PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Syſtem des heutigen Römiſchen Rechts
Erſter Band.
Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.
Berlin. Bei Veit und Comp.1840.
[II][III]

Vorläufige Überſicht des ganzen Werks.

  • Erſtes Buch. Rechtsquellen.
    • Kap. I. Aufgabe dieſes Werks.
    • Kap. II. Allgemeine Natur der Rechtsquellen.
    • Kap. III. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.
    • Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
  • Zweytes Buch. Rechtsverhältniſſe.
    • Kap. I. Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe.
    • Kap. II. Die Perſonen als Träger der Rechtsverhältniſſe.
    • Kap. III. Entſtehung und Untergang der Rechtsverhältniſſe.
    • Kap. IV. Verletzung der Rechtsverhältniſſe.
  • Drittes Buch. Anwendung der Rechtsregeln auf die Rechtsverhältniſſe.
  • Viertes Buch. Sachenrecht.
  • Fünftes Buch. Obligationenrecht.
  • Sechstes Buch. Familienrecht.
  • Siebentes Buch. Erbrecht.
a*[IV][V]

Inhalt des erſten Bandes.

Erſtes Buch. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts. Erſtes Kapitel. Aufgabe dieſes Werks.

  • Seite.
  • §. 1. Heutiges Römiſches Recht1
  • §. 2. Gemeines Recht in Deutſchland4
  • §. 3. Gränzen der Aufgabe5
  • Zweytes Kapitel. Allgemeine Natur der Rechtsquellen. §. 4. Rechtsverhältniß6
  • §. 5. Rechtsinſtitut9
  • §. 6. Begriff der Rechtsquellen11
  • §. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts13
  • §. 8. Volk18
  • §. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, öffentliches Recht21
  • §. 10. Abweichende Meynungen über den Staat28
  • §. 11. Völkerrecht32
  • VI
  • Seite.
  • §. 12. Gewohnheitsrecht34
  • §. 13. Geſetzgebung38
  • §. 14. Wiſſenſchaftliches Recht45
  • §. 15. Die Rechtsquellen in ihrem Zuſammenhang50
  • §. 16. Abſolutes und vermittelndes, regelmäßiges und anomaliſches Recht57
  • Drittes Kapitel. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts. §. 17. A. Geſetze66
  • §. 18. B. Gewohnheitsrecht76
  • §. 19. C. Wiſſenſchaftliches Recht83
  • §. 20. Fortſetzung90
  • §. 21. Concurrirende Rechtsquellen100
  • §. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allgemeinen105
  • §. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze121
  • §. 24. Fortſetzung128
  • §. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht144
  • §. 26. » » » über das wiſſenſchaftliche Recht155
  • §. 27. Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen über die Rechtsquellen162
  • §. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen166
  • §. 29. Fortſetzung171
  • §. 30. Fortſetzung181
  • §. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechts - quellen197
  • VII
  • Seite.
  • Viertes Kapitel. Auslegung der Geſetze. §. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle206
  • §. 33. A. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln212
  • §. 34. Grund des Geſetzes216
  • §. 35. Auslegung mangelhafter Geſetze222
  • §. 36. Fortſetzung225
  • §. 37. Fortſetzung230
  • §. 38. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Kritik240
  • §. 39. Fortſetzung246
  • §. 40. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Einzelne Stellen252
  • §. 41. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Compilation255
  • §. 42. B. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. Wi - derſpruch262
  • §. 43. Fortſetzung268
  • §. 44. Fortſetzung273
  • §. 45. Fortſetzung283
  • §. 46. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. Lücken290
  • §. 47. Ausſprüche des R. R. über die Auslegung296
  • §. 48. Fortſetzung304
  • §. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen311
  • §. 50. Anſichten der Neueren von der Auslegung318
  • §. 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Aus - legung326
  • VIII
  • Seite.
  • Zweytes Buch. Die Rechtsverhältniſſe. Erſtes Kapitel. Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe. §. 52. Weſen der Rechtsverhältniſſe331
  • §. 53. Arten der Rechtsverhältniſſe334
  • §. 54. Familienrecht345
  • §. 55. Fortſetzung356
  • §. 56. Vermögensrecht367
  • §. 57. Fortſetzung379
  • §. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute386
  • §. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſifikation393
  • Beylage I. Jus naturale, gentium, civile413
  • Beylage II. L. 2 C. quae sit longa consuetudo420
[IX]

Vorrede.

Wenn ein wiſſenſchaftliches Gebiet, ſo wie das un - ſrige, durch die ununterbrochene Anſtrengung vieler Zeitalter angebaut worden iſt, ſo wird uns, die wir der Gegenwart angehören, der Genuß einer reichen Erb - ſchaft dargeboten. Es iſt nicht blos die Maſſe der ge - wonnenen Wahrheit, die uns zufällt; auch jede ver - ſuchte Richtung der geiſtigen Kräfte, alle Beſtrebungen der Vorzeit, mögen ſie fruchtbar oder verfehlt ſeyn, kommen uns zu gut als Muſter oder Warnung, und ſo ſteht es in gewiſſem Sinn bey uns, mit der vereinig - ten Kraft vergangener Jahrhunderte zu arbeiten. Woll - ten wir nun dieſen natürlichen Vortheil unſrer Lage aus Trägheit oder Eigendünkel verſäumen, wollten wir es auch nur, in oberflächlichem Verfahren, dem Zufall überlaſſen, wie Viel aus jener reichen Erbſchaft bildendXVorrede.auf uns einwirken ſoll, dann würden wir die unſchätz - barſten Güter entbehren, die von dem Weſen wahrer Wiſſenſchaft unzertrennlich ſind: die Gemeinſchaftlich - keit wiſſenſchaftlicher Überzeugungen, und daneben den ſteten, lebendigen Fortſchritt, ohne welchen jene Ge - meinſchaft in einen todten Buchſtaben übergehen könnte. Damit dieſes nicht geſchehe, müſſen wir wünſchen, daß von Zeit zu Zeit das, was im Einzelnen geſucht und gewonnen worden iſt, in vereinigendem Bewußtſeyn zu - ſammen gefaßt werde. Denn ſchon die gleichzeitig le - benden Träger der Wiſſenſchaft gehen oft in ſcharfen Gegenſätzen aus einander; noch ſtärker aber treten dieſe Gegenſätze hervor, wenn wir ganze Zeitalter verglei - chend betrachten. Hier gilt es nun nicht, das Eine zu wählen, das Andere zu verwerfen; vielmehr geht die Aufgabe dahin, die wahrgenommenen Gegenſätze in höherer Einheit aufzulöſen, welches der einzige Weg zu ſicherem Fortſchritt in der Wiſſenſchaft iſt. Die ange - meſſene Stimmung für eine ſolche zuſammen faſſende Arbeit iſt die der Ehrerbietung gegen das Große, wel - ches uns in den Leiſtungen unſrer Vorgänger erſcheint. Damit aber dieſe Ehrerbietung nicht in beſchränkende Einſeitigkeit ausarte, und ſo die Freyheit des Denkens gefährde, iſt es nöthig, den Blick unverwandt auf dasXIVorrede.letzte Ziel der Wiſſenſchaft zu richten, in Vergleichung mit welchem auch das Größte, das der Einzelne zu lei - ſten vermag, als unvollkommen erſcheinen muß.

Wenn uns aber die durch viele Geſchlechter fortge - ſetzte Ausbildung unſrer Wiſſenſchaft einen reichen Ge - winn darbietet, ſo entſpringen uns ebendaher auch ei - genthümliche große Gefahren. In der Maſſe von Be - griffen, Regeln und Kunſtausdrücken, die wir von un - ſren Vorgängern empfangen, wird unfehlbar der ge - wonnenen Wahrheit ein ſtarker Zuſatz von Irrthum beygemiſcht ſeyn, der mit der traditionellen Macht ei - nes alten Beſitzſtandes auf uns einwirkt und leicht die Herrſchaft über uns gewinnen kann. Um dieſer Ge - fahr zu begegnen, müſſen wir wünſchen, daß von Zeit zu Zeit die ganze Maſſe des Überlieferten neu geprüft, in Zweifel gezogen, um ſeine Herkunft befragt werde. Dieſes geſchieht, indem wir uns künſtlich in die Lage verſetzen, als hätten wir das überlieferte Material ei - nem Unkundigen, Zweifelnden, Widerſtrebenden mitzu - theilen. Die angemeſſene Stimmung für eine ſolche prüfende Arbeit iſt die der geiſtigen Freyheit, der Unab - hängigkeit von aller Autorität; damit aber dieſes Frey - heitsgefühl nicht in Übermuth ausarte, muß das heil - ſame Gefühl der Demuth hinzutreten, die natürlicheXIIVorrede.Frucht unbefangener Erwägung der Beſchränktheit un - ſrer perſönlichen Kräfte, welche allein jene Freiheit des Blicks zu eigenen Leiſtungen befruchten können.

So werden wir, von ganz entgegengeſetzten Stand - punkten aus, auf ein und daſſelbe Bedürfniß in unſrer Wiſſenſchaft hingewieſen. Es läßt ſich bezeichnen als eine periodiſch wiederkehrende Betrachtung der von un - ſren Vorgängern geleiſteten Arbeit, um aus dieſer das Unächte auszuſcheiden, das Wahre aber als bleibenden Beſitz uns anzueignen, der uns in den Stand ſetze, nach dem Maas unſrer Kräfte in der Löſung der ge - meinſamen Aufgabe dem Ziele näher zu kommen. Eine ſolche Betrachtung anzuſtellen für den Zeitpunkt, worin wir uns gegenwärtig befinden, iſt die Beſtimmung des vorliegenden Werkes.

Es darf jedoch gleich im Eingang nicht verſchwie - gen werden, wie ſehr die unbefangene Aufnahme dieſes Werks durch das, was ſich in neueſter Zeit in unſrer Wiſſenſchaft zugetragen hat, gefährdet werden kann. Manche werden durch den Namen des Verfaſſers be - wogen werden, die eben ausgeſprochene allgemeine Be - ſtimmung dieſer Arbeit in Zweifel zu ziehen; ſie werden glauben, es ſey hier weniger auf den freyen Dienſt der Wiſſenſchaft abgeſehen, als auf die einſeitige Vertre -XIIIVorrede.tung der hiſtoriſchen Schule: das Werk trage alſo den Character einer Parteyſchrift an ſich, vor welcher ſich Jeder, der nicht jener Schule angehöre, zu hüten habe.

Alles Gelingen in unſrer Wiſſenſchaft beruht auf dem Zuſammenwirken verſchiedener Geiſtesthätigkeiten. Um Eine derſelben, und die aus ihr vorzugsweiſe ent - ſpringende wiſſenſchaftliche Richtung, in ihrer Eigen - thümlichkeit zu bezeichnen, war früher von mir und An - deren arglos der Ausdruck der hiſtoriſchen Schule ge - braucht worden. Es wurde damals dieſe Seite der Wiſſenſchaft beſonders hervorgehoben, nicht um den Werth anderer Thätigkeiten und Richtungen zu vernei - nen oder auch nur zu vermindern, ſondern weil jene Thätigkeit lange Zeit hindurch vor anderen verſäumt worden war, alſo vorübergehend mehr als andere einer eifrigen Vertretung bedurfte, um in ihr natürliches Recht wieder einzutreten. An jene Benennung nun hat ſich eine lange anhaltende, lebhafte Anfechtung geknüpft, und noch in der neueſten Zeit ſind darüber harte Worte ge - redet worden. Eine Vertheidigung gegen ſolche An - griffe würde unnütz, gewiſſermaßen unmöglich ſeyn; denn wie die Verſtimmung mehr von perſönlichen Ge - fühlen, als von wiſſenſchaftlichen Gegenſätzen, ausge - gangen iſt, ſo pflegen auch die Widerſacher der hiſtori -XIVVorrede.ſchen Schule Alles, was ihnen gerade unbequem oder misfällig in literariſchen Erſcheinungen iſt, unter jenem Namen zuſammen zu faſſen und zu tadeln; wer möchte da eine Widerlegung verſuchen? Ein Vorwurf jedoch muß, wegen ſeiner allgemeineren Natur, davon ausge - nommen werden. Es iſt oft von Gegnern behauptet worden, die Mitglieder der hiſtoriſchen Schule wollten die Gegenwart, ihre Selbſtſtändigkeit verkennend, unter die Herrſchaft der Vergangenheit beugen; insbeſondere wollten ſie die Herrſchaft des Römiſchen Rechts unge - bührlich ausdehnen: im Gegenſatz theils des deutſchen Rechts, theils der neuen Rechtsbildung, die durch Wiſ - ſenſchaft und Praxis an die Stelle des reinen Römi - ſchen Rechts getreten ſey. Dieſer Vorwurf hat einen allgemeinen, wiſſenſchaftlichen Character, und er darf nicht mit Stillſchweigen übergangen werden.

Die geſchichtliche Anſicht der Rechtswiſſenſchaft wird völlig verkannt und entſtellt, wenn ſie häufig ſo aufge - faßt wird, als werde in ihr die aus der Vergangenheit hervorgegangene Rechtsbildung als ein Höchſtes aufge - ſtellt, welchem die unveränderte Herrſchaft über Gegen - wart und Zukunft erhalten werden müſſe. Vielmehr beſteht das Weſen derſelben in der gleichmäßigen Aner - kennung des Werthes und der Selbſtſtändigkeit jedesXVVorrede.Zeitalters, und ſie legt nur darauf das höchſte Gewicht, daß der lebendige Zuſammenhang erkannt werde, wel - cher die Gegenwart an die Vergangenheit knüpft, und ohne deſſen Kenntniß wir von dem Rechtszuſtand der Gegenwart nur die äußere Erſcheinung wahrnehmen, nicht das innere Weſen begreifen. In beſonderer An - wendung auf das Römiſche Recht geht die geſchichtliche Anſicht nicht, wie von Vielen behauptet wird, darauf aus, demſelben eine ungebührliche Herrſchaft über uns zuzuwenden; vielmehr will ſie zunächſt in der ganzen Maſſe unſres Rechtszuſtandes dasjenige auffinden und feſtſtellen, was in der That Römiſchen Urſprungs iſt, damit wir nicht bewußtlos davon beherrſcht werden: dann aber ſtrebt ſie, in dem Umkreis dieſer Römiſchen Elemente unſres Rechtsbewußtſeyns dasjenige auszu - ſcheiden, was davon in der That abgeſtorben iſt, und nur durch unſer Misverſtändniß ein ſtörendes Schein - leben fortführt, damit für die Entwicklung und heilſame Einwirkung der noch lebendigen Theile jener Römiſchen Elemente um ſo freyerer Raum gewonnen werde. Das vorliegende Werk insbeſondere geht ſo wenig darauf aus, dem Römiſchen Recht eine übermäßige Herrſchaft zuzuwenden, daß es vielmehr die Anwendbarkeit deſſel - ben in nicht wenigen Rechtslehren beſtreitet, worin ſieXVIVorrede.bisher allgemein angenommen wurde, ſelbſt von Sol - chen, die ſich ſtets für Gegner der hiſtoriſchen Schule erklärt haben. Eine Sinnesänderung des Verfaſſers kann hierin nicht gefunden werden, da derſelbe dieſe An - ſichten großentheils ſchon ſeit Dreyßig bis Vierzig Jah - ren öffentlich vorgetragen hat; es liegt alſo in dieſer Erſcheinung vielmehr der Beweis, daß der angegebene Vorwurf, den man der hiſtoriſchen Schule überhaupt, und mir insbeſondere, zu machen pflegte, ganz ohne Grund iſt. Vielleicht kann bey Unbefangenen dieſe Wahrnehmung dazu dienen, den ganzen Parteyſtreit und die darauf bezüglichen Parteynamen allmälig zu beſeitigen; zumal da die Gründe, die den erſten Ge - brauch des Namens einer hiſtoriſchen Schule veranlaß - ten, zugleich mit den vorherrſchenden Mängeln, de - ren Bekämpfung damals nöthig war, ſo gut als ver - ſchwunden ſind. Zwar mag ein fortgeführter Streit ſolcher Art zur ſchärferen Ausbildung mancher Gegen - ſätze dienen, aber dieſer Vortheil wird gewiß weit über[-]wogen durch die Störung des unbefangenen Urtheils über fremde Leiſtungen, ſo wie dadurch, daß in dem Streit der Parteyen Kräfte verſchwendet werden, die zu den gemeinſamen Zwecken der Wiſſenſchaft heilſamer verwendet werden könnten. Ich bin weit entfernt, denXVIIVorrede.großen Vortheil des wiſſenſchaftlichen Streites über - haupt zu verkennen, der ſogar eine Lebensbedingung der Wiſſenſchaft iſt; auch in der Art und Richtung gei - ſtiger Kräfte der Einzelnen wird ſtets große Verſchie - denheit wahrgenommen werden. Gerade aus dem Zu - ſammenwirken ſo entgegengeſetzter Elemente ſoll aber das wahre Leben der Wiſſenſchaft hervorgehen, und die Träger der verſchiedenen Kräfte ſollen nie aufhören, ſich als Arbeiter an demſelben großen Bau anzuſehen. Laſ - ſen wir ſie dagegen in feindliche Lager aus einander tre - ten, und ſuchen wir durch fleißige Anwendung von Par - teynamen den Gegenſatz recht perſönlich zu machen, ſo wird bald unſre Auffaſſung von Grund aus unwahr, und ihre Folgen können ſich nur als verderblich erwei - ſen; das individuelle Leben und Wirken der Einzelnen verſchwindet vor unſren Augen, indem wir ſie vorzugs - weiſe als Anhänger einer Partey billigen oder anfein - den, und ſo geht uns der natürliche Gewinn für unſre eigene Bildung verloren, den wir aus der ungeſtörten Einwirkung ihrer Arbeit auf uns ziehen konnten.

Iſt nun auf dieſe Weiſe das Beſtreben, dem - miſchen Recht durch das vorliegende Werk eine unge - meſſene Herrſchaft über uns zuzuwenden, beſtimmt ab - gelehnt worden, ſo ſoll doch auf der andern Seite nichtbXVIIIVorrede.weniger beſtimmt anerkannt werden, daß die gründliche Kenntniß deſſelben auch für unſren gegenwärtigen Rechtszuſtand den höchſten Werth hat, ja unentbehrlich genannt werden muß; und ſelbſt wenn dieſe Überzeu - gung hier nicht wörtlich ausgeſprochen wäre, ſo würde ſie doch ſchon durch die Unternehmung eines ſo umfaſ - ſenden Werks, wie das gegenwärtige, alſo durch die That, an den Tag gelegt ſeyn. Es kommt nur darauf an, ſich über den Grund und die Beſchaffenheit dieſes hohen Werthes der Kenntniß jenes Rechts zu verſtän - digen.

Nicht wenige haben davon folgende Vorſtellung. In den Ländern, worin noch das Römiſche Recht als Ge - ſetz gelte, dürfe kein gewiſſenhafter Juriſt das mühevolle Studium deſſelben unterlaſſen; hingegen da, wo neue Geſetzbücher eingeführt ſeyen, falle ein ſolches Bedürf - niß hinweg, und der Rechtszuſtand ſey daſelbſt glückli - cher zu nennen, weil der Juriſt ſeine Zeit und Kraft auf lebendigere Gegenſtände verwenden könne. Wäre dieſes die rechte Anſicht, ſo würde ſelbſt für jene Länder das Römiſche Recht wenigſtens einen ſehr precären Werth haben, da für die Geſetzgeber derſelben nichts leichter ſeyn würde, als den erwähnten glücklicheren Zu - ſtand durch Aneignung eines ſchon vorhandenen frem -XIXVorrede.den Geſetzbuchs herbeyzuführen, wenn ſie nicht etwa ſelbſt ein eigenes neu hervorbringen möchten. An - dere haben die Behauptung eines beſonderen Werthes des Römiſchen Rechts ſo aufgefaßt, als ſollte das ma - terielle Ergebniß deſſelben, ſo wie es ſich in einzelnen praktiſchen Regeln darſtellen laſſe, verglichen mit ähnli - chen Regeln, wie ſie in Rechtsbildungen des Mittelal - ters oder der neueren Zeit erſcheinen, für vorzüglicher erklärt werden. Daß auf eine Apologie in dieſem Sinn namentlich das vorliegende Werk nicht ausgeht, wird die Ausführung deſſelben beweiſen. In der That liegt die Sache (ſehr einzeln ſtehende Fälle ausgenommen) tiefer, als daß ſie durch eine ſolche Wahl zwiſchen entge - gengeſetzten praktiſchen Regeln abgethan werden könnte, und ein Werk, welches dieſen comparativen Geſichts - punkt im Einzelnen verfolgen wollte, würde an die kind - liche Stimmung erinnern, die bey der Erzählung von Kriegsgeſchichten ſtets zu fragen geneigt iſt, welches die Guten, welches die Böſen waren.

Die geiſtige Thätigkeit der Einzelnen in Beziehung auf das Recht kann ſich in zwey verſchiedenen Richtun - gen äußern: durch Aufnahme und Entwicklung des Rechtsbewußtſeyns im Allgemeinen, alſo durch Wiſſen, Lehren, Darſtellen: oder durch die Anwendung auf dieb*XXVorrede.Ereigniſſe des wirklichen Lebens. Dieſes zweyfache Ele - ment des Rechts, das theoretiſche und das praktiſche, ge - hört demnach dem allgemeinen Weſen des Rechts ſelbſt an. Es liegt aber in dem Entwicklungsgang der neue - ren Jahrhunderte, daß dieſe zwey Richtungen zugleich in verſchiedenen Ständen und Berufsarten aus einan - der getreten ſind, daß alſo die Rechtskundigen, mit ſel - tenen Ausnahmen, durch ihren ausſchließenden oder überwiegenden Beruf entweder der Theorie oder der Praxis allein angehören. Wie dieſes nicht durch menſch - liche Willkühr ſo geworden iſt, ſo iſt daran auch im All - gemeinen Nichts zu loben oder zu tadeln. Wohl aber iſt es wichtig, mit Ernſt zu erwägen, was in dieſem Ge - genſatz naturgemäß und heilſam iſt, wie er dagegen in verderbliche Einſeitigkeit ausſchlagen kann. Es beruht aber alles Heil darauf, daß in dieſen geſonderten Thä - tigkeiten Jeder die urſprüngliche Einheit feſt im Auge behalte, daß alſo in gewiſſem Grade jeder Theoretiker den praktiſchen, jeder Praktiker den theoretiſchen Sinn in ſich erhalte und entwickle. Wo dieſes nicht geſchieht, wo die Trennung zwiſchen Theorie und Praxis eine ab - ſolute wird, da entſteht unvermeidlich die Gefahr, daß die Theorie zu einem leeren Spiel, die Praxis zu einem bloßen Handwerk herabſinke.

XXIVorrede.

Wenn ich ſage, daß jeder Theoretiker ſtets zugleich ein praktiſches Element in ſich tragen ſoll, ſo iſt dieſes dem Sinn und Geiſt nach gemeynt, nicht der Beſchäf - tigung nach: obgleich freylich einige praktiſche Beſchäfti - gung, richtig angewendet, der ſicherſte Weg zur För - derung des praktiſchen Sinnes iſt. Gewiß haben Viele, die mit Ernſt und Liebe der Rechtswiſſenſchaft zugethan ſind, die Erfahrung gemacht, daß irgend ein einzelner Rechtsfall ihnen ein Rechtsinſtitut zu ſo lebendiger An - ſchauung gebracht hat, wie es ihnen durch Bücherſtu - dium und eigenes Nachdenken nie gelungen war. Was uns nun ſo durch Zufall im Einzelnen an Ausbildung zugeführt wird, läßt ſich auch als bewußtes Ziel unſres Strebens, und durch das Ganze unſrer Wiſſenſchaft durchgeführt, denken. Dann wäre der vollendete Theo - retiker derjenige, deſſen Theorie durch die vollſtändige, durchgeführte Anſchauung des geſammten Rechtsver - kehrs belebt würde; alle ſittlich religiöſen, politiſchen, ſtaatswirthſchaftlichen Beziehungen des wirklichen Le - bens müßten ihm dabey vor Augen ſtehen. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß dieſe Forderung nicht auf - geſtellt werden ſoll, um denjenigen zu tadeln, der ſie nicht vollſtändig erfüllt, da ſich ja Jeder, der etwa einen ſolchen Maasſtab an Andere anlegen möchte, ſagen muß,XXIIVorrede.wie wenig er ſelbſt dieſes vermag. Dennoch iſt es gut, ſich ein ſolches Ziel für die vereinten Beſtrebungen man - nichfaltiger Kräfte vor Augen zu halten; zunächſt um in der wahren Richtung zu bleiben, dann auch um ſich gegen alle Anwandlungen des Eigendünkels zu ſchützen, vor welchen keiner ganz ſicher iſt. Betrachten wir nun aber den wirklichen Zuſtand unſrer Rechtstheorie, wie ſie jetzt iſt, in Vergleichung mit dem Zuſtand, wie er vor Funfzig, und noch mehr wie er vor Hundert Jah - ren war, ſo finden wir Vorzüge und Nachtheile ſehr ge - miſcht. Zwar wird Niemand verkennen, daß jetzt Vie - les möglich geworden und wirklich geleiſtet iſt, woran früher nicht zu denken war, ja daß die Maſſe der her - vorgearbeiteten Kenntniſſe in Vergleichung mit jenen früheren Zeitpunkten ſehr hoch ſteht. Sehen wir aber auf den oben geforderten praktiſchen Sinn, wodurch in den einzelnen Trägern der Theorie ihr Wiſſen belebt werden ſoll, ſo dürfte die Vergleichung minder vortheil - haft für die Gegenwart ausfallen. Dieſer Mangel der Gegenwart aber ſteht im Zuſammenhang mit der eigen - thümlichen Richtung, die in den theoretiſchen Beſtrebun - gen ſelbſt gegenwärtig wahrzunehmen iſt. Gewiß iſt Nichts löblicher, als der Trieb die Wiſſenſchaft durch neue Entdeckungen zu bereichern; dennoch hat auch die -XXIIIVorrede.ſer Trieb in unſrer Zeit eine oft einſeitige und unheil - ſame Wendung genommen. Man hat angefangen, ei - nen übertriebenen Werth zu ſetzen auf die Erzeugung neuer Anſichten, in Vergleichung mit der treuen, liebe - vollen Ausbildung und befriedigenden Darſtellung des ſchon Erforſchten, obgleich auch bey dieſer, wenn ſie mit Ernſt geſchieht, das ſchon Vorhandene ſtets eine neue Geſtalt annehmen, und ſo zum wirklichen, wenn auch weniger bemerkbaren, Fortſchritt der Wiſſenſchaft führen wird. Da nun den Meiſten eine im Großen wirkende ſchöpferiſche Kraft nicht verliehen iſt, ſo hat jene einſei - tige Werthſchätzung des Neuen Viele dahin geführt, ſich vorzugsweiſe in einzelnen, abgeriſſenen Gedanken und Meynungen zu ergehen, und über dieſer Zerſplitterung den zuſammenhängenden Beſitz des Ganzen unſrer Wiſſenſchaft zu verſäumen. Hierin eben waren uns unſre Vorgänger überlegen, unter welchen ſich ver - hältnißmäßig eine größere Zahl von Individuen fand, die unſre Wiſſenſchaft im Ganzen auf eine würdige Weiſe zu repräſentiren vermochten. Wer jedoch die Sache von einem allgemeineren Standpunkt aus be - trachten will, wird ſich leicht überzeugen, daß dieſe Erſcheinungen keinesweges der Rechtswiſſenſchaft ei - genthümlich ſind, ſondern vielmehr mit dem Ent -XXIVVorrede.wicklungsgang unſrer Literatur überhaupt in Zuſam - menhang ſtehen.

Auf der anderen Seite wurde oben gefordert, daß der Praktiker zugleich ein theoretiſches Element in ſich trage. Auch dieſes wiederum iſt nicht ſo gemeynt, daß er zugleich als Schriftſteller thätig ſeyn, oder auch nur ein ſehr umfaſſendes Bücherſtudium ſtets fortführen ſolle: Beides würde ſchon durch den Umfang der prak - tiſchen Arbeiten meiſt unmöglich werden. Aber den Sinn für die Wiſſenſchaft ſoll er in ſeinem praktiſchen Geſchäft ſelbſt ſtets lebendig erhalten, er ſoll nie ver - geſſen, daß die richtig aufgefaßte Rechtswiſſenſchaft nichts Anderes iſt, als die Zuſammenfaſſung desjenigen, was er im Einzelnen ſich zum Bewußtſeyn bringen und an - wenden ſoll. Nichts iſt häufiger, als in der Würdi - gung eines praktiſchen Juriſten auf die bloße Gewandt - heit und Leichtigkeit ausſchließenden Werth zu legen, obgleich dieſe an ſich ſehr brauchbare Eigenſchaften mit der gewiſſenloſeſten Oberflächlichkeit gar wohl vereinbar ſind. Daß unſrer juriſtiſchen Praxis der rechte Geiſt nicht überall inwohnt, geht ſichtbar hervor aus dem Er - folg, wie er ſich im Großen darſtellt. Wäre in ihr die - ſer Geiſt wirkſam, ſo müßte auch von ihr ein ſicherer Fortſchritt geſunder Rechtswiſſenſchaft ausgehen, ſieXXVVorrede.müßte die theoretiſchen Beſtrebungen unterſtützen und, wo ſie abirren, auf die rechte Bahn zurück führen, be - ſonders aber müßte ſie der Geſetzgebung ſo vorarbeiten, daß beide, Geſetz und Rechtsanwendung, naturgemäß in innerer Einheit vorwärts giengen. Und finden wir nicht meiſtens von dieſem Allen gerade das Gegentheil?

Beſteht nun alſo das Hauptübel unſres Rechtszu - ſtandes in einer ſtets wachſenden Scheidung zwiſchen Theorie und Praxis, ſo kann auch die Abhülfe nur in der Herſtellung ihrer natürlichen Einheit geſucht wer - den. Gerade dazu aber kann das Römiſche Recht, wenn wir es richtig benutzen wollen, die wichtigſten Dienſte leiſten. Bey den Römiſchen Juriſten erſcheint jene na - türliche Einheit noch ungeſtört, und in lebendigſter Wirk - ſamkeit; es iſt nicht ihr Verdienſt, ſo wie der entgegen - geſetzte heutige Zuſtand mehr durch den allgemeinen Gang der Entwicklung, als durch die Schuld der Ein - zelnen, herbeygeführt worden iſt. Indem wir uns nun mit Ernſt und Unbefangenheit in ihr, von dem unſrigen ſo verſchiedenes, Verfahren hinein denken, können auch wir uns daſſelbe aneignen, und ſo für uns ſelbſt in die rechte Bahn einlenken.

Da es aber ſehr verſchiedene Weiſen giebt, in wel - chen die Kenntniß des Römiſchen Rechts geſucht werdenXXVIVorrede.kann, ſo iſt es nöthig klar auszuſprechen, welcherley Weiſe dieſer Kenntniß hier gefordert wird, wenn der angegebene Zweck erreicht werden ſoll. Daß ein gründ - liches wiſſenſchaftliches Verfahren gemeynt iſt, wird wohl Jeder erwarten; Mancher aber möchte durch das Mis - verſtändniß zurück geſchreckt werden, als werde Jedem, der ſich eine ſolche Kenntniß des Römiſchen Rechts er - werben wolle, auch die ganze Arbeit antiquariſcher Un - terſuchung und kritiſcher Quellenforſchung angemuthet. Obgleich nun auch dieſer Theil unſrer Studien wichtig iſt, ſo ſoll doch hier keinesweges das heilſame Princip der Theilung der Arbeit verkannt werden; die Meiſten alſo werden ſich mit den Reſultaten jener von Einzelnen ange - ſtellten ſpeciellen Forſchungen völlig genügen laſſen kön - nen. Auf der andern Seite aber würde es ganz irrig ſeyn zu glauben, als ob mit einer Kenntniß der allge - meinſten Grundſätze des Römiſchen Rechts für den an - gegebenen Zweck auch nur das Geringſte gewonnen wer - den könnte: einer Kenntniß etwa, wie ſie in einem In - ſtitutionencompendium niedergelegt iſt, oder wie ſie in den Franzöſiſchen Rechtsſchulen mitgetheilt zu werden pflegt. Eine ſolche Kenntniß iſt genügend, um das wörtliche Andenken des Römiſchen Rechts auf eine beſ - ſere Zukunft fortzupflanzen; dem, welcher ſich auf ſieXXVIIVorrede.beſchränkt, lohnt ſie kaum die geringe Mühe, die er darauf verwendet. Soll uns die Kenntniß des Römi - ſchen Rechts zu dem hier angegebenen Ziel führen, ſo giebt es nur Einen Weg dazu: wir müſſen uns in die Schriften der alten Juriſten ſelbſtſtändig hinein leſen und denken. Dann wird uns auch die ungeheure Maſſe neuerer Literatur nicht mehr abſchrecken. Zweckmäßige Anleitung mag uns das Wenige daraus bemerklich ma - chen, wodurch unſer unabhängiges Studium wahrhaft gefördert werden kann; die übrige Maſſe überlaſſen wir den Juriſten von theoretiſchem Beruf, die freylich auch dieſe mühevolle Beſchäftigung nicht von ſich abweiſen dürfen.

Das vorliegende Werk iſt ganz beſonders dazu be - ſtimmt, die hier dargelegten Zwecke ernſtlicher Beſchäf - tigung mit dem Römiſchen Recht zu befördern: vorzüg - lich alſo die Schwierigkeiten zu vermindern, die den Ju - riſten von praktiſchem Beruf von einem eigenen, ſelbſt - ſtändigen Quellenſtudium abzuhalten pflegen. Durch dieſe Schwierigkeiten wird den Anſichten, die gerade in den gangbarſten neueren Handbüchern niedergelegt ſind, eine ungebührliche Herrſchaft über die Praxis zuge - wendet; geht alſo die Abſicht des Verfaſſers bey die - ſem Werke in Erfüllung, ſo wird dadurch zugleich aufXXVIIIVorrede.die Emancipation der Praxis von einer unächten Theo - rie hingewirkt werden.

Allerdings finden dieſe Gedanken ihre unmittelbarſte Anwendung in den Ländern, worin noch jetzt das - miſche Recht die Grundlage der Rechtspraxis bildet; dennoch ſind ſie auch anwendbar da wo neue Geſetzbü - cher an die Stelle des Römiſchen Rechts getreten ſind. Denn die Mängel des Rechtszuſtandes ſind hier und dort weſentlich dieſelben, und eben ſo iſt das Bedürfniß und die Art der Abhülfe weniger verſchieden, als man glauben möchte. Auch in den Ländern alſo, die mit einheimiſchen Geſetzbüchern verſehen ſind, wird durch die hier dargeſtellte Benutzungsweiſe des Römiſchen Rechts die Theorie theils neu belebt, theils vor ganz ſubjectiven und willkührlichen Abirrungen bewahrt, beſonders aber der Praxis wieder näher gebracht werden, worauf überall das Meiſte ankommt. Schwerer freylich iſt hier eine ſolche Umwandlung als in den Ländern des gemeinen Rechts, aber unmöglich iſt ſie nicht. Das zeigt uns be - ſonders das Beyſpiel der neueren Franzöſiſchen Juri - ſten, die oft auf recht verſtändige Weiſe ihr Geſetzbuch aus dem Römiſchen Recht erläutern und ergänzen. Hierin verfahren ſie ganz im wahren Sinn dieſes Ge - ſetzbuchs, und wo ſie fehl greifen, da geſchieht es weni -XXIXVorrede.ger aus einer ungehörigen Benutzungsweiſe des Römi - ſchen Rechts, als aus mangelhafter Kenntniß deſſelben. Hierin nun ſind wir ihnen unſtreitig überlegen; allein in der Art der Benutzung neben den einheimiſchen Ge - ſetzen würden wir wohl thun von ihnen zu lernen. Schwieriger allerdings als bey ihnen iſt dieſe Benutzung in unſrem Preußiſchen Vaterland, da in unſrem Land - recht theils durch die eigenthümliche Darſtellungsweiſe, theils durch die weit getriebene Ausführlichkeit, der wirk - lich vorhandene innere Zuſammenhang mit dem frühe - ren Recht oft verdeckt wird. Schwieriger alſo iſt ſie, aber darum nicht unmöglich; und wenn ſie wiederher - geſtellt wird, ſo wird damit zugleich einem weſentlichen Übel abgeholfen, das aus der Einführung des Land - rechts hervorgegangen iſt. Dieſes Übel beſteht in der gänzlichen Abtrennung von der wiſſenſchaftlichen Bear - beitung des gemeinen Rechts, wodurch unſrer Praxis eines der wichtigſten Bildungsmittel bisher entzogen wurde, die lebendige Berührung mit dem juriſtiſchen Denken früherer Zeiten und anderer Länder. Es iſt nicht zu verkennen, daß zu der Zeit, worm die Abfaſſung des Preußiſchen Landrechts unternommen wurde, die deutſche juriſtiſche Literatur großentheils geiſtlos und unbehülflich geworden war, alſo auch die Fähigkeit einesXXXVorrede.wohlthätigen Einfluſſes auf die Praxis meiſt verloren hatte; ja eben die Wahrnehmung dieſes mangelhaften Rechtszuſtandes hat damals zu dem Verſuch geführt, dem Übel durch ein einheimiſches Geſetzbuch abzuhelfen, und ſo die Grundlage des praktiſchen Rechts gänzlich umzuändern. Wenn es uns jetzt gelänge, die aufge - löſte Verbindung mit der gemeinrechtlichen Literatur theil - weiſe wieder anzuknüpfen, ſo könnte daraus nunmehr, bey dem gänzlich veränderten Zuſtand der Rechtswiſſen - ſchaft, nur ein wohlthätiger Einfluß auf die Praxis ent - ſtehen, und die Nachtheile, die ſich in früherer Zeit ſo fühlbar gemacht hatten, würden gewiß nicht wiederkehren.

Manche finden in der Anmuthung, das Römiſche Recht fortwährend als Bildungsmittel für unſren Rechts - zuſtand zu benutzen eine verletzende Zurückſetzung unſrer Zeit und unſrer Nation. Sie faſſen die Sache ſo auf, als könnten wir auf dieſem Wege, im günſtigſten Falle, doch nur eine unvollkommene Nachahmung oder Wie - derholung des von den Römern hervorgebrachten Rechts - zuſtandes darſtellen, es ſey aber würdiger, durch unab - hängiges Streben etwas Neues und Eigenthümliches zu ſchaffen. Dieſem an ſich löblichen Selbſtgefühl liegt aber folgendes Misverſtändniß zum Grunde. Bei dem großen und mannichfaltigen Rechtsſtoff, den uns dieXXXIVorrede.Jahrhunderte zugeführt haben, iſt unſre Aufgabe ohne Vergleich ſchwieriger, als es die der Römer war, unſer Ziel alſo ſteht höher, und wenn es uns gelingt dieſes Ziel zu erreichen, ſo werden wir nicht etwa die Trefflich - keit der Römiſchen Juriſten in bloßer Nachahmung wie - derholt, ſondern weit Größeres als ſie geleiſtet haben. Wenn wir gelernt haben werden, den gegebenen Rechts - ſtoff mit derſelben Freyheit und Herrſchaft zu behan - deln, die wir an den Römern bewundern, dann können wir ſie als Vorbilder entbehren, und der Geſchichte zu dankbarer Erinnerung übergeben. Bis dahin aber wol - len wir uns eben ſo wenig durch falſchen Stolz, als durch Bequemlichkeit, abhalten laſſen ein Bildungsmittel zu benutzen, welches wir durch eigene Kraft zu erſetzen ſchwerlich vermögen würden. Es wird alſo hierin ein Verhältniß unſrer Zeit zum Alterthum behauptet, wie wir es in ähnlicher Weiſe auch in anderen geiſtigen Gebieten wahrnehmen. Niemand möge dieſe Worte ſo verſtehen, als ſollte die Beſchäftigung mit dem Römiſchen Recht er - hoben werden zum Nachtheil der eifrigen germaniſtiſchen Beſtrebungen, die gerade in unſrer Zeit ſo erfreulichen Hoffnungen Raum geben. Nichts iſt häufiger und na - türlicher, als den lebendigen Eifer für das Gebiet un - ſrer eigenen Forſchungen kund zu geben durch Herab -XXXIIVorrede.ſetzung eines verwandten fremden Gebietes; aber ein Irrthum iſt es dennoch, und dieſer Irrthum wird un - fehlbar nur demjenigen Nachtheil bringen, der ihn hegt und übt, nicht dem Gegner, welchem durch ſolche Herab - ſetzung Abbruch gethan werden ſoll.

Aus dem oben dargelegten Plan dieſes Werks geht hervor, daß es vorzugsweiſe einen kritiſchen Character haben wird. Manche werden damit wenig zufrieden ſeyn, indem ſie überall nur poſitive, zu unmittelbarer Anwendung brauchbare, Wahrheit verlangen, unbeküm - mert um die Art ihrer Erwerbung, und um die mögli - chen Gegenſätze derſelben. Unſer geiſtiges Leben wäre leicht und bequem, wenn wir lediglich die klare, einfache Wahrheit ausſchließend auf uns einwirken laſſen und ſo zu immer neuer Erkenntniß ungeſtört fortſchreiten könnten. Allein uns umgiebt und hemmt von allen Seiten der Schutt falſcher oder halbwahrer Begriffe und Meynungen, durch die wir uns Bahn machen müſ - ſen. Wollen wir mit dem Schickſal darum rechten, daß es uns ſolche unnütze Mühe aufgebürdet hat? Schon als in eine nothwendige Bedingung unſres geiſtigen Da - ſeyns müßten wir uns darein fügen, allein es fehlt auch nicht an reicher Frucht, die als Lohn unſrer Arbeit aus dieſer Nothwendigkeit erwächſt. Unſere geiſtige KraftXXXIIIVorrede.findet darin ihre allgemeine Erziehung, und jede ein - zelne Wahrheit, die wir durch dieſen Kampf mit dem Irrthum gewinnen, wird in höherem Sinn unſer Ei - genthum, und erweiſt ſich uns fruchtbarer, als wenn wir ſie leidend und mühelos von Anderen empfangen.

Der erwähnte kritiſche Character des Werks wird ſich nun vorzüglich in folgenden einzelnen Anwendungen zeigen. Zunächſt, und recht ausſchließend, in den nicht ſeltenen blos negativen Reſultaten einer angeſtellten Un - terſuchung; mögen dieſe darin beſtehen, daß ein Römi - ſches Rechtsinſtitut als erſtorben, und alſo unſrem Rechts - zuſtand fremd, nachgewieſen wird, oder in der Darle - gung der von neueren Juriſten in unſer Rechtsſyſtem aus Misverſtand eingeſchobenen grundloſen Begriffe und Lehrmeynungen. Gerade ſolche Unterſuchungen ſind es, womit Viele am Wenigſten behelligt und aufgehalten werden möchten. Wer aber Steine aus dem Wege räumt, oder gegen Abwege warnt durch aufgeſtellte Weg - weiſer, der verbeſſert doch weſentlich den Zuſtand ſeiner Nachfolger; mag es auch, wenn ſolche erlangte Vor - theile durch Gewohnheit befeſtigt ſind, bald vergeſſen werden, daß es jemals eine Zeit gab, worin hier Schwie - rigkeiten zu beſtehen waren.

cXXXIVVorrede.

Allein nicht nur in blos negativen Reſultaten wird ſich jener kritiſche Character des Werks zeigen, ſondern auch da, wo für eine aufgeſtellte poſitive Wahrheit der einfache, abſolute Gegenſatz des Wahren und Falſchen nicht ausreicht. So kommt es in vielen Fällen vor - zugsweiſe darauf an, den Grad unſrer Überzeugung näher zu bezeichnen. Wenn wir nämlich fremden Mey - nungen ſtreitend entgegen treten, kann dieſes auf ver - ſchiedene Weiſe geſchehen. Nicht ſelten begleitet unſre Überzeugung das Gefühl vollſtändiger Gewißheit, in - dem wir einſehen, wie die Meynung des Gegners aus logiſchen Fehlern, factiſcher Unkenntniß, oder durchaus verwerflicher Methode entſprungen iſt; dann halten wir dieſe Meynung für wiſſenſchaftlich unerlaubt, und in unſrem Widerſpruch iſt dann ein entſchiedener Tadel des Gegners nothwendig enthalten. Nicht ſo in ande - ren Fällen, worin wir, nach ſorgfältiger Abwägung al - ler Gründe, zwar Einer Meynung den Vorzug geben, doch ohne den Anſpruch auf ſo entſchiedene Verurthei - lung unſres Gegners. In dieſer Wahrſcheinlichkeit nun, womit wir uns dann begnügen müſſen, laſſen ſich Grade unterſcheiden, und die genaue Bezeichnung, die gewiſſenhafte Anerkennung dieſer Grade gehört ebenſo - wohl zum ſittlichen, als zum wiſſenſchaftlichen WerthXXXVVorrede.unſrer Arbeit(a)Lebensnachrichten über B. G. Niebuhr B. 2 S. 208: Vor allen Dingen aber müſſen wir in den Wiſſenſchaften unſre Wahr - haftigkeit ſo rein erhalten, daß wir abſolut allen falſchen Schein fliehen, daß wir auch nicht das allergeringſte als gewiß ſchreiben, wovon wir nicht völlig überzeugt ſind, daß wir, wo wir Vermu - thung ausſprechen müſſen, alles anſtrengen um den Grad unſers Wahrhaltens anſchaulich zu ma - chen. Vieles in dem treffli - chen Briefe, woraus dieſe Stelle genommen iſt, gehört nicht der Philologie allein an (worauf es ſich zunächſt bezieht); ſondern al - len Wiſſenſchaften überhaupt.. In anderen Fällen ſtreitender Meynungen iſt es von Wichtigkeit, die eigentliche Gränze des Streitigen, ſo wie den Werth und Einfluß, den dieſe Meynungsverſchiedenheit für die Wiſſenſchaft hat, ge - nau zu beſtimmen. Die Lebhaftigkeit des Streites, ſo wie das durch denſelben häufig erhöhte Selbſtgefühl, verleitet uns leicht zu einer übertriebenen Werthſchätzung deſſelben, und läßt uns dann auch Andere hierin irre führen. Endlich verdient noch, in den von uns ange - fochtenen fremden Meynungen, große Aufmerkſamkeit ein Verhältniß derſelben, das ſich als relative Wahr - heit bezeichnen läßt. Nicht ſelten nämlich werden wir in einer Meynung, die wir als entſchiedenen Irrthum verwerfen müſſen, dennoch ein wahres Element erken - nen, welches nur durch verkehrte Behandlung oder ein - ſeitige Übertreibung in Irrthum umgewandelt worden iſt; namentlich gilt dieſes von den vielen Fällen, worin der Irrthum nur darin beſteht, daß das Concrete zuc*XXXVIVorrede.allgemein, oder das wahrhaft Allgemeine zu concret aufgefaßt wird. Die Ausſcheidung und Anerkennung eines ſolchen wahren Elements in der von uns als irrig bekämpften Meynung kann für die Wiſſenſchaft von großem Werth ſeyn; ſie iſt vorzugsweiſe geeignet, un - ter unbefangenen, wahrheitsliebenden Gegnern eine Ver - ſtändigung herbey zu führen, und ſo den Streit zur reinſten, befriedigendſten Entſcheidung zu bringen, in - dem die Gegenſätze in einer höheren Einheit aufge - löſt werden.

Die Form, worin die hier dargelegten Zwecke ver - folgt werden ſollen, iſt die ſyſtematiſche, und da das Weſen derſelben nicht von Allen auf gleiche Weiſe auf - gefaßt wird, ſo iſt es nöthig, eine allgemeine Erklärung hierüber gleich an dieſer Stelle nieder zu legen. Ich ſetze das Weſen der ſyſtematiſchen Methode in die Er - kenntniß und Darſtellung des inneren Zuſammenhangs oder der Verwandtſchaft, wodurch die einzelnen Rechts - begriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit ver - bunden werden. Solche Verwandtſchaften nun ſind erſt - lich oft verborgen, und ihre Entdeckung wird dann un - ſre Einſicht bereichern. Sie ſind ferner ſehr mannich - faltig, und je mehr es uns gelingt, bey einem Rechts - inſtitut deſſen Verwandtſchaften nach verſchiedenen Sei -XXXVIIVorrede.ten hin zu entdecken und zu verfolgen, deſto vollſtändi - ger wird unſre Einſicht werden. Endlich giebt es auch nicht ſelten einen täuſchenden Schein von Verwandt - ſchaft, wo eine ſolche in der That nicht vorhanden iſt, und dann beſteht unſre Aufgabe in der Vernichtung die - ſes Scheins. Natürlich wird auch die äußere Anord - nung eines ſyſtematiſchen Werks durch jenen inneren Zuſammenhang, der ſich in ihr abzuſpiegeln hat, be - ſtimmt werden, und nicht ſelten iſt es dieſe allein, woran man zu denken pflegt, wenn von ſyſtematiſcher Behand - lung die Rede iſt. Dabey iſt jedoch gegen manche Mis - verſtändniſſe zu warnen. In der reichen, lebendigen Wirklichkeit bilden alle Rechtsverhältniſſe Ein organi - ſches Ganze, wir aber ſind genöthigt, ihre Beſtandtheile zu vereinzeln, um ſie ſucceſſiv in unſer Bewußtſeyn auf - zunehmen und Anderen mitzutheilen. Die Ordnung, in die wir ſie ſtellen, kann alſo nur durch diejenige Ver - wandtſchaft beſtimmt werden, die wir gerade als die überwiegende erkennen, und jede andere in der Wirk - lichkeit vorhandene Verwandtſchaft kann nur in abge - ſonderter Darſtellung daneben bemerklich gemacht wer - den. Hierin nun iſt eine gewiſſe Duldſamkeit zu for - dern, ja ſelbſt einiger Spielraum für den ſubjectiven Bildungsgang des Schriftſtellers, der ihn vielleicht be -XXXVIIIVorrede.ſtimmt, eine gewiſſe Betrachtungsweiſe beſonders her - vorzuheben, die er dann aber auch vorzugsweiſe frucht - bar zu machen im Stande ſeyn wird.

Viele fordern von einer ſyſtematiſchen Darſtellung, daß in derſelben Nichts vorkomme, was nicht in dem Vorhergehenden ſeine vollſtändige Begründung gefun - den habe, daß alſo auf keine Weiſe in den Inhalt ſpä - ter folgender Theile hinüber gegriffen werde. Dieſen muß das vorliegende Werk den größten Anſtoß erre - gen, da ich jene Forderung, für ein Werk wie dieſes, nicht einmal als ein annäherungsweiſe zu befolgendes Geſetz anerkennen kann. Bey jener Forderung liegt zum Grunde die Vorausſetzung, daß dem Leſer der Stoff fremd ſey und jetzt erſt bekannt werden ſolle, und darum iſt ſie auch richtig, wenn ſie für die Einrichtung des er - ſten Unterrichts aufgeſtellt wird. Allein nicht leicht wird Jemand auf den Gedanken kommen, durch ein ausführ - liches Werk, wie das gegenwärtige, die Rechtswiſſen - ſchaft zuerſt erlernen zu wollen. Vielmehr werden es Diejenigen, denen der Stoff aus Vorleſungen und ande - ren Büchern bekannt iſt, dazu benutzen, die ſchon er - worbene Kenntniß zu prüfen, zu reinigen, tiefer zu be - gründen, zu erweitern. Dieſen aber kann wohl auf je - dem Punkte der Darſtellung angemuthet werden, DasXXXIXVorrede.nas ſie ſchon wiſſen in ihr Bewußtſeyn zurück zu ru - fen, auch wenn es in dieſem Werk erſt ſpäter für ſich dargeſtellt wird. Will man dieſes Verfahren vermei - den, ſo iſt man genöthigt, die Darſtellung der wich - tigſten und fruchtbarſten Verwandtſchaften der Rechts - inſtitute entweder ganz aufzugeben, oder doch an ſolche Stellen zu verlegen, an welchen ſie weit weniger an - ſchaulich und wirkſam werden muß. Wird daher nur in der That der Vortheil lebendiger Anſchaulichkeit durch die gewählte Anordnung erreicht, ſo bedarf dieſe Wahl einer anderen Rechtfertigung nicht. Diejenigen aber, die ſich durch dieſe Gründe nicht beſtimmen laſſen möch - ten, den erwähnten Tadel aufzugeben, ſind daran zu er - innern, daß ſie ſich in ausführlichen Monographieen eine Menge von Vorausſetzungen gefallen laſſen, die in dem - ſelben Buch nicht ihre Begründung finden. Warum ſollte nun der Verfaſſer eines umfaſſenden Syſtems hierin geringeres Recht haben, als der Verfaſſer einer Monographie?

Indem aber hier, zur Beſeitigung eines vorauszu - ſehenden Einwurfs, der Monographieen gedacht worden iſt, die um ſo wichtiger ſind, als in ihnen in neuerer Zeit der wichtigſte Fortſchritt unſrer Wiſſenſchaft zu ſu - chen iſt, muß zugleich einem Misverſtändniß begegnetXLVorrede.werden, welches über das Verhältniß dieſer Art von Arbeiten zu einem umfaſſenden Rechtsſyſtem bey Man - chen wahrgenommen wird. Dieſe denken ſich nämlich jede Monographie ſo, als wäre ſie ein einzelner Ab - ſchnitt, aus dem Ganzen eines Syſtems zufällig beſon - ders bearbeitet und herausgegeben; nach dieſer Anſicht bedürfte es nur einer hinreichenden Anzahl guter Mo - nographieen, um durch Zuſammenfügen derſelben ein befriedigendes Syſtem zu erbauen. Der weſentliche Un - terſchied beſteht aber darin, daß in der Monographie der Standpunkt eines einzelnen Rechtsinſtituts willkühr - lich gewählt wird, um von dieſem aus die Beziehungen zu dem Ganzen zu erkennen; hierdurch aber wird die Auswahl und die Anordnung des Stoffs eine ganz an - dere, als da wo daſſelbe Rechtsinſtitut im Zuſammen - hang eines vollſtändigen Rechtsſyſtems darzuſtellen iſt. Ich habe dieſe Bemerkung auch deswegen nöthig ge - funden, um es voraus zu erklären und zu rechtfertigen, wenn die Lehre vom Beſitz in dem vorliegenden Werk eine ganz andere Geſtalt haben wird, als in dem Buch, worin ich dieſelbe früher abgeſondert dargeſtellt habe.

Neben dem Syſtem ſelbſt finden ſich in dieſem Werk abgeſonderte Unterſuchungen unter dem Namen von Beylagen; dieſe Einrichtung habe ich aus verſchiedenenXLIVorrede.Gründen nöthig gefunden. Zuweilen fordert eine ein - zelne Frage eine ſo ausgedehnte Unterſuchung, daß da - durch im Laufe des Syſtems das richtige Maaß weit überſchritten, alſo der natürliche Zuſammenhang geſtört werden würde. In anderen Fällen greift ein Rechts - begriff ſo gleichmäßig in ganz verſchiedene Theile des Syſtems ein, daß nur eine abgeſonderte Darſtellung zu einer erſchöpfenden Behandlung des Gegenſtandes führen kann; dieſes gilt namentlich von einer ausführ - lichen Beylage, worin die Lehre vom Irrthum abge - handelt werden wird (Beylage VIII). Endlich liegen zwar antiquariſche Unterſuchungen ganz außer dem Plane des Werks; zuweilen aber ſind dieſelben mit Inſtituten des neueſten Rechts ſo verwebt, daß dieſe nicht vollſtän - dig zur Anſchauung gebracht werden könnten, wenn nicht jenen ihre beſcheidene Stelle in einer Beylage einge - räumt würde. Eine ganz ſichere Gränze zu ziehen zwiſchen dem Stoff, der dem Syſtem, und dem welcher den Beylagen zugetheilt werden ſoll, iſt unmöglich, und es wird vielleicht Mancher wünſchen, daß hier und dort etwas Mehr oder Weniger, als geſchehen iſt, in die Bey - lagen verwieſen ſeyn möchte. Allein auch bey dieſer Frage mag der individuellen Freyheit ein etwas weiter Spielraum ohne Gefahr zugeſtanden werden.

XLIIVorrede.

In früheren Zeiten pflegte man wohl bey der Dar - ſtellung der einzelnen Rechtsinſtitute eine ganz gleichför - mige Weiſe anzuwenden, wozu vorzugsweiſe gehörte, daß der Darſtellung des Begriffs eine vollſtändige Angabe aller möglichen Eintheilungen deſſelben folgen mußte. Manche neuere Schriftſteller haben dieſe Ein - richtung als unbehülflich und unnütz verworfen, und ſich darauf beſchränkt, Eintheilungen da bemerklich zu ma - chen, wo ſie durch die Aufſtellung einzelner Rechtsregeln herbeygeführt werden. Als allgemeine Maxime kann ich weder das eine noch das andere Verfahren billigen, indem ich hierin jede mechaniſche Gleichförmigkeit ver - werflich finde, ſie mag in Thun oder Laſſen beſtehen. Jede Form iſt gut und räthlich, deren Anwendung die klare, gründliche Einſicht in ein Rechtsinſtitut fördert, und man ſoll daher in jedem einzelnen Falle dasjenige thun, was die eigenthümliche Natur deſſelben erfordert. Wo alſo der Begriff eines Rechtsinſtituts Gegenſätze in ſich ſchließt, die in das Weſen deſſelben tief eingreifen, da kann es wohl zur freyen, vollſtändigen Handhabung des Begriffs nöthig werden, der allgemeinen Angabe deſſelben ſogleich die Eintheilungen beyzufügen, worin jene Gegenſätze ihren Ausdruck finden.

Beſondere Sorgfalt wird in dem vorliegenden WerkXLIIIVorrede.auf die genaue Feſtſtellung des quellenmäßigen Sprach - gebrauchs verwendet werden, und es iſt nöthig dieſe zu rechtfertigen, da Manche glauben, daß in neuerer Zeit auf dieſen Gegenſtand ein übertriebenes Gewicht gelegt werde. Die Wichtigkeit deſſelben beruht aber darauf, daß zwiſchen dem unächten Sprachgebrauch, und der irrigen Conſtruction oder Verbindung von Begriffen, eine unverkennbare und gefährliche Wechſelwirkung be - ſteht. Denn wenn auf der einen Seite der falſche Sprachgebrauch Product und Kennzeichen des irrigen Begriffs iſt, ſo wird hinwiederum dieſer durch jenen be - feſtigt, erweitert, fortgepflanzt. Iſt nun aber durch Auf - deckung der unächten Terminologie dieſe Quelle des Irrthums zerſtört, dann dürfen wir uns auch nicht ab - halten laſſen, neu gebildete Kunſtausdrücke zu gebrau - chen, da wo der Sprachgebrauch der Quellen nicht aus - reichend iſt, und in dieſer Hinſicht wird vielleicht von Manchen der Purismus zu weit getrieben. Nur die - jenigen unächten Ausdrücke wird es ſtets gerathen ſeyn zu vermeiden, die ſich durch ihre Verbindung mit fal - ſchen Begriffen in der That ſchon gefährlich erwie - ſen haben.

Über die Art, wie die Quellen in dieſem Werk be - nutzt werden, giebt zwar ein beſonderes Kapitel deſſel -XLIVVorrede.ben (§ 32 52) Aufſchluß; dennoch werden auch ſchon hier einige allgemeine Erklärungen nicht am unrechten Orte ſtehen. Oft ſind die Juriſten darüber verſpottet worden, daß ſie ſich in ihren Quellencitaten eine große Verſchwendung zu Schuld kommen laſſen, indem ſie mit zahlreichen Stellen auch dasjenige zu beweiſen ſuchen, was ihnen ohnehin Jeder glaubt. Nimmt man frey - lich ſolche Citate als bloße Vertheidigungsanſtalten ge - gen gar nicht vorhandene Zweifel und Widerſprüche, ſo könnte dieſer Tadel einigen Grund haben. Allein es giebt dafür noch eine andere, gewiſſermaßen umge - kehrte, Anſicht. Hat nämlich die oben aufgeſtellte Be - hauptung Grund, daß wir aus der rechten Betrachtung der alten Juriſten für unſer eigenes juriſtiſches Denken eine Belebung und Bereicherung gewinnen können, wie ſie uns anderwärts nicht dargeboten wird, und iſt zu - gleich dieſe rechte Betrachtung nicht ohne eigenthümliche Schwierigkeiten, ſo muß uns eine planmäßige Anleitung zu derſelben willkommen ſeyn. Zu einer ſolchen Anlei - tung nun ſoll das vorliegende Werk dienen; von die - ſem Geſichtspunkt aus erſcheinen die aus den Quellen citirten Stellen nicht blos als Beweiſe der in dem Sy - ſtem aufgeſtellten Sätze, ſondern dieſe Sätze werden zu - gleich Einleitung und Commentar zu den citirten Stel -XLVVorrede.len, die in dieſer Auswahl, in dieſer Anordnung, in die - ſer Verbindung mit der in dem Syſtem enthaltenen Darſtellung, unſrer Denkweiſe näher gebracht, und da - durch zugänglicher für uns werden ſollen. Nicht ſel - ten findet es ſich, daß Zwey gleich ſorgfältige Forſcher, indem ſie ganz daſſelbe Material verarbeiten, dennoch zu ſehr verſchiedenen Reſultaten geführt werden. Dieſe Verſchiedenheit wird meiſt davon abhängen, welche Stel - len gerade zum Mittelpunkt der ganzen Unterſuchung erhoben, welche als untergeordnet mit jenen in Verbin - dung gebracht werden; ein Fehlgriff in dieſer Sonde - rung kann der ganzen Arbeit eine falſche Richtung ge - ben. Hierin nun läßt ſich durch aufgeſtellte Regeln wenig Sicherheit gewinnen; das Studium trefflicher Muſter wird gute Dienſte leiſten, vorzüglich aber müſ - ſen wir durch eigene Übung den Takt zu gewinnen ſu - chen, der uns den rechten Weg finden lehrt.

Umgekehrt möchten Manche ihre Erwartung ge - täuſcht finden, indem ſie ein reichhaltigeres literariſches Material zu fordern geneigt wären, als ſich in dem vor - liegenden Werk finden wird. Ich habe abſichtlich nur ſolche Schriftſteller angeführt, die in Beziehung auf den oben dargelegten Plan des Werks in irgend einer Weiſe förderlich ſeyn können, wäre es auch nur indem ſie wie -XLVIVorrede.der auf andere Schriftſteller zu weiterer Nachforſchung verweiſen; keinesweges alſo habe ich nach einer mate - riellen Vollſtändigkeit in der Angabe aller einen Ge - genſtand behandelnden Schriften geſtrebt, auch wenn ſie uns keinen namhaften Gewinn darbieten, in welchem Fall es uns ja der Leſer wenig Dank weiß, wenn wir ihn durch Anführung ſolcher Schriften verleiten, ſeine Zeit an eine unfruchtbare Bekanntſchaft zu verſchwen - den. Wäre ich in jüngeren Jahren zu dieſer Unterneh - mung, gekommen, ſo würde ich eine erſchöpfende Be - nutzung der juriſtiſchen Literatur in ganz anderem Sinn verſucht haben. Wir finden in derſelben zwey große, ſchwer zu bewältigende, Maſſen, aus welchen allerdings noch mancher Gewinn zu ziehen ſeyn möchte; die eine beſteht in den Exegeten, von den Gloſſatoren an, und dann beſonders durch die Franzöſiſche Schule hindurch: die andere in den Praktikern, den Verfaſſern der zahl - loſen Conſilien, Reſponſen u. ſ. w., gleichfalls von den Gloſſatoren an gerechnet. Eine erſchöpfende Benutzung derſelben bey Abfaſſung eines Rechtsſyſtems, ſo wie ich ſie meyne, würde darin beſtehen, daß dieſe Schriftſteller vollſtändig durchgeleſen würden mit beſonderer Rückſicht auf dieſes Syſtem, das heißt um daſſelbe durch ſie zu prüfen, zu berichtigen, zu ergänzen, wodurch unzweifel -XLVIIVorrede.haft ſehr Vieles im Einzelnen, weniger im Großen und Ganzen, gewonnen werden möchte. Jetzt, da ich am Abend meines Lebens dieſes Werk anfange, wäre es Thorheit an einen ſolchen Plan zu denken. Wer aber etwa dem Werk einen bleibenden Werth beylegen möchte, könnte ſich ein weſentliches Verdienſt um daſſelbe erwer - ben, wenn er die hier bezeichnete literariſche Vervollſtän - digung unternehmen wollte. Es liegt nichts Abentheuer - liches in dieſem Vorſchlag, da derſelbe ganz allmälig und ſtückweiſe zur Ausführung gebracht werden könnte; etwa indem die Schriftſteller eines beſchränkten Zeitraums, ja ſogar einzelne Werke, zu dem angegebenen Zweck durchgeleſen würden. Vielleicht wird auch im Ein - gang des Werks eine allgemeine Zuſammenſtellung der für das Studium unſres Rechtsſyſtems brauchbaren und empfehlungswerthen Schriften vermißt werden. Es ſcheint mir aber zweckmäßiger, dieſes allerdings erhebliche Bedürfniß durch abgeſonderte bibliographiſche Schriften zu befriedigen; eben ſo wie die hiſtoriſche Zuſammen - ſtellung unſrer einzelnen Rechtsquellen, ihrer Handſchrif - ten, und ihrer Ausgaben, beſſer in rechtsgeſchichtlichen Werken, als in dem Eingang eines Rechtsſyſtems un - ternommen wird, wo die Grundlage und der Zuſammen - hang für eine befriedigende Mittheilung dieſer Art fehlt.

XLVIIIVorrede.

Der Stoff zu dem vorliegenden Werk iſt allmälig in Vorleſungen geſammelt und verarbeitet worden, die der Verfaſſer gerade ſeit dem Anfang des Jahrhunderts über das Römiſche Recht gehalten hat. Allein in der Geſtalt, in welcher es hier vorliegt, iſt es dennoch eine völlig neue Arbeit, wozu jene Vorleſungen nur als Vor - bereitung benutzt werden konnten. Denn Vorleſungen ſind für Unkundige beſtimmt; ſie ſollen Denſelben neue, fremde Gegenſtände zum Bewußtſeyn bringen, indem ſie dieſe Mittheilung an andere Kenntniſſe der Zuhörer, und an die allgemeine Bildung derſelben, anzuknüpfen ſuchen. Der Schriftſteller dagegen arbeitet für die Kun - digen; er ſetzt bey ihnen den Beſitz der Wiſſenſchaft in ihrer gegenwärtigen Geſtalt voraus, knüpft ſeine Mit - theilung an dieſen Beſitz an, und fordert ſie auf, Das was ſie wiſſen, gemeinſchaftlich mit ihm, von Neuem zu durchdenken, damit ſie ihren Beſitz reinigen, ſichern, er - weitern. So unläugbar nun dieſer Gegenſatz beider Formen der Mittheilung iſt, ſo ſind doch auch Über - gänge nicht nur denkbar, ſondern unverwerflich. Auch der Schriftſteller kann zuweilen den Stoff auf ſolche Weiſe behandeln, daß er unvermerkt, gemeinſchaftlich mit dem Leſer, auf die Anfänge wiſſenſchaftlicher Be - griffe zurückgeht, und ſie ſo vor ſeinen Augen gleichſamXLIXVorrede.neu entſtehen läßt. Nicht ſelten wird ein ſolches Ver - fahren zur Läuterung der Begriffe und Grundſätze, nachdem ſie von Anderen mit Willkühr behandelt und entſtellt worden ſind, gute Dienſte thun; Neigung und Fähigkeit dazu wird ſich vorzugsweiſe finden, wenn der Verfaſſer den Stoff, welchen er jetzt als Schriftſteller bearbeitet, oft in Vorleſungen zu behandeln Veranlaſ - ſung gehabt hat. Der Plan zu dem Werk in ſeiner hier vorliegenden Geſtalt iſt im Frühjahr 1835 ent - worfen worden; im Herbſt deſſelben Jahres wurde die Ausarbeitung begonnen, und bey dem Anfang des Drucks waren die Vier Kapitel des erſten Buchs, und die Drey erſten Kapitel des zweyten zu Ende gebracht.

Indem ich jetzt dieſes Werk hinaus ſende, kann ich den Gedanken an die Schickſale, die ihm bevorſtehen, nicht unterdrücken. Gutes und Böſes wird ihm wi - derfahren wie jedem menſchlichen Streben und Wirken. Gar Manche werden mir ſagen, wie mangelhaft es ſey; aber Keiner kann deſſen Mängel vollſtändiger einſehen und lebhafter empfinden als ich. Jetzt, da ein anſehn - licher Theil fertig vor mir liegt, möchte ich, daß ſo Manches erſchöpfender, anſchaulicher, alſo anders gera - then wäre. Sollte uns eine ſolche Erkenntniß den Muth lähmen, den der Entſchluß zu jeder weitausſehenden Un -dLVorrede.ternehmung fordert? Beruhigen kann neben jener Selbſt - erkenntniß die Betrachtung, daß die Wahrheit nicht blos gefördert wird, indem wir ſie unmittelbar erkennen und ausſprechen, ſondern auch indem wir den Weg dazu zei - gen und bahnen, indem wir die Fragen und Aufgaben feſt ſtellen, auf deren Löſung aller Erfolg beruht; dann helfen wir Anderen, an das Ziel zu gelangen, welches zu erreichen uns nicht gewährt wurde. So beruhigt mich auch jetzt das Selbſtvertrauen, daß das vorliegende Werk fruchtbare Keime der Wahrheit enthalten mag, die vielleicht erſt in Anderen ihre volle Entwicklung fin - den, und zu reifen Früchten gedeihen werden. Wenn dann über der neuen, reicheren Entfaltung die gegen - wärtige Arbeit, die dazu den Keim darbot, in den Hin - tergrund tritt, ja vergeſſen wird, ſo liegt daran wenig. Das einzelne Werk iſt ſo vergänglich, wie der einzelne Menſch in ſeiner ſichtbaren Erſcheinung; aber unver - gänglich iſt der durch die Lebensalter der Einzelnen fort - ſchreitende Gedanke, der uns Alle, die wir mit Ernſt und Liebe arbeiten, zu einer großen, bleibenden Gemein - ſchaft verbindet, und worin jeder, auch der geringe, Beytrag des Einzelnen ſein dauerndes Leben findet.

Geſchrieben im September 1839.

[1]

Erſtes Buch. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.

Erſtes Kapitel. Aufgabe dieſes Werks.

§. 1. Heutiges Römiſches Recht.

Der Theil der Rechtswiſſenſchaft, deſſen Darſtellung in dieſem Werk unternommen wird, iſt als das heutige Römiſche Recht bezeichnet worden. Dieſe beſondere Aufgabe ſoll zunächſt genauer, als es in einer bloßen Überſchrift geſchehen konnte, in folgenden Gegenſätzen be - ſtimmt werden.

1. Es iſt Römiſches Recht, welches in dieſem Werk dargeſtellt werden ſoll. Zur Aufgabe deſſelben gehören alſo nur diejenigen Rechtsinſtitute, welche Römiſchen Ur - ſprung haben, jedoch mit Einſchluß ihrer ſpäteren Fort - bildung, wenngleich dieſe auf einen andern als Römiſchen Urſprung zurück zu führen iſt. Ausgeſchloſſen ſind dadurch alle Inſtitute, welchen ein Germaniſcher Urſprung zuge - ſchrieben werden muß.

2. Es iſt heutiges Römiſches Recht. Dadurch wird ausgeſchloſſen: erſtens die Geſchichte der Rechtsin -12Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.ſtitute als ſolche; zweytens jede einzelne, dem früheren Recht angehörende, dem Juſtinianiſchen fremde, Beſtim - mung, da nur dieſe neueſte Geſtalt des Römiſchen Rechts mit unſrem heutigen Rechtszuſtand in Verbindung getre - ten iſt; drittens jedes Inſtitut, welches zwar dem Juſti - nianiſchen Recht angehört, aber aus unſrem Rechtszu - ſtand verſchwunden iſt.

3. Nur das Privatrecht gehört zu unſrer Aufgabe, nicht das öffentliche Recht: alſo dasjenige, was die - mer durch jus civile (in einer der vielen Bedeutungen dieſes Ausdrucks) bezeichnen, oder das, was ſie zur Zeit der Republik als die ausſchließende Kenntniß eines Juris - consultus, oder die eigentliche jurisprudentia, anſahen(a)So ſetzt Cicero ſich ſelbſt ſehr beſtimmt den Juriſten ent - gegen, aber er war weit entfernt zu glauben, daß er oder ein an - derer Staatsmann weniger als ein Juriſt von der Verfaſſung, vom jus sacrum u. ſ. w. wiſſen müſſe. Ulpian freilich giebt der jurisprudentia eine viel weitere Ausdehnung (L. 10. §. 2. D. de J. et J.); das liegt aber nicht blos an der Ungenauigkeit ſeiner Erklärung, noch weniger an einer übertriebenen Erhebung ſeiner Wiſſenſchaft, ſondern an der in ſeiner Zeit ſehr veränderten Stel - lung des Juriſten und des Staats - manns überhaupt.. Dieſe Beſchränkung iſt jedoch zum Theil ſchon als eine Folge der vorhergehenden anzuſehen, indem nur das Pri - vatrecht der Römer im Ganzen ein Stück unſres Rechts - zuſtandes geworden iſt. Zwar iſt auch das Römiſche Criminalrecht unſrem Rechtszuſtand nicht fremd geblie - ben: allein es iſt doch nur theilweiſe, und ungleich weni - ger als das Privatrecht, in denſelben übergegangen.

3§. 1. Heutiges Römiſches Recht.

4. Endlich nur das Syſtem der Rechte ſelbſt, mit Ausſchluß des Prozeſſes, oder der zur Rechtsverfolgung beſtimmten Anſtalten: alſo nur dasjenige, was von Vie - len das materielle Privatrecht genannt wird. Denn der Prozeß hat ſich durch die Miſchung hiſtoriſch verſchiede - ner Quellen auf ſo eigenthümliche Weiſe ausgebildet, daß eine abgeſonderte Behandlung deſſelben nothwendig ge - worden iſt, anſtatt daß die Römiſchen Juriſten die unmit - telbare Verbindung deſſelben mit der Theorie des mate - riellen Rechts nicht nur für möglich, ſondern für zweck - mäßig halten durften. Was nun die Gränze unſrer Aufgabe nach dieſer Seite hin betrifft, ſo iſt dieſelbe zwar dem Grundſatz nach nicht zweifelhaft, in der Anwendung aber wird ſie häufig verkannt, hauptſächlich deshalb, weil ein und daſſelbe Inſtitut in der That beiden Ge - bieten angehören kann. So z. B. gehört das richterliche Urtheil, nach ſeiner Form und ſeinen Bedingungen, in den Prozeß: dagegen hat es, ſobald es rechtskräftig iſt, zweyerley Wirkungen: die aus einer res judicata ent - ſpringende actio und exceptio (die in das Syſtem der Rechte ſelbſt gehören), und die Exſecution, die eine reine Prozeßlehre iſt.

Werden dieſe Beſchränkungen unter einen gemeinſa - men Geſichtspunkt zuſammengefaßt, ſo beſtimmen ſie das Römiſche Recht genau in dem Sinn, in welchem es für einen großen Theil von Europa gemeines Recht ge - worden iſt.

1*4Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.

§. 2. Gemeines Recht in Deutſchland.

Mit dem im § 1. feſtgeſtellten Begriff des heutigen Römiſchen Rechts iſt nahe verwandt der Begriff des in Deutſchland geltenden gemeinen Rechts. Dieſer ſteht in Verbindung mit der eigenthümlichen Verfaſſung des deutſchen Reichs, deſſen einzelne Staaten unter der ge - meinſamen Staatsgewalt des Reichs vereinigt waren. So ſtand jeder Theil von Deutſchland unter einer zwie - fachen Staatsgewalt, und unter dem Einfluß derſelben hatte ſich überall ein zwiefaches poſitives Recht gebildet, Territorialrecht und gemeines Recht. Bey der Auflö - ſung des Deutſchen Reichs behaupteten nun manche Schrift - ſteller, daß das gemeine Recht mit ſeiner Baſis, der Reichsſtaatsgewalt, auch ſeine Geltung verloren habe. Dieſe Meynung, entſtanden aus einem Misverſtändniß über die Natur des poſitiven Rechts, iſt indeſſen ganz ohne Einfluß auf den wirklichen Rechtszuſtand geblieben(a)Jene gehen von der irri - gen Anſicht aus, als müſſe mit der Auflöſung einer Staatsgewalt auch alles durch ſie oder unter ihrem Einfluß Gebildete mit auf - hören. Ein ganz ähnlicher Fall findet ſich bei der Zerſtörung des weſtlichen Römiſchen Reiches. Auch hier behaupten Viele, das Römiſche Recht habe durch die Eroberung verſchwinden müſſen, und es ſey auch wirklich ver - ſchwunden. Wenigſtens dieſe facti - ſche Behauptung dürfte wohl jetzt nicht leicht mehr Vertheidiger finden..

Es iſt nun das hier genannte gemeine Recht kein anderes, als jenes heutige Römiſche Recht, nur in der beſondern Anwendung auf das Deutſche Reich, alſo mit5§. 3. Gränzen der Aufgabe.den dadurch beſtimmten beſonderen Modificationen. Dieſe Modificationen aber ſind faſt nur in den Reichsgeſetzen enthalten, und von geringer Erheblichkeit. Denn alle wichtige Abweichungen vom reinen Römiſchen Recht, wie z. B. die Klagbarkeit aller Verträge ohne Stipulation, die ausgedehntere Wichtigkeit der bona fides, ſind niemals dem Deutſchen Reich eigenthümlich geweſen, ſondern überall gleichmäßig anerkannt worden, ſo weit im neueren Eu - ropa Römiſches Recht Anwendung gefunden hat.

Daher wird denn auch eine Darſtellung des heutigen Römiſchen Rechts, wozu dieſes Werk zunächſt beſtimmt iſt, nur weniger Zuſätze bedürfen, um zugleich als Darſtellung des gemeinen Rechts für Deutſchland gelten zu können.

§. 3. Gränzen der Aufgabe.

Durch die feſtgeſtellten Gränzen unſrer Aufgabe iſt jedes außer derſelben liegende Gebiet als ihr fremd be - zeichnet. In dieſer Beziehung hat die Darſtellung zwey entgegengeſetzte Fehler zu vermeiden. Der eine beſteht in willkührlicher Ueberſchreitung derſelben, aus Vorliebe bald für ein nahe liegendes Fach überhaupt, bald für eine ein - zelne derſelben angehörende Unterſuchung; der andere in ängſtlicher Beobachtung der Gränzen, da wo eine Ueber - ſchreitung unvermeidlich iſt, wenn nicht die Gründlichkeit der eigenen Forſchung oder die Klarheit der Darſtellung leiden ſoll(a)So wird es z. B. nöthig, von mancher Lehre auch antiquirte. Dieſe letzte Rückſicht macht zugleich von6Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.Seiten des Leſers eine gewiſſe Duldſamkeit wünſchens - werth, da hier das rechte Maaß mehr durch Takt als nach feſten Regeln getroffen wird, der ſubjectiven Anſicht alſo einiger Spielraum nicht verſagt werden kann.

Insbeſondere wird aber gar Manches aufzunehmen ſeyn, was zu den gemeinſamen Grundlehren eines jeden poſitiven Rechts gehört, alſo dem Römiſchen Recht nicht gerade eigenthümlich iſt. Für dieſe Aufnahme ſpricht nicht blos der bisherige Gebrauch, beſonders in den Pandekten - vorleſungen der Deutſchen Univerſitäten: nicht blos die beſondere Geſtalt, die das Römiſche Recht auch manchem Theil dieſer Lehren gegeben, und der Einfluß, den es hierin auf andere Geſetzgebungen ausgeübt hat: ſondern vorzüglich die Rückſicht, daß das Römiſche Recht durch ſeine Schickſale mehr als jedes andere poſitive Recht einen allgemeinen Character angenommen hat, welcher ſich zu einer befriedigenden Behandlung jener Grundlehren vor - zugsweiſe eignet.

Zweytes Kapitel. Allgemeine Natur der Rechtsquellen.

§. 4. Rechtsverhältniß.

Für das heutige Römiſche Recht haben wir die Grund - lage zu ſuchen in der Feſtſtellung der ihm angehörenden(a)Theile darzuſtellen, wegen der nothwendigen Rückſicht auf das dadurch bedingte Verhältniß der Rechtsquellen.7§. 4. Rechtsverhältniß.Rechtsquellen. Damit dieſes mit Erfolg geſchehen könne, iſt eine allgemeinere Unterſuchung über die Natur der Rechtsquellen überhaupt nöthig.

Betrachten wir den Rechtszuſtand, ſo wie er uns im wirklichen Leben von allen Seiten umgiebt und durch - dringt, ſo erſcheint uns darin zunächſt die der einzelnen Perſon zuſtehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrſcht, und mit unſrer Einſtimmung herrſcht. Dieſe Macht nennen wir ein Recht dieſer Perſon, gleichbedeu - tend mit Befugniß: Manche nennen es das Recht im ſub - jectiven Sinn. Ein ſolches Recht erſcheint vorzugsweiſe in ſichtbarer Geſtalt, wenn es bezweifelt oder beſtritten, und nun das Daſeyn und der Umfang deſſelben durch ein richterliches Urtheil anerkannt wird. Allein die ge - nauere Betrachtung überzeugt uns, daß dieſe logiſche Form eines Urtheils nur durch das zufällige Bedürfniß hervor - gerufen iſt, und daß ſie das Weſen der Sache nicht er - ſchöpft, ſondern ſelbſt einer tieferen Grundlage bedarf. Dieſe nun finden wir in dem Rechtsverhältniß, von welchem jedes einzelne Recht nur eine beſondere, durch Abſtraction ausgeſchiedene Seite darſtellt, ſo daß ſelbſt das Urtheil über das einzelne Recht nur inſofern wahr und überzeugend ſeyn kann, als es von der Geſammtan - ſchauung des Rechtsverhältniſſes ausgeht. Das Rechts - verhältniß aber hat eine organiſche Natur, und dieſe offen - bart ſich theils in dem Zuſammenhang ſeiner ſich gegen - ſeitig tragenden und bedingenden Beſtandtheile, theils in8Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.der fortſchreitenden Entwicklung, die wir in demſelben wahrnehmen, in der Art ſeines Entſtehens und Verge - hens. Dieſe lebendige Conſtruction des Rechtsverhältniſ - ſes in jedem gegebenen Fall iſt das geiſtige Element der juriſtiſchen Praxis, und unterſcheidet ihren edlen Beruf von dem bloßen Mechanismus, den ſo viele Unkundige darin ſehen. Damit dieſer wichtige Punkt nicht blos im Allgemeinen verſtanden werde, ſondern auch nach dem ganzen Reichthum ſeines Inhalts zur Anſchauung komme, mag es nicht überflüſſig ſeyn, ihn durch ein Beyſpiel zu erläutern. Die berühmte L. Frater a fratre behandelt folgenden Rechtsfall. Zwey Brüder ſtehen in der Gewalt ihres Vaters. Einer giebt dem Andern ein Darlehen. Der Empfänger zahlt dieſes nach des Vaters Tod zurück, und es fragt ſich, ob er dieſes gezahlte Geld, als irrig gezahlt, wieder fordern könne. Hier hat der Richter lediglich über die Frage zu urtheilen, ob die condictio indebiti begründet iſt oder nicht. Aber um dieſes zu kön - nen, muß ihm die Geſammtanſchauung des Rechtsver - hältniſſes gegenwärtig ſeyn. Deſſen einzelne Elemente waren: die väterliche Gewalt über beide Brüder, ein Darlehen des Einen an den Andern, ein Peculium, welches der Schuldner vom Vater erhalten hatte. Die - ſes zuſammengeſetzte Rechtsverhältniß hat ſich fortſchrei - tend entwickelt durch des Vaters Tod, deſſen Beerbung, die Rückzahlung des Darlehns. Aus dieſen Elementen ſoll das vom Richter begehrte einzelne Urtheil hervorgehen.

9§. 5. Rechtsinſtitut.

§. 5. Rechtsinſtitut.

Das Urtheil über das einzelne Recht iſt nur möglich durch Beziehung der beſonderen Thatſachen auf eine all - gemeine Regel, von welcher die einzelnen Rechte beherrſcht werden. Dieſe Regel nennen wir das Recht ſchlecht - hin, oder das allgemeine Recht: Manche nennen ſie das Recht im objectiven Sinn. Sie erſcheint in ſichtbarer Geſtalt beſonders in dem Geſetz, welches ein Ausſpruch der höchſten Gewalt im Staate über die Rechtsregel iſt.

So wie aber das Urtheil über einen einzelnen Rechts - ſtreit nur eine beſchränkte und abhängige Natur hat, und erſt in der Anſchauung des Rechtsverhältniſſes ſeine lebendige Wurzel und ſeine überzeugende Kraft findet, auf gleiche Weiſe verhält es ſich mit der Rechtsregel. Denn auch die Rechtsregel, ſo wie deren Ausprägung im Geſetz, hat ihre tiefere Grundlage in der Anſchauung des Rechtsinſtituts, und auch deſſen organiſche Natur zeigt ſich ſowohl in dem lebendigen Zuſammenhang der Be - ſtandtheile, als in ſeiner fortſchreitenden Entwicklung. Wenn wir alſo nicht bey der unmittelbaren Erſcheinung ſtehen bleiben, ſondern auf das Weſen der Sache einge - hen, ſo erkennen wir, daß in der That jedes Rechtsver - hältniß unter einem entſprechenden Rechtsinſtitut, als ſei - nem Typus, ſteht, und von dieſem auf gleiche Weiſe be - herrſcht wird, wie das einzelne Rechtsurtheil von der10Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.Rechtsregel(a)Vergl. Stahl Philoſophie des Rechts II. 1. S. 165. 166.. Ja es iſt dieſe letzte Subſumtion abhän - gig von jener erſten, durch welche ſie ſelbſt erſt Wahr - heit und Leben erhalten kann. Zur Erläuterung ſoll auch hier der im vorigen §. angeführte Rechtsfall benutzt wer - den. Die darauf bezüglichen Rechtsinſtitute ſind: der Er - werb des Vaters durch die Kinder, das alte Peculium und insbeſondere die in demſelben geltende deductio, Über - gang der Forderungen auf die Erben, Confuſion der For - derungen und Schulden, die condictio indebiti. Für die Entwicklung des Gedankens liegt ein natürlicher Unter - ſchied darin, daß wir die Rechtsinſtitute zuerſt geſondert conſtruiren, und hinterher willkührlich combiniren können, anſtatt daß uns das Rechtsverhältniß durch die Lebens - ereigniſſe gegeben wird, alſo unmittelbar in ſeiner con - creten Zuſammenſetzung und Verwicklung erſcheint.

In fernerer Betrachtung aber erkennen wir, daß alle Rechtsinſtitute zu einem Syſtem verbunden beſtehen, und daß ſie nur in dem großen Zuſammenhang dieſes Sy - ſtems, in welchem wieder dieſelbe organiſche Natur er - ſcheint, vollſtändig begriffen werden können. So uner - meßlich nun der Abſtand zwiſchen einem beſchränkten ein - zelnen Rechtsverhältniß und dem Syſtem des poſitiven Rechts einer Nation ſeyn mag, ſo liegt doch die Verſchie - denheit nur in den Dimenſionen, dem Weſen nach ſind ſie nicht verſchieden, und auch das Verfahren des Geiſtes,11§. 6. Begriff der Rechtsquellen.welches zur Erkenntniß des einen und des andern führt, iſt weſentlich daſſelbe.

Hieraus folgt aber, wie nichtig es iſt, wenn in der Rechtswiſſenſchaft ſehr häufig Theorie und Praxis als ganz getrennt, ja entgegengeſetzt angeſehen werden. Ver - ſchieden iſt in ihnen der äußere Lebensberuf, verſchieden die Anwendung der erworbenen Rechtskenntniß: aber die Art und Richtung des Denkens, ſo wie die Bildung, die dahin führt, haben ſie gemein, und es wird das eine und das andere dieſer Geſchäfte nur von Demjenigen würdig vollbracht werden, welchem das Bewußtſeyn jener Iden - tität inwohnt(b)Dieſe Ueberzeugungen ſind bey dem Verfaſſer zuerſt durch die genauere Bekanntſchaft mit den gerade hierin großen Römi - ſchen Juriſten entſtanden, dann aber hauptſächlich durch die viel - jährige Beſchäftigung mit der ju - riſtiſchen Praxis entwickelt und befeſtigt worden..

§. 6. Begriff der Rechtsquellen.

Wir nennen Rechtsquellen die Entſtehungsgründe des allgemeinen Rechts, alſo ſowohl der Rechtsinſtitute, als der aus denſelben durch Abſtraction gebildeten einzel - nen Rechtsregeln. Dieſer Begriff hat eine zwiefache Ver - wandtſchaft, wodurch es nöthig wird, zweyerley Verwechs - lungen abzuwehren.

1. Auch die einzelnen Rechtsverhältniſſe haben ihre Entſtehungsgründe(a)Die allgemeine Lehre von dieſen Entſtehungsgründen iſt im dritten Kapitel des zweyten Buchs enthalten., und die Verwandtſchaft der Rechts -12Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.verhältniſſe mit den Rechtsinſtituten führt leicht zu einer Vermiſchung derſelben mit den Entſtehungsgründen der Rechtsregeln. Will man z. B. die Bedingungen irgend eines Rechtsverhältniſſes vollſtändig aufzählen, ſo gehört dazu unzweifelhaft ſowohl das Daſeyn einer Rechtsregel, als eine dieſer Regel entſprechende Thatſache, alſo z. B. ein Geſetz, welches die Verträge anerkennt, und ein ge - ſchloſſener Vertrag ſelbſt. Dennoch ſind dieſe beiden Be - dingungen ſpecifiſch verſchieden, und es führt auf Ver - wirrung der Begriffe, wenn man Verträge und Geſetze auf Eine Linie als Rechtsquellen ſtellt(b.)Dieſe Zuſammenſtellung findet ſich unter andern, der Neuern nicht zu gedenken, in mehreren Stellen des Cicero (ſ. u. §. 22. Note m.). Wie hier die Verträge mit Unrecht zu den Rechtsquellen hinaufgehoben wer - den, ſo werden anderwärts mit umgekehrter Verwirrung die Ge - ſetze in Eine Reihe mit den Ent - ſtehungsgründen der Rechtsver - hältniſſe heruntergezogen, um die falſche Lehre vom Titulus und modus adquirendi zu retten. Höpfner Commentar §. 293. Zu jenem erſten Irrthum hat viel beigetragen der vieldeutige Ausdruck Autonomie..

2. Eine andere, mehr durch den Namen begründete, Verwechslung iſt die der Rechtsquellen mit den geſchicht - lichen Quellen der Rechtswiſſenſchaft. Zu dieſen gehören alle Denkmäler, woraus wir die Kenntniß rechtswiſſen - ſchaftlicher Thatſachen ſchöpfen. Beide Begriffe ſind alſo von einander ganz unabhängig, und es iſt nur zufällig, wenn ſie auf irgend einem Punkte zuſammentreffen, ob - gleich dieſes Zuſammentreffen beſonders häufig und wich - tig iſt. So z. B. gehören Juſtinians Digeſten zu den Quellen in beiden Bedeutungen des Ausdrucks: die Lex13§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.Voconia gehört zu den Quellen des älteren Rechts, aber, da ſie verloren iſt, nicht unter die Quellen der Rechts - wiſſenſchaft: bey den Stellen alter Geſchichtsſchreiber oder Dichter, welche juriſtiſche Notizen enthalten, tritt der um - gekehrte Fall ein. Es iſt jedoch zu bemerken, daß in den allermeiſten Fällen, worin wir veranlaßt ſind von Rechtsquellen zu reden, beide Bedeutungen des Ausdrucks in der That zuſammentreffen, ſo daß die Gefahr einer Verwirrung der Begriffe durch die Zweydeutigkeit des Ausdrucks nicht groß iſt. So z. B. ſind die Beſtandtheile des Corpus Juris, als Geſetze von Juſtinian Rechtsquel - len für Juſtinians Reich, kraft ihrer Reception Rechts - quellen für uns, endlich als noch vorhandene Bücher Quellen unſrer Rechtswiſſenſchaft. Eben ſo ſind die Deut - ſchen Rechtsbücher des dreyzehnten und vierzehnten Jahr - hunderts Aufzeichnungen von Rechtsgewohnheiten, alſo von Rechtsquellen, als erhaltene Bücher Quellen der Rechts - wiſſenſchaft. Daher gebrauchen auch die meiſten Schrift - ſteller den Ausdruck, ohne ihren Leſern über deſſen ver - ſchiedene Beziehungen beſondere Auskunft zu geben, und ſie ſind deshalb nicht zu tadeln.

§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.

Welches ſind nun die Entſtehungsgründe des allgemei - nen Rechts, oder worin beſtehen die Rechtsquellen?

Hierüber könnte man annehmen wollen, das Recht14Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.habe eine ganz verſchiedene Entſtehung, je nach dem Ein - fluß des Zufalls, oder auch menſchlicher Willkühr, Über - legung und Weisheit. Allein dieſer Annahme widerſpricht die unzweifelhafte Thatſache, daß überall, wo ein Rechts - verhältniß zur Frage und zum Bewußtſeyn kommt, eine Regel für daſſelbe längſt vorhanden, alſo jetzt erſt zu erfinden weder nöthig noch möglich iſt. In Beziehung auf dieſe Beſchaffenheit des allgemeinen Rechts, nach wel - cher es in jedem gegebenen Zuſtand, in welchem es ge - ſucht werden kann, als ein gegebenes ſchon wirkliches Da - ſeyn hat, nennen wir es poſitives Recht.

Fragen wir ferner nach dem Subject, in welchem und für welches das poſitive Recht ſein Daſeyn hat, ſo finden wir als ſolches das Volk. In dem gemeinſamen Bewußtſeyn des Volkes lebt das poſitive Recht, und wir haben es daher auch Volksrecht zu nennen. Es iſt dieſes aber keinesweges ſo zu denken, als ob es die einzelnen Glieder des Volkes wären, durch deren Willkühr das Recht her - vorgebracht würde; denn dieſe Willkühr der Einzelnen könnte vielleicht zufällig daſſelbe Recht, vielleicht aber, und wahrſcheinlicher, ein ſehr mannichfaltiges erwählen. Vielmehr iſt es der in allen Einzelnen gemeinſchaftlich lebende und wirkende Volksgeiſt, der das poſitive Recht erzeugt, das alſo für das Bewußtſeyn jedes Einzelnen, nicht zufällig ſondern nothwendig, ein und daſſelbe Recht iſt. Indem wir alſo eine unſichtbare Entſtehung des po - ſitiven Rechts annehmen, müſſen wir ſchon deshalb auf15§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.jeden urkundlichen Beweis derſelben verzichten. Allein dieſer Mangel iſt unſrer Anſicht von jener Entſtehung mit jeder anderen Anſicht gemein, da wir in allen Völkern, welche jemals in die Gränzen urkundlicher Geſchichte ein - getreten ſind, ein poſitives Recht ſchon vorfinden, deſſen urſprüngliche Erzeugung alſo außer jenen Gränzen liegen muß. Allein an Beweiſen anderer Art, wie ſie der beſon - dern Natur des Gegenſtandes angemeſſen ſind, fehlt es nicht. Ein ſolcher Beweis liegt in der allgemeinen, gleich - förmigen Anerkennung des poſitiven Rechts, und in dem Gefühl innerer Nothwendigkeit, wovon die Vorſtellung deſſelben begleitet iſt. Dieſes Gefühl ſpricht ſich am be - ſtimmteſten aus in der uralten Behauptung eines göttli - chen Urſprungs des Rechts oder der Geſetze; denn ein entſchiednerer Gegenſatz gegen die Entſtehung durch Zufall oder menſchliche Willkühr läßt ſich nicht denken. Ein zweyter Beweis liegt in der Analogie anderer Eigenthüm - lichkeiten der Völker, die eine eben ſo unſichtbare, über die urkundliche Geſchichte hinaufreichende Entſtehung ha - ben, wie z. B. die Sitte des geſelligen Lebens, vor allen aber die Sprache. Bey dieſer nun findet ſich dieſelbe Unabhängigkeit von Zufall und freyer Wahl der Einzel - nen, alſo dieſelbe Erzeugung aus der Thätigkeit des in allen Einzelnen gemeinſam wirkenden Volksgeiſtes; bey ihr aber iſt dieſes Alles durch ihre ſinnliche Natur anſchau - licher und unverkennbarer als bey dem Recht. Ja es wird die individuelle Natur der einzelnen Völker lediglich16Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.durch jene gemeinſamen Richtungen und Thätigkeiten be - ſtimmt und erkannt, unter welchen die Sprache, als die ſichtbarſte, die erſte Stelle einnimmt.

Die Geſtalt aber, in welcher das Recht in dem gemein - ſamen Bewußtſeyn des Volks lebt, iſt nicht die der ab - ſtracten Regel, ſondern die lebendige Anſchauung der Rechtsinſtitute in ihrem organiſchen Zuſammenhang, ſo daß, wo das Bedürfniß entſteht, ſich der Regel in ihrer logiſchen Form bewußt zu werden, dieſe erſt durch einen künſtlichen Prozeß aus jener Totalanſchauung gebildet werden muß. Jene Geſtalt offenbart ſich durch die ſym - boliſchen Handlungen, die das Weſen der Rechtsverhält - niſſe bildlich darſtellen, und in welchen ſich die urſprüng - lichen Volksrechte meiſt deutlicher und gründlicher aus - ſprechen, als in den Geſetzen.

Bey dieſer Annahme von der Entſtehung des poſitiven Rechts wurde zunächſt noch abgeſehen von dem in der Zeit fortgehenden Leben der Völker. Betrachten wir nun auch deſſen Einwirkung auf das Recht, ſo werden wir ihm vor Allem eine befeſtigende Kraft zuerkennen müſſen: je länger die Rechtsüberzeugungen in dem Volk leben, deſto tiefer werden ſie in ihm wurzeln. Ferner wird ſich das Recht durch die Übung entfalten, und was urſprüng - lich blos im Keim vorhanden war, wird durch die An - wendung in beſtimmter Geſtalt zum Bewußtſeyn kommen. Aber auch Veränderung des Rechts wird auf dieſem Wege erzeugt werden. Denn wie in dem Leben des einzelnen17§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.Menſchen kein Augenblick eines vollkommnen Stillſtandes wahrgenommen wird, ſondern ſtete organiſche Entwicklung, ſo verhält es ſich auch in dem Leben der Völker, und in jedem einzelnen Element, woraus dieſes Geſammtleben beſteht. So finden wir in der Sprache ſtete Fortbildung und Entwicklung, und auf gleiche Weiſe in dem Recht. Und auch dieſe Fortbildung ſteht unter demſelben Geſetz der Erzeugung aus innerer Kraft und Nothwendigkeit, unabhängig von Zufall und individueller Willkühr, wie die urſprüngliche Entſtehung. Allein das Volk erfährt in dieſem natürlichen Entwicklungsprozeß nicht blos eine Ver - änderung überhaupt, ſondern auch in einer beſtimmten, regelmäßigen Folge der Zuſtände, und unter dieſen Zu - ſtänden hat ein jeder ſein eigenthümliches Verhältniß zu der beſonderen Äußerung des Volksgeiſtes, wodurch das Recht erzeugt wird. Am freyeſten und kräftigſten erſcheint dieſe in der Jugendzeit der Völker, in welcher der Natio - nalzuſammenhang noch inniger, das Bewußtſeyn deſſelben allgemeiner verbreitet, und weniger durch Verſchiedenheit der individuellen Ausbildung verdeckt iſt. In demſelben Maaße aber, in welchem die Bildung der Individuen un - gleichartiger und vorherrſchender wird, und in welchem eine ſchärfere Sonderung der Beſchäftigungen, der Kennt - niſſe und der dadurch bedingten Stände eintritt, wird auch die Rechtserzeugung, die auf der Gemeinſchaft des Be - wußtſeyns beruhte, ſchwieriger werden; ja ſie würde end - lich faſt ganz verſchwinden, wenn ſich nicht dafür, durch218Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.den Einfluß derſelben neuen Zuſtände, wiederum eigene Organe bildeten, die Geſetzgebung und die Rechtswiſſen - ſchaft, deren Natur ſogleich dargeſtellt werden wird.

Dieſe Fortbildung des Rechts kann übrigens ein ganz verſchiedenes Verhältniß zu dem urſprünglich vorhandenen Recht haben. Es können durch ſie neue Rechtsinſtitute erzeugt, oder auch die vorhandenen umgeſtaltet werden: ja es können dieſe durch ſie ganz verſchwinden, wenn ſie dem Sinn und Bedürfniß der Zeit fremd geworden ſind.

§. 8. Volk.

Die Rechtserzeugung iſt hier vorläufig in das Volk, als das thätige, perſönliche Subject, geſetzt worden. Die Natur dieſes Subjects ſoll nunmehr genauer beſtimmt werden.

Wenn wir in der Betrachtung des Rechtsverhältniſſes von allem beſonderen Inhalt deſſelben abſtrahiren, ſo bleibt uns als allgemeines Weſen deſſelben übrig, das auf be - ſtimmte Weiſe geregelte Zuſammenleben mehrerer Menſchen. Es liegt nun ſehr nahe, bei dieſem abſtracten Begriff einer Mehrheit überhaupt ſtehen zu bleiben, und das Recht als eine Erfindung derſelben zu denken, ohne welche die äu - ßere Freiheit keines Einzelnen beſtehen könnte. Allein ein ſolches zufälliges Zuſammentreffen einer unbeſtimmten Menge iſt eine willkührliche, aller Wahrheit ermangelnde Vorſtel - lung: und fände ſie ſich wirklich ſo zuſammen, ſo würde19§. 8. Volk.ihr unfehlbar die Fähigkeit der Rechtserzeugung mangeln, da mit dem Bedürfniß nicht zugleich die Kraft der Befrie - digung gegeben iſt. In der That aber finden wir überall, wo Menſchen zuſammen leben, und ſo weit die Geſchichte davon Kunde giebt, daß ſie in einer geiſtigen Gemeinſchaft ſtehen, die ſich durch den Gebrauch derſelben Sprache ſowohl kund giebt, als befeſtigt und ausbildet. In dieſem Naturganzen iſt der Sitz der Rechtserzeugung, denn in dem gemeinſamen, die Einzelnen durchdringenden Volks - geiſt findet ſich die Kraft, das oben anerkannte Bedürfniß zu befriedigen.

Die Gränzen aber dieſer Völkerindividuen ſind aller - dings unbeſtimmt und ſchwankend, und dieſer zweifelhafte Zuſtand offenbart ſich auch in der Einheit oder Verſchie - denheit des in ihnen erzeugten Rechts. So kann es bei verwandten Volksſtämmen ungewiß erſcheinen, ob ſie uns als Ein Volk oder als mehrere gelten ſollen: gleicherweiſe finden wir auch oft in ihrem Recht zwar nicht gänzliche Übereinſtimmung, wohl aber Verwandtſchaft.

Allein auch da, wo die Einheit eines Volkes unzwei - felhaft iſt, finden ſich innerhalb der Gränzen deſſelben oft engere Kreiſe, die durch einen beſonderen Zuſammenhang, noch neben dem allgemeinen des Volkes, vereinigt ſind, wie Städte und Dörfer, Innungen, Corporationen aller Art, welche insgeſammt volksmäßige Abtheilungen des Ganzen bilden. Auch in dieſen wiederum kann eine eigen - thümliche Rechtserzeugung ihren Sitz haben als parti -2*20Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.culäres Recht, neben dem gemeinſamen Volksrecht, wel - ches dadurch auf manchen Seiten ergänzt oder umgebil - det wird(a)So kamen in Rom uralte Gewohnheitsrechte einzelner gen - tes vor. Dirkſen civil. Ab - handlungen B. 2. S. 90..

Wenn wir aber das Volk als eine natürliche Einheit, und inſofern als den Träger des poſitiven Rechts betrach - ten, ſo dürfen wir dabei nicht blos an die darin gleich - zeitig enthaltenen Einzelnen denken; vielmehr geht jene Einheit durch die einander ablöſenden Geſchlechter hindurch, verbindet alſo die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft. Dieſe ſtete Erhaltung des Rechts wird be - wirkt durch Tradition, und dieſe iſt bedingt und begrün - det durch den nicht plötzlichen, ſondern ganz allmäligen Wechſel der Generationen. Die hier behauptete Unab - hängigkeit des Rechts von dem Leben der gegenwärtigen Volksglieder gilt zunächſt von der unveränderten Fortdauer der Rechtsregeln: eben ſo aber iſt ſie auch die Grundlage der allmäligen Fortbildung des Rechts (§ 7.), und in die - ſer Beziehung müſſen wir ihr eine vorzügliche Wichtigkeit zuſchreiben.

Dieſe Anſicht, welche das individuelle Volk als Erzeu - ger und Träger des poſitiven oder wirklichen Rechts aner - kennt, dürfte Manchen zu beſchränkt erſcheinen, welche geneigt ſeyn möchten, vielmehr dem gemeinſamen Men - ſchengeiſt, als dem individuellen Volksgeiſt, jene Erzeugung zuzuſchreiben. In genauerer Betrachtung aber erſcheinen21§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.beide Anſichten gar nicht als widerſtreitend. Was in dem einzelnen Volk wirkt, iſt nur der allgemeine Menſchengeiſt, der ſich in ihm auf individuelle Weiſe offenbart. Allein die Erzeugung des Rechts iſt eine That, und eine gemein - ſchaftliche That. Dieſe iſt nur denkbar für diejenigen, unter welchen eine Gemeinſchaft des Denkens und Thuns nicht nur möglich, ſondern auch wirklich iſt. Da nun eine ſolche Gemeinſchaft nur innerhalb der Gränzen des einzelnen Volkes vorhanden iſt, ſo kann auch nur hier das wirkliche Recht hervorgebracht werden, obgleich in der Erzeugung deſſelben die Äußerung eines allgemein menſch - lichen Bildungstriebes wahrzunehmen iſt, alſo nicht etwa die eigenthümliche Willkühr mancher beſonderen Völker, wovon in andern Völkern vielleicht keine Spur angetroffen werden könnte. Nur darin findet ſich eine Verſchiedenheit, daß dieſes Erzeugniß des Volksgeiſtes bald dem einzelnen Volke ganz eigenthümlich, bald aber in mehreren Völkern gleichmäßig vorkommend iſt. Wie die Römer dieſe allge - meinere Grundlage des Volksrechts als Jus gentium auf - gefaßt haben, wird unten gezeigt werden (§ 22.).

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.

Das Volk, dem wir als einem unſichtbaren Naturgan - zen unbeſtimmte Gränzen zuſchreiben mußten, beſteht jedoch nirgend und in keiner Zeit auf dieſe abſtracte Weiſe. Vielmehr wirkt in ihm ein unaufhaltſamer Trieb, die22Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.unſichtbare Einheit in ſichtbarer und organiſcher Erſchei - nung zu offenbaren. Dieſe leibliche Geſtalt der geiſtigen Volksgemeinſchaft iſt der Staat, und mit ihm ſind zu - gleich ſcharf beſtimmte Gränzen der Einheit gegeben.

Fragen wir nun nach der Entſtehung des Staates, ſo müſſen wir dieſelbe eben ſo in eine höhere Nothwendig - keit, in eine von innen heraus bildende Kraft ſetzen, wie es oben von dem Recht überhaupt geſagt worden iſt; und zwar gilt dieſes nicht blos von dem Daſeyn eines Staa - tes überhaupt, ſondern auch von der eigenthümlichen Ge - ſtalt, welche der Staat in jedem Volke an ſich trägt. Denn auch die Erzeugung des Staates iſt eine Art der Rechtserzeugung, ja ſie iſt die höchſte Stufe der Rechts - erzeugung überhaupt.

Überſehen wir von dem nun gewonnenen Standpunkt aus das geſammte Recht, ſo unterſcheiden wir in demſel - ben zwey Gebiete, das Staatsrecht und das Privat - recht. Das erſte hat zum Gegenſtand den Staat, das heißt die organiſche Erſcheinung des Volks: das zweyte die Geſammtheit der Rechtsverhältniſſe, welche den ein - zelnen Menſchen umgeben, damit er in ihnen ſein inneres Leben führe und zu einer beſtimmten Geſtalt bilde(a)L. 1. de J. et J. (I. 1.). Publicum jus est quod ad sta - tum rei Romanae spectat; pri - vatum quod ad singulorum uti - litatem. Sunt enim quaedam publice utilia, quaedam priva - tim. Vgl. L. 2 § 46. de orig. jur. (I. 2.). . Nicht als ob es, wenn wir dieſe beiden Rechtsgebiete ver - gleichen, an Übergängen und Verwandtſchaften fehlte. 23§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.Denn die Familie hat in ihrer dauernden Gliederung, ſo wie in dem Verhältniß des Regierens und des Gehorchens, unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Staate: und eben ſo treten die Gemeinden, die doch wahre Beſtandtheile des Staates ſind (§ 86), nahe an das Verhältniß der Ein - zelnen heran. Dennoch bleibt zwiſchen beiden Gebieten ein feſt beſtimmter Gegenſatz darin, daß in dem öffentlichen Recht das Ganze als Zweck, der Einzelne als untergeord - net erſcheint, anſtatt daß in dem Privatrecht der einzelne Menſch für ſich Zweck iſt, und jedes Rechtsverhältniß ſich nur als Mittel auf ſein Daſeyn oder ſeine beſonderen Zu - ſtände bezieht.

Allein der Staat hat zugleich den mannichfaltigſten Einfluß auf das Privatrecht, und zwar zunächſt auf die Realität des Daſeyns deſſelben. Denn in ihm zuerſt erhält das Volk wahre Perſönlichkeit, alſo die Fähigkeit zu han - deln. Wenn wir alſo außer demſelben dem Privatrecht nur ein unſichtbares Daſeyn, in übereinſtimmenden Gefüh - len, Gedanken und Sitten zuſchreiben können, ſo erhält es im Staat, durch Aufſtellung des Richteramtes, Leben und Wirklichkeit. Das hat jedoch nicht den Sinn, daß in dem Leben der Völker in der That eine Zeit vor Er - findung des Staats vorkäme, worin das Privatrecht dieſe unvollkommene Natur hätte (Naturzuſtand). Vielmehr wird jedes Volk, ſobald es als ſolches erſcheint, zugleich als Staat erſcheinen, wie auch dieſer geſtaltet ſeyn möge. Jene Behauptung alſo ſollte blos gelten von demjenigen24Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.Zuſtand des Volkes, welcher uns in Gedanken übrig bleibt, wenn wir von ſeiner Eigenſchaft als Staat künſtlich ab - ſtrahiren. Hierin erhält zugleich das Verhältniß der Einzelnen zu dem allgemeinen Recht ſeine Realität und Vollendung. Das Recht hat ſein Daſeyn in dem gemein - ſamen Volksgeiſt (§ 7. 8. ), alſo in dem Geſammtwillen, der inſofern auch der Wille jedes Einzelnen iſt. Allein der Einzelne kann ſich, vermöge ſeiner Freiheit, durch Das was er für ſich will, gegen Das auflehnen, was er als Glied des Ganzen denkt und will. Dieſer Widerſpruch iſt das Unrecht, oder die Rechtsverletzung, welche vernich - tet werden muß, wenn das Recht beſtehen und herrſchen ſoll. Soll aber dieſe Vernichtung vom Zufall unabhängig werden, und eine regelmäßige Sicherheit erhalten, ſo iſt das nur im Staate möglich. Denn hier allein kann dem Einzelnen die Rechtsregel als ein Aeußeres und Objecti - ves gegenüber ſtehen. Und in dieſem neuen Verhältniß erſcheint die des Unrechts fähige individuelle Freiheit als von dem Geſammtwillen gebunden und in ihm untergehend.

Außerdem aber hat der Staat auch den entſchiedenſten Einfluß auf die Rechtserzeugung im Privatrecht: nicht nur auf deſſen Inhalt, wovon noch weiter die Rede ſeyn wird, ſondern auch auf die Gränzen der Rechtserzeugung, indem die Volksgemeinſchaft innerhalb deſſelben Staats inniger und wirkſamer, in verſchiedenen Staaten dagegen, auch bei Stammesverwandtſchaft, entfernter und auf vielfache Weiſe gehemmt ſeyn muß. Eben ſo wird die Entſtehung25§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.eines particulären Volksrechts (§ 8) durch die Einheit des Staats zwar nicht ausgeſchloſſen, aber doch inſofern beſchränkt, als dadurch jene weſentliche Einheit nicht ge - fährdet werden darf. Nur würde es irrig ſeyn, in dieſer Hinſicht den Einfluß des Staates, in Vergleichung mit anderen Verhältniſſen, zu hoch anzuſchlagen, oder gar als ausſchließenden Beſtimmungsgrund zu denken. So beſtan - den im Mittelalter, nach der Zerſtörung des weſtrömiſchen Reichs, mehrere Germaniſche Staaten mit theils Germa - niſchen, theils Römiſchen Unterthanen; hier hatten die - miſchen Unterthanen des einen Staates mit denen der an - dern daſſelbe Römiſche Recht: die Germaniſchen Unter - thanen der verſchiedenen Staaten hatten wenigſtens ver - wandtes Recht, und dieſe mehr oder weniger vollſtändige Rechtsgemeinſchaft wurde durch die Gränzen der Staaten nicht geſtört.

Um die hier aufgeſtellte Klaſſification der innerhalb des Staates geltenden Rechte gegen den Vorwurf der Un - vollſtändigkeit zu ſichern, iſt jedoch noch folgende Ergän - zung nöthig. Ich will nicht den Staat auf die Zwecke des Rechts beſchränken, ja die Theorie ſoll ſich überhaupt nicht anmaaßen, die Freyheit individueller Entwicklung durch Aufſtellung ausſchließender Zwecke der Thätigkeit des Staats begränzen zu wollen. Dennoch iſt ſeine erſte und unabweislichſte Aufgabe die Idee des Rechts in der ſichtbaren Welt herrſchend zu machen. Dazu nun führt eine zwiefache Thätigkeit des Staats. Erſtlich hat der -26Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.ſelbe dem Einzelnen, der in ſeinem Recht verletzt wird, Schutz zu gewähren gegen dieſe Verletzung; die Regeln, unter welchen dieſe Thätigkeit ſteht, nennen wir den Ci - vilprozeß. Zweytens hat er das verletzte Recht an ſich zu vertreten und wiederherzuſtellen, ohne Rückſicht auf das individuelle Intereſſe. Dieſes geſchieht durch die Strafe, durch welche der menſchliche Wille, im beſchränkteren Ge - biet des Rechts, das in der höheren Weltordnung wal - tende Geſetz ſittlicher Vergeltung nachbildet(b)Inſoweit kann man ſagen, daß die allgemeine ſittliche Ord - nung der Vergeltung, in einer beſchränkten Weiſe, die Natur einer Rechtsanſtalt annimmt, und als ſolche vom Staate in Aus - führung zu bringen iſt. Vergl. Hegel Naturrecht §. 102. 103. 220. Klenze Lehrbuch des Straf - rechts S. X XVII. . Die Re - geln, unter welchen dieſe Thätigkeit ſteht, nennen wir das Criminalrecht, von welchem der Criminalprozeß nur einen Theil bildet(c)Es hängt von dem poſiti - ven Recht eines jeden Staates ab, wie weit der Staat dieſes Recht unmittelbar ausüben, oder die Ausübung deſſelben den ver - letzten Einzelnen, noch neben der Verfolgung ihrer eigenen Rechte, überlaſſen will. Dieſe letzte Be - handlung liegt den Römiſchen Privatſtrafen zum Grunde. Eine vollſtändigere Ausbildung der Staatsgewalt wird überall dahin führen, dieſen letzten Weg zu verlaſſen.. Civilprozeß, Criminalrecht und Criminalprozeß, ſind demnach Theile des Staatsrechts, und wurden bey den Römern auch ſo angeſehen. Daß uns in neueren Zeiten dieſe Auffaſſung fremder geworden iſt, hat ſeinen Grund in folgenden Umſtänden. Die Hand - habung des Criminalrechts iſt oft an dieſelben Richterbe - hörden, wie der Schutz des Privatrechts, gewieſen wor -27§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.den, und daher hat auch die Behandlung beider Gegen - ſtände eine ähnlichere Geſtalt angenommen. In dem Civilprozeß iſt aber die Thätigkeit des Staats mit den Rechten der Einzelnen ſo verwebt, daß eine vollſtändige Trennung praktiſch nicht ausführbar iſt. Dennoch kann dadurch das hier angegebene innere Weſen dieſer Rechts - diſciplinen nicht umgeändert werden. Um nun auf der einen Seite dieſem Weſen der Sache, auf der andern Seite jenen mehr praktiſchen Beziehungen, ihre Anerken - nung zu verſchaffen, erſcheint es, wie es nicht ungewöhn - lich iſt, ſo auch zweckmäßig, neben dem Namen des Staats - rechts noch den allgemeineren Namen des öffentlichen Rechts zu gebrauchen, unter welchem der Civilprozeß und das Criminalrecht mitbegriffen ſind. Dieſe Bezeich - nung ſoll hier ferner angewendet werden.

Eine andere Bewandniß hat es mit dem Kirchen - recht. Vom rein weltlichen Standpunkt aus erſcheint die Kirche wie jede andere Geſellſchaft, und ſo wie an - dere Corporationen theils im Staatsrecht, theils im Pri - vatrecht, ihre abhängige, untergeordnete Stellung erhalten, könnte man eine ſolche auch der Kirche anweiſen wollen. Ihre, das innerſte Weſen des Menſchen beherrſchende, Wichtigkeit läßt jedoch dieſe Behandlung nicht zu. In verſchiedenen Zeiten der Weltgeſchichte hat daher die Kirche und das Kirchenrecht eine ſehr verſchiedene Stel - lung gegen den Staat angenommen. Bey den Römern war das jus sacrum ein Stück des Staatsrechts, und28Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.der Staatsgewalt untergeordnet(d)L. 1. §. 2. de just. et jure (I. 1.). . Die weltumfaſſende Natur des Chriſtenthums ſchließt dieſe rein nationelle Be - handlung aus. Im Mittelalter verſuchte die Kirche, die Staaten ſelbſt ſich unterzuordnen und zu beherrſchen. Wir können die verſchiedenen chriſtlichen Kirchen nur betrach - ten als neben dem Staate, aber in mannichfaltiger und inniger Berührung mit demſelben, ſtehend. Daher iſt uns das Kirchenrecht ein für ſich beſtehendes Rechtsgebiet, das weder dem öffentlichen noch dem Privatrecht untergeordnet werden darf.

§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.

Es fehlt aber viel, daß die hier aufgeſtellte Anſicht von der Entſtehung und dem Weſen des Staats allgemein Anerkennung fände.

Zuvörderſt iſt es auch hier wieder der unbeſtimmte Begriff einer Menge überhaupt, abſtrahirt von der Volks - einheit, welcher häufig als Subject des Staats gedacht wird. Dieſer Behauptung aber widerſpricht vor Allem die Thatſache, daß es zu allen Zeiten Völker waren, welche in der organiſchen Geſtalt von Staaten aufgetreten ſind, und wo auch der Verſuch im Großen gemacht worden iſt, Maſſen von Menſchen ohne Rückſicht auf gänzliche Stamm - verſchiedenheit willkührlich zuſammen zu bringen, wie in den Amerikaniſchen Sklavenſtaaten, da iſt der Erfolg ſehr unglücklich geweſen, und es haben ſich der Staatenbildung29§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.unüberſteigliche Hinderniſſe in den Weg geſtellt. Im Wi - derſpruch mit dieſer Anſicht alſo müſſen wir wiederholt behaupten, daß der Staat urſprünglich und naturgemäß in einem Volk, durch das Volk, und für das Volk entſteht.

Ferner iſt es eine höchſt verbreitete Anſicht, nach wel - cher die Staaten durch Willkühr der Einzelnen, alſo durch Vertrag, entſtanden ſeyn ſollen, welche Anſicht in ihrer Entwicklung auf eben ſo verderbliche als verkehrte Folgen geführt hat. Man nimmt dabei an, die Einzelnen, die es eben vortheilhaft fanden, gerade dieſen Staat zu grün - den, hätten eben ſo gut ganz ohne Staat bleiben, oder ſich ſo oder anders zu einem Staat miſchen oder begränzen, oder endlich jede andere Verfaſſung wählen können. Da - bey wird alſo nicht nur abermals die in dem Volk enthal - tene Natureinheit, ſo wie die innere Nothwendigkeit über - ſehen, ſondern vorzüglich auch der Umſtand, daß wo nur irgend eine ſolche Ueberlegung möglich iſt, unfehlbar ſchon ein wirklicher Staat, als Thatſache und als Recht, be - ſteht, ſo daß niemals, wie Jene wollen, von der willkühr - lichen Erfindung des Staats, ſondern höchſtens von deſſen Zerſtörung die Rede ſeyn kann. Zwey Mißverſtändniſſe haben dieſen Irrthum beſonders befördert. Zuvörderſt die Wahrnehmung der großen Mannichfaltigkeit in der Staa - tenbildung, das heißt des hiſtoriſchen und individuellen Ele - ments der Staaten, welches man mit der freyen Wahl und Willkühr der Einzelnen verwechſelt hat. Dann auch30Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.die ſtete, oft unbewußte Verwechslung der ganz verſchie - denen Begriffe, die mit dem gemeinſamen Namen Volk bezeichnet werden. Dieſer Name bezeichnet nämlich

1. das Naturganze, in welchem wirklich der Staat entſteht und fortwährend ſein Daſeyn führt, und bey wel - chem von Wahl und Willkühr nicht die Rede ſeyn kann;

2. die Geſammtheit aller in einem Staate gleichzeitig lebenden Individuen;

3. eben dieſelben Individuen mit Abzug der Regierung, alſo die Gehorchenden im Gegenſatz der Herrſchenden;

4. in republikaniſchen Staaten, wie in Rom, diejenige organiſirte Verſammlung Einzelner, in welcher nach der Verfaſſung die höchſte Gewalt wirklich beruht. Diejenigen nun, bei welchen auf eine verworrene Weiſe alle dieſe Begriffe durcheinander liefen, wurden dadurch verleitet, das ideale Recht des Volks als Naturganzen (1), und das hiſtoriſche Recht des Römiſchen populus (4), auf die Geſammtheit der Unterthanen (3) zu übertragen, und ſo, mit Umkehrung aller Wahrheit, die Herrſchaft den von Rechtswegen Gehorchenden beyzulegen. Aber ſelbſt wenn man nicht dieſen äußerſten Schritt thut, ſondern Recht und Macht in der Geſammtheit aller jetzt lebenden Ein - zelnen, alſo mit Einſchluß der Regierenden (2) beruhen läßt, ſo iſt damit nur wenig gebeſſert. Vor Allem weil die Einzelnen nicht als ſolche, und nach ihrer Kopfzahl, ſondern nur in ihrer verfaſſungsmäßigen Gliederung den Staat ausmachen. Dann weil die Einzelnen niemals in31§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.ihrer Totalität, ſondern immer nur in einem mäßigen Aus - zug, wollen und handeln können, ſo daß in Anſehung der Mehrzahl (der Frauen und der Minderjährigen) nur die Zuflucht zu der leeren Fiction einer Vertretung übrig bleibt. Endlich weil ſelbſt die Totalität der Einzelnen doch nur die des gegenwärtigen Augenblickes ſeyn würde, anſtatt daß das ideale Volk, wovon hier die Rede iſt, auch die ganze Zukunft in ſich ſchließt, alſo ein unvergängliches Daſeyn hat (§ 8).

Dennoch iſt in den hier beſtrittenen Anſichten ein wah - res Element enthalten. Allerdings kann auf die Bildung der Staaten Zufall und Willkühr großen Einfluß aus - üben, und beſonders wird die Begränzung derſelben durch Eroberung und Zerſtückelung oft ſehr abweichend von den natürlichen, durch Volkseinheit angegebenen Gränzen be - ſtimmt. Umgekehrt kann oft ein fremdartiges Element dem Staat völlig aſſimilirt werden; nur hat die Möglichkeit einer ſolchen Aſſimilation ihre Bedingungen und ihre Stu - fen, wie ſie denn beſonders durch einige Verwandtſchaft des neuen Elements, ſo wie durch die innere Vollkommen - heit des aufnehmenden Staates gefördert wird. Allein alle ſolche Ereigniſſe, wie häufig ſie auch in der Geſchichte vorkommen mögen, ſind doch nur Anomalien. Das Volk bleibt darum nicht minder die natürliche Baſis des Staats, und die Bildung durch inwohnende Kraft ſeine naturge - mäße Entſtehung. Tritt nun ein fremdartiges hiſtoriſches Moment in dieſen natürlichen Bildungsprozeß ein, ſo kann32Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.daſſelbe durch die ſittliche Kraft und Geſundheit des Volkes überwunden und verarbeitet werden; gelingt