vermögensobjekten, welche zur Ausſtattung der auf das Reich übergegangenen Verwaltungen gehörten. Daß die vom Reiche ſelbſt angeſchafften Gegenſtände Eigenthum des Reiches ſind, iſt ſelbſtverſtändlich und unbeſtritten; dagegen konnte es fraglich erſcheinen, ob nicht das Reich mit Uebernahme der Verwaltungsthätigkeit auch in das Eigenthumsrecht an den Aus - rüſtungsgegenſtänden dieſer Verwaltungen ſuccedirt ſei. Vom Standpunkt des Civilrechts aus war dies aber zu verneinen. Denn für eine Enteignung ſo großer Vermögensmaſſen der Einzelſtaaten zu Gunſten des Reichsfiskus war weder in dem Wortlaut der Reichsverfaſſung noch in der Natur der Inſtitutionen des Reiches ein Grund vorhanden. In Uebereinſtimmung hiermit hat der Präſident des Bundeskanzleramts wiederholt erklärt, daß Seitens der Bundesregierungen davon ausgegangen wird, daß das un - bewegliche Eigenthum, wie es bei dem Uebergange dieſer Ver - waltungen auf den Bund vorhanden war, im Eigenthum derjenigen Staaten verblieben iſt, welchen dieſes Eigenthum zur Zeit des Ueberganges auf den Bund zuſtand 1)Vgl. Stenogr. Berichte 1867 S. 244 ff., 1868 S. 309. 314. 341. 512, 1870 S. 282 und 1873 S. 22 ff. Hinſichtlich des beweglichen Eigenthums war die entgegengeſetzte Auffaſſung ſchon ſeit 1868 feſtgehalten worden. Dies war theoretiſch zwar ſicherlich falſch, praktiſch aber nicht abzuweiſen, da das bewegliche Verwaltungseigenthum zum überwiegend größten Theil aus ver - brauchbaren Gegenſtänden beſteht, die durch die Verwaltungsthätigkeit ſelbſt conſumirt werden. Vgl. Annalen 1873 S. 426 und die Erklärung des Staatsminiſters Delbrück in der Sitzung des Reichstags v. 18. März 1873. Stenogr. Berichte S. 23. Ferner Seydel in Behrend’s Zeitſchrift Bd. VII S. 230 fg.. Dieſe vom civilrecht - lichen Standpunkte aus ſich ergebende Unterſcheidung widerſprach aber dem praktiſchen Bedürfniß. In den einzelnen Verwaltungs - reſſorts waren Gegenſtände, die aus der Zeit der Landesverwal - tung ſtammten, mit Gegenſtänden, die auf Bundeskoſten angeſchafft waren, zu einem einheitlichen Complex vereinigt und ihre privat - rechtliche Herkunft konnte nicht berückſichtigt, ja im Laufe der Zeit vielleicht nicht einmal feſtgeſtellt werden. Auch war das Eigen - thumsrecht an dieſen Gegenſtänden nicht von Belang, da das Ver -219§. 108. Das active Reichsvermögen.waltungsvermögen, wenngleich daſſelbe dem Fiscus privatrechtlich gehört, doch nicht von ihm im Vermögensintereſſe ausgebeutet wird. Die Führung der Verwaltungsgeſchäfte iſt undenkbar ohne die Verfügung über den hierzu erforderlichen Apparat und dem - gemäß wäre die Abtretung von Verwaltungen an das Reich ohne gleichzeitige Uebertragung des Gebrauchs - und Verfügungsrechts über die zur Ausſtattung dieſer Verwaltungen beſtimmten Gegen - ſtände widerſinnig geweſen. Soweit in Folge der Reichsorgani - ſation Geſchäfte und Aufgaben der Verwaltung von den Einzel - ſtaaten auf das Reich übergegangen ſind, ebenſoweit hat das Reich auch die Befugniß überkommen, das fiskaliſche Vermögen der Einzelſtaaten zum Zweck der Erledigung dieſer Geſchäfte und Auf - gaben in demſelben Umfange zu benutzen, wie dies den entſpre - chenden Verwaltungsbehörden der Einzelſtaaten zugeſtanden haben würde. Durch dieſes Recht des Reiches zum Gebrauch war die civilrechtliche Unterſcheidung zwiſchen den Vermögensſtücken des Reichs und denjenigen der Einzelſtaaten praktiſch wieder auf - gehoben und das Inventar der einzelnen Reichsverwaltungen ver - waltungsrechtlich zu einer Einheit verbunden worden. Theo - retiſch war das Verhältniß nicht anders zu conſtruiren, als daß das Reich an den von den Einzelſtaaten eingebrachten Gegen - ſtänden das Eigenthum des Landesfiskus behufs Er - füllung der Verwaltungsaufgaben auszuüben befugt ſei1)Vgl. Annalen a. a. O. S. 425..

Dieſe Ausübung des fremden (landesfiskaliſchen) Eigen - thums iſt aber von der Ausübung des eigenen (reichsfiskaliſchen) in einer, nicht unwichtigen Beziehung verſchieden und zwar in Folge der eigenartigen Natur des Verwaltungseigenthums. Da dieſe nämlich auf der Zweckbeſtimmung der einzelnen Vermögens - ſtücke beruht, ſo verlieren die letzteren den Charakter des Ver - waltungsinventars und werden freies (Finanz -) Vermögen des Fiskus, ſobald ſie für die Zwecke der Verwaltung entbehrlich oder unbrauchbar werden. Die dem Reich gehörenden Gegenſtände werden hiernach, wenn ſie für die Verwaltung entbehrlich werden, Finanzvermögen des Reichsfiskus; die den Einzelſtaaten ge - hörigen, Finanzvermögen des betreffenden Landesfiskus. Die blos verwaltungsrechtliche Einheit löst ſich mit dem Wegfall des ſie220§. 108. Das active Reichsvermögen.begründenden Bandes, des verwaltungsmäßigen Gebrauches, und die privatrechtliche Verſchiedenheit der Eigenthumsrechte tritt wieder hervor. Hierbei iſt aber zu beachten, daß die Frage, unter wel - chen Umſtänden die Verwaltungseinheit aufhört und in welchem Umfange das privatrechtliche Eigenthum des Landesfiskus wirk - ſam wird, zu mancherlei Zweifeln Veranlaſſung giebt, insbeſondere wenn ein Grundſtück veräußert und aus dem Erlös ein anderes angeſchafft worden iſt, wenn es für ein anderes Verwaltungs - reſſort Verwendung gefunden hat, wenn es aus Reichsmitteln ver - größert, reparirt, umgebaut worden iſt u. ſ. w. In dieſen und anderen Fällen kann jede Abweichung in der theoretiſchen Auffaſ - ſung leicht zu ſehr verſchiedenen praktiſchen Reſultaten führen.

Um dieſe Unſicherheit zu beſeitigen und die in der Reichs - verfaſſung vorhandene Lücke auszufüllen, wurde das Geſetz über die Rechtsverhältniſſe der zum dienſtlichen Ge - brauche einer Reichsverwaltung beſtimmten Gegen - ſtände vom 25. Mai 1873 erlaſſen1)R. G.Bl. 1873 S. 113. Geſetz-Entw. mit Motiven in den Druck - ſachen des Reichstages IV. Seſſ. 1873 Nro. 6. Kommiſſions-Bericht ebendaſ. Nro. 51. Verhandlungen des Reichstages in den Stenogr. Be - richten I. S. 22 ff. 355 ff..

Nach dem von den Regierungen vorgelegten Entwurf ſollte das Geſetz nur das von den Einzelſtaaten auf das Reich über - gegangene Verwaltungsvermögen betreffen und demgemäß nur das aus dieſem Uebergange ſich ergebende Rechtsverhältniß des Reichs zu den Einzelſtaaten regeln; durch die Commiſſion des Reichstages wurden aber eine Anzahl von Beſtimmungen hinzu - gefügt, die auf alles Reichsvermögen, auch das vom Norddeut - ſchen Bunde und vom Reiche ſelbſt angeſchaffte ſich beziehen. In Folge deſſen enthält das erwähnte Geſetz zwei Reihen von Rechts - regeln, die nur äußerlich mit einander verbunden ſind, logiſch aber mit einander in keinem Zuſammenhange ſtehen. An dieſer Stelle kommen nur diejenigen Beſtimmungen in Betracht, welche den von den Einzelſtaaten auf das Reich übergegangenen Verwaltungs - apparat betreffen2)Die andere Reihe von Anordnungen wird gebildet durch §. 1 Abſ. 2 (u. Abſ. 3), welche bereits oben S. 200 erörtert worden ſind, und durch §§. 10 bis 12, welche das Budgetrecht betreffen und unten §. 123 ff. zur Darſtellung kommen werden..

221§. 108. Das active Reichsvermögen.

Das Geſetz hat die Schwierigkeiten, welche ſich aus der oben entwickelten, aus der Natur der Sache hergeleiteten Con - ſtruction ergeben können, dadurch zu beſeitigen unternommen, daß es dem Reich an den von den Einzelſtaaten übernommenen Ver - waltungsapparaten das Eigenthum zugewieſen, den Einzel - ſtaaten jedoch an den entbehrlich werdenden Gegenſtänden das Rückfallsrecht vorbehalten hat. Thatſächlich wurde dadurch an dem Rechtszuſtand, wie er bereits vor Erlaß des Geſetzes aus theoretiſchen Gründen herzuleiten war, keine weſentliche Aenderung hervorgerufen; es wurde aber das formale Fortbeſtehen des Landes-Eigenthums an zahlreichen Inventarſtücken der Reichsver - waltungen vermieden. Zu einer wirklich einheitlichen Vermögens - maſſe wurde freilich auch hierdurch das Reichsverwaltungs-Inven - tar nicht gemacht; es zerfällt nach wie vor in zwei Maſſen, nur daß dieſe ſich nicht mehr als Eigenthum des Reichsfiskus und Eigenthum der Landesfisci, ſondern als dominium perpetuum und dominium revocabile (temporale) des Reichsfiskus charakte - riſiren.

Dieſes Prinzip iſt im Einzelnen in folgender Weiſe durchge - führt worden:

1. Das Geſetz greift viel weiter als ſeine Ueberſchrift ſagt. Es betrifft nicht nur das Inventar der Reichsverwaltungen, ſondern alle dem dienſtlichen Gebrauche einer verfaſſungs - mäßig aus Reichsmitteln zu unterhaltenden Ver - waltung gewidmeten Gegenſtände1)Geſetz §. 1 Abſ. 1.. Da das Reich für die Centralbehörden und deren dienſtliche Bedürfniſſe aus eigenen Mitteln Dienſtgebäude u. ſ. w. angeſchafft hat, die den Einzel - ſtaaten verbliebenen Verwaltungen aber der Regel nach auf Koſten derſelben geführt werden, ſo kommen überhaupt nur vier Ver - waltungen in Betracht: die Marine, die auswärtigen Angelegen - heiten, die Poſt und Telegraphie und das Heerweſen.

a) Die Marine-Verwaltung. Dieſelbe iſt nach Art. 53 der R.V. zweifellos eine Reichsverwaltung. Sie iſt an die Stelle der ehemaligen Preußiſchen Marine-Verwaltung getreten, da kein anderer Staat außer Preußen bei Errichtung des Nordd. Bundes, beziehentlich des Deutſchen Reiches, eine Kriegsmarine222§. 108. Das active Reichsvermögen.hatte. Durch das Geſ. v. 25. Mai 1873 §. 1 iſt daher ausge - ſprochen, daß alle Vermögensobjekte, welche dem Preußiſchen Ma - rinefiskus vor Errichtung des Norddeutſchen Bundes gehört haben, Fahrzeuge aller Art und ihre Ausrüſtung, Magazine, Werften, Hafenanlagen, Docks u. ſ. w., in das Eigenthum des Reiches übergegangen ſind.

b) Die Verwaltung der auswärtigen Angelegen - heiten. Hinſichtlich des Konſulatweſens iſt es ebenfalls zweifellos, daß die Verwaltung deſſelben eine unmittelbare, auf Koſten des Reiches geführte und ausſchließliche Reichsverwaltung iſt, und daß ſonach alle Vermögensobjekte der Einzelſtaaten, welche vor Eintritt derſelben in den Bund zum Dienſte der Konſulats - verwaltung beſtimmt waren, Reichseigenthum geworden ſind. Auf die ſüddeutſchen Staaten findet dies jedoch thatſächlich keine An - wendung, da bei dem Eintritt derſelben in den Bund die Organi - ſation der Norddeutſchen Bundeskonſulate bereits durchgeführt war und nach der Reichsgründung dieſelben einfach in Reichskonſulate umgewandelt wurden. Unter den Staaten des Nordd. Bundes aber kam wieder nur Preußen in Betracht, da die etwa vorhan - denen Ausrüſtungsgegenſtände der Landeskonſulate der übrigen Staaten nicht in Anſpruch genommen wurden.

Zweifelhafter iſt die Anwendung des Geſetzes auf die diplo - matiſche Vertretung. Denn da den Einzelſtaaten das active Geſandtſchaftsrecht durch die Reichsverfaſſung nicht entzogen wor - den, vielmehr das Nebeneinanderbeſtehen von Reichs - und Landes - geſandtſchaften geſtattet iſt, ſo kann man, ſtreng genommen, nicht ſagen, daß die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten von den Einzelſtaaten auf das Reich übergegangen iſt; es iſt viel - mehr die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten des Rei - ches als ein neues Verwaltungsreſſort des Reiches neben die (de jure fortbeſtehenden) Verwaltungen der auswärtigen Ange - legenheiten der einzelnen Bundesſtaaten getreten. In der That haben ja auch einzelne Staaten, insbeſondere Bayern, ihr actives Geſandtſchaftsrecht und demgemäß ihre Verwaltung der auswär - tigen Angelegenheiten in beſchränktem Umfange fortgeführt. Von der Anwendung des Geſetzes vom 25. Mai 1873 auf das Inven - tar der auswärtigen Aemter und Geſandtſchaften dieſer Staaten iſt auch niemals die Rede geweſen. Daſſelbe muß nun auch für223§. 108. Das active Reichsvermögen.Preußen gelten und von dieſem Geſichtspunkt aus könnte man das Eigenthum des Reichsfiskus an dem Preußiſchen Miniſterial - gebäude des auswärtigen Amtes und an den Preußiſchen Ge - ſandtſchaftshotels beſtreiten. Allein da die Identität des Kaiſers und des Königs von Preußen zur Folge hat, daß die Geſandten des Reiches zugleich Preußiſche Geſandte ſind und das Auswär - tige Amt des Reiches zugleich als Preuß. Miniſterium der aus - wärtigen Angelegenheiten fungirt, ſo hat thatſächlich hier ein Uebergang der Preuß. Verwaltung in eine Reichsverwaltung ſtatt - gefunden und demgemäß hat ſich das Preußiſche Verwaltungs - eigenthum dieſes Reſſorts in Reichseigenthum umgewandelt.

c) Die Poſt - und Telegraphen-Verwaltung iſt nach der complizirten Kompetenz-Abgränzung in Art. 50 der R.V. verfaſſungsmäßig nur theilweiſe Reichsverwaltung, zum andern Theil Landesverwaltung; dagegen ſind nach Art. 49 der R.V. die Koſten des Poſt - und Telegraphenweſens aus Reichsmitteln zu beſtreiten. Hier wird alſo die Faſſung des §. 1 Abſ. 1 des Geſ. v. 25. Mai 1873 von Erheblichkeit; ſie überträgt dem Reich das Eigenthum an dem geſammten Poſt - und Telegraphen-Inventar aller Bundesſtaaten, ohne Rückſicht auf die denſelben verbliebenen Verwaltungsbefugniſſe. Ausgenommen ſind jedoch Bayern und Württemberg, da dieſe beiden Staaten nicht nur die Selbſt - verwaltung des Poſt - und Telegraphenweſens behalten haben, ſondern dieſelbe auch für eigene Rechnung führen.

d) Die Heeresverwaltung. Obgleich es eine Reichs - Militärverwaltung nicht giebt, ſondern die einzelnen Staaten ihre Kontingente ſelbſt verwalten, ſo wird doch dieſe Verwaltung auf Koſten und für Rechnung des Reiches geführt; das Geſetz vom 25. Mai 1873 findet daher auf das geſammte Inventar der Mili - tärverwaltungen der einzelnen Bundesſtaaten Anwendung1)Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die Anordnungen des Geſetzes auch an Stelle der Vereinbarungen in der Heſſiſchen Militärconvention Art. 20 und in der Badiſchen Militärconvention Art. 11 getreten ſind. Vgl. darüber An - nalen S. 430. Eine materielle Veränderung der Rechte iſt übrigens da - durch kaum herbeigeführt worden.. Hierin liegt gerade die große praktiſche Tragweite der in dem Geſetz ge - wählten Wortfaſſung, da weitaus der größte Theil des Verwal - tungsvermögens dem dienſtlichen Gebrauch des Militärs gewidmet224§. 108. Das active Reichsvermögen.iſt. Daß die Ausdehnung des Geſetzes auf das Militärinventar durch die Gemeinſamkeit der Militärlaſten und des Etats der Heeresverwaltung mit Nothwendigkeit geboten war, unterliegt keinem Zweifel; juriſtiſch aber entſteht hieraus die ſonderbare Conſequenz, daß die mit eigener Militärverwaltung ausgeſtatteten Einzelſtaaten zwar alle Rechtsgeſchäfte der Heeresverwaltung führen und durch dieſelben obligatoriſch berechtigt und verpflichtet werden, daß überhaupt der Militärfiskus im Allgemeinen als Landesfiskus anzuſehen iſt1)Vgl. oben S. 194., daß aber das Eigenthum an ſämmtlichen zum Dienſte der Heeresverwaltung beſtimmten Gegenſtänden dem Reich zuſteht2)Daß hierdurch die ohnehin verwickelten Rechtsverhältniſſe des ſoge - nannten Militärfiskus noch mehr complizirt werden, iſt einleuchtend.. Auch hinſichtlich der Feſtungen gilt derſelbe Grund - ſatz. Nur auf die Bayeriſche Heeresverwaltung und auf das liegende und bewegliche Inventar der bayeriſchen Feſtungen findet das Geſetz v. 25. Mai 1873 keine Anwendung3)Auf die Württembergiſche Militärverwaltung findet das Geſetz Anwendung, was nach ſeinem Wortlaut und nach den Verhandlungen über den Entwurf zweifellos iſt. Vgl. Seydel a. a. O. S. 235.; denn Bayern führt die Heeresverwaltung, wenngleich nach Maßgabe der An - ſätze des Reichsetats für die übrigen Kontingente, auf eigene Koſten; die Verwaltung des bayeriſchen Kontingents iſt demnach nicht eine verfaſſungsmäßig aus Reichsmitteln zu unterhaltende Verwaltung 4)Vgl. Bd. III. 1. S. 57 ff. 76 fg..

2. Als der Zeitpunkt, in welchem ſich der Uebergang des Eigenthums oder der anderen dinglichen Rechte von dem Bundes - ſtaat auf das Reich vollzieht, iſt nach dem Wortlaut des §. 1 cit. der Zeitpunkt des Uebergangs der Gegenſtände in eine ſolche (d. h. verfaſſungsmäßig aus Reichsmitteln zu unterhaltende) Ver - waltung anzuſehen . Dieſe, von der Reichstagskommiſſion her - rührende Faſſung iſt juriſtiſch nicht gerade als gelungen zu be - zeichnen; denn wann und wie geht ein Werthobjekt in eine Ver - waltung über ? Der wahre Sinn iſt der, daß das Inventar der einzelnen Verwaltungen in dem Zeitpunkt Reichseigenthum ge - worden iſt, in welchem das Reich die Koſten der betreffenden Ver - waltung übernommen hat. Die unklare Formulirung beruht225§. 108. Das active Reichsvermögen.darauf, daß man die Form der Deklaration vermeiden wollte und doch ein Geſetz mit rückwirkender Kraft erlaſſen mußte. Das Ge - ſetz erklärt in Wirklichkeit nichts Anderes, als daß diejenigen Dis - poſitions - und Nutzungsrechte, welche das Reich an dem Inventar der auf Reichskoſten übernommenen Verwaltungen erlangt hat, als Eigenthum zu bezeichnen ſeien1)In Wirklichkeit hat das Geſetz dem Reichsfiskus kein neues Recht gewährt, ſondern nur die juriſtiſche[Qualität] der dem Reichsfiskus zuſtehenden Rechte declarirt. Vgl. auch die Erklärung des Berichterſtatters des Reichs - tages, Becker (Oldenburg), Stenogr. Ber. 1873 S. 378.. Dies gilt auch von den - jenigen, unter die Beſtimmungen des Geſetzes fallenden Grund - ſtücken, an welchen nach der lex rei sitae nur durch Umſchreibung im Grundbuch Eigenthum übergehen kann, gleichviel ob dieſe Um - ſchreibung wirklich erfolgt iſt oder nicht. Denn einerſeits hat die Beſtimmung des Reichsgeſetzes den Vorrang vor allen Landes - geſetzen, andererſeits betrifft das Reichsgeſetz vom 25. Mai 1873 nicht die Rechtswirkungen privatrechtlicher Rechtsgeſchäfte, ſondern diejenigen eines ſtaatsrechtlichen Vorgangs. Aber wenngleich der Eigenthumsübergang auf Grund des Reichsgeſetzes von der er - folgten Umſchreibung im Grundbuch nicht abhängig iſt, ſo giebt doch dieſes Geſetz dem Reichsfiskus einen Rechtstitel, um die Um - ſchreibung der einzelnen Grundſtücke bei den Grundbuchsämtern zu beantragen.

3. Das Geſetz v. 25. Mai 1873 ſpricht nicht blos von den - jenigen Verwaltungen, welche thatſächlich zur Zeit ſeines Er - laſſes aus Reichsmitteln unterhalten worden ſind, ſondern es ſpricht einen allgemeinen Rechtsgrundſatz aus, welcher in allen Fällen Geltung hat, in denen die Koſten einer Verwaltung auf die Reichs - kaſſe übernommen werden. Würden z. B. die Koſten der Zoll - verwaltung, ſei es im ganzen Reichsgebiet, ſei es in einzelnen Theilen (Elſaß-Lothr. ) auf den Reichsetat übernommen, ſo würde das Geſ. v. 25. Mai 1873 auch auf das Inventar dieſer Ver - waltung in Anwendung kommen.

4. Der Eigenthums-Uebergang betrifft alle dem dienſtlichen Gebrauche der erwähnten Verwaltungen gewidmeten Gegenſtände, ohne Unterſchied ob ſie beweglich oder unbeweglich ſind. Da aber hinſichtlich der Grundſtücke und ihrer Zubehörden mancherlei Zweifel möglich ſind, ob ſie unter die Kategorie des VerwaltungsinventarsLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 15226§. 108. Das active Reichsvermögen.zu ziehen ſind oder nicht, ſo hat das Geſetz im Intereſſe der Einzelſtaaten gewiſſe Grundſtücke von dem Uebergang in das Eigenthum des Reiches ausdrücklich ausgeſchloſſen1)§. 2 des angef. Geſ.; nämlich:

  • a) Grundſtücke, welche nach den in den einzelnen Bundes - ſtaaten geltenden Beſtimmungen der Benutzung des Staatsober - hauptes oder der Apanagirung der Mitglieder des regierenden Hauſes gewidmet ſind.
  • b) Grundſtücke, welche bei dem Uebergange in eine Verwal - tung des Reichs
    2)Sollte richtiger heißen: Grundſtücke, welche bei der Uebernahme der Koſten einer Verwaltung auf das Reich ꝛc. Bei einer Buchſtaben-Auslegung würde dieſe Geſetzesbeſtimmung auf die Militärverwaltung nicht anwendbar ſein, was der Abſicht des Geſetzgebers widerſpräche.
    2) dieſer nur auf eine beſtimmte Zeit, oder auf Widerruf, oder miethweiſe überlaſſen ſind.
  • c) Grundſtücke, aus deren Erlös die zur Erwerbung oder Bebauung eines im Beſitze derſelben Reichsverwaltung
    3)Auch hier iſt unter Reichsverwaltung die Militärverwaltung mit Ausnahme der Bayeriſchen mitzuverſtehen.
    3) be - findlichen Grundſtücks von einem Bundesſtaate gemachten Aus - gaben nach den darüber getroffenen Beſtimmungen zu erſtatten ſind.
  • d) Grundſtücke, welche bei dem Uebergange in eine Verwal - tung des Reichs dem betreffenden Dienſtzweige nicht unmittelbar dienten, vielmehr nur inſofern mit ihm in einem Zuſammenhange ſtanden, als die aus den Grundſtücken aufkommenden Einkünfte bei jenem Dienſtzweige mit verrechnet wurden.

5. Für den Fall, daß ein Grundſtück zu einem Theil von einer Reichsverwaltung, zu einem andern Theile von einer Landes - verwaltung benutzt wird, iſt das alleinige Eigenthum der letzteren verblieben; die Reichsverwaltung behält nur das Benutzungsrecht im bisherigen Umfange4)§. 2 Ziff. 5 des Geſ.. Hat das Grundſtück neben der Benutzung zum Dienſtgebrauche oder zu Dienſtwohnungen noch ſonſt finanzielle Erträgniſſe abgeworfen (z. B. Grasnutzungen), ſo iſt demjenigen Staat, von welchem das betreffende Grundſtück auf das Reich übergegangen iſt, dafür eine feſte Geldrente zu gewähren5)§. 3 eod. . Ebenſo ſind alle Zahlungen oder andere Leiſtungen, welche von einer Reichsverwaltung für die Einräumung eines Rechts an einem227§. 108. Das active Reichsvermögen.Grundſtück oder einem Theil deſſelben bisher an einen Bundes - ſtaat zu entrichten waren, demſelben unvermindert fort zu gewäh - ren1)§. 9 Ziff. 2.. Im Uebrigen ſind alle Verfügungen, welche in Betreff der in das Eigenthum des Reiches übergegangenen Gegenſtände vor dem 1. Januar 1873 getroffen ſind, ſowie alle Rechte Dritter, insbeſondere der Staatsgläubiger, von dem Uebergang des Eigen - thums unberührt geblieben2)§. 9 Ziff. 1 u. Ziff. 3..

6. Wenn ein Grundſtück für die Verwaltung des Reiches entbehrlich oder unbrauchbar wird, ohne daß ein Erſatz für das - ſelbe nothwendig iſt, ſo iſt daſſelbe in dem Zuſtande, in welchem es ſich befindet, unentgeltlich und ohne Erſatzleiſtung für etwaige Verbeſſerungen oder Verſchlechterungen demjenigen Bundesſtaate zurückzugeben, aus deſſen Beſitz es in die Verwaltung des Reichs übergegangen war3)§. 6 a. a. O.. Dieſes Heimfallsrecht tritt aber nicht ſchon dann ein, wenn das Grundſtück für denjenigen Dienſt - zweig, dem es bisher gewidmet war, entbehrlich oder unbrauch - bar wird, ſondern nur in dem Falle, daß es für die Reichsver - waltung überhaupt keine Verwendung mehr finden kann4)§. 4 a. a. O. Die Verwendung iſt daher auch nicht auf die oben an - geführten 4 Verwaltungen beſchränkt, ſondern das Grundſtück kann jeder be - liebigen Reichsverwaltung zum dienſtlichen Gebrauch überwieſen werden. Vgl. über die Rechtsgrundſätze, welche in dieſer Hinſicht vor Erlaß des Reichsge - ſetzes v. 25. Mai 1873 aus allgemeinen Prinzipien herzuleiten waren, meine Erörterungen in Hirth’s Annalen 1873 S. 428 ff.. Auch iſt der Reichsfiskus befugt, ein für die Reichsverwaltung entbehr - lich oder unbrauchbar gewordenes Grundſtück zu veräußern; je - doch muß in dieſem Falle der Erlös aus dem Verkaufe dazu be - ſtimmt werden, durch die Erwerbung eines anderen Grundſtücks oder die Herſtellung einer anderen Baulichkeit im Gebietedes - ſelben Bundesſtaates einen Erſatz für das entbehrlich oder unbrauchbar gewordene Grundſtück zu beſchaffen5)§. 5 a. a. O. Daß der Erſatz für denſelben Dienſtzweig be - ſchafft wird, iſt nicht vorgeſchrieben; nur im Gebiete deſſelben Bundes - ſtaates muß er effectuirt werden. Durch die Anordnungen dieſer beiden Paragraphen (4 u. 5) iſt das Heimfallsrecht praktiſch ausgeſchloſſen; denn jedes Grundſtück wird in allen Fällen entweder in einem andern Dienſtzweige ver -.

15*228§. 109. Die Reichsſchulden.

Eine abweichende Regel iſt jedoch für diejenigen Grundſtücke ſanctionirt, welche den Zwecken der Militärverwaltung gewidmet ſind. Sie dürfen keinem andern Dienſtzweige der Reichsverwal - tung (ausgenommen die Marineverwaltung) überwieſen werden; ſie fallen vielmehr an den Landesfiskus zurück, wenn ſie für die Militärverwaltung entbehrlich oder unbrauchbar werden, und we - der nach §. 5 ein Erſatz für ſie zu beſchaffen noch ihre Verwendung für Zwecke der Marine erforderlich iſt1)§. 7 Abſ. 1 a. a. O. Auch dieſe Erleichterung des Heimfalls iſt nicht von praktiſcher Bedeutung; denn es wird ſchwerlich vorkommen, daß die Mi - litärverwaltung ein ihr gehöriges Grundſtück herausgiebt, ohne Erſatz dafür zu beanſpruchen.. Insbe - ſondere ſind auch im Falle der Erweiterung der Umwallung einer Reichsfeſtung die hierdurch entbehrlich werdenden Militär-Grund - ſtücke nicht an den betreffenden Landesfiskus zurückzugeben, ſondern ſie ſind zu verkaufen und der Erlös iſt zu den Koſten der Er - weiterung zu verwenden2)Reichsgeſ. v. 30. Mai 1873 Art. IV Abſ. 1. Art. V (R. G.Bl. S. 124)..

Nur für den Fall der Einziehung einer Befeſtigung iſt das Heimfallsrecht von praktiſchem Werthe; die Rückgabe der in dieſem Falle entbehrlich werdenden Grundſtücke erfolgt aber erſt nach Vollendung der im Intereſſe der Landesvertheidigung nothwendigen Einebnungsarbeiten und nur gegen Erſtattung der Koſten dieſer Arbeiten3)§. 7 Abſ. 2 a. a. O.. Die Höhe der letzteren beſtimmt die oberſte Behörde der Feſtungsverwaltung4)So iſt §. 8 a. a. O. zu verſtehen..

§. 109. Die Reichsſchulden*)Meine Abhandlung in Hirth’s Annalen 1873 S. 435 ff. v. Rönne Staatsrecht des Deutſchen Reiches Bd. II. 1. S. 85 ff..

I. Die Unterſcheidung zwiſchen Finanzvermögen und Ver - waltungsvermögen findet auch Anwendung auf die paſſiven Ver -5)wendet werden oder doch mindeſtens verkauft werden können, um mit ſeinem Erlöſe für irgend ein anderes Bedürfniß der Verwaltung ein Grundſtück zu erwerben, zu erweitern, auszubauen u. ſ. w. Namentlich die Militärverwal - tung wird ſtets dafür Verwendung haben. Die Entſcheidung, ob ein Erſatz erforderlich ſei, ſteht auch nicht etwa dem Bundesrath oder einem Ausſchuß deſſelben zu, ſondern der oberſten Behörde derjenigen Reichsverwaltung, in deren Beſitz ſich das Grundſtück befindet. §. 8 a. a. O.229§. 109. Die Reichsſchulden.mögensbeſtandtheile eines Staates und erlangt hier eine beſondere rechtliche Wichtigkeit. Denn was das Verhältniß des Staates zu den Gläubigern anlangt, ſo iſt daſſelbe bei den Finanzſchulden ein rein privatrechtliches, bei welchem der Gläubiger gleichbe - rechtigt dem Fiskus auf dem Boden des Civilrechts gegenüber - ſteht; bei den Verwaltungsſchulden dagegen miſcht ſich dem rein civilrechtlichen Verhältniß in vielen Fällen ein öffentlichrechtliches bei, welches die civilrechtliche Seite des Verhältniſſes bedingt und beeinflußt1)Vgl. hierüber Bd. II. S. 212 ff.. Staatsrechtlich zeigt ſich der Unterſchied vorzüglich darin, daß die Regierung zur Contrahirung von Finanzſchulden an und für ſich nicht ermächtigt iſt, ſondern der beſonderen Ermächtigung durch ein Geſetz bedarf, weil die Ausnutzung des Staatscredits außerhalb der ordentlichen, durch die Verfaſſung und Geſetzgebung geregelten Aufgaben der Staatsverwaltung liegt. Dagegen iſt die Entſtehung von Verwaltungsſchulden theils eine unmittelbare Folge der Geſetzgebung ſelbſt, welche dem Fiskus laufende Geldverpflichtungen auferlegt, z. B. die Zahlung von Penſionen, Entſchädigungen, Subventionen u. dgl., theils eine noth - wendige Conſequenz der Führung der Verwaltung. Die Regierung bedarf daher keiner beſonderen Autoriſation zur Uebernahme dieſer Schulden; ſie iſt vielmehr durch den allgemeinen Verwal - tungs-Auftrag befugt, mit gültiger Wirkſamkeit für den Fiskus alle diejenigen Schulden zu contrahiren und zu bezahlen, welche aus der Durchführung dieſes Verwaltungs-Auftrages nach Maß - gabe der beſtehenden Geſetze ſich ergeben.

Das poſitive Recht des Deutſchen Reiches zieht aber die Grenzlinie zwiſchen beiden Arten von Schulden etwas anders. Art. 73 der R.V. beſtimmt:

In Fällen eines außerordentlichen Bedürfniſſes kann im Wege der Reichsgeſetzgebung die Aufnahme einer Anleihe, ſowie die Uebernahme einer Garantie zu Laſten des Reichs erfolgen.

Es iſt nicht zu bezweifeln, daß dieſer Artikel im Weſentlichen die Finanzſchulden treffen will. Im Zuſammenhange mit Art. 69 bis 72, welche die Einnahmen und Ausgaben des Reiches behan - deln, bezieht der Art. 73 ſich auf den Fall, daß die durch Reichs -230§. 109. Die Reichsſchulden.geſetze der Verwaltung zur Verfügung geſtellten Einnahmen nicht ausreichen für die durch außergewöhnliche Aufwendungen geſtei - gerten Ausgaben, ſo daß der Reichscredit in Anſpruch ge - nommen werden muß, um der Reichsverwaltung die erforderlichen Mittel zuzuführen. Dagegen iſt es ſachlich ebenſo unmöglich als dem Wortlaut des Artikels widerſprechend, für jede Uebernahme einer Schuldverbindlichkeit Seitens des Reiches den Weg der Reichsgeſetzgebung für erforderlich zu halten; es verſteht ſich viel - mehr von ſelbſt, daß auch die Verwaltung des Reichs ſo gut wie die Verwaltung jedes andern Gemeinweſens fortwährend Obliga - tionen zu Laſten des Reiches contrahiren muß und dazu innerhalb des ihr im Allgemeinen überwieſenen Geſchäftskreiſes bevollmächtigt iſt. Der Artikel 73 jedoch unterſcheidet nicht in ſachlicher Weiſe zwiſchen Finanz - und Verwaltungsſchulden, ſondern er normirt ſeine Vorſchrift nach einem formellen Geſichtspunkt, indem er diejenigen civilrechtlichen Geſchäfte, welche vorzugsweiſe zur Con - trahirung von Finanzſchulden dienen, nämlich Anlehen und Bürg - ſchaftsleiſtung, der Regierung nur auf Grund eines Reichsgeſetzes geſtattet. Er verbietet alſo der Reichsregierung nicht direkt die Ausbeutung des Reichscredits ohne ſpezielle geſetzliche Genehmi - gung, ſondern er erſchwert ihr nur dieſe Ausbeutung, indem er die beiden praktiſch wichtigſten Mittel dazu verſchließt. Die Folge davon iſt, daß auch Finanzſchulden ohne vorherige reichsgeſetzliche Ermächtigung contrahirt werden können, wenn nur die beiden erwähnten Rechtsgeſchäfte vermieden werden; daß dagegen ande - rerſeits Creditoperationen der laufenden Verwaltung, welche durch die etatsmäßigen Ausgaben und Einnahmen ihre vollſtändige Er - ledigung finden, doch der beſonderen Genehmigung durch Geſetz alsdann bedürfen, wenn ſie in der Form der Anleihe oder Bürg - ſchaftsleiſtung erfolgen. Der erſte dieſer beiden Fälle iſt praktiſch nicht von Belang1)Daß er aber nicht völlig ausgeſchloſſen iſt, beweist der Annalen S. 446 Note 1 von mir angeführte Fall, in welchem es ſich um eine Finanzſchuld von 150 Mill. Mark handelte. Vgl. Druckſachen des Deutſchen Reichstages I. Seſſ. 1871 Nro. 42., um ſo mehr der zweite.

Durch die Etatsgeſetze wird nämlich alljährlich der Reichs - kanzler ermächtigt, zur vorübergehenden Verſtärkung der Betriebs - fonds der Reichskaſſe nach Bedarf Schatzanweiſungen bis231§. 109. Die Reichsſchulden.zu einem beſtimmten Maximalbetrage auszugeben. Die Nothwen - digkeit dieſer vorübergehenden Creditbenutzungen beruht vorzugs - weiſe darauf, daß in den Wintermonaten die Ausgaben für das Militärweſen ſehr erheblich den monatlichen Durchſchnittsbetrag überſteigen, während ſie in den Sommermonaten unter demſelben zurückbleiben, daß dagegen die Einnahmen aus den Zöllen und Verbrauchsſteuern gerade in den erſten Monaten des Jahres hinter dem monatlichen Durchſchnitt zurückbleiben1)In den 6 Wintermonaten vom November bis April verbraucht die Militärverwaltung , in den 6 Sommer-Monaten ihres Etats.. Sollen daher nicht die Einzelſtaaten der Reichsverwaltung Vorſchüſſe leiſten, ſo muß die Reichskaſſe in die Lage verſetzt werden, den zeitweiligen Mehr - bedarf der Militärverwaltung über die effektiven Einnahmen durch Anlehen auf kurze Friſt zu decken, indem in den Sommermonaten der reichlichere Eingang der Zölle und Verbrauchsſteuern verbun - den mit dem Minderbedarf der Militärverwaltung der Reichskaſſe die Rückzahlung dieſer Anleihe ermöglicht.

In ähnlicher Weiſe iſt für die Durchführung des Münzweſens, für die Vorausanſchaffung der Reichseiſenbahn-Verwaltungen, für den Poſtanweiſungs-Verkehr, für den Centralkaſſen-Verkehr des Reichs vorübergehend das Bedürfniß nach baaren Betriebsmitteln in einem höheren Grade als zu anderen Zeiten des Etatsjahres vorhanden2)Vgl. die Denkſchrift zu dem Entwurf des Etatsgeſetzes für 1872, ſowie die Denkſchrift zu dem Entwurf des Etatsgeſetzes für 1882 / 83 S. 52 fg.. Es wäre unzweckmäßig, die Reichskaſſe mit einem, auch für die Zeit des größten Bedürfniſſes genügenden Betriebs - fonds auszuſtatten, da derſelbe das ganze Jahr hindurch Zinſen koſten würde, während der Schatzanweiſungscredit nach dem Maße des Bedürfniſſes in Anſpruch genommen werden kann.

Die Schatzanweiſungen haben in finanzieller Beziehung recht eigentlich den Charakter der Verwaltungsſchuld und ſind geeignet, den Gegenſatz der Verwaltungs - und Finanzſchulden ſowie die Tragweite des Art. 73 der R.V. zu veranſchaulichen. Alle Aus - gaben, zu deren Beſtreitung dieſe Schulden contrahirt werden, finden durch die etatsmäßigen Einnahmen Deckung; könnten alle Einnahmen und Ausgaben des ganzen Jahres an Einem Tage erfolgen, ſo wäre keinerlei Creditoperation erforderlich. Der Vor - ſchuß, deſſen die Reichskaſſe bedarf, hat nicht den Charakter eines232§. 109. Die Reichsſchulden.Deficits, ſondern eines bloßen Kaſſenvorſchuſſes, einer Diskonti - rung der im Laufe des Jahres zu erwartenden Einnahmen. Da aber die Beſchaffung dieſes Vorſchuſſes in der Form der An - leihe erfolgt, ſo findet der Art. 73 der R.V. Anwendung und iſt alljährlich die geſetzliche Ermächtigung des Reichskanzlers zur Ausgabe von Schatzſcheinen ſtaatsrechtlich nothwendig.

II. Die Reichsanleihen. Da das Deutſche Reich der Rechtsnachfolger des Norddeutſchen Bundes und vermögensrecht - lich mit ihm identiſch iſt, ſo ſind alle Schulden des Norddeutſchen Bundes ipso jure auf das Reich übergegangen1)Vgl. die vom Präſidenten des Reichskanzleramtes in der Sitzung des Reichstages v. 7. Dezember 1870 (Stenogr. Berichte S. 132) abgegebene Erklärung.. Die Franzö - ſiſche Kriegskoſten-Entſchädigung bot jedoch die Mittel, ſowohl die vom Norddeutſchen Bunde zur Beſtreitung der Ausgaben für die Kriegsmarine und die Küſtenvertheidigung aufgenommene Anleihe als auch die Kriegsanleihen des Norddeutſchen Bundes vollſtändig zu tilgen2)Reichsgeſ. v. 8. Juli 1872 Art. VI. (R. G.Bl. S. 292) und Reichsgeſ. v. 28. Oktob. 1871 (R. G.Bl. S. 343). Vgl. Annalen a. a. O. S. 438.. Nachdem aber die Kriegskoſten-Entſchädigung aufge - braucht war, hat das Reich im Wege des Credits faſt alljährlich bedeutende Summen aufgenommen und zwar ſowohl in der Form der Schatzanweiſungen mit feſter Umlaufszeit als in der Form der verzinslichen Schuldverſchreibungen ohne beſtimmten Fälligkeits - termin3)Die letztere Form wird in der Terminologie der Reichsgeſetzgebung und im Verkehr ſpeziell mit dem Namen Reichsanleihe bezeichnet. Die in dieſer Form aufgenommene Reichsſchuld berechnet ſich, nach den Erläuterungen in der Anlage X zum Etatsgeſetz für 1882 / 83, am 1. Oktober 1882 auf etwa 350 Millionen Mark..

Was die Rechtsgrundſätze über die Reichsanleihen anlangt, ſo ſind dreierlei Kategorien zu unterſcheiden, unter welche die in den einzelnen Anleihegeſetzen des Reiches enthaltenen Beſtimmungen zu bringen ſind. Man kann ſie einander gegenüberſtellen als die verfaſſungsrechtlichen, die privatrechtlichen und die verwaltungs - rechtlichen; die erſteren betreffen die rechtlichen Vorausſetzungen, unter welchen die Reichsregierung eine Anleihe aufnehmen darf; die zweiten beziehen ſich auf das Verhältniß des Reichsfiskus zu den Darlehnsgläubigern; die dritten haben die Verwaltung der Reichs -233§. 109. Die Reichsſchulden.ſchuld, ihre Kontrole, Rechnungslegung u. ſ. w. zum Gegenſtande1)Der Ausdruck Anleihegeſetz kann daher ſehr Verſchiedenes bedeuten, je nachdem man an die eine oder andere Kategorie von Beſtimmungen denkt. Die bisherige deutſche Literatur iſt auch hier weit entfernt davon, die Rechts - begriffe zu fixiren und zu unterſcheiden. Dies gilt z. B. von den Bemer - kungen in dem Aufſatz von v. Martitz (in der Zeitſchrift f. die geſammte Staatswiſſenſch. 36. Bd. 1880 S. 207 ff. ) hinſichtlich der Anleihegeſetze (S. 232). Vgl. G. Meyer in Grünhut’s Zeitſchrift Bd. VIII. S. 22..

1. Die verfaſſungsrechtlichen Grundſätze. Die Aufnahme einer Anleihe iſt der Abſchluß eines privatrechtlichen Geſchäfts, alſo ein Verwaltungsakt; ſie kann niemals, nach keiner Verfaſſung und unter keinen Umſtänden ein Akt der Geſetz - gebung ſein, weil es ſich gar nicht um einen einſeitigen Willensakt des Staates, ſondern um einen Vertrag des Fiskus mit Dritten handelt. Eine Anleihe beruht daher niemals auf einem Geſetz, ſie wird niemals durch ein Geſetz oder im Wege eines Geſetzes aufgenommen, ſondern ſtets im Wege der Verwaltung und in der Form des bürgerlichen Rechtsverkehrs2)Sie bildet in dieſer Hinſicht den Gegenſatz zur Contribution; die ſogenannte Zwangsanleihe iſt eine Unterart der letzteren; ihre Be - zeichnung als Zwangsanleihe , die in ſich ſelbſt einen Widerſpruch enthält, iſt eine ſcherzhafte oder ſarkaſtiſche.. Demgemäß drückt ſich der Art. 73 der R.V. nicht correct aus, wenn er beſtimmt: In Fällen eines außerordentlichen Bedürfniſſes kann im Wege der Reichsgeſetzgebung die Aufnahme einer Anleihe .... zu Laſten des Reichs erfolgen . Der Weg der Reichsgeſetzgebung führt niemals bis zur Auf - nahme einer Anleihe, weil er nicht bis zu den Creditgebern führt, ſondern ein Stück vorher aufhört. Der ſelbſtverſtändliche und zweifelloſe Sinn des Artikels iſt vielmehr, daß die Regierung für den Verwaltungsakt der Creditbeſchaffung die im Wege der Geſetz - gebung zu ertheilende Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichs - tages bedarf. Ein Anleihegeſetz (in dieſem Sinne) hat daher auch niemals einen materiellen Rechtsinhalt, ſtellt keine Rechts - regel weder des öffentlichen noch des privaten Rechts auf, ſondern es enthält lediglich die Ermächtigung der Reichsregierung zum Abſchluß eines beſtimmten einzelnen Rechtsgeſchäftes; es iſt ein for - melles Geſetz, deſſen Inhalt eine Verwaltungsmaßregel betrifft3)Vgl. Bd. II. S. 59 ff. 209 ff.. 234§. 109. Die Reichsſchulden.Dem entſpricht die ſtereotype Formel, welche in ſämmtlichen Anleihegeſetzen des Nordd. Bundes und des Deutſchen Reiches für den Hauptparagraphen derſelben verwendet wird. Sie lautet: Der Reichskanzler wird ermächtigt, die zur Beſtreitung der .... Ausgaben erforderlichen Geldmittel bis zur Höhe von ....... Mark im Wege des Credits flüſſig zu machen und zu dieſem Zwecke in dem Nominalbetrage, wie er zur Be - ſchaffung jener Summe erforderlich ſein wird, eine verzinsliche .... Anleihe aufzunehmen und Schatzanweiſungen auszugeben. Mit dieſer Beſtimmung iſt der weſentliche Beſtandtheil eines Anleihegeſetzes abgeſchloſſen; alles Uebrige, was ſonſt noch in den Anleihegeſetzen ſich findet, könnte wie gleich ausgeführt werden wird fehlen. Dem Art. 73 der R.V. iſt mit dieſem erſten Paragraphen der Anleihegeſetze vollſtändig genügt1)Dies würde übrigens auch dann der Fall ſein, wenn der Anleihever - trag vom Reichskanzler ſchon vorher mit den Creditgebern vereinbart worden iſt und vom Bundesrath und Reichstag hiezu die Genehmigung in der für Geſetze vorgeſchriebenen Form ertheilt wird..

Allein die Ermächtigung zum Abſchluß der Anleihe kann beſchränkt werden, indem dem Reichskanzler gewiſſe Bedingungen vorgeſchrieben werden, welche er bei dem Creditgeſchäft beobachten muß, ſo daß er das letztere anders als unter dieſen Bedingungen nicht contrahiren darf. Dies iſt in der That der Fall hinſichtlich der Bedingungen der Rückzahlung der Schuld. Das Geſetz vom 6. April 18702)B. G.Bl. 1870 S. 65. hat beſtimmt, daß die in Ausſicht genommene (damals einzige) Anleihe des Nordd. Bundes in der Art contra - hirt werden ſollte, daß den Inhabern der Schuldverſchreibungen kein Kündigungsrecht zuſtehe, daß dagegen dem Nordd. Bunde das Recht vorbehalten bliebe, die im Umlauf befindlichen Schuldverſchreibungen zur Einlöſung gegen Baarzahlung des Ka - pitalbetrages binnen einer geſetzlich feſtzuſetzenden Friſt zu kündi - gen3)Außerdem enthält das Geſetz noch die gänzlich inhaltloſe und ſelbſt - verſtändliche Beſtimmung, daß die Tilgung des Schuldkapitals durch Ankauf einer entſprechenden Anzahl von Schuldverſchreibungen erfolgen kann, wenn im Bundeshaushalts-Etathierfür Mittel beſtimmt wer - den. Es iſt dies blos eine phraſenhafte Umſchreibung des Satzes, daß eine Verpflichtung des Bundesfiskus zur Tilgung des Schuldkapitals nicht beſteht.. Dieſe Beſtimmung iſt in allen Anleihegeſetzen des Deutſchen235§. 109. Die Reichsſchulden.Reiches wiederholt worden, indem §. 2 des Reichsgeſetzes vom 27. Januar 1875 (R. G.Bl. S. 18) auf das Geſetz vom 6. April 1870, und jedes der folgenden Anleihegeſetze auf den §. 2 des Reichsgeſetzes vom 27. Januar 1875 verweiſt.

Dieſe Beſtimmungen enthalten eine Einſchränkung oder vielmehr Declaration des Hauptparagraphen; ſie erklären, daß unter einer verzinslichen Anleihe kein Zinsdarlehen, ſondern eine wiederkäufliche Rente gemeint iſt1)Der Ausdruck Anleihe umfaßt Beides; die Preußiſchen Anleihen waren urſprünglich zinsbare Darlehen; durch die ſogenannte Conſolidation ſind ſie in wiederkäufliche Renten verwandelt worden. Das Geſ. v. 9. Nov. 1867 (B. G.Bl. S. 157) hatte den Abſchluß eines tilgbaren Darlehens für den Nordd. Bund in Ausſicht genommen; noch ehe es aber ausgeführt wurde, ſetzte das Geſ. v. 6. April 1870 das Syſtem der Rentenſchuld (conſolidirten Anleihe) an die Stelle. und ſie beſchränken daher die dem Reichskanzler ertheilte Ermächtigung, Geldmittel im Wege des Credits flüſſig zu machen , auf die Emiſſion von Rentenſchuld - ſcheinen. Auch hinſichtlich der Ausgabe der Schatzſcheine iſt die dem Reichskanzler ertheilte Ermächtigung durch die Anordnung eingeſchränkt, daß die Dauer ihrer Umlaufszeit den Zeitraum eines Jahres nicht überſchreiten darf2)Geſ. v. 27. Januar 1875 §. 3. In ſämmtlichen ſpäteren An - leihegeſetzen des Reiches in Bezug genommen..

Hiernach iſt die in den Anleihegeſetzen dem Reichskanzler er - theilte Vollmacht auf folgende Sätze zu reduziren: er darf im Wege des Credits eine gewiſſe Summe aufnehmen und zwar ent - weder als Rentenſchuld, deren Tilgung dem Reichsfiskus vorbe - halten bleibt, oder als verzinsliche Darlehensſchuld mit feſt be - ſtimmten, die Friſt eines Jahres (von der Emiſſion) nicht über - ſchreitenden Fälligkeits-Terminen. Im Uebrigen ſind die Modali - täten des Creditgeſchäftes der freien Vereinbarung des Reichs - kanzlers mit den Kapitaliſten überlaſſen.

Obwohl nach dem Wortlaut ſämmtlicher Anleihegeſetze des Reiches die eben erwähnte Vollmacht dem Reichskanzler ertheilt wird, ſo lehrt doch ein Blick in das Reichsgeſetzblatt, daß dieſe Vollmacht immer zunächſt erſt eine zweite Vollmacht im Ge - folge hat, welche dem Reichskanzler in der Form eines von ihm contraſignirten Kaiſerlichen Erlaſſes ertheilt wird3)Zu ſämmtlichen Anleihegeſetzen gehören ſolche Erlaſſe. Zu den Geſetzen. Dieſe Er -236§. 109. Die Reichsſchulden.laſſe ſind alle nach demſelben Formular abgefaßt; ſie genehmi - gen auf Grund der darin bezeichneten Geſetze die Aufnahme der Anleihe, beſtimmen die Beträge, über welche die auszugebenden Schuldverſchreibungen lauten ſollen, ſowie die Höhe und Zahlungs - termine der Zinſen; ſie wiederholen die in den Anleihegeſetzen enthaltenen Anordnungen über die Tilgung und ſie ermächtigen den Reichskanzler, hienach die weiteren Anordnungen zu treffen. Abgeſehen von den Beſtimmungen über die auszufertigenden Ap - points und über die Zinſen haben daher dieſe Kaiſerlichen Erlaſſe vollkommen denſelben Inhalt wie die Anleihegeſetze. In formeller Beziehung iſt es unbeſtreitbar incorrect und anſtößig, daß eine und dieſelbe Anordnung zweimal erlaſſen wird; das erſte Mal vom Kaiſer unter Zuſtimmung von Bundesrath und Reichstag und das zweite Mal wieder vom Kaiſer auf Grund jener erſten Anordnung; man ſollte meinen, daß der bereits durch Reichsgeſetz ermächtigte Reichskanzler nicht nochmals ermächtigt zu werden braucht. Materiell aber liegt in dieſer Praxis ein tiefer Sinn; die Anleihegeſetze wollen etwas Anderes bedeuten als ihr Wortlaut ſagt oder ſie werden wenigſtens anders ausgelegt als nach ihrem buchſtäblichen Sinn. Gemäß dieſer Uſual-Interpretation gilt nicht der Reichskanzler, ſondern der Kaiſer als ermächtigt, eine Reichsanleihe aufzunehmen, und demnach iſt ein Erlaß des Kaiſers an den Reichskanzler, durch den demſelben die Beſchaffung der Geldmittel aufgetragen wird, erforderlich1)Indirect iſt dies auch reichsgeſetzlich anerkannt. Da nämlich die Reichsſchulden-Verwaltung die Schuldverſchreibungen und Coupons ausfertigt und zwar gemäß §. 2 des Geſ. v. 9. Nov. 1867 der in den folgenden An - leihegeſetzen ſtets in Bezug genommen iſt nach beſonderer Anord - nung des Bundespräſidiums , ſo kann der Reichskanzler ohne einen ſpeziellen Kaiſerl. Erlaß der Reichsſchulden-Verwaltung dieſe Ausfertigug nicht auſtragen. Hierauf beruht die geſetzliche Nothwendigkeit jener Erlaſſe.. Die in den An - leihegeſetzen gewählte Ausdrucksweiſe iſt incorrect2)Die Incorrectheit der Faſſung wäre übrigens leicht zu vermeiden. Im.

3)vom 27. Januar 1875, 3. Januar 1876, 3. Januar 1877, 10. Mai 1877, 23. Mai 1877 und 21. Mai 1877 der Erlaß v. 14. Juni 1877 (R. G.Bl. S. 531); zu den Geſetzen vom 29. April 1878, 8. Mai 1878 und 12. Juni 1878 der Erl. v. 14. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 125); zu den Geſetzen vom 30. März 1879 und v. 15. Mai 1879 der Erl. v. 13. Juni 1879 (R. G.Bl. S. 152); zu den Geſetzen v. 9. Juli 1879 und v. 26. März 1880 der Erl. v. 13. Okt. 1880 (R. G.Bl. S. 187) u. ſ. w.

237§. 109. Die Reichsſchulden.

Sowie die Aufnahme einer Anleihe, ſo iſt auch die Kündi - gung und Tilgung derſelben ein Rechtsgeſchäft des Vermögens - verkehrs, alſo ein Verwaltungsgeſchäft, kein Akt der Geſetz - gebung (im materiellen Sinn). Da aber dieſes Geſchäft in die Finanzwirthſchaft des Reiches nicht minder tief eingreift, wie die Aufnahme der Anleihe, ſo iſt auch hierzu die Genehmigung des Bundesrathes und des Reichstages, der Weg der Geſetzgebung für erforderlich erklärt. Zwar nicht in der Reichsverfaſſung, wol aber nach dem typiſchen Inhalt ſämmtlicher Anleihegeſetze und auch hier nur in einer verſteckten Weiſe, indem dem Reich das Recht vorbehalten iſt, die Schuldverſchreibungen der einzelnen Renten-Emiſſionen binnen einer geſetzlich feſtzuſetzenden Friſt zu kündigen 1)Geſetz v. 6. April 1870 §. 4 Abſ. 1 (B. G.Bl. S. 65).. Hiernach braucht zwar nur die Beſtimmung der Kündigungsfriſt durch Geſetz zu erfolgen; aber es verſteht ſich von ſelbſt, daß der Bundesrath und der Reichstag dieſe Friſt nur dann feſtſetzen werden, wenn ſie die Tilgung der Schuld überhaupt beſchließen wollen2)Daß die R.V. über die Tilgung der Anleihen keine Beſtimmung ent - hält, beruht darauf, daß bei Darlehensſchulden, welche amortiſirt oder an beſtimmten Terminen fällig werden, der Tilgungsmodus ſchon bei der Con - trahirung der Anleihe feſtgeſtellt wird. Vgl. das Anleihe-Geſetz des Nordd. Bundes v. 9. Nov. 1867 §. 3.. Demgemäß hat auch das Reichsgeſetz vom 28. Oktob. 1871 (R. G.Bl. S. 343) ſich nicht auf die Feſtſtellung der Kündigungsfriſt beſchränkt, ſondern den Reichskanzler er - mächtigt, die .... Anleihe des vormal. Nordd. Bundes zur Ein - löſung .... mit einer Friſt von drei Monaten kündigen zu laſſen .

2. Die privatrechtlichen Regeln. Das Rechtsverhält - niß zwiſchen dem Fiskus und den Anleihegläubigern beſtimmt ſich nach der Art der Kreditbeſchaffung; es iſt bei Emiſſion von2)Anſchluß an die in Preußen übliche Formulirung beſtimmte das Anleihe - geſetz des Nordd. Bundes vom 9. Nov. 1867 §. 1: Zur Beſtreitung der außer - ordentlichen Bedürfniſſe für .... ſind die erforderlichen Geldmittel .... durch eine verzinsliche Anleihe zu beſchaffen ; fügte dann aber im §. 10 hinzu: Die Ausführung dieſes Geſetzes wird dem Bundeskanzler übertragen ; während es treffender geweſen wäre zu ſagen: Die Ausführung dieſes Geſetzes erfolgt nach Anordnung des Bundespräſidiums (Kaiſers) . Vgl. §. 2 dieſes Geſetzes. Schon das Bundesgeſetz v. 21. Juli 1870 über die Kriegsanleihe (B. G.Bl. S. 491) hat die in die Reichsgeſetzgebung übergegangene Formel.238§. 109. Die Reichsſchulden.Schatzſcheinen das Darlehn, bei Emiſſion von Schuldverſchrei - bungen ohne Fälligkeit die Rentenſchuld; beide in derjenigen juriſtiſchen Geſtaltung, welche durch die Obligationsform der Werthpapiere (Scripturobligationen) gegeben iſt. Die in Be - tracht kommenden Rechtsſätze ergeben ſich aus der Natur der Sache und den Vorſchriften des Civilrechts. Das einzelne Anleihegeſetz iſt an und für ſich nicht der geeignete Platz, um ſie zu ſanctio - niren, da es nicht die Regelung, ſondern die Benutzung des Rechts - inſtituts zum Zweck hat. Indeß hat die Reichsgeſetzgebung ein - zelne Punkte, in Ermangelung eines gemeinen Civilgeſetzes, in den Anleihegeſetzen normirt. Es ſind folgende zwei:

a) Die Verjährung. Nicht erhobene Zinſen (Renten) ver - jähren in vier Jahren, von der Verfallzeit an gerechnet1)Geſ. v. 6. April 1870 §. 5 Abſ. 2. (In ſämmtlichen Anleihegeſetzen wiederholt.); ebenſo die Zinſen auf Schatzanweiſungen; die in Schatzanweiſungen ver - ſchriebenen Kapitalbeträge verjähren binnen 30 Jahren nach Ein - tritt des in jeder Schatzanweiſung angegebenen Fälligkeitstermins2)Geſ. v. 9. Nov. 1867 §. 8 Abſ. 2. (In ſämmtlichen Anleihegeſetzen wiederholt.).

b) Das Aufgebot und die Amortiſation verlorener oder vernichteter Schuldurkunden. Daſſelbe iſt geregelt in dem Geſetz vom 9. Nov. 1867 §. 6 und dem Geſ. v. 12. Mai 18733)Reichs-Geſ. Bl. 1873 S. 91., deren Anordnungen in den einzelnen Anleihegeſetzen des Reiches ausdrücklich in Bezug genommen ſind. Dieſe Anordnungen wer - den nunmehr ergänzt durch die Civilprozeß-Ordn. §§. 823 ff., ſind aber, ſofern ſie abweichende Vorſchriften enthalten, der Civilproz. Ordn. gegenüber in Kraft erhalten durch §. 13 des Einf. Geſ. zur Civilproz. Ordnung.

Im Uebrigen beruhen die Rechte der Gläubiger auf vertrags - mäßiger Abrede (dem Begebungsvertrag), nicht auf Geſetz, und wenn auch ſcheinbar in den Anleihegeſetzen und kaiſerlichen Er - laſſen gewiſſe Seiten des Rechtsverhältniſſes geregelt werden, ſo ſind dieſe Vorſchriften doch zunächſt nur Befehle an den Reichs - kanzler, wie er contrahiren ſolle, und mithin iſt ihr Inhalt aller - dings identiſch mit den Vertragsabreden4)Vgl. über Geſetze dieſer Art Bd. II. S. 214 ff..

239§. 109. Die Reichsſchulden.

3. Die Verwaltung der Reichsſchuld. Dieſelbe iſt durch das Reichsgeſetz vom 19. Juni 1868 (B. G.Bl. S. 339 ff. ) geregelt worden; daſſelbe bezieht ſich zwar nur auf die Marine - Anleihe des Nordd. Bundes, iſt aber auf alle ſpäteren Anleihen des Reiches durch die betreffenden Anleihegeſetze für anwendbar erklärt worden. Die in dieſem Geſetz aufgeſtellten Grundſätze ſind folgende:

a) Bis zum Erlaß eines definitiven Geſetzes über die Bundes - ſchulden-Verwaltung iſt die Wahrnehmung der mit der Verwal - tung der Reichsſchulden verbundenen Geſchäfte der Preußiſchen Hauptverwaltung der Staatsſchulden unter der obe - ren Leitung des Reichskanzlers übertragen1)Preußen empfängt dafür vom Reich eine Vergütung von jährlich 12 500 M. als Beitrag zu den Koſten dieſer Behörde.. Die amtliche Thä - tigkeit und ſtaatsrechtliche Stellung dieſer Behörde iſt bereits oben Bd. I. S. 349 ff. erörtert worden.

b) Die Aufſicht über die Reichsſchulden-Verwaltung liegt der Reichsſchulden-Kommiſſion ob, deren Zuſammenſetzung und Aufgabe Bd. I. S. 354 fg. dargeſtellt worden iſt.

c) Die dem Reichskanzler obliegenden Geſchäfte der Finanz - verwaltung werden von dem ihm unterſtellten Reichsſchatz - amt wahrgenommen2)Erl. v. 14. Juli 1879. R. G.Bl. S. 196..

d) In allen Anleihegeſetzen des Reiches iſt vorgeſchrieben, daß über die Ausführung derſelben dem Reichstage bei deſſen nächſter Zuſammenkunft Rechenſchaft zu geben iſt3)Geſ. v. 27. Januar 1875 §. 5 (R. G.Bl. S. 19). In den ſpäteren An - leihegeſetzen in Bezug genommen..

e) Endlich enthalten die Anleihegeſetze übereinſtimmend einen Satz, der auf den erſten Blick ſelbſtverſtändlich und inhaltslos er - ſcheint, nämlich daß die zur Verzinſung und Tilgung der Anleihe, ſowie zur Einlöſung der Schatzanweiſungen erforderlichen Beträge der Reichsſchulden-Verwaltung aus den bereiteſten Einkünften des Reichs zur Verfallzeit zur Verfügung geſtellt werden müſſen4)Geſetz v. 27. Januar 1875 §. 4.; indeß kann dieſer Satz unter Umſtänden eine praktiſche Bedeutung erlangen, die aber erſt unten bei Darſtellung des Budgetrechts erörtert werden kann.

240§. 110. Ueberſicht der Einnahmequellen.

III. Reichsbürgſchaften. Im Art. 73 der R.V. iſt die Uebernahme einer Garantie zu Laſten des Reichs der Auf - nahme einer Anleihe gleichgeſtellt worden und es gelten die im Vorſtehenden entwickelten verfaſſungsrechtlichen Grundſätze in völlig gleicher Weiſe von beiden Arten von Rechtsgeſchäften. Das Reich hat noch keine Veranlaſſung gehabt, ein Geſchäft dieſer Art abzu - ſchließen; dagegen iſt es als Rechtsnachfolger des Nordd. Bundes in ein ſolches Schuldverhältniß eingetreten. Durch das Geſetz vom 11. Juni 18681)B. G.Bl. 1869 S. 33 fg. iſt das Bundespräſidium ermächtigt worden , in Gemeinſchaft mit Großbritannien, Frankreich und Oeſterreich die Garantie für ein von der Donauſchifffahrts-Kommiſſion behufs Herſtellung der dauernden Fahrbarkeit des Sulina-Armes der Donaumündungen contrahirtes Anlehen zu übernehmen. Bisher iſt vom Deutſchen Reiche eine Zahlung auf Grund dieſer Bürg - ſchafts-Obligation nicht gefordert worden2)Vgl. hierüber die näheren Angaben in meiner Abhandlung in Hirth’s Annalen 1873 S. 439, die ſich auch bei v. Rönne II, 1. S. 90 wiederfinden..

IV. Reichskaſſenſcheine. Vgl. über dieſelben Bd. II. S. 438; es iſt daſelbſt bereits hervorgehoben worden, daß dieſelben nicht den juriſtiſchen Charakter des Papiergelds haben, ſondern unverzinsliche, auf den Inhaber lautende Schuldſcheine des Reiches ſind und daß demgemäß die Funktionen der Reichsſchulden - Verwaltung und der Reichsſchulden-Kommiſſion ſich auch auf ſie erſtrecken.

Zweiter Abſchnitt. Die Einnahmequellen des Reiches.

§. 110. Ueberſicht.

Als gemeinſchaftliche Einnahmen des Reiches ſind im Art. 70 der R.V. bezeichnet:

  • 1. Die Erträge der Zölle und der gemeinſchaftlichen (im Art. 35 der R.V. aufgezählten) Verbrauchsſteuern.
  • 2. Die Betriebsüberſchüſſe aus dem Poſt - und Telegraphen - weſen.
  • 3. Die etwaigen Ueberſchüſſe der Vorjahre.
241§. 110. Ueberſicht der Einnahmequellen.

Hierzu kommen:

  • 4. Die Erträge des Reichsvermögens, nämlich
    • a) die Ueberſchüſſe aus dem Betrieb der Reichseiſen - bahnen;
    • b) der Gewinn aus dem Betriebe der Reichsdruckerei;
    • c) der Antheil am Reingewinn der Reichsbank
      1)Bankgeſ. v. 14. März 1875 §. 24 (R. G.Bl. S. 177).
      1) nebſt dem Ertrage der Banknoten-Beſteuerung
      2)Siehe Bd. II. S. 397. 404.
      2);
    • d) die Zinſen aus belegten Geldern und die flüſſig gemachten Beſtände der einzelnen Fonds;
    • e) die Zuſchüſſe aus Reichsanleihen.
  • 5. Die mit den Verwaltungen des Reichs unmittelbar verbun - denen Einnahmen, nämlich
    • a) die Gebühren, welche für die Amtshandlungen der Reichsbehörden zu entrichten ſind;
    • b) die finanziellen Neben-Nutzungen des Verwaltungs - vermögens (durch Vermiethung oder Verpachtung u. dgl. ), ſowie der Erlös für entbehrlich oder unbrauchbar gewor - dene Grundſtücke, Materialien, Maſchinen, Pferde u. dgl.;
    • c) die Wittwen - und Waiſengeld-Beiträge der Reichsbeamten der Civilverwaltung nach Maßgabe des Geſetzes vom 20. April 1881 (R. G.Bl. S. 85).
  • 6. Die Reichsſtempel-Abgaben und zwar
    • a) für Spielkarten,
    • b) für Wechſel, ſowie für Werthpapiere, Schlußnoten, Rech - nungen und Lotterielooſe.

Von dieſen Einnahmequellen ſind hier nur zwei Kategorien im Einzelnen darzuſtellen, nämlich die Zölle und Verbrauchsſteuern und die Stempelabgaben; hinſichtlich der übrigen iſt auf die Dar - ſtellung der einzelnen Verwaltungszweige und des Reichsvermögens zu verweiſen3)Ausgenommen ſind nur, abgeſehen von den etwaigen Ueberſchüſſen der Vorjahre, die Wittwen - und Waiſengeld-Beiträge der Civil - beamten. Dieſe Lehre hat ihren Platz bei der Darſtellung der Rechtsverhält - niſſe der Reichsbeamten und kann nicht wegen des zufälligen Grundes, daß dieſe Darſtellung (Bd. I. S. 382 ff. ) vor Erlaß des Reichsgeſ. v. 20. April 1881 abgeſchloſſen und veröffentlich worden iſt, aus dem Zuſammenhang ge - riſſen und an dieſer Stelle nachgeholt werden.. Es iſt hierbei aber zu bemerken, daß hier nurLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 16242§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.von der verwaltungsrechtlichen Ordnung dieſer Einnahmequellen die Rede iſt, während ihre Bedeutung und rechtliche Stellung in der Finanz wirthſchaft des Reiches im folgenden Abſchnitt zu erörtern ſein wird.

A. Die Zölle und Herbrauchsſteuern*)v. Aufſeß in Hirth’s Annalen des Deutſchen Reiches Bd. 13 (1880) S. 609 831. Rud. Delbrück Der Artikel 40 der Reichsverf. Berlin 1881..

§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen.

I. Durch übereinſtimmende Zollgeſetze, gleichartige Einrich - tungen der Zollverwaltung und Gemeinſchaftlichkeit der Zollein - nahmen war für den größten Theil des jetzigen Bundesgebietes ſchon lange vor der Gründung des Norddeutſchen Bundes die materielle Einheit des Zollweſens hergeſtellt. Der Deutſche Zoll - verein war nicht nur ein kräftiges Band, welches die Mehrzahl der Deutſchen Staaten in der Zeit, als ſie ſouverain waren, zu - ſammenhielt; er war nicht nur in wirthſchaftlicher und politiſcher Hinſicht eine Vorſtufe, von der aus die ſtaatliche Neugeſtaltung Deutſchlands angebahnt wurde, ſondern die in dem Zollverein aus - gebildeten Einrichtungen wurden auch zum großen Theil in die Bundesverfaſſung herübergenommen und bilden theilweiſe noch jetzt einen Beſtandtheil des Reichsſtaatsrechts. Die Geſchichte des Zoll - vereins kann man mit Recht als die Vorgeſchichte des Deutſchen Reichs bezeichnen1)Ueber die Geſchichte und die Verfaſſung des Zollvereins vrgl. nament - lich v. Feſtenberg-Packiſch Die Geſchichte des Zollvereins. Leipzig 1869 und Weber Der Deutſche Zollverein. Leipzig 1869. 2. Aufl. 1872..

Durch die Gründung des Norddeutſchen Bundes wurde der Zollverein, wie er zuletzt durch den Vertrag vom 16. Mai 1865 conſtituirt war, allerdings in ſehr erheblicher Weiſe umgeſtaltet und zwar ebenſowohl hinſichtlich der in den Norddeutſchen Bund eintretenden Staaten als hinſichtlich der Süddeutſchen Staaten. In Betreff der erſteren wurde das Vereinsverhältniß erſetzt durch ein ſtaatliches; an die Stelle der Vereinbarung trat die Verfaſ - ſung, an die Stelle der Kündbarkeit und des Abſchluſſes auf be - ſtimmte Zeit die Unkündbarkeit und ewige Dauer, an die Stelle des Erforderniſſes der Einſtimmigkeit zu allen Abänderungen der243§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.Zollgeſetze und Einrichtungen der Weg der Geſetzgebung und Ver - ordnung; an die Stelle der Vertheilung der Erträge der Zölle und Verbrauchsabgaben an die Vereinsmitglieder trat die Ver - wendung dieſer Einnahmen zur Beſtreitung der Bundesausgaben. Wenngleich die Grundſätze, nach welchen die Zollverwaltung und die Erhebung der Zölle und Abgaben im Zollverein geregelt waren, im Allgemeinen auch im Norddeutſchen Bunde beibehalten worden ſind, ſo war doch der Verein als ſolcher unter den Mitgliedern des Bundes nicht mehr vorhanden, ſondern durch die ſtaatliche Einheit des Bundes abſorbirt worden. Eine praktiſch beſonders wichtige Folge dieſes Prinzips beſtand darin, daß die einheitliche Regelung des Zollweſens auch auf diejenigen Bundesſtaaten und Gebietstheile des Norddeutſchen Bundes, welche dem Zollverein nicht angehört hatten, Anwendung fand, inſoweit nicht die Ver - faſſung des Norddeutſchen Bundes ſelbſt Ausnahmen feſtſetzte1)Nordd. Bundesverf. Art. 40 Abſ. 2.. Auch hinſichtlich der Süddeutſchen Staaten war der Zollverein, wenngleich er thatſächlich während des Krieges von 1866 fort - dauerte, rechtlich durch den Ausbruch des Krieges und durch den ſtaatlichen Untergang eines Theiles der Vereinsmitglieder aufge - löſt worden. In den einzelnen mit Preußen abgeſchloſſenen Friedens - verträgen (Art. 7 derſelben) wurde dies von ſämmtlichen Süd - deutſchen Staaten anerkannt, gleichzeitig aber vereinbart, daß die Zollvereinsverträge wieder in Kraft treten ſollten mit dem Vor - behalt, daß jeder Contrahent befugt ſei, ſie jederzeit ſechs Monate nach geſchehener Aufkündigung zu löſen. Dieſes Kündigungsrecht benutzte Preußen als Handhabe, um eine Reform des Zollvereins herbeizuführen und es gelang der Preußiſchen Regierung, den Zollvereinigungs-Vertrag vom 8. Juli 1867 zu Stande zu bringen2)Vgl. Thudichum Verfaſſungsrecht des Nordd. Bundes S. 39 ff.. Dieſer Vertrag war von 5 Contrahenten, dem Norddeutſchen Bunde und den 4 Süddeutſchen Staaten geſchloſſen; er begründete ein Vereinsverhältniß mit beſtimmter Dauer (31. Dezember 1877), das aber ſtillſchweigend von 12 zu 12 Jahren verlängert werden konnte; er erhielt die Vereinbarungen der älteren Zoll - und Han - delsvereinigungs-Verträge in Kraft, ſoweit ſie nicht durch dieſen Vertrag ſelbſt abgeändert worden ſind; er führte aber die ver -16*244§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.faſſungsmäßigen Formen und Organe der Geſetzgebung und Ver - waltung des Norddeutſchen Bundes in analoger Weiſe für die Erledigung der Vereinsgeſchäfte ein (Zollvereins-Geſetze, Zollver - eins-Verordnungen, Zollvereins-Präſidium, Zoll-Bundesrath, Zoll - Parlament)1)Vgl. die eingehende Darſtellung bei Thudichum S. 581 ff..

Durch die Gründung des Deutſchen Reiches fand auch dieſer Zollverein ſein Ende; das Rechtsverhältniß unter ſeinen Mitglie - dern wurde in derſelben Weiſe umgeſtaltet, wie durch die Errich - tung des Norddeutſchen Bundes das Verhältniß unter den zu demſelben vereinigten Staaten. Zwar wurden durch den Art. 40 der R.V. die Beſtimmungen in dem Zollvereinigungs-Vertrage vom 8. Juli 1867 in Kraft erhalten, ſoweit ſie nicht durch die Vor - ſchriften dieſer Verfaſſung abgeändert ſind, aber der Grundſatz, daß das Reichsgebiet ein einheitliches Zoll - und Handelsgebiet bildet, die ausſchließliche Befugniß des Reiches zur Geſetzgebung über Zölle und über die im Art. 35 aufgeführten Verbrauchsab - gaben, das Verordnungsrecht des Bundesrathes, die Ueberwachung der Behörden der Einzelſtaaten durch den Kaiſer u. ſ. w. ſind verfaſſungsmäßig feſtgeſtellt und an keinen von dem Willen der Einzelſtaaten abhängigen Endtermin geknüpft2)Vgl. Hänel Studien I. S. 123 ff.. Die Bezug - nahme auf die Beſtimmungen des Zollvereinigungsvertrages im Art. 40 der R.V. darf nicht zu der irrthümlichen Anſicht verleiten, als beſtünde neben dem ſtaatsrechtlichen Reichsverband unter den Deutſchen Staaten noch ein beſonderer vertragsmäßiger Zollver - band. Der Inhalt der Beſtimmungen iſt hierfür unerheblich; Alles, was Inhalt eines Geſetzes ſein kann, kann auch zum Inhalt eines Staatsvertrages gemacht werden und umgekehrt; entſcheidend iſt allein der Rechtsgrund, auf welchem die verbindliche Kraft der Beſtimmungen beruht, ob auf dem gegenſeitigen Verſprechen gleichberechtigter Contrahenten oder auf dem Befehl einer über - geordneten ſtaatlichen Potenz3)Vgl. Bd. II. S. 152 ff., und dieſer Rechtsgrund iſt eben dadurch geändert worden, daß die Verfaſſung die Beſtimmungen des Zollvereinigungsvertrages in Kraft erhalten hat4)Dieſe Beſtimmungen ſind ſelbſtverſtändlich unter der Vorausſetzung eines vertragsmäßigen Vereinsverhältniſſes abgefaßt und da ſie bei der Grün -. 245§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.Die wichtige praktiſche Conſequenz hiervon iſt in dem Art. 40 ſelbſt gezogen, daß nämlich dieſe Beſtimmungen in Kraft bleiben, ſo - weit ſie nicht durch die Vorſchriften dieſer Verfaſſung abgeändert ſind und ſo lange ſie nicht auf dem im Art. 7, beziehungsweiſe 78 bezeichneten Wege abgeändert werden . Auch daß die Ausdeh - nung dieſer Beſtimmungen auf Elſaß-Lothringen im Wege der Ge - ſetzgebung erfolgt iſt, beſtätigt, daß hier Reichsrecht, nicht Ver - tragsrecht, in Rede ſteht. Hierdurch wird aber nicht ausgeſchloſſen, daß gewiſſe in dem Zollvereinigungsvertrage enthaltene Beſtimmun - gen für einzelne Staaten Sonderrechte begründen, deren Abände - rung nur mit Zuſtimmung des berechtigten Staates (Art. 78 Abſ. 2 der R.V.) erfolgen darf1)Vgl. Bd. I. S. 113 ff. Es gereicht mir zur beſonderen Befriedigung, daß meine, von mehreren Seiten angefochtene Auffaſſung der Sonderrechte, die Zuſtimmung einer ſo gewichtigen Autorität wie Delbrück a. a. O. S. 1 ff. gefunden hat..

Die Verweiſung des Art. 40 der Reichsverfaſſung auf den Zollvereinigungsvertrag vom 8. Juli 1867 ſchließt aber zugleich die Fortgeltung noch anderer Anordnungen in ſich. Denn Art. 1 des erwähnten Vertrages enthält die Beſtimmung, daß die Zoll - vereinigungs-Verträge vom 22. und 30. März und 11. Mai 1833, vom 12. Mai und 10. Dezember 1835, vom 2. Januar 1836, vom 8. Mai, 19. Oktober und 13. November 1841, vom 4. April 1853 und vom 16. Mai 1865 nebſt den zu ihnen gehörenden Separatartikeln zwiſchen den vertragenden Theilen ferner in Kraft bleiben, ſoweit ſie bisher noch in Kraft waren und nicht durch die folgenden Artikel abgeändert ſind ; und in dem hierzu gehörenden Schlußprotokoll wird feſtgeſetzt: Die Verabredung, welche im Art. 1 des Vertrages über die Wirkſamkeit der daſelbſt genannten Verträge getroffen iſt, ſoll auch auf diejenigen näheren Beſtim - mungen und Abreden, welche in den zu jedem dieſer Verträge ge - hörigen Protokollen enthalten ſind, ſowie überhaupt auf alle in Folge der Zollvereinigungs-Verträge zum Vollzuge derſelben und zur weiteren inneren Ausbildung des Vereins getroffenen Verein -4)dung des Reiches nicht umredigirt worden ſind, ſo ſtehen ſie noch jetzt in dieſer Formulirung in Kraft. Aus dieſer rein äußerlichen Faſſungsform kann aber natürlich nicht geſchloſſen werden, daß das Vereinsverhältniß materiell noch fortbeſteht.246§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.barungen Anwendung finden. Hiernach hat der Art. 40 der R.V. die Geſammtheit aller bei Erlaß der R.V. in Geltung geweſenen Beſtimmungen, welche unter den Mitgliedern des Zollvereins ver - abredet worden waren, in Kraft erhalten, ſoweit ſie nicht durch die Reichsverfaſſung abgeändert worden ſind, und hierdurch iſt eine volle Continuität zwiſchen der vertragsmäßigen Ordnung des Zoll - vereins und der reichsverfaſſungsmäßigen Regelung des Zollweſens hergeſtellt1)Delbrück S. 4.. In Folge deſſen kann es bei einzelnen Fragen er - forderlich ſein, auf die älteren Verträge, Schlußprotokolle und Beſchlüſſe der General-Zollvereins-Conferenzen bis zum Jahre 1833 zurückzugehen. Thatſächlich verringert ſich allerdings dieſes an und für ſich ſehr umfangreiche Material dadurch erheblich, daß die ſpäteren Verträge meiſtens die in Geltung erhaltenen Sätze der früheren wiederholen und daß namentlich der Vertrag vom 16. Mai 1865 eine Codifikation der wichtigſten damals geltenden Vereinsfeſtſetzungen enthält.

II. Obwohl die Anordnung, daß die Zollvereins-Satzungen rechtliche Geltung behalten, durch einen Artikel der Reichsver - faſſung getroffen worden iſt, ſo haben doch die einzelnen Beſtimmungen der Zollvereinbarungen dadurch nicht den Charakter von Verfaſſungsvorſchriften erhalten. Es ergiebt ſich dies aus dem Artikel 40 ſelbſt, welcher die Klauſel beifügt: ſo lange ſie nicht auf dem im Art. 7, beziehungsweiſe 78 bezeichneten Wege abgeändert werden . Nur Art. 78 betrifft den Weg der Verfaſſungsänderung; Art. 7 dagegen, der ſeinerſeits wieder auf Art. 5 zurückweiſt, bezieht ſich auf den Weg der Geſetzgebung und der Verwaltungs-Verordnung2)In der Verf. des Nordd. Bundes trat das Recht des Bundesrathes, Anordnungen der Zollvereinsverträge durch Beſchlüſſe abzuändern, dadurch noch deutlicher hervor, daß das Verordnungsrecht des Bundesrathes nur in dem Abſchnitt über das Zoll - und Handelsweſen Anerkennung gefunden hatte (Art. 37) und Art. 40 auf dieſen Artikel Bezug nahm.. Wenn hiernach die Abände - rung des Zollvereins-Vertrages auf verſchiedenen Wegen, auf dem des Verfaſſungsgeſetzes, des einfachen Geſetzes und des Bundesrathsbeſchluſſes für zuläſſig erklärt wird, ſo ergiebt ſich, daß auch die ſtaatsrechtliche Bedeutung der einzelnen Vertrags - beſtimmungen eine verſchiedene iſt und daß der Art. 40 neben247§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.ſeiner für alle Zollvereinsſatzungen gemeinſamen Anordnung das Anerkenntniß dieſer fortdauernden Verſchiedenheit enthält. Zum Verſtändniß dieſes Satzes dient Folgendes.

Bei den Zollvereinsverträgen war wie bei allen Staatsver - trägen die völkerrechtliche und die ſtaatsrechtliche Wirkung zu unterſcheiden. In völkerrechtlicher Beziehung hatten alle Beſtimmungen derſelben eine und dieſelbe Wirkung, ſie er - zeugten gegenſeitige Rechte und Pflichten der vertragſchließenden Staaten. Ganz unabhängig davon war die ſtaatsrechtliche Be - deutung der verabredeten Beſtimmungen in den einzelnen Staaten, je nachdem dieſelben in den Bereich des eigentlichen Verfaſſungs - rechts, der Geſetzgebung oder der Verwaltung eingriffen1)Vgl. Bd. II. S. 152 ff. Hänel Studien I. S. 124 ff.. Durch den Art. 40 iſt die völkerrechtliche Bedeutung und Kraft erloſchen und aus dem übereinſtimmenden Recht der verbundenen Staaten iſt ein einheitliches Recht des Reiches geworden; dies iſt die für alle Zollvereinsſatzungen gemeinſame Anordung. Aber dieſe Er - hebung der Geſammtmaſſe der Zollvereinsſatzungen zum Reichs - recht iſt in derjenigen Qualifikation erfolgt, welche den einzelnen Beſtimmungen nach ihrem Inhalt und mit Rückſicht auf die ver - faſſungsrechtlichen Grundſätze des Reiches zukommt. Hiernach zerfallen die in Geltung erhaltenen Regeln der Zollvereinsverträge in 3 Klaſſen: in Verfaſſungsvorſchriften, in Geſetzesvor - ſchriften und in Verwaltungsvorſchriften. Welche Beſtim - mungen in jede dieſer drei Klaſſen gehören, iſt weder bei der Ab - faſſung der Norddeutſchen Bundesverfaſſung noch bei der Berathung der Reichsverfaſſung feſtgeſtellt worden, und zwar wie der Präſident des Bundeskanzler-Amtes auf eine an ihn gerichtete An - frage in der Sitzung des Reichstages vom 7. Dezember 1870 er - klärte weil dieſe Klaſſifikation nicht nur ſchwierig und zeit - raubend, ſondern auch geeignet ſein würde, eine Menge von Fragen diskutabel zu machen, die von der Art ſind, daß ſie eigent - lich nur dadurch zu Fragen werden, wenn man darauf geſtoßen wird, ſie als ſolche zu behandeln 2)Stenograph. Berichte der II. außerordentl. Seſſ. des Reichstages von 1870 S. 126 fg. Seydel Kommentar S. 180 fg. Hänel S. 126.. Die Geſetzgebung hat die Löſung dieſer Schwierigkeiten der Praxis und der Wiſſenſchaft überlaſſen und die letztere hat nicht angeſtanden, ſich dieſer Auf -248§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.gabe zu unterziehen. Es ſind namentlich die vorzüglichen Unter - ſuchungen von Hänel (Studien I. S. 120 ff. ) und von Del - brück (Art. 40 der R.V.) dieſem Zweck gewidmet.

Aus den Beſtimmungen der Zollvereins-Verträge ſcheidet in dieſer Beziehung ganz aus, was durch die Reichsverfaſſung oder durch Reichsgeſetze entweder aufgehoben (resp. abgeändert) oder gedeckt iſt. Denn hinſichtlich dieſer Beſtimmungen iſt der Text der Reichsverfaſſung und der Reichsgeſetze an die Stelle der Zollvereinsverträge getreten1)Eine Zuſammenſtellung ſolcher Anordnungen bei Hänel S. 129 ff..

Was den übrigen Inhalt der Verträge anlangt, ſo kommen für die ſtaatsrechtliche Klaſſifizirung der Vorſchriften folgende Punkte in Betracht:

1. Die Zollvereins-Verträge enthalten Beſtimmungen über Gegenſtände, auf welche die Kompetenz des Reiches zur Geſetzgebung ſich nicht erſtreckt; z. B. über die inneren Verbrauchs-Abgaben der Einzelſtaaten2)Insbeſondere kömmt hier der Art. 5 des Zollvereins-Vertrages von 1867 in Betracht, der ſowohl hinſichtlich der ausländiſchen wie der inländiſchen Erzeugniſſe das Beſteuerungsrecht der Einzelſtaaten beſtimmten Normen unter - wirft. Vgl. Hänel S. 138 ff. Delbrück S. 25 ff., über die Chauſſeegelder und anderen Wege-Abgaben3)Zollv. V. Art. 22: Delbrück S. 84 ff. u. a. Da dieſe Be - ſtimmungen im Art. 40 der R.V. aufrecht erhalten worden ſind, ohne daß dem Reich die Befugniß zur Geſetzgebung über dieſe Angelegenheiten zugewieſen worden iſt, ſo iſt jede Abänderung dieſer Beſtimmungen eine Abänderung des Art. 40 ſelbſt und kann folglich nur unter Beobachtung des Art. 78 Abſ. 1 erfolgen; dieſe Beſtimmungen ſind daher verfaſſungsrechtliche.

2. Als verfaſſungsmäßige Anordnungen ſind ferner diejenigen Beſtimmungen anzuſehen, welche auf dem Gebiete des Zollweſens die Rechte der Einzelſtaaten gegen die des Reiches abgränzen; insbeſondere die Vorſchriften im Art. 18 des Zollvereins-Vertrages über das Begnadigungs - und Strafverwandlungsrecht, im Art. 19 über die Erhebung und Ver - waltung der Abgaben u. ſ. w.4)Hänel S. 136. Delbrück S. 80 fg.. Sie ſind als Ergänzungen des Art. 36 der R.V. zu erachten.

249§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.

3. So weit die Beſtimmungen der Zollvereinsverträge Ange - legenheiten betreffen, welche unter die verfaſſungsmäßige Kompe - tenz des Reiches zur Geſetzgebung fallen, können dieſelben auf dem Wege der Reichsgeſetzgebung aufgehoben und abgeändert werden, da ſie ja auch auf dieſem Wege neu erlaſſen werden könnten1)Hänel S. 131.; ſie bilden daher die Gruppe der Beſtimmungen mit einfacher Ge - ſetzeskraft.

4. Die ſchwierigſte Aufgabe würde die Abgränzung der Be - ſtimmungen mit Geſetzeskraft von den Verwaltungs-Anordnungen ſein, wenn nicht in dieſer Beziehung ſchon während des Zollvereins ſelbſt ein äußeres Kriterium für dieſe Unterſcheidung geſchaffen worden wäre. Nach der Erneuerung des Zollvereins im Jahre 1864 wurde in dem Vertrage vom 16. Mai 1865 die Geſammtmaſſe der gültigen Beſtimmungen in zwei Gruppen nach ſtaatsrechtlichem Geſichtspunkte vertheilt; alle Beſtimmungen, denen die vertrags - ſchließenden Regierungen formell legislativen Charakter bei - legten, wurden in die Vertragsurkunde ſelbſt aufgenommen; alle Beſtimmungen von adminiſtrativer Natur wurden in das Schlußprotokoll geſtellt2)Auch bei der Vorlage an die Landtage der contrahirenden Staaten wurde dieſe Bedeutung der Trennung der beiden Urkunden hervorgehoben. Vgl. für Preußen die Denkſchrift zum Zollvereinsvertrage in den Anlagen zu den Verhandlungen des Abgeordnetenhauſes 1865 IV. S. 1538 (Hänel S. 127 Note 18).. Bei der Redaktion des Zollvereinsvertrages v. 8. Juli 1867 wurde dieſelbe Form der Unterſcheidung beibehalten und die Vertheilung des Stoffes zwi - ſchen Hauptvertrag und Schlußprotokoll nicht abgeändert3)Hänel S. 126 ff. Delbrück S. 5 fg..

Hieraus ergiebt ſich, daß alle noch in Geltung ſtehenden Beſtimmungen des Hauptvertrages v. 8. Juli 1867, ſowie derje - nigen Verabredungen, welche in demſelben in Bezug genommen und als Beſtandtheile des Vertrages erklärt worden ſind4)Die im Art. 3 §. 7 des Vertrages erwähnten Geſetze, nämlich das Zoll - geſetz, die Zollordnung, der Zolltarif und die Grundſätze, betreffend das Zoll - ſtrafgeſetz ſind durch das Zollgeſetz von 1869 und die andern ſpätern Reichs - geſetze erſetzt worden, alſo nicht mehr von Belang. Ueber die ſchwierige Frage, inwieweit das Zollkartel v. 11. Mai 1833 noch Bedeutung hat, vgl. Delbrück S. 18 ff., formelle250§. 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen des Zollweſens.Geſetzeskraft haben. Dagegen haben die Abreden des Schluß - protokolls, ſowie ſelbſtverſtändlich alle vom Bundesrath zur Ausführung des Zollvereinsvertrages beſchloſſenen Regle - ments u. ſ. w. die Kraft von Verwaltungs-Verordnungen.

5. Der Zollvereinsvertrag v. 16. Mai 1865 und ebenſo der Zollvereinsvertrag v. 8. Juli 1867 enthielten zwar eine vollſtändige Codifikation der die Geſammtheit des Zollvereins betreffen - den Abreden, aber keine vollſtändige Zuſammenſtellung aller noch gültigen Beſtimmungen der früheren Verträge. Daneben ſind vielmehr in Geltung geblieben diejenigen Beſtimmungen, welche ſich auf die beſonderen Verhältniſſe einzelner Staaten beziehen, ſei es, daß dieſelben bei dem Anſchluß der letzteren feſtgeſtellt wurden, oder ſei es, daß ſie in Folge der Entwickelung der Zoll - vereins-Einrichtungen veranlaßt wurden1)Delbrück S. 4 u. S. 6.. Hinſichtlich dieſer Be - ſtimmungen, welche durch den Art. 40 der R.V. ebenfalls in Kraft erhalten wurden, ſo weit ſie bei Erlaß der R.V. noch Geltung hatten, fehlt es daher an einem formellen Kriterium dafür, ob ſie als geſetzliche Anordnungen oder als Verwaltungsvorſchriften an - zuſehen ſind und es kann daher dieſe Frage nur nach dem In - halt der Feſtſetzung beurtheilt werden2)Delbrück S. 6.. Uebrigens ſind dieſe Beſtimmungen nicht von erheblicher Bedeutung. Hervorzuheben iſt aber, daß gerade dieſe beſonderen Vorrechte einzelner Staaten im Verhältniß zur Geſammtheit unter dem Schutze des Art. 78 Abſ. 2 der R.V. ſtehen.

III. Durch die Continuität zwiſchen dem Deutſchen Zollverein und dem Zollweſen des Reiches ſind die prinzipiellen Grundlagen des letzteren beſtimmt worden; ja es hat dieſer hiſtoriſche Zu - ſammenhang über dieſes begränzte Gebiet hinaus auf die geſammte Organiſation des Reiches eingewirkt. Namentlich beſteht eine un - verkennbare und ſtaatsrechtlich wie politiſch hochbedeutſame Con - gruenz zwiſchen der Ordnung des Militärweſens, Gerichtsweſens und Zollweſens; in allen drei Zweigen der ſtaatlichen Thätigkeit3)Dahin gehören z. B. die beſonderen Begünſtigungen der Meßplätze Braunſchweig, Frankfurt a. M., Leipzig und Frankfurt a. O. Vgl. Delbrück S. 61 fg. ; die beſonderen Vorrechte einzelner Staaten in Betreff der Chauſſee - geld-Tarife (Delbrück S. 85 fg.).251§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.laſſen ſich dieſelben verfaſſungsmäßigen Grundlinien wiederfinden. Für das Zollweſen ſind es folgende Grundprinzipien:

1. Das Reichsgebiet iſt ein einheitliches Zoll - und Handels - gebiet, innerhalb deſſen freier wirthſchaftlicher Verkehr ſtattfindet. Reichsverf. Art. 33. Es entſpricht dies der Einheit des Reichs - heeres und der Erſtreckung der Gerichtsbarkeit über das ganze Reichsgebiet.

2. Die Zollgeſetzgebung iſt eine einheitliche und ſteht aus - ſchließlich dem Reiche zu, R. V. Art. 35, und die Verwaltungs - vorſchriften und Einrichtungen, welche zur Ausführung der Zoll - geſetzgebung dienen, ſind gleichartige und übereinſtimmende für alle Staaten und deshalb vom Bundesrathe zu beſchließen. R.V. Art. 37 u. Art. 7. Es entſpricht dies der Einheitlichkeit des Militärrechts und des Gerichtsverfaſſungs - und Prozeßrechts.

3. Die Erhebung und Verwaltung der Zölle nach Maßgabe der Reichsgeſetze und Bundesrathsbeſchlüſſe ſteht den Einzelſtaaten zu; R.V. Art. 36. Sie haben die Selbſtverwaltung auf dieſem Gebiete, wie ſie die eigene Gerichtsbarkeit und Gerichtsverwaltung und (verfaſſungsmäßig) die Kontingentsherrlichkeit und eigene Heeresverwaltung haben. Dem Reich ſteht nur die Kontrole dar - über zu, daß die Einzelſtaaten die Selbſtverwaltung den Reichs - geſetzen gemäß führen.

Dieſe drei Grundprinzipien und die praktiſchen Geſtaltungen derſelben werden nun im Einzelnen darzuſtellen ſein.

§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.

I. Das Grundprinzip, welches in der R.V. an die Spitze des das Zoll - und Handelsweſen betreffenden Abſchnittes (VI) geſtellt worden iſt, lautet: Deutſchland bildet ein Zoll - und Handels - gebiet, umgeben von gemeinſchaftlicher Zollgränze. Verfaſſungs - mäßig fällt daher das Zollgebiet mit dem Bundesgebiet zuſammen; dieſer Grundſatz iſt aber nach zwei Richtungen durchbrochen, indem einerſeits Gebiete, die nicht zum Reich gehören, dem Zollgebiet angeſchloſſen ſind (Zollannexe), und andererſeits einzelne Theile des Bundesgebiets von der Zollgränze ausgenommen ſind (Zoll - exclaven).

1. Art. 2 des Zollvereins-Vertrages vom 8. Juli 1867 be - ſtimmt: In dem Geſammtverein bleiben diejenigen Staaten oder252§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.Gebietstheile einbegriffen, welche dem Zoll - und Handelsſyſteme der vertragenden Theile oder eines von ihnen angeſchloſſen ſind, unter Berückſichtigung ihrer auf den Anſchlußverträgen beruhenden beſonderen Verhältniſſe. Hierdurch wird nicht nur die Ausdeh - nung des Zollgebietes auf außerdeutſche Gebiete anerkannt, ſon - dern zugleich auch die Berückſichtigung der Anſchlußverträge hin - ſichtlich dieſer Gebiete zugeſtanden1)Ueber die Bedeutung, welche der Artikel in den früheren Zollver - einsverträgen hatte, vgl. Delbrück S. 8. Die Behauptung, daß wegen dieſer Zollannexe neben dem Reichsverbande unter den Bundesſtaaten noch ein vertragsmäßiges Zollvereins-Verhältniß fortdauere, iſt haltlos und von Hänel und Delbrück bereits in überzeugender Weiſe widerlegt worden.. Der Artikel unterſcheidet zwei Arten von Annexen, je nachdem dieſelben dem Zoll - und Handelsſyſtem der Geſammtheit oder einem der betheiligten Staaten angeſchloſſen ſind; beide Kategorien ſind thatſächlich vor - handen, aber freilich nur in je einem Anwendungsfalle.

a) Das Großherzogthum Luxemburg iſt durch Staatsver - trag2)Der erſte Anſchlußvertrag des Großherzogthums iſt vom 8. Febr. 1842, der letzte vom 20 / 25. Oktober 1865. dem Zollſyſtem des Königreichs Preußen und der mit dieſem zu einem Zollverein verbundenen Staaten beigetreten und hat gleichzeitig auf jede Mitwirkung bei der Verwaltung und Ent - wicklung der Zollvereinsangelegenheiten verzichtet, ſeine Vertretung in dieſer Hinſicht vielmehr Preußen übertragen. Der Luxembur - giſche Anſchlußvertrag iſt aber von Preußen zugleich im Namen der übrigen Zollvereinsſtaaten abgeſchloſſen und von den letzteren ratifizirt worden; er begründete demnach ein Gemeinſchaftsver - hältniß zwiſchen Luxemburg und ſämmtlichen Vereinsmitglie - dern. Nach Einführung der Reichsverf. trat an die Stelle der letz - teren das Reich, d. h. an die Stelle des Vereins der Bundesſtaat. Anerkannt wurde die Fortdauer des Rechtsverhältniſſes in dieſer Geſtalt implicite durch die Uebereinkunft v. 11. Juni 1872 wegen Uebernahme der Wilhelm-Luxemb. Eiſenbahnen § 14, indem zu - gleich die Kündigung deſſelben ausgeſchloſſen wurde, ſo lange die erwähnten Eiſenbahnen von einer Reichsbehörde verwaltet und betrieben werden3)R. G.Bl. 1872 S. 337.. Durch den Vertrag iſt zwiſchen dem Reich und Luxemburg der gegenſeitige Anſpruch auf freien Verkehr und Gemeinſchaft der Zollerträge begründet.

253§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.

b) Die zu Tyrol gehörende Gemeinde Jungholz iſt durch den zwiſchen Bayern und Oeſterreich vereinbarten Vertrag vom 3. Mai 1868 dem bayeriſchen Zoll - und indirekten Steuerſyſtem angeſchloſſen worden1)Vgl. Delbrück a. a. O. S. 9.. Durch dieſen Vertrag wurden Rechte und Pflichten nur zwiſchen Bayern und Oeſterreich begründet; dem Reich gegenüber hat er nur mittelbar eine Wirkung, indem Bayern ſo angeſehen wird, als gehörte die Gemeinde Jungholz zu ſeinem Gebiete2)Zwiſchen Oeſterreich und dem Deutſchen Reich beſteht hinſichtlich der Gemeinde Jungholz kein Vereinsverhältniß. Socii mei socius meus socius non est. Im Zollbundesrath wurde der Bayriſch-Oeſterreichiſche Vertrag, wie Delbrück a. a. O. bezeugt, durch die Bemerkung erledigt, daß bei ſeinem Inhalte nichts zu erinnern ſei..

2. Die Zuläſſigkeit von Zollexclaven iſt in der Reichs - verfaſſung ſelbſt anerkannt worden und zwar ſind auch hier zwei Kategorien zu unterſcheiden.

a) Art. 33 Abſ. 1 der R.V. fügt dem angegebenen Prinzip die Ausnahme bei: Ausgeſchloſſen bleiben die wegen ihrer Lage zur Einſchließung in die Zollgränze nicht geeigneten einzelnen Ge - bietstheile. Zur Ergänzung dieſer Beſtimmung dient Art. 6 des Zollvereinsvertrages, in welchem die Zollexclaven vollſtändig auf - gezählt ſind; gegenwärtig iſt dieſes Verzeichniß aber nicht mehr dem thatſächlichen Zuſtand entſprechend, da ein erheblicher Theil dieſer Gebiete in die Zollgemeinſchaft eingeſchloſſen worden iſt3)Der Art. 6 cit. führt unter den Zollexclaven noch auf: die Großher - zogthümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, das Herzogthum Lauenburg und die Hanſeſtadt Lübeck, weil zur Zeit, als die Verhandlungen über den Zollvereinsvertrag begannen, der Einſchluß dieſer Gebiete in die Zollgemeinſchaft noch nicht feſtſtand; dagegen war dies hinſichtlich Schleswig - Holſteins und des Fürſtenth. Lübeck der Fall, die deshalb unerwähnt geblieben ſind. Delbrück S. 44. 45.. Im Artikel 6 wird der Ausſchluß dieſer Gebiete als ein vor - läufiger bezeichnet und beſtimmt, daß, ſobald die Gründe auf - gehört haben, welche die volle Anwendung des Zollvertrages auf den einen oder andern der zum Nordd. Bunde gehörenden Ge - bietstheile zur Zeit ausſchließen, der Bundesrath des Zollvereins auf Veranlaſſung des Präſidiums des Nordd. Bundes über den Zeitpunkt Beſchluß faßt, in welchem die Beſtimmungen der Artikel254§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.3 5 und 10 20 des Zollvereinsvertrages in dieſem Staate oder Gebietstheile in Wirkſamkeit treten. Es ergiebt ſich hieraus, daß den in Betracht kommenden Einzelſtaaten kein Widerſpruchs - recht gegen die Einbeziehung ihrer Gebiete oder Gebietstheile zu - ſteht1)Delbrück a. a. O. S. 43 ff. macht eine Ausnahme hiervon zu Gunſten Hannovers (jetzt Preußens) und Oldenburgs wegen Geeſtemünde und Brake. Allein vor Errichtung des Norddeutſchen Bundes war in allen Fällen zum Einſchluß einer Exclave die allſeitige Zuſtimmung der Ver - einsſtaaten erforderlich, für ein Sonder recht in dieſer Beziehung alſo kein Raum. Es war daher rechtlich gleichgültig, ob der vorläufige Ausſchluß jener beiden Orte auf finanziellen oder auf handelspolitiſchen Motiven be - ruhte. Da weder in dem Zollvereinsvertrag von 1867 noch in der Nordd. Bundesverf. für Geeſtemünde und Brake eine Abweichung von dem gemeinen Recht feſtgeſetzt wurde, ſind auch dieſe beiden Exclaven dem letzteren unter - worfen. und daß ebenſowenig ein Akt der Geſetzgebung zur Beſei - tigung oder Beſchränkung einer Zollexclave erforderlich iſt. An die Stelle des Zollbundesrathes iſt ſeit der Errichtung des Reiches der Bundesrath getreten, deſſen Kompetenz überdies durch Art. 7 Ziff. 2 der R.V. begründet iſt. Nachdem verfaſſungsmäßig neben dem Grundprinzip der Identität von Bundesgebiet und Zollgebiet auch die Zuläſſigkeit des Ausſchluſſes von Gebietstheilen wegen ihrer Lage anerkannt worden iſt, handelt es ſich bei jeder einzel - nen Exclave nur um eine Anwendung dieſer Regeln auf den einzelnen Fall, alſo um eine Handhabung oder Ausführung des Geſetzes, nicht um eine Abänderung deſſelben; und ebenſo, wenn in einem Falle, in welchem die Ausnahme bisher zugelaſſen war, wegen veränderter Umſtände die Grundregel in Anwendung ge - bracht wird2)Ein Verzeichniß der gegenwärtig noch vorhandenen Zollexclaven ſiehe bei v. Aufſeß und Delbrück S. 42. Der Anſchluß der Stadt Altona iſt vom Bundesrath am 22. Mai 1880 vorbehaltlich der näheren Modifikationen beſchloſſen worden..

b) Art. 34 der R.V. lautet: Die Hanſeſtädte Bremen und Hamburg mit einem dem Zweck entſprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebietes bleiben als Freihäfen außerhalb der gemeinſchaftlichen Zollgränze, bis ſie ihren Einſchluß in dieſelbe beantragen. Da dieſer Artikel Anlaß zu zahlreichen Streitfragen gegeben hat, ſo ſcheint ein näheres Eingehen auf ſeinen Inhalt255§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.geboten1)Abgeſehen von den gelegentlichen Ausführungen in den umfaſſenderen Darſtellungen des Reichsſtaatsrechts und namentlich in Hänel’s Studien I. S. 200 hat der Preuß. Antrag v. 19. April 1880 betreffend den Einſchluß der Hamburgiſchen Vorſtadt St. Pauli in das Zollgebiet Veranlaſſung zu zahl - reichen Erörterungen des Art. 34 gegeben. Soweit dieſelben ſich in Zeitungen u. dgl. finden, können ſie hier unmöglich citirt und näher berückſichtigt werden, ſchon wegen ihrer zahlloſen Menge; ebenſo ſehe ich ab von den vielen volks - wirthſchaftlichen, handelspolitiſchen, hiſtoriſchen und phantaſtiſchen Abhand - lungen über die Freihafenfrage. Unter den ſtaatsrechtlichen Erörte - rungen ſteht in erſter Linie und überragt an wiſſenſchaftlicher Bedeutung alle übrigen der anonyme Aufſatz in den Preußiſchen Jahrbüchern Bd. 46 S. 494 fg. (1880). Vgl. ferner die Ausführung in der Fachzeitſchrift Das Deutſche Wollengewerbe Nro. 15. 1879. (Grünberg. ) Die Preuß. Denkſchrift zur Begründung des Antrages v. 19. April 1880. Art. 34 der R.V. und der Antrag Preußens v. 19. April 1880. Hamburg, J. F. Richter. Die Aufſätze in der Deutſchen Rundſchau, 1880 Heft 10. Preuß. Jahr - bücher Bd. 45 Heft 6 und Im neuen Reich, Juliheft 1881. Von beſonderer Wichtigkeit ſind die Verhandlungen des Reichstages 1880 S. 1071 ff. u. S. 1264 ff. 1881 S. 389 ff. 393 ff. 471 ff. 1881 / 82 S. 39 ff. 777 ff. 813 ff. Einen trefflichen Ueberblick über den Verlauf der Angelegenheit und die ge - ſammte Literatur giebt die Abhandlung von Guſtav Tuch in Schmoller’s Jahrb. Bd. VI Heft 1 S. 113 232 (1882).. Es iſt von vornherein klar, daß er im Gegenſatz ſtehen muß zu Art. 33 Abſ. 1, da er ſonſt durch den letzteren gedeckt und überflüſſig ſein würde. Es kann auch nicht zweifelhaft ſein, daß dieſer Gegenſatz in den Schlußworten des Artikels beruht, bis ſie ihren Einſchluß beantragen ; d. h.: während hinſicht - lich der übrigen Zollexclaven der Bundesrath nach freiem Ermeſſen zu beſchließen hat, iſt der Einſchluß der Hanſeſtädte Hamburg und Bremen von ihrem Antrage abhängig gemacht2)Daß bei Gründung des Nordd. Bundes die Erwartung beſtand, daß die Hanſeſtädte dem Zollgebiet einſt beitreten werden, iſt vielfach conſtatirt worden; insbeſondere in der Preuß. Denkſchrift vom 19. April 1880 und in mehreren Reichstagsreden des Reichskanzlers. Dagegen iſt ihnen eine Rechts - pflicht nicht auferlegt worden; die Worte bis ſie ihren Einſchluß beantragen enthalten eine reine Poteſtativbedingung (si voluerint). Die entgegengeſetzte von v. Treitſchke Pr. Jahrb. Bd. 45 S. 630 ff. und Stenograph. Berichte des Reichstages 1881 S. 389 u. a. aufgeſtellte Anſicht widerſpricht dem Wort - laut und dem logiſchen Zuſammenhange der Art. 33 u. 34. Vgl. Wolff - ſon Stenogr. Berichte 1880 S. 1073 und Rickert ebendaſ. S. 1078..

Zu Zweifeln hat zunächſt Anlaß gegeben das Verhältniß des Art. 34 der R.V. zu Art. 6 des Zollvereinsvertrages; denn in256§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.dem letzteren werden die Hanſeſtädte Bremen und Hamburg nicht den übrigen Zollexclaven gegenübergeſtellt wie in der R.V., ſondern unter ihnen mit aufgezählt, ſo daß auch auf ſie das Wort vorläufig in dem Eingang des Art. 6 und die Beſtimmung in Abſ. 2 hinſichtlich der Beſchlußfaſſung des Bundesrathes über ihre Aufnahme in das Zollgebiet Anwendung finden. In der Nordd. Bundesverfaſſung dagegen fehlt das Wort vorläufig und ein Antrag, daſſelbe einzuſchalten, wurde vom verfaſſungbe - rathenden Reichstag abgelehnt1)Stenograph. Berichte des conſtit. Reichstages 1867 S. 500.. Dieſer ſcheinbare Widerſpruch zwiſchen dem Zollvereinsvertrag und der Nordd. Bundesverf., aus welcher der Art. 34 der R.V. unter Weglaſſung der bereits 1868 in die Zollgemeinſchaft eingetretenen Hanſeſtadt Lübeck herüberge - nommen worden iſt, erklärt ſich ſehr leicht. Der Zollvereinsver - trag iſt vom Nordd. Bunde als einheitlichem Subjekte mit den ſüddeutſchen Staaten abgeſchloſſen worden; die Nordd. Bundesverf. dagegen betraf das Verhältniß unter den Staaten des Nordd. Bundes. Im Verhältniß zu den ſüddeutſchen Staaten wurde da - her der Ausſchluß von Hamburg und Bremen ganz ebenſo wie der der übrigen Gebietstheile des Nordd. Bundes normirt; ihnen gegenüber wurde der Ausſchluß als ein vorläufiger behandelt, für ſie wurde die Aufnahme der Hanſeſtädte nicht von einem Antrage der letzteren, ſondern von einer Mittheilung des Präſidiums des Nordd. Bundes abhängig gemacht; für ſie war die Beſtimmung eine völkerrechtliche Abrede mit dem Nordd. Bund2)Im Art. 6 des Zollvereinsvertrages werden die Zollexclaven auch in 2 Gruppen getheilt, aber nach einem ganz anderen Prinzip als in der Nordd. Bundesverfaſſung; Art. 6 zählt unter Ziff. 1 die Gebietstheile des Nordd. Bundes, unter Ziff. 2 die Gebietstheile der ſüddeutſchen Staaten (Badens) auf, welche ausgeſchloſſen blieben.. Der Art. 34 dagegen betraf das ſtaatsrechtliche Verhältniß innerhalb des Nordd. Bundes; er ſollte den ſtaatlichen Zwang gegen die Hanſeſtädte zum widerwilligen Eintritt in das Zollgebiet ausſchließen3)Uebereinſtimmend Lasker Stenogr. Berichte 1880 S. 1309.. Nach - dem das völkerrechtliche Zollvereins-Verhältniß zwiſchen dem Nord - deutſchen Bunde und den ſüddeutſchen Staaten in Wegfall gekom - men und durch das verfaſſungsrechtliche erſetzt worden iſt, kann nur noch Art. 34 der R.V. maßgebend ſein. Es folgt ja auch257§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.aus der ausdrücklichen Anordnung im Art. 40, daß in allen Fällen, in denen zwiſchen den Beſtimmungen der R.V. und denjenigen des Zollvereinsvertrages ein Widerſpruch beſteht, die Verfaſſungsbe - ſtimmungen Geltung haben1)Ganz unrichtig iſt das Verhältniß aufgefaßt worden von Edg. - ning in Hirth’s Annalen 1875 S. 366, der die ſonderbare Anſicht aufſtellt, Art. 34 der Nordd. Bundesverf. ſei durch Art. 6 des Zollvereinsvertrages ab - geändert worden und dieſe Abänderung ſei durch Art. 34 der Reichsver - faſſung wieder rückgängig gemacht worden..

Es iſt ferner in Zweifel gezogen worden, ob die Vorſchrift des Art. 78 Abſ. 2 auf das im Art. 34 den beiden Hanſeſtädten gewährleiſtete Recht anwendbar ſei. Man hat dies aus dem Grunde verneint, weil in der Norddeutſchen Bundesverfaſſung eine dem Art. 78 Abſ. 2 entſprechende Anordnung fehlte und nur den Süd - deutſchen Staaten bei ihrem Eintritt in das Reich Reſervatrechte, die unter dem Schutze des Art. 78 Abſ. 2 ſtehen, eingeräumt worden ſeien2)Hänel Studien a. a. O. Denkſchrift des Centralvereins der Wollen - fabrikanten bei Tuch a. a. O. S. 155; ferner v. Kardorff Stenograph. Berichte 1881 S. 395.. Dieſe Deduction iſt falſch. Die R.V. Art. 78 Abſ. 2 kennt das Wort Reſervatrechte gar nicht, ſondern ſpricht nur von denjenigen Vorſchriften der R.V., durch welche beſtimmte Rechte einzelner Bundesſtaaten in deren Verhältniß zur Geſammt - heit feſtgeſtellt ſind . Daß dieſe Ausdrucksweiſe auch auf die im Art. 34 den Hanſeſtädten eingeräumten Rechte buchſtäblich paßt, iſt unleugbar; es iſt daher völlig unerheblich, ob man die Be - zeichnung Reſervatrechte in einem engeren oder weiteren Sinne zu verwenden pflegt und ob man das im Art. 34 der R.V. erwähnte Recht ſo nennt oder nicht. Daß aber in der Verfaſſung des Nordd. Bundes der Art. 78 Abſ. 2 fehlte, iſt ganz ohne Belang, nachdem die Reichsverfaſſung den Grundſatz ohne Einſchränkung aufgenommen hat; überdies folgt der letztere auch ohne aus - drückliche Anerkennung aus dem Begriff und Weſen der Sonder - rechte von ſelbſt3)Vgl. Bd. I. S. 117 ff.. Der Art. 34 wäre überhaupt bedeutungslos, wenn er auch ohne Zuſtimmung von Hamburg reſp. Bremen auf - gehoben werden könnte; denn die Nothwendigkeit dieſer Zuſtim - mung iſt eben das einzige unterſcheidende Kriterium zwiſchen denLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 17258§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.Exclaven des Art. 34 und denjenigen des Art. 33 Abſ. 1 der R.V.1)Sowohl in der Literatur als bei den parlamentariſchen Erörterungen war das auch die überwiegende Anſicht; ſtatt aller andern Citate genügt die folgende Aeußerung des kompetenteſten Beurtheilers der Frage, des Fürſten Bismarck Stenogr. Berichte 8. Mai 1880 S. 1269: Mir ſind Suggeſtio - nen von anderer Seite und aus Hamburg gemacht, daß dieſes ganze Freihafen - recht Hamburgs kein Singularrecht ſei, ſondern daß der Art. 34 durch Geſetz, wenn nicht 14 Stimmen widerſprechen, aus der Welt geſchafft werden könne. Ich habe darauf mit großer Beſtimmtheit und auch ſchriftlich nach Hamburg erklärt, daß ich dieſer Deduktion nicht beiſtimmen könne, ſondern daß das Recht auf den Freihafen nur mit Ham - burgs Bewilligung aufhören könne, und daß ich, ſo lange ich mitzureden hätte, auch darüber wachen würde, daß es nicht eingeſchränkt werde auf kleinere Gränzen als diejenigen, welche nothwendig ſind, damit es ſeiner Bezeichnung in vollkommener und loyaler Weiſe entſpreche. Vgl. ferner G. Meyer Staatsrechtl. Erörterungen S. 73. Windthorſt Stenogr. Berichte S. 1082 und beſonders Delbrück Stenogr. Berichte 1881 S. 396..

Sodann iſt die Frage aufgeworfen worden, ob Art. 78 Abſ. 1 der R.V. bei einer Veränderung der Freihafenſtellung der beiden Hanſeſtädte Anwendung finde, d. h. ob hierzu der Weg der ver - faſſungsändernden Geſetzgebung beſchritten werden müſſe. Auf den erſten Anſchein könnte man ſich für Bejahung der Frage ent - ſcheiden, da eine Aenderung des Art. 34 doch ganz gewiß eine Veränderung der Verfaſſung ſei2)So namentlich Löning a. a. O. S. 366 und Lasker Stenogr. Berichte 1880 S. 1085, desgleichen Windthorſt ebendaſelbſt S. 1083.. Allein dies beruht auf einer Verkennung des Sinnes dieſes Artikels; er will nicht Bremen und Hamburg vom Zollgebiet excludiren und ihre Freihafenſtellung an - befehlen, ſondern er will ihnen den Einſchluß in die Zollgränze ſo lange erlaſſen, bis ſie es beantragen. Art. 34 hat mit dem zweiten Satz von Art. 33 Abſ. 1 das gemein, daß beide Ver - faſſungsbeſtimungen Ausnahmen von dem im erſten Satz des Art. 33 an die Spitze geſtellten Prinzip zulaſſen; die Beſeitigung einer dieſer Ausnahmen iſt ſonach keine Veränderung, ſondern eine voll - ſtändigere Verwirklichung des oberſten verfaſſungsmäßigen Grund - ſatzes. Art. 34 enthält keine objektive Rechtsregel, welche den im Art. 33 an die Spitze geſtellten Grundſatz theilweiſe aufhebt, ſon - dern ſie begründet ſubjektive Rechtsbefugniſſe, welche ſeine voll - kommene Durchführung hindern können. Wenn die beiden Hanſe -259§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.ſtädte ſich in das Zollgebiet aufnehmen laſſen, ſo wird hierdurch Art. 34 nicht verändert, ſondern erledigt, indem die Hanſe - ſtädte von dem ihnen vorbehaltenen Recht, ihren Einſchluß in die Zollgränze zu beantragen, Gebrauch machen. Die Beſchlußfaſſung über die Aufnahme und über die Modalitäten derſelben ſteht als - dann gerade ebenſo wie hinſichtlich der Exclaven des Art. 33 Abſ. 1 dem Bundesrath zu. Dem Reichstag gebührt hierbei weder ein Recht der Zuſtimmung noch ein Veto. In dieſer Weiſe iſt auch im Norddeutſchen Bunde bei der Aufnahme von Lübeck und bei der Aufnahme einzelner Gebietstheile von Hamburg und Bremen verfahren worden, ohne daß die Verfaſſungsmäßigkeit dieſes Weges in Zweifel gezogen worden iſt1)Vgl. Hänel Studien I. S. 200 und Stenogr. Berichte des Reichs - tages 1882 I. Seſſ. S. 39 und namentlich Fürſt Bismarck Stenogr. Be - richte 8. Mai 1880 S. 1270..

Auch die Bedeutung des Wortes Hanſeſtädte iſt Gegenſtand einer großen Meinungsverſchiedenheit geworden2)Vgl. Wolffſon im Reichstag 1880 Stenogr. Ber. S. 1074; Rickert ebendaſ. S. 1078. Fürſt Bismarck a. a. O. Ferner Preuß. Jahrb. Bd. 45 S. 637. Die Schrift: Art. 34 der R.V. und der Antrag Preußens u. ſ. w. (Hamburg 1880) S. 19 ff. Die Citate bei Tuch a. a. O. S. 168 und na - mentlich Preuß. Jahrb. Bd. 46 S. 497 ff., indem bei Er - örterung des Preuß. Antrages betreffend St. Pauli die Behaup - tung aufgeſtellt worden iſt, daß unter Hanſeſtädte nicht das Staatsgebiet, ſondern das Stadtgebiet von Bremen und Ham - burg zu verſtehen ſei. Dieſe Anſicht iſt völlig unrichtig. Zu - vörderſt wäre die Beſtimmung hinſichtlich Bremens ſinnlos, da der Freihafen in Bremerhafen, alſo in ziemlich großer Entfernung von der Stadt Bremen ſich befindet. Sodann iſt die erwähnte Anſicht mit der grammatiſchen Auslegung des Art. 34 unverein - bar. Die Worte: die Hanſeſtädte Bremen und Hamburg bilden das Subjekt des ganzen Satzes, auf welches auch die Worte bis ſie ihren Einſchluß beantragen ſich beziehen. Der Antrag kann aber nur von den Staaten Bremen und Hamburg geſtellt wer - den; das Wort ſie kann alſo nur dieſe Staaten bedeuten und mithin iſt es logiſch unmöglich, den am Anfang des Satzes ge - brauchten Ausdruck Hanſeſtädte und die Worte ihren Ein - ſchluß in einem anderen Sinne zu verſtehen. Auch werden ſowohl17*260§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.im Eingang der Verfaſſung des Nordd. Bundes als in mehreren Reichsgeſetzen und Staatsverträgen die Staaten Lübeck, Bremen und Hamburg als Hanſeſtädte bezeichnet1)In dem von der Preuß. Regierung im Jahre 1866 vorgelegten ur - ſprünglichen Verfaſſungsentwurf ſtand das Wort Städte ; in dem dem ver - faſſungberathenden Reichstage vorgelegten Entwurf war es durch das Wort Hanſeſtädte erſetzt.. Allein der Art. 34 beſtimmt nicht, daß das ganze Staatsgebiet von Bremen und Hamburg außerhalb der Zolllinie gelaſſen werde, ſondern nur: mit einem dem Zweck entſprechenden Bezirke ihres oder des um - liegenden2)Dieſe Worte wurden vorzüglich mit Rückſicht auf Altona, das gemein - ſchaftlich mit Hamburg außerhalb der Zollgränze gelaſſen werden ſollte, hin - zugefügt. Gebietes . Der Zweck , der hier als maßgebend hingeſtellt wird, iſt die Erhaltung der Freihäfen. Inſofern daher Theile des Hamburgiſchen oder Bremiſchen Staatsgebietes aus irgend einem andern Grunde als aus der Rückſicht auf den Ver - kehr in und mit dem Freihafen außerhalb der Zollgränze geblieben ſind, findet das im Art. 34 der R.V. begründete Sonderrecht auf ſie keine Anwendung. Die Verfaſſung kennt aber überhaupt nur zwei Motive für die Zulaſſung von Exclaven, entweder die zur Zollbewachung ungeeignete Lage (Art. 33) oder das Freihafen - Intereſſe (Art. 34). Die Abgränzung beider Arten von Exclaven ſteht nach Art. 7 Ziff. 2 der R.V. dem Bundesrath zu, da auch hinſichtlich der Freihafen - Exclaven es ſich hierbei lediglich um eine Maßregel zur Ausfüh - rung der Bundesverfaſſung handelt.

Endlich iſt es beſtritten, ob der Bundesrath, nachdem er ein - mal Gebiete von Bremen und Hamburg, die ihrer Lage nach zum Einſchluß in die Zollgränze geeignet ſind, außerhalb der letzteren gelaſſen und dadurch anerkannt hat, daß ihr Ausſchluß mit Rück - ſicht auf die Freihafenſtellung erfolgt iſt, ſpäter ohne die Zuſtim - mung der Bremer und reſp. Hamburger Landesregierung die ge - troffenen Feſtſetzungen verändern könne3)Dieſe Frage bildete den eigentlichen Kernpunkt des Streites über den Preuß. Antrag v. 19. April 1880. Vgl. die Excerpte bei Tuch S. 155. 163. 165 ; insbeſondere Preuß. Jahrb. Bd. 46 S. 502 und Staatsminiſter Hofmann Stenogr. Berichte des Reichstags 1880 S. 1295.. Dieſe Frage iſt vom Standpunkt des Staatsrechts aus m. E. zu bejahen. Durch261§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.Veränderungen der thatſächlichen Verhältniſſe verſchiedenſter Art, deren Aufzählung und Erörterung hier zu weit führen würde, kann ein anfänglich ausgeſchloſſenes Gebiet für die Zwecke des Frei - hafens entbehrlich werden, oder es kann in Folge der gemachten Erfahrungen oder ſorgfältigerer Ermittelungen der Bundesrath die von ihm zuerſt beſchloſſene Abgränzung als unzweckmäßig und zu weitreichend erkennen. Es liegt kein Grund vor, warum der Bundesrath nicht einen Ausführungsbeſchluß zu Art. 34 der R.V. ebenſo wie alle anderen nach Maßgabe des Art. 7 Ziff. 2 der R.V. gefaßten Beſchlüſſe ſolle abändern dürfen. Nur wird dabei freilich vorausgeſetzt, daß der Bundesrath dieſe Befugniß nicht zur ſtückweiſen Vernichtung oder Verſtümmelung des den Hanſe - ſtädten im Art. 34 gewährleiſteten Rechts mißbrauche.

Alle dieſe Fragen haben den größten Theil ihres praktiſchen Intereſſes eingebüßt durch den zwiſchen dem Reichskanzler und dem Hamburgiſchen Senat abgeſchloſſenen Vertrag vom 25. Mai 1881 und das in Folge deſſelben ergangene Reichsgeſetz v. 16. Fe - bruar 18821)R. G.Bl. 1882 S. 39 ff., betreffend die Ausführung des Anſchluſſes der freien und Hanſeſtadt Hamburg an das Deutſche Zollgebiet2)Vgl. den Entwurf mit Motiven in den Druckſachen des Reichstages von 1881 / 82 Nro. 4. Verhandlungen darüber: Stenogr. Berichte ebendaſ. S. 101 ff. 777 841, S. 867. Vgl. ferner Tuch a. a. O. S. 205 ff. und Hirth’s Annalen 1881 S. 489 ff.. Auf Grund der mit der Reichsregierung geführten Verhandlungen hat der Hamburgiſche Senat den Anſchluß ſeines Staatsgebietes mit Ausnahme eines eigentlichen Freihafens an das Zollgebiet beantragt und der Bundesrath hat dieſen Antrag genehmigt. Nunmehr iſt die Begränzung des Freihafens und des dieſem Zweck entſprechenden Bezirks für Hamburg durch Staatsvertrag und durch ein denſelben beſtätigendes Reichsgeſetz definitiv feſtge - ſtellt worden, ſo daß der Bundesrath einſeitig keine Verände - rungen daran vornehmen kann, und es iſt ferner ſowohl im Art. 1 des Vertrages als im §. 1 des Reichsgeſetzes anerkannt worden, daß auf dieſes Freihafengebiet Art. 34 der R.V. fortdauernd Anwendung finde, ſo daß die Freihafen-Eigenſchaft jenes Bezirks ohne Hamburgs Zuſtimmung weder aufgehoben noch eingeſchränkt262§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.werden kann1)Aus der fortdauernden Anwendung des Art. 34 der R.V. folgt übrigens, daß wenn der Senat von Hamburg den Antrag auf Aufhebung des Freihafens einmal ſtellen ſollte, vielleicht unter der bundes - freundlichen Einwirkung eines künftigen Reichskanzlers, der Bundesrath allein darüber zu entſcheiden haben würde, ohne daß es eines Geſetzes bedürfte. Siehe oben S. 258 fg. Die Bemerkungen von Windthorſt, Stenogr. Berichte 20. Januar 1882 S. 790, daß §. 1 des Geſetzes nicht ein bloßer einfacher Geſetzesparagraph, ſondern ein Verfaſſungsparagraph ſei, ſo daß eine Abänderung deſſelben nur möglich ſein würde, wenn nicht 14 Mitglieder des Bundesrathes widerſprechen , beruht auf einer mißverſtändlichen Auffaſ - ſung des Art. 34 der R.V.. Der Anſchluß der Stadt und des Gebiets von Hamburg nach dieſer Vereinbarung wird nach dem 1. Oktober 1888 (nach Herſtellung der erforderlichen Bauten und Einrichtungen) an einem vom Bundesrath feſtzuſtellenden Tage erfolgen.

3. Da zum Bundesgebiete ſelbſtverſtändlich auch die Strom - läufe gehören, ſo bedürfte es kaum der Hervorhebung, daß auch die letzteren und zwar auch mit ihren unteren, von Seeſchiffen be - fahrenen Theilen, von der gemeinſchaftlichen Zollgränze mit ein - geſchloſſen werden, wenn nicht hinſichtlich der unteren Elbe (von Hamburg bis zur Mündung) bis vor Kurzem eine Ausnahme be - ſtanden hätte, deren Aufhebung der Gegenſtand lebhaften Streites und vielfacher Meinungsverſchiedenheit geweſen iſt2)Vgl. namentlich die Abhandlung in den Preuß. Jahrbüchern Bd. 46 S. 503 ff. Die Hamburgiſche Brochüre: Die Freiheit der Elbſchifffahrt. Geſchichtl. Erläuterungen der ſtaatsrechtl. Sachlage. Hamburg 1880. Tuch a. a. O. S. 175 ff. und aus den umfaſſenden Verhandlungen des Reichstages von 1880 die Erörterungen von Delbrück S. 1265 fg., Fürſt Bismarck S. 1268, beſonders Hofmann S. 1295, ſowie die Ver - handlungen von 1882 I. Seſſion S. 635 ff.. Wenn man zunächſt von der Elbſchifffahrts-Akte v. 1821 und der Behauptung, daß durch dieſelbe die ſogenannte Zollvereins-Aus - lands-Eigenſchaft der unteren Elbe geſetzlich begründet ſei, ab - ſieht, ſo folgt aus den vorhergehenden Erörterungen, daß der Bundesrath berechtigt iſt, den Einſchluß der unteren Elbe ganz ebenſo wie den aller andern Zollexclaven zu beſchließen, mag man nun den bisherigen Ausſchluß des Stromes auf Art. 33 Abſ. 1 oder auf Art. 34 der Reichsverf. zurückführen. Die Behauptung aber, daß dieſes Recht des Bundesrathes durch die Elbſchifffahrts - Akte beſchränkt ſei, iſt unbegründet, auch wenn man ſelbſt zugeben263§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.wollte was indeß unrichtig wäre daß die in der Elbſchiff - fahrts-Akte vereinbarte völlige Freiheit der Schifffahrt die Freiheit vom Waarenzoll einſchließt. Denn die Elbſchifffahrts-Akte iſt ein Staatsvertrag unter den Uferſtaaten, hat alſo nur die Kraft der Landesgeſetze und iſt mithin, ſo weit dieſe Uferſtaaten Glieder des Deutſchen Reiches geworden ſind, durch entgegenſtehende An - ordnungen der Reichsgeſetze aufgehoben1)Vgl. Bd. II. S. 195 ff.. Für das Verhältniß unter den Deutſchen Staaten ſind demnach die Anordnungen der Reichsverfaſſung Art. 33. 34. 40 und insbeſondere Art. 7 Ziff. 2 in ihrem Zuſammenhange maßgebend und Oeſterreich iſt der einzige Staat, für welchen die völkerrechtliche Bedeutung der Elbſchifffahrts-Akte ungeſchmälert fortbeſteht. Daraus ergiebt ſich, daß Oeſterreich allein gegen die Verlegung der Zollgränze an die Mündung der Elbe, gleichviel ob dieſelbe im Wege des Bundes - rathsbeſchluſſes oder im Wege des Reichsgeſetzes verfügt wird, die formelle Berechtigung des Einſpruches erheben könnte; daß dagegen in ſtaatsrechtlicher Beziehung im Deutſchen Reiche die Elbſchifffahrts-Akte der Verfaſſung gegenüber nicht in Betracht kommt. Der Bundesrath hat nun durch Beſchluß vom 8. Dezemb. 1881 die Unterelbe einſchließlich der in derſelben befindlichen Elb - inſeln vom 1. Januar 1882 ab dem Deutſchen Zollgebiet ange - ſchloſſen2)Centralbl. des Deutſchen Reichs 1881 S. 464. Auch der Reichstag hat ſich ſchließlich hiermit einverſtanden erklärt, indem er die Koſten des An - ſchluſſes im Etatsgeſetz für 1882 / 83 genehmigt und nur durch eine Reſolution ausgeſprochen hat, daß er hierdurch kein Präjudiz für die ihm zuſtehende Mitwirkung habe herbeiführen wollen. Sitzung v. 14. Januar 1882. Stenogr. Berichte S. 656. 657. und gleichzeitig Vorſchriften über die Befreiung der nach und von Hamburg tranſitirenden Schiffe von zollamtlicher Behandlung erlaſſen.

4. Das Bundesgebiet umfaßt bekanntlich in völkerrechtlicher Hinſicht auch den Meeresſaum auf Kanonenſchußweite von der Küſte aus. In einem ſolchen Sinne kann aber der Grundſatz, daß das Bundesgebiet von einer gemeinſchaftlichen Zollgränze um - ſchloſſen werde, nicht verſtanden werden, da ſonſt die Waaren zoll - pflichtig wären noch ehe ſie an das Land gebracht werden können. Vielmehr beſtimmt in dieſer Beziehung §. 16 Abſ. 2 des Zoll -264§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.geſetzes vom 1. Juli 18691)Bundes-Geſetzbl. 1869 S. 320.: Wo das Vereinsgebiet durch das Meer begrenzt wird, bildet die jedesmalige den Waſſerſpiegel be - grenzende Linie des Landes die Zolllinie. Das Gleiche gilt, wo das Vereinsgebiet an andere Gewäſſer gränzt, ſofern deren Stand von Ebbe und Fluth abhängig iſt 2)Die Beſtimmung ſteht in dem Abſchnitt des Zollgeſetzes, welcher die Ueberſchrift trägt: Einrichtungen zur Beaufſichtigung und Erhebung des Zolles und hat mit der Frage wegen Abgränzung der Zollexclaven gar keinen Zuſammenhang. Unrichtiger Weiſe iſt ein ſolcher hervorgeſucht worden bei den Erörterungen über den Zollanſchluß der unteren Elbe, namentlich vom Fürſten Bismarck. Stenogr. Berichte 1880 S. 1268; die richtige Be - deutung des §. 16 cit. iſt klargeſtellt worden von Lasker ebendaſ. S. 1309.. Die praktiſche Bedeutung dieſer Anordnung betrifft vorzugsweiſe die Frage, in welchem Augenblick die Zollpflichtigkeit eintritt und eventuell der Thatbe - ſtand einer Zolldefraudation perfekt wird.

II. Die ſachliche Bedeutung des Grundprinzips, daß Deutſchland ein einheitliches Zoll - und Handelsgebiet bildet, iſt im Art. 33 Abſ. 2 ausgeſprochen: Alle Gegenſtände, welche im freien Verkehr eines Bundesſtaates befindlich ſind, können in jedem anderen Bundesſtaat eingeführt und dürfen in letzterem einer Abgabe nur inſoweit unterworfen werden, als daſelbſt gleichartige inländiſche Erzeugniſſe einer inneren Steuer unterliegen. Die Tragweite dieſes Grundſatzes ergiebt ſich aus den Artikeln des Zollvereins - vertrages, die zum Theil lediglich den Zweck haben, dieſe Conſe - quenzen zu entwickeln und ſicher zu ſtellen.

1. Den Einzelſtaaten iſt es nicht unbedingt verboten, Abgaben von Verbrauchsgegenſtänden zu erheben; dieſe Befugniß iſt aber durch eine Reihe von Sätzen überaus beſchränkt:

a) Ausgeſchloſſen iſt die Erhebung irgend einer weiteren Ab - gabe von allen vom Auslande eingeführten Gegenſtänden, welche vom Reich bei der Einfuhr mit mehr als 15 Groſchen vom Zentner belegt ſind, mit Ausnahme der auf die weitere Verarbei - tung oder bei Getränken auf deren Umſatz (Cirkulation) allgemein gelegten Steuern3)Zollvereinsvertrag Art. 5. I. Als Fabrikations - ſteuern ſind aber lediglich zugelaſſen die Steuern von der Fabrikation des Branntweins, Biers und Eſſigs ſowie die Mahl - und Schlacht - ſteuer, und hinſichtlich der Cirkulationsſteuer von Getränken gilt der.

265§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.

b) Hinſichtlich der inländiſchen Produkte und der vom Auslande eingeführten Erzeugniſſe, welche nicht mehr als 15 Gro - ſchen Zoll zu tragen haben, iſt es den Einzelſtaaten zwar freige - ſtellt, die auf der Hervorbringung, der Zubereitung oder dem Verbrauche von Erzeugniſſen ruhenden inneren Steuern beizube - halten, neu einzuführen, zu verändern oder aufzuheben; dergleichen Abgaben ſollen aber für jetzt1)d. h. bis zur Abänderung im Wege der verfaſſungsändernden Geſetz - gebung, da es ſich um eine Modifikation des Art. 40 der R.V. handeln würde. Siehe oben S. 248. nur auf folgende Erzeugniſſe gelegt werden dürfen: Wein, Moſt, Cider und Eſſig; ferner Mehl und andere Mühlenfabrikate und Backwaaren; endlich Fleiſch, Fleiſchwaaren und Fett2)Zollvereinsvertrag Art. 5. II. §. 2.. Außerdem iſt Bayern, Württemberg und Baden die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins und Bieres und Elſaß-Lothringen diejenige des Bieres vorbehalten ge - blieben3)R.V. Art. 35 Abſ. 2. R.G. f. Elſ. Lothr. vom 25. Juni 1873 §. 4 (R. G.Bl. S. 161).. Für die Beſteuerung des Weines ſind außerdem Maxi - malſätze für die Werth - und Gewichtsſteuer fixirt worden4)Zollvereinsvertrag a. a. O..

c) Das hiernach ſich ergebende Verbot der Beſteuerung trifft nicht blos die Erhebung einer Abgabe für Rechnung der Einzel - ſtaaten, ſondern auch für Rechnung von Kommunen und Korpo - rationen. Nur in Elſaß-Lothringen ſind die beſtehenden Beſtimmun - gen über das Octroi der Gemeinden in Geltung erhalten worden5)R.G. v. 25. Juni 1873 §. 5 (R. G.Bl. S. 162)..

d) Inſoweit hienach, ſei es für Rechnung der Einzelſtaaten, ſei es für Rechnung der Kommunen, Steuern erhoben werden dürfen, muß eine Gleichmäßigkeit der Behandlung in der Art ſtatt - finden, daß das Erzeugniß eines andern Bundesſtaates unter keinem Vorwande höher oder in einer läſtigeren Weiſe als das inländiſche oder als das Erzeugniß der übrigen Vereinsſtaaten beſteuert wer - den darf6)Vgl. hinſichtlich der Staatsſteuern Zollvereins-Vertrag Art. 5. II. §. 3. Daſſelbe gilt auch hinſichtlich der vom Auslande ein -3)Satz, daß ſie bei ihrer erſten Einlage (das iſt diejenige, welche dem direkten Bezuge aus dem Auslande oder dem Bezuge aus öffentlichen Niederlagen oder Privatlagern unmittelbar folgt), von jeder inneren Steuer befreit bleiben. Zollv. -Vertr. a. a. O.266§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.geführten Erzeugniſſe, inſofern dieſelben mit einer inneren Steuer Seitens der Einzelſtaaten überhaupt belegt werden dürfen1)Zollvereins-Vertr. Art. 5. I. Abſ. 1 a. E..

2. Durch das unter den vorſtehend bezeichneten Schranken fortbeſtehende Recht der Einzelſtaaten zur Erhebung von Verbrauchs - abgaben erleidet der Grundſatz der Verkehrsfreiheit innerhalb des Bundesgebietes Modifikationen.

a) Diejenigen Staaten, welche innere Steuern auf die Her - vorbringung oder Zubereitung eines Konſumtionsgegenſtandes ge - legt haben, können den geſetzlichen Betrag derſelben bei der Ein - fuhr des Gegenſtandes aus anderen Vereinsſtaaten voll erheben laſſen; ſogenannte Uebergangsſteuer2)Zollvereins-Vertr. Art. 5. II. §. 3 Ziff. d. Durch die Zuläſſigkeit der Uebergangsſteuer wird daher das im §. 8 des Zollgeſetzes vom 1. Juli 1869 kategoriſch ausgeſprochene Prinzip: Binnenzölle, ſowohl des Staats, als der Kommunen und Privaten, ſind unzuläſſig modifizirt.. Nur in denjenigen Staaten, welche zum Norddeutſchen Bunde gehört haben, darf von dem in den übrigen Vereinsſtaaten erzeugten Wein und Trauben - moſt eine Uebergangsabgabe nicht erhoben werden3)Zollvereins-Vertr. ebendaſ. Ziff. e. Die Beſtimmung iſt durch Art. 40 der R.V. in Geltung erhalten geblieben und begründet, wie Delbrück Art. 40 S. 32 mit Recht bemerkt, ein Sonderrecht der Süddeutſchen Staaten, das unter dem Schutze des Art. 78 der R.V. ſteht.. Entſpre - chende Beſtimmungen gelten hinſichtlich der Kommunalſteuern4)Zollvereins-Vertr. Art. 5. II. §. 7..

b) Andererſeits können diejenigen Staaten, welche eine innere Steuer auf einen Konſumtionsgegenſtand gelegt haben, dieſe Steuer bei der Ausfuhr des Gegenſtandes nach anderen Vereins - ſtaaten unerhoben laſſen oder den geſetzlichen Betrag derſelben ganz oder theilweiſe zurückerſtatten; jedoch in keinem Falle mehr als bei der Ausfuhr des nämlichen Erzeugniſſes nach dem Aus - lande gewährt wird und als die wirklich bezahlte Steuer beträgt und nicht früher, als bis der Eingang der beſteuerten Erzeugniſſe in dem angränzenden Bundesſtaate oder in dem Lande des Be - ſtimmungsortes nachgewieſen worden iſt5)Zollv. Vertr. Art. 5. II. §. 4 u. §. 7. Die Erſtattung der inneren Steuer von dem zur Eſſigbereitung verwendeten Branntwein war, abgeſehen.

6)und hinſichtlich der Kommunalſteuern ebendaſ. §. 7, woſelbſt zugleich die Con - ſequenzen dieſes Prinzips näher detaillirt ſind.

267§. 112. Die Einheit des Zollgebietes.

c) Ein Verzeichniß der hiernach zur Erhebung kommenden Uebergangsabgaben und der zu erſtattenden Ausfuhrvergütungen iſt von den betreffenden Einzelſtaaten dem Bundesrath einzureichen und bei jeder Veränderung der Beträge iſt hiermit der Nachweis zu verbinden, daß ſie den angegebenen Grundſätzen entſprechen1)Zollv. Vertr. a. a. O. §. 5. Verzeichniſſe ſiehe im R. G.Bl. 1877 S. 9 ff. 1880 S. 25. 189. 190. 1881 S. 116. 232.. Ueber eine Meinungsverſchiedenheit darüber, ob ein Abgabenſatz den Vorſchriften des Zollvereinsvertrages gemäß normirt iſt oder nicht, entſcheidet der Bundesrath auf Grund des Art. 7 Ziff. 3 der R.V.2)Delbrück a. a. O. S. 36. 37. Vgl. Bd. I. S. 255 ff..

d) Die Erhebung der inneren Steuern von den damit be - troffenen inländiſchen Gegenſtänden ſoll in der Regel in dem Lande des Beſtimmungsortes ſtattfinden; jedoch ſind beſondere Verein - barungen unter den betheiligten Staaten über einen anderen Mo - dus zugelaſſen3)Zollv. Vertr. a. a. O. §. 6 Abſ. 1.. Die zur Sicherung der Steuererhebung erfor - derlichen Anordnungen ſind vom Bundesrath zu beſchließen und in einer den Verkehr möglichſt wenig beſchränkenden Weiſe zu normiren4)Zollv. Vertr. a. a. O. §. 6 Abſ. 2. Die jetzt geltenden Beſtimmungen beruhen auf dem proviſoriſch vereinbarten Regulativ v. 8. Mai 1841; ſie ſind mit den ſpäteren Abänderungen zuſammengeſtellt als Anlage zu dem Elſ. Lothr. Geſetz v. 14. Dezemb. 1872 (Geſetzbl. f. Elſ. Lothr. 1872 S. 779 ff.). Vgl. ferner Centralbl. f. d. D. R. 1874 S. 127..

e) Die Erhebung von Durchfuhr-Abgaben iſt unbedingt und ausnahmslos den Einzelſtaaten unterſagt5)Zollv. Vertr. Art. 3 §. 1. Art. 5. II. §. 1. Zollgeſetz v. 1. Juli 1869 §. 6.; ebenſo die Erhebung von Ausgangsabgaben6)Zollv. Vertr. Art. 4 Abſ. 1..

3. Die Einzelſtaaten ſind nicht berechtigt, die Einfuhr von Waaren in ihr Gebiet zu verbieten oder durch läſtige Bedingungen irgend welcher Art zu erſchweren, und ebenſowenig ſind ſie befugt, Ausfuhrverbote zu erlaſſen, da ein ſolches Verbot ſowohl gegen Art. 33 Abſ. 1 als gegen Art. 35 der R.V. verſtoßen würde7)Die im Art. 4 Abſ. 2 bis 4 des Zollvereinsvertrages enthaltenen Be -. 5)von dem Falle der Ausfuhr des Eſſigs nach dem Auslande, im Zollv. Vertr. a. a. O. Ziff. d unterſagt; dieſe Beſtimmung iſt jedoch aufgehoben worden durch das R.G. v. 19. Juli 1879 §. 5 (R. G.Bl. S. 260).268§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.Reichsgeſetzlich ermächtigt und verpflichtet zur Anordnung geeigneter Verkehrsbeſchränkungen ſind die Verwaltungsbehörden der Einzel - ſtaaten aber zur Verhütung der Verbreitung oder Einſchleppung der Rinderpeſt und anderer übertragbarer Seuchen der Hausthiere1)R.G. v. 7. April 1869 §. 1. 2. 9. 10 (B. G.Bl. S. 105). R.G. v. 23. Juni 1880 (R. G.Bl. S. 153) §. 6 ff.. Auch zur Abwehr gefährlicher anſteckender Krankheiten für Menſchen dürfen die Einzelſtaaten die erforderlichen Maßregeln ergreifen, jedoch dürfen im Verhältniß von einem Staat zum andern keine hemmenderen Einrichtungen getroffen werden, als unter gleichen Umſtänden den inneren Verkehr des Staates treffen, welcher ſie anordnet2)Zollv. Vertr. Art. 4 Abſ. 5.. Daß im Falle von Epidemien außer den Regierungen der Einzelſtaaten auch der Bundesrath für den ganzen Umfang oder einen Theil des Bundesgebiets zur Anordnung vvn Be - ſchränkungen hinſichtlich des Waarenverkehrs berechtigt iſt, ergiebt ſich aus dem Zollgeſetz v. 1. Juli 1869 §. 2 in Verbin - dung mit §. 167 Abſ. 2 daſ. und Art. 7 Abſ. 2 der R.V.3)Hinſichtlich der Beſchränkung des Perſonen verkehrs und anderer Sicherheitsmaßregeln iſt dagegen der Bundesrath nicht zuſtändig, ſo lange nicht das Reichsgeſetz über die Medizinalpolizei erlaſſen iſt, wozu das Reich nach Art. 4 Ziff. 15 der R.V. kompetent iſt; denn Ausführungs beſtim - mungen können zu einem Geſetze, das noch gar nicht vorhanden iſt, nicht be - ſchloſſen werden..

§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung und - Einrichtungen.

I. Die Geſetzgebung.

I. Die Einheit der Geſetzgebung über das geſammte Zoll - weſen, ſowie über die Beſteuerung des im Bundesgebiete gewon - nenen Salzes und Tabaks, bereiteten Branntweins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländiſchen Erzeugniſſen dargeſtellten Zuckers und Syrups iſt dadurch in der vollſtändigſten Weiſe ge -7)ſtimmungen ſind nicht mehr anwendbar, was Seydel Comment. S. 166 mit Unrecht annimmt. Denn ſie regeln nur das Verhältniß zwiſchen dem Nord - deutſchen Bunde und den Süddeutſchen Staaten, dagegen laſſen ſie das Ver - hältniß des erſteren zu ſeinen Mitgliedern unberührt. Durch die Gründung des Reichs iſt dieſes internationale Verhältniß durch ein ſtaatsrechtliches er - ſetzt worden. Vgl. Bd. I. S. 195 und übereinſtimmend Delbrück a. a. O. S. 24.269§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.ſichert, daß die Kompetenz zur Geſetzgebung über die angeführten Angelegenheiten dem Reich ausſchließlich zuſteht. R.V. Art. 35 Abſ. 1. Den Einzelſtaaten iſt demnach hinſichtlich dieſer Gegenſtände die Befugniß zur Sanction von Rechtsregeln aller Art gänzlich entzogen; ſie dürfen nicht nur was ſich von ſelbſt verſteht keine Rechtsvorſchrift contra legem imperii erlaſſen, ſondern auch nicht praeter legem d. h. zur Ergänzung der Reichsgeſetze, und endlich auch nicht intra legem d. h. zur Ausführung der Reichs - geſetze, außer auf Grund einer beſonderen reichsgeſetzlichen Er - mächtigung. Dadurch, daß die geſetzliche Regelung einer Materie der Machtſphäre der Einzelſtaaten entzogen iſt, verlieren die letz - teren zugleich die rechtliche Fähigkeit, über dieſe Materie Staats - verträge mit fremden Staaten abzuſchließen1)Vgl. Bd. II. S. 194 ff..

Dieſe Grundſätze gelten auch von den Hanſeſtädten Bremen und Hamburg und den übrigen Zollexclaven; denn wenn auch in dieſen Gebieten die Erhebung der Reichs zölle unterbleibt, ſo iſt es doch den Staatsgewalten jener Gebiete nicht freigeſtellt, eine PartikularZollgeſetzgebung für dieſelben zu erlaſſen2)Vgl. meine Abhandl. in Hirth’s Annalen 1873 S. 449, insbeſondere auch über den eine Zeit lang von Hamburg erhobenen geringen Werthzoll..

II. Die ausſchließliche Geſetzgebungs-Kompetenz des Reiches umfaßt das geſammte Zollweſen, alſo nicht blos die Ent - ſcheidung darüber, welche Waaren einem Zoll unterworfen ſind nebſt dem Zolltarif, ſondern auch die Vorſchriften über Zoll - befreiungen, über die Erhebung des Zolles, über die Einrichtungen zur Beaufſichtigung der Erhebung, die zollpolizeilichen Beſtimmungen über die Waaren-Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr, über die Nieder - lagen unverzollter Waaren, über Verkehrs-Erleichterungen und Befreiungen u. ſ. w. Ferner die Regeln über die Organiſation der Zollbehörden und deren amtliche Befugniſſe, Strafbeſtimmungen für Kontrebande und Defraudation, Anordnungen hinſichtlich des Strafverfahrens, endlich über die Maßregeln, welche in den Zoll - ausſchlüſſen zur Sicherung der gemeinſamen Zollgrenze erforder - lich ſind.

Die Geſammtheit dieſer Materien iſt, abgeſehen von den hier in Betracht kommenden und noch in Geltung ſtehenden Beſtim -270§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.mungen des Zollvereins-Vertrages vom 8. Juli 1867, gegenwärtig geregelt in folgenden Geſetzen:

1. Das Zollgeſetz v. 1. Juli 18691)Bundes-Geſetzbl. 1869 S. 317 369. Denkſchrift zu dem Entw. des Geſetzes in den Aktenſtücken des Zollparlaments 1869 Nr. 4. Vgl. hierzu Hirth’s Annalen 1869 S. 511 ff. v. Aufſeß ebendaſ. 1880 S. 650.. Daſſelbe iſt eine umfaſſende Kodifikation des Zollverwaltungsrechts und des Zoll - ſtrafrechts, und iſt an die Stelle der im ehemaligen Zollverein im Jahre 1836 vereinbarten Satzungen, nämlich des Zollgeſetzes, der Zollordnung und der Grundſätze, betreffend das Zollſtraf - geſetz , getreten. Das Zollgeſetz iſt ſtreng genommen kein Reichs - geſetz. Es iſt im Zollverein nach Maßgabe des Vertrages vom 8. Juli 1867 vereinbart worden und demgemäß zur Entſtehung gekommen als ein gleichlautendes Geſetz der fünf zum Zollverein verbundenen Staaten d. h. des Norddeutſchen Bundes, Bayerns, Württemberg’s, Badens und Heſſen’s; bei der Gründung des deutſchen Reiches iſt es nicht unter den Geſetzen des Norddeutſchen Bundes, welche zu Reichsgeſetzen erklärt worden ſind, mit aufgeführt worden2)Vgl. Art. 80 der mit Baden und Heſſen vereinbarten Verfaſſung (B. G.Bl. 1870 S. 647). Bayer. Verfaſſungsvertrag III. §. 8 (R. G.Bl. 1871 S. 21). Reichsgeſ. v. 16. April 1871 §. 2 (R. G.Bl. S. 63). Vermuth - lich empfand man kein praktiſches Bedürfniß, ein Geſetz, welches im ganzen Reichsgebiet gleichmäßig in Geltung ſtand, als Reichsgeſetz einzuführen.; dem - nach iſt keine Veränderung hinſichtlich des Rechtsgrundes ſeiner Geltung eingetreten. Allein praktiſch iſt dies in Betreff der Geſetz - gebungs-Befugniß unerheblich; denn da den Einzelſtaaten die Be - fugniß zur Geſetzgebung in Zollſachen gänzlich entzogen iſt, ſo ſind ſie außer Stande, an dem Vereinszollgeſetz irgend eine Ver - änderung vorzunehmen, und es iſt mithin die gleichmäßige Geltung des Zollgeſetzes im Reichsgebiete ebenſo geſichert, als wäre es ausdrücklich zum Reichsgeſetz erklärt worden3)Dagegen kann der angeregte Punkt zu großen Schwierigkeiten bei der Interpretation derjenigen Geſetzesvorſchriften führen, welche ſich auf Reichs - geſetze beziehen. Es gilt dies beſonders von der Beſtimmung des Art. 5 des Einführungs-Geſetzes zur Strafproz. Ordn.: Die prozeßrechtlichen Vorſchriften der Reichsgeſetze werden durch die Strafprozeßordnung nicht berührt. Man wollte damit gerade auch gewiſſe Beſtimmungen der Zoll - und Steuergeſetze aus der Zeit des Zollvereins in Geltung erhalten und war ſich wol kaum be - wußt, daß dieſe Geſetze gar keine Reichsgeſetze ſind..

271§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.

In Elſaß-Lothringen iſt das Geſetz eingeführt worden durch das Geſ. v. 17. Juli 1871. Geſ. Bl. S. 37; hier hat es gemäß den Ausführungen Bd. II S. 135 ff. den Charakter des wirklichen Reichsgeſetzes.

2. Das Geſetz des Norddeutſchen Bundes, betreffend die Sicherung der Zollvereinsgrenze in den vom Zollgebiete aus - geſchloſſenen Hamburgiſchen Gebietstheilen, vom 1. Juli 18691)Bundesgeſetzbl. 1869 S. 370. Auch dieſes Geſetz iſt im Zollverein zu Stande gekommen.. Das Geſetz iſt in den vom Zollgebiete ausgeſchloſſenen Bremiſchen Gebietstheilen eingeführt worden durch das Reichsgeſetz v. 28. Juni 1879. (R. G.Bl. S. 159.)

3. Das Reichsgeſetz, betreffend den Zolltarif des deut - ſchen Zollgebietes vom 15. Juli 18792)R. G.Bl. 1879 S. 207. Abgeändert durch Reichsgeſ. v. 6. Juni 1880 (R. G.Bl. S. 120) hinſichtlich des Flachszolles; ferner durch die Reichsgeſetze vom 19. und 21. Juni 1881 (R. G.Bl. S. 119. 121).. Gemäß § 6 dieſes Geſetzes können Waaren, welche aus Staaten kommen, welche deutſche Schiffe oder Waaren deutſcher Herkunft ungünſtiger behandeln, als diejenigen anderer Staaten, ſoweit nicht Vertragsbeſtimmungen entgegenſtehen, mit einem Zuſchlage bis zu 50 Prozent des Betrages der tarifmäßigen Eingangsabgabe belegt werden . (Sogen. Retorſionszoll.) Die Erhebung eines ſolchen Zuſchlages wird nach erfolgter Zuſtimmung des Bundesraths durch kaiſerliche Ver - ordnung angeordnet; die Verordnung iſt aber dem Reichstag ſofort, oder wenn derſelbe nicht verſammelt iſt, bei ſeinem nächſten Zuſammentritte mitzutheilen und ſie iſt außer Kraft zu ſetzen, wenn der Reichstag die Zuſtimmung nicht ertheilt3)Nach dem Wortlaut des Geſetzes verliert die Verordnung durch die Verſagung der Genehmigung nicht ipso jure ihre Geltung, ſondern ſie iſt außer Kraft zu ſetzen , wozu eine Kaiſerl. Verordnung erforderlich iſt. Dies iſt eine Abweichung von dem ſonſt in der Reichsgeſetzgebung verfolgten Prinzip. Vgl. Bd. I. S. 514. Bd. II. S. 76 fg. u. S. 149..

4. Hinſichtlich der Zoll - und Steuervergehen kommen neben den beſondern Vorſchriften der Zoll - und Steuergeſetze4)Vgl. insbeſondere das Zollgeſetz v. 1869 §§. 134 165 und Einf. Geſ. zum Strafgeſetzb. §. 2. die all - gemeinen Regeln des Strafgeſetzbuchs und hinſichtlich des272§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.gerichtlichen Strafverfahrens die Anordnungen der Strafprozeß - Ordnung § 459 ff. zur Anwendung.

5. Das Zollkartel vom 11. Mai 1833 iſt im Zollvereins - vertrag Art. 3 § 7 in Geltung erhalten worden. Durch die Straf - prozeß-Ordnung und das Gerichtsverf. -Geſetz hat es zwar dieſelbe hinſichtlich der gerichtlichen Strafverfolgung und der Rechtshülfe eingebüßt1)Mit alleiniger Ausnahme des Verhältniſſes zwiſchen den zum Reich gehörenden Staaten und Luxemburg.; dagegen hat es noch jetzt Wirkſamkeit hinſichtlich derjenigen Anordnungen, welche außerhalb des Kreiſes der Juſtiz - geſetze liegen2)Delbrück S. 22. Mit Oeſterreich-Ungarn iſt bei Gelegenheit des Handelsvertrages v. 23. Mai 1881 ein beſonderes Zollkartell vereinbart wor - den. R. G.Bl. 1881 S. 133..

III. Die Geſetzgebung über die im Art. 35 der R.V. erwähnten Verbrauchs-Abgaben iſt zur Zeit folgende:

1. Die Salzſteuer iſt reichsgeſetzlich noch nicht geregelt; die Erhebung derſelben beruht im ganzen Reichsgebiet auf der unter den Staaten des Zollvereins geſchloſſenen Uebereinkunft vom 8. Mai 1867 und den auf Grund derſelben erlaſſenen überein - ſtimmenden (Partikular -) Geſetzen3)Im Nordd. Bunde das Geſetz vom 12. Oktober 1867 (Bundes - Geſetzbl. 1867 S. 41 ff. S. 49 ff. ); in Baden Geſ. v. 25. Okt. 1867; in Heſſen Geſ. v. 9. Nov. 1867; in Bayern Geſ. v. 16. Nov. 1867; in Württemberg Geſ. v. 25. Nov. 1867; in Elſaß-Lothringen Geſ. v. 17. Juli 1871 Art. 1.. Von den letzteren gilt ganz daſſelbe, was vom Vereinszollgeſetz oben dargethan worden iſt; obwohl die Salzſteuer-Geſetze keine Reichsgeſetze ſind, iſt dennoch den Einzelſtaaten die Befugniß entzogen, an dieſen Geſetzen irgend eine Aenderung vorzunehmen, ſo daß ſie ihrer Wirkung nach den Reichsgeſetzen gleich ſtehen4)Vgl. meine Abhandlung in Hirth’s Annalen 1873 S. 451.. Die Abgabe von dem im Inlande gewonnenen Salze beträgt 6 Mark für den Zentner Nettogewicht5)Für das vom Auslande eingeführte Salz beträgt der Zoll nach dem Tarif vom 15. Juli 1879 Nro. 25 lit. t 6 Mark 40 Pf. für den Zentner; wenn es ſeewärts eingeführt wird, 6 Mark. und iſt von den Produzenten oder Steinſalz-Berg - werksbeſitzern zu entrichten. Befreit von dieſer Abgabe iſt das Salz, welches zu einem der in § 20 des Geſ. v. 12. Okt. 1867 aufgeführten Zwecke verabfolgt wird; abgabenfreie Verabfolgung273§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.iſt von der Beobachtung der von der Steuerverwaltung angeord - neten Kontrolemaßregeln abhängig und die Einzelſtaaten ſind ermächtigt, zur Beſtreitung der durch die Kontrole erwachſenden Koſten vom abgabenfreien Salz eine Kontrolgebühr bis zu 20 Pf. vom Zentner von den Salzempfängern zu erheben.

2. Die Zuckerſteuer1)Vgl. v. Aufſeß a. a. O. S. 682 ff. iſt ebenfalls noch nicht durch ein Reichsgeſetz normirt; es gilt im ganzen Zollgebiet zur Zeit das im Zollverein promulgirte Geſetz v. 26. Juni 18692)B. G.Bl. 1869 S. 282 fg., welches außer der Steuer vom inländiſchen Rübenzucker auch den Eingangszoll vom ausländiſchen Zucker und Syrup und die Ausfuhr-Vergütung für inländiſchen Zucker feſtſetzt. Die Abgabe vom inländiſchen Zucker wird von den zur Zuckerbereitung beſtimmten rohen Rüben erhoben und beträgt 80 Pf. vom Zollzentner. Durch den Zoll - vereinsvertrag v. 8. Juli 1867 Art. 3 § 7 iſt überdies die Ueber - einkunft wegen Beſteuerung des Rübenzuckers vom 16. Mai 1865 in Kraft erhalten worden und dieſe erhält wieder im Art. 1 drei frühere, die Zuckerbeſteuerung betreffende Verein - barungen aufrecht. In dem hierzu gehörenden Separat-Artikel I. iſt feſtgeſtellt, daß das Geſetz, die Beſteuerung des im Inlande erzeugten Rübenzuckers betreffend, nebſt der zu deſſen Ausführung erlaſſenen Inſtruction für die Steuerbehörden, mit den darauf bezüglichen Verabredungen unter den Vereins-Regierungen, auch ferner in Kraft bleibt . Dieſes Geſetz iſt auf der Generalkonferenz des Jahres 1845 vereinbart worden, normirt die allgemeinen Beſtimmungen und Vorſchriften über die Erhebung und Kontro - lirung der Steuer, ſowie die Strafen wegen Zuwiderhandlungen und das Verfahren, und iſt in den einzelnen, an der Vereinbarung betheiligten Staaten als Landesgeſetz eingeführt worden; in Preußen als Verordnung vom 7. Auguſt 1846. (Preuß. Geſ. S. 1846 S. 335)3)Vgl. Delbrück a. a. O. S. 19. v. Aufſeß S. 683 fg.. Durch das im Zollverein vereinbarte Geſetz vom 2. Mai 1870 (B. G.Bl. 1870 S. 311) iſt § 13 dieſer Verord - nung aufgehoben und zugleich beſtimmt worden, daß in denjenigen Theilen des Zollvereinsgebiets, in welchen die erwähnte Verord - nung noch nicht in Wirkſamkeit iſt, dieſelbe vom 1. Sept. 1870 an in Kraft tritt. Mit dieſer Modifikation hat demnach dieſeLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 18274§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.Verordnung die Kraft des Nordd. Bundesgeſetzes reſp. in den ſüddeutſchen Staaten des Landesgeſetzes erhalten, kann aber nur durch Reichsgeſetz abgeändert werden. In Elſaß-Lothringen iſt das Geſ. v. 26. Juni 1869 eingeführt worden durch das Reichs - geſetz v. 17. Juli 1871. Art. 1 (Geſetzbl. f. Elſ. -L. S. 37); da - gegen iſt die im Geſ. v. 2. Mai 1870 erwähnte Verordnung in Elſaß-Lothringen nicht eingeführt worden.

3. Die Tabakſteuer1)Vgl. v. Aufſeß a. a. O. S. 689 ff. iſt gegenwärtig geregelt durch das Reichsgeſetz v. 16. Juli 1879 (R. G.Bl. S. 245)2)Zur Ausführung dieſes Geſetzes hat der Bundesrath Vorſchriften er - laſſen, welche unter dem 25. März 1880 im Centralbl. f. d. D. R. S. 153 ff. bekannt gemacht geworden ſind. Vgl. ferner die Dienſtvorſchriften betreffend die Beſteuerung des Tabaks vom 29. Mai 1880 (ebenda S. 327 ff.).. Dieſelbe iſt für den inländiſchen Tabak der Regel nach eine Gewichtsſteuer und beträgt vom Jahr 1882 an für 100 Kilogramm nach Maßgabe des Gewichts des Tabaks in fermentirtem oder getrocknetem fabrikationsreifem Zuſtande 45 Mark3)R.G. v. 16. Juli 1879 §. 2.; für Tabakpflanzungen auf Grundſtücken von weniger als 4 Ar Flächeninhalt tritt eine Beſteuerung nach Maßgabe des Flächenraums ein und die Steuer beträgt vom Jahre 1882 ab für ein Quadratmeter der mit Tabak bepflanzten Grundfläche jährlich 4,5 Pfennige4)a. a. O. §. 23. Der Eingangszoll beträgt von je 100 Kilogramm vom Rohtabak 85 M., von Cigarren und Cigarretten 270 M., von anderen Tabaks - fabrikaten 180 M. a. a. O. §. 1. Ueber die Höhe der Ausfuhr-Vergütung vgl. ebendaſ. §. 30. 31. Ueber die Verwendung von Surrogaten und deren Beſteuerung vgl. den Bundesraths-Beſchluß v. 27. November 1879 (Centralbl. des D. R. S. 753 ff.)..

4. Die Branntweinſteuer5)Vgl. Thudichum Verfaſſungsrecht des Nordd. Bundes S. 504 ff. v. Aufſeß a. a. O. S. 715 ff. Delbrück a. a. O. S. 92 fg.. Nach der R.V. Art. 35 Abſ. 2 iſt in Bayern, Württemberg und Baden die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins der Landesgeſetzgebung vor - behalten; und es iſt nur hinſichtlich der Ausübung dieſes Hoheits - rechts beſtimmt worden: die Bundesſtaaten werden ihr Beſtreben darauf richten eine Uebereinſtimmung der Geſetzgebung über die Beſteuerung auch dieſer Gegenſtände herbeizuführen . Die ſüd - deutſchen Staaten ſind daher verpflichtet, jede ſolche Veränderung ihrer Branntweinſteuer-Geſetzgebung zu unterlaſſen, durch welche275§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.die Verſchiedenheit von dem Norddeutſchen Prinzip noch mehr vergrößert oder überhaupt die Herſtellung der Uebereinſtimmung erſchwert werden würde. Die Geſetzgebungskompetenz des Reiches erſtreckt ſich hienach nur auf die Gebiete des ehemal. Norddeutſchen Bundes, Südheſſen und Elſaß-Lothringen. Ein einheitlicher Geſetz - gebungsakt für dieſe Gebiete fehlt; die Beſteuerung der Brannt - wein-Bereitung und die Herſtellung der Steuer-Gemeinſchaft beruht vielmehr noch jetzt auf folgenden Geſetzen:

a) Nachdem durch Staatsverträge vom Jahre 1833 zwiſchen Preußen, Sachſen und dem Thüringiſchen Zoll - und Handels - verein eine gleiche Beſteuerung der Branntweinfabrikation nach den Preußiſchen Geſetzen, Gemeinſchaftlichkeit des Steuerertrages und freier Verkehr mit Branntwein zwiſchen dieſen Gebieten ein - geführt und dadurch der Grund zur Branntweinſteuer-Gemeinſchaft gelegt worden war, traten ſpäter das Herzogthum Braunſchweig, das Fürſtenthum Lippe, das Königreich Hannover und das Groß - herzogthum Oldenburg derſelben bei. Eine neue Feſtſetzung erfuhr dieſes Verhältniß durch den Vertrag zwiſchen Preußen, Sachſen, den zum Thüringiſchen Zoll - und Handelsverein verbundenen Staaten und Braunſchweig über die gleiche Beſteuerung innerer Erzeugniſſe vom 28. Juni 1864. Derſelbe beſtimmt im Art. 1:

Die in Preußen geſetzlich beſtehende Beſteuerung der Branntwein-Fabrikation wird in Sachſen, im Thüringiſchen Zoll - und Handelsverein und in Braunſchweig auch ferner zur Anwendung kommen. Durch die Beſteuerung der Braunt - wein-Fabrikation ſoll ein Steuerbetrag von 19 / 16 Groſchen für das Preußiſche Quart Branntwein von 50 Prozent Al - koholſtärke nach Tralles geſichert bleiben .

Oldenburg iſt dieſem Vertrage durch einen mit Preußen ge - ſchloſſenen unkündbaren Staatsvertrag vom 27 / 30. April 1867 bei - getreten1)Preuß. Geſ. -Sammlung 1867 S. 881. und in den von Preußen neu erworbenen Provinzen (mit Ausnahme der Zollexclaven) iſt die in den alten Landes - theilen geſetzlich beſtehende Branntweinbeſteuerung durch die Ver - ordnung vom 11. Mai 1867 eingeführt worden2)Preuß. Geſ. S. 1867. S. 633.. Außerdem waren der Preußiſchen Verwaltung hinſichtlich dieſer Steuer Ge -18 *276§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.biete oder Gebietstheile einiger kleiner Staaten angeſchloſſen. Wegen ihrer geographiſchen Lage blieben das Großherz. ſächſ. Vorder - gericht Oſtheim und das Sachſen-Kob. -Gotha’ſche Amt Königs - berg außerhalb der Branntweinſteuer-Gemeinſchaft.

In dieſem, aus den vorſtehenden Angaben erſichtlichen Ge - biete beſtand bereits vor Entſtehung des Nordd. Bundes (1. Juli 1867) auf Grund von Verträgen und Landesgeſetzen Gleichheit und Gemeinſchaftlichkeit der Branntweinbeſteuerung. Verfaſſungs - mäßig wurde dieſelbe beſtätigt durch Art. 40 der Verf. des Nordd. Bundes: Die Beſtimmungen ..... in dem Vertrage über die gleiche Beſteuerung innerer Erzeugniſſe vom 28. Juni 1864 ..... bleiben zwiſchen den bei dieſen Verträgen betheiligten Bundes - ſtaaten in Kraft, ſoweit ſie nicht durch die Vorſchriften der gegenwärtigen Verfaſſung abgeändert werden . Hierdurch ſind die materiell gemeinſamen Landesgeſetze der erwähnten Staaten in ein formell gemeinverbindliches Bundes geſetz ver - wandelt worden1)Eine Ergänzung hat dieſe Geſetzgebung erfahren durch das Bundes - geſetz v. 8. Juli 1868 betreffend die ſubſidiäre Haftung des Brennerei-Unter - nehmers für Zuwiderhandlungen gegen die Branntweinſteuergeſetze durch Ver - walter, Gewerbsgehülfen und Hausgenoſſen. B. G.Bl. 1868. S. 404 ff..

b. Das Geſetz des Norddeutſchen Bundes vom 8. Juli 18682)Bundes-Geſetzbl. 1868 S. 384 ff. Hierzu Verordn. v. 29. Juli 1868. (S. 465); V. v. 19. Okt. 1868 (S. 513) V. v. 5. Juni 1869 (S. 241); V. v. 29. Dez. 1871 (S. 483). hat die in Preußen und in den am Vertrage vom 28. Juni 1864 betheiligten Staaten geltenden Vorſchriften über die Beſteuerung des Branntweins eingeführt in dem zum Nordd. Bunde gehörenden Theil des Großherz. Heſſen, in den Großherzogthümern Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, im Herzogthum Lauenburg, in der Hanſeſtadt Lübeck und deren Gebiet und in den in die Zolllinie des Zollvereins gezogenen und noch zu ziehenden Preußiſchen und Hamburgiſchen Gebietstheilen3)Durch das Reichsgeſ. v. 16. Nov. 1874 (R. G.Bl. S. 134) iſt dieſer Grundſatz ausgedehnt worden auf alle Zollexclaven, welche in die gemeinſchaftl. Zollgrenze eingeſchloſſen werden, ſofern nicht daſelbſt die Branntweinbeſteuerung verfaſſungsmäßig der Landesgeſetzgebung vorbehalten iſt. (Baden.).

c. Durch Vertrag zwiſchen dem Nordd. Bunde und Heſſen277§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.vom 9. April 18681)Bundes-Geſetzbl. 1868 S. 466 fg. iſt dieſelbe Branntweinſteuer-Geſetzgebung uebſt Gemeinſchaft des Ertrages und Freiheit des Verkehrs auch für Südheſſen zur Geltung gebracht worden. Für Südheſſen beruht demnach die Beſteuerung des Branntweins auf Landes - geſetz, das aber in Folge des Art. 35 der R.V. nur im Wege der Reichsgeſetzgebung abgeändert werden kann.

d. Durch Reichsgeſetz v. 16. Mai 1873 iſt die Wirk - ſamkeit des Reichsgeſetzes (! sic) vom 8. Juli 1868 auf Elſaß - Lothringen ausgedehnt worden2)R. G.Bl. 1873 S. 111. Geſetzbl. f. Elſ. Lothr. 1873 S. 67..

e. Für die Hohenzollern’ſchen Lande iſt durch Geſetz des Norddeutſchen Bundes v. 4. Mai 1868 die Branntweinbeſteuerung in einer, von der im übrigen Gebiet der Branntweinſteuer-Gemein - ſchaft geltenden Geſetzgebung ſehr verſchiedenen Weiſe beſonders normirt worden3)B. G.Bl. 1868 S. 151..

f. Endlich iſt durch das Reichsgeſetz v. 19. Juli 18794)R. G.Bl. 1879 S. 259. der Bundesrath ermächtigt worden, für Branntwein, welcher inner - halb des Gebietes der Branntweinſteuer-Gemeinſchaft zu gewerb - lichen Zwecken, einſchließlich der Eſſigbereitung, verwendet wird, unter den von ihm vorzuſchreibenden Bedingungen und Kontrolen die Branntweinſteuer nach demjenigen Satze zu vergüten, welcher bei der Ausfuhr von Branntwein vergütet wird5)Auf Grund dieſer Ermächtigung hat der Bundesrath das Regulativ v. 23. Dez. 1879 erlaſſen. Centralbl. 1879 S. 781 ff..

5. Die Bierſteuer6)Vgl. v. Aufſeß S. 704 ff.. Das Geſetzgebungsrecht des Reiches iſt verfaſſungsmäßig hinſichtlich des Bieres ganz ebenſo beſchränkt wie hinſichtlich des Branntweins d. h. in Bayern, Württem - berg und Baden ausgeſchloſſen7)R.V. Art. 35 Abſ. 2. Von dieſen 3 Staaten gilt auch das, was oben S. 274 hinſichtlich der Branntweinſteuer geſagt iſt.. Das Reich hat aber auch Elſaß-Lothringen außerhalb der Bierſteuergemeinſchaft ge - laſſen und die Beſteuerung des inländiſchen Bieres der inneren Geſetzgebung bis auf Weiteres vorbehalten8)R.G. v. 25. Juni 1873 § 4. R. G.Bl. S. 161.; es hat endlich das Großherzogl. ſächſ. Vordergericht Oſtheim und das Sachſen -278§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.Koburg-Gothaiſche Amt Königsberg mit Rückſicht auf die geographiſche Lage dieſer Bezirke von der reichsgeſetzlichen Bier - beſteuerung eximirt1)Dieſe Bezirke ſind nach Maßgabe beſonderer Staatsverträge dem Bayeriſchen Bierſteuer-Syſtem angeſchloſſen. Die betreffenden Verträge ſind citirt bei v. Aufſeß S. 704 Note 4 und S. 705 Note 11.. Für das hiernach übrig bleibende Gebiet des deutſchen Reiches, ſoweit daſſelbe innerhalb der Zoll - linie liegt, iſt die Beſteuerung der Bierbereitung geregelt durch das Reichsgeſetz vom 31. Mai 1872. R. G.Bl. S. 153 ff. Die Steuer iſt nach den verſchiedenen zur Bierbereitung zur Ver - wendung kommenden Stoffen abgeſtuft von 2 Mark bis 4 Mark für jeden Zentner2)Zugleich wurde der Bundesrath ermächtigt, die von Malzſurrogaten zu entrichtende Steuer von 4 Mark, vorbehaltlich der nachträglichen Geneh - migung des Reichstages, zu ermäßigen..

Die im §. 44 Abſ. 2 dieſes Geſetzes den Herzogthümern Sachſen-Meiningen und Sachſen-Koburg-Gotha, ſowie dem Fürſten - thum Reuß ä. L. ertheilte und wiederholt prolongirte Befugniß, für privative Rechnung einen höheren Steuerbetrag von Malz - ſchrot zu erheben, iſt am 31. März 1878 erloſchen3)Reichsgeſ. v. 23. Dezemb. 1876. R. G.Bl. S. 237..

II. Die Zoll - und Steuer-Verordnungen.

1. Eine wirkliche Einheit der Rechtsſätze und Gleichheit der Einrichtungen in Betreff der Zölle und Verbrauchsabgaben, wie ſie unerläßlich iſt um die Gemeinſchaft der Erträge und die Frei - heit des Verkehrs im Bundesgebiet herzuſtellen, hätte ſich nicht erreichen laſſen, wenn nur die Befugniß, Geſetze im formellen Sinn zu erlaſſen, den Einzelſtaaten entzogen und auf das Reich übertragen worden wäre. Der Art. 35 der R.V. würde einen ſchiefen und zugleich unzulänglichen Sinn erhalten, wenn man die Worte das Reich ausſchließlich hat die Geſetzgebung über das geſammte Zollweſen u. ſ. w. auf die Geſetzgebung im formellen Sinne bezöge. Denn entweder müßte dann das Reich ſämmt - liche, das Zoll - und Steuerweſen betreffenden Vorſchriften im Wege der Reichsgeſetzgebung erlaſſen, auch ſolche, die ihrem Weſen und Inhalt nach hierzu thatſächlich nicht geeignet ſind; oder es wäre die Gleichartigkeit der Zoll - und Steuer-Verwaltung gefährdet,279§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.indem die Staaten innerhalb des von der Reichsgeſetzgebung ge - ſteckten Rahmens im Wege der Verordnung die Grundſätze über Tarifirung, Klaſſifizirung, Veranlagung, Erhebung der Gefälle, Kontrolirung u. ſ. w. in verſchiedener Art und Richtung weiter ausbilden könnten. Indem der Art. 35 der R.V. dem Reich aus - ſchließlich die Geſetzgebung über das geſammte Zollweſen und die 5 Verbrauchsſteuern zuweiſt, will es vielmehr die Regelung dieſer Staatsthätigkeit der Kompetenz der Einzelſtaaten entziehen und dieſelbe der Centralgewalt übertragen, ohne Unterſchied ob dieſe Regelung in der Form der Geſetzgebung oder in der Form der Verordnung erfolgt1)Vgl. Bd. II S. 62 63..

Bei der Betrachtung des Zoll - und Steuerweſens zeigt ſich mit derſelben Deutlichkeit wie bei allen andern Verwaltungszweigen, daß die Unterſcheidung der Geſetzgebung und Verordnung im for - mellen Sinn ſachlich inhaltslos iſt. Denn einerſeits enthalten die Reichsgeſetze über das Zoll - und Steuerweſen eine große Maſſe von Vorſchriften, welche nicht die Rechtsſphäre der Individuen gegenüber der Staatsgewalt, reſp. der Einzelſtaaten gegen das Reich, abgrenzen, ſondern welche lediglich die Organiſation und Thätigkeit der Zoll - und Steuerbehörden normiren, welche alſo ihrem Inhalte nach Verwaltungsvorſchriften ſind2)Vgl. Bd. II S. 209 fg.; andererſeits begnügen ſich die Reichsgeſetze in ſehr zahlreichen Beziehungen damit, allgemeine Rechtsgrundſätze hinzuſtellen oder die Zuläſſig - keit gewiſſer Abweichungen von der Rechtsregel anzuerkennen, überlaſſen aber die Feſtſtellung der näheren Durchführung der Regel oder die Normirung der Vorausſetzungen und Bedingungen der zugelaſſenen Modifikationen, des Umfanges der letzteren u. ſ. w., alſo Vorſchriften von Rechts inhalt, dem Verordnungswege3)Vgl. Bd. II S. 68 und übereinſtimmend Hänel Studien II S. 72.. Die Behauptung, daß die Rechtsſätze über das Zoll - und Steuerweſen in den Zoll - und Steuer geſetzen, die Verwal - tungsregeln über dieſelben Materien in den Zoll - und Steuer - Verordnungen enthalten ſeien, ſteht in offenkundigem Wider - ſpruch mit dem wirklichen Inhalt dieſer Geſetze und Verordnungen. Wer dieſe Geſetze und Verordnungen kennt, muß zugeben, daß280§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.ſowohl Rechtsregeln wie Verwaltungsregeln theils in der Form des Geſetzes, theils in der Form der Verordnung ſanctionirt worden ſind. Ein durchgreifendes und prinzipielles Merkmal, welche Regeln in der einen, und welche in der andern Form zu erlaſſen ſind, fehlt; nur im Allgemeinen ergiebt ſich aus der Natur der Sache, daß Vorſchriften von größerer Wichtigkeit, umfaſſenderer Geltung, dauernderer Bedeutung in den Geſetzen, geringfügigere, leichter wechſelnde oder ſpeziellere Anordnungen in den Verord - nungen enthalten ſind. Es wiederholt ſich bei dem Zoll - und Steuerweſen dieſelbe Erſcheinung, auf welche bereits bei der Dar - ſtellung des Poſt - und Telegraphenweſens und des Heer - und Marineweſens hingewieſen worden iſt.

2. Auch bei der Errichtung und Fortbildung des ehemaligen Zollvereins konnten ſich die deutſchen Staaten, wenn ſie die Zwecke dieſes Vereins wirklich erreichen wollten, nicht darauf beſchränken, Rechtsregeln über die Verpflichtung zur Zoll - und Steuer-Ent - richtung und über die hiermit zuſammenhängenden Materien zu vereinbaren, ſondern ſie mußten auch übereinſtimmende Verwaltungs - maßregeln treffen und ein gleichmäßiges Verfahren der Behörden und eine conforme Handhabung der Normen ſicherſtellen. Der Zollverein ſchuf daher von Anfang an für ſeine Mitglieder ſowohl gemeinſchaftliches öffentliches Recht als gemeinſchaftliche Ver - waltungsregeln. Zu einer formellen Unterſcheidung von geſetz - lichen und verordnungsmäßigen Vorſchriften war aber keine Ver - anlaſſung gegeben, da der Zollverein gemäß ſeiner juriſtiſchen Natur als eines völkerrechtlichen Verhältniſſes überhaupt nur eine einzige Rechtsform für ſeine Feſtſetzungen hatte, nämlich die des Staatsvertrages. Nur in wie weit die Durchführung der unter den Mitgliedern des Vereins getroffenen Vereinbarungen in den einzelnen Staaten der Genehmigung der Volksvertretungen be - durfte, beſtimmte ſich nach ihrem Inhalte und dem partikulären Verfaſſungsrecht; für das gegenſeitige Verhältniß der Staaten zu einander hatten alle Vereinbarungen dieſelbe formelle Rechts - kraft1)Siehe oben S. 244 ff.. Dagegen machte ſich in anderer Beziehung eine Ver - ſchiedenheit der Verabredungen geltend. Die wichtigeren, grund - legenden, auf die Dauer berechneten, für die Errichtung, Fort -281§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.bildung oder Erweiterung des Vereins weſentlichen nahm man in die formellen Verträge auf; die Spezial-Vorſchriften oder Abreden von untergeordneter oder vorübergehender Wichtigkeit formulirte man in Protokollen oder wies ſie beſonderen Verhandlungen zu. Auch bedurfte man einer Einrichtung, um während der in den Ver - trägen vereinbarten Perioden, für welche der Verein geſchloſſen war, Verſtändigungen unter den Mitgliedern über die Abſtellung von Mängeln, die ſich heraus geſtellt hatten, oder über die Erledigung von Detailfragen zu ermöglichen; insbeſondere auch um Meinungs - Verſchiedenheiten unter den Regierungen über die Auslegung und Handhabung der Vereinsabreden auszugleichen. Dieſem Zwecke dienten die regelmäßig abgehaltenen General-Konferenzen der Zollvereinsſtaaten, deren Beſchlüſſe rechtlich ebenfalls den Charakter vertragsmäßiger Vereinbarungen hatten1)Vgl. Bd. I S. 257.. Durch die Gründung des Nordd. Bundes und die Erweiterung des letzteren zum Reich trat an die Stelle der völkerrechtlichen Conferenz das ſtaatliche Organ und man kann daher mit Recht in Bezug auf die ſachliche Kompetenz den Bundesrath als den Nachfolger der Zollvereins-Konferenzen bezeichnen. In der Verfaſſung des Nordd. Bundes wurden die Befugniſſe des Bundesrathes im Art. 37 in dem das Zoll - und Handelsweſen betreffenden Abſchnitt und nur in Beziehung auf dieſes normirt und es iſt unbeſtritten, daß die Tendenz dieſes Artikels darauf gerichtet war, dem Bundesrath alle Funktionen zu übertragen, welche von der General-Zollconferenz ausgeübt worden waren. An die Stelle der völkerrechtlichen Form traten aber die ſtaatsrechtlichen Formen und demgemäß unterſchied der Art. 37 unter Ziff. 1 und 2 die Geſetzgebung mit Einſchluß der Staatsverträge mit auswärtigen Staaten und die Verord - nungen. In der Reichsverfaſſung iſt dieſe Unterſcheidung beibe - halten, jedoch auf alle zur Kompetenz des Reiches gehörenden Angelegenheiten erweitert und daher in den vom Bundesrath handelnden Abſchnitt als Art. 7 geſtellt worden.

Allein die Faſſung der Norddeutſchen Bundesverfaſſung und ebenſo diejenige der Reichsverfaſſung giebt dem erwähnten Ge - danken nicht den vollen Ausdruck. Der gemeinſchaftlichen Geſetz - gebung werden gegenüber geſtellt: die zur Ausführung der Reichs -282§. 113. Die Einheit der Zoll - und Steuer-Geſetzgebung ꝛc.geſetze erforderlichen Verwaltungsvorſchriften und Einrich - tungen . Es bleibt demnach eine Lücke; es fehlt die verfaſſungs - mäßige Ermächtigung des Bundesrathes zur Beſchlußfaſſung über die zur Ausführung der Reichsgeſetze erforderlichen Rechtsvor - ſchriften1)Vgl. Bd. II S. 72. 233.. Die landläufige Verwechslung des formellen Be - griffes Verordnung mit dem materiellen Begriff Verwaltungs - vorſchrift , die dadurch verſchuldet iſt, daß beide ſcheinbar den - ſelben Gegenſatz haben, nämlich das Geſetz freilich in zwei ganz verſchiedenen Bedeutungen dieſes Wortes ſowie der Doppel - ſinn, welcher in dem Ausdruck Ausführung eines Geſetzes ver - borgen iſt (ſiehe Bd. II S. 70), haben bei der Abfaſſung der Nordd. Bundesverf., ſowie der Reichsverfaſſung die erwähnte Lücke verdeckt.

Allein ſie iſt in anderer Weiſe ausgefüllt worden, ſo daß ſie ſich thatſächlich nicht fühlbar macht. Sämmtliche Zoll - und Steuergeſetze des Norddeutſchen Bundes und Reiches enthalten nämlich zahlreiche und umfaſſende Delegationen für den Bundesrath, durch welche demſelben theils im Allgemeinen der Erlaß der Ausführungsbeſtimmungen theils für beſondere Gegen - ſtände die Abfaſſung von Regulativen übertragen wird. Auf Grund derſelben hat der Bundesrath eine große Maſſe von Re - gulativen beſchloſſen, welche ihrem Inhalte nach zum Theil wahre Spezialgeſetze ſind2)Vgl. meine Abhandlung in Hirth’s Annalen S. 478, Hänel Studien II. S. 85 und die ausführlichen Nachweiſungen bei v. Aufſeß a. a. O. S. 650 ff. Die ungenügende Art der Verkündigung geſetzvertretender Bundesrathsverordnungen wird von Hänel a. a. O. S. 88 ff. nachdrücklich gerügt. Vgl. oben Bd. II. S. 91..

Sollte ſich aber das Bedürfniß herausſtellen, Vorſchriften von rechtlichem Inhalte (Rechtsſätze) hinſichtlich einer der im Art. 35 aufgeführten Angelegenheit zu erlaſſen, ohne daß durch ein Reichsgeſetz eine Ermächtigung hierzu dem Bundesrath oder einem andern Organ des Reiches ertheilt worden iſt, ſo läßt die Reichsverfaſſung hierfür keinen andern Weg zu, als den der Reichs - geſetzgebung. Den Einzelſtaaten iſt die Befugniß hierzu durch Art. 35 der R.V. ausdrücklich entzogen; der verfaſſungsmäßige283§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.Ausſchluß der Landesgeſetzgebung involvirt auch den Ausſchluß des Verordnungsweges.

3. Der Erlaß von Verwaltungsverordnungen iſt dem Bundesrath nicht im vollen Umfange übertragen; Art. 7 Ziff. 2 der R.V. ſpricht nur von den allgemeinen Verwaltungs - vorſchriften. Die Verwaltung ſelbſt iſt den Einzelſtaaten über - tragen und dieſe Selbſtverwaltung ſchließt auch ein jus statuendi ein. Die Verſchiedenheit der Behörden-Verfaſſung, der Gemeinde - Ordnungen, der Polizeigeſetze u. ſ. w. und ebenſo die Verſchieden - heiten der lokalen Verhältniſſe, Verkehrsbedürfniſſe und Lebens - gewohnheiten müſſen bei der Verwaltung der Zölle und Verbrauchs - abgaben in vielen Beziehungen berückſichtigt werden und daraus ergiebt ſich für die Verordnungsgewalt der Landesregierungen ein gewiſſer Spielraum. Nur ſoweit finanzielle, handelspolitiſche oder andere öffentliche Intereſſen eine Gleichmäßigkeit der Ver - waltung erfordern, iſt eine für ſämmtliche Bundesglieder gemein - ſame Inſtanz erforderlich nnd ſo wie die Vereinbarungen der ehe - maligen Generalzollconferenzen ſich auf Angelegenheiten dieſer Art beſchränkten, ſo hebt auch die Kompetenz des Bundesraths aus Art. 7 Ziff. 2 der R.V. keineswegs die Befugniß der Landes - regierungen und Landesbehörden auf, Verordnungen für die Ver - waltung behufs Ausführung der Reichsgeſetze und Bundesraths - beſchlüſſe zu erlaſſen. Der Rahmen, innerhalb deſſen ſich die Verwaltungs-Verordnungen der Einzelſtaaten halten müſſen, iſt aber nicht blos durch die Reichsgeſetze und Rechtsverordnungen des Reichs ſondern auch durch die Verwaltungsverordnungen deſſelben gezogen.

§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.

I. Die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchs - ſteuern (Art. 35) bleibt jedem Bundesſtaate, ſoweit derſelbe ſie bisher ausgeübt hat, innerhalb ſeines Gebietes überlaſſen . R.V. Art. 36 Abſ. 1. In dieſem Satz ſpricht die Reichsverfaſſung ein Grundprinzip aus, das in analoger Art auch bei den meiſten andern Verwaltungszweigen wiederkehrt. Dem Reiche iſt die Be - fugniß zugewieſen, die Verwaltung zu regeln und zu beauf - ſichtigen, die Einzelſtaaten ſind berechtigt, ſie zu führen. Das Reich iſt daher verfaſſungsmäßig in keinem Theile des Bundes -284§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.gebiets zur Erhebung der im Art. 35 der R.V. aufgeführten Ab - gaben befugt. Auch durch die Worte ſoweit derſelbe ſie bisher ausgeübt hat wird keine Kompetenz für das Reich reſervirt, ſondern die Fortgeltung derjenigen Beſchränkungen einzelner Bundes - ſtaaten und der dieſen entſprechenden Machterweiterungen anderer Bundesglieder anerkannt, welche durch die Zollvereinsverträge und durch die unter den Mitgliedern des Zollvereins abgeſchloſſenen Separatverträge begründet ſind. Die unter den Bundesſtaaten abgeſchloſſenen Zoll - und Steuerkonventionen ſind inner - halb der von der Verfaſſung aufgeſtellten Rechtsſchranken aufrecht erhalten und zugelaſſen, wie die Poſt -, Militair - und Gerichts - Konventionen1)Siehe Bd. II S. 289. Bd. III. 1. S. 26. Bd. III. 2. S. 45.. Unter den Zoll - und Steuerkonventionen ſind ganz ebenſo wie unter den Gerichtskonventionen zwei Arten zu unterſcheiden; entweder iſt durch dieſelben unter mehreren Staaten eine gemeinſchaftliche Zoll - und Steuer-Verwaltung errichtet worden, oder es iſt die Verwaltung eines Gebietes einem andern Staate übertragen worden. Das erſte iſt geſchehen durch den Vertrag wegen Errichtung des Thüringiſchen Zoll - und Handels - Vereins2)Der urſprüngliche Vertrag iſt vom 10. Mai 1833; die letzte Feſtſetzung vom 27. Juni 1864., das andere durch eine Anzahl von Verabredungen, durch welche einige kleinere Gebiete der Preußiſchen Zollverwaltung angeſchloſſen worden ſind3)Die Worte innerhalb ſeines Gebietes im Art. 36 Abſ. 1 ſind be - deutungslos und ſtreng genommen im Widerſpruch mit den vorhergehenden Worten ſoweit derſelbe ſie bisher ausgeübt hat , da die letzteren gerade den Fall betreffen, daß ein Bundesſtaat außerhalb ſeines Gebietes Verwaltungs - befugniſſe ausübt. Die Gebiete, in denen Preußen vertragsmäßig die Reichsſteuern erhebt, ſind einige mecklenburgiſche Ortſchaften, der größere Theil des Oldenburg. Fürſtenthums Lübeck, Gebietstheile von Hamburg und Bremen und die Fürſtenthümer Lippe, Waldeck und Pyrmont, und Schaumburg-Lippe. Vgl. Erläuterungen zum Reichs-Etat f. 1882 / 83. XIV S. 3..

Eine Modifikation des Prinzips, daß jedem Staat in ſeinem Gebiete die Verwaltung der Zölle und Steuern zuſteht, iſt ferner dadurch herbeigeführt worden, daß das Reichsgebiet mit dem Zoll - gebiet nicht zuſammenfällt, nämlich in den Hanſeſtädten. In den - ſelben ſind auf Grund von Uebereinkünften mit dieſen Städten durch Bundesrathsbeſchlüſſe Kaiſerliche Hauptzollämter285§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.eingerichtet worden, welche den zunächſtgelegenen Zolldirektionen dienſtlich unterſtellt worden ſind; das Hauptzollamt in Bremen der Provinzialſteuer-Direktion in Hannover, die in Lübeck und Hamburg der Provinzialſteuer-Direktion in Altona. Durch den mit Hamburg abgeſchloſſenen Vertrag v. 25. Mai 1881 über den Zollanſchluß iſt im Art. 3 ausbedungen, daß die geſammte Zoll - und Steuerverwaltung im Hamburgiſchen Staatsgebiet, mit Ausnahme der in Holſtein belegenen Enklaven und des Zollamts in Cuxhaven, von Hamburgiſchen Behörden und Beamten ausgeübt wird, und im Art. 9 iſt feſtgeſetzt worden, daß bis zum Eintritt Hamburgs in den deutſchen Zollverband, die Verwaltung des Hauptzollamtes auf Preußen übergeht, falls der Bundesrath die Aufhebung des gemeinſchaftlichen Hauptzollamtes als ſolchen beſchließen ſollte. In dem Entwurf des Etatsgeſetzes für 1882 / 83 iſt bemerkt, daß, ſoweit nicht die Kaiſerl. Hauptzollämter in den Hanſeſtädten in Folge des Einſchluſſes der letzteren in die Zoll - linie auf die Staaten, in welchen ſie bisher ihren Sitz haben, übergehen, ſie den Grundſätzen der Zollverträge entſprechend auf - zulöſen ſeien1)Anlage XIV zum Etatsgeſetz-Entw. 1882 / 83 S. 9.. Bisher iſt die Auflöſung indeß noch nicht erfolgt.

II. In Folge des im Art. 36 Abſ. 1 der R.V. ſanctionirten Prinzips iſt es jedem einzelnen Staate überlaſſen, die Behörden zu organiſiren, durch welche die Erhebung der Zölle und Abgaben, ſowie die Kontrole derſelben erfolgt. Die Bezeichnung und Zuſam - menſetzung dieſer Behörden, die Regelung ihrer Competenz und des Inſtanzenzugs, die Anzahl der zu errichtenden Aemter, die Ernennung und Entlaſſung der Beamten, die Normirung ihres Dienſteinkommens und die Handhabung der Disciplinargewalt ſteht im Princip den Einzelſtaaten zu. Aber die Ausübung dieſes Rechts iſt durch die Reichsgeſetzgebung geregelt und beſchränkt. Denn die gemeinſame Geſetzgebung ſetzt einen beſtimmten Ver - waltungsapparat behufs ihrer Durchführung voraus und die Ein - heit dieſer Geſetzgebung müßte ſich zum großen Theile als illuſoriſch erweiſen, wenn nicht auch die Gleichartigkeit der Verwaltung durch eine übereinſtimmende Einrichtung des dafür erforderlichen Appa - rates von Behörden geſichert wäre. Demgemäß iſt in dem Zoll - vereinsvertrage vom 8. Juli 1867 Art. 3 §. 6 beſtimmt286§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.worden, daß die Verwaltung der gemeinſamen Zölle und Abgaben und die Organiſation der dazu dienenden Behörden in allen Län - dern des Geſammtvereins unter Berückſichtigung der in denſelben beſtehenden eigenthümlichen Verhältniſſe auf gleichen Fuß gebracht werden ſoll. Insbeſondere iſt dann noch im Art. 16 Z. 4 des - ſelben Vertrages vereinbart worden, daß man auch ferner darauf bedacht ſein wird, durch Feſtſtellung allgemeiner Normen die Be - ſoldungsverhältniſſe der Beamten bei den Zoll-Erhebungs - und Aufſichtsbehörden, ingleichen bei den Zolldirektionen in möglichſte Uebereinſtimmung zu bringen1)Die Aufſtellung dieſer allgemeinen Normen iſt bisher noch nicht erfolgt.. Der Art. 19 ordnet an, daß die Beamten und Diener bei den Local - und Bezirksſtellen für die Erhebung und Aufſicht zwar von der Landesregierung ernannt werden, daß aber dieſe Behörden nach der hierüber getroffenen beſonderen Uebereinkunft 2)Vgl. Delbrück S. 81. nach gleichförmigen Beſtimmungen angeordnet, beſetzt und inſtruirt werden ſollen. Es iſt ferner durch denſelben Artikel die Bildung von drei Inſtanzen vorgeſchrieben, indem in jedem der Vereinsſtaaten die Local - und Bezirksbehörden einer, oder im Falle des Bedürfniſſes mehreren Zolldirectionen untergeben ſein ſollen, welche ihrerſeits wieder dem einſchlägigen Miniſterium des betreffenden Staates untergeordnet ſind3) In dem Thüringiſchen Vereinsgebiete vertritt der gemeinſchaftliche Generalinſpektor in den Berührungen mit dem Bundesrathe und mit den Zollbehörden der anderen (Vereins -) Staaten die Stelle einer Zolldirektion . Zollvereins-Vertr. Art. 19 Abſ. 4.. Die Amtsbefugniſſe und dienſtlichen Verrichtungen der Zoll-Erhebungs - und Abfertigungsſtellen, alſo der Hauptzollämter und Nebenzoll - ämter ſind durch das Zollgeſetz vom 1. Juli 1869, namentlich in den §§. 128 133 feſtgeſtellt. Ebenſo ergiebt ſich der Wirkungs - kreis der Zolldirectionen großen Theils aus den Beſtimmungen des Zollvereinsvertrages und des Zollgeſetzes; ſoweit dies nicht der Fall iſt, ſoll der Wirkungskreis der Directivbehörden durch eine von dem Bundesrathe feſtzuſtellende Inſtruction normirt werden, welche indeß zur Zeit noch nicht erlaſſen worden iſt.

Der Art. 40 der Reichsverfaſſung hat dieſe Beſtimmungen des Zollvereinsvertrages in Geltung erhalten; ihre Durchführung iſt daher nicht nur innerlich begründet und gewährleiſtet durch die287§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.Gleichartigkeit der dienſtlichen Verrichtungen, ſondern ſie iſt auch äußerlich durch Beſtimmung der Reichsverfaſſung zur Rechts - pflicht der einzelnen Staaten erklärt.

III. Das Reich hat für die laufende Zoll - und Steuerver - waltung keine oberſte Direktivbehörde. Es iſt nicht wie bei der Poſt - und Telegraphen-Verwaltung eine Linie gezogen, welche die untere von der oberen Verwaltung trennt und die letztere dem Reiche zuweist; es giebt keine Generalzoll - und Steuerdirection des Reiches als höchſte Inſtanz in allen der Reichsgeſetzgebung unterliegenden Zoll - und Steuerverwaltungsſachen. Das Finanz - miniſterium oder die demſelben entſprechende Behörde des einzelnen Staates iſt die oberſte Centralſtelle und die höchſte Inſtanz für die geſammte Zoll - und Steuerverwaltung in dem Gebiete dieſes Staates. Die Zoll - und Steuerämter und die Bezirks - oder Provinzialbehörden ſtehen daher in keinem directen amtlichen Schrift - wechſel und dienſtlichen Verkehr mit dem Reichskanzleramt oder dem Bundesrath, ſondern ausſchließlich mit der oberſten Landes - behörde für Zoll - und Steuerangelegenheiten. Sie empfangen Dienſtinſtructionen und Aufträge nur von der letzteren und haben nur an dieſe ihre amtlichen Berichte zu erſtatten. Die Mitglieder dieſer Behörden ſtehen in keinem Dienſtverhältniß zum Reich, ſie werden nicht aus der Reichskaſſe beſoldet, nicht für den Kaiſer und das Reich vereidigt und die geſetzlichen Beſtimmungen über die Reichsbeamten finden auf ſie keine Anwendung.

Der Antheil des Reiches bei der Verwaltung der Reichszölle und Abgaben iſt vielmehr nach einem durchaus andern Prinzip wie bei der Poſt - und Telegraphenverwaltung geordnet. Der Grund hiefür iſt ein hiſtoriſcher. Die Zoll - und Steuergemeinſchaft ſtammt aus einer Zeit, als die einzelnen Deutſchen Staaten noch völlig ſouverain waren, wo man alſo keine gemeinſame, nach Art eines Miniſteriums organiſirte, oberſte Verwaltungsbehörde con - ſtituiren konnte, ſondern wo man ſich darauf beſchränken mußte, jedem Vereinsmitgliede die Befugniß einzuräumen, die Verwaltung in den verbündeten Staaten durch Delegirte zu kontroliren1)Die Zollvereinskontrole war bereits durch die grundlegenden Verträge von 1833 im Weſentlichen ſo geordnet worden, wie ſie bis zur Reorganiſation des Zollvereins im Jahre 1867 fortdauerte; die ſpäteren Verträge, insbeſondere der vom 16. Mai 1865 Art. 31 und 32 und Schluß -. 288§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.Dieſes Prinzip iſt die Grundlage geblieben, auch nachdem der Zollverein den Charakter eines völkerrechtlichen Vertrages abgelegt hat und zur ſtaatlichen Inſtitution des Reiches geworden iſt; nur mit der Modification, daß nunmehr nicht jeder einzelne Staat dieſe Delegirten ernennt und in ſeinem Auftrage und Intereſſe zu den andern Staaten entſendet, ſondern daß das Reich im Geſammt - intereſſe dieſe Kontrolbeamten den Behörden der einzelnen Staaten zuweiſt. Es giebt demnach neben den ordentlichen, mit den eigent - lichen Verwaltungsgeſchäften betrauten Beamten, welche Landes - beamte ſind, eine Kategorie von Reichsbeamten, die man als außerordentliche Beamte der Zoll - und Steuerverwaltung bezeichnen kann. Sie zerfallen in zwei Klaſſen, je nachdem ſie den Zoll - oder Steuerämtern oder den Directivbehörden beigeordnet ſind; die erſteren heißen Kontroleure, die letzteren Reichsbevoll - mächtigte für Zölle und Steuern . Die Stationsbeamten oder Kontroleure ſind den Bevollmächtigten dienſtlich untergeordnet und empfangen von ihnen amtliche Aufträge.

Dieſe Reichskommiſſare haben nicht das Recht, Ver - fügungen zu erlaſſen1)Zollvereinsvertr. Art. 20 Abſ. 3.; ſie bilden keine Inſtanz in der ordent - lichen Zoll - und Steuerverwaltung, ſie haben keine Stimme bei der Beſchlußfaſſung der collegialiſch organiſirten Behörden; ſie ſind überhaupt nicht Mitglieder derſelben. Sie haben vielmehr die Stellung von Procuratoren des Reiches; ſie ſind Geſetzes - wächter und Vertreter der fiscaliſchen, handelspolitiſchen und volks - wirthſchaftlichen Intereſſen des Reiches gegenüber den Behörden der Einzelſtaaten. Ihre Funktionen beſtehen daher nicht in einem Antheil an der Erledigung der laufenden Verwaltungsgeſchäfte, ſondern in der vollſtändigen Kenntnißnahme von der Art und Weiſe, wie dieſelben erledigt werden, und in der Monirung von Fehlern und Mängeln, welche dabei zu Tage treten2)Zollvereinsvertr. Art. 20 Abſ. 4.. Zu dieſem1)protok. hierzu Ziff. 16, erhalten die älteren Vereinbarungen aufrecht. In dieſen Verabredungen war namentlich feſtgeſtellt, welche Staaten Zollvereins - bevollmächtigte ernennen können und zu welchen Zolldirectionen, und es war vereinbart, daß jeder dieſer Beamten als Kommiſſar ſämmtlicher Vereins - ſtaaten (mit Ausſchluß desjenigen, bei deſſen Behörde er accreditirt iſt), fungiren ſolle. Vgl. die näheren Angaben bei v. Aufſeß a. a. O. S. 797 fg.289§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.Zwecke haben ſie das Recht, nach Belieben Einſicht in alle Acten, Bücher, Rechnungen und Regiſter ſowohl der Directivbehörde, welcher ſie zugewieſen ſind, als aller zum Bezirk derſelben ge - hörenden Zoll - und Steuererhebungs-Behörden zu nehmen. Sie haben ferner das Recht, allen Sitzungen der Directivbehörde bei - zuwohnen, und alle Verfügungen und Anweiſungen, welche die Directivbehörde oder deren Vorſtand in Beziehung auf die Ver - waltung der gemeinſchaftlichen Abgaben an die ihr untergeord - neten Behörden ergehen läßt, müſſen vor der Ausfertigung dem Reichsbevollmächtigten, ſofern er am Orte anweſend iſt, zur Ein - ſicht im Concepte vorgelegt und dürfen nicht eher ausgefertigt werden, als nachdem er ſein Visa beigeſetzt hat. Sie ſind ferner befugt, den Grenz - und Reviſionsdienſt auf der Zolllinie, ſowie das Verfahren bei der Zoll - und Steuer-Erhebung in dem ihnen überwieſenen Gebiete zu viſitiren. Endlich haben ſie die Rech - nungen über die gemeinſchaftlichen Abgaben zu prüfen1)Schlußprotok. v. 8. Juli 1867 Nr. 15 Z. 2 (B. G.Bl. S. 110). Vgl. v. Aufſeß S. 803 ff..

Durch dieſe Anordnungen iſt die vollſtändige Kenntnißnahme der Bevollmächtigten von dem geſammten Geſchäftsgange der Zoll - und Steuerbehörden in dem ihnen überwieſenen Bezirke geſichert und die Einzelſtaaten führen die ihnen überlaſſene ſelbſtſtändige Zoll - und Steuerverwaltung gewiſſermaßen vor den Augen des Reiches. Dagegen iſt der Bevollmächtigte des Reiches nicht befugt, in die Verwaltung ſelbſt einzugreifen und bemerkten Mißſtänden und Mängeln ſelbſt abzuhelfen. Er darf ſein Visa nicht verweigern oder verzögern, ſelbſt wenn ihm die vorgelegte Verfügung den beſtehenden Geſetzen nicht entſprechend zu ſein ſcheint, ſondern er darf nur ſeine abweichende Anſicht motivirt auf dem Concepte vermerken und verlangen, daß die Directivbehörde wenigſtens gleichzeitig mit dem Erlaſſe der fraglichen Verfügung an das ihr vorgeſetzte Miniſterium Bericht erſtatte. Ebenſowenig darf er bei ſeinen Reviſionen der Grenzzoll - und Steuerämter Befehle an die Zoll - oder Steuerbeamten ertheilen oder Adminiſtrativ-Anord - nungen erlaſſen; er iſt vielmehr darauf beſchränkt, bei der be - treffenden Directivbehörde die ſchleunige Abſtellung der von ihm etwa entdeckten Mängel in Antrag zu bringen. Findet der Be -Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 19290§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.vollmächtigte bei der Prüfung der Rechnungen Unrichtigkeiten, ſo kann er Erinnerungen dagegen machen, ohne jedoch die Führung und Abnahme derſelben, ingleichen die Entſcheidung der Erinnerungen durch die dem Rechnungsführer vorgeſetzte Dienſtbehörde aufzu - halten.

Wenn der Bevollmächtigte zur Geltendmachung ſeiner ab - weichenden Anſicht in irgend einer Beziehung ſich veranlaßt ſieht, ſo hat dies regelmäßig zunächſt nicht die Einmiſchung des Reiches zur Folge, ſondern eine Ueberprüfung und Entſcheidung der ſtreitigen Frage Seitens der höchſten Verwaltungsſtelle des be - treffenden Staates. Denn die Organe des Reiches können nicht eingreifen, ſo lange innerhalb des Einzelſtaates der Inſtanzenzug nicht erſchöpft iſt. Die Intervention des Reichskommiſſars hat daher unmittelbar nur die Wirkung, daß die betreffende Angelegen - heit zur Kenntniß und Entſcheidung der vorgeſetzten Behörde ge - bracht wird. Erſt wenn die Entſcheidung ergangen iſt und dieſelbe dem Bevollmächtigten den Geſetzen oder dem Intereſſe des Reichs nicht entſprechend erſcheint oder wenn Seitens der oberſten Ver - waltungsbehörde für die von dem Bevollmächtigten bemerkten Uebelſtände nicht rechtzeitig Abhülfe getroffen wird, oder wenn mehrere betheiligte oberſte Behörden ſich untereinander nicht ver - ſtändigen können, hat der Bevollmächtigte die Angelegenheit bei dem Bundesrathe zur Anzeige zu bringen.

Eine auf dieſen Grundſätzen beruhende Inſtruction1)Dieſelbe iſt noch nicht erlaſſen; ſie wird aber thatſächlich erſetzt theils durch die Feſtſetzungen der Zollvereins-Verträge und die Beſchlüſſe der General - conferenzen theils durch die Beſchlüſſe des Bundesrathes. Eine überſichtliche Zuſammenſtellung derſelben giebt v. Aufſeß a. a. O. beſtimmt das Geſchäftsverhältniß der Bevollmächtigten und der den Haupt - ämtern beigeordneten Kontroleure.

Die erwähnten Beamten ſind unmittelbare Reichsbeamte, welche der Kaiſer, jedoch nach Vernehmung des Ausſchuſſes des Bundes - rathes für Zoll - und Steuerweſen, ernennt und den Zoll - oder Steuerämtern und den Directivbehörden der einzelnen Staaten beiordnet2)R.V. Art. 36 Abſ. 2. Ein Verzeichniß der Reichsbevollmächtigten und Stationskontroleure mit Angabe der Behörden, denen ſie beigegeben ſind, findet ſich bei v. Aufſeß S. 810 fg.. Die Gehälter und alle übrigen Koſten der Kontroleure291§. 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern.und Bevollmächtigten werden aus der Reichskaſſe beſtritten. Bis jetzt werden dieſe Reichsämter jedoch nur kommiſſariſch verwaltet, ſo daß die Beamten, welche ſie bekleiden, aus dem dienſtlichen Verhältniß in denjenigen Staaten, denen ſie angehören, nicht voll - ſtändig ausſcheiden1)Daß auch andere als preußiſche Beamte bei der Kontrole der Zölle und Abgaben verwendet werden, iſt im Schlußprotok. zum Zollvereins - Vertr. v. 8. Juli 1867 Nro. 15 Ziff. 1 zugeſichert worden. Dieſe Beſtimmung iſt in Geltung geblieben in der Geſtalt, daß der Kaiſer auch nichtpreußiſche Beamte zu Reichsbevollmächtigten und Stationskontroleuren unter Berückſich - tigung der Wünſche der betreffenden Regierungen ernennt..

Die von den Reichsbevollmächtigten über Mängel bei der Ausführung der gemeinſchaftlichen Geſetzgebung gemachten Anzeigen ſind dem Bundesrathe zur Beſchlußnahme vorzulegen2)R.V. Art. 36 Abſ. 3.. Ueber die rechtliche Natur und Bedeutung dieſer Beſchlüſſe und über das Verhältniß derſelben zu der dem Kaiſer verfaſſungsmäßig zuſtehen - den Ueberwachung der Einzelſtaaten vgl. die Erörterungen Bd. I. S. 255 ff.

IV. Da die Beſteuerung des inländiſchen Branntweins und Bieres in Bayern, Württemberg und Baden der Landesgeſetz - gebung vorbehalten iſt und der Ertrag dieſer Abgaben in die Landeskaſſe fließt, ſo fällt ſelbſtverſtändlich auch die Verwaltungs - kompetenz des Reiches hinſichtlich der Erhebung der Branntwein - und Brauſteuer in dieſen drei ſüddeutſchen Staaten gänzlich fort. Hinſichtlich der Brauſteuer gilt daſſelbe von Elſaß-Lothringen. Es ſteht demnach weder den Reichsbevollmächtigten und Reichs - kontroleuren in den Süddeutſchen Staaten irgend eine Wirkſamkeit in Bezug auf die Verwaltung der Getränkeſteuern zu (in Elſaß - Lothringen mit Ausnahme der Branntweinſteuer), noch hat der Kaiſer oder der Bundesrath ein Aufſichts - oder Verordnungsrecht. Entſprechend dieſer Sonderſtellung der drei Süddeutſchen Staaten iſt denſelben andrerſeits durch Art. 7 Abſ. 4 der R.V. das Stimm - recht bei allen Bundesrathsbeſchlüſſen, welche die Branntwein - und Bierbeſteuerung betreffen, entzogen, da dieſe Angelegenheiten unzweifelhaft zu denjenigen gehören, welche den Süddeutſchen Staaten weder mit dem übrigen Reiche noch untereinander gemein - ſchaftlich ſind. Es iſt für dieſen Zweig der Finanzverwaltung19*292§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.durch die Reichsverfaſſung derſelbe Zuſtand thatſächlich conſervirt worden, welcher durch den Zollvereinsvertrag von 1867 geſchaffen worden war; innerhalb des vollen Bundesrathes, der dem ehe - maligen Zollvereinsbundesrathe entſpricht, ſcheidet ſich für die Ange - legenheiten der Branntwein - und Bierbeſteuerung der ehemalige Bundesrath des Norddeutſchen Bundes, verſtärkt durch den Hinzu - tritt von Südheſſen, aus1)Daß Hamburg und Bremen an den Beſchlüſſen über die Beſteuerung von inländiſchem Branntwein und Bier Antheil haben, iſt zweifellos und ergiebt ſich daraus, daß dieſe Staaten und die übrigen Zollexclaven ein der Abgabe entſprechendes Averſum an die Reichskaſſe zahlen. Vgl. Thudichum in v. Holtzendorffs Jahrbuch für Geſetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutſchen Reichs I. S. 23.. Auch in dem Ausſchuß des Bundes - rathes für Zoll - und Steuerweſen können die Süddeutſchen Staaten keine Stimme bei Angelegenheiten führen, welche die Beſteuerung von inländiſchem Branntwein und Bier betreffen. Nach Außen hin aber iſt die Unterſcheidung zwiſchen Norddeutſchem Bundes - rath und Zollvereinsbundesrath gänzlich beſeitigt; auch wenn die von den Süddeutſchen Staaten ernannten Mitglieder nicht mit - geſtimmt haben, iſt es immer der Bundesrath des Deutſchen Reiches, welcher den Beſchluß gefaßt hat.

V. Im engſten Zuſammenhange mit dem Selbſtverwaltungs - recht der einzelnen Staaten ſteht die Jurisdiktion derſelben über Zoll - und Steuerkontraventionen2)Ueber die Möglichkeit, Streitfragen hinſichtlich der in die Reichskaſſe fließenden Abgaben zur Entſcheidung des Reichsgerichts zu bringen, ſiehe oben S. 63. und demgemäß hat jeder Staat in ſeinem Gebiete auch das Begnadigungs - und Strafverwand - lungsrecht; die Einzelſtaaten ſind aber verpflichtet, auf Verlangen periodiſche Ueberſichten der erfolgten Straferlaſſe dem Bundesrath mitzutheilen3)Zollv. V. v. 1867 Art. 18..

§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten und dem Reich.

I. Der Ertrag der Zölle und der im Art. 35 der R.V. auf - geführten Verbrauchsſteuern, ſoweit die letzteren der Reichsgeſetz - gebung unterliegen, fließt nach Art. 38 der R.V. in die Reichs -293§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.kaſſe4)Ueber die Bedeutung und über die Modifikationen dieſes Grundſatzes ſiehe unten §. 122.; die Einzelſtaaten führen daher die Verwaltung dieſer Abgaben für Rechnung des Reiches und ſowie der einzelne Staat die von ihm erhobenen Einnahmen an die Reichskaſſe abzuliefern (beziehentl. zu verrechnen) hat, ſo müßten ihm andererſeits nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen die auf die Erhebung und Ver - waltung verwendeten Koſten erſtattet werden. Nach dem gegen - wärtig geltenden Rechte iſt aber nur die Einnahmen-Gemeinſchaft, nicht die Koſten-Gemeinſchaft vollſtändig durchgeführt; es beſtehen auch in dieſer Hinſicht die Einrichtungen des Zollvereins im Weſent - lichen fort. Da der letztere eine Zoll - und Steuerſocietät ſouverainer Staaten war, ſo konnte der Etat für die Zoll - und Steuerver - waltung nicht für das ganze Zollgebiet einheitlich feſtgeſtellt wer - den, ſondern ſeine Aufſtellung war ebenſo wie die Organiſation der Behörden den einzelnen Vereinsmitgliedern überlaſſen. An - dererſeits konnte man auch nicht den Grundſatz durchführen, daß jeder Staat die von ihm nach eigenem Belieben aufgewendeten Koſten dem Verein in Rechnung ſtellen dürfe, weil die Verſchieden - heit der Behördenverfaſſung, der Beſoldungs - und Penſionsver - hältniſſe und der Verwaltungs-Einrichtungen der einzelnen Staaten eine zu große Ungleichheit der Liquidationen zur Folge gehabt hätte und weil die Gefahr hervorgerufen worden wäre, daß die einzelnen Staaten auf Koſten der Geſammtheit einen unnöthigen Beamten-Luxus trieben. Endlich verbot es ſich von ſelbſt, die Koſten der Erhebung und Verwaltung einfach den Einzelſtaaten aufzubürden, weil die Höhe dieſer Koſten ſich nach der Länge der Auslandsgrenze und nach der Gruppirung der Productions - und Handelsgebiete beſtimmt und daher ſich ſehr ungleich vertheilt. Es war vielmehr geboten den Erſatz der Erhebungs - und Ver - waltungskoſten in der Art zu normiren, daß die Einzelſtaaten eine Entſchädigung empfangen, die im Verhältniß zu den von ihnen für die Geſammtheit gemachten Leiſtungen und Aufwendungen ſteht, daß ſie im Uebrigen aber die Zoll - und Steuerverwaltung für eigene Rechnung führen. Hieraus ergiebt ſich zugleich eine Verſchiedenheit hinſichtlich der Behandlung der einzelnen Abgaben, welche im Art. 38 der R.V. in folgender Weiſe ſanctionirt worden iſt.

294§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.

1. Hinſichtlich der Zölle. Die Einzelſtaaten ſind be - rechtigt von den Zollerträgen diejenigen Koſten in Abzug zu bringen, welche an den gegen das Ausland gelegenen Grenzen und in dem Grenzbezirke für den Schutz und die Erhebung der Zölle erforderlich ſind . Dieſe dem Art. 11 des Zollv. -Vertr. v. 1867 entnommene Beſtimmung findet ihre Ergänzung in dem Art. 16 Abſ. 1 deſſelben Vertrages, welcher hinſichtlich der Erhebungs - und Verwaltungskoſten folgende vier Grundſätze feſtgeſtellt hat:

1. Man wird, ſo weit nicht ausnahmsweiſe etwas Anderes verabredet iſt, keine Gemeinſchaft dabei eintreten laſſen, viel - mehr übernimmt jede Regierung alle in ihrem Gebiete vorkom - menden Erhebungs - und Verwaltungskoſten, es mögen dieſe durch die Einrichtung und Unterhaltung der Haupt - und Neben-Zollämter, der inneren Steuerämter, Hallämter und Packhöfe, und der Zoll - direktionen, oder durch den Unterhalt des dabei angeſtellten Per - ſonals und durch die dem letzteren zu bewilligenden Penſionen, oder endlich aus irgend einem anderen Bedürfniſſe der Zollver - waltung entſtehen.

2. Hinſichtlich desjenigen Theils des Bedarfs aber, welcher an den gegen das Ausland gelegenen Grenzen und innerhalb des dazu gehörigen Grenzbezirks für die Zoll-Erhebungs - und Auf - ſichts - oder Kontrol-Behörden und Zollſchutzwachen erforderlich iſt, wird man ſich über Pauſchſummen vereinigen, welche von der jährlich aufkommenden und der Gemeinſchaft zu berech - nenden Brutto-Einnahme an Zollgefällen nach der im Art. 11 getroffenen Vereinbarung in Abzug gebracht werden.

3. Bei dieſer Ausmittelung des Bedarfs ſoll da, wo die Perzeption privativer Abgaben mit der Zoll-Erhebung verbunden iſt, von den Gehältern und Amtsbedürfniſſen der Zollbeamten nur derjenige Theil in Anrechnung kommen, welcher dem Ver - hältniſſe ihrer Geſchäfte für den Zolldienſt zu ihren Amtsgeſchäften überhaupt entſpricht.

4. Man wird auch ferner darauf bedacht ſein, durch Feſt - ſtellung allgemeiner Normen die Beſoldungsverhältniſſe der Beamten bei den Zoll-Erhebungs - und Aufſichtsbehörden, ingleichen bei den Zolldirektionen in möglichſte Uebereinſtimmung zu bringen .

Aus Ziff. 2 dieſer durch Art. 40 der R.V. in Kraft erhal - tenen Vereinbarungen ergiebt ſich zunächſt, daß die den Einzel -295§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.ſtaaten zu Gute kommenden Beträge in Pauſchſummen feſtzu - ſtellen ſind; d. h. daß die Einzelſtaaten nicht die wirkliche Ver - ausgabung der ihnen zur Verfügung ſtehenden Summe ſpeziell nachzuweiſen brauchen und daß etwaige Erſparniſſe ihnen ver - bleiben. Eine Ausnahme hiervon beſteht jedoch für die Gehalte und Pferdegelder der Beamten; ſie dürfen für Stellen, welche thatſächlich nicht beſetzt geweſen ſind, nicht liquidirt werden, wofür die praktiſche Erwägung ins Gewicht fällt, daß ſonſt die Einzel - ſtaaten Stellen offen halten könnten, um die dafür ausgeworfenen Beträge zu erſparen, unbekümmert darum, daß die Sicherheit der Kontrole und der Grenzbewachung darunter leidet1)Andererſeits können Zuſchüſſe zur Pauſchſumme bewilligt werden, wenn in einem Jahre mehr Stellen einer beſtimmten Zollbeamten-Kategorie vorhanden geweſen ſind, als der Pauſchſummen-Etat aufführt, inſofern das Bedürfniß derſelben vor oder bei der definitiven Abrechnung vom Bun - desrathe anerkannt wird. Vgl. v. Aufſeß S. 782. Ferner werden beſon - ders vergütet die Koſten für die Beſchaffung und Unterhaltung der zum Schutze einzelner Strecken der Seegrenze erforderlichen Zollwachtſchiffe. Del - brück S. 69.. Auch die Koſten der Legitimationsſchein-Ausfertigung dürfen nur nach der wirklichen Ausgabe liquidirt werden.

Es ergiebt ſich ferner aus den angeführten Beſtimmungen, daß die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten hinſichtlich der Organi - ſation der Grenzzollämter beſchränkt iſt. Bei dem gemeinſamen In - tereſſe aller Vereinsſtaaten an der Einrichtung des Zoll-Erhebungs - und Grenzzollſchutzdienſtes unterlag dieſelbe ſchon im alten Zoll - verein der Beſchlußfaſſung der General-Konferenzen, an deren Stelle nunmehr der Bundesrath getreten iſt. Der letztere hat dem - nach die Hauptzollämter, Nebenzollämter I. Klaſſe und Anſage - poſten2)Hinſichtlich der Nebenzollämter II. Klaſſe, welche nicht zugleich Anſage - poſten ſind, iſt dem Ermeſſen der Einzelſtaaten freier Spielraum gewährt. Vg. v. Aufſeß S. 780., ſowie die Anzahl der bei dieſen Aemtern und im Grenz - ſchutzdienſte zu verwendenden Beamten feſtzuſtellen, wobei natür - lich auf die örtlichen Verhältniſſe, namentlich auf die Beſchaffen - heit der Grenze Rückſicht genommen werden muß3)Dieſe Koſten beſtimmen ſich daher nicht nach der Länge der Auslands - grenze, ſondern nach der durch die örtlichen Verhältniſſe erforderten Anzahl von Beamten. Vgl. Delbrück a. a. O. Note 2.. Aus dieſer296§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.Feſtſetzung ergiebt ſich, eine wie große Anzahl von Beamten jeder einzelnen Kategorie das Bundesglied anzuſtellen hat. Es iſt ferner für jede Beamten-Kategorie der Minimal-Gehaltsſatz, ſowie der Satz für Pferde-Unterhaltungsgelder und Reiſediäten feſtgeſtellt und es berechnet ſich hieraus die Pauſchſumme, welche den Grenz - ſtaaten für dieſe Zwecke zur Verfügung ſteht. Außerdem werden nach der Meilenzahl der Grenzlänge die ſachlichen Koſten für den Büreaudienſt, die Baukoſten und Umzugskoſten, die Koſten der Nebenzollämter II. Klaſſe u. ſ. w. veranſchlagt.

Nach dieſen Grundſätzen iſt der ſogenannte Pauſchſummen - Etat vom Bundesrath feſtzuſetzen1)Die Feſtſtellung erfolgte auf der XI. General-Zollconferenz zu Darm - ſtadt im Jahre 1854, ſie wurde aber wiederholt den Bedürfniſſen entſprechend verändert, insbeſondere ſo oft durch die Ausdehnung des Zollgebietes ſich die Grenzlängen veränderten. Von der eingreifendſten Bedeutung war in dieſer Hinſicht der Zollanſchluß Elſaß-Lothringens. Eine neue Feſtſtellung der Normalſätze erfolgte durch Beſchluß des Bundesrathes v. 28. Juni 1872. Vgl. v. Aufſeß S. 780.. Da jedoch die wirklichen Koſten, welche den Staaten erwachſen, die Normalſätze des Pauſch - ſummen-Etats erheblich überſteigen, und dieſes Mißverhältniß beſonders ſtark bei denjenigen Staaten ſich geltend macht, welche eine im Verhältniß zum Flächeninhalt und zur Bevölkerung des Landes lange Auslandsgrenze zu bewachen haben, ſo iſt einigen Staaten ein Zuſchuß zur eigentlichen Pauſchſumme gewährt wor - den2)Auch dieſe Fälle ſtammen zum Theil aus der Zeit des Zollvereins her; durch den Zollanſchluß Elſaß-Lothringens wurde auch eine Veränderung dieſer Feſtſetzungen erforderlich. Elſaß-Lothringen ſelbſt wurde geſtattet, die den dortigen Zoll - und Salzſteuer-Beamten gewährten Stationszulagen zu zwei Dritteln ihres Betrages, jedoch höchſtens 300,000 M., dem Reiche in Rechnung zu ſtellen. Vgl. die näheren Angaben bei Delbrück a. a. O. S. 70 72.. Feſt beſtimmte Regeln, nach denen die Bewilligung und Abgrenzung dieſer Zuſchüſſe zu erfolgen hat, laſſen ſich weder aus den Zollvereins-Verträgen noch aus der Praxis des Bundes - rathes herleiten; es entſcheidet vielmehr in jedem einzelnen Falle die billige Rückſichtnahme auf die Umſtände. Art. 16 Abſ. 1 des Zollv. V. hat die Gemeinſchaft der Erhebungs - und Verwaltungs - koſten übrigens mit der Klauſel ausgeſchloſſen: ſoweit nicht aus - nahmsweiſe etwas Anderes verabredet iſt . Solche Ausnahmen297§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.waren zum Theil ſchon während des Zollvereins vereinbart. Gegenwärtig werden auf gemeinſchaftliche Koſten, d. h. aus Mit - teln des Reiches beſtritten die Beſoldungen, Zulagen und andern Bedürfniſſe der Reichsbevollmächtigten und Stationskontroleure, die Ausgaben für das Zoll - und Steuer-Rechnungsbüreau und das ſtatiſtiſche Amt und insbeſondere die durch den Einſchluß der Unterelbe in das Zollgebiet erwachſenen fortdauernden Koſten der Begleitung und Ueberwachung, welche zwar von Preußen beſtritten, in der Pauſchſumme Preußens aber mit in Anſatz gebracht werden1)Die Frage, ob der Bundesrath befugt ſei, die Pauſchſumme um der - artige Beträge zu erhöhen, iſt ſehr ſtreitig. Dagegen erklärt ſich Delbrück a. a. O. S. 73; indeß iſt ihm wol kaum der Beweis feſter Grenzen für die Befugniß des Bundesrathes gelungen. Vgl. auch die Verhandlungen des Reichstages v. 1881 / 82 Stenogr. Berichte S. 635 ff. 655 ff..

2. Hinſichtlich der Salzſteuer beſtimmt Art. 38 der R.V.2)in Uebereinſtimmung mit Art. 3 der Uebereinkunft vom 8. Mai 1867 und des Art. 11 Abſ. 2 Ziff. 3 litt. b des Zollvereins. V. v. 1867., daß nur diejenigen Koſten, welche zur Beſoldung der mit Erhe - bung und Kontrolirung dieſer Steuer auf den Salzwerken beauftragten Beamten aufgewendet werden, in Abzug zu bringen ſind3)Die Vergütungsſätze für die Beſoldung der Salzſteuerbeamten ſind durch Bundesrathsbeſchluß v. 14. Dez. 1872 normirt worden. v. Aufſeß S. 785.. Es iſt daher hier vollkommen daſſelbe Prinzip, wie bei den Zöllen analog zur Anwendung gebracht worden und auf die vorſtehenden Ausführungen zu verweiſen.

3. Hinſichtlich der übrigen Steuern hat Art. 38 der R.V. ein anderes Prinzip für die Schadloshaltung der Einzel - ſtaaten adoptirt. Es iſt nicht ein Normaletat veranſchlagt und der Betrag deſſelben den einzelnen Bundesgliedern als Pauſch - ſumme bewilligt worden, ſondern mit Rückſicht auf die ſchwanken - den, von Ernte-Ergebniſſen, Handelsconjuncturen und anderen nicht vorauszuſehenden Einflüſſen abhängigen Erträge dieſer Steuern, welche auf die für ihre Erhebung und Kontrole erforderlichen Koſten einen unmittelbaren Einfluß ausüben, und mit Rückſicht auf die Art und Weiſe der Erhebung und Kontrole iſt den Einzel - ſtaaten eine Tantième des von ihnen erhobenen Steuerquantums bewilligt worden. Daſſelbe iſt bei der Branntwein - und Bier - ſteuer verfaſſungsmäßig auf 15 Prozent der Geſammteinnahme298§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.fixirt; bei der Zuckerſteuer und Tabaksſteuer iſt die Feſt - ſtellung des Vergütungsſatzes der Beſchlußfaſſung des Bundes - rathes überlaſſen. Er iſt bei der Zuckerſteuer auf 4 Prozent feſtgeſetzt worden1)Bundesraths-Beſchl. v. 17. April 1871. (Prokok. § 140.) Siehe v. Aufſeß a. a. O.; bei der Tabakſteuer erhalten die Bundes - ſtaaten einerſeits für die Anbaukontrole einen feſten Betrag pro Ar der mit Tabak bepflanzten Flächen (20 Pf. pro Ar) anderer - ſeits 2 Prozent der Brutto-Einnahme2)Bundesraths-Beſchl. v. 9. April 1880. Vgl. Anlage zum Etat für 1882 / 83 XIV. S. 15..

II. Eine Folge der den Einzelſtaaten überlaſſenen Selbſtver - waltung iſt die pekuniäre Haftung derſelben für die von ihnen abzuliefernden oder zu verrechnenden Steuerbeträge. In dieſer Beziehung enthält Art. 16 Abſ. 2 des Zollv. V. v. 1867 die noch jetzt in Geltung ſtehende Beſtimmung, daß die Staaten ſich ver - bindlich machen, für die Dienſttreue der bei der Zollverwaltung von ihnen angeſtellten Beamten und Diener und für die Sicher - heit der Kaſſenlokale und Geldtransporte in der Art zu haften, daß Ausfälle, welche an den Zolleinnahmen durch Dienſtuntreue eines Angeſtellten erfolgen, oder aus der Entwendung bereits ein - gezahlter Gelder entſtehen, von derjenigen Regierung, welche den Beamten angeſtellt hat, oder welche die entwendeten Beſtände er - hoben hatte, ganz allein zu vertreten ſind und bei der Revenüen - theilung dem betreffenden Staate zur Laſt fallen.

III. Die Einzelſtaaten ſind verpflichtet, den reichsgeſetz - lich normirten Steuerbetrag zu erheben. Da dieſe Verpflichtung nicht blos auf dem finanziellen Intereſſe des Reiches, ſondern eben - ſoſehr auf dem volkswirthſchaftlichen und handelspolitiſchen beruht, ſo kann es den einzelnen Staaten nicht freigeſtellt ſein, durch Ueber - nahme des Ausfalles auf die Staatskaſſe Zoll - oder Steuer - befreiungen oder Begünſtigungen zu gewähren3)Entſchädigungen, welche in einem oder dem andern Staate den vor - mals unmittelbaren Reichsſtänden oder an Kommunen oder einzelne Privat - berechtigte für eingezogene Zollrechte oder für aufgehobene Befreiungen gezahlt werden müſſen, ſind von dem Landesfiskus zu tragen. Zollvereins-Vertr. v. 22. März 1833 Art. 25; Zollv. V. v. 1867 Art. 15 Abſ. 2.. Mit der im Art. 35 der R.V. vorgeſchriebenen Einheit des Handelsgebietes wäre ein ſolches Verfahren unvereinbar. Hieraus ergibt ſich:

299§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.

1. Die Einzelſtaaten dürfen keine Begünſtigungen der Einfuhr von Fabrikſtoffen durch Freipäſſe oder Begünſtigungen der Ausfuhr von Fabrikaten durch Rückzölle und Prämien einſeitig zugeſtehen1)Zollv. V. v. 1867 Art. 13 und dazu Protokoll v. 3. April 1833. Ueber die den Erbauern von Seeſchiffen zu gewährenden Vergünſtigungen für die nicht ſpeciell nachweisbaren Eiſen-Beſtandtheile ſind die jetzt geltenden Vor - ſchriften in der vom Bundesrath feſtgeſetzten Nachweiſung vom 5. Dezemb. 1879 enthalten. (Centralbl. 1880 S. 5.) Vgl. Delbrück S. 60.. Dagegen iſt es den Staaten geſtattet, einzelne Gegenſtände auf Freipäſſe ohne Abgabenentrichtung eingehen zu laſſen; dies gilt insbeſondere von Gegenſtänden, welche für die Hofhaltung der Landesherren und ihrer Regentenhäuſer oder für die bei ihren Höfen akkreditirten diplomatiſchen Vertreter eingehen. Dergleichen Gegenſtände werden jedoch zollgeſetzlich behandelt und in Freiregiſtern, mit denen es wie mit den übrigen Zollregiſtern zu halten iſt, notirt und die Abgaben, welche davon zu erheben geweſen wären, kommen bei der demnächſtigen Revenüenausgleich - ung demjenigen Staate, von welchem die Freipäſſe ausgegangen ſind, in Abrechnung2)Zollv. V. v. 1867 Art. 15. Für die beim Deutſchen Reich beglaubigten Geſandten wird der Betrag der Zölle auf Rechnung des Reiches vergütet. Bundesraths-Beſchl. v. 29. April 1872..

2. Die Einzelſtaaten dürfen ebenſowenig nach eigenem Belieben Zoll - und Steuer-Credite gewähren. Es iſt einleuchtend, daß jede Creditgewährung eine Erleichterung und Herabſetzung des Zoll - und Steuerbetrages in ſich ſchließt, daß es daher nicht in das freie Belieben des einzelnen Staates geſtellt ſein kann, die Creditfriſt in unbeſchränkter Weiſe auszudehnen und dadurch zu Gunſten ſeiner Angehörigen eine bedeutende Ungleichheit der Be - ſteuerung einzuführen3)Bei Gründung des Zollvereins im Jahre 1833 (Protok. v. 29. Nov. zu Art. 10 a) wurde zunächſt noch die Bewilligung der Zoll - und Steuer - credite dem Ermeſſen jeder Vereins-Regierung überlaſſen.. Die vom Reichstage wiederholt ange - regte geſetzliche Feſtſtellung allgemeiner Bedingungen für die Gewährung von Zoll - und Steuercrediten iſt noch nicht erfolgt; dagegen ſind durch Beſchlüſſe des Bundesrathes für die Eingangs - abgaben und Verbrauchsſteuern die Creditfriſten, die Minimal - und Maximalbeträge, die Art und Weiſe der Sicherſtellung u. ſ. w. 300§. 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten ꝛc.feſtgeſetzt worden1)Die näheren Nachweiſungen bei v. Aufſeß S. 755 ff., die aber nicht mehr vollſtändig dem gegenwärtigen Stande der Vorſchriften entſprechen.. In den Zollvereins-Verträgen war der Grund - ſatz feſtgehalten worden, daß die Zollcredite der Geſammtheit ge - genüber als Baarbeſtände zu behandeln ſeien2)Protok. v. 29. Nov. 1833 zu Art. 10 a des Vertrages von 1833.; durch das R.G. v. 4. Dezember 1871 §. 33)R. G.Bl. 1871 S. 413. wurde dagegen feſtgeſetzt, daß die Bundesregierungen die Zölle und Abgaben erſt dann an die Reichs - kaſſe abzuliefern haben, ſobald die Beträge nach den beſtehenden Geſetzen und den über die Friſten der Zoll - und Steuercredite getroffenen Verabredungen für ihre Kaſſen fällig geworden ſind4)Vgl. Hirth’s Annalen 1873 S. 504 ff..

3. Jeder Staat mit eigener Zoll - und Steuerverwaltung hat über die von ihm verwalteten Geſchäfte Rechnung zu legen. Die erforderlichen Vorſchriften darüber enthält der Art. 39 der R.V. im Anſchluß an Art. 17 des Zollvereins-Vertr. v. 8. Juli 1867. Zur Ausführung und Ergänzung derſelben hat der Reichskanzler im Einverſtändniß mit dem Ausſchuß des Bundesrathes für Rech - nungsweſen am 13. Januar 1872 nähere Beſtimmungen erlaſſen5)Abgedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1489 ff.. Nachdem aber durch das R.G. v. 29. Februar 1876 (R. G.Bl. S. 121) der Anfang des Etatsjahrs für den Reichshaushalt auf den 1. April 1877 verlegt worden iſt, wurden dieſe Beſtimmungen durch den Bundesraths-Beſchluß v. 18. März 1878 erheblich ver - ändert6)Abgedruckt bei v. Aufſeß S. 774 ff.. Die Rechnungen zerfallen in Monats -, Quartal - und Jahresrechnungen, von denen die letzteren Haupt - oder Finalrech - nungen, die beiden andern nur proviſoriſche Nachweiſungen ſind. Die Unterbehörden legen die Rechnungen nicht direct dem Reiche, ſondern ihren vorgeſetzten Behörden ab; die von den Directiv - behörden der Bundesſtaaten geprüften und nach Hauptüberſichten, in welchen jede Abgabe geſondert nachzuweiſen iſt, zuſammenge - ſtellten Quartalsrechnungen werden an den Ausſchuß des Bundes - rathes für das Rechnungsweſen eingeſandt, welcher auf Grund derſelben von 3 zu 3 Monaten den von der Kaſſe jedes Bundes - ſtaates der Reichskaſſe ſchuldigen Betrag vorläufig feſtſtellt. 301§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.Die definitive Beſtellung erfolgt auf Grund der Finalabſchlüſſe durch Beſchluß des Bundesrathes1)Vgl. Hirth’s Annalen 1873 S. 507 fg..

§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs und die ſtatiſtiſche Gebühr2)Vgl. v. Scheel die deutſche Handelsſtatiſtik. In Schmoller’s Jahr - buch 1882. Erſtes Heft S. 23 ff. v. Aufſeß a. a. O. S. 755 ff..

Aus der Einheit des Zoll - und Handelsgebiets, der gemein - ſamen Handels - und Tarifpolitik und der Gemeinſchaft der Zoll - und Verbrauchsabgaben folgt die Nothwendigkeit einer gemeinſamen Statiſtik des Waarenverkehres, der Productionsverhältniſſe, der Zoll - und Steuer-Einnahmen und der Bevölkerungsbewegung. Schon während des Zollvereins wurde dieſem Bedürfniß durch das bei Gründung deſſelben in Berlin errichtete Zentralbureau des Zoll - vereins Rechnung getragen und ſeit dem Jahre 1872 iſt zur Be - arbeitung dieſer Angelegenheiten das Kaiſerliche Statiſtiſche Amt eingeſetzt worden3)Vgl. über die Entſtehungsgeſchichte deſſelben Bd. I. S. 317 fg. und die daſelbſt Note 3 citirten Abhandlungen von Meitzen. Ueber die im Jahre 1872 getroffenen Anordnungen hinſichtlich der Statiſtik des Waarenverkehrs iſt auch zu vergleichen die Darſtellung in der vom Statiſt. Amt herausgegebenen Statiſtik des Deutſchen Reichs Band III. 1873 S. 1 ff.. Um demſelben das erforderliche Ma - terial für eingehende und zuverläſſige[Zuſammenſtellungen] über den Eingang, Ausgang und Durchgang von Waaren zu verſchaffen und um eine ſichere Grundlage für die Maßnahmen der Zoll - und Handelspolitik zu gewinnen, iſt durch das Reichsgeſetz vom 20. Juli 1879, betreffend die Statiſtik des Waarenverkehrs des Deutſchen Zollgebietes mit dem Auslande4)R. G.Bl. 1879 S. 261. Die Grundlage des Geſetzes bildet der Bericht v. 27. Febr. 1878, den die vom Bundesrath eingeſetzte Kommiſſion für Reform der Statiſtik des auswärtigen Waarenverkehrs erſtattet hat. Druck - ſachen des Bundesrathes 1877 / 78 Nr. 40. (Auch abgedruckt in den Monats - heften zur Statiſtik Bd. 43 Heft 1 1880.) Auf ihm beruhen die Motive des Geſetzentwurfs. Druckſ. des Reichstages 1878 Nr. 179 und 1879 Nr. 217. Kommiſſionsbericht ebenda Nr. 330. Verhandlungen des Reichstages Stenogr. Berichte 1879 Bd. II. S. 1639 ff. Bd. III. S. 2082 ff. 2231. Ausfüh - rungsbeſtimmungen zu dem Geſetze, ſowie Dienſtvorſchriften zur Handhabung deſſelben, welche der Bundesrath beſchloſſen hat, ſind im Centralbl. des D. R. 1879 S. 676 ff. und S. 687 ff. bekannt gemacht. Vgl. ferner die, vom 1. Jan. 1880302§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.ab eine allgemeine Pflicht zur Anmeldung der die Zollgrenze über - ſchreitenden Waaren und zur gleichzeitigen Entrichtung einer Ab - gabe eingeführt worden.

I. Die Anmeldepflicht.

1. Anzumelden ſind alle Waaren, welche über die Grenzen des Deutſchen Zollgebietes ein -, aus - oder durchgeführt werden, einſchließlich der Verſendungen aus dem Zollgebiet durch das Aus - land nach dem Zollgebiet, nach Gattung, Menge, Herkunfts - und Beſtimmungsland. Ausgenommen ſind lediglich die in §. 5 des Zolltarif-Geſetzes v. 15. Juli 1879 aufgeführten, vom Eingangs - zoll befreiten Gegenſtände, ohne Rückſicht auf die Menge, ſowie Sendungen anderer zollfreier Waaren im Gewichte von 250 Gramm oder weniger1)R.G. §. 1.. Die Anmeldung muß die Gattung jeder Waare nach deren ſpezieller Benennung und Beſchaffenheit angeben und zwar nach den Poſitionen des ſtatiſtiſchen Waarenverzeichniſſes2)R.G. §. 2 Abſ. 1 u. 4. Das Statiſtiſche Waarenverzeichniß iſt vom Bundesrath am 16. Dezemb. 1879 beſchloſſen und im Centralbl. des D. R. 1879 S. 855 ff. bekannt gemacht worden; es klaſſifizirt die Waaren unter 605 Nummern.. Das Gewicht verpackter Waaren iſt netto anzumelden, und zwar in der Regel für jede Gattung beſonders; doch genügt für Kolli, welche nur eine Waarengattung enthalten, das Bruttogewicht unter Angabe der Verpackungsart3)R.G. § 2 Abſ. 2. Ausnahmsweiſe können die Zolldirectivbehörden bei Zuſammenpackung verſchiedenartiger Waaren eine allgemeine Bezeichnung des Geſammtinhalts des Kollo und die Angabe des Geſammt-Bruttogewichts nebſt Verpackungsart zulaſſen, ebendaſ. Abſ. 3. Vgl. hierzu §. 15 der Ausführungs - beſtimmungen..

2. Die Anmeldung erfolgt ſchriftlich mittelſt Uebergabe eines Anmeldeſcheines; beim kleinen Grenzverkehr d. h. bei dem nachbar - lichen Verkehr der Grenzorte, welche nicht weiter als 15 Kilometer von der Grenze entfernt gelegen ſind, genügt mündliche Anmel - dung4)R.G. §. 3 Abſ. 1. Ausführungsbeſtimmungen §. 8.. An Stelle der Anmeldeſcheine tritt bei zollpflichtigen4)Beſtimmungen betreffend die Nachweiſung des Waarenverkehrs zur See über die Haupthäfen des Zollgebiets v. 29. Januar 1880 (Centralbl. S. 73 ff. ) und die Beſtimmungen über die Statiſtik des Verkehrs auf den deutſchen Waſſerſtraßen v. 30. Juni 1881. (Centralbl. S. 330 ff.)303§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.Waaren die Zoll - oder Steuerdeclaration; dieſelbe iſt aber durch Angabe der Herkunft und Beſtimmung der Waare, ſowie bezüg - lich der Gattung und Menge den Vorſchriften dieſes Geſetzes ge - mäß zu ergänzen1)R.G. §. 4..

3. Anmeldeſtellen ſind die Zollämter im Grenzbezirk; ausnahmsweiſe können auch andere Zoll - oder Steuerämter zu Anmeldeſtellen beſtellt werden2)R.G. §. 3 Abſ. 2. 3. Für die mittelſt Zoll - oder Steuerdeclaration angemeldeten Waaren fungiren die betreffenden Zoll - oder Steuerſtellen, auch wenn ſie im Binnenbezirk ihren Sitz haben, als Anmeldeſtellen, ebenda §. 4 Abſ. 3.. Außerdem ſind im Grenzbezirk noch andere Anmeldeſtellen nach Bedürfniß zu errichten; insbeſon - dere können den Gemeindehörden im Grenzbezirk an ſolchen Orten, an denen ſich ein Zollamt nicht befindet, die Geſchäfte einer An - meldeſtelle gegen entſprechende Vergütung aufgetragen werden. Die Errichtung ſolcher Anmeldeſtellen (außer den Zollämtern) liegt den Landesregierungen ob4)Ausführungsbeſtimmungen §. 3 Abſ. 1.. Jeder Anmeldeſtelle im Grenz - bezirk iſt von der Zolldirection eine beſtimmte Strecke der Zoll - grenze zuzutheilen; ausnahmsweiſe, namentlich in Seehandels - plätzen, kann ſie auch auf eine beſtimmte Verkehrsart beſchränkt werden5)Ebendaſ. Abſ. 2. 3. 6.. Die Anmeldeſtellen ſind zur Reviſion der Waaren durch äußere Beſichtigung befugt und es liegt ihnen ob, ohne Verzug die Anmeldeſcheine zu prüfen und erforderlichen Falles deren Angaben mit den Frachtpapieren und dem Waarenbefund zu vergleichen und die Berichtigung oder Vervollſtändigung zu veranlaſſen6)R.G. §. 8..

4. Verpflichtet zur Anmeldung der Waaren iſt der Waaren - führer. Zur Ausſtellung des Anmeldeſcheins dagegen iſt der Abſender verpflichtet; für die Richtigkeit und Vollſtändigkeit der Angaben des Anmeldeſcheins iſt der Ausſteller, wenn dieſer aber außerhalb des deutſchen Zollgebiets und der Ausſchlüſſe wohnt, der Waarenführer verantwortlich8)R.G. §. 5.. Oeffentliche Transport -3)R.G. §. 3 Abſ. 2.7)R.G. §. 3 Abſ. 1.304§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.anſtalten und Perſonen, welche gewerbsmäßig Güter befördern, dürfen nach dem Auslande gerichtete Waaren nur dann befördern, wenn ihnen ordnungsmäßige Anmeldeſcheine überwieſen worden ſind1)R.G. §. 6. Vgl. Ausführungsbeſtimmungen §. 9.; bei der Einfuhr von Gütern können ſie den Abſender in der Ausſtellung des Anmeldeſcheins vertreten, falls er weder im deutſchen Zollgebiet noch in den Zollausſchlüſſen wohnt2)R.G. §. 5. Abſ. 1..

5. Der Bundesrath kann beim Poſtverkehr, bei Sendungen vom Zollgebiet durch das Ausland nach dem Zollgebiet, beim kleinen Grenzverkehr, bei der Durchfuhr auf kurzen Straßenſtrecken, ſowie in Rückſicht auf ſonſtige beſondere Verhältniſſe Erleichterungen bezüglich der Anmeldepflicht eintreten laſſen3)R.G. §. 9. Dieſe Erleichterungen ſind feſtgeſtellt worden in den Aus - führungsbeſtimmungen §. §. 12 ff..

II. Die ſtatiſtiſche Abgabe.

1. Bei jeder ſchriftlichen Anmeldung iſt eine Abgabe zu entrichten4)Sie wird im Geſetz als ſtatiſtiſche Gebühr bezeichnet; ſie wird aber nicht entrichtet von dem Verpflichteten für eine in ſeinem Intereſſe erforderte Thätigkeit der Behörden, ſondern es wird im Gegentheil im öffentlichen In - tereſſe dem Waarenführer eine ihn beläſtigende Thätigkeit (die Anmeldung) und außerdem noch die Bezahlung einer Abgabe auferlegt, für welche daher die Bezeichnung Gebühr nicht recht angemeſſen erſcheint. In Wahrheit iſt die Abgabe ein, freilich geringfügiger, Ein - und Ausfuhr-Zoll.. Sie beträgt für die in demſelben Anmeldeſchein oder derſelben Deklaration aufgeführten Waaren, wenn dieſelben verpackt ſind, für je 500 Kilogr. 5 Pf., wenn dieſelben unver - packt ſind, für je 1000 Kilogramm 5 Pf., für die Maſſengüter, welche im §. 11 Ziff. 3 des Geſetzes bezeichnet ſind5)Das Verzeichniß derſelben, welches der Bundesrath feſtgeſtellt hat, iſt im Centralbl. f. d. D. R. 1880 S. 318 ff. veröffentlicht., 10 Pf. für je 10,000 Kilogr. und für die im §. 11 Ziff. 4 aufgeführten Thiere für je 5 Stück 5 Pfennige. Für Bruchtheile oder Mengen - einheiten kommt die volle Gebühr in Anrechnung. Befreit von der Abgabe ſind6)R.G. §. 12.:

a) Waaren, welche unter Zollkontrole verſendet, oder auf Niederlagen für unverzollte Gegenſtände gebracht7)Jedoch mit Ausnahme der einer Zollabfertigung unterworfenen zoll -, oder nach305§. 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs ꝛc.Entrichtung des Eingangszolls in den freien Verkehr geſetzt oder endlich zum Zweck der Zurückvergütung oder des Erlaſſes von Abgaben unter amtlicher Kontrole ausgeführt werden.

b) Waaren, welche auf Grund direkter Begleitpapiere im freien Verkehr durch das deutſche Zollgebiet durchgeführt oder aus demſelben durch das Ausland nach dem Zollgebiet befördert werden1)Durch die Befreiung dieſer Waaren von der Abgabe ſoll der Zweck erreicht werden, die Durchfuhr-Güter von den Einfuhr - und den Ausfuhr - gütern ſtatiſtiſch zu trennen..

c) Die Poſtſendungen.

2. Haftbar für die Entrichtung der Gebühr iſt derjenige, welcher zur Zeit, wo die Anmeldung ſtattzufinden hat, Inhaber (natürlicher Beſitzer) der Waare iſt2)R.G. §. 13 Abſ. 2.. Dies iſt in der Mehrzahl der Fälle der Waarenführer; das ihm nach Art. 409 des H. G.B’s. am Frachtgut zuſtehende Pfandrecht erſtreckt ſich auch auf die Anſprüche, welche ihm aus der Erfüllung der Anmelde - und Ge - bührenpflicht erwachſen3)R.G. §. 18..

3. Die Entrichtung der Gebühr erfolgt durch Verwendung von Reichs-Stempelmarken auf den Anmeldeſcheinen oder den ſie vertretenden Papieren (Zolldeclarationen)4)R.G. §. 13 Abſ. 1. Die Stempelmarken werden von den Poſtanſtalten verkauft. Ausf. Beſtimmung §. 17.. Die für die Kon - trolirung der Zölle beſtehenden Vorſchriften finden auf die ſtatiſtiſche Gebühr Anwendung5)Ebenda §. 15..

4. Der Ertrag der ſogen. ſtatiſtiſchen Gebühr fließt in die Reichskaſſe6)R.G. §. 11 Abſ. 1. Nach dem Etat für 1882 / 83 iſt der Brutto - Ertrag derſelben auf 500,000 M. veranſchlagt.; den Bundesſtaaten wird jedoch für die ihnen durch die Statiſtik des auswärtigen Waarenverkehrs erwachſenden Koſten eine vom Bundesrath feſtzuſtellende Vergütung gewährt7)R.G. §. 14. Hier kommen die Ausgaben für Anmeldepoſten und ſäch - liche Verwaltungskoſten in Anſatz; nach dem Etat für 1882 / 83 betragen dieſe Vergütungen zuſammen 15,000 M.. Außer - dem erhalten die drei Poſtverwaltungen für den Verkauf der7)freien Waaren, welche nach vorheriger Verſendung unter Zollkontrole bei einem Amte im Innern in den freien Verkehr geſetzt werden.Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 20306§. 117. Der Spielkarten-Stempel.Stempelmarken eine Proviſion von Prozent der Brutto - Einnahme1)Im Ganzen iſt in dem Etat für 1882 / 83 die Rein-Einnahme von der ſtatiſtiſchen Gebühr auf 464,000 M. veranſchlagt, während die bei dem ſtatiſti - ſchen Amte durch die Bearbeitung der Statiſtik des Waarenverkehrs mit dem Auslande erwachſenden Ausgaben 300,000 M. betragen..

III. Zuwiderhandlungen gegen das Geſetz v. 20. Juli 1879 und der in Folge deſſelben erlaſſenen Ausführungsbeſtim - mungen von Seiten der Waarenführer und inländiſchen Abſender werden mit einer Ordnungsſtrafe bis zu 100 Mark geahndet. Die Vorſchriften der Zollgeſetze finden auf ſie Anwendung und die Organe der Zollverwaltung haben die Beobachtung der Vor - ſchriften dieſes Geſetzes zu überwachen und Zuwiderhandlungen gegen dieſelben zur Anzeige zu bringen2)R.G. §. 16. 17..

B. Die Reichs-Stempelabgaben.

§. 117. Der Spielkarten-Stempel.

I. Durch das Geſetz vom 3. Juli 1878 (R. G.Bl. S. 133) wurden Spielkarten vom 1. Januar 1879 an unter Aufhebung aller Landesſtempelabgaben einer zur Reichskaſſe fließenden Stempel - abgabe unterworfen, welche 0,30 Mark für jedes Kartenſpiel von 36 oder weniger Blättern, 0,50 Mark für jedes andere Spiel beträgt. Die Steuer wird zwar durch Abſtempelung der Karten entrichtet, iſt aber ſowohl ihrer wirthſchaftlichen Natur als ihrer juriſtiſchen Geſtalt nach eine Verbrauchsabgabe und den im Art. 35 der R.V. aufgeführten Beſteuerungen von inländiſchen Erzeugniſſen völlig analog. Dieſer Natur der Steuer entſpricht es, daß Spiel - karten, welche unter amtlicher Kontrole in das Ausland ausgeführt werden, der Abgabe nicht unterliegen3)R.G. v. 3. Juli 1878 §. 1 Abſ. 2.. Die Abgabe trifft in gleicher Höhe die vom Auslande in das Bundesgebiet eingehen - den, wie die im Inlande fabrizirten Spielkarten4)Für die in das Zoll gebiet eingeführten Karten iſt außerdem noch der tarifmäßige Eingangszoll zu entrichten; dies gilt ſelbſtverſtändlich auch von den in den Zollexclaven abgeſtempelten und von dort in das Zollgebiet ein - geführten Karten.. Die Errich - tung von Spielkartenfabriken und die Fabrikation von Spielkarten307§. 117. Der Spielkarten-Stempel.unterliegt im Intereſſe der Steuerkontrole ähnlichen Beſchränkungen, wie ſie für die Herſtellung abgabepflichtiger Verbrauchsgegenſtände angeordnet ſind; ebenſo müſſen ſich ſowohl die Inhaber von Karten - fabriken wie die Händler mit Spielkarten ſteuerliche Reviſionen der Geſchäftsräume und Vorräthe gefallen laſſen1)R.G. §§. 4 9.. Spielkarten, welche nicht mit dem in dem Geſetz erforderten Stempel verſehen ſind, unterliegen der Einziehung2)R.G. §. 10 Abſ. 1.. Wer Karten, welche mit dem erforderlichen Stempel nicht verſehen ſind, feilhält, veräußert, ver - theilt, erwirbt, damit ſpielt oder ſolche wiſſentlich in Gewahrſam hat, verfällt für jedes Spiel in eine Strafe von 30 Mark3)R.G. §. 10 Abſ. 2.. Für Fabrikanten, Importeure und Händler von Spielmarken ſind be - ſondere, höhere Strafſätze angedroht4)R.G. §§. 11 16. Hinſichtlich der Strafver - folgung gelten im Uebrigen dieſelben Vorſchriften wie ſie bei Zuwiderhandlungen gegen die Zoll - und Steuergeſetze zur Anwen - dung kommen5)R.G. §§. 17 20..

II. Die Erhebung und Verwaltung des Spielkarten - ſtempels erfolgt durch die Zoll - und Steuerbehörden. Die näheren Vorſchriften darüber ſind vom Bundesrath zu erlaſſen6)R.G. §. 21. Die Ausführungsvorſchriften nebſt dem Regulativ be - treffend den Betrieb der Spielkartenfabriken und den Beſtimmungen über die Nachverſteuerung der Spielkarten ſind unter dem Datum des 6. Juli 1878 veröffentlicht im Centralbl. des D. R. 1878 S. 403 ff. Eine Zuſammen - ſtellung der ſonſtigen Ausführungsbeſtimmungen giebt v. Aufſeß a. a. O. S. 745 fg.. Die Reichsbevollmächtigten und Stationskontroleure üben in Bezug auf die Ausführung dieſes Geſetzes dieſelben Rechte und Pflichten, welche ſie bezüglich der Erhebung und Verwaltung der Zölle und der gemeinſchaftlichen Verbrauchsſteuern zu üben haben7)R.G. §. 22.. Die in den vorhergehenden Paragraphen dargeſtellten Regeln finden daher auch auf dieſe Abgabe Anwendung8)Die Maximalfriſt für den Steuerkredit iſt geſetzlich auf 3 Monate fixirt; der Kredit kann nur gegen Sicherheitsſtellung bewilligt werden. Die Gewährung von Steuererlaß oder Erſatz iſt nur geſtattet, wenn geſtempelte inländiſche Karten bei der Verpackung oder Aufbewahrung in den dazu be -.

20 *308§. 118. Der Urkunden-Stempel.

Dieſe Regeln können aber nur innerhalb des Zollgebietes vollſtändig Platz greifen, da in den Exclaven eine Zollverwaltung nicht vorhanden iſt. Deſſenungeachtet wird von den letzteren nicht ſtatt des Spielkartenſtempels ein Averſum entrichtet, ſondern das Geſetz v. 3. Juli 1878 gilt auch in den Zollausſchlüſſen des Bundesgebiets. Der Bundesrath iſt aber ermächtigt für dieſe Gebietstheile Beſtimmungen darüber zu treffen, welcher Steuer - ſtelle die daſelbſt eingeführten Spielkarten anzumelden und wie der Ausgang der zur Ausfuhr oder Durchfuhr durch das Bundes - gebiet angemeldeten Spielkarten, ſowie der Handel mit Spiel - karten zu kontroliren iſt, unter welchen Bedingungen Großhändlern ein Lager ungeſtempelter Spielkarten bewilligt werden darf, und endlich, inwieweit eine Ueberwachung der Ausführung des Geſetzes durch Reichsbeamte ſtattzufinden hat und in welcher Weiſe die Einnahme an Spielkartenſtempel zu verwalten und zur Reichskaſſe abzuführen ſind1)R.G. §. 26. Alle dieſe Vorſchriften ſind in der S. 307 Note 6 citirten Bundesraths-Verordnung vom 6. Juli 1878 enthalten..

III. Jedem Bundesſtaate werden an Erhebungs - und Ver - waltungskoſten fünf Prozent der in ſeinem Gebiete zur Erhebung gelangenden Stempelabgaben von Spielkarten vergütet2)R.G. §. 23..

§. 118. Der Urkunden-Stempel*)Geſetz, betreffend die Wechſelſtempel ſteuer im Nordd. Bunde vom 10. Juni 1869 (B. G.Bl. S. 193). Entw. mit Motiven in den Druckſ. des Reichstages v. 1869 Nr. 154. Kommiſſionsbericht ebenda Nr. 230. Verhandlungen in den Stenogr. Berichten Bd. I. S. 858 ff. 1187 ff. 1280. Das Geſetz iſt in den Südd. Staaten und in Elſaß-Lothringen eingeführt und durch das Reichsgeſetz v. 4. Juni 1879 (R. G.Bl. S. 151) theilweiſe abgeändert worden. Kommentare zum Wechſelſtempel-Geſetz von Hoyer Berlin 1871 und Meves Erlangen 1875. Geſetz, betreffend die Erhebung von Reichsſtempelabgaben. Vom 1. Juli 1881 (R. G.Bl. S. 185). Entwurf mit Motiven in den Druckſachen des Reichstages v. 1880 Nr. 96, von 1881 Nr. 59. Kommiſſionsbericht Druckſachen 1881 Nr. 162. Verhandlungen in den Stenogr. Berichten 1881 S. 551 ff. 1340 ff..

I. Einer zur Reichskaſſe fließenden Abgabe unterliegen:

1. Gezogene und eigene Wechſel, welche im Bundesgebiete8)ſtimmten Fabrikräumen durch einen unverſchuldeten Zufall zum Gebrauch un - tauglich geworden ſind. R.G. §. 7.309§. 118. Der Urkunden-Stempel.in Umlauf geſetzt werden1)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 1. Befreit von der Abgabe ſind die vom Auslande auf das Ausland gezogenen nur im Ausland zahlbaren Wechſel, ſowie die vom Inlande auf das Ausland gezogenen, nur im Auslande und zwar auf Sicht oder ſpäteſtens innerhalb zehn Tagen nach dem Tage der Ausſtellung zahlbaren Wechſel, ſofern ſie vom Ausſteller direkt in das Aus - land remittirt werden.. Den Wechſeln ſtehen in dieſer Be - ziehung gleich die an Ordre lautenden Zahlungsverſprechen (Billets à Ordre) und die von Kaufleuten oder auf Kaufleute ausgeſtellten Anweiſungen (Aſſignationen) jeder Art auf Geldauszahlungen, Akkreditive und Zahlungsaufträge, gegen deren Vorzeigung oder Auslieferung die Zahlung geleiſtet werden ſoll, mit Ausnahme der Platzanweiſungen und Cheks, der für eine beſtimmte Perſon ausgeſtellten Akkreditive und der Banknoten2)Ebendaſ. §. 24.. Die Entrichtung der Abgabe muß erfolgen, ehe ein inländiſcher Wechſel von dem Ausſteller, ein ausländiſcher Wechſel von dem erſten inländiſchen Inhaber aus den Händen gegeben wird3)Ebendaſ. §. 6..

Die Abgabe beträgt bei einer Wechſelſumme bis 1000 M. von je 200 M. 10 Pf., von jedem ferneren 1000 M. 50 Pf. mehr, dergeſtalt, daß jedes angefangene Tauſend für voll gerechnet wird4)R.G. v. 4. Juni 1879 Art. I. (R. G.Bl. S. 151).. Iſt die Wechſelſumme in einer anderen Währung als der Reichswährung ausgedrückt, ſo erfolgt zum Zwecke der Berech - nung der Abgabe die Umrechnung der Wechſelſumme nach Maß - gabe des laufenden Kurſes, ſofern nicht der Bundesrath für gewiſſe Währungen allgemeine zum Grunde zu legende Mittelwerthe feſtſetzt5)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 3. R.G. v. 4. Juni 1879 Art. I. Die jetzt geltenden Feſtſetzungen ſind am 19. Januar 1882 beſchloſſen worden. Sie ſind publizirt im Centralbl. d. D. R. 1882 S. 26..

2. Aktien und für den Handelsverkehr beſtimmte Renten - und Schuldverſchreibungen. Inländiſche Papiere, welche unter dieſe Kategorien fallen, unterliegen der Steuer, wenn ſie nach dem 1. Oktober 1881 ausgegeben worden ſind; ausländiſche, wenn ſie innerhalb des Bundesgebietes ausgehändigt, veräußert, verpfändet, oder wenn daſelbſt andere Geſchäfte unter Lebenden damit gemacht*)1677 ff. Eine Bearbeitung des Geſetzes mit Angabe der Materialien und Ausführungsbeſtimmungen zu den einzelnen Paragraphen in Hirth’s Annalen 1881 S. 768 ff.310§. 118. Der Urkunden-Stempel.oder Zahlungen darauf geleiſtet werden. Interimsſcheine unter - liegen der Steuer unter den gleichen Vorausſetzungen wie die Werthpapiere ſelbſt. Befreit von der Abgabe ſind Renten - und Schuldverſchreibungen des Reiches und der Bundesſtaaten, ſowie inländiſche Renten - und Schuldverſchreibungen, welche nur zu dem Zweck des Umtauſches ausgeſtellt werden, ſofern den desfalls von dem Bundesrath zu erlaſſenden Kontrolvorſchriften genügt wird, und die auf Grund des Reichsgeſetzes vom 8. Juni 1871 abge - ſtempelten ausländiſchen Inhaberpapiere mit Prämien. Die Ab - gabe iſt von jedem Stück nur einmal zu entrichten. Sie beträgt für inländiſche und ausländiſche Aktien 5 Promille vom Nenn - werthe, für inländiſche und ausländiſche Renten - und Schuld - verſchreibungen 2 Promille vom Nennwerthe1)Iſt der Kapitalwerth von Rentenverſchreibungen aus dieſen ſelbſt nicht erſichtlich, ſo gilt als ſolcher der 25fache Betrag der einjährigen Rente., und für in - ländiſche auf den Inhaber lautende und auf Grund ſtaatlicher Genehmigung ausgegebene Renten - und Schuldverſchreibungen der Kommunalverbände und Kommunen, der Korporationen ländlicher oder ſtädtiſcher Grundbeſitzer, der Grundkredit - und Hypotheken - banken oder der Transportgeſellſchaften 1 Promille vom Nenn - werthe. Wenn ausländiſche Werthpapiere, welche vor dem Inkraft - treten des Stempelgeſetzes (1. Oktober 1881) ausgegeben ſind, innerhalb 90 Tagen nach dieſem Zeitpunkt zur Stempelung vor - gelegt worden ſind, ſo iſt an Stelle der prozentualen Abgabe eine fixe Stempelabgabe zu entrichten geweſen, und zwar für Aktien 50 Pfennig, für Renten - und Schuldverſchreibungen 10 Pfennig für jedes Stück2)Reichsgeſ. v. 1. Juli 1881 (R. G.Bl. S. 185) §. 1 und in dem dazu gehörigen Tarif Nr. 1 3..

3. Im Bundesgebiete ausgeſtellte Schlußnoten und Rech - nungen über den Abſchluß oder die Prolongation oder die Bedingungen des Abſchluſſes oder der Prolongation eines Kauf -, Rückkauf - Tauſch - oder Lieferungsgeſchäfts, welches Wechſel, aus - ländiſche Banknoten oder ausländiſches Papiergeld, ferner Aktien, Staats - oder andere für den Handelsverkehr beſtimmte Werth - papiere oder Mengen von ſolchen Sachen oder Waaren, die nach Gewicht, Maaß oder Zahl gehandelt zu werden pflegen, zum311§. 118. Der Urkunden-Stempel.Gegenſtande hat, beziehentlich über die aus ſolchen Rechtsgeſchäften hervorgegangenen Anſprüche.

Die Steuer beträgt für jedes Schriftſtück der bezeichneten Art 20 Pfennig, und für eine Schlußnote, welche ein Zeitgeſchäft betrifft, eine Mark. Betrifft eine Schlußnote mehr als ein Ge - ſchäft, ſo iſt für jedes einzelne dieſer Geſchäfte der Stempel zu verwenden. Werden Schlußnoten oder Rechnungen in mehreren Exemplaren, Abſchriften oder Auszügen ausgeſtellt, ſo unterliegt jedes Stück der Abgabe, ſobald es aus den Händen des Aus - ſtellers geht. Befreit von der Abgabe ſind Schlußnoten und Rech - nungen, ſofern der Werth des Gegenſtandes des Geſchäfts nicht mehr als 300 M., bei Waarengeſchäften nicht mehr als 1000 M. beträgt, ferner Schlußnoten, welche nur ſogenannte Kontant - geſchäfte über Wechſel, gemünztes oder ungemünztes Gold oder Silber zum Gegenſtande haben; endlich Telegramme und Briefe über die bezeichneten Geſchäfte, wenn die Briefe auf Entfernungen von mindeſtens 15 Kilometern brfördert werden1)R.G. v. 1. Juli 1881 §§. 6 ff. und Tarifnummer 4..

4. Lotterielooſe, ſowie Ausweiſe über Spieleinlagen bei öffentlich veranſtalteten Ausſpielungen von Geld oder anderen Gewinnen. Die Steuer beträgt bei inländiſchen Looſen fünf Pro - zent vom planmäßigen Preiſe (Nennwerth) ſämmtlicher Looſe oder Ausweiſe, bei ausländiſchen Looſen fünf Prozent von dem Preiſe der einzelnen in das Bundesgebiet eingeführten Looſe. Befreit von der Abgabe ſind die Looſe der von den zuſtändigen Behörden genehmigten Ausſpielungen und Lotterien zu mildthätigen Zwecken2)R.G. v. 1. Juli 1881 §§. 12 ff. und Tarifnummer 5..

II. Die Entrichtung der Steuer wird bewirkt:

1. Bei Wechſeln und den ihnen gleichgeſtellten Papieren, bei Schlußnoten und bei Rechnungen durch Verwendung der Reichsſtempelmarke oder eines mit dem erforderlichen Reichs - ſtempel verſehenen Blanketts Seitens der zur Entrichtung der Abgabe Verpflichteten3)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 13. R.G. vom 1. Juli 1881 §. 7. Bei Schlußnoten iſt regelmäßig ein geſtempeltes Formular zu verwenden und nur der erforderliche Mehrbetrag der Abgabe (wenn die Schlußnote mehrere Ge - ſchäfte betrifft), iſt durch Verwendung von Stempelmarken zu entrichten.. Der Bundesrath hat die Vorſchriften312§. 118. Der Urkunden-Stempel.über die Art der Verwendung der Marken zu erlaſſen1)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 13 Ziff. 2. R.G. v. 1. Juli 1881 §. 21. Die jetzt geltenden Vorſchriften hinſichtlich der Wechſelſtempelmarken ſind[ent - halten] in der Bekanntmachung v. 16. Juli 1881 (R. G.Bl. 1881 S. 245 fg. ) hinſichtlich der übrigen Stempelmarken in den Ausführungsvorſchriften vom 7. Juli 1881 Ziff. 10 (Centralbl. f. d. D. R. 1881 S. 287) und der Nach - tragsverordnung vom 10. März 1882 (Centralbl. S. 107 ff.). Stempel - marken, welche nicht in der vorgeſchriebenen Weiſe verwendet worden ſind, werden als nicht verwendet angeſehen2)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 14. R.G. v. 1. Juli 1881 §. 22.. Wer der ihm obliegenden Verpflichtung zur Entrichtung der Stempel-Abgabe nicht rechtzeitig genügt, wird mit einer Geldſtrafe belegt, welche dem fünfzigfachen Betrage der hinterzogenen Abgabe gleichkommt3)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 15 Abſ. 1. R.G. v. 1. Juli 1881 §. 8. Das letztere Geſetz beſtimmt zugleich, daß die Strafe mindeſtens 20 M. für jedes ſtempelpflichtige Schriftſtück beträgt..

2. Bei Aktien, Renten - und Schuldverſchreibungen wird die Verpflichtung zur Entrichtung der Abgabe erfüllt durch Zahlung des Abgabebetrages an eine zuſtändige Steuerſtelle, welche auf dem vorzulegenden Werthpapiere Reichsſtempelmarken zum entſprechenden Betrage zu verwenden oder die Aufdrückung des Stempels zu veranlaſſen hat4)R.G. v. 1. Juli 1881 §. 2 Abſ. 1. Nach demſelben Geſetz (§. 2 Abſ. 2) hat der Bundesrath zu beſtimmen, in welchen Fällen und unter welchen Be - dingungen der Verpflichtung zur Verſteuerung durch rechtzeitige Verwendung von Stempelmarken ohne amtliche Mitwirkung einer Steuerſtelle genügt wer - den kann. In den Ausführungs-Vorſchriften v. 7. Juli 1881 Ziff. 2 c. hat der Bundesrath jedoch beſtimmt, daß die Abſtempelung ausſchließlich durch Aufdrücken des Reichsſtempels auf der Vorderſeite des Werthpapiers erfolgt und daß eine Verwendung von Stempelmarken zu Werth - papieren nicht ſtattfindet, weder Seitens der Behörde noch Seitens des Verpflichteten.. Welche Behörden zur Ab - ſtempelung der Werthpapiere zuſtändig ſind, beſtimmen die Landes - regierungen5)R.G. §. 26 Abſ. 2.; dieſelben haben mindeſtens an jedem Börſenplatze eine Steuerſtelle zu ermächtigen6)Ausführungsbeſtimmungen v. 7. Juli 1881 Ziff. 1 Abſ. 2.. Die Verletzung der Pflicht zur Abgaben-Entrichtung zieht eine Geldſtrafe nach ſich, die dem 25fachen Betrage der hinterzogenen Abgabe gleichkommt, mindeſtens aber 20 Mark für jedes Werthpapier beträgt7)R.G. §. 3 Abſ. 1..

313§. 118. Der Urkunden-Stempel.

Der Emittent ſtempelpflichtiger inländiſcher Werthpapiere iſt überdies bei Strafe von 50 500 M. verpflichtet, bevor die Pa - piere zur Zeichnung aufgelegt werden oder zu weiteren Einzah - lungen auf ſolche aufgefordert wird, der zuſtändigen Steuerſtelle unter Angabe der Zahl, der Gattung und des Nennwerthes der Stücke oder des Betrages der zu leiſtenden Einzahlungen Anzeige zu erſtatten1)R.G. §. 4 Abſ. 1 u. 3. Das vom Bundesrath für dieſe Anzeige feſt - geſtellte Formular ſiehe Centralbl. 1881 S. 301..

3. Hinſichtlich der Lotterielooſe iſt zwiſchen Privat - und Staatslotterie zu unterſcheiden.

a) der Privat-Unternehmer einer Lotterie oder Ausſpielung muß der zuſtändigen Steuerbehörde ſpäteſtens am 7. Tage nach dem Empfange der obrigkeitlichen Erlaubniß ſchriftlich die plan - mäßige Anzahl und den planmäßigen Preis der Looſe anmelden2)Auch die Behörde, welche die Genehmigung zur Veranſtaltung der Lotterie ertheilt hat, muß davon der zuſtändigen Steuerbehörde unverzüglich Mittheilung machen. Ausführungsvorſchriften v. 7. Juli 1881 Ziff. 13. und gleichzeitig die Abgabe für die Looſe einzahlen oder Stundung derſelben bis nach dem Beginn des Vertriebes der Looſe gegen Sicherſtellung des Betrages oder ohne ſolche beanſpruchen3)R.G. §§. 12. 13. Ausführungsvorſchriften 12 a. Die Bedingungen für Stundung der Abgabe ſind von den Landesregierungen feſtzuſtellen. Ausf. Vorſchr. 15.. Dient die Auslooſung zu Wohlthätigkeitszwecken und wird aus dieſem Grunde die Befreiung von der Abgabe in Anſpruch ge - nommen, ſo iſt der Anmeldung der Nachweis des wohlthätigen Zweckes beizufügen. Ueber die Anwendbarkeit der Befreiung ent - ſcheidet die Directivbehörde4)Ausführungsvorſchriften 12 b. . Nach Feſtſtellung des Abgaben - betrages oder der Steuerbefreiung ſind ſämmtliche Looſe von der Steuerbehörde mittelſt Stempelaufdrucks abzuſtempeln. Ungeſtem - pelte Looſe dürfen nicht ausgegeben werden5)Ausf. Vorſchr. 14. Der Stempel hat die Aufſchrift Verſteuert oder Stempelfrei ; nur bei den unter obrigkeitlicher Aufſicht ſtattfindenden Waaren - Verlooſungen kann von der Abſtempelung der abgabefreien Looſe Umgang genommen werden, wenn mit Rückſicht auf die Zahl und den Preis der Looſe die Abſtempelung unverhältnißmäßige Mühwaltung verurſachen würde. Die näheren Vorſchriften darüber ſind von den Landesregierungen zu er - laſſen (ebendaſ. Abſ. 3)..

314§. 118. Der Urkunden-Stempel.

Wer ausländiſche Looſe oder Ausweiſe über Spieleinlagen in das Bundesgebiet einführt oder daſelbſt empfängt, hat dieſelben, bevor mit dem Vertrieb begonnen wird, ſpäteſtens binnen 3 Tagen nach dem Tage der Einführung oder des Empfangs der zuſtändigen Behörde anzumelden und davon die Stempelabgabe zu entrichten1)Reichsgeſetz §. 14. Das Formular f. die Anmeldung ſiehe Centralbl. 1881. S. 303.. Ueber die Abſtempelung gelten dieſelben Vorſchriften wie für Privatlotterien; jedoch findet Stundung der Steuer nicht ſtatt2)Ausf. Vorſchr. Ziff. 16 Abſ. 1..

Die Nichterfüllung der angegebenen Verpflichtungen wird mit einer Geldſtrafe im fünffachen Betrage der hinterzogenen Abgabe geahndet; iſt die Zahl der abgeſetzten Looſe nicht zu ermitteln, ſo tritt Geldſtrafe von 250 5000 M. ein3)R.G. §. 16. Daſelbſt iſt zugleich beſtimmt, daß gegen den Unter - nehmer inländiſcher Lotterien und gegen jeden, welcher den Vertrieb ausländiſcher Looſe beſorgt, die Strafe mindeſtens auf 250 M. feſtzuſetzen iſt..

b) Von den Lotterieverwaltungen der deutſchen Bundesſtaaten wird die Stempelſteuer in einer Summe für die Geſammtzahl der von ihr abgeſetzten Looſe zur Reichskaſſe abgeführt; eine Ab - ſtempelung der Looſe findet nicht ſtatt4)R.G. §. 18.. Die Verwaltungen der Staatslotterien haben ſpäteſtens am 15. Tage nach Ablauf der Ziehung jeder Klaſſe dem Reichsſchatzamte die Zahl der abge - ſetzten Looſe und den Preis der Looſe anzuzeigen, worauf das Reichsſchatzamt die zu entrichtende Steuer feſtſetzt5)Ausf. Vorſchr. 18. Zur Zeit beſtehen Staatslotterien in Preußen, Sachſen, Mecklenburg, Braunſchweig und Hamburg, welche zuſammen eine jährliche Steuer von rund 5,500,000 M. zu entrichten haben..

III. Das Verhältniß des Reiches zu den Einzel - ſtaaten hinſichtlich der Stempel-Abgabe iſt Folgendes:

1. Diejenigen Urkunden, welche der zur Reichskaſſe fließenden Stempel-Abgabe unterliegen, ſind der Beſteuerung Seitens der Einzelſtaaten entzogen6)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 25. R.G. v. 1. Juli 1881 §. 5 Abſ. 1 u. 2. §. 11. §. 20.; ebenſo die in den Reichsgeſetzen von der Stempelſteuer befreiten Werthpapiere und Urkunden. Die landes - geſetzlichen Vorſchriften über die Entrichtung von Abgaben,315§. 118. Der Urkunden-Stempel.Gebühren, Taxen u. dgl. ſind nur in folgenden Punkten in Gel - tung geblieben:

a) Hinſichtlich der Urkunden über Eintragungen in dem Hypo - thekenbuche (Grundbuche)1)R.G. v. 1. Juli 1881 §. 5 Abſ. 3..

b) Hinſichtlich der gerichtlichen oder notariellen Beur - kundungen der unter Nr. 4 a des Tarifs bezeichneten Geſchäfte, und der von ſolchen Urkunden ertheilten Ausfertigungen, beglaubigten Abſchriften und Auszüge; ſowie hinſichtlich der Schriftſtücke, welche von den Staatsverwaltungen der Bundesſtaaten über die erwähnten Geſchäfte aufgenommen oder ausgeſtellt werden. Dieſe Beurkun - dungen und Schriftſtücke ſind von der Reichsſtempel-Abgabe aus - geſchloſſen und nur den landesgeſetzlichen Abgaben unterworfen2)R.G. v. 1. Juli 1881 §. 9 lit. a. und lit. b. .

c) Verträge über die unter 4 a des Tarifs bezeichneten Sachen und Waaren, welche weder als gewerbliche Betriebsmaterialien noch zur Wiederveräußerung beſtimmt ſind, und Auktionen und Auktionsprotokolle unterliegen nicht der Reichsſtempel-Abgabe, ſondern den landesgeſetzlichen Steuervorſchriften; werden aber in dieſen Fällen von Mäklern oder anderen Unterhändlern Schrift - ſtücke (Schlußnoten n. dgl. ) ausgeſtellt, ſo iſt für dieſe die Reichs - ſtempelſteuer neben den landesgeſetzlichen Abgaben zu entrichten3)R.G. a. a. O. lit. c. und lit. d. .

d) Werden ſtempelpflichtige Schlußnoten (Tarifnummer 4 a) öffentlich beglaubigt, ſo finden die betreffenden landesgeſetzlichen Vorſchriften über Stempel und Gebühren für Beglaubigungen neben den Beſtimmungen des Reichsgeſetzes Anwendung4)R.G. §. 10..

2. Die allgemeinen Verwaltungsvorſchriften zur Ausführung der Reichsſtempelgeſetze ſind vom Bundesrathe zu erlaſſen5)Für das Geſ. v. 1. Juli 1881 verſteht ſich dies von ſelbſt wegen R.V. Art. 7 Ziff. 2; das Wechſelſtempel-Geſetz, bei deſſen Erlaß es an einer entſprechenden Verfaſſungs-Vorſchrift fehlte, ertheilte dem Bundesrath dieſe Er - mächtigung ſpeziell im §. 28. Vgl. über die im Wechſelſtempel-Geſetz dem Bundes - rath zugewieſenen Befugniſſe meine Abhandl. in Hirth’s Annalen 1873 S. 468.. Dahin gehören namentlich die Anordnungen wegen der Anfertigung und des Vertriebs der zu verwendenden Stempel - marken und geſtempelten Formulare und die Feſtſtellung der316§. 118. Der Urkunden-Stempel.Bedingungen, unter welchen für verdorbene Marken und For - mulare, ſowie für Stempel auf verdorbene Werthpapiere Er - ſtattung zuläſſig iſt1)R.G. v. 1. Juli 1881 §. 21. Vgl. hierzu Ausf. Vorſchriften v. 7. Juli 1881 Ziff. 19.. Das Wechſelſtempelgeſetz hat jedoch gerade hinſichtlich dieſer Anordnungen das Bundespräſidium (den Kaiſer) zum Erlaß derſelben ermächtigt2)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 22.. Der Bundesrath hat ferner außer den bereits mehrfach erwähnten Ausführungsvorſchriften zu den einzelnen Paragraphen des Stempelgeſetzes gleichzeitig Beſtimmungen über die Erhebung und Verrechnung der Stempel - abgaben, insbeſondere über die Führung der Regiſter, erlaſſen3)Sie ſind abgedruckt im Centralbl. des D. R. 1881 S. 304 ff..

Treten bei der Handhabung der beiden Stempelgeſetze Mängel hervor, namentlich Meinungsverſchiedenheiten unter den Directiv - behörden der Einzelſtaaten in Betreff der Auslegung, ſo iſt der Bundesrath auf Grund des Art. 7 Ziff. 3 der R.V. zuſtändig, darüber zu beſchließen.

3. Die Erhebung und Verwaltung der Abgabe ſteht den Einzelſtaaten zu. Die Landesregierungen beſtimmen die zu - ſtändigen Steuerſtellen, verſehen ſie mit den erforderlichen An - weiſungen und führen die Dienſtaufſicht und Kontrole. Nur der Debit der Wechſelſtempelmarken und geſtempelten Wechſelfor - mulare wird von den Poſtanſtalten beſorgt4)Vgl. Bekanntmachung v. 13. Dezemb. 1869 (B. G.Bl. S. 695) und Bekanntmachung v. 11. Aug. 1871 (R. G.Bl. S. 323)., ſo daß ein Theil der Verwaltung der Wechſelſtempelſteuer mit der Poſtver - waltung verſchmolzen iſt5)Vgl. Hirth’s Annalen 1873 S. 469.. Den Einzelſtaaten iſt auch die Beauf - ſichtigung der ordnungsmäßigen und vollkommenen Entrichtung der Stempelabgabe überlaſſen. Die in den Bundesſtaaten mit der Beaufſichtigung des Stempelweſens beauftragten Behörden und Beamten haben die gleichen Pflichten und die gleichen Rechte hin - ſichtlich der Reichsſtempelſteuer, wie ſie ihnen hinſichtlich der nach den Landesgeſetzen zu entrichtenden Stempelabgaben zuſtehen6)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 20. R.G. v. 1. Juli 1881 §. 27 Abſ. 1.. Ueberdies ſind außer den Steuerbehörden auch alle Reichsbehörden, Staats - und Kommunal-Behörden und Beamten, welche amtlich317§. 118. Der Urkunden-Stempel.mit den ſteuerpflichtigen Urkunden ſich zu befaſſen haben, ſowie die Notare verpflichtet, die Beſteuerung der ihnen vorkommenden Urkunden zu prüfen und die zu ihrer Kenntniß gelangenden Zu - widerhandlungen gegen die Reichsſtempelgeſetze bei der zuſtändigen Behörde zur Anzeige zu bringen1)R.G. v. 10. Juni 1869 §. 21. R.G. v. 1. Juli 1881 §. 28. Die Aufzählung der zur Kontrole und Anzeige verpflichteten Behörden iſt in den beiden Geſetzen nicht übereinſtimmend.. Die Central-Verwaltungs - ſtellen der Bundesſtaaten haben die Durchführung dieſer Anord - nungen zu beaufſichtigen und die ihnen untergebenen Behörden mit den erforderlichen Anweiſungen zu verſehen.

Eine beſondere Art der Kontrole iſt durch das R.G. vom 1. Juli 1881 §. 27 Abſ. 2 den Landesregierungen zur Pflicht gemacht. Dieſelben haben geeignete Beamte zu beſtimmen, welche nach näherer Vorſchrift des Bundesrathes2)Dieſe Vorſchriften ſind enthalten in den oben citirten Beſtimmungen v. 7. Juli 1881 Ziff. 16. Centralbl. 1881 S. 306. 307. die ſtempelpflichtigen Schriftſtücke der öffentlichen und der von Aktiengeſellſchaften oder Kommanditgeſellſchaften auf Aktien betriebenen Bank -, Kredit - oder Verſicherungsanſtalten, Handels - und gewerblichen Unter - nehmungen, ſowie der zur Erleichterung der Liquidation von Zeit - geſchäften beſtimmten Anſtalten periodiſch bezüglich der Stempel - verwendung zu prüfen haben. So lange die Landesregierungen geeignete Beamte nicht beſtimmt haben, ſind dieſe Reviſionen von den Reichs-Zollbevollmächtigten und Kontroleuren vorzunehmen.

Die Oberaufſicht über die den Einzelſtaaten überlaſſene Ver - waltungsthätigkeit ſteht gemäß Art. 17 der R.V. dem Kaiſer zu; ſie wird unter Verantwortlichkeit und Leitung des Reichskanzlers durch das Reichsſchatzamt geführt3)Ueber die Abrechnungen hinſichtlich der Erträge der Stempel-Abgaben und über die von den Landesbehörden und dem Reichsſchatzamte aufzuſtellenden Ueberſichten ſind die näheren Anordnungen enthalten in den Beſtimmungen Ziff. 12. (Centralbl. 1881 S. 305 fg.).

4. In Betreff des adminiſtrativen Strafverfahrens wegen der Zuwiderhandlungen gegen die Reichsſtempelgeſetze, hinſichtlich der Strafvollſtreckung, Strafmilderung und des Straferlaſſes im Wege der Gnade kommen die entſprechenden Vorſchriften der Zollgeſetze zur Anwendung. Die erkannten Geldſtrafen fallen dem Fiskus318§. 119. Allgemeine Charakteriſtik der Finanzwirthſchaft.desjenigen Staates zu, von deſſen Behörden die Strafentſcheidung erlaſſen iſt1)Geſ. v. 10. Juni 1869 §. 18 Abſ. 1. Geſ. v. 1. Juli 1881 §. 24.. Die Verwandlung einer Geldſtrafe in eine Freiheits - ſtrafe im Unvermögensfalle findet nicht ſtatt; auch darf zur Bei - treibung von Geldſtrafen ohne Zuſtimmung des Verurtheilten, wofern dieſer ein Inländer iſt, kein Grundſtück ſubhaſtirt werden2)Geſ. v. 10. Juni 1869 §. 15 Abſ. 3. Geſ. v. 1. Juli 1881 §. 25.. Die Behörden und Beamten der Bundesſtaaten ſind verpflichtet, ſich gegenſeitig thätig und ohne Verzug den verlangten Beiſtand in allen geſetzlichen Maßregeln zu leiſten, welche zur Entdeckung oder Beſtrafung von Stempelſteuer-Hinterziehungen dienlich ſind3)Geſ. v. 10. Juni 1869 §. 19. Geſ. v. 1. Juli 1881 §. 24..

5. Jedem Bundesſtaate wird von der Einnahme, welche in ſeinem Gebiete aus dem Verkauf von Stempelmarken oder ge - ſtempelten Blankets oder durch baare Einzahlung von Reichs - ſtempelabgaben erzielt wird, mit Ausnahme der Steuer von Looſen der Staatslotterien, der Betrag von zwei Prozent gewährt4)Geſ. v. 10. Juni 1869 §. 27. Geſ. v. 1. Juli 1881 §. 31. Das Wechſelſtempelgeſetz normirte den Antheil der Einzelſtaaten bis zum Ende des Jahres 1871 auf 36 Prozent, bis Ende 1873 auf 24 Prozent, bis Ende 1875 auf 12 Prozent und von da ab dauernd auf 2 Prozent.. Außerdem erhalten die drei Poſtverwaltungen für den Vertrieb der Wechſelſtempelmarken und Blankets eine Entſchädigung von Prozent der Brutto-Einnahme.

Dritter Abſchnitt. Die Finanzwirthſchaft des Reiches.

§. 119. Allgemeine Charakteriſtik.

Die Finanzwirthſchaft des Reiches iſt ihrem Grundprinzip nach eine Geſellſchaftswirthſchaft5)In meiner Darſtellung des Reichsfinanzrechts in Hirth’s Annalen 1873 iſt die Finanzwirthſchaft des Reiches als eine Miſchung von Staatswirth - ſchaft und Sozietätswirthſchaft charakteriſirt; ich habe mich jedoch überzeugt, daß dieſe Auffaſſung juriſtiſch unhaltbar iſt.. Der Grund dafür iſt theils ein hiſtoriſcher, indem die Nordd. Bundesverfaſſung anknüpfte an die unter den deutſchen Staaten bereits vorhandenen Verbände, deren Inſtitutionen ſie zum Theil conſervirte, ſo daß die im ehe -319§. 119. Allgemeine Charakteriſtik der Finanzwirthſchaft.maligen deutſchen Bunde, dem Poſtverein und namentlich dem Zollverein geltend geweſenen Grundſätze nachwirkten, theils ein ſachlicher, indem durch die mehreren Bundesgliedern eingeräumten Sonderrechte innerhalb des Reichsverbandes beſondere Einnahme - und Ausgabe-Gemeinſchaften geſchaffen worden ſind. Der Gegen - ſatz zwiſchen der Staatswirthſchaft und der Societätswirthſchaft beſteht darin, daß bei der erſteren Einnahmen und Ausgaben nicht blos gemeinſchaftliche, ſondern einheitliche und ungetheilte ſind, während bei der letzteren die gemeinſchaftlichen Einnahmen und Ausgaben auf die Mitglieder vertheilt werden, ſo daß die bei dieſer Vertheilung ſich ergebenden Quoten als Einnahmen und Ausgaben der einzelnen Mitglieder erſcheinen. Bei der Finanz - wirthſchaft des einheitlichen Staates giebt es keine Sonderein - nahmen oder Sonderausgaben der einzelnen Theile des Staates, ſondern die Einheitlichkeit der Staatsperſönlichkeit beherrſcht auch die Wirthſchaft und das Vermögen des Staates. Andererſeits giebt es bei conſequent durchgeführter Geſellſchaftswirthſchaft nur Einnahmen und Ausgaben der Mitglieder; denn daß diejenigen Einnahmen und Ausgaben, welche unter ſämmtliche Mitglieder nach demſelben Maßſtabe vertheilt werden, gegen einander auf - gerechnet werden und nur die Differenz zur Vertheilung kommt, iſt lediglich eine Rechnungsmanipulation zum Zweck der Verein - fachung; in Wirklichkeit giebt es keine Einnahme und keine Aus - gabe einer Societät, die nicht dem Effekte nach eine Einnahme oder Ausgabe der Mitglieder wäre. Thatſächlich kann dieſe juriſtiſche Natur der geſellſchaftlichen Wirthſchaft verdunkelt werden, wenn ſich zufällig die von den einzelnen Mitgliedern zu leiſtenden Beiträge mit den ihnen zu Gute kommenden Einnahme-Antheilen vollſtändig decken; dagegen zeigt ſich der Charakter der Geſellſchafts - wirthſchaft im Gegenſatz zur einheitlichen Wirthſchaft juriſtiſcher Perſonen in zwei Erſcheinungen, nämlich:

1) Es kann Ausgaben und Einnahmen geben, welche nicht ſämmtlichen Mitgliedern gemeinſam ſind, oder an denen nicht ſämmtliche Mitglieder in demſelben Verhältniß Antheil haben.

2) Wenn Einnahmen und Ausgaben ſich nicht vollſtändig decken, ſo iſt der ſich ergebende Aktiv - oder Paſſivſaldo auf die Mitglieder zu vertheilen.

Dieſe Repartition der Differenz iſt der prägnanteſte Ausdruck320§. 119. Allgemeine Charakteriſtik der Finanzwirthſchaft.der Geſellſchaftswirthſchaft; die letztere würde in dem Finanzweſen des Reichs am reinſten und vollſtändigſten durchgeführt ſein, wenn ſämmt - liche Ausgaben durch Matricularbeiträge von den einzelnen Staaten beſtritten würden. Aber auch die ſogenannten eigenen Einnahmen des Reiches ändern an dem juriſtiſchen Prinzip nichts, denn auch ſie kommen thatſächlich auf Matrikularbeiträge der Einzelſtaaten hinaus. Soweit ſie zur vollen Deckung der Ausgaben nicht hin - reichen, verringern ſie den durch baare Zahlungen der Mitglieder auszugleichenden Paſſivſaldo; falls ſie aber die gemeinſchaftlichen Ausgaben überſteigen, bildet die Differenz einen an die Mitglieder zu vertheilenden Ueberſchuß, der ſich juriſtiſch ſeinem Weſen nach von dem Reingewinn irgend einer anderen Geſellſchaft des Privat - rechts oder des öffentlichen Rechts nicht unterſcheidet.

Daß bei der Errichtung des Norddeutſchen Bundes und noch in beſtimmterer Durchbildung bei der Gründung des Reiches die Geſtaltung der Finanzwirthſchaft nach dem Sozietätsprinzip orga - niſirt wurde, ergiebt ſich aus mehreren Beſtimmungen der Ver - faſſung zur Evidenz. Nach Art. 38 haben die drei ſüddeutſchen Staaten an dem Ertrage der Branntwein - und Bierſteuer keinen Theil ; im Art. 51 wurde für eine Reihe von Jahren ein Maß - ſtab für die Berechnung prozentualer Antheile an dem Poſt - überſchuß feſtgeſtellt und beſtimmt, daß den einzelnen Staaten die ſich ergebenden Quoten auf ihre ſonſtigen Beiträge zu Reichs - zwecken zu Gute gerechnet werden ſollen1)Vgl. die ausführliche Darſtellung dieſer zur Zeit nicht mehr prak - tiſchen Einrichtungen in meiner Darſtellung des Reichsfinanzrechts in Hirth’s Annalen 1873 S. 513 ff.; nach Art. 62 müſſen die zur Beſtreitung des Aufwandes für das Heer beſtimmten Beiträge von den einzelnen Staaten des Bundes zur Reichs - kaſſe fortgezahlt werden; nach Art. 70 iſt die Differenz der ge - meinſchaftlichen Ausgaben gegen die gemeinſchaftlichen Ein - nahmen durch Beiträge der einzelnen Bundesſtaaten aufzu - bringen2)Andererſeits ſind auch die disponiblen Beträge der Franzöſ. Kriegs - koſten-Entſchädigung nicht blos auf die fünf verbündeten Staaten, ſondern auch innerhalb des Nordd. Bundes auf die Mitglieder deſſelben vertheilt worden..

Im Einklange mit dieſer ſocietätsmäßigen Geſtaltung der Finanzwirthſchaft ſteht die bereits oben S. 190 hervorgehobene321§. 119. Allgemeine Charakteriſtik der Finanzwirthſchaft.Thatſache, daß in der Verfaſſung der Reichsfiskus dem Wort und dem Begriffe nach fehlt. Allein es iſt andererſeits unverkennbar, daß nach der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes die Geſellſchaftswirthſchaft nach verhältnißmäßig kurzer Zeit thatſächlich hätte verſchwinden müſſen. Denn es gab nach dieſer Verfaſſung nur Ausgaben, die allen Staaten und zwar nach gleichem Maße gemeinſchaftlich waren und ebenſo hätte es nach Ablauf der für die Vertheilung der Poſtüberſchüſſe normirten Uebergangszeit nur Einnahmen gegeben, an denen alle Staaten im gleichen Maße Antheil hatten, ſo daß es lediglich der Einführung von Bundes - ſteuern behufs Beſeitigung der Matrikularbeiträge bedurft hätte, um die Bundes-Finanzwirthſchaft aus der geſellſchaftlichen Rechts - form in die korporative (ſtaatliche) überzuleiten.

Durch den Beitritt der ſüddeutſchen Staaten und durch die Entwicklung des Finanzweſens des Reiches iſt dieſer Weg ver - laſſen worden. Durch die den ſüddeutſchen Staaten eingeräumten Reſervatrechte auf dem Gebiete des Poſt - und Telegraphenweſens und der Verbrauchs-Abgaben und durch die beſondere Stellung Bayerns in Betreff des Militair - Eiſenbahn - und Heimathweſens ſind Complexe von Einnahmen und von Ausgaben gebildet worden, an denen nicht ſämmtliche Staaten gleichmäßig betheiligt ſind. Daſſelbe iſt in anderen Beziehungen durch die Verhältniſſe Elſaß - Lothringens herbeigeführt worden. Namentlich iſt aber ein prin - zipiell entſcheidender Schritt dadurch geſchehen, daß bei der Er - höhung der Zölle und der Tabaksſteuer durch das Reichsgeſetz vom 15. Juli 1879 §. 8 und ferner durch das Reichsſtempelgeſetz v. 1. Juli 1881 §. 32 die Matrikularbeiträge der Einzelſtaaten nicht vermindert oder abgeſchafft worden ſind, ſondern daß im Gegentheil das Syſtem der Matrikularbeiträge und eventuell das der Ueberſchuß-Vertheilung eine neue Anerkennung und verſtärkte Bedeutung erlangt hat.

Unter den Unebenheiten, welche die Reichsverfaſſung auf - weiſt, iſt die hervorragendſte und bemerkenswertheſte die, daß, während auf allen anderen Gebieten das bundesſtaatliche Prinzip obwaltet, die Finanzwirthſchaft des Reiches von dem förderaliſtiſchen Prinzip beherrſcht wird.

Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 21322§. 120. Die Einnahmen.

§. 120. Die Einnahmen.

Den von den Einzelſtaaten zur Beſtreitung der Ausgaben des Reiches zu zahlenden Beiträgen , ſtehen diejenigen Einnahmen gegenüber, welche zur Reichskaſſe fließen . Man pflegt ſie, eigene Einnahmen des Reiches zu nennen; im Art. 70 der R.V. ſelbſt werden ſie richtiger als gemeinſchaftliche Einnahmen (der Bundes - ſtaaten) bezeichnet. Als Einnahmen des Reiches kann man ſie nur in dem Sinne charakteriſiren, daß ſie verfaſſungsmäßig oder reichs - geſetzlich zur Beſtreitung von Ausgaben des Reiches beſtimmt ſind, von den Einzelſtaaten dieſem Zweck nicht entzogen werden können, vielmehr aus der Finanzwirthſchaft der Einzelſtaaten ganz aus - ſcheiden und von der Finanzgewalt des Reiches beherrſcht werden; ſowie man etwa die Erträgniſſe des Geſellſchaftsvermögens eigene Einnahmen der Societät im Gegenſatz zu den Zuſchüſſen der Geſellſchafter nennen kann und ſowie man die Einlagen der Geſell - ſchafter als eigenes Vermögen der Societät im Gegenſatz zum Privatvermögen der Sozii bezeichnen kann, weil die letzteren nicht befugt ſind, ihre Einlagen den Geſellſchaftszwecken zu entziehen.

Nicht alle Staaten nehmen aber an allen dieſen Ein - nahmen Theil; es beſtehen vielmehr unter ihnen folgende Ein - nahme-Gemeinſchaften:

1. Allen Staaten gemeinſam ſind die Erträge des Reichsvermögens, die Gebühren, welche für die Amtshandlungen der Reichsbehörden zu entrichten ſind, die Erträge der Reichs - ſtempel-Abgaben mit Einſchluß der ſtatiſtiſchen Gebühr, die Er - träge der Zölle, der Salzſteuer, Rübenzuckerſteuer und Tabakſteuer. Von den Zöllen, Verbrauchsabgaben und Stempelſteuern fließen in die Reichskaſſe nur diejenigen Erträge, welche ſich nach Abzug der Ausfuhr-Vergütungen und anderen Rückerſtattungen und der den Einzelſtaaten verbleibenden Entſchädigungen für die Erhebungs - und Verwaltungskoſten ergeben1)Vgl. Reichsverf. Art. 38 Abſ. 2. Reichsſtempelgeſ. v. 1. Juli 1881 §. 32.. Die Einnahme-Gemeinſchaft aus den Zöllen und den erwähnten Verbrauchsabgaben erſtreckt ſich auch auf die vom Zollgebiet ausgeſchloſſenen Gebietstheile, für welche von den betreffenden Staaten ein entſprechender Beitrag zu den Ausgaben des Reichs durch Zahlung eines Averſums323§. 120. Die Einnahmen.entrichtet wird. Der Berechnung derſelben wird die ortsan - weſende Bevölkerung, wie ſie bei der letzten Volkszählung con - ſtatirt worden iſt, zu Grunde gelegt; d. h. es wird von den Zoll - ausſchlüſſen an die Reichskaſſe ebenſoviel für jeden Kopf ihrer Bevölkerung gezahlt als der wirkliche Netto-Ertrag der Reichs - ſteuern und Zölle für den Kopf des Zollgebietes ergiebt1)Bundesrathsbeſchluß v. 25. Mai 1878 (Protok. §. 333), citirt bei v. Aufſeß a. a. O. S. 779 Note 1.. Da aber der Netto-Ertrag dieſer Einnahmen erſt nach Abſchluß der Jahresrechnungen definitiv feſtgeſtellt werden kann, ſo modifiziren ſich hiernach auch die budgetmäßigen Anſätze der Averſionalſummen. Die von den betreffenden Staaten monatlich an die Reichskaſſe abzuführenden Beträge2)Nach dem Reichsgeſ. v. 4. Dez. 1871 §. 3 Abſ. 2 (R. G.Bl. S. 413) ſind die Averſionalbeträge an den nämlichen Terminen zur Reichskaſſe abzu - führen, wie die Zölle und Steuern, deren Stelle ſie vertreten., ſind nur vorläufige Zahlungen à Conto des Averſums. Da nun aber in großen Handelsſtädten und Ver - kehrscentren der Verbrauch zoll - und ſteuerpflichtiger Gegenſtände bei weitem den durchſchnittlichen Conſum eines ausgedehnten Zoll - gebietes überſteigt, theils wegen des großen Fremdenzuſammen - fluſſes theils wegen des größeren Lebensaufwandes der ein - heimiſchen Bevölkerung, ſo würden Hamburg und Bremen, wenn ſie im Zollgebiete eingeſchloſſen wären, an Zöllen und Verbrauchs - abgaben erheblich mehr als den durchſchnittlichen Kopfbetrag für die Reichskaſſe vereinnahmen. Aus dieſem Grunde tritt zu dem, nach Maßgabe der Zoll - und Steuer-Einnahme des Reiches zu berechnenden Kopfbeträgen für die ſtädtiſche und vorſtädtiſche Be - völkerung von Hamburg und Bremen3)Auf Grund der Ergebniſſe der Volkszählung v. 1. Dezemb. 1880 hat der Bundesrath am 28. März 1882 die der Zuſchlagsberechnung zu Grunde zu legende Bevölkerungsziffer für Bremen auf 101,341, für Hamburg auf 343,484 Köpſe feſtgeſtellt. noch ein feſter Zuſchlag hinzu4)Nach einem Beſchluß des Bundesrathes des Nordd. Bundes von 1867 wurde der Zuſchlag nur von der ſtädtiſchen Bevölkerung erhoben und betrug für ſämmtliche Verbrauchsabgaben und Zölle 3 Mark für den Kopf. Bei der Berathung des Reichshaushalts-Etats für 1878 / 79 wurde vom Reichs - tage durch eine Reſolution die Frage angeregt, ob nicht eine Erhöhung des Zuſchlages geboten ſei. In Folge deſſen wurde vom Bundesrath eine Kom - miſſion eingeſetzt, und auf den Bericht derſelben (Druckſachen des Reichstags.

21*324§. 120. Die Einnahmen.

2. Allen Staaten mit Ausnahme Bayerns ſind gemeinſchaftlich die eigenen Einnahmen der Verwaltung des Reichs - heeres und des allgemeinen Militär-Penſionsfonds, da hinſichtlich der finanziellen Verwaltung des Heerweſens zwiſchen Bayern und den übrigen Staaten keine Gemeinſchaft beſteht.

3. Allen Staaten mit Ausnahme Bayerns und Würt - tembergs ſind gemeinſam die Ueberſchüſſe der Poſt - und Telegraphenverwaltung.

4. Allen Staaten mit Ausnahme Bayerns, Württem - bergs und Badens ſind gemeinſchaftlich die Einnahmen aus der Beſteuerung des Branntweins1)Auch hier iſt die Netto-Einnahme zu verſtehen, das iſt derjenige Betrag, welcher von der Brutto-Einnahme nach Abzug der geſetzlichen Rück - vergütungen, Erſtattungen, Ausfuhr-Bonifikationen und der den Einzelſtaaten gebührenden 15 Prozent Erhebungs - und Verwaltungskoſten übrig bleibt. ſowie die Uebergangs - abgaben vom Branntwein, welcher aus den Gebieten der 3 genannten Staaten in das Gebiet der Branntweinſteuergemeinſchaft eingeführt wird. Zu dieſer Gemeinſchaft gehören auch die Zollausſchlüſſe, abgeſehen von den Badiſchen; von ihnen wird daher der entſpre - chende Betrag in Geſtalt einer Averſionalſumme erhoben2)Ueber den Zuſchlag in Hamburg und Bremen vgl. oben S. 323 Note 4. Zu den Exklaven dieſer Gemeinſchaft gehören auch die Aemter Oſtheim und Königsberg. Vgl. oben S. 276..

5. Allen Staaten mit Ausnahme Bayerns, Württem - bergs, Badens und Elſaß-Lothringens ſind gemein - ſchaftlich die Einnahmen aus der Brauſteuer, die Uebergangs - abgaben für Bier und die an Stelle dieſer Steuern zu entrichten - den Averſa der Exklaven3)Auch bei dieſer Gemeinſchaft ſind die Aemter Oſtheim und Königsberg als Exklaven mit Averſen betheiligt. Vgl. S. 277 fg..

6. Da bei dem Kriege mit Frankreich der Norddeutſche Bund und Südheſſen eine einheitliche kriegführende Macht bildeten, ſo beſtand ſowohl hinſichtlich der Koſten der Kriegführung als hin - ſichtlich des Antheils an der von Frankreich gezahlten Kriegskoſten -4)1879 / 80 Nr. 22; auch in Hirth’s Annalen 1880 S. 531) vom Bundesrath am 12. März 1880 (Prot. §. 176) beſchloſſen, vom Etatsjahr 1880 / 81 an den Zu - ſchlag auf die vorſtädtiſche Bevölkerung Hamburgs und Bremens auszu - dehnen und auf 5 Mark pro Kopf zu erhöhen; hiervon entfallen auf die Branntweinſteuer 0,6423 M., auf die Brauſteuer 0,2863 M., der Reſt auf die allen Staaten gemeinſchaftlichen Abgaben und Zölle.325§. 121. Die Ausgaben.Entſchädigung eine Gemeinſchaft zwiſchen dem Norddeutſchen Bunde und Südheſſen, welche bis in die Gegenwart inſoweit ihre Wir - kungen erſtreckte, als noch Fonds, welche aus der Kriegskoſten - Entſchädigung ſtammten, zur Realiſirung und Verwendung kommen1)Ueber die Vertheilung und Verwendung der Kriegskoſten-Entſchädigung vgl. die ausführliche Darſtellung in Hirth’s Annalen 1873 S. 417 ff..

7. Aus dem Beſtehen dieſer verſchiedenen Gemeinſchaften er - gibt ſich als nothwendige Folge, daß auch die etwaigen Ueber - ſchüſſe der Vorjahre, welche nach Art. 70 der R.V. zur Beſtrei - tung der gemeinſchaftlichen Ausgaben dienen, nicht gleichmäßig allen Bundesſtaaten zu gute kommen. Es iſt vielmehr zu unterſcheiden, aus welcher Quelle die Ueberſchüſſe ſtammen; Einnahme-Ueber - ſchüſſe an Branntwein - und Brauſteuer gebühren ausſchließlich den Staaten der Branntwein - und Brauſteuergemeinſchaft; an Einnahme - Ueberſchüſſen der Reichspoſtverwaltung haben Bayern und Würt - temberg keinen Antheil. Dieſelbe Unterſcheidung iſt bei denjenigen Ueberſchüſſen zu machen, welche durch Minderausgaben entſtehen.

§ 121. Die Ausgaben.

Im Allgemeinen gilt der Grundſatz, daß die Ausgaben des Reiches von ſämmtlichen Staaten gemeinſam getragen werden, da die Thätigkeit des Reichs im Geſammtintereſſe aller ſeiner Mit - glieder erfolgt. Nur ſoweit für einen einzelnen Zweig dieſer Auf - gabe die Fürſorge des Reiches für ein beſtimmtes Staatsgebiet ausgeſchloſſen und die Territorial-Staatsgewalt an die Stelle ge - ſetzt iſt, ſcheidet die letztere auch aus der Gemeinſchaft der Aus - gaben aus, welche für dieſen Zweck verwendet werden. Da eine derartige Exemtion eines Bundesmitgliedes aber immer eine Aus - nahme von der Regel bildet, die durch einen beſonderen Rechtsſatz oder durch beſondere thatſächliche Verhältniſſe begründet ſein muß, ſo iſt es nicht erforderlich, alle diejenigen Ausgaben des Reiches aufzuzählen, welche allen Mitgliedern gemeinſam ſind, ſondern es genügt, diejenigen Ausgaben zu erörtern, an welchen nicht ſämmt - liche Mitglieder des Reiches gleichmäßig participiren. Einige der - ſelben ſind ſeit der Gründung des Reiches durch die Einführung der meiſten norddeutſchen Bundesgeſetze in den ſüddeutſchen Staaten, durch die Uebernahme der vom Norddeutſchen Bunde bewilligten326§. 121. Die Ausgaben.Subventionen, Penſionen und Entſchädigungen auf gemeinſame Reichskoſten und durch die Tilgung der Norddeutſchen Bundes - Anleihe fortgefallen. Gegenwärtig ſind die folgenden Ausgaben - Ungleichheiten unter den einzelnen Mitgliedern des Reiches vor - handen:

1. Die Koſten des Bundesamtes für das Heimaths - weſen treffen Bayern und Elſaß-Lothringen nicht mit, da das Geſetz des Norddeutſchen Bundes vom 6. Juni 1870 über den Unterſtützungswohnſitz in Bayern1)Die Ausdehnung des Geſetzes auf Bayern ohne deſſen Zuſtimmung iſt ausgeſchloſſen durch den Vertrag von Verſailles v. 23. Nov. 1870 Art. III. §. 1 u. R.V. Art. 4 Ziff. 1. und Elſaß-Lothringen nicht eingeführt iſt.

2. Die Koſten des Eiſenbahnamtes werden nur zu 10% von der Geſammtheit aller Staaten getragen; an den übrigen 90% hat Bayern keinen Antheil, da gemäß Art. 46 Abſ. 2 der R.V. die Thätigkeit dieſer Reichsbehörde Bayern gegenüber im Weſentlichen ausgeſchloſſen iſt2)Vgl. Bd. I S. 342. In demſelben Verhältniß partizipiren die Staaten an den Einnahmen des Reichseiſenbahnamts für verkaufte Druckſachen und an Wittwen - und Waiſengeldbeiträgen..

3. Die Koſten für die Kontrole der Branntwein - und Bierſteuer und der Uebergangsabgaben von Branntwein und Bier werden von Bayern, Württemberg, Baden und Elſaß-Lothringen nicht mitgetragen.

4. An den Koſten der Poſt - und Telegraphenver - waltung ſind Bayern und Württemberg nur mit einem Beitrage zu den Ausgaben für die Centralverwaltung betheiligt3)Nach dem Etat für 1882 / 83 iſt dieſer Beitrag für beide Staaten zu - ſammen auf 29,268 M. feſtgeſtellt. Vgl. die näheren Angaben in Hirth’s Annalen 1873 S. 494..

5. Die Thätigkeit des Rechnungshofes hat für die ver - ſchiedenen Theile des Reiches eine ſehr verſchiedene Ausdehnung, theils wegen der Selbſtſtändigkeit der Bayeriſchen Militärverwaltung und der Bayeriſchen und Württembergiſchen Poſt - und Telegraphen - verwaltung, theils wegen des Ausſchluſſes der Süddeutſchen Staaten von der Getränkeſteuer-Gemeinſchaft, endlich wegen der ihm ob - liegenden Prüfung ſämmtlicher Rechnungen über die Verwaltung327§. 121. Die Ausgaben.von Elſaß-Lothringen1)Außerdem lag dem Rechnungshof die Prüfung der Kriegsrechnungen des Nordd. Bundes ob; die hierdurch entſtandenen Koſten ſind aus dem An - theil des Nordd. Bundes an der Franzöſiſchen Kriegskoſten-Entſchädigung be - ſtritten worden.. In Folge deſſen vertheilen ſich auch die Koſten des Rechnungshofes in verſchiedener Weiſe:

a. Elſaß-Lothringen trägt zu den Geſammtausgaben mit einem Averſalbetrage bei, welcher die Koſten für die Kontrole des Landeshaushaltes deckt2)Eine ſpezifizirte Berechnung deſſelben findet ſich in dem Entwurf des Etatsgeſetzes für 1882 / 83 Anlage XI S. 5. Der Beitrag beziffert ſich auf 42,013 M..

b. Im Uebrigen werden die Ausgaben für den Rechnungshof in der Art vertheilt, daß

  • 30 Procent von der Geſammtheit aller Staaten,
  • 51 Procent von allen Staaten mit Ausnahme Bayerns,
  • 19 Procent von allen Staaten außer Bayern und Württemberg

getragen werden.

6. In dem Etat des Reichsſchatzamtes findet ſich ein Beitrag zu den Ausgaben des Preußiſchen Civil-Kabinets; da ſich die Thätigkeit dieſer Behörde in Reichsſachen aber zum großen Theil auf elſaß-lothringiſche Angelegenheit bezieht, ſo iſt vereinbart worden, daß die Hälfte dieſes Beitrages der Reichskaſſe aus elſaß - lothringiſchen Landesfonds erſtattet wird3)Das elſaß-lothringiſche Averſum beträgt nach dem Etat für 1882 / 83 3150 M..

7. Die gleichmäßige Vertheilung der Koſten für die Reichs - geſandtſchaften auf die einzelnen Staaten iſt in dreifacher Weiſe modificirt:

a. Das dem Reiche zuſtehende Geſandtſchaftsrecht ſchließt nicht aus, daß nicht auch die Einzelſtaaten Geſandtſchaften zur Beſorgung ihrer ſpeciellen Landesangelegenheiten halten4)Vgl. Bd. II S. 241 fg.. Da, wo ein Ein - zelſtaat von dieſer Befugniß Gebrauch macht, wird den Reichsge - ſandtſchaften ein Theil ihrer Geſchäftslaſt abgenommen und es erſcheint deshalb unbillig, daß ein Staat, welcher eine Landesge - ſandtſchaft unterhält, an den Koſten, welche die an demſelben Orte beſtehende Reichsgeſandtſchaft verurſacht, mit ſeinem vollen matri - kularmäßigen Antheile participirt. Man hat ſich demgemäß bei328§. 121. Die Ausgaben.Feſtſtellung des Reichshaushaltsetats für 1871 dahin geeinigt, jedem Staate, welcher Landesgeſandtſchaften unterhält, die Hälfte ſeines Matrikularbeitrages zu den jährlichen Beſoldungsausgaben für die - jenigen Bundesgeſandtſchaften, an deren Sitze ſich eine Landesge - ſandtſchaft des betreffenden Staates befindet, zu erlaſſen1)Dieſem Grundſatze gemäß, genießen folgende Staaten Nachläſſe: Sachſen 5190 M., Württemberg 8690 M. und Braunſchweig 616 M. Der Reichstag hat ſich in der I. Seſſion 1871 in einer Reſolution für die Beſeiti - gung der Nachläſſe, ſoweit ſie nicht in den beſtehenden Verträgen ausdrücklich bedungen worden ſind, ausgeſprochen.. Da dieſe Nachläſſe auf Koſten ſämmtlicher Bundesſtaaten gewährt werden, ſo iſt zunächſt ihr Geſammtbetrag den von der Gemein - ſchaft zu tragenden Ausgaben hinzuzurechnen, von der hieraus ſich ergebenden Summe der matrikularmäßige Antheil der einzelnen Staaten zu ermitteln und von dieſem Antheil dann den Landes - geſandtſchaften unterhaltenden Staaten der ihnen zukommende Nach - laß in Abzug zu bringen2)Vgl. die Denkſchrift zu dem Entwurf eines Geſetzes, betr. die Feſtſtellung des Haushalts-Etats des Deutſchen Reichs für das Jahr 1871 unter N. 2..

b) Bayern iſt in dem Schlußprotokoll zu dem Vertrage vom 23. Nov. 1870, betr. den Beitritt Bayerns zum Deutſchen Bunde im Art. VII. die Zuſicherung ertheilt worden, daß die Königlich Bayeriſchen Geſandten an den Höfen, an welchen ſolche beglaubigt ſind, vom Kaiſer Vollmacht erhalten werden, die Reichs - geſandten in Verhinderungsfällen zu vertreten, wogegen Bayern zugeſichert hat, daß die Bayeriſchen Geſandten angewieſen ſein würden, in allen Fällen, in welchen dies zur Geltendmachung allgemein Deutſcher Intereſſen erforderlich oder von Nutzen ſein wird, den Bundesgeſandten ihre Beihülfe zu leiſten . Im An - ſchluß hieran beſtimmt der Art. VIII. deſſelben Protokolls, daß in Anbetracht dieſer Leiſtungen der Bayeriſchen Regierung für den diplomatiſchen Dienſt und in Erwägung des Umſtandes, daß an denjenigen Orten, an welchen Bayern eigene Geſandtſchaften unter - hält, die Vertretung der Bayeriſchen Angelegenheiten den Bundes - geſandten nicht obliegt, das Reich bei Feſtſtellung der Ausgaben für den diplomatiſchen Dienſt des Reiches der Bayeriſchen Regie - rung eine angemeſſene Vergütung in Anrechnung zu bringen habe. 329§. 121. Die Ausgaben.Bei der Aufſtellung des Etats für 1871 hat man die Größe dieſer Vergütung dahin normirt, daß Bayern der volle matrikular - mäßige Beitrag zu den Beſoldungs-Ausgaben derjenigen Reichs - geſandtſchaften, an deren Sitze Bayeriſche Landesgeſandtſchaften beſtehen, nachgelaſſen wird1)Der Nachlaß beträgt für Bayern 106,974 M..

c) Preußen andererſeits zahlt dafür, daß die Reichsgeſandt - ſchaften zugleich die beſonderen Preußiſchen Landesangelegenheiten beſorgen, dem Reiche eine Averſionalſumme von 90,000 Mark.

8. Der weitaus wichtigſte Unterſchied in der Beitragspflicht zu den Ausgaben des Reiches betrifft die Verzinſung und eventuell Rückzahlung der Reichsſchuld. Zwar haftet das ganze Reich als einheitliches Rechtsſubjekt ſämmtlichen Gläubigern für den vollen Betrag der Schulden; unter den Mitgliedern des Reiches aber vertheilen ſich die Leiſtungen, um dieſer Haftung zu genügen, in ungleicher Weiſe. Ein großer Theil der Anleihen iſt nämlich für Zwecke der Reichs-Militairverwaltung aufgenommen und trifft aus dieſem Grunde Bayern nicht mit; ein anderer Theil iſt für Zwecke der Reichspoſt - und Telegraphen-Verwaltung verwendet worden und trifft aus dieſem Grunde Bayern und Württemberg nicht mit. Ganz daſſelbe gilt von den Schatzſcheinen, welche zur vorübergehenden Verſtärkung der Betriebsfonds der Reichskaſſe jährlich aufgenommen werden, indem auch von dieſen ein Theil für die Reichsmilitairverwaltung und ein anderer Theil für die Reichs - poſtverwaltung verwendet wird2)Siehe oben S. 231.. Hiernach ergeben ſich in Be - treff der Reichsſchulden drei Finanzgemeinſchaften: diejenige aller Bundesſtaaten, diejenige aller Bundesſtaaten außer Bayern und diejenige aller Bundesſtaaten mit Ausnahme von Bayern und Württemberg3)Nach einer im Etats-Entwurf für 1882 / 83 Anlage X enthaltenen Nachweiſung betrug am 1. April 1881 bei einem Geſammtkapital der 4 % Reichsſchulden von (rund) 268 Mill. Mark der Antheil der Gemeinſchaft aller Bundesſtaaten (rund) 188 Mill., der Antheil aller Staaten außer Bayern (rund) 35 Mill., der Antheil der Staaten außer Bayern und Württemberg (rund) 45 Mill. In demſelben Verhältniß vertheilen ſich die Beiträge für die Verzinſung. Durch die ſpäter ausgegebenen Summen haben ſich dieſe Beträge und die zwiſchen ihnen beſtehenden Differenzen erhöht..

9. Endlich ergiebt ſich aus den im Vorſtehenden aufgeführten330§. 122. Die Matrikularbeiträge.Verſchiedenheiten, daß auch die Deckung eines Deficits, welches ſich bei der Finanzverwaltung für eine Wirthſchaftsperiode ergeben hat, nicht gleichmäßig auf alle Bundesſtaaten zu vertheilen iſt, ſondern daß bei den einzelnen Minder-Einnahmen oder Mehr - Ausgaben, aus denen der Fehlbetrag hervorgeht, diejenige Finanz - gemeinſchaft den Ausfall zu decken hat, welche die betreffende Einnahme oder Ausgabe angeht. Es kommen hier namentlich in Betracht die Gemeinſchaft der Militair-Ausgaben, die Gemeinſchaft der Poſt - und Telegraphenverwaltung, die Gemeinſchaft der Brannt - wein - und Bierſteuer und die 3 Gemeinſchaften der Reichsſchulden.

§. 122. Die Matrikularbeiträge.

I. Die eigenthümliche Disharmonie in der Geſtaltung des Reichsfinanzweſens, welche ſich daraus ergiebt, daß das Reich wie jeder andere Staat die ſogen. Finanzhoheit oder Finanzgewalt, ins - beſondere die Beſteuerung und das Finanzgeſetzgebungsrecht hat, daß aber die Finanzwirthſchaft des Reiches materiell eine Geſellſchafts - wirthſchaft iſt, prägt ſich auch an den Matrikularbeiträgen aus. Sie erſcheinen einerſeits als Steuern, die das Reich alljährlich den Einzelſtaaten auferlegt, andererſeits als Societäts - beiträge, welche die Bundesglieder zu leiſten haben. Die Verpflichtung zu ihrer Entrichtung beruht einerſeits auf dem formellen Rechtstitel des Reichshaushaltsgeſetzes1)Der dauernde geſetzliche Rechtstitel für die Verpflichtung der Einzel - ſtaaten zur Zahlung der Matrikularbeiträge beſteht in der Vorſchrift des Art. 70 der R.V.; dieſelbe läßt aber das Maaß dieſer Verpflichtung unbe - ſtimmt. Das Etatsgeſetz ſetzt für jedes Jahr dieſes Maaß feſt und macht durch dieſe Determination der Vorſchrift des Art. 70 die Verpflichtung der Einzelſtaaten realiſirbar., andererſeits auf dem materiellen Rechtstitel der Mitgliedſchaft des Reichs - verbandes und des Antheils an den Reichsausgaben, der, civil - rechtlich angeſehen, ſie als Societätsobligation qualifiziren würde. Der formelle Rechtstitel des Etatsgeſetzes begründet die Legitima - tion des Reichskanzlers, die Zahlung der Beiträge von den Bundes - regierungen in budgetmäßiger Höhe zu fordern und die ſtaats - rechtliche Legitimation der Bundesregierungen, die Zahlungen aus Landesmitteln zu leiſten2)R.V. Art. 70.. Erweiſen ſich jedoch die budget -331§. 122. Die Matrikularbeiträge.mäßigen Matrikularbeiträge als unzureichend zur Deckung der Reichsausgaben, ſei es weil die ſogen. eigenen Einnahmen des Reichs hinter dem budgetmäßigen Anſchlage zurückgeblieben ſind oder weil die Ausgaben den budgetmäßigen Anſchlag überſtiegen haben, ſo äußert der materielle Verpflichtungsgrund ſeine rechtliche Wirkung und es bleibt für die Bundesſtaaten die Verpflichtung beſtehen, den noch fehlenden Betrag nachzuzahlen. Es gibt in der Reichswirthſchaft kein wahres Deficit im formalen Sinne des Finanz - rechts, ſo lange die einzelnen deutſchen Staaten ſolvent ſind, weil in den Matrikularbeiträgen eine ſubſidiäre und alle Bedürfniſſe umfaſſende Einnahmequelle von unbeſchränktem Umfange gegeben iſt.

Die Zahlungspflicht der Einzelſtaaten zu nachträglichen Matri - kularbeiträgen muß aber erſt feſtgeſtellt werden durch Vermittlung eines Geſetzes, die materielle Zahlungsverpflichtung muß mit der formellen Fixirung derſelben, wie ſie im Etat erfolgt iſt, durch Ergänzung oder Abänderung des Etats in Einklang geſetzt, dem materiellen Verpflichtungsgrund ein formeller zugefügt werden. Denn theils haben die zur (Etats -) Geſetzgebung berufenen Organe zu prüfen, ob die Mehrausgaben oder Mindereinnahmen, welche die nachträgliche Erhöhung der Matrikularbeiträge verurſachen, ſtaats - rechtlich gerechtfertigt erſcheinen, theils ſteht ihnen die Befugniß zu, den Mehrbedarf auf andere Art als durch Matrikularbeiträge, z. B. durch Einführung einer Steuer oder durch Aufnahme einer Anleihe, zu decken. Daher iſt ein Verſuch des Bundeskanzlers, im Jahre 1868 Matrikularbeiträge über die Höhe des budget - mäßigen Betrages hinaus mit Rückſicht auf die materielle Ver - pflichtung der Einzelſtaaten zur antheilsmäßigen Deckung ſämmt - licher Ausgaben zu erheben1)Die beiden von dem Ausſchuſſe des Bundesraths für Rechnungsweſen unter dem 3. und 15. Juli 1868 in dieſem Sinne verfaßten Berichte ſind abgedruckt in Hirth’s Annalen 1869 S. 274 284., mit Recht als im Widerſpruch mit der Verfaſſung ſtehend zurückgewieſen worden, und die Einzelregie - rungen würden nicht einmal ihren Landesvertretungen gegenüber legitimirt ſein, Matrikularbeiträge über den im Reichsbudget feſt - geſetzten Etat hinaus an die Reichskaſſe zu zahlen. Uebrigens iſt die vom Reichstage genehmigte Erhöhung der Matri - kularbeiträge auf Grund der ſtattgefundenen und ihm mit - getheilten Mehrausgaben wohl zu unterſcheiden von der Genehmi -332§. 122. Die Matrikularbeiträge.gung der Etats-Ueberſchreitungen und außeretatsmäßigen Ausgaben ſelbſt (vgl. darüber unten). Die Nachweiſung des faktiſchen Finanz - ergebniſſes hat nur die Bedeutung einer Motivirung für die ander - weitige Feſtſtellung der Matrikularbeiträge; die letztere ſchließt aber nicht die ſelbſtſtändige Prüfung der Nothwendigkeit und Angemeſſenheit der im Etat nicht vorgeſehenen oder nicht in ausreichender Höhe vorgeſehenen Ausgaben aus1)Vgl. den Kommiſſionsbericht des Deutſchen Reichstages vom 24. April 1871. Druckſachen I. Seſſion 1871 Nr. 62..

II. Dieſes Nebeneinanderbeſtehen zweier Verpflichtungsgründe für die Entrichtung der Matrikularbeiträge, eines formellen den man als den ſtaatsrechtlichen bezeichnen kann und eines materiellen den man ſich als privatrechtlichen denken kann hat die Möglichkeit gegeben, die Matrikularbeiträge formell beizubehalten auch ohne daß ein materielles Bedürfniß für dieſelben vorhanden iſt. Dies iſt geſchehen durch den oben bereits erwähnten § 8 Abſ. 1 des Reichsgeſetzes vom 15. Juli 18792)R. G.Bl. 1879 S. 211. Vgl. hierüber die Stenogr. Berichte des Reichs - tages 1879 S. 2177 ff. u. 2241 ff. Die Aufnahme der Beſtimmung in das Geſetz beruht auf einem von der Kommiſſion des Reichstages genehmigten Antrage, der bei den Verhandlungen als der von Frankenſtein’ſche be - zeichnet worden iſt. und durch das Reichsſtempelgeſetz vom 1. Juli 1881 § 323)R. G.Bl. 1881 S. 192..

Nach den Beſtimmungen des Art. 70 der Reichsverfaſſung ſollten die Matrikularbeiträge nur dazu dienen, denjenigen Betrag der gemeinſchaftlichen Ausgaben aufzubringen, welcher nicht gedeckt werden kann durch die etwaigen Ueberſchüſſe der Vorjahre, durch die aus den Zöllen, den gemeinſchaftlichen Verbrauchsſteuern und aus dem Poſt - und Telegraphenweſen fließenden gemeinſchaftlichen Einnahmen und aus den Erträgen der etwa einzuführenden Reichs - ſteuern. Im Art. 38 Abſ. 2 der R.V. iſt außerdem ausdrücklich angeordnet, daß der in die Reichskaſſe fließende Ertrag der Zölle und Verbrauchsſteuern aus der geſammten von dieſen Finanz - quellen aufgekommenen Einnahme nach Abzug der dort unter Z. 1 3 aufgeführten Beträge beſtehe. Nach der Reichsverfaſſung ſollten daher die Matrikularbeiträge nur ſubſidiär zur Erhe - bung kommen, d. h. falls der Geſammtbetrag der im Art. 70 auf -333§. 122. Die Matrikularbeiträge.geführten Einnahmen nicht ausreichend iſt zur Deckung der Aus - gaben, und nur proviſoriſch, d. h. ſo lange Reichsſteuern nicht eingeführt ſind . Durch die erwähnten Geſetze ſind dieſe Grundſätze der Reichsverfaſſung durchbrochen worden.

Das Geſ. vom 15. Juli 1879 § 8 Abſ. 1 beſtimmt: Derjenige Ertrag der Zölle und der Tabakſteuer, welcher die Summe von 130 Mill. Mark in einem Jahr über - ſteigt, iſt den einzelnen Bundesſtaaten nach Maßgabe der Bevölkerung, mit welcher ſie zu den Matrikularbeiträgen herangezogen werden, zu überweiſen. Es wird alſo nicht der geſammte Ertrag der Zölle und Ver - brauchsabgaben gemäß Art. 38 und 70 der R.V. zur Beſtreitung der Bedürfniſſe des Reiches verwendet, ſondern nur eine feſt be - ſtimmte Summe des Ertrages, ohne Rückſicht, ob dieſelbe zur Deckung der gemeinſchaftlichen Ausgaben genügt oder nicht.

Uebereinſtimmend hiemit beſtimmt das Geſ. v. 1. Juli 1881 § 32: Der Ertrag der Abgaben fließt .... in die Reichskaſſe und iſt den einzelnen Bundesſtaaten nach dem Maßſtabe der Bevölkerung, mit welcher ſie zu den Matrikularbeiträgen heran - gezogen werden, zu überweiſen. Trotzdem alſo eine Reichsſteuer eingeführt worden iſt, deren Ertrag in die Reichskaſſe fließt , ſo wird der letztere doch nicht gemäß Art. 70 der R.V. zur Deckung der gemeinſchaftlichen Ausgaben verwendet, ſondern er fließt nur durch die Reichskaſſe hindurch und theilt ſich in Arme, die in die Landeskaſſen der Einzelſtaaten ein - münden.

Die Reichsgeſetze von 1879 und 1881 wollen materiell das Defizit beſeitigen und in Beziehung auf die Finanzwirthſchaft an die Stelle der Matrikularbeiträge der Einzelſtaaten Matrikular - Antheile derſelben an den Ueberſchüſſen des Reichs ſetzen1)Für das Etatsjahr 1882 / 83 beſteht allerdings noch ein Mehrbetrag der Matrikularbeiträge über die an die Einzelſtaaten zu überweiſenden Summen; derſelbe iſt aber nicht mehr von Erheblichkeit.; formell aber haben ſie einerſeits die Beitragspflicht und andererſeits den Anſpruch auf den Einnahme-Antheil neben einander beſtehen laſſen, ſo daß beide zu geſonderter rechtlicher Exiſtenz gelangen und ſich erſt nachträglich durch Kompenſation theilweiſe wieder aufheben.

334§. 122. Die Matrikularbeiträge.

Für die Finanzwirthſchaft führen daher die in Rede ſtehenden Vorſchriften der Reichsgeſetze kein anderes praktiſches Reſultat herbei, als wenn die Matrikularbeiträge abgeſchafft worden wären und nur die Ueberſchüſſe der eigenen Einnahmen des Reiches über die Geſammtſumme der Ausgaben zur Verthei - lung gebracht würden; nur die Abrechnung zwiſchen den Einzel - ſtaaten und der Reichskaſſe hätte in dieſem Falle eine andere Ge - ſtalt. Dagegen liegt die Bedeutung der reichsgeſetzlichen Anord - nungen auf dem Gebiete des Budgetrechts; ſie haben zur Folge, daß derjenige Betrag, welchen die Einzelſtaaten aus den ihnen zukommenden Zoll -, Tabakſteuer - und Stempel-Einnahmen an die Reichskaſſe unter dem Namen von Matrikularbeiträgen wieder zurückzugeben haben, durch das Etatsgeſetz feſtgeſtellt wer - den muß1)Die Majorität des Reichstages glaubte hierdurch ſogen. konſtitutionelle Garantien für das Ausgabenbewilligungsrecht zu ſchaffen. Für praktiſch er - heblich kann ich dieſelben aber nicht erachten. Ohne den Grundſatz des §. 8 würde durch das Reichsetatsgeſetz (die Ausgaben-Bewilligung) feſtgeſetzt werden, welche Summe zur Vertheilung an die Einzelſtaaten übrig bleibt; mit dem Grundſatz des §. 8 wird durch das Etatsgeſetz beſtimmt, welcher Betrag in der Form der Matrikularbeiträge compensando von dem Antheil der Einzel - ſtaaten (oder via versa) in Abzug gebracht wird. Dies kommt auch politiſch auf daſſelbe hinaus. Fürſt Bismarck erklärte im Reichstag: Der Streit macht mir ungefähr den Eindruck, wie das bekannte Wort bonnet blanc oder blanc bonnet oder ob ich ſpreche von einem ſchwazen Tuchrock oder von einem Rock von ſchwarzem Tuch; weiter finde ich einen Unterſchied nicht, jeder weitere Unterſchied, den Sie hineinlegen, iſt fingirt, widerſpricht der Sachlage und widerſpricht unſerer Verfaſſung . Stenograph. Berichte 1879 Bd. III S. 2193..

Das Rechtsverhältniß zwiſchen dem Reich und den Einzel - ſtaaten iſt hierdurch ſehr complizirt worden. Die Einzelſtaaten erheben die Zölle, die Tabakſteuer und die Stempelſteuer und werden alſo zunächſt Eigenthümer des in ihren Zoll - und Steuer - kaſſen eingegangenen Geldes; ſie erheben aber dieſe Abgaben für gemeinſchaftliche Rechnung der Bundesſtaaten (für die Reichs - kaſſe) und ſind demnach für den ganzen von ihnen erhobenen Betrag, abzüglich der Rückvergütungen und Erhebungskoſten, Schuld - ner des Reichsfiskus. Das Reichsſchatzamt berechnet ſodann nach dem Geſammterträgniß dieſer Steuern diejenigen Summen, welche den einzelnen Bundesſtaaten zu überweiſen ſind, und zieht hievon335§. 122. Die Matrikularbeiträge.wieder den auf die betreffenden Staaten entfallenden Matrikular - beitrag ab. Nach dem Reſultat dieſer Hin - und Her-Rechnung ergibt ſich, welche Beträge der Einzelſtaat an die Reichskaſſe zu zahlen oder aus ihr zu empfangen hat.

Der Grundſatz aber, daß die geſammten Erträge der Zölle, Verbrauchsabgaben und Reichsſteuern nach den verfaſſungs - mäßigen Abzügen in die Reichskaſſe fließen , wird ſcheinbar dadurch gewahrt, daß im Etatsgeſetz der volle Ertrag der Zölle, Tabakſteuer und Stempelabgaben als Einnahme des Reiches figurirt, daneben aber im Etat des Reichsſchatzamtes als Ueber - weiſungen an die Bundesſtaaten der veranſchlagte Reinertrag der Zölle und der Tabakſteuer, ſoweit er die Summe von 130 Mill. Mark überſteigt, und der veranſchlagte Reinertrag der Stempelabgaben als Ausgaben des Reiches aufgeführt werden1)Die praktiſche Bedeutung des ſogen. von Frankenſtein’ſchen Antrages (§. 8 Abſ. 1 cit. ) beſteht lediglich in dieſer budgetrechtlichen » amoe - nitas juris «..

III. Ueber die Veranſchlagung der Matrikularbeiträge beſtimmt Art. 70 der R.V., daß dieſelbe nach Maßgabe der Bevöl - kerung zu erfolgen habe, ohne jedoch darüber eine Erklärung zu geben, wie die Bevölkerungsziffer feſtgeſtellt werden ſolle. Im Jahre 1869 beſchloß der Bundesrath des Nordd. Bundes, daß die ortsanweſende ſtaatsangehörige Bevölkerung der Be - rechnung der Matrikularbeiträge zu Grunde zu legen ſei2)Nach dieſem Maßſtabe iſt in dem Bundesetat für 1870 die Veran - ſchlagung erfolgt. Druckſachen des Reichstages 1869 Nr. 69 a. E. S. 246.. Ab - geſehen von dem Bedenken, ob es ſachlich irgendwie berechtigt iſt, bei der Vertheilung der Beiträge die Staatsangehörigkeit der in den Gebieten der Einzelſtaaten ſich aufhaltenden Perſonen in Betracht zu ziehen3)Der Reichstag ſprach ſich in einer Reſolution dagegen aus. Stenogr. Berichte 1871 II. Seſſ. Bd. I S. 647., iſt durch dieſes Verfahren die Incongruenz entſtanden, daß bei der Vertheilung der Matrikularbeiträge ein anderer Maßſtab zur Anwendung kam, wie bei der Abrechnung unter den Zollvereinsſtaaten. Man hat daher den urſprünglichen Berechnungsmodus wieder verlaſſen und nach einem im Bundes - rath zuerſt für das Jahr 1874 getroffenen und ſeitdem alljährlich erneuerten und vom Reichstage gebilligten Uebereinkommen den336§. 122. Die Matrikularbeiträge.Grundſatz zur Anerkennung gebracht, daß die ortsanweſende Bevölkerung (ohne Rückſicht auf die Staatsangehörigkeit) der Be - rechnung zu Grunde zu legen ſei1)Vgl. die Berechnung der definitiven Höhe der Matrikularbeiträge in der Ueberſicht der Ausgaben und Einnahmen ꝛc. für das Jahr 1874 An - lage V. S. 125.. Seitdem die Erträge der Zölle, der Tabakſteuer und der Stempelabgaben mit den Matri - kularbeiträgen zur Kompenſation kommen, iſt die Zugrundelegung einer und derſelben Bevölkerungsziffer für beide Vertheilungen ſelbſtverſtändlich und der Bundesrath hat demgemäß am 28. März 1882 auch mit Rückſicht auf die Ergebniſſe der Volkszählung vom 1. Dezember 1880 den Beſchluß erneuert, daß die definitive Feſt - ſtellung der Matrikularbeiträge, ebenſo wie die Abrechnung über die gemeinſamen Zoll - und Steuer-Einnahmen nach Maßgabe der ortsanweſenden Bevölkerung zu erfolgen habe.

IV. Der von jedem einzelnen Staate zu entrichtende Matri - kularbeitrag läßt ſich definitiv erſt nach Beendigung des Etatsjahres feſtſtellen, da er ſich nicht nach den veranſchlagten, ſondern nach den wirklichen Einnahmen und Ausgaben berechnet. Die von den einzelnen Staaten im Laufe des Jahres zu machenden Zahlungen, welche der Reichskanzler gemäß Art. 70 der R.V. bis zur Höhe des budgetmäßigen Betrages2)Der Reichskanzler iſt nicht verpflichtet, die Matrikularbeiträge in ihrem vollen budgetmäßigen Betrage zu erheben. Liefern die ſogen. eigenen Reichseinnahmequellen unerwartete Ueberſchüſſe, ſo können die Matrikular - beiträge theilweiſe unerhoben bleiben; nur müſſen alle Staaten in dieſer Be - ziehung gleichmäßig behandelt werden. einzufordern befugt iſt, werden gleichſam nur à Conto geleiſtet.

Sowie im Falle eines Deficits eine Nachforderung an die Einzelſtaaten erfolgen muß, ſo iſt in dem Falle, daß die Einnahmen die Ausgaben überſteigen, der zu viel erhobene Betrag an Matri - kularbeiträgen zurückzuzahlen. Um jedoch die Unbequemlichkeiten und Koſten wiederholter Hin - und Herzahlungen zu vermeiden, kann ein anderer Weg eingeſchlagen werden, welcher zu demſelben Reſultate führt; man ſetzt nämlich in den Haushaltsetat des folgen - den Jahres den etwaigen Fehlbetrag als Ausgabe, den etwaigen Ueberſchuß als Einnahme des Reiches ein und erhöht, beziehentlich vermindert, hierdurch um die gleiche Summe den von den Einzel -337§. 122. Die Matrikularbeiträge.ſtaaten durch Matrikularbeiträge aufzubringenden Betrag. Hierbei iſt aber bei der Ausrechnung des auf jeden einzelnen Staat ent - fallenden Antheils darauf zu achten, daß nicht alle Reichseinnahmen und ebenſowenig alle Reichsausgaben ſämmtlichen Bundesgliedern gemeinſam ſind1)Beiſpiele für die Berechnung der Matrikularbeiträge, wie ſich die - ſelben nach dem wirklichen Ergebniſſe des Reichshaushalts ſtellen, ſo wie für die Antheile der einzelnen Staaten an dem Fehlbetrage und an dem Ueber - ſchuſſe eines Wirthſchaftsjahres, enthalten die alljährlich dem Reichstage vor - gelegten Ueberſichten der Reichs-Ausgaben und Einnahmen Vgl. z. B. die Ueberſicht für 1880 / 81 Anlage V u. VI. ; ja es kann der Fall eintreten, daß in einem und demſelben Wirthſchaftsjahre die budgetmäßige Höhe der Ma - trikularbeiträge ſich für einige Staaten zu niedrig und für andere Staaten zu hoch erweist und daß daher die erſteren noch Nach - zahlungen zu machen haben, während die andern ein Guthaben auf die für das folgende Jahr zu leiſtenden Matrikularbeiträge behalten2)Dieſer Fall der im ehemaligen Nordd. Bunde nicht möglich war, iſt gleich im erſten Jahre der Reichswirthſchaft (1871) eingetreten; die Südd. Staaten hatten zuſammen 16,842 Thlr. zu wenig, die Staaten des Nordd. Bundes 5,230,956 Thlr. zu viel gezahlt. Das Reichsgeſetz vom 20. Juni 1872 verpflichtete demgemäß die Südd. Staaten zur Nachzahlung der entſprechenden Summen, während im Etat von 1873 den Staaten des ehemaligen Nordd. Bundes bei der Berechnung ihrer Matricularbeiträge 5,187,339 Thlr. zu gut gerechnet worden ſind. (Vgl. Hirth’s Annalen 1872 S. 1628.).

V. In Folge der ſozietätsmäßigen Geſtaltung der Finanz - wirthſchaft des Reiches beſteht zwiſchen der Reichskaſſe und den Landeshauptkaſſen ein dauerndes Abrechnungsverhältniß. Einer - ſeits erheben die Staaten für Rechnung des Reiches Einnahmen an Zöllen, Verbrauchsabgaben, Wechſel - und Stempelſteuern, Gebühren und anderen Verwaltungsrevenüen, welche nebſt den Averſen für Zölle und Verbrauchsabgaben, beziehentlich für die Branntwein - und Bierſteuer, und den Matrikularbeiträgen, ſowie den etwa aus der Reichskaſſe empfangenen baaren Vorſchüſſen das Debet der Landeskaſſen bilden; andererſeits leiſten ſie für Rech - nung des Reiches Ausgaben, insbeſondere diejenigen Staaten, welche eigene Heeresverwaltung führen; und ſie haben Anſprüche auf Erſtattung der von ihnen für Rechnung des Reiches geleiſteten Zahlungen, auf die ihnen zukommenden Antheile an den Brutto -Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 22338§. 122. Die Matrikularbeiträge.erträgen der Verbrauchsabgaben und Stempelſteuern u. ſ. w. und auf die ihnen zu überweiſenden Einnahmen der Reichskaſſe. Zur Nachweiſung dieſes wechſelſeitigen Soll und Haben ſind von den Landeshauptkaſſen monatliche Abrechnungen aufzuſtellen und an die Reichshauptkaſſe ſpäteſtens bis zum 15. des nächſtfolgenden Monats in doppelter Ausfertigung einzuſenden. Demgemäß ſind ſowohl die Matrikularbeiträge als auch die Averſen jeden Monat mit einem Zwölftel des budgetmäßig veranſchlagten Betrages in Rechnung zu ſtellen.

Außerdem ſind Vierteljahresrechnungen anzufertigen, in welchen nach den im Art. 39 der R.V. enthaltenen Regeln Ueberſichten über die Einnahmen an Zöllen und Verbrauchsabgaben, ſowie an Stempelabgaben u. ſ. w. aufgeſtellt werden. Dieſe Ueberſichten werden auch der Berechnung der an die Einzelſtaaten zu über - weiſenden Erträge der Zölle und Tabakſteuer zu Grunde gelegt1)R.G. v. 15. Juli 1879 §. 8 (R. G.Bl. S. 211).. Die definitive Abrechnung und Ausgleichung des Saldo erfolgt auf Grund der Jahresrechnungen (ſogen. Finalabſchlüſſe). De - taillirte Vorſchriften zur Regelung der Abrechnungen zwiſchen der Reichshauptkaſſe und den Landeskaſſen der Bundesſtaaten ſind am 13. Januar 1872 vom Reichskanzler im Einverſtändniß mit dem Ausſchuſſe des Bundesrathes für Rechnungsweſen erlaſſen worden2)Sie ſind abgedruckt, nebſt den dazu gehörenden Formularen in Hirth’s Annalen 1872 S. 1489 ff. Sie ſind bereits oben S. 300 erwähnt worden.. In Folge der Verlegung des Etatsjahres auf den Zeitraum vom 1. April bis zum 31. März ergab ſich die Nothwendigkeit, die Beſtimmungen über die Abrechnungen zu modifiziren. Die gegen - wärtig geltenden Vorſchriften ſind vom Bundesraths-Ausſchuß für das Rechnungsweſen unter Zuſtimmung des Reichskanzlers am 3. April 1878 beſchloſſen worden3)Protokoll des Bundesraths 1878 S. 222. Druckſachen deſſelben Nr. 61. Im Centralbl. des D. Reiches ſind dieſe Vorſchriften nicht abgedruckt worden, wol aber im Preußiſchen Miniſterialbl. f. d. geſ. innere Verwaltung 1878 S. 146. Dieſelben haben mehrfache Ergänzungen erhalten; unter denſelben ſind hervorzuheben die vom Bundesrath am 7. Juni 1880 beſchloſſene An - leitung zur Aufſtellung der Ueberſichten über die Beſteuerung des Tabacks (Centralbl. 1880 S. 420 ff. ) und namentlich die Beſtimmungen über die Erhebung und Verrechnung der nach dem Geſ. v. 1. Juli 1881 zu entrichtenden Reichs-Stempelabgaben Ziff. 12 15 (Centralbl. 1881 S. 305. 306)..

339§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.

Vierter Abſchnitt. Das Budgetrecht*)Vgl. über dieſe in der neueren Literatur vielfach behandelte Lehre: Fricker, Steuerbewilligung und Finanzgeſetz, in der Tübinger Zeitſchr. für die geſammte Staatswiſſenſchaft Bd. XVII (1861). Gneiſt, Budget und Geſetz, 1867 und derſelbe Geſetz und Budget, Berlin 1879. Laband, Das Budgetrecht nach den Beſtimmungen der Preuß. Verf. Urk. Berlin 1871 und derſelbe in Hirth’s Annalen 1873 S. 524 ff. Herm. Schulze, Das Finanz - recht der Reichs - und Landtage; in Grünhut’s Zetiſchr. f. d. Privat - und öffentl. Recht der Gegenw. Bd. II. S. 161 ff. und in ſeinem Lehrb. des deutſchen Staatsrechts I. (1881) S. 582 ff. v. Martitz, Betrachtungen über die Verf. d. Nordd. Bundes 1868 und deſſelben Abhandlung: Ueber den conſtitut. Begriff des Geſetzes, in der Tübinger Zeitſchr. f. d. geſ. Staats - wiſſenſch. Bd. XXXVI. (Auch ſeparat gedruckt Tübingen 1880.) Georg Meyer, Der Begriff des Geſetzes und die rechtliche Natur des Staats - haushaltsetats; in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. VIII. S. 1 ff. (eine, in den meiſten Punkten ſehr treffende Widerlegung der von v. Martitz neuerdings aufgeſtellten Behauptungen). Ferner v. Rönne, Staatsrecht d. Deutſchen Reichs II. 1 S. 143 ff., G. Meyer, Staatsrecht §. 204 und §. 209 und Zorn in v. Holtzendorff’s Rechtslexikon (3. Aufl. 1881) Bd. III. S. 382. Die hier folgende Darſtellung iſt im Weſentlichen eine Bearbeitung der von mir 1873 in Hirth’s Annalen gegebenen..

§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.

I. Für die ſtaatsrechtliche Würdigung des Budgetgeſetzes iſt die oben Bd. II. §§. 56 ff. entwickelte Unterſcheidung der Geſetze im materiellen und formellen Sinne maßgebend. Nach der daſelbſt gegebenen Begriffsbeſtimmung des Geſetzes im materiellen Sinne als der rechtsverbindlichen Anordnung eines Rechtsſatzes ergiebt es ſich von ſelbſt, daß der Etat kein Geſetz im materiellen Sinne iſt, da er keine Rechtsſätze enthält. Der Etat iſt eine Rechnung und zwar nicht über bereits geleiſtete Ausgaben und erhobene Einnahmen, ſondern über künftig zu erwartende Einnahmen und Ausgaben; er iſt ein ſogenannter Voranſchlag. Er korreſpon - dirt mit der nach Ablauf der Wirthſchaftsperiode zu legenden Rechnung über die wirklichen Einnahmen und Ausgaben. Eine Rechnung aber enthält keine Regeln, am wenigſten Rechtsregeln, ſondern Thatſachen; ſie referirt durch kurze, mit Zahlen ver - ſehene Angaben die bereits erfolgten oder vorherzuſehenden Ein - nahmen und Ausgaben. Der Etat begründet der Regel nach keine22*340§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.rechtliche Verpflichtung zu Einnahmen oder zu Ausgaben, ſondern er ſetzt dieſe rechtlichen Verpflichtungen voraus und ſtellt ihre finanziellen Reſultate lediglich zuſammen.

Jede größere Wirthſchaft erfordert einen Wirthſchaftsplan und eine Rechnungslegung in gewiſſen regelmäßigen Zeitabſchnitten; die Aufſtellung eines Voranſchlages gehört demgemäß zu den un - erläßlichen Erforderniſſen einer geordneten Staatswirthſchaft. Die Nothwendigkeit der Budget-Aufſtellung iſt nicht die Folge irgend einer Verfaſſungsform, iſt nichts Charakteriſtiſches der conſtitu - tionellen Monarchie, iſt keine Errungenſchaft der neueren politiſchen Entwicklung, ſondern ſie ergiebt ſich aus der Größe und dem Um - fang der Staatswirthſchaft. Sowie es zu der Sorgfalt jedes ordentlichen Wirthes gehört, für ein Unternehmen, welches bedeu - tende Aufwendungen erfordert, einen Voranſchlag zu machen, ſo hat man auch lange vor Einführung der konſtitutionellen Staats - form ebenſowohl die Aufſtellung eines Staatshaushalts-Etats als Voranſchlag für die Koſten der Verwaltung, wie die nachträgliche Ablegung und Prüfung der Rechnungen als unerläßliche Erforder - niſſe einer geordneten Staatsverwaltung anerkannt1)Gneiſt Geſetz und Budget S. 162. Schulze Lehrb. I. S. 683..

Weder die Aufſtellung des Etats für einen zukünftigen, noch die Kontrole der Rechnungen über einen vergangenen Zeitraum hat daher etwas zu ſchaffen mit der Geſetzgebung als der ſtaat - lichen Regelung der Rechtsordnung, ſondern gehört lediglich zur Verwaltung und das Recht, welches die Volksvertretung in beiden Beziehungen verfaſſungsmäßig hat, indem ihr der Etat zur Genehmigung, die Staatsrechnungen zur Decharge vorgelegt wer - den müſſen, charakteriſirt ſich als ein ſehr weſentlicher Antheil an der Verwaltung und als eine ausgedehnte Kontrole derſelben; durch dieſelbe wird die Lehre von der Theilung der Gewalten auf das Entſchiedenſte widerlegt und praktiſch auf einem großen und wich - tigen Gebiete beſeitigt.

Wenn demnach Art. 69 der R.V. den Satz enthält, der Reichs - haushalts-Etat wird durch ein Geſetz feſtgeſtellt , ſo iſt der Sinn deſſelben der: der Reichshaushalts-Etat wird ebenſo wie ein Geſetz oder im Wege der Geſetzgebung feſtgeſtellt . Die praktiſche Bedeutung des Satzes liegt alſo in der Anordnung,341§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.daß der Reichshaushalts-Etat nur unter Zuſtimmung des Bundes - raths und des Reichstags feſtgeſtellt werden kann und daß die verfaſſungsrechtlichen Regeln über das Zuſtandekommen eines Reichsgeſetzes auch auf die formelle Behandlung des Reichshaus - halts-Etats Anwendung finden1)Uebereinſtimmend G. Meyer Lehrb. §. 209.. Dagegen iſt aus den ange - führten Worten darüber Nichts zu entnehmen, welche materielle Rechtswirkung der Feſtſtellung des Haushaltsetats zukommt2)v. Martitz wendet ſich in der erwähnten Abhandlung gegen die Unterſcheidung von Geſetzen im formellen und im materiellen Sinne und ſchreibt dem Etatsgeſetz in allen ſeinen Poſitionen materielle Geſetzeskraft zu; eine kritiſche Prüfung ſeiner, meines Erachtens durchaus unhaltbaren und in ſich ſelbſt widerſpruchsvollen Behauptungen erfordert ein ausführlicheres Eingehen auf ſeine Erörterungen, als an dieſer Stelle möglich iſt und muß für eine andere Gelegenheit vorbehalten werden. Er ſchießt jetzt ebenſo ſehr über das Ziel hinaus wie er es in entgegengeſetzter Richtung in ſeinen Betrachtungen 1868 gethan hat, wo er S. 99 den Art. 69 der Verf. eine geradezu abſurde Beſtimmung nennt und wo er es S. 101 für eine juriſtiſche Monſtroſität erklärt, den Etat Geſetz zu nennen..

Aus dem im Art. 69 der R.V. ſanctionirten Prinzip ergiebt ſich im Einzelnen Folgendes:

1. Zur Feſtſtellung des Etats iſt die Uebereinſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesraths und des Reichstages erfor - derlich und ausreichend. Falls jedoch der Etat die beſtehenden Einrichtungen auf dem Gebiete des Militairweſens, der Kriegs - marine und der im Art. 35 bezeichneten Abgaben unmittelbar oder mittelbar verändern oder ihre Aufrechterhaltung unmöglich machen würde, giebt nach Art. 5 Abſ. 2 der R.V. im Bundes - rathe die Stimme des Präſidiums den Ausſchlag, wenn ſie ſich für die Aufrechthaltung der beſtehenden Einrichtungen, alſo für Verwerfung des Etats ausſpricht3)Vgl. Bd. I. S. 280. Bd. II. S. 36.. Art. 5 Abſ. 2 beſchränkt ſich nicht auf die Beſeitigung geſetzlicher Anordnungen durch neue Geſetze, ſondern er ſpricht ganz allgemein von beſtehenden Ein - richtungen , gleichviel ob dieſelben auf Geſetzen oder Verord - nungen oder Verwaltungsmaßregeln beruhen; andererſeits ſpricht der Art. 5 Abſ. 2 nur von Geſetzesvorſchlägen , nicht von Ver - waltungsmaßregeln; da aber der Etatsentwurf formell wie ein Geſetzesvorſchlag zu behandeln iſt, ſo findet die Regel des Art. 5 Abſ. 2 auf ihn Anwendung.

342§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.

Dagegen iſt die Beſtimmung im Art. 7 Abſ. 4 der R.V. auf die Beſchlußfaſſung des Bundesrathes über den Etat nicht an - wendbar1)Vgl. Bd. I. S. 246., weil die Regelung des Reichshaushaltsplanes eine allen Bundesgliedern gemeinſame Angelegenheit iſt, die Feſtſtellung des Reichshaushalts im Ganzen aber von der Beſchlußfaſſung über die einzelnen Poſitionen ſich nicht trennen läßt.

2. Art. 78 Abſ. 2 der R.V., wonach diejenigen Vorſchriften der Reichsverfaſſung, durch welche beſtimmte Rechte einzelner Bundesſtaaten in deren Verhältniß zur Geſammtheit feſtgeſtellt ſind, nur mit Zuſtimmung des berechtigten Bundesſtaates abge - ändert werden können, erſtreckt ſeine Wirkung auch auf die Beſchluß - faſſung über den Etat. Denn eine Abänderung der Sonderrechte einzelner Staaten kann auch ohne formelle Aufhebung beſtimmter Artikel der Verfaſſungsurkunde dadurch eintreten, daß man ſie thatſächlich nicht berückſichtigt und dazu bietet gerade der Etat vielfache Gelegenheit. Der verfaſſungsmäßige Schutz der Reſervat - rechte wäre illuſoriſch, wenn man ſie von Jahr zu Jahr durch das Etatsgeſetz ohne Zuſtimmung der berechtigten Einzelſtaaten ſuſpendiren könnte.

3. Das ordnungsmäßig beſchloſſene Etatsgeſetz iſt gemäß Art. 17 der R.V. vom Kaiſer auszufertigen und zu ver - kündigen. Es iſt dies das Recht des Kaiſers, zugleich aber auch ſeine verfaſſungsmäßige Pflicht2)Vgl. Bd. II. S. 41 ff.. Die Publikation erfolgt nach der Vorſchrift im Art. 2 der R.V. vermittelſt des Reichs - geſetzblattes; das Etatsgeſetz nebſt dem ihm beiliegenden Haus - halts-Etat muß unverändert in derjenigen Form erfolgen, welche durch die übereinſtimmenden Beſchlüſſe des Bundesraths und des Reichstages feſtgeſtellt worden iſt. Die Verantwortlichkeit dafür trägt der Reichskanzler.

II. Art. 69 der R.V. beſtimmt: Alle Einnahmen und Aus - gaben des Reiches müſſen für jedes Jahr veranſchlagt und auf den Reichshaushalts-Etat gebracht werden . Hierin ſind folgende Regeln enthalten:

1. Die Wirthſchaftsperiode des Reiches iſt verfaſſungsmäßig auf ein Jahr beſtimmt worden; es muß daher für jedes Jahr343§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.ein beſonderes Etatsgeſetz feſtgeſtellt werden und daſſelbe muß die Einnahmen und Ausgaben des ganzen Jahres umfaſſen. Die Wirthſchaftsperiode des Reiches fiel anfänglich mit dem Kalender - jahr zuſammen; durch das Reichsgeſetz vom 29. Febr. 18761)R. G.Bl. 1876 S. 121. wurde jedoch feſtgeſetzt, daß das Etatsjahr für den Reichshaushalt vom 1. April 1877 ab mit dem 1. April beginnt und mit dem 31. März ſchließt2)In Folge dieſes Geſetzes mußte ein beſonderer Etat für das Viertel - jahr vom 1. Januar bis 31. März 1877 feſtgeſtellt werden. R.G. v. 23. Dez. 1876 (R. G.Bl. S. 239). Ein ſolcher Quartals-Etat ſteht mit der unzweideutigen und klaren Anordnung des Art. 69 im Widerſpruch. Wäre die Theorie richtig, daß Geſetze, welche einer Verfaſſungsbeſtimmung widerſprechen, trotzdem ſie formell ordnungsmäßig zu Stande gekommen ſind, ungültig ſeien, ſo müßte man conſequenter Weiſe auch dieſes Etatsgeſetz für ungültig erklären, weil nicht vorher Art. 69 der R.V. eine entſprechende Verände - rung oder Ergänzung erfahren habe. An ſolchen Conſequenzen erweiſt ſich die Unrichtigkeit der erwähnten Theorie. Vgl. Bd. II. S. 37 ff..

2. Im Zuſammenhange damit ſteht der Satz des Art. 71 Abſ. 1, daß die gemeinſchaftlichen Ausgaben in der Regel für ein Jahr bewilligt werden. Aber auch, wenn von der eben daſelbſt geſtatteten Ausnahme, daß Ausgaben in beſonderen Fällen auch für eine längere Dauer bewilligt werden können, Gebrauch gemacht wird, ſind in den Etat jedes Jahres diejenigen Beträge einzu - ſtellen, welche in dem betreffenden Jahre zur Verwendung kommen ſollen. Dies gilt namentlich von dem Falle, daß für größere Bauten oder andere Anlagen Geſammtſummen bewilligt werden, welche nach und nach im Laufe mehrerer Jahre aufgebraucht wer - den3)Die Reichsgeſetzgebung hat dieſen Grundſatz in einer erheblichen Zahl von Fällen und ganz conſequent zur Geltung gebracht. Anwendungsfälle ſind: R.G. v. 8. Juli 1872 Art. II. (R. G.Bl. S. 290). R.G. v. 23. Mai 1873 (Invalidenfonds) §§. 6. 7. (R. G.Bl. S. 119). R.G. v. 30. Mai 1873 (Feſtungs - baufonds) Art. II. (R. G.Bl. S. 123). R.G. v. 12. Juni 1873 Art. II. a. E. (R. G.Bl. S. 128). R.G. v. 14. Febr. 1875 §. 2 Abſ. 2 (R. G.Bl. S. 62). R.G. v. 17. Febr. 1876 §. 3 (R. G.Bl. S. 21).. Denn nach Art. 69 der R.V. müſſen alle Einnahmen und Ausgaben für jedes Jahr veranſchlagt werden, ſo daß eine vollſtändige Ueberſicht des geſammten Finanzplanes gewonnen wird.

3. Als Regel ſtellt der Art. 69 die Vorſchrift auf, daß alle Einnahmen und Ausgaben des Reiches in einem einheitlichen344§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.Etat zuſammengeſtellt werden. Die Verfaſſung ſpricht immer nur von dem Reichshaushalts-Etat, der durch ein Geſetz feſtgeſtellt wird. Es ſollen alſo nicht die Etats der einzelnen Verwaltungs - zweige getrennt feſtgeſtellt werden. Indeß iſt die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß, nachdem der Etat bereits feſtgeſtellt iſt und bevor das Etatsjahr, auf welches er ſich bezieht, begonnen hat oder doch wenigſtens zum größten Theil abgelaufen iſt, neue Aus - gaben ſich als nothwendig erweiſen oder daß neue Einnahmequellen eröffnet oder alte verſchloſſen werden, z. B. durch Veränderung der Steuergeſetzgebung. In einem ſolchen Falle iſt der Erlaß eines oder mehrerer Nachtragsetats durch den Wortlaut des Art. 69, daß alle Einnahmen und Ausgaben für jedes Jahr veranſchlagt, und des Art. 71, daß die gemeinſchaftlichen Ausgaben für ein Jahr bewilligt werden ſollen, geboten und die Zuläſſigkeit von Nachtrags-Etats iſt durch die Praxis wiederholt anerkannt worden1)Nachtragsetats ſind in großer Zahl erlaſſen worden; faſt in jedem Jahr ergab ſich dazu Veranlaſſung..

4. Der Art. 69 ſagt: Der Etat wird vor Beginn des Etatsjahres feſtgeſtellt . Es entſpricht dies der Natur des Etats als Voranſchlags; die Aufſtellung eines Voranſchlags von Einnahmen und Ausgaben, die bereits thatſächlich erfolgt ſind, iſt eine contradictio in adjecto. Wenn man den Schwerpunkt der Bedeutung des Etats in die Genehmigung oder Bewilligung von Einnahmen oder Ausgaben verlegt, dann iſt ſeine nachträgliche Feſtſtellung wenigſtens logiſch zuläſſig, wie ja nachträgliche Ge - nehmigungen von außeretatsmäßigen Ausgaben auch thatſächlich nicht ſelten vorkommen; wenn man aber die wahre Natur des Etats in einem Wirthſchafts-Voranſchlage erkennt, dann iſt ſeine nachträgliche Aufſtellung widerſinnig.

Die angegebenen Worte des Art. 69 ſchreiben einen Termin vor, bis zu welchem der Etat ſpäteſtens feſtgeſtellt werden muß; dagegen enthalten ſie keine Vorſchrift darüber, daß der Etat unmittelbar vor Beginn des Etatsjahres feſtgeſtellt werden müſſe oder über die in dieſer Hinſicht einzuhaltende Zeitgränze. Der Natur der Sache nach verbietet ſich nun allerdings die Auf - ſtellung eines Voranſchlags für eine noch ferne Wirthſchaftsperiode, und die bisherige Praxis hat ausnahmslos daran feſtgehalten, in345§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.jedem Jahre nur den Etat des nächſtfolgenden Jahres feſtzu - ſtellen; dem Wortlaut der Reichsverf. würde es aber nicht wider - ſprechen, wenn in einer Sitzungsperiode des Reichstages die Etats der beiden folgenden Jahre in zwei beſonderen, je ein Etatsjahr betreffenden Geſetzen feſtgeſtellt würden.

5. Aus den erwähnten Vorſchriften des Art. 69 in Verbindung mit der Anordnung des Art. 70 Abſ. 1 der R.V., daß die gemein - ſchaftlichen Ausgaben in der Regel für ein Jahr bewilligt werden, ergibt ſich der Grundſatz, daß nach dem Ablauf des Etatsjahres das Budget ſeine Kraft verliert und nicht als Normal - budget bis zur geſetzlichen Feſtſtellung eines neuen Etats fort - wirkt. Es iſt ferner das Bewilligungsrecht für alle gemeinſchaft - lichen Ausgaben anerkannt, ohne daß hinſichtlich des Ordinariums eine andere ſtaatsrechtliche Behandlung wie hinſichtlich des Extra - ordinariums vorgeſehen worden iſt1)Der Art. 71 Abſ. 2 der R.V. entzog bis zum 31. Dez. 1871 die Aus - gaben für das Reichsheer der Bewilligung Seitens des Bundesrathes und des Reichstages. Die Aufſtellung des Militäretats war vielmehr nach Art. 62 für dieſe Uebergangszeit dem Kaiſer überlaſſen, welchem zur Beſtreitung des Aufwands für das geſammte Deutſche Heer jährlich ſo viel mal 225 Thlr., als die Kopfzahl der Friedensſtärke des Heeres nach Art. 60 der Reichsver - faſſung beträgt, zur Verfügung geſtellt worden ſind. Der Kaiſer war aber verpflichtet, den Etat über die Ausgaben für das Heer, nach Titeln geordnet, dem Bundesrathe und dem Reichstage zur Kenntnißnahme und zur Erinnerung vorzulegen; Bundesrath und Reichstag, die einander in dieſer Hinſicht ganz gleich geſtellt waren, hatten demnach auch hinſichtlich der Heeres - verwaltung das Recht der Kontrole und Kritik, nicht aber der Verweigerung von Ausgaben innerhalb der Grenzen des Pauſchquantums. Durch das Geſetz vom 9. Dezember 1871 wurde die Fortgeltung dieſer Beſtimmungen bis zum Ende des Jahres 1874 ausgedehnt..

III. Ueber die Form des Etatsgeſetzes enthält die Reichs - verfaſſung keine Beſtimmung, obwohl nicht verkannt werden kann, daß dies ein Gegenſtand von ſtaatsrechtlicher Bedeutung iſt. Die gegenwärtig beobachteten Grundſätze ſind im Anſchluß an das in Preußen und dem Norddeutſchen Bunde beobachtete Verfahren durch die Praxis herausgebildet worden. Es ſind folgende Punkte hervorzuheben:

1. Es iſt zu unterſcheiden zwiſchen dem Geſetz, betreffend die Feſtſtellung des Haushalts-Etats, und dem Etat ſelbſt, welcher346§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.als Anlage beigefügt iſt. Das Geſetz kann materiell inhaltlos ſein und ſich darauf beſchränken, zu conſtatiren, daß der Etat in Aus - gabe und Einnahme auf ſo und ſo viel Mark feſtgeſtellt iſt, wobei herkömmlicher Weiſe die Summen der fortdauernden und der ein - maligen und außerordentlichen Ausgaben getrennt angegeben werden. Es kann das Geſetz aber überdies Anordnungen enthalten, welche mit der Finanzwirthſchaft und der Ordnung des Reichshaushalts in Zuſammenhang ſtehen, z. B. die Ermächtigung zur Contrahirung von Anleihen1)In dieſem, ſehr gewöhnlichen Falle enthält das Etatsgeſetz dann auch die traditionellen Vorſchriften der Anleihegeſetze . Vgl. oben S. 232 ff., zur Verwendung von Reichsvermögen, zur Er - hebung oder Nichterhebung von Einnahmen u. dergl.

2. Der Etat ſelbſt beſteht aus zwei Hauptabtheilungen, Aus - gabe und Einnahme. Der Ausgaben-Etat zerfällt wieder in zwei Theile, Fortdauernde Ausgaben und Einmalige Ausgaben , und bei den letzteren findet ſich hin und wieder2)insbeſondere bei den Ausgaben für das Heerweſen, Poſt und Tele - graphie und Reichseiſenbahnen. die Scheidung in den ordentlichen und außerordentlichen Etat. Die einmaligen Ausgaben des ordentlichen Etats ſind ſolche, welche aus den regu - lären Einnahmen des Reichs gedeckt werden; die einmaligen Aus - gaben des außerordentlichen Etats dagegen werden aus den Be - ſtänden gewiſſer Spezialfonds (Feſtungsbaufonds, Eiſenbahnbau - fonds u. ſ. w.) oder aus den Erträgen der Reichsanleihen gedeckt3)Art. 73 der R.V. nennt ſolche Ausgaben außerordentl. Bedürfniſſe ..

Die Ausgaben ſind nach den Centralverwaltungsbehörden, die Einnahmen nach den Einnahmequellen gruppirt und nach Ka - piteln und Titeln zuſammengefaßt. In der Geſtalt, in welcher der Etat in dem Reichsgeſetzblatt verkündet wird, ſind die Summen und Bezeichnungen der einzelnen Kapitel und die Anzahl der Titel, in welches jedes Kapitel zerlegt iſt, angegeben, was für die Rechnungslegung und Kontrole der Finanzverwaltung von Belang iſt.

Der Einnahme-Etat iſt ein ſogen. Netto-Etat, d. h. die Ein - nahmen werden mit demjenigen Betrage angeſetzt, welcher der Reichskaſſe nach Abzug der Koſten und der den Einzelſtaaten zu347§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.gewährenden Antheile als reiner Ueberſchuß verbleibt1)Hinſichtlich der Erträge der Zölle und der Tabakſteuer ſiehe oben S. 335.. Jedoch wird vor der Linie die Brutto-Einnahme und die Ausgabe ange - geben und die Differenz in der Hauptkolonne ausgeworfen.

3. Eine von den Etats der übrigen Verwaltungen abweichende Geſtalt hat der Militär-Etat, theils wegen der Sonder - ſtellung Bayerns, theils weil das Reich das Heerweſen nicht ſelbſt verwaltet2)Während der Uebergangszeit (bis 1874) wurde der vom Kaiſer feſt - geſtellte Militair-Etat vom übrigen Etat geſondert verkündigt, ſo daß in dem Hauptetat nur die Geſammtſumme der Militair-Ausgaben aufgeführt wurde.. Hinſichtlich Bayerns kommt bei der Aufſtellung dieſes Etats die Beſtimmung des Bündnißvertrages vom 23. Nov. 1870 III. § 5 Ziff. II. zur Anwendung, wonach der Geldbetrag, welcher für das Bayeriſche Contingent zu verwenden iſt, im Reichsbudget in einer Summe ausgeworfen wird, während die Aufſtellung der Spezial-Etats Bayern überlaſſen bleibt3)Vgl. Bd. III. 1 S. 57.. Die Frage nach der Form, in welcher dieſe Spezial-Etats in Bayern feſtgeſtellt werden und welchen Antheil die Bayeriſche Landesvertretung dabei hat, iſt nach dem partikulären Staatsrecht Bayerns zu beurtheilen4)Vgl. darüber Seydel Commentar S. 235; G. Meyer Lehrbuch S. 550 fg. und die daſelbſt Note 14. angef. Schriften.. Materiell aber iſt ſowohl die Bayeriſche Regierung wie die Baye - riſche Landesvertretung verpflichtet, bei der Feſtſtellung dieſer Spezial - Etats die Anſätze des Reichs-Etats nach Verhältniß zur Richtſchnur zu nehmen, woraus ſich von ſelbſt die Nothwendigkeit ergibt, auch hinſichtlich der Form, der Eintheilung in Kapitel und Titel u. ſ. w. an den Reichsetat ſich anzulehnen. Für die Berechnung der auf Bayern entfallenden Geſammtſumme ſind zu berückſichtigen die fort - dauernden Ausgaben für das Reichsheer, die einmaligen Ausgaben des ordentlichen Etats für das Reichsheer und die Ausgaben des allgemeinen Penſionsfonds für die Verwaltung des Reichsheeres. Derſelbe Grundſatz der antheilmäßigen Berechnung der auf Bayern kommenden Summe findet auch Anwendung auf gewiſſe, aus dem Invalidenfonds zu beſtreitende Ausgaben5)Vgl. R.G. v. 11. Mai 1877 §. 1 (R. G.Bl. S. 495) v. 17. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 127) und vom 30. März 1879 §. 2 (R. G.Bl. S. 119). Vgl. oben S. 209..

Für die übrigen Kontingente ſteht die Aufſtellung der Spezial -348§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.Etats dem Reiche zu und zwar werden für die drei Staaten mit eigener Militärverwaltung (Preußen, Sachſen, Württemberg) die Ausgaben bei den einzelnen Titeln in Parallel-Colonnen aufgeführt.

4. Die Matrikularbeiträge werden mit dem anſchlagsmäßigen Netto-Betrage, den jeder einzelne Staat zu zahlen hat, im Budget aufgeführt, ſo daß die verwickelte Rechnung, durch welche die von jedem Staate zu zahlende Summe ermittelt werden muß, im Etats - geſetz ſelbſt nicht bemerkbar wird.

5. Eine beſondere Beilage zum Reichshaushalts-Etat bildet der Beſoldungs - und Penſions-Etat des Reichsbank-Direktoriums. Derſelbe wird zwar im Wege der Reichsgeſetzgebung feſtgeſtellt, die Ausgaben erfolgen aber aus den Mitteln der Reichsbank1)Bankgeſ. v. 14. März 1875 §. 28 (R. G.Bl. S. 185) Vgl. Bd. II. S. 385..

IV. Die Reichsverf. Art. 71 ſtellt zwar ganz allgemein die Regel auf, daß die gemeinſchaftlichen Ausgaben alljährlich bewil - ligt werden, aber ſie normirt die wichtige Frage nicht, inwieweit die Bewilligung von Ausgaben res merae voluntatis und wieweit ſie ſtaatsrechtliche Pflicht des Reichstages ſei, oder mit andern Worten, welche Ausgaben die Reichsregierung nur leiſten dürfe, wenn Bundesrath und Reichstag ſie übereinſtimmend geneh - migt haben und welche Ausgaben ſtaatsrechtlich nicht verweigert werden dürfen. Hält man den oberſten Grundſatz des conſtitutio - nellen Staatsrechts feſt, daß das beſtehende Recht und die rechtlich begründeten Inſtitutionen des Staats nur unter Uebereinſtimmung von Souverain und Volksvertretung, nicht einſeitig von einem dieſer beiden Organe verändert werden dürfen, ſo ergibt ſich als unab - weisliche Conſequenz, daß der Reichstag nicht einſeitig die beſtehen - den Geſetze durch Verweigerung der zu ihrer Ausführung noth - wendigen Mittel ſuspendiren oder aufheben kann, daß es nicht alljährlich in ſein Belieben geſtellt ſein kann, die Fortgeltung der Reichsgeſetze und die Fortdauer der Reichsinſtitute zu genehmigen oder zu unterdrücken2)Ueber dieſen Grundſatz ſind faſt alle Deutſchen Staatsrechtsſchriftſteller einverſtanden. Vgl. Zöpfl, Staatsr. Bd. II. §. 399. Zachariä, Staatsr. II. §. 222 (S. 515) und in den Gött. Gel. Anz. 1871 S. 362 ff. v. Gerber, Grundzüge §§. 50. 51 und im Literar. Centralbl. 1871 Sp. 61 fg. v. Mohl, Württemb. Staatsr. I. §. 109 S. 624. Mein Budgetrecht S. 11 14.. Es folgt demgemäß aus dieſem Princip349§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.der Rechtsſatz, daß das Ausgabenbewilligungsrecht des Reichstages durch die beſtehenden Reichsgeſetze und Inſtitutionen gebunden und beſchränkt iſt und daß Ausgaben, welche zur Durchführung und Aufrechthaltung derſelben erforderlich ſind, von ihm nicht verweigert werden dürfen. Dieſer Rechtsſatz iſt auch in einer ſpeciellen Be - ziehung durch die Reichsverf. ausdrücklich ſanctionirt worden, näm - lich durch Art. 62 Abſ. 4: Bei der Feſtſtellung der Militär-Ausgabe-Etats wird die auf Grundlage dieſer Verfaſſung geſetzlich feſtſtehende Organi - ſation des Reichsheeres zu Grunde gelegt. Es iſt dies keine Ausnahmebeſtimmung zu Gunſten des Militär-Etats, ſo daß bei der Feſtſtellung der übrigen Ausgaben - Etats die geſetzlich feſtſtehende Organiſation der Reichsinſtitutionen unberückſichtigt bleiben könnte, ſondern es iſt nur für den praktiſch wichtigſten, politiſch und finanziell hervorragendſten Theil des Etats das allgemeine Princip exemplificirt worden.

Der Etat iſt nicht ein Organiſationsgeſetz des ganzen Reiches für je ein Jahr, ſondern ein Wirthſchaftsplan; er ſetzt alſo eine geſetzlich feſtſtehende Organiſation als feſte Grundlage voraus.

Die Ausgaben zerfallen mithin hinſichtlich des Bewilligungs - rechts des Reichstages in zwei Kategorien, die man etwa als willkürliche und nothwendige im ſtaatsrechtlichen Sinne bezeichnen kann.

Die erſteren dürfen von dem Reichstage nach Belieben ver - weigert werden, und ihre Genehmigung hat den Charakter einer wirklichen Bewilligung, ohne welche die Reichsregierung zur Leiſtung dieſer Ausgaben überhaupt nicht ermächtigt iſt.

Die andern dürfen nicht ohne Zuſtimmung des Bundesraths oder des berechtigten Gläubigers vom Reichstag verweigert werden. Ihre Bewilligung iſt eine ſtaatsrechtliche Pflicht des Reichstags2)Ernſt Meier in v. Holtzendorff’s Encyklopädie I. S. 846. v. Bar, Im Neuen Reich 1871 S. 48 ff. Beſeler in den Preuß. Jahrb. Bd. XXXIII. S. 589 ff. Ferner beſonders Gneiſt, Geſetz und Budget S. 166 ff. Herm. Schulze in Grünhut’s Zeitſchr. II. S. 190 ff. und Lehrb. des Deutſchen Staatsrechts I. §. 208. G. Meyer, Staatsr. §§. 205 und 209 und in Grünhut’s Zeitſchr. V III. S. 48 ff. Auch v. Martitz, S. 66 kommt im Reſultat im Weſentlichen auf das Gleiche hinaus. Abweichender Anſicht iſt unter den neueren Staatsrechts-Schriftſtellern nur Zorn im Rechtslexicon III. S. 382.350§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.und hat nicht den Charakter einer Zahlungsermächtigung für die Regierung, ſondern eines Anerkenntniſſes der Nothwendig - keit oder Angemeſſenheit der Ausgabe. Der eigentliche Rechtsgrund derſelben iſt unabhängig vom Etat in Reichsgeſetzen oder Verträgen gegeben. Formell unterliegen zwar auch alle dieſe Ausgaben der Bewilligung des Reichstages, materiell aber iſt dieſe Bewilligung keine wahre Bewilligung, weil der Reichstag nicht befugt iſt, ſie zu verſagen.

Was die Einnahmen des Reiches anlangt, ſo ſpricht die Reichsverfaſſung von einer Bewilligung derſelben ſeitens des Reichstages oder durch das Etatsgeſetz nicht. Die Einnahmen des Reiches beruhen vielmehr auf dauernden, einer jährlichen Ge - nehmigung nicht bedürftigen geſetzlichen Titeln. Die Einnahmen aus den Gebühren, die für die Reichskaſſe erhoben werden, aus den Stempelſteuern, aus den Zöllen und Verbrauchsſteuern, aus den Reichs-Eiſenbahnen, aus dem Reingewinn der Reichsbank, die Zinſen aus belegten Reichsfonds u. ſ. w. fließen in die Reichskaſſe, ohne daß die Anſätze des Etats von irgend welcher Bedeutung ſind. Die letzteren haben ausſchließlich den Charakter finanzwiſſen - ſchaftlicher und kalkulatoriſcher Schätzungen. Abgeſehen von dieſen Einnahmen aber ſind folgende Rechtsſätze aufzuſtellen:

1. Neue Einnahmequellen, für welche der Reichsregierung in den bisherigen Geſetzen ein Rechtstitel nicht gegeben war, können nur unter Zuſtimmung des Reichstages eingeführt werden, gleich - viel ob die Einnahme eine dauernde oder einmalige iſt.

2. Die Regierung kann ſich Einnahmen durch Contrahirung von Anleihen, gleichviel ob die letzteren als fundirte Schuld oder in Form von Schatzanweiſungen emittirt werden, nur verſchaffen, wenn ſie durch ein Reichsgeſetz dazu ermächtigt worden iſt. R.V. Art. 73.

3. Die Regierung kann ſich nicht ohne Zuſtimmung des Reichs - tages durch Veräußerung oder Verwendung von Reichsfinanz - vermögen Einnahmen verſchaffen. Wenigſtens iſt bei der Ver - wendung der franzöſiſchen Kriegsentſchädigung dieſer Grundſatz un - beſtritten und allſeitig anerkannt und wiederholt befolgt worden. Soweit durch Reichsgeſetze Theile dieſer Entſchädigungsgelder be - ſtimmten Zwecken zugewieſen worden ſind, können ſie nicht einſeitig von der Reichsregierung dieſen Zwecken entzogen und anderweitig verwendet werden; eine ſpezielle Beſtätigung hat dieſer Grundſatz351§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.hinſichtlich der Aktivbeſtände des Invalidenfonds durch das R.G. v. 23. Mai 1873 § 15 (R. G.Bl. S. 122) erhalten1)Vgl. oben S. 210., und auch bei den übrigen, zum werbenden Vermögen des Reiches gehörenden Fonds oder Betriebsanſtalten ergibt ſich aus der in der Form des Geſetzes fixirten Zweckbeſtimmung derſelben, daß die Regierung nicht befugt iſt, ſie zu einem andern Zwecke zu verwenden, wenn ſie nicht in der Form des Geſetzes hiezu ermächtigt wird.

4. Hinſichtlich des Verwaltungsvermögens beſteht zwar kein Rechtsſatz, wonach die Veräußerung von unbrauchbar oder entbehrlich gewordenen Objekten an die Genehmigung des Bundesrathes und Reichstages gebunden wäre. Aber die Reichs - regierung kann die Einnahmen aus Veräußerungen ſolcher Gegen - ſtände nicht zur Beſtreitung von Ausgaben verwenden, welche nicht im Reichshaushalts-Etat aufgeführt ſind, ſondern muß ſie im Etat als Einnahmen einſtellen. Dieſer Grundſatz iſt zuerſt für einen beſonderen Anwendungsfall durch das R.G., betreffend die franzöſ. Kriegskoſten-Entſchädigung, vom 8. Juli 1872 Art. IV. (R. G.Bl. S. 290) zur Anerkennung gebracht worden, indem daſelbſt beſtimmt wurde: Die Einnahmen aus der Veräußerung der entbehrlich werdenden Feſtungsgrundſtücke oder ſolcher Grund - ſtücke, welche nach der Wiederherſtellung und Vervollſtändigung der Feſtungen im Beſitze der Militärverwaltung verbleiben, oder welche aus Reichsmitteln in Gemäßheit dieſes Geſetzes erworben werden, dürfen nur unter Genehmigung des Bundesrathes und des Reichstages ver - ausgabt werden und ſind, ſofern dieſe Genehmigung nicht anderweitig erfolgt iſt, in dem nächſten Reichshaushalts - Etat in die zur Deckung der gemeinſchaftlichen Ausgaben be - ſtimmten Einnahmen einzuſtellen.

Eine generelle und ganz umfaſſende Regelung hat dieſer Punkt aber durch die §§ 10 12 des Reichsgeſetzes vom 25. Mai 1873 (R. G.Bl. S. 115) erhalten2)Vgl. oben S. 220 Note 2.. Gemäß der im Art. 69 der R.V. enthaltenen Regel iſt im § 10 a. a. O. angeordnet worden, daß alle Einnahmen aus der Veräußerung von Grundſtücken, Materia - lien, Utenſilien oder ſonſtigen Gegenſtänden, welche ſich im Beſitz352§. 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Haushalts-Etats-Geſetzes.der Reichsverwaltung befinden, für jedes Jahr veran - ſchlagt und auf den Reichshaushalts-Etat ge - bracht werden müſſen.

Dieſe Beſtimmung dient zunächſt dem Zweck, daß der Etat eine vollſtändige Ueberſicht der zu erwartenden Einnahmen liefern ſoll, und ſie ſchneidet der Regierung eine außeretatsmäßige Einnahme, über deren Verwendung keine Verfügung getroffen iſt, ab; ſie gibt aber zugleich dem Bundesrathe und dem Reichstage die Befugniß, die in Ausſicht genommenen Veräußerungen zu prüfen und zwar nicht blos in der Beziehung, ob die daraus zu erwartenden Einnahmen richtig veranſchlagt ſind, ſondern auch hin - ſichtlich der Zuläſſigkeit der Veräußerungen ſelbſt. Hieraus ergibt ſich das Recht des Bundesrathes und des Reichstages, die Ver - äußerungen von Verwaltungseigenthum des Reiches zu geneh - migen, beziehentlich zu unterſagen. Dem entſprechend be - dürfen auch die Ueberſchreitungen ſolcher Einnahme-Etats und außeretatsmäßige Einnahmen aus der Veräußerung der erwähnten Gegenſtände der nachträglichen Genehmigung des Bundesrathes und des Reichstages.

Hinſichtlich der im Beſitz der Reichsverwaltung befindlichen Grundſtücke iſt insbeſondere (§ 11 a. a. O.) angeordnet wor - den, daß Einnahmen aus der Veräußerung derſelben nur unter Genehmigung des Bundesrathes und des Reichstages verausgabt werden dürfen und daß ſolche Einnahmen, ſofern dieſe Genehmigung nicht anderweitig erfolgt iſt, im nächſten Reichshaushalts-Etat ein - ſtellen ſind. Von dieſer Regel iſt auch für den Fall keine Aus - nahme gemacht, daß der Erlös aus dem Verkaufe eines Grund - ſtücks ganz oder theilweiſe dazu beſtimmt iſt, ein anderes Grund - ſtück zu erwerben oder eine andere Baulichkeit zum Erſatz herzu - ſtellen.

5. Soweit durch die im Vorſtehenden erwähnten ordentlichen und außerordentlichen Einnahmen für die etatsmäßigen Ausgaben genügende Deckungsmittel nicht gegeben werden, muß der Reichstag Matrikularbeiträge bewilligen. Die Reichsregierung braucht ſich einen Etat, der nicht balancirt, ſondern mit einem Deficit abſchließt, nicht gefallen zu laſſen. Der Art. 70 ſchreibt ganz kategoriſch vor, daß die Differenz zwiſchen den Einnahmen und Ausgaben des Reiches durch Beiträge der einzelnen Bundesſtaaten nach Maßgabe353§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.ihrer Bevölkerung aufzubringen iſt, und da nach Art. 69 alle Einnahmen des Reiches auf den Reichshaushalts-Etat gebracht werden müſſen, ſo können Reichstag und Bundesrath ſich der budget - mäßigen Feſtſetzung der Matrikularbeiträge in Höhe jener Differenz nicht entziehen. Es iſt dies deshalb von Wichtigkeit, weil der Reichskanzler nicht nach Maßgabe des Bedürfniſſes, ſondern nur bis zur Höhe des budgetmäßigen Betrages die Matrikularbeiträge einzuziehen befugt iſt. (Art. 70 a. E.)1)Vgl. oben S. 330 fg..

§ 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes*)Die Regelung des materiellen Etatsrechts für das Reich iſt wiederholt, aber ohne Erfolg, verſucht worden. Dem Reichstage von 1872 bereits wurde ein Geſetzentwurf betreffend die Einrichtung und die Befugniſſe des Rechnungs - hofes vorgelegt, welche einige darauf bezügliche Beſtimmungen enthielt (Druck - ſachen des Reichstages 1872 Nr. 10). Ueber denſelben kam ein Einverſtändniß zwiſchen Bundesrath und Reichstag nicht zu Stande und zwar zum großen Theil wegen der hinſichtlich des materiellen Etatsrechts beſtehenden Ver - ſchiedenheit der Anſichten. Um dieſe Hinderniſſe zu beſeitigen wurde dem Reichstage im Jahre 1873 ein Geſetzentwurf, betreffend die Verwal - tung der Einnahmen und Ausgaben des Reichs (Druckſ. Nr. 116) vorgelegt, der aber nicht zur Erledigung kam. Im Jahre 1874 wurden dem Reichstage in beiden von ihm abgehaltenen Seſſionen der Geſetzentwurf über den Rechnungshof, ſowie der Geſetzentwurf über die Verwaltung der Ein - nahmen und Ausgaben wieder vorgelegt (Druckſ. 1874 I. Seſſ. Nr. 13 und Nr. 12, II. Seſſ. Nr. 15 und Nr. 9). In der II. Seſſion 1874 wurde über den letzteren Entwurf ein ſchriftlicher Kommiſſionsbericht erſtattet, in welchem zahlreiche Abänderungen vorgeſchlagen worden ſind (Druckſachen 1874 II. Seſſ. Nr. 108); zur Beſchlußfaſſung im Plenum des Reichstages gelangte der Be - richt aber nicht. Mit Rückſicht auf die Vorſchläge des erwähnten Kommiſſions - berichts wurde der Geſetzentwurf umgearbeitet und dem Reichstage von 1875 / 76 vorgelegt (Druckſachen Nr. 100) und zwar ebenfalls wieder in Verbindung mit dem Geſetzentwurf über den Rechnungshof (Druckſachen Nr. 101); aber auch in dieſer Seſſion kamen die Geſetzentwürfe nicht zur Erledigung; daſſelbe war in der Seſſion von 1877 der Fall, in welcher beide Geſetzentwürfe noch - mals dem Reichstage vorgelegt wurden (Druckſ. 1877 Nr. 15 und 16)..

Die Reichsverfaſſung enthält ſo wenig wie die Preußiſche Verfaſſungs-Urkunde eine Andeutung darüber, welche rechtlichen Wirkungen dem geſetzlich feſtgeſtellten Haushalts-Etat zukommen. Dieſelben ſind daher auf wiſſenſchaftlichem Wege aus der juriſtiſchen Natur des Etats herzuleiten. Hier treten nun die praktiſchenLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 23354§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.Konſequenzen des Satzes, daß der Etat, obgleich er formell in der - ſelben Art wie ein Geſetz feſtgeſtellt wird, dennoch materiell kein Geſetz, ſondern ein Wirthſchaftsplan iſt, zu Tage. Der Etat ent - hält keine Rechtsregel, keinen Befehl und kein Verbot, ſondern nur Zahlen, von höchſt verſchiedenartiger Bedeutung, welche nur in dem einen Punkt mit einander zuſammenhängen, daß ſie die Finanzwirthſchaft des Reichs betreffen und in ihrer Geſammtheit dieſelbe darſtellen. Es iſt daher auch zu unterſcheiden zwiſchen den Wirkungen, welche der Haushalts-Etat als Ganzes hat, und welche ſich an die einzelnen Poſitionen knüpfen.

I. Der Reichshaushalts-Etat als Ganzes iſt das von den höchſten Organen der Reichsgewalt feſtgeſtellte Programm der Reichsverwaltung. Seine Bedeutung reicht über die Sphäre des Finanzweſens weit hinaus. Die wirthſchaftliche Ordnung des Staatshaushalts könnte auch erreicht werden, wenn man für jeden Verwaltungszweig der Regierung ein Pauſchquantum zuwieſe oder gar in einer einzigen Geſammtſumme die Geldmittel, welche der Regierung zur Verfügung geſtellt werden ſollen, bewilligte; ſolche, nach dem Belieben der Regierung zu verwendende Pauſchſummen ſind aber weit davon entfernt, ein Budget zu bilden. Bei der Aufſtellung des Haushalts-Etats iſt die Tendenz nicht lediglich auf die finanzielle Ordnung gerichtet; die Prüfung beſchränkt ſich nicht darauf, ob die Einnahmen es geſtatten, gewiſſe Ausgaben zu leiſten, ſondern die Verwaltungsbedürfniſſe ſelbſt werden nach ſachlichen Geſichtspunkten geprüft und controlirt, die Nothwendig - keit oder Nützlichkeit der Ausgaben wird anerkannt oder verneint nach Maßgabe der beſtehenden Geſetze und Einrichtungen und der dem Staat (Reiche) obliegenden Aufgaben, und erſt in zweiter Linie tritt die Sorge, Ausgaben und Einnahmen im Gleichgewicht zu erhalten, hinzu. Der Etat bildet daher für die Verwaltung die Richtſchnur, welche ſie, ſoweit es von ihrem Willen abhängt, befolgen muß. Daher iſt der Etat als Ganzes bei der Rechnungslegung nach Vollendung des Geſchäftsjahres zu Grunde zu legen und zwar auch nicht blos in finanzieller Beziehung, ſon - dern ganz allgemein zum Zweck der Kontrole der Verwaltung Seitens des Reichstags und Bundesraths. Die Regierung kommt nicht mit dem Nachweiſe durch, daß ſie nicht mehr als die etats - mäßige Geſammtſumme verausgabt habe, oder daß die von ihr355§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.geleiſteten Ausgaben in den erhobenen Einnahmen ausreichende Deckung finden, ſondern ſie muß darlegen, daß ſie die Verwaltung dem ihr vorgeſchriebenen Programm gemäß geführt habe, und ſie muß alle Abweichungen davon, auch Mehreinnahmen und Minder - ausgaben, unter Angabe der Gründe nachweiſen.

II. Niemals aber kann der Etat in dem Sinne feſtgeſtellt werden, daß Abweichungen von ihm überhaupt nicht vorkommen dürften1)Vgl. auch Schulze in Grünhut’s Zeitſchrift II. S. 191 ff. und Lehr - buch I. S. 590 und G. Meyer in Grünhut’s Zeitſchr. VIII. S. 46 ff.. Da er ſich auf die Zukunft bezieht, ſo kann ſeine Feſt - ſtellung nur mit demjenigen Grade der Sicherheit erfolgen, mit welchem man die Zukunft vorher ſehen und vorher beſtimmen kann. Gerade in finanzieller Hinſicht iſt ſeine bindende Kraft am geringſten, da die Höhe der Ausgaben und Einnahmen zum großen Theil von thatſächlichen Verhältniſſen bedingt iſt, die theils nicht vom freien Willen abhängen, theils nicht mit Sicherheit vorher erkannt werden können2)v. Martitz Betrachtungen ꝛc. S. 99 ſagt: Geſetze gibt man, um ſie auszuführen. Ein finanzieller Voranſchlag läßt ſich überhaupt nicht ausführen. Die Ausgaben und Einnahmen kommen ja in Wirklichkeit immer anders zu ſtehen als auf dem Papier . v. Martitz, Ueber den conſtitut. Begriff ꝛc. S. 66 ſagt: Das Finanzgeſetz (ſoll bedeuten Etatsgeſetz) iſt ein geſetzgeberiſcher Akt, durch welchen die Finanzverwaltung geſetzlich gebunden wird . Beide Behauptungen ſind halb richtig und halb Uebertreibungen in entgegengeſetzter Richtung.. Aber auch die materiellen Gründe und Zwecke der Ausgaben laſſen ſich nicht mit abſoluter Sicherheit vorher fixiren. Der Etat ſoll keine Schablone ſein, in welche die Verwaltung durchaus gepreßt werden muß, ſondern eben nur ein der Verwal - tung vorgezeichnetes Programm. Endlich normirt der Etat die Finanzwirthſchaft für ein Jahr, während die faktiſche Erhebung von Einnahmen und Leiſtung von Ausgaben ſich an dieſe Friſt nicht binden läßt. Es ergibt ſich demnach, daß Abweichungen von demſelben vorkommen können, von rein finanzieller oder quan - titaver Natur, ferner von materieller oder qualitativer Art, endlich in temporärer Beziehung.

1. Die finanziellen oder quantitativen Abwei - chungen ſind Minder-Einnahmen oder Mehr-Einnahmen, oder Minder-Ausgaben oder Mehr-Ausgaben. Die letzteren, welche praktiſch namentlich von Bedeutung ſind, heißen Etats-Ueber -23*356§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.ſchreitungen. Allen Arten von quantitativen Etats-Abweichungen gemeinſam iſt der Grundſatz, daß ſie bei der definitiven Rechnungs - legung nachgewieſen werden müſſen und, ſoweit die Ab - weichung vom Etat auf einer Veränderung der bei der Etat - Feſtſtellung vorausgeſetzten Verhältniſſe beruht, muß auch dieſer Grund der Abweichung dargelegt werden. Dagegen von einer Genehmigung oder Bewilligung der quantitativen Ab - weichungen vom Etat, auch der Etats-Ueberſchreitungen, kann nur in einem ſehr beſchränkten Maaße die Rede ſein. Dieſelben ent - ſtehen nämlich meiſtens nicht durch freie, oder auf Willensent - ſchließungen beruhende Handlungen der Regierung, ſondern ſie ſind lediglich Folgen der fehlerhaften Veranſchlagung im Etat ſelbſt. Da die Höhe vieler Einnahmen und ebenſo die Höhe vieler Aus - gaben nur nach Wahrſcheinlichkeit und nach uſancemäßigen Frac - tionen veranſchlagt wird, ſo liegt es in der Natur der Sache, daß dieſe Anſchläge mehr oder minder falſch ſind und durch die wirk - lichen Ergebniſſe rectificirt werden. Alle Minder-Einnahmen, Mehr - Einnahmen und Etats-Ueberſchreitungen dieſer Kategorie erſcheinen daher lediglich als Thatſachen, welche zur Kenntniß des Bundesraths und Reichstags gebracht werden. Nur ſoweit die Etats-Ueberſchreitung auf dem Willen der Regierung beruht, d. h. ſoweit es von ihrer Entſchließung abhängig war, ob die Ausgabe nur in etatsmäßiger Höhe oder darüber hinaus geleiſtet werden ſollte, hat die Etats-Ueberſchreitung den Charakter einer Handlung, für welche die Regierung die Verantwortlichkeit trägt und für welche ſie daher der Ratihabition des Bundesraths und Reichstages bedarf. Nur ſcheinbar ſteht damit im Wider - ſpruch, daß nach der bisher befolgten Praxis und nach der, in dem Entwurf eines Geſetzes über den Rechnungshof in Ausſicht genommenen, Anordnung alle Etatsüberſchreitungen dem Reichs - tage zur Genehmigung vorgelegt werden müſſen. Es iſt dadurch nur anerkannt, daß die Entſcheidung der Frage, zu welcher der beiden angegebenen Kategorien eine Etatsüberſchreitung gehört, nicht in das alleinige Ermeſſen der Regierung geſtellt iſt, ſondern den höchſten Organen des Reichswillens zuſteht. Aus dieſem Grunde iſt der Reichstag formell befugt, ſämmtliche Etatsüber - ſchreitungen zu prüfen und zu genehmigen; materiell reducirt ſich die Genehmigung derjenigen Mehrausgaben, die eine nothwendige357§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.Folge factiſcher Verhältniſſe z. B. einer eingetretenen Preisſteigerung ſind, auf die Anerkennung dieſer Thatſache.

Aus dieſer Erwägung beſtimmt ſich zugleich der Begriff der Etatsüberſchreitung nach anderer Beziehung. Es iſt irrelevant, welches finanzielle Geſammtergebniß die Staatsrechnung aufweiſt. Wenn die Mehrausgabe bei einer Poſition durch die Minderaus - gabe bei einer andern gedeckt wird, ſo tritt zwar in finanzieller Hinſicht eine Compenſation ein, aber dadurch wird nicht die Ab - weichung vom Etat aufgehoben, ſondern es ſind zwei Abwei - chungen in entgegengeſetzter Richtung vorhanden, ſo daß für eine derſelben oder ſelbſt für beide die Reſponſabilität der Verwaltung beſtehen bleiben kann. Nur ſoweit im Etat die Untervertheilung einer Summe der Regierung überlaſſen oder die gegenſeitige Uebertragbarkeit zweier Summen zugeſtanden worden iſt, reicht für die Regierung die Freiheit der Bewegung. Nicht auf die Geſammtſumme, welche die in einzelnen Titeln und Ka - piteln zuſammengefaßten Poſitionen mit arithmetiſcher Nothwen - digkeit ergeben, ſondern auf die ſelbſtändigen Bewilligungen be - ſtimmter Summen zu beſtimmten Zwecken kommt es bei der Be - griffsbeſtimmung der Etats-Ueberſchreitungen an1)Dieſer in der früheren Preuß. Praxis häufig verkannte Satz iſt näher ausgeführt und begründet worden in meinem Budgetrecht S. 59 ff. In der Praxis des Nordd. Bundes und des Deutſchen Reichs iſt der richtige Begriff der Etats-Ueberſchreitungen anerkannt worden; zuerſt bereits in einem Schrei - ben des Bundeskanzlers v. 24. September 1867, ſodann in einer Reſolution, welche der Nordd. Reichstag unter Zuſtimmung des Präſidenten des Bundes - kanzleramts und des Bundeskanzlers ſelbſt in der Sitzung v. 28. März 1870 (Stenogr. Ber. S. 530) beſchloſſen hat. Dieſer richtige Begriff ſollte ſeine geſetzliche Sanction erhalten in den (nicht zu Stande gekommenen) Geſetzen über den Rechnungshof und über die Verwaltung der Einnahmen und Aus - gaben. Die daſelbſt in Ausſicht genommene Beſtimmung iſt übereinſtimmend mit einem Satze des §. 19 des Preuß. Geſetzes v. 27. März 1872 über die Oberrechnungskammer, welches thatſächlich auch für das Reich in Geltung ſteht. (Siehe unten.) Sie lautet: Als Etatsüberſchreitungen werden alle Mehr - ausgaben angeſehen, welche gegen die einzelnen Kapitel des geſetzlich feſtge - ſtellten Reichshaushalts-Etats oder gegen die vom Reichstage genehmigten Titel der Spezial-Etats ſtattgefunden haben, ſofern nicht einzelne Titel in den Etats als unter ſich übertragungsfähig ausdrücklich bezeichnet ſind, und bei ſolchen die Mehrausgabe durch Minderausgabe bei anderen ausgeglichen wird. Unter dem Titel eines Spezialetats iſt im Sinne dieſes Geſetzes jede.

358§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.

2. Die materiellen oder qualitativen Abwei - chungen vom Etatsgeſetz ſind: Die Nichterhebung einer etats - mäßigen Einnahme oder die Erhebung einer im Etat gar nicht aufgeführten Einnahme, ſowie die Nichtleiſtung einer etatsmäßigen Ausgabe oder die Leiſtung einer außeretatsmäßigen Ausgabe.

a) Die Nichterhebung einer etatsmäßigen Einnahme kann nicht vorkommen, ſo weit die Einnahmen durch Geſetze normirt ſind, deren Ausführung von der Regierung nicht ſuſpendirt werden darf, wie Zoll - und Steuergeſetze und Gebührentarife. Wol aber kann die Regierung eine Einnahme unerhoben laſſen, zu deren Erhebung ſie nicht geſetzlich verpflichtet, ſondern nur ermächtigt war. Dies gilt namentlich von der Begebung von Anleihen und von der Verwendung von Reichsfinanzvermögen zu Verwaltungszwecken. Wenn die übrigen Einnahmequellen unerwartet hohe Erträge ab - werfen, wenn gewiſſe etatsmäßige Ausgaben unterbleiben müſſen, oder wenn die Zeitverhältniſſe zur Veräußerung von Reichsver - mögen oder zur Negoziirung einer Anleihe beſonders ungünſtig ſind, ſo kann die Regierung durch die ihr obliegende Sorgfalt bei der Verwaltung des Reichsvermögens verpflichtet ſein, dergleichen außerordentliche Einnahmequellen unbenutzt zu laſſen. Es wäre ein völliges Verkennen der Bedeutung des Etatsgeſetzes, wenn man in demſelben einen Befehl an die Regierung erblicken wollte, alle etatsmäßigen Einnahmen der Reichskaſſe zuzuführen. Das Geſetz, welches den Etat feſtſtellt, läßt übrigens gewöhnlich keinen Zweifel darüber, daß es ſich bei ſolchen Einnahmen nur um eine Ermächtigung der Regierung handelt. Im Reichsetat findet dies beſonders Anwendung auf die Matricularbeiträge, welche der Reichskanzler theilweiſe oder ganz unerhoben laſſen kann, wenn ſie zur Beſtreitung der Reichsausgaben entbehrlich erſcheinen.

b) Die Erhebung einer nicht etatsmäßigen Einnahme iſt eben - falls der Regierung unverwehrt; nur verſteht es ſich von ſelbſt, daß ſie einen geſetzlichen Titel für dieſelbe haben muß, daß ſie alſo insbeſondere nicht durch eigenmächtige Contrahirung von An - leihen, Veräußerung von Reichsvermögen, Erhebung von ungeſetz -1)Poſition zu verſtehen, welche einer ſelbſtändigen Beſchluß - faſſung des Reichstages unterlegen hat und als Gegenſtand einer ſolchen im Etat erkennbar gemacht worden iſt . (Geſetz - entw. über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben v. 1877 §. 9.)359§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.lichen Abgaben ſich dieſelbe verſchaffen darf. Es kann aber wol vorkommen, daß nach Feſtſtellung des Etats ein Geſetz erlaſſen wird, welches eine neue dauernde oder einmalige Einnahme be - gründet, oder daß durch Rechtsgeſchäfte (Schenkung, Legat, völker - rechtliche Verträge u. a.) oder in Folge gerichtlicher Urtheile der Reichskaſſe Einnahmen erwachſen. Einer Genehmigung zur Er - hebung von Einnahmen der letzten Kategorie Seitens des Reichs - tags bedarf es nicht; dieſelben müſſen aber bei der Rechnungs - legung zur Kenntniß deſſelben gebracht werden. Eine ausdrück - liche reichsgeſetzliche Anerkennung, daß Einnahmen aus anderen als den im Reichshaushalts-Etat aufgeführten Bezugsquellen zu - läſſig ſind, iſt in dem Geſ. v. 11. Nov. 1871 §. 2 enthalten, dem zu Folge ſolche Einnahmen zur Wiederherſtellung des Reichs - Kriegsſchatzes zu verwenden ſind1)Vgl. oben S. 207. Der erwähnte Entwurf eines Geſetzes über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben enthält im §. 3 die Anordnung: Unvorhergeſehene Einnahmen und Ausgaben ſind nach Anweiſung dieſes Geſetzes zur Kenntniß, beziehungsweiſe Genehmigung des Bundes - rathes und des Reichstages zu bringen . Im §. 4 Abſ. 3 wird noch hinzu - gefügt: Einnahmen, welche unter keinen der Titel des Etats fallen, ſind als außeretatsmäßige Einnahmen in der verfaſſungsmäßig zu legenden Rechnung nachzuweiſen . Die Zuläſſigkeit ſolcher Einnahmen ſteht demnach ganz außer Frage..

c) Die Nichtleiſtung einer etatsmäßigen Ausgabe kann als eine Abweichung von der in dem Etatsgeſetz aufgeſtellten Ver - waltungsnorm erſcheinen, für welche die Regierung politiſch verantwortlich iſt. Iſt die Förderung gewiſſer Zwecke von den oberſten Organen des Reiches, dem Bundesrath und Reichstag als nothwendig oder nützlich anerkannt und ein Koſtenbetrag dafür ausgeworfen worden, ſo kann die Regierung des Reiches einer Rechtfertigung und Darlegung der Gründe, aus denen ſie trotzdem die Leiſtung dieſer Ausgabe unterlaſſen hat, ſich nicht entziehen. Unter Umſtänden kann die Würde des Reichstages empfindlich verletzt werden, wenn er die Anfnahme einer gewiſſen Ausgabe in den Etat etwa aus eigener Initiative beſchloſſen und die Regie - rung zugeſtimmt hat, die letztere nachträglich aber die Lei - ſtung dieſer Ausgabe und folglich die Förderung des betreffen - den Zweckes unterläßt. Staatsrechtlich aber erſcheinen alle360§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.Ausgaben-Poſitionen des Etats nur als Ermächtigung1)Es ſchließt dies nicht aus, daß nicht die Regierung, abgeſehen vom Etatsgeſetz, durch andere Geſetze zur Leiſtung gewiſſer Ausgaben ermächtigt ſein kann, ſo daß das Etatsgeſetz dieſe Befugniß nicht conſtituirt, ſondern nur declarirt. Ebenſo kann die Regierung zur Leiſtung gewiſſer Ausgaben geſetz - lich verpflichtet ſein und darauf die Aufnahme dieſer Ausgaben in den Etat beruhen; alsdann begründet der letztere nicht die Zahlungspflicht, da dieſelbe auch ohne ihn bereits begründet iſt. Vgl. mein Budgetrecht S. 55 ff. der Regierung, dieſelben zu leiſten, ſo daß ihre Nichtleiſtung oder Erſparung weder eine juriſtiſche Verantwortlichkeit begründet, noch einer Genehmigung des Reichstages bedarf.

d) Es bleiben ſomit nur noch übrig die außeretats - mäßigen Ausgaben. Daß die Regierung für dieſelben die Bewilligung des Reichstages nachſuchen muß, folgt aus der oben dargelegten Bedeutung des Etats und iſt, trotzdem die Verfaſſung des Deutſchen Reichs keine darauf bezügliche Beſtimmung enthält2)Wie beiſpielsweiſe die Preuß. Verf. Urk. Art. 104 Abſ. 1., von keiner Seite in Zweifel gezogen werden. Nur muß man die weitverbreitete Anſicht zurückweiſen, als verübe die Regierung durch Leiſtung einer außeretatsmäßigen Ausgabe eine Geſetzwidrigkeit, eine Verletzung des Etatsgeſetzes, für welche ſie beim Reichs - tage um Indemnität bitten müſſe, die derſelbe als Gnadenakt ertheilen oder verſagen dürfe3)Vgl. auch Gneiſt, Geſetz und Budget S. 183. Schulze in Grün - hut’s Zeitſchr. S. 192.. Dadurch, daß man eine Ausgabe in den Verwaltungsplan nicht aufgenommen hat, folgt doch ſicher - lich nicht, daß man ſie verboten habe. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle iſt ihre Aufnahme vielmehr deshalb unter - blieben, weil man die Nothwendigkeit dieſer Ausgabe nicht voraus - ſehen konnte oder wenigſtens nicht vorausgeſehen hat4)Im Jahre 1870 und 1871 beſtand ein großer Theil der außeretats - mäßigen Ausgaben in Koſten, die in Folge der Rinderpeſt entſtanden waren und welche das Reich gemäß Geſ. v. 7. April 1869 zu tragen verpflichtet iſt. Was würde man dazu ſagen, wenn derartige Ausgaben in den Etat aufge - nommen würden und dem Reichstage alſo zugemuthet werden ſollte, zu be - willigen, daß in dem betreffenden Etatsjahre die Rinderpeſt in dem entſpre - chenden Umfange ſtattfinden dürfe?. Es iſt ein Spiel mit Worten, wenn man aus der Ausdrucksweiſe, daß der Etat durch Geſetz, d. h. formell im Wege der Geſetzgebung feſtgeſtellt werde, die Folgerung zieht, daß die Leiſtung außeretats -361§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.mäßiger Ausgaben eine Ungeſetzlichkeit, d. h. die Verletzung eines Geſetzinhalts ſei1)v. Martitz, Betrachtungen S. 99 ſagt: Es iſt ein baarer Un - ſinn, jene Feſtſetzung, daß der jährliche Voranſchlag über die Ausgaben und Einnahmen des Staates Geſetz ſein ſoll, was er niemals ſein kann, niemals geweſen iſt, weder in Preußen noch in Belgien, noch in England noch in dem vermuthlich auf dem Monde liegenden Muſterſtaate, der nach allgemeinem con - ſtitutionellen Staatsrechte lebt . v. Martitz, Ueber den conſt. Begriff ꝛc. S. 63 dagegen lehrt: Das verabſchiedete Budgetgeſetz mit ſeiner Anlage, dem Staats - haushaltsetat iſt im juriſtiſchen Sinne Geſetz und nicht bloß in einem äußerlichen oder formellen Sinne. Seine Kraft iſt die des Geſetzes und nicht der Verfügung. Es enthält Normen, die eine rechtliche Verbindlichkeit auferlegen und nicht blos die periodiſche Richtſchnur für die Finanzpolitik gewähren . Meines Erachtens kommt der erſtere v. Martitz, der dies für baaren Unſinn erklärt, der Wahrheit näher, wie der letztere.. Das Recht des Reichstags aber, die Nothwendigkeit und Angemeſſenheit aller Ausgaben mit zu prüfen und darüber mit zu entſcheiden, geht ebenſowenig dadurch verloren, daß dieſe Prüfung und Entſcheidung nicht ſchon bei Aufſtellung des allgemeinen Finanzplanes erfolgen konnte oder erfolgt iſt. Sein im Art. 71 anerkanntes Ausgaben-Bewilligungsrecht erſtreckt ſich auf alle Ausgaben des Reichs, gleichviel ob ſie im Etatsgeſetz eine Stelle gefunden haben oder nicht. Daraus ergibt ſich zugleich die Natur des Bewilligungsrechtes des Reichstages hinſichtlich der außeretatsmäßigen Ausgaben als vollkommen identiſch mit ſeinem Recht der Mitwirkung bei der Etatsfeſtſtellung ſelbſt. Das Be - willigungsrecht des Reichstages iſt kein ungebundenes und willkür - liches. Erkennt der Reichstag an, daß die Ausgabe aus rechtlichen oder faktiſchen Gründen nothwendig oder angemeſſen war, ſo in - volvirt dieſes Anerkenntniß zugleich die Genehmigung; der Reichs - tag kann nicht zugleich die Nothwendigkeit einer geleiſteten Ausgabe zugeben und ihre Bewilligung verſagen. Der Unterſchied zwiſchen den etatsmäßigen und außeretatsmäßigen Ausgaben beſteht darin, daß der Reichskanzler, welcher bei den etatsmäßigen Ausgaben von der Verantwortlichkeit für ihre Nothwendigkeit und Angemeſſenheit frei iſt, bei den außeretatsmäßigen Ausgaben dieſe Verantwortlich - keit bis zur Bewilligung durch den Reichstag trägt; die Befugniſſe des Reichstags aber ſind materiell dieſelben bei etatsmäßigen und außeretatsmäßigen Ausgaben2)Uebereinſtimmend Schulze Lehrb. I. S. 591..

362§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.

Die Bewilligung außeretatsmäßiger Ausgaben erſcheint ſonach ſachlich ſtets als eine Ergänzung und Berichtigung des Haushalts - Etats; und wenn es möglich iſt, die Genehmigung des Reichstages noch einzuholen, ehe die Ausgaben wirklich geleiſtet oder feſtgeſtellt ſind, ſo erſcheint die correkteſte Form die, durch einen Nachtrags - etat, alſo in Geſetzesform, die Bewilligung zu conſtatiren. Iſt jedoch die Ausgabe thatſächlich geleiſtet, reſp. das Wirthſchaftsjahr bereits ganz oder zum größten Theil abgelaufen, ſo widerſpricht es der Logik, in Form eines Voranſchlages die Bewilligung aus - zuſprechen, und es wird demgemäß die Genehmigung in Form von Reſolutionen des Bundesrathes und Reichstages ertheilt. Trotzdem iſt dieſe Genehmigung mit der in Form des Etatsgeſetzes ertheilten gleichartig, inſofern ſie eine nur vorläufige iſt und die Regierung von der Pflicht der Rechnungslegung nicht entbindet.

3. Die temporären Abweichungen vom Etat beſtehen entweder darin, daß Ausgaben1)Begrifflich fallen auch Einnahmen-Reſte und anticipirte Einnahmen hierunter; ſie bieten aber kein ſtaatsrechtliches Intereſſe von praktiſcher Bedeutung. Sind Einnahme-Reſte als Iſt Einnahme in einer Jahresrechnung aufgeführt und ſie erweiſen ſich ſpäter als uneinziehbar, ſo werden ſie in der folgenden Rechnung zurückgerechnet. Ergiebt ſich bei der Reſtverwaltung ein Einnahme-Ueberſchuß, ſo wird er nach Art. 70 der Reichs - verf. bei dem Etat des folgenden Jahres zur Deckung der Reichsausgaben verwendet. Nach dem Entw. eines Geſetzes über die Verwaltung der Ein - nahmen und Ausgaben §. 27 (1877) iſt für Matrikularbeiträge und für die nach Art. 39 der R.V. feſtgeſtellten Einnahmen an Zöllen und Steuern eine ſechsmonatl. Friſt zur nachträglichen Einziehung gewährt; Rückſtände anderer Einnahme-Poſitionen ſind auf die Rechnung des folgenden Jahres zu über - nehmen. am Ende des Jahres noch nicht erledigt ſind oder daß ſie bereits vor Beginn des Jahres geleiſtet worden ſind und man unterſcheidet dem entſprechend Reſtver - waltung und Vorſchußverwaltung.

a) Die Reſtverwaltung. Es iſt einleuchtend, daß die Staatskaſſe nicht alle Zahlungen, welche auf Rechnung des Etats eines beſtimmten Jahres erfolgen ſollen, bis zum 31. März effek - tuiren kann; eine Hinausſchiebung der Zahlung kann z. B. noth - wendig werden durch eine Verzögerung der Lieferung beſtellter Waaren oder Arbeiten oder durch Verzug in der Beibringung der erforderlichen Liquidationen, Beläge und Quittungen, oder durch363§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.mora accipiendi des berechtigten Gläubigers. An und für ſich iſt die Reſtverwaltung erlaubt und ganz unvermeidlich; das Etats - geſetz ſteht derſelben nicht entgegen, da dasſelbe nicht die Kaſſen - verwaltung, ſondern die Finanzwirthſchaft betrifft und demgemäß der Regierung die erforderlichen Kaſſen-Manipulationen behufs Durchführung des Finanzplanes anheim ſtellt. Von Wichtigkeit iſt es nur, die Grenze zwiſchen Reſtverwaltung und Aus - gabe-Erſparniſſen zu ziehen. Hierbei iſt zunächſt das Princip maßgebend, daß nicht die Zahlung, ſondern die Entſtehung der Obligation entſcheidet. Soweit der Fiscus zur Zahlung bereits obligirt iſt, fällt die Annahme von Erſparniſſen weg, wenngleich die Zahlung ſelbſt erſt nachträglich (während des neuen Etatsjahres) erfolgt. Aber auch darüber hinaus kann es vorkommen, daß ſelbſt die Obligirung der Staatskaſſe erſt nachträglich erfolgt, aber das Bedürfniß der Staatsverwaltung, welches dadurch gedeckt wird, noch dem abgelaufenen Jahre angehört; auch in dieſem Falle iſt keine Ausgaben-Erſparung vorhanden. Es läßt ſich daher die Reſtverwaltung negativ dahin beſtimmen, daß auf ihr Conto keine Ausgaben der laufenden Verwaltung genommen werden dürfen. Die nicht verbrauchten Fonds können überdies nicht in das Unend - liche aſſervirt werden wegen der Möglichkeit, daß noch nachträgliche Zahlungen à Conto früherer Jahres-Etats erforderlich werden könnten; ſondern ſie ſind gemäß der Inſtruktion für die Preußiſche Ober-Rechnungs-Kammer vom 18. Dezbr. 1824, § 24, die provi - ſoriſch auch für den Rechnungshof des Deutſchen Reichs bindende Kraft hat, am Ende des zweiten Jahres als erſpart zu berechnen. Eine Abweichung von dieſer engen Begrenzung der Reſtverwaltung tritt nur dann ein, wenn der Etat ſelbſt die in ihm bewilligten Ausgabenpoſitionen für übertragbar von einem Jahre auf das andere erklärt1)Nach einer am 27. April 1871 beſchloſſenen Reſolution des Reichs - tags ſoll bei Aufſtellung des Etats hinſichtlich der übertragbaren Titel der - ſelben jedesmal erkennbar gemacht werden, wie viel von den übertragbaren Fonds in dem Vorjahre wirklich verwandt und wie viel daher von demſelben für das laufende Jahr noch disponibel iſt (Stenogr. Berichte S. 419 424). Die Reichsregierung hat ihre Zuſtimmung dazu erklärt und dem entſprechend dieſe Nachweiſungen für die aus dem Jahre 1870 disponibel gebliebenen Be - ſtände der Morine - und Telegraphenverwaltung pro 1871 ſchon am 2. Nov. 1871 gegeben (Druckſ. II. Seſſ. 1871 Nr. 36)..

364§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.

Bei der Kommiſſionsberathung über den Geſetzentwurf betreffend die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc. im Jahre 1874 wurden die in der Praxis befolgten Grundſätze und die Maßregeln zur möglichſten Einſchränkung der Reſtverwaltung erörtert und unter Zuſtimmung der Regierungsvertreter in den Abänderungs - vorſchlägen der Kommiſſion formulirt1)Vgl. Druckſachen 1874 Nr. 108 S. 17 ff. S. 37 ff. Auszugsweiſe ab - gedruckt bei v. Rönne II. 1 S. 166 ff.. Der umgearbeitete Ent - wurf der Regierung hat dieſe Vorſchläge im Weſentlichen aufge - nommen und liefert dadurch einen Ueberblick über die thatſächlich befolgten Regeln2)Vgl. den Entw. v. 1877 (Druckſ. Nr. 115) §§. 26 ff. und dazu die Motive S. 19 ff.. Hiernach iſt im Allgemeinen eine abgeſon - derte Reſtverwaltung beſeitigt; bei den von einem Jahre in das andere übertragbaren Fonds iſt die Verwaltung der Ausgabenreſte mit der laufenden Verwaltung vereinigt und der Nachweis über die Verausgabung der Reſte iſt in der Rechnung des folgenden Jahres ungetrennt von den Ausgaben der laufenden Verwaltung zu führen3)Nach §. 32 des Entw. ſind aber bei dieſen Fonds in der Rechnung der Reichs-Hauptkaſſe geſondert nachzuweiſen 1) der in dem betreffenden Jahre ausgegebene Betrag, 2) der auf das folgende Jahr übertragene Beſtand, 3) der aus dem Vorjahre übernommene Beſtand.. Fonds, bei denen eine Uebertragung von einem Jahre in das andere zuläſſig iſt, ſind nur alle Baufonds, ferner die zu einmaligen Ausgaben bewilligten, und endlich ſolche Fonds, für welche die Uebertragbarkeit im Etat ausdrücklich aner - kannt iſt. Die bis zum Jahresabſchluß nicht verwendeten Beträge bleiben für die in den beiden nächſtfolgenden Jahren unter dem - ſelben Titel zahlbar werdenden Ausgaben neben dem laufenden Etatsſoll zur Verfügung, inſofern nicht eine ausdrückliche Bemer - kung zum betreffenden Titel eine Uebertragung auf längere Zeit geſtattet4)Entw. §. 26.. Nur für die Ausgaben für das Heer beſteht mit Rück - ſicht darauf, daß die Militärverwaltung nicht vom Reich ſelbſt ge - führt wird und demgemäß Abrechnungen zwiſchen der Reichshaupt - kaſſe und den betreffenden Landeskaſſen erforderlich ſind, auch hinſichtlich derjenigen Ausgabefonds, welche nicht von einem Jahre in das andere übertragbar ſind, eine Reſtperiode von 6 Monaten365§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.nach dem Bücherabſchluß. Jedoch dürfen während der Reſtperiode auf die noch offen gehaltenen Fonds keine Ausgaben für das laufende Jahr und andererſeits auf die Fonds des letzteren keine aus den offen gehaltenen Fonds zu beſtreitende Ausgaben ange - wieſen werden1)Entw. §. 28..

b) Die Vorſchußverwaltung iſt im Allgemeinen unter - ſagt und höchſtens inſoweit zuläſſig, als ſie lediglich als erfrühte Zahlungsleiſtung, als Kaſſen-Auslage, erſcheint. Beſonders wichtig aber iſt es, die Vorſchußverwaltung von den Etats-Ueber - ſchreitungen zu unterſcheiden, da die letzteren ſich leicht unter dem Deckmantel der erſteren verbergen können. Der entſcheidende Geſichtspunkt iſt hier derſelbe wie bei der Auseinanderhaltung der Reſtverwaltung von den Ausgaben-Erſparniſſen.

Wenn die laufenden Verwaltungsbedürfniſſe eines Jahres in größerem Umfange, reſp. mit der Aufwendung größerer Geldmittel, als der Etat dafür auswirft, befriedigt werden, ſo liegt ſtets eine Etats-Ueberſchreitung vor, ſelbſt wenn die ge - gründetſte Hoffnung vorhanden iſt, daß gerade mit Rückſicht auf dieſe vollſtändigere Befriedigung im folgenden Jahre ein geringerer Betrag als der gewöhnlich dafür im Etat ausgeſetzte genügen werde2)Daher können z. B. Ausgaben der Telegraphen-Verwaltung zur Ver - mehrung von Telegraphen Leitungen oder zur Anſchaffung von Grundſtücken u. dgl. über den etatsmäßigen Betrag hinaus oder Mehrausgaben der Marine - verwaltung für Schiffsverpflegung, Materialien und Inventarien u. dgl., welche für das Bedürfniß des laufenden Jahres verwendet werden, nicht als Vor - ſchüſſe, ſondern als Etats-Ueberſchreitungen angeſehen werden. Ein hiervon abweichendes Verfahren der Jahre 1867 1869 iſt vom Rechnungshof mit Recht gerügt und ſeine Incorrectheit von der Reichsregierung anerkannt wor - den. Vgl. die Denkſchrift v. 6. Mai 1872 zu dem Geſetzentwurf, betr. die Regelung des Reichshaushalts vom Jahre 1871 S. 8 (Druckſ. des Deut - ſchen Reichstags III. Seſſion 1872 Nr. 59) und das Monitum des Rechnungs - hofes v. 11. Juni 1871 (ebend. Nr. 110). In Folge deſſen wurde das R.G. v. 29. März 1873 (R. G.Bl. S. 59) erlaſſen, welches für die Etatsüberſchrei - tungen Indemnität bewilligte und Deckungsmittel anwies.. Auch wenn dieſe Hoffnung ſich wirklich erfüllt, liegt im erſten Jahre eine Etats-Ueberſchreitung, im zweiten eine Ausgaben - Erſparniß vor, die ſich im finanziellen Reſultate mit einander compenſiren, aber nicht ſtaatsrechtlich gegenſeitig aufheben können. Es würde vielmehr in einem ſolchen Falle die Genehmigung des366§. 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes.Reichstages zur Etats-Ueberſchreitung des einen Jahres einzuholen, und andererſeits die entſprechende Minder-Ausgabe des folgenden Jahres zu ſeiner Kenntniß zu bringen ſein, in keinem Falle aber eine derartige Pſeudo-Vorſchuß-Verwaltung durch mehrere Jahre fortgeführt werden dürfen. Wenn dagegen für Bedürfniſſe des folgenden Jahres bereits vorſorgliche Abhülfe geſchaffen und dafür eine Zahlung à Conto des Etats des folgenden Jahres ge - leiſtet wird, ſo iſt dies eine, mit den Regeln des Budgetrechts vereinbare Vorſchußverwaltung, die nicht den finanziellen Wirth - ſchaftsplan, ſondern blos das Kaſſen - und Abrechnungsweſen be - rührt. Es ſoll demnach eine Vorſchußleiſtung nur bei ſolchen Kaſſen vorkommen, welche mit Beſtänden abſchließen dürfen und es ſind die vorhandenen Beſtände als Aktiva in einer den geleiſteten Vorſchüſſen entſprechenden Höhe nachzuweiſen, ſo daß die Vorſchüſſe rechnungsmäßig nicht als Mehrausgaben erſcheinen1)Vgl. Inſtruct. f. die Ober-Rechnungs-Kammer v. 18. Dez. 1824 §. 23. Demgemäß hat der von der Reichsregierung urſprünglich vorgelegte Geſetz - entw. über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben im §. 5 Abſ. 5 die Beſtimmung enthalten: Etwa geleiſtete Vorſchüſſe ſind in den Rechnungen nicht als verausgabt, ſondern unter den Beſtänden nachzuweiſen . Die Kom - miſſion des Reichstages (Druckſ. 1874 Nr. 108) verlangte jedoch, daß ſolche Vorſchüſſe unter den Etatsüberſchreitungen nachgewieſen werden und die Regierung hat dieſem Verlangen in dem revidirten Entwurf entſprochen. (Entw. v. 1877 §. 8 Abſ. 2.). Eine derartige Vorſchußverwaltung kommt namentlich in ausgedehntem Maße bei der Armeeverwaltung vor, welche in billigen Jahren Naturalien-Reſervevorräthe zum Zweck der Truppen - Verpflegung anſammelt und ſie in Theurungsjahren mit zur laufen - den Konſumtion zieht und dann bei günſtiger Konjunktur wieder ergänzt oder vermehrt2)Vgl. Druckſachen des Reichstages 1872 Nr. 143 S. 7.. Ueberdies muß freilich die Gefahr dafür übernommen werden, daß der Etat des folgenden Jahres für das fragliche Verwaltungsbedürfniß auch in der That einen Betrag auswerfen wird, was aber bei den fortdauernden Ausgaben meiſtens keinem Bedenken unterliegt.

Auch dieſe Beſchränkungen können übrigens durch ausdrückliche Anordnungen des Etatsgeſetzes aufgehoben und die Ueberſchreitung des etatsmäßigen Betrages des einen Jahres à Conto der Etats - ſumme des folgenden Jahres geſtattet werden.

367§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.

§ 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ohne Etatsgeſetz.

I. Trotzdem Art. 69 der R.V. mit apodiktiſcher Beſtimmt - heit ſagt, daß der Reichshaushalts-Etat vor Beginn des Etatsjahres durch ein Geſetz feſtgeſtellt wird, ſo iſt doch die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß das Etatsgeſetz thatſächlich vor Beginn des Etatsjahres nicht zu Stande kömmt. Der Grund für den Eintritt einer ſolchen Eventualität kann darin liegen, daß die Ueberein - ſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages über den Inhalt des Etatsgeſetzes nicht zu erzielen iſt; denn die Reichsverfaſſung kennt kein rechtliches Mittel, welches die Herſtellung übereinſtim - mender Majoritätsbeſchlüſſe der beiden Organe des Reiches ſicher - ſtellte. Das Hinderniß kann aber auch dadurch gegeben ſein, daß die Beſchlußfaſſung der beiden Körperſchaften nicht rechtzeitig er - folgt, ſo daß zwar begründete Ausſicht auf Vereinbarung des Etats - geſetzes vorhanden iſt, die Feſtſtellung und Verkündigung desſelben aber nicht vor Beginn des Etatsjahres ſich ermöglichen läßt. Auch im letzteren Falle iſt die Reichsregierung für einen Theil des Etats - jahres in der Lage, ohne Etatsgeſetz die Verwaltung führen zu müſſen. Die Reichsverfaſſung hat nicht angegeben, welche Rechts - grundſätze in einem ſolchen Falle Platz greifen; die letzteren müſſen daher auf wiſſenſchaftlichem Wege aus allgemeinen Rechtsprincipien hergeleitet werden.

Es iſt nicht zu beſtreiten, daß die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches ohne Etatsgeſetz der Reichsverfaſſung, d. h. dem in derſelben als regelmäßig vorausgeſetzten und ange - ordneten Zuſtande, widerſpricht, und man kann es dabei als unerheblich auf ſich beruhen laſſen, ob ein ſolcher Zuſtand als verfaſſungswidrig oder als ein anomaler zu bezeichnen ſei1)Mit beſonderer Lebhaftigkeit wird die Frage, ob die eine oder andere Bezeichnung zutreffender ſei, von v. Rönne S. 175 erörtert; er findet zugleich in meinen Ausführungen den Beweis, daß mir der Begriff des konſtitutionellen Budgetrechts völlig abhanden gekommen iſt . Das war nun freilich grade mein Beſtreben, den traditionellen Begriff des konſtitutionellen Budget - rechts, der einer vorgefaßten politiſchen Theorie entſprungen iſt, als haltlos darzulegen und ihn durch einen dem poſitiven Deutſchen Staatsrecht beſſer entſprechenden zu erſetzen.. 368§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.Weſentlich iſt nur, daß man zwei Punkte nicht überſieht; nämlich erſtens, daß die Verfaſſung keine ausreichende Sicherheit geſchaffen hat, um das Eintreten eines ſolchen Zuſtandes unmöglich zu machen und die etatsloſe Verwaltung auszuſchließen, und zweitens, daß die Frage nach den Rechtsſätzen, welche im Falle des nicht recht - zeitigen Zuſtandekommens des Etats Platz greifen, ganz unabhängig davon beantwortet werden muß, wen die Schuld an dem Nichtzu - ſtandekommen trifft. Eine ſolche Schuld im ſubjektiven Sinne braucht überhaupt nicht vorzuliegen; bei gewiſſenhafteſter Beob - achtung aller ſtaatsrechtlichen und politiſchen Pflichten kann der Fall eintreten, daß Bundesrath und Reichstag über den Etat zu übereinſtimmenden Mehrheitsbeſchlüſſen nicht gelangen oder nicht rechtzeitig gelangen, und falls in der That ein Verſchulden obwaltet, ſo kann dasſelbe ebenſowohl auf Seiten des Reichstages oder auf Seiten des Bundesrathes wie auf Seiten der Reichsregierung (des Reichskanzlers) liegen1)Vgl. auch Schulze in Grünhut’s Zeitſchr. S. 195 und Lehrb. I. S. 591.. Es kann daher nur irreführend ſein, wenn man den thatſächlichen Zuſtand, daß ein Etatsgeſetz nicht vorhanden iſt, als eine Verfaſſungs verletzung bezeichnet, da in dieſem Worte ſtets das Moment ſubjektiven Verſchuldens mit enthalten iſt; eine ſolche Ausdrucksweiſe kann leicht dazu verleiten, das Vorhandenſein einer ſubjektiven Schuld zu ſubintelligiren und durch dieſe Vorſtellung die unbefangene Würdigung der Verhältniſſe zu beeinfluſſen. Die Frage muß vielmehr ganz objektiv geſtellt und beantwortet werden: Welche Rechtsregeln gelten für die Verwal - tung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches, wenn bei Beginn des Etatsjahres das im Art. 69 der R.V. vorgeſchriebene Etats - geſetz nicht vorhanden iſt?2)Völlig willkürlich iſt die Annahme von v. Martitz, Ueber den conſtit. Begriff ꝛc. S. 66 ff., daß in dem Falle, daß das Etatsgeſetz nicht zu Stande gekommen ſei, eine Kriſis vorliege, wo der Staat am Rande des Abgrundes ſtehe ; daß hier unſere Wiſſenſchaft aufhört ; daß hier alle juriſt. Con - ſtruction vergeblich und müſſig ſei und Fragen geſtellt werden, die nicht mehr dem Bereiche des Rechts angehören . Aehnlich Zorn a. a. O. S. 383. Gegen dieſe Phraſen wendet ſich mit Recht G. Meyer in Grünhut’s Zeit - ſchrift VIII. S. 49 fg..

In der Praxis des Reiches hat man bisher, wenn ein ſolcher Fall eintrat, eine Aushülfe dadurch geſchaffen, daß man den Etat369§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.der abgelaufenen Wirthſchaftsperiode für einen Monat erſtreckte1)R.G. v. 26. März 1877, betreffend die vorläufige Erſtreckung des Haushalts-Etats des Deutſchen Reichs für das Vierteljahr vom 1. Jan. 1877 bis 31. März 1877 auf den Monat April 1877 (R. G.Bl. S. 407) und R.G. v. 30. März 1878, betreffend die vorläufige Erſtreckung des Haushalts-Etats des Deutſchen Reichs für das Etatsjahr 1877 / 78 auf den Monat April 1878. (R. G.Bl. S. 9).. Eine effektive Regelung der Reichsfinanzwirthſchaft für den betreffen - den Monat wird dadurch weder bezweckt noch erreicht. Die Er - ſtreckung erfolgt bis zur geſetzlichen Feſtſtellung des Reichshaus - halts-Etats für das Etatsjahr und vorbehaltlich der Aende - rungen, welche durch dieſe Feſtſtellung ſich ergeben ; die fortdauern - den Ausgaben werden zwar bei den einzelnen Kapiteln und Titeln auf ein Zwölftel der Anſätze des prolongirten Jahresetats bemeſſen, es wird aber außerdem die Zahlung derjenigen Mehrbeträge ge - ſtattet, welche zur Erfüllung der auf einen längeren Zeitraum im Voraus fälligen Verbindlichkeiten erforderlich ſind; für die ein - maligen Ausgaben wird ebenfalls ein Zwölftel der im prolongirten Etat ausgeworfenen Beträge feſtgeſetzt, ſofern ſie für dieſelben Zwecke, für welche die letzteren bewilligt waren, beſtimmt ſind, und mit Ausnahme derjenigen Ausgaben, zu welchen die für das neue Etatsjahr erforderlichen Mittel im Wege des Kredits zu beſchaffen (oder vorſchußweiſe aus dem Feſtungsbaufonds zu entnehmen) ſein würden. Hinſichtlich der Einnahmen enthalten die Geſetze keinerlei Beſtimmung, als die Anordnung, daß die Bundesſtaaten die Matri - kularbeiträge bis zum 12. Theil der durch den prolongirten Etat feſtgeſtellten Summen einzuzahlen haben. Auch ſind die Einnahmen und Ausgaben für den Monat April bei den einzelnen Kapiteln und Titeln auf die Einnahmen und Ausgaben des zu erwartenden Haushalts-Etats zu verrechnen2)§. 3 der beiden citirten Geſetze.. Ein Wirthſchaftsplan für die Verwaltung des Reiches iſt alſo in einem ſolchen Geſetz nicht enthalten. Aber auch den Vorſchriften der Reichsverfaſſung wird durch das in Rede ſtehende Auskunftsmittel nicht genügt; denn Art. 69 verlangt, daß alle Einnahmen und Ausgaben für jedes Jahr veranſchlagt werden ; er kennt weder Monats - Etats , noch Etatsgeſetze, welche blos die Ausgaben und die Ma - trikularbeiträge betreffen. Auch die Reichsfinanzverwaltung mitLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 24370§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.einem vorläufig auf einen Monat erſtreckten Etat iſt im Hinblick auf Art. 69 der R.V. eine anomale1)Wenn man mit dem Art. 69 der R.V. Monats - oder Vierteljahres - Etats für verträglich hält, ſo iſt nicht recht einzuſehen, warum nicht auch Etats für Finanzperioden von zwei oder mehreren Jahren damit vereinbar ſein ſollen. Verfaſſungsgemäß ſind allein Jahresetats..

Indeſſen, wenn man hiervon abſehen und die proviſoriſche Erſtreckung des letzten Etatsgeſetzes für die correcte und dem con - ſtitutionellen Princip entſprechende Aushülfe anerkennen will, ſo iſt damit die Frage keineswegs abgethan; denn ſo gut wie das Etatsgeſetz ſelbſt kann auch das Geſetz betreffend die vorläufige Erſtreckung des vorigen Etats an Hinderniſſen aller Art ſcheitern.

II. Geht man von der Vorſtellung aus, daß das Budget - geſetz die alleinige und ausſchließliche geſetzliche Grundlage für die Finanzwirthſchaft ſei, daß nur durch das Budget-Geſetz die Regie - rung ſtaatsrechtlich ermächtigt werde, Ausgaben zu leiſten und Ein - nahmen zu erheben2)Dies galt früher als konſtitutionell und wurde a priori als Axiom hingeſtellt. Vgl. die aus dem Jahre 1862 ſtammende Ausführung von Lasker, Zur Verfaſſungsgeſchichte Preußens 1874 S. 355 ff. Dieſe Theorie wird jetzt noch vertheidigt von v. Rönne Staatsr. d. D. R. II. 1 S. 171. v. Martitz a. a. O. S. 65 und Zorn S. 382., ſo kommt man folgerichtig zu dem Reſultat, daß, wenn ein Budgetgeſetz nicht zu Stande kommt, die Finanz - wirthſchaft, d. h. überhaupt die ſtaatliche Thätigkeit, ſtille ſtehen muß3)Vgl. mein Budgetrecht S. 76 ff. Uebereinſtimmend Schulze in Grün - hut’s Zeitſchr. S. 196 und Lehrbuch I. S. 591 fg.. An dieſer abſurden Conſequenz erweist ſich die Unrichtig - keit der Theorie; denn ſie bedeutet die Desorganiſirung und Auf - löſung des Staates. Hält man dagegen an der Bedeutung des Etatsgeſetzes, wie ſie in den vorhergehenden Erörterungen darge - legt worden iſt, feſt, ſo ergibt ſich als das oberſte Princip der Satz, daß, ſoweit die Regierung nur durch den Etat zur Er - hebung von Einnahmen und zur Leiſtung von Ausgaben ermächtigt iſt, ihr dieſe Befugniß beim Mangel eines ordnungsmäßig zu Stande gekommenen Etats fehlt, daß dagegen diejenigen Befugniſſe, welche die Regierung auf Grund dauernd wirkſamer Ge - ſetze hat, ihr durch das bloße Nichtzuſtandekommen des Etats, alſo durch das Nichthinzutreten eines neuen formalen Rechtsgrundes, nicht entzogen werden, da es einer alljährlichen Prolongation oder371§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.Beſtätigung dieſer Befugniſſe nicht bedarf1)v. Rönne und Zorn freilich behaupten, daß Geſetze, welche ſtaat - liche Inſtitutionen dauernd normiren, hinſichtlich der hierfür erforderlichen finanziellen Mittel eines alljährlich zu erneuernden Ausführungs - geſetzes bedürfen. Darnach gäbe es im Staate überhaupt gar keine dauernde Inſtitutionen und keine fortgeltenden Geſetze, ſondern der geſammte Rechts - zuſtand des Staates wäre von Jahr zu Jahr in Frage geſtellt und würde immer nur für eine Etatsperiode prolongirt. v. Martitz, Betrachtungen ꝛc. S. 99 ſagt: Es iſt eine unerhörte Frivolität zu behaupten, der Rechtsgrund, aus dem der Staat ſeine Ausgaben leiſtet, ſeine Einnahmen be - zieht, ſei ein jährlich zu vereinbarendes Geſetz . v. Martitz, Ueber den conſt. Begriff ꝛc. S. 65 dagegen behauptet: nur dem vorliegenden Etats - geſetze kann die Landesregierung zu Rechte die Vollmacht entnehmen, die Finanzverwaltung nach Maßgabe der in demſelben genehmigten Etats, d. h. theils nach Anweiſung theils nach Ermächtigung durch die einzelnen, beſchluß - mäßig feſtgeſtellten Etatspoſitionen zu führen . Ich halte dieſe letztere Be - hauptung zwar nicht für eine unerhörte Frivolität , aber für einen völligen Irrthum.. Aus dieſem Princip ergeben ſich hinſichtlich der Ausgaben und Einnahmen folgende Konſequenzen:

1. Die Ausgaben zerfallen mit Beziehung auf das Be - willigungsrecht des Bundesrathes und des Reichstages, wie oben S. 349 ausgeführt worden iſt, in zwei Kategorien, rechtlich noth - wendige und willkürliche.

a) Als nothwendige im ſtaatsrechtlichen Sinne ſind nur diejenigen Ausgaben zu bezeichnen, zu deren Leiſtung die Regierung geſetzlich verpflichtet iſt. Dahin gehören theils die giltig entſtandenen vermögensrechtlichen Verpflichtungen des Fiscus, theils die ihr geſetzlich obliegenden Verwaltungsaufgaben, die per - ſönlichen und ſachlichen Koſten der geſetzmäßig conſtituirten Behör - den, die Inſtandhaltung der Staatsanſtalten u. ſ. w. Recht und Pflicht zur Leiſtung dieſer Ausgaben beſtehen auch ohne Etats - geſetz, und deshalb kann es nicht als Verfaſſungsverletzung ange - ſehen werden, wenn die Regierung dieſe Ausgaben leiſtet, obgleich ein Etatsgeſetz nicht verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen iſt. Man kann den Satz auch in der Art formuliren: Ausgaben, welche Bundesrath und Reichstag bei der Feſtſetzung des Etats aus recht - lichen Gründen nicht verweigern dürfen, ſind von der Regierung auch in dem Falle, daß die geſetzliche Feſtſtellung des Reichshaus - halts-Etats unterbleibt, zu leiſten.

24*372§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.

Eine ausdrückliche Anerkennung hat dieſer Grundſatz in der Reichsgeſetzgebung gefunden hinſichtlich der Verpflichtungen, welche aus der Begebung von Anleihen und Schatzſcheinen hervorgehen. Sämmtliche Anleihegeſetze enthalten übereinſtimmend den Satz, daß die zur Verzinſung und Tilgung der Anleihe, ſowie zur Einlöſung der Schatzanweiſungen erforderlichen Beträge der Reichsſchulden - Verwaltung aus den bereiteſten Einkünften des Reichs zur Verfall - zeit zur Verfügung geſtellt werden müſſen1)Geſ. v. 27. Januar 1875 §. 4. Vgl. oben S. 239.. Dieſe Vorſchrift enthält nicht die Klauſel nach Maßgabe des Reichshaushalts - Etatsgeſetzes oder eine gleichbedeutende; ſie gilt, gleichviel ob ein ſolches Geſetz verkündet worden iſt oder nicht; ſie ſchützt die Gläu - biger des Reichs vor der Gefahr, daß die Befriedigung ihrer An - ſprüche von dem alljährlichen Zuſtandekommen des Etatsgeſetzes abhängig ſei.

Allein unter den Ausgaben, die als rechtlich nothwendige zu charakteriſiren ſind, müſſen wieder zwei Arten unterſchieden werden; die einen ſind auch der Höhe nach feſtbeſtimmte, von der Be - willigung des Etatsgeſetzes unabhängige; die anderen ſind nur dem Rechtsgrunde nach nothwendige, ihrer Höhe nach aber ver - änderliche. In Betreff der erſteren hat die Aufnahme in das Etatsgeſetz gar keine ſelbſtſtändige Bedeutung; ſie gewähren der freien Entſchließung der geſetzgebenden Organe gar keinen Spiel - raum; ſie müſſen in den Etat aufgenommen werden, weil derſelbe ein vollſtändiger Wirthſchaftsplan iſt und eben nicht blos eine Er - mächtigung zur Leiſtung von Ausgaben. Hinſichtlich dieſer Aus - gaben hat daher auch das Fehlen eines Etatsgeſetzes keine Bedeu - tung; die Regierung trifft keine andere Verantwortung, mag ſie dieſe Ausgaben mit oder ohne Etatsgeſetz leiſten. Sind die Aus - gaben dagegen dem Betrage nach veränderlich, ſo enthält die Ver - anſchlagung im Etat das übereinſtimmende Anerkenntniß des Bundesraths und Reichstages, daß die im Budget ausgeworfene Summe in dem beſtimmten Etatsjahre erforderlich oder an - gemeſſen ſei, und die Regierung iſt, wenn ſie die Ausgabe innerhalb dieſer Beträge leiſtet, von jeder Verantwortung frei. Iſt dagegen ein Etatsgeſetz nicht zu Stande gekommen, ſo hat die Regierung kein ſolches, ſie im Voraus deckendes Anerkenntniß; ſie373§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.hat vielmehr bei der Rechnungslegung den Nachweis zu führen, daß die Ausgabe in der Höhe, in welcher ſie geleiſtet worden iſt, erforderlich und angemeſſen war, ſo daß allerdings ihre Lage er - heblich ungünſtiger iſt, als wenn ſie auf Grund eines Etatsgeſetzes verwaltet hat. Das Etatsgeſetz des vorhergegangenen Jahres hat formell keine Geltung, thatſächlich werden aber meiſtens die in ihm enthaltenen, durch Uebereinſtimmung der geſetzgebenden Körper - ſchaften feſtgeſetzten Beträge einen Anhaltspunkt für die Beurthei - lung der Frage geben, ob die Regierung ſich innerhalb der ange - meſſenen Summen gehalten habe. Uebrigens kann ja auch, wenn der Etat geſetzlich feſtgeſtellt worden iſt, der budgetmäßig veran - ſchlagte Betrag ſich thatſächlich als unzulänglich zur Beſtreitung einer geſetzlich erforderten, alſo rechtlich nothwendigen, Ausgabe erweiſen; der Regierung liegt auch in dieſem Falle der Nachweis ob, aus welchen Gründen die Etatsüberſchreitung geboten war, und man kann daher den Satz aufſtellen, daß bei nicht zu Stande ge - kommenem Etat die Reichsregierung hinſichtlich aller nothwendigen, aber der Höhe nach nicht feſtſtehenden Ausgaben in Bezug auf den ganzen Betrag derſelben eine ähnliche Verantwortlichkeit trägt wie bei der Verwaltung auf Grund eines Etatsgeſetzes hinſichtlich der Etats überſchreitungen.

b) Als willkürlich im ſtaatsrechtlichen Sinne ſind alle Aus - gaben zu bezeichnen, zu deren Leiſtung für die Regierung keine Rechtspflicht beſteht. Für ſolche Ausgaben bedarf die Regie - rung der Regel nach einer Ermächtigung durch das Etatsgeſetz, falls nicht ausnahmsweiſe in einem ſpeziellen Geſetze die Ermäch - tigung zu einer Ausgabe ertheilt iſt, und demgemäß hat das Nicht - zuſtandekommen des Etatsgeſetzes im Allgemeinen die Wirkung, daß die Regierung ſolche Ausgaben unterlaſſen muß. Allein aus thatſächlichen Gründen kann die Regierung in die Lage kommen, Ausgaben dieſer Art leiſten zu müſſen. Die Befugniß hierzu be - ruht auf der allgemeinen Verpflichtung der Regierung, dringende Staatsintereſſen wahrzunehmen; es iſt widerſinnig, die Staatsver - waltung unter die Fiction zu ſtellen, daß kein Staatsintereſſe dringend, keine Ausgaben nothwendig ſein können, deren Dring - lichkeit und Nothwendigkeit nicht vorher durch ein Geſetz aner - kannt worden iſt. Auch bei vorhandenem Etatsgeſetz kann der Fall eintreten, daß die Regierung Ausgaben für Zwecke leiſten374§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.muß, welche im Etatsgeſetz gar nicht berückſichtigt worden ſind, vielleicht gar nicht berückſichtigt werden konnten. Hinſichtlich ſolcher außeretatsmäßigen Ausgaben kommt die Regierung aber nicht mit dem Nachweiſe durch, daß die verwendete Summe für den be - treffenden Zweck angemeſſen und erforderlich war, ſondern ſie iſt auch dafür verantwortlich, daß der Zweck der Ausgabe ſelbſt durch ein dringendes Reichsintereſſe geboten war. In dieſer Lage befindet ſich die Regierung, wenn ſie ohne Etatsgeſetz die Verwal - tung führt, hinſichtlich aller, nicht auf ſpezieller geſetzlicher Ver - pflichtung oder Ermächtigung beruhenden Ausgaben und man kann demgemäß den Rechtsſatz aufſtellen, daß bei nicht zu Stande ge - kommenem Etat die Regierung hinſichtlich aller, nicht auf ſpeziellen Geſetzesvorſchriften beruhenden Ausgaben eine ähnliche Verant - wortlichkeit trägt, wie bei der Verwaltung auf Grund eines Etats - geſetzes hinſichtlich der außeretatsmäßigen Ausgaben1)v. Martitz, Ueber den conſtit. Begriff ꝛc. S. 67 erklärt dieſen Satz für rechtsirrthümlich, weil die Genehmigung der außeretatsmäßigen Ausgaben in einer andern Form erfolgt wie die Feſtſtellung des Etats. (Siehe oben S. 361 fg.) Die logiſche Schlüſſigkeit iſt bei dieſer Ausführung zu ver - miſſen..

2. Die Einnahmen beruhen zum größten Theile auf Quellen, die von der alljährlichen Bewilligung unabhängig ſind, insbeſondere auf den dauernd giltigen Zoll - und Steuer - und Gebühren-Geſetzen und den Erträgen der Betriebsanſtalten; hinſichtlich dieſer Einnahmen iſt daher die Verwaltung, wenn kein Etatsgeſetz zu Stande ge - kommen iſt, in ganz derſelben Lage, als wenn die vorausſichtlichen Erträge dieſer Quellen im Etatsgeſetz veranſchlagt worden ſind2)Zorn lehrt S. 382, daß auch die dauernd für die einſchlägigen Materien vorhandenen Geſetze, um ausgeführt werden zu können, alljährlich eines neuen, beſonderen Ausführungsgeſetzes bedürfen, als welches das Budgetgeſetz in ſeinen auf die Einnahmen bezüglichen Poſitionen ſich darſtellt. Die Geſetze ſelbſt enthalten von dieſer Ergänzungsbedürftigkeit Nichts, ebenſowenig die Reichsverfaſſung. Wie ſich Zorn die praktiſche Ausführung ſeiner Theorie denkt, iſt ſchwer zu errathen. Sollen, wenn am 1. April eines Jahres das Etatsgeſetz nicht publizirt iſt, alle Waaren zollfrei eingehen, alle Verbrauchsabgaben aufhören, alle Poſtſendungen portofrei befördert werden u. ſ. w.? Auch v. Rönne S. 171 fg. vertritt dieſelbe Anſicht; er entwickelt aber noch außerdem den von überwältigendem Scharfſinn zeugenden Lehr - ſatz, daß zwar für das Reich materiell ein von der geſetzlichen Feſt - ſtellung des Etats theilweiſe unabhängiges Recht auf die gedachten Einnahmen. 375§. 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ꝛc.Eine Ausnahme beſteht dagegen hinſichtlich folgender Einnahmen:

a) Die Matrikularbeiträge. Dieſelben können nicht erhoben werden, wenn es an einem geſetzlich feſtgeſtellten Etat fehlt, da nach Art. 70 der R.V. der Reichskanzler dieſelben nur bis zur Höhe des budgetmäßigen Betrages ausſchreiben darf, das Vorhandenſein eines Budgets daher eine unerläßliche Vorausſetzung hierfür iſt. Demgemäß müſſen in einem Jahre, in welchem es an einem Etatsgeſetz gebricht, die Einnahmen aus den Zöllen und der Tabakſteuer, inſoweit ſie die Summe von 130 Mill. M. über - ſteigen, ſowie die Einnahmen aus den Stempelſteuern auf Grund des Geſ. v. 1. Juli 1881 im vollen Betrage den Einzelſtaaten überwieſen werden. Siehe oben §. 122. Andererſeits ſind aber durch Art. 62 Abſ. 2 der R.V. die einzelnen Bundesſtaaten fort - dauernd verpflichtet1)Vgl. hierüber Bd. III. 1 S. 92 ff., jährlich ſovielmal 225 Thaler als die Kopfzahl der Friedensſtärke ihrer Heeres-Kontingente beträgt, zur Reichskaſſe fortzuzahlen. Dieſe Verpflichtung iſt von der geſetz - lichen Feſtſtellung des Budgets nicht abhängig gemacht. Es erhebt ſich nun die Frage, wie ſich dieſe Verpflichtung zu den anderen Einnahmen des Reiches verhält. Ihr Zweck beſteht, wie ſich aus dem Wortlaut des Art. 62 der R.V. und der Entſtehungsgeſchichte deſſelben ergiebt, darin, eine gewiſſe Summe zur Beſtreitung des Aufwandes für das Heer ſicher zu ſtellen2)Siehe Bd. III. 1 S. 94.. Daraus folgt, daß die Reichsregierung von den Erträgen der vom Etatsgeſetz unab - hängigen Einnahmen denjenigen Theil, welcher nach Leiſtung der unerläßlichen anderen Ausgaben, zu denen die Reichsregierung gemäß den vorſtehenden Erörterungen ſelbſt ohne Etatsgeſetz be -2)beſteht, nicht aber für die die Geſchäfte des Reiches verwaltende Reichs - regierung und deren (!) nach Art. 17 der R.V. verantwortlichen Kanzler. Alſo das Reich hat wol ein Recht auf die Portogebühren, aber die Poſt - behörden dürfen ſie nicht erheben! Ein ſchöner Gedanke. v. Martitz, Betrachtungen ꝛc. S. 100 ſagt: Ein jährlicher Staatshaushaltsplan hat nicht die Kraft, die geſetzlichen Landeseinkünfte in Jahresrenten zu verwandeln, weder in England noch in einem andern Staate, der die Geſetze des geſunden Menſchenverſtandes recipirt hat . v. Martitz, Ueber den conſtitut. Begriff ꝛc., hat ſich von den beengenden Feſſeln der letzterwähnten Geſetze frei gemacht und vergleicht S. 65 die Forterhebung der geſetzlich feſt - ſtehenden Einnahmen bei mangelndem Etatsgeſetz einer Brandſchatzung .376§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.fugt oder verpflichtet iſt, übrig bleibt, zur Beſtreitung der Militair - ausgaben zur Verfügung ſtellen muß und daß die einzelnen Staaten alsdann noch diejenige Summe zuzulegen verpflichtet ſind, welche zur Completirung des Pauſchquantums von 225 Thlr. für den Kopf erforderlich iſt. Dieſe Summen würden an die Stelle der in Jahren mit geſetzlich feſtgeſtelltem Etat zu zahlenden Matrikular - beiträge treten1)Eine praktiſche Anwendung dürfte Art. 62 Abſ. 2 der R.V. aller - dings ſchwerlich finden, ſchon deshalb, weil er für die Beſtreitung des Auf - wandes für das Heer keine genügenden Mittel bietet; rechtlich aufgehoben iſt er aber weder durch die Beendigung der Pauſchquantumsperiode noch durch die Militair - und Finanzgeſetzgebung des Reiches. Anderer Anſicht ſind G. Meyer in Hirth’s Annalen 1880 S. 349 und v. Rönne II. 1 S. 177 fg..

b) Einnahmen aus der Veräußerung der im Beſitz der Reichs - verwaltung befindlichen Grundſtücke darf die Reichsregierung nur unter Genehmigung des Bundesrathes und des Reichstages verausgaben; ſofern dieſe Genehmigung nicht anderweitig erfolgt iſt, ſind ſolche Einnahmen im nächſten Reichshaushalts-Etat ein - zuſtellen2)R.G. v. 25. Mai 1873 §. 11. Siehe oben S. 352.. Daraus folgt, daß wenn ein Etatsgeſetz nicht zu Stande gekommen iſt, die Reichsregierung Einnahmen dieſer Art nicht verausgaben darf, ſondern ſie als disponibles Vermögen des Reiches aufbewahren muß, falls ſie nicht die ſpezielle Genehmigung des Bundesraths und Reichstages zur Verwendung dieſer Beträge erhalten hat.

c) Ueber die Verwendung der beſtimmten Zwecken reichsgeſetz - lich zugewieſenen Fonds ſiehe oben S. 350 Ziff. 3.

§ 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung*)Meine Schrift über das Budgetrecht Berlin 1871 S. 68 ff. Die Abhandlung Ueber den Rechnungshof mit beſonderer Rückſicht auf das Deut - ſche Reich in der Zeitſchrift f. die geſ. Staatswiſſenſchaft Bd. 32 S. 479 ff. und Bd. 33 S. 23 ff. Meißner, die das Rechnungsweſen des Preuß. Staates umfaſſenden Geſetze und Verordnungen, betreffend die Einrichtung und die Befugniſſe der Ober-Rechnungskammer, 2 Bde. Berlin 1878 1879. Vgl. auch den Artikel Staatskaſſenverwaltung in v. Holtzendorff’s Rechts - lexikon Bd. III. S. 751..

I. Die Kontrole der Staatsrechnungen iſt ein ebenſo unab - weisliches Bedürfniß der Finanzwirthſchaft wie die Aufſtellung377§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.des Etats und bei jeder Verfaſſungsform durch den Umfang der ſtaatlichen Finanzwirthſchaft und durch die Bedürfniſſe der Ver - waltung ſelbſt geboten. Das Staatsoberhaupt bedarf eines Organes, welches unabhängig von den verwaltenden Behörden die Thätigkeit der letzteren periodiſch revidirt, um feſtzuſtellen, ob die letzteren nach den ihnen ertheilten Vorſchriften und in einer dem Staats - intereſſe förderlichen Weiſe die Einnahmen erhoben und die Aus - gaben geleiſtet und das Vermögen des Staates beſtimmungsgemäß und ſorgfältig verwaltet haben. Im conſtitutionellen Staate kommt noch das weitere Moment hinzu, daß die Volksvertretung den ihr gebührenden Antheil an der Regelung der Finanzwirthſchaft und Staatsverwaltung nicht wirkſam ausüben und geltend machen könnte und daß ihre Theilnahme an der Feſtſetzung des Staatshaushalts - Etats ſich als illuſoriſch und wirkungslos erweiſen müßte, wenn nicht die geſammte Verwaltung einer umfaſſenden Kontrole durch eine unabhängige Behörde unterliegen und der Volksvertretung Rechenſchaft darüber gegeben würde, daß die unter ihrer Mitwir - kung aufgeſtellten Normen thatſächlich bei Führung der Staats - geſchäfte beobachtet worden ſind. Auch bei der Errichtung des Norddeutſchen Bundes beſtand keine Meinungsverſchiedenheit dar - über, daß die Verwaltung des Bundes zur Rechnungslegung ver - pflichtet ſei und der Entlaſtung ſowohl von Seiten des Bundes - rathes als von Seiten des Reichstages bedürfe. Dies fand im Art. 72 der Bundesverfaſſung Ausdruck; über die Art und Weiſe aber, wie die Verwaltungsrechnung geprüft und die Entlaſtung vorbereitet werden ſollte, traf die Verfaſſung keine Beſtimmung1)Ein don den Abgeordneten Duncker und Waldeck beantragtes Amen - dement, betreffend die Einſetzung eines Bundesrechnungshofes wurde vom verfaſſungberathenden Reichstage abgelehnt.. Es konnte dies auch in der That entbehrlich ſcheinen im Hinblick auf die Rolle, welche nach der urſprünglichen Anlage der Bundes - verfaſſung Preußen zugedacht war2)Vgl. Hänel Studien II. S. 10 ff. 56 ff.. Da die überwiegende Mehr - zahl aller Behörden, deren Rechnungen zu prüfen waren, Preußen angehörten oder aus Preußiſchen Behörden unmittelbar hervorge - gangen waren (Marine, Militair, Geſandtſchaften, Konſulate u. ſ. w.), und da der König von Preußen in ſeiner Eigenſchaft als Bundes - präſidium zugleich der Chef der geſammten Bundesverwaltung war,378§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.ſo mußte es angemeſſen erſcheinen, die in Preußen beſtehenden Vorſchriften und Einrichtungen auf die Bundesverwaltung einfach auszudehnen. Man hätte zwar eine beſondere Rechnungs - behörde für die Finanzcontrole der Bundesverwaltung neben der Preußiſchen Oberrechnungskammer ohne Schwierigkeiten errichten können; dagegen hätte es große Unzuträglichkeiten im Gefolge haben müſſen, wenn die Grundſätze über die Rechnungslegung und Rech - nungsprüfung, über die Funktionen der Rechnungsbehörde, über das Verhältniß derſelben zu den Verwaltungsbehörden einerſeits und zur Volksvertretung andererſeits für die Bundesverwaltung anders normirt worden wären wie für die Preußiſche Staatsver - waltung. In Preußen war aber das durch Art. 104 der Ver -[faſſungs] - Urkunde verheißene Geſetz über die Einrichtung und die Befugniſſe der Oberrechnungskammer noch nicht erlaſſen worden, der Rechtszuſtand in dieſer Beziehung alſo nicht definitiv geregelt; demgemäß mußte man auch im Norddeutſchen Bunde zunächſt von einer verfaſſungsmäßigen und definitiven Ordnung der Finanz - controle Abſtand nehmen. Man begnügte ſich daher, durch das Geſ. v. 4. Juli 1868 (B. G.Bl. S. 433) die Kontrole der Staats - rechnungen des Nordd. Bundes für die Jahre 1867 1869 der Preußiſchen Oberrechnungskammer zu übertragen und das preußiſche Recht über die Reviſion der Rechnungen in complexu auf die Bundesverwaltung für anwendbar zu erklären. Dieſe Beſtimmungen ſind dann von Jahr zu Jahr auf die Verwaltungsrechnungen durch beſondere Bundesgeſetze erſtreckt worden1)Vgl. die näheren Angaben Bd. I. S. 355 fg..

Mit der weiteren Ausbildung der Bundesverwaltung und der räumlichen und ſachlichen Erweiterung, welche dieſelbe in Folge der Reichsgründung erfahren hat, machte ſich das Bedürfniß nach einer ſelbſtſtändigen reichsgeſetzlichen Regelung der Reichskontrole in ver - ſtärktem Maße geltend. Auch iſt in Preußen das durch Art. 104 der Verf. -Urk. in Ausſicht geſtellte Geſetz am 27. März 1872 erlaſſen worden2)Preuß. Geſ. Samml. 1872 S. 278 ff. Vgl. hierzu den Bericht der Kommiſſion des Abgeordnetenhauſes in den Druckſachen deſſelben von 1871 / 72 Nr. 148. und dadurch die Grundlage für ein entſprechendes Reichs - geſetz hergeſtellt worden. Der Reichskanzler legte daher dem Reichs - tage bereits im Jahre 1872 einen den Anordnungen des Preuß. 379§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.Geſetzes ſich eng anſchließenden Geſetzentwurf, betreffend die Ein - richtung und die Befugniſſe des Rechnungshofes, vor; allein eine Uebereinſtimmung zwiſchen dem Bundesrath und dem Reichstage war über denſelben nicht zu erreichen1)Ueber die Differenzpunkte, an denen das Zuſtandekommen des Geſetzes ſcheiterte, vergleiche Hirth’s Annalen 1874 S. 214 ff. und beſonders Zeitſchr. f. die geſ. Staatswiſſenſch. Bd. 33 (1877) S. 23 ff. und ebenſowenig glückte es in den folgenden Sitzungsperioden, in welchen der Geſetzentwurf wiederholt eingebracht wurde, zu dieſem Ziele zu gelangen2)Siehe oben S. 353 Note *. Im Folgenden wird der Reichs-Geſetz - entwurf ſo, wie er im Jahre 1877 dem Reichstage mit Motiven vorgelegt worden iſt (Druckſachen 1877 Nr. 16), citirt.. In Folge deſſen mußte man ſich damit begnügen, das im Jahre 1868 eingeſchlagene Verfahren beizubehalten, d. h. von Jahr zu Jahr durch beſondere Geſetze die Rechnungskontrole des Reichshaushalts der Preuß. Oberrechnungskammer unter der Benennung Rechnungs - hof des Deutſchen Reiches zu übertragen. Nur ſind ſeit dem Jahre 18753)R.G. v. 11. Febr. 1875 (R. G.Bl. S. 61) betreffend die Kontrole des Reichshaushalts und des Landeshaushalts von Elſ. Lothr. für das Jahr 1874. an die Stelle der im Geſetz vom 4. Juli 1868 auf - geführten Vorſchriften die nunmehr in Preußen geltenden Beſtim - mungen, insbeſondere diejenigen des erwähnten Geſetzes vom 27. März 1872, getreten4)Das Preuß. Geſ. v. 27. März 1872 enthält keine vollſtändige Regelung der Finanzkontrole und hat die früheren Geſetze und Verordnungen nur inſo - weit außer Kraft geſetzt, als ſie ſeinen Beſtimmungen zuwiderlaufen. Das Geſetz beſchränkt ſich im Weſentlichen darauf, die Einrichtung, den Geſchäfts - gang, die amtlichen Obliegenheiten und Befugniſſe der Oberrechnungskammer zu beſtimmen, über die materiellen Grundſätze der Finanzverwaltung (auch materielles Etatsrecht genannt), welche zugleich materielle Grundſätze für die Finanzkontrole ſind, enthält das Geſetz nur wenige, durch die Einführung der conſtitutionellen Staatsform erforderlich gewordene Vorſchriften. Dieſe Regeln ſind vielmehr enthalten in der, in der Preuß. Geſ. Samml. nicht ver - kündeten, Inſtruktion für die Ober-Rechnungs-Kammer vom 18. Dez. 1824 , welche im Weſentlichen noch gegenwärtig in Geltung ſteht. Eine Bearbeitung derſelben mit Angabe der zu ihrer Ergänzung, Erläuterung u. ſ. w. ergangenen Vorſchriften findet ſich bei Meißner a. a. O. Bd. I. S. 77 ff. Mit dieſer Inſtruktion, die ihrem Inhalte nach ſich zum großen Theil als ein Geſetz im materiellen Sinne des Wortes charakteriſirt, iſt nicht zu verwechſeln die, lediglich den inneren Geſchäftsgang betreffende Inſtruction des Reichskanzlers f. den Rechnungshof des D. R. v. 5. März 1875. (Bd. I. S. 356.).

380§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.

Es fehlt daher noch gegenwärtig für das Deutſche Reich an einer definitiven Feſtſetzung der Rechtsgrundſätze für die Rechnungs - kontrole und ebenſo an einer definitiven Organiſirung der damit betrauten Behörde und, falls in einem Jahre aus irgend welchem Grunde die geſetzliche Prolongation der bisherigen Einrichtung nicht erfolgen ſollte, ſo würde eine wirkliche Geſetzgebungslücke entſtehen; es gäbe keine Geſetzesvorſchriften darüber, in welcher Art die durch Art. 72 der R.V. begründete Pflicht des Reichskanzlers zur Rech - nungslegung erfüllt werden ſollte. Die hier folgende Darſtellung muß ſich natürlich darauf beſchränken, den Rechtszuſtand, wie er ſeit dem Jahre 1875 von Jahr zu Jahr fortgeführt worden iſt und thatſächlich beſteht, zu erörtern.

II. Der Rechnungshof des Deutſchen Reiches iſt eine mit der Preußiſchen Ober-Rechnungskammer vereinigte, aber lediglich für die Zwecke der Reichsverwaltung beſtimmte und auf Reichs - koſten unterhaltene Behörde, welche ihre Sitzungen getrennt von denjenigen der Preußiſchen Ober-Rechnungskammer hält und an deren Spitze ein beſonderer Direktor ſteht, der dienſtlich dem Präſi - denten der Ober-Rechnungskammer unterſtellt iſt1)Ueber das amtliche Verhältniß des Directors zum Präſidenten und zu den Mitgliedern, ſowie über ſeine amtl. Befugniſſe und Obliegenheiten vgl. die Inſtr. v. 5. März 1875 §. 6 und §§. 23 ff.. Die Organi - ſation, der ſtaatsrechtliche Charakter und der Wirkungskreis dieſer Behörde ſind bereits oben Bd. I. S. 355 ff. dargeſtellt worden.

III. Was den Umfang der dem Rechnungshofe obliegenden Kontrole anbelangt, ſo erſtreckt ſich die letztere

1. auf die Reviſion aller derjenigen Rechnungen, durch welche die Ausführung des feſtgeſtellten Reichshaushalts-Etats und der ſämmtlichen Etats und ſonſtigen Unterlagen, auf welchen derſelbe beruht, dargethan wird, ingleichen der Rechnungen derjenigen An - ſtalten, Stiftungen und Fonds, welche aus Reichsmitteln unter - halten oder mit Zuſchüſſen bedacht werden und deren Verwaltung durch Reichsbeamte geführt wird2)Durch beſondere reichsgeſetzliche Anordnung iſt auch die Reviſion der Rechnungen hinſichtlich der Verwaltung und Verwendung der franzöſ. Kriegs - koſten-Entſchädigung, der Verwaltung des Invalidenfonds, des Kriegsſchatzes und der Reichsbank dem Rechnungshofe übertragen worden. Vgl. Bd. I. S. 359.. Es reicht alſo die Kontrole des Rechnungshofes ſo weit wie die eigene Finanzwirthſchaft des381§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.Reiches. Demgemäß unterliegen ihr nicht diejenigen, durch die Geſetzgebung des Reiches geregelten Verwaltungszweige, welche der Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten auf eigene Koſten überlaſſen ſind. Insbeſondere gilt dies von der Erhebung der Zölle und Ver - brauchsſteuern, ſowie von den Rechnungen der Militairverwaltung in Bayern; es iſt nur die Ueberweiſung der für das Bayeriſche Heer erforderlichen Geſammtſumme nachzuweiſen1)Schlußbeſtimmung zum XII. Abſchnitt der R.V.. Abgeſehen von dieſer aus dem Princip folgenden Begränzung der Thätigkeit des Rechnungshofes ſind derſelben durch poſitive Vorſchrift entzogen:

a) die Rechnungen über die in den Etats ausgeſetzten Fonds zu geheimen Ausgaben2)Vgl. Preuß. Geſ. v. 27. März 1872 §. 9 Abſ. 3. Ein ſolcher Fouds findet ſich im Reichsbudget nur in dem Etat des Auswärtigen Amtes.. Dagegen unterliegen die Rechnungen über die aus dem ſogen. Dispoſitionsfonds beſtrittenen Ausgaben der Rechnungsreviſion.

b) Rechnungen von untergeordneter Bedeutung ſind nach herkömmlicher Begrenzung von der regelmäßigen Prüfung des Rechnungshofes ausgeſchloſſen; die Reviſion und Dechargirung der - ſelben iſt den Verwaltungsbehörden überlaſſen. Der Rechnungshof ſoll jedoch von Zeit zu Zeit auch dieſe Rechnungen und Nachwei - ſungen einfordern, um ſich zu überzeugen, daß die Verwaltung der Fonds, worüber ſie geführt werden, vorſchriftsmäßig erfolge3)Preuß. Geſ. v. 27. März 1872 §. 11. Ein Verzeichniß dieſer Rech - nungen findet ſich als Anlage zu den Motiven des Reichsgeſetzentwurfs. Druck - ſachen 1877 Nr. 16 S. 26. Nach dem Geſetzentw. des Reichs §. 12 ſollen Veränderungen der bisherigen Abgrenzung zuläſſig ſein durch Kaiſerl. Ver - ordnungen, welche in kürzeſter Friſt dem Bundesrathe und Reichstage zur Kenntniß zu bringen ſind. Analoge Vorſchriften enthält §. 11 des Pr. Geſ..

c) Hinſichtlich derjenigen Beträge, welche den einzelnen Trup - pentheilen des Deutſchen Heeres und der Kriegsmarine zur Selbſt - bewirthſchaftung überwieſen werden, beſchränkt ſich die Prüfung des Rechnungshofes auf die Verausgabung derſelben an die be - treffenden Truppentheile im Ganzen. Desgleichen wird die Inne - haltung der etatsmäßigen Brod - und Fourage-Competenz der Truppen und einzelnen Empfangsberechtigten von den Militair - Verwaltungsbehörden unmittelbar überwacht. In beiden Bezieh - ungen hat der Rechnungshof jedoch von Zeit zu Zeit durch Ein -382§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.forderung der Nachweiſe nebſt Belägen ſich davon zu überzeugen, daß dieſe Verwaltung vorſchriftsmäßig geführt wird1)Vgl. den Geſetzentw. des Reiches §. 10 und die eingehenden Erläu - terungen in den Motiven hierzu..

2. Dem Rechnnngshofe liegt ferner ob die Kontrole über Naturalien, Vorräthe, Materialien und überhaupt das geſammte nicht in Geld beſtehende Eigenthum des Reichs2)Preuß. Geſ. §. 10 Abſ. 1 Ziff. 1.. Es ſind dem - nach von den Reichsbehörden, Reichsbetriebsanſtalten und Inſtituten entweder die vollſtändigen Inventarien über die vorhandenen Be - ſtände mit den Geldrechnungen zugleich einzuſenden, oder es iſt wenigſtens die regelmäßige Führung der Inventarien unter An - gabe der Zugänge und Abgänge von Reichseigenthum nachzuweiſen. Die Entſcheidung darüber, welche von beiden Formen zur Anwen - dung zu bringen iſt, bleibt der Beſtimmung des Rechnungshofes nach Verſchiedenheit der Kaſſen und Inſtitute überlaſſen3)Preuß. Geſ. §. 10 Abſ. 2. Vgl. §. 20 der Inſtr. v. 18. Dez. 1824..

3. Endlich hat der Rechnungshof die Rechnungen über die Verwaltung der Reichsſchulden zu kontroliren4)Preuß. Geſ. §. 1.. Auch muß er ſeine Aufſicht darauf erſtrecken, daß die zur Kautionsleiſtung ver - pflichteten Reichsbeamten die Kautionen den Geſetzen gemäß hinter - legt haben und daß das Vorhandenſein der beſtellten Kautionen ordnungsmäßig nachgewieſen werde5)Inſtruct. v. 18. Dez. 1824 §. 4..

IV. Der Thätigkeit des Rechnungshofes iſt eine dreifache Aufgabe geſtellt, die Kontrole der Kaſſen - und Rechnungsführung, die Kontrole der Verwaltung und die Kontrole der etatsmäßigen Finanzwirthſchaft6)Vgl. Inſtruct. v. 18. Dez. 1824 §. 1: Der Zweck der Ober - Rechnungs-Kammer iſt: a) durch die Reviſion der Rechnungen ſich zu über - zeugen, daß die allgemeinen Grundſätze des von Uns genehmigten Staats - Verwaltungs-Syſtems feſtgehalten, im Geiſte deſſelben wirklich adminiſtrirt, die einzelnen Verwaltungen nach den beſtehenden Geſetzen, Verordnungen, In - ſtructionen und Etats gewiſſenhaft geführt, Einnahmen und Ausgaben gehörig nachgewieſen, und die den Verwaltungen bewilligten Summen beſtimmungs - mäßig verwendet werden, und b) nach den aus den Rechnungen ſich ergebenden Reſultaten der Verwaltung zu beurtheilen, ob und wo zur Beförderung des Staats-Zwecks Abänderungen nöthig oder doch räthlich ſind ..

1. Die Rechnungs-Kontrole umfaßt die kalkulatoriſche383§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.Prüfung und Juſtificirung der Kaſſenrechnungen nebſt der dazu gehörenden Beläge. Jede Rechnung muß vor deren Einſendung an den Rechnungshof bei der Verwaltungsbehörde abgenommen werden, nachdem ſie nebſt den Belägen in formeller und materieller Hinſicht vollſtändig geprüft und atteſtirt worden. Insbeſondere muß bei jeder Rechnung von dem Kalkulator ausdrücklich beſchei - nigt ſein, daß die Rechnung und ſämmtliche dazu gehörigen Beläge in calculo geprüft und richtig oder nur dasjenige dabei zu erinnern gefunden worden, was in dem beigefügten Kalkulatur-Protokolle enthalten ſei. Finden ſich gleichwohl bei der Reviſion der Rech - nungen Fehler des Kalkuls, welche bei der Abnahme ungerügt geblieben ſind, ſo treffen den Kalkulator Ordnungsſtrafen1)Inſtr. v. 18. Dez. 1824 §. 47 Abſ. 1 3.. All - gemeine Anordnungen der Verwaltungsbehörden über die Kaſſen - verwaltung und Buchführung ſind ſchon vor ihrem Erlaß zur Kenntniß des Rechnungshofes zu bringen, damit derſelbe auf etwaige Bedenken, welche ſich von ſeinem Standpunkte ergeben, aufmerkſam machen kann. Die Vorſchrift über die formelle Einrichtung der Jahres rechnungen und Juſtifikatorien ſind nach Vernehmung mit den betheiligten Verwaltungs-Chefs von dem Rechnungshofe zu erlaſſen2)Preuß. Geſ. v. 27. März 1872 §. 14 Abſ. 2 u. 3. Die Verwaltungs - chefs ſind der Reichskanzler und die Chefs der 3 Kontingentsverwaltungen. Vgl. Reichsgeſetzentw. §. 15.. Ebenſo hat der Rechnungshof die Termine zur Ein - ſendung der Rechnungen und die Friſten zur Erledigung der da - gegen aufgeſtellten Erinnerungen feſtzuſtellen3)Preuß. Geſ. §. 15..

Hinſichtlich der eingeſendeten Rechnungen liegt dem Rechnungs - hof die Superreviſion und Kontrole hinſichtlich der arithme - tiſchen Richtigkeit und der formellen Ordnungsmäßigkeit der Beläge und die Veranlaſſung der Erledigung der in dieſer Hinſicht erho - benen Erinnerungen ob.

2. Die Kontrole der Verwaltung. Der Rechnungs - hof hat außer der Rechnungsjuſtifikation bei Prüfung der Rech - nungen die Reviſion darauf zu richten, ob bei der Erwerbung, der Benutzung und der Veräußerung von Reichseigenthum, bei der Erhebung von Reichseinnahmen, ſoweit ſolche durch Reichsbehörden erfolgt, und bei der Ver -384§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.wendung der Einkünfte des Reichs nach den beſtehenden Ge - ſetzen und Vorſchriften, unter genauer Beobachtung der maß - gebenden Verwaltungsgrundſätze verfahren worden iſt 1)Preuß. Geſ. §. 12 lit. a. Entw. des Reichsgeſetzes §. 13.. Damit der Rechnungshof dieſer Aufgabe nachkommen kann, ſind demſelben alle Verfügungen der oberſten Reichsbehörden und alle Verordnungen des Bundesraths, durch welche in Beziehung auf Einnahmen oder Ausgaben des Reiches eine allgemeine Vorſchrift gegeben oder eine ſchon beſtehende abgeändert oder erläutert wird, ſogleich bei ihrem Ergehen mitzutheilen; ebenſo alle auf die Rech - nungslegung bezüglichen Beſchlüſſe des Bundesrathes oder des Reichstages2)Preuß. Geſ. §. 14 Abſ. 1 u. 4 vgl. mit dem Entw. des Reichsgeſ. §. 15. Inſtruct. v. 18. Dez. 1824 §. 43..

Dem Rechnungshof liegt eine Reviſion und Kritik der geſammten Verwaltung des Reiches ob, ſoweit dieſelbe in den Rechnungspoſten erkennbar wird. Die Monita des Rechnungshofes beziehen ſich demnach nicht blos auf die kalkulatoriſche Richtigkeit der Rechnungen und auf Beitreibung von Defekten und Reſten, ſondern auch darauf, daß die einzelnen Einnahme - und Ausgabe-Poſten im Einklang mit den beſtehenden Geſetzen und Verwaltungsvorſchriften ſich befinden. Die Verwaltungsbehörden haben für die Erledigung dieſer Monita, ſoweit ſie dieſelben als begründet anerkennen, Sorge zu tragen3)Der Rechnungshof iſt berechtigt, von den Behörden jede, bei Prüfung der Rechnungen und Nachweiſungen für erforderlich erachtete Auskunft u. ſ. w. zu verlangen und er iſt befugt, ſeinen Verfügungen nöthigenfalls durch Straf - befehle Folgeleiſtung zu ſichern; auch etwa vorkommende Unangemeſſenheiten in Erledigung ſeiner Erlaſſe zu rügen. Preuß. Geſ. §. 13 Abſ. 1 §. 16. Vgl. den Entw. des Reichsgeſ. §§. 14 17. Bundesgeſ. v. 4. Juli 1868 §. 3 (B. G.Bl. S. 434) und v. 11. Febr. 1875.. Den Centralbehörden des Reiches, in letzter Inſtanz dem Reichs - kanzler, als dem alleinigen verantwortlichen Reichsminiſter und Verwaltungschef, liegt es ob, für die Erfüllung dieſer Pflicht ein - zuſtehen und die ihm unterſtellten Behörden und Beamten dazu anzuhalten4)Eine etwas abweichende Regel gilt hinſichtlich der Rechnungen der Militairverwaltung, da dieſelbe zwar auf Rechnung des Reiches geführt wird, aber keine Reichsverwaltung iſt, der Reichskanzler daher auch nicht als ihr Chef anzuſehen iſt. Die Monita des Rechnungshofes ſind in letzter Inſtanz mit den Verwaltungschefs der drei Kontingente (Preußen, Sachſen, Württem -.

385§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.

Im Einklange hiemit ſteht die Pflicht des Rechnungshofes, Bemerkungen darüber aufzuſtellen, inwiefern unter Billigung reſp. Verantwortlichkeit der Centralbehörden des Reichs bei der Ver - waltung der Reichseinnahmen, Reichsausgaben und des Reichseigen - thums Abweichungen von den Beſtimmungen der Geſetze und Ver - waltungsvorſchriften ſtattgefunden haben.

Mit dieſer Funktion des Rechnungshofes verbindet ſich die Pflicht desſelben, die Zweckmäßigkeit der beſtehenden Vor - ſchriften und Einrichtungen und der nach Maßgabe derſelben ge - führten Finanzwirthſchaft zu prüfen und ſein Augenmerk darauf zu richten: ob und wo nach den aus den Rechnungen zu beurtheilenden Ergebniſſen der Verwaltung zur Beförderung der Reichszwecke Abänderungen nöthig ſind 1)Preuß. Geſ. §. 12 lit. b. Inſtr. v. 18. Dez. 1824 §. 3 a. E.. Dieſer Verpflichtung hat der Rechnungshof in der Art zu entſprechen, daß er nach Ablauf eines jeden Geſchäftsjahres dem Kaiſer einen Bericht über die Ergebniſſe ſeiner Geſchäftsthätigkeit abſtattet, welchem zugleich ſeine gutachtlichen Vorſchläge beizufügen ſind, ob und inwieweit nach den aus den Rechnungen ſich ergebenden Reſultaten der Verwaltung zur Beförderung der Reichszwecke im Wege der Geſetzgebung oder der Verordnung zu treffende Beſtimmungen nothwendig oder rathſam er - ſcheinen 2)Preuß. Geſ. §. 20. Inſtr. v. 18. Dez. 1824 §. 49 Abſ. 2. Reichs - Geſetzentw. §. 20..

3. Die Kontrole der etatsmäßigen Finanzwirth - ſchaft. Der Rechnungshof hat endlich zu prüfen, in wieweit die Verwaltung dem Etatsgeſetz gemäß geführt worden iſt. Dem eigentlichen Etatsgeſetze ſtehen Nachtrags-Etats und andere, den Haushalts-Etat abändernde oder ergänzende Reichsgeſetze ſowie die vom Bundesrath und Reichstage bereits vorläufig genehmigten Etats-Ueberſchreitungen und außeretatsmäßigen Ausgaben gleich3)Eine nach Titeln und Poſitionen der Spezial-Etats geordnete Nach - weiſung der Etatsüberſchreitungen und der außeretatsmäßigen Ausgaben iſt. 4)berg) zu erledigen und ebenſo ſind Ordnungsſtrafen gegen die der Militair - disciplin unterſtellten Rechnungsleger nicht vom Rechnungshof direct zu ver - hängen, ſondern nach Antrag deſſelben von dem Chef der betreffenden Kon - tingentsverwaltung. Vgl. den Reichs-Geſetzentw. §. 17 Abſ. 2 u. 3.Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 25386§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.Alle Abweichungen der faktiſchen Rechnungsreſultate von den Soll - Anſätzen des Budgets, ſowohl Minder-Einnahmen und Mehr-Aus - gaben als auch Mehr-Einnahmen und Ausgaben-Erſparniſſe ſind feſtzuſtellen. Aber auch hier beſchränkt ſich die Aufgabe des Rech - nungshofes nicht darauf, die Ziffern der Iſt-Einnahme und Iſt - Ausgabe denjenigen des Einnahme - und Ausgabe-Solls gegenüber zu ſtellen, ſondern im Einzelnen zu revidiren, ob die Rechnungen über die geführte Verwaltung den Anſätzen des Etats entſprechend aufgeſtellt ſind. Insbeſondere iſt bei jeder einzelnen Ausgabe-Poſt zu prüfen, ob ſie bei demjenigen Fonds oder Spezialtitel in Rech - nung geſtellt iſt, welcher für dieſen Zweck im Haushalts-Etat beſtimmt iſt; und ebenſo bei jeder Einnahme-Poſt, ob er an der richtigen Stelle eingetragen iſt. Ergiebt die Reviſion Etatswidrig - keiten (Fondsverwechſelungen), ſo iſt von dem Rechnungshof, ſoweit es ihm erforderlich ſcheint, die Ausgleichung unter den Fonds zu veranlaſſen. Nur durch dieſe Kontrole, daß jede Ausgabe in der Rechnungslegung an der dem etatsmäßigen Voranſchlage ent - ſprechenden Stelle erſcheint, wird es ermöglicht, die Etatsüber - ſchreitungen und die Ausgabe-Erſparniſſe auseinander zu halten und beide mit Vollſtändigkeit zu conſtatiren1)Auch darauf iſt die Reviſion zu erſtrecken, daß nicht unrichtige Ab - ſetzungen geleiſteter Ausgabebeträge von den Einnahmen oder unrichtige Ab - ſetzungen vereinnahmter Beträge von Ausgabefonds in den Rechnungen unter - laufen. Vgl. den Bericht der Ober-Rechnungs-Kammer zur allgemeinen Rechnung über den Preuß. Staatshaushalt des Jahres 1872, die hieran ſich ſchließenden Verhandlungen des Preuß. Landtages und den Beſchluß des Preuß. Staatsminiſteriums v. 25. Febr. 1878 bei Meißner a. a. O. Bd. II. S. 96 112.. Aber nicht nur die Zweckbezeichnungen der Titel, ſondern auch die mit den ein - zelnen Poſitionen des Etats verbundenen Bemerkungen ſind für die Verwendung der Fonds maßgebend und deshalb iſt die Revi - ſion des Rechnungshofes auch darauf zu richten, ob ſich die be - treffenden Verwaltungsbehörden in Uebereinſtimmung damit ge - halten haben.

V. Die Entſcheidungen des Rechnungshofes über die Richtig -3)jedesmal im nächſten Jahre, nachdem ſie entſtanden ſind, dem Bundes - rath und Reichstage zur nachträglichen Genehmigung vorzulegen (vgl. Preuß. Geſ. §. 19 Abſ. 3), alſo vor der Reviſion der Rechnungen Seitens des Rech - nungshofes.387§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.keit oder Unrichtigkeit der Rechnungen haben innerhalb der Verwaltung folgende Rechtswirkungen:

1. Wenn der Rechnungshof eine Rechnung als richtig feſt - geſtellt hat oder die von ihm erhobenen Erinnerungen von dem rechnungsführenden Beamten erledigt worden ſind, ſo iſt den letzteren von dem Rechnungshofe ein Anerkenntniß (Entlaſtung) zu ertheilen, welches die Wirkungen einer Quittung hat1)Preuß. Geſ. §. 17 und die daſelbſt in Bezug genommenen §§. 146 153 Theil I. Tit. 14 des Allg. Landrechts.. Es kann demnach der Rechnungsführer nachträglich noch civilrecht - lich in Anſpruch genommen werden wegen eines Rechnungsfehlers oder wegen eines Betruges oder einer Fälſchung; dagegen iſt durch das Urtheil des Rechnungshofes den Behörden gegenüber conſtatirt, daß die Verwaltung, ſoweit ſie in der juſtifizirten Rechnung einen Ausdruck gefunden, ordnungsmäßig und im Einklang mit den in Betracht kommenden Geſetzen und Verwaltungsvorſchriften geführt worden iſt. Die Rechnungen über die Ausgaben des Rechnungs - hofes werden von dem Präſidenten deſſelben revidirt und ſind dem Bundesrathe und Reichstage zur Prüfung und Entlaſtung vor - zulegen, da der Rechnungshof die letztere ſich nicht ſelbſt er - theilen kann.

2. Wenn der Rechnungshof Erinnerungen aufgeſtellt hat, welche nicht erledigt worden ſind, ſo treten nach Verſchiedenheit der Fälle verſchiedene Folgen ein. Principiell iſt feſtzuhalten, daß die Auf - gabe des Rechnungshofes eine im Weſentlichen kritiſche iſt und daß er weder die Machtbefugniſſe einer höchſten Verwaltungs - behörde hat, noch ſeinen Feſtſetzungen die Kraft richterlicher Urtheile zukömmt. Die von ihm erhobenen Monita erſcheinen vielmehr gleichſam wie Anklagen gegen die rechnungslegende Behörde und in jedem Falle als einſeitige Auslegungen der betreffenden Vorſchriften oder Beurtheilungen des betreffenden Thatbeſtandes, welchem von Seiten der Verwaltungsbehörde eine andere Aus - legung oder Beurtheilung gegenübergeſtellt werden kann2)Vgl. Zeitſchr. f. die geſ. Staatswiſſenſch. Bd. 32 S. 494 fg.. Hier - nach iſt alſo ein Meinungsconflict zwiſchen Rechnungshof und Ver - waltung möglich; dieſer Conflict iſt aber nicht mit der rechnungs - legenden Unter - oder Mittelbehörde, ſondern nur mit dem Ver - waltungschef, alſo bei den Reichsverwaltungen in letzter Inſtanz25*388§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.mit dem Reichskanzler, zum Austrag zu bringen. Demgemäß iſt zu unterſcheiden, ob die rechnungslegende Verwaltungsſtelle oder die vorgeſetzte Dienſtbehörde derſelben die Erinnerung des Rech - nungshofes für begründet anerkennt oder nicht.

Iſt das erſtere der Fall, ſo gehört es zu den Pflichten des Beamten, gegen welchen das Monitum gerichtet iſt, dasſelbe zu erledigen, beziehentl. zu den Funktionen der ihm dienſtlich vorge - ſetzten Behörde, für die Erledigung Sorge zu tragen. Ob eine Verfügung der letzteren Behörde genügt oder ob ein verwaltungs - gerichtliches oder civilgerichtliches Verfahren erforderlich iſt, um für die Beitreibung der Defecte u. ſ. w. einen exekutoriſchen Titel zu erlangen, iſt nach Lage des einzelnen Falles zu beurtheilen. Der Rechnungshof ſelbſt kann gegen den Beamten nicht unmittelbar vorgehen, da ihm die Dienſtgewalt fehlt1)Nur Auskunft kann er einfordern und Anordnungen hinſichtlich der Rechnungslegung treffen. Siehe oben S. 384 Note 3., und ebenſowenig kann er ſelbſtſtändig gegen Dritte, gegen welche nach ſeiner Anſicht dem Reichsfiskus Anſprüche zuſtehen, die letzteren geltend machen. Da - gegen ergibt ſich aus der dem Rechnungshof obliegenden allge - meinen Aufſicht der geſammten Verwaltung, daß er auch ſeine Kontrole darauf zu erſtrecken hat, ob die von ihm feſtgeſtellten Defecte u. ſ. w. Seitens der hierzu verpflichteten Behörde wirklich eingezogen worden ſind, und er kann dieſe Kontrole dadurch ſichern, daß er die Eintragung ſolcher Beträge in das Einnahme-Soll ſpäterer Rechnungen anordnet2)Vgl. die Motive zum angeführten Reichsgeſetzentwurf S. 15 und Preuß. Geſ. §. 17 a. E..

Bleibt jedoch zwiſchen dem Rechnungshofe und dem Verwal - tungschef (Reichskanzler) eine Meinungsverſchiedenheit beſtehen, welche durch die Notatenbeantwortung nicht erledigt werden kann, ſo muß die Entſcheidung bei einer höheren Stelle durch den Reichs - kanzler herbeigeführt werden und bis dieſelbe erfolgt iſt, die Er - theilung der Decharge aufgeſchoben werden. Welches Organ des Reiches zur Fällung der Entſcheidung zwiſchen Rechnungshof und Verwaltungschef zuſtändig iſt, beſtimmt ſich nach dem Gegenſtand des Streitpunktes. Als Princip iſt hierbei der aus der Natur der Sache ſich ergebende Satz feſtzuhalten, daß über die richtige und angemeſſene Handhabung und Anwendung einer Vorſchrift diejenige389§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.Potenz authentiſch entſcheidet, welche dieſe Vorſchrift erlaſſen hat und zur Abänderung derſelben befugt iſt. Nach dieſem Grundſatz iſt im Allgemeinen der Bundesrath als diejenige Behörde anzuſehen, welche zur Entſcheidung berufen iſt, und dieſe Kompe - tenz iſt durch Art. 7 Ziff. 3 der R.V. begründet; denn es handelt ſich in der That um eine Beſchlußfaſſung über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgeſetze oder der allgemeinen Ver - waltungsvorſchriften und Einrichtungen hervortreten . Soweit je - doch die Monita ſich auf die Ausführung von Anordnungen beziehen, zu deren ſelbſtſtändigem Erlaß der Kaiſer reichsgeſetzlich ermächtigt iſt, was namentlich hinſichtlich der das Militär - und Marineweſen betreffenden Einrichtungen Platz greift, iſt der Zweifel durch eine kaiſerliche Kabinets-Ordre zu entſcheiden. Wenn andererſeits bei dem vom Rechnungshof erhobenen Bedenken Vorſchriften in Frage ſtehen, an deren Erlaß der Reichstag eine Mitwirkung ge - habt hat, ſo iſt auch die Entſcheidung des Reichstages über die Ertheilung oder Verſagung der Decharge herbeizuführen1)Vgl. hierüber Zeitſchrift für die geſammte Staatswiſſenſchaft Bd. 32 S. 505 ff.. Dies gilt alſo von allen Anordnungen, die im Wege der Reichs - geſetzgebung erlaſſen ſind, und von allen vom Reichstage zum Gegen - ſtande einer Beſchlußfaſſung gemachten Poſitionen des Reichshaus - halts-Etats.

VI. Die Aufgabe des Rechnungshofes iſt im conſtitutionellen Staate nicht darauf beſchränkt, die Finanzverwaltung im Ver - waltungsintereſſe zu controliren und zu revidiren; ſondern auch unter den oberſten Organen des Staates ſelbſt den großen Schlußakt der ganzen Finanzverwaltung, die definitive Legung und Abnahme der Rechnung über den Staatshaushalt vorzubereiten. Dieſer Rechtsakt ſelbſt kann nur erfolgen zwiſchen dem verantwortlichen Chef der Verwaltung einerſeits als Rechnungsleger, und den verfaſſungsmäßig zur Feſtſtellung des Staatshaushalts-Etats berufenen Organen andererſeits, alſo im Reich zwiſchen dem Reichskanzler und dem Bundesrathe und Reichstage. Der Antheil des letzteren an der Aufſtellung des Budgets wäre zum größten Theile werthlos und unwirkſam, wenn ihm nicht ein Antheil an der Abnahme der Rechnung über die vollführte Reichs -390§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.finanzwirthſchaft entſpräche. Der Art. 72 der R.V. verpflichtet demgemäß den Reichskanzler, über die Verwendung aller Ein - nahmen des Reichs dem Bundesrathe und dem Reichstage zur Entlaſtung jährlich Rechnung zu legen 1)Eine Ergänzung dieſer Rechnungslegung bilden die Bd. I. S. 516 fg. erörterten Berichte finanziellen Inhalts..

Der Reichstag iſt nicht in der Lage, die ihm vorgelegte Rech - nung über den Reichshaushalt ſelbſtſtändig einer in die Einzelheiten gehenden Reviſion zu unterziehen; es wäre dies eine Wiederholung der vom Rechnungshofe bereits vorgenommenen Arbeit und würde die Errichtung eines zweiten, parlamentariſchen Rechnungshofes erforderlich machen. Vielmehr ſollen die vom Rechnungshofe ge - leiſteten Reviſionsarbeiten und die in Folge derſelben von ihm erhobenen Bemerkungen dem Reichstage nutzbar gemacht werden und ſeiner Beſchlußfaſſung über Ertheilung oder Verſagung der Entlaſtung zur Grundlage dienen. Demgemäß ſind nebſt der all - gemeinen Rechnung über den Jahreshaushalt des Reiches die Be - merkungen des Rechnungshofes, welche derſelbe unter ſelbſtſtändiger, unbedingter Verantwortlichkeit aufzuſtellen hat, dem Reichstage mit vorzulegen. Dieſe Bemerkungen haben ſich auf alle drei Richtungen zu erſtrecken, in denen dem Rechnungshofe die Kontrole obliegt: auf die kalkulatoriſche Uebereinſtimmung der allgemeinen Rechnung mit den vom Rechnungshofe revidirten Kaſſenrechnungen; auf die etwaigen Abweichungen der Verwaltungsbehörden in Finanzſachen von geſetzlichen Vorſchriften2) von den Beſtimmungen der auf die Einnahmen und Ausgaben oder auf die Erwerbung, Benutzung oder Veräußerung von Reichseigenthum bezüg - lichen Geſetze ., und auf die Abweichungen der that - ſächlich erfolgten Einnahmen und Ausgaben von den Anſätzen und Bewilligungen des Budgets, insbeſondere zu welchen Etatsüber - ſchreitungen3)Siehe oben S. 357 über den Begriff der Etatsüberſchreitungen. und außeretatsmäßigen Ausgaben die Genehmigung des Reichstages noch nicht beigebracht iſt4)Preuß. Geſ. §. 18.. Der Rechnungshof hat dieſen Bemerkungen eine Denkſchrift beizufügen, welche die hauptſächlichſten Ergebniſſe der von ihm vorgenommenen Prüfung überſichtlich zuſammenfaßt.

Bundesrath und Reichstag ertheilen die Decharge jeder be -391§. 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung.ſonders. Weder der Bundesrath noch der Reichstag dürfen dem Reichskanzler die Ertheilung der Decharge verweigern, wenn ſie begründete Ausſtellungen an der ihnen gelegten Rechnung nicht zu erheben vermögen. Denn es iſt ein der Pflicht zur Rechnungs - legung entſprechendes Recht jedes Verwalters fremder Gelder, daß, wenn er ordnungsmäßig die Rechnung abgelegt hat, ihm die Ent - laſtung nicht vorenthalten werden darf.

Die Rechtswirkungen der ertheilten Decharge ſind in privat - rechtlicher Beziehung die einer ordnungsmäßigen Quittung, in ſtaatsrechtlicher die Entlaſtung des Reichskanzlers von der ihm bis dahin obliegenden Verantwortlichkeit. Die letztere freilich iſt zur Zeit lediglich ein politiſches Princip, kein ausgebildetes und prak - tiſch anwendbares Rechts inſtitut1)Vgl. Bd. I. S. 312 und Henſel in Hirth’s Annalen 1882 S. 53 fg., und da, wo im Staatsrecht des Deutſchen Reiches der eigentliche Eckſtein des ganzen Verwal - tungsrechts und insbeſondere des Budgetrechts ſtehen ſollte, befindet ſich zur Zeit eine der Ausfüllung bedürftige Lücke.

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About this transcription

TextDas Staatsrecht des Deutschen Reiches
Author Paul Laband
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDas Staatsrecht des Deutschen Reiches Dritter Band. Zweite Abtheilung Paul Laband. . IV, 440 S. MohrFreiburg (Breisgau)Tübingen1882.

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MPI f. europäische Rechtsgeschichte Frankfurt MPIER, Dt 27 k 5 [3,2]

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LanguageGerman
ClassificationFachtext; Recht; Wissenschaft; Jura; core; ready; china

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
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ShelfmarkFrankfurt MPIER, Dt 27 k 5 [3,2]
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