PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Das Staatsrecht des Deutſchen Reiches.
Dritter Band. Zweite Abtheilung.
Nebſt einem das ganze Werk umfaſſenden Sachregiſter.
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Freiburg i. B. und Tübingen1882Akademiſche Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr(Paul Siebeck).
[II]

Druck von H. Laupp in Tübingen.

[III]

Inhalts-Verzeichniß.

  • Elftes Kapitel. Das Gerichtsweſen des Reiches.
  • Seite
  • Seite
  • § 96. Einleitung1
  • § 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit18
  • § 98. Die Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten46
  • § 99. Die Gerichtsbarkeit des Reiches54
  • § 100. Die Verpflichtung zur Rechtshülfe66
  • § 101. Die Gerichte76
  • § 102. Die Staatsanwaltſchaft96
  • § 103. Die Rechtsanwaltſchaft109
  • § 104. Der Gerichtsdienſt125
  • § 105. Die Zeugenpflicht154
  • § 106. Die Koſten und Gebühren183
  • Zwölftes Kapitel. Das Finanzweſen des Reiches.
  • I. Abſchnitt. Das Reichsvermögen.
  • § 107. Der Reichsfiskus190
  • § 108. Das active Reichsvermögen201
  • § 109. Die Reichsſchulden228
  • II. Abſchnitt. Die Einnahmequellen des Reiches.
  • § 110. Ueberſicht240
  • A. Die Zölle und Verbrauchsſteuern.
  • § 111. Allgemeine Rechtsgrundlagen242
  • § 112. Die Einheit des Zoll - und Handelsgebietes251
  • § 113. Die einheitliche Zoll - und Steuergeſetzgebung268
  • § 114. Die Verwaltung der Zölle und Verbrauchsſteuern283
  • § 115. Das Rechtsverhältniß zwiſchen den Einzelſtaaten und dem Reiche292
  • § 116. Die Statiſtik des Waarenverkehrs und die ſtatiſtiſche Gebühr301
  • IV
  • Seite
  • B. Die Reichs-Stempelabgaben.
  • § 117. Der Spielkarten-Stempel306
  • § 118. Der Urkunden-Stempel308
  • III. Abſchnitt. Die Finanzwirthſchaft des Reiches.
  • § 119. Allgemeine Charakteriſtik318
  • § 120. Die Einnahmen322
  • § 121. Die Ausgaben325
  • § 122. Die Matrikularbeiträge330
  • IV. Abſchnitt. Das Budgetrecht.
  • § 123. Bedeutung und Feſtſtellung des Etatsgeſetzes339
  • § 124. Die Wirkungen des Etatsgeſetzes353
  • § 125. Die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben ohne Etats - geſetz367
  • § 126. Die Rechnungskontrole und Entlaſtung der Verwaltung376
  • Sach-Regiſter392
  • Stellen-Regiſter438
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Elftes Kapitel. Das Gerichtsweſen des Reiches.

§. 96. Einleitung.

I. Der Schutz des innerhalb des Bundesgebiets gültigen Rechtes gehört zu den Zwecken, zu welchen nach den Eingangs - worten der Verfaſſung der Norddeutſche Bund und ebenſo das Deutſche Reich gegründet worden ſind. Die Realiſirung dieſer Aufgabe mußte aber bei Errichtung des Norddeutſchen Bundes zunächſt den Einzelſtaaten vollſtändig überlaſſen bleiben; ein Bundesgericht gehörte nicht zu den Organen, mit denen der neue Bundesſtaat bei ſeiner Schöpfung ausgeſtattet werden konnte. Die Verfaſſung begnügte ſich, den Einzelſtaaten die Handhabung der Rechtspflege zur Pflicht zu machen, indem ſie dem Bundesrath die Befugniß beilegte, Beſchwerden über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege anzunehmen, dieſelben nach der Verfaſſung und den beſtehenden Geſetzen des betreffenden Bundesſtaates zu beurtheilen und, falls die Beſchwerde für begründet gefunden wird, die ge - richtliche Hülfe bei der Bundesregierung, die zu der Beſchwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken. (Verf. Art. 77.) Die ſtaatliche Aufgabe des Bundes wurde demnach beſchränkt auf die Fürſorge, daß die Gliedſtaaten das Recht ſchützen; eine eigene Gerichtsbar - keit behufs unmittelbarer Verwirklichung des Rechtsſchutzes wurde dem Bunde nicht beigelegt1)Eine Ausnahme machten allein die gegen den Nordd. Bund gerichteten hochverrätheriſchen und landesverrätheriſchen Unternehmungen, für welche eine eigene durch das Ober-Appellationsgericht der freien Städte zu Lübeck aus - zuübende Gerichtsbarkeit des Bundes zwar nicht eingeführt, wol aber in Ausſicht genommen wurde. Verf. Art. 75. Sodann ging der Natur der Sache.

Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 12§. 96. Einleitung.

Dagegen wurde dem Bunde die Befugniß zugewieſen, den einzelnen Staaten die Normen vorzuſchreiben, nach welchen ſie den Rechtsſchutz handhaben ſollten, indem die Zuſtändigkeit des Bundes erſtreckt wurde auf die gemeinſame Geſetzgebung über das gerichtliche Verfahren. Verf. Art. 4 Ziff. 13. Die Einzelſtaaten ſollten alſo zwar die Gerichtsbarkeit behalten, dieſelbe aber nicht nach eigener Selbſtbeſtimmung (in ſouverainer Weiſe) ausüben, ſondern nach Anordnung des Reiches. Bis zum Erlaß dieſer gemeinſamen Geſetzgebung blieb allerdings nicht blos die bunte Maſſe der partikularen Rechtsvorſchriften über das Ver - fahren in Geltung, ſondern der Autonomie der Einzelſtaaten war auch ihre Fortbildung und Umgeſtaltung überlaſſen.

Dieſe verfaſſungsmäßigen Prinzipien des Gerichtsweſens in - volvirten zugleich den weiteren Grundſatz, daß die Bethätigungen der Gerichtsbarkeit jedes Einzelſtaates nur innerhalb ſeines Ge - bietes ſtaatsrechtliche Wirkſamkeit haben konnten, da ſie durchaus als Ausübung der den Einzelſtaaten verbliebenen Herrſchaft er - ſchienen. Um aber ein Zuſammenwirken der Einzelſtaaten zum Zweck der Rechtspflege zu ermöglichen, wurde dem Bund die Kom - petenz zugewieſen, Beſtimmungen über die wechſelſeitige Voll - ſtreckung von Erkenntniſſen in Civilſachen und Erledigung von Re - quiſitionen überhaupt zu erlaſſen. Verf. Art. 4 Ziff. 11.

Durch dieſe 3 Punkte nämlich 1) Ausübung der Gerichts - barkeit Seitens der Einzelſtaaten, 2) nach den vom Bund dar - über erlaſſenen Vorſchriften und 3) unter gegenſeitiger vom Bund zu normirender Verpflichtung zur Rechtshülfe, hatte die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes die Grundform für die Geſtaltung des Gerichtsweſens feſtgeſtellt.

In der Reichsverfaſſung ſind die erwähnten 3 Sätze (Art. 77, Art. 4 Ziff. 13 u. Art. 4 Ziff. 11) zwar völlig gleich - lautend mit den entſprechenden Beſtimmungen der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes; bei der Gründung des Reiches war aber der wirklich beſtehende Rechtszuſtand bereits erheblich umgeſtaltet und eine noch viel weiter reichende Veränderung deſſelben war in1)nach diejenige Gerichtsbarkeit auf den Norddeutſchen Bund über, welche mit den vom Bund übernommenen Verwaltungszweigen in untrennbarem Zuſam - menhang ſtand, nämlich die Konſulargerichtsbarkeit und die Marinegerichts - barkeit.3§. 96. Einleitung.Ausſicht genommen und vorbereitet. Der Norddeutſche Bund war in den wenigen Jahren ſeines Beſtehens über die erwähnten Grund - linien hinausgegangen und hatte die verfaſſungsmäßig fixirten Punkte verſchoben.

Er hatte nämlich erſtens eine eigene Gerichtsbarkeit des Bundes anerkannt und organiſirt in dem Geſetz vom 12. Juni 1869 betreffend die Errichtung des Oberhandelsgerichts in Leipzig1)Siehe Bd. I. S. 360 ff. und dieſes Geſetz iſt bei der Errichtung des Deutſchen Reiches als Reichsgeſetz anerkannt und auf die ſüddeutſchen Staaten und El - ſaß-Lothringen ausgedehnt worden. Ohne daß die Frage hier von Neuem erörtert werden ſoll, ob der Erlaß dieſes Geſetzes zur Kompetenz des Norddeutſchen Bundes gehörte oder nicht und ob das Geſetz mit dem Wortlaut der Bundesverfaſſung im Einklang ſteht oder nicht2)Das Geſetz iſt in jedem Falle verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen, da es im Bundesrath mit Zweidrittel-Majorität ſanctionirt worden iſt. Siehe oben Bd. I. S. 360 Anm. 3. Bd. II. S. 37 ff., muß hier doch betont werden, daß es in Wahr - heit die weitaus erheblichſte Aenderung bedeutete, welche der Ver - faſſungszuſtand des Norddeutſchen Bundes überhaupt von ſeiner Begründung bis zur Errichtung des Reiches erfahren hat. Hier wurden nicht den Einzelſtaaten Vorſchriften ertheilt, wie ſie die Gerichtsbarkeit auszuüben haben, ſondern in den zur Zuſtändigkeit des Oberhandelsgerichts gehörenden Sachen wurde ihnen die Ge - richtsbarkeit dritter Inſtanz genommen und auf den Bund über - tragen. Soweit nicht prozeſſualiſche Vorſchriften im Wege ſtanden, d. h. ſoweit nicht die partikularen Regeln über die Rechtsmittel den Parteien die Möglichkeit abſchnitten, die Rechtsſtreitigkeiten an das Oberhandelsgericht zu ziehen, vermochten die Einzelſtaaten jetzt nicht mehr durch ihre Gerichte unbedingt rechtskräftige Entſcheidungen fällen zu laſſen; denn dieſe Entſcheidungen wurden nur unter der Vorausſetzung rechtskräftig, daß ſich die Parteien bei den Urtheilen der territorialen Gerichte beruhigten, indem ſie die Einlegung eines Rechtsmittels unterließen. Es war daher der Gerichtsbarkeit der Einzelſtaaten in den zur Zuſtändigkeit des Ober - handelsgerichts gehörenden Angelegenheiten die Spitze abgebrochen; die von den Landesgerichten gefällten Urtheile waren in vielen Fällen nur noch Etappen im Prozeßgange, die eine Inſtanz, d. h. 1*4§. 96. Einleitung.einen Prozeß abſchnitt, aber nicht nothwendig den Prozeß be - endigten, nicht formelles Recht unter den Parteien ſchufen und nicht (definitiv) vollſtreckbar waren. Eines der wichtigſten Hoheits - rechte, die das allgemeine Staatsrecht überhaupt kennt, war ſonach durch das Geſetz v. 12. Juni 1869 wenngleich in ſachlicher Hinſicht in enger Abgränzung von den Einzelſtaaten auf den Bund übergegangen. Dies war eine Veränderung des Verhält - niſſes zwiſchen Einzelſtaat und Bund von prinzipieller Bedeutung.

Zwar hat die Verfaſſung des Nordd. Bundes nirgends aus - drücklich beſtimmt, daß der Bund keine eigene Gerichtsbarkeit haben ſolle oder daß den Einzelſtaaten der Anſpruch auf unge - ſchmälerten Vollbeſitz dieſes Hoheitsrechts zuſtehe; die ſehr vage Faſſung von Art. 4 Ziff. 13 ließ vielmehr einer Interpretation Raum, wonach die Bundesgeſetzgebung das gerichtliche Verfahren in jeder beliebigen Weiſe regeln konnte, alſo auch ſo, daß die Ge - richtsbarkeit den Einzelſtaaten ganz oder theilweiſe genommen wurde. Allein es beſteht darüber ja allſeitige Uebereinſtimmung, daß die Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes in der Art auszulegen war, daß den Einzelſtaaten alle Hoheitsrechte verblieben ſind, welche ihnen nicht durch die Verfaſſung entzogen wurden, da Zweck und Aufgabe dieſer Verfaſſung darin beſtand, nicht die Kompetenz der Einzelſtaaten, ſondern die Kompetenz der Bundesgewalt zu beſtimmen und die Einſchränkungen, welche die Hoheitsrechte der Einzelſtaaten durch Gründung des Bundes erfuhren, feſtzu - ſtellen. Das Schweigen der Verfaſſung über die Errichtung eines Bundesgerichts bedeutete daher die Negirung einer eigenen Ge - richtsbarkeit des Bundes und dies wurde durch die Spezialanord - nungen der Verfaſſung hinſichtlich der Kompetenz des Bundesrathes bei Beſchwerden über Juſtizverweigerung und hinſichtlich der Kom - petenz des Ober-Appellationsgerichts zu Lübeck bei Hochverraths - fällen in unzweifelhafter Weiſe beſtätigt. Das Geſetz vom 12. Juni 1869 enthält daher zwar keine Abänderung derjenigen Sätze, welche die Verfaſſung des Nordd. Bundes ausdrücklich aus - ſpricht, wol aber brachte dieſes Geſetz einen Rechtsſatz über die Zuſtändigkeit des Bundes zur Anerkennung, den die Bundesver - faſſung durch Stillſchweigen ausgeſchloſſen hatte. Dem aus Art. 4 Ziff. 13 folgenden Satze: Die Bundesſtaaten üben die Gerichts - barkeit nach Maßgabe der ihnen vom Bunde darüber ertheilten5§. 96. Einleitung.Vorſchriften aus wurde implicite der Verfaſſungsgrundſatz bei - gefügt: ſie üben ſie auch nur in dem Umfange aus, den der Bund beſtimmt d. h. ſoweit der Bund die Gerichtsbarkeit nicht durch eigene Organe ausübt.

Da nun bei der Gründung des Reiches gleichzeitig mit der Verfaſſung auch das Geſ. v. 12. Juni 1869 Geltung für das ganze Reich erhielt, ſo ergibt ſich, daß die Verfaſſung mit der in dieſem Geſetz enthaltenen Abänderung und Er - gänzung eingeführt worden iſt und daß demnach der Schluß, welchen man aus dem Schweigen der Verf. des Nordd. Bundes über die Bundesgerichtsbarkeit ziehen mußte, aus dem Schweigen der Reichsverfaſſung nicht gezogen werden kann. Das Reich hatte vielmehr von Anfang an eine eigene Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und die verfaſſungsmäßige Kom - petenz, den Umfang derſelben zu beſtimmen. Von dieſer Befugniß hat das Reich auch einen ausgiebigen Gebrauch gemacht, indem es ſeit dem 1. Oktober 1879 an die Stelle des Oberhandelsgerichts das Reichsgericht geſetzt hat, dem eine umfaſſende Zuſtändigkeit in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, ſowie in einigen andern Angelegenheiten beigelegt worden iſt.

Der Norddeutſche Bund hat ferner in dem Geſetz v. 21. Juni 18691)Bundesgeſetzbl. 1869 S. 305 ff. die in der Verf. Art. 4 Ziff. 11 in Ausſicht genommenen Vorſchriften über die Rechtshülfe erlaſſen. Während aber die Verfaſſung nur von der Vollſtreckung von Erkenntniſſen in Civilſachen und der Erledigung von Requiſitionen ſprach, hat das Rechtshülfegeſetz bereits das Prinzip angebahnt, daß die Bethätigungen der den Einzelſtaaten zuſtehenden Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und in Strafſachen ihre Wirkungen auf das ganze Bundesgebiet erſtrecken. In Civilſachen wurde der Grundſatz anerkannt, daß wenn eine Rechtsſtreitigkeit in einem Bundesſtaate rechtshängig geworden oder rechtskräftig entſchieden iſt, die Rechtshängigkeit oder die Rechtskraft vor jedem Gerichte aller Bundesſtaaten geltend gemacht werden kann2)Rechtshülfe-Geſ. §. 19.; daß die Ge - richte des Bundesgebiets ſich gegenſeitig Rechtshülfe zu leiſten haben, ohne Unterſchied, ob das erſuchende und das erſuchte Ge -6§. 96. Einleitung.richt demſelben Bundesſtaate oder ob ſie verſchiedenen Bundes - ſtaaten angehören1)Rechtshülfe-Geſ. §. 1.; daß das Erſuchen direct von Gericht zu Ge - richt ergeht2)§. 2 daſ.; daß die in einem Bundesſtaate ergangenen rechts - kräftigen Erkenntniſſe im ganzen Bundesgebiete vollſtreckbar ſind3)§. 7 ff. daſ. und daß das in einem Bundesſtaate eröffnete Konkursverfahren in Bezug auf das zur Konkursmaſſe gehörige Vermögen und in Be - treff der Beſchränkungen der Verfügungs - und Verwaltungsrechte des Gemeinſchuldners ſeine Wirkung in dem geſammten Bundes - gebiete äußert4)§. 13 daſ.. Aber auch in Strafſachen wurde im Prinzip die Verpflichtung zur Rechtshülfe unter allen Gerichten des Bundes anerkannt5)§. 20 daſ., eine ſehr ausgedehnte Pflicht zur Auslieferung ein - geführt, die ſich auch auf die eigenen Angehörigen des erſuchten Staates erſtreckt6)§. 21 ff. daſ., die Nacheile der Sicherheitsbeamten in be - nachbarte Staatsgebiete geſtattet7)§. 30 daſ., ja ſogar den Gerichten die Pflicht zur Vollſtreckung der in einem anderen Bundesſtaate er - laſſenen Strafurtheile in nicht unerheblichem Umfange auferlegt8)§. 33 daſ..

Nachdem im Wege des Vertrages die Anwendung dieſes Ge - ſetzes auf Baden und Südheſſen ausgedehnt worden war9)Bundes-Geſ. Bl. 1870 S. 67 ff. 607 ff., er - folgte bei der Gründung des Reiches die Erklärung deſſelben zum Reichsgeſetz. Im Deutſchen Reich waren daher von Anfang an die Einzelſtaaten in Betreff der Ausübung der Gerichtsbarkeit in eine viel innigere Wechſelbeziehung zu einander geſetzt als bei Gründung des Norddeutſchen Bundes; ſie waren reichsgeſetzlich verpflichtet, ihre Hoheitsrechte behufs Durchführung des Rechts - ſchutzes einander zur Verfügung zu ſtellen und in weitreichendem Umfange die gerichtlichen Beſchlüſſe, Entſcheidungen und Urteile gegenſeitig anzuerkennen und zu vollſtrecken. War formell auch die Gerichtsbarkeit ein Recht der Bundesſtaaten und als ſolches in ſeiner Ausübung auf das Gebiet des einzelnen Staates be -7§. 96. Einleitung.ſchränkt, ſo erſtreckte ſich materiell doch ſeine Wirkſamkeit auf das ganze Bundesgebiet. Im Prinzip war es bereits entſchieden, daß die Einzelſtaaten hinſichtlich der Gerichtsbarkeit nicht iſolirt und unabhängig ſind, ſondern daß ſie zu einem einheitlichen Rechts - pflege-Syſtem verfaſſungsmäßig verbunden werden. Der vollen und conſequenten Durchführung dieſes Prinzips ſtanden nur die großen Verſchiedenheiten der Gerichtseinrichtungen und der Prozeß - ordnungen noch hindernd im Wege.

Dieſer dritte Punkt war der wichtigſte; die Herſtellung der in der Verf. Art. 4 Ziff. 13 erwähnten gemeinſamen Geſetze über das gerichtliche Verfahren blieb die bedeutendſte, aber freilich auch ſchwierigſte Aufgabe. Auch ihre Löſung wurde bereits während des Beſtehens des Norddeutſchen Bundes in Angriff genommen. Verhältnißmäßig am leichteſten war die Abfaſſung der Civilpro - zeß-Ordnung1)Eine gute Darſtellung der Entſtehungsgeſchichte der Deutſchen Civil - prozeß-Ordnung mit ſachlicher Charakteriſirung der verſchiedenen Entwürfe giebt Hellweg im Arch. f. civil. Praxis Bd. 61 S. 78 140. Daß auch die zahlreichen Kommentare zur Civilproz. O. die Abfaſſung derſelben ausführ - lich darſtellen, bedarf kaum der Erwähnung.. Schon zur Zeit des Deutſchen Bundes (1862) war auf Veranlaſſung des Bundestages eine Commiſſion zu Han - nover zuſammengetreten, an welcher die Vertreter aller größeren Deutſchen Staaten mit Ausnahme Preußens Theil genommen hatten, um den Entwurf zu einer für ganz Deutſchland gemein - ſamen Civilprozeß-Ordnung auszuarbeiten. Dieſe Commiſſion hatte im Jahre 1866 den (ſogen. Hannöveriſchen) Entwurf feſtgeſtellt, der durch den Druck veröffentlicht wurde. Auch in Preußen war bereits 1864 ein Entwurf einer Prozeßordnung berathen und ver - öffentlicht worden. An dieſe beiden Arbeiten knüpfte der Nordd. Bund ſofort an. Der Bundesrath beſchloß ſchon am 2. Oktober 1867 die Einſetzung einer Commiſſion, um den Entwurf einer Pro - zeßordnung in bürgerl. Rechtsſtreitigkeiten unter Zugrundelegung des Preußiſchen und des in Hannover ausgearbeiteten Entwurfs anzufertigen. Im Juli 1870 wurde der Entwurf dem Bundes - rath überreicht, unter dem Vorbehalt ihn einer nochmaligen Re - viſion zu unterziehen. (Sogen. Norddeutſcher Entwurf.)

Durch den Krieg mit Frankreich erfuhren dieſe Arbeiten nicht nur eine Unterbrechung, ſondern in Folge des Hinzutritts der ſüd -8§. 96. Einleitung.deutſchen Staaten auch eine andere Richtung. Das Preuß. Juſtiz - miniſterium unterwarf noch während des Krieges den Norddeutſchen Entwurf einer Umarbeitung und geſtaltete ihn zu einem Entwurf für eine Deutſche Civilprozeßordnung. Auf Beſchluß des Bundes - rathes trat eine neue Commiſſion zur Berathung dieſes Entwurfs im September 1871 in Berlin zuſammen, an welcher Vertreter der ſüddeutſchen Staaten Antheil nahmen. Bereits im Frühjahr 1872 waren die Verhandlungen dieſer Commiſſion ſo weit gediehen, daß der revidirte Entwurf nebſt dem Entwurf eines Einführungs - geſetzes dem Bundesrath vorgelegt werden konnte, der ſeinerſeits noch einige Aenderungen an demſelben vornahm. Bevor jedoch die Vorlage an den Reichstag erfolgte, waren noch die Entwürfe zu mehreren andern Geſetzen über das Gerichtsweſen feſtzuſtellen.

Der Reichstag des Norddeutſchen Bundes hatte am 18. April 1868 den Beſchluß gefaßt, den Bundeskanzler aufzufordern, Ent - würfe eines gemeinſamen Strafrechts und eines gemeinſamen Strafprozeſſes, ſowie der dadurch bedingten Vorſchriften der Ge - richtsorganiſation bald thunlichſt vorbereiten und dem Reichstage vorlegen zu laſſen. Der Bundesrath, der dieſem Beſchluß zu - ſtimmte, erachtete es zugleich für geboten, daß zunächſt mit dem materiellen Strafrecht begonnen werden müſſe. Daher wurde erſt nach Fertigſtellung des Entwurfs eines Strafgeſetzbuches f. den Norddeutſchen Bund die Strafprozeßordnung in Angriff genommen und der Preuß. Juſtizminiſter durch Schreiben des Bundeskanzlers v. 12. Juli 1869 erſucht, die Aufſtellung eines Entwurfes zu veranlaſſen1)Ueber die Geſchichte der Strafproz. Ordnung vgl. außer den in den Kommentaren derſelben enthaltenen Darſtellungen die ausführliche und licht - volle Erörterung von Dochow in v. Holtzendorff’s Handbuch des Deutſchen Strafprozeßrechts I. S. 105 137 und Binding, Grundriß des gem. Deut - ſchen Strafprozeßrechts. 1881. S. 21 ff..

Die Arbeiten, welche aus ſachlichen, hier nicht weiter zu er - örternden Gründen mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbun - den waren, zogen ſich bis zum Ende des Jahres 1872 hin, ſo daß der erſte Entwurf mit Motiven im Januar 1873 dem Bundesrath vorgelegt werden konnte. Der Bundesrath beſchloß, ihn einer Kommiſſion zur Vorberathung zu überweiſen, welche ihn in 3 Le - ſungen einer Durcharbeitung unterwarf. Dieſer zweite Entwurf9§. 96. Einleitung.erfuhr aber vielſeitige Angriffe, weil er die Schwurgerichte gänz - lich beſeitigen und durch Schöffengerichte erſetzen wollte, und da vorauszuſehen war, daß der Reichstag in die Aufhebung der Schwur - gerichte nicht willigen würde, ſo mußte der Entwurf einer noch - maligen Umarbeitung unterworfen werden, ſo daß er erſt im Som - mer 1874 die Geſtalt erhielt, in welcher er an den Reichstag ge - bracht worden iſt.

Daß die Ordnung des Prozeßverfahrens eine beſtimmte Or - ganiſation der Gerichte vorausſetzt, iſt ſelbſtverſtändlich; die Civil - und Strafprozeß-Ordnungen mußten daher entweder ſelbſt die er - forderlichen Anordnungen über die Zuſammenſetzung der Gerichte und ihr gegenſeitiges Verhältniß enthalten oder ſie mußten in dieſer Hinſicht durch ein beſonderes Gerichtsverfaſſungsgeſetz ergänzt werden1)Ueber die Entſtehungsgeſchichte des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes vgl. die Erklärung des Juſtizminiſters Dr. Leonhardt in der Reichstagsſitzung vom 25. Nov. 1876. (Stenogr. Berichte S. 358 ff.). Demgemäß wurde gegen Ende des Jahres 1869 der Preußiſche Juſtizminiſter von dem Bundeskanzler erſucht, die Ausarbeitung eines Geſetzentwurfs zu veranlaſſen, welcher die die Gerichtsverfaſſung betreffenden Vorſchriften enthalte, ſo weit ſie für die Civilrechtspflege nach der kommiſſariſch feſtgeſtellten Ci - vilprozeßordnung nothwendig wurden. Indeß ergab ſich von ſelbſt die Nothwendigkeit, nachdem man auch die Abfaſſung einer Straf - prozeßordnung in’s Auge gefaßt hatte, auch die Strafrechtspflege mitzuberückſichtigen. Der Preuß. Juſtizminiſter ging indeſſen über die Gränzen dieſes Auftrages hinaus; er ließ einen Entwurf aus - arbeiten, der nicht nur die durch die Civil - und Strafprozeß-Ordnung nothwendig gemachten Vorſchriften über die Gerichtseinrichtungen, ſondern eine vollſtändige Regelung der Gerichtsverfaſſung enthielt, ſo daß er ohne Mitwirkung der Landesgeſetzgebungen d. h. ohne Ausführungsgeſetze der Einzelſtaaten hätte in’s Leben treten können. Mit dieſer Ausdehnung erklärten ſich jedoch die Juſtiz - miniſter der größeren Deutſchen Bundesſtaaten, welche zu Berathun - gen über den Entwurf in Berlin ſich verſammelt hatten, nicht einver - ſtanden und es ergab ſich hieraus die Nothwendigkeit, den Entwurf nach dieſem Geſichtspunkt umzuarbeiten d. h. aus einer vollſtän - digen Regelung der Gerichtsverfaſſung eine fragmentariſche zu10§. 96. Einleitung.machen. Der ſo umgearbeitete Entwurf wurde am 12. November 1873 dem Bundesrath vorgelegt. Die Veränderungen, welche die Strafprozeß-Ordnung durch Aufnahme der Schwurgerichte erfuhr, machte eine nochmalige Reviſion auch dieſes Geſetzentwurfs er - forderlich und der letztere wurde in der Geſtalt, in welcher er dem Reichstage vorgelegt werden ſollte, gleichzeitig mit dem Ent - wurf der Strafprozeß-Ordnung vom Bundesrath feſtgeſtellt.

Dadurch, daß der Entwurf des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes ſo - wohl für die Civilproz. O. als auch für die Strafproz. O. eine ſehr weſentliche Ergänzung enthielt, ohne welche die beiden Prozeßord - nungen nicht praktiſch anwendbar geweſen wären, war unter dieſen drei Geſetzentwürfen ein innerer Zuſammenhang entſtanden, ſo daß keiner von ihnen ohne die beiden andern Geſetzeskraft erlangen konnte. Hieraus ergab ſich, daß ſie auch die weiteren legislatori - ſchen Stadien gemeinſam zu durchlaufen hatten. Die 3 Geſetz - entwürfe nebſt den Entwürfen zu den dazu gehörenden 3 Einfüh - rungsgeſetzen wurden dem am 29. Oktober 1874 eröffneten Reichs - tage vorgelegt1)Die Geſetzentwürfe nebſt Motiven ſiehe in den Druckſachen des Reichs - tages von 1874 / 75 Nro. 4. 5. 6. und von ihm einer und derſelben Commiſſion, der ſogen. Reichsjuſtizkommiſſion, zur Vorberathung überwieſen2)Die Berathung erſter Leſung im Reichstage ſiehe ſtenogr. Berichte 1874 / 75 I. S. 275 ff.. Da es unmöglich war, daß die Commiſſion bis zum Ende der Reichstagsſeſſion ihre Aufgabe erledige, ſo wurde ihr durch das Reichsgeſ. v. 23. Dez. 1874 (R. G.Bl. S. 194) die Ermächtigung ertheilt, ihre Verhandlungen nach dem Schluſſe der Seſſion des Reichstages bis zum Beginne der nächſten ordentlichen Seſſion deſſelben fortzuſetzen und dieſe Befugniß wurde durch das Reichsgeſ. v. 1. Februar 1876 (R. G.Bl. S. 15) erneuert. Die Kommiſſion hat die drei Geſetzentwürfe nebſt dem Entwurfe der Einführungs - geſetze in zwei Leſungen durchberathen; die Protokolle ſind ge - druckt3)In einer offiziellen, nicht in den Buchhandel gekommenen Ausgabe und außerdem in den von Hahn veranſtalteten Sammlungen der Materia - lien zu jedem der 3 Geſetze. worden; ſie vertreten einen ausführlichen Kommiſſions - bericht und in manchen Theilen geradezu Motive. Ueberdies er - ſtattete die Kommiſſion zuſammenfaſſende ſchriftliche Berichte11§ 96. Einleitung.an den Reichstag1)Druckſachen des Reichstages v. 1876 Bd. II. Nro. 8. 9. 10 (auch bei Hahn a. a. O.). In der Seſſion des Reichstages von 1876 fand die zweite Berathung der drei Geſetzentwürfe ſtatt2)Vgl. über das Gerichtsverf. Geſetz Stenogr. Berichte 1876 Bd. I. S. 135 165; 175 388; über die Strafprozeß-Ordnung ebendaſ. S. 392 569; über die Civilprozeß-Ordnung ebendaſ. S. 167 175 und 388 392. Alle dieſe Ver - handlungen ſind auch abgedruckt in den betreffenden Materialien von Hahn. und nachdem es gelungen war, durch ein Kompromiß die zwiſchen dem Bundesrath und dem Reichstag hinſichtlich einiger Beſtim - mungen der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfaſſungsge - ſetzes beſtehenden Differenzen auszugleichen, erhielten dieſe Geſetz - entwürfe in 3ter Leſung in der durch die Abmachungen des Kom - promiſſes gebotenen Faſſung die Zuſtimmung des Reichstages3)Stenogr. Berichte 1876 Bd. II. S. 849 1004.. Hierauf wurden ſie ſanctionirt und publizirt; das Gerichtsver - faſſungsgeſetz nebſt Einführungsgeſetz unter dem Datum des 27. Januar 1877 (R. G.Bl. S. 41 ff. ), die Civilprozeßord - ordnung nebſt Einführungsgeſetz vom 30. Januar 1877 (R. G.Bl. S. 83 ff. ), die Strafprozeßordnung nebſt Einführungsgeſetz v. 1. Februar 1877. (R. G.Bl. S. 253 ff.). Als der Zeitpunkt, an welchem die 3 Geſetze im ganzen Umfange des Reichs gleich - zeitig in Kraft treten ſollten, wurde der 1. Oktober 1879 be - ſtimmt4)§. 1 des Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. Es wurde vorbehalten, daß durch Kaiſerl. Verordnung unter Zuſtimmung des Bundesrathes ein früherer Termin feſtgeſetzt werden, von dieſem Vorbehalt wurde aber Seitens der Reichs - regierung kein Gebrauch gemacht..

Auf dieſe 3 Geſetze konnte indeß die im Art. 4 Ziff. 13 der R.V. vorgeſehene Reichsgeſetzgebung ſich nicht beſchränken; ſie er - forderten vielmehr theilweiſe durch ihren eigenen Inhalt noch mehrfache Ergänzungen, wenn in Wirklichkeit das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und in Strafſachen im ganzen Reichsgebiet einheitlich geregelt werden ſollte.

Zunächſt wurde neben der Civilprozeßordnung und als wich - tigſte Ergänzung derſelben der Erlaß einer Konkursordnung in Ausſicht genommen. Ein auf der Preuß. Konk. O. v. 8. Mai 1855 und dem zur Abänderung derſelben erlaſſenen Geſ. v. 12. März 1869 fußender Entwurf wurde auf Grund eines vom Bun -12§. 96. Einleitung.desrath am 21. Febr. 1870 gefaßten Beſchluſſes im Preuß. Juſtiz - miniſterium ausgearbeitet und nebſt Motiven und Anlagen im November 1873 dem Bundesrath vorgelegt, welcher beſchloß, daß dieſer Entwurf einer aus angeſehenen Juriſten und Vertretern des Handelsſtandes beſtehenden Kommiſſion zur Vorberathung über - wieſen werden ſollte. Die Kommiſſion trat im März 1874 in Berlin zuſammen und brachte in 3 Leſungen einen revidirten Ent - wurf zuſtande, der von dem Bundesrathe nur in wenigen Punkten modifizirt wurde. Am 21. Januar 1875 wurde der Geſetzentwurf nebſt dem Entwurf eines Einführungsgeſetzes dem Reichstage vor - gelegt1)Motive in den Druckſachen des Reichstages von 1874 / 7 Nro. 200. und von ihm ohne weſentliche Veränderung in der Seſſion von 1876 genehmigt2)Stenogr. Berichte 1876 S. 569 ff.. Die Konkursordnung trägt das Da - tum v. 10. Februar 1877 und iſt gleichzeitig mit dem Gerichts - verfaſſungsgeſetz (1. Okt. 1879) in Kraft getreten3)R. G.Bl. 1877 S. 351 ff.. Zur Ver - vollſtändigung dieſer vom Reich geregelten Rechtsmaterie iſt ſo - dann noch das Reichsgeſetz v. 21. Juli 1879, betreffend die An - fechtung von Rechtshandlungen eines Schuldners außerhalb des Konkursverfahrens, ergangen4)R. G.Bl. 1879 S. 277 ff..

Eine zweite weſentliche Ergänzung der Prozeßgeſetzgebung be - traf die Ordnung der Rechtsanwaltſchaft. Der von der Reichsregierung vorgelegte Entwurf eines Gerichtsverfaſſungsge - ſetzes enthielt hierüber keine Beſtimmung; die Juſtizkommiſſion des Reichstages ging dagegen von der Anſicht aus, daß die reichs - geſetzliche Regelung der Rechtsanwaltſchaft nicht weniger nothwen - dig ſei, wie die irgend eines andern Theils der Gerichtsverfaſſung, und fügte demgemäß dem Entwurfe des Gerichtsverfaſſungsge - ſetzes einen die Rechtsanwaltſchaft betreffenden Titel hinzu, welcher die Billigung des Reichstages fand. Der Bundesrath erkannte zwar an, daß die Regelung der Rechtsanwaltſchaft im Wege der Reichsgeſetzgebung erfolgen müſſe, erachtete aber die fragmentari - ſchen Beſtimmungen, welche die Juſtizkommiſſion in das Gerichts - verfaſſungsgeſetz aufgenommen hatte, für nicht ausreichend5)Es fehlten namentlich die Beſtimmungen über die Anwaltskammern, Ehrengerichte u. ſ. w. und13§. 96. Einleitung.richtete an den Reichskanzler das Erſuchen, den Entwurf eines Geſetzes über die Rechtsanwaltſchaft ausarbeiten zu laſſen. In Folge des Kompromiſſes, welches der dritten Leſung der Juſtiz - geſetze im Reichstage vorausging, ſtrich der Reichstag aus dem Gerichtsverfaſſungsgeſetz und aus dem hierzu gehörenden Einfüh - rungsgeſetz die auf die Rechtsanwaltſchaft ſich beziehenden Vor - ſchriften gegen die Zuſage der Reichsregierung, daß dieſelbe den Entwurf einer Rechtsanwaltsordnung dem Reichstag ſo frühzeitig vorlegen werde, daß das Geſetz gleichzeitig mit den Prozeßord - nungen in Geltung treten könne. Die Vorlage erfolgte in der Seſſion von 18781)Entwurf mit Motiven in den Druckſachen v. 1878 Nr. 5. Kommiſſions - bericht ebendaf. Nr. 173. und führte zur Vereinbarung des Geſetzes, welches unter der Bezeichnung Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 18782)Reichs-Geſ. Bl. 1878 S. 177 ff publizirt worden und am 1. Oktob. 1879 in Gel - tung getreten iſt.

Eine dritte Ergänzung, deren die Prozeßordnungen und das Gerichtsverfaſſungsgeſetz nothwendig bedurften, betraf das Koſten - und Gebühren-Weſen. Zur Regelung deſſelben wurden er - laſſen das Gerichtskoſten-Geſetz v. 18. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 141 ff. ), die Gebührenordnung f. Gerichtsvollzieher v. 24. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 166 ff. ), die Gebührenordnung für Zeugen und Sachverſtändige v. 30. Juni 1878 (R. G.Bl. S. 173 ff. )3)Entwürfe und Motive zu den angeführten 3 Geſetzen in den Druck - ſachen des Reichstages 1878 Nro. 76. Kommiſſions-Beſchlüſſe ebendaſ. Nro. 228. und die Gebührenordnung für Rechtsanwälte vom 7. Juli 1879 S. 176 ff4)Entwurf nebſt Motiven in den Druckſachen des Reichstages v. 1879 Nro. 6. Kommiſſions-Beſchlüſſe ebenda. Nr. 137. S. 224.. In Folge vielfacher Klagen über die unerträgliche Höhe der Gerichtsgebühren wurden einige Härten der erwähnten Geſetze gemildert durch das Reichsgeſetz vom 29. Juni 1881, betreffend die Abänderung von Beſtimmungen des Gerichtskoſtengeſetzes und der Gebührenordnung für Gerichtsvollzieher5)R. G.Bl. 1881 S. 178 ff..

Endlich war durch die Herſtellung eines einheitlichen Civil - und Strafprozeßrechts auch Veranlaſſung gegeben, die Ausübung der Konſulargerichtsbarkeit, für welche das Preußiſche14§. 96. Einleitung.Geſetz v. 29. Juni 1865 proviſoriſch in Geltung ſtand1)Siehe Bd. I. S. 366., reichs - geſetzlich zu regeln und ſie, ſoweit die Verſchiedenheit der thatſäch - lichen Verhältniſſe es geſtattete, in Uebereinſtimmung mit den Vor - ſchriften der Reichs-Prozeßgeſetze zu bringen. Zu dieſem Zwecke iſt das Reichsgeſetz über die Konſulargerichtsbarkeit vom 10. Juli 1879 (R. G.Bl. S. 197 ff. ) erlaſſen worden2)Vgl. hiezu die Inſtruction des Reichskanzlers v. 10. Sept. 1879. (Centralbl. für das D. R. 1879 S. 575 ff.).

In den im Vorſtehenden aufgeführten Geſetzen hat im Weſent - lichen die große Reform der Gerichtsverfaſſung und des Prozeß - rechts einen vorläufigen Abſchluß gefunden3)Eine Anzahl kleinerer Geſetze, welche nur einzelne Fragen betreffen, ſind in dieſer Ueberſicht übergangen worden, ſo z. B. das Geſ. über den Sitz des Reichsgerichts v. 11. April 1877 (R. G.Bl. S. 415); das Geſ. betreffend den Uebergang v. Geſchäften auf das Reichsgericht v. 16. Juni 1879 (R. G.Bl. S. 157); die Verordnungen und das Geſetz betreffend die Begründung der Re - viſion in bürgerl. Rechtsſtreitigkeiten u. ſ. w. Bei den betreffenden Materien ſind dieſe Geſetze, ſoweit ſie hier überhaupt von Intereſſe ſind, erwähnt worden.. Bevor aber auf eine Darſtellung des hierdurch gegebenen Rechtszuſtandes einge - gangen wird, iſt die allgemeine Bemerkung voranzuſchicken, daß dieſe Reichsgeſetzgebung weder das ganze Gerichtsweſen und die ganze Gerichtsbarkeit geregelt hat, noch daß derjenige Theil des Gerichtsweſens, welcher von der Reichsgeſetzgebung betroffen wor - den iſt, eine vollſtändige Regelung erfahren hat. Demgemäß findet die Geſetzgebung des Reiches in doppelter Beziehung ihre Ergänzung in der Landesgeſetzgebung; die letztere enthält theils die erforderlichen Ausführungsbeſtimmungen zu den Reichs - geſetzen4)Ein überſichtliches Verzeichniß derſelben giebt Binding a. a. O. S. 36 ff., theils die ſelbſtändige Regelung eines Gebietes, welches von der Reichsgeſetzgebung nicht beherrſcht wird, ſondern nur dem von derſelben normirten Gebiete benachbart iſt, ſo daß die Regelung deſſelben thatſächlich allerdings unter dem Einfluß der reichsgeſetzlichen Einrichtungen und Anordnungen ſteht.

II. Bei der Behandlung des Gerichtsweſens des Deutſchen Reiches entſteht eine eigenthümliche Schwierigkeit hinſichtlich der Auswahl und Abgrenzung der zu erörternden Lehren. Es kann nicht die Aufgabe einer Darſtellung des Reichsſtaatsrechts ſein, den geſammten Strafprozeß und Civilprozeß, das Konkursverfahren,15§. 96. Einleitung.die Ordnung der Anwaltſchaft u. ſ. w. zu erörtern; das Gerichts - verfahren hat von jeher den Gegenſtand eines beſonderen, reich entwickelten Zweiges der Rechtswiſſenſchaft gebildet, der nach ſei - nem Stoff, ſeinen Quellen, ſeiner Literatur von dem Staatsrecht getrennt iſt. Wenngleich die geſammte Wirkſamkeit der Gerichte eine Entfaltung der ſtaatlichen Thätigkeit iſt, durch welche eine der weſentlichſten Staatsaufgaben realiſirt wird, ſo iſt doch das von ihnen zu beobachtende Verfahren nur an gewiſſen Punkten von ſtaatsrechtlichen Prinzipien beeinflußt; im Weſentlichen beruht die Ordnung des Verfahrens auf techniſch-juriſtiſchen Geſichts - punkten, deren Durchführung Garantien einer gerechten, unpartei - iſchen und ſachgemäßen Erledigung der Rechtsſtreitigkeiten gewähren ſoll1)Daher können mehrere Staaten, deren Verfaſſungsrecht eingreifende Verſchiedenheiten zeigt, doch ein im Weſentlichen übereinſtimmendes Prozeß - recht haben.. Andrerſeits kann aber die Aufgabe einer Darſtellung des Staatsrechts auch nicht für genügend gelöſt erachtet werden, wenn man nach dem Vorbilde der meiſten deutſchen Staatsrechts-Schrift - ſteller ſich damit begnügt, die Unabhängigkeit des Richteramtes als ein Poſtulat der modernen Staats - und Rechtsidee hinzuſtellen und die Gränzen zwiſchen Juſtiz und Verwaltung mit größerer oder geringerer Breite zu behandeln. Dieſe Dürftigkeit in der Erörterung einer der wichtigſten ſtaatlichen Lebensfunktionen ſteht mit der Ausführlichkeit, welche anderen weit untergeordneteren Theilen des Staatsbaues zugewendet zu werden pflegt, in einem auffallenden Contraſt, und ſie kann dadurch nicht ausgeglichen wer - den, daß man außer einigen ſcholaſtiſchen Definitionen und Ein - theilungen hiſtoriſche Exkurſe über die Entwicklung des Gerichts - weſens und des Gerichtsverfahrens ſeit dem Mittelalter oder gar ſeit der Römerzeit einſchaltet. Damit kann dem Bedürfniß nach einer wiſſenſchaftlichen, zuſammenhängenden, dogmatiſchen Erörte - rung der Rechtsgrundſätze, welche das Weſen und Wirken des Staates der Gegenwart beherrſchen, nicht abgeholfen werden. Die Aufgabe iſt vielmehr dahin zu beſtimmen, daß die in der Gerichts - barkeit zur Anwendung und Ausübung kommenden Herrſchaftsrechte des Staates nach ihren Vorausſetzungen, ihrem Umfange und der Art ihrer Geltendmachung erkannt und dargeſtellt werden. Die Prozeßgeſetze enthalten neben den umfangreichen Vorſchriften über16§. 96. Einleitung.das Verfahren im weiteſten Sinne des Wortes, die man als die eigentlichen prozeſſualiſchen Rechtsſätze bezeichnen kann, einen ſehr erheblichen Beſtand an ſtaatsrechtlichen Normen. Dieſer Beſtand wird nach dem in der Deutſchen Rechtsliteratur beſtehen - den Herkommen in den Werken über Staatsrecht faſt ganz über - gangen, in den Werken über Civil - und Strafprozeß im Ge - menge mit dem eigentlichen Prozeßrecht behandelt. Wenngleich zugegeben werden muß, daß dieſe Behandlung Seitens der Pro - zeßrechtsſchriftſteller eine vollſtändige, den ganzen Stoff umfaſſende iſt, ſo iſt doch die Beleuchtung dieſes Stoffes eine einſeitige, da ſie eben nicht vom Standpunkt des Staatsrechts, ſondern von dem des Prozeßrechts aus geſchieht und da in Folge deſſen ſtaatsrechtliche und prozeſſualiſche Regeln fortwährend mit einander verknüpft, niemals einander gegenüber geſtellt werden. So wie das Strafgeſetzbuch eine reiche Quelle für das Staatsrecht iſt, deren Verwerthung nicht ausſchließlich den Strafrechtsſchriftſtellern überlaſſen bleiben kann, ſo ſind auch die Prozeßgeſetze auf ihren ſtaatsrechtlichen Inhalt zu unterſuchen und für das Staatsrecht zu verwerthen. Es gilt dies in beſonders hervorragendem Maaße von der Gerichtsverfaſſung, die eine ebenſo weſentliche und erhebliche Bedeutung für das Behördenſyſtem und die Aemter - verfaſſung des Staates wie für die Ordnung des Prozeſſes, der Zuſtändigkeitsnormen, des Verfahrens, der Rechtsmittel u. ſ. w. hat.

Wenn es ſonach für das öffentliche Recht jedes Staates als eine Aufgabe der Wiſſenſchaft hingeſtellt werden muß, die ſtaats - rechtlichen Vorſchriften über die Gerichtsbarkeit von den prozeß - rechtlichen Vorſchriften über das gerichtliche Verfahren auszuſon - dern, ſo bietet für das Staatsrecht des Deutſchen Reiches die Ge - ſetzgebung über das Gerichtsweſen noch eine andere Seite von ſehr weitreichender Bedeutung dar. Sie ſteckt nämlich auf einem ſehr umfaſſenden und wichtigen Gebiete die Gränzen ab, welche der Autonomie und Gerichtsgewalt der Einzelſtaaten gezogen ſind; ſie legt den Einzelſtaaten Verpflichtungen und Beſchränkungen auf; ſie normirt die ihnen auf dem Gebiet der Rechtspflege zuſtehenden Herrſchaftsrechte; in ihr wird der Einfluß des unter den Einzel - ſtaaten beſtehenden bundesſtaatlichen Verhältniſſes und der über ihnen errichteten ſouveränen Reichsgewalt in Bezug auf die Rechts - pflege fixirt.

17§. 96. Einleitung.

Von dieſen Geſichtspunkten aus iſt die folgende Darſtellung unternommen. Freilich iſt eine völlig ſcharfe Trennung der pro - zeſſualiſchen und der ſtaatsrechtlichen Sätze über die Gerichtsbarkeit kaum möglich; bei vielen Punkten kann man zweifelhaft ſein, ob ſie dem einen oder andern Gebiete zuzuweiſen ſeien. Auch die hier folgende Darſtellung hätte ſich noch auf manche andere Lehre erſtrecken und dafür vielleicht den einen oder anderen Punkt über - gehen können; ich bin in dieſer Hinſicht auf tadelnde Urtheile ge - faßt; aber der Verſuch mußte einmal gewagt werden, auf dieſem Gebiete die Gränzen des Deutſchen Staatsrechts richtiger als es bisher geſchehen iſt und als es bisher wol auch möglich war, zu beſtimmen.

Nur einen Punkt möchte ich hier, um Mißverſtändniſſen vor - zubeugen, noch beſonders hervorheben. Die Zwangsmittel gegen die Parteien, welche der Staatsgewalt geſetzlich zu Gebote ſtehen, um im gerichtlichen Verfahren die materielle Wahrheit zu ermitteln und um das Urtheil zu vollſtrecken, bieten zwar unzweifelhaft auch eine Seite für die ſtaatsrechtliche Betrachtung dar; hier fallen aber die Regeln über die Vorausſetzungen, den Umfang und die Formen der Geltendmachung faſt vollſtändig mit den Regeln über das Prozeß-Verfahren zuſammen. Ein näheres Eingehen auf dieſe Materien würde daher in der That dazu nöthigen, ſehr umfang - reiche Partien des Straf - und Civilprozeßrechts hier aufzunehmen, die, aus dem Zuſammenhange mit den übrigen Lehren des Pro - zeßrechts geriſſen, des wiſſenſchaftlichen Intereſſes ermangeln. Hier - hin gehören im Strafprozeß die Befugniſſe der Gerichte und an - deren bei der Strafverfolgung mitwirkenden Behörden zur Beſchlag - nahme, zur Durchſuchung, zur Verhaftung und vorläufigen Feſt - nahme, zur Vorführung des Beſchuldigten, ſowie die geſammte Lehre von der Strafvollſtreckung; im Civilprozeß der Zwang zum perſönlichen Erſcheinen der Parteien in Eheſachen1)Civilproz. O. §. 579. und im Kon - kurſe2)Konk. Ordn. §. 93. 98., die Editionspflicht3)Civilproz. O. §. 387 ff. 394 ff. Im Falle der §§. 133 u. 134 der Civilproz. O. handelt es ſich nicht um eine öffentlich-rechtliche Pflicht, ſondern um ein Beweisrecht der Partei; die Nichtbefolgung der gerichtlichen und ebenfalls die geſammte LehreLaband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 218§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.von der Zwangsvollſtreckung. Die Darſtellung aller dieſer Rechts - materien iſt daher mit Vorbedacht hier übergangen worden.

III. Auch eine Angabe der Literatur über das gegenwärtige Gerichtsweſen des Deutſchen Reiches ſcheint an dieſer Stelle nicht erforderlich zu ſein. Es iſt allbekannt, eine wie große Zahl von Kommentaren, ſyſtematiſchen Werken, Abhandlungen u. ſ. w. durch den Abſchluß der Reichs-Prozeßgeſetzgebung hervorgerufen worden iſt. Eine, auch nur einigermaßen vollſtändige Aufzählung dieſer Werke würde einen großen Raum beanſpruchen; ſie erſcheint um ſo entbehrlicher als die rechtswiſſenſchaftlichen Zeitſchriften, insbe - ſondere die dem Civilprozeß und dem Strafprozeß vorzugsweiſe gewidmeten, ſich angelegen ſein laſſen, alle dieſe Materie betreffen - den literariſchen Erſcheinungen zu verzeichnen.

§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.

I. Gerichtsbar iſt dem Wortſinne nach Alles, was zum Geſchäftskreiſe oder der Zuſtändigkeit der Gerichte gehört, was ge - eignet iſt, vor Gericht gebracht und daſelbſt verhandelt und erle - digt zu werden; Gerichtsbarkeit im objektiven Sinne iſt die Ge - ſammtheit dieſer Angelegenheiten; Gerichtsbarkeit im ſubjektiven Sinne iſt die Befugniß, dieſe Angelegenheiten in rechtswirkſamer Weiſe zu erledigen, reſp. die zu ihrer Erledigung beſtimmten Ge - richte einzuſetzen und die Art und Weiſe der Erledigung zu regeln. Eine materielle, juriſtiſch verwendbare Definition der Gerichts - barkeit aber kann nicht im Allgemeinen gegeben werden, ſo ſehr man ſich auch bemüht hat, eine ſolche aufzuſtellen, da unter der Bezeichnung Gericht ſehr zahlreiche und verſchiedenartige Be - hörden verſtanden werden und die Abgränzung der Geſchäfte, welche den als Gerichten bezeichneten Behörden zugewieſen ſind, eine wechſelvolle und willkührliche iſt. Nur mit Rückſicht auf ein be - ſtimmtes poſitives Recht und eine beſtimmte poſitive Behörden - verfaſſung kann man die Gerichtsbarkeit definiren, d. h. alle diejenigen Angelegenheiten aufzählen, welche gerichtsbar ſind. Die Gerichtsbarkeit bildet den Gegenſatz zu den durch die Ver - waltungsbehörden zu führenden Geſchäften; aber dieſer Gegenſatz3)Anordnung hat daher keine Zwangsmittel, ſondern lediglich prozeſſualiſche Nach - theile im Gefolge.19§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.fällt nicht zuſammen mit dem Gegenſatz der Verwaltung und Recht - ſprechung; denn die Gerichtsbarkeit umfaßt auch Verwaltungs - geſchäfte, ſoweit dieſelben nämlich den Gerichten obliegen, und es kann andrerſeits den Gerichten die Erledigung gewiſſer Rechts - ſtreitigkeiten entzogen und Verwaltungsbehörden übertragen ſein.

II. Nach den verſchiedenen Kategorien von Gerichten oder nach den verſchiedenen Kategorien der den Gerichten übertragenen Geſchäfte laſſen ſich zahlloſe Eintheilungen der Gerichtsbarkeit aufſtellen1)Eine Zuſammenſtellung ſolcher Eintheilungen iſt praktiſch und theore - tiſch gänzlich werthlos; ſie kann höchſtens gewiſſen ſcholaſtiſchen Gewohnheiten und Neigungen entſprechen; für einen beſtimmten praktiſchen oder theoretiſchen Zweck iſt immer nur eine Eintheilung von Bedeutung.

Für das Reichsſtaatsrecht iſt aber Eine Eintheilung der Gerichtsbarkeit von hervorragender Wichtigkeit, wonach das Ge - ſammtgebiet derſelben in zwei große Theile zerfällt. Der eine dieſer beiden Theile wird gebildet von der ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit, der andere von allen übrigen zur Ge - richtsbarkeit gehörenden Bethätigungen der Staatsgewalt. Die eingreifende ſtaatsrechtliche Bedeutung dieſer Unterſcheidung beſteht darin, daß die Ausübung der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbar - keit durch Reichsgeſetze geregelt, die der übrigen Gerichtsbarkeit zur Zeit noch im Weſentlichen der Autonomie der Einzelſtaaten überlaſſen iſt, daß ſonach das Verhältniß der Einzelſtaaten zum Reich auf dieſen beiden Gebieten ein weſentlich verſchiedenes iſt.

Obgleich im Art. 2 des Einführungsgeſetzes zum Gerichtsver - faſſungsgeſetz der Grundſatz ſanctionirt iſt, daß die Vorſchriften des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes nur auf die ordentliche ſtreitige Gerichts - barkeit und deren Ausübung Anwendung finden, hat die Reichsgeſetz - gebung den Begriff der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit nicht de - finirt. Das Gerichtsverfaſſungsgeſetz hat aber im Art. 12 diejenigen Gerichte aufgezählt, durch welche die ordentliche ſtreitige Gerichts - barkeit ausgeübt wird und im Art. 13 die Zuſtändigkeit dieſer Ge - richte dadurch normirt, daß es ihnen alle bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten und Strafſachen zuweiſt, welche ihnen nicht entzogen ſind, ſei es durch gänzliche Verſagung des Rechtsweges, ſei es durch Errichtung beſonderer Gerichte. Hienach läßt ſich aus der Reichsgeſetzgebung die formale Definition2)Daß die Anordnung des Art. 13 cit. eine ſachliche Begränzung der gewinnen:

2*20§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.

Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit umfaßt diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche vor die im Art. 12 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes aufgezählten (ſogenannten ordentlichen ) Gerichte gehören.

Im Einklange hiemit iſt in den Einführungsgeſetzen zur Civil - prozeßordnung und zur Strafprozeßordnung §. 3 beſtimmt, daß dieſe Prozeßgeſetze auf diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten beziehentl. Strafſachen, welche vor die ordentlichen Gerichte gehören, Anwendung finden; d. h. daß ſie nur für die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit vom Reich erlaſſen ſind.

Nach dieſer Definition der ordentlichen ſtreitigen Gerichts - barkeit wird dieſelbe durch folgende Begriffsmomente, die einer näheren Erörterung bedürfen, beſtimmt:

1. Die ſtreitige Gerichtsbarkeit iſt nicht auf die Fälle beſchränkt, in welchen ein Streit der Parteien zu entſcheiden iſt, ſondern ſie umfaßt auch diejenigen Rechtsangelegenheiten, in wel - chen der Beklagte den Anſpruch des Klägers anerkennt oder die ihm zur Laſt gelegte ſtrafbare Handlung zugeſteht. Als ſtreitig wird die Gerichtsbarkeit nur deshalb bezeichnet, weil dem Ver - klagten oder Angeklagten die Befugniß zuſteht, Widerſpruch gegen den Klageantrag zu erheben und deshalb die rechtliche Mög - lichkeit eines Streites gegeben iſt. Die ſtreitige Gerichtsbarkeit ſetzt Parteien voraus, welche unter einander einen Rechtsſtreit haben können1)Vgl. Hauſer, Gerichtsverfaſſung S. 53 ff. A. S. Schultze, Kon - kursrecht S. 144.. Dieſe rechtliche Möglichkeit iſt maßgebend für die ganze Einrichtung der zur Handhabung der Rechtspflege be - ſtimmten Behörden und für die Struktur des Verfahrens; in der Erledigung des Streites liegt der Schwerpunkt des Prozeſſes. Für den Begriff der ſtreitigen Gerichtsbarkeit als einer ſtaat - lichen Funktion iſt aber die Entſcheidung eines Rechtsſtreites nicht weſentlich, da einerſeits die ſtreitige Gerichtsbarkeit des Staates in zahlreichen Fällen ausgeübt wird, in denen es an einem Streit völlig gebricht, und andererſeits die Entſcheidung eines Rechtsſtreites durch Urtheil auch ohne alle Mitwirkung ſtaat - licher Behörden und ohne Inanſpruchnahme ſtaatlicher Hoheits -2)Gerichtsbarkeit nicht enthält, wird von Löwe, Strafprozeßordn. S. 31 ff. ſehr treffend dargelegt.21§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.rechte erfolgen kann1)Durch Schiedsſpruch oder durch Erkenntniß auswärtiger Gerichte, die im Inlande nicht Verwalter von ſtaatlichen Hoheitsrechten ſind, deren Ur - theile aber trotzdem unter gewiſſen Vorausſetzungen hinſichtlich des unter den Parteien beſtehenden Rechtsverhältniſſes maßgebend ſein können. Civilproz. O. §. 660. 661.. Zwar umfaßt die ſtaatliche Aufgabe der Handhabung des Rechtsſchutzes auch die Verhandlung und Ent - ſcheidung etwaiger Rechtsſtreitigkeiten; aber es iſt hierin nur ein accidentieller Beſtandtheil dieſer Aufgabe zu erblicken, welcher nur unter gewiſſen Vorausſetzungen ſich einmiſcht und welcher unbeſchadet des Weſens der ſtreitigen Gerichtsbarkeit auch fehlen kann.

Hienach erhebt ſich die Frage, worin denn das Weſen der ſtreitigen Gerichtsbarkeit beſteht und in welcher Weiſe die Staatsgewalt in ihr ſich geltend macht. Es bedarf keiner Ausführung, daß die Beantwortung dieſer Frage für das Verſtändniß des Gerichtsweſens als eines Theiles des Staatsweſens, ebenſo aber auch für die Auffaſſung des Prozeſſes, der rechtlichen Natur der Klage, Streiteinlaſſung, Contumaz, des Urtheils u. ſ. w. maßgebend iſt. Dieſe Löſung aber kann nicht gefunden werden von irgend welchen prozeſſuali - ſchen Rechtsbegriffen aus, die vielmehr erſt aus ihr abgeleitet werden können, ſondern nur aus dem Staatsbegriff und den an - erkannten Prinzipien über die Aufgaben des Staates. Hier iſt nun mit Rückſicht auf die heutige Geſtaltung der ſtaatlichen Auf - gaben zwiſchen der Gerichtsbarkeit in privatrechtlichen Angelegen - heiten und derjenigen in öffentlich rechtlichen zu unterſcheiden.

a) In Betreff der bürgerlichen Rechtsverhältniſſe erkennt der Staat die Freiheit der Individuen innerhalb der von der Rechtsordnung gezogenen Schranken an. Inſoweit dieſe Schranken freien Spielraum laſſen, hat der Staat kein Intereſſe daran, wie die privatrechtlichen Verhältniſſe der Einzelnen geſtaltet werden; er ſichert den Individuen grade dadurch einen gewiſſen Kreis per - ſönlicher Freiheit, daß er ihre privatrechtlichen Beziehungen nicht regelt, nicht inhaltlich fixirt. Er hat daher auch nicht die Auf - gabe darüber zu wachen, daß die in Folge dieſer Freiheit begrün - deten Anſprüche im Einklang mit den objektiven Rechtsregeln realiſirt werden. Das bürgerliche Unrecht als ſolches ruft nicht22§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.die Repreſſion des Staates hervor; er iſt nicht der Wächter und Beſchützer der Privatrechte um ihrer ſelbſt willen; er ſtatuirt viel - mehr ebenſo wie in der Begründung, ſo auch in der Geltend - machung der Rechtsanſprüche das Dispoſitionsrecht der Parteien1)Bülow, Dispoſitives Civilprozeßrecht (Arch. f. civil. Praxis Bd. 64) S. 12 ff. Ausgenommen ſind nur diejenigen Verhältniſſe, welche zwar in ge - wiſſen Beziehungen, z. B. prozeſſualiſch, als privatrechtliche behandelt werden, an denen der Staat aber ein Dispoſitionsrecht der Parteien nicht anerkennt, weil ſie öffentlich-rechtlicher Natur ſind, wie z. B. die Ehe.. Der Staat hat daher kein unmittelbares Intereſſe, die Privatrechts - verhältniſſe der ihm unterworfenen Individuen feſtzuſtellen und ſeine Aufgabe kann unmöglich darin beſtehen, den Parteien durch Urtheile der Gerichte authentiſche Belehrungen über das wechſel - ſeitige Maaß ihrer Anſprüche und Verpflichtungen zu ertheilen2)Aus dieſem Grunde iſt in Civilprozeſſen das Gericht nicht befugt, einer Partei etwas zuzuſprechen, was nicht beantragt iſt. Civilpr. O. §. 279..

Die ſtaatliche Aufgabe beſteht vielmehr nur darin, den ihm unterworfenen Perſonen Rechtsſchutz zu gewähren, d. h. den Landfrieden aufrecht zu erhalten und die Selbſthülfe auszuſchließen und dafür dem Einzelnen mittelſt der Staatsgewalt zu ſeinem Rechte zu verhelfen. Die Erfüllung dieſer Aufgabe erkennt der Staat als ſeine Pflicht an und hieraus ergibt ſich, daß der Einzelne ein Recht hat, die Gewährung des Rechtsſchutzes vom Staat zu verlangen, ſo oft er derſelben benöthigt iſt3)Es bedarf wol kaum der Hervorhebung, daß das Recht, welches durch Anſtellung der Klage ausgeübt wird, ſich nicht gegen den Richter, ſondern gegen den Staat richtet. Deſſenungeachtet iſt dieſe Verwechslung ziemlich häufig; ſie macht ſich namentlich auch bemerkbar in den Erörterungen von Wach in Grünhut’s Zeitſchrift Bd. VI. S. 554 ff. und Bd. VII. S. 134 ff., wo ſie zu ſehr unhaltbaren Folgerungen führt. Der Richter kommt nur als Organ des Staates in Betracht und am Prozeß-Rechtsverhältniß iſt nicht der Rich - ter , ſondern der Staat betheiligt. Der Richter, welcher Recht weigert, verletzt allerdings nur ſeine Amtspflicht (Wach VI. S. 555) und hiergegen iſt durch Beſchwerde bei der höheren Inſtanz und durch die Mittel der Dis - ciplinargewalt Abhülfe zu gewinnen; dagegen der Staat, welcher Recht weigert, verletzt die aus ſeinem Zweck ſich ergebende Schutzpflicht; hier giebt es dem ſouverainen Staat gegenüber keine Hülfe, in Deutſchland gegen - über den Einzelſtaaten eine Beſchwerde an das Reich (Bundesrath) auf Grund des Art. 77 der R.V.. Die Klage iſt demnach die Bitte um Gewährung dieſer ſtaatlichen Hülfe; das Geſuch, ein ſubjectives Recht unter23§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.den Schutz des Staates zu nehmen und dadurch ſeine Anerkennung und Verwirklichung zu ſichern, eventuell ſie zu erzwingen. Das Urtheil iſt die Entſcheidung über Gewährung oder Verſagung dieſer Bitte. Dieſes Urtheil iſt durch die Be - antwortung von zwei ganz verſchiedenen Vorfragen beſtimmt; erſtens ob im concreten Falle alle diejenigen Vorausſetzungen vor - handen ſind, unter denen der Staat die Pflicht zur Einſetzung ſeiner Gewalt anerkennt, der Kläger alſo einen Anſpruch gegen den Staat auf Gerichtshülfe hat, und zweitens ob dem Kläger gegen den Verklagten der von ihm behauptete Rechts - anſpruch zuſteht. Die erſte Frage betrifft das ſtaatsrechtliche (Prozeß -) Verhältniß, gehört alſo dem öffentlichen Rechte an; die zweite betrifft das dem Prozeß vorausgehende, zu demſelben nur den Anlaß gebende Rechtsverhältniß und iſt gewöhnlich eine privat - rechtliche1)Auf dieſen, für die wiſſenſchaftliche Erkenntniß des Civilprozeßrechts entſcheidenden Gegenſatz mit Nachdruck hingewieſen zu haben, iſt das große Verdienſt Bülow’s. Vgl. deſſen Lehre von den Prozeßeinreden und Prozeß - vorausſ. Gießen 1868 S. 1 ff. und ſeine trefflichen Abhandlungen im Arch. f. civil. Prax. Bd. 62 S. 75 ff. Bd. 64 S. 8 ff. Vgl. ferner Degenkolb, Einlaſſungszwang und Urteilsnorm Leipz. 1877 S. 26 ff. und beſonders die vorzügliche Ausführung Sohm’s in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. IV. S. 467 ff..

Der Klageantrag braucht ſich mit dem Anſpruch an den Ver - klagten nicht zu decken; er kann auf einen Theil des Anſpruchs gerichtet ſein oder über ihn hinaus gehen; ja er kann wirkſam ge - ſtellt werden, ohne daß dem Kläger in Wahrheit überhaupt ein gültiger Anſpruch an den Verklagten zuſteht2)Vgl. auch Wach, Vorträge über die Civilproz. O. S. 15 Anm.. Die Klage richtet ſich wenigſtens nach dem heutigen Recht nicht gegen den Verklagten mit dem Anſpruch, daß er leiſte, ſondern gegen den Staat, mit dem Antrag, daß er den Verklagten zur Leiſtung zwinge. Der Kläger hat überhaupt gar keinen Rechtsanſpruch an den Verklagten, daß dieſer ſich mit ihm in einen Prozeß ein - laſſe, ſondern er hat an den Verklagten nur den aus dem Privat - rechtsverhältniß reſultirenden Anſpruch auf Leiſtung. Von einer Einlaſſungspflicht des Verklagten, wenn eine ſolche beſtünde3)Zu einer eingehenden Erörterung dieſer in neueſter Zeit vielfach be - handelten Streitfrage liegt an dieſer Stelle keine Veranlaſſung vor., könnte24§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.nur geſprochen werden gegenüber dem Staate, nicht gegenüber dem Kläger1)Es kann keine Verpflichtung des Verklagten exiſtiren, Recht zu geben, wie Wach in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. VII. S. 171 in Uebereinſtimmung mit einer weit verbreiteten Anſchauung ſagt; denn Recht giebt nur der Staat; der Verklagte dagegen giebt dasjenige, worauf ſein dare facere praestare oportere geht, alſo Geld, Gut u. ſ. w.. Einer ſolchen Einlaſſungspflicht bedarf es aber nicht, um den Verklagten der ſtaatlichen Gerichtsbarkeit zu unter - werfen; denn die letztere, welche mit der Staatsgewalt identiſch iſt, ergreift die dem Staate unterworfenen Perſonen ohne ihren Willen und ohne ihr Zuthun2)Vgl. A. S. Schultze a. a. O. S. 147.. Es gibt keine Pflicht, ſich der Staats - gewalt zu unterwerfen , ſondern nur einen Rechtszuſtand des Unter - worfenſeins unter die Staatsgewalt. In manchen Fällen gewährt der Staat ja auch wenigſtens proviſoriſch oder unter Vorbehalten den verlangten Rechtsſchutz auf einſeitigen Vortrag des Klägers. Regelmäßig aber läßt der Staat, bevor er über den Klageantrag befindet, den Verklagten zur Vertheidigung und zur Erhebung des Widerſpruchs zu. Der letztere kann eine doppelte Richtung haben. Er kann die ſtaatsrechtliche Seite des Prozeſſes betreffen d. h. darauf gegründet werden, daß der Verklagte der Gerichts - barkeit des Staates nicht unterworfen ſei oder daß dem Kläger für den von ihm behaupteten Anſpruch aus materiellen oder for - mellen Gründen der Rechtsſchutz des Staates nicht gewährt werden dürfe u. ſ. w. Er kann aber auch die privatrechtliche Grundlage der Klage betreffen d. h. denjenigen Anſpruch des Klägers gegen den Verklagten, für deſſen Durchführung in der Klage die Staats - hülfe verlangt wird. Alsdann iſt zunächſt feſtzuſtellen, ob der Kläger den von ihm behaupteten Rechtsanſpruch darzuthun ver - mocht hat; dieſe Feſtſtellung iſt aber niemals das eigentliche End - ziel des Prozeſſes; ſie iſt nur präparatoriſch für die Hauptentſchei - dung, ob dem Kläger zur Durchführung ſeines Anſpruches die Macht des Staates zu leihen ſei oder nicht. Die Gerichte ſind Verwalter der ſtaatlichen Herrſchermacht und ihre Urtheile ſind keine von Staatswegen ertheilten Rechtsgutachten oder Wahr - ſprüche, ſondern Bethätigungen der Staatsgewalt. Dadurch, daß der Staat durch das Gericht als ſein Organ in der formellen Weiſe des Urtheils den im Tenor bezeichneten Rechtsanſpruch aner -25§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.kennt, wird von ihm ein Recht in concreto1)Ueber den Unterſchied zwiſchen dem ſubjectiven Recht und dem Recht in concreto d. h. der objectiven Feſtſtellung des ſubjektiven Rechts vgl. Bähr, Rechtsſtaat S. 6 Anm. 1 Bülow, Arch. f. civil. Prax. Bd. 62 S. 93 Anm. 72. A. S. Schultze a. a. O. S. 148. ſanctionirt, wie im Geſetz ein Rechtsſatz in abstracto; und ebenſo wie das Geſetz nicht blos die Feſtſtellung und Formulirung eines Rechtsſatzes, ſondern die Ausſtattung deſſelben mit verbindlicher Kraft iſt d. h. den Befehl enthält ihn zu befolgen, ſo iſt auch das Urteil nicht blos Feſtſtellung des concreten Rechts, ſondern zugleich Befehl an den Verklagten, den Rechtsanſpruch zu erfüllen, unter der Drohung, daß im Falle des Zuwiderhandelns auf Verlangen des Klägers die Befolgung dieſes Befehls durch die Staatsgewalt und durch die phyſiſchen Machtmittel des Staates erzwungen werden würde2)Vgl. hierüber die eindringenden Unterſuchungen von Degenkolb §§. 14 ff. Er ſagt S. 100 vom älteren Deutſchen Prozeß: Der Urteilsim - perativ iſt der Imperativ des Geſetzes. . Nur in dem letzteren Beſtandtheil des Urtheils, in der Vollſtreckbarkeitserklärung des Anſpruchs, liegt die ſpezifiſch ſtaats - rechtliche Funktion3)Unter der Vollſtreckung iſt in dieſem Sinn nicht blos die Erzwing - ung von Handlungen, die Wegnahme von Werthobjekten u. dgl. zu verſtehen, ſondern ganz allgemein die Bereitſtellung der ſtaatlichen Macht zur Sicher - ſtellung des ſubjektiven Rechts. Hierin liegt die ſtaatsrechtliche Bedeu - tung der Rechtskraft , die mit der prozeſſualiſchen Bedeutung nicht zuſammenfällt. Die Macht des Staats ſteht hinter dem Urtheil und dieſer Umſtand genügt in der Regel, um den Verurtheilten zur Befolgung des Ur - theilsbefehls zu veranlaſſen, ohne daß es eigentlicher Exekutionsmaßregeln oder gar der Entfaltung phyſiſcher Macht bedarf; die Ausſicht auf dieſelben wirkt bereits als Zwang. Dies gilt auch von den ſog. Feſtſtellungsurtheilen (Civilproz. O. 231)..

Dem ſcheint zwar der äußere Vorgang und der Wortlaut des Urtheils zu widerſprechen; es wiederholt ſich hier aber nur eine Erſcheinung, die auf dem Gebiete des Staatsrechts uns mehrfach entgegentritt, daß nämlich der eigentlich maßgebende, den juriſti - ſchen Vorgang enthaltende Akt zurücktritt gegenüber denjenigen Vorbereitungshandlungen, die aus thatſächlichen Gründen die über - wiegende praktiſche Bedeutung haben. Bei der Geſetzgebung liegt der Schwerpunkt thatſächlich in der definitiven Feſtſtellung des Geſetzentwurfs (Findung der Rechtsregel), die Sanktion dagegen26§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.entzieht ſich faſt der Wahrnehmung1)Vgl. Bd. II. S. 34.; bei den Staatsverträgen beſteht daſſelbe Verhältniß hinſichtlich der Herſtellung des völker - rechtlichen Vertrags und der ſtaatlichen Vollziehbarkeitserklärung2)Vgl. Bd. II. S. 157 ff.,. So iſt auch bei der Erledigung bürgerlicher Rechtsſtreitigkeiten die Feſtſtellung des concreten Rechts allein von praktiſcher Wichtigkeit; daß der urtheilsmäßig anerkannte Rechtsanſpruch unter den Schutz des Staates genommen und eventuell mit den ſtaatlichen Macht - mitteln durchgeführt wird, verſteht ſich von ſelbſt und braucht nicht beſonders erklärt zu werden. Es genügt, wenn das Urtheil ſagt, daß der Verklagte ſchuldig ſei dem Kläger 100 zu zahlen; die Hauptſache, nämlich der ſtaatliche Befehl an den Verklagten, auf Verlangen des Klägers dieſe Summe zu zahlen und die Drohung, daß der Staat nöthigenfalls dies erzwingen würde, bleibt als ſelbſtverſtändlich fort3)Eine Hinweiſung iſt aber nicht ausgeſchloſſen; öfters wird dem Tenor die Klauſel: bei Vermeidung der Exekution hinzugefügt; im mittelalterlichen Verfahren ſchloß ſich an die Findung des Urtheils (Wahrſpruchs der Schöffen) das ihm entſprechende Gebot des Richters. Vgl. Planck, das Deutſche Gerichtsverf. im M.A. I. Bd. S. 301 ff. Parallelen aus anderen Rechtskreiſen laſſen ſich leicht nachweiſen. Vgl. Degenkolb a. a. O. S. 98 ff.. Hieraus wird es erklärlich, daß nach einer faſt allgemein herrſchenden, offenbar durch römiſch rechtliche Prozeßinſtitutionen beeinflußten Anſchauung das Weſen des Ur - theils in der Entſcheidung über das Rechtsverhältniß geſehen, da - gegen der dahinter ſtehende Befehl, dem Urtheil Folge zu leiſten, als etwas Nebenſächliches oder Zufälliges erachtet wird.

Der wahre ſtaatsrechtliche Charakter des rechtskräftigen Ur - theils wird klar, wenn man den Schiedsſpruch und ſeine Wirkungen mit ihm in Vergleich ſtellt. In der Civil-Proz. -Ordn. §. 866 heißt es zwar: Der Schiedsſpruch hat unter den Parteien die Wirkungen eines rechtskräftigen gerichtlichen Urtheils ; dies wird aber ſofort durch die folgenden Beſtimmungen in der bündigſten Weiſe wider - legt, indem in §. 867 aus beſtimmten Gründen die Klage auf Aufhebung des Schiedsſpruches zugelaſſen iſt und nach §. 868 aus dem Schiedsſpruche die Zwangsvollſtreckung nur ſtattfindet, wenn ihre Zuläſſigkeit durch ein Vollſtreckungsurtheil ausge - ſprochen iſt. Dem Schiedsſpruch fehlt alſo gerade die für das27§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.rechtskräftige Urtheil charakteriſtiſche Wirkung; er leitet ſeine Kraft aus dem Schiedsvertrag der Parteien ab und er wirkt daher nach Art des Vertrages; das gerichtliche Urtheil leitet ſeine Kraft aus dem Herrſchaftsrecht des Staates ab und wirkt daher nach Art des Befehles. Der Schiedsſpruch ſchließt prozeſſualiſch ebenſo wie das Anerkenntnis die richterliche Prüfung und Beurtheilung des Rechtsanſpruches aus, aber er ſtellt dem Berechtigten nicht die Zwangsgewalt des Staates zur Durchführung dieſes Anſpruchs zur Verfügung; hierzu bedarf es eines gerichtlichen Urtheils1)Sowohl im Röm. Formularprozeß als in dem mittelalterlichen Ver - fahren iſt die Feſtſtellung des Rechtsanſpruchs (judicium) an Perſonen gewieſen, welche nicht Träger der Staatsgewalt ſind, während die Gerichts gewalt (imperium, bannum) durch Organe des Staates ausgeübt wird. Erſt ſeitdem die beamteten gelehrten Richter beide Funktionen vereinig - ten, konnte die Urtheilsfindung als Bethätigung eines ſtaatlichen Hoheitsrechts, ja als der Kernpunkt der ſtaatlichen Rechtspflege aufgefaßt werden..

b) Auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts iſt die Bedeutung der Gerichtsbarkeit eine etwas andere; ſie iſt hier nur die Form, in welcher ſtaatliche Herrſchaftsrechte durchgeführt werden. Es gilt dies insbeſondere von der, uns hier vorzugs - weiſe intereſſirenden Strafgerichtsbarkeit. Der Staat hat die ſelbſtſtändige Verpflichtung, gegen den Bruch der Rechtsordnung mittelſt ſeiner Strafgewalt zu reagiren; er ſtellt nicht ſeine Macht einem Individuum zum Schutz ſeiner Rechte zur Verfügung, ſon - dern er übt dieſe Macht im eigenen Intereſſe, zur Aufrechterhaltung und Wiederherſtellung ſeiner eigenen Rechtsordnung aus. Es handelt ſich alſo nicht um zwei von einander begrifflich verſchiedene Rechts - beziehungen wie im Civilprozeß (Privatrechtsverhältniß und ſtaat - liche Rechtshülfe), ſondern um eine einheitliche Funktion, die Handhabung der Strafgewalt2)Vgl. Heinze, Zur Phyſiologie des Strafprozeſſes. Im Gerichtsſaal Bd. 28 S. 561 ff. beſonders S. 579.. Damit dieſelbe aber in jedem einzelnen Falle ohne Willkühr und Parteilichkeit ſich vollziehe, iſt ihre Ausübung an einen geſetzlich beſtimmten Weg gewieſen; die Vollſtreckung der Strafe ſoll ſich nicht nach Art der Rache unmit - telbar an die verbrecheriſche That ſchließen, ſondern es ſoll ein Urtheil des Gerichts dazwiſchen treten, durch welches die Schuld und die Strafe nach Maßgabe der objectiven Rechtsnormen und28§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.der Umſtände des Falls feſtgeſtellt werden1)Sowie das Urtheil im Civilprozeß das Recht in concreto feſtſtellt und ſanctionirt, ſo wird dem Staat und dem Angeklagten durch das ſtrafprozeſſua - liſche Urtheil das Strafrecht in concreto gefunden. Hierauf beruht das gemeinſame Moment des Civil - und Strafprozeſſes und die Zuſammenfaſſung beider zum Begriff der ſtreitigen Gerichtsbarkeit. Einen anderen Weg, um das gemeinſame begriffliche Merkmal der Civil - und Straf - gerichtsbarkeit zu beſtimmen, ſchlägt Regelsberger ein in Pözl’s Kritiſcher Vierteljahresſchrift Bd. IV. (1862) S. 52 ff. beſ. S. 65 ff., dem im Weſent - lichen v. Gerber, Grundzüge §. 55 zuſtimmt, den ich aber nicht für rich - tig halte.. Dieſe Feſtſtellung kann nicht erſetzt werden durch Schiedsſpruch oder Anerkenntnis; ſie erfolgt nicht um einen Streit zu ſchlichten; ſie iſt auch nicht bloß im Intereſſe des Angeſchuldigten eingeführt, ſondern ſie ſoll den[Staat ſelbſt] vor dem Mißbrauch ſeiner Staatsgewalt ſchützen und ihm eine Garantie gewähren, daß dieſe Gewalt nach den Ge - boten der Gerechtigkeit gehandhabt werde. Die Strafgerichtsbar - keit fällt daher ſtaatsrechtlich mit der Strafgewalt ſelbſt zuſammen; der Strafprozeß iſt gleichſam der Weg, den die letztere in jedem einzelnen Anwendungsfall zu durchlaufen hat2)In dem Urtheil des Reichsgerichts (III. Strafſenat) v. 11. Juni 1881 (Entſch. in Strafſachen Bd. IV. S. 355 ff. ) heißt es: Die Auf - gabe des Strafproceſſes in jedem konkreten Falle beſteht darin, zu ermitteln und feſtzuſtellen, ob gegen den Angeklagten der Beweis einer ſtrafrechtlichen Schuld geführt worden ſei. Dies iſt zu eng; der Strafprozeß iſt in keinem Falle ein bloßes Beweisverfahren und ſein Endziel iſt nicht die Feſtſtellung der Schuld oder Nichtſchuld des Angeklagten, ſondern die Verhängung einer Strafe oder die Freiſprechung von derſelben.. Während die Verurtheilung im Civilprozeß die Gewährung eines Antrages auf Entfaltung der Staatsgewalt iſt, bedeutet die Verurtheilung im Strafprozeß die Erfüllung einer Bedingung (Voraus - ſetzung), an welche der Staat ſelbſt die Ausübung ſeiner eigenen Gewalt gebunden hat3)Im Gegenſatz hierzu beruht die Darſtellung des Deutſchen Strafver - fahrens von Planck (Göttingen 1857) auf der Anſchauung, daß die Pflicht des Verbrechers, ſich der Strafe zu unterwerfen, den Gegenſtand des Straf - verfahrens bildet und daß durch die öffentliche Klage der Staat ſein Recht auf Strafe gegen den Verbrecher gerichtlich geltend mache. S. 118 a. a. O..

2. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit beſchränkt ſich auf bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und auf Straf -29§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.ſachen1)Gerichtsverf. Geſ. §. 13.; was nicht unter dieſe beiden Kategorien fällt, iſt von ihr ausgeſchloſſen.

a) In der Reichsgeſetzgebung wird der Begriff der bürger - lichen Rechtsſtreitigkeit nirgends definirt; vielmehr wird in den Motiven zum Gerichtsverf. -Geſ. S. 322)Hahn Materialien S. 47. ausdrücklich be - merkt, daß dieſer Begriff keine oder doch nur eine durchaus un - genügende Definition leide und daß es unausführbar ſei, ihn ge - meinſam für alle deutſchen Staaten zu präziſiren, daß dieſer Be - griff aber ungeachtet ſeiner Verſchiedenheit in den verſchiedenen Gebieten des deutſchen Reichs überall geſetzlich ſei es im ge - ſchriebenen oder ungeſchriebenen Rechte fixirt ſei und daß dem - nach für die Beſtimmung einer Sache als bürgerliche Rechtsſtrei - tigkeit in erſter Linie die Reichsgeſetze, in weiterer Linie aber das Landesrecht des einzelnen Staates maßgebend ſei3)Auch die Kommiſſion des Reichstages lehnte es ab, in das Gerichtsverf. Geſ. eine Beſtimmung aufzunehmen, durch welche der Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitigkeit definirt würde. Vgl. Protok. I. Leſ. S. 469 ff. (Hahn S. 672 ff.).

Den Gegenſatz zur bürgerlichen Rechtsſtreitigkeit bildet in der hier in Rede ſtehenden Beziehung die Streitigkeit des öffentlichen Rechts, d. h. die Streitigkeit über ein Rechtsverhältniß, welches gar nicht oder nicht ausſchließlich zur Rechtsſphäre der Individuen ge - hört, ſondern als ein Theil der öffentlichen Rechtsordnung, als Ausfluß der ſtaatlichen Hoheitsrechte oder der Regierungs - und Verwaltungsthätigkeit anzuſehen und aus dieſem Grunde der Privatdispoſition der berechtigten oder verpflichteten Individuen ganz oder theilweiſe entrückt iſt4)Vgl. das Urth. des Reichsgerichts v. 15. Febr. 1881. Entſcheidungen in Civilſachen Bd. 3 S. 410 ff. Eine eingehende und beachtenswerthe Unter - ſuchung über den Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten giebt Hauſer Gerichtsverfaſſung S. 51 ff.. Die Abgränzung des Privat - rechts von dem öffentlichen Rechte iſt die Grundlage für den Gegen - ſatz der bürgerlichen und der nicht bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten. Dieſe Abgränzung iſt nicht a priori zu finden, ſondern ſie iſt be - dingt von dem in dem poſitiven Recht feſtgeſtellten Umfange und der Art der Geltendmachung der ſtaatlichen Hoheitsrechte auf den verſchiedenen Zweigen der ſtaatlichen Thätigkeit. Für einen Theil dieſer Thätigkeit hat das Reich durch ſeine Geſetze die Normen30§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.aufgeſtellt und die Gränzen bezeichnet, bis zu denen ſich das öf - fentliche Recht erſtreckt; inſoweit dient die Geſammtheit der Reichsgeſetzgebung negativ zur Feſtſtellung des Begriffes der bür - gerlichen Rechtsſache; das Reich hat andererſeits auch poſitiv durch eine ſehr umfangreiche Privatrechtsgeſetzgebung, z. B. das Handelsgeſetzbuch und ſeine Ergänzungen, die Wechſelordnung u. ſ. w., einen Kreis von Rechtsverhältniſſen fixirt, welche bürger - lich ſind. Im Uebrigen aber iſt es den Einzelſtaaten und ihrer Geſetzgebung überlaſſen, diejenigen Rechtsverhältniſſe, welche als öffentliche zu erachten und deshalb der Rechtsſphäre der Indi - viduen entrückt ſind, zu beſtimmen. Im Weſentlichen gehen die verſchiedenen Partikularrechte hierbei von gleichmäßigen Grund - ſätzen aus, die ſich aus der Natur der Sache und aus der Gleich - artigkeit der Lebensverhältniſſe und Staatseinrichtungen ergeben, eine volle Uebereinſtimmung in der Abgränzung der bürgerlichen Rechtsverhältniſſe von denen des öffentlichen Rechts beſteht aber keineswegs.

b) Sowie der Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitigkeit auf den Gegenſatz von Privatrecht und öffentlichem Recht hinweiſt, ſo beruht der Begriff der Strafſache, der dem Begriff der öffent - lichen Rechtsſtreitigkeit untergeordnet iſt, auf dem Gegenſatz des Strafrechts gegenüber der Adminiſtrativ - und Disciplinar-Zwangs - gewalt und den zur Durchführung derſelben gegebenen Mitteln. Eine Rechtsſache, bei welcher nicht die Anwendung eines Straf - geſetzes in Frage ſteht und das Endziel des Verfahrens bildet, iſt keine Strafſache . Hier iſt die Gränze verhältnißmäßig ſicherer wie bei den bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten. Zum großen Theil iſt ſie auch hier vom Reiche durch die Strafgeſetzbücher und die einzelnen Strafgeſetze, ſowie durch einzelne Verwaltungsgeſetze ge - zogen1)Vgl. Löwe Strafproz. O. S. 28 ff. (2. Aufl.); zum andern Theil iſt ſie durch die Landes ſtrafgeſetz - gebung beſtimmt. Aber auch hier beſteht keine vollſtändige Gleich - heit des Rechts, da die Autonomie der Einzelſtaaten auf dem ihr überlaſſenen Gebiete den Kreis der ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Intereſſen, die durch Strafſatzungen geſchützt werden, verſchieden abgegränzt hat.

3. Verſagung des Rechtsweges. Wenngleich im31§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.Allgemeinen davon auszugehen iſt, daß die bürgerlichen Rechts - ſtreitigkeiten und Strafſachen zur Entſcheidung der Gerichte geſtellt werden, die ſtaats - und verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten da - gegen von anderen Behörden erledigt werden, ſo iſt dieſer Grund - ſatz doch in der Durchführung manchen Schwankungen und Modi - fikationen ausgeſetzt. Insbeſondere können gewiſſe Streitſachen, welche ſich nach der Natur des zu Grunde liegenden Rechtsver - hältniſſes als bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten oder als Strafſachen charakteriſiren, dennoch der Entſcheidung durch die Gerichte entzo - gen und Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten über - wieſen ſein, weil ſich an die Art der Behandlung und Erledigung dieſer Angelegenheiten ein beſonderes verwaltungsrechtliches oder politiſches Intereſſe knüpft. Welche Angelegenheiten dies ſind, iſt nicht durch ein einfaches und gemeingültiges Prinzip beſtimmt; es beantwortet ſich vielmehr dieſe Frage in jedem Einzelſtaate nach dem Geſammtinhalte ſeines Rechts. Von der ordentlichen Gerichts - barkeit ausgeſchloſſen ſind demnach nicht nur alle Angelegenheiten, welche ihrer Natur nach überhaupt keine bürgerlichen Rechtsſtrei - tigkeiten oder Strafſachen ſind, ſondern auch diejenigen Rechtsſachen, welche zwar an ſich dem Begriff der bürgerlichen Rechtsſtreitig - keiten oder Strafſachen ſich unterordnen ließen, für welche aber kraft poſitiver Rechtsvorſchrift die Zuſtändigkeit von Verwaltungs - behörden oder Verwaltungsgerichten begründet iſt. Das Reich hat für eine nicht unerhebliche Anzahl von Fällen die geſetzliche Anordnung getroffen, daß für ſie der Rechtsweg nicht ausgeſchloſ - ſen werden darf1)Vgl. die Zuſammenſtellung dieſer Fälle bei Keller, Gerichtsverf. Geſ. Note 5 u. 6 zu §. 13. Hauſer a. a. O. S. 64 ff. Thilo, Gerichtsverf. Geſ. S. 20 ff., und ebenſo für andere Fälle die Zuſtändigkeit von Verwaltungsbehörden oder des Bundesrathes anerkannt; im Allgemeinen aber hat das Reich es den Einzelſtaaten über - laſſen, die Zuläſſigkeit des Rechtsweges anzuerkennen oder zu ver - ſagen und damit die Linie zu ziehen, welche die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit von andern ſtaatlichen Functionen, insbeſondere von der Verwaltung, abgränzt2)Motive z. Gerichtsverf. Geſ. S. 33 (Hahn S. 48): Die Frage, welche Sachen den Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichten zuzuweiſen ſind, ſteht mit dem materiellen Rechte und dem inneren Staatsrechte der einzelnen. Damit iſt zugleich den Einzel -32§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.ſtaaten die Befugniß gewährt, die Geltungsſphäre der Reichsgeſetze betreffend die Gerichtsverfaſſung und das Prozeßverfahren einzu - ſchränken oder auszudehnen; ja es iſt ihnen mittelbar ſogar ein Einfluß auf den Umfang der Gerichtsbarkeit des Reiches gegeben, indem diejenigen Streitigkeiten, für welche der Rechtsweg bei den Landesgerichten verſagt iſt, auch nicht im Wege der Beſchwerde oder Reviſion zur Entſcheidung des Reichsgerichts gebracht werden können.

4. Ausſchluß der ordentlichen Gerichte. Den Einzelſtaaten ſteht es zwar frei abgeſehen von den in den Reichsgeſetzen für einzelne Fälle getroffenen Spezialanordnungen zu beſtimmen, für welche bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Straf - ſachen der Rechtsweg gänzlich ausgeſchloſſen ſein ſoll; inſoweit der Einzelſtaat aber den Rechtsweg geſtattet, iſt er dann nicht mehr befugt, die Verhandlung und Entſcheidung den ordentlichen Gerichten zu entziehen und beſonderen Gerichten zu übertragen. Hierzu iſt nach dem Gerichtsverf. -Geſ. das Reich allein berechtigt und es kann dieſe Befugniß in zweifacher Weiſe ausüben, theils indem es ſelbſt beſondere Gerichte beſtellt und dieſen gewiſſe Rechtsſachen zuweiſt, theils indem es für gewiſſe Rechtsſachen beſondere Gerichte zuläßt und es den Einzelſtaaten freiſtellt, ob ſie von der Erlaubniß zur Errichtung derſelben Ge - brauch machen wollen. Das Reich hat Beides gethan. Es hat beſondere Gerichte beſtellt, nämlich die Konſulargerichte1)Geſ. über die Konſulargerichtsbark. v. 10. Juli 1879. und die Militärgerichte2)Siehe Bd. III. 1. S. 119. 253 ff., wozu noch im Falle der Verhängung des Belagerungszuſtandes die Kriegsgerichte und Standrechte hinzu - kommen können3)Vgl. Bd. III. 1. S. 45 ff.. Es hat ferner beſondere Gerichte zuge - laſſen4)Gerichtsverf. Geſ. §. 14., nämlich die auf Staatsverträgen beruhenden Rhein - ſchifffahrts - und Elbzollgerichte5)Vgl. hierüber die Motive S. 34 (Hahn S. 49)., agrariſche Gerichte6)Motive S. 35 (Hahn S. 50)., Gemeinde -2)Länder in unlösbarer Verbindung, ſie iſt in den verſchiedenen Staaten ver - ſchieden beantwortet und es mußte in dem Gerichtsverfaſſungsgeſetze, welches in den inneren Staatsorganismus der einzelnen Bundesſtaaten und in das materielle Recht nicht eingreifen darf, von einer gemeinſamen Regelung dieſer Frage Abſtand genommen werden. 33§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.gerichte unter ſehr einſchränkenden Bedingungen1)Eine Gerichtsbarkeit der Gemeindebehörden exiſtirte zur Zeit der Ein - führung der Juſtizgeſetze nur in Württemberg und Baden. Vgl. Motive S. 37 (Hahn S. 51) und Protok. der Reichstagskommiſſion. I. Leſung S. 121 ff. (Hahn S. 407) II. Leſ. S. 578 ff. (Hahn S. 755). Verh. des Reichstages. Stenogr. Berichte 1876 / 77 S. 190 204. (Hahn S. 1141.) Nach der Faſſung, welche die Beſtimmung in Folge des Reichstagsbeſchluſſes erhalten hat, iſt es in Zweifel gezogen worden, ob überhaupt noch von einer Gerichtsbarkeit der Gemeindegerichte oder nur von Gemeinde-Schiedsämtern geſprochen werden könne, da jeder der beiden Parteien gegen das Urtheil die Berufung auf den ordentlichen Rechtsweg zuſteht; indeſſen iſt zu beachten, daß wenn von dieſer Befugniß kein Gebrauch gemacht wird, das Urtheil des Gemeindegerichts von Rechts wegen vollſtreckbar wird., und Gewerbe - gerichte2)Motive S. 38 (Hahn S. 52).. Inſoweit nun bürgerliche Rechtsſtreitigkeiten und Straf - ſachen dieſen beſonderen Gerichten zugewieſen ſind, was hinſichtlich der reichsgeſetzlich beſtellten ohne Weiteres eintritt, hinſichtlich der reichsgeſetzlich zugelaſſenen eine Anordnung des Einzelſtaates vor - ausſetzt, ſcheiden auch dieſe Streitigkeiten aus dem Gebiete der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit aus und das Gerichtsver - faſſungsgeſetz ſowie die Reichs-Prozeßordnungen werden für die - ſelben unanwendbar. Die reichsgeſetzliche Beſtellung beſonderer Gerichte bedeutet die Schaffung eines ſingulären oder ſpeziellen Gerichtsverfaſſungs - und Prozeßrechts für gewiſſe Kategorien von Rechtsſtreitigkeiten; die reichsgeſetzliche Zulaſſung beſonderer Gerichte bedeutet eine Erweiterung der Autonomie der Einzelſtaaten, indem dieſelben die Ermächtigung erhalten, für gewiſſe Kategorien von Rechtsſtreitigkeiten an die Stelle des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und der Reichsprozeßordnungen andere Rechtsvorſchriften zu erlaſſen. Von dieſer Autonomie können ſie auch in der Art Gebrauch machen, daß ſie die Gerichtsbarkeit zwar den ordentlichen Landesgerichten belaſſen, daß ſie aber die im Gerichtsverfaſſungsgeſetz vorgeſchriebenen Zuſtändigkeits - normen abändern3)Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. Art. 3 Abſ. 1., daß ſie in Strafſachen ein von der Straf - prozeßordnung4)Einf. Geſ. z. Strafproz. Ordn. Art. 3 Abſ. 2. und in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten ein von der Civilprozeßordnung abweichendes Verfahren vorſchreiben5)Einf. Geſ. z. Civilproz. Ordn. Art. 3 Abſ. 2..

Laband, Reichsſtaatsrecht. III. 2. 334§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.

Auch hinſichtlich derjenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten, welche zwar den ordentlichen Gerichten zugewieſen ſind, für welche aber ein beſonderes d. h. von den Vorſchriften der Civilprozeß - Ordnung abweichendes Verfahren geſtattet iſt (Aufgebotsſachen, erbſchaftl. Liquidationsverfahren und Streitigkeiten, welche eine Zwangsenteignung betreffen), iſt den Einzelſtaaten eine beſchränkte Autonomie zugeſtanden, indem ſie im Wege der Landesgeſetzgebung die Zuſtändigkeit der ordentlichen Landesgerichte nach anderen als den durch das Gerichtsverfaſſungsgeſetz vorgeſchriebenen Normen beſtimmen dürfen1)Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 3 Abſ. 3..

III. Aus den vorſtehenden Erörterungen ergibt ſich, in wie - weit die Einzelſtaaten befugt ſind, im Wege der Landesgeſetzgebung die Zuſtändigkeit der ordentlichen Gerichte und damit zugleich den Umfang der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit zu beſtimmen. Gänzlich ausgeſchloſſen iſt aber ein Eingriff in die geſetzlich nor - mirte Zuſtändigkeit der Gerichte für einen oder mehrere einzelne Fälle, ſowohl im Wege der Autonomie als auch im Wege der Verwaltung2)Vgl. Motive S. 54 (Hahn S. 64).. Ausnahmegerichte ſind unſtatt - haft. Niemand darf ſeinem geſetzlichen Richter entzogen werden3)Gerichtsverf. Geſ. §. 16. Nur die Kriegsgerichte und Standrechte ſind davon ausgenommen; ihre Errichtung ſetzt jedoch die Verhängung des Belagerungszuſtandes voraus. Vgl. Bd. III. 1. S. 45. Hinſichtl. Bayerns vgl. die Verhandlungen der Reichstags-Kommiſſion I. Leſ. S. 142 ff. (Hahn S. 422 ff. ) Eine Anomalie war das in Elſaß-Lothringen durch V. des Generalgouvernem. v. 19. Dez. 1870 eingeführte ſtändige Kriegsgericht; es iſt aufgehoben worden durch Geſetz v. 24. Januar 1881. (Geſ. Bl. f. Elſ. - Lothr. S. 1.).

1. Zur Sicherung dieſes Verbotes hat das Reich den Grund - ſatz ſanctionirt, daß die Gerichte über die Zuläſſigkeit des Rechtswegs entſcheiden. Auch dieſes Prinzip hat aber eine weit - reichende Einſchränkung erfahren, indem die Einzelſtaaten ermäch - tigt worden ſind, beſondere Behörden einzuſetzen, um Streitig - keiten zwiſchen den Gerichten und den Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges zu ent - ſcheiden. Für die Ausübung dieſer Befugniß ſind den Einzelſtaaten jedoch vom Reich Normativ-Vorſchriften ertheilt worden, durch welche den zur Entſcheidung der Kompetenzconflicte eingeſetzten Behörden35§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.ein gewiſſes Maaß von Unabhängigkeit geſichert werden ſoll1)Gerichtsverf. Geſ. §. 17 Abſ. 2.. Dieſe Vorſchriften betreffen die Zuſammenſetzung der Behörden und das Verfahren. Mindeſtens die Hälfte der Mitglieder muß dem Reichsgericht (oder oberſten Landesgerichte) oder einem Ober - landesgerichte angehören; die Mitglieder müſſen für die Dauer des zur Zeit ihrer Ernennung von ihnen bekleideten Amts oder, falls ſie zu dieſer Zeit ein Amt nicht bekleiden, auf Lebenszeit ernannt werden; eine Enthebung vom Amte kann nur unter den - ſelben Vorausſetzungen wie bei den Mitgliedern des Reichsgerichts ſtattfinden. Die Einſetzung einer ſolchen Behörde entzieht den ordentlichen Gerichten nicht die Befugniß, in allen vor ihnen an - hängigen Sachen über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges zu ent - ſcheiden und ihre eigene Kompetenz zu prüfen; die beſondere Behörde entſcheidet vielmehr nur in dem Falle, wenn ein Antrag darauf geſtellt, der ſog. Kompetenzconflict erhoben worden iſt2)Das Geſetz erfordert einen Kompetenz conflict, d. h. nicht blos Zwei - fel über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges, ſondern Streitigkeiten darüber zwiſchen den Gerichten und Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten., und ein ſolcher Antrag iſt nur ſtatthaft, ſo lange nicht durch rechts - kräftiges Urtheil des Gerichts feſtſteht, daß der Rechtsweg zuläſſig iſt3)Gerichtsverf. Geſ. §. 17 Ziff. 4. Nach dem Wortlaut des Geſetzes iſt es von Reichswegen erlaubt, daß die Erhebung des Kompetenzconflictes gegen ein rechtskräftiges Urtheil des Gerichts, welches die Zuläſſigkeit des Rechtsweges verneint, landesgeſetzlich für ſtatthaft erklärt wird. Vgl. Keller Note 10 zu §. 17 cit. Es kann dies namentlich bei einem ſogen. negativen Kompetenz - conflikt erforderlich ſein, d. h. wenn weder die Gerichte noch die Verwaltungs - behörden zuſtändig ſein wollen.. Das Verfahren der beſonderen Behörde iſt geſetzlich zu regeln; die Entſcheidung muß in öffentlicher Sitzung nach Ladung der Parteien erfolgen; an den Entſcheidungen dürfen Mit - glieder nur in der geſetzlich beſtimmten Anzahl mitwirken und dieſe Anzahl muß eine ungerade ſein und mindeſtens fünf betragen.

Der Einzelſtaat kann auch die Entſcheidung der Kompetenzcon - flicte dem Reichsgericht übertragen; da das letztere aber eine Reichs - behörde iſt, alſo nicht zur unmittelbaren Dispoſition der Einzel - ſtaaten ſteht, ſo muß der Einzelſtaat einen Antrag bei der Reichs - regierung machen, auf Grund deſſen das Reichsgericht durch eine mit Zuſtimmung des Bundesrathes erlaſſene kaiſerliche Verordnung3*36§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.zur Entſcheidung dieſer Streitigkeiten beſtellt wird1)Einführungsgeſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 17 Abſ. 1.. Von dieſer Befugniß hat bisher nur Bremen Gebrauch gemacht2)Verordn. v. 26. Sept. 1879. R. G.Bl. S. 298..

Da das Reichsgericht in dem in Rede ſtehenden Falle an Stelle einer beſonderen Landesbehörde entſcheidet, ſo iſt ſeine Kompetenz auch an dieſelben Vorausſetzungen und Schranken gebunden. Die Landesbehörde kann nun ſelbſtverſtändlich nur Kompetenzſtreitig - keiten unter den Behörden des betreffenden Staates erledigen, über die Hoheitsrechte anderer Bundesſtaaten und die Art ihrer Geltend - machung ſteht ihr keine Entſcheidung zu. Mithin kann die Aus - nahme von dem Grundprinzip, daß die Gerichte über die Zuläſſig - keit des Rechtswegs entſcheiden, überhaupt nur Platz greifen, wenn der Kompetenzconflict von der Behörde desjenigen Staates erhoben wird, dem das mit der Sache befaßte Gericht angehört. Dagegen iſt weder die Behörde eines andern Bundesſtaates noch irgend eine Reichsbehörde3)Vgl. hierüber die Aeußerungen der Abgg. von Puttkamer u. Dr. Bähr in der Reichstagskommiſſion. Protok. S. 487 ff. (Hahn S. 686.) befugt, den Kompetenzconflict zu erheben und andererſeits erſtreckt ſich die Rechtskraft der Urtheile einer zur Entſcheidung von Kompetenzconflicten eingeſetzten Behörde nur auf das Kompetenzverhältniß der Behörden des betreffenden Staates und iſt für die Gerichte und Verwaltungsbehörden eines anderen Staates unmaßgeblich. Dies Alles gilt auch dann, wenn das Reichsgericht zum Kompetenzconflicts-Gericht beſtellt iſt.

2. Der Grundſatz, daß die Gerichte über die Zuläſſigkeit des Rechtsweges entſcheiden, erſtreckt ſich nicht blos in materieller Rückſicht auf die Frage, wie weit das Gebiet der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit reicht, ſondern auch auf die formellen Vorbedingungen, von denen das Beſchreiten des Rechtsweges ab - hängig gemacht iſt. Soweit nicht in der Straf - und Civilprozeß - Ordnung reichsgeſetzlich Ausnahmen anerkannt ſind, darf die Rechts - verfolgung im Wege des Straf - und Civilprozeſſes nicht erſchwert oder verſagt und namentlich nicht von der Vorprüfung einer Ver - waltungsbehörde abhängig gemacht werden4)Es iſt dies nicht zu verwechſeln mit der Autoriſation zur Prozeßführung, welche untergeordnete Behörden oder die Verwaltungen von Gemeinden, Kor - porationen, Stiftungen u. ſ. w. einholen müſſen. Dieſes Erforderniß iſt ledig -. Jede Anordnung37§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.dieſer Art käme im praktiſchen Reſultat auf eine theilweiſe oder eventuelle Juſtizverweigerung hinaus und widerſpräche ſowohl dem allgemeinen Rechtsbewußtſein des Volkes als auch der ausdrück - lichen Vorſchrift der Reichsverfaſſung1)Reichsverf. Art. 77.. Deſſenungeachtet hat auch in dieſer Beziehung die Reichsgeſetzgebung eine Ausnahme gedul - det. Sie hat die landesgeſetzlichen Vorſchriften unberührt gelaſſen, durch welche die ſtrafrechtliche oder civilrechtliche Verfolgung öffent - licher Beamten wegen der in Ausübung oder in Veranlaſſung der Ausübung ihres Amtes vorgenommenen Handlungen entweder im Falle des Verlangens einer vorgeſetzten Behörde oder unbe - bedingt an die Vorentſcheidung einer beſonderen Behörde gebunden iſt2)Einführungsgeſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 11 Abſ. 2. Vgl. hierzu Hauſer a. a. O. S. 129 ff. u. Löwe, Strafprozeßordn. S. 14 ff.. Durch dieſe Vorentſcheidung iſt feſtzuſtellen, ob der Beamte ſich einer Ueberſchreitung ſeiner Amts - befugniſſe oder der Unterlaſſung einer ihm obliegenden Amtshand - lung ſchuldig gemacht habe. Fällt dieſe Vorentſcheidung im ver - neinenden Sinne aus, ſo iſt die Beſchreitung des Rechtsweges ſo - wohl im civilprozeſſualiſchen als im ſtrafprozeſſualiſchen Verfahren abgeſchnitten; fällt die Vorentſcheidung bejahend aus, ſo hat dies keine weitere Wirkung, als daß eine Vorbedingung für die Eröff - nung des Prozeſſes erfüllt iſt; für das in dieſem Prozeſſe urthei - lende Gericht iſt jene Vorentſcheidung nicht bindend. Um jedoch eine Bürgſchaft zu geben, daß die Vorentſcheidung nicht nach Will - kühr gefällt und zur Verſagung des Rechtsweges mißbraucht werde, hat das Reichsgeſetz die Vorſchrift ertheilt, daß in den Bundes - ſtaaten, in welchen ein oberſter Verwaltungsgerichtshof beſteht, die Vorentſcheidung dieſem, in den anderen Bundesſtaaten dem Reichs - gerichte zuſteht3)Einf. Geſ. z. Gerichtsverf. Geſ. §. 11 Ziff. 2. Die Vorſchriften des §. 11 cit. beruhen auf einem Kompromiß. In zweiter Leſung hat der Reichs - tag noch auf der Forderung beharrt, daß die civil - und ſtrafrechtl. Verfolgung der Beamten wegen Verletzung der Amtspflichten an keinerlei erſchwerende Vorausſetzungen geknüpft werde. Vgl. Stenogr. Berichte 1876 S. 373 ff. (Hahn S. 1447.). Die Kompetenz des Reichsgerichtes iſt in die - ſem Falle daher eine ſubſidiäre, nur in Ermangelung eines Ver -4)lich eine Folge des Dienſt-Aufſichtsrechts. Die Fortdauer der hierüber beſtehen - den Rechtsvorſchriften iſt anerkannt in der Civilproz. O. §. 50.38§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.waltungsgerichtshofes begründete; wenn dieſe Vorausſetzung aber gegeben iſt, ſo tritt die Kompetenz des Reichsgerichts kraft Ge - ſetzes ein, ohne daß es einer beſonderen kaiſerl. Verordnung be - darf, durch welche die Vorentſcheidung dem Reichsgericht zugewieſen wird1)Aus demſelben Grunde hört aber auch die Zuſtändigkeit des Reichsge - richts ipso jure auf, wenn in dem betreffenden Staate nachträglich ein Ver - waltungsgerichtshof errichtet wird..

Dieſe Zuſtändigkeit des Reichsgerichts iſt nur in Elſaß - Lothringen und Mecklenburg begründet, da in dieſen Staaten die Vorentſcheidung im Falle des Verlangens der vorgeſetzten Behörde erforderlich iſt2)Elſ. Lothr. Geſ. v. 4. Nov. 1878 §. 11. (Geſetzbl. f. Elſ. Lothr. S. 67), Mecklenb. Schwerin’ſche Verordn. v. 5. Mai 1879 (Reg. Bl. S. 101) und Meck - lenb. Strelitz’ſche Verordn. vom gleichen Tage. (Offiz. Anzeiger S. 137). Vgl. Löwe Note 3 u. 7 zu §. 11 cit. , oberſte Verwaltungsgerichtshöfe dagegen nicht beſtehen.

IV. Hinſichtlich der Frage, welche Perſonen der ordent - lichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, muß man zwiſchen dem prozeſſualiſchen und dem ſtaatsrechtlichen Ge - ſichtspunkt unterſcheiden. In der erſteren Beziehung handelt es ſich um den ſogenannten Gerichtsſtand d. h. um die Zuſtän - digkeit eines oder mehrerer beſtimmter Gerichte in einer concreten Prozeßſache, gleichſam um die Lokaliſirung und Vertheilung der Gerichtsbarkeit nach Rückſichten der Zweckmäßigkeit und Billigkeit auf die einzelnen Gerichte. Die Gerichtsbarkeit an ſich muß über Jemanden begründet ſein, ehe die Frage aufgeworfen werden kann, durch welche Gerichtsbehörde ſie verwirklicht wird. Mittelbar kön - nen aber die Vorſchriften der Prozeßordnungen über den Gerichts - ſtand zur Begränzung der Gerichtsbarkeit dienen; denn inſofern nach dieſen Vorſchriften kein einzelnes Gericht im concreten Falle eine Zuſtändigkeit hat, iſt die Gerichtsbarkeit ſelbſt ausgeſchloſſen. Daher kömmt den Regeln über den Gerichtsſtand mittelbar aller - dings eine ſtaatsrechtliche Bedeutung zu; insbeſondere auch eine internationale; denn ſie begränzen zugleich die inländiſche Gerichts - barkeit gegen die Gerichtsbarkeit der anderen Staaten. Dieſes mittelbare Intereſſe des Staatsrechts bietet aber keine ausreichende Rechtfertigung, um an dieſer Stelle näher auf die complicirte39§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.Lehre vom Gerichtsſtande einzugehen, die ſtets als ein Theil der Prozeßrechtswiſſenſchaft angeſehen und behandelt worden iſt.

Vom ſtaatsrechtlichen Geſichtspunkte aus iſt dagegen die Frage, welche Perſonen der ſtaatlichen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, identiſch mit der Frage, welche Perſonen der Staatsgewalt unterworfen ſind; denn die Gerichtsbarkeit als Ganzes iſt ja nichts Anderes als eine beſtimmte Aeußerung der Staatsgewalt. Nur iſt die Möglichkeit gegeben, daß der Staat auf die Ausübung dieſes Hoheitsrechts gewiſſen Perſonen gegenüber ganz oder zum Theil verzichtet, gegen die er andere Herrſchaftsrechte zur Geltung bringt, daß er ſie von ſeiner Gerichtsbarkeit eximirt.

Den Einzelſtaaten iſt dieſe Befugniß hinſicht - lich der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit entzogen; ſie dürfen keine Exemtionen ertheilen1)Hiervon macht nur der in §. 18 Abſ. 1 des G.V.G. erwähnte Fall eine Ausnahme. Siehe die folgende Anmerkung.. Der Kreis der Perſonen, welche der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, iſt durch das Reich feſtgeſtellt. Daſſelbe hat lediglich folgende Befreiungen anerkannt, welche theils auf völker - rechtlichen, theils auf ſtaatsrechtlichen Gründen beruhen.

1. Befreiungen aus Gründen des Völker - rechts.

a) Exterritorialität und in Folge derſelben vollſtändige Exem - tion von der ganzen inländiſchen Gerichtsbarkeit genießen die Chefs und Mitglieder der bei dem deutſchen Reiche beglaubigten Miſ - ſionen2)Gerichtsverf. Geſ. §. 18 Abſ. 1. Ausgenommen iſt nur der ſelten vor - kommende Fall, daß ſolche Perſonen reichsangehörig ſind; alsdann ſind ſie von der inländiſchen Gerichtsbarkeit nur dann befreit, wenn der Staat, dem ſie angehören, ſich der Gerichtsbarkeit über ſie begeben hat.. Daſſelbe gilt von ihren Familienmitgliedern, ihrem Ge - ſchäftsperſonal und von ſolchen Bedienſteten derſelben, welche nicht Deutſche ſind3)Gerichtsverf. Geſ. §. 19. Die Exterritorialität des Geſchäftsperſonals iſt eine unbedingte, die des Dienſtperſonals iſt auf Nichtdeutſche beſchränkt.. Die Exterritorialität erſtreckt ſich jedoch nicht auf den ausſchließlichen dinglichen Gerichtsſtand in bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten4)Gerichtsverf. Geſ. §. 20. Civilproz. O. §. 25..

Die im deutſchen Reiche angeſtellten Konſuln ſind von der40§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.inländiſchen Gerichtsbarkeit nur befreit, inſofern dies in Verträgen des deutſchen Reiches mit anderen Mächten vereinbart worden iſt1)Gerichtsverf. Geſ. §. 21. Der Staatsvertrag iſt daher auch für den Umfang der Befreiung von der inländiſchen Gerichtsbarkeit maßgebend..

b) Geſandte oder andere völkerrechtliche Vertreter auswärtiger Mächte, welche nicht bei dem Reich, ſondern nur bei einem Bun - desſtaate beglaubigt ſind, und ebenſo diplomatiſche Vertreter eines Bundesſtaates bei einem andern Bundesſtaate gelten nur dieſem Bundesſtaate gegenüber als exterritorial und ſind deshalb auch nur von der Gerichtsbarkeit dieſes Staates, nicht von derjeni - gen der übrigen Bundesſtaaten oder des Reiches eximirt2)Gerichtsverf. Geſ. §. 18 Abſ. 2.; ſie können daher bei allen Gerichten außerhalb des Bundesſtaates, bei welchem ſie beglaubigt ſind, im Wege des Civilprozeſſes und des Strafprozeſſes verfolgt werden, wofern nur ein Gerichtsſtand für ſie begründet iſt. Für die Exemtion in dem Bundesſtaat gel - ten im Uebrigen auch für dieſe Geſandtſchaften die in den §§. 19 und 20 des Gerichtsverf. -Geſ. aufgeſtellten Regeln.

c) Die Mitglieder des Bundesrathes haben gemäß Art. 10 der R.V. Anſpruch auf den üblichen diplomatiſchen Schutz, d. h. ſie ſind, ſoweit ſie nicht preußiſche Staatsangehörige ſind, der preußiſchen Staatsgewalt gegenüber exterritorial und wie Geſandte der deutſchen Bundesſtaaten beim König von Preußen anzuſehen3)Vgl. Bd. I. S. 240.. Demgemäß ſind ſie auch von der preußiſchen Gerichtsbarkeit in gleichem Umfange wie diplomatiſche Geſchäftsträger dieſer Art be - freit. Ihr allgemeiner Gerichtsſtand beſtimmt ſich nach §. 16 der Civilproz. -Ordnung und dem entſprechenden §. 11 der Strafproz. - Ordnung.

2. Befreiungen aus Gründen des Staatsrechts.

a) Aus dem Weſen des Monarchenrechts folgt, daß die Be - hörden des Staates gegen den Landesherrn und die Mit - glieder der landesherrlichen Familie keine ſtaatlichen Herrſchaftsrechte und Zwangsmittel zur Anwendung bringen können und daß es daher grundſätzlich eine Gerichtsbarkeit des Staates gegen den Souverain und ſeine Familie nicht gibt. Dies gilt aber nicht von den vermögensrechtlichen Verhältniſſen des Monarchen und ſeiner Familienglieder, indem das Vermögen von41§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.der Perſon getrennt gedacht und dem Landesherrn in ähnlicher Art gegenübergeſtellt wird wie der Fiskus dem Staat als öffent - lichrechtlicher Perſönlichkeit. Die vermögensrechtlichen Verhältniſſe ſtehen unter der allgemeinen Rechtsordnung und unterliegen auch hinſichtlich der Verfolgung von Rechtsanſprüchen im Allgemeinen dem ſonſt geltenden Recht. Indeß ſind hinſichtlich des Gerichts - ſtandes oder hinſichtlich der Zuſammenſetzung der zur Entſcheidung ſolcher Streitigkeiten berufenen Gerichtsbehörden in manchen Staaten beſondere Vorſchriften ergangen und es iſt bisweilen hin - ſichtlich der familienrechtlichen Verhältniſſe und Streitigkeiten die Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeſchloſſen. Dieſe Sonderſtellung der Landesherren und ihrer Familien hat die Reichsgeſetzgebung fortbeſtehen laſſen und ſie gemäß der bundesſtaatlichen Einigung der deutſchen Staaten nicht nur für jeden Landesherrn und ſeine Familie innerhalb ſeines Staatsgebietes ſondern im ganzen Bundes - gebiet zur Geltung gebracht. Soweit beſondere Vorſchriften in dieſer Richtung nicht beſtehen, kommt allerdings das allgemeine Recht zur Anwendung. Demgemäß iſt reichsgeſetzlich angeordnet, daß in Anſehung der Landesherren und der Mitglieder der landes - herrlichen Familien, ſowie der Mitglieder der fürſtlichen Familie Hohenzollern die Beſtimmungen des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes, der Strafprozeßordnung, der Civilprozeßordnung und der Konkurs - ordnung nur inſoweit Anwendung finden, als nicht beſondere Vor - ſchriften der Hausverfaſſungen oder der Landesgeſetze abweichende Beſtimmungen enthalten1)Einführungsgeſetze z. Gerichtsverf. Geſ. §. 5, zur Strafproc. Ordn. §. 4, zur Civilproz. O. §. 5, zur Konk. Ordn. §. 7.. Dieſe Reichsgeſetze haben daher in Anſehung der in Rede ſtehenden Perſonen nur ſubſidiäre Gel - tung und es folgt hieraus, daß nicht blos die zur Zeit der Ein - führung der Reichsgeſetze beſtehenden, ſondern auch die ſpäter er - laſſenen hausgeſetzlichen oder landesgeſetzlichen Vorſchriften den Vorrang vor den Reichsgeſetzen haben.

Aufgehoben iſt jedoch die in einigen Staaten2)Nach Angabe der Motive S. 210 (Hahn S. 184) Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Sachſen-Meiningen; nach den Ausführungen des Abg. Gaupp auch Württemberg. Protok. I. Leſ. S. 438 (Hahn S. 649). in Geltung geweſene Beſchränkung, wonach der Rechtsweg bei Klagen gegen den Landesherrn von der Einwilligung deſſelben abhängig war,42§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.für vermögensrechtliche Anſprüche Dritter d. h. nicht zur landesherrlichen Familie gehörender Perſonen1)Einf. Geſ. z. Civilproz. Ordn. §. 5..

b) Zu den Vorrechten, welche den mediatiſirten ehe - mals reichsſtändiſchen Familien bei Gründung des Rhein - bundes und des deutſchen Bundes eingeräumt worden ſind, ge - hörten auch Privilegien hinſichtlich des Gerichtsſtandes und Exem - tionen von der Gerichtsbarkeit. Mit den Veränderungen der Staats - und Gerichtsverfaſſung im Laufe des Jahrhunderts ſind dieſe Sonderrechte meiſtens aufgehoben oder gegenſtandslos geworden und die Reichsgeſetzgebung hat ſie für das Gebiet der ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit2)Nur für dieſe, nicht für Akte der ſogen. freiwilligen Gerichtsbarkeit, Erbesregulirungen, Vormundſchaftsſachen und andere Familienangelegenheiten u. ſ. w. vollends beſeitigt; nur einen Reſt derſelben hat ſie fortbeſtehen laſſen, nämlich das landesgeſetzlich den Standes - herren gewährte Recht auf Austräge 3)Einf. Geſ. zum Gerichtsverf. Geſ. §. 7.. Der Sinn dieſer An - ordnung iſt einigermaßen ſchwer zu verſtehen wegen der ſehr ſon - derbaren Bedeutung, in welchem das Wort Austräge hier ver - wendet iſt4)Die Kommentare zu der angeführten Geſetzesſtelle geben keine genügende Aufklärung.. Seinem wörtlichen und urſprünglichen Sinne nach bedeutet das Wort ein ſchiedsrichterliches Verfahren. In - ſofern nun ein ſolches auf einem für den einzelnen Streitfall unter den Parteien vereinbarten Vertrage beruht, iſt die Zulaſſung des - ſelben keine Exemtion von der Gerichtsbarkeit5)Siehe oben S. 26 ff. und kein Vorrecht eines beſtimmten Standes. Zur Zeit des ehemaligen Deutſchen Reiches hatten aber die reichsunmittelbaren Perſonen ein Recht darauf, daß Klagen, welche von Perſonen gleichen oder höheren Ranges gegen ſie angeſtrengt wurden, nicht vor Territorialgerichten oder Reichs-Untergerichten, ſondern vor einer geordneten Auſträgal - Inſtanz entſchieden wurden. In dieſer Geſtalt bedeutet das Recht auf Austräge eine Exemtion von der Reichs - und Territorial-Ge - richtsbarkeit. Der urſprüngliche Sinn des Inſtituts wurde jedoch inſoweit feſtgehalten, als Austräge nur bei Privatklagen zugelaſſen waren, dagegen in Kriminalſachen nicht ſtatt -43§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.fanden1)Vgl. die Darſtellung von Hermann Schulze. Einleitung in das Deutſche Staatsrecht §. 86.. Allein ein incorrecter Sprachgebrauch verallgemeinerte die Bedeutung des Wortes Austräge , ſo daß ſtatt des poſitiven Sinnes Schiedsgericht darunter jeder Ausſchluß der landesherr - lichen Gerichtsbarkeit verſtanden wurde und das Recht auf Aus - träge gleichbedeutend mit Befreiung von der Gerichtsbarkeit wurde. In dieſem incorrecten Sinne wurde das Wort verwendet von der Rheinbundsacte Art. 28, welche den Mediatiſirten in Kriminalſachen Pairsgerichte zuſicherte und dies in folgender Art ausdrückte: En matière criminelle les princes et comtes actuellement régnans et leurs héritiers jouiront des droits d’austrègues c’est à dire d’être jugés par leurs pairs etc. Dem entſprechend beſtimmt die Kgl. Baieriſche De - claration v. 1807 A. Ziff. 11:

In peinlichen Fällen, mit Ausnahme von Militair-Ver - brechen, genießen die ſubjicirten Fürſten und Grafen und ihre Erben das Recht einer Auſträgal-Inſtanz, nämlich durch Richter ihres Standes gerichtet zu werden.

Da die Deutſche Bundesacte von 1815 Art. XIV. beſtimmte, daß dieſe Baieriſche Verordn. v. 1807 in allen deutſchen Bundesſtaaten als Baſis und Norm bei Feſtſtellung des Rechts - zuſtandes der mittelbar gewordenen Fürſten, Grafen und Herren untergelegt werden ſollte, ſo wurde in mehreren deutſchen Staaten den Standesherren in Strafſachen ein Gericht von Standesgenoſſen gewährt2)Vgl. die Nachweiſungen bei Zachariä, Deutſches Staats - u. Bundes - recht. I. §. 98 Note 7 (3. Aufl. S. 526). und hierauf mißbräuchlich der Ausdruck Auſträgal - Inſtanz angewendet. So beſtimmt z. B. der durch die Preußiſche Ver - ordnung vom 12. Nov. 1855 §. 3 in Kraft erhaltene §. 17 der Inſtr. vom 30. Mai 1820: In peinlichen Sachen, mit Ausnahme der im Kgl. Dienſte begangenen Verbrechen, genießen die Häupter der ſtandesherrlichen Familien, ſofern ſie nicht den Gerichtsſtand eines Obergerichtes vorziehen, einen privilegirten Gerichtsſtand vor Austrägen. Auf dieſen beſonderen Gerichtsſtand vor Aus - trägen in Strafſachen nehmen die Motive des Regierungs-Entw. zum Einführungsgeſ. zum Gerichtsverfaſſungsgeſ. S. 212 (Hahn I S. 185) Bezug und in dieſem Sinne iſt §. 7 cit. zum Geſetz er -44§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.hoben worden1)Vgl. Protok. der Kommiſſion S. 441. (Hahn I. S. 651.). Hieraus folgt, daß in dem §. 7 der Ausdruck Austräge nicht in ſeiner eigentlichen und wörtlichen Bedeutung, ſondern in der ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts üblich gewordenen zu verſtehen iſt, und es ergeben ſich hieraus folgende Rechtsſätze:

α) In bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten ſind die Standes - herren von der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht befreit und ihre Austräge ſtehen unter den allgemeinen Regeln von Schiedsverträgen und dem ſchiedsrichterlichen Verfahren. (Civilproz. O. §§. 851 ff.)

β) In peinlichen Sachen ſind die Standesherren von der ordentlichen Gerichtsbarkeit befreit und mit dem Recht auf Aus - träge (Pairsgerichte) in demjenigen Umfange ausgeſtattet, in welchem ihnen dieſes Privilegium bei Einführung des Gerichts - verfaſſungsgeſetzes landesgeſetzlich gewährt war . Ein ſolches Vorrecht kann durch Landesgeſetz nicht mehr neu eingeführt oder ausgedehnt werden.

γ) Inſoweit hienach die Standesherren der ordentlichen ſtrei - tigen Gerichtsbarkeit unterworfen ſind, kömmt ihnen keinerlei privilegirter Gerichtsſtand, weder in bürgerlichen Rechtsſtrei - tigkeiten noch in Strafſachen, zu2)Vgl. Motive z. Gerichtsverf. Geſ. S. 57. (Hahn S. 66.).

V. So wenig die Einzelſtaaten befugt ſind, Befreiungen von der ordentlichen ſtreitigen Gerichtsbarkeit zu gewähren, ebenſowenig iſt es ihnen geſtattet, die letztere oder deren Ausübung zu verleihen oder unter irgend einem Rechtstitel zu übertragen. Die Ge - richte ſind Staatsgerichte3)Gerichtsverf. Geſ. §. 15.. Der Ausdruck Staats - gerichte ſteht hier nicht im Gegenſatz zu Reichsgerichten, über die das Gerichtsverfaſſungsgeſetz ſelbſt ja Beſtimmungen trifft, ſondern im Gegenſatz zu Privatgerichten. Hierdurch ſind alle in Deutſchland noch vorhanden geweſenen Reſte einer patrimonialen, communalen oder kirchlichen Gerichtsbarkeit4)Eine Ueberſicht über die durch das Gerichtsverfaſſungsgeſetz beſeitigten Reſte der Privatgerichtsbarkeit geben die Motive S. 47 ff. (Hahn S. 58 ff.) definitiv und voll - ſtändig beſeitigt und auch für die Zukunft iſt es den Staaten unter - ſagt, Rechte dieſer Art zu ertheilen5)Der reichsgeſetzlich ſanctionirte Grundſatz bezieht ſich aber nur auf die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.. Daſſelbe gilt von dem45§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.Präſentationsrecht für Anſtellungen bei den Gerichten, das ſich als ein Reſt der ehemaligen Privatgerichtsbarkeit vielfach, namentlich zu Gunſten der Standesherren, erhalten hatte. Demnach iſt die Anzahl der Subjekte, welchen die ordentliche ſtreitige Gerichtsbar - keit zuſteht, durch die im Art. 1 der Reichsverf. gegebene Auf - zählung der Staaten, zu denen noch das Reich ſelbſt nebſt dem Reichsland Elſaß-Lothringen hinzukommen, abſchließend begränzt1)Auch die Anſprüche des Hauſes Schönburg auf Ausübung eigener Gerichtsbarkeit wurden nicht anerkannt. Vgl. die Protokolle der Reichstags - kommiſſion I. Leſ. S. 130 ff. (Hahn S. 414 ff.) Stenogr. Berichte des Reichst. 1876 / 77 S. 207 ff. (Hahn S. 1166 ff.). Dagegen iſt es den Deutſchen Staaten unbenommen, unter ein - ander Verträge zu ſchließen, durch welche ein Staat die Gerichts - barkeit ganz oder zum Theil einem anderen Bundesſtaat oder auch dem Reich zur Ausübung überträgt. Es können unter den Staaten nach Analogie der Militärkonventionen2)Siehe Bd. III. 1. S. 26 ff. oder der Vereinbarungen über die Poſtverwaltung3)Vgl. Bd. II. S. 289 ff. auch Gerichtskonventionen ge - ſchloſſen werden. Insbeſondere können auch zwei oder mehrere Deutſche Staaten ſich zur gemeinſchaftlichen Ausübung der Gerichtsbarkeit vereinigen und zu dieſem Zwecke gemeinſchaftliche Gerichte beſtellen; es iſt dies in zahlreichen Fällen theils wegen der geographiſchen Lage theils wegen der Kleinheit der einzelnen Staatsgebiete geſchehen4)Vgl. Motive zum Gerichtsverf. Geſ. S. 31. (Hahn S. 47).. Demgemäß giebt es zwei Arten von Gerichtskonventionen; durch die einen wird die Ausübung der Gerichtsbarkeit in gewiſſem Umfange einem anderen Staate über - tragen, durch die anderen werden Gerichtsgemeinſchaften vereinbart.

Gerichtskonventionen der erſteren Art ſind lediglich zu Gunſten Preußens abgeſchloſſen worden. Die Gerichtsbarkeit im Fürſten - thum Waldeck5)Auf Grund des Vertrages v. 24. Nov. 1877 u. des Waldeck’ſchen Ge - ſetzes v. 1. September 1879 (Regierungsbl. S. 79). und den fürſtl. lippiſchen Enclaven Lipperode und Stift