Entwicklungen der Reiſe — und des Notariats.
Der Notar glaubte wie ein erwachter Sieben¬ ſchlaͤfer eine ganz umgegoſſene Stadt zu durchtre¬ ten, theils weil er einige Tage daraus weggeweſen, theils weil eine Feuersbrunſt, obwohl ohne Scha¬ den, da gehauſet hatte. Noch in den Gaſſen blieb er auf Reiſen. Auch zog das Volk, durchs Feuer aus der Alltaͤglichkeit aufgeriſſen, geſchaaret hin und her, um das Ungluͤck zu beſehen, das haͤtte geſchehen koͤnnen. Walt lief zuerſt zum Bruder mit dem groͤßten Drange, deſſen Neugierde un¬ glaublich zu ſpannen und zu ſtillen. Vult empfing ihn ruhig, ſagte aber von ſich, er ſehe erhitzt aus und gebe das gluͤhende Geſicht der Feuers - Noth Schuld. Der Notar wollte ihn ſofort mit den erlebten Reiſe-Wundern in die Hoͤhe ſchrau¬ ben und droben erquicken; er ſchickte daher die lockendſten Ankuͤndigungen voraus, indem er ſag¬ te: Bruder, ich habe dir Sachen zu melden, in der That Sachen — „ Auch unterbrach Vult4 „ bin mit einigen ſieben Wundern der Welt verſe¬ „ hen und kann erſtaunen laſſen. Nur erſt das „ erſte! Flitte genaß! Noch ſtaunt und ſtarret „ die Stadt. “— „ Unter dem Lazarus-Thor ſah „ ich ihn ſchon am Schallloch ſtehen, “ver¬ ſetzte Walt eilig wegredend. — „ Das iſt ganz „ natuͤrlich, fuhr jener fort. Denn der D. Hut, „ ein wahrer Chaupeau wie wenige, hat ihn wie¬ „ der auf die Hinter-Beine gebracht, ſo daß der „ Teſtator ſich ſelber beerbt als allernaͤchſter An¬ „ verwandte und du ſo wenig bekommſt als der „ Reſt. Wie freilich daruͤber die alten Aerzte, be¬ „ ſonders die aͤlteſten, welche in jeder Stadt als „ ein wahrer Rath der Alten einen Alterser¬ „ laß (veniam ætatis) nicht von 20, ſondern „ von allen irdiſchen Jahren dem Juͤngſten erthei¬ „ len und ſo die Sterblichkeit der Einwohner koͤſt¬ „ lich mit der Unſterblichkeit verknuͤpfen, wie ſie „ ſag 'ich, daruͤber, daß ein ſo junger Wicht ei¬ „ nen nicht aͤltern herſtellte, außer ſich ſein muͤſ¬ „ ſen: dieß kann man ganz natuͤrlich noch wenig „ oder nicht beſtimmen, bevor gar eine bekannte „ Arbeit von Flitte gedruckt und bekannt gewor¬5 „ den. Es hat naͤmlich der Elſaſſer eine ſchwache „ Dankſagung ein Paar male umgearbeitet, wor¬ „ in er im Reichs-Anzeiger (D. Hut ſchießt die „ Inſerats-Gelder her) mitten vor der Welt Hu¬ „ ten geruͤhrt genug dankt und betheuert, nie „ koͤnn' ers ihm lohnen, was ein ſo wahres Ge¬ „ fuͤhl iſt, da er nichts hat. “
Walt konnte ſich nicht laͤnger eindaͤmmen: „ liebſtes Bruͤderlein, begann er, wahrlich mehr „ deinen Einfaͤllen als deinen Berichten horcht '„ ich zu; denn das was ich dir zu erzaͤhlen ... „ Deinen Brief naͤmlich mit dem Wunder-Traum „ hab' ich wirklich und in der That empfangen; „ aber was waͤre blos dieß? Eingetroffen iſt er von „ Punkt zu Punkt, von Komma zu Komma; „ hoͤre nur! “
Er legte ihm jetzt die Spiel-Wunder zum erſten male vor — dann (wegen der verworrenen Wellen der alles heran ſchwemmenden Fluth) — zum zweyten male. Kein Abentheuer, ſelber das ſchlimmſte, iſt je ſo ſelig zu erleben als zu erzaͤh¬ len. Ja er haͤtte beinahe von Wina's liebendem Blick unter dem Waſſerfalle, in ſeinem Sturm6 den Schleier gehoben, haͤtt 'er nicht auf dem gan¬ zen Wege, mit Wina an einer Hand und mit Vulten an der andern, das Wichtigſte vorlaͤufig bedacht und ſich die ſtaͤrkſten Gruͤnde eingepraͤgt gehabt, daß er durchaus Wina in den General einkleiden muͤſſe und Empfindungen, obwohl nicht Thatſachen, unterſchlagen; ſo gern er auch in das einzige, ihm vom Leben aufgeſchloßne Herz die beiden Arme ſeines in Liebe und in Freundſchaft getheilten Stroms ergoſſen haͤtte.
„ Aus deinen Abentheuern in Bezug auf mei¬ nen Brief, ſagte Vult, mach 'ich eben nicht das Meiſte — ich lege dir nachher eine ſehr gute Hy¬ potheſe daruͤber vor — hingegen in Jacobinens „ Stell — dich — ein “ſaͤh' ich mit Freuden klaͤrer. “ Walt erzaͤhlte dann den Nachtbeſuch ganz wahr, hell und leicht und vergaß keine einzige Empfin¬ dung dabei.
„ Nichts will ich leichter erklaͤren, fing end¬ „ lich Vult an. Kann denn nicht ein Kerl, der „ alle Verhaͤltniſſe weiß, dir durch Waͤlder und „ Felder immer drei Schritte nach - oder vorge¬ „ ſchlichen ſein — mit der Floͤte geblaſen haben —7 „ deinen Namen in den Kruͤgen und Hotels vor¬ „ aus geſagt — die kleinſte Sache beſtellt und an¬ „ geſtellt, z. B. mit dem Bilderhaͤndler und dem „ Quodlibet und deſſen quod deus vult est bene „ factus, ſtatt factum — und ſo fort? Was den „ Brief anlangt, ſo war er ja in meinem Namen „ und Stil ſo leicht zu ſchreiben, unterwegs auf¬ „ zugeben, darin alles zu weiſſagen, was man „ eben ſelber vollfuͤhren wollte, das Geld aber „ eine Minute vorher einzugraben! “— „ Un¬ „ moͤglich! ſagte Walt. Und vollends der Lar¬ „ venherr? “— Haſt du die Larve etwa in der Taſche, ſagte Vult. Er zog ſie hervor. Vult druͤckte ſie vor das Geſicht, funkelte ihn darhinter mit Zorn-Augen an, und rief wild mit bekann¬ ter Stimme des Larvenherrn: „ He? Bin ichs? — Wer ſeid ihr? “— Himmel, wie waͤre denn das? rief der erſchrockene Walt. — Sanft hob Vult die Larve ab, ſah ihn ganz heiter an und ſagte: „ ich weiß nicht, was deine Gedanken uͤber die Sache ſind; ich ſentire, daß ſowohl der Lar¬ venherr und Floͤtenſpieler als auch ich und der Briefſchreiber dieſelben Perſonen ſind. “— Mein8 Verſtand ſteht ſtill, ſagte Walt. „ Kurz, ich wars, “beſchloß Vult. Aber der Notar wollte ſeiner eigenen Beſtuͤrzung nicht recht glauben: „ etwas Wunderbares, ſagte er, ſteckt gewiß noch „ hinter der Zauberei; und warum haͤtteſt du „ mich uͤberhaupt ſo ſonderbar hintergangen? “
Aber Vult zeigte, daß er ihm einige Luſt zu¬ wenden, ja einige Unluſt erſparen wollen. Er fragte ſchelmiſch-blickend, ob er nicht zur rechten Zeit ſeine Maske ins Zimmer geworfen, ehe Ja¬ cobine die ihrige fallen laſſen? Endlich ſagte er gerade heraus, die Klauſel des Teſtaments, wel¬ che fuͤr Fleiſches-Suͤnden um halbe Erbſchaften beſtrafe, ſei allgemein bekannt und Walt ſei leider ſtets ſehr unſchuldig, auf nichts aber werde in einer Akzion oͤfter und beſſer geſchoſſen als auf Schimmel wegen der Farbe der Unſchuld — die ſieben Erben decken, wie kluge Feldherrn, ihr La¬ ger mit Moraſt — kurz, beſchloß er, wie Tau¬ benhaͤndler wahrhaft betruͤgen und zwei Taͤubin¬ nen oft fuͤr ein ordentliches Paar Ehetauben aus¬ geben: haͤtte man es mit dir und der Aktrize nicht eben ſo machen koͤnnen, waͤr 'ich dir nicht nachgereiſet? — Da wurde der Notar blutroth9 vor Schaam und Zorn, ſagte: o garſtig uͤber die Maſſen, ſetzte unter dem Umherfahren nach dem Hute hinzu: „ in dieſem Lichte ſteht ein armes Maͤdchen bei dir? Und dein eigner Bruder dazu?” lief fort — ſagte wild weinend: „ gute Nacht; aber bei Gott, ich weiß nicht, was ich dazu ſa¬ gen ſoll “— und ließ keiner Antwort Zeit. Vult aͤrgerte ſich faſt uͤber den unvermutheten Zorn.
„ Ich, ich? — wiederholte Walt auf der Gaſſe innigſt-verletzt — ich haͤtte mich verſuͤn¬ digen ſollen an einem Tage, wo mir Gott den ruͤhrendſten Reiſe-Abend beſcherte und die from¬ me Wina mir ſo nahe lebte? — Das wolle Gott nicht! “—
Als er aber in ſein Stuͤbchen trat: uͤberflog ihn eine ganz beſondere Seligkeit und zehrte den Schmerz auf: — eine neue Empfindung wird an einem alten Orte lebendiger; — es war Wina's guter Blick unter dem Waſſerfalle, der jetzt ein ganzes Leben wie ein Morgenlicht golden uͤber¬ ſtrahlte und alle Thaublumen darin blitzen ließ. Vieles um ihn war ihm nunmehr zu eigen ge¬ worden ſo wie neu; der Park unten, in deſſen10 Gaͤngen er ſie einmal geſehen, und Raphaela im Hauſe, die ihre Freundinn war, gehoͤrten unter die Habſeligkeiten ſeiner Bruſt. Selber ſeinen eignen Roman Hoppelpoppel kannte er kaum mehr, auf ſo neue Gemaͤlde des liebenden Her¬ zens ſtieß er jetzt darin, von denen er erſt dieſen Abend recht faßte, was er neulich etwa damit haben wollen; nie fand er Autor einen gleichtoͤniger ge¬ ſtimmten Leſer als er heute. Er bauete ſich ſo¬ gleich ein zartes Bilderkabinet fuͤr die Gemaͤlde von den Auftritten, die Wina vermuthlich dieſen Abend haben koͤnnte; z. B. im Schauſpielhauſe, oder in den Leipziger Gaͤrten, oder in einer ge¬ waͤhlten Geſellſchaft mit Muſik. Darauf ſetzte er ſich hin und beſchrieb es ſich mit Feuerfarben, wie ihr etwa heute ſei in Glucks Iphigenie auf Tau¬ ris; dann machte er ſelige Gedichte auf ſie; dann hielt er die Papiere voll Eden ins Talglicht, und verkohlte alles, weil er, ſagt 'er, nicht einſehe, mit welchem Rechte er ohne ihr Wiſſen ſo vieles von ihr offenbare ihr oder andern.
Als er zu Bette ging, verſtattete er ſich, Wina's Traͤume ſich zu ertraͤumen. „ Wer kann11 mir verbieten, ſagt 'er, ihre Traͤume zu beſuchen, ja ihr ſehr viele zu leihen? Iſt der Schlaf ver¬ nuͤnftiger als ich? O ſie koͤnnte im wilden Wahn¬ ſinn deſſelben ja recht gut traͤumen, daß wir beide unter dem Waſſerfalle ſtaͤnden, verbunden auffloͤ¬ gen in ihn, umarmend hinſchwaͤmmen auf ſeinem fluͤßigen Feuergolde und zum Sterben herabſtuͤrz¬ ten mit ihm und vergoͤttert ſtill nun weiter floͤſ¬ ſen durch die Blumen, in den Strahlen, ſie mit ihrer Welle in meine ſchimmernd, und wir ſo uns in einander verroͤnnen in das weite hohe blaue rei¬ ne Meer, das ſich uͤber die ſchmutzige Erde deckt? Ach, wenn du ſo traͤumen wollteſt, Wina! “— Dann ſah er auf dem Kopfkiſſen recht hell und ſcharf — weil Nachts in der wilden Zeit des Vor¬ traums vor der Seele alle blaſſe Bilder junge Le¬ bensfarben annehmen und die Geſtalten blitzende Augen oͤffnen — das liebe, milde Auge Wina's vor ſich aufgethan und wie einen Mond, den der Tag zum Woͤlkchen verduͤnnte, am Nachthimmel herrſchend ſtralen; und er ſank in das liebe Auge, wie ein Frommer in das Auge, unter welchem man Gott abbildet. Wie leicht und duͤnn iſt ein12 Blick und ein erinnerter! Kaum das Alpenroͤs¬ chen iſt er, das der Menſch von der hoͤchſten Stelle ſeines Lebens herunter bringt. Aber doch haͤlt der Menſch unter der Maſſe von Maſſen und Weltkugeln ſich gern an die kleine, die ein Augen¬ lied bedeckt, an einen verhauchten, kaum entſtan¬ denen Blick — und auf dem himmliſchen Nichts ruht ſein Paradies mit allen Baͤumen feſt! So ſind Geiſter; denn da die Unſichtbarkeit ihre Welt iſt, ſo iſt ein Nichts leicht ihre Sichtbarkeit!
Am Morgen lag Sonnenſchein und Seligkeit um ihn her. Alle Bluͤten zu Zankaͤpfeln waren abgefallen. Die Morgenſtunde hat Gold, aber das reinſte, im Mund; die Sonne ſcheidet das in Schlacken vererzte Gemuͤth; das finſtere Ueber¬ maß, beſonders des Haſſes, hoͤrt auf. Walt ſah ſich um im Morgenlicht, fand ſich wie von einem Arm aus den Wolken durch alle uͤbereinander ſte¬ henden Wolken des Lebens durchgehoben ins Blau — Wer liebt, vergiebt, wenigſtens den Reſt dem Reſt; er fragte ſich, wie er denn geſtern, gerade am Heimkehr-Feſte, ſo gegen den armen Bruder aufbrauſen koͤnnen.
13„ Ja wohl den armen Bruder, fuhr er fort; „ denn er hat gewiß keine Geliebte, deren Liebes¬ „ blick ihm wie ein Lebensbrennpunkt im Herzen „ bleibt. “ Nun ging er ganz ins Einzelne und ſtellte ſich — nach ſeinem Inſtinkte, der ihn ſtets in die fremde Seele trieb und in ihr uͤber ſie hin¬ zuſchauen zwang — an Vults Stelle, wie dieſer nichts habe, nichts wiſſe (vom Waſſerfalle naͤm¬ lich) wie er alles oder vieles ſo ſehr gut meine, beſonders fuͤr Walt, wie er nur herrſchſuͤchtig hart verfahre u. ſ. w.
In dieſer Geſinnung beſchloß er, zum Bru¬ der zu gehen und kein Wort zu ſagen uͤber die Eſſig-Sache, ſondern blos mit ſeiner Hand eine ſchon in Mutterleib verknuͤpft geweſene anzufaſſen und einiges gelaſſen zu beſprechen, beſonders was bevorſtehende Wahl eines neuen Erbamts betreffe.
Vult war verreiſet. Ein Briefchen an Walt war an die Thuͤr geſiegelt: „ Beſter! Ich reiſete heute fluͤchtig ab, um in Roſenhof mein verſpro¬ chenes Konzert zu blaſen. Kuͤnftig arbeit 'ich viel fleißiger; denn wirklich thu' ich fuͤr unſern Ge¬ ſammt-Roman zu wenig, beſonders da ich gar14 nichts dafuͤr thue. Es entgeht uns nicht, daß ich lieber ſpreche — im reiſſendſten Strome mich ſchwemmend — als ſchreibe. Gut aber iſts nicht, weder fuͤr die Litteratur noch das Honorar. In Schu¬ len gilt ſonſt Rechen - und Schreib-Meiſter fuͤr Einen; ein trefflicher Buch-Schreibmeiſter hingegen iſt ſelten ein Rechenmeiſter; leider bin ich nicht einmal einer von beiden und brauche doch Geld. Adieu! v. H.
„ Der gehetzte Bruder! ſagte Walt, ſo muß er ſich jetzt das Geſchenk erpfeifen, das er mir ſo ſpaßhaft in die Haͤnde geſpielt; warum fall 'ich immer ſo heftig aus und druͤcke den Guten? “ Er faßte den ernſtlichen Vorſatz, kuͤnftig ſeinem Sturm - und Poltergeiſte ganz anders den Zuͤgel anzuziehen. —
Aber Roſenhof warf bald heiteres Licht auf alles und heiligte faſt den Floͤtenſpieler, den er in den nachſchimmernden Auen des ſchoͤnſten Mor¬ gens mit Glanz beſpruͤtzt umher waten ſah.
Wackerer als je betrat er nun ſeine Notariats - Gaͤnge wieder, die ſich gegen das Ende ſeines Erbamts immer haͤufiger aufthaten. Es war15 ihm ganz einerlei — ſo freudig ging ſein Puls — woruͤber er ein Inſtrument aufſetzte, ob uͤber die Verlaſſenſchaft eines Hofpredigers, oder uͤber eine angebohrte Oel-Tonne, oder uͤber eine Wette: immer dacht 'er an das Haus des Generals, oder an den Waſſerfall, oder an Leipzig und es konnte ihm gleichguͤltig ſeyn, (denn er gab nicht darauf Acht,) was er niederſchrieb als offner kaiſerlicher Notar.
So glaͤnzend-umſponnen vom Nachſommer des Herzens kam er aus dem September und dem Notariat endlich in den Oktober hinuͤber, wo er vor den Kabelſchen Teſtaments-Exekutoren die Rechnung uͤber das bisherige Erbamt abzulegen hatte, vor welcher ihm nicht im geringſten bange war; denn Wina's Blick hatte in ihm einen ſo feurigen Herzſchlag entzuͤndet, daß er mit einem ſolchen Fruͤhlings-Pulſe vermochte, in jeder aͤuſ¬ ſern Kaͤlte des Schickſals warm zu bleiben.
Sein Vater Lukas hatte ihn neuerlich in mehreren Kopien von Brief-Originalen (die der Schulze behielt, weil im Briefſchreiben das Ori¬ ginal das ſchlechtere iſt) ſeine Angſt vor dem No¬16 tariats-Hintergrund und die Betheurung ſeiner „ Herbeikunft “wiſſen laſſen. Walten wurde die Wiederholung deſſelben duͤrren Gedankens, die ſo manchen friſchen erdruͤckte, ſehr zur Laſt und er wuͤnſchte nichts weiter als die alte Freiheit, an hundert Dinge zu denken: „ warum iſt denn ein „ Irrweg ſo verdrießlich, ſagt 'er, als blos weil „ man ſo lange, bis man den rechten wieder „ erwiſcht, immer die abgeſchabte platte Idee des „ Wegs beſehen und behalten muß? “ Die ge¬ meinen Qualen des Lebens belaſten weniger unter ihrer Geburt als waͤhrend ihrer Schwangerſchaft und der eigentliche Leidenstag geht 24 Stunden oder Zeiten fruͤher an als der aͤußere. Der erſte Schritt, den Walt am anberaumten Morgen ins Rathhaus that, machte ihn zu einem andern Menſchen, naͤmlich zum alten — die Sache war fuͤr ihn vorbei, denn ſie war ſo nahe. — Zu bald kam er im Vorzimmer an, harrte aber vergnuͤgt und machte einen Polymeter, worin er einige gute Gruppen beſang, die in halberhobener Arbeit am Rathsofen mit aller der Waͤrme dargeſtellt waren, welche die Jahreszeit an einem kaltenOfen17Ofen erlaubt. Tanz-Horen, Fuͤllhoͤrner voll Heu, Fruchtſchnuͤre oder Stricke, Buͤſchel von dicken feſten Blumen oder Obſt, und ſechs Fruͤhlinge aus Thon (denn es war ein Zirkulier-Ofen) waren aller¬ dings im Stande, einen Dichter wie er zu heitzen. — Als noch immer die Rathsſtube zu blieb, ſo ge¬ rieth er auf Neben - Ideen, ob naͤmlich nicht ein ganzer Roman aus Ofen-Paſten darzuſtellen und zu entwickeln waͤre, beſonders ein komiſcher. So vermag nur ein Mann vor einer wichtigen Wende¬ punktsſtunde z. B. vor einer Kroͤnung, Schlacht, Selbſtermordung, nicht aber ſeine Frau vor einer aͤhnlichen, z. B. vor einem Balle, — zu dichten, zu ſchlafen, zu leſen.
Da endlich der Schirmherr der Kabelſchen ent¬ erbten Erben, der Pfalzgraf Knoll, eintrat, ſo fing alles an und wurde gehoͤrig vor den Buͤrger¬ meiſter Kuhnold geſtellt.
In ſeinem Leben war ihm nie ſo federleicht in einer Rathsſtube geweſen; auf dem Staubfaden einer Lilie haͤtt 'er ſich ſchaukeln koͤnnen. Er fiel aber bald von ſeiner Lilie ins Beet herunter, als derFlegeljahre IV. B. 218Schirmherr anfing vorzutragen und zu belegen, „ daß der offne geſchworne Notar bisher ſehr abſurd gewirthſchaftet “— daß er nicht nur erſtlich und zwei¬ tens zweimal in Inſtrumenten abbreviret — drit¬ tens ein naͤchtliches (das Thurm-Teſtament) mit zweierlei Dinte und viertens bei einerlei Licht ge¬ ſchrieben — fuͤnftens einmal radiert — ſechstens ein¬ mal gar nicht angegeben, daß er ausdruͤcklich zur Aufrichtung des Inſtruments vorgefordert worden, — desgleichen ſiebentens in dem naͤmlichen auch die Stunde nicht — achtens den naͤgelein-braunen Bind¬ faden, womit die Klagſchrift N. N. contra N. N. umwickelt geweſen, als einen gelben zu Protokoll gebracht — neuntens Hauszeugen, als ſie eidlich ausſagten fuͤr ihren Herrn, ihrer Pflicht vorher durch Handgeben ſowohl zu entlaſſen, als dieſen Akt des Entlaſſens anzuzeigen ganz vergeſſen — ſondern daß er auch zehntens einen falſchen Datum im Wech¬ ſelproteſt, ja eilftens neuerlich und ganz zuletzt ein Inſtrument gar an einem 31 September, der nicht exiſtire, auszufertigen wenig Anſtand genommen. — Nun wurd 'er gerichtlich befragt, was er da¬ wider einzuwenden habe. „ Ich wuͤßte eigentlich19 „ nichts — verſetzt' er gegneriſchen Seits; — auch „ trau ich fremdem Gedaͤchtniß hier weit mehr als „ eignem. Doch was die Hauszeugen anlangt, ſo „ hielt ich es fuͤr eigenmaͤchtig und unmoͤglich, ſie „ durch mein bloßes Wort ihren Pflichten zu ent¬ „ nehmen, und wieder zuruͤck zu geben. “ Darauf ſagte H. Kuhnold, dieſer Grund ſei mehr edel ge¬ dacht als juriſtiſch und berief ſich auf H. Fiskal Knoll. Nichts ſei laͤcherlicher, verſetzte dieſer und ſchob nun zehn bis zwanzig breite hohle Worte an einander, um bei den Teſtaments-Exekutoren um daß nachzuſuchen, was ſich von ſelber verſtand — die Eroͤffnung des hier eintretenden geheimen Ar¬ tikels.
Eh 'es Kuhnold that, erwies er dem Pfalzgra¬ fen, daß gar nicht alle Rechtsgelehrten allgemein zu Nacht-Kontrakten drei Lichter begehrten, ſon¬ dern nur mancher; und langte — als Knoll auf ſei¬ nem Satze beharrte — blos das promtuarium juris von Hommel oder Muͤller als den naͤchſten Beweis aus dem Schranke vor. Die Rathsbibliothek war nicht hoͤher als die vier Baͤnde des promtuarium20 ſtark; dennoch fehlte ihr, wie den meiſten oͤffentlichen Bibliotheken, ein Katalog.
Knoll behielt ſich das Seinige vor; Kuhnold gab aber nicht nach, ſondern verlas den Straftarif; „ daß nehmlich fuͤr jeden juriſtiſchen Notariats¬ „ Schnitzer des jungen Harniſch jedem der 7 Erben „ ein Tannenbaum in Kabels Waͤldchen zu faͤllen „ verſtattet ſein ſollte. “ Da er nun in 10 Suͤnden gerathen war — ohne die ſtreitigen Lichter — ſo be¬ lief ſich der Decem, mit den 7 letzten Plagen mul¬ tiplizirt, auf den anſehnlichen Schlag von 70 Staͤmmen, ſo daß Walt nie halb ſo gut dadurch gelichtet werden konnte, als das Waͤldchen ſelber. — „ Nu, ſagte der Notar, ſchnell beide Haͤnde ſeit¬ waͤrts auswerfend, was iſt zu machen? “— Er wußte ſich innerlich uͤber die Zufaͤlle des Lebens ſo erheiternd zuzureden, wie ein Schuſter den Kunden uͤber neue Stiefel, die er bringt; ſind ſie zu enge, ſo ſagt der Meiſter, ſie treten ſich ſchon aus; ſind ſie zu weit, ſo ſagt er, die Naͤſſe zieht ſie ſchon ein. So dachte Walt heimlich: „ das witzigt mich. Jetzt kann ich doch als Notar ruhig alle meine Inſtrumente machen, ohne daß mir geheime Arti¬21 kel das Geringſte zu befehlen oder zu nehmen haben. “ Aber am Ende machte ihm doch der Fiskal Knoll den leichten poetiſchen Goͤtter-Ichor des Herzens ſchwer, dick und ſalzig, als dieſer, ohne im Ge¬ ringſten durch die Freude uͤber den Gewinn von Schlagholz irre oder trunken zu werden, ſeine Pro¬ teſtation im Punkte der 3 Lichter erneuert zuruͤckließ. Die ſtehende Gegenwart eines deutlich haſſenden Weſens druͤckt und preßt eine immer liebende Seele, die ihre Kaͤlte ſchon fuͤr Haß anſieht, mit dem ſchwuͤ¬ len Dunſtkreis eines Gewitters, deſſen Schlag we¬ niger quaͤlt als deſſen Naͤhe. Betruͤbt, ſelber von Kuhnolds ſanftem Worte, das ihm ſo vermeidliche Fehler eben als die unverzeihlichern vorwarf, ging er nach Hauſe; und er ſah Vults Fluchen und Scherzen daruͤber ſchon entgegen.
Das erſte, was er zu Hauſe machte, war ein Sprung aus demſelben auf die ſchoͤnen ſtillen Hoͤhen der Oktober-Natur, um ſeinem Vater, dem Schultheiß, und deſſen Scherbengerichte zu ent¬ ſpringen, der, wie er gewiß wußte, in die Stadt laufen wuͤrde, um jede Scherbe des zerbrochenen Gluͤcktopfes ihm an den Kopf zu werfen. Auf ei¬22 ner friedlichen Anhoͤhe — dem Waͤldchen gegen¬ uͤber — konnt 'er, waͤhrend er das mediziniſche Miſerere des Schickſals durch Dichten und Em¬ pfinden in ein muſikaliſches verwandelte, recht gut wahrnehmen, daß ſchon mehrere Erben mit ver¬ ſtaͤndigen Holzhauern im Erb-Forſte luſtwandel¬ ten, um eintraͤchtig mit Waldhaͤmmern ihr Gna¬ denholz einzuplaͤtzen. Endlich ritt im Schritt Flitte an der Spitze einer holzerſparenden Geſell¬ ſchaft mit Aexten, Saͤgen, Maßſtaͤben in den Haͤnden, den Wald hinan. Gleich einem Wittwer, der ſeine Halbtrauer taͤglich in kleinere Bruͤche zer¬ faͤllt, in Drittelstrauer, in ein ¼, ⅛, $$\frac{1}{64}$$ Theil — wiewohl die Trauer oder der Zaͤhler nie null wer¬ den kann, nach mathematiſchen Geſetzen — ver¬ kehrte Walt bei dieſem Anblick ſeine ſchwache Halb¬ trauer, arithmetiſch zu ſprechen, in einen unend¬ lich großen Nenner und in einen unendlich kleinen Zaͤhler, d. h. er wurde das, was man gemeinhin froh nennt. „ Es iſt ſchon recht, dacht 'er, daß ich dem guten Flitte fuͤr ſeine gutmuͤthige Erbein¬ ſetzung meiner Perſon, doch einen ſchwachen Dank durch meine Fehler zuſchanze; er habe recht viele23 Freude dabei, nur keine Schadenfreude. “ Aber die Luſtigkeit uͤber die Holz-Einbuſſe wurde Walten etwas verkuͤmmert, als er den alten Schulzen aus der Stadt ſchreiten und ins Holz dringen ſah, Maͤrtirerkrone und Zepter tragend. Auf die ange¬ plaͤtzten Staͤmme lief Lukas zu — fragte, ſagte dieß oder das und keifte — durchſchnitt den Gehau nach allen Ecken — ſtritt ohne Vollmacht wider alles — flog als ein fluͤchtiges Waldgericht und Forſtkollegium hin und her, an jeden Buſch, neben jede Saͤge — machte die Wuͤſte, ſeines Geſichts im¬ mer duͤrrer und arabiſcher, je mehrere Erben an¬ kamen, die groͤßten Baumſchaͤnder, die er ſich den¬ ken konnte — ſah ſeufzend zu jedem Gipfel auf, der ſtuͤrzen wollte — und trieb nichts durch als forſt¬ gerecht den Weg, auf welchem der fallende Baum das Buſchholz ſchonen mußte.
Walt ſchaute erbaͤrmlich heruͤber; ſo leicht er ſonſt ſein ſchwarzes Schickſal wie ſein weiſſes nur zu dichteriſcher Farbengebung verrieb, gleichſam zu Kohle und zu Kreide: ſo konnt 'er ſich doch den Holz¬ ſchlag des Schlagholzes zu keinem dichteriſchen Baumſchlag ausmalen, weil ihn der Vater pei¬24 nigte. Er wartete aber feſt deſſen Weggang ab; dann fragte er nach der gluͤhendſten Abendroͤthe vor ſeinen Augen nichts, ſondern er ließ in ſich abſtim¬ men, welches Erbamt, das ſeinen Vater freudig laſſe, er jetzt zu waͤhlen habe.
Nun fehlte es ihm aus Mangel des Floͤtenſpie¬ lers, an einer Stimmenſammlung und an irgend einer, auch nur kleinſten Minoritaͤt, weil die Ma¬ joritaͤt ſelber (er) nur 1 Mann ſtark war, welches, wenn nicht die kleinſte — denn oft iſt gar kein Mann beim Stimmen — doch keine betraͤchtliche iſt.
Endlich waͤhlte er das kuͤrzeſte Amt, naͤmlich das ſiebentaͤgige Leben bei einem Erben. Die Stelle daruͤber heißet im Corpus juris des Teſtaments claus. 6. Litt. g. ſo: „ er (Walt) ſoll bei jedem „ der H. Akzeſſit-Erben eine Woche lange wohnen „ (der Erbe muͤßt 'es ſich dann verbitten) und alle „ Wuͤnſche des zeitigen Miethsherrn, die ſich mit „ der Ehre vertragen, gut erfuͤllen. “ Ein ſo kurzes Amt, hoffte er, ohne große Fehltritte und Fehl¬ ſpruͤnge und mit einiger Ehre und in Kurzem, noch eh' der Bruder erſchiene, zu beendigen. Nach der Wahl des Amts mußt 'er wieder die neue desjenigen25 Erben anſtellen, welchem die erſte Ehre davon zu¬ zuwenden ſei. Er erlas ſich zum woͤchentlichen Wohnen den, bei welchem er bisher gewohnt, H. Neupeter. „ Auch begehrts die Zarte” ſagt' er.
Vornehmes Leben.
Nachdem er am Morgen die feinſte Anrede an den Hofagenten ganz in den Kopf gebracht hatte, woraus ſie ohnehin noch nicht gekommen war: trat er vor Neupeter, der ihn in der Schreibſtube neben einem brennenden Lichte, mit dem Petſchaft am naſſen Maul und mit der Nachricht empfing, es ſei Poſttag. Waͤhrend der Kaufmann fortſiegelte, hielt er hinter deſſen Ruͤcken leicht ſeine Rede voll Zaͤrte, bis dieſer, da er ausgeſiegelt hatte, das Licht ausputzte und fragte: was giebts? Zerfahren war dem Notar der ganze Sermon.
Kein Menſch kann dieſelbe Rede zweimal nach einander halten; in der Eile mußte er nur darauf denken, aus dem Geſagten einen duͤnnen Bleiextrakt zu liefern. Der Hofagent erſuchte ihn aber, „ mit26 ſolchen Schnurpfeifereien den Leuten vom Halſe zu bleiben. “
Alle moͤgliche Suͤnden im neuen Amte haͤtt 'er lieber getragen, als dieſes harte Thuͤrzuſchlagen vor demſelben. — Jemanden nun ferner Ordens¬ ketten durch geſchenktes Vorkaufsrecht der Wohn¬ probewoche uͤberhaͤngen zu wollen, fiel ihm nicht mehr ein: ſondern wo ein armer, aber guter Teu¬ fel, mit welchem ſich mehr Thraͤnen - als Him¬ melsbrod, z. B. ein elendes Wohnloch, theilen lieſſe, anzutreffen und zu begluͤcken waͤre, darnach ging ſein Sehnen, nicht ſein Fragen; denn beſagter Teufel war laͤngſt da, Flitte aus Elſaß. Walt ging auf den Nikolai-Thurm und trug, aber furcht¬ ſam, Flitten den Vorzug an, daß er bei ihm die erſte Probewoche halten wolle. Der Elſaßer um¬ halſte ihn erfreuet; und verſicherte, er ziehe dieſen Tag noch vom Thurm herab, weil er ganz herge¬ ſtellt ſei und der friſchen Thurmluft weniger beduͤrfe. „ Ich miethe fuͤr uns ein Paar koſtbare garnierte Zimmer beim Caffetier Fraisse; pardieu wir wollen leben comme il faut, “ſagt' er. Walt wurde zu ſelig. In einer halben Stunde hatte27 Flitte ein - und darauf ausgepackt; denn mit ſei¬ nem Geraͤthe hatt 'er, wie eine Raupe und Spinne mit ihrem Fadengeſpinnſte, gewoͤhnlich den Gang durch ſeine Wechſelwohnungen bedeckt und bezeich¬ net; gleichſam mit ſchoͤnen Haarlocken, die zum Andenken ausgerauft werden; und hatte ſich, wie gedacht, wie Weltkoͤrper durch Umlauf kleiner ein¬ geſchliffen. Er wagte es jetzt, aus ſeinem Thurm, — ſeiner bisherigen Baſtie und Graͤnzfeſtung gegen Glaͤubiger — herabzuruͤcken in ein unbefeſtigtes Caffeehaus, weil er theils ſein eignes Teſtament beerbet hatte, naͤmlich den Kredit davon, theils das Kabelſche, in deſſen Guͤtergemeinſchaft ihn Walts neueſte Fehler vor der Stadt einzuſetzen ſchienen, theils die 10 Tannenſtaͤmme, Walts Klage-Eichen. „ Der ausgeſtopfte Blaumuͤller “Nro. 51. erwaͤhnte ſchon weitlaͤufiger, mit welchem Gepraͤnge er die durch Walt geſaͤete Fehler-Ernte von Steinobſt und Kernhaͤuſern aufgeknackt und ausgekernet hatte, um ſich der Stadt zu zeigen.
Walt ſchied am ſchoͤnſten Nachſommer-Mor¬ gen halb wehmuͤthig aus ſeiner leiſen Klauſe; ihm war, als brauche ſie ihn und habe denn ſo leer und28 allein Langweile, beſonders ſein Seſſel. Aber wie fuhr er, da er beim Caffetier Fraisse eintrat, vor der Garnitur der Zimmer, vor den langen Spiegeln voll Zuruͤckfahrern, vor den Ei-Spiegeln an den Wandleuchtern und vor der Reſt-Pracht zuruͤck! — Er erſchrack. Flitte laͤchelte — Fremden wollte Walt ein Erſparer ſein; — daß der gute Elſaßer ſolche Pallaſte von Stuben miethe, bedacht 'er und ſtoͤhnte ſehr. Denn er hielts fuͤr Aufwand ſeinet¬ wegen, weil er nicht vorausſetzte, daß Flitte unter die wenigen ſogenannten Verſchwender gehoͤre, die wie der deutſche Kaiſer ſchwoͤren, nichts auf die Nachkommen zu bringen, Reich oder Reichthum, und welche wie hohe Staatsbediente Athens zum Zeichen ihrer Vaterlandsliebe nichts hinterlaſſen, als Nachruhm und Schulden.
Walt zog ohne weiteres das aus der Kabel¬ ſchen Operazionskaſſe fuͤr die Probenwoche bewil¬ ligte Goldſtuͤck hervor, und legt 'es mit den Wor¬ ten auf den Tiſch: „ dieß beſtimmte der Teſtator; ich wollte gern, es waͤre mehr. “— Wenige Men¬ ſchen wurden noch ſo ſtark angefahren, als er von29 Flitten, der ihn fragte, ob er denn beim Henker nicht ſein Gaſt ſei?
Aber nun hatt 'er noch einen feinern Punkt, naͤmlich den teſtatoriſchen Zweck ſeines Wohnens zu beſprechen. Er nahm folgende Wendung: „ es wird ordentlich ſchwer, in dieſen koſtbaren „ heitern Zimmern und bei Ihnen an etwas ſo „ Juriſtiſches wie das Teſtament und deſſen Haupt - „ Klauſel zu denken; da ich aber meine Freude nicht „ meiner Obliegenheit gegen meine Eltern opfern „ darf: ſo — darf ich eben ſchwerlich, ſondern ich „ muß Sie um den Vorſchlag deſſen bitten, wor¬ „ in ich etwa Fehler begehen koͤnnte. Wahrlich, „ es wird mir ſchwerer, zu fragen als zu han¬ „ deln. “—
Der Elſaßer faßte ihn nicht ſogleich mit ſei¬ nen Feinheiten: „ Pah, ſagt 'er, was iſt zu ſa¬ „ kriſiziren? Wir parliren und tanzen zuſam¬ „ men; das geht den alten Kabel nichts an. “— — „ Parliren und tanzen? (verſetzte der vom No¬ tariat zuſammengeſcheuchte Walt) Und zw〈…〉〈…〉 bei¬ des zuſammen? — Ich kann hier nichts ſagen, als daß ſchon eines von beiden einen unabſehbaren30 Spielraum zu Fehlern aufthaͤte, geſchweige — Wahrlich, an und fuͤr ſich oder fuͤr mich, lieber Herr Flitte — aber ... “— — „ Sacre —! wovon „ reden wir denn eigentlich? — Wird denn ein „ Menſch auf der Erde praͤtendiren, daß man „ zum langnaſigen Buͤrgermeiſter laͤuft und ihm „ es vorſingt, wie man luſtig geweſen iſt? “— Walt faßte ſchnell die Hand und ſagte: ich ver¬ traue; und Flitte umarmte ihn.
Sie fruͤhſtuͤckten unter freudigen Geſpraͤchen. Die langen Fenſter und Spiegel fuͤllten das ge¬ glaͤttete Zimmer mit Glanz; ein kuͤhler blauer Himmel lachte hinein. Der Notar verſpuͤrte ſich in vornehmer Behaglichkeit; das Gluͤcksrad drehte ihn, nicht er das Rad, und er brauchte es nicht wie ein Wagenrad erſt roth zu malen. Flitte las ihm zwei fuͤr den Reichs-Anzeiger in wenigen Ta¬ gen ausgearbeitete Inſerate vor; — im erſten fo¬ derte er einen Generalkriegszahlmeiſter H. v. N. N. in B. auf, ihm die Summa von 960 Albustha¬ lern fuͤr Wein innerhalb 6 Monaten zu bezahlen, wenn er nicht gewaͤrtig ſein wolle, daß er ihn oͤf¬ fentlich an den Pranger in dem R. Anzeiger ſtellte. 31Dem Notar entdeckte er gern den Namen des Mannes und der Stadt; indeſſen war an der Sache nichts. Das zweite Inſerat enthielt mehr ungefaͤrbte Wahrheit, naͤmlich die Nachricht, daß er einen Compagnon mit 20,000 Thlr. zu einem Weinhandel ſuche und wuͤnſche.
Walts Geſicht glaͤnzte von Freude, daß der gutmuͤthige Menſch ſo viele Mittel habe, und er¬ hob deſſen vergoldete Wetterſtangen des Lebens recht ſtark.
Flitte aber verſetzte: „ Sagen Sie mir auf¬ richtig, ob keine Stil-Fehler darin ſind? Ich warf die Dinge in der Zeit einer kleinen Stunde hin. “ Walt erklaͤrte, je kleiner eine Anzeige ſei, deſto ſchwerer werde ſie; er wolle leichter einen Bo¬ gen fuͤr den Druck ausarbeiten, als deſſen $$\frac{1}{24}$$ Bo¬ gen. „ Schadet wohl uͤberhaupt lukubriren viel? An der Makrobiotik ſahen mich oft die Nachbarn bis 3 Uhr aufſitzen, “ſagte Flitte, nicht ganz un¬ wahr, da er bisher durch ſeine Nachtmuͤtze auf einem Haubenſtock und durch ein Licht daneben ei¬ nen makrobiotiſchen Leſer auf die leichteſte und ge¬ ſuͤndeſte Weiſe vorgeſtellt hatte. Darauf ſchnuͤrte32 er vor dem Notar, deſſen herzliches aufrichtiges Bewundern und einfaͤltiges Vertrauen ihn mit ſuͤſſer Waͤrme durchzog, ein Buͤndel ſeiner Liebes¬ briefe an ſich auf, worin er, ſein Herz und ſein Stil ſehr geſchaͤtzet wurde. Der Elſaßer hatte das Paquet von einem jungen Pariſer, an den es ge¬ ſchrieben war, zum ſichern Verſchluſſe bekommen.
Walt wußte ſich ſo wenig zu laſſen vor Bei¬ fallklatſchen uͤber den Stil der ſchoͤnen Schreiberin, daß der Elſaßer am Ende beinahe ſelber glaubte, die Sache ſei an ihn geſchrieben; aber jener thats ſehr deshalb, um nicht uͤber die Liebe ſelber viel zu reden. Da er als ein unerfahrner verſchaͤmter Juͤngling noch glaubte, die Empfindungen der Liebe muͤßten hinter dem Kloſtergitter, hoͤchſtens in einem Kloſtergarten leben. So ſagt 'er nun im Allgemeinen: „ die Liebe dringt wie Opferrauch, ſo zart auch beide ſind, doch im dicken Regenwet¬ ter durch die ſchwere Luft empor” — wurde aber ungemein roth. „ Surement, ſagte der Elſaßer, die Liebe ſtrebt jeden Tag immer weiter.”
Flitte ging noch weiter und zeigte ſich ſeinemGaſte33Gaſte gar gedruckt, er wieß ihm naͤmlich die fein¬ ſten Liebes-Madrigale, die er, wie er ſagte, drucken laſſen in Centeſimo-Vigeſimo Format und nie uͤber einen $$\frac{1}{20}$$ Bogen ſtark; es waren Verſeblaͤtt¬ chen aus Pariſer Zuckerwerk ausgeſchaͤlt, wahre Suͤßbriefchen, deren Plagiat Flitte ſich dadurch erleichterte, daß er den ſuͤßen Einband aufaß. Warum laͤſſet die deutſche Poeſie der franzoͤſiſchen den Vorzug der ſuͤßeſten Einkleidung; warum wollen wir naͤmlich, wenn die Franzoſen Zucker und Gebaͤck um ihre Verſe wickeln, es umkehren und mit dem unſerigen Zucker und Gewuͤrz einklei¬ den und einpacken — koͤnnte man hier fragen, wenn es der Ort waͤre, hier zu antworten. — Walt prieß unmaͤßig; der Elſaßer ſchwamm auf Freudenoͤl, ertrank beinah in Lobes-Salb-Oel. Ueber jeden Genuß, den man den Menſchen wohl¬ wollend zubereite, waltet der Zufall der Aufnah¬ me, des Gaumens, des Magens, der ihn verar¬ beitet; hingegen fuͤr den Genuß eines aufrichtigen Lobes hat ohne Ausnahme jeder Menſch zu jeder Stunde Ohr und Magen aufgethan; und er ſagtFlegeljahre IV. Bd. 334auſſer ſich: „ Lob iſt Luſt, die das einzige iſt, was der Menſch unaufhoͤrlich verſchlucken kann und muß. “ Flitte nicht anders; neuerfriſcht zog er den Notar auf die Stadtgaſſen hinaus, um ihm einige Freuden zu machen und ſich Platz. Naͤm¬ lich die alten Glaͤubiger jagten ihm ſo eifrig nach als er neuen; da er nun die Maxime der Roͤmer kannte, welche nach Montesquieu ſo weit als moͤglich vom Hauſe Krieg fuͤhrten: ſo war er ſelten zu Hauſe. Beide durchſtrichen die Morgen¬ ſtadt; und Walten wurde ſehr wohl. Da Flitte der Stadt ſich zeigen wollte — naͤmlich den Ka¬ bels-All-Erbenharniſch in der Probewoche — ſo ſprach er mit vielen ein Wort; und der Notar ſtand gluͤcklich dabei. Vor jedem Parterre-Fen¬ ſter — par-terre, ſagte Flitte, ſprechen die Deutſchen ganz falſch aus — klopft 'er wie an ei¬ ner Glasthuͤre an und ſagte dem aufmachenden Maͤdchenkopfe, dem noch die halbe Aurora des Morgenſchlafs anſchwebte, hundert gute Dinge, und die Tochter in der Morgenkleidung mußte am Fenſterrahmen fortnaͤhen. Oft gab er ohne weiteres Fragen Kuͤſſe von auſſen hinein — was35 Walt fuͤr einen Grad von Lebensart hielt, den nur einige Guͤnſtlinge Frankreichs erreichten. Rauchte ein anſehnlicher Mann in der Schlafſeide mit der Pfeife aus dem zweiten Stock herab: ſo ſprach oder ging Flitte hinauf und Walt thats mit. Jener kannte jeden lange; denn bei dem Hoch¬ buͤrgerſtande lehrte er die Kinder tanzen und beim Adel die Hunde; letzterem ging er auch auf heili¬ gern Wegen nach, naͤmlich zur Altar-Partie. Denn da der Haßlauer Adel, wie bekannt und ſonſt gewoͤhnlich iſt, in corpore oͤffentlich auf einmal als eine heilige Tiſchgeſellſchaft und Kom¬ pagniegaſſe das Abendmal genoß: ſo war er hin¬ terdrein und der letzte Mann, wie hinter den Buͤr¬ gerlich'en der Scharfrichter; das einzige mal aus¬ genommen, wo er wie ein Schieferdecker es blos nahm, weil er einen Thurm beſtiegen. Walt be¬ trat nie mehr Zimmer als an dieſem Morgen. Sprengte ein Herr vorbei, Flitte wußte ein Wort uͤber den Gaul nachzuſchicken, etwa dieſes: er hinke. Stand ein Wagen fahrfertig: Flitte paßte bis man einſtieg und verhieß nachzukommen aufs Landgut. Kehrten verſpaͤtete Kaufleute von der36 Leipziger Meſſe zuruͤck: Flitte ließ ſie auf die Meß - Neuigkeiten von Haßlau nie ſo lange warten bis ſie unter Dach und Fach waren, ſondern er pack¬ te aus, waͤhrend ſie auspackten.
Walt wurde aller Welt vorgeſtellt und redete mehrmals.
Es waͤre ſchwer zu glauben, daß beide an Einem Morgen ſo viele Beſuche abgeſtattet haben, waͤre nicht die Gewißheit da. Sie gingen zu den Spitzen - oder Kloͤppelherrn H. Oechsle und beſa¬ hen die Sachen und die huͤbſchen Kloͤpperinnen aus Sachſen und viele Knoͤpfe aus Eger, in welche Voͤgel halb mit Farben, halb mit eigenen Federn gefaſſet waren. Walt hatte deſſen ſchoͤne Fußtape¬ ten ganz mit Stiefelſpuren verſchont durch einen einzigen tapfern Weitſchritt, den er uͤber ſie ſogleich in die gebohnte Stube that.
Sie gingen ins Gartenhaus des Kirchenrath Glanz, wo Flitte ſeine Latinitaͤt an dem Kupfer¬ ſtich eines Kanzelredners ſchwach zu zeigen ſuchte, indem er die darunter geſetzten lateiniſchen Verſe und Notizen fertig und mit galliſcher Ausſprache ablas, ausgenommen bis zu den Worten mortuus37 est anno MDCCLX. Denn wer ſolche fremde Zahlen-Zeichen mehr in eigner als in fremder Sprache ableſen muß, weil er dieſe nicht verſteht, faͤllt halb ins Laͤcherliche bei aller ſonſtigen Ge¬ lehrſamkeit. —
Er ging mit Walt zum Poſtmeiſter, blos um, wie er gewoͤhnlich that, nach Marſeiller Brie¬ fen vergeblich zu fragen. Dem Poſtſekretair las er eine ſchwere franzoͤſiſche Aufſchrift vor. Walt pries deſſen Accent und Prononciation aufrich¬ tig. Auf der Straſſe macht 'ihm nun Flitte zehn vergebliche male vor, wie er wenigſtens beide Worte zu accentuiren und zu prononciren habe. Walt geſtand, daß ihm mehr Ohr als Zunge fehle, druͤckte ihm die Hand mit dem Bekenntniß, daß er die meiſten Franzoſen geleſen, aber noch keinen gehoͤrt, und daß er deswegen ſo eifrig auf jeden Laut von Flitte horche; indeß berief er ſich auf den General Zablocki, ob er nicht vielleicht eine ertraͤg¬ liche Hand von Schomacker davon gebracht. Dar¬ auf zeigte ihm Flitte gegenſeitig Germaniſmen der Phraſen, die ihm noch anklebten.
Sie gingen zur Stuͤckjunkerin, bei welcher38 Walt neulich Saiten aufgezogen hatte. Dieſe ſprach von dem Tode ihres Mannes und der Ein¬ aͤſcherung eines Pallaſtes, den ſie im belagerten Toulon gehabt, aus welchem ſie nichts gerettet, als was ſie zur Erinnerung ewig aufbewahrte, ei¬ nen Nachttopf aus feinſtem Porzellan. Der Zug entzuͤckte den Notar durch den vornehmen Zynis¬ mus, womit er in Hoppelpoppel Leute von Welt koloriren konnte. Selten ſieht ein romantiſcher Anfaͤnger einen alten General oder jungen Hofjun¬ ker im Zwielicht z. B. piſſen, ohne ſich an den Schreibtiſch wieder zu ſetzen und wieder zu ſchrei¬ ben: „ Herren vom Hofe ſtellen ſich gemeinhin im Zwielicht in Ecken. “ Man ſprach viel franzoͤ¬ ſiſch; und Walt that was er konnte und ſagte haͤu¬ fig: comment? — Flitte zeigt 'ihm nachher den Germanismus in der Frage.
Sie gingen in die weibliche ihm durch Vult bekannte Penſions-Anſtalt, worin noch mehr Gal¬ liziſmen und noch mehr Schoͤnheiten regierten. Flitten war nicht nachzufliegen im freien Artigſein; doch wars ihm genug, nur nachzublicken und zwi¬ ſchen den Beeten voll Seelenlilien eng die eine Fu߬39 zaͤhe an die Ferſe der andern anzuſchienen. „ Ach ihr Lieben!” ſagte ſein Herz. Was er nur hoͤrte, entklang ihm ſo zart; „ aber dacht 'er, ſind denn „ Frauenzimmer anders? Mitten im unreinen „ maͤnnlichen Weltleben, das alle Stroͤme und „ Leichen aufnimmt, ſind ſie ja abgeſondert voll „ eigner Reinheit; im ſalzigen Weltmeer kleine „ Inſeln voll friſchen klaren Waſſer; o dieſe Gu¬ „ ten!” —
Als er heraus trat, wurden ihm auf einem goldnen Eßgeſchirr des regierenden Fuͤrſten leichte Farſchen, Rouletten und Frikandellen aufgetiſcht — fuͤr die Freßſpitzen der Phantaſie. Das Ge¬ ſchirr — das Geſchenk eines alten Koͤnigs — wur¬ de naͤmlich jaͤhrlich zweimal oͤffentlich auf dem Markte abgeſcheuert und geputzt unter den Augen eines kleinen Kommandos zu Fuß, das ſeine Waf¬ fen hatte, um es gegen ungerathene Landeskinder zu decken.
Sie gingen zum Galanteriehaͤndler Prielmayer und ließen ſich von der Pracht der weiblichen Welt umgeben.
Ein ſo freier, leichter, alle Staͤnde miſchen¬40 der Vormittag war Harniſchen noch nie vorgekom¬ men; ein Muſenpferd nach dem andern wurde ſei¬ nem Siegeswaͤgelchen angeſchirrt und es flog. Flit¬ tens Leben hielt er von jeher fuͤr ein tanzendes Fruͤh¬ ſtuͤck und fuͤr einen thé dansant; ſein eignes hielt er jetzt fuͤr ein eau dansant. Er genoß eben ſo ſehr in Flitten — den er ſich wie ſich begeiſtert dachte — als in ſich ſelber hinein; die elſaßiſchen Sonnenſtaͤubchen vergoldete und beſeelte er zu poe¬ tiſchem Bluͤtenſtaub. Zuletzt macht 'er neben ihm gehend, heimlich folgende Grabſchrift auf ihn: Grabſchrift des Zephyrs.
Auf der Erde flog ich und ſpielte durch Blu¬ men und Zweige um zu weilen um das Woͤlkchen — Auch im Schattenland werd 'ich flattern um die dunkeln Blumen und in den Hainen Elyſiums. Stehe nicht, Wanderer, ſondern eile und ſpiele wie ich.
Um 10 Uhr bracht 'ihn Flitte dem Hofe naͤ¬ her: „ wir gehen in die champs élisées und neh¬ men ein déjeûner dinatoire. “ Es war ein bejahr¬ ter Fuͤrſtengarten, welcher den Weg zur erſten Chauſſee im Lande gebahnt hatte. Unterwegs fin¬41 gen zwar Warnungstafeln gegen Kinder und Hun¬ de an; aber in den champs élisées wurde erſt or¬ dentlich alles verboten, beſonders die elyſiſchen Felder ſelber, — in keinem Paradies gab es ſo viele verbotene Baͤume und Frucht - und Blumen - Sperren — auf allen Gaͤngen bluͤhten oben oder keimten unten Kerker-Diplome und Aus - und Ein¬ wanderungsverbote — unter Expektanzdekreten der Zuͤchtigung durchkreutzte jeder als ein luſtwandeln¬ der Zuͤchtling das Eden und feierte Petri Ketten¬ feier im Gehen und ſtrapazirte ſich hinter ſeinem Ruͤcken — mehr wie eine Wallfarth durch Dante's Hoͤllenkreiſe (der Himmel blieb nirgends uͤber dem Kopfe) denn als ein katholiſcher Bußgang durch Chriſti Leidens-Stazionen kam jedem unter dem ſchriftlichen Anſchnauzen aller fluchenden Baͤume und Tempel ſein Luſtwandeln vor — — ja der Menſch verſtimmte ſich zuletzt in den champs und kam fatigirt heraus.
War Walt je froh und frei: ſo wars in die¬ ſen Feldern; ſein innerer Menſch trug ein Thyrſus - Staͤbchen und rannte damit. Von allen dieſen Warnungstafeln war naͤmlich nichts mehr da als42 die Tafel, das Holz, Stein, Blech; die Warnung aber war gut vermooſet, verraſet, verſandet. Koͤſt¬ liche Freiheit und Freilaſſung beherrſchte nun Eden, wie ihm Flitte beſchwur und bewieß. Die ganze Sperrordnung war blos in jenen Zeiten an der Tagesordnung geweſen, wo große und kleine Fuͤr¬ ſten — ganz anders als jetzt die großen (hoͤflich zu ſprechen,) etwas grob gegen Unterthanen wa¬ ren, und wo ſie als Ebenbilder der Gottheit — welche darin eben nicht von dem Maler geſchmei¬ chelt wurde — dem mehr juͤdiſchen als evangeli¬ ſchen Gotte der damaligen Kanzeln aͤhnlich, oͤfter donnerten als ſegneten. „ Was die Herrſchaft jetzt „ etwa im Parke ſehr lieb und gern hat, ſagte „ Flitte, dieß iſt ſchon beſonders recht eingezaͤunt, „ ſo daß ohnehin niemand hinein kann.”
Beide nahmen ihr déjeûner dinatoire, Mor¬ genbrod und Morgenwein, in einen offenen und luſtigen Kioſk, unweit des Gartenwirths. Der Notar war erwaͤhnter maſſen ſelig; — den auf - und abſteigenden Tag - und Nachtgarten ſammt dem leichten wie herabgeflogenen Luſtſchloſſe, das ein verſteinerter Fruͤhlings-Morgen ſchien, ferner43 die Waͤldchen, woraus bunte Luſthaͤuschen wie Tulpen heraus wankten, desgleichen die gemalten Bruͤcken und weiſſen Statuen und die Regelſchnuͤ¬ re vieler Hecken und Gaͤnge — — das konnt 'er dem Elſaßer, dem ers zeigte, gar nicht feurig ge¬ nug entfaͤrben, je laͤnger er trank. Dieſem gefiels natuͤrlich; denn gewoͤhnlich fuͤhrte er ſeine Claude - Lorrain's nur mit dem einzigen Wort und Striche wacker aus: ſuͤperb! — Jeder aber hat ſeine ande¬ re Hauptfarbe der Bewunderung; der eine ſagt: engliſch — der andere: himmliſch! — der dritte: goͤttlich! — der vierte: ei der Teufel! — der fuͤnf¬ te: ei! —
Walt aber ſagte, obwol zu ſich: „ dieß iſt „ von Morgen an, oder ich irre entſetzlich, das „ wahre Weltleben Eleganter. Bin ich nicht wie „ in Verſailles und in Fontainebleau; und Louis „ quatorze regiert zuruͤck? Der Unterſchied iſt „ ſchwerlich erheblich. Dieſe Alleen — dieſe Beete „ — Buͤſche — dieſe vielen Leute am Morgen — „ dieſer lichte Tag! “— Walten war naͤmlich, der Himmel weiß von welchen Fruͤhblicken des Lebens, eine ſo romantiſche Anſicht von der Jugendzeit des44 galanten liberalen, Laͤnder, Weiber, Hoͤfe beſie¬ genden Ludwigs XIV. nachgeblieben, daß ihm deſſen Jugend mit ihren Feſten und Himmeln, wie eine eigene Vorjugend, ſchoͤn als ſanftes Feuer¬ werk in den Luͤften vorſchwebte, und wie der freie friſche Morgen eines im Negligé ſpazierenden Hofs — ſo daß ihn jeder Springbrunnen nach Marly warf, jede geſchniegelte Allee nach Verſailles, und hohe Fantanger Kupferſtiche an Schraͤnken-Waͤn¬ den ins damalige Koͤnigs-Schloß, ja ſogar die ausgeſchnittenen aufgepappten Bildchen auf ſei¬ nem Schreibtiſche flogen mit ihm in jene luſtige Hof -, wenn auch nicht luſtige Voͤlkerzeit. — „ Iſt „ nicht das Leben der Hofleute — hat er ſich mehr¬ „ mals geſagt — fortgehende Poeſie, (wenn an¬ „ ders die franzoͤſiſchen Mémoires nicht luͤgen,) oh¬ „ ne preſſende Nahrungs-Qualen und in gefluͤ¬ „ gelten Verhaͤltniſſen, und die Hofmaͤnner koͤnnen „ ſich an jedem Muſik-Abend verlieben und dann „ am Garten-Morgen mit den herrlichſten Ge¬ „ liebten ſpazieren gehen? O wie ihnen die Goͤt¬ „ tinnen bluͤhen muͤſſen im friſchen ſchminkenden „ Morgenroth! “
45Dadurch genoß er im Garten einen ganz an¬ dern ſchon beerdigten; als Feuerwerk hing das phantaſtiſche Nachbild uͤber dem liegenden Vorbild. Gluͤcklicher Weiſe that ihm Flitte — der in jeder Geſellſchaft ſtets eine neue ſuchte — den Gefallen, daß er mit dem Garten-Reſtaurateur in ein Ge¬ ſpraͤch gerieth und ihn dadurch mit der koͤſtlichen Einſamkeit zu einigen traͤumeriſchen Streifzuͤgen beſchenkte. Wie freudig that er dieſe! Er ſah al¬ les und dabei an — die gruͤnen Schatten, von Sonnen-Funken durchregnet — die fernen Seen, einige wie dunkle Augenlieder des Parks, einige wie lichte Augen — die Barken auf Waſſern — die Bruͤcken uͤber beide — die weiſſen hohen Tem¬ pel-Staffeln auf Hoͤhen — die fernen aber hell¬ herglaͤnzenden Pavillons — und hoch uͤber allen die Berge und Straſſen drauſen, die kuͤhn in den blauen Himmel hinauf flogen — Sein Vormittag hatte ſich ſtuͤndlich gelaͤutert, aus reinem Waſſer zur Zephyr-Luft, dieſe oben zu Aether, worin nichts mehr war und flog als Welten und Licht. Den Bruder haͤtt 'er gern hergewuͤnſcht — Wina's Blick unter dem Waſſerfall ſah er am hellen Tage. Er46 war ſelig ohne recht zu wiſſen wie oder warum. Seine Fackel brannte mit gerader Spitze auf in der ſonſt wehenden Welt und kein Luͤftchen bog ſie um. Nicht einmal einen Streckvers macht' er, aus Flucht des Sylbenzwangs, es war ihm, als wuͤrd 'er ſelber gedichtet, und er fuͤgte ſich leicht in den Rhythmus eines fremden entzuͤckten Dichters.
In dieſem innern Wolklang ſtand er, vor ei¬ nem ſonderbaren Garten im Garten und zog faſt nur Spiels-Weiſe an einem Gloͤckchen ein wenig. Er hatte kaum einigemale gelaͤutet: ſo kam ein reich beſetzter ſchwerer Hofdiener ohne Hut herbei¬ gerudert, um einigen von der fuͤrſtlichen Familie die Thuͤre aufzureiſſen, weil das Gloͤckchen den Zweck einer Bedientenglocke hatte. Als aber der vornehme Menſch nichts an der Thuͤre fand als den ſanften Notar: ſo filzte er den erſtaunten Gloͤckner in einer der laͤngſten Reden, die er je ge¬ halten, aus, als haͤtte Walt die Sturm - und Tuͤrkenglocke ohne Noth gezogen.
Dieſem war indeß ſein Inneres ſo leicht und feſt gewoͤlbt, daß das Aeuſſere ſchwer eindringen konnte, nicht mit einem Tropfen in ſein leichtes47 fliegendes Schiff; zu Flitten kehrte er ſogleich zu¬ ruͤck. Sie gingen heim. Die großen Eßglocken riefen die Stadt zuſammen, wie zwei Stunden ſpaͤter kleinere den Hof; dieß wirkte auf den ſatten Notar, der jetzt nicht zum Eſſen ging, ſehr ro¬ mantiſch. Gibt es einen wahren Mann nach der Uhr, der zugleich die Uhr ſelber iſt, ſo iſts der Magen. Je dunkler und zeitiger das Weſen, deſto mehr Zeit kennt es, wie Leiber, Fieber, Thiere, Kinder und Wahnſinnige beweiſen; nur ein Geiſt kann die Zeit vergeſſen, weil nur er ſie ſchafft. Wird nun dem gedachten Magen oder Manne nach der Uhr, ſeine Speiſe-Uhr um Stunden voraus oder zuruͤck geſtellt: ſo macht er wieder den Geiſt ſo irre, daß dieſer ganz romantiſch wird. Denn er mit allen ſeinen Himmels-Sternen muß doch der koͤrperlichen Umdrehung folgen. Das Fruͤh¬ ſtuͤck, das ein Spaͤtſtuͤck geweſen, warf den Notar aus einem Gleiſe, worin er ſeit Jahrzehenden ge¬ fahren war, ſo weit hinaus, daß vor ihm jeder Glockenſchlag, der Sonnenſtand, der ganze Nach¬ mittag ein fremdes ſeltſames Anſehen gewann. Vielleicht macht daher der Krieg den disziplinir¬48 ten Soldaten durch die Vorkehrung aller Zeiten in unordentlichen Ebben und Fluthen des Genuſ¬ ſes romantiſch und kriegeriſch.
Um die Veſperzeit erſchien ihm der Schatten¬ wurf der Haͤuſer noch wunderlicher und in Fraiſ¬ ſens Zimmer wurd 'ihnr die Zeit zugleich eng und lang', weil er wegen ſeiner untergrabenen Stern¬ warte nichts vorausſehen konnte. Er wollte wie¬ der Monde, und begleitete Flitten in ein Billard¬ zimmer, wo er verwundert hoͤrte, daß dieſer die Baͤlle nicht franzoͤſiſch zaͤhlte, ſondern deutſch. Hier entlief er bald aus dem magern Zuſchauen allein hinaus an das ſchoͤne Ufer des Fluſſes. Als er da die armen Leute erblickte, welche an dieſem Tage nach den Stadtgeſetzen fiſchen durf¬ ten (obwol ohne Hamen) und Holz leſen (obwol ohne Beil): ſo erhielt er ploͤtzlich an ihren heuti¬ gen Genuͤſſen eine Entſchaͤdigung der ſeinigen, die ihm allmaͤhlich zu vornehm und zu muͤßig¬ gaͤngeriſch vorgekommen waren: „ auch ich habe, „ dacht 'er, heute vornehm genug geſchwelgt und „ kein Wort am Roman geſchrieben; doch mor¬gen49„ gen ſoll ganz anders zu Hauſe geblieben wer¬ „ den. “
Die langen Abend-Schatten am Ufer und die langen rothen Wolken legten ſich ihm als neue große Schwingen an, welche ihn bewegten, nicht er ſie.
Er durchſtreifte allein die daͤmmernden Gaſ¬ ſen, bereit zu jedem Abentheuer, bis der Mond aufging, und ſeine Mond-Uhr wurde. Da war der Wirrwarr gelichtet, und der Magen wußte, welche Zeit es ſei. Vor Wina's ſchimmerndem Hauſe trug er das vielfach erregte Herz auf und ab; da ſank ihm in daſſelbe eine ſtille Sehnſucht wie vom Himmel nieder und den luſtigen Erden - Tag kraͤnzte die heiligſte Himmels-Stunde.
Glaͤubiger-Jagdſtuͤck.
Am Morgen freuete ſich Walt kindiſch in den vergangenen Tag zuruͤck, weil dieſer durch eine kleine Wendung ſein Leben ſo ſchillernd gegen dieFlegeljahre IV. Bd. 450Sonne gehalten, daß er eine Menge Tage an Einem verlebte, indeß ſonſt viele hintereinander fliegende ſich deckende Zeiten des Menſchen kaum eine zeigen. Heute aber blieb er zu Hauſe und ſchrieb ſehr.
Das war Flitten nicht recht; zu Hauſe blei¬ bende Einſamkeit war ihm wohl Wuͤrze und Zukoſt der Geſellſchaft, aber nicht dieſe ſelber. Indeß wer nicht nachahmt, wird eben nachgeahmt; Walt hatte ihm mit ſeinem poetiſchen Saus und Braus ſo ſehr gefallen — ob er ſich gleich als ſeine proſaiſche Sprech-Walze neben jenes dich¬ teriſcher Spiel-Welle drehte und ihn ſelten ver¬ ſtehen oder beantworten konnte — und deſſen un¬ gewoͤhnliches Anlieben und Anlegen hatte den umherfliegenden Menſchen ſo ſehr erwaͤrmt, daß er ſelber mit zu Hauſe blieb, blos bei ihm, ob er gleich beſſer als einer in der Welt vorausſah, welche Glaͤubiger-Moſkiten ihn heute ſtechen wuͤr¬ den, da Muͤcken bekanntlich uns mehr im Stehen als Gehen anfallen. Denn ein Grundgeſetz der Natur iſt dieß: wer nichts baut als ſpaniſche Schloͤſſer, rechne auf nichts als ſpaniſche Fliegen,51 welche ſo gewaltig ziehen. Ein zweites Geſetz iſt: man kann nicht fruͤh genug bei einem ſchlechten Schuldner vorſprechen, der eben Tags vorher Geld bekommen.
Es kam das gewoͤhnliche wuͤthende Heer, das er Elſaßer immer als ein geheiltes zuruͤck ſchicken mußte, zu rechter fruͤher Tageszeit an; und Flitte konnte es hier wie uͤberall in der beſonders dazu ge¬ waͤhlten Audienz-Kammer empfangen, um ſol¬ chem das einzige zu geben, was er hatte, Gehoͤr. Blos letzteres mußte wieder der Notar verſagen, der eifrig-taub fortdichtete, waͤhrend Flitte von weitem ſeine Schlachten ſchlug. Es lohnet der Muͤhe, die Feldzuͤge fluͤchtig zu erzaͤhlen, welche der Elſaßer an einem Tage that, bevor er Abends das warme Winterquartier des Betts bezog. Der linke Fluͤgel des taͤglich angreifenden Heeres war aus Juden geworben; und den rechten formirten Zimmer - und Pferde - und Buͤcher-Verleiher und ſaͤmmtliche Profeſſioniſten des menſchlichen Leibs und deren Fiſch-Weiber; und an der Spitze zog als Generaliſſimus ein Mann mit einer Trat¬ te; — die offiziellen Berichte davon ſind aber fol¬ gende:
52Am Fruͤh-Morgen im Nebel griff ein Quar¬ rée Juden an; leicht ſchlug er ſie mehr mit gro¬ bem Kriegsgeſchrei als feiner Kriegsliſt zuruͤck und ſagte nur: „ ſie waͤren nur Juden, und er habe noch nichts, und was ſie weiter wollten? “
Beim Fruͤhſtuͤck mit Walt berennte ihn ein Uhrmacher, von welchem er eine Repetier-Uhr gegen ſeine Zeige-Uhr und Geld-Aſſignate einge¬ kauft hatte. Flitte ſchwur, ſie repetire ſchlecht, ſeine ſei ihm eben ſo lieb — auch repetirt eine Zeige-Uhr wenigſtens das Zeigen — und bot Auswechslung der Gefangnen an. Da nun der Mann die ſtumme ſchon ſelber verkauft hatte — Flitte freilich auch die laute: — ſo zog ſich der Feind mit dem Verluſt einer Uhr zuruͤck.
Spaͤter ſah er zu ſeinem Gluͤcke aus dem Fenſter und die Bewegungen des berittenen Feindes, eines Pferde-Verleihers. Er empfing ihn in der Audienz-Kammer, bekannt mit deſſen einhauen¬ der Stimme und Kriegsgurgel; erſtickte aber deſ¬ ſen Feldgeſchrei durch die Dampfkugel, die er ſo warf: „ lieber Mann! kennt Er die Ecktanne in „ Kabels Wald, die eben mein Erbſtuͤck gewor¬53 „ den, ſammt vielem anderem des Kuͤnftigen zu „ geſchweigen — Eine Muͤhlwelle drechſelt ſich „ daraus her! — Was brauchts Redens! Kurz „ ich hatte ſie ſchon halb einem andern verſpro¬ „ chen; Er ſoll aber das Vorzugsrecht haben — „ ſchaͤtz 'Er ſie — dann geb' Er nach Abzug der „ Schuld heraus, was honett iſt — was ſagt „ Er, mein Freund? “— Sein Feind verſetzte, das ſei einmal ein Wort, das Hand und Fuß habe und raͤumte das Feld.
Hart hinter ihm trabte ein zweiter Pferde¬ lieferant ein, in langem, blauen, uͤber dem Schurz¬ fell aufklaffenden Ueberrock, und ſchob grimmig und gruͤſſend die Ledermuͤtze von hinten uͤber die halbe Stirne hinein: „ wie wirds, fragt 'er? „ Finten und Quinten ſchlagen heute nicht an bei „ mir. “— „ Gemach! verſetzte Flitte. Kennt „ Er die Ecktanne ꝛc. — Eine Muͤhlwelle drech¬ „ ſelt ꝛc. — kurz, ich hatte ſie ſchon ꝛc. “— Der Feind verſetzte: iſts aber Vexirerei: Gott ſoll — Gott befohlen!
Mit einer harthoͤrigen Altreißin turnierte er gefaͤhrlich, weil ihr Geſchrei nur mit einem ſol¬54 chen empfangen werden mußte, daß Walt es ver¬ nehmen konnte. Zum Gluͤck konnt 'er einen alten vergoldeten Schaupfennig — der ſchon 100 mal ſeine Belagerungsmuͤtze und ſein Heckthaler gewe¬ ſen — herausziehen und ihn hinhalten und blos ins Ohr ſchreien: „ wechſeln — Abends 6 Uhr! “ Doch feuerte ſie auf dem Schlachtfeld noch lange fort; weil ſie ſich nie verſchoß. Die weibliche Bellona iſt furchtbarer als der maͤnnliche Mars.
„ Nur hieher!” rief er; ein kurzſtaͤmmiger, rundbackiger, runder Apothekers-Junge kugelte ſich herein. „ Allhier uͤberbring ich als Diſzipel „ unſerer Hechtiſchen Offizin laut Rechnung die „ Rechnung fuͤr die arme Bitterlichinn in der „ Hopfegaſſe, weil ſich mein Herr Prinzipal be¬ „ ſtens empfiehlt und die Heilungskoſten dafuͤr zu „ haben erſucht. Es iſt nur von wegen unſrer „ Ordnung in der Offizin; denn uͤbermorgen wer¬ „ de ich bekanntlich zum Subjekt geſprochen. “ Vor dem ſanften Feinde ſtreckte er das Gewehr, eine halbe Piſtole (auf alten Piſtolenfuß), ſagte aber: „ H. Hecht laͤſſet ſich ſeine verſilberten Pil¬ len ſtark vergolden. Den Geburtshelfer — richt55 Ers aus — hab 'ich ſchon ſaldiret. “ Guter, gu¬ ter Mann! ſagte Walt. „ Die Frau war ja in den kuͤmmerlichſten Umſtaͤnden von der Welt und heute noch; und iſt nicht einmal huͤbſch dabei, “ſagt' er.
Ungeſehen war eben ein Heerbann eingeruͤckt, Einen Banner ſtark, der ſo anfing: „ Gehorſa¬ „ mer! — Ein fuͤr allemal, der Menſch laͤßt ſich „ in die Laͤnge nicht haͤnſeln. Seit Pauli Be¬ „ kehrung bin ich Sein Narr und laufe nach dem „ Bischen Miethzins. Herr, was denkt Er denn „ von Unſer-Einem? “— Weiß Er wol, ver¬ ſetzte Flitte, daß ich nur Meſſenweiſe zahle und „ uͤberhaupt mich gar nicht mahnen laſſe, Er? — „ So? erwiederte der Banner. Ich und noch drei „ Hausherren und der Stiefelwixer haben uns „ ſchon zuſammengeſchlagen und die Schuld dem „ Armen-Leute-Hauſe vermacht. “— „ Wahhas, „ ungehobeltes Pack, ſang Flitte dehnend? Das „ iſt mir ja recht lieb. Eben gab ich dem Hech¬ „ tiſchen Subjekt (der Herr da zeugts) ein halbes „ Goldſtuͤck fuͤr die blutfremde blutarme Bitter¬ „ lich; was geht ſie mich weiter an? “— Hier56 hielt er ihm den einen, mit einem Ringe zuge¬ ſchraubten vollen Beutelpol mit der Erklaͤrung vor, der Zins ſei hier fuͤr ihn ſchon bereitgezaͤhlt geweſen, jetzt bekomm 'er keinen Deut; — wor¬ auf der Feind nach vergeblichen Einlenkungen, das Armenhaus habe nichts Schriftliches, ohne alles klingende Spiel abzog, aͤußerſt verdruͤßlich, daß der Beutel, wie bei den Tuͤrken, das Geld ſelber bedeutet habe.
Dieſem folgte der 23te Herr, der Territorial¬ herrſchaft uͤber ihn ausgeuͤbt — dem 23ten ſuk¬ zedirte der 11te — dieſem der fuͤnfte, — jeder, um den Grundzins, die Quatemberſteuer, das Staͤttegeld fuͤr den Winkel ſeines Staatsgebaͤud¬ chens einzutreiben. Groben Herren gab er nichts als die Antwort, unter ihnen ſei in die Zimmer mehr der Wind als das Licht eingedrungen, die Aufwartung ſchlecht und die Moͤbeln alt geweſen. Hoͤfliche bezahlte er fuͤr ihre Territorialrechte mit Territorialmandaten auf die 10 Erb-Staͤmme, mit den Bonbons der Bons. Darauf kam der Herr, der vor dem Thuͤrmer regiert hatte, ein frommer Huter, mit zwei großen grauen Locken,57 welche aus dem knappen Lederkaͤppchen vorwalle¬ ten, und bat ihn um ein Darlehn, gerade die Haͤlf¬ te der Schuld. Flitte gab ihm das Geld und ſagte: „ ohnehin reſtire ich, entſinn 'ich mich recht, noch etwas, Herr Huter. “ „ Es wird ſich finden, “ſagt' er.
Nach dem Veſperbrod lief ein Buͤcherverlei¬ her Sturm und Gefahr. Er forderte fuͤr ein Buch à 12 gr. und 12 Bogen genau 2 Thlr. Le¬ ſegeld auf 2 Vierteljahre. Flitte hatte naͤmlich nach ſeiner Weiſe, keine Sache abzuborgen, die er nicht ihrer Beſtimmung gemaͤß wieder verborg¬ te, das Werk ſo lange umlaufen laſſen — denn jeder ahmte ihm nach — daß es verloren war. Umſonſt erbot er ſich zum Drittel, zum Kaufe; der Verleiher beſtand auf Leſegeld und fragte, ob viel mehr als ein Pfennig auf die Seite komme? Selber Walt ſuchte den Verleiher von ſeinem „ Eigennutzen “zu uͤberzeugen. „ Eigennuͤtzig? das verhoff 'ich eben; vom Eigennutzen lebt der Menſch, “ſagte der Verleiher. Flitte ließ ihn ganz kurz ab - und wild in die naͤchſte Gerichts¬ ſtube hineinlaufen, nachdem er blos zehn Neu¬58 jahrswuͤnſche und fuͤnf Kalender, die er zur Aus¬ wahl gehabt und behalten, großmuͤthig bezahlet hatte.
Kurz vor 6 Uhr wollte das Paar ein wenig in die Luft, von der Flitte am liebſten lebte; auf der Hausſchwelle bebte der Pinſelmacher Purzel — juͤngerer Bruder des Theaterſchneiders — ihnen entgegen mit einem ausgehoͤhlten Geſicht wie ein Hohlglas (Stirn - und Kinn-Raͤnder waren konvex) — das verſchabte Ueberroͤckchen auf die linke Sei¬ te hinuͤbergeknoͤpft — mit einem langen Faden¬ wurm von Zopf aus Zopfband — und wackelnd mit dem rechten Knie: „ Ihro gnaͤdigen Gnaden, „ fing das Jammerbildchen an, werden meinen „ Miniatur-Pinſel vorgeſtern herrlich und nett „ erhalten — Ich ſtehe davor, daß der Pinſel „ ganz vortrefflich einigermaſſen — und bitte denn „ um das Wenige, was er koſtet, und auch, „ daß Sie mir bei dieſer Gelegenheit etwas ſchen¬ „ ken. “— „ Hier! “ſagte Flitte zum ſtillen le¬ bendigen Friedensfeſt, ja ruhigen R. Friedens¬ protokoll, zu Purzel dem Juͤngern.
Abends machte den Waffentanz der Caffe59 tier Fraisse mit einem Großvatertanz aus. Er kam herauf, um hoͤflich anzumerken, es ſei ſeine herkoͤmmliche Weiſe, Gaͤſten aus der Stadt jeden Abend die Rechnung zur Einſicht vorzulegen, da¬ mit ſie ſolche ſaͤhen und ſaldirten. Walt ſah hier zum erſtenmale einen franzoͤſiſchen oder elſaſ¬ ſiſchen Zorn ohne Ohren; es war ein ſtuͤrzend¬ fortrollender Streit - und Sichelwagen, woran Fluͤche, Schwuͤre, Blicke, Haͤnde, auf - und niederſchlugen und zerſaͤbelten. Fraiſſen wurde das noͤthige Geld vor die Fuͤße, ja an den Kopf geworfen, dann eingepackt und fluchend fortgezo¬ gen in des verreiſeten D. Huts leeres Haus. Walt wehte durch ſeine niederblaſenden Friedenspredig¬ ten die Flammen nur hoͤher auf. Eine verlebte Stunde war fuͤr Flitte der einzige Epiktet.
Malerei — Wechſelbrief — Fehdebrief.
Licht und leicht flogen die Horen in D. Huts vielgehaͤuſigem Hauſe ein und aus und holten Honig. Hier, in dieſem ſonnenhellen Eiland der60 unſchuldigen Freude ſah Walt keinen hoͤflich-gro¬ ben Fraiſſe — hoͤrte keinen Geld-Werber und Geld-Jaͤger, der das durch Kontrakte eingezaͤun¬ te Wild puͤrſcht, keinen aus den fuͤnf (Moſis - Buͤcher -) Klaſſen der Glaͤubiger, die uns ewig an die Lebens-Darre und Doͤrrſucht erinnern — hier hoͤrt 'er nur Liederchen und Spruͤnge; hier waren ganze Sackgaͤßchen aus dem neuen Je¬ ruſalem. Denn was aus dem alten theils von Juden, theils von Chriſten einwanderte, konnt' er nicht hoͤren, weil Flitte ſich von ſeinen Arſe¬ nikkoͤnigen der Metalle, den Glaͤubigern, blos in einem fernen Schmollwinkel vergiften ließ. Im erſten Stockwerke wohnte die ſtreitende Kirche, Flitte und die Koͤnige; im dritten die triumphiren¬ de, Flitte und Walt.
Indeß brachte der Notar es doch nicht ſo weit, daß er gar nichts gemerkt haͤtte. „ Ich wollt ', ich waͤre kurzſichtiger, (ſagt' er ſich); bedenkt man, wie froh und freigebig der gute Menſch ſchon iſt in Drangſalen und wie ers vollends waͤre ohne die geringſten Qualen — denn wahrlich gewiſſe Menſchen haͤtten Tugend, wenn61 ſie Geld haͤtten —; und mit welcher Suͤßigkeit er vom Reichſeyn ſpricht: wahrhaftig, ſo wuͤßt 'ich keinen ſchoͤnern Tag als den, wo der arme Narr die hoͤchſten Geldkaͤſten und Geldſaͤcke ploͤtz¬ lich in ſeiner Stube ſtehen ſaͤhe. Wie koͤnnten ei¬ nem ſolchen Menſchen ſchon die Zinſen von den Zinſen der Zinſen der engliſchen Nazionalſchuld aufhelfen! “ Er fragte, warum, da alle Leiden Ferien finden, denn die eines deutſchen Schuldners nie abſetzen, indeß in England doch der Sonntag, ein Ruhetag des verſchuldeten Ohrs iſt, wie ſo gar um die Verdammten (nach der juͤdiſchen Religion) am Sabbath, am Feſte des Neumonds und un¬ ter dem woͤchentlichen Gebete der Juden die Hoͤlle erſtirbt und ein ſanfter kuͤhler Nachſommer des begrabnen Lebens uͤber die heißen Abgruͤnde weht.
Lieblich uͤberwallete ihm das Herz, wenn er ſich das Seelenfeſt ausfaͤrbte, womit er den Floͤ¬ tenſpieler durch den Elſaßer und dieſen durch je¬ nen zu beſchenken hoffte, wenn er Vulten die un¬ ſchuldige liberale poetiſche Lebensfreiheit Flittens beſchwuͤre und dieſem einen Spiel - und Edelmann zugleich zufuͤhrte: „ o ich will dabei dem wackern62 Bruder das Bewußtſein und Geſtaͤndnis, geirrt zu haben, ſo ſanft erſparen! “ſagt 'er entzuͤckt.
Immer waͤrmer lebten beide ſich in die Wo¬ che und in einander hinein, ſie haͤtten die Probe¬ woche lieber wiederholt als geendigt. Flitten war das liebende, warme Weſen, womit Walt wie mit einer elektriſchen Atmosphaͤre umgeben war, etwas neues und anziehendes; er konnte zuletzt ſchwer mehr ohne ihn aus dem Hauſe.
Walt machte daraus deſto mehr, je weniger beide eigentlich, wie er fuͤhlte, einander unterhal¬ ten konnten; ihre Nervengewebe hatten ſich zer¬ ſtrickt, ſie waren wie Polypen in einander geſteckt; doch fraß jeder ſo auf eigne Rechnung, daß keiner weder der Magen, noch die Nahrung des andern war.
Es kam der letzte Probe - und Flitterwochen¬ tag. Walt ſcheuete alles letzte, jedes ſcharfe Ende, ſogar einer Klage. Ein Ripieniſt von Vults Spiele in Roſenhof hatte deſſen Eintreffen ver¬ kuͤndigt. Auch der D. Hut wollte Nachts an¬ langen. Einige ſchoͤne Mitternachtsroͤthe ſtand ihm bevor. Flitte bat ihn, dieſen letzten Nach¬63 mittag, wo ſie beiſammen waͤren, ihn zu Ra¬ phaelen zu begleiten, welche ihm heute fluͤchtig ſitze zu einem ſchlechten Miniatur-Portrait fuͤr den Geburtstag ihrer Mutter: „ wir 3 ſind ſuͤ¬ „ perbe allein, fuͤgt 'er hinzu. Wenn ich nun „ male, parlir' ich wenig; und doch animirt „ Reden ein Geſicht unglaublich.” Ob Walt gleich wenig delikate Welt darin fand, daß man ihn als Sprach - und Reitz-Maſchine vor ein Sitzgeſicht aufzuſtellen trachtete: ſo folgte er doch. Er wars ſchon gewohnt ſeit einer Woche, einige male des Tags zu erſtaunen uͤber Mangel an zaͤrteſter Denkart, ſowohl auf dem Markte als in den beſten Haͤuſern, welche aͤuſſerlich einen glaͤn¬ zenden Anſtrich und Anwurf hatten.
Mit Vergnuͤgen kam er in dem eigenen Hau¬ ſe wie in einem fremden an. Raphaela laͤchelte beiden von der oberſten Treppe herab und fuͤhrte ſie haſtig in ihr Schreibzimmer hinein. Hier wa¬ ren ſchon widerſprechende Weine, Eiſe und Ku¬ chen gehaͤuft. Da eine Frau leichter das Herz als den Magen eines Mannes erraͤth: ſo weiß ſie freilich nicht, was er Abends um 4 Uhr am64 liebſten trinkt. Ein Bedienter nach dem andern ſah durch die Thuͤre, um einen von Raphaelens Wuͤnſchen zu holen und erfuͤllt zuruͤck zu bringen. Die ganze Dienerſchaft ſchien ihre Regierung fuͤr eine goldne von Saturn zu halten; man ſah ei¬ nige von der weiblichen ſogar im Park ſpazieren gehen. Die immer voller ins Zimmer hineinſtroͤ¬ mende Abendſonne und der Freudenglanz, der je¬ dem Geſichte ſteht, bewarfen das Maͤdchen und die Situazion mit anſehnlichen Reitzen. Flitte war gegen Raphaela nicht die Falſchheit ſelber, ſondern ein Fuͤnftelſaft von Weſen — naͤmlich ein Fuͤnftel galant, ein Fuͤnftel gut, eines ſinnlich, eines Geldſuͤchtig, ein Fuͤnftel ich weiß nicht was als ſie zu Walts Entzuͤcken geſagt hat¬ te: „ Schmeicheln ſollen Sie meinem Geſichte nicht, es hilft nichts; machen Sie es nur, daß ma chère mère es wieder erkennt. “— Im Notar kroch heimlich die ſtille Freude herum, daß er jetzt gerade unter ſeinem eignen Zimmer ſtehe, im Hauſe zugleich Gaſt und Miethsmann, daß er ferner nicht die kleinſte Verlegenheit ſpuͤre — denn Flitte war ihm nicht fremd und uͤber Eine Frauwar65war ſchon zu regieren — und daß die ſchoͤnſten Duͤfte und namenloſeſten Moͤbeln jede Ecke ſchmuͤckten: „ haͤtt ich aber dieß ſonſt als Bauern¬ ſohn aus Elterlein denken ſollen? “dacht 'er.
Flitte zog nun das Elfenbein und das Far¬ benkaͤſtchen hervor und erklaͤrte dem Modelle, je freier und belebter es ſitze, deſto beſſer gluͤck 'es dem Maler. Indeß haͤtte ſie eben ſo gut auf dem Nordpol ſitzen koͤnnen, er aber auf dem Suͤdpol kleben: die Aehnlichkeit waͤr' ihm nicht anders gelungen; er, uͤberhaupt kein maleriſcher Treffer, wollte nichts treffen als das, was ſie anhatte. Sie ſetzte ſich hin und verfertigte das Sitz-Geſicht, das die Maͤdchen unter dem Malen ſchneiden. Die noble masque, womit ſich alsdann der Menſch uͤberſtuͤlpen will, iſt das Kaͤlteſte, wozu er je ſein Geſicht aushauet, ſo daß ſeltner Menſchen als ihre Buͤſten portraitirt werden. Dieſes Geſicht heißet in weiblichen Penſions-Anſtalten das Sitz - Geſicht der Maͤdchen; — dann kommt das ge¬ ſpannte Friſiergeſicht — dann das eſſende Butter¬ brod-Geſicht, eines der breiteſten — endlich zwei Ballgeſichter, das eine, die Wetterſeite, fuͤr dieFlegeljahre IV. Bd. 566Putzjungfer, das andere, die Sonnenſeite, fuͤr den Taͤnzer. Walt kam jetzt in Gang und ins Feuer, und zwar, um ſelber zu malen, nicht um andere malen zu helfen. Er kelterte — vortreflich genug — Auszuͤge aus ſeiner neueſten Reiſe um die Welt und miſchte beiher ein, daß er ihre Freundin, Wina, unter der Katarakte geſehen. Unter allen Erzaͤhlern und Unterhaltern ſind Rei¬ ſebeſchreiber die gluͤcklichſten und reichſten; in eine Reiſe um $$\frac{1}{1000000}$$ der Welt koͤnnen ſie die ganze Welt bringen und niemand kann ihnen (zweitens) widerſprechen. Der Notar wollte ſich ſeiner maleriſchen Staͤrke in Sommer - und Herbſt - Landſchaften — Flitte lieferte die Winter-Land¬ ſchaft — noch ſtaͤrker bedienen und ſetzte zu einem wandbreiten goldnen Bergſtuͤcke der Roſenhoͤfer Berghoͤrner an; — aber Raphaela war ganz ent¬ zuͤckt davon und brachte die Rede bald auf ihre Freundin Wina, um ſolche allein fortzuſpinnen. Sie erhob deren Reize und Handlungen mit Feuer — ſie zeigte ein Mahagony-Kaͤſtchen, worin de¬ ren Briefe lagen — ſie wies die ſogenannte Wi¬ nens-Ecke im Winkel, wo dieſe gewoͤhnlich ſaß67 und zwiſchen der Park-Allee der untergehenden Sonne nachſah — ſie g[l]aͤnzte ganz liebend und warm. — Der Notarius war ziemlich ſchwach bei ſich; nach ſeinen ſtillen Augen zu urtheilen, jubelte er laut, feierte er Bacchanalien, trieb artes semper gaudendi, lieferte Luſttreffen, ſprach ſich ſelber die Seligſprechung — ja er ging ſo weit, daß er ſich zufaͤllig hinein ſetzte in Wi¬ na's Ecke —
Der Jubel wuchs ganz. Man trank fort — in jeder halben Viertelſtunde machte ein Diener die Thuͤre auf, um einem zweiten ſpaͤtern Befehle wegzufangen. Flitte wußte gar nicht, wie er auf einmal zu der Gluͤckſeligkeit gelangte, daß man ſo viel ſprach ohne alles Langweilen zum Henker, und daß Raphaela ſich ſo herrlich enthuſiaſmirte. Zufaͤllig ruͤckte Walt den Fenſter-Vorhang und eine Sonne voll warmer Tinten uͤbergoß Raphae¬ lens Geſicht, daß ſie es wegkehrte; auf ſprang Flitte, wies ihr ihr Sbozzo, fragte, ob es nicht halb aus den ſchoͤnen Augen geſtohlen ſei. „ Halb? Ganz! “ſagte Walt aufrichtig, aber einfaͤltig; denn ſie haͤtte demſelben Bildchen eben68 ſo gut mit dem Hinter-Kopfe und Stahlkamm geſeſſen. Der Elſaßer gab ihr darauf einige Kuͤſſe oͤffentlich. Er thats vermuthlich zu abrupt, dach¬ te zu wenig daran, daß auch erblickte Empfin¬ dungen — ſo gut als geleſene — vor dem Zu¬ ſchauer wollen motivirt ſeyn; Walt ſah eiligſt in den Park und ſtand endlich gar auf.
„ Ich waͤre ja ein Satanas, dacht 'er, ließ' ich ſie nicht einander abherzen “und ſchlich unter einem landſchaftsmaleriſchen Vorwand ein wenig auf ſein Zimmer. Flitte machte ſich, ſo bald er die Thuͤre zugedruͤckt, vom ſchoͤnen Munde wie¬ der ans Malen deſſelben und punktirte fleißig. „ Wie muͤſſen jetzt die Seligen, ſagte oben Walt, „ einander an den Herzen halten, und die Abend¬ „ ſonne gluͤht praͤchtig dazwiſchen hinein! “— In ſeine eigne Stube quoll das Fuͤllhorn der Abend¬ roſen noch reicher und weiter aus; dennoch ſtan¬ den ſeine verſchliſſenen Zimmer-Pieces (die Wohn - und die Schlaf-Kammer) im Abſtich von der eben verlaſſenen Putz-Stube und er maß die Kluft ſeines aͤuſſerlichen Gluͤcks. Er wurde weich, und wollte aus Sehnſucht, die Liebe wenigſtens zu69 ſehen, eben eilig hinunter, als Vult hereintrat. Ans Herz, ins Herz flog ihm Walt: „ ach ſo himmliſch, ſagt 'er, daß du jetzt eben kommſt! “
Vult mit ſanfter Stimmung zuruͤckkehrend, that zuerſt (nach ſeiner Gewohnheit) die Fragen nach fremder Geſchichte, eh 'er die nach eigner auf¬ loͤßte. Walt theilte frei und froh den Ablauf des Notariats-Amtes und den Verluſt der 70 Staͤm¬ me mit. „ Schlimm iſts nur, ſagte Vult gelaſ¬ „ ſen, daß ich gerade ſelber verſchwende und Geld „ verachte; ſonſt wuͤrd' ich dir aus Vernunft, „ Gewiſſen, Geſchichte zeigen, wie ſehr und wie „ recht ich meine Ebenbildnerei an andern, z. B. „ an dir verfluche. Verachtung des Geldes macht „ weit mehrere und beſſere Menſchen ungluͤcklich, „ als deſſen Ueberſchaͤtzung; daher der Menſch oft „ pro prodigo, nie pro avaro erklaͤrt wird. “— „ Lieber ein volles Herz als einen vollen Beutel! “ſagte luſtig Walt, und ſprach ſogleich von der neuen Erbamts-Wahl, und von der ſchoͤnen Flitte's-Woche, und vom Lobe des Elſaßers: „ wie oft, beſchloß er, wuͤnſcht ich dich her in „ unſere heimlichen gefluͤgelten Feſte hinein; auch70 „ damit du ihn weniger hart richten lernteſt; denn „ dieß thuſt du, Lieber! “
„ Flitte ſcheint dir erhaben? ein Seelenklaſ¬ „ ſiker oder ſo? Und ſeine Luſtigkeit poetiſches Se¬ „ gel - und Flugwerk? fragte Vult. Ich habe „ in der That, verſetzte Walt, recht gut ſeinen „ ſchoͤnen Temperaments-Leichtſinn, der nur Ge¬ „ genwart abweidet, von dem dichteriſchen leich¬ „ ten Schweben uͤber jeder unterſchieden; er freue¬ „ te ſich nie lange nach. “—
— „ Hat er dich in deiner Probe-Woche, „ die du dir ſelber ſehr gut ohne allen fremden „ Rath gewaͤhlt, keine bedenklichen Spruͤnge ma¬ „ chen laſſen, die etwa Baͤume koſten? “ſagte Vult. „ Nein, verſetzte Walt, aber franzoͤſiſche Fehltritte hat er mir abgewoͤhnt. “ Hier fuhr Notarius fort und bediente ſich der fragenden Fi¬ gur, ob Flitte ihm nicht das Feinſte entdecket ha¬ be, z. B. daß man nie oder ſelten comment fra¬ gen muͤſſe, ſondern hoͤflicher Monsieur oder auch Madame? Hab 'Ers nicht geruͤgt, fragte Walt, als er ſo ganz unfranzoͤſiſch bon appetit wuͤnſch¬ te, oder eine Kammerfrau, femme de chambre71 zur Kammerjungfer machte, oder einen Friseur nicht coeffeur hieß? Hab' Er ihm nicht gut er¬ klaͤrt, warum porte-chaise dumm ſei, weil man die Wahl habe zwiſchen einer chaise à porteur und porteurs de chaise?
„ Ich glaube nicht, ſagte Vult, daß dich „ dieſe Sprachſtunden mehr koſten als den Reſt „ des Kabel-Walds. ” — „ Ein Hund woll 'Er „ heiſſen, ſagte Walt, ſchwur mir Flitte, benuͤtz' „ Ers. In der Rechtſchreibung aber dient 'ich „ Ihm, z. B. jabot ſchrieb er chapeau. Ach, „ bekaͤme der Arme nur weniger Glaͤubiger und „ mehr Geld!” „ Das wird eben deine Klippe „ auf ihm, ſagte Vult. Wer arm wird — nicht „ wers iſt, — verdirbt und verderbt, und waͤr's „ nur, weil er jeden Tag einen andern Glaͤubiger „ oder denſelben anders zu beluͤgen hat, um nur „ zu beſtehen. So feiert er jeden Tag ein Feſt der „ Beſchneidung fremder Narren. So muß auch „ jeder Schuldner ungemeſſen prahlen; er muß „ mit Leibnitzens Dyadik die 8 (z. B. Gulden) „ mit 1000 ſchreiben. Welche Reden — jeden „ Tag eine andere — hab' ich oft denſelben Schuld¬72 „ mann an ſeinen Fauſt - und Pfand-Glaͤubiger „ halten hoͤren und ſeine herrliche Unerſchoͤpflich¬ „ keit Dichtern und Muſikanten gewuͤnſcht, womit „ er daſſelbe Thema — daß er naͤmlich eben nichts „ habe — ſo koͤſtlich und ſuͤß immer mit Varia¬ „ zionen vorzuſpielen verſtanden! “— „ Ich laſſe dich erſt ausreden, “ſagte Walt.
„ So beſchoß z. B., um es kurz zu machen „ — fuhr Vult fort — der polniſche Fuͤrſt *** in „ W. jeden Glaͤubiger anders; denn ich ſtand da¬ „ bei, gemeines tiefes Volk beſchoß er theils mit „ dem dragon, der 40 Pfund ſchießt, theils mit „ dem dragon volant, der 32 — naͤmlich er war „ grob gegen das Grobe — Honorazioren, beſon¬ „ ders Advokaten, denen er ſchuldete, griff er „ theils mit der Coulevrine, die 20 Pf. ſchießt, „ theils mit der demi-coulevrine an, die 10 — „ hoͤher hinauf gebraucht 'er den Pelican, der 6 „ — den sacre von 5 — den sacert von 4 — „ und gegen ſeines Gleichen einen Fuͤrſten, den „ ribadequin, der 1 Pf. ſchießt. “
„ Nun, begann Walt, darf ich dir doch mit eini¬ „ ger Zufriedenheit berichten, daß der gute Menſch,73 „ weit entfernt hartherzig zu ſeyn, eben durch „ Arme ſelber ein Armer wird. Aus lauter guter „ Freude uͤber ihn, bezahlt 'ich hinter ſeinem „ Ruͤcken zwei Damenſchneiderinnen; denn er ſel¬ „ ber braucht doch nur einen Herrenſchneider, und „ zwar Einen; ſo aber uͤberall; z. B. die Bit¬ „ terlich.”
Da entbrannte der Bruder — ſagte, dieß ſei vollends der Satan, im Dezember Haͤuſer anzu¬ zuͤnden, um einige Braͤnde an Hausarme auszu¬ theilen — niemand verſchenke mehr, als Perſonen, die man ſpaͤter henke — nichts ſei weicher als Schlamm, der verſenke — Tyrannen, ſolche Thraͤ¬ nen-Raͤuber, ſaͤngen und klaͤngen wie Seraphim, aber mit Recht, da Seraphim feurige Schlangen bedeuteten — und haß 'er etwas, ſo ſei es dieſe Miſchung von Stehlen und Schenken, von Mau¬ ſen und Mauſſern — —
„ O Gott, Vult! — ſagte Walt — kann „ der Sterbliche ſo hart richten? — Soll denn „ ein Menſch ſich gar nicht ein wenig liebhaben „ und etwas fuͤr ſich thun, da er doch den gan¬ „ zen Tag bei ſich ſelber wohnt und ſich immer74 „ hoͤrt und denkt, was ihn ja ſchon mit den nie¬ „ drigſten Menſchen und Thieren zuletzt verſoͤhnt, „ naͤmlich das Beiſammenſeyn? Wer nimmt ſich „ dann eines armen Ichs von Ewigkeit zu „ Ewigkeit ſo ſehr an als dieſes Ich ſelber? „ — Ich weiß recht gut, was ich ſage; „ und jeden Einwurf. Doch basta! — Nur „ moͤcht 'ich wiſſen, wenn man wie du, ſchon „ kalt und ohne Leidenſchaft die armen Menſchen „ ſo rauh richtet und nimmt: was dann werden „ ſoll in heftiger Hitze, wo man von ſelber uͤber¬ „ treibt? Vielleicht wie mit deiner Uhr, wovon „ du mir ſagteſt, daß der Stift, blos weil er „ eben und recht paſſe, in kalter Zeit gut thue, „ aber in der Hitze, weil er ſich ausdehne, das „ Werk aufhalte. “
„ Sollteſt du nicht getrunken haben? — ſag¬ „ te Vult. Du ſprichſt heute ſo viel; aber in der „ That ſehr gut. “
Nun bat ihn Walt, ſelber mit zu trinken, und mit ihm hinab zu gehen, um ſich drunten mit eignen Ohren von ſeinem ſchoͤnen Leben mit Flitte zu uͤberreden. „ Der Tollheit wegen, thu75 ichs, verſetzt 'er, ob ich gleich weiß, daß ich beiden buͤrgerlichen Narren einen Eitelkeits-Jubel uͤber die Herablaſſung eines adelichen bereite; du aber mußt mich mit einer Feinheit zu entſchuldi¬ gen wiſſen, die kaum zu ſchaͤtzen iſt. “
„ H. v. Harniſch — fuͤhrte drunten Walt ihn ein — fand mich in meinem Zimmer: wie ſollt 'ich, Demoiſelle, nun mein Vergnuͤgen ſchoͤ¬ ner theilen, als daß ichs mit Ihm und mit Ih¬ nen zugleich theilte. “ Er warf dieß ſo leicht hin und bewegte ſich ſo leicht auf und ab — auf den theils von Flitte bisher polirten Raͤdern, theils auf den vom Wein eingeoͤlten — daß Vult ihn heimlich auslachte und ſich dabei aͤrgerte; er ver¬ glich ſtill den Bruder mit Minervens Vogel, mit einer Eule, der der Vogelſteller gewoͤhnlich noch einen Fuchsſchwanz anheftet. Das erſtemal, da ein Menſch, den wir vorher als unbeholfen gekannt, uns beholfen und gewandt voruͤbertanzt, will er unſrer Eitelkeit durch einen Schein der ſeinigen nicht ſonderlich gefallen.
Vult war ſehr artig — ſprach uͤber Malen und Sitzen — lobte Flitte's Miniatur-Punktir¬76 kunſt als ziemlich aͤhnlich, ob die Farben-Punkte gleich ſo wenig als rother und weiſſer Frieſel ein Geſicht darſtellten — und lockte dadurch den Bru¬ der, der aufrichtiger lebte, in den Ausbruch der ſchelmiſchen Zartheit hinein: „ Raphaela iſt ja nicht weit von Raphael. “
Als jene indeß nach ihrem Trauerreglement der Luſt, ſich ihr Freudenoͤl in Thraͤnentoͤpfen zu kochen, auf des Floͤtenſpielers Muſik, dann ſchnell auf die Blindheit und deren ſchoͤnen Eindruck auf andere verfiel, und ſich nach ſeinem Augen-Stand erkundigte: unterbrach Vult ſie kurz: „ das war nur ein Scherz fuͤr mich und iſt voruͤber ...... H. Notar, wie koͤnnen wir beide ſo muͤßig daſte¬ hen und reden, ohne zu Malen zu helfen? “— „ H. von Harniſch? “fragte Walt, ohne com¬ ment zu ſagen. „ Kann denn nicht einer von uns, Freund, vorleſen, verſetzte Vult, — iſt nichts dazu da? — und ich dazu die Begleitung blaſen? — Wie oft ſah ich auf meinen Reiſen, daß Perſonen, welche ſaßen, ſich hoben und ent¬ falteten, weil nichts die Phyſiognomie, welche der Maler auffangen will, in ein ſo ſchoͤnes Leben77 ſetzt, als eine mit Muſik begleitete Vorleſung von etwas, das gerade anpaßt! “—
Raphaela ſagte, ſie nehme freilich ein Dop¬ pelgeſchenk von Muſik und Deklamazion dankend an. Vult faßte einen nahen Muſenalmanach, — blaͤtterte — ſagte, er muͤſſe klagen, daß in allen Muſenkalendern leider der Ernſt zu hart mit dem Spaß rangiere, wie in J. P.. s Werken, wolle aber Hoffnung geben, daß er vielleicht durch Toͤne zu dieſen Mißtoͤnen Leittoͤne herbeiſchaffe — und reichte Walten eine Elegie, mit der Bitte, ſie vor¬ zuleſen und darauf unbekuͤmmert die ſatiriſche Epiſtel und dann das Trinklied.
Da dieſer erfreuet war, daß er ſeinem Feuer eine Sprache, obwohl eine nachſprechende, geben durfte: ſo verlas er ſo, heiß, laut, und taub das ſehr ruͤhrende Gedicht, daß er gar anfangs nicht vernahm, mit welchen naͤrriſchen $$\frac{6}{8}$$ Tak¬ ten, Ballet-Paſſaden, ſogar mit einem Wach¬ telruf ihn der Bruder floͤtend ſekundirte. Erſt als er die ſatiriſche Epiſtel vorlas, hoͤrte er in der Kaͤlte einigen Wider-Ton, daß naͤmlich Vult dem Witze mit Lagrimosi's Paſſagen und eini¬78 gen Sylben aus Haydn's 7 Worten zur Seite ging; er nahm ſie aber fuͤr Ueberreſte voriger Ruͤh¬ rung. Dem Trinkliede nachher ſetzte Vult meh¬ rere Languido's-Halte, gleichſam ſchwarz und weiſſe Trauerſchneppen an. Der Widerſtreit pre߬ te den Zuhoͤrern einen gelinden Angſtſchweiß aus, der eben, wie Vult feſt behauptete, ein Geſicht, das ſitze, beſeele.
Aber ploͤtzlich trat ein ganz anderer Miß - und Dur-Ton, der vier Fuß lang war, hoͤflich mit dem Hut in der Hand ins Zimmer. Es kam naͤmlich der Reiſediener des Kauf-Herrns in Mar¬ ſeille, bei welchem Flitte lange geweſen, und praͤſentirte ihm einen faͤlligen Wechſel, den er auf ſich ausgeſtellt.
Flitte verlor die Farben, die er Raphaelen geliehen, und verſtummte ein wenig, und wurde wieder reich an rother. Endlich fragte er den Reiſediener: „ warum er ſo ſpaͤt am Verfalltage komme? Jetzt hab 'er eben nichts.” Der Diener laͤchelte und ſagte, er habe ihn vergeblich geſucht zu ſeinem Verdruße, denn er muͤſſe jede Minute fort, ſo bald er die Valuta habe. Flitte zog ihn79 aus dem Zimmer auf Ein Wort; aber faſt noch unter dem Worte trat der Fremde wieder mit ge¬ zuckten Achſeln ein und ſagte: „ entweder — oder —; in Haßlau gilt das ſaͤchſiſche Wechſelrecht. “ Lieber fuhr Flitte in die Hoͤlle, welche wenigſtens geſellig iſt, als in die Einſiedelei des Kerkers; dennoch lief er ohne eine ſanfte Miene auf und ab und murmelte fluchende Angriffe; endlich ſagt' er franzoͤſiſch Raphaelen etwas ins Ohr. Dieſe bat den Reiſediener ſo lange um Geduld, bis eine Antwort auf ein Blaͤttchen von ihr zuruͤck ſei; es war eine Bitte an ihren Vater um Geld oder Buͤrgſchaft.
Flitte ſetzte ſich wieder zum Malen mit jener Folie des Stolzes nieder, wovon der Diener ei¬ gentlich den Juwel beſaß. Walt jammerte leiſe und flatterte ſo aͤngſtlich um den Bauer, als Flitte in demſelben und folgte jedem Umherſchieſ¬ ſen des eingekerkerten Vogels auſſen am Gitter nach. Vult beobachtete ſcharf den gewandten Diener: „ ſollt 'ich Sie nicht, ſagt' er, in der Gegend von Spolletto ſchon geſehen haben, wo¬ von die alten Roͤmer, wie bekannt, die Opfer -80 Thiere hergeholt wegen der weißen Farbe? “— Ich war nie da und reiſe blos noͤrdlich (ſagt 'er), „ mein Name klingt zwar italieniſch, aber nur meine Großeltern warens. “ „ Er heißet Mr. Pa¬ radisi, “ſagte Flitte.
Endlich kam Neupeters Antwort, Flitte ſah keck mit Raphaela ins aufgehende Blatt: „ ich glaube, du biſt betrunken. Dein Vater P. N. “
Mit großem Schmerzen blickte ſie ſinnend auf die Erde. Der Elſaßer war von oben und von unten geraͤdert zu einem organiſchen Knaͤul, und ſann, wiewohl ins Blaue hinein. Paradiſi trat hoͤflich vor Raphaela, und bat um Verge¬ bnug, daß er ſie und die Geſellſchaft in der ſchoͤ¬ nen Stunde des Malens unterbrochen habe; „ aber, beſchloß er, H. Flitte iſt in der That ein wenig mit Schuld. “— „ O sacre! ſagte er, was bin ich? “— „ Sie kommen, fragte Raphaela, aus Norden wieder hiedurch? und wann? “— In 6 Monaten, aus Petersburg, ſagte der Reiſediener. Darauf blickte ſie ihn, dann den Notar mit feucht-bittenden Augen an. „ O, „ H. Paradiſi! (fuhr dieſer heraus) ich will ein„ Wort81„ Wort mit wagen — ein Kriegszahlmeiſter, den „ H. Flitte im R. Anzeiger auffodert, muß ihn „ dann gewiß bezahlt haben — “— „ Laſſen Sie „ denn keine Buͤrgſchaft bis zu Ihrer Ruͤckkehr „ zu, edler Signore? fragte Raphaela. „ Herr Harniſch!” ſprach ſie und zog ihn in ihr Schlaf¬ zimmer. „ Nur auf Ein Wort, H. Notar! “ſagte Vult. „ Gleich! “verſetzte Walt und folg¬ te Raphaelen.
„ Ach guter Harniſch, fing ſie leiſe an, ich „ bitte Sie mit Thraͤnen — ich weiß, Sie ſind „ ein edler Menſch und lieben den armen Flitte ſo „ aufrichtig — denn ich weiß es von ihm ſelber — „ Und er verdients, er geht Freunden durchs „ Feuer — Mit dieſen meinen Thraͤnen .... “ Aber eine nahe laute Trommelſchule von Kriegs - Anfaͤngern, ein taub-ſtumm-machendes Inſti¬ tut, zwang ſie unwillig inne zu halten. Er blick¬ te ihr unter der Laͤrmtrommel in die großen run¬ den Regen-Augen und nahm ihre weiße Wachs - Hand, um etwan durch beides ihre Bitte zu er¬ rathen. „ Mit Wonne thu 'ich alles — rief er im wohlduftenden Kabinette voll Abendſonnen,Flegeljahre IV. Bd. 682und rother Fenſtervorhaͤnge, voll Amor und Pſy¬ chen, und vergoldeter Standuhren mit heruͤber gelegten Genien, — weiß ich nur was. “
„ Ihre Buͤrgſchaft fuͤr H. Flitter., (fing ſie an) ſonſt muß er heute noch ins Gefaͤngniß; — hier in Haßlau, ich betheure Ihnen, borgt und buͤrgt fuͤr ihn kein Menſch, ſelber mein lieber Va¬ ter nicht. — O waͤre meine Wina da; — oder haͤtt 'ich mein Nadelgeld noch .... —
Sie ſchlug ihren weiſſen Bettvorhang auf die Seite und wieß ihn oben auf die kurze Furche des blendenden Deckbettes mit den Worten: „ da liegt er ſtets am Morgen, der holdſelige Wurm, den ich ernaͤhre, ein Soldatenkind — aber ich buͤrg 'Ihnen fuͤr alles. “— „ H. Notarius Har¬ niſch, rief Vult aus dem Malerzimmer, Sie ſind hier noͤthig! “—
„ Ich bin in der That ſelig (ſagte Walt und faltete die gehobnen Haͤnde) — Auch jene theuren Spielwaaren dort auf dem Tiſch, ſchafften Sie fuͤr Kinder an? “— „ Ach ich wollte lieber, ich haͤtte das Geld noch, “ſagte Raphaela. — „ Mit welcher Geſinnung ich H. Paradiſi'n Buͤrgſchaft83 leiſte, — denn ich leiſte ſie — brauch ich wahrlich Ihnen in ſolchem Zimmer nicht auszuſprechen; glauben Sie mir! “ſagt 'er. Sie ſtuͤrzte aus ei¬ ner von ihr halb angeſetzten Umarmung zuruͤck, druͤckte die Hand und fuͤhrte ihn daran heiter in die Geſellſchaft zuruͤck, der ſie alles meldete. Der Reiſediener dankte dem Maͤdchen lange und ver¬ bindlich, kam aber mit einer fein gekleideten Fra¬ ge uͤber des Buͤrgen Ruͤckbuͤrgſchaft zum Vor¬ ſchein. Sie ſchrieb haſtig eine Bitte an ihren Vater, den der Diener laͤngſt fuͤr ſolid gekannt, damit er dieſen uͤber Walts kuͤnftige Reichthuͤmer belehre und bewaͤhre. Paradiſi ging handkuͤſſend damit ab und verſprach wieder zu kommen.
Vult bat freundlich den Notar um einen Au¬ genblick auf ſeinem Zimmer. Auf der Treppe da¬ hin ſagte er: „ Himmel, Hoͤlle! Raſeſt du? — „ Oeffne nur hurtig! — Eile, fleh 'ich! — O Walt, „ was haſt du heute gemacht im Schlafzimmer! „ — Dreh' nicht — es iſt Brod im Schluͤſſel — „ Klopf ihn aus — Iſt denn der Menſch ewig ein „ Hund, der zu paſſen hat? — Was haſt du „ darin gemacht! — Wieder ein Ebenbild84 „ von dir; — wenn nun Feuer waͤre! — Aber „ ſo biſt du uͤberall ... Ein Ebenbild waͤre mir „ daraus wahrlich lieber entgegengehuͤpft als du „ ſelber — Gottlob! “ Die Stube war offen. Walt begann: ich erſtaune ganz. — „ Du merkſt „ alſo nicht, ſagte Vult, daß alles ein vom Sa¬ „ tan gedrehter Fallſtrick iſt, womit ſie dich H. „ Buͤrgen wuͤrgen, und in den Fußblock ſchnuͤ¬ „ ren, damit du dich ihnen der dummen Teſta¬ „ mentsklauſel*)In der neunten ſteht ausdruͤcklich: „ Tagreiſen und Sitzen im Kerker koͤnnen nicht zur Erwerbzeit der Erbſchaft geſchlagen werden. “ſo lange verzinſeſt als du ſitzeſt? “ „ Ich fuͤrchte nichts, “ſagte Walt. „ Du hoffeſt wohl, verſetzte Vult, der alte Kaufmann werde dir den Kredit ſchon abſchneiden, daß man deine Buͤrgſchaft gar nicht annimmt? “— „ Das ver¬ huͤte der Himmel! “ſagte Walt. — „ Du ver¬ buͤrgſt dich? “— „ Bei Gott! ſchwur Walt.
Der Floͤtenſpieler ſank jetzt ſteilrecht und ver¬ ſteinert auf den Stuhl, ſtarrte wagrecht vor ſich hin, jede Hand auf eines von den aufgeſperrten,85 rechtwinklichten Knien gelegt und wimmerte ein¬ toͤnig: „ nun ſo erbarms denn Gott und wer will! Das ſind alſo die Garben und Weinleſen, die ich davon trage nach allem Anſpannen und Hierſeyn! Und der Teufel hauſet wie er will! das iſt der Lohn, daß ich wie der Rumormeiſter bald hinten, bald vornen im Heere ritt bei jedem Un¬ fug. — — Nu ſo ſchwoͤr 'ich, daß ich tauſend¬ mal lieber einem Schiffsvolk mitten im Sturm auf einem Schaukel-Schiffe den Bart abnehmen will, als einen Dichter ſauber ſcheeren, den alles bewegt und erſchuͤttert. Lieber den Brocken hinauf will ich als hinterſter Leichentraͤger im Wedel - Mantel eine Leiche tragen und nachſtemmen, als einen Poeten geleiten und fortſchaffen hinauf und hinab; denn dem redlichen, nicht ganz vieh¬ dummen Bruder glaubt der Poet weniger als weichem Diebsgeſindel, das ihn umſtellt und mit Fuͤßen tritt wie ein Toͤpfer den Thon, um ihn zu knaͤten. “
„ Ich muß dir geſtehen — erwiederte Walt ſehr ernſt — daß der weichſte Menſch zum erſten86 mal hart werden koͤnnte gegen einen harten, der uͤber die Menſchen ſtets ungerecht richtet.
„ Wie geſagt — fuhr Vult fort — das thut er nicht, der Poet. Vergeblich reitet ihm ein leiblicher Zwillingsbruder, wie dem Suworow ein Koſak, nach und hat den leichten Nachtſtuhl fuͤr ihn am Halſe haͤngen, ſo daß er ſich nur zu ſetzen brauchte aufs Geſtelle — er thuts nicht, ſondern er zeigt ſich — und mehr dazu — der Welt” —
„ An Menſchheit glauben, verſetzte Walt, an fremde und eigne — durch ſein Inneres ein Fremdes ehren und kennen — das iſts, worauf das Leben und die Ehre ankommt; alles Uebrige hole der Henker. Wie, groͤßere Leute haben in groͤßern Gefahren auf Leben und Tod vertrauet, ein Alexander hat ſeinen Schein-Gift waͤhrend der Brief-Leſung ſeines Arztes getrunken; und ich ſollte den heißen Thraͤnen eines menſchenfreund¬ lichen Maͤdchens nicht glauben? Nein, lieber nehm 'ich dieſen Stab, der ein Bettelſtab iſt, und gehe damit ſo weit mich meine Fuͤße tra¬ gen” ..
87„ Weiter kann auch kein Bettler — ſagte Vult — aber du unterbrichſt. So daß alſo, will ich nur noch zuſetzen, die Alten nicht ohne An¬ ſpielung dem Gotte der Dichter einfaͤltige junge Schafe geopfert. — Daher ein Reichs-Hofraths - Schluß jeden, der einen Band Gedichte bei Trattner verlegen laſſen, ſofort pro prodigo er¬ klaͤren ſollte, da er in Betracht ſeiner ewigen goͤtt¬ lichen Apollo's-Jugend von 15 Jahren zu buͤr¬ gerlichen Handlungen, z. B. Schenken unter den Lebendigen nicht faͤhig iſt, welche Volljaͤhrigkeit befehlen ..... „ Nun aber einmal gelaſſen, Bru¬ „ der! Was iſt denn das fuͤr ein Leben dahier, „ zum Sacrament? — Aber ganz ruhig! Va¬ „ ter, Mutter, Zwillingsbruder willſt du Leuten „ opfern, von denen ich — nichts weiter ſage? „ Bedenk 'alles — ſiebzig eben gefaͤllte Notariats¬ „ Baͤume — eine ſo unerwartete Verkettung ſo „ vieler Ketten — manche deiner Irrſaale auf „ dem Weg nach Roſenhof — und in der That „ biſt du auch heute ganz ..... belebt durch den „ Wein. — Am Ende fliegſt du wohl gar mit „ Sperber - und mit Weihes-Fittichen um das88 „ Brautherz der Sitzerin, Fuchs, und brauchſt „ den Pinſel-Braͤutigam nur zum Lockvogel, du „ Raub - und Spaßvogel! doch du wirſt roth. „ Was Raphaelens Thraͤnen anlangt — glaube „ mir, die Weiber haben groͤßere „ Schmerzen als die, woruͤber ſie wei¬ „ nen!”
„ Gott, wie deſto trauriger!” rief Walt. „ Weiber und Muͤller, ſagte Vult, halten ver¬ „ ſteckte Windloͤcher, damit Mehl fuͤr ſie verſtaͤu¬ „ be, wenn der andere mahlt. ” —
„ Meinetwegen! ſagte Walt. Ich gab einem „ Frauenzimmer mein Wort. Ich buͤrge. Gott „ dank 'ich nur, daß er mir eine Gelegenheit be¬ „ ſcherte, das Vertrauen zu zeigen, das man zu „ den Menſchen haben ſoll, will man nicht das „ eigne verlieren. Soll es aber ſeyn — laſſ' mich „ reden in dieſer Stunde — daß kein Gefuͤhl mehr „ wahrſagt, ſoll der Glaube und die Liebe bluten „ und verbluten: o ſo freu ich mich, daß ich die „ Wunde nur empfange, aber nicht ſchlage. Ich „ buͤrge entſchieden. Vater-Zorn — aber kennt „ er in ſeiner Dorf-Welt meine hoͤhern Verhaͤlt¬89 „ niſſe? — und Mutter-Zorn — und Kerker „ und Noth: es brech 'ein; ich buͤrge. Zuͤrne „ du. Ich buͤrge und gehe hinab. “
Vult hielt ordentlich noch an ſich, ganz be¬ ſtuͤrzt und aus dem Sattel gehoben von Walts Spruͤngen, der jetzt immer weniger zu regieren war, je mehr er ihn ſtach und trieb; — vielleicht, weil der ſanfteſte Menſch, ſo bald man ſeiner Freiheit ſtatt zu ſchmeicheln droht, ſpornſte¬ tig*)So ſagt man von Pferden, welche das Spornen zu nichts bringt als zum Stehen. wird —: „ Du gehſt, ſagte Vult, (ich bitte dich gewiß ruhig), gehe blos in dich. Fahre nicht, wie ein geblendeter Vogel, gerade in die Hoͤhe! Kehr 'um. Ich flehe dich, Bruder! “— „ Und muͤßt' ich gleich ins Gefaͤngniß, ich hielte Wort! “ſagt 'er — „ Verſchimmle da, ſagte Vult; ich wehr' es nicht; nur aber die klaͤrſte Vernunft und Billigkeit behalt 'ihr Recht — nur das Geſindel triumphire nicht — Am Ende wird noch dazu erfahren, daß ich mit dir verwandt bin und ich werde ſo verflucht ausgelacht als einer von uns — Freund, Bruder, hoͤre, Teufel! “
90Er ging aber. „ O du wahrer Linker! *)So hieſſen in Elterlein bekanntlich die adeligen Inſaſſen. (ſagte gluͤhend der Floͤteniſt) Doch zuſehen will ich dir unten, wie du vor meinen Augen die Winterſaat zur herrlichſten Sommer-Ernte von Diſtelkoͤpfen fuͤr Finken ausſaͤeſt! “
Als ſie eintraten, fanden ſie das Liebes-Paar allein; der Reiſediener war noch nicht zuruͤckge¬ kommen zu Vult's Verdruß, der oben manche Reden lange geſponnen hatte, um verſaͤumen zu laſſen. Walts Geſicht gluͤhte bewegt, auch die Stimme; dabei warf er Blicke auf Vult in Angſt, dieſer werde grob. Aber gegen alles Erwarten war der Floͤtenſpieler eine Floͤte; er ſchauete ſo unbefangen an und ſprach ſo ſanft. „ Malen Sie ganz luſtig weiter, “ſagte Vult zu Flitten. „ Daruͤber kann wohl jeder ſein Lied ſingen, uͤber dergleichen Bußtexte; manche beſitzen ganze Lie¬ derbuͤcher. Ich habe ſelber einmal in dieſem Ge¬ ſange der drei Maͤnner im Feuer auf eine Weiſe eine Stimme gehabt, daß ichs beinah 'hier zum Beſten geben moͤchte, wenn ich wuͤßte, daß es91 uns zerſtreuete. Ich entſinne mich naͤmlich noch ſehr wohl, daß ich vorher in London eine Zeitlang in einer Sakriſtei wohnte und Nachts den Knie¬ polſter des Altars als Kopfkiſſen unterhatte, weil mir die Gelder ausblieben, die ich aus Deutſch¬ land bezog. Nicht ganz reich, noch weniger be¬ quem kam ich mit noch 6 Emigranten auf der Poſt nach Berlin, aber nicht blind, ſondern ſammt unſerer ganzen gelderſparenden Geſellſchaft fuͤr ein einmaͤnniges Poſtgeld. Einer naͤmlich ließ ſich ſtets einſchreiben, welcher zahlte und oͤf¬ fentlich vor der Welt einſaß. Drauſſen ſtieg ei¬ ner um den andern von uns auf, nach der an¬ cienneté der Muͤdigkeit, indeß die uͤbrigen Deutſch¬ landsfahrer neben dem Wagen auf beiden Seiten mitgingen; ſo daß vor dem zweiten Poſthaus im¬ mer ein anderer Paſſagier abſprang als vor dem erſten aufgeſprungen war. Die deutſchen Poſten fahren immer ſo gut, daß man ſchon mit fort¬ kommt zu Fuße. In Berlin ſelber fuhr ich, weil mir die Gelder ausblieben, die ich aus England bezog, noch viel haͤrter. Vom einzigen Berge da, monte di pietà, hatt' ich Ausſicht; in großen92 Staͤdten miethet man ſich alles, Haͤuſer, Pferde, Kutſchen, boͤſe Frauen, beſonders aber zuerſt Geld. In letzterem ging ich weit. Schulden fuͤh¬ ren wie andere Silber-Pillen erſt den Morgen darauf, wenn man ausgeſchlafen, das ab, was man noch hat. Eine Figurantin bei dem Ballet, welche ich heirathen wollte; weil ſie die Unſchuld ſelber war, und folglich ſolche nie verlieren konn¬ te, ſteigerte das Leid ohne Beilied, die Schulden, noch hoͤher, weil wir die Flitter - und Honig - Wochen vor der Ehe abthaten, damit dieſe nach¬ her ungeſtoͤrt aus Einem Stuͤck gemacht waͤre; Flittern und Honig wollen aber gekauft ſeyn. Wie wir freilich liebten, ſie im beſſern Sinne Figu¬ rantin, ich Figuriſt, mit welchen Konfigurazio¬ nen — davon iſt kein anderer Zeuge mehr da — denn ſie wollte kein bloßes Bruſtſtuͤck — als ihr Herzgrubenſtuͤck, das ich in einer Ferne von 6 Schuhen malte, indem ich naͤmlich, ſelber ein lebendiges Knieſtuͤck, die niedrigen Beine aus Ehrfurcht hinter mich oder meine Schenkel zuruͤck¬ werfend, vor ihr ſtand auf den bekannten Scheiben der Kniee. Aerzte haben oft bemerkt, daß ploͤtz¬93 liches Erſchrecken den Koͤrper und deſſen Finger ſo froſtig-knapp einziehe und einklemme, daß Rin¬ ge, die letztern ſonſt nicht abzuſchrauben waren, von ſelber abglitten. Es ſollte mir ſo gut wer¬ den, etwas aͤhnliches zu beobachten. Das gute Tanz-Weſen erſchrack ſo fuͤrchterlich, als ich nach¬ her beſchreiben werde, den 7 Februar im Karne¬ val. Ich ſtieß bei ihr vorher meine gewoͤhnliche Anzahl Seufzer in einer Minute aus — naͤmlich vier und zwanzig, wovon, weil man in einer nur zwoͤlfmal athmet, die Haͤlfte aus -, die Haͤlfte eingezogen wird — that die alten Wuͤnſche, ich moͤchte meinen Seufzern Luft machen koͤnnen, als ob ein Seufzer aus etwas anderm beſtaͤnde, und rief endlich im Feuer aus: „ wie viel, du Koſt¬ bare, bin ich Berlin ſchuldig, daß ich dich kennen lernte, Unbezahlbare “—: als ploͤtzlich bei dieſen Worten, wie bei Stichworten, meine ganze Dienerſchaft von Lakaien und meine ganze Herrſchaft von Hausherren an der Spitze eines Jokeys herein drangen auf mein Theater — leider keines, worauf meine Kebsbraut ſprang — und Dinge von mir verlangten, die ich natuͤrlich nicht bewilligen konnte. Meiner Geliebten — die94 weniger darauf vorbereitet war als ich — ent¬ glitſchte vom erſchrocknen erkaͤlteten Ringfinger unſer großer Ring der Ewigkeit, und ſie ſagte im Schrecken ohne Bewußtſeyn verflucht grob: Herr von Lumpenhund!
Wer in Berlin war, wundert ſich gar nicht, ſondern weiß, wie man da zuweilen angeredet wird, wenn man zwar von Stand und folglich nicht zu bezahlen iſt, aber auch nicht zu bezahlen hat. Ich muthmaſſe, ich waͤre damals geſtor¬ ben in der Friedrichs-Straße, waͤr 'ich nicht zu meinem Gluͤcke erkrankt an einem hitzigen Fieber. Die Krankheit — weniger der Arzt — rettete mich. Sie, H. Flitte, wurden, hoͤr' ich, von der Ihrigen auf dem Thurm durch die Kunſt gerettet; wahr¬ ſcheinlich alſo eine ganz andere als die meinige. Mein Fieber organiſirte mich ſo ſonderbar, daß mir nicht nur die alten Haare ausfielen — blos zu einem Titus behielt ich ſchwachen kurzen Pelz — ſondern auch die alten Ideen, vorzuͤglich ver¬ druͤßliche.
Platner bemerkt recht gut, — ſo wie den te¬ leologiſchen Vortheil davon — daß das Gedaͤcht¬95 niß des Menſchen das Suͤſſe weniger fahren laſſe als das Bittere.
Mit mir — obwohl nicht vom Krankenla¬ ger — ſtanden meine Glaͤubiger auf. „ Treffli¬ cher H. Muſikhaͤndler Rellſtab! — mein Bedien¬ ter verſichert, Sie hieſſen ſo — (ſagt 'ich zu dem bekannten Manne, meinem ſtarken Glaͤubiger) eben mach' ich mich vom hitzigſten Fieber von der Welt auf und habe alles, 100000 Dinge, ja den Namen vergeſſen, den ich gewoͤhnlich unterſchrei¬ be. Erklaͤren laͤßt ſichs gut genug aus Phyſio¬ logie, aus Schweißen, Fieberbildern und Ermat¬ tungen; aber verdruͤßlich iſts fuͤr einen Mann wie ich, der gern ſeine Nota von Muſikalien ab¬ fuͤhrt, und dem doch alles entfallen. In dieſer Noth bitt 'ich Sie, ſo lange zu warten, bis ich mich der Sache entſinne, guter Rellſtab; dann, wahrlich haben Sie Ihr Geld auf der Stelle im Hauſe, was ſich im anderen Sinne ohnehin ver¬ ſteht.”
Darauf erſchien der erſte Theaterſchneidermei¬ ſter und Garderobier und erſuchte mich um das Seinige. Ich antwortete: „ lieber H. Freytag —96 denn Sie ſind, hoͤre ich, ein Namensvetter des heutigen Charfreitags — entfaͤhrt jedem Schuld¬ ner ſo viel auf dem Krankenbette als mir (z. B. etwa den Blutſchuldnern, Ehrenſchuldnern,) ſo iſts ſchlimm fuͤr Glaͤubiger. Denn mir fuͤr meine Perſon iſt rein alles entfallen, was ich ſchuldig bin; — Sie werden mir kaum glauben, wenn ich Sie an meine Krankenmatraze fuͤhre, wo ich geſchwitzt, und gefiebert, daß ich nichts behalten habe. Muͤnzen helfen hier wenig ohne Gedaͤcht¬ niß-Muͤnzen; es iſt aber betruͤbt, Rellſtab.”
Er heiße Freytag, ſagt 'er. „ Das hole der Teufel, ſagt' ich, brauch 'ich auch gar einen Kor - Repetitor? Nun, ich will nicht vergeſſen, mich zu erinnern. ” —
Der Kammerherr Julius ..... trat ein und wuͤnſchte zu meiner Geneſung ſich ſowohl Gluͤck als die zwanzig Friedrichsdo'r Spielgeld von mir. „ Ich ſoll Sie kennen,” ſagt 'ich. — „ Quod¬ deusvult? — Ich hoffe, du verſtehſt mich,” ſagt' er. — „ Entſchieden!” ſagt 'ich. „ Aber du verſchreckſt; denn wenn ich weiß, ob ich mehr dir oder dem Mann im Mond oder dem Gro߬weſſir97weſſir Spielgeld ſchuldig bin: ſo will ich nicht krank geweſen ſeyn. Recht haſt du gewiß; aber ſollte man ſich denn nicht jedesmal, eh 'man in ein hitziges Fieber verfaͤllt, tauſend Knoten ins Schnupf¬ tuch machen, um geneſen manche beſſer zu loͤſen als durch das Zuwerfen des Schnupftuchs? Sprich, Kammerherr! — Paſſ' alſo, bis mir die Memorie wieder aufhilft! — aber verflucht fatal, daß Ihr Leute vom Hofe ganz gegen Plattners Bemerkung gerade nur das Fatale (weniger faſt Fatalien) be¬ haltet. Aber wie gehts uͤbrigens? Revuͤe ſchon an?” — „ Wie im Winter, Vult?” ſagte Ju¬ lius. Nun, du ſiehſt es ſelber, ſagt 'ich. Was macht denn die liebenswuͤrdige Koͤnigin? — Man¬ ches, glaub' ich, vergißt man weniger. ” — Darauf bat ich ihn, naͤchſtens mich zu erinnern und wir ſchieden ganz guͤtlich.
Anders gings, als ich von der langen Bruͤcke in die Koͤnigsſtraße wollte und mich ein gebildeter Jude aufhielt: „ lieber Moſes! ſagt 'ich, boͤſe Nachrichten! das Fieber hat mich zu einem Titus geſchoren. ” — „ Boͤſe! unterbrach der Jude;Flegeljahre IV. Bd. 798wenn wir Juden einen ſchlimmen Fuͤrſten malen wollen, ſo ſagen wir: das iſt ein wahrer Titus! — Die Tituskoͤpfe bauen uns kein Jeruſalem. “ „ Sonſt — fuhr ich fort — war Hebraͤiſch, Ju¬ denteutſch, Neuhebraͤiſch, mein Fach, ſammt den Huͤlfsſprachen, dem Chaldaͤiſchen, Arabiſchen — alles iſt vergeſſen durchs ſtarke Fieber, Moſes — Sonſt kannt 'ich meine Schuldner auf hundert Schritte, die Glaͤubiger auf tauſend weit. “— „ Wechſel, verſetzt' er, ſind da gut “und praͤſen¬ tirte mir einen faͤlligen noch uͤber der Spree “.....
Hier machte aufgeheitert H. Paradiſi die Thuͤre auf und dankte Raphaelen ſehr fuͤr ihr Blatt, und warf ein hoͤfliches Auge auf Walt. Er nahm deſſen Buͤrgſchaft an. Selten war der Notarius ſeliger — und unſeliger geweſen. Vults parodiſcher, zyniſcher Spaß hatte ihm allein rein¬ bitter geſchmeckt — andern nur abgeſchmackt —; indeß ihn das neue Gluͤck erquickte, Flittes Ent¬ ſatz und Schutzgeiſt zu werden. Vor Vults Oh¬ ren und Augen wurde kuͤhn und kalt die Wechſel¬ ſache vollfuͤhrt und geruͤndet und der Floͤtenſpieler wurde uͤber die ſo frei auseinander bluͤhende Ge¬99 genwart beſtuͤrzt und erzuͤrnt, obwohl heimlich; ſo wenig vertraͤgt ſogar der Kraftmenſch fremde Staͤrke und Konſequenz, ſobald ſie mehr wider ihn auftritt als fuͤr ihn, weil jeder uͤberhaupt vielleicht von fremder mehr zu fuͤrchten als zu hof¬ fen hat.
Als der Wechſel erneuert war, ſchied der Floͤ¬ tenſpieler ſanft von der Geſellſchaft, beſonders von Walt. Dieſer begleitete ihn nicht. Er fragte Flit¬ ten, ob er die wenigen Stunden, die etwa ſeiner Probe-Woche noch abgingen, nicht in ſeinem eignen Zimmer verbringen duͤrfe. Flitte ſagte freu¬ dig Ja. Raphaela druͤckte dankend Walten noch ihre zarte Hand in die ſeinige. Er ging in ſeine ſtille Stube zuruͤck, und beim Eintritte war ihm, als wenn er in Thraͤnen ausbrechen ſollte, ob vor Freude, oder Einſamkeit, oder Trunk oder uͤber¬ haupt, das wußt 'er nicht; am Ende vergaß er ſie vor Zorn.
100Leiden des jungen Walts. — Einquartirung.
Der Notarius konnte eine ganze Nacht lang weder ſchlafen, noch ſeinen Bruder lieben; ſon¬ dern der Zorn war ſein Traum, und das naͤcht¬ liche Aufthuͤrmen zankender Gruͤnde erhitzte ihn zu¬ letzt dermaſſen, daß er, wenn Vult ſich an deſſen Bett gewagt haͤtte, vielleicht faͤhig geweſen waͤre, ihm zu ſagen: „ ich rede nun anders mit dir, Bruder; „ ſetze dich aber nicht aufs ſcharfe Bettbret, ſon¬ „ dern mehr auf die Kiſſen herein!” — Unbegreif¬ lich und unverzeihlich fand er deſſen Kraft, Men¬ ſchen ins Geſicht hinein zu martern, den armen Flitte und ihn ſelber. Schon oͤfters hatt 'er bei der Weltgeſchichte verſucht, in jene maͤchtigen Schnee - und Gletſcher-Maͤnner, welche mitten unter dem Haſſe eines ganzen Hofs und Volks heiter glaͤnzen und gedeihen, ſich ſo gut poetiſch zu verſetzen als in andere Karaktere; aber es hatte nie beſondern Erfolg — er waͤre eben ſo gut einer Statue durch den Mund ins Herz gekrochen. Ihm griff ſchon ein Menſchen-Antlitz in die Seele und waͤr' es punktirt an der Puppe eines Nachtſchmet¬101 terlings erſchienen, oder waͤchſern an der Puppe eines Kindes; er haͤtte beide nicht kalt eindruͤcken koͤnnen mit dem Daumen.
Er ſtieg aus dem Bette in einen platt-gemaͤh¬ ten Herbſttag; denn er wollte, wie er pflegte, lieben, und der ſuͤßeſten Empfindung kaum maͤch¬ tig ſeyn; fand aber nichts Brauchbares dazu, ſondern nur die Zuckerſaͤure der vorigen Zuckerin¬ ſel. Jetzt ſtellte er ſich, da es ſein erſtes Zuͤrnen war, recht dazu an. Ein Herz voll Liebe kann alles vergeben, ſogar Haͤrte gegen ſich, aber nicht Haͤrte gegen andere; denn jene zu verzeihen, iſt Verdienſt, dieſe aber Mitſchuld.
Darauf machte er ſich auf den matten Weg aufs Rathhaus, um da, wie bisher, ſich fuͤr ſeine Erbamts-Suͤnden wacker abſtrafen zu laſ¬ ſen. Der Spaßvogel Flitte, jetzt ſein geſtriger Ungluͤcksvogel, war ſchon da — denn er hatte faſt nichts auf der Erde, als Zeit —; ſammt Paßvogeln, dem Buchhaͤndler. Walt ſah ſo lie¬ be-gießend dem Elſaßer ins Auge, als haͤtte die¬ ſer ſich fuͤr ihn verbuͤrgt; nie warf irgend ein Feg¬ feuer auf den Gegenſtand, der es fuͤr ihn ſchuld¬102 los angezuͤndet, vor ſeiner Seele irgend einen gel¬ ben haͤßlichen Wiederſchein; vielmehr freuete er ſich recht, allein im Fegfeuer zu ſtehen, und den Fremd¬ ling rein aus den Flammen anzuſchauen.
Der Teſtaments-Ober-Vollſtrecker H. Kuh¬ nold eroͤffnete nach der 7ten Klauſel — moͤchte doch jeder Leſer das Teſtament aus dem Buche heraus¬ geſchnitten, broſchirt, immer neben ſich haben — den geheimen Artikel des Regúliertarifs, der rechtmaͤßig zu oͤffnen war. In der That war darin auf jeden franzoͤſiſchen Germaniſmus, den Flitte von ihm an Eidesſtatt berichten wuͤrde, ein Tag verſpaͤteter Erbſchaft zur Schulſtrafe ge¬ ſetzt. Flitte erwiederte darauf, „ er wiſſe Nie¬ „ mand, der ſo viel Organ fuͤr franzoͤſiſche „ Sprache beſitze, ſo wie Kalligraphie dafuͤr, als „ Herrn Walt, und er entſinne ſich keines erheb¬ „ lichen Fehlers. “ Walt griff nach deſſen Hand, und ſagte: „ o wie ſchoͤn, daß ich mir Sie ſo im¬ „ mer dachte! Aber meine Freude iſt nicht ſo un¬ „ eigennuͤtzig, als ſie ſcheint, ſondern noch unei¬ „ gennuͤtziger. “ Der Ober-Vollſtrecker wuͤnſchte ihm erfreuet Gluͤck — desgleichen der Buchhaͤnd¬103 ler — und jener bat ihn um die Wahl des neuen Erbamtes.
Es iſt ſehr ſchlimm fuͤr dieſe Geſchichte, daß die Welt nicht die ſechste Clauſel „ Spaßhaft und leicht mags” auswendig kann, auf wel¬ cher doch gerade die Pfeiler des Gebaͤudes ſtehen. Der Notar wußte ſie ganz gut, und der Buch¬ haͤndler am beſten. Als Walt in dem Seelen - Rauſche uͤber die ſchoͤnſte Rechthaberey, die es gibt, ſich naͤmlich nicht in guten Vorausſetzun¬ gen von Flitte geirrt zu haben — nicht ſo gleich das Erbamt erleſen konnte, das er begleiten wolle: trat Paßvogel zu ihm, und erinnerte ihn an den Buchſtaben C der Klauſel, welcher ſagt, „ er ſoll „ als Korrektor 12 Bogen gut durchſehen. ” — Treflich genug! ſagte Walt, verſtand und erklaͤrte ſich dazu; — in das vom Nacht-Zorne zerfreſſene Herz floßen die kleinſten Erguͤſſe menſchlicher Mil¬ de balſamiſch-heilend ein.
Auſſerhalb der Rathsſtube fand er auf einmal ſein Herz um -, und dem Bruder wieder zugewandt; Flitte war gerechtfertigt, er ſelber entſchuldigt, und er verzieh in Maſſen, blos weil er ſo viel —104 Recht gehabt. Nachdem er eilig ſeinem geaͤngſtig¬ ten Vater den ſchoͤnen Ablauf ſeines Wochenam¬ tes geſchrieben hatte: ſo machte er ſich ernſthafter an ſeine alte Verſetzung ins fremde Ich, und fragte: „ kann denn Vult ſeine Handlungen nach andern Grundſaͤtzen zuſchneiden, als nach ſeinen eigenen? Und wollt 'er denn anders, als ich ſel¬ ber, eben fuͤr mich handeln? — Jeder begehrt von Andern Gerechtigkeit und dann noch ein we¬ nig Nachſicht dazu; ei gut, ſo geb' er andern auch beides, und das will ich thun. “ Er fand zuletzt in Vults Stoßkraft eine Ergaͤnzung ſeiner eigenen weichwolligen Außenſeite; die Freundſchaft und Ehe wird, ſo wie ein Fernrohr, durch Zu¬ ſammenſetzung erhobner und hohler Glaͤſer gemacht.
Was half aber ſein aufgethanes Herz? Nie¬ mand ging hinein. Liebes-ſchamhaft harrte er, daß Vult nur eine Viertels-Elle von einer weiſſen Friedensfahne flattern ließe, um ſogleich mit Lie¬ besaugen in die fremde Seele einzuziehen; aber nicht einen Fingerbreit davon ſtreckte dieſer aus, ſondern er ſchickte ihm Ausſchweifungen fuͤr den Hoppelpoppel ohne ein Wort dazu. Walt ſandte105 ihm mehrere Kapitel, die er in ſeinem Herzens¬ kloſter um ſo leichter aufgeſetzt, da ihn Paßvo¬ gel noch immer auf den erſten Korrekturbogen war¬ ten ließ, ſo wie die Stadt ihn auf irgend ein No¬ tariats-Inſtrument, das ihn haͤtte ſtoͤren und bereichern koͤnnen. Ihnen fuͤgt er blos zwey Streck¬ verſe bei:
Meine ganze Seele weint, denn ich bin allein; meine ganze Seele weint, mein Bruder!
Ich ſah dich, und liebte dich. Ich ſah dich nicht mehr, und liebte dich. So muß ich dich immer lieben, ich mag nun frohlocken oder wei¬ nen tief im Herz.
Einen Tag darauf ſchickte ihm Vult die aus¬ gearbeitetſten Ausſchweifungen zu, und gedachte des Genußes kurz, den ihm jetzt Walts Hoppel¬ poppel oder das Herz zufuͤhre, da jedes Kapitel mit wahrer Kunſtwaͤrme erſchaffen ſey, und uͤber¬ feilt — und ſchrieb noch, er ſelber ſchreibe zwar eifriger als je, duͤrfe aber nicht entſcheiden, wie gluͤcklich — und ſchrieb weiter nichts. „ Nun106 denk 'ich “— ſagte Walt zu ſich — „ weiß ich „ recht gut, woran ich bin, ich bin faſt ſehr un¬ „ gluͤcklich — es iſt vorbey mit dem Himmel, der „ ſich hier aufthat fuͤr mein Armen-Auge — Auf „ ewig iſt mir der Bruder begraben und eingeſenkt „ — Tritt er etwan einmal vor mich, ſo, weiß „ ich wohl, iſts ein Antlitz grimmig verzogen, „ und mich wird ſchaudern durch mein Herz. O „ mein Bruder, wie ſchoͤn war es einſt, als ich „ dich noch umarmte, und zwar weinen mu߬ „ te, aber ganz anders! “
Darauf ſchrieb er wieder ein gutes Kapitel am Romane, ſchickt 'es ihm mit folgendem, hier ganz mitzutheilendem Briefe:
Bruder!
Hier! — — — — — — —
Dein Bruder G.
Vult verſetzte nichts darauf. Gott Walt er¬ zuͤrnte ſich nach der Terzien-Uhr; dann hatt 'er wieder lieb nach der Thurm-Uhr. Nur die Traͤu¬ me drangen mit ihren graͤulichen aufgeriſſenen Larven in ſeinen Schlaf, jede mußte wie ein107 Bruder ausſehen, der ihn martert auf einer un¬ abſehlichen Folterleiter, auf der er ausgeſpannt lag von Stern zu Stern.
An einem November-Nachmittage ging er in das Wirthshaus zum Wirthshaus, wo er ihn, wie bekannt, nach einem langen Lebens-Winter gefunden hatte, wie einen Mai. Der Herrnhuti¬ ſche Wirth pruͤgelte eben, da er eintrat, die Wir¬ thinn aus dem Gaſthofe hinaus, warf ihr ſeinen Jungen nach, und ſchrie: waͤr 'er kein Chriſt, ſo wuͤrd' er ſie anders behandeln; ſo eben zaͤhm 'er ſich, und kein boͤſes Wort komme aus ſei¬ nem Maule. Walten kannt' er gar nicht mehr, als dieſer um das vorige, jetzt zugemauerte, Ober¬ zimmer anhielt, wo er im July geſchlafen hatte. Theils Wuͤrſte, theils Flachs auf Stroh waren darin auseinander gebreitet. Er entfloh auf den herrnhutiſchen Gottesacker, wo er einſtens, als die Sonne unter - und der Bruder aufging, ſo froh und ſo neu geworden. — Aber die Baͤume waren, anſtatt begrabne Gerippe laubig zu bedecken, ſel¬ ber ſteilrechte geworden — dabei ſchneiete es reg¬ neriſch — mehr das Gewoͤlke als die Sonne ging108 unter — und Abend und Nacht waren ſchwer zu ſondern. Der Notarius ſah aus wie der eben re¬ gierende November, der, noch weit mehr dem Teufel als dem April aͤhnlich, nie ohne die ver¬ druͤßlichſten Folgen abtritt.
Von da trug er ſich verarmet — fern von je¬ nem reichen Morgen, wo er neben dem reitenden Vater zu Fuße hergelaufen — zuruͤck in die Stadt. Als er uͤber die kalt wehende Bruͤcke ging und nichts um ihn war als die oͤde dunkle Nacht: ſo flogen zwei dicke Wolken auseinander — der helle Mond lag wie eine Silberkugel einem weißen Wol¬ kengebuͤrge im Schoß und der lange Strom wand ſich erleuchtet hinab. Auf dem Waſſer kam etwas herabgeſchwommen wie ein Hut und ein Aermel. „ Geht es durch die Bruͤcke unter mir durch, ſagte Walt, ſo nehm 'ichs fuͤr ein Zeichen, daß auch mein Bruder ſo von mir dahin geht; ſtoͤßt es ſich an die Pfeiler, ſo bedeutet es etwas Gutes.” Er fuhr zuſammen, da es unten wieder hervor kam; endlich fiel ihm ein, daß wohl gar ein ertrunkener Menſch unter ihm ziehen koͤnne, ja Vult ſelber. Er ſprang herunter ans Ufer herum, wo ſich109 das ſchwimmende Weſen in eine Bucht voll Buſch¬ wurzeln verfangen hatte. Muͤhſam und zitternd hob er mit ſeinem Stabe einen leeren Aermel, dann noch einen und darauf gar noch einige auf, bis er ſehr ſah, daß das Ganze nichts ſei als eine ins Waſſer geworfene, von der Jahrszeit abgedankte — Vogelſcheuche.
Aber ein Schauder dauert laͤnger als ſein An¬ laß oder Irthum; er ging noch ſorgend fuͤr den Bruder in deſſen Wohngaſſe, als ſeine Floͤte ſchon von ferne herauf toͤnte und wie nun die Fluth alle die offnen rauhen Klippen der Welt mit Einem weichen Meer zudeckte. Der elende November, der herrnhutiſche Wirth, die Vogelſcheuche und die leere Ebbe des Lebens gingen nun unter in ſchoͤ¬ nen Wogen. Walt trat, weils finſter war — denn am Tage ſchauete er nur die lange Gaſſe hinab — dicht vor Vults Haus, obwohl in die Monds-Schatten-Seite. Er druͤckte den Thuͤr¬ druͤcker, wie eine Hand, weil er wußte, wie oft ihn die bruͤderliche mußte angefaßt haben. Vult, dieß merkte er aus dem Schatten und dem Licht¬ ſchimmer gegenuͤber, mußte mit dem Notenpulte110 nah 'am Fenſter ſtehen. Als wieder ein langer Wolkenſchatte die Gaſſe heraufflog: ſchritt er quer uͤber und guckte hinauf, und ſah hinter dem er¬ leuchteten Notenpulte das ſo lange begehrte Ge¬ ſicht; und weinte bitter. Er ging an ein großes rothes Thor ſeitwaͤrts, worauf Vults Schatten¬ riß, aber graͤulich aus einander gezogen wie ein angenagelter Raubvogel hing und kuͤßte etwas vom Schatten, aber mit einiger Muͤhe, weil ſein eigner viel verdeckte.
Gern waͤr 'er jetzt zu ihm hinauf gegangen mit der alten Bruder-Bruſt an ſein Herz; aber er ſagte: „ blieſ' ich ſelber droben, o ſo weiß ich al¬ les wohl — nein es gaͤbe fuͤr mich kein fremdes Herz; aber er iſt faſt immer das Widerſpiel ſeines Spiels und oft faſt hart, wenn er ſehr weich da¬ hin floͤtet. — Ich will ihn in ſeiner Geiſter-Luſt nicht ſtoͤren, ſondern lieber manches zu Papier bringen und morgen ſchicken.”
Er thats zu Hauſe, die Floͤtentoͤne des Bru¬ ders fielen ſchoͤn in das Rauſchen ſeiner Gefuͤhle ein — er verſiegelte einen geiſtigen Sturm. Er legte dem Sturm zwei Polymeter uͤber den Tropf¬111 ſtein bei, deſſen Saͤulen und Bildungen bekannt¬ lich aus weichen Tropfen erſtarren.
Weich ſinkt der Tropfe im Hoͤlen-Gebirge, aber hart und zackig und ſcharf verewigt er ſich. Schoͤner iſt die Menſchen-Thraͤne. Sie durch¬ ſchneidet das Auge, das ſie wund gebiert; aber der geweinte Diamant wird endlich weich, das Auge ſieht ſich um nach ihm und er iſt der Thau in einer Blume.
Blick 'in die Hoͤle, wo kleine ſtumme Zaͤhren den Glanz des Himmels und die Tempelſaͤulen der Erde ſpielend nachſchaffen. Auch deine Thraͤnen und Schmerzen, Menſch, werden einſt ſchimmern, wie Sterne, und werden dich tragen als Pfeiler.
Vult antwortete darauf: „ muͤndlich das Uebrige, Lieber! Wie mich unſer ſo wacker ge¬ foͤdertes Schreiben freut, weißt du beſſer als ich ſelber. “— „ So hol 'ihn der Henker, ſagte Walt, ich habe mehr eingebuͤßt als er, denn ich lieb ihn ganz anders. “ Er war nun ſo ungluͤcklich als es die Liebe auf der Erde ſeyn kann. Er webte —112 ganz entbloͤßt von Menſchen und Geſchaͤften — ſeinen Roman fort, als das einzige duͤnne leichte Band, das ſich noch aus ſeiner Stube in die bruͤ¬ derliche ſpannen ließ.
An einem Abende, als der ausgewachſene reife Mond gar zu hell und loͤſend ſchien, bedacht 'er, ob es denn nicht ſchicklich ſei, ordentlich Abſchied zu nehmen. Er ſchrieb folgendes Briefchen:
„ Empfange mich nicht uͤbel, wenn ich die¬ ſen Abend um 7 Uhr komme. Wahrlich, ich nehme nur Abſchied; alles wird auf der Erde oh¬ ne Abſchied aus einander geſtuͤrmt; aber der Menſch nimmt ſeinen von einem Menſchen, wenn er kann, wenn kein Meer-Sturm, wenn kein Erdbeben die Seelen-Naͤchſten ploͤtzlich zerwirft. Sei wie ich, Vult; ich will dich nur wieder ſehen und dann nicht laͤnger. Antworte nur aber nicht; weil ich mich fuͤrchte. “
Er bekam auch keine Antwort, und wurde noch furchtſamer und trauriger. Er ging Abends, aber ihm war, als ſei der Abſchied ſchon vorbei. In Vults Stube war Licht. Welche Buͤrde truger113er die Treppe hinauf, nicht um ſie oben abzula¬ den, ſondern zu verdoppeln! Aber niemand ſagte: komm 'herein! Das Zimmer war ausgeleert, die Kammerthuͤre offen — auf einem Stallleuchter wollte ein ſterbendes Licht verſcheiden — die Bett¬ ſtelle beherbergte, gleich einer Scheune, nur fata¬ les Stroh — verzettelte Papier-Spaͤhne, Brief - Umſchlaͤge, zerſchnittene Floͤten-Arien bildeten den Bodenſatz verlaufener Tage — es war das Gebeinhaus oder Gebeinzimmer eines Menſchen.
Walt dachte im erſten Unſinn des Schreckens, Vult koͤnne, wenn nicht damals, doch ſpaͤter, im Waſſer gelegen ſeyn, und griff alle Papier-Reli¬ quien mit groß tropfenden Augen halb unbewußt zuſammen. Auf einmal rief die baßſtimmige Frau des Theaterſchneiders herauf, wer droben umtra¬ be. Harniſch, verſetzt 'er. Da fuhr ſie die Treppe herauf und ſchalt: das ſei Harniſchens Stimme nicht. Als ſie ihn gar im Finſtern ſah — denn er hatte das ſterbende Licht getoͤdtet, weil jede Nacht beſſer iſt, ſo wie der Tod beſſer als Ster¬ ben, — ſo mußt' er ſich mit der Theaterſchnei¬Flegeljahre IV. Bd. 8114derin in ein anzuͤgliches Hand - naͤmlich Wortge¬ menge uͤber ſeine Diebs-Tendenzen einlaſſen und zuletzt uͤber ſein Luͤgen. Denn er hatte ſich in der Eile fuͤr Vults daſigen Bruder ausgegeben und doch gefragt, wohin Vult gekommen ſei.
Verworren und geſcholten wanderte er ſeiner Stube zu und ſchlich auf den Treppen voll Lichter und Leute — der Hofagent gab einen tanzenden Thee — gebuͤckt hinauf.
Da fand er ſein Zimmer aufgethan und einen Mann darin mit Haͤmmern arbeitend, um ſich gut einzurichten in ſeiner neuen Wohnung. Es war Vult.
„ Erwuͤnſchter — ſagte Vult und nagelte an einer Theaterwand fort — Aber guten Abend! Er¬ wuͤnſchter, meint 'ich naͤmlich, kann mir nichts kommen, als du endlich kommſt. Schon ſeit Schlag ſieben vexir' ich mich ab, um alles aufs Beſte aufzuſtellen und etwa ſo einzurichten, daß keiner von uns nachher brumme oder grunze; unterſtuͤtze mich aber dabei, bei der gemeinſchaftlichen Ein¬ richtung und hilf! — Du ſiehſt mich ſo an, Walt? —
115„ Vult? — Wie? — Sprich nur! (ſagte Walt) Es koͤnnte doch etwas himmliſches ſeyn! Und ſei nur von Herzen willkommen! “ Hier lief er mit Kuß und Umhalſen an ihn; Vult konnte aber, da er in der einen Hand den Nagel hielt, in der andern den Hammer, nichts dazu ablaſſen als Geſicht und Hals, und antwor¬ tete: „ die Hauptſache iſt wohl, daß du jetzt ein vernuͤnftiges Wort daruͤber hoͤren laͤſſeſt, wie die Sachen zu traktiren ſind fuͤr beiderſeitige Luſt. Denn iſt einmal alles feſt genagelt: ſo aͤnderts der Menſch ungern. Mich daͤucht aber, ſo beſitzeſt und beherrſcheſt du gerade das eine Fenſter und faſt druͤber, und ich das andere; ein drittes fehlt. “
„ Ich weiß wahrlich nicht, was du vorhaſt, aber mache nur alles und ſage dann, was es iſt, “ſagte Walt. „ So muß ich dich gar nicht verſte¬ hen, verſetzte Vult, oder du mich nicht. Sollteſt du kein Briefchen von mir erhalten haben? “ſagte Vult. — Nein, ſagte er.
„ Ich meine das heutige, fragte jener fort, worin ich ſchrieb, ich wuͤrde dein Schweigen fuͤr ein Ja auf meine Bitte nehmen, daß wir doch116 moͤchten zuſammen wie ein Voͤgelpaar Ein Neſt oder Quartier bewohnen, dieſes naͤmlich? Wie? “— „ Nichts (ſagte Walt). Aber du willſt dieß? O warum traut 'ich denn deinem Gemuͤthe weni¬ ger? Gott zuͤchtige mich dafuͤr! O wie biſt du! “—
„ In dieſem Falle muß ich das Blatt noch in der Taſche tragen, (verſetzte Vult und zog es hervor) zuvoͤrderſt muͤſſen wir aber unſern Stuben - Etat fuͤr den Winter ins Reine und aufs Trockne bringen; denn, Freund, leichter vertraͤgt ſich ein Simultaneum von Religionsparteien in einer Kir¬ che als eines von Zwillingen in einer Stube, wie ſie dann ſchon als kleine Kraken nicht einmal im Mutterleibe es ein Jahr lang ausdauern, ſondern ſich ſondern. Mein Wunſch iſt allerdings, daß die Feuermauer, die ich zwiſchen uns Flammen gezogen, — und die Buͤhnenwand langt zum Gluͤck ſo nett — uns koͤrperlich genug abtrenne, um uns nicht geiſtig zu trennen. Die Scheide¬ wand iſt auf deiner Seite mit einer ſchoͤnen Reihe Pallaͤſte uͤbermalt, auf der meinigen iſt ein arka¬ diſches Dorf hingeſchmiert und ich ſtoße nur die¬ ſes Pallaſt-Fenſter auf, ſo ſeh 'ich dich von mei¬117 nem Schreibtiſche an deinem. Reden koͤnnen wir ohnehin durch die Mauer und Stadt hindurch.”
„ Das iſt ja koͤſtlich,” ſagte Walt.
„ Wir arbeiten dann in unſerm Doppel-Kaͤfig am Hoppelpoppel Tag und Nacht, weil der Win¬ ter fuͤr Autoren und Kreuzſchnaͤbel die beſte Zeit zum Bruͤten iſt, und wir darin und die ſchwarze Nießwurz (was ſind wir anders als Nießwurz der Welt?) im Froſte bluͤhen.”
„ O herrlich,” ſagte Walt.
„ Denn ich muß leider bekennen, daß ich bis¬ her aus einer Ausſchweifung in die andere, naͤm¬ lich aus ſpaßhaften in reelle gerathen und in der That wenig gegeben. So aber werden wir beide ſchreiben und dichten, daß wir rauchen; — nur fuͤr Buͤcher und Manuſkripte wird gelebt, naͤmlich von Honorarien. — In 14 Tagen, mein guter Freund, kann ſchon ein ſehr huͤbſcher Aktenſtoß an einen Verleger ablaufen vom Stapel.”
„ O goͤttlich”, ſagte Walt.
„ Falls ein ſolches gemeinſchaftliches Zuſam¬ menbruͤten in Einem Neſte — ich als Tauber, du als Taͤubin — nicht am Ende einen Phoͤnix oder118 ſonſt ein Fluͤgel-Werk ausſitzen kann, das ſich vor der Nachwelt ſo gut ſehen laͤſſet, daß ſie ihre Vorwelt fragt, wer beide Bruͤder waren, wie lang, wie breit, wie ſie gegeſſen, genieſet, und was die Gebruͤder ſonſt fuͤr Sitten und Moͤbeln und Narrheiten gehabt; wenn das, ſag 'ich, nicht der Fall bei uns ſeyn ſoll: ſo will ich nicht im Ernſte geſprochen haben.”
„ Ach du ſchoͤner Gott”, rief Walt mit Freu¬ denblicken.
„ Freſſen will ich meine Zunge vor Hunger und, wie man von Bomben ſagt, krepieren, crêper, wenn wir uns hier nicht lange vorher lieben, eh 'wir uns zanken, kurz uͤberhaupt wenn nicht Sachen vorfallen, wovon in Zukunft ein Mehreres muͤnd¬ lich. — „ Bei Gott, du gibſt mir neues Leben,” ſagte Walt. „ Haͤltſt du es aber genehm, ſagte Vult und fuͤhrte ihn in die Schlafkammer, daß ich unſere Bettſtellen durch die ſpaniſche Wand — fuͤr die ſpaniſchen Schloͤſſer der Traͤume — queer geſchieden halte? Ich ſehe ſie aber mehr fuͤr einen alten Bettſchirm an.”
„ Du kennſt daruͤber meine Grundſaͤtze, ſagte119 Walt; ich hielt es ſchon in fruͤhern Jahren fuͤr unſchicklich, nur mit einem Freunde gymnaſtiſch zu ringen oder ihn zu tragen, es muͤßte denn aus Lebensgefahren ſeyn.”
Darauf zeichnete ihm Vult den ganzen Weg und engen Paß vor, worauf er hereinkommen, ferner ſeine Zukunfts-Karten. Schon laͤngſt hab 'er, ſagt' er, zu ihm ziehen wollen, theils aus Liebe fuͤr ihn und den Hoppelpoppel, theils des halbirten Miethzinſes halber, theils ſonſt. Neu¬ lich auf einem Spaziergange hab 'er ſich in die Gunſt der guten Raphaela zuruͤck geſchwungen, mit welcher er als mit einem Hebels-Langarm dann den Vater habe bewegt. Vor einer Stunde ſei er mit der Theaterwand von Purzel und mit dem Koffer eingetroffen und habe den Stubenſchluͤſ¬ ſel im bekannten Maußloch gefunden. „ Nun erbrich aber doch mein Schreiben”, beſchloß er. Auf dem Umſchlag ſtand: „ an H. Walt, abzu¬ geben bei mir.”
Walt bemerkte nicht, daß auf dem Briefe neben Vults Siegel auch ſeines ſtand und daß es jener alte war, worin Vult ihm in der Zukunft120 das naͤchtliche Poltern, Thuͤren-Zuwerfen ſeines Polter - oder Schmollgeiſtes vorausſagt, um nach¬ her entſchuldigt zu ſeyn, und den wir fruͤher gele¬ ſen als Walt, oder vielmehr ſpaͤter. *)B. II. S. 10. Walt glaubte eilig, er meine eine von heute an zukuͤnf¬ tige Zukunft und ſagte, dahin komm 'es nicht; aber als Vult ihm am Datum zeigte, daß eine vergangne geſchildert ſei: ſo faßte der Notar ſeine Haͤnde mit beiden feſt, ſah ihm in die Augen und fing mit langem Ton der Ruͤhrung an: Vult! — Vult! — Den Floͤtenſpieler druͤckte es, daß er eini¬ ge Tropfen in die eignen Augen, uͤber die er mit den gefangnen Haͤnden nicht hin fahren konnte, mußte treten laſſen: „ nun, fuhr er auf, auch ich bin kein Kieſel; laſſe mich aber auf mein Zimmer ge¬ hen und auspacken,” und fuhr hinter die Buͤh¬ nenwand.
Er packte aus und ſtellte auf. Walt ging im ſeinigen auf und ab und erzaͤhlte ihm uͤber die Stadt heruͤber ſeine bisherigen Verſuche, ihren Seelen-Tauf-Bund zu erneuern. Alsdann kam er121 wieder in den Verſchlag und half ihm ſein Haus - oder Stubengeraͤthe ordnen. Er war ſo huͤlf-fer¬ tig, ſo freundlich-thaͤtig, er wollte dem Bruder ſo viel Plaz aufdringen ſamt Fenſter-Licht und Moͤbeln, daß Vult heimlich ſich einen Narren ſchalt, daß er ihm den eigenſinnigen Widerſtand in der Flittiſchen Wechſelſache zu hart nachgetra¬ gen. Walt hingegen ſtellte ſeiner Seits wieder heimlich den Floͤtenſpieler ins groͤßte Glanzlicht, dafuͤr daß er ihm zu Liebe den Widerwillen gegen Raphaela erſticke; und nahm ſich vor, alle ſchoͤ¬ nen Zuͤge deſſelben unbemerkt aufzuſchreiben, um ſie als Rezepte nachzuleſen, wenn er wieder knur¬ ren wolle. Die Guͤtergemeinſchaft und Stuben - Verbruͤderung wurde auf die hellſten Graͤnzvertraͤ¬ ge zuruͤckgebracht, damit man am Morgen gleich anfangen koͤnnte, beiſammen zu ſeyn. Schoͤn be¬ merkte Vult, man muͤſſe innerlich dem Zorne recht viel Plaz machen, damit er ſich abtobe und todt renne an den Gehirnwaͤnden; dann werde ja dem Menſchen nichts leichter als mit dem geſtorbenen Wolf im Herzen ein weiches Lamm zu ſeyn auſſen122 mit der Bruſt. Man koͤnnte aber hier noch an¬ dere Bemerkungen machen, z. B.
— Die ſtarke Liebe will fuͤr Fehler nur beſtra¬ fen und dann doch vergeben — — Wenn mancher von kleinen Beleidigungen der Freundſchaft zu tief getroffen wird: ſo iſt daran blos eine haſſende Denkungsart uͤber alle Menſchen ſchuld, die ihn dann in jedem einzelnen Falle ergreift und dieſen zum Spiegel des Ganzen macht. — — Die hoͤch¬ ſte Liebe kennt nur Ja und Nein, keinen Mittel¬ ſtand; kein Fegefeuer, nur Himmel und Hoͤlle; — und doch hat ſie das Ungluͤck, daß ſie Gebur¬ ten der Stimmung und des Zufalls, die nur zu Vorhimmel und Vorhoͤlle fuͤhren ſollten, zu Pfoͤrtnerinnen von Himmels - und Hoͤllenthoren macht — Beide kleideten von einander die eigen¬ thuͤmlichſten Gefuͤhle in allgemeine Saͤtze ein. Aber als Vult hinter dem Schirme ins Bett einſtieg: ſagt 'er: „ verſetze mir nichts darauf — denn ich ſtopfe mir eben die Ohren mit dem Kopfkiſſen zu — aber ich glaube ſelber, ich haͤtte dich bisher noch beſſer lieben koͤnnen. “— Nein, ich dich, ſchrie Walt.
123Brief des Biographen — Tagebuch.
Gegenwaͤrtiger Biograph der jungen Harni¬ ſche bekam nach dem Abſchluſſe der vorigen Num¬ mer, (des ſogenannten Pfefferfraßes,) von dem Haßlauer Stadt-Rathe vier neue — naͤmlich den fliegenden Heering 56, den Regenpfeifer 57, die Giftkuttel 58 und die Notenſchnecke 59 — ſammt einem aͤußerſt wichtigen Tagebuche Vults uͤber Walt. Darauf antwortete er den trefflichen Teſta¬ ments-Exekutoren Folgendes, was durchaus als ein Zeitſtuͤck der Flegeljahre hereingehoͤrt.
P. P.
Indem ich Ihnen, verehrlicher Stadtrath und Vollſtrecker, die Ausarbeitung der 55ſten Nummer Pfefferfraß zuſende und den Em¬ pfang der vier neueſten Naturalien, der Num¬ mern 56, 57, 58, 59, desgleichen des Vultiſchen Tagebuchs, beſcheinige: leg 'ich zugleich die vier Kapitel fuͤr das Nummern-Viereck bei, welche ich dadurch geliefert zu haben hoffe, daß ich das Vultiſche Tagebuch unzerzauſet einwob und es durch Ueberſchriften in Kapitel ſchnitt und andere124 Drucker-Sachen anflocht, z. B. Gaͤnſefuͤße, um Vults jetzige Worte von meinen kuͤnftigen zu ſchei¬ den. Man griffe ohne weiteres meinen Karakter an, wenn Sie mich deßhalb etwan einen Schelm, einen Naturalien-Raͤuber ſchoͤlten und einen Ar¬ beits-Knauſer. Saͤh' es ein verehrlicher Haßlauer Stadtrath etwan lieber, — was ſo unmoͤglich zu glauben —, wenn ich den herrlichen Vult, einen zwar außen ungemalten, aber innen ſchoͤn gla¬ ſirten Sauertopf, mit meinen Toͤpferfarben um¬ zoͤge? Oder kann irgend ein Teſtament anſinnen, daß ich einem fremden Karakter etwas aus meinem eignen vorſtrecke? Mich duͤnkt, ich und ſaͤmmtli¬ che poetiſche Weberſchaft haben oft genug bewie¬ ſen, wie gern und reich wir jedem Karakter — und waͤr 'er ein Satan oder Gott — von unſerem lei¬ hen und zuſtecken. Wir gleichen am wenigſten — dieß duͤrfen wir ſagen — jenem engliſchen Geitz¬ halſe, Daniel Dancer, welcher auf einen frem¬ den Acker nichts von dem, was die Natur bei ihm uͤbrig hatte, wollte fallen laſſen, ſondern wie toll vorher auf ſeinen eignen rannte mit der Sache. Sondern recht freudig leihet der Roman¬125 cier alles, was er hat und was er iſt, ſeinen geſchriebenen Leuten ohne das geringſte Anſehen der Perſon und des Karakters! Folglich haͤtte wohl niemand Vults Tagebuch ſo gern umge¬ ackert und beſaͤet als ich, waͤr' es noͤthig geweſen.
Andere Gruͤnde, z. B. Zeitmangel und Haus - Tumult ſchuͤtz 'ich nicht einmal vor, weil dieſe ſich auf perſoͤnliche Vertrauungen gruͤnden, wo¬ mit man wohl ſchicklicher das Publikum, als ei¬ nen verehrlichen Stadtrath, behelligt; worunter aber in jedem Falle die Nachricht gehoͤren wuͤrde, daß ich geſtern nach meinem Wechſelfieber des Wechſels — doch nur mit Staͤdten — wieder aus Koburg abgezogen bin nach Bayreuth. Niemand muß uͤberhaupt die Zeit mehr ſparen als einer, der fuͤr die Ewigkeit nicht ſo wohl lebt — das thut jeder Chriſt — als ſchreibt. Wie viel Blatt¬ ſeiten laͤſſet denn die Biographia britannica un¬ ſeres Ichs der Hiſtoriole des Univerſums uͤbrig? — Wie ohnehin alles uns Dichter druͤckt, ſchei¬ nen nur die alten Holzſchnittſchneider zu ahnen, wenn ſie Bienen und Voͤgel — dieſe bildlichen Verwandten unſers Honigs und unſers Flugs —126 blos als fliegende Kreutze zeichnen. Wer haͤngt an dieſen Kreutzen als wir Kreuztraͤger, z. B. Ihr teſtirter
Bayreuth, d. 13. Auguſt 1804. Biograph, J. P. F. Richter?
Jetzt geht Walts Geſchichte ſo fort, naͤmlich Vults Wochenbuch faͤngt ſo an:
„ Ich ſchwoͤre hiemit mir, daß ich ein Tage¬ buch wenigſtens auf I Vierteljahr ſchreiben will; hoͤr’ ich fruͤher auf, ſo ſtrafe mich Gott oder der Teufel. Von heute — dem Tage nach dem geſtri¬ gen Einzuge — geh 'es an. Ja wenn mich der Gegenſtand — nicht ich, ſondern Walt — hinge, pfaͤhlte, knebelte, zerfetzte, nach Siberien ſchickte, in die Bergwerke, in die zweite Welt, in die drit¬ te, ja in die letzte: ſo fuͤhr' ich das Wochenbuch fort; und damit ich nicht wanke, ſo will ich mit den Fingern, die man ſonſt dazu aufhebt, es herſchreiben:
Ich ſchwoͤre.
Die Welt — welche aber nie dieſes Blatt be¬127 kommen ſoll — kann ſich leicht denken, uͤber wen das Wochenbuch gefuͤhret werde; nicht uͤber mich. Ein Tagebuch uͤber ſich macht jeder Dinten-Mann ſchon an und fuͤr ſich, wenn er ſeine opera om¬ nia ſchreibt; bei einem Schauſpieler ſinds die Komoͤdienzettel; bei einem Zeitungsſchreiber die Jahrgaͤnge voll Welthaͤndel; bei einem Kaufmann das Korreſpondenzbuch; bei einem Hiſtorienmah¬ ler ſeine hiſtoriſchen Stuͤcke; Angelus de Con¬ stantio, der an ſeiner ſtoria de regno di Napoli 53 Jahre verſchrieb, konnte bei jeder Reichsbege¬ benheit ſich die ſeinigen obwohl nur auf 53 Jahre denken; und ſo ſchreibt jeder Verfaſſer einer Welt¬ geſchichte damit ſeine eigne mit unſichtbarer Dinte dazwiſchen, weil er an die Eroberungen, innern Unruhen und Wanderungen der Voͤlker ſeine eignen herrlich knuͤpfen kann. Wer aber nichts hat und thut, woran er ſeine Empfindungen bindet, als wieder Empfindungen: der nehme Lang - und Queerfolio-Papier und bringe ſie dazu, naͤmlich zu Papier. Nur wird er Danaiden - und Teufels¬ arbeit haben; waͤhrend er ſchreibt, faͤllt wieder etwas in ihm vor, es ſei eine Empfindung oder128 eine Reflexion uͤber das Geſchriebene — dieß will wieder niedergeſchrieben ſeyn, — kurz der beſte Laͤufer holet nicht ſeinen Schatten ein.
Und welch ein lumpiges knechtiſches katoptri¬ ſches Nach-Leben, dieſes grabes-luftige Zuruͤck¬ athmen aus lauer Vergangenheit ſtatt eines fri¬ ſchen Zugs aus friſcher Luft! Das fluͤchtige Ge¬ tuͤmmel wird ein Wachsfigurenkabinet, der bluͤ¬ hende flatternde Lebensgarten ein feſtes pomologi¬ ſches Kabinet. Iſts nicht tauſendmal kluͤger, der Menſch iſt von Gegenwart zu Gegenwart wie Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, und der froͤhliche Trieb thut ſeinen Windſtoß in die Blumen und Wellen hinein, wirft Blumenſtaͤubchen und Schif¬ fe an ihren Ort und gaͤhnt und ſtoͤhnt nicht wie¬ der erbaͤrmlich zuruͤck?
Hingegen ein Tage - und Wochenbuch uͤber andere! — Ich geſteh 'es meinem geneigten Leſer, dem guten Vult, dieß iſt etwas anderes; aber ich muß freilich ſehen und — anfangen.
Doch ſo viel laͤſſet ſich auch, ohne anzufangen, annehmen, daß mein Hausherrlein und Bruͤder¬lein129lein Walt, vielleicht zu einem hiſtoriſchen Roman (den Titel „ Toͤlpeljahre eines Dichters “verſchwoͤr 'ich nicht) zu verbrauchen iſt, naͤmlich als Held, beſonders da er eben in Liebes-Bluͤte und vollends gegen eine Haͤßlichkeit*)Gegen Raphaela, glaubt er. ſteht; wenn mich nicht der ganze neuliche Wechſel-Prozeß und ſein heißes Vertheidigen und Beſchauen ihres Geſichts und Herzens zu ſehr betruͤgt. Nur iſt durchaus er¬ forderlich, daß ich als der Beſchreiber des Lebens ihn geſchickt, wie eine herkulaniſche Buͤcherrolle, auseinander winde und dann kopire. Ich ſeh 'auch nicht ein, warum ich nicht uͤberhaupt ſo gut einen goͤttlichen Roman ſchreiben ſollte, wie Bil¬ lionen andere Leute. Mir ſelber iſt Schriftſtelle¬ rei ſo gleichguͤltig, Vult! Wie ich lebe, nicht um zu leben, ſondern weil ich lebe, ſo ſchreib' ich blos, Freund, weil ich ſchreibe. Worin ſoll denn das Ebenbild Gottes ſonſt beſtehen, als daß man, ſo gut man kann, ein kleines Aſeitaͤtchen**)aseitas, ſeine eigne Urſache ſeyn. iſt und — da ſchon Welten mehr als genugFlegeljahre IV. Bd. 9130da ſind — wenigſtens ſich Schoͤpfer taͤglich er¬ ſchafft und genießt, wie ein Meßprieſter den Ho¬ ſtiengott? — Was iſt uͤberhaupt Ruhm hienie¬ den in Deutſchland? Sobald ich mir nicht einen Namen machen kann, daß ich vom Niedrigſten bis zum Hoͤchſten taͤglich genannt, gelobt und vor Begierde verſchlungen werde — dieſen Namen aber hat in Deutſchland weiter niemand als Broi¬ hann, naͤmlich der erſte Bauer des Broihanns — ſo erhebe mich doch nie ein Journal, fleh 'ich. Eben ſo gern als einer Vergroͤßerung durch daſ¬ ſelbe, will ich einem Erzengel zu Gebote ſtehen, welcher mit einem mittelmaͤßigen Sonnen - und Weltenmikroſkop auf dem Marktplatz der Stadt Gottes etwas verdienen will und daher, um an¬ dern neugierigen Markt-Engeln die Wunder Got¬ tes und des Mikroſkops zu zeigen, mich als die naͤchſte Laus einfaͤngt und auf den Schieber ſetzt mit vergroͤßerten Gliedmaſſen zum allgemeinen Bewundern und Eckeln.
Dieß bei Seite, ſo merk 'ich noch fuͤr dich beſonders an, liebes Waͤltlein, falls du der zwei¬ te Leſer dieſes Wochenbuchs wuͤrdeſt, wie dein131 Vult der erſte iſt — in welchem Falle du aber ein ausgemachter ausgebaͤlgter Spitzbube waͤreſt, der ſein geſtriges Wort braͤche, nie in meine Papiere zu blicken — ja ich ſetz' es abſichtlich zur Strafe der Leſung fuͤr dich her, was ich jetzt behaupten werde, daß ich naͤmlich dich aͤchter zu lieben fuͤrchte als du mich liebſt. Waͤre dieß gewiß: ſo ging 'es ſchlimm. Sehr zu beſorgen iſt, mein' ich, daß du — ob du gleich ſonſt wahrlich ſo unſchuldig biſt wie ein Vieh — nur poetiſch lie¬ ben kannſt, und nicht irgend einen Hans oder Kunz, ſondern bei der groͤßten Kaͤlte gegen die beſten Haͤnſe und Kuͤnze, z. B. gegen Klothar, in ihnen nur ſchlecht abgeſchmierte Heiligenbilder deiner innern Lebens - und Seelenbilder knieend verehrſt. Ich will aber erſt ſehen.
Du wirſt dich nicht erinnern, Waͤltchen, daß ich dir geſtern oder heute oder morgen wei߬ gemacht, daß ich nicht aus andern Gruͤnden, ſondern deinetwegen allein in deine Schweiß -, Dachs - und Windhunds-Huͤtte eingezogen bin. Folglich log ich nichts vor. Nur keine Luͤge ſage der Menſch, dieſer Spitzbube von Haus aus! 132Faſt alles iſt gegen einen Geiſt eher erlaubt, weil er gegen alles ſich wehren kann, nur keine Luͤge, welche ihn wie ein altroͤmiſcher Henker die un¬ mannbare Jungfrau in der Form der innigſten Vereinigung ſchaͤnden und hinrichten will.
Schaueſt du alſo ſo ſehr ſpitzbuͤbiſch und ehr¬ vergeſſen in dieſes Journal: ſo erfaͤhrſt du hier nach dem vorigen Doppel-Punkt, daß ich ein Narr bin, und eine Naͤrrin will, mit Einem Wort, daß ich eben ein Fenſter von dir, — wie zu einer Hinrichtung Damiens um vieles Geld — gemiethet, blos um aus dem Fenſter mich ſelber hinzurichten, naͤmlich hinunter zu ſehen in den Neupeterſchen Park, wenn Wina, in die ich mich vergafft habe, zufaͤllig mit deiner Ra¬ phaela luſtwandelt. Ich freue mich darauf, wie wir beide an unſern Fenſtern ſtehen und hinab¬ ſchmachten und laͤcherlich ſeyn werden. Nichts iſt komiſcher als ein Paar Paare Verliebter; noch mehr waͤr 'es ganzer rechter und ein linker Fluͤgel, der ſeufzend einander gegen uͤber ſtaͤnde; — hin¬ gegen eine ganze Landsmannſchaft von Freunden ſaͤhe nur deſto edler aus.
133Fuͤr jeden iſt eine Frau freilich etwas ande¬ res; fuͤr den einen Hausmannskoſt, fuͤr den Dich¬ ter Nachtigallenfutter, fuͤr den Mahler ein Schau¬ eſſen, fuͤr Walten Himmelsbrod und Liebes - und Abendmahl, fuͤr Weltmenſchen ein indiſches Vo¬ gelneſt und eine pommerſche Gaͤnſebruſt — kalte Kuͤche fuͤr mich. Die Lungenſucht, welche Lie¬ bende und die Waͤrter der Seidenraupen — jene wollen ja auch Seide dabei ſpinnen — davon tragen, wird mich als Seladon eher verlaſſen als ergreifen, weil ich ſo lange die lungen-ge¬ faͤhrliche Floͤte einſtecke, als ich auf den Knieen liege und ſpreche. Ich bin dir aber wirklich ſehr gut, Wina, zumal da deine Singſtimme ſo ka¬ noniſch iſt und ſo rein! — Aber ich will denn mein heutiges Tagebuch uͤber den Bruder anhe¬ ben ...
Das vorſtehende war zur Teſtaments-Exe¬ kuzion abgeſchickt, als ich es von derſelben — dem trefflichen Kuhnold — mit dieſem Briefe wieder bekam:
134„ Verehrteſter Herr Legazions-Rath! Ich glaube nicht, daß die van der Kabelſchen Erben das bloße Einheften der zugefertigten Dokumente, wie das Vultiſche Tagebuch iſt, fuͤr eine hinlaͤng¬ liche Erfuͤllung der biographiſchen Bedingungen, unter welchen Ihnen das Naturalienkabinet teſti¬ ret worden, nehmen werden. Und ich ſelber bin, geſteh 'ich, mit den Vortheilen meines Geſchmacks zu ſehr dabei intereſſirt, als daß es mir gleich¬ guͤltig ſeyn ſollte, Sie durch Vult verdraͤngt zu ſehen. Ihr Feuer, Ihr Stil ꝛc. ꝛc. — — hul¬ digen*)Die Beſcheidenheit erlaubt nicht, Lobſpruͤche ſte¬ hen zu laſſen, die, wie leicht zu errathen, den Gegenſtand zu einem litterariſchen Pair ausrufen und die deſto groͤßer und folglich deſto unverdien¬ ter ſind, je feiner, gebildeter und aufrichtiger der Geſchmack des H. Buͤrgermeiſters bekanntlich iſt. . —
Dazu ſteht noch vieles andere dagegen. Es kommen im Verfolge des Vultiſchen Tagebuchs — zumal im Februar, wo er in vollen Flammen tobt — Stellen vor, deren Zyniſmus ſchwerlich durch den Humor, weder vor dem poetiſchen,135 noch ſittlichen Richterſtuhle, zu entſchuldigen ſteht. Z. B. die am 4ten Februar, wo er ſagt, „ das junge Leben als eine Sonne verſchlingend verdauen und es als einen Mond kaken “— Oder da, wo er dem dezenten Bruder, um ihn zu aͤr¬ gern, erzaͤhlt, wie er, da er kein Waſſer um ſich gehabt, um es ins vertrocknete Dintenfaß zu gießen, ſich doch ſo geholfen, daß er eintunken konnte, um ſein Paquet Briefe, ſeinen „ Briefbeu¬ tel “, zu ſchreiben. Das zweite mag eher hinge¬ hen, daß er, wenn er mit vielen Oblaten Paque¬ te geſiegelt und doch keine Siegelpreſſe und keine Zeit, ſondern zu viele Arbeit gehabt, ſich blos ei¬ ne Zeit lang darauf geſetzt, um andere Sachen zu machen unter dem Siegeln. Es ſind uͤber¬ haupt, Verehrteſter, in unſerer Biographie ſo manche Anſtoͤßigkeiten gegen den laufenden Ge¬ ſchmack — vom Titel an bis zu den Ueberſchrif¬ ten der meiſten Kapitel — daß man ihn wohl mehr zu verſoͤhnen als zu erbittern ſuchen muß.
Noch einen Grund erlauben Sie mir, da er der letzte iſt. Unſere Bieographie ſoll doch, der Sache, der Kunſt, der Schicklichkeit und136 dem Teſtamente gemaͤß, mehr zu einem hiſtori¬ ſchen Roman als zu einem nackten Lebenslauf ausſchlagen; ſo daß uns nichts verdruͤßlicheres begegnen koͤnnte, als wenn man wirklich merkte, alles ſei wahr. Werden wir aber dieſes verhuͤten — verzeihen Sie mein unhoͤfliches Wir — wenn wir blos die Namen veraͤndern, nicht aber den Stil der Akteurs? Denn wird man uns nicht auf die Spur kommen ſchon durch Vults unveraͤn¬ dert geliefertes Tagebuch allein, ſo bald man deſſen Stil mit dem Stil des Hoppelpoppels (auch dieſer Titel gehoͤrt unter die Geſammt - Ruͤge), den die Welt gedruckt in Haͤnden hat und deſſen Verfaſſer ſeit dem neulichen Artikel im litterariſchen Anzeiger jeder kennt, zuſammen zu halten anfaͤngt? O ich fuͤrchte zu ſehr. —
Aber alle dieſe Noten ſtoͤren die Verehrung nicht, womit ich ewig ꝛc.
Kuhnold.
Ich antwortete Folgendes:
„ Ich fluche, aber ich folge. Denn was haͤlf 'es, den Deutſchen zuzumuthen und das Bei¬137 ſpiel zu geben, nur wenigſtens auf dem Druckpa¬ pier — nicht einmal auf dem Reichsboden — ſo keck zu ſeyn als ihre Vorfahren im 16ten, 17ten Saͤkul auf beiden waren? Gedachte ſagen, ſie hofften ſeitdem von den Franzoſen weiter gebracht zu ſeyn. Unſer Diamant der Freiheit iſt aus un¬ ſerem Ringe in einen Drachenkopf gekommen, wo er nicht eher glaͤnzen kann als bis wir im Drachenſchwanze ſtehen.
Ich weiß nicht, ob ich mich dunkel erklaͤre, hoff es aber.
Trefflichſter! der Humoriſt hat zwar einen naͤrriſchen, widerlichen Berghabit zum Einfahren in ſeine Stollen; — er verleibt ſich zwar nach Vermoͤgen alle Aus - und Miß-Wuͤchſe der Menſchheit ein, um das Beiſpiel der Mißgebur¬ ten zu befolgen und zu geben, die in vorigen Jahrhunderten blos darum mit fleiſchernen Fon¬ tangen, Manſchetten und Pluderhoſen geboren wurden, um damit der Welt, wie die Strafpre¬ diger erriethen, ihre angezogenen vorzuwerfen; — und hiemit waͤre Vult entſchuldigt —; aber wie gedacht, ich folge und ſchlage nichts ein als den138 alten ariſtoteliſchen Mittelſteig, der hier darin be¬ ſteht, daß ich weder erzaͤhle, noch erdichte, ſon¬ dern dichte; und wenn Skaliger in einem Werk¬ chen von 8 Bogen uͤber ſeine Familie im Stande war, vierhundert und neun und neunzig Verfaͤl¬ ſchungen anzubringen, wie Scioppius gut erwie¬ ſen*)Mencken de Charl. erud. ed. IV. : ſo duͤrfte in einem Werkchen von eben ſo vielen Baͤnden die Doppelzahl davon eben ſo leicht als nuͤtzlich ausfallen.
Vor dem Errathen der wahren Namen un¬ ſerer Geſchichte duͤrfen wir, H. Buͤrgermeiſter, uns nicht aͤngſtigen, da bisher fuͤr keine von al¬ len Staͤdten, die ich in meinen vielen Romanen abkonterfeiet habe, der Buͤſchingiſche Name aus¬ geſpaͤhet wurde, ungeachtet ich in einigen davon ſelber wohnte, ſogar z. B. in Haelwebeemcebe und Efgeerenengeha.
Indeß erſuch 'ich die Teſtaments-Exekuzion, daß mir doch Vults Einleitung zu ſeinem Tage¬ buch ſammt unſerem Briefwechſel daruͤber in den fliegenden Heering (No. 56.) einzunehmen zuge¬139 laſſen werde, weil Sachen dadurch vorbereitet werden, die ohne das Tagebuch kein Menſch mo¬ tiviren kann, naͤmlich Vults ſchnelles Einzie¬ hen und Verlieben. Wahrlich Sie, verehr¬ licher Stadtrath, ſind gluͤcklich und erfahren nichts von den Vater - und Mutterbeſchwerungen ertraͤglicher Autoren. Sie als Menſchen ſtehen ſammtlich unter dem herrlichen Satze des Grun¬ des, und der Freiheit dazu, und alles was Sie nur machen oder ſehen, bekommen Sie ſogleich ſchon motivirt — — Aber Dichter haben oft die groͤ߬ ten Wirkungen recht gut fertig vor ſich liegen, koͤnnen aber mit allem Herumlaufen keine Urſachen dazu auftreiben, keine Vaͤter zu den Jungfernkin¬ dern. Wie ihnen dann Kritiker mitſpielen, die weniger mit als von kritiſchem Schweiſe — der hier die Krankheit, nicht die Kriſis iſt — ihr Brod verdienen, wiſſen der Himmel und ich am beſten.
Der ich verharre ꝛc. ꝛc.
J. P. F. R.
Meiner Bitte wurde, wie man ſieht, willfahren.
140Doppel-Leben.
„ Der Himmel beſteht wahrſcheinlich aus erſten Tagen — wiewohl die Hoͤlle auch — ſo ſehr jauchzet mich heute dein elendes Neſt an,” ſagte Vult beim Fruͤhſtuͤck. Beide gingen in ihre Wohnungen an ihre Arbeiten nach Hauſe. Vult ſchrieb am Tagebuch ein wenig und ſchnitt zwei brauchbare Ausſchweifungen ſogleich heraus fuͤr den Hoppelpoppel. Dann ſah er aus dem Fen¬ ſter und ſprach zur freundlichen Raphaela herab, welche auf Vaters Befehl im Garten Wach-ſte¬ hen mußte, weil man die Bildſaͤulen wie die Orangerie-Kaͤſten in die Winterquartiere trug. Da er voraus ſah, daß Walt ihn hoͤren muͤßte, ſo ſchneiete er zierlich-gefrorne Eisbluͤmchen von Anſpielungen auf Liebe, Kaͤlte, Halbgoͤtterchen und ganze Goͤttinnen hinab, welche, hofft 'er, Walts und Raphaelens Waͤrme ſchon zu ſchoͤnen bunten Tropfen aufthauen wuͤrden. Raphaela ließ aͤhnliche Eisblumen an ſeinen Scheiben an¬ ſchießen; und wurde im kalten Wetter des Gar¬ tens ſchoͤn geheitzt, blos weil Vult ein Mann141 und ein Edelmann war. Fuͤr manches Maͤdchen ſitze ein Ahnen-Mann auf ſeinem Stammbaum ſo eingliedert und zerſchoßen wie ein Schuͤtzenvo¬ gel am dritten Tage auf der Stange, ſie wird doch an ihm gern zur Koͤnigin und will ihn er¬ zielen. Mit einer Freude ohne Eiferſucht gab ſie ihm auf die Frage, wann der General mit ſeiner Tochter komme, die Hoffnung ihrer Naͤhe.
Kaum hatten die Gebruͤder mit groͤßerer Muͤhe wieder zu fliegen und zu ſcherzen angefan¬ gen im Roman: ſo ſtand Vult auf und murmel¬ te ſo zu ſich — Walt mußt 'es hoͤren —: „ ich wuͤßte nicht, warum ich nicht zu meinem einſa¬ men Bruder einmal einen Spaziergang machte, da die Wege von hier zu ihm noch ebener und fe¬ ſter ſind als ſelber in Churſachſen.” Darauf oͤff¬ nete er das Kapfenſterchen am gemahlten Palla¬ ſte der Buͤhnenwand und rief hindurch: kannſt du mich hoͤren? Ich haͤtte Luſt zu dir zu mar¬ ſchiren, wenn du eben allein waͤreſt. „ Du Schelm, du guter,” ſagte Walt. Jener reiſete denn um die Wand mit anderthalb Schritten und dem Wandnachbar entgegen mit vorgeſtreck¬142 tem Handſchlag ſagend: „ mich ſchroͤckt das Schneegeſtoͤber draußen wenig ab, dich in deiner Einſiedelei aufzuſuchen und ſie vielleicht zu ver¬ wandeln in eine lachende Zweiſiedelei. “— „ Bru¬ der, ſagte Walt, vom Schreibetiſch aufſtehend, koͤnnt' ich komiſch dichten oder duͤrfte man einen Freund abſchatten in Riſſen und Schattenriſſen: wahrlich ich ſchriebe jeden Schritt ab von dir. Aber ich glaube nicht, daß es ſich geziemt, ein geliebtes Herz auf den poetiſchen Markt zur Schau zu legen. Bin ich etwa zu ſehr im Schreib¬ feuer? “
„ Nein, verſetzte Vult, auch nicht im Rech¬ te; iſts Zufall oder was, daß du in der Stube wieder ein Linker biſt, und ich ein Rechter?*)Bekanntlich hießen im Dorfe Elterlein die fuͤrſt¬ lichen Unterthanen am rechten Bachufer die Rech¬ ten, die adelichen am linken die Linken. — Aber ich muß endlich nach Hauſe, Alter, und da ſpaßen — vor Welt und Nachwelt. “ Er ging. Walt hielt es fuͤr Pflicht, ihn auch bald zu be¬ ſuchen, um ihm die Einſperrung in eine halbirte143 Stube ein wenig zu vergelten. Er ſagte Vulten, wie heute ſo viele andere Zufaͤlle ſich zu ihrem Gluͤck vereinigten, daß z. B. der erſte Schnee falle, der von jeher etwas haͤusliches und heimi¬ ſches fuͤr ihn aus der Kindheit gehabt, gleichſam die Maienbluͤmchen des Winters — und daß er heute von hier aus die erſten Dreſcher hoͤre, dieſe Sprach - oder Spielwalzen des Winters. „ Du meinſt die Flegel, ſagte Vult; nur ſtoͤret ihr Takt meiner Floͤte ihren. “— „ Wie kommts bei¬ laͤufig, mein Alter, — ſagte Walt — daß ein faſt ſo einfaͤltiger Vers, der den Takt von drei Dreſchern nachklappen ſoll, etwas Anziehendes fuͤr mich hat: „ im Winter, mein Guͤnther, ſo driſcht man das Korn; wenns kalt iſt, nicht alt biſt, tapfer gefror'n. “— Es kann ſo ſeyn, ant¬ wortete Vult, daß der Vers in ſeiner Art vor¬ trefflich iſt, und nachahmend, wer wills wiſſen? — Oder auch, weil ihn uns unſer Vater ſo oft aus H. v. Rohrs Haushaltungs-Recht vorlas. Naͤmlich in Churſachſen hatte damals die Dre¬ ſcherzunft beſondere Geſetze. Z. B. wer wie du weißt, das halbe Vierte nicht nach dem Verſe144 draſch: Fleiſch in Toͤpfen, laßt uns hoͤpfen, be¬ kam 40 Streiche mit der Wurfſchaufel auf den Steiß. So wars ein Zunftartikel, daß man fuͤr jeden Zank in der Scheune einen neuen Flegel ab¬ geben mußte; eine Strafe, welche bei litterari¬ ſchen Zwiſtigkeiten ſchon im Fehler ſelber abge¬ fuͤhrt wird.
Beide hoben wieder das Schreiben an. „ Ich dachte jetzt daran — rief ihm Vult aus dem Pallaſtfenſterlein — als ich dich laut das Papier umwenden hoͤrte und innen hielt, wie von ſolchen Kleinigkeiten ganze europaͤiſche Staͤdte, fuͤr die wir etwa arbeiten, mit ihren feinſten Empfindun¬ gen geradezu abhaͤngen. Eine von Staub verdickte Dinte — oder eine elende weiße, die ſich ſpaͤter ſchwaͤrzt — ein aͤhnlicher beſtohlner Kaffer — ein rauchender Ofen — eine knuſpernde Maus — ei¬ ne verdammte rißige Feder — ein Bartſcheerer, der dich gerade mitten in deinem hoͤchſten Schuß durch den Aether einſaift und dir mit dem Bart die Fluͤgel beſchneidet — — ſind das nicht lauter elende Wolkenflocken, welcher einer ganzen Erde eine Sonne voll Strahlen, um einen Autor ſozu145zu nennen, verdecken koͤnnen? Es iſt ja or¬ dentliche Fopperei der Welt. Auf der andern Seite iſt es allerdings — ſchreibe aber dann fort — eben ſo ermunternd und erhaben, daß der Tropfe Dinte, den du oder ich nachher aus der Feder aufs Papier im Stillen hinfloͤßen, Waſſer fuͤr die Muͤhlraͤder der Welt ſeyn kann — aushoͤ¬ lendes Aetzwaſſer und Tropfbad fuͤr das Rieſen¬ gebirge der Zeit — ein Riechſpiritus und Hirſch¬ horngeiſt fuͤr manches Volk — der Aufenthalt des Meergottes als Zeitgeiſtes — oder ſonſt etwas aͤhnliches dem Tropfen, womit ein Banquier oder ein Fuͤrſt Staͤdte und Laͤnder uͤberſchwemmt. Gott! womit verdient man es, daß man ſo er¬ haben iſt? — Jetzt ſchreib aber. “
Abends gegen vier Uhr hoͤrte Walt deutlich, daß Vult zu Floren ſagte: „ eh 'du uns betteſt, ſchoͤnes Kind, ſo laufe zum H. Notarius Har¬ niſch, in meiner Nachbarſchaft, und ich ließ' ihn bitten, dieſen Abend zum Thee, auf einen Thé marchant — und bringe nur mir Licht, weil er dann keines braucht. “— Walt erſchien, um das erſtemal in ſeinem Leben einen Thee anders alsFlegeljahre IV. Bd. 10146nach Laxiermitteln zu trinken. Vult gab ihn mit Wein, den er nie vergaß zu borgen. „ Wenn die Alten ſchon den Ahorn mit Wein begoſſen, wie viel mehr wir den Lorbeer! — Wer einen Hoppelpoppel ſchreibt, ſollte ohnehin einen Hop¬ pelpoppel trinken, ja er ſollte beides vereinen, und ein Punſch-Royaliſt werden, wenn du weißt, was Punsch royal iſt. Ich genieße das Leben sub utraque. “ Beide fuͤhrten darauf ihre guten Diskurſe wie Menſchen pflegen und ſollen. Vult: „ Ich ſprech unendlich gern — vorher eh 'ich das Geſprochne aufſchreibe. Tauſend Sachen laſſen ſich erfinden, wenn man keift und kriegt. Daher kommts vielleicht, daß man auf Akademien ſich in alle Wuͤrden und Erlaubniſſe, zu lehren, nicht wie an Hoͤfen hineinſchmeichelt, ſondern hinein¬ zankt, d. h. diſputirt, wozu Sprechen ſo noͤthig, z. B. ſo bring ich ſelber dieſen Einfall oder den vormittaͤgigen vom Flegel zu Papier. “— Walt: „ darum werden Briefe als Nachhalle der Ge¬ ſpraͤche ſo geſchaͤtzt. “— Vult: „ denn ſogar zum Philoſophiren iſt ein zweites Menſchengeſicht be¬ huͤlflicher als eine weiße Wand - oder Papier¬147 Seite. ” — Walt: „ O Lieber, wie haſt du Recht! Doch kann es nicht ſo ſehr auf poetiſche Darſtel¬ lungen paſſen, als auf ſcherzhafte und witzige und philoſophiſche; dir hilft Reden mehr, mir ſchweigen. ” — Vult: „ Der Winter iſt uͤberhaupt die furcht¬ barſte Lettern-Zeit; Schneeballen gefrieren zu Buͤcherballen. Hingegen, wie reiſet und fliegt ein Menſch im Lenz! Hier waͤren Bilder leicht; aber die Oſtermeſſe iſt der beſte Beweiß. ” — Walt: „ Es iſt, als wenn der Menſch von neuen Bergen aus Wolken umſchloſſen, ohne Himmel und ohne Erde, blos im Meer des Schnees trei¬ bend — ſo ganz allein — kein Sington und keine Farbe in der Natur — ich wollte etwas ſagen; naͤm¬ lich der Menſch muß aus Mangel aͤußerer Schoͤ¬ pfung zu innerer greifen.”
Vult: „ Trink 'dieſe Taſſe noch. O ſehr wahr! Wiewohl wir heute eben nicht viel geſchrieben und ich gar nichts.”
Beide bedauerten nur, daß ihre ſo ſchoͤne Ge¬ meinſchaft der Guͤter durch Mangel an Guͤtern etwas geſtoͤrt wuͤrde, indem alles, was ſie von Gold in Haͤnden haͤtten, ſich blos auf die Gold¬148 finger daran einſchraͤnke. Weder Vult konnte auf dem Inſtrumente, das er blies, noch Walt mit den Inſtrumenten, die er jetzt ſelten zu machen bekam, ſich viel verdienen. Armen-Anſtalten fuͤr beide mußten getroffen und jeder der Allmo¬ ſen-Pfleger des andern werden. Noch heute, ja auf der Stelle mußte ein Zauberſchlag von un¬ abſehlichen Folgen gethan werden; ſie thaten ihn im Weinfeuer mit vier Armen.
Sie ſchickten die erſten Kapitel und Aus¬ ſchweifungen des Hoppelpoppel oder das Herz an den Magiſter Dyk in Leipzig zum Verlage.
Denn ein Werk kann immer mit dem hintern Ende noch in der Schneckenſchale des Schreib¬ pultes wachſen, indeß das vordere mit Fuͤhlhoͤr¬ nern ſchon auf der Poſtſtraße kriecht. Sie ſetzten ihre erſte Hofnung guͤtiger Annahme darum auf den Magiſter, weil ſie glaubten, ein Buchhaͤnd¬ ler, der ſelber ein Gelehrter iſt, habe doch immer mehr pruͤfenden Geſchmack fuͤr Manuſkripte als ein Buchhaͤndler, der erſt einen Gelehrten haͤlt, wel¬ cher pruͤft.
Walt mußte im Briefe — auf Vults Welt¬149 Rath — ſich ſtolz gebehrden und viel begehren, und ſich alle Rechte der folgenden Auflagen vor¬ behalten. „ Da Milton — ſetzte er hinzu — 12 Guineen fuͤr ſein verlohrnes Paradies einſtrich: ſo wollen wir, um in Leipzig zu zeigen, wie we¬ nig wir uns ihm gleichſetzen, acht und vierzig be¬ gehren. ” — Der Notar erſtaunte, daß ein Autor, beſonders er, die große Gewalt ausuͤbe, Papier, Druck, Format, und Staͤrke der Auflage — 3000 Exemplare wurden dem Magiſter zu drucken erlaubt — dem Verleger vorzuſchreiben.
Vult trug darauf ſelber die Kapitel auf die ſaͤchſiſche Poſt, um, wie er ſagte, einmal wieder die Welt zu ſehen.
Am Tage darauf ſchufen beide ſehr. Ein junger Autor glaubt, alles was er auf die Poſt ſchickt, ſei ſchon dadurch verlegt und gedruckt, und ſchreibt darum fleißiger. Kein Beſuch, kein Feſt, kein Menſch, kein Brief ſtoͤrte ſie. Vult hatte kein Geld und Walt war zum Sitzling geboren. Dichter bauen, wie die afrikaniſchen Voͤl¬ ker, ihre Brodfelder unter Muſik und nach dem Talte an. Wie oft fuhr Walt uͤbergluͤcklich vom150 Seſſel auf und durch die Stube mit der Feder in der Hand (Vult ſah oben uͤber die ſpaniſche Wand hinein und merkt 'es an) und ans Fenſter und ſah nichts und konnte den ſuͤſſen Sturm kaum aus der Bruſt aufs Papier bringen und ſetzte ſich wieder nieder! Darauf ſagt' er uͤberflieſſend: „ Floͤte immer, mein Vult, du ſtoͤreſt mich nicht; ich gebe gar nicht darauf Acht, ſondern verſpuͤre nur im Allgemeinen das Ertoͤnen vor¬ theilhaft. “— „ Sagt mir lieber, ihr Kautz, von was ich jetzt auszuſchweifen habe in Euerem Kapitel, damit wir beiſammen bleiben? “ſagte Vult.
Ueber dem Eſſen — bald auf Walts, bald auf Vults Zimmer — dehnten beide die Mahlzeit in die Laͤnge, die aus Einer Porzion fuͤr zwei Menſchen beſtand, weil kein Wirth die zweite herborgte (was jedoch das Beiſammenwohnen deſto ſchoͤner motivirt), und zwar dadurch, daß ſie mit hoͤherem Geſchmacke ſprachen als mit koͤr¬ perlichem und mehr Worte als Biſſen uͤber die Zunge brachten. Sie rechneten aus, um wie viele Meilen die erſten Kapitel dem Magiſter Dyk151 ſchon naͤher waͤren, mit welchem Feuer der Hoppelpoppel ihn durchgreifen und aus allen Fu¬ gen ſchuͤtteln wuͤrde und ob das Drucken etwa, wenn es anginge, nicht ſo ſchnell fortginge, daß mit dem Schreiben kaum nachzukommen waͤre. — Vult bemerkte, wenn ein Romanſchreiber ge¬ wiß wuͤßte, daß er ſterben wuͤrde — z. B. er braͤchte ſich nur um — ſo koͤnnt 'er ſo ſeltſame herrliche Verwicklungen wagen, daß er ſelber kein Mittel ihrer Aufloͤſung abſaͤhe, auſſer durch ſeine eigne; denn jeder wuͤrde, wenn er todt waͤre, die durchdachteſte Entwicklung vorausſetzen und darnach herum ſinnen. „ Weißt du denn gewiß, „ Walt, daß du am Leben bleibſt? Sonſt waͤre „ manches zu machen. — Inzwiſchen ſeh' ich „ jetzt in unſrer Stube herum und denke daran, „ wie auffallend, falls wir nun beide durch un¬ „ ſern Hoppelpoppel uns unter Ehrenpforten und „ in Unſterblichkeits-Panthea hinein ſchrieben, „ unſer Neſt wuͤrde geſucht und beſucht werden — „ jeden Bettel, den du an die Wand ſpuckteſt, „ wuͤrde man wie aus Rouſſeau's Stube auf der „ Peters-Inſel abkratzen und abdrucken — die152 „ Stadt ſelber bekaͤme einigen Namen, wahr¬ „ ſcheinlich nach Aehnlichkeit von Ovidiopolis „ den Namen Harnischopolis — Was mir aber „ die perſoͤnliche Unſterblichkeit verſaͤuert, iſt, „ daß mein Name nur lange waͤhrt, nicht „ lang*)Lange bezieht ſich auf Zeit, lang auf Raum. . O wer es wiſſen koͤnnte bei der Tauf¬ „ ſchuͤſſel, daß er ſich einen großen Namen mach¬ „ te, wuͤrde ſich ein ſolcher Mann, wenn er ſonſt „ ſcherzt, nicht einen der ausgeſtreckteſten erkie¬ „ ſen, zum Beiſpiel (denn der Sinn hat nichts „ zu ſagen) den Namen, den ſchon ein Muſkel „ fuͤhrt, naͤmlich Mr. Sternocleidobronchocri¬ „ cothyrioideus. Beleſene Damen kaͤmen zu „ ihm und redeten ihn an: H. Sternocl und „ koͤnnten nicht weiter. Militairs thaͤtens nach „ und ſagten: H. Sternocleido! — Die Gelieb¬ „ te allein ſuchte den Namen auswendig zu koͤn¬ „ nen und liebt 'ihn ſo lange als ſie ausſpraͤche: „ theurer M. Sternocleidobronchocricothyrioid! „ Er wuͤrde gern zitirt von Gelehrten, weil ſchon „ ſein Name eine Zeile gilt vor Setzern und Kaͤu¬153 „ fern. — Apropos! Warum ſchickt denn der „ Sieben-Erbe Paßvogel nicht den erſten Korrek¬ „ turbogen, gemaͤß allen Teſtaments-Klauſeln „ in Haßlau? “
„ Der Autor beſſere noch an der Handſchrift, „ ließ er mir vorgeſtern ſagen, “ſagte Walt. — Darauf verſchnauften ſich beide in der Luft. Wie manchen fluͤchtigen Zug der hoͤhern Staͤnde ſchnapp¬ te der Notar auf der Straße im Vorbeigehen auf fuͤr ſeinen Roman. Die Art, wie ein Haßlauer Hofkavalier aus dem Wagen ſprang oder wie ei¬ ne Graͤfin aus dem Fenſter ſah, konnte roman¬ tiſch niedergeſchrieben werden und Ein Mann fuͤr Tauſend ſtehen und fallen! Dieſe Uebertragungs - Manier, ein Farbenkorn zu einer erhobenen Ar¬ beit zu machen, erleichtert Bauernſoͤhnen das Studium der hoͤhern Staͤnde unglaublich. Aus demſelben Grunde beſuchte Walt am liebſten die Hofkirche und that die Augen auf.
Alsdann ging man nach Hauſe und ans Er¬ ſchaffen, das ſo lange waͤhrte bis es finſter wur¬ de. Auf die Daͤmmerung verſchoben ſie — um Licht zu erſparen — theils weitlaͤuftigere Geſpraͤche,154 theils Floͤte. Wenn Vult ſo blies hinter der Wand und Walt ſo dort ſaß im Finſtern und in den blauen Sternenhimmel ſah und an den Mor¬ gen in Roſenhof dachte und an Wina's Herz und Wiederkunft und unter dem mondhellen Floͤten - Lichte ſein klippenvolles Leben eine romantiſche Gegend wurde: o ſo ſtand er oft auf und ſetzte ſich wieder hin, um den Bruder dadurch im Bla¬ ſen nicht zu ſtoͤren, daß er ihm bekannte, wie ihn jetzt die Minuten in Brautkleidern umtanzten und mit Roſenketten umfloͤchten. Aber wenn er ausgeblaſen hatte, und nach der langen Polar¬ daͤmmerung Licht kam: ſo ſah ihn Walt forſchend an und fragte froh: „ biſt du zufrieden, Bruder, mit dieſer ſuͤſſen Enge des Lebens; und mit den Orcheſter-Toͤnen und innern Zauberbildern, die wir heute vielleicht eben ſo reich, nur ungeſtoͤr¬ ter, genoſſen haben als irgend ein großer Hof? “— „ Eine wahre Himmelskarte iſt unſer Leben, verſetzte Vult, freilich vor der Hand nur ihre weiſſe Kehrſeite; doch einen Thaler, den mir je¬ mand auf die Karte legte, ſaͤh 'ich nicht mit Un¬ luſt. “
155Am Morgen darauf ſprach Walt von ſeinen ſchoͤnen Ausſichten auf die floͤtende Nachtigallen - Daͤmmerung. Etwas muͤhſam wurde Vult zu einer neuen Wiederſchoͤpfung des melodiſchen Him¬ mels gebracht. Aber mit deſto groͤßerem Feuer erzaͤhlte darauf der Notar, wie gluͤcklich er die daͤmmernde harmoniſche Hoͤrzeit angewandt ha¬ be, naͤmlich zur Verfertigung einer Replik und eines Streckverſes im Roman; der Held ſei, — hab 'er unter der Floͤte gedichtet — getadelt wor¬ den, daß er uͤber das Wort einer alten, kranken, dummen Frau, welche ihn fuͤr ſeine Gaben an jedem Abend in ihr Gebet eifrig einzuſchlieſſen verſprochen, ſich innigſt erfreuet, allein der Held habe verſetzt: nicht ihres Gebetes Wirkung auf ihn waͤre ihm etwas, ſogar wenn dieſe gewiß waͤ¬ re, ſondern die auf ſie ſelber, daß ein ſo frieren¬ des Weſen doch jeden Abend in eine ſchoͤne Erhe¬ bung und Erwaͤrmung gelange. „ Iſt das kein wahrer Zug von mir, Vult? “
„ Es iſt ein wahrer von dir (ſagte Vult). In der Kunſt wird, wie vor der Sonne, nur das Heu warm, nicht die lebendigen Blumen. “ 156Walt verſtand ihn nicht; denn oft kam es ihm vor, als finde Vult zuweilen ſpaͤter den Sinn als das Wort.
Im naͤchſten Daͤmmerungs-Feiertag, und Feierabende, naͤmlich im dritten, war der dritte abgeſchaft, Vult griff kein Floͤtenloch, blies kei¬ ne Note. Aber der Bruder nahm den kuͤnſtleri¬ ſchen Eigenſinn nicht uͤbel, hielt den Bruder fuͤr ſo gluͤcklich als ſich und wandte nichts ein gegen einen Wechſel der Daͤmmer-Partien. „ Hab 'ich denn nicht eine Luftroͤhre wie du, ſo gut zu Lau¬ ten gebohrt als die Floͤte? Kann ich denn dir nichts ſagen, ohne das Holz ins Maul zu ſte¬ cken? — Diſkuriren wir lieber beiderſeits,” ſag¬ te Vult.
In den folgenden Daͤmmerungen kehrte die¬ ſer zur alten Sitte zuruͤck, hinter den Laternen¬ anzuͤndern die Gaſſen zu durchſtreifen — ein Abentheuer mit einer Schauſpielerin zu beſtehen — Burgunder allein zu borgen (Walten hielt er, ſeit dieſer ihn mit Zucker abſuͤßte, keines mehr wuͤrdig) — mit der Floͤte in fremde Floͤten auf der Gaſſe oder in die Kuliſſe einzutreten — und157 ſich endlich auf dem Kaffee-Hauſe halb todt zu aͤrgern, daß er am Ende ſo gut als einer, ſich unter die Haßlauer miſche, und, allmaͤhlich hin¬ abgewoͤhnt, ſich mit ihnen in Geſpraͤche verflech¬ te, da er doch mit der feſteſten Verachtung im Sommer angekommen ſei.
Walt blieb freudig zu Hauſe; er fand in den kleinſten Bluͤmchen, die durch einen Schnee hin¬ durch wuchſen, ſo viel Honig als er brauchte. Als die Tage abnahmen: ſo freuete er ſich uͤber die Laͤnge der Abenddaͤmmerung ſo wie des geſtirn¬ ten Morgens; ohne dabei zu vergeſſen, daß er ſich eben ſo gut, nur ſpaͤter, uͤber die Zunahme freuen wuͤrde. Der Mond war eigentlich ſein Gluͤcksſtern, ſo daß er ihm in jedem Monate nicht viel weniger als 27 ſchoͤne Abende oder Morgen herunterwarf; denn beinahe 14 Tage (nur die Paar erſten ausgenommen) konnt 'er auf deſſen Wachsthum bauen; — von Vollmond bis zum letzten Viertel, wurde ohnehin Elyſiums Schimmer, blos ſpaͤter, oft uͤber ſeinem Bette aufgetragen, und das letzte Viertel gab den Mor¬ genſtunden Silber in den Mund. Da einmal158 gerade in der Daͤmmerung Ballmuſik gegen uͤber war: ſo nahm er ſich ſein Stuͤck Winterluſtbar¬ keit heraus, ſo gut wie einer. Die Muſik drang unſichtbar, ohne den Armen-Zickzack und die Backen-Kurven des Orcheſters, nur entkoͤrpert mit ſeligen Geiſtern in ſein daͤmmerndes Stuͤb¬ chen. Er ſtellte ſich zum Tanzen an, und weil es ihm an den ſchoͤnſten Taͤnzerinnen nicht fehl¬ te — da ganze Harems und Nonnenſchaften dar¬ in waren und mehrere Roſenmaͤdchen und alles —: ſo zog er Goͤttinnen von ſolchem Glanz zum Tanzen auf und machte mit ihnen — obwohl leiſe, um unter ſeinen Fuͤßen nicht rezenſirt zu werden — nach den fernen Takten, die er beglei¬ tete, ſo gut ſeine Pas, ſeine Seiten -, ſeine Vorpas zu Hopstaͤnzen, zu Eier - zu Schalltaͤn¬ zen, daß er ſich vor jedem ſehen laſſen durfte, der nichts ſuchte als einen muntern Geiſt, der im Finſtern umher ſetzt. Was er in der Selig¬ keit zu ſcheuen hatte, war blos Vults ploͤtzlicher Eintritt.
Ihn — der ohnehin nicht gewohnt war, daß er etwas hatte — druͤckte kein Entbehren, er hatte159 Phantaſie, welche helles Kryſtalliſazionswaſſer iſt, ohne welches die leichteſten Formen des Lebens in Aſche zerfallen.
Doch wurde ſein Himmel nicht immer ſo phantaſtiſch weit uͤber die Luͤfte der Erde hinaus gehoben, er wurde auch zuweilen ſo real herun¬ ter gebaut wie ein Theater - oder ein Betthimmel. An Sonntagsgelaͤuten, am Hofgarten, an friſcher kalter Luft, an Winterkonzerten (die er unten auf der Gaſſe ſpazierend hoͤrte) hatt 'er ſo viel Antheil als irgend eine Perſon mit Schluͤſſel und Stern, der im Innern gerade beide fehlen. Aß er ſein Abendbrod, ſo ſagt' er: „ der ganze Hof ißt doch jetzt auch Brod wie ich;” dabei ſetzte und benahm er ſich zierlich und artig, um ge¬ wiſſermaſſen in guter Geſellſchaft zu ſitzen. An Sonntagen kauft 'er in einem guten Hauſe ſich einen der beſten Borsdorfer Aepfel ein und trug ihn ſich Abends in der Daͤmmerung auf und ſagte: „ ganz gewiß werden heute an den ver¬ ſchiedenen Hoͤfen Europens Borsdorfer ausgeſetzt, aber nur als ſeltner Nachtiſch; ich aber mache gar meinen Abendtiſch daraus — und wenn ich160 mehr Leibliches begehre, du guter Gott, ſo er¬ kenne ich deine Guͤte nicht, die mir ja in Einem fort mit ſtillſten Freuden wie mit tiefen Quellen die Seele uͤberfuͤllt.”
Im durchſichtigen Netze ſeiner Phantaſie fing ſich jeder voruͤberſchießende Freuden-Zwei¬ falter — dazu gehoͤrte ſogar ein erwachender gel¬ ber Schmetterling im Gartenhaus — jeder Stern, der ſtark funkelte — italieniſche Blumen, deren deutſchen Treibſcherben zwiſchen Schauls er auf der Gaſſe aufgeſtoßen — eine bekraͤnzte, zwiſchen Andacht und Putz gluͤhende Braut — ein ſchoͤnes Kind — ein Kanarienvogel in der Webergaſſe, der mitten im deutſchen Winter in Kanarieninſeln und in Sommergaͤrten hinuͤber ſchauen ließ — und alles.
Flog Flora, die Bettmeiſterin, mit hellen Geſaͤngen die Treppen herauf, ſo hoͤrte er erſte Saͤngerinnen fuͤr ſeinen Theil. —
Einſt an einem Markttage hatt 'er halb Ita¬ lien mit einem ganzen Fruͤhling um ſich. Der Tag ſchien dazu erleſen zu ſeyn. Es war ein ſehr kalter und heller Winternachmittag, worinMuͤcken161Muͤcken in den ſchiefen Strahlen ſpielen, als er im Hofgarten — den der gute Fuͤrſt jeden Winter dem Publikum oͤffnen ließ — die ſilbernen Schneeflocken der Baͤume unter der blitzenden Sonne in weiße Bluͤten, die den Fruͤhling uͤberluden, umdachte und darunter weiter ſpazierte. So ploͤtzlich auf die Fruͤhlings-Inſel ausgeſetzt, ſchlug er in ihr die heiterſten Wege ein. Er machte einen nahen an der Bude eines Saͤmereienhaͤndlers vorbei und hielt ein wenig vor deſſen Budentiſch, nicht um eine Duͤte zu kaufen — wozu ihm ein Beet fehlte, da alle ſeine Morgen Lands nur in ſeinem Mor¬ genland beſtanden — ſondern um den Samen von franzoͤſiſchen Radieſen, Maienruͤben, bunten Feuerbohnen, Zuckererbſen, Kapuzinerſalat, gel¬ bem Prinzenkopf zu denken und zu riechen und auf dieſe Weiſe (nach Vults Ausdruck, glaub ich) einen Vorfruͤhling zu ſchnupfen. In der That geht unter allen Sinnen-Wegen keiner ſo offen und kurz in das feſt zugebauete Gehirn als der durch die Naſenhoͤhlen.
Darauf holte er ſich beim Buͤcherverleiher vie¬ les, was er von guten Werken uͤber Schmetter¬Flegeljahre IV. Bd. 11162linge, Blumen - und Feldbau erwiſchen konnte — und las aufmerkſam in den Werken, um ſich die Lenz-Sachen vorzuſtellen, die darin auftraten. Blos das Oekonomiſche, Botaniſche und Natur¬ hiſtoriſche uͤberhuͤpfte er ohne beſondern Verſtand und Eindruck, weil er auf wichtigere Dinge zu merken hatte.
Als der Bruder fort war, ſtand gerade die Abendroͤthe am Himmel und auf dem Schneege¬ buͤrg, dieſes Vorſtuͤck Aurorens, dieſer ewige Wie¬ derſchein des Fruͤhlings.
Ueber das Haus heruͤber war ſchon das Monds¬ viertel geruͤckt, und konnte, nicht weit von der Roͤthe, zugleich mit ihr in ſein Stuͤbchen kleine Farben und Strahlen werfen. „ Wenn nicht der Winter nur eine laͤngere Polar-Morgenroͤthe des Fruͤhlings fuͤr die Menſchen iſt, ſagt 'er, indem er aufſtand, ſo weiß ich in der That nicht was ſonſt. “ Der ganze Nachmittag war voll Fruͤhling geweſen — und jetzt in der Abendſtunde quoll gar ein Nachtigallenſchlag wie aus einem aͤußern Bluͤ¬ tenhain in ſeinen innern heruͤber. Er nahm einen Judenjungen, der im naͤchſten Wirthshaus ſchlug,163 fuͤr eine wahre Nachtigall. Ein unmerklicher Irr¬ thum, da die Philomele, die uns ſingt, eigent¬ lich doch nirgends ſitzt und niſtet als in unſerer Bruſt! Schnell, wie von einem Zauberer, wur¬ den die ſteilen Felſenwaͤnde ſeiner Lage umher mit Epheu und mit Bluͤmchen uͤberzogen. Der Mond kam heller herein und Walt ſtand und ging mit¬ ten in ſeinem leiſen Glanze traͤumend betend, es war ihm als hoͤben und hielten ihn die geraden Strahlen und als habe er jeden gemeinen Gegen¬ ſtand im Zimmer oder auf der Gaſſe mit Feſtta¬ peten zu verhuͤllen, damit der Himmel nur Himm¬ liſches auch auf der Erde beruͤhre. „ So war es ge¬ rade einſt, “ſang er mehrmals, auf jenen Abend deu¬ tend, wo er neben Wina's Zimmer mondſtill auf und ab ging. Ja er improviſirte ſingend den Polymeter:
„ Liebſt du mich “, fragte der Juͤngling die Geliebte jeden Morgen; aber ſie ſah erroͤthet nie¬ der und ſchwieg. Sie wurde bleicher und er fragte wieder, aber ſie wurde roth und ſchwieg. Einſt als ſie im Sterben war, kam er wieder und fragte, aber nur aus Schmerz: „ liebſt du mich nicht? “— und ſie ſagte Ja und ſtarb.
164Er verſang ſich immer tiefer in ſein Herz — Zeit und Welt verſchwand — er ſpielte wie eine ſterbende Ephemere ſuͤß in den hellern Strahlen des Mondes und unter Mondsſtaͤubchen —: da kam Vult heiter zuruͤck und brachte die Nachricht, Wina ſei angekommen, deckte aber ſogleich deren Werth fuͤr ihn ſelber durch eine zweite luſtige zu (und lachte ſtark) „ daß er naͤmlich, ſagt 'er, im Vorbeigehen zu ſeinem Schuſter gegangen, um ihn zu fragen, ob er denn ſeit 14 Tagen keinen 15ten gefunden, um die Rehabilitirung, Palin¬ geneſie, Peterſenſche Wiederbringung ſeiner Stiefel (ſo druͤcke mancher leider ihr Beſohlen aus) zu vol¬ lenden; er habe ihn aber nicht eher als auf dem Ruͤckwege gefunden, wo er auffallend ihm immer rechts in die Schattenſeite ausgebogen; — bis er nach langem Predigen geſehen, daß der Mann die Stiefel, welche der Bußtext der Kaſualrede waren, an den Beinen bei ſich habe, und herumtrage, um ſie erſt noch etwas abzutreten, bevor er ſie flicke. “ „ War dieſer Spaß, der noch dazu voll Anſpielungen ſteckt, nicht ſo viel werth als das beſte Paar Stiefel ſelber? “— „ Iſt er denn ſo165 ſonderlich? “ſagte Walt. — „ Warum, fragte Vult beſtuͤrzt, ſiehſt du ſo ſonderbar aus? Wareſt du traurig? “— „ Ich war ſelig, und jetzt bin ichs noch mehr, “verſetzte Walt, ohne ſich weiter zu erklaͤren. Die hoͤchſte Entzuͤckung macht ernſt wie ein Schmerz und der Menſch iſt in ihr eine ſtille Scheinleiche mit blaſſem Geſicht, aber innen voll uͤberirdiſcher Traͤume.
Erinnerungen.
Der Notarius erwartete am Morgen nichts geringeres und gewiſſeres als einen Bedienten auſ¬ ſer Athem, der ihn eilig vor das Schreibepult des Generals beſtellte. Nichts kam. Der Mittelmann glaubt, die Obermaͤnner ſtehen darum auf den hoͤhern Sproſſen der Staatsleiter, um beſſer die Nachſteiger zu uͤberſchauen; indeß er ſelber das Auge weniger auf den Kopf ſeines Nachſteigers als auf den Hintern ſeines Vorſteigers heftet; und ſo alle auf und ab. Die mittlern Staͤnde haben den hoͤhern keine andere Vergeßlichkeit ſchuld zu166 geben als die, welche die niedern wieder ihnen vor¬ werfen.
Die Daͤmmerung konnte Vult kaum erwar¬ ten, um ein Daͤmmerungsfalter zu werden und auszuflattern; Walt zaͤhlte eben ſo ſtark darauf, um ein Daͤmmerungs - ein Nacht - und ein Tag¬ falter zugleich zu ſeyn, aber nur geiſtig und nur daheim.
Himmel! er wurd 'es ſo ſehr! Denn als Vult ganz ſpaͤt und nicht in beſter Laune nach Hauſe kam, fand er Walten hingegen darin, naͤmlich in beſter — feurig ſchreitend — faſt ver¬ juͤngt, ja verkindlicht — ſo daß er ihn fragte: „ du haſt, ich ſchwoͤre, heute Geſellſchaft gehabt oder geſehen und zwar die angenehmſte, nur weiß ich nicht welche. (Er meinte heimlich Raphaela). Oder hat der Magiſter Dyk gut geſchrieben? “
„ Ich erinnerte mich, verſetzte Walt, den ganzen Abend fort und zwar der Kindheit; denn ſonſt hatt 'ich noch nichts. — Lehre mich dieſe Gedaͤchtnißkunſt, ſagte Vult. — „ Das Schul¬ meiſterlein Wutz von J. P. macht' es wie ich, ſo wunderbar erraͤth ein Dichter das Geheimſte. Ich167 moͤchte wohl Tage lang uͤber die kleinen Fruͤhlings¬ bluͤmchen der erſten Lebenszeit reden und hoͤren. Im Alter, wo man ohnehin ein zweites Kind iſt, duͤrfte man ſich gewiß erlauben, ein erſtes zu ſeyn und lange zuruͤckzuſchauen ins Lebens-Fruͤh¬ roth hinein. Dir offenbar 'ichs gern, daß ich mir hoͤhere Weſen, z. B. Engel ordentlich weniger ſe¬ lig aus Mangel an Kindheit denken kann, wie¬ wohl Gott vielleicht keinem Weſen irgend eine Kindheits - oder Vergißmeinnichts-Zeit mag ab¬ geſchlagen haben, da ſogar Jeſus ſelber ein Kind war bei ſeiner Geburt. Beſteht denn nicht das gute Kinderleben nur aus Luſt und Hoffnung, Bruder, und die Fruͤhregen der Thraͤnen fliegen daruͤber nur fluͤchtig hin? “
„ Fruͤh-Regen und alter Weiber Taͤnze und ſo weiter — naͤmlich junge Noth und alte Luſt und ſo weiter. Fall 'ich noch in den Zeit - Punkt deiner versus memoriales? “ſagte Vult.
„ Wahrlich, ſtets hob ich in Leipzig und hier nur Tage dazu heraus, wo du noch nicht mit dem Muſikus entlaufen warſt. “
„ So erinnere dich deines heutigen Erinnerns168 wieder vor mir, bat Vult; — ich ſtehe dir mit neuen Zuͤgen bei. “
„ Ein neuer Zug aus der Kindheit iſt ein goldnes Geſchenk “, ſagte Walt „ — nur wirſt du manches zu kindiſch finden. (Kindiſch blos, ſagte Vult) Ich nahm heute zwei Tage, nahe am kuͤr¬ zeſten und laͤngſten. “
Der erſte Tag fiel in die Adventszeit. Schon dieſer Name und der andere „ Adventsvogel “um¬ fliegt mich wie ein Luͤftchen. Im Winter iſt ein Dorf ſchoͤn, man kann es mehr uͤberſchauen, weil man mehr darin beiſammen bleibt. Nimm nur den Montag. Schon den ganzen Sonntag freue¬ te ich mich auf die Schule am Montag. Jedes Kind mußte um 7 Uhr bei Sternenſchein mit ſei¬ nem Lichtchen kommen; ich und du hatten ſchoͤn bemahlte von Wachs. Vielleicht mit zu großem Stolze trug ich einen Quartband, einige Oktav¬ baͤnde und ein Sedez-Werkchen unter dem Arm.
„ Ich weiß, ſagte Vult. du holteſt der Mut¬ ter noch Semmel aus dem Wirthshauſe, als du ſchon den Markus und ſeinem Ochſen griechiſch exponirteſt.
169„ Dann fing die ſchoͤne Welt des Singens und Lehrens in der ſuͤßen Schulſtubenwaͤrme an. Wir großen Schuͤler waren hoch uͤber die kleinen erhoben; dafuͤr hatten die Abc-Zwerge das Recht, — und es war ihnen zu goͤnnen — daß ſie den Kandidaten laut anreden und ohne Anſtand ein wenig aufſtehen und herumgehen durften.
Wenn er nun entweder die Spezialkarte auf¬ hing und wir am meiſten froh waren, daß Ha߬ lau und Elterlein und die umliegenden Dorfſchaf¬ ten darauf ſtanden — oder wenn er von den Ster¬ nen ſprach und ſie bevoͤlkerte und ich voraus ſah, daß ich Abends den Eltern und Knechten daſſelbe erweiſen wuͤrde — oder wenn er uns laut vorle¬ ſen hieß: —
„ Du weißt, fiel Vult ein, daß ich dann das Wort Sakrament, er mochte ſagen was er wollte, immer mit einem Accent herlas, als ob ich fluchte, desgleichen Donnerwetter. Auch war ich der einzige, der ins laute gemeinſchaftliche Abbe¬ ten eine Art ⅜ Takt zu bringen verſuchte.
„ Ich haͤtte dem arbeitſamen Manne ſo gern Entzuͤckungen gegeben, wenn ich ſie gehabt haͤtte. 170Ich betete oft ein leiſes Vater unſer, damit Gott ihn einen Finken, wenn er hinter ſeinem Kloben lauerte, darauf fangen ließe; und du wirſt dich erinnern, daß ich ſtets die Schlachtſchuͤſſel mit Fleiſch (du aber nur den Suppentopf) zu ihm trug. Wie ich mich auf das naͤchſte Wiederſehen in der Schule freuete! “
„ Wer mich hart gegen den Schulmeiſter fin¬ det, ſagte Vult, dem halt 'ich blos vor, daß mir der Schulmann einmal eine angerauchte Pfeife abpfaͤndete und ſie in derſelben Schulſtunde oͤffent¬ lich vor meiner Naſe gar ausrauchte. Heißt dieß exemplariſcher Lebenswandel von Schulmeiſtern? Oder etwa dieß, daß ſie Fiſchchen-Fangen und Voͤgel-Stellen uns Scholaren ſprichwoͤrtlich ver¬ bieten wie Fuͤrſten die Wagſpiele, ſich aber ſelber erlauben? Daruͤber moͤcht' ich einmal Maͤnner in oͤffentlichen Blaͤttern hoͤren. “—
„ O die liebe erſte Schulzeit! Mir war alles erwuͤnſcht, was gelehrt und geboten wurde, die kleinſte Wiſſenſchaft war ja ganz voll Neuigkeiten, indeß ihr jetzt in Meſſen nur einige nachwachſen. Kam nun vollends der Pfarrer mit den großen171 Augenbraunen im Prieſterornat und verdunkelte doch den Kandidaten wie ein Kaiſer oder Pabſt ei¬ nen Landesregenten, den er beſucht: wie ſuͤ߬ ſchauerlich! Wie groß fiel jeder Laut ſeiner Ba߬ ſtimme! Wie wollte man das Hoͤchſte werden! Wie wurde jedes Wort unſers Schomakers drei¬ fach beſiegelt durch ſeines!
„ Ich glaube, man iſt ſchon darum in der Kindheit gluͤcklicher als im Alter, weil es in ihr leichter wird, einen großen Mann zu finden und zu waͤhnen; ein geglaubter großer Menſch iſt doch der einzige Vorſchmack des Himmels.”
In ſofern, ſagte Vult, moͤcht 'ich ein Kind ſeyn, blos um zu bewundern, weil man damit ſich ſo gut kitzelt als andere. Ja ich moͤchte als ein Foͤtus mit Spinnenarmen an die Welt treten, um die Wehmutter als eine Juno Ludoviſi anzu¬ ſtaunen. Ein Floh findet leicht ſeinen Elephanten; iſt man hingegen aͤlter, ſo bewundert man am Ende keinen Hund mehr. Doch muß ich dir be¬ kennen, daß ich ſchon damals unſerem knurrenden Pfarrer Gelbkoͤppel aus ſeiner Kragen-Glorie ei¬ nige Strahlen ausrupfte. Ich hatte, wie gewoͤhn¬172 lich, ein Buch unter die Schultafel in der Abſicht fallen laſſen, hinunter zu kriechen und drunten die Fruchtſcheuer von Haͤng-Fuͤßen am Bank-Galgen laͤcherlich zu finden: als ich auch Gelbkoͤppels Wochen-Stiefel auf dem Boden antraf und durch den aufklaffenden Prieſterrock die Hoſen, die er bei dem Grummet-Aufladen angehabt, zu Geſicht bekam — weg war ſeine ganze oben darauf ge¬ pelzte Wuͤrde — Der Menſch, wenigſtens der Apoſtel, ſei aus Einem Stuͤck gekleidet, er ſei kein halber Apoſteltag, Walt!”
„ Vult, biſt du dergleichen nicht faſt in man¬ cher Bemerkung? — Nun kam 11 Uhr heran, wo wir beide auf den Thurm zum Laͤuten und Uhr-Aufziehen gehen durften. Ich weiß noch gut, wie du dich oben auf dem Glockenſtuhl an das Seil der ausſchwankenden Glocke hingſt, um geſchwungen zu werden, ob gleich viele dir ſagten, ſie werfe dich durch das Schallloch. Ich haͤtte ſelber hindurch fliegen moͤgen, wenn ich ſo hinaus ſah uͤber das ganze kreutzweiß gebahnte Dorf voll laͤrmender Treſchtennen, und an die dunkle Berg¬ ſtraße nach der Stadt, und uͤber den weiten173 Schnee-Glanz auf allen Huͤgeln und Wieſen und dabei den blauen Himmel daruͤber her! Doch da¬ mals war der Erde der Himmel nicht ſehr noͤthig. — Hinter mir hatt 'ich die ernſthafte Glocke mit ihrer eiskalten Zunge und mit ihrem Hammer, und ich dachte mir es ſchauerlich, wie ſie einſam in der froſtigen Mitternacht zu mir ins tiefe Haus und warme Bette hinab reden werde. Ihr Sum¬ men und Ausſummen in dieſer Naͤhe umfloß den Geiſt mit einem ſtuͤrmenden Meere, und alle drei Zeiten des Lebens ſchienen darin unter einander zu wogen. “
„ Bei Gott! Hier haſt du Recht, Walt. Nie hoͤr 'ich dieſes Tonbrauſen ohne Schauder und oh¬ ne den Gedanken, daß der Muͤller erwacht, ſo bald die rauſchende Muͤhle ſtill ſteht; unſer Leib mit ſeiner Holz - und Waſſer-Welt; indeß ergoͤzt die Betrachtung ſchlecht fuͤr den Augenblick. “
„ Nimm nicht dein ernſtes Herz ſo wieder zuruͤck, Bruder! Sollt 'ich dein Gleichniß wieder mit einem beantworten, ſo wuͤrd' ich ſagen, dieſe Stille ſei die auf dem Gipfel des Gotthardsberges. Alles iſt dort ſtumm, kein Vogel und kein Luͤft¬174 chen zu hoͤren, jener findet keinen Zweig, dieſes kein Blatt; aber eine gewaltige Welt liegt unter dir, und der unendliche Himmel mit allen uͤbrigen Welten umfaͤngt dich rings. — Willt du jetzt wei¬ ter gehen in unſerer Kindheit, oder lieber mor¬ gen?”
„ Jetzt, beſonders jetzt. Der Kindheit werf 'ich nichts vor als zuweilen — Eltern. Wir ſtie¬ gen alſo beide die langen Thurmtreppen herunter”
— „ und im elterlichen Hauſe wurden wir durch die reinlich-geordnete Mittags-Welt erfreuet an der Stelle der truͤben Morgenſtube; uͤberall Son¬ nenſchein und Aufordnung. Da aber der Vater in der Stadt war und alſo das Mittagsbrod ſchlechter und ſpaͤter: ſo ließ ich mir es bis nach der Schule aufheben, weil ich nicht zu ſpaͤt in dieſe kommen wollte, und weil mir jetzt aus der Ferne durchs Fenſter ſchon Kameraden und Lehrer wieder neu erſchienen.”
In der Schulſtube gruͤßte man die unveraͤn¬ derten Baͤnke als neu, weil man ſelber veraͤndert iſt. Ein Schul-Nachmittag iſt, glaub 'ich, haͤus¬ licher, auch wegen der Ausſicht, Abends zu Hauſe175 und noch haͤuslicher zu bleiben. Ich freute mich auf das ungewoͤhnliche Allein-Eſſen und auf den Vater mit ſeinen Sachen aus der Stadt. Ein ganzer Wolkenhimmel von Schneeflocken wirbelte herunter, und wir Schuͤler ſahen es gern, daß wir kaum mehr die kleine Bibel leſen konnten, in der ohnehin dunkeln traulichen Schulſtube.
Draußen nun ſprang jeder in neu gefallnen Schnee ſehr luſtig mit den lange muͤßigen Glied¬ maſſen. Du warfſt deine Buͤcher ins Haus und bliebſt weg bis zum Gebetlaͤuten; denn die Mut¬ ter erlaubte dir das Austoben am meiſten in Abſeyn des Vaters. Ich folgte dir ſelten. Der Himmel weiß, warum ich ſtets kindiſcher, ausgelaſſener, huͤpfender, unbeholfen-eckiger war, als du — ich machte meine Kinds - oder Narrenſtreiche allein, du machteſt deine als Befehlshaber fremder mit. “
„ Ich war zum Geſchaͤftsmann geboren, Walt! “
„ Aber in der Veſper las ich lieber. Ich hatte erſtlich meinen orbus pictus, der, wie eine Iliade, das Menſchen-Treiben auseinander blaͤtterte. Ich hatte auf dem Geſimſe auch viele Beſchreibungen,176 theils vom Nordpol, theils von alter Norden-Zeit, z. B. die fruͤheſten Kriege der Skandinavier u. ſ. w. und je grimmig-kaͤlter ich alles in den geogra¬ phiſchen Buͤchern fand oder je wilder in den hiſto¬ riſchen: deſto haͤuslicher und bequemer wurde mir. Noch kommt mir die altnordiſche Geſchichte wie meine Kindheit vor, aber die griechiſche, indiſche, roͤmiſche, mehr wie eine Zukunft.
In der Daͤmmerung verflatterte das Schnee¬ geſtoͤber, und aus dem reinen Himmel blitzte der Mond durch das Blumengebuͤſch der gefrierenden Fenſter — Hell klang draußen in der ſtrengen Luft das Abendlaͤuten unter den aufgebaͤumten Rauchſaͤulen — Unſere Leute kamen Haͤnde-reibend aus dem Garten, wo ſie die Baͤume und Bienen¬ ſtoͤcke in Stroh eingebauet hatten — Die Huͤhner wurden in die Stube getrieben, weil ſie im Rau¬ che mehr Eier legen — Das Licht wurde geſpart, weil man aͤngſtlich auf den Vater harrete — Ich und du ſtanden auf den Hand - oder Fußhaben der Wiege unſerer ſeel. Schweſter, und unter dem heftigſten Schaukeln hoͤrten wir dem Wiegenliedvon177von gruͤnen Waͤldern zu und der kleinen Seele thaten ſich thauſchimmernde Raͤume auf — End¬ lich ſchritt der geplagte Mann uͤber den Steg, be¬ reift und beladen, und eh 'er noch den Querſack abgehoben, ſtand ſein dickes Licht auf dem Tiſch, kein duͤnnes. Welche herrliche Nachrichten, Gel¬ der und Sachen bracht' er mit und ſeine eigne Freude! “
„ Wer bezweifelt ſeine Entzuͤckung weniger als ich, den er darin allemal auspruͤgelte, blos weil ich auch mit entzuͤckt ſeyn wollte, und da¬ durch, ſpringend und tanzend, den Laͤrm erregte, den er in ſtiller Luſt am meiſten verfluchte; ſo wie ein Hund ſich nie mehr kratzen muß, als wenn er freudig an ſeinem Herrn aufſpringt. “
„ Scherze nicht! Und bedenke, was er uns mitbrachte; ich weiß es aber nicht mehr — mir einen fuͤr mein Geld gekauften Bogen Konzeptpa¬ pier, wovon ich damals nicht denken konnte, daß ſo etwas breites nettes mehr koſte als zwei Pfennige. — Fuͤr die Schweſter ein Abc-Buch mit Gold-Buchſtaben ſchon auf der aͤußern Deckel¬Flegeljahre IV. Bd. 12178Schale und mit friſchen ſaubern Thier-Bildern im Vergleich gegen unſre abgegriffenen alten.
„ Schießpulver als Digeſtivpulver fuͤr das Schwein, wovon die wenigen Koͤrnchen, die ich zuſammenkehrte, mir beſſere Feuerwerke auf einen Spahn beſcherten als irgend einem Koͤnig ein dreißigjaͤhriger Krieg. “—
„ Das beſte war wohl der neue Kalender. Es war mir als hielt ich die Zukunft in der Hand, wie einen Baum voll Fruchtlage. Mit Luſt uͤber¬ las ich die Namen: Laͤtare, Palmarum, Jubi¬ late, Kantate, wobei mir mein wenig Latein gute Dienſte that. Die Epiphanias waren mir ver¬ druͤßlich, beſonders zu viele; hingegen je mehrere Trinitatis-Sonntage fielen, deſto laͤnger gruͤne, dacht 'ich, die freudenreiche Zeit. Laͤcherlich kommt es mir vor, daß, eben da ich hinten im Kalender die Haßlauer Poſtberichte las, die kaiſerliche rei¬ tende Poſt im Dorfe ins Horn ſtieß, und ich den guten Menſchen bewunderte und bedauerte, der nun, laut dem Berichte, mitten im Winter allein nach ganz Pommern, Preuſſen, Polen und Ru߬ land ritt; ein Irrthum, den ich erſt in Leipzig179 fahren ließ. Wenn nun darauf der Kandidat Schomacker zum Eſſen kam und wir vom Vater manche Hiſtorien mit Vergnuͤgen zum zehntenmal hoͤrten — wenn du nach dem Eſſen auf einer Spahn-Geige aus gewichstem Zwirnfaden kratz¬ teſt — und ich einen glimmenden Schleußen - Spahn zu einem Feuerrad umſchwang — und ich und du und der lange Knecht, der mir damals, wie den Kindern vielleicht alle gewohnte Geſichter, ſchoͤn vorkam, ſpielten und ſangen: „ Ringe, „ ringe Reihe, 's ſind der Kinder dreie, Sitzen „ auf den Holderbuſch, Schreien alle Muſch, „ Muſch, Muſch! Setzt euch nieder! Es ſitzt' ne „ Frau im Ringelein, Mit 7 kleinen Kindern. „ Was eſſens gern? Fiſchelein. Was trinkens gern? „ Rothen Wein. Setzt euch nieder! “— Innig erfreuet las ich neulich in Graͤters Bragur das einfaͤltige Kinderding — Ich muß aber meinen Satz ganz anders angefangen haben. “—
„ Nunmehr iſt er geſchloſſen. Das Leben faͤngt, wie das griechiſche Drama, mit Poſſen an. Beginn 'ohne eh' du erwachſt, deinen verſproche¬ nen Sommertag.
180„ Ich koͤnnte ihn wohl von der Faßnacht an¬ heben, wo der neu erſtandene Fruͤhling lauter Son¬ nenſtrahlen in die Schulſtube voll kleiner geputzter Taͤnzer ſtreuet, ſo daß es in den Seelen fruͤher bluͤhte als in den Gaͤrten. Schon der alte ſimple Vers: „ Zur Lichtmeß eſſen die Herrn am Tag ', Zur Faßnacht thuns die Bauern auch nach, “zog Abendroͤthe und Bluͤtenſchatten um den Abendtiſch. Gott, wie wehen noch die Namen: Marientage, Salatzeit, Kirſchenbluͤte, Roſenbluͤte, die Bruſt voll Zauberduft! — So denk' ich mir auch die Jugend meines Vaters blos als einen ununter¬ brochenen Sommer, beſonders in der Fremde; ſo wie ich meinen Großvater und uͤberhaupt die zu¬ ruͤckliegende Zeit vor meiner Geburt immer jung und bluͤhend ſehe. Da gab's ſchoͤne Menſchentage, ſagt man ſich. Wie friſch und hell ſpringend, gleich Fruͤhlingsbaͤchen, kommen mir die alten Uni¬ verſitaͤten, Bologna und Padua, vor mit ihren ungemeſſenen Freiheiten, und ich wuͤnſchte mich oft in dieſe hinein! “
„ Macht 'ich weniger aus dir, ſo muͤßt' ich bei deinem Wunſche denken, es waͤre damals auſ¬181 ſer Hauspump, Buren, Landesvater, auch Gaſ¬ ſatim rumoren und Degen wetzen deine Sache ge¬ weſen; aber ich weiß gut, du wollteſt zu allem nur ruhig ſitzen und zuſehen als Rector magnifi¬ cus. — Allein gib nun deinen heutigen Sommer¬ tag!”
„ Es war das H. Dreifaltigkeitsfeſt, und zwar das jener Woche, worin du auf und davon gingeſt. Nur vorher laſſe mich noch bemerken, daß mir deine erwaͤhnten Studenten-Woͤrter theils neu klingen, theils roh. An dieſem h. Feſte nun, das mit Recht in die ſchoͤnſte Jahreszeit faͤllt, gingen, wenn du es nicht vergeſſen, unſere Eltern immer zum h. Abendmahl. Gerade an jenem Sonnabend — wie denn uͤberhaupt an jedem Beicht¬ ſonnabend — bezeigten die lieben Eltern ſich noch guͤtiger und geſpraͤchiger gegen uns Kinder als ſonſt; Gott aber ſchenke ihnen in dieſer Stunde die Freude, die mir jetzt in ihrem Angedenken das Herz durchwallt! Die Mutter ließ vieles im Stall durch Leute beſorgen und betete aus dem ſchwarzen Kommunion-Buͤchlein. Ich ſtand hinter ihr und betete unbewußt mit herunter, blos weil ich das182 Blatt umkehrte, wenn ſie es herab hatte. Die Bauernſtube war ſo rein und ſchmuck aufgeraͤumt fuͤr den Sonntag — wie am h. Chriſtabend war es am Beichtabend — aber ſchoͤner und hoͤher — dazu hing nun der reich ſchwere Fruͤhling herein, und der Bluͤtengeruch zog durch das ganze Haus und jeden Dachziegel — Fruͤhling und Froͤmmig¬ keit gehoͤren gewiß recht fuͤr einander — Ich ſah nachher, als der Nachtwaͤchter antrat, noch ein wenig aus dem Dachfenſter, voll Duͤfte und Sterne war der Himmel uͤber dem Dorfe — die Generalin ging ſo ſpaͤt noch mit ihrem Kinde an der Hand auf dem Schloßwall ſpazieren, und das ganze Dorf wußte, daß ſie morgen kommunizirte und ich und du die Kommunikantentuͤchlein dabei hielten — Wahrlich, ob ich gleich ſchon ſprechen konnte, die weißgekleidete Generalin kam mir als die Mutter Gottes vor, und das Kind als ihr Kind. “
„ Hat denn die Generalin einen Sohn?
Walt ſagte verlegen: ich ſtellte mir naͤmlich ihre damalige Tochter ſo vor in der Ferne. Ich183 moͤchte jetzt noch vor Freude uͤber die Wundernacht weinen, wenn du nicht lachteſt. ...”
„ So weine zum Henker! Wer lacht denn, Satan, wenn einmal ein Menſch die Aufrichtig¬ keit in Perſon iſt?
„ Es erſchien denn das h. Trinitatis-Feſt mit einem blauen Morgen voll Lerchen und Bir¬ kenduͤfte; und als ich aus dem Bodenfenſter dieſe Blaͤue uͤber das ganze Dorf ausgeſpannt erblickte, wurde mir nicht, wie ſonſt an ſchoͤnen Tagen, be¬ klommen, ſondern faſt wie jauchzend. Unten fand ich die Mutter, die ſonſt nur in die Nach¬ mittagskirche ging, ſchon angeputzt, und den Va¬ ter im Gottes-Tiſchrock, wodurch ſie mir, zumal da ſie unſer Sonntags-Warmbier nicht mittran¬ ken, ſehr ehrwuͤrdig erſchienen. Den Vater liebt 'ich ohnehin am Sonntag ſtaͤrker, weil er blos da raſiert war. Ich und du folgten ihnen in die Kirche; und ich weiß, wie darin die Heiligkeit meiner Eltern gleichſam in mich heruͤber zog unter der ganzen Predigt; eine fremde wird in einem bluts¬ verwandten Herzen faſt eine groͤßere.”
„ Mein Fall war es weniger. Ich lebte nie184 luſtiger als an ihren Kommuniontagen, weil ich wußte, daß ſie es fuͤr Suͤnde hielten, mich fruͤ¬ her als nach Sonnenuntergang auszuwichſen — und weil ſie nach dem Abendmahl auch das Mit¬ tagsmahl bei dem Pfarrer nahmen, und wir folglich das Schachbrett zum Roͤſſelſprung frei hatten. Steht es noch vor deiner Seele, mahlt es ſich noch gluͤhend, faͤrbt es ſich noch brennend, daß ich an demſelben Sonntage mit einem Taſchen¬ ſpiegel vom Chore herab den Sonnenglanz wie ei¬ nen Paradiesvogel durch die ganze Kirche, und ſogar um die zugedruͤckten Augen des Pfarrers ſchießen ließ, indeß ich ſelber ruhig mit nachſah und nachſpuͤrte? Und gedenkſt du noch — denn nun entſinn 'ich mich alles — daß mich daruͤber der ſataniſche Kandidat erwiſchte, und der Vater nach der Kirche mich nach der peinlichen Halsge¬ richts-Ordnung von Karl, die (im Art. 113.) Gefangenſchaft mit Beſen-Streichen leicht ver¬ tauſchen laͤſſet, aus Andacht blos einkerkerte, an¬ ſtatt, was mir lieber geweſen, mich halb todt zu ſchlagen? “
„ Du hielteſt aber dennoch in der Kirche das183[185] rechte Altartuͤchlein bei der Oblate unter den Kom¬ munikanten auf und ich das linke beim Kelch. Es ſoll nie von mir vergeſſen werden, wie demuͤ¬ thig und ruͤhrend mir unſer blaſſer Vater auf ſei¬ nen Knieen an der ſcharlachenen Altarſtufe vor¬ kam, indeß der Pfarrer ihm ſehr ſchreiend den goldnen Kelch vorhielt. Ach wie wuͤnſcht 'ich, daß er ſtark traͤnke vom h. Weine und Blut. Und dann die tief geneigte Mutter! Wie war ich ihr unter dem Trinken ſo rein-gut! Die Kindheit kennt nur unſchuldige weiße Roſen der Liebe, ſpaͤter bluͤhen ſie roͤther, und voll Schamroͤthe. Vorher aber trat die majeſtaͤtiſche lange Generalin in ih¬ rem ſchwarzen und doch glaͤnzenden Seidengewand an die Altarſtufe, ſich und die langen Augenwim¬ pern ſenkend wie vor einem Gott, und die ganze Kirche klang mit ihren Toͤnen drein in die andaͤch¬ tige Gegenwart dieſer idealen Herzogin fuͤr uns alle im Dorf. “
„ Die Tochter ſoll ihr ſo aͤhnlich ſehen, Walt? “
„ Die Mutter wenigſtens iſt ihr ſehr aͤhnlich. Darauf zog man denn aus der Kirche, jeder mit emporgehobnem Herzen — die Orgel ſpielte in ſehr186 hohen Toͤnen, die mich als Kind ſtets in helle fremde Himmel hoben — und draußen hatte ſich der blaue Aether ordentlich tief ins Sonntagsdorf hineingelagert und vom Thurme wurde Jauchzen in den Tag herab geblaſen — Jeder Kirchgaͤnger trug die Hoffnung eines langen Freudentags auf dem Geſichte heim — Die ſich wiegende lakirte Kutſche der Generalin raſſelte durch uns alle durch, nette, reiche Bedienten ſprangen herab — — Ue¬ berhaupt waͤre nur nachher nicht die Sache mit dir geweſen — “
„ Zu oft kaͤme ſie nicht wieder! “
„ Alſo ging der Vater im Gottestiſchrock ins Pfarrhaus und hinter ihm die Mutter. Und als ich, da ſie abgegeſſen hatten, die Klingelthuͤre des Pfarrhofs oͤffnete und ſchon die Truthuͤhner deſ¬ ſelben mit Achtung ſah:
„ Du brauchſt mirs nicht zu verdecken, daß du mich druͤben aus meiner verfluchten Karzer¬ kammer losbitten wollteſt, weil ich zu ſehr ſchrie und Fenſter und Kopf einzuſtoßen ſchwur. “
„ Die Bitte half wenig beim Vater; vielleicht weil der Pfarrer ſagte, du haͤtteſt ihn zu ſehr be¬187 leidigt und geblendet. Ich vergaß leider bald dich und die Bitte uͤber dem herrlichen ſuͤßen Wein, den ich trank. Auf dem Lande hat man zu wenig Erfahrung der vornehmern Welt und bewundert ein Glas Wein. Der Pfarrer ließ mich Entzuͤck¬ ten durch ein Priſma ſchauen und gleichſam jedes einzelne Stuͤck Welt mit einer Aurora und Iris umziehen. Ich bildete mir oft ein, ich koͤnnte wohl, da ich ſo viel Gefuͤhl fuͤr Mahlerei, ſogar fuͤr Farben an Schachteln, Zwickeln, Zwickelſtei¬ nen zeigte, faſt mehr zum Mahler taugen als ich daͤchte. Da ich meinen Vater tief unten an der Tafel ſitzen ſah, dacht 'ich mir das Vergnuͤgen, ihn einſt ſehr auszuzeichnen, falls ich etwas wuͤrde. “
„ Es iſt auffallend, wie oft auch ich ſchon ſeit Jahren geſchworen, mich meiner Herkunft zu entſinnen, wenn ich im Publikum bedeutend in die Hoͤhe und Dicke wuͤchſe, und mich weder dei¬ ner! noch der Eltern zu ſchaͤmen. Man kann faſt nicht fruͤh genug anfangen, ſich beſcheiden zu ge¬ woͤhnen, weil man nicht weiß, wie unendlich viel man noch wird am Ende. — Liebe fuͤr Farben,188 wovon du ſprachſt, iſt darum noch keine fuͤr Zeich¬ nung; inzwiſchen kannſt du immer, wenn die eine Art Mahler ſich von fremder Hand die Landſchaf¬ ten, die andere ſich die Menſchen darin mahlen ließ, beide Arten in dir vereinen. Vergieb den Spaß! “
„ Recht gern! Wir zogen als vornehme Gaͤ¬ ſte durchs Dorf nach Hauſe, wo der Vater die Scharlachweſte anlegte und mit mir und der Mut¬ ter ſpazieren ging, um Abends gegen 6 Uhr im Gartenhaͤuschen zu eſſen. Nun glaub 'ich nicht, daß an einem ſolchen Abende, wo alle Welt im Freien und angeputzt und freudig iſt, und die Ge¬ neralin und andere Vornehme mit roth ſeidnen Sonnenſchirmen ſpazieren gehen, irgend ein Herz, wenn es zumal in einem Bruder ſchlaͤgt, es er¬ tragen kann, daß du allein im Kerker hauſeſt. “
„ Sakerment! “ſagte Vult.
„ Sondern es war natuͤrlich, daß ich und der Knecht dir eine Dachleiter ans Fenſter ſetzten, damit du herunter koͤnnteſt ins Dorf zur Luſt. — Nein, kein Spaziergang mit Menſchen iſt ſo ſchoͤn als der eines Kindes mit den Eltern. Wir gingen189 durch hohe gruͤne Kornfelder, worin ich die Schwe¬ ſter hinter mir nachfuͤhrte in der engen Waſſer¬ furche. Alle Wieſen brannten im gelben Fruͤhlings¬ feuer. Am Fluſſe laſen wir ausgeſpuͤlte Muſcheln wegen ihres Schillerglanzes auf. Das Floͤßholz ſchoß in Herden hinab in ferne Staͤdte und Stu¬ ben, und ich haͤtte mich gern auf ein Scheit ge¬ ſtellt und waͤre mitgeſchifft! Viele Schafherden waren ſchon nackt geſchoren und legten ſich mir naͤher ans Herz, gleichſam ohne die Scheidewand der Wolle. Die Sonne zog Waſſer in langen wolkigen Strahlen, aber mir kam es vor, als ſei die Erde mit Glanzbaͤndern an die Sonne gehan¬ gen und wiege ſich an ihr. Eine Wolke, die mehr Glanz als Waſſer hatte, regnete blos neben, nicht auf uns; ich begriff aber damals gar nicht, als ich die Graͤnzen der naſſen und der trocknen Blu¬ men ſah, wie ein Regen nicht allezeit uͤber die ganze Erde falle. Die Baͤume neigten ſich gegen einander, als die Wolke tropfend daruͤber wegwehte, wie die Menſchen am Abendmahls-Altar. Wir gingen ins Gartenhaus, das innen und außen nur weiß iſt; aber warum glaͤnzet dieſer kleine190 Name uͤber alle ſtolz gedeckte Prachtgebaͤude her¬ uͤber und blinkt in ſeinem Abendroth ſehr gegen fremdes Morgenroth? Alle Fenſter und Thuͤren waren aufgemacht — Sonne und Mond ſahen zu¬ gleich hinein — die rothweiſſen Aepfelknoſpen wur¬ den von ihren ſtarren ſtruppigen Aeſten hineinge¬ halten und zuweilen eine ſchneeweiße Aepfelbluͤte mit (o Vult, ich gebe den Aepfel fuͤr die Aepfel¬ bluͤte gern) — Die Bienen gaben dem Vater Zei¬ chen eines nahen Schwaͤrmens — Ich fing mir in eine Schachtel Goldkaͤfer, fuͤr welche ich den Zucker laͤngſt aufgeſparet hatte — Noch glaͤnzt mir das Gold und der Schmaragd, dieſes Para¬ diesvoͤgelchen hienieden, in Deutſchland meint 'ich — Auch zog ich mir im Garten Schoͤßlinge aus, um ſie daheim anzupflanzen zu einem Luſtwaͤld¬ chen unter meinem Knie. Die Voͤgel ſchlugen wie beſtellt in unſerem Gaͤrtchen, das nur fuͤnf Apfel¬ baͤume und zwei Kirſchbaͤume hatte und mehrere Pflaumenbaͤume ſammt guten Johannisbeer - und Haſelſtauden. Zwei Finken ſchlugen, und der Va¬ ter ſagte, der eine ſinge den ſcharfen Weingeſang191 und der andere den Braͤutigam. Aber ich zog — und noch jetzt — meinen guten Embritz vor. “
„ Deutlicher in der ornithologiſchen Sprache Emmerling, Goldammer, Groͤning, Gelbling, Geelgerſt, Emberiza citrinella L. — welcher, wie die Eltern ſagten, ſang: wenn ich eine Sichel haͤtt ', wollt ich mit ſchnied. — Was iſt denn das Dunkle im Menſchen-Innern, daß ich wirklich den einfachen Embritz, wenn ich durch Wieſen gehe und ihn an belaubten Abhaͤngen hoͤre, leider uͤber die goͤttliche Nachtigall, die freilich wenig rein durchfuͤhrt, ſondern heftig ſpringt, zu ſetzen ſuche? — Floß aber nicht nachher die Abendroͤthe in den ganzen Garten hinein und faͤrbte alle Zweige? Kam ſie mir nicht wie ein goldner Son¬ nentempel mit vielen Thuͤrmen und Pfeilern vor? Und gingen nicht auf den Wolkenbergen die Stern¬ chen wie Maienbluͤmchen auf? — und die breite Erde war ein Webſtuhl roſenrother Traͤume? Und als wir ſpaͤt nach Hauſe wandelten, hingen nicht in den finſtern Buͤſchen goldne Thautropfen, die lieben Johannis-Wuͤrmchen? Und fanden wir nicht im Dorfe ein ganz beſonderes Feſt-Leben,192 ſogar die kleinen Viehhirten endlich im Sonntags¬ putz, und dem Wirthshauſe fehlte nichts als Mu¬ ſik und auf dem Schloße wurde geſungen?
„ Und nahm mich nicht, fuhr Vult fort, der gute Vater, als er mich in dieſer Freude als Theilhaber fand, leiſe bei den Haaren mit nach Hauſe und pruͤgelte mich ſo verflucht? — O daß doch der Teufel alle Erziehungen holte, ſo wie er ſelber keine erhalten! Wer nimmt mir jetzt die Feſt-Pruͤgel ab und den Karzer? Du kannſt dich leicht herſtellen und entſinnen und vergnuͤgt außer dir ſeyn und die Repetiruhr der Erinnerung aus der Taſche ziehen. Aber Hoͤlle, was hab 'ich denn ſchmelzend mich zu erinnern als an die lauſige Aurora eines aufgehenden Schwanzſterns? O wie gluͤcklich, gluͤcklich koͤnnte man ein Kind machen! Dieß probire aber einmal einer bei einem greiſen Schelm von 40 Jahren! Ein einziger Kindertag hat mehr Abwechſel als ein ganzes Manns-Jahr. Sieh an, wie er mich, wenn das kuͤhne Bild zu ge¬ brauchen iſt, aus einem zarten weißen Kindsge¬ ſicht ſo zu einem braunen Kopfe geraucht und er¬hitzt193hitzt hat, wie einen Pfeiffenkopf! — Waͤrme mich nicht mehr wieder ſo auf! — Was ſeh 'ich denn von Clyſien und elyſiſchen Aeckern um mich her als ein Paar Seſſel? — unſern Bett - und Stu¬ ben-Schirm? — nichts zu trinken? — dich gu¬ ten Millionaͤr blos voll innerer Gedaͤchtnißmuͤn¬ zen? — und einen hoͤlzernen Sitz der Seligen? — O ich moͤchte ... He herein nur! Vielleicht bringt uns doch, Walt, ein Himmelsbuͤrger ein oder ein Paar Himmelspforten und Empyraͤen. “
Es ſchritt die gelbe Poſtmontur ein mit dem Hoppelpoppel oder das Herz unter dem Arm, das der Magiſter Dyk mit den Worten zuruͤck¬ ſchickte, er verlege zwar gern Rabener'ſche und Wezelſche Plaͤſanterien, aber nie ſolche. „ Nu, iſt das kein Sonnenblick aus unſerm Freuden¬ himmel? “fragte Vult. „ Ach, ſagte Walt, ich glaube, ich war eben vorhin und bisher zu gluͤcklich; darauf kommt immer ein wenig Be¬ truͤbniß — Es iſt doch gut, daß das Werk nicht auf der Poſt hin und her verloren gegangen. “— „ O du weiches — Holz! fuhr jener auf. Aber nicht du ſollſt es ausladen, ſondern der Magiſter. Flegeljahre IV. Bd. 13194Ich will ihn waſchen mit Seewaſſer, ob's gleich nicht weiß macht. “
Er ſetzte ſich auf der Stelle nieder und ſchrieb im Grimm einen unfrankirten Brief an den Ma¬ giſter, worin die Hoͤflichkeit des Briefſtils ſo gut als ganz hintan geſetzt war.
Korrektur — Wina.
Am Morgen kam wieder ein Manuſkript, aber ein fremdes abgedrucktes; der Setzer der Paßvogelſchen Buchhandlung — fuͤr Walt war ein Setzer viel — haͤndigte den erſten Korrektur¬ bogen ein, damit der Univerſalerbe der Kabelſchen Verlaſſenſchaft daran ſeinen Teſtamentsartikel er¬ fuͤlle. Das Werk, deſſen Titel war: das gelehrte Haßlau alphabetiſch geordnet von Schieß, — nun in aller Haͤnden — war ſehr gut in deutſcher Sprache mit lateiniſchen Lettern geſchrieben, nur aber ganz ſchlecht oder unleſerlich, und enthielt je¬ den Haßlauer, der mehr als eine Seite, naͤmlich zwei, d. h. ein Blatt fuͤr Straße und Welt ge¬ macht, ſammt einem kurzen Nachtrag von den195 Lands-Gelehrten, die ſchon als Kinder verſtor¬ ben. Wenn man zaͤhlt, welche Menge von Au¬ toren Fikenſcher aus ſeinem gelehrten Bayreuth blos dadurch hinaus ſperrt, daß er keinen aufnimmt, der nicht mehr als Einen Bo¬ gen geſchrieben — ſogar zwei reichen als Vorrede nicht hin, wenns blos Gedichte ſind — und wel¬ che noch groͤßere Meuſel aus ſeinem gelehrten Deutſchland verſtoͤßt, dadurch daß er nicht ein¬ mal Leute einlaͤßt, die nur Ein Buͤchlein geſchrie¬ ben, nicht aber zwei: ſo ſollte wohl jeder wuͤn¬ ſchen, in Haßlau gebohren zu ſeyn, blos um in das gedruckte gelehrte zu kommen, da Schieß nicht mehr dazu begehrt zum Einlaßzettel als et¬ was nicht groͤßeres als der Zettel iſt, nur ein gedrucktes Blatt: denn ſich mit noch wenigerem in einen ſolchen Charons-Kahn, der ſtets zur Unſterblichkeit des Edens entweder, oder des Tartarus abfuͤhrt, einſchiffen wollen, hieße ja Schriftſteller einladen, die ganz und gar nichts geſchrieben.
Der Notar fing ſofort das Korrektiren an — in die Korrekturzeichen hatt 'er ſich laͤngſt ein¬196 geſchoſſen —; aber er fand ſtatt der Huͤgel Klip¬ pen zu uͤberſteigen. Schieß ſchrieb eine gelehrte Hand und eine ungelehrte zugleich; der Korrek¬ turbogen war aus Titeln, Namen, Jahrszah¬ len und ſolchen Sachen gewebt, die nirgends zu¬ ſammenhaͤngen als in Gott. Es iſt daher die gemeine Meinung, daß Paßvogel blos zum Drucke des Notars den Druck des Werkes einge¬ gangen. Vult wollte zwar beſſern helfen, aber Walt fand fremde Huͤlfe gott - und treulos und korrigirte allein.
Eh 'ers hintrug in die Buchhandlung, frag¬ te ihn Vult, ob man nicht einen witzigen Einfall haben, und er, Vult, nicht ihren Roman mit einem Briefe an Paßvogel tragen koͤnnte, worin er ſich als den Verfaſſer ausgaͤbe und ſagte, der Endes Unterſchriebene ſtehe dem Leſer eben vor der Naſe. Es geſchah. Beide trafen zufaͤllig einan¬ der im Buchladen. Kaum ſah Paßvogel aus Vults Taſche eine Manuſkript-Rolle ſtechen: ſo machte er ſich nichts aus ihm — weils ein Autor war —, ſondern ſetzte Walt, den Korrektor und Erben, hoͤher und uͤberlas freundlich den Bo¬197 gen: „ der H. Autor, ſagte er, wird ſchon nach¬ ſehen.”
Darauf uͤberreichte ihm Vult furchtſam den Brief ſammt Roman und ſah begierig in ſeine le¬ ſende Phyſiognomie, wie ſie ſich bei der Stelle umſetzen wuͤrde, wo der Briefſchreiber daſteht als Brieftraͤger. Aber dem feinen im Geſetze der ge¬ ſelligen Staͤtigkeit lebenden Manne that der Riß und Zuck weh auf der eleganten Haut und er ſagte — nach dem Ueberlaufen des Titels — ver¬ druͤßlicher als gewoͤhnlich, er bedaure, daß er ſchon uͤberladen ſei und ſchlage kleinere Buchhaͤndler vor. „ Wir Autoren, verſetze Vult, gehen anfangs wie Hirſche, denen das zarte Gehoͤrn erſt entſprieſ¬ ſet, mit geſenktem Haupte; aber ſpaͤter, wenn es groß und hart zu ſechszehn Enden ausgeſchoſſen, ſchlaͤgt man damit an die Baͤume heftig, und ich fuͤrchte, H. Paßvogel, ich werde im Alter grob.” Wie ſo? ſagte dieſer.
Vult that darauf, als kenn 'er Walten von weitem und ſagte: wenn er als Kabelſcher Erbe erſt den erſten Bogen uͤbergeben, ſo ſchein' es faſt, als wollten ihm die Erben das zwoͤlfbogige198 Korrektoramt zu zwoͤlf Wochen ausdehnen. Dann entſprang er nach ſeiner boshaften Sitte ploͤtzlich, um dem Feinde die Replik zu entwenden.
Beide verliehen daheim vor allen Dingen dem Romane Fluͤgel, weil die Hoffnung immer ſo lange zum Todtliegenden gehoͤrte als das Buch. Man ſchickte ihn an H. Merkel in Berlin, den Brief - und Schriftſteller, damit er das Buch ei¬ nem Gelehrten, H. Nikolai, empfaͤhle und auf¬ heftete.
Mitten in dem Genuß der abfahrenden Poſt fiel wieder ein Staubregen; der hinkende Notar, der bekannte Geſchaͤftstraͤger der Erben, kam mit dem erſten Korrekturbogen und Schießens Re - Korrekturen.
Walt hatte ein und zwanzig Druckfehler ſte¬ hen laſſen. Schieß wies aus dem Manuſkripte nach, daß er ein c ſtatt einem e — dann ein e ſtatt eines c — ein ſ ſtatt eines s — ein ſ ſtatt eines f — ein Komma ſtatt eines Semikolons — eine 6 ſtatt einer 9 — ein h ſtatt eines b — ein n ſtatt eines u und umgekehrt, da eben beide umgekehrt waren — habe ſtehen laſſen u. ſ. w. 199Walt ſah nach und ſann nach und ſprach ſeuf¬ zend: „ wohl iſts nicht anders! “
Arme Korrektoren! wer hat noch eurer Mut¬ ter-Beſchwerungen und Kindsnoͤthen in irgend einem Buche ernſthaft genug gedacht, das ihr zu korrigiren bekommen! So wenig, daß Mil¬ lionen in allen Welttheilen aus der Welt gehen, ohne je erfahren zu haben, was ein Korrektor ausſteht, ich meine nicht etwa dann, wann er theils hungert, theils friert, theils nichts hat als ſitzende Lebensart, ſondern dann, wann er ein Buch gern leſen moͤchte, das er zwar vor ſich ſieht (noch dazu zweimal, geſchrieben und ge¬ druckt), aber korrigiren ſoll; denn verfolgt er wie ein Rezenſent die Buchſtaben, ſo entrinnt ihm der Sinn und er ſitzt immer triſter da; eben ſo gut koͤnnte einer ſich mit einer Wolke, durch de¬ ren Dunſtſtaͤubchen er eine Alpe beſteigt, den Durſt loͤſchen.
Will er aber Sinn genießen, und ſich mit nachheben: ſo rutſcht er blind und glatt uͤber die Buchſtaben hinweg und laͤſſet alles ſtehen; reiſſet ihn gar ein Buch ſo hin wie die zweite Auflage200 des Heſperus, ſo ſieht er gar keinen gedruckten Unſinn mehr, ſondern nimmt ihn fuͤr geſchriebnen und ſagt: „ man verſtehe nur aber erſt den goͤttli¬ chen Autor recht!” — Ja wird nicht ſelber der Korrektor dieſer Klage blos aus Antheil an dem Antheil, den ich zeige, ſo manches uͤberſehen? —
Endlich brachte das ſchlecht ſprechende und ſchoͤn ſingende Kammermaͤdchen des General Za¬ blocki nicht nur Raphaelen ein Briefchen der Tochter, ſondern auch um eine Treppe hoͤher Walten die Frage des Vaters, ob er nicht dieſen ganzen Tag bei ihm ſchreiben koͤnnte? „ O Gott, gewiß!” ſagte er und begleitete das Maͤdchen drei Treppen herab.
Vult laͤchelte ihn ſeltſam an und ſagte: Er kopire ja mémoires érotiques mit und ohne Feder und jage Maͤdchen; er Hund hingegen muͤſſe, wie die Schmetterlings-Puppe eines Na¬ turforſchers, ſich in eine Schachtel von Stube zum Falter entfalten, wenn jener im Freien gauck¬ le. „ Allein, ſetzt 'er dazu, ein Greifgeier, ein Baſilisk wie ich, hat ſo gut ſeinen Liebes-Pips als ein Phoͤnix wie du. ” — Walt wurde ſehr201 roth, er ſah ſein und Wina's Herz gleichſam ge¬ gen das helle freie Tagslicht gehalten. „ Nu, nu, verſteige dich nur um drei Treppen hinauf, oder hinab; indeß ich daheim hinter meiner arka¬ diſchen Dorfwand ein Madrigal auf den Schmelz der Auen und der Zaͤhne ſetze, und Blumen und Lippen roͤthe. Das Maͤdchen gefiele mir ſelber, ſie ſollte eher ein Pallaſt - als ein Kammermaͤd¬ chen ſeyn. “ Sehr zornroth erwiederte Walt, der endlich eigne und fremde Verwechslung errieth: „ du thuſt gar nicht Recht, da du weißt, wie mir dieſes Maͤdchen bei der beſten Singſtimme einmal durch unziemliche Reden aufgefallen. “
Damit ging er ſo raſch und wild fort, daß Vult ſich geſtand, er wuͤrde, wenn er nicht ſchon fruͤher deſſen Liebe fuͤr eine vornehmere Raphaela kennte, ſie jetzt aus dem Grimm errathen, den bloße Heiligkeit unmoͤglich einblieſe. Als der No¬ tar in den großen Zablockiſchen Pallaſt, wovor und worin viele leere Wagen ſtanden, und unter die kalte Dienerſchaft kam: ſo wirkten Vults Scherze, die ſeine Liebe entweder wie Schießpul¬ ver unter das Dach, oder wie Oehl in den Keller202 lagerten, verdruͤßlich nach und er erſtaunte nun erſt, daß er Wina liebe, und ihren Morgenblick aufbewahre. Sein Gluͤck bluͤhte als eine nackte Blumenkrone auf einem entblaͤtterten Stiel. Spaͤt kam er nach ſeinem Erinnern an fruͤheſtes Vor¬ fordern in das alte Schreibſtuͤbchen; und ſpaͤter der General.
„ Innigſt — ſo ſpann Walt, nahe an ihn tretend, die Unterredung an, um ſie dem andern nach den Geſetzen der Lebensart zu erleichtern — wuͤnſch 'ich Ihnen Gluͤck zum Gluͤck der Wieder¬ kunſt, wie damals in Roſenhof zur Abreiſe, wenn Sie ſich dieſer Kleinigkeit noch entſinnen. Moͤg' Ihnen Leipzig ein fortgeſetzter Spaziergang gewe¬ ſen ſeyn! “— „ Sehr verbunden! “ (ſagte Za¬ blocki) Sie verpflichten mich, wenn Sie heute die bewußten Briefe zu Ende kopiren und mir Ih¬ ren Tag weihen. “— „ Welchen nicht? — War Ihr dreifaches Gluͤck — verzeihen Sie die kecke Fra¬ ge — nicht, wie ich hoffe, der Jahrszeit ungleich? “fragt 'er.
„ Fuͤr die ſpaͤte Jahrszeit war das Wetter gut genug. “verſetzte Zablocki.
203Da der Notar nichts ſchwierigeres kannte, als zu fragen — d. h. im Ozean zu angeln —, nichts leichteres aber, als zu antworten, weil die Frage die Antwort umkraͤnze: ſo hielt er es fuͤr Pflicht jedes Unter-Sprechers, auf den Ober - Sprecher nur die leichtere Laſt zu laden und frag¬ te ſogleich. Wie bequem wohnen dagegen Maͤn¬ ner, welche gerade das Widerſpiel als Weltſitte kennen und ehren, unter ihrer Gehirnſchale, und wie vergnuͤgt, wenn ſie vor Kronen und Kron¬ erben treten! Aller Anreden gewaͤrtig und gewiß, machen ſie auſſer der Verbeugung nichts und kei¬ ne eigne, ſondern warten ab. Sogar nach der erſten Antwort paſſen die Welt-Maͤnner gelaſſen von neuem, weil kein anderer als der gekroͤnte Kopf fort zu weben hat.
Der Notar machte darauf ſeine Abſchriften von den verliebten Zuſchriften, aber ſeine Seele wohnte mit ihren Fuͤhlfaden nirgends als in der Schnecke des Ohrs: um jedem Laute der verbor¬ genen Lebensſeele nachzuſtellen. Er ſchrieb keine Seite ohne ſich umzudrehen und das heilige Zim¬ mer zu beſchauen, — das er einen ganzen Tag,204 aber als den letzten bewohnen durfte, — fuͤr ihn wenn kein Sonnen - doch ein Mondtempel, dem nichts fehlte als die Luna dazu. Sogar der blaue Streuſand voll Goldſand — das blauweiße Din¬ tenfaß und Papier — das blaue Siegellack — und die Blumenduͤfte, welche aus dem Neben¬ zimmer einwehten, ſchmuͤckten ſein ſtilles Aether - Feſt der Hoffnung. In der Liebe iſt das Erndte¬ feſt der Freude nicht um eine halbe Sekunde vom Saͤetage und Saͤefeſt der Freude verſchieden.
Als er ſich nun abſchreibend abmahlte, wie ihm das Herz ſchlagen wuͤrde, das ſchon heftig ſchlug, wenn die Liebes-Geſtalt aus ſeinem Kopf und lange Traume wie eine Goͤttin lebendig ins Leben ſpraͤnge, naͤmlich vor ihn hin: ſo kam nichts als das verhaßte Kammermaͤdchen mit ei¬ nem Stick-Geruͤſte, aber bald ihr nach die bluͤ¬ hende Wina, die Roſe und das Roſenfeſt zugleich. Es iſt ſchwer zu ſagen, womit er ſie anmurmel¬ te, da er ſie damit nicht anredete. Sie verbeugte ſich ſo tief vor ihm, als waͤre er der goldene und figurirte Knopf am Oberſtabe des Generals, und ſagte das hoͤflichſte Bewillkommungs-Wort, und205 ſetzte ſich an den Stickrahmen. Konnte ſie nicht hundert Deckmaͤntel ihrer Abſicht, im Schreibzim¬ mer zu ſeyn, als ein Maͤdchen finden und umle¬ gen? Haͤtte ſie nicht z. B. ihr blaues Kleid aus dem Wandſchrank holen koͤnnen — oder das weiße — oder den Schleier — oder einmal ein¬ tunken wollen — oder an der elektriſchen Lampe ein Licht zum Siegeln anzuͤnden — oder hier den Vater ganz vergeblich ſuchen? — So aber trat ſie herein, und ſetzte ſich vor den Stickrahmen, um fuͤr eine Stiftsdame einen Ordensſtern aufge¬ hen zu laſſen, der fuͤr den abſchreibenden Stern¬ ſeher, wie oft fuͤr Traͤgerinnen, nichts werden konnte als ein Irr - und Nebelſtern.
Der Schreiber ſchwamm nun in der Wonne einer himmliſchen Gegenwart, wie in unſichtba¬ rem Duft einer hauchenden Roſe, Wina's Da¬ ſeyn war eine ſanfte Muſik um ihn. Er ſah zu¬ letzt ſehnſuͤchtig kuͤhn ihre geſenkten großen Augen¬ lieder und den ernſt geſchloßnen Mund im Spie¬ gel zu ſeiner Linken an, verſichert der eignen Un¬ ſichtbarkeit, und erfreuet, daß gerade zufaͤllig, wenn er eben in den Spiegel ſah, immer ein206 warmes Erroͤthen das ganze niederblickende Antliz uͤberfloß. Einmal ſah er im Spiegel den Braut¬ ſchaz ihres Blicks ausgelegt, ſie zog leiſe wieder den Schleier daruͤber. Einmal da ihr offnes Au¬ ge darin wieder dem ſeinigen begegnete, laͤchelte ſie wie ein Kind; er drehte ſich rechts nach dem Urbild und ertappte noch das Laͤcheln. „ Gieng es Ihnen ſeit Roſenhof wohl, H. Harniſch? “ſagte ſie leiſe. „ Wie einem Seligen, verſetzte er, wie jetzt. “ Er wollte wohl etwas viel anderes fei¬ neres ſagen; aber die Gegenwart unterſchob ſich der Vergangenheit und teſtirte in deren Namen. Doch gab er die Frage zuruͤck. „ Ich lebte, ſag¬ te Wina, mit meiner Mutter, dieß iſt genug; Leipzig und ſeine Luſtbarkeiten kennen Sie ſelber. “— Dieſe kennt freilich ein darbender Muſen - und Schulzenſohn wenig, der an den Roſen des kauf¬ maͤnniſchen Roſenthals nicht hoͤher aufklettert als bis zu den Dornen, weil er jene nicht einmal ſo oft theilt als ein Maurer-Meiſter einen fuͤrſtlichen Saal, zu welchem dieſer ſtets ſo lange Zutritt hat, als er ihn mauert. Indeß denken ſich die hoͤheren Staͤnde nicht leichter hinab, zu Honora¬207 zioren beſonders — denn von Schaͤfer -, d. h. Bauerhuͤtten, haben ſie im franzoͤſiſch eingebun¬ denen Geßner eine gute Modell-Kammer — als ſich die tiefern hinauf. „ Goͤttlich iſt da der Fruͤh¬ ling, antwortete er, und der Herbſt. Jener voll Nachtigallen, dieſer voll weichen Duft; nur ge¬ hen der Gegend Berge ab, welche nach meinem Gefuͤhl durchaus eine Landſchaft beſchließen muͤſ¬ ſen, doch nicht unterbrechen; denn auf einem Berge ſelber iſt nicht die Landſchaft, ſondern wie¬ der ein fernſter Berg ſchoͤn und groß. — Die Leipziger Gegend enget alſo ein, weil die Graͤnze, oder vielmehr die Graͤnzloſigkeit, nichts der Phan¬ taſie uͤbrig laͤſſet, was, ſo viel ich gehoͤrt, nicht einmal das Meer thut, das ſich am Horizont in den Aether-Himmel aufloͤſet. ” — „ Sonderbar, verſetzte Wina, beſtimmt hier die Gewohnheit des aͤußern Auges die Kraft des innern. Ich hatte eine niederſaͤchſiſche Freundin, welche zum erſten¬ male von unſern Bergen eben ſo beſchraͤnkt wur¬ de, als wir von ihren Ebenen.” Der Notarius war uͤber ihre philoſophiſche Sprachkuͤrze — da uͤberhaupt der Mann an der Frau gerade ſo ſehr208 ſeinen Kopf bewundert, als ſeine Bruſt verdammt — ſo betroffen, daß er nicht wuſte, was er ſa¬ gen ſollte, ſondern etwas anderes ſagte. „ Be¬ ſuchten Sie zuweilen die Badoͤrter um Leipzig,” fragte ſie ſpaͤt. Da er darunter nicht Lauchſtaͤdt, ſondern die Studenten-Badoͤrter in der Pleiße verſtand; und eine ſolche Frage von weiblichen Lippen zum vornehmen Zyniſmus rechnete: ſo umging er ſie nach Vermoͤgen, in der Antwort: „ der Leipziger Magiſtrat habe zu ſeiner Zeit we¬ gen mehrerer Ungluͤcksfaͤlle erſt die beſſern Badoͤr¬ ter beſtimmen laſſen. ” — Wina mißverſtand wie¬ der ſein Mißverſtehen. Und ſo kann in Deutſch¬ land und faſt auf der Erde jeder, der ſich ver¬ ſpricht, auf einen zaͤhlen, der ſich verhoͤrt; ſo wenige Ohren, ob ſie gleich doppelt am Kopfe ſtehen, giebt es fuͤr die hieſigen Zungen und man findet noch ſchwerer ein offnes als ein kurzes.
Ploͤtzlich ſprang der General wie mit einem verſchimmelten bleichen Geſicht herein aus dem Puderſtuͤbchen — mit einem Bilde in der Hand und trocknete ſich aus den Augenliedern den Pu¬ der wie Zaͤhren ab. „ Sage mir, wer iſt aͤhnli¬cher209cher, die Mutter oder die Tochter? — In der That recht brav retouchirt!” Das Gemaͤlde ſtellte Wina vor, wie ſie zu einem ihr aͤhnlichen Toͤch¬ terchen, das nach einem Schmetterling fing, ihr Geſicht herab an die kleine Wange beugt, ſehr muͤtterlich-gleichguͤltig, ob ſie vom Kinde uͤber dem Schmetterling uͤberſehen werde oder nicht. Im Kunſt-Feuer fragte der General auch den Notar: „ iſt denn die Mutter nicht ſo ausneh¬ mend getroffen, meine Wina naͤmlich, daß man die Aehnlichkeit ſogar im Kinde wieder findet? — Sprechen Sie als Dritter! “— Walt verlegen mit ſeiner Erroͤthung uͤber den bloßen Gedanken, das Kind ſei Wina's, verſetzte: „ die Aehnlichkeit iſt wohl Gleichheit? “— „ Und zwar auf beiden Seiten? “erwiederte Zablocki, ohne ſehr den No¬ tar zu faſſen, der nach den gewoͤhnlichen Vor¬ ausſetzungen des Standes ſchon alles vorausſetzen ſollte und zwar Folgendes: der General wollte ſeiner losgetrennten Gattin ein Denkmahl ſeiner Zaͤrte zuwenden, einen Spiegel, der nur ſie ab¬ bildete, naͤmlich ein feſtes Bild; hatt 'aber leider aus Kaͤlte ſie ſonſt nie ſitzen laſſen, außer zu¬Flegeljahre IV. Bd. 14210letzt juriſtiſch — Zum Gluͤcke war nun Wina ihr ſo aͤhnlich — die wenige Jahrzehende ausgenom¬ men, wodurch ſich Toͤchtern hauptſaͤchlich von Muͤttern zu unterſcheiden ſuchen — daß die jetzige Wina als die vorige Mutter zu gebrauchen war, der man nichts als die vorige Wina in die Hand zu geben hatte, die als Kind gemahlt eine Auri¬ kel in der Linken haͤlt und darauf einen weißen Schmetterling mit der Rechten ſetzt. Dieſe zwei¬ mal, als Bild und als Urbild, angewandte Wina wollte der General ſeiner Frau als einen oͤhlge¬ mahlten Ichs-Himmel auf Leinwand aufthun, um ſie in Erſtaunen zu ſetzen, daß ſie uͤber vier¬ zig Meilen geſeſſen — einem Mahler.
Als der Vater fort war, machte Walt — noch tiefer in Erſtaunen und Unglauben geſetzt — die Bemerkung, ſie ſehe dem ſchoͤnen Kinde aͤhn¬ lich, um nur herausgezogen zu werden. „ O bliebe man ſich nur auch in wichtigern Punkten aͤhnlich — ſagte Wina. Auch war ich noch bei meiner Mutter; ich glaube Sie oder Ihr Bruder lag damals am Tage des Mahlens an den Blattern blind; denn ſie gieng mit mir in Ihr Haus. 211Schoͤne Zeit! ich wollte gern die eine Aehnlichkeit auf mich nehmen, koͤnnte ich damit meiner Mut¬ ter die andere zuruͤckfuͤhren. “
Nun fuhr der Notar uͤber die Naͤhe des er¬ helleten Abgrunds, in der er haͤtte treten koͤnnen, roth zuruͤck, und fuͤrchtete ordentlich, die Betiſe fahre ihm noch wider Willen aus dem Halſe. „ Auch ich gienge gern in jene Blindheit zuruͤck; die Nacht iſt die Mutter der Goͤtter und Goͤttin¬ nen!” ſagte er und wollte ertraͤglich auf die Au¬ rikelbraut anſpielen. Wina verſtand nichts da¬ von als den Ton und Blick; und ſo war es ge¬ nug und gut gemacht.
Man rief ſie zum Eſſen: Da er glaubte, er werde wie im Roſenhoͤfer Wirthshaus wieder an Generals-Tafel gezogen: ſo ſtand er auf, um ihr den Arm zu bieten, ſie ſtickte aber fort; und er ſtand nahe am Rahmen und ſah herab auf das lockige Haupt, worin ſeine Welt und ſeine Zu¬ kunft wohnte, die ſich in lauter Schoͤnheiten ver¬ barg — das Fruchtgewinde des Geiſtes war vom Blumengewinde der Geſtalt ſchoͤn verhuͤllt und ſchoͤn verdoppelt. Sie ſtand auf. Jetzt naͤherte212 er ſich mit dem rechten Arme, um ſie fort zu fuͤh¬ ren. „ Ich werde — ſagte Wina ſanft — nach dem Eſſen wieder kommen, und Ihrem Herzen eine Bitte bringen; “und ſah ihn mit den großen guten Augen unverlegen an, und gab, wie zur Antwort auf ſeinen fragenden Arm, ihm ein we¬ nig die ablenkende Hand in ſeine, um ſie zu druͤcken. Mehr braucht 'er nicht, der Liebe iſt eine Hand mehr als ein Arm, wie ein Blick mehr als ein Auge. Er blieb reich zuruͤck, am einſa¬ men Eßtiſche, den ein verdruͤßlicher Bedienter an den Schreibtiſch geſetzt hatte. Seine Hand war ihm wie geheiligt durch das Weſen, das bisher nur von ſeiner Seele beruͤhrt wurde. Wer kann es ſagen, warum der Druck einer geliebten Hand mehr innige Zauberwaͤrme in die Seele ſendet als ſelber ein Kuß, wenn nicht etwa die Einfachheit, Unſchuld, Feſtigkeit des Zeichens es thut?
Er ſpeißte an einer Goͤttertafel — die Welt war der Goͤtterſaal —, denn er ſann Wina's naͤchſter Bitte nach. Eine thun, heißt in der Liebe mehr geben, als eine erhoͤren. Aber warum macht die Liebe denn dieſe Ausnahme? Warum213 giebt es denn keine verklaͤrte Welt, wo alle Men¬ ſchenbitten ſo viel gelten und geben, und wo der Geber fruͤher dankt, als der Empfaͤnger?
Mit wunderbaren Gefuͤhlen irrte er um Wina's Bitte herum, da er doch fuͤhlte, Wina ſei ein durchſichtiger Juwel ohne Woͤlkchen und Federn. Denn dieß iſt eben die Liebe, zu glauben, man durchſchaue das Geliebte noch ſchaͤrfer als ſich, ſo daß man den blauen Himmel dadurch erblickt, durch welchen man wieder die Sterne ſieht — indeß der Haß uͤberall Nacht ſieht und braucht und bringt.
Als er die wenigen Stralen kuͤßte, die am Sterne des Stifts und der Liebe aufgegangen waren oder geſtickt: that ſein Himmel alle Wol¬ ken wieder auf, naͤmlich die Fluͤgelthuͤren, und Wina erſchien und ſchien. Er wollte ſagen: ich bitte um die Bitte; aber er hielt es fuͤr unzart, das eine Bitte zu nennen, was Wina eine ge¬ nannt. So hatt 'er den hoͤchſten Muth fuͤr ſie, aber nicht vor ihr; und von den langen Gebeten an dieſes Heiligenbild, welche er zu Hauſe ſich ausſann und vornahm, brachte er nichts zum214 Bilde ſelber auf ſeinen Knieen als: Amen, oder Ja, ja. „ Sind Sie zuweilen bei den hieſigen Thees,” fieng Wina an, und ſetzte, wie es ihr Stand thut, immer ihren Stand voraus. „ Neu¬ lich bei mir, bei dem vortreflichen Floͤtenſpieler, den Sie gewiß bewundern. ” — „ Ich hoͤr' dieß heute von meinem Maͤdchen,” ſagte ſie, meinend die Nachricht des Beiſammenwohnens; Walt aber nahm an, ſie habe von ſeinem magern Weinthee manches gehoͤrt.
„ Ich meine vorzuͤglich, ſind Sie oͤfters bei den geiſtreichen Toͤchtern des H. Hofagenten? Eigentlich red 'ich blos von meiner Freundin Raphaela.” Er fuͤhrte — doch ohne die Wech¬ ſel-Noth — den Abend an, wo ſie fuͤr den muͤt¬ terlichen Geburtstag geſeſſen. „ Wie ſchoͤn! ſagte Wina. So iſt ſie eben. Einſt als ſie bei mir in Leipzig in eine lange Krankheit fiel, durfte ihrer Mutter nichts geſchrieben werden, bis ſie entwe¬ der geneſen oder verſchieden ſei. Um dieſer Liebe wegen lieb ich ſie ſo. Ein Maͤdchen, das ſeine Mutter und ſeine Schweſtern nicht liebte, — ich weiß nicht, warum oder wie es ſonſt noch recht215 lieben koͤnnte, nicht einmal ſeinen Vater. “— Walt wollt' es gern aͤußerſt fein auf ſie ſelber zuruͤckwenden und machte daher die allgemeine Bemerkung, daß Toͤchtern, die ihre Mutter lie¬ ben, die beſten und weiblichſten ſind.
„ Ich tauge nicht zu Wendungen, wie Sie hoͤren, H. Sekretair. Empfangen Sie meine offne Bitte gutmuͤthig auf einmal. “ Es war dieſe: da Raphaelens Geburtsſtunde in die Nach¬ mitternacht oder Morgenſtunde des Neujahrs ein¬ falle: ſo wolle ſie durch den Beiſtand Engelber¬ tens ſie durch leiſes Anſingen zur Feier des er¬ neuerten Lebens wecken; wuͤnſche aber zur duͤrf¬ tigen Stimme eine Begleitung, naͤmlich die Floͤ¬ te, und an wen koͤnne ſie ſich ſchicklicher wenden, als an H. von Harniſch? — Walt ſchwur freu¬ dig, dieſer blaſe freudig dazu.
Sie bat auch um das Setzen des Geſangs; Walt ſchwur wieder. „ Aber ſogar um die Verſe dazu muß ich ihren werthen Freund angehen — ſetzte ſie unbeſchreiblich-lieblich laͤchelnd hinzu —, da ich ihn aus unſerer Zeitung als einen weichen Dichter des Herzens kenne. “—
216Ganz froh erſtaunt fragte Walt, was Vult darin gemacht. Sie ſagt 'Ihm — mit der den Litteratoren noch gewoͤhnlichern Verwechslung glei¬ cher Namen — folgenden Polymeter von ihm ſelber her:
Weißes Gloͤckchen mit dem gelben Kloͤppel, warum ſenkſt du dich? Iſt es Scham, weil du bleich wie Schnee fruͤher die Erde durchbrichſt als die großen ſtolzen Farbenflammen der Tulpen und der Roſen? — Oder ſenkſt du dein weißes Herz vor dem gewaltigen Himmel, der die neue Erde auf der alten erſchaft, oder vor dem ſtuͤr¬ menden Mai? Oder willt du gern deinen Thau¬ tropfen wie eine Freuden-Thraͤne vergießen fuͤr die junge ſchoͤne Erde? — Zartes, weißes Kno¬ ſpenbluͤmlein, hebe dein Herz! Ich will es fuͤl¬ len mit Blicken der Liebe, mit Thraͤnen der Won¬ ne. O Schoͤnſte, du erſte Liebe des Fruͤhlings, hebe dein Herz!
Walten waren unter dem Zuhoͤren vor Freu¬ de und Liebe, und vor Dichtkunſt, die Augen uͤbergegangen — und Wina hatte mit geweint,217 ohne es zu merken —; darauf ſagt 'er: „ ich ha¬ be wohl den Vers gemacht. “—
„ Sie, Lieber — fragte Wina und nahm ſeine Hand — und alle Polymeter? “— „ Alle, “liſpelte er. Da bluͤhte ſie wie das Morgenroth, das die Sonne verſpricht, und er wie die Roſe, die ſchon von ihr erbrochen iſt. Aber einander verborgen hinter den froher nachquellenden Thraͤ¬ nen glichen ſie zwei Toͤnen, die unſichtbar zu Einem Wohllaut zittern, ſie waren zwei geſenkte Maienbluͤmchen, einander durch fremdes Fruͤh¬ lingswehen mehr nachbewegt als angenaͤhert.
Jetzt hoͤrte ſie den Vaterſtritt. „ Und Sie machen den Text fuͤr den Geburtstag? “ſagte ſie. — „ O! (verſetzte er) — Ja, ja! “und durfte nicht fort reden, weil Zablocki eintrat und mit dem Vaͤter - und Gatten-Schnauben ihr den arbeitſamen Verzug vorruͤckte, da ſie, wie er ſagte, wiſſe, daß die Neupeters — dahin fuhr er mit ihr — Buͤrgerliche waͤren, und eh 'er ſol¬ che im Kleinſten manquire, komm' er lieber bei Seines gleichen um Stunden zu ſpaͤt. Sie floh dahin; er rief ſie aber zuruͤck, um ſelber mit218 einem Schluͤſſelchen, ſo groß wie ein Staubfa¬ den, ein goldnes Schloß an einer Kette auf Ih¬ rem ſchoͤnen Halſe aufzuſchlieſſen und ſie abzu¬ nehmen. Unter dem Aufſperren ſah ſie gutmuͤ¬ thig dem Vater ins Auge; dann warf ſie ſchei¬ dend dem Notar einen Flugblick voll Weltall zu.
Kauen und Schlucken unter einem Adagio Pianiſſimo einer Tafelmuſik haͤtte Walten nicht ſo widerſtanden, als die Annahme von Kopirge¬ buͤhren, die ihm der General jetzt aufnoͤthigen wollte. Das Weigern hielt dieſer anfangs ſcher¬ zend aus, bis er durch den Argwohn, Walt handle aus Ehrgefuͤhl, ſein eigenes ſo beleidigt fand, daß er ſo heftig ſchwur, ihn, wenn er nicht gehorche, nie mehr zu einem Notariats - Inſtrument ins Haus zu laſſen, daß Walt ſich entſchloß, ſich ſeine Himmelspforte nicht ſelber zuzuriegeln.
Nun war er allein und zum letztenmale als Kopiſt im Zimmer; und hatte, was der Menſch zum feinſten Gluͤcke braucht, naͤmlich einen Wi¬ derſpruch der Wuͤnſche: er wuͤnſchte nicht nur wegzukommen, um uͤber Wina's Kopf zu Hauſe219 mit Sternen-Traͤumen auf und ab zu ſchweben, ſondern auch da zu bleiben, da er Kroͤnungs - Zimmer ſeines Lebens zum letztenmale bewohnte. Die Sonne fiel immer feuriger hinein und vergol¬ dete es zu einer Zauberlaube im elyſiſchen Haine. Als er es verließ, war ihm, als falle ein bluͤhen¬ der Zweig herab, worauf bisher die Nachtigall ſeiner Seele geſungen.
Wie lag zu Hauſe, wo ihm nichts fehlte als Vult — aber dieſer kaum —, das Leben und der Traum im Leben wie vergoldetes Gewoͤlk um ihn her! Tauſend Paradieſes-Zweige ſchlugen uͤber ihm unſichtbar zuſammen und durchzogen ihn heimlich mit einem berauſchenden Bluͤthen-Dufte, in deſſen Eden er nicht hineinſehen koͤnnte. Wenn bisher die Wolke zu ſtehen ſchien und der Mond zu fliehen: ſo ſah er jetzt die Flucht der Wolken unter dem feſten ſchoͤnen Geſtirn.
„ Wenn ſie nur recht innig liebt — dacht 'er — geſetzt auch, ſie meinte mich nicht allein; die Hauptſache iſt ihre Wonne. Sie ſollte dazu ordentlich mehrere Muͤtter haben, mehrere Vaͤter und unzaͤhlige Freundinnen! “ Er freuete ſich220 mehr als dreißigmal uͤber die Freude, womit Wina die Neujahrs-Nacht und jetzt unter ſeinen Fuͤßen die Freundin anſchauen werde. Daß ſie ihn liebe und achte, wußt' er nun recht; aber nicht wie ſtark; — den hoͤchſten Grad ihrer Liebe gegen ihn ſich jetzt zu denken hieß 'ihm, ſich ab¬ zuzeichnen, wie ihm ſeyn wuͤrde, wenn man ihn auf Millionen Weltſtufen auf die Gipfel-Sonne geleitete, um ihn, den Notar, zum Gott zu kroͤnen.
Er hatte ſchon viel von dem Geburtstags - Gedicht ohne ſein Wiſſen ausgearbeitet — blos durch das Denken an Wina's Bitte —, als end¬ lich Vult erſchien. In der Angſt, dieſer ſchlage aus Kaͤlte gegen Raphaela und den Adel, das Muſikfeſt ab, wollt 'er ihn etwas kuͤnſtlich, wie in einem engliſchen Garten, auf feinen Schlan¬ genlinien und mit Maͤandern vor den Vorſchlag wie vor ein Denkmahl fuͤhren. „ Leider ſchrieb ich heute das letztemal beim General, “ſagt' er mit der ſeligſten Miene von der Welt. „ Du willſt ſagen „ Gottlob, “ſagte Vult. Walt ſtolperte ſchon vornen in den Maͤander hinein und ertrank221 faſt. „ Ich hoffte bisher, verſetzte Vult, du ſollteſt mich Stimmen-Narren allmaͤhlich beim Vater einfuͤhren, damit die Tochter ſaͤnge, wenn ich blieſe. “— „ Beides, ſchlug Walt heraus, kannſt du ohne ihn und mich jetzt haben, dieß hab 'ich dir ſogar vorzuſchlagen. “
Der Floͤtenſpieler fragte heftig. Walt be¬ ſtand aber darauf, daß er, bevor er deutlich werde, ihm einen einzigen Zug von Raphaelen geben duͤrfte; es war der ſchoͤne vom Verſchwei¬ gen des Krankſeyns.
Es gab keinen Karakterzug von der Welt, den der Floͤtenſpieler je mit einem ſo abſtrebenden Geſichte ſich vorzeichnen laſſen, als dieſen; doch zog er den ſatiriſchen zuckenden Stachel in die Scheide zuruͤck, um nur den Vorſchlag zu be¬ kommen.
Walt quaͤlte ihn ſo lange um ſein Urtheil hieruͤber, daß er losbrach: „ ich ſchwoͤre dir ja, ich ſchaͤtze die Handlung; der Teufel und ſeine Großmutter koͤnnten nicht zaͤrter verfahren; es iſt eine Redensart, ich meine wir beide. Nun ſprich! “—
222Walt ſchlugs vor.
„ Du biſt ein guter Menſch — ſagte Vult mit einer ſchwer zu bergenden Erfreuung — ich nehm 'es willig an. Ich ſcherze uͤberhaupt oft blos. Als Miethsmann zeig' ich der Tochter vom Hauſe ſo gerne einige Aufmerkſamkeiten — und ich ſoll es. Doch die Wahrheit zu ſagen — ein boͤſer Ausdruck, gleichſam als habe man vor¬ her keine geſagt — ſo ſtimmt mich hier Wina mit ihrer reinen rollenden Perlen-Stimme noch mehr. Gott! wie kann nicht eine Singpartie geſetzt wer¬ den (beſonders von mir), wenn man das edle Portamento der Sopran-Perſon, deren dimi¬ nuendo und crescendo und ihre herrliche Ver¬ einigung von Kopf - und Bruſt-Stimme — du verſtehſt mich unmoͤglich, Bruder, ich ſpre¬ che als Kuͤnſtler — dermaſſen kennt wie ich? Menſch, glaubſt du, daß ich damals, als ich ſie in Elterlein hoͤrte, ſchwur, ſie ſoll mit mei¬ nem Willen nie mehr à secco ſingen? — à sec¬ co, Walt, heißt naͤmlich allein; ein Punſch - Royaliſt wie ich, kommt freilich auch leicht aufs Trockne, aber anders. “
223Walten ſchien es ein wenig, als komme Vult eben nicht vom feſten Lande her. Beider Abend wurde aber im Feuer der Liebe vergoldet. Jeder glaubte, er ſehe uͤber den Paradieſes-Strom hinuͤber recht gut die Quelle der Freude des an¬ dern von weitem rauchen und nebeln. Walt zwang ihn ſcherzhaft, es auf einen Bogen zu ſchreiben, daß er morgen noch der heutigen Mei¬ nung ſeyn und blaſen und ſetzen wolle. Vult ſchrieb: „ ich will, wie Siegwart, den Mond zu meinem Bettwaͤrmer machen — oder ein Lauf¬ feuer im Laufe aufhalten — ja ich will die erſte beſte Glacière von Pruͤde heirathen und mir es alſo gefallen laſſen, daß eine Jungfrau die Fruͤchte der Glutzeit zu Eiszierrathen ausquetſcht, z. B. zu Roſen - und Aprikoſeneis, zu Stachel¬ beereneis, zu Citroneneis: wenn ich nicht die beſte Floͤtenmuſik ſogleich Mozartiſch ſetze und blaſe zur Zauberfloͤte, in der Minute, wo dieſe mein Bruder gedichtet und aufgeſchrieben hat; und ich entſage jeder Exzeption, beſonders der, daß ich heute nicht gewußt haͤtte, was ich mor¬ gen wollte. “—
224„ Ein wahrer Schelm iſt doch mein Walt — dacht 'er im Bette — wuͤrde ihn ein anderer wohl im Hauptpunkte ſo durchſchauen wie ich? — Kaum! “
Schlittſchuh-Fahrt.
Der naͤchſte Tag des Notars war aus 24 Morgenſtunden gemacht; weil er uͤber das Ge¬ burtstags-Lied fuͤr Wina nachſann. Der zweite beſtand aus eben ſo vielen Mittagsſtunden, weil er es ausfuͤhrte. Es war, als muͤßt 'er ſich ſelber verklaͤren, um Wina's heiliges Herz auf ſeine Zunge zu nehmen; als muͤßt' er in Liebe zerrin¬ nen, um ihre Liebe gegen die Freundin in ſeiner Seele wie ein zweiter Regenbogen neben dem er¬ ſten nachzuglaͤnzen. Da die Liebe ſo gern im fremden Herzen lebt: ſo wird ſie noch zaͤrter, wenn ſie in dieſem wieder fuͤr ein drittes zu leben hat, wie das zweite Echo leiſe uͤber die Milde des erſten ſiegt. — Dieß alles aber war nur leichtes Saͤen im Fruͤhling, wo lauter neue Saͤnger am Himmel flogen; aber am zweiten Tage fiel dieheiße225heiße Erndte ein — Walt mußte um die aͤtheriſchen Traͤume die feſte Form des Wachens legen, naͤm¬ lich nicht nur die neue metriſcher Verhaͤltniſſe, ſondern auch muſikaliſcher, weil Vult oft den be¬ ſten Gedanken weder ſing - noch blasfaͤhig fand. So muß ſogar der Geiſt des Geiſtes, das Ge¬ dicht, aus ſeinem freien Himmel in einen Erden¬ leib, in eine enge Fluͤgel-Scheide ziehen.
Vult hingegen hatte leicht Geſang und Be¬ gleitung geſetzt; denn im unermeßlichen Aether der Tonkunſt kann alles fliegen und kreiſen, die ſchwer¬ ſte Erde, das leichteſte Licht, ohne zu begegnen und anzuſtoſſen.
Da Walt bekanntlich das Gedicht in ſeinem Roman ganz abdrucken laſſen, nur mit wenigen, aber unweſentlichen Abaͤnderungen in den Stellen: Wach 'auf Geliebte, der Morgen ſchimmert, dein Jahr geht auf — dann: Schlaͤferin, hoͤrſt du nicht die Liebe rufen und traͤumſt du, wer dich liebt — und endlich: Dein Jahr ſei dir ein Lenz und dein Herz im langen Mai die Blume — ſo ſetz' ich die Verſe als allgemein bekannt voraus.
Flegeljahre IV. Bd. 15226Jetzt war blos die Schwierigkeit, Winen Muſik und Text zuzuſpielen. Walt ſchlug meh¬ rere ausfuͤhrbare Mittel und Wege dazu vor, die ſehr dumm waren, Vult ſchlug aber jedes aus, weil man beim Treibjagen der Maͤdchen, ſagt 'er, nichts zu thun habe als ruhig zu ſtehen auf dem Anſtand ſchußfertig, um ſogleich abzubrennen, wenn ſie das Wild vortreiben.
Indeß wurde nichts gebracht; Wina verſtand von den weiblichen Vermittlers - und Dietrichs - Kuͤnſten ſo viel als Walt. Endlich erſchien eine helle Dezember-Daͤmmerung im Park, wo der lange See (es war ein ſchmaler Teich) mit dem Beſen von Schnee geſaͤubert wurde, und wo ſpaͤ¬ ter, da der Mond ſcharf jeden duͤrren Schatten - Baumſchlag auf dem weißen Grund abriß, nicht nur die drei Urſachen davon verſchwanden in die nahe Rotonda — ein ſchoͤnes Rindenhaus, das dem roͤmiſchen Pantheon auffallend aͤhnlich war in der Oeffnung nach oben — ſondern auch ſo¬ gleich einander wieder herausfuͤhrten aufs See¬ Eis, weil die drei ſaͤmmtlich Schlittſchuhe darin227 angeſchnallet hatten, Wina ſo wohl als Raphaela und Engelberta.
„ Goͤttlich — rief Walt, als er fahren ſah — fliegen die Geſtalten wie Welten durcheinander, um einander; welche Schwung - und Schlangen¬ linien! “ Eben machte Engelberta, beide Arme mahleriſch aufgehoben, hernickende Fingerwinke. „ Lauf, mit deinem Muſikblatt und ſei drunten ein Menſch! ſagte Vult zu Walt, Sie wollen uns beim Teufel. “— „ Unmoͤglich, verſetzte Walt, betrachte doch die Daͤmmerung und die Zaͤrte! “— „ Fuͤr ein Paar Stiefel hat doch der See noch Platz? “fragte Vult hinab und flatterte drei Treppen hinunter, um einen Ladendiener ohne Weiteres zum Nachtragen von ein Paar Schlitt¬ ſchuhen zu kommandiren, die er vorausſetzte.
Walt ſteckte das heilige Blatt voll Ton - und Dichtkunſt an einen Ort, den er fuͤr ſchicklicher als die Rocktaſche anſah, naͤmlich an deſſen Geburts¬ ort, d. h. unter die Weſte ans Herz. Drunten am See-Teich ließ er an ſeinem langen Buͤckling die drei Dankſagerinnen voruͤber gleiten[und] theilend228 looſen, weil er nicht offenbaren konnte, wie viel er jeder von Ruͤckenbogen abſchneide.
Aber welche entwickelnde Lebenskraft war mit Vulten aufs Eis gefahren und wie ſchwebte der Geiſt uͤber dem Waſſer, das gefroren war! — Zuerſt bald Wina's Bart -, bald ihr Wandelſtern, bald ihre gerade ſchießende Sternſchnuppe zu ſeyn, damit fing er an — ſie Schachkoͤnigin zu decken gegen jede Koͤnigin, es ſei als Laͤufer, als Sprin¬ ger oder Thurm — als Amors Pfeil zu fliegen, ſo oft ſie Amors Bogen war, es nicht zu leiden, wenn ſie kuͤhner fliegen wollte als er, ſondern ſie ſo lange zu uͤberbieten, bis er ſelber uͤberboten wur¬ de und dann leichter den Wettflug mit einem Dop¬ pelſiege ſchloß — dieß war die Kunſt, womit ſeine ſchoͤne von der Welt erzogne Geſtalt ihren Werth entwickelte in leichter Haltung und Wechslung.
Walt war am Ufer als Strandlaͤufer außer ſich vor Luſt und warf laut den ſchoͤnen Tanz - und Schweb-Linien Kraͤnze von Gewicht in ſo richtigen Kunſtwoͤrtern zu, daß man haͤtte ſchwoͤren ſollen, er tanze. Er ſprach noch vernehmlich von drei Grazien; — „ welche noch dazu, verſetzte Vult,229 wenn nicht um die Venus, doch um deren Mann, tanzen; und was fehlt denn uns, Herr Harniſch, zu drei Weiſen als die Zahl?” — Nur mußte Walt unter dem Bewundern beklagen, naͤmlich ſich und ſein Strandlaufen; denn auf dem Eiſe waͤre er nicht viel leichter zu drehen geweſen als ein Kriegsſchiff. Vielleicht wird der Druck einer niedrigen Abſtammung nie ſchmerzlicher empfun¬ den als in den geſelligen Feſten, zu welchen die duͤrftige Erziehung nicht mit den Kuͤnſten der Freude ausruͤſtete, wie Tanz, Geſang, Reiten, Spiel, franzoͤſiſches Sprechen ſind.
Gegen Raphaela war Vult der artigſte Mann, den es auf dem Teiche gab, ſagte ihr Hoͤflichkeiten uͤber ihre fuͤr dieſen Tanz gemachte Geſtalt — wel¬ che ihm und ihr leicht zu glauben waren, weil ſie wirklich einige Zolle uͤber Wina hinaus maß — und ſchnitt oder fuhr ſogar ihr Namens-R mit den Schuhen in die Eisrinde wie in eine Baum¬ rinde ein.
Sie nahm indeß ſein hoͤfliches Uebermaß ohne eignes auf; vielleicht weil das ſeinige den Scherz nicht genug verbarg und weil ſie als eiferſuͤchtige230 Freundin Wina's unwillig die Hand ſah, die er ſo offen nach dieſer ausſtreckte. Er uͤberhuͤpfte oder uͤberfuhr es. Zu Engelberta ſagt 'er: wir wollen Geliebtens ſpielen. — „ Auf dem Eiſe bin ich dabei, “erwiederte ſie; und ſo neckten beide ſich leicht und raſch mit ihrem Rollen-Schein, er mit edel - und weltmaͤnniſcher Keckheit, ſie mit kaufmaͤnniſcher weiblicher. „ Wuͤßte man nur, ſchien ſie zu denken, ob er mehr ein ſeltſamer Ha¬ berecht waͤre als ein naͤrriſcher Habenichts: dann waͤre mehr zu thun. “
Fuͤnfmal hatte ſchon Walt an ſein Muſikblatt gedacht, um es einzuhaͤndigen, und es viermal vergeſſen, wenn Wina wie ſeine ganze Zukunft um ſein Ufer flog oder gar ihn mit einem Blumen¬ blicke bewarf, dem er zu lange nachtraͤumte. End¬ lich ſagte er der Eisfahrerin: „ zwei Ja ſind neben Ihnen. “— „ Ich verſtand Sie nicht ganz, “ſagte ſie laͤchelnd wiederkommend und entglitt. Er gieng ihr am Ufer ein wenig entgegen aufs Eis: „ Ihr Wunſch wurde auch der fremde, “ſagte er. „ Wie iſts mit der Floͤtenmuſik? “fragte ſie fliehend. „ Ich trage Muſik und Text bei mir, aber nicht231 blos am Herzen, “antwortete er, als ſie wieder herfuhr. „ Wie herrlich! “ſagte ſie umwendend, und glaͤnzte vor Freude.
Vult flog wie eiferſuͤchtig fragend her: hat ſie das Blatt? — „ Sehr hingedeutet hab 'ich drei¬ mal, verſetzte Walt, aber wie natuͤrlich faͤhrt ſie nicht unweiblich vor mir aus und ſteht. “— Je¬ ner zog ſeine Floͤte oͤffentlich vor und ſagte laut, daß der ganze Teich es hoͤrte: „ H. Harniſch, Sie haben vorhin mein Muſikblatt eingeſteckt? Jetzt blaſ' ich. “ Dieſer reichte es (ſeinem Blicke mehr als ſeinem Worte) zu. Wina kam herbei: „ koͤn¬ nen Sie, ſagte Vult laut zu ihr, es uͤbergebend, im Mondſchein noch leſen, was ich abſpiele? “ Das trauende Maͤdchen ſah ihn lieblich an und ernſthaft ins Blatt hinein, da er zu floͤten anhob. Am Haͤrchen des Zufalls hing nun der ganze Neujahrs-Morgen herab, zwar kein Schwerdt, aber eine blumige Krone. Gleichwohl tobt und jauchzet der Menſch wechſelnd uͤber daſſelbe Haͤr¬ chen, blos weil es zur einen Zeit ein Schwerdt, zur andern ein Diadem uͤber ſeinem Kopfe haͤlt und auf dieſen fallen laͤßt.
232Wina las lange auf dem Blatt Noten nach, die er gar nicht blies, bis ſie endlich Vults End - Abſichten merkte und erfuͤllte. Wie flog ſie dann der Floͤte nach, um mit Blicken zu denken — und Walts Stand-Ufer voruͤber, um ihn anzuſchauen — und freudig uͤber die kalte Flaͤche, weil ihre freundſchaftlichen Wuͤnſche ſo ſchoͤn beguͤnſtigt wa¬ ren und dieſer Nacht nichts mehr fehlte, als die erſte des kuͤnftigen Jahrs. Welche erfreuete Blicke warf ſie auf ihre Freundin und zum Sternenhim¬ mel! Dazu ging nun die umher irrende Floͤte, die wie mit einem Springſtabe den Notar vom Eis der Erde ans Empyreums-Eis des Himmels aufhob. Alles war zwar ſelig, Vult beſonders, Walt aber am meiſten. Ach wollteſt du mir nicht — ſagte Vult herfahrend mit vergnuͤgtem Geſicht — ein Paar Doppel-Louis vorſtrecken nur auf zwei Stunden, armer Wicht? “— Ich? fragte Walt. Aber jener fuhr und blies froͤhlich weiter; um als Chorfuͤhrer mit Sphaͤrenmuſiken den himm¬ liſchen Koͤrpern auf dem Eiſe vor - und nach zu ſchweben. Wenn die Tonkunſt, welche ſchon in die gemeine feſte Welt gewaltſam ihre poetiſche ein¬233 ſchiebt, vollends eine offne bewegte findet: ſo wird darin ſtatt des Erdbebens ein Himmelbeben entſte¬ hen und der Menſch wird ſeyn wie Walt, der das Ufer mit ſtillen Dankgebeten und lautem Freuden¬ rufen umlief und ſeine Herzens-Welt, ſo oft die Floͤte ſie ausgeſprochen, immer von neuem und verklaͤrter erſchuf. Er ſammelte alle fremde Freu¬ den wie warme Strahlen in ſeiner ſtillgehaltenen Seele zum Brennpunkte. Den mit Sternen wei߬ bluͤhenden Himmel ließ er ins kleine Nachtigallen¬ ſpiel herabhaͤngen und der Mond mußte ſeinen Heiligenſchein mit Wina's Geſtalt zuſammen we¬ ben. Dieſer Mond, ſagt 'er ſich, wird in der Nachmitternacht des Neujahrs faſt wieder ſo am Himmel ſtehen, und ich werde nicht nur die Floͤte und meine Gedanken, auch Ihre Stimme hoͤren. — Die Sterne des Morgens werden blinken — und ich werde erſt unter dieſer kuͤnftigen Muſik denken: „ ſo groß haͤtt' ich mir die Wonne am fro¬ hen Abend der Eisfahrt nie gedacht. “
Jetzt trat er immer weiter in den Teich hinein, oder ſtach weiter in die See oder ins Eismeer, um der Geliebten naͤher zu begegnen. Da ſie ihn nun234 ein paarmal nahe umkreiſete, und ſeine Freuden¬ blumen den hoͤchſten Schuß thaten und mit brei¬ ten Blaͤttern wogten, maͤhte ſie Zablockis Bedien¬ ter mit der Nachricht ab: der Wagen ſei da. Der ſtolze Lakai erinnerte ihn wunderbar an Wina's Stand, und an ſeine Kuͤhnheit.
Nach der Flucht der Drei nahm ihn Vult am Arme aufs Eis hinein, und ſagte: „ jede Luſt iſt eine Selbſtmoͤrderin, und damit gut. Aber giebt es denn ein kahleres Paar arme Haͤute als ich und du, ſaͤmmtlich? Denn wenn es ein Lumpen - Huͤndchen-Paar giebt, das drei durſtige Engel den ganzen Abend trocken auf dem Waſſer herum¬ fahren laͤſſet, weil es nicht ſo viel in der Taſche, oder droben in der Stube zuſammen bringen kann, um den Engeln nur die kleinſte Erfriſchung vorzu¬ ſetzen, das wenige Kommiß-Eis ausgenommen, worauf ſie fuhren —: ſo iſt wahrlich das Paar niemand als wir. — Ach waren wir denn im Stande, wenn ſie ſchlechter Wetter und kein Fuhr¬ werk hatten, nur eine Halbchaiſe anzuſpannen, und einen Floh dazu anzuſchirren, wie einmal ein Kuͤnſtler in Paris eine ſammt Paſſagieren und235 Poſtillon ſo fein ausgearbeitet hatte, daß ein ein¬ ziger Floh alles zog? — Sonſt war der Abend huͤbſch. “
„ O wahrlich! Freilich; — aber gewiß ſo we¬ nig als ich dieſen Abend an leibliche Genuͤſſe dach¬ te, ſo wenig vielleicht die guten Weſen! Die Frau hat einen Schmerz, eine Freude; der Mann hat Schmerzen, Freuden. Sieh nach, dis trift ſchoͤn mit den Worten auf der Tafel, die dort an der Eiche haͤngt. “—
„ Eine Linde iſts, “ſagte Vult. „ So kenn 'ich, verſetzte Walt, immer die Gewaͤchſe nur in Buͤchern. — Darauf ſteht: die ſchoͤne weibliche Bluͤte ſucht, wie die Biene, nichts als Bluͤte und Blume; aber die rohe ſucht, wie die Weſpe, nur Fruͤchte. “...
„ Ja ſogar Ochſenleber, wie die Fleiſcher wiſ¬ ſen. “ „ O, alle, fuhr Walt fort, waren heute ſo froh, und beſonders uͤber dich! Nun ich ſage dir's offen, habe ich dich je als freien, gewandten, kuͤhnen, alles ſchlichtenden Weltmann erkannt, ſo wars heute, “ſagte Walt und hob beſonders ſein Benehmen gegen Raphaela heraus. Vult bedankte236 ſich mit einem — Spaſſe uͤber ſie. Es war der, daß Weiber den Augen glichen, die ſo zart, rein und fuͤr Staͤubchen empfindlich waͤren, und denen doch Mettelſafran, Cayennepfeffer, Vitriolſpiritus, und andere angreifende Aetzmittel als Heilung dienen. Von Zeit zu Zeit ließ er einen maͤßigen Scherz ge¬ gen Raphaela los, um den Bruder von einer ver¬ druͤßlichen Eroͤffnung ſeiner Liebe zuruͤckzuſchrecken.
Allmaͤhlich ſanken beide ſanft und tief in die Stille ihres Gluͤcks. Von der ſchimmernden Ge¬ genwart war ihnen nichts geblieben als oben der Himmel, und unten das Herz. Der Floͤtenſpieler maß ſeinen Weg zu Wina's Ich zuruͤck, und fand ſich ſchon auf halbem — Ihr Danken, ihr Blicken, ihr Naͤhern, Raphaelens Meiden, langte zu, ihm fuͤr die Neujahrs-Nacht, wo er alles durch einen Zauberſchlag entſcheiden wollte, die ſchoͤnſte Hofnung zu laſſen, und doch noch groͤßere Sehnſucht. Aber gerade dieſe war ihm faſt lieber und ſeltner als jene; er dankte Gott, wenn er ſich nach irgend etwas unbeſchreiblich ſehnte, ſo ſehr mußte er ſich nach Sehnen ſehnen. Aber die Entbehrungen und Schmerzen der Liebe ſind eben237 ſelber Erfuͤllungen und Freuden, und geben Troſt, und brauchen keinen, ſo wie die Sonnenwolken eben das Leuchten der Sonne erzeugen, und die Erdenwolken vertreiben.
Nur auf Walt, deſſen dichteriſche Nachtigallen in ſeinem warmen Duft-Eden betaͤubend ſchlugen, machten die goͤttlichen Sterne, und ein gluͤcklicher Bruder zu ſtarken Eindruck; er duͤrfe, ſchwur er vor ſich, dem aufgeſchloßnen Freunde gerade die heiligſte Herzens-Staͤtte, wo Wina's Denkmahl in Geſtalt einer einzigen Himmelsblume ſtand, nicht laͤnger verdecken und umlauben. Daher ſchickte er ohne weiteres Hand-Drucke und Au¬ gen-Blicke als Vorſpiele der ſchamhaften Beichte ſeiner kuͤhnſten Sehnſucht voraus, um ihn zu fra¬ gen und vorzubereiten; dann fing er an: „ ſollte der Menſch nicht ſo offen ſeyn als der Himmel uͤber ihm, wenn dieſer gerade alles Kleinliche ver¬ kleinert, und alles Große vergroͤßert?” — „ Mich vergroͤßert er wenig, verſetzte Vult. Laß 'uns aber im Schatten gehen; ſonſt muß ich alles vorbeigehend leſen, was da von Empfindungen an die Baͤume genagelt iſt. Denn ſo ſehr mir238 Raphaela ſeit naͤherer Bekanntſchaft in einem an¬ dern Lichte erſcheinen muß als ſonſt, ſo haſſe ich doch das gewaltſame Herauskehren und Umſtuͤl¬ pen des Innern zum Aeußern noch fort, als ſei man eine kehrbare Thierpflanze. Wenn ein Maͤd¬ chen anfaͤngt, „ eine ſchoͤne weibliche Seele”: ſo lauf' ich gern davon; denn ſie beſieht ſich mit. — Herzen hat ohnehin jedes ſo viele aufzumachen und zu verſchenken, als ein Fuͤrſt Doſen, und beide enthalten das Bildniß des Gebers, nicht des Empfaͤngers. Ueberhaupt! — Und ſo fort! — Aber ich berufe mich auf dich ſelber, ob du wohl bei deiner und unſerer Delikateſſe faͤhig waͤ¬ reſt, von deinen heiligern Herzens-Gegenden, vom innerſten und heißeſten Afrika, alles bekannt zu machen und Landkarten davon zu ſtechen. Ein anderes, Bruder, ſind Spitzbuͤbereien der Liebe — bloße ſchlimme Streiche — Wiegenfeſte des alten Adams — alles dieſes dergleichen wilde Fleiſch am Herzen, oder, moͤcht 'ich mit den Aerzten ſpre¬ chen, ſolche Extravaſata, oder mit den Kanoni¬ ſten, ſolche Extravagantia, kurz deine ſtarken Ausſchweifungen, kannſt du mir, ob ich ſie dir239 gleich kaum zugetrauet haͤtte, ohne Schaden ent¬ bloͤßen. Verliebte Liebe hingegen — bedenke dies wenigſtens fuͤr kuͤnftige Faͤlle. Denn der vortref¬ liche Mann, dem du etwa deine Flamme und de¬ ren Gegenſtand bekannt gemacht, weiß nicht recht, da er doch an deinen frohen Empfindungen den froheſten Antheil nehmen will, wie er die Perſon zu behandeln habe — Ob ganz wie du? Aber dann fehlte gar der Unterſchied, und du knurrteſt wohl am Ende. — Oder ob ganz matt und hoch¬ achtend? Dann wirſt du gequaͤlt und gedraͤngt, daß er dir mit ſeinen gipſernen Augen, in deine naß-brennenden ſieht. Der vortrefliche Mann ſchluckt jedes Wort zuruͤck, das nicht wie ein Wunderungs-O uͤber ſie ausſieht, dieſer ſchoͤne Selbſtlauter, der im Munde eben ſo gut den Kreis als die Nulle nachſpielt. — Ihr beide oder ihr drei, ſitzt immer befangen neben einander. Der Mann ſchaͤmt ſich vor dem Mann ſtets mehr der Liebe, als der Ehe; denn in der Ehe finden ein paar Freunde ſchon eher etwas zum Sympathiſi¬ ren, z. B. Wechſel-Jammern uͤber ihre Weiber u. ſ. w.
240Walt ſchwieg, legte ſich ins Bett und in die Traͤume hinein, und that die Augen zu, um alles zu ſehen, was ihn begluͤckte.
Vults antikritiſche Bosheit — die Neujahrs-Nacht.
Auf die ſuͤßen Fruͤchte und Roſen, die ſie an der Wetterſeite ihres Lebens zogen, blies wieder ein rauhes Luͤftchen, naͤmlich H. Merkel, der ih¬ ren Roman mit wahrer Verachtung zuruͤckſchickte, den Waltiſchen Antheil noch ertraͤglich, den Vul¬ tiſchen aber nicht nur abgeſchmackt fand, ſondern gar dem Gukguk Jean Paul nachgeſungen, wel¬ cher ſelber ſchon ohne die Gukguks-Uhr der Nach¬ ahmung langweilig genug klinge. Dieſes brachte den Floͤtenmeiſter dermaßen auf, daß er alle kriti¬ ſchen Blaͤtter dieſes Selbſt-Redakteurs durchlief, und darin blos nach Ungerechtigkeiten, Bosheiten, Fehlſchluͤſſen, Fehlgriffen und Fehltritten ſo lange nachjagte, bis er ihm gerade ſo viele, als manDelille241Delille in ſeinem homme aux champs Wieder¬ holungen*)Im Appel aux principes, wozu noch 558 — Antitheſen vorgeworfen werden. vorwarf, zum zweiten Einruͤcken zu¬ fertigen konnte in einem Briefe, naͤmlich ſechs¬ hundert und drei und vierzig.
Der ganze Brief war voll Ironie, naͤmlich voll Lob — Anfangs erwaͤhnte Vult achtend der Kritik im Allgemeinen, welche er eine noͤthige Zuchthaͤusler-Arbeit nennt, da ſie im Poli¬ ren des Marmors, Schleifen der Brillen, Raſpeln der Faͤrbehoͤlzer, und Hanfklopfen fuͤr Stricke beſtehe — machte glaublich, daß, in¬ ſofern Genies nur durch Genies, Elephanten nur durch Elephanten zu baͤndigen und zu zaͤhmen waͤren, ein kritiſcher Floh ſich ganz tauglich da¬ zu anſtelle, da er ſich von anderen Elephanten weder in der Geſtalt, noch, unter einem Vergroͤſ¬ ſerungsglaſe, in der Groͤße unterſcheide, und noch den Vorzug habe, ſich leichter ins Ohr zu ſetzen, und uͤberall zu ſtechen und zu huͤpfen — erklaͤrte jedoch die gewoͤhnliche Regelgeberei bei MaͤnnernFlegeljahre IV. Bd. 16242wie z. B. Goͤthe, fuͤr eben ſo unnuͤtz als eine zu¬ rechtweiſende Sonnenuhr auf der Sonne — ruͤck¬ te nun Herrn Merkel nicht ohne Bosheit naͤher, indem er es erhob, daß er gerade an großen Autoren, die es am erſten und ſtillſten vertruͤgen, ſich am meiſten zeige durch kleine Ergießungen von Galle und Hirnwaſſer, ſo wie man nirgends (ſelten an kleine Privathaͤuſer) ſo oft, als an er¬ habene und oͤffentliche Gebaͤude wie Raths -, Opernhaͤuſer und Kirchen pißet. — Er wundert ſich, daß das Publikum ſich noch nicht die Qual und Arbeit ſtark genug vorgeſtellt, womit er ganz allein in den Frauenzimmer-Briefen das todte Muſenpferd aus der Straße wegzuſchleppen ſtreb¬ te, eine Marter, wovon ein Waſenknecht zu ſprechen wiſſe, der mehrere Tage ganz allein, weil jeder Vorbeigehende ſich zur Handreichung aus Vorurtheil fuͤr zu ehrlich halte, an einem gefal¬ lenen Gaule abtrage — nahm davon Gelegenheit, deſſen Stolz im vortheilhaften Lichte zu erblicken, da M. allerdings uͤber die ungeheuren Rieſen¬ ſchenkel und den Rieſenthorax ſeines Schattens vergnuͤgt erſtaunen muͤſſe, den er auf die Maͤrker¬243 Flaͤche projectire bei dem tiefen Stand der Mor¬ genſonne der neuen Zeit. —
Da aber Vult im Verfolge anfaͤngt, anzuͤg¬ lich zu werden, ja verachtend: ſo haͤlt ſich der Verfaſſer durch kein Kabelſches Teſtament und durch keine Labrador-Blende von der Inſel St. Paul fuͤr das Kapitel verbunden, den Reſt hier zu exzerpiren; um ſo mehr, da nicht einmal Mer¬ kel ſelber das ganze Schreiben eingeruͤckt oder be¬ antwortet hat, den ich hier oͤffentlich zu bezeugen auffordere, ob nicht der unterdruͤckte Reſt noch unſchicklichere Angriffe enthalten habe, und aus gleichen Gruͤnden von ihm, wie von mir, unter¬ ſchlagen worden iſt. —
Darauf wurde der Roman an H. v. Tratt¬ ner in Wien geſchickt, weil man dahin, ſagte Vult, nur halb frankiren duͤrfte. „ Ich danke Gott, ſo bald ich nur hoffen kann, “ſagte Walt. Die neue Arbeit wurde der alten mit beigelegt. Der Buchhaͤndler blieb dabei, daß er jede Woche nicht mehr als Einen Korrektur-Bogen zuſchickte, und folglich dieſes Erbamt des Korrektorats ungewoͤhnlich ausdehnte. Der Notarius beging244 jede Woche zwar nicht neue Korrektorats-Fehler, aber unzaͤhlige; nur uͤber den Buchſtaben W keine, weil ſein Wohl und Weh, Wina, damit anfing.
Todt-oͤde waͤre das Doppel-Leben der Bruͤ¬ der ausgefallen ohne die Liebe, welche den Bau¬ gefangenen der Noth die hoͤchſten Luftſchloͤſſer er¬ bauen laͤßt, welches ſo viel iſt, als ſie bewoh¬ nen! Nichts ertraͤgt die Jugend leichter als Ar¬ muth, (ſo wie das Alter nichts leichter als Reich¬ thum) denn irgend eine Liebe — ſie meine ein Herz oder eine Wiſſenſchaft — erhellet ihre dunkle Ge¬ genwart kuͤnſtlich, und laͤſſet ſie im kuͤnſtlichen Tage ſo freudig ſeyn, als ſei es ein wahrer, wie Voͤgel vor dem Nachtlicht fortſchlagen, weil ſie es fuͤr einen Tag anſehen.
Vult war nun entſchloſſen, in der Neujahrs - Nacht auf Wina's Herz ſeine feindliche Landung — mit der Floͤte in der Hand — zu machen. Hoffnungen hatt 'er — da aus Gemeinſchaft der Arbeit leicht die des Herzens wird, und aus dem Faktor der Handelswittwe leicht ihr Mann — genug: „ wenn ein Paar durch das Ausfuͤhren eines zweiſtimmigen Satzes nicht einſtimmig werden:245 ſo irr' ich mich ſehr,” ſagt 'er. Walt hingegen entwarf keinen andern Eroberungsplan als den, Wina verſtohlen anzuſchauen — vor Freude zu weinen — je heranzuruͤcken mit ſich — und, wenn Gott ihm Finſterniß, oder ſonſt Gelegen¬ heit beſcherte, im Saus und Braus der Wonne ihre Hand zu kuͤſſen, und gewiß irgend Etwas zu ſagen. Bis dahin ſagte er ihr noch mehr, aber gedruckt auf Taffent und feinſtem Papier.
Da er naͤmlich durch ſeinen poetiſchen Antheil an der Haßlauer Zeitung das Vertrauen des Herausgebers ſo ſehr gewonnen hatte, daß dieſer von ihm die ganze Lieferung gedichteter Neujahrs¬ wuͤnſche, eines betraͤchtlichen Handels-Artikels des Mannes, ſich verſchrieben, ſo legte er in die Blaͤtter, die fuͤr Maͤdchen verkauft wurden, un¬ zaͤhlige Phoͤnix -, Paradiesvoͤgel -, und Nachti¬ gallen-Eier zum Wuͤnſchen nieder, welche das Schickſal ſpaͤter ausbruͤten ſollte; naͤmlich es gab mit anderen Worten wenig Freudenkraͤnze, Freu¬ denmonde, Freudenſonnen, Freudenhimmel, Freu¬ denewigkeiten, welche er auf dem Taffent nicht den verſchiedenen Maͤdchen wuͤnſchte, blos in der246 Hofnung, daß unter ſo vielen Wuͤnſchen wenig¬ ſtens einer von ſo vielen Freundinnen Wina's werde gekauft werden, fuͤr dieſe. „ O wohl zehn! “ſagt 'er.
So kam Weihnachten heran und gieng vor¬ uͤber, ohne daß aus der Aſche der Kindheit die gewoͤhnlichen ſchillernden Phoͤnixe aufſtiegen — da die Neujahrs-Nacht ihnen zu nahe vorglaͤnz¬ te — und dieſe brach endlich mit ihrer Abend - Aurora an, die noch dem alten Jahre gehoͤrte.
Noch Abends beim Schimmer des Hesperus, oder ſonſt eines Sterns, verflucht 'es Vult von neuem, daß er nichts weiter hatte, als die ſchoͤn¬ ſte Gelegenheit, aber kein Geld, Nachts den ga¬ lanteſten Mann von Welt bei den Jungfrauen zu ſpielen: „ ich wollte, ich waͤre wie ſchlechtere Muſici mit dem Bettelorden der Neujahrsfahrer umhergeſchifft, und haͤtte wenigſtens mir ſo viel erbettelt, um den Reichen zu machen, “ſagt' er. Sobald Engelberta ihn auf 4 Uhr Morgens in die große gelbe Stube mit dem Bewußten beſtell¬ te: ſo gieng er Nachts mit Walt freudegluͤhend in das Weinhaus, wo er als ein alter Haus¬247 freund den Tag vorher (es koſtete ihm blos ſeine feinen Beinkleider-Schnallen) Champagner-Wein ohne Kork aufs Eis ſetzen laſſen, um, wie er ſag¬ te, die Ruinen ihres Hunds-Lebens ein wenig auszutapeziren.
Walt nahm ſich eine halbe Stunde Zeit, um zu begreifen, daß dem offenen Weine kein Wein¬ geiſt verrauchet ſei. Dann trank — allen Nach¬ richten zufolge, die man hat — jeder; doch ſo, daß beide einander als poſitive und negative Wol¬ ken entladend entgegen blitzten, Walt mehr mit ſcherzhaften Einfaͤllen, Vult mit ernſten. In einer Blumenleſe aus ihrem Geſpraͤche, wuͤrden die Farben ſo bunt neben einander kommen, als hier zur Probe folgt:
„ Der Menſch hat zum Guten im Leben ſo wenig Zeit, als ein Perlenſchiffer zum Perlen - Aufgreifen, etwa zwei Minuten. — Manche Staatseinrichtungen zuͤnden ein Schadenfeuer an, um die eingefrornen Waſſerſpritzen aufzuthauen, damit ſie es loͤſchen. — Man ſteigt den gruͤnen Berg des Lebens hinauf, um oben auf dem Eis¬ berge zu ſterben. — Jeder bleibt wenigſtens in248 Einer Sache wider Willen Original, in der Weiſe zu nieſen. — Winkelmann verdient Suwarow's Ehrennamen Italiskoi. — Heimlich glauben die die meiſten, Gott exiſtire blos, damit ſie erſchaf¬ fen wurden; und die durch den Aether ausgeſtreckte Welten-Partie ſei die Erdzunge ihres Dunſt - Meers, oder ihre Erde ſei die Himmelszunge. — Jeder iſt dem Andern zugleich Sonne und Son¬ nenblume, er wird gewendet, und wendet. —
Viele Witzkoͤpfe an Einer Tafel, heißt das nicht mehrere herrliche Weine in Ein Glas zu¬ ſammengießen? —
Kann eine Sonne mit andern Kugeln als Welt-Kugeln beſchoſſen werden? — Sterben heißt ſich ſelber durch Schnarchen wecken. — —
Und ſo weiter; denn im Verfolge war viel weniger Zuſammenhang und mehr Feuer. So ſchlug endlich die Todtenglocke des Jahrs; und der unſichtbare Neumond des neuen ſchrieb ſich bald mit einer Silber-Linie in den Himmel ein. Als die Glaͤſer endlich geleert waren, wie das Jahr: ſo luſtwandelten beide auf der Gaſſe, wo es ſo hell war, wie am Tage. Ueberall riefen249 ſich Freunde, die von Freuden-Gelagen herka¬ men, den Neujahrs-Gruß zu, in welchem alle Morgen - und Abendgruͤße eingewickelt liegen. Auf dem Thurm-Gelaͤnder ſah man die Anblaͤſer des Jahrs mit ihren Trommeten recht deutlich; Walt dachte ſich in ihre Hoͤhe hinauf, und in die¬ ſer kam es ihm vor, als ſehe er das Jahr wie eine ungeheure Wolke voll wirbelnder Geſtal¬ ten am Horizont heraufziehen; und die Toͤne nannten die Geſtalten kuͤnftiger Stunden beim Namen. Die Sterne ſtanden als Morgenſterne des ewigen Morgens am Himmel, der keinen Abend und Morgen kennt, aber die Menſchen ſchaueten hinauf, als gaͤb 'es droben ihren eiligen Wechſel, und ihre Stunden - und ihre Todten¬ glocken, und den deutſchen Januar.
Unter dieſen Gefuͤhlen Gottwalts ſtand die Geliebte als ein Heiligen-Bild, von Sternen ge¬ kroͤnt, und der Himmels-Schein zeigte ihre großen Augen heller, und ihre ſanften Roſenlip¬ pen naͤher. Nicht wie ſonſt ſtellte ihm das alte Jahr, das an der Geburt des neuen ſtarb, das Vergehen des Lebens dar; die Liebe verwandelt250 alles in Glanz, Thraͤnen und Graͤber; und vor ihr beruͤhrt das Leben wie die niedergehende Sonne auf den nordiſchen Meeren am langen Tage, nur mit dem Rande die Untergangs-Erde und ſteigt dann, wieder morgendlich den Himmelsbogen hinauf.
Beide Freunde giengen Arm in Arm, endlich Hand in Hand, in den Straßen umher. Walts kurze Luſtigkeit war dem tiefern Fuͤhlen gewichen. Er ſah ſich oft um, und in Vults Geſicht hin¬ ein: „ ſo muͤſſen wir bleiben in einem fort, wie jetzt, “ſagt 'er. Geſchwind druͤckte ihm Vult die Hand auf den Mund, und ſagte: „ der Teufel hoͤrts! “— „ Und Gott auch, “verſetzte Walt; und fuͤgte dann leiſe, roſenroth, und abgewandt hinzu: „ In ſolchen Naͤchten ſollteſt du auch ein¬ mal das Wort Geliebte! ſprechen. “— „ Wie? ſagte Vult roth, dieß waͤre ja toll. “—
Nach langem Genuß des hellen Vorfeſtes ſa¬ hen ſie endlich Wina mit Engelberta, wie eine weiße Blumen-Knoſpe in das Feuerhaus ein¬ ſchluͤpfen. Hoffend auf die ausgearbeiteten Plane ſeiner Liebes-Erklaͤrung, und ſo gluͤcklich wie251 ein Aſtronom, dem ſich der Himmel aufklaͤrt, ehe ſich der Mond total verfinſtert, ſuchte Vult jetzt die Ohren des Bruders in etwas vom Lieb¬ haber-Theater wegzuſtellen, indem er ihm vor¬ hielt, wenn er in einiger Ferne, z. B. unten im Park zuhorchte, wuͤrden ihn die Toͤne viel feiner ergreifen. „ Gukſt du mir uͤber die Achſel: ſo iſts ſoviel, als ſchnaubeſt du ſelber mit ins Floͤten¬ loch hinein, wobei wenig zu holen iſt; und was uͤberhaupt die Heldin des ganzen Muſikfeſtes zu einem Lager, das zwei junge Maͤnner vor ihrem eignen im Bette aufſchlagen, ſagt, braucht doch auch Bedacht, mein Walt! “— „ Da es dir ſo lieb iſt, ſo wend 'ich nichts ein, “ſagte dieſer, und ging in den kalten Garten, wo der blenden¬ de Schnee ſo gut geſtirnt war, als der tiefe Aether.
Aber oben ging es wider Vults Vermuthen, doch nicht wider deſſen Wunſch. Engelberta verſicherte, ihre Schweſter wuͤrde, da ſie Floͤte und Stimme ſo kenne, vom erſten Anklang er¬ wachen, und alles verderben. „ So muß die Muſik in groͤſter Ferne anfangen, und wachſend252 ſich naͤhern. “ „ Gut, das geſchieht im Park, “ſagte Wina, und eilte hinab. Auf der Treppe hinter nahen Ohren, nahm Vult eiligſt alle mu¬ ſikaliſche Abreden mit ihr, damit er auf dem einſamern Park-Wege nichts zu machen brauch¬ te, als ſeine Eroberung. Zu ſeinem Schrecken ſtand jetzt wie eine ſtille Pulverſchlange, die blos auf das Loszuͤnden wartete, der Notar auf der Hauptſtraſſe, der mit ſeiner heitern Miene ſich und andern verſprach mitzugehen, und alles zu begleiten. Wina gab ihm einen freudigen Mor¬ gen -, dann noch einen Neujahrs-Gruß, und die Frage, „ geht nicht alles vortreflich? “— Sta, Sta, Viator, ſagte Vult, und winkte ihm heftig ruͤckwaͤrts, ſtill zu liegen — was jener nachdenkend vollzog, „ weil ich ja, dacht 'er, nicht weiß, was er fuͤr Urſachen dazu hat. “
„ Ein wahrer, inniger Menſch und Dichter, “begann Vult. „ Seine Gedichte ſind himmliſch, “verſetzte ſie. „ Dennoch haben Sie uns beide als Verfaſſer verwechſelt? (fragt 'er raſch, weil ihm wie einem Ewigen und Seligen jetzt nichts fehlte, als Zeit.) Ein ſolcher Irrthum verdient253 nicht die geringſte Verzeihung, ſondern Dank. Eine andere, aber richtigere Verwechslung denk' ich mir eher — (Wina ſah ihn ſcharf an). Denn ich und er haben ein paar gegenſeitige Zwillings - Geheimniſſe des Lebens, die ich niemand in der Welt entdecke — außer Ihnen, denn ich vertraue Ihnen. “— „ Ich wuͤnſche nichts zu wiſſen, was Ihr Freund nicht gern erlaubt, “verſetzte ſie.
Jetzt ſprang er, weil das Entdeckungs-Ge¬ ſpraͤch viel zu lange Wendungen nahm, und er vergeblich auf langſamere Schritte ſann, um ihr naͤher zu kommen, ploͤtzlich vor eine Linde, und las davon folgende Tafelſchrift von Raphaelen ab. „ Noch im Mondenſchimmer toͤnen Bienen in den Bluͤten hier, und ſaugen Honig auf; du ſchlummerſt ſchon, Freundin, und ich ruh 'hier, und denk' an dich, aber traͤumſt du, wer dich liebt?
„ Eilen wir nur, ſagte ſie. Wie koͤſtlich iſt Ihr Auge wieder hergeſtellt! “— „ Ich nehme auch alles lieber von Amor an, beſonders die Giftpfeile, als die Binde; ich ſah Sie ſtets, verehrte Wina, wer dabei von uns beiden am meiſten gewinnt, das weiß nicht ich, ſondern Sie, ſagte er mit feiner Miene.
254„ Schoͤn, fuhr er fort, hat der Dichter in Ihren Geſang die Zeile eingewebt: traͤumſt du, wer dich liebt?” — Darauf drehte er ſich halb gegen ſie, ſang ihr leiſe dieſe Zeile, die er abſicht¬ lich zu dieſem Gebrauche komponirt, ins treuher¬ zige Angeſicht, und ſein ſchwarzes Auge ſtand im langen Blitze der Liebe. Da ſie ſchwieg und ſtaͤrker eilte: ſo nahm er ihre Hand, die ſie ihm ließ, und ſagte: „ Wina, Ihr ſchoͤnes Herz er¬ raͤth mich, Ihnen will ich anders, ja, wenns nicht zu ſtolz iſt, aͤhnlicher erſcheinen als der Menge. Ich habe nichts als mein Herz und mein Leben; aber beides ſei der Beſten geweiht. ” — „ Dort, Guter!” ſagte ſie leiſe, zog ihn ei¬ liger an die Stelle, wo ſie ſpielen wollten; dann ſtand ſie ſtill, nahm auch ſeine andre Hand, hob die Augen voll unendlicher Liebe zu ihm empor, und auf ihrem reinen Angeſicht ſtanden alle Ge¬ danken klar, wie helle Thautropfen auf einer Blume. „ Guter Juͤngling, ich bin ſo aufrich¬ tig als Sie, bei dieſem heiligen Himmel uͤber uns verſichere ich Sie, ich wuͤrd 'es Ihnen offen und froh geſtehen, wenn ich Sie liebte, in dem255 Sinne, worin Sie es wahrſcheinlich meinen. Wahrlich, ich thaͤt' es kuͤhn aus Liebe gegen Sie. Schon jetzt ſchmerzen Sie mich. Sie haben mei¬ nen Morgen geſtoͤrt, und meine Raphaela wird mich nicht froh genug finden.”
Vult zog, ſchon ehe ſie die letzten Worte ſag¬ te, die Floͤtenſtuͤcke heraus, ſetzte ſie zuſammen, und gab, nur einen Blick hinwerfend, ein ſtum¬ mes Zeichen anzufangen. Sie begann mit erſtick¬ ter Stimme, eine kurze Zeit darauf mehr forte, aber bald ordentlich.
Walt durchſchnitt den Hauptgang unten hin und her, um beiden nachzublicken, bis ſie ihm ferne in den Mondſchimmer wie zergingen. Endlich hoͤrte er den wunderbaren Gruß-Geſang an die Schlafende, ſeine eigenen Worte, aus der Daͤm¬ mer-Ferne, und ſein Herz in eine fremde Bruſt verſetzt, wie es der armen Schlaͤferin droben, an die ſelber er bisher gerade am wenigſten ge¬ dacht, die Worte ſagt: „ erwache froh, gelieb¬ tes Herz!” — Er ſah deshalb aufrichtig mit Gluͤckwuͤnſchen an ihr Fenſter hinauf, um ſich zu entſchuldigen, und wuͤnſcht 'ihr alles, was256 Leben und Liebe Schoͤnes zu reichen haben, unter dem groͤſten Bedauern, daß ihr Flitte gerade verreiſet ſeyn muſte. „ Moͤchteſt du dich doch, gutes Maͤdchen, dacht' er, taͤglich fuͤr immer ſchoͤner halten, waͤr 'es auch nicht ganz wahr! Und deine Mutter, deine Wina muͤſſe auch ſo denken, um ſich ſehr an dir zu freuen! “
Auf einmal hoͤrt 'er Engelberta, die ihm rieth, er moͤge, wenn er ſich warm laufen wolle, lieber ins Haus hinauf. Da ihn nun dieſe Auf¬ merkſamkeit eines Zeugen ſtoͤrte: ſo ging er ins nahe Rindenhaus, wo er nichts ſah, als uͤber ſich das naͤchtliche Himmelsblau, mit dem her¬ einſtralenden Monde, und nichts hoͤrte und in ſich hatte, als die ſuͤßen Worte der fernen zarten Lippen. Er ſah hinter der Rinde die ſchimmern¬ de Wildniß des Himmels aufgethan und er jauch¬ zete, daß das neue Jahr in ſeiner mit Sternen beſetzten Morgenkleidung ſo groß und voll Gabe vor ihn trat.
Nun kam Wina, die melodiſche Wekerin zum Wiegenfeſttage, immer naͤher mit ſtaͤrkeren Toͤ¬ nen, Vult hinter ihr, um die heißen Thraͤnendes257des Unmuths, die er neben der Floͤte nicht trock¬ nen konnte, niemand zu zeigen, als der Nacht. In der Naͤhe gab ihr Engelberta, auf das Schlaf¬ zimmer der Schweſter und Walts Rinden-Ro¬ tunda winkende Zeichen, welchen ſie zu folgen glaubte, wenn ſie ſich in die Rotunda ſingend verbarg, um da ſich und ihr Fruͤhlings-Lied von der erwachenden Freundin finden zu laſſen.
Sie fand den Notar mit dem Auge auf dem Monde, mit dem Geiſte in dem blauen Aether — ihre naͤheren Toͤne und Vults fernere hatten ihn berauſcht, und außer ſich und außer die Welt geſetzt. Eigentlich verſteht niemand als nur Gott unſere Muſik; wir machen ſie, wie taubſtumme Schuͤler von Henecke Worte, und vernehmen ſel¬ ber die Sprache nicht, die wir reden. Wina mußte fortſingen, und die Anrede durch ein eng¬ liſches Anlaͤcheln erſetzen.
Da er gleichfalls nichts ſagen durfte, ſo laͤ¬ chelte er auch an, und ſehr, und ſchwamm vor ihr in Liebe und Wonne. Als ſie nun die ſchoͤne melodiſche Zeile ſang: traͤumſt du, wer dich liebt? und ſie ſo nahe an ſeiner Bruſt die heimli¬Flegeljahre IV. Bd. 17258chen Laute derſelben nachſprach: ſo ſank er auf die Knie, unwiſſend ob zum Beten oder zum Lie¬ ben, und ſah auf zu ihr, welche vom Mond, wie eine obenherabgekommene Madonna umkleidet wurde mit dem Nachglanze des Himmels. Sie legte ſanft die rechte Hand auf ſein weichlockiges Haupt; — er hob ſeine beiden auf, und druͤckte ſie an ſeine Stirn; — die Beruͤhrung loͤſete den ſanften Geiſt in Freudenfeuer auf, wie eine wei¬ che Blume in uͤppiger Sommernacht Blitze wirft — Freudenthraͤnen, Freudenſeufzer, Sterne und Klaͤnge, Himmel und Erde zerrannen in einan¬ der zu Einem Aethermeere, er hielt, ohne zu wiſſen wie, ihre Linke an ſein pochendes Herz ge¬ druͤckt, und der nahe Geſang ſchien ihm wie ei¬ nem Ohnmaͤchtigen aus weiten Fernen herzu¬ wehen.
Die Floͤte ſtand ganz nahe, das letzte Wort wurde geſungen. Wina zog ihn ſanft von der Erde auf; er glaubte noch immer, es toͤne um ihn. Da kam mit freudigem Ungeſtuͤm Ra¬ phaela hineingeſtuͤrzt, an die Bruſt der Geberin des ſchoͤnſten Morgens. Wina erſchrack nicht,259 aber Gottwalt — ſie gab der Freundin eine ganze Freundin. Sie ſagte zu Gottwalt, der nicht ſpre¬ chen konnte: wir ſehen uns Abends wieder, am Montage? — Bei Gott, antwortete er, ohne das Mittel zu kennen. Jetzt trat Vult hinzu, und empfing von Raphaela lauten Dank, und er verließ ſchweigend mit Walt den ſeltſamen Garten.
Oben hieng ſich dieſer warm an ſeinen Hals. Vult nahm es fuͤr Freuden-Lohn ſeiner Bemuͤ¬ hung um Raphaelens Morgenfeſt, und druͤckt 'ihn einmal an die Bruſt: „ Laß' mich reden, Bruder, “begann Walt. „ O laß mich ſchlafen, Walt, verſetzte er — nur Schlaf her, aber rech¬ ten tiefen, dunkeln; wo man von Finſterniß in Finſterniß faͤllt. O Bruder, was iſt recht derber Schlaf nicht fuͤr ein koͤſtlicher weiter Landſee fuͤr beidlebige Thiere, z. B. einen Aal, der matt vom ſchwuͤlen Lande kommt, und der nun im Kuͤhlen, Dunkeln, Weiten, ſchwanken und ſchweben kann! — Oder leugneſt du ſo etwas, und mehr? “— „ Nun, ſo gebe dir Gott doch Traͤume, und die260 ſeligſten, die ein Schlaf nur haben kann, ſagte Walt.
Einleitungen.
Walt hatte nun in ſeinem (mit Blumen aus¬ geſchmuͤckten) Kopf nichts weiter als den Mon¬ tag, an welchem er Wina ſehen ſollte, ohne zu wiſſen, wo? Nach einigen Tagen ließ ihm Ra¬ phaela durch Flora ſagen, die Redoute am Mon¬ tage ſei durch eine Landestrauer verſchoben. Er ſtutzte das Maͤdchen an, und ſagte: „ wie, es war eine Redoute? “ Als ihm Vult aber nachher auf die Achſel klopfte, und anmerkte, wahrſchein¬ lich habe ihn Engelberta dahin beſtellt, und laſſe es fein genug durch die Schweſter ſagen, ſo ging ihm ein Licht, ja ein Stern uͤber Wina's Mon¬ tag auf. Seine Gehirnkammern wurden 4 Mas¬ kenſaͤle; er ſchwur, ſo lange ſich abzukargen — und ſollte er verhungern — bis er ſo viel Geld zuſammen haͤtte, daß er zum erſtenmal in ſeinem Leben den Larventanz beſuchen und mitmachen koͤnnte. „ Hab 'ich einmal eine Maske vor, dacht'261 er, ſo tanz 'ich ſelig mit Ihr, oder fuͤhre Sie, und frage wahrlich nichts darnach, wie alles aus¬ ſieht. “ Wie ſanft haͤtte es ihn beruͤhrt und ge¬ waͤrmt, wenn er ſeinen Zwillingsbruder an und in ſein Herz und Geheimniß haͤtte ziehen koͤnnen! Nur wars zu unmoͤglich. Die Schmerzen hat¬ ten in dieſen harten Edelſtein Wina's Namen und Nein ſehr tief geſchnitten — dieß ertrug er nicht, ſondern er wollte den Juwel ſelber abnutzen und abſcheuern, damit nichts mehr daran zu le¬ ſen waͤre; nicht vor Liebe, ſondern vor Ehrliebe, nicht vor Sehnſucht, ſondern vor Rachſucht, haͤtte er ſterben oder toͤdten koͤnnen. In dieſem Zuſtand war es jedem, der kein Notarius war, ſchwer, mit ihm auszukommen. Vor allen Din¬ gen mißfiel ihm die Naͤhe und die Ferne, er ver¬ fluchte Quartier und Stadt, jenes fein, dieſe ge¬ radezu, indem er ſie eine Chaluppe zu Brands Narrenſchiff — eine Loge zum hohen Licht voll ausgeloͤſchter, ſtinkender Studierlampen — ein Gebeinhaus von Gekoͤpften ohne Schaͤdelſtaͤtte — eine Thierreſidenz mit Viehmarkt und Thiergaͤr¬ ten, feinen Kaͤferkabinetten, und einigen Maͤuſe¬262 thuͤrmen — nannte; Ausdruͤcke, wovon er viele in den Hoppelpoppel oder das Herz hineinnahm. Walt leitete die Ergießungen auf die Stadt, doch auf ſich ſelber, naͤmlich als ob der Bruder ſagen wollte: „ Deinetwegen ſitz' ich im Neſt. ” — „ Ach waͤrſt du doch gluͤcklicher, Vult,” ſagte er einmal, und nicht mehr. „ Was haſt du von mir gehoͤrt?” ſagte zornig Vult. „ Nun eben das vorige,” verſetzte er, und nahm ihm den Arg¬ wohn, daß er um die Fehlſchlagung ſeiner Liebes - Erklaͤrung wuͤßte.
Am ſchoͤnen Halbzimmer mit der arkadiſchen Ausſicht auf das gemahlte Buͤhnen-Doͤrfchen verſchliß jetzt aller vorige Glanz. Vult donner¬ te — als waͤre Walt an der Stoͤrung des Floͤ¬ tens und Schreibens ſchuld — hinter der Wand, wenn drauſſen ein guter angehender Zwerg von Tambour bei leidlichem Wetter ſich auf der Trom¬ mel nach Vermoͤgen uͤbte und angriff; — oder wenn der naͤher wohnende Fleiſcher von Zeit zu Zeit ein Schwein abſtach, das ſchrie, wenn er blies; — oder Nachts, wenn der Nachtwaͤchter ſo abſcheulich abſang, daß Vult mehrmals im263 Mondſchein ihm uͤber den Park hinuͤber die ſtaͤrkſten Schimpf - und Drohworte zuſchreien mußte.
Die milde Waͤrme des ewig liebenden Notars trieb und blaͤhte ſeinen Sauerteig nur mehr auf; „ auch ich waͤre an ſeiner Stelle, ſagte Vult, ein Gottes-Lamm und eine Madonna und ein Johannes Schooß-Juͤnger, wenn ich das haͤtte, wofuͤr er ſeine Grazie haͤlt. “
Der Notar aber dachte blos an den Larven¬ tanz und an die Mittel dazu. „ O liebte nur mein Bruder irgend eine Geliebte, wie leicht und ſelig wollten wir ſeyn! Wir druͤckten dann alle uns an Eine Bruſt, und, welche er auch liebte, es waͤre meine Geliebte mit. — So iſts leicht, ihm alles zu vergeben, wenn man ſich an ſeine truͤbe Stelle nur ſetzt! “
Zufaͤllig verflogen ſich in ihre Zimmer Looſe einer Kleiderlotterie. Da nun Walt aus der Sattel - und Geſchirrkammer der Masken man¬ ches brauchte und nichts hatte, und Vult gar noch weniger; und doch beide in die Redoute be¬264 gehrten: ſo nahm jeder ein Loos, um etwa eine Maske zu ziehen.
Beide ſcharrten das Loosgeld zuſammen, Vult unter vielem Fluchen auf ihre Nichtshabe¬ rei, und unter dem Beſchwoͤren, es geh 'ihm ſo ſchlimm als den Hinterbacken eines Gaules. — Ueberhaupt hielt er uͤber jeden Mangel und Un¬ fall, lange Schimpfreden gegen das Leben, indem er ſagte, auf der Vorhoͤllen-Fahrt ſei das Leben ein Hemde-Wechſeln, naͤmlich mit Haͤren-Hemden, und zu jedem pis ſage das Schickſal bis und auf das Kanonen-Fieber folge das Lazareth-Fieber — oder indem er fragte, ob nicht ſo das Gebiß den Zahnfraß bekommen muͤ߬ te, da es nichts anderes anzubeißen habe, wie Muͤhlſteine ohne Koͤrner ſich ſelber angreifen? — Bald ſagte er auch, das Leben ſei durch Eis gut darzuſtellen — auf einem Eisfeld habe man, außer kalter Kuͤche und Gefrornes, noch ſeinen rußiſchen Eispallaſt mit einem guten Eiskeller fuͤr Kuͤhltraͤnke, und, von Eisvoͤgeln umſungen, druͤcke man den Glacier ans Herz, in der heißern Zeit eines Maifroſts. — „ Ich kann dir nicht265 ſagen, ſagt' er unter dem Anziehen einmal, wie ſehr ich wuͤnſchte, es waͤre bei uns, wie bei den Dahomets in Ober-Guinea, wo niemand Struͤm¬ pfe tragen darf, als der Koͤnig, und es waͤre jetzt wie unter Karl dem VII. von Frankreich, wo im ganzen Land niemand 2 Hemden beſaß, als ſeine Gemahlin. — „ Warum? “fragte Walt. „ Ei, dann koͤnnten wir uns recht gut mit unſerm Stand entſchuldigen, “verſetzte er.
Durch dieſe Ergießungen fuͤhrte er eine Menge Verdruß ab, nur aber dem Bruder manchen zu, weil ſich dieſer fuͤr die Quelle hielt. „ Armuth, antwortete Walt, iſt die Mutter der Hoffnung; gehe mit der ſchoͤnen Tochter um, ſo wirſt du die haͤßliche Mutter nicht ſehen. Aber ich will gern dein Simon von Zyrene ſeyn, der dir das Kreuz tragen hilft. “— Bis naͤmlich auf den Berg, verſetzte jener, wo man mich daran ſchlaͤgt. “— Liebe kennt keine Armuth, weder eigne noch fremde.
Endlich wurde die Kleider-Lotterie gezogen; auf welche beide ſich blos durch Laͤnge der Zeit die groͤſten Hoffnungen angewoͤhnt und weiß ge¬266 macht hatten. Die Gewinnſte waren fuͤr Nro. 515 (Walt), ein beinah 'vollſtaͤndiger Anzug von Schuͤtziſchem Gichttaffent, ſo, daß er fuͤr jeden Gichtiſchen, es mochte ihn reißen in wel¬ chem Gliede es wollte, brauchbar war. Nro. 11000. (Vult), gewann ein ertraͤgliches blaues Fuhrmanns-Hemd. In dieſer Minute brachte der Poſtbote den Hoppelpoppel wieder, den ſie an die Buchhandlung Peter Hammer in Koͤlln mit vielen aufrichtigen Lobſpruͤchen des H. Ham¬ mers ablaufen laſſen — nachdem vorher leider das Mscpt. von H. von Trattner mit der kahlen Entſchuldigung abgewieſen worden, er drucke ſel¬ ten etwas, was nicht ſchon gedruckt ſei —; auf dem Umſchlag hatte das loͤbl. Koͤllniſche Poſtamt blos bemerkt, es ſei in ganz Koͤlln keine Peter Hammerſche Buchhandlung dieſes Namens zu erfragen, und der Name ſei nur fingirt.
Haͤtte Vult je die beſte Veranlaſſung gehabt, uͤber die ewigen Erdſtoͤße des Lebens zu fluchen, etwa zu fragen, ob nicht alle Hoͤllenfluͤße fuͤr ihn aufgingen, und Eis und Flammen fuͤhrten, oder auch zu behaupten, daß in ihr Schickſal gerade267 ſo gut Poeſie zu mahlen ſei, als auf eine Heu¬ ſchreckenwolke ein Regenbogen — haͤtte er je eine ſolche Gelegenheit gehabt, ſo waͤre es jetzt gewe¬ ſen, wenn er nicht aus dieſem Schlagregen waͤre herausgekommen gar unter die Traufe eines Waſ¬ ſerfalls. Der Elſaßer erſchien, aber er gehoͤrte noch zum Regen. Er dankte beiden ſehr fuͤr die Geburtstags-Arbeiten — noch regnete es — dar¬ auf aber, da er mit ſeinem Auftrage von Ra¬ phaela herausruͤckte, welche Walten einen voll¬ ſtaͤndigen Berghabit ihres Vaters, den er zuwei¬ len in ſeinem Bergwerkchen Gott in der Hoͤh 'ſei Ehre, trug, fuͤr den Larventanz anbot — als Flitte ſeine Gluͤckwuͤnſchungs-Minen, und Walt ſeine Dankſagungs-Minen ſpielen ließ — dann beide wieder die Minen umtauſchten, und dieß alles ſo wohlwollend gegen einander, daß, wenn der Notar nicht der ausgemachteſte Spitz¬ bube des feſten Landes war, Raphaela durchaus noch die Geliebte des Elſaßers ſeyn mußte: ſo fiel auf einmal der lange Nebel und Vult in die Traufe.
„ Gott verdamme, Er liebt Wina! (ſagte268 Vult in ſich) und ſie wohl ihn! “ Alle ſeine wil¬ den Geiſter brauſeten nun wie Saͤuren auf — doch feſt zugedeckt, ausgenommen im Tage¬ buch. „ So falſch, ſo heimlich, ſo verdammt keck, und wie toll emporſtrebend dacht 'ich mir doch den Narren nicht — ſagte ſein Selbſt¬ geſpraͤch — o recht gut! — Bei Gott, ich weiß was ich thue, hab' ich's nur ganz gewiß! — Aber auf dem Larventanz entlarv 'ich; — der Plan geht leicht, darauf kommt der Teufel und holt. Erſt recht klar will ich mich, zum Beweiſe meiner Freundſchaft gegen ihn, uͤberzeugen laſſen, und zwar von Ihr ſelber. Himmel, wenn der Gluͤckliche meinen refus in der dummen Neu¬ jahrs-Nacht erfuͤhre! — Ich thaͤt' ihm viel an. — O lieber Vult, ſo ſei nur dießmal, eben des¬ wegen, deſto gezaͤhmter und ſtiller, und baͤndige dein Sprech-Zeug und Geſicht, blos bis mor¬ gen Nachts! “
Vults bisherige Fehlblicke entſchuldigt leicht die Bemerkung, daß dieſelbe Leichtigkeit, womit man ſich einbildet, geliebt zu werden, ja auch weiß machen muͤſſe, daß ein anderer geliebt werde,269 Walt von Raphaelen. Auch glaubte er, als Weiberkenner, die Weiber ſo verſchieden, und folglich ihre Weiſen, die Liebe zu bekennen, noch mehr, daß er nur eine Weiſe annahm, worauf zu fußen ſei, welche aber nicht darin beſtehe, daß die Frau etwa an den Hals, oder an das Herz falle, ſondern daß ſie blos einfach ſage: ich liebe dich; alles Uebrige, ſagte er, ſagt dieß ganz und gar nicht. “
Um alſo ſich das Wort der Ruhe zu halten, und kalt und feſt wie ein Hamilton auf der heiſ¬ ſen Lava-Rinde zu ſtehen, auf welcher er fort¬ ruͤckte: ſo ſprach er, wovon er wollte, und berich¬ tete Flitten, er und Walt duzten ſich jetzt. Er rieth ſehr ernſthaft dem Notar, lieber im Gicht - Taffent eingeſcheidet auf dem Ball zu erſcheinen; und als dieſer ſich in ſeinem und der Mittaͤnzerin Namen eckelte vor der Krankenhuͤlle: blieb jener dabei, er ſehe hierin nichts als eine ungewoͤhnli¬ che Maske, die ganz unerwartet ſei. „ Doch fahre meinetwegen in den Berghabit ein, und da¬ mit in den goldhaltigen Luſtſchacht: aber mein Fuhrmanns-Hemd wirf wenigſtens uͤber das270 A — leder, “ſagte Vult. „ Wenn in der Re¬ doute, verſetzte Walt, ſich das Leben und alle Staͤnde untereinander und an einander miſchen: ſo moͤgen zwei ſich wohl an Einem Menſchen fin¬ den und einen. “ „ Verzeih nur das ganz gewoͤhn¬ liche Bergwort, “ſagte Vult, fuͤr welchen es keine groͤßere Freude gab, als Walten ins ver¬ legne Geſicht zu ſchauen, wenn er von Culs de Paris ſprach, welche er anus cerebri Lutetiae nannte (ſo heißt der Anfang der vierten Gehirn¬ kammer), nie ein anderes Wort zur Ueberſetzung erlas, als das gedachte, ſo ſehr auch ſchon dem ſchwachen Kenner der deutſchen Sprache der groͤ¬ ſte Reichthum zum Wechſel vorliegt.
„ Er kann naͤmlich, wandt 'er ſich zu Flit¬ ten, das bekannte Wort A. nicht leiden; ich bin hierin faſt mehr frei wie irgend ein Pariſer oder Elſaßer. Ueberhaupt H. Flitte, ſeh' ich doch nicht, warum die Menſchen ſo viel Umſtaͤnde machen, Sachen auf die Zunge zu bringen, zu welchen Gott ſelber mit ſeiner ſagen mußte: wer¬ det. Zur Suͤnde ſagte ers gewiß nicht. Kannſt du denn uͤberhaupt je vergeſſen, H. Notar — mehr271 frag 'ich nicht — wenn du an der groͤſten Hofta¬ fel Europens ſpeiſeſt, die es geben ſoll, daß hin¬ ter den feinſten Ordensbaͤndern doch Splanchnolo¬ gien liegen, wovon jeder die ſeinige unter die zier¬ lichſten Menſchen mitbringt, und ſich damit vor den heiligſten Herzen, weil er die Splanchnologie nicht wie ſeinen Mantel dem Bedienten geben kann, verbeugt. Wenigſtens iſt dieß immer meine Entſchuldigung, wenn er mich ſcharf vornimmt, weil ich die Feder an der innern unſichtbaren Ue¬ berrocks-Klappe abſtreife, indem er immer ein¬ wirft, die abgewandte Flaͤche ſehe doch wenigſtens der Geiſt; worauf ich ihm, wie geſagt, den Na¬ bel der Menſchheit entgegenhalte. Doch Scherz bei Seite! Reden wir lieber von Liebe, die auf dem Larven-Ball gewiß nicht fehlen wird. Ewi¬ ge, glaub' ich, dauert lange, und laͤnger als man glaubt — denn ich wuͤßte nicht, warum ein Liebhaber die ſeinige beſchwuͤre, wenn er nicht damit verſpraͤche, ſein Herz ſo lange brennen zu laſſen, als das Steinkohlen-Bergwerk bei Zwi¬ kau, das es nun I Saͤkulum durch thut. “ „ Vive I’Amour! “ſagte Flitte.
272Vult erzaͤhlte jetzt, Jakobine, die Schauſpie¬ lerin, ſei angekommen: „ ſie wird auf dem Balle auch ihre Rolle ſpielen, ſpiele du weder den er¬ ſten, noch den letzten Liebhaber, Walt. Es iſt Teufels-Volk, die Weiber; ſcheinen ſie ſchlimm, ſo ſind ſie es auch; ſcheinen ſie es nicht, ſo ſind ſie es doch. Indeß zieh 'ich alle Jakobinen allen Pruͤden vor, welche ihre himmelblauen Netze durch den Aether aufſpannen. “ Walt fragte, wie es denn eine arme S〈…〉〈…〉〈…〉〈…〉 ne machen ſolle, wenn Schein und Seyn nichts haͤlfen. Allerdings iſt eine gewiſſe Zuruͤckziehung ein Netz, aber eines um einen Kirſchbaum voll ſuͤßer Fruͤchte, nicht um die Sperlinge zu fangen, ſondern um ſie ab¬ zuhalten. Aber Vults Zunge ſchonte, ungleich dem Loͤwen, jetzt keine Frau.
Walt trug mit ſtillem Beklagen des verarm¬ ten Bruders alles ganz gern. Vor Vult hatte ſich die Lebensſeite in die Nachtſeite gekehrt, darum mußte er im Schatten kalt ſeyn, und, wie andere Gewaͤchſe, Gift-Luͤfte ausathmen. Hin¬ gegen der Liebe wendet ſich die Himmelskugel, wie auch die irdiſche Welt ſich drehe, ſtets mitauf¬273aufgehenden Sternen zu. Wie ein Schiffer auf einem windſtillen Meer, ſieht ſie ohne alle Erde, Himmel uͤber, Himmel unter ſich offen, und das Waſſer, das ſie traͤgt, iſt blos der dunklere Himmel.
Als Vult mit Flitte freundlich fortging, dach¬ te Walt: „ ich mach 'ihn ja immer friedlicher; ſogar mit dem Elſaßer ſcheint er ſich auszuſoͤhnen, “
Larven-Tanz.
„ Nachts werden wir uns ſehen, “ſagte Vult zu Walt am Morgen der Redoute — und ging mit dieſem Vorgruſſe wie mit dem Entſchleiern eines Schleiers davon. In der Einſamkeit brann¬ te dem Notar der Tag zu hell fuͤr die ſchoͤne Nacht, woraus und wozu dieſer Tag beſtand. Unter dem Eſſen ſehnte er ſich nach dem Bruder, deſſen lee¬ res Gehaͤuſe noch leerer wurde, weil er ihn Abends antreffen ſollte, ohne doch zu wiſſen in welcher Geſtalt.
Flegeljahre IV. Bd. 18274Walt ging in eine Larven-Bude, und ſuchte lange nach einer Larve, welche einen Apollo oder Jupiter darſtellte; er begreife nicht, ſagte er, warum man faſt nur haͤßliche vorſtecke. Da Vult ihm gerathen, erſt um 11 Uhr in den vollen Saal zu kommen: ſo holte er im gemaͤchlichen Anputzen ſich aus jedem Kleidungsſtuͤck wie aus Blumen¬ kelchen feinen Traum-Honig. — Das Ankleiden gerade in der Zeit des Auskleidens, und das all¬ gemeine ſpaͤte Wachen und Laͤrmen der Stadt ſo wie des Hauſes, faͤrbte ihm die Nachtwelt mit romantiſchem Scheine, beſonders der Punkt, daß er eine Rolle in dieſem großen Faſtnachtsſpiele hatte. Wie anders klingt das Rollen der Wagen, wenn man weiß, man kommt ihnen nach, als wenn man es hoͤrt, mit der Nachtmuͤtze vor dem Bett-Bret ſtehend! —
Da er aus dem Stuͤbchen trat, bat er Gott, daß er es froh wieder finden moͤge, es war ihm wie einem ruhmdurſtigen Helden, der in ſeine er¬ ſte Schlacht auszieht. Mit haͤuslichem Gefuͤhle, in der Doppelmaske des Bergknappen und Fuhr¬ manns gleichſam zu Hauſe zu ſeyn, und nur275 wie aus zwei Manſardenfenſtern zu gucken, trug er ſich, wie eine Saͤnfte, uͤber die Gaſſe, und konnte es kaum glauben, daß er ſo herrlich unge¬ ſehen, und zweigehaͤuſig mit allen Seelen-Raͤdern uͤberall vorbei gehe, wie eine Uhr in einer Taſche. Durch einen Irrweg, der ſein Leben verfolgte, trat er zuerſt in das Punſchzimmer ein, das er fuͤr den Tanzſaal hielt, worein Muſik aus ſchick¬ licher Ferne ſchoͤn-gedaͤmpft eindringe. Ihn wun¬ derte nichts ſo ſehr, als daß er ſeine Bergkappe, einfahrend in die ſchimmernde Baumannshoͤhle voll Figuren, nicht abzog. Als er ſich kuͤhn aus der Maske mit den Augen ans Fenſter legte, fand er umherſehend nicht ohne Verwunderung viele nackte Angeſichter, mit der abgeſchundenen Maske in der einen Hand, in der andern mit einem Glas. Das allgemeine Schoͤpfen aus dem Geſundbrunnen oder Ordensbecher, rechnete er zu den Ballgeſetzen, und verlangte ſogleich ſein Glas, und darauf — weil eine Admiralsmaske ſein Fluͤgelmann und Muſter war — noch eines. Wina ſah er nicht, auch kei¬ nen Schein von Vult. Eine Ritterin vom Orden der Sklavinnen der Tugend ging gewandt umher,276 und ſah ihm ſehr in die Augenhoͤhlen hinein. End¬ lich faßte ſie ſeine Hand, machte ſie auf, und zeichnete ein H. darein; da er aber von dieſer Fern - oder Naheſchreibekunſt nichts wußte, druͤck¬ te er ihre Hand maͤßig, anſtatt ſolche zu beſchreiben.
Endlich gerieth er, da er das hereinſtroͤmende Nebenzimmer pruͤfen wollte, in den wahren ſchal¬ lenden brennenden Saal voll wallender Geſtalten und Huͤte, im Zauberrauch hinaus. Welch 'ein gebaͤhrender Nordſchein-Himmel voll wider ein¬ ander fahrender zickzackiger Geſtalten! Er wurde dichteriſch erhoben, da er, wie bei einer auferſtehen¬ den Erdkugel am juͤngſten Tage, Wilde, alte Ritter, Geiſtliche, Goͤttinnen, Mohren, Juden, Nonnen, Tyroler, und Soldaten durch einander ſah. Er folgte lange einem Juden nach, der mit herausgeſchnittenen Schuldforderungen aus dem R. Anzeiger behangen war, und las ihn durch, dergleichen einen andern, welcher die Warnungs¬ tafeln des fuͤrſtl. Gartens, an paſſende Gliedmaßen vertheilt, um hatte. Von einer ungeheuren Pe¬ ruͤcke voll Papillotten, welche der Traͤger ab¬ wickelte und austheilte, nahm er auch ſeine an,277 und fand nichts darin, als einen gemeinen Lob¬ ſpruch auf ſeine bezauberten Augen.
Am meiſten zog ihn und ſeine Bewunderung ein herumrutſchender Rieſenſtiefel an, der ſich ſel¬ ber anhatte und trug, bis ein altvaͤteriſcher Schul¬ meiſter mit dem Bakel ihn ſo kopfſchuͤttelnd ernſt und zurechtweiſend anſah, daß er ganz irre wur¬ de, und ſich ſelber an ſich, und an ſeinem Fuhr¬ manns-Hemde nach ſeinem Verſtoße umſah. Als der Schulmann dieſes merkte, winkte und ruͤgte er noch heftiger, bis der Notar, der ihm erſchro¬ ken in die thraͤnenden Augen geblickt, ſich in die Menge einſteckte. Es war ihm etwas fuͤrchterli¬ ches, in die dunkle unbekannte Augenhoͤhle wie in die offne Muͤndung eines Geſchoßes hinein zu ſchauen, und lebendige Blicke eines Unbekannten zu empfangen.
Noch hatte er werde Vult noch Wina geſehen; und ihm wurde am Ende bange, ob er auch in dieſem Meere ſie wie Perlen oder Inſeln finde.
Auf einmal ſtellte ſich eine Jungfrau mit ei¬ nem Blumenkranz auf dem Kopfe vor ihn; aus dem Munde der Maske hing ein Zettel des In¬278 halts: „ ich bin die perſonifizirte Hofnung oder Spes, die mit einem Blumenkranz auf dem Kopfe, und einer Lilie in der rechten Hand abgebildet wird; mit dem linken Arm ſtuͤtzt ſie ſich auf einen Anker oder eine ſtarke Saͤule. S. Damms Mythologie, neue Auflage von Levezov §. 454. “ Walt, der anfangs in jeder Sache mit den duͤmmſten Ge¬ danken geplagt war, wollte innerlich auf Wina rathen, waͤre die Geſtalt nur feiner und weniger groß geweſen. Die Hoffnung drehte ſich ſchnell um; eine verlarvte Schaͤferin kam, und eine ein¬ fache Nonne mit einer Halbmaske und einem duftenden Aurikelſtraus. Die Schaͤferin nahm ſeine Hand, und ſchrieb ein h hinein; er druͤckte die ih¬ rige nach ſeiner Gewohnheit, und ſchuͤttelte den Kopf, weil er glaubte, ſie habe ſich mit einem h unterzeichnen wollen. Ploͤtzlich ſah er die Halb¬ maske, naͤmlich das Halbgeſicht der Nonne recht an, an der feinen aber kecken Linie der Roſenlip¬ pen, und am Kinn voll Entſchiedenheit erkannte er ploͤtzlich Wina, welche blos aus dem Dunkel mit ſanften Augen-Sternen blickte. Er war mit der Hand ſchon auf dem Wege nach der Berg¬279 kappe, bis er ſie nahe daran wieder in Masken¬ freiheit ſetzte. „ O wie ſelig! (ſagt 'er leiſe) Und Sie ſind die Mademoiselle Raphaela? “ Beide nickten. „ O was begehrt man denn noch in ſol¬ cher geiſtertrunkenen Zeit, wenn man ſich, verhuͤllt wie Geiſter ohne Koͤrper, in elyſiſchen Feldern wieder erkennt. “
Ein Laͤufer tanzte daher, und nahm Raphae¬ la zum Tanzen davon: „ Gluͤck auf, H. Berg¬ knappe! “ſagt 'er entfliegend, daß Walt den El¬ ſaßer erkannte. Jetzt ſtand er eine Sekunde allein neben der ruhigen Jungfrau — die Menge war einen Augenblick lang ſeine Maske — Neu, rei¬ zend, drang aus der Halb-Larve wie aus der Bluͤten-Scheide einer geſenkten Knoſpe die halbe Roſe und Lilie ihres Geſichts hervor. — Wie aus¬ laͤndiſche Geiſter aus zwei fernen Weltabenden ſahen ſie einander hinter den dunkeln Larven an, gleichſam die Sterne in einer Sonnenfinſterniß, und jede Seele ſah die andre weit entfernt, und wollte darum deutlicher ſeyn.
Da aber Walt in dieſer Stellung Miene mach¬ te, als wollte er einige Jubilaͤen dieſer ſchoͤnen280 Minuten feiern und erleben; ſo ſagte ihm Wina, als Spes forſchend die Sklavin der Tugend vor¬ uͤberfuͤhrte, ob er nie tanzte? Sogleich wurde er in den Tanz-Sturm geweht, und half wehen, indem er tanzte wie die Roͤmer, bei welchen nach Boͤtticher das mimiſche Tanzen in nichts beſtand als in Bewegung der Haͤnde und Arme. Mit den Fuͤßen ging er feurig den Walzer bis zum Raſt - Zeichen der Wage, wo der fliegende Schwarm hin¬ tereinander ſich anlegte als Stand-Heerde. Indeß glaubt 'er, er floͤge hinter einem mit Sommervoͤ¬ geln fliegenden Sommer. Wie ein Juͤngling die Hand eines beruͤhmten großen Schriftſtellers zum erſtenmale beruͤhrt: ſo beruͤhrte er leiſe, wie Schmet¬ terlingsfluͤgel, wie Aurikeln-Puder, Wina's Ruͤcken, und begab ſich in die moͤglichſte Entfer¬ nung, um ihr lebenathmendes Geſicht anzuſchauen. Giebt es einen Erndte-Tanz, der die Erndte iſt; giebt es ein Feuerrad der liebenden Entzuͤckung, Walt, der Fuhrmann, hatte beide. Da er aber keinen Fuß bewegen konnte, ohne die Zunge: ſo war der Tanzſaal nur ſein groͤßerer Rednerſtuhl; und er ſchilderte ihr unter dem Tanz: „ wie da281 ſogar der Koͤrper Muſik werde — wie der Menſch fliege, und das Leben ſtehe — wie zwei Seelen die Menge verlieren, und einſam wie Himmels¬ koͤrper in einem Aetherraum um ſich, und um die Regel kreiſen — wie nur Seelen tanzen ſollten, die ſich lieben, um in dieſem Kunſt-Schein harmo¬ niſcher Bewegung die geiſtige abzuſpiegeln. Als ſie ſtanden, und er die Redoute mit ihrem tanzen¬ den Sturmlaufen uͤberſah, ſo ſagte er: „ wie er¬ haben ſehen die Maͤntel und großen Huͤte der Maͤnner aus, gleichſam die Felſenpartie neben der weiblichen Gartenpartie! Ein Ball en masque iſt vielleicht das Hoͤchſte, was der ſpielenden Poe¬ ſie das Leben nachzuſpielen vermag. Wie vor dem Dichter alle Staͤnde und Zeiten gleich ſind, und alles Aeußere nur Kleid iſt, alles Innere aber Luſt und Klang: ſo dichten hier die Menſchen ſich ſelber und das Leben nach — die aͤlteſte Tracht und Sitte wandelt auferſtanden neben junger — der fernſte Wilde, der feinſte wie der roheſte Stand, das ſpottende Zerrbild, alles was ſich ſonſt nie beruͤhrt, ſelber die verſchiedenen Jahreszeiten und Religio¬ nen, alles Feindliche und Freundliche, wird in282 Einen leichten, frohen Kreis gerundet und der Kreis wird herrlich wie nach dem Sylbenmaaß bewegt, naͤmlich in der Muſik, dieſem Lande der Seelen, wie die Masken das Land der Koͤrper ſind. — „ Nur Ein Weſen ſteht ernſt, unbedeckt und unverlarvt, dort〈…〉〈…〉 nd regelt das heitere Spiel. — Er meinte den Redoutenmeiſter, den er mit einem nackten kleinen Geſicht und Kopfe in einem Mantel ziemlich ver¬ druͤßlich Acht geben ſah.
Wina antwortete leiſe und eilig: „ Ihre An¬ ſicht iſt ſelber Dichtkunſt. So mag wohl einem hoͤhern Weſen die Geſchichte des Menſchengeſchlechts nur als eine laͤngere Ball-Verkleidung erſcheinen. ” — „ Wir ſind ein Feuerwerk, verſetzte Walt ſchnell, das ein maͤchtiger Geiſt in verſchiedenen Figuren abbrennt, “und fuhr in ſeinen eckigen Walzer hinein. Je laͤnger er ging, bis er ſtand, je maͤch¬ tiger pries er die Fruͤhlinge, die im Tanzflug ihm duftend begegneten. „ O duͤrfte ich mich heute fuͤr die ſchoͤnſte Seele opfern, dann waͤr 'ich die gluͤck¬ lichſte, “ſagt' er. Die Hofnung (Spes) ſtand ihm uͤberall zur Seite, wenn er ſprach. Die Nonne Wina, eine ſanfte Taube, noch dazu mit283 dem Oehlblatt im Munde, bemerkte gar nicht, daß er ungeſtuͤm ſpreche, und ſchien ſich aus Kuͤhnheit uͤber Mißdeutung faſt ſo leicht wegzu¬ ſetzen, als er aus Unwiſſenheit.
Heute erſchien ſie ihm ganz vollendet, wiewohl er bisher jedes letztemal geglaubt hatte, er uͤber¬ ſchaue ihren ganzen weiten Werth; wie der Mond ſchon vorher, eh 'er mit vollem Lichte uͤber uns haͤngt, uns als eine vollendete Scheibe aufzugehen ſcheint.
Nach dem Ende des deutſchen Tanzes erſuchte er ſie — da ihm ihre Nachſicht allmaͤhlig zu einer Ehrenpforte ſeiner Kunſt aufwuchs — gar um ei¬ nen engliſchen, blos damit er recht oft ihre Hand faßen, und recht lange den guten Lippen und Au¬ gen gegenuͤberſtehen koͤnnte, ohne aufſpringen zu muͤſſen. Sie ſagte leiſe: Ja! —
Noch leiſer hoͤrt 'er ſeinen Namen; hinter ihm ſtand Spes und ſagte: „ gehe gleich durch die große Saalthuͤre, und ſiehe links draußen um¬ her. “ Es war Vult. Erfreuet fand er unter Un¬ bekannten, ſeinen lieben Bekannten wieder, den er auf ſeiner elyſiſchen Inſel herumfuͤhren konnte. Er284 ging hinaus; Spes ins fuͤnfte Kabinet; draußen winkte ſie ihm aus einer Thuͤre hinein. Walt wollte den Bruder umarmen, aber dieſer fuhr nach beiden Thuͤrſchloͤßern: „ bedenke das Ge¬ ſchlecht unſerer Masken, “und ſchloß zu. Er warf ſeine Larve weg, und eine ſeltſame heiße Wuͤſten-Duͤrre oder trockne Fieberhitze brach durch ſeine Mienen und Worte. „ Wenn du je Liebe fuͤr deinen Bruder getragen — begann er mit trock¬ ner Stimme, und nahm den Kranz ab, und loͤ¬ ſete das Weiberkleid auf — wenn dir die Erfuͤl¬ lung eines innigſten Wunſches deſſelben etwas gilt, deſſen Wichtigkeit du 24 Stunden ſpaͤter er¬ faͤhrſt; — und iſt es dir unter deinen Freuden nicht gleichguͤltig, ob er die kleinſten oder groͤßten haben ſoll, kurz wenn du eine ſeiner flehentlichſten Bitten erhoͤren willſt: ſo ziehe dich aus; dies iſt die halbe; ziehe dich an, und ſei die Hoffnung, ich der Fuhrmann; dies die ganze. “
„ Lieber Bruder, — antwortete Walt erſchrocken und ließ den im langen Erwarten geſchoͤpften Athem los — darauf kann ich dir, wie ſich von ſelbſt verſteht, nur zur Antwort geben: mit Freuden. “
285„ So mache nur ſchnell, “verſetzte Vult ohne zu danken. Walt ſetzte hinzu, ſein feierlicher Ton erſchrecke ihn beinahe, auch faß 'er den Zweck des Umtauſchs wenig. Vult ſagte, morgen werd' alles heiter entwickelt, und er ſelber ſei gar nicht verdruͤßlich, ſondern eher zu ſpaſſend. Unter dem wechſelſeitigen Entpuppen und Verpuppen fiel Walt auf den Skrupel, ob er aber als Masken¬ dame mit Wina, einer Dame, den verſprochenen Engliſchen tanzen koͤnne: „ O, ich freue mich ſo ſehr darauf, ſagte er dem Bruder, unter uns, es iſt die allererſte Angloiſe, die ich in meinem Leben tanze; aber auf mein heutiges Gluͤck und auf die Maske muß ich ein wenig rechnen. “ Da ſchoßen auf Vults duͤrrem Geſicht lebendige Mie¬ nen auf. „ Himmel, Hoͤlle, ſagte er, eben ſo leicht nach dem Takte will ich nieſen, oder die Arme zuruͤckſtrecken, und meine Flûte traversière hinten anlegen, als was du vorhaſt, nachthun. Deine Walzer bisher, nimm nicht die Nachricht uͤbel, liefen als gute mimiſche Nachahmungen, theils wagrechte des Fuhr -, theils ſteilrechte des Bergmanns im Saale durch, aber einen Engli¬286 ſchen, Freund! und welchen? Ein teufliſcher, nicht einmal ein irlaͤndiſcher wirds. Und erwaͤgſt du deine Mittaͤnzerin, die ja ſchamroth und leichen¬ blaß wird einſinken als eine Ritterin von trauri¬ ger Geſtalt, als deine leidtragende Kreuztraͤgerin, ſobald du nur ſtockſt, plumpſt, drunterfaͤhrſt als Schwanzſtern? — Aber diß iſt nun alles ſo herrlich zu ſchlichten, als ich eben will. Der Poͤbel ſoll nun eben ſehen, daß der Fuhrmann ſich entlarven, und aus dem Tanz Ernſt machen kann. Denn ich tanze in deiner Maske die An¬ gloiſe. Sogar in Polen galt, ich fuͤr einen Taͤn¬ zer; geſchweige hier, wo nichts von Polen tanzt, als der Bar. “
Walt blieb einige Minuten ſtill, dann ſagte er: „ die Dame, wovon ich meynte, iſt Wina Zablocki, der ich die Muͤhe bisher gemacht haben ſoll. Aber da ſie meiner Maske den Tanz ver¬ ſprochen, wie willſt du mich und den Wechſel entſchuldigen bei ihr? “— O diß iſt eben unſer Triumph (ſagte Vult); aber du ſollſt nicht eher errathen, wie ich es mache, als morgen. — Dar¬ auf entdeckte er ihm, er habe heute im Pharao287 ſo viel gewonnen, daß er durchaus ein Goldſtuͤck als Stuͤckwerk zum Zerſtuͤcken von ihm anneh¬ men muͤſſe, waͤre es auch nur, damit er unter den Zuſchauern etwas zu thun habe, im Magen¬ zimmer; dabei empfahl er ihm, ſich als Spes mit keiner weiblichen Maske einzulaſſen, da aus einer guten Hoffnung leicht die andere werde.
Walt's Abendſtern trat allmaͤhlig wieder ins Volllicht, und als er Vulten die Halbbuͤſte an¬ legte, und ihm ins ſehr ernſte Geſicht und Auge ſah, ſo ſagte er heiß: „ ſey froher! Freuden ſind Men¬ ſchenfluͤgel, ja Engelsſchwingen. Ich bin nur heute zu ſehr von allem berauſcht, als daß ich dir meinen Wunſch fein genug ausdruͤcken koͤnnte, wie du noch mehr lieben ſollteſt, als mich. ” —
„ Liebe, verſetzte Vult, iſt, um in deiner Floͤtenſprache zu reden, ewig ein Schmerz, ent¬ weder ein ſuͤſſer oder ein bitterer, immer eine Nacht, worin kein Stern aufgeht, ohne daß ei¬ ner hinter meinem Ruͤcken untertaucht — Freund¬ ſchaft iſt ein Tag, wo nichts untergeht, als ein¬ mal die Sonne; und dann iſts ſchwarz, und der Teufel erſcheint. —
288Aber ernſthaft zu ſprechen, die Liebe iſt ein Paradies - und Spaßvogel — ein Phoͤnixvogel voll weicher Aſche ohne Sonne — iſt zwar weib¬ lichen Geſchlechts, hat aber, wie die Ziege, Hoͤr¬ ner und Bart, ſo wie wieder deren Ehemann wahre Milch hat. *)Nach Bechſtein und andern Naturforſchern hat der Bock ſo gut als der Amerikaner Milch, und das alte Sprichwort iſt richtig. Es iſt beinahe einerlei, was einer uͤber die Liebe ſagt oder einwirft; denn alles iſt wahr, zu gleicher Zeit. — Hiemit ſetze ich dir den Blumenkranz auf, und verkleide dich in das, was du haſt, die Spes. Gehe aber durch meine Thuͤre in den Saal, wie ich durch deine — ſieh 'zu, ſchweige ſtill, und trinke fort!”
Walten kams beim Eintritt vor, als ſehe je¬ der ihm den Larventauſch an, und kundſchafte ſeinen Kern hinter der zweiten Huͤlſe leichter aus, als hinter der erſten. Einige Weiber merkten, daß Hoffnung hinter den Blumen jetzt blonde Haare, ſtatt der vorigen ſchwarzen, trage, maſ¬ ſen es aber der Peruͤcke bei. Auch Walt's Schrittwar289war kleiner und weiblicher, wie ſichs fuͤr Hoff¬ nungen geziemt.
Aber bald vergaß er ſich und Saal und al¬ les, da der Fuhrmann Vult ohne Umſtaͤnde Wi¬ na, die jeder kannte, an die regierende Spitze des engliſchen Tanzes ſtellte, und nun zum Erſtau¬ nen der Taͤnzerin mit ihr einen Tanzabriß kuͤnſt¬ lich warf, und, wie einige Maler, gleichſam mit dem Fuſſe malte, nur mit groͤßeren Dekorations¬ ſtrichen. Wina erſtaunte, weil ſie den Fuhrmann Walt vor ſich zu haben glaubte, deſſen Stimme und Stimmung Vult wider Walt's Vorausſe¬ zung hinter der Larve wahrhaft nachſpielte, da¬ mit er nicht etwa als Luͤgner befunden werde, der ſich fuͤr den Notarius nur ausgebe.
Spaͤt am Ende des Tanzes ließ Vult im eili¬ gen Haͤndereichen, im Kreuzen, im fliegenden Auf - und Ableiten ſich immer mehrere polniſche Laute entwiſchen — nur Hauche der Sprache — nur irre aufs Meer verwehte Schmetterlinge ei¬ ner fernen Inſel. Wie ein ſeltner Lerchengeſang im Nachſommer klang Winen dieſe Sprache herab. Freudenfeuer brannten hinter ihrer halben Larve,Flegeljahre IV. Bd. 19290Wie ſie aus der einſylbigen Angloiſe in den ſprach¬ faͤhigen Walzer ſich hinuͤberſehnte, weil ſie ihm ihr Erſtaunen und Erfreuen gern anders, als mit frohen Blicken, ſagen wollte, ſahen ſeine, die keine frohen waren.
Es geſchah. Aber das zuwehende Lob ſeiner ſo lange bedeckten Talente blaͤtterte wieder eines auf, ſeine Beſcheidenheit. Er habe, ſagte er von ſich in den beſten Poloniſmen, ſo wenig Welt, ſo viel Einfalt, wie wenig andere Notarien, und heiſſe mit Recht Gottwalt, naͤmlich Gott walte! Doch ſein Herz ſey warm, ſeine Seele rein, ſein Leben leiſe dichtend; und er nehme, wie er vor¬ hin im erſten Walzer geſagt, den Larventanz im Erdenſaal gern und froh vom Laͤnderer und Schaͤ¬ ferballet an, bis zum Waffen - und Todtentanz.
Da jezt der zweite Theil der Muſik in jene ſehnſuͤchtige Ueberfuͤlle, wie in tiefe Wogen, ein¬ ſank, welche gewaltſamer, als alle Adagio's, den innerſten Boden der Sehnſucht heiß aus tiefem Meer aufhebt — und da die Menſchen und die Lichter flogen und wirbelten — und das weite Klingen und Rauſchen die Verhuͤllten wieder in291 ſich ſelber einhuͤllte, ſo ſagte Vult im Fluge, aber polniſch: „ Mit großblaͤtterigen Blumengewinden rauſcht die Luſt um uns. Warum bin ich der Einzige hier, der unaufhoͤrlich ſtirbt, weil er kei¬ nen Himmel und keine Erde hat, Nonne? denn du biſt mir beides. Ich will alles ſagen, ich bin begeiſtert zur Pein, wie zur Luſt — willſt du einen Gottverlaßnen aus einem Gottwalt ma¬ chen? O gib ein Zeichen, aber eines Worts! Nur der Zunge glaube ich mein Hochgericht; ſie ſey mein Schwerdt, wenn ſie ſich bewegt, Nonne!”
„ Gottwalt, ſagte Wina erſchuͤttert, und ſchwerer, als er, dem Tanze folgend, wie koͤnnte eine Menſchenzunge diß ſeyn? — Aber duͤrfen Sie mich ſo quaͤlen, und ſich? “— „ Nonne, fuhr er fort, der Laut ſey mein Schwerdt! “— Harter, antwortete ſie mit leiſerer Stimme, Sie foltern haͤrter zum Schweigen, als andere zum Reden.
Jezt hatt 'er alles: naͤmlich ihr Liebes-Ja fuͤr ſeinen Scheinmenſchen, oder Rollenwalt, und lachte den wahren aus, der als Rolle und als Wahrheit noch bloſe Hoffnung ſey und habe;292 allein ſein erzuͤrntes Gemuͤth bequemte ſich nun zu keinem Schattendank, ſondern hartſtumm tanz¬ te er aus, und verſchwand ploͤtzlich aus dem fort¬ jauchzenden Kreiſe.
Lange hatte ſich Spes mit lauter Segnungen einer Doppelwonne in der Naͤhe gehalten, und ſich und Wina zum beſten Taͤnzer Gluͤck ge¬ wuͤnſcht, und in der Meinung, ihr ſey geſagt, was ihn abbilde, hatte er ihre himmelsvollen Blicke ganz auf ſich bezogen. Zum Ungluͤck ſchoͤpfte er eben im Trinkzimmer, als der lang¬ weilige engliſche Tanz ausging, auf deſſe Enden er ſeine Anreden verſchoben — Vult ſchwebte eben in der tanzenden Liebeserklaͤrung, und Spes ſtand mit dem Blumenkranze auf dem Kopfe und dem Flatterzettel der Inſchrift am Kinne leer-harrend da, und mußte dem langen Walzer zuſehen. Kurz vorher, ehe dieſer ſchnell abbrach, kam die Sklavin der Tugend, und zog Speſen in ein Nebenzimmer. Hundert der ſeltenſten Er¬ eigniſſe hoffte Spes. „ So, kennen Sie mich nicht mehr, fragte die Maske. “ Kennen Sie mich dann? fragte Spes.
293„ Machen Sie nur einen Moment die Augen zu, ſo bind 'ich Ihre Maske ab, und meine da¬ zu,” ſagte ſie. Er thats. Sie kuͤßte ihn ſchnell auf den Mund, und ſagte: Sie habe ich ja ſchon wo geſehen. Es war Jakobine. In dieſem Au¬ genblick trat der General Zablocki durch eine zweite Thuͤr hinein: „ ei Jakobine, ſchon wieder bei der Hoffnung,” ſagte er, und ging zuruͤck. Was meynte er damit? ſagte ſie. Aber Walt lief er¬ ſchrocken und halb nackt in den Saal, und beve¬ ſtigte darin mit einiger Muͤhe die verſchobene Maske wieder vor den bekraͤnzten Kopf.
Wina und Vult waren nicht mehr zu finden, nach langem Suchen und Hoffen mußte er ohne Umtauſch als Hoffnung nach Hauſe gehen. So ſchloß der Larventanz voll willkuͤhrlicher Verhuͤl¬ lungen endlich mit unwillkuͤhrlichen von groͤßerer Schwere.
Brief — Nachtwandler — Traum.
Vult war, ſobald er Walt's uͤberkuͤhne Liebe gegen Wina und deren Beguͤnſtigung, ſo wie ſei¬294 ne eigne Niederlage, ſich recht nah 'vor die eignen Augen gehoben hatte, nach Hauſe geeilt, mit ei¬ ner Bruſt, worin die wilden Waſſer aller Leiden¬ ſchaften braußten, um ſogleich an Walt ſo zu ſchreiben:
„ Nur die Laͤcherlichkeit fehlte noch, wenn ich dir's lange verdaͤchte, daß dein ſogenanntes Herz nun auch endlich den Herzpolypen, den ihr Liebe nennt, in ſich angeſetzt, wenn gleich manches da¬ bei ſo wenig das Beſte iſt, als dein kuͤnſtliches Verſtecken vor mir. Das aber nimmſt du mir jezt nicht uͤbel, daß ich zum Teufel gehe, und dich allein deinem Engel ablaſſe, da der Liebe die Freundſchaft ſo entbehrlich und unaͤhnlich iſt, als dem Roſenoͤl der Roſeneßig. Halte denn deinen geiſtigen Schar - und ſonſtigen Bock aus, bis du auf gruͤnes Land ausſteigſt, und auf der Stelle geneſeſt, die ſchwerlich auf der Freundſchaftsinſel iſt. Himmel! zu was waren wir denn beide uͤberhaupt beiſammen, und ritten, wie alte Rit¬ ter, auf Einem Trauer - und Folter-Pferd (equu¬ leus) oder Foltereſel? — Etwa dazu, daß ich auf dem Wege und zum Beſten deiner Erbſchaft295 dich und dein Pferd lenkte und hielte, und einen von euch ſteigen oder fallen ließ? — Nun die ſieben Erben wiſſen, ob ich ihnen geſchadet. Ue¬ berhaupt, was ſind denn die irrenden Menſchen anders, als Himmelskoͤrper auf Erden, bei deren taͤglichen und jaͤhrlichen Aberrationen und Nuta¬ tionen man nichts machen kann, als blos den guten Zach dabei, naͤmlich die Zachiſchen Tafeln davon. Eben ſo haͤtteſt du dich auch ſonſt hin¬ tergangen, wenn du dir geſchmeichelt haͤtteſt, ich wuͤrde dich ſonderlich ausbilden und auspraͤgen mit meinem Muͤnzkopf. Ich laſſe dich, wie du warſt, und gehe, wie ich kam. Auch du haſt mich nicht merklich umgemuͤnzt, ſo daß ich leicht ſchlieſſe, du biſt der — ſo wahren — Meinung, es ſey im Geiſterreich, ſo wie im Koͤrperreich — man trage das Fuhrmannshemde ſowohl auf Re¬ douten als auf Chauſſeen — das Spurfah¬ ren verderblich.
Morgen bin ich in die freie Welt hinausge¬ zogen. Der nahe Fruͤhling ruft mich ſchon ins weite helle Leben. Spielgeld, das meine Schul¬ den bezahlt, liegt bei; — und ſomit guten Tag. 296Faͤllt und klagt mich jemand an, Bruder, ſo verficht mich nicht; wahrlich, ſobald man mich haßt, ſo frag 'ich wenig darnach, ob man mich um drei Stufen ſtaͤrker haſſe oder nicht; und wie viele Menſchen verdienen es denn uͤberhaupt, daß man ſich von ihnen lieben laͤſſet? Mich ausge¬ nommen, nicht zwei, und kaum.
Wir beide waren uns einander ganz aufge¬ than, ſo wie zugethan ohnehin; uns ſo durch¬ ſichtig, wie eine Glasthuͤr; aber Bruder, ver¬ gebens ſchreibe ich auſſen ans Glas meinen Cha¬ rakter mit leſerlichen Charakteren: du kannſt doch innen, weil ſie umgekehrt erſcheinen, nichts leſen und ſehen, als das Umgekehrte. Und ſo bekommt die ganze Welt faſt immer ſehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu leſen.
Wozu ſollen wir denn mit einander und von einander Plagen haben? Du, als liebender Dich¬ ter, als dichtender Liebhaber, haͤltſt deine kuͤnfti¬ gen ſo leicht aus, als ein Vogel das Erdbeben — und ich meine ſo leicht, als eine Winterlandſchaft den Hagel. Aber warum war ich ſo dumm, und trank taͤglich eine Flaſche Burgunder weniger, ja297 oft zwei? Du bezahlteſt mirs nicht, daß ich nichts trank, und ich nicht einmal, wenn ich etwas trank. Oder glaubſt du, daß ein Mann, der ſeine Floͤte blaͤſet, der mehr Welt hat, ſah und genoß, als alle ſeine Anverwandten, der in Paris und Warſchau Abends um 1 Uhr, nach Mitternacht, ſeine Taſſe Suppe trank, und ſei¬ nen Loͤffel Eis ſpeißte, ſo leicht ſein Paris und Warſchau, als du dein Haßlau und Elterlein, in einer Neupeterſchen Manſardſtube opfert, die nicht einmal den Quadratinhalt eines Opferal¬ tars groß iſt? Ich aber glaube, ich war ein Coock, der Freundſchafts - und Geſellſchaftsinſeln entdeckte, und darunter die ſchoͤne Inſel O-Wai¬ hi, welche aber den Entdecker und Weltumfahrer zulezt, als er den Maſtbaum wollte wieder zu¬ ſammenſchienen laſſen, gar todt machte und auffraß.
Sogar meine Floͤte iſt dir entbehrlich, da du einmal (was du wohl vergeſſen) eine Hoboe fuͤr eine Floͤte angeſehen, naͤmlich angehoͤrt. Und da dir, wie du ſagſt, uͤberall die hoͤchſten Toͤne am meiſten gefallen; ſo wirſt du immer muſika¬298 liſch-gluͤcklich bleiben, weil in der That alle Schrei -, Miß - und Zorn-Toͤne, die den Ohren auf Gaſſen begegnen, ſtets hohe und hoͤchſte ſind.
Meine Gedanken werfen ſich ſo wild umher, wie Granitbloͤcke; aber ich ſchreibe hier im Fin¬ ſtern bei hellem Sternenlicht; ich habe keine Zeit — die Poſt iſt beſtellt — nichts noch eingepackt; und du ſollſt nicht eher von meinem Unſichtbar¬ werden wiſſen, als nach ihm. Mit Briefen, die ich dir, hoff 'ich, ſchicke, ſollen dir gar die we¬ nigen Ausſchweifungen zukommen, die unſerem Hoppelpoppel noch fehlen, wenn er als feſt zu¬ ſammengeleimter und langgeſchwaͤnzter Papier¬ drache aufſteigen will in Leipzig in der Zahl¬ woche.
Gehabe dich wohl, du biſt nicht zu aͤndern, ich nicht zu beſſern; ſo wollen wir einander denn in wechſelſeitiger Luftperſpective entlegen erblicken, und jeder von uns ſage: „ warum warſt du ein Narr und kein Lamm? “ Und doch Walt, biſt du allein an allem Schuld.
Als er eben in das Papier noch den zweiten299 Inhalt, das Geld, gelegt hatte — und eilte, um noch vorher ſein Tagebuch, ſeine Noten und Notæ und alles vorher fuͤr die Poſt zugeſperret zu haben, bevor der Bruder erſcheine: hoͤrte er ihn kommen. Er warf ſich vor deſſen Eintreten aufs Bett, und ſchnarchte als Fuhrbergmann ihm entgegen. Walt trat nahe an ihn, ſah als Spes ins braungluͤhende Geſicht voll ſtuͤrmiſcher Traͤume. Leiſe ging er umher, hauchte ſich Tanz¬ melodieen vor, und legte als Text Liebesworte unter.
Zulezt richtete ſich Vult — von dieſem wind¬ ſtillen und hohen Himmel wie geaͤrgert — auf, trat mit zugeſchloßnen Augen im Zimmer umher, und ſtellte ſich als Nachtwandler an, um in ſol¬ cher Rolle ungefragt einzupacken, und ſobald jener ſchliefe, unbedauert fortzugehen. „ He da, rief er, her ihr Leute, und was es noch ſonſt fuͤr Spitzbuben gibt, helft packen, Beſtien, und ſchleppen! Greift mehr zu, ihr Helfershelfer! Soll ich denn nicht heute um 3 Uhr nach der Spitzbubeninſel, und unten ſteht ſchon mein Pferd geſattelt, wie? “ Dabei zog er ſich an. Walt300 begleitete ſeine blinden Schritte bewachend. „ Al¬ lerdings, Freund, taugen die Menſchen und die Gurken nichts, ſobald ſie reif ſind; das iſt ja mein eigner Satz. Der Menſch im Allgemeinen verdient viele Naſen von Gott, und mehrere Na¬ ſen, als ſich je durch einen alten Theatervorhang geſteckt haben, den man daher an manchen Orten in Blech einfaßte. Die Gruͤnde ſind freilich nicht jedem gelaͤufig. “
Jezt ging er in ſeinen Zimmerverſchlag und pakte, blinzelnd und ſich oft von Walt abkeh¬ rend, ſein Tagebuch und alles in den Koffer. „ Auf der Floͤte? — Nein, ſondern auf dem Kamm will ich ihn kuͤnftig anblaſen und ab¬ kaͤmmen. Sagen Sie mir nichts von Liebe, H. Reiſemarſchall, ſie iſt zu dumm, eine huͤbſche Antike, die man den ganzen Tag ergaͤnzen muß — ein Sonnentempel in Hoſentaſchenformat — und das dumme Ding glaubt, es lebe. Ich hab 'es von ihr ſelber. Der Menſch fuͤhrt ſogar Gott vor einen Vergroͤßerungsſpiegel, ſo uner¬ ſaͤttlich und ſo einfaͤltig iſt er — Stecht mich in Kupfer, wie einen brittiſchen Kampfhahn, ich301 will eben ein Monatskupfer zum Wolfsmonat abgeben, liebſter Artillerieſekretair! “ Als er fertig war, und blos den Koffer zuzuſperren brauchte, ſchien er nachzuſinnen und auf eine neue Idee zu gerathen. „ Scheer er ſich weg, Leichenmarſchall, ich ſperre meinen Sarg ſchon ſelber zu, und will auch den Schuͤſſel als Hals - Geſchenke tragen, und niemand hineinlaſſen, als einen oder den andern guten Freund. Was die ganze und halbe Trauer um mich anlangt, ſo ſoll ſie niemand anlegen, als ich. Muſik wird als requiem waͤhrend der Trauerzeit am wenig¬ ſten verboten, aber ich beſtehe auf einem ſchar¬ fen Trauer-Reglement. Der Nachtſtuhl muß ſchwarz ausgeſchlagen werden — man laſſe das Kammergeſchirr wie den Degen ſtahlblau an¬ laufen; — jede Maus in meinem Haus ſoll in Krepp gehen — meine Papillotten koͤnnen Trauer¬ ſchneppen ſeyn, und der Zopf in einer Trauer¬ ſchleppe herabfallen. Aber was Henker iſt das? Dort ſteh' ich ja leibhaftig, und erſcheine mir eigenhaͤndig. — Warte, wir wollen gleich fin¬302 den, wer von uns beiden wahren Du's der wahre und haltbarſte iſt.
Hier verſetzte er ſich und dem Notar zugleich einen derben Schlag und erwachte davon; erſt, nachdem er wie verdutzt ſich von Walten lange auseinanderſetzen laſſen, wo und was er ſei, wur¬ de er dahin gebracht, ſich angekleidet aufs Bett zu werfen. Indem beide einander eine Zeit lang be¬ wachten, fielen beide in einen wahren Schlaf.
Jetzt weckte ihn Walt, der noch traumtrunken und in berauſchter Vergeſſenheit der vorigen Sze¬ nen ihm aus dem Bette folgenden Traum aufdrang:
Ich weiß kaum recht, wie oder wo der Traum eigentlich anging, wie ein Chaos wollte die un¬ ſichtbare Welt auf einmal alles gebaͤren, eine Geſtalt keimte auf der andern, aus Blumen wuch¬ ſen Baͤume, daraus Wolkenſaͤulen, aus welchen oben Geſichter und Blumen brachen. Dann ſah ich ein weites leeres Meer, auf ihm ſchwamm blos das kleine graue fleckige Welt-Ei, und zuck¬ te ſtark. Es wurde mir im Traum alles genannt, ich weiß aber nicht von wem. Dann fuhr ein Strom mit der Leiche der Venus durchs Meer;303 er ſtand feſt, das Meer floß wieder an ihm hin. Darauf ſchneiete es helle Sterne hinein, der Him¬ mel wurde leer, aber an der Mittagsſtelle der Sonne entglomm eine Morgenroͤthe; das Meer hoͤhlte ſich unter ihr aus, und thuͤrmte in unge¬ heuren bleiernen Schlangen-Wuͤlſten am Horizonte auf ſich ſelber auf, den Himmel zuwoͤlbend — und unten aus dem Meeres-Grund ſtiegen aus unzaͤh¬ ligen Bergwerken traurige Menſchen wie Todte auf, und wurden geboren. Eine dicke Gruben - Nacht quoll ihnen nach. Aber ein Sturm ſchlug ſich auf den Dampf, und zerquetſchte ihn zu einem Meer. Gewaltig fuhr er auf und ab, und ſchuͤt¬ telte alle Wellen, hoch oben im ſtillen Blau flog langſam eine goldene Biene leiſe ſingend einem Sternchen zu, und ſog an deſſen weißen Bluͤten, und rund um den Horizont ſtanden Thuͤrme hei¬ ter mit leuchtenden Gewitterſpitzen, bis wieder ungeheure Wolken als reiſſende Thiere geſtaltet ankamen, und am Himmel fraßen.
Da hoͤrte ich einen Seufzer, alles war ver¬ ſchwunden. Ich ſah nichts als ein glattes ſtilles Meer, aus dieſem brach die boͤſe Feindin, oh¬304 ne eine Welle zu machen, wie Licht durch Glas: „ ſeit der Ewigkeit, fing ſie an, iſt das Waſſer oͤhl-glatt, das bedeutet eben den großen Sturm. Ich ſoll dir, ſagt man, das aͤlteſte Maͤhrchen erzaͤhlen; biſt du aber voruͤber?” Sie ſah ſeltſam aus, ſie war in Meergruͤn, und Meerbluͤten ge¬ kleidet, kleine Floßfedern zuckten an ihrem Ruͤcken, ihr Geſicht war meergrau, und doch jung, aber voll kaͤmpfender Farben. „ Ehe ich antwortete, fuhr die boͤſe Feindin fort — „ es war einmal ein ewiges Maͤhrchen, alt, grau, taub, blind, und das Maͤhrchen ſehnte ſich oft. Dort tief in der letzten Welt-Ecke wohnt es noch, und Gott beſucht es zuweilen, um zu ſehen, ob es noch flattert und ſich ſehnt. — Biſt du denn voruͤber? So ſchaue die Thiere am Ufer an!” — Am glatten Meere hinauf lag es voll reißender Thiere, welche ſchliefen, aber im Schlafe ſprachen, und einander einen ur¬ alten Heißhunger und Blutdurſt erzaͤhlten.
Ehe ich antwortete, verſetzte die boͤſe Feindin: „ vernimm das alte Wiederhallen; noch kein We¬ ſen hat den Ton gehoͤrt, den es nachſpricht. Wennaber305aber einſt der Wiederhall aufhoͤrt, ſo iſt die Zeit vorbei und die Ewigkeit kommt zuruͤck, und bringt den Ton; ſobald alles ſehr ſtill iſt, ſo werd 'ich die drei Stummen hoͤren, ja den Urſtummen, der das aͤlteſte Maͤhrchen ſich ſelber erzaͤhlt; aber er iſt, was er ſich ſagt. Hoͤlle, du erſchrickſt wie ein Sterblicher, biſt du denn nicht voruͤber, Thor? “
Noch eh 'ich antwortete, wuchſen ihr die Flo߬ federchen zu hohen zackigen Schwingen aus, wo¬ mit ſie mich unverdient und grimmig ſchlug; da verſchwand alles, nur das ſchoͤne Toͤnen blieb. Es war mir, als ſaͤnk' ich in gefluͤgelte Wogen eines wolkenhohen Meeres. Wie ein Pfeil ſchnitt ich durch ſeine weltenlange Wuͤſte; aber ich konn¬ te durch die glaͤſerne Flaͤche nicht hindurch, ſon¬ dern hing im dunkeln Waſſer, und ſchaute hin¬ durch. Da ſah ich draußen, nah oder fern, ich weiß es nicht, das rechte Land liegen, ausge¬ dehnt, glaͤnzend-daͤmmernd. Die Sonne ſchien als Ephemere in ihren eignen Stralen zu ſpielen, und die Stralen hoͤrten auf. Nur die leiſen Toͤne des rechten Landes flogen noch um mein Ohr. Flegeljahre IV. Bd. 20306Goldgruͤne Woͤlkchen regneten heiß uͤbers Land, und fluͤßiges Licht tropfte uͤberquellend aus Roſen - und Lilien-Kelchen. Ein Stral aus einem Thau¬ tropfen ſchnitt heruͤber durch mein duͤſteres Meer, und durchſtach gluͤhend das Herz, und ſog darin, aber das Toͤnen erfriſchte es, daß es nicht welkte. Ich ſagte laut, es regnet druͤben heiſſe Freuden¬ thraͤnen; nur die Liebe iſt eine warme Thraͤne, der Haß eine kalte. — Tief hinten im Lande ſtie¬ gen Welten, wie Dunſtkuͤgelchen, unter einem weit umhuͤllten Sonnenkoͤrper auf. In der Mitte drehte ſich ein Spinnrad um, die Sterne waren mit tauſend Silberfaͤden daran gereihet, und es ſpann ſie immer naͤher und enger vom Himmel hernieder. — An einer Lilie hieng ein Bienen¬ ſchwarm. Eine Roſe ſpielte mit einer Biene, bei¬ de nekten ſich mit ihren Stacheln und ihrem Ho¬ nig. Eine ſchwarze Nachtblume wuchs gierig gen Himmel, und bog ſich immer heftiger uͤber, je heller es wurde; eine Spinne lief und wob aͤmſig im Blumenkelche, um mit Faͤden die Nacht feſt¬ zuhalten, ja den Leichenſchleier der Welt zu ſpin¬ nen; aber alle Faͤden wurden bethaut und ſchim¬307 merten, und der ewige Schnee des Lichts lag auf den Hoͤhen.
Es ſchlaͤft alles im rechten Lande, ſagt 'ich, aber die Liebe traͤumt. Ein Morgenſtern kam, und kuͤßte eine weiße Roſenknoſpe, und bluͤhte mit ihr weiter — ein Zephyr hing ſich kuͤſſend an einen Eichengipfel — einer der leiſe¬ ſten Toͤne kam, und kuͤßte eine Maiblume und ihr Gloͤckchen wurde heftig empor geweht — tau¬ ſend warme Wolken kamen und hingen ſich bruͤnſtig an Himmel und Erde zugleich — Tur¬ teltauben wiegten ſich dufttrunken auf Nachtvio¬ len, und warfen girrend ſich die Kuͤſſe auf Blu¬ menblaͤttern zu.
Auf einmal quoll am Himmel ein ſcharfbliz¬ zendes Sternchen heraus — es hieß die Aurora — wie vor Luſt riß ſich einen Augenblik mein Meer auf. — Statt der daͤmmernden Ebene lag ein feſter breiter Blitz vor mir. Aber es ſchlug ſich wieder zu, das verdaͤmmerte Land erwachte, und alles wurde veraͤndert; denn die Blumen, die Sterne, die Toͤne, die Tauben waren nur ſchlummernde Kinder geweſen. Nun umarmte308 jedes Kind ein Kind, und die Aurora klang un¬ zaͤhlig darein. Die hohe Bildſaͤule des Donner¬ gottes ſtand in der Landes-Mitte. Ein Kind um das andere flog auf den Stein-Arm, und ſetzte einen Schmetterling auf den lebendigen Adler, der den Gott umkreiſet. Dann flatterte das Kind wie leichtſinnig auf die naͤchſte Wolke, und ſah her¬ ab nach ſeinem andern, das liebende Arme auf¬ hob. Ach ſo wird ſchon Gott, vor dem wir ja alle Kinder ſind, unſer Lieben nehmen! Darauf ſpielten die Kinder untereinander „ Liebens. “ „ Sey meine rothe Tulpe, “ſagte das eine, und das andere war ſie, und ließ ſich an die Bruſt ſtecken. „ Sei mein liebes Sternchen oben, “und es war es und wurde — an die Bruſt geſteckt. „ Sey mein Gott “— „ und du meiner, “aber dann verwandelten ſich beide nicht, ſondern ſa¬ hen ſich lange an voll zu großer Liebe, und ver¬ ſchwanden wie ſterbend dahin. — „ Bleibe bei mir, mein Kind, wenn du von mir gehſt, “ſagte das bleibende; da wurde das ſcheidende in der Ferne ein kleines Abendroth, dann ein Abendſternchen, dann tiefer ins Land hinein nur309 ein Mondſchimmer ohne Mond, und endlich ver¬ lor es ſich ferner und ferner in einen Floͤten - oder Philomelenton.
Aber der Morgenroͤthe gegenuͤber ſtand eine Morgenroͤthe auf; immer herzerhebender rauſch¬ ten beide wie zwei Choͤre einander entgegen, mit Toͤnen ſtatt Farben, gleichſam als wenn unbe¬ kannte ſelige Weſen hinter der Erde ihre Freu¬ denlieder heraufſingen. Die ſchwarze Blume mit der Spinne bog ſich krampfhaft bis zum Knicken nieder. Zu einem Lilienkranze waren vom Rade die Sterne vom Himmel herabgeſponnen, und er nur hellblau gemacht. Der Allklang hatte die Blumen zu Baͤumen gereift. Die Kinder waren dem Auge zu Menſchen gewachſen, und ſtanden endlich als Goͤtter und Goͤttinnen da, und ſahen ſehr ernſt nach Morgen und Abend.
Die Choͤre der Morgenroͤthen ſchlugen jezt wie Donner einander entgegen, und jeder Schlag zuͤndete einen gewaltigern an. Zwei Sonnen ſollten aufſteigen, unter dem Klingen des Mor¬ gens. Siehe, als ſie kommen wollten, wurde es leiſer, und dann uͤberall ſtill. Amor flog in310 Oſten, Pſyche flog in Weſten auf, und ſie fan¬ den ſich oben mitten im Himmel, und die beiden Sonnen giengen auf — es waren nur zwei leiſe Toͤne, zwei an einander ſterbende und erwachen¬ de; ſie toͤnten vielleicht: „ Du und ich “; zwei heilige, aber furchtbare faſt aus der tiefſten Bruſt und Ewigkeit gezogne Laute, als ſage ſich Gott das erſte Wort, und antwortete ſich das erſte. Der Sterbliche durfte ſie nicht hoͤren, ohne zu ſterben. Ich ſchlief in den Schlaf hinunter, doch ſchlaf - und todestrunken, war mir, als ver¬ huͤlle und vergifte mich der Blumenduft eines vorbeifliegenden Paradieſes — —
Da fand ich mich ploͤtzlich am alten erſten Ufer wieder, die boͤſe Feindin ſtand wieder im Waſſer; aber ſie zitterte wie vor Froſt, und zeigte aͤngſtlich auf das glatte Meer hinter ihr, mit den Worten: „ die Ewigkeit iſt vorbei, der Sturm kommt, denn das Meer wird geregt. “ Ich ſah hin, und die Unermeßlichkeit gohr zu unzaͤhligen Huͤgeln auf, und zum himmelhohen Sturme; doch tief im Horizont wallete hinter den Zacken ein ſanftes Morgenlicht empor. Aber311 ich erwachte; was ſagſt du, Bruder, zu dieſem kuͤnſtlich-fuͤgenden Traume? “
„ Du ſollſt es ſogleich hoͤren in dein Bett hin¬ ein, “verſezte Vult, nahm die Floͤte, und gieng, ſie blaſend, aus dem Zimmer — die Treppe hinab — aus dem Hauſe davon, und dem Poſt¬ hauſe zu. Noch aus der Gaſſe herauf hoͤrte Walt entzuͤckt die entfliehenden Toͤne reden, denn er merkte nicht, daß mit ihnen ſein Bruder entfliehe.
Ende des vierten Baͤndchens.
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