PRIMS Full-text transcription (HTML)
Heinrich von Ofterdingen.
Ein nachgelaſſener Roman
Zwei Theile.
Berlin,1802.In derBuchhandlung der Realſchule.
[1]

Heinrich von Ofterdingen.

Erſter Theil. Die Erwartung.

A[2][3]

Zueignung.

Du haſt in mir den edeln Trieb er¬ regt
Tief ins Gemüth der weiten Welt zu ſchauen;
Mit deiner Hand ergriff mich ein Vertrauen,
Das ſicher mich durch alle Stürme trägt.
4
Mit Ahndungen haſt du das Kind ge¬ pflegt,
Und zogſt mit ihm durch fabelhafte Auen;
Haſt, als das Urbild zartgeſinnter Frauen,
Des Jünglings Herz zum höchſten Schwung bewegt.
Was feſſelt mich an irdiſche Beſchwer¬ den?
Iſt nicht mein Herz und Leben ewig Dein?
Und ſchirmt mich Deine Liebe nicht auf Erden?
Ich darf für Dich der edlen Kunſt mich weihn;
Denn Du, Geliebte, willſt die Muſe werden,
Und ſtiller Schutzgeiſt meiner Dichtung ſeyn.
5
In ewigen Verwandlungen begrüßt
Uns des Geſangs geheime Macht hie¬ nieden,
Dort ſegnet ſie das Land als ew'¬ ger Frieden,
Indeß ſie hier als Jugend uns um¬ fließt.
Sie iſt's, die Licht in unſre Augen gießt,
Die uns den Sinn für jede Kunſt beſchieden,
Und die das Herz der Frohen und der Müden
In trunkner Andacht wunderbar ge¬ nießt.
An ihrem vollen Buſen trank ich Leben;
Ich ward durch ſie zu allem, was ich bin,
Und durfte froh mein Angeſicht er¬ heben.
6
Noch ſchlummerte mein allerhöchſter Sinn;
Da ſah ich ſie als Engel zu mir ſchweben,
Und flog, erwacht, in ihrem Arm dahin.
[7]

Erſtes Kapitel.

Die Eltern lagen ſchon und ſchliefen, die Wanduhr ſchlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenſtern ſauſte der Wind; abwechſelnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf ſeinem Lager, und gedachte des Fremden und ſeiner Er¬ zählungen. Nicht die Schätze ſind es, die ein ſo unausſprechliches Verlangen in mir geweckt haben, ſagte er zu ſich ſelbſt; fern ab liegt mir alle Habſucht: aber die blaue8 Blume ſehn 'ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So iſt mir noch nie zu Muthe geweſen: es iſt, als hätt' ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeſchlummert; denn in der Welt, in der ich ſonſt lebte, wer hätte da ſich um Blumen bekümmert, und gar von einer ſo ſeltſamen Leidenſchaft für eine Blume hab 'ich damals nie gehört. Wo eigentlich nur der Fremde herkam? Keiner von uns hat je einen ähnlichen Men¬ ſchen geſehn; doch weiß ich nicht, warum nur ich von ſeinen Reden ſo ergriffen wor¬ den bin; die Andern haben ja das Nämliche gehört, und Keinem iſt ſo etwas begegnet. Daß ich auch nicht einmal von meinem wun¬ derlichen Zuſtande reden kann! Es iſt mir oft ſo entzückend wohl, und nur dann, wenn ich die Blume nicht recht gegenwärtig habe,9 befällt mich ſo ein tiefes, inniges Treiben: das kann und wird Keiner verſtehn. Ich glaubte, ich wäre wahnſinnig, wenn ich nicht ſo klar und hell ſähe und dächte, mir iſt ſeitdem alles viel bekannter. Ich hörte einſt von alten Zeiten reden; wie da die Thiere und Bäume und Felſen mit den Menſchen geſprochen hätten. Mir iſt grade ſo, als wollten ſie allaugenblicklich an¬ fangen, und als könnte ich es ihnen anſe¬ hen, was ſie mir ſagen wollten. Es muß noch viel Worte geben, die ich nicht weiß: wüßte ich mehr, ſo könnte ich viel beſſer al¬ les begreifen. Sonſt tanzte ich gern; jezt denke ich lieber nach der Muſik. Der Jüng¬ ling verlohr ſich allmählich in ſüßen Fanta¬ ſien und entſchlummerte. Da träumte ihm erſt von unabſehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wun¬10 derliche Thiere ſah er; er lebte mit mannich¬ faltigen Menſchen, bald im Kriege, in wil¬ dem Getümmel, in ſtillen Hütten. Er ge¬ rieth in Gefangenſchaft und die ſchmählichſte Noth. Alle Empfindungen ſtiegen bis zu ei¬ ner niegekannten Höhe in ihm. Er durch¬ lebte ein unendlich buntes Leben; ſtarb und kam wieder, liebte bis zur höchſten Leiden¬ ſchaft, und war dann wieder auf ewig von ſeiner Geliebten getrennt. Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung an¬ brach, wurde es ſtiller in ſeiner Seele, kla¬ rer und bleibender wurden die Bilder. Es kam ihm vor, als ginge er in einem dun¬ keln Walde allein. Nur ſelten ſchimmerte der Tag durch das grüne Netz. Bald kam er vor eine Felſenſchlucht, die bergan ſtieg. Er mußte über bemooſte Steine klettern, die ein ehemaliger Strom herunter geriſſen hat¬ te. Je höher er kam, deſto lichter wurde11 der Wald. Endlich gelangte er zu einer kleinen Wieſe, die am Hange des Berges lag. Hinter der Wieſe erhob ſich eine hohe Klippe, an deren Fuß er eine Öefnung er¬ blickte, die der Anfang eines in den Felſen gehauenen Ganges zu ſeyn ſchien. Der Gang führte ihn gemächlich eine Zeitlang eben fort, bis zu einer großen Weitung, aus der ihm ſchon von fern ein helles Licht ent¬ gegen glänzte. Wie er hineintrat, ward er einen mächtigen Strahl gewahr, der wie aus einem Springquell bis an die Decke des Gewölbes ſtieg, und oben in unzählige Fun¬ ken zerſtäubte, die ſich unten in einem gro¬ ßen Becken ſammelten; der Strahl glänzte wie entzündetes Gold; nicht das mindeſte Geräuſch war zu hören, eine heilige Stille umgab das herrliche Schauſpiel. Er näherte ſich dem Becken, das mit unendlichen Far¬ ben wogte und zitterte. Die Wände der12 Höhle waren mit dieſer Flüſſigkeit überzo¬ gen, die nicht heiß, ſondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von ſich warf. Er tauchte ſeine Hand in das Becken und benetzte ſeine Lip¬ pen. Es war, als durchdränge ihn ein gei¬ ſtiger Hauch, und er fühlte ſich innigſt ge¬ ſtärkt und erfriſcht. Ein unwiderſtehliches Verlangen ergriff ihn ſich zu baden, er ent¬ kleidete ſich und ſtieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflöſſe ihn eine Wolke des Abendroths; eine himmliſche Empfindung überſtrömte ſein Inneres; mit inniger Wol¬ luſt ſtrebten unzählbare Gedanken in ihm ſich zu vermiſchen; neue, niegeſehene Bilder entſtanden, die auch in einander floſſen und zu ſichtbaren Weſen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements ſchmiegte ſich wie ein zarter Buſen an ihn. Die Flut ſchien eine Auflöſung reizender Mädchen, die13 an dem Jünglinge ſich augenblicklich verkör¬ perten.

Berauſcht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt, ſchwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Bek¬ ken in den Felſen hineinfloß. Eine Art von ſüßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeſchreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand ſich auf einem weichen Raſen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinaus¬ quoll und ſich darin zu verzehren ſchien. Dunkelblaue Felſen mit bunten Adern erho¬ ben ſich in einiger Entfernung; das Tages¬ licht das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war ſchwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächſt an der Quelle ſtand, und ihn mit ihren breiten, glänzen¬14 den Blättern berührte. Rund um ſie her ſtanden unzählige Blumen von allen Farben, und der köſtlichſte Geruch erfüllte die Luft. Er ſah nichts als die blaue Blume, und be¬ trachtete ſie lange mit unnennbarer Zärtlich¬ keit. Endlich wollte er ſich ihr nähern, als ſie auf einmal ſich zu bewegen und zu ver¬ ändern anfing; die Blätter wurden glän¬ zender und ſchmiegten ſich an den wachſen¬ den Stengel, die Blume neigte ſich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten ei¬ nen blauen ausgebreiteten Kragen, in wel¬ chem ein zartes Geſicht ſchwebte. Sein ſü¬ ßes Staunen wuchs mit der ſonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme ſeiner Mutter weckte, und er ſich in der el¬ terlichen Stube fand, die ſchon die Morgen¬ ſonne vergoldete. Er war zu entzückt, um unwillig über dieſe Störung zu ſeyn; vielmehr bot er ſeiner Mutter freundlich guten Mor¬ gen und erwiederte ihre herzliche Umarmung.

15

Du Langſchläfer, ſagte der Vater, wie lange ſitze ich ſchon hier, und feile. Ich ha¬ be deinetwegen nichts hämmern dürfen; die Mutter wollte den lieben Sohn ſchlafen laſ¬ ſen. Aufs Frühſtück habe ich auch warten müſſen. Klüglich haſt du den Lehrſtand er¬ wählt, für den wir wachen und arbeiten. Indeß ein tüchtiger Gelehrter, wie ich mir habe ſagen laſſen, muß auch Nächte zu Hül¬ fe nehmen, um die großen Werke der weiſen Vorfahren zu ſtudiren. Lieber Vater, ant¬ wortete Heinrich, werdet nicht unwillig über meinen langen Schlaf, den ihr ſonſt nicht an mir gewohnt ſeid. Ich ſchlief erſt ſpät ein, und habe viele unruhige Träume ge¬ habt, bis zuletzt ein anmuthiger Traum mir erſchien, den ich lange nicht vergeſſen werde, und von dem mich dünkt, als ſey es mehr als bloßer Traum geweſen. Lieber Heinrich, ſprach die Mutter, du haſt dich gewiß auf16 den Rücken gelegt, oder beim Abendſegen fremde Gedanken gehabt. Du ſiehſt auch noch ganz wunderlich aus. und trink, daß du munter wirſt.

Die Mutter ging hinaus, der Vater ar¬ beitete emſig fort und ſagte: Träume ſind Schäume, mögen auch die hochgelahrten Herren davon denken, was ſie wollen, und du thuſt wohl, wenn du dein Gemüth von dergleichen unnützen und ſchädlichen Betrach¬ tungen abwendeſt. Die Zeiten ſind nicht mehr, wo zu den Träumen göttliche Geſichte ſich geſellten, und wir können und werden es nicht begreifen, wie es jenen auserwählten Männern, von denen die Bibel erzählt, zu Muthe geweſen iſt. Damals muß es eine andere Beſchaffenheit mit den Träumen ge¬ habt haben, ſo wie mit den menſchlichen Dingen.

In17

In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr Statt. Die alten Ge¬ ſchichten und Schriften ſind jetzt die einzigen Quellen, durch die uns eine Kenntniß von der überirdiſchen Welt, ſo weit wir ſie nö¬ thig haben, zu Theil wird; und ſtatt jener ausdrücklichen Offenbarungen redet jetzt der heilige Geiſt mittelbar durch den Verſtand kluger und wohlgeſinnter Männer und durch die Lebensweiſe und die Schickſale frommer Menſchen zu uns. Unſre heutigen Wunder¬ bilder haben mich nie ſonderlich erbaut, und ich habe nie jene großen Thaten geglaubt, die unſre Geiſtlichen davon erzählen. Indeß mag ſich daran erbauen, wer will, und ich hüte mich wohl jemanden in ſeinem Ver¬ trauen irre zu machen. Aber, lieber Vater, aus welchem Grunde ſeyd Ihr ſo den Träu¬ men entgegen, deren ſeltſame Verwandlun¬B18gen und leichte zarte Natur doch unſer Nachdenken gewißlich rege machen müſſen? Iſt nicht jeder, noch der verworrenſte Traum, eine ſonderliche Erſcheinung, die auch ohne noch an göttliche Schickung da¬ bey zu denken, ein bedeutſamer Riß in den geheimnißvollen Vorhang iſt, der mit tau¬ ſend Falten in unſer Inneres hereinfällt? In den weiſeſten Büchern findet man unzäh¬ lige Traumgeſchichten von glaubhaften Men¬ ſchen, und erinnert Euch nur noch des Traums, den uns neulich der ehrwürdige Hofkaplan erzählte, und der Euch ſelbſt ſo merkwürdig vorkam.

Aber, auch ohne dieſe Geſchichten, wenn Ihr zuerſt in Eurem Leben einen Traum hättet, wie würdet Ihr nicht erſtaunen, und Euch die Wunderbarkeit dieſer uns nur all¬ täglich gewordenen Begebenheit gewiß nicht abſtreiten laſſen! Mich dünkt der Traum19 eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freye Erholung der gebundenen Fantaſie, wo ſie alle Bilder des Lebens durcheinander wirft, und die beſtändige Ernſthaftigkeit des er¬ wachſenen Menſchen durch ein fröhliches Kinderſpiel unterbricht. Ohne die Träume würden wir gewiß früher alt, und ſo kann man den Traum, wenn auch nicht als un¬ mittelbar von oben gegeben, doch als eine göttliche Mitgabe, einen freundlichen Beglei¬ ter auf der Wallfahrt zum heiligen Grabe betrachten. Gewiß iſt der Traum, den ich heute Nacht träumte, kein unwirkſamer Zu¬ fall in meinem Leben geweſen, denn ich füh¬ le es, daß er in meine Seele wie ein weites Rad hineingreift, und ſie in mächtigem Schwunge forttreibt.

Der Vater lächelte freundlich und ſagte, indem er die Mutter, die eben hereintrat,20 anſah: Mutter, Heinrich kann die Stunde nicht verläugnen, durch die er in der Welt iſt. In ſeinen Reden kocht der feurige wäl¬ ſche Wein, den ich damals von Rom mitge¬ bracht hatte, und der unſern Hochzeitabend verherrlichte. Damals war ich auch noch ein andrer Kerl. Die ſüdliche Luft hatte mich aufgethaut, von Muth und Luſt floß ich über, und du warſt auch ein heißes köſt¬ liches Mädchen. Bey Deinem Vater gings damals herrlich zu; Spielleute und Sänger waren weit und breit herzugekommen, und lange war in Augsburg keine luſtigere Hochzeit gefeyert worden.

Ihr ſpracht vorhin von Träumen, ſagte die Mutter, weißt du wohl, daß du mir damals auch von einem Traume erzählteſt, den du in Rom gehabt hatteſt, und der dich zuerſt auf den Gedanken gebracht, zu uns nach Augsburg zu kommen, und um mich21 zu werben? Du erinnerſt mich eben zur rechten Zeit, ſagte der Alte; ich habe dieſen ſeltſamen Traum ganz vergeſſen, der mich damals lange genug beſchäftigte; aber eben er iſt mir ein Beweis deſſen, was ich von den Träumen geſagt habe. Es iſt unmög¬ lich einen geordneteren und helleren zu ha¬ ben; noch jetzt entſinne ich mich jedes Um¬ ſtandes ganz genau; und doch, was hat er bedeutet? Daß ich von dir träumte, und mich bald darauf von Sehnſucht ergriffen fühlte, dich zu beſitzen, war ganz natürlich: denn ich kannte dich ſchon. Dein freundli¬ ches holdes Weſen hatte mich gleich anfangs lebhaft gerührt, und nur die Luſt nach der Fremde hielt damals meinen Wunſch nach deinem Beſitz noch zurück. Um die Zeit des Traums war meine Neugierde ſchon ziemlich geſtillt, und nun konnte die Neigung leichter durchdringen.

22

Erzählt uns doch jenen ſeltſamen Traum, ſagte der Sohn. Ich war eines Abends, fing der Vater an, umhergeſtreift. Der Himmel war rein, und der Mond bekleidete die alten Säulen und Mauern mit ſeinem bleichen ſchauerlichen Lichte. Meine Geſellen gingen den Mädchen nach, und mich trieb das Heimweh und die Liebe ins Freye. Endlich ward ich durſtig und ging ins erſte beſte Landhaus hinein, um einen Trunk Wein oder Milch zu fordern. Ein alter Mann kam heraus, der mich wohl für ei¬ nen verdächtigen Beſuch halten mochte. Ich trug ihm mein Anliegen vor; und als er er¬ fuhr, daß ich ein Ausländer und ein Deut¬ ſcher ſey, lud er mich freundlich in die Stu¬ be und brachte eine Flaſche Wein. Er hieß mich niederſetzen, und fragte mich nach mei¬ nem Gewerbe. Die Stube war voll Bücher und Alterthümer. Wir geriethen in ein23 weitläuftiges Geſpräch; er erzählte mir viel von alten Zeiten, von Mahlern, Bild¬ hauern und Dichtern. Noch nie hatte ich ſo davon reden hören. Es war mir, als ſey ich in einer neuen Welt ans Land geſtiegen. Er wies mir Siegelſteine und andre alte Kunſtarbeiten; dann las er mir mit lebendi¬ gem Feuer herrliche Gedichte vor, und ſo vergieng die Zeit, wie ein Augenblick. Noch jetzt heitert mein Herz ſich auf, wenn ich mich des bunten Gewühls der wunderlichen Gedanken und Empfindungen erinnere, die mich in dieſer Nacht erfüllten. In den heidniſchen Zeiten war er, wie zu Hauſe, und ſehnte ſich mit unglaublicher Inbrunſt in dies graue Alterthum zurück. Endlich wies er mir eine Kammer an, wo ich den Reſt der Nacht zubringen könnte, weil es ſchon zu ſpät ſey, um noch zurückzukehren. Ich ſchlief bald, und da dünkte michs ich ſey24 in meiner Vaterſtadt und wanderte aus dem Thore. Es war, als müßte ich irgend wo¬ hin gehn, um etwas zu beſtellen, doch wu߬ te ich nicht wohin, und was ich verrichten ſolle. Ich ging nach dem Harze mit über¬ aus ſchnellen Schritten, und wohl war mir, als ſey es zur Hochzeit. Ich hielt mich nicht auf dem Wege, ſondern immer feldein durch Thal und Wald, und bald kam ich an ei¬ nen hohen Berg. Als ich oben war, ſah ich die goldne Aue vor mir, und überſchaute Thüringen weit und breit, alſo daß kein Berg in der Nähe umher mir die Ausſicht wehrte. Gegenüber lag der Harz mit ſeinen dunklen Bergen, und ich ſah unzählige Schlöſſer, Klöſter und Ortſchaften. Wie mir nun da recht wohl innerlich ward, fiel mir der alte Mann ein, bei dem ich ſchlief, und es gedäuchte mir, als ſey das vor ge¬ raumer Zeit geſchehn, daß ich bey ihm ge¬25 weſen ſey. Bald gewahrte ich eine Stiege, die in den Berg hinein ging, und ich machte mich hinunter. Nach langer Zeit kam ich in eine große Höhle, da ſaß ein Greis in einem langen Kleide vor einem eiſernen Tiſche, und ſchaute unverwandt nach einem wunder¬ ſchönen Mädchen, die in Marmor gehauen vor ihm ſtand. Sein Bart war durch den eiſernen Tiſch gewachſen und bedeckte ſeine Füße. Er ſah ernſt und freundlich aus, und gemahnte mich wie ein alter Kopf, den ich den Abend bey dem Manne geſehn hatte. Ein glänzendes Licht war in der Höhle ver¬ breitet. Wie ich ſo ſtand und den Greis anſah, klopfte mir plötzlich mein Wirth auf die Schulter, nahm mich bei der Hand und führte mich durch lange Gänge mit ſich fort. Nach einer Weile ſah ich von weitem eine Dämmerung, als wollte das Tageslicht ein¬ brechen. Ich eilte darauf zu, und befand26 mich bald auf einem grünen Plane; aber es ſchien mir alles ganz anders, als in Thürin¬ gen. Ungeheure Bäume mit großen glän¬ zenden Blättern verbreiteten weit umher Schatten. Die Luft war ſehr heiß und doch nicht drückend. Überall Quellen und Blu¬ men und unter allen Blumen gefiel mir Ei¬ ne ganz beſonders, und es kam mir vor, als neigten ſich die Andern gegen ſie.

Ach! liebſter Vater, ſagt mir doch, wel¬ che Farbe ſie hatte, rief der Sohn mit hef¬ tiger Bewegung.

Das entſinne ich mich nicht mehr, ſo ge¬ nau ich mir auch ſonſt alles eingeprägt habe.

War ſie nicht blau?

Es kann ſeyn, fuhr der Alte fort, ohne auf Heinrichs ſeltſame Heftigkeit Achtung zu geben. Soviel weiß ich nur noch, daß mir ganz unausſprechlich zu Muthe war, und ich27 mich lange nicht nach meinem Begleiter um¬ ſah. Wie ich mich endlich zu ihm wandte, bemerkte ich, daß er mich aufmerkſam be¬ trachtete und mir mit inniger Freude zulä¬ chelte. Auf welche Art ich von dieſem Orte wegkam, erinnere ich mir nicht mehr. Ich war wieder oben auf dem Berge. Mein Begleiter ſtand bey mir, und ſagte: du haſt das Wunder der Welt geſehn. Es ſteht bey dir, das glücklichſte Weſen auf der Welt und noch über das ein berühmter Mann zu werden. Nimm wohl in Acht, was ich dir ſage: wenn du am Tage Johannis gegen Abend wieder hieher kommſt, und Gott herzlich um das Verſtändniß dieſes Traumes bitteſt, ſo wird dir das höchſte irdiſche Loos zu Theil werden; dann gieb nur acht, auf ein blaues Blümchen, was du hier oben fin¬ den wirſt, brich es ab, und überlaß dich dann demüthig der himmliſchen Führung.

28

Ich war darauf im Traume unter den herr¬ lichſten Geſtalten und Menſchen, und unend¬ liche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöſt war meine Zunge, und was ich ſprach, klang wie Muſik. Darauf ward al¬ les wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich ſah deine Mutter mit freundlichem, ver¬ ſchämten Blick vor mir; ſie hielt ein glän¬ zendes Kind in den Armen, und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zuſehends wuchs, immer heller und glänzender ward, und ſich endlich mit blendendweißen Flügeln über uns erhob, uns beyde in ſeinen Arm nahm, und ſo hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüſſel mit dem ſauberſten Schnitzwerk ausſah. Dann erinne¬ re ich mir nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von29 heftiger Liebe bewegt. Ich nahm Abſchied von meinem gaſtfreyen Wirth, der mich bat, ihn oft wieder zu beſuchen, was ich ihm zu¬ ſagte, und auch Wort gehalten haben wür¬ de, wenn ich nicht bald darauf Rom verlaſ¬ ſen hätte, und ungeſtüm nach Augsburg ge¬ reiſt wäre.

30

Zweytes Kapitel.

Johannis war vorbei, die Mutter hatte längſt einmal nach Augsburg ins väterliche Haus kommen und dem Großvater den noch unbekannten lieben Enkel mitbringen ſollen. Einige gute Freunde des alten Ofterdingen, ein paar Kaufleute, mußten in Handelsge¬ ſchäften dahin reiſen. Da faßte die Mutter den Entſchluß, bey dieſer Gelegenheit jenen Wunſch auszuführen, und es lag ihr dieß um ſo mehr am Herzen, weil ſie ſeit einiger Zeit merkte, daß Heinrich weit ſtiller und in ſich gekehrter war, als ſonſt. Sie glaubte, er ſey mißmüthig oder krank, und eine weite Reiſe, der Anblick neuer Menſchen und Län¬ der, und wie ſie verſtohlen ahndete, die Rei¬ ze einer jungen Landsmännin würden die31 trübe Laune ihres Sohnes vertreiben, und wieder einen ſo theilnehmenden und lebens¬ frohen Menſchen aus ihm machen, wie er ſonſt geweſen. Der Alte willigte in den Plan der Mutter, und Heinrich war über die Maßen erfreut, in ein Land zu kommen, was er ſchon lange, nach den Erzählungen ſeiner Mutter und mancher Reiſenden, wie ein irdiſches Paradies ſich gedacht, und wo¬ hin er oft vergeblich ſich gewünſcht hatte.

Heinrich war eben zwanzig Jahr alt ge¬ worden. Er war nie über die umliegenden Gegenden ſeiner Vaterſtadt hinausgekom¬ men; die Welt war ihm nur aus Erzählun¬ gen bekannt. Wenig Bücher waren ihm zu Geſichte gekommen. Bey der Hofhaltung des Landgrafen ging es nach der Sitte der damaligen Zeiten einfach und ſtill zu; und die Pracht und Bequemlichkeit des fürſtli¬ chen Lebens dürfte ſich ſchwerlich mit den32 Annehmlichkeiten meſſen, die in ſpätern Zei¬ ten ein bemittelter Privatmann ſich und den Seinigen ohne Verſchwendung verſchaffen konnte. Dafür war aber der Sinn für die Geräthſchaften und Habſeeligkeiten, die der Menſch zum mannichfachen Dienſt ſeines Le¬ bens um ſich her verſammelt, deſto zarter und tiefer. Sie waren den Menſchen wer¬ ther und merkwürdiger. Zog ſchon das Ge¬ heimniß der Natur und die Entſtehung ihrer Körper den ahndenden Geiſt an: ſo erhöhte die ſeltnere Kunſt ihrer Bearbeitung die ro¬ mantiſche Ferne, aus der man ſie erhielt und die Heiligkeit ihres Alterthums, da ſie ſorgfältiger bewahrt, oft das Beſitzthum meh¬ rerer Nachkommenſchaften wurden, die Nei¬ gung zu dieſen ſtummen Gefährten des Le¬ bens. Oft wurden ſie zu dem Rang von geweihten Pfändern eines beſondern Segens und Schickſals erhoben, und das Wohlgan¬33ganzer Reiche und weitverbreiteter Familien hing an ihrer Erhaltung. Eine liebliche Armuth ſchmückte dieſe Zeiten mit einer ei¬ genthümlichen ernſten und unſchuldigen Ein¬ falt; und die ſparſam vertheilten Kleinodien glänzten deſto bedeutender in dieſer Dämme¬ rung, und erfüllten ein ſinniges Gemüth mit wunderbaren Erwartungen. Wenn es wahr iſt, daß erſt eine geſchickte Vertheilung von Licht, Farbe und Schatten die verborgene Herrlichkeit der ſichtbaren Welt offenbart, und ſich hier ein neues höheres Auge aufzu¬ thun ſcheint: ſo war damals überall eine ähnliche Vertheilung und Wirthſchaftlichkeit wahrzunehmen; da hingegen die neuere wohlhabendere Zeit das einförmige und un¬ bedeutendere Bild eines allgemeinen Tages darbietet. In allen Übergängen ſcheint, wie in einem Zwiſchenreiche, eine höhere, geiſtli¬ che Macht durchbrechen zu wollen; und wieC34auf der Oberfläche unſeres Wohnplatzes, die an unterirdiſchen und überirdiſchen Schätzen reichſten Gegenden in der Mitte zwiſchen den wilden, unwirthlichen Urgebirgen und den unermeßlichen Ebenen liegen, ſo hat ſich auch zwiſchen den rohen Zeiten der Barba¬ rey, und dein kunſtreichen, vielwiſſenden und begüterten Weltalter eine tiefſinnige und romantiſche Zeit niedergelaſſen, die unter ſchlichtem Kleide eine höhere Geſtalt ver¬ birgt. Wer wandelt nicht gern im Zwielich¬ te, wenn die Nacht am Lichte und das Licht an der Nacht in höhere Schatten und Far¬ ben zerbricht; und alſo vertiefen wir uns willig in die Jahre, wo Heinrich lebte und jetzt neuen Begebenheiten mit vollem Herzen entgegenging. Er nahm Abſchied von ſeinen Geſpielen und ſeinem Lehrer, dem alten weiſen Hofkaplan, der Heinrichs fruchtbare Anlagen kannte, und ihn mir ge¬35 rührtem Herzen und einem ſtillen Gebete entließ. Die Landgräfin war ſeine Pathin; er war oft auf der Wartburg bey ihr ge¬ weſen. Auch jetzt beurlaubte er ſich bey ſei¬ ner Beſchützerin. die ihm gute Lehren und ei¬ ne goldene Halskette verehrte, und mit freundlichen Äußerungen von ihm ſchied.

In wehmüthiger Stimmung verließ Hein¬ rich ſeinen Vater und ſeine Geburtsſtadt. Es ward ihm jetzt erſt deutlich, was Tren¬ nung ſey; die Vorſtellungen von der Reiſe waren nicht von dem ſonderbaren Gefühle begleitet geweſen, was er jetzt empfand, als zuerſt ſeine bisherige Welt von ihm geriſſen und er wie auf ein fremdes Ufer geſpült ward. Unendlich iſt die jugendliche Trauer bey dieſer erſten Erfahrung der Vergänglich¬ keit der irdiſchen Dinge, die dem unerfahr¬ nen Gemüth ſo nothwendig, und unentbehr¬ lich, ſo feſt verwachſen mit dem eigenthüm¬36 lichſten Daſeyn und ſo unveränderlich, wie dieſes, vorkommen müſſen. Eine erſte An¬ kündigung des Todes, bleibt die erſte Tren¬ nung unvergeßlich, und wird, nachdem ſie lange wie ein nächtliches Geſicht den Men¬ ſchen beängſtigt hat, endlich bey abnehmen¬ der Freude an den Erſcheinungen des Tages, und zunehmender Sehnſucht nach einer blei¬ benden ſichern Welt, zu einem freundlichen Wegweiſer und einer tröſtenden Bekannt¬ ſchaft. Die Nähe ſeiner Mutter tröſtete den Jüngling ſehr. Die alte Welt ſchien noch nicht ganz verlohren, und er umfaßte ſie mit verdoppelter Innigkeit. Es war früh am Tage, als die Reiſenden aus den Tho¬ ren von Eiſenach fortritten, und die Dämme¬ rung begünſtigte Heinrichs gerührte Stim¬ mung. Je heller es ward, deſto bemerkli¬ cher wurden ihm die neuen unbekannten Ge¬ genden; und als auf einer Anhöhe die ver¬37 laſſene Landſchaft von der aufgehenden Sonne auf einmal erleuchtet wurde, ſo fie¬ len dem überraſchten Jüngling alte Melo¬ dien ſeines Innern in den trüben Wechſel ſeiner Gedanken ein. Er ſah ſich an der Schwelle der Ferne, in die er oft vergebens von den nahen Bergen geſchaut, und die er ſich mit ſonderbaren Farben ausgemahlt hatte. Er war im Begriff, ſich in ihre blaue Flut zu tauchen. Die Wunderblume ſtand vor ihm, und er ſah nach Thüringen, wel¬ ches er jetzt hinter ſich ließ mit der ſeltſamen Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher ſie jetzt reiſten, in ſein Vater¬ land zurückkommen, und als reiſe er daher dieſem eigentlich zu. Die Geſellſchaft, die anfänglich aus ähnlichen Urſachen ſtill gewe¬ ſen war, fing nach gerade an aufzuwachen, und ſich mit allerhand Geſprächen und Er¬38 zählungen die Zeit zu verkürzen. Heinrichs Mutter glaubte ihren Sohn aus den Träu¬ mereien reißen zu müſſen, in denen ſie ihn verſunken ſah, und fing an ihm von ihrem Vaterlande zu erzählen, von dem Hauſe ih¬ res Vaters und dem frölichen Leben in Schwaben. Die Kaufleute ſtimmten mit ein, und bekräftigten die mütterlichen Erzählun¬ gen, rühmten die Gaſtfreyheit des alten Schwaning, und konnten nicht aufhören, die ſchönen Landsmänninnen ihrer Reiſege¬ fährtin zu preiſen. Ihr thut wohl, ſagten ſie, daß ihr euren Sohn dorthin führt. Die Sitten eures Vaterlandes ſind milder und gefälliger. Die Menſchen wiſſen das Nütz¬ liche zu befördern, ohne das Angenehme zu verachten. Jedermann ſucht ſeine Bedürf¬ niſſe auf eine geſellige und reitzende Art zu befriedigen. Der Kaufmann befindet ſich wohl dabey, und wird geehrt. Die Künſte39 und Handwerke vermehren und veredeln ſich, den Fleißigen dünkt die Arbeit leichter, weil ſie ihm zu mannichfachen Annehmlichkeiten verhilft, und er, indem er eine einförmige Mühe übernimmt, ſicher iſt, die bunten Früchte mannichfacher und belohnender Be¬ ſchäftigungen dafür mitzugenießen. Geld, Thätigkeit und Waaren erzeugen ſich gegen¬ ſeitig, und treiben ſich in raſchen Kreiſen, und das Land und die Städte blühen auf. Je eifriger der Erwerbfleiß die Tage benutzt, deſto ausſchließlicher iſt der Abend, den reit¬ zenden Vergnügungen der ſchönen Künſte und des geſelligen Umgangs gewidmet. Das Gemüth ſehnt ſich nach Erholung und Ab¬ wechſelung, und wo ſollte es dieſe auf eine anſtändigere und reitzendere Art finden, als in der Beſchäftigung mit den freyen Spie¬ len und Erzeugniſſen ſeiner edelſten Kraft, des bildenden Tiefſinns. Nirgends hört40 man ſo anmuthige Sänger, findet ſo herrli¬ che Mahler, und nirgends ſieht man auf den Tanzſälen leichtere Bewegungen und liebli¬ chere Geſtalten. Die Nachbarſchaft von Wälſchland zeigt ſich in dem ungezwungenen Betragen und den einnehmenden Geſprächen. Euer Geſchlecht darf die Geſellſchaften ſchmücken, und ohne Furcht vor Nachrede mit holdſeligem Bezeigen einen lebhaften Wetteifer, ſeine Aufmerkſamkeit zu feſſeln, erregen. Die rauhe Ernſthaftigkeit und die wilde Ausgelaſſenheit der Männer macht ei¬ ner milden Lebendigkeit und ſanfter beſcheid¬ ner Freude Platz, und die Liebe wird in tau¬ ſendfachen Geſtalten der[r]eitende Geiſt der glücklichen Geſellſchaften. Weit entfernt, daß Ausſchweifungen und unziemende Grundſätze dadurch ſollten herbeygelockt werden, ſcheint es, als flöhen die böſen Geiſter die Nähe der Anmuth, und gewiß ſind in ganz Deutſch¬41 land keine unbeſcholtenere Mädchen und kei¬ ne treuere Frauen, als in Schwaben.

Ja junger Freund, in der klaren war¬ men Luft des ſüdlichen Deutſchlands werdet ihr eure ernſte Schüchternheit wohl ablegen; die frölichen Mädchen werden euch wohl ge¬ ſchmeidig und geſprächig machen. Schon euer Name, als Fremder, und eure nahe Verwandtſchaft mit dem alten Schwaning, der die Freude jeder frölichen Geſellſchaft iſt, werden die reitzenden Augen der Mädchen auf ſich ziehn; und wenn ihr eurem Gro߬ vater folgt, ſo werdet ihr gewiß unſrer Va¬ terſtadt eine ähnliche Zierde in einer holdſe¬ ligen Frau mitbringen, wie euer Vater. Mit freundlichem Erröthen dankte Heinrichs Mutter für das ſchöne Lob ihres Vaterlan¬ des, und die gute Meynung von ihren Lands¬ männinnen, und der gedankenvolle Heinrich hatte nicht umhin gekonnt, aufmerkſam und42 mit innigem Wohlgefallen der Schilderung des Landes, deſſen Anblick ihm bevorſtand, zuzuhören. Wenn ihr auch fuhren die Kauf¬ leute fort, die Kunſt eures Vaters nicht er¬ greifen, und lieber, wie wir gehört haben, euch mit gelehrten Dingen befaſſen wollt: ſo braucht ihr nicht Geiſtlicher zu werden, und Verzicht auf die ſchönſten Genüſſe dieſes Le¬ bens zu leiſten. Es iſt eben ſchlimm genug, daß die Wiſſenſchaften in den Händen eines ſo von dem weltlichen Leben abgeſonderten Standes, und die Fürſten von ſo ungeſelligen und wahrhaft unerfahrenen Männern berathen ſind. In der Einſamkeit in welcher ſie nicht ſelbſt Theil an den Weltgeſchäften nehmen, müſſen ihre Gedanken eine unnütze Wendung erhalten, und können nicht auf die wirklichen Vorfälle paſſen. In Schwaben trefft ihr auch wahrhaft kluge und erfahrne Männer unter den Layen; und ihr mögt nun wählen,43 welchen Zweig menſchlicher Kenntniſſe ihr wollt: ſo wird es euch nicht an den beſten Lehrern und Rathgebern fehlen. Nach einer Weile ſagte Heinrich, dem bey dieſer Rede ſein Freund der Hofkaplan in den Sinn ge¬ kommen war: Wenn ich bey meiner Unkun¬ de von der Beſchaffenheit der Welt Euch auch eben nicht abfällig ſeyn kann, in dem was ihr von der Unfähigkeit der Geiſtlichen zu Führung und Beurtheilung weltlicher An¬ gelegenheiten behauptet: ſo iſt mirs doch wohl erlaubt, euch an unſern trefflichen Hof¬ kaplan zu erinnern, der gewiß ein Muſter eines weiſen Mannes iſt, und deſſen Lehren und Rathſchläge mir unvergeſſen ſeyn wer¬ den.

Wir ehren, erwiederten die Kaufleute, dieſen trefflichen Mann von ganzem Herzen; aber dennoch können wir nur in ſofern eurer Meinung Beyfall geben, daß er ein weiſer44 Mann ſey, wenn ihr von jener Weisheit ſprecht, die einen Gott wohlgefälligen Le¬ benswandel angeht. Haltet ihr ihn für eben ſo weltklug, als er in den Sachen des Heils geübt und unterrichtet iſt: ſo erlaubt uns, daß wir euch nicht beyſtimmen. Doch glau¬ ben wir, daß dadurch der heilige Mann nichts von ſeinem verdienten Lobe verliert; da er viel zu vertieft in der Kunde der über¬ irdiſchen Welt iſt, als daß er nach Einſicht und Anſehn in irdiſchen Dingen ſtreben ſollte.

Aber, ſagte Heinrich, ſollte nicht jene hö¬ here Kunde ebenfalls geſchickt machen, recht unpartheiiſch den Zügel menſchlicher Angele¬ legenheiten zu führen? ſollte nicht jene kind¬ liche unbefangene Einfalt ſicherer den richti¬ gen Weg durch das Labyrinth der hieſigen Begebenheiten treffen, als die durch Rück¬ ſicht auf eigenen Vortheil irregeleitete und gehemmte, von der unerſchöpflichen Zahl45 neuer Zufälle und Verwickelungen geblende¬ te Klugheit? Ich weiß nicht, aber mich dünkt, ich ſähe zwey Wege um zur Wiſſen¬ ſchaft der menſchlichen Geſchichte zu gelan¬ gen. Der eine, mühſam und unabſehlich, mit unzähligen Krümmungen, der Weg der Erfahrung; der Andere, faſt Ein Sprung nur, der Weg der innern Betrachtung. Der Wanderer des erſten muß eins aus dem an¬ dern in einer langwierigen Rechnung finden, wenn der andere die Natur jeder Begeben¬ heit und jeder Sache gleich unmittelbar an¬ ſchaut, und ſie in ihrem lebendigen, man¬ nichfaltigen Zuſammenhange betrachten, und leicht mit allen übrigen, wie Figuren auf ei¬ ner Tafel, vergleichen kann. Ihr müßt ver¬ zeihen, wenn ich wie aus kindiſchen Träu¬ men vor euch rede; nur das Zutrauen zu eu¬ rer Güte und das Andenken meines Lehrers, der den zweyten Weg mir als ſeine eignen46 von weitem gezeigt hat, machte mich ſo dreiſt.

Wir geſtehen Euch gern, ſagten die gut¬ müthigen Kaufleute, daß wir eurem Gedan¬ kengange nicht zu folgen vermögen: doch freut es uns, daß ihr ſo warm euch des trefflichen Lehrers erinnert, und ſeinen Unter¬ richt wohl gefaßt zu haben ſcheint.

Es dünkt uns, ihr habt Anlage zum Dichter. Ihr ſprecht ſo geläufig von den Erſcheinungen eures Gemüths, und es fehlt Euch nicht an gewählten Ausdrücken und paſſenden Vergleichungen. Auch neigt Ihr Euch zum Wunderbaren, als dem Elemente der Dichter.

Ich weiß nicht, ſagte Heinrich, wie es kommt. Schon oft habe ich von Dichtern und Sängern ſprechen gehört, und habe noch nie einen geſehn. Ja, ich kann mir nicht einmal einen Begriff von ihrer ſon¬47 derbaren Kunſt machen, und doch habe ich eine große Sehnſucht davon zu hören. Es iſt mir, als würde ich manches beſſer ver¬ ſtehen, was jetzt nur dunkle Ahndung in mir iſt. Von Gedichten iſt oft erzählt worden, aber nie habe ich eins zu ſehen bekommen, und mein Lehrer hat nie Gelegenheit gehabt Kenntniſſe von dieſer Kunſt einzuziehn. Al¬ les, was er mir davon geſagt, habe ich nicht deutlich begreifen können. Doch meynte er immer, es ſey eine edle Kunſt, der ich mich ganz ergeben würde, wenn ich ſie einmal kennen lernte. In alten Zeiten ſey ſie weit gemeiner geweſen, und habe jedermann einige Wiſſenſchaft davon gehabt, jedoch Einer vor dem Andern. Sie ſey noch mit andern ver¬ lohrengegangenen herrlichen Künſten verſchwi¬ ſtert geweſen. Die Sänger hätte göttliche Gunſt hoch geehrt, ſo daß ſie begeiſtert durch unſichtbaren Umgang, himmliſche Weisheit48 auf Erden in lieblichen Tönen verkündigen können.

Die Kaufleute ſagten darauf: Wir ha¬ ben uns freylich nie um die Geheimniſſe der Dichter bekümmert, wenn wir gleich mit Ver¬ gnügen ihrem Geſange zugehört. Es mag wohl wahr ſeyn, daß eine beſondere Geſtir¬ nung dazu gehört, wenn ein Dichter zur Welt kommen ſoll; denn es iſt gewiß eine recht wunderbare Sache mit dieſer Kunſt. Auch ſind die andern Künſte gar ſehr davon un¬ terſchieden, und laſſen ſich weit eher begrei¬ fen. Bey den Mahlern und Tonkünſtlern kann man leicht einſehn, wie es zugeht, und mit Fleiß und Geduld läßt ſich beydes ler¬ nen. Die Töne liegen ſchon in den Saiten, und es gehört nur eine Fertigkeit dazu, dieſe zu bewegen um jene in einer reitzenden Fol¬ ge aufzuwecken. Bey den Bildern iſt die Natur die herrlichſte Lehrmeiſterin. Sie er¬zeugt49zeugt unzählige ſchöne und wunderliche Fi¬ guren, giebt die Farben, das Licht und den Schatten, und ſo kann eine geübte Hand, ein richtiges Auge, und die Kenntniß von der Bereitung und Vermiſchung der Farben, die Natur auf das vollkommenſte nachahmen. Wie natürlich iſt daher auch die Wirkung dieſer Künſte, das Wohlgefallen an ihren Werken, zu begreifen. Der Geſang der Nachtigall, das Sauſen des Windes, und die herrlichen Lichter, Farben und Geſtalten gefallen uns, weil ſie unſere Sinne ange¬ nehm beſchäftigen; und da unſere Sinne da¬ zu von der Natur, die auch jenes hervor¬ bringt, ſo eingerichtet ſind, ſo muß uns auch die künſtliche Nachahmung der Natur gefal¬ len. Die Natur will ſelbſt auch einen Ge¬ nuß von ihrer großen Künſtlichkeit haben, und darum hat ſie ſich in Menſchen verwan¬ delt, wo ſie nun ſelber ſich über ihre Herr¬D50lichkeit freut, das Angenehme und Liebliche von den Dingen abſondert, und es auf ſolche Art allein hervorbringt, daß ſie es auf man¬ nichfaltigere Weiſe, und zu allen Zeiten und allen Orten haben und genießen kann. Da¬ gegen iſt von der Dichkunſt ſonſt nirgends äußerlich etwas anzutreffen. Auch ſchafft ſie nichts mit Werkzeugen und Händen; das Auge und das Ohr vernehmen nichts davon: denn das bloße Hören der Worte iſt nicht die eigentliche Wirkung dieſer geheimen Kunſt. Es iſt alles innerlich, und wie jene Künſtler die äußern Sinne mit angenehmen Empfindungen erfüllen, ſo erfüllt der Dichter das inwendige Heiligthum des Gemüths mit neuen, wunderbaren und gefälligen Gedan¬ ken. Er weiß jene geheimen Kräfte in uns nach Belieben zu erregen, und giebt uns durch Worte eine unbekannte herrliche Welt zu vernehmen. Wie aus tiefen Höhlen ſtei¬51 gen alte und künftige Zeiten, unzählige Menſchen, wunderbare Gegenden, und die ſeltſamſten Begebenheiten in uns herauf, und entreißen uns der bekannten Gegenwart. Man hört fremde Worte und weiß doch, was ſie bedeuten ſollen. Eine magiſche Ge¬ walt üben die Sprüche des Dichters aus; auch die gewöhnlichen Worte kommen in rei¬ zenden Klängen vor, und berauſchen die feſt¬ gebannten Zuhörer.

Ihr verwandelt meine Neugierde in hei¬ ße Ungeduld, ſagte Heinrich. Ich bitte euch, erzählt mir von allen Sängern, die ihr ge¬ hört habt. Ich kann nicht genug von dieſen beſondern Menſchen hören. Mir iſt auf ein¬ mal, als hätte ich irgendwo ſchon davon in meiner tiefſten Jugend reden hören, doch kann ich mich ſchlechterdings nichts mehr da¬ von entſinnen. Aber mir iſt das, was ihr ſagt, ſo klar, ſo bekannt, und ihr macht mir52 ein außerordentliches Vergnügen mit euren ſchönen Beſchreibungen.

Wir erinnern uns ſelbſt gern, fuhren die Kaufleute fort, mancher frohen Stunden, die wir in Welſchland, Frankreich und Schwa¬ ben in der Geſellſchaft von Sängern zuge¬ bracht haben, und freuen uns, daß ihr ſo lebhaften Antheil an unſern Reden nehmet. Wenn man ſo in Gebirgen reiſt, ſpricht es ſich mit doppelter Annehmlichkeit, und die Zeit vergeht ſpielend. Vielleicht ergötzt es euch einige artige Geſchichten von Dichtern zu hören, die wir auf unſern Reiſen erfuh¬ ren. Von den Geſängen ſelbſt, die wir ge¬ hört haben, können wir wenig ſagen, da die Freude und der Rauſch des Augenblicks das Gedächtniß hindert viel zu behalten, und die unaufhörlichen Handelsgeſchäfte manches An¬ denken auch wieder verwiſcht haben.

In alten Zeiten muß die ganze Natur53 lebendiger und ſinnvoller geweſen ſeyn, als heut zu Tage. Wirkungen, die jetzt kaum noch die Thiere zu bemerken ſcheinen, und die Menſchen eigentlich allein noch empfin¬ den und genießen, bewegten damals lebloſe Körper; und ſo war es möglich, daß kunſt¬ reiche Menſchen allein Dinge möglich mach¬ ten und Erſcheinungen hervorbrachten, die uns jetzt völlig unglaublich und fabelhaft dünken. So ſollen vor uralten Zeiten in den Ländern des jetzigen Griechiſchen Kaiſer¬ thums, wie uns Reiſende berichtet, die dieſe Sagen noch dort unter dem gemeinen Volke angetroffen haben, Dichter geweſen ſeyn, die durch den ſeltſamen Klang wunderbarer Werkzeuge das geheime Leben der Wälder, die in den Stämmen verborgenen Geiſter aufgeweckt, in wüſten, verödeten Gegenden den todten Pflanzenſaamen erregt, und blüh¬ ende Gärten hervorgerufen, grauſame Thiere54 gezähmt und verwilderte Menſchen zu Ord¬ nung und Sitte gewöhnt, ſanfte Neigungen und Künſte des Friedens in ihnen rege ge¬ macht, reißende Flüſſe in milde Gewäſſer verwandelt, und ſelbſt die todteſten Steine in regelmäßige tanzende Bewegungen hingeriſ¬ ſen haben. Sie ſollen zugleich Wahrſager und Prieſter, Geſetzgeber und Ärzte geweſen ſeyn, indem ſelbſt die höhern Weſen durch ihre zauberiſche Kunſt herabgezogen worden ſind, und ſie in den Geheimniſſen der Zu¬ kunft unterrichtet, das Ebenmaß und die na¬ türliche Einrichtung aller Dinge, auch die in¬ nern Tugenden und Heilkräfte der Zahlen, Gewächſe und aller Kreaturen, ihnen offen¬ bart. Seitdem ſollen, wie die Sage lautet, erſt die mannichfaltigen Töne und die ſon¬ derbaren Sympathien und Ordnungen in die Natur gekommen ſeyn, indem vorher alles wild, unordentlich und feindſelig geweſen iſt. 55Seltſam iſt nur hiebey, daß zwar dieſe ſchö¬ nen Spuren, zum Andenken der Gegenwart jener wohlthätigen Menſchen, geblieben ſind, aber entweder ihre Kunſt, oder jene zarte Gefühligkeit der Natur verlohren gegangen iſt. In dieſen Zeiten hat es ſich unter an¬ dern einmal zugetragen, daß einer jener ſon¬ derbaren Dichter oder mehr Tonkünſtler wiewohl die Muſik und Poeſie wohl ziemlich eins ſeyn mögen und vielleicht eben ſo zu¬ ſammen gehören, wie Mund und Ohr, da der erſte nur ein bewegliches und antworten¬ des Ohr iſt daß alſo dieſer Tonkünſtler übers Meer in ein fremdes Land reiſen wollte. Er war reich an ſchönen Kleinodien und köſtlichen Dingen, die ihm aus Dankbarkeit verehrt worden waren. Er fand ein Schiff am Ufer, und die Leute darinn ſchienen bereitwillig, ihn für den verheißenen Lohn nach der ver¬ langten Gegend zu fahren. Der Glanz und56 die Zierlichkeit ſeiner Schätze reizten aber bald ihre Habſucht ſo ſehr, daß ſie unter ein¬ ander verabredeten, ſich ſeiner zu bemächti¬ gen, ihn ins Meer zu werfen, und nachher ſeine Habe unter einander zu vertheilen. Wie ſie alſo mitten im Meere waren, fielen ſie über ihn her, und ſagten ihm, daß er ſter¬ ben müſſe, weil ſie beſchloſſen hätten, ihn ins Meer zu werfen. Er bat ſie auf die rührendſte Weiſe um ſein Leben, bot ihnen ſeine Schätze zum Löſegeld an, und prophe¬ zeyte ihnen großes Unglück, wenn ſie ihren Vorſatz ausführen würden. Aber weder das eine, noch das andere konnte ſie bewegen: denn ſie fürchteten ſich, daß er ihre bösliche That einmal verrathen möchte. Da er ſie nun einmal ſo feſt entſchloſſen ſah, bat er ſie ihm wenigſtens zu erlauben, daß er noch vor ſeinem Ende ſeinen Schwanengeſang ſpielen dürfe, dann wolle er mit ſeinem ſchlichten57 hölzernen Inſtrumente, vor ihren Augen frey¬ willig ins Meer ſpringen. Sie wußten recht wohl, daß wenn ſie ſeinen Zaubergeſang hör¬ ten, ihre Herzen erweicht, und ſie von Reue er¬ griffen werden würden; daher nahmen ſie ſich vor, ihm zwar dieſe letzte Bitte zu gewähren, während des Geſanges aber ſich die Ohren feſt zu verſtopfen, daß ſie nichts davon ver¬ nähmen, und ſo bey ihrem Vorhaben bleiben könnten. Dies geſchah. Der Sänger ſtimm¬ te einen herrlichen, unendlich rührenden Ge¬ ſang an. Das ganze Schiff tönte mit, die Wellen klangen, die Sonne und die Geſtirne erſchienen zugleich am Himmel, und aus den grünen Fluten tauchten tanzende Schaaren von Fiſchen und Meerungeheuern hervor. Die Schiffer ſtanden feindſelig allein mit feſt¬ verſtopften Ohren, und warteten voll Unge¬ duld auf das Ende des Liedes. Bald war es vorüber. Da ſprang der Sänger mit hei¬58 trer Stirn in den dunkeln Abgrund hin, ſein wunderthätiges Werkzeug im Arm. Er hat¬ te kaum die glänzenden Wogen berührt, ſo hob ſich der breite Rücken eines dankbaren Unthiers unter ihm hervor, und es ſchwamm ſchnell mit dem erſtaunten Sänger davon. Nach kurzer Zeit hatte es mit ihm die Küſte erreicht, nach der er hingewollt hatte, und ſetzte ihn ſanft im Schilfe nieder. Der Dich¬ ter ſang ſeinem Retter ein frohes Lied, und ging dankbar von dannen. Nach einiger Zeit ging er einmal am Ufer des Meers al¬ lein, und klagte in ſüßen Tönen über ſeine verlohrenen Kleinode, die ihm, als Erinne¬ rungen glücklicher Stunden und als Zeichen der Liebe und Dankbarkeit ſo werth gewe¬ weſen waren. Indem er ſo ſang, kam plöz¬ lich ſein alter Freund im Meere fröhlich da¬ her gerauſcht, und ließ aus ſeinem Rachen die geraubten Schätze auf den Sand fallen. 59Die Schiffer hatten, nach des Sängers Sprunge, ſich ſogleich in ſeine Hinterlaſſen¬ ſchaft zu theilen angefangen. Bey dieſer Theilung war Streit unter ihnen entſtanden, und hatte ſich in einen mörderiſchen Kampf geendigt, der den Meiſten das Leben geko¬ ſtet; die wenigen, die überig geblieben, hat¬ ten allein das Schiff nicht regieren können, und es war bald auf den Strand gerathen, wo es ſcheiterte und unterging. Sie brach¬ ten mit genauer Noth das Leben davon, und kamen mit leeren Händen und zerriſſe¬ nen Kleidern ans Land, und ſo kehrten durch die Hülfe des dankbaren Meerthiers, das die Schätze im Meere aufſuchte, dieſelben in die Hände ihres alten Beſitzers zurück.

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Drittes Kapitel.

Eine andere Geſchichte, fuhren die Kaufleu¬ te nach einer Pauſe fort, die freylich nicht ſo wunderbar und auch aus ſpätern Zeiten iſt, wird euch vielleicht doch gefallen, und euch mit den Wirkungen jener wunderbaren Kunſt noch bekannter machen. Ein alter König hielt einen glänzenden Hof. Weit und breit ſtrömten Menſchen herzu, um Theil an der Herrlichkeit ſeines Lebens zu haben, und es gebrach weder den täglichen Feſten an Über¬ fluß köſtlicher Waaren des Gaumes, noch an Muſik, prächtigen Verzierungen und Trach¬ ten, und tauſend abwechſelnden Schauſpielen und Zeitvertreiben, noch endlich an ſinnrei¬ cher Anordnung, an klugen, gefälligen, und unterrichteten Männern zur Unterhaltung61 und Beſeelung der Geſpräche, und an ſchö¬ ner, anmuthiger Jugend von beyden Ge¬ ſchlechtern, die die eigentliche Seele reitzender Feſte ausmachen. Der alte König, der ſonſt ein ſtrenger und ernſter Mann war, hatte zwey Neigungen, die der wahre Anlaß dieſer prächtigen Hofhaltung waren, und denen ſie ihre ſchöne Einrichtung zu danken hatte. Eine war die Zärtlichkeit für ſeine Tochter, die ihm als Andenken ſeiner früh verſtorbe¬ nen Gemahlin und als ein unausſprechlich liebenswürdiges Mädchen unendlich theuer war, und für die er gern alle Schätze der Natur und alle Macht des menſchlichen Gei¬ ſtes aufgeboten hätte, um ihr einen Himmel auf Erden zu verſchaffen. Die Andere war eine wahre Leidenſchaft für die Dichtkunſt und ihre Meiſter. Er hatte von Jugend auf die Werke der Dichter mit innigem Ver¬ gnügen geleſen; an ihre Sammlung aus al¬62 len Sprachen großen Fleiß und große Sum¬ men gewendet, und von jeher den Umgang der Sänger über alles geſchätzt. Von allen Enden zog er ſie an ſeinen Hof und über¬ häufte ſie mit Ehren. Er ward nicht müde ihren Geſängen zuzuhören, und vergaß oft die wichtigſten Angelegenheiten, ja die Be¬ dürfniſſe des Lebens über einem neuen, hin¬ reißenden Geſange. Seine Tochter war un¬ ter Geſängen aufgewachſen, und ihre ganze Seele war ein zartes Lied geworden, ein einfacher Ausdruck der Wehmuth und Sehn¬ ſucht. Der wohlthätige Einfluß der beſchütz¬ ten und geehrten Dichter zeigte ſich im gan¬ zen Lande, beſonders aber am Hofe. Man genoß das Leben mit langſamen, kleinen Zügen wie einen köſtlichen Trank, und mit deſto reinerem Wohlbehagen, da alle widrige gehäſſige Leidenſchaften, wie Mißtöne von der ſanften harmoniſchen Stimmung ver¬63 ſcheucht wurden, die in allen Gemüthern herrſchend war. Frieden der Seele und inn¬ res ſeeliges Anſchauen einer ſelbſt geſchaffe¬ nen, glücklichen Welt war das Eigenthum dieſer wunderbaren Zeit geworden, und die Zwietracht erſchien nur in den alten Sa¬ gen der Dichter, als eine ehmalige Fein¬ dinn der Menſchen. Es ſchien, als hätten die Geiſter des Geſanges ihrem Beſchützer kein lieblicheres Zeichen der Dankbarkeit ge¬ ben können, als ſeine Tochter, die alles beſaß, was die ſüßeſte Einbildungskraft nur in der zarten Geſtalt eines Mädchens vereinigen konnte. Wenn man ſie an den ſchönen Fe¬ ſten unter einer Schaar reißender Geſpielen, im weißen glänzenden Gewande erblickte, wie ſie den Wettgeſängen der begeiſterten Sänger mit tiefem Lauſchen zuhörte, und er¬ röthend einen duftenden Kranz auf die Lok¬ ken des Glücklichen drückte, deſſen Lied den64 Preis gewonnen hatte: ſo hielt man ſie für die ſichtbare Seele jener herrlichen Kunſt, die jene Zauberſprüche beſchworen hätten, und hörte auf ſich über die Entzückungen und Melodien der Dichter zu wundern.

Mitten in dieſem irdiſchen Paradieſe ſchien jedoch ein geheimnißvolles Schickſal zu ſchweben. Die einzige Sorge der Bewohner dieſer Gegenden betraf die Vermählung der aufblühenden Prinzeſſin, von der die Fort¬ dauer dieſer ſeligen Zeiten und das Ver¬ hängniß des ganzen Landes abhing. Der König ward immer älter. Ihm ſelbſt ſchien dieſe Sorge lebhaft am Herzen zu liegen, und doch zeigte ſich keine Ausſicht zu einer Vermählung für ſie, die allen Wünſchen an¬ gemeſſen geweſen wäre. Die heilige Ehr¬ furcht für das königliche Haus erlaubte kei¬ nem Unterthan, an die Möglichkeit zu den¬ ken, die Prinzeſſin zu beſitzen. Man be¬trach¬65trachtete ſie wie ein überirdiſches Weſen, und alle Prinzen aus andern Ländern, die ſich mit Anſprüchen auf ſie am Hofe gezeigt hat¬ ten, ſchienen ſo tief unter ihr zu ſeyn, daß kein Menſch auf den Einfall kam, die Prin¬ zeſſin oder der König werde die Augen auf einen unter ihnen richten. Das Gefühl des Abſtandes hatte ſie auch allmählich alle ver¬ ſcheucht, und das ausgeſprengte Gerücht des ausſchweifenden Stolzes dieſer königlichen Familie ſchien Andern alle Luſt zu benehmen, ſich ebenfalls gedemüthigt zu ſehn. Ganz ungegründet war auch dieſes Gerücht nicht. Der König war bey aller Milde beynah un¬ willkührlich in ein Gefühl der Erhabenheit gerathen, was ihm jeden Gedanken an die Verbindung ſeiner Tochter mit einem Manne von niedrigerem Stande und dunklerer Herkunft unmöglich oder unerträglich mach¬ te. Ihr hoher, einziger Werth hatte jenesE66Gefühl in ihm immer mehr beſtätigt. Er war aus einer uralten Morgenländiſchen Königsfamilie entſproſſen. Seine Gemahlin war der letzte Zweig der Nachkommenſchaft des berühmten Helden Ruſtan geweſen. Seine Dichter hatten ihm unaufhörlich von ſeiner Verwandſchaft mit den ehemaligen übermenſchlichen Beherrſchern der Welt vor¬ geſungen, und in dem Zauberſpiegel ihrer Kunſt war ihm der Abſtand ſeiner Herkunft von dem Urſprunge der andern Menſchen, die Herrlichkeit ſeines Stammes noch heller erſchienen, ſo daß es ihn dünkte, nur durch die edlere Klaſſe der Dichter mit dem übri¬ gen Menſchengeſchlechte zuſammenzuhängen. Vergebens ſah er ſich mit voller Sehnſucht nach einem zweyten Ruſtan um, indem er fühlte, daß das Herz ſeiner aufblühenden Tochter, der Zuſtand ſeines Reichs, und ſein zunehmendes Alter ihre Vermählung in aller Abſicht ſehr wünſchenswerth machten.

67

Nicht weit von der Hauptſtadt lebte auf einem abgelegenen Landgute ein alter Mann, der ſich ausſchließlich mit der Erzieh¬ ung ſeines einzigen Sohnes beſchäftigte, und nebenher den Landleuten in wichtigen Krank¬ heiten Rath ertheilte. Der junge Menſch war ernſt und ergab ſich einzig der Wiſſen¬ ſchaft der Natur, in welcher ihn ſein Vater von Kindheit auf unterrichtete. Aus fernen Gegenden war der Alte vor mehreren Jahren in dies friedliche und blühende Land gezogen, und begnügte ſich den wohlthätigen Frieden, den der König um ſich verbreitete, in der Stille zu genießen. Er benutzte ſie, die Kräfte der Natur zu erforſchen, und dieſe hinreißenden Kenntniſſe ſeinem Sohne mitzu¬ theilen, der viel Sinn dafür verrieth und deſſen tiefem Gemüth die Natur bereitwillig ihre Geheimniſſe anvertraute. Die Geſtalt des jungen Menſchen ſchien gewöhnlich und68 unbedeutend, wenn man nicht einen höhern Sinn für die geheimere Bildung ſeines edlen Geſichts und die ungewöhnliche Klarheit ſeiner Augen mitbrachte. Je länger man ihn an¬ ſah, deſto anziehender ward er, und man konnte ſich kaum wieder von ihm trennen, wenn man ſeine ſanfte, eindringende Stimme und ſeine anmuthige Gabe zu ſprechen hörte. Eines Tages hatte die Prinzeſſin, deren Luſt¬ gärten an den Wald ſtießen, der das Land¬ gut des Alten in einem kleinen Thale ver¬ barg, ſich allein zu Pferde in den Wald be¬ geben, um deſto ungeſtörter ihren Fantaſien nachhängen und einige ſchöne Geſänge ſich wiederhohlen zu können. Die Friſche des hohen Waldes lockte ſie immer tiefer in ſeine Schatten, und ſo kam ſie endlich an das Landgut, wo der Alte mit ſeinem Sohne lebte. Es kam ihr die Luſt an, Milch zu trinken, ſie ſtieg ab, band ihr Pferd an ei¬69 nen Baum, und trat in das Haus, um ſich einen Trunk Milch auszubitten. Der Sohn war gegenwärtig, und erſchrak beynah über dieſe zauberhafte Erſcheinung eines majeſtä¬ tiſchen weiblichen Weſens, das mit allen Rei¬ zen der Jugend und Schönheit geſchmückt, und von einer unbeſchreiblich anziehenden Durchſichtigkeit der zarteſten, unſchuldigſten und edelſten Seele beynah vergöttlicht wur¬ de. Während er eilte ihre wie Geiſtergeſang tönende Bitte zu erfüllen, trat ihr der Alte mit beſcheidner Ehrfurcht entgegen, und lud ſie ein, an dem einfachen Herde, der mitten im Hauſe ſtand, und auf welchem eine leich¬ te blaue Flamme ohne Geräuſch emporſpiel¬ te, Platz zu nehmen. Es fiel ihr, gleich beym Eintritt, der mit tauſend ſeltenen Sa¬ chen gezierte Hausraum, die Ordnung und Reinlichkeit des Ganzen, und eine ſeltſame Heiligkeit des Ortes auf, deren Eindruck noch70 durch den ſchlicht gekleideten ehrwürdigen Greis und den beſcheidnen Anſtand des Sohnes erhöhet wurde. Der Alte hielt ſie gleich für eine zum Hof gehörige Per¬ ſon, wozu ihre koſtbare Tracht, und ihr edles Betragen ihm Anlaß genug gab. Während der Abweſenheit des Sohnes be¬ fragte ſie ihn um einige Merkwürdigkeiten, die ihr vorzüglich in die Augen fielen, wor¬ unter beſonders einige alte, ſonderbare Bil¬ der waren, die neben ihrem Sitze auf dem Heerde ſtanden, und er war bereitwillig ſie auf eine anmuthige Art damit bekannt zu machen. Der Sohn kam bald mit einem Kruge voll friſcher Milch zurück, und reichte ihr denſelben mit ungekünſteltem und ehr¬ furchtsvollem Weſen. Nach einigen anzie¬ henden Geſprächen mit beyden, dankte ſie auf die lieblichſte Weiſe für die freundliche Bewirthung, bat erröthend den Alten um71 die Erlaubniß wieder kommen, und ſeine lehrreichen Geſpräche über die vielen wun¬ derbaren Sachen genießen zu dürfen, und ritt zurück, ohne ihren Stand verrathen zu haben, da ſie merkte, daß Vater und Sohn ſie nicht kannten. Ohnerachtet die Haupt¬ ſtadt ſo nahe lag, hatten beyde, in ihre Forſchungen vertieft, das Gewühl der Men¬ ſchen zu vermeiden geſucht, und es war dem Jüngling nie eine Luſt angekommen, den Feſten des Hofes beyzuwohnen; beſon¬ ders da er ſeinen Vater höchſtens auf eine Stunde zu verlaſſen pflegte, um zuweilen im Walde nach Schmetterlingen, Käfern und Pflanzen umher zu gehn, und die Einge¬ bungen des ſtillen Naturgeiſtes durch den Einfluß ſeiner mannichfaltigen äußeren Lieb¬ lichkeiten zu vernehmen. Dem Alten, der Prinzeſſin und dem Jüngling war die einfa¬ che Begebenheit des Tages gleich wichtig. 72Der Alte hatte leicht den neuen tiefen Ein¬ druck bemerkt, den die Unbekannte auf ſei¬ nen Sohn machte. Er kannte dieſen genug, um zu wiſſen, daß jeder tiefe Eindruck bey ihm ein lebenslänglicher ſeyn würde. Seine Jugend und die Natur ſeines Herzens mu߬ ten die erſte Empfindung dieſer Art zur un¬ überwindlichen Neigung machen. Der Alte hatte lange eine ſolche Begebenheit heran¬ nahen ſehen. Die hohe Liebenswürdigkeit der Erſcheinung flößte ihm unwillkührlich ei¬ ne innige Theilnahme ein, und ſein zuver¬ ſichtliches Gemüth entfernte alle Beſorgniſſe über die Entwickelung dieſes ſonderbaren Zu¬ falls. Die Prinzeſſin hatte ſich nie in einem ähnlichen Zuſtande befunden, wie der war, in welchem ſie langſam nach Hauſe ritt. Es konnte vor der einzigen helldunklen wunder¬ bar beweglichen Empfindung einer neuen Welt, kein eigentlicher Gedanke in ihr ent¬73 ſtehen. Ein magiſcher Schleyer dehnte ſich in weiten Falten um ihr klares Bewußtſeyn. Es war ihr, als würde ſie ſich, wenn er auf¬ geſchlagen würde, in einer überirdiſchen Welt befinden. Die Erinnerung an die Dichtkunſt, die bisher ihre ganze Seele beſchäftigt hatte, war zu einem fernen Geſange geworden, der ihren ſeltſam lieblichen Traum mit den ehe¬ maligen Zeiten verband. Wie ſie zurück in den Pallaſt kam, erſchrak ſie beynah über ſeine Pracht und ſein buntes Leben, noch mehr aber bey der Bewillkommung ihres Vaters, deſſen Geſicht zum erſtenmale in ih¬ rem Leben eine ſcheue Ehrfurcht in ihr erreg¬ te. Es ſchien ihr eine unabänderliche Noth¬ wendigkeit, nichts von ihrem Abentheuer zu erwähnen. Man war ihre ſchwärmeriſche Ernſthaftigkeit, ihren in Fantaſieen und tie¬ fes Sinnen verlornen Blick ſchon zu ge¬ wohnt, um etwas Außerordentliches darin zu74 bemerken. Es war ihr jetzt nicht mehr ſo lieblich zu Muthe; ſie ſchien ſich unter lau¬ ter Fremden, und eine ſonderbare Bänglich¬ keit begleitete ſie bis an den Abend, wo das frohe Lied eines Dichters, der die Hoffnung pries, und von den Wundern des Glaubens an die Erfüllung unſrer Wünſche mit hinrei¬ ßender Begeiſterung ſang, ſie mit ſüßem Troſt erfüllte und in die angenehmſten Träu¬ me wiegte. Der Jüngling hatte ſich gleich nach ihrem Abſchiede in den Wald verlohren. An der Seite des Weges war er in Gebü¬ ſchen bis an die Pforten des Gartens ihr ge¬ folgt, und dann auf dem Wege zurückgegan¬ gen. Wie er ſo ging, ſah er vor ſeinen Fü¬ ßen einen hellen Glanz. Er bückte ſich da¬ nach und hob einen dunkelrothen Stein auf, der auf einer Seite außerordentlich funkelte, und auf der Andern eingegrabene unver¬ ſtändliche Chiffern zeigte. Er erkannte ihn75 für einen koſtbaren Karfunkel, und glaubte ihn in der Mitte des Halsbandes an der Unbekannten bemerkt zu haben. Er eilte mit beflügelten Schritten nach Hauſe, als wäre ſie noch dort, und brachte den Stein ſeinem Vater. Sie wurden einig, daß der Sohn den andern Morgen auf den Weg zurückgehn und warten ſollte, ob der Stein geſucht würde, wo er ihn dann zurück¬ geben könnte; ſonſt wollten ſie ihn bis zu einem zweyten Beſuche der Unbekannten auf¬ heben, um ihr ſelbſt ihn zu überreichen. Der Jüngling betrachtete faſt die ganze Nacht den Karfunkel und fühlte gegen Morgen ein unwiderſtehliches Verlangen einige Wor¬ te auf den Zettel zu ſchreiben, in welchen er den Stein einwickelte. Er wußte ſelbſt nicht genau, was er ſich bey den Worten dachte, die er hinſchrieb.

76
Es iſt dem Stein ein räthſelhaftes Zei¬ chen
Tief eingegraben in ſein glühend Blut,
Er iſt mit einem Herzen zu verglei¬ chen,
In dem das Bild der Unbekannten ruht.
Man ſieht um jenen tauſend Funken ſtreichen,
Um dieſes woget eine lichte Flut.
In jenem liegt des Glanzes Licht be¬ graben,
Wird dieſes auch das Herz des Her¬ zens haben?

Kaum daß der Morgen anbrach, ſo be¬ gab er ſich ſchon auf den Weg, und eilte der Pforte des Gartens zu.

Unterdeſſen hatte die Prinzeſſin Abends beym Auskleiden den theuren Stein in ihrem77 Halsbande vermißt, der ein Andenken ihrer Mutter und noch dazu ein Talisman war, deſſen Beſitz ihr die Freiheit ihrer Perſon ſicherte, indem ſie damit nie in fremde Ge¬ walt ohne ihren Willen gerathen konnte.

Dieſer Verluſt befremdete ſie mehr, als daß er ſie erſchreckt hätte. Sie erinnerte ſich, ihn geſtern bey dem Spazierritt noch gehabt zu haben, und glaubte feſt, daß er entweder im Hauſe des Alten, oder auf dem Rückwege im Walde verloren gegangen ſeyn müſſe; der Weg war ihr noch in friſchem Andenken, und ſo beſchloß ſie gleich früh den Stein aufzuſuchen, und wurd bey die¬ ſem Gedanken ſo heiter, daß es faſt das An¬ ſehn gewann, als ſey ſie gar nicht unzufrie¬ den mit dem Verluſte, weil er Anlaß gäbe jenen Weg ſogleich noch einmal zu machen. Mit dem Tage ging ſie durch den Garten nach dem Walde, und weil ſie eilfertiger78 ging als gewöhnlich, ſo fand ſie es ganz na¬ türlich, daß ihr das Herz lebhaft ſchlug, und ihr die Bruſt beklomm. Die Sonne fing eben an, die Wipfel der alten Bäume zu vergolden, die ſich mit ſanftem Flüſtern be¬ wegten, als wollten ſie ſich gegenſeitig aus nächtlichen Geſichtern erwecken, um die Son¬ ne gemeinſchaftlich zu begrüßen, als die Prinzeſſin durch ein fernes Geräuſch veran¬ laßt, den Weg hinunter und den Jüngling auf ſich zueilen ſah, der in demſelben Augen¬ blick ebenfalls ſie bemerkte.

Wie angefeſſelt blieb er eine Weile ſtehn, und blickte unverwandt ſie an, gleichſam um ſich zu überzeugen, daß ihre Erſcheinung wirklich und keine Täuſchung ſey. Sie be¬ grüßten ſich mit einem zurückgehaltenen Aus¬ druck von Freude, als hätten ſie ſich ſchon lange gekannt und geliebt. Noch ehe die Prinzeſſin die Urſache ihres frühen Spazier¬79 ganges ihm entdecken konnte, überreichte er ihr mit Erröthen und Herzklopfen den Stein in dem beſchriebenen Zettel. Es war, als ahndete die Prinzeſſin den Inhalt der Zei¬ len. Sie nahm ihn ſtillſchweigend mit zit¬ ternder Hand und hing ihm zur Belohnung für ſeinen glücklichen Fund beynah unwill¬ kührlich eine goldne Kette um, die ſie um den Hals trug. Beſchämt kniete er vor ihr und konnte, da ſie ſich nach ſeinem Vater erkundigte, einige Zeit keine Worte finden. Sie ſagte ihm halbleiſe, und mit niederge¬ ſchlagenen Augen, daß ſie bald wieder zu ihnen kommen, und die Zuſage des Vaters ſie mit ſeinen Seltenheiten bekannt zu ma¬ chen, mit vieler Freude benutzen würde.

Sie dankte dem Jünglinge noch einmal mit ungewöhnlicher Innigkeit, und ging hier¬ auf langſam, ohne ſich umzuſehen, zurück. Der Jüngling konnte kein Wort vorbringen. 80Er neigte ſich ehrfurchtsvoll und ſah ihr lan¬ ge nach, bis ſie hinter den Bäumen ver¬ ſchwand. Nach dieſer Zeit vergingen wenig Tage bis zu ihrem zweyten Beſuche, dem bald mehrere folgten. Der Jüngling ward unvermerkt ihr Begleiter bey dieſen Spazier¬ gängen. Er holte ſie zu beſtimmten Stun¬ den am Garten ab, und brachte ſie dahin zurück. Sie beobachtete ein unverbrüchliches Stillſchweigen über ihren Stand, ſo zutrau¬ lich ſie auch ſonſt gegen ihren Begleiter wur¬ de, dem bald kein Gedanke in ihrer himmli¬ ſchen Seele verborgen blieb. Es war, als flößte ihr die Erhabenheit ihrer Herkunft ei¬ ne geheime Furcht ein. Der Jüngling gab ihr ebenfalls ſeine ganze Seele. Vater und Sohn hielten ſie für ein vornehmes Mäd¬ chen vom Hofe. Sie hing an dem Alten mit der Zärtlichkeit einer Tochter. Ihre Lieb¬ koſungen gegen ihn waren die entzückendenVor¬81Vorboten ihrer Zärtlichkeit gegen den Jüng¬ ling. Sie ward bald einheimiſch in dem wunderbaren Hauſe; und wenn ſie dem Alten und dem Sohne, der zu ihren Füßen ſaß, auf ihrer Laute reitzende Lieder mit ei¬ ner überirdiſchen Stimme vorſang, und letzte¬ ren in dieſer lieblichen Kunſt unterrichtete: ſo erfuhr ſie dagegen von ſeinen begeiſterten Lip¬ pen die Enträthſelung der überall verbreite¬ ten Naturgeheimniſſe. Er lehrte ihr, wie durch wundervolle Sympathie die Welt ent¬ ſtanden ſey, und die Geſtirne ſich zu melodi¬ ſchen Reigen vereinigt hätten. Die Geſchich¬ te der Vorwelt ging durch ſeine heiligen Er¬ zählungen in ihrem Gemüth auf; und wie entzückt war ſie, wenn ihr Schüler, in der Fülle ſeiner Eingebungen, die Laute ergriff und mit unglaublicher Gelehrigkeit in die wundervollſten Geſänge ausbrach. Eines Tages, wo ein beſonders kühner SchwungF82ſich ſeiner Seele in ihrer Geſellſchaft bemäch¬ tigt hatte, und die mächtige Liebe auf dem Rückwege ihre jungfräuliche Zurückhaltung mehr als gewöhnlich überwand, ſo daß ſie beyde ohne ſelbſt zu wiſſen wie einander in die Arme ſanken, und der erſte glühende Kuß ſie auf ewig zuſammenſchmelzte, fing mit einbrechender Dämmerung ein gewaltiger Sturm in den Gipfeln der Bäume plötzlich zu toben an. Drohende Wetterwolken zogen mit tiefem nächtlichen Dunkel über ſie her. Er eilte ſie in Sicherheit vor dem fürchterli¬ chen Ungewitter und den brechenden Bäu¬ men zu bringen: aber er verfehlte in der Nacht und voll Angſt wegen ſeiner Gelieb¬ ten den Weg, und gerieth immer tiefer in den Wald hinein. Seine Angſt wuchs, wie er ſeinen Irrthum bemerkte. Die Prinzeſſin dachte an das Schrecken des Königs und des Hofes; eine u〈…〉〈…〉 ennbare Ängſtlichkeit fuhr83 zuweilen, wie ein zerſtörender Strahl, durch ihre Seele, und nur die Stimme ihres Ge¬ liebten, der ihr unaufhörlich Troſt zuſprach, gab ihr Muth und Zutrauen zurück, und er¬ leichterte ihre beklommne Bruſt. Der Sturm wüthete fort; alle Bemühungen den Weg zu finden waren vergeblich, und ſie prieſen ſich beyde glücklich, bey der Erleuchtung ei¬ nes Blitzes eine nahe Höhle an dem ſteilen Abhang eines waldigen Hügels zu entdek¬ ken, wo ſie eine ſichere Zuflucht gegen die Gefahren des Ungewitters zu finden hoften, und eine Ruheſtätte für ihre erſchöpften Kräfte. Das Glück begünſtigte ihre Wünſche. Die Höhle war trocken und mit reinlichem Mooſe bewachſen. Der Jüngling zündete ſchnell ein Feuer von Reiſern und Moos an, woran ſie ſich trocknen konnten, und die beyden Lie¬ benden ſahen ſich nun auf eine wunderbare Weiſe von der Welt entfernt, aus einem ge¬84 fahrvollen Zuſtande gerettet, und auf einem bequemen, warmen Lager allein nebenein¬ ander.

Ein wilder Mandelſtrauch hing mit Früchten beladen in die Höhle hinein, und ein nahes Rieſeln ließ ſie friſches Waſſer zur Stillung ihres Durſtes finden. Die Laute hatte der Jüngling mitgenommen, und ſie ge¬ währte ihnen jetzt eine aufheiternde und be¬ ruhigende Unterhaltung bey dem kniſternden Feuer. Eine höhere Macht ſchien den Kno¬ ten ſchneller löſen zu wollen, und brachte ſie unter ſonderbaren Umſtänden in dieſe ro¬ mantiſche Lage. Die Unſchuld ihrer Herzen, die zauberhafte Stimmung ihrer Gemüther, und die verbundene unwiderſtehliche Macht ihrer ſüßen Leidenſchaft und ihrer Jugend ließ ſie bald die Welt und ihre Verhältniſſe vergeſſen, und wiegte ſie unter dem Braut¬ geſange des Sturms und den Hochzeitfackeln85 der Blitze in den ſüßeſten Rauſch ein, der je ein ſterbliches Paar beſeligt haben mag. Der Anbruch des lichten blauen Morgens war für ſie das Erwachen in einer neuen ſe¬ ligen Welt. Ein Strom heißer Thränen, der jedoch bald aus den Augen der Prinzeſ¬ ſin hervorbrach, verrieth ihrem Geliebten die erwachenden tauſendfachen Bekümmerniſſe ih¬ res Herzens. Er war in dieſer Nacht um mehrere Jahre älter, aus einem Jünglinge zum Manne geworden. Mit überſchwengli¬ cher Begeiſterung tröſtete er ſeine Geliebte, erinnerte ſie an die Heiligkeit der wahrhaf¬ ten Liebe, und an den hohen Glauben, den ſie einflöße, und bat ſie, die heiterſte Zukunft von dem Schutzgeiſt ihres Herzens mit Zu¬ verſicht zu erwarten. Die Prinzeſſin fühlte die Wahrheit ſeines Troſtes, und entdeckte ihm, ſie ſey die Tochter des Königs, und nur bange wegen des Stolzes und der Beküm¬86 merniſſe ihres Vaters. Nach langen reifli¬ chen Überlegungen wurden ſie über die zu faſſende Entſchließung einig, und der Jüng¬ ling machte ſich ſofort auf den Weg, um ſei¬ nen Vater aufzuſuchen, und dieſen mit ih¬ rem Plane bekannt zu machen. Er verſprach in kurzen wieder bey ihr zu ſeyn, und verließ ſie beruhigt und in ſüßen Vorſtellungen der künftigen Entwickelung dieſer Begebenheiten. Der Jüngling hatte bald ſeines Vaters Wohnung erreicht, und der Alte war ſehr erfreut, ihn unverletzt ankommen zu ſehen. Er erfuhr nun die Geſchichte und den Plan der Liebenden, und bezeigte ſich nach einigem Nachdenken bereitwillig ihn zu unterſtützen. Sein Haus lag ziemlich verſteckt, und hatte einige unterirdiſche Zimmer, die nicht leicht aufzufinden waren. Hier ſollte die Wohnung der Prinzeſſin ſeyn. Sie ward alſo in der Dämmerung abgeholt, und mit tiefer Rüh¬87 rung von dem Alten empfangen. Sie weinte nachher oft in der Einſamkeit, wenn ſie ih¬ res traurigen Vaters gedachte: doch verbarg ſie ihren Kummer vor ihrem Geliebten, und ſagte es nur dem Alten, der ſie freundlich tröſtete, und ihr die nahe Rückkehr zu ihrem Vater vorſtellte.

Unterdeß war man am Hofe in große Beſtürzung gerathen, als Abends die Prin¬ zeſſin vermißt wurde. Der König war ganz außer ſich, und ſchickte überall Leute aus, ſie zu ſuchen. Kein Menſch wußte ſich ihr Verſchwinden zu erklären. Keinem kam ein heimliches Liebesverſtändniß in die Gedan¬ ken, und ſo ahndete man keine[Entführung], da ohnedies kein Menſch weiter fehlte. Auch nicht zu der entfernteſten Vermuthung war Grund da. Die ausgeſchickten Boten kamen unverrichteter Sache zurück, und der König fiel in tiefe Traurigkeit. Nur wenn Abends88 ſeine Sänger vor ihn kamen und ſchöne Lie¬ der mitbrachten, war es, als ließe ſich die alte Freude wieder vor ihm blicken; ſeine Tochter dünkte ihm nah, und er ſchöpfte Hofnung, ſie bald wieder zu ſehen. War er aber wieder allein, ſo zerriß es ihm von neuem das Herz und er weinte laut. Dann gedachte er bey ſich ſelbſt: Was hilft mir nun alle die Herrlichkeit, und meine hohe Geburt. Nun bin ich doch elender als die andern Menſchen. Meine Tochter kann mir nichts erſetzen. Ohne ſie ſind auch die Geſän¬ ge nichts, als leere Worte und Blendwerk. Sie war der Zauber, der ihnen Leben und Freude, Macht und Geſtalt gab. Wollt 'ich doch lieber, ich wäre der geringſte meiner Diener. Dann hätte ich meine Tochter noch; auch wohl einen Eydam dazu und Enkel, die mir auf den Knieen ſäßen: dann wäre ich ein89 anderer König, als jetzt. Es iſt nicht die Krone und das Reich, was einen König macht. Es iſt jenes volle, überfließende Ge¬ fühl der Glückſeligkeit, der Sättigung mit ir¬ diſchen Gütern, jenes Gefühl der über¬ ſchwänglichen Gnüge. So werd' ich nun für meinen Übermuth beſtraft. Der Verluſt mei¬ ner Gattin hat mich noch nicht genug er¬ ſchüttert. Nun hab 'ich auch ein grenzenlo¬ ſes Elend. So klagte der König in den Stunden der heißeſten Sehnſucht. Zuweilen brach auch ſeine alte Strenge und ſein Stolz wieder hervor. Er zürnte über ſeine Klagen; wie ein König wollte er dulden und ſchweigen. Er meinte dann, er leide mehr, als alle Anderen, und gehöre ein großer Schmerz zum Königthum; aber wenn es dann dämmerte, und er in die Zimmer ſeiner Tochter trat, und ſah ihre Kleider hängen, und ihre kleinern Habſeligkeiten ſtehn, als90 habe ſie eben das Zimmer verlaſſen: ſo ver¬ gaß er ſeine Vorſätze, gebehrdete ſich wie ein trübſeliger Menſch, und rief ſeine geringſten Diener um Mitleid an. Die ganze Stadt und das ganze Land weinten und klagten von ganzem Herzen mit ihm. Sonderlich war es, daß eine Sage umherging, die Prin¬ zeſſin lebe noch, und werde bald mit einem Gemahl wiederkommen. Kein Menſch wu߬ te, woher die Sage kam: aber alles hing ſich mit frohem Glauben daran, und ſah mit ungeduldiger Erwartung ihrer baldigen Wie¬ derkunft entgegen. So vergingen mehrere Monden, bis das Frühjahr wieder heran¬ kam. Was gilts, ſagten einige in wunderli¬ chem Muthe, nun kommt auch die Prinzeſſin wieder. Selbſt der König ward heitrer und hoffnungsvoller. Die Sage dünkte ihm wie die Verheißung einer gütigen Macht. Die ehemaligen Feſte fingen wieder an, und es91 ſchien zum völligen Aufblühen der alten Herrlichkeit nur noch die Prinzeſſin zu feh¬ len. Eines Abends, da es gerade jährig wurde, daß ſie verſchwand, war der ganze Hof im Garten verſammelt. Die Luft war warm und heiter; ein leiſer Wind tönte nur oben in den alten Wipfeln, wie die Ankün¬ digung eines fernen fröhlichen Zuges. Ein mächtiger Springquell ſtieg zwiſchen den vielen Fackeln mit zahlloſen Lichtern hinauf in die Dunkelheit der tönenden Wipfel, und begleitete mit melodiſchem Plätſchern die mannichfaltigen Geſänge, die unter den Bäumen hervorklangen. Der König ſaß auf einem köſtlichen Teppich, und um ihn her war der Hof in feſtlichen Kleidern verſam¬ melt. Eine zahlreiche Menge erfüllte den Garten, und umgab das prachtvolle Schau¬ ſpiel. Der König ſaß eben in tiefen Gedan¬ ken. Das Bild ſeiner verlornen Tochter92 ſtand mit ungewöhnlicher Klarheit vor ihm; er gedachte der glücklichen Tage, die um die¬ ſe Zeit im vergangenen Jahre ein plötzliches Ende nahmen. Eine heiße Sehnſucht über¬ mannte ihn, und es floſſen häufige Thränen von ſeinen ehrwürdigen Wangen; doch emp¬ fand er eine ungewöhnliche Heiterkeit. Es dünkte ihm das traurige Jahr nur ein ſchwerer Traum zu ſeyn, und er hob die Au¬ gen auf, gleichſam um ihre hohe, heilige, entzückende Geſtalt unter den Menſchen und den Bäumen aufzuſuchen. Eben hatten die Dichter geendigt, und eine tiefe Stille ſchien das Zeichen der allgemeinen Rührung zu ſeyn, denn die Dichter hatten die Freuden des Wiederſehns, den Frühling und die Zu¬ kunft beſungen, wie ſie die Hoffnung zu ſchmücken pflegt.

Plötzlich wurde die Stille durch leiſe Laute einer unbekannten ſchönen Stimme93 unterbrochen, die von einer uralten Eiche herzukommen ſchienen. Alle Blicke richteten ſich dahin, und man ſah einen Jüngling in einfacher, aber fremder Tracht ſtehen, der ei¬ ne Laute im Arm hielt, und ruhig in ſeinem Geſange fortfuhr, indem er jedoch, wie der König ſeinen Blick nach ihm wandte, eine tiefe Verbeugung machte. Die Stimme war außerordentlich ſchön, und der Geſang trug ein fremdes, wunderbares Gepräge. Er handelte von dem Urſprunge der Welt, von der Entſtehung der Geſtirne, der Pflanzen, Thiere und Menſchen, von der allmächtigen Sympathie der Natur, von der uralten gol¬ denen Zeit und ihren Beherrſcherinnen, der Liebe und Poeſie, von der Erſcheinung des Haſſes und der Barbarey und ihren Kämp¬ fen mit jenen wohlthätigen Göttinnen, und endlich von dem zukünftigen Triumph der letztern, dem Ende der Trübſale, der Verjün¬94 gung der Natur und der Wiederkehr eines ewigen goldenen Zeitalters. Die alten Dichter tragen ſelbſt von Begeiſterung hingeriſſen, wäh¬ rend des Geſanges näher um den ſeltſamen Fremdling her. Ein niegefühltes Entzücken ergriff die Zuſchauer, und der König ſelbſt fühlte ſich wie auf einem Strom des Him¬ mels weggetragen. Ein ſolcher Geſang war nie vernommen worden, und Alle glaubten, ein himmliſches Weſen ſey unter ihnen er¬ ſchienen, beſonders da der Jüngling unterm Singen immer ſchöner, immer herrlicher, und ſeine Stimme immer gewaltiger zu werden ſchien. Die Luft ſpielte mit ſeinen goldenen Locken. Die Laute ſchien ſich unter ſeinen Händen zu beſeelen, und ſein Blick ſchien trunken in eine geheimere Welt hinüber zu ſchauen. Auch die Kinderunſchuld und Ein¬ falt ſeines Geſichts ſchien allen übernatür¬ lich. Nun war der herrliche Geſang geen¬95 digt. Die bejahrten Dichter drückten den Jüngling mit Freudenthränen an ihre Bruſt. Ein ſtilles inniges Jauchzen ging durch die Verſammlung. Der König kam gerührt auf ihn zu. Der Jüngling warf ſich ihm beſchei¬ den zu Füßen. Der König hob ihn auf, umarmte ihn herzlich, und hieß ihn ſich eine Gabe ausbitten. Da bat er mit glühenden Wangen den König, noch ein Lied gnädig anzuhören, und dann über ſeine Bitte zu entſcheiden. Der König trat einige Schritte zurück und der Fremdling fing an:

Der Sänger geht auf rauhen Pfaden,
Zerreißt in Dornen ſein Gewand;
Er muß durch Fluß und Sümpfe baden,
Und keins reicht hülfreich ihm die Hand.
Einſam und pfadlos fließt in Klagen
Jetzt über ſein ermattet Herz;
Er kann die Laute kaum noch tragen,
Ihn übermannt ein tiefer Schmerz.
96
Ein traurig Loos ward mir beſchieden,
Ich irre ganz verlaſſen hier,
Ich brachte Allen Luſt und Frieden,
Doch keiner theilte ſie mit mir.
Es wird ein jeder ſeiner Habe
Und ſeines Lebens froh durch mich;
Doch weiſen ſie mit karger Gabe
Des Herzens Forderung von ſich.
Man läßt mich ruhig Abſchied nehmen,
Wie man den Frühling wandern ſieht;
Es wird ſich keiner um ihn grämen,
Wenn er betrübt von dannen zieht.
Verlangend ſehn ſie nach den Früchten,
Und wiſſen nicht, daß er ſie ſät;
Ich kann den Himmel für ſie dichten,
Doch meiner denkt nicht Ein Gebet.
Ich fühle dankbar Zaubermächte
An dieſe Lippen feſtgebannt.
O! 97
O! knüpfte nur an meine Rechte
Sich auch der Liebe Zauberband.
Es kümmert keine ſich des Armen,
Der dürftig aus der Ferne kam;
Welch Herz wird Sein ſich noch erbarmen
Und löſen ſeinen tiefen Gram?
Er ſinkt im hohen Graſe nieder,
Und ſchläft mit naſſen Wangen ein;
Da ſchwebt der hohe Geiſt der Lieder
In die beklemmte Bruſt hinein:
Vergiß anjetzt, was du gelitten,
In Kurzem ſchwindet deine Laſt,
Was du umſonſt geſucht in Hütten,
Das wirſt du finden im Palaſt.
Du nahſt dem höchſten Erdenlohne,
Bald endigt der verſchlungne Lauf;
Der Myrthenkranz wird eine Krone,
Dir ſetzt die treuſte Hand ſie auf.
G98
Ein Herz voll Einklang iſt berufen
Zur Glorie um einen Thron;
Der Dichter ſteigt auf rauhen Stufen
Hinan, und wird des Königs Sohn.

So weit war er in ſeinem Geſange ge¬ kommen, und ein ſonderbares Erſtaunen hatte ſich der Verſammlung bemächtigt, als wäh¬ rend dieſer Strophen ein alter Mann mit ei¬ ner verſchleyerten weiblichen Geſtalt von ed¬ lem Wuchſe, die ein wunderſchönes Kind auf dem Arme trug, das freundlich in der frem¬ den Verſammlung umherſah, und lächelnd nach dem blitzenden Diadem des Königs die kleinen Händchen ſtreckte, zum Vorſchein ka¬ men, und ſich hinter den Sänger ſtellten; aber das Staunen wuchs, als plötzlich aus den Gipfeln der alten Bäume, der Lieblings¬ adler des Königs, den er immer um ſich hat¬ te, mit einer goldenen Stirnbinde, die er aus99 ſeinen Zimmern entwandt haben mußte, her¬ abflog, und ſich auf das Haupt des Jüng¬ lings niederließ, ſo daß die Binde ſich um ſeine Locken ſchlug. Der Fremdling erſchrak einen Augenblick; der Adler flog an die Sei¬ te des Königs, und ließ die Binde zurück. Der Jüngling reichte ſie dem Kinde, das darnach verlangte, ließ ſich auf ein Knie ge¬ gen den König nieder, und fuhr in ſeinem Geſange mit bewegter Stimme fort:

Der Sänger fährt aus ſchönen Träumen
Mit froher Ungeduld empor;
Er wandelt unter hohen Bäumen
Zu des Pallaſtes ehrnem Thor.
Die Mauern ſind wie Stahl geſchliffen,
Doch ſie erklimmt ſein Lied geſchwind,
Es ſteigt von Lieb 'und Weh ergriffen
Zu ihm hinab des Königs Kind.
100
Die Liebe drückt ſie feſt zuſammen
Der Klang der Panzer treibt ſie fort;
Sie lodern auf in ſüßen Flammen,
Im nächtlich ſtillen Zufluchtsort.
Sie halten furchtſam ſich verborgen,
Weil ſie der Zorn des Königs ſchreckt;
Und werden nun von jedem Morgen
Zu Schmerz und Luſt zugleich erweckt.
Der Sänger ſpricht mit ſanften Klängen
Der neuen Mutter Hoffnung ein;
Da tritt. gelockt von den Geſängen
Der König in die Kluft hinein.
Die Tochter reicht in goldnen Locken
Den Enkel von der Bruſt ihm hin;
Sie ſinken reuig und erſchrocken,
Und mild zergeht ſein ſtrenger Sinn.
Der Liebe weicht und dem Geſange
Auch auf dem Thron ein Vaterherz,
101
Und wandelt bald in ſüßem Drange
Zu ewger Luſt den tiefen Schmerz.
Die Liebe giebt, was ſie entriſſen,
Mit reichem Wucher bald zurück,
Und unter den Verſöhnungsküſſen
Entfaltet ſich ein himmliſch Glück.
Geiſt des Geſangs, komm du hernieder,
Und ſteh auch jetzt der Liebe bey;
Bring die verlorne Tochter wieder,
Daß ihr der König Vater ſey!
Daß er mit Freuden ſie umſchließet,
Und ſeines Enkels ſich erbarmt,
Und wenn das Herz ihm überfließet,
Den Sänger auch als Sohn umarmt.

Der Jüngling hob mit bebender Hand bey dieſen Worten, die ſanft in den dunklen Gängen verhallten, den Schleyer. Die Prin¬ zeſſin fiel mit einem Strom von Thränen zu102 den Füßen des Königs, und hielt ihm das ſchöne Kind hin. Der Sänger kniete mit ge¬ beugtem Haupte an ihrer Seite. Eine ängſtliche Stille ſchien jeden Athem feſtzu¬ halten. Der König war einige Augenblicke ſprachlos und ernſt; dann zog er die Prin¬ zeſſin an ſeine Bruſt, drückte ſie lange feſt an ſich und weinte laut. Er hob nun auch den Jüngling zu ſich auf, und umſchloß ihn mit herzlicher Zärtlichkeit. Ein helles Jauch¬ zen flog durch die Verſammlung, die ſich dicht zudrängte. Der König nahm das Kind nnd reichte es mit rührender Andacht gen Himmel; dann begrüßte er freundlich den Alten. Unendliche Freudenthränen floſſen. In Geſänge brachen die Dichter aus, und der Abend ward ein heiliger Vorabend dem ganzen Lande, deſſen Leben fortan nur Ein ſchönes Feſt war. Kein Menſch weiß, wo103 das Land hingekommen iſt. Nur in Sagen heißt es, daß Atlantis von mächtigen Fluten den Augen entzogen worden ſey.

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Viertes Kapitel.

Einige Tagereiſen waren ohne die mindeſte Unterbrechung geendigt. Der Weg war feſt und trocken, die Witterung erquickend und heiter, und die Gegenden, durch die ſie ka¬ men, fruchtbar, bewohnt und mannichfaltig. Der furchtbare Thüringer Wald lag im Rücken; die Kaufleute hatten den Weg öfte¬ rer gemacht, waren überall mit den Leuten bekannt, und erfuhren die gaſtfreyſte Auf¬ nahme. Sie vermieden die abgelegenen und durch Räubereien bekannten Gegenden, und nahmen, wenn ſie ja gezwungen waren, ſol¬ che zu durchreiſen, ein hinlängliches Geleite mit. Einige Beſitzer benachbarter Berg¬ ſchlöſſer ſtanden mit den Kaufleuten in gu¬ tem Vernehmen. Sie wurden beſucht und bey ihnen nachgefragt, ob ſie Beſtellungen105 nach Augsburg zu machen hätten. Eine freundliche Bewirthung ward ihnen zu Theil, und die Frauen und Töchter drängten ſich mit herzlicher Neugier um die Fremdlinge. Heinrichs Mutter gewann ſie bald durch ih¬ re guthmüthige Bereitwilligkeit und Theil¬ nahme. Man war erfreut eine Frau aus der Reſidenzſtadt zu ſehn, die eben ſo willig die Neuigkeiten der Mode, als die Zuberei¬ tung einiger ſchmackhafter Schüſſeln mittheil¬ te. Der junge Ofterdingen ward von Rit¬ tern und Frauen wegen ſeiner Beſcheidenheit und ſeines ungezwungenen milden Betragens geprieſen, und die letztern verweilten gern auf ſeiner einnehmenden Geſtalt, die wie das einfache Wort eines Unbekannten war, das man faſt überhört, bis längſt nach ſeinem Abſchiede es ſeine tiefe unſcheinbare Knospe immer mehr aufthut, und endlich eine herrli¬ che Blume in allem Farbenglanze dichtver¬106 ſchlungener Blätter zeigt, ſo daß man es nie vergißt, nicht müde wird es zu wiederho¬ len, und einen unverſieglichen immer gegen¬ wärtigen Schatz daran hat. Man beſinnt ſich nun genauer auf den Unbekannten, und ahndet und ahndet, bis es auf einmal klar wird, daß es ein Bewohner der höhern Welt geweſen ſey. Die Kaufleute erhielten eine große Menge Beſtellungen, und man trennte ſich gegenſeitig mit herzlichen Wünſchen, ein¬ ander bald wieder zu ſehn. Auf einem die¬ ſer Schlöſſer, wo ſie gegen Abend hinkamen, ging es frölich zu. Der Herr des Schloſſes war ein alter Kriegsmann, der die Muße des Friedens, und die Einſamkeit ſeines Auf¬ enthalts mit öftern Gelagen feyerte und un¬ terbrach, und außer dem Kriegsgetümmel und der Jagd keinen andern Zeitvertreib kannte, als den gefüllten Becher.

Er empfing die Ankommenden mit brü¬107 derlicher Herzlichkeit, mitten unter lärmenden Genoſſen. Die Mutter ward zur Haus¬ frau geführt. Die Kaufleute und Heinrich mußten ſich an die luſtige Tafel ſetzen, wo der Becher tapfer umherging. Heinrichen ward auf vieles Bitten in Rückſicht ſeiner Jugend das jedesmalige Beſcheidthun erlaſ¬ ſen, dagegen die Kaufleute ſich nicht faul finden, ſondern ſich den alten Frankenwein tapfer ſchmecken ließen. Das Geſpräch lief über ehmalige Kriegsabentheuer hin. Hein¬ rich hörte mit großer Aufmerkſamkeit den neuen Erzählungen zu. Die Ritter ſprachen vom heiligen Lande, von den Wundern des heiligen Grabes, von den Abentheuern ihres Zuges, und ihrer Seefahrt, von den Saraze¬ nen, in deren Gewalt einige gerathen gewe¬ ſen waren, und dem frölichen und wunderba¬ ren Leben im Felde und im Lager. Sie äußer¬ ten mit großer Lebhaftigkeit ihren Unwillen108 jene himmliſche Geburtsſtätte der Chriſtenheit noch im frevelhaften Beſitz der Ungläubigen zu wiſſen. Sie erhoben die großen Helden, die ſich eine ewige Krone durch ihr tapfres, unermüdliches Bezeigen gegen dieſes ruchloſe Volk erworben hätten. Der Schloßherr zeigte das koſtbare Schwerdt, was er einem Anführer derſelben mit eigner Hand abge¬ nommen, nachdem er ſein Caſtell erobert, ihn getödtet, und ſeine Frau und Kinder zu Ge¬ fangenen gemacht, welches ihm der Kayſer in ſeinem Wappen zu führen vergönnet hat¬ te. Alle beſahen das prächtige Schwerdt, auch Heinrich nahm es in ſeine Hand, und fühlte ſich von einer kriegeriſchen Begeiſterung er griffen. Er küßte es mit inbrünſtiger An¬ dacht. Die Ritter freuten ſich über ſeinen Antheil. Der Alte umarmte ihn, und mun¬ terte ihn auf, auch ſeine Hand auf ewig der Befreyung des heiligen Grabes zu widmen,109 und das wunderthätige Kreuz auf ſeine Schultern befeſtigen zu laſſen. Er war über¬ raſcht, und ſeine Hand ſchien ſich nicht von dem Schwerdte losmachen zu können. Be¬ ſinne dich, mein Sohn, rief der alte Ritter. Ein neuer Kreuzzug iſt vor der Thür. Der Kayſer ſelbſt wird unſere Schaaren in das Morgenland führen. Durch ganz Europa ſchallt von neuem der Ruf des Kreuzes, und heldenmüthige Andacht regt ſich aller Orten. Wer weiß, ob wir nicht übers Jahr in der großen weltherrlichen Stadt Jeruſalem als frohe Sieger bey einander ſitzen, und uns bey vaterländiſchem Wein an unſere Hey¬ math erinnern. Du kannſt auch bey mir ein morgenländiſches Mädgen ſehn. Sie dün¬ ken uns Abendländern gar anmuthig, und wenn du das Schwerdt gut zu führen ver¬ ſtehſt, ſo kann es dir an ſchönen Gefangenen nicht fehlen. Die Ritter ſangen mit lauter110 Stimme den Kreuzgeſang, der damals in ganz Europa geſungen wurde:

Das Grab ſteht unter wilden Heyden;
Das Grab, worinn der Heyland lag,
Muß Frevel und Verſpottung leiden
Und wird entheiligt jeden Tag.
Es klagt heraus mit dumpfer Stimme:
Wer rettet mich von dieſem Grimme!
Wo bleiben ſeine Heldenjünger?
Verſchwunden iſt die Chriſtenheit!
Wer iſt des Glaubens Wiederbringer?
Wer nimmt das Kreuz in dieſer Zeit?
Wer bricht die ſchimpflichſten der Ketten,
Und wird das heil'ge Grab erretten?
Gewaltig geht auf Land und Meeren
In tiefer Nacht ein heil'ger Sturm;
Die trägen Schläfer aufzuſtören,
Umbrauſt er Lager, Stadt und Thurm,
111
Ein Klaggeſchrey um alle Zinnen:
Auf, träge Chriſten, zieht von hinnen.
Es laſſen Engel aller Orten
Mit ernſtem Antlitz ſtumm ſich ſehn,
Und Pilger ſieht man vor den Pforten
Mit kummervollen Wangen ſtehn;
Sie klagen mit den bängſten Tönen
Die Grauſamkeit der Sarazenen.
Es bricht ein Morgen, roth und trübe,
Im weiten Land der Chriſten an.
Der Schmerz der Wehmuth und der Liebe
Verkündet ſich bey Jedermann.
Ein jedes greift nach Kreuz und Schwerdte
Und zieht entflammt von ſeinem Heerde.
Ein Feuereifer tobt im Heere,
Das Grab des Heylands zu befreyn.
Sie eilen frölich nach dem Meere,
112
Um bald auf heil'gem Grund zu ſeyn.
Auch Kinder kommen noch gelaufen
Und mehren den geweihten Haufen.
Hoch weht das Kreuz im Siegspaniere,
Und alte Helden ſtehn voran.
Des Paradieſes ſel'ge Thüre
Wird frommen Kriegern aufgethan;
Ein jeder will das Glück genießen
Sein Blut für Chriſtus zu vergießen.
Zum Kampf ihr Chriſten! Gottes Schaaren
Ziehn mit in das gelobte Land.
Bald wird der Heyden Grimm erfahren
Des Chriſtengottes Schreckenshand.
Wir waſchen bald in frohem Muthe
Das heilige Grab mit Heydenblute.
Die heil'ge Jungfrau ſchwebt, getragen
Von Engeln, ob der wilden Schlacht,
Wo113
Wo jeder, den das Schwerdt geſchlagen,
In ihrem Mutterarm erwacht.
Sie neigt ſich mit verklärter Wange
Herunter zu dem Waffenklange.
Hinüber zu der heilgen Stätte!
Des Grabes dumpfe Stimme tönt!
Bald wird mit Sieg und mit Gebete
Die Schuld der Chriſtenheit verſöhnt!
Das Reich der Heyden wird ſich enden,
Iſt erſt das Grab in unſern Händen.

Heinrichs ganze Seele war in Aufruhr, das Grab kam ihm wie eine bleiche, edle, jugend¬ liche Geſtalt vor, die auf einem großen Stein mitten unter wildem Pöbel ſäße, und auf ei¬ ne entſetzliche Weiſe gemißhandelt würde, als wenn ſie mit kummervollen Geſichte nach einem Kreuze blicke, was im Hintergrunde mit lichten Zügen ſchimmerte, und ſich in denH114bewegten Wellen eines Meeres unendlich vervielfältigte.

Seine Mutter ſchickte eben herüber, um ihn zu holen, und der Hausfrau des Ritters vorzuſtellen. Die Ritter waren in ihr Gelag und ihre Vorſtellungen des bevorſtehenden Zuges vertieft, und bemerkten nicht, daß Heinrich ſich entfernte. Er fand ſeine Mut¬ ter in traulichem Geſpräch mit der alten, gutmüthigen Frau des Schloſſes, die ihn freundlich bewillkommte. Der Abend war heiter; die Sonne begann ſich zu neigen, und Heinrich, der ſich nach Einſamkeit ſehn¬ te, und von der goldenen Ferne gelockt wur¬ de, die durch die engen, tiefen Bogenfenſter in das düſtre Gemach hineintrat, erhielt leicht die Erlaubniß, ſich außerhalb des Schloſſes beſehen zu dürfen. Er eilte ins Freye, ſein ganzes Gemüth war rege, er ſah von der Höhe des alten Felſen zunächſt in115 das waldige Thal, durch das ein Bach her¬ unterſtürzte und einige Mühlen trieb, deren Geräuſch man kaum aus der gewaltigen Tiefe vernehmen konnte, und dann in eine unabſehliche Ferne von Bergen, Wäldern und Niederungen, und ſeine innere Unruhe wurde beſänftigt. Das kriegeriſche Getüm¬ mel verlor ſich, und es blieb nur eine klare bilderreiche Sehnſucht zurück. Er fühlte, daß ihm eine Laute mangelte, ſo wenig er auch wußte, wie ſie eigentlich gebaut ſey, und welche Wirkung ſie hervorbringe. Das hei¬ tere Schauſpiel des herrlichen Abends wiegte ihn in ſanfte Fantaſieen: die Blume ſeines Herzens ließ ſich zuweilen, wie ein Wetter¬ leuchten in ihm ſehn. Er ſchweifte durch das wilde Gebüſch und kletterte über be¬ mooſte Felſenſtücke, als auf einmal aus einer nahen Tiefe ein zarter eindringender Geſang einer weiblichen Stimme von wunderbaren116 Tönen begleitet, erwachte. Es war ihm ge¬ wiß, daß es eine Laute ſey; er blieb verwun¬ derungsvoll ſtehen, und hörte in gebrochner deutſcher Ausſprache folgendes Lied:

Bricht das matte Herz noch immer
Unter fremdem Himmel nicht?
Kommt der Hoffnung bleicher Schimmer
Immer mir noch zu Geſicht?
Kann ich wohl noch Rückkehr wähnen?
Stromweis ſtürzen meine Thränen,
Bis mein Herz in Kummer bricht.
Könnt ich dir die Myrthen zeigen
Und der Zeder dunkles Haar!
Führen dich zum frohen Reigen
Der geſchwiſterlichen Schaar!
Sähſt du im geſtickten Kleide,
Stolz im köſtlichen Geſchmeide
Deine Freundinn, wie ſie war.
117
Edle Jünglinge verneigen
Sich mit heißem Blick vor ihr;
Zärtliche Geſänge ſteigen
Mit dem Abendſtern zu mir.
Dem Geliebten darf man trauen;
Ewge Lieb 'und Treu den Frauen,
Iſt der Männer Loſung hier.
Hier, wo um kryſtallne Quellen
Liebend ſich der Himmel legt,
Und mit heißen Balſamwellen
Um den Hayn zuſammenſchlägt,
Der in ſeinen Luſtgebieten,
Unter Früchten, unter Blüthen
Tauſend bunte Sänger hegt.
Fern ſind jene Jugendträume!
Abwärts liegt das Vaterland!
Längſt gefällt ſind jene Bäume,
Und das alte Schloß verbrannt.
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Fürchterlich, wie Meereswogen
Kam ein rauhes Heer gezogen,
Und das Paradies verſchwand.
Fürchterliche Gluten floſſen
In die blaue Luft empor,
Und es drang auf ſtolzen Roſſen
Eine wilde Schaar ins Thor.
Säbel klirrten, unſre Brüder,
Unſer Vater kam nicht wieder,
Und man riß uns wild hervor.
Meine Augen wurden trübe;
Fernes, mütterliches Land,
Ach! ſie bleiben dir voll Liebe
Und voll Sehnſucht zugewandt!
Wäre nicht dies Kind vorhanden,
Längſt hätt 'ich des Lebens Banden
Aufgelöſt mit kühner Hand.
119

Heinrich hörte das Schluchzen eines Kin¬ des und eine tröſtende Stimme. Er ſtieg tie¬ fer durch das Gebüſch hinab, und fand ein bleiches, abgehärmtes Mädchen unter einer alten Eiche ſitzen. Ein ſchönes Kind hing wei¬ nend an ihrem Halſe, auch ihre Thränen floſſen, und eine Laute lag neben ihr auf dem Raſen. Sie erſchrack ein wenig, als ſie den fremden Jüngling erblickte, der mit wehmü¬ thigem Geſicht ſich ihr näherte.

Ihr habt wohl meinen Geſang gehört, ſagte ſie freundlich. Euer Geſicht dünkt mir bekannt, laßt mich beſinnen Mein Ge¬ dächtniß iſt ſchwach geworden, aber euer An¬ blick erweckt in mir eine ſonderbare Erinne¬ rung aus frohen Zeiten. O! mir iſt, als glicht ihr einem meiner Brüder, der noch vor unſerm Unglück von uns ſchied, und nach Per¬ ſien zu einem berühmten Dichter zog. Viel¬ leicht lebt er noch, und beſingt traurig das120 Unglück ſeiner Geſchwiſter. Wüßt ich nur noch einige ſeiner herrlichen Lieder, die er uns hinterließ! Er war edel und zärtlich, und kannte kein größeres Glück als ſeine Laute. Das Kind war ein Mädchen von zehn bis zwölf Jahren, das den fremden Jüngling auf¬ merkſam betrachtete und ſich feſt an den Bu¬ ſen der unglücklichen Zulima ſchmiegte. Hein¬ richs Herz war von Mitleid durchdrungen; er tröſtete die Sängerin mit freundlichen Wor¬ ten, und bat ſie, ihm umſtändlicher ihre Ge¬ ſchichte zu erzählen. Sie ſchien es nicht un¬ gern zu thun. Heinrich ſetzte ſich ihr gegen¬ über und vernahm ihre von häufigen Thränen unterbrochne Erzählung. Vorzüglich hielt ſie ſich bei dem Lobe ihrer Landsleute und ihres Vaterlandes auf. Sie ſchilderte den Edel¬ muth derſelben, und ihre reine ſtarke Em¬ pfänglichkeit für die Poeſie des Lebens und die wunderbare, geheimnißvolle Anmuth der121 Natur. Sie beſchrieb die romantiſchen Schön¬ heiten der fruchtbaren Arabiſchen Gegenden, die wie glückliche Inſeln in unwegſamen Sand¬ wüſteneien lägen, wie Zufluchtsſtätte der Be¬ drängten und Ruhebedürftige〈…〉〈…〉, wie Kolonien des Paradieſes, voll friſcher Quellen, die über dichten Raſen und funkelnde Steine durch al¬ te, ehrwürdige Haine rieſelten, voll bunter Vögel mit melodiſchen Kehlen und anziehend durch mannichfaltige Überbleibſel ehemaliger denkwürdiger Zeiten. Ihr würdet mit Ver¬ wunderung, ſagte ſie, die buntfarbigen, hel¬ len, ſeltſamen Züge und Bilder auf den al¬ ten Steinplatten ſehn. Sie ſcheinen ſo be¬ kannt und nicht ohne Urſach ſo wohl erhalten zu ſeyn. Man ſinnt und ſinnt, einzelne Be¬ deutungen ahnet man, und wird um ſo be¬ gieriger den tiefſinnigen Zuſammenhang dieſer uralten Schrift zu errathen. Der unbekannte Geiſt derſelben erregt ein ungewöhnliches122 Nachdenken, und wenn man auch ohne den gewünſchten Fund von dannen geht, ſo hat man doch tauſend merkwürdige Entdeckungen in ſich ſelbſt gemacht, die dem Leben einen neuen Glanz und dem Gemüth eine lange, belohnende Beſchäftigung geben. Das Leben auf einem längſt bewohnten und ehemals ſchon durch Fleiß, Thätigkeit und Neigung verherrlichten Boden hat einen beſondern Reiz. Die Natur ſcheint dort menſchlicher und verſtändlicher geworden, eine dunkle Er¬ innerung unter der durchſichtigen Gegenwart wirft die Bilder der Welt mit ſcharfen Um¬ riſſen zurück, und ſo genießt man eine dop¬ pelte Welt, die eben dadurch das Schwere und Gewaltſame verliert und die zauberiſche Dichtung und Fabel unſerer Sinne wird. Wer weiß, ob nicht auch ein unbegreiflicher Einfluß der ehemaligen, jetzt unſichtbaren Be¬ wohner mit ins Spiel kommt, und vielleicht123 iſt es dieſer dunkle Zug, der die Menſchen aus neuen Gegenden, ſobald eine gewiſſe Zeit ihres Erwachens kömmt, mit ſo zerſtö¬ render Ungeduld nach der alten Heymath ih¬ res Geſchlechts treibt, und ſie Gut und Blut an den Beſitz dieſer Länder zu wagen an¬ regt. Nach einer Pauſe fuhr ſie fort: Glaubt ja nicht, was man euch von den Grauſamkeiten meiner Landsleute erzählt hat. Nirgends wurden Gefangene großmü¬ thiger behandelt, und auch eure Pilger nach Jeruſalem wurden mit Gaſtfreundſchaft auf¬ genommen, nur daß ſie ſelten derſelben werth waren. Die Meiſten waren nichts¬ nutzige, böſe Menſchen, die ihre Wallfahrten mit Bubenſtücken bezeichneten, und dadurch freylich oft gerechter Rache in die Hände fie¬ len. Wie ruhig hätten die Chriſten das hei¬ lige Grab beſuchen können, ohne nöthig zu haben, einen fürchterlichen, unnützen Krieg124 anzufangen, der alles erbittert, unendliches Elend verbreitet, und auf immer das Mor¬ genland von Europa getrennt hat. Was lag an dem Namen des Beſitzers? Unſere Fürſten ehrten andachtsvoll das Grab eures Heiligen, den auch wir für einen göttlichen Profeten halten; und wie ſchön hätte ſein heiliges Grab die Wiege eines glücklichen Einverſtändniſſes, der Anlaß ewiger wohl¬ thätiger Bündniſſe werden können!

Der Abend war unter ihren Geſprächen herbeygekommen. Es fing an Nacht zu wer¬ den, und der Mond hob ſich aus dem feuch¬ ten Walde mit beruhigendem Glanze her¬ auf. Sie ſtiegen langſam nach dem Schloſ¬ ſe; Heinrich war voll Gedanken, die kriegeri¬ ſchere Begeiſterung war gänzlich verſchwun¬ den. Er merkte eine wunderliche Verwirrung in der Welt; der Mond zeigte ihm das Bild eines tröſtenden Zuſchauers und erhob125 ihn über die Unebenheiten der Erdoberfläche, die in der Höhe ſo unbeträchtlich erſchienen, ſo wild und unerſteiglich ſie auch dem Wan¬ derer vorkamen. Zulima ging ſtill neben ihm her, und führte das Kind. Heinrich trug die Laute. Er ſuchte die ſinkende Hoffnung ſei¬ ner Begleiterinn, ihr Vaterland dereinſt wie¬ der zu ſehn, zu beleben, indem er innerlich einen heftigen Beruf fühlte, ihr Retter zu ſeyn, ohne zu wiſſen, auf welche Art es ge¬ ſchehen könne. Eine beſondere Kraft ſchien in ſeinen einfachen Worten zu liegen, denn Zu¬ lima empfand eine ungewohnte Beruhigung und dankte ihm für ſeine Zuſprache auf die rührendſte Weiſe. Die Ritter waren noch bey ihren Bechern und die Mutter in häus¬ lichen Geſprächen. Heinrich hatte keine Luſt in den lärmenden Saal zurückzugehn. Er fühlte ſich müde, und begab ſich bald mit ſeiner Mutter in das angewieſene Schlafge¬126 mach. Er erzählte ihr vor dem Schlafengehn, was ihm begegnet ſey, und ſchlief bald zu unterhaltenden Träumen ein. Die Kaufleute hatten ſich auch zeitig fortbegeben, und wa¬ ren früh wieder munter. Die Ritter lagen in tiefer Ruhe, als ſie abreiſten; die Hausfrau aber nahm zärtlichen Abſchied. Zulima hatte wenig geſchlafen, eine innere Freude hatte ſie wach erhalten; ſie erſchien beym Abſchiede, und bediente die Reiſenden demüthig und emſig. Als ſie Abſchied nah¬ men brachte ſie mit vielen Thränen ihre Laute zu Heinrich, und bat mit rührender Stimme, ſie zu Zulimas Andenken mitzuneh¬ men. Es war meines Bruders Laute, ſagte ſie, der ſie mir beym Abſchied ſchenkte; es iſt das einzige Beſitzthum, was ich gerettet ha¬ be. Sie ſchien euch geſtern zu gefallen, und ihr laßt mir ein unſchätzbares Geſchenk zu¬ rück, ſüße Hoffnung. Nehmt dieſes geringe127 Zeichen meiner Dankbarkeit, und laßt es ein Pfand eures Andenkens an die arme Zulima ſeyn. Wir werden uns gewiß wiederſehn, und dann bin ich vielleicht glücklicher. Hein¬ rich weinte; er weigerte ſich, dieſe ihr ſo un¬ entbehrliche Laute anzunehmen: gebt mir, ſagte er, das goldene Band mit den unbe¬ kannten Buchſtaben aus euren Haaren, wenn es nicht ein Andenken eurer Eltern oder Ge¬ ſchwiſter iſt, und nehmt dagegen einen Schleyer an, den mir meine Mutter gern abtreten wird. Sie wich endlich ſeinem Zure¬ den und gab ihm das Band, indem ſie ſag¬ te, Es iſt mein Name in den Buchſtaben meiner Mutterſprache, den ich in beſſern Zei¬ ten ſelbſt in dieſes Band geſtickt habe. Be¬ trachtet es gern, und denkt, daß es eine lan¬ ge, kummervolle Zeit meine Haare feſtgehal¬ ten hat, und mit ſeiner Beſitzerin verbleicht128 iſt. Heinrichs Mutter zog den Schleyer her¬ aus, und reichte ihr ihn hin, indem ſie ſie an ſich zog und weinend umarmte.

Fünf¬129

Fünftes Kapitel.

Nach einigen Tagereiſen kamen ſie an ein Dorf, am Fuße einiger ſpitzen Hügel, die von tiefen Schluchten unterbrochen waren. Die Gegend war übrigens fruchtbar und an¬ genehm, ohngeachtet die Rücken der Hügel ein todtes, abſchreckendes Anſehn hatten. Das Wirthshaus war reinlich, die Leute be¬ reitwillig, und eine Menge Menſchen, theils Reiſende, theils bloße Trinkgäſte, ſaßen in der Stube, und unterhielten ſich von aller¬ hand Dingen.

Unſre Reiſenden geſellten ſich zu ihnen, und miſchten ſich in die Geſpräche. Die Auf¬ merkſamkeit der Geſellſchaft war vorzüglich auf einen alten Mann gerichtet, der in frem¬ der Tracht an einem Tiſche ſaß, und freund¬ lich die neugierigen Fragen beantwortete, dieI130an ihn geſchahen. Er kam aus fremden Lan¬ den, hatte ſich heute früh die Gegend umher genau betrachtet, und erzählte nun von ſei¬ nem Gewerbe und ſeinen heutigen Entdeckun¬ gen. Die Leute nannten ihn einen Schatzgrä¬ ber. Er ſprach aber ſehr beſcheiden von ſei¬ nen Kenntniſſen und ſeiner Macht, doch tru¬ gen ſeine Erzählungen das Gepräge der Seltſamkeit und Neuheit. Er erzählte, daß er aus Böhmen gebürtig ſey. Von Jugend auf habe er eine heftige Neugierde gehabt zu wiſſen, was in den Bergen verborgen ſeyn müſſe, wo das Waſſer in den Quellen her¬ komme, und wo das Gold und Silber und die köſtlichen Steine gefunden würden, die den Menſchen ſo unwiderſtehlich an ſich zö¬ gen. Er habe in der nahen Kloſterkirche oft dieſe feſten Lichter an den Bildern und Reli¬ quien betrachtet, und nur gewünſcht, daß ſie zu ihm reden könnten, um ihm von ihrer ge¬131 heimnißvollen Herkunft zu erzählen. Er habe wohl zuweilen gehört, daß ſie aus weit ent¬ legenen Ländern kämen; doch habe er immer gedacht, warum es nicht auch in dieſen Ge¬ genden ſolche Schätze und Kleinodien geben könne. Die Berge ſeyen doch nicht umſonſt ſo weit im Umfange und erhaben und ſo feſt verwahrt; auch habe es ihm verdünkt, wie wenn er zuweilen auf den Gebirgen glänzen¬ de und flimmernde Steine gefunden hätte. Er ſey fleißig in den Felſenritzen und Höh¬ len umhergeklettert, und habe ſich mit unaus¬ ſprechlichem Vergnügen in dieſen uralten Hallen und Gewölben umgeſehn. Endlich ſey ihm einmal ein Reiſender begegnet, der zu ihm geſagt, er müſſe ein Bergmann wer¬ den, da könne er die Befriedigung ſeiner Neugier finden. In Böhmen gäbe es Berg¬ werke. Er ſolle nur immer an dem Fluſſe hinuntergehn, nach zehn bis zwölf Tagen132 werde er in Eula ſeyn, und dort dürfe er nur ſprechen, daß er gern ein Bergmann werden wolle. Er habe ſich dies nicht zwey¬ mal ſagen laſſen, und ſich gleich den andern