Guſtavs Brief — Fürſt mit ſeinem Friſierkamm.
Jetzt iſt Guſtav im alten Schloſſe — ſein Schau¬ platz hob ſich bisher taͤglich, von der Erden¬ hoͤle in eine Ritterburg, dann in ein Kadetten - Philantropin, endlich in ein Fuͤrſtenſchloß. Der reiche Oefel miethete es, weil es ans neue ſtieß, wo der Blocksberg der großen Welt von Scheerau war. Die Reſidentin von Bouſe hatte beide von ihrem Bruder geerbt, der hier unter ihren Kuͤſſen und Thraͤnen verſchied. Die Natur hatte ihr alles gegeben, was das eigne Herz hebet und das frem¬ de gewinnt; aber die Kunſt hatte ihr zuviel gege¬ ben, ihr Stand ihr zuviel genommen — ſie hatte zu viele Talente, um an einem Hofe andre Tu¬ genden zu behalten als maͤnnliche; ſie vereinigte Freundſchaft und Koketterie — Empfindung und Spott — Achtung der Tugend und Philoſophie der Welt — Sich und unſern Fuͤrſten. Denn dieſer war ihr erklaͤrter Liebhaber, dem ſie ihr Herz mehr aus Ehre als aus Neigung ließ. Sie war zu et¬2. Theil. A2was beſſerem gemacht als zu ſchimmern; aber da ſie zu nichts Gelegenheit hatte als zum Schimmern: ſo vergaß ſie, daß es jenes beſſere gebe. Aber wer zu etwas hoͤherem geboren iſt als zur Welt - oder Hofgluͤckſeligkeit: der fuͤhlt in bittern Stun¬ den ſeine verſaͤumte Beſtimmung. — Es wird ſich hieher eine neue Urſache ſchicken, die Oefeln aus Scheerau warf: er ſollte und wollte auf fuͤrſt¬ lichen Befehl fuͤr den Geburtstag der Reſidentin ein Geburtstagsdrama auf der Drehſcheibe ſeines Pultes formen. Das Drama ſollte Beziehungen haben. Auf dem Liebhabertheater zu Oberſcheerau — wo der Fuͤrſt nicht wie auf dem Kriegstheater Figurant ſondern erſter Akteur war und wo er ei¬ ne ordentliche Hoftruppe erreichte und erſparte — ſollte es vom Fuͤrſten, von Oefel und einigen andern geſpielet werden. Der Fuͤrſt hatte noch Au¬ gen, die Reſidentin anzublicken, noch eine Zun¬ ge, ſie zu lieben, noch Tage, es ihr zu beweiſen, noch ein Theater, ihr zu huldigen: gleichwohl haßte er ſie ſchon, weil ſie zu edel fuͤr ihn war; denn ſeine Theaterrolle ſollte (wie unten gedruckt werden ſoll) mehr ihm als ihr Dienſte thun. — Oefel (der Ambaſſadeur und Hoftheaterdichter und3 Akteur auf einmal war, weil ein ſchlechter Unter¬ ſchied iſt) malte in ſein Drama Beaten hinein und wollte ihr durch ihre Kopie ſchmeicheln und hofte, ſie wuͤrde mit agiren und ihr Portrait zu ihrer Rol¬ le machen. Alles das dacht 'er von Guſtav auch; aber unten werden wir eben ſehen.
Guſtav war im alten Schloſſe — indeß uͤber ſeine Ohrennerven alle Viſitenraͤder giengen und alle Beſuchs-Prozeſſionen um ſeine Augen ſchwaͤrm¬ ten, — todten-allein. Er arbeitete ſich in ſeine kuͤnftige Beſtimmung hinein: mehr als funfzig Legazionsſekretaire werden denken, er lernte Brie¬ fe und Herzen aufmachen, Weiber und Berichte deſchiffriren, Amour, Cour und Spitzbuͤbereien machen — die funfzig Sekretaire irren; ſie wer¬ den ferner denken, er lernte kleinſchreiben, um das Porto zu ſchwaͤchen, ferner Chiffern und Titel machen, ferner wiſſen, weſſen Name im oͤffent¬ lichen Inſtrument, das an drei Potenzen koͤmmt, zuerſt ſtehe — und daß jede Potenz in ihrem In¬ ſtrument zuerſt ſtehe — ſie haben Recht; aber er that mehr: er lernte in der Einſamkeit die Geſell¬ ſchaft ertragen und lieben. Fern von Menſchen wachſen Grundſaͤtze; unter ihnen Handlun¬A 24gen. Einſame Unthaͤtigkeit reift auſſer der Glas¬ glocke des Muſeums zur geſelligen Thaͤtigkeit und unter den Menſchen wird man nicht beſſer, wenn man nicht ſchon gut unter ſie koͤmmt.
Seine Geſchaͤfte giengen in ſchoͤne Unterbrechun¬ gen uͤber. Denn vor ſeinem Fenſter drauſſen ſtand die ſchoͤne und faſt kokette Natur von Paris-Aep¬ feln umhangen und mitten in ihr eine Spatziergaͤn¬ gerin, die die Aepfel alle verdiente. Wer kanns ſeyn als — Beata? — Gieng ſie in den Park: ſo wars ihm eben ſo unmoͤglich, ihr nachzuſpatziren als ihr nicht nachzuſchauen durchs Fenſter und ſei¬ ne Augen ſuchten aus dem Gebuͤſche alle vorbei¬ blinkende Baͤnder heraus. Wandelte ſie ruͤckwaͤrts mit dem Geſichte gegen ſeine Fenſter: ſo trat er nicht bloß von dieſen, ſondern auch von der Gar¬ dine ſo weit wie moͤglich zuruͤck, um ungeſehen zu ſehen. Vielleicht, (aber ſchwerlich,) kehrten ſich die Rollen um, wenn er nach ihr ſich auf ihre Gaͤn¬ ge wagte, die fuͤr ihn Himmelswege waren. Eine herabgewehte Roſe, die er einmal in der dunkel¬ ſten Nacht unter ihrem Fenſter aufhob, war eine Ordensroſe fuͤr ihn, ihr welker Honigkelch war das Potpourri ſeiner ſchoͤnſten Traͤume und ſeines5 Freuden-Flors — ſo legeſt du, hohes Schickſal, fuͤr den ewigen Menſchen ſeinen Himmel oft unter ein falbes Roſenblatt, oft auf den Bluͤthenkelch eines Vergißmeinnichts, oft in ein Stuͤck Land von 305,000 Quadratmeilen. —
Wer zu viel verziehen hat: will ſich nachher raͤchen. Guſtavs Freundſchaft gegen Amandus war in eine ſo hohe Flamme aufgeſchlagen, daß ſie nothwendig Aſche auf ihren Stoff herunterbrennen mußte — wenn er Beaten nachblickte, blickte er auf Amandus zuruͤck und tadelte ſich ſo oft, daß er anfangen mußte, ſich zu rechtfertigen. Was vom Aſchenberg, worunter ſeine Liebe glimmte, abgetragen wurde, wurde dem Aſchenberge ſeiner Freundſchaft zugeſchuͤttet. Gleichwohl wuͤrde er zu je¬ der Stunde alles fuͤr Amandus aufgeopfert haben, was unſern Guſtav ſelber aufgeopfert haͤtte — o ihr ſeid die Seelen, die nicht bloß die Kraft ha¬ ben, aufzuopfern — ſondern auch die Begierde, ja die Manie dazu. Das Leben, das Guſtav jetzt von Fruͤhling und Garten und Wuͤnſchen der Liebe umgeben genoß, ſoll er ſelber malen in ſeinem Briefe an mich. Dieſen Brief werden freilich die verwerfen, die vor dem Natur-Schauſpiel als kal¬6 te Zuſchauer, als entfernte Logen-Paͤchter ſtehen; aber es giebt beſſere und ſeltnere Menſchen, die ſich fuͤr hineingeriſſene Spieler und jede Grasſpitze fuͤr beſeelt anſehen, jedes Kaͤferchen fuͤr ewig und das unbaͤndige Ganze fuͤr ein unendliches ſchlagendes Aderſyſtem, in welchem jedes[Weſen] als ein ſau¬ gendes und tropfendes Aeſtchen zwiſchen, kleinern und groͤßern pulſirt und deſſen volles Herz Gott iſt. — —
Heute ſtieg ich zum zweitenmale aus meiner Hoͤle in die unendliche Welt — alle meine Adern fluten noch vom heutigen Nachmittage, mein Blut moͤchte ſich mit den Erden um die Sonnen drehen und mein Herz mit den Sonnen um das funkelnde Ziel, das neben dem Schoͤpfer ſteht ...
Die Nachtluft, die mein Licht umkruͤmmt, kuͤhlet mich vergeblich ab, wenn ich nicht die bren¬ nende Bruſt vor dem Auge des Freundes aufdecke und ihm alles ſage. Ich nahm Nachmittags mein Reißzeug, womit ich bisher ſtatt der Landſchaf¬ ten die Feſtungen, die ſie verwuͤſten, ſchaffen muͤſ¬ ſen und gieng ins ſtille Land hinaus. Der Erdball7 glitt ſo leiſe wie der Schwan unter den Blumen¬ inſeln, an die ich mich lagerte, durch den Aether - Ozean dahin, der freundliche Himmel buͤckte ſich tiefer zur Erde nieder, es war dem Herzen als muͤßt 'es im ſtillen weiten Blau zerflieſſen, als muͤßt' es von Fernen ein verhalltes Jauchzen hoͤren und es ſehnte ſich nach arkadiſchen Laͤndern und nach einem Freund, vor dem es zergieng: — — Ich ſetzte mich mit der Reißfeder auf einen kuͤnſtli¬ chen Felſen neben dem See und wollte meine Aus¬ ſicht zeichnen — die einander umarmenden Erlen¬ baͤume, die das Ende des umgekruͤmmten Sees zuhuͤlleten und belaubten — die bunte Reihe der Blumeninſeln, um deren jede ſchon ein doppeltes Blumenſtuͤck ihrer geſchmuͤckten Inſulanerin gema¬ let ſchwamm, naͤmlich das bunte Blumenbild, das unter dem Waſſer zum Spiegel-Himmel hinunter¬ gieng, und der Schattenriß, der auf dem zittern¬ den Silbergrunde ſchwankte — und die lebendige Gondel, der Schwan, der zu meinen Fuͤßen ſich vielleicht in hungriger Hoffnung drehte; — — aber als die ganze hoch aufgerichtete Natur mir ſaß und mich mit ihren Strahlen ergriff, die von einer Sonne zur andern reichen: ſo betete ich an was8 ich nachfaͤrben wollte und ſank Gott und der Goͤt¬ tin zu Fuͤßen ....
Ich ſtand auf mit gelaͤhmter Hand und uͤber¬ gab mich dem ſteigenden Meere, das mich hob. — Ich gieng jetzt an alle Ecken der großen Tafel mit Millionen Gedecken fuͤr koloſſaliſche Gaͤſte und fuͤr unſichtbare: denn meine Bruſt war noch nicht voll und ich ließ die Wellen, die hineinſchlugen, leidend in mir ſteigen. — Ich draͤngte mich in den tiefſten Schatten der Schattenwelt, in den die in einen Stern zergangne Sonne entlegner ſchimmer¬ te. — Ich gieng im Fichtenwald vor dem Gezaͤnk der Kohlmeiſe und dem einſamen Wuͤſtenlaut der Droſſel voruͤber unter die ſingende Lerche heraus — Ich gieng im langen Abendthal an dem bewohnten Bach hinauf und ein entzuͤcktes Weſenchor gieng mit mir, die hineingetauchte Sonne und die Muͤcke mit ihrem Schrittſchuh-Fuͤßen liefen neben mir auf dem Waſſer weiter, die großaͤugige Waſ¬ ſerlibelle floß auf einem Weidenblatte dahin, ich watete durch gruͤnes aus - und einathmendes Leben, umflogen, umſungen, umhuͤpfet, umkrochen von freudigen Kindern kurzer warmer Augenblicke. — Ich gieng auf den Eremitenberg und meine Bruſt9 war noch nicht von dem einſtroͤmenden Großen voll dem ſie leidend offen ſtand. — — — Aber dort richtete ſich die liegende Rieſin der Natur vor mir auf, in den Armen tauſend und tauſend ſaͤugende Weſen tragend — und als meine Seele vom Ge¬ draͤnge der unzaͤhligen bald in Muͤckengold gefaßter Seelen, bald in Fluͤgeldecken inkruſtirter, bald mit Zweifalters-Gefieder uͤberſtaͤubter, bald in Blu¬ menpuppen eingeſchloſſener Seelen angeruͤhret wur¬ de in einer unendlichen unuͤberſehlichen Umarmung — und als ſich vor mir uͤber die Erde legten Ge¬ buͤrge und Stroͤme und Fluren und Waͤlder und als ich dachte, alles dieſes fuͤllen Herzen, die die Freude und die Liebe bewegt und vom großen Men¬ ſchen-Herz mit vier Hoͤlungen bis zum eingeſchrumpf¬ ten Inſektenherz mit Einer und bis zum Wurms - Schlauch nieder, ſpringt ein fortſchaffender, ewi¬ ger, eine Generation um die andre[entzuͤndender] Funke der Liebe ....
.... Ach dann breitete ich meine Arme hin¬ aus in die flatternde zuckende Luft, die auf der Erde bruͤtete, und alle meine Gedanken riefen: o waͤreſt du ſie, in deren weiten wogenden Schoos der Erdball ruht, o koͤnnteſt du wie ſie, alle10 Seelen umſchlieſſen, o reichten deine Arme um al¬ les wie ihre, die da beugen das Fuͤhlhorn des Kaͤ¬ fers und das bebende Gefieder des Lilienſchmetter¬ lings und die zaͤhen Waͤlder, die da ſtreicheln mit ihrer Hand das Raupenhaar und alle Blumen-Auen und die Meere der Erde, o koͤnnteſt du wie ſie an jeder Lippe ruhen, die vor Freude brennt, und kuͤhlend um jeden gequaͤlten Buſen ſchweben, der ſeufzen will. — — O hat denn der Menſch ein ſo ſchmales verſperrtes Herz, daß er vom gan¬ zen Reiche Gottes, das um ihn thront, nichts lie¬ ben, nichts fuͤhlen kann als was ſeine zehn Fin¬ ger faſſen und fuͤhlen? Soll er nicht wuͤnſchen, daß alle Menſchen und alle Weſen nur Einen Hals, nur einen Buſen haben, um ſie alle mit einem einzigen Arm zu umſchlieſſen, um keines zu ver¬ geſſen und in geſaͤttigter Liebe nicht mehr Herzen zu kennen als zwei, das liebende und das gelieb¬ te? — Heute wurd 'ich mit der ganzen Schoͤpfung verbunden und ich gab allen Weſen mein Herz ...
Ich kehrte mich nach Oſten gegen das neue Schloß und gegen Auenthal: hinter dem Auen¬ thaler Wald brauſete durch einen zerbrochnen Re¬ gen-Schwibbogen ein aufgerichteter Ozean — ichII ſtand hier einſam in einer weiten Stille — ich wand¬ te mich zur heruntergegangnen Sonne, ich dachte daran, daß ich ſie einmal fuͤr Gott gehalten, und es fiel heute ſchwer auf mich, daß ich den, ders war, bisher ſo ſelten gedacht — „ o Du, Du!” rief ſo nahe an ihm mein ganzes Weſen — aber allen Spra¬ chen und allen Herzen und allen Gefuͤhlen entfaͤllt vor ihm die Zunge und Beten iſt Verſtummen, nicht bloß mit den Lippen, auch mit dem[Gedan¬ ken] .... Aber der große Geiſt, der die Schwaͤ¬ che des guten Menſchen kennt, hat ihm Mitbruͤ¬ der herabgeſandt, damit der Menſch ſich vor dem Menſchen oͤfne und vor ihnen das Gebet, in dem er verſtummte, vollende. — —
O Freund meiner ſchoͤnſten Jahre! der du Dankbarkeit und Demuth in meinem Innerſten be¬ feſtigt haſt, dieſe hab’ ich gefuͤhlt als ich auf dem Eremitenberg mich einſam uͤber das geſchaffne Ge¬ wuͤrm erhob und fuͤhlte, was der Menſch fuͤhlt aber nur er auf der Erde — als ich einſam vor dem bis ins Nichts hinausreichenden großen Spie¬ gel, an den ſich das Inſekt mit Fuͤhlhoͤrnern ſtoͤſ¬ ſet, mit Menſchenaugen knien konnte, vor dem Spiegel, aus dem der unendliche Sonnen-Rieſe12 flammt ..... Nein: in Erdfarben und auf der Leinwand von Thierfellen und auf allem was vor mir liegt, iſt bloß das Bild des Ur-Genius; aber im Menſchen iſt nicht ſein Bild, ſondern er ſelbſt ....
Die Sonne gluͤhte noch halb uͤber dem Erd¬ ball, der ſie zerſchnitt; aber ich ſah ſie durch mein zerrinnendes Auge nimmer, vergangen, ver¬ ſtummt, verhuͤllt, verſunken im treibenden, flam¬ menden, reiſſenden, uferloſen Meere um mich ...
Die Sonne nahm den entzuͤckten Tag mit hin¬ unter; und jetzt ſteht der Aether-Diamant, den die Nacht ſchwarz einfaſſet, der Mond, uͤber die¬ ſen zugehuͤllten Szenen und ſtrahlet wie andre Dia¬ manten den entlehnten Schimmer aus .... O du ſtille Mitternachts-Sonne! du ſchimmerſt und der Menſch ruht, deine Strahlen beſaͤnftigen das ir¬ diſche Toben, deine herunterrinnende Funken wie¬ gen wie ein ſchimmernder Bach den liegenden Men¬ ſchen ein und der Schlaf bedeckt dann wie eine Gra¬ beserde das ruhende Herz, das trocknende Auge und das ſchmerzenloſe Angeſicht .... Leben Sie wohl und die weiſſe Lunens-Scheibe zeig 'Ihnen13 alle Paradieſe der vergangnen und alle Paradieſe der zukuͤnftigen Jugend ... Guſtav.
So weit war er, als Oefels Bedienter mit ei¬ nem Paket an ihn in ſeine Stube trat, das leich¬ ter als die kaͤlteſte Nachtluft und der waͤrmſte Brief die Bewegungen ſeiner Seele anhielt und abkuͤhlte. Ein Brief vom[Doktor] lag mit der Nachricht dar¬ in, daß die Frau von Roͤper ihm in Mauſſenbach gegenwaͤrtiges Portrait mitgegeben, das ihre Tochter fuͤr ihr eignes verlornes gehalten, auf deſ¬ ſen Ruͤcken aber der Name Falkenberg ſtehe und alle uͤbrige Aehnlichkeiten widerlege. So lieb ihm das Portrait war, ſo aͤrgerlich wars ihm, da es jetzt ein neuer Beweis ſeiner Vermuthung war, Mutter und Tochter haſſeten ihn wegen des Korn - Avertiſſements. Die Spinne des Haſſes, die bei jedem Menſchen uͤber eine Ecke der Herzkammer ihr Geſpinnſte haͤngt — nur uͤberſpinnen große Kanker in manchem alle vier Kammern mit ihren fuͤnf Spinn¬ warzen — lief auf ihren Faͤden hervor, die Aman¬ dus erſchuͤttert hatte und wollte Fang; kurz die kal¬ te Faͤrbershand beruͤhrte ſein Herz und macht 'es ein wenig kaͤlter gegen ſeinen Amandus, deſſen14 feines durch das zuruͤckgehende Portrait waͤrmer ge¬ worden war. Die geſtoͤrte Liebe macht den beſten Menſchen nicht beſſer, bloß die gluͤckliche.
In ſieben Minuten wars vorbei: denn im gei¬ ſtigen Menſchen iſt die naͤmliche herrliche Einrich¬ tung wie im phyſiſchen, daß um eine bittere, ſcharfe Idee ſo lange andre Ideen wie mildere Saͤf¬ te zuflieſſen bis ſie ihre Schaͤrfe verduͤnnt und er¬ ſaͤuft haben. Das Portrait wurde jetzt die zweite gefundene Roſe; es war angehaucht mit Leben und Roſenduft durch die ſchoͤnſten Augen und Lip¬ pen, die auf ihm geweſen waren.
Jezt ſah er ſie einige Zeit nicht im Garten, aber dafuͤr den Fuͤrſten mit und ohne die Reſiden¬ tin. Gehet aus dem ſtillen Lande in euer rauſchen¬ des! ihr genießet doch die ſchoͤne Natur nur als eine groͤßere Landſchaft, die in euerem Bilderkabi¬ net oder an der Leinwand euerer Operntheater haͤngt, oder als eine unermeßliche Tafel - und Ka¬ min-Verzierung, wo euch die Felſen von Bims¬ ſtein und die Baͤume von Moos geformet vorkom¬ men, hoͤchſtens als den groͤſten engliſchen Park, der neuerer Zeiten in Europa an irgend einem Hofe anzutreffen iſt. — In allen Seſſionszimmern15 war jezt wegen der Kanikularferien Votier-Wind¬ ſtille — im Winter koͤnnte man wegen der Kaͤlte Froſtferien und eben ſo gut einen Winterſchlaf der Geſchaͤfte als die Sommer-Sieſte derſelben, in Gebrauch ſetzen, wie denn auch die bekannten Thiere beider Extreme wegen zu Hauſe bleiben muͤſſen — mithin konnte der Miniſter leichter mit dem Fuͤrſten abkommen und beide waren laͤnger da. Ohne mich wuͤrde der Leſer nie erfahren, war¬ um das fuͤrſtliche Daſeyn Anlaß war, daß Beata das ſtille Land gegen ihr ſtilles Zimmer vertauſchte. So wars: unſer Fuͤrſt iſt zwar ein wenig hart, ein wenig geizig und weidet ſeine Heerde oͤfter mit dem Hirtenſtabe als mit der Hirtenfloͤte; aber er wird eben ſo gern ein Schaͤfer in einem ſchoͤnern Sinn und geht gern vom Throne, wo ihn die Landeskinder anbeten, zu jeder Staffel deſſelben herunter, um ſelber ein ſchoͤnes anzube¬ ten — er kann zwar das Volk, aber keine Schoͤ¬ ne ſeufzen hoͤren; er wendet aͤmſiger eine geſell¬ ſchaftliche Verlegenheit als eine Theuerung ab; er bleibet lieber den Landſtaͤnden als ſeinem Gegenſpie¬ ler etwas ſchuldig und bauet keine abgebrennte Stadt, aber eine demolierte Friſur willig wieder16 auf. Kurz der Fuͤrſt und der Geſellſchafter ſind in ſeinen Herzkammern Wandnachbarn, ob gleich Todtfeinde. Dieſer Geſellſchafter ſubdividirte ſich wieder in zwei Liebhaber, in den kurzen und in den langen. Seine lange oder perennirende Liebe beſteht in einer kalten verachtenden Galanterie und in dem Vergnuͤgen an der Feinheit, an dem Wi¬ tze und an der Grazie, womit er und der geliebte Gegenſtand ihre gegenſeitigen Siege zu dekoriren wiſſen. Seine kurze Liebe beſteht in ſeinem Ver¬ gnuͤgen an jenen Siegen, in ſo fern ſie jene De¬ koration nicht haben. Damit man dieſes unſchuldi¬ ge Paſquil auf Einen nicht fuͤr Satire auf die meiſten Großen halte, ſo will ich ſo fortfahren:
Lange Liebe hegt 'er gegen die Reſidentin, bei deren Gunſtbezeugungen man nicht ſagen konnte, das iſt die unſchuldigſte — die erſte — die letzte. Eine ſolche Immobiliarliebe durchflocht er zu glei¬ cher Zeit mit hundert kurſoriſchen Sekunden-Ehen oder Liebſchaften und uͤber dem ſchleichenden Mo¬ natszeiger der langen fixen Liebe oder Ehe wirbelte ſich der fliegende Terzienweiſer der abbrevierten Ehen unzaͤhligemal um.
Dar¬17Darwider hatte die Reſidentin nichts — ſie konnte auf die naͤmliche Weiſe durchflechten — dar¬ wider hatt 'er nichts.
In dieſen kurzen Ehen thun die Großen viel¬ leicht manches Gute, uͤber das Moraliſten wegſe¬ hen, die lieber ihre Druckboͤgen als die Popula¬ tionstabellen voll haben wollen. Gleich jun¬ gen Autoren laßen junge Große ihre erſten Eben¬ bilder anonym oder unter geborgten Namen er¬ ſcheinen; und ich kann zu Monteſquieu's Bemer¬ kung, daß das Namengeben der Bevoͤlkerung nuͤtze, weil jeder ſeinen fortzupflanzen trachte, nichts ſetzen als meine eigne, daß die Namen¬ loſigkeit ihr noch beſſer forthelfe. In der That geht es hierin den erhabenſten Perſonen, wie den griechiſchen Kuͤnſtlern, die unter die ſchoͤnſten Statuen, womit ihre Hand Tempel und We¬ ge ausſchmuͤckte, ihren Vaternamen nicht ſetzen durften; indeſſen findet der pfiffige Phidias auch ſeine Nachahmer, der ſtatt des Namens ſein altes Geſicht an der Statue Minervens ein¬ machte.
Der Fuͤrſt hatte im Sinn, Beaten, die ihm zu viel Unſchuld und zu wenig Koketterie zu haben2. Theil. B18ſchien, eine kurze Liebe anzubieten. Ihr Wider¬ ſtand machte, daß er auf eine laͤngere dachte. Unter den Augen der Reſidentin waren vor ihm alle ihre Sinne geſichert, nur das Ohr nicht — im Park keiner. Die Reſidentin, die wuſte, daß ihr Geiſt ſich fuͤr jede Minute in einen neuen Koͤr¬ per umwerfen koͤnne, indeß ihre Nebenbuhlerin nicht mehr hatte als einen, in dem noch dazu weiter nichts als Unſchuld und Liebe ſteckte, dieſe ſah die ganze Affaire mit keinen andern Augen an als[ſatiriſchen]. So weit wars als der Fuͤrſt in den Hundstags-Interregnum kam und am andern Morgen ſtatt des Szepters nichts in der Hand hatte als den Friſierkam und den Kopf der Reſiden¬ tin. Er hatt 'es an ſeinem Hofe Mode gemacht; jeder Kammerherr bis auf den Hofdentiſten herun¬ ter hatte ſeitdem ſeine preteuſe de tête, um an ihrem Kopfe ſo viel zu lernen als er am Kopfe einer ſchoͤnern preteuſe auszuuͤben hatte — Es war eben ſo nothwendig, daß man friſierte als daß man friſiert war.
Ich koͤnnt 'es in der Note ſagen, daß eine preteuſe de tête ein Maͤdgen in Paris iſt, das an einem Tage hundertmal friſieret wird, weils die19 Innung davon lernen will — unmoͤglich kanns un¬ ter ihrer Hirnſchale ſo viele Veraͤnderungen und Verſuche geben als uͤber derſelben — die Koalition und Einkindſchaft der unaͤhnlichſten Friſuren iſt ſo groß, Dappieren und Auskaͤmmen kommen hinter¬ einander ſo ſchnell, oder Aufbauen und Umreißen, daß es nur auf dem Kopfe der Goͤttin der Wahr¬ heit aͤrger zugehen kann, den die Philoſophen fri¬ ſieren und aufſetzen, oder in ganzen Staatskoͤr¬ pern, an denen die Regenten ſich uͤben.
Am naͤmlichen Morgen, wo unſerer die Reſi¬ dentin koeffierte, ſagt 'er der traͤumeriſchen Bea¬ ta, am andern Tage kaͤm er mit dem Friſeur zu ihr. Die Reſidentin ſagte nichts als: „ die Maͤnner koͤnnen alles; aber das Leichte ſelten; ſie wirren leichter zehn Prozeſſe als zehn Haare ein. “ Beata konnte nicht reden — zu Nachts konnte ſie nicht ſchlafen. Ihr ganzes Innere entſetzte ſich vor des Fuͤrſten Froſtgeſicht und ſtechendem Feuer¬ blick, der (ſo wenig ſie es deutlich dachte) die Praͤ¬ liminarſiege im neuen Schloſſe ſo abzukuͤrzen brannte als waͤr' er im Palais royal. Am andern Morgen hatte ſich ihr Wunſch, krank zu werden, beinahe in die Ueberzeugung, es zu ſeyn verwan¬B 220delt. Sie ſah mit lebensſatter Leerheit zum Fen¬ ſter in das ſtille Land hinaus, in dem bloß die zwei Kinder des Hofgaͤrtners eine bunte Glaskugel herumkegelten, als der Kanarienvogel, der auf den Achſeln des Fuͤrſten wohnte und der ihn wie eine Muͤcke umflog, von ſeinem Kopf, der durch ſechs Fenſter von ihr geſchieden war, auf[ihren] geflattert kam. Sie zog den Kopf mit dem Vogel hinein — aber auch mit dem Inhaber des Thiers, der ſogleich ohne Bedenken kam und ſagte: „ bei ihnen hat man das Schickſal, zu verlieren — aber meinem Vogel koͤnnen Sie die Freiheit nicht neh¬ men “Leuten ſeiner Art entfließet das alles ohne Akzent; ſie reden mit gleichem Tone vom Stern - und vom Kutſchen-Himmel und von der Bewegung beider.
Ohne Umſtaͤnde wollt 'er ihr den Pudermantel umthun; ſie nahm ihn aber aus andern Ruͤck¬ ſichten ſelber um und ſagte, ſie waͤre ſchon fuͤr den ganzen Tag aufgeſetzt bis aufs Pudern. Al¬ lein ſie mochte ihren Weigerungen immerhin die ſchoͤnſten Geſtallten umgeben, die ihr ſein Stand und die von ihrer Mutter anerzogne Hochachtung gegen ſein Geſchlecht befahlen: am Ende ſah ſie,21 ſein Widerlegen ſei nicht viel beſſer als ſein Friſie¬ ren. Als er das letztere that und ſo nahe vor ihr ſtand, ſah ſie wieder das Gegentheil. Jedes Haar wurd' an ihr zu einem Fuͤhlfaden und ihr war, als beruͤhrt 'er ihre Wunden Nerven, als gienge mit ihm eine flammende Hoͤlle um ſie. Auf einmal quol ihre Bangigkeit, nach den Geſetzen der weib¬ lichen Natur, von der mitlern Stufe zur hoͤchſten auf — ich moͤchte wiſſen obs von ſeinen eigennuͤtzi¬ gen Stellungen kam, die ihm nichts halfen, oder von einem Kuſſe, als der Einnahme der Benefiz¬ komedie, die er zu ſeinem Beſten auffuͤhrte, oder von ihrem Blick auf die Pyramide des Eremiten¬ bergs, der ihre zagende Bruſt mit dem Bilde und Ebenbild ihres Bruders uͤberfuͤllte — genug ſie ſprang fieberhaft auf und ſagte: „ ſie haͤtte ſo gewiß verſprochen, der Reſidentin den Hut aufſet¬ zen zu helfen und waͤre noch hier! “und erwarte¬ te, ihn triebe dieſer demuͤthig-ſtolze Vorwurf fort. Er war nicht fortzutreiben: Dieſes Mißlingen zer¬ riß ihre zarten Kraͤfte und ſie lehnte ſich wankend mit dem Arme und friſirten Kopfe an die Tapete. Er, vielleicht ennuͤiert oder froh, ſie an ſeine Nachbarſchaft gewoͤhnt zu haben, nahm ſeinen22 Vogel und ſie und fuͤhrte ſie ſelber zur Reſidentin; hier holte er mit ihr das Belachen der Benefizko¬ moͤdie nach und ſo fort.
Indeſſen hatten ſich dennoch die Quaalen des aͤußern Kopfs in die Migraine des innern aufgeloͤ¬ ſet; ſie blieb von der Tafel und — ſo lang 'er das¬ mal da war — auch aus dem Parke.
Welches letztere zu erweiſen nicht ſo wohl als zu erklaͤren war.
23Gemählde — Reſidentin.
Vorgeſtern (den 26. Oktober) war dein Namens¬ tag, Amandus! haſt du wohl in[deinem] Leben ei¬ nen mit freudigen Augen gefeiert? haſt du je am Ende eines Jahrs geſagt: moͤge das neue eben ſo ſeyn? — ich will nicht darauf antworten, um nicht trauriger zu werden ...
Guſtav ſah nichts mehr im Garten als was er nicht ſuchte, den Fuͤrſten und dergleichen; er trug unnoͤthiges d. h. verliebtes Bedenken, ſich bei je¬ mand uͤber Beatens Unſichtbarkeit zu erkundigen — bei den zwei Gaͤrtners Kindern ausgenommen, die nichts wuſten als daß Beata wie er noch immer mit ihnen taͤndle, und ſie beſchenke. Vielleicht gab ſie ihnen, weil er ihnen gab: denn er gab ihnen, weil ſie es that. Die einzigen Reliquien von ihr, ihre Spatzierwege, zogen ihn deſto oͤf¬ ter an ſich. O waͤre doch der Kies weicher oder das Gras laͤnger geweſen, damit beide ihm den gewiſſen Abriß einer Spur, daß ſie da geweſen,24 aufgehoben haͤtten; ſo wuͤrde dieſes h. Grab ſei¬ ner Unſichtbar[e]n ſeinen Wuͤnſchen noch groͤßere Fluͤgel, und ſeiner Wehmuth groͤßere Seufzer ge¬ geben haben. Denn ich muß es nur einmal dem Leſer und mir geſtehen, daß er jezt in jenem ſchwaͤrmeriſchen, ſehnenden, traͤumenden Zuſtand war, der vor der erklaͤrten Liebe iſt. Dieſer Traumflor muß uͤber ihm gelegen haben, da er einmal ſtatt des Schlangenbachs im Abendthal, den er zeichnen wollte, die ſchoͤne Statue der Ve¬ nus, die aus dieſen Wellen gezogen ſchien, abge¬ riſſen hatte; und zweitens, da er nicht ſah wer ihn ſah — die Reſidentin. Er kam ihr vor wie ein ſchoͤnes Kind das ſechs Fuß hoch gewachſen iſt; er konnte mit allen ſeinen innern Vorzuͤgen noch nicht imponieren, weil auf ſeinem Geſicht noch zu viel Wohlwollen und zu wenig Welt geſchrieben war. Mit jener ſcherzhaften Koketten-Freimuͤthigkeit, die die erſtgeborne Tochter der Koketten-Gering¬ ſchaͤtzung des maͤnnlichen Geſchlechtes iſt, ſagte ſie: „ ich geb Ihnen fuͤr die Zeichnung das Original” und nahm die erſtere und beſah ſie mit (uͤber etwas anders) denkender Bewunderung. Oefel dem ers erzaͤhlte, ſchalt ihn, daß er nicht25 fein geſagt hatte: „ welches Original? “denn er hatte zur lebendigen Venus nichts geſagt.
Er wars auch nicht im Stande: denn ſie ſtand vor ihm mit allen Reizen, die einer Juno bleiben, wenn man ihr den holden Teint der erſten Unſchuld nimmt, mit ihrem Pluͤmagen-Nimbuß, den ihr in Unterſcheerau hundert nachtragen, weil ſie mit we¬ nigen meiner Leſerinnen, die auch mehr Federn auf¬ ſetzen als ſie in ihrem Leben Federn ſchließen wer¬ den, ſo viel herausgebracht haben, daß jede Juno eine Goͤttin und jede Goͤttin eine Juno ſeyn und daß man Damenkoͤpfe und Klaviere ſtets, bekielen muͤſſe.
Sie fragte ihn nach dem Namen ſeines Zei¬ chenmeiſters (des Genius;) ſeinen eignen ſagte ſie ihm ſelbſt. Sie konnte Achtung ſich erwerben, bei allen ihren Fehltritten, und ihre Suͤnden und der Teufel ſchienen ihr nur als Kammermohren nachzu¬ treten: ihr Geſicht und ihr Benehmen trug das in¬ nere Bewuſtſeyn ihrer reſtierenden Tugenden und ih¬ rer Talente. Gleich wohl merkte ſie an der ſcheuen Ehrfurcht, die Guſtav weniger ihrem Stande und Werthe als ihrem Geſchlecht erwieß, daß er wenig Welt haͤtte. Sie verließ alle Umwege und gieng ihn26 gerade zu um eine Abzeichnung des ganzen Parks fuͤr ihren Bruder in Sachſen an. Ich nenne das Bitte, was ſie eigentlich allemal im ſcherzhaften Tone einer Kabinetsordre, an Maͤnner komponirte — und man konnte ihren erotiſchen Ukaſen nichts entgegen ſetzen als wieder Ukaſen.
Eine Frau trage dir nur einmal ein Geſchaͤft auf: ſo biſt du mit Leib und Seele ihr; alle deine ſauern Tritte, alle deine Muͤhwaltungen fuͤr ſie le¬ gen ſich an ihrem Bilde, das du an die Beinwaͤnde deines Kopfes ausgebreitet, als Reize an. Eine retten — raͤchen — lehren — ſchuͤtzen iſt faſt nicht viel beſſer (bloß ein wenig) als ſie ſchon lieben. Gu¬ ſtav hoͤrte nie eine willkommnere Bitte. Den Park riß er in kurzem ab und er konnte den Vormittag kaum erwarten, an dem er ihn uͤberreichen durfte. Wir wiſſen alle, was er in der Reſidentin Zimmer noch außer der Reſidentin zu erblicken ſuchte — aber alles was er außer ihr da fand, war die kleine Elevin (Laura) der abweſenden Beata, am Silbermanni¬ ſchen Klavier:
Die Reſidentin heftete einen langen Blick in die Zeichnung. „ Haben ſie (ſagte ſie) Stuͤcke von unſe¬ rem Hofmahler geſehen? ſie ſollten ſein Schuͤler wer¬27 den und er ihrer — er hat noch kein ſchoͤnes Portrait gemahlt und noch keine ſchlechte Landſchaft — ſie machen einen ſchoͤnern Fehler und geben dem Bewoh¬ ner, was ſie der Landſchaft nehmen — in ihrer Zeich¬ nung ſind die Statuen ſchoͤner als der Garten — — behalten ſie ihren Fehler und verſchoͤnern ſie Men¬ ſchen “und ſah ihn an. Meines geringen artiſtiſchen Erachtens — denn man ließ noch keines aller meiner Stuͤcke als Akzeſſiſt in eine Bildergallerie, auch ſuch 'ich mit mehr Ehre ſolche Ausſtellungen lieber oͤffent¬ lich zu rezenſiren als zu bereichern — iſt gerade das Gegentheil wahr und mein Held macht (gleich ſei¬ nem Biographen) weit beſſere Landſchaften als Por¬ traits. — „ Verſuchen ſie's mit einem lebendigen Original “— er ſchien verlegen uͤber die Abſicht ih¬ res Raths — „ nehmen ſie eines, das ihnen ſo lan¬ ge ſitzt als der Mahler ſelber ſitzt “— Oefels Eitel¬ keit mit Guſtavs Voreiligkeit haͤtten hier eine dum¬ me Hoͤflichkeit zuſammen bringen koͤnnen — „ hier! das darin mein' ich “— und ſie wieß auf einen Spie¬ gel; jezt wollt 'er doch mit der palingeneſirten Hoͤf¬ lichkeit herausfahren, ihre Geſtallt waͤre uͤber ſeinem Pinſel: als ſie zum Gluͤck dazu fuͤgte: „ mahlen ſie ſich und zeigen ſie mirs. “— Ueber eine zufaͤllig ver¬28 ſchluckte Sottiſe wird man eben ſo roth wie uͤber ei¬ ne herausgeſtoßene — du ſchoͤner rothgluͤhender Guſtav!
Daher ſchreib ich hier fuͤr Kinder, die noch nicht kommunizierten, dieſen Titel aus der Kleider¬ ordnung heraus: Leuten, die euch eine Erklaͤ¬ rung geben wollen, eine in den Mund zu legen, iſt eben ſo unhoͤflich als mißlich.
„ Ich will Ihnen nur zeigen warum “ſagte ſie und gieng mit ihrer Hand den halben Weg zu ſei¬ ner und wieder zuruͤck und nahm ihn mit durch ihr Leſekabinet, durch ihr Buͤcherzimmer in ihr Bil¬ derkabinet. Wenn ſie gieng: konnte man ſelber kaum gehen; weil man ſtehen wollte, um ihr nach¬ zuſehen. Bilder waren neben ihr noch ſchwerer an¬ zuſchauen. Sie wies ihm im Kabinet eine bunte Kette Portraits, die die beruͤhmteſten Maler vom eignen Geſichte und mit eigner Hand gemalet hat¬ ten und die die Reſidentin aus der Gallerie zu Flo¬ renz kopiren laſſen. „ Sehen Sie, wenn Sie ein „ beruͤhmter Maler wuͤrden — und das muͤſſen Sie „ werden — ſo haͤtt 'ich Ihr Portrait noch nicht in „ meiner Sammlung. “ Auf dem Fenſter lag das vertikale weibliche Paraſol, ein gruͤner Spatzier¬29 faͤcher, den er vor einem geſeſſenen Gericht fuͤr Beatens ihren eidlich erklaͤret haͤtte — einige Heu¬ waͤgen von Wouvermanns Gras, einige Zentner von Salvatore Roſa's Felſen und eine Quadrat¬ meile von Everdingens Gruͤnden haͤtt' er hinge¬ geſchenkt fuͤr den bloßen Faͤcher ....
Jetzt wird mein Held, der dem Spiegel gegen¬ uͤber ſitzt, um ſich aus ihm herauszuzeichnen, von drei Zeichenmeiſtern auf einmal beſehen und gema¬ let: vom Biographen oder mir — vom Romancier oder dem H. v. Oefel, der in ſeinen Roman ein Kapitel ſetzt, worin er von Guſtavs Liebe gegen die Bouſe anonymiſch handelt — und vom Maler und Helden ſelbſt.
Von Oefels Roman-Großſultan erſcheinet in der Hofbuchhandlung kuͤnftige Meſſe nichts als das erſte Baͤndchen; und es wird dem minorennen Pu¬ blikum, das unſre meiſten Romane lieſet und macht, angenehm zu hoͤren ſeyn, daß ich in den Oefel¬ ſchen Großſultan ein wenig geguckt und daß die meiſten Karaktere darin nicht aus der elenden wirklichen Welt, die man ja ohnehin alle Wochen um ſich hat und ſo gut kennt wie ſich ſelbſt, ſondern meiſt aus der Luft gegriffen ſind, dieſem Zeughaus und30 dieſer Baumſchule des denkenden Romanmachers: denn wenn (nach dem Syſtem der[Diſſeminazion]) die Keime des wirklichen Menſchen neben dem Saa¬ menſtaub der Blumen in der Luft herumflattern und aus ihr, als dem Repoſitorium der Nach¬ welt, von den Vaͤtern muͤſſen praͤcipitirt und ein¬ geſchluckt werden: ſo muͤſſen Autores noch viel¬ mehr die Zeichnungen von Menſchen aus der Luft, wo alle epikuriſche Abblaͤtterungen wirk¬ licher Dinge fliegen, ſich holen und aufs Papier ſchmieden, damit der Leſer nicht brumme.
Einige Tage war die v. Bouſe nicht zu ſpre¬ chen, als das Original ſeine Kopie zu ihr tragen wollte. Endlich ſchickte ſie nach beiden. Sein Ge¬ ſicht wurde dem gemalten ſehr unaͤhnlich, als ſein Blick bei dem Eintritt auf ſeine phyſiognomiſche Schweſter fiel, die mit der kleinen Bouſe am Kla¬ viere ſang, auf Beaten. Wir arme Teufel (die wir nicht an Stammbaͤumen ſondern von Stamm¬ gebuͤſch herauswuchſen) werden von vier Waͤnden ſo nahe an einander geruͤckt, daß wir uns warm machen; hingegen die veloutirten Waͤnde der Groſ¬ ſen halten ihre Inſaſſen ſo ſehr als Stadtmauern auseinander und es iſt darin wie in Wirthszim¬31 mern, wo unſer Intereſſe nur einige vom ganzen Haufen abloͤſet. Beata fuhr alſo fort; und er fieng an: fuͤr ihn wars ſo viel als ſaͤh 'er ſie durch das Fenſter im Garten. Sein Portrait fand die guͤnſtigſte Rezenſentin. Sie flog damit durch eini¬ ge Zimmer hindurch. Guſtav konnte jetzt ſeine Au¬ gen dahin thun, wo ſeine Ohren laͤngſt waren: ſein einziger Wunſch war, die Elevin waͤre auſſer¬ ordentlich dumm und ſaͤng alles falſch, bloß damit die reizende Diſkantiſtin ihr oͤfter vorſaͤnge. Es war jenes goͤttliche Idolo del mio cuore von Ruſt, bei dem mir und meinen Bekannten allemal iſt als wuͤrden wir vom lauen Himmel Italiens eingeſo¬ gen und von den Wellen der Toͤne aufgeloͤſet und als ein Hauch von der Donna eingeathmet, die zu Nachts mit uns in Einer Gondel faͤhrt .... Durch ſolche verderbliche Phantaſien bring' ich mich im Grunde um allen wahren Stoiziſmus und wer¬ de noch vor dem dreiſſigſten Jahre, achtzehn Jahre alt. —
Um ſo leichter kann ich mir denken, wie es dem jungen Guſtav war, der Augen und Ohren ſo nahe an der magnetiſchen Sonne hatte: wahr¬ haftig tauſendmal lieber will ich (ich weiß recht32 gut was ich wage) mit der Schoͤnſten im Fuͤrſten¬ thum Scheerau ganz durch letzteres fahren und ſie nicht nur in ſondern auch (was weit ſchaͤdlicher iſt) aus dem Wagen heben; — noch mehr: lieber will ich ihr das Beſte was wir aus dem poetiſchen und romantiſchen Fache haben, geruͤhrt vorleſen — ja lieber will ich mich mit ihr aus einem Re¬ doutenſaale in den andern tanzen und ſie wenn wir ſitzen fragen ob ihr warm iſt — und endlich (ſtaͤr¬ ker kann ichs nicht ausdruͤcken) lieber will ich den Doktorhut aufthun und ihre matte Hand an den Aderlaßſtock mit meiner anſchlieſſen, indeß ſie, um nicht den Blutbogen uͤber dem Schnee-Arm zu erblik¬ ken, mir in Einem fort erblaſſend in das Auge ſchauet — — lieber, verſprech 'ich, will ich (Wun¬ den hol' ich mir freilich mehrere und weitere als das Aderlaßmaͤnnchen im Kalender) alles das thun als die Schoͤnſte ſingen hoͤren: dann waͤr 'ich leck und weg; wer wollte mir helfen, wer wollte mei¬ ne Nothſchuͤſſe hoͤren, wenn ſie in der ruhigſten Stellung, den rechten Schnee-Arm weich uͤber ir¬ gend etwas hinſchneiete, die Knoſpe der Roſen - Lippen halb von einander ſchloͤſſe, die thauenden Augen auf ihre — Gedanken ſenkte und darein ver¬huͤllete33huͤllete, wenn der weiche Dunen-Buſen*)Denn bekanntlich iſt die männliche Bruſt viel härter und unbiegſamer und dem ähnlich, was von ihr umſchloſſen wird. — Sonderbar iſts, daß die Eltern ihre Töchter Dinge mit allem Gefühle ſingen laſſen, die ſie ihnen nicht erlaubten vorzuleſen. wogend wie ein weiſſes Roſenblatt auf den Athem-Wellen laͤge und mit ihnen auf und niederfloͤſſe, wenn ih¬ re Seele, ſonſt in den dreifachen Ueberzug der Wor¬ te, des Koͤrpers und der Kleider geſchlagen, ſich aus allen Huͤllen waͤnde und in die Wellen der Toͤ¬ ne ſtiege und im Meer des Sehnens unterſaͤnke ....? Ich ſpraͤng 'nach. — — —
Guſtav war noch im Nachſpringen begriffen, als die Reſidentin mit zwei Portraits wieder kam. „ Welches iſt aͤhnlicher? “ſagte ſie zu Beaten und hielt ihr beide entgegen und heftete ihr Auge ſtatt auf die drei Geſichter, die zu vergleichen waren, bloß auf das, welches verglich. Das mitkommen¬ de war nemlich das aͤchte bruͤderliche und verlorne um das ſie an meine Philippine geſchrieben hatte. „ O mein Bruder! “ſagte ſie mit zuviel Bewegung und Akzent; welches zu vergeben iſt, da ſie erſt vom Klavier herkam: unter dem ſchnellen Ergrei¬2. Theil. C34fen erſchrack ſie ſo lange bis ſie mit einem unge¬ zwungnen Blick uͤber den Ruͤcken des Bildes herun¬ tergeglitſcht war und keinen Namen darauf gefun¬ den hatte. Von ſolchen Erdſtaͤubchen haͤngt das Pochen des menſchlichen Herzens oft ab: den Zentnerdruck der ganzen Lebens-Atmoſphaͤre traͤgt und hebt es, allein unter dem ſchwuͤlen Athem einer geſellſchaft¬ lichen Verlegenheit faͤllt es kraftlos zuſammen. Wer nicht hat wohin er ſein Haupt hinlege, lei¬ det oft kleinere Pein als der nicht hat wo er ſeine — Hand hinlege.
„ Ich dachte, Ihr Bruder waͤre ein weitlaͤuf¬ tiger Verwandter von Ihnen “ſagte die Reſidentin vielleicht boshaft-doppelſinnig, um ſie in die Wahl irgend eines Sinnes zu verſtricken: allerdings ſtan¬ den der Bouſe alle Worte, Ideen und Glieder ſo behend zu Gebot, daß die Kraft in Beatens und Guſtavs Verſtand und Tugend kaum wie in der Mechanik[zureichte], die Geſchwindigkeit zu erſetzen. Aber Beata erzaͤhlte ſtandhaft, ohne Ent¬ ſchuldigung, ohne Uebergaͤnge alles von dieſen Por¬ traits was die Leſer aus meinem Munde wiſſen. Guſtav haͤtt 'eine ſolche Erzaͤhlung nicht liefern koͤn¬ nen. Die Nachricht, wie es in der Reſidentin35 Haͤnde gekommen, vergaß die Reſidentin zu geben, weil ſie hundert Antworten dazu wußte; Beata vergaß ſie zu verlangen, weil ſie das eben merkte.
„ Fuͤr Ihr Geſicht — ſagte ſie im luſtigſten To¬ ne, in dem ſie ohne Bedenken das Gute von ih¬ ren Reizen ſagte, das andre im ernſthaften davon ſprachen — „ koͤnnt 'ich Ihnen keines geben als mein eignes;[das] muß ich aber meinem Bruder in Sachſen ſamt dem Garten ſchicken — malen koͤn¬ nen ſie es mit zum Park, damit beide Stuͤcke Ei¬ nen Meiſter haͤtten. “ Dem ſcherzhaften Tone iſt weit ſchwerer etwas abzuſchlagen als dem ernſthaf¬ ten — hoͤchſtens nur wieder im luſtigen; aber zu dieſem waren in Guſtav alle Saiten abgeriſſen. Beata hatte die Anſpielung auf den Park nicht ver¬ ſtanden; Bouſe brachte die ganze Landſchaftszeich¬ nung und fragte ſie: was Ihr am meiſten gefiele. Dieſe war fuͤr das Schattenreich und Abendthal (warum ließ ſie den Eremitenberg aus?) „ aber die Menſchen im Garten? “— die arme Inquiſitin hef¬ tete ihren ſtillen Blick feſter aufs Abendthal — „ be¬ ſonders die ſchoͤne Venus hier im Abendthal? “— ſie mußte endlich reden und ſagte unbefangen: „ der Bildhauer wird ſich nicht uͤber den Zeichner zu be¬C 2ſchweren haben, aber vielleicht der Maler uͤber den Bildhauer; vielleicht hat auch bloß der Froſt dieſe Venus ein wenig verdorben.” Die Reſidentin mach¬ te durch ihr Lachen und ihr witziges Anblicken Guſtavs ein Bonmot daraus, ſie ein wenig roth, ihn flammendroth, ſie durch letzteres wieder roͤ¬ ther und vollends durch die Antwort: „ So wuͤrde mein Bruder auch denken, wenn er die Venus ſo bekaͤme: Sie thun mir aber den Gefallen, mei¬ ne Liebe, und ſitzen unſerem H. Maler mit, ſo koͤmmt in unſern Park eine ſchoͤnere Venus. Es iſt mein Ernſt. Die zwei naͤchſten Morgen geben Sie unſern Geſichtern, H. v. F.!” Die Gute ſchwieg; Guſtav, der ſchon eingewilligt hatte, mit ſeinem Pinſel Bouſens Antlitz zu verdoppeln, waͤre bei einem Haare mit der Anmerkung losge¬ brochen, Beaten ihres vermoͤg 'er nicht mit ſeinem nachzudrucken. Zum Gluͤck fiel ihm ein, daß ſie ſich zur Tafel ankleiden wuͤrde — — (Am Sonn¬ tag uͤber acht Tage muß ich meinen Sektor mit „ Denn” anfangen — —).
37Die Miniſterin und ihre Ohnmachten — und ſo weiter.
D enn er war in jenem gruͤnen Gewoͤlbe, das Scheerau's groͤßte Schoͤnheiten umfieng, in Bou¬ ſens Zimmer nur Vormittags: Nachmittags rauſch¬ ten durch daſſelbe die Stroͤme des Vergnuͤgens, aus den Freudenkelchen von Freuden-Najaden aus¬ geſchuͤttet. Der halbe Hofſtaat fuhr aus Scheerau her; bekanntlich hat dieſer, indeß das Volk nur Sabbathe hat, lauter Sabbathsjahre und die naͤhern Diener des Fuͤrſten ſuchen ſich von den Dienern des Staates dadurch auszuzeichnen, daß ſie gar nichts arbeiten: ſo wurden auch ſchon in den alten Zeiten den Goͤttern nur Thiere die noch nichts gearbeitet hatten, auf den Altar gelegt. Ich weiß es recht gut, daß mehr als einer der para¬ lytiſchen großen Welt Arbeit zumuthet, die naͤm¬ lich, ſich und andre in Einem fort zu amuͤſiren; dieſe iſt aber ſo herkuliſch ſchwer und nuͤtzt alle Kraͤf¬ te ſo ſehr ab, daß es genug iſt, wenn ſie ſaͤmmtlich nach einer Fete Morgends beim Auseinanderfahren38 oder am Tage darauf ſich verſtellen und ſagen, wie brillant wars, wie delicieux ꝛc. Große Quartanten - Theologen haben laͤngſt bewieſen, daß Adam vor dem Falle kein Vergnuͤgen aus dem Eſſen[und] andern Vergnuͤgungen geſchoͤpfet habe — unſre Großen ſind vor ihrem Falle eben ſo ſchlimm daran und verrichten alles das in ihrer Unſchuld, ohne den geringſten Spas dabei zu haben. Ich wollt 'ich koͤnnte dem Hofſtaat helfen. — —
Ein Menſch, der eine feſtgeſetzte Arbeitsſtun¬ de (und waͤre ſie nur 30 Minuten lang) hat, ſie¬ het ſich fuͤr aͤmſiger an, wie einer, der gerade heute ſeinem 12ſtuͤndigen Penſum 30 Minuten ab¬ gebrochen. Oefel warf ſich ſelber ſeine uͤbertriebne Anſpannung vor und ſagte, er wuͤßte ſich nicht zu entſchuldigen, daß er jeden Morgen Eine Stun¬ de ſchreibe am „ Großſultan.” Erſt darnach waren die ernſthaften Geſchaͤfte des Tages zu Ende: er ließ ſich nun zum erſtenmale friſieren und ein¬ ſtaͤuben, um als Tagſchmetterling gegen alle Toilettenſpiegel anzuflattern; auf den Blumen¬ kopf der Défaillante (ſo hieß die Miniſterin noch) ließ er ſich nieder. Alsdann ließ er ſich zum zwei¬ tenmal friſieren und befluͤgeln, um als beſtaͤub¬39 ter Daͤmmerungs - und Nachtſchmetterling zwiſchen den Spielmarken und Schaugerichten und ihren Ebenbildern herum zu ſauſen. Ich wuͤrde auf dieſes Gleichniß nicht gekommen ſeyn, wenn mich nicht ſein gehoͤrntes und in eine Kapſel konvergi¬ rendes Abendhaar auf die Raupen der Nachtſchmet¬ terlinge gefuͤhret haͤtte, denen auch hinten ein Horn oder Zopf anſitzt — den Tagraupen ſitzt nichts an, ſo wie ſein abbreviertes aufgeſtecktes Morgen¬ haar es verlangte, damit ſie dieſem glichen.
Da ich die Miniſterin die Défaillante genannt, und da man ihr uͤberhaupt die Einfalt zutrauen konnte, als ob ſie dem Legationsrath treuer waͤre als er ihr: ſo will ich alles ſagen und fuͤr ſie re¬ den. Die Eitelkeit, die ihn wie eine eingeſchraͤnk¬ te Monarchin beherſchte, regierte wie eine unein¬ geſchraͤnkte uͤber ſie — ſie hatte und machte italie¬ niſche Verſe, Epigrammen und alle ſchoͤne Kuͤnſte — und es iſt Stadtkundig, daß ſie, weil ſie auf¬ gehoͤrt hatte, zur ſchoͤnen Natur zu gehoͤren, ſich unter die Werke der ſchoͤnen Kuͤnſte warf und ſich aus einem Model durch Schminke in ein Ge¬ maͤlde verdelte, durch Pantomime in eine Ak¬ trice, durc[h]Ohnmachten in eine Statue.
40Das letzte iſt der Kardinalpunkt — ſie ſtarb taͤglich wie jede wahre Chriſtin; nicht ihrer Keuſch¬ heit wegen, ſondern ſogar vor ihrer Keuſchheit, ich meine ein Paar Minuten — ſie und ihre Tu¬ gend fielen hinter einander in Ohnmacht. Wenn ich uͤber ſo etwas nicht weitlaͤuftig bin: ſo bin ich nicht werth, eine Feder zu ſchneiden und der Hen¬ ker ſoll meine Produkte holen. — Die Tugend alſo war bei der Miniſterin ſo verdammt ſchlimm daran wie bei einem Kind die junge Lieblingskatze. Ich will von Tagszeiten gar nicht reden, ſondern nur von Wochentagen: ich will ſetzen, an jedem Tage hatte ein andrer Antichriſt und Erbfeind ihrer Tu¬ gend ſtatt der Viſitenkarte ſeinen Leib geſchickt: ſo haͤtt 'es etwan ſo gehen koͤnnen: am Montag war ihre Tugend im ſtralenloſen Neumond, fuͤr Herrn v. A. — am Dienſtag im Vollmond fuͤr H. v. B., der ſagte, „ zwiſchen ihr und einer Devote iſt kein Unterſchied als das Alter “— am Mitwoch in letz¬ tem Viertel fuͤr H. v. C., der ſagt: j'y touche dejà, an ihr Herz naͤmlich — am Donnerſtag im erſten Viertel fuͤr H. v. D., der ſagt: „ peut-être que — — und ſo fort mit den uͤbrigen Feinden der Woche; denn jeder Gegner ſah, wie ſeinen41 eignen Regenbogen, ſo an ihr ſeine eigne Tugend. Ehre und Tugend waren bei ihr keine leeren Woͤr¬ ter ſondern hieſſen (ganz gegen die Kantiſche Schu¬ le) der Zeit-Zwiſchenraum zwiſchen ihrem Nein und ihrem Ja, oft bloß der Ort-Zwi¬ ſchenraum. Ich ſagte oben, ſie hatte immer eine Ohnmacht, wenn der Montag ihrer Tugend war. Es laͤſſet ſich aber erklaͤren: ihr Koͤrper und ihre Tugend ſind an einem Tag und von ei¬ ner Mutter geboren und wahre Zwillinge, wie die Gebruͤder Kaſtor und Pollux — nun iſt der erſtere wie Kaſtor menſchlich und ſterblich, und die andre wie Pollux goͤttlich und unſterblich — wie nun je¬ ne mythologiſche Bruͤderſchaft es pfiffig machte und Sterblichkeit und Unſterblichkeit gegen einander hal¬ birten, um mit einander in Geſellſchaft eine Zeit¬ lang todt und eine Zeitlang lebendig zu ſeyn: ſo macht es ihr Koͤrper und ihre Tugend eben ſo li¬ ſtig, beide ſterben allezeit mit einander, um nach¬ her mit einander wieder zu leben. — Das artiſti¬ ſche Sterben ſolcher Damen laͤſſet ſich noch von ei¬ ner andern Seite anſchauen: eine ſolche Frau kann uͤber die Staͤrke und die Proben ihrer Tugend eine Freude haben, die bis zur Ohnmacht gehen kann;42 ferner uͤber die Leiden und Niederlagen derſelben eine Betruͤbniß die auch bis zur Ohnmacht rei¬ chen kann: nun denke man ſich, ob eine Frau beim vereinigten Anfall von zwei Gemuͤthsbewegun¬ gen, wovon jede allein ſchon toͤdten kann, noch aufrecht zu verbleiben vermoͤge? — Bekanntlich ſtirbt die Ehre der Damen von Welt ſo wenig wie der Koͤnig von Frankreich und es iſt das eine be¬ kannte Fiktion; wenigſtens iſt dieſer Ehre der Tod wie den Frommen, ein Schlaf, der uͤber 12 Stun¬ den nicht dauert. Ich kenne an unſerem Hofe eine Art Ehre oder Tugend, die gleich einem Polypen an nichts ſtirbt, ſie kann wie die alten Goͤtter verwundet aber nicht umgebracht werden — gleich Hornſchroͤtern zappelt ſie an der Nadel und ohne alle Nahrung fort — Naturforſcher von Stand thun oft einer ſolchen Tugend wie Fontana den In¬ fuſionsthierchen, tauſend Martern an, an denen buͤrgerliche weibliche Tugenden ſogleich verſcheiden: nichts! kein Gedanke von Sterben. — — Es iſt eine wohlthaͤtige Anordnung der Natur, daß ge¬ rade in den hoͤhern Damen die Tugend eine ſolche Achilles - Lebens - oder Reproduktionskraft hat, da¬ mit ſie erſtlich leichter die komplicirten Frakturen43 und Amputationen und uͤberhaupt das uͤble Wetter jenes Standes ausdauere — zweitens damit jene Damen (im Vertrauen auf die Unſterblichkeit und lange Lebenslinie ihrer Tugend) ihren Freuden, de¬ ren phyſiſche Graͤnzen ohnehin ſo enge ſind, we¬ nigſtens keine moraliſchen zu ſetzen brauchen.
Ich komme wieder zu den tugendhaften Ohn¬ machten oder erotiſchen Sterben der Miniſterin zu¬ ruͤck; ich will mich aber nicht dabei aufhalten, daß ich etwann ſagte, wie die alte Philoſophie die Kunſt ſterben zu lernen ſei, ſo ſei es auch die franzoͤſiſche Hof-Philoſophie aber angenehmer — oder daß ich witziger Weiſe ſagte qui (quae) ſcit mori, cogi nequit — oder daß ich Senekas Aus¬ ſpruch uͤber Kato auf die Miniſterin zoͤge: majori animo repetitur mors quam initur: ſondern ich er¬ zaͤhle bloß, warum ſie uͤberall in Oberſcheerau die[ défaillante] heißet — bloß darum, weil ein gewiſ¬ ſer Herr auf die Frage, wie ſie einen wichtigen Prozeß trotz dem verſaͤumten Praͤkluſionstermin doch gewonnen haͤtte, doppelſinnig replizierte: en défaillante ....
Ich komme zuruͤck. Aber ich waͤre ein gluͤckli¬ cher Mann, wenn die Zeit ſich niederſetzte und44 mich heran ließe[,] ſo aber ſetz' ich ihr, in einer Entfernung von mehrerern Monaten, nach, die Avantuͤren-Fracht wird taͤglich ſchwerer, ich muß Papier zu einer doppelten Geſchichte — zu der jezt geſchriebnen und zu der jezt vorfallenden — haben, ich aͤnſtige mich ab und am Ende werd 'ich doch nur — geleſen! — Iſt mir zu helfen?
Amandus lag damals auf dem haͤrteſten Bette von der Welt — die Dornen - und Stein-Matra¬ tzen der alten Moͤnche fuͤhlen ſich dagegen wie Ei¬ derdunen an — auf dem Krankenbette; ſein oͤdes Au¬ ge lag oft auf der Stubenthuͤre, ob ſie kein Gu¬ ſtav oͤfne, ob nicht der Tod in der Geſtallt einer Freude, einer Ausſoͤhnung eintrete und die Blu¬ me ſeines Lebens mit einem Liebes-Druck gelinde niederlege — aber Guſtav lag ſeiner Seits auf ei¬ nem Zauberbette, an das ihn Vulkan mit unſicht¬ baren Kettgen heftete; kaum regen konnt 'er ſich unter ſeinem Drathgeflecht.
Am Morgen, wo er ſich vorbereitete, der Re¬ ſidentin das Portrait und die Viſite zu machen, zuͤndete Oefel um ihn eine Menge Raketen des Witzes an und geſtand ihm mit der Zufriedenheit, mit der ein Belletriſt ſtets die Armuth an[leibli¬]45 chen Guͤtern und die ſchwerere an geiſtigen, an Verſtand ꝛc. ertraͤgt, ſo viel gerade zu, er habe an Guſtav die Neigung zur — Reſidentin vielleicht eher entdeckt als die zwei Intereſſenten ſelbſt. Je¬ de Guſtaviſche Verneinung war ein neues Blatt in ſeinen Lorbeerkranz. „ Ich will aufrichtiger ſeyn, ſagt 'er; ich will mein eigner Verraͤther werden, weil ich keinen fremden habe. “ Im Zimmer wo ſie einen Altar haben, ſteht einer fuͤr mich; es iſt ein Pantheon;*)Im Römiſchen Pantheon ſtanden nur zwei Götter, der Mars und die Venus. ſie knien mehr vor einem Gott als einer Goͤttin — ich finde da meine Venus (Beata.) Ihr mangelt zu einer medizeiſchen nichts als die — Stellung; ich weiß aber nicht, wel¬ che Hand ich ihr dann in dieſer Stellung kuͤſſen wuͤrde ... „ Vor Guſtavs reiner Seele flog zum Gluͤck dieſer Klumpe von boue de Paris vorbei, in die an Hoͤfen ſogar gute Menſchen ohne Bedenken treten; ſelbſt Schriftſtellern aus dieſer Zone haͤngt dieſer Schmutz noch an.
Ihm gefiel an Beaten (und an jedem Maͤdgen) nichts als das, daß er wie er dachte ihr gefiel;46 er haͤtte die fuͤnf hundert Millionen Weiber auf der Erde alle geliebt, wenn er ihnen allen gefiele; er wuͤrde keine einzige lieben, wenn er keiner ein¬ zigen gefiele. Er erzaͤhlte jezt dem Guſtav, durch welches Fenſter er im Winterhaus von Beatens Herzen ihre Liebe zu ihm habe bluͤhen ſehen. Auſ¬ ſer einem gewiſſen Tropf, den ich in Leipzig ge¬ kannt, und außer einer Katze, die neun Leben hat, hatte kein Menſch mehrere Leben als er — er buͤſte eines ein: ſogleich hatt 'er wieder ein fri¬ ſches, ich meine er hatte mehr Ohnmachten als ein andrer Einfaͤlle. Einen ſolchen Vexier-Selbſt¬ mord konnt' er begehen wenn er wollte und wenn er ihn in ſeinen Dramen ſo noͤthig hatte als ein ruͤhrender Theaterdichter: am haͤufigſten aber tha¬ ten er und der Tropf in Leipzig ſich dieſen Tod in effigie an, wenn ſie unter einem Buͤndel Frauen¬ zimmer das heraus zu viſitiren hatten, das in ſie am verliebteſten war. Denn ſie unterſchieden, ſag¬ ten die zwei Tropfen, ſich ſaͤmmtlich von einander nicht im Daſeyn ſondern im Grade der Liebe gegen beide Ohnmaͤchtige. Der groͤſte Schrecken, uͤber den pantomimiſchen Schlagfluß iſt, ſagte das ohnmaͤchti¬ ge Paar, das Notariatsſiegel der groͤſten Liebe. Da47 alſo Oeſel vor drei Wochen Beaten ſeinen Obſerva¬ tions-Tod vormachte: ſo zitterte unter allen Schaul - Fichuͤs, die da waren, kein ſo zartes und mitleidiges Herz als ihres, das weder fremden Betrug noch eigne Haͤrte kannte. Gleichguͤltig legte ſich Oefel in den optiſchen Tod; verliebt ſtand er wieder auf und er haͤtte mit ſeiner ſcheinbaren Ohnmacht beinahe eine wahre gewirkt. „ Ich konnte ſie nur ſeitdem nicht daruͤber ſprechen. “ſagt 'er; Guſtav kaͤmpfte mit einem großen Seufzer nicht uͤber Oefels gefuͤlloſe Eitelkeit ſondern uͤber ſich ſelbſt und uͤber Oefels Gluͤck. „ O Beata, in dieſer Bruſt — redete ſie ſein Innerſtes an — haͤtteſt du ein verſchwiegne¬ res und aufrichtigeres Herz gefunden als das iſt, das du ihm vorzieheſt — es wuͤrde ſein Gluͤck ver¬ borgen haben, wie jezt ſeine Seufzer — es waͤre dir ewig treu geblieben — ach es wird dir doch treu bleiben! “— dennoch empfand er[das] Eckel¬ hafte in Oefels Eitelkeit nicht ganz, weil ein Freund ſich unſerem Ich ſo ſehr inokulirt und da¬ mit verwaͤchſet, daß wir ſeine Eitelkeit ſo leicht wie unſre eigne und aus gleichen Gruͤnden uͤber¬ ſehen.
48Da es meinem Guſtav im Buche wie im Leben gehen kann: ſo haͤtt 'ich folgende Anmerkung noch eher machen ſollen: niemand war leichter zu ver¬ kennen als er — alle Strahlen ſeiner Seele brach die Wolkenhuͤlle milder Demuth, ja ſeitdem Oefel ihm Stolz auf dem Geſichte vorgeworfen, ſucht' er gerade ſo demuͤthig auszuſehen als er war — ſein Aeußeres war ſtill, einfach, voll Liebe, oh¬ ne Praͤtenſionen: aber auch ohne durchbrechenden Witz und Humor — Phantaſie und Verſtand arbei¬ teten in ihm wie in einem einſamen Tempel, Al¬ tarblaͤtter mit großen Maſſen und ließen mithin nicht wie andre, Doſenſtuͤcke und Medaillons von der Zunge purzeln — er war was Deſkartes von der Erde glaubt, eine inkruſtirte Sonne, aber unter den phoſphoreſzierenden Lichtern des Hofes ein dunkler Erdkoͤrper — er war das aͤußere Ge¬ gentheil von Ottomar, der mit ſeiner Sonne ſei¬ ne Kruſte durchgebrannt hatte und nun vor den Leuten ſtand blitzend, kniſternd, gluͤhend, anrei¬ ßend, einaͤſchernd und ausbruͤtend — Guſtavs See¬ le war ein gemaͤßigtes Land ohne Stuͤrme, voll Sonnenſchein ohne Sonnenhitze, ganz mit Gruͤn und Knoſpen uͤberzogen, ein magiſches Italien imHerbſt49Herbſt; Ottomars ſeine aber war ein Polarland, das ſengende lange Tage, lange Eis-Naͤchte, Or¬ kane, Eis-Berge und Tempiſche Thaͤler-Fuͤlle durchſtrichen. — —
Der Guſtaviſchen Beſcheidenheit kam alſo nichts natuͤrlicher vor als daß Beata einen, der ſeinen Geiſt und Koͤrper ſo gut zu zeigen wuſte, uͤber ihn ſtellte, der beides nicht konnte und der dazu einmal ihren Vater halb todt geaͤrgert hatte. Sein Blut gieng mithin langſam traurig, da er zur Reſidentin ſchlich. Es war ihm, als koͤnnt 'er heute ſie als ſeine Freundin anſehen — das that er wirklich halb, als ſie ihm noch dazu eine eben ſo trauriges Air und Geſicht entgegen trug, dem aͤhnlich, in dem eine Frau eine Woche nach dem Verluſt ihres Geliebten mit leeren Augen und er¬ kalteten Wangen am meiſten ruͤhrt. Es waͤr' ſag¬ te ſie, der Sterbetag ihres juͤngſten Bruders, den ſie und der ſie am meiſten geliebt. Sie ließ ſich in Trauerkleidung mahlen. Nichts wirkt ſtaͤrker als der Luſtige, der einmal in die Semitonien des Kummers faͤllt. Guſtav hatte uͤberhaupt zu viel Zuneigung fuͤr Menſchen, in deren Ohren das Trauergelaͤute irgend eines Verluſtes wiedertoͤnte2. Theil. D50ein Ungluͤcklicher war ihm ein Tugendhafter. Die Reſidentin ſagte ihm, ſie hoffe, er werde den heutigen Kummer aus ihrem wirklichen Geſichte wegmahlen und ihn bloß ins gemahlte bannen — ſie habe deswegen dieſe Zerſtreuung auf heute ver¬ legt — morgen ſei ihr gewiß beſſer — ſie ſpielte nachlaͤßig mit der bloßen rechten Hand einige Taͤn¬ ze, aber nur ein Paar Takte und mit vergeblichem Kampf gegen ihren Truͤbſinn — er ſollte ihr et¬ was erzaͤhlen eh 'er anfienge, damit er nicht einem Geſicht, das ſie nur ein Paar Tage im Jahr truͤ¬ ge, ein ewiges Leben in ſeinen Farben gaͤbe. Aber er hatte noch am Hofe weder Stof noch Manier zu erzaͤhlen gewonnen — endlich fiel ſie auf ſeine unterirrdiſche Erziehung: bloß ihrem heutigen Geſichte war er ſo etwas in dem Wolkenbruch von Herzensergießung, den er ſeit Amandus Groll ent¬ behret hatte, zu erzaͤhlen faͤhig. Da er fertig war: ſagte ſie: „ mahlen ſie nur; ſie haͤtten mir etwas anders erzaͤhlen ſollen. “
Sie nahm ihre kleine Laura auf den Schooß — dem Fuͤrſten, der ein paſſionirter Thiermahler iſt, muſte ſie ſtatt mit der Kleinen, mit einem Sei¬ denpudel ſitzen — welche Gruppe faͤllt aber jezt51 ſein Auge, ſein Herz und ſeine Zeichenfeder an, um dieſe drei Dinge zu verruͤcken! ſie zittern we¬ nigſtens alle, indem die Mutter die Haͤndgen der Laura in eine mahleriſche und kindliche Umſchlin¬ gung legt — indem ſie ſchweigend, traurend, mit den Lippenwellen gegen den Kummer des Auges ſtreitend, ihm denkend in das ſeine blickt und mit der naͤchſten Hand das Haar der Kleinen ſpielend kruͤmmt — — Wahrhaftig zehnmal dacht 'er: wenn ein Engel einen Koͤrper umthun wollte: der menſchliche waͤre nicht zu ſchlecht dazu und er koͤnn¬ te in dieſer Reiſe-Uniform in jeder Sonne er¬ ſcheinen!
Seine Zeichnung wurde ſo treffend, daß der Reſidentin vielleicht ein Paar Unaͤhnlichkeiten lieber geweſen waͤren — ſie haͤtten groͤßere Aehnlichkeit ihres zweiten Bildes in ihm angeſagt. Sie kam jezt durch ſanfte, nicht — wie ſonſt[humoriſtiſch] ſpringende Uebergaͤnge von ſeinem Mahler - Lohn und von den Nachtheilen ſeiner Erziehung auf die Vorbereitungen zu ſeiner Legationsrolle — ſie deckte ihm, aber mit langſamer vertraulicher Hand, ſeinen Mangel an Welt auf — ſie bot ihm ihren Zutritt zu ſich an und lud ihn zum SouperD 252auf Morgen ein — „ aber Vormittags, ſetzte ſie laͤchelnd hinzu, kommen ſie nicht ſchon: Beata will durchaus nicht gemahlet ſeyn. “
— — Der Leſer hat im ganzen Buche noch nicht drei Worte reden oder ſchreiben duͤrfen: jezt will ich ihn ans Sprachgitter oder ins parloir laſ¬ ſen und ſeine Fragen nachſchreiben. „ Was hat denn — fragt er — die Reſidentin vor? will ſie aus Guſtav ein gezaͤhntes Kamrad ſchnitzen, das ſie in irgend eine unbekannte Maſchine ſetzet? — oder bauet ſie den Jaͤgerſchirm und zwirnt die Prahl¬ netze, um ihn zu faͤllen und zu fangen? — wird ſie wie jede Kokette dem aͤhnlich der ihr nicht aͤhn¬ lich werden will, wie nach Platner der Menſch das was er empfindet, ſo ſehr wird, daß er ſich mit der Blume buͤckt und mit den Felſen hebt? “
— — Der Leſer bemerke, daß der Leſer ſelber hier Witz hat und gehe weiter! — —
„ Oder, (geht er alſo weiter) geht die Reſi¬ dentin nicht ſo weit, ſondern will ſie aus Edel¬ muth, woruͤber man oft die optiſchen Kunſtſtuͤcke ih¬ rer Koketterie verzeiht, den ſchoͤnſten uneigennuͤtzig¬ ſten Juͤngling aus den ſchoͤnſten uneigennuͤtzig¬ ſten Gruͤnden aufſuchen und ausbilden? — oder koͤn¬ nens nicht auch alles bloße Zufaͤlle ſeyn — und53 nichts leuchtet mir ſo ein — an die ſie, Renne¬ rin durch Luſthaine, die flatternde Schlinge eines halben Planes fliehend befeſtigt, ohne in ihrem Le¬ ben am andern Tag nach dem ſtrangulirten Fang der Dohnenſchnait im mindeſten zu ſehen? — oder irr 'ich gaͤnzlich, lieber Autor, und iſt vielleicht von al¬ len dieſen Moͤglichkeiten keine wahr? “— oder, lie¬ ber Leſer, ſind ſie alle auf einmal wahr und du erraͤ¬ theſt darum eine Launenhafte nicht, weil du ihr we¬ niger Widerſpruͤche als Reize zutraueſt? — die Leſer beſtaͤrken mich in meiner Bemerkung, daß Perſonen, die niemals die Gelegenheit haben konnten, der groſ¬ ſen Welt taͤgliche Klavierſtunden zu geben, (wie z. B. leider die ſonſt treflichen Leſer,) zwar alle moͤg¬ liche Faͤlle irgend eines Karakters vorzurechnen aber nicht den wirklichen auszuheben vermoͤgend ſind. — Uebrigens verlaſſe ſich der Leſer auf mich, (der ich ſchwerlich ohne Grund Vorzuͤge verkleinern wuͤrde, die mir ſelber anſitzen,) uͤbrigens hat er die Armuth an gewiſſen konventionellen Grazien, an gewiſſen leichten modiſchen und giftigen Reizen, die ein Hof nie verſagt, weit weniger zu bedauern als andre Hoͤflinge — der Autor wuͤnſchte nicht darun¬ ter zu gehoͤren — ihren Reichthum an dergleichen54 Gift-Species wirklich zu beklagen haben: denn auf dieſe Art blieb er ein ehrlicher und geſunder Mann, der H. Leſer; aber wer ihn kennt, wuͤrde der Buͤr¬ ge geweſen ſeyn, daß er, falls alle Baͤnder und Zuͤ¬ gel der großen Welt an ihm gezuckt und gezogen haͤtten, außer ſeiner Ehrlichkeit auch ſeine Unaͤhnlich¬ keit mit den Leuten von Ton behalten haͤtte, die die Mißhandlung des ſchoͤnſten Geſchlechts mit ver¬ lohrner Stimme und verlohrnen Waden buͤßen, wie (nach den aͤlteſten Theologen) die Weiber-Ver¬ ſucherin, die Schlange, die vorher reden und ge¬ hen konnte, durch die aktive Verfuͤhrung Spra¬ che und Beine verſcherzte? ...
55Souper und Viehglocken.
Heut 'arbeit' ich im Hemd wie ein Hammerſchmidt, ſo abſcheulich lang und ſchwer iſt der dreißigſte Sek¬ tor. — Da Guſtav von Oefel erfuhr, daß ein klei¬ nes ſouper bei der Reſidentin ſo viel heiße wie bei uns das groͤſte: ſo theilte er in ſeinem Kopf, eh 'ers zieren half, Perſonen und Rollen aus, und ſich die laͤngſte: — den einzigen Fehler begieng er allemal, daß wenn er endlich aufs Theater kam und agieren ſollte, er nicht agierte. Eh er in eine große Geſell¬ ſchaft gieng, wuſt' er Wort fuͤr Wort, was er ſagen wollte; gieng er wieder heraus, ſo wuſt 'er (in der Kuliſſe) auch, was er haͤtte ſagen ſollen — aber ge¬ ſagt hatt' er darin weiter nichts. Es kam nicht von Menſchenfurcht; denn es war ihm faſt leichter, et¬ was Kuͤhnes als etwas Witziges zu ſagen: ſondern davon kams, daß er das Gegentheil einer Frau war. Eine Frau lebt mehr außer als in ſich, ihre fuͤhlen¬ de Schneckenſeele legt ſich faſt außen um ihre bunte Koͤrper-Konchylie an, ſie zieht ihre Fuͤhlfaͤden und56 Fuͤhlhoͤrner nie in ſich zuruͤck, ſondern betaſtet damit jedes Luͤftgen und kruͤmmt ſie um jedes Blaͤttgen — mit drei Worten: das Gefuͤhl, das H. Stahl der Seele von der ganzen Beſchaffenheit ihres Koͤrpers zuſchreibt, iſt bei ihr ſo lebendig, daß ſie in Ei¬ nem fort fuͤhlt, wie ſie ſitzt und ſteht, wie das leichteſte Band aufliegt, welchen Zirkelbogen die ge¬ kruͤmmte Hutfeder beſchreibt — mit zwei Worten: ihre Seele fuͤhlt nicht nur den Tonus aller em¬ pfindlichen Theile des Koͤrpers ſondern auch der un¬ empfindlichen, der Haare und der Kleider — mit Ei¬ nem Worte: ihre innere Welt iſt nur ein Welttheil ein Abdruck der aͤußern.
Bei Guſtav aber nicht: ſeine innere Welt ſteht weit abgeriſſen neben der aͤußern, er kann von keiner in die andre, die aͤußere iſt nur der Trabant nnd Ne¬ benplanet der innern. Seiner Seele — in den Ge¬ hirn-Weltglobus, den der Hut bedeckt, eingeſperret verbauen die bunten eignen Gewaͤchſe, auf denen ſie ſich wiegt und vergiſſet, die Ausſicht auf die Gegen¬ ſtaͤnde jenſeits ihres Koͤrpers, die nur duͤnne Schat¬ ten auf ihre Gedanken-Auen werfen: ſie ſieht alſo die aͤußere Welt nur dann, wenn ſie ſich ih¬ rer erinnert; dann iſt dieſe in die innere verſetzt57 und verwandelt. Kurz Guſtav beobachtet nur das was er denkt, nicht was er empfindet. Daher weiß er niemals ſeine Ideen und Worte mit den vorbeiſchießenden Ideen und Worten andrer Leute zu amalgamieren. Der Hofmann ſchraubt auf und zu, und die Kaſkaden ſeines Witzes ſpringen und ſchimmern — Guſtav hingegen wirft erſt den Ei¬ mer in den Ziehbrunnen und will darin den Trunk mit der Zeit heraus druͤcken. — Eine feinere Ur¬ ſache geb ich unten an.
Oefel ruͤhmte ihm am Morgen dieſes wichti¬ gen Souper ſo viel von Beaten vor, er wuͤrde heute ihr coeur ſo ſehr im Gleichgewichte mit dem eſprit der Reſidentin ſehen “— daß er alles Sehen verwuͤnſchte, und einen zweiten Grund bekam, ſein ſchweres Herz ins ſtille Land zu tragen. Sein erſter war, er ſchickte ſich allemal zu einer großen Geſellſchaft dadurch an, daß er vorher in die groͤ¬ ſte gieng — unter den großen blauen Himmel. Hier unter koloſſaliſchen Sternen, an der Bruſt der Unendlichkeit, lernt man ſich erheben uͤber metallene Sterne neben das Knopfloch genaͤht; von der Betrachtung der Erde bringt man Gedanken mit, durch die man die Erdſtaͤubgen, die man58 Menſchen nennt, kaum wirbeln ſieht — und die kouleurten Gold-Inſekten, womit das Gewaͤchsreich muſiviſch beſteckt iſt, machen einen gleichguͤltiger gegen die Hof-Inſekten, womit man einen Thron[fourniert]. — Gegenwaͤrtiger Verfaſſer ſtattete alle¬ mal dem großen Erd - und Himmelzirkel eine Viſi¬ te vor und eine nach der Viſite ab, die er ei¬ nem kleinern Cercle machte, damit der große die Eindruͤcke des kleinen verhuͤtete und verloͤſchte.
Ich werde roth, wenn ich mir denke, wie unbehuͤlflich ſich mein Guſtav durch zwei Vorzim¬ mer in einen Salon mag haben fuͤhren laſſen, wo wenigſtens ſchon an ſieben Spieltiſchen Streiter ſa¬ ßen. Feinheit der Denkungsart iſt Anlage, Fein¬ heit des Ausdrucks iſt eine Frucht, wozu nicht gerade Hofgaͤrtner noͤthig ſind; aber Feinheit des aͤußern Anſtands iſt nirgends zu holen als da, wo ſie alles gilt — in der großen Welt voll Mikro¬ koſmen. Sollt 'ich von letzterer Feinheit mehr aufzuweiſen haben als man gewoͤhnlich bei meinem Advozier-Stand ſucht; ſo bin ich nie ſo eitel, ſie aus etwas anderem abzuleiten als aus meinem Le¬ ben am Scheerauer Hof. — Die Reſidentin (Bea¬ ta ohnehin nicht) ſpielte ſelten, und mit Recht:59 eine Frau, die mit ihrem Geſichte andre Herzen gewinnen kann als lakirte auf der Karte und die den Maͤnnern einen andern Kopf[nehmen] kann als den auf Metalle gedruͤckten, thut uͤbel, wenn ſie ſich mit dem Kleinern begnuͤgt, ſie muͤſte denn mit den ſchoͤnſten Fingern tailliren und koupiren koͤn¬ nen, die ich noch in weiblichen Handſchuhen und Ringen geſehen. Vor dem funfzigſten Jahre ſollte keine ſpielen und nach ihm nur die, die der Mann und die Tochter verſpielen ſollte. — Hingegen der poetiſche Gladiator, H. v. Oefel diente unter der Armee, die in jeder Winternacht 12000 Mann ſtark iſt in den vordern deutſchen Reichskreiſen — naͤmlich mit und gegen L'Homber-Spieler. Die Reſidentin war eine brillante Sonne, der immer Beata als Abendſtern nachzog. Sanfter holder Heſperus am Himmel! du wirfſt deine Strahlen - Silberflitter auf unſre Erden-Laub und ſchließeſt leiſe unſer Herz fuͤr Reize auf, die ſo ſanft wie deine ſind! Alle Sommerabende, die mein Auge in Traͤumen und Erinnerungen auf deinen uͤber mich erhoͤhten Unſchulds-Auen verlebte, belohn' ich dir, verſilberter groͤſter Thautropfen in der blauen Aether-Glockenblume des Himmels, indem60 ich dich zu einem Bilde der ſchoͤnen Beata mache! — o koͤnnt 'ich doch ihre Heiligengeſtalt aus mei¬ nem Herzen heben und hieher auf meine Blaͤtter legen, damit es der Leſer ſaͤhe, nicht begriffe, wie von der Junoniſchen Bouſe, aus der alle weib¬ liche Reize brechen, ſelbſt erhabne Uneigennuͤtzig¬ keit, bloß nur Unſchuld und weibliche beſcheidne Zuruͤckgezogenheit nicht, wie von ihr alle dieſe hoͤlzerne Strahlen abfallen, wenn ſich neben ihr mehr verhuͤllt als zeigt Beata, die uͤber die heftigſten weiblichen Wuͤnſche den innern Sieg er¬ haͤlt und doch weder Sieg noch Kampf verraͤth — die, ohne Bouſens Trauer-Huͤlfe und Trauer - Pantomime, ein erweichtes Herz dir giebt und deinen Blick monarchiſch beherrſchet — und mit der du im Mondſchein gehen kannſt, ohne ſie oder die magiſche Scene um dich minder zu ge¬ nießen. — Guſtav fuͤhlte noch mehr als ich; und ich fuͤhle in meinen biographiſchen Stunden wieder mehr als ſonſt in meinen muſikaliſchen.
Apropos! wenn ſie eſſen: werd 'ich auch die uͤbrigen Gaͤſte abfaͤrben. Unter dem geſellſchaftli¬ chen Tumult, der ſo wohl ſeine Sinnen als Ideen betaͤubte, fiel freilich nur Beatens halbes Son¬61 nenbild in ſeine Seele. Aber nachher — Vorher lagen naͤmlich beide mit der Reſidentin unter dem Fenſterbogen, die ironiſch Guſtaven vor Beaten ent¬ ſchuldigte, daß er heute nicht mit dem Pinſel ge¬ kommen — eine Menge zufaͤlliger Zwiſchenredner zu geſchweigen. Die Reſidentin wurde ihnen entriſſen; die nahe und einſame Stellung noͤthigte beide zum Sprechen und Beaten zum Bleiben. Guſtav, der ſchon vor der Aſſemblee im Kopfe hatte was er ſa¬ gen wollte, ſagte nichts. Aber Beata endigte das vorige Geſpraͤch uͤber das Portraitiren und ſagte: „ wenn Sie mich nicht ſchon entſchuldigt haben, ſo kann ich mich nicht entſchuldigen. “ Ein andrer von mehr tournure haͤtte geradezu Nein geſagt und ſo im Scherze, der keine Verlegenheit zuließ, die Faͤden der Vogelſpinne um das arme Kolibri herumgewun¬ den. — Guſtav hatte zu ſtarke Gefuͤhle, um hier zu ſcherzen. An einer Menge ſchwerer Materien, wovon euch alle Handhaben abbrechen, haͤlt bloß die des Scherzes und ihr koͤnnt ſie damit regieren: be¬ ſonders wenn ihr mit Maͤdchen unter Fenſterboͤgen ſprecht.
Guſtav ſuchte laͤngſt Gelegenheit, Beaten andre Theile ſeiner Seele zu zeigen als damals in der Korn¬62 Affaire zum Vorſchein kamen; jetzt haͤtt 'er die Ge¬ legenheit, aber keine Mittel gehabt, wenn nicht der Park mit dem Abend-Ornat ſich vor das Fenſter ge¬ lagert haͤtte. Naturſchoͤnheit war die einzige Sache, woruͤber er mit andern Schoͤnheiten gluͤcklich ſpre¬ chen konnte. Seinen Eintritt aus der Erde herauf ins hohe Weltgebaͤude, beſchrieb er. Auf jedes Wort, daß ſie oder er ſagte, war eine Seele gepraͤgt, die ſie einander zugetrauet hatten. Ploͤtzlich ſchwieg er mit weiten glaͤnzenden Augen — ihm war als gieng in ſeiner Seele ein Zauber-Mond auf und ſchiene uͤber ein weites daͤmmerndes Land und ein Engel ſei¬ ner Kindheit ſtaͤnd' im Bluͤtenlande und naͤhm 'ihn in ſeine Arme und druͤckt' ihn ſo an ſich, daß Guſtavs Herz an ihm zerfloͤſſe .... und worauf ruhte dieſes pſychologiſche Landſchaftsſtuͤck? — Worauf das be¬ ruͤhmte Straßburger Uhrwerk ruht — auf einem Thierhals: dieſes liegt naͤmlich auf einem Pegaſus - Nacken; ſeines trugen die Haͤlſe des zufaͤllig vor dem Schloſſe heimgehenden Weideviehs, an denen ſolche Glocken hiengen, die denen der Heerde Reginens aͤhnlich klangen und die mithin die ganze Jugendſce¬ ne mit ihren Toͤnen wieder in ſeine Seele ſetzten .... In einer ſolchen Stimmung haͤtt 'er in einer Natio¬63 nalverſammlung geredet; auch machte der Tu¬ mult, der beide einfaßte, ſie einſamer und vertrauli¬ cher: kurz er erzaͤhlte ihr mit Feuer und hiſtoriſchen Ellypſen ſeine Schaͤferei mit Einem Lamm auf dem Berg. — Dieſes Schwaͤrmen ſteckte Beaten (wie alle Weiber) ſo ſehr an, daß ſie anfieng — zu ſchwei¬ gen.
Die Noth zwang ſie, jetzt einen aͤuſſern Gegen¬ ſtand (wie ein Schwerdt im fuͤrſtlichen Bett als Se¬ kante) zwiſchen ihre zuſammenflieſſenden Seelen zu bringen — ſie ſahen auf die zwei Gaͤrtners-Kinder unten hinunter und das ſo begierig, daß ſie nichts ſahen. Der Junge ſagte: „ mich hat das Fraͤulein „ (Beata) ſo lieb “und ſtreckte beide Arme aus ein¬ ander — das Maͤdchen ſagte: „ mich hat der Herr „ (Guſtav) ſo groß lieb wie das Schloß “— „ und mich, replicirte er, ſo groß wie den Garten “— „ und mich, excipirte das Maͤdchen, ſo groß wie die „ ganze Welt. “ Daruͤber konnten die Fluͤgel des Jun¬ gen nicht hinaus und haͤtten ſeine Schwanzfedern uͤber den Katheder-Horſt hinausgeſtochen. Jedes zaͤhlte dem andern die Liebespfaͤnder, die es von den oben uͤber gegenſeitiges Lob erfreueten Zuhoͤrern er¬ halten hatte, und ſagte bei jedem Stuͤck; „ haſt du das g'kriegt? “—
64Mit jenem haſtigen Sprung der Kinder zu ei¬ nem neuen Spiel ſagte das Maͤdchen: „ jetzt mußt „ du der Herr (Guſtav) ſeyn; und ich will das „ Fraulein (Beata) ſeyn. Jetzt will ich dich lieb¬ „ haben, nachher mußt du mich, “ſie ſtrich ihm ſanft die Backen und dann die Augenbraunen und endlich die Arme und manipulirte den Herrn. „ Jetzt mich! “ſagte ſie mit ſchnell herunterhaͤngenden Ar¬ men. Der Junge warf ſeine Arme ſo eng um ih¬ ren Hals, daß die zwei Ellbogen ſich durchſchnit¬ ten und ſchuͤrzten und als uͤberfluͤſſige Bandſchlei¬ fen uͤber den Liebesknoten hinausragten; er kuͤ߬ te ſie derb. Ploͤtzlich fand ihre kritiſche Feile ei¬ nen verdammten Anachroniſmus an dieſem hiſto¬ riſchen Schauſpiele und ſie ſagte fragend: „ Ja, „ der Herr und das Fraͤulein haben ſich ja nicht lieb? “—
Das war zuviel fuͤr die Frontloge oben, die zugleich das Auditorium und das Original der kleinen Akteurs war, und die Kopie derſelben zu werden in Gefahr gerieth. Guſtav hielt das Au¬ genlied gewaltſam offen, damit es das Waſſer wor¬ in ſein Auge ſtand, zu keiner ſichtbaren auf die Wange fallenden Thraͤne vereinigte — und die ge¬ruͤhrte65ruͤhrte Beata ließ, ohne oder mit Abſicht, ihre Roſe abgeknickt zu Boden zittern: er buͤckte ſich nach ihr lange und ließ ſeine Thraͤne verborgen wegſin¬ ken; aber da er ihr die Roſe gab und beide furcht¬ ſam die geſenkten Augen auf der Blume verſteckten und hefteten und da ſie ein herſpringender Tropf unterbrach: ſo ſtanden ploͤtzlich ihre aufgeſchlagnen Augen einander wie der aufgehende Vollmond der untergehenden Sonne gegenuͤber und ſanken in ein¬ ander und in einem Augenblick unausſprechlicher Zaͤrtlichkeit ſahen ihre Seelen, daß ſie einander — ſuchten.
Der ſpringende Tropf war Oefel, der Beatens Arm haben wollte, ſie in den Speiſeſaal zu fuͤh¬ ren. Jetzt, Leſer, trag 'ich dir ſtatt lebendiger Ro¬ ſen (wie unſer Seelen-Paar iſt) lauter in Butter geſottene Roſen auf. Sechs oder ſieben und zwan¬ zig Kouverts, glaub' ich, waren. Ich will hier ſtatt eines Kuͤchenzettels einen Paſſagierzettel der Gaͤſte verfertigen. Erſtlich waren am Tiſche und im Schloſſe zwei keuſche Menſchen — Beata und Guſtav; welches ein Beweis iſt, daß ſchoͤne See¬ len in allen Orten wachſen, ſogar an den hoͤch¬ ſten: ſo ließ der vorige Kaiſer jaͤhrlich einige Nach¬2. Theil. E66tigallen in den Augarten werfen, damit man da was hoͤrte.
Nro. 2 war der Fuͤrſt, der in ſeinem kurzen Leben mehr Weiber geſehen als der Ochs Apis, deſſen Leben doch ſo lang war wie das aͤgyptiſche Alphabet. Er war an dieſer Tafel, was er auf ſeinen Reiſen an mancher table d'hôte nicht zu ſeyn vermochte, der Bruder Redner und der Haupt¬ wind unter 63 andern Nebenwinden. Seine Kro¬ ne hatten ſaͤmtliche Damen auf.
Nro. 3 war ſein appanagirter Bruder, den der gekroͤnte haßte, nicht weil er zuviel Volksliebe hatte und verdiente, ſondern weil er einmal todt¬ krank war und nicht ſtarb, ſondern von der Ap¬ panage fortlebte. Das Gerippe dieſes Bruders wuͤr¬ de den Fuͤrſten, wie ein jedes Gerippe Aegypter und Griechen, zu einem freudigern Genuß des Gaſtmahls uͤberredet haben.
Nro. 4 war ein Michaelisritter aus Spaa (H. v. D.), deſſen Ordensſtern in Scheerau noch Stra¬ len abſchickte, nachdem er in Paris laͤngſt vernich¬ tet war. So ſagt Jeruſalem und Euler, daß ein Fixſtern am Himmel noch wegen ſeiner Entfer¬ nung ſein Schimmern fortſetzen kann, ob er gleich laͤngſt eingeaͤſchert worden.
67Nro. 5 war Kaglioſtro, der unter ſo vielen pointirenden Koͤpfen das Schickſal der Aerzte und Geſpenſter und Advokaten hatte, daß ſeine oͤf¬ fentlichen Spoͤtter zugleich ſeine geheimen Juͤn¬ ger und Klienten ſind.
Nro. 6 war mein Gerichtsherr v. Roͤper, der weil er mit dem Fuͤrſten etwas zu ſprechen hatte dage¬ blieben war. Er war der einzige im ganzen E߬ konvent, der zweierlei that: erſtlich daß er alle Weinſortiments des Bouſiſchen Wein-Inventa¬ riums ſich reichen ließ, um von allen Weinguͤtern der Reſidentin denjenigen deutlichen, oder doch klaren Begriff in ſeinem Magen zu bringen, wor¬ auf die aͤltern Logiken ſo ſehr dringen — zwei¬ tens legt 'er einen ſo großen Werth auf das fri¬ kaſſirte, marinirte ꝛc. Souper als wenn ers gaͤbe und nicht bekaͤme und wurde immer hoͤflicher und gebuͤckter, je ſatter und voller er wurde, gleich einer Wurſt, die ſich kruͤmmt, wenn man ſie fuͤllet.
Nro. 7. 8. 9 waren zwei grobe Regierungsraͤ¬ the ** und ein grober Kammerpraͤſident *, wovon die zwei erſtern den ganzen Hof verachteten, weil er keine andern Pandekten im Kopfe hatte alsE 268litterariſche, und der dritte, weil er ſich es ausmalte, wie viel Penſionen und Gagen der gan¬ ze Hof ohne die Kammer, d. h. ohne ihn wohl haͤtte, und ſaͤmtliche drei, weil ſie glaubten, ſie hielten den Thron, ob ſie gleich nichts haͤtten tra¬ gen koͤnnen als in Salomons Tempel das — eher¬ ne Meer.
Nro. 10 war die Reſidentin, die ſich nach dem Tone eines jeden ſtimmte und doch durch ihren eig¬ nen ſich von allen Weibern unterſchied — gleich dem Koͤnig Mithridates redete ſie die Sprachen aller ihrer Unterthanen.
Nro. 11, 12 war eine durchreiſende Aebtiſſin und eine verwittibte Fuͤrſtin von **, die ihrem Stande gemaͤß einſylbig und hautain waren.
Nro. 13 war die Défaillante, deren groͤßte Reize und Anziehungskraft in den kleinen Fuͤßen angebracht waren, wie in den zwei Fuͤßen eines armirten Magneten. Der Kopf, ihr zweiter Pol, ſtieß ab, was der untere zog.
Nro. 00000 gehen mich nichts an; es waren alte in den Schminkſalpeter eingepoͤckelte Damen - Geſichter, denen aus dem Schiffbruch ihres unter¬ geſunknen Lebens nichts geblieben war als ein har¬69 tes Brett, auf dem ſie noch ſitzen und herumfah¬ ren, naͤmlich der Spieltiſch.
Nro. 00000 gehen mich auch nichts an; es wa¬ ren eine Garbe Hofdamen, verſchnittene Spalier¬ gewaͤchſe an den Tapeten, oder vielmehr Einfaſ¬ ſungsgewaͤchſe um fruchtbare Beete — ſie hatten Witz, Schoͤnheit, Geſchmack und Betragen und wenn man zur Fluͤgelthuͤr hinaus war, hatte mans ſchon wieder vergeſſen.
Nro. 0000 war eine Kompagnie Hofleute, mit rothen und blauen Ordensbaͤndern durchſchnitten, welche an ihnen wie die rothe und blaue Farbe des Spiritus in Therometern ſtehen, damit man ihr Steigen beſſer ſehen koͤnne — die gleich dem Sil¬ ber glaͤnzten und alles was ſie beruͤhrten ſchwarz machten — die keinen hoͤhern und breitern Himmel ſich denken konnten als den Thronhimmel und kei¬ nen groͤßern Tag im Jahr als einen Kourtag — die in ihrem Leben weder Vaͤter waren noch Kinder noch Ehegatten noch Bruͤder ſondern bloß Hofleu¬ te — die Verſtand hatten ohne Grundſaͤtze, Kennt¬ niſſe ohne Glauben daran, Leidenſchaften ohne Kraͤf¬ te, ſatyriſches Gefuͤhl der Thorheiten ohne Haß derſelben, Gefaͤlligkeit ohne Liebe und Freimuͤthig¬70 keit zum Spaß — deren Aechtheit man wie die des Smaragds daran pruͤft, daß ſie wie er kalt bleiben, wenn man ſie mit dem Munde erwaͤrmen will — und die, die Wahrheit zu ſagen, der Sa¬ tan ſchildern mag und nicht ich ....
Oefel war zwiſchen Beata und die Ohnmaͤchti¬ ge eingemauert; Guſtav wars ihnen gegenuͤber zwiſchen zwei kleine witzige Daͤmchen: aber er ver¬ gaß die Nachbarſchaft ſeiner Arme uͤber die ſeiner Augen. Aus Oefels Gliedern ſchoſſen Witzfunken, als wenn ihn die Seide, die ihn umlag, elektri¬ ſiren haͤlfe. Die Ohnmaͤchtige war ihrer Lehnherr¬ ſchaft uͤber ihn ſo gewiß, daß ſie es fuͤr keinen Lehnsfehler anſah, wenn ihr Lehnmann Beaten, ſeiner Teller-Nachbarin, die ſchoͤnſten Dinge ſag¬ te; „ er wird ſich (dachte ſie) aͤrgern genug, daß er aus Hoͤflichkeit nicht anders kann. “ Dem H. v. Oefel war am Ende nie um etwas anders zu thun als um den Herrn von Oefel; er lobte, nicht um ſeine Achtung ſondern um ſeinen Witz und Ge¬ ſchmack auszukramen; er unterdruͤckte weder Schmei¬ cheleien noch Satyren, wenn ſie gut und unge¬ gruͤndet waren; er tadelte die Weiber, weil er beweiſen wollte, er erriethe ſie und weil er das71 fuͤr ſchwer hielt; und ich halte ihn fuͤr einen Narren.
Drei Bergbohrer ſetzte er gewoͤhnlich an einem Maͤdchenherzen an, um eine Luͤcke darein zu brin¬ gen, in die er das Schießpulver legte, womit er die vererzte Liebesader aus dem Maͤdchen hervor¬ ſprengen wollte. Seine erſte Miniergrube, die er heute wie allemal im weiblichen Herzen lud, war bei Beaten, daß er mit ihr lange von ihrem An¬ zug[ſprach] — es iſt ihnen, behauptete er, einerlei ob man von ihren Gliedern oder ihren Kleidern re¬ det; aber ich behaupte, die Haͤßliche traͤgt ihren Anzug fuͤr ihre Frucht, die Kokette fuͤr die bloſ¬ ſe Gartenleiter oder[den] Obſtbrecher und die Gute fuͤr das Laub der Frucht. Beata trug ihn wie Eva als Laubwerk.
Zweitens ſtellte er um Beaten die Wand - und Garnwaͤnde der Metaphern, um ſie darin zu jagen — er behauptete, wie die Maͤdchen das ſingen was ſie nie ſagen wuͤrden (gleich denen die zu ſtammeln aufhoͤren wenn ſie zu ſingen anfangen) ſo laſſen ſie in Bildern und Allegorien alle die Ge¬ ſtaͤndniſſe ihres Innern aus ſich winden, die man ihnen mit eigentlichen Worten nie abfoͤchte, ob es72 gleich einerlei waͤre — ich hingegen behaupte, dieſe taugen nichts und die, die ſo viel taugen als Beata, koͤnnen nicht mit Worten gefangen wer¬ den, weil ihre Gedanken nie ſchlimmer ſind als ihre Worte. Freilich aus einem Zimmer (oder Herzen) wo es innen brennt und raucht, lodert die Flam¬ me aus der erſten Oefnung heraus, die du auf¬ machſt.
Seine dritte Behauptung und Liſt war, Maͤnner fuͤhlten den Werth des Einfachen und das Erhab¬ ne der Aufrichtigkeit und der geraden Verſicherung „ ich habe dich lieb, “aber Maͤdchen wollten tour¬ nure und Feinheit und Umſchweife in dieſe Verſi¬ cherung, die tuͤrkiſche Briefſtellerei durch gewachſe¬ ne Blumen waͤr 'ihnen lieber als die mit poetiſchen ‚ eine thaͤtige Schmeichelei lieber als eine woͤrtliche — ich aber behaupte daß er Recht hat. Daher ließ er z. B. ſeine Repetiruhr vor der Ohnmaͤchtigen allemal die Stunde ihres letzten Rendevous repeti¬ ren und er gefiel ihr unendlich; daher ſah er ei¬ ne allemal wenns zu machen und zu merken war, ſchielend hinter dem Ruͤcken im Spiegel an — daher ſteckt' er gegen Beaten voll Teufeleien, die ich faſt alle nennen ſollte. Zwei nenn 'ich auch. 73Er erinnerte ſich erſtlich, daß er ſich zu vergeſſen und auf ihre Hand die ſeinige im Feuer des Redens zu legen habe; darauf ſtellt' er ſich als beſaͤnn 'er ſich, als naͤhm' er ſeiner Hand ein Loth ums an¬ dre in der Abſicht, ſie unvermerkt wegzuheben 'ſobald ſie mehr nicht woͤge als ein Fingerglied — „ ſo handelt (ſagt' er zu ſich) feinere Delikateſſe immer; und ich werd 'es ſehen was ſie verfaͤngt.” Seine zweite Teufelei war, daß er in der Spie¬ gelplatte, woran er ſaß, ihr Geſicht (ſeinem ei¬ genen gab ſtatt des Preiſes nur das Akzeſſit) an¬ ſchielte und bewunderte, da er doch das Original naͤher hatte. Eine Schaͤferin von Porzellan trieb Schaͤfchen uͤber den Spiegel: „ ich habe noch keine ſchoͤnere Schaͤferin unter Glas geſehen,” ſagt' er doppelſinnig; „ aber ich ein ſchoͤneres Schaaf,” ſagte die Défaillante und meinte ihn.
Dieſe Spiegelplatte kam mit ihrer Schaͤferin, die uͤber ein umbluͤmtes Ufer in das glaͤſerne Waſ¬ ſer ſah, und mit ihrem Lamm und Schaͤfer[faſt] der Guſtaviſchen Szene nahe. Beatens Auge ver¬ lor ſich unwillkuͤhrlich zwiſchen dieſe Blumen und nahm ihr Ohr mit ſich, in[das] der Legationsrath vergeblich mit ſeinem kriegsliſtigen Witze einzubre¬74 chen trachtete. Guſtavs Augen ſuchten und mieden nur — Augen, nicht Szenen; aus dem geſell¬ ſchaftlichen Gewuͤhl, unter dem ſeine innern Fluͤ¬ gel erlagen, konnt 'er nur durch einen Springſtab von auſſen in die Hoͤhe. Denn die ausgenommen, die ihm aͤhnlich war, ritzten und baitzten die an¬ dern alle, die es nicht waren, ſein Inneres ſo ſehr mit ihren Tiſchreden, daß er nie in groͤßerer Beklemmung war als heute: ich will das fliegende Tiſchgeſpraͤch, das die Tugend betraf, in Gedan¬ kenſtrichen abgemarket herſetzen, weil zwanzig[Koͤp¬ fe] daran ſprachen, wie am Bauern-Tiſchgebet die ganze Familie antiphonirend betet.
„ Man hat keine Tugend, ſondern nur Tugen¬ den. — Die Weiber haben ſie, die Maͤnner be¬ kriegen ſie — Tugend iſt nichts als eine unge¬ woͤhnliche Hoͤflichkeit — Tugend iſt un peu de pavillon joint à beaucoup de culaſſe*)Bekanntlich heiſſet an einer doublette, der in der Faſſung verſteckte Kieſel oder Bergkryſtall culasse, und der darauf blühende Demant pavillon. ; mais le moyen de n'être que l'un ou que l'autre? — Sie iſt wie die Schoͤnheit, uͤberall anders; die Koͤpfe ſind hier ſpitz, dort breit; ſo iſts mit den Herzen,75 die darunter ſind — Schoͤnheit und Tugend zanken und lieben ſich wie ein Paar Schweſtern und doch geben ſie einander ihren Putz (bezog ſich) — Man denkt nie ſo gern an die Tugend als wenn man die Roſenmaͤdchen in Salency ſieht. — Sie wird auch an andern Orten gekroͤnt (bezog ſich wie¬ der) u. ſ. w.
Kurz jeder Ton und Blick erwieß nicht, ſon¬ dern praͤſumiert 'es ſchon, daß Tugend nichts waͤ¬ re — als der Oekonomus des Magens, die Kon¬ viktoriſtin der Sinne, die Officiantin und Tochter des Koͤrpers. Der Liebe giengs wie der Tugend. „ Die Julie des Jean Jaques (ſagte einer) iſt wie tauſend Julien oder wie Jean Jaques ſelber; ſie be¬ ginnt mit Schwaͤrmen, endigt mit Beten — aber das Fallen iſt zwiſchen beiden. “
Niemand als wer einmal in Guſtavs Lage war, wer einmal das verheerende Beſtuͤrmen ſei¬ ner tiefſten Ueberzeugung von der Moͤglichkeit und Goͤttlichkeit der Tugend, in einem Kreiſe witziger und entſcheidender Leute von Stande erlitt; wen unter ſolchen Erſchuͤtterungen, deren jede ein Riß in die Seele iſt, ſein eignes Unvermoͤgen kraͤnkte,76 ſolche Tugend - und Heiligen-Stuͤrmer zu beſchaͤ¬ nem, geſchweige zu bekehren; wen unter dieſen Herodes-Beſchimpfungen ſeiner Heilandin nicht einmal der Stolz aufrichtete, der zwar gern mit uns auf unſerm beſondern Zimmer iſſet, aber an der table d'hôte aus unſerem Innern eilt — — bloß alſo wer in ſolchen Lagen keuchte, kann ſich Guſtavs Alpdruͤcken in der ſeinen denken.
Selbſt Beatens Angeſicht,[das] die Parthei der Tugend und der Liebe nahm, konnt 'ihn nicht gegen jene perſiflierenden Froſtgeſichter decken, aus denen wie aus Gletſcher Spalten bei wechſelnder Witterung, ſchneidende Winde blieſen und die das Herz zerphiloſophierten und das Gefuͤhl des eignen Werths zerriſſen: in Guſtavs Alter machen die Guſtave zwei grundfalſche Syllogiſmen — ſie ſuchen erſtlich unter jeder tugendhaften Zunge ein tugendhaftes Herz, zweitens aber auch unter je¬ der ſchlimmen ein ſchlimmes.
Guſtav wuͤrde wenig darnach gefragt haben, daß er nicht viel antworten, geſchweige fragen konnte, waͤren ihm nicht zwei Ohren gegenuͤber geſeſſen, die etwas beſſers werth waren als was77 ſie zu hoͤren bekamen. Er glitſchte allemal neben der rechten Taſte hinaus und grif Konſonanzen, wo Diſſonanzen in der Partitur geſchrieben ſtanden und umgekehrt. Bald erſtaunte er uͤber die fremde freimuͤthige Lizenz, bald erſtaunten ſeine Nach¬ barn uͤber ſeine; und Witz waͤr 'ihm leichter ge¬ weſen als einen Ton zu treffen,[der] ihm bald zu kuͤhn bald zu feig vorkam. — Das wars aber nicht eigentlich: ſondern ſein wichtiger Fehler, der wie ein Fußblock ſeine Fuͤße hielt war, daß er logiſch richtig dachte. —
Den Fehler haben viele; und ich ſelber mu¬ ſte mich viele Vormittage uͤben und mit der Seele volltigieren, eh 'ich einigermaſſen unzuſammen¬ haͤngend und huͤpfend denken konnte nur wie ein halber Narr. Ich haͤtt' es am Ende doch zu Nichts gebracht, wenn ich mich nicht zu Weibern in die Schule und auf die Schulbank geſetzet haͤtte: Die¬ ſe denken weniger logiſch und wer bei ihnen den guten Ton nicht erlernt, aus dem iſt nichts zu machen — als ein deutſcher Metaphyſiker. Ant¬ worten ſie wohl jemals Ja oder Nein, ſtatt deſ¬ ſen was nicht zur Sache gehoͤret? druͤcken ſie ſich uͤber das Wichtigſte bedachtſam und mit prozeſſua¬78 liſchen Weitlaͤuftigkeiten aus oder uͤber das Frivol¬ ſte frivol? hoͤren und uͤben ſie Perſiflieren ungern oder legen ſie — Balkoͤniginnen und Gouvernann¬ ten der bureaux d'eſprit freilich ausgenommen — wohl je den geringſten Akzent, Accent und Werth auf ihre Tiſch - Toilette - Spiegel - und andre Re¬ den? oder legen ſie einen auf Wahrheiten? Zum Gluͤck nimmt dieſe Feinheit des Tons, die das Fa¬ kultaͤtsſiegel und der Handwerksgruß der Weiber iſt, mit der Feinheit der Stoffe zu, die eine um¬ hat. Ein Paar kleine deutſche Staͤdte, etwa Un¬ terſcheerau u. a. muͤſſen ſich mir nicht entge¬ gen werfen, wo freilich die daſigen Weiber, die ſich lieber Damen nennen hoͤren, mit nichts Laute von ſich geben als mit dem artikulierten Faͤcher und Schleprock, den Inſekten gleich, deren Stim¬ me nicht aus dem Munde, ſondern aus dem ſchwir¬[renden] Flugwerk, Bauchtrommelfell ꝛc. hervor¬ ſauſet.
Viele muthen mir zu, dieſe Aehnlichkeit des weiblichen und des Hoftons gar hinaus zu bewei¬ ſen: ich habe ja die Feder in der Hand und brau¬ che bloß einzutunken. Ein Sopraniſt im guten Ton (ich werde des Wohlklangs wegen „ Hof - und79 guter Ton” abwechſelnd brauchen) wird ſtets den Blitz der Wahrheit durch[Pointen] ſo zuzuleiten und zu entkraͤften wiſſen wie den elektriſchen durch Spitzen. Der wirkliche Sopraniſt ſchneidet aus dem ewigen Zirkel der Wahrheit bunte Seg¬ mente und Bogen aus, die aufs nichts haͤngen und ruhen, wie die kouleurten herausgeſchnittenen Fragmente des Regenbogens. Er iſts von dem man fodert, daß er wie Spiegelqueckſilber alles, was vor ihm voruͤberrennt, fremde Karaktere und eigne Meinungen kolorierend abſchatte und alles aͤußere zeige und alles innere berge. Wird es fuͤr einen Weltmann genug ſeyn — es reiche immer fuͤr einen Gelehrten zu — wenn er ein Feld iſt, das ſatyriſche Dornen umſtecken und muͤſſen ſie nicht vielmehr ſtatt des Raines alle Furchen erfuͤl¬ len und mehr die Frucht als der Zaun des Ackers ſeyn? und wer anders als er und die Schwefelle¬ ber — die ſich aber nur auf Metalle einſchraͤnkt — muß alle Heilige und alle Teufel ſchwarz zu praͤ¬ zipitiren wiſſen? — allein Leute, die ſo hohe Fo¬ derungen zu machen wagen, bedenken nicht im¬ mer, daß nur ein Latitudinarier und Indifferen¬ tiſt aller Wahrheiten ſie befriedigen koͤnne, d. h.80 ein Mann, der gaͤnzlich ſich uͤber den Katheder - Inſulaner erhebt, welcher vielleicht Jahre lang die naͤmlichen Meinungen und Hoſen behaͤlt. Nichts verengert den Tanzplatz des Witzes ſo ſehr als wenn eigne Meinungen und Wahrheitsliebe darin als feſte dicke Saͤulen ſtehen. — —
Dieſes ſind eben die Mittel, wodurch Welt¬ leute ſo wohl andre als ſich ſelber im feinſten laͤ¬ cherlichen Lichte darzuſtellen wiſſen. Der Hofmann kann allerdings den deutſchen Komoͤdienſtellern vor¬ werfen, daß ſie das attiſche Salz und das hohe Komiſche, das er ſtets an ſeiner Perſon zu haben weiß, unter ihren Schwielen-Haͤnden meiſtens ver¬ fliegen laſſen. Er, der Hofmann, macht ſich ſtets auf eine feine, nie niedrige Weiſe laͤcherlich und wuͤrzet mit einem hohen Komiſchen, das[ſeinem] hohen Stande anpaßt, ſeine Perſon leicht; aber er kann fragen, „ ſtudieren mich die deutſchen Tro¬ pfen, oder ſalzet Terenz, den ſie ſtudieren, ſei¬ ne Karaktere ſo delikat wie ich meinen eigenen ....
Ich denke, durch meine Verirrungen hab 'ich den Umſtand in meiner Geſchichte zureichend moti¬ viert, daß Guſtav am Ende, weil er niederlagunter81unter ſo ſchnell witzigen Damen und unter dem zu beſcheidnen Gefuͤhle fremder Talente und et¬ wann weil von ihm die Reſidentin durch ihre Geſellſchaft und Beata durch ihren H. Vater abgezogen wurde — ſich gar fortmachte. Aber draußen richtete ſich unter dem kuͤhlenden Nacht¬ thau die haͤngende Blume erfriſcht wieder auf; im ſtillen Lande gieng er vor dem viereckigen Schim¬ mer ‚ den die Wandleuchter ins Graß herunter¬ warfen ‚ ohne Sehnen voruͤber und drehte ſich rund herum ‚ um alle Waͤnde des weiten ſchwarz¬ gemahlten Ballhauſes ‚ wo das Schickſal den Son¬ nen-Ball in große und den Erdball in kleine Kreiſe wirft ‚ ins Auge zu nehmen. Als er hier den großen Schattenriß des Tages ‚ die Nacht ‚ wie den einer weggegangnen Freundin ‚ kuͤhlend und troͤſtend an ſeinem Buſen hatte! ſo dachte er ‚ aber ſicher ohne Stolz: „ o zu dir ‚ große Natur ‚ will ich allzeit kommen ‚ wenn ich mich unter den Men¬ ſchen betruͤbe; du biſt meine aͤlteſte Freundin und meine treueſte und du ſollſt mich troͤſten ‚ bis ich aus deinen Armen vor deine Fuͤße falle und keinen Troſt mehr brauche. “....
2. Theil F82„ Koͤnnen ſie mich nicht berichten wo hier der junge H. v. Falkenberg logiert” redete ein Nacht¬ bote ihn an. Er uͤberbrachte ihm einen Brief, den er eilig im Fixſternlicht der fernen Wandleuchter durchlief. Aber ſie ſchienen heute lauter traurige Szenen erhellen zu ſollen: Amandus hatte ihm darin auf dem Deckbette ſeines Krankenlagers ſo geſchrieben:
83Das Krankenlager — die Mondfinſterniß — die Pyramide.
Wenn du wieder mein Freund geworden biſt: ſo gehe zu deinem, der bald ſterben wird. Soͤhne dich aus mit mir eh 'ich in das ewig ſtille Land ziehe, wie wir das letztemal thaten, eh wir in das irdiſche ſtille Land hinausgiengen. Ach unaus¬ ſprechlich Geliebter! ich habe dich zwar oft belei¬ digt, aber allezeit geliebt! o komm, laße nicht den kurzen Athem meiner brechenden Bruſt, der auf dieſer Erde aus lauter unerfuͤllten Seufzern beſtand, mit dem letzten vergeblichen Seufzer nach dir verſiegen. Du ſaheſt mich das erſtemal, als meine Augen blind waren; ſehe mich zum letzten¬ male, wenn ſie es wieder werden! “—
Dieſes Blatt riß ihn in dieſer Stunde, wo ihm die Liebe eines Menſchen ſo wohl that, aus dem Schloſſe fort, aber die Stellen des Herzens, an denen es ihn anfaſte, bluteten. Ein ſolcher Gang durch die Nacht beugt die Seele nieder und ſeinen Freund ſah er auf dieſem kurzen Wege mehrF284als zehnmal ſterben. Bei jedem Vogel, den ſie aus dem Bette jagten, dacht 'er, wie wirſt du im finſtern dein Aeſtgen wieder finden — bei jedem zerfließenden Licht, das weit von ihm durch die Nacht wandelte, dacht' er, welchen Seufzern, welchen ſauern Schritten wird es jezt den langwei¬ ligen Steig beleuchten und es war ihm als ſaͤh 'er das menſchliche Leben gehen. Es macht' ihn nicht froͤhlicher, als er einige Sonnenwaͤgen, von ei¬ nem Sonnenhof aus Fackeln umlegt, die unnuͤtzen Gaͤſte des Souper, das ſie wie er jezt verließen, ſo fliegend heimrollen ſah als fuͤhren ſie einem ſter¬ benden Freunde entgegen. Endlich wickelte ſich die ſchlummernde Stadt aus den Schatten heraus; das Pharuslicht des Thuͤrmers und einige weit ausein¬ ander geſaͤete Lichter, die wahrſcheinlich die lange lange Nacht eines Kranken truͤbe und ungeputzt abmaßen, fielen auf den Trauer-Grund ſeines Innern:
Leiſe pochten ſie am Krankenhauſe, leiſe wur¬ de aufgemacht, leiſe ſtieg er hinauf: bloß die Uhr laͤrmte, wie ein Trauergelaͤute ins ſtumme Trau¬ erhaus, mit ihren zwoͤlf Schlaͤgen, die er da ſo oft gehoͤrt. — Ach im Bett litt eine Geſtallt, der85 man alles verzeihen will und die man noch ein we¬ nig zu lieben und zu erfreuen eilt, eh 'ſie ſich nicht mehr regt. Nicht das ſchmutzige eingedorte Krankengeſicht, nicht die von Fiebern weggebaizte Lebensfarbe, nicht die Runzeln der Lippe warens an Amandus (oder ſinds an andern Kranken,) was Guſtavs Herz und Hofnungen zerſchnitt, ſon¬ dern das ſchwer gedrehte, aufflackernde, wilde und doch ausgebrannte verglaſete Krankenauge, in das alle Leiden ſeiner vorigen Naͤchte und die Naͤhe der letzten ſo leſerlich geſchrieben waren.
Er ſtreckte ihm ſeine Todtenhand weit her¬ aus entgegen, als ob es moͤglich waͤre daß jemand anders als er ſich noch an die fremde ſchwarze Todtenhand erinnerte, die er ihm neulich gereicht. Fuͤr Amandus war die Wiedervereinigung ſuͤßer als fuͤr Guſtav, der hinter ihr die lange Trennung warten ſah.
Der Morgen und die Freude hielten den Vor¬ hang ſeines Lebens ein wenig im Niederfallen auf. Guſtav trat als Krankenwaͤrter an die Stelle der Krankenwaͤrterin, erſtlich weil dieſe alles ſo gut und mit ſo vielen Umſtaͤnden und Randnoten zu machen wuſte, daß ſie noch in ſeine letzten Minu¬86 ten Galle ſchuͤttete, zweitens weil es ja in der Stunde, wo die ganze Natur in Geſellſchaft des Todes mit harten Griffen dem Menſchen allen Putz und alle Kleidungsſtuͤcke abzieht, die ſie ihm gelie¬ hen, fuͤr die ohnmaͤchtigen Freunde, die dieſe un¬ erbittliche Hand nicht halten koͤnnen, noch der ein¬ zige Troſt iſt, unter dem Entkleiden, Erfrieren und Einſchlafen des Bekannten durch Laͤcheln, durch unbedingte Gefaͤlligkeit gegen alle ſeine Lau¬ nen, durch Erfuͤllung ſeines Eigenſinns ſtille zu ſeyn. — Auf ſolche Charitativ-Subſidien gegen arme Sterbende ſchauet man nach vielen Jahren mit mehr Zufriedenheit zuruͤck als auf die gegen alle Geſunde auf einmal — und doch ſind beide nur um ein Paar Stunden verſchieden; denn du ſteig'ſt nicht oft in deinem Bette aus und ein, ſo bleibſt du drinnen liegen ....
Lieber Tod! ich denke jezt an mich: wenn du einmal in meine Stube tritſt: ſo erweiſe mir den Gefallen und ſchieß 'mich an meinem Secretaire oder Schreibtiſch Knall und Fall todt; werfe mich lieber Todt, nicht hinter die Vorhaͤnge aufs Kran¬ kenbette und ſuche mit deinem Trennmeſſer lang¬ ſam jede Ader, um ſie vom Leben loßzutrennen,87 ſo daß ich dir ganze lange Naͤchte ins anatomie¬ rende Geſicht ſehen muß oder daß unter deinem langen Seidenzupfen meines Seelenkleides alles herlaͤuft und geſund zuſieht, der Rittmeiſter, der Peſtilenziarius und meine gute Schweſter — reitet dich aber der Henker, daß du keine Vernunft an¬ nimmſt: ſo lieber Tod — da keine Hoͤlle ewig dauert — ſcheer' ich mich auch nichts darum, um die letzte Scheererei, nach tauſend Scheerereien.
Der Doktor Fenk hatt 'in ſeinem Geſicht nicht die Aengſtlichkeit vor einem kommenden Verluſt ſondern das Trauern uͤber einen Dageweſenen; er hielt ſeinen Sohn fuͤr ein zerſchlagenes Porzellan - Gefaͤß, deſſen Scherben man noch in der alten Zuſammenſetzung auf den Putzſchrank ſtellt und das von deſſen kleinſter Erſchuͤtterung auseinander faͤllt. Er verbot ihm daher nichts mehr. Er nahm ſogar einige maͤnnliche Patienten an, „ weil er zu Hau¬ ſe einen haͤtte und ſich den Gedanken an ihn weg¬ kurieren wollte.” Der Kranke ſelber hoͤrte ſchon den Abendwind ſeines Lebens wehen. Vor einigen Wochen glaubte er zwar noch, im Fruͤhlinge koͤnnt' er den Scheerauer Geſundbrunnen in Lilien¬ bad trinken und dann wuͤrd 'es ſchon anders mit88 ihm werden. (Armer Kranker! es iſt eher anders mit dir geworden.) Allein ein gewiſſes Fieberbild, das er nicht entdeckte, ſprach ihm ſein krankes Leben ab; und ſein Aberglaube an dieſen Traum war ſo feſt, daß er ſeitdem ſeine Blumenſtoͤcke nicht mehr begoß, ſeine Voͤgel weggab und alle Wuͤnſche ausloͤſchte, bloß den nach Guſtav nicht.
Es war am andern Tage gerade Markttag. Dieſes Getoͤſe hatte fuͤr ſeine der Todesſtille geweih¬ ten Ohren zu viel Leben und Guſtav muſte ſich an ſein Bette ſetzen, damit er unter dem Sprechen und Hoͤren nicht auf den Markt hinunter horchte. Guſtav erſchrack als er endlich lebhaft fragte: „ ob er Beaten noch liebe.” Er wich dem Ja aus; aber Amandus rafte das wenige Leben, das noch in ſeinen Nerven waͤrmte, zuſammen und ſagte, aber in langen Pauſen zwiſchen jedem Satze: „ o nimm ihr dein Herz nicht — wenn du ſie kennteſt wie ich — ich war oft bei ihrem Vater — ich ſah wie ſie mit ſtummer Geduld ſeine Hitze trug — wie ſie die Fehler ihrer Mutter auf ſich nahm — voll Guͤte, voll Sanftmuth, voll Demuth, voll Ver¬ ſtand — ſo iſt ſie — ach ohne ihr Bild waͤr 'in meinem Leben wenig Freude geweſen — gieb mir89 die Hand, daß du ſie mehr liebeſt wie mich. “ Er nahm ſie ſelber; aber Guſtaven ſchmerzte es.
Ploͤtzlich draͤngte ſich in ſeine eingeſunknen Wan¬ gen-Adern vielleicht die letzte Schaamroͤthe, die oft wie Morgenroͤthe vor einer guten That voreiit: er verlangte ſeinen Vater her. An dieſen that er mit ſo viel Feuer, mit ſo viel Sehnſucht in Aug 'und Lip¬ pe die Bitte, — — Beaten herzuholen, die ja ei¬ nem Sterbenden nicht die letzte Bitte verſagen koͤn¬ ne, daß es ſein Vater auch nicht konnte: ſondern er verſprach (trotz dem Gefuͤhle der Unſchicklichkeit) zu ihrer Mutter zu fahren und durch dieſe jene herzu¬ bereden und beide zu bringen. — Fenk wuſte, daß in ſeiner ganzen Krankheit kein Abſchlagen etwas verfieng — daß er wenn er ihn am letzten vergebli¬ chen Wunſche geſtorben ſaͤhe, den Gedanken nicht tragen koͤnne, dem Leichnam die Todesminuten, die er noch ausſchluͤrfte, verbittert zu haben — und daß Mutter und Tochter zu gut waͤren, um nicht gegen ſeinen Sohn zu handeln wie er: kurz er fuhr.
Als der Vater hinaus war: ſah der Kranke un¬ ſern und ſeinen Freund mit einem ſolchem Strom von laͤchelnd verſprechender Liebe an, daß Guſtav von der treuen guten Seele, deren Scheiden, ſo nahe90 war, den laͤngſten Abſchied dieſes Lebens nehmen wollte — meine Lippen, dacht 'er, ſollen nur noch einmal gedruͤckt auf ſeinen liegen und meine Bruſt auf ſeiner — nur noch einmal will ich den warmen Leichnam umſchließen, da noch eine Seele darin mein Umfaſſen fuͤhlt — nur noch einmal will ich ſeinem wegziehenden Geiſte, da ich ihn noch errei¬ che, nachrufen, wie ich ihn geliebt habe und lie¬ ben werde .... Unter dieſen Wuͤnſchen heiligte das ſchoͤnſte Weihwaſſer des Menſchen[ſein] Auge. Aber er unterließ alles, weil er beſorgte, unter dieſer heftigen Szene ließen die geriſſenen Bande des Koͤrpers die bewegte Seele loß und an ſeinem Munde ſtuͤrbe der Schwache ....
Dieſe Zaͤrtlichkeit, die ſich ſelbſt aufopfert und nicht aus der Nonnenzelle des Herzens tritt, ge¬ faͤllt mir mehr als ein belletriſtiſcher und theatra¬ liſcher Final-Orkan, wo man empfindet, um es zu weiſen, um eine Thraͤnen - und Dinten-Fiſtel zu haben wie andre, um von ſeinen Empfindun¬ gen, wie vom Schnupftuch womit man ſie trock¬ net, einen Zipfel aus der Taſche herauszuhenken.
Der Doktor, von dem man in Mauſſenbach noch kein betruͤbtes Geſicht geſehen, gewann ſchon91 durch ſeine uͤberflorte Heiterkeit ſeine traurige Bit¬ te. Mein Gerichtsherr, der ſein angebornes Mit¬ leid allezeit gewaltſam daͤmmte, weil es gleich ei¬ nem Papagai ſein Geld wegtrug, uͤberließ ſich dem wohlthaͤtigen Thraͤnenſtrom hier deſto williger, weil er ihn nichts davonfuͤhrte als — auf eine Stunde Frau und Tochter. Der ſchlimmere Menſch hat ei¬ ne groͤßere Freude uͤber eine ſich abgerungene gute That als der beſſere. Roͤper ſchrieb ſelber an die Tochter ſeinen Befehl, mit zufahren, und brach¬ te die beſten Gruͤnde dafuͤr aus der natuͤrlichen und theologiſchen Moral kurz bei. Aber der beſte Grund, den der Doktor Beaten ins neue Schloß mitbrach¬ te, war ihre Mutter: ohne ſie haͤtte ſie ihre ſcheuen, politiſchen, und weiblichen Beſorgniſſe ſchwerlich uͤberwaͤltigt.
Sie kamen unter Gebeten im erhabenen Ster¬ bezimmer an, dieſer Sakriſtei eines unbekannten Tempels, der nicht auf dieſer Erde ſteht: ich fah¬ re fort, obgleich hier die Szene meinem Herzen und meiner Sprache zu groß wird .... Als der Kranke die Geliebte ſeines ſterbenden Herzens ſah: ſo ſchimmerten ſeine untergegangnen Jugendtage mit ihren goldnen Hofnungen tief unter dem Ho¬92 rizont herauf wie das Abendroth der Juniusſonne gegen Mitternacht, er druͤckte dem ſchoͤnen Leben noch einmal die Hand, vom Hauch der letzten Freu¬ de glimmten noch einmal ſeine blaſſen Wangen an und der Engel der Freude ließ ihn am Seile der Liebe langſam ins Grab hinab. — Ein Sterbender ſieht die Menſchen und ihr Thun ſchon in einer tie¬ fen Entfernung verkleinert; ihm ſind unſre kleinen Hoͤflichkeitsregeln wenig mehr — alles iſt ihm ja nichts mehr. Er bat, ihn mit Guſtav und Beata allein zu laſſen; ſeine Seele hielt den ſich nieder¬ beugenden Koͤrper; mit einer abgebrochnen aber geneſenen Stimme redete er das bebende Maͤdchen an: „ Beata, ich werde ſterben, vielleicht heute „ Nacht — in meinen ſchoͤnern Tagen hab 'ich dich „ geliebt, du haſt es nicht gewußt — ich gehe mit „ meiner Liebe in die Ewigkeit — o Gute, gieb mir „ deine Hand (ſie thats) und weine nicht, ſondern „ ſpreche, ich habe dich ſo lange nicht geſehen und „ nicht gehoͤrt — aber weinet nur: euere Thraͤnen „ machen mich nicht mehr weich, in meine heiſſen „ Augen kommen ſo lang ich liege keine — o wei¬ „ net ſehr bei mir: wenn man traͤumt man wein' „ auf einen Todten, ſo bedeutet es Gewinn. — —93 „ Ja, ihr zwei ſchoͤnen Seelen, ihr findet niemand „ der euch gleichen, der euere Liebe verdienen kann, „ ihr ſeyd allein — o Beata, auch Guſtav liebet „ dich und ſagt es nicht — wenn du dein ſchoͤnes „ Herz noch haſt, ſo gieb es ihm, auf der ganzen „ Erde verdient nur er's, gieb es ihm — du ma¬ „ cheſt ihn und mich gluͤcklich, aber gieb mir kein „ Zeichen wenn du ihn nicht lieben kannſt” ........ Jetzt ergriff er noch die Hand Guſtavs, deſ¬ ſen Gefuͤhle gegen einanderwehende Stuͤrme waren, und ſagte mit aufgerichteten Augen der begluͤcken¬ den Tugend: „ Du unendliches guͤtiges Weſen! das „ mich zu ſich nimmt, ſchenke dieſen zwei Herzen „ alle ſchoͤne Tage, die mir vielleicht hier beſchie¬ „ den waren — ja nimm ſie aus meinem kuͤnftigen „ Leben, wenn ich etwan in dieſem keine zu erwar¬ „ ten hatte” ..... Hier zog der fallende Koͤrper die fliegende Seele zuruͤck; ein Tropfen in ſeinem Auge verkuͤndigte die ſchwere Erinnerung an ſeine zertruͤmmerten Tage; drei Herzen bewegten ſich heftig; drei Zungen erſtarrten; dieſe Minute war zu[erhaben] fuͤr den Gedanken der Liebe — bloß die Gefuͤhle der Freundſchaft und der andern Welt waren groß genug fuͤr die große Minute ...
94Ich bin jetzt nicht im Stande, von den Fol¬ gen der letztern und von jemand anders zu reden als vom Sterbenden. Seine zuruͤckgeſpannten Ner¬ ven bebten in einem entkraͤftenden Schlummer fort. Die erſchoͤpfte, betaͤubte Beata gieng mit ihrer Mutter ab. Guſtav ſah nichts mehr, kaum jene. Der Vater hatte keinen Troſt und keinen Troͤſter.
Der Fieberſchlummer waͤhrte fort bis nach Mitternacht. Eine totale Mondfinſterniß hob den Himmel und zog das erſchrockne Auge des Men¬ ſchen empor. Guſtav ſah bewegt und melancholiſch zu dem koloſſaliſchen Erdſchatten hinauf, der am Monde wie an einem Silhouettenbrette lag. Er verließ die Erde, ſie wurd 'ihm ſelber ein Schat¬ ten: „ ach! dacht' er, in dieſer hohen fliegenden Schatten-Pyramide werden jetzt tauſend rothe Au¬ gen, wunde Haͤnde und troſtloſe Herzen ſtehen und werden eingraben, damit der Todte noch fin¬ ſtrer liege als der Lebendige. — Aber ruͤckt denn nicht dieſer Schatten-Polyphem (mit dem Einem Mondsauge) taͤglich um dieſe Erde herum und wir bemerken ihn nur dann, wenn er ſich auf unſerem Mond anlegt .... Und ſo denken wir, der Tod komme nicht eher auf die Erde, als bis er un¬95 ſern Garten abmaͤhet .... und doch iſt nicht ein Jahrhundert ſondern jede Sekunde ſeine Senſe. “.... Auf dieſe Art betruͤbte und troͤſtete er ſich unter dem beflorten Mond — Amandus wachte aͤngſtlich auf; beide waren allein; der Mond ruh¬ te mit ſeinem Schimmer gewoͤhnlich auf ſeinem kranken Auge; „ wer hat denn den Mond zerſchnit¬ ten “(ſagt 'er gequaͤlt) „ er iſt todt bis auf ein Schnitzchen. “ Auf einmal war die Stubendecke und die entgegengeſetzten Haͤuſer flammend roth, weil die Leichenfackeln mit einem Edelmann, der auf ſeinen Erbbegraͤbniß gefahren wurde, durch die ſtumme Gaſſe zogen. „ Es brennt, es brennt, “rief der Sterbende und ſuchte herauszueilen. Gu¬ ſtav wollt' ihm verbergen, wie aͤhnlich ihm der ſei, der unten zum letztenmale uͤber die Gaſſe gieng; aber Amandus, aͤngſtlich als wenn ihn der Tod er¬ druͤckte, wankte uͤber das halbe Zimmer in Gu¬ ſtavs Armen ...... eh 'er die Leiche ſah, legt' ihn ein Nervenſchlag todt in dieſe Arme ....
Guſtav trug ſo kalt wie der Todte den Einge¬ ſchlafnen aufs verlaſſene Lager — ohne Thraͤne, oh¬ ne Laut, ohne Gedanke ſetzte er ſich ins verhuͤllte Monds - und ins herflimmernde Leichenlicht — der96 ſtarre Freund ohne Bewegung lag ihm gegenuͤber — Amandus war eher als die Mondkugel aus dem Erdſchatten geflogen — Guſtav ſah nicht auf den Todten ſondern auf den Mond (in der dichte¬ ſten Trauerſtunde ſieht man vom Gegenſtande weg auf den kleinſten hin): „ ſtreife nur hin, Schatten der Kugel aus Staub, du liegſt noch uͤber mir ... aber ihn erreicht deine Spitze nicht ..., alle Son¬ nen liegen nackt vor ihm .... o Eitelkeit, o Dunſt, o Schatten, wo ich noch bin “.... Ploͤtzlich ſchlug die Floͤtenuhr Ein Uhr und ſpielte ein Morgen¬ lied des ewigen Morgens, ſo aufrichtend, ſo her¬ uͤbertoͤnend aus Auen uͤber dem Mond, ſo ſchmer¬ zenſtillend, daß die Thraͤnen, unter denen ſein Herz ertrank, den Schmerzensdamm umbrachen und ſanftern, weniger toͤdtlichen Empfindungen ein Bette lieſſen .... Es war ihm als laͤge ſein Koͤrper auch ausgeleert neben dem kalten und ſeine Seele floͤge auf der breiten durch alle Sonne gehenden Lichtſtraße der vorausgeeilten nach .... er ſah ſie vorausziehen .... er ſah durch den Dunſt der Paar Jahre, die zwiſchen ihr und ihr ſelber lagen, deut¬ lich hindurch ....
Und97Und mit einer ſolchen Seele im Geſichte trat er aus dem Todtenzimmer in das des Vaters und ſagte mit irdiſcher Wehmuth im Auge und himmli¬ ſcher Heiterkeit im Angeſicht: „ unſer Freund hat unter der Mondfinſterniß ausgekaͤmpft und iſt dort. “
— Ach ſein Leben in ſeinem wurmſtichigen Koͤr¬ per war ja eine wahre totale Mondfinſterniß; ſein Austritt aus dem Leben war der Austritt aus dem Erdſchatten und ſein Verweilen im Schatten nur kurz.
Guſtav war durch kein Zureden im Trauerhau¬ ſe zu erhalten. Wenn dem Herzen der Koͤrper zu enge iſt: ſo iſts ihm auch die Stube. Er gieng (auch noch aus einem andern Grunde) nach Ma¬ rienhof. Unter dem blauen Gewoͤlbe, an dem kry¬ ſtalliſirte Sonnentropfen haͤngen, und unter dem kaͤmpfenden Monde, der wie er von ſeiner Be¬ ſchattung roth gluͤhte, begegneten ihm Ge¬ danken, die uͤber die menſchlichen Farben erha¬ ben ſind ſo wie uͤber die Erde. Wer in ſolchen Stunden nicht die Kahlheit dieſes Lebens und das Beduͤrfniß eines zweiten ſo lebendig fuͤhlt, daß das Beduͤrfniß feſte Hofnung wird: mit dem ſtreite man nie uͤber dieſe großen Punkte.
2. Theil. G98Ich konnte vorhin unter dem Getuͤmmel des Sterbetages die zweite Urſache nicht angeben, die ihn nach Marienhof forttrieb: der Verſtorbene hatt 'ihn gebeten, es zu machen daß er ſein Win¬ terlager fuͤr ſeine Gebeine auf dem Eremitenberg bekaͤme, den er ſo oft beſtiegen hatte und deſſen Szenen uns bekannt ſind. Guſtav hoft' es von der Reſidentin auszuwirken, da ſie ohnehin ſelten und nur gewiſſe Parthien des ſtillen Landes betrat. Oe¬ fel ſagte aber — am Morgen; wo er ihn bei ſei¬ ner Bitte zu Rath zog, — gerade umgekehrt, wenn ihr um den Park und deſſen bauliche Wuͤrden zu thun waͤre: ſo muͤßte ſie da etwas mit Luſt be¬ graben laſſen, weil es den beſten engliſchen Gaͤr¬ ten an Todten und wahren Mauſoleen, ſo ſehr fehlte, daß ſie bloß nachgemachte Vexier-Mauſo¬ leen haͤtten. Oefel erbot ſich einige Verzierungen in einem Geſchmack daß ſie der Hof goutirte, fuͤr das Grabmal zu entwerfen. Guſtav war bloß heu¬ te zu weich, ihn heute zum erſtenmale zu verach¬ ten. Wie ganz anders hoͤrte die Reſidentin ſeiner Bitte und gedraͤngten Stimme zu, ob er gleich kein Zeichen ſeines Schmerzes zu geben arbeitete! Wie theilnehmend — mit einer Mine als legte ſie99 leiſe eine Roſe in des[Todten Hand], — ſchenkte ſie dem letztern das Stuͤckchen Erde zum Ankerplatz! Wie ſchoͤn begleiteten ihre vollen Augen dieſes Ge¬ ſchenk an den Todten mit dem Geſchenk aus ih¬ rem weichen Herzen! Und als der fremde Kummer ſeinem eignen den Sieg wiedergab: mit welchem ſchoͤnen Troſt — nie iſt die weibliche Stimme ſchoͤ¬ ner als im Troͤſten — beſtritt ſie ihn! — Er fuͤhl¬ te hier den Unterſchied zwiſchen Freundſchaft und Liebe lebendig; und er gab ihr die erſtere ganz. Er war froh den Gegenſtand der letztern nicht da zu finden, weil er die Verlegenheit der erſten Blik¬ ke ſcheuete: Beata lag krank.
Er ſperrte ſich ein; er machte ſeine Bruſt je¬ nem Schmerze auf, der nicht wohlthaͤtige bluten¬ de Wunden in ſie ſchneidet, ſondern ihr dumpfe Schlaͤge giebt, jenem naͤmlich, der in dem Zwi¬ ſchenraum zwiſchen dem Todes - und Begraͤbnißtage bei uns iſt. Der letztere war am Sonntage, wo ich meinen Sektor betruͤbt bloß mit Ottomars Brie¬ fe ausfuͤllte und wo ich ſo traurig ſchloß. Ich that's gerade in der Stunde, wo der Entſchlafne aus dem kleinen Sterbebette ins große Bette aller Menſchen getragen wurde, wie die Mutter die auf BaͤnkenG 2100entſchlummerten Kinder in die groͤßere Ruheſtaͤtte legt. Sonntags floh Guſtav aus dem Schloſſe, wo die laͤrmenden Staatswaͤgen und Bedienten gleich¬ ſam uͤber ſein Herz giengen, mit eingehuͤllten Sin¬ nen hinaus. Es fuͤhlte heute zum erſtenmale, daß er auf der Erde nicht einheimiſch ſei, das Sonnen¬ licht ſchien ihm das in unſere Nacht gewebte Daͤm¬ mer-Licht eines groͤßern Monds zu ſeyn. Ob er gleich jetzt ſeinem weggeruͤckten Freunde ſich auf dieſer Erde weder naͤhern noch entziehen konnte: ſo ſagte ſein Schmerz doch, wenn er auch nicht den Leichnam, nicht den Sarg, ſondern nur das Grabes-Beet umfaßte, das auf dieſen Saamen einer ſchoͤnern Erde druͤckte, ſo wuͤrd 'ihm wohl ſeyn; und er ſtellte ſich daher auf einen entfern¬ ten Huͤgel, um zu ſehen ob noch Leute auf dem Eremitenberge waͤren.
Sein Auge begegnete gerade dem groͤßten Jam¬ mer, den es an dieſem Abend fuͤr ihn hienieden gab: der durch den Abend hindurch blinkende weiſ¬ ſe Sarg wurde herausgehoben — eine entzweifal¬ lende Roſe, eine durchloͤcherte Puppe, ein ſich aus¬ ſpannender Schmetterling, der jene als Wuͤrm¬ chen zernagt hatte, waren auf die Sargpuppe ge¬101 malet und kamen mit ihren zwei Originalen unter die Erde — der kinderloſe Vater ſtuͤtzte ſich mit Hand und Kopf an die Pyramide und hoͤrte hinter ſeinen verhuͤllten Augen jede Erdſcholle wie den Flug eines niederbohrenden Pfeiles — der kalte Nachtwind kam vom Todtenberg zu Guſtav heruͤber — Zugvoͤgel eilten wie ſchwarze Punkte uͤber ſein Haupt davon und der Inſtinkt, nicht die Geo¬ graphie fuͤhrte ſie durch kalte Wolken und Naͤchte zu einer waͤrmern Sonne — der Mond arbeitete ſich aus einem Blutmeere von Duͤnſten ohne Stralen herauf — endlich verlieſſen die Leben¬ digen den Berg und den Todten — bloß Guſtav blieb auf dem andern Huͤgel bei ihm, die Nacht ruhte ſchwer hingeſtreckt um beide .... Genug!
Schenkt mir dieſe Todtengraͤberſzene! Ihr wiſ¬ ſet nicht, welche herbſtliche Erinnerungen dabei mein Blut ſo leichen-langſam machen wie meine Feder: ach in dieſe Geſchichte ſchreib 'ich ohnehin ein Blatt, ein Trauerblatt, deſſen breiter ſchwarzer Rand kaum den Zuͤgen und Klagen mit Thraͤnen eine weiſſe enge Stelle laͤſſet — ich ſchenk' euch dieſe Szene auch: denn ich weiß auch nicht, Leſer mit dem ſchoͤnern Herzen, wen ihr ſchon verloren102 habt, ich weiß nicht, welche liebe dahingegangne Geſtalt, deren Grab ſchon ſo eingeſunken iſt als ſie ſelbſt, ich gleich einem Traume wieder auf ihrer Grabplatte in die Hoͤhe richte und eueren thraͤnen¬ den Augen von neuem zeige und an wieviel Todte ein einziges Grab erinnere!
Verſchwundner Amandus! in dem großen brei¬ ten Heer,[das] das Leben dem feindlichen Tod von Jahrhundert zu Jahrhundert entgegenſchickt, gien¬ geſt du wenige Schritte mit, er verwundete dich oft und bald; deine Kriegskameraden legten Erde auf deine großen Wunden und auf dein Angeſicht — ſie kaͤmpfen fort, ſie werden dich von Jahr zu Jahr unter ihrem Kriege mehr vergeſſen — in ihre Augen werden Thraͤnen kommen, aber um dich kei¬ ne mehr, ſondern um Todte, die erſt begraben worden — und wenn deine Lilien-Mumie ſich aus¬ einander gebroͤckelt hat: ſo denkt man nicht mehr an dich, bloß der Traum lieſet noch deine in den Erdball gemengte Paſtel-Geſtalt zuſammen und ſchmuͤcket mit ihr im graugewordnen Kopfe deines Guſtavs ſeine hinter dem Leben ruhenden Jugend - Auen, die wie der Venusſtern am Himmel des Le¬ bens-Morgens der Morgenſtern und am Himmel103 des Lebens-Abends der Abendſtern ſind und flim¬ mern und zittern und die Sonne erſetzen .... Ich mag nicht zu deiner Seelen-Scheide, zum Leichnam ſagen, Amandus! liege ſanft: du lagſt in ihr nicht ſanft; o noch jetzt dauert mich dein unſterbliches Ich, daß es mehr in ſeinem knappen Nerven - als im weiten Weltgebaͤude leben mußte, daß es den edeln Blick nicht zu Sonnenkugeln aufheben ſon¬ dern auf ſeine quaͤlenden Blutkuͤgelchen einkruͤm¬ men und fuͤr die große Harmonie des Makrokoſmus ſeltner Wallungen fuͤhlen als fuͤr die Diſharmonie ſeines Mikrokoſmus! — Die Kette der Nothwen¬ digkeit ſchnitt tief in dich ein, nicht bloß ihr Zug, auch ihr Druck fuͤhrte[dir] Narben zu .... So jaͤmmerlich iſt der Lebendige: wie koͤnnen von ihm die Todten ein Andenken verlangen, da er ſchon indem er daruͤber redet ermattet ....
Als nun Guſtav zu Hauſe war: ſetzte er einen Brief an den Doktor auf. Der ringende Kummer, worin dieſer ſich an die Pyramide gelehnt und ge¬ halten hatte, bewegte ihn unausſprechlich: Guſtav fiel ihm an dieſe zerſplitterte wunde Bruſt und mehr¬ te ihre Schmerzen durch ſeinen Liebesdruck, indem er ihn im Briefe bat, ihn zum Sohne anzuneh¬ men und ſein vaͤterlicher Freund zu werden.
104Mit der hohen Fluth der Traurigkeit entſchuldi¬ ge man es, daß Guſtav, der bisher immer die Pa¬ roxiſmen ſeiner Empfindungen zum Beſten des an¬ dern verſteckte, ſie hier auf Koſten eines andern her¬ vorbrechen ließ. Sein Schmerz gieng ſo weit, daß er vom Vater den Altagsrock und Hut des Seligen ſtatt ſeines Knieſtuͤckes begehrte: er fuͤhlte wie ich, daß Altagskleider die beſten Schattenriſſe, Gipsab¬ guͤſſe und Paſten eines Menſchen ſind, den man lieb gehabt und der aus ihnen und den Koͤrper heraus iſt. — Die Antwort des Doktors lautet ſo:
„ Ich habe mich oft an die Polſter meines medi¬ ziniſchen Wagens gelehnt und mir vorgeſtellt und vorgenommen, wenn ich einmal graue Augenbraunen und Kopfhaare oder gar keine mehr habe — wenn mir alle Jahrszeiten immer kuͤrzer und alle Naͤchte darin immer laͤnger vorkommen, welches vor der Annaͤhe¬ rung der laͤngſten vorausgeht — wenn ich dann in den erſten Fruͤhlingstage ins ſtille Land hinausgehe um meinen kalten interpolirten Koͤrper zu ſonnen — wenn ich dann auſſen die klebenden treiberden Knoſ¬ pen ſehe, unter denen ein ganzer Sommer ſteckt, und in mir innen das ewige Abblaͤttern und Umbeu¬105 gen, das kein Erdenfruͤhling heilt — wenn ich mich dann doch an meine eigne Jugend erinnere, an mei¬ ne Spatzier-Gallopaden um Scheerau, an die in Pa¬ via und an die, die mit mir giengen — wenn ich mich dann natuͤrlicher Weiſe nach denen umſehe, die mir vom gefallnen Tempel meiner Jugend noch als hohe Ruinen ſtehen geblieben — und wenn mich dann, weil ich mich um[d][r]ehe, um zu ſchauen, ob keiner aus Waͤldern, uͤber Wieſen, von Bergen an einem ſo ſchoͤnen Tage zu mir gegangen koͤmmt, der Gedanke wie Herzklopfen anfaͤllt, daß nach allen vier Welt - Ecken, wohin ich mich gedrehet, Gottesaͤcker und Kirchen liegen, in denen die, die mich jetzt troͤſten und beglei¬ ten ſollen, unter der undurchſichtigen Erdrinde und ihrem Blumenwerk mit geraden Armen verſteckt und gefangen liegen, und daß bloß ich allein auſſen ge¬ blieben und den Herbſt in meiner Bruſt hier im Fruͤhling herumtrage: So werd 'ich gar nicht ins ſtil¬ le Land gehen, ſondern einſam nach Hauſe gehen und mich einſchlieſſen und meinen Kopf auf den Arm mit den Augen legen und wuͤnſchen, daß mir das Herz breche, ſo gut wie meinen Bekannten; ich werde ſa¬ gen, ich wollt' es waͤre vorbei: Dann, geliebter Sohn, geliebter Freund, (der du als der juͤngſte mei¬106 ner Freunde mich ſchon uͤberleben wirſt) wird deine Geſtalt vor meine ſatten muͤden Augen treten, dann werde ich ſie auswiſchen und mich an alles erinnern und deine Hand wird mich doch ins ſtille Land hin¬ ausfuͤhren, ich werde den Fruͤhling der Erde ſo lange genieſſen als ich ihn beſehen kann und ich werde dir mit druͤckender Hand ins Geſicht ſagen: „ es thut mir jetzt recht wohl, daß ich dich vor vielen Jahren zum Sohne angenommen ....
Morgen will ich kommen, um meinen Freund zu einer Reiſe auf die naͤchſten Tage mitzunehmen, damit wir den vergangnen aus dem Wege gehen. “— Am andern Morgen geſchahs.
107Hektik — Leichenrede in der Kirche des ſtillen Landes — Ottomar
Es waͤre mir vielleicht auch beſſer, ich ſuchte bei¬ den weniger mit der Feder nachzukommen als zu Fuß. Die Leſewelt kann jezt an meinen Sachen koſten und naſchen, indeß ich der Oſtermeſſe ent¬ gegen huſte, weil ich mir an jenen Sachen und am Schreibtiſch “woran ich mich niederkruͤmme, eine huͤbſche vollſtaͤndige Hektik in die zwei Lun¬ genfluͤgel geſchrieben. Das ſaͤmmtliche Publikum ſagt nicht hab Dank zu mir, daß ich mich um mei¬ nen[geſunden] Athem und um meine ſedes gedacht und empfunden: es iſt jezt alles an mir zu und es kann wegen der doppelten Sperrordnung nach entgegenſetzten Richtungen nichts durch mich paſſiren. Ich wandele daher hinter den Pflug¬ ſchaaren aller Auenthaler, um den Broden der Furchen wie die beſten brittiſchen Hektiker thun*)Die drei Kuren, die ich oben im Texte gegen meine Hek¬ tik brauche, hab 'ich von drei Nationen — das Nachſpa¬108 — einzuziehen als Mittel gegen meine Luftſperre und andere Sperre. Gleichwohl wuͤrde mich das einfaͤltige Publikum, in deſſen Dienſt ich mich ſo elend gemacht, auslachen, wenn es mich den Pflug-Ochſen wie eine Kraͤhe nachſchreiten ſaͤhe. Iſt das Rechtſchaffenheit? — muß ich nicht ohnehin alle Nacht zwiſchen den Armen von zwei Pudeln ſchla¬ fen die ich mit meiner Lungenſucht anſtecken will wie ein Ehemann von Stande? bin ich aber dann, wenn ich die zwei Beiſchlaͤferinnen durch communi¬ catio idiomatum mit meinem Uebel dotiert habe, des Malums ſelber loß, oder ſagt nicht vielmehr H. Nadan de la Richebaudiere, neue Hunde muͤſt' ich kaufen und infizieren, weil eine halbe Hunds¬ menagerie zum Auslader eines einzigen Menſchen noͤthig iſt? So kann ich mein Honorar bloß in Hunden verthun; ich will den Schaden ſogar ver¬ ſchmerzen, den meine Rechtſchaffenheit dabei lei¬ det, weil ich mich gegen die armen attrahieren¬ den Hunde, deren Lungenfluͤgel ich laͤhmen und*)zieren in friſchgepflügten Furchen rathen die Engländer — das Stärken durch eine Hunds-Schlafgenoſſenſchaft räth ein Franzos (de la Richebaudière) — das Athmen der Luft in Viehſtätten wird ſchwediſchen Hektikern vorgeſchrieben. 109 beſchneiden will, ſo freundlich wie Große gegen die Opfer ihrer Rettung ſtellen muß.
Inzwiſchen iſt doch das noch das verdruͤßlichſte Skandal, daß ich gegenwaͤrtig im — Viehſtall ſchreibe. Der ſoll auch (nach neuern ſchwediſchen Buͤchern) eine Apotheke und ein Seehaven gegen kurzen Athem ſeyn. Meiner wollte ſich indeß noch nicht verlaͤngern, ob ich gleich ſchon drei Trinita¬ tis hier ſitze und drei lange Sektores (wie das Je¬ ſuskind,) am Geburtsorte viel duͤmmerer Weſen in die Welt ſetze. Man muß ſelber an einem ſol¬ chen Orte der Hektik wegen im juriſtiſchen oder aͤſthetiſchen Fache (weil ich beides Bellettriſt und Rechtskonſulent bin) gearbeitet haben, um aus Er¬ fahrung zu wiſſen: daß da oft die ertraͤglichſten Einfaͤlle viel ſtaͤrkere Stimmen als die der litte¬ rariſchen und juriſtiſchen Richter gegen ſich haben und dadurch zum Henker gehen.
Waͤhrend Fenk und Guſtav mehr Traurigkeit als Geld verreiſeten, ob ſie gleich nicht ſo lange ausblieben wie alle meine inrotulierten Akten: ſo gieng auch Oefel weiter, naͤmlich in ſeinem ro¬ mantiſchen Großſultan und tockierte mit dem groͤ¬ ſten Vergnuͤgen den Kummer ſeines Freundes hin¬110 ein. Oefel dankte Gott fuͤr jedes Ungluͤck, das in einen Vers gieng und er wuͤnſchte zum Flor der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, Peſt, Hungersnoth und andre graͤßliche Scenen waͤren oͤfter in der Natur, damit der Dichter nach dieſen Modellen arbeiten und groͤßere Illuſion daraus erzielen koͤnnte, wie ſchon den Mahlern, die gekoͤpfte Leute oder aufge¬ ſprengte Schiffe mahlen wollten, mit den Origi¬ nalen dazu beigeſprungen wurde. So mußt 'er oft aus Mangel an Modellen ſelber ſeines ſeyn, und war einmal einen ganzen Tag genoͤthigt, tugend¬ hafte Regungen zu haben, weil dergleichen in ſei¬ nem Werk zu ſchildern waren — ja oft mußt' er ei¬ nes einzigen Kapitles wegen mehrere male ins V — gehen, welches ihn verdroß.
Es geht andern Leuten auch ſo: der Gegen¬ ſtand der Wiſſenſchaft iſt kein Gegenſtand der Em¬ pfindung mehr. Die Injurien, bei denen der Mann von Ehre fluthet und kocht, ſind dem Ju¬ riſten ein Blatt, eine Gloſſe, eine Illuſtration aus dem Titel von den Injurien. Der Hoſpital - Arzt repetirt am Bette des Febrikanten, uͤber den die Fieberflammen zuſammen ſchlagen, ruhig die wenigen Abſchnitte aus ſeiner Klinick, die herpaſ¬111 ſen. Der Officier, der auf dem Schlachtfeld — dem Fleiſchhacker-Stock der Menſchheit — uͤber die zerbrochnen Menſchen wegſchreitet, denkt bloß an die Evolutionen und Viertels-Schwenkungen ſeiner Kadettenſchule, die noͤthig waren, ganze Genera¬ tionen in phyſiognomiſche Fragmente auszuſchnei¬ den. Der Bataillenmahler, der hinter ihm geht, denkt und ſieht zwar auf die zerlegten Menſchen und auf jede daliegende Wunde; aber er will al¬ les fuͤr die Duͤſſeldorfer Gallerie nachkopieren, und das reine Menſchen-Gefuͤhl dieſes Jammers weckt er erſt durch ſein Schlachtſtuͤck bei andern und wohl auch bei — ſich. — So zieht jede Erkenntniß ei¬ ne Stein-Kruſte uͤber unſer Herz, die philoſophi¬ ſche nicht allein. —
Beata opferte faſt ihre Augen dem Antheil auf, den ſie an niemand anderem (wie ſie dachte) nahm als an dem Hingeſchiednen. Ihre ſchmerzen¬ den Augen waren oft nach dem Eremitenberg ge¬ richtet, abends beſuchte ſie ihn ſelbſt und brachte dem Schlafenden das Letzte was die Freundſchaft dann noch zu geben hat, im Uebermaaß. So drin¬ gen alſo die Griffe des Ungluͤcks in weiche Herzen am tiefſten; ſo ſind, die Thraͤnen, die der Menſch112 vergießet, deſto groͤßer und ſchneller, je weniger ihm die Erde geben kann und je hoͤher er von ihr ſteht, wie die Wolke, die hoͤher als andre von der Erde ſich entfernt, die groͤſten Tropfen wirft. Nichts richtete ſie auf als die Verdoplung des Al¬ moſens, das ſie gewiſſen Armen woͤchentlich oder nach jeder Freude gab; und der einſame Umgang mit der Reſidentin, mit ihrer Laura und den zwei Gaͤrtners Kindern.
Die zwei Reiſenden waren beſſer daran. Da der Doktor die Aerzte des Landes ex officio viſi¬ tierte, welche Arzneien machten, nebſt den Apo¬ thekern, die Repreſſalien brauchten und Recepte machten: ſo aͤrgerte er ſich zum Gluͤck ſo oft, daß er keine rechte Stunde hatte, ſich zu betruͤben; alſo bloß die Landphyſici, die immer auf dem Lan¬ de waren (es muͤſten denn gerade Epidemien graſ¬ ſiret haben,) und die Hebammen, die die Wie¬ dergeburt junger Nichtchriſten noch beſſer beſorgen als deren Geburt, und die Pharao haͤtte haben ſollen, brachten den bekuͤmmerten Peſtilenziarins wieder auf die Beine. Zorn iſt ein ſo herrliches Abfuͤhrungsmittel der Betruͤbnis, daß Gerichts¬ perſonen, die bei Wittwen und Waiſen verſiegelnund113und inventieren, dieſe nicht genug aͤrgern koͤnnen; daher legier 'ich kuͤnftig meinen Erben, die mein Tod zu ſehr kraͤnkt, nichts teſtamentariſch als das Mittel dagegen, Erboßung uͤber den Seeligen.
Beide kehrten endlich unter entgegengeſetzten Herzklopfen wieder zuruͤck und ihr Weg fuͤhrte ſie vor Ruheſtatt, dem Ritterſitze Ottomars und neben dem verwaiſeten Tempel des Parks vorbei. Der Tempel war aber erleuchtet; es war weit in die Nacht; um den Tempel hieng ein ſummender Bie¬ nenſchwarm von Jagdkleidern, in denen der halbe Hof ſteckte. Beide draͤngten ſich alſo durch immer groͤßere Herren und Pferde hindurch, giengen wie Kometen vor einem Stern nach dem andern vorbei und in die Kirche hinein: drinnen waren ein oder zwei unerwartete Dinge — der Fuͤrſt und ein Tod¬ ter; denn das hinten am Altar fechtende Ding war kein unerwartetes, ſondern der Paſtor. Guſtav und Fenk hatten ſich in den Beichtſtuhl geſtopft. Guſtav konnte ſein Auge kaum vom Fuͤrſten reißen, der mit jenem edeln gleichguͤltigen Geſicht, das Leuten von Ton oder aus großen Staͤdten und Leichenbittern ſelten mangelt, uͤber den Todten wegſtreifte — der Fuͤrſt hatte jenes Herz der Großen, das ein Petre¬2. Theil. H114fakt im guten Sinne und unter ihren feſten Thei¬ len der erſte iſt und das recht ſchoͤn verraͤth, daß ſie ſich an die Unſterblichkeit der Seele halten und daß ſie, wenn ſie einen von den Ihrigen begraben laſſen, nicht zu Hauſe ſind.
Auf einmal legte ſich der Doktor auf das Pult des Beichtſtuhls nieder und bedeckte das Geſicht; er ſtand wieder auf und ſah mit einem Auge, daß er nicht abtrocknen konnte, nach dem aufgedeckten Leichnam hin und ſuchte vergeblich zu ſehen. Gu¬ ſtav ſchauete auch hin und die Geſtalt war ihm be¬ kannt, aber kein Name, um den er vergeblich den ſprachloſen Doktor fragte — endlich nennte der Pa¬ ſtor den Namen. Ich brauch 'es nicht erſt in Dop¬ pel-Fraktur zu ſagen, daß der Todte, auf dem jezt ſo viele harte Augen und ein Paar troſtloſe ruh¬ ten, ſo ausſah wie der Schauſpieler Reinecke, deſ¬ ſen edle Bildung jezt auch der ſchwere Grabſtein aus¬ einander druͤckt — ich hab' es nicht noͤthig, dem Pa¬ ſtor den Namen Ottomar nachzuſprechen. Der arme Doktor ſchien ſeit einiger Zeit beſtimmt zu ſeyn, daß der Schmerz ſeine Nerven zu einem Ner¬ ven-Praͤparat herausloͤſete und ſich daran uͤb¬ te. Sonderbar wars, das Guſtav nicht am ge¬115 ſtorbenen, ſondern bloß am traurenden Freunde Antheil nahm.
Der gute Medizinalrath knuͤlte das Geſang¬ buch, das unter ſeiner Hand lag, gewaltſam zu¬ ſammen; er hoͤrte nicht das Abreiten des Fuͤrſten, der nur drei Minuten da geweſen, um ſich den Todtenſchein zu holen, aber jedes Wort des Pa¬ ſtors hoͤrt 'er, um von der neueſten Krankheits¬ geſchichte ſeines Freundes etwas zu erfahren: al¬ lein er vernahm nichts als ſeine Todesart (hitzi¬ ges Fieber.) Endlich war alles vorbei und er gieng ſtumm und zwiſchen die Trauerkerzen hineinſtar¬ rend, auf die Bahre zu, ſchob ohne Blick und Laut was ihn hindern konnte weg mit der linken Hand und zuckte hin nach des Schlaͤfers ſeiner mit der rechten. Als er endlich die Hand, die Alpen und Jahre von ſeiner abgeriſſen hatten, jezt da¬ mit umſchloſſen hatte, ohne doch dem naͤher zu ſeyn, nach dem er ſich ſo lange geſehnet hatte, und ohne die Freude des Wiederfindens: ſo war ſein Schmerz noch dicht, dunkel und warf ſich ſchwer uͤber ſeine ganze Seele her, ohne eine Ge¬ ſtallt zu haben. — Aber als er in jener Hand zwei Warzen wieder fand, die er ſonſt bei ihremH 2116Druck ſo oft gefuͤhlet hatte: ſo nahm der Schmerz die Schleiergeſtallt der Vergangenheit an, Mai¬ land gieng mit den Bluͤthen ſeiner Weinberge und mit den Gipfeln ſeiner Kaſtanien und mit den ſchoͤ¬ nen Tagen unter beiden voruͤber und ſah traurig die zwei Menſchen an, die nichts mehr hatten — hier waͤr er mit den zwei gießenden Augen auf die zwei ewig trocknen gefallen, wenn nicht der Leichenmarſchall geſagt haͤtte, „ das thut man nicht gern, es iſt nicht gut. “ Bloß eine Locke gab ihm das Grab vom ganzen geraubten Freunde zuruͤck, eine Locke die fuͤr das Auge ſo wenig und fuͤr den fuͤhlende Finger ſo viel iſt. Er ſchlichtete die Hand, die den letzten Brief ſo traurig geſchloſſen ſanft wieder uͤber die unberuͤhrte und verließ ſeinen Ot¬ tomar auf lange.
Er hatte nicht bemerkt, daß des Verſtorbnen Spitzhund und zwei tonſurierte fremde Men¬ ſchen, da waren, wovon der eine 6 Finger hat¬ te. — Außer der Kirche auf dem Wege, deſſen eine Richtung nach dem Ottomar'ſchen Schloß und deſſen andre um den Eremitenberg lief, ſahen ſie einander mit einer ſtummen troſtloſen Frage an — ſie antworteten einander durch den Abſchied — —117 Der Doktor kehrte um und ſetzte ſeine Reiſe fort — Guſtav gieng in den Park und dachte unten am Fuße des Eremitenberges dem Schickſale — nicht ſeines Freundes und ſeinem eignen ſondern dem — aller Menſchen nach ....
Und wenn ſchreib 'ich das? heute am 16. No¬ vember, wo der Namenstag des eingeſargten Ot¬ tomars iſt. —
118Große Aloe-Blüthen der Liebe: oder das Grab — der Traum — die Orgel nebſt meinem Schlagfluß, Pelz¬ ſtiefel und Eis-Liripipium
In Guſtav ruͤckten die hoͤchſten Lichter aus des Freundes Bild langſam in das der Geliebten uͤber. Jezt trat erſt ihr Geſicht, das am Todtenbette ein ewiges Feuer in ihn geworfen hatte, aus dem Zypreſſen-Schatten vor. Die einſame Pyramide ſtand erhaben als Wach-Engel neben dem Begrab¬ nen. Er trug ſich hinauf, mit Schmerzen, aber mit ſanftern: er hatte doch jezt den unbeſchreiblich ſuͤßen Troſt, den Menſchen in der Erde nie ge¬ kraͤnkt, und ihm oft verziehen zu haben; er wuͤnſchte, Amandus haͤtte ſeine Verzeihung noch oͤfter veranlaſſet; ſogar das deckte ſeinen wunden Buſen mit warmem Troſte zu, daß er jezt ihn ſo liebe, ſo betrauere, ungeſehen, unbelohnet.
Oben trat er noch in einige Leidens-Dornen, woruͤber man laut aufſchreiet: aber bald flogen ſeine Augen ſehnend auf der Licht-Bruͤcke, die von einer Lampe aus Beatens Zimmer uͤber den119 Garten zum Berg heruͤber lief, gleich andern Pha¬ laͤnen ihren hellen Fenſtern nach. Er ſah nichts als bald das Licht bald einen Kopf, der es verbauete; aber dieſen Kopf ſchmuͤckte er im ſeinigen ſchoͤner aus als irgend eine Frau den ihrigen. Er legte und lehnte ſich, halb kniend und halb ſtehend, mit dem Blick gegen den langen Lichtſtrom zugewandt, an das Poſtement der Pyramide an — Muͤdigkeit und ſchlaf¬ loſe Naͤchte hatten ſeine Thraͤnen-Druͤſen mit jenen druͤckenden und doch reizenden Thraͤnen gefuͤllet, die oft ohne Anlaß und ſo bitter und ſo ſuͤß kurz vor Krankheiten oder nach Ermattungen ausſtroͤmen — dieſe naͤmlichen zwei Urſachen breiteten zwiſchen ihm und die aͤußere Welt gleichſam einen dunkeln Nebel¬ tag oder Heerauch; ſeine innere Welt hingegen wur¬ de aus einer Federzeichnung ohne ſeine An¬ ſtrengung ein gleißendes Oelgemaͤhlde, dann ein muſiviſches, endlich eines in erhobner Ar¬ beit — Welten und Scenen bewegten ſich vor ihm auf und ab — endlich ſchloß der Traum die ganze naͤchtliche Außenwelt mit ſeinen Angenliedern zu und machte hinter ihnen eine neu geſchafne para¬ dieſiſche auf; gleich einem Todten lag ſein ſchlum¬ mernder Koͤrper neben einem Grabmal und ſein Geiſt120 in einer uͤber den ganzen Abgrund hinuͤberreichende Himmels-Au. Ich werde den Traum und ſein En¬ de ſo gleich erzaͤhlen, wenn ich dem Leſer die Per¬ ſon gezeigt habe, die den Traum zugleich verlaͤnger¬ te und endigte.
Naͤmlich Beata — kam. Sie konnte weder ſei¬ nen Wiederkunft noch ſeine letzte Station wiſſen. Die Naͤhe des Ottomarſchen Leichenbegaͤngniſſes, die Entfernung Guſtavs, deſſen Bild ſeit dem letzten Auftritt tief in und gleichſam durch ihr Herz ge¬ preſſet war, und die Entfernung des Sommers, der ſein buntes bluͤhendes Gemaͤhlde taͤglich um einige Zoll wieder zuſammenrollte, alles das hatte ſich in Beatens Bruſt zu einem druͤckenden Seufzer geſam¬ melt, den das laute Jagdſchloß mit ſeiner Athmoſ¬ phaͤre einklemmte und mit dem ſie in eine reinere groͤßere gieng, um ihn an einem Grabe auszuhau¬ chen und aus ihr den Stof zu neuen einzuathmen. — Schwaͤrmeriſches Herz! du treibeſt mit deinen fieber¬ haften Schlaͤgen freilich dein Blut zu reißend um und ſpuͤhleſt mit deinen Guͤſſen Ufer, Blumen und Leben fort; aber dein Fehler iſt doch ſchoͤner, als wenn du mit phlegmatiſchem Getriebe aus dem ſte¬ hendem Waſſer des Blutes bloßen Fett-Schlamm an¬ legteſt!
121Die Nachtwandlerin fuhr zuſammen, da ſie den ſchoͤnen Schlaͤfer ſah: ſie hatte im ganzen Gar¬ ten, den ſie in dieſen ſtillen Minuten durchſtrichen hatte, niemand vermuthet und gefunden. Er lag auf einem Knie ſanft zuſammen geſunken; ſein blaſ¬ ſes Geſicht wurde von einem ſchoͤnen Traum, vom aufgehenden Monde und von Beatens Auge ange¬ ſtrahlt. Ihr fiel nicht ein, daß er ſich vielleicht nur ſchlafend ſtelle; ſie zitterte alſo um einen halben Schritt naͤher, um erſtlich gewiß zu ſeyn wers waͤre und um zweitens mit vollem Auge auf der Geſtallt zu ruhen, vor der ſie bisher nur voruͤberſtreichen durfte. Unter dem Anſchauen wuſte ſie nicht recht, wenn ſie es eigentlich endigen ſollte. Endlich wandte ſie ihrem Paradieſe dem Ruͤcken, nachdem ſie noch einmal ganz an ihn getreten war; aber unter dem traͤgen Ruͤckwaͤrtsgehen fiel ihr (ohne Schrecken) ein, „ er wird doch nicht gar tod ſeyn. “ Sie kehrte alſo wieder um und behorchte ſeine wachſenden Athemzuͤge. Neben ihm lagen zwei ſpitze Steingen ſo groß wie mein Dintenfaß; ſie buͤckte ſich zwei¬ mal neben ihm nieder (ſie wollt 'es nicht auf ein¬ mal oder auch mit dem Fuße thun) um ſie wegzu¬ nehmen, damit er nicht in ihre Spitzen hineinfiele ...
122Wahrhaftig ein Alphabet oder 23 Bogen ſolt 'ich mit dieſer Scene voll zu machen haben; zum Gluͤck geht ſie erſt recht an wenn er erwacht und der Leſer iſt heute der gluͤcklichſte Mann ...
Sie war jezt ſchon wie ein Veteran vertrau¬ ter mit der Gefahr und war ſo gewiß, er wuͤrde nicht erwachen, daß ſie es aufhoͤrte zu befuͤrchten und anfieng zu wuͤnſchen. Denn es fiel ihr ein, „ die Nachtluft koͤnnt ihm ſchaͤdlich ſeyn “— es fiel ihr ferner ein, wie die zwei Freunde ſo erhaben neben einander ruhten; und ihr blaues Auge be¬ freiete ſich von einem Thautropfen, von welchem ich nicht weiß, gieng er fuͤr das außer der Erde pochende oder fuͤr das in ihr ſtillſtehende Herz her¬ ab. Jezt machte ſie ernſthafte Anſtallten abzuge¬ hen, um uͤberhaupt in der Entfernung ihn durch ein Geraͤuſch zu wecken und um ihren Ruͤhrungen ohne Furcht ſeines Erwachens nachzuhaͤngen. Sie wollte bloß noch bei ihm vorbeigehen ([denn] 4½ Schritte ſtand ſie ab,) weil ſie auf der andern Seite des Berges hinunter muſte (ſie haͤtte denn umkehren wollen.) Sein Laͤcheln verkuͤndigte im¬ mer groͤßere Entzuͤckungen und ſie war freilich be¬ gierig, wie es noch auf ſeinem Geſichte ablaufen123 wuͤrde, aber ſie muſte den laͤchelnden Traͤumer verlaſſen. Da ſie alſo zwei zoͤgernde Schritte ſich ihm genaͤhert hatte, um ſich mehrere von ihm zu entfernen: ſo verklaͤrte der Wiederſchein eines in¬ nern Elyſiums ploͤtzlich ſein Geſicht, er richtete ſich ſchnell mit geſchloſſenen Augen auf und indem er die Hand der erſtarrenden Beata erhaſchte, in¬ dem ferner die Orgel der einſamen Kirche von Ru¬ heſtatt, wo Ottomar heute begraben worden, mitten in der Nacht ſo erhaben zu gehen anfieng als wenn der Tod ſie ſpielte: ſo ſagte er ſchlaf¬ trunken zu ihr: „ o nimm mich ganz, gluͤckliche Seele, nun hab 'ich dich, geliebte Beata, auch ich bin todt. “
Der Traum, der mit dieſen Worten ausgieng, war der geweſen: er ſank in eine unabſehliche Aue nieder, die uͤber ſchoͤne an einander geſtellte Erden hinuͤberlief — ein Regenbogen von Sonnen, die wie zu einer Perlenſchnur an einander gereihet waren, faßte dies Eden ein und drehte ſich darum — dieſe Sonnen-Kolonne war untergehend dem Horizonte zu geſunken und auf dem Rande der großen runden Flur ſtand ein Brillanten Guͤrtel von tauſend rothen Son¬ nen und der liebende Himmel hatte tauſend ſanfte124 Augen aufgethan — Haine und Alleen von koloſſali¬ ſchen Blumen, die ſo hoch wie Baͤume waren, durch¬ zogen im tranſparenten Zickzack die Au und die hochſtaͤmmige Roſe bewarf ſie mit einem goldrothen Schatten, die Hyacinthe mit einem blauen und die zuſammenrinnenden Schatten von allen bereiften ſie mit Silberfarbe — ein magiſcher Abendſchim¬ mer wallete zwiſchen den Schattenufern und durch die Blumenſtaͤmme uͤber die Flur wie ein freudiges Erroͤthen und Guſtav fuͤhlte, das ſei der Abend der Ewigkeit und die Wonne der Ewigkeit — be¬ gluͤckte Seelen tauchten ſich, weit von ihm und naͤher den weggleitenden Sonnen, in die zuſam¬ mengehenden Abendſtralen und ein gedaͤmpftes Jauchzen ſtand verhallend wie eine Abendglocke, uͤber dem himmliſchen Arkadien — bloß Guſtav lag verlaſſen im Silberſchatten der Blumen und ſehnte ſich unendlich, aber keine jauchzende Seele kam heruͤber — endlich dufteten in der Luft zwei Leiber in eine duͤnne Abendwolke aus einander und das fallende Gewoͤlk entbloͤßte die zwei Seelen von Bea¬ ta und Amandus — dieſer wollte jene in Guſtavs Arme fuͤhren, aber er konnte nicht in den Sil¬ berſchatten hinein — Guſtav wollte ihr in die ih¬125 rigen entgegenfallen, aber er konnte nicht aus dem Silberſchatten heraus — „ ach du biſt nur noch „ nicht geſtorben, rief die Seele, aber wenn die „ letzte Sonne hinunter iſt: ſo wird dein Silber¬ ſchatten uͤber alles flieſſen und deine Erde von dir flattern und du wirſt an deine Freundin ſinken “— eine Sonne um die andre zergieng — Beata brei¬ tete ihre Arme hernieder — die letzte Sonne ver¬ ſank — ein Orgelton, der Welten und ihre Saͤr¬ ge zerzittern konnte, klang wie ein fliegender Him¬ mel heruͤber und loͤſete durch ſein weites[Beben] die Faſer-Huͤlle von ihm ab und uͤber den ausgebreite¬ ten Silberſchatten wehte ein Entzuͤcken und hob ihn empor und er nahm “— — die wahre Hand von Beata und ſagte, indem er wachte und traͤumte und nicht ſah, die Worte zu ihr: „ o „ nimm mich ganz, gluͤckliche Seele, nun hab 'ich „ dich, geliebte Beata, auch ich bin todt. “ Ih¬ re Hand hielt er ſo feſt wie der Gute die Tugend. Ihr verſuchtes Loswinden zog ihn endlich aus ſei¬ ner Au' und Traͤumerei: ſeine gluͤcklichen Augen giengen auf und vertauſchten die Himmel; vor ih¬ nen ſtand erhaben der weiſſe vom Monde uͤberſchwem¬ te Grund und die Aue des Parks und die tauſend126 zu Sternen verkleinerten Sonnen und die geliebte Seele, die er vor dem Untergange aller Sonnen nicht erreichen konnte. — Guſtav mußte denken, der Traum ſei aus ſeinem Schlafe ins Leben uͤber¬ gezogen und er habe nicht geſchlafen; ſein Geiſt konnte die großen ſteilen Ideen vor ihm nicht be¬ wegen und nicht vereinigen. „ In welcher Welt ſind wir? “ſagt 'er, aber in einem erhabnen Tone, der beinahe die Frage beantwortete. Sei¬ ne Hand war mit ihrer ziehenden feſt verwachſen. „ Sie ſind noch im Traume “ſagte ſie ſanft und bebend. Dieſes Sie und die Stimme ſtieß auf einmal ſeinen Traum in den Hintergrund aus der Gegenwart zuruͤck; aber der Traum hatte ihm die Geſtalt, die an ſeiner Hand kaͤmpfte, lieber und vertrauter gemacht und die getraͤumte Unter¬ redung wirkte in ihm wie eine wahre und ſein Geiſt war noch eine erhaben-fortbebende Saite, in die ein Engel ſeine Entzuͤckung geriſſen — und da jetzt druͤben im oͤden Tempel die Orgel durch neues Er¬ toͤnen die Szene uͤber den irdiſchen Boden erhob, wo beide Seelen noch waren; da Beatens Stellung ſchwankte, ihre Lippe zitterte, ihr Auge brach: — ſo war ihm wieder als wuͤrde der Traum wahr,127 als zoͤgen die großen Toͤne ihn und ſie aus der Er¬ de weg ins Land der Umarmung hinauf, ſein We¬ ſen kam an alle ſeine Graͤnzen, „ Beata, “ſagt' er, zu der ſchoͤnen an bekaͤmfenden Empfindungen dahin ſterbenden Geſtalt, „ Beata, wir ſterben jetzt „ — und wenn wir todt ſind, ſo ſag 'ich dir meine „ Liebe und umarme dich — der Todte neben uns „ iſt mir im Traum erſchienen und hat mir wieder „ deine Hand gegeben .... “ Sie ſuchte auf das Grab deſſelben aufzuſinken — aber er hielt den fal¬ lenden Engel in ſeinen Armen auf — er ließ ihr entſchlummertes Haupt unter ſeines fallen und un¬ ter ihrem ſtockenden Herzen gluͤhten die Schlaͤge des ſeinigen — es war eine erhabne Minute als er die Arme um eine ſchlummernde Seligkeit, einſam anſah die auf der Erde ſchlafende Nacht, einſam anhoͤrte die allein redende Orgel, einſam wachte im Kreiſe des Schlafs ....
Die erhabne Minute vergieng, die ſeligſte fieng an: Beata erhob ihr Haupt und zeigte Guſtav und dem Himmel auf dem zuruͤckgebognen Ange¬ ſicht das irre uͤberweinte Auge, die erſchoͤpfte See¬ le, die verklaͤrten Zuͤge und alles was die Liebe und die Tugend und die Schoͤnheit in Einen Him¬128 mel dieſer Erde draͤngen kann. — — Und jetzt kam der uͤberirdiſche durch tauſend Himmel auf die Erde fallende Augenblick hier unten an, der Augenblick, wo das menſchliche Herz ſich zur hoͤchſten Liebe er¬ hebt und fuͤr zwei Seelen und zwei Welten ſchlaͤgt, — er vereinigte auf ewig die Lippen, auf denen alle Er¬ denworte erloſchen, die Herzen, die mit der ſchwe¬ ren Wonne kaͤmpften, die verwandten Seelen, die wie zwei hohe Flammen in einander ſchlugen ....
— Begehrt kein Landſchaftsſtuͤck der bluͤhen¬ den Welten von mir uͤber die ſie in jenem Augen¬ blicke hinzogen, den kaum die Empfindung, ge¬ ſchweige die Sprache faſſet. Ich koͤnnte eben ſo gut eine Silhouette von der Sonne geben. — Nach dem Augenblicke ſuchte Beata, deren Koͤrper ſchon unter einer großen Thraͤne wie ein Bluͤmchen un¬ ter einem Gewittertropfen umſank, ſich aufs Grab zu ſetzen; ſie bog ihn ſanft mit der einen Hand von ſich, indem ſie ihm die andre ließ. Hier ſchloß er ſeine weite Seele auf und ſagte ihr alles, ſeine Geſchichte und ſeinen Traum und ſeine Kaͤm¬ pfe. Nie war ein Menſch aufrichtiger in der Stun¬ de ſeines Gluͤcks als er; nie war die Liebe bloͤder nach der Minute der Umarmung als hier. BeiBea¬129Beaten ſchwamm wie allemal das Freudenoͤhl duͤnn auf dem Thraͤnenwaſſer: ein vor ihr ſtehendes Lei¬ den ſah ſie mit trocknen feſten Blicken an, aber kein erinnertes und keine vor ihr ſtehende Freude. Sie hat jetzt kaum den Muth zu reden, kaum den Muth, ſich zu erinnern, kaum den Muth, ent¬ zuͤckt zu ſeyn. Zu ihm hob ſie das ſcheue Auge nur hinauf, wenn der Mond, der uͤber eine durch¬ brochne Treppe von Wolken ſtieg, hinter einem weiſſen Woͤlkchen verſchattet ſtand. Aber als eine dickere Wolke den Mond-Torſo begrub: ſo endig¬ ten ſie den ſchoͤnſten Tag ihres Lebens und unter ihrer Trennung fuͤhlten ſie, daß es fuͤr ſie keine andre gebe. —
Im einſamen Zimmer konnte Beata nicht den¬ ken, nicht empfinden, nicht ſich erinnern: ſie er¬ fuhr was Freudenthraͤnen ſind; ſie ließ ſie ſtroͤmen und als ſie ſie endlich ſtillen wollte, konnte ſie nicht und als der Schlaf kam, ihre Augen zu ver¬ ſchließen, lagen ſie ſchon unter himmliſchen Tro¬ pfen bedeckt. — —
Ihr unſchuldigen Seelen zu euch kann ich beſ¬ ſer wie zu Verſtorbnen ſagen: ſchlaft ſanft! Ge¬ meiniglich gefallen uns, naͤmlich mir und dem Le¬2. Theil. I130ſer, die Bravour - und Force-Rollen der Roma¬ nen-Liebhaber ſchlecht, weil entweder die eine Per¬ ſon nicht wuͤrdig iſt, ſolche Dythiramben der Freude zu genieſſen, oder die andere, ſie zu ver¬ anlaſſen; hier aber haben wir beide gegen nichts etwas .... Wollte nur der Himmel, euer lah¬[mer] Biograph koͤnnte ſeine Feder zu einem Blan¬ chards-Fluͤgel machen und euch damit aus der Ka¬ tzen - und Loͤwengrube des Hofes in irgend eine Pappelinſel tragen, ſie ſei im Suͤd - oder Mittel¬ meer: — Da ichs nicht kann, ſo denk 'ich mirs doch; und ſo oft ich nach Auenthal oder Schee¬ rau gehe, ſo zeichn' ich mirs aus, wie viel ich ſchenkte, wenn ihr in jenem Roſenthal,[das] ich in Waſſer gefaſſet haͤtte, ohne den deutſchen Win¬ ter, unter ewigen Bluͤten, ohne die fatalen Ge¬ ſichter der moraliſchen[Febrikanten], ohne ein ge¬ faͤhrlicheres Murmeln als das der Baͤche, ohne fe¬ ſtere Verſtrickungen als die in verwachſenen Blu¬ men und ohne den Einfluß anderer Sterne als der friedlichen am Himmel, in ſchuldloſer Wonne und Ruhe Athem holen duͤrftet — nicht immerfort, ſondern nur die Paar Blumenmonate eurer erſten Liebe.
131Das iſt aber verteufelt ſchwer und ich bin der Mann gar nicht dazu. — — Ich will meinen Sektor, weil ich noch nicht ſchlaͤfrig bin, heute noch ein wenig aus einander ziehen. Ich bin vom Viehſtall wieder herauf und von der Hektik gluͤcklich geneſen: aber der Schlagfluß ſetzet mir ſeitdem mit Symptomen zu und will mich erſchmeiſ¬ ſen wie einen Maulwurf, indem ich wie letzterer den Huͤgel oder babyloniſchen Thurm meines gelehrten Ruhms aufwerfe. Zum Gluͤck geb 'ich mich gerade jetzt mit Hallers großer und kleiner Phyſiologie ab und mit Nikolai's materia medica und mit allem Mediziniſchen was ich geborgt be¬ komme, und kann alſo mit meinen mediziniſchen Kenntniſſen auf den Schlagfluß ein tuͤchtiges Kar¬ taͤtſchenfeuer geben. Das Feuer mach' ich an meinen Fuͤßen, indem ich das lange Bein in einen großen Pelzſtiefel wie eine Vorhoͤlle ſetze, und das zuſammengegangne in ein Pelz-Schnuͤrſtiefelchen: ich habe die aͤlteſten Monddoktores und Peſtilenzia¬ rien auf meiner Seite, wenn ich mir einbilde, daß ich durch dieſe Stiefel — und ein breites Senf¬ pflaſter, womit ich wie mehrere Gelehrte meine Fuͤße beſohle — die materia peccans gleich einemJ 2132Demokraten aus den obern Theile in die niedern heruntertreiben koͤnne. Gleichwohl geh 'ich weiter, wenn's gefriert. Ich ſchabe und kerbe mir naͤmlich eine hohe Eis-Muͤtze*)Ausgehöltes Eis wird bekanntlich auf den Kopf gelegt, wenn Kopfſchmerzen, Schwindel, Tollheit darin ſind. aus und denke unter der gefrornen Schlafmuͤtze: alsdann wirds kein Wun¬ der ſeyn, wenn die Apoplexie und ihre Halbſchwe¬ ſter, die Hemiplexie — durch mich angefallen von oben und unten, am einen Pol durch den heiſſen Fuß-Sockus, am andern durch den Eis-Knauf oder die gefrorne Martyrerkrone — hingeht wo ſie herkam und mich der Erde ſchenkt, deren einer Pol gleichfalls unten Sommer hat, wenn der andre oben Winter hat .... Der Leſer werfe aber ein¬ mal von guten Buͤchern ein philantropiniſches Au¬ ge auf uns deren Verfaſſer: wir Verfaſſer ſtren¬ gen uns an und verfertigen Fibeln, Mordpredig¬ ten, periodiſche Blaͤtter oder Reinigungen, Aus¬ ſchnitte und andere aufklaͤrende Henker; aber unſern Madenſack zerzauſen und ſchaben wir ja dar¬ uͤber entſetzlich ab — und doch meints kein Teufel ehrlich mit uns. So ſteh ich und die ganze ſchrei¬ bende Innung aufrecht da und verſchieſſen gern133 lange Stralen uͤber die ganze Halbkugel (denn mehr iſt auf einmal von Welt - und andern Kugeln nicht zu beleuchten und dem ganzen Amerika fehlen un¬ ſre Kiele) indeß wir doch den erſten Chriſten glei¬ chen, die das Licht womit ſie, in Pech und Lein¬ wand eingeklemmt, als lebendige Pechfackeln uͤber Nero's Gaͤrten ſchienen, zugleich mit ihrem Fett 'und Leben von ſich gaben ....
„ Und hier — ſagen Romanen-Manufakturiſten — erfolgte eine Szene, die der Leſer ſich denken ich aber nicht beſchreiben kann. “ Das koͤmmt mir viel zu dumm vor. Ich kanns auch nicht beſchrei¬ ben, beſchreib 'es aber doch. Haben denn die an¬ dern Autoren nicht ſo viel Rechtſchaffenheit, daß ſie bei einer Szene, nach der die Leſer ſchon im voraus geblaͤttert haben, z. B. bei einem Todes¬ fall auf den alle, Eltern und Kinder lauern wie auf einen Lehnfall oder Haͤngtag, nicht vom Seſ¬ ſel aufſpringen und ſagen: das macht ſelbſt? Es iſt ſo als wenn die Schikanedriſche Truppe vor den verzerrendſten Auftritten des Lears an die Theater - Kuͤſte gienge und das Publikum erſuchte, es moͤch¬ te ſich Lears Geſicht denken, ſie koͤnntens nicht nachbringen. — Wahrhaftig was der Leſer denken134 kann, das kann ja der Autor — beim vollen Puls aller ſeiner Kraͤfte — ſich noch leichter denken und es mithin ſchildern; auch wird des Leſers Phantaſie, in deren Speichen einmal die vorherge¬ henden Szenen eingegriffen und die ſie in Bewe¬ gung geſetzt haben, leicht in die ſtaͤrkſte durch jede Beſchreibung der letzten Szene hineinzureiſſen ſeyn — auſſer durch die jaͤmmerliche nicht, daß es nicht zu beſchreiben ſei.
Von mir hingegen ſei man verſichert, ich ma¬ che mich an alles. Ich redete es daher ſchon auf der Oſtermeſſe mit meinem Verleger ab, er ſollte ſich um einige Pfund Gedankenſtriche, um ein Pfund Frage – und Ausrufungszeichen mehr um¬ thun, damit die heftigſten Szenen zu ſetzen waͤ¬ ren, weil ich dabei um meinen apoplektiſchen Kopf mich ſo viel wie nichts bekuͤmmern wuͤrde.
135Ottomar — Kirche — Orgel.
Am andern Morgen war ein Laͤrm im Schloſſe uͤber eine Sache, die der Doktor Fenk um eine Wo¬ che ſpaͤter durch einen Brief von — Ottomar er¬ fuhr.
— Nie hab 'ich einen Sektor oder Sonntag ſo traurig angefangen als heute: mein vergehender Koͤrper und der folgende Brief an Fenk haͤngen wie ein Hutflor an mir. Ich wollt', ich verſtaͤnde den Brief nicht — ach es waͤre dann eine unvergeßliche Novemberſtunde nie in mein Leben getreten, die, nachdem ſo viele andre Stunden bei mir voruͤber¬ gegangen, bei mir ſtehen bleibt und mich immer¬ fort anſieht. — Dunkle Stunde! du ſtreckeſt dei¬ nen Schatten uͤber ganze Jahre aus, du ſtelleſt dich ſo vor mich, daß ich den phoſphoreſzirenden Nimbus der Erde hinter dir nicht flimmern und rauchen ſehen kann, die 80 menſchlichen Jahre ſe¬ hen in deinem Schatten wie der Ruck des Sekun¬ denweiſers aus — ach nimm mir nicht ſo viel! ... 136Ottomar hatte dieſelbe Stunde nach ſeinem Be¬ graͤbniß und beſchreibt ſie dem Doktor ſo:
„ Ich bin ſeitdem lebendig begraben worden. „ Ich habe mit dem Tode geredet und er hat mich verſichert, es gebe weiter nichts als ihn — da ich aus meinem Sarg heraus war, ſo hat er die gan¬ ze Erde dafuͤr hineingelegt und mein Bisgen Freu¬ de oben darauf .... Ach guter Fenk! wie bin ich veraͤndert! komm nur bald zuruͤck; ſeitdem ſtehen vor mir alle Stunden wie leere Graͤber hin, die mich oder meine Freunde auffangen! Ich hab 'es wohl gehoͤrt, wer meine Hand noch ein¬ mal am Sarge gedruͤckt .... komm recht bald Theurer!
Weiſt du nicht mehr, wie ich mich von jeher vor dem lebendigen Begraͤbniß gefuͤrchtet? mitten im Einſchlafen fuhr ich oft auf, weil mir einfiel, ich koͤnnte ohnmaͤchtig und ſo beerdigt werden und meine aufwollenden Arme triebe der Sargdeckel nieder. Auf Reiſen drohte ich uͤberall, wo ich kraͤnklich wurde, ich wollte ſie[], wenn ſie mich innerhalb 8 Tagen beiſetzten, als Revenant erſchrecken. Dieſe Furcht war mein Gluͤck: ſonſt haͤtte mich mein Sarg getoͤdtet.
137Vor Wochen kam meine alte Krankheit wieder zu mir, das hitzige Fieber. Ich eilte mit ihr nach meinem Ruheſtatt und mein erſtes Wort zu meinem Hausverwalter — da ich dich nicht haben konnte — war, mich ſogleich als ich ohne Leben waͤre, zu beerdigen, weil die Gewoͤlbluft leichter erweckt aber nichts zuzuſperren, weder Sarg noch Erbgruft — die einſame Kirche am Park ſteht oh¬ nehin offen. Auch ſagt 'ich ihm, meinen Spitz¬ hund, der nicht von mir bleibt, uͤberall mitzu¬ laſſen. Noch zu Nachts nahm das Fieber zu; aber beim Blutlaſſen bricht meine Zuruͤckerinnerung ab. Ich weiß bloß noch, daß ich das Blut mit einigem Schauder um meinem Arm ſich kruͤmmen ſah; und daß ich dachte: „ das iſt das Menſchenblut, das uns heilig iſt, das das Kartenhaus und das Spar¬ werk unſers Ichs auskuͤttet und in welchem die unſichtbaren Raͤder unſers Lebens und unſerer Triebe gehen. “ Dieſes Blut ſpruͤtzte nachher an alle Phantaſien meiner Fiebernaͤchte: das einge¬ tauchte Univerſum ſtieg blutroth daraus herauf und alle Menſchen ſchienen mir an einem langen Ufer ei¬ nen Strom zuſammen zu bluten, der uͤber die Erde hin¬ aus in eine trinkende Tiefe hinab ſprang — Gedanken,138 haͤßliche Gedanken ruͤckten vor mir grinzend vor¬ uͤber, die kein Geſunder kennt, keiner nachſchaft, keiner ertraͤgt, und die bloß liegende Krankenſee¬ len anbellen. Waͤre kein Schoͤpfer: ſo muͤſt' ich vor den verborgnen Angſt-Saiten erzittern, die im Menſchen aufgezogen ſind und an denen ein feindſeliges Weſen reiſſen koͤnnte. Aber nein! du allguͤtiges Weſen! du haͤltſt deine Hand uͤber un¬ ſre Anlage zur Quaal und legeſt das Erden-Herz, woruͤber dieſe Saiten aufgewunden ſind, ausein¬ ander, wenn ſie zu heftig beben! ...
Der Kampf meiner Natur wurde endlich zu einem ohnmaͤchtigen Schlummer, aus dem ſo vie¬ le bloß erwachen, um unter der Erde zu ſterben. Darin trug man mich in die iſolierte Kirche! der Fuͤrſt und mein Spitz waren mit dabei; aber bloß der erſtere gieng wieder. Ich lag vielleicht die hal¬ be Nacht, bis das Leben durch mich zuckte. Mein erſter Gedanke riß[der] Seele immer auseinander. Von ungefaͤhr trat der Hund auf mein Geſicht: ploͤtzlich ſenkte ſich eine Beklemmung, wie wenn eine Rieſenhand meine Bruſt boͤge, tief auf mich herein und ein Sargdeckel ſchien mir wie ein auf¬ gehobnes Rad uͤber mir zu ſtehen ... Schon die139 Beſchreibung ſchmerzt mich, weil die Moͤglichkeit der Wiederholung mich aͤngſtigt ... Ich ſtieg aus der ſechseckigen Brutzelle des zweiten Lebens; der Tod ſtreckte ſich vor mir weit hin mit ſeinen tau¬ ſend Gliedern, den Koͤpfen und Knochen. Ich ſchien mir unten im chaotiſchen Abgrund zu ſtehen und oben weit uͤber mir zog die Erde mit ihren Lebendigen. Mich eckelte Leben und Tod. Auf das was neben mir lag, ſo gar auf meine Mutter ſah ich ſtarr und kalt wie das Auge des Todes, wenn er ein Leben zerblickt. Ein rundes Eiſengit¬ ter in der Kirchenmauer ſchnitt aus dem ganzen Himmel nichts heraus als die ſchimmernde zerbroch¬ ne Scheibe des Mondes, der als ein himmliſches Sarglicht auf den Sarg, der die Erde heißet, her¬ unter hieng. Die oͤde Kirche, dieſer vorige Markt des redenden Gewimmels, ſtand ausgeſtorben und unterminiert von Todten da — die langen Kirchen¬ fenſter legten ſich, vom Mond abgeſchattet, uͤber die Gitterſtuͤhle hinuͤber — an der Sakriſtei richte¬ te ſich das ſchwarze Todten-Kreuz auf, dieſes Ordenskreuz des Todes — die Degen und Spo¬ ren der Ritter erinnerten an die zerbroͤckelten Glie¬ der, die ſie und ſich nicht mehr bewegten und der140 Todtenkranz des Saͤuglings mit falſchen Blumen hatte den armen Saͤugling hieher begleitet, dem der Tod die Hand abgebrochen ‚ eh 'ſie wahre hal¬ ten konnte — ſteinerne Moͤnche und Ritter mach¬ ten das laͤngſt verſtummte Gebet an der Mauer mit verwitternden Haͤnden nach — nichts lebendi¬ ges redete in der Kirche als der eiſerne Gang des Perpendikels der Thurmuhr und mir war als hoͤrt' ich wie die Zeit mit ſchweren Fuͤßen uͤber die Welt ſchritt und Graͤber austrat als Fußſtapfen ...
Ich ſetzte mich auf eine Altarſtufe ‚ um mich lag das Mondlicht mit truͤbenden eilenden Wolken¬ ſchatten; mein Geiſt ſtand hoch: ich redete das ich an ‚ das ich noch war: „ was biſt du? was ſitzt hier und erinnert ſich und hat Quaal: — du ‚ ich ‚ etwas — wo iſt denn das hin ‚ das gefaͤrbte Gewoͤlk ‚ das ſeit dreißig Jahren an dieſem Ich voruͤber zog und das ich Kindheit ‚ Jugend ‚ Le¬ ben hieß? — mein Ich zog durch dieſen bemahl¬ ten Nebel hindurch — ich kont 'ihn aber nicht erfaſſen — weit von mir ſchien er etwas feſtes, an mir verſikernde Dufttropfen oder ſogenannte Au¬ genblicke — Leben heißet alſo von einem Augen¬ blick, (dieſem Dunſtkuͤgelchen der Zeit,) in den141 andern tropfen .... Wenn ich nun waͤre todt ge¬ blieben: ſo waͤr' alſo das, was ich jezt bin, der Zweck geweſen, weswegen ich fuͤr dieſe lichtervolle Erde und ſie fuͤr mich gebauet war? — Das waͤ¬ re das Ende der Scenen? — und uͤber dem Ende hinaus? — Freude vielleicht dort — hier iſt, keine, weil eine vergangne keine iſt und un¬ ſre Augenblicke verduͤnnen jede gegenwaͤrti¬ ge in tauſend vergangne — Tugend iſt eher hier: ſie iſt uͤber die Zeit — Unter mir ſchlaͤft alles; aber ich werd’ es auch thun, und wenn ich mir noch dreißig Jahre weiß mache, ich lebe, dann legen ſie mich wieder hieher — die heutige Nacht koͤmmt 'wieder — ich bleibe aber in meinem Sarg: und dann? ... wenn ich nun drei Au¬ genblicke haͤtte, einen zur Geburt, einen zum Leben einen zum Sterben: zu was haͤtt' ich ſie denn, wuͤrd 'ich ſagen? — alles aber, was zwi¬ ſchen der Zukunft und Vergangenheit ſteht, iſt ein Augenblick — wir haben nur drei. “.. Groſ¬ ſes Urweſen — fieng ich an und wollte beten — — du haſt die Ewigkeit,. –. aber unter dem Ge¬ danken an den, der nichts als Gegenwart iſt, er¬ haͤlt ſich kein menſchlicher Geiſt aufrecht, ſondern142 beugt ſich an ſeine Erde wieder. — „ O ihr abge¬ ſchiedenen Lieben, dacht' ich, ihr waͤret mir nicht zu groß, erſcheinet mir, hebt das Gefuͤhl der Nichtigkeit von meinem Herzen ab und zeigt mir die ewige Bruſt, die ich lieben, die mich waͤrmen kann. “ Von ungefehr ſah ich meinen armen Hund, der mich anſchauete; und dieſer ruͤhrte mich mit ſeinem noch kuͤrzern, noch dumpfern Leben ſo, daß ich bis zu Thraͤnen weich wurde und mich nach etwas ſehnte, womit ich ſie vermehrte und ſtillte.
Das war die Orgel uͤber mir. Ich gieng zu ihr wie zu einer loͤſchenden Quelle hinauf. Und als ich mit ihren großen Toͤnen die naͤchtliche Kir¬ che und die tauben Todten erſchuͤtterte und als der alte Staub um mich flog, der auf ihren ſtum¬ men Lippen bisher gelegen war: ſo giengen alle vergaͤngliche Menſchen, die ich geliebt hatte, nebſt ihren vergaͤnglichen Scenen voruͤber, du kameſt und Mailand und das ſtille Land, ich erzaͤhlte ih¬ nen mit Orgeltoͤnen was zu einer bloßen Erzaͤhlung geworden war, ich liebte ſie alle im Fluge des Le¬ bens noch einmal und wollte vor Liebe an ihnen ſterben und in ihre Hand meine Seele druͤcken — aber nur Holztaſten waren unter meiner druͤckenden143 Hand — ich ſchlug immer wenigere Toͤne an, die um mich wie ein ziehender Strudel giengen — end¬ lich legt 'ich das Koralbuch auf einen tiefen Ton und zog die Baͤlge in einem fort, um nicht den ſtum¬ men Zwiſchenraum zwiſchen den Toͤnen auszuſtehen — ein ſummender Ton ſtroͤmte fort, wie wenn er hinter den Fluͤgeln der Zeit hergienge, er trug alle meine Erinnerungen und Hofnungen und in ſeinen Wellen ſchwamm mein ſchlagendes Herz ... Von jeher machte ein fortbebender Ton mich traurig.
Ich verließ meine Auferſtehungsſtaͤtte und ſah nach der weißen Pyramide des Eremitenberges, wo nichts auferſtand und wo das Leben feſter ſchlief, die Pyramide ſtand im Mondſchimmer getaucht und mit mir gieng ein langer Wolkenſchatten. Blaͤtter und Baͤume kruͤmmte der Herbſt; uͤber die ſtachlichten Wieſenſtoppeln wiegte ſich die Blume nicht mehr, die im Maule des Viehs vergieng; die Schnecke ſarg¬ te ſich in ihr Haus und Bett mit Geifer ein; und als am Morgen ſich die Erde mit vollgebluteten flek¬ kigen Wolken gegen die matte Sonne drehte: ſo fuͤhlt 'ich, daß ich meine vorige frohe Erde nicht mehr hatte, ſondern daß ich ſie auf immer in der Gruft gelaſſen, und die Menſchen, die ich wieder144 fand, ſchienen mir Leichname, die der Todt hergelie¬ hen und die das Leben aufrichtet und ſchiebt, um mit dieſen Figuren zu agieren in Europa, Aſia, Afri¬ ka und Amerika ....
So denk 'ich noch: ich werde auch Zeitlebens den Trauer-Eindruck von dieſer Gewißheit herumtragen, daß ich ſterben muß. Denn[das] weiß ich erſt ſeit 8 Tagen; ob ich mir gleich vorher recht viel auf meine Empfindſamkeit an Sterbebetten, an Theatern und Leichenkanzeln einbildete. Das Kind begreift keinen Todt, jede Minute ſeines ſpielenden Daſeyns ſtellet ſich mit ihrem Flimmern vor ſein kleines Grab — — Geſchaͤfts - und Freuden-Menſchen begreifen ihn eben ſo wenig und es iſt entſetzlich, mit welcher Kaͤl¬ te tauſend Menſchen ſagen koͤnnen, das Leben iſt kurz. Es iſt entſetzlich, daß man dem betaͤubten Haufen, deſſen Reden artikuliertes Schnarchen iſt, das dicke Augenlied nicht aufziehen kann, wenn man von ihm verlangt, ſehe doch durch deine Paar Le¬ bensjahre hindurch bis ans Bett, worin du erliegſt — ſehe dich mit der haͤngenden plumpen Todten-Hand, mit dem bergigen Kranken-Geſicht, mit dem weißen Marmor-Auge, hoͤre in deine jezige Stunde die zan¬ kenden Phantaſien der letzten Nacht heruͤber — dieſegroße145große Nacht; die immer auf dich zuſchreitet und die jede Stunde eine Stunde zuruͤcklegt und dich Ephemere, du magſt dich nun im Stral der Abend¬ ſonne oder in dem der Abend-Daͤmmerung herum¬ ſchwingen, gewiß nieder ſchlaͤgt. Aber die zwei Ewigkeiten thuͤrmen ſich auf beiden Seiten unſrer Erde in die Hoͤhe und wir kriechen und graben in unſerem tiefen Holweg fort, dumm, blind, taub, kaͤuend, zappelnd, ohne einen groͤßern Gang zu ſehen als den wir mit Kaͤferkoͤpfen in unſern Koth ackern.
Aber ſeitdem iſts auch mit meinen Planen ein Ende: man kann hienieden nichts vollenden. Das Leben iſt mir ſo wenig, daß es faſt das Kleinſte iſt, was ich fuͤr ein Vaterland hingeben kann: ich treffe und ſteige bloß mit einem groͤßern oder klei¬ nern Gefolge von Jahren in den Gottesacker ein. Mit der Freude iſts aber auch vorbei; meine ſtar¬ re Hand, die einmal den Todt wie einen Zitter¬ aal beruͤhrt hat, reibet den bunten Schmetterlings¬ ſtaub zu leicht von ihren vier Fluͤgeln und ich laße ſie bloß um mich flattern ohne ſie zu greifen. Bloß Ungluͤck und Arbeit ſind undurchſichtig genug, daß ſie die Zukunft verbauen; und ihr2. Theil. K146ſollt mir willkommen in meinem Hauſe ſeyn ‚ zu¬ mal wenn ihr aus einem andern ausziehet ‚ wo der Miethsherr die Freude lieber hineinhat. — O euch ‚ ihr armen bleichen aus Erdfarben gemach¬ ten Bilder ‚ ihr Menſchen ‚ lieb 'und duld' ich nun doppelt: denn wer anders als die Liebe zieht uns durch das Gefuͤhl der Unvergaͤnglichkeit wieder aus der Todesaſche heraus? Wer ſollt 'euch euere zwei Decembertage, die ihr 80 Jahre nennt, noch kaͤlter und kuͤrzer machen? ach wir ſind nur zit¬ ternde Schatten! und doch will ein Schatten den andern zerreißen? —
Jezt begreif 'ich warum ein Menſch, ein Koͤ¬ nig in ſeinen alten Tagen ins Kloſter geht: was will er an einem Hofe oder auf einer Boͤrſe ma¬ chen, wenn die Sinnenwelt vor ihm zuruͤck weicht und alles ausſieht wie ein ausgeſpannter großer Flor, indeß bloß die hoͤhere zweite Welt mit ih¬ ren Strahlen in dieſes Schwarz herein haͤngt? ſo leget der Himmel, wenn man ihn auf hohen Ber¬ gen beſieht, ſein Blau ab und wird ſchwarz, weil jenes nicht ſeine, ſondern unſrer Athmoſphaͤre Far¬ be iſt: aber die Sonne iſt dann wie ein brennen¬ des Siegel des Lebens in dieſe Nacht gedruͤckt und flammt fort ....
147Ich ſchauete gerade zum Sternenhimmel auf; aber er erhellet meine Seele nicht mehr wie ſonſt: ſeine Sonnen und Erden verwittern ja eben ſo wie die, worein ich zerfalle. Ob eine Minute den Ma¬ den-Zahn, oder ein Jahrtauſend den Haifiſch - Zahn, an eine Welt ſetze: das iſt einerlei, zer¬ malmt wird ſie doch. Nicht bloß dieſe Erde iſt ei¬ tel, ſondern alles, das neben ihr durch den Him¬ mel flieht und das ſich nur in der Groͤße von ihr trennt: Und du holde Sonne ſelbſt, die du wie eine Mutter wenn das Kind gute Nacht nimmt, uns ſo zaͤrtlich anſieheſt, wenn uns die Erde weg¬ traͤgt und den Vorhang der Nacht um unſre Bet¬ ten zieht, auch du faͤlleſt einmal in deine Nacht und in dein Bette und brauchſt eine Sonne, um Strahlen zu haben! —
Es iſt alſo ſonderbar, daß man gar die ſieben Planeten und ihre Tochterlaͤnder zu ſieben Blu¬ menkuͤbeln macht, in die uns der Tod ſteckt, wie etwann der Amerikaner nach dem Tode nach Euro¬ pa zu fahren hoft. Die Europaͤer wuͤrden ſeinen Wahn erwiedern und Amerika fuͤr die Walhalla der Abgeſchiednen halten, wenn nur unſre zweite Halbkugel ſtatt 1,000 Meilen, etwann 60,000 wieK 2148die bekannte des Mondes entfernt von uns hienge. O mein Geiſt begehrt etwas anders als eine aufge¬ waͤrmte neu aufgelegte Erde, eine andre Saͤtti¬ gung als auf irgend einem Koth - oder Feuer-Klum¬ pen des Himmels waͤchſet, ein laͤngeres Leben als ein zerbroͤckelnder Planet traͤgt; aber ich begreife nichts davon ...
Komm nur recht bald zu meinem Kopfe, dem du die eine Locke genommen: ſo lange ich lebe, ſoll die Seite an der du den Lockenraub begangen, zum Andenken, was ich war und werde, ohne Zierde bleiben ꝛc. Ottomar. “
Dichtende Genies ſind in der Jugend die Re¬ negaten und Verfolger des Geſchmacks, ſpaͤter aber die eifrigſten Proſelyten und Apoſtel deſſelben und den verzerrenden, mikroſkopiſchen und makroſ¬ kopiſchen Holſpiegel ſchleift das Alter zu einem eb¬ nen ab, der die Natur bloß verdoppelt, indem er ſie mahlt. So werden die handelnden und empfindenden Genies aus Feinden der Grund¬ ſaͤtze und aus Stuͤrmern der Tugend groͤßere Freun¬ de von beiden als fehlerloſere Menſchen niemals werden. Ottomar wird einmal die uͤbertreffen, die149 ihn jezt tadeln koͤnnen. Uebrigens werd 'ich ihn im Verfolge dieſer Poly Biographie nicht ſchelmiſch behandeln ſondern ehrlich, ob ers gleich nicht hoft: denn vor ſeiner Reiſe, wo ich einigemal in den heißen Fokus ſeiner Fehler gerieth, zerfielen wir ein wenig mit einander — ſeitdem glaubt er, ich haß' ihn von Herzen; allein ich glaube, ich lieb ihn von Herzen, hab 'aber wie hundert andre ei¬ ne beſondre Freude an meiner verheimlichten lei¬ denden Liebe.
150Tage der Liebe — Oefels Liebe — Ottomars Schloß und die Wachsfiguren.
Ich tunke heute ſchon wieder in mein biographi¬ ſches Dintenfaß, weil ich nunmehr mit meinem Gebaͤude bald an die Gegenwart ſtoße — am H. Weihnachtsfeſte hoff 'ich nach zu ſeyn — ferner weil heute Andreastag iſt und weil mein Hausherr unter dem Geſchrei ſeiner Kinder einen Birken¬ baum in die Stube und in einen alten Topf ein¬ geſtellt hat, damit er zu Weihnachten die ſilber¬ nen Fruͤchte trage, die man ihm anbindet. Ueber ſo etwas vergeſſ' ich Gerichtstage und Termine.
Guſtav wachte am Morgen nach der Liebeser¬ klaͤrung, nicht aus ſeinem Schlafe — denn darein konnte nach dieſem Koͤnigsſchuß im[Menſchenle¬ ben] nur ein menſchlicher Dachs oder Daͤchſin fal¬ len — ſondern aus ſeinem brauſenden Freuden - Ohrenklingen auf. Entzuͤckungen zogen im Ringeltanz um ſein inneres Auge und ſein Bewuſt¬ ſeyn langte kaum zu ſeinem Genießen zu, welcher151 Morgen! In einem ſolchen Brautſchmuck trat die Erde nie vor ihn. Es gefiel ihm alles, ſogar Oe¬ fel, ſogar das Oefelſche Prahlen mit Beatens Lie¬ be. Das Schickſal hatte heute — den Verluſt[ſei¬ ner] Liebe ausgenommen — keine giftige Spitze, kei¬ nen eiternden Splitter, den er nicht gleichguͤltig in ſeine von der ganzen Seeligkeit[bewohnte] und[geſpannte] Bruſt gelaſſen haͤtte. So erſetzt oft die hoͤchſte Waͤrme die hoͤchſte Kaͤlte oder Apathie; und unter der Taͤucherglocke einer heftigen Idee — ſei es eine fixe oder eine leidenſchaftliche oder eine wiſ¬ ſenſchaftliche — ſtecken wir beſchirmt vor dem gan¬ zen aͤußern Ozean.
Beaten giengs eben ſo. Dieſe ſanfte fortvi¬ brierende Freude war ein zweites Herz, das ihre Adern fuͤllte, ihre Nerven beſeelte und ihre Wan¬ gen uͤbermahlte. Denn die Liebe ſteht — indeß andre Leidenſchaften nur wie Erdſtoͤße, wie Blitze an uns fahren — wie ein ſtiller durchſichtiger Nach¬ ſommertag mit ihrem ganzen Himmel in der See¬ le unverruͤckt. Sie giebt uns einen Vorſchmack von der Seeligkeit des Dichters, deſſen Bruſt ein ewig bluͤhendes, toͤnendes, ſchimmerndes Paradies um¬ faͤngt und der hineinſteigen kann, indeß ſein aͤuſ¬152 ſerer Koͤrper das Eden und ſich uͤber polniſchen Koth, hollaͤndiſchen Sumpf und ſiberiſche Step¬ pen traͤgt. —
O ihr Wolluͤſtlinge in Reſidenzſtaͤdten! wo reicht euch die Gegenwart nur Eine ſolche Mi¬ nute, als hier die Vergangenheit meinem Paa¬ re ganze Tage vorſetzt? euch, deren harte Her¬ zen vom hoͤchſten Feuer der Liebe, wie der De¬ mant vom Brennſpiegel, nur verfluͤchtigt aber nicht geſchmolzen werden!
Aber wie Abendroth am Himmel ſo herumflieſ¬ ſet, daß es die Wolken des Morgenroths beſaͤumt: ſo war auf Beatens Wangen neben dem Roth der Freude auch das der Schaamhaftigkeit — wiewohl nicht laͤnger als bis ſeine Geſtallt wie ein Engel[durch] ihren Himmel flog. — Beide ſehnten ſich, einander zu ſehen; beide fuͤrchteten ſich, von der Reſidentin geſehen zu werden: die Entdeckung und noch mehr die Beurtheilung ihrer Empfindungen haͤtten ſie gern gemieden. Es giebt einen gewiſſen ſtechenden Blick der weiche Empfindungen (wie der Sonnenblick das Alpen-Thierchen, Sure) zerſetzt und umbringt: die ſchoͤnſte Liebe ſchlaͤgt ihre Blu¬ menblaͤtter zuſammen vor dem Gegenſtande ſelbſt wie ſollte ſie den ſengenden Hofblick ausdauern?
153Mit Einſicht ergreift hier der Biograph dieſe Gelegenheit, die Ehen der Großen zu loben: denn ich kann ſie mit den unſchuldigen Blumen verglei¬ chen. Wie Florens bunte Kinder bedecken Große ihre Liebe mit nichts — wie ſie gatten ſie ſich, oh¬ ne ſich zu kennen oder zu lieben — wie Blumen ſorgen ſie fuͤr ihre Kinder nicht, — ſondern bruͤten ihre Nachkommen mit der Theilnahme aus womit's ein Bruͤtofen in Aegypten thut. Ihre Liebe iſt ſo¬ gar eine dem Fenſter angefrorne Blume, die in der Waͤrme zerrinnt. Unter allen chymiſchen und phyſiologiſchen Vereinigungen hat alſo bloß eine unter Großen das Gute, daß da die Perſonen, die mit einander aufbrauſen und Ringe wechſeln, eine entſetzliche Kaͤlte verbreiten: ſo findet man die naͤmliche Merkwuͤrdigkeit und Kaͤlte bloß bei der Vereinigung des mineraliſchen Laugenſalzes und der Salpeterſaͤure und H. de Morveau ſagt aus Einfalt, es fall 'auf. — —
Da ſie ſich ſo ſehr ſehnte, ihren und meinen Helden zu ſehen: ſo — gieng ſie, um ihren Wunſch zu verfehlen, einige Tage nach Mauſ¬ ſenbach zu ihrer Mutter. Ich will ihr Schirmvogt ſeyn und fuͤr ſie reden. Sie thats, weil ſie ihm154 niemals anders aufſtoßen wollte als von ungefaͤhr; bei der Reſidentin aber waͤrs allemal mit Abſicht geweſen. Sie thats, weil ſie ſich gern ſelber kraͤnk¬ te und wie Sokrates den Becher der Freude erſt weggoß, eh 'ſie ihn anſetzte. Sie thats, weswe¬ gen es ſelten eine thaͤte — um ihrer Mutter um den Hals zu fallen und ihr alles zu ſagen. Endlich that ſie es auch; um zu Hauſe das Portrait Gu¬ ſtavs, das der Alte verauktionirt hatte, aufzu¬ ſuchen.
Ich erfuhrs ſchon am Tage ihrer Ruͤckreiſe, da ich in Mauſſenbach als eine ganze adliche Rota an¬ langte, um eine arme Wirthin weniger zu beſtra¬ fen als zu befragen, weil ſie — wie man in der Pariſer Oper fuͤr wichtige Rollen die Akteurs dop¬ pelt und dreifach in Bereitſchaft haͤlt — die erheb¬ liche Rolle ihres Ehemannes mit zwoͤlf Leuten aus der Gegend mit Einſicht beſetzt hatte, damit fort¬ geſpielet wuͤrde ſo oft er ſelber nicht da waͤre. Und hier wars wo ich abnehmen konnte wie wenig mein H. Gerichtsprinzipal zum Ehebruch geneigt ſei ſon¬ dern vielmehr zur Tugend: er war ordentlich froh, daß das ganze Floͤz von eingepfarrten Ehebrechern gerade vor ſeinem Ufer vorbei kam und daß er das155 Werkzeug wurde, womit die Gerechtigkeit dieſe ge¬ heime Geſellſchaft heimſuchte und auswixte. Daher ſuchte er in der Wirthin wie in Joͤchers Ge¬ lehrtenlexikon mit Luſt nach den Namen wichtiger Autoren und ſie war ſeinem tugendhaften Ohr ein Homer, der die verwundeten Helden ſaͤmtlich beim Namen abſingt: daher ſchenkte er ihr aus Mitleiden, weil ſie gar nichts hatte, ſei¬ ne Geldſtrafe ganz; aber die ehebrechende Union und Truppe wurde unter die Stampfmuͤhle und in die Kelter gebracht, oder ihr Saugwerke und Pum¬ penſtiefel angelegt. —
Alſo in Mauſſenbach beim Preſſen des ehebrechenden Perſonale erzaͤhlte mir die Gerichtsprinzipalin, was ihr die Tochter erzaͤhlet — um mich zu bitten, daß ich als voriger Mentor des Liebhabers das Paar auseinander lenken ſollte, weil's ihr Mann nicht litte. Ich konnte ihr nicht ſagen, daß ich uͤber der Biographie vom Paare und ihrer eignen waͤre und daß die Liebe das Heftpflaſter und die Suture ſei, die die ganze Biographie und das Paar ver¬ leimte und ohne die mein ganzes Buch in Stuͤcken zerfiele, daß ich alſo die Jenaiſchen Rezenſenten beleidigen wuͤrde, wenn ich ihm ſeine Liebe neh¬156 men wollte. — Aber ſo viel konnt 'ich ihr ſagen, es waͤr' unmoͤglich, die Liebe eines ſolchen Paars ſei feuerfeſt. Ich kam ihr mit meinem Gefuͤhl ein wenig einfaͤltig vor: denn ſie dachte an ihre eigne Erfahrung. Ich fuͤgte verſchlagner Weiſe hinzu: „ das Falkenbergiſche Haus hebe ſich ſeit einigen Jahren und thue huͤbſche Kapitalien aus. “ Sie antwortete mir bloß darauf: „ zum Gluͤck erfahr 'es ihr Mann nie (denn eine Menge Geheimniſſe ſagte ſie allen Menſchen, aber nicht ihrem Man¬ ne); denn der habe ihrer Beata ſchon eine ganz andre Partie zugedacht. “ Mehr konnt' ich nicht erforſchen.
— Aber eine huͤbſche Suppe wird da fuͤr den Helden nicht bloß ſondern auch fuͤr den Biogra¬ phen eingebrockt: denn letzterer hat am Ende doch das meiſte wegen der Schilderung heftiger Auftrit¬ te auszubaden und muß an einem ſolchen Sturm - Sektor eine ganze Woche verhuſten. Ich wills dem Leſer nur aufrichtig vorausgeſtehen: ein ſolcher Schwaden und Sturmwind iſt ſchon am vorigen Freitag uͤber das neue Schloß geſauſet und am Sonnabend durch Auenthal und meine Stube ge¬ fahren, wo Guſtav zerſtoͤhret zu mir kam und bei157 mir Nachricht einzog, ob die Rittmeiſterin von Falkenberg, die mit[ihrer] Mitteltinten-Katze mei¬ nen erſten Sektor einnimmt und die bekanntlich Guſtavs Mutter iſt, ob die — ſie wirklich ſei .... Inzwiſchen wird doch muthig fortgeſchritten: denn ich weiß auch, daß wenn ich meine biographiſche Arche oder Eskurial ausgebauet und endlich auf dem Dache mit der Baurede ſitze, ich etwas in die Buͤcherſchraͤnke geliefert habe, dergleichen die Welt nicht oft habhaft wird und was freilich vor¬ uͤbergehende Rezenſenten reizen muß, zu ſagen: „ Tag und Nacht, Sommer und Winter, auch an Werkeltagen ſollte ein ſolcher Mann ſchreiben: wer kann aber wiſſen obs keine Dame iſt. “
Jetzt faͤllet alſo auf allen naͤchſten Blaͤttern der Barometer von einem Grade zum andern, eh 'der gedrohte Sturmwind emporfaͤhrt. Wie Guſtav die abweſende Beata liebte, erraͤth nur der, der ge¬ fuͤhlt hat, daß die Liebe nie zaͤrtlicher, nie unei¬ gennuͤtziger iſt als waͤhrend der Abweſenheit des Ge¬ genſtandes. Taͤglich gieng er zum Grabe wie zum heiligen Grabe, an den Geburtsort ſeines Gluͤcks mit einem wolluͤſtigen Leben aller Fibern; taͤglich that ers um eine halbe Stunde ſpaͤter, weil158 der Mond, das einzige ofne Auge bei ſeiner See¬ len-Vermaͤhlung, taͤglich um eine halbe ſpaͤter kam. Der Mond war und wird ewig die Sonne der Liebenden ſein, dieſer ſanfte Dekorationsmaler ihrer Szenen: er ſchwellet ihre Empfindungen wie die Meere an und hebt auch in ihren Augen eine Fluth. — Hr. v. Oefel warf den Blick des Beobachters auf ihn und ſagte: „ die Reſidentin hat aus Ihnen gemacht, was ich aus dem Fr. v. Roͤper. “ Hier rechnete er meinen Helden die ganze Pathognomik der Liebe vor, das Trauern, Schwei¬ gen, zerſtreuet ſeyn, das er an Beaten wahrge¬ nommen und woraus er folgerte, ihr Herz ſei nicht mehr leer — er ſitze drinnen, merk' er. Mit Oe¬ feln mochte eine umgehen wie ſie wollte, ſo ſchloß er doch, ſie lieb 'ihn ſterblich — gab ſie ſich ſcher¬ zend, erlaubend, zutraulich mit ihn ab, ſo ſagte er ohnehin „ es es iſt nichts gewiſſer, aber ſie ſollte mehr an ſich halten “bediente ſie ſich des andern Extrems, wuͤrdigte ſie ihn keines Blicks, keines Befehls, hoͤchſtens ihres Spottes und verſagte ſie ihm ſogar Kleinigkeiten: ſo ſchwor er: „ unter 100 Mann woll' er den herausziehen, den eine liebe: es ſei der, den ſie allein nicht anſehe “—159 ſchlug eine die Mittelſtraße der Gleichguͤltigkeit ein: ſo bemerkt 'er: „ die Weiber wuͤßten ſich ſo gut zu verſtellen, daß ſie nur der Satan oder die Liebe errathen koͤnnte. “ Es war ihm unmoͤglich, ſo vie¬ le Weiber, die in die Rotunda ſeines Herzens wollten, darin unterzubringen: daher ſteckt' er den Ueberſchuß ſo zu ſagen in den Herzbeutel, worin das Herz auch haͤngt, wie in einen Ver¬ ſchlag hinein — mit andern Worten, er verlegte den Schauplatz der Liebe vom Herzen aufs Papier und erfand eine dem Brief - und Papier-Adel aͤhn¬ liche Brief - und Papier-Liebe. Ich habe vie¬ le ſolche chiromantiſche Temperamentsblaͤtter von ihm in Haͤnden[gehabt], wo er wie Schmetterlinge bloß auf — poetiſchen Blumen Liebe treibt — gan¬ ze Rotuln von ſolcheln Madrigalen und anakreonti¬ ſchen Gedichten an Damen, die die Madrigale, nicht die Damen ſo wohl die Suͤßigkeit als die Kaͤlte der Geleen haben. So iſt der Hr. v. Oefel und faſt die ganze belletriſtiſche Kompagnie.
Da man nur vor Leuten, vor denen man nicht roth wird, ſich ſelber lobt, vor gemeinen, vor Bedienten, Weib und Kindern; und da ers gegen Guſtav im Punkte der Liebe that: ſo war ſeine160 Eitelkeit einer lauteren Rache werth als Guſtav an ihm nahm: dieſer malte ſich bloß im Stillen vor, wie gluͤcklich er ſei, daß er, indeß andre ſich taͤuſchten oder ſich beſtrebten, das Herz einer[Ge¬ liebten] zu haben, zu ſich zuverſichtlich ſagen koͤn¬ ne: „ ſie hat dirs geſchenkt. “ Aber dieſe auſſerge¬ richtliche Schenkung dem Nebenbuhler und Both¬ ſchafter zu notifiziren, oder uͤberhaupt jemanden, das verbot ihm nicht bloß ſeine Lage, ſondern auch ſein Karakter; nicht einmal mir eroͤfnete er ſie eher als bis er[mir] ganz andre Dinge zu eroͤfnen und zu verbergen hatte. — Ich weiß recht gut, daß dieſe Diſkretion ein Fehler iſt; dem neuere Romane nicht ungeſchickt entgegen arbeiten; hat darin ein Romanheld oder Romanſchreiber ein Herz bei einer Romanheldin erſtanden (und das giebt ſie ſogleich her als ſaͤß 'es vorn wie ein Kropf daran): ſo zwingt der Held oder Schreiber (die meiſtens ſy¬ nonimiſch ſind) die Heldin das Herz heraus und hinein zu thun wie der Stockfiſch ſeinen Magen — ja der Held reiſſet ſelber das Herz aus der verhuͤl¬ lenden Bruſt und weiſet den eroberten Globus uͤber zwanzig Perſonen, — wie der Operateur ein ge¬ ſchnittenes Gewaͤchs — handhabt den Ball wie eineLo¬161Lorenzodoſe — fuͤhrt ihn ab wie einen Stockknopf und verſteckt das fremde Herz ſo wenig wie das eig¬ ne. Ich geſteh es, daß die Zuͤge ſolcher Goͤttin¬ nen aus keinen ſchlechtern Modellen zuſammenge¬ tragen ſeyn koͤnnen als die waren, wornach die griechiſchen Kuͤnſtler ihre Goͤttinnen oder die roͤmi¬ ſchen Maler ihre Madonnen zuſammen ſchufen, und man muͤßte wenig Weltkenntniß haben, wenn man nicht ſaͤhe, daß die Fuͤrſtinnen, Herzogin¬ nen ꝛc. in unſern Romanen ſicher nicht ſo gut ge¬ troffen waͤren, wenn nicht dem Autor an ihrer ſtatt Stuben - und noch ſchlimmere Maͤdchen geſeſ¬ ſen haͤtten; und ſo, indem ſich der Verfaſſer zum Herzog und ſein Maͤdchen zur Fuͤrſtin machte, war der Roman fertig und ſeine Liebe verewigt, wie die der Spinnen, die man gleichfals im Bernſtein gepaaret und verewigt antrift. Ich ſage das al¬ les, nicht um meinen Guſtav zu rechtfertigen ſon¬ dern nur zu entſchuldigen: denn dieſe Romanſchrei¬ ber ſollten nur bedenken, daß die angenehme Sit¬ tenrohheit, deren Mangel ich an ihm vergeblich zu bedecken ſuche, auch bei ihnen fehlen wuͤrde, wenn ſie ſo wie er mehr durch Erziehung, Umgang, zu2. Theil. L162feines Ehrgefuͤhl und Lekture (z. B. Richardſons) waͤren verdorben worden.
Ich ſchaͤme mich, daß Guſtav eine ſolche Igno¬ ranz in der Liebe hatte, daß er in einigen der beſten Romanen nachſehen wollte, ob er jetzt einen Lie¬ besbrief zu ſchreiben haͤtte — daß ihre Abweſenheit ihn in Sorgen wegen ihrer Geſinnung und in Ver¬ legenheit uͤber ſein Betragen ſetzte. Denn die Staͤr¬ ke der Gefuͤhle macht ſo gut die Zunge arm und ſchwer als der Mangel derſelben. Zum Gluͤck huͤpf¬ te ihm oft die kleine Laura — nicht im Park, (denn nichts macht mehr Dinten - und Kaffeekleckſe auf eine ſchoͤne Haut als die ſchoͤne Natur) ſondern unter vier Mauern — entgegen und die Schuͤlerin erſetzte die Lehrerin.
Die groͤßte Diverſion machte ſeinen Grillen der Koͤrper, von dem in den Vorzimmern ſchon ſo viel Redens war und der jetzt ſelber hinein gieng — Ottomar. Sein erſtes Wort zur Reſidentin war, „ ſie ſollte ihm verzeihen, daß er nicht eher in ihrem Vorzimmer erſchienen waͤre — er waͤre beerdigt wor¬ den und haͤtte nicht eher gekonnt. Aber er waͤre der erſte, der nach dem Tode ſo bald ins Elyſium (hier ſah er ſchmeichelhaft an den Landſchaftsſtuͤcken der163 Tapeten herum) und zu den Goͤttern kaͤme.” Das war bloß ſatyriſche Bosheit. Bekanntlich iſts ſchon ein bewaͤhrter Paragraph in der Aeſthetik aller Ele¬ gants, daß ſie — und iſt mein Bruder in Lyon an¬ ders — den Schmeicheleien, die ſie den Weibern ſa¬ gen muͤſſen, den Ton und die Miene der Aufrichtig¬ keit voͤllig zu benehmen haben, womit die antiken Stutzer ſonſt ihre Fleuretten verſahen. In dieſe ſa¬ tyriſchen Schmeicheleien kleidete er ſeinen Unmuth uͤber Weiber und Hoͤfe. Die Weiber brachten ihn auf, weil ſie — wie er wußte — in der Liebe nichts ſuchten als die Liebe, indeß der Mann damit noch hoͤhere, religioͤſe, ehrgeizige Empfindungen zu ver¬ ſchmelzen weiß — weil ihre Regungen nur Eilboten und jede weibliche Hitze nur eine fliegende waͤre und weil ſie wenn Chriſtus ſelber vor ihnen dozierte, mit¬ ten aus den groͤßten Ruͤhrungen auf ſeine Weſte und ſeine Struͤmpfe gucken wuͤrden. Die Hoͤfe erzuͤrnten ihn durch ihre Gefuͤhlloſigkeit, durch ſeinen Bruder, durch den Volksdruck, deſſen Anblick ihn mit unuͤber¬ windlichen Schmerzen erfuͤllte. Daher war ſeine Reiſebeſchreibung anderer Laͤnder eine Satyre ſeines eignen und wie die franzoͤſiſchen Schriftſteller unter den Sultanen und Bonzen des Orients einige ZeitL 2164die des Okzidents abmalten und abſtraften: ſo war in ſeinen Erzaͤhlungen der Suͤden der Lehntraͤger und Paſquino des Nordens. Die ſanfte Menſchen-Dul¬ dung, die er ſich in ſeinem letzten Briefe vorgeſetzt, hielt er nicht laͤnger als bis er ihn geſtipt und geſie¬ gelt hatte — oder ſo lang 'er ſpatziren gieng — oder waͤhrend der ſanften Nerven-Herabſchraubung nach einem Weinrauſch. Auch war ihm wenig daran ge¬ legen, von denen geachtet zu werden, die er ſelber nicht achtete: mitten unter großen philoſophiſchen, republikaniſchen Ideen oder Idealen wurden ihm die Kleinigkeiten der Gegenwart unſichtbar und veraͤcht¬ lich, jetzt zumal wo die kuͤnftige Welt oder die kuͤnf¬ tigen Welten die duͤnne verfinſterte, auf der er nach jenen hinſah, wie man durch den geſchwaͤrzten Tu¬ bus keinen Gegenſtand erblickt als die Sonne. So brachte er z. B. fuͤnf groteſke Minuten bei der Reſi¬ dentin damit zu, daß er — da den eigentlichen Koͤr¬ per der Seele nur Gehirn und Ruͤckenmark und Ner¬ ven ausmachen — den vernuͤnftigſten Hofdamen und den ſchoͤnſten Hofherrn die Haut abſchund in Gedan¬ ken, ihnen ferner die Knochen herauszog und das we¬ nige Fleiſch und Gedaͤrm was ſie umlag wegdachte, bis nichts mehr auf der Ottomane ſaß als ein Mark¬165 Schwanz mit einem Gehirn-Knauf oben d'ran. Darauf ließ er dieſe umgekehrten Kloͤppel oder auf¬ gerichteten Schwaͤnze gegen einander anlaufen und agiren und Fleuretten ſagen, und lachte innerlich uͤber die geſcheuteſten Leute von Geburt, die er ſelber ſkalpiert und abgeſchuppet hatte. Das nen¬ nen viele das philoſophiſche Paſquil.
Aus dem neuen Schloß eilt 'er ins alte zu Gu¬ ſtav, der ihn zu fliehen ſchien. Aber auf welche Art er mit Guſtav ſchon laͤngſt bekannt geworden, wie er ihm den erſten Brief geben koͤnnen, warum er wie Guſtav (noch jetzt) ſich an einen unbekann¬ ten Ort regelmaͤßig verfuͤgte, warum er von ihm geflohen wurde, und was ſie mit einander im al¬ ten Schloſſe fuͤr ein dreiſtuͤndiges Geſpraͤch gehalten, das ſich mit der waͤrmſten Liebe in beiden Herzen ſchloß — daruͤber deckt ſich noch ein langer Schleier, den meine Muthmaßungen nicht aufheben koͤnnen; denn ich habe allerdings verſchiedene, aber ſie klin¬ gen ſo auſſerordentlich, daß ichs nicht wage, ſie dem Publikum eher vorzulegen als bis ich ſie beſſer rechtfertigen kann. Jede Ader, jeder Gedanke und Herz und Auge wurden in Guſtav weiter und ver¬ groͤßerten ſich fuͤr eine neue Welt, da er mit dem166 genialiſchen Menſchen ſprach: o was ſind die Stun¬ den der homogenſten Lektuͤre, ſelbſt die Stunden der einſamen Emporhebung gegen eine Stunde, wo eine große Seele lebendig auf dich wirkt und durch ihre Gegenwart deine Seele und deine Idea¬ le verdoppelt und deine Gedanken verkoͤrpert? —
Guſtav nahm ſich vor, ſich aus dem Schloſſe zu Ottomar zu entfernen, um es zu vergeſſen, wer noch weiter drinnen fehle. Es war ein ſtum¬ mer ausgewoͤlkter Abend, ein Schatte nicht des ſchon weit weggezognen Sommers ſondern des Nach¬ ſommers als Guſtav aufbrach, nachdem er vergeb¬ lich auf die Ruͤckkehr und Geſellſchaft des — Dok¬ tors gewartet hatte. In der leeren Luft, durch die keine gefiederte Toͤne, keine klopfende Herzen mehr flogen, zeigte ſich nichts Lebendiges als die ewige Sonne, die kein Erdenherbſt bleicht und faͤllet und die ewig offen unſern Erdball immerfort anſieht, indeß unter ihr tauſend Augen ſich oͤfnen und tau¬ ſend ſich ſchlieſſen. An einem ſolchen Abend ſpringt der Verband von alten Wunden auf, die wir in uns tra¬ gen. Guſtav kam ſtill im Dorfe an; am Eingange des Gartens, der das Ottomarſche Schloß halb umlief, ſtand ein Knabe, der die erhabene Melo¬167 die eines erhabenen Lieds*)„ Jüngling, den Bach der Zeit hinab ſchau 'ich, in das Wellengrab des Lebens, hier verſank ꝛc. “ Der An¬ fang heiſſet eigentlich: Traurig ein Wandrer ſaß am Bach, ſah den fliehenden Wellen nach. Volkslieder. auf einer Drehorgel dem Gehoͤr eines Kanarienvogels vordrehte, der ſie ſingen lernen ſollte. „ Ich krieg' ſchon viel, wenn er's pfeifen kann, “ſagte der winzige Organiſt. An ei¬ nen Baum gelehnt ſtand Ottomar der weiten Abend¬ roͤthe und dieſen Abendtoͤnen gegenuͤber; die Son¬ ne auſſer ihm gieng, hinter einer bleifarbenen groſ¬ ſen Wolke in ihm, unter. Guſtav mußte, eh 'er ihn erreichte, vor einer dichten Niſche und einem alten Gaͤrtner darin vorbei, an dem ihn zweierlei wunderte, daß er ihm erſtlich mit keinem Worte fuͤr[ſeinen] Gutenabend dankte und zweitens daß ſo ein alter vernuͤnftiger Mann ein Kindergaͤrtchen auf dem Schoße hatte und beſah. Durch die Laube nahm er an einer Sonnenuhr eine Erhoͤhung wie ein Kindergrab und einen Regenbogen von Blumen wahr, der es umbluͤhte und uͤberlaubte: aus der Erhoͤhung lagen die Kleider eines Kindes ſo geordnet als waͤr' etwas drinnen und haͤtte ſie an. Ottomar empfieng ihn mit einer Sanftheit, die168 man nur in heftigen Karakteren in ſo unwiderſteh¬ lichem Grade findet, und ſagte mit erhaben-leiſer Stimme: „ er feiere den Todestag aller Jahrszei¬ ten und heute waͤre des Nachſommers ſeiner. “ Sie kamen, indem ſie ins Schloß giengen, vor dem Gaͤrtner vorbei und er nahm den Hut nicht ab — ferner vor dem leeren Kleid auf dem Grab und es lag noch unter den Blumen und vor dem Klavieri¬ ſten, der noch das Lied ſpielte: Juͤngling, den Bach der Zeit ꝛc. Da wir das Feierliche nur in Buͤchern, ſelten im Leben finden: ſo wirkt es im letztern nachher deſto ſtaͤrker.
Man muß noch merken, daß in Ottomar der Ausdruck der ſtaͤrkſten Gefuͤhle durch eine gewiſſe Sanftheit, womit ſein Weltumgang und ſein Al¬ ter ſie brach, unwiderſtehlich in den ſtillen Stru¬ del zog. Er oͤfnete — Kinder waren die Lakaien — ein Zimmer des dritten Stockwerks. Die[Hauptſa¬ che] waren nicht darin die Gemaͤlde mit ſchwarzen Gruͤnden und weiſſen Saͤrgen, oder die Worte uͤber den Saͤrgen: „ darin iſt mein Vater, darin meine Mutter, darin meine Fruͤhlinge, “— auch der ſehr große gemalte Sarg nicht, woruͤber ſtand: „ darin liegen ſechs Jahrtauſende mit allen ihren169 Menſchen. “— Sondern das Wichtigſte war das Ungemalte, wovor ſich Guſtav tief buͤckte; eine ſchoͤne Frau, die ſich zu einem unſern Guſtav faſt aͤhnlichen Kinde herabneigte, weil es ihr etwas lei¬ ſe ſagen wollte; ferner buͤckt 'er ſich vor einem al¬ ten Offizier in Uniform, der eine zerriſſene Land¬ karte, und vor einem ſchoͤnen jungen Italiener der ein fliegendes Stammbuch hielt. Das Kind hatte einen Vergißmeinnicht-Strauß auf der Bruſt, die Frau und die zwei Maͤnner hatten einen ſchwarzen Strauß. Aber was noch mehr ihn uͤberraſchte, war der Doktor Fenk am Fenſter, mit einer Roſe an der Bruſt. — —
Guſtav eilte ihm zu; aber Ottomar hielt ihn: „ es iſt alles von Wachs, “ſagt 'er nicht mit einem kalten gegen das Schickſal erbitterten Ton, ſon¬ dern mit einem ergebenen. „ Alles was mir in mei¬ nem Leben Liebe und Freude gab, ſteht und bleibt in dieſem Zimmer — wer geſtorben iſt, dem gab ich ſchwarze Blumen — bei meinem verlornen Kin¬ de weiß ichs noch nicht, und ſeine Kleider liegen drauſſen im Garten .... O wem Gott Ruhe in den Buſen ſchickt, daß ſie das nackte Herz umwik¬ kele und ſeine Zuckungen beſaͤnftige, dem iſt ſo170 wohl wie denen die er betrauert — er thut ſanft und feſt ſein Auge auf, wenn ihm das Schickſal holde Geſtalten zuſchickt, und wenn ſie wieder ge¬ hen und graͤßliche heranfahren, ſo ſchließt ers ru¬ hig wieder zu. “— —
O Ottomar! das kannſt du nicht, bevor dei¬ ne wogenden Kraͤfte am Alter ſich gebrochen ha¬ ben! mach 'immer dein Herz drei Tage lang fuͤr die Ruhe weit; am vierten zieht es der Krampf der Freude oder des Schmerzens zuſammen und druͤckt ſie todt!
Manche Menſchen koͤnnen ohne Schauder keine Wachsfiguren ſehen: Guſtav gehoͤrte darunter; er nahm Ottomars Hand, um ſich ans Le¬ ben zu klammern gegen ſo viel Spiele und Nach¬ aͤffungen des Todes ... Ploͤtzlich laͤrmt etwas durch das ſtille Schloß ... die Treppen herauf ins Zim¬ mer hinein ... an Ottomars Hals hinan .... Fenk wars, der ihn nach der Auferſtehung von Todten zum erſtenmale umfieng und dem jezt un¬ ter der engen Umarmung keine Entfernung von dem, zwiſchen welchem und ihm ſich Laͤnder und Jahre und Todt gelegt hatten, klein genug zu ſeyn vermochte. Guſtav; noch an der Hand Ot¬171 tomars, wurde in den Bund der Liebe mit hin¬ eingeſchlungen, und waͤre der Todt ſelber vorbei¬ gegangen, er haͤtte ſeine kalte Eichel nicht durch drei eng, ſprachloß und warm verknuͤpfte Herzen gedraͤngt. — „ Rede Ottomar, ſagte der Doktor, das letztere mal warſt du ſtumm. “— — Otto¬ mars Ruhe war nun zergangen: „ auch die (die Wachsfiguren) reden ewig nimmer (ſagt 'er mit zergedruͤckter Stimme) — ſie ſind nicht einmal bei uns — wir ſelber ſind nicht beiſammen — Fleiſch - und Bein-Gitter ſtehen zwiſchen den Menſchen - Seelen und doch kann der Menſch waͤhnen, es gebe auf der Erde eine Umarmung, da nur Git¬ ter zuſammen ſtoßen und hinter ihnen die eine See¬ le die andre nur denkt? “
Alle wurden ſtill — die Abendglocke ſprach uͤber das ſchweigende Dorf hinuͤber und toͤnte klagend auf und nieder — Ottomar hatte wieder ſeine er¬ ſchreckliche Vernichtungs-Minute wie er ſie nennt — er trat zur waͤchſernen Frau und nahm das ſchwarze Todes-Bouquet und ſteckt 'es uͤber ſein Herz — er beſah ſich und ſeine zwei Freunde und ſagte kalt und eintoͤnig: „ ſo nach leben wir drei — das iſt das ſogenannte Exiſtieren, was wir jezt172 thun — wie ſtill iſts hier, uͤberall, um die gan¬ ze Erde — eine recht ſtumme Nacht ſteht um die Erde herum und oben bei den Fixſternen wills nicht einmal lichter werde, “— — Zum Gluͤck trabte und waldhornierte der Fuͤrſt und ſeine Jagd-Ge¬ noſſenſchaft durch das Dorf und verſcheuchte die Nacht aus drei Menſchen: ſo ſehr haͤngen wir vom Gehoͤr ab, ſo ſehr giebt die aͤußere Welt un¬ ſrer innern Lichter und Farben. — —
Ich habe von allem, was ſie nachher in an¬ dern Zimmern thaten, keine Merkwuͤrdigkeit, und von allem, was ſie darin ſahen, nur dreie einzuruͤcken — die, daß Ottomar faſt lauter Kin¬ der zu Bedienten, lauter ganz junges Vieh und lauter Blumen um ſich hatte: denn heftige Karak¬ tere haͤngen ſich gern ans Sanfte. —
Wuz kommt gerade und ſagt, er haͤtte noch an keinem Andreastage ſo viel geſchrieben.
173Kegelſchnitte aus vornehmen Körpern — Geburtstags-Drama — Rendezvous (oder, wie Kampe ſich ausdrückt, Stell 'dich ein) im Spiegel.
Auf dem Steindamm nach dem neuen Schloſſe fuͤrchtete Beata ſich, in dieſem ihren Guſtav zu fin¬ den; im Schloſſe ſelber wuͤnſchte ſie das Gegentheil, ſo bald ſie hoͤrte, er ſei in Ruheſtatt. Ihre Mutter hatte ihr, indem ſie mit ihr die Regimenter der Ro¬ ben, Maͤntel ꝛc. theils reduzierte theils uͤberkomplet machte, ſo viel bewieſen, Beata werde von ihrer eignen Empfindung getaͤuſcht und das Paradies ihrer unſchuldigſten Liebe ſei nach ihrer muͤtterli¬ chen Empfindung blut ſchlecht und wirklich ein pon¬ tiniſcher Sumpf — die Bluͤthenbaͤume darin ſeien Giftbaͤume — der Blumenflor beſtehe theils aus gif¬ tigen Kupfer - theils aus falſchen Porzellan-Blumen — auf den Grasbaͤnken darin ſaͤße man ſich Schnupfen an und das ſanfte Wiegen des magiſchen Bodens ſei eine Erd-Erſchuͤtterung. Dieſe Eidesverwarnung nach dem Eide der Liebe gieng noch an; aber daß174 ſie noch Beatens Jugend einwandte — die gewoͤhn¬ lichſte, einfaͤltigſte, unwirkſamſte und am meiſten aufbringende Einwendung gegen eine lebendige Em¬ pfindung — das begann den kleinen Eindruck ihrer Wochenpredigt[ zu] ſchwaͤchen, den die Nutzanwendung gar wegloͤſchte: daß ihr Vater ihr ſchon den Gegen¬ ſtand ihrer Liebe halb und halb gewaͤhlt ... Meine Gerichtsprinzipalin war recht geſcheut; aber, mei¬ nem Gerichtsprinzipal zu Liebe, auch oft recht ein¬ faͤltig.
Beata brachte alſo dem Guſtav ein durch dieſes Mazerieren aͤußerſt weiches und zaͤrtliches Herz uͤber den Steindamm mit — und er kam auch mit einem ſolchen wunden an, um das kein Blaͤttgen eines Kallus mehr hieng: Ottomars ſalomoniſche Predig¬ ten uͤber und gegen das Leben hatten (wie die muͤt¬ terlichen) ſeine Puls - und Blutadern mit einer un¬ endlichen Sehnſucht gefuͤllet, die armen zerfallenden Menſchen zu lieben und mit ſeinen zwei Armen, eh ſie auf die Erde fielen, das ſchoͤnſte Herz an ſich zu ziehen und zu preſſen, eh 'es unter die Erdſchollen niederſaͤnke. Die Liebe heftet ihre Schmarotzerpflan¬ zen-Wurzeln an alle andre Empfindungen.
175Es war Zeit, das ſie kamen, des H. von Oefels wegen. Denn am Hofe vermißte man ſie, wie uͤber¬ haupt jeden, gar wenig. Ein ruſſiſcher Fuͤrſt von *** — ein Mulatte und Deponens von Hofmann und Vieh, deſſen ſichtbare Extremen ſich in die un¬ ſichtbaren Extremen von Kultur und Wildheit endig¬ ten — war ſamt einem Rudel von Franzoſen und Italienern da geweſen, die ſaͤmmtlich wie ihr Alt¬ meiſter die fuͤr die große Welt alltaͤgliche Sonderbar¬ keit hatten, daß ſie — nicht ganz waren — fuͤr einen Weltmann iſt heut zu Tage nichts ſchwerer als aus ſeinem Koͤrper nicht das zu machen, was ich jezt aus meiner Biographie mache — einen Sektor oder Ausſchnitt. In der That ſah dieſe fragmentariſche Diviſion wie eine Kompagnie Kruͤpel aus, die zu ei¬ nem Wunderthaͤter reiſet. Der meiſten Glieder, die wir bei der Auferſtehung nicht wieder kriegen, z. B. Haare, Magen, Fleiſch, H. und noch andre*)Nach den ältern Theologen (z. B. Gerhard Ioc. Theol. T. VIII. p. 116 r. —) ſtehen wir ohne Haare, Magen, Milchgefäße ꝛc. auf. Nach Origenes ſtehen wir auch ohne Fingernägel und ohne das, was er in dieſem Leben ver¬ lohren auf. Nach Connor. med. mystic. art. 13. kommen wir mit nicht mehr Materie aus dem Grabe als wir bei der Geburt oder Zeugung umhatten. —176 daher freilich der große Konnor leicht verfechten kann, ein auferſtandner Chriſt falle nicht groͤßer aus wie eine Stechfliege — ſolcher Glieder hatte ſich die amputirte Junto ſchon vor der Auferſtehung entla¬ den oder doch viel davon weg gethan.
Ich hab 'oft daruͤber nachgedacht, warum thuns die Großen und machen ſich zu Kleinen im phyſiſchen Sinn; aber ich war zu dumm, andre Gruͤnde zu er¬ rathen als folgende: der Sitz des Zorns (wofuͤr nach Winkelmann die Griechen die menſchliche Naſe hiel¬ ten) kann nicht bald genug ausgerottet werden, weil weder ein Hofmann noch ein Chriſt Zorn beweiſen ſoll. — Zweitens: die kleinen Koͤrper bekommen ſo viel Witz wie bucklichte: aus den dicken Faͤſſern un¬ ſerer Vorfahren zieht man geſchickt den Spiritus auf kleine Koͤrper-Bouteillen und ſolche Einſchnitte und optiſche Verkuͤrzungen und Kuren des Leibes machen unfaͤhig, etwas anders zu werden als witzig oder hoͤchſtens ſtupid: ſo kann eine Floͤte, in die Riſſe kamen, keine andre Toͤne von ſich geben als ſeine und hohe. Witz wird aber bekanntlich in der großen Welt wenn nicht mehr, doch eben ſo viel geſchaͤtzt wie Unmoralitat. — Drittens: wie die al¬ ten Patriarchen darum ein langes Leben bekamen,um177um die Erde zu bevoͤlkern, ſo haben ſich viele Kos¬ mopoliten in der naͤmlichen Abſicht ein kurzes vorgenommen und gern das Leben von andern Menſchen mit einem Kurzius-Sturz in den toͤdtli¬ chen Schlund erkauft. Es iſt aber noch die Frage, obs wahr iſt. — Die vierte Urſache kenn 'ich aus geheimen myſtiſchen Geſellſchaften, wo eben jene Menſchen-Segmente ſie kennen lernten. Heutiges Tages muß jede Seele von — Stand desorgani¬ ſirt und entkoͤrpert werden. Hier hat man nun nicht mehr als zwei ganz verſchiedne Opera¬ tionen. Die kuͤrzeſte und ſchlechteſte meines Er¬ achtens iſt die, daß ſich der Menſch — aufhenkt und daß ſo die Seele den Koͤrper von ſich wie eine Warze abbindet. Ich wuͤrde keinen Großen des¬ halb tadeln wenn ich nicht wuͤſte, daß er die weit beſſere und ſanftere Operation vor ſich habe, wo¬ durch er ſeinen Leib gleichſam als die Form wor¬ ein die geiſtige Statue gegoſſen iſt, bloß gliedweiſe abloͤſen kann. Ich will hier nicht in den Fehler der Kuͤrze ſondern lieber in den entgegengeſetzten fallen. Alſo: der Koͤrper iſt nach Philoſophen, die auch eine Seele haben, bloß ein Werkzeug, ihre oder unſre auszubilden und ſie an die Entbehrung2. Theil. M173dieſes Werkzeugs zu gewoͤhnen. Die Seele muß alle Faͤden, die ſie an den Klumpen ſchnuͤren, nach und nach zerfreſſen und abbeißen. Er iſt ihr das, was den Kindern, die ſchwimmen lernen, der korkene Kuͤras*)Zückert in ſeiner Diätetik ſchläg[t]einen korknen Küras vor, der über dem Waſſer aufrecht erhält und den man, ſo wie die Fertigkeit oben zu ſchweben, wachſe, beſchnei¬ den könne. iſt: taͤglich muß ſie dieſen Kuͤras zu verkleinern ſuchen, um endlich ohne ihn zu ſchwimmen. Der philoſophiſche Mann von Welt und das Mitglied geheimer desorganiſieren¬ der Unionen ſchaft alſo von dieſem Schwimm-Pan¬ zer anfangs nur das Fleiſch an Beinen und Bak¬ kenknochen bei Seite. Das iſt noch wenig. Dar¬ auf brennt er durch Gluͤhfeuer Gehirn, Ner¬ ven und anders Zeug weg, weil ſie das Kuͤchen¬ feuer aushielten. Die Haare oder das menſchliche Rauchwerk bringt jeder ohne Muͤhe weg. Der wichtichſte Schritt bei dieſer Kuͤras-Sektion iſt der, daß man ohne das Barbiermeſſer des Origi¬ nes ſo viel bewerkſtellige — nur ſanfter — wie er. Iſt das vorbei: ſo hat man zu jener voͤlligen Er¬ toͤdtung nicht mehr weit, wo der ganze Kuͤras179 rein herunter iſt und wo die Seele im Meere des Seins endlich ſchwimmen gelernt hat, ohne von ihrem Schwimmkleid nur ſo viel als man zum[Bouchieren] einer Bouteille bedarf, noch um ſich zu haben. Nachher wird man beerdigt. So wenig¬ ſtens traͤgt man in geheimen Geſellſchaften von Ton die menſchliche Entkoͤrperung vor.
Dieſe zerbrochne Geſellſchaft deckte unſern und jeden Hof ſo ſchoͤn wie zerbrochne Porzellan-Ge¬ faͤße hollaͤndiſche Beete; zweitens hatte ſie die hoͤflichſte Art von der Welt, grob zu ſeyn. Waͤre unter dieſen Leuten ein gewiſſes je ne ſais quoi nicht der Unterſchied zwiſchen Laune und Grobheit, zwiſchen Feinheit und Beleidigung: ſo fehlte er.
Ich ſagte oben, es war Zeit daß unſer Paar ankam, des H. v. Oefels wegen. Denn das Ge¬ burtsfeſt der Reſidentin ruͤckte heran, gleichwohl hatte noch kein Menſch eine Seite von ſeiner Rol¬ le memoriert. Die Leſer haben noch eben ſo wenig vom Geburtstags-Drama im Kopfe als die Spie¬ ler; Daher ſoll ihnen hier ein duͤnner Abſud die¬ ſer Oefelſchen Pflanze vorgeſetzt werden.
M 1180„ In einem franzoͤſiſchen Dorfe waren zwei Schweſtern ſo gut, daß jede verdiente, das Ro¬ ſenmaͤdchen zu werden, und ſo uneigennuͤtzig, daß jede wollte, die andre wuͤrd 'es. Ma¬ rie hieß die eine und Jeanne die andre. Am Tage vor der Austheilung der Preismedaille von Roſen ſtritten ſie ſich daruͤber, wer ſie — ausſchlagen ſollte: denn ſie wuſten von recht guter Hand, daß blos auf eine von ihnen die Roſenkro¬ ne fallen wuͤrde. Jeanne — von der Miniſterin geſpielt — wiſchte durch den ſchoͤnen Einfall unter der Laubkrone hinweg, daß ſie ihren Liebhaber Perrin — Oefel ſtellte den vor — oͤfter und oͤf¬ fentlicher um ſich hatte als eine Roſen-Kompeten¬ tin ſoll. Marie (die Rolle von Beata) konnte alſo die Kroͤnung nicht von ſich wie es ſchien abwen¬ den; indeſſen bat ſie ihren Bruder Henri (Guſtav wars,) der ſie beſonders liebte und der ſeit ſeiner Kindheit aus ihrem Hauſe durch ſeine Reiſen weg¬ geweſen, dieſen bat ſie um Sieg in dieſem unei¬ gennuͤtzigen Wettſtreite. Er ſuchte ſie zum entge¬ gengeſetzten Siege zu bereden; endlich aber, da181 er die Unerbittlichkeit ihrer ſchweſterlichen Liebe ſo gewiß ſah, verſprach er, fuͤr eine rechte Beloh¬ nung ihr die ihrige zu erſpahren. „ Aber du muſt noch groͤßere Liebe fuͤr mich haben “ſagt' er — „ die ſchweſterliche “ſagte ſie — „ eine noch ſtaͤr¬ kere “ſagte er — „ die freundſchaftlichſte “ſagte ſie — „ eine noch viel ſtaͤrkere “ſagt 'er — „ weiter giebts keine groͤßere “ſagte ſie — „ o doch! ich bin ja dein Bruder nicht “ſagt' er und fiel mit liebe¬ trunknen Augen vor ihr nieder und gab ihr ein Papier, das ſie aus ihrem bisherigen Irrthum zog und ſie dafuͤr in eine kleine Freuden-Ohnmacht ſtuͤrzte. Sie erſchienen alle vier vor dem Guts¬ herrn und Kranz-Kollator (der Fuͤrſt ſpielte dieſe Rolle ſogar auf dem — Theater) und jede kam ſei¬ ner Wahl durch eine Bitte und Lobrede fuͤr ihre Schweſter und durch feine Invektiven auf ſich ſel¬ ber zuvor. Der kokettirende Wicht Perrin quaͤſtio¬ nierte: ſollte die Liebe andre Roſen brauchen als ihre eigne? — Marie gab eine fliegende Schilde¬ rung von den Vorzuͤgen, denen eine ſolche Be¬ kroͤnung gebuͤhre und die zum Theil feine Zuͤge aus Bouſens Bilde waren. Der Gutsherr ſagte: dieſe ſchweſterliche Unpartheilichkeit, die ſo ſehr zu be¬182 wundern ſei wie die Verdienſte, die ſie zu beloh¬ nen ſuche, verdienen zwei Roſenkronen, eine um belohnt zu werden, und eine um ſelber zu beloh¬ nen; (niemand, fiel der ſcheinbar den Damen und wirklich dem Fuͤrſten ſchmeichelnde Oefel ein, theilt Kronen ſchoͤner aus als wer ſie ſelber traͤgt;) und ſie wuͤrden ſich von ihm in nichts als in der Un¬ partheilichkeit und Schoͤnheit unterſcheiden, wenn ſie an ſeiner ſtatt vielleicht wie er waͤhlten, wem der Roſenkranz — eh der Schmetterling von ihm floͤge — einer von Brillanten war mit einer Zitternadel in die groͤſte Roſe geſteckt — aufzuſetzen ſei .... „ Unſerer Roſen-Koͤnigin! “riefen die Schweſtern und brachten den Kranz der Reſiden¬ tin hin. “
So weit das Drama. Oefel war nichts lieber und gluͤcklicher als die ſchmeichelnde Folie des an¬ dern. Uebrigens ſah ſein Stuͤck wie eine Idylle von Fontenelle aus. Die Phantaſie, die den von der Kultur duͤnn geſchlifnen Leuten gefallen will, muß ſchimmern, aber nicht brennen, muß das Herz kitzeln, aber nicht bewegen; die Aeſte einer ſolchen Phantaſie werden nicht von ſchweren ge¬ draͤngten Fruͤchten ſondern von Schneelaſt183 nieder gebogen. An ſolchen Hof-Poeten und an Ohrwuͤrmern ſind die Fluͤgel gleichſam unſicht¬ bar und winzig, aber beide finden leichter die We¬ ge zum Ohr. An engliſchen Gedichten iſt nichts; hingegen die meiſten franzoͤſiſchen riechen nicht nach der Studier - und Spaarlampe, ſondern eher nach parfuͤmierten Strumpfbaͤndern, Handſchuhen u. ſ. w. und je weniger ſie haben was den Menſchen intereſſiert, deſto mehr haben ſie was den Welt¬ mann reizt, weil ſie nicht mehr die Natur und Himmel und Hoͤlle ſondern ein Paar Viſitenzim¬ mer abmahlen und ſo nicht ungeſchickt in immer engere Windungen des Schneckenhauſes ſich zuruͤck¬ draͤngen.
Oefel war zugleich Theater-Dichter, Akteur und Rollen-Schreiber. Er zog aus dem Drama die Rolle Beatens heraus, die er mit den feinſten Anſpielungen auf ihr gegenſeitiges Liebesverſtaͤnd¬ niß (dacht 'er,) oder auf ihr einſeitiges (denk' ich) in die Welt geſetzet hatte. Die zaͤrtlichſten Winke hatt 'er in den Stellen wo er mit Beata zuſam¬ men ſpielte, hinein verſteckt. Er zog deswegen unter manche feine Liebeserklaͤrung und Empfin¬ dung bei dem Abſchreiben eine exegetiſche Linie und184 bezifferte verſtaͤndig ſeinen Generalbaß: „ uͤber tauſendmal wird die Schalkhafte das uͤberle¬ ſen “ſagt' er zu ſich.
Darauf uͤberreichte er ihr bald nach ihrer An¬ kunft ihre Rolle mit weit mehr ſcheuer Ehrfurcht als er ſelber wuſte, zum Ungluͤck fuͤr unſern guten dramatiſierenden Haaſen fiel Beata in zwei Fehler auf einmal aus einer Urſache. Die Urſache war bloß, der Amor hatte in ihrem Herzen ſein Labora¬ torium aufgerichtet und hatte ſeine chimiſchen Oe¬ fen und alles hineingeſetzt: daraus muſte ihr er¬ ſter Fehler entſtehen, daß ſie ſchoͤner ausſah als ſonſt ohne dieſe Waͤrme (denn jede Empfindung und jede innere Streitigkeit nahm auf ihrem Ge¬ ſicht die Geſtallt eines Reizes an;) von der Liebe kam auch ihr zweiter Verſtoß, daß ſie ſich gegen Oefel heute weit zutraulicher und freimuͤthiger be¬ trug als ſonſt: denn ein liebendes Maͤdgen hat von allen uͤbrigen Gegenſtaͤnden (d. h. von ſeinen eignen Empfindungen fuͤr ſie) nichts mehr zu be¬ fahren. H. v. Oefel aber addierte auf ſeiner Re¬ chenhaut ein ganz andres Facit heraus; er nahm alles fuͤr Freude, daß er nun wieder — zu haben ſei. Er gieng folglich mit einem Herzen fort, daß185 der Amor ſo mit lilliputiſchen Pfeilen voll geſchoſ¬ ſen hatte wie ein Naͤhkuͤſſen mit Nadeln.
Er ſagte noch in jenem Tage, „ iſt das Herz einer Frau einmal ſo weit, ſo braucht man nichts zu thun als daß man ſie thun laͤſſet. “ Das war ihm herzlich lieb: denn es erſparte ihm die — Bedenklichkeit, ſie zu verfuͤhren. So oft er Love¬ lacens oder des Chevaliers. *)In den liasons dangereuses. Briefe las: ſo wuͤnſchte er, ſein einfaͤltiges Gewiſſen ließ 'ihm zu, ein ganz unſchuldiges widerſtrebendes Maͤdgen nach einem feinen Plane zu verfuͤhren. Aber ſein Ge¬ wiſſen nahm keine Vernunft an und er muſte ſein ganzes Kaper-Vergnuͤgen auf die Verfuͤhrung ſol¬ cher unſchuldigen Perſonen, die er in ſeinem Ko¬ pfe oder in ſeinem Roman agieren ließ, einſchraͤn¬ ken: ſo ſehr herrſchet im ſchwachen Menſchen die Empfindung uͤber die Entſchließungen der Vernunft, ſogar in philoſophiſchen Damen. Mithin blieben der Weiberkenntniß Oefels ſtatt der Fangeiſen fuͤr die Unſchuld nur die fuͤr die Schuld zu legen uͤbrig und das einzige wo er noch mit Ruhm arbeiten konnte war das, der Verfuͤhrer von Verfuͤhrerin¬ nen zu ſeyn.
186Man erlaube mir, eine ſcharfſinnige Bemer¬ kung zu machen. Der Unterſchied zwiſchen Love¬ lace und dem Chevalier iſt der moraliſche Un¬ terſchied zwiſchen den Nationen und Jahrzehenden von beiden. Der Chevalier iſt mit einer ſolchen philoſophiſchen Kaͤlte ein Teufel, daß er bloß un¬ ter die Klopſtockiſchen Teufel gehoͤrt, die nie zu bekehren ſind. Lovelace hingegen iſt ein ganz an¬ derer Mann, bloß ein eitler Alzibiades, der durch einen Staats - oder Ehe-Poſten halb zu beſſern waͤ¬ re. Sogar dann wo ſeine Unerbittlichkeit gegen die bittende, kaͤmpfende, weinende, knieende Unſchuld ihn mehr den Modellen aus der Hoͤlle zu naͤhern ſcheint: mildert er ſeine gleiſſende Schwaͤr¬ ze durch einen Kunſtgrif, der ſeinem Gewiſſen ei¬ nige und dem Genie des Dichters die groͤſte Ehre macht und welcher der iſt, — daß er, um ſeine Unerbittlichkeit zu beſchoͤnigen, den wirklichen Ge¬ genſtand des Mitleidens, die knieende ꝛc. Klariſſe, fuͤr ein theatraliſches, maleriſches Kunſtwerk an¬ ſieht und um nicht geruͤhrt zu werden, nur die Schoͤnheit, nicht die Bitterkeit ihrer Thraͤnen, nur die mahleriſche, nicht die jammernde Stellung bemerken will. Auf dieſem Wege kann man ſich187 gegen alles verhaͤrten; Daher ſchoͤne Geiſter, Mah¬ ler und ihre Kenner bloß oft darum fuͤr das wirk¬ liche Ungluͤck keine oder zu viele Thraͤnen haben, weil ſie es fuͤr artiſtiſches halten.
Ich muß aber ſchneller zum Geburtstage der Reſidentin eilen, deſſen Folgen Guſtav vielleicht im laͤngſten Leben nicht vergeſſen wird.
Er brachte mit dem groͤßten Vergnuͤgen ſeine Rolle im Drama, wovon noch viel wird geſpro¬ chen werden, ſeinem Gedaͤchtniß bei und wuͤnſchte nichts als er koͤnnte ſie noch nicht auswendig — Beata macht 'es auch mit der ihrigen ſo: der Grund war, ihre Rollen waren auf dem Theater an einander gerichtet, mithin waren's jetzt ihre Gedanken auch; und fuͤr die ſcheue Beata war's beſonders ſuͤß, daß ſie zarte Gedanken der Liebe fuͤr ihn, die ſie kaum zu haben und nicht zu aͤuſ¬ ſern wagte, mit gutem Gewiſſen memoriren konn¬ te. Um nicht immer an ihn zu denken, zerſtreue¬ te ſie ſich oft durch das Geſchaͤft des Auswendigler¬ nens der beſagten Rolle. Gute Seele! ſuche dich immer zu taͤuſchen; es iſt beſſer es zu wollen als gar nichts darnach zu fragen! — Ihr Adoptiv - Bruder konnte bisher durchaus kein Mittel finden,188 ihr zu begegnen; die Reſidentin hatte ihn und[die¬ ſes] Mittel uͤber den ruſſiſchen Sektor und Torſo vergeſſen; er ſelber hatte nicht Zudringlichkeit ge¬ nug, noch weniger den Anſtand, der ſie ſchoͤn und pikant macht — bis ihm Hr. v. Oefel mit einer fei¬ nen Miene ſagte, die Reſidentin woll' ihm einige Gemaͤlde, die der Knaͤſe dagelaſſen, zu ſehen ge¬ ben. „ Ich wollt 'ohnehin ſchon lange das Kopiren im Kabinet anfangen, “ſagt' er und taͤuſchte we¬ niger jenen als ſich. Ueber ſeine erroͤthende Ver¬ wirrung ſagte Oefel zu ſich; „ ich weiß alles, mein lieber Menſch! “
Endlich fuͤhrte ein ſchoͤner Vormittag die zwei Seelen, die ſich leichter als ihre Koͤrper fanden, bei der Reſidentin zuſammen. Das Tageslicht, die bisherige Trennung, die neue Lage und die Liebe machten an beiden alle Reize neu, alle Zuͤge ſchoͤ¬ ner und ihren Genuß groͤßer als ihre Erwartungen — aber ſchauet euch weder zu viel noch zu wenig an, man blickt auf euer Anblicken! Oder thuts: einer Bouſe verbirgſt du es doch nicht, Guſtav, daß dein Auge, das der Scharfſinn nicht zuſammenzieht ſon¬ dern die Liebe aufſchlieſſet, immer bloß in dem be¬ nachbarten Gegenſtaͤnden ſich aufhaͤlt, um ein Streif¬189 licht vou ihr wegzufangen — es hilft auch dir nichts Beata, daß du es mehr wie ſonſt vermeideſt, ihm nahe zu ſtehen und ihn zu veranlaſſen, daß ſeine Stimme und ſeine Wangen ſeine Verraͤther werden! Es half dir wie du ſelber ſaheſt nichts, daß du der Wiederholung des idolo del mio cuo¬ re bei ſeiner Ankunft auszuweichen ſuchteſt: denn bat ihn nicht die Reſidentin, deiner Stimme auf dem Klaviere mit den Fingern nachzuflieſſen und ſei¬ nen innern Freuden-Sturm durch den Schimmer des Auges und durch den Druck der Taſten und durch die Suͤnden gegen den Takt zu offenbaren? — Die¬ jenigen meiner Leſer, die die Reſidentin friſiert oder bedient oder geſprochen oder gar geliebt haben, koͤn¬ nen mir es gegen andre Leſer bezeugen, daß ſie unter anderen Kaminverzierungen ihres Toilettenzimmers — weil die Großen nichts als Zierrathen eſſen, be¬ wohnen, anziehen, beſitzen und beſchlafen ꝛc. moͤgen — auch Schweizerſzenen waren und unter dieſen ei¬ ne tragantene Kopie des Eremitenberges: auf die¬ ſen Freuden-Olymp ſtiegen vor den Augen Guſtavs der Beata ihre nicht mehr, ſo oft ſie auch vorher ihn beſchienen hatten — endlich befeuchteten ſich auch beider Augen, wenn Amandus Name beide durch¬190 toͤnte, mit einer ſuͤßern lebhaftern Ruͤhrung als die uͤber einen Dahingegangnen iſt. — — Kurz ſie wuͤrden ſich wie alle Liebende weniger verrathen ha¬ ben, wenn ſie ſich weniger verborgen haͤtten. Die Reſidentin ſchien heute was ſie allemal ſchien: ſie hatte eine ſtille, denkende, nicht leidenſchaft¬ liche Verſtellung in ihrer Gewalt und auf ihrem Geſicht ſah man nicht die falſchen Minen die auf¬ richtigen erſt verjagen. — Das ſchoͤnſte Gemaͤlde aus dem Nachlaſſe des Ruſſen war nicht zu Hauſe ſondern unter dem Kopierpapier des Fuͤrſten. —
So ſtumm und doch ſo nahe muß er ihr gegen¬ uͤber bleiben; nur mit drei Worten, nur mit ei¬ nem Druck der ziehenden Hand wenn er ſeine von Empfindungen elektriſirte Seele zu entladen wuͤßte! — Warum wollen alle unſere Empfindungen aus unſerem Herzen in ein fremdes hinuͤber? — Und warum hat das Diktionaire des Schmerzens ſo vie¬ le Alphabete und das der Entzuͤckung und der Lie¬ be ſo wenige Blaͤtter? — Bloß eine Thraͤne, eine druͤckende Hand und eine Singſtimme gab der Welt - Genius der Liebe und der Entzuͤckung und ſagte: „ re¬ det damit! “— Aber hatte Guſtavs Liebe eine Zunge, als er (bei einem Abwenden der Reſiden¬191 tin auf 7 Sekunden) im Spiegel, dem er am Kla¬ vier gegenuͤber ſaß, mit ſeinen duͤrſtenden Augen das darin flatternde Bild ſeiner theuren Saͤngerin kuͤßte — und als das Bild ihn anſah — und als das bloͤde Bild vor dem Feuerſtrom ſeines Auges das Augenlied niederſchlug — und als er ſich ploͤtz¬ lich nach dem nahen Original des wegblickenden Farben-Schattens umdrehte und ſitzend in das ge¬ ſenkte Auge der ſtehenden Freundin mit ſeiner Lie¬ be eindrang und als er in einem Augenblick, den alle Sprachen nicht malen, ſich nicht einmal in Eine, nicht einmal in Einen Laut ergieſſen durf¬ te? — Denn es giebt Augenblicke wo der tief aus der fremden Seele emporgehobne Schatz wieder zu¬ ruͤck ſinkt und im Innerſten verſchwindet wenn man redet — ja wo das zarte, bewegliche, ſchwimmen¬ de, brennende Gemaͤlde der ganzen Seele ſich kaum in oder unter dem tranſparenten Auge wie das zerſtiebende Paſtelgebilde unter dem Glaſe be¬ ſchuͤtzt ....
Deswegen wars meiner Einſicht nach recht wol gethan, daß er zu Hauſe ſofort einen Liebesbrief verfaßte. Durch einen ſolchen Aſſekuranzbrief des Herzens verbriefte der Biograph von jeher ſeine Liebe192 im eigentlichen Sinne. Aber als ihn Guſtav fertig hatte, wußt 'er nicht wie er zu inſinuiren ſei, auf welcher Penny-Poſt. Er trug ihn ſo lange herum bis er ihn nicht mehr gefiel — dann ſchrieb er einen neuen beſſern und trug ihn wieder ſo lan¬ ge bei ſich bis er den beſten ſchrieb, den ich im naͤchſten Sektor hereinſchreiben will. Bei dieſer Ge¬ legenheit kuͤndige ich dem Publikum auf Oſtern mei¬ nen „ expediten und allzeitfertigen Liebesbrief-Stel¬[ ler” an,] den alle Eltern ihren Kindern beſcheeren ſollten.
Apropos! Der Pelz-Kourierſtiefel und der Be¬ ſchlag mit Senf und die Eis-Krone haben gluͤcklich mein Blut in die Fuͤße gefuͤllet und dem Kopfe nicht mehr davon gelaſſen als er haben muß, um fuͤr ein deutſches Publikum anmuthige Ab - oder Ausſchnitte aufzuſetzen.
Sie¬193Liebesbrief — Comédie — Souper — bal paré — zwei gefähr¬ liche Mitternachtsſzenen — Nutzanwendung.
Ich habe in dieſer froͤhlichen Zeit keinen recht, froͤh¬ lichen Sinn: vielleicht weil mein auseinander wol¬ lender Koͤrper ſo wenig wie eine Laͤngen - und See¬ uhr richtig geht — vielleicht liegt mir auch der In¬ halt dieſes Sektors im Kopfe — vielleicht geht auch, beim Anblick der allgemeinen Kinderfreude, das Blut zwiſchen dem Wintergruͤn und Herbſtflor jener Erinnerung ſo traurig fort, wie es ſonſt war, wie die Freuden des Menſchen dahinrollen, wie ſie ih¬ re Entfernung von uns durch einen aus fernen Ufern heruͤberblinkenden Widerſchein bezeichnen und wie unſre laͤngſten Tage uns ſelten ſo viel geben als dem Kind der kuͤrzeſte oder die Chriſtnacht im Genieſſen oder Hoffen giebt. — —
Von Guſtavs herzlichem Brief haͤtt” ich vor 14 Tagen nicht ſo leichtſinnig reden ſollen als ich that. Er war ſo:
2. Theil. N194„ Eh 'ich dieſes ſchrieb, giengen Sie unaus¬ ſprechlich Theuere, mit Lauren den Park hinauf, um die ermattende Sonne, die zwiſchen zwei groſ¬ ſen Wollen herabſchien, noch ein wenig zu genieſ¬ ſen; zu Ihren Seiten flogen Wolkenſchatten da¬ hin, aber mit Ihnen gieng der Sonnenſchein. Ich dankte dem Laube, daß es zu Ihren Fuͤßen lag und mir Sie nicht verdecken konnte; aber ich haͤt¬ te alle dornichte Blaͤtter von der Stechpalme pfluͤk¬ ken wollen, hinter denen Sie verſchwanden und von mir giengen. „ O koͤnnt' ich ihr — dacht 'ich „ — den herbſtlichen Weg mit jungen Blumen und „ Schmetterlingen beſtreuen, koͤnnt' ich ſie mit Bluͤ¬ „ then und Nachtigallen umzingeln und vor ihr die „ Berge und die Waͤlder mit dem Fruͤhling uͤberdek¬ „ ken: ach! wenn ſie dann vor Freude bebte und „ mich anſehen und mir danken muͤßte ... “ Aber dieſe Bluͤthen, dieſe Nachtigallen, dieſen Fruͤh¬ ling haben Sie mir gegeben, Sie haben uͤber mein Leben einen ewigen Mai geſandt und aus einem Menſchen-Auge Freudenthraͤnen gepreſſet — allein was vermag ich zu geben? — Ach Beata, was hab 'ich Ihnen zu geben fuͤr dieſes ganze Elyſium, womit Sie das ſchwarze Erdreich meines Lebens195 durchwinden und uͤberbluͤmen, und fuͤr Ihr gan¬ zes, ganzes Herz? — — Meines — — das hat¬ ten Sie ja ſchon ohnedas und weiter hab' ich nichts; fuͤr alle ſchoͤne Stunden, fuͤr alle Ihre Reize fuͤr alle Ihre Liebe, fuͤr alles was Sie geben, hab 'ich nichts als nur dieſes treue, gluͤckliche, warme Herz ....
Ja, ich habe nur dieſes; aber wenn der goͤtt¬ liche Funke der hoͤchſten Liebe im Menſchen-Herzen gluͤhen kann, ſo ruht er in meinem und brennt fuͤr die, die ich nur lieben aber nicht belohnen kann. — Du hoͤherer Funke wirſt in meinem Her¬ zen fuͤr ſie fortglimmen, wenn es Thraͤnen uͤber¬ ſchwemmen, oder Ungluͤck zuſammendruͤckt, oder der Tod einaͤſchert .... Beata! auf der Erde kann kein Menſch dem andern ſagen, wie er ihn liebe: die Freundſchaft und die Liebe gehen mit verſchloſſenen Lippen uͤber dieſe Kugel und der in¬ nere Menſch hat keine Zunge — ach wenn der Menſch drauſſen im ewigen Tempel, der ſich bis an die Unendlichkeit hinaufwoͤlbt, mitten im Krei¬ ſe von ſingenden Choͤren, heiligen Staͤtten, op¬ fernden Altaͤren, vor einem betaͤubt niederfallen und beten will: o ſo ſinkt er ja ſo gut wie ſeineN 2196Thraͤne zu Boden und redet nicht! — Aber die gute Seele weiß wer ſie liebt und ſchweigt, ſie uͤberſieht das ſtille Auge nicht, das ſie begleitet, ſie vergiſſet das Herz nicht, das ſtaͤrker klopft und doch nicht reden kann und den Seufzer nicht, der ſich verbergen will. — Aber, Beata, doch! — wenn einmal dieſes Auge und dieſes Herz ihr Schweigen geendigt, wenn ſie in der ſeligſten Stunde mit al¬ len Kraͤften der liebenden Natur zur geliebten See¬ le haben ſagen duͤrfen „ ich liebe dich: “ſo iſts hart und ſchwer, wieder ſtumm zu werden, es thut ſo wehe, das emporgehobne flammende draͤngende Herz wieder in eine enge kalte Bruſt zuruͤckzudruͤk¬ ken — dann will im Innerſten die ſtille Freude in ſtillen Kummer zerrinnen und ſchimmert traurig in dieſen, wie der Mond in den Regenbogen, den die Nacht aufrichtet .... Beata! ich kann keine Bitten haben und keine wagen; ich kann mir das Eden malen, das mir Beatens Blicke und Worte geben koͤnnen, aber ich darf es nicht begehren; ich muß ans Ufer des Silberſchattens, der uns ſchon im Traum und jetzt wie ein breiter Strom im Le¬ ben ſcheidet, mich mit allen meinen Wuͤnſchen hef¬ ten: aber, Theuere, wenn ichs nicht zuweilen197 hoͤre, wem das koſtbarſte Herz ſich geſchenket hat, wie ſoll ich den Muth behalten, es zu glauben? — Wenn ich dieſes holde Herz unter ſo viel guten und erhoͤhten Menſchen erblicke und dann zu mir ſagen muß, ach ihr alle verdient es nicht: ſo ſinkt ein freudiges Staunen auf mich, daß es meiner Seele ſich gegeben und ich glaub 'es kaum. Geliebte! tauſend waren Deiner wuͤrdiger; aber keiner waͤre durch Dich gluͤcklicher geworden als ich es bin! “
Das Schwerſte war jetzt den Brief unter an¬ dern Fluͤgeln als denen einer Brieftaube — Venus hieng, wie ich von guter Hand weiß, einen Poſt¬ zug Brieftauben ihrer Gondel vor — an Ort und Stelle zu ſchaffen. Zu ſo etwas ſah er keine Moͤg¬ lichkeit, weil er unter allen Moͤglichkeiten ſolche am ſchwerſten ſieht. — Meine Schweſter ſieht ſol¬ che am leichteſten.
— Es gab ſich alles in der Komoͤdienprobe.
Ordentliche Komoͤdien werden naͤmlich nicht wie ihre Schweſtern, die politiſchen, aufgefuͤhrt ohne probiert zu ſeyn. Ich will gern zwiſchen der Ko¬ moͤdienprobe und der Komoͤdie einen ſo ſchmalen198 papiernen Zwiſchenraum als moͤglich laſſen; aber der Leſer muß ſeines Orts auch behend zublaͤttern und nicht die Haͤnde in den Schooß legen, ſondern das Buch. Die Probe war im alten Schloſſe — Oefel machte ſeine Sache gut genug — Beata noch beſſer — und Guſtav am aller — ſchlechteſten. Denn die Geſichter des Fuͤrſten und der Ohnmaͤch¬ tigen ſetzten wie Salpeterſaͤure und Salz ſein Herz faſt zu einem Eiskegel um: vor manchen Menſchen iſt man ſchlaff und unfaͤhig, enthuſiaſtiſche Geſin¬ nungen zu haben. — Sonderbar! die ſeinigen, aber nicht Beatens ihre wurden von dieſer durchs Theater ſtreichenden Nordluft erkaͤltet. Es iſt aber gar nicht ſonderbar: denn die Liebe wirft den Juͤngling aus ſeinem Ich heraus unter andre Ichs, das Maͤdchen aber aus fremden in das ihrige hin¬ ein. Kaum oder wenig nahm Beata die Approchen des regierenden Akteurs oder agirenden Regenten wahr, — Oefel aber ſahs und dachte ſeinem Siege uͤber den hohen Nebenbuhler nach, — welcher ſich ihr in einer nicht ſehr großen Spirallinie naͤher dreh¬ te, wie er an Hofdamen gewohnt war, die nur in der Jugend ihre Tugend à la minutta weggeben, im Alter hingegen einen groͤßern Handel damit i[n]199groſſo treiben. Ich ſagte eben etwas von einer Spi¬ rallinie, weil ich einen Einfall im Kopfe hatte, der ſo heiſſet: daß Weiber von Welt und die Son¬ ne, die Planeten unter dem Schein, ſie in einem Kreiſe um ihre Stralen herum zu lenken, in der That in einer feinen Spirallinie zu ihrer bren¬ nenden Oberflaͤche heranreiſſen.
Mitten im Probe-Drama, gerade als Guſtav oder Henri der Marie das leere Papier als ein Di¬ plom hinreichte, das ihre Verwandſchaft fuͤr null erklaͤrte, fiel ihm das als Henri ein was einem an¬ dern laͤngſt als Guſtav eingefallen waͤre, daß auf dem leeren Papier etwas koͤnnte geſchrieben ſtehen und zwar das beſte Etwas, ſein Liebesbrief, den wir ſchon laͤngſt geleſen haben. Kurz er nahm ſich vor, ſeinen Brief in der Geſtalt jenes Diploms ihr im Drama zuzuſtecken, wenns nicht anders zu ma¬ chen waͤre. Sogar das Romantiſche ſeine theatra¬ liſche Rolle in ſeine wirkliche hinein zu ziehen und ſo vielen Zuſchauern eine andre Illuſion zu machen als eine poetiſche, hielt ihn nicht ab ſondern trieb ihn an. Ich will es nur geſtehen, lieber Guſtav — und fiele mein Geſtaͤndniß ſelber in deine Haͤnde, — auf deine himmliſche Beſcheidenheit war der Honig¬200 thau des Beifalls, den du an einem ſolchen Orte nicht einmal fuͤr Schmeichelei ſondern bloß fuͤr eine Facon zu reden berechtigt wareſt anzuſehen, zer¬ ſtoͤrend gefallen! Unter allen Dingen iſt menſchliche Beſcheidenheit am leichteſten todtgeraͤuchert oder todtgeſchwefelt und manches Lob iſt ſo ſchaͤdlich wie eine Verlaͤumdung; im Narrenhauſe ſehen wir, daß der Menſch andern aufs Wort glaubt, er ſei naͤrriſch*)Denn man kann einen durch die Verſicherung närriſch ma¬ chen, er ſei es; Krebillon jun. machten ſeine Freunde glücklich weiß, er habe keinen Witz mehr; andern Schrift¬ ſtellern machen ihre Freunde das Gegentheil mit eben ſo vielem Glücke weiß. , und in Pallaͤſten ſehen wir, daß er ihnen aufs Wort glaubt, er ſei weiſe. — Ueber¬ haupt war Guſtav — denn ein Mann iſt oft an ei¬ nem Abend beſtimmt, nicht nur lauter ſchlechte Spiele hinter einander zu machen, ſondern auch oft lauter unbedachtſame Streiche — am Komoͤdien¬ abend faſt zum letztern auserſehen.
.... Endlich iſt[Bouſens] Geburtsfeſt da .... Armer Guſtav! — Noch heute tragen deine Au¬ gen die Spuren davon!
201Das Feſt zerſpaͤllt ſich in drei Gaͤnge — Comé¬ die — Souper — und bal paré. Im Grunde iſt noch ein vierter Gang: ein Verbrechen.
Am Tage des Drama leerte ſich das neue Schloß in das fuͤrſtliche zu Oberſcheerau aus. Gu¬ ſtav dachte unterwegs (im Wagen Oefels) an ſei¬ nen Brief, den er uͤbergeben wollte; und an den guten Doktor Fenk ein wenig; aber die abgekuͤrz¬ ten Tage gaben ihm zu Beſuchen keine Muße. Sein Fehler war, daß die Gegenwart vor ihm allemal wie ein Waſſerfall alle ferne Laute uͤberrauſchte — er waͤre vielleicht nicht einmal zu mir gekommen, wenn mich mein beſchwerter juriſtiſcher Arbeitstiſch in die Stadt gelaſſen haͤtte.
Er ſah ſeine Marie — zehnmal hunderttauſend neue Reitze .... ich will aber uͤber mich herrſchen: ſo viel iſt pſychologiſch wahr, daß ein bekanntes Maͤdchen uns an einem fremden Orte auch fremd, aber nur deſto ſchoͤner wird. Dieſes hatte ſie mit der ſtralenden Reſidentin gemein, aber ein gewiſ¬ ſer Hauch von beſcheidner Furchtſamkeit verſchoͤner¬ te Beaten mit ſeinem Schleier allein. Warum war Guſtav dieſesmal von ihr verſchieden? Darum: die maͤnnliche Bloͤdigkeit liegt bloß in der Erziehung202 und in Verhaͤltniſſen; die weibliche tief in der Natur — der Mann hat innerlichen Muth und bloß oft aͤuſſerliche Unbehuͤlflichkeit; die Frau hat dieſe nicht und iſt dennoch ſcheu — jener druͤckt ſei¬ ne Ehrfurcht durch Hinzutreten, dieſe durch Zu¬ ruͤckweichen aus.
Die Ohnmaͤchtige heute ausgenommen! Ihr Winken und Blinken, ihr Liſpeln und Zappeln, ihr Witzeln und Kuͤtzeln, ihr Fuͤrchten und Wa¬ gen, ihr Kokettiren und Perſifliren — wie ſoll das der einbeinige Jean Paul biographiſch kopiren in ge¬ meiner ſchlechter Proſe? — Gleichwohl iſt gar an nichts anders zu denken und er muß. Wenn die bunten Koͤpfe der Weiber im großen Garten der Natur die kouleurten blauen, rothen Glas¬ kugeln auf lackirten Stativen vorzuſtellen haͤtten (welches unter hundert Maͤnnern nicht einer glaubt): ſo wuͤrd 'ich in meiner Schilderung ſo fortfahren: der Miniſterin ihrer war nicht uͤbel, ſondern bunt. Dieſer Kopf war ein kurzer prag¬ matiſcher Auszug aus zehn andern Koͤpfen, die naͤmlich Haar, Zaͤhne, Federn dazu zuſammen¬ ſchoſſen.
203Sie war eine Antike von großer Schoͤnheit, die aber nach den Verwuͤſtungen der Jahre und Men¬ ſchen nicht mehr unbeſchaͤdigt zu haben war: ſie muſte alſo durch geſchickte Bildhauer mit neuen Gliedern — z. B. Buſen, Zaͤhnen — ergaͤnzet werden.
Auf den Wangen war die Legierung mit Roth, die tiefere Nachbarſchaft wurde mit Weis*)Legierung des Goldes mit Kupfer heißet die mit Roth, die mit Silber heißt die mit Weiß. legiert.
Diejenigen Zaͤhne, die den Menſchen in die Reihe der graßfreſſenden Thiere ſetzen, die Schnei¬ dezaͤhne, waren um ſo mehr ſo weis wie Elfenbein, weil ſie ſelber welches waren und waren aus dem Munde eines graßfreſſenden Thieres — ich mag nun darunter einen Elephanten oder einen gemei¬ nen Mann verſtehen, der die Zaͤhne, die er als Ableger einem edlern Stamm einimpfet, ſelten in etwas anders als Vegetabilien ſetzet: ſo iſt doch ſo viel gewiß daß kein andrer Nachſatz dieſes Perio¬ dens herpaſſet als der; ſie hatte noch einmal ſo viel Zaͤhne als andre Chriſtinnen, und zwei Gold¬ faͤden dazu, weil der Dentiſt die einen allemal im204 Hauſe und unter der Buͤrſte hatte, waͤhrend die andern die Dental-Buchſtaben ausſprachen.
Da man nach den neueſten Lehrbuͤchern die Trigonometrie und die Buſen bloß in ebene und ſphaͤriſche eintheilen kann: und da ſie ganz die ſcheinbare Wahl vor ſich hatte: ſo zog ihr me߬ kuͤnſtlicher Geiſt diejenigen Groͤßen, die dem Wei¬ ſen die meiſte Anſtrengung und das meiſte Vergnuͤ¬ gen geben, vor — die ſphaͤriſchen.
Der Anzug ſelber ſuchte, von den Schuhro¬ ſetten bis zu den Hutroſetten, ſeinen Werth in der Form weit weniger als in der Materie, und konnte mithin mit dem Auge weniger als auf Ju¬ velier-Wagen geſchaͤtzet werden, nach Schoͤnheitslinien als nach Karaths — es blieb alſo zwiſchen ihr und ihrer geſetzgebenden Puppe immer ein Unterſchied: uͤbrigens muſte ſie ſich nach dieſer ſo gut wie jede andre tragen. Ich will nur ein Wort zu ſeiner Zeit uͤber die Puppen ſagen.
Dieſe Hoͤlzer haben bekanntlich die geſetzgeben¬ de Macht uͤber den ſchoͤnern Theil der weiblichen205 Welt in Haͤnden; denn ſie ſind die Legaten und Vicekoͤniginnen, welche aus Paris von der im Putz regierenden Linie abgeſchickt werden, damit ſie die weiblichen deutſchen Kreiſe regieren — und dieſe hoͤlzernen Plenipotentiare ſenden wieder ihre Koͤpfe (Haubenkoͤpfe) als miſſi regii weiter herunter, da¬ mit dieſe die gemeinern Honoratiorinnen beherr¬ ſchen. Koͤnnen dieſe regierenden Haͤupter von Holz nicht ſelber kommen: ſo ſchicken ſie — wie lebende Fuͤrſten im geheimen Rathe ihre Stelle durch ihr Portrait verſehen laſſen — ihre Geſetze und ih¬ re Bildniſſe in Schmaußens corpus aller Reichs¬ abſchiede der Mode, welches corpus wir alle unter dem Namen Modejournal in Haͤnden haben. Bei ſolchen Umſtaͤnden — da ein Holz dem andern in die Haͤnde arbeitet, aber uneigennuͤtziger als ganze Kollegien, da ferner jaͤhrlich neue wie die Prokonſuls gewaͤhlet werden — wunder’ ich mich nicht, daß es mit dem Regimentsweſen an den Toiletten gut beſtellet iſt, daß das ganze weibliche gemeine Weſen, das Maͤnner nicht beherrſchen koͤnnen, von den in Basgeigenfutteralen geſchick¬ ten Wahlregentinnen, die in dieſer Ariſtokratie von Petersburg bis nach Liſſabon ſtehen und lenken,206 vortreflich in Ordnung und unter Geſetzen erhalten wird. — —
Ich bin der Mann nicht, dem man es erſt zu ſagen braucht, daß die Puppen auch die hoͤlzerne uͤberkleideten Statuen ſind, die man verdienten Frauen (in Ruͤckſicht des Anzugs) ſetzet — ich bin vielmehr uͤberzeugt, daß dieſe oͤffentlichen Denk¬ maͤler, die man dem ankleidenden Verdienſte er¬ richtet, ſchon recht viele zur Nacheiferung ange¬ friſchet haben und hoffentlich noch mehrere anfri¬ ſchen werden, da ein großer Mann ſelten ſo viel Gutes wirkt als ſeine Statue; aber ein Haupt¬ punkt ohne den alles hinkt, iſt offenbar der, daß ſie zu — ſehen ſeyn muͤſſen. Ohne den geb ich keinen Deut fuͤr alles. Was Sokrates an der Phi¬ loſophie that, moͤcht 'ich an den beſten Puppen thun und ſie vom Himmel der Großen auf die Er¬ de des Poͤbels ziehen. Ich meine, daß, wenn man die Marienbilder oder auch ſelber Apoſtel und Heilige, die man in katholiſchen Kirchen bisher ohne den geringſten Nutzen und Geſchmack aus und anzog, vernuͤnftiger und zweckmaͤßiger ankleidete, naͤmlich ſo wie die franzoͤſiſchen Puppen — wenn die Kirche ſich allemal jedes Monat des Modejour¬207 nals kommen ließe und nach deſſen kouleurten Vorbildern die Marien und Apoſtel (als Herrn) umkleidete und um die Altaͤre ſtellte: ſo wuͤrden dieſe Leute mit mehr Luſt nachgeahmet und verehret werden und man wuͤſte doch weswegen man in die Kirche gienge und was ſie gerade in Paris oder Verſailles anhaben, — man wuͤrde die Moden zu rechter Zeit erfahren und ſelbſt der Poͤ¬ bel wuͤrde etwas Vernuͤnftigeres umthun, die Apo¬ ſtel wuͤrden die Fluͤgelmaͤnner des Anzugs und die Marie die wahre Himmels-Koͤnigin der Weiber werden. So muͤſſen kirchliche Vorurtheile zu Staats-Vortheilen genuͤtzet werden; ſo wendete der Dominikaner-Moͤnch Rocco in Neapel (nach Muͤnter) die Narrheit, am Altar der Maria auf der Straße Lampen zu brennen, zur Vermeh¬ rung dieſer Gaſſen-Altaͤre und zur — Straßen-Er¬ leuchtung an.
Ende des Worts uͤber die Puppen.
Ich bin dem Leſer noch die Urſache ſchuldig aus der die Miniſterin ſich zur Jeannen-Rolle draͤngte — es war weil ihre Rolle ihr einen kuͤr¬ zern Rock erlaubte, — oder mit andern Worten,208 weil ſie alsdann ihre lilliputiſchen Grazien-Fuͤße leichter ſpielen laſſen konnte. An ihrer Schoͤnheit waren ſie das einzige Unſterbliche, wie am Achil¬ les das einzige Sterbliche; in der That haͤtten ſie, wie des Dammhirſchgen ſeine, zu Tabacksſtopfern getaugt.
Wie viel beſſer nahm ſich Oefel aus! der iſt ein Narr gerade zu, aber in gehoͤrigem Maße. Die Reſidentin uͤberholte ſie in jeder Biegung des Arms, den ein Mahler, und in jeder Hebung des Fußes, den eine Goͤttin zu bewegen ſchien: ſo¬ gar im Auflegen des Roths, woran die Bouſe ih¬ re Wangen bei einer Fuͤrſtin angewoͤhnen muſte, weil dieſe von allen ihren Hofdamen dieſe fluͤchtige Karnation zu fodern pflegte — ihr Roth beſtreifte ſie wie der Wiederſchein eines rothen Sonnen¬ ſchirms nur mit einer leiſen Mitteltinte ..... In Ruͤckſicht der Schoͤnheit unterſchied ſich der ihrige von der miniſterialiſchen wie die Tugend von der Heuchelei ...
Das Drama wurde von den fuͤnf Akteurs nicht im Opernhaus, ſondern in einem Saale des Schloſ¬ ſes, der die Kroͤnung der Reſidentin beguͤnſtigte, in die Welt geboren. Ich war nicht dabei; aberman209man hinterbrachte mir alles: die gute Marie hat¬ te zu viele Empfindung, um ſie zu zeigen; ſie fuͤhlte, daß ſie die Wiederholung ihres Schickſals dramatiſiere und ſie beſaß zu viele von den guten Grundzuͤgen des weiblichen Karakters, um ſie vor ſo vielen Augen zu entbloͤßen. Ihre beſte Rolle ſpielte ſie alſo innerlich. Henri ſpielte außer der innerlichen auch die aͤußerliche gut, aus der naͤm¬ lichen Urſache. Außer der Muſik iſolierte und hob ihn gerade die Menge, die ihn umſaß, aus der Menge; und das Feierliche gab ſeinen innern Wel¬ len die Staͤrke und Hoͤhe, um die aͤußern zu uͤber¬ waͤltigen. Der Brief, den er uͤberreichen wollte, verwirrte ſeine Rolle mit ſeiner Geſchichte, die ich ſchreibe; und das falſche Lob, das die Miniſterin ſeiner neulichen Proberolle aus eben der unuͤber¬ zeugten Affektation gegeben hatte, woraus ſie die ihrige uͤberſpannte, half ihm wahres erndten. — Der bloͤdeſte Menſch iſt wenn viel Phantaſie unter ſeinen Thaten glimmt, der Herzhafteſte wenn ſie emporlodert. —
Es waͤre laͤcherlich, wenn mein Lob von der Waͤrme ſeines Spiels bis zur Feinheit deſſelben gienge; aber die Zuſchauer vergaben ihm gern,2. Theil. D210weil die Armuth an letzterer*)Nämlich bloß an konventioneller; denn es giebt eine ge¬ wiſſe beſſere, von der nicht allemal jene, aber wohl alle¬ mal gebildete Güte des Herzens und Kopfes begleitet wird. ſich mit dem Reich¬ thum an erſterer verband, um ſie in die Illuſion zu ziehen, er ſei von — Lande und blos Henri. —
Dieſes Feuer gehoͤrte dazu, um ihr an der Stelle, wo er ihr die Bruͤderſchaft aufkuͤndigt, den wahren Liebesbrief zu geben — ſie faltete ihn zufolge ihrer Rolle auf — unendlich ſchoͤn hatt 'er die ſein ganzes Leben umſchlingende Worte geſagt: „ o doch, ich bin ja dein Bruder nicht “— ſie blick¬ te auf ſeinen Namen darin — ſie errieth es ſchon halb aus der Art der Uebergabe (denn ſicher man¬ quierte noch kein Maͤdgen einer maͤnnlichen Liſt, die ſie zu vollenden hatte) — aber es war ihr un¬ moͤglich, in eine verſtellte Ohnmacht zu fallen — denn eine wahre befiel ſie — die Ohnmacht uͤber¬ ſchritt die Rolle ein wenig — Guſtav hielt alles fuͤr Spaß, die Miniſterin auch und beneidete ihr die Gabe der Taͤuſchung — Henri weckte ſie blos mit Mitteln, die ihm ſein Rollen-Papier vor¬ ſchrieb, wieder auf und ſie ſpielte in einer Ver¬ wirrung, die der Kampf aller Empfindungen, der211 Liebe, der Beſtuͤrzung und der Anſtrengung ge¬ bar, und in einer andern als theatraliſchen Ver¬ ſchoͤnerung bis zu Ende Henri's Geliebte, um nicht Guſtavs ſeine zu ſpielen. Nach dem Spiele mußte ſie allen uͤbrigen Parthien des heutigen Abends entſagen und in einem Zimmer, das ihr der Fuͤrſt ſo wie der Doktor mit vielem empreſſement auf¬ drang, Ruhe fuͤr ihre oſzillierenden Nerven und im Briefe Unruhe fuͤr ihren ſchlagenden Buſen ſu¬ chen. Ich hebe Theure, den Vorhang immer hoͤ¬ her auf, der damals noch das verhuͤlte, was jezt deinen Nerven und deiner Bruſt die Ruhe nimmt!
Guſtav ſah nichts; an der Tafel, woran er ſie vermiſte, hatt 'er nicht den Muth ſeine frem¬ den Nachbarinnen um ſie zu fragen. Andre Din¬ ge fragt' er kuͤhner heute; nicht bloß der heutige Beifall war eine Eiſen - und Stahlkur fuͤr ſeinen Muth geweſen, ſondern auch der Wein, den er nicht trank ſondern aß an den naͤrriſchen Olla Po¬ trida's der Großen. Dieſes gegeſſene Getraͤnk feuer¬ te ihn an, die Bonmots wirklich zu offenbaren, die er ſich ſonſt nur innerlich ſagte. Und hier be¬ zeug 'ich oͤffentlich, daß es mich noch bis auf dieſe Minute kraͤnkt, daß ich ſonſt bei meinem EintrittO 2212in die große Welt ein aͤhnlicher Narr war und Dinge dachte, die ich haͤtte ſagen ſollen — beſon¬ ders bereu ich das, daß ich zu einer Tranchée-Ma¬ jorin, die ihr kleines Maͤdgen an der Hand und eine Roſe, aus deren Mitte eine kleine geſproſſet war am Buſen hatte, nicht[] geſagt habe: Vous voila und daß ich nicht auf die Roſe gewieſen, ob ich gleich das ganze Bonmot ſchon fertig gegoſ¬ ſen im Kopfe liegen hatte. Ich fuͤhrte nachher die Saillie lange im Kopfe herum und paßte auf, brenn¬ te ſie aber zuletzt noch auf eine recht dumme Wei¬ ſe loß.
Da eine Winterlandſchaft mit einem kuͤnſtli¬ chen Reife, der in der Waͤrme des Zimmers zer¬ floß und einen belaubten Fruͤhling aufdeckte, un¬ ter den Schaugerichten, den optiſchen Prunk-Ge¬ richten der Großen, mit ſtand: ſo hatte Guſtav einen huͤbſchen Einfall daruͤber, den man mir nicht mehr ſagen konnte. Gleichwohl ob er gleich[unter] dem ſchoͤnſten Deckenſtuͤcke und auf dem nied¬ lichſten Stuhle aß: ſo nahm er doch, als ein blo¬ ßer Hof-Incipient, an allem Antheil was er ſag¬ te und an jedem, mit dem er ſprach; dir war noch, du Seeliger, keine Wahrheit und kein213 Menſch gleichguͤltig. Aber er ſteht dir noch bevor, jener herbe Uebergang von Haß und Liebe zur Gleichguͤltigkeit, den alle auszuſtehen haben, die mit vielen Menſchen oder Saͤtzen fuͤr die ſie kalt bleiben muͤſſen, ſich abgeben!
Die Reſidentin zog ſeine ſcheuen Talente heu¬ te mehr als ſonſt ans Licht und beſchoͤnigte den Antheil, den ſie an ihm nahm, mit ſeinen thea¬ traliſchen Verdienſten um ſie. — Endlich fieng das dritte Schauſpiel an, worin mehrere als in den zwei andern glaͤnzen konnten; denn es wurde nur mit den Fuͤßen agiert — der Ball kam. Tanzen iſt der weiblichen Welt das, was das Spielen der Großen iſt — eine ſchoͤne Vakanzzeit der Zungen, die oft unbeholfen oft gefaͤhrlich ſind. Fuͤr einen Kopf wie den Guſtaviſchen, der ſo viele Beſtuͤr¬ mungen ſeiner Sinne heute zum erſtenmale erfuhr war ein Tanzſaal eine Baumanns-Hoͤhle, ein neues Jeruſalem. — In der That ein Tanzſaal iſt etwas; ſehet in den wo Guſtav ſpringt: jedes Saiten - und Blaßinſtrument wird zum Hebebaum, der die Herzen aus dem kargen mißtrauiſchen All¬ tagsleben aufhebt — — die Taͤnze mengen die Menſchen wie Karten in - und auseinander und214 die toͤnende Athmoſphaͤre um ſie faſſet die trunkne Maſſe in Eines ein — ſo viele Menſchen und zu einem ſo freudigen Zwecke verknuͤpft, durch daͤm¬ mernde umringende Beleuchtung geblendet, durch ihre klopfenden Herzen begeiſtert, muͤſſen den Freu¬ denbecher wenigſtens kredenzen, den Guſtav aus¬ trank: denn ihn, dem jede Dame eine Dogareſ¬ ſa*)Frau des Doge. iſt, begeiſterte ihre Beruͤhrung und der Tu¬ mult von außen weckte ſeinen ganzen innern ſo auf, daß die Muſik, wie zuruͤckprallend, ihren aͤußern Geburtsort verließ und bloß in ſeinem In¬ nern unter und neben ſeinen Gedanken zu ent¬ ſpringen und heraus zu toͤnen ſchien .... Wahr¬ haftig wenn man ſeine Ideen um einen lodernden Kronleuchter herumtraͤgt, ſo werfen ſie ein ganz anderes Licht zuruͤck als wenn man damit vor einer oͤkonomiſchen Lampe hockt — in phantaſiereichen Menſchen liegen wie in heißen Laͤndern oder auf hohen Bergen, alle Extreme enger an einander: bei ihm wollte alle Augenblick die Entzuͤckung zur Wehmuth werden und die Freude zur Liebe und alle die Empfindungen, die ihm die Taͤnzerinnen ein¬215 floͤſten, wollt 'er ſeiner Einzigen bringen, die ein¬ ſam war. Gleichwohl war ihm als wuͤrde ſie durch dieſe alle nicht ſo wohl als durch die Reſidentin er¬ ſetzt. Sogar durch das Drama, das mit ihr ſich ſchloß und in dem er fuͤr ihre Kroͤnung geſpielet hatte, wurde ſie ihm lieber; ja ihr heutiger Ge¬ burtstag ſelber war einer ihrer Reize in ſeinen Au¬ gen. Anders oder vernuͤnftiger empfindet der Menſch nie. Kurz die Reſidentin gewann bei al¬ lem, weſſen ihn heute das Wegſeyn ſeiner Beata beraubte. Er hatte heute zum erſtenmale mehr von der Reſidentin, die er außerordentlich achtete, angefaſſet als einen Handſchuh — mehr, naͤmlich ihre Arm - und Ruͤckenſchienen, mit andern Wor¬ ten ihr Kleid daruͤber: an Arm und Ruͤcken, aber nicht an Haͤnden, iſt Bekleidung ſo viel wie keine. Guſtav! philoſophiere und ſchlafe lieber ...
Aus iſt der bal paré — aber der Teufel geht erſt an. Oefels Wagen fuhr hinter dem Bouſi¬ ſchen; am letztern entzuͤndet ſich eine verſaͤumte Radaxe unter der unnuͤtzen Eiligkeit — — freilich wars Zufall, aber gewiſſe Menſchen kennen keinen ſchlimmen und ihre Abſichten legen ſich um jeden an — Oefel muſt 'ihr ſeinen anbieten; die gute216 Beata war in ihrem Krankenzimmer mit einer kleinen weiblichen Dienerſchaft gelaſſen; er nahm ein Pferd von ihrem Wagen; ihr ließ er (ich weiß nicht, ob aus Galanterie gegen ihr Geſchlecht oder aus Scharfſinn und Freundſchaft fuͤr ſeines und fuͤr ſei¬ nen Roman) meinen und ihren Helden. Ich wollt' es vor einem akademiſchen Senat ausfuͤhren, daß es fuͤr einen der erſt ein Engel werden will, nichts fatalers giebt als mit einer, die er ſchon fuͤr ei¬ nen haͤlt, Nachts aus einem Tanzſalon nach Hauſe zu fahren — dennoch wurde meinem Hel¬ den kein Haar gekruͤmmt und er kruͤmmte auch keines.
Aber verliebter wurd 'er ohne zu wiſſen in wen.
Beata hatte keine eben ſo gefaͤhrliche Mitternacht oder Nachmitternacht; aber ich will erſt ſeine abfertigen. Er kam mit der Reſidentin in ihrem — Zimmer an. Er konnte und wollte von ſeinen heutigen Scenen gar nicht loß. Dieſes Zimmer ſtellte ihm alle die ver¬ gangnen dar und in den Saiten des Klaviers ver¬ barg ſich eine ferne geliebte Stimme und hinter der Folie des Spiegels eine ferne geliebte Geſtalt. Sehnſucht reihete ſich wie eine dunkle Blume un¬ ter das bunte Freuden-Bouquet: die Reſidentin217 gewann auch bei dieſer dunkeln Blume. Sie war keine von den Koketten, die die Sinne fruͤher zu bewegen ſuchen als das Herz, ſie fiel erſt in dieſes mit dem ganzen Heer ihrer Reize ein und fuͤhrte nachher aus dieſem, gleichſam in Feindes Land, den Krieg gegen jene. Sie ſelber war nicht an¬ ders zu erobern als ſie bekriegte. Wenn die Wei¬ ber der hoͤhern Klaſſe wie die Epigrammen in ſol¬ che, die Witz, und in andre, die Empfindung haben einzutheilen ſind: ſo glich ſie mehr dem griechiſchen als dem galliſchen Epigramm, wiewohl die griechiſche Aehnlichkeit taͤglich kleiner wurde. Die Maienluft ihres fruͤhern Lebens hatte einmal eine weiße Bluͤthe edler Liebe an ihr Herz geweht, wie oft ein Bluͤthenblatt zwiſchen die gebaizten Federn oder Brillanten-Blumen des Damenhuts herunter zittert — aber ihr Stand formte bald ih¬ ren Buſen zu einem Pot-Pourri um, auf dem ge¬ mahlte Blumen der Liebe und in dem ein faulen¬ der Bluͤthen-Schober iſt. Alle ihre Verirrungen blieben jedoch in den engern und ſchoͤnern Graͤn¬ zen, an denen eine unſichtbare Hand eines un¬ ausloͤſchlichen Gefuͤhles ſie anhielt; die Mini¬ ſterin hatte dieſes Gefuͤhl nie gehabt und ihre Her¬218 zens-Schreibtafel wurde immer ſchmutziger, je mehr ſie hinein ſchrieb und heraus wiſchte. Dieſe konnte durchaus keinen edeln Menſchen hinterge¬ hen; jene konnt 'es.
Jetzt nach dieſer Digreſſion kann der Leſer nicht mehr irre werden, wenn ihr Betragen gegen Gu¬ ſtav weder aufrichtig noch verſtellt ſondern beides iſt. Sie zeigte ihm das Nachtſtuͤck, das der ruſſi¬ ſche Fuͤrſt dagelaſſen und[das] ſie der richtigern Be¬ leuchtung wegen in ihrem Kabinette aufgehan¬ gen hatte. Es ſtellte bloß eine Nacht, einen auf¬ gehenden Mond, eine Indianerin, die ihm auf einem Berge entgegenbetet, und einen Juͤngling vor, der auch Gebet und Arme an den Mond, die Augen aber auf die geliebte Beterin an ſeiner Sei¬ te richtete: im Hintergrund beleuchtete noch ein Johanniswuͤrmchen eine mondloſe Stelle. Sie blie¬ ben im Kabinet, die Reſidentin verlor ſich in die gemalte Nacht, Guſtav ſprach daruͤber: endlich erwachte ſie ſchnell aus ihrem Schauen und Schwei¬ gen mit den ſchlaftrunknen Worten: „ meine Ge¬ burtstage machen mich allemal betruͤbt. “ Sie zeich¬ nete ihm zum Beweiſe faſt alle dunklern Parthien ihrer Lebensgeſchichte vor; das Trauer-Gemaͤlde219 nahm ſeine Farben von ihrem Auge und ihrer Lip¬ pe, und ſeine Seele von ihrem Ton und ſie en¬ digte damit: „ hier leidet jeder allein. “ Er er¬ griff im ſympathetiſchen Enthuſiaſmus ihre Hand und wiederlegte ſie vielleicht durch einen leiſen Druck.
Sie ließ ihm die Hand mit der unachtſamſten Miene; ſchien aber bald eine Laute neben ihnen, die ſie ergriff, zum Vorwand zu nehmen, um die ſchoͤne Hand zuruͤck zu fuͤhren. „ Ich war nie un¬ gluͤcklich, fuhr ſie bewegt fort, ſo lange mein Bruder noch lebte. “ Sie nahm nun das Bild deſ¬ ſelben, das ſie auf ihrem ſchweſterlichen Buſen trug, nach einer leichten aber nothwendigen Ent¬ huͤllung hervor und theilte es karg ſeinen Augen mit, und freigebig den ihrigen. Ob Guſtav bei der Enthuͤllug ſo verſchiedner Geheimniſſe bloß auf das gemalte Bruſtbild hingeſehen — das beur¬ theilt mein Konrektor und ſein Fuchspelzrock am vernuͤnftigſten, welcher glaubt, es gebe keine ſchoͤ¬ nere Ruͤnde als der Perioden ihre, und keine neuern Eva's Aepfel als die im Alten Bunde. Mein Pelz-Konrektor hat gut doziren; aber Gu¬ ſtav, der der trauernden Reſidentin gegenuͤberſitzt,220 die ſonſt bloß die Form, nie die Farbe jener um¬ laubten verbotnen Frucht errathen ließ, hat ſchwer lernen.
Die wenigſten waͤren, wie ich und der Kon¬ rektor, im Stande geweſen, ihr das Bild eigen¬ haͤndig wieder einzuhaͤngen.
„ Dieſes Kabinett, ſagte ſie, lieb 'ich, wenn ich traurig bin. Hier uͤberraſchte mich mein Al¬ ban, (Name des Bruders) da er aus London kam — hier ſchrieb er ſeine Briefe — hier wollt' er ſterben, aber der Arzt ließ ihn nicht aus ſeinem Zimmer.” Sie ließ unbewußt einen in die Luft ver¬ ſinkenden Akkord aus ihrer Laute ſchluͤpfen. Sie blickte Guſtav traͤumeriſch an, ihr Auge umzog ſich mit immer feuchteren Schimmer: „ Ihre Schweſter iſt noch gluͤcklich!” ſagte ſie mit einem Trauerton, der allmaͤchtig iſt, wenn man ihn das erſtemal von ſchoͤnen und ſonſt lachenden Lippen hoͤrt. „ Ach ich wollte, (ſagte er mit ſympathetiſchem Kum¬ mer) ich haͤtte eine Schweſter” — ſie ſah ihn mit einer kleinen forſchenden Verwunderung an und ſagte: „ auf dem Theater machten Sie heute gera¬ de die umgekehrte Rolle gegen die naͤmliche Perſon.” Dort naͤmlich gaͤb 'er ſich faͤlſchlich fuͤr einen Bru¬221 der der Beata, hier faͤlſchlich fuͤr keinen aus, oder vielmehr, hier kuͤndige er ihr ſeine Liebe auf. Sein fragendes Erſtaunen hieng an ihrem Munde und ſchwebte aͤngſtlich zwiſchen ſeiner Zunge und ſeinem Ohre. Sie fuhr gleichguͤltig fort: „ Freilich ſagt man, daß leibliche Bruͤder und Schweſtern ſich ſel¬ ten lieben; aber ich bin die erſte Ausnahme; Sie werden die zweite ſein. “ Sein Erſtaunen wurde Erſtarren ....
Es wuͤrde dem Publikum auch ſo gehen, wenn ich nicht einen Abſatz machte und es belehrte, daß die Reſidentin gar wohl die Luͤge geglaubt haben kann, (im Grunde muß), die ſie ihm ſagte — Leute ihres Standes, denen das Furioſo der Luſt¬ barkeiten-Konzerts immer in die Ohren reiſſet, hoͤ¬ ren unebenbuͤrtige Neuigkeiten nur mit tau¬ ben oder gar halben — ſie kann mithin noch leich¬ ter als der Leſer (und wer ſteht mir fuͤr den?) den verlornen Sohn der Roͤperin und des Falken¬ bergs mit dem gegenwaͤrtigen der Rittmeiſterin und des Falkenbergs vermenget haben — ihr bisheriges Betragen iſt ſo wenig wider meine Vermuthung als das bisherige des angeblichen Geſchwiſterpaars gegen ihre war: gleichwohl kann ich mich verrech¬ nen.
222Dieſes Verrechnen wird aber durch ihr weite¬ res Betragen ganz unwahrſcheinlich. Seine Verle¬ genheit gebar ihre, ſie bedauerte ihre Voreiligkeit, ein Geſchwiſterpaar fuͤr gluͤcklich und liebend geprie¬ ſen zu haben, das ſich meide und ungern von ſei¬ nen Verhaͤltniſſen ſpreche; ſie verbarg mit ihren Mienen ihre Abſicht nicht, das Geſpraͤch abzulen¬ ken, ſondern zeigte ſie mit Fleiß; aber zu ihrem Kummer, keinen Bruder zu haben, geſellete ſich der Kummer, daß Guſtav zwar eine Schweſter ha¬ be aber nicht liebe und ſie druͤckte ihre Sympathie, mit dem aͤhnlichen Ungluͤck, auf ihrer Laute im¬ mer ſchoͤner und leiſer aus. Guſtavs getaͤuſchte Seele, auf der noch das heutige Feſt mit ſeinem Glanze ſtand, uͤberzogen die heftigſten und unaͤhn¬ lichſten Wogen — Mißtrauen kam nie in ſein Herz, ob er gleich in ſeinem Kopfe genug davon zu ha¬ ben meinte — jetzt hatt 'er die Wahl zwiſchen dem Throne und dem Grabe ſeiner heutigen Freude.
Denn ſtarke Seelen kennen zwiſchen Himmel und Hoͤlle nichts — kein Fegefeuer keinen lim¬ bus infantum.
Die Reſidentin entſchied ſein Schwanken. Sie nahm ſein Mienen-Chaos (— oder ſchiens, weil223 ich nicht das Herz habe, der Schoͤppenſtuhl und die letzte Inſtanz ſo vieler tauſend Leſer zu ſeyn —) fuͤr die doppelte Verlegenheit und Betruͤbniß uͤber die Kaͤlte, womit ſeine (angebliche) Schweſter ihn behandle, und uͤber ſeine Familiengeſchichte — ſie hatte bisher in ſeinen Augen ein Sehnen gefunden, das ſchoͤnere Reize ſuchte als die uͤbrigen Hof-Au¬ gen — ſie hatte den Morgen, wo er Amandus Grab erbat, und die Augen voll Liebe, die er vor ihr trocknete, in ihrem gefuͤhlvollen Herzen aufbe¬ wahrt — folglich goß ſie den zaͤrtlichſten Blick auf ſeinen heiſſen — zog die zaͤrtlichſte Stimme ihrer ſym¬ pathetiſchen Bruſt aus ihren Lauten-Saiten — woll¬ te zuhuͤllen ihr pochendes Herz — und konnte nicht einmal ſein Schlagen verſtecken — und fiel, als er die Bewegung des heftigſten Affektes machte, ver¬ loren, hingeriſſen, mit zitterndem Auge, mit uͤberwaͤltigtem Herzen, mit irrender Seele und mit dem einzigen großen langſamen tief heraufgeſeufze¬ ten Laute: „ Bruder!!” an — ihn.
Er an ſie! ... Sie fuͤhlte das erſtemal in ih¬ rem Hofleben eine ſolche Umarmung; er das er¬ ſtemal eine empfangne: denn an Beatens rei¬ nem Herzen hatt 'er ihre Arme nie gefuͤhlt. O Bou¬224 ſe! haͤtteſt du ihr doch geglichen und waͤreſt eine Schweſter geblieben! Aber — du gabeſt mehr als du bekameſt und reizeteſt zum Nehmen — du riſſeſt ihn und dich in einen verfinſternſten Em¬ pfindungs-Orkan — an deinem Buſen verlor er dein Geſicht — dein Herz — ſein eignes — und als alle Sinne mit ihren erſten Kraͤften ſtuͤrmten, alles, alles .....
Schutzgeiſt meines Guſtavs! Du kannſt ihn nicht mehr retten; aber heil 'ihn, wenn er ver¬ loren iſt, wenn er verloren hat, alles, ſeine Tu¬ gend und ſeine Beata! Ziehe wie ich den trauri¬ gen Vorhang um ſeinen Fall und ſage ſogar zur Seele, die ſo gut iſt wie ſeine: „ ſei beſſer! “
Wir wollen zur Seele gehen, zu der ers ſagt, zu Beatens ihrer. Sie huͤtete ein Zimmer des fuͤrſt¬ lichen Schloſſes und alle Luſtparthien, alle Plats und alle Touren erſetzte ihr ein einziger Brief. Im ganzen Pallaſt war heute die kraͤnklichſte Seele die gluͤcklichſte: denn ein Brief, den ſie einſam leſen, kuͤſſen, ohne innere und aͤuſſere Stuͤrme[ausgenieſ¬ ſen] konnte, war ihrem zarten Auge lieber als die Gegenwart des Gegenſtandes, deſſen Gluͤhfeuer erſt durch eine Entfernung zur wehenden Waͤrme fiel:ſeine225ſeine Gegenwart uͤberhaͤufte ſie mit Genuß zu ſehr und ſie umarmte da jeden Augenblick den Genius ihrer Tugend, wenn ſie glaubte, bloß ihren Freund zu umfaſſen. — In dieſer Fruͤhlings-Entzuͤckung, als ſie in der einen Hand den Brief und in der an¬ dern den Genius der Tugend hatte, ſtoͤrte ſie der Scheerauiſche — Fuͤrſt. So ſchiebt ſich auf den Bauch eine Kroͤte in ein Blumenbeet.
Einer Frau wird ihr Betragen in ſolchem Fall nur dann ſchwer, wenn ſie noch unentſchloſſen zwi¬ ſchen Gleichguͤltigkeit und Liebe ſchwankt; oder auch wenn ſie trotz aller Kaͤlte aus Eitelkeit doch ge¬ rade ſo viel bewilligen moͤchte, daß die Tugend nichts verloͤre und die Liebe nichts gewoͤnne — hingegen im Fall der vollendeten tugendhaften Entſchloſſenheit kann ſie ſich frei der innern Tugend uͤberlaſſen, die fuͤr ſie kaͤmpfet und ſie braucht kaum uͤber[Zunge] und Mienen zu wachen, weil dieſe ſchon verdaͤchtig ſind wenn ſie eine Wache begehren. — Die Art wie Beata den Brief einſteckte, war der einzige kleine Halbton in dieſer vollen Harmonie einer kaͤm¬ pfenden Tugend. Der Scheerauiſche Thron-Inſaß entſchuldigte ſeine Erſcheinung mit ſeiner Sorgfalt fuͤr ihre Geſundheit. Er ſetzte ſein folgendes Ge¬2. Theil. P226ſpraͤch aus der franzoͤſiſchen Sprache — der beſten, wenn man mit Weibern und mit Witzigen ſprechen will — und aus jenen Wendungen zuſammen, mit denen man alles ſagen kann was man will ohne ſich und den andern zu geniren, die alles nur halb und von dieſer Haͤlfte wieder ein Viertel im Scher¬ ze und alles mehr verbindlich als ſchmeichelnd und mehr kuͤhn als aufrichtig vortragen.
„ So hab 'ich Sie — ſagt' er mit einer ver¬ bindlichen Verwunderung — heute den ganzen Abend in meinem Kopfe abgemalt geſehen: meine Phantaſie hat Ihnen nichts genommen, auſſer die Gegenwart. — — — Wenn das Schickſal mit ſich reden lieſſe: ſo haͤtt 'ich auf dem ganzen Ball mit ihm gezankt, daß es gerade der Perſon, die uns heute ſo viel Vergnuͤgen gab, das ihrige nahm. “
„ O — ſagte ſie — das gute Schickſal gab mir heute mehr Vergnuͤgen als ich geben konnte. “ Ob¬ gleich der Fuͤrſt unter die Perſonen gehoͤrt, mit denen man uͤber nichts ſprechen mag: ſo ſagte ſie dieſes doch mit Empfindung, die aber nichts als ein Dank ans Schickſal fuͤr die vorherige frohe Le¬ ſe-Stunde war.
227„ Sie ſind, (ſagt 'er mit einer feinen Miene, die einen andern Sinn in Beatens Rede legen ſollte) ein wenig Egoiſtin. — Das iſt Ihr Talent nicht — Ihres muß ſeyn, nicht allein zu ſeyn. Sie ver¬ bargen bisher Ihr Geſicht wie Ihr Herz; glauben Sie daß an meinem Hofe niemand werth iſt, bei¬ de zu bewundern und zu ſehen? “— Fuͤr Beata, die glaubte ſie haͤtte nicht noͤthig beſcheiden zu ſeyn ſondern demuͤthig, war ein ſolches Lob ſo groß, daß ſie gar nicht daran dachte, es zu widerlegen. Sein Blick ſah nach einer Antwort; aber ſie gab ihm uͤberhaupt ſo ſelten als moͤglich eine, weil je¬ der Schritt die alte Schlinge mit in die neue traͤgt. Er hatte ihre Hand anfangs mit der Miene ge¬ ſucht, womit man ſie einem Kranken nimmt: ſie hatte ſie ihm gleichguͤltig gelaſſen; aber wie einen todten Handſchuh hatte ſie ihre in ſeine gebettet — alle ſeine Gefuͤhlſpitzen konnten nicht das gering¬ ſte Regſame an ihr aushorchen; ſie zog ſie weder langſam noch hurtig bei der naͤchſten Erweiterung aus der roſtigen Scheide heraus.
Der Tanz, der Tag, die Nacht, die Stille gaben ſeinen Worten heute mehr Feuer als ſonſt darinnen lag. „ Die Looſe — ſagt 'er und ſpielteP 2228piquiert mit einer Muͤnze der Weſtentaſche, um die geflohene Hand zu erſetzen — ſind ungluͤcklich gefallen. Die Perſonen die das Talent haben, Em¬ pfindungen einzufloͤßen, haben zum Ungluͤck auch das, ſelber keine zu fuͤhlen. Er heftete ſeinen Blick ploͤtzlich auf ihre Hemdnadel, an der eine Perle und das Wort l'amitié glaͤnzte; er ſah wie¬ der auf ſeine Bologneſiſche Muͤnze, auf der wie auf allen Bologneſiſchen das Wort libertas (Frei¬ heit) ſtand. „ Sie gehen mit der Freundſchaft wie Bologna mit der Freiheit um — beide tragen das als Legende was ſie nicht haben. ” — Die edleren Menſchen koͤnnen die Worte „ Freundſchaft, Em¬ pfindung, Tugend” auch von den unedelſten nicht hoͤren, ohne bei dieſen Worten das Große zu denken wozu ihr Herz faͤhig iſt. Beata bedeckte einen Seufzer mit ihrer ſteigenden Bruſt, der es nur gar zu deutlich ſagen wollte, was Empfin¬ dung und Freundſchaft ihr fuͤr Freuden und fuͤr Schmerzen geben, aber den Fuͤrſten gieng er nichts an.
Sein haſchender Blick, den er nicht ſeinem Geſchlecht ſondern ſeinem Stande verdankte, erwiſchte den Seufzer, den er nicht hoͤrte. Er229 machte auf einmal wider die Natur der Appellation und der Natur einen dialogiſchen Sprung: „ Ver¬ ſtehen Sie mich nicht? “ſagt 'er mit einem Tone voll hoffender Ehrerbietung. Sie ſagte kaͤlter als der Seufzer verſprach, ſie koͤnne heute mit ihrem kranken Kopfe nichts thun als ihn auf den — Arm ſtuͤtzen und bloß der mache ihr es ſchwer, die Ehr¬ furch einer Unterthanin und die Verſchiedenheit ih¬ rer Meinungen von den ſeinigen mit gleicher Staͤr¬ ke auszudruͤcken. — Gleich Raubthieren haſchte er, wenn Schleichen zu nichts fuͤhrte, durch Spruͤnge. „ O! doch (ſagt' er und machte Henri's Liebeser¬ klaͤrung zur ſeinigen) Marie! ich bin ja Ihr Bru¬ der nicht. “ Eine Frau gewinnt, wenn ſie zu lan¬ ge gewiſſe Erklaͤrungen nicht verſtehen will, nichts als — die deutlichſten. Er lag noch dazu in Henri's Attituͤde vor ihr. „ Erlaſſen Sie mir, ant¬ wortete ſie mit feſter Wuͤrde, die Wahl, es fuͤr Scherz oder fuͤr Ernſt zu halten — auſſer dem Thea¬ ter bin ich unfaͤhiger, den Roſen-Preis zu verdie¬ nen oder zu vernachlaͤſſigen; aber Sie ſinds, die Sie ihn uͤberall bloß geben muͤſſen “— Wem aber? (ſagt 'er, und man ſieht durchaus, daß gegen ſolche Leute keine Gruͤnde helfen) — „ ich vergeſſe230 uͤber die Schoͤnen alle Haͤßlichen und uͤber die Schoͤnſte alle Schoͤnen — ich gebe Ihnen den Preis der Tugend, geben Sie mir den der Em¬ pfindung — oder darf ich mir ihn geben? “und ha¬ ſtig zuckten ſeine Lippen nach ihren Wangen, auf denen bisher mehr Thraͤnen als Kuͤſſe waren; allein ſie wich ihm mit einem kalten Erſtaunen, das er an allen Weibern waͤrmer gefunden hatte, weder um einen Zoll zu viel noch zu wenig aus und reich¬ te bei ihm in einem Tone, in dem man zugleich die Ehrfurcht einer Unterthanin, die Ruhe einer Tugendhaften und die Kaͤlte einer Unerbittlichen fand, kurz in einem Tone als haͤtte ihre Bitte mit dem Vorgegangnen gar keine Verbindung, auf dieſe Art reichte ſie ihre unterthaͤnige Supplik ein, er moͤchte allergnaͤdigſt ſich, da ihr der Doktor ge¬ ſagt haͤtte, ſie koͤnne heute nichts ſchlimmers thun als wachen, ſich — wie ich mich ausgedruͤckt ha¬ ben wuͤrde — zum Henker ſcheren. Eh' er ſo weit gieng: badinirte er noch einige Minuten, kam daruͤber beinahe wieder in den alten Ton, legte ſeine Inhaͤſiv-Pro-Reproteſtationen ein und zog ab.
Nichts als die Ruhe, die ſie aus den Haͤnden der Tugend und der — Liebe und des Guſtavi¬231 ſchen Briefes hatte, gab ihr das Gluͤck, daß dieſer Jack ſich an dieſem Engel eine Huͤfte ausrenkte — Unruhe hat ſogar das Schlimme noch, daß ſie ſchoͤ¬ ner macht.
In euerem ganzen Leben, Guſtav und Beata, ſchluget ihr eure Augen nie mit ſo verſchiednem Ge¬ fuͤhl vor einem Morgen auf als an dem, wo ſich Beata nichts und Guſtav alles vorzuwerfen hatte. Ueber den ganzen verſunkenen Fruͤhling ſeines Le¬ bens ſchlichtete ſich ein langer Winter; er hatte auſſer ſich keine Freude, in ſich keinen Troſt und vor ſich ſtatt der Hofnung Reue.
Er riß ſich mit ſo vieler Schonung als ſeine Verzweiflung zuließ, von den Gegenſtaͤnden ſeines Jammers los und jagte ſein ſprudelndes Blut nach Auenthal zu Wuz — in meine Stube. Ich ſah an nichts mehr daß er noch Gefuͤhl und Leben hatte als am Gewitterregen ſeiner Augen — er fieng ver¬ geblich an: unter Blut, Ideen und Thraͤnen gien¬ gen ſeine Worte unter — endlich wandte er ſich, hochaufgluͤhend, von mir gegen das Fenſter und erzaͤhlte mir, auf Einen Ort blickend, ſeinen Fall den er von ſich ſelbſt herunter that. — Darauf um ſich an ſich ſelbſt durch ſeine Beſchaͤmung zu raͤchen, ließ232 er ſich anſehen, hielt es aber nicht langer aus als bis er zum Namen Beata kam: hier; wo er mich zum erſtenmale vor den gewichnen Blumengarten ſei¬ ner erſten Liebe fuͤhrte, mußt 'er ſich das Geſicht zu¬ huͤllen und ſagte: o ich war gar zu gluͤcklich und bin gar zu ungluͤcklich.
Ueber den Punkt mit ſeiner Mutter konnt 'ich ihn mit drei Worten befriedigen. Ich ſuchte ihm den wichtigſten Kredit wieder zu geben — den, den man bei ſich ſelber finden muß: wer ſich keine moraliſche Staͤrke zutrauet, buͤßet ſie am Ende wirklich ein. Sein Fall kam bloß von ſeiner neuen Lage; an ei¬ ner Verſuchung iſt nichts ſo gefaͤhrlich als ihre Neu¬ heit; die Menſchen und die Pendul-Uhren ge¬ hen durchaus bloß in einerlei Temperatur am richtigſten. — Uebrigens bitt' ich die Romanenſchrei¬ ber, die es noch leichter finden als es das Gefuͤhl und die Erfahrung findet, daß zwei ganz reine ſeelen¬ volle Seelen ihre Liebe in einen Fall verwandeln, nicht meinen Helden zum Beweis zu nehmen: denn hier fehlte die zweite reine Seele; hingegen die Vereinigung aller Farben der zwei ſchoͤnen See¬ len (Guſtavs und Beatens) wird ewig nur[die] weiſſe der Unſchuld geben.
233Sein Entſchluß war jezt der, von Beaten ſich auf immer in einem Briefe abzureißen — — das Schloß mit allen Gegenſtaͤnden, die ihn an ſeine ſchoͤnen Tage oder an ſeinen ungluͤcklichen erinner¬ ten, zu verlaſſen — den Winter bei ſeinen Eltern die ihn allemal in der Stadt zubrachten, zu ver¬ leben oder zu verſeufzen und dann im Sommer mit Oefel die Karten zum Spiel des Lebens von neuem zu miſchen, um zu ſehen, was es noch, wenn die Seelenruhe verloren iſt, zu gewinnen oder ein¬ zubuͤßen gaͤbe ... Schoͤner Ungluͤcklicher! warum legt gerade jetzt deine gegenwaͤrtige Geſchichte, da ich mit ihr meine geſchriebne zuſammen fuͤhren koͤnnte, Floͤre um? warum fallen gerade deine kurzen truͤben Tage in die kurzen truͤben des Ka¬ lenders hinein? o in dieſem Trauer-Winter wird mich keine Himmelsleiter des Enthuſiaſmus mehr in die Hoͤhe richten, um die Bluͤthen-Landſchaft deines Lebens zu uͤberſchauen und abzuzeichnen und ich werde wenig von dir ſchreiben, um dich oͤfter in meine Arme zu nehmen!
Und ihr entſetzlichen Seelen, die ihr einen Fehltritt, an dem Guſtav ſterben will, unter eu¬ re Vorzuͤge und eure Freuden rechnet, die ihr234 die Unſchuld nicht wie er, ſelber verliert ſondern fremde mordet, darf ich ihn durch euere Nachbar¬ ſchaft auf dem Papier beſudeln? — was werdet ihr noch aus unſerem Jahrhundert machen? — Ihr gekroͤnte, geſtirnte, turnierfaͤhige, infulierte Haͤm¬ linge! davon iſt die Rede nicht und ich hab 'es nie getadelt, daß ihr aus euren Staͤnden die ſoge¬ nannte Tugend (d. h. den Schein davon,) die ein ſo ſproͤder Zuſatz in euren weiblichen Metallen iſt, mit ſo viel Glasfeuer als ihr zuſammen bringen koͤnnt heraus brennt und praͤzipitiert — denn in euren Staͤnden hat Verfuͤhrung gar keinen Na¬ men mehr, keine Bedeutung, keine ſchlimme Fol¬ gen und ihr ſchadet da wenig oder nicht — aber in unſere mitlere Staͤnde, auf unſere Laͤmmer ſchießet ihr Greif - und Laͤmmergeier nicht herab: bei uns ſeid ihr noch eine Epidemie (ich falle wie ihr in eine Vermiſchung der Metaphern,) die mehr wegreißet, weil ſie neuer iſt. Raubet und toͤdtet da lieber alles andre als eine weibliche Tugend! — nur in einem Jahrhundert wie unſers, wo man alle ſchoͤne Gefuͤhle ſtaͤrkt, bloß das der Ehre nicht, kann man die weibliche, die bloß in Keuſch¬ heit beſteht, mit Fuͤßen treten und wie der Wilde235 einen Baum auf immer umhauen, um ihm ſeine erſten und letzten Fruͤchte zu nehmen. Der Raub einer weiblichen Ehre iſt ſo viel als der Raub einer maͤnnlichen, d. h. du zerſchlaͤgſt das Wappen eines hoͤhern Adels, zerknickſt den Degen, nimmſt die Sporen ab, zerreißeſt den Adelsbrief und Stamm¬ baum; das, was der Henker am Manne thut, vollſtreckeſt du an einem armen Geſchoͤpfe das die¬ ſen Henker liebt und bloß ſeine unverhaͤltnismaͤßige Phantaſie nicht baͤndigen kann. Abſcheulich! — und ſolcher Opfer, die die maͤnnlichen Haͤnde mit einem ewigen Halseiſen an die Unehre befeſtigt haben, ſtehen in den Gaſſen Wiens zwei tauſend, in den Gaſſen von Paris dreißig tauſend, in den Gaſſen von London funfzig tauſend. — — Entſetzlich! To¬ des-Engel der Rache! zaͤhle die Thraͤnen nicht, die unſer Geſchlecht aus dem weiblichen Auge ausdruͤckt und brennend aufs ſchwache weibliche Herz wirft, meſſe die Seufzer und die Quaalen nicht, unter denen die Freuden-Maͤdgen verſcheiden und an denen den eiſernen Freuden-Mann nichts dauert als daß er ſich an ein andres Bett, das kein Ster¬ bebette iſt begeben muß!
236Sanftes, treues, aber ſchwaches Geſchlecht! warum ſind alle Kraͤfte deiner Seele ſo glaͤnzend und groß, daß deine Vernunft zu bleich und klein dagegen iſt? Warum beweget ſich in deinem Her¬ zen eine angeborne Achtung fuͤr ein Geſchlecht, das die deinige nicht ſchont? je mehr ihr eure Seelen ſchmuͤcket, je mehr Grazien ihr aus euren Glie¬ dern machet, je mehr Liebe in eurem Herzen wal¬ let und durch eure Augen bricht, je mehr ihr euch zu Engel umzaubert: deſto mehr ſuchen wir dieſe Engeln aus ihrem Himmel zu werfen, und gerade im Jahrhundert euerer Verſchoͤnerung ver¬ einigen ſich alle, Schriftſteller, Kuͤnſtler und Gro¬ ße zu einem Wald von Giftbaͤumen, unter denen ihr ſterben ſollt, und wir ſchaͤtzen einander nach den meiſten Brunnen - und Kelchvergiftungen fuͤr eure Lippen!
237Nachtmuſik — Abſchiedsbrief — mein Zanken und Krankſeyn.
Ich hatte auf heute vor Spaß zu machen, meine Biographie einen gedruckten Neujahrswunſch an den Leſer zu nennen und ſtatt der Wuͤnſche ſcherz¬ hafte Neuzahrs-Fluͤche zu thun und dergleichen mehr. Aber ich kann nicht und werd 'es uͤberhaupt bald gar nicht mehr koͤnnen. Welches plumpe aus¬ gebrannte Herz muͤſſen die Menſchen haben, die im Angeſichte des erſten Tages, der ſie unter 364 andre gebuͤckte, ernſte, klagende und zerrinnende hinein fuͤhret, die tobende ſchreiende Freude der Thiere dem weichen ſtillen und aus Weinen graͤn¬ zenden Vergnuͤgen des Menſchen vorzuziehen im Stande ſind! Ihr muͤſſet nicht wiſſen, was die Woͤrter erſter und letzter ſagen, wenn ihr nicht daruͤber, ſie moͤgen einem Tage oder einem Buche oder[Jahre] gegeben werden, tiefern Athem zieht; ihr muͤſſet noch weniger wiſſen, was der Menſch vor dem Thiere voraus hat, wenn in euch der Zwi¬ ſchenraum zwiſchen Freude und Sehnſucht ſo groß238 iſt und wenn nicht beide in euch Eine Thraͤne ver¬ einigt! — Du Himmel und Erde, eure jezige Geſtallt iſt ein Bild (wie eine Mutter) einer ſol¬ chen Vereinigung: die in unſer frierendes Au¬ ge troͤſtend hinein blickende Lichtwelt, die Sonne verwandelt den blauen Aether um ſich in eine blaue Nacht, die ſich uͤber dem blitzenden Grund der beſchneiten Erde noch tiefer ſchattiert und der Menſch ſieht ſehnend an ſeinem Himmel eine her¬ uͤber gezogne Nacht und Eine Licht-Ritze, die tie¬ fe Oefnung und Straße gegen hellere Welten hin ....
Die vergangne Nacht fuͤhrt noch meine Feder. Es iſt naͤmlich in Auenthal wie an vielen Orten Sit¬ te, daß in der letzten feierlichen Nacht des Jahrs auf dem Thurm aus Waldhoͤrnern u. a. gleichſam ein Nachhal der verklungnen Tage oder eine Leichen¬ muſik des umgeſunknen Jahrs ertoͤnt. Als ich mei¬[nen] guten Wuz nebſt einigen Gehuͤlfen in der un¬ tern Stube einiges Geraͤuſch und einige Probe-Toͤ¬ ne machen hoͤrte, ſtand ich auf und gieng mit meiner aufgewachten Schweſter ans enge Fenſter. In der ſtillen Nacht hoͤrte man ihren Hinauftritt auf den Thurm. Ueber unſer Fenſter lag jener239 Balken, unter dem man in prophetiſchen Naͤch¬ ten hinaus horchen muß, um die Wolkengeſtalten der Zukunft zu ſehen und zu hoͤren. Und wahrhaf¬ tig ich ſah im eigentlichen Sinn was der Aberglau¬ be ſehen will — ich ſah wie er, Saͤrge auf Daͤ¬ chern und Leichengefolge an der einen Thuͤre und Hochzeitgaͤſte und Brautkranz an der andern, und das Menſchen-Jahr zog durch das Dorf und hielt an ſeiner rechten Mutterbruſt die kleinen Freuden, die mit dem Menſchen ſpielen, und an ſeiner lin¬ ken die Schmerzen, die[auf] ihn anbellen; es wollte beide naͤhren, aber ſie fielen ſterbend ab und ſo oft ein Schmerz oder eine Freude abwelkte ſo oft ſchlug einer von den zwei Kloͤppeln zum Zei¬ chen an die Thurmglocken an .... Ich ſah nach dem weißen Wald hinuͤber, hinter dem die Woh¬ nungen meiner Freunde liegen: o junges Jahr, ſagt 'ich, zieh zu meinen Freunden hin und leg ihnen in ihre Arme die Freuden aus deinen und nimm die zuruͤckgebliebnen zaͤhen Schmerzen des alten mit, die nicht ſterben wollen! Geh' in alle vier Weltſtraßen und vertheile die Saͤuglinge dei¬ ner rechten Bruſt und mir laße nur einen — die Geſundheit! — —
Die240Die Toͤne des Thurms verſtroͤmten in die wei¬ te mondloſe Nacht hin, die ein großer mit Ster¬ nen-Bluͤthen uͤberſaͤeter Wipfel war. Biſt du gluͤcklich oder ungluͤcklich, Wuz, daß du auf dei¬ nem Thurm der weißen Mauer und einem weißen Stein des Auenthaler Gottesackers entgegen ſteheſt und doch nicht daran denkeſt, wen Mauer und Stein verſchließen, denſelben, der ſonſt an dei¬ nem Platze in dieſer Stille auch wie du das neue Jahr ſalutierte, deinen Vater, der wieder eben ſo ruhig wie du uͤber die verweſenden Ohren des ſeinigen hinuͤber bließ? ... Ruhiger biſt du frei¬ lich, der du am neuen Jahre an kein anderes Abnehmen als an das der Naͤchte denkſt; aber lie¬ ber iſt mir meine Philippine, die hier neben mir ihr Leben von neuem uͤberlebt und gewiß ernſthaf¬ ter als das erſtemal, in deren Bruſt das Herz nicht bloß Frauenzimmer-Arbeit thut ſondern auch zuweilen zum Gefuͤhl anſchwillt, wie wenig der Menſch iſt, wie viel er wird und wie ſehr die Erde eine Kirchhofs-Mauer und der Menſch der verpuf¬ fende Salpeter iſt, der an dieſer Mauer anſchieſ¬ ſet! gute weinende Schweſter, in dieſer Minute fraͤgt dein Bruder nichts darnach, daß du morgen— nicht241— nicht viel darnach frageſt; in dieſer Minute verzeihet er dirs und deinem ganzen Geſchlechte, daß eure Herzen ſo oft Edelſteinen gleichen, in denen die ſchoͤnſten Farben und eine — Muͤcke, ein Moos neben einander wohnen: denn was kann der Menſch, der dieſes verwitternde Leben und ſeine verwitternde Menſchen beſieht und beſeufzet, mit¬ ten in dieſem Gefuͤhle beſſers thun als ſie recht herzlich lieben, recht dulden, recht ... Laſſ 'dich umarmen, Philippine, und wenn ich einmal dir nicht verzeihen will, ſo erinnere mich an dieſe Umarmung! ....
Meine Biographie ſollte jezt weiter ruͤcken; aber ich kann meinen Kopf und meine Hand un¬ moͤglich dazu leihen, wenn ich nicht auf der Stel¬ le mich aus der gelehrten Welt in die zweite ſchrei¬ ben will. Es iſt beſſer, wenn ich bloß den Setzer dieſer Hiſtorie mache und den ſchmerzhaften Brief abſchreibe, den Guſtav ſeiner verſcherzten Freun¬ din ſchickte.
„ Treue tugendhafte Seele! die jezige dunkle Minute, die nur ich verdienet habe aber nicht du, quaͤle dich nicht lange und verziehe ſich bald! o2. Theil. O242zum Gluͤck kannſt du doch nicht mein Auge, nicht meinen von Schmerzen zitternden Mund und mein zertruͤmmertes Herz erblicken, womit ich jezt al¬ len meinen ſchoͤnen Tagen ein Ende mache — wenn du mich jezt ſchreiben ſaͤheſt: ſo wuͤrde die weichſte Seele, die noch auf der Erde getroͤſtet hat, ſich zwiſchen mich und meinen ſchlagenden Kummer ſtellen und mich bedecken wollen: ſie wuͤrde mich heilend anblicken und fragen, was mich quaͤle ... Ach gutes treues Herz! frage mich es nicht: ich muͤſte antworten, meine Quaal, meine unſterbli¬ che Folter, meine Vipern-Wunde heißet verlorne Unſchuld .... Dann wuͤrde ſich deine ewige Unſchuld erſchrocken wegwenden und mich nicht troͤ¬ ſten: ich wuͤrde einſam liegen bleiben und der Schmerz ſtaͤnde aufrecht mit der Geißel bei mir, ach ich wuͤrde nicht einmal das Haupt auf¬ heben, um allen guten Stunden die ſich in deiner Geſtalt von mir wegbegeben, verlaſſen nachzuſe¬ hen. — Ach es iſt ſchon ſo und du biſt ja ſchon gegangen! Amandus! trennt dich der Himmel ganz von mir und kannſt du, der du mir die Li¬ lien-Hand Beatens gegeben, nicht meine befleckte ſehen, die nicht mehr fuͤr die reinſte gehoͤrt? —243 ach wenn du lebteſt: ſo haͤtt 'ich ja dich auch ver¬ loren .... O daß es doch Stunden hienieden geben kann, die den vollen Freudenbecher des ganzen Le¬ bens tragen und die mit einem Fall ihn zerſplittern und die Labung aller, aller Jahre verſchuͤtten duͤrfen!
Beata! nun gehen wir auseinander, du ver¬ dienſt ein treueres Herz als meines war, ich verdien¬ te deines nicht — ich habe nichts mehr was du lie¬ ben koͤnnteſt — mein Bild in deinem Herzen muß zer¬ riſſen werden — deines ſteht ewig in meinem feſt, aber es ſieht mich nimmer mit dem Auge der Liebe ſondern mit einem zugeſunknen an, das uͤber den Ort weint wo es ſteht .... Ach Beata, ich kann meinen Brief kaum endigen; ſo bald ſeine letzte Zei¬ le ſteht, ſo ſind wir aus einander geriſſen, und hoͤ¬ ren uns nie mehr und kennen uns nimmer — — O Gott! wie wenig hilft die Reue und das Beweinen! Niemand ſtellet das heiße Herz des Menſchen her, wenn nichts in ihm mehr iſt als der harte große Kum¬ mer, den es wie ein Vulkan ein Felſenſtuͤck empor und heraus zu werfen ſucht und der immer wieder in den lodernden Krater zuruͤck ſtuͤrzt; nichts heilt uns, nichts giebt dem entblaͤtterten Menſchen das ge¬ fallne Laub wieder, Ottomar behaͤlt Recht, daß dasO 2244Leben des Menſchen wie ein Vollmond, uͤber lauter Naͤchte ziehe ...
Ach es muß doch ſeyn! leb nur wohl, Freundin! Guſtav war der Stunde, die du jezt haben wirſt, nicht werth. Dein heiliges Herz, dem er Wunden gegeben, verbinde ein Engel und im Bande der Freundſchaft trage du es ſtill! meinen letzten freu¬ digen Brief, wo ich mich nicht mit meinem uͤber¬ ſchwenglichen Gluͤck begnuͤgte, leg 'in dieſen troſtlo¬ ſen, in dem ich nichts mehr habe, und verbrenne ſie mit einander! kein Voreiliger ſage dir kuͤnftig nach vielen Jahren, daß ich noch lebe, daß ich den langen Schmerz, mit dem ich mein verſunknes Gluͤck abbuͤße, wie Dornen in meine verlaßene Bruſt gedruͤckt und daß in meinem truͤben Lebenstage die Nacht fruͤher komme, die zwiſchen zwei Welten liegt! wenn einmal dein[Bruder] mit einem ſchoͤnerem Herzen an deines ſinkt: ſo ſag' es ihm nicht, ſo ſag 'es dir ſelbſt nicht, wer ihm aͤhnlich ſah — und wenn einmal dein Thraͤ¬ nen-Auge auf die weiße Pyramide faͤllt: ſo wend' es ab und vergiß, daß ich dort ſo gluͤcklich war — ach! aber ich vergeß 'es nicht, ich wende das Auge nicht ab und koͤnnte der Menſch ſterben an der Erinne¬ rung, ich gienge zu Amandus Grabe und ſtuͤrbe —245 Beata, Beata, an keiner Menſchenbruſt wirſt du ſtaͤrkere Liebe finden als meine war, wiewohl ſtaͤrke¬ re Tugend leicht — aber wenn du einmal dieſe Tu¬ gend gefunden haſt, ſo erinnere dich meiner nicht, mei¬ nes Falles nicht, bereue unſre kurze Liebe nicht und thue dem, der einmal unter dem Sternnen-Himmel an deiner edlen Seele lag, nicht unrecht ..... O du meine, meine Beata! in der jezigen Minute gehoͤreſt du ja noch mir zu, weil du mich noch nicht kenneſt; in der jezigen Minute darf noch mein Geiſt, mit der Hand auf ſeinen Wunden und Flecken, vor deinen treten und um ihn fallen und mit erſtickten Seufzern zu dir ſagen: liebe mich! ... Nach dieſer Minute nicht mehr — — nach dieſer Minute bin ich allein und ohne Liebe und ohne Troſt — das lange Leben liegt weit und leer vor mir hin und du biſt nicht darin — — — aber dieſes Menſchen-Leben und ſeine Fehltritte werden voruͤbergehen ‚ der Tod wird mir ſeine Hand geben und mich wegfuͤhren — die Tage jenſeits der Erde werden mich heiligen fuͤr die Tugend und dich — — — dann komm ‚ Beata ‚ dann wird dir ‚ wenn dich ein Engel durch dein irdiſches Abendroth in die zweite Welt getragen ‚ dann wird246 dir ein hienieden gebrochnes, dort geheiligtes Herz zuerſt entgegengehen und an dich ſinken und doch nicht an ſeiner Wonne ſterben und ich werde wie¬ der ſagen: „ nimm mich wieder geliebte Seele, auch ich bin ſeelig “— alle irdiſchen Wunden wer¬ den verſchwinden, der Zirkel der Ewigkeit wird uns umfaſſen und verbinden! .. ach wir muͤſſen uns ja erſt trennen und dieſes Leben waͤhret noch — — lebe laͤnger als ich, weine weniger als ich und — vergiß mich doch nicht gaͤnzlich — ach haſt du mich denn ſehr geliebt, du Theure, du Ver¬ ſcherzte? .. [. ]
Guſtav F.
Abends unter dem Zuſiegeln des Briefs fuhr Beata zum Schloß-Thor hinein. Als er ihre Licht¬ geſtalt, die bald mit ſo vielen Thraͤnen ſollte be¬ deckt werden, heraus ſteigen ſah: prallte er zu¬ ruͤck, ſchrieb die Aufſchrift, gieng zu Bette und zog die Vorhaͤnge zu, um recht ſanft — zu wei¬ nen. Dem Romanen-Steinmetz Oefel eilte er vorzuͤglich aus dem Wege, weil ſeine Minen und Laute nichts als unedle Triumphe ſeines weißagen¬ den Blickes waren; und ſogar Guſtavs Niederge¬247 ſchlagenheit rechnete er noch unedler zu ſeinen Triumphen ...
Im Grunde wollt 'ich, der Henker holte alle Welttheile und ſich dazu: denn mich hat er halb. Wenige wiſſen, daß er mich dieſe Biographie nicht zu Ende fuͤhren laͤſſet. Ich bin uͤberzeugt, daß ich nicht am Schlage (wie ich mir neulich unter meinem gefrornen Kopfzeug einbildete) noch an der Lungen¬ ſucht (welches eine wahre Grille war) ſterben kann; aber buͤrgt mir dieſes dafuͤr, daß ich nicht an einem Herzpolypen ſcheitern werde, wofuͤr alle menſch¬ liche Wahrſcheinlichkeit iſt? — Zum Gluͤck bin ich nicht ſo hartnaͤckig wie Muſaͤus in Weimar, der das Daſeyn des ſeinigen, den er ſo gut wie ich den meinigen, mit kaltem Kaffee groß geaͤtzet, nicht eher glaubte als bis der Polype ſein ſchoͤnes Herz ſtrangu¬ liert und ihm alle Geburtstage und alle Wuͤnſche fuͤr die ſeiner Gattin geraubet hatte. Ich ſage, ich mer¬ ke beſſer auf Vorboten von Herzpolypen: ich verber¬ ge mir es nicht, was hinter dem intermittirenden Pulſe ſteckt, naͤmlich eben ein wirklicher Herzpolype, der Zuͤndpfropf des Todes. Die fatale litterariſche Behme, der Rezenſenten-Bund, ſchleicht mit Strik¬ ken um uns gutwillige Narren herum, die wir ſchrei¬248 ben und gleich Schmetterlingen an der Umarmung der Muſen ſterben — aber keine Kreuzer-Piece, nicht eine Zeile ſolten wir edieren fuͤr ſolche gewiſſen¬ loſe Stoßvoͤgel: wer dankt mirs, daß ich Scenen ausmahle, die den Dekorationsmahler beinahe um¬ bringen und biographiſche Seiten ſchreibe, die auf mich nicht viel beſſer wirken als vergiftete Briefe? Wer weiß es — nach Scheerau komm' ich jezt ſelten — als meine Schweſter, daß ich in dieſem biographi¬ ſchen Luſtſchloß, das mein Mauſolaͤum werden wird, oft Zimmer und Waͤnde uͤbermale, die mir Puls und Athem dergeſtallt benehmen, daß man mich einmal todt neben meiner Mahlerei liegen finden muß? Muß ich nicht, wenn ich ſo in die Athmoſphaͤre des Todes gerathe, aufſpringen, durch die Stube zirkulieren und mitten in den zaͤrtlichſten oder erhabenſten Stel¬ len abſchnappen und die Stiefeln an meinem Beine wixen oder den Hut und Hoſen auskehren, damit es mir nur den Athem nicht verſetzt, und doch wieder mich daran machen und ſo auf eine verdammte Art zwiſchen Empfindſamkeit und Stiefelwixen wechſeln? — Ihr verdammten Kunſtrichter alzumal!”
Dazu geſellen ſich noch tauſend Plakereien, die mich ſeit einiger Zeit viel oͤfter zwicken, weil ſie249 etwan merken, daß der Polype mir bald den Gar¬ aus ſpielen und ſie mich nicht lange mehr haben werden. Meinen Mauſſenbacher Hummer, der mich immer zwiſchen ſeine gerichtsherrlichen Scheeren nimmt und der glaubt, ein armer Gerichtshalter muͤſſe an nichts anders ſterben als an Arbeiten ex officio, dieſen aͤgyptiſchen Frohnvogt will ich uͤberhuͤp¬ fen; auch meine Schweſter und Wuzen unter mir, die beide wider alles Maas luſtig ſind und mich faſt todt ſingen. Aber was mich druͤckt, iſt der Druck der Unterthanen, das metallene Druckwerk, das man unſern Fuͤrſten nennt.
Ich haͤtte mich beinahe neulich in einer Excep¬ tionsſchrift in einen ehrenvollen Veſtungsarreſt hin¬ eingeſchrieben; aber hier kann ich meine Orangen ohne Karzer-Gefahr an den gekroͤnten Kopf wer¬ fen. Pfui! biſt du darum Fuͤrſt, um eine Waſ¬ ſerhoſe zu ſeyn, die alles woruͤber ſie ruͤckt, in ihren Krater hinaufſchlingt? Und wenn du uns einmal beſtehlen willſt, thu 'es mit keinen andern Haͤnden als mit deinen eignen, fahre terminirend vor allen Haͤuſern durch das Land und erhebe ſelber die ordentlichen Steuern in deinen Wagen: aber ſo wie bisher, langen unſre Abgaben, nach dem250 Tranſitozoll, den ſie den Haͤnden aller deiner Kaſ¬ ſenbedienten geben muͤſſen, ſo mager wie weitge¬ reiſete Heringe oben in deiner Chatoulle an, daß du im Grunde von beſchwerlichen Summen nicht mehr bekoͤmmſt als bequeme Logarithmen. Die Fuͤrſten haben wie die oſtindiſchen Krebſe Eine Rie¬ ſen-Scheere zum Nehmen, und Eine Zwerch-Schee¬ re, den Fang an den Mund zu bringen.
Und ſo iſt die ganze Hauptſtadt, wo jeder ſich fuͤr regierendes Mitglied anſieht und doch jeder dar¬ uͤber ſchreiet, daß der andre ſich ins Regieren mengt und daß die Kinder unter den Hermelin wie unter den vaͤterlichen Schlafrock kriechen und vereinigt den Vater nachmachen — wo die Pallaͤſte der Großen aus Hoͤllenſteinen gemauert ſind, die wie[ausſaͤtzi¬ ge] Haͤuſer kleinere zernagen — wo der Miniſter den Fuͤrſten auf ſeiner unempfindlichen Hand wie der Falkonier den Falken auf der beſchuhten traͤgt — wo man die Laſter des Volks fuͤr die Renten ih¬ rer Obern anſieht und alles moraliſche Aas wie die Bienen ihr phyſiſches bloß mit Wachs umklebt, an¬ ſtatt es aus dem Bienenkorb zu tragen, d. h. wo die Polizei die Moral erſetzen will — wo wie an einem jedem Hofe eine moraliſche Figur ſo unausſteh¬251 lich und ſo ſteif gefunden wird als in der Malerei eine geometriſche — wo der Teufel voͤllig los und der heilige Geiſt in der Wuͤſte iſt und wo man Leuten, die in Auenthal oder ſonſt krumme Sonden in den Haͤnden halten und damit die fremden Koͤr¬ per und Splitter aus den Wunden des Staates he¬ ben wollen, ins Geſicht ſagt: ſie waͤren nicht recht geſcheut ....
Ich wollt 'es waͤr' wahr: ſo waͤr 'ich wenigſtens recht geſund. Nach einem ſolchen Klumpen von Ichs, woraus ein Staatskoͤrper wie aus Monaden beſteht, iſt das meinige zu winzig, um vorgenommen und be¬ ſehen zu werden. Sonſt koͤnnt' ich jetzt zu den Be¬ ſorgniſſen um den Staat die um mich ſelber erzaͤhlen
— Und doch will ich dem Leſer meine Qualen oder ſieben Worte am Kreuze ſagen, wiewohl er ſelber mich an das Kreuz, unter welchem er mich bedauern will, hat ſchlagen helfen. Im Grunde fragt kein Teufel viel nach meinem Siechthum. Ich ſitze hier und ſtelle mir aus unvergoltener Liebe zum Leſer den ganzen Tag vor, daß Feuer kann geſchrien werden, das gleich einem[Autodafee] alle meine biographiſchen Papiere in Aſche legt und vielleicht auch den Verfaſ¬ ſer — ich ſtelle mir ferner vor und martere mich, daß252 dieſes Buch auf dem Poſtwagen oder in der Drucke¬ rei ſo verdorben werden kann, daß das Publikum um das ganze Werk ſo gut wie gebracht iſt — daß es auch nach dem Druck in ein Hetzhaus und eine Marterkammer gerathen kann, wo ein kritiſcher Brodherr und Kunſtrichter-Ordensgeneral ſeine Re¬ zenſenten mit ihren langen Zaͤhnen ſitzen hat, die meiner zarten Beata und ihrem Amanten Fleiſch und Kleider abreiſſen und deren Stube jener Stube voll Spinnen gleicht, die ein gewiſſer Pariſer hielt und die bei ſeinem Eintritt allemal auf ſeine ausgezognen blutigen Taubenfedern zum Saugen von der Dek¬ ke niederfuhren und aus deren Fabrikaten er mit Muͤhe jaͤhrlich einen ſeidnen Strumpf erzielte .... Alle dieſe Martern thu 'ich mir ſelber an, bloß des Leſers wegen, der am meiſten verloͤre wenn er mich nicht zu leſen bekaͤme; aber es iſt dieſem harten Men¬ ſchen einerlei was die ausſtehen, die ihn ergoͤtzen. — Hab' ich endlich meine Hand von dieſen Naͤgeln des Kreuzes losgemacht: ſo ekelt mich das Leben ſelber an als ein ſo elendes langweiliges Ding von Monochord daß jedem Angſt werden muß, ders ausrechnet, wie oft er noch Athem holen und die Bruſt auf - und nieder heben muß bis ſie erſtarret, oder wie oft er253 ſich bis zu ſeinem Tode noch auf den Stiefelknecht oder vor den Raſierſpiegel werde heben muͤſſen — — Ich betrachte oft die groͤßte Armſeligkeit im ganzen Leben, welche die waͤre, wenn einer alle in daſſelbe zerſtreuet umhergeſaͤete Raſuren, Friſu¬ ren, Ankleidungen, ſedes hinter einander abthun muͤßte. — Der dunkelſte Nachtgedanke, der ſich uͤber meine etwa noch gruͤnenden Proſpekte lagert, iſt der, daß der Tod in dieſem naͤchtlichen Le¬ ben, wo das Daſeyn und die Freunde wie weit abgetheilte Lichter im finſtern Bergwerk gehen, mir meine theure Geliebten aus den ohnmaͤchtigen Haͤnden ziehe und auf immer in verſchuͤttete Saͤrge, einſperre, zu denen kein Sterblicher, ſondern bloß die groͤßte und unſichtbarſte Hand, den Schluͤſſel, hat .... Haſt du mir denn nicht ſchon ſo viel weggeriſſen? Wuͤrd 'ich von Kummer oder von Ei¬ telkeit des Lebens reden, wenn der bunte Jugend - Kreis noch nicht zerſtuͤckt, wenn das Farbenband der Freundſchaft, das die Erde und ihren Schmelz noch an den Menſchen heftet, noch nicht von ein¬ ander geſaͤgt waͤre bis auf ein oder zwei Faͤden? — O du, den ich jetzt aus einer weiten Entfernung weinen hoͤre, du biſt nicht ungluͤcklich, an deſſen254 Bruſt ein geliebtes Herz erkaltet iſt, ſondern du biſts, der iſts, der an das Verweſende denkt, wenn er ſich uͤber die Liebe des lebendigen Freundes freuen will, und der in der ſeligſten Um¬ armung ſich fragt: „ wie lange werden wir einan¬ der noch fuͤhlen? “....
255Erſt jetzt iſts toll: die Krankheit hat mir zugleich die juriſtiſche und die biographiſche Feder aus der Hand gezogen und ich kann trotz allen Oſtermeſſen und Fatalien in nichts eintunken .....
Mich wird wie es ſcheint bloß der ſchwarze Staar befallen: denn Funken und Flocken und Spinnwe¬ ben tanzen ſtundenlang um meine Augen; und da¬ mit — ſagen Plempius und Ritter Zimmermann — meldet ſich ſtets der beſagte Staar an ...
Ich beſitze ein Paar Fieber auf einmal, die bei andern gluͤcklichern Menſchen ſonſt einander nicht256 leiden koͤnnen. — Das dreitaͤgige Fieber — das Quartanfieber — und noch ein Herbſt - oder Fruͤh¬ lingsfieber im Allgemeinen. — Indeſſen will ich, ſo lang ich noch nicht eingeſargt bin, dem Publi¬ kum alle Sonntage ſchreiben und es etwan zu zwei oder drei Zeilen treiben. Auch der Styl ſo¬ gar wird jaͤmmerlich; hier wollen ſich die zwei Verba reimen ....
O ihr ſchoͤnen biographiſchen Sonntage! ich er¬ lebe keinen wieder. Zu den Uebeln, die ich ſchon bekannt gemacht habe, ſtoͤßet noch eine lebendige Eidexe, die ſich in meinem Magen aufhaͤlt und de¬ ren Laich ich im vorigen Sommer aus einem un¬ gluͤcklichen Durſt muß eingeſchluckt haben ....
257Man ſagt auch, daß Kirſchkerne im Magen aus¬ gekeimet ſind und Erbſen in Ohren. O guter Him¬ mel! was wird endlich meine Krankheit ſeyn, de¬ ren unſichtbare Tatze meine Nerven ergreift, er¬ druͤckt, ausdehnt, entzweiſchlitzt ....
Wenns eine Krankheit giebt, die aus allen Krank¬ heiten, aus allen Kapiteln der Pathologie auf ein¬ mal kompilirt iſt: ſo hat ſie niemand als ich. Apo¬ plexie — Hektik — Magenkrampf oder eine Eidexe — dreierlei Fieber — Herzpolypus — aufgehender Kirſchſaamen: — — das ſind die wenigen ſicht¬ baren Beſtandtheile und Ingredienzien, die ich bisher an meinem Uebel auskundſchaften koͤnnen: eine vernuͤnftige tiefere Sektion meines armen Lei¬ bes wird auch gar die unſichtbaren, wenn ihn beide Beſtandtheile erlegt haben, noch dazu geſel¬ len ....
2. Theil. R258Eine bedenkliche Pleureſie — wenn man anders der ganzen Semiotik und den harten Pulsſchlaͤgen und Bruſtſtichen glauben kann — umarmt und haͤlt mich ſeit vorgeſtern und iſt willens, mein gemi߬ handeltes Leben und dieſe Biographie zu ſchlieſſen — es muͤßte denn durch eine gluͤckliche Kur der Tod in ein Empyema gemildert werden — oder in eine Phthiſis — oder Vomica — oder in einen Scirrhus oder auch in einen Ulcus. — — Nach dieſer Hei¬ lung braucht man bloß meine Bruſt anzubohren, um aus ihr, aus der einmal ein Buch voll Men¬ ſchenliebe kam, das Leben und die Krankheitsma¬ terie mit einander herauszuziehen ....
259Ihr guten Leſer! die ihr mit eurem vergebenden Auge vom Schachbrett das erſten Sektors bis zum Sterbelager des letzten mir nachgezogen ſeid! meine Bahn und unſre Bekanntſchaft haben ein Ende — das Leben moͤg 'euch niemals druͤcken — euer Ge¬ ſchaͤftsblick moͤge nie uͤber das kleine Feld das groſ¬ ſe vergeſſen, uͤber das erſte Leben das zweite, uͤber die Menſchen euch — euer Leben moͤgen Traͤume bekraͤnzen und euer Sterben moͤgen keine erſchrek¬ ken .... Meine Schweſter ſoll alles beſchlieſſen .... Lebt froh und entſchlaft froh! ....
N 2260Mein guter und gemarterter Bruder will haben, daß ich dieſes Buch ausmache. Ach ſeine Schweſter wuͤrd 'es ja vor Schmerzen nicht vermoͤgen, wenns ſo waͤre. Ich hoff' aber zum Himmel, daß mein Bruder nicht ſo kraͤnklich iſt als er meint. — Nach dem Eſſen denkt ers wohl. — Und ich muß ihn, wenn wir beide Friede haben ſollen, darin beſtaͤr¬ ken und ihn fuͤr eben ſo krank ausgeben wie er ſel¬ ber. Geſtern mußt 'ihm der Schulmeiſter an die Bruſt klopfen, damit er hoͤrte, ob ſie hallete, weil ein gewiſſer Avenbruͤgger in Wien geſchrie¬ ben hatte, dieſes Hallen zeige eine gute Lunge an. Zum Ungluͤck hallete ſie wenig: und er giebt ſich deswegen auf; ich will aber ohne ſein Wiſſen an den H. Doktor Fenk ſchreiben, damit er ſeine Qualen ſtille. — — Ich ſoll noch berichten, daß der junge Herr v. Falkenberg krank in Oberſchae¬ rau bei ſeinen Eltern iſt und daß meine Freundin Beata auch kraͤnklich bei den ihrigen iſt .... Es iſt fuͤr uns alle ein finſtrer Winter: der Fruͤhling heile jedes Herz und gebe mir und den Leſern dieſes Buchs meinen lieben Bruder wieder!
261Der hämmernde Vetter — Kur — Bade-Karavane.
— — Er iſt wieder zu haben, der Bruder und Biograph! Frei und froh tret 'ich wieder vor; der Winter und meine Narrheit ſind voruͤber und lau¬ ter Freude wohnt in jeder Sekunde, auf jedem Oktavblatt, in jedem Dintentropfen.
Es gieng ſo. Eine jede eingebildete Krankheit ſetzt eine wahre voraus; aber eingebildete Krank¬ heitsurſachen giebts. Mein Wechſel zwiſchen Ge¬ ſund - und Siechſeyn, zwiſchen Froh - und Traurig -, zwiſchen Weich - und Hartſeyn war mit ſeiner Schnelligkeit und ſeinen Kontraſten aufs Hoͤchſte gekommen; ich konnte vor Mangel an Athem kein Protokoll mehr diktiren und die Szenen dieſer Bio¬ graphie durft 'ich mir nicht einmal mehr den¬ ken: als ich an einem rothgluͤhenden Winterabend durch den rothgeſchminkten Schnee drauſſen herum¬ ſchritt und in dieſem Schnee das Wort heureuſe¬ ment antraf.
Ich werde an dieſes Wort der Schnee-Wachs¬ tafel immer denken: es war mit einem Bambus¬262 rohr lapidariſch ſchoͤn hineingezeichnet. „ Fenk! “rief ich mechaniſch. „ Weit kannſt du nicht weg ſeyn, “dacht 'ich: denn da jeder Europaͤer (ſogar auf ſeinen Plantagen) den Schnitt ſeiner Feder, an einem eignen Worte pruͤfet und da der Doktor ſchon ganze Bogen mit dem Probierlaut heureuſe - ment als erſten Abdrucke ſeiner Feder vollgemacht; ſo wußt' ich gleich wie es war.
— Und bei mir ſaß er; und lachte (ſicher mehr uͤber die Krankheitshiſtorie von meiner Schweſter als uͤber meine Invaliden-Geſtalt) mich ſo lange aus, daß ich, da ich nicht wußte, ſollt 'ich la¬ chen oder zuͤrnen, am beſten eines um das andre that. — Aber bald kam er in meinen Fall und mußte auch eines um das das andre thun — bei einer Hiſto¬ rie, die uns, naͤmlich der ganzen hypochondriſchen Jun¬ to, zur Schande gereicht und die ich doch erzaͤhle.
Es war naͤmlich ein naher Vetter von mir, Fedderlein genannt, auch in der Stube, der bei¬ des ein Scheerauer Schuſter und Thuͤrmer iſt: er ſorgt fuͤr die Stiefel und fuͤr die Sicherheit der Stadt und hat mit Leder und Chronologie (wegen dem Laͤuten) zu thun. Mein naher Vetter war kohlſchwarz und betruͤbt, nicht uͤber meine Krank¬263 heit ſondern uͤber die ſeiner Frau, weil ſie daran verſtorben war. Dieſen Krankheits - und Todten¬ fall wollt 'er mir und dem Doktor auch hinterbrin¬ gen, um den letztern zu belehren und den erſtern zu ruͤhren. Es waͤre auch gegangen, haͤtt' er nicht zum Ungluͤck ein Trennmeſſer meiner Philippine er¬ wiſcht und damit waͤhrend ſeiner eignen Aufmerkſam¬ keit auf die Todespoſt ſehr auf den Tiſch gehaͤmmert. Ich ſetzte mirs ſogleich vor, es nicht zu leiden. Mei¬ ne Hand kroch daher — meine Augen hielten ſeine feſt — dem gedachten Hammer naͤher, um ihn zu hindern.
Aber des Vetters ſeine wich ihr hoͤflich aus und, klopfte fort. Ich haͤtte mich gern geruͤhrt; er kam den letzten Stunden meiner ſel. Baſe immer naͤher — aber ich konnte meine Ohren vom Meſſer-Hammerwerk nicht wegbringen. Zum Gluͤck ſah ich den kleinen Wuz dort ſtehen und lieh eiligſt dem Klopfer das ungluͤckliche Trennmeſſer ab und ſchnitt dem Kinde damit ein Paar halbe — Faſtnachtsbrezeln vor in der Angſt.
Jetzt ſtand ich gerettet da und hatte ſelber das Meſſer. Aber er begann jetzt auf der Klaviatur des Ti¬ ſches mit den entwaffneten Fingern zu ſpielen und verſah, in der Novelle, ſeine Frau mit dem h.264 Abendmahl. Ich wollte mich und meine Ohren uͤberwinden; aber da mich theils der innere Krieg, theils meine horchende Aufmerkſamkeit auf ſeine trommelnden Finger, die ich nur mit der groͤßten Muͤhe vernehmen konnte, gaͤnzlich von meiner gu¬ ten Baſe wegzogen, die gewiß eine Frau und Thuͤrmerin war wie wenige: ſo hatt 'ichs ſatt und fieng nach ſeiner orgelnden Quaal-Hand, legte ſie in Arreſt und brach aus: „ o mein lieber H. Vet¬ ter Fedderlein! “ Er muthmaßte, ich waͤre geruͤhrt; und wurd' es ſelber immer mehr, vergaß ſich und ſchnipſete mit den linken noch arreſtfreien Fingern an den Tiſch.
Ich wollte mir wie ein Stoiker auf dieſer neuen Ungluͤcks-Station von innen heraus, helfen und ſtellte mir waͤhrend des aͤuſſern Schnipſens hinter mir, meine gute Baſe[und] ihr Todtenlager vor: „ und ſo (ſagt 'ich beredt zu mir ſelber) liegſt du arme Abgebluͤhte denn drunten und biſt ſteif und unbeweglich und ſo zu ſagen todt! — “Er ſchnip¬ ſete jetzt ganz toll. — Ich konnte mir nicht helfen, ſondern ich zog auch die linke Hand des Hiſtorikers gefaͤnglich ein und druͤckte ſie halb aus Ruͤhrung. „ Sie koͤnnen beide denken, (ſagt' er) wie mir erſt265 war, als fiele der Thurm auf mich, da ſie einer wie einen Sack auf den Ruͤcken faſſen mußte und ſie die dreizehn Treppen ſo herunter trug. “— Ich war auſſer mir, erſtlich daruͤber und zweitens weil ich in meiner Hand die Anſtrengung der ſeinigen zu neuem Schnipſen verſpuͤrte: uͤberwaͤltigt ſagt ich: „ ums Himmels Willen, mein theurer Hr. Vetter, um der guten Seeligen Willen, wenn er ſeinen eignen Vetter lieb hat .... “
„ Ich will ſchon aufhoͤren, ſagt'er, wenn Sie's ſo angreift. ” —
„ Nein, ſagt 'ich, ſchnipſ' er er mir nur nicht ſo! — Aber ſo eine Baſe bekommen wir beide ſchwerlich ſo bald wieder! “ Denn ich beſann mich nicht mehr.
Und doch beſteht das Leben wie ein Miniatur¬ gemaͤlde aus ſolchen Punkten, aus ſolchen Augen¬ blicken. Der Stoiziſmus haͤlt oft die Keule der Stunde, aber nicht den Muͤckenſtachel der Sekun¬ de ab.
Mein Doktor nahm mich ernſthaft (unter dem unbefangnen Fragen meines Vetters: „ wie wollte mein H. Vetter? “) aus der Stube hinaus und ſagte: „ du biſt, lieber Jean Paul, mein wahrer266 Freund, ein Regierungsadvokat, eine Mauſſenba¬ cher Audienza, ein Schriftſteller im biographiſchen Fache — aber ein Narr biſt du doch, ich meine ein Hypochondriſt.”
Abends that er mir beides dar. O an jenem Abend zogeſt du mich aus dem Rachen und aus den Giftzaͤhnen der Hypochondrie heraus, die ihren beiſſenden Saft auf alle Minuten ſpruͤtzen! Dei¬ ne ganze Apotheke lag auf deiner Zunge! Deine Recepte waren Satyren und deine Kur Beleh¬ rung!
Setz 'in deine Biographie — fieng er an und ſteckte ſeine Haͤnde in ſeinen Muf, — daß es bei dir keine Nachahmung des H. Thuͤmmels und ſei¬ nes Doktors und ihres mediziniſchen Kollegiums iſt, das halb aus dem Patienten halb aus dem Arzte beſtand — daß ich dich auch ausfilze; denn ich will es in der That thun. — Sag mir, wo haſt du bisher deine Vernunft, ja nur deine Einbildungs¬ kraft gehabt, daß du des Henkers lebendig wa¬ reſt? Antworte mir nicht, daß die Gelehrten hier zu verſchiedner Meinung waͤren — daß Willis die Einbildungskraft in die Hirnſchwiele verlegte — Poſidonius hingegen in die Vorderkammer, wie267 auch Aetius — und Glaſer ins eifoͤrmige Zen¬ trum. Die Sach' iſt nur eine lebhafte Redensart; weil du mich aber damit irre machſt: ſo will[ ich] dich anders angreifen. Sag mir — oder ſagen ſie mir, liebe Philippine, wie konnten ſie zulaſſen, daß der Patient bisher ſo viel erhabne, ruͤhrende und poetiſche Empfindungen hatte und niederſchrieb fuͤr andre Menſchen? Haͤtten ſie ihm nicht das Din¬ tenfaß oder den Kaffeetopf umwerfen koͤnnen oder den ganzen Schreibtiſch? die Anſtrengung der em¬ pfindenden Phantaſie iſt unter allen geiſtigen die entnervendſte; ein Algebraiſt uͤberlebt allemal einen Tragoͤdienſteller. “
„ Und auch, ſagt 'ich, einen Phyſiologen: Hallers verdammte und doch vortrefliche Phyſiolo¬ gie haͤtte mich beinahe niedergearbeitet, die acht Baͤnde hier. “— —
„ Eben darum — fuhr er fort — dieſe anato¬ miſche Oktapla ſpannt die Phantaſie, die ſonſt nur uͤber fließende poetiſche Auen zu ſchweben pfleg¬ te, auf ſcharf abgeſchnittene und noch dazu kleine Gegenſtaͤnde an; daher. “...
„ Zum Gluͤck — unterbrach ich ihn — richtete ich mich und meine Phantaſie ziemlich durch brau¬268 nes Bier*)Da keine Leſer weniger Ernſt verſtehen als die, die kei¬ nen Spaß verſtehen: ſo merk 'ich für dieſe Klaſſe hier un¬ ten an, daß die Sache oben wirklich ſo iſt und daß ich (als gleich unmäßiger Waſſer - und Kaffeetrinker) kein an¬ dres nervenſtärkendes Mittel gegen intermittierenden Puls und Athem und andre Schwächen, die mir alle innere Anſtrengung verbitterten, von ſolcher Wirkung fand als — braunes Bier. wieder auf, das ich (wenn ich Athem holen wollte) ſo lange nehmen muſte als ich uͤber dem Herrn v. Haller ſaß. In dieſem Vehikel und in dieſer Verduͤnnung bracht' ich dieſe Arznei des Geiſtes, die Phyſiologie, leichter hinein. Ich kann alſo, wenn ich nicht der groͤſte Trinker werden will, unmoͤglich der groͤſte Phyſiolog werden. “
„ Es iſt gut — ſagt 'er ungeduldig und zog aus ſeinem Muf den Schwanz heraus — aber ſo wird nichts. Ich und du ſtehen hier in lauter Ex¬ travagations-Reden, ſtatt in vernuͤnftige Para¬ graphen: die Rezenſenten deiner Biographie muͤſ¬ ſen glauben, ich waͤre wenig ſyſtematiſch.
„ Ich will jezt reden wie ein Buch oder wie ei¬ ne Doktordiſputation; ich ſollte ohnehin eine fuͤr einen Doktoranden mit der D. Manie ſchreiben und wollte darin entweder den nervus iſchiaticus269 oder den nervus ſympatheticus durchgehen; ich wills bleiben laſſen und hier und in der Diſputation von ſchwachen Nerven uͤberhaupt reden. “
„ Jeder Arzt muß eine Favorit-Krankheit ha¬ ben, die er oͤfters ſieht als eine andre — meine iſt Nervenſchwaͤche. Reizbare, ſchwache, uͤber¬ ſpannte Nerven, hyſteriſche Umſtaͤnde und deine Hypochondrie — ſind viele Taufnamen meiner ein¬ zigen Lieblingskrankheit. “
„ Man kann ſie ſo zeitig wie den Erbadel be¬ kommen — der Erbadel ſelber, faſt die hoͤhern Weiber und hoͤchſten Kinder haben ſie aus dieſer erſten Hand — dann kann ſie durch alle Doktor - Huͤthe gleich den ewigen Hoͤllenſtrafen nicht wegge¬ nommen ſondern nur gelindert werden. “
„ Du aber haſt ſie dir wie den Kaufadel durch Verdienſte erworben. “— —
„ Sie iſt vielmehr ſelber ein Verdienſt — ſagt 'ich — und ein Hypochondriſt iſt der Milchbruder ei¬ nes Gelehrten, wenn er nicht gar einer iſt; ſo wie die Blattern, die den Affen ſo gut wie uns befallen, auf ſeine Verwandſchaft mit dem Men¬ ſchen das Siegel druͤcken. “—
270„ Aber dein Verdienſt — fuhr er fort — iſt viel leichter zu kurieren. Wenn man dir dreierlei, naͤm¬ lich deine pathologiſchen Fieberbilder — deine Arzeneiglaͤſer — und deine Buͤcher nimmt: ſo wird die Krankheit mit drein gegeben. Ich ver¬ geſſe immerfort, daß ich wie eine Diſputation reden will. Alſo die Fieberbilder! — die jaͤmmerlichſte Semiotik iſt ſicherlich nicht die ſineſiſche, ſondern die hypochondriſche. Deine Krankheit und eine ſtoiſche Tugend gleichen ſich darin, daß wer eine hat, alle hat. Du ſtandeſt als eine tragende Pfaͤnderſta¬ tue da, der die Pathologie alle ihre Inſignien und Schilde aufpackte und umſteckte — jaͤmmerlich ſchrit¬ teſt du herum unter deinem mediziniſchen Gewehrtra¬ gen und deiner ſemiotiſchen Landfracht von Herzpo¬ lypus, mazerierten Lungenfluͤgel, Magen-Inſaſſen u. ſ.w. “
„ Ah! jezt iſts — verſetzt 'ich — wieder herun¬ ter und ich habe bloß einen Waſſerſchatz im Kopfe, der mir einen angenehmen Schlagfluß verſpricht. “
„ Grillen haſt du im Kopfe: es iſt aber ſo. Im Hypochondriſten ſind zwar alle Nerven ſchwach, aber die am ſchwaͤchſten, die er am meiſten gemißbraucht hat. Da man ſich dieſe Schwaͤche meiſtens erſitzt,271 erſtudiert und erſchreibt und mithin gerade dem Un¬ terleib, der doch der Moloch dieſer Geiſteskinder ſeyn ſoll, alle die Bewegung nimmt, die man den Fin¬ gern giebt: ſo vermengt man den ſiechen Unterleib mit ſiechen Nerven und hoft, Kaͤmpfs Viszeral - Spruͤtze ſei zugleich eine Doppelflinte gegen jenen und gegen dieſe. Glaub 'es aber nicht; es kann ein hypochondriſches Bruſtſtuͤck auf einem ruͤſtigen Mo¬ biliar-Unterleib ſitzen. Nicht deine Lungenfluͤgel ſind zerknickt, wenn ſie zuweilen erſchlaffen, ſon¬ dern deine Lungennerven ſind entſeelt, von denen ſie gehoben werden oder auch deine Zwergfells - Nerven; — ſpannen ſich deine Magennerven ab, ſo haſt du ſo viel Schwindel und Eckel als laͤge wirklich diaͤtetiſcher Bodenſatz im Magen oder ir¬ gend eine Adern-Fluth im Kopfe. Sogar der ſchwache Magen iſt nicht immer im Gefolge ſchwa¬ cher Nerven. — Dein Herbſt-Kolorit, deine fleiſchloſe Knochen-Verſteinerung, dein aufhoͤren¬ der Puls, ſo gar deine Ohnmachten haben — nichts zu ſagen, mein lieber Paul!
„ Ei! den Henker! ſagte der Patient! “
„ Denn, ſagte der Doktor, da alles durch Nerven, wovon oft Gelehrte nicht einmal die De¬272 finition wiſſen, ausgefuͤhret wird! ſo muͤſſen die periodiſchen und wandernden aber fluͤchtigen Kraͤm¬ pfe und Ermattungen der Nerven nach und nach die ganze Semiotik durchlaufen, aber nicht die ganze Pathologie. Jezt tritt mein zweiter Para¬ graph in der umgoldeten Diſputation hervor. “—
„ Wo war denn der erſte? “
„ Schon da! daher wirft der zweite alle Arz¬ neiglaͤſer auf die Gaſſe, blaͤſet alle Pulver in die Luft, legt mit Banſtrahlen alle verdammte Ma[¬]gen-Arzeneien in Aſche, gießet[ſogar] warme und oft kalte Badewannen aus und ſchiebt Kaͤmpfs Kly¬ ſtiermaſchienen weit unters Krankenbett und tobt ſehr, ... Denn die Nerven werden ſo wenig in einer Woche (es ſei die beſte Eiſenkur da) geſtaͤrkt als in einer Woche (es ſei die groͤſte Ausſchweifung da) entmannt; ihre Staͤrke kehret mit ſo langſa¬ men Schritten zuruͤck als ſie ſich entfernte. Die Arzneien muͤſſen ſich alſo in Speiſen — und da das ſchadet — mithin die Speiſen in Arzneien verwan¬ deln. “
„ Ich eſſe vom Wenigſten. “
„ Das iſt die unangenehmſte — Unmaͤßigkeit und der Magen treibt da nach ſeinen Kraͤften eineArt273Art Skepticismus oder Fohiſmus oder doch Apathie. Kehre lieber die litterariſche Regel um und eſſe vielerlei, aber nicht viel (multum non multa.) Die Diaͤtetik hat in Eſſen, Trinken, Schlafen ꝛc. nichts uͤber die Art, aber alles uͤber den Grad zu befehlen. Hoͤchſtens hat jeder ſeinen eignen Re¬ genbogen, ſeinen eignen Glauben, ſeinen eignen Magen und ſeine eigne — Diaͤtetik. Und doch iſt das alles nicht mein dritter Doktoranden-Para¬ graph, ſondern erſt das: bloß Bewegung des Koͤrpers iſt erſter Unterarzt gegen Hypochondrie; — und — da ich ſchon Hypochondrie und Bewe¬ gung vereinigt im beweglichen tiers état geſehen — bloß Mangel aller Bewegung der Seele iſt der er¬ ſte Leibarzt gegen den ganzen Teufel. Leidenſchaf¬ ten ſind ſo ungeſund wie[] ihr Feind, das Den¬ ken, oder ihr Freund, das Dichten; bloß ihre ſaͤmmtliche Koalition iſt noch giftiger. “
„ Unter den Leidenſchaften — fuhr er fort — loͤſet Kummer wie Thauwetter alle Kraͤfte auf — ſo wie Vergnuͤgen unter allen Nerven-Aphrodiſiaka das ſtaͤrkſte iſt. — Jezt will ich alle deine medizi¬ niſchen Schnitzer und Waldfrevel auf Einen Hau¬2. Theil. S274fen bringen, damit du nur hoͤreſt was du biſt. “..
„ Ich hoͤre nicht darauf. “
„ Du haſt aber doch wie alle Hypochondriſten und alle lecke Weiber fatal gehandelt und bald den Magen bald die Lunge, d. h. bald das Kamrad bald das Hebrad bald das Zifferblattsrad gießend eingeſchmiert, indeß der treibende Gewicht-Stein abgeriſſen oder abgelaufen auf der Erde lag. Du ſaugteſt dich wie die einbeinige Muſchel an deinen Studierfelſen an. Und — das war im Grunde das einzige Schlimme — druͤckteſt dich mit der bren¬ nenden und matten Bruſt einer Bruthenne, auf deine biographiſchen Eier und Sektores und wollteſt nachkommen. Wo blieb dein Gewiſſen, deine Schweſter, dein gelehrter Ruhm, dein Magen? ..
„ Wedele nicht ſo, Fenk, mit dem Muf - Schwanz und werf 'ihn ins Bett; “
„ Meine Doktor-Diſputation und deine Krank¬ heit ſind auch aus, wenn deine Thaͤtigkeit ſich wie in einem Staat von oben herab vermindert: den Kopf unthaͤtig, das Herz in heitern Schlaͤgen, die Fuͤße im Laufe und dann komm der Maͤrz nur her¬ aus! “....
275Ich thats einige Monate hinter einander; um den armen Leib wieder in integrum zu reſtitui¬ ren — und als ich mich ſo des gelben Ratzenpulvers und Mehlsthaues fuͤr die Nerven, naͤmlich des Kaf¬ fees und des Witzes enthielt und ſtatt beider zu brau¬ nem Bier und zu meinem Wuze grif: ſo wurde einmal ploͤtzlich die Stube hell, Auenthal und der Himmel flammend, die Menſchen legten ihre Fehler ab, alle Flaͤchen gruͤnten, alle Kehlen ſchlugen, alle Herzen laͤchelten, ich nieſete vor Licht und Wonne und dachte: entweder eine Goͤttin iſt gekommen oder der Fruͤhling — — es war gar beides und die Goͤt¬ tin iſt die Geſundheit.
Und blos auf deinem Altar will ich meine biogra¬ phiſchen Blaͤtter weiter ſchreiben! — der Peſtilenziar thuts nicht anders; ſeine Schluͤſſe und Rezepte ſind die: „ ich wuͤrde — ſagt 'er — in meiner Biographie gleich der heißen Zone den ganzen Winter mit allen ſeinen Faktis uͤberſpringen, da er ohnehin nur wie in jener Zone im Regnen (der Augen) beſteht. Ich wuͤrde wenn ich an deiner Stelle ſaͤße, ſagen, der Doktor Fenk wills nicht haben, nicht leiden, nicht le¬ ſen, ſondern ich ſoll ſtatt in einer Entfernung von 365 Stunden der[vorausſchreitenden] ſaͤenden Ge¬S 2276ſchichte keuchend mit der Feder nachzueggen, lieber hart hinter der Gegenwart halten und ſie ans Sil¬ houettenbrett andruͤcken und ſo gleich abreißen. Ich wuͤrde (fuhr Fenk fort) dem Leſer rathen, bloß den D. Fenk anzupacken, der allein ſchuld waͤre, daß ich vom ganzen Winter nur folgenden ſchlechten Extrakt gaͤbe:
Der gute Guſtav verſchmerzte den Winter in Hoppedizels Hauſe bei ſeinen Eltern; mattete ſei¬ nen Kopf ab, um ſein Herz abzumatten und ein anderes zu vergeſſen; bereuete ſeinen Fehler, aber auch ſeinen voreiligen Abſchiedsbrief; ſetzte ſei¬ ne Wunden dem philoſophiſchen Nordwind des Pro¬ feſſors aus, der auf einem zarten Inſtrument wie Guſtav iſt, wie auf einem Pedal mit den Fuͤßen or¬ gelt; und zehrte durch Einſperren, Denken und Sehnen ſeine Lebensbluͤthen ab, die kaum der Fruͤh¬ ling wieder nachtreiben oder mahlen kann,
Beata wuͤrde zu Hauſe — denn ihr weibliches Auge fand wahrſcheinlich die Parze ihrer Freuden leicht heraus, von der ſie ſich unter dem ihr verdank¬ ten Vorwand der Kraͤnklichkeit ohne Muͤhe geſchieden hatte — noch mehr ſich entblaͤttert und umgebogen haben, waͤre mein romantiſcher Kollege Oefel nicht geweſen: der aͤrgerte ſie hinlaͤnglich und miſchte ih¬277 rem Kummer die Erfriſchungen des Zornes bei, in¬ dem er immer kam und im ſchoͤnſten gebrochnen eingeſchleierten Auge der verlohrnen Liebe ſeine auf¬ ſuchte und herausforderte. Jezt trinkt ſie, auf Fenks Treiben, den Brunnen in Lilienbad und lebt allein mit einem Kammermaͤdgen — — der Mai hebe die geſenkte Blumen-Knoſpe deines Gei¬ ſtes empor, den dein Flockenleib, wie Blumen neu gefallner Schnee, umlegt und druͤckt und aus deſſen aufgeriſſenen Blumen-Blaͤttern die Schnee - Rinde erſt unter der Fruͤhlingsſonne des entfern¬ ten zweiten Himmels rinnen wird! —
Ottomar hat den Winter verzankt und ver¬ ſtritten; hat viele Korreſpondenz; advoziert wie ich, aber gegen jeden giftigen Stammbaum und Hundsſtern auf dem Rock, am meiſten gegen den Fuͤrſtenhut ſeines Bruders, der damit Unter¬ thanen wie Schmetterlinge erwirft und faͤngt. Er glaubt, ein Advokat ſei der einzige Volkstribun gegen die Regierung, nur ſei das bisherige Leſen der Advokaten ſchlimmer geweſen als ſelbſt das Buchſtabieren, das der ſeel. Heinecke fuͤr ſchlim¬ mer ausſchrie als Erbſuͤnde und Peſt. Ich moͤchte ihn faſt fuͤr den Verfaſſer einer Satire uͤber den278 Fuͤrſten halten, die im Winter vor den Thron kam und die der Pathenbrief eines Raͤubers mit der Bitte war, der Fuͤrſt moͤchte dem kleinen Diebs-Dauphin ſeinen Namen geben wie einem Miniſter und ſich ſeiner annehmen wenn die Eltern gehenkt waͤren. Am meiſten fielen nur einige paſ¬ quillantiſche Zuͤge auf, die eine feinere Hand ver¬ rathen: z. B. der Staat ſei eine Menſchenpyra¬ mide, wie ſie oft die Seiltaͤnzer formieren und die Spitze derſelben ſchließe ſich mit einem Knaben — das Volk ſei zaͤhe und biegſam wie das Gras, wer¬ de vom Fußtritt nicht zerknickt, wachſe wieder nach, es moͤge abgebiſſen oder abgeſchnitten wer¬ den und die ſchoͤnſte Hoͤhe deſſelben fuͤr ein monar¬ chiſches Auge ſei die glattgeſchorne des Park-Gra¬ ſes — Diebe und Raͤuber wuͤrden fuͤr Separatiſten und Diſſenters im Staate gehalten und lebten un¬ ter einem noch aͤrgern Druck als die Juden, ohne alle buͤrgerliche Ehre, von Aemtern ausgeſchloſſen, in Hoͤlen wie die erſten Chriſten und eben ſolchen Verfolgungen ausgeſetzt; gleichwohl fahre man ſolchen Staatsbuͤrgern, die den Luxus und Geld – Umtrieb und Konſumtion und Handel ſtaͤrker be¬ foͤrderten als irgend ein Geſandter, bloß darum279 ſo hart mit; weil dieſe Religionsſekte beſondere Meinungen uͤber das ſiebente Gebot hegten, die im Grunde nur im Ausdruck ſich von denen ande¬ rer Sekten unterſchieden ꝛc. —
Der Verfaſſer kann aber auch ein wirkliches Mitglied dieſer geheimen Geſellſchaft ſeyn, die uͤberhaupt weit humoriſtiſcher und unſchaͤdlicher ſtiehlt als jede andre. Neulich hielten ſie den Poſtwagen an und nahmen ihm nichts als ein Grafen-Diplom, das jemand zugefahren wurde, der nicht die Emballage deſſelben verdiente — fer¬ ner ſie foderten einmal wie ein hoͤherer Gerichts¬ ſtand dem Beiwagen gewiſſe wichtige Akten ab, uͤber die ich hier nichts ſagen darf — und vor 14 Tagen hielten ihre Kaper-Schiffe vor den Schraͤn¬ ken der Theater - und der Redouten-Garderobe und warfen ihre Zuggarne uͤber die darin haͤngen¬ den Charakter aus; es waren nachher keine Klei¬ der zum Agieren und Maſkieren da als baͤueriſche. — Ich halte ſie fuͤr dieſelben, die wie der Leſer weiß, vorlaͤngſt den leidtragenden Kanzeln und Al¬ taͤren die ſchwarzen Fluͤgeldecken abgeloͤſet haben.
So waͤre alſo der biographiſche Winter abge¬ than und weggeſchmolzen. — „ Haſt du ſo viel ge¬280 ſchrieben — ſagte Fenk — ſo reiſe nach Lilien¬ bad und brauche den Brunnen und den Brunnen - Doktor welches ich bin, und den Brunnen-Gaſt, welches Guſtav iſt: denn dieſer heilet ohne das Lilien-Waſſer und ohne die Lilien-Gegend dort nicht aus; ich muß ihn hinbereden, es mag dort ſchon ſeyn wer will. Freue dich, wir gehen einem Paradies entgegen und du[biſt] der erſte Autor im Paradieſe, nicht Adam.”
„ Das ſchoͤnſte Beet — ſagt 'ich — iſt in die¬ ſem Eden das, daß mein Werk kein Roman iſt: die Kunſtrichter ließen ſonſt fuͤnf ſolche Perſonen auf einmal wie uns nimmermehr ins Bad, ſie wuͤrden vorſchuͤtzen, es waͤre nicht wahrſcheinlich, daß wir kaͤmen und uns in einem ſolchen Himmel zuſammen faͤnden. Aber ſo hab' ich das wahre Gluͤck, daß ich bloß eine Biographie ſetze und daß ich und die andern ſaͤmmtlich wirklich exiſtieren, auch außer meinem Kopfe. ” ...
— — Jezt kann der Leſer den Geburtstag dieſes Sektors hoͤren — — er iſt gerade einen Tag juͤnger als unſer Gluͤck — kurz morgen reiſen wir, ich und Philippine, und heute ſchreib 'ich ihn. Guſtav wird bloß durch einen Strom von freund¬281 ſchaftlichen und mediziniſchen Vorſtellungen mit fort¬ gefuͤhret und morgen von uns fortgezogen. — Die Fortuna hat dieſesmal keine Vapeurs und keine ein¬ ſeitigen Kopfſchmerzen; alles gluͤckt uns; eingepackt iſt alles — meine Dilatationsgeſuche ſind geſchrieben — aus Maußenbach darf mich niemand ſtoͤhren — der Himmel iſt himmliſch blau und ich brauche nicht meinen Augen, ſondern dem Cyanometer*)Ein Blau-Meſſer, um die Grade des Himmelblaues abzu¬ meſſen. des H. v. Sauſſure zu glauben — ich ſehe wie der Fruͤhling und ſeine gaukelnden Schmetterlinge aus und bluͤhe — kurz: meinem Gluͤck fehlte nichts als daß gar der heutige Sektor gluͤcklich geſchrieben war, den[ich] bis heute hinausſpielte, um die ganze Vergangenheit hinter mir zu haben und morgen nichts beſchreiben zu muͤſſen als morgen ....
Und da der jezt auch fertig iſt: ſo — blauer Mai, — breite deine Liebes-Arme aus, ſchlage deine him¬ melblauen Augen auf, decke dein Jungfrauen-Ange¬ geſicht auf und betrete die Erde, damit alle Weſen wonnetrunken an deine Wangen, in deine Arme, zu deinen Fuͤßen fallen und der Biograph auch wo liege!
282Der Nebel — Lilienbad.
Nimm uns in dein Blumen-Eden auf, eingehuͤll¬ tes Lilienbad, mich, Guſtav und meine Schweſter, gieb unſern Traͤumen einen irdiſchen Boden, damit ſie vor uns ſpielen und ſei ſo daͤmmernd ſchoͤn wie eine Vergangenheit!
Heute zogen wir ein und unſer Vorreiter war ein ſpielender Schmetterling, den wir vor uns von einer Blumen-Stazion auf die andre trieben. — Und der Weg meiner Feder ſoll auch uͤber nichts anders gehen.
Der heutige Morgen hatte die ganze Auentha¬ ler Gegend unter ein Nebel-Meer geſetzt. Der ganze Wolkenhimmel ruhte auf unſern tiefen Blumen aus. Wir brachen auf und giengen in dieſen flieſſenden Himmel hinein, in den uns ſonſt nur die Alpen heben. An dieſem Dunſt-Globus oben zeichnete ſich die Sonne wie eine erblaſſende Nebenſonne hinein: endlich verlief ſich der weiſſe Ozean in lange Stroͤ¬ me — auf den Waͤldern lagen hangende Berge,283 jede Tiefe deckten glimmende Wolken zu, uͤber uns gieng der blaue Himmelszirkel immer weiter aus¬ einander, bis endlich die Erde dem Himmel ſeinen zitternden Schleier abnahm und ihm froh ins groſ¬ ſe ewige Angeſicht ſchauete — das zuſammengeleg¬ te Weißzeug des Himmels (wie meine Schweſter ſagte) flatterte noch an den Baͤumen, und die Ne¬ belflocken verhiengen noch Bluͤten und wogten als Blonden um Blumen — endlich war die Landſchaft mit den glimmenden Goldkoͤrnern des Thaues be¬ ſprengt und die Fluren waren wie mit vergroͤßer¬ ten Schmetterlingsfluͤgeln uͤberlegt. Eine gereinig¬ te hebende Maienluft kuͤhlte mit Eis den Trank der Lunge, die Sonne ſah froͤhlich auf unſern fun¬ kelnden Fruͤhling nieder und ſchaute und glaͤnzte in alle Thaukuͤgelchen wie Gott in alle Seelen .... o wenn ich heute an dieſem Morgen, wo uns alles zu umfaſſen ſchien und wo wir alles zu umfaſſen ſuchten, mir nicht antworten konnte, da ich mich fragte, „ war je deine Tugend ſo rein wie dein Vergnuͤgen und fuͤr welche Stunden will dich dieſe belohnen: “ſo kann ich jetzt noch weniger antwor¬ ten, da ich ſehe, daß der Menſch ſeine Freuden, aber nicht ſeine Verdienſte durch die Erinnerung er¬284 neuern kann und daß unſre Gehirn-Fibern die Sai¬ ten einer Aeolsharfe ſind ‚ die unter dem Anwe¬ hen einer laͤngſt vergangnen Stunde zu ſpielen be¬ ginnen. Der große Weltgeiſt konnte nicht die gan¬ ze ſproͤde Chaos-Maſſe zu Blumen fuͤr uns umge¬ ſtalten; aber unſerem Geiſt gab er die Macht ‚ aus dem zweiten aber biegſamern Chaos ‚ aus dem Ge¬ hirn-Globus nichts als Roſen-Gefilde und Sonnen - Geſtalten und Freuden zu machen. Gluͤcklicherer Rouſſeau als du ſelber wußteſt! Dein jetziger er¬ kaͤmpfter Himmel wird ſich von dem ‚ den du hier in deiner Phantaſie anlegteſt, in nichts als darin unterſcheiden ‚ daß du ihn nicht allein bewohneſt ...
Aber das macht eben den unendlichen Unter¬ ſchied; und wo haͤtt 'ich ihn ſuͤßer fuͤhlen koͤnnen als an der Seite meiner Schweſter, deren Mienen der Wiederſchein unſers Himmels, deren Seufzer das Echo unſerer verſchwiſterten Harmonie geweſen. Sei nur immer ſo, theure Geliebte, die du vom Kranken ſo viel litteſt als ich von der Krankheit! Ich weiß ohnehin nicht, was ich oͤfter von dir zu¬ ruͤcknehme, meinen Tadel oder mein Lob!
Wir langten unter ſprachloſen Gedanken in Un¬ terſcheerau an und fanden unſern bleichen Reiſege¬285 noſſen ſchon bereit, meinen Guſtav. Er ſchwieg viel und ſeine Worte lagen unter dem Druck ſeiner Gedanken: der aͤuſſere Sonnenſchein erblich zu in¬ nerem Mondſchein und kein Menſch iſt froͤhlich, wenn er das Beſte ſucht oder zu finden hoft, was hienieden zu verlieren iſt. — Geſundheit und Liebe. Da in ſolchen Faͤllen die Saiten der Seele ſich nur unter den leichteſten Fingern nicht verſtimmen, d. h. unter den weiblichen: ſo ließ ich meine ruhen und weibliche ſpielen, die meiner Schweſter.
Als wir endlich manchen Strom von Wohlge¬ ruch durchſchnitten hatten — denn man geht oft drauſſen vor parfuͤmirten Luͤftchen vorbei, von de¬ nen man nicht weiß woher ſie wehen; — als alle Freuden-Duͤnſte des heutigen Tages im Auge zum Abendthau zuſammenfloſſen und mit der Sonne ſan¬ ken; als der Theil des Himmels, den die Son¬ ne uͤberflammte, weiß zu gluͤhen anfieng eh 'er roth zu gluͤhen began, indeß der oͤſtliche Theil im dunkeln Blau nun der Nacht entgegen kam; als wir jedem Vogel und Schmetterling und Wan¬ derer, der nach Lilienbad ſeine Richtung nahm, mit den Augen nachgezogen waren: — ſo[ſchloß] uns endlich das ſchoͤne Thal, in das wir ſo viele286 Hofnungen als Saamen kuͤnftiger Freuden mit¬ brachten, ſeinen Buſen auf. — Unſer Eingang war am oͤſtlichen Ende, am weſtlichen ſah uns die zur Erde herabgegangene Sonne an und zerfloß gleichſam aus Entzuͤcken uͤber ihren angewandten Tag in eine Abendroͤthe, die durch das ganze Thal ſchwamm und bis an die Laub-Gipfel ſtieg. — Nie ſah' ich ſo eine: ſie lag wie herab getropfet, in dem Gebuͤſch, auf dem Graſe und Laube und mal¬ te Himmel und Erde zu Einem Roſen-Kelch. Ein¬ zelne, zuweilen gepaarte Huͤtten huͤllten ſich mit Baͤumen zu, lebendige Jalouſie-Fenſter aus Zwei¬ gen preßten ſich an die Ausſichten der Zimmer und bedeckten den Gluͤcklichen, der heraus nach dieſen Szenen der Wonne ſah, mit Schatten, Duͤften, Bluͤten und Fruͤchten. Die Sonne war hinabge¬ ruͤckt, das Thal legte wie eine verwittibte Fuͤrſtin einen Schleier von weiſſen Duͤften an und ſchwieg mit tauſend Kehlen — alles war ſtill — ſtill ka¬ men wir an — ſtill wars um Beatens Huͤtte, an deren Fenſter ein Blumentopf mit einem einzigen Vergißmeinnicht noch vom Begießen troͤpfelte — ſtill waͤhlten wir unſere gepaarte Huͤtten und un¬ ſre Herzen zergiengen uns vor ruhiger Wonne uͤber287 dieſen heiligen Abend unſrer kuͤnftigen Feſttage, uͤber dieſe ſchoͤne Erde und ihren ſchoͤnen Himmel, die beide zuweilen wie eine Mutter ſich nicht regen, damit das an ſie geſunkne Kind nicht aus ſeinem Schlummer wanke. —
O ſollten einmal unſre Tage in Lilienbad auf Dornen ſterben, ſollt 'ich, ſtatt der Freuden-Sekto¬ res einen Jammer-Sektor ſchreiben muͤſſen: — wenn's einmal iſt: ſo ſieht es der Leſer daran vor¬ aus, daß ich das Wort-Freude - vom Sektor weg¬ laſſe und ſtatt der Ueberſchrift nur Kreuze mache. Es iſt aber unmoͤglich; ich kann meinen Bogen ru¬ hig beſchlieſſen. — Beata haucht noch ein leiſes Abendlied in ihr mit Saiten uͤberzognes Echo; wenn beide ausgetoͤnet, ſo wird der Schlaf das Sinnen¬ licht der Menſchen in Lilienbad ausloͤſchen und das Nachtſtuͤck des Traums in den daͤmmernden See¬ len ausbreiten ....
288Der Brunnen — die Klagen der Liebe.
Ich bin im erſten Himmel eingeſchlafen und im dritten aufgewacht. Man ſollte an keinen Orten aufwachen als an fremden — in keinen Zimmern als denen, in die die Morgenſonne ihre erſten Flam¬ men wirft — vor keinen Fenſtern als denen, wo das Schattengruͤn wie ein Namenszug im himm¬ liſchen Feuerwerk brennt und wo der Vogel zwiſchen den durchhuͤpften Blaͤttern ſchreiet ....
Ich wollte mein kuͤnftiger Rezenſent lebte mit mir auf der Stube zu Lilienbad; er wuͤrde nicht (wie er thut) uͤber meine Freuden-Sektores den aͤſthetiſchen Stab brechen ſondern[ einen] Eichenzweig, um den Vater derſelben zu bekraͤnzen ....
Dieſer Vater iſt jetzt ein Damenſchneider, aber bloß in folgendem Sinn: in der Mitte von Lilien¬ bad ſteht das mediziniſche Baſſin, aus dem man die aus der Erde quellende Apotheke ſchoͤpft; von dieſem Baſſin entfernen ſich in regelloſer Symme¬ trie die artiſtiſchen Bauerhuͤtten die die Badgaͤſtebewoh¬289bewohnen; jede dieſer kleinen Huͤtten putzt ſich ſcherzhaft mit dem heraushaͤngenden Malzeichen oder der Signatur irgend eines Handwerks. Mein Haͤuschen haͤlt eine Scheere als eine techniſche In¬ ſignie heraus, um kund zu thun, wer drinnen wohne (welches ich thue), treibe das Damenſchnei¬ der-Handwerk. Meine Schweſter iſt (nach dem Ex¬ ponenten eines hoͤlzernen Strumpfs zu urtheilen) ein Strumpfwirker; neben ihr ſchwankt ein hoͤlzer¬ ner Stiefel oder ein hoͤlzernes Bein (wer kanns wiſſen?) und ſaget uns ſo gut wie ein Handwerks¬ grus den darin ſeßhaften Schuſter an, welches nie¬ mand als mein Guſtav iſt.
Auf Beatens Huͤtte, die wie jetzige Damen einen Hut oder ein Dach von Stroh aufhat, liegt eine lange Leiter hinauf und kuͤndigt die ſchoͤne Baͤuerin darin an und iſt die Himmelsleiter, un¬ ter der man wenigſtens Einen Engel ſieht.
Es iſt auch auswaͤrts bekannt, daß unſer Fuͤr¬ ſtenthum ſo gut ſeinen Geſundbrunnen hat und ha¬ ben muß als irgend eines auf der Fuͤrſtenbank — (denn jedes muß eine ſolche pharmazevtiſche Quelle wie einen Flakon bei ſich fuͤhren, um gegen kame¬ raliſtiſche Ohnmacht daran zu riechen) — ferner2. Theil. T290kann es bekannt ſeyn, daß ſonſt viele Gaͤſte hier¬ her kamen und jetzt keine Katze — und daß daran nicht der Brunnen ſondern die Kammer ſchuld iſt, die zuviel hineinbauete und zuviel heraus haben will und die ſo theuer anfieng als der Seltersbrun¬ nen endigte — daß mithin unſer Brunnen ſo wohl¬ feil endigen will als jener anfieng — und daß un¬ ſer Lilienbad bei allen mediziniſchen Kraͤften doch die wichtigere nicht hat, einen wenigſtens nur ſo krank zu machen als eine Kammerjungfer iſt — — ich ſagte, das waͤr 'alles bekannt genug und ich hatt' es alſo gar nicht zu ſagen gebraucht.
Freilich iſts nicht das Verdienſt der andern Ge¬ ſundbrunnen wenn ſie angenehme Krankheitsbrun¬ nen ſind, um die ſich die ganze große und reiche Welt als Prieſter ſtellet — haͤtten wir nur hier in Lilienbad auch ſolche weibliche Engel wie in andern Baͤdern, die den Teich von Bethesda erſchuͤttern und ihm eine mediziniſche Kraft mittheilen, die der des bibliſchen Teiches entgegengeſetzt iſt: haͤt¬ ten wir Spieler, die zum Sitzen, Brunnenaͤrzte, die zum Brunnenſaufen (nicht Brunnentrinken) zwingen: ſo wuͤrde unſere Quelle ſo gut wie jede andre Deutſche faͤhig ſeyn, die Zechgaͤſte in Stand291 zu ſetzen, daß ſie jedes Jahr — wieder kaͤmen. Aber ſo wird unſere Brunneninſpektion ewig ſehen muͤſſen wie die kranke Phalanx der großen Welt vor uns vorbei rollt und um andre Brunnen ſich draͤngt, wie die wilden Thiere um einen in Afrika; und wenn Plinius*)Nach den Alten verſammelten die ſeltnen Brunnen alle wilde Thiere um ſich; und dieſe Zuſammentreffungen ga¬ ben — wie die in Retouden — zu noch ſonderbarerern, und zum Sprichwort „ Afrika bringt immer etwas Neues „ oder zu Mißgeburten Gelegenheit. aus dieſen Thierkonventen das Sprichwort in der Note erklaͤrt: ſo wollt 'ich auch aͤhnliche Neuigkeiten aus den Brunnenkongreſſen er¬ klaͤren.
Die Kammer iſt am Ende am meiſten zu be¬ dauern, daß in unſerem Joſaphats-Thale bloß Natur, Seeligkeit, Maͤßigkeit und Auferſtehung wohnet.
Heute tranken wir alle am Waſſer-Baquet das uͤber Eiſen abgezogne Waſſer unter dem Laͤrm der Voͤgel und Blaͤtter und ſchlangen das daraus ſchim¬ mernde Sonnenbild und zugleich ihr Feuer mit hin¬ ein. Der Kummer-Winter hat um die Augenlie¬ der der Beata und um ihren Mund die unausſprech¬T 2292lich-holden Buchſtaben ihres verblichnen Schmerzes gezogen: ihr großes Auge iſt ein ſonnenheller Him¬ mel, dem glaͤnzende Tropfen entfallen. Da ein Maͤdchen die Pfauenſpiegel ihrer Reize leichter an einem andern Maͤdchen als an einer Mannsperſon entfalten kann: ſo gewann ſie ſehr durch das Spiel mit meiner Schweſter. Guſtav — fehlte: er trank ſeinen Brunnen[nach] und verirrte ſich in die Reize der Gegend, um eigentlich den groͤßern Reizen ih¬ rer Bewohnerin zu entkommen. Das Gluͤck ausge¬ nommen, ſie zu ſehen, kannt 'er kein groͤßeres als das, ſie nicht zu ſehen. Sie ſpricht nicht von ihm, er nicht von ihr: ſeine herauswollende Ge¬ danken an ſie werden nicht zu Worten ſondern zu Erroͤthungen. Wollte der Himmel, ich faßte ſtatt einer Biographie einen Roman ab: ſo fuͤhrt' ich euch, ſchoͤne Seelen, einander naͤher und kon¬ ſtruirte unſern freundſchaftlichen Zirkel aus ſeinen Segmenten wieder; dann bekaͤmen wir hier einen ſolchen Himmel, daß wenn der Tod vorbei gienge und uns ſuchte, dieſer ehrliche Mann nicht wuͤßte, ob wir ſchon drinnen ſaͤßen oder von ihm erſt hin¬ ein zu ſchaffen waͤren ....
293Ich habe verſtaͤndig und delikat zugleich gehan¬ delt, daß ich einen gewiſſen Aufſatz, den Beata im Winter machte und zu dem ich auf eine eben ſo ehrliche als feine Weiſe kam, vor Guſtav ſo gut brachte wie vor meine Leſer jetzt. Er iſt an das Bild ihres wahren Bruders gerichtet und be¬ ſteht in Fragen. Der Schmerz liegt auf den weib¬ lichen Herzen, die geduldig unter ihm ſich druͤcken laſſen, mit groͤßerer Laſt als auf den maͤnnlichen auf, die ſich durch Schlagen und Pochen unter ihm wegarbeiten; wie den unbeweglichen Tan¬ nengipfel aller Schnee belaſtet, indeß auf den tie¬ fern Zweigen, die ſich immer regen, keiner bleibt.
„ Warum blickſt du mich ſo laͤchelnd an, du theures Bild? Warum bleibt dein Farben-Auge ewig trocken, da meines ſo voll Thraͤnen vor dir ſteht? O wie wollt 'ich dich lieben, waͤreſt du traurig gemalt!
Ach Bruder! ſehneſt du dich nach keiner Schwe¬ ſter, ſaget dirs dein Herz gar nicht, daß es in der oͤden Erde noch ein zweites giebt, das dich ſo un¬ ausſprechlich liebt? — Ach haͤtt 'ich dich nur Ein¬294 mal in meine Augen, in meine Arme gefaſſet — — wir koͤnnten uns nie vergeſſen! Aber ſo .... wenn du auch verlaſſen biſt wie deine Schweſter, wenn du auch wie ſie, unter einem Regen - Himmel und durch eine leere Erde geheſt und keinen Freund in den Stunden des Kummers findeſt — ach, du haſt alsdann nicht einmal ein verſchwiſtertes Bild, vor dem dein Herz ausblutet! — O Bruder, wenn du gut und ungluͤcklich biſt: ſo komm' zu deiner Schwe¬ ſter und nimm ihr ganzes Herz — es iſt zerriſſen, aber nicht zertheilt und blutet nur! O es wuͤrde dich ſo ſehr lieben! Warum ſehneſt du dich nach keiner Schweſter? O du Ungeſehener, wenn dich die Fremden auch verlaſſen, auch taͤuſchen, auch vergeſſen, warum ſehneſt du dich nach keiner treuen Schweſter? — Wenn kann ich dirs ſagen, wie oft ich dein ſtummes Bild an mich gepreſſet, wie oft ich es ſtundenlang ange¬ blicket und mir Thraͤnen in ſeine gemalten Augen ge¬ dacht habe bis ich ſelber daruͤber in ſtroͤmende ausge¬ brochen bin? — Verweile nicht ſo lange, bis deine Schweſter mit dem ermuͤdeten Herzen unter der Lei¬ chendecke ausruhet und mit allen ihren vergeblichen Sehnen, mit ihren vergeblichen Thraͤnen, mit ih¬ rer vergeblichen Liebe in kalte vergeſſene Erde zer¬295 faͤllt! Verweile auch nicht ſo lange, bis unſere Ju¬ gend-Auen abgemaͤhet und eingeſchneiet ſind, bis das Herz ſteifer und der Jahre und Leiden zu viele geworden ſind. — — — Es wird auf einmal mei¬ nem Innern ſo wehe, ſo bitter .... Biſt du viel¬ leicht ſchon geſtorben, Theurer? — Ach das betaͤubt mein Herz — wende dein Auge, wenn du ſelig biſt, von der verwaiſeten Schweſter und erblick 'ihre Schmerzen nicht — ach ich frage mich ſchwer im blutenden Innern: was hab' ich noch das mich liebt? und ich antworte nicht “....
Die Leſer haben den Muth, daraus mehr zu Guſtavs Vortheil zu errathen als er ſelber. Ihm als Helden dieſen Buchs muß dieſes Blatt willkom¬ men ſeyn; aber ich als ſein bloßer Hiſtoriograph hab 'nichts davon als ein Paar ſchwere Szenen mehr, die ich jedoch aus wahrer Liebe gegen den Leſer gern verfertige — Billionen wollt' ich deren ihm zu Ge¬ fallen komponiren. Nur thut es meiner ganzen Biographie ſchaden, daß die Perſonen, die ich hier in Aktion ſetze, zugleich mich in Aktion ſetzen und daß der Geſchicht - oder Protokollſchreiber ſelber unter die Helden und Partheien gehoͤrt. Ich296 waͤre vielleicht auch unpartheiiſcher, wenn ich dieſe Geſchichte ein Paar Jahrzehende oder Jahrhunder¬ te nach ihrer Geburt aufſetzte, wie die, die kuͤnftig aus mir ſchoͤpfen werden, thun muͤſſen. Die Maler befehlen dem Portraitmaler dreimal ſo weit vom Originale abzuſitzen als es groß iſt — und da Fuͤrſten ſo groß ſind und da ſie folglich nur von Autoren gezeichnet werden koͤnnen, die in einer dieſer Groͤße gleichen Entfernung des Orts oder der Zeit von ihnen wegſitzen: ſo waͤre zu wuͤnſchen, ich ſtaͤnde nicht neben[unſerm] Fuͤrſten, damit ich ihn nicht ſo vortheilhaft abmalte als ich thue ...
297Sonntagsmorgen — ofne Tafel — Gewitter — Liebe.
Welch ein Sonntag! — Heut iſt Montag. Ich weiß kein Mittel, mich der ich (wie wir alle durch unſer Iſoliren) ein Freuden-Elektrophor gewor¬ den, auszuladen als durch Schreiben, ich muͤßte denn tanzen. Guſtav hoͤr 'ich heruͤber: der hat zum Auslader einen Fluͤgel und ſpielt ihn. Der Fluͤgel wird mir dieſen Sektor ſehr erleichtern und mir manchen funkelnden Gedanken zuwerfen. Ich hab' mir oft gewuͤnſcht, nur ſo reich zu werden, daß ich mir (wie die Grachen thaten) einen eignen Kerl halten koͤnnte, der ſo lange muſicirte als ich ſchriebe. — Himmel! welche opera omnia ſproͤſſen heraus! Die Welt erlebte doch das Vergnuͤgen, daß da bisher ſo viele poetiſche Flickwerke (z. B. die Medea) der Anlaß zu muſikaliſchen Meiſterwer¬ ken waren, ſich der Fall umkehrte und daß mu¬ ſikaliſche Nieten poetiſche Treffer gaͤben. —
Vor Tags machten wir uns geſtern aus dem Bette, ich und mein muſikaliſcher Soufleur. „ Wir298 muͤſſen, ſagt 'ich zu ihm, vier volle Stunden drauſſen herumjagen, eh' wir in die Kirche gehen “— naͤmlich nach Ruheſtat, wo der vortrefliche Hr. Buͤrger aus Großenhayn*)Seine vor einem Jahre gedruckten Predigten werden nach dem Geſchmack eines jeden ſeyn, der meinen hat. als Gaſtprediger auftreten ſollte. Alles geſchah. Bis dieſe Stunde weiß ich nicht, zieh 'ich eine laue Sommernacht oder einen kalten Sommermorgen vor: in jener rinnt das zerſchmolzene Herz in Sehnen aus einan¬ der; dieſer haͤrtet das gluͤhende zur Freude zuſam¬ men und ſtaͤhlet ſein Schlagen. Unſere vier Stun¬ den zu palingeneſiren — muͤßte man aus hundert Luſt - und Jagdſchloͤſſern die Minuten dazu zuſam¬ mentragen und es hinkte doch. Die Morgendaͤm¬ merung iſt fuͤr den Tag, was der Fruͤhling fuͤr den Sommer iſt, wie die Abenddaͤmmerung fuͤr die Nacht, was der Herbſt fuͤr den Winter. Wir ſa¬ hen und hoͤrten und rochen und fuͤhlten wie all¬ maͤhlig ein Stuͤckchen vom Tag nach dem andern aufwachte — wie der Morgen uͤber Fluren und Gaͤrten gieng und ſie wie vornehme Morgenzimmer mit Bluͤten und Blumen raͤucherte — — wie er ſo zu ſagen alle Fenſter oͤfnete, damit ein kuͤhlender299 Luftzug den ganzen Schauplatz durchſtriche — wie jede Kehle die andre weckte und ſie in die Luͤfte und Hoͤhen zog, um mit trunkner Bruſt der ſteigenden vertieften Sonne entgegen zu fliegen und entgegen zu ſingen — wie der bewegliche Himmel tauſend Far¬ ben rieb und verſchmolz und den Faltenwurf ſeiner Wolken verſuchte und kolorirte ..... So weit war der Morgen, als wir noch im thauenden Thale gien¬ gen. Aber als wir aus ſeiner oͤſtlichen Pforte hin¬ austraten in eine unabſehliche mit wachſenden Guir¬ landen und regem Laubwerk muſiviſch ausgelegte Aue, deren ſanfte Wellenlinie in Tiefen fiel und auf Hoͤhen floß, um ihre Reize und Blumen auf und nieder zu bewegen; als wir davor ſtanden: ſo erhob ſich der Sturm der Wonne und des lebenden Tages und der Oſtwind gieng neben ihm und die große Sonne ſtand und ſchlug wie ein Herz am Himmel und trieb alle Stroͤme und Tropfen des Lebens um ſich her¬ um. — —
Guſtav ſpielt jezt ſanfter, und ſeine Toͤne hal¬ ten meinen noch immer leicht in hypochondriſche Heftigkeit uͤbergehenden Athem auf. —
Als jezt die Muͤhle der Schoͤpfung mit allen Raͤdern und Stroͤmen rauſchte und ſtuͤrmte: woll¬300 ten wir in ſuͤßer Betaͤubung kaum gehen, es war uns uͤberall wohl; wir waren Lichtſtrahlen, die jedes Medium aus ihrem Wege brach; wir zogen mit der Biene und Ameiſe und verfolgten jeden Wohlgeruch bis zu ſeiner Muͤndung und giengen um jeden Baum; jedes Geſchoͤpf war ein Pol, der unſere Nadel zu Deklinationen und Inklinatio¬ nen lenkte. Wir ſtanden in einem Kreis von Doͤr¬ fern, deren Wege alle mit froͤhligen Kirchgaͤn¬ gern zuruͤckkamen und deren Glocken alle die gei¬ ſtige Meſſe einlaͤuteten. Endlich giengen wir auch der walfarthenden Andacht nach und zur Kirchthuͤr der kuͤhlen Ruheſtaͤtter Kirche hinein.
Wenn ein Maitre de plaiſirs einem Fuͤrſten ei¬ ne Operndekoration vorſchluͤge, die aus einer auf¬ ziehenden Sonne, tauſend Leipziger Lerchen, zwan¬ zig lautenden Glocken, ganzen Fluren und Floren von ſeidnen Blumen beſtaͤnde: ſo wuͤrde der Fuͤrſt ſagen, es koſtete zu viel — aber der Freuden-Di¬ rekteur ſollte verſetzen, einen Spatziergang koſtets — oder eine Krone, ſag 'ich, weil zu einem ſol¬ chen Genuß nicht der Fuͤrſt ſondern der Menſch zu¬ langt.
301In der Kirche ließ ich mich auf dem Orgel¬ ſtuhl nieder, um die plumpe Orgel zu kartaͤtſchen zum Erſtaunen der meiſten Seelen. Als Guſtav in in eine adeliche Loge trat: ſaß in der gegenuͤber¬ ſtehenden — Beata; denn eine Predigt war ihr ſo lieb als einer andern ein Tanz. Guſtav buͤckte ſich mit niederfallenden Augen und aufſtroͤmender Roͤ¬ the vor ihr und war tief geruͤhrt uͤber die blaſſe gekraͤnkte Geſtallt, die ſonſt vor ihm gegluͤhet hat¬ te — ſie wars gleichfalls von der ſeinigen, auf der ſie alle traurige Erinnerungen las, die in ih¬ re oder ſeine Seele geſchrieben waren. Ihre vier Augen zogen ſich vom Gegenſtand der Liebe zu dem der Aufmerkſamkeit zuruͤck, auf H. Buͤrger aus Großenhayn. Er fieng an; ich hatte als zeitiger Organiſt vor, gar nicht auf ihn acht zu geben — ein Kantor macht ſich aus einer Predigt ſo wenig wie ein Mann von Ton: — allein H. Buͤrger predigte mir mit den erſten Worten das Choral¬ buch aus der Hand, indem ich leſen wollte. Er trug die Vergebung der menſchlichen Fehler vor — wie hart die Menſchen auf der einen, und wie zerbrechlich ſie auf der andern Seite waͤren; wie ſehr jeder Fehler ſich ohnehin am Menſchen blutig302 raͤche und wie ein Nervenwurm den durchfreſſe, den er bewohne und wie wenig alſo ein anderer das Richteramt der Unverſoͤhnlichkeit zu verwalten ha¬ be; wie wenig es Verdienſt habe, Unvorſichtig¬ keiten, kleine oder zu entſchuldigende Fehler zu vergeben, und wie ſehr alles Verdienſt in Ueberſe¬ hung ſolcher Fehler, die uns mit Recht erbitter¬ ten, ankaͤme ꝛc. Da er endlich auf das Gluͤck der Menſchenliebe zeigte ꝛc. - ſo ruhte das brennende und ſtroͤmende Auge Guſtavs unbewuſt auf Bea¬ tens Antlitz aus; und als endlich ihre Augen ſich, dem Pfarrer zugekehrt, mit der wahren Kummer - und Freuden-Solution anfuͤllten und als ſie unter dem Abtrocknen ſie auf Guſtav wandte: ſo oͤfneten ſie ſich einander ihre Augen und ihr Innerſtes, die zwei entkoͤrperten Seelen ſchaueten groß in einan¬ der hinein und ein voruͤberfliegender Augenblick des zaͤrtlichſten Enthuſiaſmus zauberte ſie an den Augen zuſammen .... Aber ploͤtzlich ſuchten ſie wieder den alten Ort und Beata blieb mit ihren an der Kanzel.
Ich kanns nicht behaupten, ob er, H. Buͤrger, dieſe nuͤtzliche Predigt ſchon unter ſeine gedruckten gethan oder nicht; gleichwohl ſoll mich dieſes Lob303 nicht hindern zu geſtehen, daß ſeinen an ſich gu¬ ten Predigten eigentliche Kraft einzuſchlaͤfern viel¬ leicht fehle, ein Fehler, den man ſo wohl beim Leſen als beim Hoͤren wahrnimmt. Hier will ich zum Beſten andrer Geiſtlichen einige Extraſeiten uͤber die falſche Bauart der Kirchen einſchichten.
Ich hab 'es ſchon dem Konſiſtorium und der Bauinſpektion vorgetragen; aber es verfaͤngt nichts. Wir und ſie wiſſen es alle, daß jede Kir¬ che, eine Kathedral-Kirche ſo gut als ein Filial fuͤr den Kopf oder das Gehirn der Dioͤzes zu ſor¬ gen habe, d. h. fuͤr den Schlaf derſelben, weil nach Brinkmann jenes nichts ſo ſtaͤrkt als die¬ ſer. Es waͤre laͤcherlich, wenn ich mich herſetzen und erſt lange ausfuͤhren wollte, daß dieſer des¬ organiſierende Schlaf auf eine wohlfeilere Art, und fuͤr weniger Pfennige und Opium als bei den Tuͤr¬ ken zu erregen ſteht: denn unſer Opium wird wie Queckſilber aͤußerlich eingerieben und hauptſaͤchlich an den Ohren applizirt. Nun iſt niemand ſo gut304 wie mir bekannt was man in der ganzen Sache noch gethan. Wie man in Konſtantinopel (nach de Tott) beſondere Buden und Sitze fuͤr die Opi¬ umseſſer, aber nur neben den Moſcheen hat: ſo ſind ſie bei uns drinnen und heißen Kirchen¬ ſtuͤhle. — Ferner brennen ordentliche Nachtlich¬ ter auf dem Altar. Die Fenſterſcheiben haben in katholiſchen Tempeln Glaßgemaͤlde, die ſo gut wie Fenſtervorhaͤnge Schatten geben. Zuweilen ſind die Pfeiler ſo geordnet oder vervielfaͤltigt, daß ſie zur kirchlichen Dunkelheit mit helfen, die der Zweck des Schlafens ſo ſehr begehrt. Da die Schlafzim¬ mer in Frankreich lauter matte glanzloſe Farben haben: ſo iſt in dem großen kanoniſchen Schlaf¬ zimmer wenigſtens in ſo fern fuͤr den Schlaf ge¬ ſorgt worden, daß doch die Theile der Kir¬ che, auf die das Auge ſich am meiſten richtet, Al¬ tar, Pfarrer, Kantor und Kanzel ſchwarz ange¬ ſtrichen ſind. Man ſieht, ich unterdruͤcke keinen Vorzug und es iſt nicht Tadelſucht, wenn ich ta¬ dele. —
Aber es fehlet einem Tempel noch viel zu einen wahren Dormitorium. Ich ſtand (ich koͤnnt 'auch ſagen, ich lag) in Italien und auch in Paris in meh¬rerern305rerern Theaterlogen, die vernuͤnftig eingerichtet und meubliert waren: man konnte darinnen (weil alles dazu da war) ſchlafen, ſpielen, piſſen, eſſen, fer¬ ner .... — Man hatte ſeine Freundinnen mit. Das haben nun die Großen gewohnt: wie will man ihnen anſinnen, ſie ſollen in die Kirche fahren und darin ſchlafen, da ihnen ihr Geld eher alle Freunde als den Schlaf verſchaft? — Beim tiers état, beim Bauer und Buͤrger, ſelber beim Buͤrgermeiſter-Kol¬ legium, das ſich die ganze Woche matt votiert, iſts kein Wunder ſondern freilich leicht dahin zu bringen, daß ſie leicht auf jedem Stuhl, auf jeder Empor entſchlafen: ich laͤugn 'es nicht; aber der Libertin, der Schlaͤfer auf Eiderdunen wird euch (und predig¬ te ein Konſiſterialrath) auf keinem bloßen Seſſel ſchlafen; er geht daher lieber in keine Kirche. Fuͤr ſolche Leute von Ton muͤſſen daher ordentliche Kir¬ chenbetten in den Logen aufgeſchlagen werden, da¬ mit es geht — ſo wie Spieltiſche, Eßtiſche, Otto¬ manen, Freundinnen u. dergl. in einer Hofkir¬ che ſo unentbehrliche Dinge ſind, daß ſie beſſer an je¬ dem andern Orte mangeln koͤnnten als da.
Man kann es alſo, ohne mich und die Wahrheit zu beleidigen, kein Schmeicheln nennen, wenn ich2. Theil. U306verfechte, daß bloß die dumme Kirchen-Architektur und der Mangel alles Haus - und Kirchengeraͤths, aller Betten ꝛc. daran ſchuld ſind, nicht aber die gut und philoſophiſch oder myſtiſch ausgearbeiteten Pre¬ digten geſchickter Hof-Univerſitaͤts-Kaſernen - und Veſper-Prediger, wenn die Leute von Stand weit weniger drinnen ſchlafen koͤnnen als man ſich ver¬ ſpricht.
Ende der Extraſeiten.
Nach der Kirche trafen wir alle an der Sakri¬ ſtei zuſammen. Ich gehe uͤber Kleinigkeiten hinweg und komme ſogleich dazu, daß wir ſaͤmmtlich abzo¬ gen und daß Guſtav unſerer ſchoͤnen Dauphine den Arm gab und nahm. Es war ein ruhiges Wandeln unter der feſtlichen Sonne und unter den Bluͤthen der Gebuͤſche hinweg. Der Putz, die getaͤfelte Stirn, die wie Fidelbogen-Haare hinuͤber geſpann¬ ten Stirn-Haare, die wie Zwiebelhaͤute uͤberein¬ ander liegenden Roͤcke des weiblichen tiers état mal¬ ten ſamt deſſen anlachenden Angeſicht uns den Sonn¬ tag heller vor als alle halbe und ganze Paruͤren der Staͤdterinnen koͤnnen: auch find 'ich am Sonntage viel ſchoͤnere Geſichter als an den 6 Werkeltagen, die alles im Schmutz vermummen.
307Das Geſpraͤch muſte gleichguͤltig bleiben — ich denke, ſelbſt beim Vergißmeinnicht. Beata ſah naͤmlich eines im Graſe liegen und eilte hinzu und — da wars von Seide: „ o ein falſches “ſagte ſie. „ Nur ein geſtorbnes, ſagte Guſtav, aber ein dau¬ erhaftes. “ Unter Perſonen von einer gewiſſen Fein¬ heit wird leicht alles zur Anſpielung! Wohlwollen iſt ihnen daher unentbehrlich, damit ſie an keine andern Anſpielungen als an gutmuͤthige glauben. — Ich labte mich unter dem ganzen Wege am meiſten daran, daß ich der Hintergrund und der Ruͤckenwind war, der hinten nach gieng: denn waͤr 'ich vorausgezogen, ſo haͤtt' ich den ſchoͤnſten Gang nicht geſehen, in dem ſich noch die ſchoͤnſte weibliche Seele durch ihren Koͤrper zeichnete — — Beatens ihren. Nichts iſt karakteriſtiſcher als der weibliche Gang, zumal wenn er beſchleunigt wer¬ den ſoll.
Im Thal fanden wir außer dem Schatten und Mittage noch etwas ſchoͤners, den Doktor Fenk. Er hatte ein kleines Speiſe-Concert ſpirituel unter den Baͤumen angeordnet, wo wir alle wie Fuͤr¬ ſten und Schauſpieler ofne Tafel, aber vor lauter ſatten und muſikaliſchen Zuſchauern, vor den Voͤ¬U 2308geln, hielten. Wir hatten nichts darwider, daß zuweilen eine Bluͤthe in die Sauciére, oder in das Eßiggeſtell ein Blaͤttgen flatterte, oder das ein Luͤftgen das Zuckergeſtoͤber aus der Zuckerdoſe ſeit¬ waͤrts wegbließ: dafuͤr lag der groͤſte plat de me¬ nage, die Natur, um unſern freudigen Tiſch herum und wir waren ſelber ein Theil des Schau¬ gerichts. Fenk ſagte und ſpielte mit einem herab¬ gezognen Aſte: „ unſer Tiſch haͤtte wenigſtens den Vorzug vor den Tiſchen in der großen Welt, daß die Gaͤſte an unſerem einander kennten: die Groſ¬ ſen aber z. B. in Scheerau oder Italien ſpeiſeten mehr Menſchen als ſie kennen lernten; wie im Fette des Thieres, das von den Juden ſo ſehr verabſcheuet und nachgeahmet wuͤrde, Maͤuſſe leb¬ ten ohne daß das Thier es merkte. “
Ein Arzt ſei noch ſo delikat im Ausdruck: er iſts doch nur fuͤr Aerzte.
Unter dem Kaffee behauptete mein lieber Pe¬ ſtilenziar, alle Kannen — Kaffee - — Schokolade - Theekannen — Kruͤge ꝛc. haͤtten eine Phyſiogno¬ mie, die man viel zu wenig ſtudiere; und wenn Melanchthon der Miſſionair und Kabinetſprediger der Toͤpfe geweſen, ſo fehle noch ein Lavater der¬309 ſelben. Er habe einmal in Holland eine Kaffee¬ kanne gekannt, deren Naſe ſo matt, deren Profil ſo ſchaal und hollaͤndiſch geweſen waͤre, daß er zum Schifsarzt, der mit getrunken, geſagt, in dieſer Kanne ſaͤße eine eben ſo ſchlechte Seele oder alle Phyſiognomik ſei Wind — da er ein¬ geſchenkt hatte, ſo war das Geſoͤf nicht zum trin¬ ken. Er ſagte, in ſeinem Hauſe werde kein Milchtopf gekauft, den er nicht vorher wie Pytha¬ goras ſeine Schuͤler in phyſiognomiſchen Augen¬ ſchein nehme.
„ Wem haben wirs zuzuſchreiben, fuhr er in humoriſtiſchen Enthuſiaſmus fort, daß um unſere Geſichter und Taillen nicht ſo viele Schoͤnheitsli¬ nien als um die grichiſchen beſchrieben ſind — als bloß den verdammten Thee - und Kaffeetoͤpfen, die oft kaum menſchliche Bildung haben und die doch unſere Weiber die ganze Woche anſehen und da¬ durch kopieren in ihren Kindern? — die Griechin¬ nen hingegen wurden von lauter ſchoͤnen Statuͤen bewacht, ja die Sparterinnen hatten die Bild¬ niſſe ſchoͤner Juͤnglinge ſogar in ihren Schlaf¬ zimmern aufgehangen. “— —
310Ich muß aber zur Rechtfertigung von vielen hundert Damen ſagen, daß ſie dafuͤr ja das naͤm¬ liche mit den Originalen thun und daß damit auch ſchon was zu machen iſt. —
Da ich in[dieſem] Familien-Schauſpiel fuͤr keine Goͤttin Achtung habe als fuͤr die der Wahrheit: ſo kann ich ſie auch meiner Schweſter nicht aufopfern, ob gleich ihr Geſchlecht und ihre Jugend ſie noch unter die Goͤttinnen ſtellen. Es aͤrgert mich, daß ſie zu wenig Stolz und zu viel Eitelkeit ernaͤhrt. Es aͤrgert mich, daß es ſie nicht aͤrgern wird ſich hier gedruckt und getadelt zu leſen weil ihr mehr am Gewinnſt der Eitelkeit durch den Druck als am Verluſt des Stolzes durch den Tadel gele¬ gen iſt.
Stolz iſt in unſerem Kriegsliſtigen Jahrhun¬ dert der treueſte Schutzheilige und Lehns-Vormund der weiblichen Tugend. Niemand wird zwar von mir fodern, die Damen von meiner Bekanntſchaft oͤffentlich zu nennen, die gewiß wie Mailand 40 mal (nach Keißler) waͤren belagert und 20 mal erobert worden, waͤren ſie nicht brav ſtolz gewe¬ ſen, ja waͤre nicht eine davon an Einem Abende voll Tanz zwei und ein halb mal ſtolz geweſen; aber nennen koͤnnt 'ich ſie, wollt' ich ſonſt.
311Du lehreſt mich, liebe Philippine, daß die edel¬ ſten Gefuͤhle nicht immer die Koketterie ausſchließen und daß ich außer dem Geſchaͤfte, dich zu lieben, kein beſſeres haben kann als das dich zu ſchelten — und deinen Medizinalrath auch, der gegen dich ſeiner ſor¬ genloſen Laune zu weit nachhaͤngt: zum Gluͤck iſt ſie noch im Alter, wo Maͤdgen allemal den lieben, den ſie am laͤngſten geſprochen und wo ihr Herz wie ein Magnet das alte Eiſen fallen laͤſſet, wenn man ein neues daran bringt.
Beata und Guſtav beruͤhrten einander die wun¬ den Stellen wie zwei Schneeflocken; ſogar in der[Stimme] und der Bewegung ſchilderte ſich zaͤrtliches, ſchonendes, ehrliebendes, aufopferndes Anſichhalten. O wenn die Weigerungen der Koketterie ſchon ſo viel geben: wie viel muͤſſen erſt die gegenwaͤrtigen der Tugend geben!
Der Nachmittag war auf den Fluͤgeln der Schmetterlinge, die neben uns ihre tiefern Blu¬ men ſuchten, davon geeilet; die Entrevuͤen nahmen wie die Augen an Intereſſe zu und wir ſchlenterten (oder ſchreibt mans mit einem weichen D) auf der Allee-Terraſſe hin, die den Berg wie ein Guͤrtel umwindet und auf der das Auge uͤber die Einzaͤunun¬312 gen des Thales in die Fluren hinuͤbergehen kann. Gegen Weſten ruͤckte ein Gewitter mit ſeinem Don¬ ner-Tritt uͤber den Himmel und hieng ſein Bahrtuch von ſchwarzem Gewoͤlk uͤber die Sonne. Die Gegend ſah wie das Leben eines großen, aber nicht gluͤckli¬ chen Menſchen aus, der eine Berg gluͤhte vom Flammenblick der Sonne, der andre verdunkelte ſich unter der niederfallenden Nacht einer Wolke — — druͤben in der Abendgegend brauſte im Himmel ſtatt des Vogelgeſangs das himmliſche Pedal, der Donner, und in Kolonnaden von weißen Waſſerſaͤu¬ len riß ſich der waͤrmende Regen vom Himmel loß und fuͤllte ſeine Blumenkelche und Gipfel wieder, aus denen er geſtiegen war — es war einem ſo feierlich als wuͤrde ein Thron fuͤr Gott errichtet und alles wartete, daß er darauf nieder ſtiege.
Guſtav und Beata giengen, in den Himmel ver¬ ſunken, auf der Terraſſe voraus, der Doktor, meine Schweſter und ich in einer kleinen Ferne hinter ih¬ nen. Endlich platzten auf dem Laube der Allee ein¬ zelne Regentropfen, die aus dem Saume der breiten Wetterwolke uͤber uns flogen und fielen; — ſo beſtreift ein donnerndes niederblitzendes Ungluͤck der Nachbar¬ ſchaft die entlegnen Laͤnder nur mit einigen Thraͤ¬313 nen, die aus dem Auge des Mitleids entwiſchen. — Wir ſtellten uns alle unter die naͤchſten Baͤume. Gu¬ ſtav und Beata ſtanden ſeit vielen Monaten zum er¬ ſtenmale wieder einſam neben einander, ohne Oh¬ renzeugen, obwohl neben Augenzeugen. Sie wa¬ ren gegen Abend gekehrt und ſchwiegen. Es giebt Lagen, wo der Menſch ſich zu groß fuͤhlt, ein Ge¬ ſpraͤch heran zu lenken, oder fein zu ſeyn, oder An¬ ſpielungen zu machen. Beide verſtummten fort, bis Guſtav in der heißeſten Sonnenwende ſeiner Empfin¬ dungen ſich von der uͤberſchwemmten Abendgegend umkehrte zu Beatens Augen hin — ihre hoben ſich langſam und unverhuͤllt zu ſeinen auf und der Mund unter ihnen blieb erhaben ruhig und ihre Seele war bei niemand als bei Gott und der Tugend.
Die Wolke war verronnen und verzogen. Der Doktor hatte heim zu eilen. Niemand konnte aus ſeinem genießenden Schweigen heraus. So ſtumm waren wir alle die Terraſſe hinunter gekommen, — und jedes war auch ſchon von ſeinem belaubten Parapluͤen hinweg — als auf einmal die tiefe Son¬ ne die ſchwarze Wolkendecke durchbrannte und ent¬ zwei riß und den Leichenſchleier des Gewitters weit zuruͤck ſchlug und uns uͤberſtrahlte und die glim¬314 menden Geſtraͤuche und jeden feurigen Buſch .... Alle Voͤgel ſchrien, alle Menſchen verſtummten — die Erde wurde eine Sonne — der Himmel zitterte weinend uͤber der Erde vor Freude und umarmte ſie mit heißen unermeßlichen Lichtſtrahlen. — —
Die Gegend brannte im himmliſchen Feuerre¬ regen um uns; aber unſere Augen ſahen ſie nicht und hiengen blind an der großen Sonne. Im Drang, das Herz von Blut und Freude loß zu machen, verſank Guſtavs Hand in Beatens ihre — er wuſte nicht was er nahm — ſie wuſte nicht was ſie gab und ihre gegenwaͤrtigen Gefuͤhle erhoben ſich weit uͤber geringfuͤgige Verſagungen. — End¬ lich legte ſich die umdonnerte Sonne wie ein Wei¬ ſer ruhig unter die kuͤhle Erde, ihr Abendroth ruh¬ te gluͤhend unter dem blitzenden Wetter, ſie ſchien wie eine Seele, zu Gott gegangen zu ſeyn und ein Donnerſchlag fiel in den Himmel nach ihrem Tode ....
Es daͤmmerte, ... die Natur war ein ſtum¬ mes Gebet .... Der Menſch ſtand erhabener wie eine Sonne darin; denn ſein Herz faßte die Spra¬ che Gottes .... aber wenn in das Herz dieſe315 Sprache koͤmmt und es zu groß wird fuͤr ſeine Bruſt und ſeine Welt: ſo hauchet der große Ge¬ nius, den es denkt und liebt, die ſtillende Liebe zu den Menſchen in den ſtuͤrmenden Buſen und der Unendliche laͤßet ſich von uns ſanft an den End¬ lichen lieben ....
Guſtav empfand die Hand, die in ſeiner pul¬ ſierte und nun zog — er hielt ſie leiſer und ſah in das ſchoͤnſte Auge zuruͤck — ſeines bat Beaten unendlich ruͤhrend um Vergebung der vergangnen Tage und ſchien zu ſagen: „ o! nimm in dieſer ſeeligen Stunde auch meinen letzten Kummer weg” — und als er leiſe mit einem Tone, der ſo viel wie eine gute That war, fragte „ Beata?” und als er nicht weiter ſprechen konnte und als ſie das erroͤthende Angeſicht zur Erde wandte und aufhoͤrte, ihre Hand aus ſeiner zu ziehen und tief geruͤhrt wieder aufſah und ihm die Thraͤne zeigte, die zu ihm ſagte „ ich will dir vergeben:” ſo wurden aus zwei Seelen die noch groͤßer waren als die Natur um ſie, zwei Engel und ſie fuͤhl¬ ten den Himmel der Engel — ſie ſtanden und ſchwiegen in unendliche Dankbarkeit und Entzuͤk¬316 kung verloren — er nahm endlich, zitternd vor hochachtender Freude, ihren bebenden Arm und erreichte uns.
Den Sabbath ſchloſſen ſtille Gedanken, ſtille Entzuͤckungen, ſtille Erinnerungen und ein ſtiller Regen aus allen entladenen Gewittern.
817Der Traum vom Himmel — Brief Hoppedizels.
Seitdem ich neben meinem biographiſchen Hand¬ werk noch das eines Damenſchneiders betreibe: waͤchſt ein ganz neues Leben in mir auf. Gleich¬ wohl muß man dem kuͤnftigen Schroͤkh, der in ſein Bilderkabinet beruͤhmter Maͤnner mich auch als ei¬ nen hineinhaͤngen will, den Rath geben, daß er ſich maͤßige und aus meiner Schneiderei nicht alles deducire, ſondern etwas aus meiner Phantaſie. Die letztere hat ſich im vorigen Winter und Herbſt durchs Malen ſo vieler Naturſzenen ſo geſtaͤrkt, daß der gegenwaͤrtige Fruͤhling an mir ganz andre Au¬ gen und Ohren findet als die andern alle. Das haͤtten wir alle, ich und Leſer eher bedenken ſol¬ len; wenn der Reiz gewiſſer Laſter durch die taͤg¬ lich wachſenden Anſtrengungen der Phantaſie un¬ bezwinglich wird: warum geben wir ihrem hinreiſ¬ ſenden Pinſel nicht wuͤrdige Gegenſtaͤnde? Warum richten wir ſie nicht im Winter ab, den Fruͤhling aufzufaſſen oder vielmehr auszuſchaffen? Denn man318 genieſſet an der Natur nicht was man ſieht (ſonſt genoͤße der Foͤrſter und das Genie drauſſen einerlei) ſondern was man ans Geſehene andichtet und das Gefuͤhl fuͤr die Natur iſt im Grunde die Phantaſie fuͤr dieſelbe.
In keinem Kopfe aber kryſtalliſiren ſich holdere Traum - und Phantaſiegeſtalten als im Guſtaviſchen. Seine Geſundheit und ſein Gluͤck ſind zuruͤckgekom¬ men: das zeigen ſeine Naͤchte an, worin die Traͤu¬ me wie Violen wieder ihre Fruͤhlingskelche ausein¬ ander thun. Ein ſolcher Edenduft wallet um fol¬ genden Traum:
„ Er ſtarb (kam ihm vor) und ſollte den Zwi¬ ſchenraum bis zu ſeiner neuen Verkoͤrperung in lau¬ ter Traͤumen verſpielen. Er verſank in ein ſchla¬ gendes Bluͤten-Meer, das der zuſammengefloſſene Sternen-Himmel war: auf der Unendlichkeit bluͤh¬ ten alle Sterne weiß und nachbarliche Bluͤtenblaͤt¬ ter ſchlugen an einander. Warum berauſchte aber dieſes von der Erde bis an den Himmel wachſende Blumenfeld mit dem rauchenden Geiſte von tauſend Kelchen alle Seelen, die daruͤber flogen und in be¬ taͤubender Wonne niederfielen, warum miſchte ein319 gaukelnder Wind unter einem Schneegeſtoͤber von Funken und bunten Feuerflocken, Seelen mit See¬ len und Blumen zuſammen, warum woͤlkte die verſtorbnen Menſchen ein ſo ſuͤßer und ſo ſpielender Todtentraum ein? — O darum: die nagenden Wunden des Lebens ſollte der Balſamhauch dieſes unermeßlichen Fruͤhlings verſchlieſſen und der von den Stoͤßen der vorigen Erde noch blutende Menſch ſollte unter den Blumen zuheilen fuͤr den kuͤnftigen Himmel, wo die groͤßere Tugend und Kenntniß eine geneſene Seele begehrt. — Denn ach! die Seele leidet ja hier gar zu viel! — Wenn auf je¬ nem Schneegefilde eine Seele die andre umfaßte: ſo ſchmolzen ſie aus Liebe in Einen gluͤhenden Thau¬ tropfen ein; er zitterte dann an einer Blume her¬ ab und ſie hauchte ihn wieder entzweigetheilt als heiligen Weihrauch empor. — Hoch uͤber dem Bluͤ¬ tenfeld ſtand Gottes Paradies, aus dem das Echo ſeiner himmliſchen Toͤne in Geſtalt eines Bachs in die Ebene hernieder wallete: ſein Wohllaut durch¬ kreuzte in allen Kruͤmmungen das Unter-Paradies und die trunknen Seelen ſtuͤrzten ſich aus Wonne von den Ufer-Blumen in den Floͤtenſtrom; im Nachhall des Paradieſes erſtarben ihnen alle Sinne320 und die zu endliche Seele gieng, in eine helle Freu¬ den-Thraͤne aufgeloͤſet, auf der laufenden Welle weiter. — Dieſes Blumengefilde ſtieg unaufhalt¬ ſam empor, dem erhoͤheten Paradieſe entgegen und die durcheilte Himmelsluft ſchwang ſich von oben herab und ihr Niederwehen faltete alle Blu¬ men auseinander und bog ſie nicht. — Aber oft gieng Gott in der dunkelſten Hoͤhe weit uͤber der wehenden Aue hinweg; wenn der Unendliche dann oben ſeine Unendlichkeit in zwei Wolken verhuͤllte, in eine blitzende oder die ewige Wahrheit, und in eine warm auf alles niedertraͤufelnde und weinen¬ de oder die ewige Liebe: alsdann ſtand gehalten die ſteigende Au, der ſinkende Aether, der nach¬ hallende Bach, das rege Blumenblatt; alsdann gab Gott das Zeichen, daß er voruͤbergehe, und eine unermeßliche Liebe zwang alle Seelen, in die¬ ſer hohen Stille ſich zu umarmen und keine ſank an eine ſondern alle an alle — ein Wonne-Schlum¬ mer fiel wie ein Thau auf die Umarmung; aber wenn ſie wieder aus einander erwachten, ſo gien¬ gen aus dem ganzen Blumenfelde Blitze, ſo rauch¬ ten alle Bluͤten, ſo ſanken alle Blaͤtter unter den Tropfen der warmen Wolke, ſo klangen alle Kruͤm¬mun¬321mungen des toͤnenden Baches zuſammen, es wet¬ terleuchtete das ganze Paradies uͤber ihnen und nichts verſtummte als die liebenden Seelen, die zu ſeelig waren .... “
Er erwachte in eine naͤhere Welt, die ein ſchoͤ¬ nes Gegenſpiel ſeiner getraͤumten war: die Sonne war in einem einzigen gluͤhenden Stral verwandelt und dieſer Stral knickte auch an der Erde ab, die Wolke der Daͤmmerung zog herum, Blumen und Voͤgel hingen ihre ſchlafenden Haͤupter in den Thau hin und bloß der Abendwind kramte noch in den Blaͤttern herum und blieb die ganze Nacht auf ....
So ſchleichen unſere gruͤnen Stunden durch un¬ ſer unbeſuchtes Thal, ſie gleiten mit einem unge¬ hoͤrten Schmetterlings-Fittich durch unſere Atmo¬ ſphaͤre, nicht mit der ſchnurrenden Kaͤfer-Fluͤgel¬ decke — die Freude legt ſich leiſe wie ein Abend¬ thau an und praſſelt nicht wie ein Gewitterguß her¬ unter. Unſere gluͤckliche Badzeit wird uns zum Muth, zu Geſchaͤften, zum Erdulden auf lange, auf immer erfriſchen — das gruͤne Lilienbad wird in unſere Phantaſie eine gruͤne Raſenſtelle bleiben, auf der, wenn einmal die Jahre alle elyſiſche Fel¬ der, die ganze Gegend unſerer Freude tief uͤber¬2. Theil. X322ſchneiet haben, unter ihrem warmen Hauche aller Schnee zergeht und die uns immer angruͤnet, da¬ mit wir auf ihr wie Maler auf gruͤnem Tuche, unſere alten Augen erquicken .... Ich wuͤnſch 'euch, meine Leſer, fuͤr euer Alter recht viele ſol¬ che offen bleibende Stellen und jedem Kranken ſein Lilienbad.
That 'ichs nicht dem deutſchen Publikum zu Gefallen: ſo wuͤrd' ich ſchwerlich vor Freude zur Beſchreibung derſelben gelangen. Und doch werd 'ich keinen neuen Freuden-Sektor anfangen vor dem Geburtstage Beatens, der wird auf der kleinen Mo¬ lucke Teidor begangen, dahin ſind wir vom Dok¬ tor eingeladen, der hat ſein Landhaus auf dieſer Inſel, das Wetter wird auch ſchoͤn verbleiben — — ich kann ſo viel ohne großes prophetiſches Ta¬ lent leicht vorausſehen, daß der Geburtstags - oder Teidors-Sektor alles Schoͤne, was je in der Ale¬ xandriniſchen Bibliothek verbrannt oder in Raths¬ bibliotheken vermodert oder in andern konſerviret worden, nicht ſowohl vereinigen als voͤllig uͤberbie¬ ten werde.
Im naͤmlichen Brief, der uns nach der Moluk¬ kiſchen Inſel lockt, ſchreibt mir der Doktor eine323 Neuigkeit, die inſofern hier einen Platz verdient, weil einer da iſt und ich den Sektor gern voll ha¬ ben moͤchte, indem ich bloß abſchriebe.
„ Der Profeſſor Hoppedizel, der auſſer dem Philoſophiren und Pruͤgeln nichts ſo liebt als Spas¬ machen, will ſo bald der Mond wieder ſpaͤter auf¬ geht, den machen, daß er ein Spitzbube iſt. Ich traf ihn vor einigen Tagen an, daß er ſich einen langen Bart zurecht ſott, ferner Brecheiſen ver¬ ſteckte und Maſken waͤhlte. Ich fragte ihn, auf welcher Redoute er ſtehlen wolle? Er ſagte, in der Mauſſenbachſchen — kurz er will deinen Gerichts¬ prinzipal, dadurch daß er mit einer kleinen Bande einbricht und ſtatt Beute Spaß macht, in einen theatraliſchen Kunſt[-]Schrecken jagen. Zu wuͤnſchen waͤre, dieſer artiſtiſche und ſatyriſche Raͤuberhaupt¬ mann wuͤrde fuͤr einen wahren genommen, und mit ſeinen Brech-Apparat auf Arreſtanten - Wagen gebracht und oͤffentlich hereingefahren — nicht etwan, damit der gute Hoppedizel dabei ver¬ ſehret wuͤrde — ſondern nur damit dieſer korſariſche Stoiker auf die Folter kaͤme und dadurch drei Men¬ ſchen auf einmal ins Licht ſetzte, erſtlich ſich, in¬ dem er weniger das Verbrechen als ſeine ſtoiſchenX 2324Grundſaͤtze bekennte — zweitens den Peſtilenziar oder mich, indem ich bei der Tortur (wie wir bei allen Schmerzen thun) die Ruͤckſichten auf ſeine Ge¬ ſundheit vorſchriebe — drittens den Juſtiziar oder Dich, der du zeigen koͤnnteſt, daß du deine akade¬ miſchen Kriminalhefte ſchon noch im Koffer haͤtteſt. “
Ich glaube, es wird dem Leſer auch ſo gehen wie mir, daß uns auf dem Blumengeſtade unter den Wollauten der Natur, dieſes Seetreffen des großen Weltmeers und dieſes Schieſſen deſſelben ei¬ ne ſchreiende Diſſonanz zu machen ſcheint.
325Der Morgen — der Abend — die Nacht —
Heute iſt Beatens Feſt und wird immer ſchoͤ¬ ner — mein Schreibepult iſt neun Millionen Qua¬ dratmeilen breit, naͤmlich die Erde — die Sonne iſt meine Epiktets-Lampe und ſtatt der Handbib¬ liothek rauſchen die Blaͤtter des ganzen Naturbuchs vor mir ..... Aber von vornen an! Uebrigens lieg 'ich jetzt auf der Inſel Teidor.
Die Tage vor ſchlechtem Wetter ſind auch me¬ teorologiſch die ſchoͤnſten. Da wir heute als die friedlichſte Quadrupelalliance, die es giebt, durch unſer ſingendes Thal, eh 'noch die Morgenſtralen hereingeſtiegen waren, hinaus giengen, um noch vor neun Uhr recht gemaͤchlich auf der kleinen Mo¬ lucke Teidor anzukommen: ſo ſtreckte ſich ein gan¬ zer kryſtallener quellenheller Tag auf den weiten Fluren vor uns hin — wir waren bisher an ſchoͤne gewoͤhnt, aber an den ſchoͤnſten nicht. — Die Erd¬ kugel ſchien eine helle aus Duͤnſten und Luͤften her¬326 ausgehobene Mondkugel zu ſeyn — die Berg - und Waldſpitzen ſtanden nackt im tiefem Blau, ſo zu ſagen ungepudert von Nebeln — alle Proſpekte wa¬ ren uns naͤher geruͤckt und der Dunſt vom Glaſe, wodurch wir ſahen, abgewiſcht — die Luft war nicht ſchwuͤl, aber ſie ruhte auf den Gewuͤrz-Flu¬ ren unbeweglich aus und das Blatt nickte, aber nicht der Zweig und die haͤngende Blume wankte ein wenig, aber bloß unter zwei kaͤmpfenden Schmetterlingen .... Es war der Ruhetag der Elemente, die Sieſte der Natur: ein ſolcher Tag, wo ſchon der Morgen die Natur eines ſchwaͤrmeri¬ ſchen Abends hat und wo ſchon er uns an unſere Hoffnungen, an unſre Vergangenheit und an un¬ ſer Sehnen erinnert, koͤmmt nicht oft, koͤmmt fuͤr nicht viele, darf fuͤr die wenigen, in deren ſchwellendes Herz er leuchtet, nicht oft kommen, weil er die armen Menſchen, die ihm ihre Herzen wie Blumenblaͤtter aufthun, zu ſehr erfreuet, ſie vom kameraliſtiſchen Feudalboden, wo man mehr Blumen maͤhen als beriechen muß, zu weit ins magiſche Arkadien verſchlaͤgt. — Aber ihr Finan¬ ciers und Oekonomen und Paͤchter, wenn faſt alle Jahrszeiten der Haut und dem Magen dienen:327 warum ſoll nicht Ein Tag — zumal fuͤr Brunnen¬ gaͤſte — bloß dem zu weichen Herzen zugehoͤren? Wenn man euch Haͤrte vergiebt: warum wollt ihr keine Weichheit vergeben? — O ihr beleidgt oh¬ nehin genug, ihr gefuͤhlloſen Seelen: die ſchoͤnere feinere iſt euch bloß unbedeutend und laͤcherlich; aber ihr ſeid ihr quaͤlend und verwundet ſie. — Sonderbar iſts, daß man andern zuweilen die Vor¬ zuͤglichkeit der Talente, aber nie die Vorzuͤglichkeit der Empfindungen zugeſteht und daß man ſei¬ ner eignen Vernunft, aber nicht ſeinem eignen Geſchmack Irthuͤmer zutraut.
Ein durchſichtiges Dockengelaͤnder von Wald¬ baͤumen ſtand bloß noch zwiſchen uns und dem in¬ diſchen Ozean, worin Teidor gruͤnte — als uns der Steig durch das hohe Gras, das uͤber ihn her¬ einſchlug, an einer Einoͤde oder einem iſolirten Hauſe voruͤbertrug, das zu entzuͤckend in dieſem Blumen-Ozean lag, als daß man haͤtte vorbeige¬ hen oder reiten koͤnnen. Wir lagerten uns auf ei¬ ner abgemaͤhten Raſenſtelle, zur rechten Sei¬ te des Hauſes, zur linken eines runden Gaͤrtchens, das ſich mitten in die Wieſe verſteckte. Im armen Gaͤrtchen waren und naͤhrten ſich (wie in einem328 toleranten Staate) auf dem naͤmlichen Beete Boh¬ nen und Erbſen und Sallat und Kohlruͤben; und doch hatte im Zwerggarten ein Kind noch ſein In¬ fuſions-Gaͤrtchen. Im blendenden und rothen Vo¬ gelhaͤuschen hatte eine flinke Frau gerade ihre wohl¬ riechende Feldbaͤckerei und zwei Kinderhemdchen hien¬ gen am Garten und zwei ſtanden an der Hausthuͤr in welchen letztern zwei braune Kinder ſpielten und uns obſervirten — ihnen that am heutigen Mor¬ gen nichts wohl als ihren entbloͤßten Fuͤſſen die Sonne, O Natur! o Seligkeit! Du ſucheſt wie die Wohl¬ thaͤtigkeit gern die Armuth und das Verborgne auf!
Das Kluͤgſte, was ich heute geſagt habe und vermuthlich ſagen werde, iſt gewiß die Gras-Rede am Morgen neben dem Haͤuschen. Als ich ſo den ſtehenden Himmel, die Wind - und Blaͤtterſtille be¬ trachtete, in der der vertikale Fluͤgel des Papillons und das Haͤrchen der Raupe unverbogen blieb: ſo ſagt 'ich: „ wir und dieſes Raͤupchen ſtehen unter und in drei allmaͤchtigen Meeren, unter dem Luft¬ meer, unter dem Waſſermeer und unter dem elek¬ triſchen Meere: gleichwohl ſind die brauſenden Wo¬ gen dieſer Ozeane, dieſe Meilen-Wellen, die ein329 Land zerreiſſen koͤnnen, ſo geglaͤttet, ſo bezaͤhmet, daß der heutige Sabbaths-Tag herauskoͤmmt, wo den breiten Fluͤgel des Schmetterlings kein Luͤft¬ chen ergreift oder um ein gefiedertes Staͤubgen be¬ rupft und wo das Kind ſo ruhig zwiſchen den Ele¬ menten Leviathans taͤndelt und laͤchelt. — Wenn das kein unendlicher Genius bezwungen hat, wenn wir dieſem Genius keine Zuſammenordnung unſers kuͤnftigen Schickſals und unſerer kuͤnftigen Welt zu¬ trauen. “....
O unendlicher Genius der Erde! an deinen Bu¬ ſen wollen wir unſre kindlichen Augen ſchmiegen, wenn ſich der Sturm von der Kette losreiſſet — — an dein allmaͤchtiges heiſſes Herz wollen wir zuruͤck¬ ſinken, wenn uns der eiſerne Tod einſchlaͤfert! in¬ dem es vorbeigeht! —
So giengen wir unſchuldig-zufrieden, ohne Haſtigkeit und Heftigkeit den Wellen zu, die an Fenks Landhaus ſpuͤlten. Sonderbar iſts, es giebt Tage, wo wir freywillig unſer ſtilles fort-vibriren¬ des Vergnuͤgen von den aͤuſſern Gegenſtaͤnden uns ſpediren laſſen (wodurch wir ungewoͤhnlich gegen aͤchten Stoiziſmus verſtoßen) — noch ſonderbarer iſts, daß manche Tage dieſes wirklich thun. — —330 Ich meine das: ein gewiſſes ſtilles wellen-glattes Zufriedenſeyn — nicht verdient durch Tugend, nicht erkaͤmpft durch Nachdenken — wird uns zu¬ weilen von dem Tage, von der Stunde gereicht, wo alle die jaͤmmerlichen Kleinigkeiten und Fran¬ zen, woraus unſer eben ſo kleinliches als kleines Leben zuſammengenaͤht iſt, mit unſern Pulſen ak¬ kordiren, und unſerem Blute nicht entgegen flieſ¬ ſen — z. B. wo (wie heute geſchah) der Himmel unbewoͤlkt, der Wind im Schlaf, der Faͤhrmann, der nach Teidor bringt, bei der Hand, der Herr des Landhauſes, D. Fenk, ſchon vor einer Stunde gegenwaͤrtig, das Waſſer eben, das Boot trocken, der Anlandungs-Hafen tief und alles recht iſt ... Wahrhaftig wir ſind alle auf einen ſo naͤrriſchen Fuß geſetzt, daß es zu den Men¬ ſchenfreuden, woruͤber der Zerbſter Konſiſto¬ rialrath Sintenis zwei Baͤndchen abgefaſſet, mit gerechnet werden kann — in Deutſchland, aber in Italien und Pohlen weit weniger, — zuwei¬ len einen oder den andern Floh zu greifen ..... Will man alſo einen ſolchen paradieſiſchen Tag er¬ leben: ſo muß nicht einmal eine Kleinigkeit, uͤber die man in ſtoiſch-energiſchen Stunden wegſchreitet,331 im Wege liegen; ſo wie ſich uͤber die Sonne, wenn ein Brennſpiegel ſie herunter holen will, nicht das duͤnnſte Woͤlkchen ſchieben darf ... Ich bin jetzt im Enthuſiaſmus und verſichere, ich kann mir unmoͤglich etwas naͤrriſcheres denken als unſer Leben, unſere Erde, uns Menſchen und unſre Be¬ merkung dieſer Narrheit ....
Der indiſche Ozean war ein laͤrmender Markt¬ platz wie ein ſineſiſcher Strom, uͤberall bewegte ſich auf ihm Freude, Leben und Glanz, von ſei¬ ner Oberflaͤche bis zu ſeinem Grunde, wo die zwei¬ te Halbkugel des Himmels mit ihrer Sonne zitter¬ te. Im Landhauſe waren die Waͤnde weiß, weil fuͤr einen (ſagte Fenk) der aus der in lauter Feuer und Lichtern ſtehenden Natur in eine en¬ ge Klauſe tritt, kein Kolorit dieſer Klauſe hell ge¬ nug ſeyn koͤnne, um einen traurigen beſchraͤnkten Eindruck abzuwenden.
Alsdann ruhten wir aus, indem wir von ei¬ ner beſchatteten Grasbank der Inſel zur andern giengen, von Birkenblaͤttern und indiſchen Wel¬ len angefaͤchelt — dann muſizierten — dann di¬ nierten wir, erſtlich am Tiſche eines Wirthes, der auf eine luſtige Art fein und delikat zu ſeyn weiß,332 zweitens vor den in alle Weltgegenden aufgeſchloſ¬ ſenen Fenſtern, die uns noch mehr in alle Stru¬ del der freudigen Natur hinein drehten als waͤren wir draußen geweſen, und drittens jeder von uns mit einer Hand, die die weiche Beere des Ver¬ gnuͤgens abzunehmen weiß ohne ſie entzwei zu druͤ¬ cken. — Ottomar koͤmmt abends — die zwei Maͤd¬ gen haben ſich unter Blumen und der gluͤckliche Guſtav unter Schatten verlohren — der Biograph liegt hier wie der Juriſt Bartolus auf dem heben¬ den Graſe und ſchildert alles — Fenk ordnet auf abend an. — Erſt abends tritt der Vollmond un¬ ſerer heutigen Freude ein; und ich danke dem Him¬ mel, daß ich jezt mit meiner biographiſchen Feder nachgekommen bin und niemals mehr weiß als ich berichte: anſtatt daß ich bisher mehr wuſte und mir den biographiſchen Genuß der freudigſten Scenen durch die Kenntniß der traurigen Zukunft verſalzte. Jezt aber koͤnnt 'in der naͤchſten Viertelſtunde uns alle der Ozean erſaͤufen: in der jezigen laͤchelten wir in ihn hinein.
Da ich jezt ſo ruhig bin und nicht ſpatzieren gehen mag: ſo will ich uͤber das Spatzierengehen, das ſo oft in meinem Werke vorkoͤmmt, nicht oh¬333 ne Scharfſinn reden. Ein Mann von Verſtand und Logik wuͤrde meines Beduͤnkens alle Spatzierer wie die Oſtindier, in vier Kaſten zerwerfen.
In der I. Kaſte laufen die jaͤmmerlichſten, die es aus Eitelkeit und Mode thun und entweder ihr Ge¬ fuͤhl oder ihre Kleidung oder ihren Gang zeigen wollen.
In der II. Kaſte rennen die Gelehrten und Fet¬ ten, um ſich eine Motion zu machen und weniger um zu genießen als um verdauen was ſie ſchon ge¬ noſſen haben: in dieſes paſſive unſchuldige Fach ſind auch die zu werfen, die es thun ohne Urſache und ohne Genuß oder als Begleiter oder aus einem thie¬ riſchen Wohlbehagen am ſchoͤnen Wetter.
Die III. Kaſte nehmen die wenigen ein, in deren Kopfe die Augen des Landſchaftsmahlers ſtehen, in deren Herz die großen Umriſſe des Welt-[Alls] drin¬ gen, und die der unermeßlichen Schoͤnheitslinie nachblicken, welche mit Epheufaſern um alle Weſen flieſſet — und welche die Sonne und den Blutstro¬ pfen und die Erbſe ruͤndet und alle Blaͤtter und Fruͤchte zu Zirkeln ausſchneidet. — O wie wenig ſolcher Augen ruhen auf den Gebirgen und auf der ſinkenden Sonne und auf der ſinkenden Blume!
334Eine IV. beſſere Kaſte, daͤchte man, koͤnnt 'es nach der dritten gar nicht geben: aber es giebt Menſchen, die nicht bloß ein artiſtiſches, ſondern ein heiliges Auge auf die Schoͤpfung fallen laſſen — die in dieſe bluͤhende Welt die zweite verpflanzen und unter die Geſchoͤpfe den Schoͤpfer — die unter dem Rauſchen und Brauſen des tauſendzweigigen dicht eingelaub¬ ten Lebensbaums niederknien und mit dem darin wehenden Genius reden wollen, da ſie ſelber nur geregte Blaͤtter daran ſind — die den tiefen Tempel der Natur nicht als eine Villa voll Gemaͤhlde und Statuen ſondern als eine h. Staͤtte der Andacht brauchen — kurz die nicht bloß mit dem Auge, ſon¬ dern auch mit dem Herzen ſpatzieren gehen ....
Ich weiß kein groͤſſeres Lob als daß ich von ſol¬ chen Menſchen leicht auf unſer liebendes Paar hin¬ uͤbergleiten kann — die Liebe deſſelben iſt ein ſolcher Spatziergang, das Leben der hohen Menſchen iſt auch ein ſolcher. — Ich will nur noch, eh ich mich vom erdruͤckten Gras aufrichte, ſo viel bemerken, daß Guſtavs Liebe ganz in die Realdefinition einpaſſet, die von ihr an einer ſchwaͤrmeriſchen Sommermitter¬ nacht zu machen iſt — die edelſte Liebe (kann man definieren) iſt bloß die zarteſte, tiefſte, feſteſte Ach¬335 tung, die ſich weniger durch Thun als durch Unter¬ laſſen offenbaret, die ſich wechſelſeitig erraͤth, die auf beide Seelen (bis zum Erſtaunen) die naͤmlichen Saiten zieht, die die edelſten Empfindungen mit ei¬ nem neuen Feuer hoͤher tragt, die immer aufopfern, nie bekommen will, die der Liebe gegen das ganze Geſchlecht nichts nimmt ſondern alles giebt durch das Individuum, dieſe Liebe iſt eine Achtung, in der der Druck der Haͤnde und der Lippen ſehr entbehrliche Beſtandtheile ſind und gute Handlungen ſehr weſent¬ liche, kurz eine Achtung die vom groͤſſern Theile der Menſchen ausgehoͤhnet und vom kleinſten tief geeh¬ ret werden muß — — Eine ſolche herzerhoͤhende Ach¬ tung war Guſtavs Liebe, die gute Augenzeugen nicht nur vertrug ſondern auch intereſſierte und waͤrmte, weil ſie ohne jenes unſchuldig-ſinnliche Getaͤndel mit Lippen und Haͤnden war, woran der Zuſchauer gerade ſo viel Antheil wie am Rollenmaͤßi¬ gen theatraliſchen Viktualien der Schauſpieler neh¬ men kann. — Ein Zeichen der tugendhaften Ach¬ tung oder Liebe iſt das, wenn der Zuſchauer deſto mehr Intereſſe daran findet, je groͤſſer ſie iſt. Guſ¬ tavs Liebe hatte — ſeit ſeinem Petrus Falle und noch mehr ſeit der Vergebung dieſes Falls (denn viele336 Fehler fuͤhlt man erſt am tiefſten, wenn ſie verziehen ſind —) einen ſolchen Zuſatz von Zartheit, von Zu¬ ruͤckhaltung, von Bewuſtſeyn des fremden Werths gewonnen, daß er ſich mehrere Herzen erſtritt als das weichſte, und andre Augen beherrſchte als die ſchoͤnſten an Beaten, vor denen ſeine Blicke, wie Schneeflocken unter der nackten Sonne im Blauen, rein, ſchimmernd, zitternd und zerrinnend nieder¬ fielen. — —
— Jezt koͤmmt alles, Ottomar und die andern. — — — — — — — — — — — — — — — —
Meine Uhr ſchlaͤgt jezt zwei Uhr nach Mitter¬ nacht und noch iſt Beatens und des Paradieſes Ge¬ burtstag nicht beſchloſſen: denn ich ſetze mich jezt her, ihn zu beſchreiben; wenn ich anders auf dem Stuhl bleibe und nicht wieder in das blaue Gewoͤl¬ be, das uͤber ſo viele heutige Freuden ſeine Sternen - Stralen warf, hinaus irre.
Gegen abend flog Ottomar uͤber das Waſſer her¬ uͤber. Er ſieht immer aus wie ein Mann, der an etwas Weites denkt, der jezt nur ausruhet, der die hereinhaͤngende Blume der Freude abbricht, weil ihn ſeine fliehende Gondel vor ihr voruͤberreiſſet, nichtweil337weil er daran denkt. Er hat noch ſeine erhaben¬ leiſe Sprache und ſein Auge, das den Tod geſehen. Immer noch iſt er ein Zahuri,*)Die Zahuri in Spanien ſehen durch die verſchloſſene Erde hindurch bis zu ihren Schätzen hinab, zu ihren Todten, zu ihren Metallen ꝛc. der durch alles Blumengeniſte und alle Graspartien der Erde durch¬ ſchauet und zu den unbeweglichen Todten hinunter¬ ſieht, die unter ihr liegen. So ſanft und ſtuͤrmiſch, ſo humoriſtiſch und melancholiſch, ſo verbindlich und unbe¬ fangen undfrei! er behauptete, die meiſten Laſter kaͤmen von der Flucht vor Laſtern — aus Furcht, ſchlimm zu handeln, thaͤten wir nichts und haͤtten zu nichts großem mehr Muth — wir haͤtten alle ſo viel Men¬ ſchenliebe, daß wir keine Ehre mehr haͤtten — aus Menſchen-Schonung und Liebe haͤtten wir keine Aufrichtigkeit, keine Gerechtigkeit, wir ſtuͤrzten kei¬ nen Betruͤger, keinen Tyrannen ꝛc.,
Ihn wunderte Beata, die nicht den gewoͤhn¬ lich erzwungenen ſondern ſteigenden Antheil an unſern Reden nahm: denn er glaubt, mit einer Frau koͤnne man von Himmel und Hoͤlle, von Gott und Vaterland ſprechen: ſo denke ſie doch unter dem ganzen Hoͤren an nichts als an ihre Geſtalt, ihr2. Theil. Y338Stehen, ihren Anzug. „ Ich nehme ſagte Fenk, erſtlich alles aus, und zweitens auch die Phyſio¬ gnomik: auf dieſe horchen alle, weil ſie alle ſie ſogleich gebrauchen koͤnnen. “
Der magiſche Abend trieb immer mehr Schat¬ ten vor ſich voraus; er nahm endlich alle Weſen auf ſeinen wiegenden Schooß und legte ſie an ſich, um ſie ruhig, ſanft und ſtille zu machen. Wir fuͤnf Inſulaner wurdens auch. Wir giengen ſaͤmmt¬ lich hinaus auf eine kleine kuͤnſtliche Anhoͤhe, um die Sonne bis zur Treppe hinunter zu begleiten eh ſie uͤber Ozeane nach Amerika hinabſchift. Ploͤtzlich er¬ toͤnten druͤben in einer andern Inſel fuͤnf Alphoͤrner und giengen ihre einfachen Toͤne ziehend auf und ab. Die Lage wirkt mehr auf die Muſik als die Muſik auf die Lage. In unſerer Lage — wo man mit dem Ohr ſchon an der Alpenquelle, mit dem Auge auf der am Abend uͤbergoldeten Gletſcherſpitze iſt und ſich um die Sennenhuͤtte Arkadien und Tempe und Jugend-Auen denkt, und wo wir dieſe Phan¬ taſien vor der untergehenden Sonne und nach dem ſchoͤnſten Tage fliegen ließen — da folgt das Herz einem Alphorn mit groͤßern Schlaͤgen als einem Konzertſaale voll geputzter Zuhoͤrer. — O das En¬339 treebillet zur Freude iſt ein gutes, und dann ein ruhiges Herz! — Die dunkeln wolkigen durch¬ ſchimmerten Begriffe, die der verſtorbne Baron Wolf von allen Empfindungen verlangt, muͤſſen langſam uͤber die Seele ziehen oder gaͤnzlich ſte¬ hen, wenn ſie ſich vergnuͤgen ſoll; ſo wie Wol¬ ken, die langſam gehen, ſchoͤnes Wetter, und fliegende ſchlimmes bedeuten. „ Es giebt, ſagte Beata, tugendhafte Tage, wo man alles vergiebt und alles uͤber ſich kann, wo die Freude gleichſam im Herzen kniet und betet, daß ſie laͤnger da blei¬ be und wo alles in uns ausgeheitert und beleuch¬ tet iſt — wenn man dann vor Vergnuͤgen daruͤber weint: ſo wird dieſes ſo groß, daß alles wieder vorbei iſt. “
„ Ich ſagte Ottomar, werfe mich lieber in die ſchaukelnden Arme des Sturms. Wir genießen nur blinkende, gluͤhende Augenblicke! dieſe Kohle muß heftig herumgeſchleudert werden damit der brennende Kreis der Entzuͤckung erſcheine. “
„ Und doch, ſagt 'er, bin ich heute ſo froh vor dir unterſinkende Sonne! ... Je froher ich in ei¬ ner Stunde in einer Woche war, deſto mehr ſtuͤrmte dann die folgende — wie Blumen iſt derY 2340Menſch, je heftiger das Gewitter werden wird, deſto mehr Wolgeruͤche verhauchen ſie vorher.”
„ Sie muͤſſen uns nicht mehr einladen, H. D.” ſagte laͤchelnd Beata, aber ihr Auge ſchwamm doch in etwas mehr als in Freude.
Unter dem Rothauflegen des Himmels trat die Sonne auf ihre letzte Stufe, von farbigen Wol¬ ken umlagert. Die Alphoͤrner! und ſie verſchwan¬ den im naͤmlichen Nu. Eine Wolke um die andere erblaßte und die hoͤchſte hieng noch durchgluͤhet herab. Beata und meine Schweſter ſcherzten weib¬ lich daruͤber, was dieſe illuminierten Nebel wol ſeyn koͤnnten — die eine machte daraus Weih¬ nachtsſchaͤfgen mit roſenrothen Baͤndern, eine ro¬ the Himmelsſchaͤrpe — die andre feurige Augen oder Wangen unter einem Schleier — rothe und weiße Nebel-Roſen — einem rothen Sonnen-Hut u. ſ. w. ....
Punſch, denk 'ich, wurde dann fuͤr die Her¬ ren gebracht, von denen einer ihn in ſolcher Maͤſ¬ ſigkeit zu ſich nahm, daß er noch um 2½ Uhr[ſei¬ nen] Sektor ſetzen kann. Wir giengen dann unter dem kuͤhlenden rauſchen Baum des Himmels, deſ¬ ſen Bluͤthen Sonnen und deſſen Fruͤchte Welten341 find, hin und her. Das Vergnuͤgen fuͤhrte uns bald auseinander bald zu einander und jeder war gleich ſehr faͤhig, ohne und durch Geſellſchaft zu genießen. Beata und Guſtav vergaßen aus Scho¬ nung uͤber die fremde Liebe und Freude ihre beſon¬ dere und waren unter lauter Freunden ſich auch nur Freunde. O predigt doch bloß die Traurigkeit, die das Herz ſo dick wie das Blut macht, aber nicht die Freude aus der Welt, die in ihrem Tau¬ meltanz die Arme nicht bloß nach einem Moiti¬ ſten ſondern auch nach einem wankenden Elenden ausſtreckt und aus dem Jammer-Auge, das ihr zuſieht, voruͤberfliehend die Thraͤne nimmt! — Heu¬ te wollten wir einander alles verzeihen, ob wir gleich nichts zu verzeihen fanden. Es war nichts zu vergeben da, ſag' ich: denn als ein Stern um den andern aus der ſchattirten Tiefe heraus¬ quoll und als ich und Ottomar vor einer ſchlagen¬ den Nachtigal umgekehret waren, um durch die Entfernung den gedaͤmpften Lautenzug ihrer Kla¬ gen anzuhoͤren und als wir einſam, von lauter Toͤnen und Geſtalten der Liebe umgeben, nebenein¬ ander ſtanden und als ich mich nicht mehr halten konnte, ſondern unter dem großen jezigen und kuͤnf¬342 tigen Himmel mein Herz dem zeigte, deſſen ſei¬ nes ich laͤngſt geſehen und geliebt: ſo war das kein Verzeihen und Verſoͤhnen, was! ... davon Uebermorgen! ...
In veraͤnderlichen Gruppen — bald die[zwei] Maͤdgen allein, bald mit einem dritten, bald wir alle — betraten wir die in Graß umgekleideten Blu¬ men und giengen zwiſchen zwei nebenbuhleriſchen Nachtigallen, wovon die eine unſre Inſel, die andre die naͤchſte Inſel beſang und begeiſterte — in dieſem muſikaliſchen Potpourri hatten die Blu¬ menblaͤtter die wohlriechenden Potpourri zugedeckt, aber alle Birkenblaͤtter hatten die ihrigen aufge¬ than und wir theilten uns mit Abſicht auseinander um nicht aus unſerem zauberiſchen Otaheiti abſchif¬ fen zu koͤnnen. —
Endlich geriethen wir zufaͤllig unter einer Sil¬ berpappel zuſammen, deren beſchneiete Blaͤtter durch den Glanz im Abend uns um ſie verſammelt hatten. „ Wir haben hohe Zeit zum Fortgehen “ſagte Beata — aber als wirs wollten oder wollen muſten: ſo gieng der Mond auf: hinter einem gegitterten Faͤcher von Baͤumen ſchlug er ſo be¬ ſcheiden als er ſtill uͤber die blinde Nacht wegflieſ¬343 ſet, ſeine Wolken-Augenlieder auf, und ſein Auge ſtroͤmte und er ſah uns an wie die Aufrichtigkeit und die Aufrichtigkeit ſah auch ihn an. „ Wollen wir nur — ſagte Ottomar, in deſſen heißer Freundſchafts-Hand man gern jede weibliche ent¬ rieth — bleiben, bis es auf dem Waſſer lichter wird und der Mond in die Thaͤler herein leuchten kann — wer weiß, wenn wirs wieder ſo haben? “ End¬ lich fuͤgt er hinzu: „ ich und Guſtav verreiſen ohne¬ hin morgen fruͤh und das Wetter haͤlt nicht mehr lange. “ Es iſt das ſiebenwoͤchentliche unbekannte Verreiſen, von dem ich alle Muthmaßungen, die es bisher ſo wichtig und raͤthſelhaft vorſtellten, gern hier zuruͤcknehme.
Wir blieben wieder; das Geſpraͤch[wurde] ein¬ ſylbiger, der Gedanke vielſylbiger und das Herz zu voll, wie uns der abnehmende Mond an der Aufgangsſchwelle auch vol vorkam. Wenn einmal eine Geſellſchaft die Hand vom Thuͤrdruͤcker, wor¬ an ſie ſie ſchon hatte, wieder wegthut: ſo erregt dieſer Aufſchub die Erwartung groͤßerer Vergnuͤ¬ gungen und dieſe Erwartung erregt Verlegenheit — wir aber wurden bloß um einander ſtiller, verbar¬ gen unſere Seufzer uͤber die Falkenfluͤgel froͤhlicher344 Stunden und vielleicht brachte manches wegge¬ wandte Auge dem Monde das Opfer, das ihm der traurigſte und der freudigſte Menſch ſo ſchwer ver¬ ſagen koͤnnen ....
Gerade jezt draͤngte ich mich wieder hinaus in ſeine Strahlen und komme wieder an meinen Schreibtiſch und danke dem Schleier der Nacht, der um das Univerſum doppelt herumreicht, daß er auch uͤber den groͤſten Schmerzen und Freuden der Menſchen ſich faltet .... Wir waren alſo auf unſerer Inſel ſo ſchwermuͤthig ſtumm wie an einer Pforte der froͤhligen Ewigkeit: der Laͤnder-breite Fruͤhling zog mit ſeiner Herrlichkeit — mit ſeinem geſunknen lauen Monde — mit ſeinem ſchillernden Venusſtern — mit ſeiner erhabnen Mitternachts¬ roͤthe — mit ſeinen himmliſchen Nachtigallen vor fuͤnf Menſchen voruͤber; er warf und haͤufte in dieſe fuͤnf Uebergluͤckliche ſeine Knoſpen und ſeine Bluͤthen und ſeine daͤmmernden Proſpekte und Hof¬ nungen und ſeine tauſend Himmel und nahm ih¬ nen nichts dafuͤr weg als ihre Sprache. O Fruͤh¬ ling o Erde Gottes! o unumſpannter Himmel! ach! regte ſich heute doch in allen Menſchen auf dir das Herz in freudigen Schlaͤgen, damit wir alle345 neben einander unter den Sternen niederfielen und den heißen Athem in Eine Jubel-Stimme ergoͤſſen und alle Freuden in Gebete, und das hohe Herz nach dem hohen Himmelsblau richteten und in der Entzuͤckung nicht Kummer - ſondern Wonne-Seuf¬ zer abſchickten, deren Weg ſo lang zum Himmel wie unſerer zum Sarge iſt? ... Du bitterer Ge¬ danke! oft unter lauter Ungluͤcklichen der Froͤhli¬ che zu ſeyn — du ſuͤßerer, unter lauter Gluͤckli¬ chen der Betruͤbte zu ſeyn!
Endlich floſſen vom Silberblick des ſteigenden Mondes die truͤbenden Schlacken hinweg; er ſtand wie eine unausſprechliche Entzuͤckung hoͤher in der Nacht des Himmels, aus deſſen Hintergrund in den Vorgrund gemalt. Die Froͤſche durchſchlugen wie eine Muͤhle die Nacht und ihr forttoͤnender vielſtimmiger Laͤrm hatte die Wirkung des forttoͤ¬ nenden Schweigens. — O welcher Menſch, den der Tod zu einem uͤber die Erde fliegenden Engel gemacht haͤtte, waͤre nicht auf ſie niedergefallen und haͤtte unter irdiſchem Laub und auf der irdi¬ ſchen vom Monde uͤberſilberten Erde (wie von der Sonne uͤbergoldeten) nicht an ſeinen verlaſſenen Himmel gedacht und an ſeine alten Menſchen-Auen,346 ſeine alten Fruͤhlinge hienieden und an ſeine vori¬ gen Hofnungen unter den Bluͤten? —
Ihr Rezenſenten! vergebt mir nur heute und laſſet mich fortfahren!
Endlich ſtiegen wir in die Gondel wie in einen Charons Rachen ein, wir raͤumten entzuͤckt und unwillig das buſchige Ufer und den aus dem Waſſer an feine Blaͤtter aufgeſtralten Wiederſchein — das groͤßte Vergnuͤgen, der groͤßte Dank treiben nicht horizontale ſondern ſenkrechte, ins Herz greifende verſteckte Wurzeln — wir konnten alſo zu Fenk nicht viel ſagen, der von der Freudenſtaͤt¬ te heute Nacht nicht weggeht. — Du Freund! der mir theurer als allen andern iſt, vielleicht wenn alles ſtiller und der Mond hoͤher und reiner und die Nacht ewiger iſt, gegen Morgen hin, wirſt du zu weinen anfangen uͤber beides was die Erde dir gegeben, was ſie dir genommen hat. — Ge¬ liebter! wenn du es jetzt in dieſer Minute thuſt: ſo thu 'ichs jetzt ja auch! — ...
Mit unſerem erſten Tritt ins Boot durchdran¬ gen (wahrſcheinlich auf Fenks Anordnung) die Alp¬ hoͤrner wieder die Nacht; jeder Ton klang in ihr wie eine Vergangenheit, jeder Ackord wie ein347 Seufzer nach einem Fruͤhling der andern Welt; der Nacht-Nebel ſpielte und rauchte uͤber Waͤldern und Gebirgen und zog ſich wie die Graͤnze des Men¬ ſchen, wie Morgenwolken der kuͤnftigen Welt um unſere Fruͤhlingserde. Die Alphoͤrner verhallten wie die Stimme der erſten Liebe an unſeren Ohren und wurden lauter in unſern Phantaſien; das Ruder und Boot ſchnitt das Waſſer in eine glimmende Milchſtraße entzwei; jede Welle war ein zitternder Stern; das wankende Waſſer ſpiegelte die Libra¬ zion des Mondes nach, den wir lieber vertauſend¬ faͤltigt als verdoppelt haͤtten und deſſen ſanftes Li¬ lienantlitz unter der Welle noch blaſſer und holder bluͤhte. — Umzingelt von vier Himmeln —[dem] oben im Blauen, auf der Erde, im Waſſer und in uns — ſchifften wir durch ſchwimmende Bluͤten hin. Beata ſaß am einen Ende des Bootes ent¬ gegengerichtet dem andern, dem Monde und dem Freund ihrer zarten Seele — ihr Blick glitt leicht zwi¬ ſchen dem Monde und ihm herab und hinauf — er dach¬ te an ſeine morgendliche Reiſe und an ſeine laͤnge¬ re Legations-Reiſe und bat uns alle um ſchrift¬ liche Denkmaͤler, damit er immer gut bliebe wie jetzt unter uns und erinnerte Beata an ihr Ver¬348 ſprechen, ihm auch eines zu geben — ſie hatt 'es ſchon ge¬ ſchrieben und gab es ihm heute beim Abſchied — Der frohe Tag, der frohe Abend, die himmliſche Nacht fuͤllte ihre Augen mit tauſend Seelen und mit zwei Thraͤnen, die ſtehen blieben — ſie deckte und trocknete das eine Auge mit dem weiſſen Tu¬ che und ſah Guſtav mit dem zweiten rein und ſtroͤ¬ mend an wie ein Spiegelbild .... Du gute See¬ le dachteſt, du verbaͤrgeſt auch das zweite Auge! —
Endlich — o du ewiges unaufhoͤrliches Endlich! — brach auch unſere ſilberne Wellen-Fahrt an ih¬ rem Ufer: ach das gegenuͤberliegende lag oͤde und uͤberſchattet dort. Ottomar riß ſich im wehmuͤthig¬ ſten Enthuſiaſmus los und unter dem Verklingen der Schweizer-Toͤne ſagte mein erneuerter Freund: „ es iſt wieder voruͤber — alle Toͤne verhallen — al¬ le Wellen verſinken — die ſchoͤnſten Stunden ſchla¬ gen aus und das Leben verrinnt — es giebt doch gar nichts, du weiter Himmel uͤber uns, was uns fuͤllet oder begluͤckt! — Lebt wohl! ich werde von euch Abſchied nehmen auf meinem ganzen Weg hin¬ durch. “
Die Alpen-Echo's klangen in die weite Nacht zuruͤck und fielen zu einem toͤnenden Hauche, der349 nicht der Erinnerung aus der Jugend ſondern aus der tiefen Kindheit glich. Wir ſchwankten, aus¬ gefuͤllt vom Genuß, durch thauende Geſtraͤuche und umgebuͤckte ſchlaf - und thautrunkne Fluren, aus denen wir entſchlummerte Blumen riſſen, um Morgen ihre zugefaltete Schlafgeſtalt zu ſehen. Wir dachten an die ſonnenloſen Pfade des heutigen Morgens; wir giengen ohne Laut vor dem pigmaͤi¬ ſchen Gaͤrtchen und Haͤuschen voruͤber und die Kin¬ der und die brodbackende Frau wurden von den To¬ desarmen des Schlummers gedruͤckt und umflochten. Die Zeit hatte den Mond wie einen Siſyphusſtein auf den Gipfel des Himmels gewaͤlzet und ließ ihn wieder ſinken. In Oſten giengen Sterne auf, in Weſten giengen Sterne unter, mitten im Him¬ mel zerſprangen kleine von der Erde abgeſandte Sterne — aber die Ewigkeit ſtand ſtumm und groß neben Gott ſelbſt und alles vergieng vor ihr und alles entſtand vor ihm. Das Feld des Lebens und der Unendlichkeit hieng nahe und[tief] uͤber uns wie Ein Blitz herein und alles Große, alles Ueberir¬ diſche, alle Verſtorbne und alle Engel hoben un¬ ſern Geiſt in ihren blauen Kreis und ſanken ihm entgegen ....
350Wir traten endlich, ich an der Hand meiner Schweſter, Guſtav an Beatens Hand, ſtiller, voller, heiliger in unſer kleines Lilienbad als wirs am Morgen verlaſſen hatten. Guſtav gieng zuerſt von mir und ſagte, in fuͤnf Tagen ſehen wir uns wieder. Beaten fuͤhrt 'er ihrer Huͤtte zu, die in Lunens Silberflammen loderte. Die weiſſe Spitze der Pyramide auf dem Eremitenberge ſchimmerte tief entfernt uͤber den langen gruͤnenden Weg zum Thal und durch die Nacht heruͤber — neben dieſer Pyramide hatten ſich die zwei Gluͤcklichen ihre Her¬ zen zuerſt gegeben, neben ihr ruhte ein Freund von ſeinem Leben aus und ihre weiſſe Spitze zeigte den Ort, wo ſein Fruͤhling ſchoͤner iſt. — Sie hoͤr¬ ten die Blaͤtter der Terraſſe liſpeln, und den Le¬ bensbaum, wo ſie nach dem Untergang der Sonne ſich zum zweitenmal ihre Seelen gegeben hatten ... O ihr zwei Ueberſeligen und Schuldloſen! jetzt ſchoͤpft ein guter Seraph fuͤr euch eine Silber-Mi¬ nute aus dem Freuden-Meere, das in einer ſchoͤ¬ nern Erde liegt — auf dieſem eilenden Tropfen blinkt die ganze Perſpektive des Edens, worin der Engel iſt; die Minute wird jetzt zu euch herunter rinnen, aber ach ſo ſchnell wird ſie voruͤber ge¬ hen! —
351Beata gab Guſtav, als Wink zum Abſchied, das begehrte Blatt — er druͤckte die Hand, aus der es kam, an ſeinen ſtillen Mund — er konnte weder Dank noch Lebewohl ſagen — er nahm ihre zweite Hand und alles rief und wiederholte in ihm „ ſie iſt ja wieder dein und bleibt es ewig “und er mußte wei¬ nen uͤber ſeine Seligkeit. — Beata ſah ihm in ſein uͤberſtroͤmendes Herz und ihres floß in eine Thraͤne uͤber und ſie wußt 'es noch nicht — aber als die Thraͤne des heiligſten Auges auf die Rofenwange glitt und an dieſem Roſenblatte mit erzitterndem Schimmer hieng — als ſeine feſſelnde und ihre ge¬ feſſelte Haͤnde ſie nicht trocknen konnten — als er mit ſeinem flammenden Angeſicht, mit ſeiner uͤber¬ ſeligen zerſpringenden Bruſt die Zaͤhre nehmen woll¬ te und ſich nach dem Schoͤnſten auf der Erde wie eine Entzuͤckung nach der Tugend neigte und mit ſeinem Geſicht das ihrige beruͤhrte: dann fuͤhrte der Engel, der die Erde liebt, die zwei froͤmm¬ ſten Lippen zu einem unausloͤſchlichen Kuſſe zuſam¬ men — dann verſanken alle Baͤume, vergiengen alle Sonnen, verflogen alle Himmel und Himmel und Erde hielt Guſtav in einem einzigen Herz an ſeiner Bruſt — dann giengeſt du, Seraph, in352 in die ſchlagenden Herzen und gabeſt ihnen die Flammen der uͤberirdiſchen Liebe — und du hoͤrteſt fliehen von Guſtavs heiſſen Lippen die gehauchten Laute: „ o du Theure! Unverdiente! und ſo Gu¬ te! ſo Gute!”
Es ſei genug — die hohe Minute iſt voruͤber gefloſſen — der Erdentag ſchickt ſein Morgenroth ſchon an den Himmel — mein Herz komme zur Ruhe, und jedes andre auch!
Vier353Tag nach dieſer Nacht — Beatens Blatt — Merkwürdigkeit.
Ich bitte die Kritik um Verzeihung, wenn ich heute Nacht zuviele Metaphern und zuviel Feuer und Laͤrm gemacht: ein Freuden-Sektor (ſo wie die Kritik daruͤber) muß ſich das gefallen laſſen, ſobald einmal der Verfaſſer ſich eine aͤhnliche Ueber¬ fracht von Zitronenſaͤure, Theebluͤte, Zuckerrohr und Rack gefallen laͤſſet, wie ich that.
Ich legte mich heute Nacht gar nicht nieder: die Voͤgel fiengen ſchon wieder zu ſingen an, und als der Traum kaum das vergangne Schauſpiel ei¬ nige 40mal wieder vor den zugeſunknen Augen auf¬ gefuͤhret hatte, macht 'ich ſie wieder auf, weil die Sonne mich umflammte.
Eine durchwachte und durchfreuete Nacht laͤſſet einen Morgen zuruͤck, wo man in einer ſuͤßen Ab¬ ſpannung weniger empfindet als phantaſiret, wo die naͤchtlichen Toͤne und Taͤnze unſere innere Oh¬ ren immerfort anklingen, wo die Perſonen, mit denen wir ſie verbrachten, in einem ſchoͤnen Daͤm¬z. Theil Z354merlichte, das unſre Herzen zieht, vor unſern in¬ nern[Augen] ſchweben. In der That man liebt nie eine Frau mehr als nach einer ſolchen Nacht Mor¬ gens eh 'man gefruͤhſtuͤckt.
Ich dachte heute tauſendmal an meinen Gu¬ ſtav der vor Tags ſeine fuͤnftaͤgige Reiſe angetre¬ ten, und an meinen feſten Ottomar, der mit ihm geht. Moͤchtet ihr an keine Dornen kommen als ſolche die unter die Roſe geſteckt ſind, unter keine Wolke treten als die, die euch den ganzen blauen Himmel laͤſſet und bloß die Glut-Scheibe nimmt, und moͤchte euren Freuden keine fehlen als die, daß ihr ſie uns noch nicht erzaͤhlen koͤnnet!
Alles Sonnenlicht umzauberte und uͤberwallte mir bloß wie erhoͤhtes Mondenlicht alle Schatten¬ gaͤnge von Lilienbad; die vorige Nacht ſchien mir in den heutigen Tag heruͤber zu langen und ich kann nicht ſagen, wie mir der Mond, der noch mit ſeinen abgewiſchten Schimmer wie eine Schnee¬ flocke tief gegen Abend hergieng, ſo willkommen und lieb wurde. O blaſſer Freund der Noth und der Nacht! ich denke ſchon noch an dein elyſiſches Schimmern, an deine abgekuͤhlten Stralen, womit du uns an Baͤchen und in Alleen begleiteſt und wo¬ mit du die traurige Nacht in einen von weiten ge¬355 ſehenen Tag umkleideſt! Magiſcher Proſpektmaler der kuͤnftigen Welt, fuͤr die wir brennen und wei¬ nen, wie ein Geſtorbner ſich verſchoͤnet, ſo ma¬ leſt du jene auf unſre irdiſche, wenn ſie mit allen ihren Blumen und Menſchen ſchlaͤft oder ſchweigend dir zuſieht! —
Ich gaͤbe heute die vornehmſte Viſite darum, wenn ich eine bei den Klubiſten des geſtrigen Ta¬ ges machen koͤnnte; es iſt aber nicht zu thun: ſo¬ gar Beata hat heute eine von ihrer Mutter und mein Auge konnte noch nichts von ihr habhaft wer¬ den als die fuͤnf weiſſen Finger, womit ſie einen Blumentopf an ihrem Fenſter aus dem Schatten eines Zweigs wegdrehte. O wenn unſer altes Le¬ ben und unſre Wandelgaͤnge wieder anheben und alles wieder beyſammenlebt: was ſoll da die Ge¬ lehrten-Republik nicht zu leſen bekommen!
Heute reich 'ich ihr nichts mehr als Beatens Geleitsbrief an Guſtav, weil ich ihn zu mun¬ diren brauche. Ich ſchluͤpfe dann wieder ins Freie, beſchiffe nach der Seekarte meines Kopfes den geſtri¬ gen Weg noch einmal und indem ich die verzettel¬ ten botaniſchen Blumen, die geſtern unſre vollen Haͤnde fallen lieſſen, als Nachflor aufleſe, find' Z 2356ich die hoͤhern auch. — Man wird einige Stellen im folgenden Aufſatze Beaten verzeihen, wenn ich vorausſage, daß ſie — vielleicht durch ihr Herz ſo gut wie durch ihren Vater uͤberliſtet, der nur ein aͤuſſerlicher Renegat des Katholiciſmus war — von den Engeln und ihrer Anbetung mehr glaubte als Nikolai und die Schmalkaldiſchen (Waaren -) Artikel einer Lutheranerin verſtatten koͤnnen. Denn das ſchwache und ſo oft huͤlfloſe Weib, das nicht weit uͤber dieſe Erde zu ſteigen wagt, legt in der Stunde der Noth ſo gern ihre Bitten und ihre Seufzer vor einer Marie, vor einer Seligen; vor einem Engel nieder; aber der feſtere Mann wird nachſichtig einen Wahn nicht ruͤgen, der ſie ſo troͤſten kann. —
Es iſt kein Wahn, daß Engel um den bedroh¬ ten Menſchen[mitten] in ihren Freuden wachen, wie die Mutter unter ihren Freuden und Geſchaͤf¬ ten ihre Kinder huͤtet. Ach! ihr unbekannten Un¬ ſterblichen! ſchlieſſet euch ein einziger Himmel ein? — Dauert euch nie der wehrloſe Erdenſohn? — Soll¬ tet ihr groͤſſere Thraͤnen abzutrocknen haben als un¬357 ſre? — ach wenn der Schoͤpfer ſeine Liebe ſo in euch wie in uns gelegt hat, ſo ſinkt ihr gewiß auf dieſe Erde und troͤſtet das umſtuͤrmte Herz unter dem Monde, fliegt um die gedruͤckte Seele, deckt eure Hand auf die verſiegende Wunde und denkt an die armen Menſchen!
Und wenn hienieden ein Geiſt geht, der euch einmal gleichen wird, koͤnnt ihr euren Bruder ver¬ geſſen? — Engel der Freude! ſei mit meinem und[deinem] Freunde, wenn die Sonne koͤmmt und laſſ 'ihn ſchoͤne fromme Morgen angruͤnen! Sei mit Ihm, wenn ſie hoͤher geht und wenn ihn die Arbeit druͤckt — o nimm den entfernten Seufzer ei¬ ner Freundin und kuͤhle damit Seinen! Sei mit ihm wenn die Sonne weicht und richte ſein Auge auf den im weiſſen Trauergewand aufſteigenden Mond und auf den weiten Himmel, worin der Mond und du gehen! —
Engel der Thraͤnen und der Geduld! Du, der du oͤfter um den Menſchen biſt! ach vergeſſe mein Herz und mein Auge und laſſ 'ſie bluten; — ſie thun es doch gern — aber ſtille wie der Tod, das Herz und das Auge meines Freundes und zeig' ih¬ nen auf der Erde nichts als den Himmel jenſeits358 der Erde, — Ach Engel der Thraͤnen und der Ge¬ duld! Du kennſt das Auge und das Herz, das ſich fuͤr ihn ergieſſet, du wirſt ſeine Seele vor ſie bringen, wie man Blumen in den Sommerregen ſtellet! Aber thu 'es nicht, wenn es ihn zu trau¬ rig macht! O Engel der Geduld! ich liebe dich, ich kenne dich! ich werde in deinen Armen ſterben!
Engel der Freundſchaft! — vielleicht biſt du der vorige Engel? .... ach! .... Dein bimm¬ liſcher Fluͤgel huͤlle ſein Herz ein und waͤrm 'es ſchoͤner als die Menſchen koͤnnen — ach, du wuͤr¬ deſt auf einer andern Erde und ich auf dieſer wei¬ nen, wenn an einem kalten Herzen ſein heiſſes, wie am gefrierenden Eiſen die warme Hand, an¬ klebte und blutig abriſſe? .... o bedeck' ihn; aber wenn du es nicht kannſt, ſo ſag 'mir ſeinen Jam¬ mer nicht!
O ihr immer Gluͤcklichen in andern Welten! euch ſtirbt nichts, ihr verliert nichts und habt al¬ les! — was ihr liebt, druͤckt ihr an eine ewige Bruſt, was ihr habt, haltet ihr in ewigen Haͤn¬ den. — Koͤnnt ihrs denn fuͤhlen in euren glaͤn¬ zenden Hoͤhen droben, in eurem ewigen Seelen¬ kunde, daß die Menſchen hienieden getrennt wer¬359 den, daß wir einander nur aus Saͤrgen, eh 'ſie unterſinken, die Haͤnde reichen, ach daß der Tod nicht das einzige, nicht das ſchmerzhafteſte iſt, was Menſchen ſcheidet — eh' er uns aus einander nimmt, ſo draͤngt ſich noch manche kaͤltere Hand herein und ſpaltet Seele von Seele — — ach dann flieſ¬ ſet ja auch das Auge und das Herz faͤllt klagend zu, eben ſo gut als haͤtte der Tod zertrennt, wie in der voͤlligen Sonnenfinſterniß ſo gut wie in der laͤngern Nacht der Thau ſinkt, die Nach¬ tigall klagt, die Blume zuquillt!
— Alles Gute, alles Schoͤne, alles was den Menſchen begluͤckt und erhebt, ſei mit meinem Freunde; und alle meine Wuͤnſche vereinigt mein ſtilles Gebet. “
Ich thue ſie alle mit, nicht bloß fuͤr Guſtav, ſondern fuͤr jeden den ich kenne und fuͤr die andern auch.
Ob es gleich ſchon eilf Uhr zu Nachts iſt: ſo muß ich dem Leſer doch etwas Melancholiſch-Schoͤ¬ nes melden, das eben jetzt voruͤberzog. Ein ſingen¬ des Weſen ſchwebte durch unſer Thal, aber von Blaͤt¬360 tern und Daͤmmerung verdeckt, weil der Mond noch nicht auf war. Es ſang ſchoͤner als ich noch hoͤrte:
— — Niemand, nirgends, nie.
— — Die Thraͤne, die faͤllt.
— — Der Engel, der leuchtet.
— — Es ſchweigt.
— — Es leidet.
— — Es hoft.
— — Ich und Du!
Offenbar fehlet jeder Zeile die Haͤlfte, und jeder Antwort die Frage. Es fiel mir ſchon einige¬ male ein, daß der Genius, der unſern Freund er¬ zog, ihm beim Abſchied Fragen und Diſſonanzen dagelaſſen, deren Antworten und Aufloͤſungen er mitgenommen: ich denk ', ich hab' es dem Leſer auch geſagt. Ich wollt ', Guſtav waͤre da. Aber ich habe nicht den Muth, mir die Freude auszu¬ denken, daß auch der Genius ſich in unſre Freuden - Guirlande zu Lilienbad eindraͤnge! — Ich hoͤre noch immer die gezognen Floͤtentoͤne aus dieſem unbe¬ kannten Buſen hinter den Bluͤten klagen; aber ſie machen mich traurig. Hier liegen die ewigſchlafen¬ den Blumen, die ich heute auf dem Steige unſrer361 letzten Nacht zuſammentrug, neben aufgefalteten wachenden, die ich erſt ausriß — ſie machen mich auch traurig. — Es giebt fuͤr mich und meine Le¬ ſer nichts noͤthigeres als jetzt einen neuen Freuden - Sektor anzuheben, damit wir unſer altes Leben fortſetzen ....
O Lilienbad! du biſt nur einmal in der Welt; und wenn du noch einmal vorhanden biſt, ſo heiſſeſt du V — zka.
362Wir ungluͤcklichen Brunnengaͤſte! es iſt vorbei mit den Freuden in Lilienbad. — Die obige Ue¬ berſchrift konnte noch mein Bruder machen, eh 'er nach Maußenbach forteilte! denn Guſtav liegt da im Gefaͤngnis. Es iſt alles unbegreiflich. Meine Freundin Beata unterliegt den Nachrichten, die wir haben und die im folgenden Briefe vom H. Doktor Fenk heute ankamen. Es iſt ſchmerzhaft fuͤr eine Schweſter, daß ſie allzeit bloß in Trauer¬ faͤllen die Feder fuͤr den Bruder nehmen muß. Wahrſcheinlich wird die folgende Hiobspoſt dieſes ganze Buch ſo wie unſere bisherigen ſchoͤnen Tage beſchließen.
Ich will dich, mein theuerer Freund, nicht wie ein Weib ſchonen ſondern dir auf einmal den ganzen außerordentlichen Schlag erzaͤhlen, der un¬ ſere gluͤcklichen Stunden getroffen hat und am mei¬ ſten die unſerer beiden Freunde.
363Drei Tage nach unſerer ſchoͤnen Nacht — er¬ innerſt du dich noch an eine gewiſſe Bemerkung von Ottomar? — will der Profeſſor Hoppedizel ſeinen unbeſonnenen Spas ausfuͤhren, im Mauſ¬ ſenbachſchen Schloſſe einzubrechen. Der pfiffige Jaͤ¬ ger Robiſch war gerade nicht zu Hauſe: ſondern mit deinem Vorfahrer, dem Regierungsrath Kolb, auf einer Streiferei nach Diebsgeſindel, bei der ſie aus Luſt mitzogen. Bemerke, eine Menge Umſtaͤnde und Perſonen verknuͤpfen ſich hier, die ſchwerlich der Zufall zuſammen geleitet hat.
Der Profeſſor koͤmmt mit 6 Kameraden und hat eine Leiter mit, um ſie an dem ſeit Jahren zerbrochnen Fenſter das nach Auenthal hinuͤberſieht anzulegen. Aber als er unter das Fenſter tritt: ſteht ſchon eine daran. Er nimmts fuͤr den beſten Zufall und ſie ſteigen ſaͤmmtlich, beinahe hinter einander hinauf. Oben langt eine Hand eine ſil¬ berne Degenkuppel heraus und will ſie geben — der Profeſſor ergreift beide und ſpringt uͤber das Fenſter hinein. Drinnen war was er ſchien, ein Dieb, welcher Handlanger auf der Leiter erwartete. Der diebiſche Realiſt faͤllt den Nominaliſten mit wuͤthender Verzweiflung an — die Gallerie auf der364 Leiter ſtuͤrzet gar nach und vermehrt das fechtende Gewimmel. Die Stoͤße auf dem Fußboden laͤrmen den horchenden Roͤper weniger aus ſeinem Schlafe als Bette auf — er ſein ganzes Haus und dieſes ſeinen Gerichtsdiener — es kurz zu ſagen in weni¬ gen Minuten hatt 'er mit der Wuth, womit der Geizige ſeine Guͤter rettet und haͤlt, die ſpashaf¬ ten Diebe und den ernſthaften zu Gefangnen ge¬ macht, der wahre Dieb mochte noch ſo ſehr um ſich ſchlagen und der Profeſſor noch ſo ſehr[diſpu¬ tieren]. Jezt ſitzt alles feſt und wartet auf dich.
— Ach! haͤltſt du es aus wenn ich dir alles ſage? die Streifer Kolb und Robiſch finden um Mauſſenbach die Bundgenoſſen des ertapten Diebs — dringen in den Wald — gehen einer Hoͤle zu als wuͤſten ſie daß ſie zu etwas fuͤhre — finden ei¬ ne unterirdiſche Menſchenwelt — o! daß gerade du zu deinem Ungluͤck da getroffen werden muſteſt, du Unſchuldiger und Ungluͤcklicher! nun ſchlaͤgt dein ſanftes Herz auch an der Kerkerwand! — ſoll ich dir deinen Freund Guſtav nennen? — — Eile, eile, damit es ſich anders wende!
Sieh! nicht bloß auf deine, auch auf meine Bruſt hat dieſer Tag ſich heftig geworfen. Haͤltſt365 du es aus, wenn ich noch mehr ſage? — daß es nur ein Zufall iſt, daß Ottomar noch lebt. — — Ich brachte ihm die Nachricht unſeres Ungluͤcks. Mit einem ſchrecklichen Straͤuben ſeiner Natur, in der jede Fieber mit einem andern Schauer kaͤmpf¬ te, hoͤrt 'er mir zu und fragte mich ob keiner mit ſechs Fingern gefangen genommen worden: „ ich habe in jener Waldhoͤle (ſagt' er) einen ſchweren Eid gethan, unſere unterirdiſche Verbindung nie¬ mand zu offenbaren, ausgenommen eine Stunde vor meinem Tode: Fenk, ich will dir jezt die ganze Verbindung offenbaren. “— Mein Straͤu¬ ben und Flehen half nichts: er offenbarte mir al¬ les, „ Guſtav muß gerechtfertigt werden ſagt 'er “— aber dieſe Geſchichte iſt nirgends ſicher, kaum im getreueſten Buſen, geſchweige auf dieſem Pa¬ pier. Ottomar wurde von ſeiner ſogenannten Ver¬ nichtungs-Minute angefallen. Ich ließ ſeine Hand nicht aus meiner, damit er uͤber ſeine Stunde hinauslebte und ſeinen Eid braͤche. — Es giebt nichts hoͤheres als einen Menſchen, der das Leben verachtet; und in dieſer Hoheit ſtand mein Freund vor mir, der in ſeiner Hoͤle mehr gewagt und beſ¬ ſer gelebt hatte als alle Scheerauer — Ich ſah es366 ihm an, daß er ſterben wollte. Es war Nacht. Wir waren in der Stube, wo die waͤchſernen Mu¬ mien mit ſchwarzen Straͤußern ſtehen, die den Menſchen erinnern wie wenig er war, wie wenig er iſt. „ Beuge, ſagt er (denn ich kettete mich an ihn) deinen Kopf weg, daß ich in den Sirius ſe¬ he — daß ich in den unendlichen Himmel hinaus¬ ſehe und einen Troſt habe — daß ich mich hinweg¬ ſetze uͤber eine Erde mehr oder weniger — o mache mir, Freund, das Sterben nicht ſo ſauer — und zuͤrne und traure nicht — o ſchau, wie der ganze Himmel von einer Unendlichkeit zur andern ſchim¬ mert und lebt und nichts droben tod iſt — die Menſchen aller dieſer Wachs-Leichname wohnen drinnen in jenem Blauen — o ihr abgeſchiednen, heute zieh ich auch zu euch, in welche Sonne auch mein menſchlicher Lichtfunke ſpringen moͤge, wenn der Koͤrper von ihm nieder ſchmilzt: ich find' euch wieder. “—
Das Ausſchlagen jeder Viertelſtunde hatte bis¬ her mein Herz durchſtochen; aber die letzte Vier¬ telſtunde toͤnte mich wie eine Leichenglocke an; ich bewachte aͤngſtlich ſeine Haͤnde und Schritte; er fiel um mich: Nein! nein! ſagt 'ich, hier iſt367 kein Abſchied — ich haſſe dich bis ins Grab hinein, wenn du etwas im Sinne haſt — umarme mich nicht. “— Er hatt' es ſchon gethan; ſein ganzes Weſen war ein ſchlagendes Herz; er wollte in der Empfindung der Freundſchaft vergehen; er preßte ſeine Bruſt an meine, und ſeine Seele an meine: “ich umarme dich (ſagt, er) auf der Erde — in welche Welt auch der Tod mich werfe: ich vergeſſe deiner nicht; ich werde dort nach der Erde ſehen und meine Arme ausbreiten nach dem irdiſchen Freunde und nichts ſoll meine Arme fuͤllen als die getreue, die belaſtete Bruſt derer, die mit mir hier gelit¬ ten[,]die mit mir hier die Erde getragen haben .... Sieh! du weinſt und wollteſt mich doch nicht um¬ armen! o Geliebter! — an dir fuͤhl 'ich die Ei¬ telkeit der Erde nicht — — du wirſt ja auch ſter¬ ben! ... Großes Weſen uͤber der Erde. “... — Hier riß er ſich von mir und ſtuͤrzte auf ſeine Knie und betete. „ Zerſtoͤr' mich nicht, beſtraf 'mich nicht! — ich gehe weg von dieſer Erde, du weiſt wo der Menſch ankoͤmmt, du weiſt, was das Er¬ denleben und das Erdenthun iſt — aber o Gott, der Menſch hat ein zweites Herz, eine zweite Seele, ſeinen Freund! gieb mir den Freund wieder mit mei¬368 nem Leben — wenn einmal alle Menſchenherzen ſtocken und alles Menſcheublut in Graͤbern verfault: o guͤtiges, liebendes Weſen! hauch' dann uͤber die Menſchen und zeige der Ewigkeit ihre Liebe!” Ein Aufſprung — ein Flug an mich — eine umarmende Zerdruͤckung — ein Schlag an die Wand — ein Schuß aus ihr. —
Er lebt aber noch.
Fenk.
Leben369Eine Art Idylle.
Wie war dein Leben und Sterben ſo ſanft und meerſtille, du vergnuͤgtes Schulmeiſterlein Wuz! der ſtille laue Himmel eines Nachſommers gieng nicht mit Gewoͤlk, ſondern mit Duft um dein Le¬ ben herum: deine Epochen waren das Schwanken und dein Sterben war das Umlegen einer Lilie, de¬ ren Blaͤtter auf ſtehende Blumen aus einander flattern — und ſchon außer dem Grabe ſchliefeſt du ſanft!
Jezt aber, meine Freunde, muͤſſen vor allen Dingen die Stuͤhle um den Ofen, der Schenktiſch mit dem Trinkwaſſer an unſre Knie geruͤckt und die Vorhaͤnge zugezogen und die Schlafmuͤtzen auf¬ geſetzt werden und an die grand monde uͤber der Gaſſe druͤben und palais royal muß keiner von uns denken, bloß weil ich die ruhige Geſchichte des vergnuͤgten Schulmeiſterleins erzaͤhle — und du, mein lieber Chriſtian, der du eine einathmende2. Theil. A a370Bruſt fuͤr die einzigen dephlogiſtiſierten und ſtaͤr¬ kenden Freuden des Lebens, fuͤr die haͤuslichen haſt, ſetze dich auf den Arm des Stuhls, aus dem ich heraus erzaͤhle und lehne dich zuweilen ein wenig an mich! du machſt mich gar nicht irre.
Seit der Schwedenzeit waren die Wuze Schul¬ meiſter in Auenthal und ich glaube nicht, daß Ei¬ ner vom Pfarrer oder von ſeiner Gemeinde verklagt wurde. Allemal acht oder neun Jahre nach der Hochzeit verſahen Wuz und Sohn das Amt mit Verſtand — unſer Maria Wuz dozierte unter ſei¬ nem Vater ſchon in der Woche das Abc, in der er das Buchſtabieren erlernte, das nichts taugt. Der Karakter unſers Wuz hatte wie der Unterricht anderer Schulleute etwas Spielendes und Kindi¬ ſches, aber nicht im Kummer ſondern in der Freude.
Schon in der Kindheit war er ein wenig kin¬ diſch. Denn es giebt zweierlei Kinderſpiele, kin¬ diſche und ernſthafte — die ernſthaften ſind Nach¬ ahmungen der Erwachſenen, das Kaufmanns-Sol¬ datens-Handwerkers-Spielen — die kindiſchen ſind Nachaͤffungen der Thiere. Wuz war beim Spielen nie etwas anders als ein Haaſe, eine Turteltaube371 oder das Junge derſelben, ein Baͤr, ein Pferd oder gar der Wagen daran. Glaubt mir! ein Se¬ raph findet auch in unſern Kollegien und Hoͤr¬ ſaͤlen keine Geſchaͤfte ſondern nur Spiele und, wenn ers hoch treibt, jene zweierlei Spiele.
Indeß hatt 'er auch wie alle Philoſophen ſeine ernſthafteſten Geſchaͤfte und Stunden. Setzte er nicht ſchon laͤngſt — ehe die brandenburgiſchen er¬ wachſenen Geiſtlichen nur fuͤnf Faͤden von buntem Ueberzug umthaten — ſich dadurch uͤber große Vorurtheile weg, daß er eine blaue Schuͤrze die ſeltner der geiſtliche Ornat als der in ein Amt tra¬ gende D. Fauſts Mantel guter Kandidaten iſt, Vor¬ mittags uͤber ſich warf und in dieſem kouleurten Meßgewand der Magd ſeines Vaters die vielen Suͤnden vorhielt, die ſie um Himmel und Hoͤlle bringen konnten? — ja er grif ſeinen eignen Va¬ ter an, aber Nachmittags: denn wenn er dieſem Kobers Kabinetsprediger vorlas, wars ſeine in¬ nige Freude, dann und wann zwei, drei Worte oder gar Zeilen aus eignen Ideen einzuſchalten und dieſe Interpolation mit weg zu leſen, als ſpraͤche H. Kober ſelbſt mit ſeinem Vater. Ich denke, ich werfe durch dieſe Perſonalie vieles Licht auf ihnA a 2372und einen Spaß, den er ſpaͤter auf der Kanzel trieb, da er auch Nachmittags den Kirchgaͤngern die Poſtille an Pfarrers Statt vorlas, aber mit ſo viel hineingeſpielten eignen Verlagsartikeln und Fabrikaten, daß er dem Teufel Schaden that und deſſen Diener ruͤhrte. „ Juſtel ſagt 'er nachher um 4 Uhr zu ſeiner Frau, was weiſt du unten in deinem Stuhl, wie praͤchtig es einem oben iſt, zumal unter dem Kanzelliede. “
Wir koͤnnen's leicht bei ſeinen aͤltern Jahren erfragen, wie er in ſeinen Flegeljahren war. Im December von jenen ließ er allemal das Licht eine Stunde ſpaͤter bringen, weil er in dieſer Stunde ſeine Kindheit — jeden Tag nahm er einen andern Tag — rekapitulierte. Indem der Wind ſeine Fenſter mit Schnee-Vorhaͤngen verfinſterte und in¬ dem ihn aus den Ofen-Fugen das Feuer anblinkte: ſo druͤckte er die Augen zu und ließ auf die gefror¬ nen Wieſen den laͤngſt vermoderten Fruͤhling nie¬ derthauen; da bauete er ſich mit der Schweſter in den Heuſchober ein und fuhr auf dem architek¬ toriſch gewoͤlbten Heu-Gebuͤrge des Wagens heim und rieth droben mit geſchloſſenen Augen wo ſie wohl nun fahren. In der Abendkuͤhle unter dem373 Schwalben-Scharmuzieren uͤber ſich ſchoß er, froh uͤber die untere Entkleidung und das Deshabillée der Beine, als ſchreiende Schwalbe herum und mauer¬ te ſich fuͤr ſein Junges — ein hoͤlzerner Weihnachts¬ hahn mit angepichten Federn wars — eine Koth - Rotunda mit einem Schnabel von Holz und trug hernach Bettſtroh und Bettfedern zu Neſt. Fuͤr ei¬ ne andere palingeneſierende Abendſtunde wurde ein praͤchtiger Trinitatis (ich wolt 'es gaͤbe 365 Trinita¬ tis) aufgehoben, wo er am Morgen im toͤnenden Lenz um ihn und in ihm, mit laͤutendem Schluͤſſel - Bund und durchs Dorf in den Garten ſtolzierte, ſich im Thau abkuͤhlte und das gluͤhende Geſicht durch die tropfende Johannisbeer-Staude draͤngte, ſich mit dem hochſtaͤmmigen Graſe maaß und mit zwei ſchwa¬ chen Fingern die Roſen fuͤr den H. Senior und ſein Kanzelpult abdrehte. An eben dieſem Trinitatis — das war die zweite Schuͤſſel an dem naͤmlichen De¬ zember-Abend — quetſchete er, mit dem Sonnen¬ ſchein auf dem Ruͤcken, den Orgeltaſten den Choral „ Gott in der Hoͤh' ſei Ehr “ein oder ab (mehr kann er noch nicht) und ſtreckte die kurzen Beine mit ver¬ geblichen Approchen zur Parterre-Taſtatur hinunter und der Vater riß fuͤr ihn die richtigen Regiſter her¬374 aus. — Er wuͤrde die ungleichartigſten Dinge zu¬ ſammenſchuͤtten, wenn er ſich in den gedachten zwei Abendſtunden erinnerte, was er im Kindheits-De¬ cember vornahm; aber er war ſo klug, daß er ſich erſt in einer dritten darauf beſann, wie er ſonſt abends ſich aufs Zuketten der Fenſterlaͤden freuete, weil er nun ganz geſichert vor allem in der lichten Stube huckte, ob er ſich gleich vor der aͤußern Per¬ ſpektive des die Stube abſpiegelnden Fenſters in Acht nahm; wie er und ſeine Geſchwiſter die abendliche Kocherei der Mutter ausſpionierten, unterſtuͤtzten und unterbrachen, und wie ſie mit zugedruͤckten Au¬ gen und zwiſchen den Bruſtwehr-Schenkeln des Va¬ ters auf das Blenden des kommenden Lichts ſich ſpitz¬ ten und wie ſie, in dem aus dem unabſehlichen Ge¬ woͤlbe des Univerſums herausgeſchnittenen oder hin¬ eingebauten Kloſet ihrer Stube ſo beſchirmet waren, ſo ſatt, ſo wol .... Und alle Jahre, ſo oft er dieſe Retourfuhre ſeiner Kindheit und des Wolfsmonats darin, veranſtaltete, vergaß und erſtaunt 'er — ſo¬ bald das Licht angezuͤndet wurde — daß in der Stu¬ be, die er ſich wie ein Loretto-Haͤusgen aus dem Kindheits-Kanaan heruͤber holte, er ja gerade jezt ſaͤße. — So beſchreibt er wenigſtens ſelber dieſe Er¬375 innerungs-hohen-Opern in ſeinen Rouſſeaui¬ ſchen Spatziergaͤngen, die ich da vor mich lege, um nicht zu luͤgen ....
Allein ich ſchnuͤre mir den Fuß mit lauter Wur¬ zelngeflecht und Dickigt ein, wenn ichs nicht dadurch wegreiße, daß ich einen gewiſſen aͤußerſt wichtigen Umſtand aus ſeinem maͤnnlichen Alter herausſchnei¬ de und ſogleich jezt aufſetze; nachher aber ſoll ordent¬ lich a priori angefangen und mit dem Schulmeiſter¬ lein langſam in den drei aufſteigenden Zeichen der Alters[-]Stufen hinauf und auf der andern Seite in den drei niederſteigenden wieder hinabge¬ gangen werden — bis Wuz am Fuß der tiefſten Stu¬ fe vor uns ins Grab faͤllt.
Ich wolte, ich haͤtte dieſes Gleichniß nicht ge¬ nommen. So oft ich in Lavaters Fragmenten oder in Comenii orbis pictus oder an einer Wand das Blut - und Trauergeruͤſte der ſieben Lebens-[Statio¬ nen] beſah — ſo oft ich zuſchauete, wie das ge¬ malte Geſchoͤpf, ſich verlaͤngernd und ausſtreckend, die Ameiſen-Pyramide aufklettert, drei Minuten droben ſich umblickt und einkriechend auf der an¬ dern Seite niederfaͤhrt und abgekuͤrzt umkugelt auf die um dieſe Schaͤdelſtaͤtte liegende Vorwelt — und376 ſo oft ich vor das athmende Roſengeſicht voll Fruͤhlinge und voll Durſt, einen Himmel auszu¬ trinken, trete und bedenke, daß nicht Jahrtau¬ ſende ſondern Jahrzehende dieſes Geſicht in das zu¬ ſammen geronnene zerknuͤllte Geſicht voll uͤberlebter Hofnungen ausgedorret haben .... aber indem ich uͤber andre mich betruͤbe, heben und ſenken mich die Stufen ſelber und wir wollen einander nicht ſo traurig machen!
Der wichtige Umſtand, bei dem uns wie man behauptet ſo viel daran gelegen iſt, ihn voraus zu hoͤren, iſt naͤmlich der, daß Wuz eine ganze Bi¬ bliothek — wie haͤtte der Mann ſich eine kaufen koͤnnen — ſich eigenhaͤndig ſchrieb. Sein Schreib¬ zeug war ſeine Taſchendruckerei; jedes neue Me߬ produckt, deſſen Titel das Meiſterlein anſichtig wurde, war nun ſo gut als geſchrieben oder ge¬ kauft: denn es ſetzte ſich ſo gleich hin und machte das Produkt und ſchenkt 'es ſeiner anſehnlichen Buͤcherſammlung, die wie die heidniſchen aus lau¬ ter Manuſkripten beſtand. Z. B. Kaum waren die phpſiognomiſchen Fragmente von Lavater da: ſo ließ Wuz dieſem fruchtbarem Kopfe dadurch wenig voraus, daß er ſein Konzeptpapier in Quarto brach377 und drei Wochen lang nicht vom Seſſel weggieng, ſondern an ſeinem eignen Kopfe ſo lange zog bis er den phyſiognomiſchen Foͤtus heraus hatte — (er bettete den Foͤtus aufs Buͤcherbrett hin —) und bis er ſich den Schweizer nachgeſchrieben hatte. Dieſe Wuziſche Fragmente uͤbertitelte er die Lava¬ terſchen und merkte an; „ er haͤtte nichts gegen die gedruckten; aber ſeine Hand waͤre hoffentlich eben ſo leſerlich, wenn nicht beſſer als irgend ein Mittel Fraktur Druck. “ Er war kein verdammter Nachdrucker, der das Original hinlegt und oft das Meiſte daraus abdruckt: ſondern er nahm gar keines zur Hand. Daraus ſind zwei Thatſachen vortreflich zu erklaͤren: erſtlich die, daß es manch¬ mal mit ihm haperte und daß er z. B. im ganzen Federſchen Traktat uͤber Raum und Zeit von nichts handelte als vom Schifs-Raum und der Zeit die man Menſes nennt. Die zweite Thatſache iſt ſeine Glaubensſache: da er einige Jahre ſein' Repoſito¬ rium auf dieſe Art voll geſchrieben und durch ſtu¬ dieret hatte: ſo nahm er die Meinung an, ſeine Schreibbuͤcher waͤren eigentlich die kanoniſchen Ur¬ kunden; und die gedruckten waͤren bloße Nachſti¬ che feiner geſchriebnen; nur das, klagt 'er, koͤnn'378 er — und boͤten die Leute ihm Balleien dafuͤr an — nicht herauskriegen, wienach und warum der Buchfuͤhrer das Gedruckte allzeit ſo ſehr interpolie¬ re und umſetze, daß man wahrhaftig ſchwoͤren ſoll¬ te, das Gedruckte und das Geſchriebne haͤtten dop¬ pelte Verfaſſer, wuͤſte man's nicht ſonſt.
Es war einfaͤltig wenn etwa ihm zum Poſ¬ ſen ein Autor ſein Werk gruͤndlich ſchrieb, naͤm¬ lich in Queerfolio — oder witzig, naͤmlich in Se¬ dez: denn ſein Mitmeiſter Wuz ſprang den Au¬ genblick herbei und legte ſeinen Bogen in die Que¬ re hin oder krempte ihn in Sedezimo ein.
Nur Ein Buch ließ er in ſein Haus, den Me߬ katalog; denn die beſten Inventarienſtuͤcke deſſelben mußte der Senior am Rande mit einer ſchwarzen Hand beſtempeln, damit er ſie hurtig genug ſchrei¬ ben konnte, um das Oſtermeß-Heu in die[Panſe] des Repoſitoriums hinein zu maͤhen, eh 'das Mi¬ chaelis-Grummet herausſchoß. Ich moͤchte ſeine Meiſterſtuͤcke nicht ſchreiben. Den groͤßten Schaden hatte der Mann davon — Obſtruktion zu halben Wochen und Strangurie auf der andern Seite — wenn der Senior ([ſein] Friedrich Nikola:) zuviel Gutes, das er zu ſchreiben hatte, anſtrich und379 ſeine Hand durch die gemalte anſpornte; und ſein Sohn klagte oft, daß in manchen Jahren ſein Va¬ ter vor litterariſcher Geburtsarbeit kaum nieſen konnte, weil er auf einmal Sturms Betrachtun¬ gen die verbeſſerte Auflage, Schillers Raͤuber und Kants Kritik der reinen Vernunft, der Welt zu ſchenken hatte. Das geſchah bei Tage; Abends mußte der gute Mann nach dem Abendeſſen noch gar um den Suͤdpol rudern und konnte auf ſeiner Kookiſchen Reiſe kaum drei geſcheute Worte zum Sohne nach Deutſchland heraufreden. Denn da un¬ ſer Encyklopaͤdiſt nie das innere Afrika oder nur einen ſpaniſchen Mauleſel-Stall betreten oder die Einwohner von beiden geſprochen hatte: ſo hatt' er deſto mehr Zeit und Faͤhigkeit, von beiden und allen Laͤndern reichhaltige Reiſebeſchreibungen zu lie¬ fern — ich meine eine ſolche, worauf der Stati¬ ſtiker, der Menſchheits-Geſchichtſchreiber und ich ſelber fußen koͤnnen — erſtlich deswegen, weil auch andre Reiſejournaliſten ihre Beſchreibungen, ohne die Reiſe machen — zweitens auch weil Reiſebe¬ ſchreibungen uͤberhaupt unmoͤglich auf eine andre Art zu machen ſind, angeſehen noch kein Reiſebe¬ ſchreiber wirklich vor oder in dem Lande ſtand, das380 er ſilhouettirte: denn ſo viel hat auch der Duͤmm¬ ſte noch aus Leibnitzens vorherbeſtimmten Harmonie im Kopfe, daß die Seele, z. B. die Seelen eines Forſters, Brydone, Bjoͤrnſtaͤhls — insgeſammt ſeßhaft auf dem Iſolierſchemmel der verſteinerten Zirbeldruͤſe — ja nichts anders von Suͤdindien oder Europa beſchreiben koͤnnen als was jede ſich davon ſelber erdenkt und was ſie, beim gaͤnzlichen Man¬ gel aͤuſſerer Eindruͤcke, aus ihren fuͤnf Kanker - Spinnwarzen vorſpinnt und abzwirnt. Wuz zerrete ſein Reiſejournal auch aus niemand anders als aus ſich.
Er ſchreibt uͤber alles und wenn die gelehrte Welt ſich daruͤber wundert, daß er fuͤnf Wochen nach dem Abdruck der Wertheriſchen Leiden, einen alten Flederwiſch nahm und ſich eine harte Spuhle auszog und damit ſtehendes Fußes ſie ſchrieb, die Leiden, — ganz Deutſchland ahmte nachher ſeine Leiden nach: — ſo wundert ſich niemand weniger uͤber die gelehrte Welt als ich: denn wie kann ſie Rouſſeau's Bekenntniſſe geſehen und geleſen haben, die Wuz ſchrieb und die Dato noch unter ſeinen Papieren liegen? In dieſen ſpricht aber J. J. Rouſſeau oder Wuz (das iſt einerlei) ſo von ſich,381 allein mit andern Worten: „ Er wuͤrde wahrhaftig nicht ſo dumm ſeyn, daß er Federn naͤhme und die beſten Werke machte, wenn er nichts brauchte als bloß den Beutel aufzubinden und ſie zu erhan¬ deln. Allein er habe nichts darin als zwei ſchwar¬ ze Hemdknoͤpfe und einen kothigen Kreuzer. Woll 'er mithin etwas Geſcheutes leſen z. B. aus der praktiſchen Arzneikunde und aus der Kranken-Uni¬ verſalhiſtorie: ſo muͤſſ' er ſich an ſeinen triefenden Fenſterſtock ſetzen und den Bettel erſinnen. An wen woll 'er ſich wenden, um den Hintergrund des Frei¬ maͤurer-Geheimniſſes auszuhorchen, an welches Dionyſius Ohr mein' er als an ſeine zwei eigne? Auf dieſe, an ſeinen eignen Kopf angeoͤhrten hoͤr 'er ſehr und indem er die Freimaͤurer-Reden, die er ſchreibe, genau durchleſe und zu verſtehen trach¬ te: ſo merk' er zuletzt allerhand Wunderdinge und komme weit und rieche im Ganzen genommen Lun¬ ten. Da er von Chemie und Alchemie ſo viel wiſſe wie Adam nach dem Fall, als er alles vergeſſen hatte: ſo ſei ihm ein rechter Gefallen geſchehen, daß er ſich den annulus Platonis geſchmiedet, die¬ ſen ſilbernen Ring um den Blei-Saturn, dieſen Gyges-Ring, der ſo vielerlei unſichtbar mache,382 Gehirne und Metalle; denn aus dieſem Buche duͤrft 'er, ſollt' ers nur einmal ordentlich begrei¬ fen, frappant wiſſen, wo Barthel Moſt hole. “— Jetzt wollen wir wieder in ſeine Kindheit zuruͤck.
Im zehnten Jahre verpuppte er ſich in einen Mulattenfarbigen Alumnus und obern Quintaner der Stadt Scheerau. Sein Examinater muß mein Zeuge ſeyn, daß es keine weiſſe Schminke iſt, die ich meinem Helden anſtreiche, wenn ichs zu berichten wage, daß er nur noch ein Blatt bis zur vierten Deklination zuruͤck zu legen hatte und daß er die ganze Geſchlechts-Exception thorax caudex pulex¬ que vor der Quinta wie ein Wecker abrollte — bloß die Regel wußt 'er nicht. Unter allen Ni¬ ſchen des Alumneums war nur eine ſo geſcheuert und geordnet wie die Prunkkuͤche einer Nuͤrnberge¬ rin; das war ſeine: denn zufriedene Menſchen ſind die ordentlichſten. Er kaufte ſich aus ſeinem Beutel fuͤr zwei Kreuzer Naͤgel und beſchlug ſeine Zelle damit, um fuͤr alle Effekten beſondere Naͤgel zu haben — er ſchlichtete ſeine Schreibbuͤcher ſo lange bis ihre Ruͤcken ſo bleirecht auf einander la¬ gen wie eine preuſſiſche Fronte und er gieng beim Mondenſchein aus dem Bette und viſirte ſo lange383 um ſeine Schuhe herum bis ſie parallel neben ein¬ ander ſtanden. — War alles metriſch: ſo rieb er die Haͤnde, riß die Achſeln uͤber die Ohren hin¬ auf, ſprang empor, ſchuͤttelte ſich faſt den Kopf herab und lachte ungemein.
Eh 'ich von ihm weiter beweiſe, daß er im Alumneum gluͤcklich war: will ich beweiſen, daß das kein Spaß war, ſondern eine herkuliſche Ar¬ beit. Hundert aͤgyptiſche Plagen haͤlt man fuͤr kei¬ ne, bloß weil ſie uns nur in der Jugend heimſu¬ chen, wo moraliſche Wunden und komplizirte Frak¬ turen ſo hurtig zuheilen wie phyſiſche — gruͤnen¬ des Holz bricht nicht ſo leicht wie duͤrres entzwei. Alle Einrichtungen legen's dar, daß ein Alum¬ neum ſeiner aͤlteſten Beſtimmung nach ein prote¬ ſtantiſches Knaben-Kloſter ſein ſoll; aber da¬ bei ſollte man es laſſen, man ſollte ein ſolches Praͤſervations - Zuchthaus in kein Luſtſchloß, ein ſolches Miſanthropin in kein Philanthropin ver¬ wandeln wollen. Muͤſſen nicht die gluͤcklichen In¬ haftaten einer ſolchen Fuͤrſtenſchule die drei Klo¬ ſtergeluͤbde ablegen? Erſtlich das des Gehorſams, da der Schuͤler-Guardian und Novizenmeiſter ſei¬ nen ſchwarzen Novizen das Spornrad der haͤufigſten,384 widrigſten Befehle und Mortifikationen in die Sei¬ te ſticht. Zweitens das der Armuth und der Ent¬ haltſamkeit, da ſie nicht Kruditaͤten und uͤbrige Brocken ſondern Hunger von einem Tage zum an¬ dern aufheben und uͤbertragen; und Karminati vermoͤchte ganze Invalidenhaͤuſer mit dem Super¬ numeraͤr-Magenſaft der Konvictorien und Alumneen auszuheilen. Das Geluͤbde der Keuſchheit thut ſich nachher von ſelbſt, ſobald ein Menſch den gan¬ zen Tag zu laufen und zu faſten hat und keine Be¬ wegungen entbehrt als die periſtaltiſchen. Zu wich¬ tigen Aemtern muß der Staatsbuͤrger erſt gehaͤn¬ ſelt werden. Verdient denn aber bloß der katholi¬ ſche Novize zum Moͤnch gepruͤgelt, oder ein elen¬ der Ladenjunge in Bremen zum Kaufmannsdiener geraͤuchert, oder ein ſittenloſer Suͤdamerikaner zum Kaziken durch beides und durch mehrere in meinen Excerpten ſtehende Qualen appretirt und ſublimirt zu werden? Iſt ein lutheriſcher Pfarrer nicht eben ſo wichtig und ſind ſeiner kuͤnftigen Beſtimmung nicht eben ſo gut ſolche uͤbende Martern noͤthig? Zum Gluͤck hat er ſie; vielleicht mauerte die Vor¬ welt die Schulpforten, deren Konklaviſten insge¬ ſammt wahre Knechte der Knechte ſind, bloß ſeinetwe¬gen385gen auf: denn andern Fakultaͤten iſt mit dieſer Kreuzigung und Radbrechung des Fleiſches und Gei¬ ſtes zu wenig gedient. — Daher iſt auch das ſo oft getadelte Chor-Gaſſen - und Leichenſingen der Alumnen ein recht gutes Mittel, proteſtantiſche Kloſterleute aus ihnen zu ziehen — und ſelbſt ihr ſchwarzer Ueberzug und die kanoniſche Mohren-En¬ veloppe des Mantels iſt etwas aͤhnliches von der Moͤnchskutte, daher ſchieſſen in Leipzig um die Tho¬ masſchuͤler, weil einmal die Geiſtlichen die Peruͤk¬ ken-Wammen anhaͤngen muͤſſen, wenigſtens die Herzblaͤtter eines aufkapfenden Peruͤckchens herum, das wie ein Pultdach oder wie halbe Fluͤgeldecken ſich auf dem Kopfe umſieht. In den alten Kloͤſtern war die Gelehrſamkeit Strafe; nur Inkulpaten mußten da lateiniſche Pſalmen auswendig lernen oder Autores kopiren — in guten armen Schulen wird dieſes Strafen nicht vernachlaͤſſigt und ſparſamer Unterricht wird da ſtets als ein unſchuldiges Mit¬ tel angeordnet, den armen Schuͤler damit zu zuͤch¬ tigen und zu mortiſiciren ....
Bloß dem Schulmeiſterlein hatte dieſe Kreuz¬ ſchule wenig an; den ganzen Tag freuete er ſich auf oder uͤber etwas. „ Vor dem Aufſtehen, ſagt ' 2. Theil. B b386er, freu 'ich mich auf das Fruͤhſtuͤck, den ganzen Vormittag aufs Mittagseſſen, zur Veſperzeit aufs Veſperbrod und Abends aufs Nachtbrod — und ſo hat der Alumnus Wuz ſich ſtets auf was zu ſpi¬ tzen. “ Trank er tief: ſo ſagt' er: „ das hat mei¬ nem Wuz geſchmeckt “und ſtrich ſich den Magen. Nieſete er: ſo ſagte er: „ helf dir Gott, Wuz! “— Im fieberfroſtigen Novemberwetter letzte er ſich auf der Gaſſe mit der Vormalung des warmen Ofens und mit der naͤrriſchen Freude, daß[] eine Hand um die andre unter ſeinem Mantel wie zu Hauſe ſteckte. War der Tag gar zu toll und win¬ dig — es giebt fuͤr uns Wichte ſolche Hatztage, wo die ganze Erde ein Hatzhaus iſt und wo die Plagen wie ſpaßhaft gehende Waſſerkuͤnſte uns bei jedem Schritte anſpruͤtzen und einfeuchten — ſo war das Meiſterlein ſo pfiffig, daß es ſich unter das Wet¬ ter hinſetzte und ſich nichts darum ſchor; es war nicht Reſignation, die das unvermeidliche Ue¬ bel aufnimmt, nicht Apathie, die das ungefuͤhl¬ te traͤgt, nicht Philoſophie, die das verduͤnn¬ te verdauet, oder Religion, die das belohnte verwindet: ſondern der Gedanke ans warme Bett wars. „ Abends, dacht 'er, lieg' ich auf alle Faͤlle,387 ſie moͤgen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen wie ſie wollen, unter meiner warmen Zudeck und druͤcke die Naſe ruhig ans Kopfkiſſen, acht Stunden lang. — Und kroch er endlich in der letzten Stunde eines ſolchen Paſſionstages unter ſein Oberbett: ſo ſchuͤttelte er ſich darin, krempte ſich mit den Knien bis an den Nabel zuſammen und ſagte zu ſich: „ Siehſt du, Wuz, es iſt doch vorbei. “
Ein andrer Paragraph aus der Wuziſchen Kunſt ſtets froͤhlich zu ſeyn, war ſein zweiter Pfiff, ſtets froͤhlich aufzuwachen — und um das zu koͤnnen, bedient 'er ſich eines dritten und hob immer vom Tage vorher etwas Angenehmes fuͤr den Morgen auf, entweder gebackne Kloͤſe oder eben ſo viel aͤuſſerſt gefaͤhrliche Blaͤtter aus dem Robinſon, der ihm lieber war als Homer — oder auch junge Voͤ¬ gel oder junge Pflanzen, an denen er am Morgen nachzuſehen hatte wie Nachts Federn und Blaͤtter gewachſen.
Den dritten und vielleicht durchdachteſten Pa¬ ragraphen ſeiner Kunſt froͤhlich zu ſeyn, arbeitete er erſt aus, da er Sekundaner ward: er wurde verliebt. —
B b 2388Eine ſolche Ausarbeitung waͤre meine Sache ... Aber da ich hier zum erſtenmale in meinem Leben mich mit meiner Reiskohle an das Blumenſtuͤck ge¬ malter Liebe mache: ſo muß auf der Stelle abge¬ brochen werden, damit fortgeriſſen werde Morgen um 6 Uhr mit weniger niedergebranntem Feuer. —
Wenn Venedig, Rom und Wien und die gan¬ ze Luſtſtaͤdte-Bank zuſammenthaͤten und mich mit einem ſolchen Karnaval beſchenken wollten, das dem beikaͤme, welches mitten in der ſchwarzen Kantors-Stube war, wo wir Kinder von 8 Uhr bis 11 forttanzten (ſo lange waͤhrte unſre Faſchings¬ zeit, in der wir den Appetit zur Faſtnachts-Hirſe verſprangen): ſo machten ſich jene Reſidenzſtaͤdte zwar an etwas Unmoͤgliches und Laͤcherliches — aber doch an nichts ſo Unmoͤgliches, als wenn ſie dem Alumnus Wuz den Faſtnachtsmorgen mit ſeinen Karnevalsluſtbarkeiten wiedergeben wollten, da er als unterer Sekundaner auf Beſuch, in der Tanz - und Schulſtube ſeines Vaters am Morgen gegen 10 Uhr ordentlich verliebt wurde. Eine ſolche Faſchings¬ luſtbarkeit — trautes Schulmeiſterlein, wo denkſt du hin? — Aber er dachte an nichts hin als zur Juſtina, die ich ſelten oder niemals wie die Auenthaler Ju¬389 ſtel nennen werde. Da der Alumnus unter dem Tanzen (wenige Gymnaſiaſten haͤtten mitgetanzt, aber Wuz war nie ſtolz und immer eitel) den Au¬ genblick weghatte, was — ihn nicht einmal einge¬ rechnet — an der Juſtel waͤre, daß ſie ein huͤbſches gelenkiges Ding und ſchon im Briefſchreiben und in der Regel Detri in Bruͤchen und die Pathin der Frau Seniorin und in einem Alter von 15 Jahren und nur als eine Gaſt-Taͤnzerin mit in der Stube waͤre: ſo that der Gaſt-Taͤnzer ſeines Orts was in ſolchen Faͤllen zu thun iſt, er wurde wie geſagt verliebt — ſchon beim erſten Schleifer flogs wie Fie¬ berhitze an ihn — unter dem Rangiren zum zwei¬ ten, wo er ſtillſtehend die Inlage ſeiner rechten Hand bedachte und befuͤhlte, ſtiegs unverhaͤltni߬ maͤßig — er tanzte ſich augenſcheinlich in die Liebe und in ihre Garne hinein — als ſie noch dazu die rothen Haubenbaͤnder auseinanderfallen und ſie ungemein nachlaͤßig um den nackten Hals zuruͤck¬ flatterrn ließ: ſo vernahm er die Basgeige nicht mehr — und als ſie endlich gar mit einem rothen Schnupftuch ſich Kuͤhlung vorwedelte und es hinter und vor ihm ſtiegen ließ: ſo war ihm nimmer zu helfen, und haͤtten die vier großen und die 12390 kleinen Propheten zum Fenſter hineingepredigt. Denn einem Schnupftuch in einer weiblichen Hand erlag er ſtets auf der Stelle ohne weitere Gegenwehr wie der Loͤwe dem gedrehten Wagenrade und der Ele¬ phant der Maus. Dorfkoketten machen ſich aus dem Schnupftuch die naͤmliche Feldſchlange und Kriegs¬ maſchine, die ſich die Stadtkoketten aus dem Faͤcher machen; aber die Wellen eines Tuchs ſind gefaͤlliger als das knackende Truthahns Radſchlagen der bunten Streitkolbe des Faͤchers.
Auf alle Faͤlle kann unſer[Wuz] ſich damit ent¬ ſchuldigen, daß ſeines Wiſſens die Oerter oͤffentlicher Freude das Herz fuͤr alle Empfindungen, die viel Platz beduͤrfen, fuͤr Aufopferung, fuͤr Muth und auch fuͤr Liebe weiter machen; — freilich in den engen Amts - und Arbeitsſtuben, auf Rathhaͤuſern, in geheimen Kabinetten liegen unſre Herzen wie auf eben ſo vie¬ len Welkboden, Darrofen und runzeln ein.
Wuz trug ſeinen mit dem Gas der Liebe aufge¬ fuͤllten und emporgetriebnen Herzballon freudig[ins] Alumneum zuruͤck, ohne jemand eine Sylbe zu mel¬ den, am wenigſten der Schnupftuch-Fahnenjunke¬ rin — nicht aus Scheu ſondern weil er nie mehr be¬ gehrte als die Gegenwart, er war nur froh, daß er ſelbſt verliebt war und dachte an weiter nichts ...
391Warum ließ der Himmel gerade in die Jugend das Luſtrum der Liebe fallen? Vielleicht weil man gerade da in Alumneen, Schreibſtuben und andern Gifthuͤtten keucht: da ſteigt die Liebe wie aufbluͤ¬ hendes Geſtraͤuch an den Fenſtern jener Marter¬ kammern empor und zeigt in ſchwankenden Schat¬ ten den großen Fruͤhling von auſſen. Denn Er und ich, mein H. Praͤfektus und auch Sie, verdiente Schuldiener des Alumneums, wir wollen mit ein¬ ander wetten, Sie ſollen uͤber den vergnuͤgten Wuz ein Haͤrenhemd ziehen (im Grund hat er ei¬ nes an) — Sie ſollen ihn Ixions Rad und Syſi¬ phus Stein der Weiſen und den Laufwagen Ihres Kindes bewegen laſſen — Sie ſollen ihn halb todt hungern oder pruͤgeln laſſen — Sie ſollen einer ſo elenden Wette wegen (welches ich Ihnen nicht zu¬ getrauet haͤtte) gegen ihn ganz des Teufels ſeyn: Wuz bleibt doch Wuz und prakticirt ſich immer ſein Biſchen verliebter Freude ins Herz, vollends in den Hundstagen! —
Seine Kanikularferien ſind aber vielleicht nir¬ gends deutlicher beſchrieben als in ſeinen „ Wer¬ thers Freuden, “die ſeine Biographen faſt nur abzuſchreiben brauchen. — Er gieng da Sonntags392 nach der Abendkirche[heim] nach Auenthal und hat¬ te mit den Leuten in allen Gaſſen Mitleiden, daß ſie da bleiben mußten. Drauſſen dehnte ſich ſeine Bruſt mit dem aufgebaueten Himmel vor ihm aus und halbtrunken im Konzertſaal aller Voͤgel horcht er wolluͤſtig bald auf die gefiederten Sopraniſten bald auf ſeine Phantaſien. Um nur ſeine uͤber die Ufer ſchlagende Lebenskraͤfte abzuleiten, gallopirte er oft eine halbe Viertelſtunde lang. Da er im¬ mer kurz vor und nach[Sonnen-Untergang] ein ge¬ wiſſes wolluͤſtiges trunknes Sehnen empfunden hat¬ te — die Nacht aber macht wie ein laͤngerer Tod den Menſchen erhaben und nimmt[ihm] die Erde: — ſo zauderte er mit ſeiner Landung in Auenthal ſo lang bis die[zerflieſſende] Sonne durch die letzten Kornfelder vor dem Dorfe mit Goldfaͤden die ſie ge¬ rade uͤber die Aehren zog, ſein blaues Roͤckchen ſtickte und bis ſein Schatten an den Berg uͤber den Fluß wie ein Rieſe wandelte. Dann ſchwank¬ te er, unter dem wie aus der Vergangenheit her¬ uͤberklingenden Abendlaͤuten ins Dorf hinein und war allen Menſchen gut, ſelbſt dem Praͤfektus. Gieng er denn um ſeines Vaters Haus und ſah am obern Kapfenſter den Widerſchein des Monds393 und durch ein Parterre-Fenſter ſeine Juſtina, die da alle Sonntage einen ordentlichen Brief ſetzen lernte .... o wenn er dann in dieſer paradieſiſchen Viertelſtunde ſeines Lebens auf funfzig Schritte die Stube und die Briefe und das Dorf von ſich haͤtte wegſprengen und um ſich und um die Briefſtellerin bloß ein einſames daͤmmerndes Tempe-Thal haͤtte ziehen koͤnnen — wenn er in dieſem Thale mit ſei¬ ner trunknen Seele, die unter Weges um alle Weſen ihre Arme ſchlug, auch an das ſchoͤnſte We¬ ſen haͤtte fallen duͤrfen und er und ſie und Himmel und Erde zuruͤckgeſunken und zerfloſſen waͤren vor einem flammenden Augenblicke und Fokus menſch¬ licher Entzuͤckung ....
Indeſſen that ers wenigſtens Nachts um eilf Uhr; und vorher giengs auch nicht ſchlecht. Er erzaͤhlte dem Vater, aber im Grunde Juſtinen ſeinen Studienplan und ſeinen politiſchen Einfluß; er ſetz¬ te ſich dem Tadel, womit ſein Vater ihre Briefe korrigirte, mit demjenigen Gewicht entgegen, das ein ſolcher Kunſtrichter hat und er war, da er ge¬ rade warm aus der Stadt kam, mehr als einmal mit Witz bei der Hand — kurz unter dem Einſchla¬ fen hoͤrte er in ſeiner tanzenden taumelnden Phan¬ taſie nichts als Sphaͤren-Muſik.
394— Freilich du, mein Wuz, kannſt Werthers Freuden aufſetzen, da allemal deine aͤuſſere und deine innere Welt ſich wie zwei Muſchelſchaalen an einander loͤthen und dich als ihr Schaalthier einfaſſen; aber bei uns armen Schelmen, die wir hier am Ofen ſitzen, iſt die Auſſenwelt ſelten der Ripiniſt unſrer innern froͤhlichen Stimmung — hoͤchſtens dann wenn an uns der ganze Stimmſtock umgefal¬ len und wir knarren und brummen oder in einer andern Metapher wenn wir eine verſtopfte Naſe haben: ſo ſetzt ſich ein ganzes mit Blumen uͤber¬ woͤlbtes Eden vor uns hin und wir moͤgen nicht hineinriechen.
Mit jedem Beſuche machte das Schulmeiſter¬ lein ſeiner Johanna-Thereſe-Charlotte-Mariana - Klariſſa-Heloiſe-Juſtel auch ein Geſchenk mit ei¬ nem Pfefferkuchen und einem Potentaten; ich will uͤber beide ganz befriedigend ſeyn.
Die Potentaten hatt 'er in ſeinem eignen Ver¬ lage; aber wenn die Reichshofraths-Kanzlei ihre Fuͤrſten und Grafen aus ein wenig Dinte, Perga¬ ment und Wachs macht: ſo verfertigte er ſeine Potentaten viel koſtbarer, aus Ruß, Fett und hundert Farben. Im Alumneum wurde naͤmlich395 mit den Rahmen einer Menge Potentaten einge¬ heizet, die er ſaͤmmtlich mit gedachten Materia¬ lien ſo zu kopieren und zu repraͤſentieren wuſte als waͤr' er ihr Geſandter. Er uͤberſchmierte ein Quartblatt mit einem Endgen Licht und nachher mit Ofenruß — dieſes legte er mit der ſchwarzen Seite auf ein andres mit weißen Seiten — oben auf beide Blaͤtter that er irgend ein fuͤrſtliches Portrait — dann nahm er eine abgebrochne Gabel und fuhr mit ihrer druͤckenden Spitze auf dem Ge¬ ſichte und Leibe des regierenden Herrn herum — — dieſer Druck verdoppelte den Potentaten, der ſich vom ſchwarzen Blatt aufs weiße uͤberfaͤrbte. So nahm er von allem was unter einer europaͤiſchen Krone ſaß, recht kluge Kopien; allein ich habe niemals verhehlet, daß ſeine Okulier-Gabel die ruſſiſche Kaiſerin (die vorige) und eine Menge Kronprinzen dermaßen aufkratzte und durchſchnitt, daß ſie zu Nichts mehr zu brauchen waren als da¬ zu den Weg ihrer Rahmen zu gehen. Gleichwol war das rußige Quartblatt nur die Bruttafel und Aez-Wiege glorwuͤrdiger Regenten, oder auch der Streich, oder Leichteich derſelben — ihr Streck¬ teich aber, oder die Appreturmaſchiene der Po¬396 tentaten war ſein Farbkaͤſtgen, damit illuminierte er ganze regierende Linien und alle Muſcheln klei¬ deten einen einzigen Großfuͤrſten an und die Kron¬ prinzeſſinnen zogen aus der naͤmlichen Farbemuſchel Wangenroͤthe, Schaamroͤthe und Schminke. — — Mit dieſen regierenden Schoͤnen beſchenkte er die die ihn regierte und die nicht wuſte was ſie mit dem hiſtoriſchen Bilderſaale machen ſollte.
Aber mit dem Pfefferkuchen wuſte ſie es in dem Grade, daß ſie ihn aß. Ich halt 'es fuͤr ſchwer einer Geliebten einen Pfefferkuchen zu ſchenken, weil man ihn oft kurz vor der Schenkung ſelber ver¬ zehrt. Hatte nicht Wuz die drei Kreuzer fuͤr den erſten ſchon bezahlt? Hatt' er nicht das braune Rektangulum ſchon in der Taſche? war er nicht damit ſchon bis auf eine Stunde vor Auenthal und vor dem Adjudikationstermin gereiſet? ja wurde die ſuͤße Votiv-Tafel nicht alle Viertelſtunde aus der Taſche gehoben, um zu ſehen, ob ſie noch viereckig waͤre? das war eben das Ungluͤck: denn bei dieſem Beweiß durch Augenſchein, den er fuͤhrte, brach er immer wenige und unbedeutende Mandeln aus dem Kuchen — dieſes that er oͤfters — darauf machte er ſich (ſtatt an die Quadratur397 des Zirkels) an das Problem, den quadrierten Zir¬ kel wieder rein herzuſtellen und bis ſauber die vier rechten Winkel ab und machte ein Acht-Eck, ein Sechzehn-Eck, denn ein Zirkel iſt ein unendliches Viel-Eck — darauf war nach dieſen mathemati¬ ſchen Elaborationen das Viel-Eck vor keinem Maͤd¬ gen mehr zu produzieren — darauf that Wuz ei¬ nen Sprung und ſagte: „ ach! ich freſſ 'ihn ſel¬ ber “und heraus war der Seufzer und hinein die geometriſche Figur. — Es werden wenige ſchotti¬ ſche Meiſter, akademiſche Senate und Magiſtran¬ den leben, denen nicht ein wahrer Gefallen geſchaͤ¬ he wenn man ihnen zu hoͤren gaͤbe durch welchen Maſchienengott ſich Wuz aus der Sache zog — — durch einen zweiten Pfefferkuchen that ers, den er allemal als einen Wand - und Taſchen-Nachbar des erſten mit einſteckte. Indem er den einen aß, landete der andre ohne Laͤſionen an, weil er all¬ zeit eine Doublette kaufte damit ſie als Brandmau¬ er und Kronwache den andern beſchuͤtzte. Das aber ſah er in der Folge ſelber ein, daß er — um nicht einen Torſo oder Atom nach Auenthal zu tranſpor¬ tieren — die Krontruppen oder Pfefferkuchen von Woche zu Woche vermehren muͤſſe.
398Er waͤre Primaner geworden, waͤre nicht ſein Vater aus unſerem Planeten in einen andern oder in einen Trabanten geruͤckt. Daher dacht 'er die Melioration ſeines Vaters nachzumachen und woll¬ te von der Sekundanerbank auf den Lehrſtuhl rut¬ ſchen. Der Kirchenpatron, H. von Ebern draͤngte ſich zwiſchen beide Geruͤſte und hielt ſeinen ausge¬ dienten Koch an der Hand, um ihn in ein Amt einzuſetzen, dem er gewachſen war, weil es in dieſem eben ſo gut wie in ſeinem vorigen, Span¬ ferkel*)Die bekanntlich beſſer ſchmecken wenn man ſie mit Ru¬ thenſtreichen tödtet. todt zu peitſchen und zu appretieren aber nicht zu eſſen gab. Ich hab es ſchon in der Revi¬ ſion des Schulweſens in einer Note erinnert und H. Gedikens Beifall davon getragen, daß in je¬ dem Bauerjungen ein unausgewachſener Schulmei¬ ſter ſtecke, der von einem Paar Kirchenjahren groß zu paraphraſieren ſei — daß nicht bloß das alte Rom Welt-Konſuls, ſondern heutige Doͤrfer Schul-Konſuls vom Pfluge und aus der Furche ziehen koͤnnten — daß man eben ſo gut von Leuten ſeines Standes hier unterrichtet als in399 England gerichtet werden koͤnne und daß gerade der, dem jeder das meiſte Scibile verdanke, ihm am aͤhnlichſten ſei, naͤmlich jeder ſelbſt — daß wenn eine ganze Stadt (Norcia an den appennini¬ ſchen Gebirg,) nur von vier ungelehrten Magi¬ ſtratsgliedern (li quatri illiterati) ſich beherrſchen laſſen will, doch eine Dorfjugend von einem einzi¬ gen ungelehrten Mann werde zu regieren und zu pruͤgeln ſeyn — und daß man nur bedenken moͤch¬ te was ich oben im Texte ſagte. Da hier die No¬ te ſelber der Text iſt; ſo will ich nur ſagen, daß ich ſagte, eine Dorfſchule ſey hinlaͤnglich beſetzt. Es iſt da 1) der Gymnaſiarch oder Paſtor, der von Winter zu Winter den Prieſterrock umhaͤngt und das Paͤdagogium beſucht und erſchreckt — 2) ſteht in der Stube das Rektorat, Konrektorat und Sub¬ rektorat, das der Schulhalter allein ausmacht — 3) als Lehrer der untern Klaſſen ſind darin ange¬ ſtellt die Schulmeiſterin, der oder keinem Men¬ ſchen die Kallypaͤdie der Toͤchterſchule anvertauet werden kann, ihr Sohn als Terzius und Luͤmmel zugleich, dem ſeine Eleven allerhand legieren und ſpendieren muͤſſen, damit er ſie nicht aufſagen laͤſ¬ ſet, und der wenn der Regent nicht zu Hauſe iſt,400 oft das Reichsvikariat des ganzen proteſtantiſchen Schulkreiſes auf den Achſeln hat — 4) endlich ein ganzes Raupenneſt Kallaboratores, naͤmlich Schul¬ jungen ſelber, weil da wie im halliſchen Waiſen¬ hauſe die Schuͤler der obern Klaſſe ſchon zu Lehrern der untern groß gewachſen ſind. — Da man bis¬ her aus ſo vielen Studierſtuben heraus nach Real¬ ſchulen ſchrie: ſo hoͤrtens Gemeinden und Schulhalter und thaten das Ihrige gern. Die Gemeinden laſen fuͤr ihre Lehrſtuͤhle lauter ſol¬ che paͤdagogiſche Steiße aus, die ſchon auf Schnei¬ ders-Schuſters-Schemeln ſeßhaft waren und von denen alſo etwas zu erwarten war — und aller¬ dings ſetzen ſolche Maͤnner, indem ſie vor dem auf¬ merkſamen Inſtitute Roͤcke, Fiſchreuſen und alles machen, die Nominalſchule leicht in eine Real¬ ſchule um, wo man Fabrikate kennen lernt. Der Schulmeiſter treibts noch weiter und ſinnt Tag und Nacht auf Real-Schulhalten; es giebt weni¬ ge Arbeiten eines erwachſenen Hausvaters oder ſei¬ nes Geſindes, in denen er ſeine Dorf-Stoa nicht beſchaͤftigt und uͤbt und den ganzen Morgen ſieht man das expedierende Seminarium hinaus und hinein jagen, Holz ſpalten und Waſſer tra¬gen401gen u. ſ. w. ſo daß er außer der Realſchule faſt gar keine andre haͤlt und ſich ſein bisgen Brod ſauer im Schweiße ſeines — Lyzeums verdient ... Man braucht mir nicht zu ſagen, daß es auch ſchlechte und verſaͤumte Landſchulen gebe; genug wenn nur die groͤßere Zahl alle die Vorzuͤge wirk¬ lich aufweiſet, die ich ihr jezt zugeſchrieben.
Ich mag meine Fixſtern-Aberration mit kei¬ nem Wort entſchuldigen, das eine neue waͤre. Herr v. Ebern haͤtte ſeinen Koch zum Schulmeiſter inveſtieret, wenn ein geſchickter Nachfahrer des Kochs waͤre zu haben geweſen? er wars aber nicht: und da der Gutsherr dachte, es waͤre vielleicht gar eine Neuerung, wenn er die Kuͤche und die Schule durch Ein Subjekt verſehen ließe — es war aber vielmehr die Trennung und Verdoplung der Schul - und Herrendiener eine viel groͤßere und aͤl¬ tere: denn im neunten Saͤkulum muſte ſo gar der Pfarrer der Patronatskirche zugleich dem Kirchen¬ ſchifs-Patron als Bedienter aufwarten und ſat¬ teln ꝛc.*)Langens geiſtliches Recht S. 534. und beide Aemter wurden erſt nachher wie mehrere von einander abgeriſſen — ſo behielt2. Theil. C c402er den Koch und vozierte den Alumnus, der bis¬ her ſo geſcheut geweſen, daß er verliebt geblieben.
Ich ſteuere mich ganz auf die ruͤhmliche Teſti¬ monien, die ich in Haͤnden habe und die Wuz vom Superintendenten auswirkte, weil ſein Examen vielleicht eines der rigoroͤſeſten und gluͤcklichſten war die ich neueren Zeiten noch gehoͤret. Muſte nicht Wuz das griechiſche Vater unſer vorbeten, indeß das Examinations-Kollegium ſeine ſammtnen Ho¬ ſen mit einer Glaßbuͤrſte auskaͤmmte? — und her¬ nach das lateiniſche Symbolum Athanaſie? konnt 'er nicht die Buͤcher der Biebel richtig und Mann fuͤr Mann vorzaͤhlen, ohne uͤber die gemalten Blu¬ men und Taſſen auf dem Kaffeebrette ſeines Exa¬ minators zu ſtolpern? muſt' er nicht einen Bettel¬ jungen, der bloß auf einen Pfennig aufſah, her¬ umkatecheſieren, ob gleich der Junge gar nicht wie ſein Unter-Examinator beſtand ſondern wie ein wahres Stuͤckgen Vieh? muſt 'er nicht ſeine Fin¬ gerſpitzen in fuͤnf Toͤpfe warmes Waſſer tunken und den Topf ausſuchen, deſſen Waſſer warm und kalt genug fuͤr den Kopf eines Taͤuflings war? und muſt' er nicht zuletzt drei Gulden und 36 Kreu¬ zer erlegen?
403Am 13ten May gieng er als Alumnus aus dem Alumneum heraus und als oͤffentlicher Lehrer in ſein Haus hinein und aus der zerſprengten ſchwarzen Alumnus-Puppe brach ein bunter Schmetterling von Kantor ins Freie hinaus.
Am 9ten Julius ſtand er vor dem Auenthaler Altar und wurde kopuliert mit der Juſtel.
Aber der eliſaͤiſche Zwiſchenraum zwiſchen dem 13ten Mai und dem 9ten Juͤlius! — fuͤr keinen Sterblichen faͤllt ein ſolches goldnes Alter von 8 Wochen wieder vom Himmel, bloß fuͤr das Mei¬ ſterlein funkelte der ganze niedergethauete Himmel auf geſtirnten Auen der Erde — du wiegteſt im Aether dich und ſaheſt durch die transparente Erde dich rund mit Himmel und Sonnen umzogen und hatteſt keine Schwere mehr; aber uns Alum¬ nen der Natur fallen nie acht ſolche Wochen zu, nicht eine, kaum Ein ganzer Tag, wo der Him¬ mel uͤber und in uns ſein reines Blau mit nichts kolorirt als mit Abend - und Morgenroth — wo wir uͤber das Leben wegfliegen und alles uns hebt wie ein freudiger Traum — wo der unbaͤndige ſtuͤr¬ zende Strom der Dinge uns nicht auf ſeinen Kata¬ vakten und Strudeln zerſtoͤßet und ſchuͤttelt undC c 2404raͤdert, ſondern auf blinkenden Wellen uns wiegt und unter hineingebognen Blumen voruͤbertraͤgt — ein Tag, zu dem wir den Bruder vergeblich un¬ ter den verlebten ſuchen und von dem wir am En¬ de jedes andern klagen, ſeit ihm war keiner wie¬ der ſo.
Es wird uns allen wolthun, wenn ich dieſe acht Wonne-Wochen oder zwei Wonne-Monate weitlaͤuftig beſchreibe. Sie beſtanden aus lauter aͤhnlichen Tagen. Keine einzige Wolke zog hinter den Haͤuſern herauf. Die ganze Nacht ſtand die ruͤckende Abendroͤthe unten am Himmel, an wel¬ chem die untergehende Sonne allemal wie eine Ro¬ ſe gluͤhend abgebluͤhet hatte. Um 1 Uhr ſchlugen ſchon die Lerchen und die Natur ſpielte und phan¬ taſierte die ganze Nacht auf der Nachtigallen-Har¬ monika. In ſeine Traͤume toͤnten die aͤußern Me¬ lodien hinein und in ihnen flog er uͤber Bluͤthen - Baͤume, denen die wahren vor ſeinem ofnen Fen¬ ſter ihren Blumen-Athem liehen. Der tagende Traum ruͤckte ihn ſanft wie die liſpelnde Mutter das Kind, aus dem Schlaf ins Erwachen uͤber und er trat mit ſaͤugender Bruſt in den Laͤrm der Na¬ tur hinaus, wo die Sonne die Erde von neuem405 erſchuf und wo beide ſich zu einem brauſenden Wol¬ luſt Ozean in einander ergoſſen. Aus dieſer Mor¬ gen-Fluth des Lebens und Freuens kehrte er in ſein ſchwarzes Stuͤbgen zuruͤck und ſuchte die Kraͤf¬ te in kleinern Freuden wieder. Er war da uͤber alles froh, uͤber jedes beſchienene und unbeſchienene Fenſter, uͤber die ausgefegte Stube, uͤber das Fruͤhſtuͤck, das mit ſeinen Amts-Revenuͤen beſtritten wurde, uͤber 7 Uhr weil er nicht in die Sekunda muſte, uͤber ſeine Mutter die alle Morgen froh war daß er Schulmeiſter war und ſie nicht aus dem vertrauten Hauſe muſte.
Unter dem Kaffee ſchnitt er ſich außer den Semmeln die Federn zur Meſſiade, die er damals die drei letzten Geſaͤnge ausgenommen, gar ausſang. Seine groͤſte Sorgfalt verwandte er darauf, daß er die epiſchen Federn falſch ſchnitt entweder wie Pfaͤhle oder ohne Spalt oder mit einem zweiten Extraſpalt, der hinaus nieſete: denn da alles in Hexametern und zwar in ſolchen, die nicht zu ver¬ ſtehen waren, verfaſſet ſeyn ſollte: ſo mußte der Dichter, da ers durch keine Bemuͤhung zur gering¬ ſten Unverſtaͤndlichkeit bringen konnte — er faſſete allemal den Augenblick jede Zeile und jeden pes —406 aus Noth zum Einfall greifen, daß er die Hexa¬ meter ganz unleſerlich ſchrieb was auch gut war. Durch dieſe poetiſche Freiheit bog er dem Verſtehen ungezwungen vor.
Um eilf Uhr deckte er fuͤr ſeine Voͤgel,[und] dann fuͤr ſich und ſeine Mutter, den Tiſch mit vier Schubladen, in dem mehr war als auf ihm. Er ſchnitt das Brod, und ſeiner Mutter die weiße Rinde vor, ob er gleich die ſchwarze nicht gern aß. O meine Freunde, warum kann man denn im hotel de Baviére und auf dem Roͤmer nicht ſo ver¬ gnuͤgt ſpeiſen als am Wuziſchen Ladentiſch? — Sogleich nach dem Eſſen machte er nicht Hexame¬ ter, ſondern Kochloͤffel und meine Schweſter hat ſelber ein Dutzend von ihm. Waͤhrend ſeine Mut¬ ter das wuſch was er ſchnitzte: ließen beide ihre Seelen nicht ohne Koſt; ſie erzaͤhlte ihm die Per¬ ſonalien von ſich und ſeinem Vater vor, von deren Kenntniß ihn ſeine akademiſche Laufbahn zu ent¬ fernt gehalten — und er ſchlug den Operations¬ plan und Bauriß ſeiner kuͤnftigen Haushaltung be¬ ſcheiden vor ihr auf, weil er ſich an dem Gedan¬ ken ein Hausvater zu ſeyn, gar nicht ſatt kaͤuen konnte. „ Ich richte mir — ſagte er — mein Haus¬407 halten ganz vernuͤnftig ein — ich ſtell 'mir ein Saugſchweingen ein auf die heiligen Feiertage, es fallen ſo viel Kartoffeln - und Ruͤben-Schaalen ab, daß man's mit[fett] bringt, man weiß kaum wie — und auf den Winter muß mir der Schwiegerva¬ ter ein Fuͤderchen Buͤſchel (Reisholz) einfahren und die Stubenthuͤr muß total gefuͤttert und gepolſtert werden — denn, Mutter! unſereins hat ſeine paͤ¬ dagogiſchen Arbeiten im Winter und es haͤlt da keine Kaͤlte aus. “— Am 29ſten Mai war noch dazu nach dieſen Geſpraͤchen eine Kindtaufe — es war ſeine erſte — ſie war ſeine erſte Revenuͤe und ein großes Sportularium hatte er ſich ſchon auf dem Alumneum dazu geheftet — er beſah und zaͤhl¬ te die Paar Groſchen zwanzig mal als waͤren ſie andere — am Taufſtein ſtand er in ganzer Paruͤre und die Zuſchauer ſtanden auf der Empor und in der herrſchaftlichen Loge im Alltags-Schmutz — „ es iſt mein ſaurer Schweiß “ſagt' er eine halbe Stunde nach dem Aktus und trank vom Gelde zur unge¬ woͤhnlichen Stunde ein Noͤßel Bier. — Ich er¬ warte von ſeinem kuͤnftigen[Biographen] ein Paar pragmatiſche Fingerzeige ‚ warum Wuz blos ein Einnahme - und kein Ausgabe-Buch ſich naͤhte und408 warum er in jenem oben Thaler, Groſchen, Pfen¬ nige ſetzte, ob er gleich nie die erſtere Muͤnzſorte unter ſeinen Schul-Gefaͤllen hatte.
Nach dem Aktus und nach der Verdauung ließ er ſich den Tiſch hinaus unter den Weichſelbaum tragen und ſetzte ſich nieder und boſſierte noch ei¬ nige unleſerliche Hexameter in ſeiner Meſſiade. So¬ gar waͤhrend er ſeinen Schinkenknochen als ſein Souper abnagte und abfeilte, befeilt 'er noch ei¬ nen und den andern epiſchen Fuß und ich weiß recht gut, daß des Fettes wegen mancher Geſang ein wenig geblet ausſiehet. Sobald er dem Sonnen¬ ſchein nicht mehr auf der Straße ſondern an den Haͤuſern liegen ſah! ſo gab er der Mutter die noͤ¬ thigen Gelder zum Haushalten und lief ins Freie, um ſich es ruhig auszumalen, wie ers kuͤnftig ha¬ ben wuͤrde im Herbſt, im Winter, an den drei heil. Feſten, unter den Schulkindern und unter ſeinen eignen. —
Und doch ſind das bloß Wochentage; der Sonn¬ tag aber brennt in einer Glorie, die kaum auf ein Altarblatt geht. — Ueberhaupt ſteht in keinen Seelen dieſes Jahrhunderts ein ſo großer Begrif von einem Sonntage, als in denen, die die mei¬409 ſten Schulmeiſter haben: mich wunderts gar nicht, wenn ſie an einem ſolchen Courtage nicht vermoͤgen, beſcheiden zu verbleiben. Selbſt unſer Wuz konnte ſichs nicht verſtecken! was es ſagen will, unter tau¬ ſend Menſchen allein zu orgeln — ein wahres Erb - Amt zu verſehen und den geiſtlichen Kroͤnungsman¬ tel dem Senior uͤber zu[henken] und ſeyn Valet de fan¬ taiſie und Kammermohr zu ſeyn — uͤber ein ganzes von der Sonne illuminiertes Chor Territorialherr¬ ſchaft zu exerzieren, als amtierender Chor-Maire auf ſeinem Orgel-Fuͤrſtenſtuhl die Poeſie einer Parochie noch beſſer zu beherrſchen als der Pfarrer die Proſe derſelben kommandiert — und nach der Predigt uͤber das Gelaͤnder hinab voͤllige fuͤrſtl. Befehle ſans façon mit lauter Stimme weniger zu geben als abzuleſen ..... Wahrhaftig, man ſollte denken, hier oder nirgends thaͤt 'es Noth, daß ich meinem Wuz zurie¬ fe; „ bedenke, was du vor wenig Monaten wareſt! Ueberleg', daß nicht alle Menſchen Kantores werden koͤnnen und mach 'dir die vortheilhafte Ungleichheit der Staͤnde zu Nutze, ohne ſie zu mißbrauchen und ohne darum mich und meine Zuhoͤrer am Ofen zu verachten. “— — Aber nein! auf meine Ehre, das gutartige Meiſterlein denkt ohnehin nicht daran: die410 Bauern haͤtten nur ſo geſcheut ſeyn ſollen, daß ſie dir ſchnackiſchem, laͤchelndem, trippelnden, Haͤnde¬ reibendem Dinge ins gallenloſe uͤberzuckerte Herz hineingeſehen haͤtten; was haͤtten ſie da ertapt? Freude in deinen zwei Herzens-Kammern, Freude in deinen zwei Herzens-Ohren. Du numerierteſt bloß, gutes Ding! das ich je laͤnger je lieber gewin¬ ne, deine kuͤnftigen Schulbuben und Schulmaͤdgen in den Kirchſtuͤhlen zuſammen und ſetzteſt ſie ſaͤmmt¬ lich in deine Schulſtube und um deine winzige Naſe herum und nahmeſt dir vor, mit der letzten taͤglich Vormittags und Nachmittags einmal zu nieſen und vorher zu ſchnupfen, bloß damit dein ganzes Inſti¬ tut wie beſeſſen auffuͤhre und zuriefe: Helf Gott, Herr Kantner! die Bauern haͤtten ferner in deinem Herzen die Freude angetroffen, die du hatteſt, ein Setzer von Folioziffern zu ſeyn die ſo lang ſind wie die am Zifferblatt der Thurmuhr, in dem du jeden Sonntag an der ſchwarzen Liedertafel in oͤffentlichen Druck gabſt, auf welcher Pagina das naͤchſte Lied zu ſuchen ſei — wir Autores treten mit ſchlechterem Zeuge im Drucke auf; — ferner die Freude, deinem Schwiegervater und deiner Braut im Singen vorzu¬ reiten; und endlich deine Hofnung, den Bodenſatz411 des Kommunionweins einſam auszuſaufen, der fatal ſchmeckte. Ein hoͤheres Weſen muß dir ſo herzlich gut geweſen ſeyn wie das referierende, da es gerade in deinen achtwoͤchentlichen Eden-Luſtrum deinen gnaͤdigen Kirchenpatron kommunizieren hieß: denn der hatte doch ſo viel Einſicht, daß er an die Stelle des Kommunionweins, der Chriſti Trank am Kreuz nicht ungluͤcklich nach bildete, Chriſti Thraͤnen aus ſeinem Keller ſetzte; aber welche Himmel dann nach dem Trank des Bodenſatzes in alle deine Glie¬ der zogen .... Warlich jedesmal will ich wieder in[Exklamationen] verfallen — aber warum macht mir und nielleicht Euch dieſes ſchulmeiſterlich ver¬ gnuͤgte Herz ſo viel Freude? — ach es muß daran lie¬ gen, daß wir ſelber ſie nie ſo voll bekommen, weil der Gedanke der Erden-Eitelkeit auf uns liegt und unſern Athem druͤckt und weil wir die ſchwarze-Got¬ tesacker-Erde unter den Raſen - und Blumenſtuͤcken ſchon geſehen haben, auf denen das Meiſterlein ſein Leben verhuͤpft! —
Der gedachte Kommunionwein mouſſirte noch Abends in ſeinen Adern; und dieſe letzte Tagszeit ſeines Sabbaths hab 'ich noch abzuſchildern. Bloß am Sonntag durft' er mit ſeiner Juſtine ſpatzieren412 gehen; vorher nahm er das Abendeſſen beim Schwie¬ gervater ein, aber mit ſchlechtem Nutzen: ſchon un¬ ter dem Tiſchgebet wurde ſein Hundshunger matt und unter den Allotriis darauf gar unſichtbar. [Wenn] ichs leſen koͤnnte: ſo koͤnnt 'ich das ganze Konterfei dieſes Abends aus ſeiner Meſſiade haben, in die er ihn ganz wie er war, im ſechſten Geſang hineinge¬ flochten, wie alle große Skribenten ihren Lebenslauf, ihre Weiber, Kinder, Aecker, Vieh in ihre opera omnia ſtricken. Er dachte, in der gedruckten Meſſia¬ de ſtaͤnde der Abend auch. In ſeiner wird es epiſch ausgefuͤhret ſeyn, daß die Bauern auf den Rainen wateten und den Schuß der Halme maßen und ihn uͤber das Waſſer heruͤber als ihren neuen wohlverord¬ neten Kantor gruͤßten — daß die Kinder auf Blaͤt¬ tern ſchalmeiten und in Batzen-Floͤten ſtieſſen und daß alle Buͤſche und Blumen - und Bluͤtenkelche voll¬ ſtimmig beſetzte Orcheſter waren, aus denen allen et¬ was herausſang oder ſumſete oder ſchnurrte — und daß alles zuletzt ſo feierlich wurde als haͤtte die Erde ſelber einen Sonntag, indem die Hoͤhen und Waͤlder um dieſen Zauberkreis rauchten und indem die Son¬ ne gen Mitternacht durch einen illuminirten Tri¬ umphbogen hinunter, und der Mond gen Mittag413 durch einen blaſſen Triumphbogen heraufzog. O du Vater des Lichts! mit wieviel Farben und Stra¬ len und Leuchtkugeln faſſeſt du deine bleiche Erde ein! — Die Sonne kroch jetzt ein zu einem einzi¬ gen rothen Strale, der mit dem Wiederſchein der Abendroͤthe auf dem Geſichte ſeiner Braut zuſam¬ men kam; und dieſe, nur mit ſtummen Gefuͤhlen bekannt, ſagte, daß ſie in ihrer Kindheit ſich oft geſehnet haͤtte, auf den rothen Bergen der Abend¬ roͤthe zu ſtehen und von ihnen mit der Sonne in die ſchoͤnen rothgemalten Laͤnder hinunter zu ſtei¬ gen, die hinter der Abendroͤthe laͤgen. Unter dem Gebetlaͤuten ſeiner Mutter legt’ er ſeinen Hut auf die Knie und ſah ohne die Haͤnde zu falten, an die rothe Stelle am Himmel, wo die Sonne zu¬ letzt geſtanden, und hinunter in den ziehenden Strom, der tiefe Schatten trug; und es war ihm als laͤutete die Abendglocke die Welt und noch ein¬ mal ſeinen Vater zur Ruhe — zum erſten - und letz[¬]tenmale in ſeinem Leben ſtieg ſein Herz uͤber die irdiſche Szene hinaus — und es rief, ſchien ihm, etwas aus den Abendtoͤnen herunter, er wuͤrd jetzt vor Vergnuͤgen ſterben .... Heftig und verzuͤckt umſchlang er ſeine Braut und ſagte: „ wie lieb414 hab 'ich dich, wie ewig lieb. “ Vom Fluſſe klang es herab wie Floͤtengetoͤn und Menſchengeſang und zog naͤher: auſſer ſich druͤckt' er ſich an ſie an und wollte vereinigt vergehen und glaubte, die Him¬ melstoͤne hauchten ihre beiden Seelen aus der Er¬ de weg und dufteten ſie wie Thaufunken auf den Auen Edens nieder. Es ſang:
Es war aus der Stadt eine Gondel mit eini¬ gen Floͤten und ſingenden Juͤnglingen. Er und ſie giengen am Ufer mit der ziehenden Gondel und hiel¬ ten ihre Haͤnde gefaßt und Juſtine ſuchte leiſe nach¬ zuſingen und der Himmel und die Entzuͤckung gien¬ gen neben ihnen. Als die Gondel um eine Erdzun¬ ge voll Baͤume herumſchifte: hielt Juſtine ihn ſanft an, damit ſie nicht nachkaͤmen und da das Fahr¬ zeug darhinter verſchwunden war, fiel ſie ihm mit dem erſten erroͤthenden Kuſſe um den Hals .... O unvergeßlicher erſter Junius! ſchreibt er. — Sie begleiteten und belauſchten von weitem die ſchiffen¬ den Toͤne; und Traͤume ſpielten um beide bis ſie415 ſagte: es iſt ſpaͤt und die Abendroͤthe hat ſich ſchon weit herumgezogen und es iſt alles im Dorfe ſtill. Sie giengen nach Hauſe; er oͤfnete die Fenſter ſei¬ ner mondhellen Stube und ſchlich mit einem leiſen Gutenacht bei ſeiner Mutter voruͤber, die ſchon ſchlief. —
Jeden Morgen ſchien ihn der Gedanke wie Ta¬ geslicht an, daß er dem Hochzeittage, dem 8ten Jun., ſich um eine Nacht naͤher geſchlafen; und am Tage lief die Freude mit ihm herum, daß er durch die paradieſiſchen Tage, die ſich zwiſchen ihn und ſein Hochzeitbett geſtellet, noch nicht durchwaͤ¬ re. So hielt er wie der metaphyſiſche Eſel den Kopf zwiſchen beiden Heubuͤndeln, zwiſchen der Ge¬ genwart und Zukunft; aber er war kein Eſel oder Scholaſtiker ſondern graſete und rupfte an beiden Buͤndeln auf einmal .... Wahrhaftig die Men¬ ſchen ſollten niemals Eſel ſeyn, weder indifferen¬ tiſtiſche noch hoͤlzerne noch bileamiſche und ich habe meine Gruͤnde dazu .... Ich breche hier ab, weil ich noch uͤberlegen will, ob ich ſeinen Hochzeittag abzeichne oder nicht. Data hab 'ich uͤbrigens dazu ganze Groͤße. — —
416Aber wahrhaftig ich bin weder ſeinem Ehren¬ tage beigewohnet noch einem eignen; ich will ihn alſo beſtens beſchreiben und mir — ich haͤtte ſonſt gar nichts — eine Luſtparthie zuſammen machen.
Ich weiß uͤberhaupt keinen ſchicklichern Ort oder Bogen als dieſen dazu, daß die Leſer bedenken, was ich ausſtehe: die magiſchen Schweizergegenden, in denen ich mich lagere — die Apollo's und Ve¬ nusgeſtalten, denen ſich mein Auge anſaugt — das erhabne Vaterland, fuͤr das ich das Leben hin¬ gebe, das es vorher geadelt hat — das Brautbett, in das ich einſteige, alles das iſt von fremden oder eignen Fingern bloß — gemalt mit Dinte oder Druckerſchwaͤrze; und wenn nur du, du Himmli¬ ſche, der ich treu bleibe, die mir treu bleibt, mit der ich in arkadiſchen Julius-Naͤchten ſpatzieren ge¬ he, mit der ich vor der untergehenden Sonne und vor dem aufſteigenden Monde ſtehe und um deren willen ich alle deine Schweſtern liebt, wenn nur du — waͤreſt; aber du biſt ein Altarblatt und ich finde dich nicht.
Dem Nil, dem Herkules und andern Goͤttern brachte man zwar auch wie mir nur nachboſſirte Maͤdchen dar; aber vorher bekamen ſie doch reelle.
Wir417Wir muͤſſen ſchon am Sonnabend ins Schul - und Hochzeithaus gucken, um die Praͤmiſſen dieſes Ruͤſttags zum Hochzeittag ein wenig vorher wegzu¬[haben]: am Sonntag haben wir keine Zeit dazu; ſo gieng auch die Schoͤpfung der Welt (nach den aͤltern Theologen) darum in 6 Tagwerken und nicht in Einer Minute vor, damit die Engel das Na¬ turbuch, wenn es allmaͤhlig aufgeblaͤttert wuͤrde, leichter zu uͤberſehen haͤtten. Am Sonnabend rennt der Braͤutigam auffallend in zwei corporibus piis aus und ein, im Pfarr - und Schulhaus, um vier Seſſel aus jenem in dieſes zu ſchaffen. Er borgte dieſe Geſtelle dem Senior ab, um den Kommoda¬ tor ſelbſt darauf zu weiſen als ſeinen Hierarchen, und die Seniorin als Fr. Pathin der Braut, und den Subpraͤfektus aus dem Alumneum und die Braut ſelbſt. Ich weiß ſo gut als andre, in wie weit dieſer miethende Luxus des Braͤutigams nicht in Schutz zu nehmen iſt: allerdings papillotirten die gigantiſchen Miethſtuͤhle (Menſchen und Seſſel ſchrumpfen jetzt ein) ihre falſchen Rindshaar-Tou¬ ren an Lehne und Sitz, mit blauem Tuch, Milch¬ ſtraßen von gelben Naͤgeln ſprangen auf gelben Schnuͤren als Blitze herum und es bleibt gewiß, daß2. Theil. D d418man ſo weich auf den Raͤndern dieſer Stuͤhle auf¬ ſaß als truͤge man einen Doppelſteiß — wie geſagt, dieſen Steiß-Luxus des Glaͤubigers und Schuldners hab 'ich niemals zum Muſter angeprieſen; aber auf der andern Seite muß doch jeder, der in den „[ Schulz] von Paris “hineingeſehen, bekennen, daß die Verſchwendung im Palais royal und an allen Hoͤfen offenbar eben ſo groß iſt. Wie werd' ich vollends ſolche Methodiſten von der ſtrengen Obſervanz auf die Seite des Großvater - oder Sorgeſtuhls Wuzens bringen, der mit vier hoͤlzernen Loͤwentatzen die Er¬ de ergreift, welche mit vier Queerhoͤlzern — den Siz-Konſolen munterer Finken und Gimpel — geſpon¬ ſelt ſind; und deſſen Haar-Chignon ſich mit einer gebluͤmten ledernen Schwarte[] mehr als zu praͤch¬ tig beſohlet und welcher zwei hoͤlzerne behaarte Ar¬ me, die das Alter wie menſchliche, duͤrrer gemacht, nach einem Inſaß ausſtreckt? .... Dieſes Fragzei¬ chen kann manchen, weil er den langen Perioden vergeſſen, frappiren.
Das zinnene Tafel-Service, das der Paͤda¬ gog noch von ſeinem Fuͤrſtbiſchof holte, kann das Publikum beim Auktionsproklamator, wenns anders verſteigert wird, beſſer kennen lernen als bei mir:419 ſo viel wiſſen die Hochzeitgaͤſte, die Saladière, die Saucière, die Aſſiette zu Kaͤſe und die Senfdoſe war ein Einziger Teller, der aber vor jeder Rolle einmal abgeſcheuert wurde.
Ein ganzer Nil und Alpheus ſchoß uͤber jedes Stubenbret, wovon gute Gartenerde wegzuſpuͤlen war, an jede Bettpfoſte und an den Fenſterſtock hinan und ließ den gewoͤhnlichen Bodenſatz der Fluth zuruͤck — Sand. Die Geſetze des Romans wuͤr¬ den verlangen, daß das Schulmeiſterlein ſich anzoͤ¬ ge und ſich auf eine Wieſe unter ein wogendes Zu¬ deck von Gras und Blumen ſtreckte und da durch einen Traum der Liebe nach dem andern hindurch ſaͤnk 'und braͤche — allein er rupfte Huͤhner und Enten ab, ſpaltete Kaffee und Bratenholz und die Braten ſelbſt, kredenzte am Sonnabend den Sonntag und dekretirte und vollzog in der blauen Schuͤrze ſeiner Schwiegermutter funfzig Kuͤchen-Re¬ glements und ſprang, den Kopf mit Papillotten gehoͤrnt und das Haar wie einen Eichhoͤrnchen¬ ſchwanz emporgebunden, hinten und vornen und uͤberall herum: „ denn ich mache nicht alle Sonn¬ tage Hochzeit “ſagt' er.
D d 2420Nichts iſt widriger als hundert Vorlaͤufer und Vorreiter zu einer winzigen Luſt zu ſehen und zu hoͤ¬ ren; nichts iſt aber ſuͤßer als ſelber mit vorzurei¬ ten und vorzulaufen: die Geſchaͤftigkeit, die wir nicht bloß ſehen ſondern theilen, macht nachher das Vergnuͤgen zu einer von uns ſelbſt geſaͤeten, beſprengten[und] ausgezognen Frucht; und oben¬ drein befaͤllt uns das Herzgeſpann des Paſſens nicht.
Aber, lieber Himmel, ich brauchte einen gan¬ zen Sonnabend um dieſen nur zu rapportiren: denn ich that nur einen vorbeifliegenden Blick in die Wuziſche Kuͤche — was da zappelt! was da raucht! — Warum iſt ſich Mord und Hochzeit ſo nahe, wie die zwei Gebote die davon reden? War¬ um iſt nicht bloß eine fuͤrſtliche Vermaͤhlung oft fuͤr Menſchen, warum iſt auch eine buͤrgerliche fuͤr Ge¬ fluͤgel eine Pariſiſche Bluthochzeit?
Niemand brachte aber im Hochzeithaus dieſe zwei Freudentage mißvergnuͤgter und fataler zu als zwei Stechfinken und drei Gimpel: dieſe inhaftirte der reinliche und vogelfreundliche Braͤutigam ſaͤmt¬ lich — vermittelſt eines Treibjagens mit Schuͤrzen und geworfnen Nachtmuͤtzen — und noͤthigte ſie,421 aus ihrem Tanz-Salon in ein Paar Drath-Kar¬ thauſen zu fahren und an der Wand in Manſar¬ den ſpringend herabzuhaͤngen.
Wuz berichtet ſo wohl in ſeiner „ Wuziſchen Ur¬ geſchichte “als „ in ſeinem Leſebuch fuͤr Kinder mitt¬ lern Alters, “daß Abends um 7 Uhr, da der Schneider dem Hymen neue Hoſen und Gillet und Rock anprobirte, ſchon alles blank und metriſch und neugeboren war, ihn ſelber ausgenommen. Eine unbeſchreibliche Ruhe ſitzt auf jedem Stuhl und Tiſch, eines neugeſtellten brillantirten Zim¬ mers! In einem chaotiſchen denkt man, man muͤſ¬ ſe noch dieſen Morgen ausziehen aus dem aufgekuͤn¬ digten Logement.
Ueber ſeine Nacht (ſo wie uͤber die folgende) fliegen ich und die Sonne hinuͤber und wir begeg¬ nen ihm, wenn er am Sonntage, geroͤthet und elektriſirt vom Gedanken des heutigen Himmels, die Treppe herab laͤuft in die anlachende Hochzeit¬ ſtube hinein, die wir alle geſtern mit ſo vieler Muͤ¬ he und Dinte aufgeſchmuͤckt haben vermittelſt Schoͤn¬ heitswaſſer — mouchoir de Venus und Schmink¬ lappen (Waſchlappen) — Puderkaſten (Topf mit Sand) und anderem Toiletten-Schif und Geſchirr. 422Er war Nachts ſiebenmal aufgewacht, um ſich ſie¬ benmal auf den Tag zu freuen; und zwei Stun¬ den fruͤher aufgeſtanden, um beide Minute fuͤr Minute aufzueſſen. Es iſt mir als gieng 'ich mit dem Schulmeiſter zur Thuͤr hinein, vor dem die Minuten des Tages hinſtehn wie Honigzellen — er ſchoͤpfet eine um die andre aus und jede Minute traͤgt einen weitern Honigkelch. Fuͤr eine Penſion auf Lebenslang iſt dennoch der Kantor nicht vermoͤgend, ſich auf der ganzen Erde ein Haus zu denken, in dem jetzt nicht Sonntag, Sonnenſchein und Freu¬ de iſt; nein! — Das zweite was er unten nach der Thuͤre aufthat, war ein Oberfenſter, um ei¬ nen auf - und niederwallenden Schmetterling — einen ſchwimmenden Silberflitter, eine Blumen-Folie und Amors Ebenbild — aus Hymens Stube fortzulaſſen. Dann fuͤtterte er ſeine Vogel-Kapel¬ le in den Bauern zum Voraus auf den laͤrmenden Tag, und fidelte auf der vaterlichen Geige die Schleifer zum Fenſter hinaus, an denen er ſich aus der Faſtnacht an die Hochzeitnacht herangetanzt. Es ſchlaͤgt erſt fuͤnf Uhr, mein Trauter, wir ha¬ ben uns nicht zu uͤbereilen! Wir wollen die zwei Ellen lange Halsbinde (die du dir auch wie die Braut423 antanzeſt, indem die Mutter das andre Ende haͤlt) und das Zopfband glatt umhaben noch zwei voͤllige Stunden vor dem Laͤuten. Gern gaͤb' ich den Gro߬ vaterſtuhl und Ofen, deren Aſſeſſor ich bin, gratis hin, wenn ich mich und meine Zuhoͤrerſchaft jetzt zu tranſparenten Sylphiden zu verduͤnnen wuͤßte; da¬ mit unſere ganze Bruͤderſchaft dem zappelnden Braͤu¬ tigam ohne Stoͤhrung ſeiner ſtillen Freude in den Garten nachfloͤge, wo er fuͤr ein weibliches Herz, das weder ein diamantnes noch ein welſches iſt, auch keine Blumen, die es ſind, abſchneidet ſondern le¬ bende — wo er die blitzenden Kaͤfer und Thautropfen aus den Blumenblaͤttern ſchuͤttelt[und] gern auf den Bienenruͤſſel wartet, den zum letztenmale der muͤtter¬ liche Blumenbuſen ſaͤuget — wo er an ſeine Knaben - Sonntagsmorgen denkt und an den zu engen Schritt uͤber die Beete und an das kalte Kanzelpult, dem der Senior ſein Bouquet gab. Gehe nach Haus, Sohn deines Antezeſſors, und ſchaue am achten Ju¬ nius dich nicht gegen Abend um, wo der ſtumme ſechs Fuß dicke Gottesacker uͤber manchen Freunden liegt, ſondern gegen Morgen wo du die Sonne, die Pfarr¬ thuͤre und deine hineinſchluͤpfende Juſtine ſehen kannſt, die die Frau Pathin nett ausfriſiren und einſchnuͤren424 will. Ich merk 'es leicht, daß meine Zuhoͤrer wieder in Sylphiden verfluͤchtigt werden wollen, um die Braut zu umflattern; aber ſie ſiehts nicht gern.
Endlich lag der himmelblaue Rock — die Livrée¬ farbe der Muͤller und Schulmeiſter — mit geſchwaͤrz¬ ten Knopfloͤchern und die plaͤttende Hand ſeiner Mut¬ ter, die alle Bruͤche hob, am Leibe des Schulmeiſter¬ leins und es darf nur Hut und Geſangbuch nehmen. Und jetzt — ich weiß gewiß auch, was Pracht iſt, fuͤrſtliche bei fuͤrſtlichen Vermaͤhlungen, das Kanoni¬ ren, Illuminiren, Exerciren und Friſiren dabei; aber nur mit der Wuziſchen Vermaͤhlung muß man dergleichen nie zuſammenſtellen: ſehet doch dem Mann hintennach, der den Sonnen - und Himmels¬ weg zu ſeiner Braut jetzt geht und auf den andern Weg druͤben nach dem Alumneum ſchauet und denkt „ wer haͤtt ''s vor vier Jahren gedacht;” ich ſage, ſehet ihm nach: thut es nicht auch die Auenthaler Pfarr¬ magd, ob ſie gleich Waſſer traͤgt, und henkt einen ſolchen praͤchtigen vollen Anzug bis auf jede Franze in ihrem Gehirn - und Kleiderkammern auf? Hat er nicht eine gepuderte Naſen - und Schuhſpitze? Sind nicht die rothen Thorfluͤgel ſeines Schwiegervaters aufgedreht und ſchreitet er nicht durch dieſe ein, in¬425 deß die von der Haarkraͤuslerin abgefertigte Verlobte durch das Hofthuͤrchen ſchleicht? Und ſtoßen ſie nicht ſo meublirt und uͤberpudert auf einander, daß ſie das Herz nicht haben, ſich guten Morgen zu bieten? Denn haben beide in ihrem Leben et¬ was praͤchtigers und vornehmeres geſehen als ſich einander heute? Iſt in dieſer verzeihlichen Verle¬ genheit nicht der lange Spahn ein Gluͤck, den der kleine Bruder zugeſchnitzt und den er der Schweſter hinreckt, damit ſie darum wie um einen Wein¬ pfahl die Blumen-Staude und Geruchs-Quaſte fuͤr des Kantors Knopfloch winde und guͤrte? Werden neidſuͤchtige Damen meine Freunde bleiben, wenn ich meinen Pinſel eintunke und ihnen damit vorko¬ lorire die Paruͤre der Braut, das zitternde Gold ſtatt der Zitternadel im Haar, die drei goldnen Medaillons auf der Bruſt mit den Miniatuͤrpor¬ traits der deutſchen Kaiſer*)In manchen deutſchen Gegenden tragen die Mädchen 2 Dukaten am Halſe. , und tiefer die in Knoͤpfe zergoſſenen Silberbarren? .... ich koͤnnt 'aber den Pinſel faſt jemand an den Kopf werfen, wenn mir beifaͤllt, mein Wuz und ſeine gute426 Braut werden mir, wenns abgedruckt iſt, von den Koketten und anderem Teufelszeuge gar ausgelacht: glaubt ihr denn aber, ihr ſtaͤdtiſchen di¬ ſtillierten und taͤttowirten Seelenverkaͤuferinnen, die ihr alles an Mannsperſonen meſſet und liebt, ihr Herz ausgenommen, daß ich oder meine mei¬ ſten Herren Leſer dabei gleichguͤltig bleiben koͤnnten oder daß wir nicht alle eure geſpannten Wangen, eure zuckenden Lippen, eure mit Witz und Begier¬ de ſengenden Augen und eure jedem Zufall gefuͤgi¬ gen Taillen, und ſelber deine, Reſidentin von[Bou¬ ſe], mit Spaß hingaͤben fuͤr eine einzige Szene, wo die Liebe ihre Stralen in dem Morgenroth des Schaͤ¬ mens bricht, wo die unſchuldige Seele ſich vor jedem Aug' entkleidet, ihr eignes ausgenommen und wo hundert innere Kaͤmpfe das durchſichtige Angeſicht beſeelen, und kurz worin mein Brautpaar ſelbſt agir¬ te, da der alte luſtige Kauz von Schwiegervater bei¬ der gekraͤuſelten und weißbluͤhenden Koͤpfe habhaft wurde und ſie geſcheut zu einem Kuß zuſammenlenk¬ te? Dein freudiges Erroͤthen, lieber Wuz! — und dein verſchaͤmtes, liebe Juſtine! —
Wer wird uͤberhaupt dieſen und dergleichen Sa¬ chen kurz vor ſeinen Sponſalien ſchaͤrfer nachdenken427 und nachher delikater agiren als gegenwaͤrtiger Bio¬ graph ſelbſt?
Der Laͤrm der Kinder und Buͤttner auf der Gaſſe und der Rezenſenten in Leipzig hindern den Biographen, alles ausfuͤhrlich herzuſetzen, die praͤchtigen Eckenbeſchlaͤge und dreifachen Manſchet¬ ten, womit der Braͤutigam jede Zeile des Chorals verſah — den hoͤlzernen Engelsſittich, woran er ſei¬ nen Kurhut zum Chor hinaus hieng — den Namen Juſtine an den Pedalpfeifen — ſeinen Spas und ſeine Luſt, da ſie einander vor der Kirchenagende (der goldnen Bulle und die Reichsgrundgeſetze des Eheregiments) die rechten Haͤnde gaben und da er mit ſeinem Ringfinger ihre hole Hand gleichſam hinter einem Bettſchirm neckte — und den Eintritt in die Hochzeitſtube, wo vielleicht die groͤßten und vornehmſten Leute und Gerichte der Erde einander be¬ gegneten, ein Pfarrer, eine Pfarrerin, ein Sub¬ praͤfektus und eine Braut. Es wird aber Beifall finden, daß ich meine Beine auseinander ſetze und damit uͤber die ganze Hochzeittafel und Hochzeit¬ trift und uͤber den Nachmittag wegſchreite, um zu hoͤren was ſie Abends angeben — einen und den andern Tanz giebt der Subpraͤfektus an. Es iſt428 im Grunde ſchon alles auſſer ſich — ein Tobacks - Heerrauch und ein Suppendampfbad woget um drei Lichter und ſcheidet einen vom andern durch Nebel¬ baͤnke — der Violenzelliſt und der Violiniſt ſtrei¬ chen fremdes Gedaͤrm weniger als ſie eignes fuͤllen — auf der Fenſterbruͤſtung guckt das ganze Auen¬ thal als Gallerie zappelnd herein und die Dorfju¬ gend tanzt drauſſen dreiſſig Schritte von dem Orcheſter entfernt, im Ganzen recht huͤbſch — die alte Dorf-La Bonne ſchreiet ihre wichtig¬ ſten Perſonalien der Seniorin vor und dieſe nie¬ ſet und huſtet die ihrigen los, jede will ihre hi¬ ſtoriſche Nothdurft fruͤher verrichten und ſieht ungern die andre auf dem Stuhle ſeßhaft — der Senior ſieht wie ein Schoosjuͤnger des Schoosjuͤn¬ gers Johannes aus,[welchen] die Maler mit einem Becher in der Hand abmalen und lacht lauter als er predigt — der Praͤfektus ſchießet als Elegant herum und iſt von niemand zu erreichen — mein Maria plaͤtſchert und faͤhrt unter in allen vier Fluͤſ¬ ſen des Paradieſes; und des Freuden-Meers Wo¬ gen heben und ſchaukeln ihn allmaͤchtig — bloß die eine Brautfuͤhrerin (mit einer zu zarten Haut und Seele fuͤr ihren ſchwielenvollen Stand) hoͤrt die429 Freuden-Trommel wie von einem Echo gedaͤmpft und wie bei einer Koͤnigsleiche mit Flor bezogen und die ſtille Entzuͤckung ſpannt in Geſtalt eines Seufzers die einſame Bruſt — mein Schulmeiſter (er darf zweimal im Kuͤchenſtuͤck herumſtehen) tritt mit ſeiner Trauungshaͤlfte unter die Hausthuͤr, de¬ ren deſſus de porte ein Schwalben-Globus iſt, und ſchauet auf zu dem ſchweigenden glimmenden Him¬ mel uͤber ihm und denkt, jede große Sonne gucke herunter wie ein Auenthaler und zu ſeinem Fen¬ ſter hinein ..... Schiffe froͤhlich uͤber deinen ver¬ duͤnſtenden Tropfen Zeit, du kannſt es; aber wir koͤnnens nicht alle, die eine Brautfuͤhrerin, kanns auch nicht — ach waͤr 'ich wie du an einem Hoch¬ zeitmorgen dem aͤngſtlichen den Blumen abgefang¬ nen Schmetterling begegnet, wie du der Biene im Bluͤthenkelch, wie du der um ſieben Uhr abgelauf¬ nen Thurmuhr, wie du dem ſtummen Himmel oben und dem lauten unten: ſo haͤtt' ich ja dar¬ an denken muͤſſen, daß nicht auf dieſer ſtuͤrmen¬ den Kugel, wo die Winde ſich in unſre kleinen Blumen wuͤhlen, die Ruheſtaͤtte zu ſuchen ſei, auf der uns ihre Duͤfte ruhig umfließen, oder ein Au¬ ge ohne Staub, ein Auge ohne Regentropfen,430 die jene Stuͤrme an uns werfen — und waͤre die blitzende Goͤttin der Freude ſo nahe an meinem Buſen geſtanden: ſo haͤtt 'ich doch auf jene Aſchen¬ haͤufgen hinuͤber geſehen, zu denen ſie mit ihrer Umarmung, gebuͤrtig aus der Sonne und nicht aus unſern Eiszonen, ſchon die armen Menſchen verkalkte — und o wenn mich ſchon die vorige Be¬ ſchreibung eines großen Vergnuͤgens ſo traurig zu¬ ruͤck ließ: ſo muͤſt' ich, wenn erſt du, aus unge¬ meſſenen Hoͤhen in die tiefe Erde hereinreichende Hand! mir eines, wie eine Blume auf einer Son¬ ne gewachſen, hernieder braͤchteſt, auf dieſe Va¬ terhand die Tropfen der Freude fallen laſſen und mich mit dem zu ſchwachen Auge von den Men¬ ſchen wegwenden .....
Jezt da ich dieſes ſage, iſt Wuzens Hochzeit laͤngſt vorbei, ſeine Juſtine iſt alt und er ſelber auf dem Gottesacker; der Strom der Zeit hat ihn und alle dieſe ſchimmernden Tage unter vier-fuͤnf¬ fache Schichten Bodenſatz gedruͤckt und begraben — auch an uns ſteigt dieſer beerdigende Niederſchlag immer hoͤher auf, in drei Minuten erreicht er das Herz und uͤberſchlichtet mich und euch.
43#In dieſer Stimmung ſinne mir keiner an, die vielen Freuden des Schulmeiſters aus ſeinem Freu¬ den-Manuale mitzutheilen, beſonders ſeine Weih¬ nachts - Kirchweih - und Schulfreuden — es kann vielleicht noch geſchehen in einem Poſthumus von Poſtſkript, das ich nachliefere, aber heute nicht! heute iſts beſſer, wir ſehen den vergnuͤgten Wuz zum letztenmal lebendig und tod und gehen dann weg.
Ich haͤtte uͤberhaupt — ob ich gleich dreißig¬ mal vor ſeiner Hausthuͤr voruͤber gegangen war — wenig vom ganzen Manne gewuſt, wenn nicht am 12ten Mai vorigen Jahrs die alte Juſtine unter ihr geſtanden waͤre und mich angeſchrien haͤtte: „ ob ich keine Buͤcher machte “— „ Warum nicht, ſagt 'ich, dem deutſchen Publiko ſchenk' ich deren immer. “— „ Wenn ich nur eine Stunde zu ihrem Alten herein moͤchte, mit dems ſo ſchlecht aus¬ ſaͤhe. “
Der Schlag hatte dem Alten, vielleicht weil er eine Flechte Thalers groß am Nacken hinein ge¬ heilet, oder vor Alter, die linke Seite gelaͤhmt. Er ſaß im Bette an einer Lehne von Polſtern und Unter-Robben und hatte ein ganzes Waarenlager432 das ich ſogleich ſpezificieren werde, auf dem Deck¬ bette vor ſich. Ein Kranker thut wie ein Reiſen¬ der — und was iſt er anders — ſogleich mit jedem bekannt: ſo nahe mit dem Fuße und Auge an erhabnern Welten macht man in dieſer raͤudigen keine Umſtaͤnde mehr[. ]Er klagte, es haͤtte ſich ſei¬ ne Alte ſchon ſeit drei Tagen nach einem Buͤcher¬ ſchreiber umſchauen muͤſſen, haͤtt 'aber keinen er¬ tapt außer jezt; „ er muͤſſ' aber einen haben, der ſeine Bibliothek uͤbernaͤhme, ordnete und inven¬ tierte und der an ſeine Biographie, die in der ganzen Bibliothek waͤre, ſeine letzten Stunden, falls er ſie jezt haͤtte, zur Kompletirung gar hin anſtieße: denn ſeine Alte waͤre keine Gelehrtin und ſeinen Sohn haͤtt 'er auf drei — Wochen auf die Univerſitaͤt Heidelberg gelaſſen. “
Seine Runzeln-Ausſaat gab ſeinem runden kleinen Geſichtgen aͤußerſt froͤhliche Lichter; jede Runzel ſchien ein laͤchelnder Mund: aber es gefiel mir und meiner Semiotik nicht, daß ſeine Augen ſo blitzten, ſeine Augenbraunen und Mund-Ecken ſo zuckten und ſeine Lippen ſo zitterten.
Ich will mein Verſprechen der Spezifikation halten: auf dem Deckbette lag eine gruͤntaftneKin¬433Kinderhaube, wovon das eine Band abgeriſſen war, eine mit abgegrifnen Goldflittergen uͤberpich¬ te Kinderpeitſche, einen Fingerring von Zinn, ei¬ ne Schachtel mit Zwerg-Buͤchelgen in 128 Format, eine Wand-Uhr, ein beſchmutztes Schreibbuch und ein Finkenkloben Fingerslang. Es waren die Ru¬ dera und Spaͤtlinge ſeiner verſpielten Kindheit: die Kunſtkammer dieſer ſeiner griechiſchen Alter¬ thuͤmer war von jeher unter der Treppe geweſen — denn in einem Haus, das der Blumenkuͤbel und Treibkaſten eines einzigen Stammbaums iſt, bleiben die Sachen Saͤkula lang in ihrer Stelle ungeruͤckt — und da es von ſeiner Kindheit an ein Reichsgrundgeſetz bei ihm war, alle ſeine Spiel¬ waaren in chronologiſcher Ordnung aufzuheben, und da kein Menſch das ganze Jahr unter die Treppe guckte als er: ſo konnt 'er noch am Ruͤſt¬ tage vor ſeinem Todestage dieſe Urnenkruͤge eines ſchon geſtorbenen Lebens um ſich ſtellen und ſich zu¬ ruͤckfreuen, da er ſich nicht mehr vorausfreuen konnte. Du konnteſt freilich, kleiner Maria, in keinen Antikentempel zu Sansſouci eintreten und darin vor dem Weltgeiſt der ſchoͤnen Na¬ tur der Kunſt niederfallen; aber du konnteſt2. Theil. E e434doch in deine Kindheits-Antiken-Stiftshuͤtte unter der finſtern Treppe gucken und die Strahlen der auferſtehenden Kindheit ſpielten wie des gemal¬ ten Jeſuskindes ſeine im Stall, an den duͤſtern Winkeln! o wenn groͤßere Seelen als du, aus der ganzen Orangerie der Natur ſo viel ſuͤße Saͤfte und Duͤfte ſoͤgen als du aus dem zackigen gruͤnen Blatte, an das dich das Schickſal gehangen: ſo wuͤrden nicht Blaͤtter ſondern Gaͤrten genoſſen und die beſſern und doch gluͤcklichern Seelen wunderten ſich nicht mehr, daß es vergnuͤgte Meiſterlein geben kann.
Wuz ſagte und bog den Kopf gegen das Repo¬ ſitorium hin, „ wenn ich mich an meinen ernſthaf¬ ten Werken matt geleſen und korrigiert; ſo ſchau ich ſtundenlang dieſe Schnurpfeifereien an und das wird hoffentlich einem Buͤcherſchreiber keine Schan¬ de ſeyn. “
Ich wuͤſt 'aber nicht, womit der Welt mehr gedient iſt als wenn ich ihr den raͤſonnierenden Ka¬ talog dieſer Kunſtſtuͤcke und Schnurpfeifereien zu¬ wende, den mir der Patient zuwandte. Den zin¬ nenen Ring hatt' ihm die vierjaͤhrige Mamſell des vorigen Paſtors, da ſie miteinander von einem435 Spielkameraden ehrlich und ordentlich kopuliert wurden, als Ehepfand angeſteckt — das elende Zinn loͤthete ihn feſter an ſie als edlere Metalle edlere Leute und ihre Ehe brachten ſie auf vier und funfzig Minuten: oft wenn er nachher als ge¬ ſchwaͤrzter Alumnus ſie mit nickenden Federn-Stan¬ darten am duͤnnen Arme eines geſprenkelten Ele¬ gant ſpatzieren gehen ſah, dacht er an den Ring und an die alte Zeit. Ueberhaupt hab 'ich bisher mir unnuͤtze Muͤhe gegeben es zu verſtecken daß er in alles ſich verliebte was wie eine Frau ausſah; alle Froͤhliche ſeiner Art thun daſſelbe: vielleicht koͤnnen ſie es, weil ihre Liebe ſich zwiſchen den beiden Extremen von Liebe aufhaͤlt und beiden ab¬ borgt, ſo wie der Buſen der Uebergang, das Band und der Kreole der platoniſchen und der epi¬ kuriſchen Reize iſt. — Da er ſeinem Vater die Thurmuhr aufziehen half wie vor Zeiten die Kron¬ prinzen mit den Vaͤtern in die Seſſionen giengen: ſo konnte ſo eine kleine Sache ihm einen Wink ge¬ ben, ein lakiertes Kaͤſtgen zu durchloͤchern und ei¬ ne Wanduhr daraus zu ſchnitzen, die niemals gieng; inzwiſchen hatte ſie doch wie mehrere Staatskoͤrper ihre langen Gewichte und ihre einge¬E e 2436zackten Raͤder, die man dem Geſtelle nuͤrnbergi¬ ſcher Pferde abgehoben und ſo zu etwas beſſerem verbraucht hatte. — Die gruͤne Kinderhaube mit Spitzen geraͤndert, das einzige Ueberbleibſel ſeines vorigen vierjaͤhrigen Kopfes, war ſeine Buͤſte und ſein Gipsabdruck vom kleinen Wuz, der jezt zu ei¬ nem großen ausgefahren war: Altags-Kleider ſtel¬ len das Bild eines todten Menſchen weit inniger dar als ſein Portrait — daher beſah Wuz das Gruͤn mit ſehnſuͤchtiger Wolluſt und es war ihm als ſchimmere aus dem Eis des Alters eine gruͤne Ra¬ ſenſtelle der laͤngſt uͤberſchneieten Kindheit vor; „ nur meinen Unterrock von Flanel ſollt 'ich gar ha¬ ben, der mir allemal unter den Achſeln umgebun¬ den wurde. ” — Mir iſt ſo wohl das erſte Schreib¬ buch des Koͤnigs von Preußen als das des Schul¬ meiſters Wuz bekannt und da ich beide in Haͤnden gehabt: ſo kann ich urtheilen, daß der Koͤnig als Mann und das Meiſterlein als Kind ſchlechter ge¬ ſchrieben: „ Mutter, ſagt' er zu ſeiner Frau, be¬ tracht 'doch wie dein Mann hier (im Schreibbuch) und wie er dort (in ſeinem kallygraphiſchen Mei¬ ſterſtuͤck von einem Lehnbrief, den er an die Wand genagelt) geſchrieben: ich freſſ' mich aber noch vor437 Liebe, Mutter! “ Er prahlte vor niemand als vor ſeiner Frau; und ich ſchaͤtze den Vortheil ſo hoch als er werth iſt, den die Ehe hat, daß der Ehe¬ mann durch ſie noch ein zweites Ich bekoͤmmt, vor dem er ſich ohne Bedenken recht herzlich loben kann. Wahrhaftig das deutſche Publikum ſollte ein zweites Ich von uns Autoren abgeben! — Die Schachtel war ein Buͤcherſchrank der lilliputiſchen Traktaͤtgen in Fingerkalender-Format, die er in ſeiner Kindheit dadurch edierte, daß er einen Vers aus der Bibel abſchrieb, es heftete und bloß ſag¬ te: „ abermals einen recht huͤbſchen Kober*)Kobers Kabinetsprediger — in dem mehr Geiſt ſteckt (frei¬ lich oft ein närriſcher) als in zwanzig jezigen ausgelaug¬ ten Predigt-Skarteken. ge¬ macht! “andre Autores thun das auch, aber erſt wenn ſie herangewachſen ſind. Als er mir ſeine jugendliche Autorſchaft referierte: bemerkt 'er: „ als ein Kind iſt man ein wahrer Narr; es ſtach aber doch ſchon damals der Autortrieb heraus, nur freilich noch in einer unreifen und laͤcherlichen Ge¬ ſtalt” und belaͤchelte zufrieden die jezige. — Und ſo giengs mit dem Finkenkloben auch: war nicht der fingerslange Finkenkloben, den er mit Vier438 beſtrich und auf dem er die Fliegen an den Bei¬ nen fieng, der Vorlaͤufer des armslangen Finken¬ kloben, hinter dem er im Spaͤtherbſt ſeine ſchoͤn¬ ſten Stunden zubrachte wie auf ihm die Finken ih¬ re haͤßlichſten? das Vogelſtellen will durchaus ein in ſich ſelbſt vergnuͤgtes ſtilles Ding von Seele haben.
Es iſt leicht begreiflich, daß ſeine groͤſte Kran¬ kenlabung ein alter Kalender war und die abſcheu¬ lichen 12 Monatskupfer deſſelben. In jedem Mo¬ nat des Jahrs machte er ſich, ohne vor einem Gallerieinſpektor den Hut abzunehmen oder an ein Bilderkabinet zu klopfen, mehr maleriſche und ar¬ tiſtiſche Luſt als andre Deutſche, die abnehmen und anklopfen. Er durchwanderte naͤmlich die 11 Mo¬ nats-Vignetten — die des Monats, worin er wan¬ derte, ließ er weg — und phantaſierte in die Holzſchnitt-Szenen alles hinein was er und ſie brauchten. Es muſte ihn freilich in geſunden und kranken Tagen letzen, wenn er im Jenner-Win¬ terſtuͤck auf dem abgeruften ſchwarzen Baum her¬ umſtieg und ſich (mit der Phantaſie) unter den an der Erde aufdruͤckenden Wolkenhimmel ſtellte, der uͤber den Winterſchlaf der Wieſen und Felder wie439 ein Betthimmel ſich heruͤberkruͤmmte — der ganze Junius zog ſich mit ſeinen langen Tagen und lan¬ gen Graͤſern um ihn herum, wenn er ſeine Ein¬ bildung den Junius-Landſchafts Holzſchnitt aus¬ bruͤten ließ auf dem kleine Kreuzgen, die nichts als Voͤgel ſeyn ſollten, durch das graue Druckpa¬ pier flogen und auf dem der Holzſchneider das fet¬ te Laubwerk zu Blaͤtterſkeletten mazerierte. Allein wer Phantaſie hat, macht ſich aus jedem Fetzen eine wunderthaͤtige Reliquie, aus jedem Eſelskinn¬ backen eine Quelle; die fuͤnf Sinne reichen ihr nur die Kartons, nur die Grundſtriche des Vergnuͤ¬ gens oder Mißvergnuͤgens.
Den Mai uͤberblaͤtterte der Patient, weil der ohnehin um das Haus draußen ſtand. Die Kirſch¬ bluͤthen, womit der Wonnemond ſein gruͤnes Haar beſteckt, die Maibluͤmgen, die als Vorſteckroſen uͤber ſeinem Buſen duften, beroch er nicht — der Geruch war weg, — aber er beſah ſie und hatte einige in einer Schuͤſſel neben ſeinem Krankenbette.
Ich habe meine Abſicht klug erreicht, mich und meine Zuhoͤrer fuͤnf oder ſechs Seiten von der tran¬ rigen Minute wegzufuͤhren, in der vor unſer al¬ ler Augen der Tod vor das Bett unſers kranken440 Freundes tritt und langſam mit eiskalten Haͤn¬ den in ſeine warme Bruſt hinein dringt und das vergnuͤgt ſchlagende Herz erſchreckt, faͤngt und auf immer anhaͤlt. Aber endlich koͤmmt die Mi¬ nute und ihr Begleiter doch.
Ich blieb den ganzen Tag und ſagte abends, ich koͤnnte zu Nachts wachen. Sein lebhaftes Ge¬ hirn und ſein zuckendes Geſicht hatten mich feſt uͤberzeugt, in der Nacht wuͤrde der Schlag ſich wiederholen; es geſchah aber nicht; welches mir und dem Schulmeiſterlein ein weſentlicher Gefallen war. Denn es hatte mir geſagt — auch in ſei¬ nem letzten Traktaͤtgen ſtehts — nichts waͤre ſchoͤ¬ ner und leichter als an einem heitern Tage zu ſter¬ ben, die Seele ſaͤhe durch die geſchloſſenen Augen die hohe Sonne noch und ſie ſtiege aus dem ver¬ trockneten Leib in das weite blaue Lichtmeer drauſ¬ ſen; hingegen in einer finſtern bruͤllenden Nacht aus dem warmen Leibe zu muͤſſen, den langen Fall ins Grab ſo einſam zu thun, wenn die gan¬ ze Natur ſelber da ſaͤße und die Augen ſterbend zu¬ haͤtte — das waͤre ein zu harter Tod.
Um 11½ Uhr Nachts kamen Wuzens zwei be¬ ſten Jugendfreunde noch einmal vor ſein441 Bette, der Schlaf und der Traum, um von ihm gleichſam Abſchied zu nehmen. Oder bleibt ihr laͤn¬ ger und ſeid, ihr zwei Menſchenfreunde es vielleicht, die ihr den ermordeten Menſchen aus den blutigen Haͤnden des Todes holet und auf eueren wiegenden Armen durch die kalten unterirdiſchen Hoͤlungen muͤtterlich traget ins helle Land hin, wo ihn eine neue Morgenſonne und neue Morgenblumen in wa¬ ches Leben hauchen? —
Ich war allein in der Stube — ich hoͤrte nichts als den Athemzug des Kranken und den Schlag mei¬ ner Uhr, die ſein kurzes Leben weg maß — der gel¬ be Vollmond hieng tief und groß in Suͤden und be¬ reifte mit ſeinem Todtenlichte die Maibluͤmgen des Mannes und die ſtockende Wanduhr und die gruͤne Haube des Kindes — der leiſe Kirſchbaum vor dem Fenſter malte auf dem Grund von Mondslicht aus Schatten einen bebenden Baumſchlag in die Stube — am ſtillen Himmel wurde zuweilen eine fackelnde Sternſchnuppe niedergeworfen und ſie vergieng wie ein Menſch — es fiel mir bei, die naͤmliche Stube, die jezt der ſchwarz ausgeſchlagne Vorſaal des Gra¬ bes war, wurde morgen vor 43 Jahren am 13. Mai vom Kranken bezogen — und an dieſem Tage gien¬442 gen ſeine elyſaͤiſchen Achtwochen an — ich ſah daß der, dem damals dieſer Kirſchbaum Wohlgeruch und Traͤume gab, dort im druͤckenden Traume ge¬ ruchloß liege und vielleicht noch heute aus dieſer Stu¬ be ausziehe und daß alles, alles voruͤber ſei und nie¬ mals wieder komme .... und in dieſer Minute fieng Wuz mit dem ungelaͤhmten Arme nach etwas als wollt 'er einen entfallenden Himmel erfaſſen — — und in dieſer zitternden Minute kniſterte der Mo¬ natszeiger meiner Uhr und fuhr, weils 12 Uhr war, vom 12ten Mai zum 13ten uͤber .... Der Tod ſchien mir meine Uhr zu ſtellen, ich hoͤrte ihn den Menſchen und ſeine Freuden kaͤuen, und die Welt und die Zeit ſchien in einem Strom von Moder ſich in den Abgrund hinab zu broͤckeln! ...
Ich denke an dieſe bebende Minute bei jedem mitternaͤchtlichen Ueberſpringen meines Monatszei¬ gers; aber ſie trete nie mehr unter die kurze Reihe meiner uͤbrigen Minuten.
Der Sterbende — er wird kaum dieſen Namen lange mehr haben — ſchlug zwei lodernde Augen auf und ſah mich lange an, um mich zu kennen. Ihm hatte getraͤumt, er ſchwankte als ein Kind ſich auf einem Lilienbeete, das unter ihm aufgewallet — die¬443 ſes waͤre zu einer emporgehobnen Roſen-Wolke zu¬ ſammen gefloſſen, die mit ihm durch goldne Morgen¬ roͤthen und uͤber rauchende Blumenfelder weggezogen waͤre — die Sonne haͤtte mit einem weißen Maͤd¬ gen-Angeſicht ihn angelaͤchelt und angeleuchtet und waͤre endlich in Geſtalt eines von Strahlen[umflog -] nen Maͤdgens ſeiner Wolke zugeſunken und er haͤtte ſich geaͤngſtigt, daß er den linken gelaͤhmten Arm nicht um und an ſie bringen koͤnnen — — daruͤber wurd 'er wach aus ſeinem letzten oder vielmehr vor¬ letzten Traum: denn auf den langen Traum des Le¬ bens ſind die kleinen bunten Traͤume der Nacht wie Phantaſieblumen geſtickt und gezeichnet.
Der Lebens-Strom nach ſeinem Kopfe wurde immer ſchneller und breiter: er glaubte immer wie¬ der, verjuͤngt zu ſeyn; den Mond hielt er fuͤr die be¬ woͤlkte Sonne; es kam ihm vor, er ſei ein fliegender Taufengel, unter einem Regenbogen an eine Dotter¬ blumen-Kette aufgehangen, im unendlichen Bogen auf - und niederwogend, von der vierjaͤhrigen Ring¬ geberin uͤber Abgruͤnde zur Sonne aufgeſchaukelt ... Gegen vier Uhr morgens konnte er uns nicht mehr ſehen, ob gleich die Morgenroͤthe ſchon in der Stube war — die Augen blickten verſteinert vor ſich hin444 — eine Geſichtszuckung kam auf die andre — den Mund zog eine Entzuͤckung immer laͤchelnder aus ein¬ ander — Fruͤhlings-Phantaſien, die weder dieſes Leben erfahren noch jenes haben wird, ſpielten mit der ſinkenden Seele — endlich ſtuͤrzt der Todesengel den blaßen Leichenſchleier auf ſein Angeſicht und hob hinter ihm die bluͤhende Seele mit ihren tiefſten Wurzeln aus dem koͤrperlichen Treibkaſten voll orga¬ niſirter Erde ..... Das Sterben iſt erhaben; hinter ſchwarzen Vorhaͤngen thut der einſame Tod das ſtille Wunder und arbeitet fuͤr die andre Welt und die Sterblichen ſtehen da mit naſſen, aber ſtumpfen Augen neben der uͤberirdiſchen Szene ...
„ Du guter Vater, ſagte ſeine Wittwe, wenn dirs jemand vor 43 Jahren haͤtte ſagen ſollen, daß man dich am 13. Mai, wo deine Achtwochen an¬ giengen, hinaustragen wuͤrde “— „ Seine Acht¬ wochen, ſagt 'ich, gehen wieder an und waͤhren laͤnger. “
Da ich um 11 Uhr fortgieng: war mir die Erde gleichſam heilig und Todte ſchienen mir neben mir zu gehen; ich ſah auf zum Himmel als koͤnnt 'ich im endloſen Aether nur in Einer Richtung den Geſtorbnen ſuchen; und da ich oben auf dem Ber¬445 ge, wo man nach Auenthal hinein ſchauet, mich noch einmal nach dem Leidenstheater umſah und da ich unter den rauchenden Haͤuſern bloß das Trau¬ erhaus unbewoͤlket da ſtehen und den Todtengraͤ¬ ber oben auf dem Gottesacker das Grab aushauen ſah, und da ich das Leichenlaͤuten ſeinetwegen hoͤr¬ te und daran dachte, wie die Wittwe im ſtum¬ men Kirchthurm mit rinnenden Augen das Seil unten reiße: ſo fuͤhlt' ich unſer aller Nichts und ſchwur, ein ſo unbedeutendes Leben zu verachten, zu verdienen und zu genießen. —
Wohl dir, lieber Wuz, daß ich — wenn ich nach Auenthal gehe und dein verraſetes Grab aus¬ ſuche und mich daruͤber kuͤmmere, daß die in dein Grab beerdigte Puppe des Nachtſchmetterlings mit Fluͤgeln daraus kriecht, daß dein Grab ein Luſtla¬ ger bohrender Regenwuͤrmer, ruͤckender Schnecken, wirbelnder Ameiſen und nagender Raͤupgen iſt, in¬ deß du tief unter allen dieſen mit unverruͤcktem Haupte auf deinen Hobelſpaͤhnen liegſt und indeß keine liebkoſende Sonne durch deine Bretter und deine mit Leinwand zugeleimten Augen bricht — wohl dir, daß ich dann ſagen kann: „ da er noch446 das Leben hatte, genoß ers froͤhlicher wie wir alle.”
Es iſt genug, meine Freunde — es iſt 12 Uhr, der Monatszeiger ſprang auf einen neuen Tag und erinnerte uns an den doppelten Schlaf, an den Schlaf der kurzen und an den Schlaf der langen Nacht ....
447Am 21. Junius oder längſten Tage.
Heute wird alſo meine kleine Rolle, wenigſtens fuͤr den erſten Auftritt, aus; ſobald ich die ſie¬ ben Worte gar geſchrieben habe: ſo gehen ich und die Leſer aus einander. Aber ich trete trauriger weg als ſie. Ein Menſch, der den Weg zu einem weiten Ziel vollendet hat, wendet ſich an dieſem um und ſieht mit einem Seufzer und unbefriedigt und voll neuer Wuͤnſche uͤber die zuruͤcklaufende Straße hin, die ſeine ſchmalen Stunden wegmaß und die er wie eine Medea mit Gliedern ſeines Le¬ bens uͤberſtreuete. Eh 'es heute Nacht wurde, hab' ich alle die Papierſpaͤhne, die von dieſem Bu¬ che fielen, eingeſargt, aber nicht, wie andre Au¬ tores, eingeaͤſchert — ich habe zugleich alle Briefe der Freunde, die mir keine neue mehr ſchreiben koͤnnen, als Akten der in der Erden-Inſtanz geſchloſſenen Prozeſſe inrotulirt und hingelegt. — So etwas ſollte der Menſch ſtets deponiren und alle448 Freudenblumen aufkleben, trotz ihrer Vertrocknung, in einem Herbario: nicht einmal ſeine alten Fracks, Pikeſchen und Bratenroͤcke (die uͤbrigen Kleidungs¬ ſtuͤcke karakteriſiren wenig) ſollte er verſchenken oder verſteigern, ſondern hinhenken ſollt 'er ſie als Huͤl¬ ſen ſeiner ausgekernten Stunden, als Puppenge¬ haͤuſe der ausgeflognen Freuden, als Gewandfall oder todte Hand, die der Erinnerung heimfaͤllt von den geſtorbenen Jahren ....
— — Sobald ich heute am Tage, der ſo lang war als dieſes Buch, mit dieſer Leichenbeſtattung fertig war: ſo gieng ich in die Nacht heraus, die ſo kurz iſt wie die des Lebens ... und hier ſteh 'ich unter dem Himmel und fuͤhl' es wieder wie alle¬ mal, daß jede uͤberſtiegne Treppe hienieden ſich zur Staffel einer hoͤhern verkuͤrzt und daß jeder er¬[kletterte] Thron zum Fußſchemmel eines neuen ein¬ ſchrumpft. — Die Menſchen bewohnen und bewe¬ gen das große Tretrad des Schickſals und glauben darin, ſie ſteigen, wenn ſie gehen .... War¬ um will ich ſchon wieder ein neues Buch ſchreiben und in dieſem die Ruhe erwarten, die ich im al¬ ten nicht fand? — — Ein buſchigter Felſen, der ſich uͤber einen Steinbruch buͤckt, haͤlt mich hiermit449mit meiner Schreibtafel, in der ich dieſes Buch zu Ende fuͤhren will, in der Nacht des Junius empor, den die Maler wie den Tod mit einer Senſe malen. — — Es iſt uͤber 11 Uhr; auf dem erloſchnen blauen Himmels-Ozean uͤber mir glimmt nur hier und da ein zitterndes Puͤnktchen — der Arkturus wirft aus Weſten ſeine kleinen Blitze auf ſeine Erden und auf meine, der große Baͤr blinkt aus Norden, und die Andromeda aus Oſten — der breite Mond liegt unter der Erde neben dem Mittage der neuen Welt — aber die eingeſunkne Abendroͤthe (dieſer bunte Sonnen-Schatte) beugt den Tagsſchimmer der neuen Welt gemildert in die alte herein und wirft ihn uͤber zehn uͤberlaubte Doͤrfer um mich und uͤber den ſchwarzen allein fort redenden Strom, dieſe lange Waſſeruhr der Zeit, die damit ein Jahrtauſend ums andre miſſet. — —
So jaͤmmerlich iſt der enge Menſch; wenn er ein Buch hinaus hat: ſo blickt er zu allen entleg¬ nen Sonnen auf, ob ſie ihm nicht zuſehen — be¬ ſcheidner waͤre es, er daͤchte, er werde bloß von Europa und deſſen indiſchen Beſitzungen bemerkt. — — Ich wuͤnſche nicht, daß mich hier ein Che¬ rub, ein Seraph oder nur ein Berggeiſt mit2. Theil. F f450meiner Schreibtafel und meinen Narrheiten gewahr werde. Mich ſehe lieber ein Menſch ſtehen und ſchreiben: der wird mild ſeyn und von ſeinem eig¬ nen Herzen lernen, die Schwaͤchen eines fremden tragen; der gebrechliche Menſch wird es fuͤhlen und vergeben, daß jeder das Neſt, worin er ſitzt und quiekt und welches das einzige iſt, woruͤber er mit Schnabel und H. hinausſticht, fuͤr den Fokus des Univerſums haͤlt, fuͤr eine Frontloge und Rotun¬ da, die ſaͤmtlichen Neſter aber auf den andern Baͤumen fuͤr die Wirthſchaftsgebaͤude ſeines Fokalneſtes: ... O ihr guten Menſchen! warum iſt es moͤglich, daß wir uns unter einander auch nur eine halbe Stun¬ de kraͤnken? — Ach in dieſer gefaͤhrlichen Dezem¬ ber-Nacht dieſes Lebens, mitten in dieſem Chaos unbe¬ kannter Weſen, die die Hoͤhe oder Tiefe von uns ent¬ fernt, in dieſer verhuͤlleten Welt, in dieſen beben¬ den Abenden, die ſich um unſer zerſtaͤubendes Erd¬ chen legen, wie iſt es da moͤglich, daß der ver¬ laſſene Menſch nicht die einzige warme Bruſt um¬ ſchlinge, in der ein Herz liegt wie ſeines und zu der er ſagen kann: „ mein Bruder, du biſt wie ich und leideſt wie ich und wir koͤnnen uns lieben. “— Unbegreiflicher Menſch! du ſammelſt lieber Dol¬451 che auf und treibeſt ſie, mitten in deiner Mitter¬ nacht, in die aͤhnliche Bruſt, womit der gute Him¬ mel deine waͤrmen und beſchirmen wollte! ... Ach ich ſchaue uͤber die beſchatteten Blumengruͤnde hin und ſage mir, daß hier ſechstauſend Jahre mit ih¬ ren ſchoͤnen hohen Menſchen voruͤber gezogen ſind, die keiner von uns an ſeinen Buſen druͤcken konnte — daß noch viele Jahrtauſende uͤber dieſe Staͤtte gehen und daruͤber himmliſche, vielleicht betruͤbte Menſchen fuͤhren werden, die uns nie begegnen, ſondern hoͤchſtens unſern Urnen und die wir ſo gern lieben wuͤrden — und daß bloß ein Paar arme Jahrzehende uns einige fliehende Geſtalten vorfuͤh¬ ren, die ihr Auge auf uns wenden und in denen das verſchwiſterte Herz fuͤr uns iſt, nach dem wir uns ſehnen. — Umfaſſet dieſe eilenden Geſtalten; aber bloß aus euren Thraͤnen werdet ihr wiſſen, daß ihr ſeid geliebet worden ....
— Und eben dieſes, daß die Hand eines Men¬ ſchen uͤber ſo wenige Jahre hinausreicht und daß ſie ſo wenige gute Haͤnde faſſen kann, das muß ihn entſchuldigen, wenn er ein Buch macht: ſeine Stimme reicht weiter als ſeine Hand, ſein enger Kreis der Liebe zerflieſſet in weitere Zirkel undF f 2452wenn er ſelber nicht mehr iſt, ſo wehen ſeine nach¬ toͤnende Gedanken in den papiernen Laube noch fort und ſpielen wie andre zerſtiebende Traͤume, durch ihr Gefluͤſter und ihren Schatten von manchem fer¬ nen Herzen eine ſchwere Stunde hinweg. — Die¬ ſes iſt auch mein Wunſch, aber nicht meine Hoff¬ nung: wenn es aber eine ſchoͤne weiche Seele giebt, die ſo voll ihres Innern, ihrer Erinnerung und ihrer Phantaſien iſt, daß ſie ſogar bei meinen ſchwachen uͤberſchwillt — wenn ſie ſich und ein vol¬ les Auge, das ſie nicht bezwingen kann, mit die¬ ſer Geſchichte verbirgt, weil ſie darin ihre eigne — ihre verſchwundnen Freunde — ihre voruͤberge¬ zognen Tage — und ihre verſiegten Thraͤnen wie¬ der findet: o dann, geliebte Seele, hab 'ich an dich darin gedacht ob ich dich gleich nicht kannte und ich bin dein Freund wiewol nicht dein Bekann¬ ter geweſen. Noch beſſere Menſchen werden dir beides ſeyn, wenn du den Schlimmern verbirgſt, was du jenen zeigſt, wenn das Goͤttliche in dir, gleich Gott, in einer hohen Unſichtbarkeit bleibet, und wenn du ſogar deine Thraͤnen verſchleierſt — weil harte Haͤnde ſich ausſtrecken, die gern ſie mit dem Auge zerdruͤcken, wie man nach dem Regen453 alle gruͤnen Spitzen des engliſchen Gartens nieder¬ ſchleift, damit ſie nicht weiter keimen ....
— Der helle Stern oder Thautropfe in der Aeh¬ re der Jungfrau faͤllt jetzt unter den Horizont — Ich ſtehe noch hier auf meiner blumigten Erde und denke: noch traͤgſt du auf deinen Blumen, alte gute Erde, deine Menſchenkinder an die Sonne wie die Mutter den Saͤugling ans Licht — noch biſt du ganz von deinen Kindern umſchlungen, behangen, bedeckt und, indeß Gefluͤgel auf deinen Schultern flattert, Thiermaſſen um deine Fuͤße ſchreiten, ge¬ fluͤgelte Gold-Punkte um deine Locken[ſchweifen], fuͤhreſt du das aufgerichtete hohe Menſchengeſchlecht an deiner Hand durch den Himmel, zeigeſt uns al¬ len deine Morgenroͤthen, deine Blumen und das ganze lichtervolle Haus des unendlichen Vaters und erzaͤhleſt deinen Kindern von ihm, die ihn noch nicht geſehen haben. — — Aber gute Mutter Er¬ de, es wird ein Jahrtauſend aufgehen, wo alle deine Kinder dir werden geſtorben ſeyn, wo der feurige Sonnen-Strudel dich in zu nahe verzehren¬ de Kreiſe an ſich wird gewirbelt haben: dann wirſt du verwaiſet, mit Stummen im Schoos, mit To¬ desaſche beſtreuet, oͤde und ſtumm um deine Son¬454 ne ziehen, es wird das Morgenroth kommen, es wird der Abendſtern ſchimmern, aber die Menſchen alle werden tief ſchlafen auf deinen vier Welt-Ar¬ men und nichts mehr ſehen .... Alle — werden es? — Ach dann lege eine hoͤhere troͤſtende Hand unſerem Mitbruder, der zuletzt entſchlaͤft, den letzten Schleier ohne Zoͤgern uͤber das einſame Auge ....
.... Das Abendroth ſchimmert ſchon in Nor¬ den — auch in meiner Seele iſt die Sonne hinun¬ ter und am Rande zucket rothes Licht und mein Ich wird finſter — die Welt vor mir liegt in einem feſten Schlafe und hoͤrt und redet nicht — es ſe¬ tzet ſich in mir zuſammen eine bleiche Welt aus Todtengebeinen — die alten Stunden ſtaͤuben ſich ab — es brauſet wie wenn an den Graͤnzen der Erde ei¬ ne Vernichtung anfienge und ich heruͤberhoͤrte das Zer¬ brechen einer Sonne — der Strom ſtockt und alles iſt ſtille — ein ſchwarzer Regenbogen kruͤmmt ſich aus Gewittern zuſammen uͤber dieſe huͤlfloſe Er¬ de. — —
— — Siehe! es tritt eine Geſtalt unter den ſchwarzen Bogen, es ſchreitet uͤber die Junius¬ blumen ungehoͤrt ein unermeßliches Skelet und geht455 zu meinem Berge heran — es verſchlingt Sonnen, erquetſcht Erden, tritt einen Mond aus und ragt hoch hinein in das Nichts — das hohe weiſſe Ge¬ bein durchſchneidet die Nacht, haͤlt zwei Men¬ ſchen an den Haͤnden, blickt mich an und ſagt: „ ich bin der Tod — ich habe an jeder Hand einen „ Freund von dir, aber ſie ſind unkenntlich. “
Mein Mund lag auf die Erde geſtuͤrzt, mein Herz ſchwamm im Gift des Todes — aber ich hoͤrt 'ihn noch ſterbend reden.
„ Ich toͤdte dich jetzt auch, du haſt meinen Na¬ „ men oft genennt und ich habe dich gehoͤrt — ich „ habe ſchon eine Ewigkeit zerbroͤckelt und greife in „ alle Welten hinein und erdruͤcke; ich ſteige aus „ den Sonnen in euren dumpfen, finſtern Winkel „ nieder, wo der Menſchen-Salpeter anſchießet „ und ſtreich 'ihn ab .... Lebſt du noch Sterbli¬ „ cher? “....
Da zergieng mein verblutetes Herz in eine Thraͤne uͤber die Qualen des Menſchen — ich rich¬ tete mich gebrochen auf und ſchauete nicht auf dies Skelet und auf das was es fuͤhrte — ich blickte auf zu dem Sirius und rief mit der letzten Angſt: ver¬ huͤllter Vater, laͤſſeſt du mich vernichten? ſind456 dieſe auch vernichtet? endigt das gequaͤlte Leben in eine Zerſchmetterung? ach konnten die Herzen, die zertruͤmmert werden, dich nur ſo kurz lie¬ ben? “
Siehe! da entfiel droben dem nachtblauen Himmel ein heller Tropfen ſo groß wie eine Thraͤ¬ ne und ſank wachſend neben einer Welt nach der andern vorbei — als er groß, und mit tauſend Farbenblitzen durch den ſchwarzen Bogen drang: ſo gruͤnte und bluͤhte dieſer wie ein Regenbogen und unter ihm waren keine Geſtalten mehr — und als der Tropfen groß-glimmend wie eine Sonne auf fuͤnf Blumen lag: ſo uͤberfloß ein irrendes Feuer die gruͤne Flaͤche und erhellete einen ſchwarzen Flor, der ungeſehen die Erde umfaſſet hatte — der Flor zog ſich ſchwellend auf zu einem unendlichen Zelte und riß von der Welt ab und fiel zu einem Leichen¬ ſchleier zuſammen und blieb in einem Grabe — da war die Erde ein tagender Himmel, aus den Ster¬ nen ſtaͤubte ein warmer Regen von lichten Puͤnktgen nieder, am Horizont ſtanden weiſſe Saͤulen auf¬ gepflanzt — von Weſten her walleten kleine Wolken heruͤber, perlen-hell, gruͤnlich-ſpielend, roth-gluͤ¬ hend und auf jeder Wolke ſchlief ein Juͤngling und457 ſein Athem-Zephyr ſpielte mit dem rinnenden Duf¬ te wie mit weichen Bluͤthen und wiegte ſeine Wol¬ ke — die Wogen eines lauen Abendwindes ſpuͤhlten an die Wolken an und fuͤhrten ſie — und als eine Welle in meinen Athem floß, ſo wollt 'in ihr mei¬ ne Seele dahin gegeben in ewige Ruhe auseinan¬ der rinnen — weit gegen Weſten erſchuͤtterte eine dunkle Kugel ſich unter einem Gewitterguß und Sturm — von Oſten her war auf meinen Boden ein Zodiakallicht wie ein Schatten hingeworfen ....
Ich wandte mich nach Oſten und ein ruhig¬ großer, in Tugend ſeliger, wie ein Mond aufge¬ hender Engel laͤchelte mich an und fragte: „ kennſt du mich? — Ich bin der Engel des Friedens und der Ruhe und in deinem Sterben wirſt du mich wieder ſehen. Ich liebe und troͤſte euch Menſchen und bin bei eurem großen Kummer — wenn er zu groß wird, wenn ihr euch auf dem harten Le¬ ben wundgelegen: ſo nehm 'ich die Seele mit ih¬ ren Wunden an mein Herz und trage ſie aus eu¬ rer Kugel, die dort in Weſten kaͤmpft, und lege ſie ſchlummernd auf die weiche Wolke des Todes nieder. “
458Ach! ich kenne einige ſchlafende Geſtalten auf dieſen Wolken! ...
„ Alle dieſe Wolken ziehen mit ihren Schlaͤfern nach Morgen — und ſobald der große gute Gott aufgeht in der Geſtalt der Sonne: ſo wachen ſie alle auf und leben und jauchzen ewig. “
O ſiehe! die Wolken gen Oſten gluͤhen hoͤher und draͤngen ſich in Ein Glut-Meer zuſammen — die ſteigende Sonne nahet ſich — alle Schlummern¬ den laͤchelen lebendiger aus dem ſeeligen Traum dem Wachen entgegen —
O ihr ewig geliebten kenntlichen Geſtalten! wenn ich in eure großen himmelstrunknen Augen wieder werde ſchauen koͤnnen ... –
Ein Sonnenblitz ſchlug empor — Gott ruhte flammend vor der zweiten Welt — alle geſchloſſene Augen fuhren auf. — —
Ach! auch meine: bloß die Erdenſonne gieng auf — ich klebte noch auf der ſtreitenden Abend - Kugel — die kuͤrzeſte Nacht war uͤber meinen Schlummer voruͤbergeeilet als waͤre ſie die letzte des Lebens geweſen.
Es ſei! aber heute richtet ſich mein Geiſt auf mit ſeinen irdiſchen Kraͤften — ich erhebe meine459 Augen in die unendliche Welt uͤber dieſem Leben — mein an ein reineres Vaterland geknuͤpftes Erden¬ herz ſchlaͤgt gegen deinen Sternenhimmel empor, Unendlicher, gegen das Sternenbild deiner graͤnzenloſen Geſtalt, und ich werde groß und ewig durch deine Stimme in meinem edelſten Innern: du wirſt nie vergehen. — —
Und ſo wer mit mir ſich einer Stunde erin¬ nert, wo ihm der Engel des Friedens erſchien und ihm theuere Seelen aus der irdiſchen Umarmung zog, ach wer ſich einer erinnert, wo er zu viel verlohr — der bezwinge das Sehnen und ſehe mit mir feſt zu den Wolken auf und ſage: ruhet im¬ merhin auf eurem Gewoͤlke aus, ihr entruͤckten Geliebten! Ihr zaͤhlt die[Jahrhunderte] nicht, die zwiſchen eurem Abend und eurem Morgen ver¬ fließen, kein Stein liegt mehr auf eurem bedeckten Herzen als der Leichenſtein und dieſer druͤcket nicht, und euer Ruhen ſtoͤhret nicht einmal ein Gedan¬ ke an uns ....
Tief im Menſchen ruht etwas unbezwingliches, das der Schmerz nur betaͤubt, nicht beſiegt — dar¬ um dauert er ein Leben aus, wo der beſte nur Laub traͤgt, darum wacht er[feſt] die Naͤchte dieſer weſtli¬460 chen Kugel hinaus, wo geliebte Menſchen uͤber die liebende Bruſt in ein weit entlegenes Leben wegzie¬ hen und dem jezigen bloß das Nachtoͤnen der Erin¬ nerung hinterlaſſen, wie durch Islandes ſchwarze Naͤchte Schwaͤne als Zugvoͤgel mit den Toͤnen von Violinen fliegen — — du aber, den die zwei ſchlafenden Geſtalten geliebt und in dem ſie mir ihren und mei¬ nen Freund zuruͤck gelaſſen, du mein mit ewiger Hochachtung geliebter Chriſtian[ Otto], bleibe hienieden bei mir!
Gedruckt bei Johann Friedrich Unger.
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30 2 l. Diſſeminazion ſt. Diſſemation
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58 5 l. fourniert ſt. founiert
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