PRIMS Full-text transcription (HTML)
Heinrich von Ofterdingen.
Ein nachgelaſſener Roman
Zwei Theile.
Berlin,1802.In derBuchhandlung der Realſchule.
[1]

Heinrich von Ofterdingen.

Erſter Theil. Die Erwartung.

A[2][3]

Zueignung.

Du haſt in mir den edeln Trieb er¬ regt
Tief ins Gemüth der weiten Welt zu ſchauen;
Mit deiner Hand ergriff mich ein Vertrauen,
Das ſicher mich durch alle Stürme trägt.
4
Mit Ahndungen haſt du das Kind ge¬ pflegt,
Und zogſt mit ihm durch fabelhafte Auen;
Haſt, als das Urbild zartgeſinnter Frauen,
Des Jünglings Herz zum höchſten Schwung bewegt.
Was feſſelt mich an irdiſche Beſchwer¬ den?
Iſt nicht mein Herz und Leben ewig Dein?
Und ſchirmt mich Deine Liebe nicht auf Erden?
Ich darf für Dich der edlen Kunſt mich weihn;
Denn Du, Geliebte, willſt die Muſe werden,
Und ſtiller Schutzgeiſt meiner Dichtung ſeyn.
5
In ewigen Verwandlungen begrüßt
Uns des Geſangs geheime Macht hie¬ nieden,
Dort ſegnet ſie das Land als ew'¬ ger Frieden,
Indeß ſie hier als Jugend uns um¬ fließt.
Sie iſt's, die Licht in unſre Augen gießt,
Die uns den Sinn für jede Kunſt beſchieden,
Und die das Herz der Frohen und der Müden
In trunkner Andacht wunderbar ge¬ nießt.
An ihrem vollen Buſen trank ich Leben;
Ich ward durch ſie zu allem, was ich bin,
Und durfte froh mein Angeſicht er¬ heben.
6
Noch ſchlummerte mein allerhöchſter Sinn;
Da ſah ich ſie als Engel zu mir ſchweben,
Und flog, erwacht, in ihrem Arm dahin.
[7]

Erſtes Kapitel.

Die Eltern lagen ſchon und ſchliefen, die Wanduhr ſchlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenſtern ſauſte der Wind; abwechſelnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf ſeinem Lager, und gedachte des Fremden und ſeiner Er¬ zählungen. Nicht die Schätze ſind es, die ein ſo unausſprechliches Verlangen in mir geweckt haben, ſagte er zu ſich ſelbſt; fern ab liegt mir alle Habſucht: aber die blaue8 Blume ſehn 'ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So iſt mir noch nie zu Muthe geweſen: es iſt, als hätt' ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeſchlummert; denn in der Welt, in der ich ſonſt lebte, wer hätte da ſich um Blumen bekümmert, und gar von einer ſo ſeltſamen Leidenſchaft für eine Blume hab 'ich damals nie gehört. Wo eigentlich nur der Fremde herkam? Keiner von uns hat je einen ähnlichen Men¬ ſchen geſehn; doch weiß ich nicht, warum nur ich von ſeinen Reden ſo ergriffen wor¬ den bin; die Andern haben ja das Nämliche gehört, und Keinem iſt ſo etwas begegnet. Daß ich auch nicht einmal von meinem wun¬ derlichen Zuſtande reden kann! Es iſt mir oft ſo entzückend wohl, und nur dann, wenn ich die Blume nicht recht gegenwärtig habe,9 befällt mich ſo ein tiefes, inniges Treiben: das kann und wird Keiner verſtehn. Ich glaubte, ich wäre wahnſinnig, wenn ich nicht ſo klar und hell ſähe und dächte, mir iſt ſeitdem alles viel bekannter. Ich hörte einſt von alten Zeiten reden; wie da die Thiere und Bäume und Felſen mit den Menſchen geſprochen hätten. Mir iſt grade ſo, als wollten ſie allaugenblicklich an¬ fangen, und als könnte ich es ihnen anſe¬ hen, was ſie mir ſagen wollten. Es muß noch viel Worte geben, die ich nicht weiß: wüßte ich mehr, ſo könnte ich viel beſſer al¬ les begreifen. Sonſt tanzte ich gern; jezt denke ich lieber nach der Muſik. Der Jüng¬ ling verlohr ſich allmählich in ſüßen Fanta¬ ſien und entſchlummerte. Da träumte ihm erſt von unabſehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wun¬10 derliche Thiere ſah er; er lebte mit mannich¬ faltigen Menſchen, bald im Kriege, in wil¬ dem Getümmel, in ſtillen Hütten. Er ge¬ rieth in Gefangenſchaft und die ſchmählichſte Noth. Alle Empfindungen ſtiegen bis zu ei¬ ner niegekannten Höhe in ihm. Er durch¬ lebte ein unendlich buntes Leben; ſtarb und kam wieder, liebte bis zur höchſten Leiden¬ ſchaft, und war dann wieder auf ewig von ſeiner Geliebten getrennt. Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung an¬ brach, wurde es ſtiller in ſeiner Seele, kla¬ rer und bleibender wurden die Bilder. Es kam ihm vor, als ginge er in einem dun¬ keln Walde allein. Nur ſelten ſchimmerte der Tag durch das grüne Netz. Bald kam er vor eine Felſenſchlucht, die bergan ſtieg. Er mußte über bemooſte Steine klettern, die ein ehemaliger Strom herunter geriſſen hat¬ te. Je höher er kam, deſto lichter wurde11 der Wald. Endlich gelangte er zu einer kleinen Wieſe, die am Hange des Berges lag. Hinter der Wieſe erhob ſich eine hohe Klippe, an deren Fuß er eine Öefnung er¬ blickte, die der Anfang eines in den Felſen gehauenen Ganges zu ſeyn ſchien. Der Gang führte ihn gemächlich eine Zeitlang eben fort, bis zu einer großen Weitung, aus der ihm ſchon von fern ein helles Licht ent¬ gegen glänzte. Wie er hineintrat, ward er einen mächtigen Strahl gewahr, der wie aus einem Springquell bis an die Decke des Gewölbes ſtieg, und oben in unzählige Fun¬ ken zerſtäubte, die ſich unten in einem gro¬ ßen Becken ſammelten; der Strahl glänzte wie entzündetes Gold; nicht das mindeſte Geräuſch war zu hören, eine heilige Stille umgab das herrliche Schauſpiel. Er näherte ſich dem Becken, das mit unendlichen Far¬ ben wogte und zitterte. Die Wände der12 Höhle waren mit dieſer Flüſſigkeit überzo¬ gen, die nicht heiß, ſondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von ſich warf. Er tauchte ſeine Hand in das Becken und benetzte ſeine Lip¬ pen. Es war, als durchdränge ihn ein gei¬ ſtiger Hauch, und er fühlte ſich innigſt ge¬ ſtärkt und erfriſcht. Ein unwiderſtehliches Verlangen ergriff ihn ſich zu baden, er ent¬ kleidete ſich und ſtieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflöſſe ihn eine Wolke des Abendroths; eine himmliſche Empfindung überſtrömte ſein Inneres; mit inniger Wol¬ luſt ſtrebten unzählbare Gedanken in ihm ſich zu vermiſchen; neue, niegeſehene Bilder entſtanden, die auch in einander floſſen und zu ſichtbaren Weſen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements ſchmiegte ſich wie ein zarter Buſen an ihn. Die Flut ſchien eine Auflöſung reizender Mädchen, die13 an dem Jünglinge ſich augenblicklich verkör¬ perten.

Berauſcht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt, ſchwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Bek¬ ken in den Felſen hineinfloß. Eine Art von ſüßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeſchreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand ſich auf einem weichen Raſen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinaus¬ quoll und ſich darin zu verzehren ſchien. Dunkelblaue Felſen mit bunten Adern erho¬ ben ſich in einiger Entfernung; das Tages¬ licht das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war ſchwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächſt an der Quelle ſtand, und ihn mit ihren breiten, glänzen¬14 den Blättern berührte. Rund um ſie her ſtanden unzählige Blumen von allen Farben, und der köſtlichſte Geruch erfüllte die Luft. Er ſah nichts als die blaue Blume, und be¬ trachtete ſie lange mit unnennbarer Zärtlich¬ keit. Endlich wollte er ſich ihr nähern, als ſie auf einmal ſich zu bewegen und zu ver¬ ändern anfing; die Blätter wurden glän¬ zender und ſchmiegten ſich an den wachſen¬ den Stengel, die Blume neigte ſich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten ei¬ nen blauen ausgebreiteten Kragen, in wel¬ chem ein zartes Geſicht ſchwebte. Sein ſü¬ ßes Staunen wuchs mit der ſonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme ſeiner Mutter weckte, und er ſich in der el¬ terlichen Stube fand, die ſchon die Morgen¬ ſonne vergoldete. Er war zu entzückt, um unwillig über dieſe Störung zu ſeyn; vielmehr bot er ſeiner Mutter freundlich guten Mor¬ gen und erwiederte ihre herzliche Umarmung.

15

Du Langſchläfer, ſagte der Vater, wie lange ſitze ich ſchon hier, und feile. Ich ha¬ be deinetwegen nichts hämmern dürfen; die Mutter wollte den lieben Sohn ſchlafen laſ¬ ſen. Aufs Frühſtück habe ich auch warten müſſen. Klüglich haſt du den Lehrſtand er¬ wählt, für den wir wachen und arbeiten. Indeß ein tüchtiger Gelehrter, wie ich mir habe ſagen laſſen, muß auch Nächte zu Hül¬ fe nehmen, um die großen Werke der weiſen Vorfahren zu ſtudiren. Lieber Vater, ant¬ wortete Heinrich, werdet nicht unwillig über meinen langen Schlaf, den ihr ſonſt nicht an mir gewohnt ſeid. Ich ſchlief erſt ſpät ein, und habe viele unruhige Träume ge¬ habt, bis zuletzt ein anmuthiger Traum mir erſchien, den ich lange nicht vergeſſen werde, und von dem mich dünkt, als ſey es mehr als bloßer Traum geweſen. Lieber Heinrich, ſprach die Mutter, du haſt dich gewiß auf16 den Rücken gelegt, oder beim Abendſegen fremde Gedanken gehabt. Du ſiehſt auch noch ganz wunderlich aus. und trink, daß du munter wirſt.

Die Mutter ging hinaus, der Vater ar¬ beitete emſig fort und ſagte: Träume ſind Schäume, mögen auch die hochgelahrten Herren davon denken, was ſie wollen, und du thuſt wohl, wenn du dein Gemüth von dergleichen unnützen und ſchädlichen Betrach¬ tungen abwendeſt. Die Zeiten ſind nicht mehr, wo zu den Träumen göttliche Geſichte ſich geſellten, und wir können und werden es nicht begreifen, wie es jenen auserwählten Männern, von denen die Bibel erzählt, zu Muthe geweſen iſt. Damals muß es eine andere Beſchaffenheit mit den Träumen ge¬ habt haben, ſo wie mit den menſchlichen Dingen.

In17

In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr Statt. Die alten Ge¬ ſchichten und Schriften ſind jetzt die einzigen Quellen, durch die uns eine Kenntniß von der überirdiſchen Welt, ſo weit wir ſie nö¬ thig haben, zu Theil wird; und ſtatt jener ausdrücklichen Offenbarungen redet jetzt der heilige Geiſt mittelbar durch den Verſtand kluger und wohlgeſinnter Männer und durch die Lebensweiſe und die Schickſale frommer Menſchen zu uns. Unſre heutigen Wunder¬ bilder haben mich nie ſonderlich erbaut, und ich habe nie jene großen Thaten geglaubt, die unſre Geiſtlichen davon erzählen. Indeß mag ſich daran erbauen, wer will, und ich hüte mich wohl jemanden in ſeinem Ver¬ trauen irre zu machen. Aber, lieber Vater, aus welchem Grunde ſeyd Ihr ſo den Träu¬ men entgegen, deren ſeltſame Verwandlun¬B18gen und leichte zarte Natur doch unſer Nachdenken gewißlich rege machen müſſen? Iſt nicht jeder, noch der verworrenſte Traum, eine ſonderliche Erſcheinung, die auch ohne noch an göttliche Schickung da¬ bey zu denken, ein bedeutſamer Riß in den geheimnißvollen Vorhang iſt, der mit tau¬ ſend Falten in unſer Inneres hereinfällt? In den weiſeſten Büchern findet man unzäh¬ lige Traumgeſchichten von glaubhaften Men¬ ſchen, und erinnert Euch nur noch des Traums, den uns neulich der ehrwürdige Hofkaplan erzählte, und der Euch ſelbſt ſo merkwürdig vorkam.

Aber, auch ohne dieſe Geſchichten, wenn Ihr zuerſt in Eurem Leben einen Traum hättet, wie würdet Ihr nicht erſtaunen, und Euch die Wunderbarkeit dieſer uns nur all¬ täglich gewordenen Begebenheit gewiß nicht abſtreiten laſſen! Mich dünkt der Traum19 eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freye Erholung der gebundenen Fantaſie, wo ſie alle Bilder des Lebens durcheinander wirft, und die beſtändige Ernſthaftigkeit des er¬ wachſenen Menſchen durch ein fröhliches Kinderſpiel unterbricht. Ohne die Träume würden wir gewiß früher alt, und ſo kann man den Traum, wenn auch nicht als un¬ mittelbar von oben gegeben, doch als eine göttliche Mitgabe, einen freundlichen Beglei¬ ter auf der Wallfahrt zum heiligen Grabe betrachten. Gewiß iſt der Traum, den ich heute Nacht träumte, kein unwirkſamer Zu¬ fall in meinem Leben geweſen, denn ich füh¬ le es, daß er in meine Seele wie ein weites Rad hineingreift, und ſie in mächtigem Schwunge forttreibt.

Der Vater lächelte freundlich und ſagte, indem er die Mutter, die eben hereintrat,20 anſah: Mutter, Heinrich kann die Stunde nicht verläugnen, durch die er in der Welt iſt. In ſeinen Reden kocht der feurige wäl¬ ſche Wein, den ich damals von Rom mitge¬ bracht hatte, und der unſern Hochzeitabend verherrlichte. Damals war ich auch noch ein andrer Kerl. Die ſüdliche Luft hatte mich aufgethaut, von Muth und Luſt floß ich über, und du warſt auch ein heißes köſt¬ liches Mädchen. Bey Deinem Vater gings damals herrlich zu; Spielleute und Sänger waren weit und breit herzugekommen, und lange war in Augsburg keine luſtigere Hochzeit gefeyert worden.

Ihr ſpracht vorhin von Träumen, ſagte die Mutter, weißt du wohl, daß du mir damals auch von einem Traume erzählteſt, den du in Rom gehabt hatteſt, und der dich zuerſt auf den Gedanken gebracht, zu uns nach Augsburg zu kommen, und um mich21 zu werben? Du erinnerſt mich eben zur rechten Zeit, ſagte der Alte; ich habe dieſen ſeltſamen Traum ganz vergeſſen, der mich damals lange genug beſchäftigte; aber eben er iſt mir ein Beweis deſſen, was ich von den Träumen geſagt habe. Es iſt unmög¬ lich einen geordneteren und helleren zu ha¬ ben; noch jetzt entſinne ich mich jedes Um¬ ſtandes ganz genau; und doch, was hat er bedeutet? Daß ich von dir träumte, und mich bald darauf von Sehnſucht ergriffen fühlte, dich zu beſitzen, war ganz natürlich: denn ich kannte dich ſchon. Dein freundli¬ ches holdes Weſen hatte mich gleich anfangs lebhaft gerührt, und nur die Luſt nach der Fremde hielt damals meinen Wunſch nach deinem Beſitz noch zurück. Um die Zeit des Traums war meine Neugierde ſchon ziemlich geſtillt, und nun konnte die Neigung leichter durchdringen.

22

Erzählt uns doch jenen ſeltſamen Traum, ſagte der Sohn. Ich war eines Abends, fing der Vater an, umhergeſtreift. Der Himmel war rein, und der Mond bekleidete die alten Säulen und Mauern mit ſeinem bleichen ſchauerlichen Lichte. Meine Geſellen gingen den Mädchen nach, und mich trieb das Heimweh und die Liebe ins Freye. Endlich ward ich durſtig und ging ins erſte beſte Landhaus hinein, um einen Trunk Wein oder Milch zu fordern. Ein alter Mann kam heraus, der mich wohl für ei¬ nen verdächtigen Beſuch halten mochte. Ich trug ihm mein Anliegen vor; und als er er¬ fuhr, daß ich ein Ausländer und ein Deut¬ ſcher ſey, lud er mich freundlich in die Stu¬ be und brachte eine Flaſche Wein. Er hieß mich niederſetzen, und fragte mich nach mei¬ nem Gewerbe. Die Stube war voll Bücher und Alterthümer. Wir geriethen in ein23 weitläuftiges Geſpräch; er erzählte mir viel von alten Zeiten, von Mahlern, Bild¬ hauern und Dichtern. Noch nie hatte ich ſo davon reden hören. Es war mir, als ſey ich in einer neuen Welt ans Land geſtiegen. Er wies mir Siegelſteine und andre alte Kunſtarbeiten; dann las er mir mit lebendi¬ gem Feuer herrliche Gedichte vor, und ſo vergieng die Zeit, wie ein Augenblick. Noch jetzt heitert mein Herz ſich auf, wenn ich mich des bunten Gewühls der wunderlichen Gedanken und Empfindungen erinnere, die mich in dieſer Nacht erfüllten. In den heidniſchen Zeiten war er, wie zu Hauſe, und ſehnte ſich mit unglaublicher Inbrunſt in dies graue Alterthum zurück. Endlich wies er mir eine Kammer an, wo ich den Reſt der Nacht zubringen könnte, weil es ſchon zu ſpät ſey, um noch zurückzukehren. Ich ſchlief bald, und da dünkte michs ich ſey24 in meiner Vaterſtadt und wanderte aus dem Thore. Es war, als müßte ich irgend wo¬ hin gehn, um etwas zu beſtellen, doch wu߬ te ich nicht wohin, und was ich verrichten ſolle. Ich ging nach dem Harze mit über¬ aus ſchnellen Schritten, und wohl war mir, als ſey es zur Hochzeit. Ich hielt mich nicht auf dem Wege, ſondern immer feldein durch Thal und Wald, und bald kam ich an ei¬ nen hohen Berg. Als ich oben war, ſah ich die goldne Aue vor mir, und überſchaute Thüringen weit und breit, alſo daß kein Berg in der Nähe umher mir die Ausſicht wehrte. Gegenüber lag der Harz mit ſeinen dunklen Bergen, und ich ſah unzählige Schlöſſer, Klöſter und Ortſchaften. Wie mir nun da recht wohl innerlich ward, fiel mir der alte Mann ein, bei dem ich ſchlief, und es gedäuchte mir, als ſey das vor ge¬ raumer Zeit geſchehn, daß ich bey ihm ge¬25 weſen ſey. Bald gewahrte ich eine Stiege, die in den Berg hinein ging, und ich machte mich hinunter. Nach langer Zeit kam ich in eine große Höhle, da ſaß ein Greis in einem langen Kleide vor einem eiſernen Tiſche, und ſchaute unverwandt nach einem wunder¬ ſchönen Mädchen, die in Marmor gehauen vor ihm ſtand. Sein Bart war durch den eiſernen Tiſch gewachſen und bedeckte ſeine Füße. Er ſah ernſt und freundlich aus, und gemahnte mich wie ein alter Kopf, den ich den Abend bey dem Manne geſehn hatte. Ein glänzendes Licht war in der Höhle ver¬ breitet. Wie ich ſo ſtand und den Greis anſah, klopfte mir plötzlich mein Wirth auf die Schulter, nahm mich bei der Hand und führte mich durch lange Gänge mit ſich fort. Nach einer Weile ſah ich von weitem eine Dämmerung, als wollte das Tageslicht ein¬ brechen. Ich eilte darauf zu, und befand26 mich bald auf einem grünen Plane; aber es ſchien mir alles ganz anders, als in Thürin¬ gen. Ungeheure Bäume mit großen glän¬ zenden Blättern verbreiteten weit umher Schatten. Die Luft war ſehr heiß und doch nicht drückend. Überall Quellen und Blu¬ men und unter allen Blumen gefiel mir Ei¬ ne ganz beſonders, und es kam mir vor, als neigten ſich die Andern gegen ſie.

Ach! liebſter Vater, ſagt mir doch, wel¬ che Farbe ſie hatte, rief der Sohn mit hef¬ tiger Bewegung.

Das entſinne ich mich nicht mehr, ſo ge¬ nau ich mir auch ſonſt alles eingeprägt habe.

War ſie nicht blau?

Es kann ſeyn, fuhr der Alte fort, ohne auf Heinrichs ſeltſame Heftigkeit Achtung zu geben. Soviel weiß ich nur noch, daß mir ganz unausſprechlich zu Muthe war, und ich27 mich lange nicht nach meinem Begleiter um¬ ſah. Wie ich mich endlich zu ihm wandte, bemerkte ich, daß er mich aufmerkſam be¬ trachtete und mir mit inniger Freude zulä¬ chelte. Auf welche Art ich von dieſem Orte wegkam, erinnere ich mir nicht mehr. Ich war wieder oben auf dem Berge. Mein Begleiter ſtand bey mir, und ſagte: du haſt das Wunder der Welt geſehn. Es ſteht bey dir, das glücklichſte Weſen auf der Welt und noch über das ein berühmter Mann zu werden. Nimm wohl in Acht, was ich dir ſage: wenn du am Tage Johannis gegen Abend wieder hieher kommſt, und Gott herzlich um das Verſtändniß dieſes Traumes bitteſt, ſo wird dir das höchſte irdiſche Loos zu Theil werden; dann gieb nur acht, auf ein blaues Blümchen, was du hier oben fin¬ den wirſt, brich es ab, und überlaß dich dann demüthig der himmliſchen Führung.

28

Ich war darauf im Traume unter den herr¬ lichſten Geſtalten und Menſchen, und unend¬ liche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöſt war meine Zunge, und was ich ſprach, klang wie Muſik. Darauf ward al¬ les wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich ſah deine Mutter mit freundlichem, ver¬ ſchämten Blick vor mir; ſie hielt ein glän¬ zendes Kind in den Armen, und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zuſehends wuchs, immer heller und glänzender ward, und ſich endlich mit blendendweißen Flügeln über uns erhob, uns beyde in ſeinen Arm nahm, und ſo hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüſſel mit dem ſauberſten Schnitzwerk ausſah. Dann erinne¬ re ich mir nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von29 heftiger Liebe bewegt. Ich nahm Abſchied von meinem gaſtfreyen Wirth, der mich bat, ihn oft wieder zu beſuchen, was ich ihm zu¬ ſagte, und auch Wort gehalten haben wür¬ de, wenn ich nicht bald darauf Rom verlaſ¬ ſen hätte, und ungeſtüm nach Augsburg ge¬ reiſt wäre.

30

Zweytes Kapitel.

Johannis war vorbei, die Mutter hatte längſt einmal nach Augsburg ins väterliche Haus kommen und dem Großvater den noch unbekannten lieben Enkel mitbringen ſollen. Einige gute Freunde des alten Ofterdingen, ein paar Kaufleute, mußten in Handelsge¬ ſchäften dahin reiſen. Da faßte die Mutter den Entſchluß, bey dieſer Gelegenheit jenen Wunſch auszuführen, und es lag ihr dieß um ſo mehr am Herzen, weil ſie ſeit einiger Zeit merkte, daß Heinrich weit ſtiller und in ſich gekehrter war, als ſonſt. Sie glaubte, er ſey mißmüthig oder krank, und eine weite Reiſe, der Anblick neuer Menſchen und Län¬ der, und wie ſie verſtohlen ahndete, die Rei¬ ze einer jungen Landsmännin würden die31 trübe Laune ihres Sohnes vertreiben, und wieder einen ſo theilnehmenden und lebens¬ frohen Menſchen aus ihm machen, wie er ſonſt geweſen. Der Alte willigte in den Plan der Mutter, und Heinrich war über die Maßen erfreut, in ein Land zu kommen, was er ſchon lange, nach den Erzählungen ſeiner Mutter und mancher Reiſenden, wie ein irdiſches Paradies ſich gedacht, und wo¬ hin er oft vergeblich ſich gewünſcht hatte.

Heinrich war eben zwanzig Jahr alt ge¬ worden. Er war nie über die umliegenden Gegenden ſeiner Vaterſtadt hinausgekom¬ men; die Welt war ihm nur aus Erzählun¬ gen bekannt. Wenig Bücher waren ihm zu Geſichte gekommen. Bey der Hofhaltung des Landgrafen ging es nach der Sitte der damaligen Zeiten einfach und ſtill zu; und die Pracht und Bequemlichkeit des fürſtli¬ chen Lebens dürfte ſich ſchwerlich mit den32 Annehmlichkeiten meſſen, die in ſpätern Zei¬ ten ein bemittelter Privatmann ſich und den Seinigen ohne Verſchwendung verſchaffen konnte. Dafür war aber der Sinn für die Geräthſchaften und Habſeeligkeiten, die der Menſch zum mannichfachen Dienſt ſeines Le¬ bens um ſich her verſammelt, deſto zarter und tiefer. Sie waren den Menſchen wer¬ ther und merkwürdiger. Zog ſchon das Ge¬ heimniß der Natur und die Entſtehung ihrer Körper den ahndenden Geiſt an: ſo erhöhte die ſeltnere Kunſt ihrer Bearbeitung die ro¬ mantiſche Ferne, aus der man ſie erhielt und die Heiligkeit ihres Alterthums, da ſie ſorgfältiger bewahrt, oft das Beſitzthum meh¬ rerer Nachkommenſchaften wurden, die Nei¬ gung zu dieſen ſtummen Gefährten des Le¬ bens. Oft wurden ſie zu dem Rang von geweihten Pfändern eines beſondern Segens und Schickſals erhoben, und das Wohlgan¬33ganzer Reiche und weitverbreiteter Familien hing an ihrer Erhaltung. Eine liebliche Armuth ſchmückte dieſe Zeiten mit einer ei¬ genthümlichen ernſten und unſchuldigen Ein¬ falt; und die ſparſam vertheilten Kleinodien glänzten deſto bedeutender in dieſer Dämme¬ rung, und erfüllten ein ſinniges Gemüth mit wunderbaren Erwartungen. Wenn es wahr iſt, daß erſt eine geſchickte Vertheilung von Licht, Farbe und Schatten die verborgene Herrlichkeit der ſichtbaren Welt offenbart, und ſich hier ein neues höheres Auge aufzu¬ thun ſcheint: ſo war damals überall eine ähnliche Vertheilung und Wirthſchaftlichkeit wahrzunehmen; da hingegen die neuere wohlhabendere Zeit das einförmige und un¬ bedeutendere Bild eines allgemeinen Tages darbietet. In allen Übergängen ſcheint, wie in einem Zwiſchenreiche, eine höhere, geiſtli¬ che Macht durchbrechen zu wollen; und wieC34auf der Oberfläche unſeres Wohnplatzes, die an unterirdiſchen und überirdiſchen Schätzen reichſten Gegenden in der Mitte zwiſchen den wilden, unwirthlichen Urgebirgen und den unermeßlichen Ebenen liegen, ſo hat ſich auch zwiſchen den rohen Zeiten der Barba¬ rey, und dein kunſtreichen, vielwiſſenden und begüterten Weltalter eine tiefſinnige und romantiſche Zeit niedergelaſſen, die unter ſchlichtem Kleide eine höhere Geſtalt ver¬ birgt. Wer wandelt nicht gern im Zwielich¬ te, wenn die Nacht am Lichte und das Licht an der Nacht in höhere Schatten und Far¬ ben zerbricht; und alſo vertiefen wir uns willig in die Jahre, wo Heinrich lebte und jetzt neuen Begebenheiten mit vollem Herzen entgegenging. Er nahm Abſchied von ſeinen Geſpielen und ſeinem Lehrer, dem alten weiſen Hofkaplan, der Heinrichs fruchtbare Anlagen kannte, und ihn mir ge¬35 rührtem Herzen und einem ſtillen Gebete entließ. Die Landgräfin war ſeine Pathin; er war oft auf der Wartburg bey ihr ge¬ weſen. Auch jetzt beurlaubte er ſich bey ſei¬ ner Beſchützerin. die ihm gute Lehren und ei¬ ne goldene Halskette verehrte, und mit freundlichen Äußerungen von ihm ſchied.

In wehmüthiger Stimmung verließ Hein¬ rich ſeinen Vater und ſeine Geburtsſtadt. Es ward ihm jetzt erſt deutlich, was Tren¬ nung ſey; die Vorſtellungen von der Reiſe waren nicht von dem ſonderbaren Gefühle begleitet geweſen, was er jetzt empfand, als zuerſt ſeine bisherige Welt von ihm geriſſen und er wie auf ein fremdes Ufer geſpült ward. Unendlich iſt die jugendliche Trauer bey dieſer erſten Erfahrung der Vergänglich¬ keit der irdiſchen Dinge, die dem unerfahr¬ nen Gemüth ſo nothwendig, und unentbehr¬ lich, ſo feſt verwachſen mit dem eigenthüm¬36 lichſten Daſeyn und ſo unveränderlich, wie dieſes, vorkommen müſſen. Eine erſte An¬ kündigung des Todes, bleibt die erſte Tren¬ nung unvergeßlich, und wird, nachdem ſie lange wie ein nächtliches Geſicht den Men¬ ſchen beängſtigt hat, endlich bey abnehmen¬ der Freude an den Erſcheinungen des Tages, und zunehmender Sehnſucht nach einer blei¬ benden ſichern Welt, zu einem freundlichen Wegweiſer und einer tröſtenden Bekannt¬ ſchaft. Die Nähe ſeiner Mutter tröſtete den Jüngling ſehr. Die alte Welt ſchien noch nicht ganz verlohren, und er umfaßte ſie mit verdoppelter Innigkeit. Es war früh am Tage, als die Reiſenden aus den Tho¬ ren von Eiſenach fortritten, und die Dämme¬ rung begünſtigte Heinrichs gerührte Stim¬ mung. Je heller es ward, deſto bemerkli¬ cher wurden ihm die neuen unbekannten Ge¬ genden; und als auf einer Anhöhe die ver¬37 laſſene Landſchaft von der aufgehenden Sonne auf einmal erleuchtet wurde, ſo fie¬ len dem überraſchten Jüngling alte Melo¬ dien ſeines Innern in den trüben Wechſel ſeiner Gedanken ein. Er ſah ſich an der Schwelle der Ferne, in die er oft vergebens von den nahen Bergen geſchaut, und die er ſich mit ſonderbaren Farben ausgemahlt hatte. Er war im Begriff, ſich in ihre blaue Flut zu tauchen. Die Wunderblume ſtand vor ihm, und er ſah nach Thüringen, wel¬ ches er jetzt hinter ſich ließ mit der ſeltſamen Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher ſie jetzt reiſten, in ſein Vater¬ land zurückkommen, und als reiſe er daher dieſem eigentlich zu. Die Geſellſchaft, die anfänglich aus ähnlichen Urſachen ſtill gewe¬ ſen war, fing nach gerade an aufzuwachen, und ſich mit allerhand Geſprächen und Er¬38 zählungen die Zeit zu verkürzen. Heinrichs Mutter glaubte ihren Sohn aus den Träu¬ mereien reißen zu müſſen, in denen ſie ihn verſunken ſah, und fing an ihm von ihrem Vaterlande zu erzählen, von dem Hauſe ih¬ res Vaters und dem frölichen Leben in Schwaben. Die Kaufleute ſtimmten mit ein, und bekräftigten die mütterlichen Erzählun¬ gen, rühmten die Gaſtfreyheit des alten Schwaning, und konnten nicht aufhören, die ſchönen Landsmänninnen ihrer Reiſege¬ fährtin zu preiſen. Ihr thut wohl, ſagten ſie, daß ihr euren Sohn dorthin führt. Die Sitten eures Vaterlandes ſind milder und gefälliger. Die Menſchen wiſſen das Nütz¬ liche zu befördern, ohne das Angenehme zu verachten. Jedermann ſucht ſeine Bedürf¬ niſſe auf eine geſellige und reitzende Art zu befriedigen. Der Kaufmann befindet ſich wohl dabey, und wird geehrt. Die Künſte39 und Handwerke vermehren und veredeln ſich, den Fleißigen dünkt die Arbeit leichter, weil ſie ihm zu mannichfachen Annehmlichkeiten verhilft, und er, indem er eine einförmige Mühe übernimmt, ſicher iſt, die bunten Früchte mannichfacher und belohnender Be¬ ſchäftigungen dafür mitzugenießen. Geld, Thätigkeit und Waaren erzeugen ſich gegen¬ ſeitig, und treiben ſich in raſchen Kreiſen, und das Land und die Städte blühen auf. Je eifriger der Erwerbfleiß die Tage benutzt, deſto ausſchließlicher iſt der Abend, den reit¬ zenden Vergnügungen der ſchönen Künſte und des geſelligen Umgangs gewidmet. Das Gemüth ſehnt ſich nach Erholung und Ab¬ wechſelung, und wo ſollte es dieſe auf eine anſtändigere und reitzendere Art finden, als in der Beſchäftigung mit den freyen Spie¬ len und Erzeugniſſen ſeiner edelſten Kraft, des bildenden Tiefſinns. Nirgends hört40 man ſo anmuthige Sänger, findet ſo herrli¬ che Mahler, und nirgends ſieht man auf den Tanzſälen leichtere Bewegungen und liebli¬ chere Geſtalten. Die Nachbarſchaft von Wälſchland zeigt ſich in dem ungezwungenen Betragen und den einnehmenden Geſprächen. Euer Geſchlecht darf die Geſellſchaften ſchmücken, und ohne Furcht vor Nachrede mit holdſeligem Bezeigen einen lebhaften Wetteifer, ſeine Aufmerkſamkeit zu feſſeln, erregen. Die rauhe Ernſthaftigkeit und die wilde Ausgelaſſenheit der Männer macht ei¬ ner milden Lebendigkeit und ſanfter beſcheid¬ ner Freude Platz, und die Liebe wird in tau¬ ſendfachen Geſtalten der[r]eitende Geiſt der glücklichen Geſellſchaften. Weit entfernt, daß Ausſchweifungen und unziemende Grundſätze dadurch ſollten herbeygelockt werden, ſcheint es, als flöhen die böſen Geiſter die Nähe der Anmuth, und gewiß ſind in ganz Deutſch¬41 land keine unbeſcholtenere Mädchen und kei¬ ne treuere Frauen, als in Schwaben.

Ja junger Freund, in der klaren war¬ men Luft des ſüdlichen Deutſchlands werdet ihr eure ernſte Schüchternheit wohl ablegen; die frölichen Mädchen werden euch wohl ge¬ ſchmeidig und geſprächig machen. Schon euer Name, als Fremder, und eure nahe Verwandtſchaft mit dem alten Schwaning, der die Freude jeder frölichen Geſellſchaft iſt, werden die reitzenden Augen der Mädchen auf ſich ziehn; und wenn ihr eurem Gro߬ vater folgt, ſo werdet ihr gewiß unſrer Va¬ terſtadt eine ähnliche Zierde in einer holdſe¬ ligen Frau mitbringen, wie euer Vater. Mit freundlichem Erröthen dankte Heinrichs Mutter für das ſchöne Lob ihres Vaterlan¬ des, und die gute Meynung von ihren Lands¬ männinnen, und der gedankenvolle Heinrich hatte nicht umhin gekonnt, aufmerkſam und42 mit innigem Wohlgefallen der Schilderung des Landes, deſſen Anblick ihm bevorſtand, zuzuhören. Wenn ihr auch fuhren die Kauf¬ leute fort, die Kunſt eures Vaters nicht er¬ greifen, und lieber, wie wir gehört haben, euch mit gelehrten Dingen befaſſen wollt: ſo braucht ihr nicht Geiſtlicher zu werden, und Verzicht auf die ſchönſten Genüſſe dieſes Le¬ bens zu leiſten. Es iſt eben ſchlimm genug, daß die Wiſſenſchaften in den Händen eines ſo von dem weltlichen Leben abgeſonderten Standes, und die Fürſten von ſo ungeſelligen und wahrhaft unerfahrenen Männern berathen ſind. In der Einſamkeit in welcher ſie nicht ſelbſt Theil an den Weltgeſchäften nehmen, müſſen ihre Gedanken eine unnütze Wendung erhalten, und können nicht auf die wirklichen Vorfälle paſſen. In Schwaben trefft ihr auch wahrhaft kluge und erfahrne Männer unter den Layen; und ihr mögt nun wählen,43 welchen Zweig menſchlicher Kenntniſſe ihr wollt: ſo wird es euch nicht an den beſten Lehrern und Rathgebern fehlen. Nach einer Weile ſagte Heinrich, dem bey dieſer Rede ſein Freund der Hofkaplan in den Sinn ge¬ kommen war: Wenn ich bey meiner Unkun¬ de von der Beſchaffenheit der Welt Euch auch eben nicht abfällig ſeyn kann, in dem was ihr von der Unfähigkeit der Geiſtlichen zu Führung und Beurtheilung weltlicher An¬ gelegenheiten behauptet: ſo iſt mirs doch wohl erlaubt, euch an unſern trefflichen Hof¬ kaplan zu erinnern, der gewiß ein Muſter eines weiſen Mannes iſt, und deſſen Lehren und Rathſchläge mir unvergeſſen ſeyn wer¬ den.

Wir ehren, erwiederten die Kaufleute, dieſen trefflichen Mann von ganzem Herzen; aber dennoch können wir nur in ſofern eurer Meinung Beyfall geben, daß er ein weiſer44 Mann ſey, wenn ihr von jener Weisheit ſprecht, die einen Gott wohlgefälligen Le¬ benswandel angeht. Haltet ihr ihn für eben ſo weltklug, als er in den Sachen des Heils geübt und unterrichtet iſt: ſo erlaubt uns, daß wir euch nicht beyſtimmen. Doch glau¬ ben wir, daß dadurch der heilige Mann nichts von ſeinem verdienten Lobe verliert; da er viel zu vertieft in der Kunde der über¬ irdiſchen Welt iſt, als daß er nach Einſicht und Anſehn in irdiſchen Dingen ſtreben ſollte.

Aber, ſagte Heinrich, ſollte nicht jene hö¬ here Kunde ebenfalls geſchickt machen, recht unpartheiiſch den Zügel menſchlicher Angele¬ legenheiten zu führen? ſollte nicht jene kind¬ liche unbefangene Einfalt ſicherer den richti¬ gen Weg durch das Labyrinth der hieſigen Begebenheiten treffen, als die durch Rück¬ ſicht auf eigenen Vortheil irregeleitete und gehemmte, von der unerſchöpflichen Zahl45 neuer Zufälle und Verwickelungen geblende¬ te Klugheit? Ich weiß nicht, aber mich dünkt, ich ſähe zwey Wege um zur Wiſſen¬ ſchaft der menſchlichen Geſchichte zu gelan¬ gen. Der eine, mühſam und unabſehlich, mit unzähligen Krümmungen, der Weg der Erfahrung; der Andere, faſt Ein Sprung nur, der Weg der innern Betrachtung. Der Wanderer des erſten muß eins aus dem an¬ dern in einer langwierigen Rechnung finden, wenn der andere die Natur jeder Begeben¬ heit und jeder Sache gleich unmittelbar an¬ ſchaut, und ſie in ihrem lebendigen, man¬ nichfaltigen Zuſammenhange betrachten, und leicht mit allen übrigen, wie Figuren auf ei¬ ner Tafel, vergleichen kann. Ihr müßt ver¬ zeihen, wenn ich wie aus kindiſchen Träu¬ men vor euch rede; nur das Zutrauen zu eu¬ rer Güte und das Andenken meines Lehrers, der den zweyten Weg mir als ſeine eignen46 von weitem gezeigt hat, machte mich ſo dreiſt.

Wir geſtehen Euch gern, ſagten die gut¬ müthigen Kaufleute, daß wir eurem Gedan¬ kengange nicht zu folgen vermögen: doch freut es uns, daß ihr ſo warm euch des trefflichen Lehrers erinnert, und ſeinen Unter¬ richt wohl gefaßt zu haben ſcheint.

Es dünkt uns, ihr habt Anlage zum Dichter. Ihr ſprecht ſo geläufig von den Erſcheinungen eures Gemüths, und es fehlt Euch nicht an gewählten Ausdrücken und paſſenden Vergleichungen. Auch neigt Ihr Euch zum Wunderbaren, als dem Elemente der Dichter.

Ich weiß nicht, ſagte Heinrich, wie es kommt. Schon oft habe ich von Dichtern und Sängern ſprechen gehört, und habe noch nie einen geſehn. Ja, ich kann mir nicht einmal einen Begriff von ihrer ſon¬47 derbaren Kunſt machen, und doch habe ich eine große Sehnſucht davon zu hören. Es iſt mir, als würde ich manches beſſer ver¬ ſtehen, was jetzt nur dunkle Ahndung in mir iſt. Von Gedichten iſt oft erzählt worden, aber nie habe ich eins zu ſehen bekommen, und mein Lehrer hat nie Gelegenheit gehabt Kenntniſſe von dieſer Kunſt einzuziehn. Al¬ les, was er mir davon geſagt, habe ich nicht deutlich begreifen können. Doch meynte er immer, es ſey eine edle Kunſt, der ich mich ganz ergeben würde, wenn ich ſie einmal kennen lernte. In alten Zeiten ſey ſie weit gemeiner geweſen, und habe jedermann einige Wiſſenſchaft davon gehabt, jedoch Einer vor dem Andern. Sie ſey noch mit andern ver¬ lohrengegangenen herrlichen Künſten verſchwi¬ ſtert geweſen. Die Sänger hätte göttliche Gunſt hoch geehrt, ſo daß ſie begeiſtert durch unſichtbaren Umgang, himmliſche Weisheit48 auf Erden in lieblichen Tönen verkündigen können.

Die Kaufleute ſagten darauf: Wir ha¬ ben uns freylich nie um die Geheimniſſe der Dichter bekümmert, wenn wir gleich mit Ver¬ gnügen ihrem Geſange zugehört. Es mag wohl wahr ſeyn, daß eine beſondere Geſtir¬ nung dazu gehört, wenn ein Dichter zur Welt kommen ſoll; denn es iſt gewiß eine recht wunderbare Sache mit dieſer Kunſt. Auch ſind die andern Künſte gar ſehr davon un¬ terſchieden, und laſſen ſich weit eher begrei¬ fen. Bey den Mahlern und Tonkünſtlern kann man leicht einſehn, wie es zugeht, und mit Fleiß und Geduld läßt ſich beydes ler¬ nen. Die Töne liegen ſchon in den Saiten, und es gehört nur eine Fertigkeit dazu, dieſe zu bewegen um jene in einer reitzenden Fol¬ ge aufzuwecken. Bey den Bildern iſt die Natur die herrlichſte Lehrmeiſterin. Sie er¬zeugt49zeugt unzählige ſchöne und wunderliche Fi¬ guren, giebt die Farben, das Licht und den Schatten, und ſo kann eine geübte Hand, ein richtiges Auge, und die Kenntniß von der Bereitung und Vermiſchung der Farben, die Natur auf das vollkommenſte nachahmen. Wie natürlich iſt daher auch die Wirkung dieſer Künſte, das Wohlgefallen an ihren Werken, zu begreifen. Der Geſang der Nachtigall, das Sauſen des Windes, und die herrlichen Lichter, Farben und Geſtalten gefallen uns, weil ſie unſere Sinne ange¬ nehm beſchäftigen; und da unſere Sinne da¬ zu von der Natur, die auch jenes hervor¬ bringt, ſo eingerichtet ſind, ſo muß uns auch die künſtliche Nachahmung der Natur gefal¬ len. Die Natur will ſelbſt auch einen Ge¬ nuß von ihrer großen Künſtlichkeit haben, und darum hat ſie ſich in Menſchen verwan¬ delt, wo ſie nun ſelber ſich über ihre Herr¬D50lichkeit freut, das Angenehme und Liebliche von den Dingen abſondert, und es auf ſolche Art allein hervorbringt, daß ſie es auf man¬ nichfaltigere Weiſe, und zu allen Zeiten und allen Orten haben und genießen kann. Da¬ gegen iſt von der Dichkunſt ſonſt nirgends äußerlich etwas anzutreffen. Auch ſchafft ſie nichts mit Werkzeugen und Händen; das Auge und das Ohr vernehmen nichts davon: denn das bloße Hören der Worte iſt nicht die eigentliche Wirkung dieſer geheimen Kunſt. Es iſt alles innerlich, und wie jene Künſtler die äußern Sinne mit angenehmen Empfindungen erfüllen, ſo erfüllt der Dichter das inwendige Heiligthum des Gemüths mit neuen, wunderbaren und gefälligen Gedan¬ ken. Er weiß jene geheimen Kräfte in uns nach Belieben zu erregen, und giebt uns durch Worte eine unbekannte herrliche Welt zu vernehmen. Wie aus tiefen Höhlen ſtei¬51 gen alte und künftige Zeiten, unzählige Menſchen, wunderbare Gegenden, und die ſeltſamſten Begebenheiten in uns herauf, und entreißen uns der bekannten Gegenwart. Man hört fremde Worte und weiß doch, was ſie bedeuten ſollen. Eine magiſche Ge¬ walt üben die Sprüche des Dichters aus; auch die gewöhnlichen Worte kommen in rei¬ zenden Klängen vor, und berauſchen die feſt¬ gebannten Zuhörer.

Ihr verwandelt meine Neugierde in hei¬ ße Ungeduld, ſagte Heinrich. Ich bitte euch, erzählt mir von allen Sängern, die ihr ge¬ hört habt. Ich kann nicht genug von dieſen beſondern Menſchen hören. Mir iſt auf ein¬ mal, als hätte ich irgendwo ſchon davon in meiner tiefſten Jugend reden hören, doch kann ich mich ſchlechterdings nichts mehr da¬ von entſinnen. Aber mir iſt das, was ihr ſagt, ſo klar, ſo bekannt, und ihr macht mir52 ein außerordentliches Vergnügen mit euren ſchönen Beſchreibungen.

Wir erinnern uns ſelbſt gern, fuhren die Kaufleute fort, mancher frohen Stunden, die wir in Welſchland, Frankreich und Schwa¬ ben in der Geſellſchaft von Sängern zuge¬ bracht haben, und freuen uns, daß ihr ſo lebhaften Antheil an unſern Reden nehmet. Wenn man ſo in Gebirgen reiſt, ſpricht es ſich mit doppelter Annehmlichkeit, und die Zeit vergeht ſpielend. Vielleicht ergötzt es euch einige artige Geſchichten von Dichtern zu hören, die wir auf unſern Reiſen erfuh¬ ren. Von den Geſängen ſelbſt, die wir ge¬ hört haben, können wir wenig ſagen, da die Freude und der Rauſch des Augenblicks das Gedächtniß hindert viel zu behalten, und die unaufhörlichen Handelsgeſchäfte manches An¬ denken auch wieder verwiſcht haben.

In alten Zeiten muß die ganze Natur53 lebendiger und ſinnvoller geweſen ſeyn, als heut zu Tage. Wirkungen, die jetzt kaum noch die Thiere zu bemerken ſcheinen, und die Menſchen eigentlich allein noch empfin¬ den und genießen, bewegten damals lebloſe Körper; und ſo war es möglich, daß kunſt¬ reiche Menſchen allein Dinge möglich mach¬ ten und Erſcheinungen hervorbrachten, die uns jetzt völlig unglaublich und fabelhaft dünken. So ſollen vor uralten Zeiten in den Ländern des jetzigen Griechiſchen Kaiſer¬ thums, wie uns Reiſende berichtet, die dieſe Sagen noch dort unter dem gemeinen Volke angetroffen haben, Dichter geweſen ſeyn, die durch den ſeltſamen Klang wunderbarer Werkzeuge das geheime Leben der Wälder, die in den Stämmen verborgenen Geiſter aufgeweckt, in wüſten, verödeten Gegenden den todten Pflanzenſaamen erregt, und blüh¬ ende Gärten hervorgerufen, grauſame Thiere54 gezähmt und verwilderte Menſchen zu Ord¬ nung und Sitte gewöhnt, ſanfte Neigungen und Künſte des Friedens in ihnen rege ge¬ macht, reißende Flüſſe in milde Gewäſſer verwandelt, und ſelbſt die todteſten Steine in regelmäßige tanzende Bewegungen hingeriſ¬ ſen haben. Sie ſollen zugleich Wahrſager und Prieſter, Geſetzgeber und Ärzte geweſen ſeyn, indem ſelbſt die höhern Weſen durch ihre zauberiſche Kunſt herabgezogen worden ſind, und ſie in den Geheimniſſen der Zu¬ kunft unterrichtet, das Ebenmaß und die na¬ türliche Einrichtung aller Dinge, auch die in¬ nern Tugenden und Heilkräfte der Zahlen, Gewächſe und aller Kreaturen, ihnen offen¬ bart. Seitdem ſollen, wie die Sage lautet, erſt die mannichfaltigen Töne und die ſon¬ derbaren Sympathien und Ordnungen in die Natur gekommen ſeyn, indem vorher alles wild, unordentlich und feindſelig geweſen iſt. 55Seltſam iſt nur hiebey, daß zwar dieſe ſchö¬ nen Spuren, zum Andenken der Gegenwart jener wohlthätigen Menſchen, geblieben ſind, aber entweder ihre Kunſt, oder jene zarte Gefühligkeit der Natur verlohren gegangen iſt. In dieſen Zeiten hat es ſich unter an¬ dern einmal zugetragen, daß einer jener ſon¬ derbaren Dichter oder mehr Tonkünſtler wiewohl die Muſik und Poeſie wohl ziemlich eins ſeyn mögen und vielleicht eben ſo zu¬ ſammen gehören, wie Mund und Ohr, da der erſte nur ein bewegliches und antworten¬ des Ohr iſt daß alſo dieſer Tonkünſtler übers Meer in ein fremdes Land reiſen wollte. Er war reich an ſchönen Kleinodien und köſtlichen Dingen, die ihm aus Dankbarkeit verehrt worden waren. Er fand ein Schiff am Ufer, und die Leute darinn ſchienen bereitwillig, ihn für den verheißenen Lohn nach der ver¬ langten Gegend zu fahren. Der Glanz und56 die Zierlichkeit ſeiner Schätze reizten aber bald ihre Habſucht ſo ſehr, daß ſie unter ein¬ ander verabredeten, ſich ſeiner zu bemächti¬ gen, ihn ins Meer zu werfen, und nachher ſeine Habe unter einander zu vertheilen. Wie ſie alſo mitten im Meere waren, fielen ſie über ihn her, und ſagten ihm, daß er ſter¬ ben müſſe, weil ſie beſchloſſen hätten, ihn ins Meer zu werfen. Er bat ſie auf die rührendſte Weiſe um ſein Leben, bot ihnen ſeine Schätze zum Löſegeld an, und prophe¬ zeyte ihnen großes Unglück, wenn ſie ihren Vorſatz ausführen würden. Aber weder das eine, noch das andere konnte ſie bewegen: denn ſie fürchteten ſich, daß er ihre bösliche That einmal verrathen möchte. Da er ſie nun einmal ſo feſt entſchloſſen ſah, bat er ſie ihm wenigſtens zu erlauben, daß er noch vor ſeinem Ende ſeinen Schwanengeſang ſpielen dürfe, dann wolle er mit ſeinem ſchlichten57 hölzernen Inſtrumente, vor ihren Augen frey¬ willig ins Meer ſpringen. Sie wußten recht wohl, daß wenn ſie ſeinen Zaubergeſang hör¬ ten, ihre Herzen erweicht, und ſie von Reue er¬ griffen werden würden; daher nahmen ſie ſich vor, ihm zwar dieſe letzte Bitte zu gewähren, während des Geſanges aber ſich die Ohren feſt zu verſtopfen, daß ſie nichts davon ver¬ nähmen, und ſo bey ihrem Vorhaben bleiben könnten. Dies geſchah. Der Sänger ſtimm¬ te einen herrlichen, unendlich rührenden Ge¬ ſang an. Das ganze Schiff tönte mit, die Wellen klangen, die Sonne und die Geſtirne erſchienen zugleich am Himmel, und aus den grünen Fluten tauchten tanzende Schaaren von Fiſchen und Meerungeheuern hervor. Die Schiffer ſtanden feindſelig allein mit feſt¬ verſtopften Ohren, und warteten voll Unge¬ duld auf das Ende des Liedes. Bald war es vorüber. Da ſprang der Sänger mit hei¬58 trer Stirn in den dunkeln Abgrund hin, ſein wunderthätiges Werkzeug im Arm. Er hat¬ te kaum die glänzenden Wogen berührt, ſo hob ſich der breite Rücken eines dankbaren Unthiers unter ihm hervor, und es ſchwamm ſchnell mit dem erſtaunten Sänger davon. Nach kurzer Zeit hatte es mit ihm die Küſte erreicht, nach der er hingewollt hatte, und ſetzte ihn ſanft im Schilfe nieder. Der Dich¬ ter ſang ſeinem Retter ein frohes Lied, und ging dankbar von dannen. Nach einiger Zeit ging er einmal am Ufer des Meers al¬ lein, und klagte in ſüßen Tönen über ſeine verlohrenen Kleinode, die ihm, als Erinne¬ rungen glücklicher Stunden und als Zeichen der Liebe und Dankbarkeit ſo werth gewe¬ weſen waren. Indem er ſo ſang, kam plöz¬ lich ſein alter Freund im Meere fröhlich da¬ her gerauſcht, und ließ aus ſeinem Rachen die geraubten Schätze auf den Sand fallen. 59Die Schiffer hatten, nach des Sängers Sprunge, ſich ſogleich in ſeine Hinterlaſſen¬ ſchaft zu theilen angefangen. Bey dieſer Theilung war Streit unter ihnen entſtanden, und hatte ſich in einen mörderiſchen Kampf geendigt, der den Meiſten das Leben geko¬ ſtet; die wenigen, die überig geblieben, hat¬ ten allein das Schiff nicht regieren können, und es war bald auf den Strand gerathen, wo es ſcheiterte und unterging. Sie brach¬ ten mit genauer Noth das Leben davon, und kamen mit leeren Händen und zerriſſe¬ nen Kleidern ans Land, und ſo kehrten durch die Hülfe des dankbaren Meerthiers, das die Schätze im Meere aufſuchte, dieſelben in die Hände ihres alten Beſitzers zurück.

60

Drittes Kapitel.

Eine andere Geſchichte, fuhren die Kaufleu¬ te nach einer Pauſe fort, die freylich nicht ſo wunderbar und auch aus ſpätern Zeiten iſt, wird euch vielleicht doch gefallen, und euch mit den Wirkungen jener wunderbaren Kunſt noch bekannter machen. Ein alter König hielt einen glänzenden Hof. Weit und breit ſtrömten Menſchen herzu, um Theil an der Herrlichkeit ſeines Lebens zu haben, und es gebrach weder den täglichen Feſten an Über¬ fluß köſtlicher Waaren des Gaumes, noch an Muſik, prächtigen Verzierungen und Trach¬ ten, und tauſend abwechſelnden Schauſpielen und Zeitvertreiben, noch endlich an ſinnrei¬ cher Anordnung, an klugen, gefälligen, und unterrichteten Männern zur Unterhaltung61 und Beſeelung der Geſpräche, und an ſchö¬ ner, anmuthiger Jugend von beyden Ge¬ ſchlechtern, die die eigentliche Seele reitzender Feſte ausmachen. Der alte König, der ſonſt ein ſtrenger und ernſter Mann war, hatte zwey Neigungen, die der wahre Anlaß dieſer prächtigen Hofhaltung waren, und denen ſie ihre ſchöne Einrichtung zu danken hatte. Eine war die Zärtlichkeit für ſeine Tochter, die ihm als Andenken ſeiner früh verſtorbe¬ nen Gemahlin und als ein unausſprechlich liebenswürdiges Mädchen unendlich theuer war, und für die er gern alle Schätze der Natur und alle Macht des menſchlichen Gei¬ ſtes aufgeboten hätte, um ihr einen Himmel auf Erden zu verſchaffen. Die Andere war eine wahre Leidenſchaft für die Dichtkunſt und ihre Meiſter. Er hatte von Jugend auf die Werke der Dichter mit innigem Ver¬ gnügen geleſen; an ihre Sammlung aus al¬62 len Sprachen großen Fleiß und große Sum¬ men gewendet, und von jeher den Umgang der Sänger über alles geſchätzt. Von allen Enden zog er ſie an ſeinen Hof und über¬ häufte ſie mit Ehren. Er ward nicht müde ihren Geſängen zuzuhören, und vergaß oft die wichtigſten Angelegenheiten, ja die Be¬ dürfniſſe des Lebens über einem neuen, hin¬ reißenden Geſange. Seine Tochter war un¬ ter Geſängen aufgewachſen, und ihre ganze Seele war ein zartes Lied geworden, ein einfacher Ausdruck der Wehmuth und Sehn¬ ſucht. Der wohlthätige Einfluß der beſchütz¬ ten und geehrten Dichter zeigte ſich im gan¬ zen Lande, beſonders aber am Hofe. Man genoß das Leben mit langſamen, kleinen Zügen wie einen köſtlichen Trank, und mit deſto reinerem Wohlbehagen, da alle widrige gehäſſige Leidenſchaften, wie Mißtöne von der ſanften harmoniſchen Stimmung ver¬63 ſcheucht wurden, die in allen Gemüthern herrſchend war. Frieden der Seele und inn¬ res ſeeliges Anſchauen einer ſelbſt geſchaffe¬ nen, glücklichen Welt war das Eigenthum dieſer wunderbaren Zeit geworden, und die Zwietracht erſchien nur in den alten Sa¬ gen der Dichter, als eine ehmalige Fein¬ dinn der Menſchen. Es ſchien, als hätten die Geiſter des Geſanges ihrem Beſchützer kein lieblicheres Zeichen der Dankbarkeit ge¬ ben können, als ſeine Tochter, die alles beſaß, was die ſüßeſte Einbildungskraft nur in der zarten Geſtalt eines Mädchens vereinigen konnte. Wenn man ſie an den ſchönen Fe¬ ſten unter einer Schaar reißender Geſpielen, im weißen glänzenden Gewande erblickte, wie ſie den Wettgeſängen der begeiſterten Sänger mit tiefem Lauſchen zuhörte, und er¬ röthend einen duftenden Kranz auf die Lok¬ ken des Glücklichen drückte, deſſen Lied den64 Preis gewonnen hatte: ſo hielt man ſie für die ſichtbare Seele jener herrlichen Kunſt, die jene Zauberſprüche beſchworen hätten, und hörte auf ſich über die Entzückungen und Melodien der Dichter zu wundern.

Mitten in dieſem irdiſchen Paradieſe ſchien jedoch ein geheimnißvolles Schickſal zu ſchweben. Die einzige Sorge der Bewohner dieſer Gegenden betraf die Vermählung der aufblühenden Prinzeſſin, von der die Fort¬ dauer dieſer ſeligen Zeiten und das Ver¬ hängniß des ganzen Landes abhing. Der König ward immer älter. Ihm ſelbſt ſchien dieſe Sorge lebhaft am Herzen zu liegen, und doch zeigte ſich keine Ausſicht zu einer Vermählung für ſie, die allen Wünſchen an¬ gemeſſen geweſen wäre. Die heilige Ehr¬ furcht für das königliche Haus erlaubte kei¬ nem Unterthan, an die Möglichkeit zu den¬ ken, die Prinzeſſin zu beſitzen. Man be¬trach¬65trachtete ſie wie ein überirdiſches Weſen, und alle Prinzen aus andern Ländern, die ſich mit Anſprüchen auf ſie am Hofe gezeigt hat¬ ten, ſchienen ſo tief unter ihr zu ſeyn, daß kein Menſch auf den Einfall kam, die Prin¬ zeſſin oder der König werde die Augen auf einen unter ihnen richten. Das Gefühl des Abſtandes hatte ſie auch allmählich alle ver¬ ſcheucht, und das ausgeſprengte Gerücht des ausſchweifenden Stolzes dieſer königlichen Familie ſchien Andern alle Luſt zu benehmen, ſich ebenfalls gedemüthigt zu ſehn. Ganz ungegründet war auch dieſes Gerücht nicht. Der König war bey aller Milde beynah un¬ willkührlich in ein Gefühl der Erhabenheit gerathen, was ihm jeden Gedanken an die Verbindung ſeiner Tochter mit einem Manne von niedrigerem Stande und dunklerer Herkunft unmöglich oder unerträglich mach¬ te. Ihr hoher, einziger Werth hatte jenesE66Gefühl in ihm immer mehr beſtätigt. Er war aus einer uralten Morgenländiſchen Königsfamilie entſproſſen. Seine Gemahlin war der letzte Zweig der Nachkommenſchaft des berühmten Helden Ruſtan geweſen. Seine Dichter hatten ihm unaufhörlich von ſeiner Verwandſchaft mit den ehemaligen übermenſchlichen Beherrſchern der Welt vor¬ geſungen, und in dem Zauberſpiegel ihrer Kunſt war ihm der Abſtand ſeiner Herkunft von dem Urſprunge der andern Menſchen, die Herrlichkeit ſeines Stammes noch heller erſchienen, ſo daß es ihn dünkte, nur durch die edlere Klaſſe der Dichter mit dem übri¬ gen Menſchengeſchlechte zuſammenzuhängen. Vergebens ſah er ſich mit voller Sehnſucht nach einem zweyten Ruſtan um, indem er fühlte, daß das Herz ſeiner aufblühenden Tochter, der Zuſtand ſeines Reichs, und ſein zunehmendes Alter ihre Vermählung in aller Abſicht ſehr wünſchenswerth machten.

67

Nicht weit von der Hauptſtadt lebte auf einem abgelegenen Landgute ein alter Mann, der ſich ausſchließlich mit der Erzieh¬ ung ſeines einzigen Sohnes beſchäftigte, und nebenher den Landleuten in wichtigen Krank¬ heiten Rath ertheilte. Der junge Menſch war ernſt und ergab ſich einzig der Wiſſen¬ ſchaft der Natur, in welcher ihn ſein Vater von Kindheit auf unterrichtete. Aus fernen Gegenden war der Alte vor mehreren Jahren in dies friedliche und blühende Land gezogen, und begnügte ſich den wohlthätigen Frieden, den der König um ſich verbreitete, in der Stille zu genießen. Er benutzte ſie, die Kräfte der Natur zu erforſchen, und dieſe hinreißenden Kenntniſſe ſeinem Sohne mitzu¬ theilen, der viel Sinn dafür verrieth und deſſen tiefem Gemüth die Natur bereitwillig ihre Geheimniſſe anvertraute. Die Geſtalt des jungen Menſchen ſchien gewöhnlich und68 unbedeutend, wenn man nicht einen höhern Sinn für die geheimere Bildung ſeines edlen Geſichts und die ungewöhnliche Klarheit ſeiner Augen mitbrachte. Je länger man ihn an¬ ſah, deſto anziehender ward er, und man konnte ſich kaum wieder von ihm trennen, wenn man ſeine ſanfte, eindringende Stimme und ſeine anmuthige Gabe zu ſprechen hörte. Eines Tages hatte die Prinzeſſin, deren Luſt¬ gärten an den Wald ſtießen, der das Land¬ gut des Alten in einem kleinen Thale ver¬ barg, ſich allein zu Pferde in den Wald be¬ geben, um deſto ungeſtörter ihren Fantaſien nachhängen und einige ſchöne Geſänge ſich wiederhohlen zu können. Die Friſche des hohen Waldes lockte ſie immer tiefer in ſeine Schatten, und ſo kam ſie endlich an das Landgut, wo der Alte mit ſeinem Sohne lebte. Es kam ihr die Luſt an, Milch zu trinken, ſie ſtieg ab, band ihr Pferd an ei¬69 nen Baum, und trat in das Haus, um ſich einen Trunk Milch auszubitten. Der Sohn war gegenwärtig, und erſchrak beynah über dieſe zauberhafte Erſcheinung eines majeſtä¬ tiſchen weiblichen Weſens, das mit allen Rei¬ zen der Jugend und Schönheit geſchmückt, und von einer unbeſchreiblich anziehenden Durchſichtigkeit der zarteſten, unſchuldigſten und edelſten Seele beynah vergöttlicht wur¬ de. Während er eilte ihre wie Geiſtergeſang tönende Bitte zu erfüllen, trat ihr der Alte mit beſcheidner Ehrfurcht entgegen, und lud ſie ein, an dem einfachen Herde, der mitten im Hauſe ſtand, und auf welchem eine leich¬ te blaue Flamme ohne Geräuſch emporſpiel¬ te, Platz zu nehmen. Es fiel ihr, gleich beym Eintritt, der mit tauſend ſeltenen Sa¬ chen gezierte Hausraum, die Ordnung und Reinlichkeit des Ganzen, und eine ſeltſame Heiligkeit des Ortes auf, deren Eindruck noch70 durch den ſchlicht gekleideten ehrwürdigen Greis und den beſcheidnen Anſtand des Sohnes erhöhet wurde. Der Alte hielt ſie gleich für eine zum Hof gehörige Per¬ ſon, wozu ihre koſtbare Tracht, und ihr edles Betragen ihm Anlaß genug gab. Während der Abweſenheit des Sohnes be¬ fragte ſie ihn um einige Merkwürdigkeiten, die ihr vorzüglich in die Augen fielen, wor¬ unter beſonders einige alte, ſonderbare Bil¬ der waren, die neben ihrem Sitze auf dem Heerde ſtanden, und er war bereitwillig ſie auf eine anmuthige Art damit bekannt zu machen. Der Sohn kam bald mit einem Kruge voll friſcher Milch zurück, und reichte ihr denſelben mit ungekünſteltem und ehr¬ furchtsvollem Weſen. Nach einigen anzie¬ henden Geſprächen mit beyden, dankte ſie auf die lieblichſte Weiſe für die freundliche Bewirthung, bat erröthend den Alten um71 die Erlaubniß wieder kommen, und ſeine lehrreichen Geſpräche über die vielen wun¬ derbaren Sachen genießen zu dürfen, und ritt zurück, ohne ihren Stand verrathen zu haben, da ſie merkte, daß Vater und Sohn ſie nicht kannten. Ohnerachtet die Haupt¬ ſtadt ſo nahe lag, hatten beyde, in ihre Forſchungen vertieft, das Gewühl der Men¬ ſchen zu vermeiden geſucht, und es war dem Jüngling nie eine Luſt angekommen, den Feſten des Hofes beyzuwohnen; beſon¬ ders da er ſeinen Vater höchſtens auf eine Stunde zu verlaſſen pflegte, um zuweilen im Walde nach Schmetterlingen, Käfern und Pflanzen umher zu gehn, und die Einge¬ bungen des ſtillen Naturgeiſtes durch den Einfluß ſeiner mannichfaltigen äußeren Lieb¬ lichkeiten zu vernehmen. Dem Alten, der Prinzeſſin und dem Jüngling war die einfa¬ che Begebenheit des Tages gleich wichtig. 72Der Alte hatte leicht den neuen tiefen Ein¬ druck bemerkt, den die Unbekannte auf ſei¬ nen Sohn machte. Er kannte dieſen genug, um zu wiſſen, daß jeder tiefe Eindruck bey ihm ein lebenslänglicher ſeyn würde. Seine Jugend und die Natur ſeines Herzens mu߬ ten die erſte Empfindung dieſer Art zur un¬ überwindlichen Neigung machen. Der Alte hatte lange eine ſolche Begebenheit heran¬ nahen ſehen. Die hohe Liebenswürdigkeit der Erſcheinung flößte ihm unwillkührlich ei¬ ne innige Theilnahme ein, und ſein zuver¬ ſichtliches Gemüth entfernte alle Beſorgniſſe über die Entwickelung dieſes ſonderbaren Zu¬ falls. Die Prinzeſſin hatte ſich nie in einem ähnlichen Zuſtande befunden, wie der war, in welchem ſie langſam nach Hauſe ritt. Es konnte vor der einzigen helldunklen wunder¬ bar beweglichen Empfindung einer neuen Welt, kein eigentlicher Gedanke in ihr ent¬73 ſtehen. Ein magiſcher Schleyer dehnte ſich in weiten Falten um ihr klares Bewußtſeyn. Es war ihr, als würde ſie ſich, wenn er auf¬ geſchlagen würde, in einer überirdiſchen Welt befinden. Die Erinnerung an die Dichtkunſt, die bisher ihre ganze Seele beſchäftigt hatte, war zu einem fernen Geſange geworden, der ihren ſeltſam lieblichen Traum mit den ehe¬ maligen Zeiten verband. Wie ſie zurück in den Pallaſt kam, erſchrak ſie beynah über ſeine Pracht und ſein buntes Leben, noch mehr aber bey der Bewillkommung ihres Vaters, deſſen Geſicht zum erſtenmale in ih¬ rem Leben eine ſcheue Ehrfurcht in ihr erreg¬ te. Es ſchien ihr eine unabänderliche Noth¬ wendigkeit, nichts von ihrem Abentheuer zu erwähnen. Man war ihre ſchwärmeriſche Ernſthaftigkeit, ihren in Fantaſieen und tie¬ fes Sinnen verlornen Blick ſchon zu ge¬ wohnt, um etwas Außerordentliches darin zu74 bemerken. Es war ihr jetzt nicht mehr ſo lieblich zu Muthe; ſie ſchien ſich unter lau¬ ter Fremden, und eine ſonderbare Bänglich¬ keit begleitete ſie bis an den Abend, wo das frohe Lied eines Dichters, der die Hoffnung pries, und von den Wundern des Glaubens an die Erfüllung unſrer Wünſche mit hinrei¬ ßender Begeiſterung ſang, ſie mit ſüßem Troſt erfüllte und in die angenehmſten Träu¬ me wiegte. Der Jüngling hatte ſich gleich nach ihrem Abſchiede in den Wald verlohren. An der Seite des Weges war er in Gebü¬ ſchen bis an die Pforten des Gartens ihr ge¬ folgt, und dann auf dem Wege zurückgegan¬ gen. Wie er ſo ging, ſah er vor ſeinen Fü¬ ßen einen hellen Glanz. Er bückte ſich da¬ nach und hob einen dunkelrothen Stein auf, der auf einer Seite außerordentlich funkelte, und auf der Andern eingegrabene unver¬ ſtändliche Chiffern zeigte. Er erkannte ihn75 für einen koſtbaren Karfunkel, und glaubte ihn in der Mitte des Halsbandes an der Unbekannten bemerkt zu haben. Er eilte mit beflügelten Schritten nach Hauſe, als wäre ſie noch dort, und brachte den Stein ſeinem Vater. Sie wurden einig, daß der Sohn den andern Morgen auf den Weg zurückgehn und warten ſollte, ob der Stein geſucht würde, wo er ihn dann zurück¬ geben könnte; ſonſt wollten ſie ihn bis zu einem zweyten Beſuche der Unbekannten auf¬ heben, um ihr ſelbſt ihn zu überreichen. Der Jüngling betrachtete faſt die ganze Nacht den Karfunkel und fühlte gegen Morgen ein unwiderſtehliches Verlangen einige Wor¬ te auf den Zettel zu ſchreiben, in welchen er den Stein einwickelte. Er wußte ſelbſt nicht genau, was er ſich bey den Worten dachte, die er hinſchrieb.

76
Es iſt dem Stein ein räthſelhaftes Zei¬ chen
Tief eingegraben in ſein glühend Blut,
Er iſt mit einem Herzen zu verglei¬ chen,
In dem das Bild der Unbekannten ruht.
Man ſieht um jenen tauſend Funken ſtreichen,
Um dieſes woget eine lichte Flut.
In jenem liegt des Glanzes Licht be¬ graben,
Wird dieſes auch das Herz des Her¬ zens haben?

Kaum daß der Morgen anbrach, ſo be¬ gab er ſich ſchon auf den Weg, und eilte der Pforte des Gartens zu.

Unterdeſſen hatte die Prinzeſſin Abends beym Auskleiden den theuren Stein in ihrem77 Halsbande vermißt, der ein Andenken ihrer Mutter und noch dazu ein Talisman war, deſſen Beſitz ihr die Freiheit ihrer Perſon ſicherte, indem ſie damit nie in fremde Ge¬ walt ohne ihren Willen gerathen konnte.

Dieſer Verluſt befremdete ſie mehr, als daß er ſie erſchreckt hätte. Sie erinnerte ſich, ihn geſtern bey dem Spazierritt noch gehabt zu haben, und glaubte feſt, daß er entweder im Hauſe des Alten, oder auf dem Rückwege im Walde verloren gegangen ſeyn müſſe; der Weg war ihr noch in friſchem Andenken, und ſo beſchloß ſie gleich früh den Stein aufzuſuchen, und wurd bey die¬ ſem Gedanken ſo heiter, daß es faſt das An¬ ſehn gewann, als ſey ſie gar nicht unzufrie¬ den mit dem Verluſte, weil er Anlaß gäbe jenen Weg ſogleich noch einmal zu machen. Mit dem Tage ging ſie durch den Garten nach dem Walde, und weil ſie eilfertiger78 ging als gewöhnlich, ſo fand ſie es ganz na¬ türlich, daß ihr das Herz lebhaft ſchlug, und ihr die Bruſt beklomm. Die Sonne fing eben an, die Wipfel der alten Bäume zu vergolden, die ſich mit ſanftem Flüſtern be¬ wegten, als wollten ſie ſich gegenſeitig aus nächtlichen Geſichtern erwecken, um die Son¬ ne gemeinſchaftlich zu begrüßen, als die Prinzeſſin durch ein fernes Geräuſch veran¬ laßt, den Weg hinunter und den Jüngling auf ſich zueilen ſah, der in demſelben Augen¬ blick ebenfalls ſie bemerkte.

Wie angefeſſelt blieb er eine Weile ſtehn, und blickte unverwandt ſie an, gleichſam um ſich zu überzeugen, daß ihre Erſcheinung wirklich und keine Täuſchung ſey. Sie be¬ grüßten ſich mit einem zurückgehaltenen Aus¬ druck von Freude, als hätten ſie ſich ſchon lange gekannt und geliebt. Noch ehe die Prinzeſſin die Urſache ihres frühen Spazier¬79 ganges ihm entdecken konnte, überreichte er ihr mit Erröthen und Herzklopfen den Stein in dem beſchriebenen Zettel. Es war, als ahndete die Prinzeſſin den Inhalt der Zei¬ len. Sie nahm ihn ſtillſchweigend mit zit¬ ternder Hand und hing ihm zur Belohnung für ſeinen glücklichen Fund beynah unwill¬ kührlich eine goldne Kette um, die ſie um den Hals trug. Beſchämt kniete er vor ihr und konnte, da ſie ſich nach ſeinem Vater erkundigte, einige Zeit keine Worte finden. Sie ſagte ihm halbleiſe, und mit niederge¬ ſchlagenen Augen, daß ſie bald wieder zu ihnen kommen, und die Zuſage des Vaters ſie mit ſeinen Seltenheiten bekannt zu ma¬ chen, mit vieler Freude benutzen würde.

Sie dankte dem Jünglinge noch einmal mit ungewöhnlicher Innigkeit, und ging hier¬ auf langſam, ohne ſich umzuſehen, zurück. Der Jüngling konnte kein Wort vorbringen. 80Er neigte ſich ehrfurchtsvoll und ſah ihr lan¬ ge nach, bis ſie hinter den Bäumen ver¬ ſchwand. Nach dieſer Zeit vergingen wenig Tage bis zu ihrem zweyten Beſuche, dem bald mehrere folgten. Der Jüngling ward unvermerkt ihr Begleiter bey dieſen Spazier¬ gängen. Er holte ſie zu beſtimmten Stun¬ den am Garten ab, und brachte ſie dahin zurück. Sie beobachtete ein unverbrüchliches Stillſchweigen über ihren Stand, ſo zutrau¬ lich ſie auch ſonſt gegen ihren Begleiter wur¬ de, dem bald kein Gedanke in ihrer himmli¬ ſchen Seele verborgen blieb. Es war, als flößte ihr die Erhabenheit ihrer Herkunft ei¬ ne geheime Furcht ein. Der Jüngling gab ihr ebenfalls ſeine ganze Seele. Vater und Sohn hielten ſie für ein vornehmes Mäd¬ chen vom Hofe. Sie hing an dem Alten mit der Zärtlichkeit einer Tochter. Ihre Lieb¬ koſungen gegen ihn waren die entzückendenVor¬81Vorboten ihrer Zärtlichkeit gegen den Jüng¬ ling. Sie ward bald einheimiſch in dem wunderbaren Hauſe; und wenn ſie dem Alten und dem Sohne, der zu ihren Füßen ſaß, auf ihrer Laute reitzende Lieder mit ei¬ ner überirdiſchen Stimme vorſang, und letzte¬ ren in dieſer lieblichen Kunſt unterrichtete: ſo erfuhr ſie dagegen von ſeinen begeiſterten Lip¬ pen die Enträthſelung der überall verbreite¬ ten Naturgeheimniſſe. Er lehrte ihr, wie durch wundervolle Sympathie die Welt ent¬ ſtanden ſey, und die Geſtirne ſich zu melodi¬ ſchen Reigen vereinigt hätten. Die Geſchich¬ te der Vorwelt ging durch ſeine heiligen Er¬ zählungen in ihrem Gemüth auf; und wie entzückt war ſie, wenn ihr Schüler, in der Fülle ſeiner Eingebungen, die Laute ergriff und mit unglaublicher Gelehrigkeit in die wundervollſten Geſänge ausbrach. Eines Tages, wo ein beſonders kühner SchwungF82ſich ſeiner Seele in ihrer Geſellſchaft bemäch¬ tigt hatte, und die mächtige Liebe auf dem Rückwege ihre jungfräuliche Zurückhaltung mehr als gewöhnlich überwand, ſo daß ſie beyde ohne ſelbſt zu wiſſen wie einander in die Arme ſanken, und der erſte glühende Kuß ſie auf ewig zuſammenſchmelzte, fing mit einbrechender Dämmerung ein gewaltiger Sturm in den Gipfeln der Bäume plötzlich zu toben an. Drohende Wetterwolken zogen mit tiefem nächtlichen Dunkel über ſie her. Er eilte ſie in Sicherheit vor dem fürchterli¬ chen Ungewitter und den brechenden Bäu¬ men zu bringen: aber er verfehlte in der Nacht und voll Angſt wegen ſeiner Gelieb¬ ten den Weg, und gerieth immer tiefer in den Wald hinein. Seine Angſt wuchs, wie er ſeinen Irrthum bemerkte. Die Prinzeſſin dachte an das Schrecken des Königs und des Hofes; eine u〈…〉〈…〉 ennbare Ängſtlichkeit fuhr83 zuweilen, wie ein zerſtörender Strahl, durch ihre Seele, und nur die Stimme ihres Ge¬ liebten, der ihr unaufhörlich Troſt zuſprach, gab ihr Muth und Zutrauen zurück, und er¬ leichterte ihre beklommne Bruſt. Der Sturm wüthete fort; alle Bemühungen den Weg zu finden waren vergeblich, und ſie prieſen ſich beyde glücklich, bey der Erleuchtung ei¬ nes Blitzes eine nahe Höhle an dem ſteilen Abhang eines waldigen Hügels zu entdek¬ ken, wo ſie eine ſichere Zuflucht gegen die Gefahren des Ungewitters zu finden hoften, und eine Ruheſtätte für ihre erſchöpften Kräfte. Das Glück begünſtigte ihre Wünſche. Die Höhle war trocken und mit reinlichem Mooſe bewachſen. Der Jüngling zündete ſchnell ein Feuer von Reiſern und Moos an, woran ſie ſich trocknen konnten, und die beyden Lie¬ benden ſahen ſich nun auf eine wunderbare Weiſe von der Welt entfernt, aus einem ge¬84 fahrvollen Zuſtande gerettet, und auf einem bequemen, warmen Lager allein nebenein¬ ander.

Ein wilder Mandelſtrauch hing mit Früchten beladen in die Höhle hinein, und ein nahes Rieſeln ließ ſie friſches Waſſer zur Stillung ihres Durſtes finden. Die Laute hatte der Jüngling mitgenommen, und ſie ge¬ währte ihnen jetzt eine aufheiternde und be¬ ruhigende Unterhaltung bey dem kniſternden Feuer. Eine höhere Macht ſchien den Kno¬ ten ſchneller löſen zu wollen, und brachte ſie unter ſonderbaren Umſtänden in dieſe ro¬ mantiſche Lage. Die Unſchuld ihrer Herzen, die zauberhafte Stimmung ihrer Gemüther, und die verbundene unwiderſtehliche Macht ihrer ſüßen Leidenſchaft und ihrer Jugend ließ ſie bald die Welt und ihre Verhältniſſe vergeſſen, und wiegte ſie unter dem Braut¬ geſange des Sturms und den Hochzeitfackeln85 der Blitze in den ſüßeſten Rauſch ein, der je ein ſterbliches Paar beſeligt haben mag. Der Anbruch des lichten blauen Morgens war für ſie das Erwachen in einer neuen ſe¬ ligen Welt. Ein Strom heißer Thränen, der jedoch bald aus den Augen der Prinzeſ¬ ſin hervorbrach, verrieth ihrem Geliebten die erwachenden tauſendfachen Bekümmerniſſe ih¬ res Herzens. Er war in dieſer Nacht um mehrere Jahre älter, aus einem Jünglinge zum Manne geworden. Mit überſchwengli¬ cher Begeiſterung tröſtete er ſeine Geliebte, erinnerte ſie an die Heiligkeit der wahrhaf¬ ten Liebe, und an den hohen Glauben, den ſie einflöße, und bat ſie, die heiterſte Zukunft von dem Schutzgeiſt ihres Herzens mit Zu¬ verſicht zu erwarten. Die Prinzeſſin fühlte die Wahrheit ſeines Troſtes, und entdeckte ihm, ſie ſey die Tochter des Königs, und nur bange wegen des Stolzes und der Beküm¬86 merniſſe ihres Vaters. Nach langen reifli¬ chen Überlegungen wurden ſie über die zu faſſende Entſchließung einig, und der Jüng¬ ling machte ſich ſofort auf den Weg, um ſei¬ nen Vater aufzuſuchen, und dieſen mit ih¬ rem Plane bekannt zu machen. Er verſprach in kurzen wieder bey ihr zu ſeyn, und verließ ſie beruhigt und in ſüßen Vorſtellungen der künftigen Entwickelung dieſer Begebenheiten. Der Jüngling hatte bald ſeines Vaters Wohnung erreicht, und der Alte war ſehr erfreut, ihn unverletzt ankommen zu ſehen. Er erfuhr nun die Geſchichte und den Plan der Liebenden, und bezeigte ſich nach einigem Nachdenken bereitwillig ihn zu unterſtützen. Sein Haus lag ziemlich verſteckt, und hatte einige unterirdiſche Zimmer, die nicht leicht aufzufinden waren. Hier ſollte die Wohnung der Prinzeſſin ſeyn. Sie ward alſo in der Dämmerung abgeholt, und mit tiefer Rüh¬87 rung von dem Alten empfangen. Sie weinte nachher oft in der Einſamkeit, wenn ſie ih¬ res traurigen Vaters gedachte: doch verbarg ſie ihren Kummer vor ihrem Geliebten, und ſagte es nur dem Alten, der ſie freundlich tröſtete, und ihr die nahe Rückkehr zu ihrem Vater vorſtellte.

Unterdeß war man am Hofe in große Beſtürzung gerathen, als Abends die Prin¬ zeſſin vermißt wurde. Der König war ganz außer ſich, und ſchickte überall Leute aus, ſie zu ſuchen. Kein Menſch wußte ſich ihr Verſchwinden zu erklären. Keinem kam ein heimliches Liebesverſtändniß in die Gedan¬ ken, und ſo ahndete man keine[Entführung], da ohnedies kein Menſch weiter fehlte. Auch nicht zu der entfernteſten Vermuthung war Grund da. Die ausgeſchickten Boten kamen unverrichteter Sache zurück, und der König fiel in tiefe Traurigkeit. Nur wenn Abends88 ſeine Sänger vor ihn kamen und ſchöne Lie¬ der mitbrachten, war es, als ließe ſich die alte Freude wieder vor ihm blicken; ſeine Tochter dünkte ihm nah, und er ſchöpfte Hofnung, ſie bald wieder zu ſehen. War er aber wieder allein, ſo zerriß es ihm von neuem das Herz und er weinte laut. Dann gedachte er bey ſich ſelbſt: Was hilft mir nun alle die Herrlichkeit, und meine hohe Geburt. Nun bin ich doch elender als die andern Menſchen. Meine Tochter kann mir nichts erſetzen. Ohne ſie ſind auch die Geſän¬ ge nichts, als leere Worte und Blendwerk. Sie war der Zauber, der ihnen Leben und Freude, Macht und Geſtalt gab. Wollt 'ich doch lieber, ich wäre der geringſte meiner Diener. Dann hätte ich meine Tochter noch; auch wohl einen Eydam dazu und Enkel, die mir auf den Knieen ſäßen: dann wäre ich ein89 anderer König, als jetzt. Es iſt nicht die Krone und das Reich, was einen König macht. Es iſt jenes volle, überfließende Ge¬ fühl der Glückſeligkeit, der Sättigung mit ir¬ diſchen Gütern, jenes Gefühl der über¬ ſchwänglichen Gnüge. So werd' ich nun für meinen Übermuth beſtraft. Der Verluſt mei¬ ner Gattin hat mich noch nicht genug er¬ ſchüttert. Nun hab 'ich auch ein grenzenlo¬ ſes Elend. So klagte der König in den Stunden der heißeſten Sehnſucht. Zuweilen brach auch ſeine alte Strenge und ſein Stolz wieder hervor. Er zürnte über ſeine Klagen; wie ein König wollte er dulden und ſchweigen. Er meinte dann, er leide mehr, als alle Anderen, und gehöre ein großer Schmerz zum Königthum; aber wenn es dann dämmerte, und er in die Zimmer ſeiner Tochter trat, und ſah ihre Kleider hängen, und ihre kleinern Habſeligkeiten ſtehn, als90 habe ſie eben das Zimmer verlaſſen: ſo ver¬ gaß er ſeine Vorſätze, gebehrdete ſich wie ein trübſeliger Menſch, und rief ſeine geringſten Diener um Mitleid an. Die ganze Stadt und das ganze Land weinten und klagten von ganzem Herzen mit ihm. Sonderlich war es, daß eine Sage umherging, die Prin¬ zeſſin lebe noch, und werde bald mit einem Gemahl wiederkommen. Kein Menſch wu߬ te, woher die Sage kam: aber alles hing ſich mit frohem Glauben daran, und ſah mit ungeduldiger Erwartung ihrer baldigen Wie¬ derkunft entgegen. So vergingen mehrere Monden, bis das Frühjahr wieder heran¬ kam. Was gilts, ſagten einige in wunderli¬ chem Muthe, nun kommt auch die Prinzeſſin wieder. Selbſt der König ward heitrer und hoffnungsvoller. Die Sage dünkte ihm wie die Verheißung einer gütigen Macht. Die ehemaligen Feſte fingen wieder an, und es91 ſchien zum völligen Aufblühen der alten Herrlichkeit nur noch die Prinzeſſin zu feh¬ len. Eines Abends, da es gerade jährig wurde, daß ſie verſchwand, war der ganze Hof im Garten verſammelt. Die Luft war warm und heiter; ein leiſer Wind tönte nur oben in den alten Wipfeln, wie die Ankün¬ digung eines fernen fröhlichen Zuges. Ein mächtiger Springquell ſtieg zwiſchen den vielen Fackeln mit zahlloſen Lichtern hinauf in die Dunkelheit der tönenden Wipfel, und begleitete mit melodiſchem Plätſchern die mannichfaltigen Geſänge, die unter den Bäumen hervorklangen. Der König ſaß auf einem köſtlichen Teppich, und um ihn her war der Hof in feſtlichen Kleidern verſam¬ melt. Eine zahlreiche Menge erfüllte den Garten, und umgab das prachtvolle Schau¬ ſpiel. Der König ſaß eben in tiefen Gedan¬ ken. Das Bild ſeiner verlornen Tochter92 ſtand mit ungewöhnlicher Klarheit vor ihm; er gedachte der glücklichen Tage, die um die¬ ſe Zeit im vergangenen Jahre ein plötzliches Ende nahmen. Eine heiße Sehnſucht über¬ mannte ihn, und es floſſen häufige Thränen von ſeinen ehrwürdigen Wangen; doch emp¬ fand er eine ungewöhnliche Heiterkeit. Es dünkte ihm das traurige Jahr nur ein ſchwerer Traum zu ſeyn, und er hob die Au¬ gen auf, gleichſam um ihre hohe, heilige, entzückende Geſtalt unter den Menſchen und den Bäumen aufzuſuchen. Eben hatten die Dichter geendigt, und eine tiefe Stille ſchien das Zeichen der allgemeinen Rührung zu ſeyn, denn die Dichter hatten die Freuden des Wiederſehns, den Frühling und die Zu¬ kunft beſungen, wie ſie die Hoffnung zu ſchmücken pflegt.

Plötzlich wurde die Stille durch leiſe Laute einer unbekannten ſchönen Stimme93 unterbrochen, die von einer uralten Eiche herzukommen ſchienen. Alle Blicke richteten ſich dahin, und man ſah einen Jüngling in einfacher, aber fremder Tracht ſtehen, der ei¬ ne Laute im Arm hielt, und ruhig in ſeinem Geſange fortfuhr, indem er jedoch, wie der König ſeinen Blick nach ihm wandte, eine tiefe Verbeugung machte. Die Stimme war außerordentlich ſchön, und der Geſang trug ein fremdes, wunderbares Gepräge. Er handelte von dem Urſprunge der Welt, von der Entſtehung der Geſtirne, der Pflanzen, Thiere und Menſchen, von der allmächtigen Sympathie der Natur, von der uralten gol¬ denen Zeit und ihren Beherrſcherinnen, der Liebe und Poeſie, von der Erſcheinung des Haſſes und der Barbarey und ihren Kämp¬ fen mit jenen wohlthätigen Göttinnen, und endlich von dem zukünftigen Triumph der letztern, dem Ende der Trübſale, der Verjün¬94 gung der Natur und der Wiederkehr eines ewigen goldenen Zeitalters. Die alten Dichter tragen ſelbſt von Begeiſterung hingeriſſen, wäh¬ rend des Geſanges näher um den ſeltſamen Fremdling her. Ein niegefühltes Entzücken ergriff die Zuſchauer, und der König ſelbſt fühlte ſich wie auf einem Strom des Him¬ mels weggetragen. Ein ſolcher Geſang war nie vernommen worden, und Alle glaubten, ein himmliſches Weſen ſey unter ihnen er¬ ſchienen, beſonders da der Jüngling unterm Singen immer ſchöner, immer herrlicher, und ſeine Stimme immer gewaltiger zu werden ſchien. Die Luft ſpielte mit ſeinen goldenen Locken. Die Laute ſchien ſich unter ſeinen Händen zu beſeelen, und ſein Blick ſchien trunken in eine geheimere Welt hinüber zu ſchauen. Auch die Kinderunſchuld und Ein¬ falt ſeines Geſichts ſchien allen übernatür¬ lich. Nun war der herrliche Geſang geen¬95 digt. Die bejahrten Dichter drückten den Jüngling mit Freudenthränen an ihre Bruſt. Ein ſtilles inniges Jauchzen ging durch die Verſammlung. Der König kam gerührt auf ihn zu. Der Jüngling warf ſich ihm beſchei¬ den zu Füßen. Der König hob ihn auf, umarmte ihn herzlich, und hieß ihn ſich eine Gabe ausbitten. Da bat er mit glühenden Wangen den König, noch ein Lied gnädig anzuhören, und dann über ſeine Bitte zu entſcheiden. Der König trat einige Schritte zurück und der Fremdling fing an:

Der Sänger geht auf rauhen Pfaden,
Zerreißt in Dornen ſein Gewand;
Er muß durch Fluß und Sümpfe baden,
Und keins reicht hülfreich ihm die Hand.
Einſam und pfadlos fließt in Klagen
Jetzt über ſein ermattet Herz;
Er kann die Laute kaum noch tragen,
Ihn übermannt ein tiefer Schmerz.
96
Ein traurig Loos ward mir beſchieden,
Ich irre ganz verlaſſen hier,
Ich brachte Allen Luſt und Frieden,
Doch keiner theilte ſie mit mir.
Es wird ein jeder ſeiner Habe
Und ſeines Lebens froh durch mich;
Doch weiſen ſie mit karger Gabe
Des Herzens Forderung von ſich.
Man läßt mich ruhig Abſchied nehmen,
Wie man den Frühling wandern ſieht;
Es wird ſich keiner um ihn grämen,
Wenn er betrübt von dannen zieht.
Verlangend ſehn ſie nach den Früchten,
Und wiſſen nicht, daß er ſie ſät;
Ich kann den Himmel für ſie dichten,
Doch meiner denkt nicht Ein Gebet.
Ich fühle dankbar Zaubermächte
An dieſe Lippen feſtgebannt.
O! 97
O! knüpfte nur an meine Rechte
Sich auch der Liebe Zauberband.
Es kümmert keine ſich des Armen,
Der dürftig aus der Ferne kam;
Welch Herz wird Sein ſich noch erbarmen
Und löſen ſeinen tiefen Gram?
Er ſinkt im hohen Graſe nieder,
Und ſchläft mit naſſen Wangen ein;
Da ſchwebt der hohe Geiſt der Lieder
In die beklemmte Bruſt hinein:
Vergiß anjetzt, was du gelitten,
In Kurzem ſchwindet deine Laſt,
Was du umſonſt geſucht in Hütten,
Das wirſt du finden im Palaſt.
Du nahſt dem höchſten Erdenlohne,
Bald endigt der verſchlungne Lauf;
Der Myrthenkranz wird eine Krone,
Dir ſetzt die treuſte Hand ſie auf.
G98
Ein Herz voll Einklang iſt berufen
Zur Glorie um einen Thron;
Der Dichter ſteigt auf rauhen Stufen
Hinan, und wird des Königs Sohn.

So weit war er in ſeinem Geſange ge¬ kommen, und ein ſonderbares Erſtaunen hatte ſich der Verſammlung bemächtigt, als wäh¬ rend dieſer Strophen ein alter Mann mit ei¬ ner verſchleyerten weiblichen Geſtalt von ed¬ lem Wuchſe, die ein wunderſchönes Kind auf dem Arme trug, das freundlich in der frem¬ den Verſammlung umherſah, und lächelnd nach dem blitzenden Diadem des Königs die kleinen Händchen ſtreckte, zum Vorſchein ka¬ men, und ſich hinter den Sänger ſtellten; aber das Staunen wuchs, als plötzlich aus den Gipfeln der alten Bäume, der Lieblings¬ adler des Königs, den er immer um ſich hat¬ te, mit einer goldenen Stirnbinde, die er aus99 ſeinen Zimmern entwandt haben mußte, her¬ abflog, und ſich auf das Haupt des Jüng¬ lings niederließ, ſo daß die Binde ſich um ſeine Locken ſchlug. Der Fremdling erſchrak einen Augenblick; der Adler flog an die Sei¬ te des Königs, und ließ die Binde zurück. Der Jüngling reichte ſie dem Kinde, das darnach verlangte, ließ ſich auf ein Knie ge¬ gen den König nieder, und fuhr in ſeinem Geſange mit bewegter Stimme fort:

Der Sänger fährt aus ſchönen Träumen
Mit froher Ungeduld empor;
Er wandelt unter hohen Bäumen
Zu des Pallaſtes ehrnem Thor.
Die Mauern ſind wie Stahl geſchliffen,
Doch ſie erklimmt ſein Lied geſchwind,
Es ſteigt von Lieb 'und Weh ergriffen
Zu ihm hinab des Königs Kind.
100
Die Liebe drückt ſie feſt zuſammen
Der Klang der Panzer treibt ſie fort;
Sie lodern auf in ſüßen Flammen,
Im nächtlich ſtillen Zufluchtsort.
Sie halten furchtſam ſich verborgen,
Weil ſie der Zorn des Königs ſchreckt;
Und werden nun von jedem Morgen
Zu Schmerz und Luſt zugleich erweckt.
Der Sänger ſpricht mit ſanften Klängen
Der neuen Mutter Hoffnung ein;
Da tritt. gelockt von den Geſängen
Der König in die Kluft hinein.
Die Tochter reicht in goldnen Locken
Den Enkel von der Bruſt ihm hin;
Sie ſinken reuig und erſchrocken,
Und mild zergeht ſein ſtrenger Sinn.
Der Liebe weicht und dem Geſange
Auch auf dem Thron ein Vaterherz,
101
Und wandelt bald in ſüßem Drange
Zu ewger Luſt den tiefen Schmerz.
Die Liebe giebt, was ſie entriſſen,
Mit reichem Wucher bald zurück,
Und unter den Verſöhnungsküſſen
Entfaltet ſich ein himmliſch Glück.
Geiſt des Geſangs, komm du hernieder,
Und ſteh auch jetzt der Liebe bey;
Bring die verlorne Tochter wieder,
Daß ihr der König Vater ſey!
Daß er mit Freuden ſie umſchließet,
Und ſeines Enkels ſich erbarmt,
Und wenn das Herz ihm überfließet,
Den Sänger auch als Sohn umarmt.

Der Jüngling hob mit bebender Hand bey dieſen Worten, die ſanft in den dunklen Gängen verhallten, den Schleyer. Die Prin¬ zeſſin fiel mit einem Strom von Thränen zu102 den Füßen des Königs, und hielt ihm das ſchöne Kind hin. Der Sänger kniete mit ge¬ beugtem Haupte an ihrer Seite. Eine ängſtliche Stille ſchien jeden Athem feſtzu¬ halten. Der König war einige Augenblicke ſprachlos und ernſt; dann zog er die Prin¬ zeſſin an ſeine Bruſt, drückte ſie lange feſt an ſich und weinte laut. Er hob nun auch den Jüngling zu ſich auf, und umſchloß ihn mit herzlicher Zärtlichkeit. Ein helles Jauch¬ zen flog durch die Verſammlung, die ſich dicht zudrängte. Der König nahm das Kind nnd reichte es mit rührender Andacht gen Himmel; dann begrüßte er freundlich den Alten. Unendliche Freudenthränen floſſen. In Geſänge brachen die Dichter aus, und der Abend ward ein heiliger Vorabend dem ganzen Lande, deſſen Leben fortan nur Ein ſchönes Feſt war. Kein Menſch weiß, wo103 das Land hingekommen iſt. Nur in Sagen heißt es, daß Atlantis von mächtigen Fluten den Augen entzogen worden ſey.

104

Viertes Kapitel.

Einige Tagereiſen waren ohne die mindeſte Unterbrechung geendigt. Der Weg war feſt und trocken, die Witterung erquickend und heiter, und die Gegenden, durch die ſie ka¬ men, fruchtbar, bewohnt und mannichfaltig. Der furchtbare Thüringer Wald lag im Rücken; die Kaufleute hatten den Weg öfte¬ rer gemacht, waren überall mit den Leuten bekannt, und erfuhren die gaſtfreyſte Auf¬ nahme. Sie vermieden die abgelegenen und durch Räubereien bekannten Gegenden, und nahmen, wenn ſie ja gezwungen waren, ſol¬ che zu durchreiſen, ein hinlängliches Geleite mit. Einige Beſitzer benachbarter Berg¬ ſchlöſſer ſtanden mit den Kaufleuten in gu¬ tem Vernehmen. Sie wurden beſucht und bey ihnen nachgefragt, ob ſie Beſtellungen105 nach Augsburg zu machen hätten. Eine freundliche Bewirthung ward ihnen zu Theil, und die Frauen und Töchter drängten ſich mit herzlicher Neugier um die Fremdlinge. Heinrichs Mutter gewann ſie bald durch ih¬ re guthmüthige Bereitwilligkeit und Theil¬ nahme. Man war erfreut eine Frau aus der Reſidenzſtadt zu ſehn, die eben ſo willig die Neuigkeiten der Mode, als die Zuberei¬ tung einiger ſchmackhafter Schüſſeln mittheil¬ te. Der junge Ofterdingen ward von Rit¬ tern und Frauen wegen ſeiner Beſcheidenheit und ſeines ungezwungenen milden Betragens geprieſen, und die letztern verweilten gern auf ſeiner einnehmenden Geſtalt, die wie das einfache Wort eines Unbekannten war, das man faſt überhört, bis längſt nach ſeinem Abſchiede es ſeine tiefe unſcheinbare Knospe immer mehr aufthut, und endlich eine herrli¬ che Blume in allem Farbenglanze dichtver¬106 ſchlungener Blätter zeigt, ſo daß man es nie vergißt, nicht müde wird es zu wiederho¬ len, und einen unverſieglichen immer gegen¬ wärtigen Schatz daran hat. Man beſinnt ſich nun genauer auf den Unbekannten, und ahndet und ahndet, bis es auf einmal klar wird, daß es ein Bewohner der höhern Welt geweſen ſey. Die Kaufleute erhielten eine große Menge Beſtellungen, und man trennte ſich gegenſeitig mit herzlichen Wünſchen, ein¬ ander bald wieder zu ſehn. Auf einem die¬ ſer Schlöſſer, wo ſie gegen Abend hinkamen, ging es frölich zu. Der Herr des Schloſſes war ein alter Kriegsmann, der die Muße des Friedens, und die Einſamkeit ſeines Auf¬ enthalts mit öftern Gelagen feyerte und un¬ terbrach, und außer dem Kriegsgetümmel und der Jagd keinen andern Zeitvertreib kannte, als den gefüllten Becher.

Er empfing die Ankommenden mit brü¬107 derlicher Herzlichkeit, mitten unter lärmenden Genoſſen. Die Mutter ward zur Haus¬ frau geführt. Die Kaufleute und Heinrich mußten ſich an die luſtige Tafel ſetzen, wo der Becher tapfer umherging. Heinrichen ward auf vieles Bitten in Rückſicht ſeiner Jugend das jedesmalige Beſcheidthun erlaſ¬ ſen, dagegen die Kaufleute ſich nicht faul finden, ſondern ſich den alten Frankenwein tapfer ſchmecken ließen. Das Geſpräch lief über ehmalige Kriegsabentheuer hin. Hein¬ rich hörte mit großer Aufmerkſamkeit den neuen Erzählungen zu. Die Ritter ſprachen vom heiligen Lande, von den Wundern des heiligen Grabes, von den Abentheuern ihres Zuges, und ihrer Seefahrt, von den Saraze¬ nen, in deren Gewalt einige gerathen gewe¬ ſen waren, und dem frölichen und wunderba¬ ren Leben im Felde und im Lager. Sie äußer¬ ten mit großer Lebhaftigkeit ihren Unwillen108 jene himmliſche Geburtsſtätte der Chriſtenheit noch im frevelhaften Beſitz der Ungläubigen zu wiſſen. Sie erhoben die großen Helden, die ſich eine ewige Krone durch ihr tapfres, unermüdliches Bezeigen gegen dieſes ruchloſe Volk erworben hätten. Der Schloßherr zeigte das koſtbare Schwerdt, was er einem Anführer derſelben mit eigner Hand abge¬ nommen, nachdem er ſein Caſtell erobert, ihn getödtet, und ſeine Frau und Kinder zu Ge¬ fangenen gemacht, welches ihm der Kayſer in ſeinem Wappen zu führen vergönnet hat¬ te. Alle beſahen das prächtige Schwerdt, auch Heinrich nahm es in ſeine Hand, und fühlte ſich von einer kriegeriſchen Begeiſterung er griffen. Er küßte es mit inbrünſtiger An¬ dacht. Die Ritter freuten ſich über ſeinen Antheil. Der Alte umarmte ihn, und mun¬ terte ihn auf, auch ſeine Hand auf ewig der Befreyung des heiligen Grabes zu widmen,109 und das wunderthätige Kreuz auf ſeine Schultern befeſtigen zu laſſen. Er war über¬ raſcht, und ſeine Hand ſchien ſich nicht von dem Schwerdte losmachen zu können. Be¬ ſinne dich, mein Sohn, rief der alte Ritter. Ein neuer Kreuzzug iſt vor der Thür. Der Kayſer ſelbſt wird unſere Schaaren in das Morgenland führen. Durch ganz Europa ſchallt von neuem der Ruf des Kreuzes, und heldenmüthige Andacht regt ſich aller Orten. Wer weiß, ob wir nicht übers Jahr in der großen weltherrlichen Stadt Jeruſalem als frohe Sieger bey einander ſitzen, und uns bey vaterländiſchem Wein an unſere Hey¬ math erinnern. Du kannſt auch bey mir ein morgenländiſches Mädgen ſehn. Sie dün¬ ken uns Abendländern gar anmuthig, und wenn du das Schwerdt gut zu führen ver¬ ſtehſt, ſo kann es dir an ſchönen Gefangenen nicht fehlen. Die Ritter ſangen mit lauter110 Stimme den Kreuzgeſang, der damals in ganz Europa geſungen wurde:

Das Grab ſteht unter wilden Heyden;
Das Grab, worinn der Heyland lag,
Muß Frevel und Verſpottung leiden
Und wird entheiligt jeden Tag.
Es klagt heraus mit dumpfer Stimme:
Wer rettet mich von dieſem Grimme!
Wo bleiben ſeine Heldenjünger?
Verſchwunden iſt die Chriſtenheit!
Wer iſt des Glaubens Wiederbringer?
Wer nimmt das Kreuz in dieſer Zeit?
Wer bricht die ſchimpflichſten der Ketten,
Und wird das heil'ge Grab erretten?
Gewaltig geht auf Land und Meeren
In tiefer Nacht ein heil'ger Sturm;
Die trägen Schläfer aufzuſtören,
Umbrauſt er Lager, Stadt und Thurm,
111
Ein Klaggeſchrey um alle Zinnen:
Auf, träge Chriſten, zieht von hinnen.
Es laſſen Engel aller Orten
Mit ernſtem Antlitz ſtumm ſich ſehn,
Und Pilger ſieht man vor den Pforten
Mit kummervollen Wangen ſtehn;
Sie klagen mit den bängſten Tönen
Die Grauſamkeit der Sarazenen.
Es bricht ein Morgen, roth und trübe,
Im weiten Land der Chriſten an.
Der Schmerz der Wehmuth und der Liebe
Verkündet ſich bey Jedermann.
Ein jedes greift nach Kreuz und Schwerdte
Und zieht entflammt von ſeinem Heerde.
Ein Feuereifer tobt im Heere,
Das Grab des Heylands zu befreyn.
Sie eilen frölich nach dem Meere,
112
Um bald auf heil'gem Grund zu ſeyn.
Auch Kinder kommen noch gelaufen
Und mehren den geweihten Haufen.
Hoch weht das Kreuz im Siegspaniere,
Und alte Helden ſtehn voran.
Des Paradieſes ſel'ge Thüre
Wird frommen Kriegern aufgethan;
Ein jeder will das Glück genießen
Sein Blut für Chriſtus zu vergießen.
Zum Kampf ihr Chriſten! Gottes Schaaren
Ziehn mit in das gelobte Land.
Bald wird der Heyden Grimm erfahren
Des Chriſtengottes Schreckenshand.
Wir waſchen bald in frohem Muthe
Das heilige Grab mit Heydenblute.
Die heil'ge Jungfrau ſchwebt, getragen
Von Engeln, ob der wilden Schlacht,
Wo113
Wo jeder, den das Schwerdt geſchlagen,
In ihrem Mutterarm erwacht.
Sie neigt ſich mit verklärter Wange
Herunter zu dem Waffenklange.
Hinüber zu der heilgen Stätte!
Des Grabes dumpfe Stimme tönt!
Bald wird mit Sieg und mit Gebete
Die Schuld der Chriſtenheit verſöhnt!
Das Reich der Heyden wird ſich enden,
Iſt erſt das Grab in unſern Händen.

Heinrichs ganze Seele war in Aufruhr, das Grab kam ihm wie eine bleiche, edle, jugend¬ liche Geſtalt vor, die auf einem großen Stein mitten unter wildem Pöbel ſäße, und auf ei¬ ne entſetzliche Weiſe gemißhandelt würde, als wenn ſie mit kummervollen Geſichte nach einem Kreuze blicke, was im Hintergrunde mit lichten Zügen ſchimmerte, und ſich in denH114bewegten Wellen eines Meeres unendlich vervielfältigte.

Seine Mutter ſchickte eben herüber, um ihn zu holen, und der Hausfrau des Ritters vorzuſtellen. Die Ritter waren in ihr Gelag und ihre Vorſtellungen des bevorſtehenden Zuges vertieft, und bemerkten nicht, daß Heinrich ſich entfernte. Er fand ſeine Mut¬ ter in traulichem Geſpräch mit der alten, gutmüthigen Frau des Schloſſes, die ihn freundlich bewillkommte. Der Abend war heiter; die Sonne begann ſich zu neigen, und Heinrich, der ſich nach Einſamkeit ſehn¬ te, und von der goldenen Ferne gelockt wur¬ de, die durch die engen, tiefen Bogenfenſter in das düſtre Gemach hineintrat, erhielt leicht die Erlaubniß, ſich außerhalb des Schloſſes beſehen zu dürfen. Er eilte ins Freye, ſein ganzes Gemüth war rege, er ſah von der Höhe des alten Felſen zunächſt in115 das waldige Thal, durch das ein Bach her¬ unterſtürzte und einige Mühlen trieb, deren Geräuſch man kaum aus der gewaltigen Tiefe vernehmen konnte, und dann in eine unabſehliche Ferne von Bergen, Wäldern und Niederungen, und ſeine innere Unruhe wurde beſänftigt. Das kriegeriſche Getüm¬ mel verlor ſich, und es blieb nur eine klare bilderreiche Sehnſucht zurück. Er fühlte, daß ihm eine Laute mangelte, ſo wenig er auch wußte, wie ſie eigentlich gebaut ſey, und welche Wirkung ſie hervorbringe. Das hei¬ tere Schauſpiel des herrlichen Abends wiegte ihn in ſanfte Fantaſieen: die Blume ſeines Herzens ließ ſich zuweilen, wie ein Wetter¬ leuchten in ihm ſehn. Er ſchweifte durch das wilde Gebüſch und kletterte über be¬ mooſte Felſenſtücke, als auf einmal aus einer nahen Tiefe ein zarter eindringender Geſang einer weiblichen Stimme von wunderbaren116 Tönen begleitet, erwachte. Es war ihm ge¬ wiß, daß es eine Laute ſey; er blieb verwun¬ derungsvoll ſtehen, und hörte in gebrochner deutſcher Ausſprache folgendes Lied:

Bricht das matte Herz noch immer
Unter fremdem Himmel nicht?
Kommt der Hoffnung bleicher Schimmer
Immer mir noch zu Geſicht?
Kann ich wohl noch Rückkehr wähnen?
Stromweis ſtürzen meine Thränen,
Bis mein Herz in Kummer bricht.
Könnt ich dir die Myrthen zeigen
Und der Zeder dunkles Haar!
Führen dich zum frohen Reigen
Der geſchwiſterlichen Schaar!
Sähſt du im geſtickten Kleide,
Stolz im köſtlichen Geſchmeide
Deine Freundinn, wie ſie war.
117
Edle Jünglinge verneigen
Sich mit heißem Blick vor ihr;
Zärtliche Geſänge ſteigen
Mit dem Abendſtern zu mir.
Dem Geliebten darf man trauen;
Ewge Lieb 'und Treu den Frauen,
Iſt der Männer Loſung hier.
Hier, wo um kryſtallne Quellen
Liebend ſich der Himmel legt,
Und mit heißen Balſamwellen
Um den Hayn zuſammenſchlägt,
Der in ſeinen Luſtgebieten,
Unter Früchten, unter Blüthen
Tauſend bunte Sänger hegt.
Fern ſind jene Jugendträume!
Abwärts liegt das Vaterland!
Längſt gefällt ſind jene Bäume,
Und das alte Schloß verbrannt.
118
Fürchterlich, wie Meereswogen
Kam ein rauhes Heer gezogen,
Und das Paradies verſchwand.
Fürchterliche Gluten floſſen
In die blaue Luft empor,
Und es drang auf ſtolzen Roſſen
Eine wilde Schaar ins Thor.
Säbel klirrten, unſre Brüder,
Unſer Vater kam nicht wieder,
Und man riß uns wild hervor.
Meine Augen wurden trübe;
Fernes, mütterliches Land,
Ach! ſie bleiben dir voll Liebe
Und voll Sehnſucht zugewandt!
Wäre nicht dies Kind vorhanden,
Längſt hätt 'ich des Lebens Banden
Aufgelöſt mit kühner Hand.
119

Heinrich hörte das Schluchzen eines Kin¬ des und eine tröſtende Stimme. Er ſtieg tie¬ fer durch das Gebüſch hinab, und fand ein bleiches, abgehärmtes Mädchen unter einer alten Eiche ſitzen. Ein ſchönes Kind hing wei¬ nend an ihrem Halſe, auch ihre Thränen floſſen, und eine Laute lag neben ihr auf dem Raſen. Sie erſchrack ein wenig, als ſie den fremden Jüngling erblickte, der mit wehmü¬ thigem Geſicht ſich ihr näherte.

Ihr habt wohl meinen Geſang gehört, ſagte ſie freundlich. Euer Geſicht dünkt mir bekannt, laßt mich beſinnen Mein Ge¬ dächtniß iſt ſchwach geworden, aber euer An¬ blick erweckt in mir eine ſonderbare Erinne¬ rung aus frohen Zeiten. O! mir iſt, als glicht ihr einem meiner Brüder, der noch vor unſerm Unglück von uns ſchied, und nach Per¬ ſien zu einem berühmten Dichter zog. Viel¬ leicht lebt er noch, und beſingt traurig das120 Unglück ſeiner Geſchwiſter. Wüßt ich nur noch einige ſeiner herrlichen Lieder, die er uns hinterließ! Er war edel und zärtlich, und kannte kein größeres Glück als ſeine Laute. Das Kind war ein Mädchen von zehn bis zwölf Jahren, das den fremden Jüngling auf¬ merkſam betrachtete und ſich feſt an den Bu¬ ſen der unglücklichen Zulima ſchmiegte. Hein¬ richs Herz war von Mitleid durchdrungen; er tröſtete die Sängerin mit freundlichen Wor¬ ten, und bat ſie, ihm umſtändlicher ihre Ge¬ ſchichte zu erzählen. Sie ſchien es nicht un¬ gern zu thun. Heinrich ſetzte ſich ihr gegen¬ über und vernahm ihre von häufigen Thränen unterbrochne Erzählung. Vorzüglich hielt ſie ſich bei dem Lobe ihrer Landsleute und ihres Vaterlandes auf. Sie ſchilderte den Edel¬ muth derſelben, und ihre reine ſtarke Em¬ pfänglichkeit für die Poeſie des Lebens und die wunderbare, geheimnißvolle Anmuth der121 Natur. Sie beſchrieb die romantiſchen Schön¬ heiten der fruchtbaren Arabiſchen Gegenden, die wie glückliche Inſeln in unwegſamen Sand¬ wüſteneien lägen, wie Zufluchtsſtätte der Be¬ drängten und Ruhebedürftige〈…〉〈…〉, wie Kolonien des Paradieſes, voll friſcher Quellen, die über dichten Raſen und funkelnde Steine durch al¬ te, ehrwürdige Haine rieſelten, voll bunter Vögel mit melodiſchen Kehlen und anziehend durch mannichfaltige Überbleibſel ehemaliger denkwürdiger Zeiten. Ihr würdet mit Ver¬ wunderung, ſagte ſie, die buntfarbigen, hel¬ len, ſeltſamen Züge und Bilder auf den al¬ ten Steinplatten ſehn. Sie ſcheinen ſo be¬ kannt und nicht ohne Urſach ſo wohl erhalten zu ſeyn. Man ſinnt und ſinnt, einzelne Be¬ deutungen ahnet man, und wird um ſo be¬ gieriger den tiefſinnigen Zuſammenhang dieſer uralten Schrift zu errathen. Der unbekannte Geiſt derſelben erregt ein ungewöhnliches122 Nachdenken, und wenn man auch ohne den gewünſchten Fund von dannen geht, ſo hat man doch tauſend merkwürdige Entdeckungen in ſich ſelbſt gemacht, die dem Leben einen neuen Glanz und dem Gemüth eine lange, belohnende Beſchäftigung geben. Das Leben auf einem längſt bewohnten und ehemals ſchon durch Fleiß, Thätigkeit und Neigung verherrlichten Boden hat einen beſondern Reiz. Die Natur ſcheint dort menſchlicher und verſtändlicher geworden, eine dunkle Er¬ innerung unter der durchſichtigen Gegenwart wirft die Bilder der Welt mit ſcharfen Um¬ riſſen zurück, und ſo genießt man eine dop¬ pelte Welt, die eben dadurch das Schwere und Gewaltſame verliert und die zauberiſche Dichtung und Fabel unſerer Sinne wird. Wer weiß, ob nicht auch ein unbegreiflicher Einfluß der ehemaligen, jetzt unſichtbaren Be¬ wohner mit ins Spiel kommt, und vielleicht123 iſt es dieſer dunkle Zug, der die Menſchen aus neuen Gegenden, ſobald eine gewiſſe Zeit ihres Erwachens kömmt, mit ſo zerſtö¬ render Ungeduld nach der alten Heymath ih¬ res Geſchlechts treibt, und ſie Gut und Blut an den Beſitz dieſer Länder zu wagen an¬ regt. Nach einer Pauſe fuhr ſie fort: Glaubt ja nicht, was man euch von den Grauſamkeiten meiner Landsleute erzählt hat. Nirgends wurden Gefangene großmü¬ thiger behandelt, und auch eure Pilger nach Jeruſalem wurden mit Gaſtfreundſchaft auf¬ genommen, nur daß ſie ſelten derſelben werth waren. Die Meiſten waren nichts¬ nutzige, böſe Menſchen, die ihre Wallfahrten mit Bubenſtücken bezeichneten, und dadurch freylich oft gerechter Rache in die Hände fie¬ len. Wie ruhig hätten die Chriſten das hei¬ lige Grab beſuchen können, ohne nöthig zu haben, einen fürchterlichen, unnützen Krieg124 anzufangen, der alles erbittert, unendliches Elend verbreitet, und auf immer das Mor¬ genland von Europa getrennt hat. Was lag an dem Namen des Beſitzers? Unſere Fürſten ehrten andachtsvoll das Grab eures Heiligen, den auch wir für einen göttlichen Profeten halten; und wie ſchön hätte ſein heiliges Grab die Wiege eines glücklichen Einverſtändniſſes, der Anlaß ewiger wohl¬ thätiger Bündniſſe werden können!

Der Abend war unter ihren Geſprächen herbeygekommen. Es fing an Nacht zu wer¬ den, und der Mond hob ſich aus dem feuch¬ ten Walde mit beruhigendem Glanze her¬ auf. Sie ſtiegen langſam nach dem Schloſ¬ ſe; Heinrich war voll Gedanken, die kriegeri¬ ſchere Begeiſterung war gänzlich verſchwun¬ den. Er merkte eine wunderliche Verwirrung in der Welt; der Mond zeigte ihm das Bild eines tröſtenden Zuſchauers und erhob125 ihn über die Unebenheiten der Erdoberfläche, die in der Höhe ſo unbeträchtlich erſchienen, ſo wild und unerſteiglich ſie auch dem Wan¬ derer vorkamen. Zulima ging ſtill neben ihm her, und führte das Kind. Heinrich trug die Laute. Er ſuchte die ſinkende Hoffnung ſei¬ ner Begleiterinn, ihr Vaterland dereinſt wie¬ der zu ſehn, zu beleben, indem er innerlich einen heftigen Beruf fühlte, ihr Retter zu ſeyn, ohne zu wiſſen, auf welche Art es ge¬ ſchehen könne. Eine beſondere Kraft ſchien in ſeinen einfachen Worten zu liegen, denn Zu¬ lima empfand eine ungewohnte Beruhigung und dankte ihm für ſeine Zuſprache auf die rührendſte Weiſe. Die Ritter waren noch bey ihren Bechern und die Mutter in häus¬ lichen Geſprächen. Heinrich hatte keine Luſt in den lärmenden Saal zurückzugehn. Er fühlte ſich müde, und begab ſich bald mit ſeiner Mutter in das angewieſene Schlafge¬126 mach. Er erzählte ihr vor dem Schlafengehn, was ihm begegnet ſey, und ſchlief bald zu unterhaltenden Träumen ein. Die Kaufleute hatten ſich auch zeitig fortbegeben, und wa¬ ren früh wieder munter. Die Ritter lagen in tiefer Ruhe, als ſie abreiſten; die Hausfrau aber nahm zärtlichen Abſchied. Zulima hatte wenig geſchlafen, eine innere Freude hatte ſie wach erhalten; ſie erſchien beym Abſchiede, und bediente die Reiſenden demüthig und emſig. Als ſie Abſchied nah¬ men brachte ſie mit vielen Thränen ihre Laute zu Heinrich, und bat mit rührender Stimme, ſie zu Zulimas Andenken mitzuneh¬ men. Es war meines Bruders Laute, ſagte ſie, der ſie mir beym Abſchied ſchenkte; es iſt das einzige Beſitzthum, was ich gerettet ha¬ be. Sie ſchien euch geſtern zu gefallen, und ihr laßt mir ein unſchätzbares Geſchenk zu¬ rück, ſüße Hoffnung. Nehmt dieſes geringe127 Zeichen meiner Dankbarkeit, und laßt es ein Pfand eures Andenkens an die arme Zulima ſeyn. Wir werden uns gewiß wiederſehn, und dann bin ich vielleicht glücklicher. Hein¬ rich weinte; er weigerte ſich, dieſe ihr ſo un¬ entbehrliche Laute anzunehmen: gebt mir, ſagte er, das goldene Band mit den unbe¬ kannten Buchſtaben aus euren Haaren, wenn es nicht ein Andenken eurer Eltern oder Ge¬ ſchwiſter iſt, und nehmt dagegen einen Schleyer an, den mir meine Mutter gern abtreten wird. Sie wich endlich ſeinem Zure¬ den und gab ihm das Band, indem ſie ſag¬ te, Es iſt mein Name in den Buchſtaben meiner Mutterſprache, den ich in beſſern Zei¬ ten ſelbſt in dieſes Band geſtickt habe. Be¬ trachtet es gern, und denkt, daß es eine lan¬ ge, kummervolle Zeit meine Haare feſtgehal¬ ten hat, und mit ſeiner Beſitzerin verbleicht128 iſt. Heinrichs Mutter zog den Schleyer her¬ aus, und reichte ihr ihn hin, indem ſie ſie an ſich zog und weinend umarmte.

Fünf¬129

Fünftes Kapitel.

Nach einigen Tagereiſen kamen ſie an ein Dorf, am Fuße einiger ſpitzen Hügel, die von tiefen Schluchten unterbrochen waren. Die Gegend war übrigens fruchtbar und an¬ genehm, ohngeachtet die Rücken der Hügel ein todtes, abſchreckendes Anſehn hatten. Das Wirthshaus war reinlich, die Leute be¬ reitwillig, und eine Menge Menſchen, theils Reiſende, theils bloße Trinkgäſte, ſaßen in der Stube, und unterhielten ſich von aller¬ hand Dingen.

Unſre Reiſenden geſellten ſich zu ihnen, und miſchten ſich in die Geſpräche. Die Auf¬ merkſamkeit der Geſellſchaft war vorzüglich auf einen alten Mann gerichtet, der in frem¬ der Tracht an einem Tiſche ſaß, und freund¬ lich die neugierigen Fragen beantwortete, dieI130an ihn geſchahen. Er kam aus fremden Lan¬ den, hatte ſich heute früh die Gegend umher genau betrachtet, und erzählte nun von ſei¬ nem Gewerbe und ſeinen heutigen Entdeckun¬ gen. Die Leute nannten ihn einen Schatzgrä¬ ber. Er ſprach aber ſehr beſcheiden von ſei¬ nen Kenntniſſen und ſeiner Macht, doch tru¬ gen ſeine Erzählungen das Gepräge der Seltſamkeit und Neuheit. Er erzählte, daß er aus Böhmen gebürtig ſey. Von Jugend auf habe er eine heftige Neugierde gehabt zu wiſſen, was in den Bergen verborgen ſeyn müſſe, wo das Waſſer in den Quellen her¬ komme, und wo das Gold und Silber und die köſtlichen Steine gefunden würden, die den Menſchen ſo unwiderſtehlich an ſich zö¬ gen. Er habe in der nahen Kloſterkirche oft dieſe feſten Lichter an den Bildern und Reli¬ quien betrachtet, und nur gewünſcht, daß ſie zu ihm reden könnten, um ihm von ihrer ge¬131 heimnißvollen Herkunft zu erzählen. Er habe wohl zuweilen gehört, daß ſie aus weit ent¬ legenen Ländern kämen; doch habe er immer gedacht, warum es nicht auch in dieſen Ge¬ genden ſolche Schätze und Kleinodien geben könne. Die Berge ſeyen doch nicht umſonſt ſo weit im Umfange und erhaben und ſo feſt verwahrt; auch habe es ihm verdünkt, wie wenn er zuweilen auf den Gebirgen glänzen¬ de und flimmernde Steine gefunden hätte. Er ſey fleißig in den Felſenritzen und Höh¬ len umhergeklettert, und habe ſich mit unaus¬ ſprechlichem Vergnügen in dieſen uralten Hallen und Gewölben umgeſehn. Endlich ſey ihm einmal ein Reiſender begegnet, der zu ihm geſagt, er müſſe ein Bergmann wer¬ den, da könne er die Befriedigung ſeiner Neugier finden. In Böhmen gäbe es Berg¬ werke. Er ſolle nur immer an dem Fluſſe hinuntergehn, nach zehn bis zwölf Tagen132 werde er in Eula ſeyn, und dort dürfe er nur ſprechen, daß er gern ein Bergmann werden wolle. Er habe ſich dies nicht zwey¬ mal ſagen laſſen, und ſich gleich den andern Tag auf den Weg gemacht. Nach einem beſchwerlichen Gange von mehreren Tagen, fuhr er fort, kam ich nach Eula. Ich kann euch nicht ſagen, wie herrlich mir zu Muthe ward, als ich von einem Hügel die Haufen von Steinen erblickte, die mit grünen Gebü¬ ſchen durchwachſen waren, auf denen breterne Hütten ſtanden, und als ich aus dem Thal unten die Rauchwolken über den Wald heraufziehn ſah. Ein fernes Getöſe vermehrte meine Er¬ wartungen, und mit unglaublicher Neugierde und voll ſtiller Andacht ſtand ich bald auf einem ſolchen Haufen, den man Halde nennt, vor den dunklen Tiefen, die im Innern der Hütten ſteil in den Berg hineinführten. Ich eilte nach dem Thale und begegnete bald ei¬133 nigen ſchwarzgekleideten Männern mit Lam¬ pen, die ich nicht mit Unrecht für Bergleute hielt, und mit ſchüchterner Ängſtlichkeit ihnen mein Anliegen vortrug. Sie hörten mich freundlich an, und ſagten mir, daß ich nur hinunter nach den Schmelzhütten gehn und nach dem Steiger fragen ſollte, welcher den Anführer und Meiſter unter ihnen vorſtellt; dieſer werde mir Beſcheid geben, ob ich ange¬ nommen werden möge. Sie meyuten, daß ich meinen Wunſch wohl erreichen würde, und lehrten mich den üblichen Gruß Glück auf womit ich den Steiger anreden ſollte. Voll fröhlicher Erwartungen ſetzte ich meinen Weg fort, und konnte nicht aufhören, den neuen bedeutungsvollen Gruß mir beſtän¬ dig zu wiederholen. Ich fand einen al¬ ten, ehrwürdigen Mann, der mich mit vieler Freundlichkeit empfing, und nachdem ich ihm meine Geſchichte erzählt, und ihm meine gro¬134 ße Luſt, ſeine ſeltne, geheimnißvolle Kunſt zu erlernen, bezeugt hatte, bereitwillig vorſprach, mir meinen Wunſch zu gewähren. Ich ſchien ihm zu gefallen, und er behielt mich in ſei¬ nem Hauſe. Den Augenblick konnte ich kaum erwarten, wo ich in die Grube fahren und mich in der reitzenden Tracht ſehn wür¬ de. Noch denſelben Abend brachte er mir ein Grubenkleid, und erklärte mir den Ge¬ brauch einiger Werkzeuge, die in einer Kam¬ mer aufbewahrt waren.

Abends kamen Bergleute zu ihm, und ich verfehlte kein Wort von ihren Geſprä¬ chen, ſo unverſtändlich und fremd mir ſowohl die Sprache, als der größte Theil des In¬ halts ihrer Erzählungen vorkam. Das We¬ nige jedoch, was ich zu begreifen glaubte, er¬ höhte die Lebhaftigkeit meiner Neugierde, und beſchäftigte mich des Nachts in ſeltſa¬ men Träumen. Ich erwachte bey Zeiten und135 fand mich bey meinem neuen Wirthe ein, bey dem ſich allmählich die Bergleute verſam¬ melten, um ſeine Verordnungen zu verneh¬ men. Eine Nebenſtube war zu einer kleinen Kapelle vorgerichtet. Ein Mönch erſchien und las eine Meſſe, nachher ſprach er ein feyerliches Gebet, worinn er den Himmel an¬ rief, die Bergleute in ſeine heilige Obhut zu nehmen, ſie bey ihren gefährlichen Arbeiten zu unterſtützen, vor Anfechtungen und Tücken böſer Geiſter ſie zu ſchützen, und ihnen reiche Anbrüche zu beſcheeren. Ich hatte nie mit mehr Inbrunſt gebetet, und nie die hohe Bedeutung der Meſſe lebhafter empfunden. Meine künftigen Genoſſen kamen mir wie unterirdiſche Helden vor, die tauſend Gefah¬ ren zu überwinden hätten, aber auch ein be¬ neidenswerthes Glück an ihren wunderbaren Kenntniſſen beſäßen, und in dem ernſten, ſtil¬ len Umgange mit den uralten Felſenſöhnen136 der Natur, in ihren dunkeln, wunderbaren Kammern, zum Empfängniß himmliſcher Ga¬ ben und zur freudigen Erhebung über die Welt und ihre Bedrängniſſe ausgerüſtet wür¬ den. Der Steiger gab mir nach geendigtem Gottesdienſt eine Lampe und ein kleines höl¬ zernes Krucifix, und ging mit mir nach dem Schachte, wie wir die ſchroffen Eingänge in die unterirdiſchen Gebäude zu nennen pfle¬ gen. Er lehrte mich die Art des Hinabſtei¬ gens, machte mich mit den nothwendigen Vorſichtigkeitsregeln, ſo wie mit den Namen der mannichfaltigen Gegenſtände und Theile bekannt. Er fuhr voraus, und ſchurrte auf den runden Balken hinunter, indem er ſich mit der einen Hand an einem Seil anhielt, das in einem Knoten an einer Seitenſtange fortglitſchte, und mit der andern die bren¬ nende Lampe trug; ich folgte ſeinem Beiſpiel, und wir gelangten ſo mit ziemlicher Schnelle137 bald in eine beträchtliche Tiefe. Mir war ſeltſam feyerlich zu Muthe, und das vordern Licht funkelte wie ein glücklicher Stern, der mir den Weg zu den verborgenen Schatzkam¬ mern der Natur zeigte. Wir kamen unten in einen Irrgarten von Gängen, und mein freundlicher Meiſter ward nicht müde meine neugierigen Fragen zu beantworten, und mich über ſeine Kunſt zu unterrichten. Das Rauſchen des Waſſers, die Entfernung von der bewohnten Oberfläche, die Dunkelheit und Verſchlungenheit der Gänge, und das entfernte Geräuſch der arbeitenden Bergleute ergötzte mich ungemein, und ich fühlte nun mit Freuden mich im vollen Beſitz deſſen, was von jeher mein ſehnlichſter Wunſch ge¬ weſen war. Es läßt ſich auch dieſe volle Be¬ friedigung eines angebornen Wunſches, dieſe wunderſame Freude an Dingen, die ein nähe¬ res Verhältniß zu unſerm geheimen Daſeyn138 haben mögen, zu Beſchäftigungen, für die man von der Wiege an beſtimmt und ausge¬ rüſtet iſt, nicht erklären und beſchreiben. Vielleicht daß ſie jedem Andern gemein, un¬ bedeutend und abſchreckend vorgekommen wären; aber mir ſchienen ſie ſo unentbehrlich zu ſeyn, wie die Luft der Bruſt und die Speiſe dem Magen. Mein alter Meiſter freute ſich über meine innige Luſt, und ver¬ hieß mir, daß ich bey dieſem Fleiße und die¬ ſer Aufmerkſamkeit es weit bringen, und ein tüchtiger Bergmann werden würde. Mit welcher Andacht ſah ich zum erſtenmal in meinem Leben am ſechzehnten März, vor nunmehr fünf und vierzig Jahren, den König der Metalle in zarten Blättchen zwiſchen den Spalten des Geſteins. Es kam mir vor, als ſey er hier wie in feſten Gefängniſſen einge¬ ſperrt und glänze freundlich dem Bergmann entgegen, der mit ſoviel Gefahren und Müh¬139 ſeligkeiten ſich den Weg zu ihm durch die ſtarken Mauern gebrochen, um ihn an das Licht des Tages zu fördern, damit er an kö¬ niglichen Kronen und Gefäßen und an heili¬ gen Reliquien zu Ehren gelangen, und in geachteten und wohlverwahrten Münzen, mit Bildniſſen geziert, die Welt beherrſchen und leiten möge. Von der Zeit an blieb ich in Eula, und ſtieg allmählich bis zum Häuer, welches der eigentliche Bergmann iſt, der die Arbeiten auf dem Geſtein betreibt, nachdem ich anfänglich bey der Ausförderung der los¬ gehauenen Stufen in Körben angeſtellt ge¬ weſen war.

Der alte Bergmann ruhte ein wenig von ſeiner Erzählung aus, und trank, indem ihm ſeine aufmerkſamen Zuhörer ein fröliches Glückauf zubrachten. Heinrichen erfreuten die Reden des alten Mannes ungemein, und er war ſehr geneigt noch mehr von ihm zu hören.

140

Die Zuhörer unterhielten ſich von den Gefahren und Seltſamkeiten des Bergbaus, und erzählten wunderbare Sagen, über die der Alte oft lächelte. und freundlich ihre ſon¬ derbaren Vorſtellungen zu berichtigen bemüht war.

Nach einer Weile ſagte Heinrich: Ihr mögt ſeitdem viel ſeltſame Dinge geſehn und erfahren haben; hoffentlich hat euch nie eure gewählte Lebensart gereut? Wärt ihr nicht ſo gefällig und erzähltet uns, wie es euch ſeit dem ergangen, und auf welcher Reiſe ihr jetzt begriffen ſeyd? Es ſcheint, als hättet ihr euch weiter in der Welt umgeſehn, und gewiß darf ich vermuthen, daß ihr jetzt mehr, als einen gemeinen Bergmann vorſtellt. Es iſt mir ſelber lieb, ſagte der Alte, mich der verfloſſenen Zeiten zu erinnern, in denen ich Anläße finde, mich der göttlichen Barmher¬ zigkeit und Güte zu erfreun. Das Geſchick141 hat mich durch ein frohes und heitres Leben geführt, und es iſt kein Tag vorübergegan¬ gen, an welchem ich mich nicht mit dankba¬ rem Herzen zur Ruhe gelegt hätte. Ich bin immer glücklich in meinen Verrichtungen ge¬ weſen, und unſer aller Vater im Himmel hat mich vor dem Böſen behütet, und in Ehren grau werden laſſen. Nächſt ihm habe ich alles meinem alten Meiſter zu verdanken, der nun lange zu ſeinen Vätern verſammelt iſt, und an den ich nie ohne Thränen den¬ ken kann. Er war ein Mann aus der alten Zeit nach dem Herzen Gottes. Mit tiefen Einſichten war er begabt, und doch kindlich und demüthig in ſeinem Thun. Durch ihn iſt das Bergwerk in großen Flor gekommen, und hat dem Herzoge von Böhmen zu unge¬ heuren Schätzen verholfen. Die ganze Ge¬ gend iſt dadurch bevölkert und wohlhabend, und ein blühendes Land geworden. Alle142 Bergleute verehrten ihren Vater in ihm, und ſo lange Eula ſteht, wird auch ſein Name mit Rührung und Dankbarkeit genannt wer¬ den. Er war ſeiner Geburt nach ein Lauſit¬ zer und hieß Werner. Seine einzige Tochter war noch ein Kind, wie ich zu ihm ins Haus kam. Meine Ämſigkeit, meine Treue, und meine leidenſchaftliche Anhänglichkeit an ihn, gewannen mir ſeine Liebe mit jedem Tage mehr. Er gab mir ſeinen Namen und machte mich zu ſeinem Sohne. Das kleine Mädchen ward nach gerade ein wack¬ res, muntres Geſchöpf, deren Geſicht ſo freundlich glatt und weiß war, wie ihr Ge¬ müth. Der Alte ſagte mir oft, wenn er ſah, daß ſie mir zugethan war, daß ich gern mit ihr ſchäkerte, und kein Auge von den ihrigen verwandte, die ſo blau und offen, wie der Himmel waren, und wie die Kryſtalle glänz¬ ten: wenn ich ein rechtlicher Bergmann we[r]143den würde, wolle er ſie mir nicht verſagen; und er hielt Wort. Den Tag, wie ich Häuer wurde, legte er ſeine Hände auf uns und ſegnete uns als Braut und Bräutigam ein, und wenig Wochen darauf führte ich ſie als meine Frau auf meine Kammer. Denſel¬ ben Tag hieb ich in der Frühſchicht noch als Lehrhäuer, eben wie die Sonne oben aufging, eine reiche Ader an. Der Herzog ſchickte mir eine goldene Kette mit ſeinem Bildniß auf einer großen Münze, und verſprach mir den Dienſt meines Schwiegervaters. Wie glück¬ lich war ich, als ich ſie am Hochzeittage mei¬ ner Braut um den Hals hängen konnte, und Aller Augen auf ſie gerichtet waren. Unſer alte Vater erlebte noch einige muntre Enkel, und die Anbrüche ſeines Herbſtes waren rei¬ cher, als er gedacht hatte. Er konnte mit Freudigkeit ſeine Schicht beſchließen, und aus der dunkeln Grube dieſer Welt fahren, um144 in Frieden auszuruhen, und den großen Lohn¬ tag zu erwarten.

Herr, ſagte der Alte, indem er ſich zu Heinrichen wandte, und einige Thränen aus den Augen trocknete, der Bergbau muß von Gott geſegnet werden! denn es giebt keine Kunſt, die ihre Theilhaber glücklicher und ed¬ ler machte, die mehr den Glauben an eine himmliſche Weisheit und Fügung erweckte, und die Unſchuld und Kindlichkeit des Her¬ zens reiner erhielte, als der Bergbau. Arm wird der Bergmann geboren, und arm gehet er wieder dahin. Er begnügt ſich zu wiſſen, wo die metalliſchen Mächte gefunden wer¬ den, und ſie zu Tage zu fördern; aber ihr blendender Glanz vermag nichts über ſein lautres Herz. Unentzündet von gefährlichem Wahnſinn, freut er ſich mehr über ihre wun¬ derlichen Bildungen, und die Seltſamkeiten ihrer Herkunft und ihrer Wohnungen, alsüber145über ihren alles verheißenden Beſitz. Sie haben für ihn keinen Reiz mehr, wenn ſie Waaren geworden ſind, und er ſucht ſie lie¬ ber unter tauſend Gefahren und Mühſelig¬ keiten in den Veſten der Erde, als daß er ihrem Rufe in die Welt folgen, und auf der Oberfläche des Bodens durch täuſchende, hin¬ terliſtige Künſte nach ihnen trachten ſollte. Jene Mühſeeligkeiten erhalten ſein Herz friſch und ſeinen Sinn wacker; er genießt ſei¬ nen kärglichen Lohn mit inniglichem Danke, und ſteigt jeden Tag mit verjüngter Lebens¬ freude aus den dunkeln Grüften ſeines Be¬ rufs. Nur Er kennt die Reize des Lichts und der Ruhe, die Wohlthätigkeit der freyen Luft und Ausſicht um ſich her; nur ihm ſchmeckt Trank und Speiſe recht erquicklich und andächtig, wie der Leib des Herrn; und mit welchem liebevollen und empfänglichen Gemüth tritt er nicht unter ſeines Gleichen,K146oder herzt ſeine Frau und Kinder, und er¬ götzt ſich dankbar an der ſchönen Gabe des traulichen Geſprächs!

Sein einſames Geſchäft ſondert ihn vom Tage und dem Umgange mit Menſchen einen großen Theil ſeines Lebens ab. Er gewöhnt ſich nicht zu einer ſtumpfen Gleichgültigkeit gegen dieſe überirdiſchen tiefſinnigen Dinge und behält die kindliche Stimmung, in der ihm alles mit ſeinem eigenthümlichſten Geiſte und in ſeiner urſprünglichen bunten Wunder¬ barkeit erſcheint. Die Natur will nicht der ausſchließliche Beſitz eines Einzigen ſeyn. Als Eigenthum verwandelt ſie ſich in ein böſes Gift, was die Ruhe verſcheucht, und die ver¬ derbliche Luſt, alles in dieſen Kreis des Be¬ ſitzers zu ziehn, mit einem Gefolge von un¬ endlichen Sorgen und wilden Leidenſchaften herbeylockt. So untergräbt ſie heimlich den Grund des Eigenthümers, und begräbt147 ihn bald in den einbrechenden Abgrund, um aus Hand in Hand zu gehen, und ſo ihre Neigung, Allen anzugehören, allmählich zu befriedigen.

Wie ruhig arbeitet dagegen der arme ge¬ nügſame Bergmann in ſeinen tiefen Einöden, entfernt von dem unruhigen Tumult des Ta¬ ges, und einzig von Wißbegier und Liebe zur Eintracht beſeelt. Er gedenkt in ſeiner Ein¬ ſamkeit mit inniger Herzlichkeit ſeiner Genoſ¬ ſen und ſeiner Familie, und fühlt immer er¬ neuert die gegenſeitige Unentbehrlichkeit und Blutsverwandtſchaft der Menſchen. Sein Beruf lehrt ihn unermüdliche Geduld, und läßt nicht zu, daß ſich ſeine Aufmerkſamkeit in unnütze Gedanken zerſtreue. Er hat mit einer wunderlichen harten und unbiegſamen Macht zu thun, die nur durch hartnäckigen Fleiß und beſtändige Wachſamkeit zu über¬ winden iſt. Aber welches köſtliche Gewächs148 blüht ihm auch in dieſen ſchauerlichen Tiefen, das wahrhafte Vertrauen zu ſeinem himmli¬ ſchen Vater, deſſen Hand und Vorſorge ihm alle Tage in unverkennbaren Zeichen ſichtbar wird. Wie unzähliche mal habe ich nicht vor Ort geſeſſen, und bey dem Schein meiner Lampe das ſchlichte Krucifix mit der innigſten Andacht betrachtet! da habe ich erſt den hei¬ ligen Sinn dieſes räthſelhaften Bildniſſes recht gefaßt, und den edelſten Gang meines Herzens erſchürft, der mir eine ewige Aus¬ beute gewährt hat.

Der Alte fuhr nach einer Weile fort und ſagte: Wahrhaftig, das muß ein göttlicher Mann geweſen ſeyn, der den Menſchen zuerſt die edle Kunſt des Bergbaus gelehrt, und in dem Schooße der Felſen dieſes ernſte Sinn¬ bild des menſchlichen Lebens verborgen hat. Hier iſt der Gang mächtig und gebräch, aber arm, dort drückt ihn der Felſen in eine arm¬149 ſelige, unbedeutende Kluft zuſammen, und gerade hier brechen die edelſten Geſchicke ein. Andre Gänge verunedlen ihn, bis ſich ein verwandter Gang freundlich mit ihm ſchaart, und ſeinen Werth unendlich erhöht. Oft zer¬ ſchlägt er ſich vor dem Bergmann in tauſend Trümmern: aber der Geduldige läßt ſich nicht ſchrecken, er verfolgt ruhig ſeinen Weg, und ſieht ſeinen Eifer belohnt, indem er ihn bald wieder in neuer Mächtigkeit und Höf¬ lichkeit ausrichtet. Oft lockt ihn ein betrüg¬ liches Trum aus der wahren Richtung; aber bald erkennt er den falſchen Weg, und bricht mit Gewalt querfeldein, bis er den wahren erzführenden Gang wiedergefunden hat. Wie bekannt wird hier nicht der Berg¬ mann mit allen Launen des Zufalls, wie ſicher aber auch, daß Eifer und Beſtändig¬ keit die einzigen untrüglichen Mittel ſind, ſie150 zu bemeiſtern, und die von ihnen hartnäckig vertheidigten Schätze zu heben.

Es fehlt euch gewiß nicht, ſagte Hein¬ rich, an ermunternden Liedern. Ich ſollte meinen, daß Euch euer Beruf unwillkührlich zu Geſängen begeiſtern und die Muſik eine willkommne Begleiterin der Bergleute ſeyn müßte.

Da habt ihr wahr geſprochen, erwiederte der Alte; Geſang und Zitherſpiel gehört zum Leben des Bergmanns, und kein Stand kann mit mehr Vergnügen die Reize derſelben ge¬ nießen, als der unſrige. Muſik und Tanz ſind eigentliche Freuden des Bergmanns; ſie ſind wie ein fröliches Gebet, und die Erinne¬ rungen und Hofnungen deſſelben helfen die mühſame Arbeit erleichtern und die lange Einſamkeit verkürzen.

Wenn es euch gefällt, ſo will ich euch151 gleich einen Geſang zum Beſten geben, der fleißig in meiner Jugend geſungen wurde.

Der iſt der Herr der Erde,
Wer ihre Tiefen mißt,
Und jeglicher Beſchwerde
In ihrem Schooß vergißt.
Wer ihrer Felſenglieder
Geheimen Bau verſteht,
Und unverdroſſen nieder
Zu ihrer Werkſtatt geht.
Er iſt mit ihr verbündet,
Und inniglich vertraut,
Und wird von ihr entzündet,
Als wär 'ſie ſeine Braut.
Er ſieht ihr alle Tage
Mit neuer Liebe zu
152
Und ſcheut nicht Fleiß und Plage,
Sie läßt ihm keine Ruh.
Die mächtigen Geſchichten
Der längſt verfloßnen Zeit,
Iſt ſie ihm zu berichten
Mit Freundlichkeit bereit.
Der Vorwelt heilge Lüfte
Umwehn ſein Angeſicht,
Und in die Nacht der Klüfte
Strahlt ihm ein ewges Licht.
Er trift auf allen Wegen
Ein wohlbekanntes Land,
Und gern kommt ſie entgegen
Den Werken ſeiner Hand.
Ihm folgen die Gewäſſer
Hülfreich den Berg hinauf;
153
Und alle Felſenſchlöſſer,
Thun ihre Schätz 'ihm auf.
Er führt des Goldes Ströme
In ſeines Königs Haus,
Und ſchmückt die Diademe
Mit edlen Steinen aus.
Zwar reicht er treu dem König
Den glückbegabten Arm,
Doch frägt er nach ihm wenig
Und bleibt mit Freuden arm.
Sie mögen ſich erwürgen
Am Fuß um Gut und Geld;
Er bleibt auf den Gebirgen
Der frohe Herr der Welt.

Heinrichen gefiel das Lied ungemein, und er bat den Alten, ihm noch eins mitzutheilen. 154Der Alte war auch gleich bereit und ſagte: Ich weiß gleich noch ein wunderliches Lied, was wir ſelbſt nicht wiſſen, wo es her iſt.

Es brachte es ein reiſender Bergmann mit, der weit herkam, und ein ſonderlicher Ruthengänger war. Das Lied fand großen Beyfall, weil es ſo ſeltſamlich klang, beynah ſo dunkel und unverſtändlich, wie die Muſik ſelbſt, aber eben darum auch ſo unbegreiflich anzog, und im wachenden Zuſtande wie ein Traum unterhielt.

Ich kenne wo ein feſtes Schloß
Ein ſtiller König wohnt darinnen,
Mit einem wunderlichen Troß;
Doch ſteigt er nie auf ſeine Zinnen.
Verborgen iſt ſein Luſtgemach
Und unſichtbare Wächter lauſchen;
Nur wohlbekannte Quellen rauſchen
Zu ihm herab vom bunten Dach.
155
Was ihre hellen Augen ſahn
In der Geſtirne weiten Sälen,
Das ſagen ſie ihm treulich an
Und können ſich nicht ſatt erzählen.
Er badet ſich in ihrer Flut,
Wäſcht ſauber ſeine zarten Glieder
Und ſeine Stralen blinken wieder
Aus ſeiner Mutter weißem Blut.
Sein Schloß iſt alt und wunderbar,
Es ſank herab aus tiefen Meeren
Stand feſt, und ſteht noch immerdar,
Die Flucht zum Himmel zu verwehren.
Von innen ſchlingt ein heimlich Band
Sich um des Reiches Unterthanen,
Und Wolken wehn wie Siegesfahnen
Herunter von der Felſenwand.
Ein unermeßliches Geſchlecht
Umgiebt die feſtverſchloſſenen Pforten,
156
Ein jeder ſpielt den treuen Knecht
Und ruft den Herrn mit ſüßen Worten.
Sie fühlen ſich durch ihn beglückt,
Und ahnden nicht, daß ſie gefangen;
Berauſcht von trüglichem Verlangen
Weiß keiner, wo der Schuh ihn drückt.
Nur Wenige ſind ſchlau und wach,
Und dürſten nicht nach ſeinen Gaben;
Sie trachten unabläſſig nach,
Das alte Schloß zu untergraben.
Der Heimlichkeit urmächtgen Bann,
Kann nur die Hand der Einſicht löſen;
Gelingt's das Innere zu entblößen
So bricht der Tag der Freyheit an.
Dem Fleiß iſt keine Wand zu feſt,
Dem Muth kein Abgrund unzugänglich;
Wer ſich auf Herz und Hand verläßt
Spürt nach dem König unbedenklich.
157
Aus ſeinen Kammern holt er ihn,
Vertreibt die Geiſter durch die Geiſter,
Macht ſich der wilden Fluten Meiſter,
Und heißt ſie ſelbſt heraus ſich ziehn.
Je mehr er nun zum Vorſchein kömmt
Und wild umher ſich treibt auf Erden:
Je mehr wird ſeine Macht gedämmt,
Je mehr die Zahl der Freyen werden.
Am Ende wird von Banden los
Das Meer die leere Burg durchdringen
Und trägt auf weichen grünen Schwingen
Zurück uns in der Heymath Schooß.

Es dünkte Heinrichen, wie der Alte geendigt hatte, als habe er das Lied ſchon irgend wo gehört. Er ließ es ſich wiederholen und ſchrieb es ſich auf. Der Alte ging nachher hinaus und die Kaufleute ſprachen unterdeſſen mit den andern Gäſten über die Vortheile des158 Bergbaues und ſeine Mühſeligkeiten. Einer ſagte: der Alte iſt gewiß nicht umſonſt hier. Er iſt heute zwiſchen den Hügeln um¬ hergeklettert und hat gewiß gute Anzeichen gefunden. Wir wollen ihn doch fragen, wenn er wieder herein kömmt. Wißt ihr wohl, ſagte ein Andrer, daß wir ihn bitten könnten, eine Quelle für unſer Dorf zu ſu¬ chen? Das Waſſer iſt weit, und ein guter Brunnen wäre uns ſehr willkommen. Mir fällt ein, ſagte ein dritter, daß ich ihn fra¬ gen möchte, ob er einen von meinen Söhnen mit ſich nehmen will, der mir ſchon das gan¬ ze Haus voll Steine getragen hat. Der Junge wird gewiß ein tüchtiger Bergmann, und der Alte ſcheint ein guter Mann zu ſeyn, der wird ſchon was Rechtes aus ihm ziehn. Die Kaufleute redeten, ob ſie viel¬ leicht durch den Bergmann ein vortheilhaftes Verkehr mit Böhmen anſpinnen und Metal¬159 le daher zu guten Preiſen erhalten möchten. Der Alte trat wieder in die Stube, und alle wünſchten ſeine Bekanntſchaft zu benutzen. Er fing an und ſagte: Wie dumpf und ängſtlich iſt es doch hier in der engen Stube. Der Mond ſteht draußen in voller Herrlich¬ keit, und ich hätte große Luſt noch einen Spaziergang zu machen. Ich habe heute bey Tage einige merkwürdige Höhlen hier in der Nähe geſehn. Vielleicht entſchließen ſich Einige mitzugehn; und wenn wir nur Licht mitnehmen, ſo werden wir ohne Schwierigkeiten uns darinn umſehn können.

Den Leuten aus dem Dorfe waren dieſe Höhlen ſchon bekannt: aber bis jetzt hatte keiner gewagt hineinzuſteigen; vielmehr tru¬ gen ſie ſich mit fürchterlichen Sagen von Drachen und andern Unthieren, die darinn hauſen ſollten. Einige wollten ſie ſelbſt ge¬ ſehn haben, und behaupteten, daß man Kno¬160 chen an ihrem Eingange von geraubten und verzehrten Menſchen und Thieren fände. Ei¬ nige andre vermeinten, daß ein Geiſt dieſel¬ ben bewohne, wie ſie denn einigemal aus der Ferne eine ſeltſame menſchliche Geſtalt ge¬ ſehn, auch zur Nachtzeit Geſänge da herüber gehört haben wollten.

Der Alte ſchien ihnen keinen großen Glauben beyzumeſſen, und verſicherte lachend, daß ſie unter dem Schutze eines Bergmanns getroſt mitgehn könnten, indem die Unge¬ heuer ſich vor ihm ſcheuen müßten, ein ſingender Geiſt aber gewiß ein wohlthätiges Weſen ſey. Die Neugier machte viele be¬ herzt genug, ſeinen Vorſchlag einzugehn; auch Heinrich wünſchte ihn zu begleiten, und ſeine Mutter gab endlich auf das Zureden und Verſprechen des Alten, genaue Acht auf Heinrichs Sicherheit zu haben, ſeinen Bitten nach. Die Kaufleute waren eben ſo entſchloſ¬ſen. 161ſen. Es wurden lange Kienſpäne zu Fackeln zuſammengeholt; ein Theil der Geſellſchaft verſah ſich noch zum Überfluß mit Leitern, Stangen, Stricken und allerhand Vertheidi¬ gungswerkzeugen, und ſo begann endlich die Wallfahrt nach den nahen Hügeln. Der Al¬ te ging mit Heinrich und den Kaufleuten vor¬ an. Jener Bauer hatte ſeinen wißbegierigen Sohn herbeygeholt, der voller Freude ſich ei¬ ner Fackel bemächtigte, und den Weg zu den Höhlen zeigte. Der Abend war heiter und warm. Der Mond ſtand in mildem Glanze über den Hügeln, und ließ wunderliche Träu¬ me in allen Kreaturen aufſteigen. Selbſt wie ein Traum der Sonne, lag er über der in ſich gekehrten Traumwelt, und führte die in unzählige Grenzen getheilte Natur in jene fabelhafte Urzeit zurück, wo jeder Keim noch für ſich ſchlummerte, und einſam und unbe¬ rührt ſich vergeblich ſehnte, die dunkle FülleL162ſeines unermeßlichen Daſeyns zu entfalten. In Heinrichs Gemüth ſpiegelte ſich das Mähr¬ chen des Abends. Es war ihm, als ruhte die Welt aufgeſchloſſen in ihm, und zeigte ihm, wie einem Gaſtfreunde, alle ihre Schätze und verborgenen Lieblichkeiten. Ihm dünkte die große einfache Erſcheinung um ihn ſo ver¬ ſtändlich. Die Natur ſchien ihm nur deswe¬ gen ſo unbegreiflich, weil ſie das Nächſte und Traulichſte mit einer ſolchen Verſchwen¬ dung von mannichfachen Ausdrücken um den Menſchen her thürmte. Die Worte des Al¬ ten hatten eine verſteckte Tapetenthür in ihm geöffnet. Er ſah ſein kleines Wohnzimmer dicht an einen erhabenen Münſter gebaut, aus deſſen ſteinernem Boden die ernſte Vor¬ welt emporſtieg, während von der Kuppel die klare fröliche Zukunft in goldnen En¬ gelskindern ihr ſingend entgegenſchwebte. Gewaltige Klänge bebten in den ſilber¬163 nem Geſang, und zu den weiten Thoren tra¬ ten alle Creaturen herein, von denen jede ih¬ re innere Natur in einer einfachen Bitte und in einer eigenthümlichen Mundart vernehm¬ lich ausſprach. Wie wunderte er ſich, daß ihm dieſe klare, ſeinem Daſeyn ſchon unent¬ behrliche Anſicht ſo lange fremd geblieben war. Nun überſah er auf einmal alle ſeine Verhältniſſe mit der weiten Welt um ihn her; fühlte was er durch ſie geworden und was ſie ihm werden würde, und begrif alle die ſeltſamen Vorſtellungen und Anre¬ gungen, die er ſchon oft in ihrem Anſchauen geſpürt hatte. Die Erzählung der Kaufleu¬ te von dem Jünglinge, der die Natur ſo em¬ ſig betrachtete, und der Eydam des Königs wurde, kam ihm wieder zu Gedanken, und tauſend andere Erinnerungen ſeines Lebens knüpften ſich von ſelbſt an einen zauberiſchen Faden. Während der Zeit, daß Heinrich ſei¬164 nen Betrachtungen nachhing, hatte ſich die Geſellſchaft der Höhle genähert. Der Ein¬ gang war niedrig, und der Alte nahm eine Fackel und klettere über einige Steine zuerſt hinein. Ein ziemlich fühlbarer Luftſtrom kam ihm entgegen, und der Alte verſicherte, daß ſie getroſt folgen könnten. Die Furcht¬ ſamſten gingen zuletzt, und hielten ihre Waf¬ fen in Bereitſchaft. Heinrich und die Kauf¬ leute waren hinter dem Alten und der Knabe wanderte munter an ſeiner Seite. Der Weg lief anfänglich in einem ziemlich ſchmalen Gange, welcher ſich aber bald in eine ſehr weite und hohe Höhle endigte, die der Fak¬ kelglanz nicht völlig zu erleuchten vermochte; doch ſah man im Hintergrunde einige Öff¬ nungen ſich in die Felſenwand verlieren. Der Boden war weich und ziemlich eben; die Wände ſo wie die Decke waren ebenfalls nicht rauh und unregelmäßig; aber was die165 Aufmerkſamkeit Aller vorzüglich beſchäftigte, war die unzähliche Menge von Knochen und Zähnen, die den Boden bedeckten. Viele waren völlig erhalten, an andern ſah man Spuren der Verweſung, und die, welche aus den Wänden hin und wieder hervorragten, ſchienen ſteinartig geworden zu ſeyn. Die Meiſten waren von ungewöhnlicher Größe und Stärke. Der Alte freute ſich über dieſe Überbleibſel einer uralten Zeit; nur den Bauern war nicht wohl dabey zu Muthe, denn ſie hielten ſie für deutliche Spuren na¬ her Raubthiere, ſo überzeugend ihnen auch der Alte die Zeichen eines undenklichen Alter¬ thums daran aufwies, und ſie fragte, ob ſie je etwas von Verwüſtungen unter ihren Heerden und vom Raube benachbarter Men¬ ſchen geſpürt hätten, und ob ſie jene Knochen für Knochen bekannter Thiere oder Menſchen halten könnten? Der Alte wollte nun weiter166 in den Berg, aber die Bauern fanden für rathſam ſich vor die Höhle zurückzuziehn, und dort ſeine Rückkunft abzuwarten. Hein¬ rich, die Kaufleute und der Knabe blieben bey dem Alten, und verſahen ſich mit Strik¬ ken und Fackeln. Sie gelangten bald in ei¬ ne zweyte Höhle, wobey der Alte nicht ver¬ gaß, den Gang aus dem ſie hereingekommen waren, durch eine Figur von Knochen, die er davor hinlegte, zu bezeichnen. Die Höhle glich der vorigen und war eben ſo reich an thieriſchen Reſten. Heinrichen war ſchauerlich und wunderbar zu Muthe; es gemahnte ihn, als wandle er durch die Vorhöfe des in¬ nern Erdenpalaſtes. Himmel und Leben lag ihm auf einmal weit entfernt, und dieſe dunkeln weiten Hallen ſchienen zu einem un¬ terirdiſchen ſeltſamen Reiche zu gehören. Wie, dachte er bey ſich ſelbſt, wäre es mög¬ lich, daß unter unſern Füßen eine eigene167 Welt in einem ungeheuern Leben ſich beweg¬ te? daß unerhörte Geburten in den Veſten der Erde ihr Weſen trieben, die das innere Feuer des dunkeln Schooßes zu rieſenmäßi¬ gen und geiſtesgewaltigen Geſtalten auftrie¬ be? Könnten dereinſt dieſe ſchauerlichen Frem¬ den, von der eindringenden Kälte hervorge¬ trieben, unter uns erſcheinen, während viel¬ leicht zu gleicher Zeit himmliſche Gäſte, le¬ bendige, redende Kräfte der Geſtirne über un¬ ſern Häuptern ſichtbar würden? Sind dieſe Knochen Überreſte ihrer Wanderungen nach der Oberfläche, oder Zeichen einer Flucht in die Tiefe?

Auf einmal rief der Alte die Andern her¬ bey, und zeigte ihnen eine ziemlich friſche Menſchenſpur auf dem Boden. Mehrere konnten ſie nicht finden, und ſo glaubte der Alte, ohne fürchten zu müſſen, auf Räuber zu ſtoßen, der Spur nachgehen zu können.

168

Sie waren eben im Begriff dies auszufüh¬ ren, als auf einmal, wie unter ihren Füßen, aus einer fernen Tiefe ein ziemlich vernehm¬ licher Geſang anfing. Sie erſtaunten nicht wenig, doch horchten ſie genau auf:

Gern verweil 'ich noch im Thale
Lächelnd in der tiefen Nacht,
Denn der Liebe volle Schaale
Wird mir täglich dargebracht.
Ihre heilgen Tropfen heben
Meine Seele hoch empor,
Und ich ſteh in dieſem Leben
Trunken an des Himmels Thor.
Eingewiegt in ſeelges Schauen
Ängſtigt mein Gemüth kein Schmerz.
O! die Königinn der Frauen
Giebt mir ihr getreues Herz.
169
Bangverweinte Jahre haben
Dieſen ſchlechten Thon verklärt,
Und ein Bild ihm eingegraben,
Das ihm Ewigkeit gewährt.
Jene lange Zahl von Tagen
Dünkt mir nur ein Augenblick;
Werd ich einſt von hier getragen
Schau ich dankbar noch zurück.

Alle waren auf das angenehmſte überraſcht, und wünſchten ſehnlichſt den Sänger zu ent¬ decken.

Nach einigem Suchen trafen ſie in ei¬ nem Winkel der rechten Seitenwand, einen abwärts geſenkten Gang, in welchen die Fußtapfen zu führen ſchienen. Bald dünkte es ihnen, eine Hellung zu bemerken, die ſtär¬ ker wurde, je näher ſie kamen. Es that ſich ein neues Gewölbe von noch größerm Um¬170 fange, als die vorherigen, auf, in deſſen Hintergründe ſie bey einer Lampe eine menſchliche Geſtalt ſitzen ſahen, die vor ſich auf einer ſteinernen Platte ein großes Buch liegen hatte, in welchem ſie zu leſen ſchien.

Sie drehte ſich nach ihnen zu, ſtand auf und ging ihnen entgegen. Es war ein Mann, deſſen Alter man nicht errathen konn¬ te. Er ſah weder alt noch jung aus, kei¬ ne Spuren der Zeit bemerkte man an ihm, als ſchlichte ſilberne Hare, die auf der Stirn geſcheitelt waren. In ſeinen Augen lag ei¬ ne unausſprechliche Heiterkeit, als ſähe er von einem hellen Berge in einen unendlichen Frühling hinein. Er hatte Sohlen an die Füße gebunden, und ſchien keine andere Klei¬ dung zu haben, als einen weiten Mantel, der um ihn hergeſchlungen war, und ſeine ed¬ le große Geſtalt noch mehr heraus hob. Über ihre unvermuthete Ankunft ſchien er171 nicht im mindeſten verwundert; wie ein Be¬ kannter begrüßte er ſie. Es war, als emp¬ fing er erwartete Gäſte in ſeinem Wohnhau¬ ſe. Es iſt doch ſchön, daß ihr mich beſucht, ſagte er; Ihr ſeyd die erſten Freunde, die ich hier ſehe, ſo lange ich auch ſchon hier wohne. Scheint es doch, als finge man an, unſer großes wunderbares Haus genauer zu betrachten. Der Alte erwiederte: Wir haben nicht vermuthet, einen ſo freundlichen Wirth hier zu finden. Von wilden Thieren und Geiſtern war uns erzählt, und nun ſehen wir uns auf das anmuthigſte getäuſcht. Wenn wir euch in eurer Andacht und in euren tief¬ ſinnigen Betrachtungen geſtört haben: ſo ver¬ zeiht es unſerer Neugierde. Könnte eine Betrachtung erfreulicher ſeyn, ſagte der Unbe¬ kannte, als die froher uns zuſagender Men¬ ſchengeſichter? Haltet mich nicht für einen Menſchenfeind, weil ihr mich in dieſer Einöde172 trefft. Ich habe die Welt nicht geflohen, ſon¬ dern ich habe nur eine Ruheſtätte geſucht, wo ich ungeſtört meinen Betrachtungen nachhängen könnte. Hat euch euer Entſchluß nie gereut, und kommen nicht zuweilen Stunden, wo euch bange wird und euer Herz nach einer Men¬ ſchenſtimme verlangt? Jetzt nicht mehr. Es war eine Zeit in meiner Jugend, wo eine heiße Schwärmerey mich veranlaßte, Einſied¬ ler zu werden. Dunkle Ahndungen beſchäf¬ tigten meine jugendliche Fantaſie. Ich hoffte volle Nahrung meines Herzens in der Ein¬ ſamkeit zu finden. Unerſchöpflich dünkte mir die Quelle meines innern Lebens. Aber ich merkte bald, daß man eine Fülle von Erfah¬ rungen dahin mitbringen muß, daß ein jun¬ ges Herz nicht allein ſeyn kann, ja daß der Menſch erſt durch vielfachen Umgang mit ſeinem Geſchlecht eine gewiſſe Selbſtſtändig¬ keit erlangt.

173

Ich glaube ſelbſt, erwiederte der Alte, daß es einen gewiſſen natürlichen Beruf zu jeder Lebensart giebt, und vielleicht, daß die Erfahrungen eines zunehmenden Alters von ſelbſt auf eine Zurückziehung aus der menſch¬ lichen Geſellſchaft führen. Scheint es doch, als ſey dieſelbe der Thätigkeit, ſowohl zum Gewinnſt als zur Erhaltung gewidmet. Eine große Hoffnung, ein gemeinſchaftlicher Zweck treibt ſie mit Macht; und Kinder und Alte ſcheinen nicht dazu zu gehören. Unbehülflich¬ keit und Unwiſſenheit ſchließen die Erſten da¬ von aus, während die letztern jene Hoffnung erfüllt, jenen Zweck erreicht ſehen, und nun nicht mehr von ihnen in den Kreis jener Ge¬ ſellſchaft verflochten, in ſich ſelbſt zurückkeh¬ ren, und genug zu thun finden, ſich auf eine höhere Gemeinſchaft würdig vorzubereiten. Indeß ſcheinen bey euch noch beſondere Urſa¬ chen ſtatt gefunden zu haben, euch ſo gänz¬174 lich von den Menſchen abzuſondern und Ver¬ zicht auf alle Bequemlichkeiten der Geſell¬ ſchaft zu leiſten. Mich dünkt, daß die Spannung eures Gemüths doch oft nachlaſſen und euch dann unbehaglich zu Muthe wer¬ den müßte.

Ich fühlte das wohl, indeß habe ich es glücklich durch eine ſtrenge Regelmäßigkeit meines Lebens zu vermeiden gewußt. Dabey ſuche ich mich durch Bewegung geſund zu er¬ halten, und dann hat es keine Noth. Jeden Tag gehe ich mehrere Stunden herum, und genieße den Tag und die Luft ſoviel ich kann. Sonſt halte ich mich in dieſen Hallen auf, und beſchäftige mich zu gewiſſen Stun¬ den mit Korbflechten und Schnitzen. Für meine Waaren tauſche ich mir in entlegenen Ortſchaften Lebensmittel ein, Bücher hab ich mir mitgebracht, und ſo vergeht die Zeit, wie ein Augenblick. In jenen Gegenden habe ich175 einige Bekannte, die um meinen Aufenthalt wiſſen, und von denen ich erfahre, was in der Welt geſchieht. Dieſe werden mich be¬ graben, wenn ich todt bin und meine Bücher zu ſich nehmen.

Er führte ſie näher an ſeinen Sitz, der nahe an der Höhlenwand war. Sie ſahen mehrere Bücher auf der Erde liegen, auch ei¬ ne Zither, und an der Wand hing eine völli¬ ge Rüſtung, die ziemlich koſtbar zu ſeyn ſchien. Der Tiſch beſtand aus fünf großen ſteinernen Platten, die wie ein Kaſten zuſam¬ mengeſetzt waren. Auf der oberſten lagen ei¬ ne männliche und weibliche Figur in Lebens¬ größe eingehauen, die einen Kranz von Lili¬ en und Roſen angefaßt hatten; an den Sei¬ ten ſtand: Friedrich und Marie von Hohenzollern kehrten auf dieſer Stelle in ihr Vater¬ land zurück.

176

Der Einſiedler fragte ſeine Gäſte nach ihrem Vaterlande, und wie ſie in dieſe Ge¬ genden gekommen wären. Er war ſehr freundlich und offen, und verrieth eine große Bekanntſchaft mit der Welt. Der Alte ſagte; Ich ſehe, ihr ſeyd ein Kriegsmann geweſen, die Rüſtung verräth euch. Die Gefahren und Wechſel des Krieges, der hohe poetiſche Geiſt, der ein Kriegsheer be¬ gleitet, riſſen mich aus meiner jugendlichen Einſamkeit und beſtimmten die Schickſale meines Lebens. Vielleicht, daß das lange Getümmel, die unzähligen Begebenheiten, de¬ nen ich beywohnte, mir den Sinn für die Einſamkeit noch mehr geöffnet haben: die zahlloſen Erinnerungen ſind eine unterhaltende Geſellſchaft, und dies um ſo mehr, je verän¬ derter der Blick iſt, mit dem wir ſie über¬ ſchauen, und der nun erſt ihren wahren Zu¬ſam¬177ſammenhang, den Tiefſinn ihrer Folge, und die Bedeutung ihrer Erſcheinungen entdeckt. Der eigentliche Sinn für die Geſchichten der Menſchen entwickelt ſich erſt ſpät, und mehr unter den ſtillen Einflüſſen der Erinnerung, als unter den gewaltſameren Eindrücken der Gegenwart. Die nächſten Ereigniſſe ſcheinen nur locker verknüpft, aber ſie ſympathiſiren deſto wunderbarer mit entfernteren; und nur dann, wenn man im Stande iſt, eine lange Reihe zu überſehn und weder alles buchſtäb¬ lich zu nehmen, noch auch mit muthwilligen Träumen die eigentliche Ordnung zu verwir¬ ren, bemerkt man die geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen, und lernt die Geſchichte aus Hoffnung und Erinnerung zu¬ ſammenſetzen. Indeß nur dem, welchem die ganze Vorzeit gegenwärtig iſt, mag es gelin¬ gen, die einfache Regel der Geſchichte zu ent¬ decken. Wir kommen nur zu unvollſtändigenM178und beſchwerlichen Formeln, und können froh ſeyn, nur für uns ſelbſt eine brauchbare Vor¬ ſchrift zu finden, die uns hinlängliche Auf¬ ſchlüſſe über unſer eigenes kurzes Leben ver¬ ſchafft. Ich darf aber wohl ſagen, daß jede ſorgfältige Betrachtung der Schickſale des Lebens einen tiefen, unerſchöpflichen Genuß gewährt, und unter allen Gedanken uns am meiſten über die irdiſchen Übel erhebt. Die Jugend lieſt die Geſchichte nur aus Neugier, wie ein unterhaltendes Mährchen; dem rei¬ feren Alter wird ſie eine himmliſche tröſtende und erbauende Freundinn, die ihn durch ihre weiſen Geſpräche ſanft zu einer höheren, um¬ faſſenderen Laufbahn vorbereitet, und mit der unbekannten Welt ihn in faßlichen Bildern bekannt macht. Die Kirche iſt das Wohn¬ haus der Geſchichte, und der ſtille Hof ihr ſinnbildlicher Blumengarten. Von der Ge¬ ſchichte ſollten nur alte, gottesfürchtige Leute179 ſchreiben, deren Geſchichte ſelbſt zu Ende iſt, und die nichts mehr zu hoffen haben, als die Verpflanzung in den Garten. Nicht finſter und trübe wird ihre Beſchreibung ſeyn; viel¬ mehr wird ein Strahl aus der Kuppel alles in der richtigſten und ſchönſten Erleuchtung zei¬ gen, und heiliger Geiſt wird über dieſen ſelt¬ ſam bewegten Gewäſſern ſchweben.

Wie wahr und einleuchtend iſt eure Rede, ſetzte der Alte hinzu. Man ſollte gewiß mehr Fleiß darauf wenden, das Wiſſenswürdige ſeiner Zeit treulich aufzuzeichnen, und es als ein andächtiges Vermächtniß den künftigen Menſchen zu hinterlaſſen. Es giebt tauſend entferntere Dinge, denen Sorgfalt und Mü¬ he gewidmet wird, und gerade um das Nächſte und Wichtigſte, um die Schickſale unſers eigenen Lebens, unſerer Angehörigen, unſers Geſchlechts, deren leiſe Planmäßigkeit wir in den Gedanken einer Vorſehung aufge¬180 faßt haben, bekümmern wir uns ſo wenig, und laſſen ſorglos alle Spuren in unſerm Gedächtniſſe verwiſchen. Wie Heiligthümer wird eine weiſere Nachkommenſchaft jede Nachricht, die von den Begebenheiten der Vergangenheit handelt, aufſuchen, und ſelbſt das Leben eines Einzelnen unbedeutenden Mannes wird ihr nicht gleichgültig ſeyn, da gewiß ſich das große Leben ſeiner Zeitgenoſ¬ ſenſchaft darinn mehr oder weniger ſpiegelt.

Es iſt nur ſo ſchlimm, ſagte der Graf von Hohenzollern, daß ſelbſt die Wenigen, die ſich der Aufzeichnung der Thaten und Vor¬ fälle ihrer Zeit unterzogen, nicht über ihr Geſchäft nachdachten, und ihren Beobachtun¬ gen keine Vollſtändigkeit und Ordnung zu geben ſuchten, ſondern nur aufs Gerathe¬ wohl bey der Auswahl und Sammlung ih¬ rer Nachrichten verfuhren. Ein jeder wird leicht an ſich bemerken, daß er nur dasjenige181 deutlich und vollkommen beſchreiben kann, was er genau kennt, deſſen Theile, deſſen Entſtehung und Folge, deſſen Zweck und Ge¬ brauch ihm gegenwärtig ſind: denn ſonſt wird keine Beſchreibung, ſondern ein verwirrtes Ge¬ miſch von unvollſtändigen Bemerkungen ent¬ ſtehn. Man laſſe ein Kind eine Maſchine, einen Landmann ein Schiff beſchreiben, und gewiß wird kein Menſch aus ihren Worten einigen Nutzen und Unterricht ſchöpfen können, und ſo iſt es mit den meiſten Geſchichtſchrei¬ bern, die vielleicht fertig genug im Erzählen und bis zum Überdruß weitſchweifig ſind, aber doch gerade das Wiſſenswürdigſte vergeſſen, dasjenige, was erſt die Geſchichte zur Geſchich¬ te macht, und die mancherley Zufälle zu ei¬ nem angenehmen und lehrreichen Ganzen ver¬ bindet. Wenn ich das alles recht bedenke, ſo ſcheint es mir, als wenn ein Geſchichtſchreiber182 nothwendig auch ein Dichter ſeyn müßte, denn nur die Dichter mögen ſich auf jene Kunſt, Begebenheiten ſchicklich zu verknüpfen, verſtehn. In ihren Erzählungen und Fabeln habe ich mit ſtillem Vergnügen ihr zartes Gefühl für den geheimnißvollen Geiſt des Le¬ bens bemerkt. Es iſt mehr Wahrheit in ih¬ ren Mährchen, als in gelehrten Chroniken. Sind auch ihre Perſonen und deren Schickſa¬ le erfunden: ſo iſt doch der Sinn, in dem ſie erfunden ſind, wahrhaft und natürlich. Es iſt für unſern Genuß und unſere Belehrung gewiſſermaßen einerley, ob die Perſonen, in deren Schickſalen wir den unſrigen nachſpü¬ ren, wirklich einmal lebten, oder nicht. Wir verlangen nach der Anſchauung der großen einfachen Seele der Zeiterſcheinungen, und finden wir dieſen Wunſch gewährt, ſo küm¬ mern wir uns nicht um die zufällige Exi¬ ſtenz ihrer äußern Figuren.

183

Auch ich bin den Dichtern, ſagte der Al¬ te, von jeher deshalb zugethan geweſen. Das Leben und die Welt iſ[t]mir klarer und anſchaulicher durch ſie geworden. Es dünkte mich, ſie müßten befreundet mit den ſcharfen Geiſtern des Lichtes ſeyn, die alle Naturen durchdringen und ſondern, und einen ei¬ genthümlichen, zartgefärbten Schleyer über jede verbreiten. Meine eigene Natur fühlte ich bey ihren Liedern leicht entfaltet, und es war, als könnte ſie ſich nun freyer be¬ wegen, ihrer Geſelligkeit und ihres Verlan¬ gens froh werden, mit ſtiller Luſt ihre Glie¬ der gegen einander ſchwingen, und tauſender¬ ley anmuthige Wirkungen hervorrufen.

Wart ihr ſo glücklich in eurer Gegend einige Dichter zu haben? fragte der Ein¬ ſiedler.

Es haben ſich wohl zuweilen einige bey uns eingefunden: aber ſie ſchienen Gefallen184 am Reiſen zu finden, und ſo hielten ſie ſich meiſt nicht lange auf. Indeß habe ich auf meinen Wanderungen nach Illyrien, nach Sachſen und Schwedenland nicht ſelten wel¬ che gefunden, deren Andenken mich immer er¬ freuen wird.

So ſeyd ihr ja weit umhergekommen, und müßt viele denkwürdige Dinge erlebt haben.

Unſere Kunſt macht es faſt nöthig, daß man ſich weit auf dem Erdboden umſieht, und es iſt als triebe den Bergmann ein un¬ terirdiſches Feuer umher. Ein Berg ſchickt ihn dem andern. Er wird nie mit Sehen fer¬ tig, und hat ſeine ganze Lebenszeit an jener wunderlichen Baukunſt zu lernen, die unſern Fußboden ſo ſeltſam gegründet und ausgetä¬ felt hat. Unſere Kunſt iſt uralt und weit verbreitet. Sie mag wohl aus Morgen, mit der Sonne, wie unſer Geſchlecht, nach Abend185 gewandert ſeyn, und von der Mitte nach den Enden zu. Sie hat überall mit andern Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, und da immer das Bedürfniß den menſchlichen Geiſt zu klugen Erfindungen gereitzt, ſo kann der Bergmann überall ſeine Einſichten und ſeine Geſchicklichkeit vermehren und mit nützlichen Erfahrungen ſeine Heymath bereichern.

Ihr ſeyd beynah verkehrte Aſtrologen, ſagte der Einſiedler. Wenn dieſe den Him¬ mel unverwandt betrachten und ſeine uner¬ meßlichen Räume durchirren: ſo wendet ihr euren Blick auf den Erdboden, und erforſcht ſeinen Bau. Jene ſtudieren die Kräfte und Einflüſſe der Geſtirne, und ihr unterſucht die Kräfte der Felſen und Berge, und die mannichfaltigen Wirkungen der Erd - und Steinſchichten. Jenen iſt der Himmel das Buch der Zukunft, während euch die Erde Denkmale der Urwelt zeigt.

186

Es iſt dieſer Zuſammenhang nicht ohne Bedeutung, ſagte der Alte lächelnd. Die leuchtenden Profeten ſpielen vielleicht eine Hauptrolle in jener alten Geſchichte des wun¬ derlichen Erdhaus. Man wird vielleicht ſie aus ihren Werken, und ihre Werke aus ih¬ nen mit der Zeit beſſer kennen und erklären lernen. Vielleicht zeigen die großen Gebirgs¬ ketten die Spuren ihrer ehemaligen Straßen, und hatten ſelbſt Luſt, ſich auf ihre eigene Hand zu nähren und ihren eigenen Gang am Himmel zu gehn. Manche hoben ſich kühn genug, um auch Sterne zu werden, und müſſen nun dafür die ſchöne grüne Be¬ kleidung der niedrigern Gegenden entbehren. Sie haben dafür nichts erhalten, als daß ſie ihren Vätern das Wetter machen helfen, und Profeten für das tiefere Land ſind, das ſie bald ſchützen bald mit Ungewittern über¬ ſchwemmen.

187

Seitdem ich in dieſer Höhle wohne, fuhr der Einſiedler fort, habe ich mehr über die alte Zeit nachdenken gelernt. Es iſt unbe¬ ſchreiblich, was dieſe Betrachtung anzieht, und ich kann mir die Liebe vorſtellen, die ein Bergmann für ſein Handwerk hegen muß. Wenn ich die ſeltſamen alten Knochen anſe¬ he, die hier in ſo gewaltiger Menge verſam¬ melt ſind; wenn ich mir die wilde Zeit denke, wo dieſe fremdartigen, ungeheuren Thiere in dichten Schaaren ſich in dieſe Höhlen herein¬ drängten, von Furcht und Angſt vielleicht ge¬ trieben, und hier ihren Tod fanden; wenn ich dann wieder bis zu den Zeiten hinauf¬ ſteige, wo dieſe Höhlen zuſammenwuchſen und ungeheure Fluten das Land bedeckten: ſo komme ich mir ſelbſt wie ein Traum der Zu¬ kunft, wie ein Kind des ewigen Friedens vor. Wie ruhig und friedfertig, wie mild und klar iſt gegen dieſe gewaltſamen, rieſenmäßi¬188 gen Zeiten, die heutige Natur! und das furchtbarſte Gewitter, das entſetzlichſte Erdbe¬ ben in unſern Tagen iſt nur ein ſchwacher Nachhall jener grauſenvollen Geburtswehen. Vielleicht daß auch die Pflanzen - und Thier¬ welt, ja die damaligen Menſchen ſelbſt, wenn es auf einzelnen Eylanden in dieſem Ozean welche gab, eine andere feſtere und rauhere Bauart hatten, wenigſtens dürfte man die alten Sagen von einem Rieſenvolke dann keiner Erdichtungen zeihen.

Es iſt erfreulich, ſagte der Alte, jene all¬ mählige Beruhigung der Natur zu bemerken. Ein immer innigeres Einverſtändniß, eine friedlichere Gemeinſchaft, eine gegenſeitige Unterſtützung und Belebung, ſcheint ſich all¬ mählich gebildet zu haben, und wir können immer beſſeren Zeiten entgegenſehn. Es wäre vielleicht möglich, daß hin und wieder noch alter Sauerteig gährte, und noch einige189 heftige Erſchütterungen erfolgten; indeß ſieht man doch das allmächtige Streben nach freyer, einträchtiger Verfaſſung, und in die¬ ſem Geiſte wird jede Erſchütterung vorüber¬ gehen und dem großen Ziele näher führen. Mag es ſeyn, daß die Natur nicht mehr ſo fruchtbar iſt, daß heut zu Tage keine Metal¬ le und Edelſteine, keine Felſen und Berge mehr entſtehn, daß Pflanzen und Thiere nicht mehr zu ſo erſtaunlichen Größen und Kräften aufquellen: je mehr ſich ihre erzeu¬ gende Kraft erſchöpft hat, deſto mehr haben ihre bildenden, veredelnden und geſelligen Kräfte zugenommen, ihr Gemüth iſt em¬ pfänglicher und zarter, ihre Fantaſie mannich¬ faltiger und ſinnbildlicher, ihre Hand leichter und kunſtreicher geworden. Sie nähert ſich dem Menſchen, und wenn ſie, ehmals ein wildgebährender Fels war, ſo iſt ſie jetzt eine ſtille, treibende Pflanze, eine ſtumme menſch¬190 liche Künſtlerinn. Wozu wäre auch eine Vermehrung jener Schätze nöthig, deren Überfluß auf undenkliche Zeiten ausreicht. Wie klein iſt der Raum, den ich durchwan¬ dert bin, und welche mächtige Vorräthe ha¬ be ich nicht gleich auf den erſten Blick gefun¬ den, deren Benutzung der Nachwelt überlaſ¬ ſen bleibt. Welche Reichthümer verſchließen nicht die Gebirge nach Norden, welche gün¬ ſtige Anzeigen fand ich nicht in meinem Va¬ terlande überall, in Ungarn, am Fuße der Carpathiſchen Gebirge, und in den Felſenthä¬ lern von Tyrol, Öſtreich und Bayern. Ich könnte ein reicher Mann ſeyn, wenn ich das hätte mit mir nehmen können, was ich nur aufzuheben, nur abzuſchlagen brauchte. An manchen Orten ſah ich mich, wie in einem Zaubergarten. Was ich anſah, war von köſtlichen Metallen und auf das kunſtreichſte gebildet. In den zierlichen Locken und Äſten191 des Silbers hingen glänzende, rubinrothe, durchſichtige Früchte, und die ſchweren Bäumchen ſtanden auf kryſtallenem Grunde, der ganz unnachahmlich ausgearbeitet war. Man traute kaum ſeinen Sinnen an dieſen wunderbaren Orten, und ward nicht müde dieſe reizenden Wildniſſe zu durchſtreifen und ſich an ihren Kleinodien zu ergötzen. Auch auf meiner jetzigen Reiſe habe ich viele Merkwürdigkeiten geſehn, und gewiß iſt in andern Ländern die Erde eben ſo ergiebig und verſchwenderiſch.

Wenn man, ſagte der Unbekannte, die Schätze bedenkt, die im Orient zu Hauſe ſind, ſo iſt daran kein Zweifel, und iſt das ferne Indien, Afrika und Spanien nicht ſchon im Alterthum durch die Reichthümer ſeines Bodens bekannt geweſen? Als Kriegs¬ mann giebt man freylich nicht ſo genau auf die Adern und Klüfte der Berge acht, indeß192 habe ich doch zuweilen meine Betrachtungen über dieſe glänzenden Streifen gehabt, die wie ſeltſame Knospen auf eine unerwartete Blüthe und Frucht deuten. Wie hätte ich damals denken können, wenn ich froh über das Licht des Tages an dieſen dunkeln Be¬ hauſungen vorbeyzog, daß ich noch im Schooße eines Berges mein Leben beſchließen würde. Meine Liebe trug mich ſtolz über den Erdboden, und in ihrer Umarmung hoff¬ te ich in ſpäten Jahren zu entſchlafen. Der Krieg endigte, und ich zog nach Hauſe, voll froher Erwartungen eines erquicklichen Herb¬ ſtes. Aber der Geiſt des Krieges ſchien der Geiſt meines Glücks zu ſeyn. Meine Marie hatte mir zwey Kinder im Orient geboren. Sie waren die Freude unſers Leben. Die Seefahrt und die rauhere Abendländiſche Luft ſtörte ihre Blüthe. Ich begrub ſie we¬ nig Tage nach meiner Ankunft in Europa. Kum¬193Kummervoll führte ich meine troſtloſe Gattin nach meiner Heymath. Ein ſtiller Gram mochte den Faden ihres Lebens mürbe ge¬ macht haben. Auf einer Reiſe, die ich bald darauf unternehmen mußte, auf der ſie mich wie immer begleitete, verſchied ſie ſanft und plötzlich in meinen Armen. Es war hier nahe bey, wo unſere irdiſche Wallfahrt zu Ende ging. Mein Entſchluß war im Augen¬ blicke reif. Ich fand, was ich nie erwartet hatte; eine göttliche Erleuchtung kam über mich, und ſeit dem Tage, da ich ſie hier ſelbſt begrub, nahm eine himmliſche Hand allen Kummer von meinem Herzen. Das Grabmal habe ich nachher errichten laſſen. Oft ſcheint eine Begebenheit ſich zu endigen, wenn ſie erſt eigentlich beginnt, und dies hat bey meinem Leben ſtatt gefunden. Gott ver¬ leihe euch allen ein ſeliges Alter, und ein ſo geruhiges Gemüth wie mir.

N194

Heinrich und die Kaufleute hatten auf¬ merkſam dem Geſpräche zugehört, und der Erſtere fühlte beſonders neue Entwickelungen ſeines ahndungsvollen Innern. Manche Worte, manche Gedanken fielen wie beleben¬ der Fruchtſtaub, in ſeinen Schooß, und rück¬ ten ihn ſchnell aus dem engen Kreiſe ſeiner Jugend auf die Höhe der Welt. Wie lange Jahre lagen die eben vergangenen Stunden hinter ihm, und er glaubte nie anders ge¬ dacht und empfunden zu haben.

Der Einſiedler zeigte ihnen ſeine Bücher. Es waren alte Hiſtorien und Gedichte. Heinrich blätterte in den großen ſchönge¬ mahlten Schriften; die kurzen Zeilen der Verſe, die Überſchriften, einzelne Stellen, und die ſaubern Bilder, die hier und da, wie verkörperte Worte, zum Vorſchein kamen, um die Einbildungskraft des Leſers zu unter¬ ſtützen, reizten mächtig ſeine Neugierde. Der195 Einſiedler bemerkte ſeine innere Luſt, und er¬ klärte ihm die ſonderbaren Vorſtellungen. Die mannichfaltigſten Lebensſcenen waren ab¬ gebildet. Kämpfe, Leichenbegängniſſe, Hoch¬ zeitfeyerlichkeiten, Schiffbrüche, Höhlen und Paläſte; Könige, Helden, Prieſter, alte und junge Leute, Menſchen in fremden Trachten, und ſeltſame Thiere, kamen in verſchiedenen Abwechſelungen und Verbindungen, vor. Heinrich konnte ſich nicht ſatt ſehen, und hät¬ te nichts mehr gewünſcht, als bey dem Ein¬ ſiedler, der ihn unwiderſtehlich anzog, zu bleiben, und von ihm über dieſe Bücher un¬ terrichtet zu werden Der Alte fragte unter¬ deß, ob es noch mehr Höhlen gäbe, und der Einſiedler ſagte ihm, daß noch einige ſehr große in der Nähe lägen, wohin er ihn be¬ gleiten wollte. Der Alte war dazu bereit, und der Einſiedler, der die Freude merkte, die Heinrich an ſeinen Büchern hatte, veran¬196 laßte ihn, zurückzubleiben, und ſich während dieſer Zeit weiter unter denſelben umzuſehn. Heinrich blieb mit Freuden bey den Büchern, und dankte ihm innig für ſeine Erlaubniß. Er blätterte mit unendlicher Luſt umher. Endlich fiel ihm ein Buch in die Hände, das in einer fremden Sprache geſchrieben war, die ihm einige Ähnlichkeit mit der Lateini¬ ſchen und Italieniſchen zu haben ſchien. Er hätte ſehnlichſt gewünſcht, die Sprache zu kennen, denn das Buch gefiel ihm vorzüglich ohne daß er eine Sylbe davon verſtand. Es hatte keinen Titel, doch fand er noch beym Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zuſah, entdeckte er ſeine eigene Geſtalt ziem¬ lich kenntlich unter den Figuren. Er er¬ ſchrack und glaubte zu träumen, aber beym wiederhohlten Anſehn konnte er nicht mehr an der vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln.

197

Er traute kaum ſeinen Sinnen, als er bald auf einem Bilde die Höhle, den Einſiedler, und den Alten neben ſich entdeckte. Allmäh¬ lich fand er auf den andern Bildern die Morgenländerinn, ſeine Eltern, den Landgra¬ fen und die Landgräfinn von Thüringen, ſei¬ nen Freund den Hofkaplan, und manche An¬ dere ſeiner Bekannten; doch waren ihre Klei¬ dungen verändert und ſchienen aus einer an¬ dern Zeit zu ſeyn. Eine große Menge Figu¬ ren wußte er nicht zu nennen, doch däuchten ſie ihm bekannt. Er ſah ſein Ebenbild in verſchiedenen Lagen. Gegen das Ende kam er ſich größer und edler vor. Die Guitarre ruhte in ſeinen Armen, und die Landgräfinn reichte ihm einen Kranz. Er ſah ſich am kayſerlichen Hofe, zu Schiffe, in trauter Um¬ armung mit einem ſchlanken lieblichen Mäd¬ chen, in einem Kampfe mit wildausſehenden Männern, und in freundlichen Geſprächen198 mit Sarazenen und Mohren. Ein Mann von ernſtem Anſehn kam häufig in ſeiner Geſellſchaft vor. Er fühlte tiefe Ehrfurcht vor dieſer hohen Geſtalt, und war froh ſich Arm in Arm mit ihm zu ſehn. Die letzten Bilder waren dunkel und unverſtändlich; doch überraſchten ihn einige Geſtalten ſeines Traumes mit dem innigſten Entzücken; der Schluß des Buches ſchien zu fehlen. Hein¬ rich war ſehr bekümmert, und wünſchte nichts ſehnlicher, als das Buch leſen zu können, und vollſtändig zu beſitzen. Er betrachtete die Bilder zu wiederholten Malen und war be¬ ſtürzt, wie er die Geſellſchaft zurückkommen hörte. Eine wunderliche Schaam befiel ihn. Er getraute ſich nicht, ſeine Entdeckung mer¬ ken zu laſſen, machte das Buch zu, und frag¬ te den Einſiedler nur obenhin nach dem Titel und der Sprache deſſelben, wo er denn er¬ fuhr, daß es in provenzaliſcher Sprache ge¬199 ſchrieben ſey. Es iſt lange, daß ich es geleſen habe, ſagte der Einſiedler. Ich kann mich nicht genau mehr des Inhalts entſin¬ nen. Soviel ich weiß, iſt es ein Roman von den wunderbaren Schickſalen eines Dichters, worinn die Dichtkunſt in ihren mannnichfa¬ chen Verhältniſſen dargeſtellt und geprieſen wird. Der Schluß fehlt an dieſer Hand¬ ſchrift, die ich aus Jeruſalem mitgebracht ha¬ be, wo ich ſie in der Verlaſſenſchaft eines Freundes fand, und zu ſeinem Andenken auf¬ hob.

Sie nahmen nun von einander Abſchied, und Heinrich war bis zu Thränen gerührt. Die Höhle war ihm ſo merkwürdig, der Ein¬ ſiedler ſo lieb geworden.

Alle umarmten dieſen herzlich, und er ſelbſt ſchien ſie lieb gewonnen zu haben. Heinrich glaubte zu bemerken, daß er ihn mit einem freundlichen durchdringenden Blick200 anſehe. Seine Abſchiedsworte gegen ihn wa¬ ren ſonderbar bedeutend. Er ſchien von ſei¬ ner Entdeckung zu wiſſen und darauf anzu¬ ſpielen. Bis zum Eingang der Höhlen be¬ gleitete er ſie, nachdem er ſie und beſonders den Knaben gebeten hatte, nichts von ihm gegen die Bauern zu erwähnen, weil er ſonſt ihren Zudringlichkeiten ausgeſetzt ſeyn würde.

Sie verſprachen es alle. Wie ſie von ihm ſchieden und ſich ſeinem Gebet empfah¬ len, ſagte er: Wie lange wird es währen, ſo ſehn wir uns wieder, und werden über un¬ ſere heutigen Reden lächeln. Ein himmli¬ ſcher Tag wird uns umgeben, und wir wer¬ den uns freuen, daß wir einander in dieſen Thälern der Prüfung freundlich begrüßten, und von gleichen Geſinnungen und Ahndungen beſeelt waren. Sie ſind die Engel, die uns hier ſicher geleiten. Wenn euer Auge feſt am Himmel haftet, ſo werdet ihr nie den Weg201 zu eurer Heymath verlieren. Sie trenn¬ ten ſich mit ſtiller Andacht, fanden bald ihre zaghaften Gefährten, und erreichten unter allerlei Erzählungen in Kurzem das Dorf, wo Heinrichs Mutter, die in Sorgen geweſen war, ſie mit tauſend Freuden empfing.

202

Sechstes Kapitel.

Menſchen, die zum Handeln, zur Geſchäftig¬ keit geboren ſind, können nicht früh genug alles ſelbſt betrachten und beleben. Sie müſſen überall ſelbſt Hand anlegen und viele Verhältniſſe durchlaufen, ihr Gemüth gegen die Eindrücke einer neuen Lage, gegen die Zerſtreuungen vieler und mannichfaltiger Ge¬ genſtände gewiſſermaßen abhärten, und ſich gewöhnen, ſelbſt im Drange großer Begeben¬ heiten den Faden ihres Zwecks feſtzuhalten, und ihn gewandt hindurchzuführen. Sie dürfen nicht den Einladungen einer ſtillen Betrachtung nachgeben. Ihre Seele darf keine in ſich gekehrte Zuſchauerin, ſie muß unabläſſig nach außen gerichtet, und eine em¬ ſige, ſchnell entſcheidende Dienerinn des Ver¬203 ſtandes ſeyn. Sie ſind Helden, und um ſie her drängen ſich die Begebenheiten, die gelei¬ tet und gelöſt ſeyn wollen. Alle Zufälle werden zu Geſchichten unter ihrem Einfluß, und ihr Leben iſt eine ununterbrochene Kette merkwürdiger und glänzender, verwickelter und ſeltſamer Ereigniſſe.

Anders iſt es mit jenen ruhigen, unbe¬ kannten Menſchen, deren Welt ihr Gemüth, deren Thätigkeit die Betrachtung, deren Le¬ ben ein leiſes Bilden ihrer innern Kräfte iſt. Keine Unruhe treibt ſie nach außen. Ein ſtil¬ ler Beſitz genügt ihnen und das unermeßliche Schauſpiel außer ihnen reitzt ſie nicht, ſelbſt darinn aufzutreten, ſondern kommt ihnen be¬ deutend und wunderbar genug vor, um ſei¬ ner Betrachtung ihre Muße zu widmen. Verlangen nach dem Geiſte deſſelben hält ſie in der Ferne, und er iſt es, der ſie zu der ge¬ heimnißvollen Rolle des Gemüths in dieſer204 menſchlichen Welt beſtimmte, während jene die äußere Gliedmaßen und Sinne, und die ausgehenden Kräfte derſelben vorſtellen.

Große und vielfache Begebenheiten wür¬ den ſie ſtören. Ein einfaches Leben iſt ihr Loos, und nur aus Erzählungen und Schrif¬ ten müſſen ſie mit dem reichen Inhalt, und den zahlloſen Erſcheinungen der Welt be¬ kannt werden. Nur ſelten darf im Verlauf ihres Lebens ein Vorfall ſie auf einige Zeit in ſeine raſchen Wirbel mit hereinziehn, um durch einige Erfahrungen ſie von der Lage und dem Character der handelnden Men¬ ſchen genauer zu unterrichten. Dagegen wird ihr empfindlicher Sinn ſchon genug von nahen unbedeutenden Erſcheinungen beſchäf¬ tigt, die ihm jene große Welt verjüngt dar¬ ſtellen, und ſie werden keinen Schritt thun, ohne die überraſchendſten Entdeckungen in ſich ſelbſt über das Weſen und die Bedeu¬205 tung derſelben zu machen. Es ſind die Dich¬ ter, dieſe ſeltenen Zugmenſchen, die zuweilen durch unſere Wohnſitze wandeln, und überall den alten ehrwürdigen Dienſt der Menſchheit und ihrer erſten Götter, der Geſtirne, des Frühlings, der Liebe, des Glücks, der Frucht¬ barkeit, der Geſundheit, und des Frohſinns erneuern; ſie, die ſchon hier im Beſitz der himmliſchen Ruhe ſind, und von keinen thö¬ richten Begierden umhergetrieben, nur den Duft der irdiſchen Früchte einathmen, ohne ſie zu verzehren und dann unwiderruflich an die Unterwelt gekettet zu ſeyn. Freye Gäſte ſind ſie, deren goldener Fuß nur leiſe auftritt, und deren Gegenwart in Allen un¬ willkührlich die Flügel ausbreitet. Ein Dich¬ ter läßt ſich wie ein guter König, frohen und klaren Geſichtern nach aufſuchen, und er iſt es, der allein den Namen eines Weiſen mit Recht führt. Wenn man ihn mit dem Helden ver¬206 gleicht, ſo findet man, daß die Geſänge der Dichter nicht ſelten den Heldenmuth in jugend¬ lichen Herzen erweckt, Heldenthaten aber wohl nie den Geiſt der Poeſie in ein neues Ge¬ müth gerufen haben.

Heinrich war von Natur zum Dichter ge¬ boren. Mannichfaltige Zufälle ſchienen ſich zu ſeiner Bildung zu vereinigen, und noch hatte nichts ſeine innere Regſamkeit geſtört. Alles was er ſah und hörte ſchien nur neue Riegel in ihm wegzuſchieben, und neue Fen¬ ſter ihm zu öffnen. Er ſah die Welt in ih¬ ren großen und abwechſelnden Verhältniſſen vor ſich liegen. Noch war ſie aber ſtumm, und ihre Seele, das Geſpräch, noch nicht erwacht. Schon nahte ſich ein Dichter, ein liebliches Mädchen an der Hand, um durch Laute der Mutterſprache und durch Berüh¬ rung eines ſüßen zärtlichen Mundes, die blöden Lippen aufzuſchließen, und den einfa¬207 chen Accord in unendliche Melodien zu ent¬ falten.

Die Reiſe war nun geendigt. Es war gegen Abend, als unſere Reiſenden wohlbe¬ halten und frölich in der weltberühmten Stadt Augsburg anlangten, und voller Er¬ wartung durch die hohen Gaſſen nach dem anſehnlichen Hauſe des alten Schwaning rit¬ ten.

Heinrichen war ſchon die Gegend ſehr reitzend vorgekommen. Das lebhafte Getüm¬ mel der Stadt und die großen, ſteinernen Häuſer befremdeten ihn angenehm. Er freu¬ te ſich inniglich über ſeinen künftigen Aufent¬ halt. Seine Mutter war ſehr vergnügt nach der langen, mühſeligen Reiſe ſich hier in ih¬ rer geliebten Vaterſtadt zu ſehen, bald ihren Vater und ihre alten Bekannten wieder zu umarmen, ihren Heinrich ihnen vorſtellen, und einmal alle Sorgen des Hausweſens bey208 den traulichen Erinnerungen ihrer Jugend ruhig vergeſſen zu können. Die Kaufleute hofften ſich bey den dortigen Luſtbarkeiten für die Unbequemlichkeiten des Weges zu entſchä¬ digen, und einträgliche Geſchäfte zu machen.

Das Haus des alten Schwaning fanden ſie erleuchtet, und eine luſtige Muſik tönte ihnen entgegen. Was gilt's, ſagten die Kaufleute, euer Großvater giebt ein fröhli¬ ches Feſt. Wir kommen wie gerufen. Wie wird er über die ungeladenen Gäſte erſtau¬ nen. Er läßt es ſich wohl nicht träumen, daß das wahre Feſt nun erſt angehn wird. Heinrich fühlte ſich verlegen, und ſeine Mut¬ ter war nur wegen ihres Anzugs in Sorgen. Sie ſtiegen ah, die Kaufleute blieben bey den Pferden, und Heinrich und ſeine Mutter traten in das prächtige Haus. Unten war kein Hausgenoſſe zu ſehen. Sie mußten die breite Wendeltreppe hinauf. Einige Dienerlie¬209liefen vorüber, die ſie baten, dem alten Schwaning die Ankunft einiger Fremden an¬ zuſagen, die ihn zu ſprechen wünſchten. Die Diener machten anfangs einige Schwierigkei¬ ten; die Reiſenden ſahen nicht zum Beſten aus; doch meldeten ſie es dem Herrn des Hauſes. Der alte Schwaning kam heraus. Er kannte ſie nicht gleich, und fragte nach ihrem Namen und Anliegen. Heinrichs Mutter weinte, und fiel ihm um den Hals. Kennt ihr eure Tochter nicht mehr? rief ſie weinend. Ich bringe euch meinen Sohn. Der alte Vater war äußerſt gerührt. Er drückte ſie lange an ſeine Bruſt; Heinrich ſank auf ein Knie, und küßte ihm zärtlich die Hand. Er hob ihn zu ſich, und hielt Mutter und Sohn umarmt. Geſchwind herein, ſagte Schwaning, ich habe lauter Freunde und Bekannte bey mir, die ſich herzlich mit mir freuen werden. Heinrichs Mutter ſchien eini¬O210ge Zweifel zu haben. Sie hatte keine Zeit ſich zu beſinnen. Der Vater führte beyde in den hohen, erleuchteten Saal. Da bringe ich meine Tochter und meinen Enkel aus Ei¬ ſenach, rief Schwaning in das frohe Getüm¬ mel glänzend gekleideter Menſchen. Alle Augen kehrten ſich nach der Thür; alles lief herzu, die Muſik ſchwieg, und die beyden Reiſenden ſtanden verwirrt und geblendet in ihren ſtaubigen Kleidern, mitten in der bun¬ ten Schaar. Tauſend freudige Ausrufungen gingen von Mund zu Mund. Alte Bekann¬ te drängten ſich um die Mutter. Es gab un¬ zählige Fragen. Jedes wollte zuerſt gekannt und bewillkommet ſeyn. Während der ältere Theil der Geſellſchaft ſich mit der Mutter beſchäftigte, heftete ſich die Aufmerkſamkeit des jüngeren Theils auf den fremden Jüng¬ ling, der mit geſenktem Blick da ſtand, und nicht das Herz hatte, die unbekannten Geſich¬211 ter wieder zu betrachten. Sein Großvater machte ihn mit der Geſellſchaft bekannt, und erkundigte ſich nach ſeinem Vater und den Vorfällen ihrer Reiſe.

Die Mutter gedachte der Kaufleute, die unten aus Gefälligkeit bey den Pferden ge¬ blieben waren. Sie ſagte es ihrem Vater, welcher ſogleich hinunter ſchickte, und ſie ein¬ laden ließ heraufzukommen. Die Pferde wurden in die Ställe gebracht, und die Kaufleute erſchienen.

Schwaning dankte ihnen herzlich für die freundſchaftliche Geleitung ſeiner Tochter. Sie waren mit vielen Anweſenden bekannt, und begrüßten ſich freundlich mit ihnen. Die Mutter wünſchte ſich reinlich ankleiden zu dürfen. Schwaning nahm ſie auf ſein Zimmer, und Heinrich folgte ihnen in glei¬ cher Abſicht.

Unter der Geſellſchaft war Heinrichen ein212 Mann aufgefallen, den er in jenem Buche oft an ſeiner Seite geſehn zu haben glaubte. Sein edles Anſehn zeichnete ihn vor allen aus. Ein heitrer Ernſt war der Geiſt ſeines Geſichts; eine offene ſchön gewölbte Stirn, große, ſchwarze, durchdringende und feſte Au¬ gen, ein ſchalkhafter Zug um den frölichen Mund und durchaus klare, männliche Ver¬ hältniſſe machten es bedeutend und anzie¬ hend. Er war ſtark gebaut, ſeine Bewegun¬ gen waren ruhig und ausdrucksvoll, und wo er ſtand, ſchien er ewig ſtehen zu wollen. Heinrich fragte ſeinen Großvater nach ihm. Es iſt mir lieb ſagte der Alte, daß du ihn gleich bemerkt haſt. Es iſt mein trefflicher Freund Klingsohr, der Dichter. Auf ſeine Bekannt¬ ſchaft und Freundſchaft kannſt du ſtolzer ſeyn, als auf die des Kayſers. Aber wie ſtehts mit deinem Herzen? Er hat eine ſchöne Tochter; vielleicht daß ſie den Vater bey dir ausſticht. Es ſollte mich wundern, wenn du ſie nicht213 geſehn hätteſt. Heinrich erröthete. Ich war zerſtreut, lieber Großvater. Die Geſellſchaft war zahlreich, und ich betrachtete nur euren Freund. Man merkt es, daß du aus Nor¬ den kömmſt, erwiederte Schwaning. Wir wollen dich hier ſchon aufthauen. Du ſollſt ſchon lernen nach hübſchen Augen ſehn.

Sie waren nun fertig und begaben ſich zurück in den Saal, wo indeß die Zurüſtun¬ gen zum Abendeſſen gemacht worden waren. Der alte Schwaning führte Heinrichen auf Klingsohr zu, und erzählte ihm, daß Hein¬ rich ihn gleich bemerkt und den lebhafteſten Wunſch habe mit ihm bekannt zu ſeyn.

Heinrich war beſchämt. Klingsohr rede¬ te freundlich zu ihm von ſeinem Vaterlande und ſeiner Reiſe. Es lag ſoviel Zutrauliches in ſeiner Stimme, daß Heinrich bald ein Herz faßte und ſich freymüthig mit ihm un¬ terhielt. Nach einiger Zeit kam Schwaning214 wieder zu ihnen und brachte die ſchöne Ma¬ thilde. Nehmt euch meines ſchüchternen En¬ kels freundlich an, und verzeiht es ihm, daß er eher euren Vater, als euch geſehn hat. Eure glänzenden Augen werden ſchon die ſchlummernde Jugend in ihm wecken. In ſeinem Vaterlande kommt der Frühling ſpät.

Heinrich und Mathilde wurden roth. Sie ſahen ſich einander mit Verwunderung an. Sie fragte ihn mit kaum hörbaren lei¬ ſen Worten: Ob er gern tanze. Eben als er die Frage bejahte, fing eine fröliche Tanzmu¬ ſik an. Er bot ihr ſchweigend ſeine Hand; ſie gab ihm die ihrige, und ſie miſchten ſich in die Reihe der walzenden Paare. Schwa¬ ning und Klingsohr ſahen zu. Die Mutter und die Kaufleute freuten ſich über Heinrichs Behendigkeit und ſeine liebliche Tänzerinn. Die Mutter hatte genug mit ihren Jugend¬215 freundinnen zu ſprechen, die ihr zu einem ſo wohlgebildeten und ſo hoffnungsvollen Sohn Glück wünſchten. Klingsohr ſagte zu Schwaning: Euer Enkel hat ein anziehendes Geſicht. Es zeigt ein klares und umfaſſen¬ des Gemüth, und ſeine Stimme kommt tief aus dem Herzen. Ich hoffe, erwiederte Schwaning, daß er euer gelehriger Schüler ſeyn wird. Mich däucht er iſt zum Dichter geboren. Euer Geiſt komme über ihn. Er ſieht ſeinem Vater ähnlich; nur ſcheint er weniger heftig und eigenſinnig. Jener war in ſeiner Jugend voll glücklicher Anlagen. Eine gewiſſe Freyſinnigkeit fehlte ihm. Es hätte mehr aus ihm werden können, als ein fleißiger und fertiger Künſtler. Heinrich wünſchte den Tanz nie zu endigen. Mit in¬ nigem Wohlgefallen ruhte ſein Auge auf den Roſen ſeiner Tänzerin. Ihr unſchuldiges Auge vermied ihn nicht. Sie ſchien der216 Geiſt ihres Vaters in der lieblichſten Verklei¬ dung. Aus ihren großen ruhigen Augen ſprach ewige Jugend. Auf einem lichthim¬ melblauen Grunde lag der milde Glanz der braunen Sterne. Stirn und Naſe ſenkten ſich zierlich um ſie her. Eine nach der auf¬ gehenden Sonne geneigte Lilie war ihr Ge¬ ſicht, und von dem ſchlanken, weißen Halſe ſchlängelten ſich blaue Adern in reizenden Windungen um die zarten Wangen. Ihre Stimme war wie ein fernes Echo, und das braune lockige Köpfchen ſchien über der leich¬ ten Geſtalt nur zu ſchweben.

Die Schüſſeln kamen herein und der Tanz war aus. Die ältern Leute ſetzten ſich auf die Eine Seite, und die jüngern nahmen die Andere ein.

Heinrich blieb bey Mathilden. Eine junge Verwandte ſetzte ſich zu ſeiner Linken, und Klingsohr ſaß ihm gerade gegenüber. 217So wenig Mathilde ſprach, ſo geſprächig war Veronika, ſeine andere Nachbarin. Sie that gleich mit ihm vertraut und machte ihn in kurzem mit allen Anweſenden bekannt. Heinrich verhörte manches. Er war noch bey ſeiner Tänzerin, und hätte ſich gern öf¬ ters rechts gewandt. Klingsohr machte ih¬ rem Plaudern ein Ende. Er fragte ihn nach dem Bande mit ſonderbaren Figuren, was Heinrich an ſeinem Leibrocke befeſtigt hatte. Heinrich erzählte von der Morgenländerin mit vieler Rührung. Mathilde weinte, und Heinrich konnte nun ſeine Thränen kaum verbergen. Er gerieth darüber mit ihr ins Geſpräch. Alle unterhielten ſich; Veronika lachte und ſcherzte mit ihren Bekannten. Mathilde erzählte ihm von Ungarn, wo ihr Vater ſich oft aufhielt, und von dem Leben in Augsburg. Alle waren vergnügt. Die Muſik verſcheuchte die Zurückhaltung und218 reizte alle Neigungen zu einem muntern Spiel. Blumenkörbe dufteten in voller Pracht auf dem Tiſche, und der Wein ſchlich zwiſchen den Schüſſeln und Blumen umher, ſchüttelte ſeine goldnen Flügel und ſtellte bunte Tapeten zwiſchen die Welt und die Gäſte. Heinrich begriff erſt jetzt, was ein Feſt ſey. Tauſend frohe Geiſter ſchienen ihm um den Tiſch zu gaukeln, und in ſtiller Sympathie mit den frölichen Menſchen von ihren Freuden zu leben und mit ihren Genüſ¬ ſen ſich zu berauſchen. Der Lebensgenuß ſtand wie ein klingender Baum voll goldener Früchte vor ihm. Das Übel ließ ſich nicht ſehen, und es dünkte ihm unmöglich, daß je die menſchliche Neigung von dieſem Baume zu der gefährlichen Frucht des Erkenntniſſes, zu dem Baume des Krieges ſich gewendet haben ſollte. Er verſtand nun den Wein und die Speiſen. Sie ſchmeckten ihm übe219 aus köſtlich. Ein himmliſches Öl würzte ſie ihm, und aus dem Becher funkelte die Herr¬ lichkeit des irdiſchen Lebens. Einige Mäd¬ chen brachten dem alten Schwaning einen friſchen Kranz. Er ſetzte ihn auf, küßte ſie, und ſagte: Auch unſerm Freund Klingsohr müßt ihr einen bringen, wir wollen beyde zum Dank euch ein paar neue Lieder lehren. Das meinige ſollt ihr gleich haben. Er gab der Muſik ein Zeichen, und ſang mit lauter Stimme:

Sind wir nicht geplagte Weſen?
Iſt nicht unſer Loos betrübt?
Nur zu Zwang und Noth erleſen
In Verſtellung nur geübt,
Dürfen ſelbſt nicht unſre Klagen
Sich aus unſerm Buſen wagen.
Allem was die Eltern ſprechen,
Widerſpricht das volle Herz.
220
Die verbotne Frucht zu brechen
Fühlen wir der Sehnſucht Schmerz;
Möchten gern die ſüßen Knaben
Feſt an unſerm Herzen haben.
Wäre dies zu denken Sünde?
Zollfrey ſind Gedanken doch.
Was bleibt einem armen Kinde
Außer ſüßen Träumen noch?
Will man ſie auch gern verbannen,
Nimmer ziehen ſie von dannen.
Wenn wir auch des Abends beten,
Schreckt uns doch die Einſamkeit,
Und zu unſern Küſſen treten
Sehnſucht und Gefälligkeit.
Könnten wir wohl widerſtreben
Alles, Alles hinzugeben?
221
Unſere Reize zu verhüllen
Schreibt die ſtrenge Mutter vor.
Ach! was hilft der gute Willen,
Quellen ſie nicht ſelbſt empor?
Bey der Sehnſucht innrem Beben
Muß das beſte Band ſich geben.
Jede Neigung zu verſchließen,
Hart und kalt zu ſeyn, wie Stein,
Schöne Augen nicht zu grüßen,
Fleißig und allein zu ſeyn,
Keiner Bitte nachzugeben:
Heißt das wohl ein Jugendleben?
Groß ſind eines Mädchens Plagen,
Ihre Bruſt iſt krank und wund,
Und zum Lohn für ſtille Klagen
Küßt ſie noch ein welker Mund.
Wird denn nie das Blatt ſich wenden,
Und das Reich der Alten enden?
222

Die alten Leute und die Jünglinge lach¬ ten. Die Mädchen errötheten und lächelten abwärts. Unter tauſend Neckereyen wurde ein zweiter Kranz geholt, und Klingsohren aufgeſetzt. Sie baten aber inſtändigſt um keinen ſo leichtfertigen Geſang. Nein, ſagte Klingsohr, ich werde mich wohl hüten ſo fre¬ velhaft von euren Geheimniſſen zu reden. Sagt ſelbſt, was ihr für ein Lied haben wollt. Nur nichts von Liebe, riefen die Mädchen, ein Weinlied, wenn es euch an¬ ſteht. Klingsohr ſang:

Auf grünen Bergen wird geboren,
Der Gott, der uns den Himmel bringt.
Die Sonne hat ihn ſich erkohren,
Daß ſie mit Flammen ihn durchdringt.
Er wird im Lenz mit Luſt empfangen,
Der zarte Schoß quillt ſtill empor,
223
Und wenn des Herbſtes Früchte prangen
Springt auch das goldne Kind hervor.
Sie legen ihn in enge Wiegen
In's unterirdiſche Geſchoß.
Er träumt von Feſten und von Siegen
Und baut ſich manches luft'ge Schloß.
Es nahe keiner ſeiner Kammer,
Wenn er ſich ungeduldig drängt,
Und jedes Band und jede Klammer
Mit jugendlichen Kräften ſprengt.
Denn unſichtbare Wächter ſtellen
So lang er träumt ſich um ihn her;
Und wer betritt die heil'gen Schwellen
Den trift ihr luftumwundner Speer.
So wie die Schwingen ſich entfalten,
Läßt er die lichten Augen ſehn,
224
Läßt ruhig ſeine Prieſter ſchalten
Und kommt heraus wenn ſie ihm flehn.
Aus ſeiner Wiege dunklem Schooße,
Erſcheint er in Kryſtallgewand;
Verſchwiegener Eintracht volle Roſe
Trägt er bedeutend in der Hand.
Und überall um ihn verſammeln
Sich ſeine Jünger hocherfreut;
Und tauſend frohe Zungen ſtammeln,
Ihm ihre Lieb 'und Dankbarkeit.
Er ſprützt in ungezählten Strahlen
Sein innres Leben in die Welt,
Die Liebe nippt aus ſeinen Schalen
Und bleibt ihm ewig zugeſellt.
Er nahm als Geiſt der goldnen Zeiten
Von jeher ſich des Dichters an,
Der225
Der immer ſeine Lieblichkeiten
In trunknen Liedern aufgethan.
Er gab ihm, ſeine Treu zu ehren,
Ein Recht auf jeden hübſchen Mund,
Und daß es keine darf ihm wehren,
Macht Gott durch ihn es allen kund.

Ein ſchöner Profet! riefen die Mädchen. Schwaning freute ſich herzlich. Sie machten noch einige Einwendungen, aber es half nichts. Sie mußten ihm die ſüßen Lippen hinreichen. Heinrich ſchämte ſich nur vor ſei¬ ner ernſten Nachbarin, ſonſt hätte er ſich laut über das Vorrecht der Dichter gefreut. Veronika war unter den Kranzträgerinnen. Sie kam frölich zurück und ſagte zu Hein¬ rich: Nicht wahr, es iſt hübſch, wenn man ein Dichter iſt? Heinrich getraute ſich nicht, dieſe Frage zu benutzen. Der Übermuth derP226Freude und der Ernſt der erſten Liebe kämpf¬ ten in ſeinem Gemüth. Die reizende Vero¬ nika ſcherzte mit den Andern, und ſo ge¬ wann er Zeit, den erſten etwas zu dämpfen. Mathilde erzählte ihm, daß ſie die Guitarre ſpiele. Ach! ſagte Heinrich, von euch möchte ich ſie lernen. Ich habe mich lange darnach geſehnt. Mein Vater hat mich unterrichtet, Er ſpielt ſie unvergleichlich, ſagte ſie errö¬ thend. Ich glaube doch, erwiederte Hein¬ rich, daß ich ſie ſchneller bey euch lerne. Wie freue ich mich euren Geſang zu hören. Stellt euch nur nicht zu viel vor. O! ſagte Heinrich, was ſollte ich nicht erwarten können, da eure bloße Rede ſchon Geſang iſt, und eure Geſtalt eine himmliſche Muſik ver¬ kündigt.

Mathilde ſchwieg. Ihr Vater fing ein Geſpräch mit ihm an, in welchem Heinrich mit der lebhafteſten Begeiſterung ſprach. 227Die Nächſten wunderten ſich über des Jüng¬ lings Beredſamkeit, über die Fülle ſeiner bildlichen Gedanken. Mathilde ſah ihn mit ſtiller Aufmerkſamkeit an. Sie ſchien ſich über ſeine Reden zu freuen, die ſein Geſicht mit den ſprechendſten Mienen noch mehr er¬ klärte. Seine Augen glänzten ungewöhnlich. Er ſah ſich zuweilen nach Mathilden um, die über den Ausdruck ſeines Geſichts er¬ ſtaunte. Im Feuer des Geſprächs ergriff er unvermerkt ihre Hand, und ſie konnte nicht umhin, manches was er ſagte, mit einem lei¬ ſen Druck zu beſtätigen. Klingsohr wußte ſeinen Enthuſiasmus zu unterhalten, und lockte allmählich ſeine ganze Seele auf die Lippen. Endlich ſtand alles auf. Alles ſchwärmte durch einander. Heinrich war an Mathildens Seite geblieben. Sie ſtanden unbemerkt abwärts. Er hielt ihre Hand und küßte ſie zärtlich. Sie ließ ſie ihm, und228 blickte ihn mit unbeſchreiblicher Freundlichkeit an. Er konnte ſich nicht halten, neigte ſich zu ihr und küßte ihre Lippen. Sie war überraſcht, und erwiederte unwillkührlich ſei¬ nen heißen Kuß. Gute Mathilde, lieber Heinrich, das war alles, was ſie einander ſa¬ gen konnten. Sie drückte ſeine Hand, und ging unter die Andern. Heinrich ſtand, wie im Himmel. Seine Mutter kam auf ihn zu. Er ließ ſeine ganze Zärtlichkeit an ihr aus. Sie ſagte: Iſt es nicht gut, daß wir nach Augsburg gereiſt ſind? Nicht wahr, es ge¬ fällt dir? Liebe Mutter, ſagte Heinrich, ſo habe ich mir es doch nicht vorgeſtellt. Es iſt ganz herrlich.

Der Reſt des Abends verging in unend¬ licher Fröhlichkeit. Die Alten ſpielten, plau¬ derten, und ſahen den Tänzen zu. Die Mu¬ ſik wogte wie ein Luſtmeer im Saale, und hob die berauſchte Jugend.

229

Heinrich fühlte die entzückenden Weiſſa¬ gungen der erſten Luſt und Liebe zugleich. Auch Mathilde ließ ſich willig von den ſchmeichelnden Wellen tragen, und verbarg ihr zärtliches Zutrauen, ihre aufkeimende Neigung zu ihm nur hinter einem leichten Flor. Der alte Schwaning bemerkte das kommende Verſtändniß, und neckte beyde.

Klingsohr hatte Heinrichen lieb gewon¬ nen, und freute ſich ſeiner Zärtlichkeit. Die andern Jünglinge und Mädchen hatten es bald bemerkt. Sie zogen die ernſte Mathil¬ de mit dem jungen Thüringer auf, und ver¬ hehlten nicht, daß es ihnen lieb ſey, Mathil¬ dens Aufmerkſamkeit nicht mehr bey ihren Herzensgeſchäften ſcheuen zu dürfen.

Es war tief in der Nacht, als die Ge¬ ſellſchaft auseinanderging. Das erſte und einzige Feſt meines Lebens, ſagte Heinrich zu ſich ſelbſt, als er allein war, und ſeine Mut¬230 ter ſich ermüdet zur Ruhe gelegt hatte. Iſt mir nicht zu Muthe, wie in jenem Traume, beym Anblick der blauen Blume? Welcher ſonderbare Zuſammenhang iſt zwiſchen Ma¬ thilden und dieſer Blume? Jenes Geſicht, das aus dem Kelche ſich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmliſches Geſicht, und nun erinnere ich mich auch, es in jenem Bu¬ che geſehn zu haben. Aber warum hat es dort mein Herz nicht ſo bewegt? O! ſie iſt der ſichtbare Geiſt des Geſanges, eine würdi¬ ge Tochter ihres Vaters. Sie wird mich in Muſik auflöſen. Sie wird meine innerſte Seele, die Hüterin meines heiligen Feuers ſeyn. Welche Ewigkeit von Treue fühle ich in mir! Ich ward nur geboren, um ſie zu verehren, um ihr ewig zu dienen, um ſie zu denken und zu empfinden. Gehört nicht ein eigenes ungetheiltes Daſeyn zu ihrer An¬ ſchaung und Anbetung? und bin ich der231 Glückliche, deſſen Weſen das Echo, der Spie¬ gel des ihrigen ſeyn darf? Es war kein Zufall, daß ich ſie am Ende meiner Reiſe ſah, daß ein ſeliges Feſt den höchſten Augen¬ blick meines Lebens umgab. Es konnte nicht anders ſeyn; macht ihre Gegenwart nicht alles feſtlich?

Er trat ans Fenſter. Das Chor der Ge¬ ſtirne ſtand am dunkeln Himmel, und im Morgen kündigte ein weißer Schein den kommenden Tag an.

Mit vollem Entzücken rief Heinrich aus: Euch, ihr ewigen Geſtirne, ihr ſtillen Wan¬ drer, euch rufe ich zu Zeugen meines heiligen Schwurs an. Für Mathilden will ich leben, und ewige Treue ſoll mein Herz an das ih¬ rige knüpfen. Auch mir bricht der Morgen eines ewigen Tages an. Die Nacht iſt vor¬ über. Ich zünde der aufgehenden Sonne mich ſelbſt zum nieverglühenden Opfer an.

232

Heinrich war erhitzt, und nur ſpät gegen Morgen ſchlief er ein. In wunderliche Träu¬ me floſſen die Gedanken ſeiner Seele zuſam¬ men. Ein tiefer blauer Strom ſchimmerte aus der grünen Ebene herauf. Auf der glat¬ ten Fläche ſchwamm ein Kahn. Mathilde ſaß und ruderte. Sie war mit Kränzen ge¬ ſchmückt, ſang ein einfaches Lied, und ſah nach ihm mit ſüßer Wehmuth herüber. Sei¬ ne Bruſt war beklommen. Er wußte nicht warum. Der Himmel war heiter, die Flut ruhig. Ihr himmliſches Geſicht ſpiegelte ſich in den Wellen. Auf einmal fing der Kahn an ſich umzudrehen. Er rief ihr ängſtlich zu. Sie lächelte und legte das Ruder in den Kahn, der ſich immerwährend drehte. Eine ungeheure Bangigkeit ergriff ihn. Er ſtürzte ſich in den Strom; aber er konnte nicht fort, das Waſſer trug ihn. Sie winkte, ſie〈…〉〈…〉 chien ihm etwas ſagen zu wollen, der Kahn233 ſchöpfte ſchon Waſſer; doch lächelte ſie mit einer unſäglichen Innigkeit, und ſah heiter in den Wirbel hinein. Auf einmal zog es ſie hin¬ unter. Eine leiſe Luft ſtrich über den Strom, der eben ſo ruhig und glänzend floß, wie vorher. Die entſetzliche Angſt raubte ihm das Bewußtſeyn. Das Herz ſchlug nicht mehr. Er kam erſt zu ſich, als er ſich auf trock¬ nem Boden fühlte. Er mochte weit ge¬ ſchwommen ſeyn. Es war eine fremde Ge¬ gend. Er wußte nicht wie ihm geſchehen war. Sein Gemüth war verſchwunden. Gedankenlos ging er tiefer ins Land. Ent¬ ſetzlich matt fühlte er ſich. Eine kleine Quel¬ le kam aus einem Hügel, ſie tönte wie lau¬ ter Glocken. Mit der Hand ſchöpfte er eini¬ ge Tropfen und netzte ſeine dürren Lippen. Wie ein banger Traum lag die ſchreckliche Begebenheit hinter ihm. Immer weiter und weiter ging er, Blumen und Bäume redeten234 redeten ihn an. Ihm wurde ſo wohl und heymathlich zu Sinne. Da hörte er jenes einfache Lied wieder. Er lief den Tönen nach. Auf einmal hielt ihn jemand am Ge¬ wande zurück. Lieber Heinrich, rief eine be¬ kannte Stimme. Er ſah ſich um, und Ma¬ thilde ſchloß ihn in ihre Arme. Warum liefſt du vor mir, liebes Herz, ſagte ſie tief¬ athmend. Kaum konnte ich dich einholen. Heinrich weinte. Er drückte ſie an ſich. Wo iſt der Strom, rief er mit Thränen. Siehſt du nicht ſeine blauen Wellen über uns? Er ſah hinauf, und der blaue Strom floß leiſe über ihrem Haupte. Wo ſind wir, liebe Mathilde? Bey unſern Eltern. Bleiben wir zuſammen? Ewig, verſetzte ſie, indem ſie ihre Lippen an die ſeinigen drückte, und ihn ſo umſchloß, daß ſie nicht wieder von ihm konn¬ te. Sie ſagte ihm ein wunderbares gehei¬ mes Wort in den Mund, was ſein ganzes235 Weſen durchklang. Er wollte es wiederho¬ len, als ſein Großvater rief, und er aufwach¬ te. Er hätte ſein Leben darum geben mö¬ gen, das Wort noch zu wiſſen.

236

Siebentes Kapitel.

Klingsohr ſtand vor ſeinem Bette, und bot ihm freundlich guten Morgen. Er ward munter und fiel Klingsohr um den Hals. Das gilt euch nicht, ſagte Schwaning. Heinrich lächelte und verbarg ſein Erröthen an den Wangen ſeiner Mutter.

Habt ihr Luſt mit mir vor der Stadt auf einer ſchönen Anhöhe zu frühſtücken? ſagte Klingsohr. Der herrliche Morgen wird euch erfriſchen. Kleidet euch an. Ma¬ thilde wartet ſchon auf uns.

Heinrich dankte mit tauſend Freuden für dieſe willkommene Einladung. In ei¬ nem Augenblick war er fertig, und küßte Klingsohr mit vieler Inbrunſt die Hand.

Sie gingen zu Mathilden, die in ihrem237 einfachen Morgenkleide wunderlieblich aus¬ ſah und ihn freundlich grüßte. Sie hatte ſchon das Frühſtück in ein Körbchen gepackt, das ſie an den Einen Arm hing, und die an¬ dere Hand unbefangen Heinrichen reichte. Klingsohr folgte ihnen, und ſo wandelten ſie durch die Stadt, die ſchon voller Lebendig¬ keit war, nach einem kleinen Hügel am Fluſ¬ ſe, wo ſich unter einigen hohen Bäumen ei¬ ne weite und volle Ausſicht öffnete.

Habe ich doch ſchon oft, rief Heinrich aus, mich an dem Aufgang der bunten Na¬ tur, an der friedlichen Nachbarſchaft ihres mannichfaltigen Eigenthums ergötzt; aber ei¬ ne ſo ſchöpferiſche und gediegene Heiterkeit hat mich noch nie erfüllt wie heute. Jene Fernen ſind mir ſo nah, und die reiche Land¬ ſchaft iſt mir wie eine innere Fantaſie. Wie veränderlich iſt die Natur, ſo unwandelbar auch ihre Oberfläche zu ſeyn ſcheint. Wie238 anders iſt ſie, wenn ein Engel, wenn ein kräftigerer Geiſt neben uns iſt, als wenn ein Nothleidender vor uns klagt, oder ein Bauer uns erzählt, wie ungünſtig die Witterung ihm ſey, und wie nöthig er düſtre Regentage für ſeine Saat brauche. Euch, theuerſter Meiſter, bin ich dieſes Vergnügen ſchuldig; ja dieſes Vergnügen, denn es giebt kein an¬ deres Wort, was wahrhafter den Zuſtand meines Herzens ausdrückte. Freude, Luſt und Entzücken ſind nur die Glieder des Ver¬ gnügens, das ſie zu einem höhern Leben ver¬ knüpft. Er drückte Mathildens Hand an ſein Herz, und verſank mit einem feurigen Blick in ihr mildes, empfängliches Auge.

Die Natur, verſetzte Klingsohr, iſt für unſer Gemüth, was ein Körper für das Licht iſt. Er hält es zurück; er bricht es in eigen¬ thümliche Farben; er zündet auf ſeiner Ober¬ fläche oder in ſeinem Innern ein Licht an,239 das, wenn es ſeiner Dunkelheit gleich kommt, ihn klar und durchſichtig macht, wenn es ſie überwiegt, von ihm ausgeht, um andere Kör¬ per zu erleuchten. Aber ſelbſt der dunkelſte Körper kann durch Waſſer, Feuer, und Luft dahin gebracht werden, daß er hell und glänzend wird.

Ich verſtehe euch, lieber Meiſter. Die Menſchen ſind Kryſtalle für unſer Gemüth. Sie ſind die durchſichtige Natur. Liebe Ma¬ thilde, ich möchte euch einen köſtlichen lau¬ tern Sapphir nennen. Ihr ſeyd klar und durchſichtig wie der Himmel, ihr erleuchtet mit dem mildeſten Lichte. Aber ſagt mir, lie¬ ber Meiſter, ob ich recht habe: mich dünkt, daß man gerade wenn man am innigſten mit der Natur vertraut iſt am wenigſten von ihr ſagen könnte und möchte.

Wie man das nimmt, verſetzte Klings¬ ohr; ein anderes iſt es mit der Natur für240 unſern Genuß und unſer Gemüth, ein ande¬ res mit der Natur für unſern Verſtand, für das leitende Vermögen unſerer Weltkräfte. Man muß ſich wohl hüten, nicht eins über das andere zu vergeſſen. Es giebt viele, die nur die Eine Seite kennen und die andere geringſchätzen. Aber beyde kann man verei¬ nigen, und man wird ſich wohl dabey befin¬ den. Schade, daß ſo wenige darauf denken, ſich in ihrem Innern frey und geſchickt bewe¬ gen zu können, und durch eine gehörige Trennung ſich den zweckmäßigſten und natür¬ lichſten Gebrauch ihrer Gemüthskräfte zu ſi¬ chern. Gewöhnlich hindert eine die andere, und ſo entſteht allmälich eine unbehülfliche Träg¬ heit, daß wenn nun ſolche Menſchen einmal mit geſammten Kräften aufſtehen wollen, eine gewaltige Verwirrung und Streit beginnt, und alles über einander ungeſchickt herſtolpert. Ich kann euch nicht genug anrühmen, euren Ver¬ſtand,241ſtand, euren natürlichen Trieb zu wiſſen, wie alles ſich begiebt und untereinander nach Ge¬ ſetzen der Folge zuſammenhängt, mit Fleiß und Mühe zu unterſtützen. Nichts iſt dem Dichter unentbehrlicher, als Einſicht in die Natur jedes Geſchäfts, Bekanntſchaft mit den Mitteln jeden Zweck zu erreichen, und Gegenwart des Geiſtes, nach Zeit und Um¬ ſtänden, die ſchicklichſten zu wählen. Begei¬ ſterung ohne Verſtand iſt unnütz und gefähr¬ lich, und der Dichter wird wenig Wunder thun können, wenn er ſelbſt über Wunder er¬ ſtaunt.

Iſt aber dem Dichter nicht ein inniger Glaube an die menſchliche Regierung des Schickſals unentbehrlich?

Unentbehrlich allerdings, weil er ſich das Schickſal nicht anders vorſtellen kann, wenn er reiflich darüber nachdenkt; aber wie ent¬ fernt iſt dieſe heitere Gewißheit, von jenerQ242ängſtlichen Ungewißheit, von jener blinden Furcht des Aberglaubens. Und ſo iſt auch die kühle, belebende Wärme eines dichteri¬ ſchen Gemüths gerade das Widerſpiel von je¬ ner wilden Hitze eines kränklichen Herzens. Dieſe iſt arm, betäubend und vorübergehend; jene ſondert alle Geſtalten rein ab, begün¬ ſtigt die Ausbildung der mannigfaltigſten Verhältniſſe, und iſt ewig durch ſich ſelbſt. Der junge Dichter kann nicht kühl, nicht be¬ ſonnen genug ſeyn. Zur wahren, melodi¬ ſchen Geſprächigkeit gehört ein weiter, auf¬ merkſamer und ruhiger Sinn. Es wird ein verworrnes Geſchwätz, wenn ein reißender Sturm in der Bruſt tobt, und die Aufmerk¬ ſamkeit in eine zitternde Gedankenloſigkeit auflöſt. Nochmals wiederhole ich, das ächte Gemüth iſt wie das Licht, eben ſo ruhig und empfindlich, eben ſo elaſtiſch und durchdring¬ lich, eben ſo mächtig und eben ſo unmerklich243 wirkſam als dieſes köſtliche Element, das auf alle Gegenſtände ſich mit ſeiner Abgemeſ¬ ſenheit vertheilt, und ſie alle in reizender Mannichfaltigkeit erſcheinen läßt. Der Dich¬ ter iſt reiner Stahl, eben ſo empfindlich, wie ein zerbrechlicher Glasfaden, und eben ſo hart, wie ein ungeſchmeidiger Kieſel.

Ich habe das ſchon zuweilen gefühlt, ſagte Heinrich, daß ich in den innigſten Mi¬ nuten weniger lebendig war, als zu andern Zeiten, wo ich frey umhergehn und alle Be¬ ſchäftigungen mit Luſt treiben konnte. Ein geiſtiges ſcharfes Weſen durchdrang mich dann, und ich durfte jeden Sinn nach Gefal¬ len brauchen, jeden Gedanken, wie einen wirklichen Körper, umwenden und von allen Seiten betrachten. Ich ſtand mit ſtillem An¬ theil an der Werkſtatt meines Vaters, und freute mich, wenn ich ihm helfen und etwas geſchickt zu Stande bringen konnte. Geſchick¬244 lichkeit hat einen ganz beſondern ſtärkenden Reiz, und es iſt wahr, ihr Bewußtſeyn ver¬ ſchafft einen dauerhafteren und deutlicheren Genuß, als jenes überfließende Gefühl einer unbegreiflichen, überſchwenglichen Herrlichkeit.

Glaubt nicht, ſagte Klingsohr, daß ich das letztere tadle; aber es muß von ſelbſt kommen, und nicht geſucht werden. Seine ſparſame Erſcheinung iſt wohlthätig; öfterer wird ſie ermüdend und ſchwächend. Man kann nicht ſchnell genug ſich aus der ſüßen Betäubung reißen, die es hinterläßt, und zu einer regelmäßigen und mühſamen Beſchäfti¬ gung zurückkehren. Es iſt wie mit den an¬ muthigen Morgenträumen, aus deren ein¬ ſchläferndem Wirbel man nur mit Gewalt ſich herausziehen kann, wenn man nicht in immer drückendere Müdigkeit gerathen, und ſo in krankhafter Erſchöpfung nachher den ganzen Tag hinſchleppen will.

245

Die Poeſie will vorzüglich, fuhr Klings¬ ohr fort, als ſtrenge Kunſt getrieben werden. Als bloßer Genuß hört ſie auf Poeſie zu ſeyn. Ein Dichter muß nicht den ganzen Tag müßig umherlaufen, und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das iſt ganz der verkehrte Weg. Ein reines offenes Gemüth, Gewandheit im Nachdenken und Betrachten, und Geſchicklichkeit alle ſeine Fähigkeiten in eine gegenſeitig belebende Thätigkeit zu ver¬ ſetzen und darin zu erhalten, das ſind die Erforderniſſe unſerer Kunſt. Wenn ihr euch mir überlaſſen wollt, ſo ſoll kein Tag euch vergehn, wo ihr nicht eure Kenntniſſe berei¬ chert, und einige nützliche Einſichten erlangt habt. Die Stadt iſt reich an Künſtlern aller Art. Es giebt einige erfahrne Staatsmän¬ ner, einige gebildete Kaufleute hier. Man kann ohne große Umſtände mit allen Stän¬ den, mit allen Gewerben, mit allen Verhält¬246 niſſen und Erforderniſſen der menſchlichen Geſellſchaft ſich[bekannt] machen. Ich will euch mit Freuden in dem Handwerksmä¬ ßigen unſerer Kunſt unterrichten, und die merkwürdigſten Schriften mit euch leſen. Ihr könnt Mathildens Lehrſtunden thei¬ len, und ſie wird euch gern die Guitarre ſpielen lehren. Jede Beſchäftigung wird die übrigen vorbereiten, und wenn ihr ſo euren Tag gut angelegt habt, ſo werden euch das Geſpräch und die Freuden des geſellſchaftli¬ chen Abends, und die Anſichten der ſchönen Landſchaft umher mit den heiterſten Genüſ¬ ſen immer wieder überraſchen.

Welches herrliche Leben ſchließt ihr mir auf, liebſter Meiſter. Unter eurer Leitung werde ich erſt merken, welches edle Ziel vor mir ſteht, und wie ich es nur durch euren Rath zu erreichen hoffen darf.

Klingsohr umarmte ihn zärtlich. Ma¬247 thilde brachte ihnen das Frühſtück, und Heinrich fragte ſie mit zärtlicher Stimme, ob ſie ihn gern zum Begleiter ihres Unterrichts und zum Schüler annehmen wollte. Ich werde wohl ewig euer Schüler bleiben, ſagte er, indem ſich Klingsohr nach einer andern Seite wandte. Sie neigte ſich unmerklich zu ihm hin. Er umſchlang ſie und küßte den weichen Mund des erröthenden Mäd¬ chens. Nur ſanft bog ſie ſich von ihm weg, doch reichte ſie ihm mit der kindlichſten An¬ muth eine Roſe, die ſie am Buſen trug. Sie machte ſich mit ihrem Körbchen zu thun. Heinrich ſah ihr mit ſtillem Entzücken nach, küßte die Roſe, heftete ſie an ſeine Bruſt, und ging an Klingsohrs Seite, der nach der Stadt hinüber ſah.

Wo ſeyd ihr hereingekommen, fragte Klingsohr. Über jenen Hügel herunter, er¬ wiederte Heinrich. In jene Ferne verliert248 ſich unſer Weg. Ihr müßt ſchöne Gegen¬ den geſehn haben. Faſt ununterbrochen ſind wir durch reizende Landſchaften gereiſet. Auch eure Vaterſtadt hat wohl eine anmuthige Lage? Die Gegend iſt abwechſelnd genug; doch iſt ſie noch wild, und ein großer Fluß fehlt ihr. Die Ströme ſind die Augen einer Landſchaft. Die Erzählung eurer Reiſe, ſagte Klingsohr, hat mir geſtern Abend eine angenehme Unterhaltung gewährt. Ich ha¬ be wohl gemerkt, daß der Geiſt der Dicht¬ kunſt euer freundlicher Begleiter iſt. Eure Gefährten ſind unbemerkt ſeine Stimmen ge¬ worden. In der Nähe des Dichters bricht die Poeſie überall aus. Das Land der Poe¬ ſie, das romantiſche Morgenland, hat euch mit ſeiner ſüßen Wehmuth begrüßt; der Krieg hat euch in ſeiner wilden Herrlichkeit angere¬ det, und die Natur und Geſchichte ſind euch249 unter der Geſtalt eines Bergmanns und ei¬ nes Einſiedlers begegnet.

Ihr vergeßt das Beſte, lieber Meiſter, die himmliſche Erſcheinung der Liebe. Es hängt nur von euch ab, dieſe Erſcheinung mir auf ewig feſtzuhalten. Was meynſt du, rief Klingsohr, indem er ſich zu Mathilden wandte, die eben auf ihn zukam. Haſt du Luſt Heinrichs unzertrennliche Gefährtinn zu ſeyn? Wo du bleibſt, bleibe ich auch. Ma¬ thilde erſchrak, ſie flog in die Arme ihres Vaters. Heinrich zitterte in unendlicher Freude. Wird er mich denn ewig geleiten wollen? lieber Vater. Frage ihn ſelbſt, ſag¬ te Klingsohr gerührt. Sie ſah Heinrichen mit der innigſten Zärtlichkeit an. Meine Ewigkeit iſt ja dein Werk, rief Heinrich, in¬ dem ihm die Thränen über die blühenden Wangen ſtürzten. Sie umſchlangen ſich zu¬ gleich. Klingsohr faßte ſie in ſeine Ar¬250 me. Meine Kinder, rief er, ſeyd ein¬ ander treu bis in den Tod! Liebe und Treue werden euer Leben zur ewigen Poeſie machen.

251

Achtes Kapitel.

Nachmittags führte Klingsohr ſeinen neuen Sohn, an deſſen Glück ſeine Mutter und Großvater den zärtlichſten Antheil nahmen, und Mathilden wie ſeinen Schutzgeiſt verehr¬ ten, in ſeine Stube, und machte ihn mit den Büchern bekannt. Sie ſprachen nachher von Poeſie.

Ich weiß nicht, ſagte Klingsohr, warum man es für Poeſie nach gemeiner Weiſe hält, wenn man die Natur für einen Poeten aus¬ giebt. Sie iſt es nicht zu allen Zeiten. Es iſt in ihr, wie in dem Menſchen, ein entge¬ gengeſetztes Weſen, die dumpfe Begierde und die ſtumpfe Gefühlloſigkeit und Trägheit, die einen raſtloſen Streit mit der Poeſie führen. Er wäre ein ſchöner Stoff zu einem Gedicht,252 dieſer gewaltige Kampf. Manche Länder und Zeiten ſcheinen, wie die meiſten Men¬ ſchen, ganz unter der Botmäßigkeit dieſer Feindinn der Poeſie zu ſtehen, dagegen in andern die Poeſie einheimiſch und überall ſichtbar iſt. Für den Geſchichtſchreiber ſind die Zeiten dieſes Kampfes äußerſt merkwür¬ dig, ihre Darſtellung ein reizendes und be¬ lohnendes Geſchäft. Es ſind gewöhnlich die Geburtszeiten der Dichter. Der Widerſache¬ rinn iſt nichts unangenehmer, als daß ſie der Poeſie gegenüber ſelbſt zu einer poetiſchen Perſon wird, und nicht ſelten in der Hitze die Waffen mit ihr tauſcht, und von ihrem eigenen heimtückiſchen Geſchoſſe heftig getrof¬ fen wird, dahingegen die Wunden der Poeſie, die ſie von ihren eigenen Waffen erhält, leicht heilen und ſie nur noch reizender und gewaltiger machen.

Der Krieg überhaupt, ſagte Heinrich,253 ſcheint mir eine poetiſche Wirkung. Die Leu¬ te glauben ſich für irgend einen armſeligen Beſitz ſchlagen zu müſſen, und merken nicht, daß ſie der romantiſche Geiſt aufregt, um die unnützen Schlechtigkeiten durch ſich ſelbſt zu vernichten. Sie führen die Waffen für die Sache der Poeſie, und beyde Heere fol¬ gen Einer unſichtbaren Fahne.

Im Kriege, verſetzte Klingsohr, regt ſich das Urgewäſſer. Neue Welttheile ſollen ent¬ ſtehen, neue Geſchlechter ſollen aus der gro¬ ßen Auflöſung anſchießen. Der wahre Krieg iſt der Religionskrieg; der geht gerade zu auf Untergang, und der Wahnſinn der Men¬ ſchen erſcheint in ſeiner völligen Geſtalt. Viele Kriege, beſonders die vom National¬ haß entſpringen, gehören in dieſe Klaſſe mit, und ſie ſind ächte Dichtungen. Hier ſind die wahren Helden zu Hauſe, die das edelſte Gegenbild der Dichter, nichts anders, als254 unwillkührlich von Poeſie durchdrungene Weltkräfte ſind. Ein Dichter, der zugleich Held wäre, iſt ſchon ein göttlicher Geſandter, aber ſeiner Darſtellung iſt unſere Poeſie nicht gewachſen.

Wie verſteht ihr das, lieber Vater, ſagte Heinrich. Kann ein Gegenſtand zu über¬ ſchwänglich für die Poeſie ſeyn?

Allerdings. Nur kann man im Grunde nicht ſagen, für die Poeſie, ſondern nur für unſere irdiſchen Mittel und Werkzeuge. Wenn es ſchon für einen einzelnen Dichter nur ein eigenthümliches Gebiet giebt, inner¬ halb deſſen er bleiben muß, um nicht alle Haltung und den Athem zu verlieren: ſo giebt es auch für die ganze Summe menſch¬ licher Kräfte eine beſtimmte Grenze der Dar¬ ſtellbarkeit, über welche hinaus die Darſtel¬ lung die nöthige Dichtigkeit und Geſtaltung nicht behalten kann, und in ein leeres täu¬255 ſchendes Unding ſich verliert. Beſonders als Lehrling kann man nicht genug ſich vor die¬ ſen Ausſchweifungen hüten, da eine lebhafte Fantaſie nur gar zu gern nach den Grenzen ſich begiebt, und übermüthig das Unſinnliche, Übermäßige zu ergreifen und auszuſprechen ſucht. Reifere Erfahrung lehrt erſt, jene Unverhältnißmäßigkeit der Gegenſtände zu vermeiden, und die Aufſpürung des Einfachſten und Höchſten der Weltweisheit zu überlaſſen. Der ältere Dichter ſteigt nicht höher, als er es gerade nöthig hat, um ſeinen mannichfal¬ tigen Vorrath in eine leichtfaßliche Ordnung zu ſtellen, und hütet ſich wohl, die Mannich¬ faltigkeit zu verlaſſen, die ihm Stoff genug und auch die nöthigen Vergleichungspunkte darbietet. Ich möchte faſt ſagen, das Chaos muß in jeder Dichtung durch den regelmäßi¬ gen Flor der Ordnung ſchimmern. Den Reichthum der Erfindung macht nur eine256 leichte Zuſammenſtellung faßlich und anmu¬ thig, dagegen auch das bloße Ebenmaaß die unangenehme Dürre einer Zahlenfigur hat. Die beſte Poeſie liegt uns ganz nahe, und ein gewöhnlicher Gegenſtand iſt nicht ſelten ihr liebſter Stoff. Für den Dichter iſt die Poeſie an beſchränkte Werkzeuge gebunden, und eben dadurch wird ſie zur Kunſt. Die Sprache überhaupt hat ihren beſtimmten Kreis. Noch enger iſt der Umfang einer be¬ ſondern Volksſprache. Durch Übung und Nachdenken lernt der Dichter ſeine Sprache kennen. Er weiß, was er mit ihr leiſten kann, genau, und wird keinen thörichten Verſuch machen, ſie über ihre Kräfte anzu¬ ſpannen. Nur ſelten wird er alle ihre Kräf¬ te in Einen Punkt zuſammen drängen, denn ſonſt wird er ermüdend, und vernichtet ſelbſt die koſtbare Wirkung einer gutangebrachten Kraftäußerung. Auf ſeltſame Sprünge rich¬tet257tet ſie nur ein Gaukler, kein Dichter ab. Überhaupt können die Dichter nicht genug von den Muſikern und Mahlern lernen. In dieſen Künſten wird es recht auffallend, wie nöthig es iſt, wirthſchaftlich mit den Hülfs¬ mitteln der Kunſt umzugehn, und wie viel auf geſchickte Verhältniſſe ankommt. Dage¬ gen könnten freylich jene Künſtler auch von uns die poetiſche Unabhängigkeit und den in¬ nern Geiſt jeder Dichtung und Erfindung, je¬ des ächten Kunſtwerks überhaupt, dankbar annehmen. Sie ſollten poetiſcher und wir muſikaliſcher und mahleriſcher ſeyn bey¬ des nach der Art und Weiſe unſerer Kunſt. Der Stoff iſt nicht der Zweck der Kunſt, aber die Ausführung iſt es. Du wirſt ſelbſt ſehen, welche Geſänge dir am beſten gera¬ then, gewiß die, deren Gegenſtände dir am geläufigſten und gegenwärtigſten ſind. Da¬ her kann man ſagen, daß die Poeſie ganzR258auf Erfahrung beruht. Ich weiß ſelbſt, daß mir in jungen Jahren ein Gegenſtand nicht leicht zu entfernt und zu unbekannt ſeyn konnte, den ich nicht am liebſten beſungen hätte. Was wurde es? ein leeres, armſeli¬ ges Wortgeräuſch, ohne einen Funken wah¬ rer Poeſie. Daher iſt auch ein Mährchen ei¬ ne ſehr ſchwierige Aufgabe, und ſelten wird ein junger Dichter ſie gut löſen.

Ich möchte gern eins von Dir hören, ſagte Heinrich. Die wenigen, die ich gehört habe, haben mich unbeſchreiblich ergötzt, ſo unbedeutend ſie auch ſeyn mochten.

Ich will heute Abend deinen Wunſch be¬ friedigen. Es iſt mir Eins erinnerlich, was ich noch in ziemlich jungen Jahren machte, wovon es auch noch deutliche Spuren an ſich trägt, indeß wird es dich vielleicht deſto lehr¬ reicher unterhalten, und dich an manches er¬ innern, was ich dir geſagt habe.

259

Die Sprache, ſagte Heinrich, iſt wirklich eine kleine Welt in Zeichen und Tönen. Wie der Menſch ſie beherrſcht, ſo möchte er gern die große Welt beherrſchen, und ſich frey darinn ausdrücken können. Und eben in dieſer Freude, das, was außer der Welt iſt, in ihr zu offenbaren, das thun zu kön¬ nen, was eigentlich der urſprüngliche Trieb unſers Daſeyns iſt, liegt der Urſprung der Poeſie.

Es iſt recht übel, ſagte Klingsohr, daß die Poeſie einen beſondern Namen hat, und die Dichter eine beſondere Zunft ausmachen. Es iſt gar nichts beſonderes. Es iſt die ei¬ genthümliche Handlungsweiſe des menſchli¬ chen Geiſtes. Dichtet und trachtet nicht jeder Menſch in jeder Minute? Eben trat Mathil¬ de in's Zimmer, als Klingsohr noch ſagte: Man betrachte nur die Liebe. Nirgends wird wohl die Nothwendigkeit der Poeſie260 zum Beſtand der Menſchheit ſo klar, als in ihr. Die Liebe iſt ſtumm, nur die Poeſie kann für ſie ſprechen. Oder die Liebe iſt ſelbſt nichts, als die höchſte Naturpoeſie. Doch ich will dir nicht Dinge ſagen, die du beſſer weißt, als ich.

Du biſt ja der Vater der Liebe, ſagte Heinrich, indem er Mathilden umſchlang, und beyde ſeine Hand küßten.

Klingsohr umarmte ſie und ging hinaus. Liebe Mathilde, ſagte Heinrich nach einem langen Kuſſe, es iſt mir wie ein Traum, daß du mein biſt, aber noch wunderbarer iſt mir es, daß du es nicht immer geweſen biſt. Mich dünkt, ſagte Mathilde, ich kennte dich ſeit undenklichen Zeiten. Kannſt du mich denn lieben? Ich weiß nicht, was Liebe iſt, aber das kann ich dir ſagen, daß mir iſt, als finge ich erſt jetzt zu leben an, und daß ich dir ſo gut bin, daß ich gleich für dich261 ſterben wollte. Meine Mathilde, erſt jetzt fühle ich, was es heißt unſterblich zu ſeyn. Lieber Heinrich, wie unendlich gut biſt du, welcher herrliche Geiſt ſpricht aus dir. Ich bin ein armes, unbedeutendes Mädchen. Wie du mich tief beſchämſt! bin ich doch nur durch dich, was ich bin. Ohne dich wäre ich nichts. Was iſt ein Geiſt ohne Himmel, und du biſt der Himmel, der mich trägt und erhält. Welches ſeli¬ ge Geſchöpf wäre ich, wenn du ſo treu wärſt, wie mein Vater. Meine Mutter ſtarb kurz nach meiner Geburt; Mein Vater weint faſt alle Tage noch um ſie. Ich verdiene es nicht, aber möchte ich glücklicher ſeyn, als er. Ich lebte gern recht lange an deiner Seite, lieber Heinrich. Ich werde durch dich gewiß viel beſſer. Ach! Ma¬ thilde, auch der Tod wird uns nicht tren¬ nen. Nein Heinrich, wo ich bin, wirſt du262 ſeyn. Ja wo du biſt, Mathilde, werd ich ewig ſeyn. Ich begreife nichts von der Ewigkeit, aber ich dächte, das müßte die Ewigkeit ſeyn, was ich empfinde, wenn ich an dich denke. Ja Mathilde, wir ſind ewig weil wir uns lieben. Du glaubſt nicht Lieber, wie inbrünſtig ich heute früh, wie wir nach Hauſe kamen, vor dem Bilde der himmliſchen Mutter niederkniete, wie un¬ ſäglich ich zu ihr gebetet habe. Ich glaubte in Thränen zu zerfließen. Es kam mir vor, als lächelte ſie mir zu. Nun weiß ich erſt was Dankbarkeit iſt. O Geliebte, der Himmel hat dich mir zur Verehrung gege¬ ben. Ich bete dich an. Du biſt die Heilige, die meine Wünſche zu Gott bringt, durch die er ſich mir offenbart, durch die er mir die Fülle ſeiner Liebe kund thut. Was iſt die Religion, als ein unendliches Einver¬ ſtändniß, eine ewige Vereinigung liebender263 Herzen? Wo zwey verſammelt ſind, iſt er ja unter ihnen. Ich habe ewig an dir zu athmen; meine Bruſt wird nie aufhören dich in ſich zu ziehn. Du biſt die göttliche Herr¬ lichkeit, das ewige Leben in der lieblichſten Hülle. Ach! Heinrich, du weißt das Schickſal der Roſen; wirſt du auch die wel¬ ken Lippen, die bleichen Wangen mit Zärt¬ lichkeit an deine Lippen drücken? Werden die Spuren des Alters nicht die Spuren der vorübergegangenen Liebe ſeyn? O! könn¬ teſt du durch meine Augen in mein Gemüth ſehn! aber du liebſt mich und ſo glaubſt[d]u mir auch. Ich begreife das nicht, was man von der Vergänglichkeit der Reitze ſagt. O! ſie ſind unverwelklich. Was mich ſo un¬ zertrennlich zu dir zieht, was ein ewiges Verlangen in mir geweckt hat, das iſt nicht aus dieſer Zeit. Könnteſt du nur ſehn, wie du mir erſcheinſt, welches wunderbare Bild264 deine Geſtalt durchdringt und mir überall entgegen leuchtet, du würdeſt kein Alter fürchten. Deine irdiſche Geſtalt iſt nur ein Schatten dieſes Bildes. Die irdiſchen Kräfte ringen und quellen um es feſtzuhalten, aber die Natur iſt noch unreif; das Bild iſt ein ewiges Urbild, ein Theil der unbekannten heiligen Welt. Ich verſtehe dich, lieber Heinrich, denn ich ſehe etwas Ähnliches, wenn ich dich anſchaue. Ja Mathilde, die höhere Welt iſt uns näher, als wir ge¬ wöhnlich denken. Schon hier leben wir in ihr, und wir erblicken ſie auf das Innigſte mit der irdiſchen Natur verwebt. Du wirſt mir noch viel herrliche Sachen offenbaren, Geliebteſter. O! Mathilde, von dir allein kommt mir die Gabe der Weißagung. Alles iſt ja dein, was ich habe; deine Liebe wird mich in die Heiligthümer des Lebens, in das Allerheiligſte des Gemüths führen; du wirſt265 mich zu den höchſten Anſchauungen begei¬ ſtern. Wer weiß, ob unſre Liebe nicht dereinſt noch zu Flammenſittichen wird, die uns auf¬ heben, und uns in unſre himmliſche Heimath tragen, ehe das Alter und der Tod uns er¬ reichen. Iſt es nicht ſchon ein Wunder, daß du mein biſt, daß ich dich in meinen Armen halte, daß du mich liebſt und ewig mein ſeyn willſt? Auch mir iſt jetzt alles glaub¬ lich, und ich fühle ja ſo deutlich eine ſtille Flamme in mir lodern; wer weiß ob ſie uns nicht verklärt, und die irdiſchen Banden all¬ mählich auflöſt. Sage mir nur, Heinrich, ob du auch ſchon das grenzenloſe Vertrauen zu mir haſt, was ich zu dir habe. Noch nie hab 'ich ſo etwas gefühlt, ſelbſt nicht gegen meinen Va¬ ter, den ich doch ſo unendlich liebe. Liebe Mathilde, es peinigt mich ordentlich, daß ich dir nicht alles auf einmal ſagen, daß ich dir nicht gleich mein ganzes Herz auf einmal266 hingeben kann. Es iſt auch zum erſtenmal in meinem Leben, daß ich ganz offen bin. Keinen Gedanken, keine Empfindung kann ich vor dir mehr geheim haben; du mußt al¬ les wiſſen. Mein ganzes Weſen ſoll ſich mit dem deinigen vermiſchen. Nur die grenzen¬ loſeſte Hingebung kann meiner Liebe genü¬ gen. In ihr beſteht ſie ja. Sie iſt ja ein geheimnißvolles Zuſammenfließen unſers ge¬ heimſten und eigenthümlichſten Daſeyns. Heinrich, ſo können ſich noch nie zwey Men¬ ſchen geliebt haben. Ich kanns nicht glauben. Es gab ja noch keine Mathilde. Auch keinen Heinrich. Ach! ſchwör es mir noch einmal, daß du ewig mein biſt; die Liebe iſt eine endloſe Wiederholung. Ja, Heinrich, ich ſchwöre ewig dein zu ſeyn, bey der unſichtbaren Gegenwart meiner gu¬ ten Mutter. Ich ſchwöre ewig dein zu267 ſeyn, Mathilde, ſo wahr die Liebe die Ge¬ genwart Gottes bey uns iſt. Eine lange Umarmung, unzählige Küſſe beſiegelten den ewigen Bund des ſeligen Paars.

268

Neuntes Kapitel.

Abends waren einige Gäſte da; der Gro߬ vater trank die Geſundheit des jungen Brautpaars, und verſprach bald ein ſchönes Hochzeitfeſt auszurichten. Was hilft das lange Zaudern, ſagte der Alte. Frühe Hoch¬ zeiten, lange Liebe. Ich habe immer geſehn, daß Ehen, die früh geſchloſſen wurden, am glücklichſten waren. In ſpätern Jahren iſt gar keine ſolche Andacht mehr im Eheſtande, als in der Jugend. Eine gemeinſchaftlich genoßne Jugend iſt ein unzerreißliches Band. Die Erinnerung iſt der ſicherſte Grund der Liebe. Nach Tiſche kamen mehrere. Hein¬ rich bat ſeinen neuen Vater um die Erfül¬ lung ſeines Verſprechens. Klingsohr ſagte zu der Geſellſchaft: Ich habe heute Heinri¬269 chen verſprochen ein Mährchen zu erzählen, wenn ihr es zufrieden ſeyd, ſo bin ich bereit. Das iſt ein kluger Einfall von Heinrich, ſag¬ te Schwaning. Ihr habt lange nichts von euch hören laſſen. Alle ſetzten ſich um das lodernde Feuer im Kamin. Heinrich ſaß dicht bey Mathilden, und ſchlang ſeinen Arm um ſie. Klingsohr begann:

Die lange Nacht war eben angegangen. Der alte Held ſchlug an ſeinen Schild, daß es weit umher in den öden Gaſſen der Stadt erklang. Er wiederholte das Zeichen dreymal. Da fingen die hohen bunten Fen¬ ſter des Pallaſtes an von innen heraus helle zu werden, und ihre Figuren bewegten ſich. Sie bewegten ſich lebhafter, je ſtärker das röthliche Licht ward, das die Gaſſen zu er¬ leuchten begann. Auch ſah man allmählich die gewaltigen Säulen und Mauern ſelbſt ſich erhellen; Endlich ſtanden ſie im reinſten,270 milchblauen Schimmer, und ſpielten mit den ſanfteſten Farben. Die ganze Gegend ward nun ſichtbar, und der Wiederſchein der Figu¬ ren, das Getümmel der Spieße, der Schwerdter, der Schilder, und der Helme, die ſich nach hier und da erſcheinenden Kro¬ nen, von allen Seiten neigten, und endlich wie dieſe verſchwanden, und einem ſchlichten, grünen Kranze Plaz machten, um dieſen her einen weiten Kreis ſchloſſen: alles dies ſpie¬ gelte ſich in dem ſtarren Meere, das den Berg umgab, auf dem die Stadt lag, und auch der ferne hohe Berggürtel, der ſich rund um das Meer herzog, ward bis in die Mitte mit einem milden Abglanz überzogen. Man konnte nichts deutlich unterſcheiden; doch hörte man ein wunderliches Getöſe her¬ über, wie aus einer fernen ungeheuren Werkſtatt. Die Stadt erſchien dagegen hell und klar. Ihre glatten, durchſichtigen271 Mauern warfen die ſchönen Strahlen zurück, und das vortreffliche Ebenmaaß, der edle Styl aller Gebäude, und ihre ſchöne Zuſam¬ menordnung kam zum Vorſchein. Vor allen Fenſtern ſtanden zierliche Gefäße von Thon, voll der mannichfaltigſten Eis - nnd Schnee¬ blumen, die auf das anmuthigſte funkelten.

Am herrlichſten nahm ſich auf dem gro¬ ßen Platze vor dem Pallaſte der Garten aus, der aus Metallbäumen und Kryſtallpflanzen beſtand, und mit bunten Edelſteinblüthen und Früchten überſäet war. Die Mannich¬ faltigkeit und Zierlichkeit der Geſtalten, und die Lebhaftigkeit der Lichter und Farben ge¬ währten das herrlichſte Schauſpiel, deſſen Pracht durch einen hohen Springquell in der Mitte des Gartens, der zu Eis erſtarrt war, vollendet wurde. Der alte Held ging vor den Thoren des Pallaſtes langſam vorüber. Eine Stimme rief ſeinen Namen im Innern.

272

Er lehnte ſich an das Thor, das mit einem ſanften Klange ſich öffnete, und trat in den Saal. Seinen Schild hielt er vor die Au¬ gen. Haſt du noch nichts entdeckt? ſagte die ſchöne Tochter Arcturs, mit klagender Stim¬ me. Sie lag an ſeidnen Polſtern auf einem Throne, der von einem großen Schwefelkry¬ ſtall künſtlich erbaut war, und einige Mäd¬ chen rieben ämſig ihre zarten Glieder, die wie aus Milch und Purpur zuſammengefloſ¬ ſen ſchienen. Nach allen Seiten ſtrömte unter den Händen der Mädchen das reizende Licht von ihr aus, was den Pallaſt ſo wunderſam erleuch¬ tete. Ein duftender Wind wehte im Saale. Der Held ſchwieg. Laß mich deinen Schild be¬ rühren, ſagte ſie ſanft. Er näherte ſich dem Throne und betrat den köſtlichen Teppich. Sie ergriff ſeine Hand, drückte ſie mit Zärtlichkeit an ihren himmliſchen Buſen und rührte ſeinen Schild an. Seine Rüſtung klang, und einedurch¬273durchdringende Kraft beſeelte ſeinen Körper. Seine Augen blitzten und das Herz pochte hörbar an den Panzer. Die ſchöne Freya ſchien heiterer, und das Licht ward brennen¬ der, das von ihr ausſtrömte. Der König kommt, rief ein prächtiger Vogel, der im Hintergrunde des Thrones ſaß. Die Diene¬ rinnen legten eine himmelblaue Decke über die Prinzeſſin, die ſie bis über den Buſen be¬ deckte. Der Held ſenkte ſeinen Schild und ſah nach der Kuppel hinauf, zu welcher zwey breite Treppen von beyden Seiten des Saals ſich hinauf ſchlangen. Eine leiſe Muſik ging dem Könige voran, der bald mit einem zahlreichen Gefolge in der Kuppel erſchien und herunter kam.

Der ſchöne Vogel entfaltete ſeine glän¬ zenden Schwingen, bewegte ſie ſanft und ſang, wie mit tauſend Stimmen, dem Könige entgegen:

S274
Nicht lange wird der ſchöne Fremde ſäumen.
Die Wärme naht, die Ewigkeit beginnt
Die Königin erwacht aus langen Träumen,
Wenn Meer und Land in Liebesglut zerrinnt.
Die kalte Nacht wird dieſe Stätte räu¬ men,
Wenn Fabel erſt das alte Recht ge¬ winnt.
In Freyas Schooß wird ſich die Welt entzünden
Und jede Sehnſucht ihre Sehnſucht finden.

Der König umarmte ſeine Tochter mit Zärtlichkeit. Die Geiſter der Geſtirne ſtellten ſich um den Thron, und der Held nahm in der Reihe ſeinen Platz ein. Eine unzählige Menge Sterne füllten den Saal in zierlichen275 Gruppen. Die Dienerinnen brachten einen Tiſch und ein Käſtchen, worin eine Menge Blätter lagen, auf denen heilige tiefſinnige Zeichen ſtanden, die aus lauter Sternbildern zuſammengeſetzt waren. Der König küßte ehrfurchtsvoll dieſe Blätter, miſchte ſie ſorg¬ fältig untereinander, und reichte ſeiner Toch¬ ter einige zu. Die andern behielt er für ſich. Die Prinzeſſin zog ſie nach der Reihe her¬ aus und legte ſie auf den Tiſch, dann be¬ trachtete der König die ſeinigen genau, und wählte mit vielem Nachdenken, ehe er eins dazu hinlegte. Zuweilen ſchien er gezwun¬ gen zu ſeyn, dies oder jenes Blatt zu wäh¬ len. Oft aber ſah man ihm die Freude an, wenn er durch ein gutgetroffenes Blatt eine ſchöne Harmonie der Zeichen und Figuren le¬ gen konnte. Wie das Spiel anfing, ſah man an allen Umſtehenden Zeichen der leb¬ hafteſten Theilnahme, und die ſonderbarſten276 Mienen und Gebehrden, gleichſam als hätte jeder ein unſichtbares Werkzeug in Händen, womit er eifrig arbeite. Zugleich ließ ſich eine ſanfte, aber tief bewegende Muſik in der Luft hören, die von den im Saale ſich wunderlich durcheinander ſchlingenden Ster¬ nen, und den übrigen ſonderbaren Bewegun¬ gen zu entſtehen ſchien. Die Sterne ſchwan¬ gen ſich, bald langſam, bald ſchnell, in be¬ ſtändig veränderten Linien umher, und bil¬ deten, nach dem Gange der Muſik, die Fi¬ guren der Blätter auf das kunſtreichſte nach. Die Muſik wechſelte, wie die Bilder auf dem Tiſche, unaufhörlich, und ſo wun¬ derlich und hart auch die Übergänge nicht ſelten waren, ſo ſchien doch nur Ein einfa¬ ches Thema das Ganze zu verbinden. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit flogen die Sterne den Bildern nach. Sie waren bald alle in Einer großen Verſchlingung, bald277 wieder in einzelne Haufen ſchön geordnet bald zerſtäubte der lange Zug, wie ein Strahl, in unzählige Funken, bald kam durch immer wachſende kleinere Kreiſe und Muſter wieder Eine große, überraſchende Fi¬ gur zum Vorſchein. Die bunten Geſtalten in den Fenſtern blieben während dieſer Zeit ruhig ſtehen. Der Vogel bewegte unaufhör¬ lich die Hülle ſeiner koſtbaren Federn auf die mannichfaltigſte Weiſe. Der alte Held hat¬ te bisher auch ſein unſichtbares Geſchäft äm¬ ſig betrieben, als auf einmal der König voll Freuden ausrief: Es wird alles gut. Eiſen, wirf du dein Schwerdt in die Welt, daß ſie erfahren, wo der Friede ruht. Der Held riß das Schwerdt von der Hüfte, ſtellte es mit der Spitze gen Himmel, dann ergriff er es und warf es aus dem geöffneten Fenſter über die Stadt und das Eismeer. Wie ein Komet flog es durch die Luft, und ſchien an278 dem Berggürtel mit hellem Klange zu zer¬ ſplittern, denn es fiel in lauter Funken her¬ unter.

Zu der Zeit lag der ſchöne Knabe Eros in ſeiner Wiege und ſchlummerte ſanft, wäh¬ rend Ginniſtan ſeine Amme die Wiege ſchau¬ kelte und ſeiner Milchſchweſter Fabel die Bruſt reichte. Ihr buntes Halstuch hatte ſie über die Wiege ausgebreitet, daß die hell¬ brennende Lampe, die der Schreiber vor ſich ſtehen hatte, das Kind mit ihrem Scheine nicht beunruhigen möchte. Der Schreiber ſchrieb unverdroſſen, ſah ſich nur zuweilen mürriſch nach den Kindern um, und ſchnitt der Amme finſtere Geſichter, die ihn gutmü¬ thig anlächelte und ſchwieg.

Der Vater der Kinder ging immer ein und aus, indem er jedesmal die Kinder be¬ trachtete und Ginniſtan freundlich begrü߬ te. Er hatte unaufhörlich dem Schreiber et¬279 was zu ſagen. Dieſer vernahm ihn genau, und wenn er es aufgezeichnet hatte, reichte er die Blätter einer edlen, göttergleichen Frau hin, die ſich an einen Altar lehnte, auf welchem eine dunkle Schaale mit klarem Waſſer ſtand, in welches ſie mit heiterm Lä¬ cheln blickte. Sie tauchte die Blätter jedes¬ mal hinein, und wenn ſie bey'm Herausziehn gewahr wurde, daß einige Schrift ſtehen ge¬ blieben und glänzend geworden war, ſo gab ſie das Blatt dem Schreiber zurück, der es in ein großes Buch heftete, und oft verdrie߬ lich zu ſeyn ſchien, wenn ſeine Mühe vergeb¬ lich geweſen und alles ausgelöſcht war. Die Frau wandte ſich zu Zeiten gegen Ginni¬ ſtan und die Kinder, tauchte den Finger in die Schaale, und ſprützte einige Tropfen auf ſie hin, die, ſobald ſie die Amme, das Kind, oder die Wiege berührten, in einen blauen Dunſt zerrannen, der tauſend ſeltſame Bil¬280 der zeigte, und beſtändig um ſie herzog und ſich veränderte. Traf einer davon zufällig auf den Schreiber, ſo fielen eine Menge Zahlen und geometriſche Figuren nieder, die er mit vieler Ämſigkeit auf einen Faden zog, und ſich zum Zierrath um den magern Hals hing. Die Mutter des Knaben, die wie die Anmuth und Lieblichkeit ſelbſt ausſah, kam oft herein. Sie ſchien beſtändig beſchäftigt, und trug immer irgend ein Stück Hausgerä¬ the mit ſich hinaus: bemerkte es der arg¬ wöhniſche und mit ſpähenden Blicken ſie ver¬ folgende Schreiber, ſo begann er eine lange Strafrede, auf die aber kein Menſch achtete. Alle ſchienen ſeiner unnützen Widerreden ge¬ wohnt. Die Mutter gab auf einige Augen¬ blicke der kleinen Fabel die Bruſt; aber bald ward ſie wieder abgerufen, und dann nahm Ginniſtan das Kind zurück, das an ihr lieber zu trinken ſchien. Auf einmal281 brachte der Vater ein zartes eiſernes Stäb¬ chen herein, das er im Hofe gefunden hatte. Der Schreiber beſah es und drehte es mit vieler Lebhaftigkeit herum, und brachte bald heraus, daß es ſich von ſelbſt, in der Mitte an einem Faden aufgehängt, nach Norden drehe. Ginniſtan nahm es auch in die Hand, bog es, drückte es, hauchte es an, und hatte ihm bald die Geſtalt einer Schlange gegeben, die ſich nun plötzlich in den Schwanz biß. Der Schreiber ward bald des Betrachtens überdrüßig. Er ſchrieb alles genau auf, und war ſehr weitläuftig über den Nutzen, den dieſer Fund gewähren könne. Wie ärgerlich war er aber, als ſein ganzes Schreibwerk die Probe nicht beſtand, und das Papier weiß aus der Schaale her¬ vorkam. Die Amme ſpielte fort. Zufällig berührte ſie die Wiege damit, da fing der Knabe an wach zu werden, ſchlug die Decke282 zurück, hielt die eine Hand gegen das Licht, und langte mit der Andern nach der Schlan¬ ge. Wie er ſie erhielt, ſprang er rüſtig, daß Ginniſtan erſchrak, und der Schreiber bey¬ nah vor Entſetzen vom Stuhle fiel, aus der Wiege, ſtand, nur von ſeinen langen gold¬ nen Haaren bedeckt, im Zimmer, und be¬ trachtete mit unausſprechlicher Freude das Kleinod, das ſich in ſeinen Händen nach Norden ausſtreckte, und ihn heftig im In¬ nern zu bewegen ſchien. Zuſehends wuchs er.

Sophie, ſagte er mit rührender Stimme zu der Frau, laß mich aus der Schaale trin¬ ken. Sie reichte ſie ihm ohne Anſtand, und er konnte nicht aufhören zu trinken, indem die Schaale ſich immer voll zu erhalten ſchien. Endlich gab er ſie zurück, indem er die edle Frau innig umarmte. Er herzte Gin¬ niſtan, und bat ſie um das bunte Tuch,283 das er ſich anſtändig um die Hüften band. Die kleine Fabel nahm er auf den Arm. Sie ſchien unendliches Wohlgefallen an ihm zu haben, und fing zu plaudern an. Gin¬ niſtan machte ſich viel um ihn zu ſchaffen. Sie ſah äußerſt reizend und leichtfertig aus, und drückte ihn mit der Innigkeit einer Braut an ſich. Sie zog ihn mit heimlichen Worten nach der Kammerthür, aber Sophie winkte ernſthaft und deutete nach der Schlan¬ ge; da kam die Mutter herein, auf die er ſogleich zuflog und ſie mit heißen Thränen bewillkommte. Der Schreiber war ingrimmig fortgegangen. Der Vater trat herein, und wie er Mutter und Sohn in ſtiller Umar¬ mung ſah, trat er hinter ihren Rücken zur reitzenden Ginniſtan, und liebkoſte ihr. So¬ phie ſtieg die Treppe hinauf. Die kleine Fabel nahm die Feder des Schreibers und fing zu ſchreiben an. Mutter und Sohn vertieften284 ſich in ein leiſes Geſpräch, und der Vater ſchlich ſich mit Ginniſtan in die Kammer, um ſich von den Geſchäften des Tags in ih¬ ren Armen zu erholen. Nach geraumer Zeit kam Sophie zurück. Der Schreiber trat her¬ ein. Der Vater kam aus der Kammer und ging an ſeine Geſchäfte. Ginniſtan kam mit glühenden Wangen zurück. Der Schreiber jagte die kleine Fabel mit vielen Schmähun¬ gen von ſeinem Sitze, und hatte einige Zeit nöthig ſeine Sachen in Ordnung zu bringen. Er reichte Sophien die von Fabel vollgeſchrie¬ benen Blätter, um ſie rein zurück zu erhalten, gerieth aber bald in den äußerſten Unwillen, wie Sophie die Schrift völlig glänzend und unverſehrt aus der Schaale zog und ſie ihm hinlegte. Fabel ſchmiegte ſich an ihre Mut¬ ter, die ſie an die Bruſt nahm, und das Zimmer aufputzte, die Fenſter öffnete, friſche Luft hereinließ und Zubereitungen zu einem285 köſtlichen Mahle machte. Man ſah durch die Fenſter die herrlichſten Ausſichten und ei¬ nen heitern Himmel über die Erde geſpannt. Auf dem Hofe war der Vater in voller Thä¬ tigkeit. Wenn er müde war, ſah er hinauf ans Fenſter, wo Ginniſtan ſtand, und ihm allerhand Näſchereien herunterwarf. Die Mutter und der Sohn gingen hinaus, um überall zu helfen und den gefaßten Ent¬ ſchluß vorzubereiten. Der Schreiber rührte die Feder, und machte immer eine Fratze, wenn er genöthigt war, Ginniſtan um etwas zu fragen, die ein ſehr gutes Gedächtniß hat¬ te, und alles behielt, was ſich zutrug. Eros kam bald in ſchöner Rüſtung, um die das bunte Tuch wie eine Schärpe gebunden war, zurück, und bat Sophie um Rath, wann und wie er ſeine Reiſe antreten ſolle. Der Schreiber war vorlaut, und wollte gleich mit einem ausführlichen Reiſeplan dienen,286 aber ſeine Vorſchläge wurden überhört. Du kannſt ſogleich reiſen; Ginniſtan mag dich begleiten, ſagte Sophie; ſie weiß mit den We¬ gen Beſcheid, und iſt überall gut bekannt. Sie wird die Geſtalt deiner Mutter anneh¬ men, um dich nicht in Verſuchung zu führen. Findeſt du den König, ſo denke an mich; dann komme ich um dir zu helfen.

Ginniſtan tauſchte ihre Geſtalt mit der Mutter, worüber der Vater ſehr vergnügt zu ſeyn ſchien; der Schreiber freute ſich, daß die beiden fortgingen; beſonders da ihm Gin¬ niſtan ihr Taſchenbuch zum Abſchiede ſchenk¬ te, worin die Chronik des Hauſes umſtänd¬ lich aufgezeichnet war; nur blieb ihm die kleine Fabel ein Dorn im Auge, und er hät¬ te, um ſeiner Ruhe und Zufriedenheit willen, nichts mehr gewünſcht, als daß auch ſie un¬ ter der Zahl der Abreiſenden ſeyn möchte. Sophie ſegnete die Niederknieenden ein, und287 gab ihnen ein Gefäß voll Waſſer aus der Schaale mit; die Mutter war ſehr beküm¬ mert. Die kleine Fabel wäre gern mitgegan¬ gen, und der Vater war zu ſehr außer dem Hauſe beſchäftigt, als daß er lebhaften An¬ theil hätte nehmen ſollen. Es war Nacht, wie ſie abreiſten, und der Mond ſtand hoch am Himmel. Lieber Eros, ſagte Ginniſtan, wir müſſen eilen, daß wir zu meinem Vater kommen, der mich lange nicht geſehn und ſo ſehnſuchtsvoll mich überall auf der Erde ge¬ ſucht hat. Siehſt du wohl ſein bleiches ab¬ gehärmtes Geſicht? Dein Zeugniß wird mich ihm in der fremden Geſtalt kenntlich ma¬ chen.

Die Liebe ging auf dunkler Bahn
Vom Monde nur erblickt,
Das Schattenreich war aufgethan
Und ſeltſam aufgeſchmückt.
288
Ein blauer Dunſt umſchwebte ſie
Mit einem goldnen Rand,
Und eilig zog die Fantaſie
Sie über Strom und Land.
Es hob ſich ihre volle Bruſt
In wunderbarem Muth;
Ein Vorgefühl der künft'gen Luſt
Beſprach die wilde Glut.
Die Sehnſucht klagt 'und wußt' es nicht,
Daß Liebe näher kam,
Und tiefer grub in ihr Geſicht
Sich hoffnungsloſer Gram.
Die kleine Schlange blieb getreu:
Sie wies nach Norden hin,
Und beyde folgten ſorgenfrey
Der ſchönen Führerin.
Die289
Die Liebe ging durch Wüſteneyn
Und durch der Wolken Land,
Trat in den Hof des Mondes ein
Die Tochter an der Hand.
Er ſaß auf ſeinem Silberthron,
Allein mit ſeinem Harm;
Da hört 'er ſeines Kindes Ton,
Und ſank in ihren Arm.

Eros ſtand gerührt bey den zärtlichen Umarmungen. Endlich ſammelte ſich der al¬ te erſchütterte Mann, und bewillkommte ſei¬ nen Gaſt. Er ergriff ſein großes Horn und ſtieß mit voller Macht hinein. Ein gewalti¬ ger Ruf dröhnte durch die uralte Burg. Die ſpitzen Thürme mit ihren glänzenden Knöpfen und die tiefen ſchwarzen Dächer ſchwankten. Die Burg ſtand ſtill, denn ſie war auf das Gebirge jenſeits des Meers ge¬T290kommen. Von allen Seiten ſtrömten ſeine Diener herzu, deren ſeltſame Geſtalten und Trachten Ginniſtan unendlich ergötzten, und den tapfern Eros nicht erſchreckten. Erſtere grüßte ihre alten Bekannten, und alle er¬ ſchienen vor ihr mit neuer Stärke und in der ganzen Herrlichkeit ihrer Naturen. Der un¬ geſtüme Geiſt der Flut folgte der ſanften Ebbe. Die alten Orkane legten ſich an die klopfende Bruſt der heißen leidenſchaftlichen Erdbeben. Die zärtlichen Regenſchauer ſa¬ hen ſich nach dem bunten Bogen um, der von der Sonne, die ihn mehr anzieht, entfernt, bleich da ſtand. Der rauhe Donner ſchalt über die Thorheiten der Blitze, hinter den unzähligen Wolken hervor, die mit tau¬ ſend Reizen daſtanden und die feurigen Jünglinge lockten. Die beyden lieblichen Schweſtern, Morgen und Abend, freuten ſich vorzüglich über die beyden Ankömmlinge.

291

Sie weinten ſanfte Thränen in ihren Umar¬ mungen. Unbeſchreiblich war der Anblick dieſes wunderlichen Hofſtaats. Der alte Kö¬ nig konnte ſich an ſeiner Tochter nicht ſatt ſehen. Sie fühlte ſich zehnfach glücklich in ihrer väterlichen Burg, und ward nicht mü¬ de die bekannten Wunder und Seltenheiten zu beſchauen. Ihre Freude war ganz unbe¬ ſchreiblich, als ihr der König den Schlüſſel zur Schatzkammer und die Erlaubniß gab, ein Schauſpiel für Eros darin zu veranſtal¬ ten, das ihn ſo lange unterhalten könnte, bis das Zeichen des Aufbruchs gegeben wür¬ de. Die Schatzkammer war ein großer Gar¬ ten, deſſen Mannichfaltigkeit und Reichthum alle Beſchreibung übertraf. Zwiſchen den ungeheuren Wetterbäumen lagen unzählige Luftſchlöſſer von überraſchender Bauart, eins immer köſtlicher, als das Andere. Große Heerden von Schäfchen, mit ſilberweißer,292 goldner und roſenfarbner Wolle irrten um¬ her, und die ſonderbarſten Thiere belebten den Hayn. Merkwürdige Bilder ſtanden hie und da, und die feſtlichen Aufzü¬ ge, die ſeltſamen Wagen, die überall zum Vorſchein kamen, beſchäftigten die Aufmerk¬ ſamkeit unaufhörlich. Die Beete ſtanden voll der bunteſten Blumen. Die Gebäude waren gehäuft voll von Waffen aller Art, voll der ſchönſten Teppiche, Tapeten, Vorhän¬ ge, Trinkgeſchirre und aller Arten von Ge¬ räthen und Werkzeugen, in unüberſehlichen Reihen. Auf einer Anhöhe erblickten ſie ein romantiſches Land, das mit Städten und Burgen, mit Tempeln und Begräbniſſen überſäet war, und alle Anmuth bewohnter Ebenen mit den furchtbaren Reizen der Einö¬ de und ſchroffer Felſengegenden vereinigte. Die ſchönſten Farben waren in den glücklich¬ ſten Miſchungen. Die Bergſpitzen glänzten293 wie Luſtfeuer in ihren Eis - und Schneehül¬ len. Die Ebene lachte im friſcheſten Grün. Die Ferne ſchmückte ſich mit allen Verände¬ rungen von Blau, und aus der Dunkelheit des Meeres wehten unzählige bunte Wimpel von zahlreichen Flotten. Hier ſah man ei¬ nen Schiffbruch im Hintergrunde, und vorne ein ländliches fröliches Mahl von Landleuten; dort den ſchrecklich ſchönen Ausbruch eines Vulkans, die Verwüſtungen des Erdbebens, und im Vordergrunde ein liebendes Paar unter ſchattenden Bäumen in den ſüßeſten Liebkoſungen. Abwärts eine fürchterliche Schlacht, und unter ihr ein Theater voll der lächerlichſten Masken. Nach einer andern Seite im Vordergrunde einen jugendlichen Leichnam auf der Baare, die ein troſtloſer Geliebter feſthielt, und die weinenden Eltern daneben; im Hintergrunde eine liebliche Mutter mit dem Kinde an der Bruſt und294 Engel ſitzend zu ihren Füßen, und aus den Zweigen über ihrem Haupte herunterblickend. Die Szenen verwandelten ſich unaufhörlich, und floſſen endlich in eine große geheimnißvolle Vorſtellung zuſammen. Himmel und Erde waren in vollem Aufruhr. Alle Schrecken waren losgebrochen. Eine gewaltige Stimme rief zu den Waffen. Ein entſetzliches Heer von Todtengerippen, mit ſchwarzen Fahnen, kam wie ein Sturm von dunkeln Bergen herunter, und griff das Leben an, das mit ſeinen jugendlichen Schaaren in der hellen Ebene in muntern Feſten begriffen war, und ſich keines Angriffs verſah. Es entſtand ein entſetzliches Getümmel, die Erde zitterte; der Sturm brauſte, und die Nacht ward von fürchterlichen Meteoren erleuchtet. Mit un¬ erhörten Grauſamkeiten zerriß das Heer der Geſpenſter die zarten Glieder der Lebendi¬ gen. Ein Scheiterhaufen thürmte ſich em¬295 por, und unter dem grauſenvollſten Geheul wurden die Kinder des Lebens von den Flammen verzehrt. Plötzlich brach aus dem dunklen Aſchenhaufen ein milchblauer Strom nach allen Seiten aus. Die Geſpenſter woll¬ ten die Flucht ergreifen, aber die Flut wuchs zuſehends, und verſchlang die ſcheusliche Brut. Bald waren alle Schrecken vertilgt. Himmel und Erde floſſen in ſüße Muſik zu¬ ſammen. Eine wunderſchöne Blume ſchwamm glänzend auf den ſanften Wogen. Ein glänzender Bogen ſchloß ſich über die Flut auf welchem göttliche Geſtalten auf prächti¬ gen Thronen, nach beyden Seiten herunter, ſaßen. Sophie ſaß zu oberſt, die Schaale in der Hand, neben einem herrlichen Manne, mit einem Eichenkranze um die Locken, und einer Friedenspalme ſtatt des Szepters in der Rechten. Ein Lilienblatt bog ſich über den Kelch der ſchwimmenden Blume; die296 kleine Fabel ſaß auf demſelben, und ſang zur Harfe die ſüßeſten Lieder. In dem Kel¬ che lag Eros ſelbſt, über ein ſchönes ſchlummerndes Mädchen hergebeugt, die ihn feſt umſchlungen hielt. Eine kleinere Blüthe ſchloß ſich um beyde her, ſo daß ſie von den Hüften an in Eine Blume verwandelt zu ſeyn ſchienen.

Eros dankte Ginniſtan mit tauſend Ent¬ zücken. Er umarmte ſie zärtlich, und ſie er¬ wiederte ſeine Liebkoſungen. Ermüdet von der Beſchwerde des Weges und den man¬ nichfaltigen Gegenſtänden, die er geſehen hatte, ſehnte er ſich nach Bequemlichkeit und Ruhe. Ginniſtan, die ſich von dem ſchönen Jüngling lebhaft angezogen fühlte, hütete ſich wohl des Trankes zu erwähnen, den Sophie ihm mitgegeben hatte. Sie führte ihn zu einem abgelegenen Bade, zog ihm die Rüſtung aus, und zog ſelbſt ein Nacht¬297 kleid an, in welchem ſie fremd und verführe¬ riſch ausſah. Eros tauchte ſich in die ge¬ fährlichen Wellen, und ſtieg berauſcht wieder heraus. Ginniſtan trocknete ihn, und rieb ſeine ſtarken, von Jugendkraft geſpannten Glieder. Er gedachte mit glühender Sehn¬ ſucht ſeiner Geliebten, und umfaßte in ſüßem Wahne die reitzende Ginniſtan. Unbeſorgt überließ er ſich ſeiner ungeſtümen Zärtlich¬ keit, und ſchlummerte endlich nach den wol¬ lüſtigſten Genüſſen an dem reizenden Bu¬ ſen ſeiner Begleiterin ein.

Unterdeſſen war zu Hauſe eine traurige Veränderung vorgegangen. Der Schreiber hatte das Geſinde in eine gefährliche Ver¬ ſchwörung verwickelt. Sein feindſeliges Ge¬ müth hatte längſt Gelegenheit geſucht, ſich des Hausregiments zu bemächtigen, und ſein Joch abzuſchütteln. Er hatte ſie gefunden. Zuerſt bemächtigte ſich ſein Anhang der298 Mutter, die in eiſerne Bande gelegt wurde. Der Vater ward bey Waſſer und Brod ebenfalls hingeſetzt. Die kleine Fabel hörte den Lärm im Zimmer. Sie verkroch ſich hinter dem Altare, und wie ſie bemerkte, daß eine Thür an ſeiner Rückſeite verborgen war, ſo öffnete ſie dieſelbe mit vieler Behen¬ digkeit, und fand, daß eine Treppe in ihm hinunterging. Sie zog die Thür nach ſich, und ſtieg im Dunkeln die Treppe hinunter. Der Schreiber ſtürzte mit Ungeſtüm herein, um ſich an der kleinen Fabel zu rächen, und Sophien gefangen zu nehmen. Beyde wa¬ ren nicht zu finden. Die Schaale fehlte auch, und in ſeinem Grimme zerſchlug er den Altar in tauſend Stücke, ohne jedoch die heimliche Treppe zu entdecken.

Die kleine Fabel ſtieg geraume Zeit. Endlich kam ſie auf einen freyen Platz hin¬ aus, der rund herum mit einer prächtigen299 Colonnade geziert, und durch ein großes Thor geſchloſſen war. Alle Figuren waren hier dunkel. Die Luft war wie ein ungeheurer Schatten; am Himmel ſtand ein ſchwarzer ſtrahlender Körper. Man konnte alles auf das deutlichſte unterſcheiden, weil jede Figur einen andern Anſtrich von Schwarz zeigte, und einen lichten Schein hinter ſich, warf; Licht und Schatten ſchienen hier ihre Rollen vertauſcht zu haben. Fabel freute ſich in ei¬ ner neuen Welt zu ſeyn. Sie beſah alles mit kindlicher Neugierde. Endlich kam ſie an das Thor, vor welchem auf einem maſ¬ ſiven Poſtument eine ſchöne Sphinx lag.

Was ſuchſt du? ſagte die Sphinx; mein Eigenthum, erwiederte Fabel. Wo kommſt du her? Aus alten Zeiten; Du biſt noch ein Kind Und werde ewig ein Kind ſeyn. Wer wird dir beyſtehn? Ich ſtehe für mich. Wo ſind die Schweſtern,300 fragte Fabel? Überall und nirgends, gab die Sphinx zur Antwort. Kennſt du mich? noch nicht. Wo iſt die Lie¬ be? In der Einbildung. Und So¬ phie? Die Sphinx murmelte unvernehm¬ lich vor ſich hin, und rauſchte mit den Flü¬ geln. Sophie und Liebe, rief triumphirend Fabel, und ging durch das Thor. Sie trat in die ungeheure Höhle, und ging frölich auf die alten Schweſtern zu, die bey der kärgli¬ chen Nacht einer ſchwarzbrennenden Lam¬ pe ihr wunderliches Geſchäft trieben. Sie thaten nicht, als ob ſie den kleinen Gaſt be¬ merkten, der mit artigen Liebkoſungen ſich ge¬ ſchäftig um ſie erzeigte. Endlich krächzte die eine mit rauhen Worten und ſcheelem Ge¬ ſicht: Was willſt du hier, Müßiggängerin? wer hat dich eingelaſſen? Dein kindiſches Hüpfen bewegt die ſtille Flamme. Das Öl verbrennt unnützer Weiſe. Kannſt du dich301 nicht hinſetzen und etwas vornehmen? Schöne Baſe, ſagte Fabel, am Müßiggehn iſt mir nichts gelegen. Ich mußte recht über eure Thürhüterin lachen. Sie hätte mich gern an die Bruſt genommen, aber ſie mu߬ te zu viel gegeſſen haben, ſie konnte nicht aufſtehn. Laßt mich vor der Thür ſitzen, und gebt mir etwas zu ſpinnen; denn hier kann ich nicht gut ſehen, und wenn ich ſpin¬ ne, muß ich ſingen und plaudern dürfen, und das könnte euch in euren ernſthaften Gedan¬ ken ſtören. Hinaus ſollſt du nicht, aber in der Nebenkammer bricht ein Strahl der Oberwelt durch die Felsritzen, da magſt du ſpinnen, wenn du ſo geſchickt biſt; hier liegen ungeheure Haufen von alten Enden, die dre¬ he zuſammen; aber hüte dich: wenn du ſaumſelig ſpinnſt, oder der Faden reißt, ſo ſchlingen ſich die Fäden um dich her und er¬ ſticken dich. Die Alte lachte hämiſch, und302 ſpann. Fabel raffte einen Arm voll Fäden zuſammen, nahm Wocken und Spindel, und hüpfte ſingend in die Kammer. Sie ſah durch die Öffnung hinaus, und erblickte das Sternbild des Phönixes. Froh über das glückliche Zeichen fing ſie an luſtig zu ſpin¬ nen, ließ die Kammerthür ein wenig offen, und ſang halbleiſe:

Erwacht in euren Zellen,
Ihr Kinder alter Zeit;
Laßt eure Ruheſtellen,
Der Morgen iſt nicht weit.
Ich ſpinne eure Fäden
In Einen Faden ein;
Aus iſt die Zeit der Fehden.
Ein Leben ſollt 'ihr ſeyn.
Ein jeder lebt in Allen,
Und All' in Jedem auch.
303
Ein Herz wird in euch wallen,
Von Einem Lebenshauch.
Noch ſeyd ihr nichts als Seele,
Nur Traum und Zauberey.
Geht furchtbar in die Höhle
Und neckt die heil'ge Drey.

Die Spindel ſchwang ſich mit unglaublicher Behendigkeit zwiſchen den kleinen Füßen; während ſie mit beyden Händen den zarten Fa¬ den drehte. Unter dem Liede wurden unzählige Lichterchen ſichtbar, die aus der Thürſpalte ſchlüpften und durch die Höhle in ſcheuslichen Larven ſich verbreiteten. Die Alten hatten während der Zeit immer mürriſch fortgeſpon¬ nen, und auf das Jammergeſchrey der kleinen Fabel gewartet, aber wie entſetzten ſie ſich, als auf einmal eine erſchreckliche Naſe über ihre Schultern guckte, und wie ſie ſich umſa¬304 hen, die ganze Höhle voll der gräßlichſten Figuren war, die tauſenderley Unfug trieben. Sie fuhren in einander, heulten mit fürchter¬ licher Stimme, und wären vor Schrecken zu Stein geworden, wenn nicht in dieſem Au¬ genblicke der Schreiber in die Höhle getreten wäre, und eine Alraunwurzel bey ſich gehabt hätte. Die Lichterchen verkrochen ſich in die Felsklüfte und die Höhle wurde ganz hell, weil die ſchwarze Lampe in der Verwirrung umgefallen und ausgelöſcht war. Die Alten waren froh, wie ſie den Schreiber kommen hörten, aber voll Ingrimms gegen die kleine Fabel. Sie riefen ſie heraus, ſchnarchten ſie fürchterlich an und verboten ihr fortzuſpin¬ nen. Der Schreiber ſchmunzelte höhniſch, weil er die kleine Fabel nun in ſeiner Ge¬ walt zu haben glaubte und ſagte: Es iſt gut, daß du hier biſt und zur Arbeit angehalten werden kannſt. Ich hoffe daß es an Züchti¬gun¬305gungen nicht fehlen ſoll. Dein guter Geiſt hat dich hergeführt. Ich wünſche dir langes Leben und viel Vergnügen. Ich danke dir für deinen guten Willen, ſagte Fabel; man ſieht dir jetzt die gute Zeit an; dir fehlt nur noch das Stundenglas und die Hippe, ſo ſiehſt du ganz wie der Bruder meiner ſchönen Baſen aus. Wenn du Gänſeſpulen brauchſt, ſo zupfe ihnen nur eine Handvoll zarten Pflaum aus den Wangen. Der Schreiber ſchien Miene zu machen, über ſie herzufallen. Sie lächelte und ſagte: Wenn dir dein ſchöner Haarwuchs und dein geiſtrei¬ ches Auge lieb ſind, ſo nimm dich in Acht; be¬ denke meine Nägel, du haſt nicht viel mehr zu verlieren. Er wandte ſich mit verbißner Wuth zu den Alten, die ſich die Augen wiſchten, und nach ihren Wocken umhertapp¬ ten. Sie konnten nichts finden, da die Lam¬ pe ausgelöſcht war, und ergoſſen ſich inU306Schimpfreden gegen Fabel. Laßt ſie doch gehn, ſprach er tückiſch, daß ſie euch Taran¬ teln fange, zur Bereitung eures Öls. Ich wollte euch zu euerm Troſte ſagen, daß Eros ohne Raſt umherfliegt, und eure Scheere flei¬ ßig beſchäftigen wird. Seine Mutter, die euch ſo oft zwang, die Fäden länger zu ſpinnen, wird morgen ein Raub der Flam¬ men. Er kitzelte ſich, um zu lachen, wie er ſah, daß Fabel einige Thränen bey dieſer Nachricht vergoß, gab ein Stück von der Wurzel der Alten, und ging naſerümpfend von dannen. Die Schweſtern hießen der Fa¬ bel mit zorniger Stimme Taranteln ſu¬ chen, ohngeachtet ſie noch Öl vorräthig hat¬ ten, und Fabel eilte fort. Sie that, als öff¬ ne ſie das Thor, warf es ungeſtüm wieder zu, und ſchlich ſich leiſe nach dem Hinter¬ grunde der Höhle, wo eine Leiter herunter hing. Sie kletterte ſchnell hinauf, und kam307 bald vor eine Fallthür, die ſich in Arkturs Gemach öffnete.

Der König ſaß umringt von ſeinen Rä¬ then, als Fabel erſchien. Die nördliche Kro¬ ne zierte ſein Haupt. Die Lilie hielt er mit der Linken, die Wage in der Rechten. Der Adler und Löwe ſaßen zu ſeinen Füßen. Monarch, ſagte die Fabel, indem ſie ſich ehr¬ furchtsvoll vor ihm neigte; Heil deinem feſt¬ gegründeten Throne! frohe Bothſchaft dei¬ nem verwundeten Herzen! baldige Rückkehr der Weisheit! Ewiges erwachen dem Frie¬ den! Ruhe der raſtloſen Liebe! Verklärung des[]Herzens! Leben dem Alterthum und Ge¬ ſtalt der Zukunft! Der König berührte ihre offene Stirn mit der Lilie: Was du bitteſt, ſey dir gewährt. Dreymal werde ich bit¬ ten, wenn ich zum viertenmale komme, ſo iſt die Liebe vor der Thür. Jetzt gieb mir die Leyer. Eridanus! bringe ſie her, rief der308 K[ö]nig. Rauſchend ſtrömte Eridanus von der Decke, und Fabel zog die Leyer aus ſei¬ nen blinkenden Fluten.

Fabel that einige weißagende Griffe; der König ließ ihr den Becher reichen, aus dem ſie nippte und mit vielen Dank¬ ſagungen hinweg eilte. Sie glitt in rei¬ zenden Bogenſchwüngen über das Eismeer, indem ſie fröliche Muſik aus den Saiten lockte.

Das Eis gab unter ihren Tritten die herrlichſten Töne von ſich. Der Felſen der Trauer hielt ſie für Stimmen ſeiner ſuchen¬ den rückkehrenden Kinder, und antwortete in einem tauſendfachen Echo.

Fabel hatte bald das Geſtade erreicht. Sie begegnete ihrer Mutter, die abgezehrt und bleich ausſah, ſchlank und ernſt gewor¬ den war, und in edlen Zügen die Spuren ei¬ nes hoffnungsloſen Grams, und rührender Treue verrieth.

309

Was iſt aus dir geworden, liebe Mut¬ ter? ſagte Fabel, du ſcheinſt mir gänzlich verändert; ohne inneres Anzeichen hätt 'ich dich nicht erkannt. Ich hoffte mich an dei¬ ner Bruſt einmal wieder zu erquicken; ich habe lange nach dir geſchmachtet. Ginni¬ ſtan liebkoſte ſie zärtlich, und ſah heiter und freundlich aus. Ich dachte es gleich, ſagte ſie, daß dich der Schreiber nicht würde ge¬ fangen haben. Dein Anblick erfriſcht mich. Es geht mir ſchlimm und knapp genug, aber ich tröſte mich bald. Vielleicht habe ich einen Augenblick Ruhe. Eros iſt in der Nä¬ he, und wenn er dich ſieht, und du ihm vor¬ plauderſt, verweilt er vielleicht einige Zeit. Indeß kannſt du dich an meine Bruſt legen; ich will dir geben, was ich habe. Sie nahm die Kleine auf den Schooß, reichte ihr die Bruſt, und fuhr fort, indem ſie lächelnd auf die Kleine hinunter ſah, die es ſich gut310 ſchmecken ließ. Ich bin ſelbſt Urſach, daß Eros ſo wild und unbeſtändig geworden iſt. Aber mich reut es dennoch nicht, denn jene Stunden, die ich in ſeinen Armen zubrachte, haben mich zur Unſterblichen gemacht. Ich glaubte unter ſeinen feurigen Liebkoſungen zu zerſchmelzen. Wie ein himmliſcher Räu¬ ber ſchien er mich grauſam vernichten und ſtolz über ſein bebendes Opfer triumphiren zu wollen. Wir erwachten ſpät aus dem verbotenen Rauſche, in einem ſonderbar ver¬ tauſchten Zuſtande. Lange ſilberweiße Flü¬ gel bedeckten ſeine weißen Schultern, und die reihende Fülle und Biegung ſeiner Ge¬ ſtalt. Die Kraft, die ihn ſo plötzlich aus ei¬ nem Knaben zum Jünglinge quellend getrie¬ ben, ſchien ſich ganz in die glänzenden Schwingen gezogen zu haben, und er war wieder zum Knaben geworden. Die ſtille Glut ſeines Geſichts war in das tändelnde311 Feuer eines Irrlichts, der heilige Ernſt in verſtellte Schalkheit, die bedeutende Ruhe in kindiſche Unſtätigkeit, der edle Anſtand in drollige Beweglichkeit verwandelt. Ich fühl¬ te mich von einer ernſthaften Leidenſchaft unwiderſtehlich zu dem muthwilligen Kna¬ ben gezogen, und empfand ſchmerzlich ſeinen lächelnden Hohn, und ſeine Gleichgültigkeit gegen meine rührendſten Bitten. Ich ſah meine Geſtalt verändert. Meine ſorgloſe Heiterkeit war verſchwunden, und hatte ei¬ ner traurigen Bekümmerniß, einer zärtli¬ chen Schüchternheit Platz gemacht. Ich hät¬ mich mit Eros vor allen Augen verbergen mögen. Ich hatte nicht das Herz in ſeine beleidigenden Augen zu ſehn, und fühlte mich entſetzlich beſchämt und erniedrigt. Ich hatte keinen andern Gedanken, als ihn, und hätte mein Leben hingegeben, um ihn von ſeinen Unarten zu befreyen. Ich mußte ihn312 anbeten, ſo tief er auch alle meine Empfin¬ dungen kränkte.

Seit der Zeit, wo er ſich aufmachte und mir entfloh, ſo rührend ich auch mit den hei¬ ßeſten Thränen ihn beſchwor, bey mir zu bleiben, bin ich ihm überall gefolgt. Er ſcheint es ordentlich darauf anzulegen, mich zu necken. Kaum habe ich ihn erreicht, ſo fliegt er tückiſch weiter. Sein Bogen richtet überall Verwüſtungen an. Ich habe nichts zu thun, als die Unglücklichen zu tröſten, und habe doch ſelbſt Troſt nöthig. Ihre Stimmen, die mich rufen, zeigen mir ſeinen Weg, und ihre wehmüthigen Klagen, wenn ich ſie wieder verlaſſen muß, gehen mir tief zu Herzen. Der Schreiber verfolgt uns mit entſetzlicher Wuth, und rächt ſich an den ar¬ men Getroffenen. Die Frucht jener geheim¬ nißvollen Nacht, waren eine zahlreiche Men¬ ge wunderlicher Kinder, die ihrem Großva¬313 ter ähnlich ſehn, und nach ihm genannt ſind. Geflügelt wie ihr Vater begleiten ſie ihn be¬ ſtändig, und plagen die Armen, die ſein Pfeil trifft. Doch da kömmt der frölichen Zug. Ich muß fort; lebe wohl, ſüßes Kind. [ Sei¬ ne] Nähe erregt meine Leidenſchaft. Sey glück¬ lich in deinem Vorhaben. Eros zog wei¬ ter, ohne Gimniſtan, die auf ihn zueilte, ei¬ nen zärtlichen Blick zu gönnen. Aber zu Fabel wandte er ſich freundlich, und ſeine kleinen Begleiter tanzten fröhlich um ſie her. Fabel freute ſich, ihren Milchbruder wieder zu ſehn, und ſang zu ihrer Leyer ein munte¬ res Lied, Eros ſchien ſich beſinnen zu wol¬ len und ließ den Bogen fallen. Die Klei¬ nen entſchliefen auf dem Raſen. Ginniſtan konnte ihn faſſen, und er litt ihre zärtlichen Liebkoſungen. Endlich fing Eros auch an zu nicken, ſchmiegte ſich an Ginniſtans Schooß, und ſchlummerte ein, indem er ſeine314 Flügel über ſie ausbreitete. Unendlich froh war die müde Ginniſtan, und verwandte kein Auge von dem holden Schläfer. Während des Geſanges waren von allen Seiten Ta¬ ranteln zum Vorſchein gekommen, die über die Grashalme ein glänzendes Netz zogen, und lebhaft nach dem Takte ſich an ihren Fäden bewegten. Fabel tröſtete nun ihre Mutter, und verſprach ihr baldige Hülfe. Vom Fel¬ ſen tönte der ſanfte Wiederhall der Muſik, und wiegte die Schläfer ein. Ginniſtan ſprengte aus dem wohlverwahrten Gefäß ei¬ nige Tropfen in die Luft, und die anmuthig¬ ſten Träume fielen auf ſie nieder. Fabel nahm das Gefäß mit und ſetzte ihre Reiſe fort. Ihre Saiten ruhten nicht, und die Taranteln folgten auf ſchnellgeſponnenen Fä¬ den den bezaubernden Tönen.

Sie ſah bald von weitem die hohe Flam¬ me des Scheiterhaufens, die über den grü¬315 nen Wald emporſtieg. Traurig ſah ſie gen Himmel, und freute ſich, wie ſie Sophieens blauen Schleyer erblickte, der wallend über der Erde ſchwebte, und auf ewig die unge¬ heure Gruft bedeckte. Die Sonne ſtand feuerroth vor Zorn am Himmel, die gewalti¬ ge Flamme ſog an ihrem geraubten Lichte, und ſo heftig ſie es auch an ſich zu halten ſchien, ſo ward ſie doch immer bleicher und fleckiger. Die Flamme ward weißer und mächtiger, je fahler die Sonne ward. Sie ſog das Licht immer ſtärker in ſich und bald war die Glorie um das Geſtirn des Tages verzehrt und nur als eine matte, glänzende Scheibe ſtand es noch da, indem jede neue Regung des Neides und der Wuth den Aus¬ bruch der entfliehenden Lichtwellen vermehrte. Endlich war nichts von der Sonne mehr übrig, als eine ſchwarze ausgebrannte Schlacke, die herunter ins Meer fiel. Die316 Flamme war über allen Ausdruck glänzend geworden. Der Scheiterhaufen war verzehrt. Sie hob ſich langſam in die Höhe und zog nach Norden. Fabel trat in den Hof, der verödet ausſah; das Haus war unterdeß verfallen. Dornſträuche wuchſen in den Ri¬ tzen der Fenſtergeſimſe und Ungeziefer aller Art kribbelte auf den zerbrochenen Stiegen. Sie hörte im Zimmer einen entſetzlichen Lärm; der Schreiber und ſeine Geſellen hatten ſich an dem Flammentode der Mutter geweidet, waren aber gewaltig erſchrocken, wie ſie den Untergang der Sonne wahrgenommen hat¬ ten.

Sie hatten ſich vergeblich angeſtrengt, die Flamme zu löſchen, und waren bey die¬ ſer Gelegenheit nicht ohne Beſchädigungen geblieben. Der Schmerz und die Angſt pre߬ te ihren entſetzliche Verwünſchungen und Klagen aus. Sie erſchraken noch mehr, als317 Fabel ins Zimmer trat, und ſtürmten mit wüthendem Geſchrey auf ſie ein, um an ihr den Grimm auszulaſſen. Fabel ſchlüpfte hinter die Wiege, und ihre Verfolger traten ungeſtüm in das Gewebe der Taranteln, die ſich durch unzählige Biſſe an ihnen rächten. Der ganze Haufen fing nun toll an zu tan¬ zen, wozu Fabel ein luſtiges Lied ſpielte. Mit vielem Lachen über ihre poſſierlichen Fra¬ tzen ging ſie auf die Trümmer des Altars zu, und räumte ſie weg, um die verborgene Treppe zu finden, auf der ſie mit ihrem Ta¬ rantelgefolge hinunter ſtieg. Die Sphinx frag¬ te: Was kommt plötzlicher, als der Blitz? Die Rache, ſagte Fabel. Was iſt am vergänglichſten? Unrechter Beſitz. Wer kennt die Welt? Wer ſich ſelbſt kennt. Was iſt das ewige Geheimniß? Die Lie¬ be. Bey wem ruht es? Bey Sophieen. Die Sphinx krümmte ſich kläglich, und Fabel trat in die Höhle.

318

Hier bringe ich euch Taranteln, ſagte ſie zu den Alten, die ihre Lampe wieder ange¬ zündet hatten und ſehr ämſig arbeiteten. Sie erſchraken, und die eine lief mit der Scheere auf ſie zu, um ſie zu erſtechen. Un¬ verſehens trat ſie auf eine Tarantel, und dieſe ſtach ſie in den Fuß. Sie ſchrie er¬ bärmlich. Die andern wollten ihr zu Hülfe kommen und wurden ebenfalls von den er¬ zürnten Taranteln geſtochen. Sie konnten ſich nun nicht an Fabel vergreifen, und ſpran¬ gen wild umher. Spinn 'uns gleich, riefen ſie grimmig der Kleinen zu, leichte Tanzklei¬ der. Wir können uns in den ſteifen Röcken nicht rühren, und vergehn faſt vor Hitze, aber mit Spinnenſaft mußt du den Faden einweichen, daß er nicht reißt, und wirke Blumen hinein, die im Feuer gewachſen ſind, ſonſt biſt du des Todes. Recht gern, ſagte Fabel und ging in die Nebenkammer.

319

Ich will euch drey tüchtige Fliegen ver¬ ſchaffen, ſagte ſie zu den Kreuzſpinnen, die ihre luftigen Gewebe rund um an der Decke und den Wänden angeheftet hatten, aber ihr müßt mir gleich drey hübſche, leichte Kleider ſpinnen. Die Blumen, die hinein gewirkt werden ſollen, will ich auch gleich bringen. Die Kreuzſpinnen waren bereit und fingen raſch zu weben an. Fabel ſchlich ſich zur Leiter und begab ſich zu Arktur. Mo¬ narch ſagte ſie, die Böſen tanzen, die Guten ruhn. Iſt die Flamme angekommen? Sie iſt angekommen ſagte der König. Die Nacht iſt vorbey und das Eis ſchmilzt. Meine Gattin zeigt ſich von weitem. Meine Fein¬ dinn iſt verſenkt. Alles fängt zu leben an. Noch darf ich mich nicht ſehn laſſen, denn allein bin ich nicht König. Bitte was du willſt. Ich brauche, ſagte Fabel, Blumen, die im Feuer gewachſen ſind. Ich weiß, du320 haſt einen geſchickten Gärtner, der ſie zu zie¬ hen verſteht. Zink, rief der König, gieb uns Blumen. Der Blumengärtner trat aus der Reihe, holte einen Topf voll Feuer, und ſäete glänzenden Samenſtaub hinein. Es währte nicht lange, ſo flogen die Blumen empor. Fabel ſammelte ſie in ihre Schürze, und machte ſich auf den Rück¬ weg. Die Spinnen waren fleißig geweſen, und es fehlte nichts mehr, als das Anheften der Blumen, welches ſie ſogleich mit vielem Geſchmack und Behendigkeit begannen. Fa¬ bel hütete ſich wohl die Enden abzureißen, die noch an den Weberinnen hingen.

Sie trug die Kleider den ermüdeten Tänzerinnen hin, die triefend von Schweiß umgeſunken waren, und ſich einige Augen¬ blicke von der ungewohnten Anſtrengung er¬ holten. Mit vieler Geſchicklichkeit entkleide¬ te ſie die hagern Schönheiten, die es anSchmä¬321Schmähungen der kleinen Dienerin nicht feh¬ len ließen, und zog ihnen die neuen Kleider an, die ſehr niedlich gemacht waren und vor¬ trefflich paßten. Sie pries während dieſes Geſchäftes die Reize und den liebenswürdigen Charakter ihrer Gebieterinnen, und die Al¬ ten ſchienen ordentlich erfreut über die Schmeicheleyen und die Zierlichkeit des An¬ zuges. Sie hatten ſich unterdeß erholt, und fingen von neuer Tanzluſt beſeelt wieder an, ſich munter umherzudrehen, indem ſie heim¬ tückiſch der Kleinen langes Leben und große Belohnungen verſprachen. Fabel ging in die Kammer zurück, und ſagte zu den Kreuzſpin¬ nen: Ihr könnt nun die Fliegen getroſt ver¬ zehren, die ich in eure Weben gebracht ha¬ be. Die Spinnen waren ſo ſchon ungeduldig über das hin und herreißen, da die Enden noch in ihnen waren und die Alten ſo toll umherſprangen; ſie rannten alſo hinaus, undX322fielen über die Tänzerinnen her; dieſe woll¬ ten ſich mit der Scheere vertheidigen, aber Fabel hatte ſie in aller Stille mitgenommen. Sie unterlagen alſo ihren hungrigen Hand¬ werksgenoſſen, die lange keine ſo köſtlichen Biſſen geſchmeckt hatten, und ſie bis auf das Mark ausſaugten. Fabel ſah durch die Felſenkluft hinaus, und erblickte den Perſeus mit dem großen eiſernen Schilde. Die Scheere flog von ſelbſt dem Schilde zu, und Fabel bat ihn, Eros Flügel damit zu ver¬ ſchneiden, und dann mit ſeinem Schilde die Schweſtern zu verewigen, und das große Werk zu vollenden.

Sie verließ nun das unterirdiſche Reich, und ſtieg frölich zu Arkturs Pallaſte.

Der Flachs iſt verſponnen. Das Lebloſe iſt wieder entſeelt. Das Lebendige wird re¬ gieren, und das Lebloſe bilden und gebrau¬ chen. Das Innere wird offenbart, und das323 Äußere verborgen. Der Vorhang wird ſich bald heben, und das Schauſpiel ſeinen An¬ fang nehmen. Noch einmal bitte ich, dann ſpinne ich Tage der Ewigkeit. Glückliches Kind, ſagte der gerührte Monarch, du biſt unſre Befreyerin. Ich bin nichts als So¬ phiens Pathe, ſagte die Kleine. Erlaube daß Turmalin, der Blumengärtner, und Gold mich begleiten. Die Aſche meiner Pfle¬ gemutter muß ich ſammeln, und der alte Träger muß wieder aufſtehn, daß die Erde wieder ſchwebe und nicht auf dem Cha¬ os liege.

Der König rief allen Dreyen, und be¬ fahl ihnen, die Kleine zu begleiten. Die Stadt war hell, und auf den Straßen war ein lebhaftes Verkehr. Das Meer brach ſich brauſend an der hohlen Klippe, und Fabel fuhr auf des Königs Wagen mit ihren Be¬ gleitern hinüber. Turmalin ſammelte ſorg¬324 fältig die auffliegende Aſche. Sie gingen rund um die Erde, bis ſie an den alten Rie¬ ſen kamen, an deſſen Schultern ſie hinunter klimmten. Er ſchien vom Schlage gelähmt, und konnte kein Glied rühren. Gold legte ihm eine Münze in den Mund, und der Blumengärtner ſchob eine Schüſſel unter ſei¬ ne Lenden. Fabel berührte ihm die Augen, und goß das Gefäß auf ſeiner Stirn aus. So wie das Waſſer über das Auge in den Mund und herunter über ihn in die Schüſ¬ ſel floß, zuckte ein Blitz des Lebens ihm in allen Muskeln. Er ſchlug die Augen auf und hob ſich rüſtig empor. Fabel ſprang zu ih¬ ren Begleitern auf die ſteigende Erde, und bot ihm freundlich guten Morgen. Biſt du wieder da, liebliches Kind? ſagte der Alte; habe ich doch immer von dir geträumt. Ich dachte immer, du würdeſt erſcheinen, ehe mir die Erde und die Augen zu ſchwer würden.

325

Ich habe wohl lange geſchlafen. Die Erde iſt wieder leicht, wie ſie es immer den Gu¬ ten war, ſagte Fabel. Die alten Zeiten keh¬ ren zurück. In Kurzem biſt du wieder unter alten Bekannten. Ich will dir fröliche Tage ſpinnen, und an einem Gehülfen ſoll es auch nicht fehlen, damit du zuweilen an unſern Freuden Theil nehmen, und im Arm einer Freundinn Jugend und Stärke einathmen kannſt. Wo ſind unſere alten Gaſtfreundin¬ nen, die Hesperiden? An Sophiens Sei¬ te. Bald wird ihr Garten wieder blühen, und die goldne Frucht duften. Sie gehen umher und ſammeln die ſchmachtenden Pflanzen.

Fabel entfernte ſich, und eilte dem Hau¬ ſe zu. Es war zu völligen Ruinen gewor¬ den. Epheu umzog die Mauern. Hohe Büſche beſchatteten den ehmaligen Hof, und weiches Moos polſterte die alten Stiegen. 326Sie trat ins Zimmer. Sophie ſtand am Altar, der wieder aufgebaut war. Eros lag zu ihren Füßen in voller Rüſtung, ernſter und edler als jemals. Ein prächtiger Kron¬ leuchter hing von der Decke. Mit bunten Steinen war der Fußboden ausgelegt, und zeigte einen großen Kreis um den Altar her, der aus lauter edlen bedeutungsvollen Figuren beſtand. Ginniſtan bog ſich über ein Ruhe¬ bett, worauf der Vater in tiefem Schlummer zu liegen ſchien, und weinte. Ihre blühende Anmuth war durch einen Zug von Andacht und Liebe unendlich erhöht. Fabel reichte die Urne, worin die Aſche geſammelt war, der heiligen Sophie, die ſie zärtlich um¬ armte.

Liebliches Kind, ſagte ſie, dein Eifer und deine Treue haben dir einen Platz unter den ewigen Sternen erworben. Du haſt das Un¬ ſterbliche in dir gewählt. Der Phönix ge¬327 hört dir. Du wirſt die Seele unſers Lebens ſeyn. Jetzt wecke den Bräutigam auf. Der Herold ruft, und Eros ſoll Freya ſuchen und aufwecken.

Fabel freute ſich unbeſchreiblich bey die¬ ſen Worten. Sie rief ihren Begleitern Gold und Zink, und nahte ſich dem Ruhebette. Ginniſtan ſah erwartungsvoll ihrem Begin¬ nen zu. Gold ſchmolz die Münze und füll¬ te das Behältniß, worin der Vater lag, mit einer glänzenden Flut. Zink ſchlang um Ginniſtans Buſen eine Kette. Der Körper ſchwamm auf den zitternden Wellen. Bücke dich, liebe Mutter, ſagte Fabel, und lege die Hand auf das Herz des Geliebten.

Ginniſtan bückte ſich. Sie ſah ihr viel¬ faches Bild. Die Kette berührte die Flut, ihre Hand ſein Herz; er erwachte und zog die entzückte Braut an ſeine Bruſt. Das Metall gerann, und ward ein heller Spie¬328 gel. Der Vater erhob ſich, ſeine Augen blitz¬ ten, und ſo ſchön und bedeutend auch ſeine Geſtalt war, ſo ſchien doch ſein ganzer Kör¬ per eine feine unendlich bewegliche Flüſſig¬ keit zu ſeyn, die jeden Eindruck in den man¬ nigfaltigſten und reitzendſten Bewegungen verrieth.

Das glückliche Paar näherte ſich Sophi¬ en, die Worte der Weihe über ſie ausſprach, und ſie ermahnte, den Spiegel fleißig zu Rathe zu ziehn, der alles in ſeiner wahren Geſtalt zurückwerfe, jedes Blendwerk ver¬ nichte, und ewig das urſprüngliche Bild feſt¬ halte. Sie ergriff nun die Urne und ſchütte¬ te die Aſche in die Schaale auf dem Altar. Eie ſanftes Brauſen verkündigte die Auflö¬ ſung, und ein leiſer Wind wehte in den Gewändern und Locken der Umſtehenden.

Sophie reichte die Schaale dem Eros und dieſer den Andern. Alle koſteten den329 göttlichen Trank, und vernahmen die freund¬ liche Begrüßung der Mutter in ihrem In¬ nern, mit unſäglicher Freude. Sie war je¬ dem gegenwärtig, und ihre geheimnißvolle Anweſenheit ſchien alle zu verklären.

Die Erwartung war erfüllt und über¬ troffen. Alle merkten, was ihnen gefehlt ha¬ be, und das Zimmer war ein Aufenthalt der Seligen geworden. Sophie ſagte: das gro¬ ße Geheimniß iſt allen offenbart, und bleibt ewig unergründlich. Aus Schmerzen wird die neue Welt geboren, und in Thränen wird die Aſche zum Trank des ewigen Le¬ bens aufgelöſt. In jedem wohnt die himm¬ liſche Mutter, um jedes Kind ewig zu gebä¬ ren. Fühlt ihr die ſüße Geburt im Klopfen eurer Bruſt?

Sie goß in den Altar den Reſt aus der Schaale hinunter. Die Erde bebte in ihren330 Tiefen. Sophie ſagte: Eros, eile mit deiner Schweſter zu deiner Geliebten. Bald ſeht ihr mich wieder.

Fabel und Eros gingen mit ihrer Be¬ gleitung ſchnell hinweg. Es war ein mächti¬ ger Frühling über die Erde verbreitet. Alles hob und regte ſich. Die Erde ſchwebte nä¬ her unter dem Schleyer. Der Mond und die Wolken zogen mit frölichem Getümmel nach Norden. Die Königsburg ſtrahlte mit herrlichem Glanze über das Meer, und auf ihren Zinnen ſtand der König in voller Pracht mit ſeinem Gefolge. Überall erblick¬ ten ſie Staubwirbel, in denen ſich bekannte Geſtalten zu bilden ſchienen. Sie begegne¬ ten zahlreichen Schaaren von Jünglingen und Mädchen, die nach der Burg ſtrömten, und ſie mit Jauchzen bewillkommten. Auf manchen Hügeln ſaß ein glückliches eben er¬ wachtes Paar in lang 'entbehrter Umar¬331 mung, hielt die neue Welt für einen Traum, und konnte nicht aufhören, ſich von der ſchönen Wahrheit zu überzeugen.

Die Blumen und Bäume wuchſen und grünten mit Macht. Alles ſchien beſeelt. Alles ſprach und ſang. Fabel grüßte überall alte Bekannte. Die Thiere nahten ſich mit freundlichen Grüßen den erwachten Men¬ ſchen. Die Pflanzen bewirtheten ſie mit Früchten und Düften, und ſchmückten ſie auf das Zierlichſte. Kein Stein lag mehr auf einer Menſchenbruſt, und alle Laſten waren in ſich ſelbſt zu einem feſten Fußboden zu¬ ſammengeſunken. Sie kamen an das Meer. Ein Fahrzeug von geſchliffenem Stahl lag am Ufer feſtgebunden. Sie traten hinein und löſten das Tau. Die Spitze richtete ſich nach Norden, und das Fahrzeug durchſchnitt, wie im Fluge, die buhlenden Wellen. Lis¬332 pelndes Schilf hielt ſeinen Ungeſtüm auf, und es ſtieß leiſe an das Ufer. Sie eilten die breiten Treppen hinan. Die Liebe wun¬ derte ſich über die königliche Stadt und ihre Reichthümer. Im Hofe ſprang der lebendig¬ gewordne Quell, der Hain bewegte ſich mit den ſüßeſten Tönen, und ein wunderba¬ res Leben ſchien in ſeinen heißen Stäm¬ men und Blättern, in ſeinen funkelnden Blumen und Früchten zu quellen und zu treiben. Der alte Held empfing ſie an den Thoren des Pallaſtes. Ehrwür¬ diger Alter, ſagte Fabel, Eros bedarf dein Schwerdt. Gold hat ihm eine Kette gege¬ ben, die mit einem Ende in das Meer hin¬ unter reicht, und mit dem andern um ſeine Bruſt geſchlungen iſt. Faſſe ſie mit mir an, und führe uns in den Saal, wo die Prinzeſ¬ ſin ruht. Eros nahm aus der Hand des Alten das Schwerdt, ſetzte den Knopf auf333 ſeine Bruſt, und neigte die Spitze vorwärts. Die Flügelthüren des Saals flogen auf, und Eros nahte ſich entzückt der ſchlummernden Freya. Plötzlich geſchah ein gewaltiger Schlag. Ein heller Funken fuhr von der Prinzeſſin nach dem Schwerdte; das Schwerdt und die Kette leuchteten, der Held hielt die kleine Fabel, die beynah umgeſunken wäre. Eros Helmbuſch wallte empor. Wirf das Schwerdt weg, rief Fabel, und erwecke deine Geliebte. Eros ließ das Schwerdt fallen, flog auf die Prin¬ zeſſin zu, und küßte feurig ihre ſüßen Lippen. Sie ſchlug ihre großen dunkeln Augen auf, und erkannte den Geliebten. Ein langer Kuß verſiegelte den ewigen Bund.

Von der Kuppel herunter kam der Kö¬ nig mit Sophien an der Hand. Die Geſtir¬ ne und die Geiſter der Natur folgten in glänzenden Reihen. Ein unausſprechlich hei¬ trer Tag erfüllte den Saal, den Pallaſt, die334 Stadt, und den Himmel. Eine zahlloſe Menge ergoß ſich in den weiten königlichen Saal, und ſah mit ſtiller Andacht die Lie¬ benden vor dem Könige und der Königinn knieen, die ſie feyerlich ſegneten. Der König nahm ſein Diadem vom Haupte, und band es um Eros goldene Locken. Der alte Held zog ihm die Rüſtung ab, und der König warf ſeinen Mantel um ihn her. Dann gab er ihm die Lilie in die linke Hand, und So¬ phie knüpfte ein köſtliches Armband um die verſchlungenen Hände der Liebenden, indem ſie zugleich ihre Krone auf Freyas braune Haare ſetzte.

Heil unſern alten Beherrſchern, rief das Volk. Sie haben immer unter uns gewohnt, und wir haben ſie nicht erkannt! Heil uns! Sie werden uns ewig beherrſchen! Segnet uns auch! Sophie ſagte zu der neuen Köni¬ ginn: Wirf du das Armband eures Bundesin535[335]in die Luft, daß das Volk und die Welt euch verbunden bleiben. Das Armband zer¬ floß in der Luft, und bald ſah man lichte Ringe um jedes Haupt, und ein glänzendes Band zog ſich über die Stadt und das Meer und die Erde, die ein ewiges Feſt des Frühlings feyerte. Perſeus trat herein, und trug eine Spindel und ein Körbchen. Er brachte dem neuen Könige das Körbchen. Hier, ſagte er, ſind die Reſte deiner Feinde. Eine ſteinerne Platte mit ſchwarzen und wei¬ ßen Feldern lag darin, und daneben eine Menge Figuren von Alabaſter und ſchwar¬ zem Marmor. Es iſt ein Schachſpiel, ſagte Sophie; aller Krieg iſt auf dieſe Platte und in dieſe Figuren gebannt. Es iſt ein Denk¬ mal der alten trüben Zeit. Perſeus wandte ſich zu Fabel, und gab ihr die Spindel. In deinen Händen wird dieſe Spindel uns ewig erfreuen, und aus dir ſelbſt wirſt duY336uns einen goldnen unzerreißlichen Faden ſpinnen. Der Phönix flog mit melodiſchem Geräuſch zu ihren Füßen, ſpreizte ſeine Fit¬ tiche vor ihr aus, auf die ſie ſich ſetzte, und ſchwebte mit ihr über den Thron, ohne ſich wieder niederzulaſſen. Sie ſang ein himmli¬ ſches Lied, und fing zu ſpinnen an, indem der Faden aus ihrer Bruſt ſich hervorzuwin¬ den ſchien. Das Volk gerieth in neues Ent¬ zücken, und aller Augen hingen an dem lieb¬ lichen Kinde. Ein neues Jauchzen kam von der Thür her. Der alte Mond kam mit ſei¬ nem wunderlichen Hofſtaat herein, und hin¬ ter ihm trug das Volk Ginniſtan und ihren Bräutigam, wie im Triumph, ein¬ her.

Sie waren mit Blumenkränzen umwun¬ den; die königliche Familie empfing ſie mit der herzlichſten Zärtlichkeit, und das neue Königspaar rief ſie zu ſeinen Statthaltern auf Erden aus.

337

Gönnet mir, ſagte der Mond, das Reich der Parzen, deſſen ſeltſame Gebäude eben auf dem Hofe des Pallaſtes aus der Erde geſtiegen ſind. Ich will euch mit Schauſpie¬ len darin ergötzen, wozu die kleine Fabel mir behülflich ſeyn wird.

Der König willigte in die Bitte, die klei¬ ne Fabel nickte freundlich, und das Volk freu¬ te ſich auf den ſeltſamen unterhaltenden Zeit¬ vertreib. Die Hesperiden ließen zur Thronbe¬ ſteigung Glück wünſchen, und um Schutz in ihren Gärten bitten. Der König ließ ſie be¬ willkommen, und ſo folgten ſich unzählige fröliche Bothſchaften. Unterdeſſen hatte ſich unmerklich der Thron verwandelt, und war ein prächtiges Hochzeitbett geworden, über deſſen Himmel der Phönix mit der kleinen Fa¬ bel ſchwebte. Drey Karyatiden aus dunkelm Porphyr trugen es hinten, und vorn ruhte daſſelbe auf einer Sphinx aus Baſalt. Der338 König umarmte ſeine erröthende Geliebte, und das Volk folgte dem Beyſpiel des Kö¬ nigs, und liebkoſte ſich unter einander. Man hörte nichts, als zärtliche Namen und ein Kußgeflüſter. Endlich ſagte Sophie: Die Mutter iſt unter uns, ihre Gegenwart wird uns ewig beglücken. Folgt uns in un¬ ſere Wohnung, in dem Tempel dort werden wir ewig wohnen, und das Geheimniß der Welt bewahren. Die Fabel ſpann ämſig, und ſang mit lauter Stimme:

Gegründet iſt das Reich der Ewigkeit,
In Lieb 'und Frieden endigt ſich der Streit,
Vorüber ging der l〈…〉〈…〉 ge Traum der Schmer¬lb / > zen,
Sophie iſt ewig Prieſterin der Herzen.
[1]

Heinrich von Ofterdingen.

Zweiter Theil. Die Erfüllung.

A[2][3]

Das Kloſter, oder der Vorhof.

Aſtralis.

An einem Sommermorgen ward ich jung;
Da fühlt 'ich meines eignen Lebens Puls
Zum erſtenmal, und wie die Liebe ſich
In tiefere Entzückungen verlohr,
Erwacht' ich immer mehr, und das Verlangen
Nach innigerer, gänzlicher Vermiſchung
Ward dringender mit jedem Augenblick.
A 24
Wolluſt iſt meines Daſeyns Zeugungskraft.
Ich bin der Mittelpunkt, der heil'ge Quell,
Aus welchem jede Sehnſucht ſtürmiſch fließt,
Wohin ſich jede Sehnſucht, mannichfach
Gebrochen, wieder ſtill zuſammen zieht.
Ihr kennt mich nicht und ſaht mich werden.
Wart ihr nicht Zeugen, wie ich noch
Nachtwandler mich zum erſtenmale traf
An jenem frohen Abend? Flog euch nicht
Ein ſüßer Schauer der Entzündung an?
Verſunken lag ich ganz in Honigkelchen;
Ich duftete, die Blume ſchwankte ſtill
In goldner Morgenluft. Ein innres Quellen
War ich, ein ſanftes Ringen, alles floß
Durch mich und über mich und hob mich leiſe.
Da ſank das erſte Stäubchen in die Narbe,
Denkt an den Kuß nach aufgehobnem Tiſch.
Ich quoll in meine eigne Flut zurück
Es war ein Blitz, nun konnt 'ich ſchon mich regen,
5
Die zarten Fäden und den Kelch bewegen,
Schnell ſchoſſen, wie ich ſelber mich begann,
Zu ird'ſchen Sinnen die Gedanken an.
Noch war ich blind, doch ſchwankten lichte Sterne
Durch meines Weſens wunderbare Ferne,
Nichts war noch nah, ich fand mich nur von weiten,
Ein Anklang alter, ſo wie künft'ger Zeiten.
Aus Wehmuth, Lieb' und Ahndungen ent¬ ſprungen
War der Beſinnung Wachsthum nur ein Flug,
Und wie die Wolluſt Flammen in mir ſchlug,
Ward ich zugleich vom höchſten Weh durch¬ drungen.
Die Welt lag blühend um den hellen Hügel,
Die Worte des Propheten wurden Flügel,
Nicht einzeln mehr nur Heinrich und Mathilde
Vereinten Beide ſich zu Einem Bilde.
Ich hob mich nun gen Himmel neugebohren,
6
Vollendet war das irdiſche Geſchick
Im ſeligen Verklärungs-Augenblick,
Es hatte nun die Zeit ihr Recht verlohren,
Und forderte, was ſie geliehn, zurück.
Es bricht die neue Welt herein
Und verdunkelt den hellſten Sonnenſchein,
Man ſieht nun aus bemooſten Trümmern
Eine wunderſeltſame Zukunft ſchimmern,
Und was vordem alltäglich war
Scheint jetzo fremd und wunderbar.
Der Liebe Reich iſt aufgethan,
Die Fabel fängt zu ſpinnen an.
Das Urſpiel jeder Natur beginnt,
Auf kräftige Worte jedes ſinnt,
Und ſo das große Weltgemüth
Überall ſich regt und unendlich blüht.
Alles muß in einander greifen,
Eins durch das Andre gedeihn und reifen;
Jedes in Allen dar ſich ſtellt,
Indem es ſich mit ihnen vermiſchet
7
Und gierig in ihre Tiefen fällt,
Sein eigenthümliches Weſen erfriſchet
Und tauſend neue Gedanken erhält.
Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt,
Und was man glaubt es ſei geſchehn,
Kann man von weitem erſt kommen ſehn.
Frei ſoll die Fantaſie erſt ſchalten,
Nach ihrem Gefallen die Fäden verweben,
Hier manches verſchleiern, dort manches ent¬ falten,
Und endlich in magiſchen Dunſt verſchweben.
Wehmuth und Wolluſt, Tod und Leben
Sind hier in innigſter Sympathie,
Wer ſich der höchſten Lieb 'ergeben,
Geneſt von ihren Wunden nie.
Schmerzhaft muß jenes Band zerreißen
Was ſich ums innre Auge zieht,
Einmal das treuſte Herz verwaiſen,
Eh' es der trüben Welt entflieht.
Der Leib wird aufgelöſt in Thränen,
8
Zum weiten Grabe wird die Welt,
In das, verzehrt von bangem Sehnen,
Das Herz, als Aſche, niederfällt.
[9]

Auf dem ſchmalen Fußſteige, der ins Ge¬ birg hinauflief, ging ein Pilgrim in tiefen Gedanken. Mittag war vorbei, ein ſtarker Wind ſauſte durch die blaue Luft, ſeine dumpfen, mannigfaltigen Stimmen verlohren ſich, wie ſie kamen. War er vielleicht durch die Gegenden der Kindheit geflogen, oder durch andre redende Länder? Es waren Stimmen, deren Echo nach im Innerſten klang, und dennoch ſchien ſie der Pilgrim nicht zu kennen. Er hatte nun das Gebirg erreicht, wo er das Ziel ſeiner Reiſe zu fin¬10 den hoffte. Hoffte? Er hoffte gar nichts mehr. Die entſetzliche Angſt und dann die trockne Kälte der gleichgültigſten Verzweiflung trieben ihn, die wilden Schreckniſſe des Gebirgs aufzuſuchen; der mühſeligſte Gang beruhigte das zerſtörende der innern Gewalten. Er war matt, aber ſtill. Noch ſah er nichts, was um ihn her ſich allmählig gehäuft hatte, als er ſich auf einen Stein ſetzte und den Blick rück¬ wärts wandte. Es dünkte ihm, als träume er jezt, oder habe er geträumt. Eine un¬ überſehliche Herrlichkeit ſchien ſich vor ihm aufzuthun. Bald floſſen ſeine Thränen, in¬ dem ſein Innres plötzlich brach; er wollte ſich in der Ferne verweinen, daß auch keine Spur ſeines Daſeyns übrig bliebe. Unter dem heftigen Schluchzen ſchien er zu ſich ſelbſt zu kommen, die weiche heitre Luft durchdrang ihn, ſeinen Sinnen ward die11 Welt wieder gegenwärtig, und alle Gedan¬ ken fingen tröſtlich zu reden an.

Dort lag Augsburg mit ſeinen Thür¬ men, fern am Geſichtskreis blinkte der Spiegel des furchtbaren geheimnißvollen Stroms; der ungeheure Wald bog ſich mit tröſtlichem Ernſt zu dem Wanderer, das ge¬ zackte Gebürg ruhte ſo bedeutend über der Ebene, und beide ſchienen zu ſagen: Eile nur, Strom, du entfliehſt uns nicht; ich will dir folgen mit geflügelten Schiffen; ich will dich brechen und halten und dich ver¬ ſchlucken in meinen Schooß! vertraue du uns, Pilgrim, er iſt auch unſer Feind, den wir ſelbſt erzeugten, laß ihn eilen mit ſeinem Raub, er entflieht uns nicht.

Der arme Pilgrim gedachte der alten Zeiten und ihrer unſäglichen Entzückungen, aber wie matt gingen dieſe köſtlichen Erin¬ nerungen vorüber. Der breite Hut verdeckte12 ein jugendliches Geſicht, es war bleich, wie eine Nachtblume: in Thränen hatte ſich der Balſamſaft des jungen Lebens, in tiefe Seufzer ſein ſchwellender Hauch verwandelt, in ein fahles Aſchgrau waren alle ſeine Far¬ ben verſchoſſen.

Seitwärts am Gehänge ſchien ihm ein Mönch unter einem allen Eichbaum zu knie¬ en. Sollte das der alte Hofkaplan ſeyn? ſo dachte er bei ſich ohne große Verwunde¬ rung. Der Mönch kam ihm größer und ungeſtalter vor, je näher er zu ihm trat; er merkte nun ſeinen Irrthum, denn es war ein einzelner Felſen, über den ſich der Baum herbog. Stillgerührt faßte er den Stein in ſeine Arme, und drückte ihn lautweinend an ſeine Bruſt. Ach daß doch jezt deine Reden ſich bewährten, und die heilige Mut¬ ter ein Zeichen an mir thäte! Bin ich doch ſo ganz elend und verlaſſen. Wohnt in13 meiner Wüſte kein Heiliger, der mir ſein Gebet liehe? Bete du, theurer Vater, jezt in dieſem Augenblick für mich.

Wie er ſo bei ſich dachte, fing der Baum an zu zittern, dumpf dröhnte der Felſen, und wie aus tiefer unterirdiſcher Ferne erhoben ſich einige klare Stimmchen und ſangen:

Ihr Herz war voller Freuden,
Von Freuden ſie nur wußt ',
Sie wußt' von keinen Leiden
Drückt's Kindelein an ihr 'Bruſt.
Sie küßt ihm ſeine Wangen,
Sie küßt es mannichfalt,
Mit Liebe ward ſie umfangen
Durch Kindeleins ſchöne Geſtalt.

Die Stimmchen ſchienen mit unendlicher Luſt zu ſingen. Sie wiederholten den Vers einigemal. Es ward alles wieder ruhig, und14 nun hörte der erſtaunte Pilger, daß jemand aus dem Baume ſagte:

Wenn du ein Lied zu meinen Ehren auf deiner Laute ſpielen wirſt, ſo wird ein armes Mädchen herfür kommen; nimm ſie mit und laß ſie nicht von dir; gedenke meiner, wenn du zum Kaiſer kommſt: ich habe mir dieſe Stätte auserſehen, um mit meinem Kindlein hier zu wohnen, laß mir ein ſtarkes, war¬ mes Haus hier bauen. Mein Kindlein hat den Tod überwunden; härme dich nicht, ich bin bei dir: du wirſt noch eine Weile auf Erden bleiben, aber das Mädchen wird dich tröſten, bis du auch ſtirbſt und zu un¬ ſern Freuden eingehſt.

Es iſt Mathildens Stimme! rief der Pilger und fiel auf ſeine Kniee, um zu beten. Da drang durch die Äſte ein langer Stral zu ſeinen Augen und er ſah durch den Stral in eine ferne kleine wunderſame Herrlichkeit15 hinein, welche nicht zu beſchreiben, noch kunſtreich mit Farben nachzubilden möglich geweſen wäre. Es waren überaus feine Fi¬ guren, und die innigſte Luſt und Freude, ja eine himmliſche Glückſeligkeit war darinn überall zu ſchauen, ſogar daß die lebloſen Gefäße, das Säulwerk, die Teppiche, Zier¬ rathen und alles, was zu ſehen war, nicht gemacht, ſondern wie ein vollſaftiges Kraut alſo gewachſen und zuſammen gekommen zu ſeyn ſchien. Es waren die ſchönſten menſch¬ lichen Geſtalten, die dazwiſchen umher gin¬ gen und ſich über die Maaßen freund¬ lich und holdſelig gegeneinander erzeigten. Ganz vorn ſtand die Geliebte des Pilgers, und es hatte das Anſehn, als wolle ſie mit ihm ſprechen, doch war nichts zu hören; und der Pilger betrachtete nur mit tiefer Sehnſucht ihre anmuthigen Züge, und wie ſie ſo freundlich und lächelnd ihm zuwinkte,16 und die Hand auf ihre linke Bruſt legte. Der Anblick war unendlich tröſtend und er¬ quickend, und der Pilger lag noch lang in heiliger Entzückung, als die[Erſcheinung] wieder hinweggenommen war. Der heilige Strahl hatte alle Schmerzen und Bekümmer¬ niſſe aus ſeinem Herzen geſogen, ſo daß ſein Gemüth wieder rein und leicht, und ſein Geiſt wieder frei und frölich war wie vordem. Nichts war übrig geblieben, als ein ſtilles inniges Sehnen, und ein wehmüthiger Klang im Aller-Innerſten: aber die wilden Qualen der Einſamkeit, die herbe Pein eines unſäglichen Verluſtes, die trübe entſetzliche Leere, die irdiſche Ohnmacht war gewichen, und der Pilgrim ſah ſich wieder in einer vollen bedeutſamen Welt. Stimme und Sprache waren wieder lebendig bei ihm ge¬ worden, und es dünkte ihm nunmehr alles viel bekannter und weißagender als ehemals,ſo17ſo daß ihm der Tod wie eine höhere Offen¬ barung des Lebens erſchien, und er ſein eige¬ nes, ſchnell vorübergehendes Daſeyn mit kindlicher heiterer Rührung betrachtete. Zu¬ kunft und Vergangenheit hatten ſich in ihm berührt und einen innigen Verein geſchloſſen; er ſtand weit außer der Gegenwart und die Welt ward ihm erſt theuer, als er ſie verloh¬ ren hatte, und ſich nur als Fremdling in ihr fand, der ihre weiten bunten Säle noch eine kurze Weile durchwandern ſollte. Es war Abend geworden, und die Erde lag vor ihm wie ein altes liebes Wohnhaus, das er nach langer Entfernung wiederfände. Tau¬ ſend Erinnerungen wurden ihm gegenwärtig; jeder Stein, jeder Baum, jede Anhöhe wollte wieder gekannt ſeyn, jedes war das Merk¬ mal einer alten Geſchichte.

Der Pilger ergriff ſeine Laute und ſang:

B18
Liebeszähren, Liebesflammen,
Fließt zuſammen;
Heiligt dieſe Wunderſtäten,
Wo der Himmel mir erſchienen;
Schwärmt um dieſen Baum wie Bienen,
In unzähligen Gebeten.
Er hat froh ſie aufgenommen,
Als ſie kommen,
Sie geſchützt vor Ungewittern;
Sie wird einſt in ihrem Garten
Ihn begießen und ihn warten,
Wunder thun mit ſeinen Splittern.
Auch der Felſen iſt geſunken
Freudetrunken
Zu der ſelgen Mutter Füßen.
Iſt die Andacht auch in Steinen,
Sollte da der Menſch nicht weinen
Und ſein Blut für ſie vergießen?
19
Die Bedrängten müſſen ziehen
Und hier knieen;
Alle werden hier geneſen.
Keiner wird fortan noch klagen,
Alle werden fröhlich ſagen:
Einſt ſind wir betrübt geweſen.
Ernſte Mauern werden ſtehen
Auf den Höhen.
In den Thälern wird man rufen,
Wenn die ſchwerſten Zeiten kommen:
Keinem ſei das Herz beklommen,
Nur hinan zu jenen Stufen!
Gottes Mutter und Geliebte,
Der Betrübte
Wandelt nun verklärt von hinnen.
Ew'ge Güte, ew'ge Milde,
O! ich weiß, du biſt Mathilde,
Und das Ziel von meinem Sinnen.
B 220
Ohne mein verwegnes Fragen
Wirſt mir ſagen,
Wann ich zu dir ſoll gelangen.
Gern will ich in tauſend Weiſen
Noch der Erde Wunder preiſen,
Bis du kommſt, mich zu umfangen.
Alte Wunder, künft'ge Zeiten,
Seltſamkeiten,
Weichet nie aus meinem Herzen.
Unvergeßlich ſei die Stelle,
Wo des Lichtes heil'ge Quelle
Weggeſpühlt den Traum der Schmerzen.

Unter ſeinem Geſang war er nichts ge¬ wahr worden; wie er aber aufſah, ſtand ein junges Mädchen nahe bei ihm am Fel¬ ſen, die ihn freundlich wie einen alten Be¬ kannten grüßte, und ihn einlud mit zu ihrer21 Wohnung zu gehn, wo ſie ihm ſchon ein Abendeſſen zubereitet habe. Ihr ganzes Weſen und Thun war ihm befreundet. Sie bat ihn, noch einige Augenblicke zu ver¬ ziehn, trat unter den Baum, ſah mit einem unausſprechlichen Lächeln hinauf und ſchütte¬ te aus ihrer Schürze viele Roſen auf das Gras. Sie kniete ſtill daneben, ſtand aber bald wieder auf und führte den Pilger fort.

Wer hat mir von dir geſagt? frug der Pilgrim.

Unſre Mutter.

Wer iſt deine Mutter?

Die Mutter Gottes.

Seit wann biſt du hier?

Seitdem ich aus dem Grabe gekommen bin.

Warſt du ſchon einmal geſtorben? 22Wie könnt 'ich denn leben?

Lebſt du hier ganz allein?

Ein alter Mann iſt zu Hauſe, doch kenn 'ich noch viele, die gelebt haben.

Haſt du Luſt bei mir zu bleiben?

Ich habe dich ja lieb.

Woher kennſt du mich?

O! von alten Zeiten; auch erzählte mir meine ehmalige Mutter zeither immer von dir.

Haſt du noch eine Mutter?

Ja, aber es iſt eigentlich dieſelbe.

Wie hieß ſie?

Maria.

Wer war dein Vater?

Der Graf von Hohenzollern.

Den kenn 'ich auch.

Wohl mußt du ihn kennen, denn er iſt auch dein Vater.

Mein Vater iſt in Eiſenach. 23Du haſt mehr Eltern.

Wo gehen wir denn hin?

Immer nach Hauſe.

Sie waren jezt auf einen geräumigen Platz im Holze gekommen, auf welchem ei¬ nige verfallene Thürme hinter tiefen Gräben ſtanden. Junges Gebüſch ſchlang ſich um die alten Mauern, wie ein jugendlicher Kranz um das Silberhaupt eines Greiſes. Man ſah in die Unermeßlichkeit der Zeiten, und erblickte die weiteſten Geſchichten in kleine glänzende Minuten zuſammen gezo¬ gen, wenn man die grauen Steine, die blitz¬ ähnlichen Riſſe, und die hohen, ſchaurigen Geſtalten betrachtete. So zeigt uns der Himmel unendliche Räume in dunkles Blau gekleidet und wie milchfarbne Schimmer, ſo unſchuldig wie die Wangen eines Kindes, die fernſten Heere ſeiner ſchweren ungeheu¬ ren Welten. Sie gingen durch einen alten24 Thorweg, und der Pilger war nicht wenig erſtaunt, als er ſich nun von lauter ſeltenen Gewächſen umringt und die Reize des anmu¬ thigſten Gartens unter dieſen Trümmern ver¬ ſteckt ſah. Ein kleines ſteinernes Häuschen von neuer Bauart mit großen Fenſtern lag dahinter. Dort ſtand ein alter Mann hinter den breitblättrigen Stauden und band die ſchwanken Zweige an Stäbchen. Den Pil¬ grim führte ſeine Begleiterinn zu ihm und ſagte: Hier iſt Heinrich, nach dem du mich oft gefragt haſt.

Wie ſich der Alte zu ihm wandte, glaubte Heinrich den Bergmann vor ſich zu ſehn. Du ſiehſt den Arzt Sylveſter, ſagte das Mädchen.

Sylveſter freute ſich ihn zu ſehn und ſprach: Es iſt eine geraume Zeit her, daß ich deinen Vater eben ſo jung bei mir ſah. Ich ließ es mir damals angelegen ſeyn, ihn25 mit den Schätzen der Vorzeit, mit der koſt¬ baren Hinterlaſſenſchaft einer zu früh abge¬ ſchiedenen Welt bekannt zu machen. Ich bemerkte in ihm die Anzeichen eines großen Bildkünſtlers, ſein Auge regte ſich voll Luſt, ein wahres Auge, ein ſchaffendes Werkzeug zu werden; ſein Geſicht zeigte von innerer Feſtigkeit und ausdauerndem Fleiß, aber die gegenwärtige Welt hatte zu tiefe Wurzeln ſchon bei ihm geſchlagen, er wollte nicht Achtung geben auf den Ruf ſeiner eigenſten Natur, die trübe Strenge ſeines vaterlän¬ diſchen Himmels hatte die zarten Spitzen der edelſten Pflanze in ihm verdorben, er ward ein geſchickter Handwerker, und die Begeiſte¬ rung iſt ihm zur Thorheit geworden.

Wohl, verſetzte Heinrich, habe ich in ihm oft mit Schmerzen eine ſtille Wehmuth be¬ merkt. Er arbeitete unaufhörlich aus Ge¬ wohnheit und nicht aus innerer Luſt, es26 ſcheint ihm etwas zu fehlen, was die fried¬ liche Stille ſeines Lebens, die Bequemlich¬ keiten ſeines Auskommens, die Freude ſich geehrt und geliebt von ſeinen Mitbürgern zu ſehn, und in allen Stadtangelegenheiten zu Rathe gezogen zu werden, ihm nicht er¬ ſetzen kann. Seine Bekannten halten ihn für ſehr glüklich, aber ſie wiſſen nicht, wie lebensſatt er iſt, wie leer ihm oft die Welt vorkommt, wie ſehnlich er ſich hinweg wünſcht, und wie er nicht aus Erwerbluſt, ſondern um dieſe Stimmung zu verſcheuchen, ſo fleißig arbeitet.

Was mich am meiſten wundert, verſetzte Sylveſter, iſt, daß er eure Erziehung ganz in den Händen eurer Mutter gelaſſen hat, und ſorgfältig ſich gehütet, in eure Entwick¬ lung ſich zu miſchen, oder euch zu irgend einem beſtimmten Stande anzuhalten. Ihr habt von Glück zu ſagen, daß ihr habt27 aufwachſen dürfen ohne von euren Eltern die mindeſte Beſchränkung zu leiden, denn die meiſten Menſchen ſind nur Überbleibſel eines vollen Gaſtmals, daß Menſchen von verſchiedenen Appetit und Geſchmack geplün¬ dert haben.

Ich weiß ſelbſt nicht, erwiederte Heinrich, was Erziehung heißt, wenn es nicht das Leben und die Sinnesweiſe meiner Eltern iſt, oder der Unterricht meines Lehrers, des Hof¬ kaplans. Mein Vater ſcheint mir, bei aller ſeiner kühlen und durchaus feſten Denkungs¬ art, die ihn alle Verhältniſſe wie ein Stück Metall und eine künſtliche Arbeit anſehn läßt, doch unwillkührlich und ohne es ſelbſt zu wiſſen, eine ſtille Ehrfurcht und Gottes¬ furcht vor allen unbegreiflichen und höhern Erſcheinungen zu haben, und daher das Auf¬ blühen eines Kindes mit demüthiger Selbſt¬ verleugnung zu betrachten. Ein Geiſt iſt28 hier geſchäftig, der friſch aus der unendli¬ chen Quelle kommt, und dieſes Gefühl der Überlegenheit eines Kindes in den allerhöch¬ ſten Dingen, der unwiderſtehliche Gedanke einer nähern Führung dieſes unſchuldigen Weſens, das jezt im Begriff ſteht, eine ſo bedenkliche Laufbahn anzutreten, das Ge¬ präge einer wunderbaren Welt, was noch keine irdiſche Flut unkenntlich gemacht hat, und endlich die Sympathie der Selbſt-Er¬ innerung jener fabelhaften Zeiten, wo die Welt uns heller, freundlicher und ſeltſamer dünkte, und der Geiſt der Weißagung faſt ſichtbar uns begleitete, alles dies hat meinen Vater gewiß zu der andächtigſten und be¬ ſcheidenſten Behandlung vermocht.

Laß uns hieher auf die Raſenbank un¬ ter die Blumen ſetzen, unterbrach ihn der Alte; Cyane wird uns rufen, wenn unſer Abendeſſen bereit iſt, und wenn ich euch bit¬29 ten darf, ſo fahrt fort, mir von eurem frü¬ heren Leben etwas zu erzählen. Wir Alten hören am liebſten von den Kinderjahren re¬ den, und es dünkt mich, als ließt ihr mich den Duft einer Blume einziehn, den ich ſeit meiner Kindheit nicht wieder eingeathmet hätte. Nur ſagt mir noch vorher, wie euch meine Einſiedeley und mein Garten gefällt, denn dieſe Blumen ſind meine Freundinnen, mein Herz iſt in dieſem Garten. Ihr ſeht nichts, was mich nicht liebt, und von mir nicht zärtlich geliebt wird, ich bin hier mit¬ ten unter meinen Kindern und komme mir vor wie ein alter Baum, aus deſſen Wur¬ zeln dieſe muntre Jugend ausgeſchlagen ſei.

Glüklicher Vater, ſagte Heinrich, euer Garten iſt die Welt. Ruinen ſind die Müt¬ ter dieſer blühenden Kinder, die bunte, le¬ bendige Schöpfung zieht ihre Nahrung aus den Trümmern vergangener Zeiten. Aber30 mußte die Mutter ſterben, damit die Kinder gedeihen können, und bleibt der Vater zu ewigen Thränen allein an ihrem Grabe ſitzen?

Sylveſter reichte dem ſchluchzenden Jünglinge die Hand, und ſtand auf, um ihm ein eben aufgeblühtes Vergißmeinnicht zu hohlen, das er an einen Cypreſſenzweig band und ihm brachte. Wunderlich rührte der Abendwind die Wipfel der Kiefern, die jenſeits der Ruinen ſtanden, ihr dumpfes Brauſen tönte herüber. Heinrich verbarg ſein Geſicht in Thränen an dem Halſe des guten Sylveſter, und wie er ſich wieder er¬ hob, trat eben der Abendſtern in voller Glo¬ rie über den Wald herüber.

Nach einiger Stille fing Sylveſter an: Ich möchte euch wohl in Eiſenach unter eu¬ ren Geſpielen geſehn haben, eure Eltern, die vortreffliche Landgräfin, die biedern31 Nachbarn euers Vaters, und der alte Hof¬ kaplan machen eine ſchöne Geſellſchaft aus. Ihre Geſpräche müſſen frühzeitig auf euch gewirkt haben, beſonders da ihr das einzige Kind wart. Auch ſtell 'ich mir die Gegend äußerſt anmuthig und bedeutſam vor.

Ich lerne, verſetzte Heinrich, meine Ge¬ gend erſt recht kennen, ſeit ich weg bin und viele andere Gegenden geſehn habe. Jede Pflanze, jeder Baum, jeder Hügel und Berg hat ſeinen beſondern Geſichtskreis, ſei¬ ne eigenthümliche Gegend, ſie gehört zu ihm, und ſein Bau, ſeine ganze Beſchaffen¬ heit wird durch ſie erklärt. Nur das Thier und der Menſch können zu allen Gegenden kommen, alle Gegenden ſind die ihrigen. So machen alle zuſammen eine große Welt¬ gegend, einen unendlichen Geſichtskreis aus, deſſen Einfluß auf den Menſchen und das Thier eben ſo ſichtbar iſt, wie der Einfluß32 der engeren Umgebung auf die Pflanze. Daher Menſchen die viel gereiſt ſind, Zug¬ vögel und Raubthiere, unter den Übrigen ſich durch beſondern Verſtand und andre wunderbare Gaben auszeichnen. Doch giebt es auch gewiß mehr oder weniger Fähigkeit unter ihnen, von dieſen Weltkreiſen und ih¬ rem mannigfaltigen Inhalt und ihrer Ord¬ nung gerührt und gebildet zu werden. Auch fehlt wohl manchen Menſchen die nöthige Aufmerkſamkeit und Gelaſſenheit, um den Wechſel der Gegenſtände und ihre Zuſam¬ menſtellung erſt gehörig zu betrachten, und dann darüber nachzudenken, und die nöthi¬ gen Vergleichungen vorzunehmen. Oft fühl 'ich jezt, wie mein Vaterland meine früheſten Gedanken mit unvergänglichen Farben ange¬ haucht hat, und ſein Bild eine ſeltſame An¬ deutung meines Gemüthes geworden iſt, die ich immer mehr errathe, je tiefer ich einſehe,daß33daß Schickſal und Gemüth Nahmen Eines Begriffes ſind.

Auf mich, ſagte Sylveſter, hat freilich die lebendige Natur, die regſame Überklei¬ dung der Gegend, immer am meiſten ge¬ wirkt. Ich bin nicht müde geworden, be¬ ſonders die verſchiedene Pflanzennatur auf das ſorgfältigſte zu betrachten. Die Ge¬ wächſe ſind ſo die unmittelbarſte Sprache des Bodens, jedes neue Blatt, jede ſonder¬ bare Blume iſt irgend ein Geheimniß, das ſich hervordrängt, und das, weil es ſich vor Liebe und Luſt nicht bewegen und nicht zu Worten kommen kann, eine ſtumme, ruhige Pflanze wird. Findet man in der Einſamkeit eine ſolche Blume, iſt es da nicht, als wäre alles umher verklärt und hielten ſich die kleinen befiederten Töne am liebſten in ihrer Nähe auf? Man möchte für Freuden weinen, und abgeſondert vonC34der Welt nur ſeine Hände und Füße in die Erde ſtecken, um Wurzeln zu treiben, und nie dieſe glükliche Nachbarſchaft zu verlaſſen. Über die ganze trockne Welt iſt dieſer grüne, geheimnißvolle Teppich der Liebe gezogen. Mit jedem Frühjahr wird er er¬ neuert, und ſeine ſeltſame Schrift iſt nur dem Geliebten lesbar, wie der Blumen¬ ſtrauß des Orients; ewig wird er leſen, und ſich nicht ſatt leſen, und täglich neue Be¬ deutungen, neue entzückende Offenbarun¬ gen der liebenden Natur gewahr werden. Dieſer unendliche Genuß iſt der geheime Reitz, den die Begehung der Erdfläche für mich hat, indem eine jede Gegend andre Räthſel löſet, und mich immer mehr erra¬ then läßt, woher der Weg komme und wo¬ hin er gehe.

Ja, ſagte Heinrich, wir haben von Kin¬ derjahren angefangen zu reden, und von35 der Erziehung, weil wir in euren Gärten waren und die eigentliche Offenbarung der Kindheit, die unſchuldige Blumenwelt, un¬ merklich in unſer Gedächeniß und auf unſre Lippen die Erinnerung der alten Bekannt¬ ſchaft brachte. Mein Vater iſt auch ein großer Freund des Gartenlebens und die glüklichſten Stunden ſeines Lebens bringt er unter den Blumen zu. Dies hat auch gewiß ſeinen Sinn für die Kinder ſo offen erhal¬ ten, da Blumen die Ebenbilder der Kinder ſind. Den vollen Reichthum des unendlichen Lebens, die gewaltigen Mächte der ſpätern Zeit, die Herrlichkeit des Weltendes, und die goldene Zukunft aller Dinge ſehen wir hier noch innig in einander verſchlungen, aber doch auf das deutlichſte und klarſte in zarter Verjüngung. Schon treibt die allmächtige Liebe, aber ſie zündet noch nicht: es iſt kei¬ ne verzehrende Flamme, es iſt ein zerrinnen¬C 236der Duft, und ſo innig die Vereinigung der zärtlichen Seelen auch iſt, ſo iſt ſie doch von keiner heftigen Bewegung und keiner freſ¬ ſenden Wuth begleitet, wie bei den Thieren. So iſt die Kindheit in der Tiefe zunächſt an der Erde, da hingegen die Wolken vielleicht die Erſcheinungen der zweiten, höheren Kindheit, des wiedergefundenen Paradieſes ſind, und darum ſo wohlthätig auf die Erſtere herunter thauen.

Es iſt gewiß etwas ſehr geheimnißvolles in den Wolken, ſagte Sylveſter, und eine gewiſſe Bewölkung hat oft einen ganz wun¬ derbaren Einfluß auf uns. Sie ziehen, und wollen uns mit ihrem kühlen Schatten auf und davon nehmen, und wenn ihre Bil¬ dung lieblich und bunt, wie ein ausgehauch¬ ter Wunſch unſers Innern iſt, ſo iſt auch ihre Klarheit, das herrliche Licht, was dann auf Erden herrſcht, wie die Vorbedeutung37 einer unbekannten, unſäglichen Herrlichkeit. Aber es giebt auch düſtere und ernſte und entſezliche Umwölkungen, in denen alle Schrecken der alten Nacht zu drohen ſchei¬ nen: nie ſcheint ſich der Himmel wieder aufheitern zu wollen, das heitre Blau iſt vertilgt, und ein fahles Kupferroth auf ſchwarzgrauem Grunde weckt Grauen und Angſt in jeder Bruſt. Wenn dann die ver¬ derblichen Strahlen herunterzucken und mit höhniſchem Gelächter die ſchmetternden Don¬ nerſchläge hinter drein fallen, ſo werden wir bis ins Innerſte beängſtigt, und wenn in uns dann nicht das erhabne Gefühl unſrer ſittlichen Obermacht entſteht, ſo glauben wir den Schrekniſſen der Hölle, der Gewalt böſer Geiſter überliefert zu ſeyn. Es ſind Nachhalle der alten unmenſchlichen Natur, aber auch weckende Stimmen der höheren Natur, des himmliſchen Gewiſſens in uns.

38

Das Sterbliche dröhnt in ſeinen Grundveſten, aber das Unſterbliche fängt heller zu leuch¬ ten an, und erkennt ſich ſelbſt.

Wann wird es doch, ſagte Heinrich, gar keiner Schrecken, keiner Schmerzen, keiner Noth und keines Übels mehr im Weltall be¬ dürfen?

Wenn es nur eine Kraft giebt, die Kraft des Gewiſſens, wenn die Natur züchtig und ſittlich geworden iſt. Es giebt nur Eine Urſache des Übels, die allge¬ meine Schwäche, und dieſe Schwäche iſt nichts, als geringe ſittliche Empfänglichkeit und Mangel an Reitz der Freiheit.

Macht mir doch die Natur des Gewiſ¬ ſens begreiflich.

Wenn ich das könnte, ſo wäre ich Gott, denn indem man das Gewiſſen begreift entſteht es. Könnt ihr mir das Weſen der Dichtkunſt begreiflich machen?

39

Etwas Perſönliches läßt ſich nicht be¬ ſtimmt abfragen.

Wie viel weniger alſo das Geheimniß der höchſten Untheilbarkeit. Läßt ſich Mu¬ ſik dem Tauben erklären?

Alſo wäre der Sinn ein Antheil an der neuen durch ihn eröffneten Welt ſelbſt? Man verſtände die Sache nur, wenn man ſie hätte?

Das Weltall zerfällt in unendliche, im¬ mer von größern Welten wieder befaßte Welten. Alle Sinne ſind am Ende Ein Sinn. Ein Sinn führt wie Eine Welt all¬ mählig zu allen Welten. Aber alles hat ſeine Zeit und ſeine Weiſe. Nur die Perſon des Weltalls vermag das Verhältniß unſrer Welt einzuſehn. Es iſt ſchwer zu ſagen, ob wir innerhalb der ſinnlichen Schranken unſers Körpers wirklich unſre Welt mit neuen Welten, unſre Sinne mit neuen Sin¬40 nen vermehren können, oder ob jeder Zu¬ wachs unſrer Erkenntniß, jede neue erworbe¬ ne Fähigkeit nur zur Ausbildung unſers ge¬ genwärtigen Weltſinns zu rechnen iſt.

Vielleicht iſt beides Eins, ſagte Heinrich. Ich weiß nur ſo viel, daß für mich die Fa¬ bel Geſammtwerkzeug meiner gegenwärtigen Welt iſt. Selbſt das Gewiſſen, dieſe Sinn - und Weltenerzeugende Macht, dieſer Keim aller Perſönlichkeit, erſcheint mir wie der Geiſt des Weltgedichts, wie der Zufall der ewigen romantiſchen Zuſammenkunft des unendlich veränderlichen Geſammtlebens.

Werther Pilger, verſetzte Sylveſter, das Gewiſſen erſcheint in jeder ernſten Vollen¬ dung, in jeder gebildeten Wahrheit. Jede durch Nachdenken zu einem Weltbild umge¬ arbeitete Neigung und Fertigkeit wird zu ei¬ ner Erſcheinung, zu einer Verwandlung des Gewiſſens. Alle Bildung führt zu dem,41 was man nicht anders wie Freiheit nennen kann, ohnerachtet damit nicht ein bloßer Begriff, ſondern, der ſchaffende Grund alles Daſeyns bezeichnet werden ſoll. Dieſe Frei¬ heit iſt Meiſterſchaft. Der Meiſter übt freie Gewalt nach Abſicht und in beſtimmter und überdachter Folge aus. Die Gegenſtände ſeiner Kunſt ſind ſein, und ſtehen in ſeinem Belieben, und er wird von ihnen nicht gefeſſelt oder gehemmt. Und gerade dieſe allumfaſ¬ ſende Freiheit, Meiſterſchaft oder Herrſchaft iſt das Weſen, der Trieb des Gewiſſens. In ihm offenbart ſich die heilige Eigenthüm¬ lichkeit, das unmittelbare Schaffen der Per¬ ſönlichkeit, und jede Handlung des Meiſters iſt zugleich Kundwerdung der hohen, ein¬ fachen, unverwickelten Welt, Gottes Wort.

Alſo iſt auch das, was ehemals, wie mich däucht Tugendlehre genannt wurde, nur die42 Religion, als Wiſſenſchaft, die ſogenannte Theologie im eigentlichen Sinne? Nur eine Geſetzordnung, die ſich zur Gottesverehrung verhält, wie die Natur zu Gott? Ein Wortbau, eine Gedankenfolge, welche die Oberwelt bezeichnet, vorſtellt und ſie auf ei¬ ner gewiſſen Stufe der Bildung vertritt? Die Religion für das Vermögen der Einſicht und des Urtheils? der Richtſpruch, das Ge¬ ſetz der Auflöſung und Beſtimmung aller möglichen Verhältniſſe eines perſönlichen Weſens?

Allerdings iſt das Gewiſſen, ſagte Syl¬ veſter, der eingebohrne Mittler jedes Men¬ ſchen. Es vertritt die Stelle Gottes auf Er¬ den, und iſt daher Vielen das Höchſte und Letzte. Aber wie entfernt war die bisherige Wiſſenſchaft, die man Tugend - oder Sitten¬ lehre nannte, von der reinen Geſtalt dieſes erhabenen, weltumfaſſenden perſönlichen Ge¬43 dankens. Das Gewiſſen iſt der Menſchen ei¬ genſtes Weſen in voller Verklärung, der himmliſche Urmenſch. Es iſt nicht dies und jenes, es gebietet nicht in allgemeinen Sprü¬ chen, es beſteht nicht aus einzelnen Tugen¬ den. Es giebt nur Eine Tugend, den reinen, ernſten Willen, der im Augenblick der Entſcheidung unmittelbar ſich entſchließt und wählt. In lebendiger, eigenthümlicher Untheilbarkeit bewohnt es und beſeelt es das zärtliche Sinnbild des menſchlichen Kör¬ pers, und vermag alle geiſtigen Gliedma¬ ßen in die wahrhafteſte Thätigkeit zu ver¬ ſetzen.

O trefflicher Vater! unterbrach ihn Heinrich, mit welcher Freude erfüllt mich das Licht, das aus euren Worten ausgeht! Alſo iſt der wahre Geiſt der Fabel eine freund¬ liche Verkleidung des Geiſtes der Tugend, und der eigentliche Geiſt der untergeordneten44 Dichtkunſt, die Regſamkeit des höchſten, eigen¬ thümlichſten Daſeyns. Eine überraſchende Selbſtheit iſt zwiſchen einem wahrhaften Lie¬ de und einer edlen Handlung. Das müßige Gewiſſen in einer glatten nicht widerſtehen¬ den Welt wird zum feſſelnden Geſpräche, zur alleserzählenden Fabel. In den Fluren und Hallen dieſer Urwelt lebt der Dichter, und die Tugend iſt der Geiſt ſeiner irdiſchen Bewegungen und Einflüſſe, ſo wie dieſe die unmittelbar wirkende Gottheit unter den Menſchen und das wunderbare Widerlicht der höheren Welt iſt, ſo iſt es auch die Fa¬ bel. Wie ſicher kann nun der Dichter den Eingebungen ſeiner Begeiſterung, oder, wenn auch er einen höhern überirdiſchen Sinn hat, höhern Weſen folgen, und ſich ſeinem Berufe mit kindlicher Demuth überlaſ¬ ſen. Auch in ihm redet die höhere Stimme des Weltalls, und ruft mit bezaubernden45 Sprüchen in erfreulichere, bekanntere Welten. Wie ſich die Religion zur Tugend verhält, ſo die Begeiſterung zur Fabellehre, und wenn in heiligen Schriften die Geſchichten der Offenbarung aufbehalten ſind, ſo bil¬ det in der Fabellehre das Leben einer höhe¬ ren Welt ſich in wunderbar entſtandene Dichtungen auf mannichfache Weiſe ab. Fa¬ bel und Geſchichte begleiten ſich in den in¬ nigſten Beziehungen auf den verſchlungenſten Pfaden und in den ſeltſamſten Verkleidungen, und die Bibel und die Fabellehre ſind Stern-Bilder Eines Umlaufs.

Ihr redet völlig wahr, ſagte Sylveſter, und nun wird es euch wohl begreiflich ſeyn, daß die ganze Natur nur durch den Geiſt der Tugend beſteht, und immer beſtändiger werden ſoll. Er iſt das allzündende allbele¬ bende Licht innerhalb der irdiſchen Umfaſ¬ ſung. Vom Sternhimmel, dieſem erhabenen46 Dom des Steinreichs, bis zu dem krauſen Teppich einer bunten Wieſe, wird alles durch ihn erhalten, durch ihn mit uns ver¬ knüpft, und uns verſtändlich gemacht, und durch ihn die unbekannte Bahn der unend¬ lichen Naturgeſchichte bis zur Verklärung fortgeleitet.

Ja und ihr habt vorher ſo ſchön für mich die Tugend an die Religion ange¬ ſchloſſen. Alles was die Erfahrung und die irdiſche Wirkſamkeit begreift, macht den Bezirk des Gewiſſens aus, welches dieſe Welt mit höheren Welten verbindet. Bei höhern Sinnen entſteht Religion und was vorher unbegreifliche Nothwendigkeit unſerer innerſten Natur ſchien, ein Allgeſetz ohne beſtimmten Inhalt, wird nun zu einer wun¬ derbaren, einheimiſchen, unendlich mannich¬ faltigen, und durchaus befriedigenden Welt, zu einer unbegreiflich innigen Gemeinſchaft47 aller Seeligen in Gott, und zur vernehmli¬ chen, vergötternden Gegenwart des allerper¬ ſönlichſten Weſens, oder ſeines Willens, ſei¬ ner Liebe in unſerm tiefſten Selbſt.

Die Unſchuld eures Herzens macht euch zum Profeten, erwiederte Sylveſter: euch wird alles verſtändlich werden, und die Welt und ihre Geſchichte verwandelt ſich euch in die heilige Schrift, ſo wie ihr an der heiligen Schrift das große Beiſpiel habt, wie in einfachen Worten und Geſchichten das Weltall offenbart werden kann; wenn auch nicht geradezu, doch mittelbar durch Anregung und Erweckung höherer Sinne. Mich hat die Beſchäftigung mit der Natur dahin geführt, wohin euch die Luſt und Be¬ geiſterung der Sprache gebracht haben. Kunſt und Geſchichte haben mich die Natur kennen gelehrt. Meine Eltern wohnten in Sizilien, unweit dem weltberühmten Berge Aetna.

48

Ein bequemes Haus von vormahliger Bau¬ art, welches verdeckt von uralten Kaſtanien¬ bäumen dicht an den felſigen Ufern des Meeres, die Zierde eines mit mannichfaltigen Gewächſen beſezten Gartens ausmachte, war ihre Wohnung. In der Nähe lagen viele Hütten, in denen ſich Fiſcher, Hirten und Winzer aufhielten. Unſre Kammern und Keller waren mit allem, was das Leben erhält und erhöht, reichlich verſehn, und unſer Hausgeräthe ward durch wohlerdachte Arbeit auch den verborgenen Sinnen ange¬ nehm. Es fehlte auch ſonſt nicht an man¬ nichfaltigen Gegenſtänden, deren Betrachtung und Gebrauch das Gemüth über das ge¬ wöhnliche Leben und ſeine Bedürfniſſe erho¬ ben, und es zu einem angemeſſenern Zuſtan¬ de vorzubereiten, ihm den lautern Genuß ſeiner vollen, eigenthümlichen Natur zu ver¬ ſprechen und zu gewähren ſchienen. Manſah49ſah ſteinerne Menſchen-Bilder, mit Geſchich¬ ten bemahlte Gefäße, kleinere Steine mit den deutlichſten Figuren, und andre Geräth¬ ſchaften mehr, die aus andern und erfreu¬ licheren Zeiten zurückgeblieben ſeyn moch¬ ten. Auch lagen in Fächern übereinander viele Pergamentrollen, auf denen in langen Reihen Buchſtaben die Kenntniſſe und Geſin¬ nungen, die Geſchichten und Gedichte jener Vergangenheit in anmuthigen und künſtli¬ chen Ausdrücken bewahrt ſtanden. Der Ruf meines Vaters, den er ſich als ein ge¬ ſchickter Sterndeuter zuwege brachte, zog ihm zahlreiche Anfragen und Beſuche, ſelbſt aus entlegneren Ländern zu, und da das Vorwiſſen der Zukunft den Menſchen eine ſehr ſeltne und köſtliche Gabe dünkte, ſo glaubten ſie ihre Mittheilungen gut beloh¬ nen zu müſſen, ſo daß mein Vater durch die erhaltenen Geſchenke in den Stand ge¬D50ſetzt wurde, die Koſten ſeiner bequemen und genußreichen Lebensart hinreichend beſtreiten zu können.

Weiter iſt der Verfaſſer nicht in Ausar¬ beitung dieſes zweiten Theils gekommen. Dieſen nannte er die Erfüllung, ſo wie den erſten Erwartung, weil hier alles auf¬ gelöſt, und erfüllt werden ſollte, was je¬ ner hatte ahnden laſſen. Es war die Ab¬ ſicht des Dichters, nach Vollendung des Ofterdingen noch ſechs Romane zu ſchreiben, in denen er ſeine Anſichten der Phyſik, des bürgerlichen Lebens, der Handlung, der Ge¬ ſchichte, der Politik und der Liebe, ſo wie im Ofterdingen der Poeſie niederlegen wollte. Ohne mein Erinnern wird der unterrichtete Leſer ſehn, daß der Verfaſſer ſich in dieſem51 Gedichte nicht genau an die Zeit, oder an die Perſon jenes bekannten Minneſängers gebunden hat, obgleich alles an ihn und ſein Zeitalter erinnern ſoll. Nicht nur für die Freunde des Verfaſſers, ſondern für die Kunſt ſelbſt, iſt es ein unerſetzlicher Ver¬ luſt, daß er dieſen Roman nicht hat beendi¬ gen können, deſſen Originalität und große Abſicht ſich im zweiten Theile noch mehr als im erſten würde gezeigt haben. Denn es war ihm nicht darum zu thun, dieſe oder jene Begebenheit darzuſtellen, eine Seite der Poeſie aufzufaſſen, und ſie durch Figu¬ ren und Geſchichten zu erklären, ſondern er wollte, wie auch ſchon im letzten Kapitel des erſten Theils beſtimmt angedeutet iſt, das eigentliche Weſen der Poeſie ausſprechen und ihre innerſte Abſicht erklären. Darum ver¬ wandelt ſich Natur, Hiſtorie, der Krieg und das bürgerliche Leben mit ſeinen ge¬D 252wöhnlichſten Vorfällen in Poeſie, weil dieſe der Geiſt iſt, der alle Dinge belebt.

Ich will den Verſuch machen, ſo viel es mir aus Geſprächen mit meinem Freunde erinnerlich iſt, und ſo viel ich aus ſeinen hinterlaſſenen Papieren erſehen kann, dem Leſer einen Begriff von dem Plan und dem Inhalte des zweiten Theiles dieſes Werkes zu verſchaffen.

Dem Dichter, welcher das Weſen ſeiner Kunſt im Mittelpunkt ergriffen hat, erſcheint nichts wiederſprechend und fremd, ihm ſind die Räthſel gelöſt, durch die Magie der Fantaſie kann er alle Zeitalter und Welten verknüpfen, die Wunder verſchwinden und alles verwandelt ſich in Wunder: ſo iſt dieſes Buch gedichtet, und beſonders findet der Leſer in dem Mährchen, welches den erſten Theil beſchließt, die kühnſten Verknüpfungen; hier ſind alle Unterſchiede aufgehoben, durch53 welche Zeitalter von einander getrennt er¬ ſcheinen, und eine Welt der andern als feindſelig begegnet. Durch dieſes Mährchen wollte ſich der Dichter hauptſächlich den Übergang zum zweiten Theile machen, in welchem die Geſchichte unaufhörlich aus dem Gewöhnlichſten in das Wundervollſte über¬ ſchweift, und ſich beides gegenſeitig erklärt und ergänzt; der Geiſt, welcher den Prolog in Verſen hält, ſollte nach jedem Kapitel wiederkehren, und dieſe Stimmung, dieſe wunderbare Anſicht der Dinge fortſetzen. Durch dieſes Mittel blieb die unſichtbare Welt mit dieſer ſichtbaren in ewiger Ver¬ knüpfung. Dieſer ſprechende Geiſt iſt die Poeſie ſelber, aber zugleich der ſideriſche Menſch, der mit der Umarmung Heinrichs und Mathildens gebohren iſt. In folgendem Gedichte, welches ſeine Stelle im Ofterdin¬ gen finden ſollte, hat der Verfaſſer auf die54 leichteſte Weiſe den innern Geiſt ſeiner Bü¬ cher ausgedrückt:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüſſel aller Kreaturen,
Wenn die, ſo ſingen oder küſſen,
Mehr als die Tiefgelehrten wiſſen,
Wenn ſich die Welt in's freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann ſich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die ewgen Weltgeſchichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Weſen fort.

Der Gärtner, welchen Heinrich ſpricht, iſt derſelbe alte Mann, der ſchon einmal Of¬ terdingens Vater aufgenommen hatte, das junge Mädchen, welche Cyane heißt, iſt55 nicht ſein Kind, ſondern die Tochter des Grafen von Hohenzollern, ſie iſt aus dem Morgenlande gekommen, zwar früh, aber doch kann ſie ſich ihrer Heimath erinnern, ſie hat lange in Gebirgen, in welchen ſie von ihrer verſtorbenen Mutter erzogen iſt, ein wunderliches Leben geführt: einen Bru¬ der hat ſie früh verlohren, einmal iſt ſie ſelbſt in einem Grabgewölbe dem Tode ſehr nahe geweſen, aber hier hat ſie ein alter Arzt auf eine ſeltſame Weiſe vom Tode er¬ rettet. Sie iſt heiter und freundlich und mit dem Wunderbaren ſehr vertraut. Sie erzählt dem Dichter ſeine eigene Geſchichte, als wenn ſie dieſelbe einſt von ihrer Mut¬ ter ſo gehört hätte. Sie ſchickt ihn nach einem entlegenen Kloſter, deſſen Mön¬ che als eine Art von Geiſterkolonie erſchei¬ nen, alles iſt hier wie eine myſtiſche, ma¬ giſche Loge. Sie ſind die Prieſter des heili¬56 gen Feuers in jungen Gemüthern. Er hört den fernen Geſang der Brüder; in der Kir¬ che ſelbſt hat er eine Viſion. Mit einem alten Mönch ſpricht Heinrich über Tod und Magie, er hat Ahndungen vom Tode und dem Stein der Weiſen; er beſucht den Kloſtergarten und den Kirchhof; über den leztern findet ſich folgendes Gedicht:

Lobt doch unſre ſtillen Feſte,
Unſre Gärten, unſre Zimmer,
Das bequeme Hausgeräthe,
Unſer Hab 'und Gut.
Täglich kommen neue Gäſte,
Dieſe früh, die andern ſpäte,
Auf den weiten Heerden immer
Lodert neue Lebens-Glut.
Tauſend zierliche Gefäße
Einſt bethaut mit tauſend Thränen,
57
Goldne Ringe, Sporen, Schwerdter,
Sind in unſerm Schatz:
Viel Kleinodien und Juwelen
Wiſſen wir in dunkeln Hölen,
Keiner kann den Reichthum zählen,
Zählt 'er auch ohn' Unterlaß.
Kinder der Vergangenheiten,
Helden aus den grauen Zeiten,
Der Geſtirne Rieſengeiſter,
Wunderlich geſellt,
Holde Frauen, ernſte Meiſter,
Kinder und verlebte Greiſe
Sitzen hier in Einem Kreiſe,
Wohnen in der alten Welt.
Keiner wird ſich je beſchweren,
Keiner wünſchen fort zu gehen,
Wer an unſern vollen Tiſchen
Einmal fröhlich ſaß.
58
Klagen ſind nicht mehr zu hören,
Keine Wunder mehr zu ſehen,
Keine Thränen abzuwiſchen;
Ewig läuft das Stundenglas.
Tiefgerührt von heilger Güte
Und verſenkt in ſelges Schauen
Steht der Himmel im Gemüthe,
Wolkenloſes Blau;
Lange fliegende Gewande
Tragen uns durch Frühlingsauen,
Und es weht in dieſem Lande
Nie ein Lüftchen kalt und rauh.
Süßer Reitz der Mitternächte,
Stiller Kreis geheimer Mächte,
Wolluſt räthelhafter Spiele,
Wir nur kennen euch.
Wir nur ſind am hohen Ziele,
Bald in Strom uns zu ergießen
59
Dann in Tropfen zu zerfließen
Und zu nippen auch zugleich.
Uns ward erſt die Liebe, Leben;
Innig wie die Elemente
Miſchen wir des Daſeyns Fluten,
Brauſend Herz mit Herz.
Lüſtern ſcheiden ſich die Fluten,
Denn der Kampf der Elemente
Iſt der Liebe höchſtes Leben,
Und des Herzens eignes Herz.
Leiſer Wünſche ſüßes Plaudern
Hören wir allein, und ſchauen
Immerdar in ſelge Augen,
Schmecken nichts als Mund und Kuß.
Alles was wir nur berühren
Wird zu heißen Balſamfrüchten,
Wird zu weichen zarten Brüſten,
Opfer kühner Luſt.
60
Immer wächſt und blüht Verlangen
Am Geliebten feſtzuhangen,
Ihn im Innern zu empfangen,
Eins mit ihm zu ſeyn,
Seinem Durſte nicht zu wehren,
Sich im Wechſel zu verzehren,
Von einander ſich zu nähren,
Von einander nur allein.
So in Lieb 'und hoher Wolluſt
Sind wir immerdar verſunken,
Seit der wilde trübe Funken
Jener Welt erloſch;
Seit der Hügel ſich geſchloſſen,
Und der Scheiterhaufen ſprühte,
Und dem ſchauernden Gemüthe
Nun das Erdgeſicht zerfloß.
Zauber der Erinnerungen,
Heilger Wehmuth ſüße Schaue[r]
61
Haben innig uns durchklungen,
Kühlen unſre Gluth.
Wunden giebt's, die ewig ſchmerzen,
Eine göttlich tiefe Trauer
Wohnt in unſer aller Herzen,
Löſt uns auf in Eine Flut.
Und in dieſer Flut ergießen
Wir uns auf geheime Weiſe
In den Ozean des Lebens
Tief in Gott hinein;
Und aus ſeinem Herzen fließen
Wir zurück zu unſerm Kreiſe,
Und der Geiſt des höchſten Strebens
Taucht in unſre Wirbel ein.
Schüttelt eure goldnen Ketten
Mit Smaragden und Rubinen,
Und die blanken ſaubern Spangen,
Blitz und Klang zugleich.
62
Aus des feuchten Abgrunds Betten,
Aus den Gräbern und Ruinen,
Himmelsroſen auf den Wangen
Schwebt in's bunte Fabelreich.
Könnten doch die Menſchen wiſſen,
Unſre künftigen Genoſſen,
Daß bei allen ihren Freuden
Wir geſchäftig ſind:
Jauchzend würden ſie verſcheiden,
Gern das bleiche Daſeyn miſſen,
O! die Zeit iſt bald verfloſſen,
Kommt Geliebte doch geſchwind!
Helft uns nur den Erdgeiſt binden,
Lernt den Sinn des Todes faſſen
Und das Wort des Lebens finden;
Einmal kehrt euch um.
Deine Macht muß bald verſchwinden,
Dein erborgtes Licht verblaſſen,
63
Werden dich in kurzem binden,
Erdgeiſt, deine Zeit iſt um.

Dieſes Gedicht war vielleicht wiederum ein Prolog zu einem zweiten Kapitel. Jetzt ſollte ſich eine ganz neue Periode des Wer¬ kes eröffnen, aus dem ſtillſten Tode ſollte ſich das höchſte Leben hervorthun; er hat unter Todten gelebt und ſelbſt mit ihnen ge¬ ſprochen, das Buch ſollte faſt dramatiſch werden, und der epiſche Ton gleichſam nur die einzelnen Szenen verknüpfen und leicht erklären. Heinrich befindet ſich plötzlich in dem unruhigen Italien, das von Kriegen zerrüttet wird, er ſieht ſich als Feldherr an der Spitze eines Heeres. Alle Elemente des Krieges ſpielen in poetiſchen Farben; er überfällt mit einem flüchtigen Haufen eine feindliche Stadt, hier erſcheint als Epiſode die Liebe eines vornehmen Piſaners zu einem64 Florentiniſchen Mädchen. Kriegslieder. Ein großer Krieg, wie ein Zweikampf, durchaus edel, philoſophiſch, human. Geiſt der alten Chevalerie. Ritterſpiel. Geiſt der bacchi¬ ſchen Wehmuth. Die Menſchen müſſen ſich ſelbſt untereinander tödten, das iſt edler als durch das Schickſal fallen. Sie ſuchen den Tod. Ehre, Ruhm iſt des Kriegers Luſt und Leben. Im Tode und als Schat¬ ten lebt der Krieger. Todesluſt iſt Krieger¬ geiſt. Auf Erden iſt der Krieg zu Hauſe. Krieg muß auf Erden ſeyn. In Piſa findet Heinrich den Sohn des Kaiſers Frie¬ drich des Zweiten, der ſein vertrauter Freund wird. Auch nach Loretto kömmt er. Meh¬ rere Lieder ſollten hier folgen.

Von einem Sturm wird der Dichter nach Griechenland verſchlagen. Die alte Welt mit ihren Helden und Kunſtſchätzen er¬ füllt ſein Gemüth. Er ſpricht mit einemGrie¬65Griechen über die Moral. Alles wird ihm aus jener Zeit gegenwärtig, er lernt die alten Bilder und die alte Geſchichte verſtehn. Ge¬ ſpräche über die griechiſchen Staatsverfaſſun¬ gen; über Mythologie.

Nachdem Heinrich die Heldenzeit und das Alterthum hat verſtehen lernen, kommt er nach dem Morgenlande, nach welchem ſich von Kindheit auf ſeine Sehnſucht gerich¬ tet hatte. Er beſucht Jeruſalem; er lernt orientaliſche Gedichte kennen. Seltſame Begebenheiten mit den Ungläubigen halten ihn in einſamen Gegenden zurück, er findet die Familie des morgenländiſchen Mäd¬ chens; (ſ. I. Th.) die dortige Lebens¬ weiſe einiger nomadiſchen Stämme. Per¬ ſiſche Mährchen. Erinnerungen aus der äl¬ teſten Welt. Immer ſollte das Buch unter den verſchiedenſten Begebenheiten denſelben Farben-Charakter behalten, und an dieE66blaue Blume erinnern: durchaus ſollten zu¬ gleich die entfernteſten und verſchiedenartigſten Sagen verknüpft werden, Griechiſche, orien¬ taliſche, bibliſche und chriſtliche, mit Erinne¬ rungen und Andeutungen der Indiſchen wie der nordiſchen Mythologie. Die Kreuzzüge. Das Seeleben. Heinrich geht nach Rom. Die Zeit der Römiſchen Geſchichte.

Mit Erfahrungen geſättigt kehrt Hein¬ rich nach Deutſchland zurück. Er findet ſei¬ nen Großvater, einen tiefſinnigen Charakter, Klingsohr iſt in ſeiner Geſellſchaft. Abend¬ geſpräche mit den beiden.

Heinrich begiebt ſich an den Hof Frie¬ drichs, er lernt den Kaiſer perſönlich ken¬ nen. Der Hof ſollte eine ſehr würdige Er¬ ſcheinung machen, die Darſtellung der beſten, größten und wunderbarſten Menſchen aus der ganzen Welt verſammelt, deren Mittel¬ punkt der Kaiſer ſelbſt iſt. Hier erſcheint67 die größte Pracht, und die wahre große Welt. Deutſcher Charakter und Deutſche Geſchichte werden deutlich gemacht. Heinrich ſpricht mit dem Kaiſer über Regierung, über Kaiſerthum, dunkle Reden von Amerika und Oſt-Indien. Die Geſinnungen eines Fürſten. Myſtiſcher Kaiſer. Das Buch de tribus impostoribus.

Nachdem nun Heinrich auf eine neue und größere Weiſe als im erſten Theile, in der Erwartung, wieder um die Natur, Leben und Tod, Krieg, Morgenland, Geſchichte und Poeſie erlebt und erfahren hat, kehrt er wie in eine alte Heimath in ſein Gemüth zurück. Aus dem Verſtändniß der Welt und ſeiner ſelbſt entſteht der Trieb zur Verklä¬ rung: die wunderbarſte Mährchenwelt tritt nun ganz nahe, weil das Herz ihrem Ver¬ ſtändniß völlig geöffnet iſt.

In der Maneſſiſchen Sammlung derE 268Minneſinger finden wir einen ziemlich unver¬ ſtändlichen Wettgeſang des Heinrich von Of¬ terdingen und Klingsohr mit andern Dich¬ tern: ſtatt dieſes Kampfſpieles wollte der Verfaſſer einen andern ſeltſamen poetiſchen Streit darſtellen, den Kampf des guten und böſen Prinzips in Geſängen der Religion und Irreligion, die unſichtbare Welt der ſichtba¬ ren entgegen geſtellt. In bacchiſcher Trun¬ kenheit wetten die Dichter aus Enthuſiasmus um den Tod. Wiſſenſchaften werden poeti¬ ſirt, auch die Mathematik ſtreitet mit. In¬ dianiſche Pflanzen werden beſungen: Indiſche Mythologie in neuer Verklärung.

Dieſes iſt der lezte Akt Heinrichs auf Erden, der Übergang zu ſeiner eignen Ver¬ klärung. Dieſes iſt die Auflöſung des gan¬ zen Werks, die Erfüllung des Mährchens, welches den erſten Theil beſchließt. Auf die übernatürlichſte und zugleich natürlichſte69 Weiſe wird alles erklärt und vollendet, die Scheidewand zwiſchen Fabel und Wahrheit, zwiſchen Vergangenheit und Gegenwart iſt eingefallen: Glauben, Fantaſie, Poeſie ſchließen die innerſte Welt auf.

Heinrich kommt in Sophieens Land, in ei¬ ne Natur, wie ſie ſeyn könnte, in eine alle¬ goriſche, nachdem er mit Klingsohr über ei¬ nige ſonderbare Zeichen und Ahndungen ge¬ ſprochen hat. Dieſe erwachen hauptſächlich bei einem alten Liede, welches er zufällig ſingen hört, in welchem ein tiefes Waſſer an einer verborgenen Stelle beſchrieben wird. Durch dieſen Geſang erwachen längſtvergeße¬ ne Erinnerungen, er geht nach dem Waſſer und findet einen kleinen goldenen Schlüſſel, welchen ihm vor Zeiten ein Rabe geraubt hatte, und den er niemals hatte wiederfinden können. Dieſen Schlüſſel hatte ihm bald nach Mathildens Tode ein alter Mann ge¬70 geben, mit dem Bedeuten, er ſolle ihn zum Kaiſer bringen, der würde ihm ſagen, was damit zu thun ſei. Heinrich geht zum Kai¬ ſer, welcher hocherfreut iſt, und ihm eine al¬ te Urkunde giebt, in welcher geſchrieben ſteht, daß der Kaiſer ſie einem Manne zum leſen geben ſollte, welcher ihm einſt einen golde¬ nen Schlüſſel zufällig bringen würde, dieſer Mann würde an einem verborgenen Orte ein altes talismaniſches Kleinod, einen Kar¬ funkel zur Krone finden, zu welchem die Stelle noch leer gelaſſen ſei. Der Ort ſelbſt iſt auch im Pergament beſchrieben. Nach dieſer Beſchreibung macht ſich Heinrich auf den Weg nach einem Berge, er trifft unter¬ wegs den Fremden, der ihm und ſeinen El¬ tern zuerſt von der blauen Blume erzählt hatte, er ſpricht mit ihm über die[Offenbarung]. Er geht in den Berg hinein und Cyane folgt ihm treulich nach.

71

Bald kommt er in jenes wunderbare Land, in welchem Luft und Waſſer, Blu¬ men und Thiere von ganz verſchiedener Art ſind, als in unſrer irdiſchen Natur. Zugleich verwandelt ſich das Gedicht ſtellenweiſe in ein Schauſpiel. Menſchen, Thiere, Pflan¬ zen, Steine und Geſtirne, Elemente, Töne, Farben, kommen zuſammen wie Eine Fami¬ lie, handeln und ſprechen wie Ein Ge¬ ſchlecht. Blumen und Thiere ſprechen über den Menſchen. Die Mährchenwelt wird ganz ſichtbar, die wirkliche Welt ſelbſt wird wie ein Mährchen angeſehn. Er findet die blaue Blume, es iſt Mathilde, die ſchläft und den Karfunkel hat, ein kleines Mädchen, ſein und Mathildens Kind, ſitzt bei einem Sarge, und verjüngt ihn. Dieſes Kind iſt die Urwelt, die goldne Zeit am En¬ de. Hier iſt die chriſtliche Religion mit der heidniſchen ausgeſöhnt, die Geſchichte72 des Orpheus, der Pſyche, und andere wer¬ den beſungen.

Heinrich pflückt die blaue Blume, und erlöſt Mathilden von ihrem Zauber, aber ſie geht ihm wieder verlohren, er erſtarrt im Schmerz und wird ein Stein. Edda, (die blaue Blume, die Morgenländerinn, Ma¬ thilde) opfert ſich an dem Steine, er verwan¬ delt ſich in einen klingenden Baum. Cyane haut den Baum um, und verbrennt ſich mit ihm, er wird ein goldner Widder. Edda, Mathilde muß ihn opfern, er wird wieder ein Menſch Während dieſer Verwandlun¬ gen hat er allerlei wunderliche Geſpräche.

Er iſt glücklich mit Mathilden, die zu¬ gleich die Morgenländerinn und Cyane iſt. Das froheſte Feſt des Gemüths wird gefey¬ ert. Alles vorhergehende war Tod. Letzter Traum und Erwachen. Klingsohr kömmt wieder als König von Atlantis. Heinrichs73 Mutter iſt Fantaſie, der Vater iſt der Sinn, Schwaning iſt der Mond, der Berg¬ mann iſt der Antiquar, auch zugleich das Eiſen. Kaiſer Friedrich iſt Arktur. Auch der Graf von Hohenzollern und die Kaufleute kommen wieder. Alles fließt in eine Allego¬ rie zuſammen. Cyane bringt dem Kaiſer den Stein, aber Heinrich iſt nun ſelbſt der Dichter aus jenem Mährchen, welches ihm vordem die Kaufleute erzählten.

Das ſelige Land leidet nur noch von einer Bezauberung, indem es dem Wechſel der Jahreszeiten unterworfen iſt, Heinrich zerſtört das Sonnenreich. Mit einem großen Gedicht, wovon nur der Anfang aufgeſchrie¬ ben iſt, ſollte das ganze Werk beſchloſſen werden.

74

Die Vermählung der Jahreszeiten.

Tief in Gedanken ſtand der neue Monarch Er gedachte
Jetzt des nächtlichen Traums, und der Er¬ zählungen auch,
Als von der himmliſchen Blume zuerſt er gehört, und getroffen
Still von der Weißagung, mächtige Liebe gefühlt.
75
Noch dünkt ihn, er höre die tief eindrin¬ gende Stimme,
Eben verließe der Gaſt erſt den geſelligen Kreis,
Flüchtige Schimmer des Mondes erhellten die klappernden Fenſter,
Und in des Jünglings Bruſt tobe verzeh¬ rende Glut.
Edda, ſagte der König, was iſt des lie¬ benden Herzens
Innigſter Wunſch? was iſt ihm der unſäg¬ lichſte Schmerz?
Sag 'es, wir wollen ihm helfen, die Macht iſt unſer, und herrlich
Werde die Zeit, nun du wieder den Him¬ mel beglückſt.
Wären die Zeiten nicht ſo ungeſellig, ver¬ bände
Zukunft mit Gegenwart und mit Vergan¬ genheit ſich,
76
Schlöſſe Frühling ſich an Herbſt, und Som¬ mer an Winter,
Wäre zu ſpielendem Ernſt Jugend mit Al¬ ter gepaart:
Dann, mein ſüßer Gemahl, verſiegte die Quelle der Schmerzen,
Aller Empfindungen Wunſch wäre dem Herzen gewährt.
Alſo die Königin; freudig umſchlang ſie der ſchöne Geliebte:
Ausgeſprochen fürwahr haſt du ein himm¬ liſches Wort,
Was ſchon längſt auf den Lippen der tie¬ fer Fühlenden ſchwebte,
Aber den deinigen erſt rein und gedeihlich entklang.
Führe man ſchnell den Wagen herbei, wir holen ſie ſelber,
Erſtlich die Zeiten des Jahrs, dann auch des Menſchengeſchlechts.
77

Sie fahren zur Sonne, und hohlen zu¬ erſt den Tag, dann zur Nacht, dann nach Norden, um den Winter, alsdann nach Sü¬ den, um den Sommer zu finden, von Oſten bringen ſie den Frühling, von Weſten den Herbſt. Dann eilen ſie zur Jugend, dann zum Alter, zur Vergangenheit, wie zur Zu¬ kunft.

Dieſes iſt, was ich dem Leſer aus meinen Erinnerungen, und aus einzelnen Worten und Winken in den Papieren meines Freun¬ des habe geben können. Die Ausarbeitung dieſer großen Aufgabe würde ein bleibendes Denkmal einer neuen Poeſie geweſen ſeyn. Ich habe in dieſer Anzeige lieber trocken und kurz ſeyn wollen, als in die Gefahr gera¬ then, von meiner Fantaſie etwas hinzuzu¬ ſetzen. Vielleicht rührt manchen Leſer das Fragmentariſche dieſer Verſe und Worte ſo wie mich, der nicht mit einer andächtigern78 Wehmuth ein Stückchen von einem zertrüm¬ merten Bilde des Raphael oder Correggio betrachten würde.

L. T.

About this transcription

TextHeinrich von Ofterdingen
Author Novalis
Extent429 images; 49068 tokens; 9271 types; 336046 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationHeinrich von Ofterdingen Ein nachgelassener Roman Novalis. . 338, 78 S. RealschulbuchhandlungBerlin1802.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, 19 ZZ 7137-1/2http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=549212094

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T09:32:38Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, 19 ZZ 7137-1/2
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.