Die Bruͤder — Wina.
Seelige, heilige Tage, welche auf die Verſoͤh¬ nungsſtunde der Menſchen folgen! Die Liebe iſt wieder bloͤde und jungfraͤulich, der Geliebte neu und verklaͤrt, das Herz feiert ſeinen Mai und die Auferſtandenen vom Schlachtfelde begreifen den vorigen vergeſſenen Krieg nicht.
Schlachten heitern den bezognen Himmel auf; beide Bruͤder ſtanden nach der ihrigen im hellſten Wetter da und ſahen ſich und alles ſchoͤn beleuchtet. Walt, der nichts war als Lieben und Geben, wuſte jezt gar nicht, wie er beides noch zaͤrter, noch waͤrmer gegen ſeinen Bruder ſein koͤnnte; denn er trachtete nach dem hoͤchſten Grade; die Narben der kleinen Gewiſſensbiſſe brannten ihn noch ein wenig und die Thraͤnen des ſonſt duͤrren Vults hatt 'er in ſeiner Seele aufgehoben. Vult ſtand ſelber als ein Menſch mit neuen Melodien aus dem Kanon der Liebe da. Ob er dieſe gleich mehr durch Thaten alsFlegeljahre III. Bd. 12durch Zeichen wirken lies, ſo war ſie doch zu ſe¬ hen; ſein haͤufiges Kommen, ſein Nachgeben, ſeine Milde, ſeine Helfbegierde, und bei dem Abſchiede — wenn er eben ſchnell genug die Trep¬ pe und Unſichtbarkeit erwiſchen konnte — oft ſein Bruder-Kuß verriethen ſein Inneres. „ Nie¬ mand, ſagte einſt Walt zu ihm, kann ruͤhrender ausſehen als du, wenn du eben die Milde in dei¬ ne Feueraugen bringſt; ſo kamen mir immer die Sparter vor, wenn ſie mit ihren Floͤten auf das Schlachtfeld zogen. “— „ Es muß mir freilich laſſen, ſagte er, als wenn ein Seehund Mama ſagt*)Nach Bechſtein lernt er Worte Papa ꝛc. mur¬ meln. , ja ich moͤchte es faſt einen leiſen pianen Sturmwind nennen. Aber ernſthaft zu ſprechen, ich bin jezt noch bei Konzert-Geld und deswe¬ gen ein gutes frohes Lamm; mein Leben iſt ein Buch voll geſchlagnen Golds, die Blaͤtter ſind ſo weich und ſo beweglich, freilich Gold-Blaͤt¬ gen auch, mein Kind! “
Walt nahm ſolche Reden gar nicht uͤbel. Soweit indeß auch Vult das Lieben trieb — da er3 ſich fuͤr den naͤchſten und lachenden Thron-Er¬ ben des abgegangenen Freund-Grafens anſe¬ hen konnte — ſo merkte er doch, daß er darin ſeinen Bruder nur bezahle, nicht beſchenke und daß dieſer ihm ſtets um einen warmen Tag vor¬ aus war.
Einſt hoͤrte Vult von ſeinem Klingeldrath — er hieß eine ganze Maͤdgen-Penſion ſo — die ganze heftige Schutzrede wieder, womit der ſanf¬ te Walt gerade in der Liebes-Pauſe fuͤr ihn ge¬ gen ſeine Antipathetiker an Neupeters Tafel auf¬ getreten war. Walt hatte ihm nicht ein Wort da¬ von geſagt — wiewohl aus Liebe, nicht blos gegen den Bruder, ſondern auch gegen alle Welt, ſo wie er aus doppelter Liebe das Kabelſche Teſtament, das den Bruder ein wenig beleidigen konnte, zu zeigen verweigerte. Vult druͤckte ihm beim Eintritt im Feuer der Liebe beide Achſeln und machte ſolchem dadurch Luft, daß er die Neupeter'ſchen ſcherzend handhabte. Aber er traf die falſche Zeit, wo Walt am Hoppelpop¬ pel ſchrieb und den Schreib-Arm allen fuͤnf Welttheilen liebend, fuͤhrend bot und wo er ſo4 ſehr an den verlornen Klothar dachte, weil er eben im Buch Freudenfeſte findender und ge¬ fundner Seelen begieng. Mit eigner wehmuͤthi¬ ger Freude ſchrieb er jezt daran unter dem Be¬ trauern des abgeſtorbenen Freundes, ſo wie ſonſt mit Schmerzen unter dem Nachjagen nach ihm; und wunderte ſich uͤber den Unterſchied.
Der ſchoͤne Begeiſterungs-Mittag bei Neu¬ peter, auf welchen ihn Vult durch ſeinen Dank zuruͤckfuͤhrte, ſtellte ihm den Grafen zu nahe wieder an die Bruſt; er bekannte es dem Bru¬ der ganz offen, wie ihm der Ferne mit ſeinem ausgeleerten Daſein und mit der verlornen Wina immer in dem Kopfe liege und ſo ſchwer auf der Bruſt — wie er ihn einſam in dem zugeſperr¬ ten Wagen ſitzen und zuruͤckdenken ſehe — wie ihn ein ſolcher aus ſeinem Himmel in einen Kaͤ¬ fig getriebene Adler erbarme und wie darum keine Marter bitterer auf der Erde gefunden werde, als das Bewuſtſein, einem edlen Geiſt irgend eine zugefuͤhrt zu haben. O Vult, troͤ¬ ſte mich nur recht, wenn du kannſt — ſagt er bei dem heftigſten Ausbruch — Mein unſchul¬5 diger Wille troͤſtet mich wenig. Wenn du zu¬ faͤlligſt, ohne boͤſe Abſicht, ja in der beſten viel¬ mehr, durch einen der Hoͤlle entflognen Funken ein Krankenhaus, oder ein unſchuldiges Schwei¬ zerdorf oder ein Haus voll Gefangner angezuͤndet haͤtteſt, und du ſaͤheſt die Flammen und darauf die Gerippe: ach Gott, wer haͤlfe dir? “
„ Mir die kalte Vernunft und dir ich, (ſagt 'er, aber ohne Groll.) Denn ich werde mich bei der Maͤdchenpenſion hart neben mir an nach den naͤhern Umſtaͤnden erkundigen. Als ich noch im Erblinden ſtand, ſaß ich jeden Abend druͤben, es iſt die ſchnelleſte Wiener Klapperpoſt, die mir noch vorgekommen, da ſie manche Sachen ſchon liefert, indem ſie noch geſchehen. — Der Graf wird nicht wie du durch Zufaͤlle entſchuldigt fuͤr ſeine niedrigen Vorausſetzungen uͤber das Leſen und Uebergeben des Briefs; er macht' es ganz nach Art der Großen und der galliſchen Tragi¬ ker, die, um etwas zu erklaͤren, lieber die groͤſte Suͤnde als eine kleine annehmen, lieber eine Blutſchande als Unkeuſchheit. “ Der Notar ge¬ ſtand, Klothars Verſuͤndigung erleichtere die Laſt6 der ſeinigen; blieb aber bei ſeinem Gefuͤhl. In der Geſellſchaft kann man einen Menſchen leich¬ ter herabſetzen als hinauf; bei Walt umgekehrt. Vult gieng und verſprach, bald wieder zu kommen.
Eines Nachmittags huͤpfte Flitte, deſſen Tanzſaal die ganze Stadt war, in Walts Stuͤb¬ gen. Er war gewohnt, an jedem Orte ſo viele und gute alte Bekannte zu zaͤhlen als Einwohner darin waren; daher ſchlug er den zur Volks¬ menge gehoͤrigen Notar ohne Umſtaͤnde zur Freundes-Menge. Dieſer glaubte gern, er kom¬ me ſeinetwegen und wurde durch die Freude und die Angſt, einen ſolchen Weltmann zu beherber¬ gen, etwas auſſer ſich gebracht. Sein Ich fuhr aͤngſtlich oben in allen vier Gehirnkammern und darauf unten in den beiden Herzkammern wie eine Maus umher, um darin ein ſchmackhaftes Ideen-Koͤrngen aufzutreiben, das er dem El¬ ſaſſer zutragen und vorlegen koͤnnte zum Imbis. Er fand wenig, was dieſem ſchmeckte, aber der Elſaſſer hatte auch keinen Hunger und keine Zaͤhne. Gelehrte Studierſtuben-Saßen, welche7 die ganze Woche, Tag aus Tag ein, im Ban¬ quet und Pikenik der feinſten, reizendſten Ideen und Gerichte aus allen Weltaltern und Welt¬ theilen ſchwelgen, bilden ſich gar zu leicht ein, daß der Welt - und Geſchaͤftsmann verdruͤslich und trocken bei ihnen werde, wenn ſie ihn nicht immer heiß und fett mit Ideen uͤbergießen am Bratenwender des Geſpraͤchs, indeß der Ge¬ ſchaͤftsmann ſchon zufrieden geſtellt waͤre, wenn er ſaͤße, und der Weltmann, wenn er am Fen¬ ſter ſtaͤnde, oder vernaͤhme, daß die Markgraͤfin geſtern bei Tafel unmaͤßig genießet und daß der Baron von Kleinſchwager, deſſen Namen er gar nie gehoͤrt, dieſen Morgen blos durchpaßirt, oh¬ ne anzuhalten. Gelehrten kann das ſchwerlich zu oft vorgeſtellt werden; ſie ziehen ſonſt immer einen Proviant-Wagen fuͤr die Geſellſchaft mit mehreren oder wenigern Gedanken nach oder gar mit Witz. Rechte gewoͤhnliche und doch befrie¬ digende Unterhaltung iſt allgemein unter den Menſchen die, daß einer das ſagt, was der andere ſchon weiß, worauf dieſer aber etwas verſezt, was jener auch weiß, ſo daß jeder ſich8 zweimal hoͤrt, gleichſam ein geiſtiger Doppelt¬ gaͤnger.
Mit Flitten, der ſo leer an Realien war, als Gottwalt an Perſonalien, konnte dieſer we¬ nig anfangen. Indeß ſprach, ſang und tanzte der Elſaſſer ſo gut es gieng, trat oft ans Fen¬ ſter, und oft ans Buͤcherbret und ſuchte daruͤber etwas zu ſagen, weil er gern von jedem, mit dem prahlte, was jeder eben war. Einige Men¬ ſchen ſind Klaviere, die nur einſam zu ſpielen ſind, manche ſind Fluͤgel, die in ein Konzert gehoͤren; Flitte konnte nur vor vielen reden; und blieb im Duett faſt zu dumm.
Als endlich der gute Notar an der Lang¬ weile, die er zu machen glaubte, ſelber eine fand — denn im Geſpraͤch, wie im Pharao, iſt erwie¬ ſen der Gewinn (des Vergnuͤgens wie des Gel¬ des) nie groͤßer als der Einſaz von beiden: ſo ſtudirte er am Elſaſſer heimlich den Franzoſen, (denn Elſas, ſagt 'er, iſt doch franzoͤſiſch genug) und goß ihn im Vorbeigehen ab, fuͤr den Abgu߬ ſaal ſeines Romans und hob ihn auf.
Unter dem Gießen macht 'er ploͤzlich das9 Fenſter zu und eine Verbeugung in den Garten durchs Glas hinaus, weil ihn Raphaela, welche drunten neben Wina der Veſperſonne entgegen¬ gieng, mit zuruͤckgewandtem Kopfe leicht gegruͤſ¬ ſet hatte. — Da flog Flitte herbei. Raphaela drehte ſich, blickte ſchnell noch einmal um und erkannte nun dieſen. Wina gieng langſam und wie ſchwere Schmerzen tragend darneben, den Kopf nach der Abendſonne gehoben, und das Schnupftuch mehrmals in die Augen druͤckend. Raphaela ſchien heftig zu ſprechen und einzu¬ dringen und ordentlich an jeder nebligen Lebens - Stelle verborgnen tiefen Thraͤnen-Quellen nach¬ zugraben.
Walt vergas ſich ſo, daß er laut ſeufzete. „ Ich glaube nur, ſetzt 'er gemaͤſſigter hinzu, daß die gute Generals Tochter weint. “— „ Drun¬ ten? fragte Flitte kalt. So iſts in Verzweiflung uͤber den eingebuͤßten Grafen; denn ſie kann ſei¬ nen Verluſt nicht uͤberleben. Ein andermal! — a revoir, ami! “ So flog er in den Garten hinab.
Walt ſetzte ſich nieder, ſtuͤtzte den Kopf auf10 die Hand, die ſeine Augen zudekte, und hatte ei¬ nen langen reinen Schmerz. Er war nicht im Stand, das liebliche Angeſicht des ſchoͤnen Maͤd¬ gens oder deſſen Leiden zu behorchen mit Blicken, wenn ſie den Garten herwaͤrts kam. Er erſchrack vor der erſten Stunde, wo er bei ihrem Vater ko¬ pieren und ihr aufſtoſſen koͤnnte. Die unterge¬ hende Sonne waͤrmte ihn endlich muͤtterlich aus dem Winterſchlafe der boͤſen Stunde auf. Der Garten war leer; er gieng hinunter. Er wußte nicht, was er drunten wollte. Im Gebuͤſch flat¬ terte ein halb zerriſſenes feines Brief-Papierblatt. Er nahm es, es war von weiblicher Hand und enthielt eine aus einem fremden Briefe kopierte Stelle, wie er aus den ſogenannten Gaͤnſefuͤſſen erſah. Ein halbes Blatt, ein entzweigeſchliztes, eine Kopie eines zweiten Briefes — einen erſten haͤtt’ er nie geleſen — konnt 'er wohl anſehen und leſen:
„ „ — Blumen entzwei. Glaub 'es mir. O wie leicht und froh verſchmerzt man eignen Schmerz! Wie ſo ſchwer den fremden, den man, wiewohl ſchuldlos und gezwungen, hergefuͤhrt! 11Wie kann ein Weſen, das doch auch ein ſchlagen¬ des Herz hat, ganze Voͤlker weinen laſſen, wenn ſchon der erſte Ungluͤckliche, den man machen muͤſ¬ ſen, ſo wehe thut? Verbirg und verſchweige aber meine Klage gewiſſenhaft, damit ſie nicht meinen Vater quaͤle, der ſo leicht alles erfaͤhrt! Doch du thuſt es ohnehin. Indeſſen ſteht mein Entſchluß ſo feſt als je; nur will ich ihn bezahlen durch Schmerzen. Ich kann jezt nichts thun als leiden und beſſer werden, ich gehe haͤufiger in die Kir¬ che, ich ſchreibe oͤfter an meine Mutter, ich bin gefaͤlliger gegen meinen Vater, gegen jede Menſchen - Seele. Denn es gehoͤrt ſich, daß ich, da mir die Kirche befiehlt, Freuden zu nehmen, es anders¬ wo einbringe, wo ſie es erlaubt, einige zu ver¬ mehren. Meine haben laͤngſt aufgehoͤrt und fruͤ¬ her als ich Ihn verloren. — O ſei du gluͤcklich, meine liebe Raphaela! “— Daraus kannſt du ſe¬ hen, Schoͤnſte, wie dieſe Wunde meiner W. mein zu weiches Herz zerdruͤcken muß. Leb' wohl! Das goldne Herz, wenn du es nicht ſchon beim Schmidt beſtellet haſt, muß durchaus drei Loth wiegen. Den Haſenbrecher und das Armband hat meine Mutter bekommen. Deine Raphaela.
12Walt wurde unter dem Leſen aus ſeinem Fen¬ ſter namentlich gerufen von Vult mit den freudig¬ ſten Minen; er las es unterwegs gar aus. „ Du kennſt, fieng jener luſtig an, meine euſtachiſche Fama's Trompete? — Naͤmlich meine kumaͤiſche Sybille der Vergangenheit? Das heiſſet meine Miethfackel? — Himmel, verſteheſt du mich noch nicht? Ich meine meine hiſtoriſche Oktapla und 8 partes orationis (denn ſo viele Maͤdgen ſinds)? Zum Henker, die Schnapwaiſe? Die Penſion naͤmlich! Von dieſer nun erfahr 'ich eben folgendes aus reinſter Quelle, weil der Ge¬ neral, der ſie zuweilen beſucht, ihr, wie alle Neu¬ gierige, eben ſoviel vorerzaͤhlt als abhorcht.
Genau genommen iſts die Dogareſſa und Di¬ rektrice der Maͤdgen, die dem General fuͤr ein paar Neuigkeiten und Hoͤflichkeiten gerade ſoviel Toͤchterſeelen opfert, als mir referiren, 8. Es war vorgeſtern, daß der General ſein Wiegenfeſt begieng, und nach ſeiner Sitte das h. Abendmal vor ſeinem Mittagsmal nahm und darauf der Seelen-Arzenei viel nachtrank. Die Tochter muß13 allemal mit beichten. Ich weiß nicht, ob du viel mit ausſchweifenden Groſſen umgegangen, zu welchen Moͤnche am leichteſten ſagen wie zu Hun¬ den: faites la belle, fuͤr welche der Ohren¬ beicht-Stuhl das Abſonderungsgefaͤs ihres geiſti¬ gen Uebertrunks und Ueberfraſſes iſt, und welche, wie der Norden, ihre Bekehrung den Weibern ver¬ danken, willſt du anders Ludwigs 14. lezten Stunden glauben. Kurz der General mag ſo et¬ was ſeyn. An ſeinem Geburts - und Beicht-Tage liebt 'er von jeher ſeine Tochter ganz beſonders, weil er eine Art Taufwaſſer — um zwei entlegne Sakramente durch Fluͤſſigkeiten zu vereinen — den ganzen Tag unter der Gehirnſchaale dem Kopfe aufgieſſet. Er hat uͤberhaupt das Gute, daß er aufrichtig gut gegen ſie iſt; er ſieht ihr ſogar nach, daß ſie der ihm verhaßten proteſtantiſchen Mutter in Leipzig anhaͤngt. Da er nun ſo den ganzen Tag mit ſeiner Beicht - und Vater-Tochter beiſammen bleibt: ſo trinkt und weint er ſehr. Er foderte jezt Rechenſchaft von ihr, warum ſie noch ſo trauerte, daß ſie faſt den Grafen mehr zu lie¬ ben ſchiene als ihren Gott und die h. Kirche und14 ihren Vater. Sie antwortete heftig: das ſei es am wenigſten; ſogar dem Kirchenrathe Glanz, der oͤfters mit ihr uͤber den heil. Glauben geſpro¬ chen, habe ſie nur hoͤflich zugehoͤrt; den Grafen aber nicht mehr geliebt als jeden guten Men¬ ſchen. “ Zablocki fragte erſtaunt, warum ſie ihn bei ihrer Freiheit der Wahl, doch heirathen wol¬ len? „ Ich dachte, ſagte ſie, ich koͤnnt' ihn viel¬ leicht zu unſerer Religion durch rechtes Aufopfern bringen. “ Walt! einen Philoſophen bekehren! Tauft und tonſurirt lieber eine Peruͤcke! —
Der General laͤchelte und weinte zugleich vor Luſt, lief aber immer mehr auf das weiche zarte Weſen Sturm, ſtieg ins ofne Herz und holte ſich das zweite Geheimnis. Sie hofte naͤmlich ihrer abgeſchiedenen proteſtantiſchen Mutter (und wohl dem verſchuldeten Vater) zu Zeiten ein Kopfkiſſen aus dem reichen Ehebette zuzuwerfen; geſtand es es aber ohne Metaphern. Da konnte ſich der trunkene Vater nicht enthalten, zu ſchwoͤren, ihm ſolle lieber ein Traubenſchuß in den Magen fahren, oder ſein Warſchauer Prozeß verloren ge¬ hen, woll 'er je einem ſolchen ſeelentreuen Kinde15 etwas abſchlagen oder aufdringen. Und ſo wei¬ ter! Biſt du getroͤſtet? “—
Walt ſchwieg; Vult bat ihn um das zerriſ¬ ſene Blatt in ſeiner Hand. Er las es froh und fand darin ſeinen Bericht beſiegelt, und machte ſeinen Spas uͤber Raphaelens weibliche Weiſe, Herz und Waͤſche, Groͤſtes und Kleinſtes in ein¬ ander zu ſtecken. Aber Walt ſagte, eben das, ſo wie ihr Erzaͤhlen, beweiſe, daß die Weiber mehr epiſch ſeyen, die Maͤnner hingegen lyriſch.
Ein Laͤufer Zablockis kam hinein und melde¬ te, er ſolle morgen um 4 Uhr erſcheinen zum be¬ wußten Kopieren. Er verbarg muͤhſam den gan¬ zen Abend die Staͤrke ſeiner Bewegungen.
Kopierſtunde.
Um 4 Uhr erſchien Walt vor dem General, der wie gewoͤhnlich, laͤchelnd den Blauaͤugigen aufnahm. Vergeblich hatte er vor einer Erinne¬ rung an den Brief oder einer Erſcheinung der Ver¬ faſſerin gezagt. Zablocki gab ihm die namenlo¬16 ſen oder nur taufnamigen Briefe auf dem ſchoͤn geaͤderten Sekretair ſamt Schreibbefehlen und gieng davon. Mit ſo ſehr ausgeſuchten End-Lettern oder Final-Schweifen, als nur je aus Paris ver¬ ſandt werden nebſt viel ſchlimmern Polaritaͤten, z. B. Robespierriſchen Schweifen, Culs de Paris, — kopierte der Notar und ſah ſich ſpaͤt um.
Das ſchoͤne Kabinet war von den Tapeten zu einer Blumenlaube gemalt, aber voll Blumen¬ duͤfte, die aus einer wahren kam und voll gruͤner Daͤmmerung. Die Jalouſie-Gitter waren vor¬ gezogen, fuͤr ihn ein gruͤner Schleier eines blen¬ denden Tags; ſogar im Winter gruͤnte ihn dieſes Blaͤtter-Skelet der vertrokneten bunten Zeit wie ein Zauber an. „ In dem nahen Wand-Schrank haͤngt — ſagt 'er zu ſich — Winas himmelblaues Kleid, denk' ich. Wie auf einer ſanftwallenden Wolke ſaß er, und ſchrieb oft eine briefliche Wen¬ dung ab, die ſich fuͤr ſeine Lage ſehr gut ſchickte. Es wiegt 'ihn auf und nieder, daß er ſich doch mit Ihr, mit derjenigen in Einer Zimmer-Ebene, unter Einem Dache befand, mit welcher er das Trauerband derſelben Schmerzen trug und die ihm17 nach dem Untergang der Freundſchaftsſonne als ſtiller Liebes-Heſperus fortſchimmerte.
Er kopierte mit geſpizten Ohren, weil er (nicht ohne alle Hoffnung) in der Furcht daſaß, daß Wina gar in's Kabinet und an einen oder den andern Sekretair fliege, den hoͤlzernen oder den lebendigen. Indes kam nichts. Er uͤberleg¬ te ſehr, ob er nicht in den Wandſchrank einbre¬ chen und das himmelblaue Kleid als den blauen Aether der fernen Sonne leicht anruͤhren ſollte mit Hand oder mit Mund — als der General ein¬ trat, ihn erſchreckte und das Kopieren pries und ſchlos.
So gluͤcklich gieng die Schreibſtunde, und die Gefahr, Wina zu ſehen, voruͤber, und er wankte heim mit einem Kopfe, der ſich ein wenig im Herzen vollgetrunken hatte.
Auf den Thurmknoͤpfen und Parke-Gipfeln lag noch ſuͤßes rothes Sonnenlicht und wekte zu¬ gleich das Sehnen und Hoffen der Menſchen in und außer Haslau.
Er kopierte den zweiten Tag, ſtets mit der¬ ſelben Angſt, daß Wina die Thuͤre aufmache. Flegeljahre III. Bd. 218Der dritte aber — wo wieder nichts kam — mach¬ te ihn, wie jeden Krieger die Zeit, ſo muthig und ſo zum Mann am vierten, daß er in der That ſich ſehnte nach Gefahr. Ganze Naͤchte mußte jezt das fromme Maͤdgen vor ſeiner Seele ſtehen — er hatte dabei ſeinen ewigen Fruͤhling blos weil er einen Plan nach dem andern entwarf und verwarf, wie er noch jezt, um die Folgen des ofnen Briefs zu verguͤten, etwan durch die Sanfte fuͤr den Grafen wirken koͤnnte. Es wollte ihm aber nie etwas Bedeutendes einfallen.
Am 4. Tage hoͤrt 'er unter dem Abſchreiben einer ſchoͤnen erotiſchen Geſtikulation im Briefe, eine weibliche Singſtimme, die, obwohl aus dem dritten Zimmer, doch eben ſo gut aus dem dritten Himmel kommen konnte. Er kopierte feurig wei¬ ter; aber eine Sonnenſtadt nach der andern er¬ baueten in ihm dieſe Orpheus-Toͤne und die Fel¬ ſen des Lebens tanzten nach ihnen. Er erinnerte ſich noch recht gut, was ihm Vult uͤber Winas Singen geſchrieben. Als er darauf unter dem Heimgehen dieſelbe Stimme fortſingend vor ſich mit einer Schachtel unter dem Arm auf der Treppe19 ſah und auf jeder Staffel erſtaunte und nach¬ dachte: ſo macht' es ihm das ſchlechteſte Vergnuͤ¬ gen von der Welt, dieſe Stimme auf der Gaſſe zu einer andern ſagen zu hoͤren, ihre Fraͤulein — denn es war die Puzjungfer — komme erſt naͤch¬ ſten Freitag aus Elterlein zuruͤck — — er ſpuͤrte ordentliches Sehnen, einmal in ſeinem Geburts¬ oͤrtlein zu ſeyn, und aus der ſo heiſſen Stadt her¬ auszukommen.
Himmel, ſchlos er indes, wenn ſchon dieſe Puzjungfer Karyatide der fernen Goͤttin ſo ſingt, wie muß erſt dieſe glaͤnzen, ſowohl im Geſang als ſonſt! Er wurde unendlich begierig, einem Wiederſcheine der heiligen Nachbarſchaft Winas ins Geſicht zu ſehen, uͤberhaupt einer Perſon, de¬ ren goͤttlichen Geiſt der Toͤne er hinter ihr gehend anbetete, kurz der Soubrette. Denn er glaubte laͤngſt, eine erſte Saͤngerin ſei gewis nicht die lezte Monatsheilige oder eine Sirene; und eine baby¬ loniſche Hetaͤre behalte keine Stimme, geſezt ſie haͤtte eine beſeſſen; eine Meinung, die gutmuͤthige Weltleute mehr ſeiner Unbekanntſchaft mit Buͤhne und Welt zuſchreiben ſollten als ſeiner Dummheit.
20Er mochte kaum drei ſchnellere Schritte ge¬ than haben, um ihr vorzukommen: als er drei Fluͤche und ein Kothwort vernahm. Er drehte ſich heftig um, mit der glaͤnzenden Ordenskette in Haͤnden, die er der anſcheinenden Ordensſchwe¬ ſter der Sklavinnen der Tugend vom Sing-Halſe geriſſen; und in einer dunkeln Allee der Stadt ließ er Thraͤnen fallen, daruͤber, daß eine ſolche rauhe Seele eine Singſtimme beſitze, und daß ſie der heiligen ſo nahe wohne. Hoch aber zog Wi¬ nas Geſtalt in ihrem glaͤnzenden Wolkenhimmel weiter; und ihm war, als koͤnne nur ein Tod ihn, wie zu Gott, ſo zur Goͤttin bringen.
Traͤumen — Singen — Beten — Traͤumen.
Am Freitage darauf, wo Wina wiederkom¬ men ſollte, ſprang er, ohne an ſie zu denken, ſo innig-vergnuͤgt aus dem Bette in den Tag, als waͤr's ein Brauttag. Er wußte keinen Grund als daß er die ganze Nacht einen immer zuruͤkflattern¬ dern Traum geſehen, wovon er kein Bild und21 Wort und nichts behalten, als einige anonyme Seligkeit. Wie Himmelsblumen werden oft Traͤu¬ me durch die Menſchennacht getragen, und am Tageslicht bezeichnet nur ein fremder Fruͤhlings¬ duft die Spuren der verſchwundenen.
Die Sonne blizte ihm reiner und naͤher, die Menſchen ſah er wie durch einen Traum der Trun¬ kenheit ſchoͤner und werther gehen, und die Quel¬ len der Nacht hatten ſeine Bruſt mit ſo viel Liebe vollgegoſſen, daß er nicht wußte, wohin er ſie leiten ſollte.
Zu Papier ſucht 'er ſie anfangs zu bringen, aber kein Strekvers und kein Kapitel gelang. Er hatte einen Tag wie nach einer vertanzten Nacht, man will nichts machen als hoͤchſtens Traͤume, und auch nichts anderes haben — alles ſoll ſanft ſeyn, ſogar die Freude — ſie ſoll nicht mit Wind¬ ſtoͤſſen an den Fluͤgeln reiſſen, ſtill ſollen die aus¬ geſtrekten Schwingen das duͤnne Blau durchſchnei¬ den und durchſinken — nur Abendlieder will der der Menſch ſogar am Morgen, aber kein einziges Kriegslied, und ein Flor, aber ein hellgefaͤrbter, bezieht und daͤmpft die Trommel des Erden - Tobens.
22Walt konnte nichts anders machen — „ nur heute kein Inſtrument, das gebe Gott! “wuͤnſch¬ te er — als einen Spaziergang in das Van der Kabelſche Hoͤlzgen, das er einſt erben kann, und wo er den entfremdeten Grafen zum erſtenmale auf der Erde geſehen. Um ihn flogen, giengen, ſtanden Traͤume aus tiefen Jahrhunderten — aus Bluͤten - und Blumenlaͤndern — aus Knabenzei¬ ten — ja ein Traͤumgen ſaß und ſang im ſpan¬ nenlangen gruͤnen Weihnachts-Gaͤrtgen der Kind¬ heit, das ſich der kleine Menſch auf vier Raͤdern am Faden nachzieht. Siehe da bewegte vom Him¬ mel ſich ein Zauberſtab uͤber die ganze Landſchaft voll Schloͤſſer, Landhaͤuſer und Waͤldgen, und verwandelte ſie in eine bluͤtendicke Provence aus dem Mittelalter. In der Ferne ſah er mehrere Provenzalen aus Olivenwaͤldern kommen — ſie ſangen heitere Lieder in heiterer Luft — die leich¬ ten Juͤnglinge zogen voll Freude und voll Liebe mit Saitenſpielen in die Thaͤler vor hohe goldbedekte Burgen auf fernen Bergſpitzen — aus den engen Fenſtern ſahen ritterliche Jungfrauen herunter — ſie wurden herabgelockt, und lieſſen in den Auen23 Zelte aufſpannen, um mit den Provenzalen ein Wort zu reden (wie in jenen Zeiten und Laͤndern, wo die Erde noch ein leichtes Luſtlager der Dicht¬ kunſt war und der Troubadour, ja der Conteur ſich in Damen hoͤchſten Standes verlieben durfte) — und ein ewiger Fruͤhling ſang auf der Erde und im Himmel, das Leben war ein weicher Tanz in Blumen.
„ Suͤſſe Freudenthaͤler hinter den Bergen, ſang Walt, ich moͤchte auch hinuͤber ziehen in das morgenrothe Leben, wo die Liebe nichts verlangt als eine Jungfrau und einen Dichter — ich moͤch¬ te druͤben in wehender Fruͤhlingsluft mit einer Laute zwiſchen den Zelten mitgehen, und die ſtille Liebe ſingen und ſchnell aufhoͤren, wenn Wina vorbeigienge. “
Darauf kehrte Walt in ſein Kaͤmmergen zu¬ ruͤck, fand aber, mit ſeiner geographiſchen und hiſtoriſchen Provence in der Bruſt, ſo wenig Plaz darin, daß er mit einiger Kuͤhnheit — denn die Poeſie hatt 'ihn ſehr gleich und frei gemacht — in Neupeters Park hinabſpazierte, wo er Floren, mit Fruͤchten wie eine Pomona beſchwert, in den24 Wurf kam und die Hand gab. Dem Dichter glaͤnzet die ganze Welt, doch aber eine herzogliche, koͤnigliche Krone matter als ein ſchoͤner weiblicher Kopf unter Krone und Herzogshut, oder als ein anderer, der nichts aufhat als den Himmel uͤber ſich; er iſt beſcheiden, wenn er einer Fuͤrſtin, und aufgerichtet, wenn er einer Hirtin die Hand giebt; nur zu den Vaͤtern beider laͤſſet er ſich oft gar nicht herab.
In einer Laube fand er ein Strumpfband. Ein italiſcher Vers — denn Raphaela verſtand welſch, obwohl er nicht — und ihr Name war darauf geſtickt. Da er an dieſem geiſtigen Mor¬ gen merkte, daß er einen provenzaliſchen Ritter und Poeten zugleich in ſich verbinde: ſo faßt 'er den freien Entſchluß, das Strumpfband — denn er hielts fuͤr ein Armband — ſelber Raphaelen, die er briefleſend ſchleichen ſah, mit einigen bedeu¬ tenden Worten zu uͤberreichen. Er legte das Band weich vorn auf die flache Hand wie auf einen Praͤ¬ ſentirteller und trug es ihr zart mit der Wendung entgegen — die er aus vielen andern uͤber weltli¬ chen Arm und Arm aus den Wolken ausgele¬23 ſen —: „ er ſei ſo gluͤklich geweſen, ein ſchoͤnes Band der Liebe zu finden, eine Senne an Amors Bogen, gleichſam den groͤſſern Ring an ſchoͤner Hand und er wiſſe nicht, wer gluͤklicher ſei, der ſo ihn abzoͤge oder der ihn anlegte. “ Raphaela er¬ roͤthete beſchaͤmend-verſchaͤmt, nahm das Band, ſteckt' es ſchnell ein und gieng ſtumm fort; Walt dachte: faſt ein gar zu zartes Gemuͤth!
Er brachte noch viel von ſeiner Morgenfreude an die Wirthstafel: als er zu ſeinem Erſtaunen da erfuhr — was er ſchon laͤngſt gewußt —, daß an der Juden-Vigilie, am Freitag, die Ka¬ tholiken faſteten. Er legte Meſſer und Gabel ne¬ ben den Teller hin. Keinen Biſſen — und waͤr 'er aus dem Reichs-Ochſen in Frankfurt bei der Kaiſerkroͤnung ausgeſchnitten geweſen — haͤtt' er noch an die Zunge heben koͤnnen. „ Ich will nicht koͤſtlich ſchwelgen, dachte er — betagtes Vaccine¬ fleiſch war aufgeſezt —, in der Stunde, wo eine ſo wohlwollende Seele wie Wina darben muß. “— Wie eine Ehefrau, hatte er bei der Gleichguͤl¬ tigkeit gegen eigene Eß-Entbehrungen ein weinen¬ des Erbarmen uͤber fremde. Er dachte nach und26 fand es immer haͤrter, daß die Kirche auch Non¬ nen faſten lieſſe, nicht die Moͤnche allein; da es vielleicht ſchon genug waͤre, wenn nur Spizbuben, Spieler, Moͤrder nichts rechts zu eſſen haͤtten.
Er gieng in die Kopierſtube zum General, nicht nur mit dem voͤlligen Wunſche, das Maͤd¬ gen zu ſehen, das heute — an ſeinem romantiſchen Tage — eine Maͤrtyrin geweſen, ſondern auch mit der Gewißheit, ſie ſei von Elterlein zuruͤck und er¬ ſcheine. Waͤhrend er mit unſaͤglichem Vergnuͤgen einen aͤußerſt frechen Brief einer gewiſſen Libette, wie er nur aus der moraliſchen Lutetia*)Dieſen Namen Kothſtadt trug ſonſt Paris in un¬ bildlicher Beziehung. voll Epi¬ kurs-Staͤlle kommen kann, ins Reine ſchrieb — denn er ſchmekte in dieſen Freudenkelchen nur den Abendmalswein der geiſtigen Liebe und keinen ge¬ ſchwefelten —, ſo drang aus den halbofnen Zim¬ mern kein Laut in ſein Kabinet, den er nicht zu einer Ankuͤndigung einer Erſcheinung zitternd mach¬ te. Wie in weiten dichten Waldungen ferne lange Toͤne hier und dort romantiſch durchklingen: ſo kamen ihm einzelne Akkorde auf dem Fortepiano —27 Rufe des Generals — Antworten an Wina vor — Endlich hoͤrt 'er wirklich Wina ſelber im naͤchſten Zimmer mit ihrem Vater vom Singen ſprechen. Er gluͤhte bis zur Stirn hinauf, und buͤkte den unruhigen Kopf faſt bis an die Feder nieder. Sie hatte jenen innigſten, herzlichſten, mehr aus der Bruſt als Kehle heraufgeholten Sprachton, den Weiber und Schweizer viel haͤufiger angeben, als andre Leute.
Indem der General eintrat und Walt flam¬ mend fortkopieren wollte: hatt 'er das Ungluͤk, daß das Maͤdgen Singnoten aus dem Kabinette fliegend wegholte, ohne daß er vor lauter Zart¬ heit etwas geſehen hatte, wenn man nicht die weiſſe Schleppe zu hoch anſchlagen will. Bald darauf fieng im zweiten Zimmer ihre Singſtim¬ me an — „ O nein doch, rief der General, durch die ofnen Thuͤren, den lezten Wunſch von Reichard meint' ich*)S. 10. in Reichards Lieder-Sammlung, worinn manche das 10te mal beſſer klingen, als das erſte¬ mal, und Dichter und Komponiſt meiſtens ihr ge¬ genſeitiges Echo ſind. . “
28Sie brach ab, und fieng den begehrten Wunſch an. „ Singe, unterbrach er ſie wieder, nur die erſte und lezte Strophe ohne die ennuyanten. “ Sie hielt innen, mit Fingern uͤber den Taſten ſchwebend und antwortete: gut, Vater! “
Die Verſe heiſſen:
Wina begann, ihre ſuͤße Sprache zer¬ ſchmolz in den noch ſuͤßern Geſang, aus Nach¬ tigallen und Echo's gemacht — ſie wollte ihr liebewarmes Herz in jeden Ton draͤngen und gießen, gleichſam in einen toͤnenden Seufzer; — den Notar umfieng der lang getraͤumte Seelen¬ klang mit der Herrlichkeit der Gegenwart ſo, daß ihn das heranrollende Meer, das er von Fernen rollen und wallen ſahen, nun mit hohen Fluthen nahm und deckte. Der General ſah un¬ ter dem Singen die Kopie des frechen lezten Brie¬ fes mit einiger witziger Heiterkeit auf dem Ge¬ ſichte durch und fragte laͤchelnd: wie gefaͤllt Ih¬ nen die wilde Libette? — „ Wie der jezige Ge¬ ſang, ſo wahr, ſo innig und ſo tief gefuͤhlt “verſezte Gottwalt. — „ Das glaub 'ich auch “ſagte Zablocki mit einem ironiſchen Minen - Glanz, den Walt fuͤr Hoͤr-Verklaͤrung nahm.
„ Was ſind ſo Ihre vorzuͤglichſten Notariats - Inſtrumente bisher geweſen? “fragte der Gene¬ ral. Walt gab viele kurz und ſchleunig an, ſehr verdruͤslich, daß er ſein Ohr — wie ſein Leben — zwiſchen Geſang und Proſa thei¬30 len ſollte. Ob er gleich ſich ſo weniger Seelenkraͤf¬ te und Worte dabei bediente als er nur konnte: ſo war fuͤr Zablocki doch kein Menſch, — weder aus Wezlar noch Regensburg oder aus irgend einem ſchriftſtelleriſchen bureau des longitudes et des longueurs — zu lang, zu weitſchwei¬ fig, ſondern blos zu abrupt. „ Ich glaube, fuhr Zablocki fort, Sie machten auch einige Sa¬ chen fuͤr den Grafen von Klothar? “
„ Keine Zeile “verſezte Walt zu eilfertig; er war voͤllig von den ſchoͤnen Toͤnen weggeſpuͤhlt, und begrif's nicht, daß der General, der ſelber dieſe ſchoͤnen Laute vorgeſchrieben, ſie uͤber platte verhoͤren wollte. „ O Gott, wie kann ein Menſch nicht im harmoniſchen Strome unterſinken, ſon¬ dern daraus noch etwas vorſtecken, beſonders die Zunge? Iſt das moͤglich, zumal wenn es ei¬ nen ſo nahe angeht, wie hier den verwaiſten General? “— Walt glaubte naͤmlich, der Ge¬ neral, der von der Frau und auch von der Ju¬ gend geſchieden war, habe ſolche und aͤhnliche Zeilen wie
blos als Nachtigallen-Darſtellungen eigener See¬ len-Klagen ſingen laſſen. Es konnte ihn weit mehr ruͤhren — zumal da es auch viel reiner war, — wenn er Ton-Spruͤche auf fremde Lei¬ den und Wuͤnſche, als wenn er ſie auf eigne be¬ zog; und darum war ihm der vergebliche Antheil an Zablocki ſo unlieb.
Vult aber, dem er alles vortrug, ſprach ſpaͤ¬ ter den Weltmann mit dieſen Worten frei: „ er iſt an Hof-Konzerte gewoͤhnt, mithin an Taub - Bleiben — wie Cremen, iſt das Weltleben gleich kalt und ſuͤß; — indes hat der Weltmann oft viel Ohr bei wenig Herz (wie andere umgekehrt) und behorcht wenigſtens die Form der Tonkunſt ganz gut. “
„ Keine Zeile “hatte Walt eilfertig geſagt. — „ Wie ſo? verſezte Zablocki. Mein Gerichtshal¬ ter ſagte mir gerade das Gegentheil. “ Hier ent¬ fuhren Walten die Thraͤnen; — er konnte nicht anders, die lezten Sang-Zeilen hatten ihn mit - und weggenommen; die Scham uͤber die unwill¬32 kuͤhrliche Unrichtigkeit trug weniger bei: „ wahr¬ haftig — verſezt 'er — das meint' ich eben; denn die Schenkungs-Akte wurde unterbrochen. — die erſten Zeilen ſchrieb 'ich natuͤrlich. “ Der General ſchrieb die Verwirrung des geruͤhrteſten Geſichts nicht der ſchoͤnern Stimme zu, ſondern ſeiner eignen — brach gutmuͤthig mit den Ab¬ ſchiedsworten ab, daß er auf einige Wochen des Kopieren einſtelle, weil er morgen mit ſeiner Toch¬ ter nach Leipzig auf die Meſſe reiſe. Hier hoͤr¬ te das Singen auf; und Walts kurzes Ent¬ zuͤcken.
Traͤume aus Traͤumen.
Auf der hellen Gaſſe war dem aus dem Zablocki¬ ſchen Hauſe wankenden Notar, als ſei ihm etwas aus den Haͤnden gezogen, etwa ein ganzer brennen¬ der Chriſtbaum oder eine Himmelsleiter, die er an die Sonne anlegen wollen. Ploͤzlich ſah er — ohne zu faſſen, wie — die boͤſe After-Saͤn¬ gerin oder Puzjungfer des Generals und vor ihr33 Wina gehen, in die katholiſche Kirche. Leztere macht 'er ohne Umſtaͤnde zur Simultankirche und trat der zarten Nonne nach, um von ihr die Zeile: „ wann, o Schikſal, wann wird endlich “fortſingen zu hoͤren; denn ſein inneres Ohr hoͤrte ſie noch ganz deutlich auf der Gaſſe.
Im Tempel fand er ſie kniend und gebogen auf den Stufen des Hochaltars, ihr ſchmucklo¬ ſer Kopf ſenkte ſich zum Gebet, ihr weiſſes Kleid floß die Stufen herab. — Der Meßprieſter in wunderlicher Kleidung und Bedienung machte geheimnisvolle Bewegungen — die Altarlichter loderten wie Opferfeuer — ein Weihrauchwoͤlkgen hieng am hohen Fenſterbogen — und die unter¬ gehende Sonne blickte noch gluͤhend durch die oberſten bunten Scheiben hindurch und erleuch¬ tete das Woͤlkgen — unten im weiten Tempel war es Nacht. Walt, der Lutheraner, dem ein betendes Maͤdgen am Altare eine neue himmli¬ ſche Erſcheinung war, zerfloß faſt hinter ihrem Ruͤcken in Licht und Feuer, in Andacht und Liebe. Als waͤre die heilige Jungfrau, aus dem beflammten Altarblatte, worauf ſie gen Him¬Flegeljahre III. Bd. 334mel ſtieg, herabgezogen auf die Stufen, um noch einmal auf der Erde zu beten, ſo heilig-ſchoͤn ſah er das Maͤdgen liegen. Er hielt es fuͤr Suͤnde, fuͤnf Schritte weiter vorzutreten und der Beterin gerade ins fromme Angeſicht zu ſehen, obgleich dieſe fuͤnf Schritte ihn fuͤnf goldne Sproſſen auf der Himmelsleiter hoͤher gebracht haͤtten. Zulezt zwang ihn ſein Gewiſſen, gar ſelber — wiewohl er proteſtantiſch dachte — hin¬ ter den ſtillen Gebeten einige eigne leichte zu ver¬ richten; die Haͤnde waren ſchon laͤngſt gehoͤrig gefaltet geweſen, eh 'er nur darauf gedacht, etwas dazu zu beten.
Es iſt aber zu glauben, daß in der Welt hinter den Sternen, die gewiß ihre eignen, ganz ſonderbaren Begriffe von Andacht hat, ſchon das unwillkuͤhrliche Haͤndefalten ſelber fuͤr ein gutes Gebet gegolten, wie denn mancher hieſige Handdruk und Lippendruk, ja mancher Fluch droben fuͤr ein Stos - und Schusgebet kurſiren mag; indeß zu gleicher Zeit den groͤßten Kirchen¬ lichtern hienieden die Gebete, die ſie fuͤr den Druck und Verlag ohne alle Selbſt-Ruͤckſichten blos fuͤr fremde Beduͤrfniſſe mit beſtaͤndiger Hin¬35 ficht auf wahre maͤnnliche Kanzelberedſamkeit im Manuſkripte ausarbeiten, droben als baare Fluͤche angeſchrieben werden.
Wenn nun ſolche Lichter dort von einem und dem andern Engel des Lichts ausgeſchneuzet werden, wenn ſolche Conſiſtorialvoͤgel zu voͤlli¬ geln Galgenvoͤgeln gerupft im Himmel fliegen: ſo duͤrfen verkannte Galgenvoͤgel dieſer Art in ihren theologiſchen Journalen, falls ſie droben welche ſchreiben, mit Recht darauf aufmerkſam machen, daß die zweite Welt wunderliche Heiligen habe, und noch manche Aufklaͤ¬ rung brauche, bis ſie ſo weit vorruͤcke, daß ſie Gebete auf dem Theater und Gebete auf dem Schreibepult, nach Einem liturgiſchen Styliſti¬ kum, ſo zu ſagen, abgeflucht, gleich gut auf¬ nehme.
Walt blieb, bis Wina aufſtand und vor¬ uͤber gieng, um ſie anzuſehen. Er konnt 'es aber nachher gar nicht begreifen, daß er, als ſie in der groͤßten Naͤhe war, unwillkuͤhrlich wie krampfhaft die Augen zugedruͤckt; „ und was half's mir viel, ſagt' er, daß ich ihr durch drei Gaſſen hinter ihr nachguckte? “
36Er ſchweifte aus der Stadt hinaus. Es war ihm, als wenn zwei einander entgegen we¬ hende Stuͤrme eine Roſe mitten im Himmel ſchwebend erhielten. Draußen ſtand ein langes bergiges Abendroth wie ein Nordſchein am Him¬ mel und machte Licht. Er ſuchte jezt ſeine alte Sitte hervor, große Erregungen — z. B. wenn er irgend einen Virtuoſen geſehen, und waͤr's auf dem Tanzſeile geweſen — dadurch zu naͤhren und zu ſtillen, daß er ſich frei einen Superlativ des Falls austraͤumte, wo er die Sache noch Millionenmal weiter trieb. Er wagte dreiſt den herrlichſten Traum uͤber Wina und ſich. „ Wi¬ na iſt eine Pfarrerstochter aus Elterlein — fieng er an — zufaͤllig reiſ 'ich durch mit Suite; ich bin etwa ein Markgraf, oder Grosherzog, naͤmlich der Erbprinz davon — noch jung (doch ich bin's jezt auch), ſo bildſchoͤn, ſehr lang, mit ſo himmliſchen Augen, ich bin vielleicht der ſchoͤnſte Juͤngling in meinem Lande, ganz aͤhn¬ lich dem Grafen — Sie ſah mich vor dem Pfarrhauſe vorbei ſprengen auf meinem Araber; da wirft ein Gott aus dem Himmel den unaus¬37 loͤ'chlichen Brand der Liebe in ihre arme zarte Bruſt, als er das Zeichen, einen Erbprinzen auf einem Araber, erblickt. Ich ſah ſie aber nicht im Galopp.
Ich halte mich indeß im ſchlechten Wirths¬ haus nicht lange auf, ſondern beſteige ohne Sui¬ te den nahen Himmelsberg, wovon man mich verſicherte, daß er die ſchoͤnſten Ausſichten des Doͤrfgens um ſich ſammle. Und ich fand es auch wahr. Ich komme vor die hinabſteigende Sonne, auf goldnen Bergen der Erde ſtehen gold¬ ne Berge der Wolken; o nur die gluͤckliche Son¬ ne darf hinter die ſeeligen Gebuͤrge gehen, wel¬ che das alte ewig verlangte roſenrothe Liebesthal des Herzens umſchließen — Und ich ſehne mich bitter hinuͤber, weil ich noch nicht lieben durfte als Prinz und traͤume mir Szenen. Da ſchlaͤgt eine Nachtigall hinter mir ſo heiß, als zoͤge ſie ihren Ton gewaltſam aus meiner Bruſt; ſie ſizt auf der linken Schulter der Pfarrtochter, die, oh¬ ne von mir zu wiſſen und mich zu ſehen, her¬ auf vor die Abendſonne gegangen war. Und ihre beiden Augen weinen und ſie weiß nicht38 warum, denn ſie ſchreibt's den Toͤnen ihrer zahm gemachten Philomele zu. Ein Weſen ſeh 'ich da, wie ich noch nie geſehen, ausgenommen im Konzert — doch es iſt eben Wina — eine Men¬ ſchen-Blume ſeh' ich, die ohne Bewuſtſein prangt und deren Blaͤtter nichts oͤffnet und ſchlieſſet, als der Himmel. Abendroͤthe und Son¬ ne moͤchten ordentlich gern naͤher zu ihr, das Purpurwoͤlkgen wuͤnſchte herunter, weil ſie die Liebe ſelber iſt, und wieder die Liebe ſelber ſucht, ſie zieht alles Leben an ſich heran. Eine Tur¬ teltaube laͤuft um ihre Fuͤſſe und girrt mit zit¬ ternden Fluͤgeln. Die andern Nachtigallen flat¬ tern faſt alle aus ihren Buͤſchen und ſingen um die ſingende herum.
Hier wendet ſich ihr Blau-Auge von der Sonne und faͤllt aufgeſchlagen auf mich; aber ſie zittert. Auch ich zittere, aber vor Freude, und auch ihrentwegen. Ich gehe zu ihr durch die ſchlagenden Nachtigallen hin; wir ſind uns in nichts gleich als in der Schoͤnheit, denn mei¬ ne Liebe iſt noch heiſſer als ihre. Sie buͤckt ihr Haupt und weint und bebt, und ich glaube39 nicht, daß allein mein hoher Stand ſie ſo er¬ ſchuͤttert.
Was gehen mich gefuͤrſtete Huͤte und Stuͤh¬ le mehr an? Ich ſchenke alles dem Gott der Liebe hin; „ wenn du mich auch kennſt, Jung¬ frau, ſag 'ich, ſo liebe mich doch “: ſie redet nicht, aber ihre Nachtigall fliegt auf meine Schulter und ſingt. „ Sieh! “ſag' ich ehrerbie¬ tig und mehr nicht; und nehme ihre rechte Hand und druͤcke ſie mit beiden Haͤnden feſt an mein Herz. Sie will ſie aber mit der linken holen und losmachen; aber ich faſſe und druͤcke nun auch die Linke. So bleiben wir, ich ſeh 'ſie unauf¬ hoͤrlich an, und ſie blickt zuweilen auf, ob ich's noch thue. „ Jungfrau, wie iſt dein Name? “ſag' ich ſpaͤt. So leiſe, daß ich's kaum verneh¬ me, ſagt ſie: Wina. Mich durchzittert der Laut wie eine ferne alte Bruder-Stimme.
„ Wina bedeutet Siegerin “antwort 'ich. Sie druͤckt, glaub' ich, ſchwach meine Hand; die Liebe hat ſie erhoben, uͤber Pfarrers - und uͤber Prinzenſtand. So blick 'ich ſie unaufhoͤrlich an, und ſie mich zuweilen — die rufenden Nachti¬40 gallen ſchlieſſen uns ein — die bluͤhenden Abend¬ wolken gehen unter — der laͤchelnde Abendſtern geht unter — der Sternenhimmel zieht ſein Sil¬ ber-Nez um uns — wir haben die Sterne in der Hand und in der Bruſt, und ſchweigen und lieben. Da faͤngt eine ferne Floͤte hinter dem Himmelsberge an, und ſagt alles laut, was uns ſchmerzt und freuet: es iſt mein guter Bru¬ der, ſag' ich, und im Dorfe wohnen meine lie¬ ben Eltern. “— Hier kam Walt zu ſich; er ſah umher, im Fluſſe (er ſtand vor einem) ſank ſein Fuͤrſtenſtuhl ein und ein Wind blies ihm die leichte Krone ab. „ Es waͤr 'auch zuviel fuͤr ei¬ nen Menſchentraum, Sie gar zu kuͤſſen “ſagt' er und gieng nach Hauſe. Unterwegs pruͤft 'er die Rechtmaͤßigkeit des Traums und hielt ihn ſo Stuͤck fuͤr Stuͤck an den moraliſchen Probierſtein, daß er ihn auf die beſte Weiſe zum zweitenmale hatte. So haͤlt ſich die fromme Seele, welche bange ſchwimmt, gern an jedem Zweige feſt, der auch ſchwimmt. So iſt die erſte Liebe, wie¬ wohl die unverſtaͤndigſte, doch die heiligſte; ihre Binde iſt zwar dicker und breiter — denn ſie geht41 uͤber Augen, Ohren und Mund zugleich — aber ihre Schwungfedern ſind laͤnger und weiſſer, als irgend einer andern Liebe.
Vor Neupeters Hauſe unten ſah er lang zu ſeinem Fenſter auf, ſeine Zelle kam ihm or¬ dentlich fremd vor und er ſich, und es war ihm, als muͤſſe der Notar jede Minute oben heraus gucken auf ihn herunter. Ploͤzlich fieng am Fen¬ ſter eine Floͤte an; er fuhr ſehr kurz zuſammen, da ſein lieber Bruder ihn droben erwartete. Er brachte ihm das Feuer zu, in welches Wina ihr mildes Oel gegoſſen. Vult war ganz liebreich und freundlich; denn er hatte unterdeſſen im Doppel-Roman das neue Stuͤck Gartenland be¬ ſehen und umſchritten, das Walt bisher daran fertig gemacht und gemauert, — und hatte da gefunden, daß die gruͤnen Haͤngbruͤcken, die vom Herkules-Tempel der Freundſchaft weg¬ fuͤhrten, ſehr ſchoͤn gut gebogen und angeſtri¬ chen, die Moos - und Rinden-Einſiedelei der erſten Liebe aber, die ſich ſelber noch fuͤr ein¬ ſam und einherzig haͤlt, vortreflich, naͤmlich ſtill und dunkel und romantiſch angelegt worden, ſo42 daß nun nichts weiter mehr fehlte als die Vo¬ gelhaͤuſer, Klingel-Haͤusgen, Satyrs und an¬ dere Garten-Goͤtter, die Vult ſeines Orts und Amts von der Bruͤcke an ausſchweifend zu poſti¬ ren hatte.
Er pries gewaltig, wiewohl heute das Lob den Notar weniger entzuͤckte als erweichte. „ Bruͤ¬ derlein, ſagt 'er, kennt' ich dich und die Macht der Kunſt nicht ſo gut, ſo ſchwuͤr 'ich, du waͤ¬ reſt ſchon auf dem elektriſchen Iſolir-Schemel der erſten Liebe geſtanden, und haͤtteſt geblizt; ſo wahr und huͤbſch ſteht jeder Funke da. “ Denn Vult hatte bisher, ungeachtet oder vielmehr we¬ gen aller Offenherzigkeit des Bruders, das Ver¬ gißmeinnicht der Liebe nicht in ihm bemerkt, weil alles in ihm voll Liebes-Blumen ſtand, und weil Vult ſelber jezt nicht viel aus den Weibern machte. Sein Schmolgeiſt, ſagt' er oft, meide den weiblichen; man muͤſſe aus ei¬ nem lakirten Staͤbgen, das nur fuͤr die weiblichen Blumen in der Erde ſteht, eine roͤ¬ miſche Saͤule werden, deren Kapital jene Blu¬ men blos bekraͤnzen.
43Sehr erſtaunte Walt, — der im Doppel¬ roman nur der Dichter, naͤmlich das ſtille Meer geweſen, das alle Bewegungen, der Seegefechte und des Himmels, abſpiegelt, ohne ſelber in ei¬ ner zu ſein — als Vult aus dem Buche von weitem ſchließen wollte, er liebe vielleicht. Er glaubte dem gereiſeten Floͤteniſten aufs Wort; ſagte aber ſelber keines davon und war heimlich ganz vergnuͤgt, daß er's jezt gerade ſo habe, wie er's hinſchreibe. Stundenlang frappirte ihn eine neue Rolle, worin er etwas zu ſpielen hatte, was ſchon Millionenmal auf allen Planeten ge¬ ſpielet worden.
Als nun die Bruͤder nach ihrer Gewohnheit ihre gegenſeitigen Tagsgeſchichten gegen einander austauſchen wollten: ſo gieng dem Notar die ſeinige ſehr ſchwer und klebend von der Zunge; — er hielt ſich mehr an den General und an deſſen mémoires érotiques, um ſeine eignen zu decken.
Er lobte die geiſtige reine Bluͤthe in jenen; Vult laͤchelte daruͤber und ſagte: „ Du biſt eine verdammte gute Seele! “ Die Liebe, welche das44 ganze Herz oͤffnet, ſo wie verſchenkt, verſchließet und behaͤlt doch den Winkel, wo ſie ſelber niſtet; und diktirt dem beſten Juͤngling die erſte Luͤge, wie der beſten Jungfrau die laͤngſte.
Walt begleitete — bei ſeinen innern Bewe¬ gungen, deren Blutkuͤgelgen wie hoͤhere Kugeln einen freien Himmel zum Bewegen brauchten — den Bruder nach Hauſe. Dieſer begleitete erfreut wieder jenen; Walt wieder dieſen, um vor Winas Fenſtern auf dem Heimwege vorbeizukommen. So trieben ſie es oft, bis der Notarius ſiegte.
Einſam unter dem breiten Sternenhimmel konnt 'er die gluͤhende Seele recht ausdehnen und abkuͤhlen. „ Sollt' ich denn den romantiſchen, ſo oft gedichteten Fall jezt wirklich in der Wirklich¬ keit erleben, daß ich liebte? ſagte er. Nun ſo will ich — ſezt 'er dazu, und der bisher winter¬ lich eingepuppte, gefrorne Schmetterling ſprengte die Puppen-Huͤlſe weit ab, und fuhr auf und wiegte feuchte Schwingen — lieben wie niemand und bis zum Tod und Schmerz — denn ich kann's ja gut, da Sie mich nicht kennt und nicht liebt, und ich ihr nichts ſchade und ſie ſehr von Stand45 iſt und jezt vollends auf I Monat verreiſet. Ja es ſei Ihr ganz und voll hingereicht, das unbe¬ kannte Herz, und wie unterirdiſchen Goͤttern, will ich ihr ſchweigend opfern. O ich koͤnnte dieſe Sterne fuͤr Sie pfluͤcken zum blitzenden Juwelen - Straus und weiche Lilien aus dem Monde darein binden; und es in Ihrem Schlafe neben Ihr Kiſ¬ ſen legen; wuͤßt' es auch kein Weſen, wer es ge¬ than, ich waͤre zufrieden.
Er gieng die Gaſſe herab an Zablockis Haus. Alle Lichter waren ausgeloͤſcht. Eine kernſchwarze Wolke hieng ſich uͤber das Dach; er haͤtte ſie gern herabgeriſſen. Alles war ſo ſtill, daß er die Wanduhren gehen hoͤrte. Der Mond ſchuͤttete ſeinen fremden Tag in die Fenſter des dritten Stok¬ werks. „ O waͤr 'ich ein Stern — ſo ſang es in ihm und er hoͤrte nur zu — ich wollte Ihr leuch¬ ten; — waͤr' ich eine Roſe, ich wollte Ihr bluͤ¬ hen; — waͤr 'ich ein Ton, ich draͤng' in Ihr Herz; — waͤr 'ich die Liebe, die gluͤcklichſte, ich bliebe darin; — ja waͤr' ich nur der Traum, ich wollt 'in Ihren Schlummer ziehen und der Stern und die Roſe und die Liebe und alles ſeyn, und gern verſchwinden, wenn ſie erwachte. “
46Er gieng nach Hauſe zum ernſten Schlaf, und hofte, daß ihm vielleicht traͤume, er ſei der Traum.
Neues Teſtament.
Der September war ſo ſchoͤn, der die ſchoͤn¬ ſte Roſe, Wina, verſezt hatte, daß dem Notar Rock, Stube und Stadt zu enge wurde; er woll¬ te ein wenig in die weite Welt hinaus. Er rei¬ ſete unſaͤglich gern, beſonders in unbekannte Ge¬ genden, weil er unterwegs glaubte, es ſey moͤg¬ lich, daß ihm eines der romantiſchſten lieblichſten Abentheuer zuflattere, von dem er noch je geleſen. Daher war das erſte, was er in einer neuen Stadt machte, kleine Stundenreiſen um ſie herum. Hatt 'er aber lange da gewohnt, ſo lief er zu Zeiten in eine neue Gaſſe ein, und machte ſich mit beſonde¬ rem Vergnuͤgen glaublich, er ſei eben auf Reiſen in einer ganz fremden Stadt, aus der er noch da¬ zu die Freude hatte, in ſeiner anzulangen, ſobald er nur um die Ecke umbog. Ja ſah er nicht traͤu¬47 mend dem Laufe der Chauſſeen nach, die wie Fluͤſſe die Landſchaft ſchmuͤcken, weil ſie, wie die¬ ſe, ohne wohin und woher unendlich ziehen, und das Leben ſpiegeln? — Und dacht' er jezt nicht, auf einer davon geht das ſtille Maͤdgen da¬ hin, und ſieht den blauen Himmel und den Vater an und denkt an vieles? —
Nur war er lange in Zweifel und Skrupel, ob's nicht Suͤnde ſei, das wenige von den Eltern und Inſtrumenten gewonnene Geld blos vergnuͤgt zu verreiſen, zumal da der Bruder Vult nach ſei¬ ner Gewohnheit wieder anfieng, nicht viel zu ha¬ ben. Er las alle moraliſchen Regeln des reinen Satzes genau durch, um zu erfahren, ob er dieſe ſuͤßtoͤnende Ausweichung oder dieſe Quinten-Fort¬ ſchreitung von Luſt zu Luſt in ſein Kirchenſtuͤk aufnehmen duͤrfe; und noch war er unentſchie¬ den; als Flitte alles dadurch entſchied, daß er den Stadtthuͤrmer, bei welchem er wohnte, zu ihm ſchikte und ſagen ließ, er liege auf dem Ster¬ bebette und wuͤnſche noch dieſen Abend ſein Teſta¬ ment durch einen Notar zu machen.
Wenn die Welt hinter dem Notar den Thurm48 beſteigen ſoll, wo der Elſaſſer ſich toͤdtlich gebettet, ſo muͤſſen ihr vorher, ohne lange daruͤber zu re¬ den, die nothwendigſten Treppen hingeſtellt wer¬ den, die zu ſeinem Lager bringen; alles war ſo:
Das Gluͤk iſt ein ſo ſchlechter Freund, als deſſen Guͤnſtlinge — die Natur giebt den Weiſen auf die Lebensreiſe zu wenig Diaͤtengelder mit — Flitte war ein ſolcher Weiſer, und wiewohl er laͤngſt die Regel kannte, daß das Ende des Gel¬ des wie das eines Parks geſchikt verborgen werden muͤſſe: ſo fehlt 'ihm doch der allgemeine nervus rerum gerendarum zu dieſer Liſt.
In Staͤdten, wo Flitte nur durchflog, ver¬ mocht 'er leichter etwas, und waͤr' es auch nur dadurch geweſen, daß er ſich als ſeinen eigenen reichen Bedienten ankleidete und ſich ſelber anmel¬ dete, als ſeinen Herrn, und zum zweitenmal ohne den Kerl wieder kam. In Haslau that es ihm einen Monat lang gute Dienſte, daß er auf ſeine Koſten einen Teich abziehen und darin nach einem koſtbaren Tafelſteine ſtochern und wuͤhlen ließ, den er wollte hinein verloren haben. Aber der Hunger, der eben ſowohl als Philipp II, zumal49 unter des leztern Regierung, der Mittagsteu¬ fel heiſſen ſollte, und noch mehr der Kleiderteu¬ fel, und jeder Tag hatten ihm allmaͤlich ein an¬ ſtaͤndiges Gefolge von Lehnlakaien oder valets de fantaisie, das immer hinter ihm gieng unter dem bekannten Namen Glaͤubiger, in die Dienſte gefuͤhret und zugewaͤlzt. Oft ſchikten dieſe wahren Kammer-Mohren ihre eignen Laden - und andere Diener als Mephiſtophileſſe, die, ohne zitirt zu ſeyn, ihn ſelber zitirten.
Deswegen zog er auf den Glockenthurm — ſeinen Schuldthurm —, um durch die unzaͤhligen Treppen manche Beſuche zu verleiden, oder aus dem Glockenſtuhle vorauszuſehen. Unten in der Stadt ſchwur er ſtets, er hab 'es gethan, um eine ſchoͤne freie Ausſicht zu genieſſen, ſo ſehr er auch die Beſchwerden ſich vorher habe denken koͤnnen.
Unter ſeinen Glaͤubigern war nun ein junger Arzt, Namens Hut, der ſich ſehr aufblies und der wenige Patienten hatte, weil er ihnen das Sterbliche auszog und ſie verklaͤrte. Dieſer Hut hatte den vier groſſen Browniſchen Kartenkoͤnigin¬Flegeljahre III. Bd. 450nen ſeine vier ganzen Gehirnkammern eingeraͤumt — der Sthenie die erſte vorn heraus — der Hy¬ perſthenie die zweite — der Aſthenie die dritte — der Hyperaſthenie die vierte als wichtigſte, — ſo daß die vier groſſen Ideen ganz bequem allein oh¬ ne irgend eine andere dann hauſen konnten. Gleich¬ wohl macht 'er mit der heiligen Tetraktys von 4 mediziniſchen ſyllogiſtiſchen Figuren, ſelber noch keine ſonderliche; der alte Spaß uͤber den Doktor¬ hut des D. Huts wurde ſtets erneuert.
Der galante Flitte that nun ſeinem Glaͤubi¬ ger folgenden Antrag: „ die Stadt ſtecke voll Vor¬ urtheile — er ſelber in leichten Schulden — ge¬ ſezt aber, er ſtelle ſich ein wenig toͤdtlich krank, und mache ſein Teſtament: ſo heile erſtlich durch einen Betrug ſich die Stadt von ihrem Selbſtbe¬ trug, wenn H. Dr. Hut ihn oͤffentlich wieder herſtelle, und er ſelber zweitens, wenn er ſein Vermoͤgen dem Hofagent Neupeter vermache, ge¬ winne dieſen nach der ſchon laͤngſt gewonnenen Tochter und koͤnne ſie heirathen und Herrn Hut leichter bezahlen. Der Doktor gieng weigernd den Antrag ein.
51Nach wenigen Tagen erkrankte der Elſaſſer ſehr toͤdtlich — erbrach ſich — aß und trank nichts mehr (ausgenommen in ſeltenen einſamen Augen¬ blicken) — nahm das Abendmahl, das er und andere, wie er dachte, ja auch in geſunden Ta¬ gen naͤhmen. Endlich mußte zum Notar in der Nacht geſchikt werden, damit er den lezten Wil¬ len aufſezte.
Walt erſchrak; Flittens tanzende bluͤhende Jugend hatt 'er geliebt und ihn dauerte ihre Nie¬ derlage. Schwer, ſchwuͤl, bewoͤlkt legt' er den langen hohen Treppen-Gang zuruͤk. Die dicke Glocke ſchlug 11 Uhr, und ihm klang's, als be¬ wegte der Todesengel den Leichen-Kloͤppel darin. Matt und leiſe und geſchminkt (aber weiß) lag der Elſaſſer da, unter ſieben Teſtir-Zeugen, wo¬ von der Fruͤhprediger Flachs auch einer war, der es mit ſeinem blaſſen langen Geſicht zu keinem Veſperprediger bringen konnte.
Walt nahm ſtumm voll Mitleids des Pa¬ zienten Hand mit der Rechten und zog mit der Linken ſein Petſchaft und Papier aus der Taſche; und uͤberzaͤhlte mit den Augen kurz die Zeugen. 52Er foderte drei Lichter, weil ſie das promptua¬ rium juris von ihm foderte zu Nachtteſtamen¬ ten; war aber mit Einem elenden zufrieden, weil auf dem ganzen Leucht-Thurm kein zweites zu haben ſtand, desgleichen kein drittes, und er viel zu mitleidig und zu eilig war, jemand in die Nacht und den Thurm herabzuſchicken nach Licht.
Der Kranke fieng an, das erſte Vermaͤchtnis zu diktiren, nach welchem dem Kaufmann Neupe¬ ter Flittens ganze Dividende am laͤngſt erwarteten weſtindiſchen Schiffe zuſtarb, desgleichen ein ver¬ ſiegeltes mit OUF bezeichnetes Juwelenkaͤſtgen, das von den Gebruͤdern Heiligenbeil in Bremen abzufodern war. — Es war ſichtbar, daß Flitte, obwohl halb todt, doch uͤberall auf diktirte gut ſtiliſirte Schreibart ausgieng. — Aber Walt mu߬ te einhalten und einen Loͤffel Waſſer fordern, um einige Dinte aus dem Dintenpulver zu machen, in das er eintunkte. Als die Dinte fertig war, fand er wieder ſehr ungern, daß die neue ganz anders ausſehe als die alte, und daß er ſo das Inſtrument — geradezu entgegen allen Notariats - Ordnungen — mit doppelter Dinte hinſchreibe. 53Gleichwohl bracht 'er's nicht uͤber ſein hoͤfliches Herz, alles zu zerreiſſen und von neuem anzu¬ heben.
Darauf teſtirte der Kranke dem duͤrftigen Flachs ſeine ſilbernen Sporen und ſeinen mit See¬ hund bezognen leeren Koffer, und die Reitpeitſche. Dem D. Hut vermacht 'er alles, was er an Aktiv - Schulden in der Stadt zu fodern hatte.
Er mußte innen halten, um einige Kraͤfte zu ſchoͤpfen. „ Auch vermach 'ich dem H. Notar Har¬ niſch, hob er mit ſchwacher Stimme wieder an, fuͤr das Vergnuͤgen ihn zu kennen, alles, was ſich theils an Baarſchaft, theils an Wechſeln nach meinem Tode bei mir vorfinden mag, und was ſich gegenwaͤrtig nicht uͤber 20 Friedrichsd'or be¬ laufen wird, daher ich ihn bitte vorlieb zu neh¬ men, und meinen goldnen Fingerring noch bei¬ fuͤge. “
Walt konnte kaum die Feder fuͤhren; und wollt 'es auch nicht mehr; denn er verroͤthete, vor ſo vielen Zeugen, und von einem ſterbenden Menſchen, dem er nichts vergelten konnte, ſo an¬ ſehnlich beſchenkt zu werden; er ſtand auf, druͤkte54 ſtumm vor Mitleiden und Liebe die gebende Hand und ſagte: nein, und bat ihn, doch einen Arzt zu waͤhlen.
„ Dem Hrn. Stadtthuͤrmer Heering “— woll¬ te Flitte fortfahren, ſank aber geſchwaͤcht durch Sprechen aufs Kiſſen zuruͤk. Heering ſprang her¬ bei, lockerte die Kiſſen beſſer auf und ſezte den Pa¬ zienten ein wenig in die Hoͤhe. Es ſchlug 12 Uhr; und Heering ſollte nachſchlagen; aber er wollte in einen ſolchen Aktus nicht haͤmmern auf der Glocke, ſondern erhielt Stille, damit man den Teſtirer forthoͤre: „ ihn alſo bedenk 'ich mit meinem feinen weiſſen Zeuge, desgleichen mit allen meinen Klei¬ dern — nur die Reitſtiefel gehoͤren der Magd — und alles was noch von einer reichbeſezten Taba¬ tiere in meinem Koffer uͤbrig bleibt, wenn man davon Leichen - und andere Koſten beſtritten hat. “
Bald nach einigen Legaten und nach den For¬ malitaͤten, die den lezten Willen eines Menſchen noch mehr erſchweren als den ſchlimmſten vorher, war alles abgethan. Noch drang der ſichtbar mehr ermattende Elſaſſer darauf, daß der Notar jezt alle ſeine Effekten mit dem Notariatsſiegel zu¬55 petſchiere. Er thats, da ihm alle Promptuarien, ſowohl von Hommel als Muͤller, dafuͤr buͤrgten, daß er's koͤnne.
Es war ihm bitter, von dem armen luſtigen Vogel — der ihm Feder und goldne Eier zuruͤk¬ ließ — zu ſcheiden, und ihn ſchon in den Krallen der rupfenden Todes-Eule um ſich ſchlagen zu ſehen. Heering leuchtete ihm und ſaͤmtlichen Zeu¬ gen herab. „ Mir will's ſchwanen, ſagte der Thuͤrmer, daß er die Nacht nicht uͤberſteht; ich habe meine kurioſen Zeichen. Ich haͤnge aber mor¬ gen fruͤh mein Schnupftuch aus dem Thurme, wenn er wirklich abgefahren iſt. “ Schauerlich trat man die langen Treppenleitern durch die lee¬ ren dumpfen Thurm-Gekluͤfte, worin nichts war, als eine Treppe, herunter. Der langſame eiſerne Perpendikelſchlag, gleichſam das Hin - und Her¬ maͤhen der an die Uhr gehangenen Eiſen-Senſe der Zeit, — das aͤuſſere Windſtoſſen an den Thurm — das einſame Gepolter der 9 lebendigen Men¬ ſchen — die ſeltſamen Beleuchtungen, die die ge¬ tragene Laterne durch die oberſte Empor hinunter in die Stuhlreihen flattern ließ, in deren jeder ein56 gelber Todter andaͤchtig ſitzen konnte, ſo wie auf der Kanzel einer ſtehen, — und die Erwartung, daß bei jedem Tritte Flitte verſcheiden und als bleicher Schein durch die Kirche fliegen koͤnne, — — das alles jagte wie ein banger Traum den Notar im duͤſtern Lande der Schatten und Schrecken um¬ her, daß er ordentlich von Todten auferſtand, als er aus dem ſchmalen Thurme unter den ofnen Sternenhimmel hinaustrat, wo droben Auge an Auge, Leben an Leben funkelte und die Welt wei¬ ter machte. —
Flachs, als Geiſtlicher von den vier lezten Dingen mehr lebend als ergriffen, ſagte zu Walt: „ Sie haben Gluͤk bei Teſtamenten “. Aber dieſer bezog es auf ſeinen Stil und Stand, er dachte an nichts, als an das naͤrriſche huͤpfende Lebens - Karnaval, wo der zu ernſthafte Tod am Schluſſe den Taͤnzern nicht nur die Larven abzieht, auch die Geſichter. Im Bette betete er herzlich fuͤr den jezt kaͤmpfenden Juͤngling um einige Abendroͤthe oder Fruͤhlingsſtralen in der wolkigen Stunde, welche auf jeden Menſchen, wie ein unendlicher Wolkenhimmel ploͤzlich oben herunter faͤllt und57 ihn zugehuͤllt aufloͤſet. Er druͤckte dabei feſt die Augen zu, um uͤber nichts zufaͤlliges etwan zu¬ ſammen zu ſchaudern.
Raphaela.
Als Gottwalt erwachte, hatt 'er anfangs alles vergeſſen, und die Abendberge vor ſeinem Bettfenſter ſtanden ſo roth im Morgenſchein, daß ſein Wunſch der Reiſe wieder kam — darauf der Einwurf der Armuth — endlich der Gedanke, daß er aber ja uͤber 20 Louisd'or gebiete. Da ſah er nach dem Stadtthurm, worauf als ei¬ nem caſtrum doloris nun der verſtorbne Flit¬ te liegen konnte, und wollte traurig auf¬ blicken.
Aber ſein Geſicht blieb aufgeheitert, ſo mit¬ leidig er auch die Augen aufzog; die romantiſche Reiſe in ſolchen blauen Tagen — in ſolchen Verhaͤltniſſen — ſo ploͤzlich geſchenkt — das war ihm ein Durchgang durch die helleſte Gluͤcks¬58 ſonne, wo es Licht ſtaͤubt und man ſich ganz mit Flimmern uͤberlegt.
Ganz verdruͤslich zulezt daruͤber, daß er nicht traurig werden wollte, fuhr er ohne Gebet aus den Federn, und hoͤrte ſein Herz ab. Er mochte aber fragen und zanken, ſo lang 'er wollte, und dem Herzen den blaßen jungen Leichnam auf dem Thurme hinhalten, und deſſen zugedruͤckte Augen, die mit keiner Morgenſonne mehr auf¬ giengen: es half gar nichts, die Reiſe und mit¬ hin die Reiſegelder behielten ihren Goldglanz, und das Herz ſah ſehr gern hinein. Endlich fragt' er aufgebracht, ob es denn, wie er ſehe, des Teufels lebendig ſei und ob es, wenn es koͤnnte, etwa den armen Teſtator nicht ſogleich und mit Freuden rettete und aufbraͤchte? Man beſaͤnftigte ihn ein wenig durch die Antwort: mit Freuden und auf der Stelle. Hier fiel ihm das Verſprechen des Thuͤrmers ein, ein weiſſes Schnupftuch als Trauerflagge am Thurme aus¬ zuſtecken, wenn der junge Menſch verſchieden waͤre. Da er aber droben keines fand, und doch daruͤber einige Freude verſpuͤrte: ſo entlies er das59 arme verhoͤrte Herz und war ordentlich auf ſich aͤrgerlich, ohne Noth dem ehrlichen guten Schelm ſo zugeſezt zu haben.
Er haͤtt 'aber nur dieſen Schelm fragen ſollen, wie ihn bei zehnmal groͤßerer Erbſchaft, z. B. der Tod des Bruders geſtimmt haben wuͤrde: ſo wuͤrd' er, wenn er gefunden haͤtte, daß dann die Laſt viel zu ſchwer, der Kopf zu gebeugt geweſen waͤre, um nur etwas anderes zu ſehen, als das Grab und den Verluſt, leicht den Schluß gezogen haben, daß nur die Liebe den Schmerz erſchaffe, und daß er vergeblich einen zu großen, bei einer zu kleinen fuͤr den El¬ ſaſſer von ſich gefordert.
Izt ſah er ein weiſſes Schnupftuch, aber nicht am Thurm, ſondern an Raphaelen, die im Parke traurig luſtwandelte, und welcher die modiſche Taſchenloſigkeit das Gluͤck gewaͤhr¬ te, dieſen Schmuͤcklappen des Gefuͤhls, dieſe Flughaut der Phantaſie in der Hand zu haben. Sie ſah oft nach dem Thurme, einigemal an ſein Fenſter, gruͤſt 'ihn mitten im Schmerz; ja als wenn ſie ihm winke, hinunter zu kommen,60 kam es ihm vor, aber nicht glaublich genug, weil er aus engliſchen Romanen wuſte, wie weit weibliche Zartheit gehe. Indeß kam Flora und bat ihn wirklich hinab.
Er gieng zur Bewegten als ein Bewegter. „ Ich denke mir leicht, dacht 'er ſich auf der Treppe, wie ihr iſt, wenn ſie an den Stadt¬ thurm ſieht, und droben den Einzigen Menſchen bald aufgebahret glauben muß, der nur durch eine herzlichſte Liebe, wie eine muͤtterliche gegen ein misgeſchafnes Kind, den Eindruck ihrer Widrigkeit ſchoͤn uͤberwand. “— „ Verzeihen Sie meinen Schritt — fieng ſie ſtockend an, und nahm das Schnupftuch, dieſe Schuͤrze eines troknen Herzens, von den feuchten Augen weg, — wenn er Ihnen mit der Delikateſſe, die mein Geſchlecht gegen Ihres behaupten muß, ſollte zu ſtreiten ſcheinen. “
Schade oder ein Gluͤck war's, daß ſie gera¬ de dieſe Phraſis nicht dem haſtigen Quoddeus Vult ſagte; denn da es ſchwerlich in Europa oder in Paris oder Berlin, einen Mann gab, der es in dem Grade ſo verfluchte — und er¬61 rieth — als er, wenn eine Frau beſtimmt auf ihr Geſchlecht und auf das fremde und auf die noͤthigen Zartheiten zwiſchen beiden hinwies und es haͤufig anmerkte, wie da mancher Handkuß ſie eine unreine Seele errathen laſſe, dort man¬ cher wilde Blick, und wie das zaͤrtere Geſchlecht ſich gar nicht genug decken koͤnne: ſo wuͤrde der Floͤtenſpieler ohne Umſtaͤnde geaͤuſſert haben: „ eine freimuͤthige H — ſei eine kecke Heilige gegen ſolche Abgruͤnde feiger und eitler Sinnlichkeit zu¬ gleich — er kenne dergleichen Herzen, welche das Schlimme argwohnen, um nur es ungeſtraft zu denken, die es woͤrtlich bekriegen, um es laͤnger feſt zu halten, — ja manche ſehen ſich wohl gar in der Arzneikunde ein wenig um, da¬ mit ſie im Namen der Wiſſenſchaft (dieſe habe kein Geſchlecht) ein unſchuldiges Wort reden koͤnnen — und lagern ſich vor dem Altar und uͤberall wie Friedrich II ſo ſchlachtfertig, en ordre de bataille, wie auf dem Sopha. “— „ Warlich, ſezt 'er dazu, ſie gehen ins leibliche, oder ins geiſtige Zergliederungshaus, um die Leichen zu — ſehen. „ Unſchuld, nur, wenn62 du dich nicht kennſt, wie die kindliche, dann biſt du eine; aber dein Bewuſtſein iſt dein Tod. ““
So ſcheint gleichnisweiſe, zermalmtes Glas ganz weis, aber ganzes iſt beinahe gar unſichtbar.
So dachte aber nicht Walt: ſondern als Raphaela an ihn die obige Anrede gehalten, gab er die aufrichtige Antwort, daß er nicht einmal bei ſeinem eignen Geſchlechte, geſchweige bei dem heiligſten, das er kenne, irgend einen Schritt anders auslege, als das fremde Herz be¬ gehre.
Indeß hatte ſie ihn weiter nichts zu fragen, als: wie der Sterbende — dem ſie als einem Freunde ihres Vaters wohl gewollet, wie allen Menſchen und den ſie ſehr bedauert — ſich in der Nacht bei ſeinem lezten Willen (wovon durch die ſieben Zeugen, als durch ſieben Thore eben ſo viele Brode hinlaͤnglicher Nachrichten der Stadt herausgereicht waren) ſich benommen ha¬ be, was ſie gern zu wiſſen wuͤnſche, da ein Sterbender ein hoͤheres Wort ſei als ein Le¬ bender.
63Der Notar antwortete gewiſſenhaft, das heiſſet als ein Notar, und ſagte, er hoffe, nach dem Schnupftuch zu ſchließen, er ſei noch leben¬ dig. Sie berichtete, daß der D. Hut, der geru¬ fen worden, ihn zwar angenommen, aber als ei¬ nen verlornen Menſchen, und ſie wuͤnſchte dem Doktor, mit ihrem weichen Leumund, keine un¬ gluͤckliche Kur.
„ Das iſt doch ſchon was, und die uͤberleb¬ te Nacht dazu “verſezte Walt ganz wohlge¬ muth. Aber ſie verſicherte, ſie troͤſte ſich leider nicht ſo leicht und ſie ſei uͤberhaupt ſo ungluͤck¬ lich, daß das fremde Leiden, auch das kleinſte ihrer Verwandten, ſie heftig angreife und ſie Thraͤnen koſte. Sie brach in einige aus; ſie wurde von ſich ſo leicht, als von andern ſchwer geruͤhrt. Auch iſt das Sprechen von Weinen bei Weibern ein Mittel zum Weinen. Der No¬ tar war ſeelenvergnuͤgt uͤber alle die Ruͤhrungen die er theils ſah, theils theilte. Liebes Frauen - Weinen war ihm eine ſo ſeltene Koſt, als langer gruͤner Ungar, Nierenſteiner Hammelhoden, Wormſer liebe Frauen-Milch oder andere Wei¬64 ne, die bei H. Kaufmann Corthum in Zerbſt zu haben ſind. Er blikte ihr mit allen Zeichen des theilnehmenden Herzens in ihre Augen voll Waſ¬ ſer-Feuer, und haͤtte wohl gewuͤnſcht, die Deli¬ kateſſe engliſcher Romane verſtattete ihm, ihre zarte weiſſe Hand in etwas zu faſſen, welche vor ihm ſtark im beſonnten Gruͤne gaukelte, und in den Thau der Gebuͤſche fuhr, und darauf ins Haar, um es damit nach der Vorſchrift eines Englaͤnders wie andere Gewaͤchſe zu ſtaͤrken.
Beide ſtellten ſich jezt — der Pyramide und dem ſteinernen Grosvater auf der Inſel gegen¬ uͤber — an eine Urne aus Baumrinde. Raphae¬ la hatte eine Leſetafel mit der Inſchrift: „ bis daher dauere die Freundſchaft “daran gemacht. Sie ſchlang den Arm aufwaͤrts um die Urne, ſo daß er immer ſchneeweiſſer wurde durch Bluts-Verhalt, und verſicherte, hier denke ſie oft an ihre ferne Wina von Zablocki, die ihr leider jaͤhrlich zweimal, durch die Michaelis - und die Oſtermeſſe, nach Leipzig vom Generale entfuͤhret werde, ſeinem Vertrage mit der Mut¬ ter zufolge. Ohne ihr Wiſſen war ihr Ton65 durch langes Beſchreiben der Schmerzen ganz munter geworden. Walt lobte ſehr ihre Freund¬ ſchaft und ihre — Freundin. Sie erhob die Freundin noch gewaltiger als er. Da konnt 'er nicht laͤnger mit dem anſchwellenden Herzen blei¬ ben. Mit Zuruͤckberufung des alten Klagetons und einem Trauerblik gegen den Thurm ſchied ſie von dem Juͤngling.
In dieſem aber wurde ein Flug von Daͤm¬ merungsvoͤgeln — um ſeine Ideen ſo zu nen¬ nen — wach und flog ihm 36 Stunden lange dermaßen um ſeinen Kopf, daß er ihnen nicht anders zu entkommen wuſte, als — zu Fuß, durch eine Reiſe. Winas lebendigeres Bild — die September-Sonne, die aus blauem Aether brannte — moͤgliches Reiſegeld — und ein gan¬ zes wuͤnſchendes Herz, das alles auf der einen Seite — und auf der andern und ſchlimmen D. Huts lautes Bedauern und Rezeptiren — Flit¬ tes laute Agonien — Heerings peinliches Schnupf - oder Bahrtuch, das jede Minute flat¬ tern konnte — Walts verſaͤumte poetiſche Sing - Stunden (denn was war in ſolcher Kriſis zuFlegeljahre III. Bd. 566dichten?) — viele geſperrte Traͤume — und end¬ lich 36 innere Fecht-Stunden dazu — — ſo viel und nicht weniger muſte ſich in einander hacken, damit Walt, weil's nicht mehr auszu¬ halten war, keine weitere Umſtaͤnde machte, ſon¬ dern zwei noͤthige Gaͤnge, den erſten zu den Te¬ ſtaments-Vollſtreckern, um den dritten langen anzuſagen als Notariats-Pauſe; und darauf den zweiten zum Floͤtenſpieler, um ihm hun¬ dert Anlaͤſſe zur Reiſe, und die Reiſe zu melden.
Beide Bruͤder freuten ſich wochenlang auf alles, was jeder nun dem andern Geſchichtliches werde zu erzaͤhlen haben, wenn er wochenlang weggeweſen; jezt war Walt der Geber. Vult hatte ſich uͤber viel zu wundern. Sehr ſchwer fiel 'es ihm, die juriſtiſche Regel, daß Worte eines Sterbenden Eiden gleich gelten wie die ei¬ nes Quaͤkers, auf den prahlenden Flitte anzu¬ wenden; indeß blieb ihm die Angel verdeckt, um welche ſich die ganze Taͤuſchung drehte. „ Mir iſt, ſagt' er, als haͤtten die Narren dich zum — Weiſen; ich weiß aber nicht wo. Um Got¬67 teswillen, junger Menſch, ſei eine Kutſche, (fol¬ ge einem aͤltern) und habe hinten dein rundes Fenſtergen, damit kein Dieb dir Geld abſchnei¬ det oder Ehre. “
Ich habe leider nichts zu erzaͤhlen, ſagte Vult.
Aber der Notar konnte zum Gluͤck noch viel Mittheilen. Er erzaͤhlte chronologiſch — denn Vult gebot's, weil jener ſonſt alles ausließ — und mit hoͤchſter Behutſamkeit — denn Walt kannte deſſen unmetriſche Haͤrten gegen Weiber — Raphaelens Geſpraͤch. Allein es half wenig; er ha¬ ſte alles Neupeter'ſche und beſonders das weibliche. „ Raphaela, ſagt 'er, iſt lauter Lug und Trug. “— „ Und einer ſo armen Haͤslichen, verſezte Walt, koͤnnt' ich einen vergeben, obgleich we¬ der mir noch einer noch einem Geliebten. “— „ Sie will nur, das mein 'ich — fuhr Vult fort — ſich auf ihre innere Bruſt bruͤſten, und waͤhrend Ein Liebhaber ausloͤſcht, einen Suk¬ zeſſor im' truͤben Thraͤnenwaſſer erfiſchen. Ein Weib iſt ein weiblicher Reim, der ſich auf zwei Laute reimt; ein maͤnnlicher auf einen. 68Es iſt nicht viel beſſer, Alter, als wenn ſie als Falkenier zu dir Falken ſagte, und ſich als Tau¬ be dir vorwuͤrfe: rupf 'an, Maͤnngen! “
„ Die Moͤglichkeit ſolcher Taͤuſchungen — ſagte Walt — ſeh 'ich wohl auch voraus, und dein Argwohn iſt mir oft nichts neues; aber uͤber die Wirklichkeit in jedem Falle, dar¬ uͤber iſt der Skrupel. Und Liebe kann ja eben ſo wohl ſtimmen als Haß verſtimmen. Iſt Ra¬ phaelens Freude uͤber mein Lob auf ihre Freun¬ din kein ſchoͤnes Zeichen? “— „ Nein, ſagte Vult. Nur eine Schoͤnheit iſt an ausſchlieſſen¬ de Grade des Lobes und Feuers verwoͤhnt und haſſet jede Unvollſtaͤndigkeit und Theilung der fremden Empfindung; aber eine untergeordnete Geſtalt iſt genoͤthigt zur Zufriedenheit mit mitt¬ lern Stufen, und vergiebt manches, ausgenom¬ men manches. “
Walt hatte nichts weiter zu berichten, als ſeinen Plan, den reinen Himmel zu athmen auf einigen Tagreiſen, wo er auf nichts ausgehe, als auf den Weg. Vult genehmigte ihn ſtark. Jener wollte ſehr ſcheiden; aber der Floͤtenſpieler,69 durch Reiſen der Abſchieds-Abende gewohnt, machte nicht viel Weſens, ſondern ſagte luſtig: fahre dahin, fahre daher, gute Nacht, gluͤckli¬ che Reiſe. “
Die ſchoͤnſten Reiſe-Winke ſtanden am Him¬ mel. Glaͤnzend-ſcharf durchſchnitt die Mond - Sichel der Abendblumen das Blau; friſche Mor¬ genluft ſtrich ſchon uͤber dunkelrothen Wolken - Beeten am Himmel; und ein Stern nach dem andern verhieß einen reinen Tag.
Antritt der Reiſe.
Am Morgen ſah er auf der Schwelle reiſe¬ fertig noch einmal ſeine dunkle weſtliche Stube an, darauf ſogar in die Kammer hinein, und flog mit zwei liebreichen Blicken, die einen Ab¬ ſchied bedeuten ſollten, und mit einem an den Thurm, dem der Tod noch kein Schnupftuch zu¬ geworfen, freudig auf einen leeren Plaz am Thore hinaus, wo er ſich uͤberall umſehen, und70 unter den vier Holz-Armen eines Wegzeigers, bei ſich feſtſetzen konnte, wohin er gegenwaͤrtig gedenke, ob nach Weſten, Norden, Nordoſten, oder Oſten; aus Suͤden, dem Stadtthor, kam er aber[h]er.
Seine Hauptabſicht war, den Namen der Stadt gar nicht zu wiſſen, der er etwa unter Wegs aufſtieß, desgleichen der Doͤrfer. Durch eine ſolche Unwiſſenheit hoft 'er ohne alles Ziel unter den geſchlaͤngelten Blumenbeeten der Reiſe umher zu ſchweifen, und nichts zu begehren ſo wie zu beſehen, als was er eben habe — in ei¬ nem fort bei jedem Tritte anzukommen — ſich in jedes goldgruͤne Luſt-Waͤldgen zu betten, und ſtaͤnd' es hinter ihm — in jeder Ortſchaft ſelber den Namen der Ortſchaft zu erfragen, und daruͤber ſich ganz heimlich zu ergoͤtzen — und dabei, bei ſolchen Maasregeln in einem ſolchen Strich Landes, der vielleicht mit Landhaͤuſern, Irrgaͤrten, Tharanden, plauiſchen Gruͤnden vor¬ her, Bergſchloͤſſern voll herunterſehender Fraͤu¬ leins-Augen, Kapellen voll aufgehobner Beter - Augen und uͤberhaupt mit Pilgern, Zufaͤllen71 und Maͤdgen ordentlich uͤberſaͤet ſein konnte, in romantiſche Abentheuer von ſolcher Zahl und Guͤte hinein zugerathen, als er freilich nie erwar¬ ten wollen.
„ Mein guter Unendlicher in deinem blauen Morgenhimmel, betete er in ſeiner durchdringen¬ den Entzuͤckung, laſſe doch die Freude dasmal nichts vorbedeuten. “
Er hatte ſich in Acht genommen, an den Wegweiſer hinauf zu ſehen, der wie ein Affe vier Arme hatte, um nicht etwa an den abgewaſche¬ nen Armroͤhren einer Stelle anſichtig zu werden, von welcher die Zeit, beſonders die Regenzeit, den Namen der Poſt-Stadt noch nicht rein weg¬ gerieben hatte. Am welt - und geiſtlichen Arm - Paar waͤr 'er dieſe Gefahr nicht gelaufen, ſon¬ dern dieſes zeiget allgemeiner ins Blaue.
In Norden lag Elterlein; in Oſten ſtanden die Peſtizer oder Lindenſtaͤdter Gebuͤrge, uͤber welche die Straſſe nach Leipzig — auch eine Lin¬ denſtadt — weglief; zwiſchen beiden nun nahm der Notar den Weg, um die Hoͤhen, hinter wel¬ chen die holdſelige Wina jezt rollte oder ruhte,72 niemals aus den Augen zu verlieren, welche bald aus Blumenkelchen, bald aus Wolken auf Ge¬ buͤrgen trinken wollten. — Ein Gluͤck iſt's fuͤr den gegenwaͤrtigen Beſchreiber der Reiſe und des Rei¬ ſenden, daß Walt ſelber fuͤr ſein und des Floͤ¬ teniſten Vergnuͤgen ein ſo umſtaͤndliches Tage - oder Sekunden-Buch ſeiner Reiſe gleichſam als ein Opfer - und Sublimier-Gefaͤß des Lebens vollgefuͤllt, daß ein anderer weiter nichts zu thun braucht, als den Deckel dieſem Zucker - und Mutterfaſſe auszuſchlagen und alles in ſein Din¬ tenfaß einzulaſſen fuͤr jeden, der trinken will. Der leidende Menſch hat einen Erfreueten noͤthig — der Erfreuete in der Wirklichkeit einen in der Poeſie — und dieſer, wie Walt, verdoppelt ſich wieder, wenn er ſich beſchreibt.
„ Faſt wollt 'ich hoffen, ſo faͤngt Walt das Sekunden - und Terzienbuch an Vult an, daß mein liebes Bruͤderlein mich nicht auslachen wer¬ de, wenn ich meine unbedeutende Reiſe nicht ſo wohl in deutſche Meilen als ruſſiſche Werſte ab¬ theile, welche als bloße Viertelſtunden freilich ſehr kurz ſind, aber doch nicht zu kurz, ich mei73 ne fuͤr einen Menſchen auf der Erde. So wie es nicht auszukommen waͤre mit dem fluͤchtigen Leben, wenn man es, ſtatt an Minuten - und Stunden-Uhren, lieber an Achttage - oder gar Saͤkular-Uhren abmaͤße, gleichſam einen kurzen Faden an ungeheuern Welt-Raͤdern: ſo moͤchte man, zumal wenn ein Reich es thut, dem es am wenigſten an Raum fehlt, das ruſſiſche, dieſelbe Entſchuldigung haben, wenn man, da der kleine Fuß und der Schuh des Menſchen ſo¬ wohl ſein eignes Maas als das ſeiner Wege iſt, fuͤr bloße Fußreiſen die Werſte zum Wegmeſſer erwaͤhlt. Die Ewigkeit iſt ganz ſo groß als die Unermeslichkeit; wir Fluͤchtlinge in beiden haben daher fuͤr beide nur Ein kleines Wort, Bruder, Zeit-Raum. “
Als er ſeine erſte Werſte nordoͤſtlich antrat, Winas Gebuͤrge und die Fruͤh-Sonne zur Rech¬ ten und mitlaufende Regenbogen in den bethaue¬ ten Wieſen zur Linken: ſo ſchlug er die Haͤnde als Schellen einer morgenlaͤndiſchen Muſik gegen einander vor Luſt und wurde ſo leicht und be¬ hend von ſich ſelber dahin getragen, daß er kaum74 aufzutreten brauchte! Laͤuferſchuhe und Hoſen¬ ſaͤcke der Ohnehoſen geben dem Menſchen, wenn er ſonſt lange Stiefel und kurze Hoſen trug, faſt Fluͤgel. Sein Geſicht war voll Morgenluft und ein Orient der Phantaſie war in ſeinen Bli¬ cken gemahlt. Sein ſaͤmmtliches Muͤnzkabinet oder Studentengut hatt 'er eingeſteckt, als Sur¬ plus - und Operazionskaſſe, um an dieſer Geld - Kaze einen Schwimm-Guͤrtel fuͤr alle Hoͤllen - und Paradieſes-Fluͤſſe zugleich zu haben. Er bewegte ſich durch das widerſtrebende Leben ſo frei wie der Schmetterling uͤber ihm, der nichts braucht als eine Blume und einen zweiten Schmet¬ terling. Der Kunſtſtraße, woran er einen gan¬ zen Klumpen Reformatoren und Weg-Frotteurs ſtampfen und klopfen ſah, gieng er aus dem Wege, weil er ſich nicht damit plagen wollte, entweder Einen Morgengrus lang durch ſie hin¬ zuziehen, oder den naͤmlichen laͤcherlich immer von neuem zu ſagen, und doch wohl falſch ab¬ zuſetzen. Huͤgelauf, Thalein lief er in naſſen Gras-Bluͤthen und verlohr und erhielt abwech¬ ſelnd die Stadt, von welcher er indeß wuͤnſchte,75 daß er ſie endlich einbuͤſte, weil ihm ſonſt immer nicht recht war, als ſei er fort.
Er muſte noch zwei ſtarke Werſte zuruͤck le¬ gen, ehe ſie hinter den Obſthuͤgeln untergieng. Noch war ihm nichts beſonders unterwegs begeg¬ net, als der Weg ſelber, als er ſeinen Gruß ei¬ nem Menſchen, deſſen Geſicht ein Schnupftuch zuband, im Fluge zuwerfen konnte. Er gieng ſo lange fort, bis er glauben durfte, der Mann habe ſich umgeſehen, und er koͤnn 'es auch, oh¬ ne zuſammen zu ſtoſſen. Aber eben ſah jener her. Er gieng wieder weiter und blickte um — der Bandagiſt ſeiner Seits auch. Als er's zum drittenmal that, merkte er, daß der Mann trotzig ſtehen bleibe, und daß ihn die Ruͤckſicht gar verdruͤße. Da ließ ihn Walt laufen und ſtehen.
Er ſtieß bald — ſo wuchſen die Abentheuer — auf drei alte Frauen und eine blutjunge, welche mit hochaufgethuͤrmten Koͤrben voll Leſe¬ holz aus einem Waͤldgen kamen. Auf einmal ſtanden ſie alle in gerader Linie zugleich hinter einander ſtill, die ſchweren Koͤrbe auf den ſchief¬76 untergeſtellten Stecken auflehnend, die ſie vorher als Badinen getragen. Sein Herz machte viel dar¬ aus, daß ſie, wie Proteſtanten und Katholiken in Wezlar, ihre Ferien und Feiertage des Gehens gemeinſchaftlich abthaten, um beiſammen zu blei¬ ben und fort zu reden. Nie entwiſchte ſeinem Auge die kleinſte Handvoll Federn oder Heu, wo¬ mit ſich der Arme die harte Pritſche in der Wacht¬ ſtube ſeines Lebens etwas weicher bettet und ſich die Marterbank auspolſtert. Ein liebender Geiſt ſpuͤret gern die Freuden der Armen aus, um dar¬ uͤber eine zu haben; ein haſſender aber lieber die Plagen, ſeltener um ſie zu heben, als um uͤber die Reichen zu bellen, die er vielleicht ſelber ver¬ mehrt.
Herzlich gern wollt 'er den Fracht - und Kreuz¬ traͤgerinnen einige Groſchen Trage-Lohn auszah¬ len; er ſchaͤmte ſich aber vor ſo vielen Zeugen ei¬ ner warmen That. Darauf ſchob ein Mann ei¬ nen Karren voll hoher klappernder Blechwaaren daher; ſein Toͤchtergen war als Vorſpann vorge¬ legt; beide keuchten ſtark. Es zwang ihn, ſich mit dem Karrenſchieber zuſammen zu halten und77 ſich auf die eine Wagſchale zu ſtellen, den Kaͤr¬ ner auf die andere. Da er nun ſogleich bemerkte, wie ſehr er mit ſeinen Gluͤcksloſen und Zucker¬ huͤten den Kaͤrner uͤberwiege — der alten Holz¬ weiber nicht einmal zu gedenken —; da er finden mußte, daß ſein freies fliegendes Fortkommen ge¬ gen das traͤge Karren - und Stunden-Rad des Mannes gemeſſen, mehr der freudigen leichten Weiſe beikomme, wie die Groſſen reiſen: ſo wurd' er roth uͤber ſeinen Reichthum und Stand — er ſah die Weiber noch halten und lehnen — er lief zuruͤck mit vier Gaben und eilig davon.
„ Bei Gott, ſchreibt er in ſein Tagebuch, um ſich ganz zu rechtfertigen — der armſelige fluͤchti¬ ge Sinnen-Kizel einer beſſern Nahrung, welchen etwan ein paar geſchenkte Groſchen bereiten koͤn¬ nen und uͤberhaupt der Genuß, der kann nie der Anlas werden, daß man die Groſchen ſo freu¬ dig hinreicht; aber die Freude, die man da¬ durch auf einen ganzen Tag lang in ein ausge¬ hungertes Herz und in ſeine welken, kalten engen Adern auswaͤrmend hinein gieſſet, dieſer ſchoͤnſte Himmel anderer Menſchen iſt doch wohl wohlfeil78 genug damit erkauft, daß man ſelber einen dabei hat. “ Hier kramt er weitlaͤuftig ſeinen alten Traum von dem Gluͤcke eines reiſenden Mylords aus, auf einmal durch eine ofne volle Hand ein ganzes Dorf unter Bier und Fleiſchbruͤhe zu ſe¬ zen und in ein Elyſium langer Erinnerung.
Mit drei Himmeln im unſchuldigen Geſicht — noch einen mehr hatt 'er auf den Geſichtern hinter ſich gelaſſen — glitt er leicht von Thautropfen zu Thautropfen. — Das Herz wird wie ein Luft¬ ſchif durch den Auswurf des ſchwerſten Ballaſtes, des Geldes, ſo leicht, ſo ſchnell, ſo hoch. In¬ deß traf er ziemlich ſpaͤt in dem nur vier kleine Werſte entlegenen Haͤrmlesberg ein. Denn uͤberall ſaß und ſchrieb, oder ſtand und ſah er oder las alles — jede Inſchrift einer Steinbank — und wollte keine Kleinigkeit uͤbergehen, ſie muͤßte denn Bevoͤlkerung, Stallfuͤtterung, Wieſenwuchs, Lehmboden und dergleichen betroffen haben.
„ Drinnen will ich, ſagt 'er zu ſich, da ich doch einem groſſen Herren aͤhnlich ſcheinen ſoll, mein déjeûner d'inatoire einnehmen “und trat in den Krug.
79Wirthshaͤuſer — Reiſebeluſtigungen.
Der Notarius, der unter die Menſchen ge¬ hoͤrte, welche wohl Jahre lang daheim ſparen koͤnnen, aber nicht unterwegs — hingegen andere kehren es gerade um — foderte kek ſein Noͤſel Landwein. Dabei aß und ſaß er und beobachtete vergnuͤgt die Wirthsſtube, den Tiſch, die Baͤnke und die Leute. Als einige Handwerkspurſche ih¬ ren Kaffee bezahlten: bemerkte er ſehr wahr, daß die Milchtoͤpfgen in Franken ihren Giesſchnabel dem Henkel gegenuͤber haben, in Sachſen aber links oder gar keinen. Mit gedachten Purſchen gieng ſeine Seele heimlich auf Reiſen. Giebt es etwas ſchoͤneres, als ſolche Wanderjahre in der ſchoͤnſten Jahrszeit und in der ſchoͤnſten Lebenszeit, bei ſolchen Diaͤtengeldern, die man unterwegs bei jedem Meiſter erhebt, und bei ſolcher Leichtigkeit, in die groͤßten Staͤdte Deutſchlands ohne alle Reiſe¬ koſten zu gehen, und ſobald kaltes naſſes Wetter einbricht, ſogar auf einem Arbeitsſtuhl haͤuslich zu niſten und zu bruͤten wie der Kreuzſchnabel im80 Winter? — „ Warum, (ſchreibt ſein Tagebuch Vulten,) muͤſſen die armen Gelehrten nicht wan¬ dern, denen das Reiſen und das Geld dazu gewis eben ſo noͤthig und dienlich waͤre als allen Ge¬ ſellen? “—
„ Drauſſen im Reich “ſagte ſtets Walts Va¬ ter, wenn er bei Schneegeſtoͤber von ſeinen Wan¬ derjahren erzaͤhlte; und daher lag dem Sohne das Reich in ſo romantiſchem Morgenthau blizend hin als irgend eine Quadratmeile von Morgen¬ land; in allen Wandergeſellen verjuͤngte ſich ihm die vaͤterliche Vergangenheit.
Jezt fuhr ein Salzkaͤrner mit Einem Pferde vor, trat ein, wuſch ſich in einer ganz fremden Stube oͤffentlich und troknete ſich mit dem an einem Hirſchgeweih 'haͤngenden Handtuch ab, oh¬ ne noch fuͤr einen Kreuzer verzehrt oder begehrt zu haben. Walt bewunderte den kraͤftigen Welt¬ mann, ob er gleich nich aͤhig geweſen waͤre, ſich nur unter vier Augen die ſeinigen zu waſchen. Dennoch exerzirte er — da er in etwas getrun¬ ken — einige Wirthshaus-Freiheiten, und gieng in der Stube wohlgemuth umher, ja auf und ab.
81Ob er gleich nicht im Stande war, unter ei¬ ner fremden Stubendecke den Hut aufzubehalten — ſogar unter ſeiner ſah er ungern bedekt aus dem Fenſter aus Artigkeit —: ſo hatt 'er doch ſeine Freude daran, daß andere Gaͤſte ihren auf¬ hatten, und ſonſt uͤberall von den herrlichen aka¬ demiſchen Freiheiten und Independenzakten der Wirthsſtuben den beſten Gebrauch machten, es ſei, daß ſie lagen, oder ſchwiegen, oder ſich kraz¬ ten. Ihm ſchienen die Wirthsſtuben ordentlich als huͤbſche geraͤumliche, aus abgebrochenen ein¬ geaͤſcherten Reichsſtaͤdten unverſehrt herausgeho¬ bene reichsunmittelbare Diogenes-Faͤſſer vorzu¬ kommen, als huͤbſche aus Marathons-Ebenen ausgeſtochne Gruͤnplaͤtze, vom Keller gruͤnend ge¬ waͤſſert.
Es wurde ſchon erwaͤhnt, daß er auf und ab gieng; aber er gieng weiter und — denn das Wirthshausſchild ſezt 'er als Achilles-Schild vor, den Weinbecher als Minervens Helm auf — ſchrieb unter aller Augen ein und das andere Tex¬ teswort in ſeine Schreibtafel, um, wenn er allein waͤre Abends im Quartier, daruͤber zu predigen. Flegeljahre III. Bd. 682Auch trug er ein, daß auf dem Schilde des Wirthshaͤusgens ein Schilderhaͤusgen ſtand.
Der Muth der Menſchen waͤchſet leicht, iſt er nur herausgekeimt; — Kommende gruͤßten leiſe, Gehende laut; der Notarius dankte beiden lauter. Er war ſo freudig bei einem Freudenbe¬ cher, den nicht einmal ſaͤchſiſcher Landwein haͤtte waͤſſern koͤnnen. Er liebte jeden Hund, und wuͤnſchte von jedem Hund geliebt zu ſeyn. Er knuͤpfte deswegen mit dem Wirthsſpize — um nur etwas fuͤr das Herz zu haben — ein ſo en¬ ges Band von Bade-Bekanntſchaft und Freund¬ ſchaft an als ein Stuͤckgen Wurſthaut bei ſolchen Weſen ſeyn kann. Fuͤr warmherzige Neulinge ſind wohl ſtets die Hunde die Hundsſterne, durch deren Leitung ſie zur Waͤrme der Menſchen zu ge¬ langen ſuchen, ſie ſind ſo zu ſagen die Saufinder und Truͤffelhunde tief verſtekter Herzen. „ Spiz, gieb die Pfote, rief der Wirth in Haͤrmlesberg. Spiz, oder der Spiz — denn der Gattungsname iſt, was bei dem Menschen ſelten, in Deutſchland und in Haslau, zugleich der perſoͤnliche, ausge¬ nommen in Thuͤringen, wo die Spize Fixe heiſ¬83 ſen — Spiz druͤkte dem Notar die Hand, ſo weit er wußte.
„ Gebt dem Herrn auch eine Patſchhand, Beſtien, rief der Wirth, als drei kleine, arm¬ lange gepuzte Maͤdgen von einerlei Statur und Phyſiognomie an der Hand einer jungen ſchoͤnen, aber ſchneeblaſſen Mutter hereintraten aus der Schlafkammer. „ Es ſind Drillinge und ſollen zu ihrer Frau Pathin “ſagte der Wirth. Gott¬ walt ſchwoͤrt im Tagebuch, daß etwas „ aller¬ liebſteres herzinniglicheres “es gar nicht gebe, als drei ſo liebe huͤbſche, niedliche Maͤdgen von einer¬ lei Hoͤhe, mit ihren Schuͤrzgen, und Haͤubgen und runden Geſichtergen ſind, wobei nur zu bedauern ſei, daß es Drillinge geweſen, und nicht Fuͤnf¬ linge, Sechslinge, Hundertlinge. Er kuͤßte ſie alle vor der ganzen Wirthsſtube kurz und wurde roth; — es war halb, als hab 'er die zarte blei¬ che Mutter mit der Lippe angeruͤhrt; auch ſind ja die guten Kinder die ſchoͤnſte Weſen - und Jakobs¬ leiter zur Mutter. Dabei ſind ſolche winzige Maͤdgen fuͤr Notarien, welche ohne Muth und ohne Elektriſir - und Sprachmaſchine fuͤr erwach¬84 ſene Maͤdgen dazuſtehen fuͤrchten, ordentlich die ſchoͤnen Ableiter und Zuleiter, geſchenkte Rechen¬ knechte fuͤr den Augenblik; — man wundert ſich froͤlich und heimlich, daß man ein Ding wie ein Maͤdgen, ſo dreiſt umhalſet. Walt wurde der Kleinern ſpaͤter ſatt, als ſie ſeiner. Er war ja dem Drilling — als eigner Zwilling — viel ver¬ wandter, als alle Gaͤſte in der Stube. Er be¬ ſchenkte ſie geldlich zur hoͤchſten Freude der Mut¬ ter. Dafuͤr bekam er drei Kuͤſſe, die er lange zuruͤklieferte, nur bei ſich betruͤbt, daß ein Tauſch¬ handel ſolcher Artikel ſelber ſo fruͤh dem Tauſche der Zeit heimfalle. „ Ei, Herr guter Harniſch! “ſagte der Wirth. Walt wunderte ſich uͤber die Kenntnis ſeines Namens, aber nicht ohne Ver¬ gnuͤgen, ja mit einiger Hofnung, daß es, nach einem ſolchen Anfange zu urtheilen, wohl noch ſeltſamere Avantuͤren zu erleben gebe. Er wollte daher lieber nicht fragen, wie und wo und wann, aus Furcht, um ſeine Hofnung zu kommen.
Mit Wolluſt ſah er zu, wie der Vater ſich von den Kindern Aepfel abkaufen ließ, um Walts Geld von ihnen zu haben — und wie die Mutter85 dem erſten Drilling Brod zulangte, damit er wieder davon furchtſam eine Ziege unter dem Fen¬ ſter abknuppern lieſſe — und wie der zweite herz¬ haft in einen Apfel einbiß, ihn dem dritten zum Beiſſen hinhielt, und wie beide ihn wechſelnd an¬ biſſen und reichten und jedesmal laͤchelten. „ O waͤr 'ich nur ein wenig allmaͤchtig und unendlich — dachte Walt — ich wollte mir ein beſonderes Weltkuͤgelgen ſchaffen und es unter die mildeſte Sonne haͤngen, ein Weltgen, worauf ich nichts ſezte, als lauter dergleichen liebe Kinderlein; und die niedlichen Dinger ließ' ich gar nicht wachſen, ſondern ewig ſpielen. Ganz gewis, wenn ein Seraph himmelsſatt waͤre oder ſonſt die goldnen Fluͤgel haͤngen lieſſe, koͤnnt 'ich ihn dadurch her¬ ſtellen, daß ich ihn einen Monat lang auf meine ſpringende jubelnde Kinderwelt herabſchikte, und kein Engel koͤnnt', ſo lange er ihre Unſchuld ſaͤhe, ſeine eigene verlieren.
Endlich ruͤkten die Kinder, einander an den Haͤnden zu fuͤhren befehligt, mit der Mutter aus, zur Frau Pathin. Ein langer Tyroler mit gruͤ¬ nem Hut, von welchem bunte Baͤnder flatterten.86 trat ſingend hinein. — Walt trank und brach auf. Schoͤn war drauſſen die Welt, ſogar noch in Haͤrmlesberg. Im Dorfe wurde Zimmerholz mit lauten Schlaͤgen zugehauen, und, mit der rothen Meßſchnur angeſchnellet, in gerade For¬ men abgetheilt; — alle Kinderſzenen unter dem Bauholz ſeines Vaters kamen mit dem Roſenho¬ nig der Erinnerung aus den Kindheitsroſen bela¬ den zuruͤk. Bleicherinnen mit groſſen Huͤten be¬ goſſen, leicht gebuͤkt, die weiſſen Beete aus Flachs-Lilien. Aus dem Hut, den ein Maͤdgen an langen Baͤndern an der Hand herunter haͤngen ließ, floh er zu den blauen, gelben Glaskugeln eines Gartens auf, und wiegte ſich uͤberall.
Izt kam er in die lange Gaſſe des aus Ber¬ gen, wie aus Pallaͤſten zuſammen gereiheten Ro¬ ſana-Thals hinein — Edens Gartenſchluͤſſel wurden ihm vorn uͤberreicht, und er ſperrte es auf. „ Der voͤllige Fruͤhling iſt da, der Orpheus der Natur, ſagt 'ich (ſchreibt er) denn die Wieſen bluͤhen ja — die Dotterblumen ſtehen ſo dicht — den Heu-Bergen ziehen kleine Kinder mit groſſen Rechen kleine Huͤgel zu — oben aus den Waͤldern87 der Berge ruft die Waldlerche und die Droſſeln herrlich herunter — ſchoͤne Fruͤhlingswinde ziehen durch das lange Thal — die Schmetterlinge und die Muͤcken halten ihren Kinderball und der Ro¬ ſennachfalter oder das Goldvoͤgelgen ſizt ſtill auf der Erde — die Blaͤtter der Kirſchbaͤume gluͤhen roth, wie ihre Fruͤchte, nach, und ſtatt blaſſer Bluͤthen fallen ſchoͤn bemalte Blaͤtter — und im Fruͤhling wie im Herbſte zieht die Sonne am Spinnrade der Erde fliegendes Gewebe aus — — wahrhaftig es iſt ein Fruͤhling, wie ich noch ſel¬ ten einen geſehen. “
Im hohen Aether waren zarte Streifen, Silber¬ blumen gewebt und Meilen-tief darunter zog lang¬ ſam ein Wolken-Gebuͤrge nach dem andern hin; — zwiſchen dieſe aufgebauete Kluft im Blau flog Walt, und wandelte auf dem Himmelswege aus Duft leicht dahin und ſah oben noch hoͤher auf. Doch ſah er auch herab ins heimliche Thal — ſah den ſtillen glatten Fluß darin gleiten — Waͤlder bogen ſich liebend von einem Bergruͤcken hinein, am andern glaͤnzten Trauben und Wein¬ bergshaͤusgen und reife Beete. — Er fuhr wie¬88 der hernieder in ſein langes Thal, wie auf einen Eltern-Schoos.
„ Wie geht es ſich ſo ſchoͤn in den Saͤulenhal¬ len der Natur, auf dem Gruͤn und zwiſchen dem Gruͤn, in ewiger Begleitung des unendlichen Le¬ bens! ſang er, ohne beſondere Metrik, laut hin, und ſah ſich um, damit niemand ſeine Singſtim¬ me belauſche. — Wallet nur hin, ihr huͤbſchen Schmetterlinge, und genieſſet die Honigwoche des kleinen Seins — ohne Hunger, ohne Durſt*)Schmetterlinge haben nur eine Herzkammer und die meiſten keinen Magen. — ein ſchoͤnes Sonnenleben — ein Liebesſein — und die einzige Kammer des Herzens iſt nur eine ewige Brautkammer der Liebe — beugt die Blumen — laſſet euch wehen — ſpielt im Glanz und entzit¬ tert nur linde wie Bluͤthen dem Leben. “
Er ſah eine Heerde ſtummer Nachtigallen, die ſich zum naͤchtlichen Abzug ruͤſteten. „ Wo fliegt ihr hin, ihr ſuͤſſen Fruͤhlings-Klaͤnge? Sucht ihr die Myrte zur Liebe, ſucht ihr den Lorbeer zum Sange? Begehrt ihr ewige Bluͤ¬89 then und goldne Sterne? So fliegt nur ohne Stuͤrme unter unſern Wolken fort und beſingt die ſchoͤnſten Laͤnder, aber fliegt dann liebesbruͤn¬ ſtig in unſern Fruͤhling zuruͤk, und ſingt dem Herzen in ſchmachtenden Toͤnen das Heimweh nach goͤttlichen Laͤndern vor. “
„ Ihr Baͤume und ihr Blumen, ihr neigt euch hin und her, und moͤchtet noch lebendiger werden und reden und fliegen, ich liebe euch, als waͤr 'ich eine Blume und haͤtte Zweige; einſtens werdet ihr hoͤher leben. “ Und da bog er einen tief ans Waſſer ſich neigenden Zweig gar ein we¬ nig in die Wellen hinein.
Ploͤzlich hoͤrt 'er in tiefer Ferne hinter ſich eine Floͤte durch das Thal gleichſam auf dem Strom herunter kommen, dem Wehen entgegen. Die Ferne iſt die Folie der Floͤte; und ihm, der mehr ihren Ton als ihren Gang verſtand, war keine nahe gute nur halb ſo lieb. Die Toͤne ſchie¬ nen nachzukommen, doch ſchwaͤcher. Am Wege ſtand eine Steinbank, die ihn in dieſer Einſam¬ keit ſchoͤn an die Menſchenſorge fuͤr andere Men¬ ſchen erinnerte. Er ſezte ſich ein wenig darauf,90 um gleichſam zu danken. Aber er legte ſich bald ins hohe Ufer-Gras, um der guten Erde, die zugleich der Stuhl, der Tiſch und das Bette der Menſchen iſt, naͤher zu ſeyn, und regte ſich we¬ nig, um die im warmen ſtillen Uferwinkel ſpie¬ lenden Eintags-Fiſchgen nicht wegzuſchrecken. Er liebte nicht einen und den andern Lebendigen, ſon¬ dern das Leben, nicht einmal die Ausſichten, ſon¬ dern alles, die Wolke und den Gros-Wald der goldnen Wuͤrmgen, und er bog ihn aus einander, um ihren Aufenthalt zu ſehen und ihre Brodbaͤum¬ gen und ihre Luſtgaͤrtgen. Er hielt lieber mit Schreiben und Dichten auf ſeiner Schreibtafel in¬ nen, wenn ein buntes weiches Weſen uͤber die glatte Flaͤche ſich wegarbeitete, als daß er es weggeſchnellet oder gar erdruͤkt haͤtte. „ Gott, wie koͤnnte man ein Leben toͤdten, das man recht an¬ geſehen, z. B. nur eine halbe Minute lang “fragt' er.
Er hoͤrte die Floͤte, die gleichſam aus dem Herzen der ſtummen Nachtigallen ſprach. Heiſſe Freudentropfen ſog das dunkle Getoͤn aus ſeinem von tauſend Reizen uͤberfuͤllten Auge. Izt ſchlu¬91 gen ein Paar große helle Tropfen aus einer war¬ men Fluge-Wolke uͤber ihm auf ſeine flache Hand herab — er ſah ſie lange an, wie er es ſonſt als Kind bei Regentropfen gemacht, weil ſie vom hohen fernen heiligen Himmel gekom¬ men. Die Sonne ſtach auf die weiſſe Haut, und wollte ſie wegkuͤſſen — er kuͤſte ſie auf und ſah mit unausſprechlicher Liebe nach dem warmen Himmel auf, wie ein Kind an die Mutter.
Er ſang nicht mehr, ſeitdem er hoͤrte und weinte. Endlich ſtand er auf, und ſezte ſeinen Him¬ melsweg fort, als er einige Schritte in der Naͤhe einen aus der Hutſchnur eines Fuhrmanns ent¬ fallenen Zollzettel auf dem Wege gewahr wurde. In der Hoffnung, daß er dem Mann vielleicht nachkomme und ihn finde, hob er das Blaͤttgen auf; weil ihm nichts Fremdes klein, wie nichts Eignes wichtig vorkam; und weil ſein poetiſcher Sturm leichter einen Gipfel bog, als eine Blu¬ me. Wenn die Leidenſchaft gluth-verworren auffliegt, wie ein brennendes Schiff: ſo fliegt die zarte Dichtkunſt des Herzens nur auf, wie eine goldne Abendroth-Taube, oder wie ein Chri¬92 ſtus, der gen Himmel geht, weil er eben die Erde nicht vergiſſet.
Die Floͤte floß ihm immer durch das Beete des Thales nach, ohne doch weder naͤher zu kommen, wenn er ſtand, oder zuruͤck zu bleiben, wenn er lief.
Jzt ſchwang ſich die Landſtraße ploͤzlich aus dem Thale den Berg hinauf. — Die Floͤte drun¬ ten wurde ſtill, da ſich oben die Weltflaͤche weit und breit vor ihm aufthat, und ſich mit zahl¬ loſen Doͤrfern und weiſſen Schloͤſſern anfuͤllte, und mit waſſerziehenden Bergen und mit gebog¬ nen Waͤldern umguͤrtete. Er gieng auf dem Bergruͤcken wie auf einer langen Bogen-Bruͤcke, uͤber die unten gruͤnende Meeresflaͤche zu beiden Seiten hin.
Er war ganz allein und vor Ohren ſicher, er pfiff frei daher figurirte Chorale, Phantaſien, und zulezt alte Volksmelodien, und hoͤrte nicht ein¬ mal auf, wenn er einathmete. Gegen die Natur aller andern Blasinſtrumente, bleibt dieſe Mund¬ harmonika wie die andere, romantiſch und ſuͤß in großer Naͤhe — keinen halben Fuß vom Oh¬93 re — und wie bei der Muſik im Traum, iſt hier der Menſch zugleich der Inſtrumentenma¬ cher, Komponiſt und Spieler, ohne im gering¬ ſten einen andern Lehrmeiſter dazu gehabt zu ha¬ ben als wieder ſich, den Schuͤler ſelber.
Immer betrunkner und gluͤcklicher wurde Walt, als er auf dieſer erſten Schaͤferpfeife, auf dieſem erſten Alphorn fort blies, dem Morgen¬ winde entgegen, der die Toͤne in die Bruſt zuruͤck wehte; und zulezt wurd 'ihm, als komme das verwehte Getoͤn aus weiter Ferne her. Da er lange ſo gieng und traͤumte — da er von dem Bergruͤcken bald links in die Hirtenſtuͤcken der Wieſen hinunter ſah und zu den Kirchthuͤrmen von Altengruͤn — von Jodiz — von Thalhau¬ ſen — von Wilhelmsluſt — von Kirchenfelda — und die Jagd - und Luſtſchloͤſſer erblickte, deren beide Namen allein, wie romantiſche Zauberwor¬ te, alte Gegenden und Paradieſe der Kinderſeele erſcheinen lieſſen — da er bald wieder rechts hin¬ unter ſchauete auf die zweite Ebene, worin ſich der gerade Fluß ſeines Thales, die Roſana, frei geworden auf einem blumigen Tanzplaz ſchlaͤn¬94 gelte und das Silber-Schild der Sonne trug und immer zeigte — und da er das Auge auf die Lindenſtaͤdter Gebuͤrge warf, wo unter den hohen hellen Laubholzwaͤldern die dunklen Tan¬ nen-Waldungen gleichſam nur als breite Schlag¬ ſchatten zu ſtehen ſchienen — und da er in den Himmel ſah, worin ſtill und leicht die Wolke und die Taube flog — und da in den Waͤldern des Thals die Herbſtvoͤgel ſchrien, und in den Steinbruͤchen einzelne Schuͤſſe lang fort halleten: ſo ſchwieg er wie aus Andacht vor Gott, und dachte dem, was er ſingen wollte nach, als ob der Unendliche nicht auch das Denken hoͤre; bis er mit leiſer Stimme den Strekvers ſang und wiederhohlte, den er ſchon laͤngſt gemacht:
O wie iſt der Himmel, wie die Erde ſo voll freudiger Stimmen! Viel ſchoͤner als dort, wo einſtens der Chorus laut jammerte, und nur Niobe ſchwieg und unter dem Schleier ſtand mit dem unendlichem Weh, jauchzen die Choͤ¬ re im Himmel und auf Erden, und nur der Allſeelige iſt ſtill, und der Aether verſchleiert ihn.
95Darauf ſah er gen Himmel, nannte Gott zweimal du und ſchwieg lange; und hielt es fuͤr erlaubt, ſogleich an Wina zu denken. Ploͤzlich kam ein altes vertrautes, aber wunderbares Mit¬ tagsgelaͤute aus den Fernen heruͤber, ein altes Toͤnen wie aus dem geſtirnten Morgen dunkler Kindheit; ſiehe Meilen-tief in Weſten ſah er Elterlein hinter unzaͤhligen Doͤrfern liegen und glaubte die alte Dorf-Glocke zu erkennen, und Winas weiſſes Bergſchloß, ja ſogar das elterliche Haus. Er dachte voll Sehnen an ſeine fernen Eltern — an das Stillleben der Kindheit — und an die ſanfte Wina, die ihm, auch im Stillle¬ ben ihrer Kindheit, einſt die Aurikeln in die Hand gelegt — ſein Auge hieng an den oͤſtlichen Ge¬ buͤrgen im ſtillen Blau, hinter welche er wie hin¬ ter Kloſtermauern Wina als ſanfte Nonne in Blumen ihres Kloſter-Gartens ſinnend gehen ließ. Glocken aus mehreren Doͤrfern toͤnten zu¬ ſammen — der Morgenwind rauſchte ſtaͤrker — der Himmel wurde blauer und reiner — der bun¬ te! leichte Teppich des Erdenlebens breitete ſich uͤber die Gegend aus, und flatterte an den En¬96 den und Walt wohnte, wie ein Traum, nur in der Vergangenheit.
Er ſang voll Seeligkeit und nannte ihren Namen nicht: „ es zieht in ſchoͤner Nacht der Sternenhimmel, es zieht das Fruͤhlings-Roth*)Die Abendroͤthe in Norden. , es ſchlaͤgt die Nachtigall — und der Menſch ſchlaͤft und merkt es nicht; — endlich geht ſein Auge auf, und die Sonne ſieht ihn an. O Lina, Lina, du giengſt auch voruͤber mit dei¬ nen Blumen — mit den ſuͤſſen Toͤnen — und mit Liebe — aber mein Auge war blind; nun iſt es aufgethan, allein die Blumen ſind ver¬ welkt, die Worte ſind vergangen, und du glaͤn¬ zeſt hoch als Sonne. “—
Hier kehrte er um vor dem lauten Wehen; er fand die Welt ſonderbar ſtill um ſich; nur das Gelaͤute klang allein und leiſe, wie Schal¬ meien der Kindheit, und er wurde ſehr bewegt. Er lief wieder und ſang immer heiſſer: „ naſſes Auge, armes Herz, ſiehſt du nicht den Himmel und den Lenz und das ſchoͤne Leben? Warum97 weinſt du? Haſt du was verloren, iſt wer ge¬ ſtorben? Ach ich habe nichts verloren, mir iſt nichts geſtorben; denn ich habe noch nicht je geliebt, o laſſ 'mich weiter weinen! “
Zulezt ſang er nur einzelne Fuͤſſe noch, oh¬ ne beſondern Zuſammenhang — er kam eiliger durch Beete — durch gruͤne Thaͤler — uͤber klare Baͤche — durch Mittagsſtille Doͤrfer — vor ruhendem Arbeitszeug vorbei — auf dem Zau¬ berkreis der Hoͤhen ſtand Zauberrauch — der Sturmwind war entflohen, und am klaren Him¬ mel blieb das groſſe unendliche Blaue zuruͤck — Vergangenheit und Zukunft brannten hell und nahe, entzuͤndet vor Gegenwart — der Blu¬ menkelch des Lebens umſchloß ihn bunt-daͤm¬ mernd, und wiegte ihn leiſe — und Pans Stun¬ de gieng an — —
„ Jezt ergrif mich — ſchreibt er in ſeinem Tagebuche — Pans Stunde, wie allemal auf meinen Reiſen. Ich moͤchte wohl wiſſen, wo¬ her ſie dieſe Gewalt bekommt. Nach meiner Meinung dauert ſie von 11 und 12 bis 1 Uhr; daher glauben die Griechen an die Pans -, dasFlegeljahre III. Bd. 798Volk an die Tags-Geiſterſtunde, auch die Ruſ¬ ſen*)Wenden und Ruſſen nehmen eine, Glieder rauben¬ de, Mittags-Teufelin an. Lauſiz, Monatsſchrift 1797. 12 Stuͤck. . Die Voͤgel ſchweigen um dieſe Zeit. Die Menſchen ſchlafen neben ihrem Arbeitszeug. In der ganzen Natur iſt etwas Heimliches, ja Un¬ heimliches, als wenn die Traͤume der Mittags¬ ſchlaͤfer umherſchlichen. In der Naͤhe iſt es lei¬ ſe, in der Ferne an den Himmels-Graͤnzen ſchweifet Getoͤn. Man erinnert ſich nicht ſowohl der Vergangenheit, ſondern ſie erinnert ſich an uns und durchzieht uns mit nagender Sehn¬ ſucht; der Strahl des Lebens bricht in ſeltſam¬ ſcharfe Farben. — Allmaͤhlig gegen die Veſ¬ per wird das Leben wieder friſcher und kraͤfti¬ ger. “—
Der Bettel-Stab.
In Gruͤnbrunn kehrt 'er ein. Im Wirths¬ haus hielt er ſeine Wachsfluͤgel an's Kuͤchen¬99 feuer, und ſchmolz ſie ein wenig. In der That braucht der Menſch bei den beſten Fluͤgeln fuͤr den Aether doch auch ein Paar Stiefel fuͤr das Pflaſter. Da der Speiſeſaal ſchon voll Hunde und Herren war: ſo ſezt' er ſich lieber unter eine Vorhalle oder Vordachung zu Tiſch, die ſo breit war als der Tiſch. Es war ihm, als ſei er ein Patriarch, da er in einem ofnen freien luftigen Halb-Haus am Hauſe ſitzen, und die ganze ſich aufblaͤtternde Welt umherhaben konnte. Er ſah hinaus in die ihm fremden Gegenden und Felder, und er fuͤhlte ſich einem leichten Trou¬ badour alter Zeiten gleich, nachdem er zuſam¬ men gerechnet hatte, daß er jezt ſchon in einer Ferne von neunzehn Werſten von ſeiner Heimath lebe. Er trug in ſein Reiſebuch die oͤkonomiſche Gewohnheit ein, die er vor ſich ſah, die Wieſen mit einem Kohl - oder anderen Fruchtbeete zu umraͤndern, anſtatt daß man ſonſt umgewandt Beet-Felder in Wieſen-Raine einſchlieſſet; und bemerkte gegen einen neben ihm eſſenden Bauers¬ mann, das ſehe ſehr niedlich aus.
Man lieſſ 'ihn lange in ſeinem Nachklange100 des melodiſchen Vormittags, in jener epiſchen Stimmung ſitzen, worin er das Kommen und das Verſchwinden der Sterblichen im Wirths¬ hauſe anſah, und warten, bevor man ihm ſein Tiſch-Tuch und ſeinen Teller Eſſen auftrug. Es iſt vielleicht der Muͤhe werth, zu bemerken, daß er nicht aufaß, theils aus Freundlichkeit gegen den Wirth, um ihn nicht um die Nach¬ leſe zu bringen, theils weil der Menſch, gleich ſeinen Unter-Koͤnigen, dem Adler und dem Loͤwen, eine beſondere Neigung hat, nie rein aufzuſpeiſen, wie man an Kindern am erſten wahrnimmt. Der Notar begriff gar nicht, wie der Bauers¬ mann und andere Gaͤſte im Stande ſein konnten, den Teller ordentlich zu ſcheuern und zu troknen, und jeden abgeglaͤtteten Knochen noch zu tre¬ panieren und, wie Canonen und Perlen, zu durchbohren.
Nach dem Eſſen ſtellte er ſich vor die ofne Saalthuͤre der Tafelſtube, um mit dem im Zau¬ berthal gefundenen Zollzettel in der Hand, und mit deſſen Uebergabe zu warten, bis die ſpeiſen¬ den Fuhrleute, die er in corpore anzureden101 und zu befragen ſcheuete, einzeln heraus kaͤmen. Da ſtand ein junges ſchnippiſches dreizehnjaͤhri¬ ges Fuhrmaͤnnlein in blauem Hemde und dicker weiſſer Schlafmuͤtze auf, drehte ganz heimlich des Wirths Sand-Uhr um, und wollte dem Mann im eigentlichen Sinne (denn es war erſt ein Drittel Stunden-Sand verlaufen) die Zeit ver¬ treiben.
Aber der Notar fuhr erboſſet hinzu und kehrte die Umkehrung um, viel zu unvermoͤgend, ein haͤmiſches Unrecht, das er gegen ſich erdul¬ den konnte, gegen einen andern zu ertragen.
Dieſe Hitze ſezt 'ihn in Stand, den Zettel vor der ganzen table d' hôte empor zu heben und auszurufen, ob ihn jemand verloren. Ich Herr, ſagte ein langer heruͤber geſtrekter Arm, und ergrif ihn, und nikte Einmal kurz mit dem Kopfe ſtatt der warmen Dankſagung, auf die Walt aufgeſehen.
Auf dem Fenſter ſah er neben der Uhr das Schreibbuch des Wirths-Kindes liegen, dem zu drei Zeilen die drei Worte Gott — Walt — Harniſch vorgezeichnet waren. Er war ſehr102 daruͤber erſtaunt, und fragte den Wirth, ob er etwan Harniſch heiſſe. „ Karner iſt mein Na¬ me “ſagte dieſer. Walt zeigte ihm das Buch und ſagte, er ſelber heiſſe wie da ſtehe. Der Wirth fragte grob, ob er denn auch wie die vorige Sei¬ te heiſſe: Hammel — Knorren — Schwanz — ꝛc.
Jezt wollte der Notar wieder Fluͤgel anſtatt der Pferde nehmen und fort, und vorher bezah¬ len, als ihn ein Bettelmann dadurch aufhielt und erfreuete, daß er ſein Allmoſen in Natura¬ lien eintreiben wollte, und um ein Glas Bier bettelte, wahrſcheinlich ein ſtiller Anhaͤnger des phyſiokratiſchen Syſtems. Da der Mann unter dem Einkaſſiren der kleinen Naturalbeſoldung ſeinen Bettelſtab in eine Ecke ſtellte: ſo gab das dem Notar Gelegenheit, dieſen dornigen, ſchwe¬ ren Stab in die Hand zu nehmen. Walt hob und ſchwang ihn mit dem beſondern Gefuͤhl, daß er nun den Bettelſtab, wovon er ſo oft gehoͤrt und geleſen, wirklich in Haͤnden halte.
Zulezt — da er ſich es immer waͤrmer aus¬ einander ſezte, wie das der lezte und duͤnnſte Maſt eines entmaſteten Lebens, ein ſo duͤrrer Zweig103 aus keinem goldnen Chriſtbaum, ſondern aus der Klag-Eiche ſei, eine Speiche aus Jxions Rad — wurd 'er erfaſſet; er handelte dem Bettelmann, der vom Ernſt nicht anders zu uͤberzeugen war, als durch Geld, den Stab ab, die einzige Nip¬ pe, die der Mann hatte. „ Dieſer Stab — ſag¬ te Walt zu ſich — ſoll mich wie ein Zauberſtab verwandeln, und beſſer als eine Lorenzo-Doſe barmherzig machen, wenn ich je vor dem groſ¬ ſen Jammer meiner Mitbruͤder einſt wollte mit kaltem oder zerſtreuetem Herzen voruͤber¬ gehn; er wird mich erinnern, wie braun und welk und muͤde die Hand war, die ihn tragen muſte.
So ſagt 'er ſtrafend zu ſich; und der weich¬ herzige Menſch warf ſich, ungleich den harther¬ zigen, vor, er ſei nicht weichherzig genug, indeß jene ſich das Gegentheil ſchuld geben. Er brauch¬ te dieſes Staͤngeln ſeiner fruchtbringenden Blu¬ men nicht; aber da, wo dieſe Wetterſtange ſelber waͤchſet, auf den Schlachtfeldern, und um die Luſtſchloͤſſer vierzehnter Ludwige herum, die ſchon gleich mit Zaͤhnen auf der Welt ankom¬104 men*)Louis XIV. wurde gezaͤhnt gebohren. , an Orten, wo die geheimen Treppen und Throngeruͤſte aus ſolchem Marter-Holz gezimmert werden, in Laͤndern, wo der Bettelſtab der allgemeine oder General-Stab iſt, viel¬ leicht durch den militairiſchen ſelber, da wuͤrd 'es ein erwuͤnſchtes Legat ſein, wenn jeder Bettler ſeinen Stab in ein eignes Staats-Hoͤlzer-Ka¬ binet vermachte; — wenigſtens iſt zu glauben, wenn neben jedem Kommando-Stab und Zepter ein ſolcher laͤge, er diente als Balancirſtange, und ſchluͤge vielleicht wie ein Moſes-Stecken aus manchen harten Thron-Felſen weiches Waſſer.
Der Notar verließ ſein Quartier mit dem Exulantenſtab ſo froh als es zu erwarten war, da er den Verkaͤufer deſſelben in Erſtaunen und Freudenthraͤnen geſezt; und beſonders da er uͤber die goldne Ernte von Abentheuern hinſah, die er blos in einem halben Tage eingeerntet. „ War¬ lich es iſt ſtark, ſagt 'er, in Haͤrmlesberg weiß man meinen Namen ſchon muͤndlich — in Gruͤn¬105 brunn gar ſchriftlich — eine wunderbare Floͤte geht und ſteht mit mir — einen fremden Wan¬ der-Stab hab' ich desfalls — Gott, was kann mir nach ſolchen Zeichen nicht in einem ganzen langen Nachmittag paſſiren? Hundert Wunder! Denn es ſchlaͤgt erſt halb 2 Uhr. “ So ſchloß er und ſah mit frohlockenden Augen in den blau¬ ausgewoͤlbten Himmel hinein.
Das Leben.
Im naͤchſten Fluſſe wuſch er den Bettel¬ ſtab und die Haͤnde ab, in welche er ihn vor dem Verkaͤufer aus Schonung frei genommen. Der erſte Akt der Wohlthaͤtigkeit, den er nach dem Kaufe des Stabes verrichtete, war einer mit dem Holze ſelber an Floͤs-Holz. Er konnt 'es nicht ertragen, daß, waͤhrend mitten im Strome viele Floͤs-Scheite luſtig und tanzend hinunter ſchwammen, eine Menge anderer, die nicht unbedeutender waren, ſich in Ufer-Win¬106 keln ſtieſſen, draͤngten und elend einkerkerten; eine ſolche Zuruͤckſetzung auf die Expektantenbank verdienten die Floͤs-Scheite nicht; er nahm da¬ her ſeinen Bettelſtock und half ſo vielen hintan¬ geſezten Scheiten durch Schieben wieder in den Zug der Wogen hinein, als neben ihm litten; denn alle Scheite — ſo wie alle Menſchen — zu befoͤrdern, ſteht auſſer dem Vermoͤgen eines Sterblichen.
Er holte darauf einen kleinen zerlumpten Jungen ein, der barfuß in einem Paar rothen Pluͤſchhoſen voll unzaͤhliger Glazen gieng, das, von einem Manne abgelegt, eine Pump - und Strumpfhoſe zugleich an ihm geworden war. Der Knabe hatte nichts bei ſich als ein Glaͤsgen, mit deſſen Salbe er ſich unaufhoͤrlich die roth¬ kranken Augen beſtrich. Walt fragte ihm ſanft ſeine Leidensgeſchichte ab. Sie beſtand nur darin, daß er von ſeiner Stiefmutter weggelau¬ fen, weil ſein Vater, ein Militair, von dieſer weggelaufen, und daß er ſich zu den Franzoſen zu betteln hoffe. „ Kannſt du heſſiſche Groſchen brauchen? “fragte Walt, der zu ſeinem Schrecken107 zu groſſes Geld bei ſich fand. Der Knabe ſah ihn dumm an, laͤchelte dann, wie uͤber einen Spaß, und ſagte nichts. Walt wies ihm einen. „ O, ſagt 'er, das kenn' er wohl, ſein Vater hab 'ihn oft wechſeln laſſen. “ Der Notar erfuhr endlich, der Knabe ſei ein Heſſe — und gab ihm alle va¬ terlaͤndiſche Groſchen.
Allmaͤhlig aͤuſſerte jezt der Bettelſtab ſeine feindſelige Kraft, eine Wetterſtange zu ſeyn, wel¬ che Gewitter zieht. Walt konnte den Fruͤhling des Vormittags durchaus nicht wieder zuruͤk bringen, ſondern mußte den Herbſt vor ſich ſte¬ hen ſehen, der gerade ſo epiſch macht, als der Lenz lyriſch und romantiſch. Er durft 'es dem Stok ſehr aufbuͤrden, daß er nach den Leipziger Bergen ſah und doch ganz vergeblich hinter ih¬ nen auf der andern Seite in die Leipziger Ebenen herabzufahren ſuchte bis vor Winas Gartenthuͤ¬ re, weil der Stok ſich gleichſam unter dem Berg - Schlitten ſtemmte und ſtuͤlpte.
Er ſah nur das Fliehen und Fliegen des Le¬ bens, die Eile auf der Erde, die Flucht des Wol¬ kenſchattens, indeß am Himmel die Wolke ſelber108 nur langſam zieht, und die Sonne gar wie ein Gott ſteht und blikt. Ach in jedem Herbſt fallen auch dem Menſchen Blaͤtter ab, nur nicht alle.
Er ſah eine abgefreſſene Wieſe aber violet von ausgeſchloſſenen giftigen Herbſtblumen. Auf ihr laͤrmten Zugvoͤgel, die mit einander den Plan zu ihrer Nachtreiſe zu bereden ſchienen. Auf der Landſtraſſe fuhr ein raſſelnder Wagen hin, unter den Hinterraͤdern boll ein Hund. Am fernen Berg-Abhange ſchritt eine weibliche weiſſe Ge¬ ſtalt kaum merkbar hinter ihrem dunkelbraunen Manne, um in irgend einem unbekannten Doͤrf¬ gen ein Glas und eine Taſſe zu genieſſen, und dazu vor - und nachher ſo viel von ſchoͤner Natur, als unterwegs gewoͤhnlich vorkommt. In der Naͤhe trippelten zwei weißgepuzte Maͤdgen von Stande, mit Blumen und Schnupfaͤuchern in den Haͤnden durch die gruͤnen Saaten-Furchen, und die gelben Schauls flatterten zuruͤck.
Er gieng vor einem bis an die Himmelswa¬ gen hinauf gethuͤrmten ſogenannten Brautwagen vorbei, worauf alle die Wachsfluͤgel, Fluͤgel¬ decken, Glasfedern, und der Federſtaub einer¬109 ſeits, und die Steis - und Schwanzfloſſen, die Bruſt - und Ruͤckenfloſſen, die Danaidengefaͤſſe, Waſſerſtuͤcke, Waſſerwagen, Regenmeſſer und Trockenſeile andererſeits unter dem Namen Haus¬ geraͤthe aufgeladen waren, welche der Menſch durchaus hienieden haben muß, um nur einiger¬ maſſen halb durch das Leben zu ſchwimmen, halb daruͤber zu fliegen. Der Eigenthuͤmer aber ſchritt voll Empfehlungen der groͤßten Vorſichts¬ regeln fuͤr ſeine aufgepakten Fluͤgel und Floſſen neben dem Wagen her, und verſprach ſich und andern Schritt vor Schritt ganz andere blauere Tage in der Zukunft als er in ſeinem vorigen un¬ bekannten Neſte gehabt.
Darauf kam Walt auf ein Filial-Doͤrfgen von fuͤnf oder ſechs waſchenden, fegenden Haͤuſern und rauchenden Backoͤfen. Die Juͤnglinge hoben mit Stangen und halber Lebensgefahr einen Ma¬ rienbaum mit rothen Baͤnder-Fahnen in die Hoͤ¬ he, der fuͤr ein Dorf wohl nicht weniger iſt, als was eine Vogelſtange fuͤr eine Mittelſtadt. Die Maͤdgen, welche die Baͤnder hinauf geſchenkt, ſahen hochroth dem Aufbaͤumen zu, und hatten110 nichts im ſeeligen Kopf und Herzen, als den morgendlichen Kirmes-Tanz um den Baum mit den allerbedeutendſten Purſchen des Orts.
Darauf begegnete der Notar einem ſchwer ausgeſchmuͤkten eilfjaͤhrigen Maͤdgen mit einer Kruͤcke — was ihn unſaͤglich erbarmte — und die Frau Pathin lief aus dem Oertgen ihrem Kir¬ mesgaſt ſchon entgegen.
Darauf kam ein an ſich ſelber angeketteter Malefikant zwiſchen ſeinen Kerker-Fuͤhrern; alle prieſen, ſo weit ſie mit Worten noch vermochten, das Bier des vorigen Dorfs; auch der Male¬ fikant.
Er kam durch das anſehnlichere Dorf, wor¬ in das Filial nur eingepfarrt war. Da die Mut¬ terkirchen-Thuͤre gerade offen ſtand — aus dem kurzen dicken Thurme wurde etwas geblaſen, worein wieder der Viehhirt blies — ſo gieng er ein wenig hinein; denn unter allen oͤffentlichen Gebaͤuden beſucht 'er Kirchen am liebſten, als Eispallaͤſte, an deren leere Waͤnde das Altarlicht ſeiner frommen Phantaſie ſich mit Glanz und ir¬ renden Farben am ſchoͤnſten brach und umher111 goß. Es wurde drinnen getauft. Der Taͤufer und der Taͤufling ſchrien ſehr vor dem Tauf¬ engel. Vier oder fuͤnf Menſchen waren nach ihrer Art ſonntaͤglich blaſonnirt, gravirt, mit getriebner Arbeit vom Schneider bedeckt; nur aus den vornehmſten Kirchen-Logen, den adelichen, ſchaueten Maͤgde, die Arme in blaue Schuͤrzen wie in Unter-Schauls gewickelt, im demi¬ négligé des Wochentags heraus. Wirthſchafts - Kleidung in heiliger Staͤtte war ihm harter Mis¬ ton. Der Pathe des getauften Urenkels war der Ur-Grosvater deſſelben, der das Schrei-Haͤls¬ gen kaum halten konnte vor Jahren, und deſſen abgepfluͤkte winterliche nakte Geſtalt Walten be¬ ſonders dadurch ins Herz drang, daß der alte Mann fuͤnf oder ſechs ſchneeweiſſe Haare — mehr nicht — zu einem grauen Zoͤpflein zuſammen¬ geſammelt und gedreht hatte, um ſich zu zeigen.
Daß der alte Menſch dem jungen ſo nahe war, das Kind des Grabes dem Kind der Wiege, die gelben Stoppeln dem heitern Maien-Bluͤmgen, das ruͤhrte den Notar noch eine Stunde uͤber das Dorf hinaus. „ Spielet doch Kindtaufens “ſagt '112er zu einigen Kindern, die ein Kreuz trugen und Begrabens ſpielen wollten. Gerade aus dem Herzen flog ihm in den Kopf der Strekvers:
Spielet jauchzend, bunte Kinder! Wenn ihr einſt wieder Kinder werdet, buͤckt ihr euch lahm und grau; unter dem weinerlichen Spiele bricht der Spielplaz ein und uͤberdekt euch. Wohl auch Abends bluͤht in Oſten und Weſten eine Aurora, aber das Gewoͤlke verfinſtert ſich und keine Son¬ ne kommt. O huͤpfet luſtig, ihr Kinder, im Morgenroth, das euch mit Bluͤthen bemalt und flattert eurer Sonne entgegen.
Die Zauberlaterne des Lebens warf jezt or¬ dentlich ſpielend bunte laufende Geſtalten auf ſei¬ nen Weg; und die Abendſonne war das Licht hinter den Glaͤſern. Sie wurden gezogen und es mußte vor ihm voruͤber laufen unten im Strom ein Meßſchiff — ein niedriger Dorfkirchhof an der Straſſe, uͤber deſſen Raſenmauer ein fetter Schos¬ hund ſpringen konnte — eine Extrapoſt mit vier Pferden und vier Bedienten vornen — der Schatte einer Wolke — nach ihr ins Licht der Schatte eines Rabenzugs — zerriſſene hohe graue Raub¬113 ſchloͤſſer — ganz neue — eine polternde Muͤhle — ein zu Pferde ſprengender Geburts-Helfer — der duͤrre Dorfbalbier mit Scheerſak ihm nach¬ ſchieſſend — ein dicker uͤberroͤckiger Landprediger mit einer geſchriebenen Erntepredigt, um fuͤr die allgemeine Ernte Gott und fuͤr ſeine den Zuhoͤrern zu danken — ein Schiebkarren voll Waaren und ein Stab Bettler, beide um die Kirmeſſen zu be¬ ziehen — ein Vor-Doͤrfgen von drei Haͤuſern mit einem Menſchen auf der Leiter, um Haͤuſer und Gaſſen roth zu numeriren — ein Kerl auf ſeinem Kopfe einen weiſſen Kopf von Gyps tragend, der entweder einen alten Kaiſer oder Weltweiſen vorſtellen ſollte oder ſonſt einen Kopf — ein Gym¬ naſiaſt ſpiz auf einem Graͤnzſtein ſeßhaft, mit einem Leich-Roman vor den Augen, um ſich die Welt und Jugend poetiſch ausmalen zu laſſen — und endlich oben auf ferner Hoͤhe und doch noch zwiſchen gruͤnen Bergen ein vorſchimmerndes Staͤdtgen, worin Gottwalt uͤbernachten konnte, und die helle Abendſonne zog alle Spitzen und Giebel ſehr durch Gold ins Blau empor.
„ Wir ſind laufende Strichregen, und baldFlegeljahre III. Bd. 2114herunter, “ſagt 'er, als er auf einem Huͤgel bald ruͤk-bald vorwaͤrts ſah, um die Kette der aus¬ einander eilenden Geſtalten zu knuͤpfen. Da ſtieg ihm ein Bilder-Haͤndler mit ſeiner auf eine Walze gefaͤdelten flatternden Bilder-Bibel und Bilder-Gal¬ lerie auf dem Nabel nach und fragte, ob er nichts kaufe. „ Ich weiß gewis, daß ich nichts kaufe — ſagte Walt und gab ihm zwoͤlf Kreuzer — aber laſſen Sie mich ein wenig dafuͤr darin herum¬ blaͤttern. “
„ Wer lieber als ich, “ſagte der Mann, und bog ſeinen Thorax zuruͤk und ſein Bilderbuch ihm entgegen. Hier fand der Notar wieder die ſtehen¬ den Bilder der laufenden Bilder, das Leben fuhr mit Farben auf dem Papiere durch einander, die halbe Welt - und Regenten-Geſchichte, Potenta¬ ten und Herkulaniſche Topf-Bilder, und Hans¬ wuͤrſte, und Blumen - und Militair-Uniformen, und alles uͤberlud den Magen des Mannes. Wie heiſſet das Staͤdtlein droben? ſagte Walt. „ Alt¬ fladungen, mein lieber Herr, und die Berge dort ſind eine praͤchtige Wetterſcheide, ſonſt haͤtte uns vorgeſtern das liebe Gewitter alles angezuͤndet “115(verſezte der Bildermann) „ indeß hab 'ich noch ſchoͤne aparte Stuͤcke zum Anſehen “und blaͤtterte das bunte Haͤng-Werk mit beiden Haͤnden auf. Walts Auge fiel auf eine Quodlibetszeichnung, auf welcher mit Reisblei faſt alle ſeine heutigen Weg-Objekte, wie es ſchien, wild hingeworfen waren. Von jeher hielt er ein ſogenanntes Quod¬ libet fuͤr ein Anagramm und Epigramm des Lebens, und ſah es mehr truͤbe als heiter an — jezt aber vollends; denn es ſtand ein Januskopf darauf, der wenig von ſeinem und Vults Geſichte verſchieden war. Ein Engel flog uͤber das das Ganze. Unten ſtand deutſch: was Gott will, iſt wohl gethan; dann lateiniſch: quod Deus vult, est bene factus. Er kaufte fuͤr ſeinen Bruder das tolle Blatt.
Der Bildermann verließ den Huͤgel mit Dank. Walt heftete das von dem Voruͤberzuge unſeres malenden und gemalten Lebens geruͤhrte Seelen - Auge, auf den wetterſcheidenden Berg, der ganz unter den Roſen der Sonne mit einzelnen Felſen - Schneiden und mit Schafen gluͤhte, und er dachte:
116„ So feſt ſteht er nun ewig da — fruͤh als noch keine Menſchen hier waren, ſchnitt er auch die ſchweren Wetterwolken entzwei, und zerbrach ihre Donnerkeile und machte es hell und ſchoͤn, im Thale ohne Augen — Und wie tauſendmal mag das Abendroth im Fruͤhlingsglanz herrlich ihn vergoldet haben, da noch kein Leben unten ſtand, das in die Herrlichkeit mit Traͤumen ver¬ ſank. — — Biſt du denn nicht, du groſſe Natur, gar zu unendlich und zu gros fuͤr die armen Kleinen hier unten, die nicht Jahre lang, ge¬ ſchweige Jahrtauſende glaͤnzen koͤnnen, ohn 'es zu zeigen — Und dich, o Gott, hat noch kein Gott geſehen. Wir ſind ganz gewis klein. “
Je mehr es Abend wurde, deſto mehr gieng das epiſche Gefuͤhl in das ſuͤſſe romantiſche uͤber und hinter den Roſen-Bergen wandelte wieder Wina in Gaͤrten. Denn der Abend faͤrbet zu¬ gleich die optiſchen und geiſtigen Schatten bunter an. Er ſehnte ſich nach einem fremden Menſchen¬ worte; zulezt draͤngt 'er ſich an einen Mann, der einen Schiebekarren voll Wolle ungemein langſam ſchob, und immer ſtand und nach der Sonne ſah. 117„ Er ſei, ſagte dieſer ſehr bald aufgeregt, ſonſt nur ein Hutmann geweſen, und habe auf einem glaͤſernen Horn ſein Vieh ſo in der Stadt zuſammen geblaſen, daß mancher Hutmann et¬ was daran gewendet haͤtte, wenn er's Blaſen halb ſo haͤtte lernen koͤnnen. Nicht ein jedweder ſei es kapabel. Und er wuͤnſchte zu wiſſen, ob andern Hirten ihr Vieh ſo nachgegangen, wenn ſie durch die Elbe vorausgewatet; ihm ſei es wie Soldaten nachgezogen; und Gott behuͤt' ihn, daß er ſich deſſen ruͤhmte, aber wahr ſei's. “
Der Notar hatte uͤber nichts ſo viel Freude, als wenn arme Teufel, die niemand lobte, ſich ſelber lobten. „ Ich ſchiebe noch ganzer fuͤnf Stunden durch — ſagte der Mann, den der An¬ theil ins Reden ſezte — die friſche Nacht hab 'ich dazu ſehr gern “— Das kann ich mir leicht den¬ ken, mein Alter, (ſagte Walt, der den unverge߬ lichen dichteriſchen Mann von Tockenburg vor ſich glaubte), im zweiraͤderigen Schaͤferhaͤusgen, wo er doch meiſt im Fruͤhling ſchlaͤft, hatt' er ja den ganzen Sternenhimmel vor ſich, wenn er aufwachte. Ihm iſt die Nacht gewis beſonders lieb?
118„ Ganz natuͤrlich, denk 'ich, verſezte der Schaͤfer; denn ſobald's friſch wird, und es tapfer thauet, ſo zieht die Wolle die Naͤſſe etwas an ſich, und ſchlaͤgt mehr in's Gewicht, das muß ein rechtſchaffener Schaͤfer wiſſen, Herr. Denn zum Centner will's doch immer etwas ſagen, wenn's auch nicht viel iſt.
Da ließ ihn Walt mit einer zornigen guten Nacht ſtehen, und eilte dem rauchenden Berg¬ ſtaͤdtgen zu, wo er, nach den heutigen Doͤrfern zu ſchlieſſen, im Nachtquartier unter ſolche Aben¬ theuer zu gerathen verhofte, die vielleicht ein an¬ derer mit Wurzeln und Bluͤthen geradezu aushe¬ ben, und in einen Roman verpflanzen koͤnnte.
Schauſpieler — der Maskenherr — der Eyertanz — die Einkaͤuferin.
Er kehrte im Ludwig 18. ein, weil der Gaſt¬ hof vor dem Thore lag, vor deſſen Fragmaſchi¬ nen er nie gern vorbeigieng, naͤmlich ſtillſtand. Das erſte Abentheuer war ſogleich, daß ihm der119 Wirth ein Zimmergen abſchlug; „ es ſei alles von Fraͤnzels Truppe beſezt, ſagte der Ludwigs - Wirth, der hoͤhere Poſten und Stokwerke nur ſol¬ chen, die auf den hoͤhern des Wagens und der Pferde kamen, aufſchloß, hingegen den Fußbo¬ den Fußboten anwies. Walt ſah ſich gezwungen den lauten Markt der Gaſtſtube mit der Ausſicht zu bewohnen, daß wenigſtens ſein Schlafkaͤm¬ merlein einſam ſei.
Er ſezte ſich an den halbrunden Ausſchnitt eines Wandtiſches hinein, und zog einen Haus¬ knecht, da er nahe genug voruͤber kam, gelegent¬ lich an ſich, und trug ihm hoͤflich ſeine Bitte um Trinken vor, die er mit drei guten Gruͤnden un¬ terſtuͤzte. Ohne Gruͤnde haͤtt 'er's ſechs Minuten fruͤher bekommen. Am Klapptiſchgen that er nichts, als in einem fort die Schauſpieler und Spielerin¬ nen im Allgemeinen hochachten, die aus - und eingiengen, dann noch beſonders an ihnen hundert einzelne Sachen — unter andern den mit dem Glaͤttzahn aufgeſtrichenen Manns-Habit — die entgegengeſezten Schwimmkleider der Weiber — die allgemeine hohe Selbſtſchaͤtzung, wodurch je¬120 der Akteur leicht der Muͤnzmeiſter ſeiner Preisme¬ daillen und ſein eigner Chevalier d'honneur war, und jede Aktrice leicht ihre Dekorazions¬ malerin — den Buͤhnen-Muth in der Wirths¬ ſtube — — das Gefuͤhl, daß der Sockus oder der Kothurn ihre Achilles - Ferſen beſchuͤze — die bunte Nacht ihrer Diktion, die aus ſo vielen Stuͤcken ſo gut zugeſchnitten war, als die Uni¬ formen, welche ſich die Frankreicher aus Bett¬ decken, Vorhaͤngen und allem, was ſie erpluͤn¬ derten, machten — und den reinern Dialekt, den er ſo ſehr beneidete. „ Darunter iſt wohl keine einzige Perſon, dacht' er, die nicht laͤngſt und oft auf der Buͤhne eine rechtſchaffene, oder beſcheide¬ ne, oder gelehrte, oder unſchuldige, oder gekroͤn¬ te geſpielt “, und er impfte, wie Juͤnglinge pfle¬ gen, dem Holze der Buͤhne, wie des Katheders und der Kanzel, den Menſchen ein, der darauf nur ſteht, nicht waͤchſet.
Was ihn betruͤbte, war, daß alle Geſich¬ ter, ſogar die juͤngſten, die Alten - Rollen ſpielten, indeß auf der Buͤhne, wie auf dem Olymp, ewige Jugend war, wenn's der Zettel begehrte.
121Im Abenddunkel fiel ihm ein Menſch auf, der keine Mine ruͤckte, mit allen ſprach, aber hohl, oft, wenn ihn einer fragte, ſtatt der Ant¬ wort dicht an den Frager trat, mit dem ſchwar¬ zen Blicke einmal wetterleuchtete und darauf ſich umwandte, ohne ein Wort zu ſagen. Er ſchien zu Fraͤnzels Frucht-eſſender Geſellſchaft zu ge¬ hoͤren; dennoch ſchien dieſe wieder ſehr auf ihn zu merken. Der Mann ließ ſich jezt eine Melone bringen, und eine Duͤte Spaniol, zerlegte ſie, beſtreuete ſie damit, und aß die Tabaks-Schnit¬ te und bot ſie an. Eben kamen Lichter herein, als er den Teller dem ſtaunenden Notar vor¬ hielt, der vollends ſah, daß der Menſch eine Maſke, doch keine unfoͤrmliche, vorhatte und der bekannten eiſernen glich, die ſo alte Schau¬ der in ſeine Phantaſie geworfen. Walt bog und ſchuͤttelte ſich; es war ihm aber einiges lieb und er trank.
Darauf ſtieg die Maſke — auch dieſe Phra¬ ſis, wenn Ein Wort eine iſt, war ihm ein ſchwarz-bedeckter Wagen, der Todte und Tiger fuͤhren konnte — auf einen Fenſterſtock, machte122 das Oberfenſter auf, und fragte einige Akteurs, ob ſie ein Ei durch das Fenſter zu werfen ſich ge¬ traueten. „ Warum? “ſagte der eine, „ Warum nicht? “der andere. Die Maſke machte aber mit etwas Verſtektem in der Hand einige Linien in die Luft und verſezte kalt: „ jezt vielleicht kei¬ ner mehr! “ Er wolle alle Eier zweifach bezah¬ len, ſobald einer nur eines durchwerfe, ſagt 'er. Ein Akteur nach dem andern ſchleuderte — alle Eier fuhren ſchief — die Maſke verdoppelte den Preis der Aufgabe — es war unmoͤglich — Walt, der ſonſt auf dem Lande ſo oft in die Schleudertaſche gegriffen, that die Geldtaſche auf und bombardirte gleichfalls mit einem Groſchen Eier — eben ſo gut haͤtt' er eine Bombe gewor¬ fen ohne Moͤrſer — Eine ganze Bruttafel und Poularderie von Dottern floß von den Fenſtern hernieder.
„ Es iſt gut, ſagte die, Maſke; aber noch bis morgen Abend um dieſe Zeit bleibt die Eier¬ feindliche Kraft im Fenſter; dann kann jeder durchwerfen “— und ſo gieng er hinaus. Der Wirth laͤchelte, ohne ſonderlich zu bewundern123 gleichſam als ſchien 'er mehr zu berechnen, daß er morgen auf ſeiner Rechentafel aus dieſen Eiern die beſte Falkonnerie von Raubvoͤgeln ausbruͤten koͤnnte, die ihm je in Faͤngen einen Fang zuge¬ tragen.
Da die Maſke nicht ſogleich wieder kam: ſo gieng der Notar mit den Gedanken: „ Him¬ mel, was erlebt nicht ein Reiſender in Zeit von 12 Stunden “auch hinaus — als ſei er nach neuen Wundern hungrig, — nach ſeiner Weiſe die Vorſtadt im Zwielicht zu durchſchweifen. Eine Vorſtadt zog er der Stadt vor, weil jene dieſe erſt verſpricht, weil ſie halb auf dem Lande an den Feldern und Baͤumen liegt, und weil ſie uͤberall ſo frei und offen iſt.
Er gieng nicht lange, ſo traf er unter den hundert Augen, in die er ſchon geblickt, auf ein Paar blaue, welche tief in ſeine ſahen, und die einem ſo ſchoͤnen und ſo gut gekleideten Maͤdgen angehoͤrten, daß er den Hut abzog, als ſie vor¬ bei war. Sie gieng in ein offenes Kaufgewoͤl¬ be. — Da unter den feſten Plaͤzen ein Kaufla¬ den das iſt, was unter den beweglichen ein Poſt¬124 wagen, naͤmlich ein freier, wo der Roman¬ ſchreiber die unaͤhnlichſten Perſonen zuſammen brin¬ gen kann: ſo behandelte er ſich als ſein Selbſt - Romanſchreiber und ſchafte ſich unter die Schnit¬ waaren hinein, aus welchen er nichts kaufte als ein Zopfband, um doch einigermaßen ein Band zwiſchen ſich und dem Blau-Auge anzu¬ knuͤpfen.
Das ſchoͤne Maͤdgen ſtand im Handel uͤber ein Paar gemslederne Mannshandſchuh, ſtieg im Bieten an einer Kreuzerleiter hinauf und hielt auf jeder Sproſſe eine lange Schmaͤhrede gegen die gemsledernen Handſchuhe. Der beſtuͤrzte Notar blieb mit dem Zopfband zwiſchen den Fingern ſo lange vor dem Ladentiſch, bis alle Reden geendigt, die Leiter erſtiegen und die Handſchuhe Kaufs-unluſtig dem Kaufmann zu¬ ruͤckgeworfen waren. Walt, der ſich ſogar ſcheu¬ te, ſehr und bedeutend in einen Laden zu blicken, bloß um keine vergeblichen Hoffnungen eines groſſen Abſatzes im Vorbeigehen in der feilſte¬ henden Bruſt auszuſaͤen, ſchritt erbittert uͤber die Haͤrte der Sanftaͤugigen aus dem Gewoͤlbe her¬125 aus und ließ ihre Reize, wie ſie die Handſchu¬ he, ſtehen. Schoͤnheit und Eigennuz oder Geiz waren ihm entgegengeſezte Pole. Im Einkau¬ fe — nicht im Verkaufe — ſind die Weiber weniger grosmuͤthig und viel kleinlicher als die Maͤnner, weil ſie argwoͤhniſcher, beſonnener, und furchtſamer ſind, und mehr an kleine Ausgaben gewoͤhnt als an groſſe. Das Blau-Auge gieng vor ihm her, und ſah ſich nach ihm um; aber er ſah ſich nach der Brief-Poſt um, deren Horn und Pferd ihm nachlaͤrmte. Am Poſthorne wollte ſeiner Phantaſie etwas nicht gefallen, oh¬ ne daß er ſich's recht zu ſagen wuſte, bis er endlich herausfuͤhlte, daß ihm das Horn — ſonſt das Fuͤllhorn und Fuͤhlhorn ſeiner Zukunft — jezt ohne alle Sehnſucht — ausgenommen die nach einer — da ſtehen laſſe und anblaſe, weil der Klang nichts male und verſpreche, als was er eben habe, fremdes Land. Auch mag das oft den Menſchen kalt gegen Briefpoſtreiter un¬ terwegs machen, daß er weiß, ſie haben nichts an ihn.
Im Ludwig XVIII fand er die Briefpoſt126 abgeſattelt. Dieſe fragte ihn, da er ſie ſehr an¬ ſah, wie er heiſſe? Er fragte warum? Sie ver¬ ſezte, falls er heiſſe, wie er hieß, ſo habe ſie einen Brief an ſeinen Namen. Er war von Vults Hand. Auf der Adreſſe ſtand noch: „ man bit¬ tet ein loͤbliches Poſtamt den Brief, falls H. H. nicht in Altfladungen ſich befinden ſollte, wieder retour gehen zu laſſen, an H. van der Harniſch beim Theaterſchneider Purzel. “
Abentheuer.
Der Brief von Vult war dieſer:
„ Ich komme jezt erſt aus den Federn — indeß deine dich wohl ſchon Werſtenweit getra¬ gen, oder du ſie, — und ſchreibe eilig ohne Struͤmpfe, damit dich mein Geſchriebenes nur heute noch erreitet. Es iſt 10 Uhr, um 10½ Uhr muß der Traum auf die Poſt.
Ich habe nemlich einen ſo ſeltſamen und prophetiſchen gehabt, daß ich dir ihn nachſchicke,127 geſezt auch, du lachſt mich einen Monat lang aus. Deine ganze heutige und morgende Reiſe¬ route hab 'ich klar getraͤumet. Beluͤgt mich der Quintenmacher von Traum und trift er dich in Altfladungen nicht an, — worauf ich ſchwoͤren wollte: — ſo laͤuft er retour an mich, und es iſt die Frage, ob ich ihn einem Spott - und Spas¬ vogel, wie du, dann je vorzeige.
Ich ſah im Traum, auf der Landzunge ei¬ ner Wolke ſizend, die ganze nordoͤſtliche Land¬ ſchaft mit ihren Bluͤthen-Wieſen und Miſtſtaͤt¬ ten; dazwiſchen hin eine rennende, ſchmale, gelb¬ roͤckige, jubelnde Figur, die den Kopf bald vor ſich, bald gen Himmel, bald auf den Boden warf — und natuͤrlich wareſt du es. — Die Figur ſtand einmal und zog ihr Beutelgen, dann fuhr ſie in Haͤrmlesberg in der Krug. Darauf ſah ich ſie oben auf meiner Wolkenzinne durch das Roſana Thal ziehen, den Bergruͤcken hin¬ auf, vor Doͤrfern vorbei. — In Gruͤnbrunn verſchwand ſie wieder im Krug. Wahrhaftig dichteriſch war's vom Traumgott gedacht, daß er mich allzeit 6 Minuten vorher, eh 'du in ei¬128 nen Krug eintrateſt, ein dir ganz aͤhnliches We¬ ſen vorher hinſchluͤpfen ſehen ließ, nur aber glaͤnzender, viel ſchoͤner, mit Fluͤgelgen, wovon bald ein dunkelblauer bald ein hellrother Strahl, ſo wie es ſie bewegte, meinen Wolken-Siz ganz durchfaͤrbte; ich vermuthe alſo, daß der Traum damit nicht dich — denn den langhoſigen Gelb¬ rock zeigt' er mir zu deutlich — ſondern deinen Genius andeuten wollte. “
— Vor Bewegung konnte Walt kaum wei¬ ter leſen; denn jezt fand er das Raͤthſel faſt auf¬ geloͤßt, wenn nicht verdoppelt — durch ein groͤſſeres — warum naͤmlich der Haͤrmlesberger Wirth ſeinen Namen kannte, warum bei dem Gruͤnbrunner derſelbe dem Kinde im Schreibbu¬ che vorgezeichnet war, und warum er bei dem Bildermann das ſeltſame Quodlibet gefunden. Ordentlich aus Scheu, nun weiter und tiefer in die aufgedeckte Geiſterwelt des Briefs hineinzuſe¬ hen, erhob er in ſich einige Zweifel uͤber die Wahrhaftigkeit deſſelben, und fragte den trin¬ kenden Poſtreiter, wann und von wem er den Brief bekommen. „ Das weiß ich nicht, Herr,129 ſagt 'er ſpoͤttiſch; was mir mein Poſtmeiſter giebt, das reit' ich auf die Stazion und damit Gott befohlen. “ Allerdings, ſagte Walt und las begierig weiter:
„ Darauf ſah ich dich wieder ziehen, durch viele Oerter, endlich in eine Kirche gehen. Der Genius ſchluͤpfte wieder voraus hinein. Abends ſtandeſt du auf einem Huͤgel, und nahmeſt im Staͤdtgen Altfladungen Nachtquartier. Hier ſah ich vor der Wirthshausthuͤre deine verherr¬ lichte Geſtalt, naͤmlich deinen Genius mit einem dunklen behangnen Weſen kaͤmpfen, deſſen Kopf gar kein Geſicht hatte, ſondern uͤberall Haa¬ re. “— —
Gott! rief Walt, das waͤre ja der Maſken - Menſch!
„ Das Weſen ohne Geſicht behauptete die Thuͤre, aber der Genius fuhr als eine Fleder¬ maus in die Daͤmmerung zu mir hinauf, ſpreng¬ te dicht an meiner Wolken-Spitze ſeine Fluͤgel wie Krebsſcheeren ab und hinab und fiel als Maus odel Maulwurf in die Erde, (etwa eine Meile von Altfladungen) und ſchien fortzuwuͤhlen (dennFlegeljahre III. Bd. 9130ich ſah es am Wellenbeete) bis wieder zu dir und warf unweit einer Kegelbahn einen Huͤgel auf. Es ſchlug acht Uhr in den Wolken um mich herum; da kam das Ungeſicht zum Huͤgel und ſtekte etwas wie eine Maulwurfsfalle hin¬ ein. — Du aber warſt hinterher, zogſt ſie heraus und fandeſt, indem du damit blos den Erd-Gipfel wegſtreicheſt, einige hundert --- jaͤhrige Friedrichsd'or, die der Genius, Gott weiß aus welcher Tiefe und Breite, vielleicht aus Berlin, gerade an die Stelle fuͤr dich herge¬ wuͤhlt “....
Jezt kam wirklich die Maſke wieder. Walt ſah ſie ſchauernd an; hinter der Larve ſteckt ge¬ wiß nur ein Hinterkopf, dacht 'er. Es ſchlug drei Viertel auf 8 Uhr. Der Mann gieng un¬ ruhig auf und ab, hatte ein rundes ſchwarzes Papier, das, wie er einem Akteur ſagte, an Herzensſtatt auf dem Herzen eines arquebuſirten Soldaten zum Zielen gehangen, und ſchnitt ein Geſicht hinein, wovon Walt im Tagebuch ſchreibt: „ es ſah entweder mir oder meinem Ge¬ nius gleich. Die unabſehliche Winternacht der131 Geiſter, wo die Sphinxe und Maſken liegen und gehen, und nicht einmal ſich ſelber erblicken, ſchien mit der Larve herausgetreten zu ſein ins Sommerlicht des Lebens. “
Da es acht Uhr ſchlug, gieng die Larve hinaus — Walt gieng zitternd-kuͤhn ihr nach — im Garten des Wirthshauſes war ein Kegel¬ ſchub und der Notar ſah (wobei er maͤßig zu er¬ ſtarren anfieng) wirklich die Larve einen Stab in einen Maulwurfshuͤgel ſtecken. Kaum war ſie zuruͤck und weg, ſo nahm er den Stab als ein Streichholz und rahmte ſo zu ſagen den Huͤ¬ gel wie Milch ab — — Die Sahne einiger ver¬ roſteten Friedrichsd'or konnt 'er wirklich einſchoͤp¬ fen mit dem Loͤffel.
Die wenigen haltbaren Gruͤnde, warum der Notar nicht auf die Stelle fiel, und in Ohn¬ macht, bringt er ſelber bei im Tagebuch, wo man ſie weitlaͤuftiger nachleſen kann; obgleich zwei ſchon viel erklaͤren; — naͤmlich der, daß er ein Strom war, der gegen die ſtaͤrkſte Gegen¬ wart heftig anſchlug, indeß ihn blos der aufloͤ¬ ſende Luft-Himmel der Zukunft duͤnn und ver¬132 fliegend in die Hoͤhe zog, wie er nur wollte. Izt aber nach dieſer Menſchwerdung des Geiſterwe¬ ſens ſtand Walt neben ſeines Gleichen. Der zweite Grund, warum er ſtehen blieb, war, weil er im Briefe weiter leſen und ſehen wollte, was er morgen erfahren, und welchen Weg er nehmen werde. „ Es war wahrhaftig das erſtemal in meinem Leben, ſchreibt er, daß ich mich der ſelt¬ ſamen Empfindung nahte, ordentlich ſo hell wie uͤber eine Gegenwart hinweg in eine Zukunft hin¬ ein zu ſehen, und kuͤnftige Stunden zweimal zu haben, jezt und einſt. “
In der Gaſtſtube war die Maſke nicht mehr. Er las herzklopfend die Marſch - und Lebensrou¬ te des Morgens:
„ Darauf wurde der Traum wieder etwas menſchlicher. Ich ſah, wie am Morgen darauf dein Genius, und das Un-Geſicht dir auf zwei verſchiedenen Wegen vorflogen, um dich zu lo¬ cken; du folgteſt aber dem Genius und giengeſt ſtatt nach St. Luͤne lieber nach Roſenhof. Dar¬ uͤber fiel das Un-Geſicht in Stuͤcken herab, ei¬ nen Todtenkopf und einige Knochen ſah ich deut¬133 lich von der Wolke. Der Genius wurde in der Ferne eine helle Wolke; ich glaub 'aber mehr, daß er ſie nur um ſich geſchlagen. Du trabteſt ſingend aus deinem Mittagsquartier, Namens Jodiz, durch eine Landſchaft voll Luſtſchloͤſſer bis an die Roſana, die dich ſo lange aufhielt, bis dich die Faͤhr-Anſtalt hinuͤbergefahren hatte in die paſſable Stadt Roſenhof. Mir kam's vor, ſo weit ich die tief in den Horizont hinun¬ ter liegende Stadt erkennen konnte, als habe ſich uͤber ihr der Genius in ein groſſes blendendes Gewoͤlke auseinander gezogen, und dich und die Stadt zulezt darin aufgefaſſet, bis die Wolken¬ ſtrecke unter immer ſtaͤrkerem Leuchten und Auswerfen von Sternen und Roſen und Gras zugleich mit meinem Traume aus einander gieng.
Und damit wollt 'er, denk' ich, nur be¬ deuten, daß du dich im Staͤdtlein recht diver¬ tiren, und darauf auf den Heimweg machen wuͤrdeſt.
Wie eine ſolche Traͤumerei in meinen Kopf gekommen, laͤſſet ſich nur dadurch begreiflich134 machen, daß ich ſeit geſtern immer deinen eignen mit ſeiner Romantik darin gehabt.
Ich wollte, dein Name waͤre ſo beruͤhmt, daß der Brief dich faͤnde, wenn blos darauf ſtuͤnde: an H. H., auf der Erde; wie man z. B. an den Mann im Monde recht gut ſo adreſſiren kann. Die ſchoͤnſte Adreſſe hat jener allein, an den man blos die Aufſchrift zu ma¬ chen braucht: an Den im Univerſum.
Reiſe klug, wie eine Schlange, Bruder. Habe viele Weltkenntniß und glaube nicht — wie du dir einmal merken laſſen, — es ſei thunlich, daß ſich auf, der Briefpoſt blinde Paſ¬ ſagiere aufſetzen koͤnnten oder auch ſehende, und laſſ 'aͤhnliche Fehlſchuͤſſe. Sei verdammt ſeelig und lebe von den alten Friedrichsd'oren, die der Maulwurf aufgeworfen, in einigem Saus und Braus. Erkieſ', o Freund, nur kein Trauerpferd zu einem Steckenpferd; da ohnehin jedes Kreuz, vom Ordenskreuze an bis zum Eſelskreuz herab entweder genug traͤgt oder genug druͤckt. Meide die groſſe Welt moͤglichſt; ihre Hopstaͤnze ſind aus F mol geſezt. Das Schickſal nimmt oft135 das dicke Suͤsholz, an welchem die Leute kaͤuen, als einen guten Pruͤgel vor und pruͤgelt ſie ſehr — Ich wuͤnſchte doch nicht, daß du gerade auf der erſten Stufe des Throns gleich neben dem Fuͤrſtenſtuhlbein ſtaͤndeſt, wenn ihn der neue Regent zur Kroͤnung beſteigt, und daß er dich dann zu etwas erhoͤbe, in den Adelſtand, zu ei¬ nem Kammer - oder Jagdjunker oder ſo; — wie ein ſolcher Regent wohl pflegt, weil er in ſei¬ ner neuen Regierung gerade nichts fruͤher macht als das edelſte, naͤmlich Menſchen, d. h. Kam¬ mer-Herrn, Edelleute u. ſ. w. und erſt ſpaͤter den Staat und deſſen Gluͤck, ſo wie die alten Theologen*)Bibliotheque univerſelle T. IX. p. 83. behaupten, daß Gott die Engel vor der Erde und zwar darum erſchaffen, da¬ mit ſie ihn nachher bei deren Schoͤpfung lob¬ ten —
Ich wuͤnſcht 'es nicht, ſag' ich, daß du dem jungen neugebacknen und neubackenden Fuͤr¬ ſten die gedachte Ehre anthaͤteſt, und eine an¬ naͤhmeſt; — warlich ein Thron wird, wie der136 Veſuv, gerade hoͤher durch Auswerfen von Hoͤ¬ hen und Hohen um ihn her — und mein Grund iſt dieſer: weil du, geſezt dir wuͤrde irgend eine bedeutende maͤnnliche oder weibliche Hof-ja Re¬ gierungs-Charge zu Theil, doch nicht eher ein ruhiges Leben und eine ſtarke Penſion bekaͤmeſt, als nach einem tapfern verflucht groſſen Fehltritt oder bei gaͤnzlicher Untauglichkeit zu irgend et¬ was, worauf der Hof-Menſch Abſchied und Penſion begehrt und nimmt, gleich dem verur¬ theilten Sokrates, der ſich eine aͤhnliche Strafe vor Gericht diktirte, naͤmlich lebenslaͤnglichen Freitiſch als Prytan; wie untuͤchtig aber du zu rechter Untuͤchtigkeit biſt, das weiſt du am be¬ ſten — Kannſt du waͤhlen auf deiner Spannen - Reiſe, ſo beſuche lieber den groͤſten europaͤiſchen Hof als die kleinſten deutſchen, welche jenen in nichts uͤbertreffen (in den Vorzuͤgen am wenig¬ ſten) als in den Nachtheilen, wie man denn wahrgenommen, daß auch die Seekrankheit (was ſie giebt und nimmt, kennſt du) viel aͤrger wuͤrgt auf Seen als auf Meeren — Suche dein Heil an Hoͤfen mehr in groben Thaten als in137 groben Worten; dieſe werden ſchwerer verziehen. — Ein Hofmann vergiebt zwar leicht, aber mit Gift — Auf dieſen ſchluͤpfrigen Abhaͤngen des Throns betrage dich uͤberhaupt ganz treflich und bedenke, daß man da wie die Griechen zu Ho¬ mers*)Hermanns Mytholog. I. Zeiten, die Verwuͤnſchungen nur leiſe zu thun habe, weil die lauten auf den Urhe¬ ber zuruͤckſpringen — Sage Fuͤrſten, Markgra¬ fen, Erzherzogen, Koͤnigen zwar die Wahrheit, aber nicht groͤber als jedem ihrer Bedienten, um dich von republikaniſchen Autoren zu unterſchei¬ den, die ſich lieber vor Verlegern als vor Poten¬ taten buͤcken — Gegen Maltheſer-Damen, Kon¬ ſuleſſe, Hof - und andere Damen vom hoͤchſten Rang ſei kein Pariſer Biſam-Schwein, d. h. keine parfuͤmirte Beſtie, kein verbindlicher Gro¬ bian, der auf die manierlichſte Weiſe von der Welt des Teufels gegen ſie iſt. — Sei der ſchoͤnſte, lang gewachſenſte, ſchlankeſte Mann von 30 Jahren, der mir noch vorgekommen — Kurz, bleibe ein wahres Muſterbild, bitt 'ich dich als Bruder! Ueberhaupt, ſei paſſabel!
138Ich ſchlieſſe den laͤngſten ernſthaften Brief, den ich ſeit zehn Jahren geſchrieben; denn es ſchlaͤgt 10½ Uhr, und er ſoll durchaus noch fort. Him¬ mel aber! wo magſt du jezt ſeyn? Vielleicht ſchon mehr als Werſten - weit von unſerm Haslau, und erfaͤhreſt nun an dir ſelber, wie leicht es groſ¬ ſen Reiſen wird, den Menſchen auszubaͤlgen und umzuſtuͤlpen wie einen Polypen, und was es auf ſich habe, wenn Haͤfen und Maͤrkte und Voͤlker vor uns voruͤbergehen, oder wir, was daſſelbe iſt, vor ihnen — und wie es einem ziem¬ lich ſchwer ankommt, nicht zu veraͤchtlich auf Stubenhocker herab zu ſehen, die vielleicht noch nie uͤber 10 Meilen weit von ihrem Sparofen weggekrochen und fuͤr welche ein Urtheil uͤber ein Paar Reiſende, wie wir, eine Unmoͤglichkeit iſt. Solche Menſchen ſollten, Freund, nur einmal an ihrer eignen Haut erfahren, wie ſchwer das brit¬ tiſche Geſez, daß Leute, die aus der Stadt kom¬ men, denen ausweichen ſollen, die in ſelbige reiſen*)Hume's vermiſchte Schriften, 3. Bd. , manchem Weltmann moraliſch zu hal¬139 ten falle: ſie ſaͤhen uns beide anders an. — Fahre wohl! Folgt mir, noli nolle!
v. d. h.
Postscr. Hebe dieſen Brief, im Falle du ihn bekommſt — ſonſt nicht — auf, es ſind Gedan¬ ken darin fuͤr unſern Hoppelpoppel.
Eß - und Trink-Wette — das Maͤdgen.
Es mag nun hinter dem Traum ein Geiſt oder ein Menſch ſtecken, dachte Walt, eines der groͤßten Abentheuer bleibt er immer. Das ſchwang ihn uͤber die ganze Stube voll Gaͤſte weg; er fuhr auf den romantiſchen Schwanzſtern uͤber die Er¬ den hinaus, die wir kennen. Die Friedrichsd'ore, von denen er viel verthun wollte, waren die gold¬ nen Fluͤgeldecken ſeiner Fluͤgel, und er konnte ohne Eingriffe in den vaͤterlichen Beutel ſich ein Noͤſel Wein ausbitten, geſezt auch, der Elſaſſer Teſta¬ tor komme wieder auf.
So froh geſtimmt und leicht gemacht bahnte er ſich durch das theatraliſche Gewimmel der140 Stube ſeinen beſtaͤndigen Hin - und Herweg, wie durch ein Kornfeld, ſtreifte oft an Chemiſen vor¬ bei, ſtand vor manchen Gruppen ſtill, und laͤ¬ chelte kuͤhn genug in fremdes Geſpraͤch hinein. Izt trat die Blauaͤugige, welche keine Manns¬ handſchuhe gekauft, in's Zimmer. Der Direkteur der Truppe ſchnaubte oͤffentlich Winen (ſo ver¬ kuͤrzt 'er Jako-bine) hart an, weil ſie ihm zu theuere Handſchuhe mitgebracht. Mit Vergnuͤ¬ gen entſchuldigte Walt innerlich ihren Handels¬ geiſt mit der alten Theater-Einrichtung ſolcher Truppen, daß ſie nichts uͤbrig haben, und daß aller Goldſtaub nur Geigenharzpulver iſt, das man in ihr Feuer wirft. Das Maͤdgen heftete, waͤhrend der rohe Direkteur um ſie donnerte, die heiterſten Blicke auf den Notarius, und ſagte endlich, der Herr da moͤge doch den Ausſpruch thun und zeugen. Er thats und zeugte ſtark.
Aber der Donnerer wurde wenig erſchuͤttert. Da trat die Maske wieder ein. Walt ſcheuete ſeinen boͤſen Genius. Sie ſchien ihn wenig zu bemerken, aber deſto mehr den geizigen Prinzipal. Endlich brachte ſie es durch leiſes Diſputiren da¬141 hin, daß zu einer Wette der Regiſſeur 10 Thaler in Silber auf den Tiſch legte und jene eben ſo viel in Gold.
Eine Flaſche Wein wurde gebracht, eine Schuͤſſel, ein Loͤffel und eine neugebakne Zwei¬ pfenning-Semmel. Es wurde nun vor dem gan¬ zen Stuben-Publikum die Wette publizirt, daß der Masken-Herr in kuͤrzerer Zeit eine Flaſche Wein mit dem Loͤffel aufzueſſen verſpreche, als der Direkteur ſeine Semmel hinunterbringe; und daß dieſer, wie gewoͤhnlich bei Wetten, gerade auf das Umgekehrte wette. Da die Wette gar zu un¬ gleich ſchien: ſo beneideten die meiſten Hinterſaſſen des Theater-Lehnsherrn ihrem Vorgeſezten das ungeheure Gluͤk, ſo leicht — blos durch ein Sem¬ mel-Eſſen — zwei preuſſiſche Goldſtuͤcke, die nicht einmal aus dem Lande ausgefuͤhrt werden duͤrfen, in ſeines einzufuͤhren.
Alles hob an, der Larvenherr hielt die Wein¬ ſchuͤſſel wagrecht an Kinn, und fieng das ſchnell¬ ſte Schoͤpfen an.
Der Gros - und Brodherr der Truppe that einen der unerhoͤrteſten Biſſe in die Semmel, ſo142 daß er wohl die Halb - oder Drittels-Kugel ſich ausſchnitt. Izt aß er unbeſchreiblich — er hatte eine halbe Weltkugel auf dem Zungenbein zu be¬ wegen, zu zerſtuͤcken, zu mazeriren, alſo auf troknem und naſſem Weg zugleich zu ſcheiden — was er von Dienſt-Muskeln in der Wett'-Hoͤhle beſaß, mußte aufſtehen und ſich regen, er ſpann¬ te und ſchirrte den Beiß - und den Schlaͤfe-Mus¬ kel an, die bekanntlich immer zuſammen ziehen, — ferner den innern Fluͤgelmuskel, den aͤuſſern und den zweibaͤuchigen — die Muskeln druͤkten nebenher die noͤthigſten Speicheldruͤſen, um Men¬ ſtrua und Alkaheſte zu erpreſſen, der zweibaͤuchi¬ ge die Kieferdruͤſe, der Beißmuskel die Ohrdruͤſe, und ſo jeder jede. Aber wie in einem Ballhauſe wurde der Magenball im Munde hin und herge¬ ſchlagen; die Kugel, womit er alle zehn Thaler wie Kegel in den Magen ſchieben wollte, wollte durchaus die Schlundbahn nicht ganz paſſiren, ſondern halb und in kleinen Diviſionen, wie ein Armee-Kern. Auf dieſe Weiſe indeſſen verlor der theatraliſche Commandeur, der den Larvenherrn unaufhoͤrlich und ungehindert ſchoͤpfen ſehen mu߬143 te, eine unſchaͤzbare Zeit, und indem er den Teu¬ fels-Abbis muͤhſam, Cahiersweiſe, oder in Ra¬ zionen ablieferte und ſchlukte, hatte der Wett - Herr ſchon ſeine zwei Drittel mit dem Loͤffel leicht aufgetrunken.
Auſſer ſich wirkte Fraͤnzel in alle ſeine Mus¬ keln hinein — mit den Ceratogloſſis, und den Ge¬ niogloſſis plattirt 'er die Zunge, mit den Stylo¬ gloſſis exkavirt' er ſie — darauf hob er Zungen¬ bein und den Kahlkopf empor und ſtieß die Un¬ gluͤks-Kugel wie mit Ladſtoͤcken hinab. An ana¬ tomiſchen Schling-Regeln fehlt 'es ihm gar nicht.
Noch lag eine ganze Drittels-Semmel vor ihm, und der Larvenherr inkorporirte ſchon zu¬ ſehends das vierte Viertel, ſein Arm ſchien ein Pumpenſtiefel oder ſein Loͤffel.
Der Ungluͤkliche ſchnappte nach der zweiten Hemiſphaͤre der Hoͤllenkugel — in Betracht der Zeit hatt 'er ein entſezliches Diviſionsexempel vor ſich oder in ſich, eine lange Analyſe des Unendli¬ chen — er ſchauete kaͤuend die Zuſchauer an, aber nur dumm und dachte ſich nichts bei ihnen, ſon¬144 dern ſchwizte und malmte verdruͤslich vor ſich — die zwanzig Thaler auf dem Tiſche ſah er grim¬ mig an, und wechſelnd den Loͤffel-Saͤufer — zu reden war keine Zeit und das Publikum war ihm nichts — die elende Pechkugel vom Drachen konnt' er nicht einmal zu Brei zerſetzen (es floß ihm nicht) — an's Schlucken durft 'er gar nicht den¬ ken, indeß er ſah, wie der Maskenherr den Wein nur noch zuſammenfiſchte — —
Das fuͤhlt 'er wohl, ſein Heil und Heiland waͤre man geweſen, haͤtte man ihn auf der Stelle in eine Schlange verkehrt, die alles ganz ein¬ ſchlukt, oder in einen Hamſter, der in die Backen¬ taſchen verſtekt, oder ihm den Thyreopalatinus ausgeriſſen, der die Eßwaaren hindert, in die Naſe zu ſteigen.
Endlich ſchuͤttete der Maskenherr die Schuͤſ¬ ſel in den Loͤffel aus — und Fraͤnzel ſtieß und worfelte den Semmel „ globe de Compression “noch hin und her, ſo nahe am erweiterten Schlund¬ kopfe, aber ohne das geringſte Vermoͤgen, die Semmel durch das ſo ofne Hoͤllenthor zu treiben, ſo gut er auch aus den anatomiſchen Hoͤrſaͤlen145 wußte, daß er in ſeinem Maule uͤber eine Mus¬ kel-Hebekraft von 200 Pfund zu befehlen habe.
Der Larvenherr war fertig, zeigte endlich dem Publikum die leere Schuͤſſel und die vollen Backen des Direkteurs und ſtrich das Wettgeld mit der Rechten in die Linke, unter der Bitte, Hr. Fraͤnzel ſolle, wenn er etwas darwider und die Semmel ſchon hinunter habe, blos das Maul aufmachen. Fraͤnzel that's auch, aber blos um den teufliſchen Fangeball durch das groͤſſere Thor davon zu ſchaffen. Der Maskenherr ſchien froh zu ſeyn, und bot dieſelbe Wette wieder aus, bei wel¬ cher er glaͤnzende Erleichterungen vorſchlug, z. B. ſtatt einer Semmel blos einen ganzen kleinen Kuh¬ oder Ziegenkaͤſe, kaum Knie - oder Semmel-Schei¬ ben gros, auf einmal in den Mund zu nehmen und hinabzueſſen, waͤhrend er trinke ut supra; aber man dachte ſehr verdaͤchtig von ihm und niemand wagte.
Den Notar haͤtte der Direkteur zu ſehr ge¬ dauert, wenn er vorhin die ſchoͤne Blondine ſanf¬ ter angefahren haͤtte. Dieſe ſaß und naͤhte, und hob, ſo oft ſie mit der Nadel aufzog, die groſſenFlegeljahre III. Bd. 10146blauen Augen ſchalkhaft zu Walten auf, bis er ſich neben ſie ſezte, ſcharf auf die Naht blikte und auf nichts dachte, als auf eine ſchikliche Vorrede und Anfurth. Er konnte leicht einen Geſpraͤchs - Faden lang und fein verſpinnen, aber das erſte Floͤkgen an die Spindel legen konnt 'er ſchwer. Waͤhrend er neben ihr ſo vor ſeiner eignen Seele und Gehirnkammer antichambrirte, ſchnellte ſie leicht die kleinen Schuhe von ihren Fuͤßgen ab, und rief einen Herrn her, um ſie an den Trocken¬ ofen zu lehnen. Mit Vergnuͤgen waͤr' er ſelber aufgeſprungen; aber er wurde zu roth; ein weib¬ licher Schuh (denn er gab faſt deſſen Fuß darum) war ihm ſo heilig, ſo niedlich, ſo bezeichnend, wie der weibliche Hut, ſo wie es am Manne (ſein Schuh iſt nichts) nur der Ueberrock iſt, und an den Kindern jedes Kleidungsſtuͤk.
„ Ich daͤchte, Sie ſagten endlich etwas “, ſagte Jacobine zu Walten, an dem ſie ſtatt der Zunge den Reſt mobil machte, indem ſie ihr Knaͤul fallen ließ, und es am Faden halten wollte. Er lief der Gluͤcks¬ kugel nach, ſtrikte und drehte ſich aber in den Faden dermaſſen ein, daß Jakobine aufſtehen und dieſen von147 ſeinem Beine, wie von einer Spindel abwaifen mußte. Da ſie ſich nun buͤkte, und er ſich buͤk¬ te, und ihre Poſtpapierhaut ſich davon roth be¬ ſchlug — denn ihr ſchlechter Geſundheitspaß wur¬ de auſſer und auf der Buͤhne mit rother Dinte kor¬ rigirt — und er die Roͤthe mit Gluth erwiederte; und da beide ſich einander ſo nahe kamen und in den unordentlichſten Zwieſpalt der Rede: ſo war durch dieſe thaͤtige Gruppirung mehr abgethan und gethan fuͤr Bekanntſchaft, als wenn er drei Monate lang geſeſſen und auf ein Praͤludium und Antrittſprogramm geſonnen haͤtte. — Er war am Ariadnens Faden des Knaͤuls durch das Labyrinth des Rede-Introitus ſchon durch, ſo daß er im Hellen fragen konnte: was ſind Ihre Hauptrol¬ len? “— „ Ich ſpiele die unſchuldigen und nai¬ ven ſaͤmtlich “, verſezte ſie, und der Augenſchein ſchien das Spielen zu beſtaͤtigen.
Um ihr rechte Freude zu machen, gieng er, ſo tief er konnte, in's Rollen-Weſen ein, und ſprach der ſtummen Naͤhterin feurig vor. „ Sie reden ja ſo langweilig, wie der Theaterdichter — ſagte ſie — oder Sie ſind wohl einer. Dero wer¬148 then Namen? “— Er ſagte ihn. „ Ich heiſſe Jakobine Pamſen; Hr. Fraͤnzel iſt mein Stief¬ vater. Wo gedenken Sie denn eigentlich, H. Har¬ niſch? “ Er verſezte: „ wahrſcheinlich nach Ro¬ ſenhof. “— „ Huͤbſch, ſagte ſie. Da ſpielen wir morgen Abends. “ Nun malte ſie die goͤttliche Gegend der Stadt, und ſagte: „ die Gegend iſt ganz ſuperb. “ „ Nun? “fragte Walt, und ver¬ ſprach ſich eine kleine Muſter - und Produkten - Karte der Landſchaft, ein duͤnnes Blaͤtterſkelet da¬ ſigen Baumſchlags und ſo weiter. „ Aber — Was denn? ſagte die Pamſen, die Gegend, ſag 'ich, iſt die goͤttlichſte, ſo man ſchauen kann. Schauen Sie ſelber nach. “
Da trat der Larvenherr unbefangen hin und ſagte entſcheidend: „ bei Berchtolsgaden im Salz¬ burgiſchen iſt eine aͤhnliche und in der Schweiz fand 'ich ſchoͤnere. Aber kuͤnſtliche Zahnſtocher ſchnizen die Berchtolsgadner “und zog einen aus der Weſte, deſſen Grif ſauber zu einem Spizhund ausgearbeitet war.
„ Wer Luſtreiſen machen kann, fuhr er fort, mein Herr, findet ſeine Rechnung vielleicht beſſer149 im Badort St. Luͤne, wo gegenwaͤrtig drei Hoͤfe verſiren, der ganze Flachſenfingiſche, dem's ge¬ hoͤrt, darnach der Schneerauer und der Peſtizer und ein wahrer Zufluß von Kurgaͤſten. Ich reiſe morgen ſelber dahin. “
Der Notar machte eine matte Verbeugung; denn das Geſchik hatt 'ihn auf dieſen ganzen Abend verurtheilt, zu erſtaunen. „ Allmaͤchtiger Gott, dacht' er bei ſich, iſt denn das nicht woͤrtlich, ſo wie in des Bruders Briefe? “ Er ſtand auf — (Jakobine war aus Haſſe gegen den um 10 fl. reichern Larvenherrn laͤngſt weggelaufen mit dem Naͤhzeug in den Haͤnden) — und ſah am Lichte dieſe Brief-Stelle nach: „ ich ſah, wie am Mor¬ gen dein Genius und das Ungeſicht dir auf zwei verſchiedenen Wegen vorflogen, um dich zu lok¬ ken; du folgteſt aber dem Genius und giengeſt ſtatt nach St. Luͤne lieber nach Roſenhof “— Er ſah nun zu gewiß, die Maske ſei ſein boͤſer Ge¬ nius, Jakobine Pamſen aber, nach manchem zu urtheilen, ſein beſter, und er wuͤnſchte ſehr, ſie waͤre nicht aus der Stube gegangen.
Hatt 'er ſchon vorher den Entſchluß gefaſſet,150 lieber dem Briefe und Traume zu folgen nach Ro¬ ſenhof, weil er aus Homer und Herodot und ganz Griechenland eine heilige Furcht gelernt, hoͤhern Winken, dem Zeigefinger aus der Wolke mit fre¬ cher Willkuͤhr zu widerſtehen und gegen ihn die Menſchen-Hand aufzuheben: ſo wurde ſein Ent¬ ſchluß des Gehorſams jezt durch die Zudringlich¬ keit der Maske und die Einwirkung Jakobinens und durch das Nez neu verſtaͤrkt, worin Menſchen und Voͤgel ſich der Farbe wegen fangen, weil es mit der allgemeinen der Erde und Hoffnung an¬ geſtrichen iſt, naͤmlich der gruͤnen.
Jakobinen ſah er nicht mehr, als blos auf ihrer Thuͤrſchwelle mit einem Lichte, da er uͤber die ſeines Kaͤmmerleins trat. Er uͤberdacht 'es darin lange, ob er nicht gegen die Menſchheit durch Argwohn verſtoſſe, wenn er den Nachtrie¬ gel vorſchiebe. Aber die Maske fiel ihm ein und er ſties ihn vor. Im Traume war es ihm, als werd' er leiſe bei dem Namen gerufen. „ Wer da? “ſchrie er auf. Niemand ſprach. Nur der hellſte Mond lag auf dem Bett-Kiſſen. Seine Traͤume wurden verworren, und Jakobine ſezt '151ihn immer wieder in das roſenfarbne Meer ein, ſo oft ihn auch die Maske an einer Angel auf ei¬ nen heiſſen Schwefel-Boden geſchleudert.
Der friſche Tag.
Am fruͤhen Morgen brach die Truppe, wie Truppen, die Zelte laͤrmend ab und aus dem Lager auf. Die Fuhrleute ſtaͤubten das Nacht¬ ſtroh von ſich. Die Roſſe wieherten oder ſcharr¬ ten. Die Friſche des Lebens und Morgens ſpreng¬ te brennenden Morgenthau uͤber alle Felder der Zukunft, und man hielt es ſehr der Muͤhe werth, ſolchen zuzureiſen. Das Getoͤſe und Streben be¬ lebte romantiſch das Herz, und es war, als reite und fahre man gerade aus dem Proſa-Land in's Dichter-Land, und komme noch an um 7 Uhr, wenn es die Sonne vergolde. Als vor Walten die uͤber alles blaſſe Jakobine wie ein bleicher Geiſt einſaß, ſah er in den Traum und Abend hinein, wo er dieſen weiſſen Geiſt wieder finden, auch uͤber die Blaͤſſe fragen konnte; denn er ver¬152 rieth faſt leichter Seelen-Schminke, als Wangen - Schminke, dieſe rothe Herbſtfarbe fallender Blaͤt¬ ter, ſtatt der Fruͤhlingsroͤthe jungfraͤulicher Bluͤ¬ the. Weiſſe Schminke errathen Gelehrte noch ſchwerer oder gar nicht, weil ſie nicht abſehen koͤnnen, ſagen ſie, wo ſie nur anfange.
Die Maske ſaß auf, und ſprengte ſeit ab nach St. Luͤne zu. Gottwalt wußte, daß, wenn er den Weg nach Jodiz einſchluͤge, der weiſſagen¬ de Traum, daß er da Mittags eſſen werde, ſchon halb in Erfuͤllung gehe; — er nahm alſo dieſen Weg. Es ſei, daß der zweite Reiſetag an der Natur den blendenden Glanz abwiſchet, oder daß ſein unruhiger Blik in das geweiſſagte Roſenhof und deſſen Gaben, das leiſe Gruͤn der Natur, das wie ein Gemaͤlde nur in ein ſtilles Auge kommt, verſcheuchte: genug, ſtatt des geſtrigen beſchauli¬ chen Morgens hatt 'er jezt einen ſtrebenden thaͤti¬ gen. Er ſaß ſelten nieder, er flog, er ſtand und gieng als Befehlshaber an der Spize ſeiner Tage. Waͤr' ihm Don Quixote's Roſinante auf einer Wieſe graſend begegnet, er haͤtte ſich frei auf die nakte geſchwungen, (er waͤre ſein eigner Sattel153 geweſen:) um in die romantiſche Welt hinein zu reiten bis vor die Hausthuͤre einer Dulzinee von Toboſo. Er ſah voruͤbergehend in eine hackende Oelmuͤhle, und trat hinein; die Rieſenmaſchi¬ nen kamen ihm lebendig vor, die hauenden Ruͤſ¬ ſel, die unaufhaltbaren Stampf-Maͤchte und Kloͤtze wurden von ſeltſamen Kraͤften und Gei¬ ſtern geregt und aufgehoben.
Durch den rein-blauen Himmel brauſete ein unaufhoͤrlicher Sturm — der ſeine eigne Windharfe war; — aber nichts weht weiter in Zauber - und Zukunfts-Laͤnder, als eine ſolche unſichtbare toͤnende Gewalt. Geiſter flogen im Sturm; die Waͤlder und Berge der Erden wur¬ den von Ueberirdiſchen geſchuͤttelt und geruͤckt; — die aͤuſſere Welt ſchien ſo beweglich zu wer¬ den, wie es die innere iſt.
Ueberall lagen auf den Felſen Ritter-Schloͤſ¬ ſer — in den Gaͤrten Luſtſchloͤſſer — an den kleinen Reben-Bergen weiſſe Haͤuſergen — zu¬ weilen da eine rothglaͤnzende Ziegelhuͤtte, dort das Schieferdach einer Korn - oder Papiermuͤh¬ le. — — Unter allen dieſen Daͤchern konnten154 die ſeltenſten Vaͤter und Toͤchter und Bege¬ benheiten wohnen und heraus treten, und auf den Notar zugehen; er verſah ſich deſſen ohne Furcht.
Als eine zweite Straſſe ſeine zu einem Kreuz¬ wege, dieſem Andreaskreuze der Zauberinnen, durchſchnitt: ſo wehten ihn tiefe Sagen ſchauer¬ lich aus der Kindheit an; im Brennpunkte der vier Welt-Ecken ſtand er, das fernſte Treiben der Erde, das Durcheinanderlaufen des Lebens umſpannt 'er auf der wehenden Stelle. Da er¬ blickt' er Jodiz, wo er Vults Traume nach eſſen ſollte. Es kam ihm aber vor, er hab 'es ſchon laͤngſt geſehen, der Strom um das Dorf, der Bach durch daſſelbe, der am Fluſſe ſteil auf¬ fahrende Wald-Berg, die Birken-Einfaſſung und alles war ihm eine Heimath alter Bilder. Vielleicht hatte einmal der Traumgott vor ihm ein aͤhnliches Doͤrfgen aus Luft auf den Schlaf hingebauet und es ihn durchſchweben laſſen*)Es giebt zwar ein zweites Jodiz mit gleicher Ge¬ gend, — das Kindheitsdorf des gegenwaͤrtigen. 155Er dachte nicht daran, ſondern an Abentheuer und an die Natur, die gern mit Aehnlichkeiten auf Steinen, und in Wolken und mit Zwil¬ lingen ſpielet.
Im Jodizer Wirthshaus wurd 'er wieder uͤberraſcht durch Mangel an allem Ueberraſchen¬ den. Nur die Wirthin war zu Hauſe und er der erſte Gaſt. Erſt ſpaͤter kam mehr Leben an, ein Boͤheimer mit vier Verkaufſchweingen, und dem Hunde; aber da dieſer ſehr lamentirte, daß er lieber vier Heerden treiben und abſetzen wollte als allemal die lezten Aeſer, mit denen es nie ein Ende nehme: ſo ließ ſich Walt ſeine Sonnen¬ ſeite nicht laͤnger zur Winterſeite umdrehen, ſon¬ dern zog mit einer Portativ-Mahlzeit davon.
Er gelangte in einen felſigen ſtillen Wald und glitt vom Weg ab, und lief ſo lange einer immer enger ablaufenden Schlucht nach, bis er an die ſogenannte ſtille Stelle kam, die er im Tagebuche ſo beſchreibt:
„ Die Felſen draͤngen ſich einander entgegen, und wollen ſich mit den Gipfeln beruͤhren und die Baͤume darauf langen wirklich einander die Arme zu. Keine Farbe iſt da als Gruͤn und oben etwas Blau. Der Vogel ſingt und niſtet und huͤpft, nie geſtoͤrt auf dem Boden, auſſer von mir. Kuͤhle und Quellen wehen hier, kein Luͤft¬ gen kann herein. Ein ewiger dunkler Morgen iſt da, jede Waldblume iſt feucht, und der Mor¬ genthau lebt bis zum Abendthau. So heimlich eingebauet, ſo ſicher eingefaſſet iſt das gruͤne Stillleben hier, und ohne Band mit der Schoͤp¬ fung als durch einige Sonnenſtrahlen, die Mit¬ tags die ſtille Stelle an den allgewaltigen Him¬ mel knuͤpfen. Sonderbar, daß gerade die Tiefe ſo einſam iſt, wie die Hoͤhe. Auf dem Montblanc fand Sauſſuͤre nichts als einen Tag - und einen Nachtſchmetterling, was mich ſehr erfreuete. — Am Ende wurde ich ſelber ſo ſtill, als die Stelle, und ſchlief ein. Ein Zaubertraum nach dem an¬ dern legte mir Fluͤgel an, die bald wieder zu groſſen Blumenblaͤttern wurden, auf denen ich lag und ſchwankte. Endlich war mir, als rufe157 mich eine Floͤte beim Namen und mein Bruder ſtehe dicht an meinem Bette. Ich ſchlug die Au¬ gen auf, allein ich hoͤrte faſt gewiß noch eine Floͤte. Ich wuſt 'aber durchaus nicht, wo ich war; ich ſah die Baum-Gipfel mit Gluth - Roth durchfloſſen; ich entſann mich endlich muͤh¬ ſam der Abreiſe aus Jodiz und erſchrack, daß ich eine ganze Nacht und den prophezeieten Abend in Roſenhof, hier verſchlafen haͤtte; denn ich hielt die Roͤthe fuͤr Morgenroͤthe. Ich draͤngte mich durch den thauenden Wald hindurch und auf meine Straſſe hinaus — ein praͤchtiges Morgen-Land faltete vor mir die gluͤhenden Fluͤ¬ gel auf, und riß mein Herz in das allerheiterſte Reich. Weite Fichtenwaͤlder waren an den Spi¬ zen gelbroth beſaͤumt, freilich nur durch morden¬ de Fichtenraupen. Die liebe Sonne ſtand ſo, daß es der Jahreszeit nach 5¾ Uhr am Mor¬ gen ſein mochte, es war aber, die Wahrheit zu ſagen, 6¼ Uhr Abends. Indeß ſah ich die Lin¬ denſtaͤdter Gebuͤrge roth von der entgegenſtehen¬ den Sonne uͤbergoſſen, die eigentlich der oͤſtlichen Lage nach uͤber Ihnen ſtehen muſte.
158Ich blieb im Wirrwarr, obgleich die Sonne vielmehr fiel als ſtieg, bis ein junger hagerer Maler mit ſcharfen und ſchoͤnen Geſichts-Kno¬ chen und langen Beinen und Schritten und ei¬ nem der groͤßten Preuſſiſchen Huͤte vor mir da¬ hin voruͤber wollte, mit einer Mahler-Taſche in der Hand. „ Guten Morgen, Freund, ſagt 'ich, iſt das die Straſſe nach Roſenhof, und wie lange? “ Dort hinter den Huͤgeln liegt's gleich, Sie koͤnnen in einer Viertel-Stunde noch vor Sonnenuntergang ankommen, wenn die Faͤhre eben da iſt. “ Er entlief mit ſeinen gedachten Schritten und ich ſagte: Dank, gute Nacht. Es war mir aber gewaltſam, als wenn ſich die Welt ruͤckwaͤrts drehte, und als wenn ein großer Schatte uͤber das Sonnen-Feuer des Lebens kaͤ¬ me, da ich den Morgen zum Abend machen muſte. “ So weit ſeine Worte.
Jzt ſtand der Notar ſtill, drehte ſich um, eine lange Ebene hinter ihm ſchloſſen unbekannte Berge zu; vor ihm ſtanden ſie wie Sturmbalken der Gewitter, gehoͤrnt und geſpalten hinter den Huͤgeln gen Himmel und die Berg-Rieſen tru¬159 gen die hohen Tannen nur ſpielend. Der flie¬ gende Landſchaftsmaler, ſah er, ſezte ſich auf die Huͤgel und ſchien, nach ſeiner Richtung zu ſchlieſſen, die verdeckte Stadt Roſenhof auf ſein Zeichenpapier heraufzutragen. Gott, dachte Walt, nun begreif 'ich's einigermaßen, wie die Stadt liegen mag, wie goͤttlich und himmliſch, wenn der Landſchafts-Maler von Bedeutung ſich davor ſezt, und nur ſie abreiſſet, indeß er hinter ſeinem Ruͤcken eine Landſchaft weiß, die einen Fremdling, der jene nicht kennt, ordent¬ lich mit Abend-Glanz und Anſicht uͤberhaͤuft.
Als er oben vor die Ausſicht kam, ſtand er neben dem Stand - und Sizpunkte des Ma¬ lers ſtill, und rief nach dem erſten Blick auf die Landſchaft aus: „ Ja, das iſt des Malens¬ werth. “ „ Ich zeichne blos “ſagte der gebuͤckte Mahler, ohne aufzublicken. Walt blieb ſtehen, und ſein Auge ſchweifte von dem breiten Roſana - Strome zu ſeinen Fuͤſſen, aufwaͤrts zur Stadt am Ufer und Gebuͤrg, und ſtieg auf die waldi¬ gen zwei Felſen-Gipfel uͤber der Stadt, und fiel auf die Faͤhre, die voll Menſchen und Wa¬160 gen zwiſchen Seilen, zu ſeinem Ufer, voll neuer Paſſagiere, heruͤber glitt, und ſein Auge flog endlich den Strom hinab, der, lang von der Abendſonne beglaͤnzt, ſich durch fuͤnf gruͤne helle Inſeln brennend draͤngte.
Die Faͤhre war gelandet, neues Schiffsvolk und Fuhrwerk eingeſtiegen, ſie wartete aber noch und, wie es ihm vorkam, auf ihn. Er lief hin¬ ab und ſprang auf das Fahrzeug. Allein es wartete auf ſchwerere Befrachtung. Er ſchauete auf drei hier einlaufende Straſſen hinauf. End¬ lich bemerkte er, daß im Abendglanze ein zierli¬ cher Reiſewagen mit vier Pferden, lange Staub¬ wolken nachſchleppend, daher rollte.
Daruͤber muſte der Notar frohlocken, weil ſchon ein Fuhrmanns-Karren mit Pferden auf der Faͤhre ſtand und der Reiſewagen mit den ſei¬ nigen ſie noch viel gedraͤngter und bunter machte, als ſie es ſchon durch den Kongreß von Bettlern, Boten, Spaziergaͤngern, Hunden, Kindern, Wan¬ dergeſellen und Grummet-Weibern war, wozu noch der Tyroler, der Geburtshelfer und der Bet¬ telmann kam, die ihm unterwegs begegnet wa¬161 ren. Die Faͤhre war ihm ein zuſammengepreſter Marktplaz, der ſchwamm, ein ſtolzes Linien - Schiff zwiſchen zwei Linien-Seilen, ein Bucen¬ tauro, aus welchem ſeine Seele zwei Vermaͤh¬ lungsringe auswarf, einen in den Seeſtrom, ei¬ nen in den glaͤnzenden Abend-Himmel. Er wuͤnſchte halb und halb, die Ueberfahrt wollte ſich durch einige Gefahr, die andern nichts ſcha¬ dete, noch treflicher beleben.
Ein ſchoͤner ſtattlicher Mann ſtieg vorher aus dem angekommenen Wagen aus, eh 'dieſer auf das enge Fahrzeug getrieben, und da gehoͤrig eingeſchichtet wurde; „ er traue ſeinen Pferden nicht “ſagte der Herr. Walt fuhr ihm faſt oh¬ ne ausgezeichnete Hoͤflichkeit entgegen vor Jubel, denn er ſah den General Zablocki vor ſich. Die¬ ſer durch Reiſen haͤufiger an ſolche Erkennungen gewoͤhnt, bezeugte ein ruhiges Vergnuͤgen, ſei¬ nen erotiſchen Sekretair hier anzutreffen. Der lange Poſtzug ſtolperte endlich in die Faͤhre mit dem Wagen herein, und aufzitternd ſah Walt, daß Zablocki's ſchoͤne Tochter darin ſaß, die Augen auf die fuͤnf Inſeln heftend, welche derFlegeljahre III. Bd. II162Sonnenglanz mit Roſenfeuer uͤberſchwemmte. Sein Herz brannte ſanft in ſeinem Himmel, wie die Sonne in ihrem, und gieng ſeelig auf, und ſeelig unter. Schon der leere Bekannte waͤr 'ihm auf unbekanntem Boden, wie ein Bruder erſchie¬ nen; aber nun die ſtill geliebte Geſtalt — ſie gab ihm einen Seelen-Augenblik, den kein Traum der Phantaſie weiſſagt.
Er ſtand an der Morgenſeite des Kutſchen¬ ſchlags und durfte allda ohne Bedenken, da auf der Faͤhre alle Welt feſt ſtehen muß, verharren, und in einem fort hinein ſehen, (er hatte ſich ge¬ gen den Wagen umgekehrt) er ſchlug aber die Augen oft nieder, aus Furcht, daß ſie ihre her¬ um wende und von ſeinen geſtoͤret werde, ob er gleich wußte, daß ſie, geblendet von der Sonne, anfangs ſo viel ſaͤhe als nichts. Er vergaß, daß ſie ihn wahrſcheinlich gar nie angeſehen. Nach der herrlichen Pracht-Sonne und nach den 5 Roſen-Inſeln, ſah er nicht hin, ſondern genoß und erſchoͤpfte ſie ganz dadurch, daß er der ſtil¬ len Jungfrau und dem ſtummen Abendtraume, womit ſie auf den goldnen Inſeln ruhte, mit163 tauſend Wuͤnſchen zuſah, es moͤg 'ihr doch noch beſſer ergehen, und himmliſch, und darauf noch herrlicher.
Von weitem war's ihm, als wenn die Ro¬ ſana floͤſſe und die Faͤhre ſchifte, und die Wellen rauſchten, und als wenn die wagrecht einſtroͤ¬ mende Abend-Sonne Hunde und Menſchen mit Jugendfarben uͤberzoͤge, und jeden Bettler und Bettelſtab vergoldete, desgleichen das Silber der Jahre und Haare. Aber er gab nicht beſonders Acht darauf. Denn die Sonne ſchmuͤckte Wina mit betenden Entzuͤckungen und die Roſen der Wangen mit den Roſen des Himmels; — und die Faͤhre war ihm ein auf Toͤnen ſich wiegen¬ der Sangboden des Lebens, ein durch Abendlicht ſchiffendes Morgenland, ein Charons-Nachen, der das Elyſium trug zum Tartarus des Ufers. Walt ſah unkenntlich aus, fremd, uͤberirdiſch, denn Winas Verklaͤrung warf den Wiederſchein auf ihn.
Ein Kruͤppel wollte ihm in der Naͤhe etwas von ſeiner Noth vorlegen, aber er faſte nicht, ſondern haſſete es, wenn ein Menſch an einem164 ſolchen Abend nicht ſeelig war, wo ſich die bis¬ her betruͤbte Jungfrau erheiterte, und ſich die Sonne gleichſam wie eine liebe warme Schweſter - Hand an das Herz druͤckte, das bisher oft in mancher kalten dunkeln Stunde ſchwer ge¬ ſchlagen.
„ Haͤtt 'er nur kein Ende, der Abend, wuͤnſchte Walt, und keine Breite, die Roſana, — oder man beſchifte wenigſtens ihre Laͤnge, fort und fort, bis man mit ihr ins Meer ver¬ ſchwaͤmme, und darin untergienge mit der Sonne. “
Eben war die Sonne uͤber dem Strome untergegangen. Langſam wandte Wina das Au¬ ge ab und nach der Erde, es fiel zufaͤllig auf den Notar. Er wollte einen Gruß voll Vereh¬ rungen ſpaͤt in den Wagen werfen, aber die Faͤhre ſchoß heftig vom Ufer zuruͤck, und zer¬ ſtieß das wenige, was er zuſammen gebauet.
Der Wagen fuhr bedaͤchtlich ans Land. Walt gab an 4 Groſchen Faͤhrgeld: „ fuͤr wen noch? “fragten die Faͤhrleute. „ Fuͤr wer will “verſezte Walt; darauf ſprangen, ohne zu fragen und zu165 zahlen, mehr zu viele ans Land. Der Ge¬ neral wollte zu Fuß in die ſchoͤne Garten - Stadt, Walt blieb neben ihm. Jener fragte, ob ihm geſtern keine Komoͤdianten begegnet. Er berichtete, daß ſie dieſen Abend in Roſenhof ſpielten. „ Gut! ſagte Zablocki — ſo eſſen Sie Abends bei mir im Granatapfel — Sie uͤbernachten doch — und Morgens ſieht man in Sozietaͤt die ganz ſplendide Felſen-Gruppe, die Sie droben uͤber der Stadt bemerken. “
Die Entzuͤckung uͤber dieſe Gabe des Ge¬ ſchicks ſpricht Walt in ſeinem Tagebuch kurz ſo aus: „ wie ich vor ihm daruͤber meine Freude ausſprach, lieber Bruder, das kannſt du dir vielleicht beſſer denken als ich jezt. “
Karthauſe der Phantaſie — Bonmots —
Es giebt ſchwerlich etwas Erquicklicheres als Abends mit dem General Zablocki hinter dem Wagen ſeiner Tochter zwiſchen den Gaͤrten voll Roſenſtraͤuche in die ſchoͤne Stadt Roſenhof ein¬166 zugehen — ohne alle Sorge und voll Ausmah¬ lungen des Abendeſſens zu ſein — und den ſchoͤ¬ nen Eß-Rauch uͤber der Stadt ordentlich fuͤr die Zauber-Wolke zu halten, womit der gute Ge¬ nius in Vults Briefe ſie uͤberzogen — und von den wirthlichen reinen breiten Gaſſen und den leichten vergaͤnglichen Spielen und Zwecken des Lebens immer gerade zu den drauſſen uͤber der Vorſtadt ſtehenden finſtern Gebirgshaͤuptern auf¬ zuſehen, die ſo nahe aus ihrer kalten Hoͤhe auf die Haͤuſer und die Thuͤrme herunter ſchauen. Beſonders nahm den Notar die gruͤnende Gaſſe ein, wo der Granatapfel logirte: „ mir iſt or¬ dentlich, ſagte er begeiſtert und redſelig zum General, als gieng 'ich in Chalcis in Eu¬ boͤa*)Pauſan. in Att. oder auch einer andern griechiſchen Stadt, wo ſo viele Baͤume in den Gaſſen ſtanden, daß man die Stadt kaum ſah. Giebt es eine ſchoͤne¬ re Vermiſchung von Stadt und Land als hier, Exzellenz? — Und iſt Ihnen nicht auch der Gedanke ſuͤß, daß hier zu einer gewiſſen Zeit, ſo167 wie in Montpellier, alles in Roſen und von Ro¬ ſen lebt, wenn man auch gleich jezt nichts davon ſieht als die Dornen, Herr General? “
Dieſer, der nicht daraus gehorcht hatte, rief ſeinem Kutſcher einen derben Fluch zu, weil er mit ſeinem Wagen faſt an dem Fraͤnzelſchen geentert haͤtte. Walt ſagte, das ſeien die Ak¬ teurs; und forderte vom Wirth ein vortrefliches Zimmer, das man ihm leicht zugeſtand, weil man ihn fuͤr einen Sekretair Zablocki's anſah, was noch dazu richtig war in Ruͤckſicht der ero¬ tiſchen Memoiren. Da er darein gefuͤhret wur¬ de, erſtaunte er ſchon vorlaͤufig uͤber den Prunk des Prunkzimmers und wurde geruͤhrt von ſei¬ nem Gluͤcksſchwung, was zunahm, als er den Bettelſtab, dem er ſeinen Hut aufſezte, an den Spiegeltiſch ſtellte. Da er aber in hoͤchſter Be¬ quemlichkeit und Seelen-Ruhe auf - und ab gieng, die Papiertapeten ſtatt des ihm gewoͤhn¬ lichern Tapetenpapiers — die drei Spiegel — die Kommode-Beſchlaͤge mit Meſſing-Maſken — die Fenſter-Rouleaux — und vollends die Be¬ dientenklingel ausfand: ſo laͤutete er dieſe zum168 erſtenmal in ſeinem Leben, um ſogleich ein Herr zu ſein und, wenn er eine Flaſche Wein ſich bringen laſſen, nun die ſuͤßquellende Gegenwart gehend auszuſchluͤrfen, und uͤberhaupt einen Abend zu erleben, wie irgend ein Troubadour ihn genoſſen. Troubadours, ſagt 'er ſich, in¬ dem er trank, uͤbernachteten oft in ſehr vergol¬ deten Zimmern der Hoͤfe, — den Tag vorher vielleicht in einer Moos - und Strohhuͤtte — wie Toͤne durchdrangen ſie hohe und dicke Mauern — und dann pflegten ſie ſich darin noch die ſchoͤn¬ ſte Dame von Stand zu aufrichtiger Liebe aus¬ zuleſen und, gleich Petrarka, ſolche in ewiger Dichtung und Treue gar nie ſelber zu begehren “— ſezt' er dazu und ſah an die Wand des — Generals.
Zablocki's Zimmer war ſeinem durch eine zweimal verriegelte Wand - und Tranſito-Thuͤre verſperrt und verknuͤpft. Er konnte gehend — denn ſtehend zuzuhoͤren, hielt er fuͤr Unrecht — auspacken und jedes heftige Wort des Vaters an Bediente, und den ſuͤſſen Ton, worein Wina ſie, wie eine Aeolsharfe den Sturmwind, auf169 der Stelle uͤberſezte, leicht vernehmen. Ob er gleich hofte, unten in der breiten Gaſtſtube Ja¬ kobinen wieder und viel bekannter anzutreffen: ſo hielt er es doch fuͤr ſeeliger, neben der nahen Nonne Wina als Wandnachbar auf - und ab zu¬ ſpazieren, und ſie unaufhoͤrlich ſich vorzuſtellen, beſonders das groſſe beſchattete Auge und die Freundlichkeit und Stimme und das Abendeſſen neben ihr.
Er hoͤrte endlich, daß der General ſagte, er gehe in's Schauſpiel, und daß Wina bat, zu¬ ruͤck bleiben zu duͤrfen, und daß ſie darauf ih¬ rer Kammerdienerin — der gottloſen Saͤngerin Luzie — die Erlaubniß gab, ſich im Staͤdtgen umzuſehen. Alsdann wurde alles ſtill. Er ſah zum Fenſter hinaus an ihres. Winas beide Fenſter-Fluͤgel (ſie ſchlugen ſich nach der Gaſſe auf) waren offen, und ein Licht im Zimmer und am Wirthshausſchild ein Schattenriß, der ſich regte. Da er aber nichts weiter ſah, ſo kehrte er wieder mit dem Kopf in ſeine Stube zuruͤck, worin er — ſo gehend, trinkend, dichtend, — ein aus Roſenzucker gebackenes Zuckerbrod, ja170 Zucker-Eiland nach dem andern aus dem Back¬ ofen auf der Schaufel behutſam heraus holte: — „ O ich bin ſo gluͤcklich! “dacht 'er und ſah nach, ob man keine Armenbuͤchſe an die Papiertapeten geſchraubt, weil er in keinem Wirthshauſe ver¬ gaß, in dieſe Stimm-Rize unbekannter Klag¬ ſtimmen, ſo viel er konnte, zu legen; aber das Zimmer war zu nett zu Wohlthaten.
Es wurde ſehr dunkel. Der fruͤhe Herbſt¬ mond ſtand ſchon als ein halbes Silber-Diadem auf einem Gebirgshaupt. Der Kellner kam mit Licht, Walt ſagte: ich brauche keines, ich eſſe bei dem Hr. General. Er wollte das Stuben¬ lange Mondlicht behalten. An der Fenſterwand wurde ihm endlich dadurch eine und die andere Reiſe-Sentenz von fruͤhern Paſſagieren erleuch¬ tet. Er laß die ganze Wand durch, nicht ohne Zufriedenheit mit den jugendlichen Sentenzen, welche ſaͤmmtlich Liebe und Freundſchaft und Erden-Verachtung mit der Bleifeder anprieſen. — „ Ich weiß ſo gut als jemand — ſchreibt er im Tagebuch — daß es faſt laͤcherlich, wenn nicht gar unbillig iſt, ſich an fremde Zimmer¬171 Wand anzuſchreiben; dennoch ergoͤzet den Nach¬ fahrer ein Vorgaͤnger ſehr dadurch, daß er auch da geweſen, und die leichte Spur eines Unbe¬ kannten einem Unbekannten nachgelaſſen. Frei¬ lich ſchreiben einige nur den Namen und Jahrs¬ zahl an; aber einem wohlwollenden Menſchen iſt auch ein leerer Name lieb, ohne welchen eine entruͤckte verreiſete Geſtalt doch mehr ein Begrif bliebe als ein Begriffenes, weniger ein Menſch als eine luftige, auch wohl aͤtheriſche Menſch¬ heit. Und warum ſoll man denn einen leeren Gedanken lieber haben und vergeben, als einen leeren Namen? — Ich nehm 'es gar nicht uͤbel, daß einer bloshin anſchrieb I. P. F. R. Wonſi¬ del: Martii anno 1793 — oder ein anderer Vi¬ vat die A. etc., die B. etc., die C. etc., die I. etc. — oder das Franzoͤſiſche, Griechiſche, Lateini¬ ſche, auch Hebraͤiſche. — Und es ſtehen ja oft koſtbare Sentenzen daran wie folgende: „ im phyſiſchen Himmel glauben wir ſtets in der Mitte zu ſein; aber in Ruͤckſicht des innerli¬ chen glauben wir immer am Horizont zu ſtehen; im oͤſtlichen, wenn wir frohlocken, im weſt¬172 lichen, wenn wir jammern. “ Er wagte zu¬ lezt ſelber Winas und Walts Namen ſammt Da¬ tum ans Stammbuch ſo zu ſchreiben. W — W. Sept. 179 — Er ſchauete wieder auf die Mondhelle Gaſſe hinaus nach Winen, und er¬ blikte drei herausgelegte Finger, und ein wenig weiſſe Hutſpize; dabei und davon ließ ſich leben und traͤumen. Er ſchwebte und ſpielte, wie ein Sonnenſtaͤubgen, in den langen Mondſtrahlen der Stube, er ergaͤnzte ſich das ſtille Maͤdgen aus den drei Fingern; er ſchoͤpfte aus der nie verſiegenden Zukunft, die beim Abendeſſen als Gegenwart erſchien. Freuden flogen ihm als pur¬ purne Schmetterlinge nach und die beleuchteten Stubenbretter wurden Beete von Papillionsblu¬ men — — drei Viertelſtunden lang wuͤnſcht' er herzlich, ſo einige Monate auf - und nieder zu gehen, um ſich Wina zu denken und das Eſſen.
Aber der Menſch duͤrſtet am groͤßten Freu¬ denbecher nach einem groͤſſern und zulezt nach Faͤſſern; Walt fieng an, auf den Gedanken zu kommen, er koͤnne nach der vaͤterlichen Einla¬ dung ohne Uebelſtand ſich jezt gar ſelber einſtel¬173 len bei der einſamen Wina. Er erſchrack genug — wurde ſcham - und freudenroth — gieng lei¬ ſer auf - und ab — hoͤrte jezt Wina auch auf und niedergehen — der Vorſaz trieb immer mehr Wurzeln, und Bluͤthen zugleich — nach einer Stunde Streit und Gluth war das Wagſtuͤck ſeiner Erſcheinung und alle zarteſten Entſchuldi¬ gungen derſelben feſt beſchloſſen und abgemacht: als er den General kommen und ſich rufen hoͤr¬ te. Er riegelte mit dem Hut-Stock in der Hand, ſeine Wandthuͤre auf, „ dieſe iſt zu, Freund! “rief der General, und er gieng, den Misgriff nachfuͤhlend, erſt aus ſeiner durch die fremde ein.
Bluͤhend von Traͤumen trat er ins helle Zimmer; halb geblendet ſah er die weiſſe ſchlan¬ ke Wina mit dem leichten weiſſen Hute, wie ei¬ ne Blumengoͤttin neben dem ſchoͤnen Bacchus ſtehen.
Der leztere hatte ein heiteres Feuer in jeder Mine. Die Tochter ſah ihn unaufhoͤrlich vor Freude uͤber die ſeinige an. Bediente muſten ihm auf Fluͤgeln das Eſſen bringen. Der Notar174 wog auf den ſeinigen, verſchwebt in den Glanz dieſes magiſchen Kabinets, nicht viel uͤber das Gewicht von fuͤnf Schmetterlingen, ſo leicht und aͤtheriſch flatterte ihm Gegenwart und Leben vor.
Er ſezte ſich mit weit mehr Welt und Leich¬ tigkeit an das Eß-Taͤfelgen, als er ſelber ge¬ dacht hatte. Der General, der ein unaufhoͤr¬ liches Sprechen und Unterhalten begehrte, ſann Walten an, etwas zu erzaͤhlen, etwas Aufge¬ wektes. Mit etwas Ruͤhrendem waͤr 'er leichter bei der Hand geweſen; ſo aber ſagt' er: er wolle nachſinnen. Es fiel ihm nichts bei. Schwerer iſt wohl nichts als das Improviſiren der Erin¬ nerung. Viel leichter improviſirt der Scharf - und Tiefſinn, die Phantaſie, als die Erinnerung, zumal wenn auf allen Gehirn-Huͤgeln die freu¬ digſten Feuer brennen. Dreitauſend fatale Bon¬ mots hatte der Notar allemal ſchon geleſen ge¬ habt, ſobald er ſie von einem andern erzaͤhlen hoͤrte; aber er ſelber kam nie zuerſt darauf und er ſchaͤmte ſich nachher vor dem Korreferenten. Sehr haͤtt 'er das Schaͤmen nicht noͤthig, da ſolche Referendarien des fremden Wizes und175 ſolche Poſtſchiffe der Geſellſchaft meiſt platte Ge¬ hirne tragen, auf deren Tenne nie die Blumen wachſen, die ſie da aufſpeichern und auf¬ troknen.
„ Ich ſinne noch nach “verſezte Walt, ge¬ aͤngſtigt, einem Blicke Zablocki's, und flehte Gott um einigen Spaß an; denn noch ſah er, daß er eigentlich nur uͤber das Sinnen ſinne, und deſſen Wichtigkeit. Die Tochter reichte dem Vater die Flaſche, die nur er — ſeine Briefe aber ſie — aufſiegelte. „ Trinken Sie dies Gewaͤchs fuͤr 48ger oder 83ger? “ſagte der General, als man Walten das Glas bot. Er trank mit der Seele auf der Zunge und ſuchte forſchend an die Decke zu blicken. „ Er mag wohl, verſezt 'er, um die Haͤlfte aͤlter ſein, als mein voriger Wein, den ich eher fuͤr jungen 48ger halte; — ja, (ſezt' er feſt darzu, und blikte ins Glas,) er iſt gewiß herrliche 83 Jahre alt. “ Zablocki laͤchelte, weil er eine Anekdote, ſtatt zu hoͤren, erlebte, die er ſchoͤn weiter geben konnte.
Der General wollt 'ihn aus dem ſtillen in¬ nerlichen Schnappen nach Bonmots herausfra¬176 gen durch die Rede: wie er nach Roſenhof kom¬ me? Walt wuſte keine rechte oſtenſible Urſa¬ chen — wiewohl dieſe ihm gegenuͤber ſaß im weiſſen Hute — anzugeben, ausgenommen Na¬ tur und Reiſeluſt. Da aber dieſe keine Geſchaͤf¬ te waren: ſo begriff ihn Zablocki nicht, ſondern glaubte, er halte hinter irgend einem Berge, und wollte durchaus hinter ihm kommen. Walt ſchuͤttelte von ſeinen poetiſchen Schwingen die koͤſtlichen Berge und Thaͤler und Baͤume auf das Tiſchtuch, die er auf dem ſeeligen Wege mehr aufgeladen, als durchflogen hatte. Zablocki ſagte nach Walts langer Ausſpende von Bil¬ dern: „ beim Teufel! nimm' oder ich freſſ 'nicht! “ Wina — denn dieſe hatt' er in jenem Liebes-Zorn angeredet, den weniger die Vaͤter gegen ihre Toͤchter als die Maͤnner gegen ihre Weiber haben — nahm erſchrocken ein groſſes Stuͤck vom Schnepfen, dem Schoos-Kinde des vaͤterlichen Gaumens, und reichte, hoͤflicher als Zablocki, den Teller dem betretenen Notar hin¬ uͤber, um ein Paar hundert Verlegenheiten zu erſparen. Walt konnte auf keine Weiſe faſſen,177 wie bei ſo muͤndlicher lebendiger Darſtellung der lebendigen beinahe muͤndlichen Natur als ſeine war, ein Schnepfe mit allem ſeinem Album graecum noch einige Senſazion zu machen im Stande ſei. Poetiſche Naturen, wie Walt, ſind in Nordlaͤndern — denn ein Hof oder die groſſe Welt iſt der geborne Norden des Geiſtes, ſo wie der geborne Gleicher des Koͤrpers — nichts wei¬ ter als Elephantenzaͤhne in Siberien, die unbe¬ greiflich an einem Orte abgeworfen worden, wo der Elephant erfriert.
Mit einſchmeichelnder Stimme fragt 'ihn wieder Zablocki, ob ihm noch nichts eingefal¬ len; und Wina ſah ihn unter dem Abendrothe des rothtaftenen Hutfutters ſo lieblich Augen¬ nickend und bittend an, daß er ſehr gelitten haͤt¬ te, wenn ihm nicht die drei Bonmots, auf die er ſich gewoͤhnlich beſann, endlich zugekommen waͤren, und daß er wieder nahe daran war, ein gelieferter Mann zu werden, und alles zu vergeſ¬ ſen, weil das kindlich bitthafte Auge zu viel Plaz — naͤmlich allen — in ſeiner Phantaſie, Memorie und Seele wegnahm.
Flegeljahre III. Bd. 〈…〉〈…〉178„ Ein harthoͤriger Miniſter — fieng er an — hoͤrte an einer fuͤrſtlichen Tafel “.... „ Wie heiſſet er und wo? “fragte Zablocki. Das wuſt 'er nicht. Allein da der Notar den wenigen Hi¬ ſtorien, die ihm zufielen, keinen Boden, Ge¬ burtstag und Geburtsſchein zuzuwenden wuſte — vorfabeln wollt' er nie: — ſo braucht es Sozie¬ taͤten nicht erſt bewieſen zu werden, wie farben¬ los er als Hiſtorienmaler auftrat, und wie ſehr eigentlich als ein luftiger hiſtoriſcher Improviſa¬ tore. „ Ein harthoͤriger Miniſter hoͤrte an einer fuͤrſtlichen Tafel die Fuͤrſtin eine komiſche Anek¬ dote erzaͤhlen, und lachte daruͤber mit dem gan¬ zen Zirkel unbeſchreiblich mit, ob er gleich kein Wort davon vernommen. Izt verſprach er eine eben ſo komiſche zu erzaͤhlen. Da trug er, zum allgemeinen Erſtaunen, die eben erzaͤhlte wieder als eine neue vor. “
Der General glaubte, ſo ſchnapp 'es nicht ab; da er aber hoͤrte, es ſei aus: ſo ſagt' er ſpaͤt: „ Delizioͤs! “lachte indeß erſt zwei Minuten ſpaͤter hell auf, weil er gerade ſo viele brauchte, um ſich heimlich die Anekdote noch179 einmal, aber ausfuͤhrlicher, vorzutragen. Der Menſch will nicht, daß man ihm die ſpitze, blan¬ ke Pointe zu hitzig auf der Schwelle auf das Zwergfell ſetze. Eine gemeine Anekdote ergreift ihn mit ihrem Ausgang froh, ſobald er nur vorher durch viel Langeweile dahin getrieben wur¬ de. Geſchichten wollen Laͤnge, Meinungen Kuͤr¬ ze. Walt trieb die zweite anonyme Geſchichte von einem Hollaͤnder, auf und vor, welcher gern ein Landhaus, wegen der herrlichen Aus¬ ſicht auf die See, beſeſſen haͤtte, wie alle Welt um ihn, allein nicht das Geld dazu hatte. Der Mann aber liebte Ausſichten dermaſſen, daß er alle Schwierigkeiten dadurch zu beſiegen ſuchte, daß er ſich auf einem Huͤgel, den er gegen die See hatte, eine kurze Wandmauer, und darein ein Fenſter brechen ließ, in welches er ſich nur zu legen brauchte, um die ofne See zu genieſſen und vor ſich zu haben, ſo gut als irgend ein Nach¬ bar in ſeinem Gartenhaus.
Sogar Wina laͤchelte glaͤnzend unter dem rothen Taft-Schatten hervor. Mit noch mehr Anmuth als bisher theilte Walt die dritte Anek¬ dote mit.
180Ein Fruͤhprediger, deſſen Kehlkopf mehr zur Kanzel-Proſa als zur Altar-Poeſie geſtimmt war, ruͤckte zu einer Stelle hinauf, die ihn zwang, vor dem Altare das „ Gott in der Hoͤhe ſei Ehr '“zu ſingen. Er nahm viele Singſtun¬ den; endlich nach vierzehn Singtagen ſchmeichel¬ te er ſich, den Vers in der Gewalt und Kehle zu haben. Die halbe Stadt gieng fruͤher in die Kirche, um der Anſtrengung zuzuhoͤren. Ganz muthig trat er aus der Sakriſtei, (denn er hatte ſich darin vom Singmeiſter noch einmal leiſe uͤberhoͤren laſſen,) und ſtieg gefaſt auf den Al¬ tar. Alle Erzaͤhler der Anekdote ſtimmen uͤber¬ ein, daß er treflich angehoben, und ſich anſtaͤn¬ dig genug in den Choral hineingeſungen hatte: als zu ſeinem Ruin ein blaſender Poſtillion drauſ¬ ſen vor der Kirche vorbei ritt, und mit dem Poſt¬ horn ins Kirchenlied einfiel; — das Horn hob den Prediger aus dem alten Sing-Geleiſe in ein neues hinein, und er ſah ſich gezwungen, das ernſte Lied mitten vor dem Altare nach dem vor¬ beireitenden Trompeterſtuͤkgen, auf die luſtigſte Weiſe hinauszuſingen.
181Der General lobte ſehr den Notar, und gieng heiter aus dem Zimmer; aber er kam nicht wieder.
Die Roſenhoͤfer-Nacht.
Weder Jakobine noch der General machten je ein Geheimnis daraus — naͤmlich aus ihrem wechſelſeitigen; — es kann alſo die Anverwand¬ ten von beiden auf keine Weiſe zu etwas Juriſti¬ ſchem gegen den Verfaſſer der Flegeljahre berech¬ tigen, wenn er im Strahlkies blos kalt er¬ zaͤhlet, daß Zablocki ein wenig in den naͤchſten Garten ſpazieren gegangen, und die Aktrize Ja¬ kobine zufaͤllig nicht ſo wohl, als in der guten Abſicht, von ihrer Rolle der Johanna von Mont¬ faucon im Freien zu verſchnaufen. Noch viel weniger als ſchreibende Verfaſſer, ſind von ho¬ hen Anverwandten allgemeine Saͤtze anzugreifen, wie z. B. dieſer: daß ſehr leicht der weibliche theatraliſche Lorbeer ſich ruͤckwaͤrts in eine Daphne verwandle — und der Saz, daß ei¬182 ne Schauſpielerin nach einer ſchweren tragiſchen Tugend-Rolle am beſten ihr eignes Theater aux Italiens und ihre eigne Parodie werde — am wenigſten dieſer, daß das Militair, es ſei auf Kriegs-oder Friedensfuß, den griechiſchen Moͤbeln gleiche, die meiſtens auf Satyrfuͤſſen ſtanden — und endlich der, daß wohl nichts einander mehr ſucht, und aͤhnlich findet (daher ſchon die Worte Kriegstheater und Theaterkrieg, Akzion und Staatsakzion, Truppen,) als eben Theatertruppen die Kriegstruppen, und vice versa.
Ich fahre alſo, nachdem ich berichtet, daß beide ſpazieren gegangen, gleich ihnen ruhig und ungeſtoͤrt, hoff 'ich, fort.
Walts Geſicht wurde eine Roſe unter dem Ausbleiben des Vaters. Wina heftete die Au¬ gen, die ſich wie ſuͤſſe Fruͤchte unter das breite Laub der Augenlieder verſtekten, unter dem Hute auf ihr Strikzeug nieder, das einen langen Kin¬ derhandſchuh vollendete. Ueber den Notar kam nun wieder die Furcht, daß ſie ihn als den Aus¬ lieferer ihres Briefes zu verabſcheuen anfange. 183Er ſah ſie nicht oft an, aus Scheu vor dem zu¬ faͤlligen Augen-Aufſchlag. Beide ſchwiegen. Weibliches Schweigen bedeutet — ohnehin als das gewoͤhnlichere — viel weniger als maͤnnli¬ ches. Die befeuernde Wirkung, welche der Wein haͤtte auf den Notar thun koͤnnen, war durch ſeine Anſtrengung, den feinſten Geſellſchafter zu ſpielen, niedergehalten worden. Indeß waͤr 'ihm die Lage nicht unangenehm geweſen, wenn er nur nicht jede Minute haͤtte fuͤrchten muͤſſen, daß ſie — vorbei ſei.
Endlich ſah er ſehr ſcharf und lange auf den Strik-Handſchuh und wurde ſo gluͤcklich, ſich einen Faden der Rede daraus zu ziehen; er ſchoͤpf¬ te naͤmlich die Bemerkung aus dem Handſchuh, daß er oft Stundenlang das Stricken beſehen, und doch nie begriffen.
„ Es iſt doch ſehr leicht, Hr. Harniſch “verſezte Wina, nicht ſpoͤttiſch, ſondern unbefan¬ gen, ohne aufzublicken.
Die Anrede: „ Herr Harniſch “jagte den Empfaͤnger derſelben wieder in die Denk - und Schweig-Karthauſe zuruͤck. — „ Wie kommt's —184 ſagt 'er, ſpaͤt heraustretend, und den Strick - Faden wieder aufnehmend — daß nichts ſo ruͤh¬ rend iſt, als die Kleidungsſtuͤcke der lieben Kin¬ der, z. B. dieſes — ſo ihre Huͤtgen — Schuͤhgen? — — Das heiſſet freilich am En¬ de, warum lieben wir ſie ſelber ſo ſehr? “—
„ Es wird vielleicht auch darum ſein — verſezte Wina und hob die ruhigen vollen Au¬ gen zum Notar empor, der vor ihr ſtand — weil ſie unſchuldige Engel auf der Erde ſind, und doch ſchon viele Schmerzen leiden. “
„ Wahrhaftig, ſo iſt es — (betheuerte Walt, indem Wina, wie eine ſchoͤne ſtille Flamme glaͤn¬ zend vor ihm aufſtand, um ihr Maͤdgen herzu¬ klingeln) — Und wie duͤrfen Erwachſene kla¬ gen? — Ich will warlich das Sterben eines Kindes (ſezt 'er hinzu, und folgte ihr einige Schritte nach) ertragen, aber nicht ſein Jam¬ mern; denn in jenem iſt etwas ſo heilig-ſchau¬ erliches. “ Wina kehrte ſich um und nikte.
Luzie kam; Wina fragte, ob der General ihr nichts aufgetragen. Luzie wuſte von nichts, als daß ſie ihn in den nahen Garten hinein ſpa¬185 zieren ſehen. Raſch trat Wina ans mondhelle Fenſter, athmete Einmal recht ſeufzend ein, und ſagte ſchnell: „ den Schleier, Luzie! Und du weiſt es gewiß, liebes Maͤdgen, und auch den Gar¬ ten? “— Mit einer leiſen Stimme, wie nur eine maͤhriſche Schweſter anſtimmen kann, ver¬ ſezte Luzie: „ ja, Gnaͤdigſte! “ Wina warf den Schleier uͤber den Hut und redete, hinter dieſem gewebten Nebel, und fliegenden Sommer unbe¬ ſchreiblich bluͤhend und liebreizend, den Notarius mit ſanftem Stocken an: „ lieber H. Notar — Sie lieben ja auch, wie ich hoͤrte, die Natur — und mein guter Vater “— —
Er war ſchon nach dem Hut-Stock geflo¬ gen, und ſtand bewafnet und reiſefertig da — und gieng hinter beiden mit hinaus. Denn ein fremdes Zimmer zu verlaſſen, fuͤhlt 'er ſich ganz berechtigt. Indeß aber ſolches geſchloſſen wurde, kam er wieder voraus zu ſtehen, nahe an der Treppe; — und in ihm fieng ein kurzes Tref¬ fen und Scharmuͤzel an uͤber die Frage, ob er mit entweder duͤrfe oder ſolle — oder weder ei¬ nes noch das andere. Wina konnte ihn nicht186 zuruͤck rufen — und ſo kam er innen fechtend auf die Treppe, und trug das ſtille Handgemen¬ ge bis zur Hausthuͤre hinaus.
Da gieng er ohne weiteres mit und ſezte den Hut von ſeinem Stock auf den Kopf; aber er zitterte, nicht ſo wohl vor Furcht oder vor Freu¬ de, ſondern vor einer Erwartung, die beide ver¬ einigt. O es iſt eine laͤcherliche und reine Zeit im fruͤhen Juͤnglingsalter, wo im Juͤngling die alte franzoͤſiſche Ritterſchaft mit ihrer heiligen Scheu erneuert, und wo der Kuͤhnſte gerade der Bloͤdeſte iſt, weil er ſeine Jungfrau, fuͤr ihn ei¬ ne von dem Himmel geflogne, eine nach dem Himmel fliegende Geſtalt, ſo ehret wie einen groſſen Mann, deſſen Nachbarſchaft ihm der heilige Kreis einer hoͤhern Welt iſt, und deſſen beruͤhrte Hand ihm eine Gabe wird. Unſeelig, ſchuldvoll iſt der Juͤngling, der niemals vor der Schoͤnheit bloͤde war.
Die drei Menſchen giengen durch eine wal¬ dige Gaſſe dem Garten zu. Der Mond zeich¬ nete die wankende Gipfel-Kette auf den lichten Fußſteig hin, mit jedem zitternden Zweig. Luzie187 erzaͤhlte, wie ſchoͤn der Garten, und beſonders eine ganz blaue Laube darin ſei, aus lauter blauen Blumen gewebt. Blauer Enzian — blaue Sternblumen — blauer Ehrenpreis — blaue Waldreben vergitterten ſich zu einem klei¬ nen Himmel, worin gerade im Herbſt keine Wolke, d. h. keine Knoſpe war, ſondern ofne Aetherkelche.
„ Da die Blumen leben und ſchlafen, ſagte Walt bei dieſem Anlaß, ſo traͤumen ſie gewiß auch, ſo gut wie Kinder und Thiere. Alle We¬ ſen muͤſſen am Ende traͤumen. “— „ Auch die Heiligen und die h. Engel? “fragte Wi¬ na. „ Ich wollte wohl ſagen Ja — ſagte Walt — inſofern alle Weſen ſteigen, und ſich alſo etwas Hoͤheres traͤumen koͤnnen. “— Ein Weſen iſt aber auszunehmen, ſagte Wina. — „ Gewiß! Gott traͤumet nicht. Aber wenn ich nun die Blumen wieder betrachte, ſo mag wohl in ihren zarten Huͤllen der dunkle Traum von einem leichtern Traume bluͤhen. Ihre duftende Seele iſt Nachts zugehuͤllt, nicht durch bloſſe Blaͤtter, ſondern wahrhaft organiſch, wie denn188 unſere auch nicht durch bloſſe Augenlieder zuge¬ ſchloſſen wird. Sobald nun einmal die farbigen Weſen am Tage Licht und Kraft verſpuͤren: ſo koͤnnen ſie ja auch Nachts einen traͤumeriſchen Wiederſchein des Tages genieſſen. Der Allſe¬ hende droben wird den Traum einer Roſe und den Traum einer Lilie kennen und ſcheiden. Ei¬ ne Roſe koͤnnte wohl von Bienen traͤumen, ei¬ ne Lilie von Schmetterlingen — in dieſer Minu¬ te kommt es mir ordentlich faſt gewiſſer vor — das Vergißmeinnicht von einem Sonnenſtrahl — die Tulpe von einer Biene — manche Blume von einem Zephyr — Denn wo koͤnnte denn Gottes oder der Geiſter Reich aufhoͤren? Fuͤr ihn mag wohl ein Blumenkelch auch ein Herz ſein, und umgekehrt manches Herz ein Blumen - Kelch. “—
Izt traten ſie in den Zauber-Garten ein, deſſen weiſſe Gaͤnge und finſtere Blaͤttergruppen einander wechſelnd faͤrbten. Die Berge waren, wie Nachtgoͤtter, hoch aufgeſtanden, und hoben ihr dunkles Erdenhaupt kuͤhn unter die himmli¬ ſchen Sterne hinein. Der Notar ſah den bisher189 auseinander liegenden Farbenthau der Dich¬ tung an Winas Hand ſich als einen Regen¬ bogen aufrichten, und im Himmel ſtehen als der erſte glaͤnzende Halbzirkel des Lebens - Kreiſes.
Er wurde — ſo wie Wina immer einſyl¬ biger — immer vielſylbiger und betrank ſich im Taufwaſſer ſeiner Worte, das er uͤber jeden Berg und Stern goß, der ihnen vorkam. Es gab wenige Schoͤnheiten, die er nicht, wenn er vor¬ beigieng, abſchilderte. Es war ihm ſo wohl und ſo wohlig, als ſei die ganze ſchimmernde Halb¬ kugel um ihn nur unter ſeiner Hirnſchaale von einem Traume aufgebauet, und er koͤnne alles ruͤcken und rauben, und die Sterne nehmen und wie weiſſe Bluͤthen herunterſchlagen auf Winas Hut und Hand. Je weniger ſie ihn unterbrach und abkuͤhlte: um ſo groͤſſer machte er ſeine Ideen, und that zulezt die groͤſte, jene unge¬ heure auf, worin die Welt zerſchmilzt und bluͤht, ſo daß Luzie, die bisher weltliche Lieder murmelnd geſungen, damit aufhoͤrte, aus Scheu vor Gottes Wort.
190Eben wurde das Completorium gelaͤutet, als Wina vor einer uͤberlaubten kleinen Kapelle vorbei gieng. Sie gieng wie verlegen langſam, ſtand, und ſagte Luzien etwas ins Ohr. Walt war ihrer Seele zu nahe, um nicht in ſie zu ſchauen; er gieng ſchnell voraus, um ſie beten zu laſſen, und ſie heimlich nachzuahmen. Luzie hatte leiſe Winen geſagt, ſeitwaͤrts oben die ſchwarze Laube ſei die blaue. In dieſer wollte er die Beterin erwarten. Als er naͤher trat, flog aus der Laube Jakobine luſtig heraus, und warf ihm ſcherzend einen Schawl uͤber den Kopf und entfuͤhrte ihn am Arme, um an ſeiner gruͤ¬ nen Seite, ſagte ſie, die koſtbare Nacht zu ge¬ nieſſen.
Ob er gleich nicht von weitem ahnte, mit welcher frechen Parodie der Morpheus des Zu¬ falls den Menſchen oft mit ſeinem Geſchicke paa¬ re und entzweie: ſo widerſtand doch der Spas, und die Freiheit und der Kontraſt dem ganzen Zuge ſeiner hoͤhern Bewegungen. Er ſezt 'ihr eiligſt auseinander, woher, und womit er kom¬ me und ſah bedeutend nach der Kapelle, als191 werd' er von dort aus ſtark erwartet. Jacobine ſcherzte ſchmeichelnd uͤber Walts Damen-Gluͤk und verſchloß ihm den Mund durch das Ueber¬ fuͤllen ſeines Herzens. Indeß er nun aͤuſſerlich ſcherzend focht — und innen es auf allen Seiten uͤberſchlug, wie er ohne wahre Grobheit Jako¬ binens Arm von ſeinem ſchuͤtteln koͤnne: — ſo ſah er, wie vom Eingange des Gartens her, den General auf die Tochter loskommen, ſehr freu¬ dig ihre Hand in ſeinen Arm einpacken, und mit dem Engel der Sterne davon und nach Hauſe laufen.
„ Ach wie ſchnell gehen die ſchoͤnen Sterne des Menſchen unter! “— dachte Walt, und ſah nach den Bergen, wo morgen ein Paar Bil¬ der davon wieder aufgehen konnten; und war nicht im Stande, Jakobinen zu fragen, ob ſie die Reize der ſchoͤnen Nacht empfinde?
Dieſe flog kalt vor dem Notar ins Haus und verſchwand auf der Treppe. Er brauchte dieſen Abend nichts weiter als ein Kopfkiſſen fuͤr ſei¬ ne wachen Traͤume und ein Stuͤck Mondſchein im Bette. Aber in der Nachmitternacht — ſo192 lange traͤumt 'er — fuhr wieder auf der Gaſſe eine Nachtmuſik auf, welche Zablocki's Leute ab¬ blieſen. Nachdem Walt die Gaſſe wie ein Lo¬ rettohaͤusgen, in die ſchoͤnſte welſche Stadt ge¬ tragen und niedergeſezt, — nachdem er die herr¬ lichen Blize des Klanges, die an den Saiten wie an Metalldrath herabfuhren, auf ſich ein¬ ſchlagen laſſen — und nachdem er die Sterne und den Mond nach der irdiſchen Sphaͤrenmu¬ ſik in Tanz geſezt — und nachdem die Luſt halb aus war: ſo flatterte Jakobine, deren Fluͤ¬ ſtern er vorher faſt im Nebenzimmer zu hoͤren geglaubt, zur Thuͤre hinein und ans Fenſter, vor brennender Ungeduld, die Toͤne zu hoͤren, nicht aber den Notar.
Walt wuſte nicht ſogleich, wo er war oder bleiben ſollte. Er ſchlich ſich heimlich und leiſe aus den Kiſſen in die Kleider, und hinter die Hoͤrerin; wie angezuͤndeter Flachs, war er in hoͤhere Regionen aufgeflogen, ohne einen Weg zu wiſſen. Nicht daß er von ihr oder von ſich etwas beſorgte; aber nur die Welt kannte er, und ihre Parterre's-Pfeifen gegen jedes kuͤhne193 Maͤdgen, ein Ungluͤck, wogegen er lieber ſich von der zweiten Fama's-Trompete jagdgerecht anblaſen lieſſe, um nur das Weib zu retten; — — und er wuſte kaum, ob er nicht aus der Stu¬ be ſo lange unvermerkt entfluͤchten ſollte, bis die Aktrize in ihre heimgegangen.
Sie hoͤrte drei Seufzer — fuhr um — er ſtand da — ſie entſchuldigte ſich ſehr, (zu ſei¬ ner Luſt, da er gefuͤrchtet, er habe ſein eignes Daſein zu exkuſiren) daß ſie in ein beſeztes Zimmer gekommen, das ihr, da es ohne Nacht¬ riegel geweſen, frei geſchienen. — Er ſchwur, niemand habe weniger dawider als er; — aber Jakobinens Reinheit glaubte ſich damit noch nicht rein gewaſchen, ſie fuhr fort, und ſtellt 'ihm unter dem muſikaliſchen Getoͤſe, ſo laut ſie konnte, vor, wie ſie denke, wie ihr Nachtmuſik in Mark und Bein fahre, an Faſt - und Freitaͤ¬ gen ganz beſonders, weil da vielleicht ihr Ner¬ venſyſtem viel ruͤhrbarer ſei, und wie dergleichen ſie nie unter dem Bette laſſe, ſondern wie ſie die erſte beſte Waſch-Serviette (ſie hatte eineFlegeljahre III. Bd. 13194um) uͤber den Hals ſchlage, um nur ans Fen¬ ſter zu kommen und zu hoͤren.
Unter dieſer Rede hatte eine fremde Floͤte ſo naͤrriſch mit feindlichen Toͤnen durch die Nachtmuſik gegriffen und geſchrien, daß dieſe es fuͤr angenehmer hielt, uͤberhaupt aufzuhoͤren. Jakobine ſprach laut, ohn 'es zu merken, wei¬ ter: „ man uͤberkommt dann Gefuͤhle, die nie¬ mand giebt, weder Freundin noch Freund: “
„ Etwas leiſer, Vortrefliche, ums Himmels¬ willen leiſer — ſagte Walt, als ſie den lezten Saz nach der Muſik geſagt — der General ſchlaͤft gerade neben an und wacht. Wohl, wohl iſt meiſtens fuͤr ein weibliches Herz eine Freundin zu unmaͤnnlich und ein Freund zu unweiblich. “— Sie ſprach ſo leiſe als er's haben wollte, und faſte ihn an der Hand mit beiden Haͤnden an, wodurch die dicke plumpe Serviette, die ſie bis¬ her mit den Fingern wie mit Nadeln zugehal¬ ten, aus einander fiel. Er erfuhr, was Hoͤllen¬ angſt iſt; denn das leiſere Sprechen und Bei¬ ſammenſtehen, wuſt 'er, konnt' ihn ja jede Mi¬ nute, wenn die Thuͤre aufgieng, bei der Welt195 in den Ruf eines Libertins, eines frechen Maͤd¬ gen-Wolfs ſetzen, der nicht einmal die Unſchuld ſchonet, wofuͤr er Jakobine hielt, weil ſie ſanfte blaue Augen hatte.
„ Aber Sie wagen beim Himmel zu kuͤhn! “ſagt 'er. „ Schwerlich, ſo bald nur Sie nicht wagen “verſezte Sie. Er deutete, was ſie von ſeinen Anfaͤllen ſagte, irrig auf ſeinen unbeflek¬ ten Ruf, und wuſte nicht, wie er ihr mit Zaͤrte die Ruͤkſicht auf ſeinen ohne Eigennutz — denn ihr Ruf war ja noch wichtiger — in der groͤſten Eile und Kuͤrze (wegen des Generals und der Thuͤre) auseinander ſetzen ſollte. Und doch war er von ſo guten ehrlichen Eltern, von ſo unbe¬ ſcholtenem Wandel — und trug den Brautkranz jungfraͤulicher Sittſamkeit ſo lange vor dem Bru¬ der und jedem mit Ehren, — — er hatte den Henker davon, wenn der verfluchte Schein und Ruf hereingrif und ihm den gedachten Kranz vom Kopfe zog, geſezt auch, es wuchs ihm nachher eine friſche Martyrerkrone nach.
Ihm wurde ganz warm, das Geſicht roth, der Blik irre, der Anſtand wild: „ gute Jako¬196 bine, ſagt 'er bittend, Sie errathen — es iſt ſo ſpaͤt und ſtill — mich und meinen Wunſch ge¬ wiß. “—
„ Nein, ſagte ſie, halten Sie mich fuͤr keine Eulalia, H. v. Meinau. Schauen Sie lieber die reine keuſche Luna an! “— ſagte ſie, und verdoppelte ſeinen Irrthum. — „ Sie geht — ver¬ ſezte er und verdoppelte ihren — in einem hohen Blau, das kein Erden-Wurf durchreicht. So will ich wenigſtens meine Thuͤr zuriegeln, damit wir ſicher ſind. “
„ Nein, nein, “ſagte ſie leiſe, ließ ihn aber mit einem Handdruck los, um ihre Serviette zu¬ rechte zu falten. Er kehrte ſich jezt um, und wollte dem Nachtriegel zufliegen, als etwas auf den Boden hinflog — ein Menſchen-Geſicht. Jakobine ſchrie auf und rannte davon. Er nahm das Geſicht, es war die Maſke des Lar¬ venherrn, den er fuͤr den boͤſen Genius ge¬ halten.
Im Mondſchein durchkreuzten ſich ſeine Phan¬ taſien ſo ſehr, daß es ihm am Ende vorkam, Ja¬ kobine habe ſelber die Maſke fallen laſſen und197 ihm und ſeinem armen Rufe nachgeſtellt. Er litt viel; — es richtete ihn nicht auf, daß er ſich der beſten Behauptungen ſeines Bruders erinnerte, daß z. B. ſolche Befleckungen des Rufs heut zu Tage, gleich den Flecken von wohlriechenden Waſ¬ ſern, aus den Schnupftuͤchern und der weiſſen Waͤ¬ ſche von ſelber heraus gehen, ohne alle Prinzeſ¬ ſen-Waſchwaſſer und Fleckausmacher — es troͤ¬ ſtete ihn nicht, daß Vult ihn einmal gefragt, ob denn die jezigen Fuͤrſten noch wie die alten ge¬ wiſſe moraliſche Deviſen und Symbola haͤtten, dergleichen geweſen „ praesis ut prosis “und an¬ dere ſpielende, und daß der Floͤteniſt ſelber, ge¬ antwortet, dergleichen habe jezt nicht einmal ein tiefer Stand, und es koͤnne uͤberhaupt, wenn ſchon in Taſſo's und Milton's chriſtliche Heldengedichte die heidniſche Goͤtterlehre hab 'eindringen duͤrfen, auch in unſerem Chriſtenthum ſo viel Goͤtterlehre (wenig¬ ſtens in Betref der ſchoͤnſten Abgoͤttin) Plaz grei¬ fen, als wir gerade beduͤrfen und begehren. “
Darauf dachte Walt wieder an die Moͤglich¬ keit, daß irgend jemand das arme unſchuldige Maͤdgen geſehen, und daß er ihren unbeſcholtnen198 Ruf anſchmize, der — ſchloß er — unbeſchreib¬ lich rein und feſt ſein muſte, da ſie ſo viel gegen die Weiblichkeit ſich herausnehmen durfte — Dann fiel ihm die 9te Teſtaments-Klauſel „ Ritte der Teufel “ein, die Ehebruch und aͤhnliche Suͤn¬ den an ihm beſonders beſtraft — Dann der Gene¬ ral mit ſeiner heiligen Briefſammlung von eroti¬ ſchen Platonikerinnen — Dann Wina und ihr Au¬ ge aus dem Himmel — — Der Notar bracht 'eine der duͤmmſten und elendeſten Naͤchte zu, die je ein Menſch durchgelegen, der unter dem Ruͤk¬ grath keine Eiderdunen gehabt, welche freilich noch ſtaͤrker einheizen.
Beſchluß der Reiſe.
Heiliger Morgen! Dein Thau heilet die Blumen und den Menſchen! Dein Stern iſt der Polſtern unſerer dahingetriebenen Phantaſien und ſeine kuͤhlen Stralen bringen und fuͤhren das verwirrte erhizte Auge zurecht, das ſeinen eignen Funken nachſah und nachlief! —
199Als noch viele Sterne in die Daͤmmerung ſchienen, rief der General den Notarius mit der froheſten Stimme aus dem Bette zur Berg-Par¬ tie; und dann nahm er ihn ſo liebreich auf — bis an die Stirnhaare laͤchelte er empor —, daß Walt ſehr beruhigt war und beſeeligt; der General, dacht 'er, wuͤrde ganz anders mit mir reden, wenn er etwas wuͤſte. Winas Angeſicht bluͤhte voll zarter MorgenRoſen; im Paradies am Schoͤ¬ pfungs-Morgen bluͤhten keine vollern.
Sie giengen zu Fuße dem zerſpaltenen Ge¬ buͤrge zu. Die Stadt war tief ſtill, nur in den Gaͤrten ruͤſtete ſchon einer und der andere Beete und Roſenhecken fuͤr den Fruͤhling zu und die Rauchſaͤulen des Morgenbrods bogen ſich uͤber die Daͤcher. Drauſſen flatterte ſchon Leben auf, die Singdroſſel wurde in den nahen Tannen wach, unten an der Faͤhre klang das Poſthorn heruͤber, und aus dem Gebuͤrge donnerte der ewige Waſſerfall heraus. Die drei Menſchen ſprachen, wie man am Morgen pflegt, gleich der grauen Natur um ſie her, nur einzelne Laute. Sie ſahen gen Oſten, woran das Gewoͤlke zu einem rothen Vorgebuͤrge200 des Tages anfieng aufzubluͤhen, und es wehte ſchon leiſe, als athme der Morgen vor der Son¬ ne her.
Wina gieng an der einen Hand des Vaters, der in der andern einen ſogenannten ſchwarzen Spiegel hatte, um daraus die Natur zum zwei¬ tenmale als ein Luftſchloß, als einen Abgußſaal einzuſchoͤpfen. Die Fruͤhe — Winas Morgen¬ kleidung — das Traͤumeriſche, das der Morgen¬ ſtern aufloͤſend im Herzen ſo unterhaͤlt, als ſte¬ he er am Abendhorizonte — und Walts Bewe¬ gungen von der Nacht her, ſo wie ſeine Hinſich¬ ten auf die nahe Scheide-Sekunde; das zuſam¬ men machte ihn ſprachlos, leiſe, ſinnend, be¬ wegt, voll wunderbarer Liebe gegen das naͤhere Jungfrauenherz, welche ſo weich und vielknoſpig war, daß er ſich auf Unterwegs freuete, um in der bluͤhenden Seeligkeit recht ruhig zu blaͤttern.
Mit ſuͤſſer Stimme aber that an ihn Wi¬ na die Bitte um Verzeihung des geſtrigen Aus¬ einanderkommens. Da er die Bitte nicht zuruͤck geben konnte: ſo ſchwieg er. Darauf bat ſie ihn, Raphaela zu gruͤſſen, und ihr als Urſache ihres201 brieflichen Schweigens den Umweg uͤber Roſen¬ hof nach Leipzig zu ſagen. Der General, der ſo freimuͤthig mit der Tochter vor dem Notarius ſprach, als laufe dieſer als ein tauber Schatten¬ mann oder als ein ſtummer verſchwiegner Affe mit, machte Winen geradezu Vorwuͤrfe uͤber ih¬ re vielſeitigen Sorgen und Schreibereien und uͤber die ewigen Opfer ihres Ichs. Sie verſezte bloß: „ wollte Gott, ſie verdiente den Tadel! “
Als ſie ins Gebuͤrge traten, kroch die Nacht in die Schluchten zuruͤck, und unter die Thal - Nebel unter, und der Tag ſtand mit der Glanz - Stirn ſchon in den Hoͤhen des Aethers. Ploͤz¬ lich lenkte der General das Paar in eine Felſen - Spalte hinein, worin ſie hoch oben das eine hoͤchſte Berghorn ſchon vom Morgen-Purpur umwickelt ſahen, das andere tiefere vom Nacht¬ ſchleier umwunden, zwiſchen beiden ſchimmerte der Morgenſtern — die Jungfrau und der Juͤng¬ ling riefen mit einander: o Gott!
„ Nicht wahr? ſagte der General und ſah den Himmel im ſchwarzen Spiegel nach — das iſt einmal fuͤr meine Schwaͤrmerin? “— Lang¬202 ſam und ein wenig nikte ſie mit dem Kopfe, und mehrmals mit dem Augenliede, weil ſie vom geſtirnten Himmel nicht wegſehen wollte; fuͤhrte aber die vaͤterliche Hand an den betenden Mund, um ihm ſtiller zu danken. Darauf zankt 'er ein wenig, daß ſie ſo ſtark empfinde, und die Gefuͤhle ſo gern aufnehme, die er ihr zuleite.
Schnell fuͤhrte er Beide durch einen kuͤnſtli¬ chen Weg vor das ſtaͤubende Grab, worein ſich der Waſſerfall, wie ein Selbſtmoͤrder, ſtuͤrzte, und woraus er als ein langer verklaͤrter Strom aufer¬ ſtand und in die Laͤnder grif. Der Strom ſtuͤrz¬ te — ohne daß man ſehen konnte, aus welcher Hoͤhe — weit uͤber eine alte Ruinen-Mauer hinuͤber und hinab.
Zablocki ſagte darauf ſchreiend, wenn beide nicht ſcheueten, ſich auf Gefahr eines ſchwachen Dampf-Regens mit ihm hart an der Mauer hin - und durch deren niedrige von lauter gruͤnen Zweigen zugewebte Pforte durch zu draͤngen: ſo koͤnnten ſie auch etwas von der ebenen Landſchaft ſehen.
203Er gieng voraus, mit langem Arme ſich Wi¬ nen nachziehend. Als ſie durch das halb ver¬ ſunkne Thor durch waren, ſahen ſie in Weſten eine Ebene voll Kloͤſter und Doͤrfer mit einem dunkeln Strom in ſeinem Thal, und in Oſten die Gebuͤrge, die wieder auf Gebuͤrgen wohnten und, wie die Zybele, mit rothen Staͤdten aus Eis, wie mit Goldkronen, im hohen Himmel ſtan¬ den. Die Menſchen erwarteten das Durchbren¬ nen der Sonne, welche den Schnee des Erden - Alters ſchon ſanft mit ihren warmen Roſen fuͤll¬ te. Der Donner des Waſſers zog noch allein durch den Morgenhimmel. — Jezt blikte Gott¬ walt von Oſten weg und in die Hoͤhe, denn ein ſeltſamer Goldſchein uͤberflog das naſſe Gruͤn — da ſah er uͤber ſeinem Haupte den feſt ſchweben¬ den Waſſerfall vor der Morgenſonne brennen als eine fliegende Flammenbruͤcke, uͤber welche der Sonnenwagen mit ſeinen Roſſen entzuͤndend rollte. — Er warf ſich auf die Knie, und den Hut ab, und die Haͤnde empor, ſchauete auf und rief laut: O die Herrlichkeit Gottes, Wi¬ na!
204Da erſchien ein Augenblik, — niemand wuſte wie oder wenn, — wo der Juͤngling auf die Jungfrau blikte und ſah, daß ſie ihn wun¬ derbar, neu und ſehr bewegt anſchaue. Seine Augen oͤfneten ihr ſein ganzes Herz; Wina zit¬ terte, er zitterte. Sie ſchauete auf zum Roſen - und Feuerregen, der die hohen gruͤnen Tannen mit Goldfunken und Morgenroth beſprizte; und wie verklaͤrt ſchien ſie vom Boden aufzuſchweben, und der rothbrennende Regenbogen leuchtete ſchoͤn auf ihre Geſtalt herunter. Dann ſah ſie ihn wie¬ der an, ſchnell gieng ihr Auge unter, und ſchnell auf, wie eine Sonne am Pol — das herzerhe¬ bende Donnern und das Wetterleuchten des Stroms umrauſchte, uͤberdeckte beide mit himm¬ liſchen goldnen Fluͤgeln gegen die Welt — der Juͤngling ſtrekte die Arme nicht mehr nach dem Himmel allein aus, ſondern nach dem Schoͤn¬ ſten, was die Erde hat — —
Er vergaß beinahe alles, und war nahe daran, in Gegenwart des Vaters die Hand des Weſens zu ergreifen, das uͤber ſein ganzes Le¬ ben dieſen Sonnenblik der Zauberei geworfen. 205Wina druͤckte ſchnell die Hand uͤber ihre beiden Augen, um ſie zu verdecken. Der Vater hatte bisher den Waſſerfall im ſchwarzen Spiegel beob¬ achtet und ſah nun auf.
Alles wurde geendigt. Sie kehrten zuruͤck. Der General wuͤnſchte, daß man heftiger und deutlicher lobte. Das Paar konnt 'es nicht. „ Jzt, ſagt' er, nach ſolcher Freude ſehnet man ſich nach einem rechten Janitſcharen-Marſch! “— Gottwalt erwiederte: „ O wohl, naͤmlich nach ſolchen Stellen daraus, die piano und aus Mol zugleich gehen, wodurch vielleicht die Ent¬ zuͤckung fuͤrchterlich ſtark hereinſpricht, wie aus einem Geiſterreich. “— „ Es regnet heute noch, verſezte Zablocki, die Morgenroͤthe zieht ſich naͤr¬ riſch uͤber den ganzen Horizont, ſo ganz beſon¬ ders; aber der ſchoͤne Morgen war doch wenig¬ ſtens des Sehens werth, Wina?
Sie gab kein Ja. Schweigend kam man nach Roſenhof. Zablocki's Wagen, Pferde und Bedienten ſtanden ſchon reiſefertig da. Darauf flog alles auseinander, und davon. Die Lieben¬ den gaben ſich kein Zeichen der vorigen Minute,206 und der Wagen rollte davon, wie eine Jugend und eine heilige Stunde.
Walt gieng im Granatapfel noch einige nachblizende Minuten in ſeiner Stube auf und ab, dann in die des Generals. In dieſer fand er ein vergeſſenes beſchriebnes Blatt von Wina, das er ungeleſen, aber nicht ungekuͤſſet, einſteck¬ te, ſammt einem Flakon. Borſtwiſch und Spreng¬ gefaͤß, die Vorarbeiter neuer Gaͤſte, trieben ihn in ſein Zimmer zuruͤck. Er ſteckte die ſonderbare Maſke zu ſich. Darauf machte er — gleich un¬ vermoͤgend, laͤnger zu bleiben und laͤnger zu reiſen — ſich trunken auf den Weg nach Haslau zuruͤck. Er ſehnte ſich mit ſeinem Folioband voll Abentheuer unter dem Arm in die Stube Vults. Sein Herz hatte genug, und brauchte keinen Himmel weiter als den blauen.
Jakobine warf ihm von der Treppe, die ſie hinauf gieng und er herunter, das Verſprechen nach, im Winter in Haslau zu ſpielen. — Drauſſen verwelkte der roſenrothe Himmel immer grauer und bis zu Regenwolken. An der Faͤh¬ re muſt 'er lange warten. Es fieng endlich an207 zu regnen. Aber da der Vorhang vor dem Sing¬ ſpiele der Liebe aufgegangen war: ſo wuſt' er, mit Augen und Ohren unter ihren Geſaͤngen und Lichtern wohnend, wenig oder nicht, ob es auf das Dach des Opernhauſes regne oder ſchneie.
Da das Schickſal gern nach dem Feſte der ſuͤſſeſten Brode dem Menſchen verſchimmeltes, wurmvolles aus dem Brodſchrank vorſchneidet: ſo ließ es den Notar hinter Jodiz auf Irrwe¬ ge — auf phyſiſche — laufen, was dem Ver¬ haͤngniß leicht wurde, da er ohnehin nichts Oertliches behielt, nicht den Riß eines Parks, in welchem er einen ganzen Sommer lang ſpa¬ zieren gegangen. Dann muſt 'er die gebogne weiſſe Hutfeder, welche ohne Kopf von einem Kavalleriſten aus einem Hohlweg vorſtach, fuͤr die Schwanzfeder eines laufenden Hahns anſe¬ hen, und nachher den Irrthum dem Militair gutmeinend entdecken, der ihn ſehr anſchnauzte. In einem Kirmesdorf wurd' ihm aus den Fen¬ ſtern eines betrunknen Wirthshauſes ein wenig nachgelacht. Das Roſanathal lief voll Waſſer. In einem ſchoͤnen Gartenhaus ſpielte der Regen¬208 wind auf der Windharfe einen miſtoͤnigen Laͤufer und Kadenzen voll Schreitoͤne, da er voruͤber¬ lief.
Seelig flog er ſeinen Weg — denn er hatte Fluͤgel am Kopf, am Herzen, an den Fuͤſſen, und ſaß als gefluͤgelter Merkur noch auf dem Fluͤgelpferd — und ohne es kaum zu merken, kam er durch die vorigen Doͤrfer. Gleich dem Blitze lief ſein Geiſt nur an den Vergoldungen des Welt-Gebaͤudes hin. Nur Wina und ihre Augen fuͤllten ſein Herz; an Zukunft, Folgen, Moͤglichkeiten dacht 'er nicht; er dankte Gott, daß es noch einige Gegenwart auf der Erde gab.
Eine Freude kleinerer Art genoß er hinter Gruͤnbrunn, wo ihm der Boͤheimiſche Schwein¬ treiber, deſſen Klagen er in Jodiz gehoͤrt, mit einem Pilger-Liede aufſtieß, und nichts von ſeinem Plagevieh mehr bei ſich hatte, als den Hund.
So trug ihn die rollende Erde ohne Erd¬ ſtoͤſſe wiegend um die bedeckte Sonne. Ge¬ gen Abend ſah er ſchon Haslau, die Meilen waren ihm Werſten geworden. In Haͤrmlesberg209 begegnete er noch einer alten Diebin, die man daraus bis an den Markſtein mit dem Staub¬ beſen gekehrt hatte.
Aus Haslau kamen ihm Feuerſpritzen ent¬ gegen, welche gluͤcklich hatten loͤſchen helfen. Als er im naſſen knappen Badegewand mit fort¬ leuchtenden Entzuͤckungen durch das Haslauer Thor getreten: ſah er an den Kirchthum, wo Flitte und Hering wohnten; und nahm freudig wahr, daß der Teſtator Flitte, ſo hergeſtellt und geſund wie ein Fiſch im Waſſer, aus dem Schallloch gukte.
Ende des dritten Baͤndgens.
J. P. F. Rs. Brief an den Haslauer Stadtrath.
P. P.
Hier uͤberſend 'ich den treflichen Teſtaments - Exekutoren durch den Student und Dichter Sehu¬ ſter die 3 erſten Baͤnde unſerer Flegeljahre ſammtFlegeljahre III. Bd. 14210dieſem Briefe, der eine Art Vor - und Nachrede vorſtellen ſoll. Von dem geſchickten Schoͤn - und Geſchwindſchreiber Halter, bisherigen Infan¬ teriſten beim Regiment Churprinz — der zum Gluͤcke des elend geſchriebenen Manuſkripts ge¬ rade in dieſem Monat aus Bregenz mit freund¬ lichem Abſchied und geſunder Schreib-Hand nach Hauſe an das Schreibpult kam, nachdem er uͤber 4 Jahre ſich auf mehreren Schlachtfeldern mit den Franzoſen gemeſſen und geſchlagen — von dieſem ſind, darf ich hoffen, ſowohl die 3 Baͤnde als dieſer Brief ſo gut geſchrieben, daß ſie ſich leſen laſſen; folglich ſetzen und rezenſieren ohnehin.
Will ich mich uͤber das Werk hier bis zu einem gewiſſem Grade aͤuſſern: ſo muͤſſen eini¬ ge allgemeine Sentenzen und Gnomen voraus¬ gehen:
Nicht nur zu einer Peruͤke, auch zu einem Kopfe gehoͤren mehrere Koͤpfe —
Ferner: Jedem muß ſeine Naſe in ſeinen Augen viel groͤſſer und verklaͤrter, ja durchſich¬ tiger erſcheinen als ſeinem Nebenmenſchen, weil211 dieſer ſie mit andern Augen, und aus einem viel fernern Standpunkte anſieht —
Weiter: die meiſten jezigen Biographen (worunter auch die Romanciers gehoͤren) haben den Spinnen wohl das Spinnen, aber nicht das Weben abgeſehen —
Ferner: die Verdauung ſpuͤren, heiſſet eben keine ſpuͤren, ſondern vielmehr Unverdaulich¬ keiten —
Weiter: zur zweiten beſſern Welt, worauf alle Welt aus iſt und aufſieht, gehoͤret auch der Hoͤllenpfuhl ſammt Teufeln —
Ferner: der Schatte und die Nacht ſehen weit mehr als Geſtalten und Wirklichkeit aus, als das Tageslicht, das doch nur allein exiſtieret, und jene ſcheinen laͤſſet —
Und zulezt: man reiche dem Leſer etwas in einer Nus, ſo verlangt er's noch enger als Nus - Oel; man breche fuͤr ihn aus der ſteinigen Schaa¬ le eine koͤſtliche Mandel, ſo will er um dieſe wie¬ der eine Huͤlſe von Zucker haben — —
Blos dieſe wenigen ſchwachen Saͤtze wende ein verehrlicher Stadtrath auf das Buch und212 ſich und den Leſer an, und frage ſich: „ iſt noch jezt die Frage von dieſen und jenem? “
Noch vier Punkte hab 'ich auſſerdem zu be¬ ruͤhren.
Der erſte Punkt iſt nicht der erfreulichſte. Noch hab 'ich nicht mehr als 50 Nummern vom Kabelſchen Naturalienkabinet (denn dieſer Brief iſt fuͤr den halben Dachshunds-Blaſenſtein) er¬ ſchrieben; und fahre ſchon mit drei Baͤnden vor, die abzuladen ſind; da nun das Kabinet 7203 Nummern in allen beſizt: ſo muͤſſen endlich ſaͤmmtliche Flegeljahre ſo ſtark ausfallen, als die allgemeine deutſche Bibliothek, welche ſich doch von ihnen im Gehalte ſo ſehr unterſcheidet. Ich ſage lezteres nicht aus Beſcheidenheit, ſon¬ dern weil ich's ſelber fuͤhle. Indes werd' ich naͤchſtens in meinen Vorleſungen uͤber die Kunſt gehalten in der Leipziger Oſter¬ meſſe 1804*)in der Michaelis-Meſſe 1804. erweiſen, daß (was man ja ſieht) und zweitens warum der Epi¬ ker (in weſſen Gebiet dieſes Werk doch zu ru¬213 briziren iſt) unendlich lang werde und nur mit dem langen Hobels-Arme den Menſchen be¬ wege, anſtatt, daß der Lyrikus mit dem kur¬ zen gewaltig arbeitet. Ein epiſcher Tag hat wie der Reichstag, kaum einen Abend, geſchweige einen Garaus; und wie lang Goͤthes Dorothea, die nur einen Tag einnimmt, iſt, weiß jeder Deutſche; der Reichsanzeiger wuͤrde eine bloſſe proſaiſche Geſchichte dieſer poetiſchen Geſchichte, in den Flaͤchenraum einer Buchhaͤndler Anzeige einzupreſſen vermoͤgen.
Auch duͤrfte ein verehrlicher Magiſtrat noch bedenken, daß die Autoren gleich geſpannten Sai¬ ten — welche oben und unten, Anfangs und Endes ſehr hoch klingen, und nur in der Mitte ordentlich — eben ſo im Eingange und nachher im Ausgange eines Werkes die weiteſten und hoͤchſten Spruͤnge machen (die immer Plaz ein¬ nehmen), um ſich theils zu zeigen, theils zu empfehlen, in der Mitte aber kurz und gut zu Werke gehen. Sogar dieſen Dreiband hab 'ich mit Briefen an Teſtaments-Exekutoren begon¬ nen und beſchloſſen, um nur zu ſchimmern. Ich214 hoffe von den mittlern Baͤnden der Flegeljahre das Beſte, naͤmlich lyriſche Verkuͤrzungen worinn meines Wiſſens Michel Angelo ein wah¬ rer Meiſter iſt.
Der zweite Punkt iſt noch verdruͤslicher, weil er die Rezenſenten betrift. Es wird ihnen allen, weiß ich, ſo ſchwer werden, ſich alles ſeinen und groben, ſchon aus dem Titel Flegel¬ jahre geſchoͤpften und abgerahmten, Spaſſes ge¬ gen mich zu erwehren, als es mir wirklich ſel¬ ber, ſogar in einem offiziellen Schreiben an ver¬ ehrliche Exekutoren, ſauer ankommt, ſolchen Perſonen mit keinen verſtekten Retorſionen und Antizipazionen des Titels entgegen zu gehen. Doch das lieſſe vielleicht ſich hoͤren, wenigſtens machen — und durch eine Grobheit wird leicht eine zweite faſt zu einer Hoͤflichkeit — Al¬ lein, verehrte Vaͤter der Stadt, wie der Vor¬ ſtaͤdte, man pakt ſie an, man faͤngt mit der Exekuzion bei den Exekutoren den Prozeß an. „ Allgemein — ſchreibt man mir ſehr kuͤrzlich aus Haslau, Weimar, Jena, Berlin, Leipzig — wundert und aͤrgert man ſich hier, daß215 die ...... Exekutoren des Kabelſchen Teſta¬ ments gerade Dir (Ihnen) die Biographie des Notarius, die nach der Teſtatoriſchen Klauſel ja eben ſo gut Richardſon, Gellerten, Wielanden, Scarron, Hermeſen, Marmonteln, Goͤthen, Lafontainen, Spieſſen, Voltairen, Klingern, Nikolain, Mds. Stael und Mereau, Schillern, Dyken, Tieken, u. ſ. w. aufgetragen werden konnte, eben Dir (Ihnen) zugewandt und das herrliche Naturalien-Kabinet dazu, das viele ſchon beſehen. Freunde und Feinde benannter Autoren wollen — Dich (Sie) ohnehin — den Haslauer Magiſtrat in Journalen verdammt her¬ unter ſetzen und heimſchicken. Doch bitt 'ich dich (Sie) mich nicht zu nennen. Ein kuͤnftiger Re¬ zenſent ſchwur hoch: Er wolle nicht ehrlich ſein, wenn Er ehrlich bleibe bei ſo bewandten Um¬ ſtaͤnden. “
Hiergegen laͤſſet ſich nie etwas machen, aus¬ genommen Antikritiken, die aber ins Unendliche gehen; denn ein Hund bilt das Echo an; es tritt der alte Zyklus von Juͤcken und Krazen, und von Krazen und Juͤcken ein. Das ſind216 aber boͤſe Hiſtorien; und der Autor leidet dabei unſaͤglich; er hat immer einen Namen zu verlie¬ ren, und nur der Rezenſent einen zu gewinnen; er lobt ſich uͤberhaupt das Lob und feiert ſo un¬ gern nach ſeinem Namenstage noch einen Ekel¬ namens-Tag. Es iſt ihm terribel und ſo un¬ angenehm als irgend etwas, daß das deutſche Publikum von ſeinen Autoren, wie das engliſche von ſeinen Baͤren, wuͤnſcht, ſie nicht nur tan¬ zen, ſondern auch gehezt zu ſehen. Ein je¬ der Autor hat doch — oder ſolls haben — ſo viel Stolz als irgend ein Peha, oder Tezet, oder Iks oder ein anderer Kapital-Letter von Klopf¬ ſtock in deſſen grammatikaliſchen Geſpraͤchen, beſonders da er ja der Chef dieſer aufgeblaſenen XXIIger Union oder dieſer grande Bande des 24 Violons ou les vingt-quatre iſt, die er in Glieder ſtellt auf dem Papier wie er nur will.
Allerdings gaͤb 'es ein gutes Mittel und Projekt dagegen, hoch edler Stadtrath, wenn es angenommen wuͤrde. Hundertmal hab' ich ge¬ dacht: koͤnnte nicht eine Kompagnie wackerer Autoren von einerlei Grundſaͤtzen und Lorber¬217 kraͤnzen zuſammen treten und ſo viel aufbringen, daß ſie ſich ihren eignen Rezenſenten hielten, ihn ſtudieren lieſſen und ſalarirten, aber unter der Bedingung, daß der Kerl nur allein ſeine Brod¬ herren oͤffentlich in den gangbaren Zeitungen, ſtreng aber unpartheiiſch und nach den wenigen aͤſthetiſchen Grundſaͤtzen beurtheilte, die ein ſol¬ cher Famulant und Valet de Fantaiſie haben und behalten kann? — Wenn ſich eine ſolche Ordonanz, ſo zu ſagen, in ſeiner Chefs Manier einſchloͤſſe, nichts weiter triebe und wuͤßte: ſollte ſie ſich nicht niederſetzen, und hinſchreiben koͤn¬ nen: „ da und da, ſo und ſo iſt die Sache; und wer's laͤugnet, iſt ſo gewiß ein Vieh, als ein Affe. “
— Einigermaſſen, verehrlicher Stadtrath, hab 'ich einen Anſchlag; und er betrift eben den jungen Mann, der Ihnen die Flegeljahre per¬ ſoͤnlich uͤberbringt. Der Menſch heiſſet eigent¬ lich Schuſter, hat aber den dumpfen Namen durch Ein Strichelgen mehr in den hellern Sehu¬ ſter umgepraͤgt. Anfaͤnglich ſtoͤſſet er vielleicht einen wohlweiſen Rath etwas ab, durch ſein218 Aeuſſeres, durch den verworren-grimmigen Blik, Schweden - und Igelkopf, graͤulichen Backenbart und durch die Aehnlichkeiten, die er mit ſo ge¬ nannten Grobianen gemein hat. Heimlich aber iſt er hoͤflich, und er hat uͤberhaupt ſeine Men¬ ſchen, die er venerirt. Ich mochte dieſen Sehu¬ ſter etwan 14 Tage, nachdem er ſein Gymna¬ ſium, als ein ſcheuer ſtiller leiſer Menſch ver¬ laſſen, der eben keinen beſondern Zyklopen und Enak verſprach, 14 Tage darauf in Jena wie¬ der gefunden haben — Himmel! wer ſtand vor mir? Ein Fuͤrſt, ein Gigant, ein Flegel aber ein edler, ein Atlas, der den Himmel trug, den er ſchuf, ſezend eine neue Welt, zerſezend die alte! Und doch hatt' er kaum zu hoͤren angefangen, und wuſte eigentlich nichts Erhebliches; er war noch ein ausgeſtrekt-liegender Hahn, uͤber deſſen Kopf und Schnabel Schelling ſeine Gleicher-Linie mit Kreide gezogen, und der unverruͤckt, ja verruͤckt, darauf hinſtart und nicht auf kann; aber eben er war ſchon viel und mehr, das fuͤhlt 'er, als er verſtand und ſchien. Dies beweiſet beilaͤufig, daß es eben ſo gut im geiſtigen Reiche eine ſchnel¬219 le Methode, den innern Menſchen in 14 Tagen zu einem groſſen Manne aufzufuͤttern, geben muͤſſe, als es die aͤhnliche im koͤrperlichen giebt, eine Gans, ſchwebend gehangen, die Au¬ gen verbunden, die Ohren verſtopft, durch Naͤhren in nicht laͤngerer Zeit ſo weit zu brin¬ gen und zu maͤſten, daß die Leber 4 Pfund wiegt.
In der That beſtimmte mich dieſes, da der gute Gigant nichts hat auſſer Kraͤfte, mit vier andern bellettriſtiſchen herrlichen Verfaſſern — (ich werde ihnen nie die Schuhriemen aufloͤſen, — geſezt, ſie verlangtens), aus der Sache zu ſprechen und ſie zu fragen, ob wir uns nicht koͤnn¬ ten zuſammenſchlagen, und ihn auf den noͤthig¬ ſten Akademien fuͤr unſer Geld abſolvieren laſſen: „ wir hobeln Sehuſtern, ſagt 'ich, ganz nach un¬ ſern Werken zu, oder vielmehr er hat ſeine de¬ duzierenden Theorien nach dem Meiſter, und andern Stuͤcken ſeiner Koſtherren einzurichten, um einſtens im Stande zu ſeyn, als unſer Fixſtern-Trabant, Brautfuͤhrer und Cheva¬ lier d'honneur unſerer 5 Muſen, kurz als un¬220 ſer Rezenſier-Markoͤr in den verſchiedenen Zeitun¬ gen, die die Welt jezt mithaͤlt, zu beurtheilen und zu ſchaͤzen. “
Das nahm man an. Und wir Fuͤnfer hat¬ ten wahrhaftig keine Urſache, unſere Ausgaben zu bereuen, als wir ſpaͤter, im erſten Semeſter hoͤrten, daß er die Polaritaͤten und die Indifferenz leiden koͤnne, daß er ein Transzendenter Aequi¬ libriſt ſei, und ein polariſcher Eis-Baͤr, daß er die Menſchen indifferenziere, ſich aber potenziere, daß er zwar kein Dichter, kein Arzt, und kein Philoſoph ſei, aber, was vielleicht mehr iſt, al¬ les dieſes zuſammen genommen. Und in der That nannt 'er uns bald darauf in ſeinen Rezenſionen die fuͤnf Direktoren, ja die fuͤnf Sinne der gelehr¬ ten Welt, ich ſoll darunter der Geſchmak ſein, le Goût, el Gusto*)Fuͤr den Sprachforſcher iſt le Goust von el Gusto das Anagram, oder umgekehrt, und welche Sprache verſezte die andere? ſpricht aber doch verdammt frei von jedem andern. „ Geſezt, mein feuriger Schuſter, “wandt 'ich einſtens ein, als er hin¬ geſchrieben hatte, er ſehe voraus, in 4 oder 5221 Jahren ſei Goͤthe ſo tief herunter als gegenwaͤrtig Wieland; — „ O was? verſezt' er, ich ſtecke zu¬ weilen einen Kometen-Kern ins blaue Aether¬ Feld, und bekuͤmmere mich nicht, ob er aufgeht und fliegt als Feuer-Blume. An der Himmels - Achſe der Unendlichkeit ſind die Pole zugleich Glei¬ cher, alles iſt eines, H. Legaz. ! “
Nun halten vier Treffer der Litteratur (fuͤnf wuͤrd 'ich ſagen, waͤr' ich nicht darunter), bei einem Hochedlen Rathe um das Maushackiſche Le¬ gat, das eben fuͤr arme Studenten aufgeht, fuͤr den guten Ohnehoſen an; denn lezteres iſt er, wech¬ ſelnd eigentlich und uneigentlich, gleichſam als differenziere und indifferenziere er auch hier, und waͤhle Realiſmus und Idealiſmus beliebig als zwei Wechſelſtandpunkte aus einem dritten. Ich meine aber ſo: er hat nichts. Sein Marquiſat de Quinet*)So nannte Scarron ſeinen Ehrenſold vom Buch¬ haͤndler Quinet. wirft zu wenig ab — er braucht zu viele erregende Potenzen, wenn er ſelber eine ſein ſoll, und Weinberge ſind die Terraſſentreppe zu ſeinem Muſenberg — wir fuͤnf Markis verſpuͤ¬222 ren das Ernaͤhren eines ſechsten auch ſtark: — Wieſe man nun aber Sehuſtern das Maushacki¬ ſche Legat zu: ſo koͤnnt 'ers pro forma in Jena oder Bamberg verzehren; und dabei gemaͤchlich beurtheilen, einige bekraͤnzen, und ganz weg ha¬ ben, unzaͤhlige kaum von der Seite anſehen, die Gemeinheit herzlich verachten, viele Sachen de¬ duzieren, wie z. B. den Roman, den Humor, die Poeſie, aus vier oder fuͤnf Termen und Schrei¬ bern, und voͤllig unter die ſogenannten ganzen Leute gehoͤren. Der ſeelige Maushack ſelber — den ich zwar nicht kenne, der aber doch von der andern Welt muß endlich profitieret haben — wuͤrde droben, wenn er von dieſen Fruͤchten ſei¬ nes Nachlaſſes hoͤrte, ſeelenvergnuͤgt ſagen: „ herz¬ lich goͤnn' ich der wilden Fliege drunten das Le¬ gat, blos weil ſie um eine Welt fruͤher als ich, von dem Reflexions-Punkte weggeflogen. “
O Gott, Stadtrath! was waͤre noch zu ſa¬ gen, wuͤrd 'es nicht gedruckt! Ein Autor giebt lauter Nuͤſſe aufzubeiſſen, welche dem Gehirne gleichen, das nach Le Camus ihnen gleicht, und die alſo 3 Haͤute haben; wer aber ſchaͤlet ſie ab?223 — Ein bekannter Autor iſt allerdings beſcheiden; das iſt aber eben ſein Ungluͤk, daß niemand weiß, wie beſcheiden man iſt, da man von ſich nicht ſprechen und es ſagen kann. Er koͤnnte ſeinen Stiefelknecht hundert Livréefarben anſtreichen, er koͤnnte den Eiſen-Fang ſeines Windofens zu ſei¬ nem brennenden Namens-Zug verſchweifen und ringeln laſſen, aber niemand weiß es, daß ers nicht thut. Erwaͤgt man vollends, wie viele Schlachten Bonaparte, ſowohl in als außer Eu¬ ropa, ausſtand und lieferte, blos damit nur ein¬ mal ſein Name richtig geſchrieben wuͤrde, ohne das U, wofuͤr er jezt den Franzoſen jenes X macht, jenes algebraiſche Zeichen der unbe¬ kannten Groͤſſe, erwaͤgt man alſo, mit wel¬ cher Muͤhe ein Name gemacht, und mit wie leich¬ ter er wieder ausgewiſcht wird: ſo iſt's warlich ein matter Troſt, daß es in Ruͤckſicht des Ver¬ kennens auch andern groͤſten Maͤnnern nicht beſ¬ ſer ergangen, z. B. dem groſſen Gottſched, der ſelber ſogar im Gellertiſchen Leipzig ſo manches erlitt, was man hier nicht wiederholen will.
Der vierte Punkt, wovon ich einem hoched¬224 len Magiſtrate zu ſchreiben verſprach, iſt gerade ein naͤrriſcher, den der junge Schuſter am beſten ausfechten wuͤrde, in oͤffentlichen Blaͤttern. Ein hochedler Stadtmagiſtrat wuͤnſchte naͤmlich von weiten, daß das Werk etwas verweint, und be¬ weglich verfaſſet wuͤrde. Aber wie war das noch thunlich in unſern Tagen, Verehrteſte, die ein wahrer einziger heller Tag ſind, wo die Aufklaͤ¬ rung als ein eingeklemmter angezuͤndeter Strik fort glimmt, an welchem an oͤffentlichen Orten jedes Tabakskollegium ſeine Koͤpfe anzuͤndet? — Wer oͤffentlich noch ein wenig empfinden darf — und der iſt zu beneiden — das ſind entweder die Buchhaͤndler in ihren Buͤcher-Geburts-Anzei¬ gen, indem man alle etwannige Empfindſamkeit darin mit dem Eigennuz entſchuldigen kann; oder es ſinds die lachenden Erben in ihren Todes-An¬ zeigen, wo aus demſelben Grunde der Korkzieher der Thraͤnen darf eingeſchraubt und angezogen werden. Sonſt aber hat man gegen Weinen, be¬ ſonders wahres, viel — die Thraͤnenkruͤge ſind zerſchlagen, die weinenden Marienbilder umge¬ worfen von zeitiger Titanomanie — die beſten225 Waſſerwerke ſind noch fruͤher angelegt als die Berg¬ werke, welche davon auszutroknen ſind — wie in Schmelz-Huͤtten, iſt in die Seelenſchmelz - Huͤtten, in die Romane, einen Tropfen Waſſer zu bringen ſtreng verboten, weil ein Tropfe das Gluth - und Flus-Kupfer zertruͤmmernd auftreibt — der Menſch faͤngt uͤberhaupt an, und zwar bei den Thraͤnen (nach Hirſchen und Krokodillen zu ſchlieſſen), das Thieriſche abzulegen, und das Menſchliche anzunehmen, wo man bei den La¬ chen anfaͤngt, ſo daß jezt eine poetiſche Zaube¬ rin, wie ſonſt eine proſaiſche Hexe, daran eben erkannt wird, daß ſie nicht weinen kann.
Kurz, Ruͤhrung wird gegenwaͤrtig nicht ver¬ ſtattet — leichter eine Ruͤckenmarksduͤrre als eine Augenwaſſerſucht; — und wir Autoren geſtehen es uns manchmal unter einander heimlich in Brie¬ fen, wie erbaͤrmlich wir uns oft wenden und winden, damit wir bei Ruͤhr-Anlaͤſſen (wir muͤſſen ſelber daruͤber lachen) keinen Tropfen fahren laſſen.
Ich ſchlieſſe dieſe Zeilen ungern; aber der Oh¬ nehoſen Sehuſter ſteht hinter dem Kopiſten, Hal¬ ter, ſchon geſtiefelt und wartet auf die Kopie der¬Flegeljahre III. Bd. 15226ſelben mit der Jagdtaſche; denn es waͤre kaum zu ſagen, was ich den treflichen Teſtaments-Voll¬ ſtreckern, noch zu ſagen haͤtte uͤber das Werk. Moͤg 'ich und die Welt nicht zu lange bei Ihnen auf die naͤchſten 500 Nummern paſſen muͤſſen! Nachge¬ rade gegen den vierten Band ſpinnt ſich in der Biographie ordentlich merkbar eine Art von Inte¬ reſſe an. Denn nun muͤſſen die koſtbarſten Sachen kommen und im Anzug ſein; und ich brenne nach Nummern. Ueberall ſtehen Tellerfallen, und Dampfkugeln fliegen, Wildrufdreher ſchleichen, Hummerſcheeren klaffen — Walls und Winas neueſter Bund iſt ſeltſam, und kann unmoͤglich lange bleiben ohne die groͤßten Stuͤrme, die Baͤn¬ de-lang raſen von Meſſe zu Meſſe — Jakobinens Nachtviſitte muß konfuſe Folgen haben, oder kann's doch — der Larvenherr muß entlarvt werden (wie¬ wohl ich ihn warlich errathe; denn er iſt mir zu kenntlich) — Vult hat ſeinen Schmolgeiſt, iſt — erlogen von Adel, lebt von Luft, ſtuͤrmt ſo leicht — der teſtierende Elſaßer iſt ganz hergeſtellt und ſieht zum Schallloch heraus — die meiſten Erben minieren gewis, ich ſeh' aber, bekenn 'ich, noch227 nichts — des Helden Vater ſizt zu Hauſe und rennt und verſchuldet Haus und Hof — Pasvo¬ gel, Harprecht, Glanz, Knol muͤſſen ſich ſehen laſſen, und graben noch unter der Erde — guter Gott, welche eine der verwickelſten Geſchichten, die ich kenne! Walt ſoll Pfarrer werden, und ich begreife nicht wie, und hundert andere Dinge nicht beſſer — der Graf Klothar will heirathen, kommt zuruͤck und findet beim Himmel eine neue Wirthſchaft und Hiſtorie, die ihn natuͤrlich et¬ was frappieret — Walt will unendlich gut und willig bleiben, und ein zartes ein Gottes-Lamm und ſoll daraus ein Schaaf, ein Hammel werden, unter Wollen-Scheeren, unter Schlachtmeſſern — Schlingen, Flammen, Feinde, Freunde, Himmel, Hoͤllen, wohin man nur ſieht! ......
— Allerdings, verehrlichſter Stadtrath! hat eine ſolche Geſchichte noch kein Dichter gehabt; aber ein Jammer iſt es eben und ein noch unbe¬ ſtimmliches Ungluͤck fuͤr die ganze ſchoͤne Littera¬ tur, daß ſie wahr iſt — daß mir ſo etwas nicht fruͤher eingefallen als zugefallen — daß ich un¬ gluͤckliche Haut, an Teſtaments Klauſeln, und228 Naturalien-Nummern gefeſſelt gehend, wie an klein-ſchrittigem Weiber-Arm, nichts von ro¬ mantiſchen Gaben und Bluͤthen (indem ich doch auch unter den Romanciers mitlaufe) kuͤnſtlich pelzen darf auf ſolchen Stamm — — O Kritiker! Kritiker, waͤrs meine Geſchichte, wie wollt 'ich ſie fuͤr euch erfinden und ſchrauben und verwir¬ ren, und quirlen und kraͤuſeln! Wuͤrfe ich z. B. etwan nur ein ſchmales Schlachtfeld in eine ſol¬ che goͤttliche Verwiklung — ein Paar Graͤber — einen Schlegelſchen Révenant des Euripidiſchen Jons*)Jon heiſſet der Kommende. — fuͤnf Schaufeln voll italiſcher Erde oder ſonſt klaſſiſcher — einen ſchwachen Ehe¬ bruch — einen Kloſtergarten ſammt Nonnen — von einem Tollhauſe die Ketten, wenn nicht die Haͤusler — ein Paar Maler und deren Stuͤcke — und den Henker und alles: — — — ich glaube, Vollſtrecker, es fiele anders aus als jezt, wo ich blos nur nachſchreibend zuſehen muß, wie die Sachen gehen, und aus Haslau kommen, ohne daß ich, im moͤglichen Falle ungewoͤhnlicher Lang¬229 weile, etwas anderes fuͤr die Welt und fuͤr H. Cotta in der Gewalt haͤtte, als wahres Mit¬ leiden mit beiden, faſt zu ſehr von Gewiſſen, und ſonſt eingeklemmt und angepfaͤhlt.
— Aber mein Rezenſent, der junge Sehu¬ ſter, der eben zwiſchen Schreiber und Abſchreiber ſteht, treibt auſſerordentlich und will fort, und ſieht verdruͤslich nach dem Gottesacker hinaus. Noch ſchluͤßlich erſuch 'ich die Vollſtrecker, falls ſchwere Kapitel, die beſondere Kraft und Stim¬ mung fordern, im Anzuge ſein ſollen, mir ſie bald und jezt zu ſchicken, wo gerade mein Lokale (wozu auch mein Leib zu rechnen), mein Schreib¬ fenſter, das den ganzen Ilzgrund beherrſcht, (denn ich wohne im Grunerſchen Hauſe in der Gymnaſiumsſtraſſe) und das Bluͤhen der Mei¬ nigen (worunter mein empiriſches Ich mit gehoͤrt) mich ſichtbar unterſtuͤtzen; ja ich wuͤrde — wenn nicht ſolche Selbſt-Perſonalien eher vor ein Pu¬ blikum, als vor einen Stadtrath gehoͤrten — dazu ſelber den gedachten Gottesacker ſchlagen, wo man eben jezt (es iſt Sonntags 12 Uhr) halb in der Salvatorskirche, halb auf deren230 Kirchhofe im Sonnenſcheine zwiſchen Kindern, Schmetterlingen, Siz-Graͤbern und fliegenden Blaͤttern des Herbſtes den ſingenden, orgelnden und redenden Gottes-Dienſt ſo haͤlt, daß ich alles hier am Schreibtiſche hoͤre.
Ich koͤnnte dabei manches empfinden; aber Rezenſent draͤngt erbaͤrmlich — weil die Tage kuͤrzer werden — und er iſt ſchuld, daß ich in groͤſter Eile mit der groͤſten Hochachtung erharre eines Hochedlen Stadtraths
Coburg, den 23. Okt. 1803.
J. P. Fr. Richter.
Seite Zeile
31 9 ſtatt derſelbe lies der ſelber
57 10 ſt. Territorine l. Territorien
79 12 ſt. Poſtſtraſſen l. Poſtſtraſſe
— 17 ſt. ihn l. daſſelbe 96 6 ſt. Haͤnde l. Haͤndel
— 9 ſt. gewoͤlkte l. gewoͤlbte 98 11 ſt. ſind l. ſeynd
100 18 ſt. jeder l. in jede
— 19 ſt. verſtehe l. erſtehe
101 v. u. 5 ſt. und l. um
112 v. u. 2 ſt. Thuͤren l. Thurme
119 6 ſt. verbluͤht l. verbluͤft
121 2 ſt. jezt I. jez
138 v. u. 5 nach Wenn fehlt ſich
147 v. u. 6 ſtreiche H. weg.
155 v. u. 9 ſtatt wol l. voll
167 4 ſt. ſchreibe l. ſchreiben
173 2 ſt. ſchreiben I. ſchrieben
204 10 ſtatt ein l. im
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Fraktur
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