PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Die unſichtbare Loge.
Eine Biographie
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Erſter Theil.
Mit einem Titelkupfer.
Mit Churf. Sächſ. Privilegio.
Berlin,1793. inKarl Matzdorffs Buchhandlung.

Mumien.

[I]

Motto.

Der Menſch iſt der große Gedankenſtrich im Buche der Natur.
Auswahl aus des Teufels Papieren.
[II][III]

Vorredner in Form einer Reiſebeſchreibung.

Ich wollte den Vorredner Anfangs in Sichers¬ reuth einen Sauerbrunnen bei Wonſiedel verfertigen, wo ich mich und die Meinigen des Podagra wegen baden mußte, das ich mir bloß durch gegenwaͤrtiges Buch in den Leib geſchrie¬ ben. Aber ich habe mir[meinen] Vorredner, auf den ich mich ſchon ſeit einem Jahre freue, aus einem recht vernuͤnftigen Grunde bis heute auf¬ geſpart. Der recht vernuͤnftige Grund iſt der Fichtelberg, auf den ich jetzt fahre. Ich muß jetzt dieſe Vorrede ſchreiben, damit ich unter dem Fahren nicht aus der Schreibtafel und Kut¬ ſche hinausſehe, ich meine damit ich die graͤn¬ zenloſe Ausſicht oben nicht wie einen Fruͤhling nach Kubikruthen, die Stroͤme nach Ellen, diea 2IVWaͤlder nach Klaftern, die Berge nach Schiff¬ pfunden, von meinen Pferden zugebroͤckelt be¬ komme, ſondern damit ich den großen Zirkus und Paradeplatz der Natur mit allen ſeinen Stroͤmen und Bergen auf einmal in die aufge¬ ſchloſſene Seele nehme. Daher kann dieſer Vorredner nirgends aufhoͤren als unweit des Ochſenkopfs, auf dem Schneeberg.

Das noͤthigt mich aber, unterweges mich in meinem Vorredner an eine Menge Leute ge¬ ſpraͤchsweiſe zu wenden, um nur mit ihm bis auf den Ochſenkopf hinauf zu langen; ich muß wenigſtens reden mit Rezenſenten Weltleuten Hollaͤndern Fuͤrſten Buchbindern mit dem Einbein und der Stadt Hof mit Kunſtrichtern und mit ſchoͤnen Seelen, alſo mit neun Partheien. Es wird mein Schade nicht ſeyn, daß ich hier, wie es ſcheint, in den Kli¬ max meiner Pferde den Klimax der Poeten flechte ....

Der Wagen ſtoͤßet den Verfaſſer dermaßen, daß er mit Nro. I., den Rezenſenten nichtsV Vernuͤnftiges ſprechen, ſondern ihnen bloß erzaͤh¬ len will, was ſein guter grauer Schwiegervater begeht naͤmlich alle Tage ſeinen ordentlichen Mord und Todtſchlag. Ich geb 'es zu, viele Schwiegervaͤter koͤnnen hektiſch ſeyn, aber weni¬ ge ſind dabei in dem Grade offizinel und arſe¬ nikaliſch als meiner, den ich in meinem Hauſe ich habs erſt aus Hallers Phyſiologie T. II. erfahren, daß Schwindſuͤchtige mit ihrem Athem Fliegen toͤdten koͤnnen ſtatt eines giftigen Fliegenſchwamms mit Nutzen verbrauche. Der Hektiker wird nicht klein geſchnitten, ſondern er giebt ſich bloß die kleine Muͤhe, den ganzen Morgen ſtatt einer Seuche in meinen Stuben zu graſſiren und mit dem Sirockowind ſeines phlogiſtiſchen Athems aus ſeiner Lunge der Flie¬ gen ihre anzuwehen: die Rezenſenten koͤnnen ſich leicht denken, ob ſo kleine Weſen und Na¬ ſen, die ſich keinen antimephitiſchen Reſpirator vom H. Pilatre de Rozier appliciren koͤnnen, einen ſolchen abſcheulichen Schwaden auszuhalten faͤhig ſind. Die Fliegen ſterben hin wie FliegenVI und ſtatt der bisherigen Muͤcken-Kotterien hab' ich bloß den guten giftigen Schwiegervater zu be¬ koͤſtigen, der mit ihnen auf den Fuß eines Muͤk¬ ken-Freund Hains umgeht. Nun ſollen es die Rezenſenten ſelber entſcheiden, ob man einem Schwiegervater von ſo vielem Werth und Gift zu viel ſchmeichelt, wenn man ihm die Fleuret¬ te ſagt, er gleiche ihnen, und wenn man ihn bei der Hand anfaßt und zum Graſſiren an¬ feuert durch alles und durch die Frage: » ob er » nicht ſaͤhe, daß er nicht zu verachten waͤre, » ſondern daß er als ein Mann, der mit ſeinen » Lungenfluͤgeln das feinſte Miaſma unter die » Fliegen wehte, im Sommerhalbjahre daſſelbe » edle Glied in der naturhiſtoriſchen Welt vor¬ » ſtellte, das ein guter Rezenſent in der littera¬ » riſchen macht, der gleichfals in der ganzen Ge¬ » lehrtenrepublik herumſchliche und tranſzendente » Muͤcken mit ſeinem aͤtzenden Athem ſo geſchickt » anhauchte, daß ſie aͤrger krepirten als Heu¬ » ſchrecken und ob er nicht hofte, wollte man » ihn hiemit gefragt haben, daß der VorrednerVII zu den Mumien ſein Lob viel weitlaͤuftiger haͤtte?

Er hats aber natuͤrlicherweiſe viel kuͤrzer, weil ich ſonſt auf den Ochſenkopf hinauf kaͤme mitten in der Vorrede ohne nur der Weltleute gedacht zu haben, geſchweige der andern.

Dieſe wollen nun die zweite Nummer und Sproſſe meines Aufklimmers abgeben Campe wirft nicht ungeſchickt durch dieſes Wort den Klimax aus ſeinen und meinen Buͤchern; allein ich werde wenig mehr bei ihnen anzubrin¬ gen haben als eine Rechtfertigung, daß ich mich in meinem Werke zu oft anſtellte, als macht 'ich mir aus der Tugend etwas und aus jener Schwaͤrmerei, die ſo oft den Namen En¬ thuſiaſmus traͤgt. Ich befahre wahrhaftig nicht, daß vernuͤnftige Leute meine Anſtellung etwan fuͤr Ernſt anſehen: ich hoffe, wir trauen beide einander zu, daß wir das Laͤcherliche davon empfinden, ſtatt der Namen der Tugenden dieſe ſelber haben zu wollen und heut zu Tage ſind die wenigſten von uns zu den tollen Philoſophen zu Lagado (inVIII Gullivers Reiſen) zu rechnen, die aus Achtung fuͤr ihre Lunge die Dinge ſelber ſtatt ihrer Be¬ nennungen gebrauchten und allemal in Ta¬ ſchen und Saͤcken die Gegenſtaͤnde mitbrachten, woruͤber ſie ſich unterhalten wollten. Aber ob man mir nicht eben das verdenken wird, daß ich Namen ſo oft brauche, die nicht viel moder¬ ner als die Sache ſelber ſind und deren man ſich in Cercles von Ton, ſo wie der Namen » Gott, Ewigkeit » ſtets enthaͤlt, daruͤber laͤſſet ſich diſ¬ putiren. Inzwiſchen ſeh' ich doch auf der an¬ dern Seite auch, daß es mit der Sprache der Tugend wie mit der lateiniſchen iſt, die man jetzt zwar nicht mehr geſprochen aber doch geſchrieben duldet und die deswegen laͤngſt aus dem Mund in die Feder zog. Ich berufe mich uͤberhaupt auf einſichtige Rezenſenten, ob wir aͤſthetiſche Autores ohne tugendhafte Geſin¬ nungen, die wir als poetiſche Maſchinen ge¬ brauchen ſo wie die fabelhafte Mythologie, nur eine Stunde auszukommen vermoͤgen und ob wir nicht zum Schreiben hinlaͤngliche Tugend habenIX muͤſſen als Wagenwinde, Steigeiſen, Montgol¬ fiere und Springſtab unſrer (gedruckten) Karak¬ tere widrigenfals gefallen wir keiner Katze; und es ergeht den armen Schauſpielern auch nicht anders. Freilich Autores die uͤber Poli¬ tik, Finanzen, Hoͤfe ſchreiben, intereſſiren gera¬ de durch die entgegengeſetzten Mittel Eben damit kann ſich ein Autor decken, der in ſeine Karaktere das, was die Poeten und Weiber ihr Herz nennen, eingeheftet: es muß d'rinnen haͤn¬ gen, (nicht nur in geſchilderten, auch in leben¬ den Menſchen), es mag Waͤrme haben oder nicht; eben ſo verſieht der Buͤchſenmacher die Windbuͤchſen ſo gut mit einer Zuͤndpfanne wie Feuergeſchoß, ob gleich nur mit Wind ge¬ trieben wird .... Es kann wahrlich um den ganzen Fichtelberg kein ſo kalter pfeifen als ge¬ rade im Holzweg, wo jetzt mein Wagen mitten im Auguſt geht ....

Mit Nro. 3., den Hollaͤndern wollt 'ich mich in meinem Kaſten zanken wegen ihres Mangels an poetiſchem Geſchmack: das war alles. IchX wollte ihnen vorwerfen, daß ihrem Herzen ein Ballenbinder naͤher laͤge als ein Pſalmiſt, ein Seelenverkaͤufer naͤher als ein Seelenmaler und daß das oſtindiſche Haus keinem einzigen Poe¬ ten eine Penſion auswerfen wuͤrde als bloß dem alten Orpheus, weil ſeine Verſe Fluͤſſe ins Stok¬ ken ſangen und man alſo ſein Haberrohr und ſeine Muſe anſtart der belgiſchen Daͤmme brau¬ chen koͤnnte. Ich wollte den Niederlaͤndern den merkantiliſchen Unterſchied zwiſchen Schoͤnheit und Nutzen nehmen und ihnen es hinunterſchrei¬ ben, daß Armeen, Fabriken, Haus, Hof, Aek¬ ker, Vieh nur das Schreib - und Arbeitszeug der Seele waͤren, womit ſie einige Gefuͤhle, wor¬ auf alle Menſchenthaͤtigkeit auslaufe, errege, er¬ hebe und aͤußere, daß den indiſchen Kompagnien Schiffe und Inſeln dazu dienten, wozu den poe¬ tiſchen Reime und Federn dienten, und daß Phi¬ loſophie und Dichtkunſt die Fruͤchte und Bluͤten am Baume des Erkenntniſſes waͤren, Oekonomie hingegen, Kameral-philologiſche und aͤhnliche Wiſſenſchaften bloß die einſaugenden Blaͤtter, derXI Splint, der Wurzeln-Epheu und das unter dem Baume treibende Aas. Ich wollt' es ſagen; ließ es aber bleiben, weil ich beſorgte, die deut¬ ſchen merkten's, daß ich darunter bloß ſie meine: denn wie kaͤm 'ich ſonſt unter die mit Thee ausgelaugten belgiſchen Schlafroͤcke? Ich hab' ohnehin wenig mehr zu fahren und viel noch abzufertigen.

Ich unterſag 'es den europaͤiſchen Landſtaͤn¬ den, mein Werk No. IV. einem Fuͤrſten zu ge¬ ben, weil er ſonſt dabei einſchlaͤft; welches ich da ein fuͤrſtlicher Schlaf nicht halb ſo ſpaßet wie ein Homeriſcher recht gern geſchehen laſſe, ſobald die europaͤiſchen Land¬ ſtaͤnde das Geſetz wie ein[ Arcuccio]*)Das iſt ein Gehaͤuſe in Florenz in Kruͤnitz oͤkon. Encykl. 2. B. iſts abgebildet worin die Mutter bei Strafe das Kind unter dem Saͤugen legen muß, um es nicht im Schlum¬ mer zu erquetſchen. ſo uͤber die Landeskinder woͤlben, daß ſie der Landesva¬XII ter im Schlafe nicht erdruͤcken kann, er mag ſich darin werfen wie er will, auf die Seiten, auf den Ruͤcken oder auch auf den Bauch.

Da hundert Buchbinder No[. ]V. mich unter den Arm und in die Haͤnde nehmen werden, um mich ganze Wochen fruͤher zu leſen als zu be¬ ſchneiden und zu preſſen gute Rezenſenten thaͤten gewiß das Widerſpiel: ſo muͤſſen die guten Rezenſenten auf die Buchbinder warten, die Leſer auf die Rezenſenten und ich auf die Leſer und ſo darf ein einziger Ungluͤcksvogel uns alle verhetzen und in den Sumpf ziehen; aber wer kanns den Buchbindern verbieten als ich, der ich in dieſe Nachricht an Buchbinder mein Buch fuͤr dergleichen Binder eigenhaͤndig konfisziere?

Mit dem Einbein, der ſechſten Nummer, viel zu reden wie ich verhieß, verlohnt der Muͤhe gar nicht, da ich das Ding ſelber bin und noch uͤberdies der einbeinige Autor heiße. Die Hoͤfer (die Einwohner der Stadt Hof, der 7ten N.) worunter ich hauſe, muſten mich mit dieſem anti-epiſchen Namen belegen, weil meinXIII linkes Bein bekanntlich anſehnlich kuͤrzer iſt als das andre und weil noch dazu unten mehr ein Quadrat - als Kubikfuß dran ſitzt. Es iſt mir bekannt, Menſchen, die gleich den oſtindiſchen Hummern eine kurze Scheere neben der langen haben, koͤnnen allerdings ſich mit der chaussu¬ re behelfen die ihre Kinder ablegen; aber es iſt eben ſo unlaͤugbar, daß das Zipperlein ei¬ nem ſolchen Mann dennoch an beiden Fuͤßen kneift und dieſen den verdammteſten ſpaniſchen Stiefel anſchraubt, den je ein Inquiſit getra¬ gen.

Ich haͤtte gar nicht ſagen ſollen, daß ich mit meinem lieben Hof in Voigtland ſchriftlich am Fichtelberge ſprechen wollte, da ichs muͤnd¬ lich kann und mein eigner Kerl daraus her iſt. Mein Wunſch und Zweck in einem ſolchen Wer¬ ke wie dieſem iſt und bleibt bloß der, daß dieſe betagte und bejahrte Stadt den Schlaf, den ich ihr darin mit den harten Federn einer Gans einfloͤßen will, auf den weichen dieſes Thiers genießen moͤge .....

XIV

Endlich hab, ich nun den Ochſenkopf.

Dieſe Zeile iſt kein Vers, ſondern nur ein Zeichen, daß ich droben war und da viel that: meine Saͤnfte wurde abgeſchnallet und ich mit geſchloſſenen Augen, hineingeſchaft, weil ich erſt auf dem Schneeberg, der Kuppel des Fich¬ telgebirgs, mich umſehen will ... Unter dem Ausſteigen ſtroͤmte vor meinem Geſicht eine aͤthe¬ riſche Morgenluft voruͤber; ſie druͤckte mich nicht mit dem ſchwuͤlen Weſt eines Trauerfaͤchers, ſondern hob mich mit dem Wehen einer Frei¬ heitsfahne ... Wahrhaftig ich wollte unter ei¬ nem Luftballon ganz andre Epopeen und unter einer Taͤucherglocke ganz andre Feudalrechte ſchrei¬ ben als die Welt gegenwaͤrtig hat ....

Ich wuͤnſchte, No. VIII. die Kunſtrichter wuͤrden in meiner Saͤnfte mitgetragen und ich haͤtte ihre Haͤnde; ich wuͤrde ſie druͤcken und ſagen: Kunſtrichter unterſchieden ſich von Re¬ zenſenten wie Richter von Nachrichtern Ich wuͤrde ihnen gratulieren zu ihrem Geſchmack, daß er wie der eines Genies, dem eines Kos¬XV mopoliten gleiche und nicht bloß Einer Schoͤn¬ heit raͤuchere etwann der Feinheit, der Staͤrke, dem Witze ſondern daß er in ſei¬ nem Simultantempel und Pantheon fuͤr die wunderlichſten Heiligen Altaͤre und Kerzen da habe, fuͤr Klopſtock und Krebillon und Plato und Hudibras .... Gewiſſe Schoͤnheiten, wie gewiſſe Wahrheiten wir Sterbliche halten beide noch fuͤr zweierlei zu erblicken, muß man das Herz eben ſo ausgeweitet und ausge¬ reinigt haben wie den Kopf .... es haͤngt zwi¬ ſchen Himmel und Erde ein großer Spiegel von Kryſtall, in den eine verborgne neue Welt ih¬ re großen Bilder wirft; aber nur ein unbefleck¬ tes Kindes-Auge nimmt ſie wahr darin, ein beſudeltes Thier-Auge ſieht nicht einmal den Spiegel .... Nur Einen oͤffentlichen Richter, den mein Herz verehrt, ſchenke mir dieſes Jahr und waͤr er auch wieder mich partheiiſch: denn ein partheiiſcher dieſer Art faͤllet ein inſtruktive¬ res Urtheil als ein unpartheiiſcher aus der Wo¬ chentags-Kaſte.

XVI

Ueber den Plan eines Romans (aber nicht uͤber die Karaktere) muß man ſchon aus dem erſten Bande zu urtheilen Befugniß haben: al¬ le Schoͤnheit und Ruͤnde, mit der die folgen¬ den Baͤnde den Plan aufwickeln, nimmt ja die Fehler und Spruͤnge nicht weg, die er im er¬ ſten hatte. Ich wuͤſte uͤberhaupt keinen Band und kein Heft worin der Autor Recht haͤtte, den Leſer zu aͤrgern. Die Naͤhe des Schneeber¬ ges hindert mich, es zu beweiſen, daß die franzoͤſiſche Art zu erzaͤhlen (z. B. im Kandide) die abſcheulichſte von der Welt und daß bloß die umſtaͤndliche, dem Homer oder Voß oder ge¬ meinen Manne abgeſehene Art die intereſſante¬ ſte iſt. Ferner kaͤm 'ich auf dem Schneeberg an, eh' ichs mir halb hinans bewieſen haͤtte, daß wir Bellettriſten (ein abſcheulicher Name!) insgeſammt zwar den Ariſtoteles fuͤr unſern ma¬ gister ſententiarum und ſeine Gebote fuͤr unſre 39 Artikel und 50 Deziſionen halten ſollten daß wir aber doch fuͤr nichts von ihm ſo viele Achtung zu tragen haͤtten, als fuͤr ſeine dreiEin¬XVIIEinheiten, (die aͤſthetiſche Regel Detri) gegen die nicht einmal Romane ſuͤndigen ſollten. Der Menſch intereſſiert ſich bloß fuͤr Nachbarſchaft und Gegenwart; der wichtigſte Vorfall, der in Zeit oder Raum ſich von ihm entfernt, iſt ihm gleichguͤltiger als der kleinſte neben ihm: ſo iſt er, wenn er die Vorfaͤlle erlebt, und mithin auch ſo, wenn er ſie lieſet. Darauf beruht die Einheit der Zeit und des Orts. Al¬ ſo der Anfang in der Mitte einer Geſchichte, um daraus zum anfangenden Anfang zuruͤck zu ſpringen das anachroniſtiſche Ineinanderſchuͤt¬ teln der Scenen Epiſoden ſo wie das Knuͤpfen mehrerer Hauptknoten, ja wie ſogar das Reiſen in Romanen, das den Maſchienen¬ goͤttern ein freies aber unintereſſantes Spiel er¬ laubt kurz alle Abweichungen vom Tom Jones und der Klariſſa ſind Sekunden und Septimen im Ariſtoteliſchen Dreiklang. Das Genie kann zwar alles Gutmachen: aber Gut¬ machen iſt nicht aufs Beſte machen und glaͤnzen¬ de verklaͤrte Wundenmaale ſind am Ende dochhXVIIILoͤcher am verklaͤrten Leibe. Wenn manche Ge¬ nies die Kraft, die ſie aufs Gutmachen uͤber¬ tretner Regeln wenden muͤſſen, in der Befol¬ gung derſelben arbeiten ließen: ſie thaͤten mehr Wunder als der H. Martin, der ihrer nicht mehr bewerkſtelligte als zweihundert und ſechs G. in ſeiner Iphigenie und Kl. in ſeiner Medea thuns vielleicht dem H. Marrin zuvor ...

Gegenwaͤrtig traͤgt man das Einbein (mich) uͤber den Fichtelſee und uͤber zwei Stan¬ gen, die ſtatt einer Bruͤcke uͤber dieſe bemoo¬ ſte Wuͤſte bringen. Zwei Fehltritte der Gonde¬ lierer, die mich aufgeladen, verſenken, wenn ſie geſchehen, einen Mann in den Fichtelſumpf der drinnen an ſeinem Vorredner arbeitet und der mit 8 Nummern Menſchen geſprochen und deſſen Werk zum Gluͤck ſchon in Berlin iſt ... Berge uͤber Berge werden jezt wie Goͤtter aus der Erde ſteigen, die Gebirge werden ihre Ar¬ me laͤnger ausſtrecken und die Erde wird wie eine Sonne aufgehen und dann wird ihre wei¬ ten Strahlen Ein Menſchen-Blick verknuͤpfenXIX und meine Seele wird unter ihrem Fokus gluͤ¬ hen ..... Nach wenigen Schritten und Wor¬ ten iſt die Vorrede aus, auf die ich mich ſo lang ge¬ freuet, und der Schneeberg da, auf dem ich mich erſt freuen ſoll. Es iſt gut, wenn ein Menſch ſeine Lebensfakta ſo wunderbar verflochten hat, daß er ganz widerſprechende Wuͤnſche haben kann, daß naͤmlich der Vorredner dauere und der Schneeberg doch komme.

In dieſen Gegenden iſt alles ſtill, wie in erhabnen Menſchen. Aber tiefer, in den Thaͤlern, nahe an den Graͤbern der Menſchen ſteht der ſchwere Dunſtkreis der Erde auf der einſinkenden Bruſt, zu ihnen nieder ſchleichen Wolken mit großen Tropfen und Blitzen und drunten wohnt der Seufzer und der Schweiß. Ich komme auch wieder hinunter und ich ſehne mich zugleich hinab und hinauf. Denn der irre Menſch die aͤgyptiſche Gottheit, ein Stuͤckwerk aus Thierkoͤpfen und Menſchen-Tor¬ ſos ſtreckt ſeine Haͤnde nach entgegengeſetzten Richtungen aus und nach dem erſten Leben undb2XXnach dem zweiten: ſeinen Geiſt ziehen Gei¬ ſter und Koͤrper. So wird der Mond von der Sonne und Erde zugleich gezogen, aber die Erde legt ihm ihre Ketten an und die Son¬ ne zwingt ihn bloß zu Ausweichungen. Dieſen Widerſtreit, den kein Sterblicher beilegt, wirſt du, geliebter Leſer, auch in dieſen Blaͤt¬ tern finden; aber vergieb ihn mir wie ich dir. Und eben ſo habe fuͤr unverhaͤltnismaͤßige Aus¬ bildung die Nachſicht des Menſchenkenners. Ei¬ ne unſichtbare Hand legt den Stimmhammer an den Menſchen und ſeine Kraͤfte ſie uͤber¬ ſchraubt, ſie erſchlaft Saiten oft zerſprengt ſie die feinſten am erſten nicht oft nimmt ſie einen eilenden Accord aus ihnen endlich wenn ſie alle Kraͤfte auf die Tonleiter der Melodie gehoben: ſo traͤgt ſie die melodiſche Seele in ein hoͤheres Konzert und dieſe hat dann hienie¬ den nur wenig getoͤnet.

.... Ich ſchrieb jezt eine Stunde nicht: ich bin nun auf dem Schneeberg, aber noch in der Saͤnfte. Erhabne Paradieſe liegen um michXXI ungeſehen, wie um den eingemauerten Men¬ ſchengeiſt, zwiſchen dem und deſſen hoͤherem Mutterland der dunkle Menſchenkoͤrper innen ſteht; aber ich habe mich ſo traurig gemacht, daß ich jezt in das ſchmetternde Trommeten - und Laubhuͤttenfeſt, das die Natur von einem Ge¬ buͤrge zum andern begeht, nicht hineintreten will: ſondern erſt wenn die Sonne tiefer in den Himmel geſunken und wenn in ihren Licht¬ ſtrom der Schattenſtrom der Erde faͤllt, dann wird unter die ſtummen Schatten noch ein neuer begluͤckter ſtiller Schatten gehen. Auf¬ richtiger zu ſprechen, ich kann bloß von euch ihr ſchoͤnern Leſer, deren getraͤumte, zuweilen erblickte Geſtalten ich wie Genien auf den Hoͤhen des Schoͤnen und großen wandeln und winken ſah nicht Abſchied nehmen: ich bleibe noch ein wenig bei euch, wer weiß, wenn, und ob die Augenblicke wo unſre Seelen uͤber einem zerſtiebenden Blatte ſich die Haͤnde geben, je wiederkommen vielleicht bin ich hin, vielleicht du, bekannte oder unbekannte theuere Seele,XXM[XXII] von der der Tod wenn er vorbeigeht und die un¬ ter Koͤrnern und Regentropfen gebuͤckte Aehre erblickt, bemerkt: ſie iſt ſchon zeitig. Und gleich wohl was kann ich jenen Seelen in den Augenblicken des Abſchieds, die man ſo gern mit tauſend Worten uͤberladen moͤchte und eben des¬ wegen bloß mit Blicken ausfuͤllt, noch zu ſa¬ gen haben oder zu ſagen wiſſen als meine ewi¬ gen Wuͤnſche fuͤr ſie: findet auf dieſem (von uns Erdball genannten) organiſchen Kuͤgel¬ gen, das mehr begraſet als bebluͤmet iſt, die wenigen Blumen im Nebel, der um ſie haͤngt ſeid mit euren elyſiſichen Traͤumen zu¬ frieden und begehret ihre Erfuͤllung und Verkoͤr¬ perung (d. h. Verknoͤcherung) nicht: denn auf der Erde iſt ein erfuͤllter Traum ohne¬ hin bloß ein wiederholter von außen ſeid wie euer Koͤrper, von Erde und bloß in¬ nen beſeelt und vom Himmel und haltet es fuͤr ſchwerer und noͤthiger, die zu lieben, die euch verachten, als die, die euch haſſen und wenn unſer Abend da iſt, ſo werfe die SonneXXIII unſers Lebens (wie heute die draußen) die Stra¬ len, die ſie vom irdiſchen Boden weghebt an hohe goldne Wolken und (als wegweiſende Ar¬ me) an hoͤhere Sonnen; nach dem muͤden Ta¬ ge des Lebens ſei unſre Nacht geſtirnt, die heißen Duͤnſte deſſelben ſchlagen ſich nieder, am erkalteten hellen Horizont ziehe ſich die Abend¬ roͤthe langſam um Norden herum und bei Nord-Oſten lodere fuͤr unſer Herz die neue Morgenroͤthe auf ......

.... Nun tritt auch die Erdenſonne auf die Erdengebirge und von dieſen Felſenſtufen in ihr heiliges Grab: die unendliche Erde ruͤckt ih¬ re großen Glieder zum Schlafe zurecht und ſchlieſ¬ ſet ein tauſend ihrer Augen ums andre zu. Ach welche Lichter und Schatten, Hoͤhen und Tie¬ fen, Farben und Wolken werden draußen kaͤm¬ pfen und ſpielen und den Himmel mit der Er¬ de verknuͤpfen ſo bald ich hinaustrete (noch Ein Augenblick ſteht zwiſchen mir und dem Ely¬ ſium,) ſo ſtehen alle Berge von der zerſchmol¬ zenen Goldſtufe, der Sonne uͤberfloſſen da XXIV Goldadern ſchwimmen auf den ſchwarzen Nacht - Schlacken, unter denen Staͤdte und Thaͤler uͤber¬ goſſen liegen Gebirge ſchauen mit ihren Gi¬ pfeln gen Himmel, legen ihre feſten Meilen-Ar¬ me um die bluͤhende Erde und Stroͤme tropfen von ihnen, ſeit dem ſie ſich aufgerichtet aus dem Uferloſen Meer Laͤnder ſchlafen an Laͤn¬ dern, und unbewegliche Waͤlder an Waͤldern, und uͤber der Schlafſtaͤtte der ruhenden Rieſen ſpielet ein gaukelnder Nachtſchmetterling und ein huͤpfendes Licht, und rund um die große Scene zieht ſich wie um unſer Leben ein hoher Nebel Ich gehe jezt hinaus und ſink 'an die ſterbende Sonne und an die entſchlafende Erde.

Ich trat hinaus

Auf dem Fichtelgebirg, im Erntemond 1792.

Jean Paul.

Erſter
[1]

Erſter Sektor.

Verlobungs-Schach graduirter Rekrut Kopulations - Katze.

Meines Erachtens war der Obriſtforſtmeiſter von Knoͤr bloß darum ſo unerhoͤrt aufs Schach erpicht, weil er das ganze Jahr nichts zu thun hatte als Einmal darin der Gaſt, die Santa Hermandad und der theure Diſpenſationsbullen-Macher der Wild¬ meiſter zu ſeyn. Der Leſer wird freilich noch von keiner ſo unbaͤndigen Liebhaberei gehoͤrt haben, als ſeine war. Das Wenigſte iſt, daß er alle ſeine Bedien¬ te aus dem Dorfe Strehpenik verſchrieb, um (nach Kato's Meinung) eben ſo viele Gegner als Diener zu haben oder daß er und ein Oberyſſelſcher Edelmann in Zwoll mehr Poſtgeld verſchrieben als verreiſeten, weil ſie Schach auf 250 Meilen nicht mit Fingern ſondern Federn zogen auch das kann man ſich gefallen laſſen, daß er und die Kempel'ſche Schachmaſchine Briefe mit einander wechſelten und daß des hoͤlzernen Moslems Konviktoriſt und Adju¬A2tant, Hr. v. Kempele, ihm in meinem Beiſeyn aus der Leipziger Heuſtraße im Namen des Muſelmanns zuruͤckſchrieb, dieſer rochiere man wird ſeine Ge¬ danken daruͤber haben, daß er noch vor 2 Jahren nach Paris abfuhr, um ins Palais Royal und in die Société du Sallon des Echecs zu gehen und ſich dar¬ in als Schachgegner niederzuſetzen und als Schach¬ ſieger wieder aufzuſpringen; wiewohl er nachher in einer demokratiſchen Gaſſe viel zu ſehr gepruͤgelt wurde, da er im Schlafe ſchrie: gardéz la Reine bloß frappiren kanns einen und den andern, daß ſeine Tochter ihm nie einen neuen Hut oder ei¬ ne neue Soubrette, die ihn anſteckte, anders abgewann als zugleich mit einem Schach Aber daruͤber wundert und aͤrgert ſich alles was mich lieſet, Leute von jedem Geſchlecht und jedem Alter, daß der Obriſtforſtmeiſter geſchworen hatte, ſeine Tochter keiner andern Kanaille in der ganzen Ritterſchaft zu geben, als einer, die ihr auſſer dem Herzen noch ein Schach abgewoͤnne und zwar in ſieben Wochen.

Sein Grund und Sorites war der: ein guter Mathematiker iſt ein guter Schachſpieler, alſo die¬ ſer jener ein guter Mathematiker weiß die Dif¬3 ferenzialrechnung zehnmal beſſer als ein elender und ein guter Differenzialrechenmeiſter verſteht ſich ſo gut als einer aufs Deployren und Schwenken*)Das wüßt 'er nicht, wenn ers nicht aus den neuen Tak¬ tikern, Hrn. Hahn und Hrn. Müller hätte, die den jungen Offizier die Differenzialrechnung lehren, damit es ihm nicht ſchwer werde, mitten im Treffen beim Deploy¬ ren und Schwenken den Grundwinkel herauszurechnen. Eben ſo hab' ich hundertmal ein Buch ſchreiben und darin die armen viſirenden Billardſpieler in den Stand ſetzen wollen, bloß nach einigen Auflöſungen aus der Mechanik und höheren Matheſis mit zugemachten Augen zu ſtoßen. und kann mithin ſeine Kompagnie (und ſeine Frau vollends) zu jeder Stunde kommandiren und warum ſollte man einem ſo geſchickten, ſo erfahr¬ nen Offizier ſeine einzige Tochter nicht geben? Der Leſer haͤtte ſich gewiß ſogleich ans Schachbrett hingeſetzt und gedacht, der Zug einer ſolchen Quin¬ terne aus dem Brette wie die Tochter eines Obriſt¬ forſtmeiſters iſt, ſei ja auſſerordentlich leicht; aber er iſt verdammt ſchwer, wenn der Vater ſelbſt hin¬ ter dem Stuhle paſſet und der Tochter jeden Zug angiebt, womit ſie ihren Koͤnig und ihre Tugend gegen den Leſer decken ſoll.

Wer's hoͤrte, begriff gar nicht warum die Frau Obriſtforſtmeiſterin die lange Geſellſchaftsdame ei¬A 24ner Graͤfin von Ebersdorf geweſen, bei ihrem fei¬ nen Gefuͤhl und ihrer Froͤmmigkeit eine ſolche Jaͤ¬ gerlaune dulde; ſie hatte aber eine Hernhutiſche durchzuſetzen, welche begehrte, daß das erſte Kind ihrer Erneſtine fuͤr den Himmel ſollte groß gezogen werden, naͤmlich, acht Jahre unter der Erde meinetwegen achtzig Jahre ſagte der Alte.

Ob man gleich in jedem Falle Teufelsnoth mit einer Tochter hat, man mag Abonnenten an ſie an¬ zulocken oder abzutreiben haben: ſo hatte doch Knoͤr bei der Sache ſeinen wahren Himmel auf Erden unter ſo vielen Schachrittern, die ſaͤmtlich ſeine Er¬ neſtine bekriegten und verſpielten. Denn mit einem Kopfe, in den der Vater Licht, und mit einem Her¬ zen, in das die Mutter Tugend eingefuͤhrt hatte, eroberte ſie leichter als ſie zu erobern war: daher aͤrgerte und ſpielte ſich an ihr eine ganze Brigade eheluſtiger Junker halb todt. Und doch waren un¬ ter ihnen Leute, die auf allen nahen Schloͤſſern den Namen ſuͤßer Herren behaupteten, weil ſie kei¬ ne Matroſenſitten hatten, wie man in Ver¬ gleichung mit dem Seewaſſer unſer ſchales ſuͤßes nennt.

5

Aber ich und der Leſer wollen uͤber die ganze ſpielende Kompagnie wegſpringen und uns neben den Rittmeiſter von Falkenberg ſtellen, der bei dem Vater ſteht und auch heirathen will. Dieſer Offizier ein Mann voll Muth und Gutherzigkeit, ohne alle Grundſaͤtze, als die der Ehre, der um ſich nichts hinter ſeine Ohren zu ſchreiben, die ſonſt bei einiger Laͤnge das ſchwarze Brett und der Kerbſtock empfangner Beleidigungen ſind, lieber andre Chriſten hinter die ihrigen ſchlug, der feiner handelte als er ſprach und deſſen Knieſtuͤck ich nicht zwiſchen dieſen zwei Gedankenſtrichen ausbreiten kann warb in dieſer Gegend ſo lange Rekru¬ ten, bis er ſelber wollte angeworben ſeyn von Er¬ neſtinen. Er haßte nichts ſo ſehr als Schach und Hernhutiſmus; indeſſen ſagte Knoͤr zu ihm, Abends um 12 Uhr fiengen, weil er wollte, die ſieben Spiel-Turnierwochen an, und wenn er nach 7 Wo¬ chen um 12 Uhr die Spielerin nicht aus dem Schlachtfelde ins Brautbette hineingeſchlagen haͤt¬ te: ſo thaͤt 'es ihm von Herzen leid, und aus der achtjaͤhrigen Erziehung brauchte dann ohnehin nichts zu werden.

6

Die erſten 14 Tage wurd 'in der That zu nach¬ laͤßig geſpielt und geliebt. Allein damals hatten weder andre geſcheute Leute noch ich ſelber jene hi¬ tzige Romane geſchrieben, wodurch wir (wir habens zu verantworten) die jungen Leute in kniſternde, wehende Zirkuliroͤfen der Liebe umſetzen, welche daruͤber zerſpringen und verkalken und nach der Ko¬ pulation nicht mehr zu heizen ſind. Erneſtine ge¬ hoͤrte unter die Toͤchter, die bei der Hand ſind, wenn man ihnen befiehlt, kuͤnftigen Sonntag, ſo Gott will, werde um 4 Uhr in den Herrn A Z, wenn er koͤmmt verliebt. Der Rittmeiſter, biß im Artikel der Liebe uͤberhaupt, weder in den gaͤh¬ renden Pumpernickel der phyſiſchen noch in das weiſſe kraftloſe Waizenbrod der pariſiſchen noch in das Quitten - und Himmelsbrod der platoniſchen, ſondern in einen huͤbſchen Schnitt Geſindebrod der ehelichen Liebe: er war 37 Jahre alt.

Sechzehn Jahre fruͤher hatt 'er ſich einen Biſſen vom gedachten Pumpernickel abgeſchnitten: ſeine Geliebte und ſein Sohn wurden nachher vom ehrlichen Kommerzien-Agenten Roͤper geheirathet.

Wir Belletriſten hingegen koͤnnens recht ſehr bei unſern Romanen brauchen, daß es unſerem Ma¬7 gen und unſerer Magenhaut gut thut, wenn wir in Einem Nachmittage jene vier Brodſortiments auf einmal anfreſſen; denn wir muͤſſen aller Hen¬ ker ſeyn, um allen Henker zu ſchildern: wie woll¬ ten wir's ſonſt machen, wenn wir im naͤmlichen Monat aus dem naͤmlichen Herzen, wie aus dem naͤmlichen Buchladen (ich aͤrgere hier Hr. Adelung durchs Wort naͤmlichen ) Satiren Hymnen Nachtgedanken Huren - und Sterbelieder liefern ſollen, ſo daß man hinter und vor uns erſtaunt uͤbers Pantheon und Pandaͤmonium unter Einem Dache mehr als uͤber des Galeerenſklaven Bazile nachgelaſſenen Magen, in dem ein Mobiliarvermoͤ¬ gen von 35 Effekten hauſete, z. B. Pfeifenkoͤpfe, Leder u. ſ. w.

Wenn die zwei jungen Leute am Schachbrett ſaßen, das entweder ihre Scheidewand oder ihre Bruͤcke werden ſollte: ſo ſtand der Vater allemal als Marqueur dabei; es war aber wirklich nicht noͤ¬ thig nicht bloß weil der Rittmeiſter ſo erbaͤrm¬ lich ſpielte und ſeine Gegenfuͤßlerin ſo philidoriſch, auch darum nicht, weil ihr die weibliche Kleider¬ ordnung ohnehin verbot, matt oder verliebt zu wer¬ den (denn am Ende kehren Weiber und Ruderknech¬8 te allzeit eben den Ruͤcken dem Ufer zu, an das ſie anzurudern ſtreben) ſondern aus einem noch ſonderbarern Grunde war der Auxiliarforſtmeiſter zu entrathen: die Erneſtine wollte nemlich um alles gern ſchachmatt werden und eben deswegen ſpiel¬ te ſie ſo gut. Denn aus Rache gegen das zoͤgernde Schickſal arbeitet man gerade Dingen, die von ihm abhaͤngen, abſichtlich entgegen und wuͤnſchet ſie doch. Die zwei kriegenden Maͤchte wurden zwar einander immer lieber, eben weil ſie einander ein¬ zubuͤßen fuͤrchteten; gleichwohl ſtands in den Kraͤf¬ ten der weiblichen nicht, nur Einen Zug zu unter¬ laſſen, der gegen ihre doppelſeitige Wuͤnſche ſtritt: in fuͤnf Wochen konnte der Werbeoffizier nicht Ein¬ mal ſagen: Schach der Koͤnigin. Die Weiber ſpie¬ len ohnehin dieſes Koͤnigsſpiel (wie andre Koͤnigs¬ ſpiele) recht gut ... Da aber das eine Digreſſion der Natur zu ſeyn ſcheint und doch keine iſt: ſo kann eine ſchriftſtelleriſche daraus gemacht werden, aber erſt im 20ſten Sektor; weil ich erſt ein Paar Monate geſchrieben haben muß, bis ich den Leſer ſo eingeſponnen habe, daß ich ihn werfen kann wie ich nur will.

9

Waͤre die Liebe des Rittmeiſters von der Art der neuern gigantiſchen Liebe geweſen, die nicht wie ein herumblaͤtternder Zephyr ſondern wie ein ſchuͤt¬ telnder Sturmwind die armen duͤnnen Bluͤmchen umfaſſet, die ſich in den belletriſtiſchen Orkan gar nicht ſchicken koͤnnen: ſo waͤre das Wenigſte was er haͤtte thun koͤnnen, das geweſen, daß er auf der Stelle des Teufels geworden waͤre; ſo aber wurd 'er bloß boͤſe, nicht uͤber den Vater ſon¬ dern uͤber die Tochter, und nicht daruͤber daß ſie das Schachbrett nicht zum Praͤſentierteller ihrer Hand und ihres Herzens machte oder daß ſie gut gegen ihn ſpielte, ſondern daruͤber, daß ſie ſogar gut ſpielte. So iſt der Menſch! und ich erſuche den Menſchen, meinen Rittmeiſter nicht auszula¬ chen. Freilich haͤtt' ich die weiblichen Reize und die Rolle der Erneſtine gehabt und haͤtt 'ich ihm indeß er ſeine Kontraapproche ausſann, ins betret¬ ne Geſicht geſchauet, auf deſſen geruͤndetem[Mun¬ de] der Schmerz uͤber unverdiente Kraͤnkung ſtand, der ſo ruͤhrend an Maͤnnern von Muth ausſieht, ſobald ihn nicht die Gichtknoten und Hautausſchlaͤ¬ ge der Rache verzerren: ſo waͤr' ich roth geworden und waͤre wahrhaftig gerade zu mit der Koͤnigin10 (und mir darzu) ins Schach hineingefahren: denn was haͤtt 'ich da geliebt als ſtrenge Selbſtbuͤßung?

Beinahe haͤtte am 16. Junius Erneſtine dieſe Buͤßung geliebt, wie man aus ihrem Briefe ſo¬ gleich erſehen ſoll. Denn allerdings iſt eine Frau im Stande, zweimal 24 Stunden lang eine und dieſelbe Geſinnung gegen einen Mann (aber auch gegen weiter nichts) zu behaupten, ſobald ſie von dieſem Manne nichts vor ſich hat als ſein Bild in ihrem ſchoͤnen Koͤpfgen; allein, ſteht der Mann ſel¬ ber unkopirt 6 Fuß hoch vor ihr: ſo praͤſtirt ſie es nicht mehr ihre wie eine beſonnete Muͤckenkolon¬ ne ſpielende Empfindung treibt aus einander, wi¬ der einander und in einander[] ein Fingerhut voll Puder am beſagten Mann zuviel oder zu wenig eine Beugung ſeines Oberleibs ein zu tief abge¬ ſchnittener Fingernagel eine ſich abſchaͤlende ſchur¬ fichte Unterlippe der Puder-Anſchrot und Spiel¬ raum des Zopfs hinten auf dem Rock ein langer Backenbart alles. Aus hundert Gruͤnden ſchlag 'ich hier vor den Augen des indiſkreten Leſers Erne¬ ſtinens Brief an eine ausgediente Hofdame in der Reſidenzſtadt Scheerau aus einander: ſie mußte jede Woche an ſie ſchreiben, weil man ſie zu11 beerben gedachte und weil Erneſtine ſelber einmal ſo lange bei ihr und in der Stadt geweſen war, daß ſie recht gut eilftauſend Pfiffe mit wegbringen konnte drei Wochen naͤmlich.

Die vorige Woche hatt 'ich Ihnen wirklich nichts zu ſchreiben als das alte Lied. Unſer Ge¬ ſpiele ennuirt mich unendlich und es dauert mich nur der Rittmeiſter; es hilft aber bei meinem Va¬ ter kein Reden, ſobald er nur jemand haben kann, den er ſpielen ſieht. Waͤrs nicht beſſer, der gute Rittmeiſter ließe ſeinen Kutſcher, der den ganzen Tag in unſerer Domeſtikenſtube ſchnarcht, aufwe¬ cken und anſpannen und fuͤhr' ab? Seit[]dem Sonn¬ tage martern wir uns nun an Einer Parthie her¬ um und ich habe mir ſchon den Ellenbogen wund geſtuͤtzt Abends ſoll ſie zu Ende.

Abends um 12 Uhr. Er verlierts allemal mit ſeinen Springern und durch meine Koͤnigin. Wenn er einmal geheirathet hat: ſo will ich ihm ſeine Fehlgriffe und meine Kunſtgriffe zeigen. Ich bin recht verdruͤßlich, gnaͤdige Tante.

Den 16. Jun. In vier Tagen bin ich von meinem Spieler und Schachbrett los und ich will dieſes nicht zuſiegeln bis ich Ihnen ſchreiben kann,12 wie er ſich gegen ſeine muͤde und unſchuldige Korb¬ flechterin benommen. Heute ſpielten wir oben im ſineſiſchen Haͤuschen. Da die Abendroͤthe, die ge¬ rade in ſein Geſicht hineinfiel, verwirrte Schatten unter die Figuren warf und da mich ſein rechter Zeigefinger dauerte, der von einem Saͤbelhiebe ei¬ ne rothe Linie hat und der auf der Schachbande auflag: ſo kam ich aus Zerſtreuung wahrhaftig um meine Koͤnigin und das abſcheuliche Kindtaufs¬ gelaͤute des ſineſiſchen Glockenſpiels ließ mir faſt kein Deſſein zum Gluͤck kam mein Vater wieder und half mir ein wenig ein. Ich fuͤhrte ihn nach¬ her in unſern neuen Anlagen im Waͤldgen herum und er erzaͤhlte mir glaub 'ich die Hiſtorie ſeines linierten Fingers: er iſt gegen Seines gleichen ſehr wild, aber dabei ungemein verbindlich gegen Frau¬ enzimmer.

Den 18. Jun. Seit geſtern ſind wir alle etwas luſtiger. Abends brachten zwei Unteroffizie¬ re fuͤnf Rekruten und da man ſagte, es waͤr 'ein Menſch darunter, der eine ganze geſchlagene Ar¬ mee zum Lachen braͤchte, giengen wir alle mit hin¬ unter. Unten erzaͤhlte der Menſch gerade halb laut einem andern Rekruten ins Ohr, er haͤtte13 lauter falſche Zaͤhne und falſche Lippen und kapere blos das Handgeld weg. Er ſchraubte unſertwegen den Hut vom Kopf ab, aber eine weiße Muͤtze, die ſich bis uͤber die Augenbraunen hereinſenkte, zerrete er noch tiefer nieder. zoͤg' er ſie ab, ſagt 'er, ſo kaͤm' er in ſeinem Leben nicht zum Regi¬ ment. Der eine Unteroffizier fieng an zu lachen und ſagte, er thuts blos weil er drei abſcheuliche Muttermaͤler darunter hat, weiter nichts und ein Kamerad ſtreifte ihm heimlich die Muͤtze von hinten herunter. Kaum war zu unſeren Erſtaunen ein Kopf daraus vorgeſprungen, der an beiden Schlaͤfen zwei brennende Muttermaͤler wieß, eine Silhouette mit einem natuͤrlichen Haarzopf und gegen uͤber zwei Iltis-Schwaͤnzgen: ſo faßte zu unſerem noch groͤßerem Erſtaunen der Rittmeiſter den bemalten Kopf an und kuͤßte ihn ſo heftig wie ſeinen leiblichen Bruder und wollte ſich todt lachen und todt freuen. Du biſt und bleibſt doch der Doktor Fenk! ſagt 'er. Er muß ſehr vertraut mit dem Rittmeiſter ſeyn und kommt unmittelbar von Oberſcheerau. Kennen Sie ihn nicht? Der Fuͤrſt laͤſſet ihn als Botaniker und Geſellſchafter mit ſeinem natuͤrlichen Sohn, dem Kapitain von14 Ottomar nach der Schweiz und Italien reiſen, wie Sie ſchon wiſſen werden. Er ſetzt tolle Strei¬ che durch, wenns wahr iſt was er ſchwoͤrt, daß dieſes ſeine 21ſte Verkleidung ſei und daß er eben ſo viele Jahre habe. Er ſieht uͤbel aus: er ſagt ſelbſt, ſein breites Kinn ſtuͤlpe ſich wie ein Biber¬ ſchwanz empor und der Bader raſier' ihm im Grun¬ de die halbe Wuͤſte gratis, ſo viel wie zwei Baͤr¬ te ſeine Lippen ſind bis zu den Stockzaͤhnen auf¬ geſchnitten und ſeine kleinen Augen funkeln den ganzen Tag. Er ſpaßet auch fuͤr Leute, die nicht ſeines Gleichen ſind, viel zu frei

Erneſtine ſilhouettiert hier den aͤußern Men¬ ſchen des Doktors, der wie viele indiſche Baͤume un¬ ter aͤußern Stacheln und dornigtem Laub die weiche koſtbare Frucht des menſchenfreundlichſten Herzens verſteckte. Ich werd 'ihn aber eben ſo gut zeichnen koͤnnen wie die Briefſtellerin. Da Humoriſten wie er ſelten ſchoͤn ſind und da mit ihrer Seele auch zu¬ gleich ihr Geſicht ſich traveſtiert: ſo wuͤrde ja, ſagt' er ſelbſt, ſeine ſchoͤnſte Kleidung keinem Menſchen etwas nuͤtzen am allerwenigſten ihm ſelber und Schoͤnen als bloß den Schnitthaͤndlern. Daher waren ſeine Montierungsſtuͤcke in zwei Faͤcher ſor¬15 tiert, in koſtbare (damit die Leute ſehen, daß er die elenden nicht aus Armuth truͤge) und in eben dieſe elende, die er allzeit mit jenen zugleich anhatte. Stachen nicht die Klappen-Segel der ſchoͤnſten geſtick[¬]ten Weſte allemal aus einem fuchsbraunen Ueberrock heraus, der faſt in ſeiner Haar-Mauße verſchied? Haͤtt 'er nicht unter einem Hut fuͤr 2 Ld’or einen ſchimpflichen Zopf aufgehangen, den er fuͤr nicht mehr erſtanden als fuͤr drei hieſige Sechſer? Freilich wars halb aus Erbitterung gegen dieſen ſo geſchmack¬ vollen ſchwarzen Krebsſchwanz des Kopfes, gegen dieſes wie ein Tubus ſich verkuͤrzendes und verlaͤnge¬ rendes Nacken-Gehenk an der vierten gedankenvol¬ len Gehirnkammer. Sein Schreib-Service muſte ſchoͤner als ſein Eß-Service und ſein Papier feiner als ſeine Waͤſche ſein; er konnte nirgends ſchlechte kleine Federn leiden als blos auf ſeinem Hute, den ſein Bette und ſeine den Eheloſen natuͤrliche Un¬ ordnung ſo zu ſagen in einen adlichen Federhut umbeſſerte; indeſſen ſetzte er ſeinen Bettfedern in den Haaren gute Seekiele hinter den Ohren an die Seite der Prinzipalkommiſſarius haͤtte ſie auf dem Reichstag mit Ehren hinter die ſeinigen ſtecken koͤn¬ nen!

16

Um aber keinen Anzugs-Sonderling und Klei¬ der-Separatiſten zu machen, ließ er ſich von Jahr zu Jahr nach den beſten Moden des Narrheits-Jour¬ nals abkonterfeien und ſchuͤtzte vor, er muͤſſe den Leuten doch zeigen, daß er oder ſein Knieſtuͤck viel¬ leicht gleichen Schritt mit den neueſten Elegants zu halten wuͤſten. Der untere Saum ſeines Ueber¬ rocks war gleich dem Menſchen oft aus Erde ge[]macht; allein er drang darauf, man ſollt 'es ihm ſa¬ gen, was es verſchluͤge, wenn ers leibhaftig wie der[Strumpfwuͤrker] triebe, deſſen Hiſtorie ich ſo¬ gleich erzaͤhlen will, um nur nicht ohne alle Mo¬ ral[zu] ſchreiben. Der Mann hatte naͤmlich das Gute und Tolle an ſich, daß er den kothigen An¬ ſchroot, womit ſich ſein Ueberrock beſetzte, wenn er ſeine Struͤmpfe in die Stadt auf ſeinem Ruͤcken ablieferte, niemals heraus buͤrſtete oder ausrieb: ſondern er grif[f]in eine breite Scheere und zwickte damit den jedesmaligen Schmutzkragen und kothi¬ gen Horizont mit Einſicht herunter je laͤnger es nun regnete, deſto kuͤrzer ſchuͤrzte ſich ſein Frack hinauf und am kuͤrzeſten Tage gieng der Epitoma¬ tor wegen des unerhoͤrten Wetters im kuͤrzeſten Ueberrock herum, in einer niedlichen Sedez-Aus¬gabe17gabe der vorigen lang Folio-Ausgabe. Die Mo¬ ral, die ich daraus holen kann, moͤchte die Fra¬ ge ſeyn: ſollte ein geſcheuter Staat, der doch gewiß ſiebzigmal kluͤger iſt als alle Strumpfwuͤrker zuſammengenommen, die ja ſelber nur Glieder deſſelben ſind, den eingeſaͤumten Strumpfwuͤrker nicht dadurch am beſten einholen, daß er auch ſei¬ ne ſchmutzigen Glieder (Diebe, Ehebrecher ꝛc. ) ſtatt lange an ihnen zu reiben und zu ſaubern, mit dem Schwerdte oder ſonſt friſch herunter ſchnitte? ...

Der Doktor zerſtreuete durch launigten Troſt die einſamen Fluͤche die ſein Freund ſtatt der Seuf¬ zer that. Er ſagte, er hab 'an ihr mehr als ein¬ mal uͤber einen beſonders guten Zug, den er ge¬ than, kein andres Erſchrecken bemerkt als ein freu¬ diges. Er wolle ſein Reiſegeld daran ſetzen, daß ſie, da ſie ihn liebe, einen Pfif in ihrem Kopfe großbruͤte, der die Treppe zum Brautbettezimmern werde er rieth ihn, ſich zerſtreuet und achtlos anzuſtellen, damit er ſie nicht im Ausbruͤten des Pfiffes ertappe und wegſtoͤhre er fragte ihn, kennſt Du den kleinen Dienſt der Liebe voll¬ kommen? Kein Deutſcher verſtand Metaphern we¬ niger als er. Ich meine, fuhr er fort, kannſtB18Du denn nicht der liſtigſte Vokativus von Haus aus ſeyn? Kannſt Du nicht die Schachfigur, die Du ziehen willſt, lang faſſen, um Deine Hand lange uͤber Deiner Schachmilitz zu behalten und die Generalliſſima mit der Hand irre und verliebt zu machen? Kannſt Du nicht Deine Poſitionen jede Minute gegen dieſe Feindin wechſeln und be¬ ſonders Anhoͤhen ſuchen, weil ein ſtehender Mann einem ſitzenden Weibe ſchoͤner vorkommt als einem ſtehenden? Ich und ſie ſollten Dich bald auf den Stuhl zuruͤckgebogen, bald vorwaͤrts, bald links, bald rechts gerankt, bald im Schatten, bald ih¬ re Hand, bald ihren Mund fixirend erblicken im Spiele. Ja Du ſollteſt drei oder vier Bauern ins Zimmer herunter ſtoßen, bloß um Dich zum Auf¬ heben nachzubuͤcken, damit etwann Dein ſchwel¬ lendes Geſicht auf ihr Herz Eindruͤcke machte und damit Du das Blut in Deinen und ihren Kopf auf einmal empor triebeſt. Laſſ 'deinen Zopf eine Achtels Elle dem Hinterkopfe naͤher oder ferner ſchnuͤren, falls etwann dieſe Schnuͤrung und dieſe Elle ſich bisher eurer Ehe entgegengeſetzet haͤtte. Der arme Rittmeiſter begrif und that vom ganzen Dienſtreglement kein Jota und dem Doktor wars19 eben ſo lieb: denn er redete aus Humor in nichts lieber als in den Wind. Erneſtine ſchreibt in ih¬ rem Briefe fort[:]

Morgen gehen gottlob meine Karwochen zu Ende und es iſt ein Gluͤck fuͤr den Rittmeiſter, der alle Tage empfindlicher wird, daß nur der Doktor da iſt, der uͤber jede gezogne Figur einen Einfall weiß. Sein Witz, ſagt er, beweiſe, daß er jaͤm¬ merlich ſpiele, weil gute Spieler uͤber und unter ihrem Spielen niemals ein Bonmot haͤtten.

Den 20. Jun. um 3 Uhr. Heute Abends um 12 Uhr werd 'ich endlich vom Schach-Fußblocke loßgeſchloſſen. Er will an der Definitiv-Partie nennt's Fenk den ganzen Tag ſpielen, er laͤſſet aber, weil er aus ſeinen Tags-Kampagnen den Ab¬ lauf der naͤchtlichen erraͤth, zu Nachts den Kut¬ ſcher mit dem Wagen halten, um ſogleich wie ein Leichnam traurig abzufahren. Er ſollte mir nur nicht zumuthen, ſo ſchlecht zu ſpielen wie er. Er iſt aber in allem ſo haſtig und haͤlt vor allen Vor¬ ſtellungen die Ohren zu.

Um 12 Uhr Nachts. Ich bin außer mir. Wer haͤtt 'es von meinem Vater geglaubt? Mein Spiel konnte kaum beſſer ſtehen es war aufB 220meines Vaters Sekundenuhr, die neben dem Schach¬ brett lag, ſchon viel uͤber halb zwoͤlf er hatte nur 3 Offiziere und ich noch alle meine ohn 'ein Wunderwerk war er in 18 Minuten matt eine fliegende Roͤthe ſpannte einmal ums andre ſein ganzes Geſicht wir wurden zuletzt ordent¬ lich beklemmt und ſelbſt der Doktor ſagte kein lu¬ ſtiges Wort mehr blos mein weißes Miezgen marſchierte ſchnurrend auf dem Spieltiſch herum kein Menſch denkt natuͤrlicher Weiſe auf die Katze und er bietet mir im Spiele das erſte Schach nun mocht' er (oder war ichs, denn ich ſchlage zu¬ weilen auch ſolche Pralltriller auf dem Tiſche) mit den Fingern einen auf der Bande machen wie der Blitz faͤhrt die Beſtie, die es fuͤr eine Maus halten muß, darauf hin und ſchmeißet uns das ganze Spiel um und da ſitzen wir! Stellen Sie ſich vor! Ich halb froh, daß ihm dieſe Mittels¬ perſon die Beſchaͤmung des foͤrmlichen Korbes ab¬ nimmt Er mit einem Geſicht voll Troſtloſigkeit und Zorn mein Vater mit einem voll Verlegen¬ heit und Zorn und der Doktor, der in der Stu¬ be mit den 10 Fingern herumſchnalzet und ſchwoͤrt: der Rittmeiſter haͤtt 'es gewonnen, ſo gewiß wie21 Amen! Kein Menſch wich mit ſeiner Fußſohle von der Stelle, der Doktor blieb keine Minute auf der ſeinigen und warf ſich endlich in einem Enthuſias¬ mus, den unſre verlegne Stille immer mehr er¬ hob, vor einer weißen Amorbuͤſte, vor einem Mi¬ niatuͤrportrait meines Vaters und vor ſeinem ei¬ gnen Bilde im Spiegel auf die Knie hin und bete¬ te: Heiliger H. v. Knoͤr! heiliger Amor! heiliger Fenk! bittet fuͤr den Rittmeiſter und ſchlagt die Katze todt! Ach wuͤrdet ihr drei Bilder lebendig: ſo wuͤrde Amor gewiß die Geſtallt des D. Fenks annehmen und der lebendig gewordene Amor wuͤr¬ de die Hand des lebendig gewordnen Knoͤrs ergrei¬ fen und ihr die der Spielerin geben ſeine gaͤbe ihre dann vielleicht weiter. Ihr Heiligen! bittet doch fuͤr den Rittmeiſter, der gewonnen haͤtte! Das iſt nicht wahr und zum Ungluͤck war der Ter¬ min zu einem neuen Spiele zu kurz ....

Da nun der Iltis Doktor (ich ſelber erzaͤhle wieder) aufſtand und wirklich die Hand von Knoͤr in Erneſtinens ihre legte und ſagte, er waͤre der Amor da uͤberhaupt jezt durch die Verſicherun¬ gen des Doktors und durch die Unentſchiedenheit des Spiels die Ehre des empfindlichen von Men¬22 ſchen und Katzen geneckten Spielers eben ſo viel zu verlieren hatte als die Liebe deſſelben. Da ich in einem ganzen Sektor zeige, daß Falkenberg vom aͤlteſten Adel im ganzen Lande war und da zum Gluͤck im Obriſtforſtmeiſter die Sitten ſeiner rohen Erziehung (wie bei mehreren Landedelleuten) halb unter dem Firnis der Sitten ſeines feinern Umgangs verborgen lagen wie ſeine alten Meublen unter modiſchen: ſo gieng der elektriſche Enthuſiaſ¬ mus des Doktors in großen Funken in des Vaters Buſen uͤber, und Knoͤr legte hingeriſſen die Hand Erneſtinens, die zum Scheine erſtaunte, in des Rittmeiſters ſeine, der's im Ernſte that der Braͤutigam draͤngte und warf ſich in einem Chok von Dankbarkeit an den Hals des neugebornen Schwiegervaters, eh 'er, weil ſeine Ehre mehr als ſeine Liebe triumphierte, etwas kaͤlter die ge¬ ſchickte Hand[nachkuͤßte], ihm bisher dieſen dop¬ pelten Triumph entzogen.

Das verdachte ihm die Inhaberin der Hand; aber ich verdenke wieder ihr's; mit welchem Grund will ſie dem Manne, der gar keine Seele, ſeine eigne kaum und eine weibliche nie errieth, anſin¬ nen, ſeine Weisheitszaͤhne und ſeinen Bart ſoll er23 ſo außerordentlich lang gewachſen haben wie der geneigte Leſer beide traͤgt, dem's freilich nicht erſt jezt vorgedruckt zu werden braucht er merkt 'es ſchon vor drei guten Stunden daß hinter der Kopulationskatze etwas ſtack oder ſteckte Erneſti¬ ne naͤmlich ſelber.

Es war ſo ... ich brauch 'es aber dem Leſer gar nicht zu referiren, ſondern er hat es ſchon laͤngſt gewußt, daß Erneſtine die Kuͤt - und Heft¬ katze vier Abende vorher taͤglich privatiſſeme auf den Tiſch ſtellte und ſie abrichtete, auf die Finger loszufahren, wenn ſie trillerten ich freue mich, daß der Scharfſinn des Leſers kein gewoͤhnlicher iſt, wenn er weiter muthmaßet: ſie ließ alſo auch am letzten Abend das glutinans von Thierchen nach, ſchleichen, verſenkte es bis um 11½ Uhr in ihren Schoos und hob endlich mit dem Knie dieſen termi¬ nus medius von einer Katze aus dem Schooße auf den Spieltiſch und der terminus that nachher das Seinige. Armer Rittmeiſter!

Nachdenklich iſts aber. Denn wenn auf dieſe Art, Weiber Anordnung fuͤr Zufall und Zufall fuͤr Anordnung auszumuͤnzen wiſſen wenn ſie ſchon vor den Sponſalien (folglich nachher noch mehr)24 in die erſte Linie gegen die Maͤnner wie Kambyſes gegen die Aegypter,*)Kambyſes eroberte Peluſium mit Sturm, weil er unter ſeine Soldaten heilige Thiere, Katzen u. ſ. w. mengte, auf die die ägyptiſche Garniſon nicht zu ſchießen wagte und an die ſie ſtatt der Pfeile Gebete abſchickte. Alliancekatzen ſtellen, die wie Untergoͤtter ex machina das maͤnnliche Spiel einwerfen und das weibliche aufſetzen wenn un¬ ter hundert Menſchen nur fuͤnf Maͤnner ſind, die phyſiſche und metaphoriſche Katzen leiden, und nur fuͤnf Weiber die ſie haſſen koͤnnen wenn al¬ ſo ganz offenbar die beſten Weiber entſetzliche Buͤn¬ del Maͤnnergarn unter den Armen halten, Haſen¬ garne, Steckgarne, Spiegelgarne, Nacht - und Henggarne: was ſoll da das Einbein**)Das Einbein bin ich ſelbſt. Ich habe die Vorrede, die man wird überſchlagen haben, und dieſe Note, die nicht zu überſchlagen iſt, gemacht, damit es[einmal] bekannt werde, daß ich nicht mehr habe als Ein Bein, wenn man das zu kurze weg rechnet und daß ſie mich in meiner Ge¬ gend nicht anders nennen als das Einbein oder den einbei¬ nigen Autor, da ich doch Jean Paul heiße. Siehe das Tauf¬ zeugniß und die Vorrede. machen, das am naͤmlichen Tag, wo es einen Roman zu ſchreiben anfieng, zugleich einen zu ſpielen anhob und ſo beide wie auf einem Doppelklavier nebenein¬ ander zu Ende fuͤhren wollte? Am vernuͤnftigſten,25 ſeh 'ich, mach' ich wenn meine Frau den ganzen Tag am Baͤrenfange ſteht und Zweige darauf wirft, damit ich hineinſtolpern, nur durchaus kei¬ nen Baͤren wie keinen Affen. Nein! ihr gefuͤgi¬ gen gedraͤngten Geſchoͤpfe! ich ſetze mirs noch ein¬ mal vor und gelob 'es einer von euch hier oͤffent¬ lich im Druck. Geſchaͤh es doch daß ich euch nach den Flitterwochen quaͤlen wollte: ſo leſ' ich blos dieſen Sektor hinaus und ruͤhre mich mit dem kommenden Gemaͤhlde eurer ehlichen Pilatuſſe, das ich deswegen hieher trage wie der duͤmſte Mann ſich fuͤr kluͤger haͤlt als die kluͤgſte Ehefrau; wie dieſe vor ihm, der vielleicht außer dem Haus vor einer Goͤttin auf den Knieen liegt, um begluͤckt zu werden, gleich dem Kameele auf die ihrigen ſinken muß, um befrachtet zu werden; wie er ſeine Reichskammergerichts-Erkenntniſſe und ſeine Ple¬ biszita und koͤnigliche Reſolutionen nach den ſanf¬ teſten Gegengruͤnden, nur mit zweifelhafter Stim¬ me wie verloren gewagt, mit nichts verſuͤßet als mit einem wenn ichs nun aber ſo haben will ; wie eben die Thraͤne, die ihn bezauberte im freien Auge der Braut, ihn entzaubert und ganz toll macht, wenn ſie aus dem ankopulirten faͤllt, ſo26 wie in den arabiſchen Maͤhrchen alle Bezauberun¬ gen und Entzauberungen durch Beſprengen mit Waſſer geſchehen wahrhaftig das einzige Gute iſt doch das, daß ihr ihn recht betruͤgt. Ach! und wenn ich mir erſt denke, wie weit ein ſolcher Ehe - Pez gegangen ſeyn muß, bis ihr ſo weit gienget, daß ihr euch, um nicht von ihm gefreſſen zu wer¬ den (wie man es auch bei den Waldbaͤren thut) gar ohnmaͤchtig anſtellet und der Petz gieng mit ſeinen muͤßigen Tatzen um die Scheintodte her¬ um! ....

In meinem Alter ſoll das Einbein anders pfeifen! ſagte der verheirathete Leſer; allein ich bin ſelber ſchon 9 Jahr aͤlter als er.

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Zweiter Sektor oder Ausſchnitt,

Ahnen-Preiskourant, des Ahnen-Groſſirers der Beſcheeler und Adelsbrief.

Es giebt in der ganzen entdeckten Welt keine verdammtere Arbeit als einen erſten Sektor zu ſchreiben; und duͤrft 'ich in meinem Leben keine andere Sektors ſchreiben, keinen zweiten, achten ꝛc. ſo wollt' ich lieber Logarithmen und publiziſtiſche Kreisrelationen und Deduktionen machen als ein Buch mit aͤſthetiſchen. Hingegen im zweiten Ka¬ pitel und Sektor koͤmmt ein Autor wieder zu ſich und weis recht gut im vornehmſten Cercle den es vielleicht giebt, (Knaͤſen ſitzen in meinem,) was er mit ſeinen ſchreibenden Haͤnden anfangen ſoll und mit ſeinem Hute, Kopfe, Witz, Tiefſinn und mit allem.

Da ich durch das Ehepaar, von deſſen Ver¬ lobung wir ſaͤmmlich zuruͤckkommen, mir in 9 Monaten den Helden dieſes Buches abliefern laſſe ſo muß ich vorher zeigen, daß ich nicht unbeſon¬ nen in den Tag hineinkaufe ſondern meine Waare (d. i. meinen Helden) aus einem recht guten28 Hauſe, um merkantiliſch zu reden, oder aus ei¬ nem recht alten, um heraldiſch zu reden, aus¬ nehme. Denn der reichsfreien Ritterſchaft, den Landſaſſen und den Patriziern muß es hier oder nirgends geſagt, und bewieſen werden, daß mein Heldenlieferant, H. von Falkenberg, von aͤlterm Adel iſt wie ſie alle und zwar von unaͤchten.

Naͤmlich Anno 1625 war Mariaͤ Empfaͤngnis wo ſein Urgrosvater ſich ungemein beſof und den¬ noch aus dem Gluͤckstopfe die volle Hand mit etwas außerordentlichem herausbrachte, mit einem zwei¬ ten Adelsdiplom. Denn es trank mit ihm, aber ſiebenmal aͤrger ein geſcheuter Roßtaͤuſcher aus Weſtphalen, auch ein Herr von Falkenberg, aber nur ein Namensvetter; ihre beiden Stamm¬ baͤume beſtreiften und anaſtomaſirten ſich weder in Wurzelfaͤſergen noch in Blaͤttern. Ob nun gleich der Sipſchaftsbaum des Weſtphaͤlingers ſo alt und lang im Winde und Wetter des Lebens dageſtanden war, daß er mit manchem Vetera¬ nen auf den Bergen Libanon und Aetna zugleich aus der Erde vorgeſchoſſen zu ſeyn ſchien, kurz ob¬ gleich der Roßhaͤndler 64 ſchildig war, indeß der Urgrosvater zu ſeiner groͤſten Schande und zu deſ¬29 ſen ſeiner, der ihn in ſeinen Roman mit hinein¬ nimmt, wirklich ſowohl Zaͤhne als Ahnen mehr nicht hatte als 32 ſo wars doch noch zu machen. Der alte Weſtphaͤlinger war nemlich der Stamm¬ halter und die Schlußvignette und das hogartiſche Schwanzſtuͤck ſeines ganzen hiſtoriſchen Bilderſaals; nicht einmal in beiden Indien, wo wir alle unſre Vettern haben und erben, hatt 'er noch einen. Darauf fußte der Urgrosvater, der ihm ſein Adels¬ diplom abzufluchen und abzubetteln ſuchte, um es fuͤr ſein eignes auszugeben: Denn wer Teufel weiß es, ſagte er, dir hilft es nichts und ich heft' es an meines. Ja der Ahnen-Compilator, der Ur¬ grosvater, wollte chriſtlich handeln und bot dem Roß - und Ahnentaͤuſcher fuͤr den Brief einen unna¬ tuͤrlich-ſchoͤnen Beſcheeler an, einen ſolchen Gro߬ ſultan und Ehevogt eines benachbarten Roß-Harems wie ich noch wenige geſehen. Aber der Stammhal¬ ter drehte langſam den Kopf hin und her und ſagte kalt, ich mag nicht und trank Zerbſter Fla¬ ſchenbier. Da er ein Paar Glaͤſer von Quedlinbur¬ ger Goſe blos verſucht hatte, fieng er ſchon an, uͤber das Anſinnen zu fluchen und zu wettern; was ſchon gut war. Da er etwas Koͤnigslutteri¬30 ſchen Duckſtein, denk ich, darauf geſetzt hatte (denn Falkenberg hatte einen ganzen Meibomium de cereviſiis, naͤmlich ſeine Biere, auf dem Lager; ſo gieng er gar mit einigen Gruͤnden ſeines Ab¬ ſchlagens hervor und die Hofnung wuchs ſehr.

Da er endlich den Breslauer Scheps im Glaſe oder in ſeinen Kopfe ſo ſchoͤn milchen fand: ſo be¬ fahl er, das Luder von einem elenden Beſcheeler in den Hof zu fuͤhren und da er ihn etwan zwei oder dreimal mochte haben ſpringen ſehen: ſo gab er dem Urgrosvater die Hand und die 128 Ah¬ nen darin. Mein Urgrosvater war viel zu dumm zu ſo etwas, ſonſt haͤtt 'er auch ſich und mich gea¬ delt. Da nun der Falkenbergiſche Urgrosvater das erkaufte Adelspatent, das einige Ahnenfolgen tau¬ ſendſchildiger Motten faſt aufgekaͤuet hatten, mit einem Pflaſterſpatel, weil es poroͤs, wie ein Schmet¬ terlingsſittich war, auf neues Pergament aufſtrich und aufpapte, Buchbinderkleiſter aber vorher: ſo that, kann man leicht denken, das Pergament ſei¬ ner ganzen adelichen Vorwelt den naͤmlichen Dienſt der Veredlung, den der Beſcheeler in Weſtphalen der Roßnachwelt leiſtete und uͤber hundert begrabene Mann, an denen kein Tropfen Blut mehr adelich31 zu machen war, kamen wenigſtens zu adelichen Kno¬ chen. Alſo brauchen weder ich noch irgend eine Stiftsdame uns zu ſchaͤmen, daß wir mit dem kuͤnf¬ tigen jungen Falkenberg ſo viel Verkehr haben als man kuͤnftig finden wird. Uebrigens moͤcht' ich[nicht]gern, daß die Anekdote weiter auskaͤme, und einem Leſepublikum von Verſtand braucht man das gar nicht zu ſagen.

Die Hochzeit-Luperkalien ſetz 'ich ſamt ihrem laͤngſten Tage und ihrer kuͤrzeſten Nacht niemals herein bloß den Einzug darauf wollt' ich beſchrei¬ ben. Allein da ich mich geſtern zum Ungluͤck mit dem Vorſatze in's Bett legte, heute fruͤh das Schach - und Ehepaar mit drei Federzuͤgen aus dem Brautbette ins Ehebette zu ſchaffen, das 19 Stun¬ den davon ſteht, naͤmlich im Falkenbergiſchen Rit¬ terſitz Auenthal und da ich ganz natuͤrlich nur mit drei kleinen Winken das Wenige ſchildern wollte, das wenige Pfeifen, Reiten und Pulver, womit die guten Auenthaler ihre gnaͤdige Neuvermaͤhlten em¬ pfingen: ſo gieng die ganze Nacht in meinem Kopfe der Traum auf und ab, ich waͤre ſelber ein heim¬ reiſender Reichsgraf und der Reichs-Erb-Kaſperl und wuͤrde von meinen Unterthanen, weil ſie mich32 in 15 Jahren mit keinem Auge geſehen, vor Freu¬ den faſt erſchoſſen. In meiner Grafſchaft wurde natuͤrlicher Weiſe tauſendmal mehr Bewillkom¬ mungslerm und Honneurs gemacht, als im Falken¬ bergiſchen Feudum; ich will deswegen die Honneurs fuͤr den Rittmeiſter weglaſſen und bloß meine brin¬ gen.

Er¬33

Erſtes Extrablatt.

Ehrenbezeugungen die mir meine Grafſchaft nach meiner Heim¬ kehr von der grand tour anthat.

Wenn graͤfliche Unterthanen einem Grafen ſeine ſechs nicht natuͤrlichen Dinge*)Darunter meinen die Aerzte 1) Wachen und Schlafen. 2) Eſſen und Trinken. 3) Bewegung. 4) Athmen. 5) Aus¬ leerungen. 6) Leidenſchaften. nehmen: ſo weiß ich nicht, wie ſie ihn beſſer empfangen koͤn¬ nen. Nun lieſſen mir meine, kein einziges nicht na¬ tuͤrliches Ding.

Sie nahmen mir das erſte unnatuͤrliche Ding ohnehin weg, den Schlaf. Da ich von Chalons nach Strasburg, ſo watend langſam als waͤr 'ich ſchwanger, gefahren war, um von da aus ſo don¬ nernd, daß ich mehr huͤpfte als ſaß, meinen Laͤufer umzufahren: ſo waͤr' ich um Floͤrzhuͤbel (den erſten Marktflecken in meiner Grafſchaft) fuͤr mein Leben gern ſchlafend (und kam ich im Grunde anders vor¬ bei?) voruͤbergeflogen; allein gerade an der Graͤn¬ ze und einer Bruͤcke, da ich die Augen bergunter auf - und bergauf zumachte, wurd 'ich uͤberfallen,C34nicht moͤrderiſch ſondern muſikaliſch, von 16 Mann beſoffnem Ausſchuß, der ſchon ſeit fruͤh 7 Uhr mit dem muſikaliſchen Geruͤmpel und Ohrenbrechzeug hier aufgepaſſet hatte, um mich und meine Pferde zu rechter Zeit mit Trommeln und Pfeifen in die Ohren zu bleſſiren. Gluͤcklicher Weiſe hatten die kakophoniſchen Artiſten den ganzen Tag zum Spaſ¬ ſe oder aus Langerweile vorher mehr getrommelt als aus Ernſt und Liebe nachher. Unter dem gan¬ zen Weg, waͤhrend Orcheſter und Kaſerne ne¬ ben meinen Pferden gieng, zankt 'ich mich aus, daß ich Floͤrzhuͤbel vor 17 Jahren zu einer Stadt habilitirt und graduirt hatte, ich meine nicht deswegen, ſagt' ich zu mir, weil nachher das lan¬ desherrliche Reſkript dem Floͤrzhuͤbel das Stadt¬ recht und ſeiner Gens d'Armerie die Monturen wieder auszog, oder deswegen, weil wir die ſu¬ pernumerairen Monturen in Kaſſel verauktioniren wollten ſondern weil ſie mich jetzt nicht ſchla¬[ ] fen laſſen, welches doch das erſte nicht natuͤrliche Ding bleibt.

Eſſen lieſſen ſie mich gar nicht, weils das zweite unnatuͤrliche Ding eines regierenden Herrn iſt. Sann mir nicht der Floͤrzhuͤbelſche Reſtaura¬35 teur, der fuͤr mich das ganze gekochte und geſotte¬ ne Mustheil meiner Grafſchaft ans Feuer geſe¬ tzet hatte, geradezu am Kutſchenfußtritt an, ich ſollte anbeiſſen, und da ich ihn wir Großen ſe¬ tzen nicht ungern den Poͤbel durch Verſchmaͤhen be¬ neideter Koſt in ein hungriges Erſtaunen mit eignem Munde nur um eine Bierſuppe anſprach: machte da nicht der Reſtaurateur eine eitle Mine und ſagte: im ganzen Hotel haͤtt 'er keine; und haͤtt' er ſie: ſo ſollten ihm doch die kuͤnftigen Traiteurs nicht nachſagen, er habe unter ſo vielen jus und buillons ſeinem gnaͤdigſten Herrn nichts praͤſen¬ tirt als einen Napf Bierſuppe.

Um das dritte Ding, um die Bewegung und Ruhe zugleich, haͤtte mich bei einem Haare die Ehrenpforte meines Begraͤbnißdorfes gebracht, maſ¬ ſen ſie mich beinahe erſchlug, weil ſie und die mu¬ ſicirende Gallerie auf ihr, hart hinter meinem letz¬ ten Bedienten einpurzelte und zur Freude der Graf¬ ſchaft keinem Menſchen etwas zerbrachen als dem Bader die Glas-Schroͤpfkoͤpfe, die er der Ehren¬ pforte angeſetzt und vorgeſtreckt hatte, damit doch nur etwas daran hienge worein die nicht ſchlechte Illumination zu ſtecken waͤre. Ich wollte ſchon anC 236und fuͤr ſich etwas toll werden uͤber die ſatyriſchen Schroͤpfvaſen, die ich fuͤr ſatyriſche Typen und Nach¬ bilder meines graͤflichen Ausſchroͤpfens der vollen Allodial - und Fendaladern nehmen wollte und ich fragte den Schuldheiß, ob er daͤchte es fehle mir aͤchter Witz: allein ſie thaten ſaͤmtlich Eide, an Witz waͤre bei der ganzen Ehrenpforte gar nicht ge¬ dacht worden.

Luft, das vierte nicht natuͤrliche Ding eines Reichs-Erb-Kaſperls, haͤtt 'ich ſchon haben koͤnnen: denn bloß des kurzen Mißbrauchs wegen, den die Inſtrumente und Lungen meiner Vaſallen von einem ſo herrlichen Elemente machten, haͤtt' ich wahrlich nicht mich und den Luftſektor um mich, ſo feſt in meinen Wagen eingeſperrt als ich wirklich that ich muß das ausdruͤcklich ſagen, damit nicht der gu¬ te Kelzheimer Kantor ſich einbilde, es habe mir nicht gefallen, daß mir ſein muſikaliſches Feuerrohr oder ſeine fallopiſche Trompete doppelt aus dem Schallloch, ſowohl ſeines Kirchthurms als ſeines Koͤr¬ pers, dermaßen entgegen ſtach, daß die melodiſchen Luftwellen aus beiden mir vier Aecker weit entgegen giengen, indeß noch dazu unten im Thurm ſeine Frau die Glocken melkte, als wuͤrd 'ich begraben und nicht37 ſowohl empfangen als verabſchiedet wie geſagt, des muſikaliſchen Ehepaars wegen haͤtt' ich den Wa¬ gen gar nicht zugeſchloſſen; aber der Todesgefahr wegen; denn ein freudiges Piquet Frohnbauern ſchoß mir aus 17 Vogelflinten und einem Paar Taſchen¬ puffern ſowohl Ehrenſalven als einige Ladſtoͤcke ent¬ gegen.

Sitzt ein Graf einmal ohne vier nicht natuͤrli¬ che Dinge da: ſo darf er an das fuͤnfte gar nicht denken, an Evacuation. Der Sphinkter aller, ſelbſt der groͤßten Poren bleibt ſamt der Wagen¬ thuͤre zu; es war alſo kein Wunder, da ich gar kein Hephate zu irgend einem Porus ſagen konnte, daß ich auffuhr: den Henker hab 'ich davon von meinem Sitzen auf der Grafenbank in Regensburg, wenn ich hier auf dem Kutſchkiſſen hocken muß und nichts verrichten kann, nicht einmal ....

Aechte Leidenſchaft, die das 6te nicht natuͤr¬ liche Ding des Menſchen iſt, wird von nichts ſo leicht erſtickt als von einem atlaſſenen Hundekiſſen, auf dem die Pfarrer, Schuldiener und Amtleute, die ein Reichs-Erb-Kaſperl hat, ihm die Carmina uͤberreichen, die ſie auf ihn haben fertigen laſſen: denn daruͤber iſt weder zu lachen, noch zu grei¬38 nen noch zu zanken, noch zu loben, noch zu re¬ den.

Meine Lehnleute und Hinterſaſſen, die mir ſo viel von meinen 6 unnaturlichen Dingen abfiſchten, gaben mir eben dadurch die Haͤlfte des erſten wie¬ der, das Wachen ſie hatten ſich aber meinet¬ wegen ſo in Schweiß geſetzt, daß ich ihrentwegen auch darin lag. Da ich aufwachte: dacht 'ich an¬ fangs, es waͤr' ein Traum; aber bei mehreren Aufwachen merkt 'ich, daß es, die Namen ausge¬ nommen, die geſtohlne Geſchichte meiner Nachbar¬ ſchaft war. Freilich aͤrgert michs ſo gut als wuͤrde die Illumination und der muſikaliſche Laͤrm meinetwegen gemacht, daß die Unterthanen beide in der boshaften Abſicht machen, ihren großen oder kleinen Regenten durch Ekel und Plage wieder auf ſeine Reiſe zuruͤck zu jagen: denn ſie borgtens klar den orientaliſchen Karavanen ab, die gleichfalls durch Trommeln und Feuerſchlagen wilde Thiere ſich vom Leibe halten.

39

Dritter[ Sektor] oder Ausſchnitt.

Unterirrdiſches Pädagogium der Hernhuter und Pudel.

Jetzt geht erſt meine Geſchichte an; die Szene iſt in Auenthal oder vielmehr auf dem Falkenbergiſchen Bergſchloſſe, das einige Ackerlaͤngen davon lag. Das erſte Kind der Schachamazone und des ſterben¬ den Fechters im Schach war Guſtav, der nicht der erhabne ſchwediſche Held iſt, ſondern meiner. Sei gegruͤßet, kleiner Schoͤner! auf dem Schau¬ platz dieſes Lumpenpapiers und dieſes Lumpenle¬ bens! Ich weiß dein ganzes Leben voraus, darum beweget mich die klagende Stimme deiner erſten Minute ſo ſehr; ich ſehe an allen Jahren deines Lebens Thraͤnentropfen ſtehen, darum erbarmet mich dein Auge ſo ſehr, das noch trocken iſt, weil dich bloß dein Koͤrper ſchmerzet ohne Laͤcheln koͤmmt der Menſch, ohne Laͤcheln geht er, drei fliegende Minuten lang war er froh. Ich habe daher mit gutem Vorbedacht, lieber Guſtav, den friſchen Mai deiner Jugend, von dem ich ein Land¬40 ſchaftsſtuͤck ins elende Fließpapier hineindruͤcken ſoll, bis in den Mai des Wetters aufgehoben, um jetzt, da alle Tage Schoͤpfungstage der Natur ſind, auch meine Tage dazu zu machen, um jetzt, da jeder Athemzug eine Stahlkur, jeder Schritt vier Zolle weiter und das Auge weniger vom Augenlied ver¬ hangen iſt, mit fliegender Hand zu ſchreiben und mit einer elaſtiſchen Bruſt voll Athem und Blut!

Zum Gluͤck bleibt es vollends vom 2ten bis zum 27ſten Mai (laͤnger beſchreib 'ich nicht daran) recht huͤbſches Wetter: denn ich bin ein wenig ein me¬ teorologiſcher Clair voyant und mein kurzes Bein und mein langes Geſicht ſind die beſten Wetterdarm¬ ſeiten in hieſiger Gegend.

Da Erziehung weit weniger am innern Men¬ ſchen (und weit mehr am aͤuſſern) aͤndern kann als Hofmeiſter ſich einbilden: ſo wird man ſich wundern, daß bei Guſtav gerade das Gegentheil war ſein ganzes Leben klang nach dem[Korton] ſeiner uͤberirrdiſchen, d. h. unterirrdiſchen Erziehung. Der Leſer muß nemlich aus ſeinem erſten Sektor noch im Kopfe haben, daß es in den Ehepakten klar der Schwiegermutter verſprochen wurde, das erſte Kind acht Jahre unter der Erde zu laſſen,41 um ihm die Schoͤnheit der Natur und die Haͤßlich¬ keit der Menſchen aus gleichen Gruͤnden zu entzie¬ hen. Der Rittmeiſter ſtellte ſeiner Frau vergeblich vor, die Alte verzoͤg 'ihm ja den Soldaten zu einer Schlafhaube und ſie ſollte nur warten, bis ein Maͤdchen kaͤme. Er ließ auch wie mehrere Maͤnner den Unmuth uͤber die Schwiegermutter ganz am Weibe aus. Aber die Alte hatte ſchon vor der Taufe einen himmliſchſchoͤnen Juͤngling aus Barby verſchrieben. Der Rittmeiſter konnte wie alle kraftvolle Leute das Hernhutiſche Diminuendo nicht ausſtehen; am meiſten redete er daruͤber, daß ſie ſo wenig redeten; ſogar das war nicht nach ſeinem Sinne, daß die Hernhutiſche Wirthe ihn nicht ſowohl uͤberſchnellten als zu ſehr uͤberſchnellten.

Allein der Genius dieſen ſchoͤnen Namen ſoll er vorjetzt auf allen Blaͤttern haben lag nicht an jenen das Herz einſchraubenden Kraͤmpfen des Hernhutiſmus krank und er nahm blos das Sanfte und Einfache von ihm. Ueber ſeinem ſchwaͤrmeri¬ ſchen trunknem[Auge] glaͤttete ſich eine ruhende ſchuldloſe Stirne, die das vierzigſte Jahr eben ſo unraſtriert und ungerunzelt ließ, wie das vier¬ zehnte. Er trug ein Herz, welches Laſter wie Gif¬42 te Edelſteine, zerbrochen haͤtten; ſchon eine frem¬ de ſuͤndigende Phyſiognomie klemmte ſeine Bruſt ſchmerzhaft ein, wie der Saphyr am Finger des Unkeuſchen erblaſſet. Dennoch iſt ſeine vieljaͤhrige Aufopferung fuͤr Guſtav ſchwer und groß; er habe aber Motiven dazu, ſagt 'er, die er niemand ſa¬ gen wuͤrde als einſt ſeinem Guſtav ſelber. Feine Leſer, die weit denken, werden hoff' ich ſich anſtel¬ len als faͤnden ſie einen ſolchen paͤdagogiſchen He¬ roiſmus recht natuͤrlich. Die Tugend der meiſten Menſchen iſt[nur] ein Extrablatt und Gelegenheits¬ gedicht in ihrem Altagsleben; allein zwei, drei Ge¬ nien ſind doch vorhanden, in deren epiſchem Leben die Tugend die Heldin und alles Uebrige Neben¬ partie und Epiſode iſt, und deren Kulmination vom Volk mehr angeſtaunet als bewundert werden kann.

Die erſten dunkeln Jahre lebte Guſtav mit ſei¬ nem Schutzengel noch in einem uͤberirrdiſchen Zim¬ mer, er trennte ihn bloß von den ſchlimmſten Kip¬ perinnen und Wipperinnen der Menſchheit, denen wir eben ſo viele lahme Beine, als lahme Herzen zu danken haben Maͤgden und Ammen. Ich wollte lieber, dieſe Beſtien erzoͤgen uns im zweiten Jahrzehend als im zweiten Jahr.

43

Der Genius zog darauf mit meinem Guſtav unter eine alte ausgemauerte Hoͤhlung im Schlo߬ garten, von der es der Rittmeiſter bedauerte, daß er ſie nicht laͤngſt verſchuͤtten laſſen. Eine Keller¬ treppe fuͤhrte links in den Felſenkeller, und rechts in dieſe Woͤlbung, wo eine Karthauſe mit drei Kam¬ mern ſtand, die man wegen einer alten Sage die Dreibruͤder-Karthauſe nennte: auf ihrem Fußboden lagen drei ſteinerne Moͤnche, die die ausgehauenen Haͤnde ewig uͤber einander legten; und vielleicht ſchliefen unter den Kopien die ſtummen Originale ſelber mit ihren untergegangne Seufzern uͤber die vergehende Welt. Hier waltete bloß der ſchoͤne Ge¬ nius uͤber den Kleinen, und bog jeden knoſpenden Zweig deſſelben zur hohen Menſchengeſtalt empor.

Elende Umſtaͤndlichkeit z. B. uͤber die Lieferan¬ ten der Waͤſche ꝛc. werden mir Frauenzimmer am liebſten erlaſſen; aber ſie werden begieriger ſeyn, wie der Genius erzog. Recht gut, ſag 'ich er befahl nicht, ſondern gewoͤhnte und erzaͤhlte blos. er wiederſprach weder ſich noch dem Kinde, ja er hatte das groͤſte Arkanum ihn gut zu machen er wars ſelbſt. Ohne dieſes Arkanum koͤnn¬ te man eben ſo gut den Teufel zum Informator44[dingen] als ſich ſelbſt, wie die Toͤchter ſchlimmer Muͤtter zeigen. Der Genius glaubte uͤbrigens, beim erſten Sakramente (der Taufe) gienge die Bil¬ dung des Herzens an, beim zweiten (Abendmahl) die des Kopfes.

Von guten Menſchen hoͤren iſt ſo viel als un¬ ter ihnen leben und Plutarchs Biographien wirken tiefer als die beſten Kompendien der Moralphiloſo¬ phie zum Gebrauche akademiſcher Lehrer. Fuͤr Kinder vollends giebts keine andere Moral als Beiſpiel, erzaͤhltes oder ſichtbares; und es iſt paͤ¬ dagogiſche Narrheit, durch Gruͤnde Kindern nicht dieſe Gruͤnde ſondern den Willen und die Kraft zu geben meinen, dieſen Gruͤnden zu folgen. O tau¬ ſendmal gluͤcklicher als ich neben meinem Terzius und Konrektor, lagſt du auf dem Schooße, an den Armen und unter den Lippen deines theuern Ge¬ nius, wie eine trinkende Alpenblume an der rin¬ nenden Wolke, und[ſogeſt] Dein Herz an den Er¬ zaͤhlungen von guten Menſchen groß, die der Ge¬ nius ſaͤmmtlich Guſtave und Seelige nennten von denen wir bald ſehen ſollen, warum ſie mit Schwabacher gedruckt ſind! Da er gut zeichnete; ſo gab 'er ihm, wie Chodowiecky dem Romanen¬45 macher, die Zeichnung jeder Geſchichte und um¬ bauete den Kleinen mit dieſem orbis pictus guter Menſchen wie der allmaͤchtige Genius uns mit der großen Natur. Aber er gab ihm die Zeichnung nie vor ſondern nach der Beſchreibung, weil Kin¬ der das Hoͤren zum Sehen ſtaͤrker zieht als das Sehen zum Hoͤren. Ein anderer haͤtte zu dieſem paͤdagogiſchen Hebebaum ſtatt der Reisfedern den Fidelbogen oder die Klaviertaſten gewaͤhlt; aber der Genius thats nicht: das Gefuͤhl fuͤr Malerei entwickelt ſich wie der Geſchmack ſehr ſpaͤt und be¬ darf alſo der Nachhuͤlfe der Erziehung. Es iſt der fruͤheſten Entwicklung werth, weil es das Gitter wegnimmt, das uns von der ſchoͤnen Natur ab¬ ſondert, weil es die phantaſirende Seele wieder unter die aͤußern Dinge hinaustreibt und weil es das deutſche Auge zur ſchweren Kunſt abrichtet, ſchoͤne Formen zu faſſen. Die Muſik hingegen trift ſchon im juͤngſten Herzen (wie bei den wilde¬ ſten Voͤlkern) nachtoͤnende Saiten an; ja ihre All¬ macht buͤßet vielmehr durch Uebung und Jahre ein. Guſtav lernte deswegen als Taubſtummer in ſeiner taubſtummen Hoͤle ſo gut zeichnen, daß ihm ſchon in ſeinem dreizehnten Jahre ſein Hofmeiſter ſaß.

46

Und ſo floß beiden ihr Leben ſanft in der Ka¬ takombe wie eine Quelle davon: der Kleine war gluͤcklich: denn ſeine Wuͤnſche langten nicht uͤber ſeine Kenntniſſe hinaus und weder Zank noch Furcht riſſen ſeine ſtille Seele auseinander. Der Genius war gluͤcklich: denn die Ausfuͤhrung die¬ ſes zehnjaͤhrigen Baues wurd 'ihm leichter als der Entſchluß deſſelben; der Entſchluß draͤngt alle Schwierigkeiten und Entbehrungen auf einmal vor die Seele. die Ausfuͤhrung aber ſtellet ſie weit aus¬ einander und giebt uns erſt das Intereſſe davon durch die ſonderbare Freude, ohne die man's bei tauſend Dingen nicht ausdauerte etwas unter ſeinen Haͤnden taͤglich wachſen ſehen.

Fuͤr beide Menſchen war es gut, daß unten in[dieſem] moraliſchen Treibhaus ein Schulkamme¬ rad des Guſtavs mit wohnte, der zugleich ein hal¬ ber Kollaborator und Adjunktus des Genius war, und der von der ganzen Erziehung wegen gewiſſen Maͤngeln ſeines Herzens nur ſchlechten Vortheil zog, ob er gleich ſo gut wie Guſtav zu den Thieren mit zwei Herzkammern und mit warmen Blute gehoͤrte wenn ich ſage, daß der groͤſte Fehler des Vikarius war, daß er keinen Branntewein47 trinken wollte, ſo ſieht man wohl, daß er klein, wie Guſtav groß gezogen werden ſollte, weil er der netteſte ſchwaͤrzeſte Pudel war, der je¬ mals uͤber der Erde mit einer weißen Bruſt herum¬ geſprungen war. Dieſer verſtaͤndige Hund und Mit¬ arbeiter loͤſete den Oberlehrer oft in Spielen ab; zweitens konnten die meiſten Tugenden nicht ſowol von als an ihm durch Guſtav ausgeuͤbt werden und er hielt dazu die noͤthigen ungleichnami¬ gen Laſter bereit im Schlaf biß der Schulkolle¬ ge leicht um ſich nach lebendigen Beinen im Wa¬ chen nach abgezauſeten.

In dieſem unterirrdiſchen Amerika hatten die drei Antipoden ihren Tag, d. h. es war ein Licht an¬ gezuͤndet, wenns oben bei uns Nacht war Nacht d. h. Schlaf hatten ſie, wenn bei uns die Sonne ſchien. Der ſchoͤne Genius hatte des aͤußern Laͤrms und ſeiner Tagsausfluͤge wegen es ſo eingerichtet. Der Kleine lag dann unten in ſeiner Karthauſe, waͤhrend ſein Lehrer Luft und Menſchen genoß[,] mit zugeſchnuͤrten Augen, weil dem Zufall und der Kellerthuͤr nicht zu trauen war. Zuweilen trug er den ſchlafenden verhuͤllten Engel in die fri¬ ſche Luft und in die beſeelten Sonnenſtrahlen her¬48 auf, wie Ameiſen ihre Puppen den Bruͤtfluͤgeln der Sonne unterlegen. Warlich waͤr 'ich der zwei¬ te oder dritte Chodowiecky: ſo ſtaͤnd' ich jezt auf und ſtaͤche zu meinem eignen Buche die Szene in ſchwediſches Kupfer, nicht blos wie unſer heraus¬ getragner blasrother Liebling unter ſeiner Binde in einem gegitterten Roſenſchatten ſchlummert und aͤhnlich einem geſtorbenen Engel, im unendlichen Tempel der Natur ſtille mit kleinen Traͤumen ſei¬ ner kleinen Hoͤhle vor uns liegt es giebt noch etwas ſchoͤners, Du haſt Deine Eltern noch, Gu¬ ſtav, und ſiehſt ſie nicht: Deinen Vater, der mit dem von der Liebe verdunkelten Auge neben Dir ſteht, und ſich freuet uͤber den reinern[ Athem,] der die kleine Bruſt beweget, und daruͤber vergiſ¬ ſet, wie Du erzogen wirſt und Deine Mutter, die an Dein Angeſicht, deſſen Unſchuld vielleicht kein anderes[wieder][ſieht], die liebhungrigen Lippen preſſet, die ungeſaͤttigt bleiben, weil ſie nicht reden und nicht ſchmeicheln duͤrfen ... Aber ſie druͤckt dich aus deinem Schlummer heraus und du muſt nach einer kurzen Zeit wieder in deine Platos Hoͤle hinunter.

Der49

Der Genius bereitete ihn auf dieſe Auferſte¬ hung aus ſeinem heiligen Grabe lange vor. Er ſag¬ te zu ihm: wenn du recht gut biſt und nicht un¬ geduldig und mich und den Pudel recht lieb haſt: ſo darfſt du ſterben. Wenn du geſtorben biſt: ſo ſterb 'ich auch mit und wir kommen in den Him¬ mel (womit er die Oberflaͤche der Erde meinte) da iſts recht huͤbſch und praͤchtig. Da brennt man am Tage kein Licht an, ſondern eines ſo groß wie mein Kopf ſteht in der Luft uͤber dir und geht al¬ le Tage ſchoͤn um dich herum die Stubendecke iſt blau und ſo hoch, daß ſie kein Menſch erlan¬ gen kann auf tauſend Leitern und der Fußboden iſt weich und gruͤn und noch ſchoͤner, die Pudel ſind da ſo groß wie unſere Stube im Himmel iſt alles voll Seeliger und da ſind alle die guten Leute, von denen ich dir ſo oft erzaͤhlet habe, und deine Eltern, (deren Portraits er ihm lang gegeben hatte) die dich ſo lieb haben, wie ich und dir alles geben wollen. Aber recht ſchoͤn[mußt] du ſeyn. Ach wenn ſterben wir denn einmal? ſagte der Kleine und ſeine gluͤhende Phantaſie ar¬ beitete in ihm und er lief unter jeden ſolchen Schilderung zu einem Landſchaftsgemaͤlde, wovon er jede Grasſpitze betaſtete und ausfragte.

D50

Auf Kinder wirkt nichts ſo ſchwach als eine Dro¬ hung und Hofnung, die nicht noch vor Abends in Erfuͤllung geht blos ſo lange man ihnen vom kuͤnftigen Examen, oder von ihrem erwachſenen Al¬ ter vorredet, ſo lange hilfts; daher manche dieſes Vorreden ſo oft wiederholen, daß es nicht einmal ei¬ nen augenblicklichen Eindruck mehr erzeugt. Der Genius ſetzte daher den langen Weg zur groͤſten Be¬ lohnung aus kleinern zuſammen, die alle den Ein¬ druck und die Gewißheit der großen verſtaͤrkten und die im folgenden Sektor ſtehen.

Apropos! Ich muß es nachholen, daß es unter allen Uebeln fuͤr Erziehung und fuͤr Kinder, woge¬ gen das verſchrieene Buchſtabieren und Wixen golden iſt, kein giftigeres, keinen ungeſundern Mispickel und keinen mehr zehrenden paͤdagogiſchen Band¬ wurm giebt als eine Hausfranzoͤſinn.

51

Vierter Sektor oder Ausſchnitt.

Lilien Waldhörner und eine Ausſicht ſind die Todes - Anzeigen.

Auf allen meinen Gedaͤchtnißfiebern (dieſen Denk¬ faͤden und Blaͤttergerippen von ſo manchem ſchlech¬ ten Zeug) ſchlaͤft keine ſchoͤnere Idee als die aus dem Kloſter Korbey wenn der Todesengel daraus ei¬ nen Geiſtlichen abzuholen hatte; ſo legte er ihm als Zeichen ſeiner Ankunft eine weiße Lilie in ſeinem Chorſtuhl hin. Ich wollt 'ich haͤtte dieſen Aberglau¬ ben. Unſer ſanfter Genius ahmte dem Todesengel nach und ſagte dem Kleinen wenn wir eine Lilie finden: ſo ſterben wir bald. Wie der Himmelsluſti¬ ge, der noch keine geſehen, uͤberall darnach ſuchte! Einmal da unſer Genius ihm den Genius des Uni¬ verſums nicht als ein metaphyſiſches Robinets Ve¬ xierbild ſondern als den groͤſten und beſten Menſchen der Erde geſchildert hatte: zog ſich ein nie dargewe¬ ſener Wohlgeruch um ſie herum. Der Kleine fuͤhlt, aber ſieht nicht; er tritt zur Klauſe hinaus und drei Lilien liegen da. Er kennt ſie nicht, dieſe weiſ¬ ſen Juniuskinder; aber der Genius nimmt ſie entzuͤckt von ihm und ſagt; das ſind Lilien, die kommen vomD 252Himmel, nun ſterben wir bald. Ewig zitterte die Ruͤhrung nach ſpaͤtern Jahren noch vor jeder Lilie, in Guſtavs Herzen fort und gewiß gaukelt einmal in ſeiner wahren Todesſtunde, eine Lilie als das letzte glaͤnzende Viertel der verloͤſchenden Mondserde vor ihm.

Der Genius hatte vor, ihn am 1ſten Junius ſei¬ nem Geburtstage, aus der Erde zu laſſen. Aber um ſeine Phantaſie noch hoͤher zu ſpannen, (vielleicht zu hoch), erſchuf er in der letzten Woche noch zwei Szenen, die die vorige uͤbertrafen. Denn da er ihm die Seeligkeiten des Himmels d. h. der Erde mit ſeiner Zunge und mit ſeinem Geſichte vorgemalet hatte, beſonders die Herrlichkeiten der Himmels - und Sphaͤrenmuſik: ſo beſchloß er mit der Nachricht, daß ſogar oft zu Sterbenden, die noch nicht oben waͤren, dieſes Echo des menſchlichen Herzens her¬ unter toͤnte und daß ſie denn eher ſtuͤrben, weil da¬ von das muͤde Herz zerfloͤße. In das Ohr des Klei¬ nen war Muſik, dieſe Poeſie der Luft, noch nie gekommen. Sein Lehrer hatte nun ein ſogenanntes Sterbelied gemacht, in dieſem zog natuͤrlicher Weiſe Guſtav alles, was es vom zweiten Leben ſagte, auf das erſte und ſie laſen es oft, ohne es zu ſingen. 53Da aber die gehoͤrige Anſtallt uͤber der Hoͤhle ge¬ troffen war: ſo fieng unten einmal der Genius an, es vorzuſingen, indeß mit ihm oben ein be¬ gleitendes Waldhorn anfieng, (das an einem mei¬ ſterhaften Munde die Floͤte erreicht) und die zie¬ henden Adagio-Klagen ſanken durch die daͤmpfende Erde in ihre Ohren und Herzen wie ein warmer Regen nieder ....

Guſtavs Auge ſtand in der erſten Freudenthraͤ¬ ne ſein Herz drehte ſich um er glaubte, nun ſtuͤrb 'es an den Toͤnen ſchon.

O Muſik! Nachklang aus einer entlegnen har¬ moniſchen Welt! Seufzer des Engels in uns! Wenn das Wort ſprachlos iſt, und die Umarmung, und das Auge, und das weinende, und wenn un¬ ſre ſtummen Herzen hinter dem Bruſt-Gitter ein¬ ſam liegen: o ſo biſt nur du es, wodurch ſie ſich einander zurufen in ihren Kerkern und wo¬ durch ſie ihre entfernten Seufzer vereinigen in ih¬ rer Wuͤſte!

Wie beim wahren Sterben naͤherte der Genius ſeinen Zoͤgling bei dieſem nachgeahmten, auf der Stufenleiter der fuͤnf Sinne dem Himmel. Er ſchmuͤckte den ſcheinbaren Tod zum Vortheil des54 wahren mit allen Reizen aus und Guſtav ſtirbt einmal entzuͤckter als einer von uns. Anſtatt daß andere uns die Hoͤlle offen ſehen laſſen: verhieß er ihn, er wuͤrde wie Stephanus, an ſeinem To¬ destage den Himmel offen ſehen. Dies geſchah. Ihr unterirrdiſches Joſaphats Thal hatte außer der erwaͤhnten Kellertreppe noch einen langen wag¬ rechten Kreuzgang, der am Fuße des Bergs ins Thal und ins Doͤrfgen darin offen ſtand, und den zwei Thuͤren in verſchiedenen Zwiſchenraͤumen ver¬ ſperrten. Dieſe Thuͤren ließ er in der Nacht vor dem erſten Junius, als blos das duͤnne lichte Mondkomma in der blauen Nacht herumflimmerte, mitten in einem Gebete unvermerkt aufziehen und nun ſiehſt du zum erſtenmale in deinem Le¬ ben und auf den Knieen, Guſtav, in das weite 9 Millionen Quadratmeilen große Theater des menſchlichen Leidens und Thuns hinein, aber nur ſo wie wir in den naͤchtlichen Kindheitsjahren und unter dem Flor, womit uns die Mutter gegen Muͤcken uͤberhuͤllte, ſieheſt Du in das Nachtmeer hinein, das vor Dir unermeslich hinaus ſteht mit[ſchwankenden] Bluͤthen und ſchießenden Feuerkaͤ¬ fern, die ſich neben den Sternen zu bewegen ſchei¬55 nen und mit dem ganzen Gedraͤnge der Schoͤpfung. Er ſagte hernach, dieſes Nachtſtuͤck ſei noch jezt in ſeiner Seele wie eine im Meere unterge¬ ſunkne gruͤne Inſel hinter tiefen Schatten gelagert und ſehe ihn ſehnend an wie eine laͤngſt vergangne frohe Ewigkeit .... Allein in wenig Minuten ſchloß der Genius ihn an ſich und verhuͤllte die ſu¬ chenden Augen mit ſeinem Buſen und unvermerkt liefen die Himmelsthuͤren wieder zu und nahmen ihm den Fruͤhling.

In zwoͤlf Stunden ſteht er drinnen; aber ich werde ordentlich beklemmt, je naͤher ich mich zu dieſer großen Auferſtehungsſzene bringe. Es ruͤhrt nicht blos daher, daß ich nur ein einzigesmal in meinem Leben einen ſolchen, des Himmels werthen Geburtstag wie Guſtavs ſeinen, in meinem Kopfe auf - und untergehen laſſen kann, einen Tag, deſ¬ ſen Feuer ich an meinem Pulſe fuͤhle und von dem nur der Widerſchein aufs Papier herfaͤllt auch nicht blos daher koͤmmts, daß nachher der ſchoͤne Genius ungekannt von Autor und Leſer wegziehet ſondern daher am meiſten, daß ich meinen Guſtav aus der ſtillen Demantgrube, wo ſich der Demant ſeines Herzens ſo durchſichtig und ſo ſtrahlend und ſo56 ohne Flecken und Federn zuſammenſetzte, hinaus¬ werfe in die ſchmutzige Welt, in der ſehr bald Bocks¬ blut auf ihn tropfen wird, aus ſeiner Meerſtille der Leidenſchaften heraus in den ſogenannten Himmel hinein, wo neben den Seeligen eben ſo viele Ver¬ dammte gehen. Aber, da er alsdann doch auch der großen Natur ins Angeſicht ſchauen darf; ſo iſts doch nicht ſein Schickſal allein, was mich beklemmt, ſondern meines und fremdes, weil ich bedenke, durch wie viel Koth unſere Lehrer unſern innern Menſchen wie einen Miſſethaͤter ſchleifen, eh 'er ſich aufrichten darf ach haͤtte ein Pythagoras, ſtatt des Latei¬ niſchen und der ſyriſchen Geſchichte, unſer Herz zu einer ſanft erbebenden Aeolsharfe, auf der die Natur ſpielet und ihre Empfindung ausdruͤckt, und nicht zu einer laͤrmenden Feuertrommel aller Leidenſchaften werden laſſen wie weit da das Genie, aber nie die Tugend Graͤnzen hat und jeder Reine und Gute noch reiner werden kann koͤnn¬ ten wir nicht ſeyn!

Wie Guſtav eine Nacht wartet: ſo will ich auch die Schilderung davon um eine verſchieben, um ſie Morgen mit aller Wolluſt meiner Seele zu geben.

57

Fuͤnfter Sektor oder Ausſchnitt.

Auferſtehung.

Vier Prieſter ſtehen im weiten Dom der Natur und beten an Gottes Altaͤren, den Bergen, der eisgraue Winter, mit dem ſchneeweiſſen Chorhemd der ſammelnde Herbſt, mit Erndten unter dem Arm, die er Gott auf den Altar legt und die der Menſch nehmen darf der feurige Juͤngling, der Sommer, der bis zu Nachts arbeitet, um zu op¬ fern und endlich der kindliche Fruͤhling mit ſeinem weiſſen Kirchenſchmuck von Lilien und von Bluͤten, der wie ein Kind Blumen und Bluͤtenkelche um den erhabenen Geiſt herumlegt und an deſſen Gebete al¬ les mitbetet was ihn beten hoͤrt. Und fuͤr Men¬ ſchenkinder iſt ja der Fruͤhling der ſchoͤnſte Prieſter.

Dieſen Blumenprieſter ſah der kleine Guſtav zuerſt am Altar. Vor Sonnenaufgang am erſten Junius (drunten war's Abend) kniete ſich der Ge¬ nius ſchweigend hin und betete mit den Augen und ſtummzitternden Lippen ein Gebet fuͤr Guſtav, das uͤber ſein ganzes gefaͤhrliches Leben die Fluͤgel aus¬58 breitete. In dieſer Minute gehen wir aus dem Grab in den Himmel ſagte der tiefgeruͤhrte Genius, da oben eine Floͤte (als Zeichen der auf¬ geſperrten Thuͤren) anfieng, ſie mit ſanfter Stim¬ me aus dem Grabe zu rufen. Der Kleine bebte vor Freude und Angſt. Die Floͤte rufet fort, ſie gehen den Todesgang der Himmelsleiter hinauf, ihre zwei[aͤngſtlichen] Herzen zerbrechen mit ihren Schlaͤgen beinahe die Bruſt der Ge¬ nius ſtoͤßet die Pforte auf, hinter der die Welt war und hebt ſeinen[Freund] in die Erde und unter dem Himmel hinaus ...... Nun ſchlagen die hohen Wogen des lebendigen Meers uͤber ihn zuſammen mit ſtockendem Athem, mit erdruͤcktem Auge, mit uͤberſchuͤtteter Seele ſteht er vor dem un¬ uͤberſehlichen Angeſicht der Natur und haͤlt ſich zit¬ ternd feſter an ſeinen Genius als er aber nach dem erſten Erſtarren ſeinen Geiſt weit aufgeſchloſſen hatte fuͤr dieſe Stroͤme als er die tauſend Arme fuͤhlte, womit ihn die hohe Seele des Weltalls an den Buſen druͤckte als er zu ſehen vermochte das gruͤne taumelnde Blumenleben um ſich und die ni¬ ckenden Lilien, die lebendiger ihm ſchienen als ſeine, und als er die zitternde Blume todt zu treten fuͤrch¬59 tete als ſein wieder aufwaͤrts geworfnes Auge im tiefen Himmel, der Oefnung der Unendlichkeit, verſank und als er ſich ſcheuete vor dem Herun¬ terbrechen der herumziehenden ſchwarzrothen Wol¬ kengebuͤrge und der uͤber ſeinen Haupt ſchwimmen¬ den Laͤnder als er die Berge wie neue Erden auf dieſer liegen ſah und als ihn umrang das un¬ endliche Leben, das gefiederte neben der Wolke flie¬ gende Leben, das ſummende Leben zu ſeinen Fuͤßen, das goldne kriechende Leben auf allen Blaͤttern die lebendigen auf ihn winkenden Arme und Haͤupter der Rieſenbaͤume und als der Morgenwind ihm der große Athem eines kommenden Genius ſchien und als die wehende Laube ſprach und der Apfel¬ baum ſeine Wange mit einem kalten Blatt bewarf als endlich ſein belaſtet gehendes Auge ſich auf den weiſſen Fluͤgeln eines Sommervogels tragen ließ, der ungehoͤrt und einſam uͤber bunte Blu¬ men wogte und ſich ans breite gruͤne Blatt wie ei¬ ne Ohrroſe verſilbernd hing .....: So fieng der Himmel an zu brennen, der entflohenen Nacht lo¬ derte der nachſchleifende Saum ihres Mantels weg und auf dem Rand der Erde lag, wie eine vom goͤttlichen Throne niedergeſunkene Krone Gottes60 die Sonne: Guſtav rief: Gott ſteht dort und ſtuͤrzte mit geblendetem Auge und Geiſte und mit dem groͤßten Gebet, das noch ein kindlicher 10jaͤh¬ riger Buſen faßte, auf die Blumen hin .....

Schlage die Augen nur wieder auf, du Lieber! du ſieheſt nicht mehr in die gluͤhende Lavakugel hin¬ ein; du liegſt an der beſchattenden Bruſt deiner Mutter, und ihr liebendes Herz darin iſt deine Sonne und dein Gott zum erſtenmal ſehe das unnennbar holde, weibliche und muͤtterliche Laͤcheln, zum erſtenmale hoͤre die elterliche Stimme; denn die erſten zwei Seligen, die im Himmel dir entge¬ gen gehen, ſind deine Eltern. O himmliſche Sze¬ ne! die Sonne ſtrahlt, alle Thautropfen fun¬ keln unter ihr, acht Freudenthraͤnen fallen mit dem milderen Sonnenbilde nieder, und vier Men¬ ſchen ſtehen ſelig und geruͤhrt auf einer Erde, die ſo weit vom Himmel liegt! Verhuͤlltes Schickſal! wird unſer Tod ſeyn wie Guſtavs ſeiner? Verhuͤll¬ tes Schickſal! das hinter unſrer Erde wie hinter einer Larve ſitzet und das uns Zeit laͤſſet, zu ſeyn ach! wenn der Tod uns zerleget und ein großer Genius uns aus der Gruft in den Himmel gehoben hat, wenn dann ſeine Sonnen und Freuden unſere61 Seele uͤberwaͤltigen, wirſt du uns da auch eine be¬ kannte Menſchenbruſt geben, an der wir das ſchwa¬ che Auge aufſchlagen? O Schickſal! giebſt du uns wieder, was wir niemals hier vergeſſen koͤnnen? Kein Auge wird ſich auf dieſes Blatt richten, das hier nichts zu beweinen und nichts dort wiederzufin¬ den hat: ach wird es nach dieſem Leben voll Tod¬ ter, keiner bekannten Geſtalt begegnen, zu der wir ſagen koͤnnen: willkommen? ....

Das Schickſal ſteht ſtumm hinter der Larve; die menſchliche Thraͤne ſteht truͤbe auf dem Grabe; die Sonne leuchtet nicht in die Thraͤne.

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Sechſter Sektor oder Ausſchnitt.

Gewaltſame Entführung des ſchönen Geſichts wichtiges Portrait.

Das Erſtaunen Guſtavs, zu dem ihn den ganzen Tag ein Gegenſtand nach dem andern anſtrengte, und die Entbehrung des Schlafs endigten ſeinen erſten Himmelstag mit meinem Fieberabend, den er verweint haͤtte, auch ohne einen Grund zu ha¬ ben. Aber er hatt 'ihn: ſein Genius war waͤh¬ rend dem Tumulte im Garten, mit einem ſprachlo¬ ſen Kuſſe von dem Liebling fortgezogen. Er hatte der Mutter etwas Sonderbares dagelaſſen. Er zer¬ ſchnitt ein Notenblatt in zwei Haͤlften; die eine enthielt die Diſſonanzen der Melodie und die Fra¬ gen des Textes dazu, auf der andern ſtanden die Aufloͤſungen und die Antworten. Die diſſonirende Haͤlfte ſollte ſein Guſtav bekommen; die andere be¬ hielt er: ich und mein Freund, ſagt er, erken¬ nen einmal in der wuͤſten Welt einander daran, daß er Fragen hat zu denen ich Antworten habe. Auch den Pudel der immer groͤßer wurde nahm er63 mit ..... Wo werden wir dich wiederſehen, un¬ bekannter ſchoͤner Schwaͤrmer? Du erfaͤhrſt es nicht, wie dein verwaiſeter Eleve Abends rufet und ſchluchzet nach dir, und wie ihm der neue geſtirnte Himmel nicht ſo gefaͤllet, als ſeine Stubendecke mit dir, und wie ihm die Lichtkerzen jedes Zimmer zur ſtillen Hoͤhle ummalen, in der er dich geliebt hatte und du ihn. Eben ſo buͤcken wir uns am Lebens-Abend an alten Graͤbern unſrer fruͤhen Freunde, die niemand bedauert als wir; bis end¬ lich den letzten Greis aus dem liebenden Zirkel ein Juͤngling beerdigt; aber keine einzige Seele erin¬ nert ſich der ſchoͤnen Jugend des letzten Greiſes!

Am Morgen war er wieder geſund und froh; die Sonne trocknete ſein Auge aus, und das Nebel¬ bild ſeines Genius zog in der Huͤlle der letzten Nacht, ſich weit zuruͤck. Es thut mir leid, daß ichs ſeinen Jahren und ſeinem Karakter beizumeſ¬ ſen habe, daß er, die Stunden der ſchmerzlichſten Sehnſucht ausgenommen, ein wenig zu leicht das Bild eines Freundes durch naͤhere Bilder in den Hintergrund zuruͤckſchieben ließ. Alle Blumen wa¬ ren jetzt Spielzeug fuͤr ihn, jedes Thier ein Spiel¬ kamerad und jeder Menſch ein Phoͤnix: jede Him¬64 melsveraͤnderung, Sonnenuntergang, jede Minute uͤberſchuͤttete ihn mit Neuigkeiten.

Es war ihm wie vornehmen Kindern, die aufs Land hinaus kommen: alles begucken, betaſten, beſpringen ſie in der neuen Erde und dem neuen Himmel. Denn es iſt ein unbeſchreibliches Gluͤck fuͤr ſtiftsfaͤhige Kinder, daß ihre Eltern, die ſonſt aus der Natur ſich wenig machen, ſie dennoch zwi¬ ſchen hohen Zimmern und hohen Haͤuſern, die nicht 38 Quadratſchuhe vom Himmel ſichtbar laſſen, wie in Treibgaͤrten mit hohen Mauern erziehen, damit die Natur ihnen ſo wenig als ihre Eltern unter die Augen komme: dadurch erhaͤlt ſich ihr Gefuͤhl fuͤr beide eben ſo unverhaͤrtet uͤber der Erde als wuͤrden ſie wirklich unter ihr erzogen; ja ſie ſehen den Sonnenaufgang zum erſtenmale faſt noch ſpaͤ¬ ter als Guſtav, auf der Poſtkaleſche oder in Karlsbad.

Seine Eltern lieſſen ihn als einen Neugebohrnen ungern von der Seite, kaum in den Schloßgarten und nicht zum Berg hinunter, wo ihm die Poſt¬ ſtraße gefaͤhrlich war. Auch hatt 'er aus ſeiner unterirrdiſchen Schulpforte eine gewiſſe Verlegen¬ heit mit heraufgebracht, die mittelmaͤßige Men¬ſchen65ſchen, und faſt ſein Vater fuͤr Einfalt nehmen, die aber hoͤhere Menſchen, ſo bald ſie in Geſellſchaft eines nicht ſtieren ſondern uͤberfuͤllten ſchwaͤrmeri¬ ſchen Auges wie bei ihm erſcheint, fuͤr das Ordens¬ kreuz ihres Ordensbruders halten. Gleichwohl be¬ reuten es ſeine Eltern acht Tage darauf, nicht, ihn eingeſperrt, ſondern ihn hinausgelaſſen zu haben.

Die Obriſtforſtmeiſterin von Knoͤr und ein Faſ¬ zikel Hernhuter und Hernhuterinnen waren mit ihr gekommen, den Eleven des Grabes zu hoͤren: ein Grummetſchober alter Fraͤulein hatte ſchon vier Wochen vorher eingeſprochen, und jetzt wieder, um nur ein ſolches Wunderkind anſichtig zu werden. Die hernhutiſchen Bruͤder waren lebhaft und frei mit Anſtand; die Schweſtern mauerten ſich ſaͤmt¬ lich um eine Standuhr, deren Gehaͤuſe mit Engeln als mit Horniſten bordiret war ſie waren von den Horniſten nicht wegzubringen. Beizubringen war ihnen auch nichts; Maul und Augen machten ſie auch nicht auf, und der Rittmeiſter wurde ſchwarz vor verhaltenem Aerger. Endlich tipte die Lippe Einer Schweſter an ein Weinglas, die andern tip¬ ten nach ſo viel die eine vom Gebacknen abknick¬E66te, ſo viel broͤckelten die andern ſich zu Ein Zuck regte die ganze obligate Kompagnie dieſer auf zwei Fuͤße geſtellter Schaafe. Der Fraͤuleinſchober hingegen hieb in alles ein; im Fluͤſſigem und Fe¬ ſtem war er wie Amphibium zu Hauſe, ſie hatten in ihrem kauenden und klappernden Leben nie et¬ was gereget als die Zunge. Als nun fuͤr ſo viele Zuſchauer das Wunderthier her ſollte: war's weg. Alles wurde ausgeſtoͤbert, langverlohrne Dinge wurden gefunden, in alles hineingeſchrien, in jeden Winkel und Buſch kein Guſtav! Der Rittmeiſter, deſſen anfangende Betruͤbniß immer eine Art Zorn war, ließ die ganze ſehluſtige Kom¬ pagnie ſitzen, die Rittmeiſterin aber, deren Betruͤb¬ niß noch weichere Theile angrif, ſetzte ſich koſend zu ihnen. Als aber alle aͤngſtliche, fragende, lau¬ fende Geſichter immer troſtloſer zuruͤckkamen und als man gar hinter dem offnen Schloßthor, wo der Kleine abgerißne Blumen in kleine beſchattete Bee¬ te ſteckte, ſie noch naß von ſeinem Begieſſen fand: ſo zerknirſchte die Verzweiflung die Geſichter der Eltern, ach der Engel iſt gewiß in den Rhein ge¬ ſtuͤrzt ſagte ſie, er aber ſagte nichts dagegen. Zu einer andern Zeit haͤtt 'er einen ſolchen Syl¬67 logiſmus mit den Fuͤßen zerſtampft; denn der Rhein floß eine halbe Stunde vom Schloſſe; aber hier ſchloß in beiden die Angſt, die weit tollere Spruͤn¬ ge thut als die Hoffnung. Ich rede hier deswegen von einer andern Zeit, weil mir bekannt iſt, wie ſonſt der Rittmeiſter war: naͤmlich aus Mittlei¬ den aufgebracht gegen den Leidenden ſelber. Nie¬ mals z. B. fluchten ſeine Minen mehr gegen ſeine Frau als wenn ſie krank war (und ein einziges ſchnelles Blutkuͤgelchen ſtieß ſie um) klagen ſoll¬ te ſie dabei gar nicht war das, auch nicht ſeuf¬ zen war auch das, nur keine leidende Mine ma¬ chen gehorchte ſie, uͤberhaupt gar nicht krank ſeyn. Er hatte die Thorheit der muͤßigen und vor¬ nehmen Leute, er wollte ſtets froͤhlich ſeyn.

Hier aber, da einmal ſein Gluͤckstopf in Scher¬ ben lag, verſuͤßete ein fremder Seufzer ſeinen eig¬ nen und ſeinen Zorn uͤber das unachtſame Haus¬ perſonale und uͤber den duͤrren Schweſtern - und Grummetſchober.

Als das Kind die Nacht ausblieb und den gan¬ zen Vormittag und als man gar im Walde auf der Chauſſee ſein Huͤtchen antraf: ſo verwandelten ſich die Stiche der Angſt in das forteiternde Schmer¬E 268zen dieſer Stichwunden. Gegen keine Gemuͤthser¬ ſchuͤtterung iſt ein guter Gegenbeweis ſo ſchwer zu fuͤhren als gegen die Angſt; ich fuͤhre daher gar keinen ſeit Jahr und Tag, ſondern ich gebe ihr das Aergſte, was ſie behauptet, ſofort gerne zu, und falle dann bloß die andere Gemuͤthsbewegung, die aus dem beſorgten Aergſten kommen kann, mit der Frage an: und wenn's waͤr?

Jeder Fliegenſchwamm im Walde wurde breit getreten und jeder Baumſpecht aufgejagt, um den Kopf zum Hut zu finden aber vergeblich und am dritten Tage gieng der Rittmeiſter, deſſen Ge¬ ſicht eine Aezplatte des Schmerzes war, ohne Ab¬ ſicht zu ſuchen ſo vertieft im Walde herum, daß er einen mit Koffern und Bedienten, ausgelegten Rei¬ ſewagen durchs Gebuͤſch ſchwerlich haͤtte fliegen ſehen, wenn nicht daraus wie ein Freuden-Donnerſchlag die Stimme ſeines verlohrenen Sohnes ihn erſchuͤt¬ tert haͤtte. Er rennt nach, der Wagen ſchießet vor¬ aus und im Freien ſieht er ihn ſchon hinter ſeinem Schloſſe ſtaͤuben. Außer ſich kommt er in Schloshof angeſtuͤrmt, um nachzuſprengen und um es blei¬ ben zu laſſen. Denn oben an der Hausthuͤre ſtand die in einen Globus zuſammengelaufne Schlos-Ge¬69 noſſenſchaft ſchon um den Guſtav, die Schloshunde bellten ohne einen geſcheuten Grund zu haben, und alles ſprach und fragte ſo, daß man gar keine Ant¬ wort des Kleinen vernahm. Der vorbeifliegende Wagen hatte ihn ausgeſetzt. Am Halſe hieng in ei¬ nem ſchwarzen Bande ſein Portrait. Seine Augen waren roth und feucht von den Quaalen der Heim¬ ſucht. Er erzaͤhlte von langen langen Haͤuſern, wofuͤr er Gaſſen hielt, und von ſeinem Schweſterchen, das mit ihm geſpielet, und vom neuen Hute; es waͤr 'aber keine Seele daraus geſcheut geworden, haͤtte nicht der Koch eine entfallne Karte zu ſeinen Fuͤßen erblickt: dieſe las der Rittmeiſter und ſah, daß er ſie nicht leſen ſollte ſondern ſeine Frau. Er vertiert' es aus dem mit weiblicher Hand geſchriebenen Ita¬ lieniſchen ſo:

Kann ſich denn eine Mutter bei einer Mutter entſchuldigen, daß ſie ihr ihr Kind ſo lang entzo¬ gen? Wenn ſie mir auch meinen Fehler nicht verge¬ ben: ich kann ihn doch nicht bereuen. Ich traf Ih¬ ren lieben Kleinen vor drei Tagen im Walde irrend an, wo ich ihn in meinen Wagen ſtahl, um ihn vor ſchlimmern Dieben zu bewahren und um ſeine El¬ tern auszufinden. Ach ich will es Ihnen nur70 ſagen: ich haͤtt 'ihn auch mitgenommen, wenn auch beides nicht geweſen waͤre. O nicht weil er ſo himmliſch ſchoͤn, ſondern weil er ſo ganz, ſo¬ gar bis auf die Haare wie mein theuerer verlohr¬ ner Guido ausſieht, kann ich ihn kaum laſſen. Ach es ſind ſchon viele Jahre, daß mir das Schick¬ ſal auf[eine] ſonderbare Art mein liebſtes Kind le¬ bendig aus dem Schoos genommen. Ihres koͤmmt heute wieder, meines vielleicht nie! Das Hals - Gehenk vergeben Sie: das Portrait werden Sie fuͤr ſeines halten, ſo aͤhnlich iſt er meinem Sohn; aber es iſt das meines Guido. Sein eignes ließ ich mir auch mahlen und behalt' es, um das Ebenbild meines Guten doppelt zu haben. Sollt 'ich einmal Ihren Guſtav aufgebluͤht zu Geſicht be¬ kommen: ſo wuͤrd' ich ihn lange anſehen, ich wuͤr¬ de denken, ſo muß mein Guido jezt auch ausſe¬ hen, ſo viel Unſchuld wird er auch im Auge ha¬ ben, ſo ſehr wird er auch gefallen. Ach meine Kleine weint, daß ihr Spielgenoſſe wie¬ der wegfahren ſoll und ich thu 'es auch; ſie giebt nur einen Bruder, aber ich, einen Sohn zuruͤck. Moͤgen Sie und er gluͤcklicher ſeyn! Meinen Namen ſchenken Sie mir.

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Sie riethen alle uͤber die Verfaſſerin. Der Rittmeiſter allein ſagte traurig nichts; ich weiß nicht ob aus Kummer uͤber die Erinnerungen an ſeinen erſten verlornen Sohn, oder weil er gar wie ich uͤber die ganze Sache dachte. Ich vermu¬ the naͤmlich, der verlohrne Guido iſt eben ſein ei¬ gnes Kind; und die Briefſtellerin iſt die Geliebte, die ihm der Kommerzien-Agent Roͤper aus den Haͤnden gewunden hatte. Ich werde erſt nachher ſagen warum.

Guſtavs Schoͤnheit kann man erſtlich aus der Vernunft oder von vornen darthun, zweitens von hinten. Sein Treibhaus, das ihn auferzog und zudeckte, bleichte ganz natuͤrlich ſeine Lilienhaut zu einem weißen Grund, auf den zwei blaſſe Wan¬ genroſen oder nur ihr Wiederſchein und die dunk¬ lere feſte Roſenknoſpe der Oberlippe geblaſen wa¬ ren. Sein Auge war der ofne Himmel, den ihr in tauſend fuͤnfjaͤhrigen und nur in zehn funfzig¬ zaͤhrigen Augen antrift: dieſes Auge wurde noch dazu von langen Augenwimpern und von etwas Schwaͤrmeriſchen verſchleiert oder verſchoͤnert. End¬ lich hatten weder Anſtrengung noch Leidenſchaften ihren Waldhammer und die ſcharfen Lettern deſſel¬72 ben in dieſes ſchoͤne Gewaͤchs geſchlagen und ihm war noch kein Todesurtheil, das ſeinen Fall be¬ zeichnet, in ſeine Rinde eingeſchnitten. Alles Schoͤne aber iſt ſanft; daher ſind die ſchoͤnſten Voͤlker die ruhigſten, daher verzerret heftige Ar¬ beit arme Kinder und arme Voͤlker.

Es iſt aber noch kein Jahr, daß ich Guſtavs Schoͤnheit von hinten beweiſen kann. Denn da der Auktionsproklamator damals mein intimſter Freund war: ſo begieng er mir zu Gefallen den kleinen Schelmenſtreich; daß er die Gemaͤlde und Kupfer¬ ſtiche gerade an einem Tage verſteigerte, wo der Redute wegen kein Menſch von der großen Welt aus Unterſcheerau in die Auktion kam als ich ich erſtand fuͤr Suͤndengeld tauſend Dinge. Die ganze Stadt und Vorſtadt hatte zu dieſem Schut¬ haufen von Meublen zugetragen und war Verkaͤu¬ ferin und Kaͤuferin zugleich. In dieſer Auktion erſchienen alle europaͤiſche Potentaten, aber elend gezeichnet und kolorirt; und ein Edelmann von bon ſens hielt ſeine beiden Eltern feil und wollte ſie als gute Knieſtuͤcke verſtechen in Rom ver¬ handelten umgekehrt die Eltern die Kinder, aber in natura. Der Edelmann hofte, ich wuͤrde auf73 ſeinen Papa und ſeine Mama bieten; aber ich war bei nichts der Plus Lizitans als bei Guſtavs Por¬ trait, das er auch losſchlug. Der Edelmann hieß Roͤper, von dem ich oben geſagt, daß er an Einem Tage Ehemann und Stiefvater geworden.

Und hier haͤngſt du ja, Guſtav, mir und mei¬ nem Schreibtiſch gegenuͤber und wenn ich uͤber et¬ was ſinne, ſo ſtoͤßet mein Auge immer auf dich. Viele tadeln mich, mein kleiner Held, daß ich dich hier zwiſchen Shakeſpear und Winkelmann (von Bauſe) aufgenagelt; aber haſt du nicht das bedenken zu wenige einen Naſen-Schwibbo¬ gen, auf dem ſchwere und hohe Gedanken ruhen und der oft unter der Hand des Todes ſich noch ſchoͤner woͤlbt, und haſt du nicht unter dem Kno¬ chen-Architrab ein weites Auge, durch das die Natur wie durch eine Ehrenpforte in die Seele zieht, und ein gewoͤlbtes Haus des Geiſtes und alles, womit du deine in Kupfer geſtochne Nach¬ barſchaft verdieneſt und aushaͤltſt?

Der Leſer ſollte jezt wiſſen (es geſchieht aber weiter hinten) was mich jezt noͤthigt, meinen Sek¬ tor ploͤtzlich auszumachen und einzuſperren ....

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Zweites Extrablatt.

Strohkranzrede eines Konſiſtorial-Sekretairs, worin er und ſie beweiſen, daß Ehebruch und Eheſcheidung zuzulaſſen ſind.

Ich geſteh 'es hier, unſer aufgeklaͤrtes Jahrhun¬ dert ſollte man das ehebrechende nennen. Ich ſag¬ te allerdings einmal auf den Marktplatz zu Mar¬ ſeille, ich hielt den Bettel fuͤr recht, den Ehe¬ bruch weit hinter Muͤnchen ſagt' ich, man ſoll¬ te an der Mutterkirche des Ehebettes noch ein Ehe¬ filial ſtoßen im Oberſaͤchſiſchen ſagt 'ich, wenn jene Graͤfin ein ganzes Jahr fortgebahr, jeden Tag etwas: ſo waͤre noch jezt bei Graͤfinnen we¬ nigſtens das vorhergegangene Jahr zu ha¬ ben in den 10 deutſchen Kreiſen druͤckt' ich mich gewiß auf 10 verſchiedene Arten aus: aber es war damals nirgends der Ort, die Sache klar aus der Phyſiologie darzuthun, als blos hier.

Sanktorius wars,*)In Hallers großer Phyſiologie ſteht es, daß der Menſch nach Sanktorius alle 11 Jahre den alten Körper fah¬ ren laſſe nach Bernoulli und Blumenbach, alle 3 Jahre nach dem Anatomiker Keil jedes Jahr. der ſich auf einen del¬ phiſchen Nachtſtuhl ſezte und da die Wahrheit aus¬75 ſas, daß der Menſch alle 11 Jahre einen neuen Koͤr¬ per umbekomme der alte wird wie das deutſche Reichs Corpus ſtuͤckweiſe fluͤchtig und es bleibet von der ganzen Mumie nicht ſo viel ſitzen als ein Apo¬ theker klein geſchabt in einem Theeloͤffel eingeben will. Bernoulli widerſprach gar dieſem ganz und rechnet 'uns vor, es hinke, nicht in 11, ſon¬ dern in 3 Jahren dampfe der eine Zwillings-Bru¬ der weg und ſchieße der andere an. Kurz Ruſſen und Franzoſen wechſeln den Koͤrper oͤfter als das Hemd des Koͤrpers, und eine Provinz bekoͤmmt allzeit neue Leiber und einen neuen Provinzial mit einander, in 3 Jahren wie geſagt.

Die Sache iſt gar nicht gleichguͤltig. Denn es iſt demnach unmoͤglich, daß ein Kahlkopf, der ſein Ehejubilaͤum begeht, an ſeinem ganzen Leibe auf ein Stuͤckgen Haut Hellers groß hinweiſe und an¬ merke: mit dieſem Laͤpchen Haut ſtand ich vor 25 Jahren auch am Altar und wurde ſammt dem uͤbrigen an meine jubilirende Frau hinan kopuliert. Das kann der Jubelkoͤnig unmoͤglich. Der Ehering iſt zwar nicht herunter, aber der Ringfinger laͤngſt, um welchen er ſas. Im Grunde iſts ein Streich uͤber alle Streiche und ich berufe mich auf76 andre Konſiſtorial-Sekretairs. Denn die arme Braut ſteigt freudig mit der Statua curulis von ei¬ nem Braͤutigamskoͤrper unter den Bethimmel und denkt, was weiß ſie von guter Phyſiologie, am Koͤrper habe ſie etwas Solides, ein eiſernes Stuͤck, ein Immobiliargut, kurz einen Kopf mit Haaren, von denen ſie einmal ſagen koͤnne, an meinen und an meiner Haube ſind ſie grau gewor¬ den! das hoft ſie: indes ſchaft unter ihrem Hof¬ fen der Schelm von einem Koͤrper ſeine ſaͤmmtliche Glieder wie ein Student ſein verſchuldetes Stu[¬] dentengut, nach 3 Jahren infiniteſimaltheilgenweiſe bei Nacht und Nebel fort wendet ſie ſich am Neujahrsabend um: ſo liegt im Ehebette blos ein Gipsabguß und Nachdruck neben ihr, den der vorige Koͤrper von ſich darin gelaſſen und in dem kein altes Blatt der alten Ausgabe mehr iſt. Was ſoll nun eine Frau, wenn der Kubik-Inhalt des Brautbettes und der des Ehebettes ſo verſchieden iſt, von der Sache denken? ich meine, wenn z. B. ein ganzes weibliches Konſiſtorium (z. B. die Frau[Konſiſtorialpraͤſidentin], die Vicepraͤſidentin, die Konſiſtorialſekretairin) nach 3 Jahren auf dem Kopfkiſſen ein ganz anders maͤnnliches Konſiſtorium77 antrift als das Diſſolvierte war, das die Ehe ver¬ ſprach: was ſoll eine Frau da anſtellen, die wenns eine Konſiſtorial-Haͤlfte iſt, recht gut weiß quid juris? Sie, ſag 'ich, die es hundertmal uͤber dem Eſſen gehoͤrt haben muß, daß eine ſolche Ent¬ weichung des maͤnnlichen Koͤrpers, eine verfluchte boͤsliche Verlaſſung oder deſertio malitioſa iſt, die ſie von ihren Ehepflichten ganz losknuͤpfet es kann vollends eine ſolche Strohwittwe gar Lu¬ therum de cauſis matrimonii geleſen haben und ſich daraus entſinnen, daß er einer boͤslich Verlaſſenen nach einem oder einem halben Jahre eine neue Ehe nicht verbeut ..... Sich in beſagte neue Ehe zu be¬ geben, wird offenbar die erſte Pflicht und Abſicht einer ſolchen Verlaſſenen ſein; da aber der neue re¬ ſtirende Ehemannskoͤrper nichts fuͤr den fortgeduͤnſte¬ ten kann: ſo wird ſie es, um ihn nicht zu kraͤnken, oh¬ ne ſein Wiſſen und ohne Rachſucht thun, wenn er et¬ wann auf der Boͤrſe iſt oder auf dem Katheder oder auf der Meſſe oder zu Schiffe oder hin¬ ter dem Seſſionstiſch oder ſonſt aus.

Inzwiſchen iſt der Mann kein Narr, ſondern ſoviel hat er von der Phyſiologie allemal innen, daß auch die Frau ihren Koͤrper eben ſo oft als78 ihre Maͤgde tauſche: mithin braucht er auf nichts zu paſſen. Nov. 22. c. 25 reicht ihm das Recht der Eheſcheidung ſchon, wenn ſie auf eine Nacht von ihm gelaufen; hier aber iſt die Konſiſtorialraͤ¬ thin gar auf immer weg geduͤnſtet und repetirt noch dazu in jedem Triennio dieſe Wegduͤnſtung, ſie die doch nach Langens geiſtlichen Recht mit dem Konſiſtorialrath, der's ſelber in ſeiner Buͤ¬ cherſammlung hat, ziehen muͤßte, wenn er Landes¬ verwieſen wuͤrde, geſetzt ſogar, in den Ehepakten haͤtte ſie ſich ausbedungen, zu Hauſe zu bleiben. So redet Lange mit den Maͤnnern aus der Sa¬ che. In der großen Welt, wo aͤchte Keuſchheit und Polyhiſtorie und alſo auch Phyſiologie zu Hauſe iſt, traktirte man den Punkt laͤngſt mit Anſtand und Verſtand und trieb Gewiſſenhaftigkeit weit. Denn da ein Mann allda an ſeiner Gemahlin 3 Jahre nach dem Vermaͤhlungsfeſt nicht ein Apothekerloth Blut, nicht eine duͤnne Vene, worin's iſt, mehr von der alten auszuſpuͤren hofft, da er mithin die weggewanderten Theile ſeiner guten Gemahlin an jeder andern eher und ſicherer wiederzufinden glaubt als an ihr ſelbſt, da er alſo vielmehr Liebe zur an¬ kopulirten fuͤr eigentlichen Ehebruch an ihr und79 mit ihr halten muß und genau genommen, iſts ſchon ſo : ſo iſts ihm jetzt hauptſaͤchlich um rei¬ ne Sitten zu thun; er laͤſſet alſo zwar derjenigen Sammlung von Arterien, Nervenknoten, Haaren, und edlern Theilen, die man insgemein ſeine Frau benennt, ſeinen Namen, ſeinen halben Kredit, und ſeine halben Kinder, weil man uͤberhaupt in der gro¬ ßen Welt ungern oͤffentliche Verbindungen oͤffentlich aufhebt und lieber am Ende an tauſend von Luft geflochtenen Ketten geht: aber das geſtattet ihm ſeine Achtung fuͤr Moral und Publikum nicht, eine und dieſelbe Wohnung Tafel Geſellſchaft mit einer Frau zu haben, die einen andern Koͤrper hat; er erſcheint ſogar (welches vielleicht zu ſkrupuloͤs iſt) ungern mit ihr oͤffentlich und enthaͤlt ſich we¬ nigſtens in ſeinem Hauſe alles deſſen, wozu er oder Origenes ſich unfaͤhig machten.

Es ſind ſchlechte abgefaͤrbte Katheder, die mir den Einwurf machen koͤnnen, die verehelichten See¬ len blieben ja doch wenn die Leiber verrauchten. Denn mit der Seele, (alſo mit dem Gedaͤchtniß, Abſtraktionsvermoͤgen ꝛc. ) laͤſſet man ſich heut zu Tage wenig oder nicht kopuliren, ſondern mit dem was d'rum rum iſt. Zweitens iſts ja bei jedem80 Materialiſten auf der philoſophiſchen Boͤrſe zu er¬ fahren, daß die Seele nichts iſt als ein Fechſer und Abſenker des Koͤrpers, der alſo bei Mann und[Frau] mit dem Leib zugleich weggeht. Man brauchts aber gar nicht, ſondern man darf nur Humen beifal¬ len, der ſchreibt, die Seele waͤre gar nichts, ſon¬ dern bloße Gedanken leimten ſich wie Kroͤtenlaich an einander und kroͤchen ſo durch den Kopf und daͤchten ſich ſelbſt: bei ſolchen Umſtaͤnden kann das Brautpaar Gott danken, wenn ſein Paar kopulir¬ ter Seelen nur ſo lange halten will wie die zwei Paar Tanz-Handſchuhe des Hochzeitballs: man ſiehts auch am Vormittag nach den Flitterwochen.

Alſo, wie geſagt, alle Kanoniſten koͤnnen die Woche, wo Mann und Frau zum Ehebrechen ſchrei¬ ten darf, nicht weiter hinausſchieben als ins vierte Jahr nach der Verlobung; allein fuͤr Leute von Welt und von Stand iſt das hart und zu rigoroͤs, zumal wenn ſie aus ihrem Keil (dem Anato¬ miker) wiſſen, daß ſchon in Einem[Jahre der] ganze alte Koͤrper wegthauet, bloß elende 16 Pfund Fleiſchgewicht ausgenommen. Daher wa¬ ren's oft meine Gedanken, daß ich, wenn ich mei¬ nen Ehebruch ſchon ins erſte Jahr verlegte (wie'sviele81viele thun), wirklich nur ſehr wenigen Pfunden meiner Gattin, die 107 hat, untreu wuͤrde, den 16 Pfund naͤmlich, die noch reſtirten.

Auf den naͤmlichen Koͤrpertauſch, worauf man ſeinen Ehebruch gruͤndet, muß das Konſiſtorium ſei¬ ne Scheidung gruͤnden. Denn wenn Leute oft 9, 18 Jahre nach der Kopulation offenbar noch in der Ehe beiſammen bleiben, indeß alle Phyſiologen wiſ¬ ſen, daß zwei Ehekoͤrper neu und ohne prieſterliche Einſegnung beiſammen ſind: ſo iſt jetzt das Konſi¬ ſtorium verbunden, drein zu ſehen und drein zu ſchlagen und die zwei fremden Leiber zu ſcheiden, durch ein Paar Dekrete. Daher wird man auch niemals hoͤren, daß ein gewiſſenhaftes Konſiſtorium Schwierigkeiten macht, Chriſten, die ſchon in der Ehe ſind, zu trennen; man wird aber auch von der andern Seite eben ſo wenig hoͤren, daß es ſol¬ che, die ſich die Ehe bloß verſprochen, ohne die groͤ߬ ten Schwierigkeiten ſcheide : ganz natuͤrlich; denn dort bei ber langen Ehe iſt wahrer Ehebruch durch die Scheidungsbulle abzuwenden, weil unko¬ pulirte Leiber da ſind; hier aber bei der Verlo¬ bung ſind die Koͤrper, die den Kontrakt gemacht, noch voͤllig da, und ſie muͤſſen erſt lange in derF82Ehe leben bevor ſie zur Scheidung taugen. Das iſt die wahre Aufloͤſung eines Scheinwiderſpruchs, der ſo viele Dumme ſchon verleitet hat, uns ſaͤmt¬ lich im Konſiſtorio fuͤr ſportultuͤchtig, mich fuͤr den Marqueur und unſre gruͤne Seſſionstiſche fuͤr gruͤ¬ ne Billards zu halten, um welche ſich Praͤſident und Raͤthe mit langen Quees herumtreiben um die Parthien auszuſpielen: ein Konſiſtorialſekretair ſchneidet ohnehin mehr Federn als Geld.

Warum wird uns uͤberhaupt nicht von den Pa¬ ſtoren jedes eingepfarrte Ehepaar, das uͤber 3 Jah¬ re beiſammen geſchlafen, einberichtet, damit man's ſcheide zu rechter Zeit? Eine ſolche Scheidung, wo¬ zu man keine weitern Gruͤnde braucht als den, daß die zwei Leute lange beiſammen waren, hat in al¬ len Laͤndern ja keine andere Abſicht als die, daß ſie nachher ſich wieder ordentlich kopuliren laſſen mit den erneuerten Leibern. Das Konſiſtorium und ich ſind dabei am fatalſten dran, falls die Sache ſich nicht beſſert wenn der neue Miniſter den Thron be¬ ſteigt. Warlich ein ſolches hohes Landeskollegium legte oft die lange Saͤge an und zerſaͤgte Ehebloͤ¬ cher oder Betten, in denen Ehepaare 21 Jahre lang gehauſet hatten, die in ſo langer Zeit wenigſtens83 7mal (alle drei Jahre ſind Ehebruch und Eheſchei¬ dung faͤllig) waͤren zu ſcheiden und zu kopuliren ge¬ weſen: was fuͤr Sportulneinbuße, da wir die Schei¬ dungskoſten, die wir haͤtten verſiebenfachen koͤnnen, vervierfachen mußten! Es iſt ohnehin an einer ſol¬ chen Scheidungsliquidation wenig, weil ſie bekannt¬ lich moderirt wird und zwar vom Konſiſtorio ſelbſt. Man braucht noch dazu im Konſiſtorialzimmer die Vor - und Nachſicht, daß ich allemal den Sportuln¬ zettel, wenn ihn das geſchiedne Paar abgezahlt hat, nach 15, 20 Jahren wieder extrahire und dem Kon¬ ſiſtorialboten und Pfennigmeiſter von neuem mitge¬ be, nicht ſowohl um die Sportuln zweimal einzu¬ kriegen (welches Nebenſache iſt) als um zweimal daruͤber zu quittiren, falls das getrennte Paar die erſte Quittung verloren haͤtte, und auch, um es vor einer dritten Zahlung ſicher zu ſtellen. Man will dem Paare alles leicht machen, wenn man es in mehrerern und ſo großen Terminen zahlen laͤſſet.

.... Und heute vor drei Jahren kopulirte man mich meines Orts auch .... aber die damalige Strohkranzrede war zu ſchlecht ....

F 284

Siebenter Sektor oder Ausſchnitt.

Robiſch der Staar Lamm ſtatt der obigen Katze.

Nach dieſer Entfuͤhrung ſchraͤnkte man Guſtavs Spieltheater und Luſtlager auf den Wall des Schloſ¬ ſes ein: in die wogende Flur und ins Doͤrfchen Auenthal, das wohl eine $$\frac{1}{17}$$ deutſche Meile davon ablag; durft er nur hinein ſehen. Dieſes blu¬ michte Empor-Eiland umkreiſete er den ganzen Tag, um jeden rothen Kaͤfer niederzuſchlagen, je¬ des marmorirte Schneckenhaͤuschen von ſeinem Blat¬ te abzudrehen und uͤberhaupt alles was auf ſechs Fuͤßen zappelte, zu inhaftiren, wie ers ſelber war. Auf Koſten ſeiner unerfahrnen Finger wollte er an¬ fangs auch die Biene aus ihrem Freudenkelche zie¬ hen. Dieſe bunten Arreſtanten draͤngte er wie Fuͤrſten alle Menſchenſorten in Eine Hauptſtadt ſaͤmtlich in einen ſchoͤnen Salomons-Tempel oder in eine Silberſchlag-Noachitiſche Arche von Pap¬ pendeckel mit mehr Fenſtern als Mauer, zuſammen. Der Architekt dieſes vierten ſalomoniſchen Tem¬ pels war nicht wie beim erſten der Teufel oder der Wurm Lis*)Nach den Rabbinen half der Teufel den Tempel mit bauen, und der Wurm nagte die Steine zurecht., ſondern ein Menſch der beiden glich, der85 ſogenannte Kammerjaͤger Robiſch. Dieſer Hin¬ terſaſſe des Rittmeiſters beſuchte jaͤhrlich die beſten Zimmer und Gaͤrten des ganzen Landes, um beide nicht ſowohl von ihren ſchlimmſten als von ih¬ ren kleinſten Bewohnern zu ſaͤubern von Maͤu¬ ſen und Maulwuͤrfen. Ich will die Gelehrten-Re¬ publik eben nicht bereden, daß dieſer Maͤuſeſchaͤch¬ ter ſo viele phyſiſche Maulwuͤrfe aus der Welt fort¬ ſchickte, als jaͤhrlich moraliſche hereinkommen, um ſich auf die Hinterfuͤße zu ſetzen und dann mit den Vorderfuͤßen, die an beiden Maulwurfsarten Men¬ ſchenhaͤnden gleichen, den Meßkatalog und die Buchlaͤden vollzuarbeiten; aber bezahlt wurde Ro¬ biſch gerade ſo als haͤtt 'er's gethan: denn die Leute glaubten, wenn man dieſen Kelchvergifter der Nagethiere erboßete und nicht bezahlte: ſo machte er Moſes Wunder nach und verdoppelte durch dagelaſſene Kolonien das Ungeziefer, das man ſeinem Koͤnigs - und Blutbann entzoͤge. Ich will von dieſer moraſtigen Seele, die ſich nie meinem Guſtav naͤher waͤlzen moͤge, mich wieder wegbege¬ ben, wenn ich geſchrieben habe, daß er oft im Fal¬ kenbergiſchen Hauſe war, daß er wenn Fremde da waren, den Extra - und Kaſualbedienten und wenn86 Rekrutenwildpret zu fangen war, den Leithund machte, und daß er ſich verdaͤchtig an den kleinen Guſtav mit ſeinen Fabrikaten draͤngte. Ein ſolches Anhaͤkeln an Kinder iſt immer zweideutig. Kinder lieben Bediente beſonders; und vollends Guſtav, der ſchlechterdings auch ſpaͤter nicht vermochte je¬ mand zu haſſen, den er in ſeiner Kindheit lieb ge¬ habt. Von allen Unthaten, die Robiſch an ihm veruͤbt haͤtte, waͤre gleichwohl das Band der Dank¬ barkeit fuͤr das elende Inſektenſtockhaus, das den Wall entvoͤlkerte, nicht entzwei gegangen.

Was in der ſalomoniſchen Schloßkirche war, ſollte Zucker freſſen, weil Kinder ihn fuͤr das Uni¬ verſaleſſen anſehen; und es waͤren die ſchoͤnſten Inhaftaten verhungert, wenn nicht ihr Frohnvogt, Guſtav, vom Kammerjaͤger noch einen Staarmatz zum Geſchenk bekommen haͤtte: denn den Matz ließ er auch in das Pantheon hineinſpringen und der fraß alles was nichts zu freſſen hatte .... Wenn ich hier unter die Fluͤgeldecken der Inſekten und in die Kehle des Matzens die richtigſten Reflexionen und die kuͤhnſten Winke verſteckt habe: ſo hoff 'ich man finde ſich in dergleichen ſchoͤn.

87

Auſſer mir hatte wohl niemand Guſtavs Na¬ men ſo oft im Schnabel als der Staar, der gleich Hofleuten nichts weiter im Kopfe hatte, als ein nomen proprium. Der Kleine dachte, der Staar daͤchte und waͤre ſo gut ein Menſch wie Robiſch und liebte ihn fuͤr alles; daher konnt 'er ſich nicht ſatt daran hoͤren und lieben. Er konnte ſich an nichts ſatt lieben und ſatt umarmen. Bloß leben¬ dige Geſchoͤpfe waren ſein Spielzeug. Der Pachter hatte dazu noch ein ſchwarzes Lamm gethan, das er mit einem rothen Band und mit Brod¬ rinden um den Wall herumlockte. Das Lamm mußte wie ein Dorfkomoͤdiant alle Rollen machen, bald mußt' es der Genius, bald der Pudel, bald Guſtav, bald Robiſch ſeyn. So ſpielte alſo unſer Freund ſeine erſten Erdenrollen Solo und war zu¬ gleich Regiſſeur, Soufleur und Theaterdichter. Sol¬ che Komoͤdien, die ſich Kinder machen, ſind tau¬ ſendmal nuͤtzlicher als die, die ſie ſpielen, und waͤ¬ ren ſie aus Weiße's Schreibetiſch: in unſern Ta¬ gen, wo ohnehin der ganze[Menſch-Figurant], ſeine Tugend Gaſtrolle und ſeine Empfindung lyriſches Gedicht wird, iſt dieſe Verrenkung der armen Kin¬ derſeelen vollends toll. Indeß iſts zuweilen auch88 nicht wahr: denn ich machte den vollſtaͤndigen Fi¬ lou bloß 1 2 oder 3mal in meinen Leben, aber wirklich noch eh 'ich zum erſtenmale gebeicht hatte.

Das Reglement, das ihn nicht vom Schloßberg herunterließ, unterſchied ſich von den Reglements unſerer tranſzendenten Eltern, der Obrigkeit, da¬ durch ruͤhmlich, daß es erſtlich der Parthei promul¬ giert und zweitens daß es wenigſtens 14 Tage lang gehalten wurde. Guſtav haͤtte fuͤr ſein Leben gern ſich und das Lamm vom Walle herab an den Fuß des Berges getrieben da alſo der Rittmeiſter aus Quiſtorps peinlichen Beitraͤgen wußte, daß man an die Stelle der Verſtrickung oder Konfi¬ nation (Einſperrung auf den Wall) die Diſtrikts¬ oder Gebietsraͤumung ſetzen kann: ſo diktirte er die letztere Strafe ſtatt der erſtern und ſagte: kann man denn nicht das Lamm der Pachters Regel (Regina) mitgeben, ſo lang ſie da am Berge weidet? Meinetwegen kann der Junge mittrei¬ ben, wenn ich ihn nur immer im Geſicht behalte. Ich muß es noch abwarten, was die Reichsritter¬ ſchaft dazu ſagen oder ſchreiben wird, daß ein Eh¬ renmitglied derſelben, mein Held, Nachmittags um89 4 Uhr ſich allemal eine lange Haſelgerte abdrehte und damit ein Ochſenjunge wurde und neben der eilfjaͤhrigen Stroͤßners Regina die Schaaf - und Rindsheerde und das Lamm am Band mit ſolchem Stolze und mit ſolchen Jupiters Augenbraunen austrieb, daß er leicht andeutete, er lenke den ganzen Stall und die Reichsritterſchaft ſolle ihm nur jezt kommen.

Nur im tauſendjaͤhrigen Reiche giebts ſolche Nachmittage wie Guſtav an der Anhoͤhe gleichſam auf dem Schooße der Erde hatte. Mein Vater haͤtte mich in die Zeichenſchule ſenden ſollen: koͤnnt 'ich nicht jezt die ganze Landſchaft in meinem Far¬ benſtrom ſtatt im Dintenſtrom auffangen und hin¬ ausſpiegeln? Wahrhaftig ich koͤnnte jedes Ge¬ buͤſch mit dem hineinſchluͤpfenden Vogel dem Leſer in die Augen reflektiren, jede lippenfarbige Roth¬ beere der Felſen-Abdachung jedes von Anflug uͤber¬ wachſene Schaaf und jeden Baum den das Eich¬ hoͤrngen mit zerbroͤckelten Tanzapfen umſaͤete. In¬ zwiſchen giebts Dinge an denen wieder die Iltis - Haare des Pinſels vergeblich buͤrſten, die aber ſchoͤn aus meinem Kiele rinnen das auf Genuͤſ¬ ſen ſchwimmende Auge Guſtavs,[fließet] ſanft90 hinuͤber und heruͤber zwiſchen dem Lamme, dem hellen Blumengrund mit der Schatten-Landſpitze und zwiſchen dem magiſchen Geſichte der Regina und braucht nirgends wegzublicken.

Warum ſagt 'ich ein magiſches Geſicht, da es ein altaͤgliches war? weil mein kleiner Apollo und Schaafhirt mit trinkenden Augen auf dieſes Geſicht wie auf eine Blume flog. Unter einer Hirnſchaale wie ſeiner, zu der den ganzen Tag die weiße Flamme der Phantaſie, und kein blaues Brandtewein-Flaͤmmgen des Phlegma, auffackelte, muſte jedes weibliche Geſicht mit verguͤldeten Rei¬ zen in Goͤtterfarbe und nicht in Todtenfarbe da¬ ſtehen. Alle Schoͤnen hatten bei ihm den Vortheil noch, daß er ſie nicht ſeit 10 Jahren ſondern ſeit 10 Tagen ſah. Indeſſen iſt das nicht ſeine erſte Liebe, ſondern nur ein Praͤliminar-Rezeß, eine Ouverture, ein Protevangelium irgend einer er¬ ſten Liebe, mehr nicht.

Zwei ganze Wochen trieb er ſein Lamm auf die Weide, eh 'ſein Muth ſo weit ſtieg, daß er nicht ſich neben ihr Strickzeug hinſetzte, das uͤberſtieg Menſchenkraͤfte, ſondern nur daß er das Schaaf an ſeinem poſtillon d'amour feſt hielt,91 nicht um es zu Reginen hinzuziehen ſondern um von ihm hingezogen zu werden: denn die beſte Liebe iſt am bloͤdeſten, und die ſchlimmſte am kuͤhn¬ ſten. Wie ein ſtillender Mond legte ſich alsdann, wenn ſie mehr in ſeinen Gedanken als in ſeinen Augen war, ihr Bild an ſeine traͤumende Seele und ſo viel war ihm genug. Sein zweites Mit¬ tel, ihr Akzeſſiſt zu werden, war der runde Schat¬ ten eines tiefer unten ſchwankenden Lindenbaums, hinter dem die Abendſonne wie hinter einem Ja¬ louſieladen ſich zerſplitterte. Mit dieſem Schatten rutſcht' er nun der Regina immer naͤher; unter dem Vorwand als mied 'er die eine Sonne, ruͤckte er einer andern roͤthern zu. Von ſolchen kleinen Spitzbuͤbereien laͤuft die Liebe uͤber; ſie werden aber alle[errathen] und alle verziehen; und ſie wer¬ den oft mehr vom Inſtinkt als vom Bewuſtſeyn in¬ ſpirirt. Wenn freilich der Abend langſam aus dem Thal ſich in die Hoͤhe richtete wenn die ein¬ ſchlummernde Natur in abgebrochenen Lauten des zu Bette gegangnen Vogels gleichſam noch ein Paar Worte im halben Schlafe ſagte wenn das Glockenſpiel am Halſe der Heerde, die unſchuldige Blumen der Freude aus Wieſen pfluͤckte, und der uniſone Guckguck und das verwirrte Abendge¬92 raͤuſch die Taſten der verborgenſten Saiten ge¬ druͤckt hatten: ſo nahm ſein Muth und ſeine Lie¬ be um ein Namhaftes und nicht ſelten in dem Grade zu, daß er den Kuchen, den er fuͤr ſie ein¬ geſteckt, oͤffentlich aus der Taſche holte und ohne Bedenken ins Gras legte, um ihr wirklich den Antrag dieſes Backwerks zu machen, ſobald ſie in der Daͤmmerung beim Schlosthor auseinander muſten: hier ſtieß er ihr die Schenkung mit haſti¬ ger Verwirrung zu und ſprang mit freudiger Be¬ ſchaͤmung davon. Gelang es ihm, ihr dieſes Abend¬ opfer zu inſinuiren: ſo war jede Pulsader ſeines Arterienſyſtems ein entzuͤckt klopfendes Herz (denn die Sprache und Freude ſeiner Liebe war Geben) und unter ſeiner Bettdecke pflanzte er die ganze Nacht kuͤhne Plane auf Morgen, die der Nach¬ mittags Glockenhammer mit vier Schlaͤgen ſaͤmmt¬ lich bis auf ihre Herz-Wurzel in die Erde ſchlug. Sie that immer das breite Halstuch ihrer Mutter um; daraus muß es ein Philoſoph von Verſtand ableiten, daß ihm ſpaͤter die großen Hals¬ tuͤcher der Damen gefielen, die ich ſelber den vo¬ rigen Taͤndelſchuͤrzen des Halſes vorziehe; aus dem naͤmlichen Grunde gefielen ihm und mir auch breite Kopfbinden und breite Schuͤrzen. Ich habe ſchon93 mit Philoſophen l'Hombre geſpielt, die es um¬ wandten und behaupteten, alles das gefalle ihm, nicht weil das Zeug an der Schoͤnheit (Reginens) war ſondern weil die Schoͤnheit am Zeuge war.

Im Grund ſchaͤm 'ich mich, daß ich hier, waͤh¬ rend die zerriſſendſten Backalaureen eintunken und den uͤbrigen Backalaureen die feinſten Sponſalien von Koͤniginnen und Marquiſinnen ausmalen, mei¬ ne Schreibmaterialien auf das Weiden und Verlie¬ ben zweier Kinder verwende. Beides lief bis in den Herbſt hinein fort und ich moͤchte es abſchildern; aber wie geſagt die Schaam vor den Backalaureen! Und doch goͤnn' ich dir, winziger Traͤumer, ſo ſehr dieſe weiße Sonnenſeite deines Lebens an dei¬ nem Berge und dein Lamm und dein Auge! Und ich moͤchte ſo gern die Tage, die vor dir voruͤber¬ laufen und deinen kleinen Schoos mit Blumen uͤberlegen, zum Stehen bringen, damit der Lei¬ chenzug der grimmigen Tage hinten halten muͤſte, die deinen Schoos entlauben werden dein Luſt¬ hoͤlzgen lichten dein Lamm ſtechen deiner Re¬ gina Dienſtgeld zur Magd geben!

Aber im Oktober faͤhrt alles nach Unterſchee¬ rau; und die Kinder wiſſen noch nicht einmal, daß es Lippen und Kuͤſſe giebt!

94

O Wochen der vorerſten Liebe! warum ver¬ achten wir euch mehr als unſre ſpaͤtern Narrhei¬ ten? Ach an allen eueren ſieben Tagen, die an euch wie ſieben Minuten ausſehen, waren wir un¬ ſchuldig, uneigennuͤtzig und voll Liebe: Ihr ſchoͤ¬ nen Wochen! ihr ſeid Schmetterlinge, die aus ei¬ nem unbekannten Jahre*)Die Schmetterlinge im Frühling haben ſich (im Zölibat) aus dem vorigen Jahre hergefriſtet; die im Herbſt ſind Kinder des gegenwärtigen Jahres. heruͤber lebten, um un¬ ſerem Lebens-Fruͤhlinge vorzuflattern! Ich wollte, ich daͤchte von euch noch ſo enthuſiaſtiſch wie ſonſt, von euch, wo weder Genuß nach Hofnung an Graͤnzen ſtockten! du armer Menſch! wenn der zarte weiße die ganze Natur uͤberzaubernde Nebel deiner Kinderjahre herunter iſt: ſo bleibſt du doch[nicht] lange in deinem Sonnenlichte, ſondern der gefallene Nebel kriecht wieder als dichtere Gewitterwolke unten rings am Blauen herauf und am Juͤnglings-Mittage ſteheſt du unter den Blitzen und Schlaͤgen deiner Leidenſchaften! Und Abends regnet dein zerſchlitzter Himmel noch fort!

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Achter Sektor.

Abreiſe weibliche Launen zerſchnittene Augen.

Da die Edelleute und Waldratten im Sommer das Land, im Winter die Stadt bewohnen: ſo thats der Rittmeiſter auch; denn die ſchoͤne Na¬ tur (meint 'er und ſein Gerichtshalter) laͤuft am Ende auf nichts als auf ein Inventarium von Bauern hinaus, deren Ellbogen und Schenkel in einer Scheide halb von Zwillich halb von aufge¬ flicktem Leder ſtecken, auf Sumpfwieſen, auf Brach¬ felder und auf Schweinvieh, und es giebt da nichts zu empfinden als Geſtank in der Stadt hinge¬ gen iſt doch ein Stuͤck Fleiſch zu haben, ein Spiel fraͤnzoͤſiſcher Karten, einiger wahrer Spas und ein Menſch. Es iſt jugendliche Intoleranz, einem, der kein Gefuͤhl fuͤr Muſik und Gegenden hat, auch das fuͤr fremde Noth und Ehre abzuſprechen, be¬ ſonders dem Rittmeiſter.

Noch viel wichtigere Gruͤnde trieben ihn nach Scheerau; er ſuchte da 13000 Rthlr. eine Menge Rekruten und einen Hofmeiſter. Den letzten zuerſt: ſeine Frau ſagte: Guſtav muß jemand96 haben, es fehlt ihm noch an Lebensart! aber Hofmeiſtern fehlts nicht daran die Infanten aus dem Alumneum, die nichts hebt als eine Kanzel¬ treppe, die ſo lange die Seelenhirten des jungen Edelmanns ſind, bis ſie die Seelenhirten der Ge¬ meinde werden, welche ihr Eleve regiert, dieſe paͤdagogiſchen Pouſſierer ſind im Stande nicht bloß den Kopf des Junkers wie der Vater hoft ſondern auch den Rumpf deſſelben wie die Mut¬ ter hoft recht gut zu formen und zu glaͤtten erſtlich ohne eigne Glaͤtte, zweitens in Lehrſtun¬ den, drittens mit Worten, viertens ohne Wei¬ ber, fuͤnftens auf eine ſechste Art, dadurch, daß der Hofmeiſter das weiteſte Loͤwenherz zu ei¬ nem ſchlaͤfrigen Dachsherzen einkrempt.

Der zweite metalliſche Sporn, der ihn nach der Stadt forttrieb, war das Geld. Niemand kam ſo leicht in den Fall, ein Glaͤubiger ſowohl als ein Schuldner zu werden als er: die halbe Nachbarſchaft hatt 'er, weil er weder ſich noch andern etwas abſchlug, zuletzt in ſeine Gaͤſte und ſeine Schuldner verwandelt; aber jezt verwan¬ delte er daruͤber ſich beinahe ſelber in beides, wenn nicht der Landesherr ſeinen zerrollenden Geldhau¬fen97fen wieder aufbauete. Er muſte alſo nach Ober¬ ſcheerau, der Reſidenz, die mißliche Bitte mit¬ bringen, daß ihm dieſer 13000 Rthlr. nicht ſowohl ſchenken oder leihen das waͤre zu machen gewe¬ ſen als bezahlen moͤchte, als ein Kapital von 7 Jahren. Der Scheerauiſche Sophi hatte naͤmlich die Gewohnheit, keine Geliebte abzudan¬ ken ohne ihr ein Landgut, oder ein Regiment, oder einen geſtirnten Mann mitzugeben er ließ von einer Maitreſſe allzeit noch ſo viel uͤbrig, daß noch eine Ehefrau fuͤr einen Ehetropfen daraus zu machen war, wie der Adler und Loͤwe, (auch Fuͤrſten der Thiere,) allemal ein Stuͤck vom Rau¬ be unverzehrt fuͤr anderes Vieh liegen laſſen. Mit¬ hin trennte er ſich auch von der Mutter ſeines na¬ tuͤrlichen Sohnes des Kapitain von Ottomar auf dem Rittergut Ruheſtadt, das er an einem Tage (mit Falkenbergs Gelde) kaufte und ver¬ ſchenkte.

Drittens wollte der Rittmeiſter in Scheerau ſeinen Unteroffizieren, die meiſtens da lagen, ein Paar Schritte erſparen: denn er ſchlug zwar mit dem Stock ſo leicht wie eine Dame mit dem Faͤ¬ cher zu, aber er brach nicht gern einer Heuſchrek¬G98ke das ſechſte Bein aus und daher ſchonte er die ſeiner Leute, die viere weniger hatten, um ſo mehr.

Endlich packen ſie ein, die Falkenbergiſchen: wir wollen dabei ſeyn. Da deine Seele wie Uh¬ ren und Pferde nur unter dem Reiſen nicht ſtockte: ſo war er am Abzugsmorgen am froheſten und ra¬ ſcheſten; liebte keine Fortſchreitung durch Sekun¬ den, ſondern durch[Nonen]; fluchte uͤber ſaͤmmt¬ liche Haͤnde und Fuͤße im Schloß, weil ſie nicht flogen; druͤckte und ſtauchte das weibliche Schif und Geſchirr mit ehernen Haͤnden in die naͤchſte Schachtel hinein; und hatte keine andere abſuͤh¬ rende Haarſeile ſeiner ungeduldigen Langweile als ſeine Fuͤße, die ſtampften, und ſeine Haͤnde, mit denen er theils den Kutſcher aus ſolchen Gruͤnden wie dieſer die Pferde, auswirte, theils die Re¬ ſtanten im Schloſſe ſaͤmmtlich recht gut beſchenkte.

Die Rittmeiſterin aber weiß alles ſo komplett und vernuͤnftig zu thun, daß ſie mit nichts fertig wird. Haͤtte ſie drei Spruͤnge zu thun, um dem herunterplumpenden Monde auszuweichen: ſo ſtreif¬ te ſie doch, eh 'ſie ſpraͤnge, noch eine Falte aus der Fenſtergardine heraus beim Plaͤtten waͤr's99 noch aͤrger. Gleich Gelehrten liegt ſie neben dem Brodtſtudium noch einem Nebenſtudium und Bei¬ werk ob und thut mit jeder Sache die benachbar¬ ten mit. Ich kann nun einmal nicht ſo luͤderlich ſeyn wie andre Weiber ſagte ſie jezt zum knir¬ ſchenden Ehemann, der acht ſtumme Minuten ihr zuſah. Ich wollt' ins Teufels Namen lieber, Du waͤreſt die luͤderlichſte in der ganzen ſchriftfaſſigen Ritterſchaft ſagt 'er. Da ſie nun ſo oft ſie Sturm und Unrecht hatte, bloß auf den zornigen Hyperbeln des andern ankerte, wie ich als appel¬ latiſcher Sachwalter haͤufig muß: ſo bewieß ſie auch dasmal geſchickt, daß an luͤderlichen Frauen wenig waͤre und da einen hitzigen Rittmeiſter nichts noch mehr aufbringt als ein ſtolzer Beweiß deſſen, was er gar nicht laͤugnet: ſo giengs wie allemal loß die Zungen-Streitflegel bewegten ſich ſeine Speicheldruͤſe, ihre Thraͤnendruͤſe, und beider Gallenblaſen ſezernirten ſo viel als in chriſt¬ lichen Eheſtunden ſezerniret werden muß aber 15 Minuten und 15 Packereien ſogen wie Venen alle dieſe ehelichen Abſonderungen wieder ein. Beim Abreiſen hat kein Menſch Zeit, ſich zu erboßen.

G 2100

Sie war auf meine Ehre eine recht gute Frau, aber nur nicht allemal, z. B. beim Abrei¬ ſen am wenigſten: ſie wollte erſtlich dableiben und keifte in alle hoͤrende Weſen hinein, zweitens woll¬ te ſie fort. Niemals, wenn ihr Mann am Mor¬ gen ſich und ſeinem Hunde den Halsſchmuck um¬ legte, um Viſiten zu machen, begehrte ſie mit (ſie muͤſte denn die voͤllige Unmoͤglichkeit mitzukom¬ men vorausgeſehen haben:) ſondern wenn er am zweiten Tage nur ein Wort von einer Dame, die mit da geweſen, ſchießen ließ, ſo klagte ſie ihm ihre Noth: unſer eine riecht nun den ganzen Sommer nicht aus dem Hauſe hinaus. Wollt 'er ſie das naͤchſte Mal mitzwingen: ſo war entſetzlich zu thun, es war zu bleichen, zu jaͤten, Fleiſch¬ faͤſſer und Serviettenpreſſen zuzuſchrauben Waͤſch¬ zettel und alles zu machen, oder das vorzuſchuͤtzen: ich bin am liebſten bei meinem Kleinen. Allein ihre Abſicht, die wenige erriethen, war bloß, an zwei Orten auf einmal zu ſeyn, in und außer dem Hauſe und es iſt fuͤr unſre Weiber ſchlimm, wenn unſre Philoſophen und Maͤnner nicht ſo viel einſehen wie die katholiſchen Philoſophen und Maͤn¬ ner, die kombriſchen, Ariaga, Bekanus laͤngſt101 einſahen,*)Affirmant idem corpus existens in duobus locis habere posse ntrobique formas absolutas non dependentes ita ut hie moveatur locatiter, illic non, hic calidum sit, illic frigi¬ dum. etc. hic morlatur, illic vivat, hic eliceret actus vita¬ les tum sensitivos tum intellectivos, illic non Voetii disp. theol. T. I. p. 632. Bekanus ſchränket es mit philoſophi¬ ſchem Scharfſinn ſo weit ein, daß ein ſolcher Körper alſo eine Frau nicht am einen Orte[fromm] und zugleich am andern gottlos ſeyn könne; dieſes leuchtet mir auch ein. daß der naͤmliche Koͤrper leicht zur naͤmlichen Sekunde an zwei Orten, oder mehre¬ rern nicht nur auf einmal ſitzen, reden, wachſen, ſondern auch in der einen Stadt empfinden koͤnne, in dem er in der andern denkt, zu gleicher Zeit in der Kirche lachen und in dem Theater weinen koͤnne.

102

Extrablaͤttchen.

Sind die Weiber Päbſtinnen?

Alle Fragen dieſes Blaͤttgen that ich an eine Aeb¬ tiſſin, die lieber Muͤnzen als Fromme machen ließ. Iſt nicht die dreifache Krone des Pabſtes jezt auf den weiblichen Koͤpfen als eine vier-fuͤnffache da und ſchoſſen nicht ihre Huͤthe in die Hoͤhe wie Sal¬ lat in den Hundstagen? Iſts nicht den Weibern ſelber ſchon bekannt, daß ſie ſo untruͤglich ſind wie der Pabſt, und wenn dieſer es mehr in dog¬ matiſchen als in hiſtoriſchen Dingen iſt wie die Janſeniſten glauben, iſts bei den Paͤbſtinnen nicht umgekehrt? Und wer hat den Muth eine zu widerlegen, die er nicht geheirathet? Der Pabſt iſt Gottes Vicekoͤnig oder gar Gott ſelbſt, wenn dem Felinus*)Wolfii lect. memorab. Cent. XVI. p. 994. etc. zu glauben: ſind aber die Paͤb¬ ſtinnen nicht bekannte Goͤttinnen? Allerdings ſagt ein Pabſt ſelbſt, Klemens VI. daß er Engeln befehlen koͤnne, jeden Kerl aus dem Fegefeuer in103 den Himmel zu ſpediren;*)Wolfii lect. memorab. Cent, XVI. p. 994 etc. brauchen aber unſre Paͤbſtinnen Engel dazu? Blos eine Woche brauchen ſie um uns ins Fegefeuer, und eine Stunde, um uns zuruͤck in den Himmel zu werfen Maria¬ nus Soccinus, der behauptet,**)loco cit. daß ein Pabſt aus Nichts Etwas; aus Unrecht Recht und aus allem Henker allen Henker machen koͤnne, muß nur nicht glauben, daß unſre Paͤbſtinnen es nicht auch vermoͤgen und ſind ihm ihre Ohrenbeichten nicht erinnerlich? Wer exkommuniziert ſeine Ke¬ tzer: oder diſpenſiret ſeine Rechtglaͤubigen oͤfter, Paͤbſte oder Paͤbſtinnen? Und wer macht heut zu tage, durchlauchtige Aebtiſſin? allmaͤchtigere Augenbreven und Lippenbullen, wer kreiret mehr Heilige, mehr Seelige, und mehr Nunzien a und de latere? Petri Nachfolger oder Petri Nachfolge¬ rinnen? Paͤbſte ſollen ſonſt immerhin Koͤnigrei¬ che weggeſchenkt oder abgenommen haben: beherr¬ ſchen nicht Paͤbſtinnen dieſe Koͤnigreiche? Paͤbſte konnten von Amerika nichts verſchenken als den Namen: iſt aber nicht das, was einige Paͤbſtin¬ nen von dieſem Lande uns mittheilen, etwas viel104 reelleres? Koͤnige, die ſonſt von Paͤbſten ge¬ quaͤlt wurden, werden jezt von Paͤbſtinnen begluͤckt; und wenn jene hoͤchſtens einen oder ein Paar Koͤnige ſchufen, werden nicht die Koͤnige unter den meiſten europaͤiſchen Thronhimmeln von Paͤbſtinnen formirt, und zwar in niedlichem Taſchenformat bis ſie aus der Laufſchuͤſſel nach und nach heranwachſen, daß ſie ſo lang ſind wie ich oder ihr Thron? Kuͤſſen wir ih¬ nen nicht den Pantoffel oͤfter als dem ſeeligſten Va¬ ter, maßen die zwei Arme vom Profeſſor Moſkati zu Padua laͤngſt, als zwei Vorderfuͤße befunden wor¬ den, auf deren lederne oder ſeidne Schuhe wir alle Wochen unſre Lippen druͤcken? Legen nicht Pabſt und Paͤbſtin den alten Namen ab, wenn ſie den Thron beſchreiten, den der eine durch Alter, die an¬ dre durch Jugend behauptet? Und wenns wahr waͤre, daß Pabſt und Paͤbſtin urſpruͤnglich nur Bi¬ ſchoͤffe einer Provinz (eines Mannes) ſeyn ſollen und daß es weiter keine Paͤbſtin giebt als die gute Jo¬ hanna; wuͤrd 'ich wohl gerade das Gegentheil oͤf¬ fentlich in einem Extrablaͤttgen oder heimlich zu Ih¬ nen zu ſagen wagen, durchlauchtige Aebtiſſin?

Ende des Extrablatts.

105

Fortſetzung des vorigen Sektors.

Waͤhrend ich die Aebtiſſin befragte: kam ich von der humoriſtiſchen Rittmeiſterin weg. Ich will ſe¬ tzen, ich oder der Leſer haͤtten ſie geheirathet: ſo wuͤrden wir zwar dem Himmel danken, an ihren Ringfinger unſern brillantirten Ring geſchraubt zu haben aber doch wuͤrden wir uns taͤglich wie man ſieht, mit ihr herum zu beiſſen haben: ſo ge¬ wiß bleibts, daß nicht die weiblichen Laſter, ſondern die weiblichen Launen ſo viel Pferdeſtaub und Dor¬ nen in das Ehelager ſaͤen, daß oft der Satan dar¬ auf liegen moͤchte.

Ohne Guſtav, der ſoviel zuſchleppt, kaͤmen wir vor zehn Minuten nicht aus dem Schloſſe. Mein Leſer malt ſich ihn wider meine Erwartung ganz falſch vor, traurig naͤmlich, weil er aus ſeiner Kind¬ heits-Erdenwiege, aus ſeinem Adamsgarten und von ſeinem Abendberge weichen ſoll. So falſch! Ein anderer Leſer wuͤrde ſich ihn freudig denken, weil fuͤr Kinder, denen noch jede andre Szene eine neue iſt, Reiſen die Schoͤpfung eines neuen Him¬ mels und einer neuen Erde iſt und weil die Phan¬106 taſien eines Kindes noch keine kummerhaften ſind. Scheerau mußte in ſeinen Vermuthungen durchaus die Stadt mit langen Haͤuſern ſein, worin, er mit ſeiner Schweſter geſpielt. Noch dazu wurde was allen Kindern eine Naturaliſationsakte iſt ſein Spielmagazin eingeſchifft; ſogar den Staarmatz, der als geſchuͤttelter Hierarch in der ſalomoniſchen Filialkirche auf und abſprang, hielt er auf den ſtau¬ chenden Knien. Jeden Winkel des Schloſſes bedau¬ erte er ſamt dem was drinnen war, daß es nicht mit einſteigen duͤrfte: dieſes ganze Konchylienge¬ haͤus kam ihm ſo eng, ſo abgegriffen, ſo abgeſchoſ¬ ſen vor! Leute die wenig gereiſet, ſchauen ihre Stube in den Augenblicken der Abreiſe der An¬ kunft und in den uͤbrigen mit drei verſchiedenen Gefuͤhlen an: fuͤr Zugheuſchrecken und Zuggefluͤgel ſind die Chauſſeen und Gaſſen nur die Korridore zwiſchen den Zimmern.

Schon eine halbe Stunde ſaß er auf den nack¬ ten Kutſchenkaſten voraus, mit den Beinen in Ge¬ paͤck eingekeilt und in zappelnder Erwartung wenn die Pferde den erſten Riß thaͤten. Endlich wurde die Wagenthuͤre zugeworfen und alles rollte dahin, den Berg hinab, den Gemeindeanger hinuͤber, auf107 welchem der weißgeſchaͤlte Baum, der zur Kirch¬ weih ſich mit geroͤthelter Fahne und Baͤnderwim¬ peln noch einmal in die Erde bohren ſollte, unſe¬ rem Guſtav ganz veraͤchtlich wurde, der jetzt in Scheerau hundert ſchoͤnern Maienbaͤumen und Kirch¬ weihen entgegenfuhr. Aber als er von der an Freuden fruchtbaren Region ſeines Berges vor¬ uͤbergieng: ſo zog er vom Trauergeruͤſte der ge¬ ſtorbnen Nachmittage, vom klingelnden Vieh das jetzt am Gipfel graſete, von einem Weidekollabora¬ tor, der ihm ſchlecht gefiel, vom zuſammengetra¬ genen Steinpferch, in den er ſein Laͤmmchen geſtellt, das nun ohne Band und ohne Liebe droben ſtand, und endlich vom Markſtein, auf dem ſonſt ſeine Traute, ſeine Schoͤne ſtrickte, davon freilich zog er die zuruͤckgewandten Blicke ſehnend langſam weg. Ach, dacht 'er, wer wird dir Zitronenkuchen ge¬ ben und meinem Laͤmmchen Brodrinden? Ich will euch aber ſchon alle Tage recht viel herſchicken!

Es war ein reiner Oktobermorgen, der Nebel lag zuſammengefaltet dem Himmel zu Fuͤßen, der wegfliegende Sommer ſchwebte mit ſeinen blauen Schwingen noch hoch uͤber den Aeſten und Blumen, die ihn getragen und ſchauete mit dem weiten[ſtill]108 erwaͤrmenden Sonnenauge den Menſchen an, von dem er Abſchied nahm. Guſtav wollte aus dem Wagen, um den bethaueten fliegenden Sommer der zartgeſponnen wie ein Menſchenleben die Erde uͤberzog, zuſammen zu wickeln und mitzunehmen. Aber du Menſch! haͤngſt ſo oft als ſtinkende Peſt - und Nebelwolke in die reine Natur herein!

Denn ſie mochten kaum eine Stunde gefahren ſeyn, nach der er ſchon jedes Dorf fuͤr Scheerau hielt .... Ich will aber erſt angeben, wo's war. Bei Iſſig ſchrie der Kleine im Wald o! jetzt wird der ſchwarze Arm hereinlangen und mich hinaus¬ ziehen! Als ſich der Alte noch daruͤber wunder¬ te, woher der Kleine wuͤßte, daß jetzt eine Arm¬ ſaͤule kaͤme, die wirklich aus den Baͤumen heraus¬ wies: ſo fiengs auf einmal darhinter an zu ſchreien: ach meine Augen, meine Augen! Den Kleinen und die Mutter petrificirte der Schrecken; aber der Rittmeiſter ſtuͤrzte ſich aus, oder durch den Wagen, zerſtieß die Glaͤſer und prallte in den Wald hinein und an ein kniendes feines Kind hinan, aus deſſen zerſchnittenen Augen Thraͤnen und Waſſer liefen. Ach thu mir nichts, ich kann nimmer ſehen! ſagt 'es und griff mit den Haͤnd¬109 chen um ſich, um die Lanzette wegzuſchlagen, die zu ſeinen Knien lag. Wer hat dir denn gethan? ſagt' er mit der ſanfteſten vom heftigſten Mitleid brechenden Stimme; aber eh 'es ſprach, kam ein altes verwuͤſtetes Bettelweib naͤher und ſagte, im Gebuͤſch waͤr' ein Bettler hingeſchoſſen, der's Kind blenden haͤtte wollen, um darauf zu betteln. Al¬ lein das Kind kruͤmmte ſich mit groͤßern Konvulſio¬ nen an ſeine Hand und ſagte: o! ſie will mich wieder ſchneiden. Der Rittmeiſter errieth die Spitzbuͤberei, ſchlitzte den naͤchſten Aſt herab, peitſch¬ te die Elende mit verfehlender Wuth ins Angeſicht und lief mit dem Blinden auf dem Arm dem furcht¬ ſamen Wagen zu. Es war ein herzerdruͤckender Anblick, der unſchuldige Wurm mit feinen Zuͤgen und Bewegungen in Lumpen und mit roth einge¬ runzelten Augen!

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Neunter Sektor.

Eingeweide ohne Leib Scheerau.

Nicht blos Luͤgner und L'hombreſpieler, ſondern auch Romanenleſer muͤſſen ein gutes Gedaͤchtniß ha¬ ben, um die erſten 10 oder 12 Sektores gleichſam als Deklinationen und Konjugationen auswendig zu lernen, weil ſie ohne dieſe nicht im Exponiren fortkommen. Bei mir ſteht kein Zug umſonſt da in meinem Buche und in meinem Leib haͤngen Stuͤcke Milz; aber der Nutzen dieſes Eingeweides wird ſchon noch herausgebracht. Da ein Roman¬ ſchreiber wie ein Hofmann blos darauf hinarbeiten muß, daß er ſeinen Freund und Helden ſtuͤrze und in geladen Gewitter fuͤhre: ſo formire ich ſeit ei¬ nem Quartale am Himmel hie ein graues Woͤlk¬ chen das ſchwindet, dort eines, das zerlaͤuft; aber wenn ich endlich alle Zellen des Horizonts unſicht¬ bar elektriſirt habe: faſſ 'ich den ganzen Teufel in ein Donnerwetter zuſammen nach dem Abdruck von 14 Bogen kann der Setzer das Krachen ſchon hoͤren und ſetzen. Im Grunde iſt freilich111 kein Wort wahr; aber da andre Autoren ihre Ro¬ mane gern fuͤr Biographien ausgeben: ſo wird es mir verſtattet ſeyn, zuweilen meiner Biographie den Schein eines Romans anzuſtreichen.

Das Kind gab ſtatt ſeiner Geſchichte blos die Klagen uͤber ſeine Geſchichte. Es ſchien uͤber ſie¬ ben Jahre alt, akzentuirte das Deutſche italieniſch und ſein kraͤnklich zarter, blaßrother Koͤrper legte ſich um ſeine Seele wie ein bleiches Roſenblatt um das Wuͤrmchen darin. Sein Vater hieß Doktor Zoppo, kam aus Pavia, botaniſirte ſich aus Ita¬ lien nach Deutſchland, ließ die Kleinen unterwegs gelbe Blumen reiſſen. Der blinde Amandus wollte in dieſem Walde auch Kraͤuter pfluͤcken; aber die teufliſche Okuliſſin traf ihn, half ihm gelbe Blumen finden, und lokte ihn damit ſo tief in den Wald hinein, daß ſie ihm Kleider und Augen rauben konnte.

Guſtav fragte ihn jede Minute, ob er noch nicht ſaͤhe, ſchenkte ihm ſein Dejeuner, damit er nicht mehr weinen ſollte und konnte ſeine Blindheit, da ſeine Au¬ gen ſo offen waren, nicht faſſen. Im naͤchſten Land¬ ſtaͤdtchen ließ ſich Falkenberg raſiren und den Amandus verbinden. Ich ſah einmal auf der letzten Station112 vor Leipzig eine ſo reizende Queerbinde uͤber der Stirn und dem Auge eines Maͤdchens, daß ich wuͤnſchte, meine Frau wuͤrde von Zeit zu Zeit dort¬ hin laͤdirt, weils nett ausfaͤllt: hingegen Amandus Bandage uͤber zwei Augen machte ihn zu einem Kin¬ de des Jammers.

Da Amandus in beſſerer Einkleidung und mit der traurigen Binde im Wagen ſaß: konnte Guſtav gar nicht zu weinen aufhoͤren und wollte ihm ſeinen Matz herauslangen und ſchenken: denn nicht die Groͤ¬ ße, ſondern die Geſtalt des Leidens beſtimmt das Mit¬ leiden.

Wenige Menſchen, die nach Scheerau fahren, werden das naͤrriſche Gluͤck haben, daß ihnen zwei Stunden davor ein[iſolierter] Magen ohne den Per¬ tinenz-Menſchen aufſtoͤßet: Falkenberg und ſeine Leu¬ te und Pferde hatten dieſes Gluͤck. Es kam angefah¬ ren der Magen, das duͤnne und dicke Gedaͤrm, die Leber, worin die Fuͤrſten ihre Galle ſieden, die Lun¬ ge deren Luftblaͤschen die fuͤrſtliche Gallenblaſe ſind wie die Luftroͤhre der Gallengang derſelben iſt, und das Herz; aber kein Leichnam kam mit: denn der Leichnam, der regierender Herr von Scheerau war, lag ſchon in der Erbgruft. Dieſer Magen verdauteſoviel113ſoviel wie ſein Gewiſſen, naͤmlich ganze Hufen Lan¬ des; und beſſer als ſein duͤnner Kopf, dem Wahr¬ heiten und Gravamina eine ſchwere Speiſe waren; die papinianiſche Magenmaſchine wirkte noch im Alter, als ſchon alles andre kindiſch war. Er ritt, kurz vor ſeinem Tode, Stundenlang einen Kam¬ merherrn, den er wohl leiden konnte: gleichwol ſchob er den Teller und das Glas weg, wenn nicht der alte Inhalt in beiden war. Hinter dem Inteſti¬ nenſarge dem Reliquienkaͤſtchen des Unterleibes fuhren der Obriſtkuͤchenmeiſter, einige Beikoͤche, der Hofkellereiadjunkt und noch groͤßere Glieder des Hofetats z. B. der Medizinalrath Fenk. Die¬ ſer und Falkenberg bemerkten einander nicht: der letztere ſtieß heute auf lauter Seltenheiten, den Doktor, den er in Italien, und den Fuͤrſten, den er noch auf der Erde ſuchte. Die gekroͤnten inſolventen Eingeweide, die ihn ſo das Geld nicht zahlten, verwickelten ihn nun mit dem Kronerben in ein Kreditorengefecht.

Der Leichenzug des fuͤrſtlichen Gedaͤrms gieng in der Abtei Hopf, wo das Erbbeggraͤbniß derer fuͤrſtlichen Glieder war, die wenn dem Plato ein Wort zu glauben iſt wahres Vieh ſind undH114mit denen der Menſch, er uͤberſchnuͤre ſie mit Or¬ densbaͤndern oder Tragriemen, allemal ſeine Hoͤl¬ lennoth hat. Ich will der Inteſtinenkapſel nur drei Schritte nachziehen, weil der Medizinalrath jetzt nach ſeiner humoriſtiſchen Sitte, an allen Or¬ ten, in Theater - und Kirchenlogen und Gaſthoͤfen, nur in ſeinem Muſeum nicht, zu ſchreiben in der Begraͤbnißkirche der Inteſtinen ſeine Schreibta¬ fel aufwickelte und Sachen hineinſchrieb die wahr¬ haftig ſo lauten: Da Fuͤrſten ſich an mehrerern Orten auf einmal beerdigen laſſen, wie ſie auch ſo leben, ſo moͤcht 'ichs auch allein nicht an¬ ders als ſo: mein Magen muͤßte in die Epiſkopal¬ kirche beigeſetzt werden meine Leber mit ihrer bittern Blaſe in eine Hofkapelle das dicke Ge¬ daͤrm in ein juͤdiſches Bethaus die Lunge in die Univerſitaͤtskirche das Herz in die triumphi¬ rende, und die Milz in ein Filial. Wenn ich aber erſter Leichenprediger eines gekroͤnten Un¬ terleibes waͤre: ſo haͤtt' ich einen andern Gang; ich naͤhm 'den Schlund zum Eingange des Ser¬ mons, und den Blinddarm zum Beſchluß! Koͤnnt' ich nicht in den edlern Theilen der Predigt die ed¬ lern Theile durchgehen und die Galle hinein brin¬115 gen? So ſcherzt man hienieden. Es giebt einen poetiſchen Wahnſinn, aber auch einen humo¬ riſtiſchen, den Sterne hatte; aber nur Leſer von vollendetem Geſchmack halten hoͤchſte Anſpannung nicht fuͤr Ueberſpannung.

Der Falkenbergiſche Reiſezug kam in Scheerau Abends an, Abends der ſchoͤnſten Zeit um anzulan¬ gen, daher ſo viele Abends in der andern Welt an¬ langen. Guſtav ſchien ſchon da geweſen zu ſeyn, waͤhrend ſeiner Entfuͤhrung: da aber von meinen Leſern die wenigſten der Schoͤnheit wegen nach Scheerau ſind entfuͤhret worden und ſie alſo die Stadt nicht kennen: ſo ſoll ſie ihnen der zehnte Sektor zeigen.

H 2116

Zehnter Sektor.

Ober - Unterſcheerau Hoppedizel Kräuterbuch Viſiten¬ bräune Fürſtenfeder.

Es iſt noch keinem Geographen und Oberkonſiſto¬ rialrath das Ungluͤck begegnet, das H. Buͤſching hatte, daß er in ſeinem topographiſchen Atlas ein ganzes gutes Fuͤſtenthum ausließ, das auf der Wet¬ terauiſchen Grafenbank mit ſitzt und Scheerau heiſ¬ ſet das nach dem Reichsmatrikularanſchlag $$\frac{8}{9}$$ zu Roß und 9⅔ zu Fuße und zum Kammerzieler 21 fl. $$\frac{1}{19}$$ Xr. giebt das unter Karl den IV. gefuͤrſtet wurde das ſeine fuͤnf huͤbſchen Landesſtaͤnde hat, die allerhand zu ſagen aber nichts zu thun haben, naͤmlich den Kommenthur des deutſchen Ordens, die Univerſitaͤt, die Ritterſchaft, die Staͤdte und die Doͤrfer und das unter andern Einwohnern auch mich hat. Ich moͤchte nicht an der Stelle ei¬ nes ſolchen[topographiſchen] Mannes ſeyn, der ſonſt in jede Sackgaſſe mit ſeinem geographiſchen Spiegel kriecht, um ſie zuruͤckzuſpiegeln und der jetzt ein ganzes Fuͤrſtenthum ſamt ſeinen fuͤnf para¬117 lytiſchen Landſtaͤnden rein uͤberſprungen hat: ich weiß, wie es ihn kraͤnkt, aber nun, da ich mit der Welt daruͤber geſprochen, iſt ihm nicht mehr zu helfen.

Die Hauptſtadt Scheerau beſteht eigentlich aus zwei Staͤdten, aus Neu - oder Oberſcheerau, wo der Fuͤrſt reſidirt, und aus Alt - oder Unterſchee[¬]rau, wo der Rittmeiſter logirt. Ich meines Orts bin laͤngſt uͤberzeugt, daß die Sachſenhaͤuſer nicht halb ſo weit von den Frankfurthern abſtehen als die Altſcheerauer von den Neuſcheerauern, im Ton, Geſicht, Koſt und allem. Der Neuſcheerauer hat zu viel Hofton, um nicht Anſtand und Schulden und Wuth zu auſſerhaͤuslichen Freuden zu haben, und doch wieder zuviel Kurialton (weil alle hoͤchſte Landeskollegien da ſind), um nicht uͤberall ſteife Subordination entweder anzuerkennen oder abzufo¬ dern und um nicht aus dem Kammerherrn in den Kanzeliſten und Rechnungsreviſor zuruͤckzufallen. Das ſieht nun der Altſcheerauer ein. Der Neu¬ ſcheerauer hingegan ſieht ein, daß jener folgende Zuͤge hat: wenn in Sina die Maͤuler der Tiſch¬ genoſſenſchaft ſich wie ein Doppelklavier zu gleicher Zeit bewegen muͤſſen; wenn in Monomotapa das118 Land dem Kaiſer nachzunieſen pflegt: ſo gehe man nach Altſcheerau, wo es noch viel beſſer iſt; um die naͤmliche Minute muͤſſen alle Gaſſen weinen, huſten, beten, laxiren, haſſen und piſſen ihre Konduitenliſte ſieht wie eine Partitur aus, aus der alle das naͤmliche Stuͤck, nur mit verſchiednen In¬ ſtrumenten und Stimmen ſpielen blos in der Muſik regiert ſie einiger wahre Freiheitsgeiſt und keiner bindet ſeinen Ellen - oder Fidelbogen oder Tangenten ſklaviſch an ſeines Nachbars ſeinen ſie haſſen ſchoͤne Wiſſenſchaften ſo ſehr wie ſich un¬ ter einander unfaͤhig, geſellſchaftliches Vergnuͤ¬ gen zu entbehren, zu veranſtalten, zu genieſſen, unfaͤhig zu wagen, einander offen zu haſſen und zu lieben und zu ertragen, bohren ſie ſich in ihre Geldhuͤgel und achten oͤffentlich den Reichſten und geheim den Verwandten oder gar niemand ohne Geſchmack und ohne Patriotiſmus und ohne Lek¬ tuͤre ....

Ich mach 'es aber gar zu toll: kein Leſer wird hinter dem Rittmeiſter einen Fuß nach Unterſchee¬ rau ſetzen wollen. Ihr groͤßter Fehler iſt, daß ſie nichts taugen; aber ſonſt ſind ſie fleißig, voll lau¬ ter Kaufleute, frugal und fegen die Gaſſen und119 Geſichter huͤbſch. Reſidenzſtaͤdte haben wie Hoͤfe Familienaͤhnlichkeit; aber Landſtaͤdte haben je nachdem mehr merkantiliſche, militairiſche, juriſti¬ ſche, bergmaͤnnniſche, ſeemaͤnniſche (die ſchlimmſten) Saͤfte in ihnen rinnen ein verſchiednes Vollge¬ ſicht und Halbgeſicht.

Vor der uͤberblechten Hausthuͤr des Profeſſor Hoppedizels ſtieg die Falkenbergiſche Schifge¬ ſellſchaft aus ihrer fahrenden Arche: ſie hielt in des Profeſſors zweitem Stockwerk gewoͤhnlich ihr Winterquartier. Gleich hinter der Hausthuͤre ſtieß der Rittmeiſter auf ein tolles Melodrama. Naͤm¬ lich der Floͤßinſpektor Peuſchel lehnte ſich an die Wand und vomirte und ſchimpfte; und wechſelte damit regelmaͤßig, wie mit Pentameter und Hexa¬ meter Der Profeſſor der Moral ſchrieb mit ei¬ nem uneingetunkten Finger ruhig die Zuͤge folgen¬ der Worte an die Wand, die er unaufhoͤrlich ab¬ las: ekelhaft war's wohl, verteufelt ekelhaft! Aus jedem andern haͤtte ein eintretender alter Freund wie Falkenberg ſogleich die ganze Szene weggewieſen; aber der Profeſſor war nicht aus ſei¬ nem Spas zu ziehen ſondern hob ſeine Umhalſung in unveraͤndertem Tone mit dem Rapport des120 gegenwaͤrtigen Kaſus an: gegenwaͤrtiger H. Floͤ߬ inſpektor Peuſchel zeche gern, Wein aber es habe nichts verfangen, daß die Frau Inſpektorin ( denn ſchonende Diſkretion war nie auf Hop¬ pedizels Lippen ) ihn habe umbeſſern wollen durch einen lebendigen Froſch, den ſie in ſeinem Wein krepiren laſſen. Er ſelber habe daher heute Hand angelegt, ihm das Nippen zu verleiden. Denn er habe zum Gluͤck einen Blaſenſtein ſo dick wie eine Muskatellerbirn aus dem Univer¬ ſitaͤtskadaver geſchnitten: den hab 'er zu einer Trinkurne ausgebohret und Hr. Peuſcheln wei߬ gemacht, aus Lawa ſei ſie heute habe er ſei¬ nen vomirenden Freund aͤchten ungariſchen Aus¬ bruch daraus ſaugen laſſen damit es ihn nun geekelt und zu einem andern Ausbruch genoͤthigt haͤtte, hab er’s vor einem Paar Minuten dem Patienten dargethan, daß das vulkaniſche Spitz¬ glas wahrer Harn oder Nierenſtein geweſen. Und er hoffe, ſein Freund ſchlage ſich das urinoͤſe Stein¬ gut eine Zeitlang nicht aus dem Kopf. Der Profeſſor gieng den Inſpektor an, ihm den Gefal¬ len zu thun, und, ſobald der Ekel nachlieſſe, heute Abends in der Geſellſchaft des Hrn. Rittmeiſters zu einem Loͤffel voll Suppe da zu bleiben.

121

Man komme noch ſo oft in gewiſſe Haͤuſer, ſo erblickt man alles revidirt und umgeſetzt und um¬ geſtuͤrzt; im Hoppedizelſchen am meiſten des Rittmeiſters Winterlager ſah ſtets aus wie ein Gar¬ tenhaus im Winter. Menſchen von feinem Gefuͤhl bezaubern durch eine gewiſſe zaͤrtliche Aufmerkſam¬ keit auf kleine Beduͤrfniſſe des andern, durch ein Errath ſeiner leiſeſten Wuͤnſche, durch eine ſtete Aufopferung ihrer eignen, durch Gefaͤlligkeiten, de¬ ren ſeidenes Geflecht ſich feſter und ſanfter um un¬ ſer Herz herumlegt als das ſchneidende Liebesſeil ei¬ ner großen Wohlthat. Hoppedizel bediente ſich weder des Flechtens noch Seiles und fragte nach Nichts. Es war nicht Abweſenheit des feinen Ge¬ fuͤhls ſondern Ungehorſam gegen daſſelbe, daß er wenn der Rittmeiſter die erſte Woche Logis und Kommodator verfluchte dazu lachte.

Der zarte Amandus bewohnte den ganzen Abend das Siechbett und Guſtav kroch an ſeine Seite, um mit ihm zu ſpielen. Wie heitern uns im ſteinigten Arabien der haſſenden Welt Kinder wieder auf, die einander lieben und deren gute kleine Augen und kleine Lippen und kleine Haͤnde noch keine Maſken ſind!

122

Am andern Tage nahm ſie ein ſonderbarer Zu¬ fall wieder auseinander. Der Rittmeiſter fuͤhrte ſie durch alle Gaſſen der Stadt wie durch eine Bil¬ dergallerie und hielt endlich mit den zwei Herzens¬ milchbruͤdern vor ſeines Freundes, des D. Fenks Hauſe ſtill, und ſah ſehnend das Gemaͤhlde deſſel¬ ben an es bildete eine Doktors Kutſche vor mit einem Arzt innen, mit dem Tode vorn, der in die Gabel eingeſpannt war, und mit dem Teufel oben, der auf dem Bock ſaß. Der gute Narr, dacht 'er, koͤnnt' auch einmal aus ſeinem Italien abziehen und ſeinen Freunden eine Freude machen! Denn er wuſte von ſeiner Ankunft nichts. Man¬ dus! Mandus! lauf 'rauf! ſchrie ploͤtzlich ein zappelndes Maͤdgen oben und kam ſelber geſprun¬ gen und zerrte und guckte am Kleinen. Der gut¬ muͤthige Rittmeiſter wanderte gern aus dem groſ¬ ſen Parterre den Kindern nach ins vertraute Haus und ſeine Verwunderung uͤber alle Zeichen der Ruͤckkehr Fenks endigte nichts als der hereinbre¬ chende Doktor ſelbſt. Dieſer prallte vom halben Wege zu ſeiner Umarmung auf den kleinen Blin¬ den zuruͤck und riß unter Thraͤnen und Kuͤſſen die Bandage auf beſah ſie lange am Fenſter und123 ſagte nach einem tiefen Athemzug: Gott Lob und Dank! er wird nicht blind! Erſt jezt ſchlug der Doktor ſeine Arme mit doppelter Waͤrme um den Freund: verzeih's: es iſt mein Kind! Gleich¬ wohl nahm er Amandus wieder ans Licht und be¬ ſchauete ihn noch laͤnger und ſagte mit hinaufge¬ zognen Augenbraunen: Bloß die Selerotica ſcheint laͤdiert; die Okuliſtin zapfte die waͤſſerige Feuchtig¬ keit heraus. In Pavia ſah ichs alle Wochen an Hunden, denen die Zahnaͤrzte (unſre medizini¬ ſchen Lehnsvettern) die Augen aufſchnitten und ei¬ ne dumme Salbe darauf ſtrichen. Wenn nachher die Feuchtigkeit und das Geſicht von ſelber wieder kam: ſo hatt' es die Salbe gethan.

Ich uͤbergehe jezt den Strom von geſpraͤchiger und freudiger Ergießung, vor dem ſie kaum mehr hoͤrten und ſahen, am wenigſten die Uhr ach ſie kommen! ſagte Fenk, naͤmlich die Gaͤ¬ ſte. Da meine Leſer Verſtand genug haben: ſo koͤnnen ſie mich hoff 'ich auserzaͤhlen laſſen, eh' ſie ihre Zornruthe gegen den bildlichen Steis des Doktors hinter dem Spiegel vorholen.

Niemand als er haßte ſo brennend das Enge; das Intolerante und Kleinſtaͤdtſche der Unterſchee¬124 rauer, womit ſie ſich ein ſo kurzes Leben verkuͤrz¬ ten und ein ſo ſaueres verſaͤuerten , mich eckelts von ihnen gelobt zu werden ', ſagt' er nicht bloß ſondern er erboſte auch gern mit dem ſchlimmſten Anſtrich ſeiner reinſten Sitten alles von[einem] Thore zum andern: indeß vermocht 'er aus Her¬ zens Weichheit mehr nicht zu aͤrgern als die ganze Stadt in groſſo, einen allein nie. Deswegen graſſierte er am zweiten Morgen ſeiner Ankunft wie eine Influenza von einem Hauſe zum andern und bat alle Muhmen, Baſen, Blutsfeinde, Leute die ihn nichts angiengen als die liebe Chri¬ ſtenheit, z. B. den Floͤß-Inſpector Peuſchel, den Lotto-Direktor Eckert mit ſeinen vier Spaͤtbirnen, von Toͤchtern und was, nur Unterſcheerauſchen Athem hatte, das bat er ſaͤmmtlich zuſammen auf den Nachmittag, auf eine Reiſeſeltenheit naͤmlich auf ein herbarium vivum, das er zeigen werde: es ſei kein lebendiges Kraͤuterbuch ſondern etwas ganz beſondres und von den Gletſchern waͤr's meiſte her.

Dieſe kamen eben jezt alle nicht weil ſie das geringſte nach einem Kraͤuterbuch fragten, ſon¬ dern weil ſie es doch ſehen wollten und die Haus¬ haltung des unbeweibten Doktors nebenbei. Ich muß125 den europaͤiſchen Hoͤfen ſo viel geſtehen, daß ſich die Landsmannſchaft und Baſenſchaft mit Grazie hineinhuſtete, hineinfegte und raͤuſperte; und den vier Spaͤtbirnen fehlt 'es nicht an Welt ſondern ſie machten ſtatt der Verbeugung eine Vertiefung und bewegten ſich vertikal ſtatt horizontal. Der Haus¬ wirth trug jezt zwei lange Kraͤuterfolianten herein und ſagte freundlich, er wolle gern alles herwei¬ ſen nun zuͤndete er die Hoͤlle an; in die er die Geſellſchaft warf er kroch mit Raupenfuͤßen und Schneckenſchleim von Blatt zu Blatt des Buches ſo wohl als des Krautes er zeigte nichts ober¬ flaͤchlich er gieng die Piſtillen, die Stigmen, die Antheren eines jeden Gewaͤchſes genau durch er ſagte, er wuͤrde ſie ermuͤden, wenn er weit¬ laͤuftiger waͤre und beſchrieb alſo Namen, Land, Naturgeſchichte eines jeden Graſes ganz kurz alle Geſichter brannten, alle Ruͤcken bruͤhten ſich, alle Fußzehen zuckten vergeblich verſuchte eine Baſe dem blinden Amandus mit den Augen nach¬ zulaufen, um nur etwas Animaliſches zu erſehen, der Botaniker befeſtigte ſie an einen neuen Staub¬ beutel, den er gerade anprieß ſchon bis an die Pentandria hatte er ſeinen Klub geſchleift als er126 ſagte: [De]r heutige Abend ſolt uns nahe um die dodecandr[i]a finden; aber Schweiß und Fleiß ko¬ ſtets er wurde beim allgemeinen Jammer uͤber eine ſolchen Fegfeuer-Nachmittag, dergleichen noch kein Scheerauer erlebt hatte, immer vergnuͤgter und ſagte, ihre Aufmerkſamkeit feuer am meiſten ihn an gleichwohl ließen ſich die botaniſchen Magiſtranden aus einem Blatte ins andere mar¬ tern und wolten verbindlich bleiben: bis der Rittmeiſter, ob er gleich den Scherz errieth, teu¬ felstoll wurde und fortwollte. Der Dokor ſagte den zweiten Folianten muͤſt 'er ohnehin fuͤr eine andre Stunde verſparen; aber er wuͤnſchte, ſie kaͤmen bald wieder, das ſoll' ihm erſt ein Beweiß ſeyn, daß es ihnen heute gefallen. Der bloße Gedanke an den zweiten Torturfolianten woge¬ gen der Thereſianiſche Kodex mit ſeinen Folter - Projektionen nur ein Taſchenkalender mit Monats¬ kupfern iſt fuͤhrte etwas von einem Fieberſchau¬ er bei ſich. So hatten ſie alſo einen ganzen hal¬ ben Tag ſchaͤndlich ohne eine Verlaͤumdung, ohne eine Erzaͤhlung verloren, die haͤtte nach Haus koͤnnen mitgebracht oder von Haus mitgenommen werden. Die aͤltern Damen beſuchten Konzerte127 und Baͤlle gewoͤhnlich nur, um zu ſehen, nicht um geſehen zu werden und um darin phyſiognomi¬ ſche Fragmente zur Befoͤrderung der Menſchen¬ kenntniß, aber nicht der Menſchenliebe auszuarbeiten ja ſie beſuchten ihre erklaͤrten Feindinnen, um uͤber eine abweſende Feindin lo߬ zufallen, wie Woͤlfe einander fliehen außer wenn ſie ſich zum Tode eines andern Wolfs verbinden. Ich habe immer gern bemerkt, daß ein Paar Scheerauerinnen ſich einander am herzlichſten und mit reiner Freundſchaft bloß dann mittheilen, wenn ſie gerade das geheimſte Schlimme von einer drit¬ ten auszupacken haben: wenn zwei auf dem Ka¬ napee nicht mehr nebeneinander ſitzen ſondern ſich die Geſichter ſtatt der Huͤften zuwenden, ſo mag ich der nicht ſeyn, den ſie gerade handhaben.

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Extrazeilen uͤber die Viſitenbraͤune, die alle Scheerauerinnen befaͤllt beim Anblick einer fremden Dame.

Maͤnnern ſchadet da der Anblick einer fremden Da¬ me wenig; bloß alle Friſeurs und Barbiere kom¬ men ſpaͤter als ſonſt, auf dem Billard zeichnen die Quees oder die Tabackspfeifen ihre Geſtallt in die Luft, und die Lehrer des loͤblichen Gymnaſiums hoͤren gar nicht darauf hingegen die Weiber!

Auf der Inſel S. Hilda*)So gar Kinder im Mutterleibe. S. Allg. deutſche Bibl. B. 67. S. 138. geſchieht, wenn ein Fremder da aus dem Schif ausſteigt, ein Un¬ gluͤck, das noch kein Philoſoph erklaͤren konnte das ganze Land huſtet ſeinetwegen. Alle Doͤrfer, alle Korporationen, alle Alter huſten kauft ſich der Paſſagier etwas ein, ſo umhuſtet ihn der Naͤhrſtand unter dem Thor thuts der Wehrſtand: und der Lehrſtand huſtet in ſeine Lehren hinein. Es hilft gar nichts, zum Arzt zu gehen derbilt129bilt ſelber aͤrger als ſeine Kunden und iſt ſein ei¬ gner Kunde ....

In Unterſcheerau iſt das naͤmliche Ungluͤck aber groͤßer. Eine fremde Dame ſetze ihren netten Fuß in das Poſthaus, in den Konzert - oder Tanzſaal, in irgend ein Viſitenzimmer: ſogleich ſind alle Scheerauerinnen genoͤthigt zu huſten und was allzeit vom boͤſen Hals herkoͤmmt leiſer zu re¬ den allen fliegt die Braͤune an, d. h. die[ angui¬ na] vera. An den armen Damen erſcheinten alle Zeichen der giftigſten Halsentzuͤndung, Hitze (da¬ her das Faͤchern) Schauer, Fieber, ſchweres Athem¬ holen, Phantaſien, aufgeblaͤhte Naſenfluͤgel, ſteigender Buſen. Kuͤhlende Mittel, Waſſer, Entledigung der Luftroͤhren thun den Patien¬ tinnen noch die beſten Dienſte. Iſt aber (welches der Himmel abkehre) die eintretende Fremde die ſchoͤnſte die beſcheidenſte die reichſte die ge¬ ehrteſte die am meiſten fetierte die geſchmack¬ volleſte ſo wird keine einzige Patientin im Kran¬ kenſaale kuriert; ein ſolcher Engel iſt ein wahrer Todesengel und man ſollte am Thor gar keine Fremde von Verdienſt einpaſſiren laſſen.

I130

Die Viſitenbraͤune graſſiert wie jede andre am meiſten im Herbſte und Winter unter den Win¬ terluſtbarkeiten und Wintergaͤſten. Die Vi¬ ſitenbraͤune ſchreibt der Witz zwei Gruͤnden zu: erſtlich den aͤußern Schaalverdienſten (innern nie) ſo glaubt auch Unzer, daß Schaalthiere auf den Hals am meiſten wirken, daher z. B. Auſtern ſchweres Schlucken, kalzinierte Krebſe gegen Waſ¬ ſerſcheu, Dunſt von Krebſen Stummheit, Skor¬ pion Zungenlaͤhmung wirken. Der zweite Grund iſt, daß Damen in einer Stadt wie auf einem Iſolatorium wohnen und daß wenn eine Fremde, die mit ihnen ſich nicht in Rapport geſetzt, die manipulierten Klairvoyanten beruͤhrt, oder nur in der Ferne von ihnen bleibt, dieſe lauter haͤßliche Empfindungen in allen Gliedern ſpuͤren.

Ende der Extrazeilen.

Beim Weggehen merkte Fenk im Vorbeigehen an: die zwei Kinder haͤtten den Reiſewagen zur Wiege gehabt er ſei Peſtilenziarius und Medizi¬ nalrath geworden und kurire nur Weiber und ehe¬ liche mit der Zeit eines.

Wenn die Unterſcheerauer etwas, das ſuͤß, ſauer und toll zugleich ſcheint, vorbekommen: ſo131 horchen ſie erſtlich auf dann laͤcheln ſie an dann ſinnen ſie nach dann ſehen ſie es nicht ein dann muthmaßen ſie drei Tage darnach nichts Gutes und endlich werden ſie daruͤber recht auf¬ gebracht. Fenk fragte nichts darnach und ſagte von Zeit zu Zeit etwas, was ſie nicht verſtanden oder er ſelber nicht.

Er erklaͤrte alsdann dem Rittmeiſter, und ich dem Leſer, alles. Die aufgeklebten Kraͤuter, ſagt 'er, hielten jezt alle Baſen, und Tropfen und Viſitenameiſen von ſeiner Stube ab, wie um¬ zaͤunender Hanf die Raupen vom Krautfeld. Seine Reiſegeſchichte und ein Paar Raͤthſel daraus zeig' er nur halb, weil man ſich fuͤr die Menſchen am meiſten intereſſire, an denen man noch etwas zu errathen ſuche und die neugierigen Patientinnen wuͤrden die ſeinigen ſeyn. Ob er verheirathet ſei, wiſſ 'er ſelber nicht; und andere ſolltens auch nicht wiſſen, weil man ihn in alle Haͤuſer, wo ein Waarenlaager von Toͤchtern ſteht, als Arzt hineinrufen wuͤrde, damit er als Braͤutigam wie¬ der herausgehe. Endlich nehm' er nur weibliche Patienten an, weil das die haͤufigſten waͤren; weil man zu ihm fuͤr dieſe ausſchließendeJ 2132Praxis ein beſonderes Zutrauen faſſen wuͤrde; weil dieſes Zutrauen das ganze Diſpenſatorium eines Weiberdoktors ſei; weil die meiſten Krankheiten der Weiber bloß in ſchwachen Nerven und deren ganze Kur in Enthaltung von Arzeneien beſtaͤnde; weil Apotheken nur fuͤr Maͤnner, nicht fuͤr Weiber waͤren und weil er ſie eben ſo gern anbetete als kurierte.

Ein anderer Punkt war der, wienach er ſo geſchwind nach Scheerau und ſo geſchwind zum Medizinalrath gekommen. Es iſt ſo: der Erb¬ prinz der jezt auf dem hohen Thronkutſcher¬ ſitz mit dem Staatswagen zum Teufel fahren wird, liebt niemand; auf ſeiner Reiſe ſpottete er uͤber ſeine Maitreſſen; ſeine Freundſchaft iſt nur ein geringe¬ rer Grad von Haß, ſeine Gleichguͤltigkeit iſt ein groͤſ¬ ſerer; den groͤſten aber, der ihn wie Sodbrennen beißet, hegt er gegen ſeinen unehelichen Bruder, den Kapitain von Ottomar, Fenks Freund, der in Rom in der ſchoͤnſten natuͤrlichen Natur ſo¬ wohl als artiſtiſchen geblieben war, um im Ge¬ nuß und Nachahmen der roͤmiſchen Gegenden und Antiken zu ſchwelgen. Ottomar iſt ein Ge¬ nie im guten Sinne und im boͤſen auch. Er und der Erbprinz ertrugen einander kaum in Vorzimmern133 und waren dem Duelle oft nahe. Nun haſſet der Scheerauiſche Großfuͤrſt auch den armen Fenk, erſt¬ lich weil der ein Freund ſeines Feindes iſt, zweitens weil er dem dritten Bruder des Erbregenten einmal das Leben und mithin die Apanagengelder wieder gab, drittens weil der Fuͤrſt weit weniger (oder gar keine) Gruͤnde brauchte um jemand zu haſſen als um zu lieben.

Nun waͤre der Doktor ſchon unter der vorigen Regierung, deren Magen uns entgegen fuhr, gern Medizinalrath geworden; unter der kuͤnftigen Re¬ gierung, deren Magen ſich noch in Italien fuͤllte, war wenig zu machen. Der Doktor ſuchte alſo ſein Gluͤck noch ein paar Wochen vor der neuen Kroͤnung feſtzupflanzen. Er fand den alten Miniſter noch, der ſein Goͤnner war und deſſen Goͤnner der Erbprinz aus dem Grunde wenig war, aus welchem Erbprin¬ zen gewoͤhnlich glauben, daß ſie die Kreaturen des verſtorbenen Vaters eben ſo wohl, nur delikater und langſamer unter die Erde bringen muͤſſen als wilde Voͤlker, die auf den Scheiterhaufen des Koͤnigs auch ſeine Lieblinge und Diener legen. Als Fenk kam: machte ihn der verſtorbene Regent zu allem was er werden wollte; denn es war ſo:

134

Da der ſeelige Landesvater ein Landeskind im phyſiologiſchen Sinne geworden war, d. h. ſo alt als er war, da man ihm das erſte Ordensband ſtatt ei¬ nes Laufbandes umflocht, naͤmlich Jahr: ſo wur¬ de dem Fuͤrſten das ewige Unterſchreiben ſeiner Kabi¬ netsdekrete viel zu ſauer und zuletzt unmoͤglich da er indeſſen doch noch regieren konnte, als er nicht mehr ſchreiben konnte: ſo ſtach der Hofpettſchierſte¬ cher ſeinen dekretirenden Namen ſo gut in Stein aus, daß er den Stempel bloß einzutunken und naß unters Edikt zu ſtoßen brauchte: ſo hatt 'er ſein Edikt. So regierte er um 15 Prozent leichter der Miniſter um 100 Prozent. Denn der muß doch Mit¬ tel gefunden haben, ein Pettſchaft, das er Michel Angelo's ſeinem vorzog, einzutunken, weil der alte Herr ein Paar Tage nach ſeinem eignen Tode verſchiedene Vokationen und Reſkripte unterſchrieben hatte dieſer Pouſſiergriffel und Praͤgſtock der Menſchen war der Legeſtachel und Vater der beſten Regierungsbeamten und laichte zuletzt den Peſti¬ lenziarius

135

Extragedanken uͤber Regentendaumen.

Nicht die Krone ſondern das Dintenfaß druͤckt Fuͤr¬ ſten,[]Großmeiſter und Kommenthuren; nicht den Szepter ſondern die Feder fuͤhren ſie mit ſo viel Be¬ ſchwerde, weil ſie mit jenem bloß befehlen aber mit dieſer das Befohlne unterſchreiben muͤſſen. Ein Ka¬ binetsrath wuͤrde ſich nicht wundern, wenn ein ge¬ quaͤlter gekroͤnter Skribent ſich wie roͤmiſche Rekru¬ ten den Daumen amputierte, um nur vom ewigen Namen Malen, wie dieſe vom Kriege loßzukommen. Aber die regierenden und ſchreibenden Haͤupter be¬ halten den Daumen; ſie ſehen ein, daß das Landes¬ wohl ihr Eintunken begehrt, das wenige Unleſer¬ liche auf Kabinetsordern, was man ihren Namen nennt, macht wie eine Zauberformel Geldkaͤſten, Her¬ zen, Thore, Kauflaͤden, Haͤfen auf und zu; der ſchwarze Tropfe ihrer Feder duͤnget und treibet oder zerbaizet ganze Fluren. Der Profeſſor Hoppedizel hatte, da er erſter Lehrer der Moral beim Schee¬ rauiſchen Infanten war, einen guten Gedanken, aber erſt im letzten Monat: koͤnnte der Oberhofmei¬ ſter nicht dem Unterhofmeiſter befehlen, daß er den136 Kronabcſchuͤtzen, der doch einmal ſchreiben lernen muͤſte, ſtatt unnuͤtzer Lehnbriefe lieber mitten auf jedem leeren Bogen ſeinen Namen ſchmieren ließe? das Kind ſchriebe ohne Eckel ſeine Unterſchrift auf ſo viele Bogen als es in ſeiner ganzen Regierung nur beduͤrfe die Bogen legte man bis zur Kroͤ¬ nung des Kindes zuruͤck und dann, fuhr er fort, wenn es genau uͤberſchlagen waͤre, wie oft ein Kol¬ legium ſeinen Namenszug jaͤhrlich haben muͤſte, wenn folglich am Neujahrstag die noͤthig Zahl ſig¬ nirter Ries Papier zum Gebrauche aufs ganze Jahr den Kollegien zugetheilt wuͤrde: was haͤtte nachher das Kind unter ſeiner Regierung fuͤr Noth?

Ende der Extragedanken.

Noch ein Wort: nach 9 Wochen that dem Dok¬ tor die Rache mit dem Kraͤuterbuche, wie jedem gu¬ ten Menſchen die kleinſte, wieder wehe. Das Her¬ barium, ſagte er, aͤrgert mich, ſo oft ich hineinklebe; aber es iſt gewiß wahr, ein Mann ſei immerhin durch alle Reſidenzſtaͤdte beſcheiden paſſiert; unter dem Thor ſeiner Vaterſtadt faͤhrt der Hochmuthsteufel in ihn und macht mit ihm die erſten Viſiten ſeine gu¬ ten Landsleute, will er haben, ſollen waͤhrend ſeiner Reiſe vernuͤnftig geworden ſeyn.

137

Eilfter Sektor.

Amandus Augen das Blindekuhſpiel.

Die Sympathie, die Erwachſene in der erſten Viertelſtunde ablaktirt, fuͤgt auch oft Kinder an einander. Unſer Paar lief einander taͤglich uͤber 40mal in die Arme und herzte ſich. Ihr guten Kinder! ſeid froh, daß ihr eure Liebe noch ſtaͤrker ausdruͤcken duͤrfet als durch Briefe. Denn die Kul¬ tur ſchneidet dem Ausdruck der Liebe das Gebiet des Koͤrpers immer kleiner vor dieſe hagere Gouver¬ nante nahm uns erſtlich den ganzen Koͤrper deſſen weg, den wir lieben dann die Hand, die wir nicht mehr druͤcken duͤrfen dann die Knoͤpfe und die Achſeln, die wir nicht mehr beruͤhren duͤrfen und von einer ganzen Frau gab ſie uns nichts zum Kuͤſſen zuruͤck als (wie ein Gewoͤlle) den Hand¬ ſchuh: wir manipuliren einander jetzt alle von ferne. Amandus hieng mit ſeinem mehr weibli¬ chen Herzen an Guſtavs mehr maͤnnlichem mit al¬ ler der Liebe, die der Schwaͤchere dem Staͤrkern reichlicher giebt als er ſie ihm abgewinnt. Daher138 liebt die Frau den Mann reiner; ſie liebt in ihm den gegenwaͤrtigen Gegenſtand ihres Herzens, er in ihr oͤfter das Gebilde ſeiner Phantaſie; daher ſein Wanken koͤmmt. Dieſes Vorredchen ſoll nur eine Anfurth zu einer kleinen Schlaͤgerei zwi¬ ſchen unſerem kleinen Kaſtor und Pollux ſeyn.

Sie waren naͤmlich ungern ſo lange aus[einan¬ der] als die Augen auf - und zugebunden wurden. So oft der Verband wegkam, ſtellte ſich Guſtav vor ihn und verlangte durchaus, er ſollte ihn ſehen und that ſeinen Finger ſich an die Naſe und ſagte: wo tipp 'ich jetzt hin? aber er examinirte den Blinden nicht ſehend. Nach einer woͤchentlichen Ab¬ weſenheit fuhr Amandus auf ihn zu: ſchieb mein Band auf, ſagte er, ich kann dich gewiß auch ſe¬ hen wie meinen Katzenheinz; da Guſtav es auf¬ geluͤftet hatte und da er wirklich in das Auge des operirten Freundes eingieng ganz wie er war, mit allem, mit Rock, Schuhen und Struͤmpfen: ſo war er froher als ein Patriot, deſſen Fuͤrſt die Au¬ gen oder den Verband aufmacht und ihn ſieht. Er inventirte ſein ganzes Bilderkabinet vor ſeinen Au¬ gen mit einem ewigen Guck! bei jedem Stuͤck. Aber weiter! Die Welt wird wenig davon wiſſen139 die kleinen Partikelchen derſelben ausgenommen, die Kinder, von denen eben ich reden will, daß dieſe bei Hoppedizel Blindekuh geſpielet. Ein fata¬ les Spiel! wenn Maͤdchen dabei ſind wie hier war, zumal ſo ſchlimme wie des Profeſſors ſeine! Aman¬ dus ließ ſich in das Spiel ein und rannte hinter ſeinem Schnupftuch, das weibliche Pfiffigkeit uͤber ſeine Augen gefaltet hatte, im Zimmer umher, nichts fangend als entkoͤrperte Kleider. Zum Un¬ gluͤck ſtieſſen die Maͤdchen unter dem Ofen, worun¬ ter ſie gegen alle gute Spielordnung geſchlichen wa¬ ren, auf die volle Milchſchuͤſſel des Spitzhundes. Da ſie nun damals zu wenige Moralphiloſophen ge¬ leſen obgleich genug geſehen hatten: ſo ſchoben ſie, aus Mangel an reiner praktiſcher Vernunft, die Schuͤſſel ſo weit leiſe vor, daß der greifende Haͤ¬ ſcher ohne Muͤhe hineintrampelte und druͤberſchlug. Guſtav mußte als Kind ein wenig lachen. Auf ihn ſchoben es die Inkulpatinnen und riefen: o du! wenn nun Amandus ein Ungluͤck genommen haͤt¬ te! Er riß ſich von den naſſen Scherben auf und puffte dem Guſtav, der ihn troͤſtend bei den Haͤnden faßte, ein wenig hinten ans Schulterblatt, da, wo nach den Kompendien der Milchſaft mit140 dem Blut zuſammenrinnt. Ich hab's doch nicht hingeſtellt ſagt' er ja ja! und haſt mir nichts geſagt verſetzte der Blinde und ſtieß ihn wieder, aber heftiger und doch weniger zornig ſchlag immer, ich hab 'dir nichts gethan und die Stim¬ me brach meinem guten Helden jener ſchlug wieder nach und ſagte: ich bin dir auch gar nim¬ mer gut, aber ſo, als wuͤrd' er ſogleich zu wei¬ nen anfangen, ach du haſt dir gewiß was nein¬ gefallen fragte Guſtav mit der mitleidigſten Stimme mitten im Verſuch zu einem neuen Stoße glitt die duͤnne Eisrinde vom erwaͤrmten Her¬ zen Amandus herunter, er umfaßte den Unſchuldi¬ gen und ſagte unter hellen Zaͤhren: du haſt's ja nicht gethan und ich geb 'dir all' meine Spielwaa¬ re: ſchlag mich doch recht und ſchlug ſich ſelbſt. Blos die Empfindung der Liebe kaͤmpft mit ſolchen bitterſuͤßen Sonderbarkeiten: Amandus ge¬ ſtand oft, noch jetzt wandle ihn, wenn er einen Unrecht gethan, mitten in ſeiner Kraͤnkung daruͤ¬ ber die Neigung an, fort zu beleidigen, um ſich ſelber ſo weit fort zu kraͤnken, daß er endlich vor Schmerz ſich mit der heiſſeſten Liebe ans verſehrte fremde Herz werfen muͤßte. Aber o lieber Aman¬141 dus! wenn gerade ein Paͤdagog in Geſtalt einer Moral die Thuͤr aufgemacht haͤtte!

Man muß niemals glauben, als wollt 'ich hier perſoͤnlichen Groll an ſaͤmtliche Hofmeiſter auslaſ¬ ſen: denn erſtlich hatt' ich gar niemals einen Hof¬ meiſter, zweitens war ich ſelber einer und ein rechter.

142

Zwoͤlfter Sektor.

Konzert der Held bekommt einen Hofmeiſter von Ton.

Ich habe mich in einen neuen Sektor begeben, weil ich darin dem Leſer eine neue Perſon zu praͤ¬ ſentiren habe den Hofmeiſter meines Helden.

Ich brauche keinen Menſchen daran zu erin¬ nern, daß der Rittmeiſter ein ſo naͤrriſches bald zu gefuͤgiges bald zu ſproͤdes moraliſirendes muthloſes Ding als ein Informator iſt in Scheerau ſuchte, damit ſein Kind zu gleicher Zeit mit dem Lande ei¬ nen Regenten bekaͤme. Nun hatt 'er eine Pathe da, welche advozirte, muſizirte, badinirte, lorgnir¬ te und Welt hatte; aber er hatte nicht den Muth, ihr in einem Paͤdagogium, deſſen Schuljugend auf einem Mann belief, die Lehrſtelle anzutragen. Ich will es nur herausſagen, daß ich ſelber dieſe Pathe und dieſe neue Perſon bin; aber es wird meiner Beſcheidenheit mehr zu ſtatten kommen, wenn ich mich in einem Sektor, wo ich ſoviel zu meinem Lo¬ be vorbringen muß, aus der erſten Perſon in die drit¬ te umſetze und ſtatt ich blos ſage Pathe.

143

Dieſe Pathe blies im Unterſcheerauer-Konzert, um mit der Floͤte in die Sphaͤrenſtimme eines ſehr jungen Fraͤuleins von Roͤper zu ſpielen, deſſen Keh¬ le ſich oft kaum von der Floͤte ſcheiden ließ. Die ganze Seele dieſes Maͤdgens iſt ein Nachtigallton unter Bluͤtenuͤberhang; der Leib deſſelben iſt eine fallende himmelreine Schneeflocke, die nur im Aether dauert und auf dem Koth des Bodens zerlaͤuft. Dem Floͤteniſten fiel waͤhrend den Pauſen ein ſchoͤnes in phantaſirende Aufmerkſamkeit verlornes Kind in die Augen und auf das Herz: Guſtav wars. Der erſte Blick nach dem Akkompagnement war auf die Nach¬ barſchaft des Kindes, um den Eigner deſſelben zu finden der erſte Schritt, den die Pathe that, war zur andern Pathe, zum Rittmeiſter, deſſen Freundſchaft mit mir bekannt genug iſt. Das maͤnn¬ liche Geſchlecht iſt gluͤcklicher und neidloſer als das weibliche, weil jenes im Stande iſt, zweierlei Schoͤnheiten mit ganzer Seele zu faſſen, maͤnnliche und weibliche; hingegen die Weiber lieben nur die eines fremden Geſchlechts. Ich hab 'aber vielleicht zu viel Enthuſiasmus fuͤr die erhabne maͤnnliche Schoͤnheit, ſo wie fuͤr poetiſche Schwaͤrmerei, un¬ geachtet ich wenigſtens die letztere ſelber nicht habe. 144Aus Guſtav wirkte die doppelte Zauberei auf mich, ich vergaß alle Zauberinnen des Konzerts uͤber den Zauberer; aber ich ward am Ende traurig, daß ich dem Schoͤnen mehr Blicke als Worte abzuſchmei¬ cheln vermochte. Auf das Konzert gab' ich gleich an¬ dern Zuhoͤrern ohnehin nur ſo lange Acht als ich ſelbſt ein Mitarbeiter war oder als eine meiner Schuͤlerin¬ nen[ſpielte]: denn die Scheerauer Konzerte ſind blos in Muſik geſetzte Stadtgeſpraͤche und proſaiſche Me¬ lodramen, worin die Seſſelreden der Zuhoͤrer wie ge¬ druckter Text unter der Kompoſition hinſpringen. Uebrigens ſubſkribiren wir auf unſere Konzerte mehr unſerer Kinder als unſerer ſelber wegen: die muſika¬ liſche Schuljugend bekoͤmmt darin einen Tanz - und Tummelplatz ihrer Finger und von meinen artiſti¬ ſchen Katechumenen kantſchuet woͤchentlich wenigſtens einer den Fluͤgel. Ich friſche die Eltern dazu an und ſage, in einem ſolchen Konzertſaal lernen die Klei¬ nen Takt, weil da nicht nur genug ſondern auch uͤberfluͤßig Takt iſt, indem jeder daſige Muſikoffiziant ſeinen eignen originellen pfeift, hackt, ſtreicht, ſtampft, den erſtlich kein anderer neben ihm pfeift, hackt, ſtreicht, ſtampft und den er zweitens ſelber von Minute zu Minute umbeſſert. Und wenn auchdas145das nicht waͤre, ſag 'ich, ſo iſt doch da wahrer muſikaliſcher Ausdruck im Ueberfluß: jeder druͤckt darin ſeine Empfindungen, die der Verlegenheit, des Erſtarrens auf ſeinem Inſtrumente aus; und Bachs Regel, Diſſonanzen ſtark und Konſonan¬ zen ſchwach vorzutragen, weiß in einem Saale je¬ der, wo die Konſonanzen ſo ſanft eingeſchmolzen werden, daß man[keine] hoͤrt und nur die Diſſo¬ nanzen zu vernehmen meint.

Am andern Morgen flog ich unfriſirt zum Ritt¬ meiſter und da ich den guten Kleinen um keinen niedern Preiß erhalten konnte brachte ihn ganz ans erſte Ziel ſeiner Reiſe hinan, naͤmlich das, einen Hofmeiſter mitzubekommen. Man muß nicht den¬ ken, daß ich Informator geworden, um Biograph zu werden, d. h. um pfiffiger Weiſe in meinen Gu¬ ſtav alles hinein zu erziehen was ich aus ihm wie¬ der ins Buch herauszuſchreiben trachtete: denn ich brauchte es erſtlich ja nur wie ein Romanen-Ma¬ nufakturiſt mir blos zu erſinnen und andern vorzu¬ luͤgen; aber zweitens damals wurde an keine Bio¬ graphie gar nicht gedacht.

Mir iſt weit weniger daran gelegen, meine Scheerauiſchen Verhaͤltniſſe bekannt zu ſehen, alsK146der Welt: denn ich kenne ſie ſchon, aber die Welt nicht. Ich formirte eine Dreieinigkeit von Perſo¬ nen da: ich war Klaviermeiſter, Rechtskonſulent und Weltmann. Drei naͤrriſche Rollen! Ich ſtu¬ dirte in der Stadt, die ſonſt die groͤßten Juri¬ ſten und jetzt die kleinſten Hunde liefert, in Bo¬ logna, zwei ganz entgegengeſetzte Speditionen, wie Paris ſonſt die Univerſitaͤt aller europaͤiſchen Theologen war, jetzt der Philoſophen. In Paris war ich auch, haͤtte auch da ein geſchickter Parlementsadvokat werden koͤnnen; ich wollt 'aber nicht und nahm nichts daraus mit (ſo wie aus Bo¬ logna und aus einigen deutſchen Reichsſtaͤdten) als die ſchwarze juriſtiſche Kleidung, die ihren Grund hat: denn da unſere Klienten uns ernaͤhren und bezahlen und mehr Recht und Noth als Geld be¬ halten: ſo trauern wir Patronen um ſie ſchwarz; hingegen bei den Roͤmern legten die Klienten, die mehr bekamen als gaben, fuͤr den Patro¬ nus, wenn es ihm ſchlimm ergieng, Trauerkleider an.

Zweitens war ich Klaviermeiſter, aber vielleicht kein geſetzter: denn ich verliebte mich im erſten Quartal in alle meine Schuͤlerinnen (fuͤr Schuͤler147 dankte ich) und richtete mich nach meinen Stun¬ den mit meinem Herzen. Ich hegte wahre Zaͤrt[¬]lichkeit, erſtlich gegen eine Dame von Rang, die ich nie kompromittiren werde zweitens gegen ih¬ re Schweſter eine Aebtiſſin, weil ſie Generalbaß bei mir lernte drittens gegen *** viertens gegen die Hofkaplanin, die zwar hektiſch aber ge¬ ſchmackvoll iſt und die eher zu viel als zu wenig Zierrathen an (nicht auf) dem Klaviere liebte und es auf das ſchoͤnſte fournirte, uͤberzog, und auf¬ ſtellte fuͤnftens in die Reſidentin von Vouſe, die gar nicht einmal die Sache weiß und an deren Huͤften und Reizen ich ordentlich vor Bewunderung dumm wurde, bis ich zum Gluͤck ihre allgemeine Koketterie und ihre Untreue gegen ihren Inkogni¬ to-Liebhaber verſpuͤrte ſechſtens in den ganzen Scheerauer Hof, wo ich nach dem Recht der tod¬ ten Hand den Empfang einer lebendigen Hand, die eine Schuͤlerin der meinigen werden wollte, fuͤr eine Inveſtitur zum ganzen Herzen und Vermoͤgen anſah ſiebentens ſogar in ein wahres Kind, in Beata (die obgedachte Tochter von Roͤper) fuͤr die ich alle Wochen einmal bei ſchlechtem Wetter und eben ſo ſchlechtem Honorar aufs Land lief undK 2148bei der an gar nichts anders zu denken war als an Liebe kurz in alles, in Laubknoſpen, Bluͤtknoſ¬ pen, Bluͤten und Fruͤchte verſchieſſet ſich ein Menſch, der ein Klaviermeiſter iſt.

Nun koͤmmt der Weltmann. Ich kann mich zwar meinen Leſern (wovon ich mir die Volksmen¬ ge und richtigere Tabellen wuͤnſchte) nicht perſoͤn¬ lich zeigen; aber die Scheerauer, denen dieſes Blatt vorkoͤmmt, werden hier aufgefordert, ihre Ge¬ danken zu ſagen und abzuurtheln, ob ein Mann, der der großen Welt taͤglich drei Klavierſtunden giebt, mehr ihr Lehrer als ihr Schuͤler iſt. An¬ ſtand, Gang, geſchmackvoller Anzug, Attituͤden, perpendikulare, horizontale und Diagonale ſind zwar nicht die gefoderten Vorzuͤge des Autors, ob¬ wohl des feinen Geſellſchafters; und koͤnnen nicht gedruckt werden; aber ich verfechte nur ſo viel, blos an einem Hofe lernt man's, zumal bei eini¬ gem Einfluß und wenn man mitſpielt, es ſei am l'Hombretiſch oder am Klaviertiſch*)Ich meine ein in die Geſtalt eines Tiſches verſtecktes Kla¬ vier., der wie man¬ che Bruſt am Hofe, unter der ſtummen Holzplat¬149 te ein holdes Saitenſpiel verbirgt. Wenn man frei¬ lich wieder in ſeinem Muſeum auf und abgeht, un¬ ter großen Buͤchern und großen Maͤnnern, beglei¬ tet von der ganzen republikaniſchen Vergangenheit, emporgerichtet zur tiefen Perſpektive der unendli¬ chen Welt hinter dem Grabe: ſo verachtet ſelber der Inhaber ſeine Konchylien-Vorzuͤge; er fragt ſich, giebt es nichts beſſers als uͤber ſeinen Koͤrper (ſtatt uͤber Leidenſchaften) Herr zu ſeyn und ihn ſo leicht zu tragen wie nach den drei erſten Glaͤſern Champagner ſeinen Ton in den allgemeinen Ton hineinzuſtimmen, weil an Hoͤfen und Klavieren keine Taſte uͤber die andre hinausklingen darf auf dem duͤnnen ſchaukelnden Brette der weiblichen Launen ſo fliegend wegzueilen, daß unſere Tritte die Schwankungen blos begleiten ſchoͤn zu tan¬ zen und zu gehen ſo weit es mit Einem langen Bein thulich iſt (denn freilich wenn ein Klaviermei¬ ſter mit einem Miniatuͤrbein zu kaͤmpfen hat: ſo mag der Henker auf beiden ſo zierlich aufſtehen wie der Prinz von Artois) kurz allen Verſtand zu Narrheit zu ſublimiren, alle Wahrheiten zu Ein¬ faͤllen, alle Kraftgefuͤhle zu pantomimiſchen Nach¬150 aͤffungen? Nichts beſſers, fragt der Laͤufer im Muſeo, giebts?

Etwas viel beſſers giebts: ein Informa¬ tor zu werden in Auenthal bei ſo einem Himmels - Kinde wie Guſtav iſt und den ganzen Spuk druk¬ ken zu laſſen.

151

Dreizehnter Sektor.

Landestrauer der Spitzbuben Scheerauer Fürſt fürſtliche Schuld.

Der Kronprinz, auf deſſen Zahlen der Rittmei¬ ſter wartete, war noch auf der Chauſſee, von der er auf den Thron wie auf einen Thurm hinauffuhr. Drei arme Spitzbuben hielten ihren Einzug noch fruͤ¬ her als er. Es kann erzaͤhlet werden: Seit dem Tode des Hoͤchſtſeligen der Pabſt iſt der Allerſeligſte wurde eine Kirche um die andre im Scheerautſchen nicht ausgeſtohlen ſondern ausgekleidet; die Kir¬ chendiebe ſchaͤlten blos das Landtrauertuch, das unſere Kanzeln und Altaͤre anhatten, wieder ab. Die Kirchner und Kantores fanden alle Morgen ſkalpir¬ te H. Staͤten und die Pfarrer mußten darin ſte¬ hen, in dem Fruͤhgottesdienſt. Nun hatte neu¬ lich der Geldgreifgeier Roͤper in der Mauſſenbacher Kirche Altar und Kanzel am Bustage mit einem Frack von ſchwarzem Tuch buntes war ihm nicht heilig und wohlfeil genug uͤberſohlen laſſen. Die¬ ſe ſchwarze Emballage blieb daran als Landtrauer. 152Der alte Roͤper hatte mithin wenig Schlaf mehr, weil er beſorgte, die Kirchen Greifgeier zoͤgen dem Mauſſenbacher Altar das Ehrenkleid aus und naͤh¬ men den mit ſilbernen und ſeidnen Lettern aufs Tuch genaͤhten Schuldſchein mit, der beſagt, wer's hergeſchenkt. Sein Juſtitiarius Kolb, dem ein Diebsfang Zobelfang und Perlenfiſcherei iſt, um¬ gab daher die Kirche mit allerlei Falkenaugen; es waͤre aber nichts geweſen, wenn nicht der Falken¬ bergiſche Bediente Robiſch am Sonntage Abends ſobald die Kirche zugeſchloſſen war, zum Schulmei¬ ſter geſagt haͤtte, er ſolle ſie ſo laſſen, er haͤtte die Kirchleute gezaͤhlet und drei waͤren nicht mit heraus. Kurz man blockirte den Tempel bis Nachts und zog gluͤcklicher Weiſe drei verſteckte Tuchkorſaren aus dem Andachtsorte heraus. Am Morgen erſtaunt alles, die drei Kirchgaͤnger fahren auf einen Leiterwagen zum Scheerauer Thor hin¬ ein und haben ſaͤmtlich ſchwarze Roͤcke und Un¬ terkleider an Abends ſind ſie verſchwunden. Fuͤr den Hof (wenn er[nicht] noch geſchlafen haͤtte) war's ein haͤßlicher Proſpekt, daß eine Raͤuberbande ſo gut wie er Hoftrauer angelegt und ſich deswegen die Trauergarderobe aus Kirchen geſtohlen hatte.

153

Henken ſollte man dich, ſagte der Rittmeiſter zu ſeinem Kerl arme Diebe ins Ungluͤck zu brin¬ gen, die keinem Menſchen etwas nehmen ſondern nur Kirchen. Aber fuͤr ſolche Schuften (ſagt 'ich) gehoͤrt doch auch keine Hoftrauer, des Auf¬ wands wegen. Warum darf man uͤberhaupt nicht ſeinen leiblichen Vater, aber wohl den Landesvater betrauern? Oder warum verſtattet die Kammer den Landeskindern noch das Weinen, da doch das die Thraͤnendruͤſen des Staats erſchoͤpft und da die Thraͤnen noch ſteuerfrei ſind?

Sie greifen zu weit, ſagte der Rittmeiſter; gerade ſo wie bisher muß die zeitige Regierung bleiben, wenn ſie ſich von allen vorigen durch die Sorgfalt auszeichnen ſoll, womit ſie uͤber unſern Flor, uͤber alle unſere Pfennige und Pulsſchlaͤge wacht.

Die Negermarketender (ſagte der Doktor, aber unpaſſend genug) wachen noch mehr; einen Skla¬ venhandelsmann kuͤmmert die Unpaͤßlichkeit ſeines ſolchen Stuͤck Menſchen oder Sklaven mehr als ſeine Frau ihre. Sogar Motion und Tanz ſoll ſein menſchlicher Viehſtand haben und er pruͤgelt ihn dazu.

154

Ackerbau (fuhr er fort,) Handel, Fabriken Volksreichthum und Volkswohlleben ſogar, kurz die Koͤrper der Unterthanen kann der ſchlimmſte Deſpot erheben und naͤhren aber fuͤr ihre See¬ len kann er nichts thun, ohne alles wider ſeine zu thun,

Ich bin oft auf den Gedanken gefallen, ob nicht die Trauerordnungen oder Abordnungen ha¬ ben wollen, daß der pfiffige und traurige Staats¬ buͤrger die Erlaubniß der Landtrauer benuͤtze und ſeine Haustrauer mit ihr zuſammenwerfe? Koͤnnt 'er nicht ſeinen Partialkummer uͤber die Sterblich¬ keit ſeiner Tanten, ſeiner Vettern, aufheben bis ein univerſaler einfiele, und ſo, wenn das Land den Kondolenzflor um Arm und Degen gewickelt haͤtte, alles in Pauſch und Bogen wegtrauern und ſich hinter dem naͤmlichen Flor uͤber eine Landsmutter und eine Stiefmutter betruͤben? Hoͤ¬ fen waͤrs leicht. Ja koͤnnten dieſe nicht in der Landestrauer ihre Sipſchaft gar voraus betrauern? koͤnnte man uͤberhaupt nicht die ganze Narrheit bleiben laſſen?

Mein neuer Landesherr ſtieg endlich aus dem Reiſewagen auf den Thron und verwechſelte den155 Kutſchenhimmel mit dem Thronhimmel. Der Ritt¬ meiſter hielt vor der Kroͤnung eine Supplik bereit, worin er ſo trotzig wie ein Sattler ſein Geld ver¬ langte; nach der Kroͤnung hatte der Fuͤrſt wie ein Demant ſo viel Feuerglanz aus ſeiner Krone und ſeinem Szepter eingeſchluckt, daß ſein Glaͤubiger vom Gerichtshalter ein neues Memoriale machen ließ und bloß um die Intereſſen anhielt. Da er nichts bekam, nicht einmal eine Reſolution: ſo wollt 'er mehr fordern. Denn er bedachte nicht, daß unſere regierende Brodtherrn in Scheerau ſel¬ ten Geld haben. Wenn wir außerordentliche Ge¬ ſandſchaften bekommen oder ſenden, wenn wir tau¬ fen oder begraben laſſen, der Kriege gar nicht zu erwaͤhnen: ſo haben wir wenig oder nichts als Extraſteuern, dieſe metalliſchen Stuͤtzen und Klam¬ mern des muͤrben Thrones. In dem[Kammerbeu¬ tel] deuten wir wie in der Heraldik das Silber durch leeren Raum an.

Aber dem Schuldner und Glaͤubiger war bald geholfen. Letzterer der Rittmeiſter, marſchierte als Zizerone mit ſeinem Guſtav durch das Kadetten¬ haus und zeigte ihm alles, um ihm alles zu lo¬ ben, weil er mit ſeinem Kopf einmal in einen156 Ringkragen hinein ſollte als der junge Fuͤrſt auch ankam und auch alle Gemaͤcher beſah, nicht um alles wieder auf dem naͤchſten Sattel zu ver¬ geſſen ſondern um gar nichts zu bemerken. Es that mir leid denn ich war auch mitgekommen daß[jeder] Profeſſor ſich darauf verließ, der Re¬ gent zaͤhle wenn nicht jedes Haar auf ſeinem Haupte, doch jede Locke an ſeiner Peruͤcke: denn er wurde nicht einmal meiner und meines Anſtan¬ des anſichtig; aber ganz natuͤrlich, da ihm ein ſolcher Anſtand in den feinſten Saͤlen aller Laͤnder ſchon etwas Altes geworden war. Er trug denn wie lang 'war er vom Reiſen heim? den Fuͤr¬ ſtenhut mit der Ungezwungenheit eines Damenhu¬ tes; keine lange Regierung hatte noch die Krone finſter hereingedruͤckt und die geraden Menſchen brachen ſich in den Medien, Feuchtigkeiten und Haͤuten ſeines Auges noch nicht zu krummen Baugefangnen. Seine Worte bot er mit der Frei¬ gebigkeit eines Weltmanns noch wie Schnupftaback herum. Endlich erhielt auch Falkenberg eine Priſe. Ich ſehe meine zwei Prinzipale noch gegen einan¬ der ſtehen meinen adelichen und verborgenden Prinzipal mit dem feſten, aber ſubordinirten An¬157 ſtande eines Soldaten, in Embonpoint und auf¬ quellende Muſkeln gedruͤckt, und mit dem leicht¬ glaͤubigen Wohlwollen, das gutmuͤthige Menſchen fuͤr jeden hegen, der gerade mit ihnen ſpricht den gekroͤnten und inſolventen Prinzipal aber mit dem mahleriſchen Anſtand, worin jedes Glied ſich in den andern hinein verbeugt und worin ſelbſt die Stellung eine fortdauernde Schmeichelei iſt, mit einem vielblaͤtterigen Faltenwurf im lahmge¬ ſpannten Geſicht, mit einer Gefaͤlligkeit die weder verweigert noch haͤlt. Meine Pathe ſah die allge¬ meine Gefaͤlligkeit des Krontraͤgers fuͤr eine aus¬ ſchließende gegen ſich an; ſie dachte, er thue ſei¬ ne Fragen, um eine Antwort zu haben; und als vollends mein gnaͤdigſter Fuͤrſt und Landesherr ge¬ aͤußert hatten, Der kleine Guſtav ſei hier an ſeiner Stelle, er intereſſire durch ſein air de reveur ſtaͤrker als man ſich ſelber die Rechenſchaft zu ge¬ ben wiſſe, und man wuͤrde ihn, ſobald er fuͤr dieſe Zimmer groß genug waͤre, dem Vater mit 13000 Rthlr Handgeld abkaufen: ſo war der Rittmei¬ ſter außer ſich, oder vielmehr aus ſeiner Bitte; ſeine Suppliken wurden Dankadreſſen; ſein Wunſch war, daß ich ſchon 8 Jahre Hofmeiſter bei ihm158 geweſen waͤre: ſeine Hofnung war, das Geld kaͤme nach; und der wahre Vortheil war, daß der Sohn ins beſte deutſche Kadettenhaus kaͤme.

Man thut mir keinen Gefallen, wenn man ihn auslacht. Freilich ſchwur er auf ſeinem Schloſ¬ ſe, Hofleuten traue er keine Hand breit und die ganze Nation ſtink 'ihn an; hingegen ſolchen Hof¬ leuten, mit denen er gerade zu thun hatte, traut' er mehr allein militairiſche Unwiſſenheit der Rechte iſt bei ihm an vielen Schuld: wie ſoll er als Soldat wiſſen, daß ein Fuͤrſt zu keiner Bezah¬ lung verbunden iſt? vielleicht iſts nicht einmal allen Leſern ſo bekannt als ſie vorgeben werden. Ein Regent braucht aus drei Gruͤnden nicht einen Hel¬ ler zu bezahlen, den er ſeinen Landeskindern ab¬ geliehen (thats ſein Herr Vater: ſo weiß mans ſo) Erſtlich: ein Geſandter, er ſei vom erſten oder dritten Rang, ſtieße die aͤlteſten Publiziſten vor den Kopf, wenn er ſeine Schulden abtruͤge; nun kann er, der ja der bloße Repraͤſentant und die abgedruͤckte Schwefelpaſte des Regenten iſt, un¬ moͤglich Rechte haben, die dem Original abgehen, folglich ꝛc. Zweitens: der Fuͤrſt iſt oder wir duͤrfen unſern akademiſchen Nachmittagsſtunden159 kein Wort mehr glauben der wahre ſummari¬ ſche Inbegrif und Repraͤſentant des Staates (wie wieder der Envoyé ein Repraͤſentant des Repraͤſen¬ tanten iſt oder ein tragbarer Staat im Klei¬ nen) und ſtellet folglich jedes Staatsglied, das ihm einen Kreuzer leihet, ſo vor als wenn ers ſelber waͤre; mithin leihet er ſich im Grunde ſelbſt, wenn ein ſolches zu ſeinem repraͤſentirenden Ich ge¬ hoͤriges Glied ihm leihet. Gut! man geſtehts; aber dann geſtehe man auch, daß ein Fuͤrſt ſich ſo laͤ¬ cherlich machen wuͤrde wenn er ſeinen eignen Lan¬ deskindern wieder bezahlen wollte, als ſich der Vater des Generals Sobouroff machte, der die Kapitalien, die er ſich ſelber vorſtreckte, ſich ehr¬ lich mit den landesuͤblichen Intereſſen heimzahlte und ſich nach dem Wechſelrecht beſtrafte. Woher kaͤm 'es denn als aus der Verwandſchaft mit dem Throne und deſſen Rechten, daß ſogar Große im Verhaͤltniß ihres Standes und ihrer Debitmaſſe falliren duͤrfen? Warum iſt ein gerichtliches Kon¬ ſens - oder Hypothekenbuch der richtigſte Hofadres¬ kalender oder almanac royal?

Drittens: der geflickteſte Unterthan kann von ſich von ſeinem Fuͤrſten Anſtandsbriefe oder Mora¬160 torien verſchaffen; wer ſoll ſie aber dem Fuͤrſten geben, wenn ers nicht ſelber thut? Und thut ers Gewiſſenshalber nicht: ſo kann er ſich doch wenig¬ ſtens alle 5 Jahre ein erneuertes Quinquennel bewilligen.

Einen vierten Grund wuͤſt 'ich aber nicht.

Vier¬161

Vierzehnter Sektor.

Eheliche Ordalien fünf betrogne Betrüger.

Einen Hofmeiſter hatte Falkenberg alſo jezt, die Hofnung der 13000 Rthlr. eine Kadettenſtelle fuͤr ſeinen Sohn Rekruten braucht 'er nur noch. Auch dieſe fuͤhrte ihm und ſeinen Unteroffizieren der Maulwurfs-Moloch Robiſch reichlich zu; ich weiß aber nicht, was die Kerl wollten daß ſie wenn Ro¬ biſch ſeinen Kuppelpelz und ſie ihr militairiſches Pathengeld hatten mit letzterem meiſtens davon giengen. Im Mauſſenbacher Wald fielen Diebe den Tranſport an und nach dem Ende der Schlacht war Feind und Tranſport vom Schlachtfelde geflo¬ hen. Den Rittmeiſter druͤckt' es ſehr, weil er, der fuͤr ſich und ſeine Familie nicht die nuͤtzlichſte Un¬ gerechtigkeit begieng, zuweilen auf dem Werbplatz kleine verſtattete.

Dem ſtillen Guſtav machte der laute Stadt¬ winter die laͤngſten Stunden. Er ſah keine weiße Kopfbinde und kein ſchwarzes Lamm vorbeitragen, ohne auf einem Seufzer hinuͤber zu ſeinem zaube¬L162riſchen Wall und unter ſeine Sommerfreuden zu¬ ruͤck zu fliegen. Wenn ihn die ungezogne Nach¬ kommenſchaft Hoppedizels fuͤr dumm hielt, weil er nicht liſtig, fuͤr ſtolz, weil er nicht laut war: ſo ſtillte er das Bluten ſeines Innern, das ver¬ lacht und geneckt wurde, mit dem Gedanken an die Menſchen, die ihn geliebt hatten, an ſeinen Genius und an ſeine Schaͤferin. Um ſeinen Aman¬ dus haͤtt 'er ſo gern eine andere als hoppedizeliſche Nachbarſchaft gehabt, ſo[]gern die Fluren und den freien Himmel ſeiner Heimath! Er liebte das Stille und Enge neben ſich und das Unermeßliche in der Natur. O wenn du bei mir biſt, Trau¬ ter, wie will ich dich ſchonen und lieben! dein Auge ſoll nie truͤbe neben meinem Lehrſtuhle wer¬ den, dein Herz nie ſchwer! du zarte Pflanze ſollſt nicht mit einſchneidenden Bindfaden um mich als eine richtende Hopfenſtange geſchnuͤret ſeyn, ſondern mit lebendigen Epheuwurzeln ſollſt du ſelber mich als etwas lebendiges umfaſſen!

Ueberhaupt hatte man im Hoppedizeliſchen Hauſe ein verdammtes Hundsleben, wie ich ſelber oft ſah wenn ich und der Hausherr einander uͤber die erſten Prinzipien der Moral bloß moraliſch bei163 den Haaren hatten: denn alles hatte da einander dabei, aber phyſiſch, ein Hund den andern die Knaben die Maͤdgen die Dienerſchaft einan¬ der die Herrſchaft die Dienerſchaft der Pro¬ feſſor die Profeſſorin, wovon ein merkwuͤrdiges Faktum abgedruckt werden ſoll und alle dieſe einander wechſelſeitig nach der Vermiſchungsrech¬ nung. Zum Ungluͤck hatte Hoppedizel nie Ach¬ tung fuͤr irgend einen Menſchen (mithin Verach¬ tung auch nicht:) er[borgte] alles, beſudelte alles, kompromittirte jeden, verzieh jedem und zuerſt ſich. Im Winterquartier des Rittmeiſters waren die oͤhlfarbigten Tapeten (Elle zu 24 Gr.) eine ſpa¬ niſche Wand zwiſchen des Rittmeiſters leeren Raum und zwiſchen der Wanzen Wandſpalten; der Ofen war gut, aber wie der babyloniſche Thurm ohne Kuppel; die Zimmerdecke drohte (wie wohl gleich gewiſſem Thronhimmel ſchon lange ohne Schaden) hereinzubrechen und den groͤſten Philoſo¬ phen die Koͤpfe einzuſchlagen, die von Stein auf dem Spiegeltiſche ſtanden. Er hatte oft darum wenig Delikateſſe fuͤr die Leute, weil er ſich dar¬ auf verließ, daß ſie deren zu viele haͤtten, um die Unſichtbarkeit der ſeinigen zu ruͤgen in Un¬L 2164terſcheerau machen wirs nicht anders. Aber jezt koͤmmt der Zufall, der uns alle eher daraus weg¬ trieb.

Der Profeſſor hatte naͤmlich wie die meiſten Leute keinen Geſchmack in Meublen; am liebſten ſtellte er die beſten unter die elendeſten, die fein¬ ſte Pißwaſe unter ein Großvatersbett und gegen¬ uͤber einem ſandigen Waſchgefaͤß, eine geputzte Livree ſeines Bedienten hinter verſaͤumtem Anzug ſeiner Kinder u. ſ. w. Nun begieng er allemal ei¬ nen Friedensbruch an ſeiner Frau dadurch, daß er nie leer heim kam; er hatte immer etwas erhan¬ delt, das nichts taugte: er hatte die Schwachheit unzaͤhliger Maͤnner ſich weiß zu machen, er ver¬ ſtaͤnde die Hauhaltungskunſt ſo gut wie die Frau, wenn er nur anfangen wollte Sachen, die man lange treiben ſieht, glanbt man zuletzt ſelber trei¬ ben zu koͤnnen Sie hatte die Schwachheit un¬ zaͤhliger Weiber, ſich vorzuſchmeicheln, der Ehe¬ herr ſei ein wahrer Ignorant im Haushalten und koͤnn 'es nicht einmal erlernen wenn er auch woll¬ te. Red' ich in deine Buͤcherſachen auch? fragte die ſehr grob verkoͤrperte Profeſſorin. Man konnt 'es alſo bei jeder Meublenauktion oder auf jeden Jahrmarkt in einer Kalenderpraktika neben der165 Kriege der großen Herrn prophezeien, daß da ein kleiner zwiſchen dem Ehepotentaten und der andern feindlichen Macht ausbrechen werde; weil dieſe ſei¬ nen Kommerzientraktat nicht leiden konnte: das Ehepaar feierte dann ſeine olympiſchen Spiele der Zunge und Haͤnde und konnte die Zeitrechnung der Ehe nach dieſen Olympiaden abtheilen.

Weiter! Unſer neue Regent ließ da das Volk in Italien den Pallaſt des verſtorbnen Pab¬ ſtes und Doge gratis erhaͤlt die Meublen ſeines Herrn Vaters um Weniges verſteigern: er thats wie alle Kronprinzen aus Achtung gegen ihn, da¬ mit das Volk ein Andenken vom Seeligen, wie das Roͤmiſche die Gaͤrten von Zaͤſar, erben koͤnn¬ te. Der Profeſſor wollte auch erben und erſtehen. Er bot alſo zum Beſten des Rittmeiſters, in deſ¬ ſen Zimmer die Kommode, der Spiegel und die Seſſel jaͤmmerlich waren, nicht auf dieſe drei Din¬ ge, ſondern auf drei benachbarte auf zwei ſchoͤne Bronze-Vaſen mit Ziegenkoͤpfen und Myr¬ tenblaͤttern fuͤr die elende Kommode, auf ſeinen gerad und ſpitzbeinigen Spiegeltiſch unter den elenden Spiegel, auf eine praͤchtige Bergere zwi¬ ſchen die elenden Seſſel. Es wurd 'ihm zugeſchla¬166 gen. Sein erſtes Wort, als er aus dem Auk¬ tionszimmer in ſeines trat, war an ſeine Frau: iſt der Rittmeiſter droben? Ich hab' ſchoͤne Dinge fuͤr ihn erſtanden. Jezt ſang ſie ſchon den erſten Vers ihres Kriegsliedes, ohne ein Kaufſtuͤck noch zu wiſſen. Er ſagt 'ihr keines: denn er hat¬ te das groͤſte Ungluͤck eines Ehemannes, naͤmlich Verachtung gegen ſeine Frau, ſo wie ſie hingegen ihm gegen alle Menſchen, ſogar gegen die beſten beitrat, außer gegen ſich nicht. Unter dem Abholen der Kaufſtuͤcke antwortete er auf den erſten Vers des Krieggeſanges und nannte doch keines; und ſo an¬ tiphonirten ſie bloß. Endlich wurden die Ziegenkoͤ¬ pfe und Spitzbeine ins Haus geſetzt. Jezt gieng das Kriegsgeſchrei loß: Das iſt dumm, dumm, dumm! Ei du dummer Mann du! das Zeug! den Bettel! wo waren heute deine fuͤnf Sinne? Ich bezahl keinen Deut (ſie war ohnehin nie Kaſ¬ ſirer.) Und ſo theuer! aber wenn man Kinder und Narren zu Markt ꝛc. Er ſagt ganz kalt[:] laſſe nur nichts hinan kommen und ſchafs hinauf zum Rittmeiſter, mein Schatz! ſonderbar! ſie gehorchte den Augenblick; gieng aber in ſeine Stu¬ be und oͤfnete alle Schleuſen ihres rauſchenden167 Zorns. Spaͤt unter dieſem Rauſchen ſagt' er end¬ lich drohend: du weißt, Frau ... Nun wur¬ de in ihrem Mund 'aus dem Wind ein Sturm. Er war kein Mann, den Zorn oder irgend eine Leidenſchaft fortriſſen, ſondern ein aͤchter Stoi¬ ker war er und ſtets bei ſich; daraus laͤßet ſichs erklaͤren, warum er, da Epiktet und Seneka Stoi¬ kern den verbotnen innern Zorn durch den aͤußern Schein deſſelben zu erſetzen rathen, um die Leute zu baͤndigen, ſich ſogar dieſes zornigen Scheins befliß und gelaſſen ſeine Fauſt petrifizierte und die¬ ſen Knauf als eine Leuchtkugel auf diejenigen Gliedmaßen ſeiner Gattin warf, die ohne Licht in der Sache waren. Dieſer ſtumpfe Wilſon'ſche Knopfableiter ihres Zorns zog erſt die groͤſten be¬ redten Funken aus ihr hervor; und in der That iſts in der Ehe wie in den alten Republiken, die (nach Homer's Bemerkung) nie groͤßere Redner trugen als in[ſtuͤrmenden] kriegeriſchen Zeiten. Er machte das Sinnliche bloß zum Vehikel des Geiſti¬ gen und begleitete ſeine Hand mit ausgewaͤhlten Bruchſtuͤcken aus Epiktets Handbuch: ich bin war¬ lich ganz bei mir (ſagt' er;) aber du ſchreieſt gar zu ſehr, wenn ich mich nicht drein ſchlage. Sein168 weltlicher Arm bewegte ſich auf ihr fort. Ich fah¬ re immer fort (fuhr er fort) inzwiſchen danke Gott, daß dein Mann ſo viel Gelaſſenheit hat, daß er alles abwaͤgen kann, was er thut. Sie wur¬ de nicht eher kalt als bis er hitzig wurde; dieſes merkte ſie daraus wenn er wie Sokrates ſtumm wurde und ſeine Hand mit ſeiner herabgeriſſenen Schlafmuͤtze bewafnete und befluͤgelte. So heiß ihr vor ſeinem einſchlagenden Gewitter ſeine ſte¬ chende Sonnenfreundlichkeit vorkam: ſo unange¬ nehm kalt war ihr nach demſelben ſein Gewoͤlke; kurz beide ſpielten vor und nach dem Kampfe um¬ gekehrte Rollen. Dieſesmal traf ihr Zorn eine Wetterſcheide an und zog ſich ganz uͤber den, der unter den ziegenkoͤpfigen Waſen auf der Bergere ſaß, auf den Rittmeiſter. Dieſer ließ auf die er¬ ſte Zeitung dieſes eckelhaften Krieges ſein Winter¬ geraͤthe in Scheerau einpacken und das Sommerge¬ raͤthe in Auenthal auspacken, und gieng zwar.

Aber er waͤre beinahe geblieben.

Beilaͤufig! ſo widrige Minuten mir die Erzaͤh¬ lung einer ſolchen empoͤrenden Handlung jezt ge¬ macht hat; und ſo ſehr jeder der feinern Ehewel[t]gratulieren wird, daß ſie ſich niemals auspruͤgelt:169 ſo thu 'ichs doch nicht ſonderlich; denn warlich die aͤtzenden Giftworte, die das raffinirte Ehepaar ein¬ ander zutroͤpfelt, das verhaltene wie ein Veſikato¬ rium ziehende Kraͤnken, womit ſie einander wund und heil machen wollen, reißet die Wunde bloß tiefer unter der Haut und macht zwar nicht den Chirur¬ gus, aber wohl den Doktor noͤthig.

Jezt will ich berichten warum der Rittmeiſter beinahe geblieben waͤre.

Hoppedizel hatte außer ihm an einem Nachmit¬ tag fuͤnf Leute bei ſich, den Gerichtshalter Kolb, den Floͤßinſpektor Peuſchel, einen alten Karmenma¬ cher, einen Hofzimmerfrotteur und einen Hofjun¬ ker: denn was wird der Leſer nach Zunamen dieſes Volks fragen? Er zog erſtlich den Gerichtshalter bei Seite und ſagte zu ihm: Heut 'ſollt' er einen Spaß machen und den vier andern Herren mit ge¬ faͤrbtem Waſſer, das ſie fuͤr Wein hielten zutrinken, damit dieſe ſich in wahrem Wein beſoͤffen. Recht gut! ſagte der Gerichtshalter, ſie ſollen alle an den Gerichtshalter gedenken. Das naͤmliche ſag¬ te der Profeſſor dem Floͤßinſpektor, dem Karmen¬ macher u. ſ. w.; alle antworteten: Recht gut! ſie ſollen alle an den Floͤßinſpektor, an dem Karmenma¬170 cher u. ſ. w. gedenken. Jeder wollte vier Mann zum Narren haben; der Profeſſer wollte fuͤnf Mann dazu haben allen gelang es.

Abends wurden fuͤnf Feuillets illuminirtes Waſ¬ ſer ins Zimmer getragen; jeder ruͤckte hinter ſein Schenktiſchgen und ſchraubte den Korkſtoͤpſel vom Quaſi-Wein ab. Die erſten Flaſchen Bouteillenwaſ¬ ſer wurden ſtill von der Geſellſchaft eingeſogen: wahre Pfiffigkeit mußte der Luft - und Waſſerpar¬ thie dieſen Schein ſtufenweiſer Berauſchung vor¬ ſchreiben.

Nun aber hob das Sonnenſyſtem ſein Waſſer¬ ziehen an. Der Wein koͤnnte ſtaͤrker ſeyn ſag¬ te jeder, und wollte jeden betruͤgen. Der Gerichts¬ halter mit roſenrother Naſenknoſpe ſpritzte ſeinen Kadaver ſtatt des Spiritus mit mehr Waſſer aus als er in ſeiner ganzen Ewigkeit a parte ante ſelbſt getrunken oder gep ... ſſ. .t, oder aus fremden Augen gedruͤckt. Ein Menſch, der ſo waſſerhaltig wie er wird, daß er ſich ſchwer aufrecht erhaͤlt vor Nuͤchternheit, macht andern Konfoͤderirten leicht glaublich, es ſei vor Betrunkenheit: und alle laͤ¬ chelten ſehr, da er lachte.

171

Der Floͤßinſpektor Peuſchel leitete einen ganzen Waſſerſchatz in den Magen und machte ſeine Blut¬ adern zu Waſſeradern; aber er aͤrgerte ſich halb, daß er die andern mit ſeinen optiſchen Geſoͤff be¬ truͤgen mußte und ſehnte ſich heimlich ſtatt der ver¬ ſtellten Beſoffenheit nach aͤchter.

Der Zimmerfrotteur mazerirte und laugte ſich im Grunde durch das taͤttowirte Waſſer aus und erſaͤufte beinahe ſein galliſches Uebel ſo ſchluckte der Schadenfroh.

Dem Hofjunker, der ſich faſt den Magen ent¬ zwei ſof, ſchlugs ſchlechter zu: drei Tage ſchmolz er an einer incontinentia urinae hin. Blos durch den zelluloͤſen Karmenmacher fuhr eine ganze kou¬ leurte Suͤndfluth ohne Schaden glatt hinein und hinaus; er ſah aber munter und ſatyriſch herum und lauerte darauf, wenn ſein Naͤchſter hinter den vier Tiſchen beſoffen waͤre.

Etwan eine flammende Scheune waͤre mit ih¬ ren Walfiſch-Beſcheiden zu retten geweſen .... Jezt kam die Zeit, da jeder betrunken ſcheinen mußte, wer Spas verſtand ſie diſkourirten wi¬ der einander mit uͤberſchweppender baͤumender Zun¬ ge der Junker und Frotteur ſtreckten ſich gar172 in die Stube als zwei Lagerbaͤume hin und ihre bauſchenden Unterleiber (ſollte die Welt denken) laͤgen als Weinſchlaͤuche auf den Baͤumen der Amtmann machte die Augen zu, das Maul auf der Karmenmacher ſtellte ſich vor, am tollſten und plauſibelſten wuͤrd 'ers machen, wenn er erſtlich gleich wahren Betrunknen vorſchwuͤre, er waͤre nuͤchtern, und zweitens wenn er ſo gegen die Bettpfoſte umſaͤnke, daß er ein wahres Loͤchelchen kriegte. Er hatte ſich auch gluͤcklicher Weiſe eine Wunde fabrizirt, die groͤßer war als ſeine Trun¬ kenheit und wollte aus Rache damit vorbrechen, er haͤtte die Tetrarchie zum Narren und blos Waſſer gehabt der Profeſſor wollt' auch alles herausſa¬ gen wie alles und der Wein waͤre die andern wolltens auch und lachten ſchon ſaͤmtlich voraus; als zum Ungluͤck der laͤngſt ſaturirte Floͤßinſpektor ſich zum Frotteur abgeſchlichen und diebiſch ſtatt eines Gegengiftes und Konfortativs gegen ſeinen nachgedruckten Wein die vorgebliche Originalaus¬ gabe deſſelben gekredenzt hatte, aus des Frotteurs oder Reibers Kelch .... es war auch Waſſer darin wie in ſeinem blitzſchnell und halbnaͤrriſch kre¬ denzte er die Kelche aller Waſſergoͤtter in allen173 war Waſſer er fuhr mit allem heraus die ganze Marine kredenzte fliegend herum und jeder ſollt 'es im Ernſte ſagen, ob er toll und voll waͤ¬ re. Leider war die ganze ſatyriſche Union nuͤch¬ tern. Der Rittmeiſter, dem ſolche Scherze lieber waren als Faſtnachtshuͤhner, verwandelte aus Liebe zur Moral die allgemeine Verſtellung der Betrun¬ kenheit in wahre Aufrichtigkeit und vollfuͤhrte es durch aͤchten Wein. Als nachher das Fuͤnfeck nach Hauſe huͤpfte und dieſe fuͤnf thoͤrigte Jungfrauen als fuͤnf kluge, wiewol mit der Waſſer-Plethora, heimzogen: ſo ſagt' er: Bei meiner Seele! ſo etwas ſollte man drucken laſſen. Und wahr¬ haftig, hier laͤſſet man es ja drucken.

Ich moͤchte gern von dieſem Hoppedizel, eh ich und der Leſer aus ſeinem Hauſe ziehen, ein Me¬ daillon, eine Abſchattung zum Andenken mit uns nehmen; aber es grauet mir vor der Arbeit lie¬ ber boſſir 'ich alle Karaktere dieſes Werkchens in Papier oder Wachs als dieſen Mann. Sein Karak¬ ter beſteht aus hundert kompilirten Karaktern, ſei¬ ne Kenntniſſe aus allen Kenntniſſen, ſein Scharf¬ ſinn aus Skeptiziſmus, ſeine Laſter aus Stoiziſ¬ mus, ſeine Tugend aus einem Syſtem uͤber die174 Tugend und ſeine Handlungen aus Schnurren, Schnacken und Karakterzuͤgen.

Dennoch oder demnach liebte ihn der Rittmei¬ ſter, weil er ihn oft ſah (er war faſt jedem gram, der ihn nicht beſuchte) und weil beide luſtig waren und weil hundertmal Menſchen einander lieben oh¬ ne daß ein Henker weiß warum. Falkenberg haͤtte ſich fuͤr jeden Freund, ſelbſt fuͤr den, der ihn erſt beruͤckt haͤtte, mit dem Behemoth ſelber geſchoſſen aus Ehre und Gutherzigkeit; der Profeſſor hin¬ gegen zog reine Moral und reine Mathematik der an¬ gewandten weit vor und handelte ſelten: was that er einmal in Auenthal, da zu Nacht um 12 Uhr ſtatt des Rittmeiſters aus dem aufgethuͤrmten Schnee blos ſein leerer Gaul heimkam? Ein an¬ drer, z. B. der Rittmeiſter ſelbſt waͤre auf dem¬ ſelben Gaule aufgeſeſſen und hinausgeritten, um den Reſtanten zu retten; allein der Profeſſor ſchnaͤutzte nett das Talglicht und ſetzte ſich hart an die jammernde Ehefrau, die ſich jede Nacht ab¬ aͤngſtigte und ſich jeden Morgen daruͤber tadelte, und ſagte gefaßt zu ihr: ein Paar Thraͤnen ver¬ boͤt 'er ihr nicht zu weinen: ſie wuͤſchen uͤberhaupt den Augapfel ab und braͤchen zu heftiges Licht;175 aber die uͤbrigen und meiſten muͤßten durch die Na¬ ſenhoͤle in den Schlund und Magen ſikern und ſich ins Verdauen miſchen. Das Schlimmſte, was ih¬ rem Manne zugeſtoßen ſeyn koͤnnte, waͤre ohnehin nur, daß er erfroren waͤre; er kenne aber halb aus Erfahrung kein ſanfteres Sterben als das aus Kaͤlte es ſey im Grunde ſo viel als wuͤrde man gehenkt oder erſaͤuft: denn man ſterbe am Schlag¬ fluß.

Wie geſagt, der Rittmeiſter liebte und verließ ihn doch.

176

Funfzehnter Sektor.

Der funfzehnte Sektor.

Vor der Abreiſe gab ich allen, beſonders der Re¬ ſidentin von Bouſe die geborgten Muſikalien zu¬ ruͤck; und dieſer, die mir ſo viel aus Italien ge¬ liehen, lieh 'ich noch etwas beſſers aus Deutſch¬ land, meine Schweſter Philippine naͤmlich: dieſe ſoll da die kleine Tochter der Reſidentin bilden hel¬ fen, aber ſie wird unter den zarten Fingern einer ſolchen talentvollen Dame ſelber mehr gebildet wer¬ den als ſie bildet. Moͤge ſie da nur nie ihr raſches, vibrirendes, ſcherzendes und doch fuͤhlendes Herz zu einem koketten umſetzen! Moͤge ſie da ihrer Laura (eben der Tochter) das Joch der koketten Erziehung luͤften, da das arme Kind beſtaͤndig un¬ ter der Glasglocke des Fenſters ſchmachtet, den Leib unter der Bettdecke in 4 Loth Fiſchbein ein¬ keilt, die Haͤndchen auch wieder zu Nachts in der Handſchuh-Huͤlſen ſperret, das Koͤpfchen mit einem Blei an Haaren ruͤckwaͤrts gewoͤhnt. Bekanntlich lebt die Mutter eine halbe Stunde von der Stadt zu Marienhof, im ſogenannten neuen Schloß, dasmit177mit einem alten zuſammenſtoͤßet, welches glaub 'ich vermiethet iſt.

..... Aber zu meinem Gefolge in dieſer Bio¬ graphie ſtoßen mit jedem Bogen mehr Leute und machen mir das Lenken und Schwenken ſauerer. Ich wollte lieber, ich waͤr 'ein Reichsſtand und haͤtte Millionen zu regieren und einzunehmen als hier dieſes fatale Menſchen-Siebeneck, das mit Muͤhe in die rechten Sektores zu treiben iſt und worunter ich ſelber der widerhaarigſte bin. Denn mir als bloßen Biographen ſteht weder Reichskam¬ mergericht noch Exekutionstruppen wider mein Sie¬ beneck bei; aber als einem Reichsſtand thaͤten ſie mir's ſchon.

Unſern Abſchiedswagen in Scheerau umgab die fatale Kaͤlte des Profeſſors das arbeitſame Ge¬ ſchrei der Stoikerin das zaͤrtliche Laͤcheln des Pe¬ ſtilenziarii und deſſen Iltisſchwaͤnze das gute Herz ſeines Soͤhnchens, das kaum mit Luͤgen von Guſtav abzuſchneiden war und meine dankbaren Erinnerungen an unſichtbare Stunden, an geliebte Menſchen und an alle meine Schuͤlerinnen O daß doch der Menſch hier ſo viel vergehen ſieht, eh 'er ſelber vergeht.

M178

Unterweges weinte Guſtav immerfort in unſere Stille hinein: der Alte, dem doch ſelber das Herz ſo leicht zerlaͤuft, wurde endlich toll und bat mich: der Hernhuter (der Genius) hat mir ihn voͤllig verhunzt! Und wenn Sie ihm Hr. Pathe, nicht ein wenig flu¬ chen anlernen: ſo wird ein Soldat aus ihm werden, daß den Himmel erbarm '.

Den Hernhuter bracht 'er im Kopfe nach dem Staͤdtchen Iſſich, als der Monolog vor unſerem Wagen vorbeigieng: ich bin ein Eſel, ein Filou, ich bin ein Schlingel. O ich Racker und bekannter Schelm! Man ſollte mich gar entzweihacken und ko¬ chen, mich Satan, mich Matz! ſagte ein Schulkna¬ be, den alle Schulkameraden umliefen und beklatſch¬ ten. Er redet, ſagte mein Prinzipal, wie eine Hernhutiſche Beſtie, die ſich herunterſetzt, um jeden andern noch mehr herabzuſetzen. Aber nicht im Geringſten: ein armer Teufel war's, der Hunger hat¬ te und Humor und fuͤr den die ganze Schule Kaͤſe und Aepfel und Kiele zuſammengeſchoſſen hatte, wenn er ihr den Gefallen thaͤte und auf ſich entſetzlich ſchimpfte ....

Schoͤnes Auenthal! dein Schnee iſt ſchon weg?

179

Sechzehnter Sektor.

Erziehungsreglement.

Da ich meine Pretioſen (Manuſkripte waren's) und meine Effekten (das Guͤterbuch derſelben war nicht uͤber dreißig Zeilen dick) und mein Vaͤterli¬ ches und Muͤtterliches (das war ich ſelbſt) in mei¬ ner Wohn - und Schulſtube herumgeſtellet hatte; da ich ſchon vorher mit drei langen Schritten an meine Ausſicht und Fenſter getreten war, die in einer Windmuͤhle, in der Abendſonne und einem Staarenhaͤuschen an einer Birke beſtand: ſo koͤnnt 'ich ſogleich ein ausgemachter Hofmeiſter ſeyn, und ich durfte nur anfangen ich konnte jezt die gan¬ ze Woche ernſthaft ausſehen und meinen Eleven auch dazu zwingen alle meine Worte konnten Reglements, alle meine Minen Wochenpredigten ſeyn ich hatte ſogar zwei Wege vor mir, ein Narr zu ſeyn ich konnte eine unſterbliche Seele ſich halbtodt konjugiren, memoriren und analyſi¬ ren laſſen ich konnte aber auch ſeine junge Zirbel¬ druͤſe in hoͤhere Wiſſenſchaften eintunken und ver¬M2180ſenken, ſo ſehr, daß ſie ganz aufſchwoͤlle und ſich groß anſchluckte von Logik, Politik und Statiſtik ich konnte mithin (wer wehrt 'es) die Bein¬ waͤnde ſeines Kopfes zu einem duͤrren Buͤcherbrett aushobeln, den lebendigen Kopf zu einem Silhou¬ ettenbrett, an dem ſich gelehrte Koͤpfe abſchatten, entzweidruͤcken, ſein Herz hingegen war zu verar¬ beiten, aus einem Hochaltar der Natur zu einem Drathgeſtell des A. Teſtaments, aus einer Him¬ melskugel zu einem engen Paternoſterkuͤgelchen der Froͤmmelei, oder gar zu einer Schwimmblaſe der Intrigue wahrhaftig ich konnte ein Tropf ſeyn und ihn zu einen noch groͤßern machen ....

Dich Trauten! Dich Argloſen, Freundlichen, der du dich mit deinem ganzen Schickſal, mit dei¬ ner ganzen Zukunft in meine Arme warfſt! O es thut mir ſchon wehe, daß ſo viel von mir ab¬ haͤngt!

Da aber vom Hofmeiſter meiner kuͤnftigen Kin¬ der eben ſo viel abhaͤngt: ſo will ich fuͤr ihn hier folgendes paͤdagogiſche Regulativ drucken laſſen, das er nicht uͤbel nehmen kann, weil ich den guten Mann ja noch nicht kenne und nicht meine.

181

Mein lieber Hr. Hofmeiſter!

Waͤr 'ich der Ihrige: ſo ſetzten Sie ſich ge¬ wißlich nieder und ſchrieben mir folgende recht gu¬ te Regeln auf:

Die Naturgeſchichte ſei das Zuckerbrod, das der Schulmeiſter dem Kinde in der erſten Stunde in die Taſche ſteckt, um es anzukoͤdern ſo auch Geſchichten aus der Geſchichte. Aber nur nicht die Geſchichte ſelbſt! Was koͤnnte nicht dieſe hohe Goͤttin deren Tempel auf lauter Graͤbern ſteht, aus uns machen, wenn ſie uns zum erſtenmale dann anre¬ dete, wo unſer Kopf und Herz ſchon offen waͤre und beide die großen Woͤrter ihrer Ewigkeitsſprache Vaterland, Volk, Regierungsform, Geſetze, Rom, Athen verſtaͤnden? Was Hr. Schroͤth an¬ langt, der noch ehrliche Gelehrtenhiſtorie und rei¬ ne Waiſenhaus-Moral mit beigeſchaltet, ſo ſchnei¬ den Sie mir, Hr. Hofmeiſter, nur nicht die Kup¬ ferblaͤtter mit heraus und am engliſchen Einband iſt mir auch gelegen.

Geographie iſt ein geſundes Voreſſen der kind¬ lichen Seele; auch Rechnen und Geometrie gehoͤrt zum fruͤhen wiſſenſchaftlichen Imbiß: nicht weil ſie denken lehren, ſondern weil ſie es nicht lehren182 (die groͤßten Rechenmeiſter, und Differenzialiſten und Mechaniker ſind oft die ſeichteſten Philoſophen) und weil die Anſtrengung dabei die Nerven nicht ſchwaͤcht, wie Rechnungsreviſoren und Algebraiſten beweiſen.

Philoſophie aber, oder Anſpannung des Tief¬ ſinns iſt Kindern toͤdlich oder knickt die zu duͤnne Spitze des Tiefſinns auf immer ab. Tugend und Religion in ihre erſten Grundſaͤtze bei Kindern zu¬ ruͤckzerſpalten, heiſſet, einem Menſchen die Bruſt abheben und das Herz ſeziren, um ihm zu zeigen wie es ſchlaͤgt. Philoſophie iſt kein Brodſtudium ſondern geiſtiges Brod ſelber und Beduͤrfniß; und man kann weder ſie noch Liebe lehren; beide zu¬ fruͤh, entmannen Leib und Seele.

Es gefaͤllet mir, daß Sie ſelber erklaͤrten, Sie wuͤrden das Franzoͤſiſche dem Lateiniſchen, das Sprechen den grammatikaliſchen Regeln (d. h. den Laufwagen den Theorien von der Muſkelbewegung) vorausſchicken und die Sprachen ſpaͤter nehmen, weil ſie mehr durch den Verſtand als durch das Gedaͤchtniß gefaſſet werden. Lateiniſch iſt mit darum ſo ſchwierig, weil es ſo fruͤhzeitig vor¬ koͤmmt: im 15. Jahre thut man darin mit einem Finger wozu man fruͤher die Hand brauchte.

183

Abſcheulich iſts, daß auch ſchon unſere Kin¬ der leſen und ſitzen und den Steis zur Unterlage und Baſis ihrer Bildung machen ſollen. Das be¬ lehrende Buch erſetzt ihnen den Lehrer nicht, das beluſtigende das geſuͤndere Spielen nicht; die Poeſie iſt fuͤr ein unbaͤrtiges Alter noch zu un¬ verſtaͤndlich und ungeſund; der Lehrer, der vor¬ lieſet, muß erbaͤrmlich ſeyn, wenn er nicht weit nachdruͤcklicher ſpricht. Kurz keine Kinderbuͤ¬ cher!

In ein paͤdagogiſches Stammbuch wuͤrden wir beide ſchreiben: Vergeblich tadeln iſt ſchlimmer als gar nicht tadeln Fehler, die das Alter nimmt, nehme der Lehrer nicht, der dauerhaftere zu be¬ kaͤmpfen hat, u. ſ. w. Ihr Katechiſmus ſei Plu¬ tarch und Fedderſen (aber ohne ſeinen elenden Styl); d. h. keine Moralen, ſondern Erzaͤhlun¬ gen darnach und noch dazu in keiner beſondern Stunde, ſondern zur rechten, damit der Kopf meiner Kinder nicht ein Vokabelnſaal von Mo¬ ralen, ſondern ihr Herz eine durchgluͤhte Rotun¬ da der Tugend werde.

Da der bloͤde, enge, aͤngſtliche Anſtand der duͤmmſte und unnatuͤrlichſte iſt: ſo lehren Sie die184 Kinder den beſten, wenn Sie ihnen keinen befeh¬ len; von Natur achten ſie weder ſilberne Ster¬ ne noch ſilberne Koͤpfe gewoͤhnen Sie ihnen's nicht ab.

Meine groͤßte Bitte iſt die ich viele Jahre vorher drucken laſſen, daß Sie der ſpashafteſte Mann in meinem Hauſe ſind: Luſtigkeit macht Kleinen alle wiſſenſchaftliche Felder zu Zuckerfeldern. Meine muͤſſen bei Ihnen durchaus nach ihrem Wohl¬ gefallen ſcherzen, reden, ſitzen duͤrfen. Wir Er¬ wachſene ſtaͤnden den abſcheulichen Schulzwang un¬ ſerer Deſzendenz keine Woche aus, ſo vernuͤnftig wir ſind: gleichwohl muthen wirs ihren mit Amei¬ ſen gefuͤllten Adern zu. Ueberhaupt: iſt denn die Kindheit nur der muͤhſelige Ruͤſttag zum genieſ¬ ſenden Sonntag des ſpaͤtern Alters, oder iſt ſie nicht vielmehr ſelber eine Vigilie dazu, die ihre eigne Freuden hat? Ach wenn wir in dieſem lee¬ ren niederregnenden Leben nicht jedes Mittel fuͤr den naͤhern Zweck (wie jeden Zweck fuͤr ein entferntes Mittel) anſehen: was finden wir denn hienieden? Ihr Prinzipal (ein abſcheuliches Wort!) hat ſich auf ſeine Verlobung eben ſo ſehr gefreuet als auf ſeine Hochzeit.

185

Spielender Unterricht heiſſet nicht, dem Kin¬ de Anſtrengungen erſparen und abnehmen, ſondern eine Leidenſchaft in ihm erwecken, die ihm die ſtaͤrkſten aufnoͤthigt und leichter macht. Nun tau¬ gen dazu durchaus keine unluſtige Leidenſchaften Furcht vor Tadel, vor Strafe ꝛc. ſondern freu¬ dige: ſpielend erlernten alle Maͤdchen von Schee¬ rau das Arabiſche, wenn ihre Liebhaber in keiner andern Sprache an ſie ſchrieben als in dieſer ſyno¬ nimiſchen. Hoffnung des Lob's iſt's, das Kindern (das Lob aͤuſſerer Vorzuͤge ausgenommen) weit we¬ niger ſchadet als Tadel und gegen das ſich keines, am wenigſten das beſte verſtocken kann. Ich will Ihnen ſagen, was mein Hofmeiſter fuͤr paͤdagogi¬ ſche Raͤnke anwandte: er naͤhte ſich ein Ziffern¬ buch; in dieſem gab er jedem Glied ſeines Ly¬ zeums (19 waren) fuͤr jede Arbeit eine große oder kleine Zahl; dieſe Zahlen erwarben, wenn ſie auf eine gewiſſe feſtgeſetzte Summe geſtiegen waren, einen Adels - und Fleißbrief, worauf man ſein Lob mit nach Hauſe nahm. Da Belohnungen kraftlos werden, die zu oft oder erſt von weitem kom¬ men: ſo ſetzte er auf dieſe geſchickte Art den Weg zur entfernten Belohnung aus taͤglichen kleinen186 zuſammen. Wir konnten ferner unſere Zahlen zu¬ ſammenſparen; und Kinder heftet nichts ſo ſehr an Fleiß als ein wachſendes Eigenthum (von Ziffern oder von Schreibbuͤchern.) Solche Zahlen wegſtreichen war Strafe. Er machte uns alle da¬ durch ſo fleißig, beſonders mich, daß ich wenige Jahre darauf im Stande war, eine Biographie zu ſchreiben, die noch jetzt geleſen wird.

Reden Sie mit meinen Lieben nie kurz, nie allgemein, ſondern ſinnlich und erzaͤhlen Sie ganz wie Voß ſeine Idyllen.

So hab 'ich die Pouſſiergriffel und Formzeuge an meinem Guſtav gebraucht, wahrhaftig nicht um ihn ſeiner Biographie, die ich verfaſte, ſon¬ dern dem Leben anzupaſſen; ich wollt' aber, der Henker holte das Menſchenherz, das fuͤr eigne Kinder nicht thun will, was es fuͤr ein fremdes that.

Meine Toͤchter hingegen, werther Herr Haus¬ lehrer, die aͤltern ſowohl als die juͤngern geb 'ich Ihnen nicht in die naͤmliche Schulſtunde Maͤd¬ gen koͤnnten mit Knaben eben ſo gut Schlafzimmer als Schulſtube theilen und in gar keine. Ein Hofmeiſter, der Maͤdgen zu erziehen wuͤſte (und187 Sie koͤnnens) muͤſte ſo viel Welt, ſo viel Weiber¬ kenntnis, ſo viel Witz, ſo viel launigte Gewandt¬ heit bei eben ſo vieler Feſtigkeit beſitzen inzwi¬ ſchen erzieht eine recht geſcheute Gouvernante die meinigen haͤusliche Arbeit unter dem Auge einer gebildeten Mutter.

Ehe ich dieſe Inſtruktion beſchließe, merk 'ich noch an, daß ſie ganz unnuͤtz iſt erſtlich fuͤr Sie weil ein Mann von Genie auch mit jeder an¬ dern Methode allmaͤchtig bleibt, zweitens fuͤr den lahmen Kopf, weil er Kindern die Geiſteskraͤfte, er mags machen wie er will, wie ein alter Schlaf¬ genoß einem jungen die koͤrperlichen, ſtets aus¬ zehren wird. Ich habe uͤberhaupt dieſen paͤdagogi¬ ſchen Schwabenſpiegel lange vor meinen Kindern in die Welt vorausgeſchickt mithin gar nicht fuͤr Sie, ſondern fuͤr ein[Buch].

Naͤmlich fuͤr dieſes.

Um meinem Prinzipal zu zeigen, was ich in der Paͤdagogik gethan haͤtte, ſagt 'ich ſo: Der Superintendent in Oberſcheerau hat einen Wach¬ telhund, Hetz genannt, den er fuͤr keine Mena¬ gerie Schooshunde weggiebt. Nun ſollte man den¬ ken, der Mann, da er Beichtkinder, natuͤrliche188 Kinder und Weine und indianiſche Huͤhner genug hat, waͤre gut daran; aber falſch: Hetz leidets nicht. Denn ſobald die Suppe auf dem Tiſche raucht: ſo umſchift Hetz den Tiſch, ſpringt in die Hoͤhe, ſeine Schnauze liegt dann waſſerpaß in einer Ebene mit der Rehkeule und bilt und ſto¬ chert mit dem Kopfe an jedes Knie ſo ſehr, beſon¬ ders ans ordinirte, daß der Mann ſeines Orts wie in einem Fegefeuer fortſchlucket und haͤufig nicht weiß, kaͤuet er Salz oder Zucker. Es rette¬ te ihn nicht, daß er oft den Hund ſelber anboll: die Radikalkur dagegen waͤre bloß die, Hetzen nie einen Biſſen zu geben. Er hielts auch oft Tage¬ lang; aber in der naͤchſten Mahlzeit bewarf er aus Vergeſſen oder Unwillen den Plagegeiſt mit einem Knochen. Dieſer einzige Knochen verhunzte den ganzen Hund: dem Seelenhirten iſt beſorg' ich ſo lange nicht zu helfen bis Hetz, der von ſelbſt ſich nicht aͤndert, etwann verreckt. Mir hin¬ gegen begegnet Hetz mit Vernunft und Schonung: warum? ſo lang ich an jenem Tiſche : ſchenkt 'ich Hetzen keine Faſer, ohne Ausnahme. Auf Hetze und Menſchen wirkt Feſtigkeit allmaͤchtig. Wer keinen Hund erziehen kann, Herr Rittmeiſter, kann189 auch kein Kind erziehen, ich wuͤrde Informatores die in mein Brodt wollten, an keinen Probierſtein ſtrei¬ chen als an den daß ſie mir Eichhoͤrngen oder Maͤu¬ ſe zaͤhmen muͤſten: wers am beſten verſtaͤnde, zoͤg ein, z. B. Wildau wegen ſeiner Bienen. Aber meine gnaͤdige Pathe lachte nie herzhaft uͤber meine oder Fenkiſche Scherze; hingegen uͤber einen Hoppedizelſchen lachte ſie ſehr und doch hat ſie uns beide lieber.

Wenn ich noch zwei paͤdagogiſche Idiotiſmen wovon der eine iſt, daß ich den Witz meines Eleven ſtaͤrker als ſeinen Verſtand uͤbte, der zwei¬ te, daß ich lauter Autores aus Zeitaltern von un¬ edlen Metallen mit ihm traktierte in einem Er¬ trablatt werde gerettet haben: ſo gehen wir wei¬ ter in ſein Leben hinein.

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Extrablatt.

Warum ich meinem Guſtav Witz und verdorbne Autores zu¬ laſſe und klaſſiſche verbiete, ich meine griechiſche und römiſche?

Ich muß vorher mit drei Worten oder Seiten be¬ weiſen, daß und warum das Studium der Alten niederſinke und daß es zweitens wenig verſchlage.

Wir ſind bekanntlich jezt aus den Linguiſten - Jahrhunderten heraus, wo nichts als die lateini¬ ſche Sprache an Altaͤren, auf Kanzeln, auf dem Papier und im Kopfe war und wo ſie alle gelehrte Schlafroͤcke und Schlafmuͤtzen von Ireland bis Si¬ zilien in einen Bund zuſammenknuͤpfte, wo ſie die Staatsſprache und oft die Konverſationsſprache der Großen war, wo man kein Gelehrter ſeyn konnte ohne einen Auktionskatalog alles roͤmiſchen und griechiſchen Hausraths und einen Kuͤchen - und Waſchzettel dieſer klaſſiſchen Leute im Kopfe zu fuͤh¬ ren. Jezt iſt unſer Latein deutſch gegen das eines Camerarius, ders alſo nicht noͤthig gehabt haͤtte, ſeinen ſchmalkaldiſchen Krieg griechiſch abzu¬ faſſen; jezt wird ſelten eine Predigt lateiniſch, ge¬191 ſchweige wie ſonſt griechiſch geſchrieben und kann alſo nicht wie ſonſt ins lateiniſche ſondern bloß ins Deutſche uͤberſetzt werden. In unſern Tagen draͤngt keine Frau mehr ihren eingepuderten infu¬ lierten Kopf durch das klaſſiſche enge Kummet, wenns nicht Hermes Toͤchter thun. Dieſes war meinem Leſer noch eher bekannt als mir, weil ich juͤnger bin ſo wie uns beiden auch das jezige beſſere Kommentiren, Ediren und Ueberſetzen der Alten bekannt genug iſt. Nur wuchs mit dem Werthe ihrer Verehrer nicht die Zahl dieſer Ver¬ ehrer; alle andre Wiſſenſchaften theilen ſich jezt in eine Univerſalmonarchie uͤber alle Leſer; aber die Alten ſitzen mit ihren wenigen Edukations-Lehnleu¬ ten einſam auf einem S. Marino-Felſen. Es giebt jezt nichts als Polyhiſtors, die alles geleſen ha¬ ben, bloß die Alten nicht.

Der Geſchmack am Geiſte der Alten muß ſich ſo gut abſtumpfen als der an ihrer Sprache. Ich behaupte nicht, daß man in den klaſſiſchen[Papageyen-Saͤkuln] dieſen Geiſt beſſer fuͤhlte als jezt: denn Voſſius hieng am Lukan, Lipſius am Seneka, Kaſaubon am Perſius; ich ſage nicht, daß damals ein Taſſo, eine Meſſiade, ein Damo¬192 kles geſchrieben wurden wie jezt. Allein ich rede vom jezigen Geſchmack des Volks, nicht des Genies.

Wenn der Geiſt der Alten in ihrem geraden feſten Gang zum Zweck beſtand, in ihrem Haſſe des doppelten dreifachen Manſchetten-Schmucks, in einer gewiſſen kindlichen Aufrichtigkeit: ſo muß es uns immer leichter werden, dieſen Geiſt zu fuͤh¬ len, und immer ſchwerer, ihn in unſre Werke zu hauchen: mit jedem Jahrhundert muͤſſen in unſerem Style die Ein - Ueber - und Ruͤckſichten mit unſerm Lernen ſchimmernd wachſen; die Fuͤlle unſerer Kompoſition muß ihre Ruͤnde verwehren; wir putzen den Putz an, binden den Einband ein und ziehen ein Ueberkleid uͤber das Ueberkleid; wir muͤſſen den weißen Sonnenſtrahl der Wahrheit, da er uns nicht mehr zum erſtenmale trift, in Far¬ ben zerſetzen und anſtatt daß die Alten mit Wor¬ ten und Gedanken freigebig waren, ſind wir mit beiden ſparſam. Gleichwohl iſts beſſer ein Inſtrument von 6 Oktaven zu ſeyn, deſſen Toͤne leicht unrein und in einander klingen, als ein Mo¬ nochord, deſſen einzige Saite ſich ſchwerer ver¬ ſtimmt: und es waͤre eben ſo ſchlimm, wenn je¬ der als wenn niemand wie Monboddo ſchriebe.

193

Mit unſerer Unfruchtbarkeit an Werken im al¬ ten Styl nimmt zugleich der Geſchmack fuͤr dieſe Werke zu. Die Alten fuͤhlten den Werth der Al¬ ten nicht; und ihre Simplizitaͤt, wird bloß von denen genoſſen, von denen ſie nicht erreicht wer¬ den, von uns. Ich denke, aus dieſem Grunde: die griechiſche Einfachheit iſt von der Einfachheit der Morgenlaͤnder, Wilden und Kinder*)In der Erzählung des Kindes iſt die nämliche Verſchmä¬ hung des Putzes, der Seitenblicke und der Kürze, die nämliche Naivetät, die uns oft Laune zu ſeyn ſcheint und keine iſt und das nämliche Vergeſſen des Erzählers über die Erzählung, wie in den Erzählungen der Biebel, der älter Griechen ꝛc. nur im Genie verſchieden, womit das heitere griechiſche Klima jene Simplizitaͤt auszeichnete. Das iſt die angeborne, nicht erworbene; Die kuͤnſtliche erworbene Einfachheit iſt eine Wirkung der Kultur und des Geſchmacks: die Menſchen des 18. Jahr¬ hunderts waten erſt durch Suͤmpfe und Gießbaͤche zu dieſer Alpen-Quelle hinauf; wer aber droben bei ihr iſt, verlaͤſſet ſie nie mehr und nur Voͤlker, nicht Individuen koͤnnen von Monboddo's Geſchmack zu Balzac's ſeinem herabfallen. Dieſer erworbneN194Geſchmack, den das junge Genie immer antaſtet und das bejahrte meiſtens bekennt, muß von Meſ¬ ſe zu Meſſe durch die Uebung an allem Schoͤnen, bei Individuen empfindlicher und ſchaͤrfer werden: die Voͤlker ſelber aber verlieren ſich jedes Jahrhun¬ dert weiter von den Grazien weg, die ſich wie die homeriſchen Goͤtter, in Wolken verſtecken. Die Alten[konnten] mithin die natuͤrliche Simplizitaͤt ihrer Produkte ſo wenig empfinden als das Kind oder der Wilde die der ſeinigen. Die reinen einfa¬ chen Sitten und Wendungen eines Aelplers oder Tyrolers bewundert weder der eigne Beſitzer noch ſein Landsmann, ſondern der gebildete Hof, der ſie nicht erreichen kann! und wenn die roͤmiſchen Großen ſich am Spielen nackter Kinder labten, mit denen ſie ihre Zimmer putzten: ſo hatten die Großen, aber nicht die Kinder, die Labung und den Geſchmack. Die Alten ſchrieben alſo mit einem unwillkuͤhrlichen Geſchmack, ohne damit zu leſen wie die jezigen genievollen Autoren, z. B. Ha¬ mann, mit weit mehr Geſchmack leſen als ſchrei¬ ben daher jene Speckgeſchwuͤlſte und Hitzblat¬ tern an den ſonſt geſunden Kindern eines Plato, Aeſchylus, Cicero; daher beklatſchten die Athener195 keine Redner mehr als die Anthiteſen-Boſſierer, und die Roͤmer die Wortſpieler. Zur uͤbermaͤßigen Bewunderung Shakeſpears fehlte ihnen nichts als Shakeſpear ſelber. Eben deswegen konnten dieſe Voͤlker wie das Kind, von der natuͤrlichen Ein¬ fachheit zum gleiſſenden, lackirten Witzeln herun¬ tergehen.

Zweitens verſprach ich auf drei Seiten zu be¬ haupten, daß die Vernachlaͤßigung der Alten we¬ nig ſchade. Denn was nutzet denn ihre Bearbei¬ tung? Sie werden wie die Tugend weit weniger gefuͤhlt und genoſſen als man ſagt. *)Was die Neuern im Geſchmack der Alten ſchreiben, wird wenig verſtanden; und die Alten ſelber ſollen ſo häufig verſtanden werden?Das Ver¬ gnuͤgen an ihnen iſt die richtigſte Neuner-Probe des beſten Geſchmacks; aber dieſer beſte Geſchmack ſetzt eine ſolche geiſtige Aufſchließung fuͤr alle Ar¬ ten von Schoͤnheiten, eine ſolche Eurythmie und Menſur aller innern Kraͤfte voraus, daß nicht blos Home Geſchmack unvereinbar mit einem boͤſen Herzen findet, ſondern auch daß ich naͤchſt dem Genie, das ihn nach Entladung ſeiner Spiritus¬N 2196Plethora, immer bekoͤmmt, nichts ſeltners kenne als ihn, den vollendeten Geſchmack. O ihr Kon¬ rektores und Gymnaſiarchen, die ihr uͤber die De¬ valvation der Alten winſelt und greint! wenn ſie noch Augen haͤtten, ſie wuͤrden uͤber euere Val¬ vation weinen o es gehoͤren andre Herzen und Seelenfluͤgel (nicht ſolche Lungenfluͤgel) dazu als in euren paͤdagogiſchen[Ruͤmpfen] ſtecken, um einzuſe¬ hen, warum die Alten Plato den Goͤttlichen nann¬ ten, warum Xenophon groß und die Anthologen edel ſind! die Alten waren Menſchen, keine Ge¬ lehrten; was ſeid ihr? und was holt ihr aus ihnen? ...

Copiam vocabulorum In mittlern Jahrhun¬ derten war auch jeder kleine Nutzen der Alten ein großer; aber jezt im 18ten, wo alle Voͤlker gradus ad parnaſſum in den Muſen-[Granit] eingehauen, koͤmmt es auf 2 Treppen mehr oder weniger nicht an. Haben denn die jezigen Nationen nichts im alten Geſchmacke geſchrieben? Waͤr 'es ſo: ſo wuͤrden ohnehin Muſter, die ſich in keinen Eben¬ bildern vervielfaͤltigt haben, leicht zu entrathen ſeyn; es iſt aber nicht einmal ſo und die Omar'¬ ſche Verbrennung aller Alten koͤnnte uns nur ein197 wenig mehr entreißen als wenn man den ganzen noch ſtehenden Herbſtflor von einigen griechiſchen Tempeln und andern Ruinen umbraͤche: wir wuͤrden doch noch Haͤuſer im griechiſchen Geſchmack bekom¬ men. Die Muſter haben ja ſelber ohne Muſter ge¬ ſchrieben und Polyklets Bildſaͤule wurde nach[keiner] Polyklets Bildſaͤule geregelt. Trotz dem Studium der geſchriebnen Antiken lag ſonſt in Deutſchland und liegt noch in Italien die dichtende Schoͤpfer¬ kraft auf dem Siechbett.

Wer wie Heyne die alten Sprachen zur for¬ malen Ausbildung der Seele dingen will: der vergiſſet, daß jede Sprache es kann; und daß eine unaͤhnlichere wie die orientaliſchen es noch beſ¬ ſer kann und daß dieſe Ausbildung uns ſo theuer zu ſtehen koͤmmt als manchem Baron ſein franzoͤſi¬ ſches. Die Griechen und Roͤmer wurden Griechen und Roͤmer ohne die formale Bildung von griechi¬ ſchen und lateiniſchen Autoren ſie wurdens durch Regierungsform und Klima.

Es iſt ein Ungluͤck fuͤr das Schoͤnſte, was der menſchliche Geiſt geboren hat, daß dieſes Schoͤn¬ ſte unter den Haͤnden der Primaner, Sekundaner und Tertianer zerrieben wird daß das Scholar¬198 chat glauben kann, die beſſere Edition oder die beſſere Nominal - und Real-Erklaͤrungen ſetzen die jungen Gymnaſiaſten, mehr in Stand, die erhabe¬ nen klaſſiſchen Ruinen zu faſſen, als eine beſſere von Erratis geſauberte Edition des Shakeſpears und die beigefuͤgten Novellen nebſt den Noten einem Schul¬ man in Stand ſetzen wuͤrden, die Augen vor dieſem engliſchen Genius aufzuſchließen daß ſonach das Scholarchat ſich in den Kopf ſetzet, einen Haͤmling oder Taͤufling erhalte nichts kalt gegen die Reize ei¬ ner Kleopatra als die Huͤllen dieſer Reize und daß die Scholarchate nicht mir und der Natur nach¬ gehen.

Die Natur erzieht naͤmlich unſern Geſchmack durch vorragende Schoͤnheiten fuͤr feinere; der Juͤngling zieht den Witz der Empfindung vor, den Bombaſt dem Verſtand, den Lukan dem Virgil, die Franzoſen den Alten. Im Grunde hat dieſer mino¬ renne Geſchmack nicht darin Unrecht, daß er gewiſſe niedere Schoͤnheiten ſtaͤrker empfindet als wir ſon¬ dern daß er die damit verbundnen Flecken und hoͤhe¬*)Fühlen denn alle Deutſche die Meſſiade, der der deutſchen Sprache und bibliſchen Geſchichte kundig ſind? 199 re Reize ſchwaͤcher empfindet als wir alle; denn wir wuͤrden nur deſto vollkommner ſeyn, wenn wir zu¬ gleich mit dem jezigen Gefuͤhl fuͤr das griechiſche Epi¬ gram das verlorne Jugend-Entzuͤcken uͤber das fran¬ zoͤſiſche verknuͤpfen koͤnnten. Man ſollte alſo den Juͤngling ſich an dieſen Leckereien wie der Zuckerbaͤ¬ cker ſeinen Lehrjungen an andern, ſo lange ſaͤttigen laſſen bis er ſich daran uͤberdruͤßig und fuͤr hoͤhere Koſt hungrig genoſſen haͤtte jezt aber exponirt er ſich umgekehrt an den Alten ſatt und bildet und rei¬ zet damit ſeinen Geſchmack fuͤr die Neuern. In un¬ ſerer Autoren-Welt erſcheinen die traurigen Folgen davon, daß Scholarchate den Anfang mit dem Ende machen und von Autoren, die bloß dem zarteſten beſten Geſchmacke die letzte Ruͤnde geben, den gym¬ naſiaſtiſchen aus dem Groben wollen hauen laſſen und ſo weder der Natur folgen noch mir.

Die Scholarchate beſorgen freilich, dadurch kaͤme unter die jungen Leute mehr Witz als ſchicklich iſt, wenn man den Seneka, Epigrammen und ver¬ dorbne Autores leſe. Meine erſte Antwort iſt, daß die Konſtitution des Deutſchen robuſt und geſund ge¬ nug iſt, um dem Fleckfieber des Witzes weniger aus¬ geſetzt zu ſeyn als andre Voͤlker. Z. B. das witzige200 Buch uͤber die Ehe oder Hamanns Schriften ma¬ chen wir durch tauſend reine Werke wieder gut, wo der Witz nicht darin iſt. Ich habe daher oft gedacht, ſo wie der Deutſche von ſeinen Vorzuͤgen wenig weiß, ſo weiß er auch von dem nichts, daß er nicht uͤberfluͤſ¬ ſigen Witz hat, ob gleich die Rezenſenten mir und den Verfaſſern der Romane dieſen Ueberfluß oft ge¬ nug vorwerfen; ich und dieſe Verfaſſer verlangen unpartheiiſche Richter hieruͤber; ſogar dieſe ſonſt un¬ bedeutenden Rezenſenten ſind hierin einem Seneka und Rouſſeau, die beide den witzigen Styl verdamm¬ ten, bekaͤmpften und doch haſchten, zu ihrem Ruhm ſo wenig aͤhnlich, daß ſie den Fehler des Witzes ſtrenge an andern ruͤgen und gluͤcklich ſelber ver¬ meiden.

Meine zweite Antwort iſt ernſthafter: eh der Koͤrper des Menſchen entwickelt iſt, ſchadet ihm jede kuͤnſtliche Entwicklung der Seele; philoſophiſche An¬ ſtrengung des Verſtandes, dichteriſche der Phantaſie zerruͤtten die junge Kraft ſelber und andre dazu. Bloß die Entwicklung des Witzes, an die man bei Kindern ſo ſelten denkt, iſt die unſchaͤdlichſte weil er nur in leichten fluͤchtigen Anſtrengungen arbei¬ tet; die nuͤtzlichſte weil er das neue Ideen¬201 Raͤderwerk immer ſchneller zu gehen zwingt weil er durch Erfinden Liebe und Herrſchaft uͤber die Ideen giebt weil fremder und eigner uns in dieſen fruͤhen Jahren am meiſten mit ſeinem Glanze ent¬ zuͤckt. Warum haben wir ſo wenig Erfinder und ſo viele Gelehrte, in deren Kopfe lauter unbewegli¬ che Guͤter liegen, in denen die Begriffe jeder Wiſ¬ ſenſchaft Klubweiſe auseinander geſperrt in Karthau¬ ſe wohnen ſo daß wenn der Mann uͤber eine Wiſſen¬ ſchaft ſchreibt, er ſich auf nichts beſinnt, was er in der andern weiß? bloß weil man die Kinder mehr Ideen als die Handhabung der Ideen lehrt und weil ihre Gedanken in der Schule ſo unbeweglich fixirt ſeyn ſollen wie ihr Steis.

Man ſollte Schloͤtzers Hand in der Geſchichte auch in andern Wiſſenſchaften nachahmen. Ich ge¬ woͤhnte meinen Guſtav an, die Aehnlichkeiten aus entlegnen Wiſſenſchaften anzuhoͤren, zu verſtehen und dadurch ſelber zu erfinden. Z. B. alles Große oder Wichtige bewegt ſich langſam: alſo gehen gar nicht die orientaliſchen Fuͤrſten der Dalai Lama die Sonne der Seekrabben; weiſe Griechen[giengen] (nach Winkelmann) langſam, ferner das Stundenrad, der Ozean, die Wolken bei ſchoͤnem202 Wetter. Oder: im Winter gehen Menſchen, die Erde, und Pendule ſchneller. Oder: verhehlt wurde der Name Jehova's der orientaliſchen Fuͤrſten, Roms und ſeines Schutzgottes, die ſibilliniſchen Buͤ¬ cher, die erſte altchriſtliche Bibel, die katholiſche, der Vedam ꝛc. Es iſt unbeſchreiblich, welche Gelenkig¬ keit aller Ideen dadurch in die Kinderkoͤpfe koͤmmt. Freilich muͤſſen die Kenntniſſe ſchon vorher da ſeyn, die man miſchen will. Aber genug! der Pedant ver¬ ſteht und billigt mich nicht; und der beſſere Lehrer ſagt eben: genug!

203

Siebzehnter Sektor.

Abendmahl darauf Liebesmahl und Liebeskuß.

O geliebter Guſtav! die ausgewinterten Tage un¬ ſerer Liebe ſchlagen in meinem Dintenfaſſe wieder in Bluͤten aus, indem ich ſie verzeichne! Haſt du, Leſer, irgend einen Fruͤhling deines Lebens gehabt, und haͤngt noch ſein Bild in dir: ſo leg 'es im Wintermonat des Lebens an deinen warmen Bu¬ ſen und gieb ſeinen Farben Leben, wie Erwaͤr¬ mung das unſichtbare Fruͤhlingsgemaͤlde des Ofens enthuͤllt und belebt denk' dir alsdann deine Blu¬ mentage, wenn ich unſere zeichne ..... Unſere vier kleinen Waͤnde waren die Staketen eines rei¬ chern Paradieſes als ſich durch einen Augarten aus¬ ſtreckt, unſer Kirſchbaum am Fenſter war unſer Deſſauiſches Philantropinwaͤldchen und zwei Men¬ ſchen waren gluͤcklich, ob ſie gleich befahlen und gehorchten. Das Maſchinenwerk des Lobes,[das] ich in dem Regulativ meinem Informator ſo ſehr anpries, legt 'ich bei Seite, weil es nicht an ei¬ nen, ſondern an eine ganze Schule anzuſetzen iſt:204 mein Paternoſterwerk war ſeine Liebe zu mir; Kin¬ der lieben ſo leicht, ſo innig; wie ſchlimm muß der's treiben, den ſie haſſen! Auch der Skala mei¬ ner Strafen-Karolina oder Thereſiana ſtanden ſtatt der paͤdagogiſchen Ehren - und Leibesſtrafen Kaͤlte, ein trauernder Blick, ein traurender Ver¬ weis und die hoͤchſte, das Drohen fortzugehen. Kinder von zartem Herzen und von einer immer durch den Wind aufgehobnen Phantaſie wie Gu¬ ſtav ſind am leichteſten zu wenden und zu drehen; aber auch ein einziger falſcher Riß des Lenkſeils verwirrt und verſtockt ſie auf immer. Beſonders ſind die Flitterwochen einer ſolchen Erziehung ſo gefaͤhrlich wie die in der Ehe mit einer feinfuͤhlen¬ den Frau, bei der ein einziger kakochymiſcher Nach¬ mittag durch keine kuͤnftigen Jahrs - und Tags¬ zeiten wieder auszutilgen iſt. Ich wills nur be¬ kennen: eben einer ſolchen ſenſitiven Frau wegen bin ich Informator geworden. Da die Weiber (hieß es in mir) in einem frappanten Grade alle Vollkommenheiten der Kinder haben die Fehler derſelben ſchon weniger: ſo kann ein Menſch, der an den ſo weit auseinander ſtehenden Aeſten der Kinder ſein Geſpinnſte anzukleben und anzuzie¬205 hen weiß, d. h. der ſich in Kinder ſchicken kann, ſo ſehr ſchlimm unmoͤglich fahren als andre, wenn er heirathet.

Da der Tadel allezeit das Ehrgefuͤhl des Kin¬ des verſehrt: ſo unterdruͤckt 'ich ihn, um meine Kollegen in der Runde durch das Beiſpiel zu leh¬ ren, daß das Ehrgefuͤhl, das unſere Tage nicht genug erziehen, das Beſte im Menſchen ſei daß alle andre Gefuͤhle, ſelbſt die edelſten, ihn in Stun¬ den aus ihren Armen fallen laſſen, wo ihn das Ehrgefuͤhl in ſeinen emporhaͤlt daß unter den Menſchen, deren Grundſaͤtze ſchweigen und deren Leidenſchaften in einander ſchreien, bloß ihr Ehrge¬ fuͤhl dem Freunde, dem Glaͤubiger und der Gelieb¬ ten eine eiſerne Sicherheit verleihe.

Sieben Tage fruͤher als recht war, kommuni¬ cirte mein Guſtav: denn das Konſiſtorium die Nehme der Pfarrherrn, die Poͤnitenziaria der Ge¬ meinden und die Widerlage der Regierung ſchick¬ te uns mit Vergnuͤgen als eine geiſtige Faſtendiſ¬ penſation oder venia aetatis dieſe ſieben Tage, um die ſein Kommunion-Alter zu leicht war, fuͤr eben ſo viel Gulden geſchenkt aufs Schloß heraus. Mein Eleve mußte alſo der geſchickteſte Religionsleh¬206 rer ſaß vergeblich zu Hauſe woͤchentlich zweimal zum dummen Senior Sezmann zu Auenthal ab¬ marſchiren, der zum Gluͤck kein Juriſt, wie ich war und in deſſen Pfarrwohnung ein Rudel Kate¬ chumenen die Schnauzen in geronnene Katechiſmus - Milch ſtecken mußten Guſtav brachte ſtatt des Thier-Ruͤſſels einen zu kurzen Mund mit.

Gleichwohl war der Senior Sezmann nicht uͤbel: auf einen Parliaments-Wollenſack haͤtt 'er ſich zu einem Redner geſeſſen, d. h. zu einem Ding, das unter den Perſonen, die ihm Anfangs nicht glauben, zuerſt ſeine eigne uͤberredet Ein Red¬ ner iſt ſo leicht zu uͤberreden als er uͤberredet Der Senior war jeden Sonntag in den erſten Stun¬ den nach der Predigt fromm genug: er kann zwar verdammt werden, aber bloß Mangel an Predig¬ ten wuͤrd' es thun und der an Bier. Eine ver¬ nuͤnftige Betrunkenheit koͤmmt beides dem aſceti¬ ſchen und dem poetiſchen Enthuſiaſmus un¬ glaublich zu ſtatten. Die Leſer ſind meine Freun¬ de nicht, welche ſagen, aus bloßer Aergerniß daß mein Guſtav ſeine Stunden hoͤrte ſchrieb 'ichs hier der Welt hin, daß der Keller die Pauls - und Peterskirche des Seniors war daß ſeine207 Seele wie gefluͤgelte Fiſche, nur ſo lange empor flog als die Schwingen eingeoͤhlet waren daß er immer betrunken und geruͤhrt zugleich war und eher nicht in den Himmel hineinbegehrte als bis er ihn nicht mehr ſehen konnte. Hermes und Oem¬ ler ſagen, ich wuͤrde Aergerniß vermeiden ob¬ gleich das Beiſpiel Sezmanns ein groͤſſeres ge¬ ben muß als der Spas daruͤber wenn ichs la¬ teiniſch vortruͤge, daß die aquae ſupra coeleſtes ſei¬ ner Augen allemal ſeine zwei Schuh tiefern humo¬ res peccantes begleiteten.

Guſtav gieng an wehenden Fruͤhlingsnachmit¬ tagen auf jungem Graſe zu ihm und freuete ſich unterwegs auf zwei huͤbſche Dinge Erſtlich auf dieſen Miſſionar der heidniſchen Dorfjugend ſelber, deſſen ſchwaͤrmeriſcher Athem Guſtavs Ideen, de¬ ren jede ein Segel war, wie ein Sturmwind be¬ wegte und der beſonders in der letzten ſechſten Wo¬ che, wo er die jungen Sechswoͤchner uͤber den Leiſten des ſechſten Hauptſtuͤcks ſchlug, mei¬ nes Guſtavs Ohren ſo verlaͤngerte, daß zwei Fluͤgel daraus wurden, die mit ſeinem Koͤpfchen davon giengen. Zweitens ſpitzt 'er ſich auf eine breite Binde uͤber einem breiten Halstuch und208 dergleichen Schuͤrze, welches alles noch dazu ſo bluͤtenweiß war wie ich und am ſchoͤnſten Leibe in der ganzen Pfarrei ſaß an Reginens ihrem, die oder der darin ſich auf das zweite Kommunizi¬ ren vorbereitete. So etwas, mein Guſtav, mach¬ te dich ganz natuͤrlich aufmerkſamer als zerſtreuet; und wenn mir das Scholarchat nur eine halbe ſol¬ che Muſe ſtatt des Bauchkuͤſſens meines leken Kon¬ rektors auf den Katheder entgegengeſtellt haͤtte: ich wuͤrde gelernt haben, ferner analyſirt, for¬ mirt, konſtruirt! Deswegen wars zweitens kei¬ ne Hexerei, Guſtav da bloß dein Ohr der Wind¬ ſeite vom Paſtor entgegenlag, das Aug' aber der Sonnenſeite von Reginen daß[du] wenig dir aus der halben Stunde machteſt, die der Senior druͤber gab, um ſein Gewiſſen zum Narren zu haben. Er hielt, um dieſen Frais - und Zentherrn und[Veimer] im Herzen, das Gewiſſen, ſtille zu machen, ſeine Kinderlehren eine halbe und ſeine Predigten dreiviertel Stunden laͤnger als die ganze Dioͤzes. Der Menſch thut lieber mehr wie ſeine Pflicht als ſeine Pflicht.

Da er nicht wußte, daß Maͤdchen nichts uͤberſe¬ hen und alles uͤberhoͤren: ſo war ihm der ganze Ka¬techiſmus209techiſmus ein Liebesbrief, in dem er ſich mit ihr un¬ terredete. Wenn ſie dem Senior zu antworten hatte: wurd 'er roth, der Senior, dacht' er, kann ſein Fragen und Quaͤlen nicht verantworten und ſein Sehnerve ruhte tief auf ihrem Geſichte.

Da die Falkenbergiſchen kein beſonderes Kommu¬ nizirzimmer mit ſammtnen Dielen hatten: ſo gieng meine[Pathe an] der Spitze ihrer Lehnleute um den Altar; alſo auch Guſtav.

Am Beichtſonnabend O ihr ſtillen Tage mei¬ ner Religionsſchwaͤrmerei geht wieder vor mir vor¬ uͤber und gebt mir euere Kinderhand, damit ich euch ſchoͤn und ſanft beſchreibe. Am Sonnabend gieng Guſtav nach dem Eſſen ſchon unter demſelben konnt 'er vor Liebe und Ruͤhrung ſeine Eltern nicht anſehen die Treppe hinauf, um nach einer ſo ſchoͤ¬ nen Sitte den Seinigen ſeine Fehler abzubitten. Der Menſch iſt nie ſo ſchoͤn als wenn er Verzeihung bit¬ tet oder ſelber verzeiht. Er gieng langſam hinauf, damit ſeine Augen trocken und ſeine Stimme feſter wuͤrde; aber als er vor die elterlichen kam, brach ihm alles wieder, er hielt lange in ſeiner gluͤhenden Hand die vaͤterliche, um etwas zu ſagen, um nur die drei Worte zu ſagen: Vater vergieb mir; aber er fandO210keine Stimme, und Eltern und Kind verwandelten die Worte in ſtille Umarmungen. Er kam auch zu mir ... in gewiſſen Verfaſſungen iſt man froh, daß der andre in der naͤmlichen iſt und alſo unſre vergiebt ... Ich wollt ', Guſtav, ich haͤtte dich jetzt in meiner Stube. Wenn Kinder ſich Gott nicht wie Er¬ wachſene, als ihres Gleichen, als ein Kind, ſondern als einen Menſchen denken: ſo iſt das fuͤr ihr klei¬ nes Herz genug. Guſtav gieng nach dieſen Abbitten wankend, zitternd, betaͤubt, wie wenn er das ſaͤhe was er dachte Gott, in die verlaſſene Kind¬ heitshoͤhle hinab, wo er unter der Erdrinde erzogen wurde und wo ſeine erſten Tage und erſten Spiele und Wuͤnſche begraben lagen. Hier wollt' er knien und in dieſer zerbrochnen Andachtsſtellung, worin der Genius der Sonnen und Erden in jener vielleicht froͤmmſten Zeit unſers Lebens alle gefuͤhlvolle Kin¬ der erblickt, ſeine ganze Seele in einen einzigen Laut, in einen einzigen Seufzer verwandeln und ſie opfern auf dem Dankaltar; aber dieſer groͤßte menſch¬ liche Gedanke riß ſich wie eine neue Seele von ſei¬ ner los und uͤberwaͤltigt ſie Guſtav lag und ſo¬ gar ſeine Gedanken verſtummten ... Aber die Stim¬ me wird gehoͤrt, die in der Bruſt bleibt, und der211 Gedanke geſehen, der zuruͤckſinkt unter den Stra¬ len des Genius; und in der andern Welt betet der Menſch ſeine hieſigen verſtummten Gebete hin¬ aus.

Am Abend dieſes ſchwaͤrmeriſchen Tages trug eine wiegende Ruhe auf ihren feſten Haͤnden ſein uͤberſpanntes Herz; er ſchlug nicht gewaltſam die kurzen Kinder - und Menſchen-Arme um die Freu¬ de, ſondern dieſe ſchloß die Mutterarme leiſ 'um ihn. Dieſer Zephyr der Ruhe ſpielte anſtatt daß der Orkan des Jauchzens den Menſchen durch und wider alles reiſſet noch am Pfingſttage mit ſeinen Ideen und[er lag] darauf wie auf einer Wol¬ ke, da er heiter in die Pfingſtſonne trat; aber als der Blumengeruch der geſchmuͤckten Bruſt,[das] Ge¬ fuͤhl des preſſenden, rauſchenden Anzugs, das Glok¬ kengelaͤute, deſſen fortlaufende Toͤne wie goldne Faͤden um alle einzelne Auftritte liefen nnd ſie in Einem verbanden, der Birkenduft und das gruͤne Helldunkel der Kirche, ſogar das Faſten, als alles das ſeine Ideen und ſeine Blutkuͤgelchen in fliegende Kreiſe warf: ſo ſtand in ſeiner Bruſt eine an¬ gezuͤndete Sonne; das Bild eines tugendhaf¬ ten Menſchen brannte nie in ſo großen uͤberO 2212die Wolken hinaustretenden Umriſſen vor ihm als da!

Aber der Abend! Die kleinen Kommunikan¬ ten ſpatzierten da mit leichterem Herzen und volle¬ rem Magen in ſittſamen Gruppen herum und fuͤhl¬ ten Eſſen und Putz. Guſtav von deſſen Flammen das Abendeſſen vieles uͤberleget hatte, wie eine her¬ abgeworfne Gans den brennenden Schorſtein erſtickt; wiewohl ſich noch eine ſanfte Glut verhielt wan¬ delte ſeinen Garten jetzt, da ſein Kopf kein Tanzplatz ſondern eine Moosbank entzuͤckter Ideen war, lang¬ ſam auf und ab und zog die eingeſchlafnen Tulpen¬ blaͤtter auseinander, um aus dieſem Blumenkarzer manches verſpaͤtete Bienchen zu befreien. Endlich lehnt 'er ſich an den Thuͤrſtock des hintern Garten¬ thuͤrchens und ſah ſehnend uͤber die Wieſen ins Doͤrf¬ chen hinab, wo die gruppirten Eltern zuſammen plauderten und den Kindern eitel nachſchaueten, die heute zum erſten - und wohl zum letztenmale ſpatzie¬ ren giengen, weil Bauern und Morgenlaͤnder nur Sitzen lieben. Ein Kinderpiquet ruͤckte um die Gar¬ tenmauer herum, vielleicht weil es ſeinen Staar¬ matz, der heute in die friſche Luft mit ſeinem Bauer gehangen war, ſatyriſiren hoͤrte. Kinder ſind in213 fremden Kleidern und Orten ſich fremd. Guſtav kannte keinen andern Leitton, mit Kindern ins Ge¬ ſpraͤch uͤberzugehen, als den, in eines mit dem Staarmatz zu gerathen. Die redenden Kuͤnſte des befiederten Linguiſten machten bald die Konverſazion allgemein. Guſtav fieng an Geſchichtchen zu erzaͤh¬ len, aber vor einem juͤngern und billigern Publikum als ich: ſeine Geſchichtchen erdachte und erzaͤhlte er im naͤmlichen Augenblick und ſeine Phantaſie ſtieß mit ihren Fluͤgeln im unermeßlichen Tummelplatz an nichts. Ueberhaupt erfindet man geſcheutere Contes unter dem Sprechen als Schreiben und die Madame d'Annoy, die ich lieber heirathen als leſen moͤchte, wuͤrde uns großen Kindern beſſere Feenmaͤhrchen ge¬ geben haben, wenn ſie ſie vor den Ohren kleiner er¬ funden haͤtte.

Unter dem Vorwande des Niederſetzens invitirte er ſein ganzes Publikum auf einen Altan, der um einen Lindenbaum im Garten ſamt einer Treppe ge¬ flochten und gewoͤlbet war .... Ich laſſe ſo bald meine Leſer nicht herunter: denn Bienen, Bild¬ ſchnitzer und Ich lieben Linden ſehr, jene des Honigs, dieſe des weichen Holzes und ich des weichen Namens und des Geruches wegen.

214

Aber hier iſt noch was ganz anders zu lieben Drei Kommunikantinnen horchten zur offnen Gartenthuͤr herein und verdoppelten von weitem das Auditorium: mit Einem Worte, Regina war darunter und ihr Bruder mit droben; die Gallerie oder Logen mußten endlich da das heraufrufen nichts half das weibliche Parterre heraufzerren. Ich erzaͤhle jetzt feuriger nach; kein Wunder, daß ers that. Regina ſetzte ſich am weiteſten von ihm, aber ihm gegenuͤber. Er fieng eine ganz neue Hi¬ ſtorie an, weil das bureau d'eſprit ſtaͤrker gewor¬ den. Ein elendes Maͤdchen Kinder wollen in der Geſchichte bloß Kinder malt 'er vor, ohne Abend¬ brod, ohne Eltern, ohne Bett, ohne Haube und ohne Fehler die aber allemal ſo oft ein Stern ſich putzte, unten einen huͤbſchen Thaler fand u. ſ. w. Welche Flamme ſchlug aus ſeinen Worten heraus, aus ſeinen Augen und Geſtus, in ſeine Zuhoͤrer¬ ſchaft hinein. Noch dazu ſtickte der Mond die Lin¬ dennacht auf dem Fußboden mit wankenden Silber - Punkten eine verſpaͤtete Biene kreutzte durch den gluͤhenden Kreis und ein ſchnurrender Daͤmmerungs¬ vogel um einen weiſſen Kopf auf dem Doppel - Grund von Lindengruͤn und Himmelsblau zitterten215 Blaͤtter neben den Sternen der Nachtwind wieg¬ te ſich auf duͤnnem Laube und auf Goldflittern der geputzten Regina und beſpuͤhlt mit kuͤhlen Wellen ihre Feuerwange und Guſtavs Flammenathem .... Aber wahrhaftig ich behaupte, den Katheder brauch¬ te er nicht einmal, ſo herrlich waren Katheder und Redner. Wie konnt' ihm dieſer noͤthig ſeyn, da er der Braut Chriſti und ſeiner eignen erzaͤhlte; da der ganze heutige Tag mit ſeinem blendenden Nimbus wieder aufſtand; da er das Mitleid in die Bruſt der unbefangnen Kinder einfuͤhrte und aus ihren Auge es wieder vorpreßte; und da er gewiſſe weibliche ſich benetzen ſah .... Seine eig¬ ne zergiengen in Wonne und er dehnte ſein Laͤcheln immer weiter auseinander, um damit ſein Auge zu bedecken, das ſich ſchon ſchoͤner bedecket hatte. Guſtav! hatt 'es ſchon zweimal vom Schloſſe gerufen, aber in dieſer ſeligen Stunde hoͤrt' es keiner: bis zum drittenmale die Stimme nahe unten im Garten ertoͤnte. Die betaͤubte ge¬ heime Geſellſchaft rollte die Treppe hinab neben ihm verweilte noch Regina unter der magiſchen Lau¬ be, um mit ihrer Schuͤrze die Spuren der Erzaͤh¬ lung aus den Augen zu bringen und mit einer Na¬216 del ſich etwas hinaufzuſtecken er ſtand am Ge¬ ſichte, auf dem ſo viele ſchoͤne Abendroͤthen ſeines Lebens untergegangen waren, ſo nahe, und ſo ſtumm und hielt ſie ein wenig als ſie nachwollte waͤre ſie ſtille geſtanden, ſo haͤtt 'er ſie nicht hal¬ ten koͤnnen; aber da ſie riß: ſo umfaßte er ſie feſter und im groͤßern Bogen ihr Ringen verei¬ nigte beide, aber ſeiner trunknen Seele erſetzte die Naͤhe den Kuß das Straͤuben fuͤhrte ſeine zuk¬ kende Lippen an ihre aber doch erſt als ſie ſeine Bruſt von ihrer wegſtemmte und ſeine mit der Na¬ del zerritzte, dann erſt ſtrickte er ſie mit unaus¬ ſprechlicher vom eignen Blute berauſchter Liebe an ſich und wollte ihren Lippen ihre Seele ausſaugen und ſeine ganze eingieſſen ſie ſtanden auf zwei entfernten Himmeln, zu einander uͤber den Ab¬ grund heruͤbergelehnt und einander auf dem zittern¬ den Boden umklammernd, um nicht loslaſſend zwiſchen die Himmel hinunter zu ſtuͤrzen ....

.... Koͤnnt 'ich ſeinen erſten Kuß tauſendmal brennender koloriren: ich thaͤt's; denn er gehoͤrt unter die erſten Abdruͤcke der Seele, unter die Maiblumen der Liebe, er iſt die beſte mir bekann¬ te Dephlegmation des erdigten Menſchen. Nur217 iſt's in dieſem deutſchen und belgiſchen Leben nicht moͤglich zu machen, daß der Menſch uͤber 5 oder 6male zum erſtenmale kuͤſſe. Spaͤter ſieht er alle¬ zeit in ſeine Sachdefinition, die er von einem Kuſſe im Kopfe hat, ordentlich hinein und zitirt den Paragraphen wo's ſteht; der ganze Inhalt des dummen Paragraphen iſt aber der, das ganze Ding ſei ein Zuſammenplaͤtten rother Haͤute. Warlich ein ſentimentaliſcher Autor kann ſich nicht nieder¬ ſetzen und bedenken, daß ein Kuß eines von den wenigen Dingen iſt, die nur genoſſen werden wenn unter dem Geiſtigen das Koͤrperliche nicht vorſchmeckt ohne daß ein ſolcher ſentimentaliſcher Autor (es iſt niemand als ich) die ausfilzet, die nicht ſoviel Ver¬ ſtand haben wie er er filzet nicht bloß die Her¬ ren Veit Weber und Kotzebue, in deren Schriften zuviele Kuͤſſe ſtehen, ſondern auch andre Leute aus, in deren Leben zuviele ſind, nament¬ lich ganze Pickenicks, die einander nach dem Tiſch¬ gebet die Wangen mit den Lippen abbuͤrſten und anſchroͤpfen. Koͤmmts gar ſo weit, daß dieſe ſchoͤ¬ ne Lippenbluͤte unſers Geſichts ſich an Haͤuten von Schaafen und von Seidenraupen, an Handſanda¬ len zerknuͤllen muß: ſo will ein Autor von ſo viel218 Empfindung der paſſiven Parthei die Haͤnde und der aktiven die Lippen wegſchneiden ....

Ich begieſſe den vom letzten Kuſſe erhitzten Le¬ ſer mit dieſer kalten Bruͤhe wirklich[ nicht deswe¬ gen] um mit ihm ſo umzuſpringen wie das Schick¬ ſal mit mir: dieſes hat ſichs einmal zum Geſetz gemacht, jedesmal wenn ich mitten im Freuden¬ oͤhl ſolcher Auftritte wie der Guſtaviſche oder auch nur der Beſchreibung ſolcher Auftritte ſte¬ he, mich ſogleich in Bitterwaſſer und Schweerſchen Eſſenzen und ſaure Extrakte unter zu tauchen. Son¬ dern ich wollte gerade umgekehrt die haͤßliche Em¬ pfindung uͤber den Tauſch entgegengeſetzter Szenen dem Leſer halbiren, die der arme Guſtav ganz hat¬ te, als es unten rief:

Wollt ihr gleich! Die Rittmeiſterin legte in den Ton mehr Beleidigendes, als mein unſchul¬ diger Eleve noch zu fuͤhlen verſtand. Die Liebha¬ berin verliert in ſolchen Ueberraſchungen den Muth, den der Liebhaber bekoͤmmt. Die erſten Verſikel des abgefluchten Strafpſalms durchloͤcherten das Ohr der ſchuldloſen Regina, die ſtumm und wei¬ nend aus dem Garten ſchlich und den freudigen Tag truͤbe beſchloß. Die ſanftern Verſe erfaßten219 den Hiſtoriographen, der ſeine Contes moraux aͤſt¬ hetiſch und mit Pathos*)Guſtavs Muth zum Kuß iſt natürlich. Unſer Geſchlecht durchläuft drei Perioden des Muths gegen das Schöne die erſte iſt die kindliche, wo man beim weiblichen Ge¬ ſchlecht noch aus Mangel an Gefühl ꝛc. wagt die zweite iſt die ſchwärmeriſche, wo man dichtet aber nicht wagt die dritte iſt die letzte, wo man Welt genug hat, um frei¬ müthig zu ſeyn, und Gefühl genug, um das Geſchlecht zu ſchonen und zu achten. Guſtav küßte in der erſten Periode. auszumachen vorhatte und nun ſelber von einem fremden Pathos erwiſcht wurde. Erneſtinens Herz, Lippen und Ohren wa¬ ren hinter den ſtrengſten Gittern erzogen; daher wich ihre ſo melodiſche Seele (bei einem bloßen Kuß) in eine fremde harte Tonart aus; ſie gab vom ſchoͤnſten Maͤdchen nichts zu, als: ein gutes Maͤdchen iſts. Ueberhaupt iſt[mir] die Frau, die gewiſſe Fehltritte einer andern ſchonend beurtheilt, mit ihrer Toleranz verdaͤchtig; eine ganz reine weibliche Seele erzwingt an ſich hoͤchſtens die Mine dieſer Toleranz fuͤr eine weniger reine.

Auf jene Lippen druͤckte Guſtav den erſten und letzten Kuß: denn in der Pfingſtwoche zog die Schaͤ¬ ferin nach Mauſſenbach als Schloß-Dienſtbote. Wir werden nichts mehr von ihr hoͤren. So wirds220 durch das ganze Buch gehen, das wie das Leben voll Szenen iſt, die nicht wieder kommen. Nun tritt ſchon die Sonne hoͤher an Guſtavs Lebensta¬ ge und faͤngt an zu ſtechen eine Blume der Freude um die andre buͤckt ſich ſchon Vormittags zum Schlummer nieder, bis Nachts um 10 Uhr der geſenkte Flor mit verſchwundnen Bluͤten ſchlaͤft ....

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Achtzehnter Sektor.

Scheerauiſche Molucken Röper Beata offizielle Wei¬ berkleider Oefel

Ich wuͤrde naͤrriſch handeln und ſchreiben, wenn ich da uns alle, Leſer ſowohl als Einwohner dieſer Biographie, Scheerau ſo nahe angeht, da Guſtav, der Held dahin als Kadet koͤmmt, da ich, der Hofmeiſter, daraus komme, da Fenk, der Dok¬ tor, noch da iſt und da Fenk in dieſer Hiſtorie noch wichtig werden kann drei Papiere von D. Fenk trotz aller dieſer Gruͤnde nicht einruͤckte. Die Rede iſt von zwei Zeitungsartikeln und Einem Brief, die der Peſtilenziar geſchrieben.

Ich weiß gewiß, daß es einigen hohen Frem¬ den, die durch die Scheerauiſchen hoͤhern Zirkel ge¬ reiſet, bekannt iſt, daß der Doktor eine Zeitung ſchreibt, die nicht gedruckt wird, naͤmlich eine ge¬ ſchriebne Gazette oder nouvelles à la main wie alle Reſidenzſtaͤdte ſie haben. Doͤrfer haben gedruckte Neuigkeiten, kleine Staͤdte muͤndliche, Reſidenz¬ ſtaͤdte ſchriftliche. Das Papier iſt ſein Marforio222 und Paſquino, der ſeine ſatyriſchen Arzneien aus¬ theilt.

Seinen erſten Zeitungsartikel flecht 'ich ein, ſchon bloß des Journals fuͤr Deutſchland wegen. Dieſes ſo platte und ſo wortreiche Journal denn ſonſt waͤr es weder von noch fuͤr Deutſchland ge¬ ſchrieben ruͤckte eine gute Abhandlung von mir nicht ein, die ich uͤber den auſſerordentlichen Handels¬ flor in Scheerau eingeſchickt, weil vielleicht keine Re¬ gierung in Deutſchland weniger bekannt iſt als die Scheerauiſche. Wahrhaftig man ſollte denken, die¬ ſes Fuͤrſtenthum verſtecke ſich unter die Eisrinde der Polarmeere, ſo unbekannt ſind die wichtigern Nach¬ richten von ihm, z. B. ſolche, wie die, daß wir Scheerauer ſeit der neuen Regierung den ganzen oſt¬ indiſchen Handel und die Molucken an uns gezogen, von denen wir jetzt unſere Gewuͤrze ſelber holen, die die Regierung eigenhaͤndig dazu aus Amſterdam ver¬ ſchreibt. Aber das ſteht ja eben im erſten Zei¬ tungsartilel.

223

No. 16.

Gewürzinſeln und Molucken in Scheerau.

Der Brandenburger Weiher bei Baireuth iſt ein ausgegrabner Landſee von 500 Tagwerken und vor einigen Monaten ſaß ich eine Stunde darin: denn man trocknet ihn jezt zum Beſten ſeiner bleichen Kuͤſtenbewohner aus. Der Scheerauiſche Weiher an dem vier Regenten weiter graben ließen, hat 129 Tagwerke mehr und iſt fuͤr Deutſchland wichtig: denn durch ſeine aͤroſtatiſchen Duͤnſte wird er ſo gut wie das mittellaͤndiſche Meer, das Wetter in Deutſchland aͤndern, ſobald der Wind uͤber beide geht. Die Ebbe und Fluth muß[genau] genommen auf einer[Thraͤne], oder im Saufnaͤpfgen eines Zeiſſigs ſtatt finden, wie viel mehr auf einem ſol¬ chen Waſſer: die Dioͤzes von Inſel, die dieſen Teich ſo putzt und fournirt, z. B. Banda, Su¬ matra, Zeylon, und das ſchoͤne Amboina, die großen und kleinen Molucken traten erſt unter der jezigen Regierung aus dem Waſſer oder viel¬ mehr ins[Waſſer]. Herr Buͤffon wenn er noch lebte und andre Naturforſcher muͤſt 'es frappiren, daß224 die Inſeln auf dem Scheerauiſchen Ozean nicht durch Aufthuͤrmungen von Korallen entſtanden auch nicht durch Erdbeben, die den Dromedar-Ruͤ¬ cken des Meersgrundes aus dem Waſſer aufkruͤmm¬ ten ſelber durch keinen Vulkan in der Naͤhe, der dieſe Berge ins Waſſer hineingeſaͤet haͤtte: denn Summatra, die großen und die kleinen Mo¬ lucken wurden bloß in kleinen Partien auf unzaͤh¬ ligen Schubkarren und Leiterwagen an die Kuͤſten herbei geſchoben, und weil auf den Karren Steine, Sand, Erde und alle Ingredienzien ei¬ ner huͤbſchen Inſel waren: ſo brachten die Frohn¬ bauern, landesherrliche ſo wohl als ritterſchaftli¬ che, die eben ſo viele (Taback -) rauchende und In¬ ſeln bildende Vulkane waren, in kurzem die Mo¬ lucken fertig, indeß die ritterſchaftlichen Bruͤcken uͤber landesherrliche Waſſer noch nicht angefangen ſind. Die Abſicht des Landesherrn iſt, den gan¬ zen oſtindiſchen Handel bei Aſien in Scheerau ſo bei der Hand zu haben wie eine[Rappeemuͤhle] und ich denke, wir haben ihn: nur mit dem Un¬ terſchiede, daß die Scheerauiſchen Gewuͤrzinſeln noch beſſer ſind als die hollaͤndiſchen. Auf den letz¬ tern muß man erſt das Reifen des Pfeffers, derMuſka¬225Muſkatnuͤſſe ꝛc. abpaſſen; aber auf unſern liegt ſchon alles reif und trocken da und man darfs nur ans Eſſen reiben: das macht, weil wir alle dieſe Fruͤchte ſchon ganz zeitig aus Amſterdam ver¬ ſchreiben. Es iſt naͤmlich ſo:

Entweder alles oder nichts iſt ein Regale. Der Rechtskundige kann es nicht billigen, daß die Fuͤr¬ ſten, wie wohl ſie die koſtbarſten, aber ſeltenſten Produkte zu ihren Regalien erheben, gleichwohl die gemeinen, aber deſto ergiebern in den Haͤnden der Landeskinder laſſen und dadurch den Fiſkus ſchwaͤchen. Der Juriſt findet bei den ſuͤd-aſiati¬ ſchen Fuͤrſten, ſo deſpotiſch ſie ſonſt ſind, mehreren Konſequenz, welche nicht das Wild, oder Salz, oder Bernſtein oder Perlen ſondern das ganze Land und den ganzen Handel nehmen und beide bloß jaͤhrlich verpachten. Die deutſchen Fuͤrſten haben hiezu mehrere Befugniß als alle andre: denn alle europaͤiſche Reiche haben indiſche Beſitzungen, haben ein Neu-England, Neu-Frankreich, Neu-Hol¬ land, aber ein Neu-Deutſchland hat das Alt - Deutſchland nicht und das einzige Land, was ein Fuͤrſt noch wegzunehmen hat, iſt ſein eignes, man muͤſte denn aus Pohlen, oder der Tuͤrkei einP226Neu-Oeſterreich, Neu-Preußen ꝛc. zu machen wiſſen.

Allein dieſes ſah bisher kein Regent als der Scheerauiſche ein, der dieſe Grundſaͤtze ſeinem ge¬ heimen Kabinette vorlegte, aber ſchon vor dem Votiren ſeinen Entſchluß gefaſſet hatte: daß nun die Leute alles Gewuͤrz bei ihm nehmen ſollten. Er ſelber ſchaft nun gleich der Natur, auf ſeinen Molucken die Gewuͤrze, die ſein Land iſſet, indem er durch den Kommerzien-Agenten von Roͤper den Saamen dieſer Gewuͤrze Pfeffer-Koͤrner, Nuͤſ¬ ſe ꝛc. aber nicht zum Pflanzen ſondern zum Kochen aus Amſterdam ſpediren laͤſſet. Daher umſchnuͤret (weil die Molucken bei der Gewuͤrz-Defraudation litten) ein Pfeffer - und Zimmt-Kordon von Ka¬ detten und Huſaren das Land: niemand koͤnnte eine Muſkatnuß einſchwaͤrzen als die Muſkattaube in ihrem duͤnnen Gedaͤrm. Alles was meine ſchee¬ rauiſche Leſer aus den Laͤden nehmen, der Kauf¬ laden mag einem großen Hauſe gehoͤren, das mehr Schiffe und Reiſediener, auf den Beinen erhaͤlt als ich Setzer, oder er mag von einem armen Hoͤcker gemiethet ſeyn, deſſen Schilderung mich ſchon dauert, deſſen Stratza eine Schiefertafel227 und deſſen Kapitalbuch eine ſchmierige Stubenthuͤr und deſſen Kaufmannsguͤter nicht zu Schiffe ſon¬ dern als Landfracht unter dem Arme, oder auf der Achſe, d. h. an einem Stocke auf der Achſel gebracht werden in beiden Faͤllen kaͤuet der ſcheerauiſche Leſer Produkte aus Molucken, die vor ſeiner Naſe ſind.

Einer, der das beurtheilen kann, faͤllet nach¬ her dem Gewuͤrz-Inſpektor von Herzen bei, der im ſcheerauiſchen Intelligenzblatt ſchreibt, 1) das jezt das Land Pfeffer und Ingwer um niedrigern Preiß erhalten koͤnnte, weil bloß der Fiſkus im Stande waͤre, ſie in groͤſſern, mithin in wohlfei¬ lern Parthien zu beziehen 2) daß der Regent jezt vermoͤgend waͤre, dieſe Leckereien, die unſern Beutel uͤber Indien leeren, unter allen Deutſchen zuerſt den Scheerauern abzugewoͤhnen, indem er bloß den Preiß enorm zu ſteigern brauchte 3) daß eine neue Dienerſchaft jezt ihr Brodt haͤtte.

Ich brauch 'es nicht zu vertheidigen, daß un¬ ſer Fuͤrſt da die Ruſſiſche Kaiſerin Doͤrfern das Stadtrecht giebt Schutt-Huͤgeln das Inſelnrecht ertheilt, oder daß er ihnen oſtindiſche Namen ſchenkt, da jeder Tropf von Schiffer bei der groͤſ¬P 2228ten Inſel, die er noch dazu mehr entdeckt als macht, Pathenſtelle vertreten darf. Unſer Sum¬ matra iſt uͤber ½ Quadratviertelſtunde groß und hat hauptſaͤchlich Pfeffer die Inſel Java iſt noch groͤßer aber noch nicht fertig auf Banda, das dreimal ſo groß als der Konzertſaal iſt, liefert die Natur Muſkatnuͤſſe, auf Amboina Gewuͤrznelken auf Teidor ſteht ein artiges Landhaus eines be¬ kannten Scheerauers (des Doktors hier ſelber) die kleinen Molucken, die in den Weiher hinein¬ punktirt ſind, kann ich ſammt ihren Produkten in die Weſtentaſche ſtecken, ſie haben aber ihr Gu¬ tes. Wer noch in keiner Seeſtadt, in keinem Hafen war: der kann hieher in den Scheerauer reiſen und ſelber Nachmittags ein Zeuge davon werden, was in unſern Tagen der Handel iſt, den die verbundnen Haͤnde aller Voͤlker heben hier kann er ſich einen Begrif von Kauffartheiflotten machen, von denen er ſo viel aber dumm geleſen und die er hier uͤber unſern Teich ſeegeln ſieht bald kann er die ſogenannte Gewuͤrz-Flotte des H. Kommerzien-Agenten von Roͤper ſehen, die gleich einem hitzigen Klima die noͤthigen Gewuͤrze, die er verſchrieben, unter alle Inſeln austheilt er229 kann auch auf arme Teufel ſtoßen, die auf ein wenig Floßholz ſich aus Oſtindien die wenigen Kaufmannsguͤter abholen, die ſie kreuzerweiſe ab¬ ſetzen am Hafen und Ufer, wo er ſelber ſteht, kann er bemerken was der Kuͤſtenhandel iſt, den da ſogenannte Fratſchler-Weiber mit Pfeffer - und Welſchen-Nuͤſſen im Kleinen treiben.

Ende von No. 16.

Das zweite Stuͤck des Fenkiſchen Zeitungs - Manuſkriptes iſt eine Schilderung eben dieſes Kom¬ merzien-Agenten von Roͤper ohne ſeinen Namen. Wenn der Leſer dieſe Digreſſion geleſen hat: ſo wird er ſagen, es war gar keine.

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No. 21.

Unvollkommner Karakter, ſo für Romanenſchreiber im Zei¬ tungskomptoir zu verkaufen ſteht[. ]

Im Roman gefallen wie in der Welt keine voll¬ kommen-gute Menſchen: aber auch auf der an¬ dern Seite wird einer weder Leſern noch Neben - Menſchen gefallen, der ganz und gar ein Schelm iſt bloß halb, oder dreiviertel muß ers ſeyn wie alles in der großen Welt, Lob und Zote und Wahrheit und Luͤge.

Im Zeitungskomptoir ſteht ein halber Schelm und wird allen Romanſchreibern im Scheerauiſchen um das Wenige, was ſie dafuͤr geben[koͤnnen], verkaͤuflich erlaſſen. Ich verſichere die H. Schrei¬ ber, daß ich etwann nicht die Unvollkommenhei¬ ten dieſes Schelms uͤbertreibe, um ihn theuerer abzuſetzen: der Innhaber nimmt den Schelm wie¬ der zuruͤck, wenn er nicht Bosheit genug hat.

Dieſer unvollkommne Karakter wurde im Kir¬ chenſtaat gezeugt und an der Graͤnze von Unter - Italien geboren; und kaufte ſich, nach ſeiner Taufe231 und Muͤndigkeit, Hecheln und Mauſefallen. Die wenigſten Deutſchen wiſſen, daß ſie die Italiener bei denen dieſer Handelszweig bluͤhet, reich aus¬ kaufen. Dieſer Karakter ſchwang ſich bald von ei¬ nem Hecheln-Kommiſſionair zu einem Hecheln-Aſſo¬ cié empor: er verfertigte die Maͤuſefallen, die er aus Italien bezog, in Deutſchland und die Maus¬ loͤcher waren ſein Ophir und die Flachsfelder ſeine Muͤnzſtaͤdte. Die Hechel, die er vor dem Einkauf ſeines Adelsdiplom an gegenwaͤrtigen Thiermahler verkaufte, ſchlug er ihm fuͤr ſeckstehalb Gulden loß.

Er muß ſchon vor ſeiner Geburt in der andern Welt in einem großen Hauſe gehandelt haben: denn er brachte eine merkantiliſche Seele ſchon fer¬ tig mit. Es iſt naͤmlich dumm von mir, daß ichs nicht eher erzaͤhlet habe, daß er als Knabe von 9 Jahren in ſeiner Blatterkrankheit einen kleinen Kaufladen aufſperrte wenn man naͤmlich Pocken von ihm zum Inokuliren nahm, litt 'ers nicht, ſondern ſagte: ja! um Geld und gute Worte! er waͤre ein Pocken-Saͤmereihaͤndler und noch ein junger Anfaͤnger. Dieſen Handel mit eigner Manufaktur legt' ihm bald der Arzt und die232 Natur und der Doktor ſagte, er ſei ſo theuer wie ein Apotheker. Daher wollt 'er gar einer werden.

Er wurd 'auch einer, aber nach dem Mecklen¬ burgiſchen Idiodikon: denn in dieſem heißet jeder Materialladen eine Apotheke. Naͤmlich in Unter¬ ſcheerau aͤnderte er die Religion und den Nah¬ rungszweig und bauete ſich einen Laden, der bloß fuͤr Kaͤufer Hechel und Mauſefalle war. Hier hielt er ſich einen Ladenjungen, ein Kuͤchenmenſch, ei¬ nen Friſeur, einen Barbier und einen Vorleſer des Morgenſeegens alle dieſe Perſonen machten nur Eine Perſon aus, ſeine eigne, dieſe war und that wie ein Enſoph alles.

Da bei unſerem Schelm als einem unvollkom¬ nen Karakter Tugenden in Fehler vererzt ſeyn muͤſſen ich wuͤrd 'ihn ſonſt keinem Roman-Bau¬ herrn antragen: ſo nehme man mirs nicht uͤbel, daß ich auch ſeine weiſſe Seite neben ſeine ſchwar¬ ze bringe, wie man auf Boͤheimiſchen Tafeln im¬ mer weiſſe und ſchwarze Gerichte neben einander ſtellet.

Er gieng damals Sonntags aus ſeinem Laden bei aller erlaubter Sparſamkeit doch gut gekleidet heraus. Seinen Hut, ſeine Ringfinger und ſeine233 Weſte bordirte aͤchtes Gold; ſeinen Magen und ſeine Waden ſpann der Seidenwurm ein und ſeinen Ruͤcken das engliſche Schaaf. Es iſt ganz der menſchlichen Bosheit gemaͤß, das Verſchwendung zu nennen, was hier wahre verheimlichte Wohl¬ thaͤtigkeit war: denn alles was der unvollkomm¬ ne Karakter anhatte waren Pfaͤnder; um die Leute vom Verpfaͤnden abzubringen, drohte er je¬ dem, jedes Pfand worauf er leihe, wuͤrd 'er ſo lange anziehen als es bei ihm ſtaͤnde. Auf dieſe Art hielt er manchen ab und die Kleidung deſſen, bei dem menſchenfreundliche Warnung nichts ver¬ fing, legte er wirklich Sonntags nach dem Eſſen an. Es war daher weniger Mangel an Geſchmack als an Geiz und Haͤrte, daß er, ſo wie mehrere Perſonen, ſo auch mehrere Kleider vereinigte und ſo bunt aufſchritt wie eine Kleidermotte, wie eine Farben-Pyramide von Lambert, oder wie ein Far¬ ben-Klavier.

Da ich ſo gewiß weiß, daß Verſchwendung ihn nicht verunzierte, ſo ſehr es den Anſchein hat; ſo will ich allen Anſchein durch die Nachricht wegnehmen, daß er jeden Sonnabend ſein Pfund Fleiſch im Zoͤlibat kaufte und denn das be¬234 wieſe noch nichts auch nicht . Er aller¬ dings eines und mit dem Loͤffel; aber es war vom vorigem Sonnabend. Der unvollkommne Karakter holte naͤmlich jeden Sonnabend ſein Andachtsfleiſch aus der Bank und meliorierte und dekorierte damit ſein Sonntags-Gemuͤß. Aber er nahm nichts zu ſich als den vegetabiliſchen Vars. Am Montag hatt 'er den animaliſchen noch und wuͤrzte mit ihm ein zweites Gemuͤß am Dienſtag kochte das an¬ tike Fleiſch wie ein Kraftgenie in einer neuen Ein¬ faſſung am Mittwoch war es wieder eine[Fett - Broderie] kurz erſt am Sonntag ſtaͤrkte er ſich ſelber oder ſein Blut ſtatt der Fleiſchbruͤhe und das verdienſtvolle Pfund. Eben ſo kann man mit einem Pfund Leibnitziſcher, Rouſſeauiſcher, Jako¬ biiſcher*)Friederich Jakobi in Düſſeldorf. Wer ſeinen Woldemar das Beſte was noch über und gegen die Encyklopädie geſchrieben worden oder ſeinen Allwill wodurch er die Stürme des Gefühls mit dem Sonnenſchein der Prin¬ zipien ausgleichet oder ſeinen Spinoza und Hume das Beſte, womit die Kantiſche Philoſophie zu rechtferti¬ gen und zu ertragen iſt nichts bewundert als die zu große Gedrungenheit (die Wirkung der älteſten Bekannt¬ ſchaft mit allen Syſtemen) oder den Tiefſinn oder die Gedanken ganze Schifskeſſel voll ſchrift¬ ſtelleriſchen Blaͤtterwerks kraͤftig kochen.

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Dieſe Sparſamkeit legierte der unvollkommne Karakter noch mit einigem Betrug. Er interpo¬ lierte die Guͤter, die er gut bekam und ſchrieb zu¬ ruͤck, er haͤtte ſie ſchlecht bekommen, ſie waͤren ſo und ſo und koͤnnte ſie nur um den halben Preiß brauchen. Ein Drittel des Preiſes ſpielt 'er dann meiſtens dem Kaufmann aus der entfernten Ta¬ ſche. Waaren, Faͤſſer, Saͤcke, die in ſeinem Hauſe nur ein Abſteig-Quartier hatten und weiter muſten, gaben ihm den Tranſito, und Rheinzoll durch ein kleines Loch heraus, das er in ſie hin¬ einmachte, um das Wenige daraus ſich zu entrich¬ ten, was dem Fuhrmann aufgebuͤrdet werden konnte wenns fehlte. Er legte ein Muͤnzkabi¬ net oder Hoſpital fuͤr arme invalide amputierte Goldſtuͤcke an; dieſen gab er den ehrlichen Namen, den ſie verloren, wieder, und zwang ſeine Spinner und Faktore, ſie als legitimiert anzunehmen: ein*)Phantaſie oder gewiſſe Züge, die gewiſſe ſeltnere Men¬ ſchen heben: der verſäumt noch etwas größeres zu be¬ wundern die Kälte, womit das deutſche Publikum al¬ le Werke ſchätzt, die man mehr als einmal leſen muß. Armer Hamann in Königsberg; deine Mardochais ha¬ ben dich nicht gehenkt, ſondern (was noch ſchlimmer in den deutſchen Kreiſen iſt) geleſen. 236 Goldſtuͤck mochte noch ſo ſchlecht in ſein Haus ge¬ kommen ſeyn, er dankte es wie einen Offizier nie ohne Avancement ab. So decken ganz edle See¬ len ſogar die Maͤngel des Geldes mit dem Mantel der Liebe zu.

Auf dieſe Art breiteten ſich ſeine Kaufmanns - und Feldguͤter immer mehr aus, und in ſeinem von der freundſchaftlichen Waͤrme des Publikums angebruͤte¬ ten Herzen regte ſich wie ein Ei-Infuſionsthierchen ein federloſes durchſichtiges mattes Ding, das er Ehre nannte. Der unvollkommne Karakter ließ ſich alſo einen Karakter als Kommerzienrath kommen.

Jetzt da er die Ehre recht feſt und aufs Papier fixirt hatte: ſo konnt 'er ſie eher beleidigen als vor¬ her da er ſie noch nicht unter ſeinen Papieren hatte. Er machte alſo ſeine Liebeserklaͤrung dem reichſten und geitzigſten Vater einer ſchoͤnen Tochter, die die Liebe gegen einen Offizier zum letzten Schritte hinge¬ riſſen hatte: die Tochter haßte ſeine Liebeserklaͤrung; aber der Karakter und der Vater bemaͤchtigten ſich ihrer ſtraͤubenden Hand, zogen ſie daran zum Al¬ tar, ſchraubten den Ring ihr an und pfaͤhlten ihre Hand in ſeine. Ihr zweites Kind war ſein erſtes.

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Da indeſſen ſeine Ehre ſich nach dieſem Blut¬ verluſt und dieſen Ausleerungen ſchlecht auf den Fuͤßen erhalten konnte: ſo mußt 'er daran denken, ihr ein recht ſtaͤrkendes Amulet, ein Ignatius - Blech, einen Lukas - und Agathazettel umzuhaͤn¬ gen ein Adelsdiplom. Sie wurde aus der Reichshofraths-Kanzlei von Wien aus gluͤcklich kurirt.

Da er nicht mit ſeiner Frau, ſondern nur mit ſeinen Glaͤubigern Guͤter Gemeinſchaft hatte: beurlaubte er ſich vom Kaufmannsſtande mit einem unſchuldigen Falliment und rettete ſich und ſein rei¬ nes Gewiſſen und die Guͤter ſeiner Frau und ſeine eigne auf ſeinen Landguͤtern, um da ſeinem Gott zu dienen.

Ich meine ſeinen Goͤttern. Freunde hatte uͤbrigens der unvollkommne Karakter nicht. Sei¬ ne Begriffe von Freundſchaft waren edel und hoch und verlangten die reinſte uneigennuͤtzigſte Liebe und Aufopferung vom Freunde; daher ekelten ihn die niedrigen Tropfen um ihn an, die nicht ſein Herz ſondern ſeinen Beutel verlangten und die ihn bloß an ſich druͤckten, um etwas aus ihm heraus¬ zu druͤcken. Er konnte einen ſolchen Eigennutz nicht238 einmal vor ſich ſehen und ſein Haus litt daher wie die menſchliche Luftroͤhre oder wie Sparta nichts Fremdes in ſich. Er glaubte mit Montaigne, man koͤnne nicht mehr als Einen Freund, ſo wie Eine Geliebte, recht lieben; daher ſchenkt 'er ſein Herz einer einzigen Perſon, die er unter allen am hoͤchſten ſchaͤtzte ſeiner eignen naͤmlich dieſe hatt' er gepruͤft; ihre uneigennuͤtzige Liebe gegen ihn vermochte ihn, daß er Cicero's Ideal er¬ reichte, welcher ſchrieb, daß man fuͤr den Freund alles, ſogar das Schlimme thun koͤnne, was man fuͤr ſich nicht thaͤte.

Er iſt der groͤßte Stoiker im Scheerauiſchen; er ſagt nicht bloß, an allen Vergnuͤgungen ſey nichts: ſondern er verachtet auch alle zeitliche Guͤ¬ ter, weil ſie ihn nicht gluͤcklich machen koͤnnen. Dieſe Verachtung derſelben iſt vom heftigſten Be¬ ſtreben nach ihnen wohl nicht zu trennen, weil ein Weiſer wie die Stoiker in der Note*)Si ad illam quae cum virtute degatur, ampulla aut stri¬ gilis accedat, ſumturum ſapientem eam vitam potius qua haec adjecta sint nec beatiorem tamen ob eam cauſam fore. Cis. de finib. bonor. et mal. Lib. IV. ſagen, ein Leben, in deſſen Mobiliarvermoͤgen nur eine Kratz¬239 buͤrſte oder ein Stallbeſen druͤber iſt, einem Leben, dem bloß dieſes Wenige fehlte, vorziehen wird, ob[er gleich] nicht durch jenes gluͤcklicher wird. Da¬ her legt der unvollkommne Karakter auf die klein¬ ſten Effekten wie Schandy auf die kleinſten Wahr¬ heiten einen ſo großen Werth wie auf die groͤßten, daher muß er mit den Nußſchalen heizen, mit ab¬ geloͤſeten Siegeln ſiegeln, auf fremde leere Brief¬ ſpatia eigne Briefe ſchreiben ꝛc. Der unvollkomm¬ ne Karakter hat hierin Aehnlichkeit mit dem Geizi¬ gen, der mit aͤhnlichen Kleinigkeiten wuchert und den keine Gruͤnde widerlegen koͤnnen: denn wenn ich einen Groſchen nicht wegwerfen darf, ſo darf ich auch keinen Pfennig, keinen halben Pfennig, keinen $$\frac{1}{10000}$$ Pfennig: die Gruͤnde ſind die naͤm¬ lichen.

Im Menſchen liegt ein entſetzlicher Hang zum Geiz: den groͤßten Verſchwender koͤnnte man zu noch etwas ſchlimmern, zum groͤßten Knicker ma¬ chen, wenn man ihm ſo viel gaͤbe, daß er es fuͤr viel und der Vermehrung werth hielte: und um¬ gekehrt. So will der Waſſerſuͤchtige deſto mehr Waſſer, je hoͤher er davon geſchwollen iſt; mit ſeinem Waſſer faͤllet zugleich der Durſt darnach.

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Der unvollkommne Karakter dankt dem Him¬ mel fuͤr zweierlei, erſtlich daß er in keinen Geiz, zweitens in keine Verſchwendung gefallen iſt daß er ſeiner Frau und ſeinem Kinde nichts verſagt, alles giebt und bloß dummen Leuten, die Stof zur Verſchwendung behalten wollen, dieſen Stof aus den Haͤnden nimmt, wie die alten Deutſchen, Ara¬ ber und Otaheiter nur Fremde, nie aber Inlaͤnder beſtehlen daß er keuſch iſt und lieber die Geld¬ katze eines Kaufmanns als den Guͤrtel der Venus loͤſet daß er Armen ganz anders beiſpringen wollte, wenn er ſo viel Pfennige haͤtte wie der und der daß er aber gleichwohl ſein Bischen ſich ſo wenig wie der Traurige ſeinen Kummer nehmen laſſe und daß er einmal am juͤngſten Tage werde befragt werden, ob er mit ſeinen Pfunden (Ster¬ ling) gewuchert.

Dieſer verkaͤufliche Karakter im Zeitungskom¬ toir iſt wie ein engliſcher Miſſethaͤter Waare und Verkaͤufer zugleich und will vom Romanſchreiber nichts fuͤr ſein ganzes Weſen haben als gratis den Roman, in den er geworfen wird.

So weit Fenk, der alle Menſchen trug, aber keinen Unmenſchen, keinen Filz. Ich habe dieſenunvoll¬241unvollkommnen Karakter fuͤr meine Biographie an mich gehandelt (denn er ſelber exiſtirt auch biogra¬ phiſch unter dem Namen Roͤper): es fehlet ihr ohnehin an aͤchten Schelmen merklich; ja wenn ich auch Roͤpern mit den Teufeln der epiſchen Dichtern vergleiche und mich mit den Dichtern ſelber: ſo ſind wir alle beide doch nicht ſehr groß.

Wenn die Leſer einen Brief vom Doktor Fenk haͤtten der ſeine vorige Haͤrte entſchuldigte der uns an Scheerau, an den Doktor und an eine mir ſo liebe Perſon erinnerte und der zum Ganzen recht paßte: ſo wuͤrden ſie den Brief in die Bio¬ graphie mit einknuͤpfen. Ich habe den naͤmlichen Brief und das naͤmliche Recht; und ſchicht 'ihn hier ein.

Fenk an mich.

Nimm den armen Ueberbringer dieſes zum Klienten an: der Mauſſenbacher hat ſeine Saug - und Schoͤpfwerke dem armen Teufel eingeſchraubt und zieht. Die ſaͤmtlichen Spitzbuben von Advoka¬ ten in Scheerau dienen ihm gegen keinen reichen Edelmann zu Patronen, den ſie einmal zu ihrem eignen zu bekommen wuͤnſchen.

Q242

Ich bin zwar ſelber taͤglich in Mauſſenbach und advozire; aber der Knicker nimmt keine uneigen¬ nuͤtzige Gruͤnde an: und ſonſt hat Roͤper fuͤr al¬ les andre Gefuͤhl und Vernunft. Es wird einmal eine Zeit kommen, wo man unſre vergangne Dumm¬ heit ſo wenig begreifen wird als wir kuͤnftige Weis¬ heit, ich meine wo man nicht bloß wie jetzt keine Bettler ſondern auch keine Reichen dulden wird.

Vom Vater einer ſchoͤnen Tochter zwingt man ſich gut zu denken. Ich noͤthige mich auch: an deiner Klavierſchuͤlerin Beata ſaheſt du nur die gruͤ¬ nen Blaͤtter unter der Knoſpe; jetzt koͤnnteſt du die aufbrechenden Roſenblaͤtter ſelber ſehen und den Duft-Nimbus darum. Eine ſolche Tochter eines ſolchen Vaters! d. h. die Roſe bluͤht auf einem ſchwarzen ſtechenden den Schmutz ausſaugenden Stengel.

Ich bin dort, ſie zu heilen, der Alte will fuͤr ſein Geld was haben; aber in Mauſſenbach bedenkt kein Menſch, daß der Abt Galliani, den man vier Tage vor meiner Abreiſe begrub, geſagt hat, daß die Weiber ewige Kranke ſind. Aber bloß an Nerven: die Gefuͤhlvollſten ſind die Kraͤnklichſten; die Vernuͤnftigſten oder Kaͤlteſten ſind die Geſuͤnde¬243 ſten. Wenn ich ein Fuͤrſt waͤre: ich reſolvirte fuͤrſt¬ lich und ſetzte in einem allerhoͤchſten Reſkript Haus¬ arreſt darauf, wenn eine Frau einen Loͤffel voll einnaͤhme. Ihr armen gequaͤlten Geſchoͤpfe, war¬ um habt ihr ſo viel Zutrauen zu den Maͤnnern, warum leidet ihr's, daß man den ganzen thera¬ pevtiſchen Curſus an euch repetirt und fuͤr euch ein Arzneiglas ums andre, als haͤtten die Glaͤſer eine Reiheſchank, verzapft?

Die einzigen Arzneien, die ihnen mehr nuͤtzen als ſchaden, ſind Kleider. Nach vielen Naturfor¬ ſchern verlaͤngert das Mauſern das Leben der Voͤ¬ gel; aber auch der Weiber glaub 'ich, die alle¬ mal ſo lange ſiechen bis ſie wieder ein neues Gefie¬ der anhaben. Aus der Therapevtik laͤſſet ſichs ſchlecht erklaͤren; aber wahr iſts; und je vornehmer eine iſt, mithin je kraͤnklicher, deſto oͤfter muß ſie ſich mauſern, wie auch der Sumpfſalamander ſich alle fuͤnf Tage haͤutet. Ein weiblicher Krebs, der auf eine neue Schale wartet, hockt erbaͤrmlich in ſei¬ nem Loche. Jeder Gift kann ein Gegengift werden; und da gewiß iſt, daß Kleider Krankheiten geben koͤnnen, z. B. Hektik, Peſt ꝛc. ; ſo muͤſſen ſie un¬ ter Anleitung eines vernuͤnftigen Arztes auch wel¬O 2244che heben koͤnnen. Ein aufgeklaͤrter Medikus wird meines Beduͤnkens, wenn die Haͤlliſche Hausapo¬ theke, d. i. die Kleiderkommode nichts hilft, aus keiner Apotheke als aus dem Auerbachiſchen Hofe ꝛc. receptiren. Da du mancher[Preßhaften] damit bei¬ ſpringen kannſt: ſo will ich dir aus meiner weibli¬ chen materia medica folgende offizinelle Halstuͤcher, Kleider ꝛc. herſetzen:

Stahlarzneien ſind Stahlroſetten und Stahl¬ ketten. Der Stahl - und Magenſchild des atlaſſe¬ nen Guͤrtels erwaͤrmt den Magen und andre inte¬ ſtina ſehr.

Die Edelſteine, die ſonſt aus Apotheken gege¬ ben wurden, ſind noch jetzt nicht zu verachten.

Blumenbouquets, ſobald ſie von Seide ſind, ſind probate Arzneipflanzen und ſtaͤrken durch den Geruch das Gehirn.

Schauls ſind Bruſtarzneien und nicht ein rother Faden (welches Aberglaube iſt) ſondern ein Hals¬ band mit einem Medaillon iſt nach neuern Aerzten boͤſen Haͤlſen dienlich.

Mit der peruvianiſchen Rinde wird viel betrogen, aber aͤchte iſt ein Rock à la peruvienne.

245

Da alle Wunden nach der neuern Chirurgie durch bloße Bedeckung geheilet werden: ſo thut ſtatt des engliſchen Taftpflaſters bloßer Taft[am] Leibe die naͤmlichen Dienſte.

Ein neuer Viſitenfaͤcher iſt bei ſtarken Ohn¬ machten unentbehrlich; ob aber ein Muff unter die erweichenden Mittel, falſche Touren unter die Haarſeite, und ein Sonnenſchirm unter die kuͤhlenden Mittel und eine Schuͤrzenfriſur unter die Diuretica gehoͤre das koͤnnen ein oder dreihun¬ dert Beiſpiele noch nicht erweiſen.

Wir halten uns lieber daran, daß ein Fri¬ ſierkamm ein Trepan gegen Kopfuͤbel, eine Repe¬ tiruhr gegen intermittirenden Puls und ein Ball¬ kleid ein Univerſale gegen alles ſei.

So iſt alſo ſcherzhaft zu reden der Damen¬ ſchneider ein Operateur, ſein Naͤhfinger ein Arz¬ neifinger, ſein Fingerhut ein Doktorhut ....

... Warum vergaß ich dich, edle Beata? Dich heilt eine Paruͤre nicht und wenn kuͤnftig einmal dein ſchoͤnes Herz erkrankte: ſo wuͤrde nichts es heilen als das beſte Herz, oder es ſtuͤrbe.

Wundere dich uͤber meinen Enthuſiaſmus nicht[.]Ich komme gerade von ihr und vergeſſe alle Fehler,246 die ich vor 14 Tagen noch von ihr wußte. Maͤd¬ chen, die oft krank ſind, gewoͤhnen ſich eine Mi¬ ne von geduldigem Ergeben an, die zum Ster¬ ben ſchoͤn iſt. Ich habe ihren Lieblingsaus¬ druck unterſtrichen, aber nur von ihrer Zunge kann er im ſchoͤnſten ſterbenden ſinkenden Laute flieſſen. Dieſe Geduld gewoͤhnet ihr auſſer ihren ewigen Kopfſchmerzen auch ihr[Vat]er an, der ſie gleich ſehr quaͤlt und liebt und[de]r ihr zu Gefallen (nach dem Egoiſmus des Geizes) eine Welt abſchlachtete. Wenn die Seele mancher Menſchen (ſicher auch dieſe) zu zart und fein fuͤr dieſe Moraſt-Erde iſt: ſo iſts auch oft der Koͤrper mancher Menſchen, der nur in Kolibri-Wetter und in Tempe-Thaͤlern und in Zephyrn ausdauert. Ein zarter Koͤrper und ein zarter Geiſt reiben einander auf. Beata haͤngt wie alle von dieſer Kryſtalliſation, ein wenig zur Schwaͤrmerei, Empfindſamkeit und Dichtkunſt hin; aber was ſie in meinen Augen hoch hinauf ſtellt iſt ein Ehrgefuͤhl, eine demuͤthige Selbſtach¬ tung, die (meinen wenigen Bemerkungen nach) ein Erbtheil nicht der Erziehung ſondern des guͤtig¬ ſten Schickſals iſt. Dieſe Wuͤrde ſichert ohne pruͤde Aengſtlichkeit die weibliche Tugend: wenn man247 aber dieſes weibliche point d'honneur erſt einerzie¬ hen, einpredigen muß ach wie leicht iſt nicht eine Predigt beſiegt! Frauenzimmer, die ſich ſelber achten, umringt eine ſo volle Harmonie al¬ ler ihrer Bewegungen, Worte, Blicke .... Ich kann ſie nicht ſchildern, aber die ſind zu ſchildern, die der Roſe gleichen, welche unten wo man ſie nicht bricht, die laͤngſten und haͤrteſten Dornen hat, aber oben wo man ſie genieſſet, ſich nur mit weichen und umgekruͤmmten verpanzert.

Ich weiß nicht ob's dir etwas Altes iſt, daß Toͤchter ihre Muͤtter lieben, ihr die Wahrheit und alle Geheimniſſe ſagen; mir iſt's etwas Neues und nur die beſte Tochter wie dieſe kann es.

Vor vierzehn Tagen erinnerte ich mich eines Fehlers von ihr nicht ſo ſchwach als heute, wel¬ cher der iſt, daß ſie zu wenig Freude an der Freude und zuviele an traurigen Phantaſien hat. Es giebt zu weiche Seelen, die ſich nie freuen koͤnnen (ſo wie beleidigt fuͤhlen) ohne zu weinen und die ein großes Gluͤck, eine große Guͤte mit ei¬ nem ſeufzenden Buſen empfangen; wenn aber dieſe vor rohern Seelen ſtehen, die den verborgnen Dank und die ſtumme Freude nicht errathen koͤn¬248 nen: ſo werden ſie gezwungen, nicht Empfindung aber den Ausdruck derſelben vorzuheucheln. Ihr Vater will fuͤr jedes ſeiner Geſchenke, deren Werth er bis zu Apothekergranen auswiegt, eine ſprin¬ gende Freude; ſie hingegen fuͤhlt hoͤchſtens ſpaͤter eine: aber die Erſcheinung irgend eines Gluͤcks ſel¬ ber erhellet ihr auf einmal alle traurige Tage, die wie Graͤber in ihrer Erinnerung liegen. Auch an dieſer Beata ſeh 'ichs wieder, daß der weibliche Leib und Geiſt zu zart und zu wallend, zu fein und zu feurig fuͤr geiſtige Anſtrengung und fuͤr Lek¬ tuͤre ſind und daß beide ſich nur durch die immer¬ waͤhrende Zerſtreuung der haͤuslichen Arbeit erhal¬ ten: die hoͤhern Weiber erkranken weniger an ih¬ rer Diaͤt als an ihren exzentriſchen Empfindungen, die ihre Nerven wie den Silberdrath durch immer engere Loͤcher treiben und ſie aus Fadennudeln in geometriſche Linien zerdehnen. Eine Frau, wenn ſie Klingers Genie haͤtte, ſtuͤrbe wenn ſie da¬ mit eines ſeiner Stuͤcke machte, im fuͤnften Akte ſelber mit nach.

Ich verſtehe deine verliebte Fragartikel recht gut: freilich ſteigt der geheime Legationsrath von Oefel hier oft aus. Er ſcheint zwar keine zaͤrtli¬249 chern Geſchaͤfte hier zu haben als merkantiliſche und vom Kommerzien-Agenten nichts verſchrieben zu fodern als Pfeffer fuͤr Zeylon und Muſkatnuͤſſe fuͤr Summatra, ſeine Tochter alſo und ihre Guͤ¬ ter am allerwenigſten ferner die Miniſterin, dieſer Zoll - und Almoſenſtock voll maͤnlicher Herzen, iſt zwar mit da und hat Oefels angeoͤhrtes oder gehenkeltes ſchon an ihren Reizen hangen; aber der Teufel trau geheimen Legationsraͤthen, zumal Oefeln. Ich ſage dir, er mag Beaten kapern oder nicht, ſo wundert mich jedes. Du wirſt Dich freilich damit troͤſten, lieber Jean Paul, daß Du erſtlich groͤßere Reize haſt als er und zweitens gar nicht weiſt, daß du die Reize haſt, welches in der Konverſation viel thut. Es iſt wohl etwas daran: Oefel will nicht ſowohl gefallen als bloß zeigen, daß er gefallen koͤnnte wenn er nur wollte und er erlaubt ſich daher alle Launen, bloß damit man etwas zu tadeln und zu vergeben und er gut zu machen habe: er iſt auch weil ein Hofmann und ein Demant außer der Haͤrte noch reine Far¬ benloſigkeit haben muͤſſen, um fremde Farben treu¬ er nachzuſtrahlen ſogar zu einem Hofmann zu eitel und kauft ſich mit fremder Gunſt nur ſeine250 eigne. Ich will Dich mit noch mehr Zwar's troͤ¬ ſten, bis ich meine Aber hole. Beata ſieht zwar aus als ob ſie ſich alle Minuten frage, warum bewunder 'ich ihn nicht; die Miniſterin ſieht aus als ob ſie jene alle Minuten frage, warum be¬ neideſt Du mich nicht, da mein Lehnmann ein For¬ te Piano mit hundert Zuͤgen und Tritten iſt wie ich ſelber denn er behaͤlt keine Stellung und kann ſich in jede wagen; jede Bewegung ſcheint aus der andern herzufließen; ſeine Seele aͤndert eben ſo ſpielend wie der Koͤrper die Poſitionen und biegt ſich wie eine Kaſkade in die entlegenſten Ma¬ terien heruͤber; ihn macht nichts irre, er jeden; er weiß hundert Exordien zu einer Predigt, faͤngt an, um anzufangen, bricht ab um abzubrechen und weiß ſelber nicht eher als ſeine Zuhoͤrer was er will kurz es iſt ein Nebenbuhler, lieber Paul! Ich kann jezt das verſprochene Aber nicht recht hereinbringen.

Aber ob gleich meine ſchoͤne Patientin ihn ſo kalt uͤberblickt wie einen der uns ein Kleid anpro¬ biert, ſo ſetzt er doch das Gegentheil voraus und wirft Dampfkugeln und Pechkraͤnze in ſie und ſchlaͤgt in Gedanken ſchon Eroberungs-Muͤnzen. 251Mannsperſonen wie Oefel haben einen ſolchen Ue¬ berfluß von Treue, daß ſie ihn nicht Einer, ſon¬ dern unter tauſend Weibern vertheilen muͤſſen; Oefel will ein ganzes weibliches Sklavenſchif kom¬ mandieren: er f[ra]gt dabei nach Dir ſo wenig wie nach der Miniſterin, die ihn liebt weil es ihr letz¬ ter Liebhaber iſt, und die er erſtlich liebt weil er an ihrem Triumphwagen, vor den ſonſt mehrere Tropfen eingeſpannt waren, gern als Gabelpferd allein ziehen will, zweitens weil ſie mehr Liſt und weniger Empfindung als er beſitzt und ihn beredet, es ſei gerade umgekehrt.

Damit ich nun die Beata, die Du gern in Dein Leben und in Dein Buch hinein haben moͤch¬ teſt, in das Leben und das Buch des Oefels (er iſt auch uͤber einem) verflechte, ſo hab 'ich, trau¬ ter Paul, dem alten Roͤper ſo viele Kabinets-Pre¬ digten daruͤber gehalten, daß die Kraͤnklichkeit ſei¬ ner Tochter nicht durch Einen, ſondern durch ein Paar hundert Aerzte zu beſiegen ſei, d. h. durch Geſellſchaft daß der Alte ihr eine oder vielmehr ſie einer geben will, ohne ſelber fuͤr eine die Ali¬ mentengelder auszugeben. Er will ſie auf irgend ein Beet des Hofgartens verpflanzen: ſie ſoll auch252 Welt mit kriegen ſagt er und hat ſelber keine. Er wuͤrde wenn er duͤrfte die ganze weibliche Welt von ihren Bergeren und Altaͤren und Poſtamenten auf Werk - und Melkſtuͤhle herunterdruͤcken; gleich¬ wohl ſollen ſeiner Tochter durch Juden und Dia¬ manten-Pulver[Facetten] angeſchliffen werden, die er ſelber haſſet. Iſt ſie am Hofe, ſo ſieht ſie nachher der Legationsrath alle Tage und Jean Paul hat nichts.

Dieſer Jean fragte mich auch pfiffiger Weiſe, ob er nicht Gerichtshalter beim Vater der beſag¬ ten Tochter werden koͤnne, weil er der Jean, vom Abdanken des jezigen gehoͤrt habe Herr Kolb (eben der Gerichtshalter) iſt aber noch da, zankt ſich noch, ſagt jede Woche wenn jeder die Strei¬ che von Roͤper wuͤſt ', die ich, Roͤper ſagt jede Woche wenn jeder die Streiche von Kolb wuͤſte, die ich und ſo ſind ſie an einander durch wechſel¬ ſeitige Beſorgniſſe geleimt Jezt iſt ohnehin nicht daran zu denken: denn in 14 Tagen laͤſſet ſich der alte Roͤper von ſeinem Rittergute huldi¬ gen. Ein Geiziger ſcheuet ſich, zu aͤndern und zu wagen.

253

Warum laͤſſeſt Du Deine gute Schweſter ſo lange im giftigen Huͤttenrauch des Hofes ſtehen? Iſt das, was ſie dort gewinnen kann, wohl ſo viel werth wie das, was ſie mitbringt und dort verlieren kann, ihr reines, weiches obgleich fluͤchtiges Herz? Auf meinen Reiſen dacht 'ich anders, aber jezt in der Einſamkeit iſt mir ein kokettes Inſekt, eine kokette Krebſin, die bald vor-bald ruͤckwaͤrts kriecht, die ihre große und kleine Scheeren immer aufſperrt und ſie immer regeneriert, wenn man ſie abgeriſſen, die in der Bruſt ſtatt des Herzens einen Magen traͤgt und doch kaltbluͤtig iſt wie alle Inſekten, eine ſolche inkruſtirte Krebſin iſt mir widerlicher als eine ſchaalenloſe in der Mauße der Empfindſamkeit, die zu weich iſt und aus der ein Autor die em¬ pfindſame Krebsbutter macht. Empfindelei beſſert ſich mit den Jahren, Koketterie verſchlimmert ſich mit den Jahren. Warum ſchafſt Du Deine Philippine nicht nach Haus? Auf dieſe Fragen hat mir Jean Paul nicht geantwortet; ich aber auf ſeine: denn ich raͤche mich nicht; ich wuͤnſchte vielmehr beſagter Paul druͤckte Beatens Finger heute an unrechte Finger mehr als auf die rechten Taſten254 und jezt im Lenz-Alter ſahe ſie ſich neben dem Klavier fragend nach Paulo um und uͤberleuchtete ihn mit dem blauen Himmel ihres weiten ſaphyr¬ nen Auges: der arme Teufel, eben der Paul, wuͤrde ſich nicht mehr kennen und dann ſagen: ohn' ein ſchoͤnes Auge geb 'ich fuͤr alles andre Schoͤne nicht einen Deut, geſchweige mich; aber uͤber ein Himmels-Augenpaar vergeſſ' ich alle be¬ nachbarte Reize und alle benachbarte Fehler und den ganzen Bach und Benda wie er iſt und meine Mordanten und die falſchen Quinten und weit mehr. Leb wohl, Vergeßlicher!

D. Fenk.

Wir verſtehen uns, herzlicher Freund; wer ſelber einmal Satiren geſchrieben hat, vergiebt alle Satiren auf ſich, zumal die boßhafteſten, bloß die dummen nicht. Aber, obs der D. gleich im Scherze verfochten hat, ſo muß ich doch ſolche Le¬ ſer, die weit von Scheerau wohnen, ohne Ruͤck¬ ſicht auf mich benachrichtigen, daß der beſagte Legationsrath die unbedeutendſte Haut iſt, die wir beide nur kennen, wie er denn bloß unter Wei¬ bern nicht, aber unter Maͤnnern allzeit verlegen255 iſt und im kleinen Zirkel vielmehr als im großen, zu geſchweigen daß er immer die Aufmerkſamkeit aufſucht und auch erjagt, die beſcheidne Leute ge¬ ſchickt vermeiden, die allgemeine naͤmlich: Wenn ihm dieſe uͤberall gelingt: ſo ſoll er ſie doch nicht in meinem Buche haben ... Die folgende Sache iſt freilich unmoͤglich zumal meines verdammten lang - und kurzbeinigen oder ſpondaͤiſchen Stel¬ lage und Konſole wegen, auf die mein uͤbrigens von Kennern beurtheilter Torſo gelagert iſt aber ausmahlen kann ſich doch ein Menſch die un¬ moͤgliche Sache, welche dieſe iſt, daß ich mich einmal[Beaten] mit einer Liebeserklaͤrung zeigte und ſo wider eigne Erwartung ſelber der Held dieſer Biographie und ſie die Heldin wuͤrde ich bin ordentlich verdutzt, denn ich wollte wahrhaftig nur ſagen und ſetzen, daß ich bei Roͤ¬ per Gerichtshalter wuͤrde und hernach im Grunde weil ich jeden Gerichtstag zaͤrtlich waͤre, oder eine zaͤrtliche Beſtie, wie eine Frau ſich ausdruͤckt, die mehr zum ſchoͤnen als ſchwachen Geſchlecht gehoͤrt gar ſein Schwiegerſohn Mit Freuden wollt, ich dem ſo guten Leſer, der Mitfreude fuͤhlt, alles biographiſch beſchreiben und ihn er¬256 goͤtzen ..... Aber wie geſagt, die Sache iſt fa¬ taler Weiſe wohl unmoͤglich, ſo viel ich in die Zu¬ kunft ſchauen kann; und das bloß eines verdamm¬ ten unſymmetriſchen Drathgeſtelles wegen, das doch der, den ſein Ungluͤck darauf geheftet, durch tauſend Glaſuren und Raſuren wieder gut machen will und auf dem ja Epiktet gleichfalls lange ſtand.

Im Feuer bin ich ganz aus meinem biographi¬ ſchen Plan heraus gegangen: es ſollte bisher der Leſewelt geſchickt verhalten werden (und gluͤckte auch,) daß alle dieſe Avantuͤren noch nicht alt ſind und daß in Kurzem das Leben dieſer Perſonen mit meiner Lebensbeſchreibung davon Hand in Hand gleich zeitig gehen werde Jezt aber hab 'ich alles loßgezuͤndet Es muß nur uͤberhaupt ein neuer Sektor angefangen, werden, worin Ver¬ nunft iſt ...

Neun¬257

Neunzehnter Sektor.

Erbhuldigung Ich, Beata, Oefel

Vierzehn Tage nach Fenks Brief .... Iſt aber auf Leſer zu bauen? Ich weiß nicht, wohers beim deutſchen Publikum koͤmmt, ob von einem Splitter im Gehirn oder von ergoſſener Lympha oder von toͤdtlichen Entkraͤftungen, daß es alles vergiſſet was der Autor geſagt hat oder es kann auch von Infarktus oder von verſetzten Ausleerun¬ gen herruͤhren: genug der Autor hat davon die Plackerei. So hab 'ichs ſchon auf einer Menge Bo¬ gen dem Publikum durch Setzer und Drucker ſagen laſſen (es hilft aber nichts,) daß wir 13000 Thaler beim Fuͤrſten ſtehen haben, die kommen ſollen daß ich zwar keine Jura ſtudiert, aber doch waͤh¬ rend ich mich zum Advokaten examiniren laſſen, manchen huͤbſchen juriſtiſchen Brocken weggefangen, der mir jezt wohl thut daß Guſtav Kadet wer¬ den ſoll und ich Gerichtshalter werden will daß Ottomar unſichtbar und ſogar unhoͤrbar iſt und daß mein Prinzipal zu viel verthut!

R258

Leider freilich: denn ſo lang 'er noch ein Zimmer oder einen Pferdeſtand ohne animaliſchen Kubik-In¬ halt weiß: ſo haͤngt er ſeine Angelruthe nach Gaͤ¬ ſten ein. Er iſt wie die jezigen Weiber nirgends geſund als im geſellſchaftlichen Orkan und Viſiten - Dickigt er und dieſe Weiber ſteigen aus einem ſolchen lebendigen Menſchen-Bad ſo verjuͤngt und neugeboren wie aus einem Ameiſen - und Schnecken-Bad. Er kann ſich nie ſchmeicheln, hier nur die geringſte Aehnlichkeit, (geſchweige mehr) mit dem Kommerzien-Agenten Roͤper zu haben, der in der Einſamkeit eines Weiſen und Rentierers ſtille denkt uͤber Hausprozeſſe und ruͤck¬ ſtaͤndige Zinſen und der es weiß, daß ſein Schloß nur Schenk - und Kruggerechtigkeit beſitzt und alſo niemand uͤber Nacht beherbergen darf. Falken¬ berg! hoͤr' auf den Biographen! ziehe Deinen Beutel, Dein Schloßthor und Dein Herz zuwei¬ len zu! glaube mir, das Schickſal wird Deine großmuͤthige Seele nicht ſchonen, das rennende Gluͤck wird Dein weiches Herz mit ſeinem Rade uͤberfahren und zerſchneiden, um ſein Lottorad hinter ſeiner Binde vor einem Roͤper auszuladen! O Freund! es wird Dir alles nehmen was Du259 dem fremden Elend 'oder der eignen Freude geben willſt, nicht einmal den Muth wird es Dir laſſen, Dein beſchaͤmtes Herz mit ſeinen Wunden an einem Freunde zu verbergen! und wie ſoll es dann Deinem Sohn ergehen?

Und doch! ich tadle Dich nur vorher; aber nachher wenn Du Dich einmal ungluͤcklich ge¬ macht haſt durch Gluͤcklich-Machen: ſo findeſt Du Achtung in jedem guten Auge, Liebe an je¬ der guten Bruſt!

... Alſo 14 Tage nach Fenks Briefe, als mein Eleve ſchon achtzehn Jahre, aber noch ohne die Kadettenſtelle war, ſaß bei meinem Prinzipal ein bureau d'eſprit boͤheimiſcher Edelleute und hat¬ te feurige Pfingſt-Zungen und Maͤrz-Bier. Ich hatte nichts, war aber mit d'runter: ich konnt 'es meinem guten Rittmeiſter nie abſchlagen, ſon¬ dern vermehrte wenn nicht die Geſellſchafter man ſchaͤtzet Menſchen von einer gewiſſen zu großen Feinheit erſt dann am meiſten, wenn man von ihnen weg iſt unter Menſchen von einer gewiſſen Grobheit doch die Leute. Manche Menſchen ſind wie er Viſiten-Preßknechte und koͤnnen nicht genug Leute zuſammenbitten, ohne zu wiſſen wes¬R 2260wegen, ohne ſie zu lieben: Taubſtumme lude Falkenberg ein. Es hat fuͤr die Leſer Folgen, daß ich ſagte heute laͤſſet ſich Roͤper huldigen. Fal¬ kenberg, der gern Boͤſes von andern ſprach und ihnen nichts als Gutes that und der ſeinen abwe¬ ſenden Erbfeinden, z. B. d. h. Geizigen gern Erb¬ ſen auf den Weg ſtreuete und dieſe doch wieder wegfegte wenn jene fallen wollten, dieſer war froh uͤber meinen Gedanken und uͤber ſeinen: Wir ſollten, ſagt 'er, ihm (Roͤper) zur Aergerniß heute alle hinreiten. In ſechs Minuten ſaß das trinkende bureau d'eſprit und der Hofmeiſter auf den Gaͤulen; Guſtav nicht: er war fuͤr ein ſchoͤ¬ neres Schwaͤrmen gemacht als fuͤr ein lautes. Da¬ her verwickelte Guſtavs inneres Leben mich oft bei ſeinem Vater, der aͤußeres foderte, in den verdruͤßlichen und vergeblichen Verſuch, daß ich ihm beibringen wollte, worin eigentlich der hohe Werth ſeines Sohnes laͤge fuͤr einen Hofmeiſter, der auf Ehre haͤlt, iſt dergleichen zu fatal.

Wir ſahen auf unſern Pferden Maußenbach, das vor ſeinem adelichen Chan ſtand und ihm die Feudal-Krone auf ſeinen italieniſchen Kopf ſetzte. Neben dem gehuldigten Potiphar ſtand ſein Juſtitz¬261 Departement, ſein Accis-Kollegium, ſeine geheime Landesregierung, ſein Departement der auswaͤrti¬ gen Angelegenheiten naͤmlich H. Kolb, der Ge¬ richtshalter, der alle dieſe[Kollegien] vorſtellte. Die¬ ſes Miniatuͤr-Miniſterium des Miniatuͤr-Souve¬ rains hatte auf einer Wieſe das konnten wir von weitem ſehen einen langen Brief in der Hand, woraus es den Leuten alles vorlas was zu beſchwoͤren war: die hundert Haͤnde der Eidgenoſſenſchaft zogen ſich dann durch die Haͤrtenden zwei Haͤnde Roͤpers und Kolbes hindurch[und] verſprachen dem Edelmann gern zu gehorchen, falls er ſeines Orts verſprechen wollte, zu befehlen.

Aber nach Freud 'koͤmmt Leid, nach Erbhul¬ digung ein bureau d'eſprit ... Im achtzehnten Jahr¬ hundert ſind allerdings viele Menſchen erſchrocken und ſehr, z. B. die Jeſuiten, die Ariſtokraten, auch Voltaire und andre große Autores erſchrecken ziem¬ lich aber es erſchrack doch keiner im ganzen aufge¬ hellten Saͤkul ſo als der Kommerzien-Agent, da er ſah was kam; da er ſah 15 Menſchenkoͤpfe und 15 Roßkoͤpfe zwiſchen einem Artillerietrain von Hunden oben uͤber den Berg herunterziehen, die ſaͤmmtlich in ſeinem Schloſſe nichts zu ſuchen hatten aber zu262 finden genug. Da aber auch zweitens niemand im achtzehnten Jahrhundert ſeltner zu Hauſe war als er er wars wohl, hockte aber hinter Spiegelglaß - Fenſtern wie hinter Brandtmauer und Schanzkorb, weil ſie ihm wie ein Gyges-Ring die Sichtbarkeit be¬ nehmen ſo haͤtt' er ſich helfen und fuͤr ſo viele Saͤugthiere eben ſo viele Meilen entfernt ſeyn koͤn¬ nen; aber auf der Wieſe wars nicht zu machen. Ein froͤhliger Menſch, und waͤrs ein Geiziger, will Froͤh¬ lige machen: Roͤper erſchrack erſtaunte reſig¬ nirte und empfieng uns freudiger als wir errie¬ then. Er blieb im Geben heute, weil er einmal im Geben war.

Denn ſeine Lehnleute, die heute den Verſtand verſchworen hatten, ſollten ihn auch vertrinken, denn einige ſauer erworbene und eben ſo ſauer ſchme¬ ckende zwei Eimer hatt 'er als Gefangne aus ihrem Souterain am Kroͤnungstage loßgelaſſen er hatte die Faͤſſer ihnen mit doppelter Kreide weniger an¬ geſchrieben als getuͤnchet und leuteriert und Fleckkugeln von Kreidenerde ſo lange in Haͤngbett¬ gen darein eingeſenkt gehabt, daß das Geſoͤf faſt am Ende zu gut war, um verſchenkt zu werden. Der Filz ſucht zu erſparen, ſogar in dem er ver¬263 ſchenkt. Uebrigens ſprang er mit ſeinen Lehn-Un¬ terthanen zutraulicher und freigebiger um als mit uns geadelten Gaͤſten ſo handelt ein Mann ſtets, der keinen Adelſtolz beſitzt ſagt der Rezen¬ ſent; aber ſo handelt der Knicker ſtets, dem ge¬ ringere aber ſilberhaltige Leute lieber ſind als ſtandsmaͤßige nehmende Gaͤſte und der einen eignen Bedienten uͤber einen fremden Freund und uͤber den Stand die Nutzbarkeit hinaufſetzt ſag' ich. Die Kommerzien-Agentin von Roͤper legte jeder Bier-Arche ihres Mannes noch eine kleine Chaloup¬ pe zu; ſeine Geſchenke waren ihr allemal ein Vor¬ wand, geheime Zuſaͤtze dazu machen. Nur befahl ſie dem Dorfrichter, ein waches Auge darauf zu haben, daß ihr von der Bierhefe nichts verloren gehe. Die Natur hatte ihr eine freie liebende Seele gegeben; aber eben dieſe Liebe fuͤr ihren Mann gab ihr von ſeinen[Fehlern] wenigſtens den Schein.

Du treues Herz! laſſ 'mich einige Zeilen bei deiner ehelichen Uneigennuͤtzigkeit verweilen, die alle eigne Wuͤnſche fuͤr Suͤnden und alle Wuͤnſche ihres Mannes fuͤr Tugenden haͤlt, der kein Lob gefaͤllet als eines auf den, den du uͤbertrifſt! 264Warum biſt du' nicht einer Seele zugefallen, die dich nachahmt und kennt und belohnt? warum wa¬ ren dir fuͤr deine Aufopferungen, fuͤr deine Her¬ zensriſſe hienieden keine ſchmerzſtillenden Tropfen als die beſchieden, die deinetwegen aus den ſchoͤ¬ nen Augen deiner Tochter fallen? ach du erin¬ nerſt mich an alle deine Leidens-Mitſchweſtern ich weiß es zwar aus meiner Pſychologie recht gut, ihr armen Weiber daß euere Leiden nicht ſo groß ſind als ich mir ſie denke, eben weil ich ſie denke und nicht fuͤhle, da der Blitz, der in der Ferne der Vorſtellung zu einer Flammen-Schlange wird, in der Wirklichkeit nur ein Funke iſt, der durch mehrere Augenblicke ſchießet; aber kann ſich ein Mann, ihr weiblichen Weſen, die Seelen-Kon¬ tuſionen und Frakturen denken, die ſein grober von Waffen gehaͤrteter Finger in euere weiche Ner¬ ven druͤcken muß, da er nicht einmal ſo ſanft mit euch umgeht wie ihr mit ihm oder er ſelber mit ſaftvollen glatten Raupen, die er nur mit dem ganzen Blatte worauf ſie liegen, wegzutragen wagt? ... Und vollends eine Louiſe und eine Bea¬ ta! Aber waͤre Jean Paul nur euer Gerichtshal¬ ter, wie ihm der Alte zugeſagt, er wollt' euch, troͤſten genug ....

265

Es iſt aber auf den Alten ſchlecht zu bauen: ſchleicht er nicht in ganz[Unterſcheerau] umher und voziert im Voraus alle Advokaten zu ſeiner Ge¬ richtshalterei, um uns Rechtsfreunde durch die Hofnung unter ihm zu dienen, vom Entſchluſſe wegzubringen, gegen ihn zu dienen? Inzwi¬ ſchen muß ers doch mit Einem ehrlich meinen, der ich wohl bin.

Als die boͤheimiſche Ritterſchaft und ich von der Wieſe ins Schloß eintraten: ſo ſtieß ſie und ich auf etwas ſehr Schoͤnes und auf etwas ſehr Tolles. Das Tolle ſaß beim Schoͤnen. Das Tolle hieß Oefel, das Schoͤne hieß Beata. Der Him¬ mel ſollte einem Autor eine Zeit geben, ſie zu ſchildern, und eine Ewigkeit, ſie zu lieben; Oefeln kann ich in drei Tertien ausmalen und aus¬ lieben. Es gereichte mir und ihr zur Ehre, daß ſie in ihrem alten Klavier-Dozenten ſogleich den Bekannten fand; aber es gereichte mir zu keiner Freude, daß ſie am Bekannten nichts Unbekann¬ tes entdeckte und daß ſie bei meinem Anblick ſich nicht erinnerte, aus einem Kind ein Frauenzimmer geworden zu ſeyn. Es giebt ein Alter, wo man Schoͤnen doch verzeiht, wenn ſie uns auch nicht266 bemerken und nicht annehmen. O ich verzieh dir alles, und der groͤßte Beweis iſt der, daß ich da¬ von ſpreche. Der junge Juͤngling bewundert und begehrt zugleich, der aͤltere Juͤngling iſt faͤ¬ hig, bloß zu bewundern. Beatens Empfindungen und Worte ſind noch der blendendweiſſe und reine friſche Schnee, wie ſie vom Himmel gefallen ſind: noch kein Fußtritt und kein Alter hat dieſen Glanz beſchmutzt. Sie wurde noch ſchoͤner, weil ſie heu¬ te thaͤtiger war als ſonſt und ihre ſchoͤnen Schul¬ tern der Laſt der Mutter lieh: die blaſſe Monds - Aurora, die ſonſt auf ihren Wangen den ganzen Himmel weiß ließ, uͤberfloß ihn mit einem Roſen - Widerſchein: auch die fremde Freude, fuͤr die ſie heute thaͤtig war, gab ihr das erhoͤhte Kolorit, das ſie ſonſt durch eigne verlor. Die Maͤdchen wiſſen nicht, wie ſehr ſie Geſchaͤftigkeit verſchoͤne¬ re, wie ſehr an ihnen und den Taubenhaͤlſen das Gefieder nur ſchillere und ſpiele, wenn ſie ſich be¬ wegen und wie ſehr wir Maͤnner den Raubthieren gleichen, die keine Beute haben wollen die ſtille ruht.

Ihre Mutter ſagte mir freudig die Urſache, weswegen der Legationsrath da ſaͤße: er hatte Bea¬267 ten eine Invitation von der Reſidentin von Bouſe gebracht, auf ihr Landgut zu kommen, wo mei¬ ne Schweſter auch iſt. Das neue Schloß Marien¬ hof liegt eine halbe Stunde von der Stadt; am neuen hat Oefel das alte, das vielleicht durch ge¬ heime Thuͤren mit jenem kommunicirt. Er gab un¬ hoͤflicher Weiſe zu errathen, ohne ſein feines In¬ triguiren d. h. er machte wie die Advokaten, uͤber den ſchmalſten Bach eine Bruͤcke ſtatt eines Sprunges waͤr 'es hinkend gegangen. Unmoͤg¬ lich kann ein ſolcher eitler Narr von ſeinem Herzen einen Schiefer-Abdruck in einen ſo edlen Stein als Beata iſt auspraͤgen: wenn ſie auch der Faſelhans kuͤnftig alle Nachmittage im neuen Schloſſe um¬ lagert, wie er thun wird: ſo kann ich mich doch darauf verlaſſen ja ich wollte dafuͤr ſchwoͤren. Ein Haſelant ſeiner Groͤße kann zwar ein Paar eckige begraſete Landfraͤulein (wie heute geſchah) zu einem verliebten Erſtaunen uͤber ſeine Glocken¬ polypen-Drehungen, uͤber ſeinen Muth, uͤber ſei¬ nen Verſtand (d. h. Witz) und ſeine Unverſchaͤmt¬ heit zwingen, ſtatt Damen und Schoͤnen bloß zu ſagen Weiber: das kann er und mehr, ſag' ich; aber von Beatens Herz werden ihn ewig alle ihre268 Tugenden trennen: ſie wird neben ſeiner Liebe zur Miniſterin ſeine zu ihr ſelber gar nicht ſehen und nicht glauben; ſie wird ihrer Seele keinen Oefel¬ ſchen ſentimentaliſchen Floſkeln oͤffnen, die wie das falſche Geld bald zu groß bald zu klein ſind Sie wird vielmehr finden, an einem ehrlichen Jean Paul iſt mehr dran; ſie wird hoff 'ich beſagtem Paul die Aehnlichkeit, die er mit Oefel in einigen Vorzuͤ¬ gen haben mag, gern verzeihen, weil er ohne ſeine Fehler iſt, und mit einem treuen beſcheide¬ nen Herzen vor ihr ſteht, das kaum den Muth hat, ihr das feinſte Goldblatt des Lobes leiſe aufzuhau¬ chen und welches ſchweigt auch mißverſtanden und reſignirt auch ohne verſucht zu haben ..... Sie wird in ihrem Urtheile gerade ſo von den alten Landfraͤulein abweichen wie ich von den jungen Land¬ junkern, die mit da ſaßen. Denn Oefels Erſchei¬ nung nahm ihnen allen vorigen Witz und Verſtand und ſein queckſilberner Anſtand goß alle ihre Glie¬ der mit Blei aus; ſie zogen in einer Falkenbaize, wo ein ſolcher Vogel die weiblichen Herzen ſtieß, ihre plumpen Schwingen an ſich und bewunderten vermoͤge der maͤnnlichen Aufrichtigkeit ſtatt der[weib¬ lichen] Reize ſeine Hingegen Jean Paul blieb wie er war und ließ ſich nichts anhaben.

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Ich wuͤrde manchen deutſchen Kreis auf die Vermuthung einer heimlichen Eiferſucht bringen, wenn ich gar nichts zum Lobe Oefels ſagte: er ver¬ ſprach am naͤmlichen Nachmittag meinem Eleven ei¬ nen großen Dienſt. Er hielt ſich naͤmlich, ob er gleich das alte Schloß neben der Reſidentin zur Miethe hatte, nicht darin ſondern im Scheerauer Kadettenhauſe auf und ruͤckte von Zimmer zu Zim¬ mer, um da ihm ſein hoher Stand verbot, ſich ſonderbar zu kleiden wenigſtens ſonderbar zu han¬ deln: er wollte da Menſchen ſtudiren, um ſie in Kup¬ fer ſtechen zu laſſen. Er ſetzte naͤmlich einen Ro¬ man als eine kurze Encyklopaͤdie fuͤr Erbprinzen und Kronhofmeiſter auf und ſchrieb auf den Titel der Großſultan dieſer Fenelon machte den Haram ſeines Telemachs zu einem Spiegelzimmer, das den ganzen weiblichen Scheerauer Hof reflektir¬ te, ſein Werk war ein Herbarium vivum, eine Flora von allem was auf und am Scheerauer Thro¬ ne waͤchſet, vom Fuͤrſten an, bis, wenn er ſich noch erinnert, zu mir. Wenn's erſcheint, ver¬ ſchlingen wirs alle, weil er uns ſelber darin ver¬ verſchlungen; die Rezenſenten werden nichts darin fin¬ den und ſagen laͤngſt, triviales Zeug! da er nichts270 that was er nicht vorher und nachher aller Welt promulgirte: ſo hatt 'es ſogar mein Rittmeiſter gehoͤrt, daß er beim Kadettengeneral ſo lange und ſo fein intriguirt hatte bis er ſtatt eines aufſehen¬ den Offiziers die Zimmer des Kadettenpaͤdagogiums bewohnen und verwechſeln durfte; und ſo kam un¬ ſer Fuͤrſt dieſem Menſchen-Naturforſcher eben ſo mit einer menſchlichen Menagerie zu Huͤlfe, wie Alexander dem Ariſtoteles mit einer thieriſchen. Der Rittmeiſter trat alſo mit ſeiner ſiegenden Men¬ ſchenfreundlichkeit zu ihm und bat ihn, ſich fuͤr un¬ ſern Guſtav beim Kadettengeneral geſchickt zu ver¬ wenden, damit er einmal unter deſſen Fahne kaͤ¬ me. Der Protektor Oefel ſagte, nunmehr ſey es ſchon ſo gut als richtig; er enzuͤckte ſich ſelber mit der Vorſtellung, einen unter der Erde erzognen Sonderling zum Stubenkameraden und zum ſitzen¬ den Original zu bekommen.

Die Stralenbrechung zeigt Schiffern das Land allezeit um etliche Hundert Meilen naͤher als es liegt und ſtaͤrkt durch ſo einen unſchuldigen Betrug ſie mit Hoffnung und Genuß. Aber auch in der moraliſchen Welt iſt die wohlthaͤtige Einrichtung, daß Fuͤrſten und ihre Miniſterien uns Bittſteller271 (ſo will Campe ſtatt Supplikant hoͤren) dadurch froh und munter erhalten, daß ſie uns durch eine optiſche Taͤuſchung die Hofſtellen, Aemter, Char¬ gen, die wir haben wollen, allzeit um einige Hun¬ dert Meilen oder Monate naͤher wir koͤnnen ſie erlangen, denken wir ſehen laſſen als ſie wirk¬ lich ſind. Dieſe Taͤuſchung der Approximation iſt auch alsdann nuͤtzlich und gewoͤhnlich, wenn die geiſtliche oder weltliche Bank, die den Sitzern auf der langen Expektantenbank naͤher gewieſen wird, am Ende gar bloß eine Nebelbank iſt.

Der Kommerzien-Agent, ſagte unterwegs der Rittmeiſter zu mir, iſt doch kein ſo uͤbler Mann als ſie ihn machen und der Legationsrath muß nur in die Jahre kommen.

272

Zwanzigſter Sektor.

Das zweite Lebens-Jahrzehend Geſpenſtergeſchichte Nacht-Szene Lebensregeln.

Oefel hielt Wort. Vierzehn Tage darauf ſchrieb uns der Profeſſor Hoppedizel, er werde den neuen Kadetten abholen. Nun wurde unſer bishe¬ riger Wunſch unſre Pein. Guſtavs und mein Bund ſollte auseinander gedehnt und verrenkt werden: jedes Buch das wir nun zuſammenlaſen, kraͤnkte uns mit dem Gedanken, daß es jeder allein zu Ende bringen wuͤrde; ich wollte meinen Guſtav kaum etwas mehr lehren, deſſen Ausbau ich an fremde Architekten uͤbergeben mußte und jeder ſchoͤ¬ ne Blumenplatz war uns die Gartenthuͤr des Edens, die ein armirter Cherub abſchloß. Die Sturmmo¬ nate ſeines Herzens ruͤckten nun auch naͤher. Ich hatte ohnehin den Fluͤgeln ſeiner Phantaſie nicht Federn genug ausgeriſſen und ihn aus ſeiner Ein¬ ſamkeit nicht oft genug verjagt. In dieſer trieb ſeine Phantaſie ihre Wurzeln in alle Fibern ſeiner Natur hinein und verhieng mit den Bluͤten, dieſeinen273ſeinen Kopf auslaubten, die Eingaͤnge des aͤuſſern Lichts.

Wahrhaftig weder der klappernde Mentor noch ſeine Buͤcher, d. h. weder die Gartenſcheere noch die Gießkanne ſaͤttigen und faͤrben die Blume, ſon¬ dern der Himmel und die Erde, zwiſchen denen ſie ſteht d. h. die Einſamkeit oder Geſellſchaft in der das Kind ſeine erſten Knoſpen-Minuten durch¬ waͤchſet. Geſellſchaft treibt das Alltagskind, das ſeine Funken nur an fremden Stoͤßen giebt. Aber Einſamkeit zieht ſich am beſten uͤber die erhabnere Seele, wie ein oͤder Platz einen Pallaſt erhebt: hier erzieht ſie ſich unter befreundeten Bildern und Traͤumen ſymmetriſcher als unter ungleichartigen Nutzanwendungen. Um ſo mehr haben Generalac¬ ciskollegien darauf zu ſehen, daß große poetiſche Genies im Grunde taugt keines zu einem ge¬ ſcheuten Kammer - oder Kanzleiverwandten vom 10ten Jahre bis zum 35ſten in lauter Viſiten - Schreib - und Votierzimmern herumgehetzet werden, ohne in eine ſtille Minute zu kommen; ſonſt iſt keines in einen Archivar, oder Regiſtrator umzu¬ ſetzen. Daher haͤlt auch das Marktgetoͤſe der groſ¬ ſen Welt allen Wuchs der Phantaſie ſo gluͤcklich am Boden.

S274

Daran dacht 'ich oft und warf mir manches vor. Wuͤrde nicht, (hielt ich mir vor) ein gruͤnd¬ licherer Schulkollege deinen Guſtav, wenn er mit dem Ruͤcken auf dem Graſe liegt und in den blauen Himmelskrater hinaufzuſinken oder auf Fluͤgeln an den Schulterblaͤttern durch das Univerſum zu ſchwim¬ men traͤumt, mit dem Spazierſtock an ein Buch von Nutzen treiben? Und, ſagt' ich, wenn ich zum gruͤndlichern Kollegen ſagte, es ſei einerlei, woran eine kindliche Phantaſie ſich aufwinde, ob an einem lackierten Staͤbchen, oder an einer le¬ bendigen Ulme, oder an einem ſchwarzen Raͤucher¬ ſtecken: wuͤrde der Kollege nicht witzig verſetzen, eben alſo, es ſei alſo einerlei?

Inzwiſchen beſaͤß 'ich meines Orts auch Witz: ich wuͤrde auf die Replik verfallen: glauben Sie denn, Hr. Konfrater, daß unter dem groͤßten Spitzbuben und dem groͤßten komiſchen Dichter, den ſie vertiren, ein Unterſchied iſt? Allerdings: ein guter Plan des Kartouche iſt von einem guten Plan des Dichters Goldoni darin verſchieden, daß der erſtere die Komoͤdie ſelber ausfuͤhret, die der letztere von Schauſpielern ausfuͤhren laͤſſet.

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Guſtav war jetzt in der Mitte des ſchoͤnſten und wichtigſten Jahrzehends der menſchlichen Flucht ins Grab, im zweiten naͤmlich. Dieſes Jahrzehend des Lebens beſteht aus den laͤngſten und heiſſeſten Tagen; und wie die heiſſe Zone zugleich die Groͤße und den Gift der Thiere mehrt ſo kocht ſich an der Juͤnglingsglut zwar die Liebe reif, die Freund¬ ſchaft, der Wahrheits-Eifer, der Dichtergeiſt, aber auch die Leidenſchaften mit ihren Giftzaͤhnen und Giftblaſen. In dieſem Jahrzehend ſchleicht das Maͤdchen aus ihren durchlachten Jahren weg und ver¬ birgt das truͤbere Auge unter derſelben haͤngenden Trauerweide, worunter der ſtille Juͤngling ſeine Bruſt und ihre Seufzer kuͤhlt, die fuͤr etwas naͤhers ſteigen als fuͤr Mond und Nachtigal. Gluͤcklicher Juͤngling! in dieſer Minute nehmen alle Grazien deine Hand, die dichteriſchen, die weiblichen und die Natur ſelbſt und legen ihre Unſichtbarkeit ab und ſchlieſſen dich in einen Zauberkreis von Engeln ein. Ich ſagte, ſelbſt die Natur: denn auf ihr gluͤhen noch hoͤhere Reize als die maleriſchen; und der Menſch, fuͤr deſ¬ ſen Auge ſie ein meilenlanges Knieſtuͤck voll Zaube¬ reien war, kann ihr ein Herz mitbringen, das aus ihr ein Pygmalions-Gebilde macht, welches tauſendS 2276Seelen hat und mit allen eine umſchlingt .... O ſie kehrt niemals, niemals wieder, die zweite Dekade des armen Lebens, die mehr hat als drei hohe Feſt¬ tage: iſt ſie voruͤber, o ſo hat eine Todeshand unſre Bruſt und unſer Auge beruͤhrt; was noch in dieſe dringt, was noch aus ihnen dringt, hat den erſten Morgenzauber verloren und[]das Auge des alten Men¬ ſchen oͤfnet ſich dann bloß gegen eine hoͤhere Welt, wo er vielleicht wieder Juͤngling wird!

Drei Tage, eh der Profeſſor kam, war Geſpen¬ ſterlaͤrm im Schloß; zwei Tage vorher waͤhrte er noch fort; einen Tag zuvor machte der Rittmeiſter Anſtal¬ ten zur Entdeckung der Schelmerei. Er hatte einen Waſſerſcheu vor Geſpenſtergeſchichten und gab jedem Bedienten, der eine wie Bokaz erzaͤhlte, als ein Ho¬ norar ſeiner Novelle nach der Bogenzahl Pruͤgel. Die Rittmeiſterin aͤrgerte ihn durch ihren Leichtglau¬ ben und ſie bekam oft den Blick von ihm, den Maͤn¬ ner werfen, wenn die Hoffnungen oder Befuͤrchtun¬ gen ihrer Weiber Haſenſpruͤnge wie Erdhalbmeſſer thun. Sie hatte zu Nachts ein dreifuͤßiges Gehen durch den Korridor gehoͤrt, ein Blitz war durch ihr Schluͤſſelloch gefahren und eine andre Taſchenuhr als ihre hatte 12 geſchlagen und alles war verflogen.

277

Er lud alſo ſeine Doppelpiſtolen, um dem Teu¬ fel mit dem Pulver, das er nach Milton fruͤher als die Sineſer erfunden, anzufallen; ſein Guſtav mußte mit dabei ſeyn, um muthig zu werden. Die Schlo߬ uhr ſchlug 11, es kam nichts ſie ſchlug 12, wie¬ der nichts ſie ſchlug 12 noch einmal ohne Huͤlfe des Uhrwerks: jetzt wickelte ſich auf dem Schloßbo¬ den ein hieroglyphiſches Gepolter heran, drei Fuͤße traten die vielen Treppen herab und erſchuͤttern den Korridor. Er, der ſelten in Leiden, aber immer in Gefahren muthig war, gieng langſam aus dem Zimmer und ſah im langen Gange nichts als die ausgeblaſene Hauslaterne an der Haupttreppe: et¬ was gieng im Finſtern auf ihn zu und indem er auf das ſtumme Weſen feuern wollte, rief er: wer da? Ploͤtzlich blitzte fuͤnf Schritte von ihm und hier faßte der Tetanus der Angſt Guſtavs Ner¬ ven das Licht einer Blendlaterne auf ein Ge¬ ſicht, das in der Luft hieng und das ſagte: Hop¬ pedizel! Der wars; warf ſein Stiefelholz und andern Apperat dieſer Farze weg und niemand hat¬ te etwas darwider als der Rittmeiſter, weil er ſei¬ nen Muth nicht beweiſen konnte, und die Ritt¬ meiſterin, weil ſie keinen bewieſen hatte.

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Aber in Guſtavs Gehirn riß dieſes in der Luft hangende Geſicht mit der Aeznadel ein ver¬ zerrtes Bild hinein, das ſeine Fieberphantaſien ihm einmal wieder unter die ſterbenden Augen halten werden. Bloß heftige Phantaſie, nicht Mangel an Muth, ſchaft die Geiſterfurcht; und wer jene ein¬ mal in einem Kinde zum Erſchrecken aufwiegelte, gewinnt nichts, wenn er ſie nachher widerlegt und ſie belehrt es war natuͤrlich. Daher fuͤrchten ſich in der naͤmlichen Familie nur einige Kinder, d. h. die mit gefluͤgelter Phantaſie daher zieht Shakeſ¬ pear in ſeinen Geiſterſzenen die Haare des Freiden¬ kers in der Frontloge zu Berge, offenbar vermittelſt ſeiner aufgewiegelten Phantaſie. Die Geiſterfurcht iſt ein auſſerordentliches Meteor unſerer Natur: erſt¬ lich wegen ihrer Herrſchaft uͤber alle Voͤlker; zwei¬ tens weil ſie nicht von der Erziehung koͤmmt; denn in der Kindheit ſchauert man zugleich vor dem groſ¬ ſen Baͤren an der Thuͤre und vor einem Geiſte zu¬ ſammen, aber die eine Furcht vergeht, warum bleibt die andre? Drittens: des Gegenſtandes wegen: der Geiſterfurchtſame erſtarret nicht vor Schmerz oder Tod, ſondern vor der bloßen Gegenwart eines ganz fremdartigen Weſens; er wuͤrde einen Mond -279 Inſaſſen, einen Fixſtern-Reſidenten ſo leicht wie ein neues Thier erblicken koͤnnen, aber in den Menſchen wohnt ein Schauer gleichſam vor Uebeln, die die Erde nicht kennt, vor einer ganz andern Welt als um irgend eine Sonne haͤngt, vor Dingen, die an unſer Ich naͤher graͤnzen ....

Ich mußte den einfaͤltigen Profeſſor-Spas auf¬ ſchreiben, weil er nach zwei Tagen um den flie¬ genden Guſtav folgende Szene erzeugte, die ihm eben ſo gut das Herz zerquetſchen als erheben konnte.

In der Friſt vor ſeiner Abreiſe trug er ſein ſchweres Herz und ſchweres Auge an alle Orte, die er liebte und verließ, in das H. Grab ſeiner Kin¬ derjahre, unter jeden Baum, der ihm die Son¬ ne genommen, auf jeden Huͤgel, der ſie ihm ge¬ zeigt hatte er gieng zwiſchen lauter Ruinen des ſanften Kinderlebens hindurch: uͤber ſeinem gan¬ zen Jugendparadies lag die Vergangenheit wie ei¬ ne Fluth; vor ihm, hinter ihm zog ſich das Marſch - und Ackerland, worein das Schickſal ſo bald den Menſchen treibt .... Das war die Minute, wo ich vor der Sonne, die wie er von dannen gieng und vor der ganzen großen Natur, die mit un¬280 ſichtbaren Haͤnden den blinden Menſchen in weite, reine, unbekannte Regionen hebt, meinem gelieb¬ ten Schuͤler das Bild ſeines Guido*)Das Bild des verlornen Kleinen, das er an ſeinem Hal¬ ſe von der Entführerin mitbrachte, und das ihm ſo ähn¬ lich ſah., das ich ihm bisher entzog, ans Herz druͤckte; in ſol¬ chen Minuten ſind Worte nicht noͤthig, aber je¬ des, das man ſpricht, hat eine allmaͤchtige Hand: Hier, Guſtav, (ſagt 'ich) hier vor dem Himmel und der Erde, und vor allem Unſichtbaren um den Menſchen, hier uͤbergeb' ich dir aus meinen be¬ wahrenden Haͤnden fuͤnf große Dinge in deine, ich uͤbergebe dir dein unſchuldiges Herz ich uͤber¬ gebe dir deine Ehre den Gedanken an das Un¬ endliche dein Schickſal und deine Geſtalt, die auch um Guido's Seele liegt. Die großen Stun¬ den ſtehen nicht auf der Erde, die dich fragen wer¬ den, ob du dieſe fuͤnf großen Dinge erhalten oder verloren haſt aber ſie werden einmal deine kuͤnf¬ tige Seele mit deiner jetzigen vergleichen ach! laß mich an mich nicht denken, wenn du al¬ les verloren haſt! ...

281

Ich gieng und umarmte ihn nicht: die beſten Gefuͤhle haften ſtaͤrker, wenn man ihnen nicht er¬ laubt, ſich auszudruͤcken. Er blieb und ſeine Ge¬ fuͤhle wendeten ſich an Guido's Bild; aber das konnte ihn nicht an ſeine eigne Geſtalt erinnern denn eine Mannsperſon kann 20 Jahre alt wer¬ den, ohne ihre Zaͤhne, und 25 Jahre, ohne ih¬ re Augen-Wimpern zu kennen, indeß ein Maͤd¬ chen dahinter koͤmmt vor der Firmelung Son¬ dern das Bild regte alles was in ihm vom Anden¬ ken und von der Liebe gegen ſeinen[Genius] ſchlum¬ merte, wieder auf; ja er fand am Portrait lau¬ ter Aehnlichkeiten mit ſeinem weggeflohenen Freun¬ de aus und ſah deſſen Geſtallt im gemalten Nichts wie in einem Holſpiegel.

Sein Gehirn brannte wie eine glimmende Steinkohlenmine im Traume auf dem Kopfkiſſen fort. Ihm kams darin vor als zerlief 'er in einen reinen Thautropfen und ein blauer Blumenkelch ſoͤg' ihn ein dann ſtreckte ſich die ſchwankende Blume mit ihm hoch empor und hoͤb 'ihn in ein hohes hohes Zimmer, wo ſein Freund der Genius oder Guido mit deſſen Schweſter ſpielte, dem der Arm, ſo oft er ihn nach Guſtav herausſtreckte,282 abfiel und dem die Schweſter ihn wieder reichte. Auf einmal knickte die Blume zuſammen und nie¬ derfallend ſah er drei weiße Mondsſtrahlen ſeinen Freund in den Himmel ziehen, der die Blicke ab¬ waͤrts gegen den Gefallnen drehte. Er erwachte außer dem Bette am ofnen Fenſter lehnend, das uͤber den Garten ins ſchlafende Auenthal ſah. Der Himmel ſank in einem ſtummen Strahlen-Regen nieder am leuchtenden Univerſum regte ſich nichts als die Strahlen-ſpitzen der Fixſterne die Haͤuſer ſtanden wie Grabmaͤhler, in denen die Sterblichen ausſchließen die Traͤume giengen in den geſchloſſenen Sinnen der Sterblichen aus und ein und der Tod trat zuweilen ein Haupt und den Traum darin entzwei. Der Himmel ſchien Guſtaven an ſein Fenſter geſunken. O kehr' um, komm 'wieder, Geliebter! (rief er, durch Traum und Gegenwart dahin geriſſen) o du warſt da, du ſucheſt mich! Erſcheine mir, toͤdte mich! Ach du tauſendfach Geliebter! ſende mir von deinem Himmel wenigſtens deine Stimme! Unverſe¬ hends ſchnitt etwas vor dem Fenſter die Luft ent¬ zwei und rief Guſtav und im fernen Weiterflie¬ gen riefs zweimal hoͤher herab Guſtav Guſtav. 283Ein Eisberg fiel auf ſeine ſtarrende Haut in der erſten Sekunde; aber in der zweiten gluͤhte er wieder an, gab ſeine Arme dem Tode und dem Freunde und ſchlug das Auge an Einer Luftſtelle unter dem Monds-Blenden ein, um etwas zu ſehen. Die zwei Welten waren nun fuͤr ihn in eine zuſammengefallen; gefaſt erwartete er den Freund aus der Welt hinter den Sonnen und woll¬ te an ſeine Aetherbruſt ſtuͤrzen mit einer von Erde. Er gluͤhte ſich ab und gieng endlich mit dem Schau¬ dern der Seele und der Haut ins Bett zuruͤck. Aber lange werden von dieſer Stunde her, wie von der Gegend eines Gewitters die Winde, die Bewegungen ſeiner Seele wehen.

Der Staarmatz thats vermuthlich, der ſo viel ich weiß aus dem Bauer entkommen war. Guſtav erfuhrs nicht. Ob eine Seele Wellen gleich einem Setzteich, ſo hoch wie Hemd-Jabots, oder gleich dem Ozean ſolche wie Alpen ſchlage, das iſt zweierlei; ob dieſe hohen Bewegungen ein Staar erregt oder ein Seeliger, das iſt einerlei.

Der Profeſſor lehrte ihn unter meinen Ohren guͤldne Brokardika der Menſchenkenntniß, die er durch das Lehren ſelber uͤbertrat z. B. Nicht284 bloß die Liebe, ſondern auch der Haß der Men¬ ſchen iſt veraͤnderlich und beide ſterben, wenn ſie nicht wachſen Die meiſten reden bloß gegen die Laſter, die ſie ſelber haben je groͤßer das Ge¬ nie, je ſchoͤner der Koͤrper iſt, deſto mehr ver¬ zeiht ihnen die Welt; je groͤßer die Tugend iſt, deſto weniger verzeiht ſie ihr Jeder Juͤngling denkt, keiner gleiche ihm in Gefuͤhlen ꝛc. aber alle Juͤnglinge gleichen ſich Man muß ſich nie ent¬ ſchuldigen; denn nicht die Vernunft, ſondern die Leidenſchaft des andern zuͤrnt auf uns und gegen dieſe giebts keinen Grund als die Zeit die Men¬ ſchen lieben ihre Freuden mehr als ihr Gluͤck, ei¬ nen guten Geſellſchafter mehr als den Wohlthaͤ¬ ter, Papagaien, Schooßhunde, Affen mehr als nuͤtzliche Laſtthiere Man erraͤth die Menſchen, wenn man ihnen keine Grundſaͤtze zutraut; und der Argwoͤhniſche hat allemal Recht, er erraͤth wenn nicht die Handlungen des andern doch ſeine Ge¬ danken; die Niederlagen des Schlimmen und die Verſuchungen des Guten die Suͤnde ge¬ gen den H. Geiſt, die dir keiner vergiebt, iſt die gegen ſeinen Geiſt, d.h. gegen ſeine Eitelkeit; und der Schmeichler gefaͤllet wenn nicht durch ſeine Ue¬ berzeugung doch durch ſeine Erniedrigung ꝛc.

285

Es giebt gewiſſe Regeln und Mittel der Men¬ ſchenkenntniß, die der beſſere hoͤhere Menſch ver¬ ſchmaͤht und verdammt, und die gerade dieſen nicht errathen helfen und die ihn weder belehren noch er¬ forſchen. Der Profeſſor rieth noch meinem Gu¬ ſtav, ſein Geſicht zu formen, Tugend auf demſelben zu ſilhouettiren, es vor dem Spiegel auszuplaͤtten und es mit keinen heftigen Regungen zu zerknuͤllen. Ich weiß es ſelber, fuͤr Weltleute iſt der Spiegel noch das einzige Gewiſſen, das ihnen ihre Fehler vor¬ haͤlt und das man wie das Gehirn ins große und klei¬ ne eintheilen muß: das große Gewiſſen ſind Wand - und Pfeilerſpiegel, das kleine ſteckt in Etuis und wird als Taſchenſpiegel herausgezogen; fuͤr die Welt¬ leute; aber fuͤr dich, Guſtav? du, der du den obigen Dekalogus fuͤr Spitzbuben nicht annehmen, nicht einmal verſtehen oder nuͤtzen kannſt denn man nuͤtzt und verſteht nur ſolche Lebensregeln, von denen man die Erfahrungen, worauf ſie ruhen, ſo durchgemacht, daß man die Regeln haͤtte ſelber ge¬ ben koͤnnen du, den ich gelehrt, daß Tugend nichts ſei als Achtung fuͤr das fremde und fuͤr un¬ ſer Ich, daß es beſſer ſei an keine Laſter als an keine Tugend zu glauben, daß die Schlimmſten nur ihre286 eigne Kaſte und die Beſten noch eine mehr kennen ... Wenn Guſtav nicht gegen jene Lehren, die meiſtens Wahrheiten ſind, und gegen den Lehrer aufgefahren waͤre; wenn er nicht geſchworen haͤtte[,] daß dieſe eckelhafte Kanker-Philoſophie nie uͤber eine Ecke ſei¬ nes Herzens ſich ſpinnen und kleben ſollte: ſo haͤtt' ich von ihm nicht einmal ſo gut gedacht als von der Reſidentin von Bouſe, der das Syſtem des Helve¬ tius ſo ſchoͤn wie ſein Geſicht vorkoͤmmt; denn in ihrem Stande hat oft das beſte Herz die ſchlimmſte Philoſophie.

Es wird kaum die Muͤhe verlohnen, daß ichs herſetze, daß der Spitzbube Robiſch zum Henker gejagt wurde, weil er einen entwiſchten Rekruten fuͤr einen neuen ausgab und verrechnete. Wenn ich ſagte, zum Henker gejagt: ſo ſatiriſiert 'ich, zum H. v. Roͤper wars, der keine Bediente an¬ nimmt als die welche Livré-Polyhiſtors wie Ro¬ biſch ſind, d. h. zugleich Jaͤger, Gaͤrtner, Schrei¬ ber, Bauern und Bediente.

287

Ein und zwanzigſter oder Michaelis-Sektor.

Neues Paktum zwiſchen dem Leſer und Biographen Gu¬ ſtavs Brief.

Ziehe hin, Geliebter, (ſagt 'ich,) den das Welt - Meer nimmt; das Sonnenbild deines verborgen fuͤh¬ lenden Herzens laͤchle aus dem Meersgrund und ſchwimme mit dir! dein junges Herz bringeſt du nicht mehr nach Auenthal! o daß doch die Fruͤchte am Menſchen ein andres Wetter haben muͤſſen als ſeine Bluͤthen ſtatt des Hauches des Lenzes den Stich des Auguſts und den Sturm des Herbſtes! Ich dacht' es, ſo lange ſein Wagen in meinen Augen blieb; nachher gieng ich in die Gartenhoͤle hinunter zu den zwei Moͤnchen, und als ich dachte: in euerer kalten Stein-Bruſt wohnt kein Wunſch, kein Seh¬ nen, kein Schmerz, kein Herz: eben darum. ſagt 'ich in anderem Sinn.

Heute iſt Michaelis und heute ich kann mich nicht laͤnger verſtellen bejaͤhrt ſich ſeine Abreiſe. Heute faͤngt zwiſchen mir und dem Leſer ein ganz neues Leben an und wir wollen ruhig alles mit ein¬ ander vorher ausmachen.

288

Erſtlich bin ich zwar Ein Jahr hinter Guſtavs Leben zuruͤck; aber in acht Wochen gedenk 'ich ſolches erſchrieben zu haben. Ich dachte freilich ſchon vor einem halben Jahre; jezt kaͤm' ich ihm nach; aber ein Leben iſt leichter zu fuͤhren als zu ſchildern zumal gut ſtyliſirt. Ueberhaupt kann ein Autor ein gu¬ ter leichter die Sterne des Himmels zaͤhlen als ſeine zukuͤnftigen Bogen, die auch Sterne ſind. Schluͤßlich erwartet man, daß die Litteratur-Zei¬ tung wenigſtens ſo viel bedenke, daß ich ein Rechts¬ freund bin und unmoͤglich fuͤr ſie ſo viel zu ſchreiben vermag wie fuͤr ganze Kollegien, Fakultaͤten und hoͤchſte Reichsgerichte. Kennt die Litteratur-Zei¬ tung meine entſetzlichen Arbeiten? man muß meinen Speiſeſchrank voll Manualakten geſehen haben, in denen noch dazu kein Wort ſteht weil ich ſie erſt aus der Papiermuͤhle holen ließ, oder man muß in mei¬ ner Gerichtshalterei in Schwenz, worin die 12 Un¬ terthanen und der Lehn - und Gerichtsherr ſelber Bauern ſind, geweſen ſeyn, um von mir nicht mehr zu fordern als jaͤhrlich ein Buch. Wer iſt um ganz Scheerau derjenige Sachwalter, der in einem Pro¬ zeſſe dient, welcher mit Naͤchſtem der Teufel muͤ¬ ſte ſein Spiel haben zum Wetzlaer Thor unter dieSeſſions¬289Seſſionstiſche des Reichskammergerichts, das von gutem Styl weiß, duͤrfte hingetrieben werden? Und doch diente der Prozeß wie Peter der Große von un¬ ten auf und beſtieg wie die Styliten-Sekte immer hoͤhere Stuͤhle.

Zweitens oder das iſt noch erſtlich: ich kann folglich gleich den Juden nur am Sabbat oder Sonn¬ tag auf die Plaſtik meines Seelen-Foͤtus denken: an Wochentagen wird nichts geſchrieben als zwar auch Biographien, aber nur von Schelmen, man meint Protokolle und Klaglibelle.

Zweitens oder drittens bin ich der Inſaß eines Schulmeiſterthums. Der gute Rittmeiſter wollte mich, da ſein Sohn zur Thuͤr hinaus war, mit Per¬ ſonalarreſt belegen, der bei mir zugleich Realarreſt iſt, weil mein Mobiliar-Vermoͤgen in meinem Koͤrper und mein Immobiliar-Vermoͤgen in meiner Seele be¬ ſteht; ich ſollte auf ſeinem Schloſſe ſo lange advo¬ ziren und ſatiriſiren als ich wollte. Es waͤre zu wuͤn¬ ſchen, ſein alter Gerichtshalter verbliche: ſo wuͤrd 'ichs: denn abdanken kann ſein gutes Herz dem doch mein ſpitzbuͤbiſches an Hoffeinheiten verwoͤhntes den Mangel der letztern nicht allemal vergeben mag keinen Menſchen. Behalte deinen geſunden NordT290Oſt-Athem, behalte deine Haͤnde mit dem pruͤ¬ gelnden Stab Wehe und deine Zunge mit ihrem Paar Donnerwettern und tauſend Teufeln, mein Falkenberg!

Ich blieb auch bei ihm im Winter; aber heuer im Fruͤhjahr zog ich an den Ort herab, wo ich dieſes ſchreibe in die obere Stube des Auentha¬ ler Schulmeiſter Sebaſtian Wuz. *)Den ganzen Lebenslauf ſeines Vaters, Maria Wuz hab 'ich dem Ende dieſes Buchs beigegeben. Allein ob er gleich eine Epiſode iſt, die mit dem ganzen Werke durch nichts zuſammen zu hängen iſt als durch die Heftnadel und den Kleiſter des Buchbinders: ſo ſollte mir doch die Welt den Gefallen erweiſen und ihn ſogleich leſen, nach die¬ ſer Note.Ich hatte vielleicht die drei vernuͤnftigſten Gruͤnde von der Welt dazu; ich ſchwind' erſtlich nirgends mehr ein als in einem Vatikan voll oͤder Kluͤfte, in Sara Wuͤſten von leeren Zimmern, ein Esſaal mit ſei¬ ner Meublen-Armuth iſt fuͤr mich ein Pathmos und bloß in kleinen Stuͤbgen wird man groͤßer: der Menſch ſollte von Jahr zu Jahr in immer klei¬ nere Zellen kriechen bis er in die kleinſte ſchluͤpfte, d. h. ins engſte Loch dieſes gequetſchten Silber¬291 draths. Der zweite Grund war H. Fortins (in Morhof. Polyhiſt. L. II. c. 8.) welcher Gelehr¬ ten anraͤth, alle halbe Jahre die Staͤdte zu wech¬ ſeln, damit ſie beſſer ſchrieben und in der That ſchreibt man beſſer nach jeder Veraͤnderung und waͤrs die des Schreibepults. Ohne ſolche auf¬ friſchende Luft ſchreibt ſich die Seele ſo tief in ih¬ ren Holweg hinein, daß ſie drinnen ſteckt ohne Himmel und Erde zu ſehen. Aus gegenwaͤrtigem Werke koͤnnte vielleicht etwas werden; aber jeden Monat und jeden Sektor muß ich in einer andern Kajuͤte ſchreiben.

Der dritte und vernuͤnftigſte Grund iſt meine Schweſter: ſie iſt wieder von der Reſidentin von Bouſe zuruͤck, erſtlich meil ſie ihre Stelle einer ſchoͤnen Buͤcherpatientin leer zu machen hatte der guten Beata naͤmlich, die der Vater, der Dok¬ tor, der Liebhaber der dumme Oefel, er wird aber gar nicht beguͤnſtigt endlich mitten in dieſe Kulmination aller Freuden und Viſiten hinberede¬ ten zweitens (iſt meine Schweſter da,) weil ichs wollte: aber Schweſter, Schweſter, warum hab 'ich dich nicht eher aus dieſem inkruſtirenden Mine¬ ral-Strudel geriſſen? warum haſt du dich ſo verT 2292aͤndert? wer kann dich zuruͤck veraͤndern? wer will dir aus dem Herzen ſcheuern deine Gedanken an fremde Blicke, deine Gier, bewundert, aber nicht geliebt zu werden, deine Koketterie, wel¬ che Liebe nur erregen nicht erwiedern will, und alles das was dein Herz unterſcheidet von deinem vorigen Herzen und von Beatens ewigen? mit meiner Schweſter wollt 'ich alſo nicht gern das Schloß verengern, auf dem ſie uͤbrigens alle Tage ein Paar Stunden verſitzet.

Jezt hab 'ich dem Leſer beigebracht, woran er iſt: wir wenden uns wieder zu Guſtavs Wagen und ſind alle zufrieden, Leſer, Setzer und Schreiber.

Guſtav fuhr in einer Trunkenheit des Schmer¬ zes, die der ſchoͤne Himmel in Thraͤnen[aufloͤſete], nach Scheerau und hielt jede Schwalbe und Biene, die unſerem Schloſſe zuflogen, fuͤr gluͤcklich, die naͤchſten zehn Jahre hiengen als zehn Vorhaͤnge vor ihm duͤſter nieder und liegen, fragt 'er ſich, Todtengerippe, Raubthiere oder Paradieſe hinter den Vorhaͤngen? was ohne Vorhang vor ihm ſaß und dozierte, ſah er auch nicht, den Profeſ¬ ſor. Zwei Stunden vor Scheerau ſchrieb er mir mit jener flammenden Dankbarkeit, die aus dem293 Menſchen nur in ſeinem zweiten Jahrzehend ſo ſtrahlend bricht. Wie bei allen Seelen, die ſich mehr von innen heraus als von außen hineinver¬ aͤndern, ſtand in ihm der Barometer ſeines Her¬ zens oft unbeweglich auf demſelben Grade. Die Regenwolken und den Regenbogen an ſeinem in¬ nern Himmel bracht' er nach Scheerau mit: er trug ſein uͤberhuͤltes Herz in das weite wiederhallende Kadettenhaus und in deſſen Jahrmarkslaͤrm auf den Treppen und in das Kadetten-Feldgeſchrei wie unter die Schlaͤge einer Kupferſchmiede und Walk¬ muͤhle hinein er wurde noch trauriger, aber mit mehr Schmerzen.

Das merkwuͤrdige im Zimmer, das er betrat und bewohnte, waren nicht drei Kadetten denn ſie waren Kurrent-Menſchen, Scheidemuͤnze und proſaiſche Seelen, d. h. luſtig, witzig, ohne Ge¬ fuͤhl, ohne Intereſſe fuͤr hoͤhere Beduͤrfniſſe und von maͤßigen Leidenſchaften ſondern der Stuben - Ephorus, H. v. Oefel, der mit dem Degen wie eine geſpießte Fliege mit der Nadel lief. Oefel fieng ihn ſogleich zu beobachten an, um ihn abends zu beſchreiben in Geſellſchaften beobachtete er jeden, nicht um fremde Pfiffe zu erlauſchen,294 ſondern um ſeine vorzuweiſen. So lobte er auch ohne zu achten, und mediſirte ohne zu haſſen: brilliren wollt 'er bloß.

Unter dieſem Sehnen, eh Guſtav den ſchwe¬ ren Gang uͤber Schmerzen zu Geſchaͤften that, kam der Troſt in der Geſtallt der Erinnerung zu ihm und Guſtav ſah was er nicht haͤtte vergeſſen ſollen ſeinen Amandus, ſeinen Kindheits¬ freund. Aber der gute Juͤngling trat vor ihn nicht in der erſten Geſtalt eines Blinden, ſondern in der letzten eines Sterbenden; er hatte die Ner¬ venſchwindſucht, die alles ſein Mark aus der noch ſtehenden Rinde ausgezogen hatte an der Rinde gruͤnte nichts mehr als haͤngende Zweige mit fah¬ lem geſenktem Laub. Er bereitete ſich auf kein Amt und kein Leben vor, ſondern er wartete und wollte empfangen an der Schwelle des Erbbegraͤb¬ niſſes den Tod, der die Treppe herauf[] ſtieg. Aber daß ſeine Seele in einer lebendigen Wunde lag, daran kann uns nichts wundern als das Ge¬ ſchlecht: denn die armen weiblichen Seelen woh¬ nen ſelten anders; aber die Maͤnner ſchonen dieſe Wunde nicht; es erweicht ſie gegen ein ſo wei¬295 ches Geſchlecht der Anblick nicht, daß die meiſten nicht von einem Tage zum andern ſondern von ei¬ nem Schmerze zum andern leben und von einer Thraͤne zur andern ....

In Guſtav wohnte das zweite Ich (der Freund) faſt mit dem erſten unter Einem Dache, unter der Hirnſchaal und Hirnhaut: ich meine, er liebte am andern weniger was er ſah als was er ſich dachte; ſeine Gefuͤhle waren uͤberhaupt naͤher und dichter um ſeine Ideen als um ſeine Sinne: daher wurde oft die Freundſchafts-Flamme, die ſo hoch vor dem Bilde des Freundes empor gieng, durch den Koͤrper deſſelben gebogen und abgetrieben. Da¬ her empfieng er ſeinen Amandus, weil uͤberhaupt eine Ankunft weniger erwaͤrmt als ein Abſchied, mit einer Waͤrme, die aus ſeinem Innern nicht voͤllig bis zu ſeinem Aeußern reichte aber Oefel der beobachtete, hatte mit ſechs Blicken heraus, der neue Kadet ſei adelſtolz[.]

Unter allen Kriegs-Katechumenen hatte Gu¬ ſtav die meiſte Noth. Aus einer ſtillen Karthauſe war er in ein Polter-Zimmer verbannt, wo die drei Kadetten ihm den ganzen Tag die Ohren mit Rapierſtoͤßen, Kartenſchlaͤgen und Fluͤchen beſchoſ¬296 ſen aus einer Dorfburg war er in ein Louvre geworfen, wo die Trommel das Sprachorgan und die Sprachmaſchine war, wodurch das Scholar¬ chat mit den Eleven ſprach, wie die Heuſchrecke allen ihren Laͤrm mit einer angebornen Trommel am Bauche macht: Zum Eſſen, zum Schlafen, zum Wachen wurden ſie wie das Parterre eines Dorf¬ kommoͤdianten zuſammen getrommelt. Im Marſch¬ ſchritt und hinter dem Kommandowort erſtieg dieſe Miliz den Speiſeſaal als ihren Wall und nahm von der Feſtung nichts weg als die Portion auf ei¬ nen halben Tag; der Kommandozuck riß ſie von ihren Stuͤhlen auf und lenkte ſie zur Zitadell wie¬ der hinaus. Man konnte zu Nachts die Schritte eines einzigen Kadetten zaͤhlen und man wuſte die aller uͤbrigen, weil der kommandirende Luftſtoß dieſe Raͤder auf einmal trieb. Eben deswegen, ich meine weil der Dank vor dem Eſſen ordentlich kommandiert wurde, hatte das ganze Korps die gleiche Andacht, keine Sekunde ſprach einer laͤn¬ ger mit[Gott] als der andre. Ich weiß nicht, in welchem Scheerauiſchen Regimente der Kerl ſtand, der einmal bei der Kirchenparade, wo der Officier die Seelen einmal zu Gott kommandierte, die er297 ſonſt zum Teufel gehen hieß, ſo ſehr wider[ver¬ nuͤnftige] Subordination verſtieß, daß er wenig¬ ſtens vier Minuten laͤnger dem Himmel auf ſeinem frommen Knie dankte als der Fluͤgelmann ich ſag 'es deswegen, weil ich nachher, als der Be¬ ter daruͤber Fuchtel bekam, oͤffentlich die Frage that, ob nicht eben auf dieſe Weiſe den Kompag¬ nien die Logik beizubringen waͤre, die ihnen ſo noͤ¬ thig iſt wie die Schnurbaͤrte und nuͤtzlicher, da man dieſe, aber nicht jene zu wichſen braucht. Koͤnnte man nicht kommandieren und das Woͤrt¬ gen macht weglaſſen: macht den Vorderſatz macht den Hinterſatz macht den Schluß. So waͤr' ich nicht zu tadeln, wenn ich mir eine Kom¬ pagnie kaufte und ſie die drei Theile der Buße et¬ wann ſo durchmachen ließe: bereuet glaubt beſſert naͤmlich euch, oder ſonſt ſoll das liebe ... in euch fahren, wie juͤngere Officiere beiſetzen.

Der oͤſterreichſche Soldat hatte bis Anno 1756 zwei und ſiebzig Handgriffe zu lernen, nicht um damit den Feind zu ſchlagen ſondern den Satan.

In dieſer Stimmung, worin Guſtav gegen Krieg und ſeine Kameraden war, ſchrieb er mir einen Brief, deſſen Anfang hier wegbleibt, weil298 unſer Briefſteller dabei allemal ſo kalt wie beim Empfang zu ſeyn pflegte.

Das Exerziren und Studiren ma¬ chen mich zu einem ganz andern Menſchen, aber zu keinem gluͤcklichern. Ich aͤrgere mich oft ſelbſt uͤber meine Weichheit, uͤber meine Augen, aus denen ich die Spuren in Geheim wegzuwaſchen ſuche, und uͤber mein Herz, das bei Beleidigun¬ gen, die ich jetzt ſehr haͤufig habe, nicht auf¬ ſchwillt ſondern ſich zuſammenpreßt und in das Au¬ ge ergießet. Meine Stubenkameraden, unter de¬ nen ich nichts hoͤre als Rappiere und Fluͤche, la¬ chen mich uͤber alles aus. Sogar dieſes Blatt ſchreib 'ich nicht unter ihnen, ſondern unter freiem Himmel im ſtillen Lande*)So hieß der engliſche Garten um Marienhof, den die Ge¬ mahlin des verſtorbnen Fürſten mit einem romantiſchen, gefühlvollen, uͤber Kunſtregeln hinausreichenden Geiſte angelegt. Der Kummer gab ihr den Namen und die An¬ lage des ſtillen Landes ein. Jetzt iſt ihrer ſterbenden Seele ſelbſt dieſes Land zu laut und ſie lebt verſchloſſen. Diejeni¬ gen Leſer, die nicht da waren, will ich mir durch eine Beſchreibung des Gartens verbinden. zu den Fuͤßen und auf dem Poſtement einer Blumengoͤttin, von der299 Arm und Blumenkorb abgebrochen ſind. Der gute Hr. von Oefel iſt unterdeſſen im alten Schloſſe bei der Reſidentin.

Sobald ich nicht arbeite, druͤckt jedes Zimmer, jedes Haus, jedes Geſicht auf mich herein Und doch, wenn ichs wieder thue zwar wenn truͤbes Wetter iſt wie vorige Woche, mach 'ich mein ma¬ thematiſches Reißzeug ſo gern wie ein Schmuckkaͤſt¬ chen auf; aber wenn ein Flammenmorgen unter dem Geſchrei aller Voͤgel, ſogar der gefangnen, von den Daͤchern in unſere Gaſſen niederſinkt, wenn der Poſtillon mich mit ſeinem Horn erinnert, daß er aus den eckigen, ſpitzigen, verwitternden, unorganiſch zuſammengeleimten Schutthaufen der getoͤdteten Natur, die eine Stadt heiſſen, jetzt hinauskomme in das pulſirende, draͤngende, knoſ¬ pende Gewuͤhl der nicht ermordeten Natur, wo ei¬ ne Wurzel die andre umklammert, wo alles mit und in einander waͤchſet und alle kleinere Leben ſich zu Einem großen unendlichen Leben in einander ſchlingen: ſo tritt jeder Blutstropfen meines Her¬ zens zuruͤck vor den Pechkraͤnzen, Trancheekatzen und vor den Wiſchkolben, womit die Artillerie un¬ ſere blauen Morgenſtunden ausſtopfet dennoch300 vergeſſ' ich die gruͤnende Natur und die Kontrami¬ nen, womit wir ſie in die Luft aufſchleudern ler¬ nen und ſehe bloß die langen Floͤre, die an den Stangen aus dem Hauſe eines Faͤrbers gegenuͤber in die Hoͤhe fliegen, ſchon wie Naͤchte uͤber den Geſichtern armer Muͤtter haͤngen, damit der Thau des Jammers im Dunkeln hinter den Leichen falle, die wir am Morgen machen lernen. Ach! ſeitdem es keinen Tod mehr fuͤr, ſondern nur wi¬ der das Vaterland giebt, ſeitdem ich, wenn ich mein Leben preiß gebe, keines errette ſondern nur eines binde, ſeitdem muß ich wuͤnſchen, daß man mir, wenn mich der Krieg einmal ins Toͤdten hin¬ eintrommelt, vorher die Augen mit Pulver blind¬ brenne, damit ich in die Bruſt nicht ſteche, die ich ſehe, und die ſchoͤne Geſtalt nicht bedaure, die ich zerſchnitze und nur ſterbe aber nicht toͤdte .... O da ich noch aus Karthauſen, noch aus Ihrem Studierzimmer in die Welt hinausſah, da breite¬ te ſie ſich vor mir ſchoͤner und groͤßer aus mit wo¬ genden Waͤldern und flammenden Seen und tau¬ ſendfach kolorirten Auen jetzt ſteh 'ich daran und ſehe das kahle Nadelholz mit kothigen Wurzeln, den ſchwarzen Teich voll Sumpf und die einmaͤh¬301 tige Wieſe voll gelbes Gras und Abzugsgraͤ¬ ben.

Vielleicht koͤnnt 'ich aber doch meine Traͤume, den Menſchen zu nutzen, mehr realiſiren, wenn ich eine andre Laufbahn gienge und ſtatt des Schlachtfeldes den Seſſionstiſch waͤhlen und den Zweck der Aufopferung veredeln duͤrfte*)Ich kann nichts dafür, daß mein Held ſo dumm iſt und zu nützen hoft. Ich bins nicht, ſondern ich werde unten zeigen, daß das Mediziniren eines kakochymiſchen Staats¬ körpers (z. B. beſſere Polizei - Schulanſtalten, einzelne De¬ krete ꝛc. ) dem Mediziniren des Nerven-Schwächlings gleicht, der gegen die Symptome, und nicht gegen die Krankheitsmaterie arbeitet und ſein Uebel bald wegſchwitzen, bald wegklyſtiren, weglaxiren, wegtrepaniren will. .... Die rothe Sonne ſteht vor meiner Feder und be¬ wirft mein Papier mit laufenden Schatten: o du wirkſt ſtehend, Himmelsdiamant, und machſt licht wie der Blitz ohne ſeinen moͤrderiſchen Knall! Die ganze Natur iſt ſtumm wenn ſie erſchafft, und laut, wenn ſie zerreiſſet. Große, im Abendfeuer ſtehen¬ de Natur! der Menſch ſollte nur deine Stille nach¬ ahmen und bloß dein ſchwaches Kind ſeyn, das deine Wohlthaten dem Armen hinaustraͤgt!

302

Wenn Sie jetzt von Auenthal zu den im Son¬ nengolde wogenden Fenſtern unſers Schloſſes auf¬ ſehen: ſo ſchauet jetzt meine Seele auch hinuͤber, aber mit einem Seufzer mehr. ꝛc.

Die Offiziere ſehen, daß Guſtav keiner werden will; aber er hat ſeinen ganzen Vater wider ſich, der bloß den ſtuͤrmenden Krieger liebt und ruhigere Geſchaͤftsmaͤnner eben ſo verachtet, wie dieſe den noch ruhigern geſchaͤftsloſen Gelehrten verachten.

303

Zwey u. zwanzigſter od. XVIIII. Trinitatis-Sekt.

Der ächte Kriminaliſt meine Gerichtshalterei ein Ge¬ burtstag und eine Korn-Defraudazion.

Als ich am Donnerſtag darauf meinen Guſtav be¬ ſuchen und ein wenig belehren will: hat ihn Hr. von Oefel aus einer Urſache, die bloß ein ganzer Sektor verwickeln kann, mit einigen Huſaren an die Graͤnze verſchickt, wo ſie einen Frucht-Kordon formirten, der kein Korn hinaus und keinen Pfef¬ fer herein ließ. Da die meiſten Bewegungen des Volks ſich mit und von periſtaltiſchen anfan¬ gen: ſo wolltens manche feine Leute gerochen ha¬ ben, der Landesvater thaͤt 'es, damit ſeine Lands¬ kinder etwas zu brocken und zu beiſſen haͤtten.

Ich bekam aber am Ende die groͤßte Teufelei damit und man ſoll es jetzt hoͤren, aber nur von vornen an.

Naͤmlich ſo: das große Rittergut Mauſſen¬ bach hat wie bekannt die Obergerichtsbarkeit, ob gleich ich und der Rittergutsbeſitzer, Hr. Kommer¬ zienagent von Roͤper, daruͤber aus entgegengeſetz¬304 ten Gruͤnden aͤrgerlich ſind. Ich bin aͤrgerlich, weil ich das Leben, wenigſtens die Ehre von einigen hundert Menſchen nicht in den Haͤnden eines gan¬ zen roͤmiſchen Volks ſondern eines Amtmanns ꝛc. ſehe der Erb - Lehn - und Gerichtsherr iſt aͤrger¬ lich, weil der Blutbann nichts eintraͤgt, da es mehr koſtet das Richtſchwerdt ſchleifen zu laſſen als alles abwirft, was damit in den Beutel her¬ einzumaͤhen iſt. Ehebruch iſt fuͤr eine malefiziſche Obrigkeit noch das einzige! ſagt der Erbherr. Ganz das Gegentheil ſagte ſein Gerichtshalter Kolb: hohe Frais war ſeine hohe Oper, peinliche Akten waren ihm Klopſtocks Geſaͤnge und ein Scherge ſein Oreſt und Sancho Panſa er haͤtte die Welt in zwei Reihen zertheilet, in die aufhaͤngende und in die aufgehangne Reihe und er waͤre Kriminaliſt ge¬ blieben ein unraſirter Malefikant im Karzer war ihm ein ſineſiſches Goldfiſchchen in einer glaͤſernen Bowle, beide wurden Gaͤſten produzirt freie Spitzbuben-Puͤrſch nur in einem Paar Welttheilen waͤre ſeine Sache und Luſt mich haßte er auf den Tod, weil ich ihm einmal einen vom Tode ins Zuchthaus wegdefendiret hatte er beſaß die Mortalitaͤtsliſten aller Juſtifizirten und eine Matri¬kul305kul oder ein genealogiſches Saatregiſter aller Raͤu¬ ber (Ehrenraͤuber ausgenommen), die in allen zehn Kreiſen zu erndten ſtanden und wahre Spitzbuben waren fuͤr ihn was fuͤr Fedderſen gutgeſinnte Men¬ ſchen ſind. Kurz er war ein aͤchter Kriminaliſt, ganz wie ihn die alten Deutſchen oder neuen eng¬ liſchen Geſetze haben wollen: denn nach beiden ſoll jeder bloß von ſeines Gleichen gerichtet und ver¬ dammt werden; Kolben aber mußte jeder Spitz¬ bube und Moͤrder fuͤr einen eben ſo großen halten und Inkulpat konnte mithin ſagen, daß er die Rechtswohlthat genoͤſſe, von einem ſeines Gleichen gerichtet zu werden. Ich kenne nicht viele ebenbuͤr¬ tige Malefizraͤthe und Fakultiſten, auf die dieſes anzuwenden waͤre.

Das verdroß Roͤpern ungemein: denn ſein Ma¬ lefizrath zog ihm alle Monate einen koſtenſplitteri¬ gen Fraisfall zu; und hohen Frais-Gerichtsherrn iſt doch nicht ſo wohl mit der Einfangung als Be¬ erbung der Inquiſiten gedient. Kurz als der Amt¬ mann eine neue Galgenrekruten-Aushebung im Mauſſenbacher Walde vorzunehmen gedachte wor¬ an vielleicht Robiſch ſchuld war: ſo ſtellte Hr. v. Roͤper dieſe Diebe-Preßgaͤnge dadurch ab,U306daß er ſeinem Malefizrath ſo viel Grobheiten an¬ that als dazu vonnoͤthen waren, daß der Amtmann nichts thun konnte als abdanken.

Er that doch noch etwas, der Schelm, er malte meine Wenigkeit ab: da er mein Defenſo¬ rat nicht vergeſſen konnte, ſo verwaltete er das Fiſkalat und ſagte zu Roͤpern, ich taugte nichts, ich waͤre ein Menſch, der ihn und mehrere Edel¬ leute haßte und der den feinſten Hofton haͤtte, Paul naͤhme jeden Prozeß von Unterthanen gegen ihre Lehnherrn an und haͤtte ſelber einmal gegen den H. Kommerzienagenten die Feder gefuͤhret. Du elender Kolb! warum ſollen Einbeine das nicht thun? Meine wichtigſten Prozeſſe ſind noch heute keine andern. Und warum ſoll nicht gar ein Vorſchlag wirklich werden, den ich ſogleich thun will? der daß man nach dem Muſter der Ar¬ men-Advokaten Unterthanen-Advokaten einfuͤhrt, die bloß gegen Patrimonialgerichte wie die Mal¬ theſerritter gegen Unglaͤubige fechten.

Roͤper erzaͤhlte mirs aus ſeinem eignen Mun¬ de: denn kurz er inſtallirte mich doch zum Mauſ¬ ſenbacher Amtmann, die Advozir - und Leſewelt erſtaune wie ſie will. Die Kolbiſchen Invektiven307 waren eben meine Wendeltreppe zu dieſem Gericht¬ ſtuhl: mein Gerichtsprinzipal muß zu ſeinen ewi¬ gen Kaͤmpfen mit allen Inſtanzen und Edelleuten einen juriſtiſchen Taureador, einen hitzigen Feder¬ meſſer-Harpunirer haben; Kolb ſagte aber, ich waͤre einer. Zweitens praͤſentirte mir Hr. v. Roͤ¬ per den Gerichtsſtuhl, weil ich weder ritt (des kur¬ zen Beines wegen) noch fuhr (des ſeekranken Ma¬ gens wegen) und mithin zur Juſtitzpflege ohne den Pferde-Nachtrab, den ſein Stall bisher zu appa¬ nagiren hatte, gegangen kam. Fuͤr Rezenſenten und deren Redakteurs wird der Wink kein Schade ſeyn, daß ſie bedenken moͤgen, daß ſie von nun an Papier nehmen und einen Mann rezenſiren, der nicht etwan wie ſie Nichts iſt, ſondern einen der ſo gut richtet wie ſie, aber uͤber ein reelleres Le¬ ben als das litterariſche und der ſolche Rezenſenten ſelber henken kann, wenn ſie in ſeinem Gerichts¬ ſprengel etwas anders ſtehlen als Ehre.

Jetzt koͤmmt die Hauptſache. Ich war zum er¬ ſtenmal als Praͤtor in Mauſſenbach und trat mei¬ ne Amtmannſchaft an. Es gieng alles recht gut, ich und Unterthanen wurden einander praͤſentiret und ich hatte an dieſem Tage uͤber tauſend HaͤndeU 2308in meiner: freilich muß ich noch manches ſaure Geſicht wegſcheuern, das ſie mir mit machen, weil ſie es meinem weniggeliebten Prinzipal machen: denn Volk und Adel lagen nicht bloß in Rom, ſon¬ dern auch in heutigen Doͤrfern ſtets einander in Haaren und Zoͤpfen und fechten uͤber Schuldenſa¬ chen. Auſſer meiner Gerichtshalterei feierte heute noch etwas ſeinen Geburtstag der Verleiher derſelben, Roͤper; wir aßen alſo recht gut zweier¬ lei Dingen zu Ehren, erſtlich weil das von ihm diſſolvirte Parlament in mir heute wieder zuſam¬ menberufen und zweitens weil der Berufer vor vie¬ len Jahren geboren worden. Ich kann ſagen, mir war wohl dabei trotz meiner Verſchiedenheit vom Wiedergebornen von dir iſt gar nicht die Rede, Louiſe und Gerichtsprinzipalin! welches lahme Herz ſchluͤge nicht mit deinem in ſympathetiſcher Harmonie zuſammen, wenn es dein Auge uͤber das Vergnuͤgen deines Mannes und von Wuͤnſchen fuͤr ſein Leben glaͤnzen ſieht ſondern von deinem Eheherrn ſelbſt red 'ich: er ſei nun wie er will, mir iſts unmoͤglich, von einem Manne, mit dem ich unter Einer Stubendecke ſitze, das Schlimme zu denken das ich bisher von ihm gehoͤrt oder auch309 geglaubt und es iſt warlich nicht einerlei ob uns ein Tiſch oder eine Chauſſee trennt wenn du ei¬ nen von Hoͤrenſagen haſſeſt: ſo gehe in ſein Haus und ſehe zu ob du, wenn du in ſeinen Geſpraͤchen ſo manchen ſchoͤnen Zug, in ſeinem Betragen ge¬ gen das Kind oder Weib das er liebt, ſo manches Zeichen der Liebe aufgefunden haſt, ob du da mit dem hereingebrachten Haſſe wieder hinausgeheſt. War gegenwaͤrtiger Verfaſſer in ſeinem Leben ge¬ gen etwas eingenommen, ſo warens die Großen; ſeitdem er aber in ſeinen Klavierſtunden zu Schee¬ rau Gelegenheit gehabt, mit manchem Großen unter einem Deckengemaͤlde zu ſtehen, ſeitdem er ſelbſt unter dieſen Rieſen mit herumſpringt: ſo ſieht er, daß ein Miniſter, der ein Volk druͤckt, ſeine Kinder lieben und daß der Menſchenfeind am Seſſionstiſch, ein Menſchenfreund am Naͤhpult ſei¬ nes Weibes ſeyn kann. So haben die Alpenſpitzen in der Ferne ein kahles ſteiles Anſehen, in der Naͤhe aber Platz und gute Kraͤuter genug.

Ich geſteh 'es alſo, da nach altvaͤteriſcher Sit¬ te (an Geburtstagen bei Hofe ſpeiſt' ich dergleichen nie) eine Biſcuit-Torte aufgetragen wurde, auf der das Vivat und der Name Roͤper mit Typen310 von Mandeln aufgeſaͤet zu leſen und zu eſſen war da ferner der Inhaber des Namens zwar ſagte: ſolche dumme Streiche machſt du nun , aber ſo¬ gleich das Auge voll bekam und beifuͤgte: ſchneid 'unſern Leuten drauſſen auch einen Biſſen ich geſtehe ſagt' ich, ich wuͤnſchte alsdann manche Sa¬ ge von ihm aus meinem Gedaͤchtniß, die ſich mit dem lapidariſchen Mandelſtyl nicht wohl vertrug und ich haͤtte beſonders etwas darum gegeben, die Krebſe am allerliebſten, wenn er, weniger um das Steingut derſelben beſorgt, ſeine Louiſe nicht angebrummt haͤtte, die in der Freude einige Bei¬ traͤge zu ſeiner Krebs-Daktyliothek verſchuͤttet hat¬ te. Ich will nur aufrichtig ſeyn: der Henker haͤtte mich holen muͤſſen, wenn ich hart wie ein Krebsauge haͤtte bleiben wollen, da du, meine Muſik-Elevin, geliebte Beata! die du aus der Hofluft*)Der Leſer muß ſich erinnern, daß ſie von der[Reſiden¬ tinn] von Bouſe blos zur Feyer des väterlichen Geburts¬ tags hergereiſet war. wie andre Blumen aus der mephitiſchen nichts einzogeſt als zaͤrtere Reize und hoͤhern Schmelz, da du, holde Schuͤlerin, mit dem weiblichen Ge¬ fuͤhl des vaͤterlichen Anſehens hingiengeſt und dem Vater, mit dem Munde auf ſeiner Hand die auf¬311 richtigſten Wuͤnſche brachteſt und da du erſt am Halſe deiner Mutter, die euch beide mit Blicken der Liebe uͤberſchuͤttete, dein Herz in ein naͤheres uͤbergoſſeſt ....

Erſt jetzt koͤmmt die verſprochne Hauptſache naͤmlich mein Guſtav. Ich wollt ', er waͤr' ausge¬ blieben. Er ritt vor zwei Huſaren voraus, die ei¬ nen Kornwagen eſkortirten. Der Wagen wollte ſich uͤber der Graͤnze das Fuͤrſtenthum Scheerau ſtoͤßet wie der menſchliche Verſtand uͤberall auf Graͤn¬ zen abladen; die zwei Huſaren wollten ſich be¬ ſtechen laſſen, es war alles gut: aber Guſtav war's nicht; der Kondukteur, der Pachter hatte die Kon¬ trebande fuͤr Roͤperiſches Gut ausgegeben und von Roͤper ſtraͤubte ſich der ganze Guſtav vom Va¬ ter her zuruͤck; zweitens lebte er jetzt mit der Tu¬ gend im Brautſtand, und in den Flitterwochen, wo man gute Werke und moraliſche hors d'oeuvre fuͤr einerlei nimmt und wo zugleich der Styl und die Tugend zuviel Feuer hat. Kurz der Pachter und Wagen mußten zuruͤck; und der Kadet war ins Geburtstagszimmer getreten, um es mit uͤber¬ wallendem Haſſe gegen Roͤperiſche Betruͤgereien an¬ zuſagen. Aber konnt 'ers, als er mich nach vie¬312 len Wochen und meine Elevin zum erſtenmale ſah und unter die froͤhlich geroͤtheten Geſichter trat, aus denen er auf einmal Blut und Freude jagen wollte? Er konnte nichts als mich bei Seite ziehen und mirs entdecken; aber das Belauſchen und das anfahrende corpus delicti entdeckten dem Kommerzienagenten das naͤmliche und brachten und erhielten ihn in ſeiner ſchimpfenden Wuth gegen den Kadetten den die Sache, ſagt' er, nichts an¬ gienge, ſo lange bis ihm ein Medikament gegen den ganzen Handel beifiel: ich mußte mit Roͤper vor die Hausthuͤre hinaus und er ſagte mir, ich wuͤrde als ſein Amtmann leicht einſehen, daß man das Getreide fuͤr das Getreide ſeiner Paͤchter ausge¬ ben muͤßte, weil der Fuͤrſt mit einem Beamten kein Schonen haͤtte. Das letztere ſah ich als ſein neuer Amtmann ein, daß der geizige Arſenikkoͤnig, der den Aemter-Handel, Juſtitz-Unfug ꝛc. duldete, doch auf Ungehorſame gegen ihn, wie ein giftiger Wind zufaͤhret; aber das ſah ich nicht ein, daß eine zweite Betruͤgerei der Verhack und Advokat der erſten ſeyn muͤſſe. Zu unſerem Gebalge ſtieß endlich der Gegenſtand deſſelben, der Pachter ſelbſt, der mit zerruͤttetem Geſicht und mit der ſtottern¬313 den Bitte zulief, Ihro Gnaden ſollten es nicht ungnaͤdig vermerken, daß er in der Angſt ſein Korn fuͤr Ihro Gnaden Ihres ausgegeben haͤtte. Nun war der Knoten auseinder: mein Prinzipal hatte bisher bloß ſeine gluͤcklich uͤber die Graͤnze ſpedirte Konterbande mit der ertappten fremden ver¬ mengt. Dem Pachter hielt er als geſunder Mora¬ liſt die Bosheit vor, auf einmal ihn, das Land und den Fuͤrſten[zu betruͤgen] und er wuͤnſchte, er braͤche jetzt das Beſtallungsſchreiben auf, er wuͤr¬ de ihn heute ausliefern. Zu meinem Guſtav eilt 'er hinein und warf ihm mit der Hitze der verkannten Unſchuld ſo viel Grobheiten entgegen als man von ei¬ nem beleidigten Millionaͤr erwarten kann, da Beſi¬ tzer des Goldes, wie Saiten von Gold am aller¬ groͤbſten klingen. Mich dauerte mein lieber Gu¬ ſtav mit ſeiner Tugend-Plethora; ihn dauerte das Ungluͤck des armen Pachters; und Beaten dauerte unſere allſeitige Beſchaͤmung. Mit reiſſenden Gefuͤh¬ len floh Guſtav aus einem ſtummen Zimmer, wo er vom weichſten Herzen,[das] noch unter einem ſchoͤ¬ nen Geſicht gezittert, von Beatens ihrem die Blu¬ men kindlicher Freude weggebrochen und herunter geſchlagen hatte.

314

Im Grund gieng jetzt der Henker erſt los naͤmlich das Roͤperiſche Gebelle gegen das Falken¬ bergiſche Haus und deſſen verdammte Verſchwen¬ dung und gegen den Kadetten. Beata ſchwieg; aber ich nicht: ich waͤre ein Schelm geweſen (ein groͤßerer mein 'ich), wenn ich dem Rittmeiſter die Verſchwendung in dem Sinne, worins der Geg¬ ner nahm, haͤtte beimeſſen laſſen ich waͤre auch dumm (oder duͤmmer) geweſen, wenn ich nicht in meinem erſten Amtmanns-Aktus meinen Prinzipal an Widerſtand zu gewoͤhnen getrachtet haͤtte, ſon¬ dern erſt im zehnten, zwanzigſten. Aber das Oel, das ich herumflieſſen ließ, um ſeine Wellen zu glaͤtten, tropfte ſtatt ins Waſſer ins Feuer. Es half uns beide wenig, daß uns meine Elevin mit den ſilberhaltigſten Paſſagen aus Ben¬ da's Romeo anſpielte der alte Spas war nim¬ mer zuruͤck zu bringen wir zuckten und lenkten vergeblich an unſern Geſichtern, Roͤper ſah wie ein indianiſcher Hahn aus und ich wie ein euro¬ paͤiſcher ich hatte vorgehabt, gegen Abend nach Monds Aufgang etwas ſentimentaliſch zu ſeyn in Beiſeyn von Beaten, da ſie mir ohne¬ hin der Hof entriß; ich weiß gewiß, ich haͤtte315 hinlaͤnglich empfunden und gefuͤhlt; ich wuͤrde un¬ ter einem Schatten oder Baum mein Herz her¬ vorgenommen und geſagt haben, prenés; ja ich ſchien ſogar heute Beaten mir weit naͤher heran¬ zuziehen als ſonſt, welches bei allen Maͤdchen ge¬ lingt, mit deren Eltern man die Geſchaͤfte theilt, Das war jetzt ſaͤmmtlich zum Teufel; ich mußte kalt und zaͤhe davon gehen wie ein Kam¬ mergerichtsbote und empfand ſchlecht. War der neue Amtmann verdruͤßlich, den man in ſein Amt hineingeaͤrgert hatte, ſo war's ſein Prinzipal noch mehr, der in ſein Jahr hineingezankt wurde. So hinkt' ich davon und ſagte unter dem ganzen Weg zu mir: ſo und mit dem Geſicht und Ausſe¬ hen zieheſt du alſo, gluͤcklicher Paul, von deiner Mauſſenbachiſchen Gerichtshalterei heim, von der du ſchon in deinen Sektoren voraus geplaudert Du brauchſt meinetwegen nicht aufzuge¬ hen, Mond, ich brauche dein Puder-Geſicht[ ] heute nicht der einzige verdammte Korn-Kar¬[ ] ren! und der Fuͤrſt! der Filz dazu! und auch die Juͤnglingſtugend! ich wollt 'daß ihr alle .... Waͤr' ich aber nur ſo geſcheut geweſen und haͤtte gleich Vormittags gefuͤhlt und haͤtte vor dem316 Eſſen etwas von meinem Herzen vorgezeigt, nur ein Ohr, nur eine Faſer.

Ei! Herr Amtmann! (fuhr mir mein Wuz entgegen) wieder da? Hat's huͤbſche Ehebruͤche ge¬ geben, Hurenfaͤlle, Raufereien, Injurien?

Bloß einige Injurien, ſagt ich.

317

Drey und zwanzigſter oder XX. Trinitatis Sekt.

Anderer Zank das ſtille Land Beatens Brief die Aus¬ ſöhnung das Portrait Guidos.

Noch am heutigen Sonntag hab 'ichs nicht her¬ aus warum Guſtav fuͤnf Tage ſpaͤter in Scheerau eintraf als er konnte: er wich ſogar meinen Er¬ kundigungen aͤngſtlicher als liſtig aus. Oefel ließ ſich alles rapportiren und machte ein Paar Sekto¬ res in ſeinem Roman daraus, den ich und der Leſer hoffentlich noch zu ſehen bekommen: ich woll¬ te,[ſeiner] kaͤme eher als meiner heraus, ſo koͤnnt' ich den Leſer darauf verweiſen oder vielleicht einige Anekdoten daraus nehmen. Guſtav ſchien ein gei¬ ſtiges Wundfieber zu haben. Er trug ſein vom bisherigen Bluten erkaltetes Herz zu Amandus, um es an des Freundes heißer Bruſt wieder auszuwaͤr¬ men und anzubruͤten und um die Achtung gegen ſich ſelbſt, die er nicht aus der erſten Hand be¬ kommen konnte, aus der zweiten zu erhalten. Und dort erhielt er ſie ſtets aus einem ſonder¬ baren Grunde: in ſeinem Karakter war ein Zug,318 der ihn, wenn er unter einer Bruͤdergemeinde waͤre, laͤngſt als Wildenbekehrer aus ihr nach merika hinabgerollet haͤtte: er predigte gern. Ich kann es anders ſagen: ſeine quellende Seele muſte entweder ſtroͤmen oder ſtocken, aber tropfen konn¬ te ſie nicht und wenn ſich ihr denn ein freund¬ ſchaftliches Ohr aufthat: ſo regnete ſie nieder im Enthuſiaſmus uͤber Tugend, Natur und Zukunft. Dann wehte eine heitere friſche Luft durch ſeine Ideenwelt die niedergeſtuͤrzten Ergießungen deck¬ ten den ſchoͤnen lichten tiefblauen Himmel ſeines Innern auf und Amandus ſtand unter dem ofnen Himmel entzuͤckt. Dieſer, dem die Superioritaͤt ſeines herzlich Geliebten ein Poſtement war, das ihn nicht belaſtete ſondern emporhob, genoß im fremden Werth ſeinen eignen; ja in ſeinem min¬ der ausgelichteten Kopf entſtand noch groͤßere Waͤrme als im redenden war, wie etwann dun¬ kles Waſſer ſich unter der Sonne ſtaͤrker als hel¬ les erwaͤrmt. Guſtav erzaͤhlte ihm die Avantuͤre und ſprach mit ihm ſo lange uͤber ihre Moralitaͤt bis der Schmerz daruͤber weggeſprochen war: das iſt das freundſchaftliche Beſprechen des innern Schadenfeuers. Bloß Liebe und ein wenig Schwaͤ¬319 che wars, daß Amandus mit groͤßerer Theilnahme eine heraus geweinte als eine hervorgelachte Thraͤ¬ ne aus dem geliebten fremden Auge wiſchte: er kam deswegen, um ſich das Intereſſe an fremden Kummer zu verlaͤngern, noch einmal auf die Sa¬ che und that die zufaͤllige Frage, wo mein Held die uͤbrigen fuͤnf Tage war. Guſtav uͤberhoͤrt 'es aͤngſtlich und roth jener drang heftiger an dieſer umfaßte ihn noch heftiger und ſagte: fra¬ ge mich nicht, du quaͤleſt dich nur Amandus, deſſen hyſteriſches Gefuͤhl nicht ſo fein als konvulſi¬ viſch war, feuerte ſich erſt damit an Guſtavs Herz war innigſt bewegt und daraus kamen die Worte: o! Lieber, du kannſt es nie erfahren, von mir nie Amandus war wie alle Schwache leicht zur Eiferſucht in Freundſchaft und Liebe ge¬ neigt und ſtellte ſich beleidigt ans Fenſter Gu¬ ſtav, heute nachgiebiger und waͤrmer durch das Bewuſtſeyn ſeiner neueſten Vergehung in der Korn - Anklage, gieng hin zu ihm und ſagte mit naſſen Augen:[] haͤtt, ich nur keinen Eid gethan,[] nichts zu ſagen Aber an Amandus Seele waren nicht alle Stellen mit jenem feinen Ehrgefuͤhl bekleidet, an dem Wort - und Eidbruch freſſender Hoͤllenſtein320 iſt; ferner ſetzten in ihm wie in allen Schwachen die Bewegungen ſeiner Seele! auch wenn die Ur¬ ſache dazu gehoben war, wie die Wellen des Meers, wenn auf den langen Wind ein entgegen¬ blaſender folgt, noch die alte Richtung fort. Er ſah alſo weiter durchs Fenſter und wollte vergeben, muſt' aber die mechaniſch aufſpringen¬ den Wellen allmaͤhlig zuſammenfallen laſſen. Haͤt¬ te Guſtav ſich weniger um ſeine Vergebung bewor¬ ben: ſo haͤtt 'er ſie fruͤher bekommen; beide ſchwiegen und blieben; Amandus! rief er end¬ lich im zaͤrtlichſten Ton. Keine Antwort und kein Umkehren; auf einmal zog der einſame Gequaͤlte das Portrait des verlohrnen und aͤhnlichen Guido, das in ſeinen ſchoͤnen Kindheitstagen uͤber ſeine Bruſt gehangen worden und das er ihm heute zu zeigen willens geweſen, vom Schmerze uͤbermannt hervor und ſagte mit zerſchmelzendem Herzen: o du gemahlter Freund, du geliebtes Farben-Nichts, du traͤgſt unter deiner gemahlten Bruſt kein Herz, du kennſt mich nicht, du vergiltſt mir nichts, und doch lieb' ich dich ſo ſehr. Und meinem Amandus waͤr 'ich nicht treu? Er ſah ploͤtz¬ lich im Glaſe dieſes Portraits ſein eignes mit ſei¬nem321nen Trauerzuͤgen nachgeſpiegelt: o blicke her (ſag¬ te er in einem andern Tone;) ich ſoll dieſem ge¬ mahlten Fremden ſo aͤhnlich ſehen, ſein Geſicht laͤchelt in Einem fort, ſchau aber in meines! und er richtete es auf und weit ofne aber in Thraͤ¬ nen ſchwimmende Augen und zuckende Lippen wa¬ ren darauf. Die Fluth der Liebe nahm bei¬ de in feſter Umfaſſung hinweg und hob ſie und als Amandus erſt darnach ſeine halbeiferſuͤchtige Frage: er habe geglaubt, das Portrait ſei Gu¬ ſtavs mit Nein und mit der ganzen Geſchichte be¬ antwortet erhielt; wars ohne allen Schaden: denn die Bewegungen ſeiner zogen ſchon wieder im Bet¬ te der Freundſchaft hin.

Nach ſolchen Erweiterungen der Seele bietet eine Stube keine angemeſſene Gegenſtaͤnde an; ſie ſuchten ſie alſo unter dem Deckengemaͤhlde, von dem nicht ein gemahlter ſondern ein lebendiger Himmel, nicht Farbenkoͤrner ſondern brennende und verkohlte Welten niederhaͤngen und giengen hinaus ins ſtille Land, das keine halbe Stunde von Scheerau liegt. Ach ſie haͤttens nicht thun ſollen, wenn ſie ausgeſoͤhnet bleiben wolten!

X322

Willſt du hier beſchrieben ſeyn, du ſtilles Land, uͤber das jezt meine Phantaſie ſo hoch vom Boden und mit ſolchem Sehnen hinuͤber fliegt oder du ſtille Seele, die du es noch in der Deinigen be¬ wachſt und nur ein irrdiſches Bild davon auf die Erde geworfen haſt? keines von beiden kann ich; aber den Weg will ich nachzeichnen, den unſre Freunde dadurch nahmen und vorher theil ich noch etwas mit, das den ſonderbaren Ausgang ih¬ res Spatziergangs gebar.

Ich wuſte ohnehin nicht recht, wohin ich den Brief thun ſollte,[den] Beata ſogleich nach meiner und ihrer Ruͤckkehr von Mauſſenbach an meine Schweſter ſchrieb. Sie war in den wenigen Tagen, die ſie mit meiner Philippine bei der Reſidentin zubrachte; ihre Freundin geworden. Die Freund¬ ſchaft der Maͤdgen beſteht oft darin, daß ſie ein¬ ander die Haͤnde halten oder einerlei Kleiderfar¬ ben tragen; aber dieſe hatten lieber einerlei freundſchaftliche Geſinnungen: es war ein Gluͤck fuͤr meine Schweſter, daß jene keine Gelegenheit hatte, ihrem ſie halb beſtreiffenden Wiederſchein von Koketterie zu begegnen; denn Maͤdgen erra¬ then nichts leichter als Koketterie und Eitelkeit, zumal an ihrem Geſchlecht.

323

Liebe Philippine,

Ich habe bisher immer gezoͤgert, um Ihnen einen recht muntern Brief zu ſchreiben Aber Philippine, hier mach 'ich keinen. Mein Herz liegt in meiner Bruſt wie in einer Eisgrube und zittert den ganzen Tag; und doch waren Sie hier ſo freudig und nirgends betruͤbt als bei unſerem Abſchiede, der faſt ſo lange waͤhrte wie unſer Beiſammenſein: ich bin wohl ſelber Schuld? Ich glaub' es manchmal, wenn ich die lachenden Ge¬ ſichter um die Reſidentin ſehe oder wenn ſie ſelber ſpricht und ich mir in ihrer Stelle denke, was ich ihr mit meinem Schweigen und Reden ſcheinen muß. Ich darf nicht mehr an die Hofnungen mei¬ ner Einſamkeit denken, ſo ſehr werd 'ich von den Vorzuͤgen fremder Geſellſchaft beſchaͤmt Und wenn mich eine Rolle, die fuͤr mich zu groß iſt, freilich niederdruͤckt: ſo weiß ich mit nichts mich aufzurichten als daß ich ins ſtille Land wegſchleiche da hab' ich ſuͤßere Minuten und mir gehen oft die Augen ploͤtzlich uͤber, weil mich da alles zu lie¬ ben ſcheint und weil da die ſanfte Blume und der ſchuldloſe Vogel mich nicht demuͤthigen ſondern meine Liebe achten dann ſeh 'ich den Geiſt derX 2324trauernden Fuͤrſtin einſam durch ſeine Werke wan¬ deln und ich gehe mit ihm und fuͤhle was er fuͤh¬ let und ich weine noch eher als er. Wenn ich unter dem ſchoͤnſten blaueſten Tage ſtehe: ſo ſchau 'ich ſehnend auf zur Sonne und nachher rings um den Horizont herum und denke: ach wenn du deinen Bogen herunter gezogen biſt, ſo haſt du doch auf keine Stelle der Erde geſchienen, auf der ich ganz gluͤcklich ſeyn koͤnnte bis zu deinem Abend¬ roth; wenn die Sonne hinunter und der Mond herauf iſt: ſo findet er, daß ſie mir nicht viel gegeben. ... Theure Freundin! veruͤbeln Sie mir dieſen Ton nicht; ſchreiben Sie ihn einer Krankheit zu, die mich allemal hinter dieſem Vor¬ bothen anwandelt. O koͤnnt' ich Sie mit meinem Arme an mich ketten: ſo waͤr 'ich vielleicht auch nicht ſo. Gluͤckliche Philippine! aus deren Munde ſchon wieder der Witz laͤchelnd flattert, wenn noch uͤber ihm das Aug' voll Waſſer ſteht, wie die ein¬ zige Balſampappel in unſerem Park Gewuͤrzduͤfte ausathmet, indeß noch die warmen Regentro¬ pfen von ihr fallen. Alles ziehet von mir weg, Bilder ſogar; ein todtes ſtummes Farbenbild hin¬ ter einer Glaßthuͤr war der ganze Bruder, den225[325] ich zu lieben hatte Sie koͤnnen nicht fuͤhlen was Sie haben oder ich entbehre jezt ſcheidet ſogar ſein Wiederſchein von mir und ich habe nichts mehr vom geliebten Bruder, keine Hofnung, keinen Brief, kein Bild. Ich vermiſſe dieſes Portrait zwar ſeit meiner Ruͤckkehr von Mauſſenbach; aber vielleicht iſts ſchon laͤnger weg, denn ich hatte mich bisher bloß einzurichten; vielleicht hab ichs ſelber mit unter die Buͤcher, die ich Ihnen gab, ver¬ packt Sie werden mich benachrichtigen. Ich weiß gewiß, in unſerem Hauſe war noch ein zwei¬ tes etwas unaͤhlicheres Portrait meines Bruders; aber ſeit langem iſts nicht mehr da. ꝛc.

Natuͤrlich! denn der alte Roͤper hatt 'es pu¬ blice verſteigert, weil es das von Guſtav war. Aber wir wollen wieder ins ſtille Land unſern beiden Freunden nach.

Sie muſten vor dem alten Schloſſe vorbei, das wie eine Adams Rippe das neue ausgeheckt, das ſeinerſeits wieder neue Waſſeraͤſte, ein ſineſiſches Haͤusgen, ein Badhaus, einen Gartenſaal, ein Billard u. ſ. w. hervorgetrieben hatte. Im neuen Schloſſe wohnte die Reſidentin von Bouſe, die die¬326 ſe architektoniſche Foͤtuſſe das ganze Jahr nicht zweimal bewunderte. Hinter dem zweiten Ruͤcken des Schloſſes fieng ſich der engliſche Garten mit ei¬ nem franzoͤſiſchen an, den die Fuͤrſtin ſtehen laſſen, um den Kontraſt zu nuͤtzen oder um den zu ver¬ meiden, in dem ſich ein taͤttowirter brillantirter dekorirter Pallaſt neben die patriarchaliſche Natur im Schaͤferkleide poſtirt. Wer nicht vor den beiden Schloͤſſern vorbei wollte: konnte durch ein Fichten¬ waͤldgen in den Park gelangen und vorher in eine Klausnerei, deren Vaͤter der alte Fuͤrſt und ſein Favorit-Kammerherr geweſen waren. Beide wa¬ ren in ihrem Leben nicht einen halben Tag allein geweſen, außer wenn ſie ſich auf einer Jagd oder ſonſt verirrten daher wollten ſie doch allein ſeyn und ſetzten deswegen (was fragten ſie dar¬ nach, daß ſie ein Plagiat und einen Nachdruck der Bayreuthiſchen Eremitage veranſtallteten?) neun Haͤuſergen aufs Papier, nachher auf den Tiſch und endlich auf die Erde, oder vielmehr neun bemooſte Klafter Holz: in dieſen ausgehoͤlten Vexier-Klaftern ſteckte ſineſiſches Ameublement, Gold und ein lebendiger Hofmann, wie man et¬ wann in lebendigen Baumſtaͤmmen mit dem groͤſten327 Erſtaunen auf eine lebendige Kroͤte ſtoͤßet, weil man nicht ſieht wo ihr Loch iſt. Die Klafter um¬ rangen eine Klauſe, die man weil am ganzen Hof keine Seele zu einem lebendigen Einſiedler Anſatz hatte einem hoͤlzernen anvertrauete, der ſtill und mit Verſtand drinnen ſaß und ſo viel me¬ ditirte als einem ſolchen Manne moͤglich iſt: man hatte den Anachoreten aus der Scheerauiſchen Schulbibliothek mit einigen aſzetiſchen Werken ver¬ ſehen, die fuͤr ihn paſten und ihn zu einer Abtoͤd¬ tung des Fleiſches ermahnten, die er ſchon hatte. Die Großen werden entweder repraͤſentirt oder re¬ praͤſentiren ſelber, aber ſie ſind nie etwas: Frem¬ de muͤſſen fuͤr ſie eſſen, ſchreiben, genießen, lie¬ ben, ſiegen und ſie ſelber thuns wieder fuͤr andre; daher iſts ein Gluͤck daß ſie, da ſie zum Genuß einer Eremitage keine eigne Seele haben und keine fremde finden, doch hoͤlzerne Chargés d'affaire, die die Einſiedelei fuͤr ſie genieſſen, auftreiben und ich wuͤnſchte, ſie ließen auch vor ihre Parks und vor ihre Orcheſter, wozu ſie fuͤnf Sinne zu wenig ha¬ ben, ſolche unbelebte Genuß-Plenipotentiare und Plaiſirs-Kuratores machen und ſtillen.

328

In die Decke der Klauſe ſollte (wie in die De¬ cke der Grotte beim Kloſter S. Felicita) hinlaͤngli¬ che Baufaͤlligkeit, ſechs Ritzen und ein Paar Ei¬ dexen, die daraus fallen, eingemahlet werden: Der Mahler war auch ſchon auf Reiſen, blieb aber ſo lange darauf und aus, daß ſich die Sache zu¬ letzt ſelber hinauf mahlte und gleich ofnen Men¬ ſchen nichts war als was ſie ſchien. Allein da die kuͤnſtliche Einſiedelei ſich zu einer natuͤrlichen ver¬ edlet hatte: war ſie laͤngſt von allen vergeſſen. Ich halt 'es daher mehr fuͤr Perſiflage als fuͤr reine Wahrheit, daß der Kammerherr wie ſo viele Oberſcheerauer ſagten Holzwuͤrmer haͤtte zuſam¬ men fangen und in den Stuhl des Eremiten im¬ pfen laſſen, damit die Thiere ſtatt der Haarſaͤgen und Trennmeſſer daran arbeiteten und den Seſſel fruͤher antik machten wahrhaftig das Gewuͤrm beißet jezt Stuhl und Moͤnch um! Noch laͤcherli¬ cher iſts, wenn man einem vernuͤnftigen Mann weiß machen will, anfangs haͤtte der architekto¬ niſche Kammerherr ein kuͤnſtlich laufendes Raͤder¬ werk mit einem Mausfell kouvertiert und papillot¬ tirt, damit die Kunſt Eidexe oben eine Korreſpon¬ denz Maus unten haͤtte und ſo fuͤr Symmetrie hin¬329 ten und vorn geſorgt waͤre, hernach haͤtte der Herr ſich der Natur genaͤhert und uͤber eine lebendige rennende Maus ein kuͤnſtliches zweites Mausfell als Ueberrock und Frak gezogen, damit Natur und Kunſt in einander ſtecken laͤcherlich! Maͤu¬ ſe fahren zwar jezt um den Einſiedler herum, aber ſicher nur in Einer Unterzieh-Haut ....

Unſere zwei Freunde ſind weit von uns und ſchon im ſogenannten langen Abendthal des Parks, durch welches aus der untergehenden Sonne ein ſchwebender Gold-Strom fiel. Am weſtlichen ſanft erhoͤhten Ende des Thales ſchienen die zerſtreuten Baͤume auf der zerrinnenden Sonne zu gruͤnen; am oͤſtlichen ſah man uͤber die Fortſetzung des Parks hinuͤber bis ans gluͤhende Schloß, auf deſſen Scheiben ſich die Sonne und das Abend-Feuer¬ werk verdoppelten. Hier ſah die Fuͤrſtin allemal den erſten Untergang der Sonne; dann hob ſie ein ſanft aufgewundner Weg auf das hohe Geſtade dieſes Thals, wo der Tag noch in ſeinem Sterben war und noch einmal mit dem brechenden Sonnen - Auge vaͤterlich den großen Kinderkreis anblickte bis ihm ſeine Nacht das Auge zudruͤckte und ſie in ih¬ ren muͤtterlichen Schooß die verlaſſene Erde nahm.

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Guſtav und Amandus! hier verſoͤhnet euch noch einmal der rothe Sonnenrand ſteht ſchon auf dem Rande der Erde das Waſſer und das Leben rinnen fort und ſtocken unten im Grabe nehmet euch an den Haͤnden, wenn ihr auf das zerſtoͤhrte Ruheſtatt*)Dieſe wenigen Partien beſchreib 'ich nur kurz: Ruhe¬ ſtatt iſt ein abgebranntes Dorf mit ſtehender Kirche, die beide bleiben mußten wie ſie waren nachdem die Fürſtin den Einwohnern Platz und alles, eine Viertelſtunde da¬ von mit den größten Koſten und durch Hülfe des H. v. O[t]tomars, dems gehört und der noch nicht da iſt, ver¬ gütet hatte. Die Blumeninſeln ſind einzelne abge¬ ſonderte Raſenerhöhungen in einem Teiche, jede mit Ei¬ ner andern Blume geputzt. Dies Schattenreich beſteht in unendlich verſchiednen Schatten-Gegitter und Geniſte, durch großes und kleines Laubwerk, durch Aeſte[und] Gitterwerk, durch Büſche und Bäume verſchieden auf den Grund von Kieß, Graß oder Waſſer gemahlt; ſie hatte die tiefſten und die hellſten Schattenparthien an¬ gelegt, einige für den abnehmenden Mond, andre für das Abendroth. Das ſtumme Kabinet war ein ſchlechtes Häusgen mit zwei entgegengeſetzten Thüren, über deren jeder ein Flohr hieng und die durchaus keine Hand aufſchließen durfte als die der Fürſtin. Noch jezt weiß man nicht, was darin iſt, aber die Flöhre ſind zerſtöhrt. hinuͤberſchauet und auf ſeine ſtehende Kirche, das Bild der ungluͤcklichen Tugend oder wenn ihr auf die Blumenin¬331 ſeln blickt, wo jede Blume auf ihrem gruͤnen Welttheilgen einſam zittert und ihr kein Verwand¬ ter entgegen ſchwankt als ihr gemahlter Schatten im Waſſer druͤckt euch die Haͤnde, wenn euere Augen fallen auf das Schattenreich, wo heu¬ te Licht und Schatten wie Leben und Schlafen ne¬ ben einander und in einander zitternd flatterten bis die ſchwarze Schattenfluth jezt uͤber allem was an der Erde blinket ſteht und den Tod nachſpielt und wenn ihr an des ſtummen Kabinets dreifachen Gitter Alphoͤrner und Aeolsharfen lehnen ſehet: ſo muͤſſen euere Seelen die Harmonien im Einklang nachbeben .... Es iſt eine elende rheto¬ riſche Figur, die ich aufſtelle, daß ich hier ſo lan¬ ge an - und zugeredet habe: ſind denn nicht die zwei Freunde in einem groͤßern Enthuſiaſmus als ich ſelbſt? iſt nicht Amandus uͤber freundſchaftliche Eiferſucht emporgehoben und haͤlt eigenhaͤndig das heutige angeredete Portrait des unbekannten Gu¬ ſtaviſchen Freundes vor ſich hin und ſagt: Du koͤnnteſt der Dritte ſeyn? []ja legt er nicht in der Begeiſterung das Portrait ins Graß, um mit der linken Hand Guſtaven zu faſſen und mit der rech¬ ten auf ein Zimmer des neuen Schloſſes zu deuten332 und geſteht er nicht, haͤtt 'ich auch in der rech¬ ten das was ich liebe: ſo waͤren meine Haͤnde, mein Herz, und mein Himmel wohl und ich wol¬ te ſterben? und da man nur in der groͤſten Lie¬ be gegen einen Zweiten von der gegen einen Drit¬ ten ſprechen kann: koͤnnen wir unſerem Amandus mehr anſinnen, der hier auf dem Berge ſeine Ver¬ liebung in Beaten bekennt?

Das Ungluͤck war, das ſie jezt ſelber herauf¬ ſtieg, um am Sterbebette der Sonne zu ſtehen unendlich ſchoͤner als die, die ihre Augenluſt war ſchwaͤrmeriſch, unregelmaͤßig gehend mit einem Auge, das erſt ſah nachdem ſie es einigemal ſchnell auf - und zugezuckt kein lebender europaͤiſcher Autor koͤnnte Amandi Entzuͤckung vormahlen, wenn es dabei geblieben waͤre ' aber ihr Erſtaunen uͤber die zwei Gaͤſte des Berges floß ploͤtzlich in das uͤber den dritten auf dem Graſe uͤber: eine konvulſiviſche Bewegung gab ihr das bruͤderliche Bild und ſie ſagte, mechaniſch zu Amandus gekehrt, meines Bruders Portrait! endlich find' ichs! ſie konn¬ te nicht vorbeigehen ohne aus jenem weiblichen fei¬ nen Gefuͤhl, das in ſolchen Manual-Akten zehn Bogen durch hat eh 'unſers das erſte Blatt geleſen333 zu beiden zu ſagen: Sie dankte Ihnen, wenn Sie das Bild gefunden haͤtten Amandus buͤck¬ te ſich tief und erboßet, Guſtav war weg als ſtaͤn¬ de ſein Geiſt auf dem Berg Horeb und hier bloß der Leib ſie wandelte, als war's ihre Abſicht geweſen, gerade uͤber den Berg hinuͤber, mit den eignen Augen auf dem Bilde und mit den vier fremden auf ihrem Ruͤcken ...

Jezt ſind ja deine fuͤnf Tage heraus, und oh¬ ne deinen Meineid ſagte Amandus erzuͤrnet und die hohe Oper des Sonnen-Untergangs ruͤhrte ihn nicht mehr; Guſtaven ruͤhrte ſie noch ſtaͤrker: denn das Gefuͤhl, Unrecht zu leiden, floß mit dem falſchen Ge¬ fuͤhl, Unrecht angethan zu haben feine Seelen geben in ſolchen Faͤllen dem andern allzeit mehr Recht als ſich in Eine bittere Thraͤne zuſammen und er konnte kein Wort ſagen. Amandus, der ſich jezt uͤber ſeine Verſoͤhnung aͤrgerte, wurd 'in ſeinem eiferſuͤchtigen Verdacht noch dadurch befeſtigt, daß Guſtav in der pragmatiſchen Relation, die er ihm von der Mauſſenbacher Avantuͤre gemacht, Beaten voͤllig ausgelaſſen; allein dieſe Eliſion hatte Guſtav angebracht, weil ihn beim ganzen Vorfall gerade Beatens Gegenwart am meiſten ſchmerzte und weil334 vielleicht in ſeinem waͤrmſten Innerſten eine Achtung fuͤr ſie keimte, die zu zart und heilig war, in der freien harten Luft des Geſpraͤchs auszudauern. Und ſie war natuͤrlich neulich mit in Mauſſenbach? ſagte der Eiferſuͤchtige im fatalſten Tone Ja! aber ſo viel vermochte Guſtav nicht beizufuͤgen, daß ſie da kein Wort mit ihm geſprochen. Dieſes dennoch un¬ erwartete Ja zerſtuͤckte auf einmal des Fragers Ge¬ ſicht, der ſeinen Stumpf in die Hoͤhe gehalten (falls die Hand waͤre abgeſchoſſen geweſen) und ge¬ ſchworen haͤtte, es brauche weiter keines Beweiſes Guſtav halte Beaten ſichtlich in ſeinem magneti¬ ſchen Wirbel ſchweig' er nicht jezt? ließ er ihr das Bildniß nicht ſo gleich? wird ſie, da ſie die Ko¬ pien verwechſelte, nicht auch die Originale verwech¬ ſeln, da ſie ſich alle vier ſo gleichen u. ſ. w.

Amandus liebte ſie und dachte, man lieb ihn auch, und man merke wo er hinaus wolle. Er hatte Delikateſſe genug in ſeinen eignen Handlungen, aber nicht genug in den Vermuthungen, die er von fremden hegte. Er hatte Beaten naͤmlich oft an der mediziniſchen Seite ſeines Vaters als Patientin in Mauſſenbach beſucht; er hatte von ihr jene frei¬ muͤthige Zutraulichkeit erfahren, die viele Maͤdgen335 in ſiechen Tagen immer aͤußern oder in geſunden ge¬ gen Juͤnglinge, die ihnen tugendhaft und gleichguͤl¬ tig auf einmal vorkommen: das gute Partizipium in dus, Amandus, muthmaßte daher nach einigen Nachdenken, daß der Brief, den Beata als ein Spe¬ zimen aus Rouſſeaus Heloiſe auf feinem Papier auf blaues ſchreibt keine verdollmetſchet hatte und der an den ſeeligen S. Preux geſchrieben war, an das Partizipium gerichtet waͤre. Maͤdgen ſollten daher nichts vertiren: Amandus war in einen Lieb¬ haber vertirt.

In Guſtavs wogendem Kopf brach jezt die Nacht an, die außer ihm vortrat: Stuͤrme und Mondſchein waren in ſeiner Nacht neben einander, Freude und Trauer, er dachte an einen unſchuldigen vom Verdacht angefreſſenen Freund, an das einge¬ buͤſte Portrait, an die Schweſter, mit der er einmal in ſeiner Kindheit geſpielt hatte, an den unbekann¬ ten portraitirten Freund, der alſo der Bruder dieſes ſchoͤnen Weſens ſei u. ſ.w. Amandus brach ein¬ ſeitig auf; Guſtav folgte ihm ungebeten weil er heu¬ te nichts als verzeihen konnte noch unter dem Hinuntergehen rangen Haß und Freundſchaft mit gleichen Kraͤften in Amandus und erſt ein Zufall336 war einem von beiden zum Siege vonnoͤthen der Haß errang ihn und der Auxiliar-Zufall war, daß Guſtav parallel an Amandus Seite gieng er haͤtte voraus - (oder hoͤchſtens hintennach) ſchlei¬ chen ſollen, zumal mit ſeiner freundſchaftlich ge¬ beugten Seele: ſo haͤtte die Freundſchaft vermit¬ telſt ſeines Ruͤckens geſiegt, weil ein Menſchenruͤk¬ ken durch den Schein von Abweſenheit mehr Mit¬ leiden und weniger Haß mittheilt als Geſicht, Bruſt und Bauch .... Man kann die Menſchen gar nicht oft genug von hinten ſehen ...

Ihr Buͤcherleſer! keift nicht mit[dem] armen Amandus, der ſein morſches Leben verkeift: ihr ſolltet nur ſehen, wie in einem Nervenfabrikanten der Sitz der Seele iſt, verteufelt hart, ausgepol¬ ſtert mit keinen drei Rindshaaren, einſchneidend wie eine Schlittenpritſche, kurz alle mir bekannte Ichs ſitzen weicher dennoch wird mein Mit¬ leiden gegen den wunden Schelm durch ganz andre Dinge als durch ſeine harte ſteinigte Zirbeldruͤſe der Seele erregt: es ſind Dinge die den Leſer weich machen wuͤrden und zu denen ich mich trotz meines Austunkens nur leider noch nicht habe hin¬ zuſchreiben vermocht!

Ueber¬337

Ueberhaupt verſteck 'ichs vergeblich, wie ſehr es meiner Hiſtorie noch mangelt an wahrem Mord und Todtſchlag, Peſtilenz und theuerer Zeit und an der Pathologie der Litanei: ich und der Buͤ¬ cherverleiher finden hier das ganze weiche Publikum im Laden, das aufpaſſet und ſchon das weiſſe Schnupftuch dieſes ſentimentaliſche Haarſeil heraus hat und das Seinige beweinen will und ab¬ wiſchen ... und doch bringt keiner von uns viel Ruͤhrendes und Todtes .... Von der andern Sei¬ te bleibt mir wieder die Schererei, daß das deut¬ ſche Publikum ſeinen Kopf aufſetzt und ſich nicht von mir aͤngſtigen laſſen will: denn es bauet dar¬ auf, ich koͤnne als bloßer platter Biograph es zu keinem Morde treiben, ohne den doch nichts zu thun iſt. Aber iſt denn nur der Romanen-Fa¬ brikant mit dem Blut - und Koͤnigsbann beliehen und iſt nur ſein Druckpapier ein Greveplatz? Wahrhaftig Zeitungsſchreiber, die keine Romane ſchreiben, haben doch von jeher eingetunkt und niedergemacht was ſie wollten und mehr als rekru¬ tiret war Geſchichtſchreiber ferner, dieſe Gro߬ kreuze unter den gedachten Kleinkreuzen (denn aus 100 Zeitungs-Annaliſten extrahir' ich nie mehr alsY338einen Geſchichtſchreiber wie Abſud) ſind fortgefahren und haben ſo viel umgebracht als der Plan ihrer hiſtoriſchen Einleitung, ihrer Abrégés, ihrer Eſ¬ ſais durchaus erfoderte .... Kurz ich bin nicht zu entſchuldigen, wenn ich hier gar nichts todt und intereſſant mache; und ich erſchlage am Ende aus Noth einen oder ein Par Lakaien, die noch dazu auſſer Scheerau kein Hund kennt.

Ich fahre aber in meiner Geſchichte fort und ruͤcke aus des Peſtilenziarius Nouvelle à la main folgenden Artikel in meine fuͤr mehrere Welttheile geſchriebene nouvelle à la main herein:

Es beſtaͤtigt ſich aus Mauſſenbach, daß der daſige Bediente Robiſch Todes verfahren iſt wie ſeine Maͤuſe: ſein Tod hat zwei mediziniſche Schu¬ len geſtiftet, wovon die eine verficht, ſein ſtif¬ tender Tod kaͤme von zu vielen Pruͤgeln, und andre, vielmehr von zu wenigem Eſſen.

Es iſt nicht ein Wort daran wahr: der Menſch hat zwar Striemen und Appetit, lebt aber noch Dato und der Zeitungsartikel iſt erſt ſeit einer Mi¬ nute von mir ſelber gemacht worden; das kuͤhne Publikum ziehe ſich aber daraus auf immer die Wi¬ tzigung, daß es keinem Biographen reize und auf¬339 bringe, weil auch der durch die Kelchvergiftung ſeines Dintenfaſſes und durch das Rattenpulver ſei¬ ner Streuſandbuͤchſe Robiſche und Fuͤrſten und je¬ den umwerfen und auf den Gottesacker treiben koͤnne; es lerne daraus, daß ein rechtſchaffenes Publikum ſtets unter dem Leſen beben und fragen muͤſſe: wie wirds dem armen Narren (oder der armen Naͤrrin) ergehen im naͤchſten Sektor?

Y 2340

Vier u. zwanzigſter oder XXI. Trinitatis-Sekt.

Oefels Intriguen die Infammachung der Abſchied.

Schlecht genug ergehts ihm, wenn das fragende Deutſchland anders unſern Guſtav meint. Oefel thuts. Ich will aber dem erſchrocknen Deutſchland alles eroͤfnen: die wenigſten darin wiſſen, war¬ um dieſer ein Romanſchreiber und ein Legations¬ rath iſt.

Kein empfindſamer Offizier im Kadetten¬ hauſe trug er Uniform hat weniger Kugeln und mehr Hemden und Briefe gewechſelt als Oefel. Letztere wollt 'er an alle Leute ſchreiben: denn ſei¬ ne Briefe lieſſen ſich leſen, weil er ſelber las und zwar belletriſtiſche Sachen, die er noch dazu nach¬ machte. Er war naͤmlich ein ſchoͤner Geiſt, hatte aber keinen. Saͤmtliche franzoͤſiſche Buchhaͤndler ſollten eine naͤrriſche Dankadreſſe an ihn erlaſſen, weil er ihr ſaͤmtliches Zeug einkaufte ſelbſt ge¬ genwaͤrtige Biographie, worin er ſelbſt ſteht, wird einmal wieder bei ihm ſtehen, wenn er von ihrer Edition und von ihrer Ueberſetzung ins Franzoͤſiſche341 hoͤrt. Sich ſelber, Leib und Seele naͤmlich hatt' er ſchon in alle Sprachen uͤberſetzt aus ſeinem fran¬ zoͤſiſchen Mutter-Patois. Die ſchoͤnen Geiſter in Scheerau (vielleicht auch mich) und in Branden¬ burg verachtete der Narr, nicht bloß weil er aus Wien war, wo zwar kein Erdbeben einen Parnas aber doch die Maulwurfs-Schnaͤutzchen von hun¬ dert Broſchuͤriſten Duodez-Parnaͤschen aufſtieſſen und wo die daraufſtehenden Wiener Buͤrger denken, der Neid blicke hinauf, weil der Hochmuth herun¬ terguckt ſondern er verachtete uns ſaͤmtlich, weil er Geld, Welt, Verbindungen und Hofgeſchmack hatte. Der Fuͤrſt Kauniz zog ihn einmal (wenn's wahr iſt) zu einem Souper und Bail, wo es ſo zahlreich und brillant zugieng, daß der Greis gar nicht wußte, daß Oefel bei ihm geſpeiſet und ge¬ tanzt. Da ſein Bruder Oberhofmarſchall und er ſel¬ ber ſehr reich war: ſo hatte niemand in ganz Schee¬ rau Geſchmack genug, ſeine Verſe zu leſen als der Hof; fuͤr den waren ſie, der konnte ſolche Verſe wie die Grasparthien des Parks, ungehindert durch¬ laufen, ſo klein, weich und beſchoren war ihr Wuchs zweitens gab er ſie nicht auf Druck¬ papier ſondern auf ſeidnen Baͤndern, Strumpf¬342 baͤndern, Bracelets, Viſitenkarten und Ringen heraus. Unter andern Floͤhen, die auf dem Oh¬ rentrommelfell des Publikums auf - und abſpringen und ſich hoͤren laſſen, bin auch ich und donnere mit; aber Oefel ahmte keinen von uns nach und verachtete dich ſehr mein Publikum und ſetzte dich Hoͤfen nach: mich, ſagt 'er, ſoll niemand le¬ ſen, wenn er nicht jaͤhrlich uͤber 70,000 Livres zu verzehren hat.

Kuͤnftigen Sommer reiſet er als Envoyé an den ** ſchen Hof ab, um die Unterhandlungen we¬ gen der Braut des Fuͤrſten, die ſchon neben ihrer Wiege angeſponnen und abgeriſſen wurden, neben ihrem D. Grahams Bette wieder anzuknuͤpfen: der Fuͤrſt mußte ſich im Grunde mit ihr vermaͤhlen, weil ein gewiſſer dritter Hof der nicht genennt wer¬ den darf, ſie dadurch einem vierten, den ich gern nennen moͤchte, entziehen wollte. Man glaube[mir aber,] es glaubt kein Menſch am ganzen Hofe des Braͤutigams, daß er an den Hof der Braut verſchickt werde, weil dort etwar ſchoͤne Geiſter und ſchoͤne Koͤrper geſuchte Waare ſind: wahrhaftig in beiden Schoͤnheiten war er von jedem zu uͤber¬ bieten; aber in einer dritten Schoͤnheit war ers343 nur leider nicht, die einem Envoyé noch noͤthiger und lieber als die moraliſche iſt im Geld. An einem inſolventen Hof hat der Fuͤrſt die erſte, und der Millionaͤr die zweite Krone. Ich habe oft den verdammten Erbſchaden des ſcheerauiſchen Fuͤrſten¬ thums verflucht und beſehen, daß ſelten genug da iſt: und wir haͤlfen uns gern durch einen Natio¬ nalbankerut, wenn wir nur vorher Nationalkredit bekaͤmen. Aber auſſer dieſem Fuͤrſtenthum hab 'ich auf meinen Reiſen folgende vier Regionen nirgends angetroffen als am Aetna ſelber: erſtlich die frucht¬ bare und zweitens die waldige Region unten am Throne wo Produkte und graſendes und jagd¬ bares Poͤbelwild zu haben iſt, drittens die Eis¬ region des Hofes, die nichts giebt als Schim¬ mer, viertens die Feuerregion der Thronſpitze, wo auſſer dem Krater wenig da iſt. Ein Thron - Krater kann ſelber Goldberge einſchlucken, verkal¬ ken, auswerfen als Lava.

Zum Ungluͤck gefiel ihm Guſtav, weil er ſeine jugendliche Menſchenfreundlichkeit fuͤr ausſchlieſſen¬ de Anhaͤnglichkeit an ihm anſah, ſeine Beſcheiden¬ heit fuͤr Demuͤthigung vor Oefelſcher Groͤße, ſeine Tugenden fuͤr Schwachheiten. Er gefiel ihm, weil344 Guſtav fuͤr die Poeſie Geſchmack, und folglich, ſchloß er, fuͤr die ſeinige den groͤßten hatte: denn Oefels adeliches Blut lief wider die Natur in einer duͤnnen poetiſchen Ader, und in einer ſatyriſchen dazu, dacht 'er. Vielleicht fand auch Guſtav in ſeinen Jahren des Geſchmacks, wo einen die poetiſchen kleinern Schoͤnheiten und Fehler ent¬ zuͤcken, zuweilen die Oefelſchen gut. Wie nun ſchon Rouſſeau ſagt, er koͤnne nur den zum Freund erwaͤhlen, dem ſeine Heloiſe gefalle: ſo koͤnnen Belletriſten nur ſolchen Leuten ihr Herz verſchen¬ ken, die mit ihnen Aehnlichkeit des Herzens, Gei¬ ſtes und folglich des Geſchmackes haben und die mit¬ hin die Schoͤnheiten ihrer Produkte ſo lebhaft em pfinden als ſie ſelber.

Was indeſſen Oefel an Guſtav am hoͤchten ſchaͤtzte, war, daß er in ſeinen Roman zu pflan¬ zen war. Er hatte in der Kadetten-Arche ſieben und ſechzig Exemplare ſtudiert, aber er konnte da¬ von keines zum Helden ſeines Buchs erheben, zum Großſultan, als das acht und ſechzigſte, Gu¬ ſtav.

Und der iſt gerade mein Held auch. Das kann aber unerhoͤrten Spas mit der Zeit geben, und ich345 ich wollt ', ich laͤſe meine Sachen und ein andrer ſchriebe ſie.

Er wollte meinen Guſtav zum kuͤnftigen Erben des ottomanniſchen Throns ausbilden, ihm aber kein Wort davon ſagen, daß er Großherr wuͤrde weder im Roman noch im Leben: er wollte alle Wirkungen ſeines paͤdagogiſchen Lenkſeils protokol¬ liren und uͤbertragen aus dem lebendigen Guſtav in den abgedruckten. Aber jetzt ſetzte ſich dem[Bi¬ leam] und ſeiner Eſelin ein verdammter Engel ent¬ gegen, Guſtav naͤmlich. Oefel wollte und mußte aus dem Kadettenhauſe, wo ſeine Zwecke befrie¬ digt waren, ins alte Schloß zuruͤck, wo neue ſei¬ ner warteten: erſtlich aus dem alten Schloß konnt' er leichter in die karteſianiſchen Wirbel des neuen, der Viſiten und Freuden ſpringen und ſich von ih¬ nen drehen laſſen zweitens konnt 'er da mit ſei¬ ner Geliebten, der Miniſterin, beſſer zuſam¬ men leben, die alle Tage hinkam und die die Tu¬ gend der Liebe und die Liebe der Aſſembleen-Manie aufopferte drittens iſt die zweite Urſache nicht wahr, ſondern er machte ſie der Miniſterin nur weiß, weil er noch eine dritte hatte, welche Beata war, die er in ihrem Schloſſe aus dem ſeinigen zu be¬346 zu beſchieſſen, wenigſtens zu blokiren vorhatte. Fort mußt' er alſo; aber Guſtav ſollte auch mit.

Das iſt den Augenblick zu machen (dachte Oefel) er ſoll mich am Ende ſelber um das bitten, um was ich ihn bitte. Ihm war nichts lieber als eine Gelegenheit, jemand zu ſeinem Zweck zu lenken das Lenken war ihm noch lieber als das Ziel, wie er in der Liebe die Kriegsoperationen der Beute vorzog. Er haͤtte als Geſandter aus Krieg Frieden und aus Frieden Krieg gemacht, um nur zu unterhandeln. Er zog, um Guſtaven nahe zu kommen, ſeine erſte Parallele: d. h. er ſtach ihm mit ſeiner ſpitzen Zunge ein ſchoͤnes Bild der Hoͤfe aus daß ſie allein das ſavoir vivre leh¬ ren, und das Sprechen (wie denn auch die Hun¬ de, je kultivirter ſie ſind, deſto mehr bellen, der Schooßhund mehr als der Hirtenhund, der wilde gar nicht) und alles daß durch ſie ein Paradie¬ ſes-Strom von Freuden brauſe daß man da an der Quelle ſeines Gluͤcks, am Ohre des Fuͤrſten und am Knoten der groͤßten Verbindungen ſtehe daß man intriguiren, erobern ꝛc. koͤnne. Es war in Oefels Plan; dem kleinen Großſultan nicht ein¬347 mal die Moͤglichkeit, mit ins alte Schloß zu kom¬ men, zu verrathen: um ſo mehr reiz 'ich ihn ſagt' er. Es war aber nichts mit dem Rei¬ zen, weil Guſtav noch nicht aus den poetiſchen Idyllen-Jahren, wo der aufrichtige Juͤngling Hoͤ¬ fe und Verſtellung haſſet, in die abgekuͤhlten hin¬ uͤber war, wo er ſie ſucht. Oefel ſtudierte, wie Hofleute und Weiber, nur Individuen, nicht den Menſchen.

Jetzt wurde die zweite Parallele gezogen und der Feſtung ſchon naͤher geruͤckt. Er gieng einmal an einem Vormittage mit ihm in den Park ſpatzieren, da er gerade die Reſidentin darin wußte. Waͤh¬ rend er ſie unterhielt, beobachtete er Guſtavs Be¬ obachten oder erroͤthendes Staunen, der noch in ſeinem Leben vor keiner ſolchen Frau geſtanden war, um die ſich alle Reize herumſchlangen, verdoppel¬ ten, einander verloren wie dreifache Regenboͤgen um den Himmel. Und du, Blumen-Seele, Bea¬ ta, deren Wurzeln auf dem irdiſchen Sandboden ſo ſelten die rechte Blumenerde finden, ſtandeſt auch dabei, mit einer Aufmerkſamkeit auf die Re¬ ſidentin, die eine unſchuldige Maske deiner kleinen Verwirrung ſeyn ſollte. Guſtav brachte fuͤr ſei¬348 ne große keine Maske zu Stande. Oefel ſchrieb die¬ ſe gegenſeitige Verwirrung nicht wie ich, der ge¬ genſeitigen Erinnerung an die Portrait-Affaire, ſondern die Guſtaviſche der Reſidentin, und die weibliche ſich ſelber zu.

Jetzt hab 'ich ihn, wo ich ihn haben will! ſagt' er und ließ ſich von ihm bis ins alte Schloß begleiten. Wenn wir nun beide da blieben! ſagt 'er. Die aus andern Gruͤnden herausgeſeufzete Ant¬ wort der Unmoͤglichkeit war was er begehrte. Gleich wohl! Sie werden mein Legationsſekretair! fuhr er mit einem ſeinen auf Ueberraſchung lauern¬ den Blicke fort.

Es fiel anders aus: Guſtav mochte gar nicht aus Furcht vor Hoͤfen, vor ſeinem Vater, aus Schaam der Veraͤnderung, aus Liebe der Stille. Oefel ſtand dumm vor ſich ſelber da und ſah den ſchwimmenden Truͤmmern ſeines geſcheiterten Plans noch. Es iſt wahr, es blieb ihm allemal der Nutzen daraus, daß er den ganzen Schifbruch in ſeinen Roman thun konnte aber der Sekre¬ tair war weg! Er hatte ihn nicht unvernuͤnf¬ tig ſchon im voraus zum Legations-Sekretariat voziert: denn an den Scheerauer Thron iſt eine349 Leiter mit den tiefſten und hoͤchſten Ehrenſproſſen angelehnt, aber die Staffeln ſtehen ſich ſo nahe, daß man mit dem linken Beine auf die unterſte treten und doch die hoͤchſten noch mit dem rechten erſpannen kann wir haͤtten ja beinahe einmal einen Oberfeldmarſchall kreiert. Zweitens haͤngt und picht an Hoͤfen wie in der Natur alles zu¬ ſammen und Profeſſores ſolltens den kosmologiſchen Nexus nennen, jeder iſt Laſt und Traͤger zugleich: ſo klebt am Magnet das eiſerne Lineal an dieſem ein Linealgen, an dieſem eine Nadel, an dieſer Feilſtaub. Hoͤchſtens was auf dem Throne oben ſitzt und was unter ihm unten liegt, hat nicht Nexus genug mit der wirkſamen Kompagnie: ſo werden in der franzoͤſiſchen Oper nur die fliegenden Goͤtter und ſchiebenden Thiere von Savoyarden gemacht, alles uͤbrige von der ordentlichen Truppe.

Alſo muſte Oefel die dritte Parallele ziehen und daraus auf den Kadetten ſchießen. Er machte ihm naͤmlich ſeine Uniform taͤglich um einen Dau¬ men ſpannender und knapper, um ihn aus ihr hinaus zu aͤngſtigen. Er hatte ihn ſchon neulich aus dieſer Abſicht zum Getraider-Kordon verſen¬ den helfen, wie wohl ers mehr that, weil der ver¬350 ſendete Großſultan in einer gewiſſen Scene im Buch zu agiren hatte aber jezt zerbrachen die militairiſchen Uebungen beinahe ſeinen porzellainen Leib und der Romancier ſchlepte ihn in die Geſell¬ ſchaft des Vaters aller Friedenstraktaten, naͤmlich des Kriegs.

Vor Guſtav ſtand, ſeit ſeinem Zerfallen mit ſeinem ſterbenden Liebling, jener Trauerabend mit ſeinen Thraͤnen und wich nicht auf ſein verlaſſenes Herz ſchimmerte noch die blutrothe Son¬ ne und gieng nicht unter. Der ſtumme Abſchied des Amandus, der ihn und andre Wuͤnſche ver¬ lohr, die abnehmenden Decembertage ſeines Lebens und die vorige Liebe druͤckten ſein Auge und Herz zum Trauern zuſammen. Die Freundſchaft duldet Mißhelligkeiten weniger als die Liebe; dieſe kitzelt damit[das] Herz, jene ſpaltet es damit. Aman¬ dus, der ihn ſo mißverſtanden und betruͤbet und doch deſſen innigſte Liebe nicht verlohren hatte, ver¬ zieh ihm alles bis abends um 5 Uhr dann hoͤrt 'er (oder es war ihm genug, wenn er ſichs nur dachte) daß[Guſtav] den Park (und mithin die Spatziergaͤn¬ gerin) beſucht hatte denn nahm er ſeine Verſoͤh¬ nung bis auf 11 Uhr abends zuruͤck dann legte die351 Nacht und der Traum wieder einen Mantel auf alle Fehler der Menſchen und auf dieſen. Abends um 5 Uhr fiengs von vornen an. Lacht ihn aus, aber ohne Stolz und mich und euch auch, denn alle unſre Empfin¬ dungen ſind, ohne ihre Loͤwen - und Narrenwaͤrte¬ rin, die Vernunft eben ſo toll, wenn nicht in unſerem Leben, doch in unſerem Herzen! aber endlich hatte er ſeine Verzeihung ſo oft zuruͤckgenommen, daß ers bleiben laſſen wollte, falls nur Guſtav anklopfte und von ihm alle die Beſchuldigungen anhoͤrte die er ihm zu verzeihen vorhatte. Man ſchiebt oft das Verge¬ ben auf, weil man das Keifen aufzuſchieben gezwun¬ gen iſt Aber, trauter Amandus, konnt' er denn kommen, Guſtav und ließ ihn der Romancier?

Letzterer triebs noch weiter und intriguirte es, daß Guſtav, dieſer Großſultan, dieſer Held zweier gut geſchriebner Buͤcher, an einem Abend wo der Kadettengeneral großes Soupee gab, vor deſſen Haus kam als Schildwache. Beim Henker! wenn die ſchoͤnſten Damen vorfahren, die bekannte Reſiden¬ tin die mit einem zufaͤlligen Blick unſre gute Schildwache ausbaͤlgte und ausgeſtopft unter ihrer Hirnſchaale aufſtellte und ihr Geſellſchaftsfraͤulein Beata und wenn man vor ſolchen Geſichtern das Ge¬352 wehr praͤſentiren muß: ſo will mans viel lieber ſtrek¬ ken und uͤberhaupt ſtatt ſtehen knien, um nicht ſo¬ wohl den Feind zu verwunden als die Freundin .... Beim Henker! ich werde hier mehr Witz gehabt ha¬ ben als wohl gern erlaubt wird; aber es verſuch 'es einmal ein geſcheuter Mann und ſchreib' uͤber die Liebe und entſchlage ſich des Witzes! es geht gar nicht. Ich behaupt 'es nicht und wiederleg' es nicht, daß Oefel vielleicht aus den Traͤumen Guſtavs, die immer ſprechend und oft nach den Erwachen agi¬ rend waren, die Namen der gedachten weiblichen Schoͤnheits-Ambe mag vernommen haben. Der Ro¬ mancier hat alſo einen Vortheil vor dem Biographen (ich bins) voraus: er ſchlaͤft neben ſeinem Helden.

Er aͤnſtigte ſeinen und unſern Helden, ders aber nur im aͤſthetiſchen, nicht im militairiſchen Sinne war, mit der Herbſtrevuͤe; denn jeder kleine Fuͤrſt ſpielt dem großen Soldatens auf der Gaſſe nach ne¬ ben noch kleinern Kindern; daher haben wir Schee¬ rauer eine niedliche Taſchen-Landmacht, eine trag¬ bare Artillerie und eine verjuͤngte Kavallerie. Jezt macht ein Landesherr ohnehin einen Spaß, wenn er einen Menſchen zu einem Rekruten macht: es wider¬ faͤhrt dem Kerl nichts, ſondern nur Motion ſoll erhaben,353haben, weil jezt unſre wichtigern Kriege wie ſonſt die italiaͤniſchen in nichts beſtehen als in Marſchie¬ ren, aus Laͤndern in Laͤnder. So beſtehen auch die Kampagnen auf dem Theater bloß in wieder¬ holten Maͤrſchen um das Theater, aber in kuͤr¬ zern. Ich gieng vor einem Jahre zum Spaße eine ½ Stunde neben einem Regimente her und machte mir weiß: jezt thueſt du im Grunde einen halb¬ ſtuͤndigen Feldzug gegen den Feind mit; aber die Zeitungen gedenken deiner ſchwerlich, ob du und das Regiment gleich durch dieſe kriegeriſche Vexier - Prozeſſion eben ſo viel Landplagen abwenden als die Kleriſei durch geiſtliche ſingende Prozeſſionen.

Er aͤngſtigte ihn, ſagt 'ich: er ſchilderte die Revúe naͤmlich: Friedrich II. that kleinere Wun¬ der als man da vom Kadetten-Korps fodern wird! mehr Bleſſierte als Bleſſierende wird es geben! unter allen Zelten und Kaſernen wird man reden von der letzten Scheerauer Revúe! Guſtav hatt' es im kleinen Dienſt laͤngſt ſo weit gebracht, daß er im Stande war, mit der Fortifikation ſeines Leibes wenigſtens Einen zu Bleſſieren, dieſen Leib ſelber. Ich werde die Angſt 'des Publikums ſi¬ cher nicht vermindern, wenn ich noch erzaͤhle, daßZ354Guſtav regelmaͤſſig alle ſieben Wochen auf fuͤnf Tage verreiſet, woraus ſeine Freunde und der Biograph ſelber gerade ſo klug werden als die aͤlte¬ ſten Leſer daß Oefel ihm durch geheimes Intri¬ guiren ſeinen Urlaub ſo ſauer machte, daß er ihn um dieſen Preiß kein zweitesmal begehren konn¬ te daß Guſtav vom letzten Verreiſen an den D. Fenk einen Brief von Ottomar heimbrachte, den man zwar dem Leſer nicht vorenthalten wird, von deſſen Ueberkommung man ihm aber nichts entdek¬ ken kann, weil man ſelber nichts davon weiß.

Aus allen dieſen Dornen und aus der bleſſie¬ renden Revuͤe rettete unſern Guſtav eine fremde In¬ famie. Nach der gedachten Ruͤckkehr wurde in Oberſcheerau ein Officier, deſſen Namen und Re¬ giment man hier aus Schonung ſeiner vornehmen Familie unterdruͤcken will, fuͤr infam erklaͤrt, weil er mit Spitzbuben glaub 'ich Verbindung gehabt. Als der Profos ihm in der Mitte des Regiments, das er entehret hatte, den Degen und das Wap¬ pen zerknickte und die Uniform abriß und ihm al¬ les nahm was den gebuͤckten Menſchen noch in die Hoͤhe richtet im Ungluͤck: ſo ſtuͤrzte Guſtav, deſ¬ ſen Ehrgefuͤhl ſogar aus den Wunden eines frem¬355 ben blutet und der noch nie den ſchwarzen Anblick einer oͤffentlichen Beſtrafung erlebt hatte, in[Ohn¬ macht] zuſammen: ſein erſter Laut nach der Bele¬ bung war: Soldat geweſen auf ewig! Wenn der arme Officier unſchuldig war oder wenn er beſ¬ ſer wird: wer giebt ihm die ermordete Ehre wie¬ der? Nur der untruͤgliche Gott kann ſie neh¬ men; aber der Kriegsrath ſollte nichts nehmen als das Leben! die Bleikugel aber nicht die In¬ famie! beſchloß er mit einem konvulſiviſchen Blick. Ich denke, er hat Recht. Zwei Tage war er krank und ſeine Phantaſien ſchleiften ihn in die Raͤuber-Katakomben des Infamierten hinein zum neuen Beweis, daß die Fieberbilder der Ar¬ men aus dem Krankenbette ins Grab hineingefol¬ terten Menſchen nicht immer die Steckbriefe und Denuntianten ihres Innern ſind! gemarterte Bruͤ¬ der! wie lieb 'ich euch jezt und den ſanften Gu¬ ſtav in dieſer Minute, wo meine Phantaſie unter euch alle hineinblickt, wie ihr vom Zickzack des Schickſals herumgetrieben, mit eueren Wunden, und Thraͤnen muͤde nebeneinander ſtehet, einander umfaſſet, einander beklagt und einander be¬ grabet!

Z 3356

So lang 'er krank war und phantaſierte: hieng Amandus an ſeinen gluͤhenden Augen und litt eben ſo viel und vergab ihm alles als der Doktor ſagte, fruͤh ſei er wieder auf: ſo kam Amandus fruͤh nicht und wollte wieder hartherzig ſein.

Oefel genoß jezt den Sieg ſeines Plans. Er trug ſich ſelber die Einlenkung des alten Falken¬ bergs auf und ſchrieb eigenhaͤndig an den Mann. Da er mit Dinte den guten Vater auf den moſai¬ ſchen Berg ſtellete, hinter dem Berg den Proſpekt des gelobten Landes der Geſandſchaft, und mitten ins Kanaan den jungen Legationsſekretair: ſo hatte der gute Mann die Freude vieler Eltern, die ihre Kinder gern das werden ſehen was ſie ſelber zu werden haſſeten oder nicht vermochten. Er kam zu mir mit dem Brief ſelber und ritt unter mein Fenſter. Alles was Guſtav noch innerlich gegen ſeine Verſetzung ins alte Schloß zu ſagen hatte, war daß die ſchoͤne Beata im neuen wohnte, das vom alten bloß durch eine halbierte Mauer abge¬ ſchieden war und daß er Amandus Verdacht be¬ waͤhrte. Aber zum Gluͤck verfiel er nach dem Ent¬ ſchluſſe auf das eigentliche Motiv, das ihm denſel¬ ben eingegeben hatte und das Veredlung und Er¬357 weiterung ſeines Wirkungskreiſes war: er konnte nach der Abloͤſung vom Geſandſchaftspoſten in einem Kollegium angeſtellet werden und da dem liegenden Lande aufhelfen u. ſ. w. Kurz die groͤſte Schoͤnheit Beatens haͤtt 'ihn nun nicht dahin bringen koͤnnen, ſie zu meiden.

Ueberhaupt ſchaͤlte ihn der Romanſchreiber ſo eif¬ rig aus ſeiner militairiſchen Huͤlſe, daß man da er, wie Ehemaͤnner und Fuͤrſten, den Zuͤgel oͤfter im paſſiven Munde als in den aktiven Haͤnden hatte haͤtte denken ſollen, er werde gelenkt, um zu len¬ ken; aber ich denk 'es nicht.

Guſtav legte die Abſchiedsviſite bei Amandus ab. Ein gutes Mittel, dem zu vergeben, den eine eingebildete Beleidigung auf uns erbitterte, iſt ihm eine wahre anzuthun Guſtav dachte in den freiwil¬ ligen Umwegen von Gaſſen, durch die er zu ſeinem gekraͤnkten Amandus gieng, an die Beata, die jezt ſeine Wandnachbarin wurde, an die Liebe und den Verdacht ſeines Freundes, an die Unmoͤglichkeit, den Verdacht zu heben; und da gerade um 6 Uhr vom ei¬ ſernen Orcheſter um dem Stephans Thurm die abend¬ liche Sphaͤrenmuſik in die Gaſſen niederfloß: ſo ſank ſein Herz in die Muſik hinein und er brachte ſeinem358 ſeinem Freunde das weichſte mit, das es außer der Bruſt Beatens gab. Ich und der Leſer haben hier¬ uͤber unſre Gedanken: eben dieſe verſoͤhnliche Weich¬ heit ſchrieb ſich bloß vom verſteckten Bewuſtſein her, daß er halb den Verdacht der Nebenbuhlerei verdie¬ ne; denn ſonſt haͤtt 'er, von Stolz gehoben, dem andern zwar auch vergeben, aber ihn darum nicht ſtaͤrker geliebt. Er fand ihn in der ſchlimmſten Stimmung fuͤr ſeine Abſicht in der freundſchaft¬ lichſten naͤmlich: denn in Zaͤrtlich-Kranken iſt jede Empfindung ein gewiſſer Vorbothe der entgegenge¬ ſetzten und alle haben alternierende Stimmen. Amandus war im Anatomier-Zimmer ſeines Vaters der Sonnenſtrahl fiel vor ſeinem Untergang in die leere Augenhoͤle eines Todtenſchaͤdels in Phio¬ len hiengen Menſchen-Bluͤthen, kleine Grundſtri¬ che, nach denen das Schickſal den Menſchen gar aus¬ ziehen wollte, Menſchgen mit vorhaͤngendem großen Kopf und großen Herzen, aber mit einem großen Kopfe ohne einen Irrthum und einem großen Her¬ zen ohne einen Schmerz auf einer Tafel lag eine ſchwarze Faͤrbers Hand, an deren Farbe der Doktor Proben machen wollte. ... Welche Nachbarſchaft fuͤr eine Ausſoͤhnung und einen Abſchied;359 drei Blicke machten und verſiegelten jene ſchon Blicke reden in dieſer nackten Entkoͤrperung der See¬ len eine zu ſchreiende Sprache aber als Guſtav dieſen, vom ſchoͤnſten Enthuſiaſmus uͤber Verdacht und Furcht hinuͤbergehoben, ſeinem Freunde anſag¬ te; als er ihm, der noch nichts davon begrif, ſei¬ ne neue Wandnachbarſchaft und den Verluſt der alten kund that: zerflogen war der Freund und ein ſchwarzer Feind ſprang aus ſeiner Aſche heraus dieſe Minute benuͤtzte der Tod und ſchlug die letzten Wurzelfaſer ſeines wankenden Lebens gar entzwei .... Guſtav ſtand zu hoch, um zu zuͤr¬ nen aber er muſte ſich noch hoͤher ſtellen er fiel um ihn und ſagte mit entſchloſſener reiner Stimme: zuͤrne und haſſe, aber ich muß dir ver¬ geben und dich lieben mein ganzes Herz mit al¬ lem ſeinem Blut bleibet deinem getreu und ſucht es auf in deiner Bruſt und wenn du mich auch kuͤnftig verkenneſt: ſo will ich doch alle Wochen kommen, ich will dich anſehen, ich will dir zuhoͤ¬ ren, wenn du mit einem Fremden redeſt und wenn du mich dann mit Haß anblickſt: ſo will ich mit einem Seufzer gehen, aber dich doch lieben ach ich werde alsdann daran denken daß deine Augen,360 da ſie noch zerſchnitten waren, mich ſchoͤner an¬ blickten und beſſer erkannten ..... o ſtoße mich nicht ſo weg von dir gieb mir nur deine Hand und blicke weg.

Da! ſagte der zertruͤmmerte Amandus und gab ihm die kalte ſchwarze Faͤrbers Fauſt ... Der Haß uͤberlief wie ein Schauer das liebreichſte Herz, das ſich noch in einer menſchlichen Bruſt verblutete Guſtav zerſtampfte auf der Erde ſei¬ ne Liebe und ſeinen Haß und gieng verſtummt mit erſtickten Empfindungen aus dem Hauſe und am andern Tage aus Oberſcheerau.

Kaum hatte Amandus den gemißhandelten Ju¬ gendfreund uͤber die Gaſſe zittern ſehen: ſo gieng er in ſein Zimmer, huͤlte ſich mit dem Kopfkuͤſſen zu und ließ, ohne ſich anzuklagen oder zu ent¬ ſchuldigen, ſeine Augen ſo viel weinen als ſie konn¬ ten. Wir werden es hoͤren, ob er ſein krankes Haupt wieder vom Kopfkuͤſſen erhob und wenn er wieder von Guſtav ins ſtille Land begleitet wur¬ de, aus dem er ihn zuruͤck zu ſtoßen ſuchte. Ach der Menſch! warum will dein ſobald in Salz, Waſſer und Erde zerbroͤckelndes Herz ein anderes zerbroͤckelndes Herz zerſchlagen ach eh 'du mit361 deiner aufgehobnen Todtenhand zu ſchlaͤgſt: faͤllt ſie ab in den Gottesacker hin ach eh' du dem feindlichen Buſen die Wunde gegeben, liegt er um und fuͤhlt ſie nicht und dein Haß iſt tod oder auch du.

362

Fuͤnf u. zwanzigſter oder XXII. Trinitatis-Sekt.

Ottomars Brief.

Wenn wir Ottomars Brief geleſen: ſo wollen wir uns an Guſtavs neues Theater ſtellen und ihm zu¬ ſchauen. Im folgenden Briefe herrſcht und tobt ein Geiſt, der wie ein Alp, alle Menſchen hoͤhe¬ rer und edler Art druͤckt und oft bewohnt und den bloß ſo viel er auch hollaͤndiſche Geiſter uͤberwie¬ ge ein hoͤherer Geiſt uͤbertrift und hinaus¬ draͤngt: viele Menſchen leben in der Erdnaͤhe, einige in der Erdferne, wenige in der Sonnen¬ naͤhe. Fenk ſehnte ſich ſo oft nach ſeinem Ot¬ tomar, zumal nach ſeinem Stillſchweigen von ei¬ nigen Jahren, und er ſprach ſo oft von ihm ge¬ gen Guſtav, daß es gut war, daß die Adreſſe des Briefes von fremder Hand und an Doktor Zoppo in Pavia war: ſonſt haͤtt 'er ſogleich gegen die er¬ ſte Zeile des Briefes geſuͤndigt.

Nenne, ewiger Freund, meinen Namen dem Ueberbringer nicht: ich muß es thun. Auf mei¬363 nem letzten Lebensjahre liegt ein großes ſchwarzes Siegel; zerbrich 'es nicht, halte die Vergangen¬ heit fuͤr die Zukunft ich mache ſie zur Gegen¬ wart fuͤr dich, aber noch nicht und wenn ich ſtuͤrbe, ich traͤte vor dir und ſagte dir mein letz¬ tes Geheimniß der Erde.

Ich ſchreibe dir, damit du nur weißt, daß ich lebe und daß ich im Herbſte komme. Mein Reiſe¬ durſt iſt mit Alpen-Eis und Seewaſſer geloͤſcht; ich ziehe nun heim in meine Ruheſtatt und wenn mich dann unter meiner Hausthuͤre wieder uͤber die Berge hinuͤberverlangt: ſo denk 'ich: in den Gua¬ diana - und in den Wolgaſtrom ſieht das naͤmliche lechzende Menſchenherz hinein, das in dir neben dem Rheine ſeufzet, und was auf die Alpen und auf den Kaukaſus ſteigt, iſt was du biſt und wen¬ det ein ſehnendes Auge nach deiner Hausthuͤre her¬ uͤber. Wenn ich aber hier ſitze und alle Morgen auf den Nachtſtuhl gehe und froh bin, daß ich hungrig und nachher daß ich ſatt werde und wenn ich alle Tage Hoſen und Haarnadeln ausziehe und anſtecke: ach! was iſts denn da am Ende? Was wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit auf dem Stein meines Thorwegs ſaß und ſehnend364 dem Zug der langen Straße nachſah und dachte, wie ſie fortliefe, uͤber Berge ſchoͤſſe, immer immer¬ fort ...? und endlich? .... ach alle Straßen fuͤh¬ ren zu nichts und wo ſie abreiſſen, ſteht wieder einer der ſich ruͤckwaͤrts heruͤber ſehnt. Was wollt 'ich denn haben, wenn mein kleines Auge ſonſt auf dem Rhein mit ſchwamm, damit er mich hinnaͤhme in ein gelobtes Land, in das alle Stroͤ¬ me dacht' ich zoͤgen, ach ſonſt wo ich nicht wußte, daß er wenn er manches ſchwere Herz getragen, ne¬ ben mancher zerquetſchten Geſtalt vorbeigebrauſet, die er ach! von ihren Qualen erloͤſen mußte, daß er dann wie der Menſch ſich zerſplittere und zer¬ truͤmmert einſikere in hollaͤndiſche Erde? Morgenland, Morgenland! auch nach deinen Auen neigte ſich ſonſt meine Seele wie Baͤume nach Oſten ach wie muß es da ſeyn, wo die Son¬ ne aufgeht! dacht 'ich; und als ich mit meiner Mutter nach Pohlen reiſte und endlich in das nach Morgen liegende Land und unter ſeine Edelleute, Juden und Sklaven trat ..... Weiter giebts aber auf dieſer optiſchen Kugel kein Morgen-Sonnen¬ land als das, das alle unſere Schritte weder ent¬ fernen noch erreichen. Ach ihr Freuden der365 Erde alle, ihr ſaͤttigt die Bruſt bloß mit Seufzern und das Auge mit Waſſer und in das arme Herz, das ſich vor euerem Himmel aufthut, gieſſet ihr eine Blutwelle mehr! Und doch laͤhmen uns dieſe Paar elenden Freuden, wie Giftblumen Kindern, die damit ſpielen, Arm' und Beine. Nur keine Muſik, dieſe Spoͤtterin unſerer Wuͤnſche, ſollt 'es geben: flieſſen nicht auf ihren Ruf, alle Fi¬ bern meines Herzens auseinander und ſtrecken ſich als ſo viele ſaugende Polypenarme aus und zittern vor Sehnſucht und wollen umſchlingen wen? was? ... ein ungeſehenes in andern Welten ſtehendes Etwas. Oft denk ich, vielleicht iſts gar Nichts, vielleicht gehts nach dem Tode wieder ſo und du wirſt dich aus einem Himmel in den andern ſehnen und dann zerdruͤcke ich unter dieſem phantaſtiſchen Un¬ ſinn die Klavierſaiten als wollt' ich aus ihnen eine Quelle auspreſſen, als waͤr 'es nicht genug, daß der Druck dieſes Sehnens die duͤnnen Saiten meines innern Tonſyſtems verſtimmt und abſprengt ....

In Rom wohnte ein Maler, der Kirche von S. Adriano gegenuͤber, der unter dem Regen ſich allemal unter die Dachrinnen ſtellte und ſich toll lachte: der ſagte oft zu mir: keinen Hundstod366 giebts nicht, aber ein Hundsleben. Fenk! nimm wenigſtens was der Menſch wird oder thut: ſo gar gar wenig! Welche Kraft wird denn an uns ganz ausgebildet, oder in Harmonie mit den andern? Iſt's nicht ſchon ein Gluͤck, wenn nur Eine Kraft wie ein Aſt ins Treibhaus eines Hoͤr - oder andern Saals hineingezogen und mit partialer Waͤrme zu Bluͤthen genoͤthigt wird, indeß der ganze Baum drauſſen im Schnee mit ſchwarzen harten Zweigen ſteht? Der Himmel ſchneiet ein Paar Flocken zu unſerem innern Schneemann zuſammen, den wir unſre Bildung nennen, die Erde ſchmiltzt oder be¬ ſudelt ein Viertel davon, der Wind wehet dem Schneemann den Kopf weg das iſt unſer gebil¬ deter innerer Menſch, ſo ein abſcheuliches Flickwerk in allen unſerem Wiſſen und Wollen! Vom Indi¬ viduum auf die ganze Menſchheit mag ich gar nicht uͤbergehen: ich mag nicht daran denken wie ein Jahrhundert untergeegget und untergeackert wird, zur Duͤngung des naͤchſten wie nichts ſich zu et¬ was runden will, wie das ewige Buͤcherſchreiben und Aufſchlichten des Scibile kein Ziel, kein Ende hat und alle nach entgegengeſetzten Richtungen gra¬ ben und laufen! Was thut der Menſch? Noch367 weniger als er weiß und wird. Sage mir, was verrichten denn vor dem fuͤrſtlichen Portrait uͤber dem Praͤſidentenſtuhl oder gar vor einem verſchnit¬ tenen regierenden Geſicht ſelbſt, dein Scharfſinn, dein Herz, deine Energie? Die zuruͤckgepreßten in einander ſich kruͤmmenden Zweige druͤcken das Fenſter des Winterhauſes, der Regent laͤſſet in der compotiére ihre Frucht vor ſeinem Teller vor¬ uͤbergehen, der blaue Himmel fehlet ihnen, das Geſcheuteſte iſt noch daß ſie verfaulen! Was thun denn die edelſten Kraͤfte in dir, wenn Wo¬ chen und Monate verſtroͤmen, die ſie nicht brau¬ chen, nicht rufen, nicht uͤben? Wenn ich oft ſo der Unmoͤglichkeit zuſah, in allen unſern monarchiſchen Aemtern ein ganzer, ein edel thaͤtiger, ein all¬ gemein-nuͤtzlicher Menſch zu ſein ſelbſt der Mo¬ narch kann nicht mit denen unendlich vielen ſchwar¬ zen ſubalternen Klauen und Haͤnden, die er erſt als Finger oder Griffe an ſeine Haͤnde anſchienen muß, etwas vollendet Gutes thun ſo oft ich ſo zuſah, ſo wuͤnſcht 'ich, ich wuͤrde gehenkt mit meinen Raͤubern, waͤr' aber vorher ihr Haupt¬ mann und rennte mit ihnen die alte Konſtitution nieder! .... Geliebter Fenk! dein Herz reiſſet368 mir niemand aus meiner Bruſt, es treibet mein beſtes Blut und nie kannſt du mich verkennen, ich ſei ſo unkenntlich als ich wolle! Aber o Freund, es kommen Zeiten heran, wo dir dieſes Verken¬ nen doch leichter werden kann!

Verhuͤllter Genius unſerer verſchatteten Kugel! ach waͤr 'ich nur etwas geweſen, haͤtte meine Ge¬ hirnkugel und mein Herz nur wie Luther mit ir¬ gend einer dauerhaften weit wurzelnden That das Blut abverdient, das ſie roͤthet und naͤhrt: dann wuͤrde mein hungriger Stolz ſatte Demuth, vier niedrige Waͤnde waͤren fuͤr mich groß genug, ich ſehnte mich nach nichts Großem mehr als nach dem Tode und vorher nach dem Herbſt des Le¬ bens und Alters, wo der Menſch, wenn die Ju¬ gend-Voͤgel verſtummen, wenn uͤber der Erde Nebel und fliegender Faden-Sommer liegt, wenn der Himmel ausgeheitert, aber nicht brennend uͤber allem ſteht, ſich ſterbend auf die welken Blaͤt¬ ter legt. Leb' wohl, mein Freund, auf einer Erde, wo man weiter nichts Gutes thun kann als in ihr liegen; im naͤchſten Herbſt ſind wir an einander!

Zu369

Zu dieſem Briefe, der meine ganze Seele nimmt und meine Irthuͤmer ſowohl als meine Wuͤnſche erneuert, kann ich nichts mehr ſagen als daß heu¬ te der erſte Menſch in dieſer Geſchichte auf einem Berg begraben worden iſt. Wenn ich nach vier oder fuͤnf Sektoren von ſeinem abendroͤthlichen Tode re¬ de: ſo werden ſchon die Zuͤge ſeiner Geſtalt blei¬ cher und zerriſſen ſeyn, ſowohl im Sarge als im Herzen der Freunde!

A a370

Extrablatt.

Von hohen Menſchen und Beweis daß die Leidenſchaften ins zweite Leben und Stoizismus in dieſes gehören.

Gewiſſe Menſchen nenn 'ich hohe oder Feſttags¬ menſchen und in meiner Geſchichte gehoͤren Otto¬ mar, Guſtav, der Genius, der Doktor darunter, weiter niemand.

Unter einem hohen Menſchen mein 'ich nicht den geraden ehrlichen feſten Mann, der wie ein Weltkoͤrper ſeine Bahn ohne andere Aberrationen geht als ſcheinbare noch mein' ich die feine See¬ le, die mit weiſſagendem Gefuͤhl alles glaͤttet, je¬ den ſchont, jeden vergnuͤgt und ſich aufopfert aber nicht wegwirft noch den Mann von Ehre, deſ¬ ſen Wort ein Fels iſt und in deſſen von der Zen¬ tralſonne[der Ehre] brennenden und bewegten Bruſt keine anderen Gedanken und Abſichten ſind als Tha¬ ten auſſer ihr und endlich weder den kalten von Grundſaͤtzen gelenkten Tugendhaften noch den Ge¬ fuͤhlvollen, deſſen Fuͤhlfaͤden ſich um alle Weſen wickeln und in der fremden Wunde zucken und der371 die Tugend und eine Schoͤne mit gleichem Feuer umfaſſet auch den bloßen großen Menſchen von Genie mein 'ich nicht unter dem hohen und ſchon die Metapher deutet dort horizontale und hier perpendikulare Ausdehnung an.

Sondern den mein 'ich, der zum groͤßern oder geringern Grade aller dieſer Vorzuͤge noch etwas ſetzt, was die Erde ſo ſelten hat die Erhebung uͤber die Erde, das Gefuͤhl der Geringfuͤgigkeit alles irdiſchen Thuns und der Unfoͤrmlichkeit zwi¬ ſchen unſerem Herzen und unſerem Orte, das uͤber das verwirrende Gebuͤſch und den ekelhaften Koͤder unſers Fußbodens aufgerichtete Angeſicht, den Wunſch des Todes und den Blick uͤber die Wolken. Wenn ein Engel ſich uͤber unſere Atmoſphaͤre ſtellte und durch dieſes truͤbe mit Wolkenſchaum und ſchwimmendem Koth verfinſterte Meer hernieder ſaͤhe auf den Meeresgrund, auf dem wir liegen und kleben wenn er die tauſend Augen und Haͤnden ſaͤhe, die gerade aus horizontal nach dem Inhalt der Luft nach Gepraͤnge, fangen und ſtarren, wenn er die ſchlimmern ſaͤhe, die ſchief niedergebuͤckt werden gegen den Fraß und Gold¬ glimmer im moraſtigen Boden, und endlich dieA a 2372ſchlimmſten, die liegend das edle Menſchengeſicht durch den Koth durchziehen, wenn er aber unter dieſen Seethieren einige aufrecht gehende hohe Men¬ ſchen zu ihm aufblicken ſaͤhe wenn er ſaͤhe, wie ſie, gedruͤckt von der Waſſerſaͤule uͤber ihrem Haup¬ te, umſtrickt vom Geniſte und Schlamm ihres Fu߬ bodens, ſich durch die Wellen draͤngten und lechze¬ ten nach einem Athemzuge aus dem weiten Aether uͤber ihnen, wie ſie mehr liebten als geliebt wuͤr¬ den, das Leben mehr ertruͤgen als genoͤſſen, gleich fern von ſtehendem Emporſtaunen und rennender Geſchaͤftsleben Haͤnde und Fuͤße dem Meeresboden und das aufwaͤrts ſteigende Herz und Haupt dem Aether auſſer dem Meere gaͤben und auf nichts ſaͤ¬ hen als auf die Hand, die das Gewicht des Koͤr¬ pers, das den Taͤucher mit den Boden verbindet, von ihm trennt und ihn aufſteigen laͤſſet in ſein Ele¬ ment .... o dieſer Engel koͤnnte dieſe Menſchen fuͤr untergeſunkne Engel halten und ihre Tiefe bedauern und ihre Thraͤnen im Meer .... Koͤnnte man die Graͤber eines Pythagoras (der ſchoͤnſten Seele un¬ ter den Alten) Plato's Sokrates Anto¬ nins (aber nicht ſo gut des großen Kato oder Epik¬ tets) Shakeſpears (wenn ſein Leben wie ſein373 Schreiben war) J. J. Rouſſeau's ꝛc. in Einen Gottesacker zuſammenruͤcken: ſo haͤtte man die wahre Fuͤrſtenbank des hohen Adels der Menſch¬ heit, die geweihte Erde unſerer Kugel, Gottes Blumengarten im tiefen Norden. Aber war¬ um nehm 'ich mein weiſſes Papier und durchſtech' es und beſtreu 'es mit Kohlenſtaub oder Din¬ tenpulver, um das Bild eines hohen Menſchen hineinzuſtaͤuben; indeß vom Himmel herab das große nie erblaſſende Gemaͤlde herunterhaͤngt, das Plato in ſeiner Republik vom tugendhaften Manne aus ſeinem Herzen auf die Leinwand trug.

Die groͤßten Boͤſewichter ſind einander am un¬ kenntlichſten! hohe Menſchen einander in der er¬ ſten Stunde kenntlich. Schriftſteller, die darun¬ ter gehoͤren, werden am meiſten getadelt und am wenigſten geleſen, z. B. der ſeel. Haman. Eng¬ laͤnder und Morgenlaͤnder haben dieſen Sonnen¬ Stern oͤfter auf ihrer Bruſt als andre Nationen.

Ottomar fuͤhrte mich auf die Leidenſchaften: ich weiß, daß er, wenigſtens ſonſt, nichts ſo haßte als Koͤpfe und Herzen, die von der ſtoiſchen Stein - Rinde inkruſtiert waren daß er in ſeine Arte¬ rien Katarakten hinein wuͤnſchte und in ſeine Lun¬374 genfluͤgel Stuͤrme daß er ſagte, ein Menſch ohne Leidenſchaft waͤre noch ein groͤßerer Egoiſt als einer mit heftigen; einen den das nahe Feuer der ſinnlichen Welt nicht entzuͤnde, ſtamme das weite Fixſternlicht der intellektuellen noch viel weniger an; der Stoiker unterſcheide ſich vom abgenuͤtzten Hof¬ mann nur darin, daß die Erkaͤltung des erſtern von innen nach auſſen fortgehe, die des andern aber von auſſen nach innen .... Ich weiß nicht obs bei dem innen brennenden, auſſen glatteiſen¬ den Hofmann ſo iſt; aber beim Glaſe iſts ſo, daß es wenn es von auſſen[und] nach dem gluͤhenden Kern zu erkaltet, hol und zerbrechlich wird: es muß umgekehrt ſeyn ...

Alle Leidenſchaften taͤuſchen ſich nicht uͤber die Art, oder den Grad, ſondern uͤber den Gegen¬ ſtand der Empfindung; naͤmlich ſo:

Darin irren unſere Leidenſchaften nicht, daß ſie irgend einen Menſchen haſſen oder lieben: [denn] ſonſt verfiele alle moraliſche Haͤßlichkeit und Schoͤnheit; auch darin nicht, daß ſie uͤber et¬ was jammern oder frolocken denn ſonſt waͤr 'auch die kleinſte Freuden - oder Kummerthraͤne uͤber Gluͤck und Ungluͤck unerlaubt und wir duͤrften nichts mehr375 wuͤnſchen, nicht einmal wollen, nicht einmal die Tugend. Auch irren die Leidenſchaften uͤber den Grad dieſer Ab - und Zuneigung, dieſes Freuens und Betruͤbens nicht: denn ſobald ihnen die Sin¬ ne und die Phantaſie den Gegenſtand mit tauſend¬ mal groͤßeren moraliſchen oder phyſiſchen Reizen oder Flecken vorlegen als ſie andre ſehen: ſo muß doch das Lieben und Haſſen nach Verhaͤltniß des aͤuſſern Anlaſſes zunehmen, und ſobald irgend ein aͤuſſerer Reiz den geringſten Grad von Liebe und Haß rechtfertigt: ſo muß auch der vergroͤßerte Reiz den vergroͤßerten Grad der Leidenſchaft rechtfertigen. Die meiſten Gruͤnde gegen den Zorn beweiſen nur, daß die vermeintliche moraliſche Haͤßlichkeit des Fein¬ des mangle, nicht, daß ſie da und er doch zu lie¬ ben ſei die meiſten Gruͤnde gegen unſre Liebe beweiſen nur, daß unſre Liebe weniger den Grad als den Gegenſtand verfehle u. ſ. w. Nicht bloß ein maͤßiger, ſondern der hoͤchſte Grad der Leiden¬ ſchaften wuͤrde zulaͤſſig ſeyn, ſobald ſich ihr Ge¬ genſtand vorfaͤnde, z. B. die hoͤchſte Liebe gegen das hoͤchſte gute Weſen, den hoͤchſten Haß gegen das hoͤchſte Boͤſe. Da aber alle Gegenſtaͤnde dieſer376 Erde die Beſchaffenheit nicht haben, die ſol¬ che Seelenſtuͤrme in uns verdienen kann; da al¬ ſo das Groͤßte, was uns zu ſich reiſſen, oder von ſich ſtoßen kann, in andern Welten ſtehen muß: ſo ſieht man, daß die groͤßten Bewegun¬ gen unſers Ichs nur vielleicht auſſerhalb des Koͤrpers ihren vergoͤnnten geraͤumigern Spielraum antreffen.

Ueberhaupt iſt Leidenſchaft ſubjektiv und re¬ lativ: die naͤmliche Willensbewegung iſt in der ſtaͤrkern Seele unter groͤßern Wellen nur ein Wollen und in der ſchwaͤchern auf der glattern Flaͤche ein innerer Sturm. Unſer ewiges Wollen flieſſet immerfort durch uns und in uns, wie ein Strom und die Leidenſchaften ſind nur die Waſ¬ ſerfaͤlle und Kaſkaden dieſes Stroms; ſind wir aber zur Verdammung derſelben bloß durch ihre Seltenheit befugt? Iſt nicht dem kleinen Bach das Kaſkade, was dem Strom nur Welle iſt? Und wenn wir im Enthuſiasmus unſre Kaͤlte und in der Kaͤlte unſern Enthuſiaſmus ſchelten: wo haben wir Recht? und giebt die Dauer des Scheltens das Recht?

377

Ich fuͤhle Einwuͤrfe und Schwierigkeiten vor¬ aus, ja ich weiß es und fuͤhle, daß auf die¬ ſer umwoͤlkten Regen-Kugel uns nichts gegen die aͤuſſern Stuͤrme einbauen und bedecken kann, als das Beſaͤnftigen der innern gleichwohl fuͤhl 'ich auch, daß alles vorige wahr iſt.

378

Sechs und zwanzigſter oder XX. Trinitatis Sekt.

Diner beim Schulmeiſter.

Wenn ein Autor wie ich ſo viele Wochen hinter ſeiner Geſchichte zuruͤckgeblieben: ſo denkt er, mag der Henker den heutigen Poſt-Trinitatis auch gar holen ich will alſo davon von nichts reden als vom heutigen Poſt-Trinitatis von meiner Schwe¬ ſter, meiner Stube und von mir. Wenige Ge¬ ſchichtſchreiber werden heute hinter ihren Dinten¬ faͤſſern einen ſolchen guten Tag haben wie ihr Zunftgenoß.

Ich ſitze jezt hier in des Schulmeiſter Wuzens Empor-Stube und halte ſeit einem Vierteljahr meinen Arm als Armleuchter zum Fenſter hinaus mit einem langen Licht, um in die zehn deutſchen Kreiſe hinein zu leuchten. Ich werde in jedem Herbſt und Winter alle meine Sektores wie den heutigen fruͤh um Uhr beim Licht zu machen anfangen; denn wie die erhabne Finſterniß vor Mitternacht, den Menſchen uͤber die Erde und ihre Wolken hinaus hebt: ſo legt uns die nach379 Mitternacht, wieder in unſer Erd-Neſt herein ſchon nach 12 Uhr Nachts fuͤhl 'ich neue Lebens¬ luſt, die ſo zunimmt wie das heruͤber gegoſſene Morgenlicht die Finſterniß verduͤnt und durchſichtig macht. Gerade die feinſten und unſichtbarſten Fuͤhlfaͤden unſerer Seele laufen wie Wurzeln, un¬ ter der groben Sinnenwelt fort und werden von der entfernteſten Erſchuͤtterung geſtoßen. Z. B. wenn der Himmel gegen Oſten licht - und wolken¬ loß, gegen Weſten mit Wolkenſchlaͤuchen verhan¬ gen iſt: ſo kehr' ich mich ſcherzhafter Weiſe mehr als zehnmal um ſteh 'ich gegen Oſten, ſo flie¬ gen alle pſychologiſchen Wolken aus meinem Geiſte weg fahr' ich gegen Weſten, ſo haͤngen ſie ſich wieder um ihn herum und auf dieſe Art zwing 'ich durch ſchnelles Umdrehen die entgegengeſetzteſten Empfindungen, vor mir ab - und zuzulaufen.

An logiſche Ordnung iſt in dieſem Luft-Sektor gar nicht zu gedenken; einige chronologiſche ſoll zu finden ſeyn. Nur wird mancher Gedanke mit tauſend Facetten von meiner Lichtſcheere erdruͤckt werden, wenn ich das Licht ſchneuze, oder in mei¬ ner Taſſe erſaufen, wenn ich geſtrigen Kaffee dar¬ aus trinken. Dem Publikum iſt letzterer mehr an¬380 zurathen: unter allen warmen Getraͤnken iſt kalter Kaffee zwar vom abſcheulichſten Geſchmack aber doch von der geringſten Wirkung. Der ſchlafende Tag wird ſchon wie eine ſchlafende Schoͤne, in der die Morgentraͤume gluͤhen, roth und muß bald das Aug 'aufſchlagen. Sein erſtes wird poetiſch zu reden ſeyn, daß er meine Schweſter weckt und mit ihr als Schlafgenoß in meine Stube tritt. Ich ſollte wie ein maͤhriſcher Bruder ein Paar tau¬ ſend Schweſtern haben, ſo lieb' ich ſie uͤberhaupt alle. Wahrlich manchmal will ich mit den ſtoͤßigen Satyrs-Bocksfuͤßen gegen das gute weibliche Ge¬ ſchlecht ausſchlagen und laß 'es bleiben, weil ich neben mir die kleinen Kirchenſchuhe meiner Philip¬ pine ſehe und mir die ſchmalen weiblichen Fuͤße hinein denke, die in ſo manchem Dornenſpeer und Waſſer ſtehen, weil beide durch ihre duͤnne Da¬ men Lafetten ſo leicht dringen. Die leeren Klei¬ der eines Menſchen, zumal der Kinder, floͤßen mir Wohlwollen und Trauern ein, weil ſie an die Leiden erinnern, die das arme Inſerat darin ſchon muß ausgeſtanden haben; und ich haͤtte mich einmal in Karlsbad leicht mit einer Boͤhmin aus¬ geſoͤhnet, wenn ſie mich ihre Paruͤre, ohne daß ſie d'rinnen war, haͤtte beſchauen laſſen .. ¬

381

Dieſe Punkte ſtellen verrollte Zeitpunkte vor. Jezt ſind die Blinden heil, die Lahmen gehen, die Tauben hoͤren wach iſt naͤmlich alles: un¬ ter meinen Fuͤßen zerhaͤmmert der Schuhldiener ſchon den Sonntagszucker, meine Schweſter hat mich ſchon viermal ausgelacht, der Senior Setz¬ mann hat ſchon aus ſeinem Fenſter meinem Haus¬ herrn die noͤthigſten heutigen Religionsedikte zu¬ gepfiffen, die Uhr iſt wie Hiſkias Sonnenuhr, von der Wunderkraft des dekretirenden Pfeifens eine Stunde zuruͤckgegangen und ich kann eine laͤnger ſchreiben, bin aber dadurch mit meinem Pinſel aus meinem Morgen-Gemaͤhlde gekommen. Die Sonne ſteht meinem Geſichte gegenuͤber und macht mein biographiſches Papier zu einem blanken Mo¬ ſis Angeſicht; daher iſts mein Gluͤck, daß ich ein Federmeſſer und Baiern oder Spanien oder das Je¬ ſuiter-Deutſchland nehme naͤmlich Homanni¬ ſche Karten davon und mit dem Meſſer dieſe Laͤnder uͤber meinem Fenſter aufnagele und ein¬ pfaͤhle: ein ſolches Land haͤlt allemal die Mor¬ genſonne ſo[gut] ab und wirft ſo viel Schat¬ ten heruͤber als haͤtt 'ich die Taͤndelſchuͤrze oder das Pallium eines Fenſtervorhangs d'ran.

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Meine Feder faͤhrt jezt im Erdſchatten des Globus ſo fort: Wuz fuͤhrt in ſeinem Hauſe nicht drei geſcheuete Stuͤhle, keine Fenſtervorhaͤnge und Hauteliſſe-Tapeten. Indeß mein zu prunkendes Ammeublement in Scheerau ſteht: letz 'ich mich hier an dem jaͤmmerlichſten und ſage, ein Fuͤrſt weiſet kaum in einer artiſtiſchen Einſiedelei ein elenderes vor. Sogar den Kalender ſchreiben wir uns, ich und mein Hausherr, eigenhaͤndig wie Mitglieder der Berliner Akademie aber mit Kreide und an die Stubenthuͤre; jede Woche ediren wir ein Heft oder eine Woche von unſerem Almanach und wiſchen die Vergangenheit aus. Auf dem vierſchroͤtigen Ofen koͤnnen drei Paare tanzen, die er wie die jezigen Tragoͤdien trotz dem unfoͤrmlichen Apparate ſchlecht erwaͤrmen kann: es muß noch zu Hand - und Ta¬ ſchenoͤfen kommen, wenn man einmal aus den Berg¬ werken ſtatt der Metalle das Holz, womit man ſie jezt ausfuͤttert, wird holen muͤſſen ....

Ein Schoͤps wird entſetzlich gepruͤgelt, naͤmlich ſein todter Schenkel die zinnernen Pathenteller der zwei Wuziſchen Kinder werden abgestaͤubt mein Silber-Beſteck wird abgeborgt das Feuer knackt die Wuzin rennt ihre Kinder und Voͤ¬383 gel ſchreien. Alle dieſe Zuruͤſtungen zu einem viel zu großen Diner, das heute unten gegeben wird, hoͤr 'ich in mein Muſeum herauf: vielleicht ſind dieſe Zuruͤſtungen dem Range der zwei Gaͤſte, die das Traktement annehmen ſollen, angemeſſener als dem Stande der beiden Schulleute, die es geben. Ge¬ genwaͤrtigen Geſchichtſchreiber und ſeine Schweſter ſpeiſen ſie naͤmlich. Der Schuhldiener hatte ſich nebſt ſeinem Ammeublement einige Wochen in meine Stube eingepfarret, weil die ſeinige gleich der un¬ ſichtbaren Kirche reformieret wurde das Konſiſto¬ rium ſieht beides Reparaturen der[ſichtbaren] und der unſichtbaren Kirche ungern; daher invitirte er mich (aus Hofton) zum Dinieren.

Ich werde den Sektor erſt abends ausſchreiben, theils um mir nicht den Appetit weg zu denken, theils um mir draußen noch einigen zu erhinken, wo ich noch dazu ein Paar Emmerlinge und die Kir¬ chenleute ſingen hoͤren kann. Ueberhaupt, iſt der Nachſommer, der heute mit ſeinem ſchoͤnſten him¬ melblauen Kleide und der Ordens-Sonne darauf, auf den Feldern draußen ſteht, ein ſtiller Charfrei¬ tag der Natur und wenn wir Menſchen hoͤfliche Leute waͤren: ſo giengen wir da oͤfter ins freie384 und begleiteten den verreiſenden Sommer hoͤflich bis an die Thuͤre. Ich ſeh 'es voraus, ich wuͤrde mich heute an der milden Sonne die ein ſanft um uns ſchleichender Mond geworden iſt, und die im Nachſommer den weiblichen Artikel verdient, nicht ſatt ſehen koͤnnen, wenn ich nicht mein Auge nach Scheerau's Berge richten muͤſte, wo meine Guten wohnen und von wannen heute mein Doktor mich beſuchen wird.

Unter die Erde iſt der Tag und ſeine Sonne. Komme gluͤcklich heim, geliebter Freund! auf den Silber-Grund, den der Mond auf deinem Weg anlegt, mahle deine Seele das verlohrne Eden der Jugend und der ſchwarze Schatten, den du und dein ſcheues Roß auf den Strahlenboden werfen, muͤſſe euch nachſchwimmen, aber nicht voraus!

Warum ſind die meiſten Einwohner dieſes Buchs gerade Fenks Freunde? aus zwei recht vernuͤnftigen Gruͤnden. Erſtlich verquickt ſich das humoriſtiſche Queckſilber, das aus ihm neben der Waͤrme des Herzens glaͤnzt, mit allen Karakte¬ ren am leichteſten. Zweitens iſt er ein morali¬ ſcher Optimiſt. Zehn metaphyſiſche Optimiſten wuͤrd 'ich fuͤr einen moraliſchen auszahlen, dernicht385nicht ein Kraut wie die Raupe ſondern einen gan¬ zen Blumenflor von Freuden wie der Menſch zu genießen weiß der nicht fuͤnf Sinnen ſondern tauſend hat fuͤr alles, fuͤr Weiber und Helden, fuͤr Wiſſenſchaften und Luſtparthien, fuͤr Trauer - und Luſtſpiele, fuͤr Natur und fuͤr Hoͤfe. Es giebt eine gewiſſe hoͤhere Toleranz, die nicht die Frucht des weſtphaͤliſchen Friedens noch des Ver¬ gleichs von 1705 ſondern die eines durch viele Jah¬ re und Beſſerungen geſichteten Lebens iſt dieſe Toleranz findet an jeder Meinung das Wahre, an jeder Gattung des Schoͤnen das Schoͤne, an jeder Laune das Komiſche und haͤlt an Menſchen, Voͤl¬ kern und Buͤchern die Verſchiedenheit und Indivi¬ dualitaͤt der Vollkommenheiten nicht fuͤr die Ab¬ weſenheit derſelben. Nicht bloß das Beſte muß uns gefallen: auch das Gute und Alles.

Als die Leute aus der kleinen und ich aus der großen Kirche zuruͤck waren: fieng man im Wuzi¬ ſchen Hauſe das Dinieren an. Unſer Brodtherr empfieng das Gaſt-Paar mit ſeiner gewoͤhnlichen Freundlichkeit und mit einer ungewoͤhnlichen dazu: denn er hatte heute aus ſeiner Kirchenkollekte er kroch nach dem Gottesdienſt in alle Stuͤhle undB h386zog alle unter dem Einlegen niedergefallnen Pfen¬ nige magnetiſch an ſich eine anſehnliche Silber¬ flotte von 18 Pfennigen mitgebracht. Die Pracht des Mahls erdruͤckte in dieſer Stube das Vergnuͤ¬ gen nicht: Meſſer und Gabel waren wie ſchon ge¬ ſagt von Silber und von mir; aber wer ſollte nicht damit mit Vergnuͤgen an einer Tafel agiren, wo der Braten und die Sauce aus Einer Pfan¬ ne geſpeiſet werden? Unſere plats de menage waren vielleicht fuͤr einen Kurfuͤrſten zu koſtbar: denn ſie beſtanden nicht etwan aus Porzellain, Wachs oder aus Alabaſter-Saͤmereien auf Spie¬ gelplatten und waren nicht etwan bloß wenige Pfund ſchwer: ſondern die beiden Schaugerichte wogen ſechzig und waren vom naͤmlichen Meiſter und von der naͤmlichen Materie wie die Churfuͤr¬ ſtenbank, von Fleiſch und Blut, Wuzens Kin¬ der. Ein geiſtlicher Churfuͤrſt wuͤrde vor Vergnuͤ¬ gen keinen Biſſen eſſen koͤnnen, wenn er wie wir neben ſeiner Rieſentafel ein Zwerg-Taͤfelgen mit ſeinen Kleinen darum, ſtehen haͤtte. Ihr Tiſch war nicht viel groͤßer als eine Heeringſchuͤſſel; ſie ſahen aber auf Verhaͤltniß und ſpeiſeten auf dem lilliputiſchen Tafel-Service, wovon ſie ſeit Weih¬387 nachten mehr ſpielenden als ernſthaften Gebrauch gemacht hatten. Die Kleinen waren außer ſich, ihr Fleiſch auf Oblaten von Tellern und mit Haarſaͤ¬ gen von Meſſern zu trenchieren Spiel und Ernſt floſſen hier wie bei eſſenden Akteurs in einander und am Ende ſah 'ich, daß es bei mir auch ſo war und daß mein Vergnuͤgen von erkuͤnſtelter Kleinheit und Armſeligkeit kaͤmen.

An der großen Tafel gieng andere Tafeln kehren es um das individuelle Geſpraͤch bald ins allgemeine uͤber; ich und der Kantor ſagten jeden Augenblick, der Preuße, der Ruſſe, der Tuͤrk und verſtanden (gleich dem Premierminiſter) unter der Nation den Regenten derſelben. Ich hatte heute eine ſolche beſondre Freude an erbaͤrmlichen Sitten, daß ich mir jeden Biſſen hinein predigen ließ und daß ich uͤber zwanzig Geſundheiten trank. Frauenzimmer von Stande koͤnnen ſonſt nicht ſo leicht wie Maͤnner, ſich zu unfriſierten Leuten her¬ unterbuͤcken, am wenigſten zu denen von weibli¬ chen Geſchlecht; aber meine Schweſter verdienet, daß ihr Bruder ihr in ſeinem Buche das Lob der ſchoͤnſten liebreichſten Herablaſſung ertheilt. Je weiblicher eine Frau iſt, deſto uneigennuͤtziger undB b 2388menſchenfreundlicher iſt ſie; und die Maͤdgen be¬ ſonders, die das halbe menſchliche Geſchlecht lie¬ ben, lieben das ganze von Herzen. Z. B. von der Reſidentin von Bouſe weiß man nicht, ſchenkt ſie Armen oder Maͤnnern mehr. Alte Jungfern ſind geizig und hart. Mein Doktor und eine Bouteille Wein kamen als Deſert. Da er im ge¬ genwaͤrtigen Buche alle Wochen lieſet: ſo will ich ihn darin lieber ſchelten als preiſen. Am beſten iſts, ich webe hier ein Zwitterding, was ihn bei man¬ chen weder lobt noch tadelt, ein ſeine herzliche Zuneigung gegen das weibliche Geſchlecht, die zwi¬ ſchen gefuͤhlloſer Galanterie und Feuer-Liebe mit¬ ten innen ſteht. Dieſe naͤmliche Zuneigung ſtehet unſerem Geſchlechte gut, aber dem weiblichen nicht und meine Schweſter iſt doch von dieſem. Die Sa¬ che kam bloß von ihrem linken Ohre her. Das Ohrgehenk hatte ſich durch das Ohrlaͤpgen durchge¬ riſſen; ſie haͤtte aber fuͤglich bis auf den Montag warten koͤnnen, wo ihr Bruder es ihr wie einem juͤdiſchen Knecht auf die geſchickteſte Weiſe wuͤrde durchloͤchert haben. Allein heute muſt 'es ſeyn und ſein Doktorhut war der Betſchirm ihrer Abſicht. Es haͤtte gemahlet werden ſollen, wie der arme389 Peſtilenziarius das Ohrlaͤpgen zwiſchen den drei Vorderfingern ſcheuerte und rieb wie ein offizi¬ nelles Blatt, an das man riechen will, um es geſchwollen und unempfindlich zu machen. Nichts iſt mir und dem Medizinalrath gefaͤhrlicher, als wenn wir nur mit zwei, drei Fingern an ein Frauenzimmer picken und anſtreichen mit dem ganzen Arm hinan zu kommen, iſt fuͤr uns ohne alle Gefahr; ſo wie etwann die Neſſeln weit mehr brennen, leiſe beſtreift als hart gefaſſet. Vielleicht iſts mit dieſem Feuer wie mit dem elektriſchen, das durch die Fingerſpitzen mit groͤßerem Strome in den Menſchen faͤhrt als durch eine große Flaͤche. Meine Schweſter gieng weiter und brachte einen Apfel; der Doktor muſte mit ſeinen Pulsfingern das rothe Ohrlaͤpgen an den Apfel preſſen und dann eine Zitternadel oder was es war durch die¬ ſes Organ, das die Maͤdgen weit ſeltner als das naͤchſte ſpitzen, druͤcken nun konnte hinange¬ ſchnallet und hineingeknoͤpfet werden was dazu paßt. Der Stahl kettete beinahe den Operateur ſelber an ihr Ohr: mit nichts ſtrickt eine Schoͤne uns mehr an ſich als wenn ſie uns Anlaß giebt, ihr eine Gefaͤlligkeit zu thun ſagte der Doktor390 ſelber und erfuhr es ſelber. Daher klagte der Ope¬ rateur und Ohren-Magnetiſeur, es ſei ſchwer, eine Schoͤne zu kurieren und doch nicht zu lieben und ſeine erſte Patientin hab' ihn beinahe zu ei¬ nem Patienten gemacht. Gegen den Doktor hab 'ich nichts; er ſei immer ein Kosmopolit in der Liebe aber, Schweſter, ich wollte, du waͤreſt ſchon zu Bette, weil ich keine Minute, in der ich nur drei Schritte auf - und abthue, ſicher bin, daß du nicht in mein Manuſkript ſchieleſt und lie¬ ſeſt was ich an dir tadle? ach ich tadle weni¬ ger als ich bedauere deine ſo niedlich um fremden und eignen Kummer ſpielende Laune und dein aus den weichſten Fiebern geſponnenes Herz, daß die blanke Krone ſcheuer Weiblichkeit, die alle dieſe Vorzuͤge erſt putzt und hebt, in den volkrei¬ chen Zimmern der Reſidentin ein wenig ſchwaͤrzlich angelaufen iſt wie Silber im ſumpfigen Holland und daß deiner Tugend, der nichts fehlet, die Geſtallt der Tugend fehlt! o Eltern! euere Jungen machen ſich in der Hoͤlle kaum ſchwarz; aber fuͤr euere Toͤchter und ihren ſchneeweißen Anzug iſt kaum der Himmel geſcheuert und ſauber genug!

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Sie ſind ſelten ſchlechter als ihre Geſellſchaft, aber auch ſelten beſſer. Dieſer geiſtige Wein zieht den Obſtgeſchmack, der Eva's und Paris-Aepfel, die um ihn liegen, ein; er ſchmeckt alsdann noch gut, aber nur wie Wein nicht.

Der Doktor gab mir uͤber Guſtavs Lage viel Licht, das zu ſeiner Zeit den Leſern wieder gege¬ ben werden ſoll.

Eine gewiſſe Perſon, die faſt alle 14 Tage nachlieſet was ich geſchrieben, iſt ſatiriſch und fragt mich auf welchem Bogen, ob auf dem Bogen Aaa oder Zzz, der fernere Liebeshandel zwiſchen Paul und Beata bearbeitet werde ſie fragt ferner, obs dem Leſer ſchon erzaͤhlt iſt, daß der kokettiren¬ de Paul Verſe, Silhuetten, Bouquets und Ada¬ gios ſeitdem gemacht, um ſein Herz auf dieſen Deſerttellern, auf dieſen durchbrochnen Compotie¬ ren, in dieſen Konfektkoͤrbgen zu bringen und zu praͤſentiren dieſe fatale mokante Perſonage fraͤgt endlich, obs der Welt ſchon berichtet iſt, daß aber Beata ſich nichts ausgebeten als das leere Koͤrb¬ chen und den leeren Deſertteller .... Im Grund 'aͤrgert mich dieſe Maliz niemals; aber der Doktor Fenk und der Leſer haben offenbar die boshafteſte392 Geſchicklichkeit, Herzens-Sachen falſch zu ſtellen und zu ſehen Wahrhaftig es war bisher lauter Scherz, meine vorgegebene Liebe; und wenn ſie keiner war: ſo muͤſte ſie einer werden, weil ich einen ſo ſchoͤnen und ſo verdienſtvollen Nebenbuh¬ ler als ich wie es ſcheint an Guſtav bekommen ſoll, nicht einmal uͤberfluͤgeln und verdunkeln moͤchte, wenn ich auch koͤnnte oder duͤrfte, wie doch hof¬ fentlich nicht iſt ....

Ende des erſten Theils.

Druckfehler.

Erſter Theil.

  • Seite Zeile.
  • III 8 lies meinen ſtatt einen
  • XI 7 von unten l. Arcuccio ſt. Arueoio
  • 10 14 l. einander ein ſt. einander; ein
  • 22 7 von unten l. nachkuͤßte ſt. noch kuͤßte
  • 31 6 l. nicht gern ſt. gern
  • 40 6 von unten l. Korton ſt. Karton
  • 48 6 von unten l. wieder ſt. nieder
  • 80 5 von unten. l. Jahre der ſt. Jahre. De[r]
  • 87 4 von unten l. Figurant ſt. figurant
  • 89 letzte Zeile l. fließet ſt. ſchießet
  • 91 10 von unten l. errathen ſt. erroͤthen
  • 98 9 l[.]Nonen ſt. Nonnen
  • 101 3 von unten l. fromm ſt. Frau
  • 112 15 l. iſolierter ſt. inſolirter
  • 129 9 l. anguina ſt. angina
  • 145 8 l. keine ſt. keinen
  • 163 10 l. borgte ſt. bergte
  • 196 8 l. Ruͤmpfe ſt. Suͤmpfe
  • 17 l. Granit ſt. Grammt
  • 197 6 l. keiner ſt. einer
  • 208 7 von unten l. Veimer ſt. Reimer
  • 218 4 l. nicht deswegen ſt. nicht. Deswegen,
  • 219 9 l. mir ſt. nur
  • 224 5 von unten l. Rappeemuͤhle ſt. Kapper¬ muͤhle
  • 252 6 l. Facetten ſt. Jacetten
  • 261 4 l. Kollegien ſt. Kollegen
  • 281 11 l. Genius ſt. Genuß
  • 296 4 von unten l. Gott ſt. Art
  • 317 11 l. ſeiner ſt. keiner
  • 342 6 von unten l. mir aber, es ſt. mir, aber es
  • 370 6 von unten l. der Ehre ſt. Ehre der
  • 374 12 l. und ſt. um
  • 383 12 l. ſichtbaren ſt. unſichtbaren

Die Ruinen und Truͤmmer vom genialiſchen Geiſte und Karakter des einen jener hingeſchied¬ nen Menſchen, (Hermann) werd 'ich naͤchſtens dem Publikum uͤbergeben.

About this transcription

TextDie unsichtbare Loge
Author Jean Paul
Extent433 images; 68481 tokens; 14306 types; 480214 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie unsichtbare Loge Eine Biographie Erster Theil Jean Paul. . [1] Bl., XXIV, 392 S. MatzdorffBerlin1793.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Yw 1121-1<b> Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=660106329

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr

Editorial statement

Editorial principles

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T09:32:38Z
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ShelfmarkSBB-PK, Yw 1121-1<b> R
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