Mit den Taſchenkalendern und Zeitſchriften muͤſſen die kleinen vermiſchten Werkchen ſo zu - nehmen — weil die Schriftſteller jene mit den beſten Beytraͤgen zu unterſtuͤtzen haben — daß man am Ende kaum ein großes mehr ſchreibt. Selber der Verfaſſer dieſes (obwohl noch manches großen Werks) iſt in acht Zeitſchriften und fuͤnf Kalendern anſaͤßig mit kleinen Niederlaſſungen und liegenden Gruͤnden.
Dieß friſchte im Jahre 1804 in Jena die Voigtiſche Buchhandlung an, „ kleine Schriften von Jean Paul Friedrich Richter”, ohne michII und ihr Gewiſſen zu fragen, in den zweyten Druck zu geben.
Sie friſcht wieder mich an, ihre kleinen Schriften von J. P. gleichfalls ohne zu fragen, hier ans Licht zu ſtellen. Gelaſſen laſſ’ ich hier die Handlung uͤber Nachdruck des Nachdrucks, uͤber Nachverlag des Nachverlags ſchreien, und mache mit dieſem Suͤnden-Bekenntniß gern das Publikum zum H. Stroppinus, welcher der Beichtvater Chriſti iſt*)Kotzebues Reiſe nach Italien V. II. . Denn will Voigt klagen, daß ich ihm ſeinen Verlagsartikel un - brauchbar gemacht und verdorben haͤtte durch voͤl - lige Verbeſſerung und Umarbeitung deſſelben: ſo verſetz’ ich, daß nur ein Sechſtel dieſes Buchs aus jenem genommen iſt. Das zweyte Sechſtel ſammelte ich aus Zeitſchriften, woraus er noch nichts von mir geſammelt.
Das zweyte und das dritte Drittel dieſes Buchs ſind ganz neu, naͤmlich D. Katzenber -III gers Badreiſe und Geſchichte, ſo wie die Schluß-Polymeter; aber hieruͤber ſey ein Beicht - wort an den Leſer vergoͤnnt, wurd’ es ihm auch ſchwerer, zum zweytenmale der H. Stroppinus zu ſeyn. Und doch ſind uͤber das folgende leich - ter vergebende Beichtvaͤter zu haben, als Beicht - muͤtter. Es betrifft den Zyniſmus des Doktors Katzenberger.
Es gibt aber viererley Zyniſmen. Der erſte iſt der rohe in Betreff des Geſchlechts, wie ihn Ariſtophanes, Rabelais, Fiſchart, uͤberhaupt die alten, obwol keuſchen Deutſchen und die Aerzte haben. Dieſer iſt nicht ſowol gegen Sitt - lichkeit als gegen Geſchmack und Zeit. Der zweyte Zyniſmus, den die Vernunftlehre an - nimmt, iſt der ſubtile der Franzoſen, der aͤhn - lich dem ſubtilen Todtſchlag und Diebſtahl der alten Gottesgelehrten einen zarten ſubtilen Ehe - bruch abgibt; dieſer glatte nattergiftige Zyniſ -IV mus, der ſchwarze Laſter zu glaͤnzenden Suͤn - den ausmalt und welcher, die Suͤnde verdeckend und erweckend, nicht als Satiriker die ſpani - ſchen Fliegen etwan zu Ableitungs-Schmerzen auflegt, ſondern welcher als Verfuͤhrer die Kan - thariden zu Untergangs-Reitzen innerlich ein - gibt. Dieſer zweyte Zyniſmus nimmt freylich wie Kupfer bey der Ausſtellung ins Freye bloß die Farbe des Gruͤns an, das aber vergiftet, indeß der erſte ſchwere gleich Blei zur ſchwar - zen verwittert.
Von dem zweyten Zyniſmus unterſcheidet ſich uͤberhaupt der erſte ſo vortheilhaft-ſittlich; wie etwan (um undeutlicher zu ſprechen) Epikurs Stall von der Sterkoraniſten-Stuhl, worin das Gottgewordene nicht Menſch wird, oder auch wie bone de Paris (Lutetiae) oder caca du Dauphin von des griechiſchen Diogenes offi - zinellem album graecum.
V— Beynahe macht die Rechtfertigung ſich ſelber noͤthig; ich eile daher zum
Dritten Zyniſmus, welcher bloß uͤber na - tuͤrliche, aber geſchlechtsloſe Dinge natuͤr - lich ſpricht, wie jeder Arzt ebenfalls. Was kann aber hier die jetzt-deutſche Prüderie und Phraſen-Kleinſtaͤdterey erwiedern, wenn ich ſage: daß ich bey den beſten Franzoſen (z. B. Voltaire) haͤufig den cû, derrière und das pisser, angetroffen, nicht zu gedenken der filles-à-douleur? In der That ein Franzoſe ſagt manches, ein Englaͤnder gar noch mehr. Dennoch wollen wir Deutſche das an uns Deut - ſchen nicht leiden, was wir an ſolchen Britten verzeihen und genießen als hier hintereinander gehen: Buttler, Shakſpeare, Swift, Pope, Sterne, Smollet, der kleinern wie Donne, Peter Pindars und anderer zu geſchweigen. Aber nicht einmal noch hat ein Deutſcher ſo vielVI gewagt als die ſonſt in Sitten, Sprachen, Ge - ſchlechts - und Geſellſchafts-Punkten und in weiſ - ſer Wäſche ſo zart bedenklichen Britten. Der reinliche ſo wie keuſche Swift druͤckte eben aus Liebe fuͤr dieſe geiſtige und leibliche Reinheit die Pazienten recht tief in ſein ſatiriſches Schlamm - bad. Seine Zweydeutigkeiten gleichen unſern Kaffeebohnen, die nie aufgehen koͤnnen, weil wir nur halbe haben. Aber wir altjuͤngferlichen Deutſchen bleiben die ſeltſamſte Verſchmelzung von Kleinſtaͤdterey und Weltbuͤrgerſchaft, die wir nur kennen. Man beſſere uns! Nur iſts ſchwer; wir vergeben leichter auslaͤndiſche Son - nenflecken als inlaͤndiſche Sonnenfackeln. Unſer salvo titulo und unſer salva venia halten wir ſtets als die zu - und abtreibenden Rede-Pole den Leuten entgegen.
Der vierte (vielleicht der beſte) Zyniſ - mus iſt der meinige, zumal in der katzenberge -VII riſchen Badgeſchichte. Dieß ſchließe ich daraus, weil er in der reinlichſten Ferne ſich in die ge - dachten brittiſchen Fußtapfen begiebt und ſich wenig erlaubt oder nichts, ſondern immer den Grundſatz feſthaͤlt, daß das Komiſche jene An - naͤherung an die Zenſur-Freiheiten der Arznei - kunde verſtatte, verlange, verziere, welche hier wie natuͤrlich in der Badgeſchichte eines Arztes nicht fehlen konnte. Schon Leßing hat in ſei - nem Laokoon das Komiſch-Ekle (das Ekel-Komi - ſche iſt freilich etwas anderes) in Schutz genom - men durch Gruͤnde und durch Beyſpiele z. B. aus des feinen Lord Cheſterfield Stall - und Kuͤ - chenſtuͤck einer hottentottiſchen Toilette.
Genug davon! Damit mir aber der gute Le - ſer nicht ſo ſehr glaube; ſo verſichere ich aus - druͤcklich, daß ich ihn mit der ganzen Klaſſifika - zion von vier Zyniſmen gleichſam wie mit hei - lendem Vierraͤubereſſig bloß vorausbeſprenge,VIII um viel groͤßere Befuͤrchtungen vor Katzenberger zu erregen als eintreffen, weil man damit am beſten die eingetroffnen entſchuldigt und verklei - nert.
Gebe der Himmel, daß ich mit dieſen zwey Bändchen das Publikum ermuntere, mich zu recht vielen zu ermuntern.
Bayreuth den 28. May
1808.
Jean Paul Fr. Richter.
Man erſucht ſehr den Buchbinder, das Verzeichniß der - ſelben hinter die Vorrede einzuheften; aber noch mehr fleht man den Bücherverleiher an, ſämtliche Fehler zu verbeſſern, eh’ er ſie ausleiht.
” Ein Gelehrter, der den erſten July mit ſei - ner Tochter in ſeinem Wagen mit eignen Pfer - den ins Bad Maulbronn abreiſet, wuͤnſcht einige oder mehrere Reiſegeſellſchafter. ” — Die - ſes ließ der verwittibte ausuͤbende Arzt und ana - tomiſche Profeſſor Katzenberger ins Wo - chenblatt ſetzen. Aber kein Menſch auf der gan - zen Univerſitaͤt Pira (im Fürſtenthume Zaͤckin - gen) wollte mit ihm gern ein paar Tage unter einem Kutſchenhimmel leben; jeder hatte ſeine Gruͤnde — und dieſe beſtanden alle darinn, daß niemand mit ihm wohlfeil fuhr, als zuweilen ein hinten aufgeſprungener Gaſſenjunge; gleich - ſam, als waͤre der Doktor ein imparochierter Poſtraͤuber von innen, ſo ſehr kelterte er mun - tere Reiſegefaͤhrten durch Zu - und Vor - und4 Nachſchüſſe gewoͤhnlich ſo aus, daß ſie nachher als lebhafte Koͤpfe ſchwuren, auf einem Eilboten - Pferde wollten ſie wohlſeiler angekommen ſeyn, und auf einer Krüppelfuhre geſchwinder.
Daß ſich niemand, als Wagen-Mitbelehn - ter meldete, war ihm als wohlhabenden Manne herzlich einerley, da er mit der Anzeige ſchon genug dadurch erreichte, daß mit ihm kein Be - kannter von Rang umſonſt mitfahren konnte. Er hatte naͤmlich eine beſondere Kaͤlte gegen Leute von hoͤherem oder ſeinem Range, und lud ſie deshalb ungern zu Dinnées, Soupées, Gou - tées, Thées ein, die er deswegen niemals gab — leichter beſucht’ er ſelbſt die ihrigen aus Feind - ſchaft und Ironnie; — denn er denke, (ſagt’ er) wohl von nichts gleichguͤltiger, als von Ehren - Gaſtereien, und er wollte eben ſo gern à la Four - chette des Bajonets geſpeiſet ſeyn, als feurig wetteifern mit den Großen ſeiner Stadt im Gaſtieren, er lege das Tiſchtuch lieber auf den Katzentiſch. Nur einmal — und dieß aus hal - bem Scherz — gab er ein Goutée oder Degou - tée, indem er um 5 Uhr einer Geſellſchaft ſeiner5 Tochter ſeinen Thee einnöthigte, der Camillen - Thee war. Man gebe ihm aber, ſagte er, Lum - penpack, Aſchenbrödel, Kothſaſſen, Soldaten auf Stelzfuͤßen; ſo wißt’ er, wem er gern zu geben habe; denn die Niedrigkeit und Armuth ſey eine hartnaͤckige Krankheit, zu deren Hei - lung Jahre gehören, vom Töpfer oder Topf-Ko - lik, ein nachlaſſender Puls, eine fallende und galoppierende Schwindſucht, ein taͤgliches Fie - ber; — venienti, aber ſage man currite morbo, d. h. man gehe doch dem herkommenden Lumpen entgegen, und ſchenk’ ihm einen Heller, das treue - ſte Geld, das kein Fuͤrſt ſehr devalvieren koͤnne.
Der Zweck ſeiner Badreiſe war aber nicht, in Maulbronn ſich zu baden — oder ſeine Toch - ter — oder da ſich zu beluſtigen — oder dieſe — ſondern es war der in der folgenden[.]
Katzenberger machte weniger eine Luſt - als eine Geſchaͤftsreiſe ins Bad, naͤmlich um da ſeinen Recenſenten beträchtlich auszupruͤgeln, und da - bey mit Schwaͤchungen an der Ehre anzugreifen, naͤmlich den Brunnen-Arzt Strykius, der ſeine drey bekannten Meiſterwerke — den The - saurus Haematologiae, die de monstris epi - stola, den fasciculus exercitationum in ra - biem caninam anatomico medico curio - sarum — nicht nur in ſieben Zeitungen, ſondern auch in ſieben Antworten (Metakritiken) auf ſeine Antikritiken uͤberaus heruntergeſetzt hatte.
Nebenbey wollte er auch auf ſeinen vier Rädern einer Gevatterſchaft entkommen, deren Verheißung ihm eine halbe Drohung war. Es ſtand die Niederkunft einer Freundin ſeiner Toch - ter vor der Thuͤre. Bisher hatte er hin und her verſucht, ſich mit dem Vater des Droh-Path -7 chens (einem gewiſſen Mehlhorn) etwas zu uͤberwerfen und zu zerfallen, und daher ihm manches von deſſen guten Namen abgeſchnitten, eben um nicht den ſeinigen am Taufſteine herlei - hen zu müſſen. Allein es hatte ihm das Erbit - tern des gutmuͤthigen Zollers und Umgelders*)So heißen in Pira, ſo wie in einigen Reichsſtädten, Umgelds - und Zoll-Einnehmer. Mehlhorn nicht beſonders glücken wollen, und er war jede Minute einer warmen Umhal - ſung gewärtig; in welcher er die Gevatterarme nicht ſehr von Strangulierſtricken unterſchied. „ Bin ich und meine Tochter (Theoda) abge - flogen, ſagte er, ſo iſts doch etwas, die Frau mag kreiſen, ſo oft ſie will.
Wider alle Erwartung meldete ſich am Vor - abend der Abreiſe ein Fremder zur Mitbelehn - ſchaft des Wagens.
Waͤhrend der Doktor in ſeinem Misgeburten - Kabinette einiges abſtaͤubte von ausgeſtopften Thierleichen, durch Räuchern die Motten (die Teufel derſelben) vertrieb, und den Embryonen in ihren Glaͤschen Spiritus zu trinken gab: trat ein fremder feingekleideter und feingeſitteter Herr ein, nannte ſich Herr von Nieß, und uͤber - reichte der Tochter des Doktors nach der Frage, ob Sie Theoda heiße, ein blaueingeſchlagenes Briefchen an ſie, es iſt von meinem Freunde, dem Buͤhnen-Dichter Theudobach, ſagte er. Das Maͤdchen entgluͤhte hochroth, und riß zit - ternd mit dem Umſchlag in den Brief hinein (die Liebe und der Haß zerreißen den Brief, ſo - wie beyde den Menſchen verſchlingen wollen)9 und durchlas haſtig die Buchſtaben, ohne ein an - deres Wort daraus zu verſtehen und zu behalten, als den Namen Theudobach. Hr. v. Nieß ſchauete unter ihrem Leſen ſcharf und ruhig auf ihrem geiſtreichen beweglichen Geſicht und in ihren braunen Feuer-Augen dem Entzuͤcken zu, das wie ein weinendes Laͤcheln ausſah; einige Pocken - gruben legten dem beſeelten und wie Frühlings - Buͤſche zart und glaͤnzend-durchſichtigen Ange - ſicht noch einige Reize zu, um welche der Doktor Jenner die künftigen Schönen bringt. „ Ich reiſe, ſagte der Edelmann darauf, eben nach dem Badeorte, um da mit einer kleinen dekla - mierenden und muſikaliſchen Akademie von einigen Schauſpielen meines Freundes auf ſeine Ankunft ſelber vorzubereiten.” Sie blieb unter der ſchwe - ren Freude kaum aufrecht; den zarten, nur an leichte Blüten gewohnten Zweig, wollte faſt das Fruchtgehaͤnge niederziehen. Sie zuckte mit ei - ner Bewegung nach Nießens Hand, als wollte ſie die Ueberbringerinn ſolcher Schätze kuͤſſen, ſtreckte ihre aber — heiß und roth uͤber ihren, wie ſie hoffte, unerrathenen Fehlgriff — ſchnell10 nach der entfernten Thuͤre des Mißgeburten-Ka - binettes aus: „ da drinn iſt mein Vater, der ſich freuen wird.”
Er fuhr fort: er wuͤnſche eben ihn mehr kennen zu lernen, da er deſſen treffliche Werke, wie wohl als Laie, geleſen. Sie ſprang nach der Thuͤre. „ Sie hörten mich nicht aus — ſagte er laͤchelnd —; Da ich nun im Wochenblatte die ſchöne Möglichkeit geleſen, zugleich mit einer Freundin meines Freundes, und mit einem gro - ßen Gelehrten zu reiſen”: Hier aber ſetzte ſie ins Kabinet hinein und zog den raͤuchernden Kat - zenberger mit einem ausgeſtopften Saͤbelſchnaͤb - ler in der Hand ins Zimmer. Sie ſelber ent - lief ohne Schaul uͤber die Gaſſe, um ihrer ſchwangern Freundin Bona die ſchönſte Neu - igkeit und Abſchied zu ſagen.
Sie mußte aber jubeln und ſtuͤrmen. Denn ſie hatte vor einiger Zeit an den großen Buͤh - nendichter Theudobach — der bekanntlich mit Schiller und Kotzebue die drey deutſchen Hora - zier ausmacht, die wir den drey tragiſchen Ku - riaziern Frankreichs und Griechenlands entgegen -11 ſetzen — in der Kühnheit des langen geiſtigen Liebestrankes der Jugendzeit unter ihrem Na - men geſchrieben, ohne Vater und Freundin zu fragen, und hatte ihm gleichſam in einem war - men Gewitterregen ihres Herzens alle Thraͤnen und Blitze gezeigt, die er wie ein Sonnengott in ihr geſchaffen und geſammelt hatte. Seelig, wer bewundert, und den unbekannten Gott ſchon auf der Erde als bekannten[antrifft]! — Im Briefchen hatte ſie noch uͤber ein umlaufendes Gericht ſeiner Badreiſe nach Maulbronn gefragt, und die ſeinige unter die Antriebe der ihrigen ge - ſetzt. Alle ihre ſchoͤnſten Wünſche hatte nun ſein Blatt erfuͤllt.
Bona — die Frau des Umgelders Mehl - horn — und Theoda blieben zwey Milchſchwe - ſtern der Freundſchaft, welche Katzenberger nicht aus einander treiben konnte, er mochte an ihnen ſo viel ſcheidekuͤnſteln, als er wollte. Theoda nun trug ihr brauſendes Saitenſpiel der Freude in die Abſchiedsſtunde zur ſchwangern Freun - din; und reichte ihr Theudobachs Brief, zwang ſie aber zu gleicher Zeit deſſen Inhalt durchzuſe - hen, und von ihr anzuhoͤren. Bona ſuchte es zu vereinigen, und blickte mehrmals zuhorchend zu ihr auf, ſobald ſie einige Zeilen geleſen: „ ſo nimmſt du gewiß einen recht frohen Abſchied von hier?” ſagte ſie. Den froheſten verſetzte Theoda. „ Sey nur deine Ankunft auch ſo, du ſpringfed - riges Weſen! Bringe uns beſonders dein be - ſchnittenes aufgeworfnes Naͤschen wieder zurück13 und dein Backenroth! Aber dein deutſches Herz wird ewig franzöſiſches Blut umtreiben,” ſagte Bona. Theoda hatte eine Elſaſſerin zur Mut - ter gehabt. — „ Schneie noch dicker in mein We - ſenchen hinein!” ſagte Theoda. „ Ich thu’ es ſchon, denn ich kenne dich. „ Schon ein Mann iſt im Ganzen ein halber Schelm, ein abgefeiner - ter Mann vollends, ein Theaterſchreiber aber iſt gar ein fuͤnfviertels Dieb; dennoch wirſt du, fürchte ich, in Maulbronn vor deinem theuern Dichter mit deinem ganzen Herzen herausbrau - ſen, und platzen, und hundert ungeſtuͤme Dinge thun, nach denen freylich dein Vater nichts fragt, aber ich.”
„ Wie Bona, fürcht’ ich denn den großen Dichter nicht? Kaum ihn anzuſehen, geſchweige anzureden wag’ ich!” ſagte ſie. „ Vor Kotzebue wollteſt du dich auch ſcheuen; und thateſt doch dann keck und maͤuſig,” ſagte Bona. — „ Ach innerlich nicht,” verſetzte ſie.
Allerdings naͤhern die Weiber ſich großen Haͤuptern und großen Koͤpfen, — was oft un - ter Einer Krone verbunden ſeyn kann — mit14 einer weniger blöden Verworrenheit, als die Maͤnner, indeß iſt hier Schein in allen Ecken; ihre Blödigkeit vor dem Gegenſtande verkleidet ſich in die gewöhnliche vor dem Geſchlecht; — der Gegenſtand der Verehrung findet ſelber etwas zu verehren vor ſich — und muß ſich zu zeigen ſuchen, wie die Frau ſich zu decken; — und endlich bauet jede auf ihr Geſicht: „ man küßt manchem heiligen Vater den Pantoffel, unter den man ihn zuletzt ſelber bekommt,” kann die jede denken.
„ Und was waͤre es denn? fuhr Theoda fort, wenn ein dichtertolles Maͤdchen einem Herder oder Göthe oͤffentlich auf einem Tanzſaale um den Hals fiele?” —
„ Thue es nur deinem Theudobach, ſagte Bona, ſo weis man endlich, wen du heirathen willſt!” Jeden — verſprech ich dir — der nach - kommt; hab’ ich nur einmal meinen maͤnnlichen Gott geſehen, und ein wenig angebetet; dann ſpring’ ich gern nach Hauſe, und verlobe mich in der Kirche mit ſeinem erſten beſten Küſter15 oder Balgtreter, und behalte jenen im Herzen, dieſen am Halſe.”
Bona rieth ihr, wenigſtens den Hr. v. Nieß, wenn er mitfahre, unterwegs recht uͤber ſeinen Freund Theudobach auszuhorchen, und bat ſie noch einmal um weibliche Schleichtritte. Sie verſprachs ihr und deshalb noch einen taͤglichen Bericht ihrer Badreiſe dazu. Sie ſchien nach Hauſe zu trachten, um zu ſehen, ob ihr Vater den Edelmann in ſeine Adoptionsloge der Kut - ſche aufgenommen. Unter dem langen feſten Kuſſe in welchen Thraͤnen aus den Augen bey - der Freundinnen drangen, fragte Bona: „ wenn kommſt du wieder?” — „ Wenn du wieder - kommſt. — Meine Kundſchafter ſind beſtellt. — Dann laufe ich im Nothfalle meinem Vater zu Fuße davon, um dich zu pflegen und zu war - ten. O, wie wollt ich noch zehnmal froher rei - ſen, waͤr’ alles mit dir vorbey. ” — „ Dieß iſt leicht moͤglich,” dachte Bona im andern Sinne, und zwang ſich ſehr, die wehmuͤthigen Em - pfindungen einer Schwangern, die vielleicht16 zwey Todespforten entgegengeht, und die Ge - danken: dieß iſt vielleicht der Abſchied von al - len Abſchieden, hinter weinende Wuͤnſche zu - rückzuſtecken, um ihr das ſchoͤne Abendroth ihrer Freude nicht zu verfinſtern.
Wer war dieſer ziemlich unbekannte Herr von Nieß? Ich habe vor, noch vor dem Ende dieſes Perioden den Leſer zu uͤberraſchen durch die Nachricht, daß zwiſchen ihm und dem Dich - ter Theudobach, von welchem er das Briefchen mitgebracht, eine ſo innige Freundſchaft beſtand, daß ſie beyde nicht bloß Eine Seele in zwey Koͤrpern, ſondern gar nur in Einem Koͤrper ausmachten, kurz Eine Perſon. Naͤmlich Nieß hieß Nieß, hatte aber als auftretender Buͤhnen - Dichter um ſeinen duͤnnen[Alltagsnamen] den Feſtnamen Theudobach, wie einen Koͤnigsman - tel umgeworfen, und war daher in vielen Ge - genden Deutſchlands weit mehr unter dem adop - tierten Namen, als unter dem eignen bekannt, ſo wie von dem hier ſchreibenden Verfaſſer viel - leicht ganze Städte, wenn nicht Welttheile, es nicht wiſſen, daß er ſich Richter ſchreibt, wieErſter Theil. 218wohl es freilich auch andre giebt, die wieder ſei - nen Parade-Namen nicht kennen. Gleichwohl gelangten alle Maͤdchenbriefe leicht unter der Aufſchrift Theudobach an den Dichter Nieß — bloß durch die Oberzeremonienmeiſter oder Hof - marſchaͤlle der Autoren; man macht naͤmlich einen Umſchlag an die Verleger.
Nun hatte Nieß als ein uͤberall beruͤhmter Buͤhnen-Dichter ſich längſt vorgeſetzt, einen Ba - deort zu beſuchen, als den ſchicklichſten Ort den ein Autor voll Lorbeeren, der gern ein lebendiges Pantheon um ſich auffuͤhrte, zu erwaͤhlen hat, beſonders wegen des vornehmen Morgen-Trink - gelags und der Maskenfreiheiten, und des Kon - greſſes des Reichthums und der Bildung ſolcher Oerter. Er ertheilte Maulbronn, das ſeine Stuͤcke jeden Sommer ſpielte, den Preis jenes Beſuches; nur aber wollt’ er um ſeine Aben - theuer pikanter und ſcherzhafter zu haben, allda inkognito unter ſeinem eignen Namen Nieß an - langen, den Badegaͤſten eine muſikaliſche dekla - matoriſche Akademie von Theudobachs Stuͤcken geben; und dann gerade, wenn der ſaͤmmtliche19 Hoͤrzirkel am Angelhaken der Bewunderung zappelte und ſchnalzte, ſich unverſehens langſam in die Hoͤhe richten, und mit Ruͤhrung und Schamroͤthe ſagen: endlich muß mein Herz uͤber - fließen und verrathen, um zu danken; denn ich bin ſelbſt der weit uͤberſchaͤtzte Theater-Dichter Theudobach, der es für unſittlich haͤlt, ſo auf - richtige Aeuſſerungen ſtatt ſie zu erwiedern, an der Thuͤre der Anonymität bloß zu behorchen. Dieß war ſein leichter dramatiſcher Entwurf. In einigen Zeitungen veranlaßte er deshalb noch den Artikel: der bekannte Theater-Dichter Theudo - bach werde, wie man vernehme, dieſes Jahr das Bad Maulbronn gebrauchen.
Da es gegen meine Abſicht waͤre, wenn ich durch das Vorige ein zweydeutiges Streiflicht auf den Dichter wuͤrfe: ſo verſpreche ich heilig, weiter unten den Lauf der Geſchichte aufzuhal - ten, um auseinander zu ſetzen, warum ein gro - ßer Theater-Dichter viel leichter und gerechter ein großer Narr wird, als ein andrer Autor von Gewicht; wozu ſchon meine Beweiſe ſeines groͤ - ßern Beyfalls, hoff’ ich, ausreichen ſollen.
20Nieß wußte alſo recht gut, was er war, nämlich eine Bravour-Arie in der dichteriſchen Sphaͤrenmuſik, ein geiſtiger Kaiſerthee, wenn andere (z. B. viele unſchuldige Leſer dieſes) nur braunen Thee vorſtellen. Es iſt uͤberhaupt ein eignes Gefuͤhl, ein großer Mann zu ſeyn — ich berufe mich auf der Leſer eignes — und den gan - zen Tag in einem angebohrnen geiſtigen Cour - und Chur - und Kroͤnungszuge umherzulaufen; aber Nieß hatte dieſes Gefuͤhl noch ſtaͤrker und feiner als einer. — Er konnte ſein Haar nicht auskaͤmmen, ohne daran zu denken, welchen feu - rigen Kopf der Kamm (ſeinen Anbeterinnen viel - leicht ſo koſtbar als ein Gold-Kamm) regle, lichte, egge und beherrſche, und wie eben ſo manches Gold-Haar, um welches ſich die Anbeterinnen für Haar-Ringe raufen würden, ganz gleichguͤl - tig dem Kamm in Zaͤhnen ſtecken bleibe, als ſonſt dem Mexiko das Gold. — Er konnte durch kein Stadtthor einfahren, ohne es heimlich zu einem Triumphthor ſeiner ſelbſt, und der Ein - wohner unter dem Schwibbogen auszubauen, weil er aus eigner jugendlicher Erfahrung ſehr21 gut wußte, wie ſehr ein großer Mann labe — und ſah daher zuweilen den Namen-Regiſtrator des Thors ſtark ins Geſicht, wenn er geſagt: Theudobach, um zu merken, ob der Tropf jetzt außer ſich komme, oder nicht. — Ja er konnte zuletzt in Hotels voll Gaͤſte ſchwer auf einem ge - wiſſen einſitzigen Orte ſitzen, ohne zu bedenken, welches Eden vielleicht mancher mit ihm zugleich im Gaſthofe uͤbernachtenden Seele, die noch ju - gendlich die Autor-Achtung uͤbertreibt, zuzuwen - den waͤre, wenn ſie ſich darauf ſetzte, und er - fuͤhre, wer fruͤher da gethront. „ O, ſo gern will ich jeden Winkel heiligen zum gelobten Lande fuͤr Seelen, die etwas aus meiner machen — und mit jedem Stiefelabſatze auf dem ſchlimmſten Wege wie ein Heiliger, verehrte Fußtapfen aus - praͤgen auf meiner Lebensbahn, ſobald ich nur weis, daß ich Freude errege.”
Sobald Nieß Theodas Brief erhalten — wo - rinn die zufaͤllige Hochzeit der Namen Theoda und Theudobach ihn auf beyden Fußſohlen kit - zelte — ſo nahm er ohne Weiteres mit einer Hand voll Extrapoſtgeld den Umweg uͤber Pira, um22 der Anbeterin, wie ein homeriſcher Gott, in der anonymen Wolke zu erſcheinen; und ſobald er vollends in der vorletzten Station im Piraner Wochenblatte die Anzeige des Doktors geleſen: ſo war er noch mehr entſchieden; dazu naͤmlich, daß ſein Bedienter reiten, und ſein Wagen heim - lich nachkommen ſollte.
In dieſen weniger geld - als kontribuzirens - reichen Zeiten, mag es vielleicht Nießen empfeh - len, wenn ich drucken laſſe, daß er Geld hatte, und darnach nichts fragte, und daß er fuͤr ſeinen vermuͤnzten Kopf ein Herz ſuchte, das auf kei - nem Silber ſteht.
Mit dem erſten Blick hatte er den ganzen Doktor ausgegründet, der mit ſchlauen grauen Blitz-Augen vor ihn trat, den Saͤbelſchnaͤbler ſtreichelnd; er legte — nach einer kurzen Anzeige ſeiner Perſon und ſeines Geſuchs — ein Roͤll - chen Gold auf den Naͤhtiſch mit dem Schwure: „ nur unter dieſer Bedingung aller Auslagen nehm’ er das Gluͤck an, einem der größten Zergliederer gegenuͤber zu ſeyn. ” — „ Fiat! Es gefaͤllt mir ganz, daß Sie ruͤckwärts fahren, ohne23 zu vomiren; dazu bin ich verdorben durch die Jahre.” Der Doktor fuͤgte noch bey, daß er ſich freue, mit dem Freunde eines berühmten Dichters zu fahren, da er von jeher Dichter flei - ßig geleſen, obwohl mehr fuͤr phyſiologiſche und anatomiſche Zwecke und oft faſt bloß zum Spaße uͤber ſie: „ Es ſoll mir überhaupt lieb ſeyn, fuhr er fort, wenn wir uns gegenſeitig faſſen und wie Salze einander neutraliſiren; leider hab’ ich das Ungluͤck, daß ich, wenn ich im Wagen oder ſonſt Jemand etwas ſogenanntes Unangenehmes ſage, fuͤr ſatiriſch verſchrien werde, als ob man nicht jedem ohne alle Satire das ins Geſicht ſagen koͤnnte, was er aus Dummheit iſt. In - deß gefaͤllt Ihnen der Vater nicht, ſo ſitzt doch die Tochter da, naͤmlich meine, die nach keinem Manne fragt, nicht einmal nach dem Vater; mislingt der Winterbau, ſagen die Wetterkundi - gen, ſo geraͤth der Sommerbau. Ich fand’s oft.”
Dem Dichter Nieß gefiel dieſes akademiſche Peterfakt ganz, und er wuͤnſchte nur, der Mann trieb es noch aͤrger, damit er ihn gar ſtudieren24 und vermauern koͤnnte in ein Poſſenſpiel als komiſche Maske und Karyatide. „ Vielleicht iſt auch die Tochter zu verbrauchen, in einem Trau - erſpiele,” dacht’ er, als Theoda eintrat, und die von nachweinender Liebe und vom Jugend - heil glaͤnzte, und durch die frohe Nachricht ſeiner Mitfahrt neue Strahlen bekam. Jetzt wollte er ſich in ein intereſſantes Geſpraͤch mit ihr ver - wickeln; aber der Doktor, dem die Ausſicht auf einen Abendgaſt nicht heiter vorkam, ſchnitt es ab, durch den Befehl, ſie ſolle ſein Kaͤſtchen mit Pockengift, Fleiſchbrühtafeln und Zergliederungs - zeuge packen. „ Wir brechen mit dem Tage auf, ſagte er, und ich lege mich nach wenigen Stun - den nieder. Sic Vale!”
Am Morgen that oder war Theoda in der weib - lichen Weltgeſchichte nicht nur das achte Wunder der Welt — ſie war naͤmlich ſo fruͤh fertig als die Maͤnner — ſondern auch das neunte, ſie war noch eher fertig. Gleichwohl mußte man auf ſie warten — wie auf jede. Es war ihr naͤmlich die ganze Nacht vorgekommen, daß ſie geſtern durch ihr Freude-Brauſen bey einem Abſchiede, und durch ihr Eilen ſich an der ſchwangern Freun - din verſuͤndiget habe; ihr Herz trieb ſie gewalt - ſam noch einmal in der Morgendaͤmmerung zu ihr. Sie fand das Haus offen, (Mehlhorn war fruͤh verreißt) und kam ungehindert in Bonas Schlafgemach. Bloß wie eine von der Nacht geſchloſſene Lilie, ruhte ihr ſtilles Geſicht im altvaͤteriſchen Stuhle umgeſunken angelehnt Theoda kuͤßte eine Locke — dann leiſe die Stirn26 — dann, als ſie zu ſchnarchen anfing, gar den Mund.
Aber ploͤtzlich hob die verſtellte die Arme auf und umſchlang die[Freundin]: du biſt ſchon wieder zuruͤck, Liebe, ſagte ſie, weil dein Dich - ter nicht da war?
„ O, ſpotte viel ſtaͤrker uͤber die Suͤnderin, thue mir recht innig weh, denn ich verdiene es wohl von geſtern her!” antwortete ſie, und nannte ihr alles, was ihr feuriges Herz druͤckte. Bona legte die Wange an ihre, und konnte, vom vor - fruͤhen Aufſtehen ohnehin ſehr aufgeloͤſet, nichts ſagen, bis Theoda ſagte: „ ſchilt oder vergieb!” und jener heiße Thraͤnen aus den Augen ſchoſſen, und nun beyde ſich in einer Entzuͤckung verſtan - den. „ O jetzt moͤchte ich, ſagte Theoda, mein Blut, wie dieſes Morgenroth vertropfen laſſen, fuͤr dich. Ach ich bin eigentlich ſo ſanft; warum bin ich denn ſo wild, Bona?” — „ Gegen mich biſt du gerade recht, erwiederte ſie; nur einmal das beſte Weſen kann dein wildes verdienen. 27Bloß gegen andere ſey anders!” — „ Ich vergeſſe bloß immer alles, was ich ſagen will, oder leider geſagt habe; nur ein Ding, wie ich, konnte es geſtern zu ſagen vergeſſen, daß ich mich am in - nigſten nach der erleuchteten Hoͤle in Maulbronn, wie nach dem Sternenhimmel meiner Kindheit ſehne, meiner guten Mutter halber.” Ihr war nämlich ein unausloͤſchliches Bild von der Stunde geblieben, wo ihre Mutter ſie als Kind in einer großen mit Lampen erhellten Zauberhoͤle des Orts — aͤhnlich der Höle im Bade Liebenſtein — umhergetragen hatte.
Beyde waren nun Ein Herz. Bona hieß ſie zum Vater eilen — wiederholte ihren Rath der Vorſicht mit aller ihr moͤglichen Ruhe (iſt ſie fort, dachte ſie, ſo kann ich geruͤhrt ſeyn, wie ich will) vergaß ſich aber ſelber, als Theoda weinend mit geſenktem Kopfe langſam von ihr ging, daß ſie nachrief: „ mein Herz: ich kann nur nicht auf ſtehen, vor beſonderer Mattigkeit, und dich be - gleiten; aber kehre ja deshalb nicht wieder um zu mir!” Aber ſie war ſchon umgekehrt, und28 nahm, obwohl ſtumm den dritten Abſchieds - kuß; und ſo kam ſie mit der Augenroͤthe des Ab - ſchiedes und der Wangen - und Morgenroͤthe der Zeit laufend bey den Abreiſenden an.
Da der Doktor neben dem Edelmanne auf ihre Ankunft wartete: ſo ließ er noch ein Werk der Liebe durch Flexen ausuͤben, ſeinen Bedienten. Er griff naͤmlich unter ſeine Weſte hinein, und zog einen mit Brantwein getraͤnkten Pfefferkuchen hervor, den er bisher als ein Magen-Schild zum beſſern Verdauen auf der Herzgrube getragen: „ Flex, ſagte er, hier bringe mein Staͤrkungs - mittel druͤben den untern Gerberskindern; ſie ſollen ſich aber redlich darein theilen. ” — Der Edelmann ſtutzte.
„ Meiner Tochter, Hr. v. Nieß, ſagte er, duͤrfen Sie nichts ſagen; — ſie hat ordentlich Ekel vor dem Ekel — wiewohl ich fuͤr meine Perſon finde hierin weder einfachen noch doppel - ten noͤthig. Alles iſt Haut am Menſchen, und meine am Bauche iſt nur die fortgeſetzte von der an den Wangen, die ja alle Welt kuͤßte. Vor30 den Augen der Vernunft iſt das Pflaſter ein Pfefferkuchen, wie ein anderer im Herzogthume mir ein noch geiſtigerer.”
„ Ich geſtehe — verſetzte der ſich leicht ekelnde Dichter ſchnell, um nur dem boͤſen Bilde zu ent - ſpringen — daß mich Ihr Bedienter mit ſeinem langen Schlepp-Rocke faſt komiſch intereſſirt. Wie ich ihm nachſah, ſchien er mir ordentlich auf Knien zu gehen, wie ein Sieger zum Tempel des Jupiter capitolinus oder aus der Erde zu wachſen.”
Freundlich antwortete Katzenberger: „ Ich habe es gern, wenn meine Leute mir oder an - dern laͤcherlich vorkommen, weil man doch etwas hat alsdann. Mein Flex traͤgt nun von Geburt an gluͤcklicherweiſe kurze Dachs-Beine, und auch dieſe ſogar aͤußerſt zirkumflektiert, daß wenn ſein Rock lang genug iſt, ſein Steiß und ſein Weg, ohne daß er nur ſitzt, halb beyſammen bleiben. Dieſen komiſchen Schein ſeiner Trauer - ſchleppe nutz’ ich oͤkonomiſch. Ich habe nämlich einen und denſelben laͤngſten Lakeienrock, den jeder tragen muß, Goliath wie David. Dieſe31 Freigebigkeit entzweiete mich oft mit dem Pira - ner Proſektor, ſonſt mein Herzensfreund, aber ein geiziger Hund, der Leute en robe courte — ſtatt an longue robe — hat, denen er die Roͤcke zu kurzen neumodiſchen Weſten (nicht zu altmo - diſchen) einſchnurren laͤßt. Setz’ ich ſeinem Geitze mein Muſter entgegen: ſo verweiſet er mich auf die anatomiſchen Tafeln, nach denen unter den Gegenmuskeln der Hand, der Muskel, der ſie zuſchließe, ſtets viel ſtaͤrker ſey, als der wel - cher ſie aufmacht und zu jenem Muskel ge - hoͤre noch die Seele, wenn Geld damit zu hal - ten ſey. Daher die Freunde auch die Hände leichter gegen einander ballen als ausſtrecken. Etwas iſt daran.”
Als Theoda kam, hatte der Doktor, der im Vorderſitz wartete, daß er durch einen Huͤften - Nachbar feſter gepackt würde, den verdruͤßlichen Anblick, daß ſich das Paar nach langer Seßions - Streitigkeit ſich ihm gegenuͤber ſetzte. Die Toch - ter that es aus Hoͤflichkeit gegen Nieß, und aus Liebe gegen ihren Vater, um ihn anzuſehen und ſeine Wuͤnſche aufzufangen. Zuletzt ſagt’ er im32 halben Zorn: „ Du lehnſt dich an das Steißbein und Ruͤckgrad des Kutſchers, und laͤßt ruhig deinen alten Vater, wie ein Weberſchiffchen, von einem Kiſſen zum andern werfen, he?”
Jetzt bekam er ſeinen Fuͤllſtein zur Freude des Edelmannes, deſſen Seele ſich nun wie eine Fliege auf ihr Geſicht ſetzen konnte.
Sie fuhren ab … .... Aber jetzt faͤngt fuͤr den Abſender der Hauptperſonen, fuͤr den Verfaſſer, nicht die beſte Zeit von Leſers Seite an; denn da dieſer nun alle Verwickelungen weis, ſo wird er mit ſeiner gewoͤhnlichen Heftigkeit die ſaͤmmtlichen Entwickelungen in den nächſten Druckbogen he - ben wollen, und die Forderung machen, daß in den nächſten Summuln der Rezenſent ausgepruͤ - gelt werde, deſſen Namen er noch nicht einmal weis. — Daß Hr. v. Nieß ſeine Larve, als ſey er bloß ein Freund Theudobachs, abwerfe, und dieſer ſelber werde — und daß Theoda daruͤber erſtaune, und kaum wiſſe, wo ihr der Kopf ſteht, geſchweige das Herz. Thu’ ich nun dem Leſer den Gefallen, und pruͤgele, entlarve und verliebe, was dazu gehoͤrt: ſo iſt das Buch aus, und ich habe erbaͤrmlich in wenig Summuln ein Feuer -Erſter Theil. 334werk oder Luftfeuer abgebrannt, das ich nach ſo großen Vorruͤſtungen zu einem langen Step - penfeuer von unzaͤhlichen Summuln haͤtte ent - zuͤnden koͤnnen. Ich will aber Katzenberger heißen, entzuͤnd ichs nicht zu einem.
Von jetzt an, wird ſich die Maſſe meiner Le - ſer in zwey große Parteien ſpalten, die eine wird zugleich mich und die andere und dieſen Druck - Bogen verlaſſen, um auf dem letzten nachzuſehn, wie die Sachen ablaufen; es ſind dies die Kehr - aus-Leſer, die Valetſchmauſer, die Juͤngſtentag - Waͤhler, welche an Geſchichten wie an Froͤſchen nur den Hintertheil verſpeiſen und, wenn ſie es vermoͤchten, jedes treffliche Buch in zwey Kapi - tel einſchmölzen, ins erſte und ins letzte, und jedem Kopfe von Buch wie einem aufgetragnen Hechte den Schwanz ins Maul ſteckten, da eben dieſer an Geſchichten und Hechten die wenigſten Graͤten hat; Perſonen die nur ſo lange bey phi - loſophierenden und ſcherzenden Autoren bleiben, als das Erzählen dauert, wie die Nordameri - kaner nur ſo lange dem Prediger der Heidenbe - kehrer zuhorchen, als ſie Brantwein bekommen. 35Sie mögen denn reiſen dieſe Epilogiker. Was hier bey mir bleibt — die zweyte Partie — dies ſind eben meine Leute, Perſonen von einer ge - wiſſen Denkungsart, die ich am langen Seile der Liebe hinter mir nachziehe. Ich heiße auch alle wilkommen; wir wollen uns lange guͤtlich mit einander thun, und keine Summuln ſparen — wir wollen auf der Bad-Reiſe die Einheit des Ortes beobachten, wie die das Intereſſe und uns vor Anker legen. Langen wir doch nach den längſten verzoͤgerlichen Einreden und Vexirzuͤ - gen endlich zu Hauſe und am Ende an, wo die Kehrausleſer hauſen: ſo haben wir unterwegs alles, jede Zoll - und Warnungstafel und jeden Gaſthofsſchild geleſen und jene nichts, und wir lachen herzlich uͤber ſie.
Theoda konnte unmoͤglich eine Viertelſtunde bey dem Edelmanne ſitzen, ohne ihn uͤber Inner - und Aeußerlichkeiten ſeines Freundes Theudobach von dem Zopfe an, bis zu den Sporen auszu - fragen. Er ſchilderte mit wenigen Zuͤgen, wie einfach er lebe und nur fuͤr die Kunſt, und wie er, ungeachtet ſeiner Luſtſpiele, ein gutmuͤthiges liebendes Kind ſey, das eben ſo oft geliebt als be - trogen werde; und im Aeußern habe er ſo viel Aehnlichkeit mit ihm ſelber, daß er darum ſich oft Theudobachs Koͤrper nenne. Himmel! mit welchem Feuer ſchauete die Begeiſterte ihm ins Geſicht, um ihren Autor ein Paar Tage fruͤher zu ſehen! „ Ich habe doch in meinem Leben nicht zwey gleichaͤhnliche Menſchen geſehen,” ſagte The - oda, der einmal in einem glaͤnzenden Traume Theudobach ganz anders erſchienen war, als ſein vorgebliches Nachbild. Auf dieſe Weiſe bekam37 der Schleicher wie der Doppel-Adler zwey Kro - nen auf den Kopf, eine jetzige und eine kuͤnftige.
Jetzt warf er die Frage hin, wie ihr ſein be - ziehlich-beſtes Stuͤck: „ Der Ritter einer beſſern Zeit” gefallen, mit welchem er eben in Maul - bronn die deklamatoriſche Akademie anfangen wolle. Da ein Autor bey einem Leſer, der ihn wegen eines halben Dutzend Schriften anbetet, ſtets vorausſetzt, er habe das Ganze geleſen: ſo erſtaunte er ein wenig uͤber Theodas Freude, daß ſie etwas noch Ungeleſenes von ihm werde zu hoͤren bekommen. Sie mußte ihm nun — ſo wenig wurd’ er auf ſeinem Selbſtfahrſtuhl von Siegswagen des ſchoͤnen Aufzugs ſatt — ſagen, was ſie vorzuͤglich am Dichter liebe: „ großer Gott, verſetzte ſie, was iſt vorzuͤglich zu lieben, wenn man liebt? Am meiſten aber gefaͤllt mir ſein Witz — am meiſten jedoch ſeine Erhabenheit — freilich am meiſten ſein zartes heißes Herz — und mehr als alles andere, was ich eben leſe. ” — „ Was leſen Sie denn eben von ihm?” fragte Nieß. „ Jetzt nichts,” ſagte ſie.
38Der Edelmann brauchte kaum die Haͤlfte ſei - ner feinen Fuͤhlhoͤrner auszuſtrecken, um es den Doktor abzufuͤhlen, daß er mit ſeinem ver - ſchraͤnkten Geſichte eben ſo gut unter dem Bal - biermeſſer freundlich laͤcheln koͤnnte, als unter ei - nem fuͤr ihn ſo widerhaarigen Geſpraͤche; er that daher — um allerley aus ihm heraus zu reitzen, woruͤber er bey der künftigen Erkennungsſcene recht erroͤthen ſollte — die Frage an ihn, was er ſeines Orts vom Dichter fuͤr das Schlechteſte halte. „ Alles, verſetzte er, da ich die Schnur - ren noch nicht geleſen. Mich wunderts am mei - ſten, daß er als Edelmann und Reicher etwas ſchreibt; ſonſt taugen in Papiermuͤhlen wohl die groben Lumpen zu Papier, aber nicht die ſeid - nen.” Nieß fragte: ob er nicht in der Jugend Verſe gemacht? „ Pope — gab er zur Antwort — entſann ſich der Zeit nicht, wo er keine geſchmie - det, ich erinnere mich derjenigen nicht, wo ich dergleichen geſchaffen haͤtte. Nur einmal mag ich als verliebtet Geßners Schaͤfer und Prima - ner, ſo wie in Krankheiten ſogar die Venen pul - ſieren, in Poetaſterei hineingerathen ſeyn, vor39 einem dummen Ding von Maͤdchen — Gott weis, wo die Goͤttin jetzt ihre Ziegen melkt. — Ich ſtellte ihr die ſchöne Natur vor, die ſchon dalag und warf die Frage auf: ſieh, Suſe, bluͤht nicht alles vor uns wie wir, der Wieſenſtorch - ſchnabel, und die große Gaͤnſeblume und das Rindsauge, und die Gichtroſe und das Lungen - kraut, bis zu den Schlehengipfeln und Birnen - wipfeln hinauf? Und uͤberall beſtaͤuben ſich die Blumen zur Ehe, die jetzt dein Vieh frißt? — Sie antwortete geruͤhrt: wird Er immer ſo an mich denken, Amandus? Ich verſetzte wild: Beym Henker an uns beyde; wohin ich kuͤnftig auch verſchlagen und verfahren werde, und in welchen fernen Fluß und Bach ich auch einſt ſchauen werde — es ſey in die Schweine in Meiningen — oder in die Beſau und die Geſau im Henneberg — oder in die wilde Sau in Boͤhmen — oder in die Wampfe in Luͤneburg — oder in den Lumpelbach in Salzburg — oder in die Starzel in Tyrol — oder in die Kratza oder in den Galgenbach in der Oberpfalz — in welchen Bach ich, ſchwoͤr’ ich Dir, kuͤnftig ſchauen40 werde, ſtets werd’ ich darin mein Geſicht erbli - cken, und dadurch auf Deines kommen, das ſo oft an meinem geweſen, Suſe. — Jetzt frey - lich, Hr. v. Nieß, ſprech’ ich proſaiſcher.”
Nieß grif feurig nach des Doktors Hand, und ſagte: „ Das ſcherzhafte Gewand verberge ihm doch nicht das weiche Herz darunter.” „ Ich muß auch durchaus fruͤherer Zeit zu weich und fluͤſſig geweſen ſeyn — verſetzte dieſer — weil ich ſonſt nicht gehoͤrig hart und knoͤchern haͤtte werden koͤnnen, denn es iſt geiſtig wie mit dem Leibe, in welchem bloß aus dem Fluͤſſigen ſich die Knochen und alles Harte erzeugt, und wenn ein Mann harte Eiszapfenworte ausſtoͤßt, ſo ſollte dies wohl der beſte Beweis ſeyn, wie viel weiche Thraͤnen er ſonſt vergoſſen.” „ Immer ſchoͤner!” rief Nieß, „ o Gott nein!” rief The - oda im gereitzten Tone.
Der Edelmann ſchob ſogleich etwas Schmei - chelndes, naͤmlich einen neuen Zug von Theu - dobach ein, den er mit ihm theile, naͤmlich den Genuß der Natur. Alſo auch des Maies? fragte der Doktor; Nieß nickte. Hierauf erzaͤhlte die -41 ſer: Daruͤber hab’ er ſeine erſte Braut ver - loren; denn er habe, da ſie an einem ſchoͤnen Morgen von ihren Maigenuͤſſen geſprochen, verſetzt, auch er habe nie ſo viele gehabt, als in dieſem Mai, wegen der unzaͤhligen Maikaͤfer; als er darauf zum Beweiſe einige von den Blaͤt - tern abgepfluͤckt, und ſie vor ihren Augen aus - geſogen und genoſſen: ſo ſey er ihr ſeitdem mehr greuels - als liebenswuͤrdig vorgekommen, und er habe durch ſeine Roͤſelſche Inſektenbeluſtigun - gen Brautkuchen und Honigwochen verſcherzt und vernaſcht.
Nieß aber ſich mehr zur Tochter ſchlagend, fuhr kuͤhn mit dem Ernſte des Naturgenuſſes fort, und ſchilderte mehrere ſchoͤne Ausſichten ab, die man ſah, und von manchen erhabenen Wol - ken-Partien lieferte er gute Roͤthelzeichnun - gen: — als endlich die Partien zu regnen an - fingen und ſelbſt herunter kamen. Sogleich rief der Doktor den langroͤckigen Flex in den Wagen herein als einen Fuͤllſtein fuͤr Nieß. Dieſem entfuhr der Ausruf: Dieß zarte Gefuͤhl hat auch unſer Dichter fuͤr ſeine Leute, Theoda! —42 „ Es iſt, antwortete ihr Vater, zwar weniger der Menſch da, als ſein langer Rock zu ſcho - nen; aber zartes Gefuͤhl aͤußert ſich wohl bey jedem, den der Wagen verdammt ſtößt.” Bald darauf kamen ſie in St. Wolfgang an.
Gewoͤhnlich fand der Doktor in allen Wirths - haͤuſern beſſere Aufnahme als in denen, wo er ſchon einmal geweſen war. Nirgends traf er aber auf eine ſo verzogne Empfangs-Phyſiog - nomie als bey der verwittibten, nett gekleideten Wirthin in St. Wolfgang, bey der er jetzt zum zwoͤlftenmale ausſtieg. Das zweytemal, wo ſie in der Halbtrauer um ihre eheliche Haͤlfte, und in der halben Feiertags-Hoffnung auf eine neue ihrem mediziniſchen Gaſte mit Klagen uͤber Hals - ſchmerzen ſich genaͤhert, hatte dieſer freundlich ſie in ſeiner Amtsſprache gebeten: ſie moͤge nur erſt den Unterkiefer niederlaſſen, er wolle ihr in den Rachen ſehen. Sie ging wuͤthig-erhitzt, und mit vergroͤßerten Halsſchmerzen davon, und ſagte: „ Sein Rachen mag ſelber einer ſeyn; denn kein Menſch im Hauſe frißt Ungeziefer, als Er.” Sie bezog ſich auf ſein erſtes Dageweſenſeyn. 44Er hatte naͤmlich zufolge allgemein-beſtaͤtig - ter Erfahrungen und Beyſpielen z. B. de la Lande’s und ſogar der Dlle. Schurmann — welche nur naturhiſtoriſchen Laien Neuigkeiten ſeyn koͤnnen — im ganzen Wirthshauſe (dem Kellner ſchlich er deshalb in den Keller nach) umher geſtoͤbert und gewittert, um fette runde Spinnen zu erjagen, die fuͤr ihn (wie fuͤr das obengedachte Paar) Landauſtern und lebendige Bouillon-Kugeln waren, die er friſch aß. Ja er hatte ſogar, um den allgemeinen Ekel des Wirthshauſes, wo moͤglich, zurecht zu weiſen — vor den Augen der Wirthin und der Auf - waͤrter reife Kanker auf Semmelſchnitte geſtri - chen und ſie aufgegeſſen, indem er Stein und Bein dabey ſchwur — um mehr anzukoͤdern — ſie ſchmeckten wie Haſelnuͤſſe.
Gleichwohl hatte er dadurch weit mehr den Abſcheu als den Appetit in Betreff der Spinnen und Seiner-Selbſt vermehrt und zwar in ſolchem Grade, daß er ſelber der ganzen Wirthſchaft als eine Kreutz-Spinne vorkam, und ſie ſich als ſeine Fliegen. Als er daher ſpaͤter einmal ver -45 ſuchte, dem Kellner nachzugehen, um un - ten aus den Kellerloͤchern ſeine mensa ambula - toria, ſein Kanarienfutter zu ziehen; ſo blickte ihn der Purſche mit fremdem wie geliehenem Grimme an und ſagte: Freſſ’ Er ſich wo anders dick als im Keller! —
Nichts bekümmerte ihn aber weniger als ſauere Geſichter; der geſunde Sauerſtoff, der den groͤ - ßeren Beſtandtheil ſeines in Worte gebrachten Athems ausmachte, hatte ihn daran gewoͤhnt. Heute hatte er ſogar das Gluͤck, unter einer Winkeltreppe ein niedliches Kaͤtzchen anzutreffen, nach welchem er ſich lange geſehnt, weil er noch keins dieſer Art unter dem Meſſer gehabt; er ſteckte daher dieſen Privatdozenten der Zergliede - rung ein, nachdem er ihm vorher, um ihm alles Leiden und Kerkerfieber der Taſche zu er - ſparen, den Kopf einigemale auf dem Hals um - hergedreht hatte.
Die Wirthin gab ſich alle Muͤhe, unter dem frohen Gaſtmahle ihn von Theoda und Nieß recht zu unterſcheiden zu ſeinem Nachtheile; er, mit dem erwuͤrgten Dozenten in der Taſche, nahm46 die Unterſcheidung ſehr wohl auf, und zeigte große Luſt, naͤmlich Eßluſt; und ließ, um we - niger der Wirthin als ſeinen Leuten etwas zu ſchenken, dieſen nichts geben, als ſeine Tafel - reſte. Die Wirthin ließ er zuſehen, wie er mit derſelben Butter, zugleich ſeine Brodſchei - ben und ſeine Stiefel-Glatzen beſtrich, und wie er den Zuckeruͤberſchuß zu ſich ſteckte unter dem Vorwande, er hole aus guten Gruͤnden den Zucker erſt hinter dem Kaffee nach im Wagen.
Da das erſte, was Nieß an jedem Orte und Oertchen that, war, nachzuſehen, was von ihm da geleſen und gehalten wurde: ſo fand er zu ſeiner Freude nicht nur im elenden Leih - buͤcher-Verzeichniß ſeine Werke, ſondern auch in der Wirthsſtube einige geliehene wirkliche. Sich gar nicht zu finden, druͤckt beruͤhmte Maͤn - ner ſtärker, als ſie ſagen wollen. Nieß ertheilte ſeinen Leihwerken aus Liebe fuͤr den Wolfgang - iſchen Leihbibliothekar auf der Stelle einen unbeſchreiblichen Liebhaber-Werth (pretium affectionis) bloß dadurch, daß ers einem Vol -47 taire, Diderot und D’Alembert gleich that, in - dem er wie ſie, Noten in die Werke machte mit Namensunterſchrift; — die kuͤnftige Ent - zuͤckung daruͤber konnte er ſich leicht denken.
Waͤhrend Theoda zwiſchen dem Dichter und der Freundin hin und her träumte: kam auf einmal der Mann der letztern, der arme Mehl - horn matt herein, der nicht den Muth gehabt, ſeinen kuͤnftigen Gevatter um einen Kutſchen - ſitz anzuſprechen. Der Zoller war zwar kein Mann von glaͤnzendem Verſtande — er traute ſeiner Frau einen groͤßern zu — und ſeine Aus - gaben der Langenweile uͤberſtiegen weit ſeine Einnahme derſelben; aber wer Langmuth im Ertragen, Dienſtfertigkeit und ein anſpruchlo - ſes redliches Leben liebte, der ſah in ſein im - mer freudiges und freundliches Geſicht, und fand dieß alles mit Luſt darin. Theoda lief auf ihn entzuͤckt zu, und fragte ſelbſtvergeſſen, wie es ihrer Freundin ergangen, als waͤre er ſpaͤter abgereiſet. Er verzehrte ein duͤnnes Mittags - mahl, wozu er die Hälfte mitgebracht: „ man muß wahrhaftig — ſagt’ er ſehr wahr — ſich48 recht zuſammennehmen, wenn man noch zwey Stunden nach Huhl hat, und doch Nachts wieder zu Hauſe ſeyn will, es iſt aber koſtbares Wetter fuͤr Fußgaͤnger. “
Theoda zog ihren Vater in ein Nebenzimmer und ſetzte alle weibliche Roͤſt -, Schmelz - und Treibwerke in Gang, um ihn ſo weit fluͤßig zu ſchmelzen, daß er den Zoller bis nach Huhl mit ein - ſitzen ließ. Er ſchuͤttelte kaltbluͤtig den Kopf, und ſagte die Gevatterſchaft fuͤrchtend: „ auch nähm’ ers am Ende gar fuͤr eine Gefaͤlligkeit, die ich ihm etwa beweiſen wollte. “ Sie rief den Edelmann zum Bereden zu Huͤlfe; dieſer brach — mehr aus Liebe fuͤr die Fuͤrſprecherin — gar in thea - traliſche Beredſamkeit aus, und ließ in ſeinem Feuer ſich von Katzenberger ganz ohne eines anſehen. Dem Doktor war naͤmlich nichts lie - ber, als wenn ihn jemand von irgend einem Entſchluſſe mit tauſend beweglichen Gruͤnden abzubringen anſtrebte; ſeiner eignen Unbeweg - lichkeit verſichert, ſah er mit deſto mehr Genuß zu, wie der andere jede Minute des Ja’s ge - waͤrtig, ſich nutzlos abarbeitete. Ich verſinn -49 liche mir dies ſehr, wenn ich mir einen umher - reiſenden Magnetiſeur und unter deſſen Haͤnden das Geſicht eines an menſchlichen Magnetismus unglaͤubigen Autors z. B. Bieſters vorſtelle, wie jener dieſen immer aͤngſtlicher in den Schlaf hin - ein zu ſtreichen ſucht, und wie der Bibliothekar Bieſter ihm unaufhoͤrlich ein aufgewecktes Ge - ſicht mit blickenden Augen ſtill entgegenhaͤlt. „ Gern macht’ ich ſelber, ſagte Nieß, noch den kurzen Weg zu Fuß.” Und ich mit, ſagte The - oda. „ O! — ſagte Nieß und druͤckte recht feu - rig die Katzenbergeriſche Hand — ja es bleibt dabey, Vaͤterchen, Nicht?” — „ Natuͤrlich — ver - ſetzte letzteres —, aber Sie koͤnnen denken, wie nichtig meine Gruͤnde ſeyn muͤſſen, wenn ſie ſogar von Ihnen nicht uͤberwogen werden.” Man ſchien auf Seiten des Paars etwas betroffen: „ auch moͤcht’ ich den guten Umgelder ungern verſpaͤten, ſetzte der Doktor hinzu, da wir erſt nach dem Pferde-Fuͤttern aufbrechen, er aber ſogleich.”
Als ſie ſaͤmmtlich zuruͤckkamen, ſtand der Mann ſchon freundlich da, mit ſeinem AbſchiedeErſter Theil. 450reiſefertig wartend. Theoda begleitete ihn hin - aus, und gab ihm hundert Gruͤße an die Freun - din mit und den Schwur, daß ſie ſchon dieſen Abend das Tagebuch an ſie anfange: „ könnt’ ich fuͤr Sie gehen, guter Mann!” ſagte ſie; und er ſchied mit einem langen Dankpſalm, ohne ſie ſonderlich zu verſtehen.
Bald darauf als die Pferde abgefuͤttert waren, und die Gewinn - und Verluſtrechnung abge - than, gab Katzenberger das Zeichen des Abſchieds; — es beſtand darin, daß er heimlich die Koͤrke ſeiner bezahlten Flaſchen einſteckte. Er fuͤhrte Gruͤnde fuͤr dieſe letzte Ziehung aus der Flaſche an: es ſey erſtlich ein Mann in Paris blos da - durch ein Millionair geworden, daß er auf allen Kaffehaͤuſern ſich auf ein ſtilles Korkziehen mit den Fingern gelegt, wobey er freylich mehr ans Stehlen gedacht, als an erlaubtes Einſtecken; zweytens ſey jeder, der eine Flaſche fodere, Herr uͤber den Inhalt derſelben, wozu der Stoͤpſel als deſſen Anfang am erſten gehoͤre, den er mit ſeinem eigenen Korkzieher zerbohren oder51 auch ganz laſſen und mitnehmen koͤnne, als eine elende Kohle aus dem niedergebrannten Wein - feuer.” Daruͤber ſuchte Nieß zu laͤcheln ohne vielen Erfolg.
Im Ganzen ſitzt ohnehin jeder Kutſchenklub in den erſten Nachmittagsſtunden ſehr matt und dumm da; das junge Paar aber thats noch mehr, weil Katzenbergers Geſicht, ſeitdem er dem armen Schreckens-Gevatter die Wagenthuͤre vor der Naſe zugeſchlagen, kein ſonderliches Roſen - thal und Paradies fuͤr jugendlich-gutmuͤthige Augen war, die in denſelben hinein und auf den ſandigen Weg hinausſahen. Er ſelber litt weniger; ihn verließ nie jene Heiterkeit, welche zeigen konnte, daß er ſich den Stoikern beyge - ſellte, welche verboten, etwas zu bereuen, nicht einmal das Boͤſe. Indeß iſt dieſer hoͤhere Stoi - zismus, der den Verluſt der unſchaͤtzbaren hoͤ - heren Guͤter noch ruhiger ertraͤgt als den der kleinern, nicht ſo ſelten als man klagt.
Nach einigen Minuten Sandfahrt ſenkte Katzenberger ſein Haupt in Schlaf. Jetzt be -53 kraͤnzte Theoda ihren Vater mit allen moͤglichen Redeblumen, um dem Freund ihres Dichters ihre Tochter-Augen für ihn zu leihen. Beſon - ders hob ſie deſſen reines Feuer fuͤr die Wiſſen - ſchaft heraus, fuͤr die er Leben und Geld ver - ſchwende, und beklagte ſein Loos, ein gelehrter einſamer Rieſe zu ſeyn. Da der Edelmann ge - wiß vorausſetzte, daß die Augen-Sperre des Rieſen nichts ſey, als ein Aufmachen von ein Paar Dionyſius-Ohren, wie uͤberhaupt Blinde beſſer hoͤren: ſo fiel er ihr unbedingt bey, und erklaͤrte, er erſtaune uͤber Katzenbergers Genie. Dieſer hoͤrte dies wirklich, und hatte Muͤhe, nicht aus dem Schlafe heraus zu laͤcheln wie ein Kind, womit Engel ſpielen. Des blin - den optiſchen Schlafes bedient er ſich bloß, um ſelber zu hoͤren, wie weit Nieß ſein Verlieben in Theoda treibe; um dann etwa bey feurigen Welt - und Redetheilen raſch auf zu wachen, und mit Schnee und Scherz einzufallen. Jetzt ging Theoda, die den Schlummer glaubte, weil ihr Vater ſich ſelten die Muͤhe der Verſtellung gab, noch weiter und ſagte dem Edelmanne frei:54 „ ſein Kopf lebt zwar dem Wiſſen, wie ein Herz dem Lieben, aber Sie ſpringen zu ungeſtuͤm mit ſeiner Natur um. — In der That — Sie legen es ordentlich darauf an, daß er ſich uͤber Ge - fuͤhle recht ſeltſam und ohne Gefuͤhle ausdruͤcke. Thaͤte dieß wohl Ihr Theudobach?” — „ Gewiß — ſagt’ er — aber in meinem Sinne. Denn Ihren Vater, liebreiche Tochter, nehm’ ich viel beſſer als der Haufe. Mich hindert ſeine ſatiri - ſche Enkauſtik nicht, darhinter ein warmes Herz zu ſehn. Recht geſchliffnes Eis iſt ein Brenn - glas. Man iſt ohnehin der alltaͤglichen Liebes - Floſkeln der Buͤcher ſo ſatt!” O dieſer ſanfte Schlaͤfer vor uns, iſt vielleicht waͤrmer als wir glauben und ſeiner Tochter werth!” Katzenber - ger jetzt warm und heiß vom nahen Nachmittags - ſchlummer, haͤtt etwas darum gegeben, wenn ihm ſein Geſicht, wie das des Kaͤtzchens in der Taſche, waͤre gegen den Ruͤcken und das Kut - ſchen-Fenſterchen gedreht geweſen, damit er un - geſehen haͤtte laͤcheln koͤnnen; wenigſtens ſchnarchte er.
Nieß ging von da auf die Weiſe uͤber, Lieben55 auszuſprechen und legte ſie an einem bekannten Theudobachiſchen Schauſpiel: „ Die zage ſcheue Liebe” zergliedernd aus einander. Ein Buͤh - nen-Dichter vieler Stuͤcke, oder ein Kunſtrich - ter aller Stuͤcke wird ihm eine Schiff - und Eſels - bruͤcke in ein Weiberherz. Daruͤber verſank doch der Doktor vor Langerweile aus dem vorgetraͤum - ten Schlaf in einen aͤchten und zwar bald nach Nießens ſchoͤnen wahren Worten: „ jungfraͤuliche Liebe ſchlummert wol, aber ſie traͤumt doch.”
Als er ganz ſpaͤt aufwachte: ſagt’ er, halb im Schlafe: „ natuͤrlich ſchlaͤft ſie und traͤumt dar - auf.” Nur Nießen war dieſer ihm zugehoͤrige Sinnſpruch deutlich und erinnerlich, und er dachte leiſe: „ ſeht den Dieb!”
Eben watete ihnen im Sande ein Bekannter der Familie entgegen, der ſogleich ſich umkehrte, als er in die Taſchen griff und den Wagen er - blickte. Es iſt bekannt, daß es der Winkel - Schul-Direktor Wuͤrfel war, ein feines Maͤnnchen. Der Doktor ließ ihm ſchnell nach - fahren, um das Umwenden zu begreifen. Ein - geholt kehrte der Direktor ſich wieder um und56 verbeugte ſich ſtufenweiſe vor jedem. Der Dok - tor fragte, warum er immer ſo umkehre? „ er ſey ſo ungluͤcklich geweſen, ſein Taſchenbuch in Huhl zu vergeſſen; und jetzt ſo gluͤcklich gewor - den, indem er’s hole, eine ſolche Geſellſchaft immer vor Augen, wenn auch von weitem zu haben.” „ So nehmen Sie hier Ruͤckſitz und Stimme” ſagte der Doktor zu Nießens Ver - wundrung.
Der Winkel-Schul-Direktor war lange wohl zehnmal adlicher Haus - und Schloß-Leh - rer geweſen — hatte mehr als hundert Haus - baͤllen zugeſchaut, und getraute ſich jede adliche Schuͤlerin noch anzureden, wenn ſie mannbar geworden — wie der alte Deutſche im Trunke keuſch blieb, ſo war er ſtets mitten unter den feinſten Deſſertweinen nicht nur keuſch, ſondern auch nuͤchtern geblieben, weil er den ſchlechteſten bekam — und war uͤberhaupt an den Tiſchen ſeiner Herrn tafelfaͤhig, wenn auch nicht ſtimm - faͤhig geweſen. Dieſes Durchwaͤlzen durch die feine Welt hatt’ an ihm ſo viele elegante Sitten zuruͤckgelaſſen, als er zu oft an Spezial - ja an57 Generalſuperintendenten vermißte; ſo daß ihm oͤfters nichts zum vollſtaͤndigſten feinſten Fat fehlte als der Muth; aber er glich dem Prediger, welcher auf der Kanzel mitten zwiſchen ſeinen heiligſten Erhebungen uͤber die Erde und deren Gaben von Zeit zu Zeit — ſchnupft. Dabey hatte er durch langes Erziehen faſt alle Sprachen und Wiſſenſchaften und die uͤbrige Kultur in den Kopf bekommen, die ihm wie einem armen Poſtknechte Reichthuͤmer und Prinzen zu nichts halfen, als daß er ſie weiter zu ſchaffen hatte. Da er indeß kein Wort ſagte, das nicht ſchon einen Verleger und Verfaſſer gehabt haͤtte: ſo hoͤrte man ſeine Schuͤler lieber als ihren Lehrer.
Dieſer Winkelſchul-Direktor hatte nun einſt mit Theoda Teudobachs Stuͤcke ins Engliſche, und ſich dabey (da ſie nur eine Buͤrgerliche war) in einen Liebhaber und in den Himmel uͤber - tragen. Eben deßhalb hatte ihm der Doktor, der in Herzensſachen Scherz verſtand und ſuchte, einen Sitz neben den erſten Liebhaber Nieß ausgeleert: „ ich ſehe, ſagte er, nichts lieber58 mit einander ſpielen als zwey Haſen, ausge - nommen den Fuchs mit dem Haſen.”
Es ging anders. Theoda ſtellte vor allen Dingen den Vielwiſſer Wuͤrfel — dem ſie freu - dig alles ſchenkte, ſich ausgenommen — dem Freunde des ins Engliſche verdollmetſchten Dich - ters vor; jetzt fing das lange Zergliedern des Dichters (Nieß war der Proſektor) an, jedes Glied wurde durch kritiſches Zerſchneiden ver - groͤßert und zum Ewigkeits-Praͤparat beſeelt; nur Katzenberger hatte nichts als die Katze in der Taſche.
Nieß zeigte dabey die leichte Weltmanns Waͤrme eines feurigen Juvels. Wuͤrfel zeigte eine Schmelzofengluth, als waͤren in ſeiner die poetiſchen Geſtalten erſt fertig zu gießen; Theoda zeigte eine Franzoͤſin, eine Deutſche, und eine Jungfrau und ein Sich. Indeß ſah der helle Edelmann aus jedem Worte Wuͤrfels, wie dieſer den Teudobachiſchen Sockus und Ko - thurn nur in ein Fahrzeug verkehrte, um auf einer von den ſchoͤnen Freundſchafts-Inſeln Theoda’s anzulanden; je mehr daher der Di -59 rektor den Dichter erhob, deſto mehr erzuͤrnte ſich der Edelmann. Doch blieben beyde, Nieß und Theudobach, ſo feſt und fein und ſtudirten die Menſchen, und wollten weniger die Schuld - ner einer (dichteriſchen) Vergangenheit ſeyn, als einer (proſaiſchen) Gegenwart; Nieß wollte zugleich als Muͤnzer und als Muͤnze gelten.
Vom Dichten kommt man leicht aufs Lieben, und indem man ideale Karaktere kritiſirt, pro - duzirt man leicht den eigenen, und ein gedruck - ter Roman wird das Getriebe und Leitzeug eines lebendigen. Wuͤrfel ſtach hier mehr durch Fein - heit hervor, Nieß durch Keckheit. Jener zeigte einen Grad von romantiſcher Delikateſſe, der ſeinen Stand verrieth, naͤmlich den mittlern. Ich kann hier aus eigner Erfahrung die Weiber der höhern Staͤnde verſichern, daß, wenn ſie eine romantiſchere zaͤrtere Liebe kennen wollen als die galante, höhnende, atheiſtiſche ihrer Weltleute, ſie ſolche in meinem Stande finden koͤnnen, wo mehr Begeiſterung, mehr Dichter - Liebe, und weniger Erfahrung herrſcht; und dieſe Bemerkung ſollte mich freuen, wenn ich60 durch ſie zum Gluͤcke manches Hofmeiſters und deſſen hoher Prinzipalin etwas beygetragen haͤtte; meines waͤre mir denn Belohnung genug.
Niemand war in der Kutſche zu bedau - ern, als der Blutzeuge Katzenberger, dem ſolche Diskurſe ſo in die Ohren eingingen, wie einem Pferde der Schluck Arzeney, die man ihm durch die Naſenloͤcher einſchuͤttet. Um aber mit ir - gend etwas ſeinem Ohre zu ſchmeicheln, brachte er einen feinen Iltispinſel heraus und ſteckte ihn in den rechten Gehörgang bis nahe ans Paukenfell und wirbelte ihn darin umher; er verſicherte die Zuſchauer, hierin ſey er ganz der Mei - nung der Sineſer, wovon er die Sitte entlehne, welche dieſen Ohrenkitzel und Ohren-Schmaus fuͤr den Himmel auf Erden hielten.
Da aber die Menſchen immer noch links hoͤ - ren, wenn ſie in Luſt-Geſchaͤften rechts taub ſind: ſo vernahm er noch viel vom Geſpraͤch. Er fiel daher in dieſes mit ein und berichtete: „ Auch er habe ſonſt als Unverheiratheter an Heirathen gedacht und nach der damaligen Mode angebe -61 tet — was damals Adoriren geheißen —; doch ſey einem Manne, der ploͤtzlich aus dem ſtren - gen mathematiſch-anatomiſchen Heerlager ins Kindergaͤrtchen des Verliebens hinein gemußt, damals zu Muthe geweſen, wie einem Lachſe, der im Lenze aus ſeinem Salz-Ozean in ſuͤße Fluͤſſe ſchwimmen muß, um zu leichen. Noch dazu wäre zu ſeiner Zeit eine beſſere Zeit gewe - ſen — damals habe man aus der brennenden Pfeife der Liebe polizeymaͤßig wie ohne Pfeifen - deckel geraucht. — Man habe von der ſogenann - ten Liebe nirgends in Kutſchen und Kellern ge - ſprochen, ſondern von Haushalten, von Sich - Einrichten, und Anſetzen. So geſteh’ er z. B. ſeiner Seits, daß er aus Scham nicht gewagt, ſeine Werbung bey ſeiner durch Maikaͤfer ent - fuͤhrten Braut anders einzukleiden, als in die wahrhaftige Wendung: naͤchſtens gedenke er ſich als Geburtshelfer zu ſetzen in Pira, wiſſe aber leider, daß junge Maͤnner ſelten gerufen wuͤr - den, und ſchwache Praxis haͤtten, ſo lange ſie unverehlicht waͤren. ” — „ Freilich, ſetzte er hinzu, war ich damals hoͤlzern in der Liebe, und erſt62 durch die Jahre wird man aus weichem Holze ein hartes, das nachhaͤlt.”
„ Bey der Trennung von Ihrer Geliebten mag Ihnen doch im Mondſcheine das Herz ſchwer geworden ſeyn?” ſagte der Edelmann. „ Zwey Pfund — alſo halb ſo ſchwer als meine Haut — iſt meines wie Ihres bey Mond - und bey Sonnenlichtſchwer,” verſetzte der Doktor. „ Sie kamen ſo nach uͤber die empfindſame Epoche, wo alle junge Leute weinten, leichter hinweg?” fragte Nieß. „ Ich hoffe, ſagt er, ich bin noch darin, da ich ſcharf verdaue, und ich vergieße taͤglich ſo viele ſtille Thraͤnen als irgend eine edle Seele, naͤmlich vier Unzen den Tag; nur aber ungeſehen (denn die Magenhaut iſt mein Schnupftuch); unaufhoͤrlich fließen ſie ja bey heilen guten Menſchen in den knochigen Naſen - kanal und rinnen durch den Schlund in den Magen und erweichen dadrunten manches Herz, das man gekaͤuet, und das zum Verdauen und Nachkochen da liegt.”
Da aber Nieß, um den ſeltenen Seefiſch immer mehr fuͤr ſeine dichteriſche. Naturalien -63 kammer aufzutrocknen, eine neue Frage thun wollte: fuhr Theoda ordentlich auf und ſagte: Hr. v. Nieß Sie ſind im Innerlichen noch haͤrter und boshafter als mein Vater ſelber. — „ So, ſagte der Doktor, noch haͤrter als ich? Es iſt wahr, die weibliche Sprache iſt wie die Zunge weich und linde zu befuͤhlen, aber dieſe ſanfte Zunge haͤlt ſich hinter den Hundszaͤhnen auf, und ſchmeckt und ſpedirt gern, was dieſe zer - riſſen haben.” Hier ſuchte der feine Wuͤrfel auf Etwas ſchoͤneres hin abzulenken, und bemerkte, was bisher Theoda nicht geſehen: „ dort ſchreite ſchon lange Hr. Umgelder Mehlhorn ſo tapfer, daß ihn der Kutſcher ſchwerlich auf dem hoͤcke - rigen Wege uͤberhole.” Als dies der Kutſcher hoͤrte, dem ſchon laͤngſt der nicht einzuholende Zoller eine bewegliche Schandſaͤule und Hoͤllen - maſchine geweſen: ſo fuhr er gallopirend in die
Hinein und warf an einem ſchiefgeſunknen Graͤnzſtein leicht, wie mit einer Wurfſchaufel, den Wagen in einen naſſen Graben hinab. Katzenberger fuhr als primo Ballerino zuerſt aus der Schleudertaſche des Kutſchers, griff aber im Fluge in die Halsbinde des Schuldirektors, wie in einen Kutſchen-Lakaien-Riemen ein, um ſich an etwas zu halten; — Wuͤrfel ſeines Orts krallte nach Fleren hinaus und in deſſen Fries - Aermel ein, und hatte unten im Graben den mitgebrachten Fries-Aufſchlag in der Hand; — Nieß, das Geſtirn erſter Groͤße im Wagen, glaͤnzte unten im Drachenſchwanze ſeiner Lauf - bahn, nahm aber mehr die Geſtalt eines Haar - ſterns an, weil er die Theoda’ſche Peruͤcke nach ſich gezogen, an die er ſich laut wehklagend un - terwegs hatte ſchließen wollen; — Theoda war durch kleines Nachgeben gegen den Stoß und65 durch Erfaſſen des Kutſchenſchlages diagonal im Wagen geblieben; — Flex ruhte, den Kut - ſcher noch recht umhalſend, bloß mit der Stirn im Kothe, wie ein mit dem Gipfel vortheilhaft in die Erde eingeſetzter Baum.
Erſt unten im Graben und als jedermann angekommen war — konnte man wie in einem Unterhauſe auf Herauskommen ſtimmen und an Einhelligkeit denken. Katzenberger votierte zu - erſt, indem er die Hand aus Wuͤrfels Halsbinde nahm, und dann auf dem Ruͤckgrade des Schul - direktors wie auf einer fluͤchtigen Schiffbruͤcke wegging, um nachher auf Flechſen aufzufußen und ſich von da, wie auf einem Gaukler - Schwungbret leicht ans Ufer zu ſchwingen. Es gelang ihm ganz gut, und er ſtand droben und ſah hernieder.
Hier konnte er nicht ohne wahre Ruhe und Luſt ſo leicht bemerken, wie die andern Hechte im Graben Waſſer ſchnalzten, aus Verlegen - heit. Flexens Ruͤckgrats-Wirbel wurden ein all - gemeines aber gutes Trottoir und der Schul - direktor ſchlug gern dieſen Weg ein. Am UferErſter Theil. 566zog der Doktor ihn an der Halsbinde nach kur - zem Erwuͤrgen ans Ufer, wo er unaufhoͤrlich ſich und ſeinen Kleider-Bewurf beſah und zu - ruͤckdachte. Auch der untergepfluͤgte Dichter bekroch Flechſen, und bot dem Doktor die Hand, an deren Ohrfinger dieſer ihn mit kleiner Ver - renkung dadurch aufs Trockne zog, daß er ſelber ſich ruͤckwaͤrts bog und umfiel, als jener auf - ſtand. Was noch ſonſt aus dem Nilſchlamme halb lebendig aufwuchs, waren nur Leute; aber dieſe waren am noͤthigſten zum Aufhelfen, ſie waren die Fluͤgel, die Maſchinen-Goͤtter, die Schutzheiligen, die Korkweſten des Wagens im Waſſer.
Mehlhorn fuͤr ſeine Perſon war herbeyge - ſprungen, und ſtand auf dem umgelegten Kut - ſchenſchlage feſt, in welchen er unaufhoͤrlich ſei - nen Huͤlf-Engels Arm umſonſt Theoda’n hin - ein reichte um ſie um den Schlag herum und aufzuziehen — bis ihm der Kutſcher von ſeinem Standort wegfluchte, um den Wagen aufzu - ſtellen.
Delikate Geſellſchafts-Knoten werden wol67 nie zaͤrter aufgeloͤſet als von dem Wurfe in ei - nen Graben, gleichſam in ein verlaͤngertes Grab, wobey das allgemeine Intereſſe wenig verliert, wenn noch dazu Glieder der Mitglieder verrenkt oder verſtaucht ſind, oder beſchmutzt. Die Freude gieng allgemein wie eine Luna auf; das Städt - chen Huhl lag vor der Naſe und jeder mußte ſich abtrocknen und abſtäuben und deshalb vor - her uͤbernachten. Nur Wuͤrfel, der aus dem Oertchen ſein Taſchenbuch zuruͤck zu holen hatte, mußt’ verdruͤslich daraus heimeilen mit der naſſen Borke am beſten Vorderweſtchen; eine halbe Nacht und einen ganzen Weg voll Nachtluft mußt’ er dazu nehmen, um ſo trocken anzu - langen, als er abgegangen. Katzenberger machte weniger aus dem Koth, von welchem er ſeine eigne Meinung hegte, welche dieſe war, daß er ihn bloß als reine Adams-Erde mit heiligem Himmels-Waſſer getauft darſtellte, und dann die Leute fragte: was mangelt dem Dreck? Bloß den dachsbeinigen Flex ſchalt er uͤber deſſen ſchwe - res Schleppkleid ſo: „ fauler Hund, haͤtteſt du dich nicht ſtracks aufrichten können, ſo bald ich68 von dir aufgeſprungen war? Warum ließeſt du dich von allen immer tiefer eintreten? Und warum gabſt du dem unbedachten Wuͤrfel nicht nach, und ließeſt dich vom Bocke herunterreiſſen, an - ſtatt meines Livrei-Aufſchlags? He, Menſch?” Das weiß ich nicht, verſetzte Flex, das fragen Sie einen andern.
Die Deſtillation hinabwaͤrts (dest. per de - scens. ) wie der Doktor den Grabenfall nannte, brachte manches Leben in den Abend. Er ſelber behielt alles an, und war ſein Selbſt-Trockenſeil.
Nieß konnte die Einſamkeit der abwaſchen - den Wiedergeburt zum Nachſchuͤren von neu - em Brennſtoff fuͤr Theoda verwenden. Er ſann nemlich lange auf treffliche Sentenzen uͤber die Liebe, und grub endlich folgende in die Fenſter - tafel ſeines Zimmers: „ Das liebende Seufzen iſt das Athmen des Herzens. — Ohne Liebe iſt das Leben eine Nacht in einer Mondsverfinſte - rung; wird aber dieſe Luna von keiner Erde mehr verdeckt, ſo verklaͤrt ſich mild die Welt, die Nachtblumen des Lebens oͤffnen ſie, die Nachti - gallen toͤnen, und uͤberall iſt Himmel. Theu - dobach im Junius.”
70Theoda ſchrieb eiligſt folgende Tagebuchs - blaͤtter, um ſie den eiligen Mehlhorn noch mit zu geben.
„ Du theures Herz, wie lange bin ich ſchon von Dir weg geweſen, wenn ich Zeit und Weg nach Seufzern meſſe? Und wenn werd’ ich in Dein Haus ſpringen oder ſchleichen? Gott ver - huͤte letzteres! Ein Zufall — eigentlich ein Fall in einen Graben — hält uns alle dieſe Nacht in Huhl feſt; leider kommen wir dann erſt morgen ſpaͤt in Maulbronn an; aber ich habe doch die Freude, Deinem guten Manne mein Geſchreibſel aufzupacken. Der Gute! Ich weiß wohl, warum Du mir nichts von ſeiner gleichzeitigen Reiſe geſagt; aber Du haſt nicht Recht gehabt. Mein Vater ſetzte auf eine Stunde den raffinirten Zuckerhut Wuͤrfel in den Wa - gen; ſeine Weſte litt ſehr beym Umwerfen. In ſo fern war mirs lieb, daß Dein Mann nicht mitgefahren; wer ſteht fuͤr die Wendungen des Zufalls? — Ich habe, Herzige, Deinen Rath — denn in der Ferne gehorcht man leichter als in der Naͤhe — treu befolgt, und heute faſt71 nichts gethan als Fragen an den Edelmann uͤber den Dichter. Dieſer iſt ſelber — hoͤre — bloß die beſte erſte Ausgabe ſeiner Buͤcher, eine Prachtausgabe, wenn nicht beſſer; wenigſtens milder, als ſeine Stachelkomoͤdien. Niemand hat ſich vor ſeinem Auge oder Herzen zu ſcheuen. Er lief ſchon als Kind gern auf Berge, und in die Natur; und ſo war er auch ſchon als Kind vor ſeinem neunten Jahre unſterblich verliebt. Naͤrriſch iſts doch, daß man dergleichen an gro - ßen Menſchen als ſo etwas Großes nimmt, da man ja bey ſich und andern nicht viel daraus macht. — Hr. v. Nieß erzaͤhlte mir eine koͤſtliche laͤngſt abgeſchloſſne Geſchichte von ſeiner erſten Liebe, als eines Knaben voll Zaͤrte und Gluth und Froͤmmigkeit; ſie ſoll Dir einmal wohlthun, wenn ich ſie Dir in Dein Wochenbett hinein werfe. Nur machts der liebe Vater durch Mi - nen und Worte jedem gar zu ſchwer, dergleichen vorzutragen; — anzuhoͤren weniger, denn ich bin an ihn gewoͤhnt — er wirft oft, wie Du ja weißt, Eisſpitzen ins ſchoͤnſte Feuer, auf die niemand in ganz Pira gefallen waͤre, und bringt72 damit den Geruͤhrteſten zum Lachen. Er nennt unſer ewiges Sprechen uͤber unſern Dichter ein hollaͤndiſch-langes Glockenſpiel. Freilich kennt ihn Hr. v. Nieß nicht oder will es nicht; ſo ſeltſam fragt er ihn an. Ich habe Dir ihn uͤber - haupt noch nicht gemalt, ſo mag er mir denn ſitzen auf dem Kutſchenkiſſen. Recht klug wird man nicht aus ihm; er wirft nicht ſich, aber das Geld weg (faſt zu ſehr) — er ſchimmert und ſchneidet, wie der Demant in ſeinem Ringe; — und iſt doch weich dabey, und ſtets auf der Jagd nach warmen Augenblicken — ein Held iſt er auch nicht, ja nicht einmal eine Heldin, vor dem kleinſten Stachelchen faͤhrt er in die Bienen - kappe — wie ich Dir nachher meine eigne Peruͤcke als Beweis und Bienenkappe vorzeigen will — uͤbrigens hat er alle nachgiebige Beſcheidenheit des Weltmannes, der ſich auf die Vorausſetzung ſeines Werths verlaͤßt — und dabey fein, fein und ſonſt mehr. — Dieß iſt aber eben der Punkt; von ſich ſpricht er faſt kein Wort, un - aufhoͤrlich von ſeinem Jugendfreunde, dem Dich - ter, gleichſam als waͤre ſein Leben nur die Grun -73 dierung fuͤr dieſe Hauptfigur. Auffallend’ iſts, daß er nicht mit dem feurigen Gefuͤhl, wie et - wan ich, von ihm redet, ſondern faſt ohne Theilnahme (er berichtet bloß Thatſachen) ſo daß es ſcheint, er wolle nur meinem Geſchmacke zu Gefallen reden, und dabey unter der Hand fuͤr jemand anders den Angelhaken auswerfen, als fuͤr unſern Theudobach. Zwiſchen dieſem Na - men, und dem meinigen find’ er etymologiſch, ſagt’ er, nur den Unterſchied des Geſchlechts, woruͤber ich ordentlich zuſammenfuhr, weil ich nie darauf gefallen war. Aber, warum ſagt er mir ſolches angenehme Zeug, da er doch ſieht, daß er mich nur durch ein ganz fernes Herz in Flamme ſetzt? Eilte Dein Mann nicht ſo fuͤrch - terlich; wahrlich, ich wollte vernuͤnftig ſchreiben. Ich ſage Dir Donnerſtags alles, wenn es auch der Freitag widerlegt. In der Fremde iſt man gegen Fremde (ja gegen Einheimiſche) weniger fremd als zu Hauſe; ich fragte geradezu Hr. v. Nieß, wie der Dichter ausſehe. „ Wie ſtellen Sie ſich ihn denn vor?” fragt’ er. „ Wie die edleren Geſchoͤpfe dieſes Schoͤpfers ſelber (verſetzt’74 ich). Er ſoll und wird ausſehen, wie ein nicht zu junger Ritter der alten Zeit — vorragend auch unter Maͤnnern. — Er muß Augen voll Dichter - und Kriegsfeuer haben, und doch da - bey ſolche Herzens-Lieblichkeit, daß er ſein Pferd eben ſo gut ſtreichelt als ſpornt, und ein gefall - nes Kindchen aufhebt, und abkuͤßt eh’ ers der Mutter reicht. — Auf ſeiner Stirn muͤſſen oh - nehin alle Welten ſtehen, die er geſchaffen, ſammt den kuͤnftigen Welttheilen — Köſtlich muß er ausſehen — Der Bergruͤcken ſeiner Naſe — (Hier, Bona, dacht’ ich an Deinen Rath.) Nun Sie haben ja die Naſe ſelber geſehen, und ich gedenke das auch zu thun.”
Hierauf verſetzte Hr. v. Nieß: „ vielleicht ſollt’ er, Demoiſſelle, dieſer Geſtalt nach Maler - Ideal haben; aber leider ſieht er faſt ſo aus wie ich.”
Gewiß hab’ ich darauf ein einfaͤltiges Staun - Geſicht gemacht und wol gar die Antwort gege - ben: „ wie Sie?” — Ueberhaupt ſchien meine zu lebhafte Vorſchilderei ſeines Freundes ihn nicht ſonderlich zu ergoͤtzen. — „ Theoda und75 Theudobach — fuhr er fort — behalten ihre Aehnlichkeit ſogar in der Statur; denn Er iſt ſo lang als ich. ” — „ Nein, unterfuhr ich, dann iſt er kuͤrzer als ich; eine Frau, die ſo lang iſt als ein Mann, iſt laͤnger als ein Mann. ” — Es ſchwollen beynahe Giftblaſen mir auf, ge - ſteh’ ich gern. Es verdroß mich das ewige Prah - len mit der koͤrperlichen Aehnlichkeit Theudobachs bey ſo wenig geiſtiger. Ich denke an ſeine un - ritterliche Furcht und an meine Peruͤcke beym Wagen-Umwurf. Er wollte ſich an meinen Kopf anhalten, um ſeinen zu retten. Raufen aber iſt eine eigne Weiſe, einem Maͤdchen den Kopf zu verruͤcken. Mein Vater wird ihn mit dieſer Perrücke, womit er in die Grube gefahren, noch oft fegen, wie die Bedienten in Irland da - mit die Treppen.
Freilich wars an ihn eine dumme Maͤdchen - frage, die ich nachher gethan, wie ich Dir beich - ten will. Aber wer denn anders? Die Leſe - rinnen eines Dichters ſind alle ſeine heimlichen Liebhaberinnen — die Juͤnglinge werdens mit Dichterinnen auch nicht beſſer machen —; und76 wir denken bey einem Genie, der Ehre unſeres Geſchlechts wegen, zuerſt an die Frau, die der große Mann uns allen vorgezogen und die wir als die Geſandtin unſeres Geſchlechts an ihn abgeſchickt. Auf ſeine Frau ſind wir ſogar neu - gieriger als auf ſeine Kinder, die er ja nur be - kommen und ſelten erzieht. Ob ich mich gleich einmal tapfer gegen meinen Vater gewehrt, da er ſagte, an einem Poeten zoͤgen wir den Knie - fall dem Sylbenfall vor, ein Paar Freiersfuͤſſe ſechs Versfuͤſſen, Schaͤferſtunden den Schaͤfer - liedern und wären gern die Hausehre einer Deutſchlands Ehre: ſo hatt’ er halb und halb Recht. — Die dumme Maͤdchenfrage war naͤm - lich: ob der Dichter eine Braut habe. — „ We - nigſtens bey meiner Abreiſe noch nicht. ” verſetzte Nieß. — „ O ich wuͤßte, ſagt’ ich, nichts ruͤhrenderes, als eine Jungfrau mit dem am Traualtare ſtehen zu ſehen, den ſie im Namen einer Nachwelt belohnen ſoll; ſie ſollte mir meine heiligſte Schweſter ſeyn und ich wollte ſie lieben wie mich. ” — Wahrlich, Sie koͤnnten’s, ſagt’ er mit unnuͤtz-feiner Mine.
77Schilt nicht, Clair-voyante, mein Laͤrv - chen (mehr eine komiſche als tragiſche Maske) gib mir keine Einbildungen, weil ich doch damit keinem Manne gefallen kann als einen halbblin - den, der, wie Du, nichts begehrt als ein Herz; aber der ſollte dieſes denn auch ganz haben mit allen Kammern und Herzohren und Flämmchen darin und mein kleines Leben hinterd’rein.
Ich wollt’, es gaͤbe gar keine Maͤnner, ſon - dern die göttlichſten Sachen wuͤrden von Wei - bern geſchrieben; warum muͤſſen gerade jene einfältigen Geſchoͤpfe ſo viel Genie haben und wir nichts? —
Gute Nacht, meine Seele! So viel Him - mel als nur hineingeht, komme in Dein Herz - chen!
Th.
Der Wirth, der die Geſellſchaft immer hin - ter Buͤchern und Schreibfedern ſah, vermuthete, er koͤnne ſie als Ziehbrunnen benutzen und ſei - nen Eimer einſenken; er brachte ein Werk in Folio und eins in Oktav zum Verkaufe getra - gen. Das kleinere war ein zerleſener Band von Theudobachs Theater. Aber der Doktor ſagte, es wäre kein Kauf fuͤr das Gewiſſen ſeiner Tochter, da das Buch vielleicht aus einer Leih - bibliothek unrechtmaͤßig verſetzt ſey. Auch fragt’ er ſie, ob ſie denn nicht glaube, daß in Maul - bronn der Dichter ſelber ſie als ſeine ſo warme Anbeterin[und] Goͤtzen-Dienerin mit einem ſchö - nen Freiexemplare uͤberraſchen werde, das er wieder ſelber umſonſt habe vom Verleger. Ich komme ihn zuvor, ſagte Nieß, ich habe von ihm ſelber fuͤnf Prachtexemplare zum Geſchenk und gebe gern eines davon um den Preis hin,79 den es mich koſtet. Theoda hatte Zweifel uͤber das Annehmen, aber der Vater ſchlug alle nie - der und ſagte zum Edelmanne mit naͤrriſchen Grimmaſſen: „ Hr. v. Nieß, ich nehme von ſo etwas Genießbaren Nießbrauch ſo wie von allen koſtſpieligen Auslagen, die Sie bisher auf der Reiſe vorſchoſſen, weil Sie vielleicht wiſſen, daß ich ein ſchlechter Zahl - und Rechenmeiſter bin; aber am Ende der Reiſe, hoff’ ich, ſollen Sie mich kennen lernen.” Nieß bat Theoda in ſein Zimmer zu folgen, wo er ihr vom Dichter viel - leicht noch etwas Lieberes zu geben habe, als das Gedruckte.
Er fuͤhrte ſie vor die oben gedachte Fenſter - ſcheiben-Inſchrift. Als ſie die Theudobachiſche Hand, und die ſchoͤnen Liebesworte erblickte, und nun gewiß wußte, daß ſie den Boden und die Nachbarſchaft mit ihren Helden theilend gleich - ſam in deſſen Atmosphaͤre gekommen, wie die Erde in die der Sonne*)Das Zodiakal-Licht wird für den in die Laufbahn der Erde hinein reichenden Dunſtkreis der Sonne gehalten.; ſo zitterte das Herz vor Luſt, und die Prachtausgabe verlohr faſt80 gegen die Fenſter-Schrift. Nieß ſah das feuchte Auge und hielt ſich mit Gewalt, um nicht mit dem Bekenntniß ſeines zweyten Namens ihr ans Herz zu fallen, aber ihre Hand druͤckte er heftig und malte geruͤhrt den Theaterſtreich am Fen - ſter nicht weiter aus.
Beyde gingen halb trunken zum Doktor zu - ruͤck. Dieſer hatte eben theuer den Folioband vom Wirthe erhandelt, naͤmlich Soͤmmerings Abbildungen und Beſchreibungen einiger Miß - geburten, die ſich ehemals auf dem anatomiſchen Theater zu Kaſſel befanden. Fol. Mainz. 1791. Nicht nur das Paar, auch der Wirth ſah, mit welchem Entzuͤcken er die Misgeburten verſchlang. Da nun ein Wirth, wie jeder Handelsmann, bey jedem Kaͤufer ungern aufhoͤrt zu verkaufen, ſo ſagte der Wirth: „ Ich bin vielleicht im Stande einem Liebhaber mit einer der veritabelſten aus - geſtopften Misgeburten aufzuwarten, die je auf acht Beinen herumgelaufen:” „ Wie, wo, wenn, was?” rief der Doktor auf den Gaſtwirth ren - nend. „ Gleich!” verſetzte dieſer und ent - ſchoß.
81„ Gott gebe doch, fing Katzenberger an gegen den Edelmann ſich wendend, daß er etwas wahr - haft Misgebornes bringt. Ich weiß nicht, haben Sie meine de monstris epistola geleſen oder nicht; inzwiſchen habe ich darin ohne Beden - ken die allgemeine Gleichguͤltigkeit gegen aͤchte Misgeburten geruͤgt, und es frey heraus geſagt, wie man Weſen vernachlaͤſſigt, die uns am er - ſten die organiſchen Baugeſetze eben durch ihre Abweichungen gothiſcher Bauart lehren koͤnnen. Gerade wie die Natur zufaͤllige Durchkreuzun - gen und Aufgaben (z. B. zweyer Leiber mit ei - nem Kopfe) doch organiſch aufzuloͤſen weiß, dieß belehrt. Sagen Sie mir nicht, daß Misgebur - ten nicht beſtehen, als widernatuͤrlich; jede mußte einmal natuͤrlich ſeyn, ſonſt haͤtte ſie nicht bis zum Leben und Erſcheinen beſtanden; und wiſſen wir denn, welche verſteckte organiſche Mis - und Uebertheile eben auch Ihrem oder meinem Be - ſtehen zuletzt die Ewigkeit nehmen? Alles Le - ben, auch nur Einer Minute, hat ewige Ge - ſetze hinter ſich; und ein Monſtrum iſt bloß ein Geſetzbuch mehrerer foͤderativen Staatskoͤrper -Erſter Theil. 682chen auf einmal; auch die unregelmaͤßigſte Ge - ſtalt bildete ſich nach den regelmaͤßigſten Geſetzen (unregelmaͤßige Regeln ſind Unſinn). Eben darum könnte aber aus Misgeburten als den höhern Haruſpizien oder paſſiven Blutzeugen bey geſchickter Zergliederung mehr Einſicht ge - wonnen worden ſeyn, als durch alles Alltagsvieh, ſobald man nur beſſer dieſe Sehroͤhre und Opern - gucker ins Lebensreich haͤtte zu richten verſtan - den, und wenn man uͤberhaupt, Hr. v. Nieß, ſo ſeltene Cicerone und Zeichendeuter, die eben gerade, wie die Wandelſterne in ihren Verfin - ſterungen am meiſten geiſtig erleuchten, ſorgfaͤl - tiger aufgehoben haͤtte? Wo iſt aber — mein elendes ausgenommen — noch ein ordentliches Misgeburtenkabinet? Welcher Staat hat noch Preiſe auf Einliefern von monstris geſetzt, ge - ſchweige auf Erzeugung derſelben, wie doch bey Blumen geſchehen? Geht ein Monſtrum als ein wahrer Solitaire der Wiſſenſchaft unter, ſo iſt man noch gleichguͤltiger, als waͤre ein Schock leicht zu zeugender Werkeltagsleiber an der Ruhr verſchieden. Wer kann den aber eine Misgeburt,83 die ſich ſo wenig als ein Genie fortpflanzt, — denn ſie iſt ſelber ein koͤrperliches, eine Einzig - perle — nicht einmal ein Sonntagskind, ſon - dern ein Schalttagskind — erſetzen, ich bitte jeden? Ich fuͤr meine Perſon koͤnnte fuͤr der - gleichen viel hingeben, ich koͤnnte z. B. mit einer weiblichen Misgeburt, wenn ſie ſonſt durchaus nicht wohlfeiler zu haben waͤre, in den Stand der Ehe treten; und ich will Dirs nicht ver - ſtecken, Theoda, — da die Sache aus reiner Wiſſenſchaftsliebe geſchah, und ich gerade an der Epiſtel de monstris ſchrieb — daß ich an Dei - ner ſeel. Mutter waͤhrend ihrer guten Hoffnung eben nicht ſehr darauf dachte, aufrechte Tanz - baͤren, Affen, oder kleine Schrecken und meine Kabinets-Prezioſen fern von ihr zu halten, weil ſie doch im ſchlimmſten Falle bloß mit einem mon - ſtroͤſen Eheſeegen mein Kabinett um ein Stuͤck bereichert haͤtte; aber leider, haͤtt’ ich bey - nah’ geſagt, aber gottlos ſie beſcheerte mir Dich als eine Beſtaͤtigung der Lavaterſchen Bemer - kung, daß die Muͤtter, die ſich in der Schwan - gerſchaft vor Zerrgeburten am meiſten gefuͤrchtet,84 gewöhnlich die ſchoͤnſten gebaͤren. Ein Mon - ſtrum .... o, du guter Wirth kommſt!
Letzterer kam an, mit dem faſt grimmig aus - ſehenden Stadtapotheker, und dieſer mit einem gut ausgeſtopften, achtbeinigen Doppel-Haſen, den er wie ein Wickelkind im Arme trug und an die Bruſt anlegte. Der Doktor ſah den Haſen faſt mit geifernden Augen an, und wollte wie ein Haſengeier auf ihn ſtoßen. „ Ich bin — ſagte jener und ſprang ſtirn-runzelnd ſeitwaͤrts — Pharmazeutikus hieſiger Stadt, und habe dieſes curiosum in Beſitz. Beſehen darf es werden, aber unmoͤglich begriffen vor dem Einkauf. Ich will es aber auf alle Seiten drehen, und wie es mir gut duͤnkt; denn es iſt ſeines Gleichen nicht im Lande oder auf Erden.” Um Verzeihung, ſagte der Doktor, im koͤniglichen Kabinet zu Chantilly, wurde ſchon ein ſolcher Doppel-Haſe aufbewahrt*)Unterhaltungen aus der Naturgeſchichte. Die Säuge - thiere 1 B. S. 34., der ſogar ſich an ſich ſelber, wie an einem Bratenwender, hat umdrehen und auf die vier Relais-Laͤufe werfen koͤnnen, um85 auf ihnen friſch weiter zu reiſen, waͤhrend die vier ausgeſpannten in der Luft ausruhten und ſelber ritten. ” — „ Das konnte meiner bey Leb - zeiten auch, ſagte der Apotheker, und Ihr an - deres einfaͤltiges Haſenſtuͤck hab ich gar nicht ge - ſehen, und gebe nicht einen Loͤffel von meinem darum.” Jetzt nannte er den Kaufſchilling. Bekanntlich wurde unter dem minderjaͤhrigen Ludwig XV der Greiſenkopf auf den alten Louis - d’or von Ludwig XIV bloß durch den Druck ei - nes Rades in den noch lebendigen Kinderkopf umgemuͤnzt; worauf ſie 20 Livres ſtatt 16 gal - ten. Fuͤr ein ſolches Geld-Kopfſtuͤck, und zwar für ein vollwichtiges, wollte der Apotheker ſei - nen Haſen mit 4 Loͤffeln, 2 Koͤpfen ff. herge - ben. Nun hatte der Doktor wirklich ein ſolches bey ſich; nur aber wars um viele Aſſe zu leicht, nnd ihm gar nicht feil. Er bot halb ſo viel an Silbergeld — dann eben ſo viel — dann ſtrei - chelte er den Pharmazeutikus am duͤrren Arme herab, um in ſeinen Heißhunger nur, wie der blinde Angelo den Torſo, ſo den Pelz der Haſen zu befuͤhlen, die er wie ein Kalmucke goͤttlich86 verehrte. — Endlich zeigte er noch ſeinen langen Hakenſtock vor, und zog aus deſſen Scheide wie einen giftigen Bienenſtachel, einen langen befie - derten amerikaniſchen Giftpfeil vor, und ſagte, dieſen Pfeil, womit der Pharmazeutikus jeden Feind auf der Stelle erlegen koͤnnte, woll’ er noch drein ſchenken. Bisher hatte dieſer immer drey Schritte auf und abgethan, kopfſchuͤttelnd und ſchweigend; jetzt trug er ohne weiteres ſei - nen Haſenvielfuß zur Thuͤre hinaus, und ſagte bloß: „ bis morgen fruͤh ſteht viel feil ums Gold - ſtuͤck; aber mittags katz ab!” „ Es iſt mein Her - zens Gevatter, ſagte der Wirth und ein obſti - nater Mann, aber dabey blitz wunderlich; ich ſage Ihnen aber, Sie kriegen eben ſo wenig den Haſen einzupacken als den Rathhaus Thurm, wofern Sie kein ſolches Kopfſtuͤck ausbacken; er hat ſeinen Kopf darauf geſetzt. ” — Giebts denn, ſagte der Doktor, einen groͤßern Spitzbuben? Ich habe freilich eins, aber es iſt zu gut, zu vollloͤthig fuͤr ihn — doch werd’ ich ſehen. ” — „ So thue, ſagte der Wirth, doch unſer Herr87 Gott ſein Beſtes und bringe zwey ſolche Herren zuſammen!”
Der Poet Nieß hatte aus dem Vorfalle eine ganze Theaterkaſſe voll Einfaͤlle und Situationen erhoben; und auf der Stelle den Plan zu einer komiſchen Oper entworfen, worin nichts als Misgeburten handeln und ſingen ſollten.
Der Doktor hatte eine unruhigere Nacht, als irgend einer ſeiner Heilkunden, weniger weil ein Goldſtuͤck fuͤr das Natur-Kunſtwerk zu zahlen war, als weil daſſelbe ſehr zu leicht war. End - lich fiel ihm gegen Mitternacht der Kunſtgriff eines chriſtlichen Kaufmanns bey, der zu leichten Goldſtuͤcken nicht juͤdiſch durch Beſchneidung, ſondern vielmehr mit etwas Ohrenſchmalz, als Taufe und Oelung, das alte Gewicht zuruͤckgab. Er ſtand auf, und nahm ſeine Gehoͤrwerkzeuge und gab dem Louis XIV et XV d’or, ohne alle Rheims-Flaͤſchchen, ſo viele Salbung bis er ſein Gewicht hatte. Fruͤhmorgens ſchickte er durch den Wirth die Nachricht in die Apo - theke: er gehe den Kauf ein, und werde bald vor ihr mit ſeinen Wagen hatten. Man ant - wortete darauf zuruͤck: „ geſtern waͤr’ es zwar89 eben ſo gut abzumachen geweſen; aber meint - wegen!”
Der Doktor ſann ſich viele Liſt - und Gewalt - Mittel — d. h. Friedens-Unterhandlungen, und Kriegsliſten — aus, um die Foͤderativ-Haſen zu bekommen; und er war, im Falle gute Worte, naͤmlich falſche, nichts verfingen, zum Aeußer - ſten, zu Mord und Todtſchlag entſchloſſen; weßhalb er ſeinen Arm mit dem giftigen Gems - hornſtock armirte.
Vor der Apotheke befahl er, aus dem Wa - gen ſpringend, die Thuͤre offen zu laſſen, und ſo bald er gelaufen kaͤme, fliegend mit ihm ab - zurennen. Er hatte ſich vorgenommen, an - fangs dem Fuchſe zu gleichen, der ſo lange ſich einem Haſen naͤher tanzt, bis der Haſe ſelber in den Tanz einfaͤllt, worauf der Fuchs ihn leicht in Todtentaͤnze hineinzieht*)Der Verfaſſer weiß nicht gewiß, ob er dieſe naturhi - ſtoriſche Bemerkung aus Bechſteins Werken, oder aus deſſen Munde hat.. Er ſtieg dann aus — hielt ein zweykoͤpfiges Goldſtuͤck bloß zwiſchen Mittelfinger und Daumen am Rande,90 um es mehr zu zeigen, und um nichts vom Fe - lien-Golde weg zu reiben — und war jedes Wortes gewiß, das er ſagen wollte. Er konnte ſich aber beym Eintritte nicht viel Vortheil fuͤr ſeine Anrede oder Benevolenz-Kaptanz von dem Umſtande verſprechen, daß gerade das Subject*)Bekanntlich der Name eines pharmazeutiſchen Beyge - hülſen und Geſellen. und der Proviſor giftigen Bilſenſamen in Moͤr - ſer ſtampften; da nach allen Giftlehrern dieſes Giftkraut unter dem Stoßen und Kochen den Arbeiter unter der Hand in ein toll-erboßtes, biſſiges Weſen umſetzt. Indeß fing er — mit dem Goldſtuͤck in der Hand, wie ein venedi - ſcher Sbirre mit einem auf der Muͤtze — ſein freundſchaftliches Anreden mit Vergnuͤgen an, weil er wußte, daß er ſtets mit der ſanften Hir - tenfloͤte den, dem er ſie vor tauben Ohren bließ, leicht hinter dieſelben ſchlagen konnte.
„ Herr Amtsbruder, ſagt’ er, meine de mon - stris epistola (Sendſchreiben uͤber Misgebur - ten) kennen Sie wahrſcheinlich fruͤher, als ir - gend ein Protomedikus und Oberſanitätsrath in91 ganz groͤßern Staͤdten; ſonſt hätten Sie ſich vielleicht weniger auf Misgeburten gelegt. Ihr Monſtrum, geſteh’ ich Ihnen gern — denn es iſt zu ſehr gegen meine Sinnes-Art, etwas her - ab zu ſetzen, bloß weil ich es erhandeln will — iſt, wie Sie ſelber trefflich ſagten, ein curiosum; in der That iſt Ihr Dioskuren-Haſe (Sie ver - ſtehen mich leicht,) wie ein Doppel-Adler gleich - ſam eine lebendige Sozietaͤts-Inſel, ein zuſam - mengewachſenes Haſen tête-à-tête. Sie wiſ - ſen alles, wenn nicht mehr. Sie ſehen aus meinem Goldſtuͤck in der Hand, ich gebe alles dafuͤr; waͤr’ es nur deshalb, um neben meiner Wißbegierde noch die des Fuͤrſten im Maulbron - ner-Bad, meines intimen dicken Freundes, zu befriedigen; ich weiß zwar nicht, ob Sie bey ihm dabey verlieren, daß Sie den Doppel-Haſen fruͤher aufgetrieben und beſeſſen als ich; aber ich weiß, daß Sie dabey gewinnen, und daß ich ihm ſagen werde, wie Sie ſich ſchreiben, und daß nur Sie mir die Haſen abgelaſſen.”
„ Ich will jetzt das Goldſtuͤck waͤgen,” verſetzte der Apotheker, und gab das Haſenpaar dem Pro -92 viſor hin, der es mit vorfechtenden Blicken als Schutzheiliger auf - und abtrug. — Das Sub - ject ſtieß feurig fort und ſott ohne Noth in eig - nen Augenhoͤlen ſeine Eiweiß-Augen krebs - roth. — Der Prinzipal ſtand im feuernden Krebs als Sonne, und zitterte vor Haſt, als er die Goldwage hielt. — Die ganze Apotheke war die Sakriſtey zu einer ſtreitenden Kirche. —
Katzenberger aber zeigte ſich mild und ſchien als kalte Sonne im Steinbock.
„ Mein Gott, ſagt’ er, da es etwas in die Hoͤhe ging — iſt wohl uͤberwichtig; denn Sie halten nicht feſt genug und ſo fliegts auf und ab. ” —
—〈…〉〈…〉 „ Wenn nicht Harn d’ran iſt, der’s ſchwer macht”, ſagte der Apotheker und beroch’s; wor - auf er das Goldſtuͤck Verſuchsweiſe ein wenig am Oberrocks-Futter zu ſcheuern begann. Aber der Doktor fing ſeine Hand, damit er nicht die auf die Goldmuͤnze aufgetragne Schaumuͤnze wegfeile, und ſagte ihm frey heraus: „ er halte ihn zwar fuͤr den ehrlichſten Mann in der gan - zen Apotheke, aber er koͤnne deßhalb doch nicht93 vergeſſen, daß in verſchiedenen Leipziger und Frankfurter Meſſen, Juden geſtanden, welche ein feines Reibeiſen im Unterfutter eingenaͤht getragen, womit ſie unter dem Vorwande der Reinigung von den beſten Fuͤrſten d’or Goldſtaub abgekratzt, und dann mitgenommen. “
„ Fremder Herr! Mordieu! Ihr Geld (ſagte der Mann) wird ja immer leichter, je laͤnger ich wiege. — Ein Aß um’s andre fehlt. “
„ Wir wollen beyde nichts daraus machen, Hr. Amtsbruder — ſagte der Doktor, und klopfte auf deſſen ſpitze Achſel — ſondern als aͤchte Freunde ſcheiden, zumal da man hinter uns Bilſenſamen ſtampft; Sie kennen deſſen Einfluß auf Schlaͤ - gereien, in denen ohnehin jeder Karakter, wie eine Sommerkrankheit, leicht einen gewiſſen bilioͤſen oder gallichten Karakter annimmt. Wir beide nicht alſo! “
„ Sacker, zehnmal zu leicht! (rief der Apo - theker die Goldwage hoch uͤber den Kopf haltend) An keinen Haſen zu denken! “
Aber der Doktor hatte ſchon daran gedacht; denn er hatte den aufs Geſpraͤch horchenden94 Proviſor mit dem Schnabelſtocke, den er als ein Kammrad in deſſen Zopf eingreifen laſſen, ruͤck - waͤrts auf den Boden wie in einen Sarg nieder - gelegt, und ihm im Umwerfen die Misgeburt aus der Hand gezogen.
Wie ein Krebs trat er den Ruͤckzug an, um mit den Gemshornſtock vorwaͤrts in die Apotheke hinein zu fechten. Der Landſturm darin orga - niſierte ſich bald. Wuͤthig warf ſich der Provi - ſor herum, und empor und feuerte (er konnte nicht wählen) mit Kraͤuterſaͤckchen, Kirſchkern - ſteinen, die erſt zu extrahiren waren, mit alten Oſtereyern voll angemahlter Vergißmeinicht dem Doktor auf die Backenknochen. — Der Apothe - ker hatte erſtaunt das Goldſtuͤck fallen laſſen und ſucht’ es unten mit Grimm. — Das Subjekt ſtocherte mit dem Stoͤßel bloß auf dem Moͤrſer - rand und drehte ſich ſelber faſt den Kopf ab, um mehr zu ſehen. —
Unten ſchrie der gebuͤckte Apotheker: „ greift den Haſen, greift den Hund! “ „ Nur auf ein ruhiges Wort, meine Herren! rief Katzenber - ger ausparierend. Das Bilſenkraut erhitzt uns95 alle, und am Ende muͤßte ich hier gar als Artzt verfahren und dagegen rezeptiren und geben, es ſey nun, daß ich dem Pazienten, der zu mir kaͤme, entweder das Gemſenhorn meines aͤſkulapi - ſchen Stabs als einen kuͤhlenden Blutigel auf die Naſenfluͤgel wuͤrfe, oder dieſe ſelber damit aufſchlitzte, um ihm Luft zu machen, oder das Horn als einen fluͤchtigen Gehirnbohrer in ſeine Kopfnath einſetzte. — — Aber den Haſen be - halt’ ich, Geliebte!
Nun ſtieg die Kriegslohe gen Himmel. Der Apotheker ging auf ihn mit einer langen Pa - pierſcheere los, ſie, wie ein Hummer die ſeinigen, aufſperrend; — Katzenberger indeß hob ihm bloß mit dem Skalpier-Stock leicht eine Vor - ſtecklocke aus, — Der Proviſor ſchnellte eine der feinſten chirurchiſchen Splitterſcheeren ab, die zum Gluͤck nur in den langen Aermel weit hin - terfuhr. — Katzenberger aber ließ auf ihn durch den Druck einer Springfeder ſein Gemſenhorn, woran noch die Vorſtecklocke des Vorgeſetzten hing, abfahren, und ſchoß damit die ganze linke Bruſtwarze des Proviſors zuſammen, wiewol96 die Welt, da er mit ihr nichts ſaͤugte, dabey weniger verlor, als er ſelber. — Das Subjekt hielt im Nachtrabe den Stoͤßel in die Luͤfte auf - gehoben und drohte nach Vermoͤgen. — —
Aber jetzt erſah der Pharmazeutikus den langen amerikaniſchen Giftpfeil nakt vorſtechend, und wollte hinter den Subjekts-Hintergrund zuruͤck. „ Um Gottes Willen, Leute, rief der Doktor, rettet euch — ſpringt insgeſammt zuruͤck — auf wen ich dieſen Giftpfeil zu werfe, der faͤllt auf der Stelle todt nieder, eh’ er nur mei - nen Steiß erblickt. “
Da der Menſch ſtets neue Waffen und Ge - fahren mehr ſcheut als die gefaͤhrlichſten be - kannten: ſo ging die ganze pharmazeutiſche Fecht - ſchule ruͤckwaͤrts; und der Doktor ohnehin, bis er auf dieſe Weiſe mit ſeinem Haſen, und dem zielenden Wurfſpieß und ſeinem Ruͤcken an den Fußtritt ſeines Wagen gelangte. Darauf fiel zwar die erhitzte Apotheke wieder von Ferne aus. — Der Apotheker begleitete den Siegs - wagen wie einen roͤmiſchen mit Schimpfworten, der Proviſor ſchleuderte praͤparirte Glaͤſer voll97 Kuͤhltraͤnke dem Haſendiebe nach und zerrte vor Wuth, um die Bruſtwarze und Splitterſcheere gebracht zu ſeyn, mit beyden Zeigefingern die beyden Mundwinkel bis an den Backenbart aus - einander, um allgemeines Grauſen auszubrei - ten — und das Subject hieb in der Weite mit der Moͤrſerkeule heftig in das Stein-Pflaſter und kegelte noch mit den Fuͤßen Steine nach; inzwiſchen Katzenberger und die Haſen fuhren ab, und er lachte munter zuruͤck.
So aber, ihr Menſchen, ſchnappen öfters Kriegs - Troubeln paſſabel ab, und am Friedensfeſte ſagt der eine: ich bin noch der Alte und wie neuge - boren — und der zweyte: verflucht! wir leben ja ordentlich wieder auf — und der dritte: ich haͤtte mehr wiſſen ſollen, ich haͤtte mich weniger gefuͤrchtet; denn mein Herz ſitzt wol auf dem rechten Fleck — und der vierte: aber die Haſen haben wir doch in dieſem Kriege verloren.
Niemand fuhr wol jemals froher mit Haſen als Katzenberger mit ſeinem. Es war ihm ein Leichtes und ein Spaß, mit ſeiner Misgeburt im Arm jedes Wort auszudauern, das Nieß von erſter Jugendliebe, dem Fruͤhgottesdienſt gegen weibliche Goͤttinnen, und von Theudobachs ſee - ligmachendem Glauben an dieſe ihm an die Oh - ren warf; denn er wußte, was er hatte. Suͤß - lich durchtaſtete er den Haſen-Zwilling, und weidete ihn geiſtig aus. Seinem Kutſcher be - fahl er, jetzt am wenigſten umzuwerfen, weil er ſonſt die Haſen bezahlen muͤßte, und nachher aus dem Dienſt gejagt wuͤrde ohne Livrei.
Nun ſchlug er der Geſellſchaft, eigentlich dem Edelmanne die Frage zur Abſtimmung vor, ob man ſchon die naͤchſte Nacht ſehr ſpaͤt in Maul - bronn anlangen wolle, oder lieber in Fug - nitz verbleiben, der Zaͤckinger Grenzſtadt we -99 nige Stunden von Maulbronn. Theoda beſtand auf ſchnelle Ankunft; ſie wollte wenigſtens mit dem ſchlafenden Dichter in demſelben gelobten Lande und unter Einer Wolke ſeyn. Der Edel - mann ſagte; er habe den eigennuͤtzigen Wunſch, erſt morgen anzukommen, weil ein Wagen enger vereinige als ein Baddorf. Die heimli - chern Gruͤnde ſeines Wunſches waren, am Tage vom Thurm herab mit dem Bade-Staͤndchen angeblaſen zu werden — ferner ſich den Genuß des Inkognito’s und das Hineinfuͤhlen in Theo - das wachſende Herzens-Spannung zu verlaͤn - gern — und endlich um mit ihr Abends durch das gewachſene Mondlicht ſpatzieren zu wa - ten. Der Doktor ſchlug ſich mit Freuden zu ihm; Nieß trug mit dichteriſcher Großmuth die Frachtkoſten fuͤr ihn und kuͤrzte aus dichteriſcher Weichlichkeit alles Reiſe-Gezaͤnk durch Doppel - Gaben ab, um auch die kleinſten Himmelsſtuͤr - mer von ſeinen Freuden-Himmel fern zu halten. „ Ohnehin — ſagte der Doktor — muͤſſ’ er in Fugnitz eine neue Scheide fuͤr ſeinen gefaͤhrli - chen Giftpfeil machen laſſen; und er reiſe ja100 uͤberhaupt nur nach dem Bad-Neſte, um da einen unreifen Rezenſenten, den er nicht eher nenne, bis er ihn injurirt habe, auf die Weiſe zu verſuͤßen, wie man nach D. Darwin unreife Aepfel ſuß mache, naͤmlich durch Zerſtampfen; wiewol er ſich beym Manne nur auf Pruͤgel eine ſchraͤnke.
Ihr Wirthshaus war ein Poſthaus, und zwar gluͤcklicherweiſe fuͤr den Doktor. Denn waͤh - rend der Poſthalter ſich mit der Misgeburt ab - gab: fand jener Gelegenheit einen dicken un - frankirten Briefwuͤrfel, an ſich uͤberſchrieben, ungeſehen einzuſtecken als Selbſt-Brieftraͤger. „ Warum, ſagt’ er ſich, das wichtige Paquet einen gefaͤhrlichen Umweg zu mir hin und her machen ſoll, dieß ſeh’ ich nicht recht. Noch dazu will ich den unſchuldigen Poſthalter nicht im Ge - ringſten zur Rede ſtellen, wenn er mir den Brief nicht ſchickt.”
Im Ganzen bewahrte er ſich durch einen ge - wiſſen Egoismus vor allem Nepotismus. Eigent - lich iſt jede Menſchenliebe, ſobald ſie auf beſon - deres Begluͤcken, nicht auf ruhiges Liebhaben anderer ausgeht, vom Nepotismus wenig un - terſchieden, da alle Menſchen ja, von Adam her,102 Verwandte ſind. Daher auch Maͤnner in ho - hen Poſten den Schein eines ſolchen Nepotis - mus gegen adamitiſche Verwandte ſo ſehr fliehen. Uebrigens laͤſſet gerade dieſe Verwandſchaft von Jahr zu Jahr, mehr ruhige kalte Behand - lung der Menſchen hoffen; denn mit jedem Jahr - hundert, das uns weiter von Adam entfernt, werden die Menſchen weitlaͤuftigere Anverwandte von einander, und am Ende nur kahle Namens - vettern.
Um den Leſer nicht durch zu viel Ernſt und Staats-Geſchichte zu uͤberſpannen, moͤge ein un - bedeutendes Seegefecht, im Staͤdtchen Hoͤf - lein, wo die Pferde Veſperbrod und Veſper - waſſer bekamen, hier eine kurze Unterbrechung gewaͤhren duͤrfen, ohne dadurch den Ton des Ganzen zu ſtoͤren.
Der Waſſerſpringer Maͤnnike hatte naͤm - lich den ganzen Höfleiner Adel und Poͤbel auf die Bruͤcke des Orts zuſammengeladen, damit beyde ſaͤhen, ob er auf dem Waſſer ſo viel ver - möchte und gewaͤnne, als die Britten-Inſel, dieſe Untiefe und Klippe des ſtrandenden Euro - pas. Der Springer, der ſo wol bemitleidet als bewundert zu werden wuͤnſchte, und der un - ten im Naſſen recht in ſeinem Elemente ſeyn wollte, hatte dem Staͤdtchen verſprochen, im Waſſer Taback zu rauchen, mit einem Schiebe -104 karren zu fahren, anderthalb Klafter hoch Freu - denwaſſer wie Freudenfeuer zu ſpeien wie ein Flußgott von Stein, und dann im Strome noch groͤßere Kunſtſtuͤcke fuͤr morgen der erſtaunten Bruͤcke zu verſprechen.
Die Reiſegeſellſchaft, die Pferde ausgenom - men, begab ſich gleichfalls auf die Bruͤcke und machte gern einer herfliegenden gebratenen Taube den Mund auf.
Der Waſſerſpringer that in der That, ſo weit Nachrichten reichen, das Seinige und den Ritterſprung vom Gelaͤnder ins Waſſer zu erſt und ſtahl ſich in viele Herzen. Inzwiſchen ſtand auf der Bruͤcken-Bruͤſtung ein laͤngſt in Hoͤf - lein angeſeſſener Hallore aus Halle, der mehr - mals murmelte: die Peſtilenz uͤber den Hall - purſch! Er wollte ſich wahrſcheinlich in ſeiner Sprache ausdruͤcken und ſich ſo Luft verſchaffen, da er durch den Nebenbuhler unten im Waſſer, ſo lange auf dem Gelaͤnder gelitten. Katzen - berger neben ihm zeigte mit dem Finger wech - ſelnd auf Maͤnnike und den Halloren, als woll’ er ſagen: Pavian, ſo ſpring nach! Endlich105 hielt er es auch nicht mehr aus — ſondern warf ſeinen halben Habit hinter ſich, die Leder-Kappe — fuhr wie ein Stechfinke auf das Finken - Maͤnnchen in ſeinem Waſſergehege — und machte den Sprung auf Maͤnnike’ns Schienbeine her - unter, als dieſer eben zuruͤckliegend ſein Freu - denwaſſer aufwaͤrts ſpie, und den offnen Him - mel im Auge, anfangs gar nicht wußte, was er von der Sache halten ſollte, vom Kerl auf ſei - nen Beinen. Aber ſein Nebenmann und Bad - gaſt zuͤndete eilig Licht in ſeinem Kopf an, in - dem er letztern bey den Haaren nahm und ſo — die Fauſt ſollte den Raufdegen oder Raufer ſpielen — geſchickt genug das Luſttreffen einlei - tete. Denn da dieſe neue Seemacht die Knie als Anker auf Maͤnnike’ns Bauchfell auswarf und zufoͤrderſt die Zitadelle der Feſtung, naͤm - lich den Kommandanten d. h. deſſen Kopf beſetzt und genommen hatte: ſo mußte ſich fuͤr jedes Herz auf der Bruͤcke ein anmuthiges Vesper - turnier anfangen, oder eine fluͤchtige republi - kaniſche Hochzeit, folglich deren Scheidung auf dem naſſen Wege. In der That pruͤgelte jeder106 von beyden den andern genug — keiner konnte im lauten Waſſer ſein eignes Wort hoͤren, ge - ſchweige Vernunft, nicht nur nach Lebensluft des Lebens, ſogar nach Ehren-Wind der Fama mußten beyde ſchnappen — die ſchoͤnſten Tha - ten und Stoͤße entwiſchten der Geſchichte. Gluͤck - licher Weiſe ſtieß der Hallore und Fluß-Mi - neur unten auf den Schiebkarren, womit Män - nike als auf einem Triumphkarren vor wenigen Minuten, wie ein glaͤnzender Waſſermann oder waͤſſriges Meteor gefahren war, und ſich von der Bruͤcke hatte mit Lob beregnen laſſen. — Der Hallore faßte den Vorſpringer, und ſtuͤlpte ihn ſo abgemeſſen auf den Karrn, daß deſſen Geſicht aufs Rad hinausſah, und die beyden Beine mit den Zaͤhen auf die Karren-Gabel feſt geheftet lagen. So ſchob er den verdienten Artiſten ans Ufer hinaus, wo er erwartete, was die Welt zu ſeiner Fiſchgerechtigkeit, Fiſcher zu fangen, ſagen wuͤrde.
Die Freude war allgemein, Hr. Männike wuͤnſchte waͤhrend derſelben auf dem terminiren - den Teller Bruͤckenzoll im ſchoͤnern Sinne ein -107 zufodern; aber die Hoͤfleiner wollten wenig ge - ben. Der Doktor nahm ſich der Menge an, und ſagte: „ Mit Recht! Jeder habe wie Er bloß dem guten eingepfarrten anſaͤßigen Hallo - ren, der’s umſonſt gethan, zugeſehen, weiter keinem; am wenigſten Herrn Männike, dem ſpätern Nebenregenbogen des Hallenſers. Ich ſelber, beſchloß er, gebe am wenigſten, ich bin Fremder. “ Da nuu das Wenigſte Nichts iſt; ſo gab er nichts und ging davon; — und der Ketzer-Glaube, gratis zugeſehen zu haben, fraß auf der Bruͤcke auffallend um ſich.
Auf der kurzen Fahrt nach Fugnitz wurde ſehr geſchwiegen. Der Edelmann ſah den nahen Lu - nens Abend mitten im Sonnenlichte ſchimmern und der Mondſcheiu mattete ſich aus dieſer Seelen-Ferne geſchauet, zu einem zweyten zaͤrtern ab. Theoda ſah die niedergehende Sonne an und ihr Vater den Haſen. Die ſtille Geſellſchaft hatte den Schein einer verſtimmten; gleichwol bluͤhte hinter allen äußern Knochen - Gittern ein voller haͤngender Garten. Woher kommts, daß der Menſch — ſogar der ſelber, der in ſolchen Dunkel uͤberwoͤlbter Herzens - Paradieſen ſchwelgt und ſchweigt — gleichwol ſo ſchwer Verſtummen fuͤr Entzuͤcken hält, als fehle nur dem Schmerz die Zunge, als thue blos die Nonne das Geluͤbde des Schweigens, nicht auch die Braut, und als geb’ es nicht eben ſo gut ſtumme Engel wie ſtumme Teufel?
109Im Nachtquartiere trafs ſichs fuͤr den Edel - mann ſehr gluͤcklich, daß in die Fenſter der nahe Gottesacker mit getuͤnchten und vergoldeten Grabmaͤhlern glaͤnzte, von Obſtbaͤumen mit Zauberſchatten und vom Mond mit Zauberlich - tern geſchmuͤckt. Es wurd’ ihm bisher neben Theoda immer wohler und voller ums Herz; gerade ihr Scherz und ihr Ungeſtuͤm, womit ihre Gefuͤhle wie noch mit einer Puppen-Huͤlſe aus - flogen, uͤberraſchten den Ueberfeinerten und Verwoͤhnten; und die Naͤhe eines entgegengeſetz - ten Vaters hob mit Schlagſchatten ihre Lichter; denn er mußte denken: wem hat ſie ihr Herz zu danken, als allein ihrem Herzen? — Haͤtte er die Erfahrung der Soldaten und Dichter nicht gehabt, zu ſiegen wie Caͤſar, wenn er kaͤme, und — geſehen wuͤrde, oder gar gehoͤrt, — wie denn ſchon am Himmel der Liebesſtern ſich nie ſo weit vom dichteriſchen Sonnen - gott verliert, daß er in Gegenſchein oder Ent - gegenſetzung mit ihm geriethe —; waͤre dies nicht geweſen, Nieß wuͤrde anders prangen in dieſer Geſchichte.
110Im Fugnitzer Wirthshaus gerieth er mit ſich in folgendes Selbſtgeſpraͤch: „ Ja, ich wag’ es heute, und ſag’ Ihr alles, mein Herz und mein Gluͤck. — Blickt ſie neben mir allein in den ſtillen Mond und auf die Graͤber, und in die Bluͤten: ſo wird ſie das Wort meiner Liebe beſſer verſtehen; o dann ſoll das reine Gemuͤth den Lohn empfangen und der geliebte Dichter ſich ihm nennen. Wenn ſie aber Nein ſagte? Kann ſie es denn? Geb’ ich ihr nicht meinen Stand und alles und mein Herz? Und biſt du denn unwerth, du armes Herz? Schlaͤgſt du nicht fuͤr fremde Freuden und Leiden ſtark? Und noch niemand hab’ ich ungluͤcklich machen wollen. Nicht ſtark genug iſt mein unſchuldiges Herz, aber ich haſſe doch jede Schwaͤche und liebe jede Kraft. O waͤren[nur] meine Ver - hältniſſe anders und haͤtt’ ich meine See - lenzwecke erreicht; ich wollte leicht trotzen und ſterben. Woraus ſchoͤpft ich denn meinen „ Rit - ter groͤßerer Zeit “als aus meiner Bruſt? Mei - netwegen! ſagt ſie doch Nein und verkennt mich und liebt nur den Autor, nicht den Menſchen:111 ſo beſtraf’ ich ſie im Badort und nenne mich — und dann verzeih’ ich ihr doch herzlich. “
Er ſchlug daher, als das Glück die Gabe ver - doppelt, naͤmlich den Doktor ausgeſchickt hatte, Theoda’n den Nachtgang ins rechte Nachtquar - tier der Menſchen, in den Gottesacker vor. Sie nahm es ohne Umſtände und Ausfluͤchte an; ſo gern ſie lieber ihre heutige Herzens-Enge nur einſam ins Weite getragen haͤtte; Furcht vor böſen Maͤnnern vorher und vor boͤſen Zungen nachher war ihr ungewohnt. Als nun beyde im Monds-Helldunkel und im Kirchhofe waren, und Theoda heute beklommener als je fortſchritt, und ſie vor ihm mit dem neuen Ernſte (einem neuen Reitze) dem alten Scherze den weichen Krantz aufſetzte und als er den Mond als eine Leuchtkugel in ihre Seelen-Veſte warf, um zu erſehen und zu erobern: ſo hoͤrt er deutlich, daß hinter ihm mit etwas andern geworfen wurde. [Er] ſchauete ſich um, und ſah gerade bey dem Gitter-Pfoͤrtchen einige Todtenkoͤpfe ſitzen und gaffen, die er gar nicht beym Eintritte geſehen zu haben ſich entſinnen konnte. Inzwiſchen je112 oͤfter er ſich umkehrte, deſto mehr erhob ſich die Schaͤdelſtaͤtte empor. Sehr gleichguͤltige und verdruͤßliche Geſpenſter-Gedanken wie dieſe, bringen um den halben Flug, und Nieß ſenk - te ſich.
Katzenberger — von dem kam alles — hatte ſich naͤmlich laͤngſt in unſchuldiger Abſicht auf den Gottesacker geſchlichen, weniger um Ge - fuͤhle als um Knochen einzuſammeln, das einzige, was der Menſchenfreſſer, der Tod, ihm zuwarf un - ter den Tiſch. Zufaͤllig war das Beinhaͤuschen, worin er aus einem Knochen-Florilegium ein kompletes Gerippe auszuheben arbeitete, am Eingangs-Gitterpfoͤrtchen gelegen und hatte mehr den Schein eines großen Mauſoleums als eines kleinen Gebeinhauſes. Katzenberger hörte das dichteriſche Eingehen und bekannte Stimmen, und er ſah durchs Gitter alles und erhorchte noch mehr. Die Natur und die Tod - ten ſchwiegen, nur die Liebe ſprach, obwohl keine Liebe zur andern. Fuͤr den wiſſenſchaft - lichen Katzenberger, der eben mitten unter der ſcharfen Einkleidung des Lebens wirthſchaftete,113 war daher der Blick auf Nießen, der, wie der Doktor ſich in einem bekannten Briefe aus - druͤckte, „ ſeinen Kopf, wie ein reitender Jaͤger den Flintenlauf, immer gen Himmel gerichtet an - haͤngen hatte, “kein ſympathetiſcher Anblick, ob - wohl ein antipathetiſcher. Bey ihm wollte das Wenige, das Nieß uͤber Todte und vermählte Herzens-Paradieſe auf dem Wege hatte fallen laſ - ſen, ſich wenig empfehlen. Vor allem Warmen uͤber - lief gewoͤhnlich des Doktors innern Menſchen eine Gaͤnſehaut; kalte Stichworte hingegen rie - ben wie Schnee ſeine Bruſt und Glieder warm und roth. Uebrigens verſchlang ſich ſeine Seele ziemlich mit der Nießiſchen, ſo wie der Werboffi - zier bey dem Rekruten ſchlaͤft, und immer einen Schenkel oder Arm auf ihn legt, um ihn zu be - halten im Schlafe. Er nun hatte die Koͤpfe und Ellenbogen am Pfoͤrtchen angehaͤuft. — Endlich ließ er gar ein rundes Kinderkoͤpfchen nach dem Dichter laufen als nach ſeinem Kegel - koͤnig. Aber hier nahm Nieß aus uͤbermaͤßiger Phantaſie Reißaus, und ſchwang ſich auf einen nahen Birnbaum, an der niedern Gottesacker -Erſter Theil. 8114mauer um allda — weil das Knochenwerk als Floßrechen und geſtachelter Heriſſon die Pforte verſperrte — ins Freie zu ſehen und zu ſpringen. Umſonſt rief die uͤber ſeinen Schrecken erſchrokne Theoda bange nach, was ihn jage, ihr Vater ſammle nur Skelette. Nun trat der Doktor ſel - ber aus ſeinen Schießſcharten heraus, ein wohl - erhaltenes Kindergerippe wie eine Bienenkappe auf den Kopf geſtuͤlpt, und begab ſich unter den Birnbaum, und ſagte hinauf: „ am Ende ſind Sie es, die ſelber droben ſitzen, und wollen den Gottesacker und die Landſchaft beſſer uͤberſehen? “ Aber Nieß laͤngſt verſtaͤndigt — war während des Perorierens des Doktors ſchon um die Mauer herum, und durch das Pfoͤrtchen zuruͤckgerannt und erfaßte jetzt, mit zwey aufgerafften Arm - knochen in Haͤnden, hinten den Doktor an den Achſelknochen, woruͤber er die bleichen ragen ließ, mit den Worten: „ ich bin der Tod, Spoͤtter! “ Katzenberger drehte ſich ſelber ruhig um; da lachte der Poet ungemein, mit den Worten: „ nun ſo haben wir beyde unſern luſtigen Zweck einer kleinen Schreckens-Zeit verfehlt; nur aber115 Sie zu erſt! “— „ Ich fuͤr meine Perſon fahre gern zuſammen — verſetzte der Doktor — weil Schrecken ſtärkt, indeß Furcht nur ſchwaͤcht. In Hallers Phyſiologie*)im 5ten Bande. und uͤberall koͤnnen Sie die Beyſpiele zuſammen finden, wie durch bloßen ſtarken Schrecken — weil er dem Zorne aͤhnlich wirkt — Laͤhmung, Durchfall, Fieber gehoben worden, ja wie Sterbende durch auffliegende Pulverhaͤuſer vom Aufflug nach dem Himmel ge - rettet worden und wieder auf die Beine ge - bracht —; und ganze matte Staaten waren oft nur zu ſtaͤrken durch Erſchrecken. Furcht hin - gegen, Hr. v. Nieß, iſt wie ihre Leibeserbin und Verwandte, die Traurigkeit, nach demſelben Haller und den naͤmlichen andern, wahres Laͤhmungs-Gift fuͤr Muskeln und Haut, Hemmkette des umlaufenden Bluts, macht Wun - den, die man ſich durch eigne Tapferkeit oder von fremder geholt, erſt unheilbar, und uͤber - haupt leicht toll, blind und ſtumm. Es ſollte mir daher leid thun, wenn ich Sie mit meinen Verſuchen in Furcht anſtatt in Schrecken und116 Zuſammenſchaudern mit Haarenbergan, geſetzt haͤtte; und Sie werden mich belohnen, wenn Sie mir ſagen, ob Sie gefuͤrchtet haben oder nur geſchaudert? “—
„ Ich bin ein Dichter und Sie ein Wiſſen - ſchafts-Weiſer; dies erklaͤrt unſern Unterſchied “verſetzte Nieß. Theoda aber, die ihren eignen Muth bey Maͤnnern verdoppelt vorausſetzte, glaubte ihn gern. Aber ihr Vater hatte ſeine Gedanken, naͤmlich ſatyriſche. — Uebrigens gieng er ſeelig mit doppelten Gliedern (wie ein Engliſch-Kranker), mit mehrern Koͤpfen und Ruͤckgraden behangen, die er aus der Troͤdelbude und Rumpelkammer des Todes geholet, nach Hauſe.
In der Nacht ſchrieb Theoda an ihre Freundin: „ Vor Verdruß mag ich Dir vom dummen Heute gar nichts erzaͤhlen, das ohne Menſchenverſtand bleibt bis morgen fruͤh, wenn wir in Maul - bronn einfahren. Denke, wir nachtlagern noch drey Stunden davon. Himmel, wie koͤnnt’ ich morgen dort aufwachen, und meinem Kopf aus dem Fenſter ſtecken in die Aurora und in Alles hinein! Aber dieſes Feindſchafts-Stuͤckchen hab’ ich bloß dem Freundſchafts-Stuͤckchen zu dan - ken, daß Hr. v. Nieß nach mir etwas fragt, ob ich ihm gleich meine Perſon und Seele ſo komiſch geſchildert habe, daß er ſelber lachen mußte. Aber ſieh’, ſo kann eine Maͤdchenſeele dem Maͤn - ner-Poltergeiſt auch nicht unter einem Kutſchen - himmel nahe kommen, ohne wund gezwickt zu werden. Gib dem Teufel ein Haar, ſo biſt Du118 ſein, gib einem Manne eines, ſo zerrt er Dich daran ſo lange, bis er das Haar oder den Kopf hat. Der Bienenſtich wird ſonſt mit Honig ge - heilt; aber dieſe Weſpen geben Dir erſt die Ho - nigblaſe und dann die Giftblaſe. Ich wollt’, ich waͤr’ ein Mann, ſo duellirte ich mich ſo lange, bis keiner mehr uͤbrig waͤre, und legte einer Frau den Degen mit der Bitte zu Fuͤßen, mich zu erſtechen. Aber wir Weiber ſind alle ſchon ein paar Jahre vor der Geburt verwahrloſet, und verbraten, und eh’ wir nur noch ein halbes Na - delkoͤpfchen von Koͤrper umhaben, ſind wir ſchon voraus verliebt in die kuͤnftige Raͤuberbande, und liebaͤugeln mit dem Taufpaſtor und Tauf - pathen.
Wie viel weißt Du ſo? — Es iſt aber uͤber - haupt nicht viel. Naͤmlich den ganzen Reiſetag hindurch hatt’ es Theudobachs angeblicher Freund (merke, ich unterſtreich’ es) darauf ange - legt, mein Gehirnchen und Herzchen in allen acht Kaͤmmerchen ordentlich gluͤhend zu heitzen durch Anekdoten von ihm, durch Ausmahlerey119 unſerer dreyfachen Zuſammenkunft, und ſogar durch das Verſprechen noch Abends vor dem ſtillen Monde, der beſſer dazu paſſe, als das laute Naͤderwerk, mich naͤher mit ſeinem Freunde bekannt zu machen. Ich dachte dabey wahrlich, er wuͤrde mich Nachts auf dem Gottesacker dem Dichter auf einmal vorſtellen. Dazu kam Mit - tags noch etwas Naͤrriſches. Er brachte mir meinen Schaul mit unlesbarer Kreideſchrift be - druckt; da er ſie aber gegen den Spiegel hielt, ſo war zu leſen: Dein Namensvetter, ſchoͤne Th — da, wird Dir bald fuͤr Deinen Brief zum zweytenmale danken; worauf er mich hinab zu einer Birke fuͤhrte, von deren Rinde wirklich er dieſe Zeile von des Dichters Hand am Tuche ab - gefaͤrbt hatte. Am Ende mußt’ ich gar noch oben in ſeinem Zimmer auf den Fenſterſcheiben eine herrliche Sentenz vom Dichter finden, die ich Dir auf der Ruͤckreiſe abſchreiben will. Selt - ſam genug! Aber Abends wars doch nichts; und mein Vater brach gar mit einem Spaße darein.
120Du Klare, errietheſt nun wohl am fruͤheſten, was Hr. v. N. bisher gewollt — nicht mich, ſondern (was auch leichter zu haben iſt) ſich. Er kokettirt. — Wahrlich die Maͤnner ſollten niemals kokettiren, da unter 99 Weibern im - mer 100 Gaͤnſe ſind, die ihnen zuflattern; in - deß weibliche Koketterie weniger ſchadet, da die Maͤnner als kaͤltere und gleichſam kosmopoliti - ſche Spitzbuben ſelten damit gefangen werden, wenn ſie nicht gar zu jung und unfluͤgge im Neſte ſitzen. — Warlich, ein Mädchen, das ein Herz hat, iſt ſchon halb dumm, und wie gekoͤpft.
Der Zärtling ſteckt ſeinen Freund als Köder an die Angel, um damit eine verduzte Grun - del zu fangen; er, der wenn auch kein Narr, doch ein Naͤrrchen iſt, und welcher ſchreit, wenn ein Wagen umfaͤllt.
Gott gehab Dich wohl! Vergib mein Aus - toben. Ich bin doch allen Leuten gut, und habe ſelber mit dem Teufel Mitleid, ſo lang er in121 der Hoͤlle ſitzt, und nicht auf der Erde ſtreift. Der weichſte Engel bringe Dich uͤber Deine Huͤgel hinüber! “
Th.
Am Morgen, nachdem der Doktor ſeine Flaſchen - Stoͤpſel (worunter zufaͤllig ein glaͤſerner) einge - ſteckt hatte, fuhr man heiter auf den breiten beſchatteten, ſich durchkreuzenden Chauſſeen dem Badorte zu, das bekanntlich im unmittelbaren Fuͤrſtenthuͤmchen Großpolei, (jetzt aber me - diatiſirt) liegt. Als ſie den letzten Berg hinab - fuhren ins Maulbronn, das ein Staͤdtchen aus Landhäuſern ſchien; und als man ihnen vom Thurme gleichſam wie zum Eſſen bließ, ſo mußte den drey Ankoͤmmlingen, wovon jede Perſon ſich bloß nach ihrer Ziel-Palme ſcharf umſah, naͤmlich:
ganz natuͤrlicherweiſe die praͤludierende Bad - Ouvertuͤre dem erſten, Nießen, als eine Famas -123 trompete erklingen; der zweyten, Theoda, als ein Verwandel - oder Meßgloͤckchen zum Nieder - fallen, und dem dritten, Katzenberger, als eine Jagd - oder auch Spitzbubenpfeife zum Anfallen.
Wenn ſie freilich Flexen mehr als ein Vogel - ſchwanzpfeifchen vorkam, weil ſein Herz nur ſein Vor-Magen war, und er erſt alles von hinten anfing, ſo iſt dieſer Einleg-Rieſe, wie man Einlegmeſſer hat, viel zu klein, um hier ange - ſchlagen zu werden.
Indeß zeigt dieſes widertoͤnige Quartett, wie verſchieden dieſelbe Muſik in Verſchiedene einwirke. Da ſie aber dieß mit allem in der Welt, und mit dieſer ſelber gemein hat: ſo mag fuͤr ſie beſonders der Wink gegeben werden, daß ihr weites Aetherreich mit demſelben Blau, derſel - ben Melodie einen Jammer und einen Jubel trage und hebe.
Der Doktor bezog zwey Kammern in der ſogenannten großen Badewirthſchaft, und Nieß ihm gegenuͤber eins der niedlichſten gruͤnen Haͤu - ſerchen.
Aber der rechte Muſik-Text fehlt vor der124 Hand der begeiſterten Theoda; auf der Badeliſte, wornach ſie zu erſt fragte, erſchien noch kein an - gelangter Theudobach. Doch hatte ſie die Freude in der großpoleiſchen Zeitung angekuͤndigt zu le - ſen: „ Der durch mehrere Werke bekannte Theu - dobach, habe man aus ſicherer Hand, werde dieſes Jahr das Maulbronner Bad gebrauchen. “ Die Hand war ſicher genug, denn es war ſeine eigne.
Der Doktor fragte, ob der Brunnenarzt Strykius da ſey; und gieng, als man ihm ein feines um das Brunnen-Gelaͤnder flatterndes Maͤnnchen zeigte, ſogleich hinab.
Dieſer Strykius, ein gerader Abkoͤmmling vom beruͤhmten Juriſten Strykius — dem er ab - ſichtlich die lateiniſche Namens Schleppe nachtrug, um dem deutſchen Strick zu entgehen — war be - kanntlich eben der Rezenſent der Katzenberger - ſchen Werke geweſen, den ihr Verfaſſer auszu - ſtaͤupen ſich vorgeſetzt. Auf Muſenſitzen — wie in Pira — die zugleich rezenfirende Muſenvaͤter - ſitze ſind, iſts ſehr leicht, da alle dieſe Kollegien unter einander kommunizieren, den Namen des125 apokalpptiſchen Thiers oder Unthiers zu er - fahren; bloß in Marktflecken und Kleinſtaͤdten wiſſen die Schulkollegen von nichts, ſondern er - ſtaunen. Mehr als durch alle Strykiſchen Re - zenſionen in der allg. deutſchen, oberdeutſchen Literaturzeitung u. ſ. w. war der milde Katzen - berger erbittert geworden, durch lange grobe haͤmiſche und ſpaͤte Antworten auf ſeine gelehr - ten Antikritiken. Denn den Doktor wars ſchon im Leben bloß um die Wiſſenſchaft zu thun, ge - ſchweige in der Wiſſenſchaft ſelber. Da er in - deß eine unglaubliche Kraft zu paſſen beſaß: ſo ſagte er ein akademiſches Semeſter hindurch bloß freundlich: „ ich koch’s “und troͤſtete ſich mit der Hoffnung, den Brunnenarzt perſoͤnlich in der Badzeit kennen zu lernen.
Dieſe ſehnſuͤchtige Hoffnung ſollte ihm heute erfuͤllt werden. Er traf unten an dem Brun - nenhauſe — dem Induſtriekomptoir und Markt - platze eines Brunnenarztes — den verlangten. Der Brunnenarzt lief, da er mit der gewoͤhnli - chen Neugier dieſes kuͤrzeſten Amtes, ſchon Kat - zenbergers Namen erjagt hatte, ihm entgegen,126 und konnte, wie er ſagte, die Freude nicht aus - druͤcken, dem Verfaſſer einer haematologia und einer epistola de monstris und de rabie canina perſoͤnlich zu hoͤren, und zu benuͤtzen, und ihm, wo möglich, irgend einen Dienſt zu leiſten. „ Der groͤßte, verſetzte der Doktor, ſey deſſen Gegenwart, er habe laͤngſt ſeine Bekannt - ſchaft gewuͤnſcht. “— Strykius fragte: „ wahr - ſcheinlich hab er ſeine ſchoͤne Tochter, als ihr be - ſter Brunnenmedikus hierher begleitet, wenn ſie das Bad gebrauche. “
„ Nicht eines zu gebrauchen, antwortete er, ſondern einem Badegaſte eines zu zubereiten, und zu geſegnen, ſey er angelangt. “— „ Alſo auch im Umgange der ſcherzhafte Mann, als den ich Sie laͤngſt aus ihren epistolis kenne? “ Doch Scherz bey Seite “, ſagte Strykius, und wollte fortfahren. „ Nein, dieß hieße Pruͤgel bey Seite, ſagte der Doktor. Ich bin wirklich ge - ſonnen einen kritiſchen Anonymus von wenig Gewicht, den ich hier finden ſoll, aus Gruͤnden ſo lange wir beyde, naͤmlich er und ich, es aushalten, was man ſagt zu pruͤgeln, zu dre -127 ſchen, zu walken. Indeß will ich als ein Mann, der ſich beherrſcht, nur ſtufenweiſe verfahren, und fruͤher ſeine Ehre angreifen als ſeinen Koͤrper. “
„ Nun dieſen Scherz-Ernſt abgethan — ſagte der Brunnenarzt ſich todtlachen wollend — ſo verſprech’ ich Ihnen hier wenigſtens fuͤnf Freunde des Verfaſſers der Haͤmotologie, Maͤn - ner vom Handwerk. “
„ Es ſoll mich freuen, ſagte der Doktor, wenn einer darunter mich rezenſirt hat, weils eben das Subjekt iſt, dem ich, wie ich Ihnen ſchon anvertrauet, ſo viel Hirn ausſchlagen will, als ein Menſch ohne Lebensgefahr entbehren kann, welches, wie Sie wiſſen, bis auf zwey Unzen ſteigt, es muͤßte denn ſeyn, daß ich aus Liebe mich auf bloßes Einſchlagen der Hirnſchale einzoͤge. — Wenn ſchon jener Feſtungs-Kom - mandant jeder davonlaufenden Schildwache fuͤnf und zwanzig aufzaͤhlen ließ, die einen Geiſt ge - ſehen: wie viel mehr ich einer kritiſchen, die kei - nen Geiſt in meinen Werken geſehen! Wie? “
128„ Thun Sie, was Sie wollen, Humoriſt; nur ſeyn Sie heute mit Ihrer bluͤhenden Toch - ter mein Gaſt im großen Brunnenſaale, “ſagte Strykius; er fand ſeine Bitte gern gewaͤhrt, und ſchied mit einem eiligen Handdruck, um einen verdruͤßlichen Grafen zu antworten, der eben geſagt: Franchement, Mr. Medecin, ich habe bisher von dem deteſtabeln Geſoͤff nur die Hälfte Ihrer vorgeſchriebenen Glaͤſer ver - ſchluckt; ich verlange nun durchaus nur dieſe Haͤlfte verordnet. “
„ Gut, verſetzte er, von morgen an, duͤr - fen Sie keck mit der bisherigen Haͤlfte fort - fahren. “
Dieſe Antwort vernahm noch der Doktor mit unſaͤglichem Ingrimm; er, der ſich von keinem Fuͤrſten nur eine einzige von 1000 verordneten Merkurialpillen haͤtte abdingen laſſen. Stry - kius milde Hoͤflichkeit verdroß ihn mehr als die groͤßte Grobheit gethan haͤtte, auf die er zu -129 folge der anonymen in den Rezenſionen ſo ge - wiß gezaͤhlet hatte; einen rauhen, wiederhaari - gen, ſtaͤmmigen Mann hatte er zu finden ge - hoͤfft, dem der Kopf kaum anders zu waſchen iſt, als durch Abreißen oder Abhaaren deſſelben, wenigſtens einen Mann, der wie ein Teich un - ter ſeine weißen Waſſer-Bluͤten gezaͤhnte Hechte verbaͤrge — — aber er, ein ſo gebognes, wan - genfettes, gehorſamſtes, unterthaͤnigſtes Zier - Maͤnnchen, das noch niemand ein hartes Wort geſagt, als Frau und Kindern, und gegen nie - mand ein Elephant, als gegen Elephanten-Kaͤ - fer und Elephant-Ameiſen! … Nichts er - bittert mehr als anonyme Grobheit eines abge - ſuͤßten Schwaͤchlings!
Allerdings gibt es ein oder das andere We - ſen in der Welt, das Gott ſelber kaum ſtaͤrken kann ohne den Tod — das ſich als ewiger Bet - telbrief gern auf - und zubrechen, als ewiges Friedensinſtrumment gern brechen laͤßt. — Das eine Ohrfeige empfaͤngt, und zornig heraus - fährt, es erwarte jetzt, daß man ſich beſtimm -Erſter Theil. 9130ter ausdruͤcke — das nicht ſo wohl zu einem ar - men Hunde und Teufel als zu einem nieſenden, fuͤrſtlichen mit Silberhalsband ſagt: Gott helf, oder contentement — deſſen Zunge der ewig gelaͤutete Kloͤppel in einer Leichenglocke iſt, wel - che anſagt: ein Mann iſt geſtorben aber ſchon ungeboren — Das erſt halb, ja dreyviertels erſchlagen ſeyn will, bevor er es dem Thaͤter geradezu herausſagt auf dem Todtenbette im Kodizill, es ſey deſſen erklaͤrter Todfeind — das jeder ſo oft zu luͤgen zwingen kann, als er eben will, weil es ſich gern widerſpricht, ſobald man ihm widerſpricht — und dem nur der Feind gern begegnet und nur der Freund un - gern. — —
Indem ich ein ſolches Weſen mir ſelber durch den Pinſel und das Gemaͤlde naͤher vor das Auge bringe: erwehr’ ich mir doch nicht eines gewiſſen Mitleidens mit ſolchen tauſendfach ein - geknickten Seelen, die nun Gott einmal ſo duͤnn - halmig in die Erde geſaͤet hat; und welchen, obwohl am wenigſten durch ſchnelles Aufſchrau -131 ben, doch auch nicht durch ſchweres Niederdruͤk - ken aufzuhelfen iſt, ſondern vielleicht durch all - maͤhliges Ermuntern und Aufwinden und durch Abwenden der Verſuchung.
Aber an das Letzte, war bey Katzenberger nicht zu denken. Des Brunnenarztes Sprech - und That-Markloſigkeit neben ſeiner harten, heißen Schreib - und Richt-Strengfluͤſſigkeit ſetzten in ihm nun den Vorſatz feſt, den Badarzt auf eine ausgedehnte Folterleiter von Aengſten und Ehren-Giften zu ſetzen und ihn erſt auf der oberſten Stufe zu empfan - gen mit dem Pruͤgel. Strykius war der er - ſte Patient, den er durch Heilmittel nicht heilen wollte, ſo ſehr war er ergrimmt; und er war entſchloſſen, ihm durch zuvor - kommende Unhoͤflichkeiten wo moͤglich zu ei - ner zu zwingen, und als umrollender We - berbaum, das hin und her fliegende We - berſchiffchen zubearbeiten. Es iſt indeß oft eben ſo ſchwer, manche grob zu machen, als andere hoͤflich.
132Zu Hauſe ſetzte er in Strykius Namen einen oͤffentlichen Widerruf ſeiner Rezenſio - nen auf, den er ihn zu unterſchreiben und herauszugeben in der Pruͤgelſtunde zwingen wollte.
H. v. Nieß lud auf Abends gegen ein unbedeu - des Einlaßgeld die Badegeſellſchaft zu ſeinem muſikaliſchen Deklamatorium des beſten Theudo - bachiſchen Stuͤckes betitelt: „ Der Ritter einer groͤßern Zeit” auf Zetteln ein, die er ſchon fer - tig gedruckt mitgebracht hatte, bis auf einige leere Vakanz-Rahmen oder Logen, welche er mit Inhalt von eigner Hand beſetzen wollte. Funfzig ſolcher Zettel ließ er austheilen, und ſagte mit inniger Liebe gegen jeden und ſich: „ warum wollt’ ich ſo vielen Menſchen aus entge - gengeſetzten Winkeln Deutſchlands, denen ein Buchſtabenblaͤttchen von mir vielleicht eine ewige Reliquie iſt, und zwey geſchriebene Worte viel - leicht mehr als tauſend gedruckte von mir, war - um ſollt’ ich ihnen dieſe Freude nicht mit nach Hauſe geben?”
134Aber aus Liebe gegen Theoda, die dem Dich - ter als einem Sonnengott wie eine Memnon’s Statue zutoͤnte mit heitern Nachtmuſiken und Staͤndchen, ſetzte er ſich nieder und ſchrieb, um ihr den Aufſchub ſeiner Goͤtter-Erſcheinung oder ſeines Aufgangs zu verfuͤßen, eigenhändig in Theudobachs Namen ein Briefchen an Hr. v. Nieß, worin er ſich ſelber als Freund berich - tete: „ er komme erſt Abends in Maulbronn an, doch aber, hoff’ er, nicht zu ſpaͤt fuͤr den Be - ſuch des Deklamatorium, und nicht zu fruͤh, wuͤnſch’ er fuͤr unſre Dame.” Er ſteckte dies Blaͤttchen in einem mit der Bad-Poſt angelang - ten Briefumſchlag und ging zu Theoda mit ent - zuͤcktem Geſichte. Daß er nicht log, war er ſich bewußt, da er eben vorhatte unter dem Vorleſen (um das Loben ins Geſicht zu hemmen) auf zu ſtehen und zu ſagen: ach nur ich bin ſelber dieſer Theudobach. Ehe der Edelmann kam, hatte ſie eben folgendes ins Tagebuch ge - ſchrieben: „ Endlich bin ich da, Bona, aber nie - mand anders (außer einige Schocke Badegaͤſte) ſogar auf der Badeliſte fehlt Er. Bloß in der135 Großpoleiſchen Zeitung wird er gewiß ange - kuͤndigt. Ich wollte, ich hätte nichts worhin - ter ich mich kratzen könnte; aber die Ohren muͤſſen mir lang auf der Fahrt gewachſen ſeyn, weil ich ſo feſt vorausſetzte, der Erſte, auf den man vor der Wagenthuͤre ſtieße, ſey bloß der Poet. Wohin ich nur vom Fenſter herabblicke auf die ſchoͤnən Badgaͤnge: ſo ſeh’ ich doch nichts als den leeren Stickrahmen, worauf ihn meine Phantaſie zeichnet, nichts als den Paradeplatz ſeiner Geſtalt, und ſein Throngeruͤſte. Wahr - lich ſo wird einem Maͤdchen doch ſo ein Menſch, den man liebt, es mag nun ein Braͤutigam oder ein Dichter ſeyn, zu jedem Geſtirn und Gebirg gleichſam zum Augengehenk und hinter allen ſteckt der Menſch, daß es ordentlich langweilig wird. Man ſollte weniger nach einem Schrei - ber[fragen], da man ja an unſeren Herrgott ge - nug haͤtte, der doch das ganze Schreiber-Volk ſelber geſchaffen.
Ich merke wohl, ich werde allmaͤhlig eher toller als kluͤger; am beſten ſchreib ich Dir nichts mehr uͤber mein Aufpaſſen, als bis der Meſſias136 erſchienen iſt;[d]enn ausſtreichen, was ich ein - mal an Dich geſchrieben, kann ich aus Ehrlich - keit unmoͤglich; ich ſage Dir ja alles, und nehme mir kein Blatt vors Maul, warum ein Blatt vors Blatt…”
Da erſchien Nieß und wollte ſeine eben er - haltene Nachricht uͤbergeben. Sie empfing ihn, in der vaterloſen Einſamkeit, mit keinem groͤ - ßern Feuer, wie er doch gedacht, ſondern mit einigem Maireif, der aus dem Tagebuche auf das Geſicht gefallen war. Sofort behielt er ſeine Selbſtbriefwechſel in der Taſche, und beſchenkte ſie und ihren abweſenden Vater bloß mit der Einladung, Mittags ſeine Gaͤſte, und Abends ſeine Zuhörer zu ſeyn. Auch wunderte er ſich innerlich ſehr, warum er nicht ſogleich darauf gefallen, ihr das Blaͤttchen erſt an der Tafel zu geben, und dadurch der Tafel zugleich; „ ein Briefwechſel mit dem Dichter ſelber, (dacht’ er), muͤßte, ſollt ich denken, dem Deklamator deſſel - ben, vorlaͤufige Ehre, und nachlaufende Zuhoͤ - rer eintragen.”
137Eben verſprach Theoda ſeinem Tiſche ſich und ihren Vater, als dieſer eintrat, und das Nein vorſchuͤttelte und ſagte: er habe ſich dem Handwerksgeſellen Strykius verſprochen, um das Band der Freundſchaft immer enger zuſammen zu ziehen bis zum Erſticken. Das Maͤdchen koͤnne aber thun, was es wolle. Dieß that ſie denn auch, und blieb ihrem Wort, und Nießen getreu. Sie ſaß naͤm - lich, damit ich alles erklaͤre, an oͤffentlichen Orten gern ſo weit als thunlich, von ihrem Vater ab, als Tochter und als Mädchen; ſie kannte ſeine Luthers-Tiſchreden. Der Edelmann wendete dieſe Wendung ganz an - ders: „ o! ſie hat ſchon Recht, die Zarte, dacht’ er; jetzt in Gegenwart eines Fremden, naͤmlich des Vaters, verbirgt ſie ihre Waͤrme weniger; neben dem einſamen Geliebten ſcheuet die einſame Liebende jedes Wort zu ſehr, und wartet auf fremde kuͤhlende Nach - barſchaft; o Gott, wie errath’ ich dieß ſo ſehr, und doch leider mich kein Hund!”
138Endlich, hoff’ ich, iſt Hoffnung da, daß Mittags gegeſſen wird in Maulbronn in der 23ten Summel.
Herr v. Nieß fuͤhrte ſeine ſchoͤne Tiſchgenoſſin in die glänzenden Eßzirkel an eine Stelle, wo - hin das vaͤterliche Ohr nicht langte. Der Eßſaal war die gruͤne Erde mit einem von Laubzwei - gen durchbrochnen Stuͤckchen Himmel dazu. Luſtbeklommen uͤberflog Theoda mit dem ſcheuen Auge die wallende Menge, in der weiblichen Hoffnung, ob doch nicht zufaͤllig daraus der Ge - hoffte auffliege. Ihre Seele quaͤlte, ſehnte ſich immer heftiger, und immer unverſtaͤndiger, ihr war, als muͤſſe er uͤberall gehen und ſitzen. In dieſen Frauen-Rauſch hinein, reichte nun der Edelmann den Brief, den Theudobach an ihn geſchrieben. Mehr bedurfte ihre Seele nicht um den Tiſch-Trompeten leiſe nach zu ſchmet - tern, um das Erden-Leben fuͤr Sonnenſtern - Leben zu halten, und um außer ſich zu ſeyn.
140Jetzt ſtanden alle Roſenknoſpen als gluͤhende Roſen aufgebrochen da. Sie druͤckte Nießens Hand im Feuer, und er freuete ſich daß er kei - nen andern Nebenbuhler hatte, als ſich ſelber. Die Neuigkeit lispelte ſich bald von ſeiner zwey - ten Nachbarin die Tafel hinab. Nieß brachte deswegen, da er ſchon als Freund eines Groß - Autors Aufmerkſamkeit gewann, mehrere Sen - tenzen, theils laut, theils gut gedreht hervor, weil leicht auszurechnen war, wie ſie vollends umlaufen wuͤrden, wenn er mit dem Dichter in Eins zuſammengeſchmolzen. Die Tiſchluſtbar - keit ſtieg zuſehends. Das Brunnen-Eſſen iſt ungleich dem Brunnen-Trinken, die beſte Brun - nen-Beluſtigung und ohnehin froher als jedes andere; außer der Freyheit wirkt noch darin, daß man da keinen andern Arbeitstiſch kennt als den Eßtiſch, und keine Schmollwinkel als die Badwanne.
Aber unten am entgegengeſetzten Tafel-Aus - ſchnitt, wo Katzenberger neben ſeinen gaſtfreien Rezenſenten ſaß, nahm man von Zeit zu Zeit auf den Damengeſichtern von weitem verſchiedene Queerpfeifer-Muskel-Bewegungen und Mie - nen-Vielecke wahr. Der Doktor hatte naͤmlich bey der Suppe ſeinen Wirth gebeten, ihn mit den verſchiedenen Krankheiten bekannt zu ma - chen, welche gerade jetzt hier vertrunken, und ver - badet wuͤrden. Strykius wußte, als ein leiſe auftretender Mann durchaus nicht, wie er auf Deutſch (zumal da außer dem Namen, wenig Latinitaͤt in ihm war) zugleich die Ohren ſeines Gaſtes bewirthen, und die der Nachbarinnen beſchirmen ſollte. „ Beym Eſſen, ſagte eine aͤlt - liche Landjunkerin hoͤrte ſich dergleichen ſonſt nicht gut. ” — „ Wenn Sie es des Ekels wegen meinen, verſetzte der Doktor, ſo biet’ ich mich142 an, Ihnen noch ehe wir vom Tiſch aufſtehen, ins Geſicht zu beweiſen, daß es rein genommen gar keine ekelhaften Gegenſtaͤnde gebe; ich will mit Ihnen Scherzes halber, bloß einige der ekelhaften durchgehen, und dann Ihre[Empfin - dung] fragen.” Nach einem allgemeinen mit weib - lichen Flachhaͤnden unternommenen Niederſchla - gen dieſer Unterſuchung ſtand er ab davon.
„ Gut, ſagt’ er, aber dieß ſey mir erlaubt zu ſagen, daß unſer Geiſt ſehr groß iſt, und ſehr geiſtig und unſterblich und immateriell. Denn wäre dieſer Umſtand nicht, ſo waltete die Ma - terie vor, und es waͤre nicht denklich; denn wo iſt nur die geringſte Nothwendigkeit, daß bey Traurigkeit ſich gerade die Thränendruͤſe, bey Zorn die Gallendruͤſe ergießen? Wo iſt das abſolute Band zwiſchen geiſtigen Schaͤmen und den Adernklappen, die dazu das Blut auf den Wangen eindaͤmmen? Und ſo alle Abſon - derungen hindurch, die den unſterblichen Geiſt in ſeinen Thaten hienieden theils ſpornen, theils zaͤumen? In meiner Jugend, wo noch der Dichtergeiſt mich beſaß, und nach ſeiner Pfeife143 tanzen ließ, da erinner’ ich mich noch wohl, daß ich einmal eine ideale Welt gebauet, wo die Na - tur den Koͤrper ganz entgegengeſetzt mit der Seele verbunden hatte. Es war nach der Auferſte - hung (ſo dichtete ich); ich ſtieg in groͤßter Freude aus dem Grabe, aber die Freude, ſtatt daß ſie jetzt die Haut gelinde öffnet, druͤckte ſich bey mir, und bey meinen Freunden, durch Erbrechen aus. Da ich mich ſchaͤmte wegen meiner Bloͤße, ſo wurde ich nicht roth, ſondern ſogenannt preu - ßiſch Gruͤn, wie ein Gruͤnſpecht. — Beym Zorn ſonderten ſaͤmtliche Auferſtandne bloß album graecum ab. — Bey den zaͤrtern Empfindun - gen der Liebe, bekam man eine Gaͤnſehaut, und die Farbe von Gaͤnſe-Schwarz, was aber die Sachſen Gaͤnſe-Sauer nennen. — Jedes freund - liche Wort war mit Gallergießungen verknuͤpft, jedes ſcharfe Nachdenken mit Schlucken und Nie - ſen, geringe Freude mit Gaͤhnen. — Bey ei - nem ruͤhrendem Abſchied floß ſtatt der Thränen viel Speichel. — Betruͤbnis wirkte nicht wie bey uns auf verminderten Pulsſchlag, ſondern auf Wolfs - und Ochſen Hunger und Fieber -144 Durſt, und ich ſah viele Betruͤbte Leichentrunk und Leicheneſſen zugleich einſchlucken. — Die Furcht ſchmuͤckte mit feinem Wangenroth. — Und feurige aber zarte Zuneigung der Ehegat - ten verrieth ſich, wie jetzt unſer Grauſen, mit Haarbergan, mit kaltem Schweiß und Laͤhmung der Arme. — Ja, als. …”
Aber hier lenkte der vorſorgende Brunnenarzt den ungetreuen Dichterſtrom durch die Frage ſeitwaͤrts: „ Artig, ſehr artig, und wie Haller, wahrer Dichter und Arzt zugleich! — Aber Sie haben ſich gewiß vorhin in der Wirklichkeit ſchoͤ - ner gefuͤhlt, da Sie aufmerkſam unſern ſchoͤ - nen Damenzirkel durchliefen?” — „ Allerdings, verſetzte er, und ich thue es auch in jeder neuen Geſellſchaft in der Hoffnung, endlich einmal ein Monſtrum darunter zu finden. Denn jetzt bin ich der bluͤhende ſchwaͤrmeriſche Juͤngling nicht mehr, der ſonſt vor jeder ſchoͤnen Ge - ſtalt oder Bruſt außer ſich ausrief: „ Rumpf ei - ner Goͤtrin! Bruſtkaſten fuͤr einen Gott! Und das feine Hautwarzenſyſtem, und das Malpi - phiſche Schleimnetz und die empfindſamen Ner -145 venſtraͤnge darunter! O ihr Goͤtter!” — Auch Sie wie alle Schwaͤrmer haben ſich gewiß ſonſt nicht ſchwaͤcher ausgeſprochen; jetzt freylich wird der Ausdruck immer lahmer. Um aber auf die Misgeburten zuruͤck zu kommen, nach denen ich mich hier nach den erſten Komplimente vergeb - lich umgeſehen: ſo ſag’ ich dieß: Eine Misge - burt iſt mir als Arzt eigentlich fuͤr die Wiſſen - ſchaft das einzige Weſen von Geburt, und Hoch - und Wolgeboren; denn ich lerne mehr von ihm, als vom wohlgeborenſten Manne. Aus demſel - ben Grunde iſt mir ein Foͤtus in Spiritus lieber, als ein langer Mann voll Spiritus; und Embryo - nengläſer ſind meine wahren Vergroͤßerungs - Glaͤſer des Menſchen. — Ach wohl in jedem von uns, fuhr er feuriger fort, ſind einige An - ſaͤtze zu einem Monſtrum, aber ſie werden nicht reif; mit dem Rückgrads Ende, dem Steißbein, ſetzen wir z. B. zu einem Affenſchwanz an, und auf dem neugebornen Kindskopfe erſcheint nach Buffon eine hornartige Materie zu einem Ge - hörne, nicht Gehirne, die man leider ſauber wegbuͤrſtet; aber jeder will wahrlich nur ſeinesErſter Theil. 10146Gleichen ſehen, ohne nur im Geringſten, ſich um die ſchon fuͤrs Auge koͤſtliche Mannigfaltigkeit zu bekuͤmmern, welche z. B. an dieſer Badtafel genoſſen wuͤrde, wenn jeder von uns etwas Ver - drehtes an ſich hätte, und wenn z. B. der eine ſtatt der Naſe einen Fuchsſchwanz truͤge, der andere einen Zopf unter dem Kinn, der dritte Adlerfaͤnge, der vierte ordentliche, nicht etwa abgenutzte mythologiſche Eſelsohren. Ich fuͤr meine Perſon, darf ich wol bekennen, ginge mit Jauchzen vor einer misgebornen Knappſchaft und Mannſchaft an der Spitze als verzerrter Fluͤ - gelmann und monſtroͤſes Muſter, und wuͤrde Gott danken, wenn ich (naͤmlich koͤrperlich) nicht waͤre wie andere Leute, ſondern wenn auf mir etwa Kameel und Dromedar, alſo 3 Hoͤcker zu - gleich verkettet waͤren zur Gebirgskette, oder wenn die Natur mir hinten eine angeborne Frau aufgeſetzt haͤtte, ſammt 12 Fingern vorne, oder wenn ich ſonſt mit vielen Curiosis fuͤr mich und andere begabt waͤre, inſofern mir naͤmlich bey dieſem lebendigen Naturalienkabinet auf mir, mein gewoͤhnlicher mediziniſcher Verſtand ge -147 laſſen wuͤrde, der ſich wie eine Biene auf alle Blumen-Monſtroſen ſetzen muͤßte und koͤnnte. Was hat aber jetzt mein Geiſt davon, daß mein Leib wohlgeſtaltet iſt und die gemeinſten Reitze fuͤr Volksaugen umher ſpreitet? — Nichts hat er, er ſieht ſich nach beſſern um. Aber ich ent - ſinne mich noch recht gut meiner Jugend, wo ich mehr idealiſierte und weniger auf Erden als im Himmel wandelte, da weidete ich mich an getraͤumten hoͤhern Misgeburten, als an einem theuern ſchwachen Haſenpaar, das ich geſtern gekauft; da war es mir ein Leichtes, ganze in einander hineingewachſene Seſſionen geboren und zu Kauf zu denken, die ich dann nach dem Ableben leicht in einem Spiritus-Glas bewahrte und bewegte nach Luſt — oder einen Knaben mit einem angebornen vollſtaͤndigen fleiſchernen Kroͤnungshabit — oder einen tafelfaͤhigen Edel - mann mit 32 Steißen beſetzt — und doch ſind das nicht ganz arkadiſche Traͤume. Sonſt wur - den ja wirklich Menſchen mit lebendigen Pluder - hoſen und Fontangen gebornen zum Abſchrecken vor genaͤhten; warum koͤnnte nicht unſern Zeiten148 der Fang zufallen, daß ihnen das Gluͤck einen Incroyable mit pulſirenden Hutkrempen und Schnabelſtiefeln, und fleiſchernen Crawatten - Zacken beſcherte, frag’ ich?”
Der Brunnenarzt ſchwitzte, waͤhrend er prieß, mehrere Schweiße von verſchiedener Temperatur daruͤber, daß er einen Fluͤgel ſeiner Pazienten, zumal den weiblichen, eine Landjunkerin, eine Konſiſtorial-Raͤthin, eine halb bleich -, halb gelb - ſuͤchtige Zaͤrtlingin, und am Ende ſich ſelber, in die Hoͤr - oder Stech-Weite eines ſolchen gei - ſtigen Raufdegens gebracht als Wirth. Gern haͤtte er verſchiedene kaltſinnige Mienen dabey geſchnitten, wenn er verſichert geweſen waͤre, daß ihn der Doktor nicht als Rezenſenten kenne, und darum ſchaͤrfer angreife. Doch that er das Seinige und ſprang von den Misgeburten auf die Katzenbergeriſchen Geburten, um vorzuͤglich deſſen Haͤmatologie zu huldigen, worin, ſagt’ er, Paragraphen waͤren, ohne welche er manche gluͤckliche Bemerkungen gar nicht haͤtte machen koͤnnen. „ Schoͤn, verſetzte der Doktor, ſo denkt wohl nur ein äußerſt parteiiſcher und guter Mann149 wie Sie; — denn außer Ihnen giebts nur noch einen Leſer, der gern alles redlich thut, was ihm Buͤcher vorſchreiben, naͤmlich den Buch - binder, der jedes Wort an den Buchbinder be - folgt — aber Sie ſollten meinen Hund von Re - zenſenten kennen, und dagegen halten. Him - mel, wie bellt der Zerberus, zwar nicht mit drey Koͤpfen, aber aus ſieben Hundhuͤtten, und an ſieben Ketten gegen mich! — — Ich wollt’, ich haͤtte ihn da; ich wollte jetzt alles thun, da ich eben getrunken, was ich ihm laͤngſt geſchworen, naͤmlich meine Blut-Machungslehre (die hae - matologia) an ihm ſelber erproben. — Oder gibt es etwas ſuͤndlichers, als wenn ein Narr — bloß weil er ſieben Zeitungen dazu frey hat, wie zu ſieben Thuͤrme — die ſieben Weiſen ſpielt, und ſieben Todſuͤnden begeht, um als einziger Zeuge vermittelſt einer boͤſen literatiſchen Hep - tarchie ſeinen Ausſpruch zu beſiebnen? Ich kann von der boͤſen Sieben gar nicht los; aber ich werde, ſollt’ ich denken, in jedem Falle den Mann auspruͤgeln, erwiſch’ ich ihn. Hier faſſ’ ich zum Gluͤck den redlichen Stryk an der Hand,150 der denkt wie ich, wenn nicht zehnmal beſſer. Dieſem Magen uͤbergeb’ ich mich — denn ich meyne Magus, nicht Stomachus — und er ent - ſcheide; fuͤr mich der große Thor (ich ſpreche zwar nach einem Glas Wein, aber ich weiß recht gut, daß Thor unſer erſter altdeutſcher heilender Gott geweſen) — der ſage hier. … was wollt ich denn ſagen? Nun mir gilts ſehr gleich, und die Sache iſt ohnehin klar und feſt genug. Kurz — —
„ Ich errathe unſern guten Autor, ſagte Strykius; denn vielleicht kann ich, als alter Le - ſer ſeiner witzreichen Werke, ihn wenigſtens zum Theil wuͤrdigen. Man kennt dieſen tiefen Mann, er verzeihe mir ſein Lob ins Geſicht, nur wenig, wenn man nicht ſeine gelehrte und ſeine witzige Seite zugleich bewundert und unterſcheidet, die er beyde ſo eng verſchmilzt, aber er hat nun einmal, um ſpashaft-gemein zu ſprechen, Haar im Mund.” „ Aber ich habe ſie jetzt zwiſchen den Zähnen (verſetzte er, einen Truthahn-Hals151 an der Gabel aufhebend); ich wuͤnſchte mancher haͤtte ſo viel Haarwuchs auf dem Kopfe als der Truthahn hier am Halſe und ſolche herrliche Haarzwiebeln waͤren auf eine beſſere Haut und Glatze geſaͤet als ich eben kaͤuen muß.”
„ Ich tadle aber doch die Sauce dabey — fiel ein aͤltlicher mehr bloͤd - und fuͤnfſinniger als ſcharfſinniger Poſthalter ein — ſie will mir faſt wie abgeſchmackt ſchmecken; aber jeder hat frey - lich ſeinen Geſchmack. ” — „ Abgeſchmackt, Herr Poſthalter, (ſagte der Doktor, und hielt lange innen,) nennen die Phyſiologen alles, was we - niger Salz enthaͤlt als ihr eigner Speichel; da - her ſind Sie wegen des Ungeſalzenen wahr - ſcheinlich ein Mann von Salz, ich meyne den Speichel. ” —
Eine ſchwergeputzte Landjunkerin, die ihren Kahlſchaͤdel mit einem Prunk - und Titular-Haar gekroͤnt, merkte (aber nicht leiſe genug, weil ſie es franzoͤſiſch ſagte), gegen ihre Tochtrr an: „ Fi! 152Welch ein Menſch! Wer kann dabey eſſen?” — Der Poſthalter, der ihn ſchlecht verſtand und gut aufnahm, wollte es hoͤflich erwiedern, und fragte: Wie gefallen Sie ſich hier, Herrrr … ich weiß Ihren werthen Karakter nicht? Ich mir ſelber? Sehr! verſetzte der Doktor.
Eben bekam er, und die Landjunkerin kleine etwas klumpige Paſteten auf den Teller. Er ſchob ſeinen weit in den Tiſch hinein, bemer - kend: gerade in ſolchen Paſteten wuͤrden ge - woͤhnlich die Frauens-Peruͤcken ausgebacken, wie hier mehrere an der Tafel ſaͤßen; indeß find’ er darum noch kein Haar aus Eckel darin, ja er ziehe in Ruͤckſicht des letztern Paſteten den Peruͤcken vor.
Die Edeldame brach mit Abſcheu auf, um es zu keinen ſtaͤrkern Ausbruͤchen kommen zu laſſen. Endlich thaten es auch die Uebrigen. Wohlgemuthet druͤckte Katzenberger dem Re - zenſenten die Hand und prophezeiete ſich die Freuden, die ihn erwarteten, koͤnn’ er oͤf -153 ters ſo mit ihm zuſammenhauſen, und machte die Herzens-Ergießung: „ ich habe am Ende (und nur mit Gewalt verſchieb’ ichs) ſagen wollen zu Ihnen: Du!”
Die Leſer finden jetzt um 7 Uhr alle Maul - bronner von Bildung in Nießens Deklamier - ſaal. — Das muſikaliſche Vorſpiel hat ſchon ausgeſpielt — Nieß geht mit „ dem Ritter einer groͤßern Zeit” in der Hand, ihn drittels dekla - mierend, drittels leſend, drittels tragierend lang - ſam zwiſchen der weiblichen und maͤnnlichen Kom - pagniengaſſe auf und ab, und haͤlt bald bey dieſem Maͤdchen ſtill, bald bey jenem. Auch Katzenberger ging auf und ab, aber einſam im Vorſaal, theils um den reinen Muſik-Wein ohne poetiſchen Bleizucker einzuſchluͤrfen, theils weil es uͤberhaupt ſeine Sitte war, im Vor - zimmer eines Konzertſaales unter unaufhoͤrli - cher Erwartung des Billeteurs, daß er ſeine Ein - laßkarte nehme, ſo lange im muſikaliſchen Ge - nuſſe gratis verſunken hin und her zu ſpatzieren, bis alles vorbey war. — Der Vorleſer ſteht155 ſchon bey den groͤßten lyriſchen Katarakten ſeiner dichteriſchen Alpenwirthſchaft, und die Muſik faͤllt (auf kleine Finger-Winke) bald vor, bald nach, bald unter den Waſſerfaͤllen ein, und alles harmonirt. —
Der Karakter des Ritters einer groͤßern Zeit war endlich ſo weit vorgeruͤckt, daß viele Zuhoͤrerinnen ſeufzten, um nur zu athmen und daß Theoda gar ohne Scheu vor den ſcharf geſchlif - fenen Frauen-Blicken daruͤber in jene Traual - tars - oder Brautthraͤnen (aͤhnlich den maͤnnli - chen Bewunderungsthraͤnen) zerſchmolz, welche freudig nur uͤber Groͤße, nicht uͤber Ungluͤck flie - ßen. Der geſchilderte bluͤhende Ritter des Ge - maͤldes, ſchamhaft wie eine Jungfrau, liebend wie eine Mutter, ſchlagend und ſchweigend wie ein Mann und ohne Worte vor der That, und von wenigen nach der That, ſtand im Gemaͤlde eben vor einem alten Fuͤrſten, um von ihm zu ſcheiden. Es war ein prunkloſes Gemaͤlde, das ein jeder leicht haͤtte uͤbertreffen wollen. Der aͤltliche Fuͤrſt war weder der Landesherr, noch Waffenbruder des Juͤnglings; er hatte ſich bloß156 an ihn gewoͤhnt, aber jetzt mußt’ er ihn ziehen laſſen und dieſer mußte ziehen. Beyde ſprachen nun in der letzten Stunde bloß wie Maͤnner, nämlich nicht uͤber die letzte Stunde, ſondern wie ſonſt, weil nur Maͤnner der Nothwendig - keit ſchweigend gehorchen; und ſo gingen beyde, ſo ſehe auch in jedem der innere Menſch ſchwere Thraͤnen in den Augen hatte, wortkarg, ernſt, mit ihren Wunden und mit einem Gott befoh - len, aus einander.
So weit war die Vorleſung einer groͤßern Zeit ſchon vorgeruͤckt, als noch die Thuͤre aufging, und wie ein fremder Geiſt ein Mann eintrat, der wie auferſtanden aus dem Gottesacker der Ritterzeiten ganz dem Ritter an Blick und Hoͤhe glich und die Hoͤr-Geſellſchaft faſt eben ſo ſehr erſchreckte als erfreuete…
Jetzt in den Monaten, wo ich die 26te Sum - mel fuͤr die Welt bereite und wuͤrtze, iſt es frei - lich ſogar der Welt bekannt, wer ankam; aber am beſchriebenen Abende war noch Maulbronn ſelber daruͤber dumm.
Der eintretende Mann ſchrieb ſich Herr von Theudobach, Hauptmann in preuß. Dienſten. Nach altdeutſchen Lebens-Styl war er noch ein Juͤngling, das heißt 30 Jahr alt — und nach ſeinem blühenden Geſicht und Leben war ers noch mehr. Seine dunkeln Augen gluͤhten wie einer wolkigen Aurora nach, weil er ſie bisher noch auf keine andere Figuren geworfen als auf mathematiſche in Euler und Bernouilli, und weil er bisher nichts ſchoͤneres zu erobern geſucht, als was Koehorn, Rimpler und Vauban ge - gen ihn befeſtigt hatten. Unter dieſem mathe - matiſchen Schnee ſchlief und wuchs ſein Fruͤh -158 lings-Herz ihm ſelber unbemerkt. Vielleicht gibt es keinen pikantern Gegenſchein der Geſtalt und des Geſchaͤfts als der eines Juͤnglings iſt, welcher mit ſeinen Roſenwangen und Augen-Blitzen des Auges und verſteckten Donnermonaten der brauſenden Bruſt, ſich hinſetzt und eine Feder nimmt, und dann keine andere Aufloͤſung ſucht und ſieht, als eine — algebraiſche. „ Gott! ſa - gen dann die Weiber mit beſonderem Feuer, er hat ja noch das ganze Herz, und jede will ſei - nem gern ſo viel geben, als ſie uͤbrig hat von ihrem. Dieſer Hauptmann hatte nun auf ſeiner Reiſe durch das Fuͤrſtenthum Großpolei zufaͤllig in der Zeitung geleſen: der durch ſeine Schrif - ten bekannte Theudobach werde das Maulbron - ner Bad beſuchen. „ Das ich doch nicht wuͤßte?” ſagte der Hauptmann, weil er von ſich geſpro - chen glaubte, indem er mehrere kriegsmathema - tiſche Werkchen geſchrieben. Von Nießens Namensvetterſchaft und Dichtkunſt wußt’ er kein Wort. Unter allen Wiſſenſchaften bauet keine ihre Prieſter ſo ſehr gegen andere Wiſſenſchaften ein, als die ſich ſelber genuͤgſame Meßkunſt, in -159 deß die meiſten andern die Meßruthe ſelber als eine bluͤhende Aarons Ruthe entlehnen, die ih - nen bey Priſterwahlen rathen helfen ſoll. Ich kann mir Mathematiker gedenken, die gar nicht gehöret haben, daß ich in der Welt bin, und die alſo nie dieſe Zeile zu Geſicht bekommen. „ Es ſind folglich, ſchloß der Hauptmann, nur zwey Faͤlle denkbar, entweder irgend ein litera - riſcher Ehrenraͤuber gibt ſich fuͤr mich aus, und dann will ich ihm öffentlich die Meßruthe geben — oder es treibt wirklich noch ein Waſſeraſt und Nebenſprößling meines Stammbaums, was mir aber unglaublich — in jedem Falle ſind fuͤnf Mei - len Umweg ſo viel als keiner fuͤr einen ſolchen Pruͤfungs-Zweck.”
Sein Erſtaunen, aber auch ſein Zuͤrnen — denn das Zornfeuer der Ehre hatte bisher ganz allein in ihm neben dem wiſſenſchaftlichen Feuer und Lichte gebrannt — erſtieg einen hohen Grad, da er in Maulbronn von ſeinem entzuͤckten Wir - the hoͤrte: ein Hr. v. Nieß habe ſchon heute nach einem Brief, den er von Hr. v. Theudobach er - halten, deſſen Ankunft angeſagt; und alles werde160 ſich im Deklamatorium uͤber ſeinen Eintritt ent - zuͤcken, zumal da eben etwas von ihm vorgeleſen werde. Der Wirth trug ſogar Vorſorge, ihm unter dem Deckmantel eines Wegweiſers ſeinen Sohn mitzugeben, der der Wirthstochter, weil ſie beleſen, und mit darin war, ſogleich das ganze Signalement des neuen Zuhoͤrers durch drey Worte ins Ohr zuſtecken ſollte.
Als der Hauptmann eintrat, blickten ihn die uͤbrigen weiblichen Augen an, ausgenommen nur ein Paar; Theoda ſah unter dem Vorleſen keine Geſichter, als — ihre innern, und zu den poetiſchen Hoͤhen hinauf. Noch ehe die Wirths - tochter die Nachricht von Theudobachs Ankunft wie einen elektriſchen Funken hatte durch die Weiber-Ohrenkette laufen laſſen: hatten ſich ſchon alle Augen an den Hauptmann feſtge - ſchraubt. Denn immerhin halte Chriſtus auf einem Berge ſeine Predigt, oder auf dem Rich - terſtuhle ſein juͤngſtes Gericht: es iſt unmoͤglich, daß die Ftauen, die davon erbauet oder geruͤhrt werden, nicht mehrere Minuten den Heiland vergeſſen, und ſich alle an den erſten Kirchen -161 gaͤnger und Verdammten heften, der eben die Geſellſchaft verſtaͤrkt; ſie muͤſſen ſich umdrehen und ſchauen und einander etwas ſagen, und wieder nachſchauen.
Ich will ſetzen, mein zweyter Satz waͤre wahr, daß fuͤr das Weiberherz ein Federbuſch auf dem Mannskopfe mehr wiege als ein ganzer Bund gelehrter Federn hinter dem Ohre, weil mein er - ſter richtig waͤre, daß interna non curat Prae - tor, oder woͤrtlich uͤberſetzt, daß eine Frau vor allen Dingen gern wiſſen will, wie ein Mann von außen ausſieht: ſo haͤtt’ ich ziemlich erklaͤrt, war - um der junge Mann mit ſeinem Federbuſch-Hut in der Hand, mit ſeinem Juͤnglingsblicke und ſeiner Manneskraft, und ſelber mit einigen Kriegs - und Blatternarben, ja ſogar mit dem duͤſtern Feuer, womit er dem Vorleſer nachſah und nachhoͤrte, den ganzen weiblichen Hoͤr - und Sitz-Kreis wie in Einem Hamen gefangen und ſchnalzend aus dem Waſſer emporhob. Jetzt ſchlug vollends die Nachricht der Wirthstochter von einem beringten Ohre zum andern: der ſey’s, der Dichter.
Erſter Theil. 11162Theoda hoͤrte es, ſah auch hin — und ſie, und ihr Leben wurden wie von einem ausgebrei teten Abendrothe uͤberzogen. Wie ein ſtiller Rieſe, wie eine ſtille Alpe ſtand er da; und ihr Herz war ſeine Alpenroſe. — Irgend einmal findet auch der geringſte Menſch ſeinen Gott - menſch, und in irgend einer Zeit findet er ein wenig Ewigkeit; Theoda fands.
Der Vorleſer, den die fremde Bewundrung ſeines Leſeſtuͤcks hinriß in eigne, und der unter allen Empfindungen dieſe am innigſten mit dem Hoͤr-Kreis theilte, hatte jetzt, wo die eigent - liche Hoͤhe und Bergſtraße ſeiner Schöpfung erſt recht anging, gar nicht Zeit, die Ankunft, ge - ſchweige die Geſtalt, und die Einwirkuag des Kriegers wahrzunehmen. Jetzt ſtand er eben an der zweyten Hauptſtelle ſeines Geſangs, (der Anfang war die erſte) am Schwanengeſange, am Ende-Triller; denn wie im Leben die Ge - burt und der Tod, im Geſellſchaftszimmer der Eintritt und der Austritt die beyden Fluͤgel ſind, womit man ſteigt oder faͤllt, ſo im Gedichte — Nieß konnte alſo nicht unaufhaltſam genug ſtuͤr -163 men, und laufen und deklamieren, und ſich be - gleiten laſſen von Muſik, um wie ein Gewitter, gerade den ſtaͤrkſten und entzuͤndenſten Schlag beym Abzuge zu thun.
Indeß hoͤren mitten in dieſem Geraſſel von poetiſchen Streit - und Siegswagen Vorleſer eigner Sachen gleichwohl manches leiſe Wort, das daruͤber ausfliegt. Nieß vernahm mitten im Dichter-Sturm ſehr gut Theoda’s Wort: ja er iſts, und hat ſich ſelber kopirt im Ritter. ” — „ Und thut doch immer, ſagte die Nachbarin, als ginge ihm das ganze Gedicht nichts an.” Es war Nießen auf keine Weiſe moͤglich bey ſolchen Ausſpruͤchen, daß er da ſey, und ſich im alten Ritter ſelber getroffen habe, und bey dem allge - meinen Klatſchen und Anblicken und Anfragen der Bewunderung, ſich etwa in den Kopf zu ſet - zen, er ſey gar nicht gemeynt, nur der neue Soldat. Sondern eine wärmere Minute und hoͤhere Stelle um ſich zu enthuͤllen und zu ent - woͤlken, dieß ſah er wol ein — koͤnnte kein Stern - ſeher fuͤr ihn errechnen, als der Kulminazions - und Scheitelpunkt war, den er jetzt vor ſich hatte,164 um die Wolke des Inkognito ſeinem Phoͤbus auszuziehen. Zum Gluͤck war er fruͤher darauf geruͤſtet, und hatte daher — da er laͤngſt wußte, daß die Menſchen die erſten Worte eines großen Mannes, ſogar die kahlſten, laͤnger behalten, und umtragen als die beſten nach einem Umgange von Jahren — ſchon auf der Chauſſee zehn Mei - len vom Leſeſaal, folgende improviſierende An - rede ausgearbeitet.
„ Ehrwuͤrdige Verſammlung, faͤnd’ ich nur die erſten Worte! Auf eine ſolche Sympathie einer ſo gebildeten Geſellſchaft mit mir, durft’ ich ohne Eigenliebe nicht rechnen. Aber eine Herzens-Ergießung verdient die andere, und ich gebe mich willig dem Ungeſtuͤm des Augen - blicks Preis. Moͤge, Ihr Herrlichen, euch je - der Schleier des Lebens ſo abgehoben werden als jetzt, und nie decke ſich euch ein Leichen - ſchleier ſtatt eines Brautſchleiers auf. — Ich war naͤmlich mein eigner Vorläufer; denn ich bin wirklich der Theudobach, deſſen Ankunft ich auf heute in Briefen anſagte.”
165„ Der ſind Sie nicht, mein Herr — ſagte der Hauptmann — ich heiße von Theudobach — Sie aber, wie ich hoͤre, Hr. von Nieß. — Was Sie fuͤr Ihre Werke ausgeben, ſind ganz andere, und die meinigen.”
Nieß blickte ihn ganz erſtarrt ins Geſicht. — Beſonnener ſpringt der Menſch plötzlich zu hoch, als zu tief — Theudobach ſtand faſt gebietend mit ſeinem Macht-Geſicht, Krieger-Auge, ho - hem Wuchs, neben dem zu kurzen Dichter, von welchem nun jedes Weiber-Auge abfiel; aber er ermannte ſich, und ſagte: „ ich kenne Sie nicht, aber Deutſchland mich. ” — — „ Hr. v. Nieß, daſſelbe iſt gerade mein Fall.”
Unverſehends trat Theoda, welche laͤngſt vor Begeiſterung unbewußt aufgeſtanden war, aus der verbluͤften Schweſter-Gemeine heraus vor Theudobach, und ſagte zu ihm im hohen Zuͤr - nen gegen den vieldeutigen Nieß: „ Sie ſind der Mann, den wir alle achten, oder aller Glaube luͤgt.” Der Hauptmann ſah das kuͤhne Feuer - Maͤdchen verwundert an, und wollte erwiedern; aber Nieß rief zornig dazwiſchen: „ An mich ha -166 ben Sie geſchrieben, nicht an dieſen Herrn, meld’ ich jetzt, und ich an Sie. ” — „ O Gott ich? ſagte Theoda.”
„ Mein Name Theudobach, Hr. v. Nieß, iſt kein angenommener, ich habe nur Einen; und es gibt nur meinen noch in der Welt; Sie fuͤhren eingeſtanden Zwey, wovon ich nur den meinigen reklamire, und Ihnen den Ihrigen billig laſſe. In der allgemeinen deutſchen Bib - liothek können Sie meinen Namen Theudobach neben meinen rezenſirten Werke finden. Jede andere Erklaͤrung koͤnnen wir uns an andern Orten geben,” ſetzte er mit einigen Blicken hinzu, die ſehr gut als Funken auf das Zuͤndpulver ei - ner Piſtole fallen konnten.
„ Sehr gern!” verſetzte Nieß, um nur zuerſt auf der Adels-Probe zu beſtehen, aber auf das Vorhergehende konnte er kein Wort zuruͤck - geben vor Ueberfuͤlle von Antworten. Wer zu viel zu ſagen hat, ſagt meiſtens zu wenig. Nieß noch weniger.
Noch habe ich in der allgemeinen Welt-Ge - ſchichte von Eſſig und Zopf — die ohnehin mein167 Fach nicht iſt, weil ich vielmehr ſelber eines in ihm fuͤllen und fodern will — kein rechtes Bey - ſpiel (unter ſo vielen abgeſetzten Guͤnſtlingen und Koͤnigen) aufgetrieben, das einigermaßen dazu taugen koͤnnte, Nießens Falle und Verfalle die gehoͤrige Beleuchtung zu geben, wenn jemand ſehen wollte, wie einem Manne zu Muthe ge - weſen, den man auf einmal vom Muſenberge auf die Quartanerbank, vom Throne eines Sonnen - Gottes auf den Altar ſeiner Opferthiere, die er vermehren ſoll, oder von Allem zu Nichts her - unterwirft — — Gehenkte auf den Zergliede - rungstiſchen erwachend unter dem Meſſer anſtatt im Himmel, ſind nichts dagegen.
„ O, ich bin ſtolz!” ſagte Nieß und ging davon.
(Beſchluß im zweyten Bändchen.)
Da unſere Zaarin, liebe Mit-Unterthanen und Erdſaſſen, ſich erſt um 8 Uhr 15 Minuten 2 Sekunden zu uns erhebt: ſo kann ich vorher ein vernuͤnftiges Wort mit Euch reden. —
169Nach dieſem Exordium ſchreit’ ich zu den Theilen; denn ein Laͤngeres oder gar Doppeltes iſt nicht moͤglich, da ich genug werde zu thun haben, wenn ich von 7 ¾ bis 8 Uhr den erſten Theil und in der zweyten Viertel - ſtunde den zweyten ſo durchtreiben will, daß ich bey dem erſten Strahle unſerer Regentin vor der Nutzanwendung halte.
Der erſte Theil ſoll dieſe loben, der zweyte Euch, liebe Zuhoͤrer, her - unterſetzen, indeß maͤßig.
I. Viertelſtunde und Pars. Wenn das po - litiſche und das Schachſpiel von 2 Meiſtern ge - ſpielet werden, ſo bleiben zuletzt die Bauern auf dem Brett. Ich beweiſe dieſes ſo gern als ein anderer: aber warum iſt das 18te Jahr - hundert ſo ſehr auf die Fuͤrſten erboßet, die ſtets ein wenig beſſer ſind, als ihre Hofleute, indeß wieder dieſe nichts ſchlimmer als Welt - leute, die wieder nichts anders ſind, als eben die Elementarmeiſter und Oberlogenmeiſter des Jahrhunderts ſelber? Das Einzige was das Sekulum fuͤr ſeine Angriffe auf Fuͤrſten anfuͤh -170 ren kann, ſind die Engländer, die im Seegefecht zuerſt das Admiralsſchiff berennen, um die Sig - nale und das Kommando zu verwirren.
Eben ſo ſind die meiſten Kalendermacher ge - gen die mutſchierende Regierung der ſieben Kron - Planeten aufgeſtanden, und haben viele Kalen - der hinten revoluzionirt. Natuͤrlich ſetzten ſie auch die heutige Landesmutter*)Im eigentlichen Sinn, wenn nach Buffon die Erde ein Kind der mit einem Kometen zuſammengekommnen Sonne iſt. ab; aber der Huldigungs Prediger dieſes lacht uͤber den Aktus, weil er weiß, daß dieſe Louiſe XVIII. doch fort - regieren und Anziehungskraͤfte zeigen werde, ſie mag im aſtronomiſchen Staatskalender ſtehen oder nicht. Die morgenlaͤndiſchen Fuͤrſten er - kennen ſie noch an, und nennen ſich ihre Vet - tern; ja, ein tartariſcher zeigt der Baſe den Fuͤrſtenweg, den ſ[ie]taͤglich nehmen muß.
Gelehrten iſt wol nichts an einem Regenten wichtiger, als daß er ſie beſchuͤtzt und penſionirt; und falls ein gekroͤnter Broddieb des Landes nur ein guter Nutritor der Akademieen und Akade -171 miſten iſt, ſo weiß jeder Dekan, daß ein Fuͤrſt ein Menſch iſt, und mutzt ihm nicht alles auf. Einmuͤthig wird nun von den Gelehrten hienie - den unſere neue Regentin erhoben. In ihrer Jugend privatiſierte ſie als Amazone verkleidet lange in Griechenland; und noch fuͤhrt ſie den Namen, Apollo. Viele Laͤnder wurden uͤber das Geſchlecht dieſer Ritterin d’Eon irre, wie - wol man aus dem jungfraͤulichen Gefolge der neun Muſen oder filles d’honneur und aus der ſchoͤnen jugendlichen unbaͤrtigen Geſtalt die - ſes Apollo leicht haͤrte merken können, wie viel Uhr es ſey. Sie machte uͤbrigens in Griechen - land, wie mehrere ihres hohen Standes, nicht die beſten Verſe (weil in den Orakeln der Stoff uͤber die Form vorſprang), aber doch die beſten Versmacher. Da erfand ſie den Lorbeer, um uns etwas, wenn auch nicht in die Arme, doch auf den Kopf zu geben, und uns auf dieſe Weiſe fuͤrſtlich zu belohnen. Manchen armen Teufel von Gelehrten haͤlt ſie noch ein ganzes halbes Jahr Licht - und Holzfrey. Dieſelben Verſe, wofuͤr der neidiſche Nero den Lukan umbrachte172 und Alexander den Choͤrilus, hatte ſie beyden in die Feder geſagt; — wie ganz an - ders als beyde Regenten fuͤhrte ſich dieſe Frau auf, oder als der Miſchling aus beyden, Lud - wig XIV., der ſeine Ueberſetzung des Caͤſars, ſo wie ſeine Feldzuͤge durch andere machen ließ! Und ſchickt unſere Zaarin nicht eben die Kalen - der, die ihr nach der Krone ſtreben, ihren Va - ſallen zu, wie die ſineſiſche den ſeinigen? — Bode in Berlin ſoll reden!
Als Apollo nahm ſie laͤngſt den mediziniſchen Doktorgrad an; die galliſchen und engliſchen Koͤnige legten ſich nur auf die Kur des Stam - melns und des Kropfes: aber ſie hielt als Mag - netiſeur faſt alles von weitem durch Anſehen und iſt in der Peſt der einzige Peſtilenziarius. Ich koͤnnte noch ruͤhmen, daß ſie die Medizin-Kiſte auf dem Erdenſchiffe ſelber fuͤllt, welches wenig Aerzte thun.
Ich kenne keine Fuͤrſten, die mit ihr, dieſer Himmelskoͤnigin, zu vergleichen waͤren. Die aſia - tiſchen und mexikaniſchen koͤnnen in Gnadenſa - chen der Witterung, um welche das Land bey173 ihnen nachſucht, nicht eher reſolvieren, als bis ſie ſolche ſelber erſt von der Landesherrin ihrer Sonnenlehne erhalten haben.
Sie macht ſich alles ſelber, ſo wohl die Ro - ſen, welche der Pabſt den Erden-Vicekoͤnigen weiht und ſchickt, als ihre Kammermohren faͤrbt ſie eigenhaͤndig — ſie macht ſich ihr Prinzeſſin - Waſchwaſſer — ihren glaͤnzenden Sonnenhof — die donnernden Ehren-Salven und bunte Ehrenpforten Abends nach ihren Arbeiten — ja ſogar die in den Weg geſtreuten Blumen, wozu die Landleute noch ihre Koller und Roben un - terbreiten.
Es iſt mir ſo gut wie einem bekannt, daß Koͤnig Ninus ſagte, er habe nie die Sterne geſehen; aber daſſelbe kann unſere Neugekroͤnte von ſich ruͤhmen, ja ſie löſchet ſogar alle die am Himmel (wie ein reiſender Koͤnig die an Roͤcken) aus, auf welche ſie ſtoͤßet*)Bekanntlich werden auf einen Monat die in ihrer Lauf - bahn liegenden Geſtirne unſichtbar..
Was ihren fuͤrſtlichen Kabinetsfleiß anlangt: ſo weiß man allgemein von Joſua-Koper -174 nikus, daß ſie ihre Seſſion nie abbricht, ſon - dern ſtets die Welt laufen laͤſſet um ſich. — Karl XII. von Schweden ſagte einmal, er wollte ſeinen Stiefel als Subdelegaten und Vice - Karl XII. ſenden; mich duͤnkt, ein Stiefel re - praͤſentire leichter den Unterthan, der ihn oͤfter anziehen und darin waten muß.
Man ſchreibt Fuͤrſten ſehr die Gabe das Feuer zu beſprechen zu; beym Himmel! ſie be - ſpricht das Ofenfeuer auf das Sommerhalbjahr; nur leider, das groͤßte Schadenfeuer, das Ka - nonenfeuer ſchuͤrrt ſie freylich, wie jener ſtaͤr - ker an.
Ueber ihre Hofhaltung koͤnnt’ ich wenig ſa - gen, geſetzt auch, es ſchluͤge jetzt nicht ſchon 8 Uhr. Man ſuche auf ihr, wie an andern Hoͤ - fen, weder ein Paradies noch eine Hoͤlle*)Nach Verg iſt auf ihr jenes, nach Swinden dieſe.; was Glanz und Fackeln ſcheint, ſchreibe man mit Herſchel (wie bey uns) dem Dunſtkreis zu, der ſie umzieht und ihre breiten Flecken ſind na - tuͤrliche Stellen ohne dieſen. — Nach Newton175 verhaͤlt ſich bey ihr die Zentripetalkraft oder das Anziehen zum Weglaſſen wie bey allen kameraliſtiſchen Höfen, naͤmlich 47000 zu I. — Die Winde ſtreichen auf ihr wie in jedem Staats - koͤrper, naͤmlich nicht wagrecht, ſondern hinauf, hinab.
II. Wir haben nun den zweyten Theil der Huldigungspredigt zu betrachten, naͤmlich uns ſelber, die Reichs - und Sonnenkinder. Be - kanntlich ſtehen wir ſaͤmmtlich um das Sterbe - bette unſers 99jaͤhrigen Redakteurs, des kritiſie - renden Jahrhunderts. Dieſes iſt gleichſam die allgemeine deutſche Bibliothek der Zeit und be - urtheilt, ſich ausgenommen, alles. Wir war - fen darin alle Feſſeln ab, und ließen uns gern die Fuͤße zugleich mit den Ketten abnehmen, und gingen ledig davon; gleich roͤmiſchen Skla - ven und Kindern wurden wir öffentlich emanzi - pirt durch Ohrfeigen. Gelinde abfuͤhrende Mit - tel ſind jetzt unſer Eſſen und Manna; und die politiſche und kritiſche Revoluzion iſt ein Erbre - chen, das noch fortfuͤhrt, wenn nichts mehr da iſt; — daher kann es uns am Ende (fatal176 fuͤr jeden) an den noͤthigſten Dingen gebrechen, die abzufuͤhren ſind. Das Wenige, was gegen das Ende des Sekuls geſchaffen wurde, iſt dem nicht ganz ungleich, was am letzten Schoͤpfungs - tage, am Freytag, nachgeſchaffen wurde, wel - ches das Maul der bileamitiſchen Eſelin war, die Buchſtaben, eine Zange, Abrahams Widder, der Regenbogen und der Teufel*)Pirkė Asoth. 5 K. Mischn. 6. .
Zum Gluͤck beherrſcht uns noch einmal un - ſere Bienenkoͤnigin, die Sonne. Sie iſt durch ihre Scheidungen auf dem trocknen Wege in mehreren Welttheilen bekannt genug. Unter dem angenommenen Namen Apollo rezenſierte ſie den Pfeifer Marſyas vom Skalp bis zur Ferſe — mit einem Federmeſſer. Daher wurden die Wappenthiere der Rezenſenten der Wolf, der Habicht, der Rabe, zu apollinariſchen. Ja ſie ſetzte die Rezenſenten in ihr Wappenſchild und fuͤhrte ſie in ihrem Titel fort; wenigſtens hoͤrt ſie ſich gern Apollo culciarius nennen; ja als Apollo Smintheus nicht nur betiteln ſondern177 auch als eine Maus abbilden*)Nach Herrmanns Bemerkung. (wie Jupiter muscarius ſich als eine Fliege) ein Nagethier, das den eigentlichen Buͤcherwurm und Biblio - theken-Lumpenhecker vorſtellt, wenn es durſtig iſt.
Ich vermuthe im kuͤnftigen Jahrhundert, in deſſen erſtem Jahre ſchon der milde Hesperus re - giert und troͤſtet, werde der ſchaffende Brahma auf unſre duͤrren, von Welttheil zu Welttheil brennenden Steppen voll uͤberſtaͤndigem Gras wieder Saamenkoͤrner werfen. Wir haben alſo nur noch ein Sonnenjahr zum Sengen uͤbrig. Und hier iſt nichts zu verſaͤumen. In dieſem Jahre muß noch alles gar unterſucht werden, ſogar das Unterſuchen — alles rezenſiert, ſogar die Rezenſenten — bloß auf filtrirendes Loͤſch - papier muß geſchrieben — und jede Kornmuͤhle in eine Fegemuͤhle umgebauet werden. — — — Ich glaube, dadurch kommt Enthuſias - mus in die Welt; naͤmlich jener allgemeine En - thuſiasmus gegen den Enthuſiasmus, jene beſſere Tollheit, die nicht aus Hitze entſteht, ſondern aus Froſt. —
Erſter Theil. 12178Das jetzige ſo viel Laͤrm machende Jahrhun - dert ſchlaͤgt mit ſchwarzen Knallſilber gefuͤllt, nur bey dem Beruͤhren kalter Koͤrper los. Man kann noch die Aehnlichkeit beyfuͤgen, daß die, die es entzuͤnden, wie bey anderem Knallſilber (der Gefahr wegen) Masken vorthun.
Ich geſtehe, es weht ſelber am erſten Tage der Sonnenregierung eben nicht die wärmſte Luft um unſere Kirche; aber gute Kronprinzen fangen ſtrenge an wie Titus, nicht mild wie Nero; es geht daher, zumal da ſie ſo nahe und kalt iſt*)Im Winter iſt die Sonne in der Erdnähe; und die Erde läuft ſchneller. alles ſchneller, die Geſchaͤfte, die Men - ſchen und die Erde, ſogar die — Predigten.
Meine ſchneid’ ich durch die Schnelle der Kaͤlte — wie ich an der Kanzeluhr und am Him - mel ſehe — gerade ſo richtig fuͤr dreyſig Minu - ten zu, als ſtaͤnd’ ich in einer engliſchen Kanzel.
Blickt nach Morgen — die Direktrice unſers Welttheaters kann nicht uͤber drey Wolken weit von uns ſeyn. —
179Die alte Frau*)Eine that es in London am Krönungstage des Königs., die Aurora, ſtreuet ihre gelben Sonnenblumen immer dicker — ich ſehe ſchon neugepraͤgte Kroͤnungsflittern, goldne und ſilberne, auf der Erde ausgeworfen — hoͤret das Rauſchen des Zugs — jetzt wird eine Fackel vor - ausgetragen — ſie brennt die Wolken an — die Fuͤrſtin ſoll uͤber Feuer einziehen. — — Da ſteigt ſie herauf, die Koͤnigin unſers Tags und unſers Jahrs.
Sey gegruͤßet, Mutter der Erden und Bluͤ - then und Fruͤchte! Wie blickſt Du ſo mild und weich das ſcheidende Jahrhundert an! — O, ſeine Schlachtfelder ſind jetzt nur unter unſchuldigen Schnee verſteckt. — Zieh dem Jahrhundert, dieſem wilden Titan**)Apollo ſtand dem Jupiter gegen die Titanen bey., wie ſonſt, das Schwert aus der Hand, und gib ihm deinen geheiligten Oelzweig ins Grab! — Wie, war nicht ſeine letzte Bahn, wie die einer Koͤ - nigsleiche, mit Trauertuch belegt, und wird es nicht wie dieſe unter Kanonen eingeſenkt? — Gib uns Liebe und Friede, Mutter des Lebens180 und der Wärme! Schick uns den weißen ſanf - ten Schwan, der dir heilig iſt, und baue mit deiner reinen Leier die Menſchheit wieder auf, welche Mißtoͤne zertrümmert haben! — Gib uns Liebe und Friede, das bleibe unſer letztes Ge - bet! — Ach der Daͤdalus der Menſchheit, die Zeit, ſchloß uns Statuen die Augen auf, hob unſre Haͤnde empor, und band die Fuͤße los; — aber ſiehe, ploͤtzlich zerſchlagen die Statuen wie emporwachſende Drachenzaͤhne einander ſelber, und ſtuͤrzen, wie jene Roſenkreuzeriſche Sta - tue, die ewige Lampe um, die ſie gehuͤtet haben.
Aber wenn du uͤber den letzten Tag des Jahr - hunderts gezogen biſt, und uͤber ſchoͤnere Saa - ten unter dem Winter, als jetzt vermodern — und wenn der letzten Nacht des Saͤkulums dein lieblicher verklaͤrter Friedensengel, der Mond, ins erblaſſende Antliz ſchauet: Ach! wirſt du dann noch, ſegnendes Geſtirn, unter unſern Fuͤßen auf eine ganz neue Welt voll geraub -181 ter mit Narben und Schweiß bedeckter Men - ſchen ſcheinen, welche dein heiliges Licht nur quaͤlen kann? — O gib Liebe der alten Welt und Freyheit der neuen! — —
An den Herausgeber der Zeitung fuͤr die ele - gante Welt. 1803.
Eben habe ich zum fuͤnften oder ſechſten Male eine Sammlung Volkslieder von Einem Dichter geleſen, welche in der Herderſchen ſtehen koͤnnte, wenn man in einen Blumenſtraus wieder einen binden duͤrfte. Sie betitelt ſich: „ allemanniſche Gedichte. Fuͤr Freunde laͤndlicher Natur und Sitten.” Groͤßere Kunſtrichter werden den Titel beurtheilen, und gegen den Sprachfehler „ laͤnd - licher Natur und Sitten” (entweder ſtatt Sitte,183 oder Naturen) ins Feld ruͤcken mit Klammern und Fragzeichen, ich als Liebhaber ſchraͤnke mich bloß auf die Gedichte ein, und lobe ſie fruͤher oͤffentlich als irgend ein Nachfolger. Ich wuͤnſchte, lieber Spazier, es waͤre in der eleganten Welt, an die ich hier zugleich, wie aus dem Konzept - papier zu ſehen, mit geſchrieben haben will, das Schwaͤbiſche nur halb ſo einheimiſch, als das Franzoͤſiſche. Denn nur die Mundart jenes Landes, das ſonſt das Mutterland einer un - vergleichlichen Dichtkunſt war, und jetzt das Vaterland einiger großen Dichter iſt, ſpricht das zarte ſpielende Muſenkind; und mit der ſchwaͤbiſchen Mundart entzöge man ihm ſeine halbe Kindlichkeit und Anmuth. Manchem Dich - ter wären die wohllauten ſchwaͤbiſchen Zuſam - menziehungen — z. B. Sagi’ m, ſtatt: ſage ich ihm, zu goͤnnen und das Ausmuſtern unſerer engen n; das Eintauſchen des i gegen das ewige deutſche e*)Da nach Fulda e der Vokal der Liebe und der Fami - lie iſt — daher das Wort für beyde mit ſeinen beyden e, Ehe — und da nach Wenzel (in ſeinen Entdeckun - gen über die Sprache der Thiere 1800) eh der Schmer -; und die Verwandlung des harten184 Verkleinerungs chen in das ſuͤße li; und am meiſten der Reichthum an Diminutiven den mit den Schwaben noch Schweizer, Oeſtreicher und Letten theilen. In allen Sprachen verkleinert die Liebe ihr Geliebtes, gleichſam um es zu ver - juͤngen und zum Kinde zu machen, das ja der Amor ſelber iſt. Und das Kleine, gleichſam als das Liebere, verkleinert man wieder, daher man öfter Laͤmmchen, Taͤubchen, Kindlein, Buͤchel chen, (letzteres iſt nach Voß dreymal verkleinert) ſagt als Elephantchen, Fuͤrſtchen, Tyrannchen, Walfiſchchen. Manche Voͤlker reden die ganze Natur mit dieſen Liebeswoͤrtern an, und ziehen ſie ſich, wie mit Zauberformeln, naͤher an die Bruſt; aber in ſolchen Laͤndern wohnet gern der Dichter. Daher kommen in den altdeutſchen Dichtern die zahlreichen Verkleinerungswoͤrter; daher unſere guten Voreltern, welche ſtatt der Philanthropie und des Kosmopolitismus Bruder - liebe und Chriſtenliebe beſaßen und aus den Ro - ſen der Liebe noch nicht den feinen Roſeneſſig*)zenslaut aller Thiere iſt: ſo malt unſere E-Sprache uns faſt als ein familienliebe - volles, und etwas mar - tervolles Volk zugleich.185 der Selbſtſucht zogen, ſogar in ihrer Proſa die lebendigen Weſen gern mit Verkleinerungswoͤr - tern nennten z. B. das Soͤhnlein und die Kind - lein Luthers, bis zum Jeſulein und Chriſtkind - chen. Was wir etwa noch jetzt verkleinern moͤch - ten in Zirkeln, dieß ſuchen wir doch weniger zu vergroͤßern und zu lieben, als faſt zu haſſen. Noch iſt jetzt der falſchen Ironie, als einer ſpoͤttiſchen Nachaͤffung der Liebe, das Verklei - nerungswort gewoͤhnlich. In meiner Vorſchule der Aeſthetik finden Sie Beyſpiele, und vorher uͤberall.
Unſer allemanniſche Dichter — denn ich ſehe nicht ein, warum ich ihn uͤber ihn vergeſſe — hat fuͤr alles Leben und alles Seyn das offne Herz, die offnen Arme der Liebe, und jeder Stern und jede Blume wird ihm ein Menſch. Durch alle ſeine Gedichte greift dieſes ſchöne Zu - eignen der Natur, der allegoriſierende Perſonifi - kazion, die er oft bis zur Kuͤhnheit der Laune ſteigert*)Z. B. im ganzen erſten Gedichte: „ die Wieſe.”. Die Dichtkunſt iſt nur ein anderes186 Wort fuͤr hoͤhere weitere Liebe; ſie ſcheidet und erloͤſet die Natur vom dienſtbaren Tode, und beſeelt wie ein Gott, um nur zu lieben, und ſchmuͤckt wie eine Mutter, um noch mehr zu lie - ben. Freilich koͤnnen wir den Bergen, Baͤu - men und Sternen, worin ſonſt die Griechen Goͤtter zauberten, jetzt nur Seelen einblaſen und was jene vergoͤtterten, nur beleben.
— Ich komme aber ſehr aus den einkleiden - den Brieftone heraus, lieber Sp., vielleicht weil ich zu lebhaft an die Zeitung denke, deren Welt ich das Meinige von dem allemanniſchen Dichter ſagen wollte. Ich will alſo alles ohne weitere Muͤhe folgender Geſtalt herauswerfen: er iſt naiv — er iſt von alter Kunſt erhellt und von neuer erwärmt — er iſt meiſtens chriſtlich - elegiſch — zuweilen romantiſch ſchauerlich*)Z. B. in der hohen Erzählung: „ Der Karfunkel.” — er iſt ohne Phraſen-Triller — er iſt zu leſen, wenn nicht Einmal, doch Zehnmal, wie alles Einfache. Mit andern noch beſſern Worten: Das Abendroth einer ſchoͤnen friedlichen Seele liegt auf allen Hoͤhen, die er vor uns ſich hin -187 ziehen laͤßt — poetiſche Blumen erſetzt er durch die Poeſie. — Das Schweizer Alpenhorn der jugendlichen Sehnſucht und Freude hat er am Munde, indeß er mit der andern Hand auf das Abendbluͤhen der hohen Gletſcher zeigt, und zu beten anfaͤngt, wenn auf den Bergen die Bet - glocken ſchoͤn heruͤberrufen — gleich Griechen und einigen Mahlern umſchließet er ſeine Gemaͤlde, aus Verachtung der Pointe, zuweilen mit Bil - dern, die ſich in den Rahmen verlieren*)Faſt überall z. B. S. 50 und 60 — S. 81 u. ſ. w. und ſo iſt der Mann. Wahrlich eine liebliche Er - ſcheinung, aber keine außer der Jahreszeit! Denn auf dem deutſchen Muſenberg, der jetzt unter einer ſtechenden Fruͤhlingsſonne zugleich bluͤht und dampft, kann jetzt Alles auffah - ren: Gleicher-Blumen und nordiſches Geſtrippe und Gift und Duft.
Ich haͤtte gern meine Freude mit einigen Proben entſchuldigt, wenn Schoͤnheiten, die immer ein Ganzes bilden, ſo leicht einen Aus - zug vertruͤgen als Maͤngel, die eben darum ei - nes ſtoͤren. Auch gaͤb’ ich am liebſten das laͤngſte188 Gedicht zur Probe, indeß der Zeitungsraum das kleinſte vorzieht; und es bleibe Ihren Ruͤck - und Einſichten uͤberlaſſen, ob Sie eines als Poſt - ſkript fuͤr den zweyten Druck hier waͤhlen und ge - ben wollen.
Doch beſcheide ich mich gern, daß es immer Gedichte geben kann (worunter vielleicht die alle - manniſchen zu rechnen), welche jedem Leſer mis - fallen, der gar keinen Sinn fuͤr Dichtkunſt be - ſitzt. Einen ſolchen wuͤrd’ ich freylich ſtatt dieſer allemanniſchen Droſſel aus dem Schwarzwalde lieber eine da geſchnitzte Guck Gucks-Uhr oder irgend einen da gedrechſelten Viehſtand im Klei - nen, in die Hand zu geben rathen. —
P. P. *)Postponendis postpositis.
Ich ruͤcke hier in Briefform in die Zeitung f. d. e. W. fuͤr Leſer, welche ſie mithalten — worun - ter Sie gewiß auch gehoͤren, lieber Spazier — in ſo fern einer davon an mich etwas zu ſchrei - ben hat, vorher die Nachricht ein, daß ich von Koburg nach Baireuth gezogen bin. Die Urſa - chen des Zugs gehören nicht in Ihre Zeitung, ſondern in die Flegeljahre, naͤmlich in den vier - ten Theil.
Was dieſen Brief ſelber anlangt, ſo verſprach ich Ihnen leider fuͤr ſolchen in einem fruͤheren190 Auszuͤge und Sentenzen aus meiner Aeſthetik, welche zu Michaelis erſcheint. Aber ich muß um die Erlaubniß bitten, gelogen zu haben. Einem Autor wird es eben ſo ſchwer, mit ſeinen Ge - danken das jeu de bateaux*)Dieſes war einmal in Paris eine moraliſche Spiel-Frage, welche unter gleich lieben Perſonen in einem unterſin - kenden Kahne man opfern müſſe und welche retten. zu ſpielen als ei - ner Mutter mit ihren Kindern. Gnomen, ſagt er, die er in alter Bedeutung als Denkſpruͤche gebe, koͤnnen andern leicht in neues als Zwerge erſcheinen. Zoͤgen Sie aber, lieber Spatzier, ſtatt meiner aus: ſo waͤr’ es zehn Mal beſſer, leichter und vernuͤnftiger.
Lieber haͤtt’ ich fuͤr dieſen Brief aus Tiecks ächt poetiſchen Oktavian die Geburt der Roſe und die Geburt der Lilie ausziehen moͤgen — zwey Dichtungen, welche ihm die Blumengoͤttin ſelber wie reife Fruͤhlingsbluͤthen zugeworfen. Auch waͤr’ es in der erſten Entzuͤckung über ſein Buch — und in der erſten Entruͤſtung uͤber ein ſcham - und ſinnloſes Geſchwaͤtz uͤber daſſelbe, verzeihlich geweſen, viel Worte uͤber dieſen ita -191 lieniſchen wortreichen Dichter zu machen. Wenn er indeß, wie die Feuerwerker ſeine poetiſchen Feuerwerke zu gern auf dem Waſſer gibt, und die Wiederſcheine zu ſehr ſucht: ſo iſt we - nigſtens dieſes leichte Nachglaͤnzen eines wahren Feuers poetiſcher und lieblicher als das ſchwere Feuerwerksgeruͤſte von Statuen und Ge - baͤuden, das uns manche beruͤhmte Dichter fuͤr das Feuerwerk ſelber verkaufen. Waͤr’ ich die elegante Welt, Spazier, ſo wuͤrd’ ich ein from - mes poetiſches Kind; dann koͤnnte Tieck, der eines iſt, leichter mit mir ſpielen.
Auch dieſen Auszug aus Oktavian wird ein Anderer beſſer geben als ich. Wichtiger als jeder aus Gedichten und Aeſthetiken ſchien mir fuͤr die elegante Welt einer aus Wiarda, der uͤber deutſche Namen geſchrieben. Wir leben jetzt wenn nicht in, doch vor ein er boͤſen Zeit, und wer die Ohren nahe an die deutſche Erde legen will, kann leicht darunter die Mineurs arbeiten und hoͤlen und mit Pulvertonnen und Leitfeuern ge - hen hoͤren. Sollte nun einmal Deutſchland zum erſten Male erobert werden, wiewohl nicht wie192 Amerika aus Mangel an zahmen Thieren, ſondern aus Ueberfluß daran: ſo war’ es ja um die deutſchen Namen geſchehen, wenn vorher Niemand einen mehr fuͤhrte. Leider bitten wir gegenwaͤrtig lieber alle Propheten, Apoſtel, Hei - lige und Voͤlker zu Gevattern, als einen alten Deutſchen. Wer am Hofe einen deutſchen Tauf - namen hat, ſucht ihn wenigſtens franzoͤſiſch aus - zuſchreiben, und zu unterſchreiben — ausge - nommen Friedrich der Einzige, der ſich ſogar an Voltaire Frederic unterſchrieb, welches (wie Godaric, Ardoric etc.) nur deutſch iſt; denn ric heißt reich und Fried Schirm. Wenn man wenige Thiere ausnimmt, welche ſich Hans nen - nen, wie Rehe, Pferde, Schwanen: ſo gibts nicht viele deutſche Menſchen und Moͤbeln, die nicht ein Franzoſe, ſobald er ſie entdeckt, wie ein Seefahrer die Inſeln behandelte; er benennt, beſetzt und beſitzt ſie. Schon bey den Weinhaͤnd - lern bedeutet Taufen und Heirathen des Weins dieſelbe Verduͤnnung.
Ein zweyter Grund fuͤr urdeutſche Namen iſt ihr Wohlklang. Der Ausländer verſtuͤmmelt193 nicht ſchoͤne Namen am meiſten, ſondern ſchlechte. Nur bey unſern Kunſtwerken kehrt ers um. Hätte z. B. Montesquieu einen klingendern Namen gehabt; ſo waͤr’ er nicht in Rom ange - meldet worden im erſten Zimmer als Mont - dieu — im zweyten als Montieu — im drit - ten als Mordieu — bis er endlich im letzten als Hr. von Forbii eintrat. Chamfort erzaͤhlt, daß der Wuͤſtling Richelieu nie im Stande ge - weſen, den Namen eines Buͤrgerlichen auszu - ſprechen, ohne ihn zu verſtuͤmmeln. Da wir Deutſche gegen die Franzoſen — denn dieſen muͤſſen wir uns taͤglich mehr zu - und entgegen - bilden, damit ſie kuͤnftig mit uns beſſer vorlieb nehmen — als geborne Buͤrgerliche erſcheinen: ſo werden ſie einſt neben der geoͤfneten Mine jeden Namen, wenn er nicht halbitalieniſch, wie etwa Bonaparte, toͤnt, entweder erbaͤrm - lich verrenken, oder uns gar als neuen Mitglie - dern ihrer großen Akademie der Arkadier neue arkadiſche Namen geben, z. B. Pépé, Huleu, Bexou, Baïf, Ouffle, Grez.
Erſter Theil. 13194Der Eindruck eines wollautenden Namen, ſo wie eines mistoͤnigen, wird oft kaum von Jahre langer Gegenwirkung uͤberwunden; und er wird gar verdoppelt, wenn der Menſch ſo handelt, wie er heißt; ſo ſehr iſt unſer Schick - ſal, wie nach Bonnet der Baum, eben ſo wohl in die Luft als in die Erde gepflanzt. Waͤr’ ich z. B. Rapinat geweſen, ſo haͤtt’ ich mich, in der Schweitz Fenelon, oder Jean Jaques, oder Tell getauft, um wie die Muͤhle ſchoͤn zu klin - geln nach dem Zermahlen.
Ich ſchlage daher noch, da es fuͤr Deutſche Zeit iſt, aus Wiarda und Fiſchart zur Probe einige urdeutſche köſtliche Namen vor; erſtlich weibliche: Amala (von amal, unbefleckt) Amalo - berga — Theoda (von theod, vornehm) Theo - delinda, Theudogotha, Theuberga — Liuba (von lieb) — Witta (die Weiſe) — Hilda (Hel - din) — Torilda (von toro kuͤhn) — Feſtrada (von feſt) — Egwia (die Treue) — Diotwina (Siegerin) — Liota (von lud beruͤhmt) — Lieb -195 warta — Adelinda — Aethelwina — Giſa (die Maͤchtige) — Folka (die Vollkommene) — Oda (von od gluͤcklich).
Der ſchoͤnen männlichen Namen ſind weit mehrere: Totilar (theod) — Theudobach (von theut; Volk) — Theodulph (ulf, Helfer) — Likolf — Adalmar (der große Edle) — Ewald (der Maͤchtige) — Walland — Torwald — Fa - ſtulf — Toro, Torald, Thorismund, Thurſtan — Hariobaud — Osmund (von Mund, Mann und Beſchuͤtzer) — Gummunder, Hildemund — Britomar, Wiſimar, Marobod, Theodomir (von mar beruͤhmt und mehrend) — Eoric, Ar - daric (von hear geehrt) — Ollo, Almot, Allo - rico (von al groß) — Odo, Athulf, Eodric (von od gluͤcklich) — Adelfried, Adalland (von ethel) — Clodic (von lud) — Degenwerd — Manrich etc. etc.
Das Herz erhebt ſich froh vor unſern edeln Urvaͤtern und Urmuͤttern, deren bloße Namen ſo grosſinnig zu uns ſprechen; und das Ohr fin -196 det ſich von ſpaniſchen und italieniſchen Aehnlich - keiten geſchmeichelt. Gerade fuͤr die zwey groͤß - ten Welttheile der eleganten Welt, ſind urdeut - ſche Namen Geſchenke. Erſtlich fuͤr die Weiber. — Ein ſchoͤner Taufname z. B. (Amala oder unbe - fleckt) iſt die einzige Schönheit, die ihnen Maͤn - ner und Jahre nicht rauben. Zweytens fuͤr Fuͤrſten. — Bekanntlich haben ſie keine andere als Taufnamen, aber deren viele (Kaiſer Jo - ſeph hieß noch: Benedikt Auguſt Johann Anton Michael Adam) und ſie regieren mit einem da - von (wie man aus dem Unterſchreiben ſieht) die Laͤnder. Ein wohllautender Taufname aber, z. B. Theodulph (Volks - oder erhabener Helfer), koͤnnte gewiß uͤber der Unterſchrift des Miniſters, deſſen angeborner Name ſelten ſo lieblich klingen kann, als ein gewaͤhlter, die ſchoͤnſten Kon - traſte machen.
Auch Vaͤtern uͤberhaupt ſollten Taufnamen mehr anliegen, da ſie bey dieſen das Verdienſt, ſie gegeben zu haben, herrlicher außer Zweifel197 ſetzen koͤnnen, als bey irgend einem vorneh - men Geſchlechts-Namen, den ſie den Kindern geben.
— — Ob ich gleich hier der Welt unbezahl - bare Namen, wozu ſie wie zu Tugenden nichts zu erfinden braucht als die Traͤger, mit einer gewiſſen Verſchwendung anbiete — da ich in meinen kuͤnftigen Biographien Helden und Heldinnen genug habe, welche ohne die koͤſt - lichſten Namen gar nicht exiſtiren koͤnnen: — ſo bin ich doch, oder eben darum, nicht im geringſten geſonnen, auch nur einen davon an die zeitigen Romanſchreiber abzuſtehen, ſondern ich erklaͤre hiermit oͤffentlich jeden fuͤr einen Namendieb, der irgend einen in dieſem Briefe oder auch im Wiarda fuͤr ſeine er - bärmliche Helden abborgt und ihn dadurch na - tuͤrlich ſo abnutzt, daß ihn nachher die meini - gen ſo wenig tragen wollen, als einen durch - ſchoſſenen Troͤdel-Mantel. Gedachter Schreib - troß beſitzt ja Italien; in dieſen Namen-Bruch und Schacht fahr’ er ein.
198Ich habe kaum den Muth zu ſagen: le - ben Sie wohl, lieber Sp., ſo wenig brieflich iſt dieſer Brief geſchrieben.
Jean Paul.
Nachſchrift. Was ein bloßer Name vermag, ſieht man an meinem; ſonſt könnt’ ich ihn leicht vertauſchen, um mir nicht zu widerſprechen.
D. Fenk hielt die Predigt im Kloſter Hopf an die Patres, da ſie aßen. Schon vor 8 Jah - ren hab’ ich jedermann in der unſichtbaren Loge*)Erſter Band. S. 114. berichtet, daß er vorher in der Klo - ſterkirche die Dispoſition dazu entworfen, waͤh - rend daß man den Magen beyſetzte. Seitdem las ich in Moſers Archiv, daß aus Leichenpre - digten fuͤr Fuͤrſten vieles von ihrer Geſchichte zu ſchoͤpfen ſey; ich vertheile daher mit Freuden einige Exemplare vom Sermone an die Welt,200 zumal da man mich faſt verſichert, daß ſelber der Konſiſtorial-Direktor Fromman; der (nach Mo ſer) ſiebentauſend fuͤrſtliche Leichenpredigten auf - geſpeichert, die D. Fenkiſche noch nicht hat erwiſchen koͤnnen.
Die Paters im Kloſter Hopf verdienen hier meinen öffentlichen Dank und Preis, daß ſie den Spaß, der den ernſten Mann oft mitten in der Trauerrede auf den hohen Magen uͤberfiel, ganz gut verſtanden und vergeben haben. Die - ſes vermag die katholiſche Kirche leichter als un - ſere. Gerade in die andaͤchtigſten Zeiten fielen die Narren - und Eſelsfeſte, die Myſterienſpiele, und die Spaßpredigten am erſten Oſtertage, bloß weil damals das Ehrwuͤrdige noch ſeinen weite - ſten Abſtand von dieſen Traveſtirungen behaup - tete, wie der Xenophontiſche Sokrates vom Ari - ſtophaniſchen. Spaͤterhin vertraͤgt die Zweydeu - tigkeit des Ernſtes nicht mehr die Annaͤherung des Scherzes, ſo wie nur Verwandte und Freunde, aber nicht Feinde einander vor den komiſchen Hohlſpiegel fuͤhren duͤrfen.
D. Fenk machte ſchon vor dem Eſſen die201 Patres dadurch aufmerkſam, daß er anmerkte, er wuͤrde nie, wenn er auf dem Throne ſaͤße und davon todt herunterſaͤnke, ſich in ſo großen breiten Bruchſtuͤcken begraben laſſen, wie die Oeſtreichiſchen Erzherzoͤge naͤmlich nie, wie dieſe, bloß Herz und Zunge in die Lorettokapelle bey der Hofkirche zu den Auguſtinern, Eingeweide und Augen in die heil. Stephanskirche, und den Torſo in die Gruft bey den Kapuzinern: — ſondern jeder Stummel, ſchwur er, und jede Subſubdiviſion ſeines Gemaͤchs muͤßte wie vom Oſiris, in ihren eigenen Gottesacker einlaufen. Denn — fragt’ er die Vaͤter — warum ſoll ein Regent nicht nach dem Tode eben ſo gut uͤber - all in ſeinem Lande ſeyn, wie vorher, und zwar durch Repraͤſentanten, wozu ſeine Glieder ſo gut wie Staatsglieder paſſen? Und wenn das gelte, fuhr er fort, ſo koͤnn’ er ja recht gut das geheime Kabinet zur Begraͤbnißkapelle fuͤr ſeine Schreib - finger erleſen, die Antichambre fuͤr Milz und Leber, den Audienz - und Landtagsſaal fuͤr die Ohren, die Kammer fuͤr die Haͤnde, den Regensburger Re - und Korrelazionsſaal als Familiengruft fuͤr202 die Zunge; — ja er koͤnne die Koͤnigswege zur geweiheten Erde ſeiner erſten Wege ausheben und den fernen Fuhrleuten die letzten geben, und die Landſtaͤnde koͤnnen ſich (die Reſidenz be - ſitze ſein Herz) in ſeine einſaugenden Gefaͤße theilen. „ Mich duͤnkt — ſagt’ er etwas ſtolz, da er auf einmal die ganze ſchoͤne Idee uͤber - ſchauete — gegen ein ſolches topographiſches Univerſalbegraͤbniß kommt wol wenig das elende kleine Parzialbegraͤbniß auf, wozu es einer und der andere gekroͤnte Stammhalter dadurch treibt daß er noch bey Lebzeiten aus eignen Gruͤnden nach dem Chirurgus ſchickt. ” —
Die Eßkongregation fand den Doktor ſo ora - toriſch, daß ſie ihn bat, ſtatt des Novizen, der eine Predigt uͤber die Speiſetafel hinleſen wollte, ſelber eine eigne zu halten. Er zog eine Schreib - tafel heraus, und ſagte, dieſe ſetz’ ihn in Stand, dem eingeſargten Magen eine kleine ruͤhrende Tiſch - und Trauerrede zu halten; er bitte ſich bloß vom Hörſaale die Gefaͤlligkeit aus, — weil er im Redefeuer etwas vor ſich ſehen muͤſſe zum Anſehen und Anreden — daß es ei -203 nen im Zimmer zum Knaul aufgewickelten Ret - ter und Schirmer (oder war’s ein anderer Jagd - hund) fuͤr den Leichenmagen halte, und ſich ſaͤmmtliche fuͤr das Trauerkondukt des Schtrmers. Dann trat er nach dem erſten Tiſchgebet ganz bewegt als Parentator vor das Thier, beſah es lange und hob an.
Betruͤbte Trauerverſammlung!
Nun haben wir unſern Landes-Magen ver - loren, hier liegt ſein kalter Reſt auf die Bahre hingeſtreckt. Er, der ſonſt fuͤr uns arbeitete, wenn wir ſchliefen, ruht endlich aus von ſeiner Bewegung, welche ſo periſtaltiſch war. Wir wollen uͤber das Staatsglied, das wir hier zur Ruhe beſtatten, zugleich die allgemeinſten und beſonderſten Betrachtungen durch einander werfen.
Ein Fuͤrſt repraͤſentirt das Volk, aber nicht bloß mit dem Herzen den allgemeinen Willen, ſondern auch in mehrern Laͤndern mit dem Ma - gen den allgemeinen Appetit; in Spanien ſetzen204 die Reichsgeſetze dem Koͤnige taͤglich eine Schuͤſ - ſel-Zenturie vor; und in Frankreich ließen ſie fuͤr ihn nach dem Tode — denn der Koͤnig ſtirbt da nie, nach der Fikzion — gerade ſo viele Tage lang kochen, als Chriſtus hungerte, naͤmlich 40*)Erſt 40 Tage nach dem Tode wurde ein galliſcher Kö - nig begraben; und ſo lange ſpeißt er auf der Serviette. Ein Prälat oder Kardinal verrichtet das Tiſchgebet nut ihm., ja die Bienen weiſen auf etwas Aehnliches; ihre Dogareſſa oder Fürſtin wird durch zwey Umſtaͤnde groß und thronfaͤhig, durch eine groͤ - ßere Zelle — ein Bienen-Louvre und Esku - rial — und durch fettern Fraß aus zerdruͤckten Bienenjungen bereitet. Im letzten haͤlt ſich der Koͤnig von Makoko ganz woͤrtlich an die Natur; er laͤßt ſich taͤglich (nach Dapper) 200 geſottene und gekochte Landskinder ſerviren. Wie hart! Waͤre es nicht genug und etwas Aehnliches, wenn er entweder wie ein durchpaſſirender auf - ſchmauſender Paſcha Zahngeld fuͤr das Abnu - tzen ſeiner Hundszaͤhne eintriebe, oder fuͤr die Vakanz derſelben außerordentliche Steuern ein - foderte? —
205Daher wird ſogleich nach der Kroͤnung der Thron als ein Seſſel an den Eßtiſch geruͤckt, und ſpeiſen iſt der erſte öffentliche Aktus des Neugekroͤnten; daher muß der Erbherr auf Bardolf, der die Gruͤtze auf die brittiſche Königs - tafel traͤgt, der Herr von Lyſton, der das Gebaͤck aufſetzt, der Erbherr auf Skoulton, welcher Oberſpeckverwalter iſt, ſammt andern Erbland - kuͤchenmeiſtern und Erblandvorſchneidern, fruͤher ihren Poſten vorſtehen als andere Staatsbedien - ten von weniger Wichtigkeit, z. B. der Lord - Major oder der Sprecher des Unterhauſes.
Darum wird in beſſern Laͤndern darauf ge - ſehen, daß der Mundkoch nicht mit dem Regie - rungsrathe, den man ſogern uͤber jenen heben moͤchte*)Im Köllniſchen aber erhielt (S. Magazin zur geiſt - und weltlichen Statiſtik 1 Jahrg. VIII. 2.) der Mund - koch 602 Thaler Salar und ein Regierungsrath 250; ſo daß jeder nach Verhältniß das bekam, was er for - dern konnte. in Eine Klaſſe geworfen werde, da jener doch am Ende fuͤr die laͤngere Seſſions - tafel arbeitet. Daher ſpeißte der verewigte Magen, den wir hier verſenken, ſo oft öffentlich206 vor ſeinem ganzen Fuͤrſtenthume, wie der Groß - Sultan eben deswegen jeden Freytag in die Kirche geht. Der Dalai Lama haͤlt es fuͤr hin - laͤnglich, wenn er die Folgen von der Sache ſehen laͤßt. Der Negerkoͤnig iſt ſo deſpotiſch, daß er ſtets hinter der Decke ißt.
Das Geſandtenperſonale glaubt ſeinem repraͤ - ſentirenden Charakter durch Gaſtmahle genug zu thun, die es theils gibt, theils beſucht. Auch geringern Staatsdienern darf er nicht ganz feh - len. Es verdient bewundert zu werden, wie ich ſonſt in der Fleiſchſcharre einer Provinz ſtand, und mehrmals aus einem Rind, das eben aus - gehauen wurde, den Adreßkalender der Hono - razioren ſo komplet herſtellte, wie die Paſſions - hiſtorie aus einem Hechtskopf; ich theilte die Maͤnner bloß, wie Friſch die Voͤgel, nach dem Futter ein. Dem regierenden Konſul, der am meiſten zu ſagen hatte, ſtarb vom Thier die Zunge an — fette Kollegen erhielten Fettſtuͤcke — in - nere Rathsglieder hintere Rindsglieder — äu - ßere nur vordere — der magern Kanaille, die nichts an ſich hat, als Haut und Knochen und207 einen leeren Magen, gehoͤrte vom Maſtſtuͤck auch nichts Beſſeres. Von den Opferſchalen, welche die Kuͤnſtler den alten roͤmiſchen Kaiſern, wie den Doriſchen Fries, anbilden und anmah - len, behauptete ich ſtets, daß ſie nicht das Aus - gießen, ſondern das Einſchoͤpfen vorſtell - ten: In der Natur fließt zwar von den Bergen den Thaͤlern fette Erde zu, aber im Staate mäſten beſſer die Tiefen die Hoͤhen. So iſt der paͤbſtliche Thron zwar ein Hungerthurm, aber nicht fuͤr den Biſchof Hatto droben, ſondern fuͤr die zappelnden Kirchenmaͤuſe unten, die nicht hinauf koͤnnen.
Betruͤbtes Trauer - und Eßgelag! Du ſeufzeſt unter dem Genuß des Leichenmaals, womit du das Abſcheiden unſers Magen feierſt, und die Biſſen treiben dir Thraͤnen aus. Wi - ſche ſie ab, ſetzte deine Trauer darein, daß du in den Fußtapfen des hingegangenen Gliedes wan - delſt. Ihr wiſſet, Leidtraͤger, daß ihr im Kir - chenſchiff, eurem Proviantſchiff, nicht umſonſt fahret, ſondern daß euer Leben ein langes Nach - tiſchgebet ſeyn ſoll, hingebracht nicht in gelehr -208 ter Zerſtreuung, ſondern in genoſſener. Da der Klerus-Magen in den Kloſter-Prytaneen der erweichende Vogelkropf am Staats-Phoͤnix ſeyn ſoll; da die Kirche auch bloß darum, wie den Epikur und andere Alte ſo oft faſten laͤßt, um den Hunger zu reitzen, und ſie euch ſogar das Geluͤbde des Schweigens unter dem Eſſen auf - legt, damit euch alles beſſer zuſchlage, ſo ſeyd ihr verbunden, der großen Welt voranzugehen, die ſo ſchwache Eßluſt und doch ſoviel zu eſſen hat; weil ſie das Brokardikon Marcians nicht bloß auf Dokumente einſchraͤnkt: non solent, quae abundant, vitiare scripturas d. h. es thut nichts, was zuviel daſteht. — Ritter Michaelis bewies, daß die Prieſter des alten Bundes bloße Schlaͤchter waͤren; und dieß ſpreche fuͤr euch.
Muntern euch keine Staatsglieder auf, die in ihren Pflichten ſtarben? — Hier liegt ein betruͤbtes, aber großes Beyſpiel vor uns; der hier unten ſeinem Erwachen entgegenſchlafende Magen kam durch Arbeitſamkeit an den Ort, wo wir ihn betrauern. Er wollte zuviel auf ſich nehmen und in Saft und Blut verwan -209 deln — er wollte, gleich dem Waſſer der Nep - tuniſten, ganze ausgeleerte Auſternbänke fuͤr die Nachwelt abſetzen — er wollte eine europaͤiſche Niederlaſſung wichtiger Konſumtibilien werden und alles einfuͤhren in ſich: — jetzt ſchlaͤft er.
Wird er aber wieder erwachen, unſer hoher Magen, zum Lohne ſeiner Arbeiten?
Hoch — Hochwohl — Wohl — Hochedel - geborne Trauerverſammlung! Das iſt ausge - macht! Nicht zwar der irrdiſche ſchwere Ma - gen erſteht, aber der verklaͤrte. Bonnet und Platner kundſchafteten im jetzigen Koͤr - per und Seelenorgan einen zweyten Koͤrper aus mit ſeinem zweyten Seelenorgan, und fuͤhren Gruͤnde an, die es glauben laſſen, daß ſich das zweyte konſervire und letzlich aufſchwinge. Iſt das, und fuͤttert in der That ein feiner Unter - ziehmenſch den aͤußern groben aus: ſo muß ſich auch in dem erſten Magen ein praͤformirter aͤthe - riſcher aufhalten, wie beym Krebs der alte im neuen. Schon Van Helmont wickelt die ſenſitive Seele in die Magenhaut, und Par - menides gar den ganzen Geiſt. — — Wie,Erſter Theil. 14210ſollte keine gluͤckliche Erfahrung die Hypotheſe eines Aethermagens ſtuͤtzen? — Woher kommt es denn, daß die vornehme Welt, wenn ſie den Erdenmagen ausgefuͤllt hat, ſich doch immer nach feinerer Zehrung fuͤr den Himmelsmagen umſieht? — Himmel! was ſind denn Schau - gerichte? — Sind dieſe nicht eben die vollen Schuͤſſeln fuͤr den ewigen Magen, der ſie daher bloß mit den feinſten Freßſpitzen, mit den Seh - nerven aufzehrt? Das Phaͤnomen der Schau - gerichte wurde bisher noch ſchlecht erklaͤrt; und wenige Leute in Schulen wußten, warum ſie den Namen Schau-Eſſen, Materien und For - men laſſen ſollten, die hoͤchſtens nur fuͤr den Vogel Strauß brauchbar und nahrhaft waͤren. Allein es fuͤhret Licht in die Sachen, wenn man erkennt, daß eine ſpeiſende Hoftafel ja nicht bloß die untern Seelenkraͤfte des Unterleibs, die nur materiellere Trebern fodern, ſondern auch die obern Seelen - und Magenkraͤfte, die, wie bey den Krebſen, im Kopfe, und zwar im Auge ſitzen, entwickeln will an optiſchem Manna. Veredelte, uͤberſinnliche Seelen dieſer Art, wel -211 che dem Volke des Kteſias ſo ungleich, das ſich nur vom Geruch der Fruͤchte erhaͤlt, viel feiner von der Phyſiognomie derſelben le - ben, dieſe haben in ihrem eignen Bewußtſeyn den gewiſſern hoͤhern Beweis einer ſchoͤnern hoͤ - hern Natur, gleichſam des Magens eines neuen Adams; und bloß darauf koͤnnen ſie die Hoff - nung ihrer Dauer bauen. Die Völker, welche Todten Speiſe vorſetzen und mitgeben, die er mit dem geſtorbenen Magen nicht verdauen konnte, ſcheinen etwas von einem fortlebenden, vorausgeſetzt zu haben. Indeß, ſo wie ein La - ſterhafter im ganzen Himmel kein Vergnuͤgen faͤnde, ſo wuͤrde ein Hungerleider — voll gro - ber Begierden — in einer ganzen Garkuͤche voll Schaugerichte, keine Saͤttigung gewinnen; er muß erſt veredelt (oder geſaͤttigt) ſeyn. Gebil - dete Damen haben meiſt den irrdiſchen Magen dermaßen ertödtet, daß ſie — ſo wie Chriſtus, nach dem Clemens von Alexandrien, Eſſen genoß, nicht weil ers brauchte, (eine himmliſche Kraft macht’ ihn ſatt) ſondern um ſich nicht das An - ſehn eines Scheinkoͤrpers zu geben — daß,212 ſag ich, die Damen gleicherweiſe grobe Sachen eſſen, nicht um ſatt zu werden (Schaugerichte bekoͤſtigen ſie genug) ſondern um zu zeigen, daß ſie ſelber keine Schau - oder Schein-Koͤrper ſind, um ſo mehr, da ihre Pariſer Schau - oder Schein-Wangen-Schein -, Adern - und Haare: ſo leicht dieſen Irrthum weiter ſaͤen.
Und ſo wird denn der ſeelige Magen vor uns einſt die irrdiſchen Schlacken abſchütteln und geläutert erwachen, und im Anſchauen ewiger Kuͤchenſtuͤcke leben. ” — —
Soweit war D. Fenk als der Pater Kuͤ - chenmeiſter aus Bosheit den Schirmer mit einem Tritt auf dem Schwanze erweckte, und ihm ein leeres Markbein zuwarf, ſo daß der Hund an - fing, mit dem Bein im Maul herumzugehen. Inzwiſchen da der Leichenredner nur noch fuͤnf bis ſechs Kadenzperioden nachzutragen hatte: ſo ging er lieber fortfahrend hinter dem Thiere her und ſagte: „ Und wir, wenn wir Landes-Wei - ſen einſt unſerm hohen Magen wieder begeg - nen und ihm danken wollen fuͤr” — — Da aber der Hund voll Verdruß uͤber das Nachſetzen,213 vielleicht praͤſumierend, der Redner woll’ ihm den Knochen nehmen, zu murren anfing, und ſich wehren wollte, ſo fiel jetzt die Sache ins Komiſche und ſelber der Parentator mußte mit - ten im Jammer lachen und brach ab ....
Fuͤr die jetzigen langen Naͤchte und fuͤr die ele - gante Welt zugleich, die ſich noch länger macht, iſt eine Kunſt einzuſchlafen, vielleicht erwuͤnſcht, ja fuͤr jeden, der nur einigermaßen ausgebildet iſt. Es gibt jetzt wenige Perſonen von Stand und Jahren, die, das Gluͤck ihrer hoͤhern Feinde ausgenommen, irgend ein anderes ſo ſehr be - neideten, als das einer Haſelmaus, oder auch eines nordiſchen Baͤrs, deſſen Nachtſchlummer bekanntlich gerade ſo lange als ſeine Nordnacht waͤhrt, naͤmlich fuͤnf Monate. Unſere Zeit bildet uns in Kleidern und Sitten immer mehr215 den waͤrmern Zonen an und zu, und folglich auch darin, daß man wenig und nur in Mor - gen - und Mittagsſtunden ſchlaͤft; ſo daß wir uns von den Negern, welche die Nacht kurzwei - lig vertanzen, in nichts unterſcheiden, als in der Länge unſerer Weile und unſerer Nacht. Hoch oben wird immer mehr die eigne Menſchheit — nicht wie von Alexander aus dem Schlafe — umgekehrt aus dem Mangel deſſelben errathen. Gibt es nicht in allen Reſidenzen Juͤnglinge von Welt und Geburt, welche (beſonders wenn die Glaͤubiger erwachen) gern ſo lange ſchliefen bis ſie ſtuͤrben, oder doch ihre Vaͤter? Und was hilfts manchem jungen Menſchen, daß er Frank - lins Wink, Nachts zum beſſern Schlafe die Bet - ten zu wechſeln, ſo gut er weiß, befolgt? Aus dem Gegengift wird in die Laͤnge ein Gift.
Kurz, wer jetzt noch am feſteſten ſchlaͤft — die Gluͤcklichen in den Wachſtuben auf der Prit - ſche ausgenommen — iſt einer oder der andere Homer, und die ſogenannten zehn thoͤrigten Jungfrauen, welche in der Bibel den Braͤutigam verſchlafen.
216Wenn ich gleichwol mehrere geiſtige Mittel, einzuſchlafen, freygebig anbiete, noch dazu in einem kurzen Aufſatze — nicht in langen dicken Baͤnden: — ſo ſind ſie in der That nicht jenen Wuͤſtlingen gegoͤnnt und geſchrieben, welche — durch lauter maitres de plaisirs zu esclaves de plaisirs gemacht; — in der Nachtzeit, in welche ſonſt die alte Jurisprudenz die Folter ver - legte, bloß darum die ihrige ausſtehen, weil ſie ſonſt ihre Freuden und Rachtviolen darin pfluͤck - ten. Sie mögen wachen und leiden, dieſe Sab - bathsſchaͤnder des taͤglichen Sabbaths der Natur.
Gibt es hingegen einen Miniſter, der an ei - nem Volke — oder einen Autor, der an einem Werke arbeitet, und beyde ſo feurig, daß ſie eben ſoviel Schlaf verlieren, als entziehen — oder irgend einen weiblichen Kopf, der das Naͤh - und Fang-Gewebe ſeiner oder fremder Zukunft, wie die Spinnen die ihrigen gern um Betten, und immer in der Nacht abweben, eben ſo im Finſtern ausſpinnt, und der folglich kein Auge zuthut — oder gibt es irgend einen andern von Idee zu Idee fortgetriebenen Kopf — z. B.217 meinen eignen, den bisher der Gedanke, die Kunſt einzuſchlafen fuͤr die Zeitung fuͤr die ele - gante Welt zu bearbeiten, an der Kunſt ſelber hinderte: — ſo ſey allen dieſen ſo geplagten und geſchaͤtzten Koͤpfen mit Vergnuͤgen der Schatz von Mitteln einzuſchlafen mitgetheilt, worunter ſo manche oft nichts helfen dem einen, doch aber dem andern und den uͤbrigen.
Nicht Einſchlafen, ſondern Wiedereinſchlafen iſt ſchwer. Nach dem erſten ſchlummernden Ermatten faͤhrt der obige Staatsmann wieder auf, und irgend eine Finanz-Idee, die ihm zu - fliegt, hält er ſich abarbeitend feſt, wie der Ha - bicht eine in der Nacht erpackte Taube bis an den Morgen in den Faͤngen aufbewahrt; daſſelbe gilt ganz vom Buͤcherſchreiber, deſſen Innres im Bette, wie Nachts ein Fiſchmarkt in See - ſtaͤdten, von Schuppen phosphoreszirt und nach - glaͤnzt, bis es ſo licht in ihm wird, daß er alle Gegenſtaͤnde in ſeinen Gehirnkammern unter - ſcheiden kann, und an ſeinem Tagwerke wieder zu ſchreiben anfängt unter der Bettdecke. Dieß218 iſt ungemein verdruͤßlich, beſonders wenn man keine Mittel dagegen weiß.
Ich weiß und gebe ſie aber; ſaͤmmtlich lau - fen ſie in der Kunſt zuſammen, ſich ſelber Lang - weile zu machen, eine Kunſt, die bey gedachten logiſchen Koͤpfen auf die unlogiſche Kunſt, nicht zu denken, hinaus kommt.
Wir wollen indeß einen weitern Anlauf zur Sache nehmen. Es wird allgemein von Philo - ſophen und Feſtungskommendanten angenommen, daß ein Menſch, z. B. eine Schildwache, im Stande ſey, ſchlaͤfrig und wach zu bleiben. Ja ein Philoſoph kann ſich zu Bette legen, Augen und Ohren verſchließen, und doch die Wette aus - bieten und gewinnen, die ganze Nacht zu ver - wachen bloß durch ein geiſtiges Mittel, durch Denken; — folglich, ſetzt dieſe Willkuͤhr die an - dere voraus, einzuſchlafen, ſobald man das Mittel der Wette nicht anwendet, wie wir Abends ja an ganzen Voͤlkern ſehen, wenn ſie zu Bette gehen.
Der Schlaf iſt, wie ich im Hesperus bewei - ſen, das ſtaͤrkende Ausruhen nicht ſo wohl des219 ganzen Koͤrpers, oder der Muſkeln u. ſ. w. als des Denkorgans, des Gehirns, daher durch lange Entziehung deſſelben nichts am Koͤrper er - krankt als das Gehirn, nemlich zum Wahnwitz. Wird es bey dem Thiere durch kein Empfinden, beym Menſchen durch kein Denken mehr gereizt: ſo zittert dieſes willkuͤhrliche Bewegungsorgan endlich aus. So bald der Menſch ſagt: ich will keine einzige Vorſtellung, die mir aufſtößt, mehr verfolgen, ſondern kommen und laufen laſſen, was will: ſo faͤllt er in Schlaf; nachdem vor - her noch einzelne Bilder ohne Band und Reihe, wie aus einer Bilderuhr, vor ihm aufgeſprun - gen waren, bloße Nachzuckungen des gereizten Denkorgans, denen der Muskelfaſern eines ge - toͤdteten Thieres aͤhnlich. Das Erwachen dage - gen beginnt das geſtaͤrkte und nun reitzende Or - gan, wie das Einſchlafen der nachlaſſende Geiſt.
Die goͤttliche Herrſchaft des Menſchen uͤber ſein inneres Thier - und Pflanzenreich wird zu wenig anerkannt, und eingeuͤbt, zumal von Frauen; ohne ſie ſchleppt uns die Kette des er -220 ſten beſten Einfalls fort. „ Tritt aber nicht, kann eine Frau ſagen, das Leichenbild meines Schmerzes uͤberall ungerufen mitten im Fruͤh - ling und im Garten deſſelben wie ein Geiſt, aus der Luft, bald hier, bald da, und kann ich der Geiſtererſcheinung wehren? “
Wende das Auge von ihr, ſag’ ich, ſo ver - ſchwindet ſie und kommt zwar wieder, aber im - mer kleiner; ſiehſt du ihn hingegen lange an, ſo vergroͤßert ſie ſich, und uͤberdeckt dir Him - mel und Erde. — Nicht die Entſtehung, ſon - dern die Fortſetzung unſerer Ideen unterſchei - det das Wahre vom Traume; im Wachen erzie - hen wir den Fuͤndling eines erſten Gedankens, oder laſſen ihn liegen, im Traume erzieht der Fuͤndling die Mutter, und zuͤgelt ſie an ſeinem Laufzaume.
Um zum nahen Einſchlafen wieder zu kom - men, ſo bekenn’ ich indeß, daß jenes gewaltſame Abbeſtellen und Einſtellen alles Denkens ohne philoſophiſche Uebung wohl wenigen gelingen wird; nur der Philoſoph kann ſagen: ich will jetzt bloß mein Gehirn walten laſſen ohne Ich.221 Dieſes Vermoͤgen, nicht zu denken, kann alſo nicht uͤberall bey der eleganten und denkenden Welt vorausgeſetzt werden. Die Juden haben unter ihren hundert Dankſagungen an jedem Tage, auch eine bey dem Kraͤhen des Hahns, worin ſie Gott preiſen, daß er den Menſchen hohl erſchaffen, desgleichen löcherig. Jeder elegante Welt-Menſch wird bis zu einem gewiſ - ſen Grade — bis zum Kopfe — in das Dank - gebet einfallen, weil er in der That keine Luͤcken in der Welt lieber auszufuͤllen ſucht als ſeine eignen.
Allein nicht jeder hat Abends das Gluͤck, hohl zu ſeyn, und alſo, da die Leerheit des Ma - gens nicht halb ſo ſehr als die des Kopfes das Einſchlafen beguͤnſtigt, letzteres zu erringen. Es muͤſſen folglich brauchbarere Anleitungen, den Kopf wie einen Barometer luftleer zu machen, damit darin das zarte elektriſche Licht der Traͤume in ſeinem Aether ſchimmere, von mir angege - ben werden.
Wenn alle Einſchlafs-Mittel, nach den vori - gen Abſaͤtzen, d. h. Grundſaͤtzen in ſolchen be -222 ſtehen muͤſſen, die den Geiſt vom Gehirne ſchei - den, und dieſes ſeiner eignen Schwere über - laſſen: ſo muß man, da doch die wenigſten Men - ſchen verſtehen, nicht zu denken, ſolche Mittel waͤhlen, die zwar etwas, aber immer daſſelbe etwas zu denken zwingen.
Da ich wol ein guter Einſchläfer und Schläfer, aber einer der mittelmaͤßigſten Wiedereinſchlaͤfer, bin: ſo geben mir meine Naͤchte - und Bett-Luku - brazionen vielleicht ein Recht uͤber die Selbſtein - ſchlaͤferungskunſt hier der Welt nach eignen Dik - taten zu leſen.
Ich muͤßte von mir ſelber ſprechen, und mich über mich ausbreiten, wenn ich die Leſer an mein Bett fuͤhren wollte, um ſie von dieſem Hei - denvorhof aus, weiter zu geleiten zum Kathe - der. Nur dieß kann ich vielleicht ſagen, daß ich ganz andere Anſtalten als die meiſten Leſer treffe, nicht aufzuwachen. Wenn z. B. ſo man - cher Leſer bey dem Einſchlafen eine Hand aus Unvorſicht auf die Stirn oder an den Leib, oder nur ein Bein aufs andere legt: ſo kann das ge - ringſte dem Schlafe gewoͤhnliche Zucken der vier223 Glieder ſaͤmmtlichen Rumpf aufwecken und auf - kratzen; — und dann iſt die Nacht ruinirt und er mag zuſehen. Dagegen man ſehe mich im Bett! — Nie beruͤhre doch jemand im Schlaf ein lebendiges Weſen, welches ja er ſelber iſt. Der kleinlichern Vorſichtsregeln gedenk’ ich gar nicht, z. B. gegen den Hund, der auf der Stu - bendiele mit dem Ellenbogen haͤmmert, oder auf einem wankenden Stuhl mit zwey Stuhl - beinen auf - und abklappert, wenn er ſich kratzt. Und doch leidet der unvorſichtige Leſer ſo viel im Bette als ich, weil wir beyde nie ſchaͤrfer denken und reicher empfinden als in der Nacht, dieſe Mutter der Goͤtter und mithin Großmut - ter der Muſen; und ginge am Morgen nicht der Koͤrper mit Nachwehen herum, es gaͤbe kein beſſeres Braut - und Kindbett geiſtiger Sonn - tagsgeburten als das Bett, ordentlich wenn die Schlaffedern zu Schreibfedern auswuͤchſen.
Eh’ ich endlich meine eilf Mittel, einzuſchla - fen, folgen laſſe, merk’ ich ganz kurz an, daß ſie ſämmtlich nichts helfen; — denn man ſtrengt ſich ſehr dabey an, und mich hat jedes Schlaf224 genug gekoſtet; — aber dieß gilt nur fuͤr das erſtemal. — Eben hat mir mein ſcharfſinniger Freund E. noch ein zwoͤlftes entdeckt, naͤmlich gar nicht einſchlafen zu wollen.
Das Erſte aber iſt: Leibnitz ſchlug es als ein gutes vor, nehmlich Zaͤhlen. — Denn die ganze Philoſophie, ja die Mathematik hat keine abſtrackte Groͤße, die uns ſo wenig intereßirt, als die Zahl — wer nichts zaͤhlt, als Zahlen, hat nichts Neues und nichts Altes, indeſſen doch eine geiſtige Thaͤtigkeit, obwohl die leichte der Gewohnheit, ſo wie ein Virtuoſe ohne große gei - ſtige Anſtrengung nach dem Generalbaſſe phan - taſirt, den er doch mit großer erlernte; Bur - ton, der eine Zahl von 39 Ziffern im Kopfe mit ihr ſelber multiplizierte, ſank nach tiefen Rech - nungen in tiefen Schlaf. Die Alten hatten an den Bettſtellen das Bildnis Merkurs, dieſes Rechners und Kaufmanns, und thaten an ihn das letzte Gebet. Es laͤßet ſich wetten, daß nie - mand leichter einſchlaͤft als ein Mathematiker, ſo wie niemand ſchlechter als ein Verſe - und Staatsmann.
225Allein dieſes Leibnitziſche Zaͤhlen wird an ſchwachen Schlaͤfern unſers Jahrhunderts nur mittelmaͤßige Wunder thun, wenn man ent - weder ſchnell, oder uͤber 100 (wodurch es ſchwe - rer wird) oder mit einiger Aufmerkſamkeit zaͤhlt. Eben ſo muß man, wie hoͤhere Rechenkenner, nichts darnach fragen, daß man ſich verzaͤhlt. Unglaublichen Verſchub thut aber dem Schlafe ein kleiner, meines Wiſſens noch unbekannter Handgriff, naͤmlich der, daß man im Kopfe die Zahlen, welche andere Schlaͤfer ſchon fertig aus - geſchrieben anſchauen, ſelber erſt groß und lang - ſam hinſchreibt, auf was man will. Verfaſſer dieſes, nahm dazu haͤufig eine lange Wetter - oder auch Stoͤhrſtange und zeichnete, indem er ſie am kurzen Hebelsarme hielt, mit dem lan - gen oben an das Zifferblatt einer Thurmuhr (indeß iſt Schnee eben ſo gut) die gedachten Zahlen an, ſo lang und ſo dick, daß er ſie un - ten leſen konnte. Dieſe ſo unendlich einfoͤrmige Langſamkeit der Operazion iſt eben ihr punc - tum saliens oder Huͤpfpunkt und ſchlaͤfert ſo ein; und was das Laͤcherliche dabey anlangt, ſo gehtErſter Theil. 15226wohl jeder im Bette daruͤber hinweg. Jedem Langſam - und Stangenſchreiber rathe man aber unſere arabiſchen Ziffern ab, deren jede einen neuen Zickzack fodert, ſondern er ſchreibe roͤmi - ſche an ſeinen Thurm (wie alle Thurmuhrblaͤt - ter haben), welche bis 99 nichts machen, als lau - ter herrliche, recht herpaſſende Linien, naͤmlich gerade. — Will ein Einſchlaͤfer Thurm und Stange nicht: ſo kann man ihn rathen, recht lange und zwar wie Trochaͤen auszuſprechende Zahlen ſich vorzuzählen: ein und zwanzig Billio - nen, 22, 23, ꝛc. Billionen.
2) Toͤne, ſagt Bako, ſchlaͤfern mehr ein, als ungegliederte Schaͤlle. Auch Töne zaͤhlen, und werden gezaͤhlt. Da aber hier nicht von fremden, ſondern von Selbſtentladungen — das Einſchlaͤfern iſt der einzige ſchöne Selbſtmord — die Rede iſt: ſo gehoͤren nur Töne her, die man in ſich ſelber hoͤrt, und macht. Es gibt kein ſuͤßres Wiegenlied als dieſes innere Hoͤren des Hoͤrens. Wer nicht muſikaliſch phantaſiren kann, der hoͤre ſich wenigſtens irgend ein Lieb - lingslied oder eine Trauermuſik in ſeinem Kopfe227 ab; der Schlaf wird kommen, und vielleicht den Traum mitbringen, deſſen Saiten in keiner Luft mehr zittern ſondern im Aether.
3) Vom zweyten Mittel iſt das dritte nicht ſehr verſchieden, ſich naͤmlich in gleichem Sylben - Dreſchen, leere Schilderungen langſam innen vorzuſagen; wie ich z. B. mir: wenn die Wol - ken fliegen, wenn die Nebel fliehen, wenn die Baͤume bluͤhen ꝛc. Darauf laſſ ich auf’s Wenn kein So folgen, ſondern nichts, naͤmlich Ent - ſchlafen; denn die kleinſte Ruͤckſicht auf Sinn oder Zuſammenhang oder Sylbenzahl wuͤrde alles wieder, wie ein Nachtwaͤchter-Geſang, ein - reißen, was das poetiſche Selbſtwiegenlied auf - gebauet*)Man kann ſich auf eine lange Handlung z. V. das Säen des Korns bis zu deſſen Dreſchen und Becken in freien Trochäen oder Jamben ohne Schmuck, vor - ſagen wie ich.. Da aber nicht jeder Talent zum Dichter hat — zumal ſo ſpaͤt im Bette: — ſo kommen ja dem Nicht-Dichter zu tauſenden Bett-Lieder mit dieſem poetiſchen faulen Trom - melbaß entgegen, wovon er nur eines auswen - dig zu lernen braucht, um fuͤr alle Naͤchte damit228 ſein Gluͤck zu machen. Unſchaͤtzbar iſt hier un - ſer Schatz von Sonnetten, an denen wie an Raupen-Puppen nichts ſich lebendig regt, als das Hintertheil, der Reim; man weiß es nur noch nicht genug, wie ſicher das Reim-Glocken - ſpiel uns in einen kuͤrzern Schlaf einlaͤute, als der laͤngſte iſt. — Ich wuͤrde hiezu auch aus - wendig gelernte Abendſegen vorſchlagen, da ſich durch ſie wahrſcheinlich ſonſt Tauſende eingewiegt, wenn ich nicht beſorgte, daß ſie ungewohnten Betern durch den Reitz der Neuheit mehr Scha - den und Wachen braͤchten als Nutzen.
4) Ein gutes Mittel einzuſchlafen nicht ſo - wohl als wieder einzuſchlafen iſt, falls man aus einem Traum erwacht, ſich in dieſen mit den ſchlaͤfrigen Augen, indem man ihm unaufhoͤrlich nachſchauet, wieder einzuſenken; bald wird die Welle eines neuen Traumes wieder anfallen, und dich in ihr Meer fortſpuͤhlen und eintauchen. Der Traum ſucht den Traum. Im großen Schatten der Nacht ſpielt jeder Schatten mit uns Sterblichen, und haͤlt uns fuͤr ſeines Gleichen.
2295) Hefte dein inneres Nachtauge lange auf einen optiſchen Gegenſtand, z. B. auf eine Mor - genaue, auf einen Berggipfel, es wird ſich ſchlie - ßen. Ueberhaupt ſind Landſchaften — weil ſie unſerem innern Menſchen, der mehr Augen hat als Ohren, leicht zu erſchaffen werden, und weil ſie uns in keine mit Menſchen bevoͤl - kerte und erweckende Zukunft ziehen, — die beſte Schaukel und Wiege des unruhigen Geiſtes.
6) Das ſechſte Mittel half mir mehrere Nachmitternaͤchte durch, aber es fodert Uebung; man ſchauet naͤmlich bloß unverruͤckt in den lee - ren ſchwarzen Raum hinein, der ſich vor den zugeſchloßnen Augen ausſtreckt.
7) Wer ſeine Augen ſchließen will, mache an ſeinem innern Januskopfe zuerſt das Paar, das nach der Zukunft blicket, zu; das zweyte, nach der Vorzeit gerichtet, laſſe er immer offen. Am Tage vor einer Reiſe oder Haupt - that ſchlaͤft man ſo ſchwer als am Tage nach - her ſo leicht; die Zukunft ergreift uns (ſo wie den Traum) mehr, als die Gegenwart und Ver -230 gangenheit. Im Hauſe eines Todten, aber nicht eines Sterbenden kann man ſchlafen. Daß Kato in der Nacht vor ſeinem Entleiben ſchlief — wie die Seitenraupe vor der Einpuppung — ja ſchnarchte, iſt ſchwerer, als was er nachher that. Daß Papſt Klemens XIIII*)So, aber nicht xiv, und ſo viiii, nicht aber ix u. ſ. muß vor jedem obigen Einſchlafen geſchrieben werden, wenn man nicht vom Denken erwachen will. am Mor - gen vor ſeiner Kroͤnung geſchlafen, merkt die Weltgeſchichte mit Recht an; denn am Abende darauf, da er auf dem Stuhle ſaß, war es ganz leicht; auf dem Wege zum Throne und auf deſ - ſen Stufen wird uͤberall weniger geſchlafen und das Auge zugemacht, als eben in den weichſten Betten der Ehren und lits de justice. Euere Vergangenheit könnt ihr daher — zu große Tie - fen und Hoͤhen darin ausgenommen — mit Vor - theil durchlaufen; aber nicht an den kleinſten Plan und Brief und Aufſatz des naͤchſten Mor - gens denken.
8) Fuͤr manche geuͤbte gewandte Geiſter im Kopfe mag das wildeſte Springen von Gegen -231 zu Gegenſtand — aber ohne Vergleichungs - zweck — mit welcher der Verfaſſer ſich ſonſt ein - ſchlaͤferte, von einiger Brauchbarkeit ſeyn. Ei - gentlich iſt dieſes Springenlaſſen nichts andres, wenn es gut ſeyn will, als das obige Gehenlaſ - ſen des Gehirns; der Geiſt laͤßt das Organ auszucken in Bildern.
9) Seelenlehrer und deren Seelenſchuͤler ſchläfern ſich ein — falls ſie wollen, — wenn ſie geradezu jede Gedankenreihe ganz vorn ab - brechen, die neue wieder und ſo fort: indem ſie ſich fragen, bey jedem Maͤchtigen was ſie aus - denken und vollenden moͤchten: „ kann ich denn nicht morgen eine Stunde laͤnger wach liegen, und meine Kopfarbeit auf dem Kopfkiſſen verrich - ten? Und warum denn nicht? — Wer aber ſo wenig Denkkraft hat, daß er ſie damit nicht einmal hemmen kann, wo er will, der hoͤrt hier wieder ein Ausmittel; naͤmlich, er horche ſich innen zu, wie ihm ohne ſein Schaffen ein Subſtantivum nach dem andern zutoͤnt, und zufliegt, z. B. mir geſtern: „ Kaiſer — Roth - mantel — Purpurſchnecke — Stadtrecht — Don -232 nerſteine — Hunde — Blutſcheu — atque — uhinus — Fontenelle — caetera — et — u. ſ. w.
10) Das neunte Seelen - und Bett-Lau - danum kann jeder gebrauchen, er habe ſo viele Ideen als er will, oder ſo wenige, oder keine. Ich ſchaͤme mich es aber anzugeben, da es in nichts Geiſtigerem beſteht, als darin, daß man die fuͤnf Finger, einen nach dem andern, lang - ſam auf oder unter dem Deckbette auf - und nie - der bewegt, und fortfaͤhrt und daran ſo lange denkt, bis man, ohne daran zu denken, an kein Aufheben oder Achtgeben mehr denkt, ſon - dern ſchnarcht. Es iſt erbärmlich, daß unſer Geiſt ſo oft der Mitbelehnte des Leibes iſt, und beſonders hier das Fauſtrecht der todten Hand, und deren Fingerſetzung hat, und daß ſein gei - ſtiger oder geiſtlicher Arm in der Armroͤhre des weltlichen ſteckt. Schlafdurſtige, alſo Schlaf - trunkene, z. B. Soldaten, Poſtillions, ſchlum - mern im Reiten und marſchiren halb ein, bloß weil gleiche Bewegungen des Koͤrpers dieſelben langweilig-geiſtigen, die das Gehirn wenig mehr233 reitzen, in ſich ſchließen. Laͤßt man aber den ſchlafenden Poſtillion dir Pferde abſpannen, ein - ziehen, abſchirren und fuͤttern: ſo wird und bleibt der Mann ganz wach; bloß weil ſeine (koͤrperliche und geiſtigen) Bewegungen jetzt im - mer etwas anderes anzufangen und abzuſetzen haben. Der Grund iſt, die Einfoͤrmigkeit fehlt. Wenn man in Tangotaboo (nach Forſter) die Großen dadurch einſchlaͤfert, daß man lange und linde auf ihrem Leibe trommelt: ſo iſt der Grund gar nicht von dieſem vorletzten Mittel verſchie - den. Denn das
11) iſt das letzte. Da die Kunſt einzuſchla - fen nichts iſt, als die Kunſt ſich ſelber auf die angenehmſte Weiſe Langeweile zu machen — denn im Bette oder Leibe findet man doch keinen andern Geſellſchafter als ſich — ſo taugt alles dazu, was nicht aufhoͤrt, und ohne Abſaͤtze wie - derkehrt. Der eine ſtellt ſich auf einen Stern, und wirft aus einem Korbe voll Blumen eine nach der andern in den Weltabgrund, um ihn (hoft er) zu fuͤllen; er entſchlaͤft aber vorher. Ein anderer ſtellt ſich an eine Kirchenthuͤre und234 zaͤhlt und ſucht die Menge ohne Ende, die her - auszieht. Ein Dritter, z. B. ich ſelber, reitet um die Erde, eigentlich auf der Wolkenberg - ſtraße des Dunſtkreiſes, auf der wahren um uns haͤngenden Bergkette von Rieſengebirgen und reitet (indem er unaufhoͤrlich ſelber das Roß be - wegt) von Wolke zu Wolke und zu Pol-Schei - nen und Nebelfeldern, und dann ſchwimmt er durch langes Blau und durch Aequator Guͤſſe und endlich ſprengte er zum andern Pole wie - der zu uns herauf. — Ein vierter Schlafluſti - ger ſetzt irgend einen Genius bis an den halben Leib in eine lichte Wolke, und will ihn mit Ro - ſen rund umlegen und uͤberdecken, die aber alle in die weiche Wolke unterſinken; der Mann läßt indeß nicht ab, und umbluͤmet weiter — in die Runde — und immer fort — und die Blumen weichen — und der Genius ragt — wahrhaftig ich ſchliefe hier, hielte mich nicht das Schreiben munter, unter demſelben ſelber ein. So wird uns nun der Schlaf — dieſes ſchöne Stillleben des Lebens — von allem zuge - fuͤhrt, was einfoͤrmig ſo fortgeht. So ſchlafen235 Menſchen uͤber dem Leben ſelber ein, wenn es kaum acht oder neun Jahrzehnde gedauert hat. So koͤnnte ſogar dieſer muntere Aufſatz den Le - ſern die Kunſt einzuſchlafen mittheilen, wenn er ganz und gar nicht aufhoͤrte.
Das Schloß des Juͤnglings, deſſen Taufname Ernſt uns genuͤgen mag, ruhte einem großen engliſchen Garten im Schooß, und der Gar - ten wieder einer ſtolzen Ebene voll Berghaͤupter. Darin ſollte ſein Geburtstag von ſeiner Mutter, von mir und — wenn ſie noch morgends kaͤme — von ſeiner Verlobten ſchoͤn gefeyert werden; auch niemand hatte etwas darwider, ausgenommen der Feſtheilige ſelber. Ich nenn ihn ſo, weil er oft ſagte: er wuͤnſchte um keinen Preis irgend237 ein Schutzheiliger oder gar die Maria zu ſeyn, wenn er an ſeinem Namenstage das widrige Preiſen und Poſaunen der Menſchen im Him - mel hoͤren müßte; wiewol es mit dem Allerheilig - ſten — oder richtiger mit dem Alleinheiligen noch ſchlimmer ſtehe. Ordentlich mit der Haͤrte des Egoismus gegen Feindſeeligkeiten, koͤnnte er Freundſeeligkeiten anfallen, und berennen; ein Geburtstag, ſagt’ er, wenn es nicht ein frem - der waͤre, ſey vollends dumm. Laſſet den Juͤng - ling! Eine rechte Jungfrau iſt auch eine Heilige, warum nicht der rechte Juͤngling ein Heiliger? — Beyde ſind unſchuldig hoͤhere Kinder, denen nur nach der Laubknospe auch die Bluͤtenknospe zerſpringt. Ein Juͤngling iſt ein Lebens-Trun - kener, und darum gluͤht er — wie einer, der ſich durch phyſiſche Trunkenheit, die jugendliche zuruͤckholt — zugleich vom Wangen - und Her - zensfeuer des Muthes und der weichſten Liebe. Die menſchliche Natur muß tiefgegruͤndete Guͤte haben, da ſie gerade in den beyden Zuſtänden des Rauſches, die ſie verdoppeln und vor den Vergroͤßerungsſpiegel bringen, ſtatt vergroͤßer -238 ter Mängel nichts enthuͤllt, als das Schoͤnſte und Beſte gereift, naͤmlich Blume und Frucht, Liebe und Muth.
Der ſchoͤn-widerſpenſtige Juͤngling, der wie meiſtens Juͤnglinge, nichts von ſeinem morgend - lichen Geburtstage wußte, ſollte am Morgen von der Ankunft ſeiner Verlobten und ſeines Feſtes zugleich uͤberraſcht werden mit einer neuen hellen Welt; wir ſprachen zuſammen tief in die Nacht, aber Geſpraͤche, an dem Vigilien - und heiligen Abende einer geſchloſſnen Lebensfriſt werden leicht ernſt. Unverſehends hatten wir uns wieder in den Staub unſers alten Kampf - platzes verlaufen; er behauptete: man werde in der zweyten Welt wieder ſterben, und in der dritten, u. ſ. w. Ich replicirte: man muͤßte gar nicht ſagen zweyte, ſondern andere Welt; — nach dem Zerbroͤckeln unſeres körper - lichen Rindenhauſes ſey ja die ſinnliche Laufbahn abgeſchloſſen, die Erwartung einer neuen ſinnli - chen, gleichſam ihrer Wiederholung in einer hoͤ - hern Oktave, werde bloß von der Phantaſie untergeſchoben, die ihre Welten nur mit den Ar -239 men der fuͤnf Sinne baue und halte — und wir daͤchten wie die ſineſiſchen Tataren, die ihre Todten mit goldpapierenen Haͤuſern und Geraͤth - ſchaften, im Vertrauen deren Verwirklichung droben, ausſteuern, und beſonders ſey die See - lenwanderung außerhalb der Erde durch die Lei - ber auf andern Sternen ganz unſtatthaft, ſchon nach Seite 106 im Kampanerthal.
Ernſt warf mir den ganzen rein-blauen Sternenhimmel vor uns ein, deſſen Welten ja ein ſolcher juͤngſte Tag unſeres Todes alle ſo ein - ſchmelze, daß aus deſſen ganzer verſperrter Un - endlichkeit uns bloß das einzige Erd-Sternchen waͤre offen geblieben. Ich duplizierte: dieß folge zwar nicht — da wir nicht alle Wege der Er - kenntnis neben unſern fünfen kennen, und da wir Blindgeborne die Sonne durch den Tod der Gefuͤhlsnerven verlieren und doch durch das Erwecken der Sehnerven wieder bekommen kön - nen — aber geſetzt, ſo ſey es, ſo waͤren wir dann nur eben ſo von den Welten wie jetzt von den zahlloſen Jahrtauſenden vor uns geſchie - den. — Hingen die Sterne naͤher und als240 Erdmaſſen vor uns, oder ſaͤhen wir außer denen droben zugleich die drunten: ſo wäre man ſchwerlich auf die Hoffnung dieſer himmliſchen Völkerwanderungen verfallen, und haͤtten un - ſerer heiligſten Sehnſucht nicht die Richtung nach einer bloß methaphoriſchen Hoͤhe gegeben — Der Zeltiſche Himmel aus Wolken, und der jetzige aus Welten wären uns nur in der Groͤ - ße verſchieden, ja der griechiſche ſey beſſer, der die ſchattige traͤumeriſche Unterwelt einnehme.
Ernſt verſetzte myſtiſch, es gäbe ein abſolutes Oben, welches im Siege uͤber die Schwerkraft, in der Freyheit beſtehe, und das die Flammen und die Wurzelkeime auf dem Avers und Reversuuſerer Kugel ſuchen. — Gegen meinen Unglauben an eine zweyte Verkoͤrperung und Menſchwer - dung fragt’ er: ob das Erkennen und das ſittliche Handeln ohne irgend eine moͤglich ſey — — „ bey endlichen Weſen meynen Sie ohnehin, ſetzt’ ich darzu: denn vom unendlichen iſts gewiß,” — und wenn das kuͤnftig ſeyn koͤnnte, warum man denn uͤberhaupt die erſte hieſige umbekommen? — Aber das voͤllige Ausſcheiden aus unſerer Koͤrper -241 welt ſey undenkbar, inſofern der Tod es voll - fuͤhren ſolle, der ſie ja, wie der Schlaf und die Ohnmacht nicht dadurch fuͤr den Geiſt aufhebe, daß er ſie veraͤndere; und wenn einmal das Gehirn eine Teſtatur des Geiſtes war, ſo behalte er doch nach deſſen Zerſetzung noch die Koͤrper uͤbrig, wodurch und worin daſſelbe zer - ſetzt geworden: zumal da keine Kraft im Uni - verſum zu verlieren ſey. — Das Univerſum iſt der Koͤrper unſers Körpers, fuhr er fort, aber kann nicht unſer Koͤrper wieder die Huͤlle einer Huͤlle ſeyn und ſo fort? Fuͤr die Phantaſie wird es faßlicher, wenn man ihr es auszumah - len gibt, daß, da jede mikroſkopiſche Vergroͤ - ßerung eine wahre, nur aber zu kleine iſt*)Dieſes iſt mathematiſch wahr. Die Vergrößerung — die nichts iſt als eine nähere Annäherung — erſchafft und organiſirt ja z. B. nicht den Flaum der Schmetter - lings-Flügel, den ſie aus der relativen Ferne herüber - zieht, (ſo wie nicht die nahe Größe, ſondern die ferne Kleinheit einer Gegend ſcheinbar iſt) mithin da jede Mücke unter dem Mikroſkop die enthüllten Aederchen u. ſ. w. und deren Verhältniſſe wirklich hat, die jenes zeigt: ſo wird ſie ja darunter nicht vergrößert, ſondern nur weniger verkleinert gezeigt; weil die Vergrößerung im umgekehrten Verhältniß der Fokus-Ferne beſteht, und dieſe am Ende ſo klein gedacht werden kann, daß nur noch,Erſter Theil. 16242unſer Leib ein wandelnder organiſcher Koloſſus und Weltbau iſt; ein Weltgebaͤude voll rinnen - der Blutkugeln, voll elektriſcher, magnetiſcher, und galvaniſcher Stroͤme, ein Univerſum, deſ - ſen Univerſalgeiſt und Gott das Ich iſt. Aber wie die Schmetterlingspſyche eine Haut nach der andern abſprengt, die Ey-Haut, die vielen Raupen-Häute, die Puppenhaut, und end - lich doch mit dem ſchoͤn bemalten Pappillonkoͤr - per vorbricht, ſo kann ja unſere Pſyche den muskuloͤſen, dann den nervoͤſen Ueberzug durch - reißen, und doch mit aͤtheriſchem glaͤnzenden Ge - fieder ſteigen. Schon hier bereiten ihr oft Berg - luft, Getraͤnke, Krankheit ein duͤnneres Ele - ment, worin ſie leichter und mit den aufgeho - benen Fluͤgeln halb außer der Welle flatternd ſchwimmt; wie muß ſie nicht erſt im hohen Ae - ther, im leichten weißen Brautkleide des zwey - ten Lebens, fliegen und eilen?” —
Aus der Wirklichkeit war freylich gegen dieſe Möglichkeit, den goldnen Wiederſchein derſel - ben, nichts zu ſchließen. Dabey hatte der feurige Juͤngling nach Landesart der Schwärmer Ein - wuͤrfe verſchiedener Gattung wie auslaͤndiſche Truppen in eine Linie geſtellt. Ich macht’ es nachher nicht beſſer, als ich triplicierte. Aber er ließ mich noch nicht dazukommen; ſondern trug erſt dieſe Moͤglichkeit gar nach: „ Wir ken - nen nur die äußerſten Ueberzieh-Kleider der Seele, aber nicht ihr letztes und nächſtes, ihr Hemde. Unter allen Erſcheinungen von Ver - ſtorbenen ſind z. B. die von eben Verſtorbenen, oder von Sterbenden am ſchwerſten rein abzu - laͤugnen; die unzaͤhlichen Todten der Jahrtau - ſende verhuͤllen ſich uns, aber der Todte der Stunde traͤgt gleichſam noch Erdenſtaub genug an ſich, um damit noch einmal im Sonnenſtrahl des Lebens vor einem geliebten Auge zu ſpielen.”
Ich wollte beynahe entgegenſetzen, warum uns keine verſtorbne Thierſeelen erſchienen und daß die Erſcheinung bloß verwandter Ster - benden und Geſtorbenen, je deutlich ihre Ur -244 ſache und Erklaͤrung, naͤmlich die Taͤuſchung der Liebe und Furcht anſage; aber ich unterließ den Zweifel; uͤber Geiſtererſcheinungen wurde ohne - hin bisher noch nicht mit rechter Religion und Freyheit zugleich geurtheilt, und am we - nigſten koͤnnen gegen ſie, ſo wie gegen den thie - riſchen Magnetismus, negative Erfahrungen entſcheiden, die eben darum gar keine ſind. Mich beſticht jeder Gebildete, der Geiſtererſchei - nungen glaubt, weil er mich an die religioͤſere deutſche Zeit erinnert, wo man ſie eben ſo feſt glaubte, als aushielt. Ich triplizirte aber nun auf alles Vorige: man nehme das Koͤrper - kleid ſo fein gewoben an, als man wolle, ſo verhalte ſichs doch zum Ich wie der unorganiſierte Rock zum organiſchen Leibe; ein einziger irrdi - ſcher Nerve ſey aber ſchon der Sperrſtrick vor der andern Welt, und ein einziges Erdſtaͤubchen ziehe die ganze Erde, unſer ganzes irrdiſches Treiben nach ſich; das Leben nach dem Tode ſey dann eines vor demſelben, und der Geſtorbene vom Lebenden nur dadurch verſchieden, daß er hinter dem Alter alt, und aus dem Neunziger245 ein Millionaͤr werde; wir hieſige Nacht-Rau - pen verwandeln uns dann nicht in Schmetter - linge, ſondern in Tag-Raupen, und freſſen und kriechen dann bloß im Sonnenſchein. Aber, fuhr ich im Enthuſiasmus fort, was wir begeh - ren, und was allein zu beweiſen iſt, das muß etwas anderes ſeyn; die Welt des moraliſchen Herzens klingt wie ein Ton unſichtbar und zum Wehen unwirkſam, in der groben der Sinnen; — will denn unſere Liebe, unſere Freude, un - ſere Gottes-Ahnung etwas, was auf einer har - ten Koͤrper-Welt, ſey es auch die ſchoͤnſte, er - ſcheinen kann? Die ſchoͤnſte, die ich in dieſer Art kenne, iſt die von der Phantaſie, dieſer rechten Weltſchoͤpferin; und doch muß eben dieſe allgewaltige Weltſeele, alle ihre Weltgloben, damit ſie Zauberlicht gewinnen, mit der Mor - genroͤthe und Milchſtraße der kuͤnftigen Unend - lichkeit ahnend umziehen. Wie die Geiſter-Furcht ſich vor wahnſinnigen neuen Schmerzen ent - ſetzt, die nicht vor dem Einfluſſe, ſondern vor der bloßen Gegenwart des Gegenſtandes beben und die uns gar keine Geſtalt dieſes Mit -246 tagslebens machen oder heilen koͤnnte: ſo gibt es auch eine Geiſter-Hoffnung und Geiſter-Liebe, die nicht Wirkungen ſondern Daſeyn der Weſen begehrt, und welche keiner irrdiſchen Freude abborgt, ſondern hoͤchſtens den beſten heimlich darleiht. Unſer armes, wundes-volles Herz habe ſich auch nach allen Seiten noch ſo oft wieder geſchloſſen, ſo bleibt doch daran eine angeborne Wunde offen, die nur in einem andern Elemente des Daſeyns zufaͤllt, wie ſich am ungebornen Kinderherzen die eyförmige Oeffnung erſt verſchließet, wenn es ein leichteres Leben athmet. Darum wendet ſich ja unſere obere Blatſeite, wie bey Blumen, ſo oft man ſie auch gegen den irrdiſchen Boden umdrehe, immer wieder gegen ihre Himmelsſeite herum.”
„ Angeborne Wunde!” wiederholte der Juͤng - ling mit einem Seufzer: unſere Wunde oder un - ſer Himmel iſt offen, ſagt’ ich angefeuert, daß iſt eins und kein Wortſpiel. Oder ſoll der Tod auch in jener Welt uns wie ſklaviſche Krieger immer wieder von neuem einquartiren? — Wir, jetzt der Libellen-Nymphe gleich, deren vier247 Fluͤgel ſichtbar in den Scheiden kleben, ſollen einmal nur neue Scheiden aus alten ziehen, und dieſes Ausſcheiden Fliegen heißen? Und wenn wir vor der Suͤndfluth des Irrdiſchen uns ret - tend zu heiligern Bergen geflohen, ſollen wir auf jedem wie auf dem Pilatusberge wieder einem See begegnen? Und die Ewigkeit waͤre bloß ein ewiger Vorhalt auf der Diſſonanz?”
Jetzt kam der Juͤngling durch mich zu ſich, und er fragte mich kalt: „ Demnach muͤßte ich doch irgend eine Original-Vorſtellung vom an - dern Leben geben koͤnnen; weil nur dieſes Ur - bild jedes Urtheil uͤber ein Nachbild rechtfertigen koͤnne. ” —
Ich quadruplizierte: Koͤnnt’ ich das kuͤnftige Leben beſchreiben, ſo haͤtt’ ich es und der, der mich verſtaͤnde; der neugeborne Saͤugling aber draͤngte ſich durſtend nach einer Koſt, die er nicht chemiſch prophezeien koͤnne, und die doch der Inſtinkt verbuͤrge und treffe. Von der an - dern Welt ſprechen wir jetzt wie Blinde vor der Operation von der ſichtbaren — alle Malereyen ihres Morgenroths wuͤrden wie bey jenem Blin -248 den, auf Definitionen vom Trompetenton hinaus - laufen.
Hier ſpraͤche aber — verſetzte der Juͤngling — der Blinde doch nur zum Blinden, und Aehn - liches orientirte ſich durch Aehnliches. Aber eben darum, da kein Sinn durch die vier an - dern — und hier ſollen ſie gar uͤber Nicht - und Ueber-Sinne richten, gegeben ſey, und das ſo wenig z. B. durch alle Farbenebenen ein Ton, daß wir dieſen fuͤr ein Ich unter den ſprachloſen Flächen halten wuͤrden, wenn ſich nicht Geruch, Geſchmack, Gefuͤhl eben ſo ſchneidend und ſelbſt - ſtaͤndig wie der Ton, von den Farben ſchieden; und da doch dieſe fuͤnf unaͤhnliche Welttheile ſich zuſammenknuͤpften und unterſtuͤtzten; ſo ſey aus ihrer irrdiſchen Entfernung von einem kuͤnf - tigen ſechſten, ſiebenten u. ſ. w. gar nichts gegen das Daſeyn und Verhaͤltniß eines aͤhnlich - un - aͤhnlichen eben beſagten ſechſten, ſiebenten u. ſ. w. zu folgern: umgekehrt vielmehr alles dafuͤr.
Das war etwas und doch nur einſeitig und halbſeitig. „ Das Herz ſeptuplizierte ich, braucht249 aber etwas anderes als Sinnen, man geb’ uns tauſend neue; der Lebensfaden bleibt doch auf dieſelbe Weiſe leer-verglimmend, der leichte Punkt des Augenblicks lodert an ihm hinauf, und der lebendige Funke laͤuft zwiſchen duͤnner Aſche und leerer weißer Zukunft. Die Zeit iſt ein Augenblick, unſer Erden-Seyn wie unſer Erden-Gang ein Fall durch Augenblick in Au - genblick. Unſer Sehnen wird uns fuͤr deſſen Gegenſtand, ſo wie der wirkliche Durſt im Traum fuͤr ſein wirkliches Loͤſchen im Wachen Buͤrge, ſo oft auch der Traum mit ge - träumtem Trinken hinhalte. Ja dieſe Aehn - lichkeit wird Gleichheit; denn gerade dann, wann dieſes Leben am reichſten austheilt z. B. in der Jugend und wie eine Sonne uns mit Morgenroth und Mittagslichtern und Mond - ſchein blendet, gerade dann, wenn das Leben unſere hoͤchſten Wuͤnſche ausfuͤllt, da erſcheint das fremde Sehnen am ſtaͤrkſten, und nur um ein ebenes Paradies des Erdbodens woͤlbt ſich der tiefe geſtirnte Himmel der Sehnſucht am groͤßten. Woher das ſogar bey den geiſtigſten250 Seeligkeiten? Eher ſollte man das Sehnen er - warten von der Leere.”
— „ Die Sehnſucht konnte ja ihr eigener Gegenſtand ſeyn” — verſetzte Ernſt.
„ Ich begehre, (antwortete ich gleichſam zur Parodie) Antwort auf meine Frage, ob man nach Duͤrſten duͤrſten wuͤrde, ohne getrunkenes oder zu trinkendes Waſſer: ſondern Sie fahren fort:”
„ Ich antwortete eben — verſetzte er — daß wenn wir nach Ihren Behauptungen mit der ganzen ſogenannten andern Welt ſchon in der hieſigen leben und ausdauern, und jene als einen himmliſchen Regenbogen des Friedens ſchon uͤber dieſe ſpannen: ſo koͤnnte ſich dieß ja ſo fort vererben von Erde zu Erde; (wir braͤch - ten immer die andere Welt dahin mit:)”
„ Dann, verſetzt’ ich, waͤrs einerley, wo man lebte und kein Weiſer koͤnnte etwas Hoͤheres verlangen vom Leben, als es fort zu erleben d. h. neue Ge - hurtstage.”
„ Sehen wir uns den wieder, wenn wir aus der Zeit in die Ewigkeit gehen?” fiel die liebe Mutter ein; denn das liebende Herz der Weiber251 ſucht in der Zukunft zuerſt das Geliebte; daher hoͤrt man dieſe ſorgende Frage nach Wiederſehen zuerſt von ihnen. „ Was goͤttlich iſt an der Liebe, das kann nie untergehen, ſagt’ ich, oder ſonſt, da das Irrdiſche ohnehin vermodert, bliebe gar Nichts. Aber der altchriſtliche Ausdruck aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit, das iſt der rechte; hinter dem Leben gibts keine Zeit, ſo wenig wie vor dem Leben; uͤber das andere Leben laͤſſet ſich ſo wenig etwas daruͤber hinaus denken, als uͤber den Urgrund alles Seyns.”
Ernſt wandte noch ſchnell ein: „ und doch ſpreche man von Fortdauer und wolle mit dieſem Zeitpleonasmus alle Zeit vernichten; aber geſetzt warum wolle man denn vor der Ewig - keit vorher, fuͤr welche Millionen Jahre nicht mehr waͤren als achtzig, uns nur letztere, nicht auch die Millionen zugeſtehen?” Ich mußte dieß einräumen und ſogar noch feſter machen, indem ich verſetzte: „ dieß komme denn und Trilli - onen dahinter; denn ſo gut der Schöpfer hier unſere Spiel - und Laufbahn über Eine Erde ge - hen ließ, ſo kann er ſie noch uͤber tauſend Er -252 den ziehen, nur muß der Weg ein Sonnenziel haben, oder wir jagen ewig einem ruͤckenden Regenbogen nach.”
Wir waren nun einander freundlich, wie vor - her feindlich, näher geruͤckt, und hoͤrten auf mit Recht; ein ſolcher Streit kann nur abgebrochen, nicht abgeſchloſſen werden, er laͤſſet, wie die ganze Philoſophie, nur Waffenſtillſtaͤnde, nicht Friedensſchluͤſſe zu. Alle Unterſuchungen ſollten daher, wie die platoniſchen und leſſingiſchen poe - tiſch, naͤmlich dramatiſch ſeyn, damit ſich hinter dem Reichthum der Anſichten die Anſicht des Autors verſteckt erhielte, weil der blinde Glaͤu - bige ſo gern und zuerſt dieſe als eine Autoritaͤt aufſucht und annimmt, um ſich dann in ruhi - gem Beſitze aller uͤbrigen nur zu deren Defenſoren und Geſchaͤftstraͤgern, ſtatt zu Richtern zumachen.
Ich wende mich wieder zur Geſchichte, die freylich in ſo vielen Schlußketten kaum drey Schritte thut. Ich und die alte fromme Mut - ter hatten uns beredet, den Juͤngling zum Ge - burtstag, wie den Montaigne, mit Muſik zu wecken, womit ſich andere einſchlaͤfern. Bloß253 mit einer Floͤte wollt’ ich ihn herausblaſen aus dem dunklen Reich. Am Morgen da ich dieſe in die Hand genommen, kam ſchon ſeine verlobte Erneſtine angerollt, welche deßhalb die ganze Nacht gefahren war. Es ſtand noch nichts wei - ter vom Morgen am Himmel — nicht drey Au - roras-Sonnenblnmen — als der kuͤhle weiße Morgenſtern. Aber der Feſt-Schlaͤfer, den ich ins Leben blaſen wollte, war gar noch nicht daraus gekommen, ſondern hatte die Nachmitter - nacht, und den Vormorgen im Freien verwacht. Wir hatten aus der Erneſtiniſchen Ueberraſchung eine noch ſchoͤnere fuͤr ihn bilden wollen, und glaubten uns durch eine ſchlimmere um jede an - dere gebracht.
Ich ſucht’ ihn im Park, und fand ihn end - lich doch im — Schlafe; er hatte ſich auf der anmuthigſten Moosbank geſetzt, wahrſcheinlich um der Nachtigall und der Kaskade hinter ſei - nem Nuͤcken zuzuhoͤren, und den Strom und den Morgen vor ſich zu ſehen, aber der Abend - krieg und die Morgenkuͤhle und Sonnennaͤhe hatten wieder die Sinnenthore langſam zugezo -254 gen. Das Morgenroth gluͤhte auf ſeinem ge - ſundrothen Geſicht, und Traͤume zitterten durch die zartern Fibern. Erneſtine allein ſtellte ſich mit Augen voll Freudentropfen vor die ruhige Geſtalt. Ich fing von ferne leiſe Floͤtentoͤne an, die noch wie Mattgold in ſeine Traumau - rora zu verweben waren. Die Sonne brannte immer heller ins Morgengewoͤlk herauf. Auf einmal regt er bange die Arme — ſeine Lippe zuckte — ſein Augenrand quoll weinend uͤber — die Floͤtentoͤne bebten auf ſeinen Zuͤgen nach. — Da fuͤrchtete Erneſtine, ihn quaͤle ein harter Traum; ſie winkte mir, ihn mit Toͤnen zu erloͤ - ſen, und legte, ſeine Haͤnde nehmend, ihre ſchoͤne Wange leiſe an ſeine Bruſt. Er fuhr aus dem Traum — er ſah Erneſtine groß an, und kam als gehoͤre ſie in den Traum Wahnſinn, durch ihr freundliches liebes Antlitz wieder in denſelben zuruͤck — bis ihn endlich das Wort und das Licht zu allen Freuden wach und leben - dig machte.
Hoͤrt nun ſeinen Traum.
255Endlich ſind wir im Vorhofe der Ewigkeit und ſterben nur noch einmal, ſagten die See - len, und dann ſind wir bey Gott. Aber wie rinnend und flatternd iſt das Land der Seelen! Im ganzen Himmel waren Sonnen, die ein Menſchenantliz hatten, umhergelegt, ſie ſahen uns bloß mit einem Mondlicht an, eine nach der andern ging bloß in der Hoͤhe unbegreiflich unter, aber an keinem Erdenrand, und wurde vorher ihre eigne Abendroͤthe. Jetzt ſind nur noch tauſend Mondſonnen lebendig, ſagten wir, wenn die letzte im Zenith einſinkt, ſo geht Gott auf und tagt. Nach jeder verſiegten Sonne wurden unſere Geſtalten verkleinert. Wir ſind doch keine Traͤumer mehr, wie auf der Erde, ſondern ſchon Nachtwandler, und wir muͤſſen bald erwachen, ſagte ich; ja, wenn wir aber erſt kleine Kinder ſind, ſagten die andern. Die Koͤrperwelt wurde immer fluͤſſiger und rann leicht. Mit bloßen Gedanken bogen wir goldne Baͤume nieder, und ruͤckten Gartenberge von thauigen256 Auen weg. Ein Montblanc aus dichtem Mond - licht gegoſſen, ſtand mitten unter Roſen, ich nahm meine Gedanken und loͤſte ihn auf, und goß ihn gleißend uͤber die breite Roſenflur. Ich ſtand vor einem glatten blauen Pallaſt ohne Thore, und mein Herz klopfte ſehnſuͤchtig davor; ſiehe wie vor dem Erdbeben Thuͤren aufſprin - gen, und Uhren ſchlagen, ſo that ſich vor mei - nem Herzklopfen der Tempel aus einander; ſiehe mein Erdenleben bluͤhte darin an ſeinen Waͤn - den in Bilderchen angemalt, kleine Harmonika - glöckchen ſchlugen meine Jugendſtunden nach; und ich weinte, und ein alter Erden-Garten war an der Wand und ich rief; ſchon darin, in jenen grauen Zeiten drunten, ſehnt ſich dein armes Herz wie jetzt, ach, das wird lange! —
Da ſegelte die weißſchuppige endloſe Schlange durch die hohen Blumen an mich heran, um ſich unaufhoͤrlich um mich zu guͤrten, aber ich nahm unter ihrem Aufſprunge meine Gedanken, und wand ſie unausgeſetzt als Perlenſchnur um meinen Leib; da vertropften wieder dieſe Perlen257 als Thraͤnen: gut, ſagt ich, ich weinte ja ſchon vorhin, eh’ ſie kam, und noch viel laͤnger.
„ Es iſt ſchon Ewigkeit, ſagten einige, denn die Körper gehorchen dem Sehnen; die Rau - pen auf Blumen fliegen als Schmetterlinge auf, wenn wirs denken — der dicke Schlaf kommt, ſogleich wird er ein durchſichtiger Traum — wir blicken ins dunkle Grab, und ſchlagen es durch mit dem Augenfunken und unten ſieht aus dem zweyten Himmel ein mildes Sonnengeſicht her - auf. ” — „ Nein, es iſt erſt Zeit, ſagten die andern, ſeht nach dem Zifferblatt. ” — Auf einer weißen hohen Geſetztafel flogen noch die wimmelnden Kugelſchatten umlaufender Welten durcheinander.
Nur die Toͤne allein konnten wir nicht ver - ändern’, denn ſie ſind ſelber Seelen, ſagten wir. Sie waren ſchon auf der alten tiefen Erde bey uns geweſen, und waren uns nachgegangen durch die Sonne, durch den Sirius und den unendlichen Sternen-Weg, ſie waren die En - gel Gottes, die uns von ſeinen HimmelshoͤhenErſter Theil. 17258erzaͤhlten, daß das Herz vor lauter Sehnſucht in ſeinen eignen Thraͤnen ſtarb.
Jetzt zog die Ewigkeit naͤher. Die Sonnen rings am Himmel-Rand waren alle eingegan - gen und nur noch einige ſanfte blickten mit ein - ander an der dunkeln Höhe zuſammen. Wir waren alle Kinder geworden, und der eine ſagte zum andern: Du kennſt mich, und ich dich ſehr gut, aber wir haben keine Namen. Helle ge - ſpannte Farben erklangen; hohe Töne blitzten oben im Flug, und die tiefern ließen am Boden Blumen fallen. Es donnerte; jetzt bricht das Welten-Eis, ſagten wir, es wird ſchmelzen, und rinnen und verrinnen. Wo bleibt aber mein kleines auf der Erde verſtorbenes Kind, ſagte ſelber eines. Es ſchwimmt in ſeiner Wiege auf dem Weltenmeer daher, antwortete das andere.
Jetzt ſtand nur noch eine Sonne mild und blaß am gewoͤlbten Blau. — Der rollende Eisdonner verlief ſich zu tiefen Toͤnen, und end - lich zu fernen Melodieen. — In Abend ſtiegen goldne Wolken aus dem Boden gen Himmel, und Sternbilder ſchlichen ſich hinter ihnen auf259 den Boden nieder. — — In Morgen ſtand die Ewigkeit hinter den letzten vergehenden Wol - ken, es war eine große verhuͤllte Gluth hinter einer im Sturme umgetriebnen Regenwolke. Aber die Kinder ſahen nur noch hinauf zur letz - ten Sonne, die oben untergehen wollte. — Da kamen die Toͤne, in denen ihre letzten Welten ſprachen und ſtarben; und die Kinder weinten alle, weil ſie ihre lieben alten Erden - Melodieen hoͤrten, und ſie beteten kindiſch ſo zu Gott: „ Wir ſind ja Deine Kinder, Vater, wir ſind in allen Welten geſtorben, und wir weinen immer noch fort, weil wir ja nicht zu Dir, zu der ewigen Liebe und Freude kommen. — O wurde nicht der Himmel ſo tauſendmal oft höher uͤber uns, und ſo tauſendmal tiefer, und unſer liebes Erdelein verſchwand bald rechts, bald links, und wir blieben immer allein? Hoͤre, wie die guten Toͤne fuͤr uns beten!” —
Ploͤtzlich glomm hoch in der fernen Unendlich - keit die goldne Fluͤgelſpitze eines unſichtbaren Engels an — die ſchmachtend-bebenden Kin - der wurden unſichtbarer, wie Saiten, wenn ſie260 zittern und tönen, und verklangen im Gebete… Da fing die letzte Sonne oben zu lächeln an, und ſchlug blaue Augen auf. — Der Engel mit rothen ausgebreiteten Feuerfluͤgeln rauſchte herunter, um mit ihnen die Welten-Aurora weg zu ſtreifen, die um Gott hing… Und ſiehe die letzte Sonne ſtand als Gott unten bey mir, die Welten waren verſchwunden, und ich ſah nichts weiter — und erwachte…
Aber er erwachte, mit ſeiner Geliebten an der Bruſt und ſie laͤchelte angeſchmiegt in ſein Auge empor. Gegenuͤber fuhr die Morgenroͤthe auseinander, die Erden-Sonne trat zwiſchen ihre Goldberge, und warf ſchnell einen Flam - menſchleier uͤber die entzuͤckten Augen, und die laͤchelnde Mutter kam zur Seeligkeit; der Strom floß ſchneller, der Waſſerfall ſprang lauter, und die Nachtigallen ſagten alles inbruͤnſtiger, was ich hier ſage. „ O Freunde — ſagte Ernſt vom Traume und allem begeiſtert, und wollte gleichſam durch das Aufopfern des Geſtern und durch das Einſtimmen in den muͤtterlichen Glau -261 ben an eine Ewigkeit ohne Tod, dankbar die lie - bende Ruͤckſicht auf ſein Gluͤck abwenden und belohnen — o Freunde, wie licht iſt das Leben! Das Wachen iſt nicht bloß ein hellerer Traum; dieſer Affe unſers heiligen Bewußtſeyns ſtirbt vor den Fuͤßen des wachen innern Menſchen, das getraͤumte Erwachen wird vom wahren vernich - tet. — Und ſo werden einmal von der Ewigkeit alle unſere Traͤume uͤber ſie vertilgt. ” —
Und hier endige der endloſe Streit! Eine Braut weint ſeelig uͤber den erſten Geburtstag des Herzens, das nun dem ihrigen bleibt; aber das wiedergeborne weint ſeelig uͤber die ſympa - thetiſche Seeligkeit des fremden; ſo muß es ſeyn und ſo gehoͤren wir der Liebe an. Erne - ſtine fragte in ſanfter Ruͤhrung: kann es denn droben etwas Höheres geben, als die Liebe? — Wahr, Erneſtine! Nur in ihr — und in ei - nigen andern ſeltenen Blitzen des Lebens — reicht die Wirklichkeit bluͤhend in unſer innres Land der Seelen herein, und die aͤußere Welt faͤllt in eins zuſammen mit der kuͤnftigen;262 die Liebe iſt unſer hieſiges Seegeſicht*)Die Erhebung oder das Seegeſicht iſt die optiſche Täu - ſchung, daß ferne, noch unter dem Geſichtskreiſe liegende Küſten ſich ſchon heraufgehoben zeigen. und die tiefen Kuͤſten unſerer Welt erheben ſich vor der alten.
Mit dieſer Geſinnung wurde das ſchoͤne Feſt froher gefeiert. Unſer ganzes Leben iſt ein nie wiederkommender Geburtstag der Ewigkeit, den wir darum heiliger und freudiger begehen ſollten. Dem ganzen Tage hing der fruͤhe Thauglanz an — der Abend fand den Morgen noch im Schimmer, und der Mond ſpiegelte ſich im Sonnenthau — die Sterne zogen in das Herz herab und erleuchteten die ſchoͤnſten Nachtſtuͤcke darinn — und was wollen wir Menſchen denn weiter? — —
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
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