Keine Seele bekuͤmmerte ſich um den davon gelaufnen, von ſeinem Siegswagen herabge - purzelten Deklamator. Doch lachte man ihm allgemein nach. Ein Mann — von Beleſenheit im Junyſtuͤck der Minerva von 1804 — ſagte ſehr laut: Nieß hab’ es mit ſeinem Namengeben gemacht, wie die Einwohner von Nortkaͤ, wel - che Gott den Namen Quautz geben; er hatte verbindlich fuͤr Theudobach reden wollen; aber in der Eile war ihm auf der Zunge das Lob in Eßig umgeſchlagen.
„ Faͤhrt man ſo fort, ſagte ein Korrespondent einer ungelehrten Geſellſchaft, ſo weiß am Ende keiner von uns, was er geſchrieben, und der halbe Meuſel ſitzt im Sand. ” —
6Der Hauptmann nahm — mit einer kurzen Entſchuldigung, daß er ſich ſeines Geſchlechts - Namen ſo öffentlich angenommen, und mit einer beſondern Verbeugung an Theoda — ſchnell ſei - nen Ruͤckzug; — und die Menſchen ſahen ſei - nem Kopfe nach.
Ungefaͤhr tauſend und dreyhundert Siegs - kraͤnze — folglich gerade ſoviel Theagenes von Thaſus in den griechiſchen Spielen erbeutet — trug er auf ſeinem Kopfe, ſeinen Schultern und ſeinem Ruͤcken davon; — aber warum?
Man hielt ihn fuͤr den großen Theater-Dich - ter, deſſen Stuͤcke die meiſten gehoͤrt. Ich will eine kurze Abſchweifung und Summel daran wen - den, um zum Vortheile der Buͤhnen-Dichter zu zeigen, warum ſie leichter groͤßere Eitelkeits - Narren werden, als ein anderer Autor. Wie faͤllt erſtlich der letztere mit ſeinen verſtreueten Leſer-Klausnern — ein wenig verehrt von blo - ßen gebildeten Menſchen — beklatſcht in hun - dert Meilen fernen Studier-Zimmerchen und zweymal hinter einander geleſen, nicht vierzigmal angehört, wie faͤllt ein ſolcher Ruhm-Irus und Johann ohne Land ſchon ab gegen einen Buͤh - nen-Dichter, der nicht nur dieſe Lorbeer-Nach - leſe auch auf dem Kopfe hat, ſondern ihr noch die Ernte beyfuͤgt, daß der Fuͤrſt und der Schorn -8 ſteinfeger und jedes Geſchlecht und Alter ſeine Gedanken in den Kopf und ſeinen Namen in den Mund bekommen — daß oft die erbaͤrmlich - ſten Marktflecken, ſobald gluͤcklicherweiſe ein noch elenderes Maraden-Theater von Groſchen - galleriſten einruͤckt, ſich vor den knarrenden Tri - umphkarren vorſpannen, worauf jene den Dich - ter nachfuͤhren, ſo daß, wenn gar der Dichter die Truppe ſelber dirigirt, er an jedem Orte, wo beyde ankommen, den engliſchen Wahlkandi - daten gleicht, die auf vielen Wagen (Lord Fard - ley auf 50) die Wahlmaͤnner fuͤr den Sitz im Hauſe der Gemeinen an den Wahlort bringen laſſen. — Noch hundert Vortheile koͤnnt’ ich vermittelſt der Auslaſſungsfigur (figura prae - teritionis) anfuͤhren, die ich lieber weglaſſe, ſolche z. B. daß einen Theaterautor (und oft ſteht er dabey und hoͤrt alles) eine ganze Kor - porazion von Haͤnden gleichſam auf den Haͤn - den traͤgt (daheim hat ihn nur ein Mann in ſeiner Linken, und blaͤttert mit der Rechten ver - druͤßlich) — daß er auswendig gelernt wird, nicht bloß von Spielern, ſondern am Ende von9 deren Wiederkehr-Hoͤrern — daß er in allen ſtehenden, obgleich langweiligen Theaterartikeln der Tags - und Monatsblaͤtter ſtets im ſelben Blatt von neuem gelobt wird, weil die Buͤhnen - Schelle immer als Taufglocke ſeines Namens und das Einblaͤſer-Loch als ſein Delphiſches Loch wiederkommt. — Woraus noch manches folgt, z. B. daß ein gemeiner Autor wie z. B. Juͤnger länger in ſeinen gehoͤrten Stuͤcken lebt als in ſeinen geleſenen Romanen. Daraus erklaͤrt ſich die Erſcheinung, daß das kalte Deutſchland ſich fuͤr Schiller (und mit Recht, denn dieſer ſuͤn - digte nur durch Unterlaſſen, nie durch Unter - nehmen) ſo ſehr und ſo ſchoͤn anſtrengt, und fuͤr Herder ſo wenig. Denn mißt der Werth den Dank: ſo haͤtte wohl Herder, als der fruͤhere, hoͤhere, vielſeitigere Genius, als der orientaliſch-griechiſche, als der Bekämpfer der Schillerſchen Reflexions-Poeſie durch ſeine Volkslieder, als der Geiſt, der in alle Wiſſen - ſchaften formend eingriff, und der nur den Feh - ler hatte, daß er nicht mit allen Fluͤgeln flog,10 ſondern nur ſo, wie jene Propheten-Geſtalten, wovon vier ihn bedeckten und nur zwey erho - ben, dieſer Todte haͤtte ein Denkmal nicht ne - ben, ſondern uͤber Schiller verdient; waͤ - ren, wie gedacht, die Komoͤdianten nicht gewe - ſen, oder das Publikum nicht, das fuͤr die Viel - ſeitigkeit wenig anſchließende Seiten mitbringt. Uebrigens wie man lieber von Perſonen als von Sachen hoͤrt; ſo ſteht auch der gewöhnlichſte Theater-Dichter als ein Nachttiſch-Spiegel, der dem Parterre Perſonen, und dieſes ſelber darſtellt, ſchon darum dem Sachen-Dichter als einem bloßen Juwel voran, der nur Feuer - farben wirft und unverwuͤſtlich nichts darſtellt, als ſich und das Licht. Uebrigens iſt dieß fuͤr uns andere Undramatiker eben kein Ungluͤck; denn wir haben uns eben darum zum ſchoͤnen Looſe einer leichtern liebenswuͤrdigen Beſchei - denheit Gluͤck zu wuͤnſchen, zumal wenn wir berechnen, was aus uns, da jetzt ſchon ein Paar Zeitungen und einige Theetiſche uns (ich ſchließe mich nicht aus) ſichtbar aufblaſen, vol -11 lends durch das Luftſchiff der Bühne fuͤr Trom - melſuͤchtige Narren geworden waͤren, ſo wie Schweinsblaſen, die ſchon auf Bergen ſchwel - len, auf Höhen der Luftbälle gar zerplatzen.
Er kam nicht zum Abendeſſen.
Der Tumult der Er - und Verkennungsſzene miſchte die Eßgaͤſte ſchon auf dem Gange zur Tafel zu bunten Reihen der Freude zuſam - men. — Der Sternenhimmel, Blasmuſik und Baͤume voll Lampen und hauptſächlich der Abends angekommene und mitſoupirende große Mann bezauberte und vereinigte alles. Viele Maͤdchen, die Nießens Stuͤcke aus Leihbibliotheken und auf Buͤhnen hatten kennen lernen, gingen un - ter dem Schirme wechſelnder Schatten ganz nahe und anblickend neben ſeiner ſchoͤnen Geſtalt vor - bey. Als er in ſeiner Uniform — dem weibli - chen Jagd-Tuch oder Rebhuͤhnergarn oder Frau - en-Tyras — und mit der hohen Feder (die auf dem Kopfe erhabner ausſieht als hinter dem Ohre) ſo dahinſchritt und die Menge uͤberragte, wie der urſpruͤngliche Theudobach (nach Florus) ſeins14 Tropäe, und er als das Zwillingsgeſtirn der Weiber, als Dichter und Krieger zugleich, ſich durch ſeinen Himmel bewegte: ſo riß ein allge - meines Verlieben ein; — und hinter ihm ſah, da er mit dem fuͤnfſchneidigen Melpomenens Dolch und mit dem Kriegerſchwert alles ſchlug, der Weg wie eine weibliche Wahlſtatt aus, der einen war der Kopf, der andern das Auge, der dritten das Herz verwundet. Er aber merkte gar nichts von den ſaͤmmtlichen Verwundeten, die er hinter ſich nachfuͤhrte. Aber ſeinen Blick ſchickte er nach dem Maͤdchen umher, das, ihm ſo unbekannt, dreiſt ihm vor einer Menge bey - geſtanden hatte.
Theoda war längſt durch das Gedraͤnge zu ihrem Vater hingeeilt, wie unter deſſen ſchir - mende Fittige gegen ihr Herz und das Volk. Sie war berauſcht und beſchaͤmt zugleich, daß ſie ſo oͤffentlich mehr eine Leſerin, als ein Maͤd - chen, ſich in den Zweykampf von Maͤnnern, als Sekundantin gemiſcht. Erſt durch langes Bitten rang ſie dem Vater die Erlaubniß ab,15 ihn dem Dichtee vorzuſtellen, wie wol ers ein Selbſt-Spektakelſtuͤck nannte.
Neben ihm ſtand ſie, als ſie ihren Lebens - Abgott, den bald Lichter, bald Schatten reitzend bedeckten, herkommen ſah, und ſie ihm aus der Ferne unbeſchaͤmter in das edle Antlitz ſchauen konnte. Sie ſtellte mit kindlicher Luſt ihren Vater dem beruͤhmten Genius vor. „ Meine Toch - ter — nahm Katzenberger leicht den Faden auf — hat mich mit Ihrem Kuͤnſtlerruhm bekannt ge - macht; ich bin zwar auch ein Artista, in ſo fern das Wort Arzt eine verhunzte Verkuͤrzung davon iſt; aber wie geſagt nur Menſchen - und Vieh-Phyſikus. Daher denk’ ich bey einer Hauskrone und Lorbeerkrone mehr an eine Zahn - krone, oder bey einem Syſtem ſehr ans Pfort - aderſyſtem, auch Hautſyſtem und ein Blaſen - und ein Schwanenhals ſind bey mir nicht weit genug getrennt. Mir ſehen Sie dergleichen wol nach! Dagegen weiſ’ ich Sie auf meine Tochter an.”
Der Hauptmann machte, d. h. zeigte die groͤßten Augen ſeines Lebens; er fand in dieſem16 Badorte zu viel Wirwarrs-Knoten. Doch aus Dankbarkeit gegen das Maͤdchen, das heute einen ſo kuͤhnen Antheil an ſeinem Schickſale genommen, ſagt’ er nur: „ das ſchoͤne Fräulein, dem ich viel Dank ſchuldig bin, hat bloß Ihren Namen zu nennen vergeſſen. ” —
„ So ſeyd ihr Volk — wandte ſich der Vater an die Tochter — Wenn ihr nur Eure Tauf - namen habt, unter Briefen und uͤberall; nach des Vaters Namen fragt Ihr keinen Deut. Ich und ſie heißen Katzenberger, Hr. v. Theudo - bach!”
Der Hauptmann, der nach mathematiſcher Methode aus allen bisherigen Hindeutungen auf Briefwechſel mit ihm gar nichts herausſum - mirt hatte als den Heiſcheſatz, daß man hier erſt hinter manches koͤmmen muͤßte, ſetzte wie jeder Sternſeher feſt: „ Zeit bringt Rath, ein jeder Stern, beſonders ein Bartſtern muß erſt einige Zeit ruͤcken, bevor man die Elemente ſeiner Bahn aufſchreibt; folglich ruͤcke der heu - tige Abendſtern nur weiter, ſo weiß ich manches und rechne weiter.” Man ſetzte ſich zu Tiſch17 und Theoda ſich neben den Hauptmann; Erd - ferne von ihm, waͤre ihr dieſen Abend Winter - tod geweſen. Sie hatte noch auf vaͤterliche Nachbarſchaft gerechnet; aber der Doktor, der ſich von beyden Leuten nichts verſprach als einen Abend voll dichteriſchen Sachen, einen Teich voll ſchwimmender Bluͤten ohne Karpfen, Ka - rauſchen und Hechte, hatte ſich laͤngſt weggebettet unten hinab; und vom Doktor ſich wieder weit abgebettet, der Brunnenarzt Strykius in einer geiſtigen Eheſcheidung von Tiſche. Theoda ſchwieg lange neben dem geliebten Manne, aber wie voll Wonne und Reichthum! Und alles um ſie her uͤberfuͤllte ihre Bruſt! Ueber die Tafel woͤlbten ſich Kaſtanienbaͤume — in die Zweige hing ſich goldner Glanz, und die Lichter ſchluͤpf - ten bis an den Gipfel hinauf, uͤber welchen die feſten Sterne glaͤnzten — unten im Thale ging ein großer Strom, den die Nacht noch breiter machte und redete ernſt herauf ins luſtige Feſt — in Morgen ſtanden helle Gebirge, auf denen Sternbilder wie Goͤtter ruhten — und die Ton -Zweyter Theil. 218Feen der Muſik flogen ſpielend um das Ganze hinunter, hinauf und ins Herz.
Theoda, durch jeden eignen Laut einen vom Dichter zu verſcheuchen fuͤrchtend, und fuͤr ihre ſonſt ſcherzende Geſpraͤchigkeit zu ernſt bewegt, ſtimmte wenig mit der redeluſtigen Geſellſchaft zuſammen, welche deſto lauter und herzhafter ſprach, je mehr es die Muſik war; denn Tiſch - Muſik bringt die Menſchen zur Sprache, wie Voͤgel zum Geſang, theils als Feuer - und Schwungrad der Gefuͤhle, theils als ein Ablei - ter fremder Spuͤhr-Ohren.
Bloß der Hauptmann konnte ſein Ich nicht recht mobil machen; er hatte ſo viele Fragen auf dem Herzen, daß ihm alle Antworten ſchwer abgingen. Theoda, welche ſchon nach Nießens Schilderung mehr Angraͤnzung an Nießiſche Leichtigkeit erwartet hatte und vollends von ei - nem Dichter, konnte ſich die in ſich verſenkte Einſylbigkeit nur aus einem ſtillen Tadel ihrer oͤffentlichen Anerkennung erklaͤren; und ſie ge - rieth gar nicht recht in den ſcherzenden Ton hinein, den Maͤdchen ſo gern gegen ihre Schreib -19 goͤtter und bey einer mit Seufzern und Wonnen uͤberhaͤuften Bruſt anzuſtimmen wiſſen.
Der Brunnenarzt Strykius, der ſich ihm mit einem verſteinerten Anlaͤcheln gegenuͤberge - ſetzt, befiel und befuͤhlte ihn mit mehreren An - ſpielungen und Anſpuͤlungen ſeiner Werke; aber der Hauptmann gab — bey ſeiner Unwiſſen - heit uͤber den Dichter, und daruͤber, daß man ihn dafuͤr hielt — unglaubliche Queer-Antwor - ten, ohne zu verſtehen und ohne zu berichtigen. So gewiß hoͤren die meiſten Geſellſchafter nur Einen, ſich ſelber; — ſo ſehr bringt jeder ſtatt der Ohren bloß die Zunge mit, um recht alles zu ſchmecken, was uͤber dieſelbe geht, Worte oder Biſſen. Hat ſich ein Mann verhoͤrt, folg - lich nachher verſprochen, und endlich darauf ſich aufs Unrechte und Rechte beſonnen: ſo blickt er verwundert herum, und will wiſſen, wie man ſeinen zufälligen Unſinn aufgenommen; er ſieht aber, daß gar nichts davon vermerkt worden und er behaͤlt dann zornig und eitel den wahren Sinn bey ſich, ohne die fremden Koͤpfe wieder her zu ſtellen in das Integrum des eigenen. Daher20 verſtehen ſich wenig andere Menſchen als ſolche, die ſich ſchimpfen, weil ſie von einerley Anſchau - ungen ausgehen.
Aber Strykius ließ ſich nicht halten, er mußte der ganzen auf dem Geſichte des Hauptmanns konvergirenden Geſellſchaft zeigen, daß er ſelber Verdienſt ſchaͤtze und beſitze. — „ Das Wetter (dacht’ er bey ſich) ſoll den Dichter erſchlagen, wenn er nicht merkt, daß ich mir etwas aus ihm mache. ” — Er knuͤpfte daher von ueuem ſo an: „ Ich darf wohl unberufen im Namen der gan - zen Geſellſchaft unſere Freude uͤber die Gegen - wart eines ſo beruͤhmten Mannes ausdruͤcken. — Sie haben zwar beſſere Gegenden gezeichnet; aber auch unſere verdient von Ihnen aufgenom - men zu werden.”
Der Hauptmann, der zum Genie-Corps gehoͤrig, ſich dabey nichts denken konnte als eine militairiſche Zeichnung zum Nachtheil der Feinde, nicht an eine poetiſche zum Vortheil der Freunde, gab aufgemuntert, weil er endlich doch ein ver - nuͤnftiges, d. h. ein Handwerks-Wort zu hoͤren21 und zu reden bekam, zur Antwort: „ Wenn hier eine Feſtung iſt, ſo thu’ ichs; jede iſt zwar überwindlich, und mich wunderte beſon - ders, in demſelben Buche Anleitung zur un - uͤberwindlichſten Vertheidigung und zur ſieg - hafteſten Belagerung anzutreffen, wovon ja eines eo ipso falſch ſeyn muß.”
Hier laͤchelte Strykius verſchmitzt, um dem Krieger zu zeigen, daß er die Allegorie ganz gut kapire; ihm war nämlich, wie allen Proſa-Seelen, nichts gelaͤufiger, als die vermooſete Aehnlichkeit zwiſchen Liebe und Krieg.
Der Hauptmann fuhr etwas verwundert fort: „ mich duͤnkt durch Approchen, durch die dritte Parallele, wobey man uͤber der Bruſt - wehr fechten kann — durch falſche Angriffe — (Hier nickte Strykius unaufhoͤrlich zu, und wollte immer laͤchelnder und ſchalkhafter aus - ſehen) — und am Ende durch den General - ſturm wird jede Jungfrau von Feſtung ero - bert.”
22„ Ich weiß nicht — ſagte der Hauptmann ganz erbittert uͤber den anlachenden Narren hinzu — ob Sie wiſſen, daß ich zum Genie - Corps gehoͤre.”
„ O wer wuͤßte es nicht von uns, erwiederte er ſchelmiſch — und eben das Genie traͤgt den Koͤcher voll Liebespfeile.”
Da wurde wie von einem Schlagfluß der Arzt aus ſeinem Anlaͤcheln weggerafft durch des zuͤrnendrothen Hauptmanns Wort: „ Herr, Sie ſind ein Arzt und darum verſtehen Sie nichts von der Sache.”
Ohne Weiteres wandte er ſich zu Theoda und fragte mit ſanfter Stimme: „ Sie, Vor - treffliche, ſcheinen mich zu kennen, aber doch weiß ich nicht wodurch. ” — „ Durch Ihre Werke, ſagte ſie furchtſam - …” Sie haͤtten die einen geſehen und die andern geleſen? .... ſagte er, und wollte zu Ende fragen: als ſie ihre Augen gegen ihn aufhob, und aufthat, wie ein Paar Ehren - pforten … Aber beyde wurden unterbrochen.
Theoda bekam ein verſiegeltes Paket mit der Bitte auf dem Umſchlag, es ſogleich zu oͤffnen. Sie thats. Anfangs kam bloß ein Band der allgemeinen deutſchen Bibliothek heraus — dann in dieſer zwiſchen dem Titelblatte und dem geſtoch - nen Geſicht eines beruͤhmten Gelehrten ein Brief - chen von Nieß und dann das Briefchen von Theoda an Theudobach. —
Nieß ſchrieb: „ Ich ehre Ihr Feuer. Ich verdamme meines. Ich bin ſelber der Dichter, fuͤr deſſen Freund bloß ich mich leider unterwegs ausgegeben, und deſſen Feind ich eigentlich da - durch geworden. Ich vergebe Ihnen gern Ih - ren oͤffentlichen Widerſpruch gegen den meinigen; aber als Gegengeſchenk bitt’ ich Sie, mir auch24 meine vielleicht indiskrete doch abgedrungene Er - oͤffnung zu verzeihen, daß Sie an mich geſchrie - ben. Hier iſt Ihr Brief, hier iſt die Kopie meiner Antwort darauf. Hier iſt ſogar noch mein, wenn nicht getroffnes, doch zu errathendes Geſicht vor der allgemeinen deutſch. Bibliothek und da - zu eine Rezenſion Seite 213 darin, worin freylich nichts Wahres iſt, als die Namen-Jagd, daß ich nämlich meinen Geſchlechtsnamen Nieß den Vor - namen Theudobach vorgeſetzt. — Kurz ich bin der Dichter der unbedeutenden Trauerſpiele, die mir jetzt ſelber eines bereiten. Ich verwuͤnſche jede Minute, wo ich Ihnen etwas ſo Gleich - guͤltiges verbarg, als mein Name iſt. Das Beſſere habe ich vielleicht zu wenig verfehlt. — Hier iſt nun Ihr Brief — meine Handſchrift — mein Geſtaͤndnis — ſo gar mein Zerr-Bild. Am Himmel entfernt ſich die Venus nicht uͤber 47 Grade vom Bilde des Dichtergottes, wollen Sie Sich weiter entfernen?”
Schweigend gab Theoda dem Hauptmann Nießens Brief, Rezenſion und Kupferſtich mit25 der Unterſchrift: Theudobach von Nieß. Ihr Herz quoll, ihr Auge quoll. „ Was hatt’ ich ihm gethan, rief es in ihr, daß er mein Herz ſo nahe aushorchte — daß er mich zu einem öffentlichen Irrthum verlockte und daß ich be - ſchaͤmt dem Volks-Laͤcheln Preis gegeben bin; was hatt’ ich ihm gethan?” Sie dauerte der edle Mann neben ihr, als ob ſie und der Poet zuſammen ihm Lorbeer und Genie abgepluͤndert haͤtten — und ſie wollte, als haͤtte ſein Herz davon Riſſe bekommen, alle gern mit ihrem aus - fuͤllen. Wie anders klang und ſchnitt jetzt die Muſik in die Seele! Wie anders ſah die Rie - ſenwache von Baͤumen und die tollkuͤhnen Nacht - ſchmetterlinge an den Lichtern aus! So iſt das Leben und Schickſal immer nur ein aͤußres Herz, ein wiederſcheinender Geiſt, und wie die Freude die Wolken zu hohen nur leichtern Ber - gen aufhebt, ſo verkehrt der Kummer die Berge bloß zu tieferen feſtern Wolken. Theoda ſah recht ſtarr in die kleine Morgenroͤthe des heraufzie - henden Mondes, um durch ſtarkes Aufmerken26 und Offenhalten das Zuſammenrinnen einer Thraͤne zu verhindern; als aber der Mond heraufkam, mußte ſie die Augen abtrok - nen.
Der Hauptmann las ſehr lange im Briefe und in der Rezenſion, um Licht genug zu be - kommen. Lange durchſah er Nießens Bildniß vor der allgem. deutſch. Bibliothek, deſſen Aehn - lichkeit ihm nicht recht einleuchten wollte; weil dieſe uͤberhaupt Koͤpfe vorne vor dem Titelblatte nicht viel kenntlicher darſtellte als im Werke ſelber. Doch wird damit nichts gegen den ge - bliebenen Werth eines Werkes geſagt, das von jedem guten Kopfe Deutſchlands ohne Ausnahme, wenigſtens eine volle Seite, noch dazu mit Na - mens Unterſchrift aufweiſt, nämlich die mit ſei - nem Kopfe vorne vor dem Titelblatte. Der Hauptmann, der ſo plötzlich aus der Sonnen - finſternis in den hellen Mittag herabfiel, wandte ſich gar nicht an Theoda, ſondern zuerſt an die Tiſchgeſellſchaft — erklaͤrte laut, nicht er ſey der28 große Dichter, ſondern Herr v. Nieß — er habe zwar etwas geſchrieben, uͤber die alte hollaͤndi - ſche Fortifikazion — aber er erſuche alſo jeden, die Bewundrung, die er ihm zugedacht, zuruͤck - zunehmen, und der Behoͤrde zu ſchenken. — Darauf riß er ein Blättchen aus der Schreib - tafel und ſchrieb an Herr v. Nieß: er nehme gern ſein unſchuldiges Mißverſtaͤndnis zuruͤck, ſtehe aber zu jeder andern Genugthuung bereit.
Als dieß alles bekannt wurde — und dem Brunnenarzt zuerſt — ſo brachte dieſer, jeden Abgrund verſilbernde, Mondſchein ſogleich zwey laute Toaſts aus: „ Einen Toaſt auf den Ma - thematiker v. Theudobach! — Einen Toaſt auf den Dichter Theudobach v. Nieß” rief er. — So tanzte der frohe Mann nicht nur nach jeder Floͤte, ſondern wie H — n nach jeder Floͤten - uhr, die eben ausſchlaͤgt, und auf die vorige ſchnelle Anrede des Hauptmanns an ihn, welche aus der Tafelſprache in die Schlachtſprache uͤber - ſetzt, doch nur ſagen wollte: krepiere! — — verſetzte er freudig: auf Ihr langes Leben! — —
29Jetzt endlich kehrte ſich Theudobach an die Jungfrau, welche auf ihre Koſten ihn mit dem Sonnenlehn eines großen Dichters belehnet hatte; und wand, indem er ſchmerzlich und ver - geblich uͤber Gutmachen nachſann, die bittende Frage herauf: wie alle dieſe Mißverſtaͤndniſſe moͤglich geweſen? „ Ich bitte Sie, ſagte ſie mit muͤder Stimme, meinen Vater zu fragen, der alles weiß.” Er ſchwieg. Trauerndes Nach - denken auf dem ſtarken Maͤnnergeſicht ruͤhrte die Jungfrau immer ſtärker; ihre Seele litt zu viel und konnte wieder nicht alle Zeichen ver - bergen, welche die fremde Theilnahme vermehr - ten. Haſtig ſtand ſie endlich auf — ſagte ihrem Vater etwas ins Ohr — dieſer nickte, und ſie verſchwand.
Auch Katzenberger hatte unten einige Wer - thers Leiden ausgelitten, und zwar ſchon bey der Krebsſuppe, weil da noch die ganze Tiſch - geſellſchaft, als eine niedere Geiſtlichkeit zum Kirchdienſte fuͤr den Dichter-Gott angeſtellt ſaß, welcher der Hauptmann zu ſeyn ſchien; wozu noch der Kummer ſtieß, daß er ſeinen Strykius nicht vor ſich hatte. Ein ſolcher Wirthstiſch war fuͤr Katzenberger ein Katzentiſch. Er erklaͤrte deßhalb gern ohne Neid der naͤchſten Tiſch-Ecke, daß er als Arzt uͤber Buͤhnen-Skribenten ſeine eigne Meynung habe, und folglich eine diaͤteti - ſche. Ein Luſtſpiel an und fuͤr ſich, fuhr er fort, verwerfe niemand weniger als er; denn es errege haͤufig Lachen und wie oft durch ſol - ches Lachen Lungengeſchwüre, engl. Krankheit nach Tiſſot, Ekel (wenn auch nicht gerade der31 am Stuͤcke ſelber) ja durch bloße Spaß-Vorre - den Rheumatiſmen gehoben worden, wiſſ’ er ganz gut. — Ja, da Tiſſot eine Frau anfuͤhre, die nicht eher als nach dem Lachen Stuͤhle ge - habt, ſo halt’ er allerdings ernſthaft einen Sitz im Komoͤdienhauſe fuͤr ſo gut als ein treiben - des Mittel, ſo daß jeder aus ſeiner Leidensge - ſchichte, wie man ſonſt bey einer andern gethan, ein Luſtſpiel machen koͤnnte*)Die Confrérie de la Passions 1380; der Biſchoff von Angers machte für ſie aus der Paſſion eine Komödie.. — Daher wie der Quackſalber gern einen Hanswurſt, ſo ſehe der Arzt gern einen Luſtſpieldichter bey ſich, da - mit beyder Arzeneyen nach Verhaͤltniß ihres Werths von gleichmaͤßigen Spaͤßen unterſtuͤtzt und eingeflößt wuͤrden.
„ Das Trauerſpiel aber, Herr Doktor?” fiel ein junger Menſch ein, der zu beantworten glaubte, wenn er befragte.
„ Gleichwohl glaub’ er — fuhr er ohne Ant - wort fort — Verſtopfung und dergleichen eben ſo leicht durch einige Sennes - und Rezeptblaͤtter zu heben als durch ein vielblaͤttriges Luſtſpiel,32 und ein Apotheker ſey hier wenig verſchieden von einem Hanswurſt. — Er könne ſich den - ken, daß man ihm hier das Trauerſpiel einwerfe; aber entweder errege dieſes gar nichts (dann gaͤhnte man eben ſo gut und noch wohlfeiler in ſeinem warmen Bette) oder es errege wahre Traurigkeit, wenn auch nur halbſtuͤndige; nun aber ſollten doch Dichter, daͤchte man, wie Kotze - bue und deren Kunſtrichter ſo viel durch Auf - ſchnappen aus der Arzneykunde zufaͤllig wiſſen, daß Traurigkeit Leber-Verſtopfung, folglich Gelbſucht — — woher ſonſt der gelbe Neid der Trauerſpieler gegen einander? — nachlaſſe, ferner entſalzten Urin, ein ſcharfes Thraͤnen (der groͤßte Beweis der Blut Anſtemmung in den Lungen) und ſogar Darmkraͤmpfe. — — Auf letztere habe man ſogar bey Weſen, die in gar kein Schauſpiel gehen oder ſonſt Seelenlei - den gehabt (denn es gebe keine andern, da nur die Seele, nicht der bloße Koͤrper empfinde und leide) naͤmlich bey traurigen Hirſchen*)Hallers Phyſiologie. B. 6. geſchloſſen33 aus den kleinen Knoͤtchen in ihrem Unrathe als den beſten Zeichen von Kraͤmpfen.
„ Erhärteten freylich — fuhr er feurig fort — Buͤhnen-Thraͤnen gleich Hirſchthränen zu Be - zoar: ſo ſchrieb ich wol ſelber dergleichen Spaß und bewegte das Herz. Aber jetzt beym Hen - ker muß der wahre Arzt mitten in den weichſten Gefuͤhlen der Damenherzen ſo ſcharf das Welt - liche dazwiſchen kommandiren als ein Offizier un - ter der Meſſe ſeinen Leuten das Gewehr-Strek - ken und Heben. Vielleicht aber gaͤb’ es einen Mittelweg und es waͤre wenigſtens ein offizi - neller Anfang, wenn man das Trauerſpiel, ſo gut es ginge, dem Luſtſpiel naͤher braͤchte, durch eingeſtreute Poſſen, Fratzen und dergleichen, die man denn allmaͤhlig ſo lange anhaͤufen koͤnnte, bis ſie endlich das ganze Trauerſpiel einnähmen und beſetzten. Eine ſolche Anaſtomoſe und Kir - chenvereinigung des Weh und Luſtſpiels, ſetzte er hinzu, eine ſolche Reinigung der Tragoͤdie durch die Komoͤdie waͤre zuletzt ſo weit zu treiben — ja in einigen neueſten Tragoͤdien ſey ſo et - was — daß man durch ganze Stuͤcke hindurchZweyter Theil. 334recht herzlich lachte. Er fragte, ob denn ko - miſche Darſtellung ſo ſchwer ſey, da man in Frank - reich im 17 Jahrhundert die ernſteſten bibliſchen Geſchichten*)Flögels Geſchichte der komiſchen Literatur. in burlesken Verſen begehrte und bekam, wie er denn uͤberhaupt wuͤnſche, daß ernſte Dinge z. B. Manifeſte, Todesurtheile ꝛc. oͤfter im gefaͤlligen Gewand, naͤmlich burlesk, vorgetragen wuͤrden. Er berief ſich noch auf die ſonſt im Trauerſpiel ſo ernſten Franzoſen, denen Noverre die tragiſchen Horazier Corneille’s als einen pantomimiſchen Tanz gegeben; folglich in Spruͤngen, welches ſchön an den griechiſchen Namen der Tragoͤdie, naͤmlich Bocksſpiel erin - nere; ſogar er ſelber getraue ſich, ſeinen ſtaͤrk - ſten Schmerz uͤber einen Verluſt z. B. ſeines Freundes Strykius durch bloßes Tanzen aus - zudruͤcken in einem Schaͤferballet oder in einem Hopstanz oder im Fondango.”
„ Alſo haͤtt’ ich, beſchloß er, die entkraͤftende Empfindſamkeit, die man uns auf den Thraͤnen - wagen des Meibomiſchen Druͤſen, der Thraͤnen -35 karunkel u. ſ. w. herein ſchießen laͤßt, leicht durch Poſſen gedaͤmmt.”
Hier konnte ein windduͤrres Landfraͤulein aus dem Vordorf und der Vorſtadt der Haupt - ſtadt, das ſich laͤngſt auf Ruͤhrung gelegt, ſich nicht laͤnger halten: „ Dieß kann er Narren weiß machen,” ſagte ſie leiſe vor ſeinen Katzen - ohren zu ihrer Mutter. „ Naͤrrinnen allerdings nicht,” ſagte er noch leiſer zu obigem Poſthalter im erſten Bande. Das hagere Fraͤulein fuhr leiſe gegen die Mutter fort: „ freylich rohe Kerls ruͤhrt nichts; eine Seele aber, die zarte ge - ſpannte Nerven hat, fuͤhlt allein, was weiche Nerven heißen, und fragt nach nichts bey der Ruͤhrung. Ach wie weit ſind noch alte Perſonen, hinter den juͤngſten oft zuruͤck!”
Auch der Doktor verſetzte wieder leiſe: „ Man - gel an Fett, Herr Poſthalter, koͤnnen Sie im er - ſten Bande von Walthers koͤſtlicher Phyſiologie gefunden haben — der ſich vom Berliner Zer - gliederer Walther ſo unterſcheidet wie beyder Wiſſenſchaften, alſo wie Geiſt von Koͤrper — Fett-Mangel macht zu empfindſam; denn die36 Nerven liegen halb nackt da und ſtoßen ſich an alles. Ein fetter hingegen fuͤhrt ſie, wie Eyer unter dieſem Ueberguß gut bewahrt bey ſich; Speck ſchuͤtzt gegen geiſtige Hitze und gegen aͤu - ßerliche Kaͤlte.”
Giftig redete den dicken Doktor ſelber das Fraͤulein an, und ſagte: „ ich kenne doch man - che beliebte Perſonen von Empfindung. ” —
„ Von dieſem Schlage, verſetzte er, duͤrfte ich ſelber ſeyn. Ob ich gleich als ein Mann von Talg hier am Tafel-Ende den Fettſchweif vor - ſtelle, den ſich das kirgiſiſche Schaf nachfaͤhrt auf einem Waͤgelchen: ſo hab’ ich doch auch zwey Augen und ein Schnupftuch; wie oft hab’ ich nicht unter dem heftigſten Lachen Thraͤnen ver - goſſen! Desgleichen bey Kaͤlte von außen. Ue - berhaupt wie koͤnnte man, als gefrorne Winter - butter erſcheinen, waͤre man nicht aͤußerſt weich? Nur das Weiche kann gefrieren, Gnaͤdige, nicht das Harte.”
Zum Gluͤck fuͤr einen Waffenſtillſtand unter - brach eben den Doktor der oben toaſtende Stry - kius mit ſeinen Neuigkeiten. Schwer ging ihm37 die unbegreifliche Verwandlung der beyden Edel - maͤnner in ihr Wiederſpiel ein. Als er aber endlich das Wahre begriff und erhoͤrte, und daß Nieß bisher wie die alten Manuſkripte ohne Titelblatt geweſen, und endlich ſich eines vor - gebunden, ſein Namens-Pergament, und, daß er blos nach Autor-Sitte, ſich den Namen Theudobach geborgt und eingeaͤtzt: ſo konnte ſich der Doktor einiger Bemerkungen und Verwun - derungen nicht enthalten, ſondern geſtand: — „ ein Anderer als Er haͤtte dies eben ſo gut errathen koͤnnen — ganze Namen-Raſur und Tonſur bey Rezenſenten gebe leicht Namen - Alibi und Namen-Nachdrucke der Autoren. “ Ja er fand hierin Aehnlichkeit zwiſchen großen Autoren und großen Spitzbuben, daß beyde bey ihrem Geſchaͤfte fremde Namen annehmen, und fuͤhrte aus des Badiſchen Hofrath Roths Gauner-Liſte von 1800 mehrere zweyte Autor - Namen an, wie ſonſt franzöſiſche Prinzen zwey - mal getauft wurden z. B. den großen Allgeier — den duͤrren Herrgott — den kleinen Pappen - heimer — den reichen Bettler oder Spatzen -38 darm — den großen Sauſchneider — den Hen - nenfanger — den welſchen Mattheis — kurz lauter Namen, woruͤber die Gauner-Bande die wahren ſo vergißt, wie das Publikum.
Nach dem Entwicklungsabende erſchien Theoda nie an der oͤffentlichen Tafel mehr; weder vaͤ - terlicher Spott, noch Zanck bezwangen ſie. Hin - ter ihrer jungfraͤulichen Scherzhaftigkeit, und Entſchloſſenheit, das Rechte ſogar auf Koſten der Form und Gewohnheit zu ergreifen, lag ein empfindliches lange nachfuͤhlendes Herz verbor - gen; leider hielt dieſes jetzt die Dornen der Ue - bereilung in ſeinen Wunden feſter. Wie ſollte ſie Unbeſcholtene das kleine Gewehrfeuer der weiblichen Blicke ertragen? Und doch ließ ſie ſich von dieſen mit Queckſilber gefuͤllten organiſier - ten Nachtſchlangen noch lieber anleuchten als von den zwey Brautfackeln der Augen des Haupt - manns anglaͤnzen, der damit in ihren offen ge - laſſnen Herzenskammern alles hatte ſehen koͤn - nen, was er gewollt. Nur Nieß ſtieß ihr ohne40 beſondere Verlegenheit von ihrer Seite auf; gegen ihn und deſſen Paßagier-Karaktermaske glaubte ſie, wie wohl ſie eigentlich ihm das oͤf - fentliche Unrecht angethan, ordentlich das meiſte Recht zu haben. Man mag nun dieß daraus herleiten, daß die weibliche Seele leichter vergibt, wenn ſie Unrecht gelitten, als wenn ſie es ge - than — oder daß ſie Irrthuͤmer lieber verdop - pelt als zuruͤcknimmt und ſich lieber am Gegen - ſtand derſelben rächt, als an ſich ſelber beſtraft — oder daß ihr ſich ihr Innres ſo abſpiegelt wie im Spiegel ſich ihr Aeußeres, naͤmlich je - des Glied verkehrt, und das linkiſche Herz auf der rechten Seite — oder man mag es dar - aus erklaͤren wollen, was faſt das vorige waͤre nur in andern Wendungen, daß Frauenſeelen dem milden Oele gleichen, welches entbrannt gar nicht zu loͤſchen iſt (denn Waſſer verdoppelts) außer durch die kuͤhle Erde — und daß ſie ſich wie der Veſuv durch Auswuͤrfe nur deſto mehr erheben, oder daß ihre Fehler den Menſchen gleichen, welche nach Young durch den Krieg (d. h. durch das Erlegen) ſich erſt recht bevoͤl -41 kern — — kurz wie man Theoda’s Betragen auch ableite: ich bin der Meynung, daß ich mehr Recht habe, wenn ich behaupte, daß ſie Herrn von Nieß weniger liebt als den Haupt - mann. Ich berufe mich hier auf nichts als auf die Summeln, die noch kommen.
Ihre Brunnenbeluſtigungen beſtanden jetzt — außer einigen hinter Schnupftuch und Bett - und Fenſtervorhang verſteckten Thraͤnen — darin, daß ſie zuweilen mit ihrem Vater ausging, der etwas an ſich hatte, um damit Juͤnglinge leicht wegzuſcheuchen, oder daß ſie allein die Berge der Blumen-Ebene beſtieg, wenn eben Ball, Schauſpiel oder Eſſen war — oder daß ſie in das Tagebuch an ihre Freundin fluͤchtete, wie an eine nach heruͤbergeflogne Bruſt: Dieſes erzaͤhle ſich denn ſelber:
Bona! Ich war Dir nie ernſt genug, jetzt, dächt’ ich, waͤr’ ichs. Doch kann ich mich irren und ich bin vielleicht nur wund. Herzen und Glocken bekommen ſo leicht Spruͤnge bey ſtarkem Bewegen. Waͤr ich nur mit meinem an Dei - nem ſchneeweißen Halſe: es ſollte bald heil ſeyn. Graͤme Dich nicht voraus, ich habe nichts ver - loren, nicht einmal ein Stuͤckchen Liebe, bloß ein paar Dummheiten. Nur der Mond, der mir beym Aufgang die Augen waͤſſerte, ſteigt jetzt immer hoͤher, und zieht mit Gewalt blut - warme Tropfen aus der Bruſt herauf, ſo zieh’ er denn fort.
Ach Bona, ich weine! Denn ich habe dumm gefehlt; und Du ſollſt heute alles wiſſen. Nur wird es mir ſauer, Dir das lange hiſtori -43 ſche Zeug auszubreiten, da ich deſſen ſo ſatt und genug habe. Wir brauchen einen ganzen Herbſt dazu, eh’ wir beyde fertig ſind mit der Sache.
Herr von Nieß iſt ein Spitzbube; er iſt eben der Dichter Theudobach eigenhaͤndig, zu dem er mich geleiten wollen. So alſo iſt eine heu - tige Manns - und Schreibperſon! Wenn nun, ſage mir, die beſſern Schauſpiel-Dichter nicht redlicher ſind, als ihre Schauſpieler oder irgend ein feinſter Dieb: auf was hat ſich eine gute Seele zu verlaſſen? Auf Gott und eine Freun - din, wahrlich auf ſonſt nichts. Waͤr’ ich nur uͤber Deine Sorge und Buͤrde hinweg und waͤre Dein Kind an Deiner Bruſt: ſo fragte ich kei - nen Deut nach Begebenheiten, ſondern ſaͤße bey Dir, und erzaͤhlte ſie.
Kurz das geſchmeidige gewundene Schlan - genweſen der Maͤnner, das ſich bis ſogar in den Sonnentempel der Kunſt einſchlaͤngelt, legte ſich auch an mich und meinen Vater, und kroch ein, unter dem Namen von Theudobachs Freund. Er konnte mithin jedes Wort hören, was ich44 von ihm dachte: es war ſo gut als war er mit meiner Seele in mein Gehirn eingeſperrt.
Um uns alle recht in ſeinem blauen Dunſte herumzufuͤhren, ſprengt er aus, der Poet komme erſt Abends, wenn er ſeinen Ritter vor - laͤſe. Vermuthlich war ſein Plan, wenn wir ſo alle mitten im Jubiliren über ſeinen Ritter und im Vormuſizieren des Staͤndchen ſaͤßen, vom Seſſel aufzuſtehen, und zu ſagen: ich bin der Mann ſelber. Zum Ungluͤck fuͤr ihn und fuͤr mich verſalzte ihn ein Namensvetter das ganze Te deum. Es tritt naͤmlich gerade, als uns Frauen die Herzen ſteilrecht himmelan bren - nen, ein edler junger Mann herein, den alle Maͤdchen fuͤr den Maler und fuͤr das Urbild des Ritters zugleich anſehn muͤſſen, nicht etwa ich allein. In einem Traum kuͤßt’ ich einmal einer hohen himmliſchen und doch ſanften Geſtalt des noch ungeſehenen Dichters die Hand; gerade ſo ſah der Fremde aus. Da ſein Name wirklich Theudobach war, und er auch geſchrieben, wie - wohl nur uͤber Mathematik: ſo war er neugie - rig und zornig hieher gereiſet, um zu ſehen,45 wer ihm hier ſeine Rolle nachſpiele. Kurz in der Minute, da Nieß ſich als den Theudobach demaſkirte, ſteht der zweyte beſſere da, der ihn in die alte Nießiſche Chauve-souris-Maſke zuruͤckſteckt. Und wahrlich, wer nur beyde ne - ben einander ſtehen ſah, den Hauptmann Theu - dobach in einer Geſtalt, ſeines rieſenmaͤßigen Uhrahns nicht unwuͤrdig, und das feine Schach - figuͤrchen Nieß an ihm hinauf ſturmlaufend, der mußte es machen wie ich, und an alle Deine vernuͤnftige Rathſchläge nicht denken. Ich ging naͤmlich oͤffentlich zum Hauptmann, und erklaͤrte ihn fuͤr den Dichter. Mir gluͤht hier ſchmerz - lich das Geſicht, und ich denke an meines Va - ters Wort: „ Durch Eiligkeit entſtehe oft Feuer, und durch Langſamkeit werd’ es ſtaͤrker; weil die Leute die Sachen gerade umkehrten.” Indeß war jeder meiner Meynung — auch noch unter dem Abendeſſen — gleichwohl bin ich jetzt das Maulbronner Suͤnden-Boͤckchen und werde von den andern Suͤnden-Zicklein meines Geſchlechts heimlich angemeckert. Denn Nieß ſchickte mir unter dem Eſſen meinen Brief an ihn und ſeinen46 Kupferſtich, kurz der Staar wurde mir mit der Staarnadel geſtochen, und ein bischen das Herzchen dabey.
O, wie war ich hinter meiner Augenbinde, als haͤtte ich ſie mir vom Amor geborgt, ſo ru - hig-froh! Wenn ich Dir erſt kuͤnftig einmal male, wie himmliſch der Sternen-Abend war, ſo lange mir ihn nicht mein Schmerz umzog — wie rein-heiter ich an der Seite des guten Men - ſchen ſaß, den ich noch fuͤr den poetiſchen Traum - gott meiner Jugendträume anſah und wie froh ich mein Auge auf alles um mich warf, auf die erleuchteten Baͤume, auf jeden Gaſt am Tiſch, wie auf die Sterne uͤber mir — wie immer das freudige Herz uͤberkochen wollte — und wie ich gern die armen Nachtſchmetterlinge verſcheucht haͤtte, die ſich an den Lichtern zerſtörten — und wie ich in die aufdaͤmmernden Wolken in Oſten mit feuchten Augen ſah, und dachte wie gar zu ſeelig wird dich vollends dein begluͤckender Mond machen, wenn er dich ſo findet. Er fand mich nicht mehr ſo — er fand mich voll Scham und Gram, ich ſah ihn an — Dein ſtillendes Auge47 wäre mir heilſamer geweſen — ich grub meines ordentlich ein in ſeinen Glanz und dachte dann nach: wie anders, anders es geweſen waͤre, wäre alles ſo geblieben, welch eine unvergesliche Paradieſes Nacht, die noch in keinem Traume gewohnt, ich haͤtte durchleben, und ewig im Her - zen halten duͤrfen! — Es ſollte nicht ſeyn, das zu große Gluͤck. Indeß glaub’ ich, durchquillt keine Thraͤne ſo heißſchmelzend den ganzen Men - ſchen, als die, die er fallen laſſen muß, wenn er, eben ſo heiter wie andere, in einem weiten duftenden, wehenden Arkadien angelangt und ſtehend, ploͤtzlich von irgend einem einſamen Ungluͤck umgriffen wird, und nun mitten unter dem allgemeinen Geſange: „ freuet euch des Le - bens” den er mitſingt, leiſe ſagt: freuet euch des Lebens, meines iſt anders.
Ach wozu dies alles? Aber eine wichtige Regel macht’ ich mir; und ich wollte, beſonders die Maͤnner hielten ſie heilig: ſchone, o ſchone jede Seele bey einem Luſtfeſte, weil es ihr viel zu wehe thut, mitten in der allgemeinen Freu - den-Ernte ganz allein gar nichts zu haben, und48 doch noch bey dem Zentner-Ach in der Bruſt mit einem leichten Lächel-Geſicht dazuſtehen; daher ſollten beſonders die Liebhaber und die Eltern uns armen Maͤdchen mit Qualen ver - ſchonen auf Baͤllen, Hochzeitfeſten, Mayenfe - ſten, Weinleſen ꝛc. Ach wir leiden nie mehr als in Geſellſchaft; die Männer vielleicht in der Einſamkeit! Ich weiß es nicht.
Jetzt ſah ich nicht mehr ab, warum ich Um - ſtaͤnde mit der Tafel machen ſollte; ungluͤcklich konnt’ ich ja in der Einſamkeit ſo gut ſeyn als in der Geſellſchaft. Ich ging davon; und ſagt’ es dem Vater. Das Aller-Duͤmſte (dacht’ ich) denken doch die Bad-Gaͤſtinnen ohnehin von mir; alſo iſt nichts zu verderben an den Dummheiten.
Ich konnte aber unmoͤglich ſchon nach Haus und unter die Dach-Enge; ich mußte ins Weiteſte; ich wollte die Sterne bey mir be - halten. Da ſenkte mein ganzes Herz ſich ploͤtz - lich auf die unſichtbare Bruſt meiner todten Mutter. Ich dachte an die Zauberhoͤle, durch deren wunderbare Lichter ſie einſt, die auf ih -49 ren Armen aufhuͤpfende Tochter durchgetragen; und ich erfragte unten im Dorfe den Hoͤlen - Eingang. Der Mond ſchien an die Pforte; die Kinder hatten davor geſpielt, und Ketten von Dotterblumen, und ein kleines Gaͤrtchen von eingeſteckten Weiden zuruͤckgelaſſen. Ich öffnete die Thuͤre um vor die weite wie ein Leichnam in die Hoͤle begrabne Finſterniß zu treten; aber als der Mond ſeinen Schimmer lang hineinwarf und ich meinen Schatten drin - nen in der Hoͤle liegen ſah: ſo ſchauderte michs; ich ſah die Schattengeſtalt meiner Mutter in ihrem Grabe ſchlafen; da eilt’ ich davon und dachte mir Dich und Dein Wohl, um mein Herz zu waͤrmen. O lebe wol!
Spaͤtere N. S. Sein Herz iſt ſein Ge - ſicht; ich rede vom Hauptmann. Aus Zart - heit wich er mir bisher aus; aber er ſchickte mir durch meinen Vater ein Blaͤttchen, worin er alle Schuld des oͤffentlichen Misverſtaͤndniſ - ſes auf ſich nimmt und durch ſeine Zuruͤckzie - hung, um es nicht zu beſtaͤtigen, dafuͤr zuZweyter Theil. 450buͤßen geſteht. Du wirſt es leſen. Es gehe dem braven Juͤngling wohl!
Aber unendlich ſehne ich mich aus dieſem Gottesacker voll bluͤhenden Neſſeln und begrab - ner Schoͤnheiten hinweg an Deine treue Bruſt hinan; dennoch muß ich ausharren, weil mein Vater nicht eher reiſen will, als bis er, wie er faſt ſo ernſthaft verſichert, daß man bange wird, ſeinen Rezenſenten abgeſtraft. Erfahr’ ich indeß Deine Niederkunft: ſo bin ich ohne Weiteres — ohne Vater und ohne Wagen — zu Fuße bey Dir, bey meiner alten ſchoͤnern Zeit. Sonderbar iſts, daß hier ſo manche noch außer uns weilen, die alle nicht baden und nicht trinken, naͤmlich Nieß und ſogar der Hauptmann.
Jetzt liefen vier Menſchen wie vier Akte im - mer naͤher in den Brennpunkt eines fuͤnften zuſammen. Aber Nieß gehoͤrte nicht unter die Stralen. Nachdem er lange und vergeblich bey Theoda auf den Thron des Autors ſich als Menſch hin zu ſetzen verſucht; — nachdem er den vielſchneidigen Schmerz empfunden, daß ein bloßes Maͤdchen, und ein begeiſtertes fuͤr ihn dazu und eine Reiſegefaͤhrten obendrein den Dichtergeiſt nur als zufaͤllige Flamme wie das S. Elms Feuer an ſeinen Maſten gefunden, oder nur wie Blumen auf rohem Stamm: ſo war er ſeiner Sache gewiß, und Theoda’s ledig, und der Blumenbeluſtigungen froh, naͤm - lich des allgemeinen Lobes. Die Trompete der Fama blaͤſet am leichteſten die Maͤdchen aus dem maͤnnlichen Herzen. Er war jetzt im52 Stande, ſich ſelber zu leben und ſeine Unſterb - lichkeit einzukaſſiren —; ganz Maulbronn ſchwamm ihm zu — er konnte (er thats auch) ſeinen Stock aus Vergeſſenheit liegen laſſen, damit ihn am Bad-Morgen die ſchönere Hände herumtrugen und die Herzen dabey gloſſirten. — Er konnte mit wahrem dichte - riſchen Tiefſinn uͤberall luſtwandeln und keinen Menſchen bemerken, da es ihm genug war, wenn er bemerkt wurde in ſeinen Schoͤpfun - gen mitten am hellen Tage. Er konnte ſich hundertmal oͤffentlich vergeſſen um eben ſo oft an ſich zu erinnern. — Ohnehin konnte (und mußte) er den Maulbronnern Schauſpielern als fluͤgelmaͤnniſcher Vor-Soufleur vorſitzen und ſich in der umherſtehenden Lern-Truppe wie in einem Spiegelzimmer vervielfachen. — —
Dieß alles heilte das Herz; denn es gab Luſt und Tumult; worin man eben Lieben ſo leicht verſaͤumt, als die Chriſten an Kirchweih - Tagen (Kirmeß) die Fruͤhpredigt. Am meiſten aber wurd’ er von ſeiner Paſſion durch den Abſatz heil, den ſeine Haare bey den Damen53 fanden. Da er vorausſah, daß ſeine Verehrerin - nen nach einer Reliquie von ihm ſo laufen wuͤrden, als das Volk nach dem Lappen eines Gehenk - ten, wiewol jene fuͤr das Bezaubern, und die - ſes gegen daſſelbe: — ſo hatt’ er abſichtlich ſeine Haar-Schur dem Bad aufgehoben und da - her ſeinem Bedienten verſtattet, ſie anzukuͤndigen und mit ſeiner Pegaſus-Maͤhne einen kleinen Schnitthandel anzulegen. In der That ſchlug die Spekulazion mit dem Flor von ſeinen Haar - zwiebeln ſo gut ein als der hollaͤndiſche mit Blumenzwiebeln; ja eine Gräfin wollte den ganzen Artikel allein an ſich bringen zu einer adlichen und genialen Peruͤcke, ſo verſeſſen war alles auf die Geburten ſeines fruchtbaren Kopfes, es mochten Gefuͤhle oder Locken ſeyn. Dieſer Handelsflor ſeines Bedienten, wovon ihm ſelber gerade das Geiſtigſte zuwehte, das Lob, ließ ihn wie gedacht, Theoda’s Verluſt maͤnnlicher verſchmerzen, als er ſonſt gehofft; indeß ob er ihr gleich ſeine Kroͤnungen d. h. ſeine Tonſuren nicht am ſorgfaͤltigſten zu ver - hehlen ſtrebte, ſo warf er als heiliger Vater54 der Muſen doch mitten unter ſeinem Kardi - nals-Gefolge, aus angeborner Gutmuͤthigkeit, ſtatt der Bannſtralen ſanfte Sonnenblicke von Zeit zu Zeit auf die verlaſſene Geliebte, um wie er hoffte, ſie dadurch unter ihrer Laſt, wo moͤglich aufrecht zu erhalten.
Hingegen den Hauptmann ſah er kaum an — erſtlich vor Ingrimm — zweytens weil er ihm nicht ſah oder ſelten. Der gute Meß - künſtler — dem ſich jetzt das Leben mit einem neuen Flor bezogen hatte und der Brunnen - Laͤrm ſich zur Trauermuſik einer Soldatenleiche gedaͤmpft — war nirgends zu ſehen, als über den unzaͤhligen Druckfehlern ſeines mathema - tiſchen Kaͤſtners, welche er endlich einmal, da er ſie bisher immer nur improviſierend und im Kopfe umgebeſſert, von Band zu Band mit der Feder ausmuſterte. So wenig er nun Urſache hatte, da zu bleiben, ſo wenig hatt’ er Kraft, fortzureiſen. Bracht’ er ſich ſelber auf die Folter, und auf die peinliche Frage, was ihn denn plage und nage, ſo fragte er nichts heraus als dieß, es gehe ihm gar zu nahe,55 daß er ein unſchuldiges Frauenzimmerchen durch ſeinen misverſtandnen Namens-Wett - kampf mit Nießen zu einer Etourderie hinge - lockt, und ſie mit Gewalt in die Bußzellen der Einſamkeit gejagt. „ Die Wunden ihres Ehr - gefuͤhls, ſagt’ er ſich, muͤſſen ſie ja noch hei - ßer ſchmerzen als einen Mann die des ſeini - gen; und ich waͤre ja ein Hund, wenn ich nicht alles thaͤte, was ich koͤnnte und nicht ſo weit wegbliebe von ihr, als nur menſchenmög - lich,” Dennoch fuhr er oft mitten aus den kaͤlteſten Rechnungen — die ihn eben weniger zerſtreuten, weil ſie ihn weniger anſtrengten als einen andern — zaͤhne-knirſchend und ſchmerzen-gluͤhend auf vom Buche (er hatte unbewußt fortgerechnet und fortgefuͤhlt) und ſagte: „ o mein Gott! was iſt denn? Dieß hole der Teufel, o Gott!”
Ein redlicher Kriegs - und Meßkuͤnſtler von Juͤngling, dem bisher das leichte Blut ſo un - gedaͤmmt durch das ſtill-offne Herz geflogen, weiß gar nicht, wie er ſich einmal einen ganz andern Gang und Schlag erklären und erleich -56 tern ſoll; er ſeufzt und weiß nicht woruͤber und wofuͤr. Er moͤchte ſterben und leben, toͤdten und kuͤſſen, weinen und lachen; aber er kann doch nicht ſeine ſuͤßgluͤhende Hölle aus - loͤſchen mit allen Thraͤnen der erſten Sehn - ſucht.
Wie wolgemuth und froh haͤlt dagegen ein Mann wie Nieß, der ſchon oͤfter den heißen Liebes-Gleicher paſſirt iſt, den bitterſten Her - zens-Harm aus! Ordentlich mit Luſt ſchmilzt er in Thraͤnen und ſchnalzt, wie ein luſtiger Fiſch. Das Gefuͤhl, das bey einem mathe - matiſchen Theudobach eine druͤckende Perle in der Auſter iſt, traͤgt er als eine ſchmuͤckende auſſen an ſich. Kurz er gehoͤrt zu den Leuten, wovon ich einmal folgendes getraͤumt. Ich hatte aber vorher geleſen, wie man in Oeſt - reich die Kompagnieen zum Beten ſo komman - dirt: „ ſtellt euch zum Gebet! — Hergeſtellt euch zum Gebet! — Kniet nieder zum Ge - bet! — Auf vom Gebet!” — Da der Fluͤ - gelmann alle andaͤchtigen Handgriffe deutlich vormacht und fruͤher als die Kompagnie ſein57 Herz zu Gott erhebt, dankend oder flehend: ſo kann kein Kerl aus der ganzen ſo fuͤr die Andacht zugeſtutzten Kompagnie im Beten ſtol - pern ohne eigne Schuld, und falls einer eine Minute laͤnger als der Fluͤgelmann Gott ver - ehrte, ſo wird er mit Recht vom Offizier zu allen Teufeln verflucht. In meinem Traume aber war von einem naͤhern Anbeten die Rede und mehr Kommandowoͤrter in Gang. Ich war zugleich der Offizier und der Fluͤgelmann — die groͤßte Schoͤnheit Baireuths ſaß auf dem Kanapee — und ich ſagte zu meiner Rotte: „ Hergeſtellt euch zum Anbeten! — Kniet nieder zum Anbeten! — Sehnet euch! — Hand gekuͤßt! — Seufzer ausgeſtoßen! — Thraͤnen vergoſſen! — Fallt in Verzweif - lung! — Ermannt euch! — Aufgelacht! — Aufgeſtanden!” — Und ſo hab’ ich und die Rotte das Roman-Exerzizium ſiebenmal in ſo kurzer Zeit durchgemacht, daß wir fertig wa - ren, eh’ ich erwachte.
Noch immer blieb der Doktor Strykius un - gepruͤgelt — und Theoda voll Sehnſucht nach Bona, und der Hauptmann unentſchloſſen zur Reiſe: als der Landesherr des Badorts ankam und mit ihm die Ausſicht auf neue scenes à tiroir, auf neue Spektakelſtuͤcke und Szenen - maler fuͤr dieſe kleine Buͤhne; beſonders die Ausſicht auf die Erleuchtung der Hoͤle.
„ Wird die Hoͤle erleuchtet, dachte der Dok - tor, ſo ſind’ ich vielleicht einen entlegenen fin - ſtern Winkel darin, worin ich dem Hoͤlen-Auf - ſeher (Strykius) vor der Hand mit einem Im - biß der zugedachten Henkersmalzeit bewirthe; oder mit einem Vorſabbath ſeines Hexenſab - baths — dergleichen waͤre eben wahre Kriegs - befeſtigung im juridiſchen Sinne — ja ein blo - ßer im Finſtern recht geworfner Stein waͤre59 wenigſtens eine Ouvertuͤre fuͤr ſeinen nicht off - nen Kopf. In jedem Falle kann ich bey der Erleuchtung die Knochen der Hoͤlenbaͤren, die darin liegen ſollen, beſſer ſuchen und holen; der Kerl bleibt mir ja immer.”
Wirklich wurde die Erleuchtung der Hoͤle, gleichſam die einer unterirdiſchen Peterskuppel, auf den naͤchſten Sonntag angekuͤndigt. Fuͤr Theoda nahte das muͤtterliche Todtenfeſt: „ wei - ter wollt’ ich ja hier nichts mehr” ſagte ſie.
Vormittags am ſehnlich erwarteten Sonn - tag langte aus Pira zu Fuße der ſchweiß-blei - che Zoller und Umgelder Mehlhorn mit einem Gevatter-Brief an den Doktor an. Glaub - wuͤrdige Zeugniſſe hat man zwar nicht in Haͤn - den, womit unumſtoͤßlich zu beweiſen waͤre, daß Katzenberger auf ſeinem Geſichte uͤber dieſe Freudenbothſchaft beſondern Jubel, au - ßerordentliche Erntetänze oder Freudenfeuer mit Freudenthraͤnen vermiſcht habe ſehen laſſen; aber ſo viel weiß man zu ſeiner Ehre deſto ge - wiſſer, daß er ſich im hoͤchſten Grade anſtrengte, (er beruft ſich auf jeden, der ihn geſehen),60 ſtarke Freude zu aͤußern, nur daß es ihm ſo leicht nicht wurde, auf die Schwefelpaſte ſeines Geſichts die leichten Roͤthelzeichnungen eines matten Freudenroths hinzuwerfen; beſonders wenn man bedenkt, daß er auf ſeinem Janus - Geſicht zwey einander deckende Gefuͤhle zu be - herbergen hatte, Luſt und Unluſt. Kurz er bracht’ es bald dahin, daß er, da er anfangs ſo verbluͤft umher ſah wie ein Hamſter, den ein ſchwuͤler Hornung vorzeitig aus dem Win - terſchlaf reißt, dann lebendig aufblickte und aufſprang. Gegen den gutmuͤthigen Mehlhorn war aber auch Haͤrte ſo leicht nicht anwend - bar; er ſtand da mit dem weißen Vollgeſicht, ſo lauter Nachgeben, lauter Hochachten und Hoffen und Vaters-Frohlocken! Wenigſtens der Teufel haͤtte ihn geſchont.
Da ohnehin an kein Abſchrecken vom Ge - vatterbitten mehr zu denken war: ſo uͤberſchuͤt - tete ihn der Doktor mit allem, was er Beſtes, naͤmlich Geiſtiges hatte, mit Herzensliebe, Hochachtung, innern Freudenregungen und dergleichen verſchwenderiſch, gleichſam mit ei -61 nem Pathengeſchenk edlerer Art, um nur an ſchlechte maßive Gaben gar nicht zu denken. Sein Herz fuͤhlte ſich weit ſeliger dabey, wenn er eine geliebte Hand recht herzlich druͤcken und ſchütteln durfte, als ſie fuͤllen mußte.
Nur etwas fiel ihm noch bey; naͤmlich eine Mißgeburt hätt’ er gern aus der Taufe geho - ben und beſchenkt mit ſeinem Namen. „ Der Junge iſt wohl regelmaͤßig gebaut?” fragt’ er. „ H. Doktor, verſetzte der Zoller, wahrlich wir alle koͤnnen Gott nicht genug dafuͤr danken; er iſt aber, wie die Wehmutter ſagt, wie aus dem Ey geſchaͤlt fuͤr ſein Alter.”
„ Aus dem Ey fuͤr ſein Alter? verſetzte er etwas verdruͤßlich. — Verſteigen Sie ſich nicht mit einem Anachronismus in die Phyſiolo - gie!” — „ Gott, Nein, fuhr Mehlhorn fort, und die Woͤchnerin iſt gottlob ſo friſch wie ich ſelber. ” — „ Ja, das iſt ſie, Gott ſey Dank” rief Theoda nach der Leſung des vierzeiligen Briefchens von Bona, und ſtuͤrzte vor Freude dem Zoller an den Hals. „ Noch heute, ſagte ſie, geh’ ich zu Fuße mit Ihnen und laufe die62 ganze Nacht durch, denn ſie verlangt mich und nichts ſoll mich abhalten.” Bona hatte ſie allerdings zum Schutzengel weniger ihrer Perſon als des Haushaltens angerufen, aber eigentlich nur, um ſelber Theoda’s Engel zu ſeyn, deren ungluͤckliche Lage, wo nicht gar ungluͤckliche Liebe ſie nach ihren letzten Tage - blaͤttern zu kennen glaubte, und zu mildern vorhatte.
Allein Mehlhorn konnte ſein Ja und ſeine Freude uͤber die ſchnelle Abreiſe nicht ſtark ge - nug ausdruͤcken, ſondern bloß zu ſchwach, denn da der Mann einen Tag und eine Nacht lange mit ſeinem Gevatter-Evangelium auf den Beinen geweſen, ſo ſehnte er ſich herzlich in der naͤchſten ſtatt auf den Beinen nur halb ſo lange auf dem Ruͤcken zu ſeyn im Bett. Der Vater ſagte, er ſtemme ſich nicht dage - gen, gegen Theoda’s Abreiſe; uͤberall laſſ’ er ihr Freiheit. Er ſah zwar leicht voraus, daß ſie der Umgelder als galanter Herr unterwegs koſtfrey halten wuͤrde; aber ſolchen elenden Geld-Ruͤckſichten haͤtt’ er um keinen Preis die63 Freiheit und die Freilaſſung einer volljaͤhrigen Tochter geopfert. Dazu kam, daß er ſich öf - fentlich ſeines Gevatters ſchaͤmte; der Zoller war naͤmlich in der gelehrten Welt weder als großer Artzt noch ſonſt als großer Mann be - kannt. Was er wirklich verſtand — das Zoll - weſen — hatte Katzenberger ihm laͤngſt abge - hoͤrt, aber der Doktor gehoͤrte eben unter die Menſchen, welche ſo lange lieben, als ſie ler - nen — was die armen Opfer ſo wenig be - greifen, welche nie vergeſſen koͤnnen, daß ſie einmal von dem Uebermächtigen geachtet worden. —
Katzenbergers Herz war in dieſer Ruͤckſicht vielleicht das Herz manches Genies; wenig - ſtens ſo etwas von moraliſchem Leerdarm. Be - kanntlich wird dieſer immer in Leichen leer ge - funden — nicht weil er weniger voll wird, ſondern weil er ſchneller verdaut und fort - ſchaft; — und ſo gibts Leer-Herzen, welche nichts haben, bloß weil ſie nichts behalten, ſondern alles zerſetzt forttreiben.
64Aber ſchnell nach der Einwilligung des Dok - tors erkannte die vorher freuden berauſchte Theoda die nähern Umſtaͤnde der Zeit. Hier fiel ihr Licht auf ihren unbeſonnenen Antrag, den Gevatter todt zu gehen! ſie nahm ihn er - ſchrocken zuruͤck, und ſchlug ihm ſo fort den ſchoͤnern und hellern Gang vor, den in die abends erleuchtete Hoͤle. Da Katzenberger zu viel Ehrgefuͤhl und Geld beſaß, als daß er ſich nicht haͤtte verpflichtet fuͤhlen ſollen, ſeinen Gevatter an der oͤffentlichen Wirthstafel mit ſchlechtem Tiſch-Kraͤtzer zu erfreuen und ihn eine glaͤnzende Tafel voll Blasmuſik abgraſen zu laſſen, wo außer Grafen und Herrn der Voͤlkerhirt ſelber ſaß: ſo wurde denn ein er - ſter Tiſch - oder Fechter-Gang verabredet und angetreten, wohin, denk’ ich, alles was in der kuͤnftigen Nachwelt Anſpruch auf hoͤhere Bildung macht, uns ohne Weiteres, wenn auch in einiger Ferne (von Zeit) ohnehin nach - folgen wird.
Auch Theoda begab ſich wieder an die oͤffent - liche Tafel naͤmlich zum letztenmale und an dem Arme des Zollers, der ganz ſtolz auf die Ehre einer ſo vornehmen Nachbarſchaft, und auf den Schein, weniger der Gaſt des Va - ters, als der Wirth der Tochter zu ſeyn, ſie an ihren Seſſel geleitete. Es iſt zweifelhaft, ob ihr Entſchluß der oͤffentlichen Erſcheinung bloß von ihrer Gevatter-Freude herkam, oder von ihrer Achtung gegen Mehlhorn, der ohne ihre Nachbarſchaft nur eine ſehr kalte an der vaͤterlichen finden konnte; — oder vom Gedanken der Abreiſe, und vom Aufwachen ihres alten Stolzes — oder (wer koͤnnt’ es wiſſen) vom Wunſche an der Tafel einen Fuͤrſten zum erſtenmale zu er - blicken, oder gar den Hauptmann TheudobachZweyter Theil. 566zum letztenmale, oder von der Ausſicht in die Abends aufleuchtende Eden-Grotte; — oder aus unbekannten Urſachen, ſehr zweifelhaft, ſag’ ich, iſt es, aus welcher von ſo vielen Ur - ſachen ihre Umaͤnderung entſprang, und mein Beweis iſt der, daß es wahrſcheinlich iſt, alle dieſe Gruͤnde zuſammen — auch die unbekann - ten — haben mitgewirkt.
Theoda ſollte diesmal immer froher werden; noch vor dem Eſſen ſah ſie ihren Vater uͤber 100 Vaterunſer lang vom Fuͤrſten gehalten und gehoͤrt. Der Fuͤrſt hoͤrte wie andere Fuͤr - ſten Gelehrte aller Art faſt noch lieber und noch laͤnger als er ſie las; vollends einen, der wie Katzenberger nicht ſein Landeskind, ſeine Landesplage, oder ſonſt von ihm abhaͤngig war; er befragte ihn beſonders uͤber die Heil - kräfte des Brunnens. Der Doktor ſetzte ſie ſehr hoch hinauf und ſagte, er habe ein klei - nes chemiſches Traktaͤtchen in der Taſche, worin er dargethan, der Maulbronner Brunnen ver - einige als Schwefel-Waſſer alle Kraͤfte des Aachner, des Zayſenhauſer im Wuͤrtembergi -67 ſchen und des Wildbads zu Abach, wie ſchon das haͤßliche Stinken nach faulen Eyern ver - ſpreche. Hier wollt’ er das Traktaͤtchen aus der Taſche ziehen, bekam aber ſtatt deſſen den Schwanz des ausgeſtopften Kaͤtzchens von St. Wolfgang in die Hand und wollte nicht gern heraus; er fuhr in die andern Taſchen, ſtieß aber auf den neueſten Hoͤlenbaͤren-Knochen, den er aus der Hoͤle zu ſich geſteckt. „ Ei wie boͤſe, ſagt’ er. Alle Taſchen ſind voll, es iſt aber nichts darin, ich meine keine Abhandlung.” Der Fuͤrſt laͤchelte, vergab und erſuchte um das Traktaͤtchen, und nahm von dem unab - haͤngigen beruͤhmten Gelehrten — der ſeinen Buͤckling mehr nur mit dem innern Menſchen machen konnte, obwol nur vor einem van Swieten, Sydenham, Haller, Swift — mit groͤßerer Hoͤflichkeit Abſchied als Katzenberger verhaͤltnismäßig erwiederte. Warum aber? vielleicht weil uͤberhaupt Fuͤrſten gern dem fremden Gelehrten am höflichſten begegnen — weil ihre Hoͤflichkeit ſie noch nichts koſtet — weil ſie ihn erſt angeln wollen — weil ein68 von innen aus Freigemachter bey ihnen unter die Freiherrn und Freifrauen tritt, d. h. un - ter ihres Gleichen — weil die Sache ohne Folgen (gute ausgenommen) iſt — weil die Fuͤrſten gern alles thun aber nur Einmal, auch das Beſte — weil die ganze Sache kurz abge - than, und lang abgeſprochen wird — weil ſie einmal in Erſtaunen ihrer Herablaſſung ſetzen wollen, welches bey Unterthanen ſie zu viel koſten wuͤrde — weil ſie vom Manne ſpaͤter an der Tafel etwas ſagen wollen, und ihn alſo vorher etwas ſagen laſſen muͤſſen — und weil ſie eben daſſelbe ohne alle Gruͤnde thäten, um ſo mehr da ſie den beſagten Mann ſchon halb vergeſſen, wenn er noch da ſteht und ſich nach Jahren kaum erinnern, wer der Menſch ge - weſen.
Doch aber auch einheimiſche Gelehrte könn - ten dieß benutzen; da die Fuͤrſten oft den Sul - tanen gleichen, welche auf einem verſchnittenen Zwerge ſich in den Sattel ſchwingen. Es bleibt daher unbegreiflich, warum bisher die Aerzte und die Rechtsgelehrten gegen die hoͤ -69 hern Staͤnde nicht zehnmal gröber ausfallen als ſie thun und nicht ſo grob als die Virtuo - ſen der Zeichen -, der Ton -, der Schau - und der Tanzkunſt längſt gethan; denn ohne jene, die ja erſt Lang-Leben und Wolleben verſchaf - fen, ſind alle Springer und Geiger unbrauch - bar, indem alle Philoſophen daruͤber einig ſind, daß man um wol zu leben, zuvoͤrderſt leben muͤſſe. Doch ſprech’ ich jenen nicht alle Grob - heit ab, ſondern nur den Grad. Etwas an - ders ſind Dichter, Weltweiſe und Moraliſten, ja Prediger (in unſern Tagen), dieſe koͤnnen nie hoͤfflich genug ſeyn, weil ſie nie unentbehr - lich genug ſind.
Endlich ſetzte ſich der Doktor mit dem Glanze, den er als ein Lichtmagnet an ſich gezogen vom Fuͤrſten-Sterne, kalt zu ſeinem Gaſte und ſeiner Tochter. Letzterer haͤtte bey - nahe den Hunger verloren vor Anbetung des Fuͤrſten und vor Bewunderung Katzenbergers, der ſo leicht mit jenem diskuriert hatte. Un - ter dem Eſſen lenkte der Doktor die Rede aufs Eſſen und merkte an, er wundre ſich uͤber70 nichts mehr, als daß man bey der Seltenheit von Kadavern und vollends von lebendigen Zergliederungen, ſo wenig den fuͤr die Wiſſen - ſchaft benutze, in dem man ſelber ſtecke, beſon - ders im Sommer, wo todte faulen. „ Waͤr’ es Ihnen zuwider, H. Mehlhorn, wenn ich jetzt z. B. den Genuß der Speiſen zugleich mit ei - nem Genuſſe von anatomiſchen Wahrheiten oder Seelenſpeiſen begleitete?” „ Mit tauſend Wohlgefallen, theuerſter H. Doktor, ſagt’ er, ſobald ich nur kapabel bin, Ihrer gelehrten Zunge zu folgen. ” — „ Sie brauchen bloß zu meinem Sprechen zu kaͤuen; naͤmlich bloß von der Kaͤuungsfunkzion will ich Ihnen einen klei - nen wiſſenſchaftlichen Abriß geben, den Sie auf der Stelle gegen Ihre eigne, als gegen lebendiges Urbild halten ſollen. — Nun gut! — Sie kaͤuen jetzt; wiſſen Sie aber, daß die He - belgattung, nach welcher die Kaͤumuskeln Ihre beyden Kiefern bewegen (eigentlich nur den untern) durchaus die ſchlechteſte iſt, naͤmlich die ſogenannte dritte, d. h. die Laſt oder der Bolus iſt in der größten Entfernung vom Ru -71 hepunkte des Hebels; daher koͤnnen Sie mit Ihren Hundszaͤhnen keine Nuß aufbeißen, ob wol mit den Weisheitszaͤhnen. Aber wei - ter! Indem Sie nun den Farſch da auf Ih - ren Teller erblicken: ſo bekommt (bemerken Sie ſich jetzt) die Parotis (hier ungefaͤhr lie - gend) ſo wie die Speicheldruͤſe des Unterkiefers auch, Erekzionen, und endlich gießt ſie durch den ſtenoniſchen Gang dem Farſche den noͤthi - gen Speichel zu, deſſen Schaum, wie jeder andere, Sie bloß den ausdehnenden Luftarten verdanken. Ich bitte Sie, lieber Zoller, fort - zukaͤuen, denn nun fließet noch aus dem du - ctus nasalis und aus den Thraͤnendruͤſen alles nach, woraus Sie Hoffnung ſchoͤpfen, ſo viel zu verdauen, als Sie hier verzehren. Nach dieſem Seedienſt kommt der Landdienſt. ” —
Hier lachte der Zoller uͤber die Maßen, theils um hoͤflich zu erſcheinen, theils das Mis - behagen zu verhehlen, womit er unter dieſem Privatiſſimum von Lehr-Curſus alles ver - ſchlang; — gleichwol mußt’ er fortfahren, zu genießen. —
72„ Ich meine unter dem Landdienſt dieß: jetzt greift Ihr Trompetenmuskel ein und treibt den Farſch unter die Zaͤhne — Ihre Zunge und Ihre Backen ſtehen ihm bey und wen - den, und ſchaufeln hin und her — Ausbeugen kann der Farſch unmoͤglich — Auswandern eben ſo wenig, weil Sie ihn mit zwey haͤuti - gen Klappen (Wangen im gemeinen Leben) und noch mit dem Ringmuskel oder Sphin - kter des Mundes (dieß iſt nur Ihr erſter Sphinkter, nicht Ihr letzter damit korre - ſpondierender, was ſich hier nicht weiter zeigen laͤßt) auf das Schaͤrfſte inhaftieren und ein - klammern — kurz der Farſch wird trefflich zu einem ſogenannten Biſſen, wie ich ſehe, zuge - hobelt und eingefeuchtet. — Nun haben Sie nichts weiter zu thun, (und ich bitte Sie um dieſe Gefaͤlligkeit) als den fertigen Bolus in die Rachenhoͤle, in den Schlundkopf abzufüh - ren. Hier aber hoͤrt die Allmacht Ihres Gei - ſtes, mein Umgelder, gleichſam an einem Gränz - kordon auf und es kommt nun nicht mehr auf jenes eben ſo unerklaͤrliche als erhabne Vermö -73 gen der Freiheit (unſer Unterſchied von den Thieren) an, ob Sie den Farſch-Biſſen hin - unter ſchlucken wollen oder nicht (den Sie noch vor wenigen Sekunden auf den Teller ſpeien konnten), ſondern Sie muͤſſen, an die Sperr - kette oder Trenſe Ihres Schlundes geheftet, nun hinabſchlingen. Jetzt kommt es auf meine guͤtige Zuhoͤrerſchaft an, ob wir den Biſſen des H. Zollers begleiten wollen auf ſeinen erſten Wegen, bis wir weiter kom - men. —
Mehlhorn, dem der Farſch ſo ſchmeckte wie Teufelsdreck, verſetzte: „ wie gern er ſei - nes Parts dergleichen vernehme, brauch’ er wol nicht zu beſchwoͤren; aber auf ihn allein komm’ es freylich nicht an.” „ Ich darf denn fortfahren?” ſagte der Doktor. „ Vortrefflicher Herr, verſetzte eine aͤltliche Dame, Ihr Dis - kurs iſt gewiß uͤber alles gelehrt, aber unter dem Eſſen macht er wie deſperat. ” — „ Und dieß iſt, erwiederte er, auch leicht zu erklaͤren; denn ich geſtehe, daß ich ſelber unter allen Empfindungen keine kenne, die ſtaͤrker, aber74 auch grundloſer iſt und die weniger Vernunft annimmt, als der Ekel thut. Ein Beyſpiel ſtatt tauſend! Wein, Alpenwaſſer, Likör, kurz nichts iſt uns ſo rein, ſo einheimiſch und ſo zugeartet, und bleibt Tage lang (was nichts Fremdes kann) ſo gern in unſerm Munde als etwas, wovon der Beſitzer, wenn es heraus waͤre, keine halbe Theetaſſe trinken koͤnnte — Speichel. Iſt dieß kein wahrer Unſinn, ſo iſts auch vernuͤnftig, wenn ich mei - nen trefflichen H. Kollegen Strykius verab - ſcheue aus Ekel, bloß weil er, obwol mir in Wiſſenſchaft und Streben ſo verwandt und durch Freundſchaft gewiſſermaßen ein Theil meines Innern, außer mir ſtaͤnde neben meinem Stuhle.”
Darneben war wirklich der Brunnenarzt Strykius im Muthe des Wein-Deſerts getre - ten, um vielleicht ſeinem Landesherrn von wei - tem zu zeigen, daß er weit entfernt von Neid gerade im innigſten Verſtaͤndniſſe mit dem ge - lehrten Manne ſtehe. Aber Katzenberger ver - ſaͤuerte ihm dieſen Schein etwas; denn er kam75 durch einen ſchwachen, nicht ſehr maskirten Umweg auf ſeinen Rezenſenten zuruͤck — (Der Umweg war bloß die Einſchraͤnkung des vorigen Satzes uͤber den Abſcheu, nämlich die Bemerkung, daß ihn allerdings ſein Kunſtrich - ter, obwol Handwerksgenoß anekle) — er ſprach davon, was wir leider ſo oft in dieſem Werkchen geleſen, von der Suͤnde, Eine Stimme fuͤr mehrere, fuͤr drey Inſtanzen zu verkaufen, Einen Geſchwornen Meineidigen fuͤr eine Jury, Einen Judas fuͤr elf Apoſtel. Er brachte dann wieder — was wir alle leider ſo oft von ihm gehoͤrt, ſo daß ich die Leſer faſt noch mehr bedaure als mich — die alten kal - ten Einkleidungen ſeines kuͤnftigen Auspruͤgelns zu Markte, und äußerte (denn ich fuͤhre nicht alles an), ihn quaͤle ſehr die Wahl, wie ers zu halten habe, da er von der einen Seite recht gut dem Kunſtrichter blos die Haare aus - ziehen könne, weil nach Aretaͤus ſchon bloßes Abſcheren Wahnſinn heile (wie an den Titus - koͤpfen der Revoluzion noch zu ſehen), aber da er auch von der andern Seite noch ſtaͤrker76 zu Werke gehen und den Kerl wie Bierfla - ſchen, durch Schrot reinigen koͤnne, welcher Schrot freilich anders als bey der Flaſche, bloß durch einen Schuß in ihn zu bringen wäre, wiewol man bey Bley des Feindes Ge - ſundheit ſtets risquiere, weil daſſelbe ſtets ver - gifte; es fließe nun langſam und ſuͤß in Wein aufgeloͤßt in den Magen, oder es fahre im Ganzen roh durch Magen und Leib.
„ Bon! verſetzte Strykius und verſtand Spaß. — Wer Leben wieder giebt, kann es auch zuruͤcknehmen und Sie koͤnnen ermorden, weil Sie oft genug geheilet haben. Doch Scherz bey Seite! — Ich habe, guter Katzen - berger, Ihre koͤſtlichen Werke erſt nach den Rezenſionen geleſen. ” — —
— „ Ganz natuͤrlich! unterbrach der Do - ktor… Und ich habe etwas darin gefunden, was ich noch von Niemand gehoͤrt, daß Sie nämlich einem beruͤhmten Englaͤnder aufs Haar gleichen?”
„ Wem aufs Haar?” fragt’ er.
„ Dem wackern Doktor und Romancier77 Smollet in London. Weniger in Wiſſenſchaft — denn hier weiß ich nicht genau, ob Smol - let beſondere Vorzuͤge beſeſſen — als im Hu - mor; wie, Herr Doktor?” —
„ Pruͤgelſzenen, verſetzte er, hat er aller - dings einladend dargeſtellt und in ſo fern duͤrft’ ich etwas von ihm haben, wiewol nicht in theoretiſcher Darſtellung, ſondern etwan in praktiſcher; denn ich frage Sie als Unbefan - genen ernſtlich, ob es eine größere Halunkerey gebe, als mit ſieben Stimmen aus drey Zer - berus-Kehl-Köpfen” — —
„ Wir kennen dieß, Freund; Vielleicht haben wir beyde etwas getrunken! wenigſtens ich!”
„ Sie bleiben Smolletus secundus. ” — ſagte Strykius.
„ Kommt der Leibmedikus Semmelmann nicht dem Fuͤrſten nach?” fragte der Doktor mit einer ſeltſamen Mine, welche thun ſollte als wolle ſie Erbitterung und Hinterliſt ver - bergen. Strykius ſtarrte ploͤtzlich in eine ganz neue, aber huͤbſche Perſpektive hinein —78 glaubte zu wittern, daß der Doktor den Leib - medikus Semmelmann fuͤr den pruͤgelbaren Rezenſenten halte — und verſetzte: „ kuͤnftige Woche!”
Eine Stunde vor Sonnenuntergang war die Hoͤle mit Lampen erleuchtet. Der Brunnen - arzt, zugleich Hölen-Inſpektor, hatte jetzt ei - nen fluͤchtigen aber guten Einfall, als er im engen langen Eingange ſtand. Katzenbergers kalte Handhabung ſeiner, zumal vor den Au - gen ſeines Fuͤrſten hatt’ ihn wahrhaft verdroſ - ſen; denn gern ließ er ſich Herabwuͤrdigung gefallen; aber ſein Ehrgefuͤhl litt empfindlich, ſobald man ſie ihm nicht unter vier Augen an - that. Daher gerieth er auf den Gedanken: jetzt, wenn der Doktor durch die wie ein Sperrkreutz laufende Thuͤre in den engen duͤ - ſtern Gang eintrete und einige Minuten lang vom Tageslichte ſo blind in dieſe untere Welt komme, als ein neugeborner Hund in die obere, ihm auf ſeine beiſſigen Antikritiken eine80 leiſe anonyme Antwort zu geben. Dieſe hoffte er nun wuͤrde erſchoͤpfend ſeyn, wenn ſie ſeinen Geiz und ſeine Geburtshelferkunſt zugleich an - griffe. Ausdieſem Grunde legte er ſein ſpaniſches Rohr wie eine Lanze gegen die einzige im Gange haͤngende Lampe ein, und ſtieß — ſobald der blinde Katzenberger unter ſie kam und links umhergriff — die ganze Lampe behend auf deſſen Achſel und Ermel herunter; — darauf als er ihm Licht und Oel genug in eine dazu erſt noch zu ſchießende Wunde voraus eingegoſſen, trug er die noͤthige Wunde nach, indem er ſein Rohr, waͤhrend der Drehkrankheit des Doktors, ſo ge - ſchickt wie einen Stundenhammer auf deſſen geburtshelferiſche Fingerknoͤchel fallen ließ, als woll’ er den Arm von unten raͤdern.
Noch eh’ Katzenberger ausgetanzt und aus - gerungen hatte und denken und ſehen konnte: ſtand der Brunnenarzt nach einigen ſchnellen, weiten, leiſen, in Nebengaͤnge eingebognen Schritten ſchon mitten auf den ſchimmernden Marktplatz der Höle in Bereitſchaft da, dem unruhigen Freunde mit Gruß und Liebe entge -81 gen zu gehen und ihn anders als vorher zu empfangen, indem er ihm inbruͤnſtig die herab - welkende Hand blos druͤckte. Katzenberger ſah ihn ſcharf an, laͤchelte unverſehends und ſchauete umher: „ Herrlich, uͤberraſchend! Auch ihr Werk? “fragt’ er.
Spaͤt kam Theoda mit Mehlhorn, in deſſen ehrlichem, warmen Herzen ſie ſich ordentlich wie zu Hauſe befand; eine ſchöne Seele kann eine ſchwache, die blos zum Wiedertoͤnen ge - boren iſt, ſo lange genießen, ja mit ſich ver - wechſeln, bis ſie ein ſolches Echo auch den Thierſtimmen unterthaͤnig findet.
Theoda trat mit dem Gedanken an die muͤtterliche Schlafhoͤle in den kuͤhlen duͤſtern Gang und ſah anfangs nur Nacht unten, und Licht-Sternchen oben — endlich that ſich ihr das Schattenreich auf, mit einer ſchimmernden Sternendecke und mit Huͤgeln, Felſen, Grot - ten und Hoͤlen in der Hoͤle. — Alles ſchien eine Unterwelt zu bedeuten; der Volksſtrom, den ſie ſo lange draußen im Tageslichte in die Thuͤr einfluthen ſah, ſchien hier, wie ein83 Menſchengeſchlecht in Graͤbern ganz vertropft zu ſeyn, und auf den Huͤgeln erſchien da ein Schatte, aus den langen Gaͤngen kam dort einer. Ihr Herz, das heute ſo manchen Ab - ſchied nahm, und dem das Gekluͤft immer mehr zum Schlafſaale der Todten wurde, ſchlug zuletzt ſo ernſt und beklommen, daß das gut - muͤtige, heitere Geſpräch Mehlhorns ſie in ihren Erinnerungen und Phantaſieen ſtoͤrte; ſie wollte allein denken und recht traurig; die ganze Woͤlbung war nur die groͤßere Eisgrube des Todes; ein Grubenbau der Vergangenheit, ſo wie ein Gebeinhaus der Hölenbaͤren, deren unverruͤckt gelaſſene Gerippe alle mit den Koͤp - fen an der Wandung lagen, wie zum Aus - gange. —
Sie brachte, obwohl muͤhſam, ihren Be - gleiter dahin, daß er ihr den Genuß der Ein - ſamkeit zuließ, und ſelber den ſeinigen mit den größern Maͤnnerſchritten auf dem durchbrochenen Boden ſuchte.
Jetzt ungeſtört ging ſie unter den andern Lichtſchatten herum — ſie kam vor eine kleine84 Bergſchloß-Ruine — dann vor ein Schiefer - Haͤuschen, blos aus Schiefern voll Schiefer - Abdruͤcke gemacht — dann toͤnte auf den ent - fernten unterirdiſchen Alpen zuweilen ein Alphorn die Hoͤlungen hindurch — ſie kam an einen Bach, in welchem die unterirdiſchen Lampen zum zweytenmale unterirdiſch wieder - glaͤnzten — dann an einen kleinen See, worin eine abgeſpiegelte Geſtalt gegen den umgekehr - ten Himmel hinunterhing; es war die Statuͤe der Fuͤrſtin-Mutter, die ihr Sohn dicht neben ihrem Grabe aufgeſtellt. Theoda eilte zu dem blaſſen Marmor, wie zu einer ſtillen Geiſtergeſtalt, und ſetzte ſich auf das Grab daneben. Sie durfte jetzt alles vergeſſen, und nur an ihre Mutter denken und ſogar weinen; wer konnt’ es im Dunkel bemerken?
Theudobach kam jetzt aus Felſengaͤngen gegen ſie daher, deſſen ſchöne Geſtalt ihr durch den Zauber des Helldunkels noch hoͤher auf - wuchs. Sie erſchrack nicht, ſondern ſah lieb - reich zu ſeiner entbloͤßten Stirn empor, auf der das Licht einer unbefleckten Jugend bluͤhte:85 „ er habe ſie heute, fing er an, lange geſucht, da er dieſen Abend noch uͤber Pira nach Hauſe abreiſe; denn er koͤnne nicht gehen, bevor er noch einmal ſein Betragen entſchuldigt und ihre Verzeihung mitgenommen. “
„ Recht gut! ſagte ſie. Morgen hätten Sie mich ohnehin umſonſt geſucht; ich geh’ ebenfalls ab; und was das Uebrige anbetrift: ich vergebe Ihnen herzlich; Sie vergeben mir, und wir wiſſen beyde nicht recht: ſo iſt alles vorbey. “ Dieſes brachte ſie in einem Tone vor, der ſehr leicht und ſcherzend ſeyn ſollte, eben weil ihre Augen noch in der Wehmuth der vorigen Ruͤhrung ſchwammen. Auf einmal toͤnte von einem blaſenden Muſikchore auf einem fernen Felſen das Lied heruͤber: Wie ſie ſo ſanft ruhn! Heftig fuhr ſie vom Grabe auf, und ſagte unbekuͤmmert, daß ihre Thränen nicht mehr zu halten waren, mit angeſtrengtem Laͤcheln: „ eine Abſchieds-Gefaͤlligkeit koͤnnten Sie mir wohl erweiſen — einen Freund mei - nes Vaters in Ihrem Wagen mitzunehmen bis Pira “— Mit Freuden! ſagt’ er. „ So86 hol’ ich ihn her “, verſetzte ſie und wollte davon eilen; er hielt ſie an der Hand feſt, blickte ſie an, wollte etwas ſagen, ließ aber die Hand fahren und rief: „ Ach Gott, ich kann Sie nur nicht weinen ſehen. “ Sie eilte in einen Felſen-Thalweg hinein, er folgte ihr unwillkuͤrlich nach — da fand er ſie mit dem Kopfe an eine Felſenzacke gelehnt, ſie winkte ihn weg, und ſagte leiſe: „ O laßt mich wei - nen, es fehlt mir nichts, es iſt nur die dumme Muſik. “— Ich höre keine (ſagte der Krieger außer ſich, und riß ſie vom Felſen an ſein Herz) — O du himmliſches, gutes Weſen bleib’ an meiner Bruſt — ich meine es redlich, muß ich von dir laſſen, ſo muß ich zu Grunde gehen. “ Sie ſchauerte in ſeinen Armen, das weinende Angeſicht hing wie aufgeloͤſet ſeitwaͤrts herab, die Toͤne drangen zu heftig ins geſpal - tene Herz, und ſeine Worte noch heftiger. „ Theoda, ſo ſagſt du nichts zu mir? “— Ach, antwortete ſie, was hab’ ich denn zu ſagen? “und bedeckte das erroͤthende Geſicht mit ſeiner Bruſt. — Da war der ewige Bund87 des Lebens zwiſchen zwey feſten und reinen Herzen geſchloſſen.
Aber ſie faßte ſich in ihrer Trunkenheit zuerſt und nahm ſeine Hand, um wieder in die weite Mitte des ſchimmernden Himmelsge - woͤlbes vor die Zuſchauer zu gehen. — Als jetzt dem Muſikchore ein zweytes, in tiefe Ferne gelegt, antwortete als ein Echo: — ſo hielten beyde Gluͤckliche das leiſere Tönen noch fuͤr das alte laute, weil die Saiten ihres Herzens darein mitklangen. Und als Theoda heraus - trat vor den Glanz des brennenden Gewölbes, wie anders erſchien es ihr jetzt! Eine Unter - welt lag vor ihr, aber die elyſiſche; unter der weiten Beleuchtung flimmerten ſelber die Waſ - ſerfaͤlle in den Grotten und die Waſſerſpruͤnge in den Seen — uͤberall auf den Huͤgeln, in den Gaͤngen wandelten ſeelige Schatten, und auf den fernen Wiederklaͤngen ſchienen die fernen Geſtalten zu ſchweben — alle Menſchen ſchienen einander wiederzufinden, und die Toͤne ſprachen das aus, was ſie entzuͤckte — das88 Leben hatte ein weißes Brautkleid angezogen — wie in einem vom Mondſchein glimmenden Abendthau und im Lindenduft und Sonnen - Nachröthe ſchienen der ſeeligen Theoda die weißgekleideten Mädchen zu gehen, und ſie liebte ſie alle von Herzen — und ſie hielt alle Zuſchauer fuͤr ſo gut und warm, daß ſie oͤffent - lich wie vor einem Altare haͤtte dem Geliebten die Hand geben können. —
In dieſer Minute ließ der Fuͤrſt (nach ſeiner Gewohnheit) eine heimliche nach dem Abendhimmel gerichtete Eichenpforte des Hölen - Bergs aufreiſſen, und ließ die Abendſonne wie einen goldnen Blitz durch die ganze Unterwelt ſchlagen, und mit einer Feuerſaͤule durch ſie lodern. „ Ach Gott, iſt denn dieß wahr, ſehen Sie es auch? “ſagte Theoda zu ihm, welche glaubte, ſie erblicke nur ihr innres Entzuͤcken in das aͤußere Glaͤnzen ausgebrochen und ihr Geſichte vorſpielend, da gleichſam die goldne Axe des Sonnenwagens in der Nachwelt ruhte und mit dem Glanz-Morgen, den er ewig mitbringt, die Lichter ausloͤſchte und die89 Hoͤhen und die Waſſer uͤbergoldete — da der ferne Mond-Tempel wie ein Sonnen-Tempel gluͤhte — da die bleiche Bildſäule am See ſich in lebendigem Roſenlichte badete und aus - einander bluͤhte — da das angezuͤndete Fruͤh - roth des Lebens an der einſamen-Abend - und Nacht-Welt ploͤtzlich einen bevoͤlkerten Luſt - garten voll wandelnde Menſchen aufdeckte. —
Und doch, Theoda, iſt dein Irrthum kei - ner! Was ſind denn Berge und Lichter und Fluren, ohne ein liebendes Herz und ein ge - liebtes? Nur wir beſeelen und entſeelen den Leib der Welt. Iſt ein Garten eine engere Landſchaft, ſo iſt die Liebe nur ein verkleiner - tes All; in jeder Freudenthraͤne wohnt die große Sonne rund und licht und in Farben eingefaßt.
Lange noch immer war’s Theoda’n, als wenn die Stralen hineinweheten und zitterten. Die Sonne ſenkte ſich hoͤher an der ſeltſamen Klippendecke hinweg, bis alles mit einem kurzen Nachſchimmern entſchwand. Während der Finſternis, ehe drinnen die Lichter wieder,90 wie draußen die Sterne, aufgingen, begleitete Theudobach die Geliebte aus der unvergeßlichen Hoͤle.
Unter dem friſchen wehenden, lebensfrohen Abendhimmel fanden beyde den Doktor und den Zoller. Theoda erinnerte ſich ſogleich an Theudobachs Verſprechen, dem letztern die lang - ſame Fußreiſe abzunehmen, und berichtete dem Zoller das Anerbieten. Er verbeugte ſich haͤu - fig, aber der Doktor nahm das Wort; „ Du möchteſt nur gern, ich merk’ es, recht bald ans Wochenbett deiner Bona kommen, und zum Pathchen. Haͤlſt Du aber die Nacht-Stra - paze aus?” Sie erſchrak ordentlich, denn ſie hatte, als ſie zuerſt die Bitte fuͤr Mehlhorn gethan, daran keinen andern Antheil fuͤr ſich erwaͤhlen koͤnnen als den, Tags darauf allein die Fußreiſe zu machen. „ O Fraͤulein!” ſagte der Hauptmann bittend und ploͤtzlich aufgehei - tert, als er eine Minute vorher bewoͤlkt ge -92 worden von der Ausſicht, daß er gemaͤß ſei - nem Verſprechen der Abreiſe und Fracht, eben jetzt, da ihm Sonne, Mond und Sterne über Maulbronn aufgegangen, nichts davon vor der Hand wegzufahren habe, als den Umgelder. Theoda ſann einen Augenblick nach, ſah ih - ren Vater an, fragte noch einmal den Zoller: ob ihm ein zweytes Nacht-Wachen nicht be - ſchwerlich ſey, und gab, da er verſetzte: „ im Mindeſten nicht, da man ihn ja Nachts tag - taͤglich wecke” leiſe die Antwort: ſo wie Sie denn wollen, Vater!
Alle waren nun zufrieden mit ihren Per - ſpektiv-Malereyen — die Liebenden mit der ſteilrechten Himmelfahrt, Mehlhorn mit der wagrechten, Katzenberger mit der Ausſicht in eine Hoͤllenfahrt zu Strykius als ein aufer - ſtandner Gekreuzigter.
Theoda nahm ihren Vater noch bey Seite, und bat ihn mit mehr Ernſt als gewoͤhnlich um einen leichten Gefallen; ſie habe, ſagte ſie, allerdings noch franzoͤſiſches Blut genug, um ihre unerſchrockne Mutter nachzuahmen,93 die ihr von ihren kuͤhnen Reiſen mit Maͤn - nern erzaͤhlt habe, nur aber an dieſem Orte, wo die Menge ihre oͤffentliche Verwechslung des Hauptmanns mit dem Dichter nicht ver - geſſen, wohl aber misdeuten werde, ſey es noͤthig, daß er ihre Abreiſe einige Tage ver - ſchweige und daß ſie jetzt zu Fuß ins naͤchſte Dorf vorausgehen duͤrſe, indeß beyde Herren waͤhrend des tumultuariſchen Abendeſſens ab - reiſen könnten, um weniger bemerkt zu ſeyn. — —
„ Was willſt Du denn eigentlich? (fragte Katzenberger) Ich thu’s ja.” Sie mußte ihm noch kuͤhner die Bitten wiederholen. — „ Und weiter nichts? — Wahre Weiber Schulfuͤch - ſerei! So laufe nur, denn etwas iſt doch daran; an Deinem Zartgehoͤr; ich ſogar hoͤre ungern mich verlaͤumden von Rezenſenten: geſchweige ein Maͤdchen; empfindliche Ohren ſind bey Maͤdchen ſo gut wie bey Pferden gute Geſundheits-Zeichen. Nur vergiß nicht — ſetzt’ er noch dazu bey ihrem Abſchiede — ſchaͤndlich vor lauter Lieben und Lieben den94 Vater und Dich. ” — O Vater! ſagte ſie. — „ Ja Du ganz beſonders (fuhr er fort); oder was gibt denn Dir Vaterliebe, Geſundheit und Wirthſchaft und alles gegen Deine — Bona? Sag’ es?”
So flog ſie denn noch ſeeliger aus dem Bad - orte heraus als in daſſelbe hinein, nachdem ſie vorher dem Dichter von Nieß ſeine falſch - namigen Geſchenke zuruͤckgeſandt. Jeder gute Menſch, ſogar ein boͤſer, der ſie einſam und ihrer Mutter ihr Seelen-Gluͤck mit betenden Thraͤnen zuſchreibend auf dem Wege nach dem naͤchſten Dorfe haͤtte laufen und ſich anſtrengen ſehen, haͤtte ihr nachgewuͤnſcht: „ ſo werde nur recht gluͤcklich, du furchtloſes und ſchuld - loſes Maͤdchen! Es waͤre fuͤr einen, der dich kennt zu hart, dich im Ungluͤck und in dei - nem Roſen-Herzen das kalte Meſſer des Grams zu ſehen. Nein, ihr Liebenden, in dieſer nie wieder kommenden Nacht ſprecht euch beyde ſeelig und heilig, in hoͤherem als roͤmiſchen Sinn!”
95Theudobachs Wagen rollte ſchon hin - ter ihr, da ſie kaum das Doͤrfchen er - langt.
Warum wollen wir in der ſchönſten Julius - Nacht nicht lieber zuerſt den Paradiesvoͤgeln nachfliegen und erſt ſpaͤter in Maulbronn uns mit Katzenberger und ſeinem Stiefbruder an die Tafel des Haſſens-Males ſetzen? Wenig - ſtens ich fuͤr meine Perſon fliege mit ihnen, in der naͤchſten Summel ſind ich und die Le - ſer wieder beyſammen im Bad. Es vergehen viele Jahre und viele — Herzen, eh’ einmal das Schickſal den Himmel der Liebe wieder ſo mit einem aͤußern voll Sterne einbauet und verdoppelt; denn nur im Schlachtgetuͤmmel der Noth wird meiſtens der Zauberkelch der Liebe ſchleunig geleert — aber diesmal wollte irgend ein Liebes-Engel, der die Erde regiert, zwey unſchuldige Jugend-Herzen mit allem ſegnen97 und belohnen, was ſich unſere fruͤhen Traͤume malen. — Eine geſtirnte duftende Sommer - nacht hindurch, uͤber welche das Mutter-Auge des Mondes wachte, durften beyde nach dem erſten Feuer-Worte der Liebe einander fort - ſehen und forthoͤren. — Ihr Begleiter ſchlum - merte anfangs ſcheinbar aus Hoͤflichkeit, dann wahrhaft aus Nothwendigkeit — Und wie flog das Leben vorbey, und die Baͤume und die ſchlafenden Doͤrfer, und nur einzelne Toͤne der Nachtigall zogen ihnen nach und ſprachen ihren Seelen nach — Theoda’s Herz zitterte, aber freudig mit dem Boden unter dem auf - rollenden Wagen — ihr war immer als hoͤre ſie die Toͤne der Höle fort, uͤberall klang die Welt zurück und es wurde ihr zuletzt im Rau - ſche der Nacht, als ſtehe ſie wieder mit ihrem Geliebten an der Felſenwand, an der ſich ihr Leben entſchieden. — Die Doͤrfer, die Staͤdte, das Erdengetuͤmmel ſchwanden hin und nur die Sterne und die Berge blieben der Liebe — Die Welt ſchien ihnen die Ewigkeit, die Sterne gingen nur auf und keine unter — EndlichZweyter Theil. 798ſtieg der Stern der Liebe wie ein kleiner hell - blinkender Mond im Morgen auf, die Morgen - röthe gluͤhte ihnen entgegen und die Sonne zog in die Roſen-Gluth hinein — Hinter ihnen uͤber den Bergen, wo ſie ſich gefunden hatten, woͤlbte ſich ein Regenbogen hoch in den Himmel. Und ſo kamen ſie an, eine Seele in die andere geſunken, den Nachtſchimmer in den Tages-Glanz ziehend und ihre Blicke waren traumtrunken.
O Schickſal, warum laͤſſeſt du ſo wenige deiner Menſchen eine ſolche Nacht, ach nur eine Stunde daraus erleben? Sie wuͤrden ſie nie vergeſſen, ſie wuͤrden mit ihr als mit dem Fruͤhlings Weiß und Roth die Wuͤſten des Lebens faͤrben — ſie würden zwar weinen und ſchmachten, aber nicht nach Zukunft, ſon - dern nach Vergangenheit — und ſie wuͤrden, wenn ſie ſtuͤrben, auch ſagen: auch ich war in Arkadien? —
Warum muß blos die Dichtkunſt das zei - gen, was Du verſagſt, und die armen bluͤten -99 loſen Menſchen erinnern ſich nur ſeeliger Traͤume, nicht ſeeliger Vergangenheiten? Ach Schickſal, dichte doch ſelber oͤfter!
Wir kehren vom Nachfluge hinter den unſchuldi - gen Paradiesvoͤgeln zuruͤck, um noch einen Abend lange in die Buͤhne hineinzuſehen, wo freylich kein erſter Liebhaber ſpielt, obwol ein letzter Haßhaber. Katzenberger iſt Held und Regiſ - ſeur zugleich. Gewiſſermaßen ſing’ ich in der 43 Summel, wie Homer den Zorn des Achil - les, ſo Katzenbergers ſeinen.
Dieſer — ſeit dem tuͤckiſchen Handſchlag in ſtiller Trauer und Wuth — erlas dieſen Abend dazu aus, den Gegner in der Fanggrube, nach - dem er noch einen Bluͤtenzweig darauf gewor - fen hatte, unten zu empfangen. Zufaͤllig mußt’ er ſich an der Wirthstafel dem Fuͤrſten nahe ſetzen, folglich auch deſſen Hinterſaſſen und Unedelknaben oder Edelknechte, dem Arzte101 Strykius. Der Doktor pries vor dem Landes - herrn ſtark die Hoͤle und alles; aber blos um uͤberall auf den Inſpektor derſelben, auf Stry - kius, ſchmeichelhafte Lichter zu werfen. Dieſer wollte uͤberall den Weihrauch wieder auf jenen zuruͤckblaſen; der Doktor verſicherte aber, ſein Lob ſey um ſo unbeſtochner, da ſie beyde oft in aͤrtztlichen Sachen frey auseinander gin - gen. — Als er abſichtlich blos mit der Linken aß; ſo fragt’ ihn der Fuͤrſt daruͤber; er ant - wortete: wie mehrere damit gemalt ſo eſſe er noch leichter damit, bis eine ſchwache Wunde ſeiner Rechten, die er im Hoͤlen-Eingange von einem mit der Lampe herabfallenden Stein erhalten, ſich heile; — und dabey ſchuͤttelte er die ſchlaffe Rechte und ſah heiter genug aus.
Nur der Brunnenarzt ſtutzte innerlich dar - uͤber hin und her; inzwiſchen erhob er die Hoͤle, und den Hoͤlen-Baͤren, den Doktor, hoch, doch zu hoch; aber er gehoͤrte unter die wenigen Seelen, die von Natur klein ſind; mit Seelen iſts nun wie mit Vergroͤßerungs -102 Linſen; je kleiner und winziger dieſe ſind, deſto breiter und ausgezogner ſtellen ſie den Gegenſtand vor. So iſts mit geiſtigen Ver - groͤßrungs-Linſen; je kleiner Herz oder Auge iſt: deſto groͤßer ſtellt es das Kleinſte dar — am Großen erliegt ein Vergroͤßrungsglas; — vielleicht ein Wink fuͤr Fuͤrſten, welche gern ſich und der Welt groß erſcheinen wollen, ſich mehr nach Menſchen umzuſehen, welche klein genug zugeſchliffen ſind zu bedeutenden Ver - groͤßerungen.
Der Fuͤrſt ſchlich ſich unter die Baͤume — und dann davon, wie die nachziehenden La - kaien bewieſen; — und beyde Aerzte ſaßen ohne Scheidewand neben einander.
Katzenberger ließ viel Acht und Vierziger bringen, und verrichtete vor der Welt das Wunderwerk, daß er den Brunnenarzt mitzu - trinken bat.
„ Laͤngſt ſchon hab’ er ſich verwundert — hob er an — daß die Aerzte ungeachtet des Sprichwortes (experimentum fiat in corp. vil. ) ſo wenig Verſuche an ihrem eignen Koͤr -103 per machten und nicht die verſchiedenen Arten wenigſtens der angenehmen Unmaͤßigkeiten durchgingen, um nachher beſſer zu verordnen. Ob ſich nicht ein ganzes Collegium medicum ſo in die verſchiedenen Unmaͤßigkeiten theilen koͤnnte, daß z. B. das eine Mitglied ſich aufs Saufen, das andere aufs Eſſen, das dritte aufs Denken legte, das vierte aufs ſechſte Ge - bot, davon oder von der Unnuͤtzlichkeit wuͤn - ſche er doch einen Beweis zu vernehmen, und zwar um ſo mehr, da z. B. ſo viele gluͤckliche Kuren der Aphroditen - oder Cypris-Seuche durch junge Aerzte in Reſidenzſtaͤdten bewieſen, daß ein ſolches Vorarbeiten, und ſolche ſich ſelber geleſene Selbſt-Privatiſſima der Praxis gar nicht ſchaden — Er wolle nicht hoffen, daß man ſich dabey ans Laſter ſtoße, das hier als ein Peſtimpfſtoff der Arzt ja nur ſo wie der Schauſpieler oder Dichter an ſich ſelber darſtelle, um zu lehren und zu heilen.”
„ Ich weiß faſt — verſetzte Strykius, der da ſaß mit dem Oelblatt im Schnabel und wie Buridans Eſel zwiſchen Ernſt und Laͤcheln104 — wohinaus Sie damit wollen.” „ Hienein will ich damit, mit dem Weine naͤmlich” ſagte der Doktor und eroͤffnete ihm ganz frey, er ſey geſonnen ſich gegenwaͤrtig vor ſeinen Au - gen zu betrinken, um den Effekt mit wiſſen - ſchaftlichen Augen zu beobachten, und jede Thatſache rein ausgeſpelzt zuruͤckzulegen fuͤr die Wiſſenſchaft. „ Es wird — fuhr er fort — meinen Handel gewiß nicht ſchlechter ma - chen, daß ein Mann vom Fache wie Sie, da - bey ſitzt, den ich bitten kann, ſeiner Seits mehr die nuͤchternen Beobachtungen uͤber mich anzuſtellen, und deßhalb langſamer als ich zu trinken, da es genug iſt, wenn Einer ſich opfert. Spätere Folgen am nuͤchternen Mor - gen beobacht’ ich allein. „ Wie gebeten, zuge - ſagt!” verſetzte der Arzt.
Darauf ruͤckte der Doktor noch mit einer Bitte ganz leiſe heraus, Strykius moͤge, da ſeinen ſchwachen Kopf der Wein leicht ſo zu - richte wie der verſchluckte Traubenkern den Anakreon, in dieſem Falle ſein Leibes - und Seelenhirt, ſeinen Geſundheits - und Gewiſ -105 ſens-Rath machen, und beſonders dann, wenn er wie alle Trinker am Ende anfangen ſollte zu weinen, zu umhalſen, zu verſchenken, ja die groͤßten Geheimniſſe auszuplaudern, ihn warnen und lenken, und Noth-Falls mit Ge - walt nach Hauſe ziehen; er geb’ ihm Voll - macht zu jeder Maßregel, moͤg’ er ſelber be - trunken dagegen ausſchlagen, wie er wolle.
Der Brunnenarzt ſagte laͤchelnd, er ver - ſprech’ es fuͤr den undenklichen Fall, erwarte aber denſelben Liebes-Dienſt, falls er ſelber hineingeriethe.
In der That ging bisher der Doktor mit Anſchein genug zu Werke, — und Strykius fing an, aus den geleerten Flaſchen ſchoͤne Hoffnung Katzenbergeriſcher Ehrlichkeit zu ſchoͤpfen; doch war es mehr Trug; denn jenen, der ſich laͤngſt als einen ehemaligen (wie Pitt in London) ſogenannten Sechs-Flaſchen-Mann gekannt, blieb das ſchoͤne Bewußtſeyn, daß er bey allem Trinken nicht aus den Fußſtapfen der Griechen wanke, welche bekanntlich den Rachegoͤttinnen nur nuͤchtern opferten und106 deßhalb keinen Wein vor ihnen libirten oder weggoſſen.
Jetzt beruͤhrt’ er wieder von weitem den Rezenſenten und ſagte, er ſey im Badort blos nach Maulbronn wie die Juden zum Oſter - monat nach Jeruſalem gegangen, um das kritiſche Paſſahlamm oder den Paſſahſuͤndenbock zu ſchlachten und zu genießen; noch aber fehle der Bock, und kaͤm’ er an, ſo ſey doch man - ches anders als ers haben möchte. Strykius konnte nicht anders als er mußte ſtutzen. Jetzt bey der dritten Flaſche oder Stazion hielt es der Doktor fuͤr ſeinen Schein zutraͤglich, ein wenig mit ſeinem Verſtaͤndigſeyn nachzulaſſen, und mehr ins Auffallende zu fallen; uͤberhaupt mehr den Mann zeigen, der nicht weiß, was er will. „ Noch gehts gut, Herr Kollege, ſagt’ er, doch ſieht man, was der Menſch vertraͤgt. Ich waͤre jetzt im Stande, jedem, der wollte, unangenehme Dinge mit einer ſolchen juriſtiſchen Kautelarjurisprudenz zu ſagen, daß der Mann an keine Injurienklage denken duͤrfte. — Es boͤte mir z. B. eine107 vornehme Reſidenz-Frau ihr Herz und Hand, ſo koͤnnt’ ich, da es nach Quiſtorp*)Quiſtorps Grundſätze des teutſchen[peinlichen] Rechts. 1r Bd. 2te Auflage. fuͤr Kleinigkeiten einen recht haͤmiſchen Dank zu ſagen keinen Animus injuriandi, Schimpf - oder Schmaͤh-Willen verraͤth, der treflichen Dame ins Geſicht verſichern: gut! Ich nehme noch dieß an; aber nun beſchaͤmen Sie mich mit keinen groͤßern Geſchenken, da ich noch nicht einmal Ihre Kleinigkeiten zu vergelten vermocht. — Dieß koͤnnt’ ich.
So weiß ich aus demſelben Quiſtorp die andere Einſchraͤnkung, daß man nie beſchimpfe, wenn man blos die Sachen ſeines Neben - und Mit-Menſchen (nicht ihn) veraͤchtlich herunterſetzt, als etwan ſeinen Anzug, ſeine Gaſtmaͤler u. ſ. w. Ich wuͤrde alſo mit Vor - bedacht, da doch am Menſchen alles nur fremde Sache iſt, außer ſeiner Moralitaͤt, die er ſich, wie der preußiſche Soldat die Knoͤpfe, auf eigne Koſten anſchaffen muß, ohne Ehren - klage im hoͤchſten Grade anzuͤglich und gering -108 ſchätzig, z. B. von den ſchwachen Talenten oder Geſichtszuͤgen eines Rezenſenten ſprechen, beydes Sachen, die der Tropf ſich nicht geben kann; eben ſo wollt’ ich auf viele deutſche Kronen und Thronen (ein ſchöner weib - licher Reim) losziehen, ohne die Beſitzer, die ja beydes, theils halb auf, theils unter ſich haben, im Geringſten zu meinen. Doch ich kehre zu meinem Satze zuruͤck — beylaͤufig ein ganz gutes Zeichen, denn Trunkne können wie Verruͤckte, nie dieſelbe Sache unveraͤndert wiederholen, und ſtehen hier tief unter Auto - ren und Advokaten. — Und Rechtswiſſenſchaft iſt nicht einmal mein Fach — (doch trinken wir auf ſie); aber Heilkunde bleibts ſtets. Wie geſagt, ich ſagte vorhin von Injurien und dergleichen. Wo finden Sie hier, Herr Doktor, den Vollzapf? “
Strykius beſchwor nach allen Seiten hin das Wiederſpiel. „ Dieß ſag’ ich beym Teufel ja ſelber, verſetzte der Doktor — und wozu denn Ihr Fluchen? Ich denke, ich kenne mich und Viele. Manches bringt mich auf, daruͤber109 iſt keine Frage. Nur wuͤnſcht’ ich zu wiſſen, ob jemand von der trefflichen, nie hoch genug zu achtenden Geſellſchaft um uns her etwas an mir merke; aber freylich Fox und Pitt konnten nur halb ſo viel vertragen.
Mein lieber H. Brunnenarzt, Sie brauchen bey Gott nicht zu laͤcheln, als laͤg’ ich ſchon in den Lagen, fuͤr welche ich Ihre Vormund - ſchaft beſtellte. Sie ſehen, ich weiß noch alles. Hab’ ich aber ein Geheimniß verrathen? Seh’ ich irgend einen Kopf doppelt? Kaum einfach. — Verſchenk’ ich ſchon außer dem Einſchenken? Und wo ſtehen mir dumme Thraͤnen der Liebe und Trunkenheit im Auge? Im Gegentheil verſpuͤr’ ich eher harten Humor zum Todtſchla - gen, beſonders ſchluͤg’ ich gern einem Manne aus Ihrer Reſidenzſtadt, der mir mit ſeinen Augen - und Weisheitszaͤhnen ins Bein gefah - ren, dieſe auf der Stelle aus. Die Beſtie kommt aber erſt, wie Sie ſagten, kuͤnftige Woche. “
„ Sie erhitzen ſich, Guter “, ſagte Stry - kius. „ Aber fuͤr das Recht, und fuͤr jeden110 Rechtſchaffnen, der es mit mir ſo redlich meint, als du, Stryk! — Herr Brunnenarzt, ich ſage Du zu Ihnen, wie der Ruſſe zu ſeinem Kaiſer. Einen Kuß, aber einen Judas den zweyten! Denn Du weißt aus dem neuen Teſtament, wo der Brief des zweyten Judas ſteht. Der erſte Judas war nie mein Mann. —
Strykius gab Katzenbergern einen Buͤhnen - Kuß. „ Trinke zu, heitze ein, zuͤnd’ an, mein Zuͤnd-Stryk! Ohne Wein war dem Urdeut - ſchen kein Vertrag heilig. — O, wenn ich daran denke! Ein Freund iſt’s höchſte. Ich ſage Dir, Stryk, einſt hatt’ ich einen, und wir herzten einander, und er mich — alles that ich fuͤr ihn, und machte meinen Schnitt fuͤr ihn — ich haͤtt’ in ſeinem Namen geſtoh - len. Halt, dacht’ ich, haͤltſt Du auch Stich? Ich wollte ja in der Eile etwas Ihnen dar - ſtellen; ſage mirs, Bruder? “— Das Bewaͤh - ren Ihres mir unbekannten Freundes, verſetzte der Brunnendoktor. „ Und dieß willſt du beſſer wiſſen, als ich? Stich, ſagt’ ich ja vorhin, haͤlt er, wenn er ſich bewaͤhrt und ſeinem111 Freunde zu verzeihen weiß. Der nur iſt mein Freund. Deßhalb macht’ ich mir eine leichte Streitſache mit ihm zu Nutz und ſchleuderte dieſem Freund, um recht zu wiſſen, woran ich mit ihm waͤre, eigentlich um ſeine Liebe gegen mich zu erproben, einen vollen Bumper oder Willkommen mit allen Kraͤften an den Kopf; darauf beobachtete ich ſcharf und kalt, wie er bey dieſer erſten Freundſchafts-Anker-Probe Stand halte und ſich betrage. — Aber wir pruͤgelten ſogleich uns mit vier Haͤnden durch, und der Treuloſe haßte mich hinterher wie einen Hund. Dieß hatt’ ich von meiner erſten leichten Liebes-Probe; — was haͤtt’ ich mir vollends von einem ſo wankelmuͤtigen Freunde zu verſprechen gehabt, haͤtt’ ich ihn noch ganz anders und ſchaͤrfer auf die Kapelle gebracht, z. B. um Haus und Hof, oder gar ums Leben? Anders ſollen, hoff’ ich, unſere Freundſchafts - Proben ablaufen. Mich meiner Seits erſchla - gen Sie, wenn Sie wollen; ich umhalſe Sie ſtets ſogleich in der frohen Ewigkeit, und ſage: willkommen mein Stryk, mein herauffuͤhrender112 Franziskaner - und Treppen-Strik! — Doch dieß ſind Wortſpiele und elend genug. “
Der Brunnenarzt hatte bisher, zumal vor mehreren Maus-Ohren an der Tafel, den bedaͤchtigen Mann geſpielt, und ſich wenig anders gegen den Trunk-Sprecher ausgelaſſen, als mit leichtem Nein, Ja und Wink. Nur Neugier nach dem Ausgange, Scheu vor dem wild-begeiſterten Doktor, mehr Hoffnung, ihn vor der Welt zuletzt beſchaͤmend zu ver - wickeln, und ſogar einiger angetrunkener Muth pichten ihn auf dem Folterſtuhle feſt. Nuͤchtern erhielt er ſich uͤbrigens durch Meid-Kuͤnſte — ja mehr als der Doktor ſelber, der ſich zuletzt doch durch Reden betrank.
Erſt bey der vierten Flaſche uͤberzeugte jener ſich, daß im Weine oder im Doktor wirklich Wahrheit ſey; mehre verſprochne Rauſch - Nachwehen und Feuermaͤler waren ſchon da, nur das geweiſſagte Verſchenken wollte ſich nicht einſtellen. Der Doktor warf jetzt allerley ſeltſame Winke hin, daß er ſehr gern wolle, der Fuͤrſt waͤre nicht da, aber wol dafuͤr ein113 anderer Mann fuͤr einen dritten, der pruͤgelt: „ kennſt du ſeinen Leibmedikus Semmelmann recht? “ſagt’ er. „ Laͤngſt als den gelehrteſten Arzt und feinſten Mann und meinen Freund “verſetzt’ er etwas laut, um von fuͤrſtlichen Spionen, die den Geblendeten der Tafellichter rings umher im Blaͤtter-Dunkel ungeſehen belauſchen konnten, beſſer vernommen zu wer - den. „ Nun ſo ſag’ ich Dir, ich bin noch ſchwankend, ob ich gegen Tagsanbruch dieſen deinen Freund ganz todtſch[lag]e, oder nur halb. Weißt Du (fing er leiſe an, und fuhr ſogleich laut fort) wer dieſer Semmelmann im Inner - ſten iſt, Stryk? Der Fallſtrick, der Galgen - ſtrick, der Ehrenkronenraͤuber, kurz der Rezen - ſent meiner Werke. „ Wie? — Herr Kollege! “ſagte Strykius. „ Kern Wort weiter, er wird todtgemacht! — Flex heda! mein Kerl faͤhrt augenblicklich vor bey Herrn Brunnenarzt Strykius, meine Tochter wird nicht geweckt — ſie ſoll nichts wiſſen, bis ich wiederkomme, und das ohne alle Umſtaͤnde.”
Zweyter Theil. 8114Wenn wirklich, wie ſchon Swift nach Rochefaucault ſagt, wir in jedes Freundes Ungluͤck etwas weniges finden, was uns heim - lich erlabt: ſo mußte allerdings der Brunnen - arzt in der Ausſicht auf die Auspruͤgelung ſei - nes Freundes Semmelmann etwas Behagliches finden, da er ſo lange dieſe ſich ſelber zuge - dacht geglaubt; auch wurde dieſe Behaglichkeit durch die Betrachtung eher vermehrt als ver - mindert, daß der Leibmedikus, ſein Neben - buhler, der als Weg-Aufſeher der erſten und zweyten Wege des Fuͤrſten mehrere Wege Rechtens und Himmelfahrten und bedeckten Wege und engen Paͤſſe des Landes beſetzte, vom beruͤhmten Katzenberger vielleicht durch Pruͤgel koͤnnte um einigen Kredit, wenn nicht um Glieder, und mehr gebracht werden. Dieß hielt ihn aber nicht ab, vielmehr ſpornte es ihn an, ſich nicht nur unter vier Ohren ſon - dern vielleicht vor mehr als zehn Hörmaſchi - nen des Hofs im Finſtern entſchieden des Leib - medikus oder der Semmelmannſchen Unſchuld anzunehmen, und zwar mit ſo groͤßerer Waͤrme115 der Ueberzeugung, je gewiſſer er wußte, daß er ſelber die Rezenſion gemacht.
„ Mein beſter Kollege, begann er, moͤge mich nur hoͤren! Wie ſtark der Argwohn ge - gen den Herrn Leibmedikus gegruͤndet, ent - ſcheid’ ich am wenigſten, da ich Journale, worin etwas ſtehen ſoll, als z. B. die Gothai - ſchen Anzeigen, die Oberdeutſche Litteratur - Zeitung, die neue allg. deutſche Bibliothek und dergleichen Unrath mehr mithalte, als mitleſe. Aber treflicher kühner Amts - und Waffenbru - der! Laſſen Sie mich doch auch reden! Ken - nen Sie die Mislichkeit ſolcher Namen-Ablau - ſchungen wie die Ihres Herrn Richters? Ich halte Semmelmann, ſoweit ich ihn kenne, durchaus fuͤr unſchuldig, doch geſetzt, aber nicht zugegeben, Sie hätten Recht; aber Freund, wie kann ein Gelehrter mit einem andern Ge - lehrten (zur Abwaͤgung zwey Solcher hab’ ich keine Gewichte) den geiſtigen Zwiſt mit Waf - fen ausfechten wollen, die nichts treffen als Leiber? — Bey Gott, ich bin hier nicht be -116 ſtochen und die fremde Sache nehm’ ich kuͤhn fuͤr eigne.”
„ Ich habe Dich Spitzbuben wirklich ruhig ausgehoͤrt, blos nur um Dir vorlaͤufig darzu - thun, daß ich bey Gott! bey Verſtand bin, wie einer, und nach niemand frage — Was verſchlagen alle Flaſchen im Magen gegen das Wenige, was aus ihm davon in den Kopf ſteigt? Aber, wie geſagt, daß iſt mein Satz, oder ich weiß nicht, was wir ſagen. Und doch ein Spitzbube biſt Du ſelber ſo groß wie Semmelmann, weil Du ihm aͤhnelſt und beyſtehſt. Denn, Du biſt, nimm mirs nicht uͤbel, lieber Stryk — von Hauſe aus — ein milder Mann mit einem weichen Herzen im Bruſtkaͤſtchen, und es iſt Dir nachzuſehen, wenn Du aus verdammter verhaßter Liebe Schubjacke und Stricke (ich rede geſetzt) ver - fichſt; denn Dein Angeſicht iſt ein ſanfter Oelgarten, wo man Blut ſchwitzt, und Du biſt am ganzen Leibe mit Selbſt-Daͤmpfern wie mit Blutigeln beſetzt. Du weißt nur zu gut, wer mich rezenſiert hat; aber ſiehſt ihn nur117 nicht gern erſchlagen. Ein Knicker iſt Sem - melmann auch, und nichts haſſ’ ich mehr als ſo einen geitzigen Hund, der mir nichts her - ſchenkt, der ſelber ſeinem Hund nichts zu freſ - ſen gibt, als Gras, das dem Thier nur ſchmeckt, wenn ſich das Wetter aͤndert. — Hat er nicht bloß aus Geizhalſigkeit meine Praxis beneidet obwol außer Lands und mei - nen Ehrenſold und die wenigen Ehrenpforten und Ehrenlegionen, die ich mir etwan er - ſchrieben?” —
„ Iſt der Leibmedikus nicht der größte Schmeichler des Hofs, und denkt bey dem Fuͤrſten, weil ich bey Gelegenheit der Haͤma - toſen und Misgeburten, nichts von den mine - raliſchen Beſtandtheilen des Landes-Bades an - gebracht, Ehre einzulegen, wenn er mir eine groͤßere nimmt als er hat? Die Sache iſt, ſeine Zunge gleicht der Bienenzunge, welche einem Fuchsſchwanz aͤhnlich iſt und die fuͤr ſich Honig ſaugt, und fuͤr andere Gift. Wie ge - ſagt Bruder! — Ich erhebe Dich vielleicht118 zum Leibmedikus, wenn ich den alten erſchlage, mags hoͤren wer will.”
„ Guter Amtsbruder, ſagte Strykius, jetzt in der Nachtkälte tritt die vorher abgeſchloſſne Bedingung ein nolens volens” — Dummes Wort, ich will entweder nolens oder volens” — „ Fein bemerkt! Wir gehen dann mit ein - ander zu mir, auf einen warmen Thee.”
Unterwegs ſtammelte er nach Vermoͤgen, und was er ſagte, ſollte nicht ſowohl Sinn haben, als wenigen: „ ich brauche keinen guten Rath, ſagt’ er, ſo wenig als ein Hund Zahnpulver und Stocher — ich werde meine Sache ſchon ſo machen, daß man vielleicht dieß oder jenes da - von ſagt — Mancher iſt ein geitziger Hund und ziehe mir einmal einen Hundsſchwanz ge - rade, ich bitte ſehr — Gut, der Mann ſoll abſtehen wie Fiſche vom Donnerwetter auch ungetroffen, oder wie ein Wagen voll Krebſe, wenn unten ein Schwein durchkriecht. ” —
Sie fanden den Wagen vor Strykius Thuͤre, der ſich wieder laut gegen das Nacht - Fahren erklaͤrte und den Doktor die Treppe hinaufzog, um droben leiſer ſich uͤber den Leib - medikus auszuſchuͤtten. Er ſchickte ſogar den120 Bedienten, ſobald er den Ofen fuͤr den Thee geheitzt, mit Auftraͤgen in ferne ſchon zuge - ſperrte Häuſer davon, um unbehorcht zu blei - ben.
Der Wein — die Nacht — die Einſam - keit — der Schlag auf die Hand — dieſes Ineinandergreifen ſo vieler Zufalls-Raͤder brachte den Doktor auf einmal in der Stube ſo weit, als er nach andern Planen kaum in einer Woche ſeyn konnte. Er zog daher einen Taſchen-Wind-Puffer heraus, ſchoß die Ku - gel in die Wand — zog und ſpannte einen zweyten und ſagte: ein lautes Wort von Dir, ſo ſchieß’ ich Dich leiſe nieder und ich fahre davon. Du biſt mein Rezenſent, Dieb, nicht der ehrliche gelehrte Semmelmann — und ich bin noch nuͤchterner als Du Saufaus. Schweig, ein Wort, ein Schuß! Es macht mich ſchon Dein bloßes Waſch-ſchwamm-Geſicht mit ſei - nen ſchlappen Vorderbacken, und ſeinem Ge - laͤchel halb wuͤthig. Ein Strafexempel muß ich nun an Dir zum Vortheil der ganzen ge - lehrten Welt dieſe Nacht ſtatuiren; nur ſteh’121 ich noch an, ob ich Dich ganz aufreibe, oder blos lahm ſchlage oder gar nur ins Geſicht mehrmals ſtreiche. Hierſchleudr’ ich noch zum Ueberfluß den Hakenſtock von dem Giftpfeil auf Deinen Nabel ab, (der Stock fuhr aber ans Knie) — ſieh den auslaͤndiſchen Pfeil, womit ich Dich harpuniere auf ewig, wenn Du ſchreieſt oder laͤufſt; Jetzt verantworte Dich leiſe, nen - ne mich aber Sie, denn ich bin der Richter und Du der Inquiſit.”
„ In der That (hob der Brunnenarzt an,) es wird mir ſchwer, nach vielen heutigen ge - ſchickten ſcherzhaften Rollen von Ihnen — und in ſo fern ſo angenehmen — dieſe mit einem Ueberfall auf Leib und Leben nicht fuͤr Scherz zu nehmen, beſonders da Sie ja nicht ganz gewis wiſſen koͤnnen, ob ich die Rezenſionen gemacht.”
„ Hier werf’ ich Dir — ſagte der Doktor in die Taſche fahrend, und nahm das Heft des Pfeils in den Mund, um mit dem Windpiſtol fort zu zielen — deine Handſchrift aus der Druckerei, vor die Fuͤſſe, Raͤuber zu Fuß.”
122„ Gut, dieß entſchuldigt Ihre erſte Hitze gewiß; aber erwaͤgen Sie auch, daß uͤberall von jeher der Gelehrte, beſonders der Kunſt - richter gegen den Gelehrten zum Vortheile der Wiſſenſchaft auf dem Papier eine freie Sprache fuͤhrt, die er ſich nie im Zimmer unter vier Augen ....
„ Zum Wiſſenſchafts-Vortheil? — Iſt es nicht jammerſchade, daß Leute wie Du auch nur das Geringſte davon verſtehen? Koͤnnen ſolche Leute unwiſſend genug ſeyn? Die Wiſ - ſenſchaft iſt etwas ſo Großes als die Reli - gion — fuͤr jene ſollte man eben ſo gut Muth und Blut daran ſetzen als fuͤr dieſe, — und doch wagen die Rezenſenten nicht einmal ihre Namens-Unterſchrift daran. Eine Suͤnde pflanzt ſich nicht fort, und jeder Suͤnder er - kennt ſie an; ein unterſtuͤzter Irrthum kann ein Jahrhundert verfinſtern. Wer ſich der Wiſſenſchaft weiht, beſonders als Lehrer der Leſer, muß ihr entweder ſich und alles, und jede Laune, ſogar ſeinen Nachruhm opfern:”
„ Wie ſchön geſagt und gedacht! “liſpelte123 Strykius. „ Schweig! — oder er iſt ein Re - zenſent wie Du; und der Teufel hole jeden Eſel, der ſchreibt, und den er reitet; es iſt ge - nug, wenn das Thier ſpricht; Mache mir jetzt etwas Thee zurecht, denn das Waſſer kocht; ſchneide aber Deine Hoſenknoͤpfe ab, damit Du mir nicht entlaͤufſt.”
„ Lieber mein Leben laſſ’ ich, als meine Ehre, ſagte Stryk, blos aufknöpfen will ich den Hoſenſack und herunter laſſen; und es thut ja der Laͤnge wegen, denſelben Dienſt…”
Waͤhrend er im Hemd, muͤhſam das Thee - waſſer aufgoß: zog der Doktor den Widerruf hervor und ſagte, wenn er ihn beſchwoͤre und unterſchreibe, ſo woll’ er ihm das Leben ſelber ſchenken, und ihn nur an den Gliedern, wo er es fuͤr gut befinde, mit dem Stab-Sanft beſtreifen. Strykius ſchwur und ſchrieb. Dar - auf begehrte der Doktor, daß ers auswendig vor ihm lerne, weil er ſelber das Dokument wieder zu ſich ſtecken muͤſſe. Der Arzt predigte, den Aufſatz endlich auswendig (der Hoſenſack124 war ſeine Kanzel) her. „ Gut! ſagte Katzen - berger. Nun haben wir beyde nichts Wichti - ges weiter mit einander abzumachen, als kolle - gialiſch zu uͤberlegen, welches von den Glied - maßen ich denn vor dem Einſitzen zu zerſchla - gen habe; wir haben die Wahl. Wir könn - ten die Naſe nehmen, und ſolche breit ſchla - gen; theils weil Du auf meine grobe knollige kurze Fuhrmanns-Naſe etwas herunterſiehſt, theils weil nach Lavater ſich unter allen Glie - dern die Naſe am wenigſten verſtellen kann, und Du alſo bey Deiner Vermummerey Gott und mir danken wirſt, wenn Du ein aufrich - tiges Glied weniger haſt — Wir koͤnnten aber auch zum Kopfe greifen, womit oder wo - rin Du beſonders geſuͤndigt und rezenſiert, und ich koͤnnte, da er noch nicht offen genug ſcheint, wenigſtens die ſieben Sinnenloͤcher, die der Vorderkopf hat, auch dem Hinterkopf durch den Natur-Trepan eines ſogenannten Stocks einoperiren — Oder vor und von der Hand koͤnnten ſo viele Finger als leider rezeptiren und rezenſiren, bequem dezimiert werden —125 Oder ich könnte auch das Piſtol an Deine Wade halten und ſie durchſchießen, um aus der Haͤmatoſe zu ſehen, ob ſie eine falſche ſey — die Ausleſe wird ſchwer, Du haſt ver - dammt viel Glieder und ich glaube gerade ſo viel als Peſtalozzi in ſeinem Buch der Muͤtter aufzaͤhlt — Oder waͤhlt man am beſten das Ganze, die dreyhaͤutige Oberflaͤche und zeigt man ſich Dir mehr von der lieben - den Seite, wann ich eben auf Dich als mei - nen Nachfolger, beeidigten Prieſter und Lehr - boten, gerade ſo wie der Franziſkus und an - dere Heilige die Wundenmaͤhler von ihrem er - ſcheinenden Herrn bekamen, alle die blauen und braunen und gelben Flecken, womit mich in mehr als einer Pruͤgel-Disputa mancher Raphael angemalt, gleichſam als stigmata uͤbertrage und abfaͤrbe, um unſere Vereini - gung zu zeigen — Nun ſo ſtimme doch mit, uͤber das Glied, ſage welches!” —
— „ Mein Herz,” verſetzte er. „ So ver - traut ſpricht man nicht mir,” ſagte Katzenber - ger. „ Meines, mein’ ich ja,” ſagte Stryk.
126„ In dieß Glied moͤgen die Weiber ihre dummen Wunden machen! Herr, hier liegt Euer dummer Dachsſchliefer, der niemand an - bellt, und anwedelt; das unnuͤtze Vieh ſollt Ihr mir, wenn ich unter den waͤhlbaren Glied - maßen etwas naſchen ſoll, zum Zerſchneiden mitgeben, und vorher vor meinen Augen er - droſſeln, da ich die Beſtie ſonſt nicht fort - bringe!” „ Er iſt, ſagte der Arzt, nur ſo ſtill, weil er vor Alter keine fuͤnf Sinne mehr hat; erdroſſeln kann ich das treue Thier unmoͤglich, aber hergeben will ich ihn, da er doch bald abgeht.”
Hier hob er den lebens - und ſchlaftrunk - nen Dachsſchliefer auf, und gab ihm den Ju - das - und den Todeskuß: „ Behalt’ ihn, un - wiſſenſchaftlicher Narr! rief der Doktor; eh’ ich ein veraltetes Vieh, lieber meine zehn Fin - ger gaͤb ich her!” — Dieſer Zufall öffnete ploͤtzlich dem Brunnenarzt einen Himmel und eine Ausſicht: „ ich beſitze hier, ſagt’ er, im Kabinet aus dem Fraiſch-Archiv eine alte ab - geduͤrrte Hand, zwar keine ausnehmende Mis -127 geburt, aber es iſt doch eine Hand mit ſechs Fingern, die nicht jeder am Arme hat.”
„ Si bon! — Ganzer Mann! Schatz gebt mir die Hand, nicht Euere — ſo geh’ ich ab und ſchone jeden Hund. ” — Waͤhrend Stry - kius die Sechsfingerhand als einen Reichsab - ſchied gegen das Fauſtrecht aus dem Kaſten holte: ſaͤete Katzenberger hinter deſſen gebog - nen Ruͤcken mehrere Knallkuͤgelchen auf ver - ſchiedne erwaͤrmte Plaͤtze des Ofens und legte nicht ſo wohl Feuer als Donner ein, um auch in ſeiner Abweſenheit das Strykiſche Gewiſſen Nachts oder ſonſt mehrmals fürchterlich zu wecken durch Laͤrmkanonen, Nothſchuͤſſe, Tuͤr - kenglocken oder andern Metaphern. Waͤhrend der Donnerſaat ſprach er fort, und ſagte ins Kabinet hinaus: „ ich bin aber heute ſo weich wie ein Kind; das macht der Trunk; Darwin bemerkt ſchon laͤngſt, daß ſich den Saͤufern die Leber, folglich die Galle verſtopfe, daher ihre Gallenſteine und Gelbſuchten.”
Strykius brachte die eingeräucherte Hand, wogegen Eſaus, und Van Dyshaͤnde dem128 Doktor nur als invalide oder defekte erſchienen. Nachdem er dieſe Plus-Finger genau daran beſehen; muſte ſie ihm jener ſelber in die Ta - ſche ſtecken, damit er in der geruͤſteten Stel - lung verbliebe. Freundlich und ganz verändert bat er, ihm ein Flaͤſchchen mit Thee mitzu - geben, um es ruhiger im Wagen zu trinken. „ Nach der Schenkung der fremden Hand ver - zicht’ ich gern auf jeden lebendigen Handdruck; eure Kußhand in meiner Taſche hat alles ins Reine und uns einander naͤher gebracht, und wir lieben uns, ſo gut wir koͤnnen. Nur bitt’ ich Euch noch, mir die Stockſcheide, wo - mit ich vorher in die Scheibe des Knies ge - troffen, ſelber an den Giftpfeil anzuſtoßen, weil ich mich aus Mistrauen nicht buͤcke, Schatz!”
Als Stryk etwas aͤngſtlich die obere Haͤlfte des Hakenſtocks an die untere angeſchienet hatte: haͤndigte Katzenberger mit dem Gem - ſenhorn noch ſchleunig einen betraͤchtlichen Schlag den Schreibknoͤcheln des Mannes ein — es ſollte ein Siegel auf die Bundesakte129 ſeyn — und ſagte: „ nur ein Katzenpfoͤtchen und Handſchlag fuͤr den in der Hoͤle, Adio!” Er eilte die Treppe hinunter und in den Wa - gen hinein, um ſchnell uͤber die Graͤnze des Hauſes und Landes zu kommen. Noch im Dorfe begegnete ihm Stryks Bedienter; dem er neuen Dank an ſeinen Herrn mitgab, und vor dem er fahrend die Geſundheit deſſelben in Thee trank. Frohlockend fuhr er mit dem Reichthum von ſechs Fingern und von zwey Alliance-Haſen im Geleiſe des Himmelweges ſeiner Tochter nach. Strykius ſang zu Hauſe Dankpſalmen an ſeine Geſchicklichkeit und an das Geſchick, daß er ſich durch eine todte Hand aus einer lebendigen gerettet; und machte ſin - gend die Beinkleider und dann die Hausthuͤre zu; erſt da er die letztere dem Bedienten wie - der oͤffnete, ſtimmte er Kriegslieder und Wet - tergebete gegen deſſen ungeheures Außenblei - ben an, und gegen den Raͤuber von Doktor. Sein erſter Gedanke war, dieſem in einer ganz neuen Zeitung durch die zehnte Hand ſtatt ei - ner Benefiz-lieber eine Malefizkomoͤdie zu ge -Zweyter Theil. 9130ben und ihn zu einem Mitgliede in die Un - ehren-Legion der erbaͤrmlichen Autoren aufzu - nehmen. Ferner, hatt’ er den zweyten Ge - danken bey ſich anzuſtehen, ob er uͤberhaupt einen ihm mit dem Piſtol auf der Bruſt abge - nöthigten Eid und Widerruf nur wirklich zu halten habe. Da platzte auf dem Ofen eine Knallkugel und ſein Gewiſſen, von dieſer Krach - mandel geſtaͤrkt, ſagte: „ nein, halte Deinen Eid, und nimm Dir nur die Zeit; denn nach zwanzig Jahren kannſt Du eben ſo gut wider - rufen, wenn Du nicht ſtirbſt, als morgen.”
Die Sechs Finger und acht Haſenbeine wa - ren ſo erquickende Zuckerroͤhre, an denen Ka - tzenberger unterwegs ſaugte, daß er nach dem Unfall wenig fragte, ſo wohl die Abrechnung der Reiſekoſten mit Rießen vergeſſen zu haben, als das Aufheben des weggeworfenen Wind - piſtols bey Stryk. Das letztere ſollten ihm, beſchloß er, ein paar höfliche Zeilen nachholen. Er ließ gallopiren um noch vor Untergang des Mars uͤber das Grospoleyiſche Graͤnzwap - pen hinauszufahren. Dann ſtieg er in Fug - nitz aus, und genoß bey Licht ſeine Misge - burten ruhiger.
Nach einem kraͤftigen Extrakt von kurzem Schlaf flog er der Tochter nach; und durch das Staͤdtchen Huhl mit gezognem Giftpfeil vor dem Hauſe des Pharmazeutikus vorbey. 132Dieſer ſtand eben unter der pharmazeutiſchen Glasthuͤre, und unter der Wappen-Schlange ſeiner Offizin neben dem Orts-Phyſikus und zeigte dieſem ohne Hutabziehen, und ſonſtige Gruß-Schuͤſſe mit ausgeſtrecktem Arme den Giftmiſcher und Haſendieb.
Erſt ſpät bey Licht-Anzuͤnden, kam er zu Hauſe an. Er hoͤrte, Theoda, die ſchon Vormittags angelangt, ſey bey ihrer Freundin. Halb verdruͤßlich machte er ſich nach Mehlhorns Wohnung im Erdgeſchoſſe auf, welches fuͤr ihn den Vortheil hatte, daß es Abends durch Fenſterladen gut genug verſchloſſen war, um ungeſehen durch ſie hinein zu ſehen.
Katzenberger war ein Mann von vielen Grundſaͤtzen, worunter er einen hatte, den zarte Seelen, welche die menſchliche von keiner ſicht - baren Gegenwart gemilderte Schaͤrfe der Ur - theile uͤber daube Abweſende ſchwer ertragen, ihm nicht ſo leicht nachbefolgen konnten, naͤm - lich den zu — horchen und zu luken. Darum erklaͤrte er beſonders Fenſter-Laͤden der Erd - geſchoſſe fuͤr die beſten Operngucker und Hoͤr -133 maſchinen, die er nur kenne; und ſagte, ſol - che Laͤden ſchlöſſen etwas wol dem Raͤuber, aber nichts dem Herzen zu — und man ſchaue nie ruhiger und ſchärfer in Haushaltungen, als durch zarte Ritzen, entweder in einen off - nen Himmel oder offnen Schaden, und er wiſſe dieſes aperturae Jus oder dieſe servitus luminum et prospectus, kurz dieſe Licht - Anſtalt mit nichts zu vergleichen als mit Tod - tenbeſchau, und Leichenoͤffnung; nie ſey er von ſolchen Fenſterläden weggegangen, ohne irgend einen Gewinn davon zu tragen, ent - weder eines Schmaͤhwortes auf ihn, oder ſonſt einer Offenherzigkeit.
Durch den Fenſterladen ſah er nun mit Erſtaunen die Woͤchnerin Bona im Bette und in ihren Händen zwey fremde Haͤnde, die ſie auf einander druͤckte, Theoda’s und Theudo - bachs, indem ſie ihr klares obwohl mattes Auge mit ſo viel Entzuͤckung und Theilnahme zu den beyden Liebenden aufhob als ſie ihrem Zuſtand erlauben durfte. — Er ſah ferner, wie der Umgelder mit (geborgtem) Weinglaͤ -134 ſern, und mit (bezahltem) Weine ohne An - ſtand, aber lebhaft umherſprang, und das Infuſorium ſeiner eignen Begeiſterung, einer himmliſchern vorhielt und anbot, ſogar der neuen Kindbetterin, welche indeß mitten in der ihrigen genug Bedachtſamkeit beſaß, dieſen boͤſen Honigthau des Wochenbettes auszuſchla - gen. — Er vernahm ſogar, daß der Zoller ein Wagſtuͤck mit ſeiner Zunge beſtand und ſagte: gnaͤdigſter Herr Gevatter, aufs hohe Wohl unſeres Pathen! — Von dem Nachmittag und der vorigen Nacht war alſo (ſah er durch die Spalten) das Pfund jeder Stunde gewiſſenhaft benutzt, und auf Zinſen der Liebe angelegt. — Nie ſah die blaſſe hell - blauige Bona verklaͤrter und durchſichtiger aus als in dieſer Stunde des Mit-Entzuͤckens, aber ihre Verklaͤrung verſchoͤnerte auch die fremde; denn ein liebendes Paar erſcheint zaͤr - ter und himmliſcher durch den Wiederſchein ei - ner theilnehmenden Freude.
Jetzt hoͤrte der Doktor den Zoller ausru - fen: „ ich gaͤbe meine Hand darum, waͤren der135 Hr. Doktor Gevatter da; meine ſcharmanten Brautleute waͤren aufgeraͤumter und ſtießen an. ” — Der Zoller hatte als ein Mann, der wenig anders noch in der Welt ſcharf beobach - tet hatte, als Zoll und Umgeld, aus Theoda’s Bleich - und Ernſt-Sinn den Schluß gezogen, ſie bange vor des Vaters Entſcheidung; wie - wohl die heitere Roſe blos vor der heißen Sonne der Liebe und Entzuͤckung zur weißen erblaßte. Der tiefe Ernſt der Liebe griff ihr ganzes mun - teres Weſen an. Der Hauptmann, ſchon von Natur und Wiſſenſchaft ernſt, war durch die plötzliche unberechnete Liebes-Lohe nur noch ernſter geworden; denn ſonſt irgend einer aͤu - ßeren Stoͤrung (Perturbazion) ſeines Liebes - Hesperus durch den Vater Saturn oder Mars, kam ihm bey ſeiner mathematiſchen Hartnaͤckig - keit und kriegeriſchen Entſchloſſenheit gar nicht in Betracht, ja wenig in Sinn. Mehlhorn fuhr er fort: „ ich ſetze meine Ehre zum Pfande die Sache geht.” Vergeblich winkte ihm Bona: „ ich weiß ſehr gut, ſagt’ er, was ich ſagen will; ich kenne meinen theuerſten Hr. 136Gevatter Doktor ſo gut, als euch ſelber, und vermachen ihm Dieſelben auf Ihrem herrlichen Ritterguth Ihre ganze Hoͤle voll Baͤrenkno - chen zum Ausleeren: ſo weiß ich, was ich weiß.”
Der Doktor ärgerte ſich am Fenſterladen, daß Mehlhorn bey Kraͤften ſeyn wollte, und keck — denn derſelbe Liebhaber aller Kraft - Menſchen wird doch verdruͤßlich uͤber einen Schwaͤchling, der plötzlich, wenn auch nur im Trunk-Muth, etwas vorſtellen, und dadurch das Verhaͤltniß der Unterordnung ſchwaͤchen will. — Doch ſagte zu ſich der Doktor: „ uͤbri - gens iſts gut und ich bin Hr. Theudobachs gehorſamer Diener und Schwiegervater, wenn es mit der Hoͤle richtig iſt.”
Der Doktor trat gelaſſen ins Zimmer und ſah jeden unverlegen an. Die verſchiedenen Konzertiſten der harmoniſchen Liebe mußten ge - gen eintretenden Taktſchlaͤger ſich in angemeſ - ſenen Spielen der Harmonie darſtellen. Die Tochter hatt’ es am leichteſten, ſie hatte einen Vater zu empfangen und zu kuͤſſen. — Auch der Zoller unternahm bey ſo viel Wein im137 Kopf mit Erfolg die ſchwerſten Umhalſungen. Nur der Schwiegerſohn, Theudobach, begab ſich gegen Katzenberger, der ohnehin mit lau - ter Winterſeiten beſetzt war, mit Anſtrengung in das gewöhnliche krauſe Hoͤflichkeits-Gefecht zwiſchen kuͤhlen Schwiegervaͤtern und heißen Schwiegerſoͤhnen. Je feuriger und reifer der Doktor das Ja im Herzen hatte, deſto feſter verkorkte er es darin; ſchon auch darum, um dem ergötzenden Ringel-Frohntanze um ſein Vaterherz herum, zuzuſehen. Bona durch - blickte ſogleich die Ineinanderwirrung; der jetzt trocknere Hauptmann, der neben dem Al - ten die Hand der Tochter nicht fortbehalten konnte, ſchien ihr Anſtalt zum Abzuge in ſein Quartier im Sinne zu haben, um ſich aus demſelben an den Nordmann mit der Feder zu wenden. Auch der geheitzte Kopf des Zol - lers, ſchiens ihr, verſprach mit allen ſeinem Reverberier-Feuer nicht viel Licht fuͤr den Ausgang der Sache.
Aber ſie that es kuͤhn ab; ſie bat die Ge - ſellſchaft um einen einzigen Augenblick, um138 mit ihrem alten Arzte ein Wort zu reden. Man ging leicht, nur Mehlhorn ſchwer.
Sie leitete wirklich mit einigen Kranken - Fragen ein, ehe ſie den Doktor zur Geſchichte ihrer Freundin, zu der Vergangenheit, Ge - genwart und Zukunft derſelben uͤberfuͤhrt. Zu - letzt kam ihr eben aus Woͤchnerin-Schwaͤche ihre Schwaͤche ganz aus dem Sinn, und ſie ließ Herz und Zunge flammen fuͤr Theoda. Ihr verſchwinde zwar, ſagte ſie, mit ihr das halbe Gluͤck des Lebens; wenn aber dieſe dadurch das ganze gewinnen, ſo weine ſie gern ihre bitterſten Thraͤnen.
Der Doktor bat, ihn mit den nähern Ver - haͤltniſſen des Mannes in Bekanntſchaft zu ſetzen. Sie erzählte, ihr Mann habe ſchon Vormittags uͤber ſeine Umſtaͤnde bey mehr als fuͤnf Studenten aus Theudobachs Nachbar - ſchaft Nachrichten, und uͤber die Wahrheit ſeiner Verſichrungen einziehen muͤſſen, aber lauter Bejahungen eingebracht, wie ſich denn im ganzen Weſen deſſelben der Mann von Wort ausweiſe; Sie nahm ſo viel Antheil an139 Theudobachs Reichthum als Katzenberger ſelber; und es ſteht einer ſchoͤnen Seele nicht uͤbel an, fuͤr eine fremde daſſelbe Irrdiſche zu be - herzigen, das ſie fuͤr ſich ſelber verſaͤumt. „ Sie koͤnnen ja — ſetzte ſie laͤchelnd hinzu — un - ter einem ſehr guten Vorwand ſelber hinreiſen, und ſich alles mit Augen befuͤhlen; er hat nämlich auf ſeinem Guthe eine Höle voll Baͤ - ren - und Gott weiß fuͤr Knochen. Fuͤr die Tochter gibt er Ihnen freudig alles, was er von todten Baͤren hat; es wird ſchon was zu einem lebendigen uͤbrig bleiben fuͤr die Ehe.”
„ Ich — verſetzte der Doktor — bin ge - wiſſermaßen dabey. Weibsleute kann man nicht früh genug auf juͤngere Schultern abladen von alten; wir armen Maͤnner werden bey allem Gewicht leicht in ihnen geſchmolzen wie z. B. Bleikugeln in Poſtpapier ohne deſſen Anbren - nen. Sie ſoll ihn vor der Hand haben, be - dingt.”
Hier war der Umgelder ſchon von der Thuͤre (er hatte um ſie nicht aufzumachen, da - vor gehorcht) abgeflogen zum Liebes-Paar;140 vier und zwanzig blaſende Poſtillione ſtellte er vor, um das gewonnene Treffen anzuſagen. Vielleicht haͤtten ſie wenig dagegen gehabt, haͤtte ſich der Sieg auch einige Stunden ſpaͤ - ter entſchieden. Die Liebenden kamen zuruͤck, und in ihren Augen glaͤnzte neue Zukunft, und auf den Wangen bluͤhte die Gegenwart. Der Umgelder wollte auf einem Umweg durch die Knochenhoͤle — als einem thieriſchen Scher - benberge — der Sache naͤher kommen, und that dem Hauptmann die Frage, was er fuͤr Schoͤnheiten auf ſeinem Landguthe verwahre. Aber dieſer wandte ſich, ohne Antwort und Umweg, gerade an den Vater, und legte ihm den durchdachten Entſchluß ſeines Herzens zum Beſiegeln vor. Katzenberger murmelte wie verlegen einige Hoͤflichkeits-Koloraturen, bloß um ſich beſtimmtes Loben zu erſparen, und aͤußerte darauf: er ſage ein bedingtes Ja, und ſchieße das unbedingte freudig auf dem Guthe ſelber nach, wenn ihm und ſeiner Tochter der Hauptmann erlaube mitzureiſen. „ Warum ſoll ichs nicht ſagen? fuhr er fort, ich bin ein ge -141 rader Mann mit dem ganzen Herzen auf der kleinen Zunge. Ich wuͤnſchte wirklich den un - terirdiſchen Schatz zu ſehen, deſſen Herr Zoller gedachte, und Sie moͤgen immerhin dieß fuͤr einen Vorwand mehr aufnehmen um meine na - turhiſtoriſche Unerſaͤttlichkeit zu befriedigen.” Ob er nicht eine wahre Vorſtellung in die ſcheinbare verbarg und eigentlich gerade dem Reichthum uͤber der Erde unter ſeinem Vor - wand eines tiefern nachſchauen wollte, konnte außer der hellen Bona, wohl niemand beja - hen; ſondern eine triumphierende Kirche from - mer Liebe, ein Brockengipfel tanzender Zau - berfreude wurde das Zimmerchen; und ſelber Katzenberger ſtellte in dieſe Walpurgisnacht voll Zauberinnen ſchoͤner als ſein Urbild (der Teu - fel) den umtanzten Brocken-Helden dar.
Nachdem er um die allgemeine Entzuͤckung und die eigne luſtiger zu ertragen, den noͤthi - gen Wein getrunken: ſo macht’ er ſich unver - ſehends, in der Flucht vor vier Dankſtimmen, nach Hauſe und ſagte unterwegs die Augen gegen den Sternenhimmel gerichtet; „ rechn’142 ich auch nur fluͤchtig nach, daß ich einen acht - fuͤßigen Haſen — eine ſechsfingrige Hand — die goldfingerige eines Schwiegerſohns auf ei - ner kurzen Reiſe gewonnen, wobey ich nicht einmal im Vorbeygehen die Strykiſche Schreib - tatze anſchlage, auf die ich geſchlagen — und ſchau’ ich in die Höle hinein, wo ich auf ganz andere Hoͤlenbaͤren als auf die kritiſchen ſto - ßen ſoll: ſo kann ein Mann, der auf einer Reiſe ums Weltmeer nicht mehr hätte fiſchen koͤnnen, als ich auf meiner ins Maulbronner Bad, dafuͤr Gott, ſollt’ ich denken, nicht ge - nug danken.”
Werft noch vier Blicke in den kleinen Freu - denſaal der vom Vaters-Ja begluͤckten Liebe und der begluͤckten Freundſchaft zuruͤck, eh’ ihr von allen auf immer geht! Solche Abende und Zeiten kommen dem duͤrftigen Herzen ſelten wieder; und ob gleich die Liebe wie die Sonne nicht kleiner wird durch langes Waͤrmen und Leuchten, ſo werden doch einſt die Liebenden noch im Alter zu einander ſagen: „ gedenkſt Du noch, Alter, der ſchoͤnen July-Nacht? 143Und wie Du immer froher wurdeſt und Deine Bona kuͤßteſt! — Und wie Du, Theoda (denn beyde fallen einander unaufhoͤrlich in die Rede) den guten Zoller herzteſt! — Und wie wir dann nach Hauſe giengen und der ganze Himmel funkelte, und das Sommer - Roth in Norden ruhte — Und wie Du von mir gingſt, aber vorher einen ganzen Himmel in meine Seele kuͤßteſt, und ich im Liebes - rauſche leiſ’ an meinem Vater voruͤberſchlich um den muͤden nicht zu wecken. — — Und wie alles, alles war, Theoda; ich bin kahl, und Du biſt grau, aber niemals wird die Nacht vergeſſen!” — So werden beyde im Alter davon ſprechen.
Ende der Badgeſchichte.
Ein gewiſſer, mir ganz unbekannter Muſu - rus — „ Ehrenmitglied” (der Himmel weiß von welchem Ehren-Koͤrper) unterſchrieb er ſich noch, — ſchickte mir vor einigen Wochen ei - nen Aufſatz uͤber die Tempelkollekte zu Luthers Denkmal zu. Da ich nun befuͤrchte daß der Aufſatz, der im Grunde Deutſchland mehr in ein lächerliches als in ein vortheilhaftes Licht zu145 ſetzen ſucht, irgend e[in]em Monats - oder Ka - lender-Autor begegne, der ihn gar drucken laͤßt: ſo theil’ ich ihn hier ſelber mit, um die Gelegenheit zu benutzen, manches, was er ſcherzhaft vorbringt, ernſthaft zu entkraͤften in einem kleinen Anhang. Hier folgt zuerſt ſeine Arbeit unter dem Titel:
„ Gelderſparendes Ideemagazin zu Denkmaͤ - lern Luthers und Deutſchlands.”
Sechstauſend Thaler*)Sovtel war damals, als der Aufſatz geſchrieben wurde, nach einigen Jahren Kollcktierens in Deutſchland aufgebracht worden. und einige Gro - ſchen, die noch von Woche zu Woche anſchwel - len, haben wir nun im Lutheriſchen Deutſch - land zuſammengelegt, was ich auch von der Vereinigung aller Staͤnde ſogleich erwartete. Mit ſolchen Summen — ſo denk’ ich — koͤn - nen wir wahrſcheinlich etwas machen, wenn auch keine Statue, doch einen Anfang dazu, irgend ein Glied. Es muß indeß noch unend - lich mehr einlaufen, wenn wir DeutſchlandZweyter Theil. 10146verlaſſen und den Reichsanzeiger in Sprachen ſolcher Laͤnder uͤberſetzen wollen, die mit uns zugleich hinter Luthers Freiheitsfahne vom paͤbſtlichen Stuhle abgegangen ſind; denn in Schweden, Daͤnemark, ſaͤchſiſchem Ungarn, lutheriſchem Oſtindien, der Schweitz, Holl -, Eng - und Schottland muß jetzt eingefallen, und was nur von Laͤndern ſonſt proteſtirte, mit Kollektenbuͤchſen durchzogen werden, da - mit ſie der Mannsfelder Geſellſchaft ſteuern wie wir alle, wenn ſie nicht von uns wollen roth gemacht ſeyn. Gedenken denn ſo viele reichere Länder eine Religionsumwaͤlzung; wo - fuͤr ein aͤrmeres ſechstauſend Thaler zuſammen ſchießt, umſonſt ohne Taufgebuͤhren zu genie - ßen? Es mag daher den Vorſchlaͤgen, die ich nachher uͤber den beſten Verbrauch der ge - dachten Almoſenſammlung wage, dieſer voraus - ſtehen, daß man die eingegangenen Monu - ments - und Ehrengelder wohl nicht ergiebiger verwenden koͤnnte, als bloß fuͤr Botenmeiſter, naͤmlich fuͤr Pfennige - und Deutmeiſter, fuͤr Thaler -, Kronen -, Adolphsd’or und Cro -147 ren -*)Eine Crore in Oſtindien macht 100 Laks. Meiſter, welche man um dieſe Sum - men gewaͤnne und in die Auslande verſchickte, um da die beträchtlichſten Beyträge zu Luthers Denkmal in Mansfeld einzutreiben. Gott! wenn wir uns nur ausmalen, daß bloße fuͤnf Lords in London von dem Boten erobert wuͤr - den zur Unterſchrift — bevor ſie ſelber mit den andern von der Landung erobert wä - ren: — ſo langte dieſes ja zu, daß wir, das Quintupel des ausgegebnen Botenlohns, naͤm - lich des bisher eingenommenen Ehrenſolds fuͤr Luther, einzuſtecken bekaͤmen! Seſoſtris Auf - ſchrift auf ſeinen Tempeln: „ kein Eingebor - ner arbeitete daran” übertruͤge wol jeder mit wahrem Vergnuͤgen auf den Lutheriſchen.
Ich theile jetzt — da mich die Mannsfel - der Geſellſchaft, wenn nicht im beſten, doch in ihrem Stile, ſo dringend dazu auffordert — meine Ideen uͤber den beſten Verbrauch der Ehrenſummen mit, welche durchaus in zwey große Klaſſen zerfallen; in der erſten werden die Vorſchlaͤge gethan, etwas von ihr uͤbrig148 zu behalten, wenn man Luthern das Seinige ſetzt; in der zweyten die, wodurch gar die ganze Summe geſpart wird.
Ich beginne bey der erſten. Zu verwun - dern iſts — aber noch zu helfen, da wir Geld haben in Mannsfeld — daß wir uͤber Luthern einen ganz hoͤhern Mann zu ehren vergeſſen, dem er ſelber, wie jeder große Mann, ſeine Bildung verdankt — einen Mann, der bis auf den juͤngſten Tag fortwirkt, ſo lange noch ein lebendiger Menſch exiſtiret — der uns ei - gentlich zu Menſchen machte — einen Stamm - baum aller Stammbäume, ob er gleich die Buͤrgerlichen mehr beguͤnſtigte — unſer Va - ter aller Landesvaͤter — kurz einen Mann, den der Schoͤpfer zuerſt inſpirirte, nicht ei - nige Gedanken, ſondern die ganze Seele — und welcher nicht nur der groͤßte war, ſondern auch (was aͤußerſt ſelten iſt, da es nur einmal iſt) der erſte und den ich gern die Mutterzwie - del, und das Erzhaus der Menſchheit nenne — denn ich meine offenbar Adam — — zu verwundern und ſchwerlich zu entſchuldigen149 iſt es, ſag’ ich, daß fuͤr einen Mann von ſol - chem Einfluß und mit allen Fuͤrſten verwandt, noch nichts gethan worden, weder im prote - ſtantiſchen Deutſchland, noch ſonſt wo. Von ſeiner Frau gilt daſſelbe. Ob aber Adam, der Jahrtauſende Luthern vorarbeitete, nicht fruͤ - her Ehrenflinten und Ehrenſaͤbel und Ehren - trommelſtoͤcke in ſeine Haͤnde von der Manns - felder Geſellſchaft zu bekommen verdient, als Luther, wird ſie mir oͤffentlich beantworten. Denn dieß entſchuldigt uns nicht, daß aller - dings jeder Adams Sohn von uns oder Poſt - adamit ſeinen guten Vorvater bisher ſo gut er konnte jenes geiſtige und bleibende Denkmal in ſeinem Buſen aufrichtete, das unter dem Na - men alter Adam ſo bekannt iſt, als das neue Teſtament. Aber ſind denn Luthern nicht durch den neuen Adam dieſelben Denkmaͤler geſetzt? — Schlaͤgt man die Millionen Nach - kommen als lebendige dem Erzvater geſetzte Statuen hoch an, wovon ihm jeder von uns einige ſetzt: ſo beſitzt auch Luther an den um - hergehenden Lutheranern dergleichen Karyati -150 den ſeines Ehrentempels genug. Doch dieß iſt mehr Scherz; was ich aber ernſthaft vorſchlage, iſt, daß, da wir Geld einmal in Händen ha - ben, wir es vertheilen, und beyden, ſowohl Luthern etwas ſetzen, das uns Ehre macht, als auch Adam. — — Und warum ihnen allein? Denn ich gelange jetzt auf den Haupt - und Standpunkt. Warum wollen wir, wenn allen Feſten eines gewiſſen großen Fürſten im - mer ein Thaler abging, ploͤtzlich ſo unerhoͤrt verſchwenden, daß wir mit ſechstauſend ſolcher abgängigen Thaler nur ein einziges Roſenfeſt, eigentlich ein Eichenfeſt eines einzigen Mannes begehen wollen, als ob nicht der Sechstau - ſend-thaler-Stock eine ungeheure Summe fuͤr einen Mann aus Luthers Zeiten waͤre, wo ein Hering einen Heller koſtete und Brennholz gar keinen? Wollen wir den Ruhm verlie - ren, daß wir bisher einerſeits immer als Männer in Kredit geſtanden, welche das Geld (auch fuͤr Ehrenſachen) nie weggeworfen, ſon - dern jeden Heller anſahen, und umwandten, ehe wir ihn einſteckten? Wir ſind ferner auf151 der andern Seite (etwas iſt wahr) bey Europa nicht zum Beſten, ſondern mehr als Leute an - geſchrieben, welche ihren großen Maͤnnern un - gern etwas hoͤheres aufrichten, als was der Todtengräber auf ihren Sarg aufſetzt, und der Setzer auf dem Lumpenpapier, und welche die Werke ihrer Lieblingsſchriftſteller ungern um den Ladenpreis erſtehen; wie dann zu un - ſerer Schande hier ein Handelsmann exiſtirt, der Wieland ordentlich anbetet und ſich deſſen ſaͤmmtliche Werke in Einen ungeheueren Band hat binden laſſen, um ſich ſchadlos dafuͤr zu halten, daß er keinen Nachdruck erſchnappen koͤnnen.
Aber, o Himmel, Gluͤck uͤber Gluͤck! Jetzt kann ja bey ſechstauſend Thaler Tempel-Bau - begnadigung alles wieder gut gemacht werden — der alte Unehrenfleck ausgewaſchen — die Nazion von ſich geehret und rehabilitiret — Kepler, Hutten, Herder, Leßing, Kant, Winkelmann, Albrecht Dürer koͤnnen nun er - langen, wornach mancher von ihnen ſo lange ſtrebte, warme Anerkennung von der Na -152 zion. — — Denn ich ſchlage naͤmlich vor, daß dieſe bisher ſuͤndlich vernachlaͤßigten See - len-Großen nicht bloß, ſondern auch alles uͤbrige geiſtige Bergvolk nun von uns in Lu - thers Pantheen, wozu die ſechstauſend aus der Nazion gebrochne Bauſteine ſchon da liegen, hinein geſchaft, und daſelbſt aufgeſtellt, und mit einigem Nationalgefuͤhl und Stolz zuſam - men aufbewahret und verehret werden, um ſo die Baukoſten zerſtreueter Ehrenſaͤulen für je - den beſondern Narren ſich ohne Geſchrey und Schande zu erſparen.
Dieß muß geſchehen; denn laſſen wir nicht mehrere Koͤpfe unter Einen Lorbeerkranz zu - ſammenkommen oder auf dem Mannsfelder Triumpfwagen nicht recht viele Sieger einſitzen, ſo ſind wir bey der Nachwelt (auf die wir alles bringen) zu wenig entſchuldigt, daß wir einem Manne wie Luther erſt ſo ſpaͤt nach der letzten Ehre eine neue erzeigten, und daß er, ſo wie Taſſo Einen Tag vor ſeiner Kroͤ - nung, eben ſo ein Jahrhundert und laͤnger vor der ſeinigen ſterben mußte, wir muͤßten153 uns denn damit helfen — was eben ſo erbaͤrm - lich als nothwendig waͤre — daß wir auf Lu - thers Denk-Statue oder Kirche wenigſtens von zwey Jahrszahlen eine wegließen, entwe - der das Geburtsjahr der Statue oder ſein eig - nes. Aber warum, wenn nun ganze deutſche Kreiſe das Beſte verſuchen und ſich vor einen vollbeſetzten Siegs - und Krönungswagen ge - fuͤrſteter Geiſter ſpannen, ſoll man mit Kroͤ - nungen knauſern, ſobald alles dazu da iſt, Krone und Kopf? Nein, ſondern Deutſch - land ſey dann — ſo iſt mein Vorſchlag — wie außer ſich, und erinnre ſich eines jeden, der Gewicht hat und ſchuͤtte ſo mit Einem Schlag den Schwarmſack herrlichſter Honigbie - nen aufs Paradebette aus. — Meuſel muß nachgeſchlagen, Schlichtegroll exzerpirt — und alles was nur nothduͤrftig unſterblich iſt (denn die Ehre iſt auch darnach) zu Papier und in den Tempel gebracht werden, weil ein einziger Teufel, der unſterblich waͤre (wie es wol jeder in der Hoͤlle iſt) der Nazion als ein ewiger Schandpfahl ihres Patriotismus dableiben154 wuͤrde, falls man ihn ohne Thron und ohne Krone ließe — und alles muß ordentlich Rot - ten - und Heerdenweiſe durch Ehrenpforten wie Heraldiſches Vieh, in Luthers Rotunda auf ewige Ehren - und Nabelplaͤtze eingetrieben werden, und dann wie gewoͤhnlich verehrt. Mir iſts einerley, auf welche Weiſe man ei - nen und den andern unſterblichen Tropf z. B. Gottſched venerirt, ſobald er nur in der Ro - tunda mit hauſet, und es moͤgen, wenn in dieſem Familienbegräbnis der heiligen Fa - milie des Genies, große Maͤnner in Lebens - groͤße da liegen, die kleinen ſich bis zu Schreib - fingerknochen abſtufen. Iſt einmal ſo viel un - ſterbliche Mannſchaft da: ſo laſſe man gar — denn mein Vorſchlag ſoll keine Graͤnzen ken - nen — jeden Reſt hinein, der geſtorben iſt, und gut geſchrieben hat — der Fußboden wer - de mit Geſichtern der Oekonomen, wie in Rom der Götter, muſiviſch ausgelegt — gelehrte Wunderkinder, wie Henneke, Tanzmeiſter, Sprachmeiſter, Philologen, Numismatiker moͤgen an den Tempelſäulen als Schnoͤrkel,155 Verkroͤpfungen und Kaͤlberzaͤhne leben — von Tempelſtufe zu Stufe trete der Fuß auf ei - nen Advokaten von Belang — und da man um das Mannsfelder Pantheon fuͤr den Zu - ſtrom der Verehrer Wirthſchaftsgebaͤude wird fuͤhren muͤſſen, ſo werde auch das Mittelgut wirthſchaftlicher aber guter Merkels-Koͤ - pfe da untergebracht, bey welchen die Aus - gießung des heiligen Geiſtes ſo gluͤcklich vor - bey gefallen, daß ſie trocken geblieben — und endlich, droh’ ichs denn zu hindern, was man zuletzt an den Inkognito-Ort, den ſchon der gedachte Zufluß verlangt, auch das literariſche Schmiervieh (mit den Schaͤfern zu reden) er - baͤrmlich, wie gewoͤhnlich geſchieht mit Namen an die Wand kratzt!
Gott! dann ſaͤhe ja Deutſchland alle ſeine Nazional-Goͤtterſchaften in Mannsfeld fuͤr halbes Geld unter Dach und Fach gebracht und hinlaͤnglich angebetet? Was fehlte noch darin? —
Blos was von Unſterblichen noch lebendig waͤre! Himmel! nun ſo ſchießet doch nach156 und nehmt und ſtellet auch alle Lebendigen in Mannsfeld auf, vom gewaltigen Vogel Rack in Weimar an bis zu ſeiner kritiſchen Vogel - ſpinne in Berlin*)Merkel. herunter, welche vielbeinig und erboßt ſo lange auf der Reiſe um den breiten Vogel iſt.
Und ſogar mir Ehrenmitglied kann, freylich mit Einſchraͤnkung, darin mit gehuldigt wer - den! Oder iſt nicht jeder lebende Lieblings - Kopf ohne dieſes vorgeſchlagene Zuruͤckdatiren ſeiner Unſterblichkeit, ſonſt zu ſchlimm daran in ſeinem Schlaf - oder Wachrock, den er mit bloßen Knochen in Reih’ und Glieder ſtellt, wenn aus dem Gefaͤngnis - Temple ſeiner Wirklichkeit erſt nach dem Tod ein beſſerer Tempel, aus einer ſtreitenden Kirche eine tri - umphierende werden ſoll?
Nun haͤtten wir endlich alles in die Kon - foͤderations-Rotunda abgeliefert, was nur von Belang zu haben waͤre — man muͤßte denn darin, um nur das beſchwerliche geldfreſſende157 Verherrlichen auf einmal und auf immer ab - zuthun, ſogar fuͤr zukuͤnftige Koͤpfe etwas lei - ſten, und auf eine mir ganz unbekannte Weiſe ſie fruͤher auf die Nachwelt bringen wollen, als ſie in der Welt erſchienen waͤren, indem man ordentlich wie freudetrunken es zu mei - nem Erſtaunen auf ein Allerheiligen-Feſt an - legt. Ich meines Orts habe gar nichts da - wider.
Ich geſtehe, uͤberſchaue ich dieß alles kalt - bluͤtiger: ſo werd’ ich leicht von dem hoͤlzernen Hering, der gewoͤhnlich als Herold und Re - praͤſentant ganzer eßbaren Heringstonnen an den Kauffenſtern haͤngt, auf den Gedanken gefuͤhrt, ob nicht eben ſo alle große Maͤnner auf einmal durch einen allgemeinen großen Mann durch eine Simultan - und Kompagnie - Bildſaͤule — alle gewaltigen Wallſiſche durch einen hölzernen — ſo darzuſtellen und zu ver - ewigen ſtaͤnden, als das noch groͤßere Thoren - reich in Italien durch die bekannten vier ko - miſchen Masken, indem man fuͤr jede der vier Fakultaͤten eine ernſte Maske, einen ernſten158 Truffaldino fuͤr die theologiſche u. ſ. w. waͤhlte? Diderot begehrt ſo ſtatt der Einzelweſen, ganze Staͤnde auf die komiſche Buͤhne gebracht.
Doch werf’ ich dieß alles hin fuͤr Kluͤgere als ich. Die Mannsfelder thaͤten mir uͤber - haupt zu wehe, wenn ſie mir die Thorheit unterſchoͤben, daß ich auf irgend einem mei - ner Vorſchlaͤge ſteif beſtaͤnde. Mir iſt wahr - lich jeder gleich; ich gebe ja nur Winke; ein ſehr ſchwaches Verdienſt, da man zum Win - ken mehr die Augenlieder als die Augen ge - braucht. Wie gewagt iſt nicht folgender Wink!
Zwoͤlftauſend Gulden Tax — 1200 Gul - den Subſkriptions-Regal dem Vizekanzler (was dieß iſt, weiß ich ſelber nicht, ich ſchreibe es blos ab) — 600 dem Sekretair — und 1200 Kanzley-Jura muͤſſen nach der „ erneuerten Chur-Mainziſchen Reichshofkanzley Taxordnung von 1659 den 6 Jan.” durchaus in Wien da - fuͤr entrichtet werden — und mich duͤnkt ganz billig, da man neuerer Zeiten in P. oft vielmal ſo viel abliefern mußte, um nur ein Fuͤrſt zu159 bleiben — wenn man einer werden will. Ich glaube indeß, ſo viel Nachſchuß wäre wohl der Mannsfelder Operazionskaſſe noch einzutreiben möglich, daß Luther ziemlich hoch davon könnte in Fuͤrſtenſtand erhoben werden, beſonders da verſtorbene Genies nicht mehr verlangen koͤn - nen — ſobald man lebendige nur adelt — als daß ſie gefuͤrſtet werden. Ich fuͤge dieſen Vor - ſchlag fuͤr Luther vergnuͤgt dem Gelde bey, das ſchon eingekommen. Ein Mann wie Lu - ther, welcher die Steigbuͤgel, die ſonſt Fuͤr - ſten dem Pabſte unterhielten, abſchnitt und ih - nen reichte, damit ſie ſelber aufſtiegen, ver - dient wohl am erſten zu dem nacherſchaffen zu werden, was er ſelber wieder ſchuf — zum Fuͤrſten.
Ich erwarte eher alles andere von der Reichshofkanzley als — den Adel nicht ausge - nommen — Weigerungen, verdruͤßliche Mi - nen, abgeſchlagen wie gebeten, Saͤtze des Wi - derſpruchs und zwar blos darüber und darum, weil Luther ſchon todt ſey. Wenn ers iſt, wie ich einraͤumen will: ſo iſt dergleichen ſei -160 ner Standes-Erhoͤhung nicht mehr nachthei - lig, als ein aͤhnlicher Tod den vier buͤrgerlichen Ahnen, die geadelt einem neuen Edelmann un - ter der Erde vorausgeſchickt und untergebettet werden. Was den Beweis fuͤrſtlicher Einkuͤnfte anlangt, den Luther in Wien zu fuͤhren hat, ſo thut der Reformator nur dar, daß er in Eisleben keinen Heller Ausgaben hat im Sarge; — wodurch er ein ſo herrliches Ni - velliren zwiſchen Einnahme und Ausgaben be - weiſet, daß ihm wol wenige Fuͤrſten gleichkom - men duͤrften. — Stammbaͤume werden ge - woͤhnlich mit einer Null von den Wappenkuͤnſt - lern angefangen — wie oft von den Zweigen fortgepflanzt; — bey dem verewigten Luther wuͤrde ſie ja eben ſo gut den Ewigkeitszirkel, ſeinen Ehering und den paͤbſtlichen Fiſcherring; und uͤberhaupt viel bedeuten.
Ich las bisher zu meiner Freude manchen Vorſchlag, an Luthers Prunktempel etwas Re - elles, Nutzenhaftes, irgend ein Schul - oder Armenhaus anzuſchlingen, damit das dulce ſich auf einem utile hoͤbe. Ich glaube darin161 mein Deutſchland wieder zu erkennen, das ich ſo oft eine lebendige Wirthſchafts-Teleologie hieß im beſten Sinn. Wenn wir ſchon in der Poeſie, den Bienen gleich — die daher auf unſern Kroͤnungsmantel zu ſtecken waͤren, — auf der Roſe der Schoͤnheit nur den Honig - thau des Nutzens ſuchten, ſo wird uns dieſe kamerale Kenntnis wohl mit mehr Recht in ge - meinern Verhaͤltniſſen von jedem zugemuthet. Wir duͤrfen gern den ordentlichen Regen himm - liſch-rein, thau-ſchimmernd und fruͤhlings - duftend finden; aber er kann uns nicht gleich - guͤltig ſtatt durſtig machen gegen zwey wichti - gere Strichregen im Jahre 1665*)Tharſanders Schauplatz ungereimter Meinungen 1. S. 365., wovon der eine in Naumburg, nach Happel, in ſchoͤn - blauer Seide, der andere in Norwegen, nach Praͤtor, in gutem Kammertuch niederfiel, von welchem ſich der damalige Daͤnenkoͤnig zwanzig Ellen kommen laſſen. Aber wollte ein ſolcher Tuch-Landregen einmal eine Armee in der Re - vue bedecken, o Gott! — — Ohnehin gibtsZweyter Theil. 11162mehr unnuͤtze als nuͤtze Sachen in der Welt. Nimmt man es ſcharf, ſo moͤchte man uͤber dergleichen Thraͤnen vergießen — und dabey wuͤnſchen, daß letztere gleich den Hirſchthraͤnen zu etwas brauchbarem wuͤrden, zum Bezoar, und wenn das wenige Kochſalz (ſammt dem Natrum, phosphorſaurem Kalke und Kali), was Scheidekuͤnſtler aus den Zaͤhren ziehen, in Betracht kaͤme gegen die Meerſalzlager an Frankreichs Kuͤſten, ſo wuͤrde mit Vergnuͤgen ſelber der kalte Hollaͤnder ſowohl vor Schmer - zen uͤber gegebene Themen weinen, als vor Luſt.
Die deutſche wahre Achtung fuͤr Nutzen (in Norden beſteht er aus Pelz und Fraß) verkenne man alſo auch im Vorſchlag nicht, Luthers Ehrenkirche noch, wie ſo immer den Kirchen, ein Schulhaus anzuheften, wenns geht. Ich glaube indeß, man wird — weils nicht geht wegen Schwaͤche der Suͤrpluskaſſe — vor der Hand die Kirche weglaſſen, und ſich auf das Schulhaus einſchraͤnken, deſſen Antlitzſeite Luthern vorlaͤufig zugeeignet werden163 kann. Warum wendet man uͤberhaupt nicht die oͤffentlichen Gebaͤude, die doch einmal ge - mauert werden muͤſſen, zu den nöthigſten Ehrenpforten großer Maͤnner an, und adreſ - ſirt blos das Portal? Die Nazion ſuche doch für ein Spinnhaus, das ſie erbauet, ei - nen großen Theologen und zeige, wie Nazio - nen danken — fuͤr ein Schlacht - oder ein Gebeinhaus einen Generaliſſimus — ein Hatz - haus, ein Findelhaus ehre einen großen Hu - maniſten und der Pranger einen gewoͤhnlichen Rezenſenten — eine Irrenanſtalt greife nach ihrem Philoſophen, und fuͤr den ſeltenen Dich - ter wird ſich immer ein Stockhaus, Hoſpital und Armenhaus mit einem Eingange finden. Auf dieſe Weiſe duͤrfte vielleicht die Vermaͤh - lung der Schönheit mit dem Nutzen, der Un - ſterblichkeit mit der Sterblichkeit wohl ſo weit fortzutreiben ſeyn, daß wir ſogar Goͤtter - oder Heroenſtatuen als Schnellgalgen fuͤr Leute kur - zer Statur oder als Pranger fuͤr langgewach - ſene verbrauchen lernten.
Erbaͤrmlich iſts uͤberhaupt, daß man ſo viel164 koͤſtliches Geld zu Verewigungen verſchwenden muß, z. B. zu theuern Statuen, die man anderswo — in Arabien, in Eislaͤndern, in bremiſchen Bleykellern, und in den ſyrakuſi - ſchen Katakomben umſonſt haben koͤnnte, wenn man, da es doch keine aͤhnlichere Natur von einem Menſchen gibt als er ſelber, naͤmlich ſei - nen Leib, jeden Unſterblichen wo nicht einbal - ſamirt aufſtellen koͤnnte, doch ausgebaͤlgt? Warum haben wir Mumien ohne Namen und doch Namen ohne Mumien? —
Ich merke endlich an, daß fuͤr Luther zu viel Krönungsmuͤnzen ausgeworfen daliegen. Ein Knoten ins Schnupftuch fuͤr 6000 Rthlr., um jenen nicht zu vergeſſen; eine Denkmuͤnze aus 6000 eingeſchmolzen iſt viel. Warum denket uͤberhaupt der Deutſche in und auſſer Mannsfeld auf einmal ſo hoch hinaus und ſchleudert ſechstauſend Thaler fuͤr Einen Lor - beerkranz Eines Kopfes hin, wofuͤr die Lor - beerwaͤlder ganzer Redakzionen feil ſtehen? —
Iſt denn Luther nicht ohnehin ſchon im groͤßten Tempel aufgeſtellt, den jemand ver -165 langen kann — da Gott ſelber keinen groͤßern kennt — im Tempel der Natur? Wie ſticht nicht jedes Mannsfelder Gebaͤude ab, gegen das Weltgebäude? — Aber zweytens, iſt nicht jede Unſterblichkeit fuͤr den, der das sa - voir vivre — (das Lebendigbleiben) verſteht, faſt um nichts zu haben? —
Ein Schneider in Rom ſcherzt nach Gele - genheit — eine alte unkenntliche Bildſäule ſteht neben ſeiner Hausthuͤre — ſiehe auf einmal iſt ſein Name verewigt, welcher Paſquino be - kanntlich genug heißt. Eine Koͤnigin, die Ge - mahlin Franz I von Frankreich, ſpeißt gern eine gewiſſe Pflaume — jetzt waͤchſt ihr Name ewig als Obſt am Pflaumenbaum Reine Claude. Der Bruder Ludwigs XIV merkte dies bey Lebzeiten und aß eine andere Pflaumenart mit Luſt — ſiehe, auch er haͤngt verewigt an ſeinem Lorbeer - und Pflaumenbaum als Mon - sieur, ſogar nach der Revoluzion. — Cato, Caͤſar, Pompejus ſind noch heute jedem Jaͤ - ger bekannt und lebendig, weil ihre Schweis - und Hatzhunde ſo heißen, ſo wie in Schottland166 die alten Heroen durch die fortgeſetzten Hunde, die ſie zu Gevatter bitten, noch lange leben werden.
Ich wollte, ich haͤtte in meiner Jugend Voltairen beleidigt: ſo haͤtt’ ich nicht nur den deutſchen Fuͤrſten bekannt werden koͤnnen, ſon - dern auch der Nachwelt. Die gedachte berli - ner Vogelſpinne werfe Goͤthen ein Fenſter ein, oder laufe ihm kalt an der Wade hinauf: ſo wird ſie in den Spiritus einer Xenie geſetzt, und konſervirt ſich darin treflich. Warum uͤber - haupt ſo viele Umſtaͤnde und Kroͤnungs - ſtaͤdte gemacht, da eine Kroͤnungsſtaͤtte, de - ren Breite nicht uͤber das Thronglied hinaus - zureichen braucht, ſchon auslangt und nachhaͤlt. Diana hatte winzige Taſchen-Tempelchen von Silber, als Goͤttin. Nun ſo nehme Luther als Menſch mit ſeinem Catechismus, als klei - nem Tempelchen des Ruhms und Ehrenſäul - chen vorlieb, oder (wie es Voltairs-Kaͤſtchen gibt) mit Luthers Katechismusglas. Ja, fer - tigt nicht die Kanſteinſche Bibeldruckerey (nebſt Waiſenhaus) ſeinen Seelenadelsbrief Jedem aus? — Und hat nicht ſchon D. Seiler167 eine gute Bibelanſtalt zum Eintreiben von Lu - thers Krönungskoſten gemacht?
Wollen wir aber alle, etwas Ausgezeichne - tes für ſeinen Namen thun: ſo fraͤgt ſich — denn es koſtet wenig — ob wir nicht, den Si - neſern gleich, die ihren großen Maͤnnern zu Ehren Thuͤrme errichten, Luther zu Ehren die Kirchthuͤrme der lutheriſchen Konfeſſion als Ehrenſaͤulen ſeines Namens betrachten, und annehmen wollen? Welche Menge Saͤulen! Ja man koͤnnte noch weiter gehen — die Ko - ſten laſſe ich immer nicht wachſen — und ſo wie es Rouſſeaus-Voltaire’s-Shakſpeare’s - Gaſſen gibt, nach Aehnlichkeit der Judengaſſen, Luthers - oder gar Lutheraner-Gaſſen in Eis - leben eintaufen, es ſey nun im preußiſchen Antheil in der Neuhaͤlfte der Siebenhitze, oder im kurſaͤchſiſchen in der Vorſtadt Nußbreite, oder in der Alt -, in der Neuſtadt, oder auch in Dresden und ſonſt zum Beyſpiele in den verſchiedenen Buchhaͤndlergaſſen, welche ſo ſehr fuͤr und von Luther leben? —
Findet ein Mannsfelder Geſellſchafter die168 Ehre zu winzig: ſo ſag’ ich, Herr, wenn noch neben Gaſſen ſich ganze Laͤnder und Kreiſe nach Luther nennen, was will er mehr, oder Er?
Mich ſtach vorigen Jahrs in der Kirche ein Frauenzimmer mit einer Nadel in den Faͤ - cher mit Namen. Ich ſchwur der Perſon, der Unterſchied zwiſchen dem Faͤcher und dem pe - plum Minervae, worin man große Helden - namen einſtickte, ſey, was Namens-Unſterb - lichkeit anlange, nicht der groͤßte, da auf der Erde der Boden zu ewigen Denkmälern ohne - hin fehle, indem ſie ſelber vergehe. Knaͤtet mir nur erſt eine unſterbliche Kugel; dann laſſe ich Unſterbliche auf ſie laufen. Und ich ſelber wuͤrde ohne dieſe niederſchlagende Be - trachtung mich vielleicht unſterblicher gemacht haben, als ich abſichtlich thun wollen, da ich meinen mathematiſchen Ehrenpunkt jetzt nur darin ſetze, ein Ehrenmitglied an anderen Eh - renmitgliedern abzugeben.
Ich ruͤcke nun in meine zweyte Klaſſe, worin ich den Deutſchen einen Vorſchlag ver -169 ſorochen, dem großen Reformator das ewige Denkmal ſo zu ſetzen, daß die Summe von 6000 Thalern und einigen Groſchen keinen Pfennig ausgiebt.
Die ganze Summe, und was noch ein - kommen möchte, wird naͤmlich ſicher genug auf landesuͤbliche Zinſen ausgeliehen. Dieß iſt’s. Das Kapital ſtehe ſammt ſeinen Prozenten nur ſechs Jahrhunderte aus: ſo weiß ich nicht, was wem fehlen ſoll, Verewigung Luthern, oder Millionen uns. Man erlaube mir der Kuͤrtze wegen, nur ein wenig auszuholen.
An und fuͤr ſich kann ohnehin Luther noch keinen ausgeſtreckten Triumphwagen begehren, ſondern vorlaͤufig erſt eine Ovazion, womit ſich ein römiſcher Feldherr abgeſpeiſet ſah, wenn er den Krieg weder vollendet hatte, noch gegen Freye gefuͤhrt. Letzteres Beydes iſt Luthers Fall. Noch ſtehen Millionen Katho - liken da. Luther krähete allerdings als Streit - hahn uͤber Europa hinuͤber, und hoffte auf Thraͤnen, als Petrus in Rom Chriſtum durch Repraͤſentanten verlaͤugnet hatte, aber ſpäter170 wurde durch den Schmalkalder Kapaunenſchnitt das leichte Kraͤhen in feſte Federn verwandelt. Man proteſtirte gegen weiteres Proteſtiren, und wie Muͤller nicht mit Mehl handeln duͤr - fen, ſo wurde Mehlhaͤndlern d. h. lutheriſchen Konfeßioniſten verboten, Muͤller, d. h. Refor - mators zu ſeyn. Das Sprichwort verbietet auf einem Grabe zu ſchlafen: dennoch wurde das Lutheriſche zum geſunden Schlafſaale und Schaafſtalle eines muͤden Jahrhunderts ge - macht. Folglich kann Luther vor der Hand nur ovieren. Bleibt aber deſſen ungeachtet nicht das Buch ſeiner Konſulats - und Kaiſer - Wahl, worin die Nation ihre Geldſummen eingeſchrieben, immer aufgeſchlagen, der Reichs - Anzeiger naͤmlich, das goldene Buch fuͤr Lu - thers Adel, uͤberhaupt ein Werk, das in ſpaͤ - ten Zeiten von ganz andern Deutſchen wird ſtudirt werden, als die es jetzt ſchreiben, weil man recht gut einſehen wird, daß es der beſte deutſche Tacitus de moribus Germanorum iſt, den man ſeit dem lateiniſchen hat? —
Wir kehren aber zum Poch-Waſch-Roͤſt -171 Schmelz - und Treibwerke zuruͤck, zum Kapi - tale, das als Ehrenſchuld an Luther, die Re - ligionsoperazionskaſſe ſeyn kann, von der ſich mehrere außer mir, ſo viel verſprechen. Stehe doch die Summe nur ſo lange auf Kredit, als der Proteſtantismus ſelber aus: ſo muß ſie ja, hoff’ ich, da Geld wie Schnecken, Seeha - ſen und Blumen ſich mit ſich ſelbſt vermehrt, zu ſolchen Millionen wachſen ...... In der That ich ſonne mich am Geldglanz. Allein eben dieſer Religionsfond, dieſe lutheriſche biblia in nummis (bibliſches Muͤnzkabinet) ſind’s ja, was der Anhaͤnger ſo wuͤnſcht. Nach den erſten Jahrhunderten ſtiege der Gottes - kaſten dermaßen, daß man eine Luthers-Bank errichten könnte und muͤßte; — ein Bankodi - rektor (ein Generalſuperindent ſey es) wuͤrde angeſtellt und zu viele Kaſſirer ſammt anderen Bankoffizianten — jaͤhrlich wuͤchſe Geld und Dienerſchaft — dieſes ſchoͤne patrimonium Pauli entgegen dem paͤbſtlichen patrimonium Petri gediehe zu lutheriſchen Beſitzungen in Indien oder in Mannsfeld. Andere Dinge172 wuͤrden auf die leichteſte Art mit dem Luthers Kapitale verbunden, z. B. Bergwerks Kuxen; Lotterie und Lotto, u. ſ. w. Und endlich wuͤrde vielleicht das Schoͤnſte und Wichtigſte verſucht, naͤmlich es wuͤrde jedem Proteſtanten etwas von der Luthers Kaſſe vorgeſtreckt ..... Ich denke, dann iſts genug. Ein Mann der Kredit gibt, bekommt taͤglich mehr Kredit; und mehr gehoͤrt zu keiner Unſterblichkeit. Lu - ther lebt ſo lange als England.
Hiemit ſchließe ich mein kleines Ideen - Magazin ab und zu Geld wollt’ ich dem cor - pus evangelicorum uͤberall erſparen; — deſ - ſen bin ich mir bewußt — und ſollte die Mannsfelder Geſellſchaft auch nur einen Gro - ſchen Einruͤckungs-Gebuͤhren meinetwegen auf - wenden, ſo koͤnnt’ ich nichts davor. Indeſſen ſo viel erwartete das Europa, das ich kenne, von jeher von der Mannsfelder humane So - ciety, daß ſie, ſchreibe ſie fuͤr oder wider mich, und wohne der eine oder der andere auf den 200 Brandſtellen in Eisleben oder in der Sie - benhitze, einem Ehrenmitgliede ſtets im Reichs -173 anzeiger mit jener Hoͤflichkeit etwas auf ſein Magazin antworten und verſetzen werden, die bisher den einzigen und daher letzten Unter - ſchied zwiſchen uns und den Holländern ge - macht, und unterhalten hat, welche wirklich im philologiſchen Fache ſonſt zuweilen das aͤu - ßerten, was man fruͤher in Griechenland Grob - heit hieß.
Muſurus, Ehrenmitglied. “
So weit Muſurus. Ich wuͤrde mich or - dentlich laͤcherlich machen, wenn ich ausfuͤhr - lich bewieſe, daß vieles, wo nicht mehr in deſſen Magazin ſatiriſcher gemeint ſey, als ernſthaft; weil man den Aufſatz nur einigemal zu leſen braucht, um gerade hinter dem Fei - erkleide des Ernſtes die Faſtnachtslarve des Spaßes zu erblicken. Freylich fiel manches un - ter der Aufrichtung von Luthers Obeliskus we - niger groß, als (wenn auch nicht kleinlich, doch beynahe) klein aus, von der Einladungs -174 ſchrift und Einlaufsſumme an, bis zu weni - gen Vorſchlägen ihres Verbrauchs; und Mu - ſurus Scherz und jeder Scherz verkleinert vol - lends alles, ſogar das Kleinſte. In unſern kalten, geitzigen, glaubensloſen Tagen, wo die Religion nur noch die Kabinette und Gerichts - ſtuben hat (nicht dieſe etwa jene), iſt die Er - ſcheinung herzerhebend, daß man noch des al - ten herrlichen Luthers, dieſes Hoͤllenſtuͤrmers vormaliger Himmelsſtuͤrmer durch ernſte Tha - ten gedenkt, indem auf der einen Seite eine von ſeiner Erinnerung begeiſterte Geſellſchaft raſtlos und muthvoll ein, anfangs ſo wenig verſprechendes Unternehmen verfolgt, und in - dem ſie auf der andern ſich durch einen thäti - gen Antheil von vielen Seiten, wenn nicht belohnt, doch ermuntert ſieht. Weſſen Herz aus Religion und Menſchenliebe die Nahrung zieht, dem quillt ſie reichlich aus dem Anblicke einer gebenden Vereinigung zu, welche fuͤr ei - nen hoͤhern Zweck, als gewoͤhnliche Waiſen - hausſteuer, und aus hoͤherem Triebe opfert; auch wer ſeine Hand nicht öffnete, muß ge -175 neigt ſeyn, jede bruͤderlich zu druͤcken, die ſich aufgethan. Eine Opferflamme entzuͤndet die andere, und vielleicht iſt der edle Schiller ſeine Todes - und Unſterblichkeits-Feyertage den Ge - ruͤſten zu Luthers Tempel ſchuldig. Auch dem Reichsanzeiger komme — bey der deutſchen Staatenzerſplitterung, welche nur vertiefte Glaͤſer zum Zerſtreuen, nicht erhobene zum Sammeln vorhaͤlt — ſein Lob, das deutſche Unterhaus zu ſeyn, welches deutſche Stimmen und Ohren und Gaben ſammelt.
Oft wiegt die Bewundrung mehr auf der Geiſteswage, als ihr Gegenſtand; und folg - lich koͤnnte die Begeiſterung fuͤr Luther ſich ſel - ber adeln, unabhaͤngig von Luthers Adel. Aber ſchauet in dieſen, immer gruͤnen Eichbaum und ſeine Aeſte hinauf, an dieſen Thurm, der immer, wenn nicht ein Leucht - doch ein Kirch - thurm war mit Sturmglocken und friedlichem Glockenſpiele. Nicht ſeinen Maͤrtyrer-Muth acht’ ich am meiſten, ſo viel eiſerner er auch war, als er ſcheinen kann. Denn jedes kuͤhne Leben erſcheint aus der Vergangenheit nach176 dem Umſturz der Schreckensbilder nicht ſo kuͤhn, und daher hat gegen die vielarmige, aus Ne - beln ſchlagende Zukunft nur die große Seele Muth, gegen die ausgerechnete nackte Ver - gangenheit aber ein jeder — Luther ſtand noch in den witterhaften Grubenwettern, die er an - zuͤndete, und fuͤr uns entwickelte zu einer Luft. — Folglich bewundere ich’s auch nicht am meiſten, daß er, zu kraͤftig, ein bloßer glei - tender Dielenglaͤtter (Zimmerfrotteur) der Kirche zu ſeyn, lieber gleich Simſon die Saͤulen an - griff und umwarf. Sogar dies, daß er einen kernderben Deutſchen in allen feſten Muskeln und feinſten Nerven, einen Geharniſchten voll Kriegsluſt und voll Ton - und Kinderliebe dar - ſtellte, ſogar dieſe Gottesausſteuer reicht nicht an ſein anderes, ſchoͤnſtes Herzens-Gut hinan, daß Er naͤmlich — weder ein Dichter, noch ein Schwärmer, ſondern vielmehr ein vielſei - tiger Geſchaͤftsſeher — doch an Gott, an ſich und ſein Recht glaubte, und mit dieſem heili - gen Glauben des Rechts, ohne welchen das Leben weder Ziel hat, noch Gluͤck, wie neben177 einem Gott durch ſeine lange Laufbahn dreiſt und luſtig ſchritt. Dieſer, nur aus der heilig - ſten Tiefe eines Gemüths wieder in ein hei - ligſtes Leben aufſteigender Glaube, uͤberwin - det die Welt, die fremde und die eigne, die Drohung und die Luſt, und die ganze gemei - nere Menſchheit wuͤrde zu einer heiligen wer - den, ginge ihr der Gott voraus, welchen die hoͤhere in ſich mitträgt. Luther hatte jenen himmliſchen Muth im Herzen, wodurch ſogar ſein irrdiſcher an Werth verliert, weil dieſer dann dem Muthe von Homers Goͤttern, oder Miltons Engeln gleicht, die nur den Schmerz, aber nicht den Tod empfangen konnten. — O richtet doch dem Seelenmuthe Denkmäler auf, nicht blos weil er das ewig Wiederkehrende mehr auf der Menſchheit als auf der Zeit thronende Pabſtthum erſchuͤttert, ſondern, weil er allein die ſchleichenden Jahrhunderte wie mit zornigen Fluͤgeln in die Höhe auf - treibt.
Welche reine, widerirrdiſche, hoͤhere Wuͤn - ſche und Meinungen halten ſich nicht Jahr -Zweyter Theil. 12178hunderte lange in tauſend ſtillen Hertzen auf — und nichts geſchieht als das Gegentheil — bis endlich ein Mann zur Keule greift und jede Bruſt aufſpaltet, und dem Himmel ſo viel Luft macht, als die Hoͤlle vorher hatte.
Wir kommen auf das Denkmal endlich. Was will uͤberhaupt irgend eines? Unmoͤg - lich Unſterblichkeit geben — denn jedes ſetzt eine voraus — und nicht der Thronhimmel traͤgt den Atlas, ſondern der Rieſe den Him - mel. Sind die Thaten nicht durch Mund oder Schrift in die Welt uͤbergegangen: ſo iſt die Ehrenſaͤule nur ihre eigne; und der goldne Name oben muͤßte, wie der zufaͤllige Bleyſtifts - name unten wirken, den die voruͤberlaufende Kleinheit daran ſchreibt. Luther vollends — deſſen Siegszeichen Laͤnder und Jahrhunderte und dreyßigjaͤhrige Kriege ſind — braucht we - nig, als ein blitzendes Wagengeſtirn am deut - ſchen Himmel ſtehend, ja aus gleichzeitigen Sternen damaliger Zeit als Polarſtern uͤbrig geblieben. Es gibt alſo nur zweyerley Denk - male — da das dritte ſich der Thaten -179 Menſch ſelber aufrichtet auf Jahrhunderten, durch ein Jahrhundert — naͤmlich nur zwey koͤrperliche. Das erſte in der Erſcheinung ge - meine, traͤgt der Seelentriumphator, oder ein Donnermenſch wie Luther ſelber an ſich den Leib. Das ehrwuͤrdige Streben der Menſchen, nach Reliquien eines geheiligten Menſchen — das ich durch eine laͤngere Unterſuchung ehren will als hier Zweck und Raum zuläßt — wirft Abendſtralen auf das erſte Denkmal das einer großen Seele die Natur ſelber mitgegeben den Koͤrper, und dieſer zieht alles in ſeine verklaͤ - rende Nachbarſchaft. Wie Heiligenleiber die Andacht fremder Seelen naͤhren, die ſie viel - leicht der eignen erſchwerten: ſo umſchließt das Grab eines großen Mannes die wahre Reli - quie, welche, zumal an Juͤnglingen, die Wun - der der Staͤrkung und Heiligung thut. Wenn die Griechen ihren Themiſtokles in Magneſia auf dem Markte begruben, und den Euchitas zu Plataͤa im Tempel Dianens; wenn ſonſt die Chriſten ihre Kaiſer und Biſchoͤfe in die Vorhoͤfe der Tempel; und wenn ein Heiliger180 und ein Altar immer zuſammenkommen: waͤr’ es nicht ein ſeelenweckender Gebrauch, wenn Herz - und Kraftmenſchen, die gegen die Zeit Sturm gelaufen, die ganzen Länder und Zei - ten Angelſterne, Schutzengel oder Huldgoͤtter geweſen, fuͤr ihre Ueberreſte in den Kirchen ihre letzte Staͤtte fänden? — Ja, ließe ein - mal Deutſchland gemeinſchaftliche Hauptſtaͤdte, und darin etwas hoͤheres als eine Weſtminſter - abtey — weil in dieſe Rang und Reichthum eben ſo wohl fuͤhren, als Werth — nämlich eine Rotunda großer Todten bauen und ein - weihen: wohin koͤnnte der Juͤngling ſchoͤner wallfahrten und ſich mit Feuer fuͤr das kalte Leben ruͤſten, als zu und in dieſen heiligen Graͤbern?
Ich hoffe nicht, daß die mediziniſche Poli - zey, was das Begraben in Kirchen anlangt, ihre Paragraphen aufſchlägt und mir entgegen haͤlt, daß die genialen Leiber eben ſo ſtaͤnken, wie dumme. Denn falls nicht mehrere Men - ſchen in jeder Kirche begraben werden, als das Paar Unſterbliche, die ihr ein Jahrhundert181 ums andere liefert: ſo halten die Kirchgaͤnger ſchon die Luft aus, womit jene zuruͤckwehen. Auch hätte weder den Dom, noch die St. Ni - kola’s Kirche noch die haberbergiſche in Koͤnigs - berg, das Selbſtgebeinhaus, womit der alte Kant ſich zuletzt auf der Erde umherſchob, be - deutend verpeſtet, wenn es in einer davon da untergekommen waͤre*)Doch wurden ſeine Manen von Königsberg auf eine andere Weiſe würdig geehrt, die mehr griechiſch und philoſophiſch iſt. Wenn Epikur und ein anderer Philo - ſoph ſelber in ihren Teſtamenten etwas ausſetzten, da - mit ſich an ihren Geburtstagen die Jugend auf ihren Gräbern luſtig machte: ſo wurde ohne Kants Zuthun die Veranſtaltung getroffen, daß ſein Wohnhaus zu ei - nem guten Kaffe - und Billiardhauſe eingerichtet wor - den, worin die Jugend vornehmlich die akademiſche, durch Abſchauung ihrer Anſpannungen ſich freudig an den großen Mann erinnern kann, dem ſie das Haus zu danken hat.. Jetzt wird der Zweck eines orientaliſchen Koͤnigs, der ſich 12 Graͤber machen laͤßt, um das geheim zu behalten, worin er liegt, bey großen Menſchen noch leichter dadurch erreicht, daß man gar keines weiß, und wenn ſich fuͤnf Staͤdte um des Cer - vantes, und nach Suidas neunzehn um Ho -182 mers Geburtsſtelle ſtritten: ſo koͤnnen wir uns dadurch auszeichnen, daß ſich vier und zwan - zig um die Begräbnißſtelle eines großen Man - nes zanken.
Das Denkmal der zweyten Gattung, das einzige, das die Zeitgenoſſen ſetzen, iſt das kuͤnſtleriſche, wovon eigentlich hier fuͤr Luthers Namen die Rede iſt. Was ſprach denn bey den Alten die koloſſale Statue, der Portikus, die Ehrenſaͤule, der Ehrenbogen, der Ehrentempel aus? Gleich der Schauſpiel - kunſt, zwey Ideale, ein geiſtiges durch ein plaſtiſches. Denn ein Denkmal iſt etwa nicht der bloße Metall-Dank der Nach - welt — der beſſer auf einer Goldſtange dem Lebenden oder deſſen Nachkommen zu reichen waͤre; — es iſt auch nicht der bloße Herzens - erguß der dankbaren Begeiſterung der viel beſ - ſer mit Worten, oder vor dem Gegenſtande ſelber ſtrömte, — auch nicht bloße Verewi - gung fuͤr die Nachwelt, fuͤr welche theils er ſelber beſſer und Ein Blatt Geſchichte laͤnger ſorgt: — ſondern ein Denkmal iſt die Be -183 wunderung, ideal, d. h. durch die Kunſt ausgedruͤckt. Eine jaͤhrlich vor dem Volke abzuleſende Muſterrolle großer Mu - ſter waͤre noch kein Denkmal, aber wohl waͤre eine pindariſche Ode eines, in Griechenland ab - geſungen. Schillers Geburtstagfeſt, das durch Darſtellung ſeiner Goͤtterkinder begangen wer - den ſoll, erhebt ſich kuͤnſtlich zu einem Denk - male durch eben dieſe Kinder, die den Vater vergoͤttern. Doch iſt das Gemaͤlde, — am ſtaͤrkſten aber iſt die Bildſaͤule und die Bau - kunſt, welche beyde ſtets das Große leichter verkoͤrpern, als das Leichte und Kleine, und welche die gegenſeitige Nachbarſchaft und Ver - einigung ihrer Wirkung verdienen, wie der Leib und die Seele einander, d. h. die Bild - ſaͤule und der Tempel — das rechte Mutter - land der Denkmäler. Die Bewunderung, ſagt’ ich, nicht die Erinnerung — welche ein platter Leichenſtein, eine jährlich erneuerte Holzſtange mit einem ſchwarzen Namensbrettchen oben, und am Ende eine Schandſaͤule auch gewaͤhrte — ſie darzuſtellen; aber dieß vermag nur eben184 die Kunſt, indem ſie aus ihrem Himmel der Goͤttergeſtalten eine ſichtbare herunterſchickt und jene Gefuͤhle des Großen in uns ent - zuͤndet, in welche wir die aufgeflogene, den Gegenſtand des Denkmals, im goͤttlichen Rau - ſche der Bewunderung hineingeben. Ich ſtehe vor der Pyramide, vor dem Obelisk: wie von einem Liebes - und Zaubertrank beruͤckt, ſchaue ich weit in eine koloſſale Welt hinein und darin ſehe ich nun eben den Menſchen groß und glaͤnzend gehen, deſſen bloßer Name an dem Denkmale ſteht. Erhebt einen Saͤulen - tempel in die Luft und ſchreibt darauf: Lu - thero! ſo iſt’s genug und ſogar ſein Geſicht entbehrlich, das mit etwas fetter Mönchsſchrift geſchrieben iſt; — die ſichtbare Ehrenkirche führt ſchon den Kraftprieſter der unſichtbaren heran vor unſer Herz. Die eigne Geſtalt des Gedenk-Menſchen iſt folglich dem Denkmale nicht nothwendig, ja — z. B. die von Vol - taire durch Pigalt — ſogar ſchaͤdlich, wenn ſie nicht von der Taufe der Kunſt die Wiederge - burt empfangen hat; daher die Griechen die185 Uebergroͤße der Lebensgroͤße fuͤr ihre Statuen waͤhlten. Wie wenig man aͤhnlich, oder gar ikoniſch abbilden will, ſieht man daraus, daß man nicht ſtatt der Bildſaͤulen, welche durch Nacktheit und Marmorglanz ſtets groͤßer er - ſcheinen, lieber verjuͤngte macht, ſondern ſich der aͤhnlichen Zwerg-Statuen bey Fuͤrſten und Großen enthaͤlt. Man ſtelle eine Spiegelſtatue, naͤmlich ein Wachsbild, ſogar in idealen Ge - wänderwindeln, in einen Ehrentempel: ſo iſts ſo viel, als geriethe der lebendige Gegenſtand ſelber als Spatziergaͤnger in ſeine Vergötte - rungskirche. Nur die Kunſt ſpricht durch ei - nen aͤußern Menſchen den innern aus; darum baue ſie das Tabor der Himmelfahrt im Prunk - tempel.
Um deſto weniger thue das Denkmal im Feyerkleide der Kunſt Wochentagsdienſte des Nutzens, z. B. als Schul - oder Waiſenhaus; eine Misheyrath der Kunſt und des Beduͤrf - niſſes, die man bey den Barbaren und auf dem roͤmiſchen Marsfelde wieder findet, wo die heiligen Ruinen zu Viehtraͤnken und Waͤſch -186 ſtangen niederſinken, die groͤßten Prunkzim - mer, welche die Erde traͤgt, ſind leer und ohne Stuhl und Tiſch, Raphaels Stanzen. Wer wird unter dem Fluge der Bewunderung daran denken, was ſie eintrage?
Und was iſt aller Vortheil ſo, oder an - ders ernaͤhrter, oder unterwieſener Armen ge - gen die Himmelsbeute, wenn an einer kraͤfti - gen Juͤnglings-Seele im Unſterblichkeitstempel, wie in einer lauen Fruͤhlingsnacht, alle Knos - pen aufbrechen und duftend auffahren — wenn die Statue eines großen Menſchen mit Mem - non’s Tönen ein großes Herz anſpricht und erweckt, und es zurecht weiſet fuͤr ein langes Leben; — und wenn ein Sonntag ſechs Wo - chentage beſtimmt und heiligt?
In der geiſtigen Welt iſt die Wirkung ſo oft groͤßer, als die Urſache wie umgekehrt, und eine Maria gebiert einen Gottmenſchen; daher gibt’s in ihr keine andere Elle und Wage, als das Hoͤchſte, das eben jede verſchmaͤht. Die Erde iſt ein Gottesacker voll Scheinlei - chen, es wehe ein lebendiger Hauch, und eine187 Welt erwacht. Er weht aber im Kunſttempel eines großen Mannes. —
Wenn der Zeit eine Religion nach der an - dern, und eine Goͤtterlehre nach der andern untergeht, die die Menſchen zu Geiſtern macht: ſo bauet wenigſtens Menſchentempel, worin die geiſtigen Großen an das Groͤßte erinnern und das Bewundern ans Beten. Schloͤſſer in Aether ſind beſſer als die Luftſchlöſſer.
Moͤge Luther — dieſer geiſtige Donner - monat — uns auch hierin reformiren und beleben, obwohl nur mit dem Regenbogen ſeines Denkmals, und die deutſchen den Grie - chen nacherziehen! — Ohne Denkmaͤler fuͤr Unſterblichkeit gibt’s kein Vaterland, aber frey - lich auch ohne dieſes nicht jene. Soll der ge - meinen Vergoͤtterung, oder Verſteinerung der Fuͤrſten und Reichen nicht die hoͤhere Apothe - oſe regierender und reicher Geiſter das Gleich - gewicht halten? Soll nichts verewigt werden als ein Name, den wir vergeſſen oder unken - nen? Wenn man Griechenland auf allen We - gen und Hoͤhen nur durch ſtille Sternbilder188 der entruͤckten Unſterblichkeit ging, und wenn das Auge und das Herz voll Feuer und man - ches zu einer Sonne wurde, die der Tod in jene ſchimmernde Reihen ſelber einſetzte: ſo be - gegnen wir auf phyſiſchen Hoͤhen, nur geiſti - ger Erniedrigung, und wie von Heeren, wer - den die Anhoͤhen von zerſtoͤrten Miſſethaͤtern beſetzt, und der einzige Sokrates-Genius, der Nein zu uns ſagt, iſt der Nachrichter. Aber nicht die Furcht, nur die Begeiſterung thut Wunder, nicht der Brechwein, ſondern der Wein berauſcht; und welchen der Galgen beſ - ſert und hebt, iſt faſt ſchon an ihm.
O! Werft lieber, wie der Ruſſe, auf eine Geſtalt in Verzuckungen das verhuͤllende Tuch, und nehmt von einem glaͤnzenden Angeſicht die Moſisdecke, als das ihr beydes umkehrt und Gebrechen lieber als Kraͤfte fortpflanzt!
Die reinſte Empfindung hienieden, ſagt Chateaubriand, iſt die Bewunderung; und zu - gleich ſetze ich hinzu, die wirkſamſte in den edlern Lebenstheilen. Ein verſinkendes Volk erſtickt das heilige Feuer der Achtung in Mo -189 deraſche; je weniger Achtung fuͤr andere, deſto weniger fuͤr ſich, und umgekehrt. Darum heißt es: ein Volk heiligen, wenn man es achten lehrt; und darum waͤrmt die Opfer - flamme auf dem Altar Eines Menſchen das Leben ganzer Zeiten aus. Aber nur auf Stein, es ſey der Statue oder des Tempels, brennt dieſes Feuer. Auf dem bloßen Druckpapier wohnen alle Voͤlker und Zeiten, mit ihrer tod - ten Unſterblichkeit; hingegen das ſteinerne Denkmal traͤgt einen Helden aus dem Heer auf den Sonnenthron, der eine Welt aus - waͤrmt. Auf dem Papiere bewundert nur der Einſame; hingegen vor dem Denkmale wird die bewundernde Menge begeiſtert, nicht das Licht, ſondern die Waͤrme wächſt, unaufhör - lich zuruͤckgeworfen, in menſchenvollen Saͤlen, weil das Gewiſſen die Herzen ähnlicher macht, als die Anlagen die Köpfe.
Darum könnte das Schauſpielhaus — wel - ches beynahe das einzige Olympia, Forum und Ober - und Unterhaus iſt, das uns zu ei - nem Volke fuͤr Eine Flamme ſammelt und190 verdichtet — das ſchoͤnſte deutſche Pantheon werden, wo die Nazion ihre Unſterblichen thronen und zuruͤckglaͤnzen, und ihre Opfer - flammen zu Einem Feuer und in Einen Him - mel ſteigen ſieht. Darum iſt’s ſo erfreulich daß einem andern Reformator auf der Buͤhne, die er ſelber umgeſchaffen, die Trauer - und Hochzeitfackeln angezuͤndet werden, dem ewi - gen Schiller. Nicht Er am meiſten, der den Mondregenbogen der brittiſchen Reflexions - poeſie zu einem Sonnenregenbogen, wenn auch nicht zu einem reinen Phoͤbus entzuͤndete und den dichteriſchen Zauberkreis wenigſtens durch ein unendliches Zaubervieleck erſetzte, ſondern Er, welcher der Kunſt den Kuͤnſtler opfernd, lieber aufflog als nur fortflog und untere Ferne und obere Kaͤlte gern mit hoͤherer Bahn be - zahlte, ſo, daß ſogar ſeine ſpaͤtern Irrthuͤmer nur Opfer ſind, wie ſeine fruͤheren Fehltritte nur Fehlfluͤge. Aber doch wird ein Herz, das Thraͤnen um den hohen Menſchen und Ge - danken fuͤr die Ewigkeit hat, ſeine Todtenſeyer am ſchmerzlichſten und am innigſten begehen191 muͤſſen, wenn es bedenkt, daß Er unter allen deutſchen Dichtern gerade mit der Leichenfackel, die nun auf Ihm brennt, am weiteſten in die andere Welt hineinleuchtete und ſchon mit Sei - nem jugendlichen Fruͤhroth das Schattenreich glaͤnzend faͤrbte. Nun zieht er hinter den Abendwolken des Lebens, worauf er ſo oft Morgen - und Abendroth (fuͤr den Dichter nur Ein Roth) geworfen — und das dankbare Auge kann auf nichts ſehen als auf ſeinen Flug und ſeine Flucht. Die aus verſchiedenen Hoͤhen einander entgegen ziehenden Wolken der Urtheile werden bald verfliegen; und ſein Stern wird alsdann, ſowohl unbewoͤlkt, als unvergoldet, lichtrein am ewigen Him - mel gehen.
Der Verfaſſer dieſes Aufſatzes, der das oben gedachte Gluͤck ſchon von Kindheit an genoſſen, wird ſich fuͤr belohnt anſehen, wenn er durch ihn einige Leſer der Zeitung fuͤr die elegante Welt, die vielleicht Jahre lang’ einhoͤrig, wie Kant einaͤugig geweſen, ohne es zu wiſſen, anreitzt, daß ſie ein Ohr nach dem andern zu - halten, um zu erforſchen, ob etwa eines da - von die Gaben meines linken habe.
193Außer der Waſſerſpitzmaus — die bekannt - lich im Waſſer die Ohren mit Klappen ſchlie - ßen kann — und außer den Fledermaͤuſen mit Ohrdeckeln, wuͤßt’ ich niemand, am we - nigſten Menſchen, welche aͤhnliche — den Au - genliedern gleiche — Ohrenlieder haͤtten; faſt jeder hoͤrt, und zwar ſelten die angenehmſten Sachen. Iſt man hingegen mit einſeitiger Taubheit verſehen, ſo wird leicht — mit Ei - nem Finger — zweyſeitige auf ſo lange als mans braucht, zuſammengebracht; beſonders ſieht der Einhörige vier Plaͤtze — gleichſam vier Freudenwelttheile — vor ſich aufgethan, den Muſikſaal, das Schauſpielhaus, das Geſellſchaftszimmer und das Bette.
Ich will, wenn es verziehen wird, die Le - ſer in die vier Pfaͤhle meines Himmels hinein fuͤhren, moͤgen auch ſie einige taube Bluͤten der Freude pfluͤcken.
Einſeitige Taubheit iſt in einem Muſik - ſaale, wo man weniger Ton - als Miston - kuͤnſtler zu genießen bekommt, vielleicht ſoZweyter Theil. 13194ſchätzbar als ſtarkes Gaͤhnen. Nach Haller iſt man ſo lange taub, als man gaͤhnt, und die guͤtige Natur ſchreibt alſo ſelber das Gaͤhnen als das naͤchſte Schirmmittel gegen langweilige Einwirkungen vor. Ein Einhoͤriger aber er - reicht denſelben Zweck, nur aber viel hoͤflicher, wenn er die Hand, anſtatt vor den Mund, unter leichtem Vorwand vor das Hoͤr-Ohr haͤlt, wie ich und ſolange aufmerkſam ausruht, als das Zerrtonſtuͤck dauert. Goͤthe wuͤnſcht den Zuhoͤrern Unſichtbarkeit der Spieler, naͤm - lich ihrer Geberdung; wer nun noch Unhör - barkeit kuͤnſtlich dazu ſetzen kann, hat, glaub’ ich, alle Vortheile verknuͤpft, die von ſchlechten Konzerten zu ziehen ſind. In guten gewinnt ein Mann, der ſteht und geht, noch groͤßere durch Einhoͤrigkeit; denn er kann, ſo oft ne - ben ſeinem geſunden Ohre Lob - und andere Spruͤche wie Proſa die zarte Poeſie des Toͤ - nens ſtoͤren und quaͤlen, ſich leicht ſo gut weg - ſtellen, daß er der rohen Klapperjagd neben ſich geradehin das todte Ohr zukehrt.
Im Schauſpielhauſe iſt Einhoͤrigkeit195 noch noͤthiger, ja unſchaͤtzbar; nicht nur, weil ſich oft das Tonſpiel mit dem Schauſpiel ver - einigt — folglich der vorige Vortheil mit dem folgenden — noch auch bloß, weil beyde Kuͤnſte die Einzigkeit haben, (welche die Tanzkunſt durch Figuranten vermeidet), daß Meiſter und Schuͤler zugleich (es muͤßten denn jene fehlen) Ein Kunſtwerk verknuͤpft gebaͤhren — noch etwa, weil es hundert Gruͤnde dafuͤr giebt — ſon - dern hauptſaͤchlich, weil unzählige dafuͤr da ſind, indeß Einer hinreiche fuͤr alle. Es ha - ben naͤmlich nicht nur mehrere Perſonen, wel - che ihre Logen auf ganze Jahre mietheten, die gute Bemerkung gemacht, daß es bey den meiſten Trauer - oder gar Schau - oder vollends Luſtſpielen wenig mehr zu gewinnen gebe, als im Grec-Spiel, im Pochſpiel und im Sticheln, ſondern auch ich, aber ohne uͤber Nachtheil zu klagen. Denn mit einem Fin - ger, der ſich ans rechte Ohr anlehnt, halt’ ich mir den Poeten und ſeine agirenden Truppen ſo gut vom Leibe, als ob ich warm zu Hauſe ſaͤße in der Vorſtadt, ungemein heiter aus -196 ſehend und wohl verſchanzt. — So oft vol - lends in der Oper die Muſik aufhört, ſo eilt niemand mehr als ich mit der Rechten — wo - mit die anderen klatſchen — ans gute Ohr und mauert die heilige Jubelpforte der Töne, z. B. eines Mozarts ſo lange damit zu, bis das Sprechen etwas nachgelaſſen; — aber eben dieſer herrliche Wechſel zwiſchen zwey Oh - ren macht mich vielleicht zu einem leidenſchaft - lichern Opernfreunde als ich oͤffentlich geſtehen darf. Le Sage, ein Liebhaber der Pariſer Buͤhne, ſetzte, als er ganz taub geworden, die Beſuche derſelben fort und ſchoͤpfte den alten Genuß daraus, zum Erſtaunen Vieler; ich aber erklaͤre mir’s ohne Muͤhe aus dem Vorigen. Ich habe ſogar einen wackern Ge - ſchaͤftsmann gekannt, welcher, um kein Schau - ſpiel zu verſaͤumen, in jedes mit ſeinem Ak - tenpack unter dem Arme kam, ſich ins Punſch - zimmer ſetzte, und da ſo lange neben ſeinem Glaſe ſeine Akten durchging, bis das Stuͤck geendet war und er ſich erfriſcht und neu be - lebt mit andern Zuſchauern nach Hauſe begab. 197Ja waͤre bey der jetzigen Buͤhnenverbeſſerung nicht — nach dem Muſter der Orientsfuͤrſten, weiche ihrem Weiberrathe der 500 jungen, nur Maͤnner zu Vorſtehern geben, die keine ſind, ſondern ſtumme, taube, und beynahe (als Zwerge) unſichtbare — eine Buͤhne zu er - bauen moͤglich, welche die Spieler durch perſpekti - viſche Kuͤnſte in eine ſo abgemeßne Entfernung von den Zuhoͤrern ſtellte, daß dieſe ſich wirklich taͤuſch - ten und nichts zu hören und zu ſehen daͤchten?
Nirgends iſt aber wohl parzielle Taubheit von groͤßerem Nutzen, als da, wo ſie am haͤu - figſten anzuwenden iſt, im Sprech - oder Hoͤrzimmer, das groͤßte auf der Erde, wenn ſie es nicht ſelber iſt. Da es auf der einen Seite ſo unſchicklich iſt, einen Nebenmenſchen mitten in ſeiner Rede ſtehen zu laſſen und da - von zu gehen — oder auch ihm ganz laß und abgeſpannt zuzuhören — oder vollends vor ſei - ner Unterhaltung beyde Ohren zuzuhalten — und da doch auf der andern Seite in mehre - ren deutſchen Reichskreiſen und Zirkeln und cercles faſt an jedem Abend Dinge geſagt198 werden, an welche man ſich den Morgen dar - auf mit der groͤßten Langweile erinnert: ſo kenn’ ich kein groͤßeres Gluͤck, ich meine keine ſchoͤnere Ausgleichung zwiſchen Selbſt - und Menſchen-Liebe als linke Taubheit; vergnuͤgt und munter ruh’ ich vor meinem geſpraͤchigen Nachbar auf der Hand mit dem rechten Ohre, um es zu decken, und betreibe ohne Haͤndel und Skandal (das Vexierohr halt’ ich ihm offen hin) meine innern Angelegenheiten waͤh - rend der auswärtigen.
Dieß alles muß jetzt viel weitlaͤuftiger ge - ſagt, und dann wiederholt werden.
Jeder hat Stunden, wo er klagt, daß ſie ihm langweilig hinflöſſen, weniger wegen Mangel an Geſellſchaft, als wegen Daſeyn derſelben. —
Jeder hat geſellige Tage, die er Novem - berhefte des Lebens nennt, um figuͤrlich und beißend zu ſeyn — er will nämlich damit ent - weder ſagen, jede Sache werde in Geſellſchaf - ten zweymal geſagt, gleichſam von Doppelſpah - ten gezeigt, oder ſonſt etwas. —
199Jeder Deutſche hat Jahre, wo er uͤber neue Auflagen des Vademekums in Geſellſchaf - ten ergrimmt — uͤber die muͤndlichen Geſchaͤfts - briefe der Geſchaͤftsmaͤnner — uͤber die lang - weilige Theaterjournaliſtik des Kriegsthea - ters. —
Jeder Deutſche hat ſeine Zeit, wo er wuͤnſcht, die uͤbrigen Deutſchen moͤchten ſich mehr aufs Reden legen, da ſie ungleich den Kindern, früher ſchreiben als ſprechen gelernt, und wo er auf Sprechklubs in London und auf bureaux d’esprit in Paris fuͤr ſie dringt, damit ſie, ſagt’ er, eine lebendige Sprache mehr lebendig als zu todt reden, und nicht, wie Muſcheln, die beſten Perlen erſt durch langes Modern aufdecken und hergeben — —
Und ſo weiter; denn jeder Deutſche klagt hauptſaͤchlich, daß der andere geſellig lieber Er - zaͤhlungen mache als Bemerkungen — lieber fremde Einfaͤlle als eigne — lieber die laͤngſten Erzaͤhlungen als ſchoͤne — lieber Berichte als contes — lieber Stichworte des Spiels als ſonſt ein gutes Wort. —
200Wird gar von Amts -, Huldigungs -, Kan - zelrednern oder von dem Bruder Redner (ei - nem ſehr ernſten frère terrible) geſprochen: ſo ſind die Klagen wirklich herb. — — —
Aber hier liegt nun die Schuld (darauf ſollte, die lange Periode wo moͤglich fuͤhren) viel weniger an den Sprechern als an den Hoͤrern ſelber, welche, anſtatt wie gute Ba - rometer, nur eine Oeffnung zu haben, zwey Ohren oͤffnen und folglich Luft einlaſſen. Ein Mann aber mit einhörigem Ohr — das er ſo leicht zumacht als ein dummes Buch — ſchaͤtzt geſelligen Verkehr. Kann er denn nicht — dieß weiß er — mitten unter gedachten Reden wie zufaͤllig, ans Hoͤr. Ohr den Stockknopf le - gen — oder den Kopf auf die Hand, oder es ſonſt verſchließen — oder ohne es zu thun, ſich umdrehen und jedem ſein geſchloßnes Ohr zuwenden, und dadurch ſo gluͤcklich werden, als wenige? — Wie ſeelig war ich in oft den vornehmſten Maͤnnerzirkeln, wo als in Epi - kurs - und Augias-Staͤllen die kothigſten Anek - doten aller Art umliefen, wenn ich nichts als201 mein blindes Ohrthor zeigend, in meinem zu - gemauerten Konklave mitten unter moraliſchen Sterkoraniſten die koͤſtlichſten biographiſchen Madonnen erzeugte und anbetete! — Aehn - licher Weiſe durften ſonſt in Jülich und Berg (einige Doͤrfer ausgenommen) Proteſtanten an katholiſchen Heiligen-Tagen, nach Reichs - geſetzen, nur arbeiten, wenn ſie Thuͤren und Fenſter verſchloſſen. — Wie wurd’ ich oft von mancher Erzählung gelabt, wenn ſie lange und langweilig genug war, daß ich waͤhrend ihres Verlaufs, mit offenem Geſicht am verſchloßnen Kopf heiter am neueſten Druckbogen fortarbei - ten konnte z. B. an dieſem! Wurd’ ich dann wieder, wie ein Siebenſchlaͤfer und Epimenides wach, ſo umzog mich eine verjuͤngte Welt, und friſche Geſpraͤche verſuchten ihr Heil.
— — Hier komme ich leider ſcheinbar in den Fall der Buchhaͤndler und Fuͤrſten, welche das Allgemeinſte oft als Herold dem Beſtimm - teſten vorausſchicken, die Ewigkeit dem Markt - tage, wenn ich auf die Partie Ohren-Koͤrke oder Hoͤrſchirme aufmerkſam und begierig mache,202 welche mir ein abgedankter Vielkuͤnſter, der lange auf Buͤhnen, Flöten, Karten und Wei - berherzen geſpielt, als Fauſtpfaͤnder einer klei - nen Schuld auf dem Halſe gelaſſen. Die Schirme (dem Anfuͤhlen nach von Reſina mit etwas Baumwolle) ſind gut und geſchmackvoll genug. — Meine Adreſſe iſt: J. P. F. Rich - ter, Legazionsrath, in Hrn. Regiſtrator Schramms Hauſe in Bayreuth. Als mir der Tonkuͤnſtler dieſer geſelligen Still-Leben die muͤndlichen Empfehlungen derſelben vormachte, verſucht’ ich einige von den Schirmen dem Ohre ein, und fand ſie bewährt. Der Kuͤnſt - ler erzählte noch zu ihrem Vortheil, er habe, da er leider alles leichter bey ſich behalte, als ein Geheimniß, zwey ſeiner Sperroͤhren, als er in die Loge zum ▭ △ ∟ — aufgenom - men worden, aus Meineidsangſt zu ſich ge - ſteckt, und damit kurz vor dem Vortragen der Geheimniſſe, ſich die Ohren gleich Zaͤhnen ſo wohl plombirt, daß er kein einziges vernom - men, ſondern noch bis dieſe Stunde ſeinen Schwur ſpielend erfuͤlle; ja er ſtehe, ſetzt’ er203 hinzu, jedem kuͤhn zur Rede, der ihn probiren wolle, ob er etwas wiſſe. So viel iſt gewiß, daß man mit dieſer Ohrklauſur — oder dieſem Ton-Ableiter — Ohr-Portier — jedem, wel - chen hohen Standes er auch ſey, auf der Stelle Schweigen auferlegen kann, er mag noch ſo laut fortreden; der Mann iſt ein e-muet (ſtummes E) fuͤr mich und kann nicht einlaufen in den geſperrten Hafen der Geſell - ſchaftsinſel. — — — Jetzt aber zum Wich - tigern zuruͤck!
Da wohl der Vortheil kein Publikum in der Welt intereſſirt, daß ich ſchon von Natur zur Hoͤflichkeit geſchaffen bin, naͤmlich als Links - tauber jeden an meiner Rechten, als der Hoͤr - und Windſeite gehen zu laſſen, um doch in Diskurſe zu gerathen: ſo bitt’ ich die Welt, ſofort den vierten Nutzen der Einhoͤrigkeit zu betrachten, und mit mir an mein Bette zu treten, wo ich liege — aber eben auf dem Hör-Ohr — und folglich nicht einmal merke, wie viel eintreten.
Je naͤher man dem laͤngſten Schlafe kommt,204 deſto mehr achtet man das Vorſchlafen. Ei - nem alten Manne waͤre daher mein linker Vorzug mehr zu gönnen; ſeinen Regenſchirm muß er ja zugleich gegen Schnee und Ha - gel tragen. Es ſey nun, weil der Schlaf ein Vorſpiel und Vorzimmer des Todes iſt, welcher alle Sinne fruͤher ſchließt als das Ohr, oder weil man in jenem (wie in dieſem) die Augen zumacht, auf Augenſchluß aber (nach Eſchke’s Bemerkung) leiſeres Hören folgt, oder weil der ſchlaue Greis mehr befuͤrchtet und mithin behorcht, genug er kann wenig ſchlafen vor Laͤrm. So bedeutet es naſſes Wetter, wenn Thuͤren und Fenſter nicht zugehen. Hunde — Maͤuſe — Wirthshausgaͤſte — Re - dutenwagen — der eigne Athem, der zu laut wird — alles weckt den Mann und wacht um ihn; die Fruͤhlingsſtuͤrme, die ihm nicht viel Blumenſtaub ins welke Leben wehen, ſammt den Paſſatſtuͤrmen der Nachtwaͤchter, brechen in ſeine Ohren ein und ſtehlen den Schlaf. Ich hingegen mit der Gabe, ein Ohr weniger zu haben, lege mich (außer in verdaͤchtigen205 Zeiten und Orten) auf das behaltene und hoͤre nichts mehr, ſondern nur Traͤume — am Janustempel des Lebens ſind die Fluͤgel - thuͤren geſchloſſen — der allgemeine Friede kehrt ein — und das Uebrige iſt aus.
Der regierende Graf von — ß, hegte eine ſolche Liebhaberey fuͤr ſittliche Heroen, daß er einen Bilderſaal ihrer Geſtalten und eine Bi - bliothek weniger von großen Schriftſtellern, als über große Menſchen unterhielt, und daß ihm ein Meſſias theuerer war als eine Meſſiade,207 und Plutarch lieber als Tacitus. Er war und handelte ſelber in Paris ſo lange bey dem Niederreißen der Baſtille mit, als die Stadt noch nicht in eine groͤßere durch die Bergpar - tey verkehrt war. Da ich nun wußte, daß er nach ſeinem weltlichen Heiligenkalender die Ge - burts -, Todes - und Thaten-Feſte großer Men - ſchen feyerte — zu welcher ſtillen Feyer er nichts gebrauchte, als ihre Geſchichte, ihr Bild, und ſein Herz — und daß er folglich auch das unbewegliche Jubelfeſt von Corday’s Todestag den 17ten July begehen wuͤrde; — und da mir ferner bekannt war, daß man ihn in ſei - nem unausgeſetzten Allerheiligen-Tag doch im - mer ſtoͤren wuͤrde, man komme, wenn man wolle: ſo ging ich am 17ten Abends zu ihm, wiewohl bloß um meinen in ein hiſtoriſches Bildniß der Tagsheiligen Corday verwandel - ten Auszug aus dem Moniteur darzubringen und vorzuleſen. Eigentlich brachte ich ihm weniger eine Gabe als ein Opfer, da ich un - ter dem Zuſammenſtellen mich von dem Mo - niteur 1793 mit unbeſchreiblichem Ekel vor208 der damaligen Bluttrunkenheit der Blutduͤrſti - gen Bergpartey, vor deren leerem betrunke - nen Schwatzen, Poltern und Taumeln mußte erfuͤllen laſſen.
Als ich ankam, traf ich ſchon ſeinen Re - gierungspraͤſidenten bey ihm an; — einen rechtlichen kuͤhlen Mann, der Zeit und Raum gefunden, zwiſchen ſeinen Aktenſtoͤßen ſogar Kants metaphyſiſche Sittenlehre aufzulegen, und aufzuſchlagen — er ſchien ſeinen regieren - den Herrn faſt nur zu beſuchen, um ihn zu bekriegen und abzuſetzen in der Philoſophie. Indeß eben weil nur die poetiſchen Grundſaͤtze des Grafen, nicht aber deſſen befeſtigt-fort - dringenden Handlungen den proſaiſchen Grund - ſaͤtzen des Praͤſidenten zuwider liefen: ſo ſchloß ſich dieſer aus Aehnlichkeit und Unaͤhnlichkeit zugleich deſto feſter an ſein (jetzt nicht mehr unmittelbares) Reichsfuͤrſtchen an und an den Kampf mit ihm.
Bey meinem Eintritt war das Gemaͤlde der Disputa ſchon auseinandergerollt. „ Gir - tanner ſchrieb — ſo ſagte der Praͤſident —209 folgendes mit Recht:” „ Maria Anna Char - lotte Corday aus Saturien des Vignaux (in der Nieder-Normandie) iſt noch verabſcheu - ungswuͤrdiger als Marat, weil er nur Meu - chelmorde veranſtaltete, ſie aber einen begieng, und weil der Zweck kein Mittel heiligt.”
Etwas widerwaͤrtig trat das Zitat mir und dem Cordays Tage aus dem July - oder Ernte Monat und meiner in der Taſche mit - gebrachten Geſchichte derſelben, entgegen. „ O Gott! ſagt’ ich (mit jener umgeſtuͤrzten Ueber - fuͤlle von Ueberzeugung, die eben darum vor Strom es kaum zu Tropfen bringt) Gerade umgekehrt!” —
Da es ſchon bekannt iſt, daß der Praͤſident nicht nur aus meiner Antwort ſondern auch uͤberhaupt aus mir als Weltweiſen nichts machte: ſo fuͤhr’ ich gern zu ſeiner Rechtferti - gung an, daß er es mit mir als Poeten gut meinte, da er einen ordentlichen Dichter nicht fuͤr unwuͤrdig erklaͤrte der einkleidende Schnei - dermeiſter eines philoſophiſchen Schul - und Lehr-Meiſters zu werden und als der wahreZweyter Theil. 14210Volkslehrer dem Haufen manches zu verſinnli - chen was der Meiſter vom Stuhle zu ſehr vergeiſtigte, ſo daß ſeine Schreibfeder, indeß die philoſophiſche als Schwanzfeder hinten den Vogel ſteuere, als Schwungfeder im Fluͤgel - knochen ihn hebe.
Darauf fuhr ich ruhiger fort: „ Das Ver - anlaſſen des Mordes ſcheint niedriger zu ſeyn als jedes Begehen deſſelben, weil es feiger iſt — weil es zwey fremde Leben ausſetzt — und weil es die dringende und die mordende Seele zugleich vergiftet. Und wenn eine oͤffentliche uneigennuͤtzige, kriegeriſche, das eigne Leben abſichtlich hingebende Hinrichtung ein Meuchel - mord iſt: wie nennt dann Girtanner einen heimlichen, bezahlten, gefahrloſen Mord?”
Der Präſident fragte lächelnd: „ ob man das fremde Leben opfern darf? — Ja ich möchte vorerſt wiſſen, ob nur das eigne wegzugeben iſt. Kann die Sittlichkeit ihre eigne Aufhebung durch den Tod gebieten, und ſich durch eine Handlung das Mittel (was unſtreitig das Le - ben iſt) benehmen, ſich zu wiederholen? Denn211 der Glaube an ein zweytes Leben kann die unbedingten Moral-Mandata ohne Klauſel fuͤr das erſte nicht leuterieren, und reformiren. Wohl iſt Wagen des Lebens erlaubt, aber nur bey der Moͤglichkeit ſeiner Erhaltung, nicht bey der Gewisheit ſeines Verluſtes.”
„ Meiner Antwort — ſagt’ ich — thut es vielen Vorſchub, daß ich geradezu laͤugnen kann, es habe noch irgend jemand ſein Leben geopfert; denn da die Natur es jedem ohne - hin abnimmt, ſo kann er nur Jahre und Tage hingeben, nicht aber das heilige unſchaͤtzbare Leben ſelber; ja er legt auf den Opferaltar eine Gabe von einem ihm unbekannten Ge - wicht, vielleicht ein Jahrzehnd, vielleicht eine Stunde. Und wird denn nicht alles rechte geiſtige Leben eine vergiftete Hoſtie fuͤr das koͤrperliche? Iſt nicht ſogar jeder Schacht und jede Handwerksſtube ein Walkboden und Darr - ofen des Körpers, ſo daß nur das Thier-Le - ben die rechte und laͤngſte Spinnſchule fuͤr die Parze Lacheſis bliebe? — Am Ende haͤtte man nach einer ſolchen philoſophiſchen Heils -212 Lehre, die hypochondriſche Berechnung uͤber die Einbuſſe einiger Lebensſtunden bey jedem ein - zelnen kleinen Opfer fuͤr den andern durchzu - machen, — die Tugend liefe auf Hufelands Rath laͤnger zu leben hinaus, und man muͤßte Arzneykunde ſtudieren um nicht verdammt zu werden. — Wenn auch gleich einige Philoſo - phen die Tugend wie einen Prozeß nicht gern mit der Exekution anfangen, ſondern gelaſ - ſener mit muͤnd - und ſchriftlichen Verhand - lungen: ſo kenn’ ich wieder andere, z. B. Sie und Regulus, welche wie dieſer in der Wahl zwiſchen gewiſſem Tode und Meineide, doch lieber die Abkürzung ihres moraliſchen Spiel - raumes erwaͤhlten. Aber wozu dieß alles? Entweder iſt von äußerem Erfolge die Rede — ſodann kann die Innerlichkeit (Intenſion) des Lebens, die Ausdehnung (Extenſion) deſ - ſelben ſo freygebig verguͤten, daß eine Todes - ſtunde, welche Voͤlker beſeelt, und begeiſtert, ein kaltes thatenloſes Jahrzehnd uͤberwiegt — oder es wird vom Heiligſten geſprochen; dann ſetzt die Sittlichkeit, hoff’ ich nicht Vernichtung,213 nicht einmal Unſterblichkeit voraus, ſondern Ewigkeit. Der Engel in der Menſchheit kennt wie Gott immer ſeinen ewigen Wohnhimmel, keine Zeit und Zukunft, oder irgend eine Sin - nenrechnung; dieſer Engel nicht nach und von Jahren wachſend, da es in der Ewigkeit keine gibt, iſt aus Gewohnheit blind gegen die ge - faͤrbten Schatten, und Nachtſchatten der End - lichkeit, weil ſein Blick ſich in der ewigen Sonne verliert.
Der Krieger, ſagte der Graf, der auf eine Miene beordert wird, damit er den Feind da - hin locke, und mit ihm zugleich auffliege, hat nur meine Bewunderung, wenn er es weiß und doch ſtirbt.
„ Zu ſchließen waͤre vielleicht daraus, er - wiederte der Praͤſident — entweder, daß dem - nach es ganz und gar keinen Selbſtmörder mehr gaͤbe, oder daß jeder einer, nur ſubtiler wäre. Aber eine ſchwierigere Unterſuchung ſteht uns bevor — Naͤmlich, mit welchem Rechte erhebt, frag’ ich bey Corday, ein Menſch, der kein vom Ganzen angenommener Richter214 iſt, ſein einſames Privaturtheil zu einem un - erwarteten Kabinets-Befehle und zu einem Todesurtheile, daß er noch dazu ſelber, ohne jemand zu verhoͤren oder zu befolgen, in dem - ſelben Nu ausſpricht und vollſtreckt, wie Cor - day als Scharfrichterin eines Scharfrichters that? Welcher Heinrich iſt denn vor ſeinem Ravaillac geſchirmt? Ja, wie dieſer*)Die mit dem odeln Heinrich geſcheiterten Entwürfe zur größten Friedens-Alliance ſind bekannt. Zum Kriege werden die Quadrupel-Alliancen leichter., irrte Marats Moͤrderin, und griff zugleich in Zweck und Mittel fehl, wiewohl keiner eines adeln kann. Denn ſie nahm Marat fuͤr den wich - tigen Kopf des Staats-Bandwurms, von den Journalen Perlet und Courier français ver - leitet; aber ſie haͤtte, wie Archenholz meint, beſſer Robespierre und Danton, d. h. die In - ſtrumentenmacher anſtatt des Inſtruments zer - ſtoͤrt, oder am beſten (wie Genz auch glaubt) gar niemand angefallen, weil entweder das Opfer aus der herrſchenden Partey zum Blut - zeugen alſo zum Blutraͤcher und Verkuͤndiger215 deſſelben wurde, oder jede hingerichtete doch nur einer zweyten eben ſo ſchlimmen zuruͤckte, wie dießmal der Gemeinde-Rath zu Paris. In Ihrer Sprache wuͤrden Sie ſagen: der am Schwanze angeſchnittene Blutigel ſog nur durſtiger fort; die Ausbruͤche auch dieſes Vulkans geben nur neue Berge von Berg - parteyen.”
Ich verſetzte: „ Da ich kein Sokrates bin, ſo behalt’ ich lange Reden leicht. Wuͤrde Sie, frag’ ich von vornen zuruͤck, falls es nur einen All-Moͤrder gaͤbe, nicht der Un - wille der Retter - und Raͤcher-Liebe ſo uͤber - mannen, daß Sie ſeine Rolle an ihm ſelber wiederholten? — Wuͤrden Sie Gewiſſens - biſſe haben, wenn Sie als bloſſer Menſch, nicht als Praͤſident ohne alle Kriminal-Akten und Pein-Geſetze eigenhaͤndig den Teufel den Beelzebub, den Oberſten der Teufel niederge - ſtoßen haͤtten? — Wenn wir uns ſo ſehr fuͤrchten, die Richter eines Menſchen zu ſeyn: ſo ſeh’ ich doch nicht ab, wie wir nur einen Tag lang leben und gegen andere Menſchen216 handeln wollen, ohne uns obwohl uͤber kleinere Faͤlle zu ihren Richtern, zu ihrem Kampf - und Friedensrichter, zur erſten Inſtanz, aufzuwer - fen, und einzuſetzen. Und wer darf, oder ſollte uͤberhaupt richten, als der geiſtige Koͤnig uͤber geiſtige Kriegsgefangene? Und muſte nicht ir - gend einmal Ein Kuͤhner uͤber Eine Menge die Todes-Urtheile feſtſetzen, nach denen wie - der jene Kuͤhnen gerichtet werden, die eines uͤber einen einzelnen faͤllen mit eigner Ge - fahr?
Sie ſprachen, lieber Praͤſident, von Kabi - nets-Befehlen eines Einzelnen — der keine Kabinetsraͤthe hat — Aber gaͤb’ es auf der Erde keine anderen oder ſchlimmeren Eigen - machts-Ukaſen als die der von der Natur ſel - ber zu unſichtbaren Obern der unſicht - baren Untern gekroͤnten Magnaten oder der ſittlichen Heroen: ſo koͤnnte die ſittliche Mittelwelt ruhig ſchlafen; nur aber die unſitt - liche Unterwelt, der eben keine Ruhe gebuͤhrt, buͤßte dieſe ein. Eine Volksmenge von Cor - days wuͤrde die einzelnen Marats in der Ge -217 burt erſticken (wie jetzt die Marats-Menge die einzelnen Cordays), eine Brutus-Menge wuͤrde die Caͤſars zwar nicht unterdruͤcken (denn große Seelen wiſſen auf mehr als Eine Weiſe zu regieren und nur eine ſchlechte Welt beherrſchen ſie ſchlecht), aber wohl lenken und veredeln.
Uebrigens iſt von den einzelnen Cordays ſo viel fuͤr die Menge zu fuͤrchten, als von den Steinwuͤrfen der Monds-Vulkane fuͤr die Erde.
Sie gedachten noch Ravaillacs. Warum haben noch alle bisherigen Jahrhunderte einen ſolchen Unterſchied zwiſchen Heinrichs Moͤrder und Caͤſars Toͤdter gemacht, als der zwiſchen Mord und Tugend iſt; — und warum er - truͤge kein Herz den Roͤmer auf der Folter - buͤhne ungeruͤhrt, hingegen mit Freuden den Koͤnigs-Moloch?
In jeder weitgreifenden Handlung wagt das Herz, wenn nicht ſich, doch ſein Gluͤck; nur wenigen Gluͤcklichen hat das Schickſal ein reines Verhältniß zum Thun beſchieden, aller218 guter Wille der Abſicht reicht nicht aus, da wir obwohl nicht fuͤr den Erfolg aber doch fuͤr deſſen Berechnung, die oft eine des Unendlichen iſt, zu ſtehen haben. Unſere Pſyche kann, moͤcht’ ich ſagen, gleich den Voͤ - geln nie ſteilrecht oder gerade auffliegen ſon - dern nur auf dem ſchiefen Umweg. Rechnen wir mit zitternder Hand, ſo gleichen wir den moraliſchen Schulmeiſtern, die oben auf dem Ufer einer Suͤndfluth ſitzen, und die vor einem gedeckten gruͤnenden Seſſionstiſche voll Zeugenverhoͤre, Geburtsſcheinen und Kondui - tenliſten ſo lange uͤber die Frage, wer wohl in Betracht ſeines beſondern Werths und Al - ters, zuvoͤrderſt aus den ſchwimmenden Voͤl - kern heraus zu holen waͤre — abrechnen und abſtimmen, bis ſaͤmmtliche ausgeſchaͤtzte Welt erſoffen iſt, und die Fluth vertropft. Ich weiß nicht, was mit einem ſolchen Kleinmuth noch anders auf der Erde zu wagen und durch - zuſetzen iſt, als etwan das, was z. B. am heutigen 17. July oder Alexius Tage der Ka - lender anraͤth: ſaͤet Ruͤben und raufet den219 Flochs. Ans Hinwagen irgend eines Lebens waͤre dann ſo wenig zu denken, daß man nicht einmal mit der Aufloͤſung der Frage zu Rande kaͤme: ob man nur eines geben duͤrfe; ob man nicht zu kuͤhn verfahre, wenn man auf die Erde einen ganz neuen unbekann - ten Menſchen einfuͤhre, fuͤr deſſen Anlagen und Einfluͤſſen man gerade ſo wenig ſtehen koͤnne, als fuͤr deſſen Schickſale, indem er ja der jaͤhrliche Septembriſeur jeder zwoͤlf Mo - nate und des Jahrhunderts werden, und durch dieſe in Gift-Gärten des Geiſtes und in Hun - gerwuͤſten des Koͤrpers unheilbar untergehen koͤnne. Ich erſtaune dann uͤber einen, der hei - rathet.
Aber, verſetzte der Präſident, was geht die reine Abſicht der Erfolg an? Die allwiſ - ſende und allmaͤchtige Vorſehung mag mit ſich ſelber dieſen ausmachen; ich bin keine. Geſetzt z. B. eine Frau riefe in der Nacht um Hilfe, und ich eilte hinzu, und braͤchte aus meinem Sandwege einige leicht Fuͤnkchen gebende Sand - körnchen mit in die mir unbekannte Pulver -220 muͤhle, und hundert Menſchen floͤgen in die Luft: was haͤtt’ ich denn verſchuldet? Nichts, rein nichts! “
Gewiß, ſagt’ ich, aber eine unbeſiegliche Trauer bliebe Ihnen doch zuruͤck. Da uͤber - haupt der Menſch nicht bloß groß wollen (was er je in der Minute iſt, wo er will) ſondern auch groß handeln will: ſo muß er durchaus noch auf etwas, was jenſeits des Reichs der Abſicht liegt, hinuͤberſtreben; zwey gleich „ reine Helden der Menſchheit, wovon der eine im Kerker raſten muß, der andere ein weites Leben ausſchaffen darf, wuͤrden den Unterſchied ihrer aͤußeren Rollen wie einen zwiſchen Ungluͤck und Gluͤck empfinden. Kurz wir wollen wirklich etwas; wir wollen die Stadt Gottes nicht bloß bewohnen, ſondern auch vergroͤßern. Nur dringen wir vor lauter Verboten ſelten zu den Geboten ſelber hindurch, und brauchen ſechs Wochentage, um auf einem Sonntage anzulanden. O, was zu fliehen iſt, weiß ſogar der Teufel; aber was zu ſuchen iſt, nur der Engel.
221Wir wollen auf die Corday zuruͤckkommen, ſagte der Praͤſident; es wirft ſich ſogar uͤber Nothwehr, d. h. den Erkauf meines Lebens durch ein fremdes, die Frage der Rechtmaͤſſig - keit auf. Warum ſoll das meinige ſtets mehr wiegen als das fremde? Ich fuͤr meine Per - ſon koͤnnte deßhalb den groͤßern Vertheidigungs - Muth weniger gegen Angriffe des meinigen als gegen die eines fremden, z. B. meiner Kinder beweiſen, wie eine Mutter nur fuͤr dieſe, nicht fuͤr ſich eine Loͤwin wird. “
Allerdings entſcheiden hier Lebens-Abwaͤ - gungen nicht, ſagt’ ich, weil ſonſt zwey Drit - tel der Menſchen vogelfrey würden: ſondern die verletzte Geiſtes-Majeſtaͤt, die am Leibe oder Leben ſo beleidigt wird, wie ein Fuͤrſt an ſeinem beſchimpften naͤchſten Diener, ſoll ge - raͤcht und behauptet werden. Jeder Despot taſtet in meinem koͤrperlichen Leben nur mein geiſtiges an. — Weßwegen ſonſt glaubt der Beleidiger ſich Genugthuung durch den Zwei - kampf zu verſchaffen, als weil dieſer die ver - letzte Geiſter-Gleichheit durch ein gleiches222 Doppel-Looſen um das Leben, wieder heilt? Unſere Moral — fing der Graf an — ſcheint mir zu ſehr eine Haͤuslichkeits-Moral, und mehr eine Sitten - als Thatenlehre — Sie iſt bloß eine Geſchmacks-Lehre fuͤr das ſchaffende Genie. Es giebt eben ſowohl ſittliche Genie - Zuͤge, die darum nicht in Regeln und von Regeln zu faſſen, alſo nicht voraus zu beſtim - men ſind als die äſthetiſchen; beyde indeß än - dern allein die Welt, und wehren der fortlau - fenden Verflachung. Es erſcheine ein Jahr - hundert lang in einer Litteratur kein Genie, in einem Volke kein Hochmenſch: welche kalte Waſſer-Ebene der Geſchmacks - und der Sit - tenlehre! Alle Größen und Berge in der Ge - ſchichte, an denen nachher Jahrhunderte ſich lagerten und ernaͤhrten, hob das vulkaniſche anfangs verwuͤſtende Feuer ſolcher Uebermen - ſchen, z. B. Bonaparte Frankreich durch Ver - nichtung des nur durch Schwaͤchen, vernichten - den Direktoriums, kuͤhn auf einmal aus dem Waſſer. Allerdings haͤufen ſich auch durch leere Korallen endlich Riffs und Inſeln zu -223 ſammen; aber dieſe koſten eben ſo viele Jahr - hunderte, als ſie dauern und begluͤcken; wenn hingegen der Feuer-Reformator mitten aus einer faulenden, moderigen Welt eine gruͤ - nende, aus einem Winter einen Vorfruͤhling empor treiben ſoll: ſo muß er die zeugenden Jahrhunderte des trägen Werdens zum Vor - theile der genießenden durch eine Kraft erſetzen, welche jedesmal faͤllend und bauend zugleich iſt. Wer nun dieſe Kraft beſitzt, hat das Gefühl derſelben oder den Glauben, und darf unter - nehmen, was fuͤr den Zweifler Vermeſſenheit und Suͤnde wäre bey ſeinem Mangel des Glaubens und folglich auch der Kraft. Was große Menſchen in der Begeiſterung thun, worin ihnen ihr ganzes Weſen, die hoͤhere Menſchheit neu erhoͤht und verklärt, ſich ſpie - gelt, ſo wie dem tiefer geſtellten Menſchen in ſeiner Begeiſterung ſeine dunkele Menſchheit erglaͤnzt — das iſt Recht und Regel fuͤr ſie und fuͤr ihre Nebenfuͤrſten, aber nicht fuͤr ihre Unterthanen; daher kommt ihre ſcheinbare Un - regelmaͤßigkeit für die Tiefe. Die Sonnen,224 ſtehen und ziehen uͤberall am Himmel; aber die Wandel-Erden ſind auf ihren Thierkreis eingeſchränkt und an Eine Sonne gebun - den. — “
„ Es muß, ſetzt’ ich dazu, etwas höheres zu ſuchen geben, als blos Recht, d. h. nicht Unrecht zu thun — worauf doch die folgerechte Sittenlehre ſich eingraͤnzt —; aber dieß Hoͤhere iſt in einer Unendlichkeit von Reitzen und Be - ſtimmungen ſo wenig durch das Sitten-Lineal auszumeſſen, oder gerad zu richten als die raphaeliſchen und die lebendigen Figuren durch mathematiſche Figuren.
„ Mangel an Glaubensmuth, kann man ſagen, fuhr der Graf fort, nicht etwa Mangel an Wohlwollen erkaͤltet und erſchlafft die Men - ſchen, die meiſten wuͤrden der Gewißheit eines großen ſchönen Welt-Erfolgs ihr Leben hinopfern, das ſie ja ſo oft bey kleinern Faͤllen fuͤr eine Unmaͤßigkeit, Rechthaberey u. ſ. w. weggeben. Aber dieſer Glaubens-Muth iſt eben entſcheidend und goͤttlich, und durch nichts zu erſtatten. Da, wo Feige ohne Richtung225 treiben, beſtimmt er ſeiner Welt die Himmels - Gegend, in welcher, wie man für die Luft - Kugeln vorgeſchlagen, er nur von einem Adler - Geſpann gelenkt und gezogen wird; und Fluͤgel ſind ſeine Arme. Mit dieſen Fluͤgeln ſchlaͤgt eben der Adler die weiche Welt haͤufig mehr wund, als mit Klauen und Schnabel. O ich möchte in keinem Leben leben, das kein großer Geiſt anruͤhrte und durchgriff, und umſchuͤfe; — vor keiner Buͤhne moͤcht’ ich ſtehen, wo es nichts gaͤbe als den Chor der Menge, der wie der theatraliſche bey den Griechen, blos aus Greiſen, Sklaven, Weibern, Soldaten und Hirten beſtand. Welcher Unterſchied an etwas ſterben, und fuͤr etwas ſterben! O ſie ſollen immer hinziehen unter ihre Opferthore, auf ihre Blutgeruͤſte, auf ihre tarpejiſchen Felſen, jene großen Seelen uͤber der Erde; ſchwingt euch kuͤhn auf die ſchwarzen Fluͤgel des Todes - engels, ſie entglimmen bald farbig und glaͤn - zend, ihr, Sokrates, Leonidas, Morus, und ſelber Du, edle Corday, deren unbeweglichesZweyter Theil. 15226Jubelfeſt eines heiligen Todes der heutige Tag feiere! —
„ Sie ſind ſchon, ſagt’ ich, auf dieſem brei - teſten Fluͤgel, der alles wegtraͤgt, davon ge - flogen, aber uns ſind Heiligen-Bilder auf Altaͤren zuruͤckgeblieben zum Anbeten, und zum Erleuchten mit Altarlichtern. Das ſchönſte Beleuchten iſt wohl die Wiederhohlung ihres Lebens, waͤrs auch blos die hiſtoriſche; das Leben wird nur angeſchaut, nicht begriffen. Die Begriffe — die ihrer Natur nach ſchon aus den gemeinſten Weſen das Lebendige nie - derſchlagen — laſſen vollends aus ungemeinen zum Vortheil des Allgemeinen gerade das Koͤſtlichſte fallen und bewahren hoͤchſtens aus ihnen die Muttermaͤler, indem immer die Man - nigfaltigkeit der Irrwege den Begriff mehr be - reichert als die lebendige Einheit der Recht - Bahn. Ein hiſtoriſches Zuſammenleben mit einem Heros kann oft ein wirkliches darum uͤbertreffen, warum die Schimmerfarben eines Vogels nicht auf ſeinen zum Fluge ausgebrei -227 teten Fluͤgeln erſcheinen, ſondern auf ſeinem zur Ruhe zuſammen gelegten Gefieder.
Ich entdeckte nun dem Grafen, daß ich wirklich fuͤr den heutigen Abend eine hiſtoriſche Zuſammenſtellung der Seelen-Zuͤge Cordays unternommen und mitgebracht haͤtte. Dieß ſchien ihn herzlich zu erfreuen, wiewohl er neue Zuͤge leichter mittheilen als empfangen konnte. Er ſchlug ſogleich vor, den freyen Himmel, und einen in zwey Lindenbaͤume eingebaueten Altar zum Tempel unſerer Be - trachtung zu waͤhlen, um den Untergang der Heldin und der Sonne vereinigt ſtaͤrker anzu - ſchauen. Der Praͤſident verſicherte, er hoͤre mit Freuden zu, nur werde man ihm auch den ſchönſten Eindruck hiſtoriſcher Kunſt-Rüh - rung doch fuͤr keinen Widerruf ſeiner Saͤtze anrechnen. Der Abend war reitzend, mit Ge - ſang und Duft gefuͤllt, nur daß in Suͤden weiße Wolkenberge aufwuchſen, und mit ihren Kratern voll Feuer nach Norden zuruͤckten. Ich muß aber vorausſagen — ſagte jetzt der Praͤſident, der ſehr ernſthaft am Himmel uͤber228 ſich herumſah — daß ich, ſollte das Gewitter naͤher kommen (denn es donnerte von ferne ſchon) mitten im groͤſten Genuſſe der Geſchichte mich davon machen werde, weil ich, gegen meinen Grundſatz uͤber die moraliſche Pflicht der Lebens-Schonung um keinen Preis ver - ſtoſſen will. “ Der Graf warf ein, wie es nie in ſeinem Thale eingeſchlagen; aber er ſchuͤttelte unbekehrt den Kopf.
Im Lindenkabinet empfing uns Corday ſelber, naͤmlich das Bildniß ihrer ſchoͤnen und großen Geſtalt, das der Graf mit Muͤhe aͤcht erobert hatte. *)Ihr herrliches Geſicht ſieht in des I. B. Vten Hefte der neuen Klio von 1796.
Denn noch am erblaßeten Geſichte, das ſchon von der Hand des Henkers durch einen Backenſtreich verunreiniget worden, nagte die Parteywuth fort, und ſuchte die Schoͤnheit, die ſie entſeelt hatte, nun auch zu entſtellen, ſo wie die Theſſaliſchen Hexen ſich in Thiere verwandeln, und dann den Todten das Ge -229 ſicht abfreßen. *)Apulejus Verwandlungen.Indeß mußte derſelbe Cha - bot, der im Convent den getoͤdteten Marat einen zu weichherzigen Mann genannt**)Moniteur de l’année 1793. Nro. 167., dont le coeur bon et dont l’humanité etoient occoutumès à des sacrifices habituels — die tödtende Corday hingegen un des monstres que la nature vomit pour le malheur de l’humanité — dieſer mußte gleichwohl von ihr ſagen: avec de l’esprit, des graçes une taille et un port superbes elle paroit être d’un de - lire et d’un courage capables de tout entre - prendre.
Ich ſah dieſe zweyte Jeanne d’Arc lange an — ſo oft ich ſie auch ſchon angeſehen — und fing ſchuͤchtern ihre kurze Thaten - und Leidensgeſchichte, als ſey dieſe zu kalt gemalt, vorzuleſen an:
Die redlichen und feurigen Deutſchen haͤt - ten alle die Revoluzion bey deren Anfange mit keiner aus der Geſchichte hoffend verglei -230 chen ſollen, weil in dieſer noch kein zugleich ſo verfeinerter und moraliſch vergifteter Staat —, wie ſich der galliſche in ſeiner Mutterloge Pa - ris, und in den mitregierenden hoͤhern Staͤn - den und Staͤdten ausſprach — je ſich aus ſei - nen Galeerenringen gezogen hatte; ſie haͤtten alle von einem Erdbeben, das ſo viele Gefäng - niſſe und Thiergärten aufriß, nicht viel hoffen, noch weniger dabey an Rom und Sparta den - ken ſollen, wo die Freyheit bey einer nicht viel groͤßern Verderbniß aufhoͤrte, als die war, bey der ſie in Paris anfing. In jedem Jahr - hundert wird der Suͤnder (aber auch der Hei - lige) in der Bruſt groͤßer, blos weil er be - ſonnener wird. Die Deutſchen ſahen es endlich, wie die weite elektriſche Wolke der Revoluzion die Kroͤten und die Froͤſche und den Staub in die Höhe zog, indeß ſie die erhabenen Gegenſtaͤnde umſchlug; gleichwohl hielten viele ſo lange ſie konnten, die Haupt - ſumme fuͤr eine zufaͤllige und ſogar noͤthige Partey wider die Gegner die Vendée-Par - zen und die Koblenzer Emigrés.
231Es ſcheint unglaublich ohne die Erfahrung in Buͤrgerkriegen — die Revoluzion aber war ein geiſtiger durch ganz Europa — wie lange der Menſch politiſche Unveraͤnderlichkeit fort behauptet auf Koſten der moraliſchen; ſo wie jeder auch in Familienkriegen gern ein Paar Tage laͤnger bey einer Partey, als ſie Recht hat, beharret, ja hinter der zufaͤllig genom - menen Stuhllehne eines Spielers ſtehen bleibt mit dem Wunſche, daß er durchaus gewinne.
Der Tornado des Saͤkulums, der eiskalte Sturm des Terrorismus fuhr endlich aus der heißen Wolke, und ſchlug das Leben nieder. Nicht die, deren Vermögen oder Leben ge - opfert wurde, litten am bitterſten, ſondern die, denen jeder Tag eine große Hoffnung der Freyheit nach der andern mordete, die in jedem Opfer von neuem ſtarben, und vor die ſich allmaͤhlig das weinende Bild eines ſter - benden, von Ketten und Vampyren umwickel - ten Reichs als Preis aller Opfer aufrichtete! — Dieſes Todtenbild ruͤckte, als am 31. May die letzten Republikaner, die Girondiſten, den232 leiblichen und geiſtigen Plebejern das Feld nicht zum Beſaͤen, ſondern zum Verheeren räumen mußten, am ſchmerzlichſten nahe an ein großes weibliches Herz.
Als Louvet mit andern von der Bergpar - tey am 31. May verjagten Republikanern in Caen bey Barbaroux wohnte: ſo kam öfters eine ſchoͤne ſtolze Jungfrau von einem Bedien - ten begleitet dahin, und wartete im Saale auf Barbaroux mit einer ſcheinbaren Vorbitte fuͤr einen ihrer Verwandten; wiewohl in der wahren Abſicht, um die verjagten Republika - ner naͤher zu pruͤfen. Die Jungfrau war ſchon unter die Unſterblichen gegangen, da ſich Lou - vet ihrer wieder erinnerte, als einer hohen Geſtalt voll jungfraͤulicher Wuͤrde, Milde und Schönheit, ſittſam, ſanft entſchloſſen, eine Blume gleich der Sonnenblume, die den gan - zen Tag mit ihrer einfachen Bluͤte der Sonne folgt, die aber nach dem Untergang und vor dem Gewitter, ſich mit Flammen fuͤllt.
Er hatte Charlotte Corday geſehen.
Ihr Leben war ſchon fruͤher ein ungewöhn -233 licher Vorhimmel vor ihrem Tode geweſen. Griechen und Roͤmer und die großen Schrift - ſteller der neueren Zeit hatten ſie erzogen, um ſie (nach ihrer Auſſage) zu einer Republi - kanerin vor der Republik gemacht. Sie war kuͤhn bis ſogar in die Religion hinuͤber. Als das Revoluzions-Tribunal ſie fragte: haben Sie einen Beichtvater, ſo antwortete ſie: kei - nen. — Er fragte: halten Sie es mit den vereideten Prieſtern, oder mit den unvereide - ten? — „ Sie antwortete: Ich verachte beyde. “ Folglich kein religioͤſer Fanatismus reichte oder weihete dem jungfraͤulichen Wuͤrgengel das Schwert. — Bey aller Gluth ihres innern Weſens und allem Glanz ihrer Geſtalt blieb doch fremde und erwiederte Liebe von ihr ab - gewieſen; ſie achtete die Maͤnner wenig, weil eine weibliche Seele in der Liebe das hoͤhere Weſen ſucht*)Wenige Männer würden eine Corday, eine Jeanne d’ Arc heyrathen wollen; aber die meiſten Weiber gewiß einen Brutus, und ähnliche; und in ſofern ſteht die weibliche Liebe höher. In der Freundſchaft keh - ren es aber beyde Geſchlechter um. und ihre erhabnere nicht einmal234 das aͤhnliche fand; daher ſie, als der Praͤſi - dent mit gewoͤhnlicher Haͤrte gefragt, ob ſie ſchwanger ſey; verſetzte: „ ich fand und kannte noch keinen Mann, den ich meiner wuͤrdig ge - achtet haͤtte; denn Marat lebte noch. “— Die Expeditionsſtube des weiblichen Lebens kam ihr enge dumpf und ſtaubig vor; — „ Die republikaniſchen Franzoſen (ſchrieb ſie an Bar - baroux) begreifen es nicht, wie eine Frau ihr Leben, deſſen laͤngſte Dauer ohnehin nicht viel Gutes erſchaft, kaltbluͤtig dem Vaterlande opfern koͤnne. “— „ Nur die Jungfrau — unterbrach der Graf — ſtirbt fuͤr Welt und Vaterland; die Mutter blos fuͤr Kinder und Mann. Jene iſt noch eine Alpenpflanze, an welcher die Blume groͤßer iſt als die ganze Pflanze. Du edle Charlotte, du liebteſt nicht und wareſt ſo groß. “—
Wenn ſchon gewoͤhnliche Weiber — fuhr ich fort — ihr Leben mehr in Ideen fuͤhren als wir, naͤmlich in ſofern ſie mehr mit dem Herzen denken, wir aber mehr mit dem Kopfe und wenn ſie daher oft durch ein großes Le -235 ben um die zugeſperrte Wirklichkeit umherirren: ſo hat dieß noch mehr bey genialen Weibern ſtatt, in welchen die hoͤhere Kraft des Kopfes nur mehr der hoͤheren Kraft des Herzens ge - horcht (aber nicht wie bey uns befiehlt), und deren Ungluͤck daher haͤufig ſo groß wird, als ihr Werth.
Charlotte Corday auf einer Freyheits - Höhe einheimiſch und es erlebend, daß ſich ploͤtzlich um ſie her ihr ganzes Vaterland als eine geiſtige oder doppelte Schweiz aufrichtet und hohe Alpen voll Aether, Idyllenleben und Freyheits-Heimwehe in den Himmel ſtellt; — ergriffen und erhitzt vom Fruͤhlingsmonat der großen zuruͤckkehrenden Freyheit und Welt - Waͤrme; — dieſe Corday, deren langbedecktes heiliges Feuer auf einmal mit dem allgemeinen Enthuſiasmus zuſammen lodern darf, ſo, daß nun die alten Ideale ihres Herzens lebendig und ruͤſtig aufſtehen und dem Leben die Fah - nen hoch vortragen, und daß der ganze Menſch That wird, der Kenntniß kaum mehr achtend, ſo wie das durch die Nacht rennende Roß236 nicht die Funken achtet und flieht, die es aus ſeiner ſchnellen Bahn ausſchlaͤgt. — —
Dieſe Corday erlebt dennoch die Bergpartey.
Sie erlebt naͤmlich noch vor dem 31ten May den Untergang aller heiligſten Hofnungen, wo die Freyheit entweder entfliehen oder verbluten muß — wo Revoluzionen ſich durch die Revo - luzion wälzen, und der Staat ein Meer wird, deſſen Bewohner ſich bloß freſſen und jagen — wo am zerfallenden, verſtaͤubenden Freyheits - Rieſen nichts uͤbrig und feſt bleibt, als die Zaͤhne — wo zuletzt das Vaterland ſich in einzelne Glieder zerſtuͤcken muß, um mit ge - ſunden die unheilbaren von ſich abzulöſen, und wo Corday ſagen mußte: „ ich bin muͤde des Lebens unter einem gefallenen niedrigen Volk! “
Sie erlebt einen Marat, das unbedeutende, heuchelnde, rohe, mechaniſche, auch aͤußerlich - häßliche bluttrunkene aufgeblaſene*)Marat gedachte in ſeiner Perioptrik (ſ. in Lichtenbergs Magazin der Phyſik B. 1.) etwas Newtoniſches zu liefern, und wollte den Prof. Charles erſtechen, weil Weſen,237 das mehr als Blutigel denn als Raubthier lockte — das die Septembriſeurs blos miethete, bezahlte, lobte und betheuerte, und das wirk - lich keinen Menſchen mit eigener Hand um - brachte, ſondern nur ſich*)Denn Louvet ſagt in quelques notices pour l’histoire et le rècit de mes perils etc. p. 60. daß ohne Corday, Marat in zwey Tagen an ſeiner amerikaniſchen Krank - heit von ſelbſt geſtorben wäre. — das die Moͤr - der des Generals Dillons gern noch zu Moͤr - dern ſeiner Offiziere machen und mit dem Blute von noch 250,000 Koͤpfen die Weinleſe der Freyheit erſt recht duͤngen und begießen wollte — das am 31ten May einen Interims - koͤnig**)Minerva, Auguſt. 1793. S. 376. begehrte, weil die Extreme ſich be - ruͤhren, und der höchſten Freyheit ein unum - ſchraͤnkter Diktator noͤthiger ſey als ein be - ſchraͤnkter — das (nach Cordays Ausſage) durch*)er ihn widerlegte; er ſchickte an die Akademien zu Rouen und zu Lyon erſtlich eine Preisfrage mit 50 L’dor über ſeine Perioptrik, dann eine Antwort und wollte ſein Geld als man ihn nicht damit krönte. S. Eberts Unterhaltungen vermiſchten Inhalts. 1794. 2tes Heft.238 ausgetheiltes Gold zum Buͤrgerkrieg entflamm - te — ein Weſen, in welchem ſich wieder die Bergpartey abſchattet, das, als es zwey Tage vor ſeinem Tode hingerichtet war, im Convent ein franzoͤſiſcher Cato der unſterbliche Geſetz - geber und Volksfreund genannt, fuͤr deſſen Strafgoͤttin neue Qualen (l’effroi des tour - mens) gefodert und das einmuͤthig zu einem Schmuck des Pantheons erklärt wurde und in der Todesnacht der Corday unter Kanonen - ſchuͤſſen und Prozeſſionen verſcharrt. *)Moniteur de l’annèe 1793. Nro. 197.— —
„ Laſſet uns wegtreten vom modernden Thier; ſagte der Graf und unſer Auge an der glaͤnzenden Goͤttin erquicken, die das Thier mit dem Fuſſe wegſtoßen mußte, als ſie durch die Ehrenpforte der Unſterblichkeit eindrang. “—
Jetzt ruͤſteten ſich in Caen, der Freyſtaͤtte vieler fort getriebenen Republikaner, 60,000 Mann gegen die anarchiſche Freyſtadt. Corday heilig uͤberzeugt, daß der große Hilfszug eigentlich nur gegen Einen Menſchen, den239 vierjaͤhrigen Meuchelmoͤrder und Mordbrenner Frankreichs, Marat, gelte, dachte freudig in ſich, (ſo ſagte ſie aus) „ ihr ſucht alle nur Ei - nen Menſchen; ich kann ja euer Blut erſparen, wenn ich blos meines und ſeines vergieße. “ Sie ſah ſich fuͤr die Freywillig-dienende des kriegenden Departements von Calvados an, folglich fuͤr eine Kriegerin gegen den Staatsfeind, nicht fuͤr die Straf-Parze einer obrigkeitlichen Perſon.
Am zweyten Juny erſchien ihrem Geiſte der Entſchluß zu ſterben, zuerſt; wie jener En - gel dem Apoſtel im Kerker. — So viele Juͤng - linge ſah ſie um ſich her, dem Freyheitszuge nach Paris, dem großen Grabe zuſtroͤmen: Da reichte ſie dem Engel die Hand, der ſie aus dem Leben fuͤhren wollte.
„ O wenn man doch, ſagte der Graf, in jene tiefe Stunde tiefer ſchauen koͤnnte, wo die Heldin zu ſich ſagte: mein Leben ſey vor - uͤber, alle heiteren Ausſichten verſchlinge die einzige; Verzicht ſey gethan auf alles Geliebte und Erfreuende, auf Vater, auf Freunde und240 Kinder, auf irdiſche Zukunft und auf alles, was um mich her die Menſchen begluͤckt; Gebt mir die Todesfackel, ſtatt der Brautfackel; und die Todesgoͤttin druͤcke als Blumengoͤttin das feſte ſchwarze Siegel auf mein Roſenleben! — Es iſt bekannt, daß die Heldin darauf einen ganzen Monat lang’ ihren großen Vorſatz ſchweigend in der Bruſt bewahrte. Aber wie leicht und klein mußten ihr in dieſer Zeit die Spiele und Plagen des Lebens erſcheinen, wie frey ihr Herz, wie rein jede Tugend, wie klar jede Anſicht! Sie ſtand jetzt auf dem höch - ſten Gebirge und ſah die Wetterwolken nur aus der Tiefe, nicht aus der Hoͤhe kommen, und ſich von ihnen kaum verhuͤllt und benetzt, indeß die Andern, die tiefen Menſchen auf dem Boden, aͤngſtlich nach dem Gewoͤlke auf - blickten und auf ſeinen Schlag harrten. — Der edle Krieger, der handelnde Republikaner, der gottbegeiſterte Menſch, ſie haben dieſe hohe Stellung, die ſie ſo ſehr fuͤr alles haͤusliche Einniſten in bequeme warme Freuden entſchaͤ - digt und erkaͤltet. “
241Den 7. July reiſete ſie nach Paris ab, nachdem ſie ihrem Vater, um Einverwickelung und Vateraͤngſte abzuwenden geſchrieben, daß ſie vor dem harten Anblicke des Buͤrgerkrieges nach England entweiche. Schweigend, ohne einen Rathgeber, ohne eine ſympathetiſche oder ſtaͤrkende Seele ſchied das 25jaͤhrige Maͤdchen von allen geliebten Weſen, und trat in der heißen Jahreszeit die lange Reiſe zum Altare an, wo es bluten wollte. „ Ich befand mich, ſchreibt ſie an Barbaroux, in der Poſtkutſche in Geſellſchaft guter Bergbewohner, die ich ganz nach ihrem Wohlgefallen reden ließ; ihr Geſchwäz, das ſo dumm war, als ihre Per - ſonen unangenehm, diente nicht wenig, mich einzuſchlaͤfern. Ich wachte gewiſſermaaßen nicht eher auf, als da ich in Paris ankam. “ Mit dieſer feſten Ruhe, ſo wie mit dieſer kalt-hellen Anſicht that ſie den erſten wie den letzten Schritt zu ihrem Blutgeruͤſte hinauf. Den Helden be geiſtert die mitziehende Hilfs-Schaar; dieſe Heldin ging einſam nur mit ihrem Herzen undZweyter Theil. 16242mit dem unſichtbaren Todesſchwert zur Richt - ſtaͤtte. “—
„ — des Opferthiers und der Opferprie - ſterin zugleich — unterbrach der Graf. — Aber es konnte nicht anders ſeyn; ſie wußte ja, ſie bringe mit ihrem Marats-Dolche den Freyheits-Zepter mit, und ſie ſey, obwohl un - bekannt der blinden Maſſe, in ihrem Sieges - wagen nach Paris, ſchon angethan mit den Feyerkleidern der glaͤnzenden Zukunft. Ruhe und Stille und Kaͤlte mußten ja der ſtarken Seele kommen, durch den feſten Glauben, daß ſie, ſie allein mit einem einzigen Tode ihres Koͤrpers einen Buͤrgerkrieg und Buͤrgermord verhuͤte, und dem wunden Vaterland, mehr als Eine Schlacht gewinne*)S. ihr Verhör, und das Schreiben an Barbaroux. und daß ſie (ſie mußte dieß ſehen) ganz anders mit dem hin - gegoßenen Blute der Jugend, der Schoͤnheit, des Geſchlechtes und des Vaterlandes beſchaͤme, befeuere, befruchte, als ein ſterbender Mann und Greis. O ſeelig, ſeelig iſt der, dem ein243 Gott eine große Idee beſcheert, fuͤr die allein er lebt und handelt, die er hoͤher achtet als ſeine Freuden, die immer jung und wachſend ihm die abmattende Eintoͤnigkeit des Lebens verbirgt! Als Gott (nach der Fabel) die Haͤnde auf Muhammed legte, wurd’ ihm eiskalt; wenn ein unendlicher Genius die Seele mit dem hoͤchſten Enthuſiasmus anrührt, und begabt, dann wird ſie ſtill und kalt, denn nun iſt ſie auf ewig gewiß. “
Donnerſtags (den 11ten July) kam Char - lotte Corday in Paris als auf dem Richtplaz ihres Vaterlandes und ihres vorigen innern Lebens und ihres jetzigen aͤußern an, wiewohl als ein ſtiller weißer Mond, der da aus dem heißen hohlen Krater aufgehen muß, wie vor Neapel der Mond aus dem Veſuv. Sie ging zuerſt zum Deputirten Duͤperret (einem noch nicht vertriebenen aber ſchon angeklagten Gi - rondiſten, den man erſt ſpaͤter hinrichtete) uͤber - gab ihm einen Brief von Barbaroux, und bat ihn, ſie zum Miniſter des Innern zu beglei - ten, dem ſie Papiere einer Freundin abzufor -244 dern habe. Er entſchuldigte ſich mit ſeiner Tiſchgeſellſchaft und verſprach, ſie den andern Morgen zu ſehen und zu begleiten. Er er - zaͤhlte darauf ſeinen Gaͤſten, wie ſonderbar und auſſerordentlich ihm das ganze Betragen und Sprechen dieſer Jungfrau vorgekommen.
Am Freytag Morgen bat ſie Marat in einem Billet um Zugang, unter dem Vor - wand republikaniſcher Geheimniſſe; ſie kam nach einer Stunde, aber umſonſt. Eigentlich war dieſes Mislingen ſchon ein zweytes; denn anfangs hatte ſie ihn und folglich ſich mitten im Convent opfern wollen. Solche Fehlſchla - gungen oder Kleinigkeiten, wie zum Beyſpiel die lange Reiſe, das heiſſe Wetter u. ſ. w. haͤtten einem entnervten moraliſchen Kraftgenie, das leicht fuͤr Einen Abend zu einem aͤhnlichen Feuer auflodert, ſehr bald die Flamme ausge - weht. Denn die meiſten jetzigen moraliſchen Kraftaͤußerungen ſind nur epileptiſche; geiſtige und koͤrperliche Nuͤchternheit ſind jetzt noͤthige Zuthaten der Helden, wie ſonſt Abgaͤnge der -245 ſelben. Corday blieb mit Leib und Seele nuͤch - tern und feſt.
Endlich kam der rechtſchaffene Duͤperret zu ihr — ihr gewuͤnſchter Beſuch des Mini - ſters war vereitelt — ſie fand Duͤperret zwar ſtandhaft fuͤr das Rechte, aber verſchloſſen, und ſie rieth ihm blos dringend, aus dem Kon - vent ſich nach Caen, wo er mehr Gutes wir - ken koͤnne, zu begeben. Als er ihr am Richt - und Todestage Marats den Gegenbeſuch machen wollte, wich ſie ihm aus, um keinen Menſchen in ihren Sturz zu ziehen. Die hohe Alpen - roſe hatte nur Einen ſtechenden Dorn, blos gegen Einen Menſchen.
Noch Abends am Freytage ſchrieb ſie an Marat, und erſucht’ ihn dringender um einen Einlaß am Morgen.
Der Sonnabend kam, ſie kaufte erſt die - ſen Morgen ihren Dolch im Palais-Royal, und verbarg die Parzenſcheere in ihrem Buſen. Darauf begab ſie ſich zu Marat mit der dop - pelten Gewißheit, jetzt ſterbe er unter ihren Haͤnden, und zugleich ſie ſelber unter denen246 des Volks. Er, obwohl an Suͤnden krank und im Bade, ließ ſie vor ſich. Sie nannte ihm frey alle Namen der in Caen und Evreux begeiſterten Girondiſten, die gegen die Berg - partey ſich verſchworen haͤtten, d. h. die Na - men aller ihrer-Lebens und Ewigkeits-Freunde. Nun in wenig Tagen, verſetzte er, werd’ ich ſie alle in Paris guillotiniren laſſen. — — Da nahm ploͤtzlich die Nemeſis Cordays Ge - ſtalt an, und drehte Marats Schlachtmeſſer um gegen ſein eignes Herz, und endigte ſo, den niedrigen Menſchen ..... Aber ein gelindes Gericht von Gott und Menſchen er - gehe uͤber die bisher ſo unbefleckte Hand, die ein hoͤherer Geiſt in ein beſchmutztes Blut eintauchte.
„ Dieß Gericht wird ergehen, ſagte der Graf. Rein wie die Wetterwolke ſchlug und zuͤckte ſie einmal aus ihrem Himmel auf die kothige Erde, und zog darauf in ihm weiter. — Aber wie ſonderbar wieß mit dem Bade und mit den letzten blutduͤrſtigen Worten das Schick - ſal dem Racheengel die toͤdtliche Stelle an! 247Durch aͤhnliche Verkettungen der Zufaͤlle fielen faſt alle Boͤſewichter; das Verhaͤngniß ſtehet uͤber der Welt mit ſeinem Geſchoß, unten knien die Verbrecher hinter ihren Augenbinden und die Bruſt trägt ein ſchwarzes Herz; und an dem zeigen ſie ihm das tödtliche Ziel! “
Ruhig und ohne Flucht ließ ſie ſich ge - fangen nehmen. Als der Poſtmeiſter Drouet*)Moniteur in angeführter Stelle Nro. 198. mit ihr zur Abtey fuhr, und er den Poͤbel, der ſie umbringen wollte, durch die Erinnerung an das Geſetz zum Gehorſam brachte, ſo fiel ſie in Ohnmacht. Als ſie wieder zu ſich kam, war ſie in Verwundrung, daß der Poͤbel ſie noch leben laßen, und daß dieſer, den ſie fuͤr eine Zuſammenſetzung von Kannibalen gehal - ten, dem Geſetz gehorchet. — Das Weinen der Weiber ſchmerzte ihre Seele, aber ſie ſagte, wer ſein Vaterland rettet, dem kuͤmmert es wenig, was es koſtet. “
Die Scheide des Dolchs, einiges Geld, ihr Taufſchein und Paß, eine goldene Uhr248 und eine Addreſſe ans Volk wurden bey ihr gefunden. Bey dem Eintritt in die Abtey rannte ein Jüngling mit der Bitte herzu, ihm ſtatt ihrer Gefaͤngniß und Tod zu geben; er erhielt beydes nur wie ſie**)Frankreich 1800 St. S. 79. ꝛc.. Wer auf den Todten eine Thraͤne fallen laͤßt, ſtirbt ihm nach, ſagt der Aberglaube; ſo toͤdtet in der Despotie, die Thraͤne, welche auf das ſchuld - loſe Opfer rinnt. — Die ganze Nacht ſprach das begeiſterte Maͤdchen von den Rettungs - mitteln der Republik: „ ich habe das Meinige gethan, ſagte es vergnuͤgt, (nach Drouets Bericht), die Andern moͤgen das Uebrige thun. “
Um dieſe Zeit hoͤrte der edle Mainzer, Adam Lux, von ihr ſprechen’, wiewohl als von einer wahnſinnigen alten Betſchweſter, und ariſtokratiſchen Schwärmerin; aber bald dar - auf ſchauete ein ſtarkes Herz in ein zweytes; er begegnete ihr auf ihrem Sieges - und Leichen - wagen zur Guillotine, und beſtieg ihn bald darauf ſelber, (am 10ten Oktober)*)Louvet am angeführten Orte. weil249 er die Heldin und die Freyheit vertheidigt hatte.
Hier nahm der Praͤſident, da das Gewit - ter nicht mehr ſeitwaͤrts, ſondern gerade uͤber ihm ſpielte, Abſchied von uns, und entſchul - digte ſich.
„ Nur eine Minute lang, will ich, begann der Graf, unterbrechen, um mit Ihnen an das bedeckte verſchattete Grabmahl dieſes herr - lichen Adam Lux, einer Roͤmer-Seele, einer Herrmanns-Eiche zu treten, um daran ein altdeutſches Leben wieder zu leſen, wie es jetzt wenige fuͤhren. Lux, ein Landmann und gluͤck - licher Vater war als ein Mainzer Abgeſandter nach Paris gegangen, um (friedlicher als ſpaͤ - ter geſchehen) ſein Vaterland an Frankreich anzureihen. Er hatte aber in ſeiner Catos - Bruſt mehr mitgebracht, als er finden konnte im damaligen Pariſer Blut-Sumpf; eine ganze roͤmiſche und griechiſche Vergangenheit und Rouſſeaus eingeſognen Geiſt und die Hoffnung einer ſteigenden ſiegenden Menſchheit. Da er nun kam und ſah, ſo gingen ihm die Freuden250 und Hoffnungen unter, und er behielt nichts als ſich, ſein deutſches Herz; nur die verjag - ten an der Zeit reifenden Girondiſten waren mit ihren Wunden Balſam fuͤr die ſeinige. Forſter und andere Freunde hielten ihn muͤh - ſam ab, daß er ſich nicht zum Beweiſe zugleich ſeiner Treue und Troſtloſigkeit vor dem Kon - vente den Dolch in die hart ausgepluͤnderte Bruſt einſtieß. Nun konnte er nichts weiter thun (ehe Corday den ihrigen ergriffen), als ſtill und feſt ſeyn und mit der warmen Bruſt auf den freſſenden Wunden ruhen; ins Holz von Boulogne verbarg er ſich und las Brutus Briefe an Cicero; ſein Angeſicht blieb falten - los, ſogar heiter; denn die hohe Seele hoffet laͤnger das Hohe, als die niedere, und wenn am Hügel ſchon der Schatten liegt, ſo gluͤhet der Eisberg noch lange der Sonne nach.
Da begegnete dieſer feſte, von der Zeit umhuͤllte Geiſt der geopferten, wie opfernden Corday auf ihrer Treppe zur Gruft, oder eigentlich bey ihrer Himmelsleiter; er ſah ihr ſtilles großes Untergehen, und die Henkers -251 Entheiligung ihres Hauptes, und den alles verdrehenden Wahnſinn. — Nun druͤckte ihn das Leben und die Zeit zu ſchwer; — die niedergebogne alte Flamme ſeiner Seele loderte aufwärts, er ſchrieb ein ſehr gemaͤßigtes Blatt fuͤr Corday, ein zweytes gegen den letzten oder 31ten Wonnemonat, gegen die Vertreiber der Republikaner.
Er wurde ins Gefängniß la Force ge - worfen; aber ſein Geiſt und ſeine Zunge blie - ben frey. Er empfing darin keinen Schmerz als den von ſeinem wohlmeinenden Bekannten Wedekind, der ins Journal de montagne, um ihn zu retten die Luͤge einſchickte, Lux habe nur aus wirklichem Wahnſinn der Liebe fuͤr Corday ſo geſchrieben. Aber er foderte kraͤftig den Widerruf ab und wiederholte da - mit die deutſche Kaltbluͤtigkeit, womit er in der fruͤheren Schrift fuͤr Corday, zugleich ſie bewundert und getadelt hatte. Man bot ihm fuͤr Verſtummen leibliche Freyheit an; er ver - warf den ekeln Köder, und ſprach nicht nur fort, ſondern drang durch Briefe bey den252 Wohlfahrts - und Sicherheits-Ausſchuͤſſen und bey dem Praͤſidenten und dem oͤffentlichen An - kläger des Revolutions-Tribunales*)Frankreich 1. c. immer waͤrmer darauf, daß man ihn vor Gericht be - ſcheide. — — Endlich erfüllte man dem Hals - ſtarrigen am 10. Okt. morgens ſeine Foderung; Abends um 4 Uhr war er da, wo er hinge - hörte, im Lande einer dauerhaften Freyheit bey dem Genius, der ihn mit dieſem himmli - ſchen Herzen herunter geſchickt.
Und kein Deutſcher vergeſſe ihn! — Aber wie wird alles im Rauſchen der fortziehenden Zeit uͤbertäubt und vergeſſen! Welche hohe Geſtalten ſtiegen nicht aus dem unreinen Strome und glaͤnzten, und ſanken; wie Waſ - ſerpflanzen in die Hoͤhe gehen, um zu bluͤhen, und dann mit Fruͤchten beladen unter ſin - ken! “— —
Ich fuhr fort: Er ſtarb rein und groß zugleich. Dieß war ſchwer in einer Zeit wie die ſeinige; denn durch die gewaltſamen ein -253 muͤthigen Bewegungen eines Volks, wird leicht das zarte moraliſche Urtheil wie durch ein Erdbeben, die Magnetnadel entkraͤftet und verruͤckt. Der Geiſt der Zeit, von welchem je - der durch ſeinen einzelnen ſich rein zu halten glaubt, beſteht ja aus nichts, als vielen ein - zelnen Geiſtern; und jeder iſt fruͤher der Schuͤ - ler als der Lehrer des Jahrhunderts, wie fruͤher ein Sohn als ein Vater; nur aber, daß weil wir die Farbe des ſaͤkulariſchen Gei - ſtes blos in groſſen Maſſen ſpuͤren, jene uns aus den einzelnen Weſen, woraus ſie allein zuſammenfließt, verſchwindet; wie ein einziges aus dem grauen Welt-Meer geſchoͤpftes Glas Waſſer rein und hell zu ſeyn ſcheint. — Auch uͤber den feſten Mainzer, der ungleich dem Revoluzionshaufen, nicht nur Segel, ſon - dern auch Anker hatte, regiert ein Geiſt der Zeit, oder vielmehr ein Geiſt des Volks, — er war ein Deutſcher.
„ Ich ſehne mich wieder, ſagte der Graf, nach der großen Corday; ihr Bild vor mir thut mir ſo wohl wie der jetzige Donner uͤber254 uns, es blickt ja ſo heiter-ruhig als wär’ es das Urbild, in die Blitze. “
Den dritten Tag der Gefangenſchaft — den Corday den zweyten nach ihrer thaͤtigen Vorbereitung zur innern Ruhe nennt — ſchrieb ſie die unvergeßlichen Briefe an Barbaroux und an ihren Vater. Ihr Urtheil darin uͤber den todten Marat hatte noch die alte feſte Strenge, von keiner Weichherzigkeit für eine Leiche beſtochen. Auf gleiche Weiſe gab ſie dem Revoluzionstribunal auf die Frage: wie ſie Marat fuͤr ein Ungeheuer halten können, da er ihr nach ihrer ſchriftlichen Klage uͤber Verfolgung, den Zutritt geſtattet, zur Ant - wort: „ was ſey denn das, gegen ſie menſchen - freundlich und gegen alle Menſchen ein Wuͤth - rich geweſen zu ſeyn? “— Sie bat in ihrem zweyten Briefe ihren Vater um Verzeihung ihrer Aufopferung, und ſagte: „ Freuen Sie ſich, daß Sie einer Tochter das Leben gaben, die zu ſterben weiß. Mich beweine keiner mei - ner Freunde! Ihre Thraͤnen wuͤrden mein An - denken beflecken, und ich ſterbe gluͤcklich. “
255Den Brief an Barbaroux endigte ſie mit den Worten: morgen um 5 Uhr faͤngt mein Prozeß an; und ich hoffe an demſelben Tage in Elyſium mit Brutus und einigen andern Alten zuſammen zu kommen; denn die Neuern reitzen, da ſie ſo ſchlecht ſind, mich nicht. “
Mittwochs den 17ten ſtand ſie vor dem blutigen Revoluzionstribunal. Was ſie davor und uͤberall bisher ſagte, wuͤrde aus einem andern Munde wie erhabene Spruͤche klingen; aber wer im Großen einmal lebt, der zeigt unbewußt und unangeſtrengt nichts als ſeine Erhoͤhung, und er bewohnt blos die Ebene auf einem Gebirge. Wenn indeß die ſo ſanfte Geſtalt dem Alba’s Blutrathe ſo ſchneidend und ſtrafend antwortete: ſo denke man daran, daß kein edler Mann weniger thun koͤnnte, der nun die aufgeblaſenen befleckten Richter ſo vieler unbefleckten Seelen auf einmal vor ſich ſaͤhe; Leute, der Koͤnigsſchlange gleich, die ſich mit ihren Ringen in Geſtalt eines traͤnkenden Brunnens aufmauert, um die256 Thiere anzulocken und dann erquetſchend zu umwickeln.
Cordays Leben hatte nur noch eine freye Minute - und in dieſer gab ſie auf lauter ſchlechte Fragen dieſe Antworten: „ Alle Recht - ſchaffene ſind meine Mitſchuldigen — Die Franzoſen haben nicht Energie genug, um Re - publikaner zu ſeyn*)Moniteur 1. c. “— Und nach einer Verwechslung**)Denn Freytags vorher hatte eine Unbekannte dieſen Volksmörder mit Heftigkeit zu ſprechen geſucht. mit einer andern Frau, die den Fleiſcher Legendre ſprechen wollen, verſetzte ſie: „ Ihr begreift doch, daß man nicht zwey ſolche Thaten auf einmal verrichtet, und mit Marat mußte man beginnen. “—
Sie empfing ihr Todesurtheil vom Rich - ter ſo heiter, als ſie es einen Monat fruͤher uͤber ſich ſelber ausgeſprochen hatte. Sie dankte ihrem Vertheidiger, dem Buͤrger Cheauveau, fuͤr ſeine muthige Vertheidigung, und ſagte, ſie koͤnn’ ihn nicht belohnen, bitt’ ihn aber als ein Zeichen ihrer Achtung den Auftrag an -257 zunehmen, fuͤr ſie eine kleine Schuld im Ge - faͤngniß zu bezahlen.
Abends beſtieg ſie ihren Leichenwagen, auf dem ſie den ſchleichenden Weg zum Sterbebette zwey lange Stunden machte, angeziſcht und angeheult vom Volk, fuͤr das ſie ſterben wollte. Sie war bitter-allein, ohne irgend einen Ver - wandten ihres Herzens oder ihres Schickſals. Blos unbewußt begegnete ſie in der Straße St. Honoré dem, der das eine war, und das andere wurde, dem Adam Lux aus Mainz. O warum mußte ihr Blick, der die anhoͤh - nende Menge vergeblich nach einem gleichflam - menden Herzen durchſuchte, dieſen Bruder ihres Innern nicht finden und kennen, warum blieb ihr die letzte Entzuͤckung der Erde ver - weigert, die Ueberzeugung oder der Anblick, daß der Glaubensgenoße und Vertheidiger ih - res Herzens, und der kuͤnftige Maͤrtyrer ihrer That ſie jetzt begleite an ihr Grab, dann in daſſelbe, und daß eine edle Seele der ihrigenZweyter Theil. 17258nachweine, und darauf nachziehe? — Und er war ihr ſo nahe, und ſah ihre letzte Mi - nute! Aber er hatte das Gluͤck verdient, ſie ſterben zu ſehen. Die ganze Fruͤhlingswelt in des Republikaners Herz bluͤhte wieder auf, da er dieſe Ruhe der Verklaͤrung auf der ju - gendlichen Geſtalt im rothen Sterbekleide*)Das ſogenannte Bluthemd der Verurtheilten., dieſe auf dem langen Todeswege unverruͤckte Unerſchrockenheit in den ſtolzen und durchdrin - genden Augen, und wieder dieſe unter dem ewigen Verhöhnen zaͤrtlichen mitleidigen und feuchten Blicke ſah, deren Engelshuld ſeinem ſo männlichen Herzen eben ſo bitter war, als ſuͤß. — Nein, wer ein ſolches Weſen leben und leiden ſah, kann es nicht beweinen, nur nachahmen; das vom Wetterſtrahle der Be - geiſterung getroffne Herz, duldet nichts Ir - diſches mehr an ſich; ſo wie bey den großen Alten die vom heiligen Blitze des Himmels ge - troffne Stelle nicht mehr betreten und uͤber - baut werden konnte. —
259„ Wär’ es denn Suͤnde, ſagte der Graf, wenn man nach gewißen Gedanken keine mehr denken wollte? Wenn ich jetzt herzlich wuͤnſchte, daß mir gegenuͤber dem Bilde dieſer Uranide der große ſchoͤne Donner das kahle Leben aus - loͤſchte? Waͤr’ dieß Suͤnde? Ach warum muß der arme Erdenſohn meiſtens in Wintern aller Art ſterben, ſelten im Feuer und Fruͤhling? “
Freundlich und ruhig beſtieg Charlotte Cor - day, fuhr ich fort, die Trauerbuͤhne, wo ſie dieſen Erdennamen ablegte, und grüßte die wilden Thiere unter dem Geruͤſte ſo ſanft, daß ſogar dieſe zahm ſich niederlegten. Laſſet uns nicht lange auf dieſer blutigen Stelle ver - weilen, wo ſo viele Seufzer und Schmerzen wohnen und nachtoͤnen; und Du ſelber Char - lotte haſt hier die letzten uͤber dieſes Schlacht - feld des wuͤrgenden Marats, uͤber dieſes Erbbegraͤbniß freyer Herzen empfunden! — Ein Wuͤrger nahm ihr die jugendlichen Locken, enthuͤllte das jungfraͤuliche Herz, das noch ein - mal in der blaßen Todesſtunde das keuſche260 Blut auf die verſchaͤmten Wangen trieb — und legte das bluͤhende Leben unter die auf - geſpannte Parzenſcheere — und es entflog in die ewige Welt .... O nur nicht mehr als einen Augenblick habe der Erdenſchmerz, der Erdentod den hohen Geiſt verfinſtert, wie der Berggipfel die Sonne des laͤngſten Som - mertags nur eine Minute verdeckt, zwiſchen ihrem Unter - und Aufgang! — Du aber, edler Mainzer, gehe nun mit deiner entbrann - ten Seele heim, und ſage noch einmal die kuͤhne Wahrheit, und kehre dann auf dieſes Sterbegeruͤſte zuruͤck! — Und niemand von uns weine uͤber die Hohe, ſondern er opfere wie ſie, was Gott von ihm begehrt, es ſey das Leben oder weniger! —
Die Erzaͤhlung war geendigt. Ich faßte die Hand des Grafen, der weinend ſeinen Mund auf Cordays Bild gedruͤckt. Das Gewitter hing brauſend auf uns herein und ſchien vom unaufhoͤrlichen Blitze wie uͤber - ſchleyert, oder verfluͤchtigt. Auf einmal trat261 in Weſten unten an den Wetterwolken, die ſtille Abendſonne heraus, wie ein großes aber wolkennaſſes Auge, und wir ſahen die wei - nende nieder gehen; und dachten ſchweigend laͤnger uͤber Helden und Heldinnen der Frey - heit nach.
Jede Liebe glaubt an eine doppelte Unſterb - lichkeit, an die eigne und an die fremde. Wenn ſie fuͤrchten kann, jemals aufzuhoͤren, ſo hat ſie ſchon aufgehoͤrt. Es iſt fuͤr unſer Herz einerley, ob der Geliebte verſchwindet, oder nur ſeine Liebe. Der Zweifler an unſerer Ewigkeit leihet, wenn ein ſchoͤnes Herz vor ihm auf ewig auseinander bricht, wenigſtens263 der Vollkommenheit deſſelben, um es fortzu - lieben, in einem hoͤchſten Weſen Unvergaͤng - lichkeit und findet den Liebling, der unter der dunkeln Erde zuſammen ſinkt, in einem durch - brochnen Sternbilde am Himmel wieder.
Der Menſch — der ſich immer zu ſelten und Andere zu oft befragt — hegt nicht nur heimliche Neigungen, ſondern auch heimliche Meinungen, deren Gegentheil er zu glauben waͤhnt, bis heftige Erſchuͤtterungen des Schick - ſals oder der Dichtkunſt vor ihm den bedeckten Grund ſeines Innern gewaltſam entbloͤßen. Daher wird es uns leicht, die Ueberſchrift dieſes Aufſatzes kalt zu leſen, oder gar die Vernichtung anzunehmen und zu begehren; aber wir zittern, wenn unſer Herz uns den grauſamen Inhalt des Wahns aufdeckt, daß die Erde, auf, und in die wir alle unſer geſunkenes Haupt zur Ruhe legen wollen, nichts ſey, als der breite Ent - hauptungsblock der blaßen gebuͤckten Menſchen, wenn ſie aus dem — — Gefängniß kom - men. Alsdann zuͤndet (wie öfter) die Waͤrme des Herzens wider Licht in der Nacht des264 Kopfes an, ſo wie Thiere, die das Leben durch einen elektriſchen Funken verloren, der in den Kopf ſprang, es durch einen zweyten wieder - finden, den man in die Bruſt leitete*)Reimarus neuere Werke vom Blitze. — —
Ottomar lag im aͤußerſten Hauſe eines Dorfs, aus dem man die Ausſicht auf ein noch unbegrabenes Schlachtfeld hatte, an einem giftigen Faulfieber ohne Hoffnung darnieder. In jeder Nacht trieb ſein heißes erſchuͤttertes Herz das aufgeloͤſete Blut, wie einen Hoͤllen - fluß, voll zerrißener ungeheurer Bilder vor ſeinem Geiſte vorbey, und der dunkele reißende Strom aus Blut ſpiegelte den durchwuͤhlten Nachthimmel und zerſtuͤckte Geſtalten, und zerrinnende Blitze ab. Wenn der Morgen kühlend wieder kam, und wenn das Gift des Fiebertarantelſtichs aus dem muͤden Herzen verflogen war: ſo tobte jetzt vor ihm das un - bewegliche Gewitter des Kriegs mit unaufhör - lichen Blitzen und Schlägen; und dieſe blu - tigen durchbohrten Bilder ſtanden dann in ſei -265 nen mitternaͤchtlichen Phantaſien vor ihm als Leichen auf.
In der Mitternacht, die ich jetzt beſchrei - ben will, erreichte ſein Fieber die kritiſche und ſteile Höhe zwiſchen dem Grabe und dem Le - ben. Seine Augen wurden Vergrößerungs - ſpiegel in einem Spiegelzimmer, und ſeine Ohren Hoͤr-Roͤhre in einem Sprachgewoͤlbe — ſein Krankenwaͤrter ſtreckte Rieſenglieder vor ihm aus — die wimmelnden Geſtalten des uͤbermahlten Bettvorhangs wurden dick und blutroth und ſchoßen auf und fielen in einem Schlachtgetuͤmmel einander an — eine ſiedende Waſſerhoſe zog ihn in ihren ſchwuͤlen Qualen hinauf, und ruͤckte ihn brauſend und wetter - leuchtend uͤber Meere weiter — und unten aus dem tiefſten Innerſten krochen kleine ſcharfe Geſpenſter, die ihn ſchon in dem Fie - ber der Kinderjahre verfolgt hatten, mit kle - brigen kalten Kroͤtenfuͤßen, an der warmen Seele herauf und ſagten: wir quaͤlen dich allemal! —
266Ploͤtzlich, als das verfinſterte Herz ſich aus dem heißen Krater des Fiebers zuruͤckrol - lend hinauf arbeitete, uͤberzog die Stubendecke der gelbe Wiederſchein einer nahen Feuersbrunſt. Sein trocknes heißes Auge ſtarrte halb ge - ſchloſſen die erleuchteten durchſichtigen Bilder ſeines Vorhangs an, die mit der fernen Lohe flatterten. Auf einmal dehnte eine Geſtalt ſich unter ihnen aus mit einem leichenweißen un - beweglichen Angeſichte, mit weißen Lippen, mit weißen Augenbraunen und Haaren. Die Geſtalt ſuchte den Kranken mit gekruͤmmten langen Fuͤhlhoͤrnern, die aus den leeren Au - genhölen ſpielten. Sie wiegte ſich naͤher, und die ſchwarzen Punkte der Fuͤhlhoͤrner ſchoßen wie Eisſpitzen, kalt wehend um ſein Herz. Hier trieb es ihn mit kaltem Anhauchen ruͤck - waͤrts; und ruͤckwaͤrts durch die Mauern und Felſen, und durch die Erde, und die Fuͤhl - hörner zuckten wie Dolche um ſeine nackte Bruſt, und wie er ruͤckwaͤrts ſank — brach die Welt vor ihm ein — und die Scherben zerſchlagner Gebirge, der Schutt ſtaͤubender267 Huͤgel fiel danieder — und Wolken und Monde zerfloßen wie fallender Hagel im Sinken — und die Welten fuhren in Bogenſchuͤßen uͤber die leichenweiße Geſtalt herab, und Sonnen von ergriffenen Erden umhangen, ſanken in einem langen ſchweren Fall danieder — und endlich ſtaͤubte noch lange ein Strom von Aſche nach …
Weiße Geſtalt, wer biſt du? ſagte end - lich der Menſch. „ Wenn ich mich nenne, ſo biſt du nicht mehr “, ſagte ſie ohne die Lippen zu regen, und kein Ernſt, keine Freude, keine Liebe, kein Zorn war noch auf dem marmor - nen Geſichte geweſen und die Ewigkeit ging voruͤber, und veränderte es nicht. Sie draͤngte ihn auf einen engen Steig, der aus den Erd - ſchollen gemacht war, die unter das Kinn der Todten gelegt werden; der Weg durchſchnitt ein blutiges Meer, aus welchem graue Haare, und weiße Kinderfinger wie Bluͤthen an Waſ - ſerpflanzen blickten, und er war mit bruͤtenden Tauben und naßen Schmetterlings-Fluͤgeln, und Nachtigalleneyern und Menſchenherzen uͤber -268 deckt, und die Geſtalt zerquetſchte alle durch Daruͤberſchweben, und ſie zog ihren langen grauen, auf dem weiten Blute ſchwimmenden Schleyer nach, der aus der naſſen Leinwand gemacht war, die uͤber den Augen der Todten gelegen. — — Und die rothen Wogen ſtiegen um den bangen Menſchen auf, und der ein - kriechende Weg ging nur noch uͤber kalte, glatte Erdſchwaͤmme, und endlich blos uͤber eine lange kalte glatte Natter ....
Er glitt herab, aber ein Wirbelwind wandte ihn herum, vor ihm breitete ſich un - abſehlich eine ſchwarze Eisſcholle aus, auf der alle Voͤlker lagen, die auf der Erde geſtorben waren, ſtarre eingefrorne Leichenheere — und tief unten im Abgrund laͤutete ein Erdbeben ſeit der Ewigkeit ein kleines geborſtenes Glöck - chen; es war die Todtenglocke der Natur. — — „ Iſt das die zweyte Welt? “fragte der troſt - loſe Menſch. Die Geſtalt antwortete: „ die zweyte Welt iſt im Grabe zwiſchen den Zaͤh - nen des Wurms. “— — Er blickte auf, um einen troͤſtenden Himmel zu ſuchen, aber uͤber269 ihm ſtand ein feſter ſchwarzer Rauch, das aus - gebreitete Bahrtuch, das zwiſchen den Welten - Himmel, und zwiſchen dieſe duͤſtere froſtige Luͤcke der Natur gezogen war; und der Schutt - haufen der Vergangenheit dampfte aus der Tiefe auf, und machte das Leichentuch ſchwaͤr - zer und breiter. — — Jetzt lief der Wider - ſchein einer hinabfallenden entzuͤndeten Welt, mit einem rothen Schatten uͤber die finſtere Decke, und eine ewige Windsbraut verwehte ſinkende Klagſtimmen herein.
„ Wir haben gelitten, wir haben gehofft; aber wir werden gewuͤrgt. — Ach Allmaͤchti - ger, ſchaffe nichts mehr! “
Ottomar fragte: wer vernichtet ſie dann? — Ich! ſagte die Geſtalt, und trieb ihn unter die eingefrornen Leichenheere, unter die Lar - venwelt der vernichteten Menſchen. Wenn die Geſtalt vor einer entſeelten Maske voruͤber - ging, ſo ſpritzte aus dem zugefallenen Auge ein blutiger Tropfe, wie ein Leichnam blutet, wenn ihm der Mörder nahe tritt. Er wurde unaufhaltſam durch das ſtumme Trauergefolge270 der Vergangenheit hindurch gefuͤhret, durch die morſche Weſenkette, durch das Schlachtfeld der Geiſter. Da er ſo vor allen eingeaͤſcherten Geſchwiſtern ſeines Herzens vorbeyging, in de - ren Angeſicht noch die zerrißenen Hoffnungen einer Vergeltung ſtanden, — und vor den armen Kindern mit glatten Roſenwangen, und mit dem erſtarrten erſten Laͤcheln, und vor tauſend Muͤttern mit den eingeſargten Saͤug - lingen auf dem Arm — und da er ſah die ſtummen Weiſen aller Voͤlker mit der erloſche - nen Seele, und mit dem erloſchenen Licht der Wahrheit die unter dem uͤber ſie geworfenen Leichentuche verſtummt wie Singvögel, wenn wir ihr Gehaͤuſe mit einer Huͤlle verfinſtern — und da er ſah die verſteinerten Leidtragenden des Lebens, die unzähligen welche gelitten bis ſie ſtarben, und die andern, die ein kurzes Entſetzen zerriß — und da er ſah die Ange - ſichte derer, die vor Freude geſtorben waren, und denen noch die tödtliche Freudenthraͤne hart im Auge hing — und da er ſah, alle From - men der Erde ſtehen mit den eingedruͤckten271 Herzen, worin kein Himmel und kein Gott und Gewißen mehr wohnte — und da er ſah wieder eine Welt herunterfallen, und ihre Klagſtimmen voruͤber weheten: „ o! wie ver - geblich, wie ſo nichtig iſt der Jammer und der Kampf und die Wahrheit und die Tugend des Lebens geweſen; — und da endlich ſein Vater mit der eiſernen Kugel erſchien, welche die Leichen des Weltmeers, einſenkt, und da er aus dem weißen Augenliede eine Blutzaͤhre druͤckte: ſo rief ſein zu kaltem Grimm gerin - nendes Herz: „ Geſtalt aus der Hoͤlle, zertritt mich nur bald; das Vernichten iſt ewig, es leben nur Sterbende und Du. — Leb’ ich noch, Geſtalt? “
Die Geſtalt trieb ihn ſanft, an den Rand des immer weiter gefrierenden Eisfeldes. In der Tiefe ſah er den Schutt von Gehaͤuſen zerdruͤckter Thierſeelen, und in den Hoͤhen hingen zahllos die Eisſtrecken, mit den Ver - nichteten aus höhern Welten, und die Leiber der todten Engel waren oft aufrechte Sonnen - ſtrahlen, oft ein langer Ton, oder ein unbe -272 weglicher Duft. — Blos uͤber der Kluft nahe dem Todtenreiche der Erde ſtand allein auf einer Eisſcholle ein verſchleyertes Weſen — und als die weiße Geſtalt voruͤber zog, hob ſich ſelber der Schleyer auf — es war der todte Chriſtus ohne Auferſtehung mit ſeinen Kreu - zes-Wunden, und ſie floßen alle wieder, we - gen der Naͤhe der weißen Geſtalt! — —
Ottomar ſtuͤrzte auf die brechenden Knie, und blickte auf, zum ſchwarzen Gewoͤlke und betete: „ O guter Gott bringe mich wieder auf meine gute Erde, damit ich wieder vom Leben träume! “und unter dem Beten flohen die rothen blutigen Schatten geſtuͤrzter Erden uͤber das weite Leichentuch aus feſtem Rauch. Jetzt ſtreckte die weiße Geſtalt ihre Fuͤhlhoͤr - ner verlaͤngert wie Arme gen Himmel und ſagte: „ ich ziehe die Erde herab, und dann nenne ich mich dir. “
Indem die Fuͤhlhoͤrner mit ihren ſchwarzen Enden immer höher ſtiegen und zielten, wurde ein kleiner Spalt des Gewoͤlkes licht und er riß endlich aus einander, und unſere tau -273 melnde Erde ſank fliehend hindurch, gleichſam zum ziehenden greifenden Rachen einer Klap - perſchlange herunter. Und indem die umnebelte Kugel naͤher fiel, regnete es Blut und Thraͤ - nen auf ihr in ihr rothes Meer, weil Schlach - ten und Martern auf ihr waren.
Die graue enge Erde ſchwankte durchſichtig mit ihren regen jungen Voͤlkern nahe über den ſtarren — ihre Axe war ein langer Sarg aus Magnetſtein mit der Ueberſchrift: Die Vergangenheit; und im Erdkern ſchwebte ein rundes Feuer, das den Schluͤßel des lan - gen Sarges ſchmolz — die Lilien - und Bluͤ - thenbeete der Erde waren Schimmel — ihre Fluren waren die gruͤne Haut auf einer feſten Moderlache — ihre Waͤlder waren Mooſe und ihr ſpitzer Alpengurt ein Stachelrad, ihre Uh - ren ſchlugen in einem fort aus und die Stun - den wurden eilig Jahrhunderte und kein Le - ben dehnte die Zeit aus — man ſah die Men - ſchen auf der Erde wachſen, und dann roth und lang werden, und dick und grau ſich buͤk - ken und hinlegen. Aber die Menſchen aufZweyter Theil. 18274der Erde waren ſehr zufrieden. — Auf ihr ſprang wohl der Todesblitz regellos unter den ſorgloſen Voͤlkern umher, bald auf das heiße Mutterherz, bald auf die glatte runde Kindes - ſtirn, bald auf die kalte Glatze oder auf die warme Roſenwange. Aber die Menſchen hat - ten ihren ſanften Troſt, die ſterbenden Gelieb - ten, die begrabenden und die weinenden Au - gen, hingen leicht an den brechenden, Freund an Freund, Eltern an Kindern, und ſie ſag - ten: ſo zieht nur hin, wir kommen ja wieder zuſammen hinter dem Tode! und ſcheiden nicht mehr.
„ Ich will dir zeigen, “ſagte die Geſtalt, „ wie ich ſie vernichte. “ Ein Sarg wurde durchſichtig — im weichen Gehirn des darin zuſammenfallenden Menſchen, blickte noch das lichte Ich, vom Moder uͤberbauet, von einem kalten finſtern Schlaf umwickelt und vom zerſprungenen Herzen abgeſchnitten. Ot - tomar rief: „ luͤgende Geſtalt, das Ich glimmt noch — wer zertritt den Funken? “— Sie antwortete: „ das Entſetzen! — Sieh hin! “ 275Eine Dorfkirche hatte ſich geſpaltet: ein bleyer - ner Sarg ſprang auf, und Ottomar ſah ſei - nen Koͤrper darin abbroͤckeln und das Gehirn berſten; aber kein lichter Punkt war im offenen Haupte. Nun machte die Geſtalt ihn ſtarr und ſagte: „ ich habe dich aus dem Gehirn herausgezogen — du biſt ſchon lange geſtor - ben, “— um umgriff ihn ſchnell und ſchnei - dend mit den kalten metallenen Fuͤhlhoͤrnern und lispelte: entſetze dich, und ſtirb, ich bin Gott …
Da ſtuͤrzte eine Sonne herein, die den weiten Himmel einnahm, und zerſchmolz die Eiswuͤſte, und das Larvenreich, und flog ihren unendlichen Bogen brauſend weiter, und ließ eine Fluth von Licht zuruͤck, und der durch - ſchnittne Aether klang mit unermeßlichen Sai - ten lange nach. Ottomar ſchwamm in Aether rings mit einem undurchſichtigen Schneegeſtoͤ - ber aus Lichtkuͤgelchen uͤbergoſſen; zuweilen ſchnitt der Blitz einer fliegenden Sonne durch die weiße Nacht herab, und eine ſanfte Gluth wehte dann voruͤber. Der dichte weite Licht -276 nebel wallete auf den Toͤnen des Aethers und ſeine Wogen bewegten den Schwebenden. End - lich ſank der weite Nebel in Lichtflocken nie - der — und Ottomar ſah die ewige Schoͤpfung rings um ſich liegen, uͤber ihm und unter ihm zogen Sonnen, und jede fuͤhrte ihre blumigen Erdenfruͤhlinge an ſanften Strahlen durch den Himmel.
Der zuſammengeſunkene Sonnenduft wal - lete ſchon weit im Aether als eine blitzende Schneewolke hinab, aber den Sterblichen hielt noch im Himmelsblau ein langer Lautenton auf ſeinen Wellen empor: da hallete es ploͤtz - lich durch den ganzen grenzenloſen Aether hin - durch als liefe die allmaͤchtige Hand uͤber das Saitenſpiel der Schöpfung hinuͤber. In allen Welten war ein Nachklang wie Jauchzen; un - ſichtbare Fruͤhlinge flogen mit ſtrömenden Duͤf - ten voruͤber; ſeelige Welten gingen ungeſehen mit dem Lispeln einer uͤbervollen Wonne nahe vorbey; neue Flammen flatterten in die Son - nen; das Meer des Lebens ſchwankte als hoͤbe ſich ſein unermeßlicher Boden; ein warmer277 Sturm wuͤhlte Sonnenſtrahlen und Regenbo - gen und Freudenklaͤnge, und Wolken aus Ro - ſenkelchen unter einander. — Auf einmal wurd’ es in der Unermeßlichkeit ſtill, als ſtuͤrbe die Natur an einem Entzuͤcken — und ein weiter Glanz, als wenn der Unendliche durch die Schoͤpfung ginge, lief uͤber die Sonnen, uͤber die Abgruͤnde, über den bleichen Regenbogen der Milchſtraße und über die Unermeßlichkeit — und die ganze Natur bewegte ſich in einem ſanften Wallen, wie ſich ein Menſchenherz be - wegt und hebt, wenn es verzeihen will — — — Da that ſich vor dem Sterblichen ſein Inner - ſtes, wie ein hoher Tempel auf, und im Tem - pel war ein Himmel, und im Himmel eine Menſchengeſtalt die ihn anblickte mit einem Sonnenauge voll unermeßlicher Liebe. Sie erſchien ihm und ſagte: „ ich bin die ewige Liebe, du kannſt nicht vergehen; “und ſie ſtaͤrkte das zitternde Kind, das vor Wonne ſterben wollte. Der Sterbliche ſah durch heiße Freu - denthraͤnen dunkel die unnennbare Geſtalt — ein nahes warmes Wehen ſchmolz ſein Herz —278 und es zerfloß in lauter Liebe, in grenzenloſe Liebe — und die Schoͤpfung drang erblaßend aber nah an ſeine Bruſt — und ſein Weſen und alle Weſen wurden eine einzige Liebe — und durch die Liebesthraͤnen ſchimmerte die Natur als eine bluͤhende Aue herein, und die Meere lagen darauf wie dunkelgruͤner Regen, und die Sonnen wie feuriger Thau — und vor dem Sonnenfeuer des Allmächtigen ſtand die Geiſterwelt als Regenbogen, und die See - len brachen, von einem Jahrtauſend ins andere tropfend, ſein Licht in alle Farben, und der Regenbogen wankte nie, und wechſelte nur die Tropfen, nicht die Farben. —
Der Alliebende ſchaute an ſeine volle Schoͤp - fung, und ſagte: „ ich lieb’ euch alle von Ewig - keit — ich liebe den Wurm im Meer und das Kind auf der Erde, und den Engel auf der Sonne. — Warum haſt du gezagt? Hab’ ich dir nicht das erſte Leben ſchon gereicht und die Liebe, und die Freude, und die Wahr - heit? Bin ich nicht in deinem Herzen? “— — Da zogen die Welten mit ihren Todtenglocken279 voruͤber, aber wie mit einem Kirchengelaͤute von Harmonikaglocken zu einem hoͤheren Tem - pel, und alle Kluͤfte waren mit Kräften, und jeder Tod mit Schlaf gefuͤllt.
Nun dachte der Uebergluͤckliche ſein dunkles Erdenleben ſey auch geſchloßen; aber tief un - ten ſtieg die im Gewoͤlk gekleidete Erde herauf und zog den Menſchen aus Erde wieder in ihre Wolken hinein. Der Alliebende huͤllte ſich wieder in das All. Aber ein Schimmer lag noch auf einem langen Eisgebirge weit hinter den Sonnen. Die hohen Eisberge floſ - ſen am Schimmer ſtrahlend aus einander, ge - buͤckte Blumen flatterten angeweht uͤber die zerſchmolzene Mauer auf, ein unabſehliches Land lag aufgedeckt im Mondlicht weit ins Meer der Ewigkeit hinein, und er ſah nichts darin als unzaͤhliche Augen, die heruͤberblick - ten, und ſeeligweinend glaͤnzten wie ein Fruͤh - ling voll warmen Regen unter der Sonne funkelt, und er fuͤhlte am Sehnen und am Ziehen ſeines Herzens daß es alle ſeine, daß es alle unſere Menſchen waren, die geſtorben ſind.
280Der Sterbliche blickte, ſchneller auf die Erde zufallend, mit erhobenen betenden Haͤn - den, nach der Stelle im Himmesblau empor, wo der Unendliche ſeinem Herzen erſchienen war — und ein ſtiller Glanz hing unverrückt an der hohen Stelle. Und als er noch ſchwe - rer den erleuchteten weichenden Dunſt unſerer Kugel betrat und zertheilte: ſtand noch immer der Glanz im Aether feſt, nur tiefer an der umrollenden Erde ....
Und da er unſern kalten Boden beruͤhrte, erwachte er; aber der feſte Glanz ſtand im blauen Oſten noch, und war die — Sonne.
Der Kranke ſtand unten im Garten, der erſte, herbe giftige Traum hatte ihn hinab - gedraͤngt — die Morgenluft wehte — das Feuer war geloͤſcht — ſein Fieber war geheilt und ſein Herz in Seelenruhe.
Und wie die Qual des Fiebers den hoͤlli - ſchen, und der Sieg der Natur den himmli - ſchen Traum gebohren; und wie wieder der folternde Traum den Scheidepunkt, und der281 labende die Geneſung beſchleunigt hatte: ſo werden auch unſere geiſtigen Träume unſere Seelenfieber nicht blos entzuͤnden, ſondern auch heilen und die Geſpenſter unſeres Her - zens werden verſchwinden, wenn wir von ſei - nen Gebrechen geneſen.
Mir traͤumte, ich waͤre unnennbar ſeelig, aber ohne Geſtalten, und ohne alles, und ohne Ich, und die Wonne war ſelber das Ich. Als ich erwachte ſo rauſchte und brannte vor mir der Fruͤhling mit ſeinen Freudenguͤſſen, wie ein von der Morgenſonne durchſtrahlter Waſ - ſerfall, die Erde war ein aufgedeckter Götter - tiſch und alles war Bluͤte, Klang und Duft und Luſt. Ich ſchloß froh weinend das Auge und ſehnte mich nach meinem Traume wieder.
Stets zwiſchen zwey Diſteln reift die Ana - nas. Aber ſtets zwiſchen zwey Ananaßen reift283 unſere ſtechende Gegenwart, zwiſchen der Er - innrung und der Hoffnung.
Fälle meinen heiligen Eichenwald nicht, o Fuͤrſt, ſagte die Dryade, ich ſtrafe dich hart. Er faͤllte ihn aber. Nach vielen Jahren mußte er ſein Haupt auf den Richtblock hinſtrecken und er ſah den Block aufmerkſam an und rief: er iſt von Eichenholz.
Sobald wir anfangen zu leben, druͤckt oben das Schickſal den Pfeil des Todes aus der Ewigkeit ab — er fliegt ſo lange als wir ath - men, und wenn er ankommt, ſo hoͤren wir auf. „ O ſtuͤrben wir doch auch ſo alt, und lebensſatt wie unſer Jubel-Greis! “ſagen dann diejenigen, deren Pfeile noch fliegen.
Seht hier Bluͤten, die ſchon Fruͤchte tragen!
Wir haben alle ſchon geweint, jeder Gluͤck - liche einmal vor Weh, jeder Ungluͤckliche ein - mal vor Luſt.
Nur mit den gewaltigen Brennſpiegeln werden Edelſteine unterſucht, mit Eroberern die Voͤlker.
O wie gleichſt du ſo oft deinem Rom! Voll eroberter Weltſchaͤtze, voll Goͤtterbilder und Groͤßen, biſt Du mit Oede und Tod umge - ben — nichts gruͤnt um Rom als der giftige Sumpf, alles iſt leer und wild, und kein Doͤrfchen ſchauet nach der Peterskirche.
Streuet nur Blumen auf ſie, ihr bluͤhen - den Freundinnen! Ihr brachtet ja ſonſt ihr Blumen bey den Wiegenfeſten. Jetzt feyert ſie ihr groͤßtes: denn die Bahre iſt die Wiege des Himmels.
Dem treuen Maͤdchen brach das Herz, nach - dem ſie den Treuloſen geliebt. Ach, ſagte ſie, warum bricht es zu ſpaͤt? Der Demant zer - ſpringt ſchon, wenn ein treuloſes Herz nur annaht, und warnt das treue.
Ungluͤckliche, Du traͤgſt die Dornenkrone auf dem blutigen Haupte, doch ewige Roſen bluͤhen in Deiner Bruſt.
Die Vergangenheit und die Zukunft ver - huͤllen ſich uns; aber jene traͤgt den Wittwen - Schleyer und dieſe den jungfraͤulichen.
Der Dichter gleicht der Saite, er ſelber macht ſich unſichtbar, wenn er ſich ſchwingt und Wohllaut gibt.
Ihr nennt das Leben mit Recht, die Buͤhne. Den Geiſtern, die uns zuſchauen, ſind unſere truͤben Verſenkungen, und frohen Auffluͤge auf der Buͤhne, keine von beyden, ſondern nur unſer Spielen.
O ich wohne ja in Deinem Auge, ſagte der kleine Bruder als er ſich im ſchweſterlichen erblickte. „ Und ich wohne gar in Deinem! „ ſagte die Schweſter. — „ Gewiß, ſo lange Ihr euch ſeht, dachte der Vater, denn die Augen der Menſchen ſind ihren Herzen ähnlich. “
Nur der Hof und Große duͤrfen um einen Fuͤrſten oͤffentlich trauern; nun ſo ſey es um einen Boͤſen. Aber den Landesvater beweine das ganze Land. Das aͤrmſte Kind iſt ja ſeine Waiſe.
Wohl habe ich Fruͤchte und Blumen zu - ſammengebunden, wie im Bluͤten-Strauße auch die reife Pomeranze erſcheint; aber auch die Frucht iſt nur Bluͤte und der Herbſt duf - tet mit dem Fruͤhling zugleich.
Der Biene gleich, welche zugleich aus der Blume und an dem Honig ſaugt, und aus jedem Honig neuen ſchafft, genießet er Freu - den und Gedichte — und gibt uns Beyde als neue Gedichte zuruͤck.
Sprecht nicht: wir wollen leiden; denn ihr muͤßt. Sprecht aber: wir wollen handeln; denn ihr muͤßt nicht.
Sie verhuͤllt wohl ſich, aber ſie zeigt der Welt ihre Todten, ihre Schlachtfelder und Schlachtſtaͤdte und ihre neuen Fluͤſſe, die ſich halb aus Blut, halb aus Thraͤnen durch die Auen ſchlaͤngeln. So geht in Rom die Bruͤ - derſchaft der Leichen weiß vermummt, aber ihren Todten traͤgt ſie aufgedeckt und die Mit - tagsſonne ſcheint auf das kalte blinde Angeſicht.
Tauſend Sonnen ſchießen in Augenblicken uͤber das Feld des Sternrohrs*)In einer Viertelſtunde flogen 116,000 Sterne durch das Feld von Herſchels Teleskop. — und neue Tauſend fliegen nach. Der All-Geiſt ruht und ſchauet; und die Sonnen und das All eilen voruͤber, aber ihr wetterleuchtender Flug iſt ihm ein unbeweglicher Glanz, und vor ihm ſteht das verfliegende All feſt.
Erſtes Bändchen.
Zweytes Baͤndchen.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Fraktur
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