PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Syſtem des heutigen Römiſchen Rechts
Erſter Band.
Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.
Berlin. Bei Veit und Comp.1840.
[II][III]

Vorläufige Überſicht des ganzen Werks.

  • Erſtes Buch. Rechtsquellen.
    • Kap. I. Aufgabe dieſes Werks.
    • Kap. II. Allgemeine Natur der Rechtsquellen.
    • Kap. III. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.
    • Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
  • Zweytes Buch. Rechtsverhältniſſe.
    • Kap. I. Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe.
    • Kap. II. Die Perſonen als Träger der Rechtsverhältniſſe.
    • Kap. III. Entſtehung und Untergang der Rechtsverhältniſſe.
    • Kap. IV. Verletzung der Rechtsverhältniſſe.
  • Drittes Buch. Anwendung der Rechtsregeln auf die Rechtsverhältniſſe.
  • Viertes Buch. Sachenrecht.
  • Fünftes Buch. Obligationenrecht.
  • Sechstes Buch. Familienrecht.
  • Siebentes Buch. Erbrecht.
a*[IV][V]

Inhalt des erſten Bandes.

Erſtes Buch. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts. Erſtes Kapitel. Aufgabe dieſes Werks.

  • Seite.
  • §. 1. Heutiges Römiſches Recht1
  • §. 2. Gemeines Recht in Deutſchland4
  • §. 3. Gränzen der Aufgabe5
  • Zweytes Kapitel. Allgemeine Natur der Rechtsquellen. §. 4. Rechtsverhältniß6
  • §. 5. Rechtsinſtitut9
  • §. 6. Begriff der Rechtsquellen11
  • §. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts13
  • §. 8. Volk18
  • §. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, öffentliches Recht21
  • §. 10. Abweichende Meynungen über den Staat28
  • §. 11. Völkerrecht32
  • VI
  • Seite.
  • §. 12. Gewohnheitsrecht34
  • §. 13. Geſetzgebung38
  • §. 14. Wiſſenſchaftliches Recht45
  • §. 15. Die Rechtsquellen in ihrem Zuſammenhang50
  • §. 16. Abſolutes und vermittelndes, regelmäßiges und anomaliſches Recht57
  • Drittes Kapitel. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts. §. 17. A. Geſetze66
  • §. 18. B. Gewohnheitsrecht76
  • §. 19. C. Wiſſenſchaftliches Recht83
  • §. 20. Fortſetzung90
  • §. 21. Concurrirende Rechtsquellen100
  • §. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allgemeinen105
  • §. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze121
  • §. 24. Fortſetzung128
  • §. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht144
  • §. 26. » » » über das wiſſenſchaftliche Recht155
  • §. 27. Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen über die Rechtsquellen162
  • §. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen166
  • §. 29. Fortſetzung171
  • §. 30. Fortſetzung181
  • §. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechts - quellen197
  • VII
  • Seite.
  • Viertes Kapitel. Auslegung der Geſetze. §. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle206
  • §. 33. A. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln212
  • §. 34. Grund des Geſetzes216
  • §. 35. Auslegung mangelhafter Geſetze222
  • §. 36. Fortſetzung225
  • §. 37. Fortſetzung230
  • §. 38. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Kritik240
  • §. 39. Fortſetzung246
  • §. 40. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Einzelne Stellen252
  • §. 41. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Compilation255
  • §. 42. B. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. Wi - derſpruch262
  • §. 43. Fortſetzung268
  • §. 44. Fortſetzung273
  • §. 45. Fortſetzung283
  • §. 46. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. Lücken290
  • §. 47. Ausſprüche des R. R. über die Auslegung296
  • §. 48. Fortſetzung304
  • §. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen311
  • §. 50. Anſichten der Neueren von der Auslegung318
  • §. 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Aus - legung326
  • VIII
  • Seite.
  • Zweytes Buch. Die Rechtsverhältniſſe. Erſtes Kapitel. Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe. §. 52. Weſen der Rechtsverhältniſſe331
  • §. 53. Arten der Rechtsverhältniſſe334
  • §. 54. Familienrecht345
  • §. 55. Fortſetzung356
  • §. 56. Vermögensrecht367
  • §. 57. Fortſetzung379
  • §. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute386
  • §. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſifikation393
  • Beylage I. Jus naturale, gentium, civile413
  • Beylage II. L. 2 C. quae sit longa consuetudo420
[IX]

Vorrede.

Wenn ein wiſſenſchaftliches Gebiet, ſo wie das un - ſrige, durch die ununterbrochene Anſtrengung vieler Zeitalter angebaut worden iſt, ſo wird uns, die wir der Gegenwart angehören, der Genuß einer reichen Erb - ſchaft dargeboten. Es iſt nicht blos die Maſſe der ge - wonnenen Wahrheit, die uns zufällt; auch jede ver - ſuchte Richtung der geiſtigen Kräfte, alle Beſtrebungen der Vorzeit, mögen ſie fruchtbar oder verfehlt ſeyn, kommen uns zu gut als Muſter oder Warnung, und ſo ſteht es in gewiſſem Sinn bey uns, mit der vereinig - ten Kraft vergangener Jahrhunderte zu arbeiten. Woll - ten wir nun dieſen natürlichen Vortheil unſrer Lage aus Trägheit oder Eigendünkel verſäumen, wollten wir es auch nur, in oberflächlichem Verfahren, dem Zufall überlaſſen, wie Viel aus jener reichen Erbſchaft bildendXVorrede.auf uns einwirken ſoll, dann würden wir die unſchätz - barſten Güter entbehren, die von dem Weſen wahrer Wiſſenſchaft unzertrennlich ſind: die Gemeinſchaftlich - keit wiſſenſchaftlicher Überzeugungen, und daneben den ſteten, lebendigen Fortſchritt, ohne welchen jene Ge - meinſchaft in einen todten Buchſtaben übergehen könnte. Damit dieſes nicht geſchehe, müſſen wir wünſchen, daß von Zeit zu Zeit das, was im Einzelnen geſucht und gewonnen worden iſt, in vereinigendem Bewußtſeyn zu - ſammen gefaßt werde. Denn ſchon die gleichzeitig le - benden Träger der Wiſſenſchaft gehen oft in ſcharfen Gegenſätzen aus einander; noch ſtärker aber treten dieſe Gegenſätze hervor, wenn wir ganze Zeitalter verglei - chend betrachten. Hier gilt es nun nicht, das Eine zu wählen, das Andere zu verwerfen; vielmehr geht die Aufgabe dahin, die wahrgenommenen Gegenſätze in höherer Einheit aufzulöſen, welches der einzige Weg zu ſicherem Fortſchritt in der Wiſſenſchaft iſt. Die ange - meſſene Stimmung für eine ſolche zuſammen faſſende Arbeit iſt die der Ehrerbietung gegen das Große, wel - ches uns in den Leiſtungen unſrer Vorgänger erſcheint. Damit aber dieſe Ehrerbietung nicht in beſchränkende Einſeitigkeit ausarte, und ſo die Freyheit des Denkens gefährde, iſt es nöthig, den Blick unverwandt auf dasXIVorrede.letzte Ziel der Wiſſenſchaft zu richten, in Vergleichung mit welchem auch das Größte, das der Einzelne zu lei - ſten vermag, als unvollkommen erſcheinen muß.

Wenn uns aber die durch viele Geſchlechter fortge - ſetzte Ausbildung unſrer Wiſſenſchaft einen reichen Ge - winn darbietet, ſo entſpringen uns ebendaher auch ei - genthümliche große Gefahren. In der Maſſe von Be - griffen, Regeln und Kunſtausdrücken, die wir von un - ſren Vorgängern empfangen, wird unfehlbar der ge - wonnenen Wahrheit ein ſtarker Zuſatz von Irrthum beygemiſcht ſeyn, der mit der traditionellen Macht ei - nes alten Beſitzſtandes auf uns einwirkt und leicht die Herrſchaft über uns gewinnen kann. Um dieſer Ge - fahr zu begegnen, müſſen wir wünſchen, daß von Zeit zu Zeit die ganze Maſſe des Überlieferten neu geprüft, in Zweifel gezogen, um ſeine Herkunft befragt werde. Dieſes geſchieht, indem wir uns künſtlich in die Lage verſetzen, als hätten wir das überlieferte Material ei - nem Unkundigen, Zweifelnden, Widerſtrebenden mitzu - theilen. Die angemeſſene Stimmung für eine ſolche prüfende Arbeit iſt die der geiſtigen Freyheit, der Unab - hängigkeit von aller Autorität; damit aber dieſes Frey - heitsgefühl nicht in Übermuth ausarte, muß das heil - ſame Gefühl der Demuth hinzutreten, die natürlicheXIIVorrede.Frucht unbefangener Erwägung der Beſchränktheit un - ſrer perſönlichen Kräfte, welche allein jene Freiheit des Blicks zu eigenen Leiſtungen befruchten können.

So werden wir, von ganz entgegengeſetzten Stand - punkten aus, auf ein und daſſelbe Bedürfniß in unſrer Wiſſenſchaft hingewieſen. Es läßt ſich bezeichnen als eine periodiſch wiederkehrende Betrachtung der von un - ſren Vorgängern geleiſteten Arbeit, um aus dieſer das Unächte auszuſcheiden, das Wahre aber als bleibenden Beſitz uns anzueignen, der uns in den Stand ſetze, nach dem Maas unſrer Kräfte in der Löſung der ge - meinſamen Aufgabe dem Ziele näher zu kommen. Eine ſolche Betrachtung anzuſtellen für den Zeitpunkt, worin wir uns gegenwärtig befinden, iſt die Beſtimmung des vorliegenden Werkes.

Es darf jedoch gleich im Eingang nicht verſchwie - gen werden, wie ſehr die unbefangene Aufnahme dieſes Werks durch das, was ſich in neueſter Zeit in unſrer Wiſſenſchaft zugetragen hat, gefährdet werden kann. Manche werden durch den Namen des Verfaſſers be - wogen werden, die eben ausgeſprochene allgemeine Be - ſtimmung dieſer Arbeit in Zweifel zu ziehen; ſie werden glauben, es ſey hier weniger auf den freyen Dienſt der Wiſſenſchaft abgeſehen, als auf die einſeitige Vertre -XIIIVorrede.tung der hiſtoriſchen Schule: das Werk trage alſo den Character einer Parteyſchrift an ſich, vor welcher ſich Jeder, der nicht jener Schule angehöre, zu hüten habe.

Alles Gelingen in unſrer Wiſſenſchaft beruht auf dem Zuſammenwirken verſchiedener Geiſtesthätigkeiten. Um Eine derſelben, und die aus ihr vorzugsweiſe ent - ſpringende wiſſenſchaftliche Richtung, in ihrer Eigen - thümlichkeit zu bezeichnen, war früher von mir und An - deren arglos der Ausdruck der hiſtoriſchen Schule ge - braucht worden. Es wurde damals dieſe Seite der Wiſſenſchaft beſonders hervorgehoben, nicht um den Werth anderer Thätigkeiten und Richtungen zu vernei - nen oder auch nur zu vermindern, ſondern weil jene Thätigkeit lange Zeit hindurch vor anderen verſäumt worden war, alſo vorübergehend mehr als andere einer eifrigen Vertretung bedurfte, um in ihr natürliches Recht wieder einzutreten. An jene Benennung nun hat ſich eine lange anhaltende, lebhafte Anfechtung geknüpft, und noch in der neueſten Zeit ſind darüber harte Worte ge - redet worden. Eine Vertheidigung gegen ſolche An - griffe würde unnütz, gewiſſermaßen unmöglich ſeyn; denn wie die Verſtimmung mehr von perſönlichen Ge - fühlen, als von wiſſenſchaftlichen Gegenſätzen, ausge - gangen iſt, ſo pflegen auch die Widerſacher der hiſtori -XIVVorrede.ſchen Schule Alles, was ihnen gerade unbequem oder misfällig in literariſchen Erſcheinungen iſt, unter jenem Namen zuſammen zu faſſen und zu tadeln; wer möchte da eine Widerlegung verſuchen? Ein Vorwurf jedoch muß, wegen ſeiner allgemeineren Natur, davon ausge - nommen werden. Es iſt oft von Gegnern behauptet worden, die Mitglieder der hiſtoriſchen Schule wollten die Gegenwart, ihre Selbſtſtändigkeit verkennend, unter die Herrſchaft der Vergangenheit beugen; insbeſondere wollten ſie die Herrſchaft des Römiſchen Rechts unge - bührlich ausdehnen: im Gegenſatz theils des deutſchen Rechts, theils der neuen Rechtsbildung, die durch Wiſ - ſenſchaft und Praxis an die Stelle des reinen Römi - ſchen Rechts getreten ſey. Dieſer Vorwurf hat einen allgemeinen, wiſſenſchaftlichen Character, und er darf nicht mit Stillſchweigen übergangen werden.

Die geſchichtliche Anſicht der Rechtswiſſenſchaft wird völlig verkannt und entſtellt, wenn ſie häufig ſo aufge - faßt wird, als werde in ihr die aus der Vergangenheit hervorgegangene Rechtsbildung als ein Höchſtes aufge - ſtellt, welchem die unveränderte Herrſchaft über Gegen - wart und Zukunft erhalten werden müſſe. Vielmehr beſteht das Weſen derſelben in der gleichmäßigen Aner - kennung des Werthes und der Selbſtſtändigkeit jedesXVVorrede.Zeitalters, und ſie legt nur darauf das höchſte Gewicht, daß der lebendige Zuſammenhang erkannt werde, wel - cher die Gegenwart an die Vergangenheit knüpft, und ohne deſſen Kenntniß wir von dem Rechtszuſtand der Gegenwart nur die äußere Erſcheinung wahrnehmen, nicht das innere Weſen begreifen. In beſonderer An - wendung auf das Römiſche Recht geht die geſchichtliche Anſicht nicht, wie von Vielen behauptet wird, darauf aus, demſelben eine ungebührliche Herrſchaft über uns zuzuwenden; vielmehr will ſie zunächſt in der ganzen Maſſe unſres Rechtszuſtandes dasjenige auffinden und feſtſtellen, was in der That Römiſchen Urſprungs iſt, damit wir nicht bewußtlos davon beherrſcht werden: dann aber ſtrebt ſie, in dem Umkreis dieſer Römiſchen Elemente unſres Rechtsbewußtſeyns dasjenige auszu - ſcheiden, was davon in der That abgeſtorben iſt, und nur durch unſer Misverſtändniß ein ſtörendes Schein - leben fortführt, damit für die Entwicklung und heilſame Einwirkung der noch lebendigen Theile jener Römiſchen Elemente um ſo freyerer Raum gewonnen werde. Das vorliegende Werk insbeſondere geht ſo wenig darauf aus, dem Römiſchen Recht eine übermäßige Herrſchaft zuzuwenden, daß es vielmehr die Anwendbarkeit deſſel - ben in nicht wenigen Rechtslehren beſtreitet, worin ſieXVIVorrede.bisher allgemein angenommen wurde, ſelbſt von Sol - chen, die ſich ſtets für Gegner der hiſtoriſchen Schule erklärt haben. Eine Sinnesänderung des Verfaſſers kann hierin nicht gefunden werden, da derſelbe dieſe An - ſichten großentheils ſchon ſeit Dreyßig bis Vierzig Jah - ren öffentlich vorgetragen hat; es liegt alſo in dieſer Erſcheinung vielmehr der Beweis, daß der angegebene Vorwurf, den man der hiſtoriſchen Schule überhaupt, und mir insbeſondere, zu machen pflegte, ganz ohne Grund iſt. Vielleicht kann bey Unbefangenen dieſe Wahrnehmung dazu dienen, den ganzen Parteyſtreit und die darauf bezüglichen Parteynamen allmälig zu beſeitigen; zumal da die Gründe, die den erſten Ge - brauch des Namens einer hiſtoriſchen Schule veranlaß - ten, zugleich mit den vorherrſchenden Mängeln, de - ren Bekämpfung damals nöthig war, ſo gut als ver - ſchwunden ſind. Zwar mag ein fortgeführter Streit ſolcher Art zur ſchärferen Ausbildung mancher Gegen - ſätze dienen, aber dieſer Vortheil wird gewiß weit über[-]wogen durch die Störung des unbefangenen Urtheils über fremde Leiſtungen, ſo wie dadurch, daß in dem Streit der Parteyen Kräfte verſchwendet werden, die zu den gemeinſamen Zwecken der Wiſſenſchaft heilſamer verwendet werden könnten. Ich bin weit entfernt, denXVIIVorrede.großen Vortheil des wiſſenſchaftlichen Streites über - haupt zu verkennen, der ſogar eine Lebensbedingung der Wiſſenſchaft iſt; auch in der Art und Richtung gei - ſtiger Kräfte der Einzelnen wird ſtets große Verſchie - denheit wahrgenommen werden. Gerade aus dem Zu - ſammenwirken ſo entgegengeſetzter Elemente ſoll aber das wahre Leben der Wiſſenſchaft hervorgehen, und die Träger der verſchiedenen Kräfte ſollen nie aufhören, ſich als Arbeiter an demſelben großen Bau anzuſehen. Laſ - ſen wir ſie dagegen in feindliche Lager aus einander tre - ten, und ſuchen wir durch fleißige Anwendung von Par - teynamen den Gegenſatz recht perſönlich zu machen, ſo wird bald unſre Auffaſſung von Grund aus unwahr, und ihre Folgen können ſich nur als verderblich erwei - ſen; das individuelle Leben und Wirken der Einzelnen verſchwindet vor unſren Augen, indem wir ſie vorzugs - weiſe als Anhänger einer Partey billigen oder anfein - den, und ſo geht uns der natürliche Gewinn für unſre eigene Bildung verloren, den wir aus der ungeſtörten Einwirkung ihrer Arbeit auf uns ziehen konnten.

Iſt nun auf dieſe Weiſe das Beſtreben, dem - miſchen Recht durch das vorliegende Werk eine unge - meſſene Herrſchaft über uns zuzuwenden, beſtimmt ab - gelehnt worden, ſo ſoll doch auf der andern Seite nichtbXVIIIVorrede.weniger beſtimmt anerkannt werden, daß die gründliche Kenntniß deſſelben auch für unſren gegenwärtigen Rechtszuſtand den höchſten Werth hat, ja unentbehrlich genannt werden muß; und ſelbſt wenn dieſe Überzeu - gung hier nicht wörtlich ausgeſprochen wäre, ſo würde ſie doch ſchon durch die Unternehmung eines ſo umfaſ - ſenden Werks, wie das gegenwärtige, alſo durch die That, an den Tag gelegt ſeyn. Es kommt nur darauf an, ſich über den Grund und die Beſchaffenheit dieſes hohen Werthes der Kenntniß jenes Rechts zu verſtän - digen.

Nicht wenige haben davon folgende Vorſtellung. In den Ländern, worin noch das Römiſche Recht als Ge - ſetz gelte, dürfe kein gewiſſenhafter Juriſt das mühevolle Studium deſſelben unterlaſſen; hingegen da, wo neue Geſetzbücher eingeführt ſeyen, falle ein ſolches Bedürf - niß hinweg, und der Rechtszuſtand ſey daſelbſt glückli - cher zu nennen, weil der Juriſt ſeine Zeit und Kraft auf lebendigere Gegenſtände verwenden könne. Wäre dieſes die rechte Anſicht, ſo würde ſelbſt für jene Länder das Römiſche Recht wenigſtens einen ſehr precären Werth haben, da für die Geſetzgeber derſelben nichts leichter ſeyn würde, als den erwähnten glücklicheren Zu - ſtand durch Aneignung eines ſchon vorhandenen frem -XIXVorrede.den Geſetzbuchs herbeyzuführen, wenn ſie nicht etwa ſelbſt ein eigenes neu hervorbringen möchten. An - dere haben die Behauptung eines beſonderen Werthes des Römiſchen Rechts ſo aufgefaßt, als ſollte das ma - terielle Ergebniß deſſelben, ſo wie es ſich in einzelnen praktiſchen Regeln darſtellen laſſe, verglichen mit ähnli - chen Regeln, wie ſie in Rechtsbildungen des Mittelal - ters oder der neueren Zeit erſcheinen, für vorzüglicher erklärt werden. Daß auf eine Apologie in dieſem Sinn namentlich das vorliegende Werk nicht ausgeht, wird die Ausführung deſſelben beweiſen. In der That liegt die Sache (ſehr einzeln ſtehende Fälle ausgenommen) tiefer, als daß ſie durch eine ſolche Wahl zwiſchen entge - gengeſetzten praktiſchen Regeln abgethan werden könnte, und ein Werk, welches dieſen comparativen Geſichts - punkt im Einzelnen verfolgen wollte, würde an die kind - liche Stimmung erinnern, die bey der Erzählung von Kriegsgeſchichten ſtets zu fragen geneigt iſt, welches die Guten, welches die Böſen waren.

Die geiſtige Thätigkeit der Einzelnen in Beziehung auf das Recht kann ſich in zwey verſchiedenen Richtun - gen äußern: durch Aufnahme und Entwicklung des Rechtsbewußtſeyns im Allgemeinen, alſo durch Wiſſen, Lehren, Darſtellen: oder durch die Anwendung auf dieb*XXVorrede.Ereigniſſe des wirklichen Lebens. Dieſes zweyfache Ele - ment des Rechts, das theoretiſche und das praktiſche, ge - hört demnach dem allgemeinen Weſen des Rechts ſelbſt an. Es liegt aber in dem Entwicklungsgang der neue - ren Jahrhunderte, daß dieſe zwey Richtungen zugleich in verſchiedenen Ständen und Berufsarten aus einan - der getreten ſind, daß alſo die Rechtskundigen, mit ſel - tenen Ausnahmen, durch ihren ausſchließenden oder überwiegenden Beruf entweder der Theorie oder der Praxis allein angehören. Wie dieſes nicht durch menſch - liche Willkühr ſo geworden iſt, ſo iſt daran auch im All - gemeinen Nichts zu loben oder zu tadeln. Wohl aber iſt es wichtig, mit Ernſt zu erwägen, was in dieſem Ge - genſatz naturgemäß und heilſam iſt, wie er dagegen in verderbliche Einſeitigkeit ausſchlagen kann. Es beruht aber alles Heil darauf, daß in dieſen geſonderten Thä - tigkeiten Jeder die urſprüngliche Einheit feſt im Auge behalte, daß alſo in gewiſſem Grade jeder Theoretiker den praktiſchen, jeder Praktiker den theoretiſchen Sinn in ſich erhalte und entwickle. Wo dieſes nicht geſchieht, wo die Trennung zwiſchen Theorie und Praxis eine ab - ſolute wird, da entſteht unvermeidlich die Gefahr, daß die Theorie zu einem leeren Spiel, die Praxis zu einem bloßen Handwerk herabſinke.

XXIVorrede.

Wenn ich ſage, daß jeder Theoretiker ſtets zugleich ein praktiſches Element in ſich tragen ſoll, ſo iſt dieſes dem Sinn und Geiſt nach gemeynt, nicht der Beſchäf - tigung nach: obgleich freylich einige praktiſche Beſchäfti - gung, richtig angewendet, der ſicherſte Weg zur För - derung des praktiſchen Sinnes iſt. Gewiß haben Viele, die mit Ernſt und Liebe der Rechtswiſſenſchaft zugethan ſind, die Erfahrung gemacht, daß irgend ein einzelner Rechtsfall ihnen ein Rechtsinſtitut zu ſo lebendiger An - ſchauung gebracht hat, wie es ihnen durch Bücherſtu - dium und eigenes Nachdenken nie gelungen war. Was uns nun ſo durch Zufall im Einzelnen an Ausbildung zugeführt wird, läßt ſich auch als bewußtes Ziel unſres Strebens, und durch das Ganze unſrer Wiſſenſchaft durchgeführt, denken. Dann wäre der vollendete Theo - retiker derjenige, deſſen Theorie durch die vollſtändige, durchgeführte Anſchauung des geſammten Rechtsver - kehrs belebt würde; alle ſittlich religiöſen, politiſchen, ſtaatswirthſchaftlichen Beziehungen des wirklichen Le - bens müßten ihm dabey vor Augen ſtehen. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß dieſe Forderung nicht auf - geſtellt werden ſoll, um denjenigen zu tadeln, der ſie nicht vollſtändig erfüllt, da ſich ja Jeder, der etwa einen ſolchen Maasſtab an Andere anlegen möchte, ſagen muß,XXIIVorrede.wie wenig er ſelbſt dieſes vermag. Dennoch iſt es gut, ſich ein ſolches Ziel für die vereinten Beſtrebungen man - nichfaltiger Kräfte vor Augen zu halten; zunächſt um in der wahren Richtung zu bleiben, dann auch um ſich gegen alle Anwandlungen des Eigendünkels zu ſchützen, vor welchen keiner ganz ſicher iſt. Betrachten wir nun aber den wirklichen Zuſtand unſrer Rechtstheorie, wie ſie jetzt iſt, in Vergleichung mit dem Zuſtand, wie er vor Funfzig, und noch mehr wie er vor Hundert Jah - ren war, ſo finden wir Vorzüge und Nachtheile ſehr ge - miſcht. Zwar wird Niemand verkennen, daß jetzt Vie - les möglich geworden und wirklich geleiſtet iſt, woran früher nicht zu denken war, ja daß die Maſſe der her - vorgearbeiteten Kenntniſſe in Vergleichung mit jenen früheren Zeitpunkten ſehr hoch ſteht. Sehen wir aber auf den oben geforderten praktiſchen Sinn, wodurch in den einzelnen Trägern der Theorie ihr Wiſſen belebt werden ſoll, ſo dürfte die Vergleichung minder vortheil - haft für die Gegenwart ausfallen. Dieſer Mangel der Gegenwart aber ſteht im Zuſammenhang mit der eigen - thümlichen Richtung, die in den theoretiſchen Beſtrebun - gen ſelbſt gegenwärtig wahrzunehmen iſt. Gewiß iſt Nichts löblicher, als der Trieb die Wiſſenſchaft durch neue Entdeckungen zu bereichern; dennoch hat auch die -XXIIIVorrede.ſer Trieb in unſrer Zeit eine oft einſeitige und unheil - ſame Wendung genommen. Man hat angefangen, ei - nen übertriebenen Werth zu ſetzen auf die Erzeugung neuer Anſichten, in Vergleichung mit der treuen, liebe - vollen Ausbildung und befriedigenden Darſtellung des ſchon Erforſchten, obgleich auch bey dieſer, wenn ſie mit Ernſt geſchieht, das ſchon Vorhandene ſtets eine neue Geſtalt annehmen, und ſo zum wirklichen, wenn auch weniger bemerkbaren, Fortſchritt der Wiſſenſchaft führen wird. Da nun den Meiſten eine im Großen wirkende ſchöpferiſche Kraft nicht verliehen iſt, ſo hat jene einſei - tige Werthſchätzung des Neuen Viele dahin geführt, ſich vorzugsweiſe in einzelnen, abgeriſſenen Gedanken und Meynungen zu ergehen, und über dieſer Zerſplitterung den zuſammenhängenden Beſitz des Ganzen unſrer Wiſſenſchaft zu verſäumen. Hierin eben waren uns unſre Vorgänger überlegen, unter welchen ſich ver - hältnißmäßig eine größere Zahl von Individuen fand, die unſre Wiſſenſchaft im Ganzen auf eine würdige Weiſe zu repräſentiren vermochten. Wer jedoch die Sache von einem allgemeineren Standpunkt aus be - trachten will, wird ſich leicht überzeugen, daß dieſe Erſcheinungen keinesweges der Rechtswiſſenſchaft ei - genthümlich ſind, ſondern vielmehr mit dem Ent -XXIVVorrede.wicklungsgang unſrer Literatur überhaupt in Zuſam - menhang ſtehen.

Auf der anderen Seite wurde oben gefordert, daß der Praktiker zugleich ein theoretiſches Element in ſich trage. Auch dieſes wiederum iſt nicht ſo gemeynt, daß er zugleich als Schriftſteller thätig ſeyn, oder auch nur ein ſehr umfaſſendes Bücherſtudium ſtets fortführen ſolle: Beides würde ſchon durch den Umfang der prak - tiſchen Arbeiten meiſt unmöglich werden. Aber den Sinn für die Wiſſenſchaft ſoll er in ſeinem praktiſchen Geſchäft ſelbſt ſtets lebendig erhalten, er ſoll nie ver - geſſen, daß die richtig aufgefaßte Rechtswiſſenſchaft nichts Anderes iſt, als die Zuſammenfaſſung desjenigen, was er im Einzelnen ſich zum Bewußtſeyn bringen und an - wenden ſoll. Nichts iſt häufiger, als in der Würdi - gung eines praktiſchen Juriſten auf die bloße Gewandt - heit und Leichtigkeit ausſchließenden Werth zu legen, obgleich dieſe an ſich ſehr brauchbare Eigenſchaften mit der gewiſſenloſeſten Oberflächlichkeit gar wohl vereinbar ſind. Daß unſrer juriſtiſchen Praxis der rechte Geiſt nicht überall inwohnt, geht ſichtbar hervor aus dem Er - folg, wie er ſich im Großen darſtellt. Wäre in ihr die - ſer Geiſt wirkſam, ſo müßte auch von ihr ein ſicherer Fortſchritt geſunder Rechtswiſſenſchaft ausgehen, ſieXXVVorrede.müßte die theoretiſchen Beſtrebungen unterſtützen und, wo ſie abirren, auf die rechte Bahn zurück führen, be - ſonders aber müßte ſie der Geſetzgebung ſo vorarbeiten, daß beide, Geſetz und Rechtsanwendung, naturgemäß in innerer Einheit vorwärts giengen. Und finden wir nicht meiſtens von dieſem Allen gerade das Gegentheil?

Beſteht nun alſo das Hauptübel unſres Rechtszu - ſtandes in einer ſtets wachſenden Scheidung zwiſchen Theorie und Praxis, ſo kann auch die Abhülfe nur in der Herſtellung ihrer natürlichen Einheit geſucht wer - den. Gerade dazu aber kann das Römiſche Recht, wenn wir es richtig benutzen wollen, die wichtigſten Dienſte leiſten. Bey den Römiſchen Juriſten erſcheint jene na - türliche Einheit noch ungeſtört, und in lebendigſter Wirk - ſamkeit; es iſt nicht ihr Verdienſt, ſo wie der entgegen - geſetzte heutige Zuſtand mehr durch den allgemeinen Gang der Entwicklung, als durch die Schuld der Ein - zelnen, herbeygeführt worden iſt. Indem wir uns nun mit Ernſt und Unbefangenheit in ihr, von dem unſrigen ſo verſchiedenes, Verfahren hinein denken, können auch wir uns daſſelbe aneignen, und ſo für uns ſelbſt in die rechte Bahn einlenken.

Da es aber ſehr verſchiedene Weiſen giebt, in wel - chen die Kenntniß des Römiſchen Rechts geſucht werdenXXVIVorrede.kann, ſo iſt es nöthig klar auszuſprechen, welcherley Weiſe dieſer Kenntniß hier gefordert wird, wenn der angegebene Zweck erreicht werden ſoll. Daß ein gründ - liches wiſſenſchaftliches Verfahren gemeynt iſt, wird wohl Jeder erwarten; Mancher aber möchte durch das Mis - verſtändniß zurück geſchreckt werden, als werde Jedem, der ſich eine ſolche Kenntniß des Römiſchen Rechts er - werben wolle, auch die ganze Arbeit antiquariſcher Un - terſuchung und kritiſcher Quellenforſchung angemuthet. Obgleich nun auch dieſer Theil unſrer Studien wichtig iſt, ſo ſoll doch hier keinesweges das heilſame Princip der Theilung der Arbeit verkannt werden; die Meiſten alſo werden ſich mit den Reſultaten jener von Einzelnen ange - ſtellten ſpeciellen Forſchungen völlig genügen laſſen kön - nen. Auf der andern Seite aber würde es ganz irrig ſeyn zu glauben, als ob mit einer Kenntniß der allge - meinſten Grundſätze des Römiſchen Rechts für den an - gegebenen Zweck auch nur das Geringſte gewonnen wer - den könnte: einer Kenntniß etwa, wie ſie in einem In - ſtitutionencompendium niedergelegt iſt, oder wie ſie in den Franzöſiſchen Rechtsſchulen mitgetheilt zu werden pflegt. Eine ſolche Kenntniß iſt genügend, um das wörtliche Andenken des Römiſchen Rechts auf eine beſ - ſere Zukunft fortzupflanzen; dem, welcher ſich auf ſieXXVIIVorrede.beſchränkt, lohnt ſie kaum die geringe Mühe, die er darauf verwendet. Soll uns die Kenntniß des Römi - ſchen Rechts zu dem hier angegebenen Ziel führen, ſo giebt es nur Einen Weg dazu: wir müſſen uns in die Schriften der alten Juriſten ſelbſtſtändig hinein leſen und denken. Dann wird uns auch die ungeheure Maſſe neuerer Literatur nicht mehr abſchrecken. Zweckmäßige Anleitung mag uns das Wenige daraus bemerklich ma - chen, wodurch unſer unabhängiges Studium wahrhaft gefördert werden kann; die übrige Maſſe überlaſſen wir den Juriſten von theoretiſchem Beruf, die freylich auch dieſe mühevolle Beſchäftigung nicht von ſich abweiſen dürfen.

Das vorliegende Werk iſt ganz beſonders dazu be - ſtimmt, die hier dargelegten Zwecke ernſtlicher Beſchäf - tigung mit dem Römiſchen Recht zu befördern: vorzüg - lich alſo die Schwierigkeiten zu vermindern, die den Ju - riſten von praktiſchem Beruf von einem eigenen, ſelbſt - ſtändigen Quellenſtudium abzuhalten pflegen. Durch dieſe Schwierigkeiten wird den Anſichten, die gerade in den gangbarſten neueren Handbüchern niedergelegt ſind, eine ungebührliche Herrſchaft über die Praxis zuge - wendet; geht alſo die Abſicht des Verfaſſers bey die - ſem Werke in Erfüllung, ſo wird dadurch zugleich aufXXVIIIVorrede.die Emancipation der Praxis von einer unächten Theo - rie hingewirkt werden.

Allerdings finden dieſe Gedanken ihre unmittelbarſte Anwendung in den Ländern, worin noch jetzt das - miſche Recht die Grundlage der Rechtspraxis bildet; dennoch ſind ſie auch anwendbar da wo neue Geſetzbü - cher an die Stelle des Römiſchen Rechts getreten ſind. Denn die Mängel des Rechtszuſtandes ſind hier und dort weſentlich dieſelben, und eben ſo iſt das Bedürfniß und die Art der Abhülfe weniger verſchieden, als man glauben möchte. Auch in den Ländern alſo, die mit einheimiſchen Geſetzbüchern verſehen ſind, wird durch die hier dargeſtellte Benutzungsweiſe des Römiſchen Rechts die Theorie theils neu belebt, theils vor ganz ſubjectiven und willkührlichen Abirrungen bewahrt, beſonders aber der Praxis wieder näher gebracht werden, worauf überall das Meiſte ankommt. Schwerer freylich iſt hier eine ſolche Umwandlung als in den Ländern des gemeinen Rechts, aber unmöglich iſt ſie nicht. Das zeigt uns be - ſonders das Beyſpiel der neueren Franzöſiſchen Juri - ſten, die oft auf recht verſtändige Weiſe ihr Geſetzbuch aus dem Römiſchen Recht erläutern und ergänzen. Hierin verfahren ſie ganz im wahren Sinn dieſes Ge - ſetzbuchs, und wo ſie fehl greifen, da geſchieht es weni -XXIXVorrede.ger aus einer ungehörigen Benutzungsweiſe des Römi - ſchen Rechts, als aus mangelhafter Kenntniß deſſelben. Hierin nun ſind wir ihnen unſtreitig überlegen; allein in der Art der Benutzung neben den einheimiſchen Ge - ſetzen würden wir wohl thun von ihnen zu lernen. Schwieriger allerdings als bey ihnen iſt dieſe Benutzung in unſrem Preußiſchen Vaterland, da in unſrem Land - recht theils durch die eigenthümliche Darſtellungsweiſe, theils durch die weit getriebene Ausführlichkeit, der wirk - lich vorhandene innere Zuſammenhang mit dem frühe - ren Recht oft verdeckt wird. Schwieriger alſo iſt ſie, aber darum nicht unmöglich; und wenn ſie wiederher - geſtellt wird, ſo wird damit zugleich einem weſentlichen Übel abgeholfen, das aus der Einführung des Land - rechts hervorgegangen iſt. Dieſes Übel beſteht in der gänzlichen Abtrennung von der wiſſenſchaftlichen Bear - beitung des gemeinen Rechts, wodurch unſrer Praxis eines der wichtigſten Bildungsmittel bisher entzogen wurde, die lebendige Berührung mit dem juriſtiſchen Denken früherer Zeiten und anderer Länder. Es iſt nicht zu verkennen, daß zu der Zeit, worm die Abfaſſung des Preußiſchen Landrechts unternommen wurde, die deutſche juriſtiſche Literatur großentheils geiſtlos und unbehülflich geworden war, alſo auch die Fähigkeit einesXXXVorrede.wohlthätigen Einfluſſes auf die Praxis meiſt verloren hatte; ja eben die Wahrnehmung dieſes mangelhaften Rechtszuſtandes hat damals zu dem Verſuch geführt, dem Übel durch ein einheimiſches Geſetzbuch abzuhelfen, und ſo die Grundlage des praktiſchen Rechts gänzlich umzuändern. Wenn es uns jetzt gelänge, die aufge - löſte Verbindung mit der gemeinrechtlichen Literatur theil - weiſe wieder anzuknüpfen, ſo könnte daraus nunmehr, bey dem gänzlich veränderten Zuſtand der Rechtswiſſen - ſchaft, nur ein wohlthätiger Einfluß auf die Praxis ent - ſtehen, und die Nachtheile, die ſich in früherer Zeit ſo fühlbar gemacht hatten, würden gewiß nicht wiederkehren.

Manche finden in der Anmuthung, das Römiſche Recht fortwährend als Bildungsmittel für unſren Rechts - zuſtand zu benutzen eine verletzende Zurückſetzung unſrer Zeit und unſrer Nation. Sie faſſen die Sache ſo auf, als könnten wir auf dieſem Wege, im günſtigſten Falle, doch nur eine unvollkommene Nachahmung oder Wie - derholung des von den Römern hervorgebrachten Rechts - zuſtandes darſtellen, es ſey aber würdiger, durch unab - hängiges Streben etwas Neues und Eigenthümliches zu ſchaffen. Dieſem an ſich löblichen Selbſtgefühl liegt aber folgendes Misverſtändniß zum Grunde. Bei dem großen und mannichfaltigen Rechtsſtoff, den uns dieXXXIVorrede.Jahrhunderte zugeführt haben, iſt unſre Aufgabe ohne Vergleich ſchwieriger, als es die der Römer war, unſer Ziel alſo ſteht höher, und wenn es uns gelingt dieſes Ziel zu erreichen, ſo werden wir nicht etwa die Trefflich - keit der Römiſchen Juriſten in bloßer Nachahmung wie - derholt, ſondern weit Größeres als ſie geleiſtet haben. Wenn wir gelernt haben werden, den gegebenen Rechts - ſtoff mit derſelben Freyheit und Herrſchaft zu behan - deln, die wir an den Römern bewundern, dann können wir ſie als Vorbilder entbehren, und der Geſchichte zu dankbarer Erinnerung übergeben. Bis dahin aber wol - len wir uns eben ſo wenig durch falſchen Stolz, als durch Bequemlichkeit, abhalten laſſen ein Bildungsmittel zu benutzen, welches wir durch eigene Kraft zu erſetzen ſchwerlich vermögen würden. Es wird alſo hierin ein Verhältniß unſrer Zeit zum Alterthum behauptet, wie wir es in ähnlicher Weiſe auch in anderen geiſtigen Gebieten wahrnehmen. Niemand möge dieſe Worte ſo verſtehen, als ſollte die Beſchäftigung mit dem Römiſchen Recht er - hoben werden zum Nachtheil der eifrigen germaniſtiſchen Beſtrebungen, die gerade in unſrer Zeit ſo erfreulichen Hoffnungen Raum geben. Nichts iſt häufiger und na - türlicher, als den lebendigen Eifer für das Gebiet un - ſrer eigenen Forſchungen kund zu geben durch Herab -XXXIIVorrede.ſetzung eines verwandten fremden Gebietes; aber ein Irrthum iſt es dennoch, und dieſer Irrthum wird un - fehlbar nur demjenigen Nachtheil bringen, der ihn hegt und übt, nicht dem Gegner, welchem durch ſolche Herab - ſetzung Abbruch gethan werden ſoll.

Aus dem oben dargelegten Plan dieſes Werks geht hervor, daß es vorzugsweiſe einen kritiſchen Character haben wird. Manche werden damit wenig zufrieden ſeyn, indem ſie überall nur poſitive, zu unmittelbarer Anwendung brauchbare, Wahrheit verlangen, unbeküm - mert um die Art ihrer Erwerbung, und um die mögli - chen Gegenſätze derſelben. Unſer geiſtiges Leben wäre leicht und bequem, wenn wir lediglich die klare, einfache Wahrheit ausſchließend auf uns einwirken laſſen und ſo zu immer neuer Erkenntniß ungeſtört fortſchreiten könnten. Allein uns umgiebt und hemmt von allen Seiten der Schutt falſcher oder halbwahrer Begriffe und Meynungen, durch die wir uns Bahn machen müſ - ſen. Wollen wir mit dem Schickſal darum rechten, daß es uns ſolche unnütze Mühe aufgebürdet hat? Schon als in eine nothwendige Bedingung unſres geiſtigen Da - ſeyns müßten wir uns darein fügen, allein es fehlt auch nicht an reicher Frucht, die als Lohn unſrer Arbeit aus dieſer Nothwendigkeit erwächſt. Unſere geiſtige KraftXXXIIIVorrede.findet darin ihre allgemeine Erziehung, und jede ein - zelne Wahrheit, die wir durch dieſen Kampf mit dem Irrthum gewinnen, wird in höherem Sinn unſer Ei - genthum, und erweiſt ſich uns fruchtbarer, als wenn wir ſie leidend und mühelos von Anderen empfangen.

Der erwähnte kritiſche Character des Werks wird ſich nun vorzüglich in folgenden einzelnen Anwendungen zeigen. Zunächſt, und recht ausſchließend, in den nicht ſeltenen blos negativen Reſultaten einer angeſtellten Un - terſuchung; mögen dieſe darin beſtehen, daß ein Römi - ſches Rechtsinſtitut als erſtorben, und alſo unſrem Rechts - zuſtand fremd, nachgewieſen wird, oder in der Darle - gung der von neueren Juriſten in unſer Rechtsſyſtem aus Misverſtand eingeſchobenen grundloſen Begriffe und Lehrmeynungen. Gerade ſolche Unterſuchungen ſind es, womit Viele am Wenigſten behelligt und aufgehalten werden möchten. Wer aber Steine aus dem Wege räumt, oder gegen Abwege warnt durch aufgeſtellte Weg - weiſer, der verbeſſert doch weſentlich den Zuſtand ſeiner Nachfolger; mag es auch, wenn ſolche erlangte Vor - theile durch Gewohnheit befeſtigt ſind, bald vergeſſen werden, daß es jemals eine Zeit gab, worin hier Schwie - rigkeiten zu beſtehen waren.

cXXXIVVorrede.

Allein nicht nur in blos negativen Reſultaten wird ſich jener kritiſche Character des Werks zeigen, ſondern auch da, wo für eine aufgeſtellte poſitive Wahrheit der einfache, abſolute Gegenſatz des Wahren und Falſchen nicht ausreicht. So kommt es in vielen Fällen vor - zugsweiſe darauf an, den Grad unſrer Überzeugung näher zu bezeichnen. Wenn wir nämlich fremden Mey - nungen ſtreitend entgegen treten, kann dieſes auf ver - ſchiedene Weiſe geſchehen. Nicht ſelten begleitet unſre Überzeugung das Gefühl vollſtändiger Gewißheit, in - dem wir einſehen, wie die Meynung des Gegners aus logiſchen Fehlern, factiſcher Unkenntniß, oder durchaus verwerflicher Methode entſprungen iſt; dann halten wir dieſe Meynung für wiſſenſchaftlich unerlaubt, und in unſrem Widerſpruch iſt dann ein entſchiedener Tadel des Gegners nothwendig enthalten. Nicht ſo in ande - ren Fällen, worin wir, nach ſorgfältiger Abwägung al - ler Gründe, zwar Einer Meynung den Vorzug geben, doch ohne den Anſpruch auf ſo entſchiedene Verurthei - lung unſres Gegners. In dieſer Wahrſcheinlichkeit nun, womit wir uns dann begnügen müſſen, laſſen ſich Grade unterſcheiden, und die genaue Bezeichnung, die gewiſſenhafte Anerkennung dieſer Grade gehört ebenſo - wohl zum ſittlichen, als zum wiſſenſchaftlichen WerthXXXVVorrede.unſrer Arbeit(a)Lebensnachrichten über B. G. Niebuhr B. 2 S. 208: Vor allen Dingen aber müſſen wir in den Wiſſenſchaften unſre Wahr - haftigkeit ſo rein erhalten, daß wir abſolut allen falſchen Schein fliehen, daß wir auch nicht das allergeringſte als gewiß ſchreiben, wovon wir nicht völlig überzeugt ſind, daß wir, wo wir Vermu - thung ausſprechen müſſen, alles anſtrengen um den Grad unſers Wahrhaltens anſchaulich zu ma - chen. Vieles in dem treffli - chen Briefe, woraus dieſe Stelle genommen iſt, gehört nicht der Philologie allein an (worauf es ſich zunächſt bezieht); ſondern al - len Wiſſenſchaften überhaupt.. In anderen Fällen ſtreitender Meynungen iſt es von Wichtigkeit, die eigentliche Gränze des Streitigen, ſo wie den Werth und Einfluß, den dieſe Meynungsverſchiedenheit für die Wiſſenſchaft hat, ge - nau zu beſtimmen. Die Lebhaftigkeit des Streites, ſo wie das durch denſelben häufig erhöhte Selbſtgefühl, verleitet uns leicht zu einer übertriebenen Werthſchätzung deſſelben, und läßt uns dann auch Andere hierin irre führen. Endlich verdient noch, in den von uns ange - fochtenen fremden Meynungen, große Aufmerkſamkeit ein Verhältniß derſelben, das ſich als relative Wahr - heit bezeichnen läßt. Nicht ſelten nämlich werden wir in einer Meynung, die wir als entſchiedenen Irrthum verwerfen müſſen, dennoch ein wahres Element erken - nen, welches nur durch verkehrte Behandlung oder ein - ſeitige Übertreibung in Irrthum umgewandelt worden iſt; namentlich gilt dieſes von den vielen Fällen, worin der Irrthum nur darin beſteht, daß das Concrete zuc*XXXVIVorrede.allgemein, oder das wahrhaft Allgemeine zu concret aufgefaßt wird. Die Ausſcheidung und Anerkennung eines ſolchen wahren Elements in der von uns als irrig bekämpften Meynung kann für die Wiſſenſchaft von großem Werth ſeyn; ſie iſt vorzugsweiſe geeignet, un - ter unbefangenen, wahrheitsliebenden Gegnern eine Ver - ſtändigung herbey zu führen, und ſo den Streit zur reinſten, befriedigendſten Entſcheidung zu bringen, in - dem die Gegenſätze in einer höheren Einheit aufge - löſt werden.

Die Form, worin die hier dargelegten Zwecke ver - folgt werden ſollen, iſt die ſyſtematiſche, und da das Weſen derſelben nicht von Allen auf gleiche Weiſe auf - gefaßt wird, ſo iſt es nöthig, eine allgemeine Erklärung hierüber gleich an dieſer Stelle nieder zu legen. Ich ſetze das Weſen der ſyſtematiſchen Methode in die Er - kenntniß und Darſtellung des inneren Zuſammenhangs oder der Verwandtſchaft, wodurch die einzelnen Rechts - begriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit ver - bunden werden. Solche Verwandtſchaften nun ſind erſt - lich oft verborgen, und ihre Entdeckung wird dann un - ſre Einſicht bereichern. Sie ſind ferner ſehr mannich - faltig, und je mehr es uns gelingt, bey einem Rechts - inſtitut deſſen Verwandtſchaften nach verſchiedenen Sei -XXXVIIVorrede.ten hin zu entdecken und zu verfolgen, deſto vollſtändi - ger wird unſre Einſicht werden. Endlich giebt es auch nicht ſelten einen täuſchenden Schein von Verwandt - ſchaft, wo eine ſolche in der That nicht vorhanden iſt, und dann beſteht unſre Aufgabe in der Vernichtung die - ſes Scheins. Natürlich wird auch die äußere Anord - nung eines ſyſtematiſchen Werks durch jenen inneren Zuſammenhang, der ſich in ihr abzuſpiegeln hat, be - ſtimmt werden, und nicht ſelten iſt es dieſe allein, woran man zu denken pflegt, wenn von ſyſtematiſcher Behand - lung die Rede iſt. Dabey iſt jedoch gegen manche Mis - verſtändniſſe zu warnen. In der reichen, lebendigen Wirklichkeit bilden alle Rechtsverhältniſſe Ein organi - ſches Ganze, wir aber ſind genöthigt, ihre Beſtandtheile zu vereinzeln, um ſie ſucceſſiv in unſer Bewußtſeyn auf - zunehmen und Anderen mitzutheilen. Die Ordnung, in die wir ſie ſtellen, kann alſo nur durch diejenige Ver - wandtſchaft beſtimmt werden, die wir gerade als die überwiegende erkennen, und jede andere in der Wirk - lichkeit vorhandene Verwandtſchaft kann nur in abge - ſonderter Darſtellung daneben bemerklich gemacht wer - den. Hierin nun iſt eine gewiſſe Duldſamkeit zu for - dern, ja ſelbſt einiger Spielraum für den ſubjectiven Bildungsgang des Schriftſtellers, der ihn vielleicht be -XXXVIIIVorrede.ſtimmt, eine gewiſſe Betrachtungsweiſe beſonders her - vorzuheben, die er dann aber auch vorzugsweiſe frucht - bar zu machen im Stande ſeyn wird.

Viele fordern von einer ſyſtematiſchen Darſtellung, daß in derſelben Nichts vorkomme, was nicht in dem Vorhergehenden ſeine vollſtändige Begründung gefun - den habe, daß alſo auf keine Weiſe in den Inhalt ſpä - ter folgender Theile hinüber gegriffen werde. Dieſen muß das vorliegende Werk den größten Anſtoß erre - gen, da ich jene Forderung, für ein Werk wie dieſes, nicht einmal als ein annäherungsweiſe zu befolgendes Geſetz anerkennen kann. Bey jener Forderung liegt zum Grunde die Vorausſetzung, daß dem Leſer der Stoff fremd ſey und jetzt erſt bekannt werden ſolle, und darum iſt ſie auch richtig, wenn ſie für die Einrichtung des er - ſten Unterrichts aufgeſtellt wird. Allein nicht leicht wird Jemand auf den Gedanken kommen, durch ein ausführ - liches Werk, wie das gegenwärtige, die Rechtswiſſen - ſchaft zuerſt erlernen zu wollen. Vielmehr werden es Diejenigen, denen der Stoff aus Vorleſungen und ande - ren Büchern bekannt iſt, dazu benutzen, die ſchon er - worbene Kenntniß zu prüfen, zu reinigen, tiefer zu be - gründen, zu erweitern. Dieſen aber kann wohl auf je - dem Punkte der Darſtellung angemuthet werden, DasXXXIXVorrede.nas ſie ſchon wiſſen in ihr Bewußtſeyn zurück zu ru - fen, auch wenn es in dieſem Werk erſt ſpäter für ſich dargeſtellt wird. Will man dieſes Verfahren vermei - den, ſo iſt man genöthigt, die Darſtellung der wich - tigſten und fruchtbarſten Verwandtſchaften der Rechts - inſtitute entweder ganz aufzugeben, oder doch an ſolche Stellen zu verlegen, an welchen ſie weit weniger an - ſchaulich und wirkſam werden muß. Wird daher nur in der That der Vortheil lebendiger Anſchaulichkeit durch die gewählte Anordnung erreicht, ſo bedarf dieſe Wahl einer anderen Rechtfertigung nicht. Diejenigen aber, die ſich durch dieſe Gründe nicht beſtimmen laſſen möch - ten, den erwähnten Tadel aufzugeben, ſind daran zu er - innern, daß ſie ſich in ausführlichen Monographieen eine Menge von Vorausſetzungen gefallen laſſen, die in dem - ſelben Buch nicht ihre Begründung finden. Warum ſollte nun der Verfaſſer eines umfaſſenden Syſtems hierin geringeres Recht haben, als der Verfaſſer einer Monographie?

Indem aber hier, zur Beſeitigung eines vorauszu - ſehenden Einwurfs, der Monographieen gedacht worden iſt, die um ſo wichtiger ſind, als in ihnen in neuerer Zeit der wichtigſte Fortſchritt unſrer Wiſſenſchaft zu ſu - chen iſt, muß zugleich einem Misverſtändniß begegnetXLVorrede.werden, welches über das Verhältniß dieſer Art von Arbeiten zu einem umfaſſenden Rechtsſyſtem bey Man - chen wahrgenommen wird. Dieſe denken ſich nämlich jede Monographie ſo, als wäre ſie ein einzelner Ab - ſchnitt, aus dem Ganzen eines Syſtems zufällig beſon - ders bearbeitet und herausgegeben; nach dieſer Anſicht bedürfte es nur einer hinreichenden Anzahl guter Mo - nographieen, um durch Zuſammenfügen derſelben ein befriedigendes Syſtem zu erbauen. Der weſentliche Un - terſchied beſteht aber darin, daß in der Monographie der Standpunkt eines einzelnen Rechtsinſtituts willkühr - lich gewählt wird, um von dieſem aus die Beziehungen zu dem Ganzen zu erkennen; hierdurch aber wird die Auswahl und die Anordnung des Stoffs eine ganz an - dere, als da wo daſſelbe Rechtsinſtitut im Zuſammen - hang eines vollſtändigen Rechtsſyſtems darzuſtellen iſt. Ich habe dieſe Bemerkung auch deswegen nöthig ge - funden, um es voraus zu erklären und zu rechtfertigen, wenn die Lehre vom Beſitz in dem vorliegenden Werk eine ganz andere Geſtalt haben wird, als in dem Buch, worin ich dieſelbe früher abgeſondert dargeſtellt habe.

Neben dem Syſtem ſelbſt finden ſich in dieſem Werk abgeſonderte Unterſuchungen unter dem Namen von Beylagen; dieſe Einrichtung habe ich aus verſchiedenenXLIVorrede.Gründen nöthig gefunden. Zuweilen fordert eine ein - zelne Frage eine ſo ausgedehnte Unterſuchung, daß da - durch im Laufe des Syſtems das richtige Maaß weit überſchritten, alſo der natürliche Zuſammenhang geſtört werden würde. In anderen Fällen greift ein Rechts - begriff ſo gleichmäßig in ganz verſchiedene Theile des Syſtems ein, daß nur eine abgeſonderte Darſtellung zu einer erſchöpfenden Behandlung des Gegenſtandes führen kann; dieſes gilt namentlich von einer ausführ - lichen Beylage, worin die Lehre vom Irrthum abge - handelt werden wird (Beylage VIII). Endlich liegen zwar antiquariſche Unterſuchungen ganz außer dem Plane des Werks; zuweilen aber ſind dieſelben mit Inſtituten des neueſten Rechts ſo verwebt, daß dieſe nicht vollſtän - dig zur Anſchauung gebracht werden könnten, wenn nicht jenen ihre beſcheidene Stelle in einer Beylage einge - räumt würde. Eine ganz ſichere Gränze zu ziehen zwiſchen dem Stoff, der dem Syſtem, und dem welcher den Beylagen zugetheilt werden ſoll, iſt unmöglich, und es wird vielleicht Mancher wünſchen, daß hier und dort etwas Mehr oder Weniger, als geſchehen iſt, in die Bey - lagen verwieſen ſeyn möchte. Allein auch bey dieſer Frage mag der individuellen Freyheit ein etwas weiter Spielraum ohne Gefahr zugeſtanden werden.

XLIIVorrede.

In früheren Zeiten pflegte man wohl bey der Dar - ſtellung der einzelnen Rechtsinſtitute eine ganz gleichför - mige Weiſe anzuwenden, wozu vorzugsweiſe gehörte, daß der Darſtellung des Begriffs eine vollſtändige Angabe aller möglichen Eintheilungen deſſelben folgen mußte. Manche neuere Schriftſteller haben dieſe Ein - richtung als unbehülflich und unnütz verworfen, und ſich darauf beſchränkt, Eintheilungen da bemerklich zu ma - chen, wo ſie durch die Aufſtellung einzelner Rechtsregeln herbeygeführt werden. Als allgemeine Maxime kann ich weder das eine noch das andere Verfahren billigen, indem ich hierin jede mechaniſche Gleichförmigkeit ver - werflich finde, ſie mag in Thun oder Laſſen beſtehen. Jede Form iſt gut und räthlich, deren Anwendung die klare, gründliche Einſicht in ein Rechtsinſtitut fördert, und man ſoll daher in jedem einzelnen Falle dasjenige thun, was die eigenthümliche Natur deſſelben erfordert. Wo alſo der Begriff eines Rechtsinſtituts Gegenſätze in ſich ſchließt, die in das Weſen deſſelben tief eingreifen, da kann es wohl zur freyen, vollſtändigen Handhabung des Begriffs nöthig werden, der allgemeinen Angabe deſſelben ſogleich die Eintheilungen beyzufügen, worin jene Gegenſätze ihren Ausdruck finden.

Beſondere Sorgfalt wird in dem vorliegenden WerkXLIIIVorrede.auf die genaue Feſtſtellung des quellenmäßigen Sprach - gebrauchs verwendet werden, und es iſt nöthig dieſe zu rechtfertigen, da Manche glauben, daß in neuerer Zeit auf dieſen Gegenſtand ein übertriebenes Gewicht gelegt werde. Die Wichtigkeit deſſelben beruht aber darauf, daß zwiſchen dem unächten Sprachgebrauch, und der irrigen Conſtruction oder Verbindung von Begriffen, eine unverkennbare und gefährliche Wechſelwirkung be - ſteht. Denn wenn auf der einen Seite der falſche Sprachgebrauch Product und Kennzeichen des irrigen Begriffs iſt, ſo wird hinwiederum dieſer durch jenen be - feſtigt, erweitert, fortgepflanzt. Iſt nun aber durch Auf - deckung der unächten Terminologie dieſe Quelle des Irrthums zerſtört, dann dürfen wir uns auch nicht ab - halten laſſen, neu gebildete Kunſtausdrücke zu gebrau - chen, da wo der Sprachgebrauch der Quellen nicht aus - reichend iſt, und in dieſer Hinſicht wird vielleicht von Manchen der Purismus zu weit getrieben. Nur die - jenigen unächten Ausdrücke wird es ſtets gerathen ſeyn zu vermeiden, die ſich durch ihre Verbindung mit fal - ſchen Begriffen in der That ſchon gefährlich erwie - ſen haben.

Über die Art, wie die Quellen in dieſem Werk be - nutzt werden, giebt zwar ein beſonderes Kapitel deſſel -XLIVVorrede.ben (§ 32 52) Aufſchluß; dennoch werden auch ſchon hier einige allgemeine Erklärungen nicht am unrechten Orte ſtehen. Oft ſind die Juriſten darüber verſpottet worden, daß ſie ſich in ihren Quellencitaten eine große Verſchwendung zu Schuld kommen laſſen, indem ſie mit zahlreichen Stellen auch dasjenige zu beweiſen ſuchen, was ihnen ohnehin Jeder glaubt. Nimmt man frey - lich ſolche Citate als bloße Vertheidigungsanſtalten ge - gen gar nicht vorhandene Zweifel und Widerſprüche, ſo könnte dieſer Tadel einigen Grund haben. Allein es giebt dafür noch eine andere, gewiſſermaßen umge - kehrte, Anſicht. Hat nämlich die oben aufgeſtellte Be - hauptung Grund, daß wir aus der rechten Betrachtung der alten Juriſten für unſer eigenes juriſtiſches Denken eine Belebung und Bereicherung gewinnen können, wie ſie uns anderwärts nicht dargeboten wird, und iſt zu - gleich dieſe rechte Betrachtung nicht ohne eigenthümliche Schwierigkeiten, ſo muß uns eine planmäßige Anleitung zu derſelben willkommen ſeyn. Zu einer ſolchen Anlei - tung nun ſoll das vorliegende Werk dienen; von die - ſem Geſichtspunkt aus erſcheinen die aus den Quellen citirten Stellen nicht blos als Beweiſe der in dem Sy - ſtem aufgeſtellten Sätze, ſondern dieſe Sätze werden zu - gleich Einleitung und Commentar zu den citirten Stel -XLVVorrede.len, die in dieſer Auswahl, in dieſer Anordnung, in die - ſer Verbindung mit der in dem Syſtem enthaltenen Darſtellung, unſrer Denkweiſe näher gebracht, und da - durch zugänglicher für uns werden ſollen. Nicht ſel - ten findet es ſich, daß Zwey gleich ſorgfältige Forſcher, indem ſie ganz daſſelbe Material verarbeiten, dennoch zu ſehr verſchiedenen Reſultaten geführt werden. Dieſe Verſchiedenheit wird meiſt davon abhängen, welche Stel - len gerade zum Mittelpunkt der ganzen Unterſuchung erhoben, welche als untergeordnet mit jenen in Verbin - dung gebracht werden; ein Fehlgriff in dieſer Sonde - rung kann der ganzen Arbeit eine falſche Richtung ge - ben. Hierin nun läßt ſich durch aufgeſtellte Regeln wenig Sicherheit gewinnen; das Studium trefflicher Muſter wird gute Dienſte leiſten, vorzüglich aber müſ - ſen wir durch eigene Übung den Takt zu gewinnen ſu - chen, der uns den rechten Weg finden lehrt.

Umgekehrt möchten Manche ihre Erwartung ge - täuſcht finden, indem ſie ein reichhaltigeres literariſches Material zu fordern geneigt wären, als ſich in dem vor - liegenden Werk finden wird. Ich habe abſichtlich nur ſolche Schriftſteller angeführt, die in Beziehung auf den oben dargelegten Plan des Werks in irgend einer Weiſe förderlich ſeyn können, wäre es auch nur indem ſie wie -XLVIVorrede.der auf andere Schriftſteller zu weiterer Nachforſchung verweiſen; keinesweges alſo habe ich nach einer mate - riellen Vollſtändigkeit in der Angabe aller einen Ge - genſtand behandelnden Schriften geſtrebt, auch wenn ſie uns keinen namhaften Gewinn darbieten, in welchem Fall es uns ja der Leſer wenig Dank weiß, wenn wir ihn durch Anführung ſolcher Schriften verleiten, ſeine Zeit an eine unfruchtbare Bekanntſchaft zu verſchwen - den. Wäre ich in jüngeren Jahren zu dieſer Unterneh - mung, gekommen, ſo würde ich eine erſchöpfende Be - nutzung der juriſtiſchen Literatur in ganz anderem Sinn verſucht haben. Wir finden in derſelben zwey große, ſchwer zu bewältigende, Maſſen, aus welchen allerdings noch mancher Gewinn zu ziehen ſeyn möchte; die eine beſteht in den Exegeten, von den Gloſſatoren an, und dann beſonders durch die Franzöſiſche Schule hindurch: die andere in den Praktikern, den Verfaſſern der zahl - loſen Conſilien, Reſponſen u. ſ. w., gleichfalls von den Gloſſatoren an gerechnet. Eine erſchöpfende Benutzung derſelben bey Abfaſſung eines Rechtsſyſtems, ſo wie ich ſie meyne, würde darin beſtehen, daß dieſe Schriftſteller vollſtändig durchgeleſen würden mit beſonderer Rückſicht auf dieſes Syſtem, das heißt um daſſelbe durch ſie zu prüfen, zu berichtigen, zu ergänzen, wodurch unzweifel -XLVIIVorrede.haft ſehr Vieles im Einzelnen, weniger im Großen und Ganzen, gewonnen werden möchte. Jetzt, da ich am Abend meines Lebens dieſes Werk anfange, wäre es Thorheit an einen ſolchen Plan zu denken. Wer aber etwa dem Werk einen bleibenden Werth beylegen möchte, könnte ſich ein weſentliches Verdienſt um daſſelbe erwer - ben, wenn er die hier bezeichnete literariſche Vervollſtän - digung unternehmen wollte. Es liegt nichts Abentheuer - liches in dieſem Vorſchlag, da derſelbe ganz allmälig und ſtückweiſe zur Ausführung gebracht werden könnte; etwa indem die Schriftſteller eines beſchränkten Zeitraums, ja ſogar einzelne Werke, zu dem angegebenen Zweck durchgeleſen würden. Vielleicht wird auch im Ein - gang des Werks eine allgemeine Zuſammenſtellung der für das Studium unſres Rechtsſyſtems brauchbaren und empfehlungswerthen Schriften vermißt werden. Es ſcheint mir aber zweckmäßiger, dieſes allerdings erhebliche Bedürfniß durch abgeſonderte bibliographiſche Schriften zu befriedigen; eben ſo wie die hiſtoriſche Zuſammen - ſtellung unſrer einzelnen Rechtsquellen, ihrer Handſchrif - ten, und ihrer Ausgaben, beſſer in rechtsgeſchichtlichen Werken, als in dem Eingang eines Rechtsſyſtems un - ternommen wird, wo die Grundlage und der Zuſammen - hang für eine befriedigende Mittheilung dieſer Art fehlt.

XLVIIIVorrede.

Der Stoff zu dem vorliegenden Werk iſt allmälig in Vorleſungen geſammelt und verarbeitet worden, die der Verfaſſer gerade ſeit dem Anfang des Jahrhunderts über das Römiſche Recht gehalten hat. Allein in der Geſtalt, in welcher es hier vorliegt, iſt es dennoch eine völlig neue Arbeit, wozu jene Vorleſungen nur als Vor - bereitung benutzt werden konnten. Denn Vorleſungen ſind für Unkundige beſtimmt; ſie ſollen Denſelben neue, fremde Gegenſtände zum Bewußtſeyn bringen, indem ſie dieſe Mittheilung an andere Kenntniſſe der Zuhörer, und an die allgemeine Bildung derſelben, anzuknüpfen ſuchen. Der Schriftſteller dagegen arbeitet für die Kun - digen; er ſetzt bey ihnen den Beſitz der Wiſſenſchaft in ihrer gegenwärtigen Geſtalt voraus, knüpft ſeine Mit - theilung an dieſen Beſitz an, und fordert ſie auf, Das was ſie wiſſen, gemeinſchaftlich mit ihm, von Neuem zu durchdenken, damit ſie ihren Beſitz reinigen, ſichern, er - weitern. So unläugbar nun dieſer Gegenſatz beider Formen der Mittheilung iſt, ſo ſind doch auch Über - gänge nicht nur denkbar, ſondern unverwerflich. Auch der Schriftſteller kann zuweilen den Stoff auf ſolche Weiſe behandeln, daß er unvermerkt, gemeinſchaftlich mit dem Leſer, auf die Anfänge wiſſenſchaftlicher Be - griffe zurückgeht, und ſie ſo vor ſeinen Augen gleichſamXLIXVorrede.neu entſtehen läßt. Nicht ſelten wird ein ſolches Ver - fahren zur Läuterung der Begriffe und Grundſätze, nachdem ſie von Anderen mit Willkühr behandelt und entſtellt worden ſind, gute Dienſte thun; Neigung und Fähigkeit dazu wird ſich vorzugsweiſe finden, wenn der Verfaſſer den Stoff, welchen er jetzt als Schriftſteller bearbeitet, oft in Vorleſungen zu behandeln Veranlaſ - ſung gehabt hat. Der Plan zu dem Werk in ſeiner hier vorliegenden Geſtalt iſt im Frühjahr 1835 ent - worfen worden; im Herbſt deſſelben Jahres wurde die Ausarbeitung begonnen, und bey dem Anfang des Drucks waren die Vier Kapitel des erſten Buchs, und die Drey erſten Kapitel des zweyten zu Ende gebracht.

Indem ich jetzt dieſes Werk hinaus ſende, kann ich den Gedanken an die Schickſale, die ihm bevorſtehen, nicht unterdrücken. Gutes und Böſes wird ihm wi - derfahren wie jedem menſchlichen Streben und Wirken. Gar Manche werden mir ſagen, wie mangelhaft es ſey; aber Keiner kann deſſen Mängel vollſtändiger einſehen und lebhafter empfinden als ich. Jetzt, da ein anſehn - licher Theil fertig vor mir liegt, möchte ich, daß ſo Manches erſchöpfender, anſchaulicher, alſo anders gera - then wäre. Sollte uns eine ſolche Erkenntniß den Muth lähmen, den der Entſchluß zu jeder weitausſehenden Un -dLVorrede.ternehmung fordert? Beruhigen kann neben jener Selbſt - erkenntniß die Betrachtung, daß die Wahrheit nicht blos gefördert wird, indem wir ſie unmittelbar erkennen und ausſprechen, ſondern auch indem wir den Weg dazu zei - gen und bahnen, indem wir die Fragen und Aufgaben feſt ſtellen, auf deren Löſung aller Erfolg beruht; dann helfen wir Anderen, an das Ziel zu gelangen, welches zu erreichen uns nicht gewährt wurde. So beruhigt mich auch jetzt das Selbſtvertrauen, daß das vorliegende Werk fruchtbare Keime der Wahrheit enthalten mag, die vielleicht erſt in Anderen ihre volle Entwicklung fin - den, und zu reifen Früchten gedeihen werden. Wenn dann über der neuen, reicheren Entfaltung die gegen - wärtige Arbeit, die dazu den Keim darbot, in den Hin - tergrund tritt, ja vergeſſen wird, ſo liegt daran wenig. Das einzelne Werk iſt ſo vergänglich, wie der einzelne Menſch in ſeiner ſichtbaren Erſcheinung; aber unver - gänglich iſt der durch die Lebensalter der Einzelnen fort - ſchreitende Gedanke, der uns Alle, die wir mit Ernſt und Liebe arbeiten, zu einer großen, bleibenden Gemein - ſchaft verbindet, und worin jeder, auch der geringe, Beytrag des Einzelnen ſein dauerndes Leben findet.

Geſchrieben im September 1839.

[1]

Erſtes Buch. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.

Erſtes Kapitel. Aufgabe dieſes Werks.

§. 1. Heutiges Römiſches Recht.

Der Theil der Rechtswiſſenſchaft, deſſen Darſtellung in dieſem Werk unternommen wird, iſt als das heutige Römiſche Recht bezeichnet worden. Dieſe beſondere Aufgabe ſoll zunächſt genauer, als es in einer bloßen Überſchrift geſchehen konnte, in folgenden Gegenſätzen be - ſtimmt werden.

1. Es iſt Römiſches Recht, welches in dieſem Werk dargeſtellt werden ſoll. Zur Aufgabe deſſelben gehören alſo nur diejenigen Rechtsinſtitute, welche Römiſchen Ur - ſprung haben, jedoch mit Einſchluß ihrer ſpäteren Fort - bildung, wenngleich dieſe auf einen andern als Römiſchen Urſprung zurück zu führen iſt. Ausgeſchloſſen ſind dadurch alle Inſtitute, welchen ein Germaniſcher Urſprung zuge - ſchrieben werden muß.

2. Es iſt heutiges Römiſches Recht. Dadurch wird ausgeſchloſſen: erſtens die Geſchichte der Rechtsin -12Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.ſtitute als ſolche; zweytens jede einzelne, dem früheren Recht angehörende, dem Juſtinianiſchen fremde, Beſtim - mung, da nur dieſe neueſte Geſtalt des Römiſchen Rechts mit unſrem heutigen Rechtszuſtand in Verbindung getre - ten iſt; drittens jedes Inſtitut, welches zwar dem Juſti - nianiſchen Recht angehört, aber aus unſrem Rechtszu - ſtand verſchwunden iſt.

3. Nur das Privatrecht gehört zu unſrer Aufgabe, nicht das öffentliche Recht: alſo dasjenige, was die - mer durch jus civile (in einer der vielen Bedeutungen dieſes Ausdrucks) bezeichnen, oder das, was ſie zur Zeit der Republik als die ausſchließende Kenntniß eines Juris - consultus, oder die eigentliche jurisprudentia, anſahen(a)So ſetzt Cicero ſich ſelbſt ſehr beſtimmt den Juriſten ent - gegen, aber er war weit entfernt zu glauben, daß er oder ein an - derer Staatsmann weniger als ein Juriſt von der Verfaſſung, vom jus sacrum u. ſ. w. wiſſen müſſe. Ulpian freilich giebt der jurisprudentia eine viel weitere Ausdehnung (L. 10. §. 2. D. de J. et J.); das liegt aber nicht blos an der Ungenauigkeit ſeiner Erklärung, noch weniger an einer übertriebenen Erhebung ſeiner Wiſſenſchaft, ſondern an der in ſeiner Zeit ſehr veränderten Stel - lung des Juriſten und des Staats - manns überhaupt.. Dieſe Beſchränkung iſt jedoch zum Theil ſchon als eine Folge der vorhergehenden anzuſehen, indem nur das Pri - vatrecht der Römer im Ganzen ein Stück unſres Rechts - zuſtandes geworden iſt. Zwar iſt auch das Römiſche Criminalrecht unſrem Rechtszuſtand nicht fremd geblie - ben: allein es iſt doch nur theilweiſe, und ungleich weni - ger als das Privatrecht, in denſelben übergegangen.

3§. 1. Heutiges Römiſches Recht.

4. Endlich nur das Syſtem der Rechte ſelbſt, mit Ausſchluß des Prozeſſes, oder der zur Rechtsverfolgung beſtimmten Anſtalten: alſo nur dasjenige, was von Vie - len das materielle Privatrecht genannt wird. Denn der Prozeß hat ſich durch die Miſchung hiſtoriſch verſchiede - ner Quellen auf ſo eigenthümliche Weiſe ausgebildet, daß eine abgeſonderte Behandlung deſſelben nothwendig ge - worden iſt, anſtatt daß die Römiſchen Juriſten die unmit - telbare Verbindung deſſelben mit der Theorie des mate - riellen Rechts nicht nur für möglich, ſondern für zweck - mäßig halten durften. Was nun die Gränze unſrer Aufgabe nach dieſer Seite hin betrifft, ſo iſt dieſelbe zwar dem Grundſatz nach nicht zweifelhaft, in der Anwendung aber wird ſie häufig verkannt, hauptſächlich deshalb, weil ein und daſſelbe Inſtitut in der That beiden Ge - bieten angehören kann. So z. B. gehört das richterliche Urtheil, nach ſeiner Form und ſeinen Bedingungen, in den Prozeß: dagegen hat es, ſobald es rechtskräftig iſt, zweyerley Wirkungen: die aus einer res judicata ent - ſpringende actio und exceptio (die in das Syſtem der Rechte ſelbſt gehören), und die Exſecution, die eine reine Prozeßlehre iſt.

Werden dieſe Beſchränkungen unter einen gemeinſa - men Geſichtspunkt zuſammengefaßt, ſo beſtimmen ſie das Römiſche Recht genau in dem Sinn, in welchem es für einen großen Theil von Europa gemeines Recht ge - worden iſt.

1*4Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.

§. 2. Gemeines Recht in Deutſchland.

Mit dem im § 1. feſtgeſtellten Begriff des heutigen Römiſchen Rechts iſt nahe verwandt der Begriff des in Deutſchland geltenden gemeinen Rechts. Dieſer ſteht in Verbindung mit der eigenthümlichen Verfaſſung des deutſchen Reichs, deſſen einzelne Staaten unter der ge - meinſamen Staatsgewalt des Reichs vereinigt waren. So ſtand jeder Theil von Deutſchland unter einer zwie - fachen Staatsgewalt, und unter dem Einfluß derſelben hatte ſich überall ein zwiefaches poſitives Recht gebildet, Territorialrecht und gemeines Recht. Bey der Auflö - ſung des Deutſchen Reichs behaupteten nun manche Schrift - ſteller, daß das gemeine Recht mit ſeiner Baſis, der Reichsſtaatsgewalt, auch ſeine Geltung verloren habe. Dieſe Meynung, entſtanden aus einem Misverſtändniß über die Natur des poſitiven Rechts, iſt indeſſen ganz ohne Einfluß auf den wirklichen Rechtszuſtand geblieben(a)Jene gehen von der irri - gen Anſicht aus, als müſſe mit der Auflöſung einer Staatsgewalt auch alles durch ſie oder unter ihrem Einfluß Gebildete mit auf - hören. Ein ganz ähnlicher Fall findet ſich bei der Zerſtörung des weſtlichen Römiſchen Reiches. Auch hier behaupten Viele, das Römiſche Recht habe durch die Eroberung verſchwinden müſſen, und es ſey auch wirklich ver - ſchwunden. Wenigſtens dieſe facti - ſche Behauptung dürfte wohl jetzt nicht leicht mehr Vertheidiger finden..

Es iſt nun das hier genannte gemeine Recht kein anderes, als jenes heutige Römiſche Recht, nur in der beſondern Anwendung auf das Deutſche Reich, alſo mit5§. 3. Gränzen der Aufgabe.den dadurch beſtimmten beſonderen Modificationen. Dieſe Modificationen aber ſind faſt nur in den Reichsgeſetzen enthalten, und von geringer Erheblichkeit. Denn alle wichtige Abweichungen vom reinen Römiſchen Recht, wie z. B. die Klagbarkeit aller Verträge ohne Stipulation, die ausgedehntere Wichtigkeit der bona fides, ſind niemals dem Deutſchen Reich eigenthümlich geweſen, ſondern überall gleichmäßig anerkannt worden, ſo weit im neueren Eu - ropa Römiſches Recht Anwendung gefunden hat.

Daher wird denn auch eine Darſtellung des heutigen Römiſchen Rechts, wozu dieſes Werk zunächſt beſtimmt iſt, nur weniger Zuſätze bedürfen, um zugleich als Darſtellung des gemeinen Rechts für Deutſchland gelten zu können.

§. 3. Gränzen der Aufgabe.

Durch die feſtgeſtellten Gränzen unſrer Aufgabe iſt jedes außer derſelben liegende Gebiet als ihr fremd be - zeichnet. In dieſer Beziehung hat die Darſtellung zwey entgegengeſetzte Fehler zu vermeiden. Der eine beſteht in willkührlicher Ueberſchreitung derſelben, aus Vorliebe bald für ein nahe liegendes Fach überhaupt, bald für eine ein - zelne derſelben angehörende Unterſuchung; der andere in ängſtlicher Beobachtung der Gränzen, da wo eine Ueber - ſchreitung unvermeidlich iſt, wenn nicht die Gründlichkeit der eigenen Forſchung oder die Klarheit der Darſtellung leiden ſoll(a)So wird es z. B. nöthig, von mancher Lehre auch antiquirte. Dieſe letzte Rückſicht macht zugleich von6Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.Seiten des Leſers eine gewiſſe Duldſamkeit wünſchens - werth, da hier das rechte Maaß mehr durch Takt als nach feſten Regeln getroffen wird, der ſubjectiven Anſicht alſo einiger Spielraum nicht verſagt werden kann.

Insbeſondere wird aber gar Manches aufzunehmen ſeyn, was zu den gemeinſamen Grundlehren eines jeden poſitiven Rechts gehört, alſo dem Römiſchen Recht nicht gerade eigenthümlich iſt. Für dieſe Aufnahme ſpricht nicht blos der bisherige Gebrauch, beſonders in den Pandekten - vorleſungen der Deutſchen Univerſitäten: nicht blos die beſondere Geſtalt, die das Römiſche Recht auch manchem Theil dieſer Lehren gegeben, und der Einfluß, den es hierin auf andere Geſetzgebungen ausgeübt hat: ſondern vorzüglich die Rückſicht, daß das Römiſche Recht durch ſeine Schickſale mehr als jedes andere poſitive Recht einen allgemeinen Character angenommen hat, welcher ſich zu einer befriedigenden Behandlung jener Grundlehren vor - zugsweiſe eignet.

Zweytes Kapitel. Allgemeine Natur der Rechtsquellen.

§. 4. Rechtsverhältniß.

Für das heutige Römiſche Recht haben wir die Grund - lage zu ſuchen in der Feſtſtellung der ihm angehörenden(a)Theile darzuſtellen, wegen der nothwendigen Rückſicht auf das dadurch bedingte Verhältniß der Rechtsquellen.7§. 4. Rechtsverhältniß.Rechtsquellen. Damit dieſes mit Erfolg geſchehen könne, iſt eine allgemeinere Unterſuchung über die Natur der Rechtsquellen überhaupt nöthig.

Betrachten wir den Rechtszuſtand, ſo wie er uns im wirklichen Leben von allen Seiten umgiebt und durch - dringt, ſo erſcheint uns darin zunächſt die der einzelnen Perſon zuſtehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrſcht, und mit unſrer Einſtimmung herrſcht. Dieſe Macht nennen wir ein Recht dieſer Perſon, gleichbedeu - tend mit Befugniß: Manche nennen es das Recht im ſub - jectiven Sinn. Ein ſolches Recht erſcheint vorzugsweiſe in ſichtbarer Geſtalt, wenn es bezweifelt oder beſtritten, und nun das Daſeyn und der Umfang deſſelben durch ein richterliches Urtheil anerkannt wird. Allein die ge - nauere Betrachtung überzeugt uns, daß dieſe logiſche Form eines Urtheils nur durch das zufällige Bedürfniß hervor - gerufen iſt, und daß ſie das Weſen der Sache nicht er - ſchöpft, ſondern ſelbſt einer tieferen Grundlage bedarf. Dieſe nun finden wir in dem Rechtsverhältniß, von welchem jedes einzelne Recht nur eine beſondere, durch Abſtraction ausgeſchiedene Seite darſtellt, ſo daß ſelbſt das Urtheil über das einzelne Recht nur inſofern wahr und überzeugend ſeyn kann, als es von der Geſammtan - ſchauung des Rechtsverhältniſſes ausgeht. Das Rechts - verhältniß aber hat eine organiſche Natur, und dieſe offen - bart ſich theils in dem Zuſammenhang ſeiner ſich gegen - ſeitig tragenden und bedingenden Beſtandtheile, theils in8Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.der fortſchreitenden Entwicklung, die wir in demſelben wahrnehmen, in der Art ſeines Entſtehens und Verge - hens. Dieſe lebendige Conſtruction des Rechtsverhältniſ - ſes in jedem gegebenen Fall iſt das geiſtige Element der juriſtiſchen Praxis, und unterſcheidet ihren edlen Beruf von dem bloßen Mechanismus, den ſo viele Unkundige darin ſehen. Damit dieſer wichtige Punkt nicht blos im Allgemeinen verſtanden werde, ſondern auch nach dem ganzen Reichthum ſeines Inhalts zur Anſchauung komme, mag es nicht überflüſſig ſeyn, ihn durch ein Beyſpiel zu erläutern. Die berühmte L. Frater a fratre behandelt folgenden Rechtsfall. Zwey Brüder ſtehen in der Gewalt ihres Vaters. Einer giebt dem Andern ein Darlehen. Der Empfänger zahlt dieſes nach des Vaters Tod zurück, und es fragt ſich, ob er dieſes gezahlte Geld, als irrig gezahlt, wieder fordern könne. Hier hat der Richter lediglich über die Frage zu urtheilen, ob die condictio indebiti begründet iſt oder nicht. Aber um dieſes zu kön - nen, muß ihm die Geſammtanſchauung des Rechtsver - hältniſſes gegenwärtig ſeyn. Deſſen einzelne Elemente waren: die väterliche Gewalt über beide Brüder, ein Darlehen des Einen an den Andern, ein Peculium, welches der Schuldner vom Vater erhalten hatte. Die - ſes zuſammengeſetzte Rechtsverhältniß hat ſich fortſchrei - tend entwickelt durch des Vaters Tod, deſſen Beerbung, die Rückzahlung des Darlehns. Aus dieſen Elementen ſoll das vom Richter begehrte einzelne Urtheil hervorgehen.

9§. 5. Rechtsinſtitut.

§. 5. Rechtsinſtitut.

Das Urtheil über das einzelne Recht iſt nur möglich durch Beziehung der beſonderen Thatſachen auf eine all - gemeine Regel, von welcher die einzelnen Rechte beherrſcht werden. Dieſe Regel nennen wir das Recht ſchlecht - hin, oder das allgemeine Recht: Manche nennen ſie das Recht im objectiven Sinn. Sie erſcheint in ſichtbarer Geſtalt beſonders in dem Geſetz, welches ein Ausſpruch der höchſten Gewalt im Staate über die Rechtsregel iſt.

So wie aber das Urtheil über einen einzelnen Rechts - ſtreit nur eine beſchränkte und abhängige Natur hat, und erſt in der Anſchauung des Rechtsverhältniſſes ſeine lebendige Wurzel und ſeine überzeugende Kraft findet, auf gleiche Weiſe verhält es ſich mit der Rechtsregel. Denn auch die Rechtsregel, ſo wie deren Ausprägung im Geſetz, hat ihre tiefere Grundlage in der Anſchauung des Rechtsinſtituts, und auch deſſen organiſche Natur zeigt ſich ſowohl in dem lebendigen Zuſammenhang der Be - ſtandtheile, als in ſeiner fortſchreitenden Entwicklung. Wenn wir alſo nicht bey der unmittelbaren Erſcheinung ſtehen bleiben, ſondern auf das Weſen der Sache einge - hen, ſo erkennen wir, daß in der That jedes Rechtsver - hältniß unter einem entſprechenden Rechtsinſtitut, als ſei - nem Typus, ſteht, und von dieſem auf gleiche Weiſe be - herrſcht wird, wie das einzelne Rechtsurtheil von der10Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.Rechtsregel(a)Vergl. Stahl Philoſophie des Rechts II. 1. S. 165. 166.. Ja es iſt dieſe letzte Subſumtion abhän - gig von jener erſten, durch welche ſie ſelbſt erſt Wahr - heit und Leben erhalten kann. Zur Erläuterung ſoll auch hier der im vorigen §. angeführte Rechtsfall benutzt wer - den. Die darauf bezüglichen Rechtsinſtitute ſind: der Er - werb des Vaters durch die Kinder, das alte Peculium und insbeſondere die in demſelben geltende deductio, Über - gang der Forderungen auf die Erben, Confuſion der For - derungen und Schulden, die condictio indebiti. Für die Entwicklung des Gedankens liegt ein natürlicher Unter - ſchied darin, daß wir die Rechtsinſtitute zuerſt geſondert conſtruiren, und hinterher willkührlich combiniren können, anſtatt daß uns das Rechtsverhältniß durch die Lebens - ereigniſſe gegeben wird, alſo unmittelbar in ſeiner con - creten Zuſammenſetzung und Verwicklung erſcheint.

In fernerer Betrachtung aber erkennen wir, daß alle Rechtsinſtitute zu einem Syſtem verbunden beſtehen, und daß ſie nur in dem großen Zuſammenhang dieſes Sy - ſtems, in welchem wieder dieſelbe organiſche Natur er - ſcheint, vollſtändig begriffen werden können. So uner - meßlich nun der Abſtand zwiſchen einem beſchränkten ein - zelnen Rechtsverhältniß und dem Syſtem des poſitiven Rechts einer Nation ſeyn mag, ſo liegt doch die Verſchie - denheit nur in den Dimenſionen, dem Weſen nach ſind ſie nicht verſchieden, und auch das Verfahren des Geiſtes,11§. 6. Begriff der Rechtsquellen.welches zur Erkenntniß des einen und des andern führt, iſt weſentlich daſſelbe.

Hieraus folgt aber, wie nichtig es iſt, wenn in der Rechtswiſſenſchaft ſehr häufig Theorie und Praxis als ganz getrennt, ja entgegengeſetzt angeſehen werden. Ver - ſchieden iſt in ihnen der äußere Lebensberuf, verſchieden die Anwendung der erworbenen Rechtskenntniß: aber die Art und Richtung des Denkens, ſo wie die Bildung, die dahin führt, haben ſie gemein, und es wird das eine und das andere dieſer Geſchäfte nur von Demjenigen würdig vollbracht werden, welchem das Bewußtſeyn jener Iden - tität inwohnt(b)Dieſe Ueberzeugungen ſind bey dem Verfaſſer zuerſt durch die genauere Bekanntſchaft mit den gerade hierin großen Römi - ſchen Juriſten entſtanden, dann aber hauptſächlich durch die viel - jährige Beſchäftigung mit der ju - riſtiſchen Praxis entwickelt und befeſtigt worden..

§. 6. Begriff der Rechtsquellen.

Wir nennen Rechtsquellen die Entſtehungsgründe des allgemeinen Rechts, alſo ſowohl der Rechtsinſtitute, als der aus denſelben durch Abſtraction gebildeten einzel - nen Rechtsregeln. Dieſer Begriff hat eine zwiefache Ver - wandtſchaft, wodurch es nöthig wird, zweyerley Verwechs - lungen abzuwehren.

1. Auch die einzelnen Rechtsverhältniſſe haben ihre Entſtehungsgründe(a)Die allgemeine Lehre von dieſen Entſtehungsgründen iſt im dritten Kapitel des zweyten Buchs enthalten., und die Verwandtſchaft der Rechts -12Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.verhältniſſe mit den Rechtsinſtituten führt leicht zu einer Vermiſchung derſelben mit den Entſtehungsgründen der Rechtsregeln. Will man z. B. die Bedingungen irgend eines Rechtsverhältniſſes vollſtändig aufzählen, ſo gehört dazu unzweifelhaft ſowohl das Daſeyn einer Rechtsregel, als eine dieſer Regel entſprechende Thatſache, alſo z. B. ein Geſetz, welches die Verträge anerkennt, und ein ge - ſchloſſener Vertrag ſelbſt. Dennoch ſind dieſe beiden Be - dingungen ſpecifiſch verſchieden, und es führt auf Ver - wirrung der Begriffe, wenn man Verträge und Geſetze auf Eine Linie als Rechtsquellen ſtellt(b.)Dieſe Zuſammenſtellung findet ſich unter andern, der Neuern nicht zu gedenken, in mehreren Stellen des Cicero (ſ. u. §. 22. Note m.). Wie hier die Verträge mit Unrecht zu den Rechtsquellen hinaufgehoben wer - den, ſo werden anderwärts mit umgekehrter Verwirrung die Ge - ſetze in Eine Reihe mit den Ent - ſtehungsgründen der Rechtsver - hältniſſe heruntergezogen, um die falſche Lehre vom Titulus und modus adquirendi zu retten. Höpfner Commentar §. 293. Zu jenem erſten Irrthum hat viel beigetragen der vieldeutige Ausdruck Autonomie..

2. Eine andere, mehr durch den Namen begründete, Verwechslung iſt die der Rechtsquellen mit den geſchicht - lichen Quellen der Rechtswiſſenſchaft. Zu dieſen gehören alle Denkmäler, woraus wir die Kenntniß rechtswiſſen - ſchaftlicher Thatſachen ſchöpfen. Beide Begriffe ſind alſo von einander ganz unabhängig, und es iſt nur zufällig, wenn ſie auf irgend einem Punkte zuſammentreffen, ob - gleich dieſes Zuſammentreffen beſonders häufig und wich - tig iſt. So z. B. gehören Juſtinians Digeſten zu den Quellen in beiden Bedeutungen des Ausdrucks: die Lex13§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.Voconia gehört zu den Quellen des älteren Rechts, aber, da ſie verloren iſt, nicht unter die Quellen der Rechts - wiſſenſchaft: bey den Stellen alter Geſchichtsſchreiber oder Dichter, welche juriſtiſche Notizen enthalten, tritt der um - gekehrte Fall ein. Es iſt jedoch zu bemerken, daß in den allermeiſten Fällen, worin wir veranlaßt ſind von Rechtsquellen zu reden, beide Bedeutungen des Ausdrucks in der That zuſammentreffen, ſo daß die Gefahr einer Verwirrung der Begriffe durch die Zweydeutigkeit des Ausdrucks nicht groß iſt. So z. B. ſind die Beſtandtheile des Corpus Juris, als Geſetze von Juſtinian Rechtsquel - len für Juſtinians Reich, kraft ihrer Reception Rechts - quellen für uns, endlich als noch vorhandene Bücher Quellen unſrer Rechtswiſſenſchaft. Eben ſo ſind die Deut - ſchen Rechtsbücher des dreyzehnten und vierzehnten Jahr - hunderts Aufzeichnungen von Rechtsgewohnheiten, alſo von Rechtsquellen, als erhaltene Bücher Quellen der Rechts - wiſſenſchaft. Daher gebrauchen auch die meiſten Schrift - ſteller den Ausdruck, ohne ihren Leſern über deſſen ver - ſchiedene Beziehungen beſondere Auskunft zu geben, und ſie ſind deshalb nicht zu tadeln.

§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.

Welches ſind nun die Entſtehungsgründe des allgemei - nen Rechts, oder worin beſtehen die Rechtsquellen?

Hierüber könnte man annehmen wollen, das Recht14Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.habe eine ganz verſchiedene Entſtehung, je nach dem Ein - fluß des Zufalls, oder auch menſchlicher Willkühr, Über - legung und Weisheit. Allein dieſer Annahme widerſpricht die unzweifelhafte Thatſache, daß überall, wo ein Rechts - verhältniß zur Frage und zum Bewußtſeyn kommt, eine Regel für daſſelbe längſt vorhanden, alſo jetzt erſt zu erfinden weder nöthig noch möglich iſt. In Beziehung auf dieſe Beſchaffenheit des allgemeinen Rechts, nach wel - cher es in jedem gegebenen Zuſtand, in welchem es ge - ſucht werden kann, als ein gegebenes ſchon wirkliches Da - ſeyn hat, nennen wir es poſitives Recht.

Fragen wir ferner nach dem Subject, in welchem und für welches das poſitive Recht ſein Daſeyn hat, ſo finden wir als ſolches das Volk. In dem gemeinſamen Bewußtſeyn des Volkes lebt das poſitive Recht, und wir haben es daher auch Volksrecht zu nennen. Es iſt dieſes aber keinesweges ſo zu denken, als ob es die einzelnen Glieder des Volkes wären, durch deren Willkühr das Recht her - vorgebracht würde; denn dieſe Willkühr der Einzelnen könnte vielleicht zufällig daſſelbe Recht, vielleicht aber, und wahrſcheinlicher, ein ſehr mannichfaltiges erwählen. Vielmehr iſt es der in allen Einzelnen gemeinſchaftlich lebende und wirkende Volksgeiſt, der das poſitive Recht erzeugt, das alſo für das Bewußtſeyn jedes Einzelnen, nicht zufällig ſondern nothwendig, ein und daſſelbe Recht iſt. Indem wir alſo eine unſichtbare Entſtehung des po - ſitiven Rechts annehmen, müſſen wir ſchon deshalb auf15§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.jeden urkundlichen Beweis derſelben verzichten. Allein dieſer Mangel iſt unſrer Anſicht von jener Entſtehung mit jeder anderen Anſicht gemein, da wir in allen Völkern, welche jemals in die Gränzen urkundlicher Geſchichte ein - getreten ſind, ein poſitives Recht ſchon vorfinden, deſſen urſprüngliche Erzeugung alſo außer jenen Gränzen liegen muß. Allein an Beweiſen anderer Art, wie ſie der beſon - dern Natur des Gegenſtandes angemeſſen ſind, fehlt es nicht. Ein ſolcher Beweis liegt in der allgemeinen, gleich - förmigen Anerkennung des poſitiven Rechts, und in dem Gefühl innerer Nothwendigkeit, wovon die Vorſtellung deſſelben begleitet iſt. Dieſes Gefühl ſpricht ſich am be - ſtimmteſten aus in der uralten Behauptung eines göttli - chen Urſprungs des Rechts oder der Geſetze; denn ein entſchiednerer Gegenſatz gegen die Entſtehung durch Zufall oder menſchliche Willkühr läßt ſich nicht denken. Ein zweyter Beweis liegt in der Analogie anderer Eigenthüm - lichkeiten der Völker, die eine eben ſo unſichtbare, über die urkundliche Geſchichte hinaufreichende Entſtehung ha - ben, wie z. B. die Sitte des geſelligen Lebens, vor allen aber die Sprache. Bey dieſer nun findet ſich dieſelbe Unabhängigkeit von Zufall und freyer Wahl der Einzel - nen, alſo dieſelbe Erzeugung aus der Thätigkeit des in allen Einzelnen gemeinſam wirkenden Volksgeiſtes; bey ihr aber iſt dieſes Alles durch ihre ſinnliche Natur anſchau - licher und unverkennbarer als bey dem Recht. Ja es wird die individuelle Natur der einzelnen Völker lediglich16Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.durch jene gemeinſamen Richtungen und Thätigkeiten be - ſtimmt und erkannt, unter welchen die Sprache, als die ſichtbarſte, die erſte Stelle einnimmt.

Die Geſtalt aber, in welcher das Recht in dem gemein - ſamen Bewußtſeyn des Volks lebt, iſt nicht die der ab - ſtracten Regel, ſondern die lebendige Anſchauung der Rechtsinſtitute in ihrem organiſchen Zuſammenhang, ſo daß, wo das Bedürfniß entſteht, ſich der Regel in ihrer logiſchen Form bewußt zu werden, dieſe erſt durch einen künſtlichen Prozeß aus jener Totalanſchauung gebildet werden muß. Jene Geſtalt offenbart ſich durch die ſym - boliſchen Handlungen, die das Weſen der Rechtsverhält - niſſe bildlich darſtellen, und in welchen ſich die urſprüng - lichen Volksrechte meiſt deutlicher und gründlicher aus - ſprechen, als in den Geſetzen.

Bey dieſer Annahme von der Entſtehung des poſitiven Rechts wurde zunächſt noch abgeſehen von dem in der Zeit fortgehenden Leben der Völker. Betrachten wir nun auch deſſen Einwirkung auf das Recht, ſo werden wir ihm vor Allem eine befeſtigende Kraft zuerkennen müſſen: je länger die Rechtsüberzeugungen in dem Volk leben, deſto tiefer werden ſie in ihm wurzeln. Ferner wird ſich das Recht durch die Übung entfalten, und was urſprüng - lich blos im Keim vorhanden war, wird durch die An - wendung in beſtimmter Geſtalt zum Bewußtſeyn kommen. Aber auch Veränderung des Rechts wird auf dieſem Wege erzeugt werden. Denn wie in dem Leben des einzelnen17§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.Menſchen kein Augenblick eines vollkommnen Stillſtandes wahrgenommen wird, ſondern ſtete organiſche Entwicklung, ſo verhält es ſich auch in dem Leben der Völker, und in jedem einzelnen Element, woraus dieſes Geſammtleben beſteht. So finden wir in der Sprache ſtete Fortbildung und Entwicklung, und auf gleiche Weiſe in dem Recht. Und auch dieſe Fortbildung ſteht unter demſelben Geſetz der Erzeugung aus innerer Kraft und Nothwendigkeit, unabhängig von Zufall und individueller Willkühr, wie die urſprüngliche Entſtehung. Allein das Volk erfährt in dieſem natürlichen Entwicklungsprozeß nicht blos eine Ver - änderung überhaupt, ſondern auch in einer beſtimmten, regelmäßigen Folge der Zuſtände, und unter dieſen Zu - ſtänden hat ein jeder ſein eigenthümliches Verhältniß zu der beſonderen Äußerung des Volksgeiſtes, wodurch das Recht erzeugt wird. Am freyeſten und kräftigſten erſcheint dieſe in der Jugendzeit der Völker, in welcher der Natio - nalzuſammenhang noch inniger, das Bewußtſeyn deſſelben allgemeiner verbreitet, und weniger durch Verſchiedenheit der individuellen Ausbildung verdeckt iſt. In demſelben Maaße aber, in welchem die Bildung der Individuen un - gleichartiger und vorherrſchender wird, und in welchem eine ſchärfere Sonderung der Beſchäftigungen, der Kennt - niſſe und der dadurch bedingten Stände eintritt, wird auch die Rechtserzeugung, die auf der Gemeinſchaft des Be - wußtſeyns beruhte, ſchwieriger werden; ja ſie würde end - lich faſt ganz verſchwinden, wenn ſich nicht dafür, durch218Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.den Einfluß derſelben neuen Zuſtände, wiederum eigene Organe bildeten, die Geſetzgebung und die Rechtswiſſen - ſchaft, deren Natur ſogleich dargeſtellt werden wird.

Dieſe Fortbildung des Rechts kann übrigens ein ganz verſchiedenes Verhältniß zu dem urſprünglich vorhandenen Recht haben. Es können durch ſie neue Rechtsinſtitute erzeugt, oder auch die vorhandenen umgeſtaltet werden: ja es können dieſe durch ſie ganz verſchwinden, wenn ſie dem Sinn und Bedürfniß der Zeit fremd geworden ſind.

§. 8. Volk.

Die Rechtserzeugung iſt hier vorläufig in das Volk, als das thätige, perſönliche Subject, geſetzt worden. Die Natur dieſes Subjects ſoll nunmehr genauer beſtimmt werden.

Wenn wir in der Betrachtung des Rechtsverhältniſſes von allem beſonderen Inhalt deſſelben abſtrahiren, ſo bleibt uns als allgemeines Weſen deſſelben übrig, das auf be - ſtimmte Weiſe geregelte Zuſammenleben mehrerer Menſchen. Es liegt nun ſehr nahe, bei dieſem abſtracten Begriff einer Mehrheit überhaupt ſtehen zu bleiben, und das Recht als eine Erfindung derſelben zu denken, ohne welche die äu - ßere Freiheit keines Einzelnen beſtehen könnte. Allein ein ſolches zufälliges Zuſammentreffen einer unbeſtimmten Menge iſt eine willkührliche, aller Wahrheit ermangelnde Vorſtel - lung: und fände ſie ſich wirklich ſo zuſammen, ſo würde19§. 8. Volk.ihr unfehlbar die Fähigkeit der Rechtserzeugung mangeln, da mit dem Bedürfniß nicht zugleich die Kraft der Befrie - digung gegeben iſt. In der That aber finden wir überall, wo Menſchen zuſammen leben, und ſo weit die Geſchichte davon Kunde giebt, daß ſie in einer geiſtigen Gemeinſchaft ſtehen, die ſich durch den Gebrauch derſelben Sprache ſowohl kund giebt, als befeſtigt und ausbildet. In dieſem Naturganzen iſt der Sitz der Rechtserzeugung, denn in dem gemeinſamen, die Einzelnen durchdringenden Volks - geiſt findet ſich die Kraft, das oben anerkannte Bedürfniß zu befriedigen.

Die Gränzen aber dieſer Völkerindividuen ſind aller - dings unbeſtimmt und ſchwankend, und dieſer zweifelhafte Zuſtand offenbart ſich auch in der Einheit oder Verſchie - denheit des in ihnen erzeugten Rechts. So kann es bei verwandten Volksſtämmen ungewiß erſcheinen, ob ſie uns als Ein Volk oder als mehrere gelten ſollen: gleicherweiſe finden wir auch oft in ihrem Recht zwar nicht gänzliche Übereinſtimmung, wohl aber Verwandtſchaft.

Allein auch da, wo die Einheit eines Volkes unzwei - felhaft iſt, finden ſich innerhalb der Gränzen deſſelben oft engere Kreiſe, die durch einen beſonderen Zuſammenhang, noch neben dem allgemeinen des Volkes, vereinigt ſind, wie Städte und Dörfer, Innungen, Corporationen aller Art, welche insgeſammt volksmäßige Abtheilungen des Ganzen bilden. Auch in dieſen wiederum kann eine eigen - thümliche Rechtserzeugung ihren Sitz haben als parti -2*20Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.culäres Recht, neben dem gemeinſamen Volksrecht, wel - ches dadurch auf manchen Seiten ergänzt oder umgebil - det wird(a)So kamen in Rom uralte Gewohnheitsrechte einzelner gen - tes vor. Dirkſen civil. Ab - handlungen B. 2. S. 90..

Wenn wir aber das Volk als eine natürliche Einheit, und inſofern als den Träger des poſitiven Rechts betrach - ten, ſo dürfen wir dabei nicht blos an die darin gleich - zeitig enthaltenen Einzelnen denken; vielmehr geht jene Einheit durch die einander ablöſenden Geſchlechter hindurch, verbindet alſo die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft. Dieſe ſtete Erhaltung des Rechts wird be - wirkt durch Tradition, und dieſe iſt bedingt und begrün - det durch den nicht plötzlichen, ſondern ganz allmäligen Wechſel der Generationen. Die hier behauptete Unab - hängigkeit des Rechts von dem Leben der gegenwärtigen Volksglieder gilt zunächſt von der unveränderten Fortdauer der Rechtsregeln: eben ſo aber iſt ſie auch die Grundlage der allmäligen Fortbildung des Rechts (§ 7.), und in die - ſer Beziehung müſſen wir ihr eine vorzügliche Wichtigkeit zuſchreiben.

Dieſe Anſicht, welche das individuelle Volk als Erzeu - ger und Träger des poſitiven oder wirklichen Rechts aner - kennt, dürfte Manchen zu beſchränkt erſcheinen, welche geneigt ſeyn möchten, vielmehr dem gemeinſamen Men - ſchengeiſt, als dem individuellen Volksgeiſt, jene Erzeugung zuzuſchreiben. In genauerer Betrachtung aber erſcheinen21§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.beide Anſichten gar nicht als widerſtreitend. Was in dem einzelnen Volk wirkt, iſt nur der allgemeine Menſchengeiſt, der ſich in ihm auf individuelle Weiſe offenbart. Allein die Erzeugung des Rechts iſt eine That, und eine gemein - ſchaftliche That. Dieſe iſt nur denkbar für diejenigen, unter welchen eine Gemeinſchaft des Denkens und Thuns nicht nur möglich, ſondern auch wirklich iſt. Da nun eine ſolche Gemeinſchaft nur innerhalb der Gränzen des einzelnen Volkes vorhanden iſt, ſo kann auch nur hier das wirkliche Recht hervorgebracht werden, obgleich in der Erzeugung deſſelben die Äußerung eines allgemein menſch - lichen Bildungstriebes wahrzunehmen iſt, alſo nicht etwa die eigenthümliche Willkühr mancher beſonderen Völker, wovon in andern Völkern vielleicht keine Spur angetroffen werden könnte. Nur darin findet ſich eine Verſchiedenheit, daß dieſes Erzeugniß des Volksgeiſtes bald dem einzelnen Volke ganz eigenthümlich, bald aber in mehreren Völkern gleichmäßig vorkommend iſt. Wie die Römer dieſe allge - meinere Grundlage des Volksrechts als Jus gentium auf - gefaßt haben, wird unten gezeigt werden (§ 22.).

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.

Das Volk, dem wir als einem unſichtbaren Naturgan - zen unbeſtimmte Gränzen zuſchreiben mußten, beſteht jedoch nirgend und in keiner Zeit auf dieſe abſtracte Weiſe. Vielmehr wirkt in ihm ein unaufhaltſamer Trieb, die22Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.unſichtbare Einheit in ſichtbarer und organiſcher Erſchei - nung zu offenbaren. Dieſe leibliche Geſtalt der geiſtigen Volksgemeinſchaft iſt der Staat, und mit ihm ſind zu - gleich ſcharf beſtimmte Gränzen der Einheit gegeben.

Fragen wir nun nach der Entſtehung des Staates, ſo müſſen wir dieſelbe eben ſo in eine höhere Nothwendig - keit, in eine von innen heraus bildende Kraft ſetzen, wie es oben von dem Recht überhaupt geſagt worden iſt; und zwar gilt dieſes nicht blos von dem Daſeyn eines Staa - tes überhaupt, ſondern auch von der eigenthümlichen Ge - ſtalt, welche der Staat in jedem Volke an ſich trägt. Denn auch die Erzeugung des Staates iſt eine Art der Rechtserzeugung, ja ſie iſt die höchſte Stufe der Rechts - erzeugung überhaupt.

Überſehen wir von dem nun gewonnenen Standpunkt aus das geſammte Recht, ſo unterſcheiden wir in demſel - ben zwey Gebiete, das Staatsrecht und das Privat - recht. Das erſte hat zum Gegenſtand den Staat, das heißt die organiſche Erſcheinung des Volks: das zweyte die Geſammtheit der Rechtsverhältniſſe, welche den ein - zelnen Menſchen umgeben, damit er in ihnen ſein inneres Leben führe und zu einer beſtimmten Geſtalt bilde(a)L. 1. de J. et J. (I. 1.). Publicum jus est quod ad sta - tum rei Romanae spectat; pri - vatum quod ad singulorum uti - litatem. Sunt enim quaedam publice utilia, quaedam priva - tim. Vgl. L. 2 § 46. de orig. jur. (I. 2.). . Nicht als ob es, wenn wir dieſe beiden Rechtsgebiete ver - gleichen, an Übergängen und Verwandtſchaften fehlte. 23§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.Denn die Familie hat in ihrer dauernden Gliederung, ſo wie in dem Verhältniß des Regierens und des Gehorchens, unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Staate: und eben ſo treten die Gemeinden, die doch wahre Beſtandtheile des Staates ſind (§ 86), nahe an das Verhältniß der Ein - zelnen heran. Dennoch bleibt zwiſchen beiden Gebieten ein feſt beſtimmter Gegenſatz darin, daß in dem öffentlichen Recht das Ganze als Zweck, der Einzelne als untergeord - net erſcheint, anſtatt daß in dem Privatrecht der einzelne Menſch für ſich Zweck iſt, und jedes Rechtsverhältniß ſich nur als Mittel auf ſein Daſeyn oder ſeine beſonderen Zu - ſtände bezieht.

Allein der Staat hat zugleich den mannichfaltigſten Einfluß auf das Privatrecht, und zwar zunächſt auf die Realität des Daſeyns deſſelben. Denn in ihm zuerſt erhält das Volk wahre Perſönlichkeit, alſo die Fähigkeit zu han - deln. Wenn wir alſo außer demſelben dem Privatrecht nur ein unſichtbares Daſeyn, in übereinſtimmenden Gefüh - len, Gedanken und Sitten zuſchreiben können, ſo erhält es im Staat, durch Aufſtellung des Richteramtes, Leben und Wirklichkeit. Das hat jedoch nicht den Sinn, daß in dem Leben der Völker in der That eine Zeit vor Er - findung des Staats vorkäme, worin das Privatrecht dieſe unvollkommene Natur hätte (Naturzuſtand). Vielmehr wird jedes Volk, ſobald es als ſolches erſcheint, zugleich als Staat erſcheinen, wie auch dieſer geſtaltet ſeyn möge. Jene Behauptung alſo ſollte blos gelten von demjenigen24Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.Zuſtand des Volkes, welcher uns in Gedanken übrig bleibt, wenn wir von ſeiner Eigenſchaft als Staat künſtlich ab - ſtrahiren. Hierin erhält zugleich das Verhältniß der Einzelnen zu dem allgemeinen Recht ſeine Realität und Vollendung. Das Recht hat ſein Daſeyn in dem gemein - ſamen Volksgeiſt (§ 7. 8. ), alſo in dem Geſammtwillen, der inſofern auch der Wille jedes Einzelnen iſt. Allein der Einzelne kann ſich, vermöge ſeiner Freiheit, durch Das was er für ſich will, gegen Das auflehnen, was er als Glied des Ganzen denkt und will. Dieſer Widerſpruch iſt das Unrecht, oder die Rechtsverletzung, welche vernich - tet werden muß, wenn das Recht beſtehen und herrſchen ſoll. Soll aber dieſe Vernichtung vom Zufall unabhängig werden, und eine regelmäßige Sicherheit erhalten, ſo iſt das nur im Staate möglich. Denn hier allein kann dem Einzelnen die Rechtsregel als ein Aeußeres und Objecti - ves gegenüber ſtehen. Und in dieſem neuen Verhältniß erſcheint die des Unrechts fähige individuelle Freiheit als von dem Geſammtwillen gebunden und in ihm untergehend.

Außerdem aber hat der Staat auch den entſchiedenſten Einfluß auf die Rechtserzeugung im Privatrecht: nicht nur auf deſſen Inhalt, wovon noch weiter die Rede ſeyn wird, ſondern auch auf die Gränzen der Rechtserzeugung, indem die Volksgemeinſchaft innerhalb deſſelben Staats inniger und wirkſamer, in verſchiedenen Staaten dagegen, auch bei Stammesverwandtſchaft, entfernter und auf vielfache Weiſe gehemmt ſeyn muß. Eben ſo wird die Entſtehung25§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.eines particulären Volksrechts (§ 8) durch die Einheit des Staats zwar nicht ausgeſchloſſen, aber doch inſofern beſchränkt, als dadurch jene weſentliche Einheit nicht ge - fährdet werden darf. Nur würde es irrig ſeyn, in dieſer Hinſicht den Einfluß des Staates, in Vergleichung mit anderen Verhältniſſen, zu hoch anzuſchlagen, oder gar als ausſchließenden Beſtimmungsgrund zu denken. So beſtan - den im Mittelalter, nach der Zerſtörung des weſtrömiſchen Reichs, mehrere Germaniſche Staaten mit theils Germa - niſchen, theils Römiſchen Unterthanen; hier hatten die - miſchen Unterthanen des einen Staates mit denen der an - dern daſſelbe Römiſche Recht: die Germaniſchen Unter - thanen der verſchiedenen Staaten hatten wenigſtens ver - wandtes Recht, und dieſe mehr oder weniger vollſtändige Rechtsgemeinſchaft wurde durch die Gränzen der Staaten nicht geſtört.

Um die hier aufgeſtellte Klaſſification der innerhalb des Staates geltenden Rechte gegen den Vorwurf der Un - vollſtändigkeit zu ſichern, iſt jedoch noch folgende Ergän - zung nöthig. Ich will nicht den Staat auf die Zwecke des Rechts beſchränken, ja die Theorie ſoll ſich überhaupt nicht anmaaßen, die Freyheit individueller Entwicklung durch Aufſtellung ausſchließender Zwecke der Thätigkeit des Staats begränzen zu wollen. Dennoch iſt ſeine erſte und unabweislichſte Aufgabe die Idee des Rechts in der ſichtbaren Welt herrſchend zu machen. Dazu nun führt eine zwiefache Thätigkeit des Staats. Erſtlich hat der -26Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.ſelbe dem Einzelnen, der in ſeinem Recht verletzt wird, Schutz zu gewähren gegen dieſe Verletzung; die Regeln, unter welchen dieſe Thätigkeit ſteht, nennen wir den Ci - vilprozeß. Zweytens hat er das verletzte Recht an ſich zu vertreten und wiederherzuſtellen, ohne Rückſicht auf das individuelle Intereſſe. Dieſes geſchieht durch die Strafe, durch welche der menſchliche Wille, im beſchränkteren Ge - biet des Rechts, das in der höheren Weltordnung wal - tende Geſetz ſittlicher Vergeltung nachbildet(b)Inſoweit kann man ſagen, daß die allgemeine ſittliche Ord - nung der Vergeltung, in einer beſchränkten Weiſe, die Natur einer Rechtsanſtalt annimmt, und als ſolche vom Staate in Aus - führung zu bringen iſt. Vergl. Hegel Naturrecht §. 102. 103. 220. Klenze Lehrbuch des Straf - rechts S. X XVII. . Die Re - geln, unter welchen dieſe Thätigkeit ſteht, nennen wir das Criminalrecht, von welchem der Criminalprozeß nur einen Theil bildet(c)Es hängt von dem poſiti - ven Recht eines jeden Staates ab, wie weit der Staat dieſes Recht unmittelbar ausüben, oder die Ausübung deſſelben den ver - letzten Einzelnen, noch neben der Verfolgung ihrer eigenen Rechte, überlaſſen will. Dieſe letzte Be - handlung liegt den Römiſchen Privatſtrafen zum Grunde. Eine vollſtändigere Ausbildung der Staatsgewalt wird überall dahin führen, dieſen letzten Weg zu verlaſſen.. Civilprozeß, Criminalrecht und Criminalprozeß, ſind demnach Theile des Staatsrechts, und wurden bey den Römern auch ſo angeſehen. Daß uns in neueren Zeiten dieſe Auffaſſung fremder geworden iſt, hat ſeinen Grund in folgenden Umſtänden. Die Hand - habung des Criminalrechts iſt oft an dieſelben Richterbe - hörden, wie der Schutz des Privatrechts, gewieſen wor -27§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.den, und daher hat auch die Behandlung beider Gegen - ſtände eine ähnlichere Geſtalt angenommen. In dem Civilprozeß iſt aber die Thätigkeit des Staats mit den Rechten der Einzelnen ſo verwebt, daß eine vollſtändige Trennung praktiſch nicht ausführbar iſt. Dennoch kann dadurch das hier angegebene innere Weſen dieſer Rechts - diſciplinen nicht umgeändert werden. Um nun auf der einen Seite dieſem Weſen der Sache, auf der andern Seite jenen mehr praktiſchen Beziehungen, ihre Anerken - nung zu verſchaffen, erſcheint es, wie es nicht ungewöhn - lich iſt, ſo auch zweckmäßig, neben dem Namen des Staats - rechts noch den allgemeineren Namen des öffentlichen Rechts zu gebrauchen, unter welchem der Civilprozeß und das Criminalrecht mitbegriffen ſind. Dieſe Bezeich - nung ſoll hier ferner angewendet werden.

Eine andere Bewandniß hat es mit dem Kirchen - recht. Vom rein weltlichen Standpunkt aus erſcheint die Kirche wie jede andere Geſellſchaft, und ſo wie an - dere Corporationen theils im Staatsrecht, theils im Pri - vatrecht, ihre abhängige, untergeordnete Stellung erhalten, könnte man eine ſolche auch der Kirche anweiſen wollen. Ihre, das innerſte Weſen des Menſchen beherrſchende, Wichtigkeit läßt jedoch dieſe Behandlung nicht zu. In verſchiedenen Zeiten der Weltgeſchichte hat daher die Kirche und das Kirchenrecht eine ſehr verſchiedene Stel - lung gegen den Staat angenommen. Bey den Römern war das jus sacrum ein Stück des Staatsrechts, und28Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.der Staatsgewalt untergeordnet(d)L. 1. §. 2. de just. et jure (I. 1.). . Die weltumfaſſende Natur des Chriſtenthums ſchließt dieſe rein nationelle Be - handlung aus. Im Mittelalter verſuchte die Kirche, die Staaten ſelbſt ſich unterzuordnen und zu beherrſchen. Wir können die verſchiedenen chriſtlichen Kirchen nur betrach - ten als neben dem Staate, aber in mannichfaltiger und inniger Berührung mit demſelben, ſtehend. Daher iſt uns das Kirchenrecht ein für ſich beſtehendes Rechtsgebiet, das weder dem öffentlichen noch dem Privatrecht untergeordnet werden darf.

§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.

Es fehlt aber viel, daß die hier aufgeſtellte Anſicht von der Entſtehung und dem Weſen des Staats allgemein Anerkennung fände.

Zuvörderſt iſt es auch hier wieder der unbeſtimmte Begriff einer Menge überhaupt, abſtrahirt von der Volks - einheit, welcher häufig als Subject des Staats gedacht wird. Dieſer Behauptung aber widerſpricht vor Allem die Thatſache, daß es zu allen Zeiten Völker waren, welche in der organiſchen Geſtalt von Staaten aufgetreten ſind, und wo auch der Verſuch im Großen gemacht worden iſt, Maſſen von Menſchen ohne Rückſicht auf gänzliche Stamm - verſchiedenheit willkührlich zuſammen zu bringen, wie in den Amerikaniſchen Sklavenſtaaten, da iſt der Erfolg ſehr unglücklich geweſen, und es haben ſich der Staatenbildung29§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.unüberſteigliche Hinderniſſe in den Weg geſtellt. Im Wi - derſpruch mit dieſer Anſicht alſo müſſen wir wiederholt behaupten, daß der Staat urſprünglich und naturgemäß in einem Volk, durch das Volk, und für das Volk entſteht.

Ferner iſt es eine höchſt verbreitete Anſicht, nach wel - cher die Staaten durch Willkühr der Einzelnen, alſo durch Vertrag, entſtanden ſeyn ſollen, welche Anſicht in ihrer Entwicklung auf eben ſo verderbliche als verkehrte Folgen geführt hat. Man nimmt dabei an, die Einzelnen, die es eben vortheilhaft fanden, gerade dieſen Staat zu grün - den, hätten eben ſo gut ganz ohne Staat bleiben, oder ſich ſo oder anders zu einem Staat miſchen oder begränzen, oder endlich jede andere Verfaſſung wählen können. Da - bey wird alſo nicht nur abermals die in dem Volk enthal - tene Natureinheit, ſo wie die innere Nothwendigkeit über - ſehen, ſondern vorzüglich auch der Umſtand, daß wo nur irgend eine ſolche Ueberlegung möglich iſt, unfehlbar ſchon ein wirklicher Staat, als Thatſache und als Recht, be - ſteht, ſo daß niemals, wie Jene wollen, von der willkühr - lichen Erfindung des Staats, ſondern höchſtens von deſſen Zerſtörung die Rede ſeyn kann. Zwey Mißverſtändniſſe haben dieſen Irrthum beſonders befördert. Zuvörderſt die Wahrnehmung der großen Mannichfaltigkeit in der Staa - tenbildung, das heißt des hiſtoriſchen und individuellen Ele - ments der Staaten, welches man mit der freyen Wahl und Willkühr der Einzelnen verwechſelt hat. Dann auch30Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.die ſtete, oft unbewußte Verwechslung der ganz verſchie - denen Begriffe, die mit dem gemeinſamen Namen Volk bezeichnet werden. Dieſer Name bezeichnet nämlich

1. das Naturganze, in welchem wirklich der Staat entſteht und fortwährend ſein Daſeyn führt, und bey wel - chem von Wahl und Willkühr nicht die Rede ſeyn kann;

2. die Geſammtheit aller in einem Staate gleichzeitig lebenden Individuen;

3. eben dieſelben Individuen mit Abzug der Regierung, alſo die Gehorchenden im Gegenſatz der Herrſchenden;

4. in republikaniſchen Staaten, wie in Rom, diejenige organiſirte Verſammlung Einzelner, in welcher nach der Verfaſſung die höchſte Gewalt wirklich beruht. Diejenigen nun, bei welchen auf eine verworrene Weiſe alle dieſe Begriffe durcheinander liefen, wurden dadurch verleitet, das ideale Recht des Volks als Naturganzen (1), und das hiſtoriſche Recht des Römiſchen populus (4), auf die Geſammtheit der Unterthanen (3) zu übertragen, und ſo, mit Umkehrung aller Wahrheit, die Herrſchaft den von Rechtswegen Gehorchenden beyzulegen. Aber ſelbſt wenn man nicht dieſen äußerſten Schritt thut, ſondern Recht und Macht in der Geſammtheit aller jetzt lebenden Ein - zelnen, alſo mit Einſchluß der Regierenden (2) beruhen läßt, ſo iſt damit nur wenig gebeſſert. Vor Allem weil die Einzelnen nicht als ſolche, und nach ihrer Kopfzahl, ſondern nur in ihrer verfaſſungsmäßigen Gliederung den Staat ausmachen. Dann weil die Einzelnen niemals in31§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.ihrer Totalität, ſondern immer nur in einem mäßigen Aus - zug, wollen und handeln können, ſo daß in Anſehung der Mehrzahl (der Frauen und der Minderjährigen) nur die Zuflucht zu der leeren Fiction einer Vertretung übrig bleibt. Endlich weil ſelbſt die Totalität der Einzelnen doch nur die des gegenwärtigen Augenblickes ſeyn würde, anſtatt daß das ideale Volk, wovon hier die Rede iſt, auch die ganze Zukunft in ſich ſchließt, alſo ein unvergängliches Daſeyn hat (§ 8).

Dennoch iſt in den hier beſtrittenen Anſichten ein wah - res Element enthalten. Allerdings kann auf die Bildung der Staaten Zufall und Willkühr großen Einfluß aus - üben, und beſonders wird die Begränzung derſelben durch Eroberung und Zerſtückelung oft ſehr abweichend von den natürlichen, durch Volkseinheit angegebenen Gränzen be - ſtimmt. Umgekehrt kann oft ein fremdartiges Element dem Staat völlig aſſimilirt werden; nur hat die Möglichkeit einer ſolchen Aſſimilation ihre Bedingungen und ihre Stu - fen, wie ſie denn beſonders durch einige Verwandtſchaft des neuen Elements, ſo wie durch die innere Vollkommen - heit des aufnehmenden Staates gefördert wird. Allein alle ſolche Ereigniſſe, wie häufig ſie auch in der Geſchichte vorkommen mögen, ſind doch nur Anomalien. Das Volk bleibt darum nicht minder die natürliche Baſis des Staats, und die Bildung durch inwohnende Kraft ſeine naturge - mäße Entſtehung. Tritt nun ein fremdartiges hiſtoriſches Moment in dieſen natürlichen Bildungsprozeß ein, ſo kann32Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.daſſelbe durch die ſittliche Kraft und Geſundheit des Volkes überwunden und verarbeitet werden; gelingt dieſe Verar - beitung nicht, ſo wird ein krankhafter Zuſtand daraus hervorgehen. Auf dieſe Weiſe erklärt es ſich, wie das, was urſprünglich Gewalt und Unrecht war, allmälig durch die dem Rechtszuſtand inwohnende Anziehungskraft dergeſtalt umgebildet werden kann, daß es in denſelben als neuer, rechtmäßiger Beſtandtheil übergeht. Ganz ver - werflich aber, ja abentheuerlich iſt es, wenn man verſucht hat, ſolche ſtörende und die ſittliche Kraft prüfende Ano - malien als die wahre Entſtehung der Staaten darzuſtel - len, und darin die einzig mögliche Rettung zu ſuchen vor der gefährlichen Lehre, welche die Staaten durch den will - kührlichen Vertrag ihrer einzelnen Mitglieder entſtehen läßt(a)Haller Reſtauration der Staatswiſſenſchaft.. Bey dieſem Rettungsverſuch iſt es ſchwer zu ſagen, welches von beiden bedenklicher iſt, die Krankheit oder das Heilmittel.

§. 11. Völkerrecht.

Betrachten wir weiter das Verhältniß mehrerer neben einander beſtehender Völker und Staaten, ſo erſcheint uns daſſelbe zunächſt ähnlich dem Verhältniß einzelner Men - ſchen, die durch Zufall zuſammen geführt werden, ohne durch Volksgemeinſchaft verbunden zu ſeyn. Iſt Jeder derſelben ein wohlgeſinnter und gebildeter Menſch, ſo werden ſie das Rechtsbewußtſeyn, welches Jedem aus33§. 11. Völkerrecht.ſeinen früheren Verhältniſſen inwohnt, auf ihre zufällige Nähe anwenden, und ſich ſo durch Willkühr einen Rechts - zuſtand einrichten, der unfehlbar mehr oder weniger ein nachgeahmter, alſo übertragener, ſeyn wird. Eben ſo kön - nen mehrere unabhängige Staaten das, was einem Jeden als Recht inwohnt, auf ihr gegenſeitiges Verhältniß will - kührlich anwenden, ſo weit es dahin paßt, und ſo weit ſie es vortheilhaft finden: allein auf dieſem Wege entſteht noch kein Recht. Indeſſen kann auch unter verſchiedenen Völkern eine ähnliche Gemeinſchaft des Rechtsbewußtſeyns entſtehen, wie ſie in Einem Volk das poſitive Recht er - zeugt. Die Grundlage dieſer geiſtigen Gemeinſchaft wird theils in einer Stammesverwandtſchaft beſtehen, theils und vorzüglich in gemeinſamen religiöſen Überzeugungen. Dar - auf gründet ſich das Völkerrecht, welches namentlich unter den chriſtlich-Europäiſchen Staaten beſteht, aber auch den alten Völkern nicht fremd war, wie es z. B. bey den Römern als jus feciale vorkommt. Auch dieſes dürfen wir als poſitives Recht betrachten, jedoch aus zwey Gründen nur als eine unvollendete Rechtsbildung: erſtlich wegen der Unvollſtändigkeit eines irgend ſicheren Inhalts, und zweytens, weil ihm diejenige reale Grundlage fehlt, die dem Recht der einzelnen Glieder deſſelben Volks in der Staatsgewalt, und namentlich in dem Richteramt, gegeben iſt (§ 9).

Indeſſen führt die fortſchreitende ſittliche Bildung, wie ſie das Chriſtenthum begründet, jedes Volk dahin, ein Analogon jenes poſitiven Völkerrechts ſelbſt auf ſolche334Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.völlig fremde Völker anzuwenden, von welchen dieſe Ge - ſinnung nicht getheilt und dieſes Verfahren nicht erwiedert wird. Eine ſolche Anwendung aber hat einen rein ſittli - chen Character, und nicht die Natur eines poſitiven Rechts.

§. 12. Gewohnheitsrecht.

G. F. Puchta das Gewohnheitsrecht B. 1. 2. Erlangen 1828. 1837. 8.

Die hier unter dem Namen des Volksrechts dargeſtellte Rechtserzeugung, die auf unſichtbare Weiſe vor ſich geht, und alſo nicht auf eine äußere Begebenheit und auf einen beſtimmten Zeitpunkt zurückgeführt werden kann, iſt zwar zu allen Zeiten anerkannt worden, aber dieſe Anerkennung iſt meiſt aus zwey Urſachen unfruchtbar geblieben: indem man ihr eine zu beſchränkte Stellung anwies, und indem man ihr Weſen unrichtig auffaßte. Das erſte kann erſt unten, in Verbindung mit der Geſetzgebung, klar gemacht werden: das zweyte ſteht in Verbindung mit dem dabey üblichen Namen des Gewohnheitsrechts.

Dieſer Name konnte leicht zu folgender Gedankenge - nealogie verleiten. Wenn in einem Rechtsverhältniß irgend Etwas geſchehen mußte, ſo war es urſprünglich ganz gleichgültig, was geſchah; Zufall und Willkühr beſtimmte irgend eine Entſcheidung. Kam nun derſelbe Fall aber - mals vor, ſo war es bequemer, dieſelbe Entſcheidung zu wiederholen, als ſich auf eine neue zu beſinnen, und mit jeder neuen Wiederholung mußte dieſes Verfahren noch35§. 12. Gewohnheitsrecht.bequemer und natürlicher erſcheinen. So wurde nach eini - ger Zeit eine ſolche Regel zum Recht, die urſprünglich nicht mehr Anſpruch auf Geltung hatte, als die entgegen - geſetzte Regel, und der Entſtehungsgrund dieſes Rechts war allein die Gewohnheit.

Sieht man nun auf die eigentlichen Grundlagen eines jeden poſitiven Rechts, auf den feſten Kern deſſelben, ſo wird in jener Anſicht das wahre Verhältniß von Urſache und Wirkung gerade umgekehrt. Jene Grundlage hat ihr Daſeyn, ihre Wirklichkeit, in dem gemeinſamen Bewußtſeyn des Volks. Dieſes Daſeyn iſt ein unſichtbares, durch welches Mittel alſo können wir es erkennen? Wir erken - nen es, indem es ſich in äußeren Handlungen offenbart, indem es in Übung, Sitte, Gewohnheit heraustritt: an der Gleichförmigkeit einer fortgeſetzten, alſo dauernden Handlungsweiſe erkennen wir ſeine gemeinſame, dem blo - ßen Zufall entgegengeſetzte Wurzel, den Volksglauben. So iſt alſo die Gewohnheit das Kennzeichen des poſitiven Rechts, nicht deſſen Entſtehungsgrund. Dennoch hat auch jener Irrthum, welcher die Gewohnheit zum Entſtehungs - grund macht, einen wahren Beſtandtheil, der nur auf ſein rechtes Maaß zurückgeführt werden muß. Es giebt näm - lich außer jenen im Volksbewußtſeyn allgemein anerkann - ten und unzweifelhaften Grundlagen des poſitiven Rechts gar manche in’s Einzelne gehende Beſtimmungen, welche an ſich ein weniger ſicheres Daſeyn haben; ſie können ein ſolches dadurch erlangen, daß ſie durch öftere Übung dem3*36Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.Volk ſelbſt zu beſtimmterem Bewußtſeyn gebracht werden(a)Puchta II. S 8. 9. : auch für das Volk, aus deſſen Rechts - anſichten ſie hervorgeht, dient die Übung gleichſam als der Spiegel, in welchem es ſein eignes Selbſt erkennt. . Solche Fälle werden häufiger vorkommen in dem Maaße, als gerade bey dieſem Volk die rechtsbildende Kraft nicht zu den hervorſtechenden Seiten ſeines Weſens gehört. Außerdem liegt auch in der Natur vieler Beſtimmungen eine relative Gleichgültigkeit: es kommt bey ihnen nur darauf an, daß irgend eine feſte Regel gelte und als gel - tend bekannt ſey, welche es auch ſey. Dahin gehören die vielen Fälle, in welchen die Rechtsregel irgend eine Zahl in ſich ſchließt, und wobey innerhalb gewiſſer Extreme ſtets ein großer Spielraum der Willkühr übrig bleibt, wie bey den Verjährungszeiten; eben ſo die Rechtsregeln, die blos die äußere Form eines Rechtsgeſchäfts zum Gegen - ſtand haben. In allen Fällen dieſer Art werden wir, mit unſrem früheren Denken und Wollen, eine Autorität für uns ſelbſt in jeder ſpäteren Anwendung, und ſo kann aller - dings die Gewohnheit als ſolche auf die Rechtsbildung Einfluß haben. Es wirkt hier das Geſetz der Continuität menſchlicher Geſinnungen, Handlungen und Zuſtände: ein Geſetz, welches auch in manchen einzelnen Rechtsinſtituten von ausgedehntem Einfluß iſt(b)Es zeigt ſich daſſelbe Ge - ſetz wirkſam in der Beweislaſt (als Bedingung einer Verände - rung des bisherigen Zuſtandes), dem Beſitz, der Erſitzung, der Klageverjährung, endlich auch in der Kraft der Präjudicien (§ 20), überall freylich mit beſonderer Beymiſchung und Ausbildung. Hier konnte dieſer gemeinſchaft - liche Geſichtspunkt nur angedeu - tet werden: ihn nachzuweiſen,. Dieſe Annahme einer37§. 12. Gewohnheitsrecht.auf das Recht ſelbſt zurückwirkenden Gewohnheit iſt auch nur inſofern herabwürdigend für daſſelbe, als man das wiederholte Handeln als ein gedankenloſes, durch zufälli - gen äußeren Anſtoß beſtimmtes, denkt: wird es dagegen als ein beſonnenes, aus der Energie des Geiſtes hervor - gehendes gedacht, ſo iſt durch dieſe Entſtehung die Würde des Rechts nicht gefährdet. Obgleich alſo der Name des Gewohnheitsrechts von zwey Seiten her erklärt, und ge - wiſſermaßen gerechtfertigt werden kann, ſo iſt doch ein weniger ausſchließender Gebrauch deſſelben wünſchenswerth, da er das Erbtheil ſo mancher Misverſtändniſſe mit ſich führt, die ſich von jeher an denſelben angeknüpft haben.

In beiden Beziehungen nun, in welchen die Übung des Rechts wichtig iſt, als Kennzeichen des poſitiven Rechts, und als mitwirkender Entſtehungsgrund, ſind es zwey Klaſ - ſen von Handlungen, die ſich vorzugsweiſe fruchtbar und wirkſam zeigen: die ſymboliſchen Formen der Rechtsge - ſchäfte, und die Urtheilsſprüche der aus dem Volk gebil - deten Gerichte(c)Wenn ich hier auf die Na - tur der Volksgerichte ein be - ſonderes Gewicht lege, ſo geſchieht dies im Gegenſatz der gelehrten Gerichte unſerer neueren Zeiten, die zugleich aus fortdauernden Collegien beſtehen (§ 14). Jener Character findet ſich recht unver - kennbar bey den Deutſchen Schöf - fengerichten: nicht minder aber in den Römiſchen res judicatae, und zwar in dieſen nicht ſowohl, wie man leicht glauben möchte, weil die judices Privatperſonen, alſo in dieſem Sinne aus dem Volk genommen waren: (denn der Rechtsſatz, worauf hier Alles ankommt, ging ja von dem Prä - tor aus, nicht von dem judex); ſondern deswegen, weil der Prä - tor ſelbſt jährlich wechſelte, und. Jene bringen uns den Sinn der(b)muß der Darſtellung der hier genannten Inſtitute vorbehalten bleiben.38Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.Rechtsinſtitute im Ganzen zur Anſchauung: dieſe, hervor - gerufen durch den Gegenſatz ſtreitender Anſprüche, ſind durch ihren Zweck genöthigt, das Rechtsverhältniß in ſcharf beſtimmten Gränzen aufzufaſſen und darzuſtellen.

Wenn übrigens hier behauptet worden iſt, daß die in einzelnen Fällen vorgekommene Übung des Volksrechts als Mittel der Erkenntniß deſſelben betrachtet werden müſſe, ſo kann dieſes als eine mittelbare Erkenntniß bezeichnet werden, nöthig für Diejenigen, welche dieſes Recht gleich - ſam von außen betrachten, ohne ſelbſt zu den Gliedern der Genoſſenſchaft zu gehören, in welcher das Volksrecht entſtanden iſt und ſein fortdauerndes Leben führt (§ 7. 8). Denn für dieſe bedarf es einer ſolchen Folgerung aus ein - zelnen Fällen der Übung nicht, da ihre Erkenntniß eine unmittelbare, auf Anſchauung beruhende, iſt (§ 30).

§. 13. Geſetzgebung.

Selbſt wenn das poſitive Recht die höchſte Sicherheit und Beſtimmtheit hätte, ſo könnte dennoch Irrthum oder(c)nicht gerade einem gelehrten Ju - riſtenſtande angehörte, alſo die allgemeine Volksanſicht repräſen - tirte. So beziehen auch die - mer ſelbſt die res judicatae, als Rechtsquellen, auf die Prätoren als ihre Urheber. Auctor ad Herenn. II. 13. Dieſes Alles gilt jedoch nur von den gewöhn - lichen Richtern, die einzeln oder doch in geringer Zahl vom Prätor für jeden Fall beſon - ders ernannt wurden. In den Centumviralſachen dagegen wa - ren es die Urtheiler ſelbſt, von welchen der Rechtsſatz ausging (indem dieſen keine formula vor - geſchrieben wurde), und ſo hat ſich namentlich die querela inof - ficiosi ausgebildet.39§. 13. Geſetzgebung.böſer Wille ſeiner Herrſchaft ſich zu entziehen verſuchen. Dadurch kann es nöthig werden, ihm ein äußerlich erkenn - bares Daſeyn zu geben, durch deſſen Macht jede indivi - duelle Meynung beſeitigt und die wirkſame Bekämpfung des unrechtlichen Willens erleichtert wird. Das poſitive Recht, ſo durch die Sprache verkörpert, und mit abſoluter Macht verſehen, heißt das Geſetz, und deſſen Aufſtellung gehört zu den edelſten Rechten der höchſten Gewalt im Staate. Die Geſetzgebung kann nun eben ſowohl im öffentlichen Recht als im Privatrecht thätig ſeyn; hier aber ſoll ſie vorzugsweiſe in dieſer letzten Beziehung näher betrachtet werden.

Fragen wir zuerſt nach dem Inhalt des Geſetzes, ſo iſt derſelbe ſchon durch dieſe Herleitung der geſetzgebenden Gewalt beſtimmt: das ſchon vorhandene Volksrecht iſt dieſer Inhalt, oder, was daſſelbe ſagt, das Geſetz iſt das Organ des Volksrechts. Wollte man daran zweifeln, ſo müßte man den Geſetzgeber als außer der Nation ſtehend denken; er ſteht aber vielmehr in ihrem Mittelpunkt, ſo daß er ihren Geiſt, ihre Geſinnungen, ihre Bedürfniſſe in ſich concentrirt, und daß wir ihn als den wahren Vertre - ter des Volksgeiſtes anzuſehen haben. Auch iſt es ganz unrichtig, dieſe Stellung des Geſetzgebers als abhängig zu denken von der verſchiedenen Einrichtung der geſetzge - benden Gewalt in dieſer oder jener Staatsverfaſſung. Ob ein Fürſt das Geſetz macht, oder ein Senat, oder eine größere, etwa durch Wahlen gebildete Verſammlung, ob40Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.vielleicht die Einſtimmung mehrerer ſolcher Gewalten für die Geſetzgebung erfordert wird, das ändert Nichts in dem weſentlichen Verhältniß des Geſetzgebers zum Volksrecht, und es gehört wieder zu der ſchon oben gerügten Verwir - rung der Begriffe, wenn Manche glauben, nur in dem von gewählten Repräſentanten gemachten Geſetz ſey wah - res Volksrecht enthalten.

Dieſe Anſicht von der Natur und dem Inhalt des Ge - ſetzes iſt nicht ſelten ſo misverſtanden worden, als würde dadurch dem Geſetzgeber eine untergeordnete, ſeiner nicht würdige Stellung angewieſen, ja als ſollte dadurch im Stillen das ganze Geſchäft der Geſetzgebung für über - flüſſig, wohl gar für ſchädlich erklärt werden. Dieſes Misverſtändniß wird am ſicherſten dadurch beſeitigt wer - den, daß gezeigt wird, worin der wahre Einfluß der Ge - ſetzgebung auf die Rechtsbildung beſteht, und welche eigen - thümliche Wichtigkeit dieſem Einfluß zugeſchrieben werden muß. Es zeigt ſich aber dieſer wichtige Einfluß vorzüg - lich in zwey Beziehungen: erſtlich als ergänzende Nach - hülfe für das poſitive Recht, zweytens als Unterſtützung ſeines allmäligen Fortſchreitens.

In der erſten Beziehung iſt hier an dasjenige zu erin - nern, was ſchon bey dem Gewohnheitsrecht (§ 12) bemerkt worden iſt. Bey aller Sicherheit der Grundlagen des poſitiven Rechts kann doch im Einzelnen Manches unbe - ſtimmt geblieben ſeyn, und dieſes beſonders bey ſolchen Völkern, deren Anlage und Richtung mehr nach anderen41§. 13. Geſetzgebung.Seiten als in der Rechtsbildung ausgezeichnet iſt. Dazu kommen die zahlreichen Beſtimmungen, in deren Natur ein gewiſſer Spielraum der Willkühr gegründet iſt, wie z. B. alle diejenigen, welche einen beſtimmten Zeitraum als Be - dingung enthalten. In allen Fällen dieſer Art iſt eine Ergänzung des Volksrechts nöthig, und obgleich dieſelbe, wie oben erwähnt, durch Gewohnheit gegeben werden kann, ſo wird ſie doch ſchneller und ſicherer, alſo beſſer, durch Geſetzgebung bewirkt.

Noch wichtiger aber, als auf die urſprüngliche Rechts - bildung, iſt der Einfluß der Geſetzgebung auf das Fort - ſchreiten des Rechts. Wenn nämlich durch veränderte Sitten, Anſichten, Bedürfniſſe, eine Veränderung in dem beſtehenden Recht nothwendig wird, oder wenn im Fort - gang der Zeit ganz neue Rechtsinſtitute zum Bedürfniß werden, ſo können zwar dem beſtehenden Recht dieſe neuen Elemente durch dieſelbe innere, unſichtbare Kraft eingefügt werden, welche urſprünglich das Recht erzeugte. Allein gerade hier iſt es, wo der Einfluß der Geſetzgebung äußerſt heilſam, ja ſelbſt unentbehrlich werden kann. Denn da jene wirkenden Urſachen nur allmälig eintreten, ſo entſteht nothwendig eine Zwiſchenzeit von ungewiſſem Recht, welche Ungewißheit durch den Ausſpruch des Geſetzes zu been - digen iſt. Ferner ſtehen alle Rechtsinſtitute unter ein - ander in Zuſammenhang und Wechſelwirkung, ſo daß durch jeden neu gebildeten Rechtsſatz unbemerkt ein Wi - derſpruch mit anderen, in ſich unveränderten Rechtsſätzen42Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.entſtehen kann. Dadurch nun wird eine Ausgleichung nöthig, die aber faſt nur durch Reflexion und abſichtliches, alſo perſönliches Eingreifen mit Sicherheit zu bewirken iſt(a)Stahl Philoſophie des Rechts II. 1. S. 140.. Dieſe Gründe erhalten eine beſonders einleuch - tende Wichtigkeit in den Fällen, in welchen auch ſchon das einer gegenwärtigen Abänderung bedürftige Recht durch frühere Geſetzgebung befeſtigt war; denn da nun dieſem die, überall wahrzunehmende, widerſtehende Kraft des geſchriebenen Buchſtabens inwohnt, ſo wird dadurch die allmälig wirkende innere Fortbildung oft ganz verhin - dert, oft auf einen unbefriedigenden Grad herabgeſetzt wer - den(b)Dieſes iſt der wahre Sinn der oft misbrauchten Stelle von Göthe: Es erben ſich Geſetz und Rechte Wie eine ew’ge Krankheit fort; Sie ſchleppen von Geſchlecht ſich zum Geſchlechte, Und rücken ſacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unſinn, Wohl - that Plage; Weh Dir, daß Du ein Enkel biſt! Vom Rechte, das mit uns gebo - ren iſt, Von dem iſt leider! nie die Frage. Nicht ſelten iſt ſie ſo genommen worden, als ſollte darin ein all - gemeiner Tadel des poſitiven Rechts ausgedrückt werden, und das Bedauern, daß nicht ledig - lich das Naturrecht regiere. Daß der Dichter dieſe Stelle in dem Zuſammenhange von Gedanken, worin ich ſie ſetze, deutlich ge - dacht habe, will ich nicht behaup - ten. Es iſt aber das Vorrecht des Sehers, dasjenige unmittel - bar durch innere Anſchauung her - vorzubringen, was wir Andern nur auf dem langen und mühe - vollen Wege fortſchreitender Ge - dankenverbindung finden können.. Endlich treten in der Geſchichte jedes Volkes Entwicklungsſtufen und Zuſtände ein, die der Rechtserzeu - gung durch gemeinſames Volksbewußtſeyn nicht mehr gün - ſtig ſind (§ 7). Hier wird dieſe, unter allen Umſtänden43§. 13. Geſetzgebung.unentbehrliche Thätigkeit großentheils von ſelbſt der Ge - ſetzgebung zufallen. In keiner Zeit iſt dieſe letzte Verän - derung ſo ſichtbar, ja ſo plötzlich erſchienen, als unter Conſtantin, von welchem an die höchſt thätige Kaiſerliche Geſetzgebung die Fortbildung des Rechts ausſchließend übernahm.

Wie nun aus dieſen Betrachtungen hervorgeht, daß der Geſetzgebung keinesweges eine untergeordnete Wichtig - keit, in Vergleichung mit dem reinen (d. h. nicht in Geſetz - gebung übergegangenen) Volksrecht zugeſchrieben werden darf, ſo iſt auch vor dem umgekehrten Irrthum zu war - nen, nach welchem das Volksrecht nur als ein nothdürf - tiger Erſatz für die zufällig mangelnde Geſetzgebung be - trachtet werden ſoll, von welchem nicht weiter die Rede ſeyn dürfe, ſobald dieſe in’s Daſeyn getreten wäre. Die conſequente Durchführung dieſer Anſicht führt dahin, die Abänderung eines Geſetzes durch neueres Volksrecht (abro - gatoriſche Gewohnheit) für unmöglich zu halten. Erkennt man aber in beiden Formen der Rechtsbildung eine gleiche, ſelbſtſtändige Würde an, ſo muß es einleuchten, daß die natürliche fortbildende Kraft des Volksrechts nicht durch den an ſich zufälligen Umſtand aufgehoben werden kann, wenn ein früheres Erzeugniß deſſelben die Form der Ge - ſetzgebung angenommen hat.

Außer dem Inhalt des Geſetzes, von welchem bisher die Rede war, iſt nun auch noch die Form deſſelben in beſondere Erwägung zu ziehen. Dieſe wird eben ſowohl44Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.durch ſein Hervorgehen aus der höchſten Gewalt, als durch die abſolute Macht, womit es wirken ſoll, beſtimmt. Jener Entſtehung und dieſer Wirkung kann Nichts ange - meſſener ſeyn, als die abſtracte Form der Regel und des Gebots. Alles Andere, was damit verbunden werden könnte, Entwicklung, Darſtellung, Einwirkung auf die Überzeugung, iſt der Natur des Geſetzes fremd und gehört anderen Sphären der Mittheilung an. Dadurch entſteht indeſſen ein Misverhältniß zwiſchen dem Geſetz und dem Rechtsinſtitut, deſſen organiſche Natur in jener abſtracten Form unmöglich erſchöpft werden kann. Dennoch muß dem Geſetzgeber die vollſtändigſte Anſchauung des orga - niſchen Rechtsinſtituts vorſchweben, wenn das Geſetz ſei - nem Zweck entſprechen ſoll, und er muß durch einen künſt - lichen Prozeß aus dieſer Totalanſchauung die abſtracte Vorſchrift des Geſetzes bilden: eben ſo muß derjenige, der das Geſetz anwenden ſoll, durch einen umgekehrten Prozeß den organiſchen Zuſammenhang hinzufügen, aus welchem das Geſetz gleichſam einen einzelnen Durchſchnitt darſtellt. Jenes Misverhältniß aber und die Nothwen - digkeit dieſes künſtlichen Verfahrens erſcheint gemildert überall, wo das Geſetz den oben dargeſtellten Beruf der Ergänzung und Nachhülfe erfüllt, da dieſe beſonderen Zwecke gleichfalls ſchon eine abſtracte Natur an ſich tra - gen, und daher durch die abſtracte Form des Geſetzes leichter erſchöpft werden können.

45§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.

§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.

Es liegt in dem natürlichen Entwicklungsgang der Völker, daß bey fortſchreitender Bildung einzelne Thätig - keiten und Kenntniſſe ſich abſondern, und ſo den eigen - thümlichen Lebensberuf beſonderer Stände bilden. So auch wird das Recht, urſprünglich Gemeingut des ge - ſammten Volkes, durch die ſich mehr verzweigenden Ver - hältniſſe des thätigen Lebens dergeſtalt ins Einzelne aus - gebildet, daß es durch die im Volk gleichmäßig verbreitete Kenntniß nicht mehr beherrſcht werden kann. Dann wird ſich ein beſonderer Stand der Rechtskundigen bilden, welcher, ſelbſt Beſtandtheil des Volkes, in dieſem Kreiſe des Denkens die Geſammtheit vertritt. Das Recht iſt im beſondern Bewußtſeyn dieſes Standes nur eine Fort - ſetzung und eigenthümliche Entwicklung des Volksrechts. Es führt daher nunmehr ein zwiefaches Leben: ſeinen Grundzügen nach lebt es fort im gemeinſamen Bewußt - ſeyn des Volks, die genauere Ausbildung und Anwendung im Einzelnen iſt der beſondere Beruf des Juriſtenſtandes.

Die äußeren Formen der Thätigkeit dieſes Standes geben ein Bild von der ſehr allmäligen Entwicklung deſſelben. Zuerſt erſcheint er blos als Rath gebend in einzelnen Fällen, theils durch Gutachten über die Entſcheidung eines Rechts - ſtreits(a)Zuerſt mündliches Gutachten der Advocati vor Gericht, ſpäter ſchriftliche Responsa., theils durch Belehrung über die richtige Ab -46Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.faſſung feyerlicher Rechtsgeſchäfte. Daneben finden ſich dann als erſte literariſche Verſuche gewöhnlich Formu - lare, mechaniſche Anweiſungen zur genauen Beſorgung von Rechtsgeſchäften. Nach und nach wird die Thätig - keit geiſtiger und bildet ſich zur Wiſſenſchaft aus. Nun erſcheinen als theoretiſche Formen Darſtellungen des Rechts theils in mannichfaltigen Büchern, theils in mündlicher Lehre: als praktiſche Formen aber die Urtheilsſprüche der Gerichte, die ſich von den alten Volksgerichten theils durch die wiſſenſchaftliche Bildung der Mitglieder, theils durch die Tradition bleibender Collegien unterſcheiden.

Man kann hiernach bey dem Juriſtenſtand eine zwie - fache Wirkſamkeit unterſcheiden: eine materielle, indem ſich die rechtserzeugende Thätigkeit des Volks großentheils in ihn zurückzieht, und von ihm, als dem Repräſentan - ten des Ganzen, fortwährend geübt wird: und eine for - melle, rein wiſſenſchaftliche, indem von ihm das Recht überhaupt, wie es auch entſtanden ſeyn möge, in wiſſen - ſchaftlicher Weiſe zum Bewußtſeyn gebracht und darge - ſtellt wird. In dieſer letzten Function erſcheint die Wirk - ſamkeit der Juriſten zunächſt als eine abhängige, ihren Stoff von außen empfangende. Indeſſen entſteht durch die dem Stoff gegebene wiſſenſchaftliche Form, welche ſeine inwohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden ſtrebt, ein neues organiſches Leben, welches bildend auf den Stoff ſelbſt zurück wirkt, ſo daß auch aus der Wiſ - ſenſchaft als ſolcher eine neue Art der Rechtserzeugung47§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.unaufhaltſam hervorgeht. Wie wichtig und heilſam dieſe formelle Rückwirkung der Wiſſenſchaft auf das Recht ſelbſt ſeyn kann, iſt auf den erſten Blick einleuchtend; allein ſie iſt auch nicht ohne Gefahren. Schon in früher Zeit verſuchten es die Römiſchen Juriſten, für die Be - handlung vieler Rechtsverhältniſſe allgemeine Formeln aufzuſtellen, die ſich durch Tradition fortpflanzten, und die zu großem und dauerndem Anſehen gelangten; Gajus beſonders hat uns viele derſelben aufbewahrt. Allein ſie ſelbſt (und mit ihren Worten Juſtinian) machen auf die Gefahr der unbedingten Hingebung an dieſelben aufmerk - ſam(b)L. 202 de R. J. (50. 17 ) Omnis definitio in jure civili periculosa est: parum (rarum) est enim, ut non subverti pos - sit. , und geben ihr Verhältniß dahin an, daß ſie als Verſuche, das Recht aufzufaſſen, und ſeinen Inhalt zu concentriren, nicht als Grundlage deſſelben betrachtet wer - den müßten(c)L. 1 de R. J. (50. 17 ) Regula est, quae rem quae est breviter enarrat. Non (ut) ex regula jus sumatur, sed (ut) ex jure quod est regula fiat quae, simul cum in aliquo vi - tiata est, perdit officium suum. Das heißt: der zu Liebe wir nie - mals irgend eine, für ſich wohl - begründete, concrete Beſtimmung aufopfern müſſen. Hier iſt alſo die Anerkennung von Ausnahmen neben der Regel an ihrer Stelle, ja das, was wir hier Ausnahme nennen, iſt eigentlich nur die Anerkennung einer unvollkomm - nen Regelfaſſung. Eine andere Natur haben die in Form all - gemeiner Regeln gefaßten ge - ſetzlichen Vorſchriften, neben wel - chen wir mit der Zulaſſung von Ausnahmen behutſamer ſeyn müſſen.. In neueren Zeiten iſt dieſe formelle Rückwirkung viel ausgebreiteter, mannichfaltiger und mäch - tiger geworden, und darin eben liegt die große Gefahr bey der Abfaſſung eines umfaſſenden Geſetzbuchs, durch48Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.welches unvermeidlich das zeitliche Ergebniß formeller Auffaſſung fixirt, und der natürlichen Reinigung und Veredlung durch fortſchreitende wiſſenſchaftliche Entwick - lung entzogen wird.

Betrachtet man insbeſondere das Verhältniß des In - riſtenſtandes zur Geſetzgebung, ſo zeigt ſich daſſelbe auf folgende verſchiedene Weiſe. Er wirkt auf dieſelbe ein, theils indem das in ihm ausgebildete Volksrecht, eben ſowohl als das urſprüngliche, zum Stoff der Geſetzgebung wird, theils durch die juriſtiſche Bildung der Perſonen, die auf die Geſetzgebung in verſchiedenen Stufen Einfluß haben. Er verarbeitet aber auch die Geſetzgebung und vermittelt den Übergang derſelben in das wirkliche Leben. Denn die freyen und mannichfaltigen Formen, in welchen er ſich bewegen kann, machen es ihm möglich, die ab - ſtracte Regel des Geſetzes in dem lebendigen Zuſammen - hang mit dem Rechtsinſtitut darzuſtellen, von deſſen An - ſchauung allerdings auch das Geſetz ausgegangen iſt, die aber nicht unmittelbar in demſelben ſichtbar wird (§ 13). So wird dem Geſetz durch wiſſenſchaftliche Verarbeitung die Beherrſchung der Lebensverhältniſſe erleichtert und geſichert.

Es erſcheint alſo hierin ein mannichfaltiger Einfluß des Juriſtenſtandes auf das poſitive Recht. Gegen die Behauptung dieſes Einfluſſes iſt zuweilen der Vorwurf einer unbefugten Anmaßung erhoben worden. Dieſer Vor - wurf könnte nur dann gegründet ſeyn, wenn die Juriſten49§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.einen geſchloſſenen Stand bilden wollten. Da aber Jeder Juriſt werden kann, der die nöthige Kraft darauf wen - det, ſo liegt in jener Behauptung nur der einfache Satz, daß, Wer das Recht zu ſeinem Lebensberuf macht, durch ſeine größere Sachkenntniß mehr als Andere auf das Recht Einfluß haben wird.

Dieſe beſondere Art der Rechtserzeugung bezeichne ich als das wiſſenſchaftliche Recht: anderwärts wird ſie das Juriſtenrecht genannt.

Indem nun hier die geiſtige Entwicklung als Bedin - gung des wiſſenſchaftlichen Rechts angegeben worden iſt, ſo darf dieſes nicht lediglich von einem beſonders hohen Grad wiſſenſchaftlicher Bildung verſtanden werden, da vielmehr auch ſchon ein beſchränkter Anfang dazu hinrei - chen kann, wie denn überhaupt Niemand hier an eine ſcharfe Gränzbeſtimmung denken wird. Noch wichtiger aber iſt die Bemerkung, daß ein ähnliches Verhältniß, wenngleich eingeſchränkter, auch ſchon aus der Verfaſſung eines Staats hervorgehen kann, wenn dieſe einen einzel - nen Stand in die Lage ſetzt, vor anderen Ständen die Kenntniß des Rechts zu beſitzen. So wird in Rom eine Prudentium auctoritas angenommen zu einer Zeit, worin von einem wiſſenſchaftlichen Bedürfniß noch nicht die lei - ſeſte Spur vorhanden war, und es wird dieſelbe in Verbin - dung geſetzt mit den ausſchließenden Kenntniſſen der Pontifi - ces, alſo zugleich mit den Vorrechten des Patricierſtandes(d)L. 2. §. 5. 6. de orig. jur. (1. 2.). Bis zu welchem Grade.

450Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

§. 15. Die Rechtsquellen in ihrem Zuſammenhang. Natur und Herkunft ihres Inhalts.

Aus der bisherigen Darſtellung geht hervor, daß ur - ſprünglich alles poſitive Recht Volksrecht iſt, und daß dieſer urſprünglichen Rechtserzeugung (oft ſchon in frühen Zeiten) Geſetzgebung ergänzend und unterſtützend zur Seite tritt. Kommt dann, durch fortſchreitende Entwicklung des Volks, Rechtswiſſenſchaft hinzu, ſo ſind dem Volksrecht in dem Geſetz und der Wiſſenſchaft zwey Organe gege - ben, deren jedes zugleich ſein eigenes Leben für ſich führt. Nimmt endlich in ſpäteren Zeiten die rechtsbildende Kraft des Volkes in ſeiner Totalität ab, ſo lebt ſie fort in die - ſen Organen. Dann aber iſt auch von dem alten Volks - recht meiſt wenig mehr in ſeiner urſprünglichen Geſtalt ſichtbar, indem daſſelbe, ſeinem größten und wichtigſten Theile nach, in Geſetzgebung und Wiſſenſchaft verarbeitet ſeyn wird, und nur noch in dieſer unmittelbar erſcheint. Auf dieſe Weiſe kann es geſchehen, daß das Volksrecht von Geſetz und Wiſſenſchaft, in welchen es fortlebt, faſt ganz verdeckt wird, und es wird nun auch die wahre Entſtehung des vorhandenen poſitiven Rechts leicht ver - geſſen und verkannt werden(a)Dieſes Verdecken der urſprünglichen Rechtserzeugung durch ſpätere Formen, worin der frühere Stoff übergegangen war, zeigt ſich beſonders in einem con - ſtanten Sprachgebrauch des ſpä - teren Römiſchen Rechts. Früher. Insbeſondere hat die(d)dieſe hiſtoriſche Angabe als wahr anzunehmen iſt, kann hier nicht der Ort ſeyn zu unterſuchen.51§. 15. Rechtsquellen im Zuſammenhang.Geſetzgebung in ihrer äußeren Macht ein ſolches Überge - wicht, daß daraus leicht die Täuſchung entſteht, als ob ſie der einzig wahre Entſtehungsgrund des Rechts wäre, alles Andere aber daneben nur in der untergeordneten Stellung einer Nachhülfe oder eines Surrogats gedacht werden dürfe. Allein ein geſunder Zuſtand des Rechts iſt nur da vorhanden, wo dieſe rechtsbildenden Kräfte harmoniſch zuſammen wirken, alſo keine derſelben von den andern ſich iſolirt. Und da die Geſetzgebung und die Wiſſenſchaft fortwährend von einzelnen Menſchen mit Abſicht und Bewußtſeyn hervorgebracht werden, ſo iſt es auch von Wichtigkeit, daß über die Entſtehung des poſi - tiven Rechts, und über das wahre Verhältniß der dabey wirkſamen Kräfte, richtige Vorſtellungen die Herrſchaft erlangen und behaupten.

Dieſer innere Zuſammenhang der Geſetzgebung und der Rechtswiſſenſchaft mit dem Volksrecht, welches auch(a)gab man als Rechtsquellen an: Leges, plebisscita, Senatus con - sulta u. ſ. w. Jetzt war dieſes Alles längſt in die Schriften der berühmten Juriſten übergegan - gen, nur die Kaiſergeſetze beſtan - den daneben, und wurden noch ſtets durch neue vermehrt. Da - her hieß es nun, alles Recht be - ruhe auf Leges oder Consti - tutiones (Kaiſergeſetze) und Jus oder Prudentia (juriſtiſche Lite - ratur). So in mehreren Stel - len des Commonitorium vor dem Weſtgothiſchen Breviar. Int. L. 2. C. Th. de dot. (3. 13). Int. L. un C. Th. de resp. prud. (1. 4.). Int. Cod. Greg. II. 2. 1. Edictum Theodorici in epilogo. Prooem. Inst. § 2. 4. Const. Deo auctore § 1. 2. 9. 11. Const. Cordi. pr. § 1. L. 5. C. quorum appell. (7. 65.). Justiniani Sanctio pragmatica § 11. Ganz eben ſo beruht das ganze Engliſche Recht auf zwey Grundlagen, statute law, und common law; was dort die Kaiſergeſetze waren, ſind hier die Parlamentsacten.4*52Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.für jene die Grundlage darbietet, macht es um ſo nöthi - ger, die Beſchaffenheit des Inhalts des Volksrechts ge - nauer zu unterſuchen. In demſelben finden wir ein zwie - faches Element: ein individuelles, jedem Volke beſonders angehörendes, und ein allgemeines, gegründet auf das Gemeinſame der menſchlichen Natur. Beide finden ihre wiſſenſchaftliche Anerkennung und Befriedigung in der Rechtsgeſchichte und in der Rechtsphiloſophie. Unter denen nun, welche ſich von jeher mit der Ergründung der Natur des Rechts beſchäftigt haben, ſind nicht We - nige, welche die Idee deſſelben als etwas für ſich Beſte - hendes behandelten, unbekümmert um deren Geſtaltung in dem vorhandenen realen Zuſtand, und um den Ein - fluß ihrer Gedanken auf dieſen Zuſtand. Allein auch Diejenigen, welche ihrer wiſſenſchaftlichen Arbeit ein be - ſtimmtes Verhältniß zu dem realen Rechtszuſtand zu geben trachteten, ſind dabey häufig, indem ſie nur das eine oder das andere von den angegebenen zwey Rechtselementen anerkannten, zu einer einſeitigen Behandlung des Rechts geführt worden: die Einen, indem ſie den Inhalt des Rechts als einen zufälligen und gleichgültigen auffaßten, und ſich mit der Wahrnehmung der Thatſache als ſol - cher begnügten; die Andern durch Aufſtellung eines über allen poſitiven Rechten ſchwebenden Normalrechts, wel - ches eigentlich alle Völker wohl thun würden, ſogleich anſtatt ihres poſitiven Rechts aufzunehmen. Dieſe letzte Einſeitigkeit entzieht dem Recht alles Leben überhaupt,53§. 15. Rechtsquellen im Zuſammenhang.während die erſte allen höheren Beruf in ihm verkennt. Beide Abwege werden wir vermeiden, wenn wir eine allgemeine Aufgabe annehmen, welche auf ihre beſondere Weiſe zu löſen die geſchichtliche Aufgabe der einzelnen Völker iſt. Der lebhafte Streit über dieſe Gegenſätze hat gewiß dazu gedient, dieſelben ſchärfer und beſtimmter zur Erkenntniß zu bringen; aber er hat eben ſo oft dahin geführt, das wahre Element in den Beſtrebungen der Gegner einſeitig zu verkennen. Denn wir dürfen nicht überſehen, daß bey einer ſcheinbar auf das Einzelne be - ſchränkten Unterſuchung, der Sinn für das Ganze, alſo für die höhere Bedeutung der Rechtsinſtitute, ſich offen - baren kann: ſo wie auf der andern Seite die auf das Allgemeine gerichtete Unterſuchung von der Anſchauung des geſchichtlichen Lebens der Völker wahrhaft durchdrun - gen ſeyn mag. Sieht man dabey ab von den Aeußerun - gen des Parteygeiſtes (als dem Nichtigen und Vergäng - lichen), und faßt man die wiſſenſchaftlichen Richtungen unſrer Zeit rein für ſich in’s Auge, ſo dürfte man wohl dem erfreulichen Gedanken einer inneren Annäherung, und damit eines wahrhaften Fortſchrittes, Raum geben können.

Jene allgemeine Aufgabe alles Rechts nun läßt ſich einfach auf die ſittliche Beſtimmung der menſchlichen Na - tur zurück führen, ſo wie ſich dieſelbe in der chriſtlichen Lebensanſicht darſtellt; denn das Chriſtenthum iſt nicht nur von uns als Regel des Lebens anzuerkennen, ſondern54Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.es hat auch in der That die Welt umgewandelt, ſo daß alle unſre Gedanken, ſo fremd, ja feindlich ſie demſelben ſcheinen mögen, dennoch von ihm beherrſcht und durch - drungen ſind. Durch dieſe Anerkennung eines allgemei - nen Zieles wird keinesweges das Recht in ein weiteres Gebiet aufgelöſt und ſeines ſelbſtſtändigen Daſeyns be - raubt: es erſcheint vielmehr als ein ganz eigenthümliches Element in der Reihe der Bedingungen jener allgemeinen Aufgabe, in ſeinem Gebiet herrſcht es unumſchränkt, und es erhält nur ſeine höhere Wahrheit durch jene Ver - knüpfung mit dem Ganzen. Mit der Annahme jenes Einen Zieles aber genügt es völlig, und es iſt keineswe - ges nöthig, demſelben ein ganz verſchiedenes zweytes, unter dem Namen des öffentlichen Wohles, an die Seite zu ſetzen: außer dem ſittlichen Princip ein davon unab - hängiges ſtaatswirthſchaftliches aufzunehmen. Denn indem dieſes auf Erweiterung unſrer Herrſchaft über die Natur hinſtrebt, kann es nur die Mittel vermehren und veredlen wollen, wodurch die ſittlichen Zwecke der menſchlichen Natur zu erreichen ſind. Ein neues Ziel aber iſt darin nicht enthalten.

Betrachten wir von dieſem Standpunkt aus das poſi - tive Recht beſtimmter Völker, ſo finden wir in deſſen Er - zeugung großentheils beide Elemente des Rechts als gar nicht verſchieden, ſondern als eine und dieſelbe, unge - theilte, ſchaffende Kraft. Nicht ſelten aber treten beide in einem beſtimmten Gegenſatz aus einander, bekämpfen55§ 15. Rechtsquellen im Zuſammenhang.und beſchränken ſich wechſelſeitig, um ſich ſpäterhin viel - leicht in einer höheren Einheit aufzulöſen. In dieſem Gegenſatz erſcheint uns das beſondere oder nationale Ele - ment, und alles Einzelne, was in der logiſchen Conſequenz deſſelben enthalten iſt, als der bloße Buchſtab des Rechts (jus strictum, ratio juris)(b)Die Römiſchen Kunſtaus - drücke werden an dieſer Stelle angegeben, nicht um die bey den Römern vorkommende Begriffe hiſtoriſch feſtzuſtellen, ſondern um die gegenwärtige allgemeine Dar - ſtellung durch Erinnerung an bekannte Kunſtausdrücke anſchau - licher zu machen. Die Anknüpfung derſelben an die bey den Römern herrſchenden Grundbegriffe über die Entſtehung des Rechts wird im § 22 nachfolgen. Die logi - ſche Conſequenz iſt in folgender Stelle ſehr bezeichnend ausge - drückt: L. 51. § 2. ad L. Aquil. (9. 2.) Multa autem jure ci - vili, contra rationem dispu - tandi, pro utilitate communi recepta esse. ; in ſolcher Abgeſchloſſenheit iſt daſſelbe unvollkommen und beſchränkt, es hat aber die Fähigkeit, im Lauf der Zeit die ihm verwandten allge - meineren Principien mehr und mehr in ſich aufzunehmen und ſich durch ſie zu erweitern. Das allgemeine Ele - ment dagegen erſcheint wiederum in verſchiedenen Geſtal - ten. Am reinſten und unmittelbarſten, inſofern darin die ſittliche Natur des Rechts im Allgemeinen wirkſam iſt: alſo die Anerkennung der überall gleichen ſittlichen Würde und Freyheit des Menſchen, die Umgebung dieſer Frey - heit durch Rechtsinſtitute, mit Allem was aus der Natur und Beſtimmung dieſer Inſtitute durch praktiſche Conſe - quenz hervorgeht, und was die Neueren Natur der Sache nennen (aequitas oder naturalis ratio). Mittelbar und in gemiſchterer Natur erſcheint das allgemeine Rechtselement:56Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.1) als Beachtung ſittlicher Zwecke außer dem Rechtsge - biet (boni mores), im neueſten Recht auch kirchlicher Zwecke, 2) als Beachtung des Staatsintereſſe (publica utilitas, quod reipublicae interest), 3) als väterliche Vor - ſorge für das Wohl der Einzelnen (ratio utilitatis), z. B. Beförderung des Verkehrs, Schutz einiger Klaſſen, wie Frauen und Minderjährige, gegen beſondere Gefahren. Nach dieſer Überſicht laſſen ſich die Entſtehungsgründe auch folgendergeſtalt klaſſificiren. Sie beruhen entweder rein auf dem Rechtsgebiet für ſich (jus strictum und aequitas), oder zugleich auf der Mitwirkung ſolcher Prin - cipien, die nicht in den Gränzen dieſes Gebietes liegen, obgleich ſie das allgemeine Ziel mit demſelben gemein haben (boni mores und jede Art von utilitas).

Durch jene Anerkennung der beiden Elemente jedes poſitiven Rechts, des allgemeinen und des individuellen, eröffnet ſich zugleich für die Geſetzgebung ein neuer und hoher Beruf. Denn gerade in der Wechſelwirkung jener Elemente liegt ſchon das wichtigſte Motiv des fortſchrei - tenden Volksrechts, wobey es überall darauf ankommt, das allgemeine Ziel ſicherer zu erkennen, und ſich demſel - ben anzunähern, ohne doch die friſche Kraft des indivi - duellen Lebens zu ſchwächen. Auf dieſem Wege giebt es Vieles auszugleichen, manches Hinderniß zu überwinden, und hier kann die geſetzgebende Gewalt dem unſichtbar arbeitenden Volksgeiſt die wohlthätigſte Hülfe leiſten. Aber in keinem Geſchäft iſt auch ſo viel Behutſamkeit57§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.nöthig, damit nicht einſeitige Meynung und Willkühr das lebendig waltende und fortſchreitende Recht verdränge. Hier vorzüglich iſt dem Geſetzgeber der Sinn für wahre Freyheit wichtig, der oft bey denen am meiſten vermißt wird, die ihn vor Anderen im Munde führen.

§. 16. Abſolutes und vermittelndes, regelmäßiges und anomaliſches Recht.

Bey der Betrachtung der Beſtandtheile des objectiven Rechts finden wir zwey Gegenſätze, die ſchon an dieſem Ort dargeſtellt werden müſſen, weil ſie von mannichfalti - gem Einflnß auf die nachfolgenden Lehren ſind.

Erwägt man erſtlich das Verhältniß, in welchem die Rechtsregeln zu den durch ſie beherrſchten Rechtsverhält - niſſen ſtehen (§ 5), ſo findet ſich darin folgende Verſchie - denheit. Ein Theil derſelben ſoll herrſchen mit unab - änderlicher Nothwendigkeit, ohne der individuellen Will - kühr Spielraum zu laſſen: ich nenne ſie abſolute oder gebietende Rechtsregeln. Der Grund dieſer Nothwen - digkeit kann liegen in der Natur des Rechtsorganismus ſelbſt, ſo wie er ſich in dieſem poſitiven Recht darſtellt: oder in politiſchen und ſtaatswirthſchaftlichen Zwecken: oder auch unmittelbar in ſittlichen Rückſichten (§ 15). Ein anderer Theil läßt zunächſt dem individuellen Willen freye Macht, und nur wo dieſer unterlaſſen hat ſeine Macht auszuüben, tritt die Rechtsregel an ſeine Stelle,58Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.um dem Rechtsverhältniß die nöthige Beſtimmtheit zu geben: dieſe Regeln, die man als Auslegungen des un - vollſtändig gebliebenen Willens betrachten kann, nenne ich vermittelnde. Dieſer Gegenſatz iſt von den - miſchen Juriſten ſehr beſtimmt anerkannt. Sie bezeichnen die Regeln der erſten Art am häufigſten als jus publi - cum(a)L. 38 de pactis (2. 14. ), L. 20 pr. de relig. (11. 7. ), L. 42 de op. lib. (38. 1. ), L. 45 § 1 de R. J. (50. 17. ) etc. : auch als jus ſchlechthin(b)L. 12 § 1 de pactis dot. (23. 4. ), L. 27 de R. J. (50. 17.)., als jus commune(c)L. 7 § 16 de pactis (2. 14.)., oder juris forma(d)L. 42 de pactis (2. 14. ), L. 114 § 7 de leg. 1 (30), L. 49 § 2 de fidej. (46. 1.).. Nicht ſelten drücken ſie ſpeciell die Beziehung aus, um deren willen die Regel dieſe Eigen - ſchaft hat, namentlich das Staatsintereſſe(e)L. 27 § 4. L. 7 § 14 de pactis (2. 14) publica causa, res publica. , oder die guten Sitten(f)Consultatio § 4 in mehre - ren Stellen.. Die Regeln der zweyten Art, deren Natur ſich meiſt aus dem Gegenſatz von ſelbſt ergiebt, haben keine ſo regelmäßig wiederkehrende Bezeichnung(g)Res familiaris, privata, ad voluntatem spectans. L. 7 § 14. L. 27 § 4 de pactis (2. 14.). L. 12 § 1 de pactis dot. (23. 4.). L. 27 de R. J. (50. 17.). Von der Unterſcheidung beider Arten der Rechtsregeln wird im vierten Kapitel gehandelt werden.. Bey den Neueren liegt zum Theil derſelbe Gedanke zum Grunde, wenn ſie die Geſetze in gebietende, verbietende und erlaubende eintheilen(h)Glück I. § 14. Die Veranlaſſung dieſer Eintheilung liegt in L. 7 de leg. (1. 3. ), wo nur noch ein Glied mehr vor - kommt: Legis virtus est im - perare, vetare, permittere, pu - nire. Hier aber ſtehen dieſe Fälle nur als anſpruchloſe Über - ſicht über die Wirkungsart der. Bey dieſer Eintheilung iſt59§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.jedoch zuvörderſt die Beſchränkung auf Geſetze zu tadeln, da doch derſelbe Gegenſatz auch in dem Gewohnheitsrecht vorkommen kann. Ferner unterſcheiden ſich die gebieten - den und verbietenden Geſetze nur durch die logiſche Form der Bejahung und Verneinung, welcher an ſich gleichgül - tige Umſtand keine Eintheilungsglieder begründen kann. Endlich iſt bey der dritten Art das, worauf es ankommt, gar nicht das Erlauben, ſondern vielmehr die Ergänzung einer mangelhaften Willensbeſtimmung. Das Erlauben könnte überhaupt nur Sinn haben in Beziehung auf ein vorausgedachtes Verbot: ſey es, daß dieſes durch die Er - laubniß aufgehoben, oder ausnahmsweiſe beſchränkt wer - den ſollte. In der That bezieht man auch den Ausdruck vorzugsweiſe auf ſolche Geſetze, worin für beſtimmte Per - ſonen eine Handlungsfähigkeit anerkannt, eigentlich alſo deren Negation negirt wird. Unter den angeführten Kunſtausdrücken iſt übrigens einer, der noch einer näheren Erörterung bedarf, weil deſſen Vieldeutigkeit große Mis - verſtändniſſe erzeugt hat, nämlich der Ausdruck publicum jus. Publicum überhaupt iſt populicum, das was mit dem populus in Beziehung ſteht. Dieſer Grundbegriff führt auf folgende Varietäten. Erſtlich kann gemeynt ſeyn der populus Romanus (welches als die regelmäßige Bedeu - tung bezeichnet wird), oder der populus einer einzelnen Stadt(i)L 15 de V. S. (50. 16. ), L. 16 eod. L. 9 de usurp. (41. 3.).. Zweytens kann das Publicum betreffen den(h)Geſetze, nicht als Grundlage ei - ner Claſſification.60Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.populus als Ganzes (wie der ager publicus, die bonorum publicatio u. ſ. w.), oder alle einzelne Mitglieder deſſelben (wie die res publicae im Gemeingebrauch der Einzelnen)(k)L. 5 pr. de div. rer. (1. 8. ), L. 7 § 5. L. 14 pr. L. 30 § 1. L. 65 § 1 de adq. rer. dom. (41. 1. ), L. 6 pr. L. 72 § 1 de contr. emt. (18. 1. ), L. 45 pr. de usurp. (41. 3.).. Was insbeſondere das publicum jus betrifft, ſo können durch dieſen Ausdruck ganz verſchiedene Beziehungen des jus zum populus bezeichnet werden. So bedeutet pu - blicum jus zuerſt das öffentliche Recht, d. h. die Rechts - regeln, deren Gegenſtand der populus iſt (§ 9. a.); ferner die Rechtsregeln überhaupt (das objective Recht), welche ihre Entſtehung haben in der Anerkennung des populus (§ 7. 8)(l)L. 8 de tut. (26. 1. ), L. 77 § 3 de cond. (35. 1. ), L. 116 § 1 de R. J. (50. 17. ), L. 8. 14 C. de Judaeis (1. 9.).; endlich diejenigen Regeln des Privatrechts, wobey der populus ein Intereſſe hat (publice interest, publica utilitas), und die deswegen von der individuellen Willkühr unabhängig ſind, alſo die abſoluten Rechtsregeln (Note a.). Allein nicht blos auf die Rechtsregeln (das objective Recht) wird der Ausdruck publicum jus ange - wendet, ſondern auch auf die Befugniſſe der Einzelnen (das ſubjective Recht). So heißt publicum jus der Allen gemeinſame Genuß an Flüſſen und Heerſtraßen(m)L. 1 § 16. 17. L. 3 § 4. L. 4 de O. n. n. (39. 1.). Ähn - lich iſt L. 40 ad L. J. de adult. (48. 5.).; eben ſo heißen publica jura die Rechte, welche den Einzelnen als Senatoren, als Mitgliedern der Volksverſammlung u. ſ. w. zukommen(n)L. 5 § 2. L. 6 de cap. min. (4. 5.).. Die Vernachläſſigung dieſer ver -61§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.ſchiedenen, aber verwandten Bedeutungen hat nicht ſelten bedeutende Irrthümer veranlaßt(o)Großentheils hieraus iſt entſtanden das Werk von Bur - chardi: Grundzüge des Rechts - ſyſtems der Römer aus ihren Be - griffen von öffentlichem und Pri - vatrecht entwickelt, Bonn 1822. Er betrachtet das ganze Perſo - nenrecht als jus publicum, das Sachenrecht als jus privatum, das Actionenrecht als aus beiden gemiſcht. Ich halte den Grund - gedanken für unrichtig, deſſen ſcharfſinnige Durchführung aber macht das Buch dennoch lehrreich..

Ein zweyter Gegenſatz bezieht ſich auf die verſchiedene Herkunft der Rechtsregeln, je nachdem dieſelben entſprun - gen ſind auf dem reinen Rechtsgebiet (ſey dieſes jus oder aequitas), oder aber auf einem fremdartigen Gebiet (§ 15). Indem dieſe letzten als fremde Elemente in das Recht ein - greifen, werden deſſen reine Grundſätze durch ſie modifi - cirt, und inſofern gehen ſie contra rationem juris(p)L. 14. 15. 16 de leg. (1. 3. ), L. 141 pr. de R. J. (50. 17.). Im Weſentlichen iſt die - ſes dieſelbe Grundanſicht, welche ſchon von Thibaut dargeſtellt iſt, Verſuche H. N. 13.. Ich nenne ſie daher anomaliſche, die Römer nennen ſie Jus singulare, und ſetzen ihren Entſtehungsgrund in die von dem Recht verſchiedene utilitas oder necessitas(q.)L. 16 de leg. (1. 3.) Jus singulare est quod contra te - norem rationis propter aliquam utilitatem auctoritate consti - tuentium introductum est. Der Name jus singulare ſteht auch in L. 23 § 3 de fid. lib. (40. 5.). L. 23. §. 1. L. 44 § 1 de adqu. poss. (41. 2.). L. 44 § 3 de usurp. (41. 3.). L. 15 de reb. cred. (12. 1.) ( Singularia quaedam recepta). Utilitas (vgl. oben § 15) als ihr Entſte - hungsgrund auch in L. 44 § 1 cit. L. 2 § 16 pro emt. (41. 4.). Necessitas (von utilitas im Weſen nicht verſchieden) in L. 162 de R. J. (50. 17.). Es heißt zuweilen benigne receptum L. 34 pr. mandati (17. 1.). Vgl. Brissonius v. benigne und be - nignus. In mehreren ande - ren Stellen heißt dieſes ſingu - läre, rein poſitive Recht jus con - stitutum, alſo ohne Beziehung auf Kaiſerconſtitutionen als Ent -. 62Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.Das auf dem Rechtsgebiet entſprungene Recht nenne ich das regelmäßige; die Römer bezeichnen daſſelbe ge - wöhnlich gar nicht, doch kommt dafür der Name Jus commune vor(r)L. 15 de vulg. (28. 6.).. Bey weitem die häufigſte Bezeichnung des Jus singulare bey den Römern iſt aber die durch den Ausdruck privilegium. So kommen vor Privilegien der Soldaten bey den Teſtamenten(s)L. 15 de vulg. (28. 6. ), L. 40 de admin. (26. 7.)., mehrerer Perſonen als Excuſationen von der Vormundſchaft(t)L. 30 § 2 de excus. (27. 1.). Fr. Vatic. § 152. Doch iſt hier der Ausdruck nicht häufig., ganz beſonders häufig aber als Begünſtigung mancher Creditoren im Con - curs(u)So durch den ganzen Ti - tel de reb. auct. jud. (42. 5. ), beſonders L. 24 § 2. 3. L. 32. Sie heißen hier privilegiarii. , namentlich des Fiscus, der Unmündigen, der Dotalforderungen u. ſ. w., alſo unter andern derjenigen Forderungen, die ſpäterhin den noch größeren Vortheil eines ſtillſchweigenden Pfandrechts erlangt haben(v)Unſer beſonders häufiger Ausdruck der privilegirten Hy - potheken iſt bey den Römern nicht üblich.: in allen dieſen Fällen aber heißt privilegium genau daſſelbe, was ſo eben als die Bedeutung von Jus singulare nach - gewieſen worden iſt. Suchen wir uns den Character(q.)ſtehungsgrund. L. 25 de don. int. v. et ux. (24. 1.). L. 1 rer. am. (25. 2.). L. 20 § 3 de statu lib. (40. 7.) L. 94 pr. § 1 de cond. (35. 1.). Alciati parerg. VII. 26. (Anderwärts bezeichnet freylich jus constitu - tum das Conſtitutionenrecht. L. 1 § 2 quae sent. 49. 8. Unſicher ſind in dieſer Hinſicht Fragm. Vat. § 278, und L. 22 C de usur. 4. 32.). Der Gegenſatz jenes ſingulären Rechts (jus con - stitutum) heißt dann jus vulga - tum. L. 32 § 24 de don. int. vir. (24. 1.).63§. 10. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.dieſes Jus singulare noch vollſtändiger zu entwickeln, ſo erſcheint es zuerſt als rein poſitiv, und zwar meiſt ſo, daß es auf den Willen eines beſtimmten Geſetzgebers zurück - geführt werden kann(w) Auctoritate constituen - tium ſ. d. Note q. , in ſeltneren Fällen auch als Erzeugniß uralter Nationalanſicht, alſo ohne bekannten Urſprung: ſo das Verbot der Schenkung zwiſchen Ehe - gatten, welches auf ſittlichen Anſichten, nicht auf einem Rechtsprincip beruht(x)L. 1 de don. int. vir. (24. 1.).. Ferner erſcheint das anoma - liſche Recht zu dem regelmäßigen in dem logiſchen Ver - hältniß einer Ausnahme zur Regel: allein dieſes Verhält - niß iſt ein abgeleitetes, und das Weſen der Sache iſt darin nicht enthalten. Endlich erſcheint das anomaliſche Recht (was ſchon in ſeinem Character als einer Ausnahme liegt) ſtets als beſchränkt auf gewiſſe Klaſſen von Perſo - nen, Sachen, oder Rechtsgeſchäften: aber dieſes Verhält - niß iſt zuvörderſt ein unbeſtimmtes, da man den Begriff ſolcher Klaſſen nach Belieben bilden kann, wie denn z. B. das ganze Recht des Kaufs nur für die Klaſſe der Käu - fer und Verkäufer gilt: es iſt ferner, ſo wie das vorher erwähnte Ausnahmeverhältniß, ein untergeordnetes, und ganz irrig haben Viele das Weſen des Jus singulare hierin geſetzt. Wäre dieſes der Fall, ſo müßte man auch den Satz umkehren können, und jedes Recht beſonderer Klaſſen müßte ſtets ein Jus singulare ſeyn, was aber durchaus nicht angenommen werden darf. So z. B. geht64Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.Juſtinians dreyjährige Uſucapion nur auf bewegliche Sa - chen, iſt aber darum dennoch kein Jus singulare. Das Vorrecht der Unmündigen bey der actio tutelae iſt ein Jus singulare, ihre Handlungsunfähigkeit iſt es nicht. Das Sc. Vellejanum iſt ein Jus singulare der Frauen, ihre ausſchließende Fähigkeit, mit Männern in dem Rechts - verhältniß einer Ehe zu leben, iſt es nicht. Alſo iſt die Beſchränkung eines Rechts auf einzelne Klaſſen nicht das, wodurch das Recht zu einem Jus singulare wird. In der gewöhnlichſten Beziehung auf eine einzelne Klaſſe von Per - ſonen iſt der Zweck nicht, wie bey dem regelmäßigen Recht (der aequitas) auf eine gleichmäßige Behandlung aller Betheiligten gerichtet, ſondern vielmehr, in Folge der von außen in das Recht eingreifenden utilitas, entweder auf einen Vortheil oder einen Nachtheil dieſer Klaſſe. In dem erſten Fall, welcher der häufigſte iſt, heißt jenes Recht auch beneficium(y)Z. B. L. 1 § 2 ad munic. (50. 1.).. Beyſpiele des letzten Falls ſind die im neueren Römiſchen Recht wichtigen beſonderen Rechte der Ketzer und Juden. Nach dieſer Darſtellung iſt der Begriff des Jus singulare ein allgemeiner, nicht hiſtori - ſcher. Dennoch kann er inſofern einen hiſtoriſchen Cha - racter annehmen, als ein dem Recht urſprünglich fremdes Princip von demſelben aſſimilirt werden kann, ſo daß Das, was urſprünglich als utilitas galt, im Lauf der Zeit als ratio juris aufgefaßt wird. Das geſchah ohne Zweifel bey dem Erwerb des Beſitzes durch freye Mittelsperſonen,65§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.und auch die Singularia bey dem Darlehn ſcheinen ſo ver - ſtanden werden zu müſſen(z)L. 1 C. de adqu. poss. (7. 32.). L. 53 de adqu. rer. dom. (41. 1.). L. 15 de reb. cred. (12. 1.)..

Große Verwirrung iſt in dieſe Lehre dadurch gekom - men, daß man das Jus singulare zuſammen geworfen hat mit dem, was wir heutzutage gewöhnlich Privilegien nen - nen, nämlich mit den durch die höchſte Staatsgewalt be - ſtimmten individuellen Ausnahmen von der Anwendung der Rechtsregeln. Um dieſes klar zu machen, iſt es - thig, das Verhältniß der Begriffe von der Terminologie genau zu ſcheiden(aa)Dieſe Rechte ſelbſt wer - den unten bey der Anwendung der Geſetze dargeſtellt werden.. Solche individuelle Ausnahmen ſind überhaupt gar nicht Beſtandtheile des allgemeinen Rechts, und unterſcheiden ſich dadurch gänzlich von dem Jus singulare. Sie haben mit demſelben gemein die Na - tur der Ausnahme von einer Regel: ferner die Entſtehung durch eine einſeitige Erklärung der geſetzgebenden Gewalt. Allein dieſe letzte Ähnlichkeit iſt nur eine zufällige, nicht allgemeine, da ſie ja auch durch Verträge entſtehen kön - nen. Mit der Terminologie aber verhält es ſich fol - gendergeſtalt. In der älteſten Sprache heißen dieſe indi - viduellen Ausnahmen in der That privilegia(bb)So in mehreren Stellen des Cicero (Ernesti v. privile - gium) Gellius X. 20. Vgl. Dirkſen civiliſtiſche Abhandlun - gen B. 1 S. 246 fg.. In unſren Rechtsquellen dagegen iſt privilegium die regelmä - ßige Bezeichnung für das Jus singulare, und kommt dabey, wie oben bemerkt, in einer großen Zahl von Stellen vor. 566Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Die individuellen Ausnahmen aber ſind in den Rechts - quellen überhaupt ſelten erwähnt, und wo ſie vor - kommen, werden ſie durch keinen regelmäßigen Kunſtaus - druck bezeichnet, ſondern bald blos beſchrieben(cc)L. 3 in f. C. de leg. (1. 14.) Const. Summa § 4., bald personales constitutiones, oder auch privata privilegia genannt(dd)L. 1 § 2 de const. princ. (1. 4.). L. 4. C. Th. de itin. mun. (15. 3.). Vgl. § 24..

Drittes Kapitel. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.

§. 17. A. Geſetze.

Was bisher über die Natur der Rechtsquellen im All - gemeinen geſagt worden iſt (§ 4 16), ſoll nunmehr auf das heutige Römiſche Recht, als auf die beſondere Auf - gabe dieſes Werks (§ 1 3), angewendet werden. Es iſt alſo die beſondere Stellung anzugeben, welche Geſetz - gebung, Gewohnheitsrecht, und wiſſenſchaftliches Recht, als Quellen des heutigen Römiſchen Rechts, einnehmen.

Als Geſetze kommen hier zunächſt in Betracht die vier Theile der Juſtinianiſchen Geſetzgebung, die wir unter dem Namen Corpus Juris zuſammen zu faſſen pfle - gen: alſo die drey Rechtsbücher, und die nach denſelben erlaſſenen einzelnen Novellen(a)Die Geſchichte und Lite - ratur dieſer Quellen gehört der. Dieſe aber in den Grän -67§. 17. Geſetze.zen und der beſonderen Geſtalt, welche ſie in der Schule von Bologna erhalten haben. Denn nur ſo waren ſie bekannt, als ſich von jener Schule aus die Anerkennung des Römiſchen Rechts als eines gemeinen Rechts für das neuere Europa feſtſtellte: und als vier Jahrhunderte ſpä - ter zu jenen Quellen allmälig noch neue hinzugebracht wurden, war die ausſchließende Herrſchaft der früheren ſo lange und ſo allgemein anerkannt, ja ſie waren ſo ſehr in den wirklichen Rechtszuſtand übergegangen, daß es ganz unmöglich war, den neuen Entdeckungen einen andern als blos gelehrten Gebrauch zuzuſchreiben. Nur aus dieſem Grunde iſt das vorjuſtinianiſche Recht von aller Anwen - dung ausgeſchloſſen, und dieſe Ausſchließung iſt von allen ohne Ausnahme anerkannt. Ganz inconſequent aber würde es ſeyn, daſſelbe Princip nicht auch auf die Gränzen des Juſtinianiſchen Quellencanons anwenden zu wollen. Da - her ſind alſo ausgeſchloſſen die Griechiſchen Texte in den Digeſten, an deren Stelle die in Bologna angenommenen Überſetzungen treten: ferner die wenig bedeutenden Reſti - tutionen in den Digeſten, und die weit wichtigeren im Codex. Eben ſo aber iſt auch unter den Drey auf neuere Zeiten gekommenen Sammlungen der Novellen(b)Sammlung der 168, Ju - lian, und liber Authenticorum. Biener Geſchichte der Novellen Juſtinians. Berlin 1824. 8. nur diejenige anzuerkennen, welche wir als Authenticum bezeichnen, und zwar in der Abkürzung, die ſie in Bologna(a)Rechtsgeſchichte an; hier iſt blos anzugeben, was davon als gel - tendes Recht betrachtet werden darf.5*68Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.erhalten hat, und worin ſie den Namen der Vulgata führt(c)Biener S. 258. 259. Wenn auch einzelne Juriſten, wiewohl ſehr ſelten, abweichende Meynungen über dieſen Punkt gehabt haben mögen (Müh - lenbruch I. § 18.), ſo darf doch deshalb die Sache ſelbſt nicht als zweifelhaft angeſehen werden. Denn giebt man das hier auf - geſtellte Princip auf, ſo iſt es ganz unmöglich, eine ſchranken - loſe Willkühr abzuwehren.. Aus denſelben Gründen aber müſſen wir auf der andern Seite im Codex die Erweiterung anerkennen, die er in Bologna durch Aufnahme der von Kaiſer Frie - drich I. und Friedrich II. herrührenden Authentiken erhalten hat: ingleichen durch Aufnahme der weit zahlreicheren Authentiken des Irnerius(d)Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3. § 195. 196. Es darf nicht als In - conſequenz angeſehen werden, wenn gleich nachher die Autori - tät der Gloſſe verneint, hier aber die der Authentiken des Irnerius behauptet wird, obgleich dieſe auch nichts Anderes waren, als Gloſ - ſen zur Erleichterung des Pa - rallelismus zwiſchen dem Co - dex und den Novellen. Denn man erkannte ſie nur inſofern für Stücke des geſetzlichen Ca - nons an, als ſie bloße Auszüge ſeyn ſollten, ohne alle eigene Zu - that: ſo daß es nur als eine Be - quemlichkeit für das Studium und für die Citate betrachtet wurde, wenn man ſich nach Be - lieben an den Text oder an den Auszug wenden konnte. Es würde daher dem Sinne der Aufnahme der Authentiken völlig entgegen ſeyn, wenn man aus ihnen einen Widerſtreit gegen den Novellentext begründen wollte.. Weiter jedoch als auf die Begränzung jenes Quellenkreiſes dürfen wir den unmit - telbaren Einfluß der Bologneſiſchen Schule nicht ausdeh - nen: namentlich nicht auf die Lehrmeynungen, worin eine ausſchließende Allgemeinheit daſelbſt niemals bewirkt oder nur bezweckt wurde(e)Im Gegenſatz gegen dieſe Behauptung iſt die Meynung aufgeſtellt worden, wir hätten überhaupt nicht das von den Gloſſatoren begränzte Corpus Juris, ſondern vielmehr die in den Gloſſatoren ausgedrückte: eben ſo wenig auf die Kritik des69§. 17. Geſetze.Textes, worin zwar gemeinſame Beſtrebungen der Gloſſa - toren unverkennbar ſind, jedoch ohne daß dieſelben jemals in einer abgeſchloſſenen Arbeit fertig wurden, für welche allein eine ausſchließende Anerkennung auch nur zur Frage kommen könnte(f)Savigny a. a. O. § 175. 176.. Weit wichtiger iſt die Beſchränkung der Anwendbarkeit, welche ſich auf den Inhalt jenes im Allgemeinen anerkannten Quellenkreiſes bezieht. Dahin gehört nicht nur die wichtige Ausſchließung des Staats - rechts von aller heutigen Anwendung (§ 1), ſondern auch die Ausſchließung ganzer, dem Prtvatrecht angehörenden, Rechtsinſtitute, wie z. B. des Sklavenrechts, des Colonats, der Stipulation. Dieſe materielle Begränzung aber iſt nicht ſo wie jene formelle der Schule von Bologna zuzu - ſchreiben, ſondern vielmehr der Rückwirkung anderer Rechts - quellen (Gewohnheitsrecht und Wiſſenſchaft) auf das ge - ſetzliche Recht. Ja ſie iſt auch nicht von jeher allgemein anerkannt worden, vielmehr iſt es erſt dem kritiſchen Geiſt neuerer Rechtswiſſenſchaft gelungen, die irrige Anwendung ganz zu verdrängen, die früherhin vom Römiſchen Recht häufig verſucht wurde. Wie ſehr namentlich die Gloſſa -(e)Italieniſche Rechtspraxis reci - pirt (Seidenſticker) Juriſtiſche Fragmente Th. 2 S. 188 194. Das iſt um ſo mehr zu verwer - fen, als die Gloſſatoren nur In - terpreten ſeyn, und die Praxis nicht darſtellen, ſondern reformi - ren wollten. Savigny Ge - ſchichte des R. R. im Mittelal - ter B. 5 Kap. XLI Num. I. Das wahre Element in jenem Irrthum beſteht darin, daß die Lehrmeynungen der Gloſſatoren allerdings auch auf die Deutſche Rechtspraxis nicht wenig Einfluß gehabt haben.70Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.toren geneigt waren, jene natürliche Gränzen nicht ſelten zu verkennen, zeigt die unter K. Friedrich I. verſuchte An - wendung des Römiſchen Rechts zur feſteren Begründung der Kaiſerlichen Gewalt.

Die hier aufgeſtellte Gränze des als Geſetz recipirten Römiſchen Rechts iſt von Einer Seite her nicht ohne Anfechtung geblieben, ſo weit nämlich hier die Ungültig - keit der ungloſſirten oder reſtituirten Theile des Corpus Juris behauptet wird. Zwar ſtimmt mit dieſer Behaup - tung die Mehrzahl theoretiſcher und praktiſcher Schrift - ſteller überein, die jede Abweichung von dieſem Grundſatz als entſchiedenen Irrthum anſehen(g)Lauterbach proleg. § V Num. 6. 7. Eckhard hermeneut. § 282. Brunnquell hist. j. II 9 § 22. Zepernick hinter Beck de novellis Leonis Hal. 1779. p. 552 sq. Glück I § 53. 56. Weber Verſuche über das Ci - vilrecht S. 47 49.. Doch hat es auch nicht an Gegnern dieſer Behauptung gefehlt. Einzelne ſind ſo weit gegangen, ſelbſt den Novellen des K. Leo VI. geſetzliche Gültigkeit zuzuſchreiben(h)Beck de novellis Leonis ed. Zepernick Halae 1779., ohne zu erwägen, daß zur Zeit dieſes Kaiſers (um das Jahr 900) die Herr - ſchaft der Griechiſchen Kaiſer über Italien längſt aufge - hört hatte, alſo keine Brücke mehr vorhanden war, auf welcher ihre Geſetze, ſo wie die von Juſtinian, zu uns hätten gelangen können. Mehr Schein hat die Meynung Anderer, welche die Geſetzeskraft auf die reſtituirten Stücke des Juſtinianiſchen Rechts, wohl auch nur auf einen Theil derſelben, beſchränken, oder wenigſtens die Frage als zwei -71§. 17. Geſetze.felhaft darſtellen(i)Beck l. c. § 48. Mühlen - bruch l § 18. Dabelow Hand - buch des Pandectenrechts Th. I Halle 1816 § 50. Dieſer letzte ſtellt folgende Sätze auf. Nach dem älteren Brauch waren alle ungloſſirte Stücke ungültig; nach dem neuern Brauch, ſeitdem die gloſſirten Ausgaven verſchwan - den, ſind zwar die ungloſſirten Novellen noch immer ungültig, die übrigen ungloſſirten Stücke aber ſind jetzt gültig (S. 199. 200.). Dagegen haben auch noch jetzt die ſogenannten leges re - stitutae keine practiſche Anwend - barkeit (S. 201), ſo daß hierin kein alter und neuer Brauch un - terſchieden wird. Er hat alſo das Originelle, daß er die un - gloſſirten Stücke von den reſti - tuirten unterſcheidet. Beide ſind aber in der That von einander gerade ſo verſchieden, wie die Digeſten von den Pandekten.. Man hat nämlich die Sache ſo aufgefaßt, als wäre die beſchränkte Gültigkeit in dem ausſchließenden Gebrauch der gloſſirten Ausgaben begrün - det, und ſeitdem dieſe außer Gebrauch gekommen und durch vollſtändigere Ausgaben (z. B. die Gothofrediſchen) verdrängt worden, ſey auch deren ganzer Inhalt für reci - pirt zu achten. Allein einen ſo materiellen und zufälligen Zuſammenhang hat die Sache in der That niemals ge - habt; vielmehr war die Reception in beſtimmten Gränzen anerkannt und fixirt, längſt ehe man an gedruckte Aus - gaben oder gar an eine Verſchiedenheit unter ſolchen den - ken konnte. Allerdings kann man ſagen, dieſelbe Fähigkeit und Befugniß zur Reception, wie in früheren Zeiten, habe auch noch im ſechszehnten Jahrhundert, in welches die Reſtitutionen größtentheils fallen, fortgedauert. Die Re - ception aber iſt eine Thatſache, die ſich nicht verbergen läßt, die aber auch nicht ohne wichtige Gründe eintritt. An ſolchen Gründen hat es bey der wirklichen Reception72Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.gewiß nicht gefehlt; wären nun z. B. damals die Digeſten unvollſtändig geblieben, und hätte man etwa das Infor - tiatum im ſechszehnten Jahrhundert erſt gefunden, ſo würde deſſen Reception ſchwerlich gefehlt haben. Aber bey den damals reſtituirten Stellen, einzelnen Geſetzen, zum Theil von zweydeutigem oder völlig verwerflichem Inhalt, fehlte ein ſolcher Beweggrund gänzlich, auch hat ſich nie eine öffentliche Meynung für deren Reception im Ganzen aus - geſprochen. Es kann alſo nur noch die Frage ſeyn, ob vielleicht einzelne Stellen dieſer Art, etwa ihres vorzüg - lichen Inhalts wegen, beſonders recipirt worden ſind. Dieſes iſt namentlich behauptet worden für die L. 4 C. de in jus vocando (von Cujacius reſtituirt), worin die Ver - letzung der Litispendenz mit dem Verluſt der Klage bedroht wird; dieſe Stelle wird namentlich in einem reichsgericht - lichen Erkenntniß angeführt und einer Strafdrohung zum Grunde gelegt(k)Ein ſolches Mandat er - kannte am 23. Dec. 1650 das Reichskammergericht in Sachen Waldeck c. Paderborn und con - sortes, die Grafſchaft Piermont betreffend. Es iſt vollſtändig ab - gedruckt bey Er. Mauritius de judicio aulico § 14 (Kilon. 1666 und in deſſen Dissert. et opusc. Argent. 1724. 4. p. 337). Die hierher gehörende Stelle lautet ſo: Wir heiſchen und laden .... zu ſehen und zu hören, Deine Andacht und Euch um dero un - gehorſams und obbeſagter Thä - tigkeiten wie auch überfahrungs willen, in die Poen. l. ult. § ult. C. de in jus voc. gefallen ſeyn, mit Urtheil und Rechtſprechen erkennen und erklären. Manche Schriftſteller reden von dieſer Sache ſo, als ob ſolche Erkenntniſſe in Menge von den Reichsgerichten ausgegangen - ren, z. B. Andler jurisprud. qua publ. qua privata Solisbaci 1672. 4. p. 434. Pütter de praeventione § 19. 90. 135. Geht man aber auf den Grund, ſo findet ſich auch nicht ein einziges. Allein wenn dies nicht etwa aus blo -73§. 17. Geſetze.ßem Verſehen geſchah, wogegen doch auch die Reichsge - richte nicht privilegirt waren(l)Ein ſolches Verſehen möchte man wohl annehmen nach der Art, wie ſich darüber erklärt Uf - fenbach de consilio aulico C. 12. p. 155 additur interdum citatio ad videndum se inci - disse in poenam L. ult. C. de in j. voc .... Et quamvis quod pauci hactenus observarunt, praedicta L. ult. non authen - tica sed a Cujacio restituta, consequenter spuria sit, et hinc adeo secure cum illa neuti - quam navigari videatur, hoc tamen non obstante Dn. ab Andler quotidianam praedictae L. ult. praxin confirmat etc.; nun kommt dafür als Beweis lediglich das in der vorigen Note angeführte Mandat von 1650. Man kann nun wohl von der Meynung des Dabelow (Note i) ſo viel zugeben, daß der verbrei - tete Gebrauch vollſtändigerer Aus - gaben leicht ein ſolches Ver - ſehen herbeyführen konnte, wel - ches früher gar nicht möglich war; nur entſteht auf dieſem Wege kein wahrer und allgemei - ner Gerichtsgebrauch, alſo auch kein gemeines Recht., ſo ließe es ſich wohl erklären, daß den Reichsgerichten ein Geſetz willkommen geweſen wäre, wodurch ſie das Anſehen ihrer höchſten Gerichtsbarkeit ſtrenger handhaben konnten; der Satz wäre darum doch nicht in den gemeinen Deutſchen Prozeß über - gegangen. Ganz irrig wird die Autorität des Pfälziſchen Oberappellationsgerichts angeführt, welches die (reſtituirte) L. 12 C. de aedificiis privatis einem Urtheil zum Grund gelegt haben ſoll, da doch die Gründe des Urtheils be - ſtimmt die Geſetzeskraft jener Stelle verneinen(m)J. W. Textor decisio - nes electorales Palatinae Fran - cof. 1693. 4. Decisio XX. Al - lerdings hatte ſich der Kläger auf jene lex restituta berufen (p. 78), aber der Gerichtshof be - hauptet p. 81. 82. ganz beſtimmt die gänzliche Ungültigkeit dieſer und jeder anderen lex restituta, wo nicht irgend ein darin ent - haltener Satz durch ſpecielles Ge - wohnheitsrecht recipirt ſey. Die - ſes letzte könnte höchſtens der Fall geweſen ſeyn bey dem Urtheil des Reichskammergerichts in Sa - chen Waldeck c. Paderborn (ſ. o. Note k). Es iſt ganz un -. Kann(k)Präjudiz außer dem hier ange - führten von 1650.74Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.nun nach dieſen Gründen von der aufgeſtellten Gränze des recipirten Rechts Nichts aufgegeben werden, ſo iſt dagegen der wiſſenſchaftliche Gebrauch der reſtituirten Stellen (welcher mittelbar auch auf die Ausbildung des praktiſchen Rechts Einfluß haben kann) auf keine Weiſe zu beſtreiten; dieſer iſt eben ſo unzweifelhaft, als der wiſ - ſenſchaftliche Gebrauch der Stellen über antiquirte Rechts - inſtitute (z. B. die Sklaverei), ſo wie der vorjuſtinianiſchen Rechtsquellen. Nur iſt er durch die Natur ihres Inhalts weit beſchränkter und unbedeutender. Gajus und Ulpian geben uns Licht über Vieles, das uns ſonſt in den Dige - ſten dunkel bleiben würde; jene reſtituirte Stellen dagegen ſind einzelne abändernde Geſetze, die auf das übrige Recht kein neues Licht werfen, und wobei es nur darauf an - kommt, ob ſie unmittelbar angewendet werden ſollen oder nicht. So z. B. bey der L. 22 C. de finde instrum. kann nur die Frage ſeyn, ob eine Prozeßpartei zu verlangen befugt iſt, daß ein Dritter ihr Urkunden mittheile oder nicht; eben ſo bey Nov. 121. 138. wegen der Be - rechnung der Zinſen über das Doppelte. Das unabhän - gig von dieſen Geſetzen geltende frühere Recht wird durch ſie um gar Nichts deutlicher. Dagegen kommt wohl der(m)begreiflich, wie Beck de novel - lis Leonis § 48 das Pfälziſche Urtheil anführen, und dabey von der L. 12 C. cit. ſagen kann: excitatam tamen pariter ad causae definitionem in supremo appellationis judicio Palatino docet J. W. Textor. Dieſe Worte muß Jeder ſo verſtehen, als hätte der Gerichtshof das Geſetz ſeiner Entſcheidung zum Grunde gelegt, der doch gerade das Gegentheil ſagt.75§. 17. Geſetze.Fall vor, daß über eine Rechtsfrage widerſtreitende Stel - len der Digeſten vorliegen, und daß über dieſelbe Frage eine nicht gloſſirte Novelle von Juſtinian ſich ausſpricht. Wenngleich dieſe nicht die Kraft eines Geſetzes hat, ſo iſt ihr dennoch die einer höchſt wichtigen Autorität nicht abzuſprechen, und ſo wird auch von praktiſchen Schriftſtellern mit Recht Rückſicht auf ungloſſirte Novellen genommen(n)Dahin gehört die ungloſ - ſirte Nov. 162, ſ. u. § 164. Der hier anerkannte blos wiſſen - ſchaftliche Gebrauch der Rechts - quellen vor und nach Juſtinian, läßt ſich noch durch zwey völlig paſſende Analogieen erläutern. Dieſelbe Art des Gebrauchs näm - lich muß behauptet werden für die altdeutſchen Rechtsquellen in den Ländern des gemeinen Rechts; eben ſo aber auch für das - miſche Recht in den mit neuen Geſetzbüchern verſehenen Län - dern (Preußen, Öſterreich, Frank - reich)..

Finden ſich nun aber auch einzelne Urtheilsſprüche, worin reſtituirte Stücke des Juſtinianiſchen Rechts gera - dezu als Geſetze angewendet ſeyn mögen, ſo iſt doch ein - leuchtend, daß durch ſo ſeltene und vereinzelte Entſchei - dungen das hier aufgeſtellte Princip weder aufgehoben, noch auch nur zweifelhaft gemacht ſeyn kann, da die Wahrheit deſſelben im Allgemeinen von Theoretikern und Praktikern aller Jahrhunderte ſtets anerkannt worden iſt.

Außer dem Römiſchen Recht kommt hier als Geſetz in Betracht das canoniſche Recht, inſofern es Römi - ſche Rechtsinſtitute fortgebildet und modificirt hat. Denn auch dies hat eine gleich allgemeine Europäiſche Anerken - nung gefunden, wie das Römiſche. Jedoch läßt ſich dieſe Anerkennung mit Sicherheit nur von folgenden Samm -76Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.lungen behaupten: von Gratians Decret, den Decretalen Gregors IX., dem Sextus, und den Clementinen(o)Eichhorn Kirchenrecht I S. 349 360. Beſtritten iſt da - neben die Reception der beiden Extravagantenſammlungen; al - lein gerade für die hier allein in Frage ſtehenden Modificationen des Römiſchen Privatrechts ſind dieſe nicht von Wichtigkeit, ſo daß für unſern Zweck die Streit - frage gleichgültig iſt..

Faßt man endlich das heutige Römiſche Recht in der beſondern Geſtalt auf, die es als gemeines Recht des Deutſchen Reichs angenommen hat, ſo gehören unter die darin anwendbaren Geſetze auch die Reichsgeſetze, inſo - weit darin Inſtitute des Römiſchen Privatrechts modifi - cirt worden ſind. Dieſe Modificationen aber ſind in ihrem Umfang noch um Vieles unbedeutender, als die im cano - nifchen Recht begründeten.

§. 18. B. Gewohnheitsrecht.

Es iſt ferner zu zeigen, welche Stelle das oben im Allgemeinen dargeſtellte Volksrecht oder Gewohnheitsrecht (§ 7. 12) unter den Quellen des heutigen Römiſchen Rechts einnimmt.

Als Juſtinian zur Regierung kam, war das urſprüng - liche Römiſche Volksrecht in dieſer Form ſchon längſt nicht mehr ſichtbar. Der wichtigſte Theil deſſelben war ſchon zur Zeit der Republik in Volksſchlüſſe oder Edicte übergegangen, und was daneben noch als freies Gewohn - heitsrecht übrig blieb, nahm die juriſtiſche Literatur in ſich77§. 18. Gewohnheitsrecht.auf, ſo daß es nur noch als wiſſenſchaftliches Recht er - ſchien. Nach dem Erlöſchen der Literatur aber fehlte es meiſt an der friſchen nationalen Kraft, die zu neuer Rechts - bildung erfordert wird; und wenn auch zu Zeiten ein äußeres Bedürfniß dazu antrieb, ſo bedurfte es doch faſt immer der kaiſerlichen Geſetzgebung, um dem neuen Rechts - inſtitut eine beſtimmte Geſtalt zu geben(a)Das ſogenannte peculium adventitium und die donatio propter nuptias können als er - läuternde Beyſpiele dienen.. Es war alſo kaum denkbar, daß neben den Juſtinianiſchen Rechtsbüchern noch freyes Gewohnheitsrecht als gemeines Römiſches Recht hätte fortdauern mögen, da alles Bedeutende, was auf dieſem Wege vormals entſtanden war, unfehlbar in den Digeſten oder dem Codex ſeine Stelle gefunden hatte. Dagegen konnte vieles partikuläre Gewohnheitsrecht neben dieſer allgemeinen Geſetzgebung beſtehen, ohne daß wir im Stande wären, den Umfang und die Wichtigkeit deſſel - ben auch nur vermuthungsweiſe zu beſtimmen. Unter Juſtinians Nachfolgern mußte bey ähnlichen Bedingungen daſſelbe Verhältniß um ſo mehr fortdauern, als ſeine Ge - ſetzgebung die letzte große Anſtrengung dieſer Art geweſen war, und nach ihm die Kraft der Rechtsbildung immer mehr verſchwand.

Ein ganz anderer Zuſtand trat ein, als im erneuerten Europa das Römiſche Recht bey Nationen Eingang fand, in welchen es nicht entſtanden war. Damals waren auch dieſe ſchon in Verhältniſſe eingetreten, in welchen die Ent -78Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.ſtehung eines allgemeinen Gewohnheitsrechts Schwierigkeit fand, vorzüglich eines ſolchen, wodurch das ihnen fremde Römiſche Recht ergänzt und fortgebildet werden ſollte. Dennoch traten daneben auch Umſtände ein, die einem ſolchen allgemeinen Gewohnheitsrecht günſtig waren. Durch das aufgenommene fremde Recht war in ihnen ein künſt - licher und verwickelter Rechtszuſtand erzeugt worden, der nur durch manche neue vermittelnde Rechtsbildung aus - geglichen werden konnte. Dieſes Bedürfniß konnte durch eine einſichtsvolle, thätige Geſetzgebung befriedigt werden, wenn eine ſolche nach dem Character jener Staaten mög - lich geweſen wäre. Da ſie fehlte, konnte nur durch Ge - wohnheitsrecht geholfen werden, deſſen Entſtehung aller - dings durch die friſche, jugendliche Kraft der Nationen begünſtigt wurde. Allein die beſondere Art, wie das Be - dürfniß entſtanden war, mußte auch dieſem Gewohnheits - recht ſelbſt einen eigenthümlichen Character geben. Es war nicht in dem Maaße, wie anderes Volksrecht, Ge - meingut der ganzen Nation, ſondern es nahm gleich An - fangs eine wiſſenſchaftliche Natur an, wie dieſes ſogleich genauer entwickelt werden wird (§ 19).

Der größte und merkwürdigſte Act eines allgemeinen Gewohnheitsrechts in dieſem Anfang der neuen Zeit war eben die Reception des Römiſchen Rechts ſelbſt, und zwar in den beſtimmten Gränzen, welche bereits angegeben wor - den ſind (§ 17). Dieſe Reception aber hatte eine ver - ſchiedene Bedeutung in verſchiedenenen Nationen des neueren79§. 18. Gewohnheitsrecht.Europa, ſo daß die daraus hervorgehende Neuerung des Rechtszuſtandes in ſehr verſchiedenen Graden fühlbar wer - den mußte. In Italien war das Juſtinianiſche Recht niemals verſchwunden: neu war alſo hier nur theils deſſen Wiederbelebung, theils die eigenthümliche und beſtimmte Begränzung, in welcher es nunmehr anerkannt wurde. In Frankreich war zwar auch das Römiſche Recht nicht verſchwunden, aber die beſondere Geſtalt deſſelben in der Juſtinianiſchen Geſetzgebung war hier ſchon völlig neu. Weit fühlbarer aber mußte jene Reception in Deutſchland werden, wo das Römiſche Recht ſelbſt ein ganz neues, bisher unbekanntes Rechtselement war: freylich den neu entſtandenen Lebensverhältniſſen angemeſſen, da es nur dadurch Eingang finden konnte. Gerade hier nun ging ein langer und lebhafter Widerſtreit der entſchiedenen Re - ception vorher, und dadurch wurde dieſe Einwirkung des Gewohnheitsrechts ſowohl vorbereitet, als conſtatirt. Aber nicht blos die Aufnahme des Römiſchen Rechts an ſich muß als entſchiedener Einfluß des Gewohnheitsrechts unſere ganze Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen, ſondern eben ſo und faſt noch mehr die beſtimmte Art und Begränzung, in welcher dieſe Aufnahme Statt fand (§ 17), indem daraus hervorgeht, daß dieſelbe von einem klaren Bewußtſeyn begleitet war, und nicht etwa als das Werk eines gedan - kenloſen Zufalls betrachtet werden darf. Auch darf dieſe in beſtimmter Art vollzogene Aufnahme nicht als etwas Augenblickliches und ſogleich völlig Abgeſchloſſenes betrachtet80Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.werden, indem ſie vielmehr theilweiſe erſt allmälig zu vollendeter Entwicklung kam. Dieſes gilt namentlich von der materiellen Begränzung, durch welche ein bedeutender Theil des Inhalts des Römiſchen Rechts von der Re - ception ausgeſchloſſen iſt. In dieſer großen Erſchei - nung eines allgemeinen Gewohnheitsrechts, in vielen Staa - ten gleichmäßig (wenngleich nicht zu derſelben Zeit) vor - kommend, offenbart ſich zugleich die eigenthümliche Natur der ganzen neuern Zeit. Dieſe Staaten nahmen im Gan - zen ein Recht auf, das nicht in ihnen, ſondern in einem fremden Volke entſtanden war, in einem Volke, mit wel - chem einige unter ihnen nicht einmal Stammverwandtſchaft hatten. Es zeigt ſich hierin, daß die neueren Nationen nicht in dem Maaße wie die alten, zu einer abgeſchloſſe - nen Nationalität berufen waren, daß vielmehr der gemein - ſame chriſtliche Glaube um ſie alle ein unſichtbares Band geſchlungen hatte, ohne doch die nationale Eigenthümlich - keit aufzuheben(b)Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3 § 33.. Hierin liegt der große Entwickelungs - gang der neueren Zeit, deren letztes Ziel vor unſren Au - gen noch verborgen iſt.

Neben dem allgemeinen aber kam ſtets auch ein par - ticuläres Gewohnheitsrecht in der neueren Zeit vor, und deſſen Entſtehung in engeren Kreiſen hatte, eben ſo wie vormals im Römiſchen Staate, weit geringere Schwie - rigkeit. Es konnte in dieſen engeren Kreiſen durch ein81§. 18. Gewohnheitsrecht.wahrhaft gemeinſames Rechtsbewußtſeyn, alſo auf rein volksmäßige Weiſe, entſtehen, ohne erſt durch Wiſſenſchaft vorbereitet und vermittelt zu ſeyn. In dieſem partikulä - ren Gewohnheitsrecht haben ſich beſonders die urſprüng - lich Germaniſchen Rechtsverhältniſſe des ländlichen Grund - beſitzes (Lehen, Stammgüter, Bauergüter) nebſt dem damit zuſammenhängenden Erbrecht auf die ausgedehnteſte Weiſe erhalten und fortgebildet; Verhältniſſe, die über die Dauer des einzelnen Menſchenlebens hinauszureichen beſtimmt ſind, und die in zahlreichen Ständen mit dauernden und gleich - artigen Sitten und Beſchäftigungen zuſammen zu hängen pflegen. Auf ähnliche Weiſe zeigt es ſich in den Städten, daß die Gemeinſchaft gewerblicher Verhältniſſe bey Kauf - leuten und Handwerkern überall beſondere Gewohnheits - rechte hervorgetrieben hat, welche beſonders auch die Erb - folge (durch Gütergemeinſchaft in mancherley Formen) modificirten; jedoch blieb hier daneben ein freyerer Raum für die Anwendung des Römiſchen Rechts. Dagegen fin - det ſich eine weit beſchränktere Einwirkung partikulärer Gewohnheiten auf die ſchon im Römiſchen Recht vorkom - menden Rechtsinſtitute, unter welchen nur wenige, durch das täglich wiederkehrende gleichförmige Bedürfniß, neue Beſtimmungen auf dem Wege der Gewohnheit erhielten, wie z. B. das Baurecht im Verhältniß zu den Hausnach - baren, das Recht der Miethwohnungen, und das Dienſt - botenverhältniß. So iſt alſo das partikuläre Gewohn - heitsrecht ſtets ſehr wichtig geblieben für das urſprüng -682Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.lich Germaniſche Recht, wenig wichtig für die Fortbildung des Römiſchen Rechts(c)Sehr gute Bemerkungen über das Materielle dieſes Ge - genſatzes finden ſich in: Götze Provinzialrecht der Altmark. Mo - tive. I. S. 11 13..

Und dieſes zwiefache Gewohnheitsrecht, allgemeines und partikuläres, iſt nicht blos für die Vergangenheit als eine Quelle des heutigen Römiſchen Rechts, neben den Geſetzen, anzuerkennen, ſondern es kann auch eben ſo in der Zukunft, als daſſelbe fortbildend, vorkommen.

Auch müſſen wir ihm in dieſer beſonderen Anwendung dieſelbe Natur zuſchreiben, welche oben für das Gewohn - heitsrecht im Allgemeinen geltend gemacht worden iſt. Es entſteht alſo gleichfalls durch die Gemeinſchaftlichkeit der Überzeugung, nicht durch den Willen der Einzelnen, deren Geſinnungen und Handlungen blos als Kennzeichen jener Gemeinſchaftlichkeit angeſehen werden dürfen. Die Sitte und Übung, das was wir eigentlich Gewohnheit nennen, iſt daher der Hauptſache nach für uns ein Mittel der Erkenntniß, nicht für jenes Recht ſelbſt Grund der Entſtehung. Sehen wir endlich auf die Wirkſamkeit deſ - ſelben im Verhältniß zu den Geſetzen, ſo müſſen wir die - ſen Rechtsquellen völlige Gleichheit zuſchreiben. Geſetze alſo können durch neueres Gewohnheitsrecht nicht nur ergänzt und modificirt, ſondern auch außer Kraft geſetzt werden (§ 13), und zwar ohne Unterſchied, es mag das Gewohnheitsrecht lediglich das Geſetz entkräften, oder83§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.ſelbſt wieder eine neu erzeugte Regel an deſſen Stelle ſetzen(d)Die Bedeutung und Wich - tigkeit dieſer ſehr abſtract erſchei - nenden Sätze wird erſt unten (§ 28 fg. ) aus den entgegen - geſetzten Meynungen neuerer Schriftſteller klar werden. Eben dahin verweiſe ich die genauere Feſtſtellung der Bedingungen ei - nes wahren Gewohnheitsrechts, die ſchon hier ihre Stelle finden würden, wenn es nicht wegen der ſehr verbreiteten Irrthümer der neueren Rechtslehrer gerathe - ner wäre, die wahren Bedingun - gen in Verbindung mit dieſen Irrthümern, und im Gegenſatz derſelben, kritiſch feſtzuſtellen..

§. 19. C. Wiſſenſchaftliches Recht.

Im alten Rom hatte das Volksrecht, in früher Ge - meinſchaft mit Geſetzgebung, eine höchſt bedeutende und eigenthümliche Rechtsbildung hervorgebracht, lange ehe man an eine Rechtswiſſenſchaft dachte. Als aber wiſſen - ſchaftliches Leben überhaupt in der Nation aufging, wen - dete ſich dieſes natürlich auch auf das Recht, worin es einen eben ſo würdigen, als ächt nationalen Stoff bereits verfand. Der Juriſtenſtand, der ſich nun bildete, wurde zugleich größtentheils der Träger des Volksrechts, deſſen ſchaffende Kraft in ſeiner urſprünglichen Form nur noch ſeltener ſichtbar hervortrat. War alſo die Rechtswiſſen - ſchaft zwar ein Zweig des allgemeinen, in der Nation entſtandenen wiſſenſchaftlichen Lebens, ſo hatte ſie doch einen ganz eigenthümlichen Entwicklungsgang. Sie kam langſamer als andere Wiſſenſchaften zu derjenigen Reife, die ihnen überhaupt unter den Römern beſchieden war, und ſie erreichte den Gipfel ihrer Vollendung zu einer6*84Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Zeit, worin Wiſſenſchaft und Kunſt im Allgemeinen ſchon ſichtbar im Verfall waren. Dieſe Abweichung in den Bildungsperioden aber brachte der Römiſchen Rechtswiſ - ſenſchaft großen Vortheil, indem ihre langſamere Entwick - lung zugleich gründlicher und eigenthümlicher war, wo - durch ihr ein bleibender Einfluß auf fremde Nationen und ſpätere Zeitalter geſichert wurde, wie ihn die Römer in keinem andern wiſſenſchaftlichen Kreiſe erlangt haben. Dieſe Entſtehung der Rechtswiſſenſchaft in Folge eines allgemeinen wiſſenſchaftlichen Triebes der Nation gehörte mit zu der natürlichen, von fremden und zufälligen Ein - flüſſen nicht geſtörten Entwicklung, wodurch ſich überhaupt die Römer in ihrer Rechtsgeſchichte vor anderen Nationen auszeichnen. Von der Art, wie die Römiſchen Juri - ſten auf die Fortbildung des Rechts einwirkten (nicht auf die bloße Erkenntniß deſſelben), wird es uns ſchwer eine richtige Vorſtellung zu erlangen, weil es ſo natürlich iſt, die Anſchauung unſrer Zuſtände unvermerkt in jene durch - aus verſchiedene Zeit hinein zu tragen. Bey den Römern hatten die Juriſten eine ſehr ausgezeichnete Stellung durch die freye, blos wohlthätige Übung ihres Berufs, durch ihre mäßige Zahl, großentheils auch durch ihren Geburts - ſtand. Sie lebten meiſt zuſammen in der Hauptſtadt der Welt, in der Nähe der Prätoren, ſpäter der Kaiſer, alſo auch mit unausbleiblichem Einfluß auf dieſe. Nichts war natürlicher, als daß die gemeinſamen Meynungen dieſes Standes die Fortbildung des Rechts großentheils beſtimm -85§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.ten, und jeder Einzelne unter ihnen, beſonders der durch Geiſt Ausgezeichnete, hatte an dieſer unſichtbaren Macht einen namhaften Antheil. Bey uns heißt Juriſt ein Jeder, der Rechtswiſſenſchaft ſtudirt hat, um ſie als Richter, Sach - walter, Schriftſteller, Lehrer zu üben, alſo faſt immer um einen einträglichen Lebensberuf damit zu verbinden. Dieſe Juriſten ſind verbreitet über ganz Deutſchland, in unge - heurer Anzahl, und ſie bilden eine höchſt gemiſchte Geſell - ſchaft in der mannichfaltigſten Abſtufung des innern Wer - thes. Natürlich iſt hier die Einwirkung ſehr viel unbe - ſtimmter und maſſenhafter, es gehört längere Zeit dazu, ehe eine gemeine Meynung zu entſchiedener Anerkennung gelangt, und es muß weit mehr vom Zufall abhängig ſeyn, wie gerade eine eigenthümliche Bildungsweiſe oder Anſicht hier oder dort zu einem Einfluß auf die Geſetzge - bung, und durch dieſe auf die Fortbildung des Rechts kommt.

Einen ganz anderen Zuſtand, als im alten Rom, fin - den wir im Mittelalter, als das Römiſche Recht von einem großen Theil der Europäiſchen Staaten aufgenom - men wurde. Dieſe Aufnahme erzeugte einen künſtlichen Rechtszuſtand (§ 18), deſſen Schwierigkeiten nur durch einen höheren Grad von Rechtskenntniß, als ſie im Gemeingut der Nation denkbar iſt, erworben werden konnte. Durch dieſes Bedürfniß entſtand eine juriſtiſche Schule und Lite - ratur, ohne durch die allgemeine Bildungsſtufe der Völker hervorgerufen zu ſeyn(a)Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3 § 32.. Auch hier alſo, wie im alten86Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Rom, hatte die Rechtswiſſenſchaft ihre eigenthümlichen, von den allgemeinen abweichenden Bildungsperioden, nur hier in umgekehrter Ordnung. Denn anſtatt daß in Rom die höchſte Blüthe der Rechtswiſſenſchaft ſpäter eintrat, als die der anderen Wiſſenſchaften, entſtand im Mittelal - ter die Rechtswiſſenſchaft weit früher, als das allgemeine wiſſenſchaftliche Leben der Völker erwachte. Die Einſam - keit, in welcher ſie ſich deshalb lange Zeit hindurch be - fand, erhöhte ſehr die Schwierigkeit ihres Daſeyns, und machte ihr nach manchen Seiten hin eine vollendete Aus - bildung unmöglich. Allein die höhere Anſtrengung, wozu die Gloſſatoren dadurch genöthigt wurden, gab ihrer Ar - beit einen ernſten und würdigen Character, und der bedeu - tende Erfolg, der dieſer Arbeit unter ſo ſchwierigen Um - ſtänden dennoch zu Theil ward, nimmt noch jetzt unſere Bewunderung in Anſpruch(b)Savigny a. a. O. B. 5 S. 215..

In dieſer Lage war das Volksrecht, ſoweit es ſich nicht auf engere Kreiſe beſchränkte, gleich Anfangs mit dem wiſſenſchaftlichen Recht identiſch, ſo daß es außer demſelben gar nicht wirkſam wurde, und das prakti - ſche Bedürfniß des Volks nur in der Wiſſenſchaft ſeinen Ausdruck und ſeine Befriedigung fand (§ 18). Dadurch bekam die Rechtswiſſenſchaft ſelbſt einen eigenthümlichen Character, und es war dieſem Zuſtand angemeſſen, daß in der Beſchäftigung der Rechtsgelehrten Theorie und Praxis innig verbunden blieben, wie denn auch nicht ſelten87§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.die Rückwirkung der Praxis dazu gedient hat, die Theorie vor gänzlichem Verſinken zu bewahren(c)Savigny a. a. O. B. 6 S. 20.. In den nachfolgenden Jahrhunderten hat zwar die Rechtswiſſen - ſchaft verſchiedene Bildungsſtufen durchlaufen, und ſehr wechſelnde Schickſale gehabt. Allein ihr allgemeines Ver - hältniß zu der Rechtserzeugung ſelbſt iſt daſſelbe geblie - ben, wie es ſo eben für die Zeit des Mittelalters darge - ſtellt worden iſt.

Die Erzeugniſſe der geiſtigen Thätigkeit, die ſeit der Aufnahme des Römiſchen Rechts auf daſſelbe gerichtet war, ſind jedoch von ſo ungeheurem Umfang, und der Art nach ſo mannichfaltig, daß es einer beſonderen Un - terſuchung bedarf, in welchem Sinn dieſelben unter die Rechtsquellen gerechnet werden dürfen, und wie wir uns dazu zu verhalten haben. Wir können zu dieſem Zweck alle vor uns liegende Arbeit der Rechtsgelehrten in zwey große Maſſen zerlegen, theoretiſche und praktiſche Arbeit. Dieſe Ausdrücke aber, in welchen derſelbe Gegenſatz oft von ſehr verſchiedenen Seiten aufgefaßt wird, bedürfen einer genaueren Beſtimmung.

Theoretiſch nenne ich hier jede rein wiſſenſchaftliche Forſchung, mag ſie nun auf Feſtſtellung des Textes der Quellen, oder auf Erklärung derſelben, oder auf ihre Ver - arbeitung zu Reſultaten eines Rechtsſyſtems, oder auf die innere Vollendung dieſes Syſtems gerichtet ſeyn. Dadurch88Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.wird kein neues Recht erzeugt, ſondern nur das vorhan - dene Recht zu reinerer Erkenntniß gebracht, und inſofern kann dieſe Arbeit zunächſt nicht unter die Rechtsquellen gezählt werden. Dennoch nimmt ſie als eine große Auto - rität eine ähnliche Natur an. Denn obgleich für Jeden, der eine ſolche Arbeit ſelbſtſtändig prüfen will, die Frey - heit des Urtheils nicht beſchränkt iſt, mögen auch noch ſo viele Schriftſteller in einer neu aufgeſtellten Meynung übereinſtimmen, ſo giebt es doch ſtets eine eben ſo zahl - reiche als ehrenwerthe Klaſſe von Rechtsbeamten, die auch bey gründlicher Vorbildung nicht mehr in der Lage ſind, eine eigene, unabhängige Kritik auf die neue Meynung zu verwenden, und dadurch zu einer ſelbſtſtändigen Überzeu - gung zu gelangen. Für dieſe wird es nicht nur natür - lich, ſondern ſelbſt löblich und wünſchenswerth ſeyn, daß ſie jene Autorität unbedingt befolgen. Es geſchieht alſo nicht im Intereſſe der Bequemlichkeit, daß dieſes Verfah - ren hier empfohlen wird, ſondern im Intereſſe der Si - cherheit des Rechts ſelbſt. Denn dieſe kann unmöglich dabey gewinnen, wenn ein Richter, ohne die Möglichkeit eines umfaſſenden Studiums, ein eigenes Urtheil über jede einzelne Rechtsfrage zu bilden verſucht, welches durch die Einſeitigkeit ſeiner Entſtehung von ſehr zufälligem und zweifelhaftem Erfolg ſeyn wird. Vorzüglich aber kann dieſes Princip allein der Gefahr vorbeugen, daß Richter von einiger Regſamkeit durch den oberfläch - lichen Schein irgend einer neuen Lehre hingeriſſen werden89§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.zum größten Nachtheil der Rechtspflege(d)Über den Werth und das Weſen der Autorität in der Rechtspflege vrgl. den trefflichen kleinen Aufſatz von Möſer, pa - triotiſche Phantaſieen I N. 22.. Findet ſich einmal ein eigentlicher Gelehrter auf dem Richterſtuhl, ſo ſoll dieſem damit das Recht nicht abgeſprochen werden, ſeine wohl begründete und geprüfte Überzeugung auch in der Rechtspflege geltend zu machen. Woran nun das Daſeyn einer ſolchen wahren und guten Autorität zu erken - nen iſt, das läßt ſich freylich nicht durch eine äußere, formelle Regel beſtimmen. Auf die Zahl der übereinſtim - menden Schriftſteller kann es nicht ankommen, noch weni - ger kann bey fortdauerndem Streit an eine Stimmenzäh - lung gedacht werden. Alles hängt vielmehr davon ab, daß diejenigen Rechtslehrer, die im Ruf beſonnener und gründlicher Forſchung ſtehen, in einer ſolchen Meynung übereinſtimmen, daß alſo von Keinem derſelben ein ſchein - bar bedeutender, mit Gründen unterſtützter Widerſpruch fortdauernd erhoben worden iſt. Natürlich wird dieſes nur angenommen werden können, wenn die neue Meynung einige Zeit hindurch Gegenſtand der öffentlichen Prüfung war, obgleich es Niemand unternehmen wird, dafür eine beſtimmte Zahl von Jahren feſtzuſtellen. In dieſem rela - tiven Sinn alſo kann ſelbſt eine theoretiſche Arbeit unter die Rechtsquellen gezählt werden, indem derſelben unter jenen Bedingungen eine gewiſſe wohlbegründete Herrſchaft zugeſchrieben werden muß. Als Beyſpiel mag hier die90Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Lehre von den zwey Graden der Culpa dienen, die in unſren Tagen eben ſo allgemein Anerkennung gefunden hat, als vorher und ſehr lange Zeit hindurch die Lehre von drey Graden für wahr gehalten wurde. Es geht aber aus der Natur der hier beſchriebenen Autorität her - vor, daß dieſelbe niemals als etwas abgeſchloſſenes und unabänderliches betrachtet werden kann, indem eine künftige noch tiefer gehende Forſchung die jetzt angenommene Mey - nung abermals modificiren kann, und dann natürlich kein geringeres Recht in Anſpruch zu nehmen hat, als ihrer Vorgängerin bisher zuerkannt wurde.

§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.

Als praktiſche Arbeit dagegen bezeichne ich hier jede Forſchung, welche nicht auf den Inhalt der Quellen für ſich beſchränkt iſt, ſondern zugleich das Verhältniß dieſes Inhalts zu dem lebendigen Rechtszuſtand, in welchen ſie eingreifen ſollen, alſo den Zuſtand und das Bedürfniß der neueren Zeit, ins Auge faßt. Welche äußere Veranlaſſung ſolche Forſchung hat, kann dabey als gleichgültig oder untergeordnet betrachtet werden: ob die Mittheilung des gewonnenen Reſultats durch Lehre und Schrift, oder aber das Bedürfniß der Entſcheidung eines entſtandenen Rechts - ſtreits. In beiden Fällen alſo iſt dieſe Forſchung Organ des Gewohnheitsrechts, und zugleich ein Stück des wiſſen - ſchaftlichen Rechts, indem bey gelehrten und beſonders91§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.bey collegialiſch gebildeten Gerichten jede Entſcheidung einen wiſſenſchaftlichen Character an ſich trägt (§ 14). Es bewährt ſich alſo hierin die weſentliche Identität des Gewohnheitsrechts mit dem wiſſenſchaftlichen Recht, welche oben als ein beſonderer Charakter der neueren Jahrhun - derte angegeben worden iſt. Unter die praktiſchen Arbei - ten in dieſem Sinn rechne ich demnach eben ſowohl dogmatiſche Schriften, wenn ſie dieſe beſtimmte Richtung in ſich aufgenommen haben, als Sammlungen von Con - ſilien, Reſponſen und Urtheilen, mögen dieſe nun von ein - zelnen Rechtslehrern, oder von Rechtscollegien, z. B. von Juriſtenfacultäten oder Obergerichten herrühren. Indem aber hier die praktiſchen Arbeiten der Schriftſteller den theoretiſchen entgegengeſetzt werden, iſt dieſes keinesweges ſo gemeynt, als ob jedes einzelne Werk einer dieſer Klaſ - ſen ausſchließend angehören müßte. Sehr viele werden den theoretiſchen und den praktiſchen Charakter zugleich an ſich tragen, meiſt mit einem überwiegenden Antheil des einen, vielleicht ſelbſt mit gleicher Kraft in beiden Gebieten wirkend.

Bey den praktiſchen Arbeiten entſteht, ſo wie oben bey den theoretiſchen, die Frage, woran wir das Gültige und Ächte zu erkennen haben, um es auf ſichere Weiſe vom Ungültigen und Unächten unterſcheiden zu können. Dieſe Frage hat hier eine noch weit höhere Wichtigkeit, und bedarf deswegen einer genaueren Erörterung.

Wenn man einem des Rechts Unkundigen einen Streit92Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.zur Entſcheidung vorlegt, ſo wird er meiſt nach einem verworrenen Totaleindruck urtheilen, und doch vielleicht bey geſundem Verſtand und entſchiedenem Character, ſei - ner Sache ſehr gewiß zu ſeyn glauben. Es wird aber ſehr zufällig ſeyn, ob ein Zweyter, von ähnlichen Eigen - ſchaften, dieſelbe Entſcheidung oder die entgegengeſetzte geben wird. Die Wiſſenſchaft nun ſoll die Rechtsver - hältniſſe und die Regeln der Entſcheidung individualiſiren und ſondern, um dadurch jene Verworrenheit in Klarheit zu verwandeln, und die aus ihr entſpringende Unſicher - heit und Zufälligkeit der Entſcheidungen wegzuräumen. Hierin bewährt ſich die große Meiſterſchaft der Römiſchen Juriſten, welche freylich durch eine ſehr beſtimmte Termi - nologie, und beſonders durch die genaue Bezeichnung der einzelnen Klagen unterſtützt wird: jedoch wäre es ein Irrthum, dieſen Vortheil als einen zufälligen anrechnen zu wollen, da er vielmehr ſelbſt ſchon durch den der Na - tion inwohnenden rechtsbildenden Trieb hervorgebracht worden iſt. Uns fehlt dieſer Vortheil, und zugleich auch der noch wichtigere eines ganz einheimiſchen, mit der Na - tion aufgewachſenen Rechts: allein die Aufgabe, und die Möglichkeit ihrer Löſung iſt für uns nicht minder vor - handen. Betrachten wir nun unbefangen den Umfang desjenigen, was uns als praktiſches Recht, abweichend vom Römiſchen, aber als Umbildung Römiſcher Rechts - inſtitute, von unſrer Vorzeit überliefert worden iſt, ſo können wir darin zwey ganz ungleichartige Beſtandtheile93§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.unterſcheiden. Ein Theil iſt geſunder Natur, und beruht auf neuen Bedürfniſſen, wie ſie aus der Verſchiedenheit der Zuſtände, unter andern aus dem ſehr veränderten Gerichtsweſen, zum Theil auch aus der durch das Chri - ſtenthum großentheils umgebildeten ſittlichen Lebensanſicht, natürlich hervorgegangen ſind: dieſem müſſen wir, nach den ſo eben entwickelten Anſichten, die Kraft und Reali - tät eines auf dem wiſſenſchaftlichen Wege anerkannten Gewohnheitsrechts zuſchreiben. Dabey iſt es auch gleich - gültig, wenn vielleicht frühere Rechtslehrer den irrigen Verſuch machten, ſolche Sätze aus dem Römiſchen Recht abzuleiten. Dieſer Irrthum kann die Wahrheit der Sätze ſelbſt nicht mindern: nur müſſen wir uns nicht mit der Annahme täuſchen, als ob hier die irrige Deduction eine bloße Form wäre. Jene Juriſten meynten es damit ganz ehrlich, und wir müſſen die Ergründung des wahren - miſchen Rechts in ſolchen Fällen als weſentliches Stück unſrer Aufgabe anſehen: nicht um es aufrecht zu halten, ſondern um den wahren Umfang der Neuerung feſtzu - ſtellen. Ein anderer Theil dagegen iſt lediglich aus der oben erwähnten characterloſen Verworrenheit, alſo aus mangelhafter Wiſſenſchaft, hervorgegangen; dieſen haben wir als Irrthum aufzudecken und zu verdrängen, ohne daß ihn ein langer, ungeſtörter Beſitzſtand zu ſchützen vermöchte: um ſo mehr, als ſich ihm großentheils ein innerer Widerſpruch, alſo ein logiſcher Grundfehler, wird nachweiſen laſſen. Was dieſe Natur an ſich trägt, hat94Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.nur den falſchen Schein eines praktiſchen Rechts: es iſt ſchlechte Theorie, die einer beſſeren Theorie jederzeit wei - chen muß(a)Als erläuterndes Beyſpiel für dieſen Fall kann das Sum - mariissimum dienen, ſo wie es in der neueren Praxis nicht ſel - ten erſcheint. Vgl. Savigny Recht des Beſitzes § 51 der ſechs - ten Ausgabe.. Eine kritiſche Scheidung dieſer beiden Be - ſtandtheile iſt bisher nicht verſucht worden, indem man ſich meiſt begnügt hat, mit willkührlicher Auswahl die Zeugniſſe einzelner Praktiker für oder wider die heutige Geltung irgend eines Rechtsſatzes anzuführen. Im voraus eine allgemeine Regel für jene Scheidung aufzuſtellen, iſt ganz unmöglich: vielmehr muß dieſe Arbeit vom Einzel - nen ausgehen, wobey es einſtweilen dahin geſtellt bleiben mag, wie weit ſich die Kritik des Einzelnen in allgemei - nere Geſichtspuncte wird zuſammen faſſen laſſen. Dieſe kritiſche Prüfung der Praxis im Einzelnen ſoll denn auch eine Hauptaufgabe des gegenwärtigen Werks ſeyn: eine Aufgabe, deren große Schwierigkeit der vielleicht ſehr un - vollſtändigen Löſung zur Entſchuldigung dienen wird. Von einer andern Seite angeſehen, läßt ſich dieſelbe Aufgabe auch ſo ausdrücken: in dem Römiſchen Recht dasjenige zu ſcheiden, was ſchon abgeſtorben iſt, von dem was noch fortlebt, und großentheils ſtets fortleben wird. Die Hauptbedingung zur Löſung dieſer Aufgabe iſt ein reiner, unbefangener Wahrheitsſinn. Wer aus Vorliebe für das Römiſche Recht nur darauf ausgeht, dieſes überall in ſeiner Reinheit wiederherzuſtellen, der iſt dazu ungeſchickt:95§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.eben ſo aber auch, wer ſeine Einbildungen der neueren Praxis unterſchiebt, und ihr eine durchgeführte Selbſtſtän - digkeit andichtet, woran ihre Urheber nicht gedacht haben. Beiden iſt Aberglaube vorzuwerfen: Jenem, indem er ein erſtorbenes Stück der Geſchichte als lebend behandelt: Dieſem, indem er den eigenen Wahn als Wirklichkeit anſieht.

Derjenige Beſtandtheil des praktiſchen Rechts, welchen ich als den geſunden bezeichnet habe, hat eine ganz andere Wichtigkeit, als welche oben der theoretiſchen Arbeit zu - geſchrieben worden iſt. Er wirkt nicht blos als eine Ach - tung gebietende Autorität, ſondern er ſchließt in Wahrheit neu gebildetes Recht in ſich. Dennoch können wir auch ihm kein abgeſchloſſenes, unabänderliches Daſeyn zuerken - nen. Zwar auf dem Wege einer blos theoretiſchen Prü - fung, indem einem ſolchen Satz des praktiſchen Rechts die Abweichung von dem quellenmäßigen Recht nachge - wieſen würde, kann die Gültigkeit deſſelben nicht entkräf - tet werden, da es als wahres Gewohnheitsrecht ein ſelbſtſtändiges Daſeyn gewonnen hat. Das aber iſt nicht zu bezweifeln, daß es auf demſelben Wege, auf welchem es entſtand, auch wiederum ſeine Gültigkeit ver - lieren kann.

Häufig hat man den Einfluß des praktiſchen Rechts noch auf ganz andere Weiſe aufgefaßt, indem man be - hauptet hat, durch mehrere gleichförmige Ausſprüche eines Gerichts werde daſſelbe verbunden, die von ihm befolgte96Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Regel nun auch in der Zukunft unabänderlich beyzubehal - ten(b)Thibaut § 16, und viele frühere Schriftſteller. Sehr gut handelt hiervon Puchta Gewohnheitsrecht II S. 111.. Das Wahre hieran iſt dieſes, daß in ſolchen Fäl - len das Gericht für ſich ſelbſt eine Autorität bildet, welche zu achten würdiger und wohlthätiger ſeyn wird, als ſie in leichtſinniger Unbeſtändigkeit wieder aufzugeben: was alſo wiederum, ſo wie jede Gewohnheit, auf dem ſchon bemerklich gemachten Geſetz der Continuität beruht (§ 12. a). Wenn dagegen eine wiederholte, ernſte Prüfung neue, bisher unerwogene Gründe darbietet, kann das Verlaſſen der früher befolgten Regel nicht getadelt werden: vorzüg - lich aber iſt kein Grund vorhanden, dieſes Verlaſſen durch die ganz willkührliche Annahme einer ſo entſtandenen un - abänderlichen Regel ausſchließen zu wollen. Eine etwas andere Natur hat der Einfluß der Entſcheidungen eines höheren Gerichts auf die ihm untergebenen Gerichte. Denn hier wirkt nicht blos eine Achtung gebietende Autorität, ſondern die dem höheren Gericht zuſtehende Macht, ſeinen Überzeugungen durch abändernde Urtheile Geltung zu ver - ſchaffen. Indem ſich nun das untergeordnete Gericht in die abweichende Meynung fügt, weicht es nicht etwa einer äußeren Gewalt, ſondern es geht vielmehr in den Sinn und die wohlthätige Abſicht der Abſtufung der Gerichte, oder des Inſtanzenzuges, ein.

In dieſer ganzen Unterſuchung ſind abſichtlich einige Kunſtausdrücke vermieden worden, deren höchſt unbeſtimmter97§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.und ſchwankender Gebrauch viel zu der in dieſem Gebiet herrſchenden Verwirrung der Begriffe beygetragen hat. Es wird jetzt genügen, ihre verſchiedene Bedeutung bey neueren Schriftſtellern, ſo wie ihr Verhältniß zu der hier aufgeſtellten Genealogie der Begriffe ſelbſt, kurz anzugeben.

Dahin gehört zuerſt der Ausdruck Gerichtsgebrauch. Man verſteht darunter bald das durch Urtheilsſprüche bekundete wahre Gewohnheitsrecht, bald die gleichförmi - gen Ausſprüche eines und deſſelben Gerichts, welche an - geblich auch für die Zukunft bindende Kraft haben. Es wäre zweckmäßig, dieſen Ausdruck, ſo wie den Ausdruck Praxis, lediglich auf den erſten Begriff, alſo auf das wahre Gewohnheitsrecht, ſo weit es aus Urtheilen erkenn - bar iſt, anzuwenden. Daneben iſt aber beſonders gegen einen ſehr häufigen und verderblichen Misbrauch dieſer Ausdrücke zu warnen. Es genügt nämlich Vielen, welche einen Rechtsſatz auf die Praxis gründen wollen, wenn ſie die Anerkennung deſſelben in einzelnen Urtheilen nach - weiſen. Da aber die Richter eben ſo gut als die Schrift - ſteller dem Irrthum unterworfen ſind, ſo können auch ſolche Urtheile aus bloßer Unkunde des Rechts hervorge - gangen ſeyn. Auch hier alſo, wie bey den Schriftſtellern, iſt vielmehr eine allgemeinere Übereinſtimmung nöthig, die durch mehrere gegen einander laufende Urtheile gänzlich ausgeſchloſſen wird(c)Vgl. über die Übereinſtim - mung der Schriftſteller § 19, und über die nicht unbedingte Taug - lichkeit von Urtheilen zur Be -.

798Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Ferner gehört dahin der Ausdruck Obſervanz oder Herkommen, bey welchem der Sprachgebrauch noch weit ſchwankender iſt, als bey dem vorhergehenden. Zu - weilen wird er auf das Staatsrecht beſchränkt, ſo daß er hier daſſelbe bezeichnen ſoll, was im Privatrecht Ge - wohnheit heißt(d)Pütter inst. jur. publ. § 44.. Im Privatrecht wird er oft mit Ge - wohnheitsrecht ganz gleichbedeutend gebraucht, und iſt dann entbehrlich und beſſer zu vermeiden(e)Hofacker § 127. Thi - baut § 16. So auch in eini - gen Stellen der Rechtsquellen. § 7 J. de satisd. (4. 11. ) cum necesse est omnes provincias regiam urbem ejusque obser - vantiam sequi. L. 2 § 24 de O. J. (1. 2) vetustissima juris observantia. Clem. 2 de appell. (2. 12. ) antiquam et com - munem observantiam litigan - tium sequi. In andern Stel - len heißt das Wort ſo viel als das häufigere observatio: Beob - achtung oder Befolgung einer Regel, was alſo nicht hierher gehört. Noch weniger gehört hierher die häufigſte Bedeutung des Worts bey den klaſſiſchen Schriftſtellern: perſönliche Ehr - furcht. Cicero de invent. II. 22. 53.. Der beſtimmteſte Gebrauch des Worts iſt wohl der, nach welchem es zwar ein Gewohnheitsrecht bezeichnet, aber nur das partikuläre Gewohnheitsrecht einer begränzten Klaſſe von Perſonen, z. B. eines beſtimmten Standes, oder auch der Mitglieder einer Corporation(f)Eichhorn Deutſches Pri - vatrecht § 35. Mühlenbruch § 40. Die perſönliche Parti - cularität, im Gegenſatz der loca - len, iſt alſo die Grundlage des Begriffs, ſo daß man wohl von einer Obſervanz des Adels, oder einer gewiſſen Klaſſe deſſelben, eines Domkapitels, einer Zunft u. ſ. w. ſprechen kann, aber nicht von der einer Provinz oder Stadt.. Es iſt blos eine Modification die - ſer Bedeutung, wenn unter jenem Ausdruck ein ſtillſchwei -(c)gründung eines Gewohnheits - rechts § 29 Num. 4. Man muß daher ſehr mistrauiſch ſeyn gegen die beliebte Formel: Praxin testantur etc. 99§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.gendes, durch Handlungen ausgedrücktes Statut der Cor - poration verſtanden wird, begründet durch das ihr zuſte - hende Recht der Autonomie(g)Eichhorn Kirchenrecht B. 2 S. 39 44. Puchta Gewohnheitsrecht II S. 105, der den Unterſchied der Obſervanz von verwandten Begriffen ſchär - fer als alle Anderen beſtimmt hat, will dieſen Fall (Anwendung der Autonomie) allein als wahre Obſervanz gelten laſſen. Auch würde der Verwirrung dieſer Be - griffe in der That am beſten vor - gebeugt ſeyn, wenn ſich der Sprachgebrauch in der von Puchta angegebenen Weiſe fixiren wollte.. Dagegen iſt es eine völ - lige Umänderung jener beſtimmteſten Bedeutung des Wor - tes Obſervanz zu nennen, wenn daſſelbe einen ſtillſchwei - genden Vertrag der Corporationsmitglieder bezeichnen ſoll(h)Meurer Abhandlungen Num. 6. Hofacker § 127. Thi - baut § 16. S. dagegen Eich - horn a. a. O. S. 41.. Auch dabey wäre es vor Allem beſſer, den zwey - deutigen Ausdruck ganz zu vermeiden, und nur den ſiche - ren Ausdruck des Vertrags anzuwenden. Sieht man aber genauer zu, ſo wird man finden, daß in den Fällen, worin gewiß die Meiſten den Namen der Obſervanz gebrauchen mögen, doch nur Gewohnheitsrecht, nicht Vertrag, vor - handen iſt, daß aber die Veranlaſſung, weshalb man einen Vertrag darunter denken wollte, tiefer liegt. Es giebt nämlich manche Rechtsverhältniſſe, worin es in der That zweifelhaft ſeyn kann, ob ſie einer Beſtimmung durch Gewohnheitsrecht, oder vielmehr nur durch einen ſtill - ſchweigenden Vertrag der einzelnen Betheiligten unterlie - gen. Über dieſen Zweifel, oder vielleicht auch über die unklare Auffaſſung des Gegenſatzes ſelbſt, kam man am leichteſten hinweg durch den Gebrauch jenes ſchwankenden7*100Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Ausdrucks. Aber das Übel war dadurch nicht gehoben, ſondern vielmehr unheilbar gemacht, indem nun die Aner - kennung jenes Zweifels, und alſo die unentbehrliche Ent - ſcheidung über denſelben, verhindert wurde.

Endlich gehört dahin auch noch der Ausdruck commu - nis opinio, welchem man in früheren Jahrhunderten eine ungemeine Wichtigkeit beyzulegen pflegte. Man dachte darunter eine ſo übereinſtimmende Meynung der Rechts - lehrer, daß dadurch jeder Einzelne als gebunden betrach - tet werden müſſe, und man ſuchte nun, wegen der Wich - tigkeit dieſer Folge, den Begriff und die Bedingungen der Allgemeinheit durch formelle Regeln feſtzuſtellen, ſo wie es einſt Valentinian III. durch ein Geſetz gethan hatte(i)Puchta Gewohnheitsrecht I S. 163.. Freylich befand man ſich damit im Gebiet vollkommner Willkühr, und die häufig ſehr ſeltſame Faſſung der Re - geln verläugnete dieſen ihren Urſprung nicht. Die rich - tige Bedeutung einer gemeinen Meynung und ihre wahre Wirkſamkeit iſt bereits entwickelt worden (§ 19). In neueren Zeiten übrigens iſt von dieſem Kunſtausdruck kaum mehr die Rede.

§. 21. Concurrirende Rechtsquellen.

Bey der bisherigen Darſtellung der Quellen des heu - tigen Römiſchen Rechts wurden dieſelben, als allein vor - handen und in ſich geſchloſſen, vorausgeſetzt. Auch war101§. 21. Concurrirende Rechtsquellen.dieſe Betrachtungsweiſe nothwendig, wenn ſie rein und vollſtändig aufgefaßt werden ſollten. Allein ein ſo ver - einzeltes Daſeyn haben ſie in der Wirklichkeit in keinem der Staaten gehabt, worin ſie Eingang fanden. Daher ſoll nun noch eine Überſicht über diejenigen ihnen fremd - artigen Rechtsquellen gegeben werden, die mit ihnen in Berührung getreten ſind, und mit welchen ſie im Leben ſelbſt die Herrſchaft über die Rechtsverhältniſſe ge - theilt haben.

Zuerſt begegnete ihnen überall ſchon zur Zeit ihrer Aufnahme einheimiſches Recht: namentlich alſo in Deutſch - land urſprünglich Germaniſches Recht, und eben ſo in den meiſten anderen Ländern, insbeſondere in Frankreich. Das Verhältniß dieſer beiden verſchiedenartigen Rechte in der Anwendung auf das Leben, war zu allen Zeiten ein ſchwie - riges und verwickeltes, und die Ausgleichung dieſes Con - flicts gehörte ſtets zu den wichtigſten Aufgaben des wiſſen - ſchaftlichen Rechts, beſonders in dem praktiſchen Theil deſſelben (§ 20).

Dann aber ſchloß ſich überall eine fortgehende Lan - desgeſetzgebung an das aufgenommene fremde Recht an, die theils durch das eben erwähnte Bedürfniß der Aus - gleichung mit dem Germaniſchen Recht angeregt wurde, theils auch ohne Rückſicht auf dieſen Conflict durch die neuere Praxis (§ 20), die in dieſen Landesgeſetzen häufig Anerkennung und Feſtſtellung fand. Dahin gehört alſo in den einzelnen Theilen von Deutſchland das ganze Ter -102Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.ritorialrecht, welches ſich bald auf ein ganzes Land, bald auf einzelne Beſtandtheile deſſelben bezieht, und deſſen Um - fang und Wichtigkeit je nach den Ländern ſehr verſchie - den iſt. Auf den Gegenſatz dieſes Territorialrechts grün - det ſich der oben (§ 2) aufgeſtellte Begriff des gemeinen Rechts, welches überall zu jenem im Verhältniß eines Subſidiarrechts ſteht, ſo daß es nur zur Anwendung kommen kann, inſofern nicht eine andere Beſtimmung des Territorialrechts vorhanden iſt. Dieſes Verhältniß folgt natürlich, ja nothwendig daraus, daß eine ſolche neuere Geſetzgebung gerade durch das Bedürfniß der Fortbildung des vorhandenen Rechts entſteht, alſo dieſe Fortbildung recht eigentlich zum Zweck hat. Nur würde es unrichtig ſeyn, dieſes Verhältniß des Subſidiarrechts ſo anzuſehen, als ob nun im wirklichen Leben die Entſcheidung ſtreitiger Verhältniſſe in der Regel durch Territorialrecht beſtimmt würde, neben welchem das gemeine Recht nur in ſelte - nen ausgenommenen Fällen zur Anwendung käme. Viel - mehr iſt überall die wirkliche Anwendung des gemeinen Rechts in großem Übergewicht geblieben, ſo lange nur der Begriff deſſelben überhaupt beybehalten wurde, wel - cher freylich überall aufgehört hat, wo neue Geſetzbücher eingeführt wurden.

In einem großen Theil von Europa nämlich ſind in neueren Zeiten die Rechtsquellen durch neue einheimiſche Geſetzbücher weſentlich umgebildet worden. In Preußen und Öſterreich haben dazu nur innere, den Rechtszuſtand103§. 21. Concurrirende Rechtsquellen.ſelbſt betreffende Gründe den Anſtoß gegeben, in Frank - reich ſind dazu noch beſondere politiſche Veranlaſſun - gen gekommen: theils die durch die Revolution bewirkte Erſchütterung ſo vieler Rechtsverhältniſſe, theils das Be - dürfniß, die provinziellen Verſchiedenheiten auch von dieſer Seite in Vergeſſenheit zu bringen. Die inneren, bey allen dieſen Geſetzbüchern wirkſamen Gründe waren dieſelben, wodurch auch ſchon vorher eine große Zahl einzelner Ge - ſetze in vielen Ländern veranlaßt worden waren: man wollte die Schwierigkeiten beſeitigen, welche theils durch den Conflict der Römiſchen und Germaniſchen Rechtsin - ſtitute, theils durch die unbeholfene Theorie und die oft ſchwankende Praxis der letzten Jahrhunderte (§ 19. 20) entſtanden waren. Dieſe Zwecke konnten wahrhaft nur dann erreicht werden, wenn eine Reinigung der Rechtswiſſenſchaft von dieſen Mängeln durch eine eindringende kritiſche Er - forſchung vorherging: da aber dieſe fehlte, und alſo die Abfaſſung der Geſetzbücher unter dem Einfluß deſſelben mangelhaften Zuſtandes der Rechtswiſſenſchaft unternom - men wurde, dem man abhelfen wollte, ſo konnte die Ver - beſſerung nur eine äußerliche, zufällige und beſchränkte ſeyn, während die innere und weſentliche Mangelhaftig - keit fixirt, und dadurch für die Zukunft die Reinigung durch die innere Kraft der Wiſſenſchaft verhindert, oder wenigſtens ſehr erſchwert wurde.

Der große Unterſchied dieſer Geſetzbücher von allen bisherigen einzelnen Geſetzen liegt in ihrer umfaſſenden104Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.und in ihrer ausſchließenden Natur. Sie enthalten näm - lich erſchöpfende, abgeſchloſſene Rechtsſyſteme. Obgleich nun z. B. im Preußiſchen Landrecht die Abſicht gar nicht auf eine Abänderung des vorhandenen materiellen Rechts, ſondern auf eine verbeſſerte Form deſſelben gerichtet war, ſo lag es doch in der organiſch bildenden Kraft einer jeden Rechtstheorie (§ 14), daß man bald unwillkührlich über das vorgeſteckte Ziel fortgeriſſen wurde, und ſo zu Reſultaten kam, die gar nicht in der urſprünglichen Ab - ſicht lagen, und die, wenn man ſie gleich Anfangs hätte überſehen können, über die ganze Unternehmung Bedenken erregt haben möchten. Durch ihre ausſchließende Na - tur gaben dieſe Geſetzbücher dem poſitiven Recht ihrer Länder eine ganz neue Baſis: neu der Form nach, indem nun in ihrem Gebiet von einer unmittelbaren Anwendung des Römiſchen Rechts nicht mehr die Rede ſeyn kann: nicht neu dem Gehalt nach, indem die in den früheren Rechtsquellen wurzelnden Begriffe und Rechtsregeln auch in den neuern Geſetzbüchern fortleben. Daher iſt denn auch eine gründliche Einſicht in dieſe Geſetzbücher nur dadurch möglich, daß ihr Inhalt auf ſeinen erſten Ur - ſprung zurückgeführt wird, ſo daß durch dieſelben ein erſchöpfendes Studium der früheren Rechtsquellen um gar Nichts entbehrlicher geworden iſt, wie ſehr ſich auch Viele mit einer ſolchen Erleichterung der juriſtiſchen Arbeit ge - ſchmeichelt haben mögen.

Hierin liegt denn zugleich der Grund, warum das105§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.heutige Römiſche Recht zum Standpunct des gegenwär - tigen Werks gewählt worden iſt (§ 1). Denn da von dieſem Standpunct aus ſowohl eine unmittelbare Anwen - dung möglich wird in den Ländern, worin die früheren Rechtsquellen herrſchend geblieben ſind, als auch eine gründliche Einſicht in die neuen Geſetzbücher, da wo dieſe eingeführt wurden, ſo iſt dieſer Standpunkt überhaupt der fruchtbarſte zur Belebung der juriſtiſchen Wiſſenſchaft und der mit ihr zuſammenhängenden Praxis.

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allgemeinen(a)Puchta Gewohnheitsrecht Buch 1. Beſonders Cap. 4. 5. 6..

Mit dieſer Darſtellung der Natur unſrer Rechtsquellen ſind nun noch die Ausſprüche der Römer über denſelben Gegenſtand zu vergleichen. Welche Bedeutung wir dieſen Ausſprüchen beyzulegen haben, wird erſt, nachdem ſie ſelbſt zuſammengeſtellt ſind, unterſucht werden können. Auch im canoniſchen Recht und in den Reichsgeſetzen fin - det ſich Einiges, was dahin gehört, aber ſo Weniges, daß es füglich als Anhang den Äußerungen des Römi - ſchen Rechts hinzugefügt werden kann.

Der Aufzählung der Rechtsquellen, wie ſie ſich in mehreren Stellen der Römiſchen Juriſten findet, liegt kein beſtimmter Begriff derſelben zum Grund. Sie faſſen vielmehr blos die Formen der äußeren Erſcheinung des106Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Rechts auf, unbekümmert um das Weſen und die Her - kunft ihres Inhalts, und um die Klaſſification derſelben, welche nur aus der Verwandtſchaft oder Verſchiedenheit des Inhalts hervorgehen könnte. Es hat alſo bey ihnen dieſe Aufzählung, wie es ihrem praktiſchen Sinn ganz angemeſſen iſt, die Natur einer Anweiſung für den Rich - ter, wohin er ſich zu wenden habe, um zur Belehrung über irgend eine Rechtsfrage zu gelangen. Zu dieſer äußerlichen Auffaſſungsweiſe paßt denn auch ſehr gut die mehrmals vorkommende Eintheilung des Rechts in jus scriptum und non scriptum(b)§ 3. 9. 10. J. de jure nat. (1. 2. ), L. 6 § 1 de J. et J. (1. 1. ), L. 2 § 5. 12. de orig jur. (1. 2.). Die Stelle, die am beſtimmteſten jede künſtliche Deu - tung ausſchließt, iſt Cicero de partit. orat. C. 37 sed propria legis et ea, quae scripta sunt, et ea quae sine litteris, aut gentium jure aut majorum more, retinentur. , welche ganz buchſtäblich zu nehmen iſt, und worauf übrigens die Römer ſelbſt gar kein beſonderes Gewicht gelegt haben. Jus scriptum alſo heißt dasjenige Recht, deſſen Entſtehung mit einer ſchrift - lichen Aufzeichnung verbunden iſt(c)So iſt das Prätoriſche Edict jus scriptum, auch wenn ihm altes Gewohnheitsrecht zum Grunde liegt, weil dieſes durch die Aufnahme in das Edict auf ſolche Weiſe anerkannt, gewiß geworden, vielleicht auch umge - bildet worden iſt, daß man es im Verhältniß zur Praxis als neu entſtanden anſehen kann. Die responsa der Juriſten wa - ren eben ſo jus scriptum, weil ſie durch ihre ſchriftliche Abfaſ - ſung bindende Kraft erhielten. Aber ein Satz des Gewohnheits - rechts wurde nicht dadurch zum jus scriptum, daß juriſtiſche Schriftſteller in ihren Rechtsſy - ſtemen ihn aufnahmen und als wahr bezeugten. Denn dieſes war nur wiſſenſchaftliche Mit - theilung des Rechtsſatzes, ohne Zuſammenhang mit deſſen Ent - ſtehung. Vgl. Thibaut § 10. Nicht ſowohl unrichtig, als zu. Neuere Rechtsleh -107§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.rer glaubten ſich bey dieſem einfachen Wortſinn nicht beruhigen zu dürfen, ſondern erklärten vielmehr jus scriptum von dem durch einen Geſetzgeber promulgirten Recht, non scriptum von dem nicht promulgirten, alſo dem Gewohnheitsrecht, beides ohne Rückſicht auf Gebrauch und Nichtgebrauch der Schrift(d)(Hübner) Berichtigungen und Zuſätze zu Höpfner S. 152.. Noch Andere laſſen beide Parteyen Recht haben, indem ſie einen juriſtiſchen und grammatiſchen Sinn der Eintheilung unterſcheiden, deren man ſich nach Belieben bedienen könne(e)Glück I § 82, wo man die Sache mit überflüſſiger Weit - läufigkeit abgehandelt, und zu - gleich die früheren Schriftſteller angeführt findet. Die Veran - laſſung der falſchen Meynung, aber keineswegs ihre Entſchuldi - gung, liegt in L. 35. 36. de le - gibus (1 3.). Das wahre Element dieſes Irrthums beſteht übrigens darin, daß das geſchrie - bene Recht in einem feſten Buch - ſtab äußerlich erkennbar iſt, wo - durch ſein Daſeyn und Inhalt größere Gewißheit erhält in Ver - gleichung mit dem Gewohnheits - recht. Nur iſt die Autorität des Geſetzgebers dabey nicht noth - wendig, wie denn der Prätor in ſeinem Edict jus scriptum machte, ohne Geſetzgeber zu ſeyn..

Gajus ſtellt die Rechtsquellen ſo zuſammen: Lex, Ple - biſcit, Senatusconſult, Kaiſerconſtitutionen, Edicte, Re - ſponſa der Juriſten(f)Gajus I § 2 7.. Eben ſo Juſtinians Inſtitutio - nen, nur daß ſie noch das dort fehlende ungeſchriebene Recht hinzufügen(g)§ 3 9 J. de j. nat. (1. 2.). Pomponius giebt zuerſt eine chro - nologiſche Überſicht der Entſtehung des Rechts, und faßt dann die darin vorkommenden Entſtehungsgründe ſo zuſam - men: Lex, Prudentium interpretatio, legis actiones, Plebiſcit,(c)ſubtil, und darum der Sache nicht angemeſſen, iſt die Erklä - rung bey Zimmern I § 14.108Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Edicte, Senatusconſult, Kaiſerconſtitutionen(h)L. 2 § 12 de orig. jur. (1. 2.).. Papi - nian endlich ſtimmt ganz mit Gajus überein, nur nennt er (ſo wie Pomponius) anſtatt der ſpeciellen Reſponſa vielmehr die allgemeinere auctoritas Prudentium(i)L. 7 de J. et J. (1. 1.).. Der Unterſchied liegt alſo zunächſt in der Ordnung der einzelnen Stücke: ferner darin, daß das ungeſchriebene Recht bald fehlt, bald aufgenommen iſt: dann in der ver - ſchiedenen Auffaſſung des Juriſtenrechts: endlich darin, daß Pomponius allein die legis actiones mitzählt. Dieſer letzte Unterſchied erklärt ſich leicht daraus, daß Pompo - nius in einer Überſicht der Rechtsgeſchichte ſehr wohl einen Gegenſtand aufnehmen konnte, welcher in Werken über das geltende Recht nicht paſſend geweſen wäre.

Andere Zuſammenſtellungen der Rechtsquellen finden ſich in rhetoriſchen Schriftſtellern. Darunter hat die in Cicero’s Togik am meiſten Ähnlichkeit mit den angeführten juriſtiſchen Stellen, was ſich auch aus dem Zweck dieſer Schrift erklärt(k)Cicero top. C. 5 ut si quis jus civile dicat id esse, quod in legibus, senatus con - sultis, rebus judicatis, juris peritorum auctoritate, edictis magistratuum, more, aequitate consistat. . Die übrigen laſſen ſich in eigentliche Speculation über die urſprüngliche Entſtehung der Rechts - begriffe ein(l)Cicero de invent. II. Cap. 22. 53. 54. de partit. orato - ria C. 37. Auct. ad Heren - nium II C. 13.. Allein nicht nur iſt dieſe ſehr verworren und unbefriedigend, ſondern ſie begnügen ſich, eben ſo wie jene Juriſten, mit der Auffaſſung der äußeren Er -109§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.ſcheinung des Rechts, obgleich dieſes Verfahren zu ihrer ganzen Richtung nicht paßt: ja ſie treiben die Verwir - rung ſo weit, daß ſie mit den Rechtsquellen die thatſäch - lichen Entſtehungsgründe der einzelnen Rechtsverhältniſſe vermengen, wovon freylich jene Juriſten ganz frey ſind(m)So z. B. Cicero de part. or. C. 37. Alles Recht entſpringt aus natura oder lex. Dieſes letzte iſt theils geſchrieben, theils ungeſchrieben. Das geſchriebene entſteht entweder aus Handlun - gen einer öffentlichen Gewalt: Lex, senatus consultum, foedus; oder aus Privathandlungen: Ta - bulae, pactum conventum, sti - pulatio. Auch in dem unge - ſchriebenen Recht kommen wieder Verträge vor. Ähnlich ſind hierin auch die andern angeführten Stellen..

Mit mehr Sorgfalt, als jene allgemeine Zuſammen - ſtellungen der Rechtsquellen, wurden von den alten Ju - riſten zwey Gegenſätze in der Rechtserzeugung behandelt, an welche ſich ein bedeutendes praktiſches Intereſſe knüpfte: ich meyne den Gegenſatz des Jus civile und gentium, und den des Jus civile und honorarium. Der erſte dieſer Gegenſätze hatte folgende Bedeutung(n)Vgl. Dirkſen Eigen - thümlichkeit des Jus gentium, Rhein. Muſeum B. 1 S. 1 50. Puchta Gewohnheitsrecht I S. 32 40.. Der frühe Ver - kehr mit benachbarten fremden Völkern machte es noth - wendig, neben dem einheimiſchen Recht auch das Recht von Peregrinen vor Römiſchen Gerichten anzuwenden, alſo auch kennen zu lernen: und zwar nicht blos das Recht irgend eines einzelnen fremden Staats, ſondern auch das, was Mehreren derſelben gemeinſam war. Je mehr nun die Römiſche Herrſchaft ausgebreitet, alſo der Ver - kehr mit Fremden mannichfaltiger wurde, deſto mehr110Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.mußte ſich hierin der Geſichtskreis erweitern, und auf dieſem Wege kam man unvermerkt zu dem abſtracteren Begriff eines den Römern mit allen fremden Völkern, alſo allen Menſchen, gemeinſchaftlichen Rechts(o) Omnes homines, om - nes gentes, gentes humanae Gajus I § 1. L. 9. L. 1 § 4 de J. et J. (1. 1.).. Die - ſer Begriff war zunächſt aus der Erfahrung geſchöpft, und inſofern nicht völlig begründet, als ſich doch die - mer über die Unvollſtändigkeit ihrer Induction nicht täu - ſchen konnten; denn theils kannten ſie nicht alle Völker, theils wurde gewiß nicht bey jedem Satz des Jus gen - tium ängſtlich nachgeforſcht, ob er auch wirklich bey allen bekannten Völkern gelte. Dennoch war es natürlich, auch bey dieſer nur relativen Allgemeinheit auf den Entſte - hungsgrund derſelben zurück zu gehen, und dieſen fand man denn im Allgemeinen in der naturalis ratio, d. h. in dem der menſchlichen Natur eingepflanzten gemeinſamen Rechtsbewußtſeyn(p)Gajus I § 1. 189. II § 66. 69. 79., L. 9 de J. et J. (1. 1.). L. 1 pr. de adqu. rer. dom. (41. 1.). In den rhetoriſchen Schriften heißt es gewöhnlicher blos Natura (Note I). Die allgemeinere Wurzel dieſer An - ſicht iſt ſchon oben nachgewieſen worden, am Ende des § 8., wovon wieder die Unveränderlich - keit dieſes Rechts als eine nothwendige Folge angeſehen wurde(q)L. 11 de J. et J. (1. 1.) § 11. J. de j. nat. (1. 2.).. Jedoch begnügte man ſich, dieſen Entſtehungs - grund im Allgemeinen anzuerkennen, ohne die einzelnen Sätze des Jus gentium von dieſer Seite einer Prüfung zu unterwerfen.

111§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.

Die Vergleichung ſelbſt nun zwiſchen dem einheimi - ſchen und dem allgemeinen Recht ergab Folgendes. Einige Inſtitute, mit den auf ſie bezüglichen Rechtsregeln, waren in der That von jeher gemeinſam, alſo juris gentium und civilis zugleich. Dahin gehörten die meiſten Contracte des täglichen Verkehrs, wie Kauf, Miethe, Societät u. ſ. w. Ferner die meiſten Delicte, inſofern ſie die Verpflichtung zur Entſchädigung mit ſich führen. Dann die Tradition als Erwerb des Eigenthums, die in Anwendung auf res nec mancipi auch ſchon im Civilrecht anerkannt war. Endlich der durch die Geburt ſich fortpflanzende Skla - venſtand. Weit mehrere Inſtitute aber waren dem einheimiſchen Recht ausſchließend eigen. So die Ehe, die ſelbſt in ihrer freyeſten Form doch nur zwiſchen Römiſchen Bürgern möglich, und dadurch ganz poſitiv bedingt war. Noch mehr die väterliche Gewalt, und die durch ſie be - gründete Agnation. Eben ſo die meiſten und wichtigſten Entſtehungsgründe des Eigenthums, wie Mancipation, Uſucapion u. ſ. w. Ferner in den Obligationen die ver - borum und literarum obligatio; die Delicte inſofern ſie eine Strafe von willkührlich angenommener Größe mit ſich führen. Endlich das geſammte Erbrecht. Allein die meiſten dieſer poſitiven Inſtitute haben dennoch einen allgemeinen Kern, und kommen alſo auch in dem fremden Recht, dieſem ihrem allgemeinen Weſen nach, nur in an - derer Form, gleichfalls vor. So geſchah es nun durch den vermehrten Verkehr mit Fremden, daß neben vielen112Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.jener poſitiven Inſtitute auch ſelbſt in Römiſchen Gerich - ten verwandte Inſtitute des allgemeinen Rechts praktiſch anerkannt wurden. Alſo neben der Civilehe eine gültige, nur minder wirkſame Ehe nach jus gentium. Neben der Agnation eine naturalis cognatio. Neben dem Eigenthum ex jure quiritium das in bonis. Neben der ſtrengſten Form der Stipulation (spondes spondeo) freyere, auch den Peregrinen zugängliche Formen. Am wenigſten ge - ſchah es im Erbrecht, das überhaupt am meiſten eine ſtreng poſitive Natur hat; und doch beruht auch hier die zugelaſſene und ſtets erweiterte Inteſtaterbfolge der Cogna - ten auf derſelben natürlichen Rechtsentwicklung. Es erhellt aus dieſer Zuſammenſtellung, daß man nur theil - weiſe einen Gegenſatz zwiſchen dem nationalen und all - gemeinen Recht (jus civile und gentium) annehmen kann, indem ein großer Theil des erſten zugleich auch dem zwey - ten angehört(r)Faßt man den Gegenſatz von dieſem Standpunct auf, ſo iſt er verwandt, obgleich nicht identiſch, mit dem von Jus strictum und aequitas, jus (oder juris ratio) und utilitas. Hier zeigt ſich alſo in ſpeciell hiſtoriſcher Anwendung, was oben ((§ 15) über dieſe Ge - genſätze in allgemeiner Betrach - tung geſagt worden iſt.. Und auch jener partielle Gegenſatz mußte ſich im Lauf der Zeit vermindern, indem bey der ſtetigen praktiſchen Berührung beider Rechtsſyſteme in den Gerichten deſſelben Staates eine gewiſſe Aſſimilation un - vermeidlich war.

Aus dieſen Betrachtungen erklären ſich ganz einfach die zwey Benennungen, die hier als völlig gleichbedeutend113§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.gebraucht werden: Jus gentium, das Recht, welches bey allen bekannten Völkern gefunden wird: Jus naturale, das Recht, welches durch das in der menſchlichen Natur ge - gründete gemeinſame Rechtsbewußtſeyn hervorgebracht wird(s)Dieſe Terminologie, ge - gründet auf die hier ausgeführte zweygliedrige Eintheilung, kann als die unter den Römiſchen Ju - riſten vorherrſchende angeſehen werden. Allerdings erſcheint da - neben auch noch eine dreygliedrige Eintheilung in Jus naturale, gentium, civile. Davon handelt die Beilage I zu dieſem Bande.. Jedoch iſt unter dieſen beiden Arten der Auf - faſſung die erſte als die überwiegende zu betrachten, ſo daß nach Anſicht der Römer das Jus gentium nicht min - der als das Jus civile ein ganz poſitives, geſchichtlich entſtandenes und fortgebildetes Recht war. In demſelben Maaße nun, als die Römiſche Nation, viele verſchiedene Völker beherrſchend, zwar dieſe ſich aſſimilirte, zugleich aber ihre Individualität an dieſe ungeheure und unbe - ſtimmte Maſſe verlor, mußte das Jus gentium, als das dieſem neuen Zuſtande angemeſſenere, ſo vorherrſchend wer - den, wie es in der Juſtinianiſchen Geſetzgebung wirklich erſcheint. Dieſe große Veränderung alſo iſt als das Werk innerer Nothwendigkeit zu betrachten, nicht als Willkühr zu tadeln, noch als Weisheit zu loben: außer inſoferne es das höchſte Lob verdient, daß das allmälige und ſtille Wirken jener Nothwendigkeit damals, wie in keinem frü - heren Zeitpunct, richtig erkannt, und ſo der Buchſtab des Rechts mit dem ſehr veränderten Geiſt und Weſen deſſel - ben befriedigender ausgeglichen worden iſt, als es von8114Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.dieſem Zeitalter erwartet werden durfte. Das wich - tigſte praktiſche Intereſſe, welches ſich an dieſen Gegen - ſatz knüpfte, beſtand nun aber darin, daß die Anwend - barkeit beider Rechtsſyſteme von dem Standesverhältniß der einzelnen Perſon abhing. Die eigenthümlichen Rechts - verhältniſſe des Jus civile waren nur zugänglich den - miſchen Bürgern, ſpäterhin theilweiſe auch den Latinen, durchaus nicht den Peregrinen: die des Jus gentium wa - ren allen Menſchen zugänglich, die nur nicht überhaupt als rechtlos galten. Ein ähnlicher Unterſchied der Em - pfänglichkeit für die Anwendung der Rechtsregeln findet ſich auch bey den Grundſtücken, indem die Inſtitute und Regeln des Sachenrechts entweder nur in Italien, oder auch in den Provinzen anwendbar waren, je nachdem ſie dem Jus civile angehörten (wie die Mancipation und Uſu - capion), oder dem Jus gentium (wie die Tradition). Man kann dabey noch die Frage aufwerfen, wie ſich die - ſer Gegenſatz zu dem des geſchriebenen und ungeſchriebe - nen Rechts verhalte. Gewöhnlich wird dieſer letzte nur bey Gelegenheit des Jus civile erwähnt, ſo daß er als eine Unterabtheilung deſſelben erſcheint. Allein ein innerer Grund zu dieſer Beſchränkung iſt nicht vorhanden, und da die Erkenntniß des Jus gentium auf der fortgehenden Sammlung und Vergleichung mehrerer fremden Rechte beruht, alſo auf einem Verfahren, wobey eine ſchriftliche Urkunde undenkbar iſt, wenngleich dabey die geſchriebenen Geſetze fremder Völker benutzt werden konnten, ſo gehört115§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.für die Römer das ganze Jus gentium urſprünglich (d. h. wenn es nicht zufällig in ein Edict aufgenommen wird) zum ungeſchriebenen Recht, und bildet einen zweyten Theil deſſelben neben dem einheimiſchen Gewohnheitsrecht, oder den mores majorum. Dieſe Zuſammenſtellung findet ſich übrigens bei keinem Juriſten, wohl aber bey Cicero(t)Cicero de partitione ora - toria C. 37 ſ. o. Note b. . Zum Schluß muß endlich noch folgendes Verhältniß zwi - ſchen den beiden hier erklärten Arten des Rechts bemerk - lich gemacht werden. Da das Jus gentium in Rom ein in ſich geſchloſſenes Rechtsſyſtem von poſitiver Natur und praktiſcher Anwendbarkeit geworden war, ſo war es un - vermeidlich, daß auch Beſtimmungen des Jus civile auf daſſelbe mußten einwirken können. Wurde alſo durch das Jus civile irgend etwas verboten, z. B. eine Ehe in einem gewiſſen Grad der Verwandtſchaft, ſo hatte eine ſolche Ehe in Rom auch nicht einmal nach Jus gentium Da - ſeyn und Wirkſamkeit, wenngleich ein ſolches Verbot bey andern Völkern vielleicht nicht vorkam, ſo daß bey ihnen dieſelbe Ehe gültig geweſen wäre(u)§ 12 J. de nupt. (1. 10.). Vgl. unten § 65 Note b. In ſolchen Fällen zeigt ſich alſo ge - wiſſermaßen eine zwiefache Be - trachtungsweiſe für das jus gen - tium: eine ſpeculative, welche bloß den Urſprung der Rechts - ſätze beachtet, und eine prakti - ſche, welche ſich auf die Geſtalt bezieht, die daſſelbe in den Römiſchen Gerichten annehmen mußte.. Eben ſo entſteht aus einem durch Jus civile verbotenen Vertrag (z. B. durch Spielſchuld oder Zinswucher) ganz entſchieden nicht ein - mal eine naturalis obligatio. Cicero ſpricht dieſe Rück -8*116Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.wirkung des Jus civile auf das Jus gentium geradezu aus in folgender Stelle (de partit. orat. C. 37) atque etiam hoc imprimis, ut nostros mores legesque tueamur, quodammodo naturali jure praescriptum est. Es kann jedoch dieſe Rückwirkung, wie ſich von ſelbſt verſteht, nur denjenigen Regeln des Jus civile zugeſchrieben werden, welche die Natur eines abſoluten Rechts (§ 16) an ſich tragen.

Der zweyte bedeutende Gegenſatz war der von Jus civile und honorarium(v)L. 7 pr. de J. et J. (1. 1.). L. 2 § 10 de orig. jur. (1. 2.). § 7 J. de j. nat. (1. 2.). Jus civile hat alſo überhaupt ſehr verſchiedene Bedeutungen. Es heißt: 1) Privatrecht (§ 1); 2) po - ſitives Recht irgend eines Staa - tes: 3) insbeſondere das der - mer § 1. 2. 3. J. de j. nat. (1. 2.). L. 6 pr. L. 9 de J. et J. (1. 1. ); 4) noch enger, das - miſche Recht mit Ausſchluß des honorarium L. 7 de J. et J. (1. 1. ); 5) noch enger dasjenige, was keinen ſpezielleren Namen führt. L. 2 § 5. 6. 8. 12 de orig. jur. (1. 2.).. Deſſen praktiſche Wichtigkeit aber lag nicht etwa darin, daß dieſes an ſich weniger wirkſam, und z. B. in Colliſionsfällen nachſtehend geweſen wäre, was durchaus nicht angenommen werden darf, ſon - dern darin, daß die Gültigkeit deſſelben auf den Amts - ſprengel und die Amtszeit ſeines Urhebers beſchränkt blieb, anſtatt daß jede zum Jus civile gehörende Form in allen Theilen des Reichs und zu allen Zeiten zu wirken fähig war(w)Ich ſage alſo nicht, daß es überall wirkte, ſondern daß es dazu an ſich fähig war. So z. B. wirkten die Edictalgeſetze der Kaiſer zwar in der Regel überall im Reich, aber ſie konn - ten durch ihren Inhalt auch auf eine einzelne Provinz oder Stadt beſchränkt ſein. Die Reſponſa und urſprünglich auch die Re - ſcripte, wirkten nur in der ein - zelnen Sache, alſo höchſt be - ſchränkt, aber dieſe ihre be -. In dieſem Sinne iſt es zu nehmen, wenn ſehr117§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.häufig dieſes Jus civile auch bezeichnet wird als Lex und quod legis vicem obtinet(x)Gajus IV § 118. Ex - ceptiones omnes vel ex le - gibus, vel ex his quae legis vicem obtinent substantiam capiunt, vel ex jurisdictione Praetoris proditae sunt. L. 14 de condit. inst. (28. 7.). Daſſelbe, was hier Gajus zufäl - lig von den Exceptionen ſagt, gilt eben ſo auch von den Klagen., und wenn die alten Juri - ſten bey einzelnen Rechtsquellen mit Sorgfalt bemerken, daß dieſes letzte von ihnen geſagt werden könne(y)Legis vicem haben: 1) die Senatusconſulte. Gajus I § 4. 2) die Kaiſerconſtitutionen. Ga - jus I §. 5. L. 1 pr. de const. (1. 4.). (Ja ſogar die imperia - les contractus. L. 26 C. de don. int. vir. 5. 16. ) 3) Die Re - ſponſa. Gajus I § 7. 4) Das Gewohnheitsrecht. L. 32 § 1. L. 33 de leg. (1. 3. ) pro lege L. 38 eod. vim legis L. 3 C. quae sit longa consu. (8. 53) legis vicem. §. 9 J. de j. nat. (1. 2. ) legem imitantur. . Es hatte aber dieſer rein praktiſche Unterſchied folgenden tie - feren Grund. Durch Volksſchlüſſe, Senatusconſulte, Kai - ſerconſtitutionen wurde in der That neues Recht erzeugt. Der Prätor dagegen ſprach in ſeinem Edict nicht aus, was hinfort Recht ſeyn ſolle (wozu er gar nicht befugt war), ſondern was er als Recht anſehn und handhaben werde, ſo daß er blos ſeine eigene amtliche Thätigkeit voraus ankündigte. Daher wurden jene Rechtsregeln als ipso jure, dieſe als jurisdictione, tuitione Praetoris gül - tig, bezeichnet. Dieſer Gegenſatz wird noch klarer hervor - treten durch die Vergleichung mit anderen, ſchon vorge - kommenen Gegenſätzen. Daß das Jus honorarium ganz(w)ſchränkte Wirkſamkeit konnte in jedem Theil des Reichs eintreten. Das Edict einer Obrigkeit dage - gen hatte ſchon ſeiner Natur nach nur Gültigkeit in den Gränzen des Bezirks, worin der Urheber deſſelben Gerichtsbarkeit hatte.118Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.zu dem geſchriebenen Recht gehört, folglich das ungeſchrie - bene nur auf der Seite des Jus civile liegt, verſteht ſich von ſelbſt. Zweifelhafter kann das Verhältniß des Jus honorarium zu dem Jus gentium erſcheinen. Ganz falſch würde es ſeyn, beide für identiſch zu halten, da das Edict des Praetor urbanus theils vieles ſtreng Römiſche Recht enthielt, theils auch nicht ſelten die utilitas abweichend von den Regeln der naturalis ratio (§ 15), in Schutz nahm(z)Beyſpiele ſolcher Conflicte des Edicts mit dem jus gentium ſind zuſammengeſtellt bey Düroi Archiv. B. 6 S. 308. 309. 393.. Eben ſo wenig aber darf der Gegenſatz des Jus civile und honorarium als eine Unterabtheilung des Jus civile (im Gegenſatz des Jus gentium) angeſehen wer - den. Denn die Provinzialedicte enthielten gewiß neben bloßem Partikularrecht auch vieles Jus gentium, und noch vorherrſchender mußte dieſes in dem Edict des Peregri - nenprätors ſeyn. Nur das läßt ſich als wirkliche Ver - wandtſchaft beider Begriffe behaupten, daß aus dem all - gemeinen im Jus gentium enthaltenen Element Vieles in das Jus civile der Römer überging, und daß für dieſen ſchon oben bemerkten Übergang das Jus honorarium ſehr häufig als vermittelndes Organ diente. Endlich kann man die noch allgemeinere Frage aufwerfen, ob das prä - toriſche Recht, ſo weit es Neues enthielt, und beſonders ſo weit es das Jus civile abänderte, Geſetz oder Gewohn - heit war? Wir können jetzt als entſchieden annehmen, daß es ſeine abändernde Kraft lediglich aus dem Gewohn -119§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.heitsrecht, nicht aus eigener Macht des Prätors, hernahm (§ 25. t). Dennoch würden wir irren, wenn wir darum den Prätor als bloßen Schreiber des Gewohnheitsrechts anſehen wollten. Der Stoff freylich war ihm durch Volksrecht gegeben; aber die daraus hervorgehende Fort - bildung des Rechts im Einzelnen zu entwickeln und durch - zuführen (corrigendi juris civilis) war ihm mit großer Freiheit überlaſſen, eben ſo wie die Ergänzung des Civil - rechts, wo dieſes unvollſtändig war (supplendi juris civi - lis)(aa)Der ſcheinbare Wider - ſpruch ſolcher Stellen, die den Stoff des Edicts auf Gewohn - heit zurückführen (§ 25. t) mit andern, welche das Edict dem Gewohnheitsrecht entgegenſetzen, wie Gajus III § 82: neque lege XII tab., neque praetoris edicto, sed eo jure quod con - sensu receptum est und § 3 9 J. de j. nat. (1. 2. ) löſt ſich ſchon durch die Bemerkung, daß in den Stellen dieſer letzten Art nur dasjenige als Gewohnheits - recht bezeichnet wird, was in die - ſer ſeiner urſprünglichen Geſtalt geblieben, und nicht in das Edict aufgenommen worden iſt.. In der That alſo wurde die Fortbildung des Rechts großentheils durch den Prätor beſorgt, aber durch den jährlichen Wechſel der Prätoren bekam die Leitung dieſes Geſchäfts doch wieder etwas Volksmäßiges, wie - wohl mit ariſtokratiſchem Character.

Alles, was bisher über die allgemeine Anſicht der - mer von den Rechtsquellen geſagt worden iſt, kann nur von der Zeit gelten, in welcher die Rechtswiſſenſchaft noch einiges Leben erhielt. Nach dieſer Zeit, alſo von den chriſtlichen Kaiſern an, änderte ſich die Anſicht von Grund aus. Nun gab es als Rechtsquellen nur Leges und Jus, d. h. kaiſerliche Edicte und wiſſenſchaftlich verarbei -120Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.tetes Recht (§ 15 a), in welchen Formen ſich jetzt alle frühere aufgelöſt hatten. Valentinian III. brachte dieſen Gebrauch der Litteratur in den Gerichten auf feſte Re - geln (§ 26). Noch weit einfacher wurden die Rechtsquel - len durch Juſtinians Geſetzgebung, Er ſanctionirte einen Theil der vorhandenen rechtswiſſenſchaftlichen Litteratur als Geſetz, ſetzte den weit größeren übrigen Theil außer Kraft, und verbot für die Zukunft die Entſtehung einer neuen (§ 26). Indem nun alſo die Digeſten nicht mehr als Jus, ſondern als eine Lex galten, konnte man ſagen, daß es keine andere Rechtsquellen mehr gebe, als Kaiſer - conſtitutionen: nur etwa noch mit Hinzurechnung einiges Gewohnheitsrechts, von deſſen dürftiger Geſtalt ſogleich weiter die Rede ſeyn wird. Auch die allgemeinen Ge - genſätze von Jus civile und gentium, civile und honora - rium, waren in Juſtinians Geſetzgebung, wie es hier in der That geſchehen iſt, nur noch hiſtoriſch zu erwähnen, da ſie ihre praktiſche Wichtigkeit gänzlich verloren hatten, wenn auch nicht alle praktiſche Anwendbarkeit. Denn es war noch jetzt Regel, daß nur der Römiſche Bürger eine vollgültige Ehe ſchließen, väterliche Gewalt erwerben, ein Teſtament machen, und zum Erben eingeſetzt werden könne. Aber freylich waren die Peregrinen, denen dieſer Theil der Rechtsfähigkeit ſtets verſagt blieb, nur noch die Auslän - der, alſo vom Standpunct der Römer aus, und für - miſche Gerichte, jetzt unbedeutend. Und auch für ſie wurde noch ein großer Theil des praktiſchen Unterſchieds dadurch121§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.weggeräumt, daß die Inteſtaterbfolge ſeit der Novelle 118 nicht mehr durch Agnation bedingt ſeyn ſollte. Neues Jus honorarium entſtand ſchon längſt nicht mehr, und darum konnte auch nicht mehr von den geographiſchen Gränzen ſeiner Anwendbarkeit die Rede ſeyn.

§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.

Quellen:

  • Dig. I. 3. 4.
  • Cod. Just. I. 14. 15. 19. 22. 23.
  • Cod. Theod. I. 1. 2. 3.

Was uns über die älteren Formen der Geſetzgebung in den Rechtsquellen aufbewahrt iſt, hat eine ſehr dürftige Geſtalt. Es ſind faſt nur Gemeinplätze, Anweiſungen für das Benehmen des Geſetzgebers, woraus wenig zu lernen iſt(a)L, 3 6. 8. 10 12, de leg. (1. 3.).. Ohne Zweifel fanden ſich bey den alten Juriſten lehrreiche Nachrichten über die Stellung jeder Art der Volksſchlüſſe im alten Staatsrecht, ſo wie über die geſetz - gebende Gewalt des Senats: aber dieſe hatten zu wenig[Beziehung] auf die Zeit Juſtinians, als daß eine Aufnahme in ſeine Sammlungen erwartet werden konnte(b)Schon die wenigen und verſtümmelten Worte bey Ulpian. tit. de leg. § 3 beſtätigen dieſe Vermuthung. Vgl. Blume, Zeitſchriftt f. geſchichtl. Rechts - wiſſ. IV. 367..

Wichtiger und zuſammenhängender ſind die Nachrich - ten und Regeln über die Kaiſergeſetze; dieſe waren noch in Juſtinians Reich anwendbar, und theilweiſe iſt auch122Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.auf unſren Zuſtand eine Anwendung wenigſtens denkbar. Gajus und Ulpian ſagen übereinſtimmend, alle Constitu - tiones hätten legis vicem, weil jeder Kaiſer durch eine lex ſein imperium erhalte(c)Gajus I § 5. L. 1 de const. princ. (1. 4. ) von Ulpian, daraus genommenen § 6 J. de j. nat. (1. 2.). Die Unterſuchung, wie in den Digeſten und Inſti - tutionen die lex regia einen an - dern als den urſprünglichen Sinn erhalten hat, gehört nicht hier - her. Gewöhnlich alſo bezeich - net constitutio die ganze Gat - tung, zuweilen nur die Edicte, im Gegenſatz der Reſcripte L. 3 C. si minor. (2. 43.).: und ſie zählen drey Arten derſelben auf, Edicte, Decrete und Reſcripte, zu denen wir noch die Mandate hinzufügen müſſen.

I. Edicte. Nicht nur ihr Name, ſondern auch die Berechtigung zu denſelben, knüpft ſie unmittelbar an das Staatsrecht der Republik an. Es waren Vorſchriften, die der Kaiſer vermöge einer ihm zuſtehenden Magiſtratur erließ, ſo wie es vor der Kaiſerzeit und noch lange wäh - rend derſelben, die Prätoren, Proconſuln u. ſ. w. auch tha - ten. Daß nicht gleich Anfangs dieſe Form zu den wich - tigſten Handlungen der höchſten Gewalt gebraucht wurde, erklärt ſich zunächſt aus dem lange anhaltenden Beſtreben der Kaiſer, mit den alten gewohnten Formen zu herrſchen: dann auch daraus, daß jene Form, ſo lange ſie ſich ſtreng in ihren hergebrachten Gränzen hielt, für allgemeine Ge - ſetzgebung nicht ganz paſſend war. Denn wenn der Kai - ſer in ſeiner tribunicia oder proconsularis potestas ein Edict erließ, ſo galt jenes nur in Rom, wie die Tribu - nengewalt ſelbſt: dieſes nur in den Provinzen, und zwar123§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.nur in denen, die dem Kaiſer zugetheilt waren. Erſt nach - dem der Begriff des Kaiſers, als des ſouveränen magi - stratus für das ganze Reich, entwickelt und anerkannt war, konnten ſeine Edicte als Reichsgeſetze angeſehen wer - den, und es iſt deshalb ſehr merkwürdig, daß ihnen ſchon Gajus legis vicem zuſchreibt, ſie alſo für unabhängig von irgend einem Amtsſprengel erklärt, anſtatt daß alle andere Edicte die Beſchränkung auf einen ſolchen Sprengel als Grundcharacter haben, und ſich dadurch von der lex et quod legis vicem obtinet ſcharf unterſcheiden (§ 22). Den - noch finden ſich ſchon in den erſten Jahrhunderten nicht wenige ganz ſichere Kaiſerliche Edicte: als ſicher aber ſehe ich nur die in den Rechtsquellen mit dieſer Bezeich - nung angeführte an, da bey den Geſchichtsſchreibern auf eine gleich ſtrenge Beobachtung des techniſchen Sprachge - brauchs nicht zu rechnen iſt(d)Ich will hier eine Über - ſicht ſicherer Edicte geben, die ohne Zweifel noch ſehr vermehrt werden kann. Vier von Au - guſt L. 2 pr. ad Sc. Vell. (16. 1. ), L. 26 de lib. (28. 2. ), L. 8 pr. de quaest. (48. 18. ), Auct. de j. fisci § 8. Clau - dius vier. L. 2 pr. ad Sc. Vell. (16. 1. ), L. 15 pr. ad L. Corn. de falsis (48. 10. ), L. 2 qui sine man. (40. 8. ), L. un. § 3 C. de lat. lib. (7. 6. ), Ulpian. III § 6. Vespaſian zwey. L. 4 § 6 de legat. (50. 7. ), L. 2 C. de aed. priv. (8. 10.). Domitian. L. 2 § 1 de cust. (48. 3.). Nerva. L. 4 pr. ne de statu (40. 15.). Tra - jan vier. L. 6 § 1 de extr. crim. (47. 11. ), Gajus III § 172, § 4 J. de succ. lib. (3. 7. ), L. 13 pr. § 1 de j. fisci (49. 14. ), Auct. de j. fisci § 6. Ha - drian zwey. Gajus I § 55. 93. L. 3 C. de ed. D. Hadr. (6. 33.). Pius L. 11 de muner. (50. 4.). Marcus drei. § 14 J. de usuc. (2. 6. ), L. 24 § 1 de reb. auct. jud. (42. 5. ), L. 3 C. si adv. fiscum (2. 37.). Severus. L. 3 § 4 de sep. viol. (47. 12.). Außerdem aber kommen als Edicte auch.

124Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Da nun die Edicte als wahre Geſetze allgemein ver - bindliche Kraft haben ſollten, im Gegenſatz der übrigen Conſtitutionen, ſo war es wichtig, ſichere Kennzeichen dafür zu haben. Dieſe werden in einem Edict von Theodos II. und Valentinian III. ſo angegeben: der Name edictum oder gene - ralis lex, die Mittheilung an den Senat durch eine oratio, die Bekanntmachung durch die Statthalter der Provinzen, endlich die der Conſtitution eingerückte Beſtimmung, daß ſie für Alle verbindliche Kraft haben ſolle; jedes dieſer Kennzeichen ſollte für ſich allein, auch ohne die übrigen, hinreichen(e)L. 3 C. de leg. (1. 14.).. Es wurde daher dieſe Eigenſchaft nicht ausgeſchloſſen durch die ſpecielle, in einem einzelnen Rechts - fall liegende Veranlaſſung, wie dieſes die angeführte Con - ſtitution ausdrücklich ſagt: eben ſo nicht durch den Um - ſtand, daß der Inhalt nicht auf alle Römer, ſondern auf eine einzelne Klaſſe, gerichtet war(f)Was unſre Juriſten ein jus singulare nennen. So z. B. be - trafen Edicte von Auguſt und Claudius die Bürgſchaften der Frauen, ein Edict von Auguſt verbot die Enterbung der Sol - daten. L. 2 pr. ad Sc. Vell. (16. 1. ), L. 26 de lib. (28. 2.). Das waren darum dennoch (nach dem ſpäteren Sprachgebrauch) generales leges. Hierüber irrt Güyet Abhandlungen S. 42., da auch dieſe Vor - ſchriften von Allen gekannt und reſpectirt werden ſollten: endlich nicht durch die Richtung an eine einzelne Obrig - keit, auf deren Anfrage vielleicht das Geſetz erlaſſen wor - den war(g)Bey weitem die meiſten Kaiſergeſetze, namentlich die von. Außerdem erklärten dieſelben Kaiſer, wie(d)ſolche Bekanntmachungen an das Volk vor, worin gar kein Rechts - ſatz aufgeſtellt werden ſollte, z. B. das des Nerva bey Plinius epist. X 66.125§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.ſie künftig ihre Edicte unter Mitwirkung des Senats aus - arbeiten laſſen würden(h)L. 8 C. de leg. (1. 14.)., wodurch ſie jedoch gewiß nicht ſagen wollten, daß die Geſetzeskraft von der Beobachtung dieſer Form abhängig ſeyn ſollte. Endlich wird auch noch die Nothwendigkeit der Bekanntmachung der Geſetze anerkannt, jedoch ohne Beſtimmung einer Form für die - ſelbe, die doch allein praktiſchen Werth haben kann(i)L. 9 C. de leg. (1. 14.)..

II. Decrete. Darunter verſteht man jede Ausübung des kaiſerlichen Richteramts, ſowohl durch Interlocute als durch Endurtheile(k)L. 1 § 1 de const. princ. (1. 4.) Quodcunque igitur Imp .... vel cognoscens decre - vit, vel de plano interlocutus est legem esse constat. . Wenn auch dieſen, wie allen an - dern Conſtitutionen, Geſetzeskraft für den einzelnen Fall beygelegt wird, ſo ſcheint das nicht conſequent, da ſie vielmehr als richterliche Entſcheidungen angeſehen werden mußten, die ſtets rechtskräftig waren, weil ſie von der höchſten Inſtanz im Reich ausgingen. Jene Vorſtellungs - weiſe erklärt ſich vielleicht daraus, daß die ganze Gerichts - barkeit des Kaiſers etwas außerordentliches war, worauf(g)Juſtinian, ſind an einen Beam - ten, z. B. einen Praefectus prae - torio gerichtet, und man konnte ſie nach dieſer Form auch Re - ſcripte nennen; aber Niemand zweifelte, daß ſie wahre edicta, generales leges, leges edictales ſeyen, und darum war bey ihnen der an ſich paſſende Ausdruck rescriptum nicht üblich. Eine Vergleichung neuerer Einrichtun - gen wird dieſes anſchaulicher ma - chen. Was durch die Preußiſche Geſetzſammlung publicirt wird, hat völlig gleiche Geſetzeskraft, es mag nun Geſetz oder Verord - nung heißen, alſo unmittelbar an alle Unterthanen und Beamte gerichtet ſeyn, oder aber in einer Kabinetsordre an das Staatsmi - niſterium, oder einen einzelnen Miniſter beſtehen. Vgl. § 24 Note e. 126Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.der alte Begriff von judicium und res judicata nicht un - mittelbar paßte; man wollte alſo recht entſchieden aus - drücken, daß die Urtheile des Kaiſers nicht minder als die eines judex, ja noch kräftiger, das ſtreitige Rechtsverhält - niß unabänderlich feſtſtellten. In der Sache ſelbſt war denn allerdings kein weſentlicher Unterſchied von dem rechtskräftigen Urtheil eines Richters; denn auch hier ſollte die Wirkung beſchränkt ſeyn auf den vorliegenden Rechts - fall, und ſelbſt die in der Entſcheidung enthaltene Regel ſollte auf andere Fälle, als geſetzlich feſtgeſtellt, nicht an - gewendet werden dürfen. Freylich die Kraft einer großen Autorität konnte man der in einem Decret angewendeten Regel nicht verſagen: und daher erklärt es ſich, wenn Sammlungen ſolcher Decrete von den Juriſten angelegt wurden(l)Pauli libri tres decreto - rum. Ferner die Sammlung Hadrianiſcher Decrete von Doſi - theus., und wenn einzelne Decrete zur Ausbildung und Anerkennung ganz neuer Rechtsſätze Veranlaſſung gaben(m)Z. B. das decretum D. Marci über die Selbſthülfe L. 13 quod metus (4. 2. ), L. 7 ad L. J. de vi priv. (48. 7.)..

Bey dieſer beſchränkten Wirkſamkeit der Decrete hat es Juſtinian zum Theil gelaſſen, nämlich inſoferne von In - terlocuten die Rede iſt: denn in den Codex iſt eine frü - here Conſtitution aufgenommen, die für die Interlocute dieſes ausdrücklich vorſchreibt(n)L. 3 C. de leg. (1. 14. ) interlocutionibus, quas in uno negotio judicantes protu - limus vel postea proferemus, non in commune praejudican -. Dagegen hat er für127§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.die Kaiſerlichen Endurtheile eine ausgedehntere Wirkſam - keit vorgeſchrieben, ſo daß die in ihnen ausgeſprochene Rechtsregel auch in allen künftigen Fällen als Geſetz an - gewendet werden ſollte(o)L 12 pr. C. de leg. (1. 14.) Si imperialis majestas causam cognitionaliter exami - naverit, et partibus cominus constitutis sententiam dixerit: omnes omnino judices sciant hanc esse legem non solum illi causae, pro qua producta est, sed et omnibus similibus. Ge - wöhnlich nimmt man zwiſchen dieſer Stelle und der in der vo - rigen Note angeführten einen Widerſtreit an: allein die zwey Ar - ten der Decrete ſind ja hier eben ſo deutlich unterſchieden, wie ſie Ulpian unterſcheidet (Note k).. Schon aus der Faſſung dieſer Verordnung geht es hervor, daß bis dahin ein anderes Recht galt, und daß alſo etwas Neues eingeführt werden ſollte; wenn ſich der Kaiſer dabey auf die übereinſtimmende Meynung der alten Juriſten beruft, ſo giebt er ihren Worten eine willkührliche Deutung, indem ſie gewiß nur an die Geſetzeskraft der Decrete für den einzelnen Fall dach - ten(p)L. 12 cit. cum et veteris juris conditores, con - stitutiones quae ex imperiali decreto processerunt, legis vim obtinere, aperte dilucideque definiant: Am unmittelbarſten ſcheint hier gedacht an Gajus I § 5.. In der That aber ließ ſich für dieſe Neuerung Vieles ſagen, wenigſtens fielen die Bedenken weg, die einer ähnlichen Behandlung der Reſcripte im Wege ſtan - den. Denn eine Täuſchung des Kaiſers durch einſeitige Vorträge war hier nicht möglich, wo beide Theile gehört worden waren, und den Mangel einer öffentlichen Be - kanntmachung erſetzte gewiſſermaßen die mit dem Gerichts - hof des Kaiſers verbundene Feyerlichkeit und Publicität(q)Die Decrete dieſer Art kön -. (n)tibus (im Gegenſatz der vorher beſtimmten Geſetzeskraft für die Edicte).128Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Vor Juſtinian alſo hatten alle Decrete nur in dem vor - liegenden Rechtsfall Geſetzeskraft: durch ſeine neue Verord - nung wurde den Endurtheilen eine ausgedehntere Wirk - ſamkeit gegeben, indem die in ihnen enthaltene Rechtsregel als allgemeines Geſetz angeſehen werden ſollte.

Die Natur dieſes Gegenſatzes iſt von den neueren Ju - riſten großentheils misverſtanden worden. Sie haben ihn verwechſelt erſtlich mit der Beſchränkung der Rechtskraft auf die Parteyen in dieſem Prozeß. Allein die Rechts - kraft betrifft das einzelne Rechtsverhältniß, und dieſe ſollte auch hier nicht ausgedehnt werden; hatte alſo der Kaiſer in einem Erbſchaftsſtreit zwiſchen zwey Perſonen entſchie - den, ſo ſollte auch dieſe höchſte Entſcheidung einer dritten Perſon weder nutzen noch ſchaden. Zweytens haben ſie den Gegenſatz verwechſelt mit dem einer ſtrengen und aus - dehnenden Interpretation. Auch davon iſt hier gar nicht die Rede, ſondern vielmehr von der zuläſſigen oder unzu - läſſigen Anwendung derſelben (nicht ausgedehnten) Rechts - regel auf künftige, völlig gleiche Rechtsfälle.

§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.

III. Reſcripte(a)Schulting diss. pro re - scriptis Imp. Rom. (Comm. acad. Vol. 1 N. 3). Güyet Ab - handlungen N. 4.. Rescriptum heißt wörtlich eine Rückſchrift, ein Antwortſchreiben. Dieſes konnte in Be -(q)nen mit den Deciſionen unſrer Oberappellationsgerichte vergli - chen werden.129§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.ziehung auf die äußere Form, in verſchiedener Weiſe erlaſſen werden: blos am Rande des empfangenen Schrei - bens (adnotatio, snbscriptio): in einem abgeſonderten Briefe (epistola): endlich in einer feyerlicheren Ausferti - gung (pragmatica sanctio), deren canzleymäßige Geſtalt wir nicht genau kennen(b)Dieſe Form ſollte eigent - lich nur bey wichtigeren Gelegen - heiten gebraucht werden, nämlich nur bey Reſcripten über Ange - legenheiten des öffentlichen Rechts, und zwar in Beziehung auf Cor - porationen. L. 7 C. de div. re - scr. (1. 23.). Daß jedoch dieſe Beſchränkung nicht allgemein be - obachtet wurde, zeigt ganz klar Const. Summa § 4: Si pra - gmaticae sanctiones alicui personae impertitae sunt .... Sehr reichhaltiges Material zu dieſer Unterſuchung findet ſich in J. H. Böhmer exerc. ad Pand. l. ex. 12. C. 1, der jedoch darin irrt, daß er jene geſetzliche Be - ſchränkung der Anwendung der pragm. sanct. als den Begriff derſelben behandelt.. Allen dieſen Reſcripten wird die Gültigkeit einer Lex zugeſchrieben, jedoch weſentlich verſchieden durch engere Gränzen von der Gültigkeit der Edicte. Was iſt nun darunter zu verſtehen? Damit ihnen dieſe eigenthümliche Natur einer begränzten Gültig - keit zukomme, müſſen wir nothwendig etwas hinzudenken, was in jenem durch Form und Veranlaſſung beſtimmten Begriff noch nicht enthalten iſt. Es giebt alſo Kaiſerliche Briefe, die noch weniger Kraft haben, alſo überhaupt gar nicht einer Lex ähnlich wirken: andre, die ſtärker wirken, frey von jenen engen Gränzen; beide müſſen wir abrech - nen, und nur von den übrig bleibenden, in der Mitte lie - genden, kann hier die Rede ſeyn: nur dieſe können uns als Reſcripte im techniſchen Sinn gelten.

9130Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Alſo weniger Kraft als eigentliche Reſcripte haben zuvörderſt alle Briefe von nicht geſchäftlichem Inhalt, die ohnehin Jeder ſtillſchweigend wegdenkt, obgleich Name und Form ſie nicht ausſchließen. Aber auch unter den geſchäft - lichen, die wir als Verfügungen bezeichnen können, müſſen wir ferner unterſcheiden diejenigen, welche gar nicht eine Regel anwenden, ſondern bloße Willkühr ausüben wollen, wie z. B. individuelle Ausnahmen von der Anwendung der Geſetze (§ 16), Unterſtützungen, Verweiſe(c)Sie heißen personales constitutiones. L. 1 § 2 de const. (1. 4. ), § 6 J. de j. nat. (1. 2.). Neuere Schriftſteller nennen ſie Gnadenreſcripte, was jedoch zu eng iſt, und z. B. auf Verweis und Beſtrafung gewiß nicht paßt.. Dieſe haben in ihrer Wirkung zwar gleiche Kraft mit einer Lex, nämlich für die Perſon und den Fall wofür ſie erlaſſen ſind, und jeder Richter hat ſie als ſolche zu reſpectiren. Dagegen können ſie durchaus nicht als Autorität eine Regel darbieten für die Behandlung anderer Fälle, da ſie ſelbſt ja überhaupt auf keiner Regel beruhen.

Mehr Kraft als eigentliche Reſcripte haben auf der andern Seite diejenigen Anſchreiben, welche eine Regel als ſolche zur allgemeinen Befolgung vorſchreiben, und zu dieſem Zweck öffentlich bekannt gemacht werden. Dieſe ſind wahre Geſetze von unbegränzter Gültigkeit, bey wel - chen die zufällig gewählte Briefesform, ſelbſt auch die Veranlaſſung durch Frage oder Antrag, worauf ſie geſetz - gebend antworten, durchaus keinen Unterſchied von ande - ren Geſetzen begründen kann. In früherer Zeit zwar131§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.nannte man auch dieſe, von ihrer äußeren Form her, Ge - neralbriefe oder Generalreſcripte(d)L. 1 § 2 de fugit. (11. 4.) Est etiam generalis epistola D. Marci et Commodi, qua de - claratur, et praesides et ma - gistratus, et milites stationarios dominum adjuvare debere in inquirendis fugitivis etc. L. 3 § 5 de sepulchro viol. (47. 12.) D. Hadrianus rescripto poe - nam statuit quadraginta aureo - rum in eos qui in civitate se - peliunt, quam fisco inferri jus - sit, et in magistratus eadem qui passi sunt quia genera - lia sunt rescripta, et oportet Imperialia statuta suam vim obtinere et in omni loco va - lere. Eben dahin gehört viel - leicht die epistola D. Hadriani über die Bürgſchaften § 4 J. de fidej. (3. 20.). Gajus III § 121. 122. In den beiden zuerſt genannten Fällen eignete ſich die Sache zu dieſer Behandlung durch ihre polizeyliche Natur. Solche Reſcripte waren daſſelbe, was wir Circularreſcripte nennen, an viele Behörden zu gleicher Zeit gerichtet., ohne dadurch eine begränzte Gültigkeit andeuten zu wollen. Späterhin aber, als dieſe Form der Geſetzgebung die vorherrſchende wurde, wandte man auch nicht einmal dieſen Namen ferner auf ſie an, ſondern begriff ſie unter dem allgemeinen Namen leges, edicta, edictales constitutiones(e)So z. B. nennt Juſtinian in L. 5 pr. C. de receptis (2. 56. ) ſeine eigene frühere Verord - nung (L. 4 eod.) eine lex, ob - gleich dieſelbe ein Anſchreiben an den Praefectus praetorio gewe - ſen war. Noch entſcheidender iſt hierin der Theodoſiſche Codex, der faſt ganz aus ſolchen An - ſchreiben beſteht, und deſſen Be - ſtandtheile dennoch von dem Ur - heber ſelbſt als constitutiones edictorum viribus aut sacra generalitate subnixae, und edictales generalesque consti - tutiones bezeichnet werden. L. 5. 6 C. Th. de const. (1. 1. ) ed. Hänel. Hierüber irrt Güyet S. 84, der ſich durch die äußere Form dieſer Anſchreiben verleiten läßt, ſie unter die Reſcripte zu zählen und den Edicten entgegen zu ſetzen, woraus er dann ferner Folgerungen für die wahren ei - gentlichen Reſcripte ableitet, vgl. oben § 23 Note g. . Die öffentliche Bekanntmachung, die aus der Geſtalt, worin wir ſie ken - nen, meiſt nicht erhellt, verſtand ſich dabey von ſelbſt,9*132Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.und wurde von den Staatsbeamten, an die ſie gerichtet waren, nach allgemeinen Vorſchriften bewirkt, ohne daß es dazu in jedem einzelnen Fall einer beſonderen Anwei - ſung bedurfte; zuweilen jedoch wurde dieſe Anweiſung in der Verordnung ſelbſt ausgedrückt(f)Z. B. in L. un. C. de grege domin. (11. 75.). Andere Stellen ſind geſammelt bey - yet S. 74.. Eben ſo konnten auch die pragmaticae sanctiones eigentliche Geſetze ſeyn(g)So z. B. Juſtinians San - ctio pragmatica pro Petitione Vigilii über die Einrichtung von Italien nach der vollendeten Ero - berung., ſo daß bey ihnen wie bey den weniger förmlichen epistolae immer noch Etwas hinzugedacht werden muß, wenn ſie in das Gebiet der eigentlichen, in ihrer Gültigkeit begränz - ten Reſcripte fallen ſollen.

Was iſt es nun alſo, das die eigentlichen Reſcripte characteriſirt, und von den Edicten ſtreng unterſcheidet? Es iſt ihre Beſtimmung, lediglich auf einen einzelnen Rechtsfall einzuwirken, womit denn von ſelbſt verbunden iſt der Mangel jeder öffentlichen Bekanntmachung. Da - gegen haben ſie mit anderen Conſtitutionen das gemein, daß ſie auf einer Regel beruhen, und dieſe Regel aus - ſprechen, jedoch nur zum Zweck dieſer concreten Anwen - dung. Übrigens kommen bey ihnen folgende wichtige Un - terſchiede vor.

1. Sie werden erlaſſen auf die Anfrage bald einer einzelnen Partey (libellus), bald einer Richterbehörde(h)L 7 pr. C. de div. rescr. (1. 23.).. Dieſes letzte kommt beſonders in der wichtigen, zu einer133§. 21. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.beſonderen Prozeßform ausgebildeten Anwendung vor, da ein Richter den Kaiſer bittet, ihm das auszuſprechende Urtheil vorzuſchreiben (relatio, consultatio). Hier erſcheint der Kaiſer nicht ſelbſt als Richter, ſondern als Urtheils - faſſer für einen andern Richter, ganz wie unſre Juriſten - facultäten bey der Actenverſendung. Daher wird eine ſolche Verfügung und die Reſcripte nicht unter die De - crete gerechnet. Juſtinian hat dieſe Conſultationen ver - boten, was jedoch nicht ſo unbedingt verſtanden werden darf, als es nach den Worten ſcheinen könnte(i)Über die Conſultationen vgl. überhaupt Hollweg Civil - prozeß I § 10. Die Aufhebung derſelben iſt enthalten in der Nov. 125 vom J. 544. Daß dieſe Aufhebung nicht unbedingt gelten ſollte, kann erſt in der Lehre von der Auslegung der Geſetze § 48 gezeigt werden. Außerdem aber verſteht es ſich von ſelbſt, daß wenn ein Richter, trotz des Ver - bots dennoch anfragte, und der Kaiſer ſich zu einer Antwort ent - ſchloß, der Richter daran ſo gut als vor der Nov. 125 gebunden war. Eben ſo wenn der Kaiſer aus eigener Bewegung oder auf Bitte einer Partey, ein Reſcript an den Richter erließ. Die Wirkung der Reſcripte auf einen einzelnen Rechtsſtreit war alſo jetzt zwar beſchränkt worden, aber keinesweges ganz aufgehoben..

2. Die in ihnen enthaltene Regel iſt bald mit der ein - zelnen Entſcheidung verwebt, bald abgeſondert ausgeſpro - chen, und dann als Grund der Entſcheidung benutzt, ſo daß ſie in derſelben Geſtalt auch als Geſetz hätte aufgeſtellt werden können, was nur hier nicht geſchehen iſt. Solche Reſcripte heißen generalia reseripta, in einem andern Sinn, als in welchem der Ausdruck oben vorgekommen iſt(k)L. 89 § 1 ad L. Falc. (35. 2. ) generaliter fescripse - runt, L. 1 § 3 de leg. tut. (26. 4. ) generaliter rescripsit, L. 9 § 2 de her. inst. (28. 5. ) re - scripta generalia, L. 9 § 5 de jur. et facti ign. (22. 6. ) ini -.

134Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

3. Die von ihnen angewendete Regel iſt oft ſchon in dem bisherigen Recht vollſtändig enthalten, ſo daß der Kaiſer in derſelben Weiſe, wie ein reſpondirender Juriſt, thätig iſt; oft aber wird in dem Reſcript das bisherige Recht durch freye Interpretation fortgebildet. Dieſes ge - ſchieht beſonders da, wo polizeyliche oder ſtaatswirth - ſchaftliche Rückſichten die neue Regel beſtimmen, und wo kein Recht einer andern Perſon dadurch gefährdet wird(l)Beide Rückſichten zugleich erklären es, warum vorzüglich die Lehre von den Excuſationen ſo ſehr durch bloße Reſcripte er - weitert wurde. Fragm. Vatic. § 191. 208. 247. § 159. 206. 211. 215. 246. Beſonders merk - würdig iſt § 236, worin die Ab - ſicht einer Neuerung geradezu ausgeſprochen iſt: quo rescripto declaratur ante eos non ha - buisse immunitatem. .

Die Wirkſamkeit der Reſcripte läßt ſich in folgenden Regeln zuſammenfaſſen: 1) Sie ſollten Geſetzeskraft haben für den einzelnen Fall, worin ſie erlaſſen waren. 2) Für jeden andern Fall ſollten ſie dieſe Geſetzeskraft nicht haben. 3) Dagegen wirkten ſie auch auf andere Fälle mit der Kraft einer großen Autorität.

Die Geſetzeskraft für den einzelnen Fall folgt daraus, daß ihnen dieſelbe in den Digeſten und Inſtitutionen im Allgemeinen beygelegt (§ 23), im Codex aber für jeden ande - ren Fall, als für welchen ſie erlaſſen waren, abgeſprochen wird, ſo daß die Anwendbarkeit der Geſetzeskraft gerade(k)tium constitutionis generale est. Die in dieſen Stellen angeführten Reſcripte beziehen ſich auf einzelne Rechtsfälle, und unterſcheiden ſich dadurch von den in der Note d. angeführten Generalreſcripten. Der Ausdruck generale rescriptum ſoll aber doch auf der andern Seite hier mehr bedeuten, als blos den Ge - genſatz gegen personalis consti - tutio (Note c).135§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzungnur für dieſen einzelnen Fall übrig bleibt. Sie hat hier den Sinn, daß jeder über dieſen Fall urtheilende Richter, dem das Reſcript vorgelegt wird, an deſſen Befolgung ſtrenge gebunden iſt, ohne ſeiner eignen Überzeugung Raum geben zu dürfen. Dieſe große Wirkung war vorzüglich wichtig, wenn nicht ein Richter, ſondern eine Partey ſie ausgewirkt hatte; hier erſcheinen ſie als ein der Perſon erworbenes Recht, welches auch von Erben und Streit - genoſſen, und auch noch nach längerer Zeit geltend ge - macht werden konnte(m)L. 4. 12 (ſonſt 2 und 10) C. Th. de div. rescr. (1. 2. ), L. 1. 2 C. de div. rescr. (1. 23.).. Aber in demſelben Fall waren ſie auch beſonders gefährlich, ſchon wegen der möglichen Verfälſchung, noch weit mehr aber, weil ſie durch unwahre oder einſeitige Darſtellung der Thatſachen bewirkt ſeyn konnten. Gegen die Verfälſchung ſuchte man Schutz in genauen Vorſchriften über Form und Kennzeichen der Reſcripte(n)L. 3. 4. 6 C. de div. re - scr. (1. 23. ), L. 1 C. Th. eod. (1. 2.).. Wegen unrichtiger Darſtellung der That - ſachen war es ſtets der Gegenpartey geſtattet, ein beſon - deres Proceßverfahren einzuleiten(o)L. 7 C. de div. rescr. (1. 23. ), L. 2. 3. 4. 5. C. si con - tra jus (1. 22.). Darauf bezieht ſich auch die gegen Reſcripte (d. h. gegen die auf ſie gegründete Urtheile) zugelaſſene Appellation. L. 1 § 1 de appell. (49. 1.).. Damit hieng auch die Vorſchrift zuſammen, daß jedes Reſcript ungültig ſeyn ſollte, welches entweder mit dem Staatsintereſſe in Wi - derſpruch ſtände, oder mit anerkannten Rechtsregeln (contra jus)(p)L. 2 (ſonſt 1) Cod. Th. . Durch dieſe letzte Beſtimmung wollten nicht etwa136Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.die Kaiſer der Fortbildung des Rechts durch ihre Re - ſcripte entſagen; vielmehr war hier an ſolche Reſcripte gedacht, worin die Kaiſer durch unwahre Darſtellung verleitet ſeyn möchten, wider ihren Willen die beſtehenden Rechtsregeln zu verletzen. Erwägt man dieſe mit der Geſetzeskraft der Reſcripte verbundenen Gefahren, ſo hätte man es allerdings für zweckmäßiger halten mögen, wenig - ſtens an die Parteyen gar keine Reſcripte in Rechtsſachen zu erlaſſen, wie es auch in der That Trajan gehalten haben ſoll: auch iſt durch dieſe Betrachtung Juſtinian zu - letzt bewogen worden, den Richtern die Beachtung der Privatreſcripte zu unterſagen, mithin die Geſetzeskraft der - ſelben gänzlich aufzuheben(q)Capitolini Macrinus C. 13 quum Trajanus nunquam libellis responderit. Er wollte alſo nur an die Obrigkeiten Re - ſcripte erlaſſen, nicht an Par - teyen. Mehrere Reſcripte von Trajan ſind zuſammengeſtellt von Schulting diss. pro rescriptis § 15. Juſtinian hat die Beach - tung der Privatreſcripte verbo - ten in der Nov. 113 C. 1 vom J. 541..

Dagegen wurde den Reſcripten die Geſetzeskraft für andere Fälle, als den, wofür ſie erlaſſen waren, wieder - holt und auf das Beſtimmteſte abgeſprochen. Dieſes ge - ſchah in beſonderer Anwendung auf die durch consultatio - nes der Richter veranlaßte Reſcripte(r)L. 11 (ſonſt 9) C. Th. de div. rescr. (1. 2. ), L. 2 C. de leg. (1. 14.) Quae ex re - lationibus vel consultatione statuimus nec generalia jura sint, sed leges faciant his duntaxat negotiis atque perso - nis, pro quibus fuerint pro - mulgata. L. 13 C. de sentent. et interloc. (7. 45 ) Nemo ju - dex vel arbiter existimet, ne - que consultationes, quas non, bey welchen eine(p)de div. rescr. (1. 2. ), L. 6 C. si contra jus (1. 22. ), L. 3. 7. C. de precibus (1. 19. ), Nov. 82. C. 13.137§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.ſolche weitere Wirkſamkeit noch am unbedenklichſten hätte erſcheinen können; daraus folgte aber dieſelbe Einſchrän - kung für die Privatreſcripte ſo ſehr von ſelbſt, daß es nicht einmal nöthig ſchien ſie beſonders auszuſprechen. Dieſe Einſchränkung hatte zunächſt den Grund, daß durch die Rückſicht auf den einzelnen Rechtsfall, und beſonders auf den vielleicht ganz unwahren Vortrag der Partey, auch die aus -(r)rite judicatas esse putaverit, sequendum cum non exem - plis sed legibus judicandum sit. Dieſe letzte Stelle iſt in zweyerley Rückſicht beſonders wich - tig: erſtlich weil ſie in den hier abgedruckten Worten ausdrücklich ſagt, wovon die Rede iſt, näm - lich von der Anwendung der ein - mal angenommenen Regel auf neue Fälle gleicher Art: zweytens weil ſie mit den Conſultationen (d. h. mit den durch dieſe veran - laßten Reſcripten) zuſammenſtellt die Urtheile mehrerer hohen Ge - richtshöfe, aber nicht die des Kai - ſers ſelbſt. Durch deren Aus - laſſung iſt jeder Widerſpruch der Stelle mit L. 12 pr. C. de leg. (1. 14.) (§ 23 Note o.) ſehr vor - ſichtig vermieden. Es wird alſo unterſchieden zwiſchen den Ur - theilsſprüchen des Kaiſers ſelbſt, über eine vor ihm verhandelte Sache, und den Urtheilen der Richter, welchen nur ein Re - ſcript des Kaiſers zum Grunde lag. Denn dieſe letzten Urtheile hatten mit jenen erſten weder gleiche Publicität, noch gleiche Zuverläſſigkeit, da in ihnen noch immer ein Misverſtändniß über den Sinn des Reſcripts denkbar war. Viele wollen ausnahms - weiſe den Reſcripten eine allge - meine Kraft beylegen, wenn ſie eine authentiſche Interpretation enthalten, weil L. 12 § 1 C. eod. ſagt: interpretationem, sive in precibus, sive in judiciis, sive alio quocunque modo factam, ratam et indubitatam haberi. (Glück. I § 96 N. III.). Allein gültig waren ja auch die Reſcripte, ſogar wie Geſetze gül - tig, nur beſchränkt auf den ein - zelnen Fall. Hätte ihnen hier Juſtinian eine allgemeine Gül - tigkeit beylegen wollen, im Wi - derſpruch mit den angeführten andern Stellen, ſo würde er das nicht in den beyläufigen Worten sive in precibus angedeutet, ſon - dern eben ſo ausdrücklich geſagt haben, wie er es unmittelbar vorher von den Decreten wirk - lich geſagt hat.138Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. Rgeſprochene Regel ſelbſt leicht eine ſo einſeitige Geſtalt erhalten konnte, daß ihre allgemeine Anwendung ſehr be - denklich werden mußte. Dazu kam aber der noch durch - greifendere Grund, daß den Reſcripten die öffentliche Be - kanntmachung fehlte. Dieſer Grund paßt auf die inter - pretirenden Reſcripte ſo gut als auf alle anderen, und es iſt unrichtig, wenn jenen eine verbindliche Kraft für andere Fälle von Manchen beygelegt wird, was jedoch erſt unten ganz klar gemacht werden kann (§ 47). Auch bey den Reſcripten, wie bey den Decreten (§ 23), iſt dieſe Einſchränkung in neuerer Zeit häufig misverſtanden wor - den. Auch hier hat man ſie mit dem Verbot einer aus - dehnenden Interpretation verwechſelt, da doch nur von der Anwendung derſelben (gar nicht erweiterten Regel) auf neue Fälle ganz gleicher Art die Rede war. Auch hier hat man die Einſchränkung verwechſelt mit der Rechtsre - gel, daß ein rechtskräftiges Urtheil nur unter den Par - teyen gelte. Davon war aber hier noch weniger als bey den Decreten die Rede, ja es konnte hier nicht die Rede davon ſeyn. Denn wenn z. B. der Teſtamentserbe ein Teſtament von bedenklicher Gültigkeit dem Kaiſer vor - legte, und der Kaiſer durch Reſcript die Gültigkeit aner - kannte, ſo konnte davon der Teſtamentserbe gegen jeden Inteſtaterben Gebrauch machen, indem ein beſtimmter Gegner in der Bittſchrift nicht einmal bezeichnet zu ſeyn brauchte.

Aber auch nur die Geſetzeskraft für andere Fälle ſollte139§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.den Reſcripten entzogen ſeyn, nicht die Einwirkung, die ſie als große Autoritäten darauf haben konnten(s)Manche ſcheinen die von Gajus und Ulpian den Reſcrip - ten beygelegte legis vis auch wohl von dieſem Einfluß als Au - torität zu verſtehen, aber gewiß unrichtig. Dieſe Juriſten wuß - ten ihre Ausdrücke beſſer zu wäh - len, als man ihnen hier zutraut. Meynten ſie etwas ſo Unbeſtimm - tes, wie Einfluß und Wirkſam - keit überhaupt, ſo würde Gajus die legis vis bey dem jus hono - rarium nicht ausgelaſſen haben: eben ſo hätte er im § 7 nicht blos die responsa prudentium genannt, ſondern die weit mehr ins Große wirkende Auctoritas Prudentium. Eben ſo aber wäre es auf der anderen Seite irrig, den unbeſtimmten Ausdruck des Gajus (I § 5) ſo zu deuten, als wollte er den Reſcripten eine eben ſo allgemein verbindende Kraft, wie den Edicten der Kai - ſer, zuſchreiben. Eben ſo ſchein - bar allgemein legt er im § 7 den Reſponſen legis vicem bey, und nur erſt aus dem folgenden Gegenſatz wird es beyläufig klar, daß doch nur von der geſetzlich bindenden Kraft für den judex des einzelnen Rechtsſtreits die Rede ſeyn ſollte.. Dieſe zu verbieten war unmöglich, ja es konnte nicht einmal als wünſchenswerth erſcheinen. Vielmehr lag eben hierin ein vorzügliches Mittel der Fortbildung des Rechts, und es liegt in den Digeſten vor unſren Augen, wie fleißig die alten Juriſten dieſes Mittel benutzt haben. Die Ge - fahr vor ſchlechten Reſcripten war bey dieſer Art des Gebrauchs nicht bedeutend, da der Character einer bloßen Autorität die Kritik und Verwerfung einzelner Reſcripte niemals ausſchloß. Dennoch ſoll einmal wegen dieſer Ge - fahr der Kaiſer Macrinus den Gedanken gehabt haben, alle alten Reſcripte aufzuheben, was offenbar nur auf dieſe Autorität zu beziehen iſt(t)Capitolini Macrinus C. 13. Fuit in jure non incalli - dus, adeo ut statuisset omnia rescripta veterum principum tollere, ut jure non rescriptis ageretur, nefas esse dicens le - ges videri Commodi et Cara -.

140Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Von dieſem Geſichtspunct aus erklären ſich leicht alle Erſcheinungen, die wir bey den Reſcripten finden. Es erklärt ſich, daß die Juriſten davon eine ſehr umfaſſende Kenntniß haben konnten, da ſie ſelbſt meiſt in der Nähe des Kaiſers lebten, oft die Abfaſſung der Reſcripte be - ſorgten, noch öfter aber freyen Zutritt zu den Archiven haben konnten(u)Es iſt alſo nicht nöthig, wegen dieſer ſehr gewöhnlichen Bekanntſchaft mit den Reſcripten, eine öffentliche Bekanntmachung derſelben anzunehmen, wie es von Güyet a. a. O. S. 74 ge - ſchieht.. Es erklärt ſich, daß ſie ſchon frühe Sammlungen der Reſcripte in der Form von Büchern bekannt machten(v)So z. B. Papirii Justi libri XX constitutionum, wel - ches nach den erhaltenen Frag - menten Reſcripte waren. Spä - terhin der Gregorianiſche und Hermogenianiſche Codex wenig - ſtens zum großen Theil. Fer - ner gehören dahin ohne Zweifel die Semestria des D. Marcus, halbjährige Sammlungen einer Auswahl der wichtigſten Re - ſcripte (vielleicht auch Decrete) des Kaiſers, vielleicht von Pri - vatperſonen veranſtaltet, vielleicht auch vom Kaiſer ſelbſt, in wel - chem Fall dieſes als eine Art von geſetzlicher Publication hätte gel - ten können. Vgl. darüber Bris - sonius v. Semestria, Cujacius in Papin. L. 72 de cond., Opp. IV. 489, deren Erklärung der Semestria ich nicht für richtig halte.. Es erklärt ſich aber auch, daß ſie nicht ſelten das Gegentheil lehrten von dem, was in einem Reſcript enthalten war, entweder weil ſie es zufäl -(t)calli et homin um imperitorum voluntates, quum Trajanus nun - quam libellis responderit, ne ad alias causas facta praefer - rentur, quae ad gratiam com - posita viderentur. Jenes Vor - haben des Kaiſers konnte nur auf die Autorität der Reſcripte für die Zukunft gehen, denn die Rechtsfälle ſelbſt, worin die ve - teres principes reſcribirt hat - ten, waren ja damals längſt er - ledigt und vergeſſen.141§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.lig nicht kannten, oder weil ſie deſſen Inhalt als unrich - tig verwarfen(w)Stellen ſolcher Art finden ſich geſammelt bey Güyet a. a. O. S. 55 fg..

Aus dieſer Zuſammenſtellung der in verſchiedenen Zei - ten über die Reſcripte erlaſſenen Vorſchriften ergiebt es ſich, daß ſie zwar noch zur Zeit der Juſtinianiſchen Rechts - bücher von der größten Wichtigkeit waren, daß aber ihr Einfluß durch die Geſetzgebung der Novellen faſt ganz vernichtet worden iſt.

IV. Mandate. Dieſes waren Inſtructionen der Kai - ſer an Beamte, die in ihrem Auftrag zu handeln hatten. Regelmäßig kamen ſolche vor bey den Legaten, die in den Kaiſerlichen Provinzen als Stellvertreter der Kaiſer ver - walteten, ſo wie ja auch die gewöhnlichen Proconſuln Mandate erlaſſen konnten (wohin z. B. die mandata juris - dictio gehört). Solche Mandate hatten in der Provinz daſſelbe Anſehen wie die Provinzialedicte. Daß ſie weit ſeltener als andere Arten der Conſtitutionen erwähnt wer - den, erklärt ſich wohl aus der im Verhältniß zum ganzen Reich abhängigeren Lage der Provinzen, in welchen daher nur ſelten die Fortbildung des gemeinen Römiſchen Rechts ihren Anfang nehmen mochte. Die meiſten Mandate, von welchen wir Nachricht haben, betreffen das Criminalrecht oder Polizeyvorſchriften(x)Brissonius de formulis Lib. 3 C. 84.. Ein bedeutender Fall, in welchem ſie bey einem neuen Satz des Privatrechts ange -142Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.führt werden, betrifft die Militärteſtamente(y)L. 1 pr. de test. mil. (29. 1. ) et exinde mandatis inseri coepit caput tale: Cum in no - titiam etc. : allein hier erklärt es ſich leicht aus der Natur des Gegenſtandes, da ein Feldzug, welcher bey einem ſolchen Teſtament vorausgeſetzt wird, nur in Provinzen vorkommen konnte, und daher auch in ſolchen hauptſächlich dieſer Rechtsſatz zur Anwendung zu bringen war. Eben ſo gründete ſich auf Mandate das Verbot der Ehe zwiſchen Römiſchen Provinzialbeamten und Frauen aus dieſer Provinz(z)L. 2 § 1 de his quae ut ind. (34. 9. ), L. 6 C. de nupt. (5. 4.).. Gajus und Ulpian übergehen die Mandate in der Auf - zählung der Arten der Conſtitutionen: dieſes kann eben aus der erwähnten geringeren Wichtigkeit herrühren: viel - leicht auch daher, daß ſie auf den Umfang einzelner Provinzen beſchränkt waren, ſo daß ihnen eben ſo wenig, als dem jus honorarium, die den übrigen Conſtitutionen zukom - mende legis vis beygelegt werden konnte.

Das Reſultat dieſer Unterſuchung über die Wirkſam - keit der Kaiſerconſtitutionen läßt ſich in folgenden Sätzen zuſammenfaſſen. Die Edicte und Mandate waren eigentliche Geſetze, für Richter und Parteyen gleich ver - pflichtend: die Mandate natürlich nur in den Provinzen, wofür ſie erlaſſen waren. Die Reſcripte hatten Ge - ſetzeskraft nur für den einzelnen Fall, wofür ſie erlaſſen waren; ſeit Juſtinians neueſten Vorſchriften auch hier nur143§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.ſehr beſchränkt, indem die an Privatperſonen erlaſſenen ganz unbeachtet bleiben ſollten, den Richtern aber, der Regel nach (mit Ausnahme der zweifelhaften Geſetzausle - gung) unterſagt wurde, Reſcripte einzuholen. Decrete waren für den einzelnen Fall wie rechtskräftige Urtheile; inſoferne ſie Endurtheile enthielten (nicht bloße Interlo - cute), ſollte die in ihnen ausgeſprochene Rechtsregel als wahres Geſetz allgemeine Gültigkeit haben. Daneben aber hatten alle Arten der Conſtitutionen, ohne Rückſicht auf dieſe Unterſchiede und Einſchränkungen, überall die natürliche Kraft großer Autoritäten für Jeden, der zufäl - lig Kenntniß von ihnen erhalten hatte.

Für alle dieſe Arten der Kaiſergeſetze machte Juſti - nians Codex einen großen Abſchnitt. Was hier aufge - nommen wurde, erhielt Geſetzeskraft, wenngleich es als Reſcript oder Decret dieſelbe für künftige Fälle bisher nicht gehabt hatte: das nicht Aufgenommene war eben dadurch als Geſetz abgeſchafft(aa)Const. Summa § 3. Damit ſollten aber nicht auch die Privilegien aufgehoben ſeyn, die etwa einer Corporation oder ei - nem Einzelnen durch Reſcripte ertheilt ſeyn möchten. ibid. § 4.. Die hier aufgeſtellten Regeln alſo ſollten von nun an auf diejenigen Conſtitutio - nen Anwendung finden, welche nach der Bekanntmachung des Codex, von Juſtinian oder ſeinen Nachfolgern erlaſſen werden würden.

Als eine Art von Anhang oder Surrogat der Kaiſer -144Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.lichen Geſetzgebung konnten betrachtet werden die Edicte oder generales formae der Praefecti Praetorio. Schon Alexander Sever gab ihnen allgemein verbindliche Kraft, wenn ſie den Geſetzen nicht widerſprächen, und ſo lange der Kaiſer nicht anders verfügen würde(bb)L. 2 C. de off. praef. praet. Or. et Ill. (1. 26.). Das war damals für das ganze Reich zu verſtehen, ſeit Conſtantin für jede Präfectur beſonders, ſo wie vormals bey den Provinzialedicten der Proconſuln.. Juſtinian beruft ſich auf einzelne derſelben wie auf Geſetze(cc)L. 16 C. de jud. (3. 1.). L. 27 C. de fidejuss. (8. 41.).. Einige Bruchſtücke von ſolchen haben ſich hinter unſrer Novellenſammlung erhalten(dd)Nov. 165. 166. 167. 168. Vgl. Biener Geſchichte der No - vellen S. 98. 118.. Caſſiodor ſchreibt dem Präfecten eine gleichſam geſetzgebende Gewalt zu(ee)Cassiodor. Var. VI. 3. Formula Praef. Praet. Pene est ut leges possit condere etc. .

§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.

Quellen:

  • Dig. I. 3.
  • Cod. VIII. 53.
  • Cod. Th. V. 12.

Bey Cicero findet ſich, mitten unter ziemlich verwor - renen Gedanken, folgende merkwürdige Äußerung über das Gewohnheitsrecht. Es giebt eine Regel des Lebens, ſagt er, die nicht aus der Meynung der Einzelnen, ſon - dern aus einer unſrer ſittlichen Natur inwohnenden Noth - wendigkeit entſpringt. In der Gemeinſchaft der zuſammen145§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.lebenden Menſchen wird dieſe Regel theils, wo ſie nur als unbeſtimmte Richtung vorhanden war, zu beſtimmter Geſtalt ausgebildet, theils erweitert, theils als unverän - derliche Sitte befeſtigt. Dieſem Allen ſetzt er nachher die lex, oder die poſitive, durch Willkühr gebildete Regel entgegen(a)Cicero de inventione II 53. 54. Natura jus est, quod non opinio genuit, sed quae - dam innata vis inseruit, ut re - ligionem, pietatem .... Consue - tudine jus est, quod aut levi - ter a natura tractum aluit et majus fecit usus, ut religionem: aut si quid eorum, quae ante diximus, ab natura profectum, majus factum propter consue - tudinem videmus, aut quod in morem vetustas vulgi appro - batione perduxit. . Bey den alten Juriſten finden wir das Gewohnheitsrecht nicht in der ihm zukommenden Ausdeh - nung und Wichtigkeit anerkannt. Dieſes erklärt ſich leicht daraus, daß zu ihrer Zeit der größte Theil des alten nationalen Gewohnheitsrechts ſchon längſt in andere Rechtsformen übergegangen war, alſo nicht mehr in ſei - ner urſprünglichen Geſtalt erſchien (§ 15. 18). Zur Er - zeugung eines neuen allgemeinen Gewohnheitsrechts auf dem rein volksmäßigen Wege war aber ihr Zeitalter we - niger geeignet (§ 7). Daher war es meiſt nur partikulä - res Gewohnheitsrecht, was ihnen im wirklichen Leben vorkam, und auf dieſes beziehen ſich die meiſten Stellen über Gewohnheitsrecht, die aus ihren Schriften erhalten ſind(b)Puchta Gewohnheitsrecht I S. 71 fg.. Dennoch ſind die Anſichten, die ſie darüber auf - ſtellen, im Ganzen befriedigend, und wenn durch dieſelben neuere Schriftſteller zu irrigen Meynungen verleitet worden10146Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.ſind, ſo lag dieſes nur an der Unbeſtimmtheit des Aus - drucks. Nach der Lehre der Römer iſt ein Rechtsſatz als begründet anzuſehen, wenn er in langer, vieljähriger consuetudo erſcheint, und der Grund ſeiner Gültigkeit iſt der ſtillſchweigende consensus des populus, alſo derer, die jenen Rechtsſatz üben (utentium, auch omnium)(c)Gajus III § 82. Ulpian. tit. de leg. § 4. L. 32 40 de leg. (1. 3.). § 9. 11 J. de j. nat. (1. 2.). Dieſes wurde nun ſo misverſtanden, als ob die Gewöh - nung den Entſtehungsgrund des Rechts enthielte, und als ob die Bildung dieſes Rechts durch den willkührlichen Entſchluß der Einzelnen bewirkt würde, alſo durch den Willen derjenigen Perſonen, welche auch in den Comitien die Geſetze machen. Dieſe letzte Deutung war beſonders deshalb wichtig, weil dadurch das Gewohnheitsrecht in unmittelbare Verbindung mit einer beſonderen Staatsver - faſſung geſetzt zu ſeyn ſchien, wodurch es auf das kai - ſerliche Rom und auf unſre Monarchien ſeine Anwend - barkeit verlieren würde. Allein in der That iſt ihnen die consuetudo nicht der Entſtehungsgrund dieſer Art des Rechts, ſondern nur die ſinnliche Erſcheinung derſelben, alſo das Mittel ſie zu erkennen, wie ſie ja auch die For - men des geſchriebenen Rechts von dieſer Seite aufzufaſſen pflegen (§ 22). Die Richtigkeit dieſer Anſicht ergiebt ſich daraus, daß in mehreren Stellen die ratio, d. h. die ge - meinſame unmittelbare Überzeugung von dem Daſeyn und der Gültigkeit einer Rechtsregel, als eigentlicher Entſte -147§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.hungsgrund, noch ueben der Gewohnheit ſelbſt genannt wird(d)L. 39 de leg. (1. 3.) Quod non ratione introductum, sed errore primum, deinde consue - tudine obtentum est: in aliis similibus non obtinet. (Die alia similia ſind die künftigen ganz gleichen Fälle.) L. 1 C. quae sit. l. c. (8. 53.) Nam et consuetudo praecedens, et ratio quae consuetudinem sua - sit, custodienda est. Vgl. Puchta S. 61. 81.. Eben ſo iſt consensus nicht ein willkührlicher Entſchluß, der eben ſo gut auch in entgegengeſetzter Rich - tung gedacht werden könnte, ſondern die aus innerer Noth - wendigkeit übereinſtimmende Geſinnung. Daher iſt denn auch der populus, dem dieſer consensus zugeſchrieben wird, nicht ſowohl die Geſammtheit der in Tribus und Centurien in irgend einem Zeitpunct eingeſchriebenen Bürger, als viel - mehr die ideale, durch alle Generationen fortdauernde, Römiſche Nation, die in den verſchiedenſten Verfaſſungen ſtets als dieſelbe gedacht werden kann(e)Gegen dieſe letzte Behaup - tung wird mit vielem Schein angeführt L. 32 § 1 de leg. (1. 3. ), worin aus dem expressus populi consensus in der lex auf den tacitus in der consue - tudo geſchloſſen wird. Allein erſt - lich ſoll hier durch dieſe Verglei - chung nicht ſowohl die Gültigkeit der Gewohnheit ſelbſt, als viel - mehr die Art dieſer Gültigkeit (das legis vice) dargethan wer - den (Puchta S. 84). Zweytens behaupte ich auch gar nicht, daß ſich die alten Juriſten des Ge - genſatzes in den Bedeutungen von populus ſtets deutlich be - wußt geweſen ſind. Die hier vertheidigte Anſicht würde nur dann widerlegt ſeyn, wenn die alten Juriſten, gerade bey deut - lichem Bewußtſeyn des Gegen - ſatzes, die Geſammtheit der ci - ves, und nicht die ideale Nation, als Subject des Gewohnheits - rechts anerkannt hätten.. Die Richtig - keit dieſer Erklärung zeigt ſich zuvörderſt in dem hohen Grad von Gewißheit, der als Grundcharacter des Ge - wohnheitsrechts angegeben wird(f)L. 36 de leg. (1. 3. ): quod in tantum probatum est ut non, und der offenbar einer10*148Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.gemeinſamen Volksüberzeugung angemeſſener iſt, als einem willkührlichen Entſchluß Einzelner zu einzelnen wiederkeh - renden Handlungen. Dann aber bewährt ſich die Rich - tigkeit jener Erklärung auch in den Bedingungen und Kennzeichen, die uns für das Gewohnheitsrecht angege - ben werden.

Es ſoll nämlich ein Gewohnheitsrecht erkannt werden in der gemeinſamen Uberzeugung der Rechtskundigen, der Prudentium auctoritas(g)L. 2 § 5. 6. 8. 12. de orig. jur. (1. 2.).. Dieſe können nun ſehr wohl das Organ ſeyn, worin das gemeinſame Volksbewußtſeyn in beſonderer Kraft und Beſtimmtheit lebt und wirkt (§ 14), dagegen würde es ſehr unpaſſend ſeyn, durch ihren willkührlichen Entſchluß die ganze Nation binden zu laſſen. Und doch ſoll für dieſe, und nicht für die Juriſten allein, das Gewohnheitsrecht gelten. Ferner wird uns als ein vorzügliches Erkenntnißmittel des Gewohnheitsrechts an - gegeben die Übereinſtimmung richterlicher Erkenntniſſe(h)L. 38 de leg. (1. 3. ), L. 1 C. quae sit l. consu. (8. 53.). Ganz vorzüglich bey dem parti - culären Gewohnheitsrecht L. 34 de leg. (1. 3.) (Puchta I S. 96). Es iſt merkwürdig, daß die res judicatae in der allge - meinen Aufzählung der Rechts - quellen bey den rhetoriſchen Schriftſtellern ganz gewöhnlich vorkommen, bey den alten Ju - riſten nicht (§ 22). Anerkannt übrigens waren ſie zu allen Zei - ten (§ 12 Note b.).. Auch hierin liegt eine Beſtätigung unſrer Erklärung, indem dieſe Erkenntniſſe ein beſonders glaubwürdiges Zeugniß für das Daſeyn einer Volksüberzeugung ablegen können, während der willkührliche Entſchluß der Richter unmög -(f)efurit necesse scripto id com - prehendere. 149§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.lich die Nation binden könnte. Ganz irrig aber wäre es, den res judicatae an ſich, abgetrennt von Gewohnheits - recht, eine ſolche Kraft beylegen zu wollen, da gerade im Gegentheil ausdrücklich verordnet iſt, durch Präjudicien allein ſolle ſich kein Richter beſtimmen laſſen(i)L. 13 C. de sent. et in - terloc. (7. 45.). S. o. § 24 Note r. . Das kann alſo nur den Sinn haben, daß Präjudicien an ſich ſelbſt ohne Einfluß, als Zeugniſſe für ein Gewohnheits - recht aber von dem höchſten Einfluß ſeyn ſollen. Zur Ergänzung dieſer Bedingungen gehört noch die Regel, daß ein erweislicher Irrthum das Daſeyn des Gewohn - heitsrechts ausſchließt(k)L. 39 de leg. (1. 3. ) ſ. o. Note d. Puchta I. S. 99. Der ganz natürliche Grund liegt darin, daß die Gewohnheit nun die er - weisliche Folge des Irrthums, alſo nicht Ausdruck und Kenn - zeichen eines gemeinſamen Rechts - bewußtſeyns iſt, was ihr allein Kraft verleihen kann.: ferner die andere, daß der Kaiſer entſcheiden ſoll, wenn die Gewohnheit zu neu iſt, um für ſich allein das Daſeyn eines gemeinſamen Be - wußtſeyns außer Zweifel zu ſetzen(l)L. 11 C. de leg. (1. 14.).. Mehr findet ſich im Römiſchen Recht über die Bedingungen des Ge - wohnheitsrechts nicht. Namentlich iſt ihm ganz fremd die Anſicht, daß daſſelbe, als eine bloße Thatſache, von dem - jenigen bewieſen werden müſſe, der ſich darauf berufe(m)Puchta I. S. 110..

Über die Wirkung des Gewohnheitsrechts endlich ſtellt das Römiſche Recht den Grundſatz auf, daß es legis vicem vertrete(n)S. o. § 22. Note x. . Das heißt, nach der oben gegebenen150Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Erklärung (§ 22), es wirkt nicht nur mit eben ſo entſchiedener Kraft, ſondern auch in derſelben Weiſe, wie eine Lex, ſo daß es durch ſeine Natur nicht auf einen beſtimmten Amtsſpren - gel, noch auf beſtimmte Zeit, wie das jus honorarium, ein - geſchränkt iſt. Mit dieſer Eigenſchaft ſteht aber die Mög - lichkeit eines partikulären Gewohnheitsrechts keinesweges im Widerſpruch, gerade ſo wie ja auch ein Geſetz für eine einzelne Stadt oder Provinz erlaſſen werden kann.

Dieſe Wirkung kann ſich auf eine zwiefache Weiſe äußern. Zuerſt als bloße Ergänzung, wenn der Ausdruck des Geſetzes unbeſtimmt oder zweydeutig iſt(o)L. 38 de leg. (1. 3.)., oder wenn es über eine Rechtsfrage an einer geſetzlichen Beſtimmung gänzlich fehlt(p)L. 32 pr. L. 33 de leg. (1. 3.). Vgl. Puchta I. S. 87.. Dieſes letzte kann nun beſonders in ſolchen Fällen des ſtädtiſchen Verkehrs Bedürfniß ſeyn, worin es durchaus nöthig iſt, irgend eine feſte Beſtimmung zu haben, während der Inhalt dieſer Beſtimmung ziem - lich gleichgültig ſeyn kann. Fehlt es einer Stadt in ſol - chen Fällen an einer beſtimmten Gewohnheit, ſo ſoll die Gewohnheit der Stadt Rom befolgt werden(q)L. 32 pr. de leg. (1. 3. ) si qua in re hoc defecerit tunc jus, quo urbs Roma uti - tur, servari oportet. , was nicht blos in ihrer Würde als der erſten Stadt des Reichs gegründet war, ſondern noch mehr darin, daß ſie urſprüng - lich die Nation in ſich ſchloß. In einer Zeit alſo, worin die Nation als Ganzes, wegen ihrer unbeſtimmten Aus - breitung, eines gemeinſamen Rechtsbewußtſeyns weniger151§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.mächtig war, konnte füglich Rom als Vertreterin der Nation gelten in der Erzeugung eines neuen Volksrechts, wo dieſes nicht zu entbehren war. Dieſes Vorrecht wurde im öſtlichen Reich auf Conſtantinopel übertragen(r)L. 1 § 10 C. de vet. j. enucl. (1. 17.) § 7 J. de satisd. (4. 11.)., was eine bloße Folge der allgemeinen Gleichſtellung beider Städte war, und keinesweges durch ein ähnliches ge - ſchichtliches Verhältniß gerechtfertigt wurde. Übrigens kann dieſe Ergänzung in verſchiedenem Umfang vorkom - men: bald für eine einzelne, bisher unbeachtete Seite eines ſchon bekannten Rechtsinſtituts, bald als Erzeugung eines ganz neuen Inſtituts, mithin als Erweiterung des Rechts - ſyſtems ſelbſt. In dieſer wichtigeren Art werden die mo - res erwähnt als Entſtehungsgründe der cura prodigi, der verbotenen Schenkung unter Ehegatten, und der Pupillar - ſubſtitution(s)L. 1 pr. de curat. (27. 10. ), L. 1 de don. int. v. et ux. (24. 1. ), L. 2 pr. de vulg. et pup. subst. (28. 6.)..

Zweytens kann ſich die Kraft des Gewohnheitsrechts äußern im Widerſtreit mit dem Inhalt eines Geſetzes, ſey es nun, daß es an die Stelle der geſetzlichen Regel eine andere ſetze, oder aber jene lediglich aufhebe. Dieſe Kraft dem Gewohnheitsrecht zuzuſchreiben, würden wir ſchon durch die gänzliche Gleichſtellung im Ausdruck (legis vis) genöthigt ſeyn. Sie iſt aber auch deutlich als all - gemeine Regel ausgeſprochen(t)L. 32 § 1 de leg. (1. 3.). .... Quare rectissime etiam illud receptum est, ut leges. Und was vollends jeden152Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Zweifel entfernen muß, iſt der Umſtand, daß in allen Zeiten der Römiſchen Geſchichte das Gewohnheitsrecht dieſe Kraft auf die ausgedehnteſte Weiſe ausgeübt hat. So iſt der ganze Theil des prätoriſchen Edicts, worin das jus civile, und beſonders das Zwölftafelngeſetz corri - girt wird, Nichts als ein abänderndes Gewohnheitsrecht, an deſſen Gültigkeit nie ein Römer gezweifelt hat(u)Cicero de invent. II. 22. Consuetudinis autem jus esse putatur id, quod voluntate om - nium sine lege vetustas com - probavit. In ea autem sunt eorum multo maxima pars, quae praetores edicere con - sueverunt. Die Misverſtänd - niſſe der früheren Rechtshiſtori - ker über dieſen Punct können nun wohl als beſeitigt angeſehen werden.. Eben ſo iſt die Wirkſamkeit des usus in der Ehe zum Theil durch Gewohnheitsrecht abgeſchafft worden: des - gleichen das zweyte Kapitel der lex Aquilia und die interrogatoriae actiones(v)Gajus I § 111., L. 27 § 4 ad L. Aquil. (9. 2. ), L. 1 § 1 de interrog. act. (11. 1.).. Juſtinian aber hat jene Kraft des Gewohnheitsrechts in ſo vielen eigenen Vor - ſchriften anerkannt, ohne irgend ein Bedenken dagegen zu äußern, daß es kaum zu begreifen iſt, wie auf dem Stand - punkt ſeiner Geſetzgebung darüber jemals ein Zweifel erhoben werden konnte(w)§ 11 J. de j. nat. (1. 2. ), § 7 J. de injur. (4. 4. ) L. 1 pr. C. de cad. toll. (6. 51. ), L. 1 § 10 C. de vet. j. enucl. (1. 17. ), Const. Haec quae necess. § 2. Nov. 89 C. 15. Nov. 106.. Zwey Gründe ſind jedoch ſehr häufig für eine abweichende Meynung geltend ge - macht worden. Erſtlich, daß in mehreren ſchon angeführ -(t)non solum suffragio legislato - ris, sed etiam tacito consensu omnium per desuetudinem ab - rogentur. Vgl. Puchta a. a. O. S. 86. 90.153§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.ten Stellen geſagt werde, die Gewohnheit gelte in Er - mangelung eines Geſetzes, was ſo viel heiße als nur in dieſer Ermangelung. Dieſe überall bedenkliche Erklärungs - weiſe wird im vorliegenden Fall durch den Zuſammen - hang vollſtändig widerlegt(x)L. 32 pr. L. 33 de leg. (1. 3.). Vgl. Puchta I. S. 88. Beſonders bey der erſten dieſer Stellen iſt ein ſolches argumen - tum a contrario ganz unbegreif - lich, da der Verfaſſer in den gleich folgenden Worten (§ 1) gerade das Gegentheil ſagt.. Mehr Schein hat zwey - tens der Ausſpruch einer Stelle des Codex, die Gewohn - heit könne nie ein Geſetz überwinden. Allein hier iſt nicht von Gewohnheiten überhaupt, ſondern von partikulären allein die Rede, und dieſe ſollen allerdings im Conflict mit einem abſoluten Landesgeſetz zurück ſtehen(y)L. 2 C. quae sit l. consu. (8. 53.). S. hierüber die Bey - lage II zu dieſem Bande..

Alles dieſes hatte nun keine Bedeutung mehr für die vor Juſtinian entſtandenen Sätze eines allgemein Römi - ſchen Gewohnheitsrechts. Denn dieſe ſollten gewiß nach ſeiner Abſicht entweder in die Rechtsbücher aufgenommen ſeyn, oder gar nicht mehr gelten. Dagegen war es an - wendbar auf jedes künftig entſtehende Gewohnheitsrecht, ja auch auf das ſchon vorhandene partikuläre, ſoweit dieſes überhaupt nach der eben erwähnten Einſchränkung Gültigkeit haben konnte. Denn da ein ſolches in den Plan der neuen Rechtsſammlungen gar nicht gehörte, ſo konnte auch deren ausſchließende Natur das Fortbeſtehen deſſelben nicht hindern.

154Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Da dieſe Art der Rechtsquellen übrigens auch im cano - niſchen Recht und den Reichsgeſetzen erwähnt wird, ſo ſoll davon hier anhangsweiſe gehandelt werden.

Im canoniſchen Recht ſind mehrere Römiſche Stellen wörtlich aufgenommen, woraus alſo nichts Neues hervor - geht(z)C. 4 D. XI = L. 2 C. quae sit l. consu. (8. 53. ), C. 6 D. XII = § 9 J. de j. nat. (1. 2. ), C. 7 D. XII = L. 1 C. quae sit l. consu. (8. 53.).. Folgende Sätze könnte man für neu und eigen - thümlich halten:

1) Die Gewohnheit muß, um gelten zu können, ratio - nabilis ſeyn. Mit dieſem ſehr unbeſtimmten Ausdruck, wenn er auch durch Stellen des Römiſchen Rechts veran - laßt ſeyn mag, ſcheint doch hier etwas Beſonderes gemeynt, nämlich eine materielle Prüfung des Inhalts, und eine Anerkennung nur inſofern dieſer Inhalt gut und zweck - mäßig erſcheint: um ſo mehr als dieſe Bedingung nicht allgemein aufgeſtellt wird, ſondern nur für den Fall eines Conflicts mit den Geſetzen(aa)C. 11. X. de Consuet. (1. 4.). C. 1 de constit. in VI (1. 2.). Von der Bedeutung die - ſer Stellen iſt in der Beylage II. die Rede..

2) Die Gewohnheit muß ſeyn legitime oder canonice praescripta(bb)C. 11. X. de consuet. (1. 4. ), C. 3 de consuet. in VI (1. 4.); C. 9. de offic. ord. in VI. (1. 16. ), C. 50. X. de elect. (1. 6.). Über den Sinn die - ſer Stellen findet ſich eine Un - terſuchung in Meurers juriſt. Abhandlungen, Leipzig 1780 N. V, welcher behauptet, es ſey hier zwar von Verjährung, aber nicht zur Begründung einer Gewohn - heit, ſondern zum Erwerb eines einzelnen Rechts die Rede. Zu - letzt aber lenkt er doch in die im Text aufgeſtellte Erklärung ein, wenigſtens in Beziehung auf. Daraus haben Viele eine wirkliche Ver -155§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.jährung gemacht, deren Natur jedoch zur Begründung einer allgemeinen Rechtsregel gar nicht paßt. Auch würde die Vorſchrift, ſo aufgefaßt, doch keine beſtimmte Anwen - dung geſtatten, da es Verjährungen von ſehr verſchiede - ner Dauer giebt, hier aber keine beſtimmte Zeit angegeben iſt. Sehr wahrſcheinlich ſoll daher dieſer Ausdruck, über - einſtimmend mit dem Römiſchen Recht, nur überhaupt eine lange Dauer bezeichnen, und alſo legitime praescripta hier ſo viel heißen als longa oder diuturna.

Endlich erwähnen auch mehrere Reichsgeſetze des Ge - wohnheitsrechts, aber nur indem ſie überhaupt die Richter zu ſeiner Befolgung anweiſen, ohne deſſen Bedingungen oder Wirkung näher zu beſtimmen(cc)C. C. C. art. 104. Conc ord. cam. Tit. 19 provem. Tit. 71, Rec. Imp. nov. § 105..

§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.

Von früher Zeit her wird das Anſehen der Rechts - kundigen, und der Einfluß derſelben auf die Fortbildung des Rechts durch Sitte, bezeugt(a)L. 2 § 5 de orig. jur. (1. 2.).. Daß dieſer Einfluß(bb)C. 11. X. de consuet. Jene erſte Meynung hat von ihm an - genommen Glück I § 86 Num. V. Eichhorn Kirchenrecht S. 42. 43. will jene Stellen nicht von einem eigentlichen Gewohn - heitsrecht verſtanden wiſſen, ſon - dern von einer Obſervanz, d. h. einem ſtillſchweigenden Statut, inſofern daraus dritte Perſonen Rechte herleiten wollen (§ 20. f.). Es mag ſeyn, daß die Rück - ſicht auf ſolche Fälle Veranlaſ - ſung zu jenen Ausſprüchen ge - geben hat. Allein daß dieſe all - gemein gefaßt ſind, giebt er ſelbſt zu, und ſo mag doch wohl dem ungenauen Ausdruck auch ein unklarer Gedanke zum Grunde gelegen haben.156Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.wachſen mußte, als zu dem Zutrauen in die Geſchäftser - fahrung auch noch das Übergewicht wiſſenſchaftlicher Bil - dung hinzutrat, iſt augenſcheinlich.

Auguſt erhöhte und modificirte dieſen Einfluß, indem er einzelnen bewährten Juriſten das Recht zu Gutachten ertheilte, die von den Richtern wie Geſetze (legis vice) befolgt werden mußten, ſo lange nicht entgegenſtehende Gutachten gleichfalls autoriſirter Juriſten vorgebracht wür - den(b)Gajus I § 7, § 8 J. de j. nat. (1. 2.). L. 2 § 47 de orig. jur. (1. 2.). Ich unter - ſcheide alſo die Responsa, d. h. die Gutachten jetzt lebender, und zwar autoriſirter Juriſten über einen einzelnen, ihnen vorgeleg - ten Rechtsſtreit, von den Mey - nungen der gegenwärtigen und früheren Schriftſteller, das heißt der geſammten juriſtiſchen Lite - ratur. Der Einfluß der Re - sponsa, wie ein Geſetz den Rich - ter bindend, war etwas ganz Poſitives und wird auch in den angeführten Stellen ſo darge - ſtellt. Der Einfluß der Literatur war etwas Natürliches, aber auch Unbeſtimmtes, und kein Richter war daran gebunden. Gajus ſpricht von dem erſten, ganz po - ſitiven Einfluß, ohne damit den zweyten ausſchließen zu wollen. Hugo Rgeſch. S. 811 ed. 11 erklärt die angeführten Stellen von dem zweyten Einfluß, und negirt (oder bezweifelt wenigſtens) den erſten. Das ſcheint mir aber ſchon mit dem ſpeciellen Aus - druck Responsa ganz unverein - bar. Doch die Ausführung dieſer Streitfrage gehört nicht hierher.. Daneben dauerte die allgemeine, unbeſtimmte Autorität der juriſtiſchen Lehrer und Schriftſteller fort, welche jedoch nicht legis vicem hatte, ſondern auf jeden Richter nur durch ihre innere, geiſtige Kraft einwirkte, wenn etwa in einem Rechtsſtreit entweder gar keine, oder widerſprechende Gutachten vorgebracht waren.

Die privilegirten Gutachten werden von Gajus als eine noch beſtehende Anſtalt erwähnt. Sie haben wahr -157§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.ſcheinlich aufgehört mit dem wiſſenſchaftlichen Leben des Rechts überhaupt. Denn als die Zahl der namhaften Rechtsgelehrten ſchleunig abnahm, und das Privilegium nur noch an Wenige gegeben werden konnte, hätten dieſe Wenige einen übermäßigen Einfluß auf die Rechtspflege erhalten, und dieſe Betrachtung mag es wohl veran - laßt haben, daß gar keine Privilegien dieſer Art mehr ertheilt wurden.

Aber damit war nicht auch der allgemeine Einfluß der höchſt bedeutenden juriſtiſchen Literatur aufgehoben. Im Gegentheil mußte dieſer Einfluß der in Büchern fort - lebenden Vergangenheit in demſelben Maaße wachſen, als die geiſtige Kraft der Gegenwart ſich verminderte. Bey dem großen Umfang dieſer Literatur, und bey den vielen darin vorkommenden Controverſen, mußte bald das Be - dürfniß formeller Regeln über ihre Anwendung fühlbar werden. Einzelne Regeln ſcheinen auch ſchon von Con - ſtantin an aufgeſtellt worden zu ſeyn(c)L. 1. 2. C. Th. de resp. prud. (1. 4. ) (neu aufgefunden).. Allein eine erſchöpfende Vorſchrift erließ erſt Valentinian III.(d)L. 3 (ſonſt un.) C. Th. de resp. prud. (1. 4. ) vom J. 426., durch welche der Begriff einer gemeinen Meynung der Juriſten auf einem ganz anderen Wege praktiſch geltend gemacht wurde, als es früher durch die Vorſchrift über die übereinſtimmenden Gutachten verſucht worden war. Und dieſes Geſetz beſtand noch, als Juſtinian die Regie - rung antrat. Obgleich nun durch daſſelbe die Schwie -158Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.rigkeiten der Anwendung des wiſſenſchaftlichen Rechts vermindert waren, ſo waren ſie doch nicht gehoben(e)Savigny Geſch. des R. R. im Mittelalter I § 3., und dieſe Betrachtung bewog Juſtinian zu einer ganz neuen und weit durchgreifenderen Maaßregel.

Er ließ aus dem ganzen Umfang der juriſtiſchen Lite - ratur, ohne Rückſicht auf die von Valentinian III. gezo - gene Gränzen, dasjenige ausheben, was zu einer vollſtän - digen Überſicht des Rechts, und namentlich für die Rechts - pflege, nöthig ſchien. Dieſes wurde in Ein Buch zuſam - men getragen und als Geſetz bekannt gemacht, alles Übrige aber abgeſchafft. So war alſo jetzt ein Auszug des Jus zu einer Lex erhoben, und es war Nichts mehr vorhan - den, was in ſeiner urſprünglichen Geſtalt, als Jus, hätte gelten dürfen. Für die Zukunft aber verbot er gänzlich die Entſtehung einer neuen juriſtiſchen Literatur. Nur griechiſche Überſetzungen des lateiniſchen Textes, und (als mechaniſches Hülfsmittel) kurze Angaben des Inhalts der Titel ſollten erlaubt ſeyn: würde aber ein eigentliches Buch, ein Commentar über die Geſetze, geſchrieben, ſo ſollte dieſes zerſtört und der Verfaſſer mit der Strafe der Fälſchung belegt werden(f)L. 1 § 12, L. 2 § 21, L. 3 § 21 C. de vet. j. enucl. (1. 17.).. Das einzige Mittel zur Er - haltung und Fortpflanzung der Rechtswiſſenſchaft ſollte alſo der mündliche Unterricht in den Rechtsſchulen ſeyn, die deshalb von Juſtinian mit einem neuen Lehrplan ver -159§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.ſehen wurden(g)Const. Omnem. . Hält man aber damit das erwähnte Verbot zuſammen, ſo iſt es unzweifelhaft, wie dieſer Un - terricht gemeynt war. Gewiß nicht als Verarbeitung der Rechtsbücher durch freye Geiſtesthätigkeit der Lehrer, wo - durch eine verwandte Thätigkeit auch in den Schülern erregt, und ſo eine lebendige Wiſſenſchaft erhalten wor - den wäre: denn ein ſolches Verfahren hätte mit dem Zweck jenes Verbots in offenbarem Widerſpruch geſtanden. Viel - mehr mußte der ganze Unterricht in einem mechaniſchen Einlernen beſtehen, und das Verdienſt der Lehrer mußte ſich darauf beſchränken, den ungeübten Schülern die ſub - jectiven Schwierigkeiten überwinden zu helfen, die in der Unbekanntſchaft mit einem ihnen fremden Stoff von ſo großem Umfang liegen mußten. Allen dieſen Anordnun - gen alſo lag der Eine Gedanke zum Grunde, die hier ausgewählte und geordnete geiſtige Production der Vor - fahren ſey für den Rechtszuſtand ausreichend: jede neue Production ſey dafür nicht nöthig, und könne das jetzt gegründete Werk nur wieder verderben.

Manche mögen wohl dieſe Anſichten in ihrem buch - ſtäblichen Sinn allzu ſeltſam finden, und daher nach einer figürlichen oder mildernden Deutung ſuchen: wie ich glaube, mit Unrecht. Als Juſtinian zur Regierung kam, hörte er wahrſcheinlich eben ſo laute Stimmen über die heilloſe Verwirrung des Rechts, und über das dringende Bedürf - niß einer durchgreifenden Reform, wie K. Friedrich II. 160Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.von Preußen im J. 1740. Ein glücklicher Zufall führte ihm einige ſo einſichtsvolle Juriſten zu, wie ſie ſeit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr erſchienen waren, und ihm ſelbſt fehlte es weder an eigener Rechtskenntniß, noch an Thätigkeit und Ruhmbegierde. Man ſuchte alſo dem abzuhelfen, was zunächſt als Übel fühlbar wurde, der unbezwinglichen Maſſe der juriſtiſchen Literatur, und den vielen in ihr vorkommenden Widerſprüchen. Irgend eine Erfahrung ähnlicher Art, an welcher man das Unterneh - men hätte prüfen können, lag nicht vor, und ſo konnte man am kaiſerlichen Hof ehrlich glauben, auf dieſem Wege einen ganz vortrefflichen Zuſtand hervorzubringen, und nur durch geſetzliche Verbote der Wiederkehr des alten Übels ſteuern zu müſſen. Auch hatte man nicht zu fürch - ten, daß durch dieſe Verbote ein wirklich vorhandenes geiſtiges Leben unterdrückt würde, wie etwa, wenn Ha - drian oder Marc Aurel einen ähnlichen Gedanken hätten faſſen wollen: denn die Kraft und Bildung der Gegen - wart war ja Jedem ohnehin klar genug, und daran war gewiß wenig zu verderben. Zwar die Drohung der Cri - minalſtrafe und der Zerſtörung der Bücher, ja ſelbſt das Verbot Bücher zu ſchreiben, iſt unſren Sitten völlig fremd, und neben der Buchdruckerey und dem lebhaften Verkehr ſo vieler Europäiſchen Staaten wäre es abentheuerlich, an dergleichen auch nur zu denken. Allein wenn wir von dieſer gewaltſamen Ausführung, als dem Zufälligen, ab - ſehen, ſo iſt der Grundgedanke dieſelbe Selbſttäuſchung,161§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.die, als tief in der menſchlichen Natur gegründet, in allen geiſtigen Gebieten, und beſonders im religiöſen, ſtets wie - derkehrt: indem wir glauben, diejenige Verkörperung des Gedankens, die wir durch redliche Anſtrengung unſrer eigenen Kraft hervorgebracht haben, Anderen als aus - ſchließend gültig aufſtellen zu dürfen, den Irrthum für immer bannend, freylich aber zugleich die Freyheit des Geiſtes. Eine ſolche juriſtiſche Concordienformel ſtellte Juſtinian auf, und Niemand ſollte wagen, den Frieden zu ſtören, den ſie zu bringen beſtimmt war. Wollen wir ihn darüber hart beurtheilen? Unſer Geſichtskreis iſt durch die Erfahrungen von Ein bis Zwey Tauſend Jah - ren mehr erweitert, und doch wohnt das Weſentliche jener Gedanken Juſtinians noch jetzt in denen, die von der Ab - faſſung neuer Geſetzbücher ſo ſchwärmeriſche Hoffnungen hegen: freylich ohne die Macht, und gewiß auch ohne den Willen, ihre Gedanken durch ſo harten Zwang, wie es Juſtinian verſuchte, zur Ausführung zu bringen.

Dieſe Betrachtungen ſollen nicht etwa das Verfahren Juſtinians rechtfertigen, wozu ich gewiß nicht geneigt bin, ſondern nur in einem milderen Lichte darſtellen, vorzüglich aber inſoweit begreiflich machen, daß die Thatſache, von deren Darſtellung an dieſer Stelle zunächſt die Rede iſt, als buchſtäblich wahr angenommen, und gegen jede künſt - liche oder gewaltſame Deutung geſchützt werde.

11162Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

§. 27. Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen über die Rechtsquellen.

Nachdem die Ausſprüche des Römiſchen Rechts über die Rechtsquellen aufgeſtellt worden ſind (§ 22 26), iſt nun die Frage zu beantworten, welcher praktiſche Werth denſelben, von unſerm Standpunkt aus, beyzulegen iſt. Dieſe Frage bezieht ſich auf jeden Staat, worin einmal die Reception Statt gefunden hat, und ſie muß in fol - genden zwey verſchiedenen Anwendungen aufgefaßt und beantwortet werden: erſtlich, iſt ſeit dem Zeitpunkt der Reception die bisherige Fortbildung des Rechts (§ 21) nach jenen Regeln zu prüfen und zu beurtheilen? Zwey - tens, gelten dieſe Regeln für die künftige Fortbildung des Rechts in einem ſolchen Staate? Die erſte Anwendung bezieht ſich auf Dasjenige, was wir als wahren Inhalt des jetzt geltenden gemeinen Rechts anzuerkennen haben: die zweyte auf deſſen mögliche Abänderungen in der Zu - kunft. Es iſt aber für beide Anwendungen nur eine und dieſelbe Frage, deren Beantwortung alſo auch nach beiden Seiten hin nicht verſchieden ausfallen kann.

Auf den erſten Blick ſcheint Nichts natürlicher, als die Bejahung der Frage. Denn wo überhaupt Römiſches Recht gilt, warum ſollte es in dieſem wichtigen Punkt, für die fortgehende Entwicklung des Rechts, nicht gelten? Die neueren Schriftſteller pflegen die Frage gar nicht auf -163§. 27. Prakt. Werth der Röm. Beſtimmungen über die Rechtsq.zuwerfen, ſondern ſtillſchweigend zu bejahen, und in dieſer Vorausſetzung Stellen des Römiſchen Rechts zu benutzen: freylich mit dem Vorbehalt, dieſe Benutzung da, wo ſie allzu bedenklich erſcheinen würde, zu unterlaſſen.

Ich will zuvörderſt kurz zuſammen ſtellen, wie ſich die durchgeführte Bejahung jener Frage geſtalten würde.

In Anſehung der eigentlichen Geſetze (§ 23) könnten wir etwa noch auf die Mitwirkung des Senats bey ihrer Abfaſſung verzichten, weil ein ſolcher, im Sinn des - miſchen Kaiſerreichs, in keinem neueren Staat vorhanden iſt. Aber die ausſchließenden Kennzeichen eines wahren Geſetzes müßten wir doch aus der Verordnung von Theo - doſius II. entnehmen. Weit wichtiger jedoch iſt die Sache bey den landesherrlichen Reſcripten in einzelnen Rechtsſachen (§ 24), die von jedem Richter als Geſetz anerkannt werden müßten, wenigſtens in der eingeſchränk - teren Weiſe, wie es nach Juſtinians Novellen noch anzu - nehmen iſt. Dagegen haben ſich neuere Schriftſteller aus - drücklich erklärt(a)Mühlenbruch I § 35.. Andere beſtehen feſt auf der Anwen - dung der Römiſchen Regeln, zuweilen ſelbſt ohne Rück - ſicht auf die durch die Novellen gemachten Einſchränkungen, aber indem ſie in der Stille dieſen Regeln einen ganz anderen Sinn unterlegen. Sie übergehen nämlich die Haupt - ſache, die Geſetzeskraft für den einzelnen Fall, mit Stillſchwei - gen, und legen den Reſcripten blos Geſetzeskraft für künf - tige gleiche Fälle bey(b)Glück I § 96, der auch, die doch ſelbſt nach Römiſchem11*164Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Recht den Reſcripten niemals zukam, ſondern nur den Decreten (§ 23. 24.).

Bey dem Gewohnheitsrecht (§ 25) wird im Allgemei - nen die Anwendbarkeit des Römiſchen Rechts gar nicht bezweifelt. Nur findet es ſich wohl, daß ein einzelner Schriftſteller, wenn er eine beſondere Anwendung des Ge - wohnheitsrechts überhaupt bekämpft, die doch im Römi - ſchen Recht anerkannt iſt, dieſes Bedenken durch kritiſche Zweifel an der Anwendbarkeit jenes Rechts zu entfer - nen ſucht(c)So z. B. Schweitzer de desuetudine p. 52. 53. 84. Die ganze Schrift iſt gegen die Wir - kung der reinen desuetudo ge - richtet, und deswegen behauptet er, daß in dieſer Frage das R. R. keine Anwendbarkeit habe: für das ganze übrige Gewohnheits - recht ſoll es gelten, und nament - lich ſchon für die nahe verwandte Frage von der obrogatio durch Gewohnheit..

Bey dem wiſſenſchaftlichen Recht endlich (§ 26) pflegt man das nicht unwichtige Geſetz Juſtinians gegen die juri - ſtiſchen Bücher ganz mit Stillſchweigen zu übergehen, und ich kenne auch nicht einen einzigen neueren Schriftſteller, der aus Gehorſam gegen jenes Geſetz behauptete, ſolche Bücher müßten noch jetzt zerſtört werden. Eine ſolche Liebloſigkeit gegen das eigene Werk wäre auch in der That unverantwortlich geweſen. Und doch, warum ſollte dieſes Geſetz weniger Kraft haben, als die anderen über verwandte Fragen?

Faßt man dieſes Alles zuſammen, ſo ergiebt es ſich, daß unſere Juriſten die im Römiſchen Recht über die(b)andere Schriftſteller für und wi - der ſeine Meynung anführt.165§. 27. Prakt. Werth der Röm. Beſtimmungen über die Rechtsq.Rechtsquellen enthaltenen Vorſchriften ganz willkührlich bald annehmen, bald mit Stillſchweigen übergehen. Da nun eine unbedingte Anwendung aller dieſer Vorſchriften ganz unmöglich ſeyn würde, ſo entſteht ſchon daraus ein zwiefaches Bedenken gegen jede Anwendung überhaupt. Denn erſtlich iſt dieſes Verfahren inconſequent, und gegen dieſen Vorwurf könnte man ſich nur dadurch retten, daß man annähme, durch ein neueres Gewohnheitsrecht ſey z. B. das Verbot der juriſtiſchen Bücher wieder abgeſchafft worden. Zweytens aber iſt zu erwägen, daß diejenigen Vorſchriften, die man als noch jetzt gültig annimmt, ab - getrennt von dem Zuſammenhang mit den verworfenen, vielleicht eine ganz andere Natur annehmen, und ſelbſt unpaſſend werden dürften.

Geht man aber der Sache mehr auf den Grund, und fragt man, warum einige dieſer Vorſchriften, beſonders welche die Geſetze betreffen, entſchieden für unanwendbar gehalten werden müſſen, ſo erkennt man bald den Grund darin, daß ſie dem Staatsrecht angehören, welches überhaupt nicht unter die recipirten Theile des fremden Rechts gehört (§ 1. 17.). Dieſer Grund aber paßt nicht nur auf die Geſetzgebung, ſondern eben ſo auch auf jede andere Bildungsweiſe des allgemeinen Rechts, ſo daß, wer den Grundſatz feſthalten will, auch anerkennen muß, daß das Römiſche Recht auf die Rechtsquellen überhaupt nicht anzuwenden iſt. Dadurch wird denn unter andern die Streitfrage über den Sinn der L. 2 C. quae si166Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.longa consuet. für das praktiſche Recht ganz unbe - deutend.

Alles was hier über die Unanwendbarkeit des Römi - ſchen Rechts auf die Lehre von den Rechtsquellen geſagt worden iſt, gilt ganz eben ſo auch von dem canoni - ſchen Recht.

Anders würde es ſich in den Deutſchen Staaten mit den Reichsgeſetzen verhalten, da dieſe unſtreitig für das öffentliche Recht eben ſo wohl als für das Privatrecht Geſetzeskraft hatten. Aber auch von ihnen kann hier nicht die Rede ſeyn, da ſie überhaupt Nichts über die Rechts - quellen enthalten, als die allgemeine und unbeſtimmte Anerkennung des Daſeyns eines Gewohnheitsrechts (§ 25), welches aber dieſer Anerkennung in der That nicht bedurfte.

§. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.

Es ſollen nun noch die Hauptpunkte angegeben wer - den, worin die bey den Neueren als vorherrſchend erſchei - nenden Anſichten der Rechtsquellen von den hier aufge - ſtellten abweichen. Dabey wird großentheils ſchon die bloße Aufſtellung des Gegenſatzes, ohne Angabe einzelner Schriftſteller, und ohne Ausführung eines Streites, an dieſer Stelle hinreichen.

Die Geſetzgebung wird ſehr gewöhnlich in ein ganz anderes Verhältniß zu den Rechtsquellen überhaupt geſtellt. Man hält ſie häufig für den einzig wahren und guten167§. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.Entſtehungsgrund des Rechts, neben welchem alles Übrige nur als Nothhülfe vorkommen ſoll, und beſſer gar nicht vorhanden wäre. Dadurch erhält zugleich die Rechts - wiſſenſchaft einen ſehr zufälligen und veränderlichen Stoff, und ein ſo abhängiges Daſeyn, daß ſie bey fortſchreiten - der Vollkommenheit der Geſetzgebung immer unbedeutender werden, und bey einem idealen Zuſtand derſelben endlich verſchwinden müßte. In der ferneren Entwicklung dieſer Grundanſicht liegt der unbedingte Werth, den man in neueren Zeiten auf neue umfaſſende Geſetzbücher ſetzt, und die glänzende Erwartung, die man an die Abfaſſung der - ſelben knüpft. Doch kommt es wohl auch vor, daß jene Grundanſicht von Solchen angenommen wird, die dieſe letzte Meynung nicht theilen, oder wenigſtens nicht mit ſolcher Wichtigkeit behandeln, und dieſes dürfte leicht als die Stimmung des größten Theils der ehrenwerthen Prak - tiker befunden werden.

An die Geſetzgebung ſoll ſogleich das wiſſenſchaft - liche Recht angeknüpft werden. Die Behandlung der früheren Schriftſteller iſt bey den Neueren oft ſehr will - kührlich und ungleich, ſo daß derſelben nach Gutfinden in einzelnen Fällen ein Gewicht eingeräumt oder verſagt wird, ohne daß ein leitender Grundſatz für dieſes abwech - ſelnde Verfahren auch nur geſucht würde. Insbeſondere wird nicht ſelten die Meynung der älteren Praktiker ſo aufgefaßt, als ob durch ſie für alle Zeiten ein unabän - derlicher Abſchluß gemacht wäre, und als ob nicht jedes168Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Zeitalter ſeinen Anſpruch auf Fortbildung des Rechts durch innere Kraft eben ſo geltend machen könnte, wie es in jener früheren Zeit geſchehen war. Man pflegt ſich dann unwillkührlich unſer Verhältniß zu jener früheren Zeit in ähnlicher Weiſe zu denken, wie es durch Valenti - nian III. zu ſeiner Vorzeit wirklich feſtgeſtellt war. Allein dieſe Feſtſtellung war eine völlig poſitive, die ſich in keiner Zeit von ſelbſt verſtehen kann: ganz beſonders aber hatte ſie einen inneren Grund in dem wirklichen Abſterben der Rechtswiſſenſchaft, wie des geiſtigen Lebens überhaupt, anſtatt daß unſerer Zeit, wie man auch ſonſt von ihr denken mag, eine große Regſamkeit gewiß nicht abzu - ſprechen iſt.

Bey dem Gewohnheitsrecht würde eine ſo ſumma - riſche Überſicht der herrſchenden neueren Meynungen nicht genügen. Ich habe vielmehr die genauere Darſtellung meiner eigenen Meynung über unſer praktiſches Gewohn - heitsrecht (§ 18) bis an dieſen Ort aufgeſchoben, weil ſie nur in Verbindung mit den anderwärts herrſchenden Mey - nungen verſtändlich werden kann.

Nach der herrſchenden Anſicht iſt das Gewohnheits - recht eine nicht natürliche Art der Rechtserzeugung, die alſo, um anerkannt zu werden, einer ganz beſonderen Rechtfertigung bedarf. Dieſe ſoll in Republiken in dem Umſtand liegen, daß derſelbe populus (§ 10), der in einer beſtimmten Weiſe gleichförmig handelt, zugleich auch der Träger der geſetzgebenden Gewalt iſt. Darum führt alſo169§. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.jede Gewohnheit immer und nothwendig mit ſich die ſtill - ſchweigende Einwilligung des Geſetzgebers in die geübte einzelne Regel (consensus tacitus specialis), und jede Ge - wohnheit erſcheint daher in einer Republik als ſtillſchwei - gendes Geſetz. Anders in unſeren Monarchien, wo das Volk, das die Gewohnheit äußert, ohne geſetzgebende Ge - walt iſt, und der Fürſt, der die geſetzgebende Gewalt hat, an der Gewohnheit keinen Theil nimmt. Auch die con - ſtitutionelle Monarchie macht hierin keinen weſentlichen Unterſchied, da vielleicht kein einziges Mitglied der Kam - mern je an der Gewohnheit Theil genommen hat, auch die Kammern allein, ohne den Fürſten, niemals das Ge - ſetz machen. Hier erſcheint alſo das Gewohnheitsrecht als eine Art von Oppoſition der Unterthanen gegen die Re - gierung, als Anmaßung eines Zweigs der höchſten Gewalt, und ein ſo gefährliches Unternehmen bedarf einer beſon - ders vorſichtigen Rechtfertigung. Dieſe konnte nur geſucht werden in der Einwilligung des Geſetzgebers, die aber nicht, wie in der Republik, in der Gewohnheit ſelbſt ſchon enthalten war, ſondern von außen hinzugethan werden mußte. In den Ländern, worin Römiſches Recht gilt, macht das keine Schwierigkeit, denn das Römiſche Recht ſagt ja ganz deutlich, das Gewohnheitsrecht ſolle befolgt werden. Darin liegt alſo der consensus generalis expres - sus des Geſetzgebers in alle künftige Gewohnheiten. Nur wenn die Gewohnheit ein Geſetz abſchaffen ſollte, ſchien die L. 2 C. quae sit longa consuetudo noch eine andere170Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Begründung nöthig zu machen. Und dieſe fand man in des Fürſten consensus specialis tacitus für den einzelnen Fall. Dabey kommen jedoch noch zwey verſchiedene Wen - dungen vor, indem bald geſagt wird, der Conſens ſey ſchon aus der bloßen Duldung der Gewohnheit zu ver - muthen, bald aber es müſſe ſpeciell bewieſen werden, daß der Geſetzgeber von dieſer Gewohnheit Kenntniß gehabt habe(a)Glück I § 85. Guilleaume Rechtslehre von der Gewohnheit, Osnabrück 1801 § 24 27.. Dieſes betraf die Gültigkeit des Gewohn - heitsrechts überhaupt. In jedem einzelnen Fall aber wird die bloße Gewohnheit, d. h. das gleichförmige Handeln, als eigentlicher Entſtehungsgrund der Rechtsregel ange - ſehen, ſo daß man annimmt, es müßte ſich dieſer Entſte - hungsgrund ſtets in beſtimmte, einzeln erweisliche Hand - lungen auflöſen laſſen. Dieſer beſchränkte Geſichtspunkt konnte höchſtens auf partikuläre Gewohnheiten angewendet werden, an welche allein man auch meiſtens zu denken pflegt. Auf die großen und ſchwierigen Fälle des moder - nen Gewohnheitsrechts dagegen, worin daſſelbe mit dem wiſſenſchaftlichen Recht zuſammenfällt (§ 18. 20. ), leidet derſelbe gar keine Anwendung.

Dieſe Grundanſichten haben nun auch den größten Einfluß auf die praktiſche Behandlung der einzelnen, das Gewohn - heitsrecht betreffenden Fragen gehabt. Dieſelben betreffen theils die Bedingungen theils den Beweis theils die Wirkungen des Gewohnheitsrechts.

171§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

Die Bedingungen, die man für die Entſtehung des Gewohnheitsrechts anzunehmen pflegt, beziehen ſich durch - aus auf die Natur derjenigen einzelnen Handlungen, aus welchen man daſſelbe ſtets hervorgehen läßt (§ 28). Sie haben daher auch nur eine einſeitige Anwendbarkeit auf das partikuläre Gewohnheitsrecht, und ſelbſt bey dieſem dürfen die einzelnen Handlungen nicht eigentlich als Ent - ſtehungsgründe, ſondern vielmehr als Erſcheinungen oder Kennzeichen einer vorhandenen gemeinſamen Rechtsüber - zeugung angeſehen werden. Mit dieſen Modificationen aber kann jenen Bedingungen allerdings Wahrheit zuge - ſchrieben werden, ſo daß ſie einzeln geprüft und feſtgeſtellt werden müſſen. Es ſollen nämlich, wie man behauptet, jene Handlungen, um zur Begründung eines Gewohnheits - rechts tauglich zu ſeyn, folgende Eigenſchaften an ſich tragen.

1) Es ſollen mehrere Handlungen ſeyn. Wie viele, war lange beſtritten. Eine ſollte gewiß nicht hinreichen, Zwey in der Regel auch nicht, doch ausnahmsweiſe möch - ten ſie gelten. Endlich neigten die Meiſten dahin, Alles dem richterlichen Ermeſſen zu überlaſſen, wobey man es denn auch bewenden laſſen kann. Der Richter wird, nach der verſchiedenen Beſchaffenheit der Handlungen, bald mehr, bald weniger fordern, und dabey ſtets den Geſichts -172Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.punkt feſt halten, daß durch die Mehrheit der Handlungen der Einfluß des Individuellen und Zufälligen abgewehrt werden ſoll, welches den täuſchenden Schein einer aus gemeinſamer Rechtsüberzeugung hervorgehenden Handlung annehmen kann(a)Lauterbach I. 3. § 36, Müller ad Struv. I 3. § 20, Glück I § 86 N. I. Beſonders aber Puchta Gewohnheitsrecht II. S. 79 fg. S. 85..

2) Gleichförmige, ununterbrochene Handlungen; das heißt, die Gewohnheit wird geſtört, wenn zwiſchen jenen Handlungen andere, auf entgegengeſetzter Regel beruhende, vorgekommen ſind. Dieſe Beſtimmung iſt unbedenklich(b)Puchta II. S. 89 fg..

3) Die Handlungen ſollen ſich lange Zeit hindurch wiederholen. Die Länge der Zeit war ganz beſonders beſtritten. Einige forderten 100 Jahre, weil irgendwo einmal der Ausdruck longaevum dieſe Bedeutung hat. Weit mehrere aber dachten, nach dem Ausdruck des cano - niſchen Rechts, an die gewöhnliche Verjährungszeit, und zwar longum tempus, alſo 10 Jahre, denn von 20 Jahren ſollte nicht die Rede ſeyn, weil der Fürſt oder das Volk, gegen welche gleichſam das neue Recht erworben werde, ſtets gegenwärtig ſeyen. Nur gegen das canoniſche Recht, alſo gegen die Kirche, wurden 40 Jahre verlangt, gegen den Landesherrn eine unvordenkliche Zeit. Späterhin haben ſich die Meiſten dahin geeinigt, gar keine beſtimmte Zeit anzunehmen, ſondern Alles dem richterlichen Ermeſſen zu überlaſſen, wobey man ſich denn beruhigen kann. Auch173§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.hier, wie bey der Mehrheit der Handlungen, kommt Alles darauf an, zu verhüten, daß das Individuelle, Zufällige, Vorübergehende durch den täuſchenden Schein, den es annehmen kann, fälſchlich als Kennzeichen einer zum Grund liegenden gemeinſamen Rechtsüberzeugung angeſe - hen werde(c)Puchta II. S. 93 fg..

4) Daß zu ſolchen Handlungen beſonders auch rich - terliche Urtheile tauglich ſeyen, war allgemein anerkannt. Dagegen behaupteten Manche, ſolche Urtheile ſeyen zu einem Gewohnheitsrecht ganz unentbehrlich, was jedoch von den Meiſten mit Recht verworfen wurde(d)Lauterbach I 3. § 35, Müller ad Struv. I 3. § 20, Glück I § 86 N. V. Guilleaume a. a. O. § 31. Beſonders Puchta II. S. 31 fg.. Allein ganz unbedingt kann ich ſelbſt die Zuläſſigkeit der Ur - theile zu dieſem Zweck nicht einräumen. Es gilt viel - mehr von denſelben das, was oben (§ 20) von den prak - tiſchen Arbeiten der Juriſten überhaupt, mit Unterſchei - dung der Fälle, geſagt worden iſt. Sind alſo die Ur - theile namentlich auf ein Gewohnheitsrecht gegründet, ſo gelten ſie als wichtige Zeugniſſe für deſſen Daſeyn. Eben ſo, wenn ſie auch nur eine Rechtsregel überhaupt als wahr und gewiß anerkennen, ohne ſich über deren Her - kunft beſtimmter auszuſprechen. Anders wenn ſie eine Rechtsregel aus theoretiſchen Gründen, und zwar aus einer falſchen Theorie, herleiten: denn nun haben ſie ſelbſt nur den Character der Theorie, und es läßt ſich aus ihnen174Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.das Daſeyn jener Regel in dem gemeinſamen Rechtsbe - wußtſeyn nicht erkennen.

5) Vornahme der Handlung in dem Gefühl rechtlicher Nothwendigkeit (necessitatis opinio). Wenn alſo Viele, auf dieſelbe Weiſe, und längere Zeit hindurch, bloße Frey - gebigkeit geübt haben, ſo kann daraus nie ein Gewohn - heitsrecht entſtehen, weil die Geber wie die Empfänger ſtets einſahen, daß die Handlung willkührlich ſey, und eben ſo auch unterbleiben oder anders eingerichtet werden könnte. Dieſe Bedingung iſt unter allen die wichtigſte, und ihre Bedeutung wird in Verbindung mit den gleich folgenden noch beſtimmter hervortreten. Die Stellen des Römiſchen Rechts, worin ſie ausdrücklich anerkannt wird, ſind ſchon oben (§ 25 Note d.) angegeben worden. Aus dieſem Grund eignen ſich vorzugsweiſe richterliche Urtheile zur Erkenntniß eines Gewohnheitsrechts, indem ſie nur aus der Rechtsüberzeugung des Richters, nicht aus Will - kühr, hervorgehen können. Weniger die Verträge, wel - chen ſtets ein willkührliches Element inwohnt. Dennoch können auch ſie als Erkenntnißmittel eines Gewohnheits - rechts dienen, inſofern ſie eine Rechtsregel entweder als wahr vorausſetzen, oder blos beſtätigend in ſich auf - nehmen(e)Puchta II. S. 33 fg..

6) Die Handlungen ſollen nicht auf Irrthum beruhen. Dieſe Bedingung hatte eine ausdrückliche Anerkennung des Römiſchen Rechts für ſich(f)S. u. Note l. , aber man verwickelte ſich175§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.damit in einen unauflöslichen Widerſpruch. Denn die Rechtsregel ſollte ja erſt durch die Gewohnheit entſtanden ſeyn, war alſo zur Zeit der erſten Handlung gewiß noch nicht vorhanden. Dennoch ſollte, nach der vorigen Regel, ſchon die erſte Handlung von der necessitatis opinio be - gleitet ſeyn. Folglich beruhte dieſelbe auf einem Irrthum, und durfte bey der Entſtehung des Gewohnheitsrechts gar nicht mitgezählt werden. Daſſelbe aber gilt auch von der zweyten Handlung, die nun erſte wird, und von der drit - ten und allen folgenden. Die Bildung eines Gewohnheits - rechts iſt daher, wenn man nicht eine jener Bedingungen aufgiebt, ganz unmöglich. Der Widerſpruch iſt hier ſo augenſcheinlich, daß auch in der That Einige den Irr - thum nicht nur zugelaſſen, ſondern ganz conſequent als nothwendig mit jedem Gewohnheitsrecht verbunden ange - ſehen haben, ohne zu bedenken, daß dieſe Anſicht mit dem Ausſpruch des Celſus nicht vereinbar iſt(g)Schweitzer de desuetu - dine p. 78. (Hübner) Berich - tigungen und Zuſätze zu Höpf - ner S. 164. Dieſer ſucht ſich mit L. 39 de leg. dadurch abzufinden, daß er ſie auf irrige Geſetzaus - legung beſchränkt, und dieſer die Kraft eines Gewohnheitsrechts abſpricht. Allein erſtens muß dieſe Einſchränkung willkührlich in die Stelle hineingetragen wer - den; und zweytens, wenn jeder andere Irrthum die Entſtehung eines wahren Gewohnheitsrechts nicht hindert, warum denn dieſer?. Von un - ſerm Standpunkt aus entſteht gar kein Widerſpruch, da die Rechtsregel durch die Gewohnheit nur offenbart, nicht erzeugt wurde, folglich ſchon bey der erſten erweislichen einzelnen Handlung die necessitatis opinio ohne allen Irr -176Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.thum vorhanden ſeyn konnte und mußte. Indeſſen iſt dieſe Bedingung nicht ohne alle Einſchränkung als wahr anzunehmen. Wenn z. B. neben der wirklich vorhandenen Volksüberzeugung der theoretiſche Irrthum nur als eine äußere Beſtärkung gedient hat (§ 20), ſo ſteht der Irrthum nicht im Wege. Eben ſo iſt es auch, wenn die Handlung eine ſo äußerliche und an ſich gleichgültige Natur hat, daß dabey von einer inneren Überzeugung eigentlich nicht die Rede ſeyn kann. So z. B. kann es jetzt als ausge - macht angeſehen werden, daß ſich ſeit dem Mittelalter eine, dem Römiſchen Recht fremde Form in die Unterſchriften und Siegel der Zeugen irrigerweiſe eingeſchlichen hat. Dieſe urſprünglich irrige Form iſt durch den langen, völlig gleichförmigen Gebrauch in der That zu einer Rechtsform geworden(h)Über den Irrthum bey Gewohnheiten vgl. Puchta II. S. 62 fg..

7) Die Handlungen ſollen vernunftgemäß (rationabiles) ſeyn. Die Stellen des canoniſchen Rechts, woraus dieſe Bedingung abgeleitet wird, ſind ſchon oben angeführt wor - den (§ 25 Note z.). Nimmt man dieſe Bedingung in einem poſitiven Sinn, als Zweckmäßigkeit und Heilſam - keit der in der Gewohnheit ausgedrückten Regel, ſo iſt es ſehr bedenklich für die Rechtsgewißheit, dem Richter das Urtheil über eine ſo wenig beſtimmbare Eigenſchaft zu überlaſſen. Daher wird ſie denn auch häufiger in einem blos negativen Sinn aufgefaßt, ſo daß dadurch nur die ganz widerſinnigen, dem ſittlichen Gefühl widerſtre -177§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.benden Gewohnheiten abgewehrt werden ſollen(i)Glück 1 § 86 N. III. Vgl. beſonders Puchta II. S. 49 fg.. Für dieſe, praktiſch wenig bedenkliche Deutung ſcheint eine Stelle der peinlichen Gerichtsordnung zu ſprechen, worin eine Anzahl von böſen unvernünftigen Gewohnheiten an - gegeben und misbilligt wird(k)C. C. C. art. 218: .... als wir dann auß Kayſerlicher macht die ſelben hiemit auffheben, vernichten und abthun, und hin - fürter nit eingefürt werden ſol - len. Dieſe Stelle kann um ſo weniger für eine allgemeine Beſtimmung über die bleibende Natur des Gewohnheitsrechts gelten, als in ihr die Erwäh - nung der Gewohnheiten zum Theil nur zufällig iſt. Denn ei - nige der von ihr aufgehobenen Rechtsſätze gründeten ſich gar nicht auf Gewohnheiten, ſondern auf Landesgeſetze. Jene Stelle alſo ging darauf aus, im Straf - recht das Verhältniß des allge - meinen zum partikulären Rechte feſtzuſtellen, nicht das davon we - ſentlich verſchiedene Verhältniß des geſchriebenen zum ungeſchrie - benen Recht.. Allein in dieſer Stelle wird nicht etwa das Princip aufgeſtellt, worauf es hier ankommt, daß die unvernünftigen Gewohnheiten an ſich ungültig, und zur Bildung eines Rechtsſatzes untauglich ſeyen: vielmehr findet es der Kaiſer nöthig, ſie aus ſeiner Macht aufzuheben, was alſo ihre Rechtsgültigkeit bis zu dieſer Aufhebung vorausſetzt, wenn man nicht in dem Geſetz einen höchſt ungenauen Ausdruck annehmen will.

Faßt man dieſe drey letzten Bedingungen als ein Gan - zes auf, ſo ergiebt ſich daraus folgender, aus dem Weſen des Gewohnheitsrechts hervorgehender Sinn. Die Rechts - regel entſteht durch das gemeinſame Rechtsbewußtſeyn, oder durch die unmittelbare Überzeugung von der Wahr - heit und an ſich ſelbſt (ohne äußere Sanction) bindenden12178Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.Kraft der Regel. Dieſe Überzeugung kann ſich offenbaren durch gleichförmige einzelne Handlungen, das heißt durch Gewohnheit. Dann müſſen aber dieſe Handlungen nicht von dem Bewußtſeyn der Willkührlichkeit begleitet ſeyn, wie z. B. Freygebigkeit, oder auch ein häufig vorkommen - des Verbrechen, bey welchem ja kein Handelnder an ſei - nem Unrecht, alſo an der individuellen Willkühr ſeines Thuns zweifelt. Sie dürfen aber eben ſo wenig aus einem erweislichen Irrthum hervorgehen, denn auch in dieſem Fall liegt in ihnen nicht der Ausdruck jener unmittelbaren Überzeugung, worauf allein Alles ankommt(l)L. 39 de leg. (1. 3.) Quod non ratione introductum, sed errore primum, deinde consue - tudine obtentum est: in aliis similibus non obtinet. Das heißt: wenn die Gewohnheit aus - ging nicht von einer gemeinſa - men Rechtsüberzeugung, ſondern ſogar erweislich von einem Irr - thume (der jene Überzeugung nothwendig ausſchließt), ſo iſt deshalb kein Gewohnheitsrecht anzunehmen, und wir finden alſo darin keinen Grund, die künfti - gen Fälle gleicher Art nach die - ſer Regel zu beurtheilen.. Ein ſehr erläuterndes Beyſpiel iſt es, wenn etwa der Richter aus Verſehen eine ungloſſirte Stelle des Juſtinianiſchen Rechts zur Anwendung bringt, blos weil in ſeiner Ausgabe ſolche Stellen nicht augenſcheinlich von den anderen unterſchieden ſind (§ 17); thun ihm das auch Mehrere nach, ſo entſteht daraus dennoch kein Gewohnheitsrecht. Betrachten wir alſo den Irrthum und die Unvernünftigkeit blos als ſolche Eigenſchaften des Handelns, wodurch es unfähig wird, zur Anerkennung eines Gewohnheitsrechts mitzuwirken, ſo erſcheint die Bedingung ihrer Abweſenheit nicht als179§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.verſchieden von der allgemeinen Bedingung der necessita - tis opinio, ſondern als eine bloße Folge oder Entwicklung derſelben. Da auf dieſem Punkt die richtige Einſicht in die Natur des Gewohnheitsrechts hauptſächlich beruht, ſo wird es nicht überflüſſig ſeyn, das hier Geſagte durch einige Beyſpiele zu erläutern. Das Römiſche Recht ver - bietet, Zinſen von Zinſen zu nehmen. Wenn nun an einem Ort dieſe Art des Wuchers ſehr gewöhnlich wäre, aber ſtets künſtlich verſteckt würde, ſo könnte ſchon deswegen kein Gewohnheitsrecht angenommen werden, weil aus der Verheimlichung die Abweſenheit der rechtlichen Überzeu - gung klar wäre. Dagegen iſt es in dem Handelsſtand allgemein üblich, am Ende eines Jahres, zuweilen ſelbſt eines kürzeren Zeitraums, Abſchlüſſe zu machen, und den Saldo auf neue Rechnung zu übertragen, da er dann ſogleich wieder Zinſen trägt, obgleich er ſelbſt zum Theil aus Zinſen des abgeſchloſſenen Zeitraums beſteht. Das iſt der Regel des Römiſchen Rechts allerdings entgegen, aber es geſchieht offen und allgemein, und kann gar nicht anders ſeyn, ohne die Einfachheit der Rechnungsführung zu ſtören: auch paßt der Zweck des Römiſchen Verbots auf dieſen Fall gar nicht. Hier iſt alſo das Verbot durch eine allgemeine Gewohnheit des Handelsſtandes abgeſchafft, wobey es gar nicht darauf ankommt, wie viele Einzelne ſich von dieſem Zuſammenhang der Sache Rechenſchaft geben mögen: denn Alle handeln ſo im Gefühl der Noth - wendigkeit und Rechtmäßigkeit ihres Verfahrens. Faſ -12*180Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.ſen wir nun aber dieſe Bedingungen des Gewohnheits - rechts ſo auf, wie es hier dargeſtellt worden iſt, ſo erſchei - nen dieſelben nicht blos auf einzelne Handlungen und partikuläre Gewohnheiten anwendbar, ſondern auch auf das noch wichtigere allgemeine Gewohnheitsrecht der neue - ren Zeiten. Denn der Unterſchied, welcher oben in dem praktiſchen Recht gemacht worden iſt, je nachdem es aus einer falſchen Theorie hervorgieng, oder aber aus der Beachtung der veränderten Zuſtände und Bedürfniſſe (§ 20) dieſer Unterſchied iſt in der That nichts Anderes, als die Anwendung des hier entwickelten Grundſatzes. Die fal - ſche Theorie iſt ein errore, non ratione obtentum, und daher unfähig, als Gewohnheitsrecht zu gelten und zu wirken: die aus dem Bedürfniß unſerer Verhältniſſe her - vorgegangene Praxis dagegen hat die ratio, die nesessi - tatis opinio, zur Grundlage, und muß daher als wahres Gewohnheitsrecht gelten, ſelbſt wenn in die Verſuche einer theoretiſchen Rechtfertigung derſelben auch mancher hiſto - riſche Irrthum eingemiſcht ſeyn ſollte.

8) Endlich ſtellen Manche noch als eine beſondere, ſelbſtſtändige Bedingung, die Publicität der einzelnen Hand - lungen auf. Allerdings kann manche einzelne Handlung durch ihre Öffentlichkeit zur Darlegung eines Gewohn - heitsrechts beſonders tauglich, manche andere durch ihre Verſtecktheit dazu ungeſchickt werden, wie es eben an eini - gen Beyſpielen nachgewieſen worden iſt. Das liegt darin, daß die Handlung durch dieſe Umſtände mehr oder weniger181§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.fähig wird, Kennzeichen einer zum Grund liegenden Rechts - überzeugung zu ſeyn. Diejenigen aber, welche der Pu - blicität eine eigenthümliche Wichtigkeit beylegen, gehen dabey entweder von dem consensus populi oder dem con - sensus principis aus, alſo von einem Grundirrthum über das Weſen des Gewohnheitsrechts (§ 28). Nach dieſer Auffaſſung kann daher die allgemeine Forderung der Pu - blicität der Handlungen gar nicht eingeräumt werden(m)Puchta II. S. 40 fg..

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

Wenn wir von dem Beweiſe eines Gewohnheitsrechts in praktiſcher Beziehung reden, ſo denken wir dabey an einen Rechtsſtreit, worin eine Partey jenes Recht für ſich geltend macht; wir fragen, wie der Richter zur Überzeu - gung von demſelben gelange. Eine befriedigende Antwort auf dieſe Frage iſt aber nur möglich, wenn wir zuvor die allgemeinere Frage unterſuchen, wie überhaupt (ohne Rückſicht auf einen Richter) die Erkenntniß von dem Da - ſeyn und Inhalt eines Gewohnheitsrechts entſtehe(a)Vgl. überhaupt Puchta Gewohnheitsrecht II. Buch 3 Kap. 3.4..

Denken wir zunächſt an die Mitglieder derjenigen Ge - noſſenſchaft, in welcher das Gewohnheitsrecht entſtanden iſt, und fortdauernd lebt und wirkt (§ 7. 8. ), ſo beant - wortet ſich die Frage von ſelbſt; ihre Erkenntniß iſt eine182Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.unmittelbare, da das Weſen jenes Rechts eben auf dem gemeinſamen Rechtsbewußtſeyn dieſer Mitglieder be - ruht. Inſofern kann man ſagen, daß jedes Gewohnheits - recht auf Notorietät beruht(b)L. 36 de leg. (1. 3.) Immo magnae auctoritatis hoc jus habetur, quod in tantum probatum est, ut non fuerit necesse scripto id comprehen - dere. . Man wende nicht ein, daß dieſes zu viel beweiſe, indem nun niemals über ein Gewohnheitsrecht geſtritten und Beweis verlangt werden könne. Alles kommt darauf an, für wen und in welchem Kreiſe Etwas notoriſch iſt. Nichts iſt notoriſcher in jedem Volk, als ſeine geſammte Sprache; und doch wird der Fremde, der ein Land betritt, von dieſer Sprache viel - leicht kein Wort verſtehen. Eben ſo iſt es mit dem Ge - wohnheitsrecht für Diejenigen, die außer dem Kreiſe jenes gemeinſamen Rechtsbewußtſeyns ſtehen, und deren Erkennt - niß des Gewohnheitsrechts daher nur eine mittelbare oder künſtliche ſeyn kann. Nur dürfen wir dabey nicht blos an Fremdlinge denken, denn es gehören dahin gewiß auch alle Unmündige, und für viele Rechtsſätze auch die Frauen. Alſo auch innerhalb des Volks, in welchem das Gewohnheitsrecht beſteht, müſſen wir die Wiſſenden oder Kundigen von denjenigen unterſcheiden, die an dem gemein - ſamen Rechtsbewußtſeyn nicht wirklichen Antheil nehmen, deren Rechtsverhältniſſe aber nicht minder unter dem Ge - wohnheitsrecht ſtehen. Ja die Anzahl dieſer Kundigen wird ſehr verſchieden ſeyn können je nach dem Inhalt183§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.der einzelnen Rechtsregeln, und je nach der Sinnesart und Bildungsſtufe des Volks; für eigentliche Juriſten ſind ſolche des Gewohnheitsrechts Kundige in keinem Fall zu halten. Auf einem ſolchen Zuſtand unmittelbarer Erkennt - niß des Gewohnheitsrechts beruhte das altgermaniſche In - ſtitut der Schöffengerichte, die aus Kundigen zuſammen - geſetzt waren.

Es iſt nun ferner anzugeben, wie für Diejenigen, die außer dem Kreiſe der Kundigen ſtehen, die ihnen allein zugängliche mittelbare Erkenntniß des Gewohnheitsrechts entſtehen könne, zu deren Erwerb ſie bald durch das eigene Intereſſe an ihren Rechtsverhältniſſen, bald durch das uneigennützige Bedürfniß der Belehrung, angetrieben wer - den können. Sie können dieſe Erkenntniß erlangen erſtlich durch einzelne Fälle der Übung, und wie dieſe beſchaffen ſeyn müſſen, um zu einem ſolchen Zweck tauglich zu ſeyn, iſt bereits beſtimmt worden (§ 29). Zweytens durch das Zeugniß Derjenigen, die als Kundige eine unmittelbare Erkenntniß haben. Ein ſolches Zeugniß kann geſucht und gegeben werden für das vorübergehende Bedürfniß einer einzelnen, in der Gegenwart wichtigen Rechtsfrage; es kann aber auch in Aufzeichnungen niedergelegt ſeyn, deren Wirkſamkeit eine größere Ausdehnung und Dauer hat.

Solche Zeugniſſe für ein einzelnes Vedürfniß der Ge - genwart waren die von den alten Schöffen ausgeſtellten Weisthümer(c)Eichhorn deutſches Privatrecht §. 5. 14. 26. Manche. Auch den Römern war ein ſolches Ver -184Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.fahren nicht fremd, welches ſich aus folgendem merkwür - digen Fall ergiebt. Juſtinian war gebeten worden, über das foenus nauticum (bey uns Bodmerey genannt), ein neues Geſetz zu geben. Er befahl einem Beamten, ſolche Perſonen, die dieſes Gewerbe betrieben, über die darin beobachteten Rechtsregeln eidlich als Zeugen zu verneh - men, und in Gemäßheit dieſer Ausſagen erließ er ein Ge - ſetz, wodurch der Inhalt der erkundeten Gewohnheiten beſtätigt wurde(d)Nov. 106. Vgl. Puchta I. S. 116. II. S. 133.. Wie ſelbſt in unſrer Zeit eine ſolche Erforſchung des Gewohnheitsrechts durch das Bedürfniß einzelner Fälle veranlaßt werden könne, wird ſogleich be - merkt werden, da wo von dem Verhalten des Richters in Beziehung auf ein zweifelhaftes Gewohnheitsrecht die Rede ſeyn wird.

Unter die Aufzeichnungen, die ein Gewohnheitsrecht auch für weitere Kreiſe und für künftige Zeiten bezeugen, gehören zuerſt auch viele Weisthümer, die nicht durch das Bedürfniß eines einzelnen Falles veranlaßt waren. Fer - ner gehören dahin größtentheils die alten Völkergeſetze, die ſpäteren Rechtsbücher, die Deutſchen Stadt - und Land - rechte, die Statuten Italieniſcher Städte, und die Franzö -(c)möchten glauben, ein ſolches Ver - fahren ſey nur in ſo einfachen Zeiten, wie die der alten Schöf - fen waren, möglich, nicht in un - ſrer Zeit. Zur Widerlegung dient England, wo man noch in un - ſren Tagen ſehr geübt iſt in der Erforſchung von Volkszuſtänden aller Art, durch Vernehmung von Sachkundigen der verſchie - denſten Stände. Die dort übli - chen Formen könnten theilweiſe auch bey uns angewendet werden, da wo es auf die Feſtſtellung ei - nes Gewohnheitsrechts ankommt.185§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.ſiſchen Coutumes. Allerdings findet ſich in dieſen ver - ſchiedenartigen Sammlungen nicht ſelten geſetzliches Recht zur Ergänzung eingemiſcht; ganz beſonders aber haben ſie ſpäter in ähnlicher Art wie eigentliche Geſetze gewirkt, ſo daß darüber ihre urſprüngliche Beſtimmung, als auf - gezeichnetes Gewohnheitsrecht zu gelten, großentheils in Vergeſſenheit gerathen iſt.

Es wäre zu wünſchen, daß in dem Geiſt dieſer Samm - lungen früherer Zeit auch noch jetzt für die Verbreitung und Erhaltung des beſtehenden Gewohnheitsrechts geſorgt würde. Dieſes iſt die wahre Aufgabe der ſogenannten Provinzialgeſetzbücher, die ſich von allgemeinen Geſetzbü - chern beſonders dadurch unterſcheiden, daß ſie nicht, wie dieſe, über das ganze Rechtsſyſtem Rede zu ſtehen haben, ſondern nur über ſolche Gegenſtände, worüber die Ver - faſſer gerade jetzt Etwas wiſſen, ſo daß ſie den Stoff mit ihrem Denken völlig beherrſchen. Bedenklich aber iſt es, eine ſolche Arbeit als etwas Augenblickliches, Abgeſchloſſe - nes zu behandeln, ſo wie ein gewöhnliches Geſchäft, das jetzt fertig werden muß; beſſer, wenn ſie als etwas all - mälig Fortſchreitendes, in ſich Wachſendes, mit höheren Gerichten in Verbindung gebracht wird. Aller Erfolg beruht dabey auf der rechten Auswahl der Arbeiter, in welchen zwey mögliche Einſeitigkeiten verderblich werden können: die Vorliebe für die Centraliſation und Unifor - mität des Rechts, wodurch allerdings die Bequemlichkeit der Richter, und die Aufſicht auf die Geſchäftsmaſchine186Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.ſehr befördert wird; auf der andern Seite aber die Lieb - haberey an dem Eigenthümlichen und Alterthümlichen als ſolchem. Dieſe Liebhaberey iſt ſchön und gut, aber die eigentliche Wahrhaft iſt doch ſchöner, und die Sorge für das Bedürfniß der lebendigen Gegenwart iſt doch beſſer. Soll nun eine ſolche Arbeit wahrhaft gelingen, ſo muß ſie in derſelben Weiſe unternommen werden, wie vormals die Weisthümer abgefaßt wurden; insbeſondere iſt dabey die ſorgfältige Erkundigung auch bey Nichtjuriſten nicht zu verſchmähen, bey welchen oft, neben dem Mangel an wiſſenſchaftlicher Bildung, die anſchaulichſte Kenntniß von dem Weſen der Rechtsverhältniſſe ſelbſt anzutreffen ſeyn wird (Note c).

Von dieſer allgemeinen Betrachtung über die verſchie - denen Arten, zur Erkenntniß eines Gewohnheitsrechts zu gelangen, gehen wir jetzt über zu der beſondern Lage eines Richters, der nach einem ſolchen Recht zu urtheilen hat. Hierüber iſt folgende Anſicht ſehr verbreitet. Das Ge - wohnheitsrecht ſey eine Thatſache, wie jede andere, die zur Begründung eines Rechts gehöre, z. B. das Daſeyn eines Vertrags oder Teſtaments. Der Richter nehme keine Thatſache an, die ihm nicht von einer Partey ange - führt und bewieſen werde; daher gelte über die Beweis - laſt, und über die Führung des Beweiſes, in Beziehung auf das Daſeyn eines Gewohnheitsrechts, alles Dasje - nige, was in Beziehung auf andere Thatſachen, wie Ver - träge und Teſtamente, von Keinem bezweifelt werden187§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.könne. Allerdings haben Manche dieſe Anſicht in der Anwendung gemildert, und dadurch das Bedenkliche der - ſelben vermindert; ſie muß aber vielmehr von Grund aus verworfen werden(e)Puchta I. S. 105. II. S. 151 fg. Vgl. auch Lange Begrün - dungslehre des Rechts, Erlangen 1821. § 16..

Jedes Rechtsverhältniß hat eine zwiefache Grundlage, eine allgemeine und eine beſondere: jene iſt die Rechtsre - gel, dieſe beſteht in den Thatſachen, wodurch die Anwen - dung der Regel auf den einzelnen Fall vermittelt wird (§ 5). Die Rechtsregel kann und ſoll der Richter kennen (jus novit curia), von den Thatſachen kann und darf er Nichts wiſſen, ſo lange nicht eine Partey ſie ihm ange - führt und zur Überzeugung gebracht hat. Dieſer Gegen - ſatz bleibt derſelbe, die Rechtsregel mag nun aus Geſetzen, aus dem Gewohnheitsrecht, oder der Wiſſenſchaft hervor - gegangen ſeyn. Jene Lehre alſo beruht auf einer Ver - wechslung beider Grundlagen des Rechtsverhältniſſes, indem ſie auf die Erkenntniß der Rechtsregel Dasjenige überträgt, was nur von der Erkenntniß der beſonderen Thatſachen des einzelnen Falles wahr iſt; denn von die - ſen allein gilt die bemerkte Nothwendigkeit des Beweiſes nach beſtimmten Prozeßregeln, und eben um dieſe wich - tige Eigenthümlichkeit derſelben zu bezeichnen, nennen wir ſie allein Thatſachen, wenn wir dieſen Ausdruck im techniſchen Sinn gebrauchen. Dadurch erhält dieſer Aus - druck, wie es bey jeder techniſchen Beſchränkung geſchieht,188Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.eine zweydeutige Natur, und dieſe Zweydeutigkeit hat die erwähnte Verwechslung erzeugt oder doch befeſtigt. Denn in einem allgemeineren Sinn kann man allerdings auch die Entſtehung des Gewohnheitsrechts eine Thatſache nen - nen, und das geſchieht eben von den Vertheidigern jener Lehre. Wollten ſie aber hierin conſequent bleiben, ſo müßten ſie daſſelbe Verfahren auch auf die Geſetze anwen - den; denn auch das Geſetz beruht auf der Thatſache der Promulgation, und der Richter dürfte alſo kein Geſetz zur Anwendung bringen, deſſen Daſeyn und Inhalt ihm nicht von einer Partey angegeben und bewieſen wäre. Dieſes aber iſt wohl noch von Keinem behauptet worden, obgleich hierin Geſetz und Gewohnheitsrecht, von dem Standpunkt allgemeiner Betrachtung aus, vollkommen gleiche Natur haben. Wollte man insbeſondere die hier dargeſtellte Lehre (welches auch ihre innere Wahrheit ſeyn möchte) aus dem Römiſchen Recht zu begründen verſu - chen(f)So ſcheint es anzuſehen Eichhorn deutſches Privatrecht § 26., ſo könnte auch dieſes nicht zugegeben werden, da in der That das Römiſche Recht über den Beweis des Gewohnheitsrechts keine Vorſchriften aufſtellt.

Dennoch iſt in dieſer, der Hauptſache nach irrigen, Lehre ein wahres Element enthalten, und nur indem wir dieſes aner - kennen, und in ſeine wahren Gränzen einſchließen, dürfen wir hoffen, den damit vermiſchten Irrthum völlig zu beſeitigen(g)Vgl. Puchta Gewohnheits - recht II. S. 165 fg.. 189§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.Unſer Rechtszuſtand iſt ein künſtlicher geworden; wir for - dern von dem Richter ein wiſſenſchaftliches Rechtsſtudium, über welches er ſich durch beſtimmte Prüfungen ausweiſen muß, und dadurch wird ſeine Stellung eine ganz an - dere als die der alten Schöffen war. Dieſe legten bey jedem Rechtsſtreit Zeugniß ab von dem im Volk lebenden Recht, deſſen unmittelbares Bewußtſeyn ihnen beywohnte wie allen Übrigen, nur vielleicht durch größere Übung reiner und vollſtändiger als Anderen. Indem wir von dem heutigen Richter auf einer Seite weit mehr for - dern, als von jenen gefordert wurde, müſſen wir auf der anderen Seite unſere Forderungen herabſtimmen. Er ſoll urtheilen mit Hülfe der nicht ohne Aufwand vieler Kräfte erworbenen Wiſſenſchaft, daher können wir nicht erwar - ten, daß er auch durch das Leben im Volke ein unmit - telbares Rechtsbewußtſeyn, gleich den alten Schöffen, erworben haben werde(h)Theilweiſe gründet ſich dieſe Verſchiedenheit allerdings auf den Umſtand, daß wir ein fremdes Recht angenommen ha - ben, welches ſeiner Natur nach ſtets ein gelehrtes Studium - thig macht; dennoch wäre es ir - rig, hierin auch nur den Haupt - grund zu ſuchen. Die Engländer haben kein fremdes Recht, aber die Maſſe ihrer Parlamentsacte und Präjudicien iſt ſo ungeheuer, daß die nothwendige Kenntniß derſelben dem heutigen Engli - ſchen Richter, eben ſo wie bey uns das Studium des Römiſchen Rechts, einen völlig verſchiedenen Character von dem der alten Schöffen giebt.. Daraus folgt nun, daß unſer heutiger Richter ſich anders verhalten muß zu dem Theil des Rechts, welcher aus Geſetz oder Wiſſenſchaft, anders zu dem, welcher aus Gewohnheitsrecht hervorgegangen190Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.iſt. Das geſetzliche und wiſſenſchaftliche Recht kann und ſoll er kennen, und er verletzt ſeine Amtspflicht, wenn er aus Unkenntniß deſſelben unrichtig urtheilt; mit dem Ge - wohnheitsrecht ſteht es für ihn nicht alſo. Die Partey folglich, die ſicher ſeyn will, daß nicht zu ihrem Schaden eine Regel des Gewohnheitsrechts überſehen werde, muß dieſe Regel dem Richter anzeigen, und zugleich zur Über - zeugung bringen; verſäumt ſie jenes, oder mislingt ihr dieſes, ſo hat ſie ſich ſelbſt den Nachtheil zuzuſchreiben, und den Richter trifft im Allgemeinen kein Vorwurf.

Hierin alſo liegt die unverkennbare praktiſche Ähnlich - keit zwiſchen dem Gewohnheitsrecht und den eigentlichen, wahren Thatſachen; denn auch dieſe müſſen allegirt und bewieſen werden. Dennoch iſt dieſe Ähnlichkeit ſehr ver - ſchieden von gänzlicher Übereinſtimmung, indem nämlich folgende ſehr wichtige praktiſche Verſchiedenheiten daneben beſtehen(i)Puchta Gewohnheitsrecht II. S. 169. 176. 187 fg.. Die Thatſache darf der Richter niemals ſup - pliren, wenn nicht eine Partey ſie vorbringt; das Ge - wohnheitsrecht darf und ſoll er beachten, wenn er auch nur zufällig Kenntniß davon hat. Die Thatſache muß in beſtimmten Zeitpunkten des Rechtsſtreits vorgebracht, und nach beſtimmten Regeln und Formen des Prozeſſes bewieſen werden; das Gewohnheitsrecht kann in jeder Lage des Rechtsſtreits auf die Beurtheilung Einfluß be - kommen, und über die Art der Beweisführung hat dabey der Richter ganz freye Macht. Das Gewohnheitsrecht191§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.iſt alſo hierin völlig ähnlich den ausländiſchen Geſetzen, von welchen die Entſcheidung manches Rechtsſtreits ab - hängig ſeyn kann. Ihre Kenntniß wird von dem Richter nicht gefordert, und die Partey muß ſie angeben und beweiſen, ganz wie es hier von dem Gewohnheitsrecht bemerkt worden iſt, alſo auch ohne daß ſie dadurch mit eigentlichen Thatſachen völlig auf gleiche Linie treten.

Kommt es alſo in einem Rechtsſtreit auf ein Gewohn - heitsrecht an, ſo wird der Richter, um darüber Gewiß - heit zu erlangen, nach freyer Erwägung der Umſtände zu verfahren haben. Er kann ſeine Überzeugung ſchöpfen aus einzelnen Fällen der Übung einer Rechtsregel, und die nothwendige Beſchaffenheit ſolcher Fälle iſt ſchon oben feſtgeſtellt worden (§ 29). Er kann aber auch ſolche Per - ſonen, die des Gewohnheitsrechts unmittelbar kundig ſind, über deſſen Inhalt vernehmen, die dann nicht ſowohl als Zeugen, denn als Sachverſtändige betrachtet werden müſ - ſen, da ſie nicht über einen Gegenſtand ſinnlicher Wahr - nehmung befragt werden(k)Puchta II. S. 125 fg. S. 135 fg. Er führt auch frühere Schriftſteller an, die dieſes Ver - fahren billigen. Vgl. oben Note c. . Es wäre nicht richtig, die - ſes Verfahren als unmittelbare Anwendung des Juſtinia - niſchen Geſetzes, welches davon redet, zu betrachten (Note d); denn Juſtinian ſagt nicht, was der Richter thun ſolle, um ein Gewohnheitsrecht zu erfahren, ſondern was er ſelbſt gethan habe, um in einem beſtimmten Fall192Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.ein dem Gewohnheitsrecht entſprechendes Geſetz vorzube - reiten. Indem aber der Richter dieſes Beyſpiel befolgt, handelt er gewiß im Geiſt unſrer Geſetze, und inſofern kann auch die angeführte Novelle als Rechtfertigung dieſes Verfahrens dienen. Geſetzt, dieſelbe Regel des Ge - wohnheitsrechts, die jetzt in einem Rechtsſtreit angeführt und beſtritten wird, wäre ſchon in einem früheren Rechts - ſtreit geltend gemacht worden, und es hätte ſie derſelbe oder ein anderer Richter, nach ſorgfältiger Prüfung, als wahr anerkannt, ſo wäre dieſes frühere Urtheil eine wich - tige Autorität, gleichſam ein amtliches Zeugniß, wodurch die gegenwärtige neue Erforſchung erleichtert oder ganz entbehrlich gemacht werden könnte; um ſo mehr, als in jenem früheren Rechtsſtreit der Widerſpruch des Gegners die Aufmerkſamkeit des prüfenden Richters geſchärft haben muß. Daher giebt Ulpian mit Recht dem Richter den Rath, vor Allem nach ſolchen früheren Präjudicien über das gegenwärtig beſtrittene Gewohnheitsrecht Erkundigung anzuſtellen(l)L. 34 de leg. (1. 3.) Cum de consuetudine civitatis vel provinciae confidere quis vide - tur: primum quidem illud ex - plorandum arbitror, an etiam contradicto aliquando judicio consuetudo firmata sit. Vgl. Puchta I. S. 96. II. S. 129 fg. Mit Unrecht haben Manche hieraus die Nothwendigkeit richterlicher Urtheile zur Begrün - dung eines Gewohnheitsrechts herleiten wollen (§ 29)..

Wir dürfen jedoch nicht vergeſſen, daß dieſe etwas abweichende Behandlung des Gewohnheitsrechts, in Ver - gleichung mit anderen Rechtsquellen, nicht in dem Weſen193§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.jenes Rechts ſelbſt ihren Grund hat, ſondern in den un - vermeidlichen Unvollkommenheiten unſres Rechtszuſtandes, die wir nicht zu verantworten haben, wohl aber ausglei - chen müſſen, ſo gut wir können. Daher iſt es nöthig, den Fall dieſer Abweichungen, die ſtets als Nothhülfe an - zuſehen ſind, in ſo enge Gränzen als möglich einzuſchlie - ßen. Es kann nun davon nicht die Rede ſeyn, zuvörderſt bey den dem gemeinen Recht angehörenden Gewohnheiten. Denn dieſe ſind ohne Ausnahme durch das Medium wiſ - ſenſchaftlicher Verarbeitung und Anerkennung hindurch gegangen, und tragen alſo den volksmäßigen Character nicht an ſich, der den Grund der hier dargeſtellten Schwie - rigkeit ausmacht. Wenn alſo eine Partey, mit dem Wi - derſpruch des Gegners, behauptet, daß das nudum pactum eine Klage bewirke, oder daß die leges restitutae im Co - dex, imgleichen die publiciſtiſchen Sätze des Römiſchen Rechts, keine praktiſche Geltung haben, ſo ſind dieſes zwar Sätze des allgemeinen Gewohnheitsrechts; aber kein Richter wird darüber ein Beweisverfahren anſtellen, durch Aufſuchung einzelner Fälle der Übung jener Sätze, oder durch Abhörung kundiger Zeugen über dieſelben. Da - durch beſchränkt ſich alſo die Anwendung jener Abwei - chungen auf das partikuläre Gewohnheitsrecht. Aber auch in dieſem wird ſie wegfallen, wenn durch die oben als wünſchenswerth dargeſtellten Maaßregeln für die Sammlung und Aufzeichnung des beſtehenden Gewohn - heitsrechts im Allgemeinen vorgeſorgt iſt. Werden in13194Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.unſren Tagen ſolche Sammlungen veranſtaltet, ſo wird darüber ohnehin nicht leicht ein Zweifel entſtehen können, weil die Sammlungen ſelbſt meiſt eine geſetzliche Beſtäti - gung erhalten werden.

Was endlich die Wirkungen des Gewohnheitsrechts betrifft, ſo mußte daſſelbe im Allgemeinen wohl den Ge - ſetzen gleich geſtellt werden, da dieſe Gleichheit im - miſchen Recht, das man hierin als Norm anerkannte, ganz ausdrücklich vorgeſchrieben war. In jedem einzelnen Fall eines Gewohnheitsrechts aber konnte ſich dieſe Wir - kung auf zweyerley Weiſe äußern, je nachdem für die - ſelbe Rechtsfrage auch ſchon ein Geſetz vorhanden war, oder nicht. Im letzten Fall entſtand keine Schwierigkeit, indem nun das Gewohnheitsrecht unſtreitig in dieſem Punkt die unvollſtändige Geſetzgebung ergänzte. Im erſten Fall (wenn das Gewohnheitsrecht mit einem Geſetz im Widerſtreit ſtand) führte das Princip der Gleichheit dahin, jederzeit dem neueren unter dieſen beiden Rechten den Vorzug zu geben, ohne Unterſchied, ob es das Geſetz war oder das Gewohnheitsrecht. Einigen Zweifel hieran erregte allerdings die L. 2 C. quae sit longa consu. Den - noch haben ſtets die Meiſten dem Gewohnheitsrecht die Kraft der Abänderung früherer Geſetze eingeräumt, und nur für gewiſſe Fälle, wegen jener Stelle des Codex, eine Ausnahme behauptet(m)Vgl. die Beylage II. . In neuerer Zeit aber iſt von Mehreren folgender Unterſchied geltend gemacht195§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.worden. Es ſoll entweder die Rede ſeyn von der bloßen Abſchaffung eines Geſetzes durch Nichtgebrauch (desuetudo), oder von der Verdrängung deſſelben durch ein Gewohn - heitsrecht, welches eine andere Regel an die Stelle ſetze (consuetudo obrogatoria). Die letzte ſey immer unbedenk - lich erlaubt, die erſte aber gänzlich zu verwerfen(n)Die ausführliche Verthei - digung dieſer Meynung iſt der Zweck von: Schweitzer de de - suetudine Lips. 1801. Für die - ſelbe Anſicht erklärt ſich: (Hüb - ner) Berichtigungen und Zuſätze zu Höpfner S. 159. Die rich - tige Anſicht iſt ſehr befriedigend dargeſtellt von Puchta Gewohn - heitsrecht II. S. 199 fg.. Dieſer Unterſchied jedoch iſt zuerſt durch die angeführte Stelle des Codex auch nicht einmal ſcheinbar begründet, da dieſe, wenn man ſie buchſtäblich nehmen will, beide Fälle gleichmäßig verwirft: denn eine Gewohnheit, die eine neue Regel aufſtellt, z. B. die Strafe des Geſetzes erhöht oder vermindert, überwindet ja eben ſo gut das Geſetz als eine ſolche, die das Strafgeſetz blos aufhebt, indem ſie die bisher ſtrafbare Handlung ſtraflos macht. Auch in dem Weſen des Gewohnheitsrechts liegt kein Grund für dieſe Unterſcheidung. Freylich kann ſich hinter den Ausdruck desuetudo Etwas verſtecken, das gar nicht Gewohnheitsrecht iſt, nämlich die Nichtanwendung eines Geſetzes einen langen Zeitraum hindurch, weil gerade kein Fall der Anwendung vorgekommen war. In einer ſolchen Unterlaſſung kann ſich keine Rechtsüberzeugung offenbart haben, alſo kann auch darin kein Gewohnheitsrecht liegen. Dieſes kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn13*196Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.wirklich ſolche Fälle vorgekommen ſind, und man dennoch die Anwendung des Geſetzes unterlaſſen hat. Dann aber iſt in der That kein Grund vorhanden, der wahren, eigentlichen Gewohnheit jener Nichtanwendung weniger Kraft gegen das Geſetz einzuräumen, als derjenigen Gewohnheit, welche eine andere poſitive Regel anſtatt des Geſetzes aufſtellt. Ja eigentlich kann man jede desuetudo auch zugleich ſo auffaſſen, daß dadurch eine andere Regel ſubſtituirt wird. Denn wenn z. B. das Ver - bot der Zinſeszinſen für die laufenden Rechnungen des Handelsſtandes abgeſchafft wird, ſo iſt das allerdings zunächſt eine desuetndo; allein dieſe hat zugleich die Folge, daß in ſolchen Fällen die allgemeinere Rechtsregel an - wendbar wird, wodurch alle nicht beſonders verbotene Zinsverträge für gültig erklärt werden.

Eine Modification der Wirkung tritt ein, wenn eine partikuläre Gewohnheit entweder mit dem Staatsintereſſe, oder mit einem abſoluten allgemeinen Landesgeſetz in Wi - derſtreit iſt. Hier muß der Gewohnheit, ſelbſt wenn ſie neuer iſt als das Geſetz, jede Kraft abgeſprochen werden, und dieſer Satz folgt nicht nur aus der richtigen Erklä - rung der angeführten Stelle des Codex, ſondern auch aus der Natur des Verhältniſſes eines einzelnen Theils des Staates zum Ganzen(o)Vgl. die angeführte Beylage II. . So würde z. B. ein neues Wuchergeſetz allgemein angewendet werden müſſen, und keine partikuläre Gewohnheit, möchte ſie vor oder nach197§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.jenem Geſetz entſtanden ſeyn, dürfte dieſe Anwendung hindern.

§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsquellen.

Die hier dargeſtellten Anſichten neuerer Schriftſteller konnten nicht ohne Einfluß auf die in unſrer Zeit entſtan - denen Geſetzbücher bleiben, und es ſoll nun noch angege - ben werden, wie, von dem Standpunkt dieſer Geſetzbücher aus, die Rechtsquellen zu betrachten ſind.

Das Preußiſche Landrecht (das älteſte unter ihnen) hebt zuerſt das ganze bis dahin geltende gemeine Recht auf, ſetzt ſich alſo allein an deſſen Stelle: und dieſe Auf - hebung war ganz conſequent, indem alles Brauchbare aus dem früheren Recht hier aufgenommen ſeyn ſollte(a)Publikationspatent § 1.. Für die Zukunft beſtimmt es zuerſt die Art, wie die Ge - ſetze abgefaßt, und wie ſie bekannt gemacht werden ſoll - ten(b)L. R. Einleitung § 7 11.. Auch das war nicht inconſequent, da ja über - haupt das Landrecht viele Stücke des Staatsrechts in ſich aufnahm; nur wurden einige Zeit nachher dieſe Be - ſtimmungen ganz unzureichend befunden, und durch andere erſetzt. Das bisher geltende allgemeine Gewohnheits - recht war in der Aufhebung des gemeinen Rechts mitbe - griffen. Das partikuläre Gewohnheitsrecht ſollte geſam - melt, und binnen zwey Jahren, ſoweit es brauchbar wäre,198Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.neben den provinziellen Geſetzen, in Provinzialgeſetzbüchern zuſammengeſtellt werden. Was hier nicht aufgenommen wäre, ſollte nur gelten, inſoferne das Landrecht entweder in einzelnen Stellen auf Ortsgewohnheiten verwieſe, oder dadurch ergänzt würde(c)Publikationspatent § 7. L. R. Einleitung § 3. 4.. Über die künftige Entſtehung eines neuen Gewohnheitsrechts iſt Nichts beſtimmt; ohne Zweifel ſollte auch dieſes nur unter den zwey erwähnten alternativen Vorausſetzungen, alſo auch nur als partiku - läres Recht zuläſſig ſeyn. Endlich über das wiſſen - ſchaftliche Recht wird geſagt: Auf Meynungen der Rechts - lehrer, oder ältere Ausſprüche der Richter, ſoll, bey künf - tigen Entſcheidungen, keine Rückſicht genommen wer - den(d)L. R. Einleitung § 6.. Unter den Ausſprüchen der Richter ſind hier gewiß die Präjudicien, nicht die rechtskräftigen Urtheile gemeynt, obgleich der Ausdruck auf beide Arten der Ein - wirkung bezogen werden könnte. Daß darauf, ſo wie auf die Meynungen der Rechtslehrer, keine Rückſicht ge - nommen werden ſoll, hat gewiß nur den Sinn, daß ihnen keine bindende, den Geſetzen ähnliche Kraft beyzulegen iſt; denn den Einfluß auf die Anſicht und Überzeugung des künftigen Richters, alſo die (vielleicht unbewußte) Rück - ſicht darauf kann ja kein Geſetz verhindern.

Das Franzöſiſche Geſetzbuch enthält, eben ſo con - ſequent, über dieſe Gegenſtände keine directe Beſtimmung, da es ſich überhaupt nicht auf das öffentliche Recht199§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.erſtreckt. Die Aufhebung des bisher geltenden fremden Rechts, der königlichen Ordonnanzen, ſo wie der provin - ziellen und örtlichen Rechte, inſofern deren Gegenſtand in dem Code berührt wäre, wurde in einem beſondern Geſetze ausgeſprochen(e)Loi du 21. Mars 1804 à compter du jour ou les lois composant le code civil sont exécutoires, les lois romaines, les ordonnances, les coutumes générales ou locales, les sta - tuts et reglements ont cessé d’avoir force de loi générale ou particulière dans les ma - tieres qui sont l’objet de ces lois. Coutumes générales ou locales heißt nicht etwa allge - meines oder partikuläres Gewohn - heitsrecht, ſondern: Provinzial - recht oder Stadtrecht (ohne Un - terſchied, ob geſchrieben oder un - geſchrieben). Gewohnheitsrecht heißt usage. . Der Code ſelbſt enthält nur die wichtige indirecte Beſtimmung, daß kein Richter we - gen der Dunkelheit oder Unzulänglichkeit der Geſetze ſein Urtheil verweigern dürfe(f)Code civil art. 4.. Darin liegt die Berechtigung des Richters, ſich in ſolchen Fällen ſelbſt zu helfen, wie er kann; gegen den Misbrauch dieſes Rechts ſchützt der Caſſationshof, ſo daß alſo hierin ein conſequent durchge - führtes Syſtem wahrzunehmen iſt. Außerdem verweiſt der Code in einigen wenigen Lehren (Servituten und Miethvertrag) auf örtliche Gewohnheiten und Regle - ments(g)Code civil art. 645. 650. 663. 671. 674. 1736. 1754. 1758. 1777. Nur ſcheinbar gehören dahin art. 1135. 1159. 1160.. Von der künftigen Rechtserzeugung wird Nichts geſagt: ohne Zweifel aber iſt es ſo gemeynt, daß ein allgemeines Gewohnheitsrecht künftig nicht entſtehen ſoll, ein partikuläres aber nur in den wenigen Fällen,200Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.worin der Code auch ſchon jetzt auf Ortsgewohnheiten verweiſt.

Das Öſterreichiſche Geſetzbuch enthält die Auf - hebung des gemeinen Rechts, und namentlich auch der Gewohnheiten, im Einführungspatent von 1811. Im Geſetzbuch ſelbſt wird über die Geſetzgebung Nichts be - ſtimmt, wie es ſich denn überhaupt auf das Privatrecht beſchränkt. Gewohnheiten ſollen nur bey den Gegenſtän - den gelten, wobey ein Geſetz auf dieſelben verweiſt. Von richterlichen Urtheilen wird nur geſagt, daß ſie nie die Kraft eines Geſetzes haben, und daß ſie auf andere Fälle oder andere Perſonen nicht ausgedehnt werden können(h)Öſterreichiſches Geſetzbuch § 10. 12..

Unter allen dieſen Beſtimmungen ſind minder wichtig die, welche die Geſetzgebung betreffen, indem, was hierin wichtig iſt, doch anderwärts, und nicht in dem allgemeinen Geſetzbuch, ſeine Erledigung findet: eben ſo was das Ge - wohnheitsrecht angeht, indem ohnehin dieſe Art der Rechts - bildung, inſofern ſie als rein volksmäßig, und von dem wiſſenſchaftlichen Recht unabhängig gedacht wird, in neue - ren Zeiten weniger vorkommt. Wichtig dagegen iſt das Verhältniß, in welches in jedem dieſer Staaten das Par - tikularrecht zu dem allgemeinen Recht geſtellt iſt: dieſes jedoch liegt außer dem Kreiſe unſrer Betrachtung. Das allerwichtigſte aber iſt das Verhältniß der Geſetzbücher zu dem wiſſenſchaftlichen Recht, das heißt einestheils der fortwährende Einfluß der Literatur und des Gerichtsge -201§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.brauchs auf die wirkliche Rechtspflege, anderntheils die Art, wie das neue Recht von dem Richterſtand geiſtig aufgenommen und verarbeitet werden ſollte: und zwar nicht wie dieſes Verhältniß in den Geſetzbüchern ausdrück - lich beſtimmt iſt (denn das iſt wenig oder Nichts), ſon - dern wie man daſſelbe gedacht, erwartet, vorbereitet hat, und wie es in der That geworden iſt. Hierin nun zeigt ſich ein merkwürdiger Unterſchied (§ 21). In Preußen hatte die ganze Reform keine politiſche Veranlaſſung, ſondern lediglich den reinen, wohlwollenden Zweck, einen mangel - haften Zuſtand zu verbeſſern, und etwas recht Gutes an die Stelle zu ſetzen. Die fühlbarſten Übel aber hiengen mit dem Zuſtand der juriſtiſchen Literatur zuſammen. In dieſer fand ſich wohl Gelehrſamkeit und Forſchungsgeiſt, alſo mancher gute Stoff, aber wenig Zuſammenhang, und beſonders war der praktiſche Theil der Rechtswiſſen - ſchaft hinter der allgemeinen Zeitbildung zurück geblieben, und außer Anſehen gekommen. Daß der Zuſammenhang mit dieſer Literatur ganz abſterbe, ſchien ein Vortheil, ja nothwendig. Es iſt alſo augenſcheinlich, daß bey der ganzen Unternehmung ähnliche Gedanken zum Grund lagen, wie ſie einſt Juſtinian hegte (§ 26), nur mit den Unterſchieden, die aus dem freyeren und geiſtigeren Zu - ſtand unſrer Zeit hervorgehen mußten. Darum wurde zu einer ähnlichen Unterdrückung aller Wiſſenſchaft über - haupt kein Verſuch gemacht. Auf der Baſis des neuen Geſetzbuchs ſollte vielmehr eine neue Rechtswiſſenſchaft202Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.entſtehen, darauf war die große Ausführlichkeit des Ge - ſetzbuchs, und ſelbſt deſſen lehrender Ton eingerichtet. Der negative Theil dieſer Erwartung iſt unmittelbar in Erfüllung gegangen, denn der Zuſammenhang mit der früheren Rechtswiſſenſchaft hat größtentheils aufgehört. Eine neue Rechtswiſſenſchaft aber ſchien beynahe Vierzig Jahre lang auch nicht entſtehen zu wollen. Erſt ſeit Kur - zem hat ſich hierin eine bedeutende Regſamkeit entwickelt, welche zu den günſtigſten Erwartungen berechtigt. In - wieferne der eigentliche Zweck der neuen Geſetzgebung, die Praxis ausſchließend und vollſtändig zu beherrſchen und dadurch gleichförmig zu machen, erreicht worden iſt, das würde ſich nur durch Vergleichung der in den einzel - nen Gerichten herrſchenden Anſichten beurtheilen laſſen, wozu es jedoch an literariſchem Material lange gefehlt hat. Indeſſen iſt auch zur Förderung dieſes Zwecks nun - mehr ein trefflicher Anfang gemacht worden(i)Simon und Strampff Rechtsſprüche preußiſcher Gerichts - höfe. Berlin 1828. fg. 8..

Faſt Alles war anders in Frankreich (§ 21). Nicht daß man den Zuſtand des Rechts ſchlecht, oder gar uner - träglich gefunden hätte, war hier die Urſache der neuen Geſetzgebung, ſondern dieſe gehörte zur natürlichen Ent - wicklung der Revolution. Das Streben derſelben war vorzüglich auf die Zerſtörung der hiſtoriſchen Verhältniſſe, beſonders auch der Verſchiedenheit der Provinzen, gerich - tet, und dieſe gleichſtellende Auflöſung alles örtlich Ver -203§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.ſchiedenen in einem einfachen Frankreich ſollte nun auch von Seiten des Privatrechts vollzogen werden; das war der Hauptzweck des Code. Nun hatte vor der Revolu - tion zwar die gelehrte Seite der Rechtswiſſenſchaft weit niedriger geſtanden als in Deutſchland, die praktiſche Seite dagegen höher. Die gerichtliche Beredſamkeit, die Ver - bindung mit der geſelligen Bildung der großen Haupt - ſtadt, der Glanz und Einfluß der Parlamente Alles hatte zuſammen gewirkt, um dem Stand und der Thä - tigkeit der Richter und Advokaten höhere Vildung, und durch dieſe auch bedeutendes Anſehen zu erhalten. Die ſo entſtandene Jurisprudence zu verdrängen, dachte man bey der Abfaſſung des Code nicht, man rechnete vielmehr auf ihre ungeſtörte Fortdauer, und eben in dieſer Vor - ausſetzung konnte man oft die wichtigſten Rechtsinſtitute ſo kurz abfertigen. Der wirkliche Erfolg ſtimmt damit ganz überein. Die neuere juriſtiſche Literatur ſteht mit der früheren in ſo ununterbrochenem Zuſammenhang, daß man kaum glauben ſollte, es liege zwiſchen ihnen eine ſo wichtige Thatſache, wie die Erſcheinung des Code. Ja es iſt vielleicht keine Seite des öffentlichen Lebens in Frankreich, die durch die Revolution ſo wenig von Grund aus erſchüttert und verändert worden wäre, als die bür - gerliche Rechtspflege.

So hat ſich alſo auch hierin der verſchiedene Geiſt der Nationen, mit ihren eigenthümlichen Vorzügen und Schwächen, bewährt. Gewiß alſo werden Diejenigen,204Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.denen die höhere Leitung einer jeden obliegt, wohl thun, deren beſonderes Bedürfniß zu bedenken, und zugleich die Kräfte zu beachten, auf welche in ihr vorzugsweiſe zu rechnen iſt, um Großes zu bewirken. Namentlich in Deutſchland würde es nicht räthlich ſeyn, die Entwicklung des Rechts in ähnlicher Art, wie es im Mittelalter und noch ſpäterhin geſchah, ſich ſelbſt zu überlaſſen, woraus eben die moderne Praxis entſtanden iſt. Auf der andern Seite aber wäre es eben ſo wenig räthlich, wenn für dieſen Zweck durch die höchſten Staatsbehörden (zunächſt die Juſtizminiſterien) im gewöhnlichen Geſchäftsmechanis - mus geſorgt würde, ſo wie für jedes laufende Geſchäft, das eben, ſo gut es gelingen will, fertig gemacht werden muß. Vielmehr iſt anzuerkennen, daß der Zweck nicht erreicht werden kann durch Wiſſenſchaft allein, eben ſo wenig aber durch Praxis allein, ſondern nur dadurch, daß beide verbunden werden und ſich durchdringen. Die - ſes aber könnte in jedem größeren Staate geſchehen durch eine aus gründlichen Gelehrten und erfahrnen Geſchäfts - männern gebildete Geſetzkommiſſion, die in fortgeſetzter lebendiger Verbindung mit den höheren Gerichten ſtehen, und durch dieſe die Erfahrungen des im Leben vorkom - menden Rechts einſammeln müßte. Durch eine ſolche Einrichtung würde mit Bewußtſeyn, und daher mit ſichre - rem Erfolg, geſchehen, was in den früheren Jahrhunder - ten bewußtlos geſchah. Zugleich wäre dieſe Einrichtung, bey gänzlicher Verſchiedenheit der äußeren Form, dem205§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.inneren Weſen nach ähnlich derjenigen Fortbildung, die im Römiſchen Recht durch das jährlich revidirte präto - riſche Edict bewirkt wurde. Jedoch iſt dieſe Bemerkung nur zu beziehen auf diejenige Fortbildung des Rechts, welche durch die demſelben inwohnende organiſche Kraft, alſo durch innere Entwicklung, bewirkt wird (§ 7). Dann kann in dieſer Form Vieles von demjenigen zweckmäßig und befriedigend geleiſtet werden, was außerdem der Ge - ſetzgebung anheim fallen müßte (§ 13). Daß dieſer Ge - genſatz nicht hier willkührlich erſonnen, ſondern durch Er - fahrung bewährt, und im Großen (wenngleich vielleicht nicht mit klarem Bewußtſeyn) anerkannt iſt, zeigt beſon - ders das Beyſpiel ſolcher Staaten, worin das Recht der Geſetzgebung durch künſtliches Zuſammenwirken verſchie - dener Gewalten ausgeübt wird, wie in England und Frankreich. Denn wie ſehr auch dieſe einzelnen Gewalten ſich gegen jede Beſchränkung ihrer Theilnahme an jenem wichtigen Recht eiferſüchtig zeigen, ſo liegt ihnen doch jene innere, ſtille Rechtsbildung ſo ſehr außer dem Ge - biet eines möglichen Streites, daß ſie dieſelbe ungeſtört ſich ſelbſt überlaſſen. Nur wo zuweilen eine neue Rechts - beſtimmung beſondere politiſche Beziehungen darbietet, fällt ſie nothwendig der ſtrengen Form der Geſetzgebung an - heim: noch mehr aber, wo das Recht auf eine ſo um - faſſende und durchgreifende Weiſe umgebildet wird, wie es in dem Geſetzbuch Napoleons geſchehen iſt.

206Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Viertes Kapitel. Auslegung der Geſetze.

§. 32. Begriff der Auslegung. Eintheilung in legale und doctrinelle.

Bis hierher wurde der Inhalt der Rechtsquellen als die ſelbſtſtändige Regel des Rechts, mithin als ein Ge - gebenes, betrachtet. Soll dieſe Regel in das Leben über - gehen, ſo iſt es nöthig, daß wir von unſrer Seite etwas dazu thun, daß wir ſie auf beſtimmte Weiſe in uns auf - nehmen. Dieſe Aufnahme kann zu den verſchiedenſten Anwendungen führen: in dem Gelehrten zur Ausbildung der Wiſſenſchaft in vielartigen Formen; in dem Richter zu Urtheilen und deren Ausführung; in den Einzelnen zur Einrichtung ihrer Lebensverhältniſſe in beſtimmter Ge - ſtalt. Die Eigenthümlichkeit ſolcher beſonderen Entwick - lungen iſt unſrer Aufgabe fremd; ihnen Allen aber liegt als Gemeinſames zum Grunde eine beſtimmte Weiſe, den In - halt der Rechtsquellen aufzunehmen, und dieſes Gemein - ſame ſoll in dem gegenwärtigen Abſchnitte dargeſtellt werden.

Das, was von unſrer Seite gefordert wird, iſt eine geiſtige Thätigkeit, alſo, wie einfach es auch oft ausſehe, ein wiſſenſchaftliches Geſchäft, Anfang und Grundlage der Rechtswiſſenſchaft. Von dieſer war oben die Rede, als von einem zur Rechtserzeugung mitwirkenden Princip;207§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.hier aber erſcheint ſie auf umgekehrte Weiſe, inſoferne ſie das unabhängig von ihr entſtandene Recht aufnimmt und zum beſtimmten Bewußtſeyn bringt.

Eine ſolche Aufnahme des Rechts iſt denkbar und nothwendig bey allen Arten der Rechtsquellen. Jedoch bey dem Gewohnheitsrecht und bey dem wiſſenſchaftlichen Recht iſt das Geſchäft einfacherer Natur. Zwar über das Weſen dieſer Arten der Rechtserzeugung kommen ſehr einflußreiche Irrthümer vor, wovon ſchon oben gehandelt worden iſt. Sind aber dieſe erkannt und vermieden, ſo iſt das Geſchäft ſelbſt einer ins Einzelne gehenden Anwei - ſung nicht bedürftig. Anders verhält es ſich mit den Ge - ſetzen, bey welchen gerade dieſes Geſchäft oft eine ſehr verwickelte Natur hat. Aus dieſem Grunde hat der ge - genwärtige Abſchnitt die ſpecielle Bezeichnung von der Auslegung der Geſetze erhalten.

Die hierin enthaltene freye Geiſtesthätigkeit läßt ſich dahin beſtimmen, daß wir das Geſetz in ſeiner Wahr - heit erkennen, das heißt ſo wie uns deſſen Wahrheit durch Anwendung eines regelmäßigen Verfahrens erkennbar wird. Sie iſt bey jedem Geſetze, wenn es in das Leben eingrei - fen ſoll, nothwendig, und in dieſer ihrer allgemeinen Noth - wendigkeit liegt zugleich ihre Rechtfertigung. Ihre Anwendbarkeit iſt alſo nicht etwa, wie Viele annehmen, bedingt durch den ganz zufälligen Umſtand der Dunkelheit eines Geſetzes (§ 50). Allerdings kann ſie dadurch beſon - ders wichtig und erfolgreich werden. Allein jene Eigen -208Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.ſchaft des Gefetzes iſt eine Unvollkommenheit, und es iſt nöthig von der Betrachtung des geſunden Zuſtandes aus - zugehen, um für den mangelhaften Zuſtand ſicheren Rath zu finden. Eben ſo aber iſt auf der anderen Seite jene Thätigkeit nicht etwa ausgeſchloſſen[durch] einen hohen Grad der Dunkelheit(a)Der Zuſammenhang dieſer Meynung mit den Vorſchriften des Juſtinianiſchen Rechts kann erſt weiter unten klar gemacht werden. Vgl. § 48.. Vielmehr müſſen wir behaup - ten, daß namentlich den Richter, nach der allgemeinen Natur ſeines Amtes, die Dunkelheit eines Geſetzes niemals abhalten darf, eine beſtimmte Meynung über deſſen In - halt zu faſſen, und darnach ein Urtheil zu ſprechen. Denn auch die Thatſachen können in einem Rechtsſtreit höchſt zweifelhaft ſeyn, ohne daß deshalb der Richter ſein Urtheil verweigern darf. Zwiſchen beiden Elementen des Urtheils (Rechtsregel und Thatſachen) iſt aber in dieſer Hinſicht kein weſentlicher Unterſchied. Die ausdrückliche Vorſchrift des Franzöſiſchen Rechts alſo, welche dem Richter verbie - tet, wegen eines mangelnden, dunklen, oder unzulänglichen Geſetzes ſein Urtheil zu verweigern(b)Code civil art. 4., iſt der allgemeinen Natur des Richteramts völlig angemeſſen.

In Einem Fall jedoch iſt jene freye Thätigkeit aller - dings ausgeſchloſſen: wenn nämlich die Auffaſſung eines Geſetzes ſelbſt wieder Gegenſtand einer neuen Rechtsregel geworden iſt. Iſt alſo durch ein neues Geſetz, oder auch durch ein wahres Gewohnheitsrecht beſtimmt worden, wie209§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.ein älteres Geſetz verſtanden werden ſoll, ſo iſt dadurch jene freye Thätigkeit gänzlich ausgeſchloſſen, und das ältere Geſetz muß in dem nunmehr vorgeſchriebenen Sinn auch von Denjenigen aufgefaßt und angewendet werden, welche etwa für ſich von der Unrichtigkeit dieſer Ausle - gung überzeugt ſeyn mögen. Die Neueren nennen dieſes, je nachdem es auf Geſetz oder Gewohnheitsrecht(c)Dieſes interpretirende Ge - wohnheitsrecht wird immer zu - gleich die Natur des wiſſenſchaft - lichen Rechts an ſich tragen (§ 14. 20.). Denn ein allgemei - nes Volksbewußtſeyn, welches die Auffaſſung eines einzelnen Geſetzes zum Gegenſtand hätte, iſt nur in den ſeltenſten Fällen denkbar. be - ruht, die authentiſche und uſuelle Interpretation, beide zuſammen die legale, welche ſie nun der doctri - nellen, das heißt der oben beſchriebenen freyen oder wiſ - ſenſchaftlichen Thätigkeit entgegenſetzen. Die Vorſtel - lungsweiſe, welche dieſen Kunſtausdrücken zum Grunde liegt, iſt inſoferne richtig, als man blos das letzte Ziel, nämlich den anzuerkennenden Inhalt des Geſetzes, ins Auge faßt. Dann heißt Auslegung jedes Mittel zu die - ſem Zweck, und dieſer Begriff unterliegt ferner der eben erwähnten Eintheilung. Wenn man dagegen auf das Weſen des Verfahrens ſieht, ſo muß man nothwen - dig von dem oben aufgeſtellten Begriff der Auslegung als einer freyen Thätigkeit ausgehen, weil dieſe durch die Be - ſtimmung eines jeden Geſetzes ſelbſt, als das allgemeine und nothwendige gegeben iſt. Denn jedes Geſetz ſoll ins Leben treten, was zunächſt nur durch geiſtige Auffaſſung14210Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.möglich iſt, und es kann gewiß nicht als der natürliche Zuſtand angeſehen werden, daß jedem Geſetze ein anderes, ſeinen Sinn beſtimmendes, nachfolge; ja ſelbſt wenn dieſer Hergang der natürliche wäre, ſo würde dennoch zunächſt, bis zur Erſcheinung des neuen Geſetzes, jene freye Thä - tigkeit unentbehrlich ſeyn. Geht man nun von dem Grundbegriff der Auslegung als einer freyen Thätigkeit aus, ſo erſcheint dann die ſogenannte legale Interpretation nicht als eine ihr coordinirte Art derſelben Gattung, ſon - dern vielmehr als reiner Gegenſatz, als Ausſchließung oder Verbot jener freyen Thätigkeit überhaupt. Und dieſe Auffaſſung bewährt ſich auch dadurch als die richtige, daß in derſelben das wahre und unläugbare Verhältniß von Regel und Ausnahme am deutlichſten hervortritt. Es wird daher von jetzt an unter Auslegung überhaupt nur allein die ſogenannte doctrinelle Interpretation ver - ſtanden werden. Neuere Schriftſteller freylich haben hierin das Verhältniß von Regel und Ausnahme gerade umgekehrt. Es iſt behauptet worden, alle Auslegung ſey ihrer Natur nach eigentlich eine Art der Geſetzgebung, und ſie könne nur durch Delegation von Seiten der höch - ſten Gewalt an einzelne Behörden oder gar in Privat - hände gerathen(d)Zachariä Hermeneutik des Rechts, Meiſſen 1805. S. 161 165.. Dieſe Behauptung hängt aber zuſam - men mit anderen Vorſtellungen neuerer Schriftſteller, nach welchen die Auslegung nicht in den Gränzen einer reinen,211§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.wahren Auffaſſung bleibt, ſondern in der That zu einer Umbildung des Geſetzes wird; davon kann jedoch erſt weiter unten geredet werden.

Die Auslegung iſt eine Kunſt, und die Bildung zu derſelben wird durch die trefflichen Muſter aus alter und neuer Zeit, die wir in reichem Maaße beſitzen, geför - dert. Ungleich mangelhafter iſt Dasjenige, was bis jetzt als Theorie derſelben aufgeſtellt worden iſt. Dieſe Un - zulänglichkeit der bisherigen Theorie iſt eine zufällige: allein es iſt wichtig, daß man ſich über den Werth einer ſolchen Theorie überhaupt, auch der beſten, nicht täuſche. Denn dieſe Kunſt läßt ſich eben ſo wenig, als irgend eine andere, durch Regeln mittheilen oder erwerben. Allein wir können durch die Betrachtung vorzüglicher Muſter ergründen, worin die Trefflichkeit derſelben liegt; dadurch aber werden wir unſren Sinn ſchärfen für das, worauf es bey jeder Auslegung ankommt, und unſer Streben auf die rechten Punkte richten lernen. Dieſes, und die Ver - meidung der mancherley möglichen Abwege, iſt es, was wir hier, wie in jeder Kunſt, durch die Theorie zu gewin - nen hoffen dürfen.

Auch hier müſſen wir wieder auf die wichtige Frage eingehen, ob die Vorſchriften des Römiſchen Rechts über die Auslegung, da wo dieſes Recht gilt, bindende Kraft haben. Dieſe Frage wurde oben (§ 27) für die Fortbil - dung des Rechts ſelbſt, aufgeworfen und verneint; hier betrifft ſie das Verhalten der Einzelnen zu den Quellen14*212Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.des Rechts, und es könnten daher beide Fragen, obgleich unverkennbar verwandt, dennoch verſchieden beantwortet werden. An dieſer Stelle jedoch iſt eine erſchöpfende Be - antwortung der erwähnten Frage noch nicht möglich. Daher werden bey der Darſtellung dieſer Lehre die Aus - ſprüche des Römiſchen Rechts zwar vorläufig benutzt wer - den, es wird aber einſtweilen dahin geſtellt bleiben, ob ſie als bindende Geſetze, oder nur als eine wichtige Au - torität, gelten ſollen.

Die Aufgabe dieſes Kapitels hat zwey Theile: zu - nächſt die Auslegung der einzelnen Geſetze für ſich betrach - tet, dann die des Quellenkreiſes im Ganzen. Da nämlich dieſer zur vollſtändigen Beherrſchung des Rechts beſtimmt iſt, ſo muß in ihm ſowohl Einheit gefunden werden, als ein erſchöpfendes Ganze. Die erſte Forderung macht es nothwendig, alle Widerſprüche zu entfernen, die zweyte, alle Lücken auszufüllen.

§. 33. A. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln der Auslegung.

Jedes Geſetz iſt dazu beſtimmt, die Natur eines Rechts - verhältniſſes feſtzuſtellen, alſo irgend einen Gedanken (ſey er einfach oder zuſammengeſetzt) auszuſprechen, wodurch das Daſeyn jenes Rechtsverhältniſſes gegen Irrthum und Willkühr geſichert werde. Soll dieſer Zweck erreicht wer - den, ſo müſſen Die, welche mit dem Rechtsverhältniß in213§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollſtändig auffaſſen. Dieſes geſchieht, indem ſie ſich in Gedanken auf den Standpunkt des Geſetzgebers verſetzen, und deſſen Thätigkeit in ſich künſtlich wiederholen, alſo das Geſetz in ihrem Denken von Neuem entſtehen laſſen. Das iſt das Geſchäft der Auslegung, die wir daher beſtimmen können als die Reconſtruction des dem Geſetze inwohnen - den Gedankens(a)Ich gebrauche den Aus - druck Gedanke, weil ich durch ihn den geiſtigen Inhalt des Ge - ſetzes am beſtimmteſten bezeich - net finde. Andere gebrauchen, nicht weniger richtig, den Aus - druck Sinn. Dagegen iſt Ab - ſicht zu vermeiden, weil es zwey - deutig iſt: denn es kann auch auf das außer dem Inhalt des Geſetzes liegende Ziel bezogen werden, worauf das Geſetz mit - telbar einwirken will. Die - mer gebrauchen abwechſelnd die Ausdrücke mens und sententia. . Nur auf dieſe Weiſe iſt es möglich, eine ſichere und vollſtändige Einſicht in den Inhalt des Geſetzes zu erlangen, und nur ſo iſt daher der Zweck des Geſetzes zu erreichen.

Soweit iſt die Auslegung der Geſetze von der Ausle - gung jedes anderen ausgedrückten Gedankens (wie ſie z. B. in der Philologie geübt wird) nicht verſchieden. Das Eigenthümliche derſelben zeigt ſich aber, wenn wir ſie in ihre Beſtandtheile zerlegen. So müſſen wir in ihr Vier Elemente unterſcheiden: ein grammatiſches, logiſches, hiſto - riſches und ſyſtematiſches.

Das grammatiſche Element der Auslegung hat zum Gegenſtand das Wort, welches den Übergang aus dem Denken des Geſetzgebers in unſer Denken vermittelt. Es214Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.beſteht daher in der Darlegung der von dem Geſetzgeber angewendeten Sprachgeſetze.

Das logiſche Element geht auf die Gliederung des Gedankens, alſo auf das logiſche Verhältniß, in welchem die einzelnen Theile deſſelben zu einander ſtehen.

Das hiſtoriſche Element hat zum Gegenſtand den zur Zeit des gegebenen Geſetzes für das vorliegende Rechts - verhältniß durch Rechtsregeln beſtimmten Zuſtand. In dieſen Zuſtand ſollte das Geſetz auf beſtimmte Weiſe ein - greifen, und die Art dieſes Eingreifens, das was dem Recht durch dieſes Geſetz neu eingefügt worden iſt, ſoll jenes Element zur Anſchauung bringen.

Das ſyſtematiſche Element endlich bezieht ſich auf den inneren Zuſammenhang, welcher alle Rechtsinſtitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft (§ 5). Dieſer Zuſammenhang, ſo gut als der hiſtoriſche, hat dem Geſetzgeber gleichfalls vorgeſchwebt, und wir werden alſo ſeinen Gedanken nur dann vollſtändig erkennen, wenn wir uns klar machen, in welchem Verhältniß dieſes Geſetz zu dem ganzen Rechtsſyſtem ſteht, und wie es in das Syſtem wirkſam eingreifen ſoll(b)Auch das ſyſtematiſche Ele - ment iſt ein weſentliches, unent - behrliches Stück der Auslegung. Nur iſt freylich in den vorhan - denen zahlreichen Commentaren über die Juſtinianiſchen Rechts - bücher (in welchen man daſſelbe vorzugsweiſe erwarten möchte) bey weitem der kleinſte Theil als wahre Auslegung zu betrachten. Es ſind meiſt Abhandlungen do - gmatiſcher, zuweilen auch hiſtori - ſcher Art, die nur von dem com - mentirten Text Gelegenheit neh - men, ſich über die darin berühr - ten Rechtsſätze zu verbreiten..

215§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.

Mit dieſen vier Elementen iſt die Einſicht in den In - halt des Geſetzes vollendet. Es ſind alſo nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geſchmack und Belieben wählen könnte, ſondern es ſind verſchiedene Thä - tigkeiten, die vereinigt wirken müſſen, wenn die Auslegung gelingen ſoll. Nur wird freylich bald die eine, bald die andere wichtiger ſeyn und ſichtbarer hervortreten, ſo daß nur die ſtete Richtung der Aufmerkſamkeit nach allen die - ſen Seiten unerläßlich iſt, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieſer Elemente als unnütz und ſchwerfällig unterlaſſen werden kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung. Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus - legung ab, und darin laſſen ſich jene vier Elemente kurz zuſammen faſſen: erſtlich daß wir uns die geiſtige Thätigkeit, woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken hervorgegangen iſt, lebendig vergegenwärtigen: zweytens, daß wir die Anſchauung des hiſtoriſch-dogmatiſchen Gan - zen, woraus dieſes Einzelne allein Licht erhalten kann, in hinlänglicher Bereitſchaft haben, um die Beziehungen deſ - ſelben in dem vorliegenden Text ſogleich wahrzunehmen. Erwägen wir dieſe Bedingungen, ſo vermindert ſich da - durch das Auffallende mancher Erſcheinung, die uns leicht an der Richtigkeit unſres Urtheils irre machen könnte. Wir finden nämlich nicht ſelten bey gelehrten und berühm - ten Schriftſtellern Interpretationen von faſt unbegreiflicher Verkehrtheit, während talentvolle Schüler, denen wir denſel -216Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.ben Text vorlegen, vielleicht das Rechte treffen. Solche Er - fahrungen laſſen ſich beſonders an den zahlreichen Rechtsfäl - len machen, woraus ein ſo großer und lehrreicher Theil der Digeſten beſteht.

Das Ziel der Auslegung geht bey jedem Geſetze dahin, gerade aus ihm ſo viel als möglich an wirklicher Rechts - kenntniß zu gewinnen; die Auslegung alſo ſoll von der einen Seite individuell, von der andern reichhaltig in Re - ſultaten ſeyn(c)Dieſes Ziel des Verfahrens auszudrücken, iſt der Name Aus - legung (explicatio) beſonders geeignet, indem er darauf geht, daß das in dem Wort Einge - ſchloſſene an das Licht gezogen und dadurch öffenbar gemacht werde. Der Name Erklärung dagegen deutet mehr darauf hin, daß der (zufällige) Zuſtand der Unklarheit aufgehoben und in Klarheit verwandelt werde, be - zeichnet alſo weniger die allge - meine Natur des Geſchäfts.. Dieſer Erfolg kann in verſchiedenen Graden erreicht werden, und es iſt dieſe Verſchiedenheit abhängig theils von der Kunſt des Auslegers, theils aber auch von der Kunſt des Geſetzgebers, in dem Geſetze viel von ſicherer Rechtskenntniß niederzulegen, alſo von dieſem Punkte aus das Recht ſo viel als möglich zu beherrſchen. Es beſteht alſo hierin eine Wechſelwirkung zwiſchen treff - licher Geſetzgebung und trefflicher Auslegung, indem der Erfolg einer jeden durch die andere bedingt und ge - ſichert iſt.

§. 34. Grund des Geſetzes.

Iſt es nun die Aufgabe der Auslegung, uns den In -217§. 34. Grund des Geſetzes.halt des Geſetzes zum Bewußtſeyn zu bringen, ſo liegt Alles, was nicht Theil dieſes Inhalts iſt, wie verwandt es ihm auch ſeyn möge, ſtreng genommen außer den Grän - zen jener Aufgabe. Dahin gehört alſo auch die Einſicht in den Grund des Geſetzes (ratio legis). Der Begriff dieſes Grundes iſt auf ſehr verſchiedene Weiſe aufgefaßt worden, indem man ihn bald in die Vergangenheit geſetzt hat, bald in die Zukunft. Nach der erſten Anſicht gilt als Grund die ſchon vorhandene höhere Rechtsregel, deren conſequente Durchführung das gegenwärtige Geſetz her - beygeführt hat. Nach der zweyten Anſicht gilt als Grund die Wirkung, die durch das Geſetz hervorgebracht werden ſoll, ſo daß der Grund, von dieſem Standpunkt aus, auch als Zweck oder als Abſicht des Geſetzes bezeichnet wird. Es würde irrig ſeyn, dieſe beiden Anſichten in einem ab - ſoluten Gegenſatz zu denken. Vielmehr iſt anzunehmen, daß dem Geſetzgeber ſtets beide Beziehungen ſeines Ge - dankens gegenwärtig geweſen ſind. Eine relative Ver - ſchiedenheit aber liegt allerdings darin, daß bald die eine, bald die andere derſelben bey einzelnen Geſetzen überwie - gend ſeyn kann. Hierin iſt beſonders von Einfluß der oben erklärte Unterſchied des regelmäßigen und anomali - ſchen Rechts (§ 16). Bey dem regelmäßigen Recht (Jus commune) wird meiſt vorherrſchend ſeyn die Beziehung auf ſchon beſtehende Rechtsregeln, die hier zur vollſtändi - geren Entwicklung kommen ſollen; der Zweck iſt blos der allgemeine, daß das Recht beſtimmter erkannt und ſicherer218Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.angewendet werde. Bey dem anomaliſchen Recht (Jus singulare) iſt dagegen vorherrſchend die Beziehung auf das, was in der Zukunft erreicht werden ſoll; ſo z. B. ſoll durch die Wuchergeſetze die Bedrückung armer Schuld - ner verhütet werden, und das Vorhergehende iſt blos die allgemeine Maxime, durch eine Art vormundſchaftlicher Aufſicht einzugreifen, wenn durch gewiſſe Rechtsgeſchäfte der Wohlſtand ganzer Klaſſen in Gefahr kommt.

Die Kenntniß des Geſetzgrundes kann mehr oder we - niger gewiß ſeyn. Die höchſte Sicherheit erhält ſie da - durch, daß der Grund in dem Geſetze ſelbſt ausgeſprochen wird. Aber ſelbſt in dieſem Fall bleibt der Grund von dem das Recht beſtimmenden Inhalt des Geſetzes getrennt, und darf nicht etwa als Beſtandtheil deſſelben angeſehen werden. Eben ſo wird auf der anderen Seite der Kraft des Geſetzes durch den gänzlichen Mangel eines uns be - kannten Grundes Nichts entzogen; ja ſelbſt wenn wir beſtimmt wiſſen, daß das Geſetz gar keinen eigentlichen Grund je gehabt hat (von welchem Fall ſogleich weiter die Rede ſeyn wird), vermindert ſich dadurch deſſen bin - dende Kraft nicht. Eine beſondere Art der Ungewiß - heit entſteht aus dem Daſeyn mehrerer, neben einander beſtehender Gründe, deren Verhältniß zu einander zweifel - haft ſeyn kann; ferner, bey einem an ſich gewiſſen (viel - leicht im Geſetz ausgeſprochenen) Grund, aus der Mög - lichkeit nicht ausgeſprochener Mittelglieder zwiſchen dem Grund und dem Inhalt des Geſetzes, durch welche viel -219§. 34. Grund des Geſetzes.leicht eine ſcheinbare Verſchiedenheit zwiſchen beiden erklärt und gerechtfertigt werden kann(a)Das Sc. Macedonianum hatte zum Zweck, wucherliche, die Familienverhältniſſe gefährdende Geſchäfte mit Kindern in väter - licher Gewalt zu verhindern. Das Verbot wurde aber viel weiter gefaßt, ſo daß auch ganz unſchul - dige Fälle darunter fielen, weil es außerdem unmöglich war, die wirklich gemeynten Fälle ſicher zu treffen..

Eben ſo giebt es auch verſchiedene Grade in der Ver - wandtſchaft des Grundes mit dem Inhalt des Geſetzes. Sie können zu einander ſtehen in dem einfachen, rein logi - ſchen Verhältniß des Grundes zur Folge: dann erſcheint der Geſetzgrund als identiſch mit dem Inhalt(b)L. 13 § 1 de pign. act. (13. 7. ) beſtimmt den Grad der Culpa für den Pfandcontract; dieſe Beſtimmung iſt eine reine Folgerung aus der allgemeineren in L. 5 § 2 commodati (13. 6. ) enthaltenen Rechtsregel. Eben ſo bey mehreren anderen daſelbſt erwähnten Contracten, z. B. dem Depoſitum. Eine gleiche Anwen - dung, wie bey dem Depoſitum, wäre bey der Tutel denkbar ge - weſen, weil auch der Vormund keinen Vortheil aus ſeiner Ver - waltung zieht. Allein hier wird das rein logiſche Verhältniß ge - ſtört durch die Einwirkung an - derer Gründe, ſo daß alſo hier das vorher erwähnte Verhältniß concurrirender Gründe eintritt; und zwar iſt hier dieſes Verhält - niß der verſchiedenen Gründe zu einander ſo beſchaffen, daß ſie einander durchkreuzen.. In anderen Fällen dagegen werden beide ſehr entfernt von einander ſtehen(c)Die allgemeinere Rechts - regel über die Culpa (L. 5 § 2 comm. ) beruht auf einem Grund - ſatz der aequitas, deſſen Aner - kennung und Begränzung an ſich ſchwankend iſt, und dieſer einzel - nen Anwendung ſehr entfernt liegt.. Beide Fälle ſollen hier durch die Na - men ſpecieller und genereller Gründe unterſchieden werden. Dieſe Begriffe aber ſind relativ, eine ſcharfe Gränze beſteht zwiſchen denſelben nicht, und es laſſen ſich vielmehr ſehr allmälige Übergänge denken.

220Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Der Gebrauch des Geſetzgrundes iſt zuerſt unbedenk - lich und wichtig, wo es darauf ankommt, die Natur der in dem Geſetz enthaltenen Rechtsregel zu beſtimmen: näm - lich, ob ſie eine abſolute oder vermittelnde iſt, desgleichen, ob ſie als Jus commune oder singulare angeſehen werden muß (§ 16). Ungleich bedenklicher, und nur mit großer Vorſicht zuläſſig, iſt der Gebrauch des Geſetzgrundes zur Auslegung der Geſetze; insbeſondere iſt dieſer Gebrauch auch abhängig von den verſchiedenen Graden der Gewiß - heit und der Verwandtſchaft des Grundes, wie dieſe Verſchiedenheiten ſo eben genauer erklärt worden ſind. Die beſonderen Beſtimmungen hierüber können erſt weiter unten gegeben werden.

Es ſind alſo hier bey den Geſetzgründen mancherley Ver - ſchiedenheiten bemerkt worden: in der Art der Beziehung auf den Inhalt, in der Gewißheit, in der Verwandtſchaft mit dem Inhalt, und in der Anwendbarkeit. Allein neben dieſen Verſchiedenheiten beſteht das Gemeinſame, daß ſie ſtets ein Verhältniß haben zu dem Weſen des Geſetzin - haltes ſelbſt, oder mit anderen Worten eine objective, aus dem Denken des Geſetzgebers heraustretende Natur. Die - ſer ihrer Natur nach ſind ſie an ſich für Jeden erkenn - bar, und wir können es nur für zufällig anſehen, wenn ſie uns in einzelnen Fällen verborgen bleiben. Sie ſtehen daher in einem ſcharfen Gegenſatz zu denjenigen That - ſachen, welche ein blos ſubjectives Verhältniß zu dem Denken des Geſetzgebers haben, und bey denen die Erkenn -221§. 34. Grund des Geſetzes.barkeit für Andere eben ſo zufällig eintritt, wie ſie bey den Geſetzgründen natürlich iſt und nur zufällig fehlen kann. Dahin gehören ſolche Begebenheiten, welche zu einem Geſetz den Anſtoß gegeben haben, die aber eben ſo auch zu ganz anderen Maaßregeln hätten führen kön - nen(d)So z. B. das Verbrechen, welches zu dem Sc. Macedonia - num Veranlaſſung gegeben hat. L. 1 pr. de Sc. Maced. (14. 6.).. Eben dahin gehören die zuweilen ganz indivi - duellen und vorübergehenden Wirkungen, um deren Wil - len der Geſetzgeber die bleibende und ins Allgemeine wir - kende Regel aufgeſtellt hat(e)So z. B. unter K. Clau - dius das Geſetz, welches die Ehe mit des Bruders Tochter allge - mein frey gab, nur damit der Kaiſer die Agrippina, Tochter des Germanicus, zur Gemahlin neh - men konnte. Suetonii Claud. C. 26. Taciti annal. XII. 5 7.. Solchen ſubjectiven Beziehungen müſſen wir ſelbſt den beſchränkten Gebrauch gänzlich abſprechen, welcher den Geſetzgründen ſo eben eingeräumt worden iſt. Nur der negative Gebrauch kann von ihnen gemacht werden, daß vielleicht aus ihnen die Abweſenheit irgend eines wahren Geſetzgrundes erhellt: dann werden ſie dazu dienen, uns gegen die irrige An - nahme eines ſolchen zu verwahren(f)Gewöhnlich werden dieſe ſubjective Beziehungen von dem Grund des Geſetzes nicht hin - reichend geſondert, wozu denn die ſchwankenden Ausdrücke Be - weggrund, Veranlaſſung, Abſicht des Geſetzes nicht we - nig beytragen. Am wenigſten ungenau ſcheint hierin Hufe - land Geiſt des Römiſchen Rechts Th. 1. Gieſſen 1813. S. 13 19..

222Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

§. 35. Auslegung mangelhafter Geſetze. Arten derſelben, und Hülfsmittel dagegen.

Die aufgeſtellten Grundſätze der Auslegung (§ 33) kön - nen genügen für den geſunden Zuſtand des Geſetzes, da der Ausdruck einen in ſich vollendeten Gedanken darſtellt, und kein Umſtand vorhanden iſt, der uns hindert, dieſen Gedanken als wahren Inhalt des Geſetzes anzuerkennen. Es ſind aber nun noch die ſchwierigeren Fälle mangel - hafter Geſetze darzuſtellen, und zugleich die Hülfsmittel anzugeben, wodurch dieſe Schwierigkeiten beſeitigt werden können. Die an ſich denkbaren Fälle ſolcher mangelhaften Geſetze ſind folgende:

I. Unbeſtimmter Ausdruck, der alſo überhaupt auf keinen vollendeten Gedanken führt.

II. Unrichtiger Ausdruck, indem der von ihm unmittel - bar bezeichnete Gedanke von dem wirklichen Gedanken des Geſetzes verſchieden iſt.

In dieſen Fällen iſt eine Stufenfolge des Bedürfniſſes ſichtbar. Denn die Beſeitigung des erſten Mangels, wo er vorkommt, iſt eben ſo unbedenklich als ſchlechthin noth - wendig. Der zweyte führt ſchon größere Bedenken mit ſich, und macht wenigſtens beſondere Vorſicht nöthig.

Ehe aber dieſe Fälle im Einzelnen dargeſtellt werden, iſt es nöthig, auch die Hülfsmittel zu erwägen, die bey ihrer Behandlung angewendet werden können.

223§. 35. Auslegung mangelhafter Geſetze.

Das erſte Hülfsmittel beſteht in dem inneren Zuſam - menhang der Geſetzgebung; ein zweytes in dem Zuſam - menhang des Geſetzes mit ſeinem Grunde; ein drittes in dem innern Werthe des aus der Auslegung hervorgehen - den Inhalts.

A. Innerer Zuſammenhang der Geſetzgebung. Dieſer kann auf zweyerley Weiſe als Hülfsmittel der Auslegung bey mangelhaften Geſetzen benutzt werden. Erſtlich inſo - ferne der mangelhafte Theil eines Geſetzes aus einem an - dern Theil deſſelben Geſetzes erklärt wird, welches die ſicherſte unter allen Erklärungsweiſen iſt(a)L. 24 de legibus (1. 3.) Incivile est, nisi tota lege perspecta, una aliqua particula ejus proposita, judicare vel respondere. : zweytens durch Erklä - rung des mangelhaften Geſetzes aus anderen Geſetzen(b)Dieſe Art der Auslegung des einzelnen mangelhaften Ge - ſetzes mit Hülfe eines andern iſt nicht zu verwechſeln mit der Aus - gleichung der Widerſprüche, die zur Behandlung des Quellenkrei - ſes als eines Ganzen gehört. Da - von wird erſt weiter unten die Rede ſeyn (§ 42 45).. Dieſe letzte Art der Auslegung wird um ſo gewiſſer ſeyn, je näher die beiden Geſetze einander ſtehen, alſo am ge - wiſſeſten, wenn ſie von einem und demſelben Geſetzgeber herrühren. Jedoch können auch die anderen (zur Erklä - rung benutzten) Geſetze älter ſeyn, als das aus ihnen erklärte, wobey alſo die richtige Vorausſetzung zum Grunde liegt, der Urheber des jetzt auszulegenden Geſetzes habe dieſe älteren vor Augen gehabt, und ſie ſeyen alſo ein ergänzendes Stück ſeines Gedankens geweſen(c)L. 26. 27 de leg. (1. 3.) Non est novum, ut priores leges ad posteriores trahan - tur. Ideo, quia antiquiores. Die224Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.zur Erklärung benutzten Geſetze können endlich auch neuere ſeyn: nur wird dieſer Fall ſeltener in das Gebiet der reinen Auslegung gehören. Denn in den meiſten Fällen werden ſolche neuere Geſetze zu dem mangelhaften in dem Verhältniß einer Abänderung ſtehen, oder wenigſtens einer authentiſchen Auslegung (§ 32), welche nicht mehr wahre Auslegung iſt. Wo dieſes Verfahren als reine Ausle - gung vorkommt, beruht es auf der Vorausſetzung, daß die Denkweiſe des früheren Geſetzgebers auch in der ſpä - teren Geſetzgebung ſich erhalten habe(d)L. 28 de leg. (1. 3.) Sed et posteriores leges ad prio - res pertinent, nisi contrariae sint. Hier iſt blos der Fall der Abänderung, als den Ge - brauch zur Auslegung ausſchlie - ßend, bezeichnet. Aber auch im Fall der authentiſchen Auslegung iſt es einleuchtend, daß wir den durch das ſpätere Geſetz angege - benen Sinn des früheren nicht deswegen annehmen, weil wir ihn für wahr halten, ſondern weil ihn das ſpätere vorſchreibt..

B. Der Grund des Geſetzes kann gleichfalls ein Hülfs - mittel zur Auslegung des mangelhaften Geſetzes ſeyn, jedoch nicht ſo unbedingt, als der Zuſammenhang der Geſetzgebung. Vielmehr wird ſeine Anwendbarkeit abhän - gen von dem Grade der Gewißheit, womit wir ihn erkennen, und von dem Grade ſeiner Verwandtſchaft zu dem Inhalt (§ 34). Steht eine dieſer Rückſichten entgegen, ſo wird er zwar noch immer auf die Beſeiti - gung der erſten Art von Mängeln (der Unbeſtimmtheit) (c)leges ad posteriores trahi usi - tatum est, et semper quasi hoc legibus inesse credi oportet, ut ad eas quoque personas et ad eas res pertinerent, quae quandoque similes erunt. 225§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.angewendet werden können, aber weniger auf die der zweyten (des unrichtigen Ausdrucks).

C. Der innere Werth des Reſultats endlich iſt unter allen Hülfsmitteln das gefährlichſte, indem dadurch am leichteſten der Ausleger die Gränzen ſeines Geſchäfts über - ſchreiten und in das Gebiet des Geſetzgebers hinüber grei - fen wird. Daher kann dieſes Hülfsmittel lediglich bey der Unbeſtimmtheit des Ausdrucks (der erſten Art von Mängeln) angewendet werden, nicht zur Ausgleichung des Ausdrucks mit dem Gedanken.

Auch unter dieſen Hülfsmitteln iſt alſo wieder eine ähnliche Stufenfolge ſichtbar, wie unter den Mängeln ſelbſt. Das erſte iſt unbedenklich überall anzuwenden: das zweyte macht ſchon größere Vorſicht nöthig: das dritte endlich kann nur in den engſten Gränzen zugelaſ - ſen werden.

§. 36. Auslegung mangelhafter Geſetze. Fortſetzung. (Unbeſtimmter Ausdruck.)

Die Unbeſtimmtheit des Ausdrucks, welche es unmög - lich macht, durch ihn allein irgend einen vollendeten Ge - danken zu erkennen, kann zunächſt auf zweyerlei Weiſe gedacht werden: als Unvollſtändigkeit, oder als Viel - deutigkeit.

Die Unvollſtändigkeit des geſetzlichen Ausdrucks hat eine ähnliche Natur, wie wenn eine angefangene Rede unterbrochen wird, ſo daß für den vollſtändigen Gedanken15226Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.die Bezeichnung unvollendet geblieben iſt. Dieſer Fall tritt z. B. ein, wenn ein Geſetz zu einem Geſchäfte Zeu - gen erfordert, ohne die Zahl derſelben zu beſtimmen(a)So in Nov. 107. C. 1. Eben ſo wenn eine Geldſumme beſtimmt werden ſollte, und ent - weder die Zahl oder die Geldart nicht ausgedrückt iſt. Dieſer Fall wird (nicht bey Geſetzen, ſondern bey Teſtamenten) erwähnt in L. 21 § 1 qui test. (28. 1.)..

Häufiger und wichtiger iſt der Fall der Vieldeutig - keit, welcher wieder in verſchiedenen Geſtalten vorkom - men kann: als Vieldeutigkeit des einzelnen Ausdrucks, oder der Conſtruction.

Der einzelne Ausdruck kann einen individuellen Gegen - ſtand betreffen, und dazu eine Bezeichnung gebrauchen, welche auf mehrere Individuen paßt: ein Fall, der in Rechtsgeſchäften häufiger vorkommen wird als in Ge - ſetzen(b)Beyſpiele: L. 21 § 1 qui test. (28. 1. ): der Sclave Sti - chus iſt legirt, Titius als Lega - tar ernannt, da Mehrere dieſe Namen führen. L. 39 § 6 de leg. 1 (30 un.) Fundus Cornelianus iſt legirt, da der Teſtator meh - rere unter dieſem Namen in ſei - nem Vermögen hatte.. Er kann aber auch einen abſtracten Begriff zum Gegenſtand haben, und hier wieder kann die Zwey - deutigkeit darin liegen, daß der gewählte Ausdruck ganz verſchiedene Bedeutungen(c)So haben ganz verſchie - dene Bedeutungen die Ausdrücke familia, puer, potestas. L. 195. 204. 215 de V. S. (50. 16.). Merkwürdige Anwendungen die - ſer Zweydeutigkeit finden ſich in L. 5 C. fin. reg. (3. 39. ) und L. 30 C. de j. dot. (5. 12.). In der erſten kann praescriptio heißen: Einrede, oder Vorſchrift, nach Manchen auch Verjährung. In der zweyten können die Worte: si tamen extant heißen: wenn ſie nicht vernichtet, oder auch: wenn ſie nicht veräußert ſind (extant apud maritum)., oder daß er eine engere und eine weitere Bedeutung hat(d)Solche engere und weitere.

227§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.

Auch die Vieldeutigkeit der Conſtruction kann den Sinn eines Geſetzes zweifelhaft machen, und obgleich dieſelbe in Rechtsgeſchäften häufiger vorkommt, als in Geſetzen, ſo iſt ſie doch in dieſen nicht ohne Beyſpiel(e)Die Erklärung der ſchwie - rigen L. 2 de div. temp. prae - scr. (44. 3. ) hängt lediglich da - von ab, ob die Schlußworte mihi contra videtur mit der ganzen Stelle in Verbindung gedacht werden ſollen, oder nur mit ei - nem Theile derſelben. Bey - ſpiele von vieldeutiger Conſtruc - tion in Rechtsgeſchäften finden ſich bey Mühlenbruch I. § 59 not. 1..

So verſchieden nun dieſe Geſtalten des hier darge - ſtellten Mangels ſeyn mögen, ſo haben ſie doch das mit einander gemein, daß jede derſelben uns hindert, irgend einen vollſtändigen Gedanken mit Sicherheit in dem ſo beſchaffenen Geſetze zu erkennen. Die Entſtehung dieſes Mangels kann gegründet ſeyn in einem unklaren Gedan - ken, oder in einer unvollkommenen Herrſchaft über den Ausdruck, oder auch in beiden Umſtänden zugleich. Für den Ausleger iſt dieſe Entſtehung gleichgültig, denn für ihn iſt das Bedürfniß der Abhülfe ſtets gleich dringend und unabweislich, da das Geſetz in dieſer Geſtalt zur Feſtſtellung einer Rechtsregel untauglich iſt. Die Erkennt - niß dieſes Bedürfniſſes iſt auch vollkommen gewiß, da ſie(d)Bedeutungen kommen vor bey den Ausdrücken cognatio, pi - gnus, hypotheca, adoptio (L. 1 § 1 de adopt. 1. 7. ), familia (L. 195 de V. S. 50. 16.). Eben ſo kann der Vertrag ne luminibus officiatur ſowohl auf den gegenwärtigen Zuſtand allein, als auf den gegenwärtigen und künftigen zugleich gehen. L. 23 pr. de S. P. U. (8. 2.). Die Auslegung nach der weiteren oder engeren Bedeutung nennt man gewöhnlich lata oder stri - cta: jede Auslegung zu Entfer - nung einer Zweydeutigkeit de - clarativa. Thibaut Pandekten § 48. 50. 53.15*228Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.durch ein rein logiſches Verfahren erlangt wird. Eben darum aber endigt ſie mit der deutlichen Einſicht in die Natur des vorliegenden Zweifels, und ſchließt nicht zu - gleich deſſen Auflöſung in ſich. Dieſe muß vielmehr an - derwärts aufgeſucht werden, und dazu dienen die bereits aufgeſtellten drey Klaſſen der Hülfsmittel (§ 35). Sie alle ſind dazu anwendbar, und ihr verſchiedener Werth kommt nur inſoferne in Betracht, als eine Klaſſe vor der andern anzuwenden iſt.

Zuerſt alſo iſt wo möglich die Unbeſtimmtheit aufzu - heben durch den Zuſammenhang der Geſetzgebung, und wo dieſes Mittel ausreicht, wird jedes andere als weni - ger ſicher, und zugleich als überflüſſig, ausgeſchloſſen.

Zweytens iſt zu dieſem Zweck anzuwenden der Grund des Geſetzes, und zwar wo möglich der ſpecielle, mit dem Inhalt des Geſetzes unmittelbar verwandte Grund (§ 35), wenn wir einen ſolchen nachzuweiſen vermögen. Verläßt uns dieſer, ſo iſt auch ſchon ein allgemeinerer Grund zu - läſſig. So z. B. wenn der Inhalt des Geſetzes nur über - haupt auf aequitas beruht, was bey dem regelmäßigen Recht (§ 16) der neueren Zeit durchaus angenommen wer - den muß, ſo iſt unter zwey an ſich möglichen Erklärun - gen diejenige vorzuziehen, welche durch dieſe aequitas ge - rechtfertigt wird(f)So iſt zu verſtehen L. 8. C. de jud. (3. 1. ) vom J. 314: Placuit, in omnibus rebus praecipuam esse justitiae aequi - tatisque [scriptae], quam stricti juris rationem. Das heißt: wenn bey einem zweydeutigen Geſetze die eine Erklärung dem.

229§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.

Drittens endlich kann die Unbeſtimmtheit aufgehoben werden durch die Vergleichung des innern Werthes des - jenigen Inhalts, der durch die eine und die andre an ſich mögliche Erklärung dem Geſetze zugeſchrieben wird. So z. B. wenn die eine Erklärung auf einen leeren, zwecklo - ſen Inhalt führt, die andere nicht(g)L. 19 de leg. (1. 3.) In ambigua voce legis ea potius accipienda est significatio, quae vitio caret . Eben ſo wenn das Reſultat der einen Erklärung dem vorliegenden Zweck angemeſſener iſt, als das der anderen(h)L. 67 de R. J. (50. 17.) Quotiens idem sermo duas sententias exprimit, ea potis - simum excipiatur, quae rei ge - rendae aptior est. Eine An - wendung dieſer Regel enthält L. 3 de constit. (1. 4.) Bene - ficium Imperatoris, quod a di -. Endlich wenn(f)ſtrengen Recht, die andere der aequitas entſpricht, ſo ſoll dieſe letzte vorgehen (praecipuam esse rationem). Scheinbar wider - ſpricht L. 1 C. de leg. (1. 14. ) vom J. 316: Inter aequitatem jusque interpositam interpre - tationem nobis solis et opor - tet et licet inspicere. Die Annahme, daß L. 8 cit. älteres, L. 1 cit. neueres Recht darſtelle, jene alſo durch dieſe antiquirt ſey, iſt höchſt unwahrſcheinlich, da beide in Conſtantin’s Regie - rung fallen, und nur zwey Jahre aus einander liegen. Um den Widerſpruch zu heben, hat man in L. 8 cit. die Leſeart scriptae an - genommen (eine durch Geſetz an - erkannte aequitas), die zwar die alten Ausgaben von Chevallon (Paris. 1526. 8. ) und von Ha - loander für ſich hat, aber aus inneren Gründen ganz verwerf - lich iſt. Donellus (I. 13) erklärt L. 8 von einer bloßen Einſchrän - kung, L. 1 von gänzlicher Auf - hebung des ſtrengen Rechts durch aequitas: für dieſen Unterſchied iſt aber in den Stellen ſelbſt gar keine Andeutung. Der Wi - derſpruch wäre ſchon entfernt, wenn man nur die L. 1 cit. auf die Correction des Ausdrucks durch den Gedanken (§ 37) be - zöge, die wegen der bloßen ae - quitas dem Richter nicht geſtat - tet ſeyn ſoll. Allein ich glaube vielmehr, daß die Stelle gar nicht von Auslegung, ſondern von Fortbildung des Rechts (§ 47) zu verſtehen iſt, wodurch denn jeder Widerſpruch mit L. 8 cit. völlig verſchwindet; der Aus - druck interpretationem ſteht da - bey nicht im Wege.230Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.die eine Erklärung auf ein milderes, wohlwollenderes Ziel führt als die andere(i)L. 192 § 1 de R. J. (50. 17. ): In re dubia benigniorem in - terpretationem sequi non mi - nus justum est quam tutius. L. 56. 168 pr. eod. L. 18 de leg. (1. 3.) Benignius leges in - terpretandae sunt, quo volun - tas earum conservetur. Die Schlußworte können heißen: weil das der allgemeine Wille der Geſetzgeber iſt. Richtiger aber ſcheint mir dieſe Erklärung: in - ſofern das nicht ihrem beſtimmt ausgeſprochenen Inhalt wider - ſpricht (alſo quo für quatenus). Einzelne Anwendungen dieſer Regel: Bey zweydeutigen Straf - geſetzen geht die mildere Strafe vor (L. 42 de poenis 48. 19.). Bey Teſtamenten iſt durch Aus - legung die Erbeinſetzung zu be - günſtigen, die Enterbung nicht zu begünſtigen (L. 19 de lib. et posth. 28. 2.). Dieſe Anwen - dungen zeigen, daß die Regel ei - nen anderen Sinn hat, als die, welche der aequitas den Vorzug einräumt (Note f), womit man ſie gewöhnlich, aber irrig, iden - tificirt..

§. 37. Auslegung mangelhafter Geſetze. Fortſetzung. (Unrichtiger Ausdruck.)

Der zweyte denkbare Mangel eines Geſetzes beſteht in der Unrichtigkeit des Ausdrucks, indem dieſer zwar unmittelbar einen beſtimmten und anwendbaren Gedanken bezeichnet, aber einen ſolchen, der von dem wirklichen Gedanken des Geſetzes verſchieden iſt. Bey dieſem inne - ren Widerſpruch der Elemente des Geſetzes entſteht die Frage, welchem derſelben wir den Vorzug geben ſollen. Da nun der Ausdruck bloßes Mittel iſt, der Gedanke aber der Zweck, ſo iſt es unbedenklich, daß der Gedanke vor - gezogen, der Ausdruck alſo nach ihm berichtigt werden(h)vina scilicet ejus indulgentia proficiscitur, quam plenissime interpretari debemus. 231§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.muß(a)L. 17 de leg. (1. 3.) Scire leges non est verba earum te - nere, sed vim ac potestatem. L. 6 § 1 de V. S. (50. 16.). L. 13 § 2 de excus. (27. 1.). L. 19 ad exhib. (10. 4.).. Die Annahme dieſer Regel macht keine Schwie - rigkeit, dagegen kann ihre Anwendung ſehr ſchwierig ſeyn, indem Alles darauf ankommt, daß die hier vorausgeſetzte Thatſache zur Gewißheit erhoben werde.

Die Fälle dieſer Art bieten eine weit geringere Man - nichfaltigkeit dar, als die des unbeſtimmten Ausdrucks (§ 36). Ihre Verſchiedenheit bezieht ſich nur auf das logiſche Verhältniß des Ausdrucks zum Gedanken, indem jener entweder weniger oder mehr enthalten kann als der Gedanke. Im erſten Fall geſchieht die Berichtigung des Ausdrucks durch eine ausdehnende Auslegung, im zwey - ten durch eine einſchränkende(b)Die Neueren nennen es mit nichtrömiſchen Ausdrücken interpfetatio extensiva, restri - ctiva, und ſetzen dann wohl bei - den entgegen die declarativa, die weder ausdehnt noch ein - ſchränkt, indem ſie ſich gar nicht auf ein in dieſer Art mangelhaf - tes Geſetz bezieht (§ 36 d).. Beide gehen ledig - lich darauf aus, den Ausdruck mit dem wirklichen Ge - danken in Übereinſtimmung zu bringen.

Dieſe Behandlung des unrichtigen Ausdrucks iſt von der des unbeſtimmten in den wichtigſten Beziehungen ver - ſchieden. Zum Grunde liegt die Vorausſetzung, es ſey vorhanden ein beſtimmter Gedanke, in Verbindung mit einem unvollkommenen Ausdruck. Dieſes Verhältniß kön - nen wir nicht, wie die Unbeſtimmtheit, auf logiſchem, ſondern nur auf hiſtoriſchem Wege erkennen, weshalb die232Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.Erkenntniß deſſelben ſchon an ſich unſicherer, und zugleich verſchiedener Grade der Gewißheit empfänglich iſt. Dieſe Schwierigkeit aber wird noch erhöht durch den Umſtand, daß uns das nächſte und natürlichſte Erkenntnißmittel für den Gedanken entzogen iſt: denn dieſes beſteht eben in dem Ausdruck, und der Ausdruck iſt es gerade, dem wir hier den Glauben verſagen. Ferner war bey der Un - beſtimmtheit das Bedürfniß einer künſtlichen Abhülfe un - abweislich, indem ohne ſie gar Nichts vorhanden war, das wir als Geſetz hätten betrachten und anwenden kön - nen. Hier iſt es anders, indem uns auch ſchon der un - berichtigte Ausdruck einen verſtändlichen und anwendbaren Gedanken darbietet. Endlich war bey der Unbeſtimmtheit die Erkenntniß des Mangels gänzlich verſchieden von der Abhülfe, hier fallen beide zuſammen. Denn wir erkennen die Unrichtigkeit des Ausdrucks nur durch deſſen Verglei - chung mit dem wahren Gedanken: iſt aber dieſer von uns erkannt, ſo iſt damit auch zugleich die Abhülfe für jenen Mangel gefunden.

Es ſollen nunmehr die drey oben angegebenen Hülfs - mittel (§ 35) in ihrer Anwendbarkeit auf den hier darge - ſtellten Mangel, der in dem unrichtigen Ausdruck beſteht, einzeln geprüft werden.

Am unbedenklichſten erſcheint auch hier wieder der innere Zuſammenhang der Geſetzgebung als Mittel der Abhülfe. Ein Beyſpiel findet ſich bey dem Senatuscon - ſult, welches die hereditatis petitio näher beſtimmte. Nach233§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.dieſem ſollte der redliche Beſitzer, welcher Erbſchaftsſachen verkauft hatte, den erlangten Kaufpreis herausgeben (pretia quae pervenissent). Unter dieſem Ausdruck war auch der Fall begriffen, da er denſelben Kaufpreis wieder verloren hatte, denn er war doch einmal erlangt geweſen. Allein aus den nachfolgenden Worten deſſelben Senatus - conſults wurde gefolgert, daß dieſer Fall ausgenommen ſey. Es wurde alſo der gebrauchte Ausdruck in der Art einſchränkend erklärt, als wenn nicht von jedem erlang - ten, ſondern nur von dem erlangten und nicht wieder ver - lorenen Kaufpreis die Rede geweſen wäre(c)L. 20 § 6. L. 23 de her. pet. (5. 3.).. Ein anderes Beyſpiel findet ſich bey Strafgeſetzen. Wenn ein ſolches am Schluß eine allgemeine Strafe für ein gewiſſes Verbrechen ausſpricht, nachdem es vorher für einen ein - zelnen Fall deſſelben Verbrechens eine andere Strafe be - ſtimmt hatte, ſo iſt der allgemeine Schluß durch die Aus - nahme dieſes beſonderen Falles einſchränkend zu erklären(d)L. 41 de poenis (48. 19.)..

Wichtiger, aber auch bedenklicher, iſt die Anwendung des zweyten Hülfsmittels, welches darin beſteht, daß der wirkliche Gedanke des Geſetzes aus ſeinem Grunde er - kannt, und darnach der Ausdruck berichtigt wird. In dieſer Beziehung nun iſt vorzüglich wichtig die Unterſchei - dung der ſpeciellen und generellen Gründe (§ 34).

Ein ſpecieller Grund kann in der That zu dem ange - gebenen Zweck angewendet werden. Am unbedenklichſten234Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.geſchieht dieſes, wenn die buchſtäbliche Auslegung des Ausdrucks auf einen Widerſpruch mit dem anerkannten Grunde führen würde. Iſt alſo z. B. ein Rechtsſatz ein - geführt zur Begünſtigung gewiſſer Perſonen, ſo würde jede einzelne Anwendung zu ihrem Schaden mit dem Grunde im Widerſpruch ſtehen, und dieſes muß verhütet werden durch eine einſchränkende Auslegung des zu allge - meinen Ausdrucks(e)L. 25 de leg. (1. 3.). L. 6 C. eod. (1. 14.).. Wenn daher ein durch Betrug veranlaßter Vertrag zufällig dem Betrogenen vortheilhaft iſt, ſo bleibt er gültig, obgleich der Ausdruck des Edicts alle ſolche Verträge für ungültig erklärt(f)L. 7 § 7 de pactis (2. 14.). L. 30 C. de transact. (2. 4.).. Wenn der Minderjährige ohne Curator Prozeß führt und gewinnt, ſo bleibt das Verfahren gültig(g)L. 2 C. qui legit. pers. (3. 6.). L. 14 C. de proc. (2. 13.).. Eben ſo iſt ein Ver - gleich über Alimente auch ohne Prätor gültig, wenn da - durch die Lage des Berechtigten unbedingt verbeſſert wird(h)L. 8 § 6 de transact. (2. 15.).. Häufiger aber, und zugleich ſchwieriger ſind die Fälle, da wir den Ausdruck berichtigen, nicht gerade um einen Widerſpruch mit dem Grunde zu verhüten, ſondern nur um die wahre Gränze der Anwendung zu finden, alſo damit nicht die Anwendung auf eine unvollſtändige oder überflüſſige Weiſe geſchehe. Für dieſe Art der Be - richtigung müſſen wir beſonders darin die Beſtätigung ſuchen, daß wir die Veranlaſſung des ungenauen Aus -235§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.drucks auf wahrſcheinliche Weiſe erklären: etwa indem ein concreter Ausdruck gebraucht iſt, weil es an einem entſprechenden abſtracten fehlte, oder wegen der größeren Anſchaulichkeit, die jener mit ſich führt. Dadurch allein kann der Zweifel ſicher entfernt werden, ob in der That der Gedanke, der aus unſrer Auslegung hervorgeht, der wirkliche Gedanke des Geſetzgebers iſt, oder ob er es nur hätte conſequenterweiſe ſeyn ſollen. In dieſem letzten Falle aber würden wir durch unſre Auslegung nicht mehr den Ausdruck berichtigen, ſondern den Gedanken ſelbſt, und daß dieſes nicht in der Befugniß des Auslegers ent - halten iſt, wird weiter unten gezeigt werden (§ 50). Folgende Beyſpiele werden das hier Geſagte anſchaulich machen. Das Edict drohte die Infamie für den Fall, da eine Wittwe noch in der Trauerzeit wieder heirathen würde. Der Zweck war lediglich Verhütung aller Zwei - fel über die Paternität eines nachher gebornen Kindes. Hätte man dieſes unmittelbar ausſprechen und zugleich genau begränzen wollen, ſo wäre eine weitläufige, ab - ſtracte Beſtimmung, und zugleich eine Entſcheidung ſchwie - riger Fragen (über die mögliche Dauer der Schwanger - ſchaft) nöthig geweſen. Das wurde vermieden durch die völlig anſchauliche Angabe der Trauerzeit, die auch für die allermeiſten Fälle ganz zutreffend war, und zugleich jene ſchwierige Fragen durch weites Hinausgreifen beſei - tigte. Nun kamen aber Fälle vor, da die Wittwe bald nach des Mannes Tod ein Kind geboren hatte; dadurch236Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.war jeder Zweifel über künftige Kinder unbedingt geho - ben, und nun wurde die Ehe, vermittelſt einer einſchrän - kenden Auslegung des Edicts, zugelaſſen. Auf der andern Seite kamen Fälle vor, worin gar keine Trauer für den Verſtorbenen, alſo auch keine Trauerzeit, ſtatt fand; den - noch war die Ehe verboten, und das Edict wurde hier ausdehnend ausgelegt(i)L. 1 L. 11 § 1. 2. 3 de his qui not. (3. 2.).. Die actio ad exhibendum hat jeder bey der Exhibition Intereſſirte (cujus interest), und wahrſcheinlich ſtand dieſes ſo in dem Edict. Dieſer Ausdruck paßte auf Jeden, dem es Vortheil bringen konnte, eine Sache zu ſehen. Allein der anerkannte Zweck ging dahin, Rechtsanſprüche von der Hemmung zu be - freyen, die ihnen aus den zufälligen und räumlichen Ver - hältniſſen einer Sache entſtehen konnte. Daher wurde jener Ausdruck durch Auslegung auf dasjenige Intereſſe eingeſchränkt, welches mit einem Rechtsanſpruch in Verbindung ſteht(k)L. 19 ad exhib. (10. 4.).. Die zwölf Tafeln forderten für die Uſucapion zwey Jahre Beſitz bey dem fundus, ein Jahr bey allen anderen Sachen. Wohin ſollten nun Häu - ſer gehören? Wörtlich waren ſie freylich nicht unter dem Ausdruck fundus enthalten. Da aber die Uſucapion alle Sachen überhaupt umfaßte, und da zu dieſem Zweck alle Sachen in zwey große Maſſen abgetheilt werden ſollten, ſo war ohne Zweifel die Meynung des Geſetzes, alle un - bewegliche Sachen wegen ihrer völligen Gleichartigkeit237§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.zuſammen zu ſtellen, und es wurde blos deswegen der concrete Ausdruck fundus gebraucht, weil es an einem entſprechenden abſtracten Ausdruck fehlte. Daher wurde jenes Wort ausdehnend auf alle unbewegliche Sachen, alſo auch auf Häuſer, bezogen, und dieſe Auslegung ſcheint auch niemals beſtritten geweſen zu ſeyn(l)Cicero, top. § 4.. In manchen Geſetzen freylich, welche von concreten Fällen handeln, wird ausdrücklich hinzugefügt, daß dieſelben nicht als bloßer Ausdruck abſtracterer Regeln angeſehen wer - den ſollen: durch eine ſolche Vorſchrift iſt dieſe Art aus - dehnender Erklärung ausdrücklich ausgeſchloſſen(m)Beyſpiele ſind L. 10 C. de revoc. don. (8. 56. ) und Nov. 115. C. 3 pr. . Endlich gehört zu dieſer Art ausdehnender Auslegung auch die Annahme eines indirecten Ausdrucks, welche man das argumentum a contrario nennt. Es kann nämlich eine Regel bis zu einer beſtimmten Gränze dergeſtalt ausge - ſprochen ſeyn, daß darin der beſtimmte Gedanle enthalten iſt, jenſeits dieſer Gränze ſolle das Entgegengeſetzte gelten. So z. B. wenn der Prätor eine Klage einführte mit dem gewöhnlichen Ausdruck: intra annum judicium dabo, ſo lag darin zugleich der Sinn: post annum non dabo, und die Beziehung des Ausdrucks hierauf iſt eine unzweifel - hafte ausdehnende Auslegung(n)L. 22 de leg. (1. 3.) Cum lex in praeteritum quid indul - get, in futurum vetat. Donel - lus (I. 14.) erklärt dieſe ſchwie - rige Stelle mit vieler Wahr - ſcheinlichkeit von Fällen der hier beſchriebenen Art, ſo daß das praeteritum und futurum nicht auf den Zeitpunkt des erlaſſenen Geſetzes zu beziehen iſt (da ja. So ſagte die L. Julia238Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.de vi, der für dieſes Verbrechen angeordnete Prätor könne ſeine Gerichtsbarkeit übertragen si proficiscatur; darin lag der umgekehrte Satz, daß er es außerdem nicht könne(o)L. 1 pr. de off. ejus cui mand. (1. 21.).. Eben ſo deutet jede geſetzliche Ausnahme auf das Daſeyn einer Regel, ohne welche dieſe Ausnahme keinen Sinn hätte, iſt alſo ein indirecter Ausdruck dieſer Regel. Wenn alſo die L. Julia de adulteriis den crimi - nell verurtheilten Frauen die Fähigkeit des gerichtlichen Zeugniſſes entzog, ſo folgte daraus von ſelbſt, daß ande - ren Frauen dieſe Fähigkeit zuſtand(p)L. 18 de testibus (22. 5.)..

Dagegen kann der generelle Grund eines Geſetzes (z. B. die aequitas, worauf es beruht) nicht zu einer Ausle - gung führen, wodurch der Ausdruck als unrichtig ange - nommen und einer Berichtigung unterworfen werden ſoll. Denn dieſe Behandlung trägt ſchon ganz den Character einer von der Auslegung verſchiedenen Fortbildung des Rechts an ſich, da wir nicht fragen, was in dem Gedan - ken des Geſetzes enthalten iſt, ſondern was in denſelben conſequenterweiſe hätte aufgenommen werden müſſen, wenn ſich der Geſetzgeber dieſes klar gemacht hätte. Es kommt aber noch hinzu die bey dieſer letzten Behauptung ſtets zurück bleibende Ungewißheit, indem bey der Entfernung(n)dieſes nicht wohl über ſchon ver - gangene Handlungen verfügen kann), ſondern auf den in der Zukunft liegenden Zeitpunkt, hier alſo auf den Ablauf des Jahres nach entſtandenem Klagrecht. Vor dieſem Ablauf ſoll die Klage er - laubt ſeyn (in praeteritum in - dulget), alſo nachher verboten (in futurum vetat).239§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.des Geſetzes von dieſem ſeinem generellen Grunde viele entgegenwirkende Mittelglieder gedacht werden können, durch die der Geſetzgeber ſelbſt bey deutlicher Einſicht in das ganze Verhältniß, dennoch abgehalten werden mochte, dem Geſetze die von uns verlangte Modification zu geben (§ 34). Wenn wir nicht ſelten Auslegungen dieſer Art bey den Römiſchen Juriſten finden, ſo können uns dieſe hierin nicht als Muſter dienen, da die Römer, wie ſich unten zeigen wird, Auslegung und Fortbildung nicht ſcharf unterſchieden haben(q)Beyſpiele dieſer Art finde ich in folgenden Stellen: L. 40 pr. de her. pet. (5. 3. ), L. 2 § 1. 3 ad Sc. Vell. (16. 1. ), L. 1 § 6 de aedil. ed. (21. 1. ), L. 15. L. 6 § 2 de j. patr. (37. 14. ), L. 2 pr. § 1 de cust. (48. 3.). Vgl. unten § 47 und § 50 am Ende.. Dahin gehört unter andern auch die Regel, daß in jedes blos verbietende Geſetz ſtets die Nichtigkeit des darin verbotenen Rechtsgeſchäfts hinein gedacht werden müſſe(r)L. 5 C. de leg. (1. 14.).. Wollten wir dieſes als eine für unſre Auslegung gültige Regel betrachten, ſo würde es mit der eben aufgeſtellten Behauptung im Widerſpruch ſtehen, da hier dem Ausdruck des bloßen Verbots, aus dem generellen Grunde der Zweckmäßigkeit und Wirkſam - keit, eine große Ausdehnung beygelegt würde. Es iſt aber in der That jene Vorſchrift ein ganz poſitives Ge - ſetz, und, in Verbindung gedacht mit anderen, ein bloßes Verbot ausſprechenden Stellen unſrer Rechtsbücher, eine authentiſche Auslegung dieſer Stellen ſelbſt: alſo nicht An - weiſung und Muſter für unſere eigene Auslegung.

240Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Iſt nun alſo der ſpecielle Geſetzgrund zur Berichtigung des Ausdrucks zuläſſig, der generelle unzuläſſig, ſo muß zugleich daran erinnert werden, daß es zwiſchen dieſen beiden Arten von Gründen keine ſcharfe Gränze giebt (§ 34). Durch die mancherley allmäligen Übergänge, die ſich hierin bilden, wird oft die Möglichkeit wahrer Aus - legung zweifelhaft, und die Unterſcheidung derſelben von Fortbildung des Rechts ſchwierig werden.

Dagegen iſt es durchaus keinem Zweifel unterworfen, daß das dritte oben angegebene Hülfsmittel, der innere Werth des Reſultats (§ 35), auf die Erkenntniß und Ver - beſſerung des unrichtigen Ausdrucks niemals angewendet werden darf. Denn es iſt einleuchtend, daß darin nicht eine Ausgleichung des Ausdrucks mit dem Gedanken, ſon - dern eine verſuchte Verbeſſerung des Gedankens ſelbſt, enthalten ſeyn würde. Dieſes kann als Fortbildung des Rechts heilſam ſeyn, von einer Auslegung kann es nur den Namen an ſich tragen.

§. 38. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze (Kritik).

Die aufgeſtellten allgemeinen Grundſätze der Ausle - gung ſollen nunmehr auf die Juſtinianiſche Geſetzgebung insbeſondere angewendet werden, deren Auslegung wieder neue Schwierigkeiten mit ſich führt, und neue Regeln des Verfahrens nöthig macht. Dabey wird hier die geſchichtliche Kenntniß dieſer Geſetzgebung vollſtändig241§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.vorausgeſetzt, ſo daß nur von der Anwendung dieſer Kenntniß auf das Geſchäft der Auslegung die Rede ſeyn wird(a)Ganz abſichtlich alſo wird hier nicht geſprochen von der Entſtehung der Juſtinianiſchen Rechtsquellen, von ihren Be - ſtandtheilen, von ihrer Sprache, und den Hülfsmitteln, die wir dabey benutzen, von den Hand - ſchriften und Ausgaben des Textes..

Die ganz eigenthümliche Lage des Auslegers gründet ſich hier auf die große Entfernung zwiſchen ihm und der Entſtehung der auszulegenden Geſetze. Dieſe giebt dem Studium des Römiſchen Rechts einen vorzugsweiſe ge - lehrten Character. Wir entbehren darin alle Vortheile der Anſchaulichkeit und unmittelbaren Gewißheit, die aus dem Mitleben mit dem Volke, worin ein Recht entſtand, hervorgehen können, und wir müſſen ſuchen dieſe Vortheile durch geiſtige Anſtrengung ſo viel als möglich zu erſetzen. Dadurch erhält insbeſondere die Auslegung noch ein an - deres Ziel, als das der Erwerbung eines reinen Reſul - tates an ſicheren Rechtsregeln. Wir müſſen ſuchen, die überlieferten Rechtsquellen in ihrer ganzen Eigenthümlich - keit ſo vollſtändig in uns aufzunehmen, daß ſie uns die Stelle des Mitlebens vertreten. So ſchwierig dieſe Auf - gabe an ſich iſt, ſo wird ſie doch durch die hohe literari - ſche Vortrefflichkeit erleichtert, die wir in den wichtigſten Theilen jener Rechtsquellen wahrnehmen.

Die Grundlage aller Auslegung iſt ein auszulegender Text, und die Feſtſtellung dieſes Textes heißt Kritik. Dieſe geht alſo der Auslegung vorher, jedoch darf dieſes16242Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.Vorhergehen nur von dem Verfahren im Ganzen verſtan - den werden, nicht von jeder einzelnen Anwendung: denn im Einzelnen wird oft das Geſchäft der Kritik nur ge - meinſchaftlich mit dem der Auslegung vollzogen werden können. Die Kritik kommt vor in zwey Stufen: als diplomatiſche (oder niedere), und als höhere Kritik. Die Aufgabe der erſten geht darauf, das Material ſicher und vollſtändig herbeyzuſchaffen, die der zweyten auf die Beſtimmung des wahren Textes aus dem gegebenen Material.

An ſich iſt das Geſchäft der Kritik ein eben ſo allge - meines, als das der Auslegung, und keinesweges auf das Römiſche Recht beſchränkt. Da es jedoch hier größere Wichtigkeit und Schwierigkeit als bey anderen Geſetzge - bungen hat, ſo habe ich es vorgezogen, erſt an dieſer Stelle davon zu reden, wo es im vollſtändigen Zuſam - menhang, und ohne läſtige Wiederholungen, dargeſtellt werden kann.

In Beziehung auf Kritik iſt zuerſt der einfachſte Fall zu erwägen, da uns der Geſetzgeber den Text des Ge - ſetzes in einer ſolchen Geſtalt unmittelbar übergiebt, wel - cher er ſelbſt öffentlichen Glauben beylegt. In dieſem Fall, der durch die Erfindung der Buchdruckerkunſt nicht nur möglich, ſondern auch ſehr gewöhnlich geworden iſt, fällt die diplomatiſche Kritik von ſelbſt weg; es ſcheint aber, daß auch die höhere Kritik, wenn ſie etwa einen Druckfehler behaupten wollte, als Auflehnung gegen den243§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.Willen des Geſetzgebers abgewehrt werden müßte. Allein es iſt oben gezeigt worden, daß ſelbſt der wirkliche Aus - druck des Geſetzes aus dem Gedanken deſſelben durch Auslegung berichtigt werden darf (§ 37), welches Verfah - ren auf dem Vorzug des Geiſtes vor dem Buchſtaben beruht. Nun iſt aber der gedruckte Text, im Verhältniß zu dem wirklichen Ausdruck, doch nur als der Buchſtab des Buchſtabs anzuſehen, ſo daß er tiefer ſteht als jener; daher wird auch er einer gleichen Berichtigung ſich nicht entziehen können. Freylich aber wird dieſer Fall ſehr ſelten vorkommen, und er hat daher in der allgemei - nen Betrachtung der Kritik geringe Erheblichkeit(b)Ein merkwürdiges Bey - ſpiel aus neuerer Zeit iſt folgen - des. Das Königlich Weſtphäli - ſche Dekret vom 18. Jan. 1813 Art. 3, legte dem Zehentherrn eines Gutes den zehenten Theil der Grundſteuer auf wenn der Zehentherr den zehnten Theil des reinen Ertrages bezieht: außer dieſem Fall, nach Verhält - niß, mehr oder weniger als ein Zehentheil (Bülletin N. 3 von 1813. S. 45). In einem ſpäte - ren Stück des Geſetzbülletins aber ſteht: Bülletin Nr. 3 des reinen Ertrags, lies: des rohen Ertrags. Dieſe Berichtigung, die gleichzeitig im Moniteur vom 3. Febr. ſtand, war jedoch ohne Unterſchrift oder andere Beglaubigung, und ſtand überdem im Widerſpruch mit der ſchriftlichen Originalurkunde. Das praktiſche Reſultat beider Leſe - arten iſt höchſt verſchieden, und es fragte ſich nun, welche vor - gehen ſollte. Nach der erſten Leſeart war das Geſetz in conſe - quentem Zuſammenhang mit den allgemeinen Steuergrundſätzen, aber ſehr ſchwer auszuführen: nach der zweyten Leſeart verhielt ſich Beides gerade umgekehrt..

Allein der hier beſchriebene Fall iſt auch keinesweges der, in welchem wir uns befinden im Verhältniß zu den Quellen des Juſtinianiſchen Rechts. Daß wir keinen ge - ſetzlich überlieferten Text haben, giebt wohl Jeder zu. 16*244Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.Wäre in Bologna das kritiſche Streben der Gloſſatoren zu einem abgeſchloſſenen Ziel gekommen, ſo würde die Reception dieſer Vulgata die Stelle eines geſetzlichen Tex - tes vertreten, obgleich auch dadurch, wie ſo eben gezeigt worden iſt, das Geſchäft der höheren Kritik nicht ausge - ſchloſſen wäre. Allein eine fertige Vulgata in dieſem Sinn hat nie beſtanden, und eine Reception derſelben war alſo unmöglich (§ 17). Wir haben folglich Nichts vor uns als eine bedeutende Anzahl Handſchriften, die an Alter und Werth ſehr verſchieden ſind. Selbſt die gänz - liche Übereinſtimmung derſelben in einer Leſeart kann der geſetzlichen Mittheilung nur durch eine Art von Fiction gleichgeſtellt werden. In Wahrheit entſteht aus einer ſolchen Übereinſtimmung doch nur ein höherer Grad von Wahrſcheinlichkeit daß wir den urſprünglichen Text vor uns haben, keine Gewißheit. Neuere Schriftſteller haben befürchtet, es würde um alle Sicherheit der Praxis ge - ſchehen ſeyn, wenn man die Kritik walten ließe, und ſie haben daher dieſelbe entweder gänzlich verworfen, oder doch in willkührliche enge Gränzen eingeſchloſſen(c)Thibaut verwarf den praktiſchen Gebrauch der Kritik gänzlich (Verſuche Bd. 1 Num. 16), gab aber ſpäterhin dieſe Meynung auf (Logiſche Ausle - gung § 44). Feuerbach will die freye Conjecturalkritik nur zulaſſen, um Unſinn oder Wi - derſpruch auszurotten (civiliſti - ſche Verſuche Th. 1 Num. 3). Eben ſo Glück I. § 35 Num. 5.. Dieſe Ängſtlichkeit will einen gegebenen Text gegen die Gefahr willkührlicher Abweichungen bewahren. Sie iſt aber dadurch nichtig, daß das Gegebene, welches ſie245§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.bewachen will, gar nicht exiſtirt. Sieht man zu, was ſie ſich als ein ſolches denken, ſo entdeckt man eben ſo ver - ſchiedene als unklare Vorſtellungen. Die Vulgata, oder Bo - logneſiſche Recenſion, könnte dafür gelten, wenn ſie zu Stande gekommen wäre. Die Ubereinſtimmung aller erhaltenen Hand - ſchriften giebt wieder einen beſtimmten Begriff, wenngleich kein Recht zu Abweiſung der Kritik: allein dieſe meynen ſie auch nicht. Denn theils war bis jetzt in Fällen ſtrei - tiger Kritik faſt niemals auch nur ein Anfang dazu ge - macht worden, jene Übereinſtimmung zu erfahren, theils beruhte der Kampf gegen die Kritik hauptſächlich auf der Furcht, die in Gerichten hergebrachten Meynungen könn - ten durch tiefer gehende Unterſuchung geſtört werden, wobey ja gerade die Vergleichung von Handſchriften be - ſonders gefährlich war. Giebt man aber dieſe Beſtim - mungen des gegebenen Textes (welcher unantaſtbar ſeyn ſoll) auf, ſo bleibt faſt Nichts übrig, als denjenigen Text dafür zu nehmen, der den Meiſten vor Augen liegt, weil er gerade in den verbreitetſten Ausgaben ſteht, wofür vielleicht die Gothofrediſchen gelten dürften(d)Die meiſten Widerſacher der Kritik denken dergleichen, ohne es ſich klar zu machen oder auszuſprechen. Deutlich ausge - ſprochen, unter vielem Verworre - nen, iſt es bey Dabelow Hand - buch des Pandectenrechts Th. 1 S. 204 (Halle 1816), der aber gerade keinen Gebrauch davon macht, ſondern der Kritik große Freyheit einräumt.. Allein ein ſo ſchwankender und ſo willkührlich angenommener Begriff darf doch gewiß nicht auf ernſthafte Rückſicht An - ſpruch machen.

246Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

§. 39. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. (Kritik.) Fortſetzung.

Iſt nun durch dieſe Gründe das Recht der Kritik gel - tend gemacht, ſo müſſen ferner die Regeln ihres Verfah - rens aufgeſtellt werden. Die diplomatiſche Kritik hat das handſchriftliche Material zu ſammeln, und, durch Prüfung der Handſchriften nach ihrem Alter und Werth, äußerlich zu ordnen. Sie hat ferner den recipirten Ca - non durch Ausſcheidung aller fremdartigen Theile (§ 17) rein zu erhalten, die demſelben, nach der Einrichtung der meiſten neueren Ausgaben, aus Verſehen leicht zugezählt werden können(a)Noch ſchlimmer, als die irrige Anwendung des nicht gloſſirten aber ächten Textes, iſt es freylich, wenn hie und da die ſeit dem vierzehnten Jahrhundert verfaßten und ſpäter in die Aus - gaben aufgenommenen Summa - rien als Beſtandtheile des - miſchen Rechts angeſehen wor - den ſind, welcher ſtarke Misgriff jedoch leicht zu erklären iſt. Denn die Gloſſe und die neueren An - merkungen ſtehen ſtets am Rande der Ausgaben, dieſe Summa - rien aber als Überſchriften mit - ten im Text, daher ſie der Un - kundige leicht für Text halten kann. Vgl. hierüber Savigny Beruf unſrer Zeit S. 62, und: Geſchichte des R. R. im Mittel - alter B. 6 S. 162.. Das Geſchäft der höheren Kritik zerfällt in zwey Theile: Verarbeitung des durch die diplo - matiſche Kritik überlieferten handſchriftlichen Vorraths, und Verbeſſerung deſſelben. Sie hat alſo zunächſt, dem erſten Theile nach, durch freye Auswahl aus dem hand - ſchriftlichen Vorrath einen Text zu bilden. Allerdings247§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.muß ſie diejenige Wahrſcheinlichkeit mit in Anſchlag brin - gen, die aus der Zahl und dem Werth der Handſchriften für eine unter mehreren Leſearten hervorgehen kann. Aber frey bleibt ſie darum dennoch in der Auswahl, ohne durch die Rückſicht auf irgend eine Klaſſe von Handſchriften (z. B. die Vulgata) gebunden zu ſeyn: ja dieſe Freyheit iſt ſogar in ſehr wichtigen Anwendungen ſtets allgemein anerkannt worden, ſelbſt von Solchen, die ſich in der allgemeinen Theorie entſchieden gegen den Gebrauch der Kritik ausſprachen. Es giebt nämlich in den Digeſten eine anſehnliche Zahl von Stellen, worin der Florentini - ſche Text durch Lücken ſinnlos iſt, andere Handſchriften aber einen vollſtändigen Text von unzweifelhafter Ächt - heit darbieten: eben ſo giebt es viele Stellen, worin der umgekehrte Fall eintritt(b)Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3 § 167. 171. Allerdings könnte man ſa - gen, die hier angeführten Er - gänzungen aus der Florentina ſeyen ja ſchon ſelbſt Beſtandtheile der Vulgata geworden. Allein die Bologneſer haben uns nicht wenige ganz ähnliche Verbeſſe - rungen zu machen übrig gelaſſen, die erſt in ſpäterer Zeit aus der Florentina hinzugefügt worden ſind, und woran dennoch nie - mals Anſtoß genommen wor - den iſt.. Nun weiß ich auch keinen einzigen Schriftſteller, der in ſeinem kritiſchen Rigorismus ſo weit gienge, dieſe zwiefachen Verbeſſerungen abzuwei - ſen: und doch hat die Meynung, welche etwa dem Bo - logneſiſchen Text die ausſchließende Herrſchaft zuſchreiben möchte, unter allen oben dargeſtellten willkührlichen Be - ſchränkungen noch am meiſten hiſtoriſchen Schein für ſich. 248Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.In unſren gangbaren Ausgaben freylich merken wir jene zwiefache Noth gar nicht, indem darin überall die erwähn - ten Verbeſſerungen ſchon aufgenommen ſind. Und in dieſer Anwendung wird es recht anſchaulich, daß in der Aner - kennung eines beſtimmten Textes zu keiner Zeit eine ähn - liche allgemeine Meynung feſt geworden iſt, wie es von ſo vielen und wichtigen praktiſchen Rechtsſätzen nicht ge - läugnet werden kann (§ 20). Zu dieſem erſten Theile des Geſchäfts der höheren Kritik gehört endlich auch noch die Interpunktion, durch welche die logiſche Gliederung einer Stelle beſtimmt wird, und die daher ihrer innern Natur nach als Auslegung angeſehen werden könnte, ob - gleich ſie in ihrer Form mit dem Geſchäft des Kritikers zuſammenfällt. Merkwürdigerweiſe haben Manche auch ſchon die Veränderung der gewöhnlichen Interpunktion als eine Art von Emendation angeſehen(c)Feuerbach a. a. O., S. 93.. Allein die Vorſtellung von einer gewöhnlichen Interpunktion iſt, eben ſo wie die von einem gewöhnlichen Text überhaupt, eine ganz leere und nichtige. In der That liefern uns die Handſchriften faſt Nichts als ununterbrochene Reihen von Buchſtaben: wie wir dieſe in Worte ſondern, und dieſe Worte zu Sätzen gliedern wollen, das iſt ganz un - frer Einſicht überlaſſen. Die geringen und unſicheren An - fänge von Interpunktion in einigen Handſchriften können gar nicht in Betracht kommen.

Es bleibt nun noch übrig, den zweyten Theil des Ge -249§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.ſchäfts der höheren Kritik zu betrachten, der in der Ver - beſſerung des handſchriftlichen Textes, alſo in der Emen - dation durch Conjecturen(d)Emendation iſt ganz rela - tiv, und bezieht ſich ſtets auf ir - gend einen, willkührlich voraus - geſetzten, Text, der gerade jetzt verbeſſert werden ſoll. Daher kann auch ſchon die bloße Be - richtigung von Druckfehlern als eine ſolche gelten; doch beſchränkt man gewöhnlich den Ausdruck auf die Verbeſſerungen von wiſ - ſenſchaftlichem Character, d. h. auf ſolche, die den Text beſtimm - ter Handſchriften, oder der auf Handſchriften gebauten Ausga - ben, zum Gegenſtand haben. beſteht. Dieſe Conjectural - kritik iſt es eigentlich, welche eine ſo große Aufregung gegen die kritiſche Behandlung unſrer Quellentexte über - haupt hervorgebracht hat. Auch iſt nicht zu läugnen, daß dieſelbe ſeit dem ſechszehnten Jahrhundert von Manchen, beſonders Franzoſen und Holländern, auf eine willkühr - liche, ja leichtſinnige Weiſe geübt worden iſt. Dieſem Misbrauch das Wort zu reden, iſt gewiß nicht meine Ab - ſicht, aber das wichtige, ja unentbehrliche Recht auf ihren richtigen Gebrauch dürfen wir darum weder aufgeben, noch durch willkührliche Bedingungen einſchränken laſſen(e)Eine ſolche unzuläſſige Ein - ſchränkung iſt es, wenn man Conjecturen nur als letztes Mit - tel gegen Sinnloſigkeit des Tex - tes oder innern Widerſpruch der Geſetzgebung zulaſſen will, ſ. o. § 38 Note c. .

Die beiden hier angegebenen Anwendungen der höhe - ren Kritik, zur Auswahl unter handſchriftlichen Texten, und zu deren Berichtigung, haben unverkennbare Ähnlich - keit mit den beiden Auslegungsarten mangelhafter Geſetze, im Fall des unbeſtimmten und des unrichtigen Ansdrucks (§ 35 37). Fragen wir alſo auch hier nach den Er -250Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.kenntnißmitteln für den wahren Text, den wir feſtzuſtellen haben, ſo finden wir, als das erſte und wichtigſte Mittel, die aus dem Zuſammenhang einer Stelle ſelbſt hervorge - hende innere Nothwendigkeit. Dieſe aber darf nicht nach allgemeinen Begriffen angenommen werden, ſondern nach dem beſonderen literariſchen Character der Stelle, worauf ſich die Kritik eben bezieht, oder der Klaſſe von Stellen, wozu dieſe einzelne gehört. Daher iſt denn bey dieſer Art der Kritik mit Regeln wenig auszurichten: die Haupt - ſache beruht auf einem durch anhaltendes Quellenſtudium ausgebildeten kritiſchen Blick, und auf einem behutſamen, ſich ſelbſt mistrauenden Wahrheitsſinn. Ein ähnliches Mittel beſteht in der Vergleichung der zweifelhaften Ge - ſetzſtelle mit anderen Stellen; dieſe Vergleichung kann jedoch der Verbeſſerung nur in dem Maaße Sicherheit geben, in welchem zwiſchen beiden Stellen eine nähere Verwandtſchaft obwaltet. Die auf dieſe Weiſe begrün - dete Verbeſſerung aber kann noch eine mehr äußere Be - kräftigung dadurch erhalten, wenn es uns gelingt auf eine wahrſcheinliche Weiſe zu erklären, wie der Text, den wir für den unrichtigen erklären, aus dem wahren Texte bey den Abſchreibern entſtanden iſt. Dieſes kann geſchehen erſtens durch die Analogie. Es giebt nämlich gewiſſe Fehler, die ſehr häufig und gleichförmig wieder - kehren, und deren Vorausſetzung daher von ſelbſt eine gewiſſe Wahrſcheinlichkeit mit ſich führt. Dahin gehört die häufige Verwechslung beſtimmter Buchſtaben unter251§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.einander: ferner die Auslaſſung eines Buchſtabs, wenn derſelbe Buchſtab unmittelbar vorhergieng, wobey wir alſo den ausgefallenen wiederherſtellen wollen (Gemina - tion): endlich das Überſpringen oder Verſetzen ganzer Zeilen in der dem Abſchreiber vorliegenden Urhandſchrift, welche Annahme freylich ſchon weit bedenklicher iſt. Die wahr - ſcheinliche Erklärung der Entſtehung des irrigen Textes kann zweytens geſchehen dadurch, daß eine von mehreren Leſe - arten ſchwerer als andere zu verſtehen iſt, ſo daß die Abſchreiber den wahren Text verwarfen, blos weil ſie ihn nicht verſtanden. Sie kann endlich auch geſchehen dadurch, daß zu der Zeit, worin die Abſchriften entſtan - den, das Recht ſelbſt ſich verändert hatte, ſo daß das damals geltende Recht in die Abſchriften hinein corrigirt wurde(f)Dahin gehört § 4 J. de nupt. (1. 10 ): Duorum autem fratrum vel sororum liberi, vel fratris et sororis, jungi non possunt. Viele Hand - ſchriften haben das non, viele andere haben es nicht. Die an ſich unbedenkliche Verwerfung des non wird nun dadurch be - ſtärkt, daß zur Zeit der Entſte - ſtehung unſrer Handſchriften ge - wiß jeder Abſchreiber wußte, daß die Ehe unter Geſchwiſterkindern (durch das canoniſche Recht) ver - boten ſey. Solche Fälle ſind nun freylich ſelten. Dagegen liegt es viel näher und ſcheint viel fruchtbarer, die vorjuſtinia - niſche Rechtsgeſchichte zur Emen - dation zu benutzen; aber gerade dieſe Benutzung iſt meiſt ganz unzuläſſig, wie weiter unten ge - zeigt werden wird.. Dagegen iſt zu verwerfen diejenige Erklä - rung des Fehlers, welche auf der Vorausſetzung von Siglen in den Urhandſchriften beruht, die dann von den Abſchreibern unrichtig aufgelöſt ſeyn möchten. Denn da Juſtinian den Gebrauch der Siglen bey den Abſchriften252Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.ſeiner Geſetze unbedingt verboten hat(g)Const. Omnem § 8. L. 1 § 13 C. de vet j. enucl. (1. 17). L. 2 § 22 eod. Const. Cordi § 5., ſo können ſich gewiß nur wenige aus Verſehen eingeſchlichen haben, und dieſe können nicht hinreichen, um irgend eine Wahrſchein - lichkeit in einzelnen Fällen zu begründen.

§. 40. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Fortſetzung. (Einzelne Stellen für ſich.)

Bey der Auslegung ſelbſt beziehen ſich die der Juſti - nianiſchen Geſetzgebung eigenthümlichen Regeln nur auf die zwey größten und wichtigſten Theile derſelben, die Digeſten und den Codex. Jedes dieſer beiden Rechtsbü - cher bildet ein großes Ganze, zuſammengeſetzt aus einer Menge von hiſtoriſch verſchiedenen und erkennbaren ein - zelnen Beſtandtheilen. Wie dieſe Beſtandtheile einzeln für ſich, und wie ſie im Verhältniß zu dem Ganzen, dem ſie angehören, zu behandeln ſind, ſoll nunmehr angegeben werden.

Zur Auslegung der einzelnen Stellen für ſich ſind zu - vörderſt alle hiſtoriſche Charactere derſelben zu benutzen, alſo Alles, was wir aus den Überſchriften und Unter - ſchriften über Zeitalter, Verfaſſer, Veranlaſſung der Stellen wiſſen, ſo wie über das völlig verſchiedene Ganze, dem ſie vielleicht urſprünglich angehört haben mögen(a)Dieſes Letzte gilt haupt - ſächlich von den Digeſten, worin jede Stelle als urſprünglicher Theil eines juriſtiſchen Buchs betrachtet werden muß. Hie und. Dann253§. 40. Juſtinianiſche Geſetze. Einzelne Stellen für ſich.aber iſt uns zu dieſer Auslegung das reichſte Material gegeben durch die Vergleichung, nicht nur mit allen an - deren Stellen der Juſtinianiſchen Geſetzgebung, ſondern auch mit den geſammten früheren und ſpäteren Rechts - quellen; denn durch die oben feſtgeſtellten Gränzen des aufgenommenen Canons (§ 17) kann uns der wiſſenſchaft - liche Gebrauch jenes reichen Schatzes auf keine Weiſe beſchränkt werden.

Ferner iſt in dieſer Beziehung wichtig die große Ver - ſchiedenheit jener Beſtandtheile, nach welcher wir zwey Klaſſen derſelben annehmen können. Die erſte und zahl - reichſte Klaſſe umfaßt die ganzen Digeſten, und im Codex die Reſcripte. Dieſe ſind, ihrer Hauptbeſtimmung nach, Zeugniſſe für das damals beſtehende Recht, ſie haben inſoferne einen wiſſenſchaftlichen Character, und das ſyſte - matiſche Element der Auslegung iſt in ihnen vorherrſchend (§ 33). Jedoch muß hier gegen einen zweyfachen Mis - brauch gewarnt werden, der von der Anerkennung dieſes Characters gemacht werden könnte. Zuerſt nämlich haben ſich die Reſcripte keinesweges ſtrenge in dieſen Gränzen gehalten, vielmehr iſt in einem nicht unbedeutenden Um - fang auch die Fortbildung des Rechts durch ſie bewirkt worden (§ 24); ja auch den wiſſenſchaftlichen Arbeiten(a)da iſt es aber auch auf Stellen des Codex anzuwenden, wenn mehrere derſelben urſprünglich nur Eine Conſtitution gebildet haben (Coaſſation). Dieſer Fall kommt häufiger im Theodoſiſchen Codex vor, doch iſt er auch dem Juſtinianiſchen nicht fremd. Als Beyſpiel kann dienen L. 5 C. de act. emti (4. 49. ) verbunden mit L. 3 C. in quib. causis (2. 41).254Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.der alten Juriſten iſt dieſe Fortbildung, wenngleich in geringerem Maaße als bey den Reſcripten, nicht fremd (§ 14. 19. ), welches noch deutlicher bey der Characteriſtik ihrer Weiſe der Auslegung hervortreten wird. Zweytens wäre es ganz irrig, wenn man die oben dargeſtellten all - gemeinen Grundſätze der Geſetzauslegung auf die Re - ſcripte im Codex, und auf die geſammten Digeſten, darum weniger anwenden wollte, weil dieſe Stücke der Quellen urſprünglich keine Geſetze waren; denn jene Grundſätze ſind ihrem innern Weſen nach auf jede andere Form juri - ſtiſcher Gedankenbildung eben ſo anwendbar, als auf Ge - ſetze, obgleich die Entwicklung derſelben zunächſt um der Geſetze willen nothwendig war. Auch habe ich deshalb bisher die erläuternden Beyſpiele der Auslegung ohne Rückſicht darauf gewählt, ob die auszulegenden Stellen urſprünglich die Natur von Geſetzen an ſich trugen oder nicht. Die zweyte Klaſſe von Beſtandtheilen der gro - ßen Rechtsbücher iſt die der urſprünglichen Geſetze, wohin alſo nur die Edicte im Codex gehören. Bey dieſen iſt das hiſtoriſche Element der Auslegung (§ 33) eben ſo vor - herrſchend, wie es dort das ſyſtematiſche war(b)So z. B. iſt bey der Aus - legung der L. un. C. de nudo j. quir. toll. (7. 25. ) die Haupt - frage dieſe: welches Recht galt hierin im Anfang der Regierung Juſtinians, und was wurde alſo durch jenes Geſetz wahrhaft ge - ändert?. Eine ganz gleiche Natur aber haben auch die Novellen, welche überhaupt nicht Beſtandtheile eines größeren Ganzen, ſon - dern nur einzeln ſtehende Geſetze ſind.

255§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.

§. 41. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Fortſetzung. (Einzelne Stellen im Verhältniß zur Compilation.)

Es iſt nun ferner zu beſtimmen, was für die Ausle - gung einzelner Stellen folgt aus ihrem Verhältniß zu der Compilation, welcher ſie als einem Ganzen angehören.

Zunächſt bekommt durch dieſes Verhältniß eine ganz neue Bedeutung und Wichtigkeit dasjenige Hülfsmittel der Auslegung mangelhafter Geſetze, welches in dem Zuſam - menhang dieſes Geſetzes mit ſich ſelbſt beſteht (§ 35). Denn indem jetzt die ganzen Digeſten als Ein großes Geſetz von Juſtinian zu betrachten ſind, und eben ſo der ganze Codex, ſo bekommt dadurch jenes Hülfsmittel eine ungemein große und wohlbegründete Ausdehnung(a)Die Vergleichung zweyer Stellen in den Digeſten kann zu ganz verſchiedenen Zwecken angeſtellt werden. Erſtlich um dem unbeſtimmten oder unrich - tigen Ausdruck der einen durch die andere abzuhelfen: davon iſt hier die Rede. Zweytens um einen Widerſpruch zwiſchen bei - den Stellen wegzuräumen: da - von kann erſt weiter unten ge - handelt werden..

Ferner entſteht ein neues Mittel der Auslegung da - durch, daß eine einzelne Stelle gerade in dieſen beſtimm - ten Titel eingerückt iſt. Denn da jeder Titel der Dige - ſten und des Codex durch das beſondere Rechtsinſtitut, worauf er ſich bezieht, von allen übrigen Titeln unter - ſchieden iſt, ſo läßt ſich aus dieſem eigenthümlichen Ge - genſtand deſſelben auf den zweifelhaften Sinn einer ein -256Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.zelnen darin enthaltenen Stelle ein wohlbegründeter Schluß ziehen. Nur darf dabey nicht überſehen werden, daß manche Stellen aus Verſehen, und nur nach dem äußeren Schein einer Verwandtſchaft, in einen ganz unpaſſenden Titel eingerückt worden ſind, in welchem Fall jene Aus - legungsregel gar nicht gelten darf(b)Man nennt das leges fugitivae. Ein Beyſpiel giebt L. 6 de transact. (2. 15. ), die blos zufällig und irrig, wegen des darin vorkommenden Wortes transigi, in den Titel de trans - actionibus gekommen iſt, da ſie gar keine die Transactionen be - treffende Regel enthält, wie die Vergleichung mit L. 1 § 1 testam. quemadm. aper. (29. 3. ) deut - lich zeigt.. Aber auch in den gewöhnlichen Fällen würde man jener Regel eine über - triebene Ausdehnung geben, wenn man jede Stelle auf den beſonderen Gegenſtand ihres Titels beſchränken wollte, da ſie neben demſelben, auch ohne Verſehen der Compila - toren, noch ganz Anderes, ja viel Wichtigeres, wirklich enthalten kann. Ein ähnliches Mittel der Auslegung könnte man verſucht ſeyn, in der Ordnung zu ſuchen, worin die einzelnen Stellen eines Titels gegen einander ſtehen, wenn dieſe Ordnung durch ihren Inhalt beſtimmt würde. Allein im Codex ſtehen die Stellen jedes Titels augenſcheinlich in chronologiſcher Ordnung. In den Di - geſten herrſcht zwar nicht die chronologiſche, wohl aber in der Regel gleichfalls eine ganz äußerliche Ordnung, wodurch jener Gebrauch zur Auslegung eben ſo ausge - ſchloſſen wird. Nur ausnahmsweiſe wird der Ort, den eine Stelle in dem Titel einnimmt, durch den Inhalt257§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.beſtimmt, und dann kann derſelbe auch zur Auslegung benutzt werden(c)Bluhme Ordnung der Fragmente in den Pandectenti - teln, Zeitſchrift f. geſchichtl. Rwiſſ. B. 4. S. 290. 366. 414..

Endlich aber ſind ganz beſonders wichtig die Ände - rungen, die an unzähligen Stellen bey ihrer Aufnahme in die Compilationen vorgenommen worden ſind. Und zwar ſind dieſe Änderungen von dreyerley Art.

Die erſte und unmittelbarſte Art beſteht darin, wenn manche Stellen, bey der Aufnahme in die Compilationen, theilweiſe umgeſchrieben worden ſind, welches Verfahren eine Interpolation oder Emblema Triboniani genannt zu werden pflegt. Manche dieſer Interpolationen laſſen ſich mit großer Sicherheit nachweiſen(d)So z. B. dauerte die Uſu - capion der Grundſtücke bis auf Juſtinian zwey Jahre, er aber ſetzte ſie auf zehen, zuweilen zwanzig Jahre, was nach einem alten Sprachgebrauch longum tempus hieß. Daher wurden nun in den Stellen der alten Juriſten, welche von Grundſtük - ken handelten, die Ausdrücke usu - capio und usucapere ganz ge - wöhnlich (obgleich unnöthiger - weiſe) in longi temporis capio und longo tempore capere ver - wandelt. Vgl. L. 10 § 1. L. 17. L. 26. L. 33 § 3 de usurp. (41. 3. ), und manche ähnliche Stellen., eine weit grö - ßere Zahl kann nur mit einiger Wahrſcheinlichkeit behaup - tet werden, oder bleibt uns auch gänzlich verborgen. Die Erlaubniß zu ſolchen Interpolationen, ja die Anweiſung dazu, hat Juſtinian den Verfaſſern der Compilationen ausdrücklich gegeben, und der ſehr natürliche Zweck lag darin, daß ältere Stellen, wenn darin einzelne Ausdrücke zu dem gegenwärtigen Recht nicht mehr paßten, durch17258Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.deren Änderung zur Aufnahme in die Rechtsbücher taug - lich gemacht werden ſollten(e)L. 1 § 7. L. 2 § 10 C. de vet. j. enucl. (1. 17. ), Const. Haec quae necess. § 2, Const. Summa § 3, Const. Cordi § 3.. Hieraus folgt aber die wichtige Regel, daß zur Textkritik die Vergleichung mit den vorjuſtinianiſchen Rechtsquellen nur auf die beſchränk - teſte Weiſe zuläſſig iſt, nämlich nur etwa in ſolchen Fäl - len, worin ſich darthun läßt, daß eine Änderung des Rechts, alſo eine Veranlaſſung zur Interpolation, gewiß nicht ſtatt gefunden hat.

Eine zweyte, weniger ſichtbare, Art der Änderungen beſteht darin, daß einzelne Ausdrücke mancher Stellen, im Zuſammenhang der Compilation, eine andere Bedeu - tung angenommen haben, als die, worin ſie von den urſprünglichen Verfaſſern niedergeſchrieben worden waren. Dadurch wurden die Stellen für die Compilation paſſend, ohne daß man nöthig hatte etwas umzuſchreiben. Ein unzweifelhaftes Beyſpiel findet ſich in der Lehre von den Servituten. Dieſe wurden nach altem Recht regelmäßig durch in jure cessio erworben, weshalb die alten Juriſten ſehr häufig von einer cessio bey Servituten ſprachen. Zu Juſtinians Zeit war die in jure cessio gänzlich verſchwun - den: allein der Ausdruck cessio konnte überall auch in der allgemeinen Bedeutung einer Übertragung überhaupt, ohne Rückſicht auf die dabey angewendete Form, gebraucht werden, und ſo ließ man in vielen Stellen jenen Ausdruck unverändert ſtehen, in der ganz richtigen Erwartung, er259§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.werden nunmehr von Jedem in dieſer allgemeinen Bedeu - tung verſtanden werden(f)Dahin gehören L. 63 de usufructu (7. 1. ), L. 20 § 1. L. 39 de S. P. U. (8. 2. ), L. 3 § 3. L. 10. L. 11. L. 14 de S. P. R. (8. 3. ), L. 15. L. 18 comm. praed. (8. 4.). Es iſt möglich, daß in manchen dieſer Stellen urſprünglich ſtand in jure ces - sio, und daß die Worte in jure weggeſtrichen wurden. Dann ge - hörten dieſelben theilweiſe zur erſten Art von Änderungen, theil - weiſe noch immer hierher, indem doch wenigſtens das beybehaltene Wort cessio eine andere Bedeu - tung angenommen hätte. Allein nothwendig iſt auch jene Annahme nicht; freylich pflegen Gajus und Ulpian die Worte in jure mei - ſtens hinzu zu ſetzen, doch wer - den ſie auch von ihnen zuweilen weggelaſſen. Gajus I. § 168 172. II. § 30. 35. Ulpian. XI. § 7.. Noch häufiger und wichti - ger iſt der Fall, da nicht ein einzelner Ausdruck, ſondern ſelbſt die Entſcheidung einer Rechtsfrage, unverändert geblieben iſt, aber in der Compilation in einem andern Zuſammenhang gedacht, und auf einen andern Grund zurück geführt werden muß, als bey dem alten Juriſten: ſo daß die Entſcheidung zwar hier und dort gleich richtig iſt, aber auf verſchiedene Weiſe(g)So z. B. ſagt L. 11 pr. de public. (6. 2. ): Si de usu - fructu agatur tradito, Publi - ciana datur. (Eben ſo nachher von den Prädialſervituten). Da - bey dachte Ulpian ohne Zweifel dieſes: wenn ein Uſusfructus nicht förmlich (durch in jure cessio), aber doch mit Tradition beſtellt iſt, ſo kann zwar nicht die wahre confessoria (die vindicatio ususfructus) gelten, wohl aber die publiciana, zu deren Be - gründung überall die Tradition hinreicht. Für das Juſtinianiſche Recht hat die Stelle nur dadurch Sinn, daß man hinzudenkt, der Uſusfructus ſey von einem Nicht - eigenthümer beſtellt worden: denn das iſt ja der einzige Fall über - haupt, worin jetzt noch von jener Klage die Rede ſeyn kann. Wenn meines Nachbars Haus baufällig iſt, und ich erſt eine missio, dann noch ein zweytes Decret erhalte, ſo ſoll ich die publiciana und die Fähigkeit zur Uſucapion erlangen. L. 5 pr. L. 18 § 15 de damno infecto (39. 2.). Das hatte urſprünglich den Sinn, daß der Prätor durch das zweyte Decret das Eigen -. Die Auslegung,17*260Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.welche auf einer vorausgeſetzten Änderung dieſer zweyten Art beruht, wird paſſend eine duplex interpretatio genannt.

Endlich giebt es noch eine dritte Art der Änderungen, die der zweyten ähnlich iſt, jedoch mit dem Unterſchied, daß ſie ſich nicht auf einzelne abgeänderte Rechtsſätze, ſondern auf den ganzen innern Bau der Compilationen bezieht. Dahin rechne ich die ganz neue und ſehr wich - tige Stellung, welche die zahlreichen Reſcripte durch ihre Aufnahme in den Codex erhalten haben. Die Reſcripte ſollten gleich Anfangs Geſetzeskraft haben, aber nur für den einzelnen Fall, worin ſie erlaſſen waren, nicht für andere gleiche Fälle (§ 24). In der Compilation haben ſie eine gerade umgekehrte Wirkſamkeit erhalten. Für den einzelnen Rechtsfall, der ſie veranlaßte, ſind ſie gar Nichts mehr, denn dieſer war ſchon zu Juſtinians Zeit gänzlich verſchollen: dagegen ſind die Rechtsregeln, die ſie in concreter Form ausgedrückt enthalten, jetzt zu all - gemeinen Geſetzen erhoben. Dieſe neue Bedeutung der Reſcripte würden wir ſchon aus ihrer bloßen Aufnahme in den Codex folgern dürfen, da dieſe keinen andern denk - baren Zweck haben konnte: Juſtinian aber hat ihnen die - ſelbe auch noch durch ausdrückliche Erklärungen beyge - legt(h)Const. Haec quae necess. § 2, Const. Summa § 3.. Die Aufgabe beſteht alſo hier darin, aus der Entſcheidung des einzelnen Falles die darin ausgedrückte(g)thum geben wollte, aber nicht mehr als das bonitariſche geben konnte: jetzt muß es von dem Fall verſtanden werden, da der Nachbar kein (erweisliches) Ei - genthum hat.261§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.allgemeine Regel heraus zu finden, welches dadurch ge - ſchieht, daß in der Abſonderung der concreten Umgebung das rechte Maas gehalten wird, indem darin leicht zu viel oder zu wenig geſchehen kann(i)Ein Beyſpiel, wie in die - ſer Hinſicht die Reſcripte ſchon von den Römiſchen Juriſten be - handelt wurden, findet ſich in L. 9 § 5 de j. et f. ignor. (22. 6.). Sie waren zu dieſem Ver - fahren dadurch veranlaßt, daß auch ſchon bey ihnen die in den Reſcripten enthaltenen Regeln als große Autoritäten galten, wenngleich nicht als Geſetze (§ 24).. Zuweilen wird es auch nicht gelingen, mit völliger Gewißheit zu beſtim - men, wie Vieles unter die zufälligen, der Rechtsregel fremden, Umſtände des vorgelegten einzelnen Falles zu rechnen iſt. Dieſes Verfahren iſt weſentlich verſchieden von der ausdehnenden Auslegung eines Geſetzes durch Vergleichung mit ſeinem Grunde (§ 37). Denn durch dieſe ſoll der zu enge, alſo mangelhafte, Ausdruck berich - tigt werden: bey jener Behandlung der Reſcripte iſt Nichts zu berichtigen, ſondern nur die in individueller Anwendung ausgeſprochene Regel richtig zu erkennen(k)Es iſt alſo hier vor einer zweyfachen Verwechslung der ausdehnenden Auslegung zu war - nen: 1) Verwechslung mit der hier beſchriebenen Verwandlung der concreten Entſcheidung in die darin enthaltene, bald offenbare, bald verborgene, allgemeine Re - gel. 2) Verwechslung mit der Anwendung der im Reſcripte enthaltenen Regel auf gleiche einzelne Fälle. Dieſe Anwen - dung war (als eine mit Geſetzes - kraft verſehene) im alten Recht verboten (§ 24); für die in den Codex aufgenommenen Reſcripte iſt ſie vorgeſchrieben. Mit beiden Verfahrungsarten hat die ausdeh - nende Auslegung Nichts zu ſchaffen.. Bey dieſer Auslegung der Reſcripte nun iſt das oben dargeſtellte argumentum a contrario (§ 37) gefährlicher, als in jedem andern Falle der Auslegung, indem es nicht262Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.leicht gelingen wird, den Zweifel gänzlich zu beſeitigen, ob nicht der Theil des Reſcripts, worin man den ver - ſteckten Gegenſatz wahrzunehmen glaubt, doch nur zu den zufälligen Bedingungen des einzelnen Rechtsfalls gehört hat(l)Mühlenbruch, Archiv für civil. Praxis II. S. 427..

§. 42. B. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. (Widerſpruch.)

Bisher iſt von der Auslegung der einzelnen Geſetze die Rede geweſen. Allein die Geſammtheit der oben an - gegebenen Rechtsquellen (§ 17 21) bildet ein Ganzes, welches zur Löſung jeder vorkommenden Aufgabe im Ge - biete des Rechts beſtimmt iſt. Damit es zu dieſem Zweck tauglich ſey, müſſen wir daran zwey Anforderungen ma - chen: Einheit und Vollſtändigkeit. Hierin aber können wir uns nicht auf die Geſetze allein beſchränken, ſondern es müſſen vielmehr alle Arten der Rechtsquellen berückſichtigt werden. Dagegen ſind auch hier (wie bey der Auslegung der einzelnen Geſetze) zuerſt die Grund - ſätze des regelmäßigen Verfahrens, dann die Hülfsmittel für mangelhafte Zuſtände anzugeben.

Das regelmäßige Verfahren beſteht in der Bildung eines Rechtsſyſtems aus der Geſammtheit der Quellen. Dieſe iſt ihrem Weſen nach ähnlich der Conſtruction der einzelnen Rechtsverhältniſſe und Rechtsinſtitute (§ 4. 5. ), nur daß dieſe Conſtruction hier mehr im Großen durch -263§. 42. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch.geführt wird. In dieſem großen Zuſammenhang erhält der Geſetzgrund, der oben in Beziehung auf einzelne Ge - ſetze betrachtet worden iſt (§ 34), eine wichtigere Bedeu - tung und Wirkſamkeit, und die organiſch bildende Kraft der Rechtswiſſenſchaft (§ 14) erſcheint hier in der größten Ausdehnung. Der geſammte Quellenkreis, und insbeſon - dere der Theil deſſelben, welchen wir das Juſtinianiſche Corpus Juris nennen, kann von dieſem Standpunkt aus als Ein Geſetz betrachtet werden, ſo daß die Regel der Auslegung eines einzelnen Geſetzes aus ſich ſelbſt (§ 35) darauf in gewiſſem Grade anwendbar wird. Es iſt alſo hier von beſonderer Wichtigkeit der Parallelismus der einzelnen Stellen, deſſen vollſtändiger Beſitz durch den Umfang, wie durch die Mannichfaltigkeit jener Quellen beſonderen Schwierigkeiten unterliegt(a)Eine ſehr brauchbare und dankenswerthe Grundlage für die Sammlung der Parallelſtellen liefert die Gloſſe. Für den er - ſten Anlauf ſind auch ſchon die Noten des D. Gothofredus zu brauchen, die in dieſer Hinſicht, als Auszug aus der Gloſſe, eine Art von Werth haben..

Die mangelhaften Zuſtände jenes Ganzen, die mit den Mängeln der einzelnen Geſetze verglichen werden können (§ 35), beziehen ſich auf die zwey oben gemachten Anfor - derungen. Fehlt die Einheit, ſo haben wir einen Wider - ſpruch zu entfernen, fehlt die Vollſtändigkeit, ſo haben wir eine Lücke auszufüllen. Eigentlich aber läßt ſich Beides auf einen gemeinſamen Grundbegriff zurückführen. Denn überall iſt es Herſtellung der Einheit, was wir264Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.ſuchen: der negativen, durch Entfernung von Widerſprü - chen, der poſitiven, durch die Ausfüllung von Lücken.

Der Fall des inneren Widerſpruchs unter einzelnen Stücken des Quellenkreiſes hat Verwandtſchaft mit dem unbeſtimmten Ausdruck in einzelnen Geſetzen (§ 35. 36.). Beide Mängel kommen darin überein, daß die Erkenntniß derſelben auf rein logiſchem Wege erlangt wird, daß die Abhülfe ſchlechthin nothwendig iſt, und daß dieſelbe an - ders, als auf logiſchem Wege (hier durch hiſtoriſche Mit - tel) zu ſuchen iſt. Der allgemeinſte Grundſatz führt da - hin, den Widerſpruch wo möglich in bloßen Schein auf - zulöſen, alſo die Vereinigung des ſcheinbar Widerſpre - chenden zu ſuchen. Nur wo dieſe Vereinigung nicht gelingt, finden die folgenden Regeln ihre Anwendung.

Der Widerſpruch kann vorkommen entweder innerhalb unſres allgemeinen Quellenkreiſes (§ 17 20), oder nur mit Rückſicht auf die demſelben hypothetiſch hinzutretenden Quellen (§ 21).

Der allgemeine Quellenkreis beſteht in Deutſchland aus den Juſtinianiſchen Geſetzen, dem canoniſchen Recht, den Reichsgeſetzen, und dem wiſſenſchaftlich entſtandenen Ge - wohnheitsrecht, oder dem Gerichtsgebrauch. Findet ſich hierin ein unauflöslicher Widerſpruch, ſo gilt die Regel, daß das neuere Quellenſtück dem älteren vorzuziehen iſt. Der Grund dieſer Regel liegt darin, daß ein Widerſpruch der hier beſchriebenen Art zu der fortſchreitenden Entwick - lung des Rechts gehört, ſo daß mit der Gründung der265§. 42. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch.neuern Rechtsregel die wirkliche Vernichtung der ältern verbunden war. Wenn wir nun eine Regel für den ge - genwärtigen Rechtszuſtand ſuchen, ſo kann dieſe nur aus den noch beſtehenden, nicht aus den bereits vernichteten, hergenommen werden(b)Man kann daher dieſe Art des Widerſpruchs nur inſoferne zu den mangelhaften Zuſtänden rechnen, als man das ältere Ge - ſetz ſelbſt noch für einen Beſtand - theil der Rechtsquellen (und zwar nun nothwendig für einen abge - ſtorbenen) anſieht; der Zuſtand der noch gültigen Rechtsquellen ſelbſt iſt darum nicht mangelhaft zu nennen. Daher liegt auch in der Behauptung eines ſolchen Widerſpruchs kein Tadel des Rechtszuſtandes, anſtatt daß die Annahme mangelhafter einzelner Geſetze (§ 35 37) ſtets einen Tadel in ſich ſchließt.. Durch dieſen Grund aber iſt zugleich eine natürliche Beſchränkung der erwähnten Re - gel gegeben. Wenn nämlich neben der älteren Regel eine Ausnahme derſelben beſtand, ſo iſt die Aufhebung nicht nothwendig auch auf dieſe Ausnahme mit zu beziehen: vielmehr beſteht die Ausnahme auch neben der neueren Regel fort, wenn ſie nicht noch beſonders aufgehoben iſt(c)L. 80 de R. J. (50. 17.) In toto jure generi per spe - ciem derogatur, et illud potis - simum habetur quod ad spe - ciem directum est. L. 41 de poenis (48. 19. ) nec ambi - gitur, in cetero omni jure spe - ciem generi derogare (der übrige Theil dieſer Stelle iſt ſchon oben § 37 Note d benutzt wor - den). Ob die Aufhebung auch auf die Ausnahme gehen ſoll, kann nur aus dem Inhalt des neue - ren Geſetzes erkannt werden. Man darf den hier als Beſchrän - kung der Hauptregel aufgeſtellten Grundſatz nicht auf alle ſpeci - elle Beſtimmungen des früheren Rechts beziehen, ſondern nur auf diejenigen, die den Ausnahmecha - racter an ſich tragen: alſo nicht auf ſolche ſpecielle Beſtimmungen, welche ſelbſt nur Folgerungen aus der früheren Regel waren. Vgl. überhaupt Thibaut civiliſt. Abhandlungen Num. 7, wo je - ner Grundſatz befriedigend behan - delt iſt..

Die Anwendung der Hauptregel geſchieht auf folgende266Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.Weiſe. Der wahre Gerichtsgebrauch, als die neueſte Ver - arbeitung der früher vorhandenen Rechtsquellen, geht al - lem Übrigen vor. Dann folgen in der Reihe der Anwen - dung die Reichsgeſetze. Ferner das canoniſche Recht. Zu - letzt das Römiſche Recht. Nur die Rangordnung der zwey letzten Stücke bedarf einer genaueren Erörterung.

Ob nämlich das canoniſche Recht (bey Fragen des Pri - vatrechts) dem Römiſchen vorgehe, darüber wird ſehr ge - ſtritten. Zwar das iſt unzweifelhaft, daß auch hier vor Allem eine Vereinigung verſucht werden müſſe. Für den Fall aber, da eine ſolche nicht gelingen will, da vielleicht die Abſicht einer Abänderung klar vorliegt, iſt folgende Behauptung aufgeſtellt worden. Beide Rechte, ſagt man, gelten nicht aus eigener Kraft, ſondern vermittelſt der Reception; dieſe hat bey uns für beide zu derſelben Zeit ſtatt gefunden, alſo ſind ſie für uns gleichzeitig, keines hat vor dem anderen einen regelmäßigen Vorzug, und in jedem einzelnen Widerſpruch kann der Vorzug nur durch einen beſonderen Gerichtsgebrauch beſtimmt werden(d)(Hübner) Berichtigun - gen und Zuſätze zu Höpfner S. 14 22. Mühlenbruch I. § 70. Richtigere Anſichten finden ſich bey Böhmer Jus eccl. prot. Lib. 1. Tit. 2 § 70 73, der die Frage ſehr ausführlich erörtert, ohne je - doch zu einem klar beſtimmten Reſultate zu kommen. Vgl. auch Hofacker I. § 53.. Allein das canoniſche Recht hat zu dem Römiſchen, bey privatrechtlichen Gegenſtänden, ganz das Verhältniß von Novellen: beſonders die Decretalen, in welchen der Con - flict vorzugsweiſe ſeinen Sitz hat. In dieſem Verhältniß267§. 42. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch.wurden beide Rechte in Bologna wirklich recipirt, und als die Decretalen, erſt einzeln, dann in unſeren Samm - lungen, erſchienen, war die Reception ſchon geſchehen, und jene Decretalen traten in der That als neue abän - dernde Geſetze hinzu. In Deutſchland freylich geſchah die Reception des canoniſchen Rechts, und zwar hier gleich Anfangs des ganzen und vollſtändigen, gleichzeitig mit der des Römiſchen; allein ſie geſchah doch in demſelben Sinn, in welchem ſie in Bologna geſchehen war, ſo wie man ja auch die Gränzen des Römiſchen Quellencanons von dort empfangen hatte (§ 17). Dieſer vollſtändige Hergang könnte höchſtens in dem Fall bezweifelt werden, wenn das canoniſche Recht zwar in Italien als Geſetz Eingang ge - funden hätte, in Deutſchland aber gar nicht aufgenom - men worden wäre; allein in Deutſchland war zur Zeit der Reception das Anſehen des Pabſtes und des von ihm ausgehenden Rechts völlig eben ſo groß als in Italien, ſo daß jenes Grundverhältniß beider Rechte in Deutſch - land anerkannt wurde nicht blos auf die Autoritaͤt von Bologna, ſondern aus denſelben Gründen wie in Bologna. Aus dieſer Betrachtung folgt, daß bey privatrechtli - chen Gegenſtänden das canoniſche Recht vor dem Römi - ſchen in der Regel den Vorzug hat. Eine Ausnahme die - ſer Regel wird nur begründet werden können entweder durch ſpeciellen Gerichtsgebrauch, oder (in evangeliſchen Ländern) durch die einem canoniſchen Satz des Privat - rechts widerſprechenden Grundſätze des evangeliſchen Kir -268Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.chenrechts. Außerdem kann dieſelbe Wirkung, wie durch eine ſolche Ausnahme, auch hervorgebracht werden durch den ſchon oben aufgeſtellten regelmäßigen Vorzug der Reichsgeſetze vor dem canoniſchen Recht: wenn nämlich die Reichsgeſetze einen einzelnen Satz des canoniſchen Rechts mißbilligt, und dadurch der entgegenſtehenden Römiſchen Regel wiederum Eingang verſchafft haben(e)So z. B. in der Lehre von den Zinſen, worin wenigſtens das allgemein anerkannt iſt, daß das durchgreifende Zinſenverbot des canoniſchen Rechts durch die Reichsgeſetze beſeitigt, alſo die Zuläſſigkeit der Zinſen überhaupt, ſo wie im Römiſchen Recht, feſt - geſtellt iſt. Die näheren Beſtim - mungen freylich ſind ſehr be - ſtritten..

§. 43. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. (Widerſpruch). Fortſetzung.

Wichtiger aber, und ſchwieriger zu behandeln, iſt der Widerſpruch zwiſchen einzelnen Stücken der Juſtiniani - ſchen Geſetzgebung. Dieſer kommt in großer Ausdehnung vor, und die Meynungen der neueren Schriftſteller ſind darüber außerordentlich verſchieden(a)Vieles Gute findet ſich bey Thibaut civiliſt. Abhandlungen Num. 6 und bey Löhr Juſtini - aus Campilation in: Grolman und Löhr Magazin B. 3 Num. 7. Sehr reichhaltiges Verzeichniß von Schriftſtellern bey Haubold Inst. jur. Rom. hist. dogm. ed. 1826 § 300..

Vor Allem iſt es nöthig, die Novellen von den drey Rechtsbüchern zu unterſcheiden. Die Novellen waren dazu beſtimmt, als einzelne Geſetze nach und nach das Recht269§. 43. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.abzuändern und fortzubilden; zu einer Sammlung ſind ſie von dem Geſetzgeber niemals vereinigt worden. Daher muß im Fall eines Widerſpruchs jede Novelle nicht nur den drey Rechtsbüchern, ſondern auch jeder anderen älte - ren Novelle, unbedingt vorgezogen werden(b)Für dieſen Zweck iſt daher auch praktiſch wichtig, ja unent - behrlich, das chronologiſche Ver - zeichniß in Bieners Geſchichte der Novellen Anhang Num. IV. Man wende nicht ein, daß die Gloſſatoren ein ſolches Verzeich - niß nicht beſeſſen haben. Das Princip haben ſie auch anerkannt und nach ihrer Einſicht angewen - det, eine andere, irrige, chrono - logiſche Reihe aber haben ſie nicht feſtgeſtellt; ſie haben alſo von die - ſer Seite eben ſo wenig der beſ - ſeren Einſicht den Weg verſperrt, als von Seiten der Kritik des Textes (§ 17. 38.).. Auch iſt hier die Vorausſetzung eines Widerſpruchs unbedenklicher, alſo der Verſuch der Vereinigung weniger ſtrenge nöthig, als bey den Rechtsbüchern, da es gerade die Beſtimmung der Novellen war, das Recht abzuändern. Zwar ſind alle Novellen gleichzeitig mit den Rechtsbüchern bey uns recipirt worden, und man könnte glauben, daß dadurch der natürliche Vorzug, der ihnen als neueren Geſetzen zukam, wieder vernichtet wäre(c)Überflüſſige Noth mit die - ſem Einwurf macht ſich (Hüb - ner) Berichtigungen und Zuſätze zu Höpfner S. 8 14. Am Ende läßt er zwar die hier angenom - mene Auskunft auch zu, aber nur als Nothbehelf, was ganz un - richtig iſt.. Allein jene Reception geſchah doch im Sinne von Juſtinian, als eines von ihm hinterlaſſenen Vermächtniſſes von Geſetzen, folglich ganz in der Art, wie ſich die Gültigkeit derſelben am Ende ſeiner langen Regierung von ſelbſt feſtgeſtellt hatte. Da - mals nun hatten bereits die Novellen das ihnen entge -270Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.genſtehende frühere Recht vernichtet, und es iſt alſo für uns ganz gleichgültig, daß wir die Novellen gleichzeitig mit dem früheren Rechte recipirt haben.

Für die drey Rechtsbücher iſt zunächſt ein allgemeiner Geſichtspunkt aufzuſtellen, von welchem aus die beſonde - ren Regeln über den Fall von Widerſprüchen gefunden werden können. Juſtinian ſelbſt wollte ſie unzweifelhaft als Ein zuſammenhängendes Ganze betrachtet wiſſen, und zwar als ein eigentliches Geſetzbuch, das heißt als ein Werk, aus welchem ausſchließend die Entſcheidung jedes Rechtsfalles genommen werden dürfe, welches aber auch für dieſen Zweck völlig hinreiche(d)Constit. Omnem § 7. Const. Summa § 3. L. 2 §. 12. 23 C. de vet. j enucl. (1. 17.). Hufeland Geiſt des R. R. I. S. 143 145 läugnet dieſen Cha - racter eines Geſetzbuchs, weil die Rechtsbücher ſo viel blos Wiſſen - ſchaftliches enthalten. Allein das betrifft blos ihre Entſtehungsart und ihre Form: über ihre Be - ſtimmung, als Geſetzbuch zu die - nen, laſſen die angeführten Stel - len keinen Zweifel, und darauf kann es allein ankommen. Es kann damit ganz wohl beſtehen, daß viele einzelne Stellen nicht Geſetz, ſondern nur hiſtoriſches Material ſeyn ſollen, von wel - cher Annahme ſogleich noch Ge - brauch gemacht werden wird.. Dieſes Ziel ſollte erreicht werden durch eine Auswahl aus dem in großem Umfang vorhandenen Rechtsmaterial, dergeſtalt, daß die ausgewählten Stücke, mit unzerſtörter hiſtoriſcher Geſtalt, zu einem neuen Ganzen zuſammen gefügt wurden. In dieſem neuen Rechtsgebäude waren die Digeſten das Hauptſtück, das einzige für ſich verſtändliche und zugleich für die Anwendung nicht unzureichende, an welches ſich die zwey anderen Stücke nur anſchließen als Auszug oder271§. 43. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.als Ergänzung. In dieſer ihrer Stellung liegt jedoch kein Grund, ihren Inhalt dem Inhalt der anderen Stücke gerade vorzuziehen. Von den Inſtitutionen haben Manche behauptet, ſie müßten dem Übrigen vorgehen als eigenes von Juſtiman herrührendes Werk: Andere, ſie müßten nachſtehen als bloßer Auszug der Digeſten; beides unrichtig. Ihre Beſtimmung zu einem Lehrbuch in den Rechtsſchulen kommt hier nicht in Betracht. Als Beſtand - theil der Geſetzgebung bilden ſie eine einzelne Juſtinia - niſche Conſtitution(e)Prooem. Inst. § 6. L. 2 § 11 C. de vet. j. enucl. (1. 17.)., und ſie ſind in dieſer Beziehung den größeren Rechtsbüchern weder vorzuziehen, noch nach - zuſetzen. Einige beſondere Rückſichten für den Fall eines Conflicts werden noch geltend gemacht werden. Für den Codex endlich iſt von Manchen nicht ohne Schein ein allgemeiner Vorzug vor den übrigen Stücken, ähnlich dem Vorzug der Novellen, deswegen behauptet worden, weil dieſer unſer gegenwärtiger Codex um ein Jahr ſpä - ter als die Inſtitutionen und Digeſten Geſetzeskraft erhal - ten hat. Deswegen ſollte im Conflict einzelner Stellen ſtets der Codex den Vorzug haben. Aus dieſer Annahme aber würde folgendes ſeltſame Reſultat hervorgehen. Der ältere Codex (mit unſerm neueren, dem allergrößten Theile nach, ſicher übereinſtimmend) erſchien 529. Als nachher 533 die Inſtitutionen und Digeſten publicirt wurden, de - rogirten ſie dem Codex in allen widerſprechenden Stellen. Zuletzt erſchien 534 der neue Codex, der alſo wiederum272Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.den Inſtitutionen und Digeſten derogiren mußte, und da - durch gerade die Stellen des erſten Codex wiederherſtellte, die ein Jahr zuvor aufgehoben worden waren. Einen ſo leichtſinnigen Wechſel des Rechts konnte Juſtinian unmög - lich herbeyführen wollen(f)Dieſer Grund wird mit Recht geltend gemacht von Thi - baut a. a. O., S. 83.. Ja er konnte gar nicht an ein Derogiren dieſer Art denken, weil er zwiſchen den Rechtsbüchern keine Widerſprüche, ſondern nur gänzliche Übereinſtimmung annahm. Die einzigen Stellen des neuen Codex, welche wir als derogirend betrachten könnten, ohne zur Annahme jener widerſinnigen Abwechslung genöthigt zu ſeyn, und ohne der von Juſtinian angenommenen Har - monie zu widerſprechen, ſind die wenigen, welche zwiſchen der Geſetzeskraft der Digeſten (30. Dec. 533), und der Promulgation des Codex (17. Dec. 534), alſo in dem Zeitraum von weniger als einem Jahre, erſchienen ſind(g)Solcher Conſtitutionen zählt Reland Elf auf (fasti p. 710). Darunter ſind aber mehrere, die ihrem kirchlichen oder publiciſti - ſchen Inhalte nach, mit den Di - geſten gar nicht in Widerſpruch kommen können. Es bleiben da - her nur folgende Sechs übrig, die das Privatrecht betreffen, und neues Recht einführen wollen: L. 2 C. de jur. propt. cal. (2.59.). L. 29 C. de nupt. (5. 4.). L. 31 C. de test. (6. 23.). L. un. C. de cad. toll. (6. 51.). L. 15 C. de leg. her. (6. 58.). L. un. C. de lat. lib. toll. (7. 6.).. Daß dieſe dem Recht der Digeſten vorgehen müſſen, iſt unzweifelhaft, dieſer Vorzug aber folgt ſchon aus einem anderen, durchgreifenderen Grunde, von welchem ſogleich ein ausgedehnter Gebrauch gemacht werden wird, und es iſt um ihretwillen nicht nöthig, die ſpätere Promulgation273§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.des neuen Codex, worin ſie enthalten ſind, geltend zu machen. Faſſen wir alſo nochmals den allgemeinen Grundſatz über die Behandlung der drey Rechtsbücher kurz zuſammen, ſo iſt es dieſer: Sie ſind beſtimmt zu gelten als Ein großes, zuſammenhängendes Werk, ihre nicht völlig gleichzeitige Promulgation iſt ohne Einfluß, und wir können ſie, ohne Gefahr eines Irrthums, ſo be - handeln, als ob ſie gleichzeitig promulgirt worden - ren(h)Löhr a. a. O., S. 201.. Aus dieſem Grundſatz ſind nun beſondere Re - geln abzuleiten für die Behandlung einzelner Widerſprüche, die uns innerhalb der drey Rechtsbücher vorkommen moͤgen.

§. 44. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. (Widerſpruch.) Fortſetzung.

Zuvörderſt gewinnt in dieſem Fall die allgemeine Re - gel, den Widerſpruch wo möglich durch Vereinigung in bloßen Schein aufzulöſen (§ 42), eine ganz beſondere Kraft und Bedeutung. Einmal weil die drey Rechtsbü - cher ein einziges Werk darſtellen, worin alſo die Einheit des Gedankens ſchon an ſich als der natürliche Zuſtand anzuſehen iſt; dann aber weil Juſtinian ausdrücklich ver - ſichert, es ſeyen hier keine Widerſprüche vorhanden, und wo wir ſolche wahrzunehmen glaubten, ſollten wir nur recht genau (subtili animo) zuſehen, ſo würden wir ſchon18274Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.einen verborgenen Grund der Vereinigung finden(a)L. 2 § 15. L. 3 § 15 C. de vet. j. enucl. (1. 17.).. Dieſe Anweiſung iſt außerordentlich wichtig, indem dadurch auch ein etwas künſtliches Verfahren der Vereinigung völlig ge - rechtfertigt wird: nur freylich nicht ein völlig willkührli - ches, indem wir ganz von außen Unterſcheidungen hinein tragen, wozu weder in den widerſprechenden Stellen ſelbſt, noch in anderen Theilen der Geſetzgebung, irgend ein An - laß vorhanden iſt(b)L. 2 § 15 cit. sed est aliquid novum inventum vel oc - culte positum, quod dissonan - tiae querelam dissolvit, et ali - am naturam inducit discordiae fines effugientem. .

Eine ſolche Vereinigung aber iſt auf zwey verſchiede - nen Wegen möglich: auf dem ſyſtematiſchen und auf dem hiſtoriſchen. Beide Wege ſind an ſich zuläſſig, jedoch iſt der zweyte nur da einzuſchlagen, wo nicht ſchon der erſte zum Ziele führt.

Die ſyſtematiſche Vereinigung kann geſchehen da - durch, daß jede der widerſprechenden Stellen beſondere Bedingungen der Anwendung, alſo ein eigenthümliches Ge - biet der Herrſchaft erhält: entweder indem wir das Ge - biet einer Regel, je nach verſchiedenen Bedingungen, in zwey gleiche Hälften zerlegen, oder indem wir die eine Stelle als Regel behandeln, wozu ſich die andere blos als Ausnahme verhalten ſoll. Sie kann aber auch da - durch geſchehen, daß beide Stellen als ein Ganzes ge - dacht werden, ſo daß die eine Stelle durch die andere er - gänzt, alſo die ſcheinbare Allgemeinheit der einen durch275§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.die andere näher beſtimmt und eingeſchränkt wird(c)So ſagt L. 1 § 9 C. de vet. j. en. (1. 17), für diejeni - gen Sätze, die ſchon im Codex ſtänden, ſeyen in der Regel keine Stellen in die Digeſten aufge - nommen worden nisi forte vel propter divisionem, vel propter repletionem, vel pro - pter pleniorem indaginem hoc contigerit. Das kann auch auf die ſyſtematiſche Auflöſung von Widerſprüchen angewendet wer - den. Ein Beyſpiel ſyſtemati - ſcher Vereinigung für zwey Stel - len des Codex giebt Juſtinian ſelbſt in der Nov. 158.. Fol - gende Anwendungen werden dieſes Verfahren anſchaulich machen. Mehrere Stellen erklären die Uſucapion für mög - lich, wenn ein Titel zwar nicht vorhanden, aber doch von dem Beſitzer als vorhanden angenommen ſey(d)L. 3 L. 4 § 2 pro suo (41. 10.).; andere Stellen erklären in dieſem Fall die Uſucapion für unmög - lich(e)L. 27 de usurp. (41. 3. ), § 11 J. de usuc. (2. 6.).. Die Vermittlung liegt darin, daß die Uſucapion möglich iſt, wenn ein wahrſcheinlicher Grund jenes Irr - thums nachgewieſen werden kann, außerdem nicht(f)L. 11 pro emt. (41. 4. ), L. 4 pro leg. (41. 8. ), L. 5 § 1 pro suo (41. 10.).. Eben ſo ſagen mehrere Stellen, zwiſchen Ehegatten ſey ein Kauf ſchlechthin ungültig, wenn der Kaufpreis ab - ſichtlich höher oder niedriger, als der wahre Werth be - trägt, beſtimmt werde(g)L. 38 de contr. emt. (18. 1. ), L. 17 pr. ad Sc. Vell. (16. 1.).; andere Stellen beſchränken dieſe gänzliche Ungültigkeit auf den Fall, worin ein ſol - cher Kauf lediglich geſchloſſen wird, um die Schenkung zu bewirken: würde dagegen der Kauf auch unabhängig von dieſer Nebenabſicht geſchloſſen worden ſeyn, ſo iſt der Kauf gültig, und nur die in der Preisbeſtimmung liegende18*276Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.Geldſchenkung ungültig(h)L. 5 § 5 L. 32 § 26 de don. int. vir. (24. 1.). Vgl. unten § 154 Note b. c. . Bey dieſem Verfahren liegt alſo die richtige Anſicht zum Grunde, daß eine Regel die Beſchränkung vermittelſt näherer Beſtimmungen oder Aus - nahmen, durch die bloße unbeſtimmte Allgemeinheit ihres Ausdrucks nicht ausſchließt, ſondern nur durch die aus - drückliche Verneinung einer ſolchen Beſchränkung. In den hier angeführten vermittlenden Stellen haben die alten Juriſten ſelbſt ein ſolches Verfahren angedeutet. Jus - beſondere iſt dabey Rückſicht zu nehmen auf die eigen - thümliche Natur der von den Juriſten auf wiſſenſchaftli - chem Wege gebildeten Regeln oder Formeln (§ 14). Wo alſo zwey widerſprechende Stellen den Gegenſatz einer ſol - chen Formel mit einer concreten Beſtimmung darbieten, werden wir faſt immer dieſer letzten den Vorzug zu ge - ben haben. Ganz in dieſem Sinn verfährt Afrikanus (Note f); eine noch wichtigere und[anſchaulichere] Anwen - dung dieſes Grundſatzes iſt an einem andern Orte ge - macht worden (Beilage VIII. Num. VIII.).

Die hiſtoriſche Vereinigung geſchieht durch die An - nahme, daß die eine der widerſprechenden Stellen den wahren und bleibenden Ausſpruch der Geſetzgebung, die andere blos hiſtoriſches Material enthalte. Dieſes Ver - fahren iſt durch Manche in üblen Ruf gekommen, indem ſie es auf etwas rohe Weiſe aufgefaßt und angewendet haben. Sie nahmen die bloße Zeitfolge als entſcheidend277§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.an, und ließen überall die neuere Stelle (eines Kaiſers oder eines Juriſten) der älteren vorgehen. Dieſe, aller - dings einfache und bequeme, Behandlung läßt ſich ſchon nach dem allgemeinen Plane der Rechtsbücher nicht recht - fertigen: ganz beſtimmt aber widerſpricht ihr Juſtinian ſelbſt, indem er namentlich für die Digeſten erklärt, daß jede aufgenommene Stelle als von ihm ausgegangen, als Kaiſergeſetz, betrachtet werden ſolle(i)L. 1 § 5. 6. L. 2 § 10. 20. C. de vet. j. en. (1. 17.). L. 1. § 6 cit. ſagt: omnia enim me - rito nostra facimus; ähnlich reden die anderen Stellen. Allerdings ſollen dieſe Äußerun - gen zunächſt den ſcharfen Gegen - ſatz gegen das bis dahin geltende Geſetz von Valentinian III. (§ 26) ausdrücken, damit man nicht etwa Stellen des Julian in den Dige - ſten geringer achte, als Stellen des Ulpian: allein die Regel ſelbſt iſt ſo allgemein, daß ſie eben ſo gut den Vorzug der neueren Stel - len vor den älteren, gegründet auf dieſe bloße Zeitverſchieden - heit, ausſchließt.. Dagegen läßt ſich die hiſtoriſche Vereinigung völlig rechtfertigen, ſobald für die Aufnahme der älteren Stelle ein hiſtoriſcher Zweck wahrſcheinlich gemacht werden kann: ſie wird dann der neueren nachgeſetzt, nicht weil ſie älter iſt, ſondern weil ſie gar nicht die Beſtimmung hatte, unmittelbar angewen - det zu werden(k)Sehr befriedigend iſt die - ſer Punkt ausgeführt von Löhr a. a. O., S. 180. 189 197.. Ein ſolcher hiſtoriſcher Zweck aber kann auf zweyerley Weiſe vorkommen. Erſtlich wegen der zur Zeit der Compilation ſchon beſtehenden Rechtsverhält - niſſe, indem dieſe noch nach den älteren Geſetzen entſchie - den werden mußten(l)An ſich war es für dieſen Zweck nicht eben nothwendig, äl - tere Stücke, die auf künftige Fälle nicht mehr angewendet wer - den ſollten, in die Rechtsbücher. Zweytens, was wichtiger iſt, und278Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.eine weit ausgedehntere Anwendung zuläßt, weil die neuere, allein gültige Stelle durch aufgenommene Stellen aus dem älteren Recht deutlicher werden ſollte. Dabey alſo wird vorausgeſetzt, daß die älteren Stellen dazu aufgenommen wurden, um ein Stück der Rechtsgeſchichte mitzutheilen, welches zur Erläuterung der neueſten Stelle nöthig ſchien.

Die Richtigkeit dieſer letzten Vorausſetzung wird aber durch folgende Umſtände vollkommen beſtätigt. Erſtlich durch die Zuſammenſetzung der Rechtsbücher aus einem ſeit Jahrhunderten allmälig entſtandenen hiſtoriſchen Ma - terial, wobey die Entwicklung der Rechtsſätze durchaus ſichtbar werden mußte, anſtatt daß ſie bey einem neu ge - ſchriebenen Werk wohl hätte verwiſcht werden können. Zweytens durch die ſorgfältige Beybehaltung der hiſtori - ſchen Bezeichnung jeder Stelle, wobey kein anderer Zweck gedacht werden kann, als die Erklärung des Geltenden aus dem Früheren möglich zu machen. Drittens durch ſo viele neue, abändernde Conſtitutionen, welche faſt gar nicht zu verſtehen ſind, wenn man ſie nicht mit dem frü - heren Recht, das ſie abändern ſollen, vergleicht. Endlich durch die Beſchaffenheit der Inſtitutionen insbeſondere. Dieſe ſollten nichts Veraltetes enthalten(m)Prooem. Inst. § 3 ut .. nihil inutile, nihil perperam positum, sed quod in ipsis re - rum obtinet argumentis, ac - cipiant. , und dennoch(l)aufzunehmen, da ja die alten Conſtitutionen und Bücher nicht zerſtört wurden. Daß es aber in der That geſchehen iſt, ſagt ausdrücklich Juſtinian ſelbſt. Nov. 89. C. 7.279§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.die geſchichtliche Entwicklung darſtellen(n)Prooem. Inst. § 5 In quibus breviter expositum est et quod antea obtinebat, et quod postea desuetudine inum - bratum ab Imperiali remedio illuminatum est. , was ſie auch in manchen Lehren mit großer Vollſtändigkeit leiſten(o)So z. B. § 4 7 J. de fid. hered. (2. 23.).. Dadurch wird Alles klar: die verſchwundenen Inſtitute, wie die Mancipation und die ſtrenge Ehe, ſollten nicht berührt werden, aber die geſchichtliche Ausbildung der noch beſtehenden ſollte nicht fehlen, weil ohne dieſe auch deren neueſte Geſtalt nicht verſtanden werden konnte. Was nun hier bey den Inſtitutionen ſo klar vor unſern Augen liegt, ja was auch an ſich ſo natürlich iſt, wie ſollten wir zweifeln, es auch auf die Digeſten und den Codex, ſo wie auf das Verhältniß der drey Rechtsbücher zu ein - ander, anzuwenden? Von dieſem Standpunkt aus ver - ſchwinden zugleich alle Einwürfe, die nicht ohne Schein gegen unſre Vorausſetzung verſucht worden ſind. Juſti - nian, ſagt man, hat erklärt, jede Stelle ſolle angeſehen werden, als ob ſie von ihm ausgienge (Note i); damit kann aber wohl beſtehen, daß Einiges nicht unmittelbar zur Anwendung, ſondern zur geſchichtlichen Erläuterung, beſtimmt iſt. Ferner: es ſolle nichts Veraltetes aufge - nommen werden(p)Const. Haee quae necess. § 2 L. 1 § 10 C. de vet. j. enucl. (1. 17.).; wie das zu verſtehen iſt, wurde ſo eben bey Gelegenheit der Inſtitutionen erklärt. Endlich: es fänden ſich in den Rechtsbüchern keine Widerſprüche(q)Const. Haec quae necess. ; allein ein Widerſpruch iſt es ja nicht, wenn zwey Stellen280Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.von abweichendem Inhalt deswegen aufgenommen wer - den, damit die eine aus der anderen hiſtoriſches Licht em - pfange. So unbedenklich nun, nach dieſen Gründen, die hiſtoriſche Vereinigung iſt, ſo darf ſie dennoch nur da angewendet werden, wo die ſyſtematiſche nicht anwendbar iſt(r)Eine Beſtätigung liegt dar - in, daß Juſtinian ſelbſt nur auf die ſyſtematiſche Vereinigung aus - drücklich hinweiſt, offenbar, in - dem er ſie als die regelmäßige und natürliche, als die welche vor Allem verſucht werden ſoll, anſieht. L. 2 § 15 C. de vet. j. enucl. (1. 17.). Nov. 158.. Dieſer Vorrang der ſyſtematiſchen Vereinigung iſt eine natürliche Folge davon, daß die Rechtsbücher für den praktiſchen Zweck gegeben ſind, weshalb auch von je - dem ihrer Beſtandtheile angenommen werden muß, er ſey zur unmittelbaren Anwendung beſtimmt, wenn nicht dieſe Annahme durch beſondere Gründe widerlegt wird, welches hier durch den ſonſt unvermeidlichen Widerſpruch mit an - deren Stellen geſchieht.

Das wichtigſte aber und zugleich das ſchwierigſte iſt die Feſtſtellung der Bedingungen für die hiſtoriſche Verei - nigung. Der Fall nämlich iſt der allerſeltenſte, worin uns geradezu ein Stück Rechtsgeſchichte im Zuſammen - hang vorgetragen wird, ſo wie oben ein Beyſpiel aus den Inſtitutionen nachgewieſen worden iſt (Note o). Faſt im - mer muß vielmehr jene Art der Vereinigung erſt durch ein künſtliches Verfahren herbeygeführt werden. Woran können wir nun mit Sicherheit erkennen, daß der Fall derſelben wirklich vorhanden iſt? darüber mag folgende(q)§ 2. Const. Summa § 1. L. 1 § 4. 8 C. de vet. j. enucl. (1. 17.). L. 2 pr. § 15 eod. Nov. 158.281§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.Regel gelten. Finden ſich zwey widerſprechende Stellen aus verſchiedener Zeit, ſo kann es geſchehen, daß die Ver - ſchiedenheit des Inhalts erweislich gerade durch dieſes ver - ſchiedene Alter bewirkt worden iſt, indem in der That eine Abänderung des Rechts eingetreten iſt, entweder in der Zwiſchenzeit zwiſchen beiden Stellen(s)Dieſes iſt denkbar durch ein in die Zwiſchenzeit fallendes neues Geſetz; aber auch (und noch häu - figer) durch die fortſchreitende wiſſenſchaftliche Entwicklung ei - ner Rechtsregel. So galt z. B. in der Lehre vom Darlehen zu - erſt die ſtrenge Regel, daß nur durch unmittelbares Hingeben des Geldes eine Klage gegen den Em - pfänger erworben werden könne. Als aber die Lehre vom Beſitzer - werb eine freyere Ausbildung er - hielt, wirkte dieſe auch auf die zuläſſige Form des Darlehens zu - rück. Zur Zeit des Africanus war, wie es ſcheint, dieſe Ent - wicklung noch nicht vollendet (L. 31 pr. mand. 17. 1. ), zur Zeit des Ulpian war ſie vollendet (L. 15 de R. C. 12. 1.). Hier iſt alſo die Stelle des Africanus blos hi - ſtoriſches Material, wodurch die all - mälige Ausbildung dieſes Rechts - ſatzes erkennbar wird. Ein da - mit verwandter Fall kommt vor in der Beylage X. Ein anderer Fall (L. 23 de don. int. vir. 24. 1. ) im § 161., oder, was noch häufiger iſt, gerade durch die neuere Stelle ſelbſt, wenn dieſe den Charakter eines abändernden Geſetzes an ſich trägt. In ſolchen Fällen iſt die hiſtoriſche Vereini - gung wirklich begründet, da wir beſtimmt behaupten kön - nen, daß die Urheber beider Stellen, wenn ſie gleichzeitig geſchrieben hätten, mit einander übereinſtimmen würden. Nun alſo dürfen wir die ältere Stelle als bloßes Mate - rial zur rechtsgeſchichtlichen Erläuterung der neueren an - ſehen(t)Ein ſehr erläuternder Fall findet ſich bey dem Int. de vi. Hier wird in den Digeſten der Satz des älteren Rechts, welcher das Interdict auf Grundſtücke ein - ſchränkt, ausführlich dargeſtellt. (L. 1 § 3 8 de vi). Der Co -. Dabey kann es auch ganz gleichgültig ſeyn, ob282Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.die Compilatoren dieſes mit Abſicht ſo eingerichtet haben (was freylich niemals ſtreng erweislich ſeyn wird), oder ob die ältere Stelle nur aus Verſehen aufgenommen wor - den iſt. Denn auch in dieſem letzten Fall geſchieht eine ſolche Vereinigung ganz im Sinn der Compilation, und unſer Verfahren iſt durch die Natur und Beſtimmung der - ſelben völlig gerechtfertigt(u)Löhr a. a. O., S. 212.. Im Gegenſatz des hier beſchriebenen Falles wäre demnach die hiſtoriſche Vereini - gung zu verwerfen in folgenden Fällen. Erſtens wenn beide Stellen, ſo viel wir wiſſen, gleichzeitig ſind, wel - ches faſt immer wird angenommen werden müſſen, wenn zwey Pandektenſtellen von demſelben Schriftſteller, oder von zwey gleichzeitig lebenden, herrühren, da wir über die Chronologie der einzelnen Werke wenig wiſſen. Zwey - tens, wenn jene Stellen zwar ungleichzeitig ſind, aber ſo, daß dieſes Zeitverhältniß nicht der Grund des abweichen - den Inhalts iſt, indem ſie eben ſo verſchieden lauten könn -(t)dex und die Inſtitutionen behan - deln es als anwendbar auf Sa - chen aller Art. Ich ſetze dabey freylich voraus die Richtigkeit der Anſicht, welche in meinem Buch über den Beſitz § 40 aufgeſtellt iſt, denn allerdings iſt dieſe Frage ſehr ſtreitig. Ein anderer Fall findet ſich in der Lehre vom ca - strense peculium. Starb ein filius familias, der ein ſolches beſaß, ohne darüber zu teſtiren, ſo fiel es an den Vater, nicht als Erbſchaft, ſondern jure pri - stino. Dieſer Rechtsſatz iſt noch in den Digeſten ausführlich dar - geſtellt, und kommt ſelbſt noch im Codex vor. (L. 1. 2. 9. 19 § 3 de castr. pec. 49. 17., L. 5. C. eod. 12. 37.). Allein ſeit der Ausbildung der ſogenannten Ad - ventitien paßte dieſer Grundſatz nicht mehr, und ſo ſagen die In - ſtitutionen, freylich nur beiläufig, jenes Recht des Vaters gelte nur, wenn der Sohn weder Kinder noch Geſchwiſter hinterlaſſe. pr. J. quib. non est permissum. 2. 12.283§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.ten, wenn ſie gleichzeitig verfaßt wären. Dieſes iſt z. B. anzunehmen bey ſolchen Streitfragen, die ſich Jahrhun - derte lang bey den Römiſchen Juriſten fortgepflanzt ha - ben; wenn ſich eine ſolche noch in die Digeſten verloren hat, ſo iſt es ja ganz gleichgültig, daß vielleicht die eine Stelle von Julian, die andere von Modeſtin herrührt, in - dem auch Gleichzeitige ganz auf dieſelbe Weiſe gegen ein - ander ſtritten. In ſolchen Fällen iſt die ältere Stelle kein Zeugniß für das ältere Recht, alſo konnte auch ihre Aufnahme keinen hiſtoriſchen Zweck haben, und es muß daher die hiſtoriſche Vereinigung unterbleiben, weil dieſe überhaupt nicht durch das verſchiedene Alter an ſich, ſon - dern allein durch den hiſtoriſchen Zweck begründet werden kann, welcher nur aus der erweislichen Fortbildung des Rechts zu folgern iſt. Eben daher muß aber die hiſtori - ſche Vereinigung auch bey denjenigen ungleichzeitigen Stel - len unterbleiben, bey welchen es nur unentſchieden iſt, wel - ches der beiden Verhältniſſe zum Grunde liegen möge: in - dem nur der erweisliche hiſtoriſche Zweck jene Vereini - gungsart zu rechtfertigen vermag.

§. 45. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. (Widerſpruch). Fortſetzung.

Wenden wir dieſe Regeln auf die einzelnen Rechtsbü - cher an, ſo ergiebt ſich zunächſt für den Codex eine ſehr ausgedehnte Zuläſſigkeit der hiſtoriſchen Vereinigung. Iſt284Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.nämlich die neuere Stelle ein Edict, ſo wird es meiſt un - zweifelhaft ſeyn, daß daſſelbe geradezu beſtimmt war, neues Recht einzuführen: beſonders wenn ein ſolches von Juſtinian herrührt, und ganz vorzüglich wenn es unter die kleine Zahl derjenigen gehört, die erſt nach der Ge - ſetzeskraft der Digeſten erſchienen ſind(a)Vgl. §. 13 Note g. Für dieſe Stellen alſo wird hier der Vorrang wirklich geltend gemacht, aber aus einem andern Grunde als aus der ſpäteren Promulga - tion des neuen Codex, welche oben als ein nicht entſcheidender Grund abgewieſen wurde.. Ja ſelbſt bey dem größten Theil der ſpäteren Reſcripte, namentlich bey den ſehr zahlreichen Diocletianiſchen, darf ein ähnliches Verhältniß angenommen werden, da dieſe wenigſtens ſehr häufig von einer wirklichen Fortbildung des Rechts Zeug - niß geben. Allein ein allgemeiner Vorzug des Codex vor den Digeſten darf darum dennoch nicht behauptet werden, indem viele ältere Reſcripte des Codex mit Pandektenſtel - len in einem ſolchen Verhältniſſe ſtehen werden, worin nach den aufgeſtellten Regeln die hiſtoriſche Vereinigung unzuläſſig iſt(b)Einen unbedingten Vorzug des Codex vor den Digeſten be - haupten Thibaut S. 93 und Löhr S. 213, womit ich alſo nicht einſtimmen kann.. Bey ungleichzeitigen Stellen der Di - geſten wird die hiſtoriſche Vereinigung ſeltner gerechtfer - tigt werden können: daß ſie aber auch hier vorkommen kann, iſt bereits an einem Beyſpiele gezeigt worden(c)§ 44 Note s. . Wenn endlich die Inſtitutionen mit den größeren Rechtsbüchern im Widerſpruch ſtehen, ſo werden ſich meiſt285§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.folgende Fälle mit hinreichender Sicherheit feſtſtellen laſ - ſen. Zuweilen iſt augenſcheinlich eine Übereilung bey der Abfaſſung der Inſtitutionen begangen worden, etwa da - durch veranlaßt, daß man in die Inſtitutionen des Gajus die Stelle eines andern Juriſten ungeſchickt eingefügt hat: dann ſind unbedenklich die Inſtitutionen nachzuſetzen(d)Ein ganz unzweifelhafter Fall dieſer Art iſt in der erſten Beylage dieſes Bandes nachge - wieſen worden: jedoch hat dieſer keinen Satz des praktiſchen Rechts zum Gegenſtand. Eben ſo iſt § 16 J. de L. Aquilia (4. 3. ) zuſammengeſetzt aus Gajus III. 219, und der Stelle des Ulpia - nus ad ed., die wir als L. 7 § 7 de dolo (4. 3. ) beſitzen. Durch die Zuſammenfügung aber ent - ſteht der Schein, als könnte in Fällen wie dieſer letzte die a. uti - lis L. Aquiliae nicht gelten, da ſie doch in L. 27 § 19. 20. 21 ad L. Aquil. (9. 2. ) zugelaſſen wird. In § 3 J. de emt. (3. 24. ) wird geſagt, für die custodia eines Sklaven ſey der Verkäufer nur durch beſonderes Verſprechen verpflichtet, außerdem nicht Das hängt damit zuſammen, daß Skla - ven auch bey anderen Rechtsge - ſchäften nicht cuſtodirt zu werden brauchten. L. 5 § 6. 13 commod. (13. 6.). Nun ſetzt aber der an - geführte § der Inſtitutionen, nach Erwähnung des Sklaven, noch hinzu: Idem et in ceteris ani - malibus ceterisque rebus intel - ligimus. Durch dieſen Zuſatz wollten die Compilatoren ſagen, es ſey in der zuerſt vorgetrage - nen Regel (die ſie ohne Zweifel wörtlich aus einem alten Juri - ſten entnommen hatten) nur zu - fällig ein Sklave genannt, wo - durch alſo der Satz noch prakti - ſcher werden ſollte: ſie überſahen aber dabey, daß es nicht zufällig war, ſondern daß in der That bey anderen beweglichen Sachen die entgegengeſetzte Regel gilt, und zwar aus gutem Grunde. L. 35 § 4 de contr. emt. (18. 1.). L. 3 L. 4 § 1. 2 de peric. (18. 6.). Der § 39 J. de action. (4. 6. ) läßt die Compenſation nur zu für das quod invicem actorem ex eadem causa praestare opor - tet. Dieſe Beſchränkung paßt nicht zu dem geſammten übrigen Juſtinianiſchen Recht, und na - mentlich nicht zu § 30 J. eod. Sie war ſchon aufgegeben zur Zeit des Paulus Paul, II 5 § 3. Ja ſie konnte nicht mehr fort - dauern ſeitdem Marc Aurel die Compenſation auf die (ſtets ein - ſeitige) Stipulationsklage ange - wendet hatte. § 30 J. cit. Wir. Manche andere Stelle der Inſtitutionen enthält gerade286Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.umgekehrt eine beſonnene eigene Erklärung des Geſetzge - bers: eine ſolche aber iſt wie ein Juſtinianiſches Edict anzuſehen, und jeder anderen widerſprechenden Stelle vor - zuziehen(e)Thibaut a. a. O., S. 96.. Meiſtens aber wird weder der eine noch der andere Fall angenommen werden können, vielmehr werden beide Stellen, die der Inſtitutionen und die der Digeſten, als einander ergänzend anzuſehen ſeyn: dieſes aber ge - hört zu der ſyſtematiſchen Vereinigung (§ 44), wodurch jedes andere Verfahren überflüſſig wird(f)Dahin rechne ich folgende Fälle. § 25 J. de rer. div. (2. 1. ) und L. 7 § 7 de a. rer. dom. (41. 1. ) ergänzen ſich gegenſeitig. Die Inſtitutionenſtelle iſt voll - ſtändiger durch die Regel wegen des gemiſchten Eigenthums: die Pandektenſtelle dagegen durch die genauere Erwägung und Berich - tigung des Falles vom gedroſche - nen Getraide. Beide Stellen müſſen daher in Gedanken ver - ſchmolzen werden. Eben ſo wird L. 2 § 6 mand. (17. 1. ) nur noch ergänzt durch den Schluß von § 6 J. de mand. (3. 27.)..

Was ſoll endlich geſchehen in den Fällen, in welchen beide Arten der Vereinigung nicht anwendbar ſind (§ 44), obgleich ein Widerſpruch durchaus eingeräumt werden muß? Es bleibt Nichts übrig, als unter beiden wider - ſprechenden Stellen diejenige vorzuziehen, welche den übri - gen unzweifelhaften Grundſätzen der Juſtinianiſchen Ge - ſetzgebung am meiſten entſpricht. Dieſe Regel beruht auf der Vorausſetzung der organiſchen Einheit der Römiſchen Geſetzgebung, welche wiederum in der allgemeinen Natur des poſitiven Rechts überhaupt (§ 5) ihre tiefere Begrün -(d)wiſſen nun jetzt, daß jene un - paſſenden Worte blos unbedacht - ſamerweiſe abgeſchrieben ſind aus Gajus IV. § 61, zu deſſen Zeit alſo die Beſchränkung noch Gül - tigkeit hatte.287§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.dung findet. Eine Beſtätigung ihrer Richtigkeit liegt noch in dem völlig analogen Verfahren, welches bey zweydeu - tigen Ausdrücken einzelner Geſetze anzuwenden iſt (§ 35. 36), und an deſſen Richtigkeit ohnehin Niemand zweifelt. Wie dort aus zwey Bedeutungen deſſelben Ausdrucks ein Zweifel entſteht, ſo hier aus zwey widerſprechenden Stellen der - ſelben Geſetzgebung. Wie dort der ſprachliche Zweifel am ſicherſten gehoben wird durch Vergleichung mit ande - ren Theilen deſſelben Geſetzes oder mit anderen Geſetzen, ſo hier der ſachliche Zweifel durch Vergleichung mit an - deren unzweifelhaften Grundſätzen derſelben Geſetzgebung. Die Ähnlichkeit iſt vollſtändig und unwiderſprechlich. Eine bloße Anwendung dieſer Regel liegt darin, wenn wir einen Widerſtreit wahrnehmen zwiſchen einem ganz iſolir - ten Ausſpruch auf der einen Seite, und mehreren über - einſtimmenden, etwa aus verſchiedenen Zeiten herrührenden, Ausſprüchen auf der anderen Seite. Wir haben dann Grund, den Ausdruck des wahren Sinnes der Geſetzge - bung vielmehr in dieſer Übereinſtimmung voraus zu ſetzen, als in jener iſolirten Äußerung(g)Dahin gehört der Fall der L. 5 § 3 de praescr. verb. (19. 5), die mit ſo vielen Stellen ver - ſchiedener Zeiten im Widerſpruch ſteht. Ferner der Fall der L. 23 de don. int. vir. (24. 1. ), welcher viele ganz klare, unzweifelhafte Stellen gegenüber ſtehen (§ 164). Dieſer Fall gehört zugleich in das Gebiet des § 44; denn eben aus den widerſprechenden Stellen über - zeugen wir uns, daß jene Stelle eine blos hiſtoriſche Bedeutung haben kann, welches aus ihr, für ſich allein betrachtet, keinesweges zu erſehen ſeyn würde.. Eben ſo wenn unter zwey widerſprechenden Stellen die eine an dem Ort288Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.ſteht, wohin die ſtreitige Regel unmittelbar gehört, die andere an einem davon entfernten Ort. Denn von der erſten kann nun angenommen werden, daß die Compila - toren von dem Sinn und Einfluß derſelben, bey ihrer Aufnahme, ein deutliches Bewußtſeyn hatten, anſtatt daß bey der zweyten das, was den Widerſpruch begründet, leichter überſehen werden konnte. Daher drückt alſo jene Stelle den Sinn der Geſetzgebung im Ganzen zuverläſſiger aus als dieſe(h)Aus dieſem Grund wird der § 3 J. de usufr. (2. 4. ) vor - gezogen werden müſſen der L. 66 de j. dot. (23. 3)..

Zwar iſt nicht weg zu läugnen Juſtinians beſtimmte Verſicherung, daß Widerſprüche nicht vorkommen (§ 44. a.); allein was vermag dieſe Verſicherung gegen die augen - ſcheinliche Wirklichkeit, und gegen das unabweisliche Be - dürfniß einer Aufhebung des Widerſpruchs wo er uns be - gegnet? Ja man könnte ſelbſt bezweifeln, ob es mit jener Verſicherung ſo gründlicher Ernſt geweſen ſey. In dem Plane freylich lag die Verhütung von Widerſprüchen: aber eben ſo auch die Verhütung von Wiederholungen und von Auslaſſung wichtiger Stellen des älteren Rechts (similia und praetermissa). Nun wird ausdrücklich erklärt, es möchten doch wohl Verſehen dieſer zwey letzten Arten vor - gefallen ſeyn, und dieſe werden ſehr richtig entſchuldigt mit der Schwäche der menſchlichen Natur(i)L. 2 § 14. 16 C. de vet. j. enucl. (1. 17.). Allein dieſe Entſchuldigung, und alſo auch das Bekenntniß, worauf289§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.ſie ſich bezieht, paßt völlig eben ſo auf die Widerſprüche, und es ſcheint ganz zufällig, daß es dabey nicht auf gleiche Weiſe ausgedrückt iſt.

Bisher war die Rede von einem Widerſpruch inner - halb unſres allgemeinen Quellenkreiſes (§ 42 fg. ); es iſt nun noch der Widerſpruch in Anwendung auf die hypo - thetiſch hinzutretenden Rechtsquellen (§ 21) zu erwägen.

Im Allgemeinen gelten für dieſen zweyten Fall dieſel - ben Regeln, wie für den erſten. Insbeſondere muß auch hier das neuere Geſetz dem älteren vorgehen, wodurch der regelmäßige Vorzug des Landesrechts vor dem gemeinen Recht beſtimmt wird. Eben ſo wird auch hier dieſe Re - gel beſchränkt durch die Rückſicht auf Ausnahmen der älteren Regel, welche durch die neuere, abändernde Regel nicht nothwendig berührt werden. Es tritt aber hier noch eine eigenthümliche zweyte Ausnahme hinzu. Wenn nämlich das neuere Geſetz für ein weiteres Gebiet gilt, als das ältere, ſo iſt dadurch das ältere in der Regel nur dann aufgehoben, wenn das neuere eine abſolute Natur hat (§ 16), außerdem dauert das ältere fort(k)L. 3 § 5 de sepulchro viol. (47. 12.). In einer Stadt war durch die lex municipalis die Be - erdigung innerhalb der Mauern erlaubt, Hadrian verbot ſie ſpäter allgemein, man zweifelte welches vorgehe: dennoch wurde in dieſem Fall die allgemeine, aber abſolute, ſpätere Vorſchrift vorgezogen. C. 1 de const. in VI. (1. 2.). .. Ro - manus pontifex quia lo - corum specialium consuetu - dines et statuta potest pro - babiliter ignorare: ipsis per constitutionem a se noviter editam, nisi expresse caveatur in ipsa, non intelligitur in ali - quo derogare. . 19290Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.Dafür findet ſich dieſer alte Ausdruck: Willkühr bricht Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemein Recht(l)Eichhorn deutſches Privatrecht § 30..

§. 46. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. (Lücken. Analogie.)

Finden wir unſre Rechtsquellen zur Entſcheidung einer Rechtsfrage nicht zureichend, ſo haben wir dieſe Lücke auszufüllen, da die Forderung der Vollſtändigkeit ein eben ſo unbedingtes Recht für ſich hat, als die der Ein - heit (§ 42). Es fragt ſich nur, wo wir dieſe Ergänzung zu ſuchen haben. So mannichfaltig über dieſe Frage der Ausdruck unſrer Schriftſteller erſcheint, laſſen ſie ſich doch dem Weſen nach auf zwey Meynungen zurückführen. Nach der erſten Meynung wird ein allgemeines Normalrecht (das Naturrecht) angenommen, welches neben jedem poſi - tiven Recht als ein ſubſidiariſches ſtehen ſoll, in ähnlicher Weiſe wie in Deutſchland neben den einzelnen Landes - rechten das Römiſche. Dieſe beſondere Anwendung einer ſchon oben im Allgemeinen verworfenen Anſicht (§ 15) bedarf hier keiner neuen Widerlegung. Nach der zwey - ten Meynung wird unſer poſitives Recht aus ſich ſelbſt ergänzt, indem wir in demſelben eine organiſch bildende Kraft annehmen. Dieſes Verfahren müſſen wir nach un - frer Grundanſicht des poſitiven Rechts (§ 5) als das rich -291§. 46. Rechtsquellen als Ganzes. Lücken. Analogie.tige und nothwendige anerkennen, und es iſt weſentlich daſſelbe, welches auch ſchon zur Herſtellung der Einheit durch Beſeitigung von Widerſprüchen angewendet worden iſt (§ 45). Das Verhältniß der durch dieſes Verfahren gefundenen Rechtsſätze zu dem gegebenen poſitiven Recht nennen wir die Analogie(a)In demſelben Sinn nah - men den Ausdruck die Römer: Varro de lingua lat. Lib. 10 (in ältern Ausgaben 9) C. 3 6. Quinctilian. I. C. 6. Gellius II. C. 25. Isidor. I. C. 27. Über das eigentliche Weſen der Analogie erklärt ſich ſehr gut Stahl Philoſophie des Rechts II. 1. S. 166., und ſie iſt es daher wo - durch wir jede wahrgenommene Lücke auszufüllen haben.

Es kommt aber dieſe Rechtsfindung durch Analogie in zwey Stufen vor. Erſtlich wenn ein neues, bisher unbekanntes, Rechtsverhältniß erſcheint, für welches da - her ein Rechtsinſtitut, als Urbild, in dem bisher ausge - bildeten poſitiven Recht nicht enthalten iſt. Hier wird ein ſolches urbildliches Rechtsinſtitut, nach dem Geſetze innerer Verwandtſchaft mit ſchon bekannten, neu geſtaltet werden. Zweytens, und viel häufiger, wenn in einem ſchon bekannten Rechtsinſtitut eine einzelne Rechtsfrage neu entſteht. Dieſe wird zu beantworten ſeyn nach der inneren Verwandtſchaft der dieſem Inſtitute angehörenden Rechtsſätze, zu welchem Zweck die richtige Einſicht in die Gründe der einzelnen Geſetze (§ 34) ſehr wichtig ſeyn wird. Die analogiſche Rechtsfindung kann in beiden Stufen vorkommen als Anſtoß zur Fortbildung des Rechts, z. B. durch Geſetzgebung, in welchem Fall ſie mit größe -19*292Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.rer Freyheit geübt werden kann. Sie kann aber auch vorkommen (ſo wie wir ſie hier betrachten) als eine Art reiner Auslegung, etwa indem einem Richter zuerſt das neue Rechtsverhältniß oder die neue Rechtsfrage zur Ent - ſcheidung vorgelegt wird. Für dieſe Art der Anwendung der Analogie ſollen nunmehr noch einige nähere Beſtim - mungen gegeben werden.

Jede Anwendung der Analogie beruht auf der voraus - geſetzten inneren Conſequenz des Rechts: nur iſt dieſe nicht immer eine blos logiſche Conſequenz, wie das reine Ver - hältniß zwiſchen Grund und Folge, ſondern zugleich eine organiſche, die aus der Geſammtanſchauung der prakti - ſchen Natur der Rechtsverhältniſſe und ihrer Urbilder her - vorgeht (§ 4. 5.). Wir müſſen dabey ſtets ausgehen von einem Gegebenen, welches wir zur Löſung der vorliegen - den Aufgabe erweitern. Dieſes Gegebene kann ſeyn ein beſtimmtes einzelnes Geſetz, in welchem Fall der Name einer Entſcheidung ex argumento legis üblich iſt; weit häufiger aber wird das Gegebene in ſolchen Beſtandthei - len der Rechtstheorie enthalten ſeyn, die ſelbſt ſchon auf dem künſtlichen Wege der Abſtraction entſtanden waren. In allen Fällen aber iſt dieſes Verfahren weſentlich ver - ſchieden von der oben erklärten ausdehnenden Auslegung (§ 37), womit es ſehr häufig verwechſelt wird. Denn dieſe ſoll nicht etwa eine Lücke des Rechts ausfüllen, ſon - dern den unrichtig gewählten Ausdruck eines Geſetzes aus deſſen wirklichem Gedanken berichtigen. Bey dem Verfah -293§. 46. Rechtsquellen als Ganzes. Lücken. Analogie.ren nach Analogie nehmen wir an, daß es an dem wirk - lichen Gedanken irgend eines leitenden Geſetzes gänzlich fehlt, und wir ſuchen uns über dieſen Mangel durch die organiſche Einheit des Rechts hinweg zu helfen.

Die Auslegung vermittelſt der Analogie findet jedoch gar keine Anwendung, wenn das Gegebene, von welchem wir ausgehen, die Natur der Ausnahme von einer Regel hat. In einem ſolchen Fall wird meiſtens die Anwendung der Analogie ſchon deswegen verworfen werden müſſen, weil die Grundbedingung derſelben, der Mangel einer Regel, nicht vorhanden ſeyn wird. Wenn alſo z. B. ein vorhandenes Geſetz durch ein neues Geſetz theilweiſe aufgehoben wird, ſo beſtehen die nicht aufgehobenen Theile fort(b)Ein Beyſpiel kommt vor in L. 32 § 6 C. de apell. (7. 62.). Vgl. auch Thibaut logiſche Auslegung § 20.. Wollten wir auch darauf die Aufhebung aus - dehnen, ſo wäre das nicht Analogie, indem ja dafür eine Regel gar nicht fehlt, ſondern vielmehr eine ausdehnende Auslegung, und zwar eine willkührliche, grundloſe. Eben ſo wird es ſich verhalten mit der analogiſchen Er - weiterung eigentlicher Privilegien (§ 16), neben welchen es ja an einer eigentlichen Rechtsregel niemals fehlen wird. Und derſelbe Fall würde auch da eintreten, wo ein anomaliſches Recht oder Jus singulare (§ 16) über ſeine unmittelbaren Gränzen erweitert werden ſollte, in - dem auch da eine Regel ſchon vorhanden iſt, die durch die Erweiterung nur geſtört werden würde. Dieſer Fall294Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.indeſſen, der häufigſte und wichtigſte unter allen, bedarf noch einer genaueren Erörterung. Ein ſolches anomali - ſches Recht nämlich könnte man auch dazu benutzen wol - len, nicht eben um die darin liegende Ausnahme zu er - weitern, ſondern um eine ähnliche, wirklich unentſchiedene, Rechtsfrage darnach zu entſcheiden. Dann wäre der Fall der Analogie wirklich vorhanden, und der eben geltend gemachte Grund der Verwerfung würde nicht mehr paſſen. Und dennoch darf auch in einem ſolchen Fall gerade der anomaliſche Rechtsſatz zur Entſcheidung nach Analogie nicht benutzt werden, ſondern es iſt dazu ein verwandter Satz des regelmäßigen Rechts aufzuſuchen. Denn das ganze Verfahren nach Analogie beruht ja lediglich auf dem inneren Zuſammenhang des Rechtsſyſtems; die ano - maliſchen Rechtsſätze aber ſind aus fremdartigen Princi - pien entſprungen, und dem Rechtsſyſtem blos eingefügt (§ 16), weshalb ihnen die organiſch bildende Kraft des regelmäßigen Rechts nicht zugeſchrieben werden kann.

Die Römer haben von der Ergänzung des Rechts durch Analogie ſehr richtige Anſichten, nur unterſcheiden ſie in der Anwendung derſelben nicht überall die Fortbil - dung des Rechts von der reinen Auslegung; von dieſer Vermiſchung werden die Gründe weiter unten angegeben werden. Auch nach ihrer Lehre ſoll bei jeder unentſchie - denen Rechtsfrage das gegebene Recht, nach dem Geſetz der inneren Ähnlichkeit und Verwandtſchaft, zu der ge -295§. 46. Rechtsquellen als Ganzes. Lücken. Analogie.ſuchten Entſcheidung erweitert werden(c)L. 12 de Leg. (1. 3. ) ad similia procedere L. 27 eod. [quae] quandoque similes erunt. L. 32 pr. eod. quod proximum et consequens ei est. L. 2 § 18 C. de vet. j. enucl. (1. 17. ), wo K. Hadrian ſagt, die allmä - lige Ergänzung des Edicts ſolle geſchehen ad ejus regulas, ejus - que conjecturas et imitationes. Juſtinian ſelbſt erwähnt dieſen Fall, nicht unter dem praetermis - sum in § 16 eod. (welches die weg - gelaſſenen Stellen alter Juriſten ſind), ſondern unter den neuen negotia in § 18. Wie er ihn behandelt wiſſen will, wird unten gezeigt werden.. Die Formen, unter welchen dieſe organiſche Erweiterung des Rechts bewirkt wird, ſind vorzüglich Fictionen(d)Vgl. beſonders Gajus IV. § 10. § 33 38. und utiles actiones. Dadurch wird zugleich der innere Zuſammen - hang des Neuen mit dem Alten geſichert, und ſo die ſyſtematiſche Einheit des geſammten Rechts erhalten. Ein Beyſpiel, worin dieſes Verfahren im Großen anſchaulich wird, iſt die Bonorum possessio, die in ihrer völligen Ausbildung ganz als eine Fiction der hereditas gedacht werden muß(e)Ulpian. XXVIII. § 12. L. 2 de B. P. (37. 1.). L. 117 de R. J. (50. 17.). Auf das Beſtimmteſte aber erklären ſich die alten Juriſten gegen die analogiſche Erweiterung bey jedem Jus singulare(f)L. 14 de Leg. (1. 3.) Quod vero contra rationem juris re - ceptum est, non est producen - dum ad consequentias (wie - derholt in L. 141 pr. de R. J.). L. 162 de R. J. (50. 17.). Quae propter necessitatem recepta sunt, non debent in argumen - tum trahi. . Dieſe allgemeine Verwerfung wird auch im Einzelnen durch mehrere merkwürdige An - wendungen beſtätigt. Wer z. B. eine Sache von einem Wahnſinnigen kauft, den er für vernünftig hält, hat ano - maliſch das Recht der Uſucapion: man würde aber irren,296Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.wenn man dieſen Kauf auch in anderen Beziehungen als ein gültiges Geſchäft behandeln wollte(g)L 2 § 16 pro emtore (41. 4).. Wer eine Sache, in deren Uſucapion er begriffen iſt, als Pfand weggiebt, ſetzt dennoch anomaliſch die Uſucapion fort: es wäre aber irrig, ihm der Conſequenz wegen nun auch noch irgend andere Beſitzrechte zuſchreiben zu wollen, da dieſe vielmehr insgeſammt dem Gläubiger zukommen(h)L. 16 de usurp. (41. 3.). L. 36 de adqu. poss. (41. 2. ) Ein ähnliches Verfahren findet ſich in L. 23 § 1. L. 44 § 1 de adqu. poss. (41. 2.). L. 43 § 3 de fid. lib. (40. 5.).. Wenn dage - gen in manchen anderen Anwendungen dennoch eine ana - logiſche Erweiterung anomaliſcher Rechtsſätze vorkommt, ſo beruht dieſe auf der Vermiſchung der Auslegung mit der Fortbildung des Rechts, wovon ſogleich weiter die Rede ſeyn wird.

§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts über die Auslegung.

Wenn das Römiſche Recht die entſcheidende Kraft der authentiſchen Auslegung anerkennt(a)L. 12 § 1 C. de Leg. (1. 14.)., desgleichen auch die der uſuellen(b)L. 23. 37. 38. de legibus (1. 3.)., ſo liegt darin keine eigenthümliche Rechtsanſicht, es iſt vielmehr eine einfache Folge davon, daß überhaupt Geſetz und Gewohnheit als Rechtsquellen anerkannt werden. Alles kommt darauf an, welche Stel - lung die ſogenannte doctrinelle Auslegung (§ 32), die allein wahre Auslegung iſt, erhalten ſoll, und darüber wird297§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.durch die bloße Anerkennung einer authentiſchen und uſuel - len noch gar Nichts entſchieden.

Über die eigentliche Auslegung nun geben die alten Juriſten in den Digeſten Regeln, die größtentheils ſchon oben, in Verbindung mit der von mir aufgeſtellten Aus - legungslehre, benutzt worden ſind, indem dieſe Verbindung zur gegenſeitigen Ergänzung und Erläuterung dienen konnte. Dieſe Regeln ſind an ſich gut, wie man ſie von ihren Urhebern erwarten kann, aber unzulänglich, und beſonders auf den eigenthümlichen Fall der Juſtinianiſchen Rechts - bücher, den Jene nicht ahnen konnten, nicht berechnet. Vergleicht man mit dieſer von ihnen aufgeſtellten Theorie ihre eigene Praxis, ſo ſtimmt dieſelbe nicht völlig damit überein. Sie geht oft weit über die Gränzen wahrer Auslegung hinaus, und nimmt den Character einer wah - ren Fortbildung des Rechts an. Insbeſondere geben ſie ausdehnende Erklärungen aus dem Grund des Geſetzes, die nicht blos den Ausdruck berichtigen, ſondern das Ge - ſetz ſelbſt verbeſſern ſollen, was alſo nicht mehr Auslegung iſt: ja ſie erweitern nach Analogie nicht ſelten auch ein Jus singulare, obgleich dieſes mit ihrem eigenen beſtimmt ausgeſprochenen Grundſatz (§ 46) in geradem Widerſpruch ſteht(c)So dehnten ſie das Ver - äußerungsverbot des fundus do - talis auf den Bräutigam aus. L. 4 de fundo dot. (23. 5.). Desgleichen die freye Form des Militärteſtaments auf Civilper - ſonen in Feindes Land. L. un. de B. P. ex test. mil. (37. 13.). Desgleichen die Competenz - befugniß des Ehemannes auf die. Dieſe Widerſprüche erklären ſich aus der eigen -298Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.thümlichen Stellung der Römiſchen Juriſten, welche aller - dings auch die Fortbildung des Rechts unmittelbarer in ihre Hände legte, als dieſes bey uns angenommen wer - den kann (§ 19). So heißt denn auch bey ihnen Inter - pretatio keinesweges blos eigentliche Auslegung, ſondern überhaupt Lehre, Überlieferung, alſo Alles was oben als wiſſenſchaftliches Recht bezeichnet worden iſt (§ 14. 19. 20. ), und zwar in der freyeren Vehandlung, wie ſie ge - rade in Rom angenommen werden konnte(d)Über dieſe Bedeutung von Interpretatio vgl. L. 2 § 5 de O. J. (1. 2.). Hugo Rechtsge - ſchichte S. 441 der 11. Ausg. Puchta Gewohnheitsr. I. S. 16 fg.. Indeſſen mögen auch ſchon die alten Juriſten ſelbſt die unſichere Gränze erkannt haben, die dadurch zwiſchen ihrem eigenen Beruf, und den Befugniſſen des Prätors oder gar des Kaiſers entſtehen mußte; ſo ſcheint es zu erklären, wenn ſie es in manchen Stellen unbeſtimmt laſſen, ob eine Er - weiterung des Rechts durch ſie ſelbſt, oder vielmehr durch den Prätor oder Kaiſer zu bewirken ſey(e)L. 11 de leg. (1. 3. ) aut interpretatione aut constitu - tione optimi principis L. 13 eod. vel interpretatione vel certe jurisdictione suppleri. . Aber ſelbſt abgeſehen von dieſer größeren Freyheit, die den Römi - ſchen Juriſten, in Vergleichung mit den unſrigen, einge - räumt war, hatten ſie auch ausgedehntere Mittel der Aus - legung, indem ſie der Entſtehung ihrer Rechtsquellen ſo nahe ſtanden, alſo unmittelbar wiſſen konnten, wie man - cher an ſich nicht hinreichend beſtimmte Ausdruck gemeynt(c)Ehefrau. L. 20 de re jud. (42. 1.). In dieſen drey Fällen iſt es ein Jus singulare, welches erweitert wird.299§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.war, und in welchem Sinn er gleich von ſeinen Urhebern angewendet wurde(f)So z. B. hatte der Prätor für den Fall einer operis novi nun - ciatio ein Interdict verſprochen (L. 20 pr. de O. N. N. 39. 1.). Das wurde ausgelegt blos von einer Veränderung des Bodens, und zwar blos von einer ſolchen, die an einem Gebäude ſtatt fand (L. 1 § 11. 12 eod.). An einem andern Orte ſagte das Edict: quod vi aut clam factum est (L. 1 pr. quod vi 43.24.). Auch das wurde ausgelegt blos von einem opus in solo, aber dieſesmal nicht blos an Gebäuden, ſondern auch an Aeckern, Bäumen u. ſ. w. (L. 7 § 5 eod.). Dieſe Beſchrän - kungen und Unterſchiede lagen nicht in den Worten, noch we - niger waren ſie willkührlich: ſie gründeten ſich auf die traditio - nelle Bekanntſchaft mit den Fällen und Bedürfniſſen, wofür durch das eine und das andere Edict geſorgt werden ſollte.. In allen dieſen Beziehungen ſtehen wir anders als ſie, beſonders wenn wir nicht unſre einheimiſchen Geſetze, ſondern die uns ſo fern ſtehenden Juſtinianiſchen auszulegen haben. Unſere Lage iſt darin ungleich ſchwieriger; aber hier, wie in vielen anderen Fällen, iſt die durch die Schwierigkeit gebotene Anſtren - gung nicht ohne Frucht geblieben. Der Begriff und die Gränze wahrer Auslegung iſt dadurch unter uns zu einer ſchärferen Ausbildung gelangt, als jemals bey den - mern, denen eine gleiche Nothwendigkeit nicht aufer - legt war.

Unter den Kaiſern traten allmälig, beſonders ſeit der Mitte des dritten Jahrhunderts unſrer Zeitrechnung, völlig veränderte Verhältniſſe ein. Die Fortbildung des Rechts durch Edicte der Obrigkeiten hörte auf, und die freye Stellung des Juriſtenſtandes wäre kaum mehr mit der völlig entwickelten Kaiſerlichen Gewalt vereinbar geweſen;300Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.doch konnte davon bald ſchon deswegen nicht mehr die Rede ſeyn, weil die Rechtswiſſenſchaft nur noch in den Büchern der alten Juriſten fortlebte, perſönliche Nachfol - ger derſelben aber kaum noch vorhanden waren. Nun wäre höchſtens noch eine Auslegung der Richter möglich geweſen, und es kann weniger auffallen, wenn ſelbſt dieſe unter ganz neue und willkührliche Beſtimmungen geſtellt wurde. Vollendet wurden dieſe erſt durch Juſtinian aber der Anfang dazu findet ſich ſchon weit früher. So verordnet Conſtantin(g)L. 1 C. de leg. (1. 14. ), oder L. 3 C. Th. de div. rescr. (1. 2. ) (neu entdeckt). Vgl. oben § 36 Note f. : Inter aequitatem jusque in - terpositam interpretationem nobis solis et oportet et licet inspicere. Das heißt: wenn durch Auslegung irgend ein Satz der aequitas gegen das ſtrenge Recht neu einge - führt werden ſoll, ſo darf das nur vom Kaiſer ſelbſt ge - ſchehen. Offenbar iſt hier nicht von reiner Auslegung, ſondern von Fortbildung, und zwar von einer Eroberung der aequitas in dem Gebiet des bisher geltenden ſtrengen Rechts die Rede. Dieſes Verfahren, welches ſonſt regel - mäßig vom prätoriſchen Edict, ſehr oft auch von den Juriſten, ausgegangen war, wird jetzt dem Kaiſer vorbe - halten. Darin liegt Nichts, was man nicht nach der veränderten Verfaſſung ohnehin ſchon erwarten möchte. Eine Verordnung von Valentinian und Martian ſagt, der Kaiſer habe in den Geſetzen Dunkelheiten zu entfernen, und Härten zu mildern. Theils wird aber hier dieſer301§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.Beruf des Kaiſers nicht als ganz ausſchließend bezeichnet, ſondern nur auf das längſt übliche Verfahren durch Con - ſultationen, als den ſicherſten Weg verwieſen, theils könnte man, nach der Verbindung beider Sätze, wohl annehmen, es ſey nur von ſolchen Geſetzerklärungen die Rede, die zugleich eine Milderung, alſo eine wahre Änderung des Rechts, in ſich ſchlöſſen(h)L 9 C. de leg. (1. 14.) Si quid vero in iisdem legibus .. obscurius fuerit, opor - tet id Imperiali interpretatione patefieri, duritiamque legum nostrae humanitati incongruam emendari. Es iſt der etwas umgebildete Anfang von Nov. Martiani 4, worin freylich ge - rade die letzten Worte (von du - ritiamque an) nicht ſtehen.. Endlich wird verordnet, Zweifel über ein neues, noch nicht durch Gewohnheit feſt - gewordenes Recht müßten dem Kaiſer vorgelegt werden(i)L. 11 C. de leg. (1. 14. ), von Leo und Zeno.. Es iſt aber dabey unbeſtimmt gelaſſen, ob von einem Zweifel über Geſetzauslegung, oder etwa gerade über das Daſeyn eines vollendeten Gewohnheitsrechts, die Rede ſeyn ſoll.

Ungleich entſchiedener und durchgreifender ſind die Ver - ordnungen, die über dieſen Gegenſtand Juſtinian ſelbſt gegeben hat. Die erſte iſt erlaſſen im J. 529, bald nach der Einführung des älteren Codex(k)L. 12 § 1 C. de leg. (1. 14.).. Der Gang ihrer Gedanken iſt kurz folgender: Wir finden in alten Ge - ſetzen(l) In veteribus legibus in - venimus dubitatum. Damit können wohl nur Stellen alter Juriſten gemeynt ſeyn: vielleicht Stellen aus der erſten Zeit der Kaiſerregierung, als die bin - dende Kraft der Reſcripte noch einen Zweifel darüber, ob die vom Kaiſer aus -302Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.gehenden Geſetzauslegungen verbindliche Kraft haben. Dieſer ſpitzfindige Zweifel iſt aber ganz lächerlich, und wird durch gegenwärtige Vorſchrift beſeitigt. Jede vom Kaiſer ausgehende Geſetzauslegung, ſie mag erfolgen in einem Reſcript (sive in precibus), oder in einem Kaiſer - lichen Urtheil (sive in judiciis)(m)Die Worte laſſen eine zwiefache Deutung zu. Preces kann alle Reſcripte bedeuten, Judicia die Decrete, ſo daß für die übrigen Arten die Edicte und Mandate übrig bleiben. Man kann aber auch Preces auf die Privatreſcripte beſchränken, ſo daß Judicia neben den Decreten auch noch die Reſcripte im Con - ſultationenproceß umfaßte. Die erſte Erklärung ſcheint mir jedoch einfacher und natürlicher, um ſo mehr da das Principium der Stelle blos von Decreten handelt, alſo dieſe beſonders heraushebt., oder auf irgend eine andere Weiſe (alſo z. B. in einem authentiſch interpreti - renden Geſetz) ſoll als bindend und unfehlbar gelten. Denn da in der gegenwärtigen Verfaſſung der Kaiſer allein Ge - ſetze geben kann, ſo kann auch nur er ſie auslegen. Warum würde auch ſonſt von allen über ein Geſetz zweifelnden Richterbehörden bey ihm angefragt, wenn nicht er allein die Befugniß zur Auslegung hätte?(n) Si non a nobis inter - pretatio mera procedit? . Oder wer könnte die Dunkelheiten der Geſetze wegräumen, als der welcher allein Geſetze geben kann? Hinfort mögen alſo alle lächer - liche Zweifel ſchwinden, und es ſoll der Kaiſer als ein - ziger Geſetzgeber nicht nur, ſondern auch als einziger In - terpret anerkannt werden. Doch ſoll dieſe Vorſchrift dem Recht keinen Abbruch thun, welches hierin den alten Ju -(l)nicht unzweifelhaft anerkannt war, alſo gewiß älter als Gajus.303§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.riſten von den Kaiſern verliehen worden iſt (o)Das heißt: die in den Schriften von Papinian u. ſ. w. enthaltenen Auslegungen ſollen noch ferner diejenige geſetzliche Kraft haben, die ihnen die Ver - ordnung von Valentinian III. bey - legt. Dieſe Verordnung näm - lich wurde erſt vier Jahre ſpäter, durch die Promulgation der Di - geſten, außer Kraft geſetzt.. In dieſer Verordnung liegen zwey ganz verſchiedene Sätze: erſtlich die verbindliche Kraft der Kaiſerlichen Auslegung, in welcher Form ſie auch geſchehe; zweytens das Verbot jeder Privatauslegung. Dieſes letzte iſt nun eigentlich das Neue und Wichtige; aber auch das erſte bedarf noch einiger Erläuterung. In dieſer Hinſicht will hier Juſtinian au - genſcheinlich nichts Neues vorſchreiben, ſondern nur das einſchärfen und gegen nichtige Zweifel ſichern, was ſich eigentlich ohnehin von ſelbſt verſtehe. Darum beſtimmt er hier auch Nichts über die Art der Wirkſamkeit dieſer Kaiſerlichen Auslegungen, ſondern er läßt es hierin ganz bey der bisherigen Verfaſſung. Alſo die Auslegung in einem Edict ſollte bindend ſeyn für Alle, ſo wie jedes Geſetz: die in einem Decret, wenn es ein Endurtheil war, gleich - falls für Alle, alſo auch für künftige andere Fälle, wie es das Principium dieſer Stelle feſtſetzt: die in einem Interlocut nur für dieſen einzelnen Fall: endlich die in einem Reſcript (welches ja nie publicirt wurde) gleich - falls nur für den einzelnen vorliegenden Fall. Es iſt alſo durchaus unrichtig, wenn manche annehmen, die interpre - tirenden Reſcripte ſollten nach dieſer Verordnung auch für künftige andere Fälle Geſetzeskraft haben (§ 24), ſo wie304Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.es das Principium allerdings für die Decrete, wenn ſie Endurtheile ſind, vorſchreibt: vergleicht man beide Theile der Stelle mit einander, ſo kann man über die gänzliche Verſchiedenheit des Ausdrucks, wie der Gründe der Be - handlung beider Fälle, nicht zweifelhaft ſeyn.

Die zweyte Verordnung Juſtinians über die Auslegung findet ſich mitten in dem Publicationspatent über die Di - geſten vom J. 533, d. h. in L. 2 § 21 C. de vet. jure enucl. (1. 17.). Sie ſteht in Verbindung mit dem Ver - bot, juriſtiſche Bücher zu ſchreiben (§ 26), und ergänzt daſſelbe auf folgende Weiſe: Eigentliche Bücher, ins - beſondere Commentare über die Geſetze, werden verboten. Findet ſich aber irgend ein Zweifel über den Sinn eines Geſetzes(p) Si quid vero ambi - guum fuerit visum etc. Das darf keinesweges blos von zwey - deutigen Ausdrücken eines Ge - ſetzes verſtanden werden, die ja von Juſtinians Standpunkt aus unmöglich als etwas Beſonderes angeſehen werden konnten, ſon - dern es bezeichnet Zweifel und Schwierigkeiten jeder Art, alſo alles Auslegungsbedürfniß über - haupt, gerade wie die omnes ambiguitates judicum in L. 12 § 1 cit. , ſo ſollen dieſen die Richter dem Kaiſer zur Entſcheidung vortragen, denn dieſer iſt, wie der einzige Geſetzgeber, ſo auch der einzige rechtmäßige Interpret(q) Cui soli concessum est le - ges et condere et interpretari. .

§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts über die Auslegung. (Fortſetzung.)

Beide übereinſtimmende Geſetze ſind von ſo ſchroffem Inhalt, daß man augenblicklich Bedenken haben könnte,305§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.ſie ganz buchſtäblich zu nehmen. Allein jeder Zweifel muß verſchwinden vor der öfter wiederholten ausſchließenden Befugniß des Kaiſers zur Auslegung, noch mehr aber vor der ſtets wiederkehrenden Parallele zwiſchen Geſetzge - bung und Auslegung: denn da gewiß Keiner als der Kaiſer Geſetze geben konnte, ſo ſollte (wegen der völligen Gleich - ſtellung beider Geſchäfte) auch Keiner als er ſie auslegen dürfen. Und in der That lag darin nur eine conſequente Durchführung deſſelben Grundſatzes, welcher auf das Verbot jeder künftigen Rechtswiſſenſchaft führte (§. 26). Zwar denken ließe ſich noch neben dieſem Verbot eine den Richtern geſtattete freye Auslegung; daß es Juſtinian nicht ſo gemeynt hat, iſt ganz klar aus der zweyten Verordnung, welche gerade den Richtern für jeden Zweifel über den Sinn eines Geſetzes die Anfrage bei dem Kaiſer ſchlecht - hin zur Pflicht macht. Auch conſequenter war es ſo, wie Juſtinian es wirklich einrichtete. Es ſollte nun Jedem, der mit den Geſetzen in Berührung kam, Lehrer oder Rich - ter, nur ein mechaniſches Verfahren erlaubt, jede freye Geiſtesthätigkeit ſchlechthin verboten ſeyn. Alle dieſe Vor - ſchriften waren ſichtbar aus Einem Stück. Zwar könnte man es für inconſequent halten, daß Juſtinian zugleich vorſchreibt, bey ſcheinbaren Widerſprüchen subtili animo eine Vereinigung zu ſuchen (§ 44); allein dieſes darf bei ihm nicht als ſcharfſinnige Auslegung gedacht werden, die gewiß nicht in ſeinem Sinne iſt, ſondern als ein Her - umſuchen nach einem verſteckten Wort, worin die Ver -20306Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.ſchiedenheit der Fälle angedeutet werde, folglich wieder als ein blos mechaniſches Geſchäft. Ferner könnte es inconſequent ſcheinen, daß in die Digeſten ſo viele in einem weit freyeren Sinn gedachte Anweiſungen zur Auslegung aufgenommen ſind, wenn der Richter dieſe nicht ſollte au - wenden dürfen. Allein ſtehen nicht neben dieſen Anwei - ſungen auch Regeln über die Abfaſſung der Geſetze(a)L. 3. 4. 5. 6. 7. 8. de leg. (1. 3.). L. 2 de const. princ. (1. 4.).? Und doch wollte Juſtinian damit gewiß nicht ſeinen Un - terthanen eine Theilnahme an der Geſetzgebung anbieten. Jene und dieſe Regeln ſollten zunächſt ankündigen, in welcher Weiſe der Kaiſer Geſetze geben und auslegen werde: dann auch zugleich als Anweiſung dienen für die - jenigen Beamten, die in dieſen Geſchäften von ihm ge - braucht werden würden. Darin lag alſo keine Inconſequenz.

Unſere Schriftſteller freylich haben für dieſe Verord - nungen folgende mildere Deutung verſucht. Die wahre, auf hermeneutiſchen Regeln beruhende, Auslegung ſoll völlig frey geblieben ſeyn. Nur bey ganz unverſtändli - chen, verzweifelten Geſetzen, bey welchen alle Hermeneu - tik nicht anſchlagen will, ſollen jene Verordnungen die Auslegung für ein kaiſerliches Reſervat erklären(b)Thibaut logiſche Ausle - gung S. 25. 47. 112. Hufeland Geiſt des Römiſchen Rechts I. S. 121. Mühlenbruch I. §. 54. Hufeland hat noch das Eigen - thümliche, daß er dieſe Erklärung auf L. 2 § 21 cit. beſchränkt; die L. 12 § 1 cit. dagegen erklärt er S. 46 51 ſo, daß das Verbot nur für den Fall gelten ſoll, wenn der Kaiſer bereits wirklich aus - gelegt hat. Von dieſer Beſchrän - kung enthält aber die Stelle keine Spur, ja ſie wird völlig wider - legt durch den Grund, wodurch. Allein307§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.zuvörderſt glaube ich nicht, daß es Geſetze giebt, woran die Auslegungskunſt gänzlich verzweifeln müßte. Beſon - ders aber im Munde von Juſtinian iſt eine Verordnung dieſes Inhalts ganz undenkbar. Juſtinian iſt von dem Selbſtgefühl wegen des glänzenden Erfolgs ſeiner Unter - nehmung ſo durchdrungen, daß er beſtimmt erklärt, ſeine Geſetzbücher enthielten durchaus keine Widerſprüche, die doch bey dem größten Fleiße ſchwer zu verhüten waren. Und er ſollte daneben annehmen, in dieſen vollkommenen Geſetzbüchern fänden ſich ganz unverſtändliche, alſo äu - ßerſt ſchlechte Geſetze? Er ſollte dieſen Fall als ſo wich - tig und häufig anſehen, daß er es nöthig fände, in zwey verſchiedenen Jahren darüber Verordnungen zu erlaſſen? Alle allgemeine Betrachtungen alſo machen dieſe Erklä - rung ganz verwerflich: unglaublich ſchwach aber ſind die ſpeciellen Gründe, die man zu ihrer Rechtfertigung ange - führt hat. In L. 9 C. de leg., ſagt man, ſteht: si quid .. obscurius fuerit; das bezeichne eine undurchdringliche Dun - kelheit. Allein, abgeſehen davon, daß der Ausdruck ge - rade nicht in Juſtinians eigenen Verordnungen vorkommt, von deren Sinn hier allein die Rede iſt, hat auch dieſer abſolut gebrauchte Comparativ vielmehr eine mildernde Bedeutung; es heißt: einigermaßen dunkel, nicht ganz klar. Ferner, ſagt man, nennt die ältere Verordnung das, was(b)die Vorſchrift außer Zweifel ge - ſetzt werden ſoll: wozu die An - fragen, wenn nicht der Kaiſer allein zur Auslegung berufen wäre? Zur Zeit einer Anfrage hatte der Kaiſer gewiß noch nicht ausgelegt.20*308Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.ſie dem Kaiſer vorbehält: legum aenigmata solvere; das heiße: das unerklärliche erklären. Allein im Begriff des Räthſels liegt ſo wenig die Unauflöslichkeit, daß vielmehr die Räthſel nur zum Zweck der Auflöſung erfunden zu werden pflegen. Auch iſt es aus anderen Stellen von Juſtinian klar, daß in ſeiner etwas ſchwülſtigen Sprache aenigma jede Schwierigkeit, keinesweges blos die unbe - zwingliche, bezeichnet(c)In L. un. C. de nudo j. quir. (7. 25. ) heißt es: nec jure Quiritium nomen quod nihil ab aenigmate discrepat. Wir ken - nen den Sinn dieſes Kunſtaus - drucks ſchon durch Ulpian ganz leidlich, ſeit Gajus noch viel beſ - ſer; in Juſtinians Zeit, wo man ſo viele vollſtändige Institutiones u. ſ. w. hatte, war die Schwie - rigkeit noch weit geringer. Eben ſo verbietet L. 1 § 13 C. de vet. j. enucl. (1. 17. ) die siglorum compendiosa aenig - mata. Die Bedeutung der Siglen aber konnte man von jedem Ab - ſchreiber erfahren, auch gab es ſchon damals Schriften, worin ſie erklärt waren, namentlich die des Valerius Probus. In beiden Stellen alſo heißt aenigma nicht etwas Unerforſchliches, ſondern etwas das man lernen muß, das man nicht ſchon durch die tägli - che Erfahrung, alſo nicht ohne einige Anſtrengung, kennen lernt.. Jene Erklärung der Juſtinia - niſchen Verordnungen erſcheint alſo von allen Seiten ſo ganz unhaltbar, daß deren treffliche Vertheidiger gewiß nicht ihre Zuflucht dazu genommen hätten, wären ſie nicht durch das Gefühl der äußerſten Noth dazu getrieben wor - den; von dieſer Noth aber und von den Hülfsmitteln da - gegen kann erſt in dem folgenden §. die Rede ſeyn.

Nachdem jetzt der Sinn von Juſtinians Vorſchriften feſtgeſtellt worden iſt, muß noch hinzugefügt werden, wie er ſich die Ausführung dachte, wodurch ſie ins Leben tre - ten ſollten. Das iſt klar, daß bey jedem Zweifel über309§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.den Sinn eines Geſetzes angefragt werden ſollte. Dieſe Anfragen aber ſollten nicht etwa zu authentiſchen Ausle - gungen durch Edicte führen, ſondern nur zu Reſcripten, die für den vorliegenden Fall bindende Kraft hatten, nicht weiter. Und dieſer Zuſtand der Dinge ſcheint ſich auch in der folgenden Zeit unverändert erhalten zu haben. Denn als Juſtinian, Acht Jahre nach Einführung der Digeſten, die Privatreſcripte in der Novelle 113 für unverbindlich erklärte (§ 24), ſetzte er ausdrücklich hinzu, die Anfragen und Reſcripte wegen Geſetzauslegung ſollten wie bisher fortbeſtehen. Noch ſpäter (im J. 544) verbot die No - velle 125 auch die Conſultationen (§ 24), und zwar ohne jenen ausdrücklichen Vorbehalt. Dennoch muß derſelbe ſtillſchweigend hinzugedacht werden. Denn es iſt völlig undenkbar, daß Juſtinian die Privatauslegung, die er wie - derholt und auf die feyerlichſte Art verboten hatte, nun - mehr indirect und gleichſam verſtohlnerweiſe wieder frey gegeben haben ſollte. Ohne Zweifel alſo gieng das Ver - bot nur auf die eigentlichen Conſultationen, die den Kai - ſer veranlaßten den Rechtsſtreit ſelbſt zu entſcheiden, alſo anſtatt des Richters (ſo wie es unſre Facultäten thun) ein Urtheil abzufaſſen. Die Anfragen wegen Geſetzausle - gung ſollten dadurch nicht berührt ſeyn.

Indeſſen iſt dieſer von Juſtinian klar vorgeſchriebene Geſchäftsgang nicht ohne praktiſche Schwierigkeit. Man könnte denken, er hätte durch Anfragen ſo überhäuft wer - den müſſen, daß an übriges Regieren kaum mehr zu den -310Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.ken geweſen wäre. Täuſchen wir uns dabey nicht durch die Wahrnehmung, daß auch die nicht beſonders gelehr - ten unter unſern Richtern ſich dennoch mit Juſtinians Ge - ſetzen leidlich genug zurecht finden. Ihnen ſteht zur Seite die freundliche Hülfe irgend eines Collegienheftes oder Lehr - buches, welches ihnen die genießbare Frucht einer ſieben - hundertjährigen Arbeit und Überlieferung auf die gemäch - lichſte Weiſe darbietet. Denken wir uns nun aber dieſe Arbeit von Sieben Jahrhunderten hinweg, und dann dem Corpus Juris gegenüber, blos auf eigene perſönliche Kraft verwieſen, einen ungelehrten Richter, wie ſie alle ſeyn würden, wenn Juſtinians Vorſchriften über die Rechts - wiſſenſchaft bisher befolgt worden wären. Ich glaube, bey einem ſolchen Richter, wenn er nur gewiſſenhaft wäre, würden wenige Gerichtstage vergehen ohne Anfragen bey dem Geſetzgeber, der aber dann in einem großen Lande die Arbeit nicht mehr bezwingen könnte, die blos dazu er - fordert würde, die Maſchine der Rechtspflege im täglichen Gang zu erhalten. Dennoch muß ſich dieſer Erfolg in Juſtinians Reich nicht gezeigt haben; ſonſt hätte er ſchwer - lich noch Acht Jahre nach Einführung der Digeſten die Vorſchrift der Anfragen zum Zweck der Auslegung wie - derholen können(d)Nov. 113. C. 1 pr. von 541., da man in dieſer Zeit doch hinrei - chende Erfahrungen geſammelt haben konnte. Dieſe auf - fallende Erſcheinung erklärt ſich daraus, daß nicht ſelten ganz entgegengeſetzte Kräfte zu demſelben Ziele führen311§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.können. Geiſt und Kenntniß werden bey dem Richter, dem die Auslegung geſtattet iſt, nicht einmal das Bedürf - niß einer Anfrage entſtehen laſſen. In Juſtinians Reich mögen ſich die Richter, denen er die Auslegung verboten hatte, durch Gedankenloſigkeit und Willkühr geholfen ha - ben, ohne zu häufigeren Anfragen zu ſchreiten, als der Kaiſer zu erledigen im Stande war.

§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche über die Auslegung.

Nachdem die Beſtimmungen des Römiſchen Rechts über die Auslegung dargeſtellt worden ſind (§ 47. 48), iſt nun zu unterſuchen, welchen Werth dieſelben, da wo über - haupt Römiſches Recht gilt, für uns haben. Dieſe Frage iſt offenbar verwandt mit der gleichnamigen, ſchon oben beantworteten, Frage über die Rechtsquellen (§ 27), aber zugleich auch von ihr verſchieden. Denn dort war die Rede von der Erzeugung des Rechts, die an ſich dem öffentlichen Rechte angehört; hier iſt die Rede von der Aufnahme deſſelben, alſo von dem Verhalten der Einzel - nen ihm gegenüber, und warum ſollte nicht dafür, ſo gut wie für alles Andere was die Einzelnen betrifft, das - miſche Recht die Regel darbieten können?

Nur müßte dabey ſchon aus formellen Gründen Eine Ju - ſtinianiſche Conſtitution, die L. 3 C. de vet. jure enucleando, ausgeſchloſſen bleiben, weil dieſe unter die reſtituirten Stel -312Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.len gehört (§ 17). Indeſſen iſt dieſe Ausſchließung ganz unerheblich, da jene Stelle doch nur die griechiſche Ab - faſſung der unmittelbar vorhergehenden (L. 2 eod.) iſt, alſo keinen eigenen, von dieſer verſchiedenen Inhalt hat.

Ein Theil der Stellen nun, welche man hierher zu rechnen pflegt, muß ohne allen Zweifel als entſcheidend anerkannt werden; ich meyne diejenigen Verordnungen Ju - ſtinians, worin er ſich über die Beſtimmung ſeiner Rechts - bücher und ihrer einzelnen Beſtandtheile ausſpricht. Wenn er z. B. ſagt, die Stellen der Juriſten in den Digeſten, und die Reſcripte im Codex, ſollten nicht als bloße Be - lehrungen, ſondern als wahre, von ihm ſelbſt ausgehende Geſetze angeſehen werden, ſo iſt das weniger eine Ausle - gungsregel, als vielmehr Stück des Publicationspatentes; denn es betrifft nicht eigentlich das was wir zu thun ha - ben, ſondern den Sinn deſſen was er ſelbſt thut. Etwas ähnliches freylich, nur in viel entfernterer Weiſe, ließe ſich auch von den eigentlichen Auslegungsregeln ſagen, da dieſelben in der That folgenden Sinn haben: alle Stellen der Digeſten und des Codex ſollen verſtanden wer - den nach den hier gegebenen Auslegungsregeln, denn un - ter Vorausſetzung dieſer Regeln habe ich die Stellen ſelbſt aufgenommen. Eben ſo ſollen verſtanden werden meine künftigen Geſetze, und die Geſetze meiner Nachfolger, da wir unſre geſetzgebende Gewalt ſtets in dieſer Voraus - ſetzung ausüben werden. Dann wären die Auslegungs - regeln in Beziehung auf jede einzelne Stelle gewiſſerma -313§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.ßen ſelbſt ſchon eine Art authentiſcher Interpretation. Dieſe Anſicht würde dann ferner zu folgender Unterſchei - dung führen. Die Römiſchen Auslegungsregeln wären anwendbar und geſetzlich bindend für Juſtinians Rechts - bücher, für ſeine Novellen, und für die Geſetze der fol - genden griechiſchen Kaiſer (wenn dieſe von uns recipirt wären); ſie wären aber nicht anwendbar für das cano - niſche Recht, die Reichsgeſetze, und unſere Landesgeſetze. Denn Juſtinian konnte doch unmöglich, wie durch ein le - gislatives Fideicommiß auf ewige Zeiten, beſtimmen wol - len, in welchem Sinn künftig Päbſte, deutſche Kaiſer, oder deutſche Landesfürſten, ihre geſetzgebende Gewalt ausüben würden(a)Die Vergleichung mit fol - gendem Fall entgegengeſetzter Art wird dieſes noch anſchaulicher ma - chen. In das Preußiſche Land - recht hat K. Friedrich Wilhelm II. Regeln über die Auslegung auf - nehmen laſſen. Dieſe gelten für das Landrecht ſelbſt, für ſpätere Geſetze deſſelben Königs, und für alle Geſetze ſeiner Nachfolger. Denn ſein Geſetz iſt auch für die Ausübung der Regentengewalt ſeiner Nachfolger ſo lange ver - bindend, bis ſie es wieder auf - gehoben haben. Auch hier alſo iſt immer wieder entſcheidend der Gegenſatz des öffentlichen Rechts und des Privatrechts..

So ſteht die Sache nach einer allgemeinen, blos for - mellen, Betrachtung, und den Römiſchen Auslegungsre - geln wäre dadurch ein ſehr ausgedehntes Gebiet der Herr - ſchaft geſichert, nämlich über Juſtinians Rechtsbücher, wel - ches gerade der wichtigſte Fall der Anwendung iſt. Allein ſehen wir auf den beſonderen Inhalt jener Regeln, ſo kommen wir vielmehr zu der Überzeugung, daß ſie auch ſelbſt in dieſer Anwendung eine geſetzlich bindende Kraft314Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.nicht haben. Die wichtigſte unter allen dieſen Regeln iſt unſtreitig die, welche wir in beiden Verordnungen von Juſtinian finden (§ 47. 48); ſie ſagt uns ganz deutlich, wie wir auslegen ſollen, nämlich gar nicht. Gerade dieſe wichtigſte Regel aber können wir als Geſetz aus zwey Gründen nicht anerkennen.

Erſtens weil ſie in unzertrennlicher Verbindung ſteht mit Juſtinians Verbot, juriſtiſche Bücher zu ſchreiben (§ 26). Dieſe Verbindung erhellt nicht blos aus dem Inhalt und Zweck beider Vorſchriften, ſondern auch aus ihrer Faſ - ſung, indem ſie in der neueren Verordnung unmittelbar neben einander ſtehen, und zwar ſo, daß die eine als Folge und nähere Beſtimmung der anderen ausgedrückt wird. Da nun das Verbot der rechtswiſſenſchaftlichen Bücher als Geſetz für uns nicht gilt (§ 27), ſo kann auch das der Auslegung nicht gelten; denn wollten wir dieſes, herausgeriſſen aus ſeinem Zuſammenhang, einzeln gelten laſſen, ſo wäre es ja in der That nicht mehr Ju - ſtinians Vorſchrift, ſondern etwas das wir daraus will - kührlich gemacht hätten, und worin ſich blos der wört - liche Schein ſeiner Vorſchrift wiederfände.

Zweytens weil ihre Ausführung für uns nicht etwa ſchwierig, ſondern völlig unmöglich iſt. Denn Juſtinian macht die Auslegung der Richter entbehrlich durch kaiſer - liche Reſcripte, eine ſolche Anſtalt aber findet ſich in kei - nem neueren Staate. Man täuſche ſich nicht durch die315§ 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.Aushülfe eines authentiſch erklärenden Geſetzes(b)Thibaut Abhandlungen S. 102. Vgl. dagegen Löhr, Magazin III. S. 208, der nur mit Unrecht daran Anſtoß nimmt, daß die authentiſche Auslegung dann eine rückwirkende Kraft er - halten müßte. Dieſe hat ſie aber jederzeit ohnehin, wie unten ge - zeigt werden wird. Vgl. einſt - weilen Nov. 143 pr. ; ein ſolches zu bewirken hat kein Richter die Macht, bis zu ſeiner Erſcheinung mit dem Urtheil zu warten hat er nicht das Recht, vor Allem aber wäre es nicht das was Juſtinian will, ſondern etwas ganz Anderes. Eben ſo täuſche man ſich nicht durch die Verweiſung auf eine Ge - ſetzcommiſſion oder auf ein Juſtizminiſterium, welche aller - dings in manchen Staaten ſolche Belehrungen zu ertheilen pflegen(c)Eine ſolche, mit bindender Kraft interpretirende, Geſetzcom - miſſion beſtand vormals im Preu - ßiſchen Staate, iſt aber ſpäter - hin aufgehoben worden. Vergl.[unten] § 51 Note c. Hier iſt jedoch von Ländern des gemei - nen Rechts die Rede.; denn auch dieſes iſt etwas ganz Anderes, und daß es bey Juſtinian mit der perſönlichen Einwirkung des Kaiſers auf die Auslegung wahrer Ernſt war, geht aus dem, was wir von ſeiner Perſon wiſſen, deutlich genug hervor. Glauben wir aber einmal, uns über Juſtinians wirkliche Vorſchrift durch irgend ein Surrogat wegſetzen zu dürfen, warum wollten wir dann auf halbem Wege ſtehen bleiben, und nicht lieber unſere natürliche Freyheit der Auslegung geltend machen?

Das Gefühl dieſes Nothſtandes war es, was die oben (§ 48) angegebene höchſt gewaltſame Erklärung von Ju - ſtinians Verordnungen veranlaßte; allein eine Rechtferti -316Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.gung für ein ſo ganz willkührliches Verfahren liegt darin nicht. Beſſer war es unſtreitig zu ſagen, Juſtinian habe die Privatauslegung in der That verboten, aber ein all - gemeines Gewohnheitsrecht habe dieſes Verbot wieder auf - gehoben(d)Ungefähr in dieſer Art nimmt es Zachariä Hermeneu - tik S. 164, nur noch mit dem unrichtigen Zuſatz, das Juſtinia - niſche Recht ſelbſt ſey in dieſem Punkt ſchwankend, indem einige Stellen die Auslegung zuließen, andere ſie unterſagten; dieſes Schwanken ſey durch unſre Praxis zu Gunſten der Zuläſſigkeit ent - ſchieden.. Wenigſtens kommt ſchwerlich in der ganzen Rechtsgeſchichte ein Beyſpiel vor, worin eine allgemeine Gewohnheit ſo unzweifelhaft wäre, als die der Privat - auslegung von Irnerius an bis auf unſre Tage. Von unſerm Standpunkt aus können wir freylich eine ſolche derogirende Gewohnheit nicht annehmen, da wir der - miſchen Vorſchrift ſchon an ſich ſelbſt keine Anwendbarkeit beylegen. Und eben dieſe Behauptung wird nun gerade durch die nachgewieſene Unmöglichkeit der Ausführung voll - kommen beſtätigt. Denn dieſe Unmöglichkeit gründet ſich lediglich darauf, daß Juſtinian ſelbſt ſein Verbot in un - zertrennliche Verbindung mit einer jetzt verſchwundenen Staatsanſtalt, den kaiſerlichen Reſcripten, geſetzt hat. Dadurch hat er daſſelbe zu einem Stück des öffentlichen Rechts gemacht, und darum müſſen wir deſſen heutige Anwendbarkeit ſchon nach allgemeinen Grundſätzen vernei - nen (§ 1. 17.). Vergleichen wir den letzten Erfolg der hier aufgeſtellten Anſicht mit dem, welcher aus jener ge - waltſamen Erklärung von Anderen hergeleitet wird, ſo317§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.ſind beide in der That nicht verſchieden. Jene laſſen Ju - ſtinians Verbote als Geſetze gelten, beſchränken ſie aber auf den gar nicht exiſtirenden Fall völlig ſinnloſer Ge - ſetze. Hier iſt der Sinn der Verbote in ſeiner vollen Aus - dehnung anerkannt, zugleich aber ihre heutige Anwendbar - keit gänzlich geläugnet worden.

Alle dieſe Gründe betreffen nur Juſtinians Verbot der Auslegung; die in den Digeſten enthaltenen Regeln könn - ten an ſich auch für uns mit geſetzlicher Kraft beſtehen. Doch halte ich es für conſequenter, auch ihnen dieſe Kraft abzuſprechen, und alſo die verſchiedenen Beſtimmungen des Juſtinianiſchen Rechts über die Auslegung als untrennbar ſtehen und fallen zu laſſen. Jede Trennung dieſer Art iſt ſtets eine halbe Maaßregel: ſcheinbare Aufrechthaltung bey weſentlicher Umbildung; denn wer kann ſagen, welche ganz andere Regeln Juſtinian gut gefunden hätte, wenn ihm überhaupt die Privatauslegung als zuläſſig erſchienen wäre? Von praktiſcher Wichtigkeit iſt dieſe Frage übri - gens nicht. Denn ganz neue Vorſchriften über die Aus - legung, wodurch unſre allgemeinen Anſichten poſitiv um - gebildet würden, finden ſich in den Digeſten nicht; durch unſre Behauptung aber ſoll weder ihnen das Anſehen ei - ner Achtung gebietenden Autorität, noch uns die Beleh - rung, die wir aus ihnen ſchöpfen können, entzogen wer - den. Auch ſind ſie von mir auf ſolche Weiſe, neben der hier verſuchten Theorie der Auslegung, ſchon bisher be - nutzt worden.

318Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

§. 50. Anſichten der Neueren von der Auslegung(a)Ich führe hier folgende Schriftſteller an, die theils be - ſonders reichhaltiges Material dar - bieten, theils als Repräſentanten der gangbarſten Meynungen gel - ten können: Chr. H. Eckhard hermeneutica juris ed. C. W. Walch Lips. 1802. 8. Thi - baut Theorie der logiſchen Aus - legung des R. R. 2te Ausg. Al - tona 1806. 8. Mühlenbruch I. § 53 67. Vorzüglich frey von herrſchenden Vorſtellungen, und reich an eigenen Gedanken, iſt hier wie anderwärts Donellus I. 13. 14. 15..

Von abweichenden Anſichten neuerer Schriftſteller iſt ſchon neben meiner eigenen Darſtellung häufig die Rede geweſen. Am Schluſſe ſollen dieſelben noch in einigen Hauptpunkten zuſammengeſtellt werden, welche auf dieſe Lehre im Ganzen beſonderen Einfluß ausüben.

Dahin gehört zuerſt der faſt allgemein herrſchende Be - griff der Auslegung als einer Erklärung dunkler Ge - ſetze(b)Forster de j. interpret. I. 1. Hellfeld § 29. Hofacker I. § 149. 151. 152. (Hübner) Be - richtigungen und Zuſätze zu Höpf - ner S. 173. Hufeland Lehr - buch des Civilrechts I. § 28. Die Römer ſahen die Sache an - ders an. L. 1 § 11 de inspic. ventre. (25. 4.). Quamvis sit manifestissimum Edictum Prae - toris, attamen non est negli - genda interpretatio ejus. . Indem hier ein zufälliger und zwar mangelhaf - ter Zuſtand der Geſetze zur Bedingung ihres Daſeyns ge - macht wird, erhält ſie ſelbſt die zufällige Natur einer blo - ßen Abhülfe von einem Übel, woraus von ſelbſt folgt, daß ſie in demſelben Verhältniß entbehrlicher werden muß, als die Geſetze vollkommner werden(c)Wörtlich erklärt dieſes Za - chariä Hermeneutik S. 160.. Nun wird Niemand läugnen, daß bey dunklen Geſetzen die Ausle -319§. 50. Anſichten der Neueren.gung beſonders wichtig und nöthig iſt, und daß ſich bey ihnen die Kunſt des Auslegers oft beſonders glänzend zei - gen kann: auch beſchäftigt ſich aus dieſem Grunde der größere Theil der hier aufgeſtellten Regeln mit dem Fall mangelhafter Geſetze (§ 35 fg.). Allein zwey Betrach - tungen laſſen uns dennoch jene Faſſung des Grundbegriffs als zu beſchränkt und für die ganze Lehre nachtheilig er - ſcheinen. Erſtens iſt eine gründliche und erſchöpfende Be - handlung des kranken Zuſtandes unmöglich, wenn nicht die Betrachtung des geſunden, auf welchen jener zurück geführt werden ſoll, zum Grunde gelegt wird. Zweytens verſchwindet uns durch jene Faſſung des Begriffs gerade die edelſte und fruchtbarſte Anwendung der Auslegung, welche darauf ausgeht, bey nicht mangelhaften, alſo nicht dunklen Stellen den ganzen Reichthum ihres Inhalts und ihrer Beziehungen zu enthüllen; ein Verfahren, welches beſonders bey den Digeſten von ſo großer Wichtigkeit iſt. Wenn man übrigens dieſe willkührliche Beſchränkung der Auslegung auf dunkle Geſetze zuſammenhält mit der oben angeführten Meynung, nach welcher wiederum ſehr dunkle Geſetze durch Juſtinian der Auslegung entzogen ſeyn ſollen (§ 48), ſo ergiebt ſich daraus die ſonderbare Folge, daß Geſetze weder zu klar noch zu dunkel ſeyn dür - fen, daß ſie ſich vielmehr auf einem ſchmalen Raume mit - telmäßiger Dunkelheit befinden müſſen, um als Gegen - ſtände der Auslegung gelten zu können.

Zweytens gehört dahin die das ganze Gebiet beherr -320Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.ſchende Eintheilung der Auslegung in grammatiſche und logiſche(d)Eckhard § 17. 23. Thi - baut Pandekten 8te Ausg. § 45. 46. 50 52. Thibaut logiſche Auslegung § 3. 7. 17 29.. Dieſe werden nicht etwa gedacht als Ele - mente jeder Auslegung, die überall zuſammen wirken müſ - ſen, nur ſo, daß nach Umſtänden bald das eine, bald das andere Element ergiebiger werden kann (§ 33), ſon - dern vielmehr als entgegengeſetzt und einander ausſchlie - ßend. Die grammatiſche ſoll nur nach dem Wortverſtand, die logiſche nur nach der Abſicht oder dem Grunde des Geſetzes verfahren: die grammatiſche ſoll als Regel gel - ten, die logiſche nur ausnahmsweiſe zugelaſſen werden. In dieſer Entgegenſetzung war nur das Eine deutlich ge - dacht und allgemein angenommen, die logiſche Auslegung ſey eine ſolche, die ſich nicht geringe Freyheiten heraus - nehme, und die man daher ſehr unter Aufſicht halten müſſe: im Überigen wurde das Verſchiedenartigſte unter dieſem Ausdruck zuſammengeſtellt. So galt als logiſche Auslegung die Berichtigung des Ausdrucks nach dem wirk - lichen Gedanken des Geſetzes (§ 35 fg. ): aber auch die Ergänzung nach Analogie: und endlich noch ein drittes, wovon ſogleich weiter die Rede ſeyn ſoll. Iſt nun die eben gegebene Darſtellung der in der Auslegung vorkom - menden Aufgaben richtig und erſchöpfend, ſo muß jene Eintheilung von ſelbſt aufgegeben werden, deren Aufſtel - lung und Bezeichnung den Gegenſtand gewiß mehr ver - dunkelt als gefördert hat.

321§ 50. Anſichten der Neueren.

Drittens, was das wichtigſte iſt, hat man in das Ge - biet der Auslegung eine Behandlung der Geſetze gezogen, die in der That als eine Abänderung derſelben betrachtet werden muß, und die dennoch unter dem Namen der lo - giſchen Auslegung mit befaßt wurde. Es iſt oben die Rede geweſen von einer Berichtigung des Ausdrucks durch Zurückführung auf den wirklichen Gedanken; hier wird eine Berichtigung des wirklichen Gedankens ſelbſt verſucht durch Zurückführung auf denjenigen Gedanken, den das Geſetz hätte enthalten ſollen. Man geht nämlich auf den Grund des Geſetzes zurück, und wenn es ſich findet, daß derſelbe in ſeiner logiſchen Entwicklung auf Mehr oder Weniger führt, als das Geſetz enthält, ſo wird dieſes durch eine neue Art von ausdehnender oder einſchrän - kender Auslegung verbeſſert. Dabey iſt es gleichgültig, ob der Geſetzgeber mit Bewußtſeyn einen logiſchen Fehler gemacht hat, oder ob er nur verſäumte, an die conſe - quenten Anwendungen des Grundes zu denken, wodurch man ihn jetzt berichtigt; in welchem letzten Falle man alſo vorausſetzt, er würde unfehlbar eben ſo verfügt ha - ben, wenn man ihn nur auf dieſe Conſequenzen aufmerk - ſam gemacht hätte. So erſcheint wenigſtens dieſes Ver - fahren in vollſtändiger Durchführung. Es iſt indeſſen auch mit der Modification geltend gemacht worden, daß zwar eine Ausdehnung nach dem Grund des Geſetzes geſchehen dürfe, aber niemals eine Einſchränkung(e)Thibaut Pandekten § 51. 52. Er geſtattet die Ausdehnung; ein überzeu -21322Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.gender Grund jedoch für dieſe Unterſcheidung möchte ſchwer - lich angegeben werden können.

Indem nun bey dieſem Verfahren der Ausleger nicht den bloßen Buchſtaben, alſo den Schein des Geſetzes, ſon - dern den wirklichen Inhalt deſſelben zu verbeſſern unter - nimmt, ſtellt er ſich über den Geſetzgeber, und verkennt alſo die Gränzen des eigenen Berufs; es iſt nicht mehr Auslegung die er übt, ſondern wirkliche Fortbildung des Rechts(f)Die Wahrnehmung dieſes unbefugten Verfahrens ſchlug dann bey Manchen zu der wie - derum einſeitigen Abſicht um, nach welcher alle Auslegung überhaupt nicht dem Richter, ſondern dem Geſetzgeber zuſtehe, der ſie aber freylich delegiren könne. S. o. § 32 Note d. . Eine ſolche Gränzverwirrung zwiſchen we - ſentlich verſchiedenen Thätigkeiten iſt ein hinreichender for - meller Grund, dieſe Art der Auslegung gänzlich zu ver - werfen, und dem Richter, nach dem reinen Begriff ſeines Amtes, die Befugniß dazu abzuſprechen. Dazu kommen aber noch zwey in die Sache ſelbſt eingehende Bedenken. Das erſte liegt in der häufigen Ungewißheit des Geſetz - grundes (§ 34); wo nun über deſſen Natur ein Irrthum leicht möglich iſt, da muß jenes Verfahren in gänzliche Willkühr ausarten, und alle Rechtsſicherheit, wodurch au - ßerdem die Geſetze ſo wohlthätig werden können, zerſtört werden(g)Das iſt der wahre Sinn von L. 20. 21 de leg. (1. 3.). Non omnium, quae a majori - bus constituta sunt, ratio reddi. Das zweyte Bedenken liegt in der Möglich -(e)in zwey verſchiedenen Fällen, nach Grund und nach Abſicht; die Ein - ſchränkung nur allein nach der Ab - ſicht. Er nennt überhaupt Ab - ſicht das was ich als den wirkli - chen Gedanken des Geſetzes be - zeichne.323§ 50. Anſichten der Neueren.keit von Mittelgliedern in der Gedankenreihe (§ 34), wo - durch der Geſetzgeber ohne Inconſequenz beſtimmt werden konnte, dem Geſetze ein weiteres oder engeres Gebiet an - zuweiſen, als worauf der Grund des Geſetzes zu führen ſchien. Man muß daher vorſichtig ſeyn gegen den täu - ſchenden Schein logiſcher Sicherheit, womit dieſes Ver - fahren angewendet zu werden pflegt(h)Treffende Bemerkungen hierüber finden ſich bey Stahl Rechtsphiloſophie II. S. 177.. Nur wo dieſe materielle Bedenken durch gründliche Forſchung gehoben werden können, darf eine ſolche Ausdehnung oder Ein - ſchränkung nach dem Grund des Geſetzes als conſequente Fortbildung des Rechts (nicht als Auslegung) für zuläſſig und räthlich gehalten werden. Einer ſolchen Fortbildung aber ſteht auch ſelbſt die Natur eines anomaliſchen Rechts nicht im Wege, obgleich dadurch die Anwendung der Ana - logie für den Richter ausgeſchloſſen werden mußte (§ 46).

Daß dennoch bey den neueren Schriftſtellern dieſes Verfahren als eine wahre Auslegung, und daher (mit mehr oder weniger Beſchränkungen) als zuläſſig für den Richter angenommen zu werden pflegt, erklärt ſich aus der ſehr gewöhnlichen Verwechslung dieſes Falles mit ſolchen ſcheinbar ähnlichen Fällen, worin ein freyeres Ver - fahren allerdings erlaubt und nothwendig iſt. Dahin ge -(g)potest. Et ideo rationes eo - rum, quae constituuntur, inquiri non oportet: alioquin multa ex his, quae certa sunt, subver - tuntur. Das inquiri non oportet iſt nicht zu verſtehen als Einſpruch gegen die Erforſchung des Grundes an ſich, ſondern nur inſoferne ſie dazu angewendet wer - den ſoll, den wirklichen Inhalt zu modificiren.21*324Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.hört erſtlich die wahre ausdehnende und einſchränkende Auslegung, wodurch der wirkliche Inhalt des Geſetzes nicht (wie hier) verbeſſert, ſondern nur dem Schein des Buchſtabens gegenüber behauptet und vertheidigt wird (§ 37). Ein zweyter ähnlicher Fall, womit jenes unrich - tige Verfahren verwechſelt wird, iſt der der Analogie (§ 46). In dieſem Fall aber fehlt es überhaupt an einer Rechtsregel, welche daher durch künſtliche Erweiterung der vorhandenen Rechtsquellen ergänzt werden ſoll; bey jenem unrichtigen Verfahren dagegen iſt eine Rechtsregel wirklich vorhanden, dieſe ſoll aber durch künſtliche Aus - dehnung eines anderen Geſetzes von der Anwendung auf den gegebenen Fall verdrängt werden. Der dritte Fall endlich, welcher zu einer ſolchen Verwechslung Gelegen - heit zu geben pflegt, iſt bisher noch gar nicht erwähnt worden. Er bezieht ſich auf ſolche Handlungen, welche ein Geſetz zwar nicht dem Buchſtaben, wohl aber dem Geiſt nach, verletzen (in fraudem Legis). Daß auf ſolche Handlungen das Geſetz bezogen werden muß, iſt unzwei - felhaft(i)L. 29 de leg. (1. 3.). Con - tra legem facit, qui id facit quod lex prohibet: in fraudem vero, qui salvis verbis legis senten - tiam ejus circumvenit. L. 5 C. de leg. (1. 14.). Non du - bium est, in legem committere eum, qui verba legis amplexus contra legis nititur voluntatem. Nec poenas insertas legibus evitabit, qui se contra juris sen - tentiam saeva praerogativa ver - borum fraudulenter excusat. L. 21 de leg. (1. 3.). L. 64. § 1 de condit. (35. 1.).. Man pflegt dieſes ſo zu denken, als müſſe zu dieſem Zweck das umgangene Geſetz durch Auslegung aus -325§. 50. Anſichten der Neueren.gedehnt werden. Wenn z. B. wucherliche Zinſen unter dem Schein eines Kaufcontracts oder einer Conventional - ſtrafe verſprochen werden, ſo nimmt man an, der Geſetz - geber habe dieſe Fälle nur nicht bedacht: wäre er darauf aufmerkſam gemacht worden, ſo würde er in einem Zuſatz zum Wuchergeſetz auch dieſe Verträge verboten haben, und da er es unterlaſſen, müßten wir jetzt ſeiner Unbe - dachtſamkeit durch ausdehnende Auslegung zu Hülfe kom - men. In der That aber ſteht die Sache ganz anders. Wir haben nicht das Geſetz zu interpretiren, welches ganz deutlich und zureichend iſt, ſondern die einzelne Hand - lung(k)Man könnte einwenden, die Römiſchen Juriſten hätten die Behandlung dieſes Falles wirk - lich als Geſetzauslegung angeſe - hen, wegen L. 64 § 1 de condit. (35. 1. ), Legem enim .. ad - juvandam interpretatione. Al - lein ſie brauchen den Ausdruck interpretatio überhaupt in einem ausgedehnteren Sinn, für jedes wiſſenſchaftliche Verfahren (§ 47 Note d).. Wenden wir auf dieſe den Grundſatz der Si - mulation an, ſo müſſen wir den ſcheinbaren Kauf oder Strafvertrag als einen wirklichen Zinsvertrag behandeln, und wir berichtigen alſo in dieſer Handlung durch unſer Urtheil den Buchſtaben nach dem wirklichen Gedanken. Es iſt im Weſentlichen daſſelbe Verfahren, welches in an - deren Fällen bey Geſetzen anzuwenden iſt (§ 37). Nur wird dieſes Verfahren bey Rechtsgeſchäften oft noch einen höheren Grad von Sicherheit mit ſich führen. Denn bey Geſetzen haben wir mit einer Ungeſchicklichkeit im Ge - brauch des Ausdrucks zu thun, bey Rechtsgeſchäften im vorliegenden Fall mit einer unredlichen Abſicht; dieſe aber326Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.wird oft weit ſicherer aus den Umſtänden erkannt werden als jene. Außer dieſen Verwechslungen aber hat noch ein anderer Umſtand zur Begünſtigung der hier darge - ſtellten unrichtigen Auslegungsart beygetragen: das Bey - ſpiel der Römiſchen Juriſten, die in der That dieſes Ver - fahren anwenden, und dabey kein Bedenken finden. Allein eine Rechtfertigung für uns liegt darin auf keine Weiſe. Denn bey den Römern hängt es zuſammen mit der ganz eigenthümlichen Stellung der Juriſten, die ihnen einen ſo unmittelbaren Einfluß auf die Fortbildung des Rechts ge - währte, wie er den unſrigen (ſeyen ſie Schriftſteller oder Richter) nicht eingeräumt werden kann(l)Vgl. oben § 19 und § 37 Note. q. .

§. 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Auslegung.

Die neueren Geſetzbücher enthalten über die Auslegung noch weit weniger Beſtimmungen als über die Rechtsquel - len (§ 31). Das Franzöſiſche Geſetzbuch ſagt darüber gar Nichts; aber die dem Richter gegebene unbedingte Vor - ſchrift, über jeden Rechtsſtreit zu urtheilen ungeachtet der Dunkelheit eines Geſetzes, und die eigenthümliche Stellung des Caſſationshofes, machen es unzweifelhaft wie dieſer Gegenſtand im Franzöſiſchen Recht gedacht iſt. Der Rich - ter hat daſelbſt volle Freyheit der Auslegung, daneben aber wird die Gewißheit und Einheit des Rechts gegen327§ 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher.die Gefahr willkührlicher Auslegungen geſchützt durch den über allen Gerichten ſtehenden Caſſationshof, welcher ſei - nen belehrenden und zügelnden Einfluß auch da noch aus - üben kann, wo die Regeln des Prozeſſes eine wirkſame Abänderung des einzelnen Urtheils nicht mehr geſtatten. Dieſe Löſung der Aufgabe würde völlig genügen, wenn der Caſſationshof das Recht hätte, anſtatt eines caſſirten Urtheils ein eigenes Urtheil zu ſprechen. Er darf aber nur, nachdem er caſſirt hat, die Entſcheidung an ein an - deres Gericht verweiſen, ſo daß ſich ein auf irrige Rechts - ſätze gebautes Urtheil und deſſen Caſſation in derſelben Rechtsſache mehrmals wiederholen kann. Dieſes umſtänd - liche und koſtſpielige Verfahren iſt dadurch entſtanden, daß in der alten Verfaſſung das Caſſationsverfahren gar nicht vor einem Gericht, ſondern vor einer hohen Verwaltungs - behörde (dem conseil du Roi) Statt fand, welche nur die Geſetzverletzung verhüten, nicht ſelbſt Recht ſprechen ſollte. Dieſer Grund iſt ſeit der Revolution verſchwunden, indem nun ein beſonderer Caſſationshof beſteht, der ein förmli - ches Gericht bildet, und gleiche Unabhängigkeit mit allen anderen Gerichten genießt. Man hat in neueren Zeiten geſucht, dem erwähnten Übel abzuhelfen. Die erſten Ver - ſuche dazu waren allerdings nicht genügend(a)Loi du 16 Septembre 1807. Loi du 30 Juillet 1828.. Weit wirkſamer iſt das neueſte Geſetz, welches nach der zwey - ten Caſſation dasjenige Gericht, an welches nunmehr die Sache verwieſen wird, geradezu verpflichtet, in ſeinem328Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.Urtheil den vom Caſſationshof ausgeſprochnen Rechtsſatz zum Grund zu legen(b)Loi du 1. Avril 1837. (Bulletin des lois IXe. Serie T. 14 p. 223) art. 2. Si le deux - ième arrêt ou jugement est cassé pour les mêmes motifs que le prémier, la cour royale ou le tribunal auquel l’affaire est renvoyée se conformera à la décision de la cour de cas - sation sur le point de droit jugé par cette cour. .

Das Preußiſche Landrecht verordnet, der Richter ſolle den Geſetzen den Sinn beylegen, der aus den Worten und ihrem Zuſammenhange, oder aus dem nächſten un - zweifelhaften Grund des Geſetzes hervorgehe(c)Allg. Landrecht Einleitung § 46.. Wich - tiger war die, dem Juſtinianiſchen Geſetz ſich annähernde, Beſtimmung, der Richter ſolle jeden Zweifel über die Aus - legung der Geſetzcommiſſion anzeigen, und dann deren Entſcheidung befolgen. Dieſe Vorſchrift iſt aber ſpäterhin aufgehoben worden; nur ſoll der Richter, welcher jetzt unabhängig auslegt und entſcheidet, ſeinen Zweifel dem Chef der Juſtiz anzeigen, damit davon für die Geſetzge - bung Gebrauch gemacht werden könne(d)A. L. R. Einl. § 47. 48, und Anhang § 2.. Im Fall einer Lücke der Geſetze iſt der Richter angewieſen, nach den all - gemeinen Grundſätzen des Landrechts, oder nach Verord - nungen für ähnliche Fälle zu entſcheiden; zugleich ſoll er die wahrgenommene Lücke anzeigen, damit ſie durch ein neues Geſetz ausgefüllt werde(e)A. L. R. Einl. § 49. 50.. In der Rheinpro - vinz, worin noch die Franzöſiſche Geſetzgebung beſteht, iſt das Franzöſiſche Verfahren dahin umgebildet worden, daß329§. 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher.der Caſſationshof, wenn er caſſirt, zugleich ſelbſt das neue Urtheil ſpricht. Außerdem iſt aber auch für das ganze übrige Land neuerlich ein Caſſationsverfahren unter dem Namen der Nichtigkeitsbeſchwerde eingeführt worden, in welchem gleichfalls der Richter, welcher darüber erkennt (das Geheime Obertribunal), wenn er das vorige Urtheil vernichtet, zu gleicher Zeit ſelbſt das Urtheil ſpricht(f)Verordnung vom 14. Dec. 1833 § 17 (Geſetzſammlung 1833 S. 306)..

Das Öſterreichiſche Geſetzbuch endlich verweiſt den Richter auf die eigenthümliche Bedeutung der Worte des Geſetzes in ihrem Zuſammenhang, und auf die klare Ab - ſicht des Geſetzgebers. Fehlt ein Geſetz, ſo iſt zu entſchei - den nach den Geſetzen für ähnliche Fälle, und nach den Gründen verwandter Geſetze; reicht auch dieſes nicht aus, nach den natürlichen Rechtsgrundſätzen. Das Römiſche Verbot der Privatauslegung iſt hier in die unbedenkliche Regel umgebildet, daß nur der Geſetzgeber ein Geſetz auf eine allgemein verbindliche Art erklären könne(g)Öſterreich. Geſetzbuch Ein - leit. § 6. 7. 8..

Fragen wir endlich, was in unſrer Lage und für un - ſer Bedürfniß räthlich ſey, ſo erſcheint es als unbedenk - lich, jedem Richter die wahre Auslegung frey zu geben, dasjenige aber, was nur aus Misverſtändniß für Ausle - gung gehalten worden iſt, in der Regel zu verſagen. Da jedoch im Einzelnen die Gränze zwiſchen reiner Auslegung und eigentlicher Fortbildung des Rechts oft ſehr zweifel -330Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.haft ſeyn kann (§ 37), ſo iſt es wünſchenswerth, daß ir - gend eine hoch ſtehende Gewalt vorhanden ſey, in welcher beide Befugniſſe vereinigt angetroffen werden, und deren Thätigkeit daher durch die Zweifel über jene Gränze nicht gehemmt ſeyn möge. Beſteht eine zur Fortbildung des Rechts überhaupt angeordnete Behörde (§ 31), ſo iſt es ohnehin unzweifelhaft, daß ſie ihren Beruf auch da zu üben hat, wo das Daſeyn einer zweifelhaften Geſetzaus - legung dazu die Aufforderung giebt. Allein auch wo eine ſolche Behörde nicht beſteht, oder auch außer und neben derſelben, könnte das Recht dieſer freyer waltenden Aus - legung einem Gerichtshof unbedenklich anvertraut werden, der überhaupt eine ähnliche Stellung wie der Franzöſiſche Caſſationshof einnähme. Dieſer würde dann einen ähnli - chen Einfluß ausüben, und für die Rechtspflege ähnliche Vortheile darbieten, wie im alten Rom der Prätor und die Juriſten, ſo daß ihm diejenige ausdehnende und ein - ſchränkende Auslegung beſonders verliehen wäre, welche oben als ein dem reinen Richteramt nicht zukommendes Verfahren aus dem Gebiete wahrer Auslegung verwieſen werden mußte.

[331]

Zweytes Buch. Die Rechtsverhältniſſe.

Erſtes Kapitel. Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe.

§. 52. Weſen der Rechtsverhältniſſe.

Die allgemeine Natur der Rechtsverhältniſſe überhaupt, und wie ſich dieſelben in Verhältniſſe des Staatsrechts und des Privatrechts gliedern, iſt oben dargelegt worden (§ 4. 9). Das Weſen der dem Privatrecht angehörenden ſoll nunmehr weiter entwickelt werden; ſie allein liegen in unſrer Aufgabe, und ſie werden daher von nun an als Rechtsverhältniſſe ſchlechthin, ohne beſchränkenden Zuſatz, von uns bezeichnet werden.

Der Menſch ſteht inmitten der äußeren Welt, und das wichtigſte Element in dieſer ſeiner Umgebung iſt ihm die Berührung mit denen, die ihm gleich ſind durch ihre Na - tur und Beſtimmung. Sollen nun in ſolcher Berührung freye Weſen neben einander beſtehen, ſich gegenſeitig för - dernd, nicht hemmend, in ihrer Entwicklung, ſo iſt die - ſes nur möglich durch Anerkennung einer unſichtbaren Gränze, innerhalb welcher das Daſeyn, und die Wirk -332Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.ſamkeit jedes Einzelnen einen ſichern, freyen Raum ge - winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch ſie dieſer freye Raum beſtimmt wird, iſt das Recht. Damit iſt zugleich die Verwandtſchaft und die Verſchiedenheit zwi - ſchen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, ſondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein - zelnen Willen inwohnenden, Kraft ſichert. Sein Daſeyn aber iſt ein ſelbſtſtändiges, und darum iſt es kein Wider - ſpruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unſittli - cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup - tet wird.

Das Bedürfniß und das Daſeyn des Rechts iſt eine Folge der Unvollkommenheit unſres Zuſtandes, aber nicht einer zufälligen, hiſtoriſchen Unvollkommenheit, ſondern ei - ner ſolchen, die mit der gegenwärtigen Stufe unſres Da - ſeyns unzertrennlich verbunden iſt.

Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin - den, von dem entgegengeſetzten Standpunkt aus, von dem Begriff des Unrechts. Unrecht iſt ihnen Störung der Frey - heit durch fremde Freyheit, die der menſchlichen Entwick - lung hinderlich iſt, und daher als ein Übel abgewehrt werden muß. Die Abwehr dieſes Übels iſt ihnen das Recht. Daſſelbe ſoll hervorgebracht werden, nach Eini - gen, durch verſtändige Übereinkunft, indem Jeder ein Stück ſeiner Freyheit aufgebe, um das Übrige ſicher zu retten; oder, nach Anderen, durch eine äußere Zwangsanſtalt,333§. 52. Weſen.welche allein der natürlichen Neigung der Menſchen zu gegenſeitiger Zerſtörung Einhalt thun könne. Indem ſie auf dieſe Weiſe das Negative an die Spitze ſtellen, ver - fahren ſie ſo, als ob wir vom Zuſtand der Krankheit ausgehen wollten, um die Geſetze des Lebens zu erkennen. Der Staat erſcheint ihnen als eine Nothwehr, die unter Vorausſetzung einer verbreiteten gerechten Geſinnung als überflüſſig verſchwinden könnte, anſtatt daß er hier nach unſrer Anſicht nur um ſo herrlicher und kräftiger hervor - treten würde.

Von dem nunmehr gewonnenen Standpunkt aus er - ſcheint uns jedes einzelne Rechtsverhältniß als eine Bezie - hung zwiſchen Perſon und Perſon, durch eine Rechtsregel beſtimmt. Dieſe Beſtimmung durch eine Rechtsregel be - ſteht aber darin, daß dem individuellen Willen ein Gebiet angewieſen iſt, in welchem er unabhängig von jedem frem - den Willen zu herrſchen hat.

Daher laſſen ſich in jedem Rechtsverhältniß zwey Stücke unterſcheiden: erſtlich ein Stoff, das heißt jene Be - ziehung an ſich, und zweytens die rechtliche Beſtimmung dieſes Stoffs. Das erſte Stück können wir als das ma - terielle Element der Rechtsverhältniſſe, oder als die bloße Thatſache in denſelben bezeichnen: das zweyte als ihr formelles Element, das heißt als dasjenige, wodurch die thatſächliche Beziehung zur Rechtsform erhoben wird.

Allein nicht alle Beziehungen des Menſchen zum Men - ſchen gehören dem Rechtsgebiet an, indem ſie einer ſol -334Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.chen Beſtimmung durch Rechtsregeln empfänglich und be - dürftig ſind. Es laſſen ſich in dieſer Hinſicht dreyerley Fälle unterſcheiden. Menſchliche Verhältniſſe, die ganz, andere die gar nicht, noch andere die nur theilweiſe dem Rechtsgebiet angehören, oder durch Rechtsregeln beherrſcht werden. Als Beyſpiel für die erſte Klaſſe kann das Ei - genthum, für die zweyte die Freundſchaft, für die dritte die Ehe gelten, da die Ehe zum Theil in das Rechtsge - biet fällt, theilweiſe aber außer demſelben liegt.

§. 53. Arten der Rechtsverhältniſſe.

Das Weſen des Rechtsverhältniſſes wurde beſtimmt als ein Gebiet unabhängiger Herrſchaft des individuellen Willens (§ 52). Wir haben alſo zunächſt die Gegen - ſtände aufzuſuchen, worauf möglicherweiſe der Wille ein - wirken, alſo ſeine Herrſchaft erſtrecken kann; daraus wird eine Überſicht der verſchiedenen Arten möglicher Rechts - verhältniſſe von ſelbſt folgen.

Der Wille kann einwirken erſtlich auf die eigene Per - ſon, zweytens nach außen, alſo auf dasjenige, was wir in Beziehung auf den Wollenden die äußere Welt nennen müſſen; dieſes iſt der allgemeinſte Gegenſatz unter den denkbaren Gegenſtänden jener Einwirkung. Die äußere Welt aber beſteht theils aus der unfreyen Natur, theils aus den dem Wollenden gleichartigen freyen Weſen, das heißt aus fremden Perſonen. Und ſo erſcheinen uns, in335§. 53. Arten.blos logiſcher Betrachtung der aufgeworfenen Frage, drey Hauptgegenſtände der Willensherrſchaft: die eigene Per - ſon, die unfreye Natur, fremde Perſonen; hiernach wür - den, wie es ſcheint, drey Hauptarten aller Rechtsverhält - niſſe angenommen werden müſſen. Wir haben alſo zu - nächſt jene Gegenſtände einzeln zu betrachten, und zwar zuerſt die eigene Perſon, als Gegenſtand eines beſonderen Rechtsverhältniſſes.

Hierüber nun iſt folgende Anſicht ſehr verbreitet. Der Menſch, ſagt man, hat ein Recht auf ſich ſelbſt, welches mit ſeiner Geburt nothwendig entſteht und nie aufhören kann, ſo lange er lebt, eben daher auch das Urrecht genannt wird; im Gegenſatz aller anderen Rechte, welche erſt ſpäter und zufällig an den Menſchen heran kommen, auch vergänglicher Natur ſind, und daher erworbene Rechte genannt werden. Manche ſind in dieſer Anſicht ſo weit gegangen, dem Menſchen ein Eigenthumsrecht an ſeinen Geiſteskräften zuzuſchreiben, und daraus das was man Denkfreyheit nennt abzuleiten; es iſt aber gar nicht die Möglichkeit zu begreifen, wie ein Menſch den andern am Denken hindern, oder umgekehrt in ihm denken, und durch Jenes oder Dieſes einen Eingriff in das angegebene Eigenthumsrecht verüben könnte. Begiebt man ſich aber auch auf ein verſtändlicheres Gebiet, indem man jenes Eigenthumsrecht auf die ſichtbare Erſcheinung der Perſon, den menſchlichen Leib und deſſen einzelne Glieder, beſchränkt, ſo hat dieſes zwar Sinn, als Ausſchließung einer hierin336Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.allerdings möglichen Verletzung, aber es iſt darum nicht minder unnütz, ja verwerflich, indem es unter andern in conſequenter Entwicklung auf die Anerkennung eines Rechts zum Selbſtmord führt. Das wahre Element aber in je - ner irrigen Annahme eines auf die eigene Perſon gerich - teten Urrechts iſt folgendes. Erſtlich kann und ſoll frey - lich die rechtmäßige Macht des Menſchen über ſich ſelbſt und ſeine Kräfte nicht bezweifelt werden; noch mehr, dieſe Macht iſt ſogar die Grundlage und Vorausſetzung aller wahren Rechte, indem z. B. Eigenthum und Obligationen nur Bedeutung und Werth für uns haben als künſtliche Erweiterung unſrer eigenen perſönlichen Kräfte, als neue Organe, die unſerm Naturweſen künſtlich hinzugefügt wer - den. Allein für jene Macht über uns ſelbſt bedarf es der Anerkennung und Begränzung durch poſitives Recht nicht, und das Ungehörige der hier dargeſtellten Auffaſſung be - ſteht darin, daß jene natürliche Macht mit dieſen künſtli - chen Erweiterungen derſelben in eben ſo überflüſſiger als verwirrender Weiſe auf Eine Linie geſtellt und als gleich - artig behandelt werden ſoll. Zweytens iſt für viele ein - zelne wirkliche Rechtsinſtitute der Ausgangspunkt allerdings in der Sicherung jener natürlichen Macht des Menſchen über ſich ſelbſt gegen fremde Einmiſchungen zu ſuchen. Dahin gehört ein großer Theil des Criminalrechts; ferner im Civilrecht die bedeutende Zahl von Rechten, welche auf den Schutz gegen Ehrverletzung, gegen Betrug, und gegen Gewalt abzwecken, unter andern alſo auch die poſ -337§. 53. Arten.ſeſſoriſchen Rechtsmittel. Von allen dieſen Rechten iſt die Unverletzlichkeit der Perſon allerdings der letzte Grund; dennoch ſind ſie nicht als reine Entwicklungen dieſer Un - verletzlichkeit anzuſehen, vielmehr bilden ſie ganz poſitive Rechtsinſtitute, deren beſonderer Inhalt von jener Unver - letzlichkeit ſelbſt völlig verſchieden iſt. Will man ſie den - noch als Rechte an der eigenen Perſon darſtellen, ſo wird durch dieſe Bezeichnung ihre wahre Natur nur verdunkelt. Nicht einmal die Zuſammenſtellung derjenigen Rechtsin - ſtitute, die dieſen gemeinſamen Ausgangspunkt haben, kann als fruchtbar und belehrend angeſehen werden: es iſt hin - reichend, dieſe ihre Verwandtſchaft im Allgemeinen anzu - erkennen(a)Donellus II. 8 § 2. 3 nimmt zweyerley nostrum an: in persona cujusque und in re - bus externis. Zu dem erſten rechnet er Vier Stücke: vita, in - columitas corporis, libertas, existimatio. Die incolumitas animi ſtehe nicht unter dem Rechtsſchutz, weil ſie deſſen nicht bedürfe. Puchta Syſtem des gem. Civilrechts München 1832 ſetzt als erſte Klaſſe aller Rechte die an der eigenen Perſon, und er rechnet dahin das Recht der Perſönlichkeit und den Beſitz; un - ter der Perſönlichkeit begreift er die Rechtsfähigkeit und die Ehre. Allein die Rechtsfähigkeit iſt Be - dingung aller Rechte, des Eigen - thums und der Obligationen nicht minder als der Rechte erſter Klaſſe, wenn man eine ſolche an - nimmt, z. B. des Beſitzes; ſie iſt alſo ein Element aller Rechte, und kann keiner Klaſſe vorzugsweiſe angehören. Das, was man nach der allgemeinen Bezeichnung zu - nächſt erwarten möchte, das Recht über die eigenen Gliedmaaßen, fehlt ganz, und außerdem fehlt ſehr vieles Andere, was da ſeyn müßte, wenn zwiſchen B. 3 und B. 5. Kap. 5. N. VI. ein wahrer Zuſammenhang ſichtbar werden ſollte. Hieraus erhellt eben die Willkührlichkeit in der Bildung der erſten Klaſſe von Rechten, welche nun faſt blos angenom - men zu ſeyn ſcheint, um dem Be - ſitz eine angemeſſene Stellung zu verſchaffen. Hegel Naturrecht § 70 und Zuſatz zu § 70 ſpricht.

22338Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Scheiden wir demnach die ſogenannten Urrechte gänz - lich aus, und erkennen wir die erworbenen Rechte als die einzigen an, worauf unſre fernere Unterſuchung zu rich - ten iſt, ſo bleiben uns nur noch zwey Gegenſtände mög - licher Willensherrſchaft übrig: die unfreye Natur, und fremde Perſonen.

Die unfreye Natur kann von uns beherrſcht werden nicht als Ganzes, ſondern nur in beſtimmter räumlicher Begränzung; ein ſo begränztes Stück derſelben nennen wir Sache, und auf dieſe bezieht ſich daher die erſte Art möglicher Rechte: das Recht an einer Sache, welches in ſeiner reinſten und vollſtändigſten Geſtalt Eigen - thum heiſt.

Nicht ſo einfach ſind diejenigen Rechtsverhältniſſe, de - ren Gegenſtände fremde Perſonen ſind, da wir zu ſolchen in zwey ganz ungleichartigen Beziehungen ſtehen können. Die erſte mögliche Beziehung zu einer fremden Perſon iſt die, worin dieſelbe, auf ähnliche Weiſe wie eine Sache, in das Gebiet unſrer Willkühr herein gezogen, alſo unſrer Herrſchaft unterworfen wird. Wäre nun dieſe Herrſchaft eine abſolute, ſo würde dadurch in dem Andern der Be - griff der Freyheit und Perſönlichkeit aufgehoben; wir wür - den nicht über eine Perſon herrſchen, ſondern über eine Sache, unſer Recht wäre Eigenthum an einem Menſchen,(a)ſich gegen dieſes Recht auf die eigene Perſon aus, und macht namentlich die ſonſt unvermeid - liche Annahme eines Rechts zum Selbſtmord geltend.339§. 53. Arten.ſo wie es das Römiſche Sklavenverhältniß in der That iſt. Soll dieſes nicht ſeyn, wollen wir uns vielmehr ein beſonderes Rechtsverhältniß denken, welches in der Herr - ſchaft über eine fremde Perſon, ohne Zerſtörung ihrer Freyheit, beſteht, ſo daß es dem Eigenthum ähnlich, und doch von ihm verſchieden iſt, ſo muß die Herrſchaft nicht auf die fremde Perſon im Ganzen, ſondern nur auf eine einzelne Handlung derſelben bezogen werden; dieſe Hand - lung wird dann, als aus der Freyheit des Handelnden ausgeſchieden, und unſerm Willen unterworfen gedacht. Ein ſolches Verhältniß der Herrſchaft über eine einzelne Handlung der fremden Perſon nennen wir Obligation. Dieſe hat mit dem Eigenthum nicht blos darin eine ähn - liche Natur, daß in beiden eine erweiterte Herrſchaft un - ſers Willens über ein Stück der äußeren Welt enthalten iſt, ſondern ſie hat zu demſelben auch noch ſpeciellere Be - ziehungen: erſtlich durch die mögliche Schätzung der Obli - gationen in Geld, welche nichts Anderes iſt, als Ver - wandlung in Geldeigenthum; zweytens dadurch, daß die meiſten und wichtigſten Obligationen keinen anderen Zweck haben, als zum Erwerb von Eigenthum, oder zum vor - übergehenden Genuß deſſelben, zu führen. Durch beide Arten der Rechte alſo, das Eigenthum wie die Obliga - tionen, wird die Macht der berechtigten Perſon nach au - ßen, über die natürlichen Gränzen ihres Weſens hin, er - weitert. Die Geſammtheit der Verhältniſſe nun, welche auf dieſe Weiſe die Macht eines Einzelnen erweitern, nen -22*340Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.nen wir das Vermögen deſſelben, und die Geſammtheit der darauf bezüglichen Rechtsinſtitute das Vermögens - recht(b)Die deutſche Bezeichnung des angegebenen Rechtsbegriffs iſt die treffendſte, die dafür gefunden werden konnte. Denn es wird dadurch unmittelbar das Weſen der Sache ausgedrückt, die durch das Daſeyn jener Rechte uns zu - wachſende Macht, das was wir durch ſie auszurichten im Stande ſind oder vermögen. Weniger das Weſen treffend iſt der - miſche Ausdruck bona, der in die neueren romaniſchen Sprachen übergegangen iſt, und der zu - nächſt einen Nebenbegriff bezeich - net, nämlich das durch jene Macht begründete Wohlſeyn, oder die Beglückung, die ſie uns gewährt..

In der bisher betrachteten Beziehung der Perſon zu einer fremden Perſon wurde jede derſelben aufgefaßt als ein in ſich abgeſchloſſenes Ganze, ſo daß jede, in ihrer abſtracten Perſönlichkeit, der anderen, als einem völlig fremden (wiewohl gleichartigen) Weſen gegenüber ſtand. Ganz verſchieden davon iſt die zweyte mögliche Beziehung zu fremden Perſonen, die nunmehr dargeſtellt werden ſoll. Hier betrachten wir den einzelnen Menſchen nicht als ein für ſich beſtehendes Weſen, ſondern als Glied des orga - niſchen Ganzen der geſammten Menſchheit. Indem nun ſein Zuſammenhang mit dieſem großen Ganzen ſtets durch beſtimmte Individuen vermittelt iſt, ſo iſt ſeine Beziehung zu dieſen Individuen die Grundlage einer neuen, ganz ei - genthümlichen Art von Rechtsverhältniſſen. In dieſen er - ſcheint uns der Einzelne nicht, ſo wie in den Obligationen, als ein ſelbſtſtaͤndiges Ganze, ſondern als ein unvollſtän - diges, der Ergänzung in einem großen Naturzuſammen - hang bedürftiges Weſen. Dieſe Unvollſtändigkeit des Ein -341§. 53. Arten.zelnen, ſo wie die darauf bezügliche Ergänzung, zeigt ſich in zwey verſchiedenen Richtungen. Erſtlich in der Tren - nung der Geſchlechter, deren jedes, einzeln für ſich be - trachtet, die menſchliche Natur nur unvollſtändig in ſich enthält; hierauf bezieht ſich die Ergänzung der Individuen durch die Ehe(c)Dieſe Anſicht drückt Fichte Sittenlehre S. 449 etwas ener - giſch alſo aus: Es iſt die abſo - lute Beſtimmung eines jeden In - dividuum beider Geſchlechter, ſich zu verehlichen .... Die unver - heirathete Perſon iſt nur zur Hälfte ein Menſch. . Zweytens in dem zeitlich beſchränk - ten Daſeyn des einzelnen Menſchen, welches wiederum auf verſchiedene Weiſe zu dem Bedürfniß und der Aner - kennung von ergänzenden Rechtsverhältniſſen führt. Zu - nächſt, und am unmittelbarſten, durch das vergängliche Leben des Einzelnen; hier liegt die Ergänzung in der Fortpflanzung, wodurch nicht blos für die Gattung, ſon - dern auf beſchränktere Weiſe auch für die Individualität, eine ſtete Fortdauer vermittelt wird. Dann aber durch die Einrichtung der menſchlichen Natur, nach welcher der Ein - zelne im Anfang ſeines Lebens die Macht über ſich ſelbſt völlig entbehrt, und erſt ganz allmälig erlangt; hier liegt die Ergänzung in der Erziehung. Das Inſtitut des - miſchen Rechts, worin dieſe zwiefache Ergänzung ihre ge - meinſchaftliche Anerkennung und Ausbildung findet, iſt die väterliche Gewalt; an dieſe aber ſchließt ſich, theils in weiterer Entwicklung, theils in blos natürlicher, oder minder juriſtiſcher, Analogie die Verwandtſchaft an(d)Als weitere Entwicklung nämlich in der Agnation, die nur das residuum einer früher vor - handenen väterlichen Gewalt mit. 342Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten. Die Geſammtheit aller dieſer ergänzenden Verhältniſſe nun Ehe, väterliche Gewalt, Verwandtſchaft nen - nen wir die Familie, und die hierauf bezüglichen Rechts - inſtitute das Familienrecht(e)Es muß dabey ausdrück - lich bemerkt werden, daß dieſe Bezeichnung nicht aus dem - miſchen Recht hergenommen iſt. Bey den Römern hat der Aus - druck familia verſchiedene Bedeu - tungen; die wichtigſte und am meiſten techniſche iſt die, worin es die Geſammtheit der Agnaten bezeichnet, alſo nur einen Theil der Verhältniſſe, die ich darun - ter begreife. Wenn aber auch nicht der hier gewählte Ausdruck im Römiſchen Rechte begründet iſt, ſo iſt doch die Zuſammenſtel - lung der dadurch bezeichneten Ver - hältniſſe, ſo wie der Grund die - ſer Zuſammenſtellung, dem Sinn der Römiſchen Juriſten völlig an - gemeſſen. Es iſt nämlich genau dasjenige, was ſie als jus natu - rale bezeichnen. Ulpian ſagt darüber in L. 1 § 3 de J. et J. Jus naturale est quod natura omnia animalia docuit .... Hinc descendit maris atque foeminae conjunctio, quam nos matrimo - nium appellamus: hinc libero - rum procreatio, hinc educa - tio. (Vgl. Beylage I.). Daß die alten Juriſten aus hiſtoriſchen Gründen, in ihrer Abhandlung der Rechtsinſtitute ſelbſt, andere Geſichtspunkte ſichtbarer hervor - treten ließen, wie wir es bey Gajus ſehen, ſteht mit ihrer An - erkennung jenes allgemeinen, na - türlichen Zuſammenhangs gar nicht im Widerſpruch. Mit dem heutigen Sprachgebrauch ſtimmt die von mir gewählte Bezeichnung gewiß überein, ſo wie auch zu unſerm heutigen Rechtszuſtand jene Zuſammenſtellung einzig und allein paßt..

Da das Familienverhältniß, eben ſo wie die Obliga - tion, ein Verhältniß zu beſtimmten Individuen iſt, ſo liegt es ſehr nahe, dieſe beiden Verhältniſſe entweder zu iden - tificiren, das heißt die Familie unter die Obligationen zu rechnen, oder doch beide als näher verwandt dem Eigen - thum, welches eine ſolche individuelle Beziehung nicht in(d)ſtetiger Fortbildung iſt; als na - türliche Analogie die Cognation, in welcher das jus gentium die auf der Abſtammung beruhende Gemeinſchaft der Individuen an - erkennt, wie das jus civile in der Agnation.343§. 53. Arten.ſich ſchließt, entgegen zu ſetzen. Dieſe Betrachtungsweiſe findet ſich daher auch bey Vielen, wenngleich oft nicht in ihrer vollen Ausdehnung, oder nicht mit klarem Bewußt - ſeyn. Sie iſt aber durchaus zu verwerfen, und es iſt für die richtige Einſicht in das Weſen der Familie von Wich - tigkeit, daß ſie als irrig aufgegeben werden. Es ſollen daher gleich hier diejenigen weſentlichen Verſchiedenheiten angegeben werden, die auf dem bisher gewonnenen Stand - punkt klar gemacht werden können; mit dem Vorbehalt, das eigenthümliche, völlig unterſcheidende, Weſen der Fa - milie weiter unten (§ 54) noch beſtimmter zur Anſchauung zu bringen. Die Obligation hat zum Gegenſtand eine ein - zelne Handlung, das Familienverhältniß die Perſon als Ganzes, inſofern ſie ein Glied in dem organiſchen Zuſam - menhang der geſammten Menſchheit iſt. Der Stoff der Obligationen iſt willkührlicher Natur, indem bald dieſe bald jene Handlung zum Inhalt einer Obligation gemacht werden kann; der Stoff der Familienverhältniſſe iſt durch die organiſche Natur des Menſchen beſtimmt, trägt alſo den Character der Nothwendigkeit in ſich. Die Obliga - tion iſt in der Regel vorübergehender Natur, das Fami - lienverhältniß iſt zu einem fortdauernden Daſeyn beſtimmt. Daher bilden ſich die einzelnen Familienverhältniſſe, wo ſie vollſtändig erſcheinen, in zuſammengeſetzte Geſellſchaf - ten aus, die eben den Geſammtnamen der Familien füh - ren. In den Familien nun ſind die Keime des Staats344Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.enthalten, und der ausgebildete Staat hat die Familien, nicht die Individuen unmittelbar zu Beſtandtheilen.

Hiernach ſchließt ſich in der That die Obligation in näherer Verwandtſchaft an das Eigenthum an, indem das dieſe beyden Verhältniſſe umfaſſende Vermögen eine Er - weiterung der individuellen Macht über ihre natürliche Gränze bildet, anſtatt daß das Familienverhältniß zur Er - gänzung des an ſich unvollſtändigen Selbſt beſtimmt iſt. Das Familienrecht liegt daher näher als das Vermögens - recht den ſogenannten Urrechten, und wie dieſe oben von dem Gebiet des poſitiven Rechts gänzlich ausgeſchloſſen worden ſind, ſo muß von der Familie behauptet werden, daß ſie nur theilweiſe dem Rechtsgebiet angehört, anſtatt daß das Vermögen ganz und ausſchließend in daſſelbe fällt.

Blicken wir nun zurück auf den Punkt, wovon dieſe unſre Unterſuchung ausgieng, ſo finden wir drey Gegen - ſtände, auf welche eine Herrſchaft unſers Willens denkbar iſt, und, dieſen Gegenſtänden entſprechend, drey concen - triſche Kreiſe, worin unſer Wille herrſchen kann:

1) Das urſprüngliche Selbſt. Ihm entſpricht das ſo - genannte Urrecht, welches wir gar nicht als eigentliches Recht behandeln.

2) Das in der Familie erweiterte Selbſt. Die hierin mögliche Herrſchaft unſres Willens gehört nur theilweiſe dem Rechtsgebiet an, und bildet hier das Familienrecht.

3) Die äußere Welt. Die Herrſchaft des Willens, die ſich hierauf bezieht, fällt ganz in das Rechtsgebiet,345§. 54. Familienrecht.und bildet das Vermögensrecht, welches wieder in das Sachenrecht und das Obligationenrecht zerfällt.

Hieraus ergeben ſich drey Hauptklaſſen der Rechte, die wir von dieſem Standpunkt der Unterſuchung aus an - zunehmen haben:

  • Familienrecht,
  • Sachenrecht,
  • Obligationenrecht.

Allein ſo abgeſondert beſtehen dieſe Klaſſen der Rechte nur in unſrer Abſtraction, in der Wirklichkeit dagegen er - ſcheinen ſie auf die mannichfaltigſte Weiſe verbunden, und in dieſer ſteten Berührung ſind gegenſeitige Einwirkungen und Modificationen unausbleiblich. Indem wir nunmehr die einzelnen Rechtsinſtitute der angegebenen drey Klaſſen näher zu betrachten haben, müſſen zugleich dieſe Modifi - cationen berückſichtigt werden, ſo wie überhaupt die be - ſondere Entwicklung, die jene Inſtitute in unſerm poſiti - ven Recht erhalten haben.

§. 54. Familienrecht.

Das Weſen der Familie, die nunmehr genauer betrach - tet werden ſoll, iſt bereits angegeben worden (§ 53); ihre Beſtandtheile waren die Ehe, die väterliche Gewalt, und die Verwandtſchaft. Der Stoff eines jeden dieſer Ver - hältniſſe iſt ein Naturverhältniß, welches als ſolches ſo - gar über die Gränzen der menſchlichen Natur hinaus346Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.reicht (jus naturale). Daher muß ihnen, ihrem allgemei - nen Daſeyn nach, eine von dem poſitiven Recht unab - hängige Nothwendigkeit zugeſchrieben werden, wenngleich die beſondere Geſtalt, worin ſie zur Anerkennung kommen, je nach dem poſitiven Recht verſchiedener Völker ſehr man - nichfaltig iſt(a)So z. B. iſt alſo das Da - ſeyn der Monogamie ein poſiti - ves Rechtsinſtitut, während wir der Ehe überhaupt (in welcher Geſtalt ſie vorkommen möge) eine allgemeine Nothwendigkeit zu - ſchreiben; damit ſoll nun aber nicht geſagt werden, daß zwiſchen Polygamie und Monogamie eine durch zufällige Umſtände beſtimmte Wahl eintrete; vielmehr iſt jene als eine niedere Stufe in der ſitt - lichen Entwicklung der Völker zu betrachten. Allerdings wird nun auch die Nothwendigkeit der Ehe überhaupt (nicht blos der Mono - gamie) beſtritten, z. B. von Hugo Naturrecht § 210 214. Und in der That kann von dem abſtrahi - renden Verſtand das Weſen der - ſelben zerſetzt, und durch freye Phantaſie irgend ein anderer Zu - ſtand an ihrer Stelle erdichtet werden, z. B. eine regelloſe Ge - ſchlechtsliebe, oder Fortpflanzung als Staatsanſtalt. Aber der ge - ſunde Lebensſinn aller Völker, wie aller Zeiten und Bildungs - ſtufen, würde unſre Behauptung beſtätigen, ſelbſt wenn ſie nicht in der chriſtlichen Lebensanſicht ihre höchſte Bewährung gefunden hätte. Eben ſo gehört zu der poſiti - ven Ausbildung der Familienin - ſtitute die künſtliche Art, wodurch ſie zuweilen entſtehen, z. B. die väterliche Gewalt durch Adoption. Ferner hat das Verbot der Ehe unter den nächſten Verwand - ten ſeine Wurzel in dem ſittlichen Gefühl aller Zeiten: aber der Grad der Ausdehnung dieſes Ver - bots iſt ganz poſitiver Natur. Es muß indeſſen noch hinzuge - fügt werden, daß auch die poſi - tive Geſtalt, worin dieſe Ver - hältniſſe in einem einzelnen po - ſitiven Recht auftreten, in die - ſem Recht den abſoluten Charak - ter an ſich trägt (§ 16), weil ſie durch die ſittliche Lebensanſicht eben dieſes Volks beſtimmt wird.. Dieſes Naturverhältniß iſt aber für den Menſchen nothwendig zugleich ein ſittliches Verhältniß; und indem endlich noch die Rechtsform hinzutritt, erhält die Familie drey unzertrennlich vereinigte Geſtalten, die347§. 54. Familienrecht.natürliche, ſittliche, und rechtliche(b)Dieſe dreyfache Natur der Familienverhältniſſe iſt in An - wendung auf die Ehe ſehr be - ſtimmt ausgeſprochen von He - gel Naturrecht § 161. Sehr ſchön ſagt er von der Ehe, daß ſie die rechtlich ſittliche Liebe iſt. Nur der Ausdruck iſt noch dahin zu ergänzen: rechtlich ſittliche Ge - ſchlechtsliebe was ohnehin in dem Gedanken des Verfaſſers unzweifelhaft liegt.. Hieraus folgt, daß die Familienverhältniſſe nur zum Theil eine juriſtiſche Na - tur an ſich tragen (§ 53); ja wir müſſen hinzu ſetzen, daß die juriſtiſche Seite ihres Weſens gerade die gerin - gere iſt, indem die wichtigere einem ganz anderen Gebiete als dem des Rechts angehört.

Indem aber hier der Familie, außer dem rechtlichen und ſittlichen Element, auch noch ein natürliches zuge - ſchrieben wird, darf dieſes nicht ſo verſtanden werden, als ob dieſes letzte mit jenem auf gleicher Linie ſtände, und zu einer ſelbſtſtändigen Herrſchaft gelangen dürfte. In dem Thier herrſcht der einem allgemeinen Naturzweck dienende Trieb. Dieſer Trieb und jener Naturzweck fin - det ſich in dem Menſchen völlig ſo wie in dem Thier; in dem Menſchen aber ſteht über dem Naturtrieb das höhere ſittliche Geſetz, welches alle Theile ſeines Weſens, alſo auch dieſen Trieb, durchdringen und beherrſchen ſoll, wo - durch das Natürliche in dem Menſchen nicht vernichtet oder geſchwächt, ſondern zur Theilnahme an dem höheren Element des menſchlichen Weſens empor gehoben wird. Hierin hat Kant gefehlt, welcher in der Ehe den blos natürlichen Beſtandtheil (den Geſchlechtstrieb) zum Ge - genſtand eines obligatoriſchen Rechtsverhältniſſes machen348Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.wollte, wodurch das Weſen derſelben gänzlich verkannt und herabgewürdigt werden mußte(c)Vgl. hierüber unten § 141. d. .

Fragen wir nun nach dem eigentlichen Inhalt der zur Familie gehörenden Rechtsverhältniſſe, ſo ſcheint derſelbe zu liegen in dem Recht, welches wir gegen die andere unſerm Willen unterworfene Perſon haben, nur daß dieſe Unterwerfung nicht als eine totale, ſondern als eine be - ſchränkte, lediglich die Familienbeziehung afficirende, ge - dacht werden müßte(d)So wird es in der That aufgefaßt von Puchta, rhein. Muſeum B. 3 S. 301. 302.. Und dieſe Annahme ſcheint ihre Beſtätigung zu finden in den beſonderen Beſtimmungen des Römiſchen Familienrechts, welches größtentheils auf ſtrenge Herrſchaft des Hausvaters über die anderen Glieder der Familie gegründet iſt. Dennoch müſſen wir dieſelbe, ge - rade auch von dem Standpunkt des Römiſchen Rechts aus, gänzlich verwerfen. Allerdings hat hier der Vater unbedingte Herrſchaft über den Sohn, eine Herrſchaft die für die älteſte Zeit von dem wahren Eigenthum kaum zu unterſcheiden ſeyn dürfte. Allein dieſe Herrſchaft iſt nicht der eigentliche Inhalt des Rechtsverhältniſſes. Sie iſt der natürliche Character der väterlichen Gewalt, worin ſich der Vater durch eigene Macht behauptet wie in der Herrſchaft über den Sklaven oder über ſein Haus oder ſein Pferd. Nirgend iſt von einer juriſtiſchen Verpflich - tung des Sohnes zum Gehorſam die Rede, nirgend von einer Klage des Vaters gegen den ungehorſamen Sohn,349§. 54. Familienrecht.ſo wenig als gegen den ungehorſamen Sklaven. Nur erſt wenn fremde Perſonen Eingriffe thun in die Herrſchaft des Hausvaters, werden Klagen gegen dieſe gegeben. Noch anſchaulicher aber wird unſre Behauptung bey der freyen Ehe. In dieſer iſt von ſtrenger Herrſchaft und Gehorſam gar nicht die Rede, und doch kennt das - miſche Recht auch keine einzelnen Rechtsanſprüche eines Ehegatten gegen den andern, keine Klagen zum Schutz ſolcher einzelnen Rechte für den Fall der Verweigerung. Demnach iſt es nicht die partielle Unterwerfung einer Perſon unter den Willen der andern, was den juriſtiſchen Character der Familienverhältniſſe, alſo den eigentlichen Inhalt dieſer Klaſſe von Rechtsverhältniſſen bildet. Auch iſt nur, wenn man dieſe, an ſich ſo ſcheinbare, Anſicht aufgiebt, eine ſcharfe Unterſcheidung der Familienverhält - niſſe von den Obligationen möglich, indem die Vertheidi - ger dieſer Anſicht unvermeidlich die Natur der Obligatio - nen in die Familie hineintragen, ſo ſehr ſie ſich auch in Worten dagegen verwahren mögen.

Was bleibt uns nun aber übrig als wahrer Inhalt der zur Familie gehörenden Rechtsverhältniſſe? Wir be - trachteten ſie zuerſt als Ergänzungen der für ſich unvoll - ſtändigen Individualität (§ 53). Daher liegt das eigent - liche Weſen derſelben in der Stellung, welche der Ein - zelne in dieſen Verhältniſſen einnimmt, darin, daß er nicht blos Menſch überhaupt, ſondern auch noch insbeſondere Ehegatte, Vater, Sohn iſt, alſo in einer feſt beſtimmten,350Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.von der individuellen Willkühr unabhängigen, in einem großen Naturzuſammenhang begründeten Lebensform(e)Es gehören alſo die Fami - lienverhältniſſe vorzugsweiſe dem jus publicum, d. h. dem abſolu - ten Rechte (§ 16) an. Vgl. oben Note a. Darum heißt auch jedes Familienverhältniß eines Men - ſchen vorzugsweiſe ein status deſ - ſelben, das heißt ſeine Stellung oder ſein Daſeyn im Verhältniß zu beſtimmten anderen Menſchen. Vgl. § 59 und Beylage VI. .

Es wird alſo hier keinesweges geläugnet, daß zum Weſen der Ehe Treue und Hingebung, ſo wie zur väter - lichen Gewalt Gehorſam und Ehrfurcht gehöre; allein dieſe an ſich wichtigſten Elemente jener Verhältniſſe ſtehen unter dem Schutz der Sitte, nicht des Rechts, gerade ſo wie der edle und menſchliche Gebrauch, den der Hausva - ter von ſeiner Familiengewalt machen ſoll, auch nur der Sitte überlaſſen bleiben kann, für welchen letzten Fall die irrige Auffaſſung, als ob es eine Rechtsregel wäre, nur zufällig weniger möglich iſt. Daher werden wir von dem Zuſtand des Familienverhältniſſes in einer Nation nur eine ſehr unſichere Kenntniß haben, wenn wir lediglich auf die in ihr geltende Rechtsregel ſehen, ohne die er - gänzende Sitte zu berückſichtigen. Nicht ſelten haben neuere Schriftſteller, welche dieſen Zuſammenhang über - ſahen, einen grundloſen Tadel über das Römiſche Fami - lienrecht, als über eine herzloſe Tyranney, ausgeſpro - chen(f)So Hegel Naturrecht § 175 das Sklavenverhältniß der - miſchen Kinder iſt eine der dieſe Geſetzgebung befleckendſten Inſti - tutionen, und dieſe Kränkung der Sittlichkeit in ihrem innerſten und zarteſten Leben iſt eins der wich -. Sie haben nicht erwogen, daß in keinem Volk des Alterthums die Hausfrauen ſo hoch geehrt waren als351§. 54, Familienrecht.in Rom(g)Dahin gehört auch die ſchöne Beſchreibung des Familienlebens früherer Zeiten bey Columella de re rust. Lib. 12 praef. § 7. 8 : Erat enim summa reverentia cum concordia et diligentia mix - ta .., Nihil conspiciebatur in domo dividuum, nihil quod aut maritus aut foemina proprium esse juris sui diceret, sed in com - mune conspicabatur ab utro - que. Und gerade in der guten alten Zeit, die er ſchildert, kam noch die in manum conventio, alſo die ſtrenge Gewalt des Ehe - mannes, häufiger vor, als in ſpä - terer Zeit, worin ſie immer ſel - tener wurde., und daß eine wirklich knechtiſche, herabwür - digende Behandlung der Söhne undenkbar war neben ei - nem Staatsrecht, welches denſelben den Genuß aller politi - ſchen Rechte, und ſelbſt die Fähigkeit zu den höchſten Ma - giſtraturen, unbeſchadet der väterlichen Gewalt einräumte.

(f)tigſten Momente, den weltge - ſchichtlichen Charakter der Römer und ihre Richtung auf den Rechts - Formalismus zu verſtehen. Bey ihm iſt das Misverſtändniß um ſo unbegreiflicher, als er § 161 in der Ehe das nothwendige Zu - ſammenwirken ſittlicher und recht - licher Elemente ſehr wohl aner - kennt, woraus von ſelbſt folgt, daß bey jedem Volk das Ehe - recht nur ein unvollſtändiges Bild der Ehe ſelbſt giebt. Warum ſoll denn aber nicht daſſelbe für die väterliche Gewalt gelten? Noch weiter führt dieſen Irrthum Adam H. Müller Elemente der Staats - kunſt Th. 2 S. 59 65. Er ſpricht von einer väterlichen und ehemännlichen Gewalt, ſo wie ſie in unſern Geſetzbüchern nach Römiſchem Zuſchnitt verordnet wird, und vermißt deshalb in den Römiſchen (und unſern) Fa - milienverhältniſſen alle Gegenſei - tigkeit. Nach ihm möchte man glauben, wir ſchlöſſen noch unſre Ehen durch Confarreation, da doch ſchon in früher Zeit bey den Römern die freye Ehe (ohne die geringſte Spur von Gewalt) die häufigſte war, und da dieſe allein mit dem Römiſchen Recht zu uns herüber gekommen iſt. Ferner möchte man nach ihm glauben, als ſpielten blos die Römiſchen Geſetze eine traurige Rolle, wenn ſie ein unſichtbarer Geiſt der Liebe oder des Zutrauens nicht ergän - zen oder ſtützen will (S. 59). Als ob je ein Geſetz in der Welt dieſen unſichtbaren Geiſt entbehr - lich gemacht oder hervorgebracht hätte! Was alſo dieſer Schrift - ſteller als eine Schwäche der - miſchen Geſetze mit Verachtung darſtellt, iſt vielmehr eine Ein - richtung, die Gott der menſchli - chen Natur im Allgemeinen zu geben gut gefunden hat.

352Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Dieſe allgemeine Characteriſtik des Familienrechts wird nun noch anſchaulicher werden durch die Angabe des wah - ren juriſtiſchen Inhalts ſeiner einzelnen Inſtitute. Er be - ſteht bey jedem derſelben in den Bedingungen ſeines Da - ſeyns und ſeiner Anerkennung, wozu folgende einzelne Stücke gehören: die Vorausſetzungen der Möglichkeit ei - nes ſolches Rechtsverhältniſſes, die Entſtehungsarten deſ - ſelben, und die Gründe ſeiner Auflöſung. So bey der Ehe, der väterlichen Gewalt, der Verwandtſchaft. Auch beſchränkt ſich hierauf der juriſtiſche Inhalt, inſoweit er dieſe Rechtsverhältniſſe für ſich ſelbſt betrifft. Es tritt aber noch bey jedem hinzu der wichtige Einfluß, den daſ - ſelbe außer ſeinen eigenen Gränzen auf andere Rechtsver - hältniſſe ausübt; dieſer ſoll nunmehr für jedes der drey Rechtsverhältniſſe beſonders angegeben werden.

Die Ehe hat folgende Wirkungen auf andere Rechts - verhältniſſe:

1) Die Entſtehung der vaͤterlichen Gewalt über die in der Ehe erzeugten Kinder. Dieſes iſt nämlich wiederum ein ſelbſtſtändiges Familienverhältniß, worin durchaus keine neue Beſtimmung für das wechſelſeitige Verhältniß der Ehegatten ſelbſt enthalten iſt.

2) Schutz gegen Verletzung ihrer ſittlichen Würde durch Anſtalten des Criminalrechts.

3) Mannichfaltige Beſtimmungen im Vermögensrecht, als: dos, donatio propter nuptias u. ſ. w. Die meiſten und wichtigſten dieſer Inſtitute ſind nicht unmittelbare und353§. 54. Familienrecht.nothwendige Folgen der Ehe ſelbſt, ſondern Folgen will - kührlicher Handlungen, deren Möglichkeit aber durch das Daſeyn der Ehe bedingt iſt.

Die väterliche Gewalt äußert ihren Einfluß auf das Vermögen in folgender Weiſe. Das Kind iſt unfähig für ſich ſelbſt Vermögen zu erwerben, alſo auch ſolches zu haben; es iſt dagegen fähig, dem Vater zu erwerben, ja dieſer Erwerb folgt nothwendig aus den Handlungen des Kindes. Dieſe ſowohl mögliche als nothwendige Re - präſentation des Vaters durch die erwerbenden Handlun - gen des Kindes wird als Perſoneneinheit unter beyden bezeichnet. Sie wird aber auf mancherley Weiſe einge - ſchränkt durch die (zum Theil fälſchlich ſo genannten) Pe - culien. Vergleicht man dieſen vielfachen Einfluß der väterlichen Gewalt mit den Naturverhältniſſen, welche oben als Grundlage der Familie angegeben worden ſind, ſo ergiebt ſich Folgendes. Das Erziehungsbedürfniß fin - det ſeine Befriedigung allerdings in der väterlichen Ge - walt, aber nicht eigentlich in der rechtlichen Seite derſel - ben, ſondern in der rechtlich unbeſtimmten Macht, die der Vater ohnehin über das Kind, auch ohne Rückſicht auf deſſen Alter, hat. Alles Übrige aber, alſo gerade die oben bemerkte rein juriſtiſche Einwirkung auf das Vermö - gen, hat mit der Erziehung gar keinen Zuſammenhang. Hierin zeigt ſich vielmehr unverkennbar die Anſicht, nach welcher der Sohn die Perſönlichkeit des Vaters in ſich aufnimmt und über des Vaters Leben hinaus fortführt,23354Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.um ſie dann auf die eigenen Kinder zu übertragen und in ihnen weiter fortzuſetzen. Dieſe Anſicht zeigt ſich deutlich in der Repräſentation des Vaters durch die Erwerbun - gen des Kindes, ſo wie in der eigenthümlichen Art, wie der Suus die väterliche Erbſchaft erwirbt. Sie zeigt ſich auch in der Vermögensunfähigkeit des Kindes, wobey ohne Zweifel die Anſicht zum Grunde liegt, daß dem Kinde ei - genes Vermögen entbehrlich iſt, weil des Vaters Vermö - gen faktiſch auch zugleich das ſeinige iſt(h)Ich ſage, es iſt faktiſch zugleich das ſeinige, indem das Kind bey einem natürlichen Zu - ſtand des Familienlebens die Vor - theile des Vermögens mit genießt. Daneben beſteht ſehr wohl die nur wenig beſchränkte rechtliche Macht des Vaters, dem Kinde jene Vortheile in der Gegenwart zu verſagen, und für die Zukunft zu entziehen. Es iſt alſo ein ähn - liches Verhältniß wie bey der dos, die juriſtiſch dem Manne gehört, faktiſch der Frau; nur war bey der dos mehr Veranlaſſung, die - ſes Verhältniß auszubilden und in beſtimmten Regeln auszuſprechen.. Daneben iſt es durch dieſe Unfähigkeit von ſelbſt einleuchtend, warum es nicht nöthig war, das Vermögen des in väterlicher Ge - walt ſtehenden Kindes für die Jahre der Unmündigkeit be - ſonders zu ſchützen; dieſe Bemerkung aber iſt hier nöthig, weil in ihr der Ausgangspunkt liegt, aus welchem die Tutel als ein künſtliches Surrogat hervorgeht (§ 55).

Die Verwandtſchaft endlich iſt das unbeſtimmteſte unter jenen drey Verhältniſſen, ſchon deshalb weil es in ſo verſchiedenen Abſtufungen erſcheint, und ſich zuletzt un - merklich verliert. Ja es wird gewöhnlich nicht als ein eigenes Familienverhältniß anerkannt, weil man den Cha - racter eines ſolchen in gegenſeitige Rechtsanſprüche zu355§. 54. Familienrecht.ſetzen pflegt, die Verwandten aber als ſolche, mit weni - gen Ausnahmen, keine Rechte gegen einander haben. Nach unſrer oben dargelegten Anſicht kann uns jedoch dieſer Umſtand nicht hindern, auch die Verwandtſchaft als ein eigenes Familienverhältniß zu behandeln. Denn auch bey ihr ſind die rechtlichen Bedingungen ihres Daſeyns genau beſtimmt. Eben ſo fehlt es ihr nicht an Einfluß auf an - dere Rechtsverhältniſſe. Dieſer Einfluß zeigt ſich zunächſt bey der Ehe, deren Möglichkeit durch gewiſſe Arten der Verwandtſchaft ausgeſchloſſen wird. Ferner im Vermö - gen, und zwar hier auf zweyerley Weiſe. Der wichtigſte Einfluß iſt der auf das Erbrecht, wodurch allein ſchon die genaueſte Feſtſtellung dieſes Verhältniſſes unentbehrlich wird. Ein zweyter, minder wichtiger Einfluß zeigt ſich in der Obligation auf Alimente, welche jedoch nur bey einigen Arten der Verwandtſchaft eintritt; in dieſer liegt der einzige gegenſeitige Rechtsanſpruch, der unter gleichzei - tig lebenden Verwandten wahrzunehmen iſt.

Nach der hier dargelegten Anſicht iſt jedes Familien - verhältniß, als ein natürlich-ſittliches betrachtet, ganz in - dividuell, indem es in einer Wechſelbeziehung zwiſchen zwey einzelnen Menſchen beſteht; als Rechtsverhältniß be - trachtet aber iſt es ein Verhältniß Einer Perſon zu allen übrigen Menſchen, indem es ſeinem eigenen Weſen nach nur in dem Anſpruch auf allgemeine Anerkennung beſteht. So z. B. hat ein Vater kraft der väterlichen Gewalt zu - nächſt nur den Rechtsanſpruch, daß ihm das Daſeyn die -23*356Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.ſer Gewalt von Jedem, der es beſtreitet, anerkannt werde, und dieſer Anſpruch geht gegen den Sohn ſelbſt nicht mehr und nicht weniger, als gegen jeden Dritten. Daneben aber kann ihm das einmal anerkannte Rechtsverhältniß als Grundlage mannichfaltiger anderer Anſprüche (auf Eigenthum, Erbfolge u. ſ. w.) dienen. Dieſe ganze An - ſicht findet eine merkwürdige Beſtätigung in der Römiſchen Klagform. Die Klage iſt hier ein praejudicium, das heißt eine Klage, die nicht etwa eine condemnatio zur Folge hat, ſondern nur den Ausſpruch über das Daſeyn eines Verhältniſſes(i)Gajus IV. § 44. 94. Vgl. L. 1 § 16 L. 3 § 3. 4 de agnosc, (25. 3.). L. 1 § 4 de lib. exhi - bendis (43. 30.).. Der Name dieſer Art von Klagen kommt daher, daß ſie dazu dienen, andere, künftige Kla - gen vorzubereiten. Alle dieſe Klagen endlich ſind in rem, das heißt ſie gelten nicht ausſchließend gegen eine be - ſtimmte verpflichtete Perſon, ſo wie die Klagen aus Obli - gationen(k)§ 13 J. de act. (4. 6.)..

§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.

Bisher iſt die Familie in ihrem natürlichen Umfang betrachtet worden. Nach dem Typus dieſer natürlichen Familieninſtitute können aber durch das poſitive Recht andere nachgebildet werden, die ſodann eine künſtliche Er - weiterung des Familienrechts darbieten. Solche künſtliche357§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.Familienverhältniſſe unterſcheiden ſich von den natürlichen darin, daß ſie nicht ſo wie dieſe auf einer natürlich-ſitt - lichen Grundlage beruhen, weshalb ihr Daſeyn auch nicht in einer allgemeinen Nothwendigkeit gegründet iſt. Nach dem Römiſchen Kunſtausdruck alſo gehören ſie nicht zu dem jus naturale.

Das Römiſche Recht kennt folgende Inſtitute dieſes künſtlich erweiterten Familienrechts:

1) Manus. Sie beruht auf einer künſtlichen Verſchmel - zung der beiden Hauptzweige der natürlichen Familie, der Ehe mit der väterlichen Gewalt. Die Ehefrau wird da - durch in das rechtliche Verhältniß einer Tochter des Ehe - mannes verſetzt, worin alſo ein äußerer Zuſatz zu der Ehe, und eine Modification derſelben, hauptſächlich in Beziehung auf das Vermögen, enthalten iſt. Allerdings gilt aber dieſe Anſicht der manus nur von einer etwas ſpäteren Zeit des Römiſchen Rechts, in welcher es der Willkühr überlaſſen blieb, ob der Ehe noch dieſer beſon - dere Zuſatz beygegeben werden ſollte. In der älteſten Zeit war ſie die einzig mögliche Form der Ehe überhaupt.

2) Servitus. Das Verhältniß eines Sklaven zu ſei - nem Gebieter hatte bey den Römern zwey ganz verſchie - dene juriſtiſche Beziehungen, dominium und potestas, die nur in der Wirklichkeit ſtets vereinigt waren. Nach der einen war es reines, wahres Eigenthum, der Sklave ſtand hierin jeder anderen Sache völlig gleich, er konnte veräu - ßert werden, nicht nur dem vollen Eigenthum nach, ſon -358Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.dern auch indem ein Uſusfructus, ein Uſus, oder ein Pfandrecht an ihm beſtellt wurde; endlich galten gegen jeden Verletzer dieſes Rechts dieſelben Klagen, wie gegen den Verletzer eines andern Eigenthums, vor allen alſo die Vindication. Nach der andern Beziehung war es ein Beſtandtheil der Familie, der väterlichen Gewalt nach - gebildet und ſehr ähnlich gemacht. Dieſe Zuſammenſtel - lung bewährt ſich durch das Eigenthum, welches urſprüng - lich auch der Vater an den Kindern hatte, durch den ge - meinſchaftlichen Namen potestas, und endlich darin, daß die Sklaven den Kindern gleich ſtanden in der Unfähigkeit zum Vermögen, in der möglichen und nothwendigen Re - präſentation des Herrn durch die erwerbenden Handlun - gen des Sklaven, und in dem Peculium. Wenn ſich un - ſer Gefühl durch dieſe Gleichſtellung der Kinder mit den Sklaven verletzt findet, ſo dürfen wir nicht vergeſſen, daß der Sklave in der älteſten Zeit, worin dieſes Inſtitut feſt - geſtellt wurde, der Ackerknecht des Herrn, alſo der Ge - hülfe ſeiner Arbeit, und wohl meiſt auch ſein Tiſchge - noſſe war. Bey der völlig veränderten Lebensweiſe der ſpäteren Zeit, als die Sklaven Gegenſtände des Luxus und der gewerblichen Speculation in der übertriebenſten Ausdehnung wurden, hatte freylich jene Gleichſtellung al - len Sinn und alle Schicklichkeit verloren. Es iſt aber überhaupt eine der wichtigſten Krankheitsurſachen des - miſchen Zuſtandes, daß man nicht frühe und nicht gründ - lich genug bedacht war, das Verhältniß der Sklaven und359§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.der Freygelaſſenen nach den völlig veränderten Bedürfniſ - ſen zu modificiren. Zu dieſer zweyten Beziehung ge - hört endlich auch noch die Manumiſſion, das heißt die Fähigkeit des Herrn, dem Sklaven die Freyheit und in der Regel ſelbſt die Civität zu ertheilen: endlich auch das liberale judicium, oder die vindicatio in servitutem und in libertatem, welche der potestas denſelben Schutz ge - währt, wie die gewöhnliche vindicatio dem dominium. Noch etwas verſchieden von dieſem Allen iſt die dem Skla - ven faſt gänzlich fehlende Rechtsfähigkeit. Denn dieſe kann ſich auch bey ſolchen finden, über welche jetzt domi - nium und potestas zufällig nicht beſteht, den servis sine domino. Denn obgleich das ganze Rechtsinſtitut der Skla - verey nur um der Gewalt des Herrn willen eingeführt und ausgebildet worden war, ſo hatte man doch daraus den allgemeinen Begriff des Sklavenſtandes, als ei - nes Zuſtandes an ſich, gebildet, der nun auch in den Fäl - len der zufällig herrenloſen Sklaven ſollte Daſeyn und Wirkſamkeit haben können(a)Dahin gehören folgende Fälle: 1) der servus poenae, welcher keinesweges im Eigen - thum des Staats war. L. 17 pr. de poenis (48. 19.). L. 3 pr. de his q. pro non scr. (34. 8.). L. 12 de j. fisci (49. 14.). L. 25 § 3 de adqu. hered. (29. 2.). 2) Der Nömer, der in Gefan - genſchaft des Feindes kam; denn der Feind war rechtlos, konnte alſo auch keine potestas und kein dominium haben. 3) Der Frey - gelaſſene, an welchem vor der Freylaſſung ein Anderer den Nies - brauch erworben hatte. Ulpian I. § 19 (L 1 C. comm. de manu - miss. 7. 15.). 4) Der von ſei - nem Herrn derelinquirte Sklave. L. 38 § 1 de nox. act. (9. 4.). L. 36 de stip. serv. (45. 3.). L. 8 pro derelicto (41. 7.). Es war etwas ganz Specielles und rein Poſitives, daß nach einem.

360Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

3) Patronatus. Die Freylaſſung macht den Sklaven zu einem Freyen, und ertheilt ihm nach Umſtänden bald einen höheren, bald einen niederen Stand unter den Freyen. Daneben ſteht aber ein perſönliches Verhältniß zwiſchen dem Patron und dem Freygelaſſenen, welches auch ſelbſt wieder die Natur eines Familienverhältniſſes annimmt, ſo wie das Sklavenverhältniß dieſe Natur hatte, aus wel - chem es durch Umwandlung hervorgieng. Das Patronat hat bedeutenden Einfluß auf das Vermögensrecht, indem ſich daran auf mannichfaltige Weiſe theils Erbfolge, theils Obligationen anknüpfen. Dazu kommen noch Inſtitute des Criminalrechts, welche zum Schutz der hohen Stel - lung des Patrons, gegenüber dem Freygelaſſenen, be - ſtimmt ſind.

4) Mancipii causa. Da die Herrſchaft des Vaters über die Kinder in der älteſten Zeit vom Eigenthum in der That kaum verſchieden war, ſo konnte er ſie auch veräußern, und daſſelbe galt für den Ehemann, der die Frau gleich einer Tochter in manu hatte. Allein dieſe(a)Edict des K. Claudius die hart - herzige Dereliction eines kran - ken Sklaven dieſem die Latini - tät geben ſollte. L. 2 qui sine manum. (40. 8.). L. un. § 3 C. de lat. libert. (7. 6.). Die Regel blieb daneben unverändert. Der Zuſtand des servus poe - nae war härter, als der des ser - vus fisci: daher wurde der Ver - urtheilte durch Begnadigung ser - vus fisci, und das Kind der zu den Bergwerken verurtheilten Frau galt als servus fisci. L. 24 § 5. 6. de fideic. lib. (40. 5.). Auf der andern Seite aber konnten die herrenloſen Sklaven niemals in Libertinität gerathen: wurden ſie alſo frey (durch Reſtitution des Verurtheilten, oder durch Poſtliminium des Gefangenen), ſo wurden ſie wieder Ingenui. Paulus IV. 8. § 24.361§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.veräußerten Freyen ſollten doch zu dem neuen Herrn in einem anderen und milderen Verhältniß ſtehen als eigent - liche Sklaven. Dieſes war die Mancipii causa, ein Mit - telzuſtand zwiſchen Freyen und Sklaven, woraus ferner durch Freylaſſung ein Patronat, ähnlich dem über wahre Sklaven, entſtehen konnte. Nur in der Unfähigkeit zum Vermögen, und in dem Erwerb für den Herrn, ſteht die - ſer Abhängige dem Sklaven ganz gleich. Dieſe Rechts - verhältniſſe haben ſich, als blos juriſtiſche Formen bey Auflöſung der väterlichen Gewalt, in ausgedehnter Übung erhalten, nachdem ein ernſtlicher Verkauf der Kinder ſchon längſt ungewöhnlich, ja ſelbſt ſtrafbar geworden war.

5) Tutela und Curatio. Der Kern dieſes Rechtsin - ſtituts iſt unſtreitig die Tutel über die Unmündigen, und dieſe muß als Surrogat der väterlichen Gewalt, wo eine ſolche zufällig fehlt, betrachtet werden. Es fragt ſich nur, in welchem Sinn ſie ein ſolches Surrogat iſt. Gewiß nicht inſofern, als in der väterlichen Gewalt eine Perſo - neneinheit liegt, denn dieſe iſt in der Tutel ſicher nicht vorhanden. Eher könnte man an das Erziehungsverhält - niß denken, aber auch dieſes liegt außer den Gränzen der Tutel und kann nur ganz zufällig mit ihr verbunden ſeyn. Der wahre Zuſammenhang aber iſt dieſer. Wenn der Inhaber eines Vermögens unmündig iſt, ſo kann er ſein Vermögen nicht vertreten, das heißt er iſt handlungsun - fähig. Die meiſten Unmündigen nun ſtehen in väterlicher Gewalt, und für ſie beſteht jene Schwierigkeit nicht, da362Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.Alles was ihnen zufällt ohnehin in des Vaters Vermögen ſich verliert, ſie ſelbſt alſo kein Vermögen haben können (§ 54). Mit anderen Worten: ihre Handlungsunfähig - keit wird unſchädlich durch ihre Rechtsunfähigkeit. An - ders wenn der Unmündige zufällig ohne Vater iſt, alſo ſelbſt Vermögen haben kann. Hier entſteht ein Misver - hältniß zwiſchen der vorhandenen Rechtsfähigkeit und der fehlenden Handlungsfähigkeit, welches einer künſtlichen po - ſitiven Nachhülfe bedarf. Darauf allein gründet ſich die urſprüngliche Tutel, denn in dieſem Fall allein iſt ein all - gemeines, wichtiges, häufiges Naturbedürfniß vorhanden. Die übrigen Fälle der Tutel, ſo wie die ganze Curatel, beruhen wohl auf allmäligen Nachbildungen bey ähnlichem Bedürfniß: das aber haben ſie alle mit jenem Hauptfall gemein, daß ſie nur da vorkommen, wo nicht ſchon das ſtreng juriſtiſche Verhältniß einer potestas oder manus jede künſtlichere Nachhülfe überflüſſig macht. Der ju - riſtiſche Inhalt dieſer Verhältniſſe iſt ein zwiefacher. Erſt - lich erſetzen ſie zunächſt die fehlende Handlungsfähigkeit eines Rechtsfähigen. Zweytens verwandeln ſie ſich ſpä - terhin in Obligationen zwiſchen dem, welcher Tutor oder Curator war, und dem Pflegebefohlnen.

Auf die Fünf hier dargeſtellten Inſtitute des Familien - rechts beſchränkte ſich deſſen künſtliche Erweiterung zur Zeit der klaſſiſchen Juriſten. In Juſtinians Zeit hätte noch ein ſechſtes hinzugefügt werden müſſen, das Colo - nat, welches damals ſchon längſt eben ſo verbreitet als363§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.wichtig war. Das Weſen deſſelben beſtand in einer erb - lichen, unauflöslichen obligatio zum Bau eines beſtimmten Bauergutes; es war der servitus verwandt, und doch da - von weſentlich verſchieden(b)Savigny über den - miſchen Colonat, Zeitſchrift für geſchichtl. Rechtsw. B. 6. Num. IV. . Daß dieſes Verhältniß im erſten Buch unſrer Inſtitutionen nicht erwähnt wird, er - klärt ſich nicht aus inneren Gründen, ſondern nur aus der geringeren geiſtigen Selbſtthätigkeit des Juſtinianiſchen Zeitalters. Man begnügte ſich die Bücher der klaſſiſchen Zeit etwas zu modificiren, anſtatt das lebendige Recht der Gegenwart ſelbſtthätig darzuſtellen, wodurch man in den Kreis der Gegenſtände jener Bücher, mit wenigen Aus - nahmen, gebannt blieb.

Die künſtlichen Familienverhältniſſe haben übrigens in den wichtigſten Beziehungen eine ähnliche Beſchaffenheit wie die natürlichen (§ 54); auch ſie ſind Rechtsverhält - niſſe gegen Jeden, der ihre Anerkennung verweigert, und auch ſie werden durch praejudicia geſchützt(c)§ 13 J. de act. (4. 6.)..

Ich habe die Benennung natürlicher und künſtlicher Familienverhältniſſe gebraucht, um dadurch diejenigen Theile des Familienrechts, welche juris naturalis ſind, von denen welche es nicht ſind, ſcharf zu unterſcheiden. Zur Ver - hütung jedes Misverſtändniſſes iſt aber zu bemerken, daß die Römer den von mir als künſtlich bezeichneten Inſtituten eine ſehr verſchiedene Natur zugeſchrieben haben. Bey der manus und der mancipii causa konnte nicht verkannt wer -364Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.den, daß ſie dem Römiſchen Recht ganz eigenthümlich ſeyen, alſo zum jus civile gehörten; dieſelbe Anſicht mag man auch von dem Patronat gehabt haben. Dagegen rechneten ſie die Tutel, ſo weit ſie ſich auf Unmündige bezieht, zu dem jus gentium(d)Gajus I. § 189.; eben ſo auch die Skla - verey, die ja bey allen anderen Völkern eben ſowohl vor - kam, als bey den Römern(e)L. 1 § 1 de his qui sui (1. 6. ), § 1 J. eod. (1. 8.).. In Beziehung auf dieſe letzte iſt ſehr merkwürdig die Entwicklung der Rechtsan - ſicht, welche in Folge des Chriſtenthums eingetreten iſt. Kein Philoſoph des Alterthums hielt das Daſeyn eines Staates ohne Sklaven für möglich. In allen chriſtlich - europäiſchen Staaten dagegen gilt die Sklaverey für un - möglich; und in den chriſtlichen Staaten außer Europa gehört der Kampf um die Fortdauer oder Vernichtung der - ſelben unter die wichtigſten Aufgaben, welche dem künfti - gen Zeitalter vorbehalten ſind.

Mit den bisher dargeſtellten Familienverhältniſſen ſte - hen noch zwey andere Rechtslehren in enger Verbindung: die Repräſentation im Erwerb des Vermögens, und die Rechtsfähigkeit in verſchiedenen Abſtufungen.

Die Repräſentation im Vermögens-Erwerb (§ 113) iſt geknüpft an potestas, manus, mancipium, alſo an Drey, oder eigentlich Vier, unter den oben dargeſtellten Fami - lienverhältniſſen. Allein nicht alle Familienverhältniſſe ha -365§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.ben dieſen wichtigen Einfluß: namentlich findet er ſich nicht bey der Ehe als ſolcher, der Verwandtſchaft, dem Pa - tronat, und der Vormundſchaft. Das Familienrecht geht alſo viel weiter als dieſe Lehre, und darf mit ihr nicht für identiſch gehalten werden.

Die Rechtsfähigkeit (welche in den §§ 64 fg. ausführ - lich dargeſtellt werden wird) beruht auf drey Klaſſifica - tionen der Menſchen, womit drey Stufen der capitis de - minutio zuſammenhängen. Die Unterſchiede der liberi und servi, der sui juris und alieni juris, ſind voͤllig in eini - gen der oben angegebenen Familienverhältniſſe begründet; dagegen liegt der dritte Unterſchied (cives, latini, pere - grini) ganz außer den Gränzen des Familienrechts, ja des Privatrechts überhaupt; auf der andern Seite aber haben mehrere Familienverhältniſſe Ehe als ſolche, Verwandt - ſchaft, Patronat, Vormundſchaft gar keinen Einfluß auf die Rechtsfähigkeit. Alſo iſt auch die Lehre von der Rechtsfähigkeit durchaus nicht identiſch mit dem Familien - recht, vielmehr haben beide ganz verſchiedene Gränzen.

Zuletzt iſt noch die hiſtoriſche Entwicklung der zum Fa - milienrecht gehörenden Inſtitute zu erwähnen. Schon zu Juſtinians Zeit waren gänzlich verſchwunden die manus und die mancipii causa. Bey dem Übergang des Römi - ſchen Rechts nach dem neueren Europa ſind ferner ver - ſchwunden die Sklaverey und das Patronat. Eben ſo konnte das Römiſche Colonat im neueren Europa nicht bleibende Anerkennung finden, weil die ihm ſehr ähnliche366Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.Germaniſche Leibeigenſchaft die Stelle deſſelben völlig ein - nahm. So iſt es durch dieſe in Italien und Frankreich verdrängt, im größeren Theil von Deutſchland aber nie - mals mit dem Römiſchen Recht aufgenommen worden. Demnach ſind von allen jenen Inſtituten im heutigen Recht nur noch folgende übrig geblieben: Ehe, väterliche Gewalt, Verwandtſchaft, Vormundſchaft.

Dagegen ſind vom Mittelalter her gar manche Rechts - inſtitute auf dem Boden des Germaniſchen Rechts neu ent - ſtanden, in welchen, eben ſo wie in den ſchon bey den Römern vorhandenen Familienverhältniſſen, ein ſittliches Element als vorzugsweiſe einflußreich anerkannt werden muß, und die theils in das Familienrecht, theils in das Staatsrecht, wenigſtens theilweiſe aufzunehmen ſind, wenn ihre Natur richtig aufgefaßt werden ſoll. Dahin gehört das ganze Lehenverhältniß, die höchſt mannichfaltigen gutsherrlich - bäuerlichen Verhältniſſe, und insbeſondere die ſchon er - wähnte Germaniſche Leibeigenſchaft. Wir müſſen alſo ver - meiden, die Gränzen des Familienrechts für alle Zeiten und Völker feſtſtellen zu wollen, und vielmehr die Mög - lichkeit freyer Entwicklung für jedes poſitive Recht aner - kennen. Auf beſonders merkwürdige Weiſe zeigt ſich dieſe fortgehende Rechtsentwicklung in einem der verbrei - tetſten Verhältniſſe unſers heutigen Zuſtandes, dem Dienſt - botenrecht. Vom Standpunkt des Römiſchen Rechts aus läßt ſich daſſelbe nur als ein Contract (operae locatae) auffaſſen, und für die Römer war dieſe beſchränkte Be -367§. 56. Vermögensrecht.handlung hinreichend, da wegen des äußerſt zahlreichen Sklavenſtandes das Bedürfniß freyer Dienſtboten faſt gar nicht wahrgenommen wurde. Anders bey uns, die wir keine Sklaven haben, weshalb jenes Verhältniß zu einem höchſt wichtigen und verbreiteten Bedürfniß geworden iſt. Nun reichen wir mit der beſchränkten Behandlung gleich jedem anderen Arbeitsvertrag nicht aus, und ſo iſt im Preußiſchen Landrecht auf ganz richtige Weiſe das Dienſt - botenrecht nicht unter die Contracte, ſondern in das Per - ſonenrecht aufgenommen worden(f)A. L. R. II. 5..

§. 56. Vermögensrecht.

Für das Vermögensrecht wurden oben (§ 53) zwey Gegenſtände angegeben, Sachen und Handlungen. Darauf gründen ſich die beyden Haupttheile deſſelben: Sachen - recht und Obligationenrecht. Das erſte hat zum Stoff den Beſitz, oder die faktiſche Herrſchaft über Sa - chen. Als Recht erſcheint es einfach und vollſtändig in der Geſtalt des Eigenthums, oder der unbeſchränkten und ausſchließenden Herrſchaft einer Perſon über eine Sache. Um uns aber das Weſen des Eigenthums klar zu machen, müſſen wir von folgender allgemeinen Be - trachtung ausgehen. Jeder Menſch hat den Beruf zur Herrſchaft über die unfreye Natur; denſelben Beruf aber muß er eben ſo in jedem andern Menſchen anerken -368Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I Weſen und Arten.nen, und aus dieſer gegenſeitigen Anerkennung entſteht, bey räumlicher Berührung der Individuen, ein Bedürfniß der Ausgleichung, welches zunächſt als ein unbeſtimmtes erſcheint, und nur in beſtimmter Begränzung ſeine Befrie - digung finden kann. Dieſe Befriedigung nun erfolgt, ver - mittelſt der Gemeinſchaft im Staate, durch poſitives Recht. Wenn wir hier dem Staat die Geſammtherrſchaft über die unfreye Natur innerhalb ſeiner Gränzen beylegen, ſo erſcheinen die Einzelnen als Theilhaber dieſer gemeinſa - men Macht, und die Aufgabe beſteht darin, eine beſtimmte Regel zu finden, nach welcher die Vertheilung unter die Einzelnen ausgeführt werde. Für eine ſolche Vertheilung giebt es drey Wege, die nur nicht in einem ausſchließen - den Verhältniß zu einander gedacht werden müſſen, ſon - dern vielmehr in gewiſſem Maaße gleichzeitig zur Anwen - dung kommen können. Wir können dieſe drey Wege fol - gendergeſtalt bezeichnen:

1) Gemeingut und Gemeingenuß. Dieſes Verhältniß findet ſich bey dem ganzen Staatsvermögen, mag nun dieſes im Ertrag von Steuern, Regalien, oder Domänen beſtehen, indem die aus dieſem Ertrag erhaltenen öffentli - chen Anſtalten in der That von jedem Einzelnen (wenn - gleich oft in verſchiedenen Graden) benutzt und genoſ - ſen werden.

2) Gemeingut und Privatgenuß. Dieſe Art der Ver - theilung (die ſeltenſte) findet ſich bey dem Römiſchen ager369§. 56. Vermögensrecht.publicus der älteſten Zeit; eben ſo, in heutigen Corpora - tionen, bey dem was wir Bürgervermögen nennen.

3) Privatgut und Privatgenuß, abhängig von den im poſitiven Recht anerkannten freyen Handlungen oder Na - turereigniſſen. Dieſe, überall vorherrſchende, Form iſt die einzige, mit welcher wir im Privatrecht zu thun haben. Hierin liegt der Begriff des Eigenthums, deſſen vollſtän - dige Anerkennung auf die Möglichkeit des Reichthums und der Armuth, beides ohne alle Einſchränkung, führt.

Eine noch außer dem Eigenthum liegende Herrſchaft des einzelnen Menſchen über die unfreye Natur iſt nicht denkbar; wohl aber läßt ſich eine mannichfaltig begränzte Herrſchaft innerhalb des Eigenthums denken, woraus dann, je nach den Beſtimmungen jedes poſitiven Rechts, meh - rere einzelne jura in re, als beſondere Rechtsinſtitute, ge - bildet werden können. Alle mögliche Rechte an Sachen Eigenthum und jura in re faſſen wir unter dem gemein - ſamen Namen der dinglichen Rechte zuſammen(a)Dieſe Terminologie iſt hier nur im allgemeinen, um Misver - ſtändniſſen vorzubeugen, angege - ben worden. Die genauere Feſt - ſtellung derſelben, eben ſo wie die Angabe der einzelnen jura in re, bleibt der beſonderen Lehre des Sachenrechts vorbehalten..

Das Obligationenrecht hat zum Stoff die partielle Herrſchaft über fremde Handlungen, wodurch dasje - nige bedingt iſt und gebildet wird, was wir, im Gan - zen zuſammen faſſend, als den Verkehr bezeichnen. Je - doch eignen ſich nicht alle Handlungen zu Gegenſtänden von Obligationen, ſondern nur diejenigen, welche durch24370Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.ihre materielle Natur als aus der Perſon heraustretend und den Sachen ähnlich betrachtet werden können.

Faſſen wir dieſes zuſammen, ſo zeigt ſich hier ein durch - gehender Gegenſatz gegen das Familienrecht. In beiden Theilen des Vermögensrechts beſteht der Stoff nicht ſo, wie bey der Familie, in einem natürlich-ſittlichen Ver - hältniß; ſie haben alſo keine gemiſchte Natur, ſondern ſind vielmehr reine, bloße Rechtsverhältniſſe; ſie gehören nicht dem jus naturale an, und die Anerkennung ihres Daſeyns erſcheint minder nothwendig, mehr willkührlich und poſitiv, als bey den Inſtituten des Familienrechts. Auf der anderen Seite kann hier der Zweifel gar nicht vorkommen, worin ihr wahrer rechtlicher Gehalt beſtehe. Denn da in ihnen eine Erweiterung der individuellen Frey - heit enthalten ſeyn ſoll (§ 53), ſo iſt eben dieſe Macht, dieſe Herrſchaft die ſie uns gewähren, das was ihnen als Rechtsinſtituten ihren Inhalt giebt.

Gegen die hier aufgeſtellte Behauptung, daß das Ver - mögensrecht nicht, ſo wie das Familienrecht, ein ſittliches Element in ſich ſchließe, könnte man einwenden, daß das ſittliche Geſetz jede Art des menſchlichen Handelns zu be - herrſchen habe, und daß alſo auch die Vermögensverhält - niſſe eine ſittliche Grundlage haben müßten. Allerdings haben ſie eine ſolche, indem der Reiche ſeinen Reichthum nur als ein ſeiner Verwaltung anvertrautes Gut betrach - ten ſoll, nur bleibt der Rechtsordnung dieſe Anſicht völlig fremd. Der Unterſchied liegt alſo darin, daß das Fami -371§. 56. Vermögensrecht.lienverhältniß von Rechtsgeſetzen nur unvollſtändig be - herrſcht wird, ſo daß ein großer Theil deſſelben den ſitt - lichen Einflüſſen ausſchließend überlaſſen bleibt. Dagegen wird in den Vermögensverhältniſſen die Herrſchaft des Rechtsgeſetzes vollſtändig durchgeführt, und zwar ohne Rück - ſicht auf die ſittliche oder unſittliche Ausübung eines Rechts. Daher kann der Reiche den Armen untergehen laſſen durch verſagte Unterſtützung oder harte Ausübung des Schuld - rechts, und die Hülfe, die dagegen Statt findet, entſpringt nicht auf dem Boden des Privatrechts, ſondern auf dem des öffentlichen Rechts; ſie liegt in den Armenanſtalten, wozu allerdings der Reiche beyzutragen gezwungen wer - den kann, wenngleich ſein Beytrag vielleicht nicht unmit - telbar merklich iſt. Es bleibt alſo dennoch wahr, daß dem Vermögensrecht als einem privatrechtlichen Inſtitut kein ſittlicher Beſtandtheil zuzuſchreiben iſt, und es wird durch dieſe Behauptung weder die unbedingte Herrſchaft ſittli - cher Geſetze verkannt, noch die Natur des Privatrechts in ein zweydeutiges Licht geſetzt (vgl. § 52).

Auf den erſten Blick ſcheint das Verhältniß der ange - gebenen beiden Theile des Vermögensrechts zu einander ſchon durch ihren bloßen Gegenſtand ſo unabänderlich be - ſtimmt, daß es überall in derſelben Weiſe gefunden wer - den müßte. Bey genauerer Betrachtung aber zeigt ſich hierin vielmehr ein ſehr freyer Spielraum für mannichfal - tige Beſtimmungen des poſitiven Rechts verſchiedener Völ - ker. Und zwar finden wir dieſe Verſchiedenheit theils in24*372Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.der Gränzſcheidung zwiſchen Sachenrecht und Obligatio - nen, theils in der Beziehung worin beide Rechtstheile zu einander gedacht werden. Was die Gränzſcheidung be - trifft, ſo giebt es allerdings einige äußerſte Punkte, bey welchen die beſondere Natur des einen oder des andern Rechtstheils ganz unverkennbar iſt: ſo auf der einen Seite das ſtrenge Eigenthum mit unbeſchränkter Vindication, auf der anderen Seite der Dienſtbotenvertrag und das Man - dat. Allein zwiſchen dieſen liegt eine natürliche Annähe - rung, ja ein allmäliger Übergang, darin, daß die meiſten und wichtigſten Obligationen darauf abzwecken, durch fremde Handlungen ein dingliches Recht, oder wenigſtens die Ausübung und den Genuß eines ſolchen, zu erlan - gen(b)Nämlich alle dandi obli - gationes. Darauf gründet ſich der Sprachgebrauch mancher neue - ren Schriftſteller, nach welchem die Obligationen (jura persona - lia) eingetheilt werden in jura pers. in specie, und jura ad rem. Daries Inst. jurispr. priv. § 31. Eben ſo nimmt das Preu - ßiſche A. L. R. Th. 1. Tit. 2 § 123. 124 als Gattung das perſönliche Recht, als einzelne Art das Recht zur Sache an.. In dieſer Beziehung nun iſt im Römiſchen Recht characteriſtiſch ein ſcharfes Hervortreten des Eigenthums, welches ſich theils in der unbeſchränkten Wirkung der Vin - dication äußert(c)Im Gegenſatz derſelben nimmt das Franzöſiſche Recht in der Regel keine Vindication be - weglicher Sachen an, ſondern nur ausnahmsweiſe bey beſonderen Ar - ten des Beſitzverluſtes. Eben ſo giebt das Preußiſche Recht dem redlichen Käufer bey Sachen aller Art das Recht, vom Eigenthü - mer Erſatz des Kaufpreiſes zu verlangen., theils in der ſehr beſchränkten Möglich - keit einer Verminderung des Eigenthums durch jura in re(d)Das R. R. läßt jura in re nur in beſtimmten einzelnen Fäl -. 373§. 56. Vermögensrecht.Alles hängt nun davon ab, ob die Sache an ſich, un - abhängig von einer fremden Handlung, ſchon Gegenſtand unſres Rechtes iſt, oder ob unſer Recht unmittelbar nur auf eine fremde Handlung, als unſrer Herrſchaft unter - worfnen Gegenſtand, gerichtet iſt, mag auch dieſe Hand - lung zum Ziel haben, uns das Recht an einer Sache, oder den Genuß derſelben, zu verſchaffen. Als ſicheres Kennzeichen dieſer Gränze dient das Daſeyn einer in rem oder in personam actio(e)Das ſoll nicht heißen, die Gränze dieſer beiden Klagearten fiele überhaupt zuſammen mit den Gränzen des Sachenrechts und Obligationenrechts, denn es giebt ſehr wichtige in rem actio - nes, die nicht in das Sachenrecht gehören. Wohl aber ſind alle Klagen aus dinglichen Rechten in rem, alle Klagen aus Obligatio - nen in personam. Die[ genauere] Feſtſtellung dieſes Punktes gehört zu einem ſpäter folgenden Ab - ſchnitt., welcher Unterſchied zwar mei - ſtens, aber keinesweges allgemein, mit dem Unterſchied eines unbeſtimmten oder beſtimmten Gegners zuſammen fällt(f)Häufig ſagt man, das We - ſen der in rem actio, im Ge - genſatz der in personam, beſtehe darin, daß jene gegen jeden Drit - ten, gegen jeden Beſitzer, gehe, dieſe aber nicht. Allein die a. quod metus causa geht als in rem scripta gegen jeden Dritten, und iſt darum nicht minder in per - sonam. Indeſſen ſind doch die - ſes immer nur ſeltene Ausnah - men, und wenn wir den Gegen - ſtand im Großen auffaſſen, ſind wir wohl berechtigt zu ſagen, die dinglichen Rechte unterſcheiden ſich von den Obligationen gerade durch ihre allgemeine Wirkſamkeit ge - gen Alle, nicht blos gegen be - ſtimmte Individuen. Eine Folge dieſes im Großen richtigen Un - terſchieds iſt denn auch die, daß die dinglichen Rechte, da ſie auf unbeſtimmte Gegner, alſo in der größten Ausdehnung wirken ſol - len, auch eine feſter beſtimmte Na - tur haben als die Obligationen,. Auch die Beziehung beider Vermögenstheile(d)len als möglich zu. Das Preu - ßiſche Recht dagegen erklärt je - des Nutzungsrecht an fremden Sachen für dinglich, ſobald Be - ſitz hinzutritt, ohne Unterſchied der Veranlaſſung und des Zweckes.374Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.auf einander kann durch jene ſchwankende Gränze leicht verdunkelt werden. Das Römiſche Recht hält beide ſtreng aus einander, und behandelt jeden Theil für ſich als ganz unabhängig innerhalb ſeiner Gränzen. So das Eigenthum als ſelbſtändige Herrſchaft über eine Sache, ohne Rück - ſicht auf die Obligation die etwa als Vermittlung und Vorbereitung dazu diente: die Obligation als ſelbſtändige Herrſchaft über eine fremde Handlung, ohne Rückſicht auf das dingliche Recht worauf dieſe Handlung vielleicht ab - zweckt. Von dieſer, der Natur jener Rechte völlig ange - meſſenen Behandlung iſt nun eine zwiefache Abirrung mög - lich: entweder indem die Obligationen allein in’s Auge gefaßt werden, ſo daß die dinglichen Rechte nur als Fol - gen oder Entwicklungen derſelben erſcheinen(g)So geſchieht es bey Domat, lois civiles. Er theilt das ganze Recht in Engagemens (Recht un - ter Lebenden) und Successions (Erbrecht). Die Engagemens ſind Obligationen, neben welchen nur gelegentlich auch dingliche Rechte als Folgen oder Verſtärkungen vorkommen.: oder in - dem umgekehrt die dinglichen Rechte allein als wahrer Gegenſtand der Rechtsbeſtimmungen erſcheinen, da dann die Obligationen nur als Erwerbungsmittel der dinglichen Rechte in Betracht kommen(h)So im Franzöſiſchen Code civil, welcher drey Bücher hat: 1) Perſonen, 2) Sachen und Modi - ficationen des Eigenthums, 3) Er - werbungsarten des Eigenthums; dieſe ſind dreyfach: a) Succes - sions, d. h. Inteſtaterbfolge, b) do - natio inter vivos und Teſtament, c) Wirkung ber Obligationen. (Art. 711.). Allein dieſes Über - gewicht des Eigenthums iſt hier doch nur ſcheinbar, da das zweyte Buch ſehr mager iſt, das dritte dagegen den größten Theil des ganzen Privatrechts enthält, wo - bey die vorherrſchende Rückſicht. Jede dieſer Behandlungs -(f)d. h. daß ſie mehr abſolutes Recht oder jus publicum (§ 16) ent - halten.375§. 56. Vermögensrecht.weiſen iſt ſchon an ſich, als gezwungen und einſeitig, der Einſicht in die wahre Natur der Rechtsverhältniſſe hin - derlich: nicht zu gedenken, daß ſie auf manche Rechtsver - hältniſſe ganz und gar nicht paſſen, ſo daß dieſe bey con - ſequenter Durchführung des Grundgedankens eigentlich ganz wegfallen müßten(i)So z. B. findet ſich conſe - quenterweiſe bey Domat für die Occupation und die ſogenannte Specification kein Platz. Das Preuß. Landrecht und der Code civil behandeln das Mandat als ein Mittel zum Erwerb des Ei - genthums, obgleich daſſelbe nach ſeiner allgemeinen Natur eben ſo - wohl auf andere Zwecke gerich - tet ſeyn kann..

Wir verſtehen nun in der einzelnen Anwendung unter Vermögen die Totalität aller hier beſchriebenen Ver - hältniſſe, inſoferne ſie ſich auf eine beſtimmte Perſon als deren Träger beziehen. Dieſer wichtige Rechtsbegriff wird noch durch folgende nähere Beſtimmungen ausgebildet. Erſtlich iſt die Beziehung dieſer Rechte auf eine beſtimmte Perſon zufällig und wandelbar, ſo daß alſo jedes Ver - mögen einen beſtimmten Umfang hat nur unter Voraus - ſetzung eines gegebenen Zeitpunktes, und daß es in jedem anderen Zeitpunkt einen ganz verſchiedenen Inhalt haben kann. Zweytens können wir in der allgemeinen Betrach - tung des individuellen Vermögens abſtrahiren von der Be - ſchaffenheit der einzelnen Rechte, woraus es gerade be - ſteht, und durch dieſe Abſtraction verwandelt es ſich für unſre Betrachtung in eine reine Quantität von gleicharti -(h)auf das Eigenthum nur in der Überſchrift figurirt. Eben ſo betrachtet das Preußiſche Land - recht die obligatoriſchen Verträge und die Teſtamente nur als Titel zum Erwerb des Eigenthums (Th. I. Tit. 11. 12. 13.).376Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.gem Gehalt. Die abſtracte Behandlung des Vermögens aber macht es ferner möglich und nöthig, in daſſelbe auch die paſſive Seite der Obligationen mit hinein zu ziehen, das Verhältniß des Schuldners, welches nicht ſo, wie das bisher betrachtete Vermögen, eine erweiterte Freyheit begründet, ſondern eine verminderte. Indem wir auf dieſe Weiſe auch die Schulden als Beſtandtheile des Vermö - gens anſehen, müſſen wir annehmen, daß die Totalität eines jeden Vermögens bald ein Plus, bald ein Minus, bald auch eine völlige Indifferenz oder eine Null, darſtel - len kann.

Dieſe rein quantitative Behandlung des Vermögens, ohne welche eine Handhabung des Rechts nur in ſehr un - vollkommener Weiſe möglich ſeyn würde, wird vermittelt durch den Begriff des Werthes, oder der Gleichſtellung verſchiedenartiger Vermögensrechte durch Reduction auf ein gemeinſchaftliches Drittes. Und dieſer Begriff wie - derum wird äußerlich dargeſtellt und in das wirkliche Le - ben eingeführt durch das Geld, ſo daß alſo für den ju - riſtiſchen Gebrauch Werth und Geldwerth gleichbedeutende Ausdrücke ſind, und auch in der That abwechſelnd ange - wendet zu werden pflegen(k)Im älteren Römiſchen Pro - zeß trat dieſe praktiſche Zurück - führung aller, auch der verſchie - denartigſten, Rechte auf Geld - werth beſonders ſichtbar hervor. Gajus IV. § 48. Hegel Na - turrecht § 63 beſtimmt die Be - griffe von Werth und Geld im Ganzen richtig, und iſt nur darin einſeitig, daß er lediglich einen Eigenthums - oder Verkaufswerth anerkennt, alſo weder einen Ge - brauchswerth annimmt, noch ei - nen Sachwerth unter Voraus -. Das individuelle Vermö -377§. 56. Vermögensrecht.gen wird alſo dadurch in eine reine Quantität verwan - delt, daß alle Beſtandtheile deſſelben in das Eigenthum von Geldſummen aufgelöſt werden: ſo das Eigenthum je - der anderen Sache alle jura in re der bloße Ge - brauch einer Sache, natürlich mit beſonderer Rückſicht auf deſſen Dauer endlich auch Obligationen, alſo Forde - rungen und Schulden, mögen ſie nun auf das Verſchaffen dinglicher Rechte und ihres bloßen Genuſſes gerichtet ſeyn oder nicht (dare, facere). Dadurch wird es möglich, auch die reine faciendi obligatio auf wahres Eigenthum zurück - zuführen(l)Welche praktiſche Folgen an dieſe bloße Möglichkeit zu knüpfen ſind, bleibt hier noch ganz unentſchieden. Erſt im Obli - gationenrecht kann unterſucht wer - den, ob eine ſolche Verwandlung ſtets in der Wahl des Schuldners ſteht, oder ob ſie nur als Aus - hülfe gelten darf da wo der ur - ſprüngliche Gegenſtand der Obli - gation nicht mehr möglich iſt., ſo daß ſich nun das individuelle Vermögen ſtets als Eigenthum einer Geldſumme, oder als unbezahl - bare Geldſchuld, oder als völliges Nichts auffaſſen läßt. Zugleich aber erhält nunmehr einen beſtimmteren Sinn die im Anfang dieſes §. gemachte Bemerkung, daß nicht alle Handlungen zu Gegenſtänden von Obligationen gleich - mäßig geeignet ſind: es eignen ſich nämlich dazu nicht diejenigen Handlungen, für welche die Verwandlung in Geldſummen völlig undenkbar ſeyn würde; wenigſtens kön -(k)ſetzung eines unveräußerlichen Ei - genthums; gewiß alſo noch weit weniger einen Werth der Hand - lungen, insbeſondere der Arbeit, die er in jener Stelle nur nicht erwähnt. Allein durch dieſe unnö - thige Beſchränkung verliert jener Begriff den größten Theil ſeiner Brauchbarkeit.378Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.nen dieſe nur uneigentlich und in unvollkommner Weiſe als Obligationen angeſehen werden.

In dem Begriff des individuellen Vermögens iſt die Einheit, die wir ihm zuſchreiben, gegründet in der Perſon des Inhabers. Für beſtimmte Zwecke aber läßt ſich die - ſer einmal für ſich ausgebildete Begriff auch auf irgend eine andere, künſtlich angenommene Begränzung übertra - gen, wobey denn die Einheit eine willkührlich angenom - mene iſt. Dieſes kommt vor bey dem Peculium und der Dos, die allerdings für gewiſſe Zwecke als eigen begränz - tes Vermögen angeſehen werden(m)Zu dieſen zwey Fällen kommt noch ein viel wichtigerer hinzu, die Erbſchaft; davon aber kann erſt im folgenden §. gere - det werden.. Man bezeichnet häufig jeden Fall dieſer Art als Universitas juris. Der Name Universitas paßt darauf unſtreitig, denn dieſer bezeichnet überall ein jedes Ganze im Gegenſatz ſeiner Beſtandtheile gedacht(n)Dieſe Benennung wird an - gewendet ohne Unterſchied, ob es ein Ganzes von Perſonen iſt (z. B. eine Bürgergemeine), oder von Sachen (Heerde, Bibliothek), oder von Rechten (Peculium, Dos); ferner bey der Universitas von Sachen, ohne Unterſchied ob die Theile körperlich zuſammenhän - gen (Haus im Gegenſatz der Bal - ken und Steine) oder nicht (Heer - de): ohne Unterſchied ob der kör - perliche Zuſammenhang durch die Natur hervorgebracht iſt (Thier und Pflanze im Gegenſatz der ein - zelnen Theile) oder durch menſch - liche Willkühr (Haus).. Die Zuſammenſetzung beider Ausdrücke kommt in der Römiſchen Sprache nicht vor. Aber wichtiger und tadelnswerther iſt es, daß man ſich durch dieſen neu er - fundenen Kunſtausdruck hat verleiten laſſen, jenen Fällen eine gemeinſchaftliche Natur zuzuſchreiben, und darauf ei -379§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.nige willkührlich angenommene Rechtsregeln anzuwenden. Es hat aber vielmehr jeder dieſer Fälle ſeine ganz eigene Natur, und es iſt für jeden derſelben dieſe Natur und die dafür geltende Rechtsregel beſonders feſtzuſtellen(o)Dieſer Gegenſtand iſt auf gründliche und überzeugende Weiſe behandelt von Haſſe über Uni - versitas juris und rerum, Archiv B. 5. N. 1..

§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.

Es iſt oben (§ 53) bemerkt worden, daß in der Wirk - lichkeit die Verhältniſſe der Familie und des Vermögens einander vielfach berühren, und daß dieſe Berührung in jeder dieſer beiden Klaſſen eigenthümliche Entwicklungen erzeugt. So war im Familienrecht die Sklaverey lediglich entſtanden aus der Aufnahme eines Falles des gewöhnli - chen Eigenthums in die Familiengeſellſchaft: die potestas war alſo Folge des dominium, und theilte alle Schickſale deſſelben, wie ſich dieſes namentlich in der unbedingt mög - lichen Veräußerung und Vererbung der Sklaven zeigt. Pa - tronat und Mancipium hatten ſich wieder aus der Skla - verey herausgebildet: die Vormundſchaft hat ihren Zweck und ihre Bedeutung lediglich in dem Vermögen. Das Colonat ſchließt ſich ganz an ein obligatoriſches Verhält - niß an, welches den Inhalt deſſelben ausmacht, und deſ - ſen Schickſale es theilt, z. B. in dem Übergang auf die Erben des Herrn.

380Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Eben ſo finden ſich nun auch ähnliche Rückwirkungen der Familie auf das Vermögen. Die erſte und unmittel - barſte beſteht darin, daß eigenthümliche Vermögensinſti - tute an die einzelnen Familienverhältniſſe ſelbſt ſich anſetzen: dingliche Rechte nämlich und Obligationen, die in dieſer Geſtalt und mit dieſem Verlauf nur unter der Voraus - ſetzung beſtimmter Familienverhältniſſe möglich ſind. Wir nennen die Geſammtheit derſelben das angewandte Fa - milienrecht, und dieſes iſt gerade dasjenige, was der Familie vorzugsweiſe ihren eigentlich juriſtiſchen Character giebt (§ 54).

Außerdem iſt aber auch das Vermögensrecht in ſeinen eigenen Gränzen derjenigen weiteren Entwicklung empfäng - lich und bedürftig, die wir mit dem Namen des Erb - rechts bezeichnen; deſſen Bedeutung ſoll nunmehr darge - legt werden.

Urſprünglich betrachteten wir das Vermögen als eine Machterweiterung des einzelnen Menſchen, folglich als ein Attribut deſſelben in ſeiner abgeſchloſſenen Perſönlichkeit. Da nun dieſe von vergänglicher Natur iſt, ſo muß das Vermögen jedes Menſchen mit deſſen Tod ſeine rechtliche Bedeutung verlieren, das heißt in das Nichts zurück fal - len. Allein alles Recht überhaupt erhält ſeine Realität und Vollendung erſt im Staate, als poſitives Recht die - ſes Staates, und ſo konnte auch das Eigenthum zu einem wirklichen Daſeyn nur dadurch gelangen, das es zunächſt auf den Staat und vermittelſt der im poſitiven Recht des381§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.Staats ausgebildeten Regeln auf die einzelnen Rechtsge - noſſen im Staate, als Eigenthümer, bezogen wurde (§ 56). Wenden wir dieſe Auffaſſung auf den erwähnten Fall an, da ein Vermögen durch den Tod ſeines Inhabers auf - hört, als ein Attribut deſſelben zu beſtehen, ſo wird es nun nicht mehr in das Nichts zurückfallen, indem ſeine Beziehung auf jene entferntere Grundlage, wegen der un - vergänglichen Natur des Staates ſtets fortdauert. Wie nun oben für die rechtliche Ausbildung der Herrſchaft des Menſchen über die unfreye Natur verſchiedene mögliche Wege dargeſtellt wurden, ſo kann auch ein ſolches, durch den Tod zunächſt herrenlos gewordenes, Vermögen auf verſchiedene Weiſe behandelt werden, um dem geſammten Rechtsorganismus als Beſtandtheil ununterbrochen erhal - ten zu bleiben.

Die erſte mögliche Behandlung zu dieſem Zweck liegt darin, daß das Vermögen als Privatvermögen fortdauert, indem durch eine Art von Fiction der Verſtorbene als über ſeinen Tod hinaus fortwirkend angeſehen wird. Auch dieſes wieder kann auf zweyerley Art geſchehen: theils in - dem der im Leben ausgeſprochene Wille noch nach dem Tode das Schickſal des Vermögens beſtimmt (Teſtamente und Erbverträge); theils indem Diejenigen die Herrſchaft über das Vermögen fortſetzen, welche dem Verſtorbenen während ſeines Lebens in irgend einer Weiſe nahe ſtan - den (Inteſtaterbfolge): wobey denn vorzugsweiſe der Ge -382Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.danke an die durch die Blutsverwandtſchaft begründete Fortſetzung der Individualität (§ 53) von Einfluß iſt.

Nach einer zweyten möglichen Behandlung wird das, was bisher Privatvermögen war, bey dem Tod des In - habers in Staatsvermögen verwandelt. Dieſes findet ſich nicht ſelten in den Staaten des Orients. Aber auch im chriſtlichen Europa tritt häufig dieſes Verfahren ein, wie - wohl auf weit beſchränktere Weiſe; nämlich überall wo Erbſchaftsſteuern eingeführt ſind, deren eigentliches We - ſen in einer Theilung der Erbſchaft zwiſchen dem Staat und anderen Erben beſteht.

Uns geht hier nur die erſte mögliche Löſung der Auf - gabe an, nicht blos weil ſie im Römiſchen Recht aner - kannt iſt, ſondern auch weil ſie allein dem Privatrecht angehört, mit welchem wir uns ausſchließend zu beſchäf - tigen haben. Bey dieſer nun entſteht vor allem die wich - tige Frage, in welcher juriſtiſchen Form jener Übergang des erledigten Vermögens auf neue Privat-Inhaber be - wirkt werden ſoll. Die Verſchiedenheiten, welche in die - ſer Hinſicht wahrgenommen werden, hängen nicht etwa von verſchiedenen Principien ab, zwiſchen welchen zu wäh - len wäre, ſondern vielmehr von der mehr oder weniger gründlichen Auffaſſung und Löſung der Aufgabe ſelbſt. Es wäre denkbar, daß eine Geſetzgebung ſich auf Beſtimmun - gen beſchränkte, wodurch die einzelnen Beſtandtheile des Vermögens, inſoferne ſie Etwas werth ſind, auch wirklich an die Perſonen gebracht würden, welchen das erledigte383§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.Vermögen zufallen ſoll; dadurch wäre für den unmittel - bar praktiſchen Zweck nothdürftig geſorgt. Betrachtet man aber das eigentliche Weſen und Bedürfniß des hier vor - liegenden Rechtsverhältniſſes, ſo muß das Vermögen als Einheit behandelt werden, deren Grund in der gemein - ſamen Beziehung auf den verſtorbenen Inhaber zu ſuchen iſt; dieſe Behandlung aber führt nothwendig weiter zur Durchführung der Anſicht des Vermögens als einer rei - nen Quantität, mit Abſtraction von der verſchiedenen Be - ſchaffenheit ſeiner einzelnen Beſtandtheile (§ 56). In der Kunſtſprache wird dieſes ſo ausgedrückt: alle Erbfolge iſt zu behandeln als eine Successio per universitatem, neben welcher nur auf untergeordnete Weiſe, und als beſchrän - kende Ausnahme, eine beſondere Succeſſion in einzelne Vermögenstheile vorkommen kann(a)Ich gebrauche dieſe Aus - drücke hier nur vorläufig; die ge - nauere Feſtſtellung derſelben, ſo wie die der Succeſſion im Allge - meinen, wird in einem nachfol - genden Abſchnitt vorkommen.. Es gehört zu den merkwürdigſten Erſcheinungen in der Geſchichte des - miſchen Nechts, daß in demſelben dieſe Anſicht auf ſo klare und beſtimmte Weiſe anerkannt und durchgeführt worden iſt, und zwar lediglich durch ächt praktiſchen Takt, lange zuvor ehe an eine wiſſenſchaftliche Ausbildung die - ſes Rechtsinſtituts gedacht werden konnte(b)Ich bin weit entfernt zu behaupten, daß die Römer die - ſes Verhältniß ſchon frühe auf eine abſtracte Weiſe aufgefaßt und beſtimmt hätten. Es giebt aber eine rein praktiſche Veranlaſſung, auf dieſe Frage einzugehen, wo - bey es ſich dann zeigen muß, ob man ihren wahren Sinn erkannt hat oder nicht: dieſes ſind die Forderungen und Schulden in der Erbſchaft. Was nun darüber.

384Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Es geht hieraus eine zwiefache Betrachtung des ganzen Erbrechts hervor, deren jede gleich wahr und wichtig iſt. Es erſcheint daſſelbe nehmlich erſtlich als eine Erwerbungsart aller einzelnen zum Vermögen gehörenden Rechte, als ad - quisitio per universitatem(c)Bey Gajus, und daher auch in Juſtinians Inſtitutionen, iſt das ganze Erbrecht nur von die - ſem Geſichtspunkt aus in das Syſtem der Rechtsinſtitute einge - fügt worden. Die Einſeitigkeit dieſer Auffaſſung zeigt ſich nun unter andern auch darin, daß es als Erwerbungsgrund des Ei - genthums dargeſtellt iſt, da es doch in dieſer Hinſicht dem Ei - genthum nicht mehr und nicht weniger angehört, als den Obli - gationen.. Zweytens erſcheint der Gegenſtand deſſelben als ein eigenthümliches, für ſich be - ſtehendes Recht, als eine universitas(d)Die Erbſchaft wird daher von den Neueren eine universi - tas juris genannt, an welchen unächten Ausdruck ſich dann wei - ter manche die Sache betreffende nicht unwichtige Irrthümer an - ſchließen (§ 56)., und hierauf be - zieht ſich insbeſondere die eigenthümliche Art der Rechtsver - folgung, die dabey eintritt. Beide Auffaſſungen vereinigen ſich in der Anſicht, nach welcher die Erben mit dem Ver - ſtorbenen Eine Perſon ausmachen, alſo denſelben fort - ſetzen oder repräſentiren. Durch dieſe Anſicht wird alſo das urſprüngliche Verhältniß völlig umgekehrt. Denn an - ſtatt daß urſprünglich der Menſch als die Subſtanz ge - dacht werden muß, das Vermögen als Accidens, indem es die Freyheit des Menſchen nur modificirt durch Erwei -(b)ſchon die zwölf Tafeln beſtimmt haben, war ſo durchgreifend und befriedigend, daß die Rechtswiſ - ſenſchaft zur Zeit ihrer höchſten Ausbildung Nichts daran zu beſ - ſern vorfand. Die ganze Suc - cessio per universitatem war alſo ſchon damals in voller Be - ſtimmtheit gedacht. Vergl. L. 6 C. fam. herc. (3. 36.). L. 25 § 9. 13 eod. (10. 2.). L. 7 C. de her. act. (4. 16.). L. 26 C. de pactis (2. 3.).385§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.terung, ſo erſcheint uns nunmehr das Vermögen als das Bleibende und Weſentliche, zu welchem ſich die einzelnen Inhaber nur als vorübergehende, wechslende Beherrſcher verhalten.

Als Gegenſtand des Erbrechts wurde hier ſtets das Vermögen ausſchließend behandelt, worin die Behaup - tung liegt, daß die Familienverhältniſſe nicht zu den Ge - genſtänden deſſelben gehören. Eigenthum und Obligatio - nen alſo werden vererbt, Ehe, väterliche Gewalt und Verwandtſchaft werden nicht vererbt. Allein diejenigen künſtlichen Inſtitute des Familienrechts, die ſich ganz an ein zum Vermögen gehörendes Recht anſchließen, müſſen auch die Schickſale deſſelben theilen (§ 55). So wer - den die Sklaven, wie jedes andere Eigenthumsſtück, ver - erbt: eben ſo die Colonen mit dem Bauergute, mit wel - chem ſie unzertrennlich verbunden ſind.

In der Aufſtellung des Erbrechts liegt die Vollendung des Rechtsorganismus, welcher dadurch über die Lebens - gränze der Individuen hinaus erſtreckt wird. Vergleichen wir das Erbrecht mit demjenigen, was wir früher als Vermögensrecht kennen gelernt haben, ſo erſcheint es dem - ſelben nicht untergeordnet, ſondern coordinirt. Von dem nun gewonnenen höheren Standpunkt aus müſſen wir in dem geſammten Vermögensrecht zwey Haupttheile anneh - men: das gleichzeitige und das ſucceſſive Vermögensrecht. Das erſte enthält die Bedingungen, unter welchen jedes Individuum für irgend einen gegebenen Zeitpunkt Vermö -25386Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.gen für ſich begründen kann (Sachenrecht und Obligatio - nenrecht). Zwar kann auch hierin ein Wechſel durch Än - derungen in der Zeit eintreten, aber er iſt zufällig, und dem Weſen des Vermögens fremd. Bey dem zweyten dagegen erſcheint dieſer Wechſel als nothwendig herbeyge - führt durch das jedem Individuum vorbeſtimmte Lebens - ziel, ja er ſelbſt iſt die Grundlage und der eigentliche Inhalt des ganzen Rechtsverhältniſſes.

§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.

Die hier verſuchte Zuſammenſtellung der Rechtsinſti - tute iſt gegründet auf das innerſte Weſen derſelben, näm - lich auf ihren organiſchen Zuſammenhang mit dem We - ſen des Menſchen ſelbſt, welchem ſie inhäriren. Alle an - dere Eigenſchaften derſelben müſſen dagegen vergleichungs - weiſe als untergeordnet, und zur Grundlage des ganzen Rechtsſyſtems nicht geeignet erſcheinen. Dahin gehören insbeſondere folgende Beziehungen. Erſtlich das Object der Rechtsverhältniſſe, oder dasjenige was durch ſie un - ſrem Willen eigentlich unterworfen wird(a)So wird der Begriff des Rechtsobjects richtig beſtimmt von Puchta, Rhein. Muſeum B. 3 S. 298.. Dieſe Be - ziehung hat nur Realität unter Vorausſetzung der Herr - ſchaft als Grundcharacters der Rechtsverhältniſſe, wobey man allerdings zunächſt zu fragen hat, was von uns beherrſcht werden ſoll. Sie eignet ſich alſo zu einer Un -387§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.terabtheilung des Vermögensrechts (§ 56), aber nicht zu einer höchſten Eintheilung überhaupt, da ſie auf die Fa - milie nicht paßt (§ 54). Zweytens gehört dahin die Beſchaffenheit der dem Berechtigten gegenüber ſtehenden Perſon, je nachdem nämlich unſer Recht gegen alle Men - ſchen überhaupt gerichtet iſt, oder nur gegen beſtimmte Individuen. Von dieſem Standpunkt aus würden die Rechtsinſtitute ſcheinbar alſo anzuordnen ſeyn:

1) Gegen Alle: die dinglichen Rechte und das Erb - recht.

2) Gegen beſtimmte Individuen: die Familienverhält - niſſe und die Obligationen.

Hieraus entſteht eine ſcheinbare Verwandtſchaft der Familie mit den Obligationen, wodurch ſich Manche ha - ben täuſchen laſſen. Die Unwahrheit derſelben beruht darauf, daß dasjenige, was zwiſchen den beiden Indivi - duen vorgeht, in beiden Fällen etwas völlig Ungleicharti - ges iſt. Denn bey den Obligationen iſt es partielle Un - terwerfung des Einen unter des Andern Willen: bey der Familie iſt es ein natürlich-ſittliches, daneben auch recht - liches, Lebensverhältniß, welches durch Beider Verbindung fortwährend hervorgebracht werden ſoll, und wobey eine ſolche Unterwerfung gar nicht Inhalt des Rechtsver - hältniſſes iſt, welches vielmehr nur in dem allgemei - nen, gegen Alle gerichteten Anſpruch auf Anerkennung des Daſeyns dieſes Familienbandes beſteht (§ 54). Es iſt alſo eine blos äußerliche und zufällige Verwandtſchaft,25*388Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.wodurch man ſich in dieſem Fall täuſchen läßt, nicht wahre Gleichartigkeit(b)Nur durch Misverſtändniß könnte dieſes ſo gedeutet werden, als würde hier der Familie ein ſchwächeres Band zwiſchen Indi - viduen zugeſchrieben in Verglei - chung mit den Obligationen. Ge - rade umgekehrt afficirt die Fa - milie den ganzen Menſchen in ſeinem innerſten Weſen: die Obli - gation geht nur auf des Schuld - ners äußere, als von ihm ablös - bar zu denkende Handlung (§ 56). Das Band iſt alſo bey der Fa - milie gewiß kein ſchwächeres, wohl aber ein anderes: die Herrſchaft und Unfreyheit, worin das We - ſen der Obligation beſteht, iſt für das Gebiet, worin die Familie ihr wahres Weſen hat, viel zu ma - teriell..

Die einzelnen Rechtsinſtitute ſelbſt ſind bis hierher in folgender Ordnung aufgezählt worden, wobey nur gegen - wärtig diejenigen weggelaſſen werden ſollen, welche für das heutige Römiſche Recht keine Bedeutung mehr haben:

    • Ehe.
    • Väterliche Gewalt.
    • Verwandtſchaft.
    • Vormundſchaft.
    Reines Familienrecht.
  • Schenrecht, oder Eigenthum und Jura in re.
  • Obligationen.
  • Angewandtes Familienrecht.
  • Erbrecht.

Es fragt ſich aber, ob es möglich und zweckmäßig iſt, dieſelben auch in dieſer Ordnung darzuſtellen, ob alſo die natürliche Reihe, worin uns die Begriffe dieſer Inſtitute vor Augen treten, zugleich auch als die zweckmaͤßige Lehr - folge anzuſehen iſt. Dagegen ſcheint beſonders folgende Einwendung erheblich. Es iſt zwar an ſich möglich, das389§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.angewandte Familienrecht von dem reinen zu trennen, und als einen eigenen Abſchnitt des ganzen Vermögensrechts abzuhandeln: allein die lebendige Anſchauung der Familien - verhältniſſe muß nothwendig dabey gewinnen, wenn mit der Familie an ſich, auch die Einflüſſe derſelben auf das Vermögen in unmittelbare Verbindung gebracht werden. Soll nun dieſes geſchehen, ſo iſt es durchaus nöthig, das ganze Familienrecht hinter das Vermögensrecht zu ſtellen, weil der Einfluß der Familie auf das Vermögen nicht ver - ſtanden werden kann, wenn nicht eine zuſammenhängende Darſtellung des Sachenrechts und der Obligationen vor - hergegangen iſt. Das Erbrecht endlich würde völlig un - verſtändlich bleiben müſſen, wenn nicht eine vorangehende genaue Darſtellung der Familie den Grund dazu gelegt hätte. Aus dieſen Betrachtungen ergiebt ſich folgende An - ordnung der Rechtsinſtitute, die ich als die einfachſte und zweckmäßigſte meiner Darſtellung zum Grund legen werde:

  • Sachenrecht.
  • Obligationen.
  • Familienrecht (reines und angewandtes).
  • Erbrecht.

Nach dieſer Darlegung des Inhalts unſers Rechtsſy - ſtems könnte man erwarten, daß nun ſogleich die Dar - ſtellung des Sachenrechts beginnen werde. Wir befinden uns dagegen jetzt noch inmitten eines allgemeinen Theils von nicht unbeträchtlichem Umfang. Ein ſolcher iſt nun auch ſchon von anderen Schriftſtellern aufgeſtellt worden, und390Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.hat nicht ſelten dazu dienen müſſen, Rechtsinſtitute unter - zubringen, wofür in dem Syſtem ſelbſt kein bequemer Platz aufzufinden ſchien; dieſe Behandlung deſſelben als einer bloßen Nothhülfe iſt denn von anderen Seiten wie - der vielfältig getadelt worden. Es fragt ſich aber, ob nicht ein Grund innerer Nothwendigkeit für ein ſolches Verfahren aufzufinden iſt, woraus ſich dann zugleich die rechten Gränzen deſſelben ergeben würden.

Wenn wir es verſuchen, die einzelnen Rechtsinſtitute in dem lebendigen Zuſammenhang ihrer Theile, alſo voll - ſtändig darzuſtellen, ſo kommen wir dabey nothwendig auf manche Seiten ihres Weſens, die bey jedem anderen In - ſtitut gleichfalls erſcheinen, wenngleich vielleicht mit eini - gen Modificationen. Dahin gehört hauptſächlich die Na - tur der Rechtsſubjecte, und insbeſondere ihrer Rechtsfä - higkeit: ferner die Entſtehung und der Untergang der Rechts - verhältniſſe: endlich der Schutz der Rechte gegen Verletzung, und die daraus hervorgehenden Modificationen der Rechte ſelbſt. Es giebt in der That kein Rechtsinſtitut, in welchem nicht die Erörterung dieſer Fragen nöthig und wichtig wäre. Wir könnten nun ſolche Stücke bey jedem Inſtitut wieder ganz und von Neuem abhandeln, aber eine Wiederholung dieſer Art würde weder für den Schriftſteller noch für den Leſer erträglich ſeyn. Wir könnten ſie ganz und voll - ſtändig bey dem erſten vorkommenden Rechtsinſtitut (alſo nach unſrer Anordnung bey dem Eigenthum) abhandeln, und bey den nachfolgenden darauf verweiſen: allein auch391§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.dieſes Verfahren würde ſogleich als willkührlich und un - verhältnißmäßig ſich darſtellen. Dazu kommt aber noch die wichtigere Rückſicht, daß das wahrhaft Gemeinſame in ſolchen Theilen der Rechtsinſtitute gerade durch die Zu - ſammenſtellung gründlicher erkannt werden kann. Und ſo erſcheint es denn von allen Seiten gerathen, dieſes wirk - lich Gemeinſame auszuziehen und dem Syſtem der beſon - deren Rechtsinſtitute voran zu ſtellen, um dann bey je - dem einzelnen die Modificationen, die für daſſelbe gelten, an jene gemeinſame Grundlage anknüpfen zu können.

Allerdings kann die Aufſtellung eines ſolchen allgemei - nen Theils dadurch der richtigen Einſicht nachtheilig wer - den, daß auf dieſe Weiſe leicht als allgemein dargeſtellt wird, was in der That nur in einer concreten Beziehung Anwendung findet. So z. B. wenn in den allgemeinen Theil die Lehre von den Zinſen oder von der Correal - ſchuld aufgenommen wird, welche beide doch nur für die Obligationen gelten können. Noch häufiger, als eine ſolche unrichtige Stellung ganzer Rechtsinſtitute, wird die unge - hörig allgemeine Behandlung mancher beſonderen Begriffe oder Rechtsſätze vorkommen, und dieſe wird, weil ſie un - ſcheinbarer iſt, ſogar noch leichter zu irrigen Anſichten ver - leiten können. Hierin iſt alſo große Sorgfalt anzuwen - den, damit nicht das Beſondere ſchon durch die falſche Stellung einen täuſchenden Schein von Allgemeinheit er - halte, wodurch die richtige Gränze zwiſchen dem wahr - haft Allgemeinen und dem Beſonderen überſchritten wer -392Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.den würde. Ohnehin war für unſre Wiſſenſchaft von jeher eine der ergiebigſten Quellen falſcher Anſichten in einem grundloſen Beſtreben nach Abſtractionen zu finden: dieſes Beſtreben aber kann durch die willkührliche und un - kritiſche Aufſtellung eines allgemeinen Theiles ganz beſon - ders befördert werden. So wenig aber dieſe Gefahr ver - kannt, und die Warnung gegen eine übertriebene Ausdeh - nung des allgemeinen Theils verſäumt werden ſoll, ſo kann doch auch umgekehrt die Wahrheit dadurch gefähr - det werden, daß ein Begriff oder ein Rechtsſatz nicht in der ihm wirklich zukommenden Allgemeinheit aufgefaßt wird. Und ſo iſt alſo hier, wie überall, der Takt, wel - cher das rechte Maaß zu halten weiß, der einzige Schutz wider entgegengeſetzte Verirrungen.

Vielleicht wäre über dieſen Punkt von jeher weniger Zweifel und Streit entſtanden, wenn man ſtets die ver - ſchiedenen Zwecke und Formen der Mittheilung nach ihrer Eigenthümlichkeit in’s Auge gefaßt hätte. In einer Vor - leſung über Inſtitutionen iſt es gewiß räthlich, ſo ſchnell als möglich auf das Beſondere einzugehen, damit vor Allem der Zuhörer in den Beſitz concreter Anſchauungen von Rechtsinſtituten geſetzt werde. In den Vorleſungen über Pandekten läßt ſich ſchon mehr Allgemeines mitthei - len, ohne Gefahr, daß dieſes für den Zuhörer geſtaltlos und ohne Anſchaulichkeit bleibe. Aber noch weiter darf der Schriftſteller gehen, da dieſer gewiß auf eine große Mehrzahl von Leſern rechnen kann, die in der Mitthei -393§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.lung nur eine neue Zuſammenſtellung und Verarbeitung, oder aber eine kritiſche Prüfung und Berichtigung, der in ihnen bereits vorhandenen concreten Kenntniſſe finden werden.

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

Es iſt nicht meine Abſicht, die vielfachen Arten, wie Andere den inneren Zuſammenhang der Rechtsinſtitute ge - dacht, und darnach auch ihre Darſtellung derſelben ange - ordnet haben, einzeln durchzugehen. Manches, das zu ihrer Beurtheilung dienen kann, iſt ſchon in der Darle - gung meines eigenen Planes enthalten. Ein Misverſtänd - niß von allgemeinerer Natur muß jedoch hier noch erwähnt werden. Soll uns eine vollſtändige Einſicht in das We - ſen der Rechtsverhältniſſe entſtehen, wie ſie in das wirk - liche Leben eingreifen, ſo iſt es nicht genug, ihren Inhalt zu kennen, alſo die Wirkſamkeit, die ihnen in der gegen - wärtigen Zeit zuzuſchreiben iſt, ſondern es muß uns zu - gleich ihr eigener Lebensprozeß klar werden, alſo neben der ſtabilen Seite ihrer Natur auch die bewegliche Seite derſelben. Dazu gehört ihre Entſtehung und Auflöſung, ihre Entwicklung und ihr möglicher Übergang in neue Ge - ſtalten (Metamorphoſe), vorzüglich auch ihre Verfolgung wenn ſie verletzt werden. Man hat nun zuweilen dieſe einzelnen Momente in dem organiſchen Leben der Rechts -394Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.verhältniſſe als eigene, neue Rechte aufgefaßt, ſie mit den urſprünglichen Rechtsverhältniſſen auf Eine Linie geſtellt, und nun die Stelle aufgeſucht, die ihnen im Syſtem aller Rechte anzuweiſen wäre(a)So war die Rede von dem Recht des Menſchen, ſeinen Wil - len zu erklären, eine Ehe oder einen obligatoriſchen Vertrag zu ſchließen, Eigenthum zu erwer - ben, eine Klage anzuſtellen, Re - ſtitution zu begehren u. ſ. w.. Ein ſolches Verfahren konnte nur zur Verwirrung der Begriffe führen.

Wenngleich nun die Prüfung der einzelnen Verſuche zur ſyſtematiſchen Anordnung der Rechtsverhältniſſe hier im Allgemeinen abgelehnt wird, ſo muß dieſes doch eine Ausnahme leiden bey derjenigen Anordnung, die wir in Juſtinians Inſtitutionen finden. Denn dieſe iſt ſeit Jahr - hunderten von ſo vielen Lehrern und Schriftſtellern (we - nigſtens der Abſicht und dem Namen nach) befolgt wor - den, daß ſie das hiſtoriſche Gewicht einer großen Autori - tät mit ſich führt, und daß es nöthig iſt, die Verſchieden - heit der von mir vorgezogenen Anordnung zu rechtferti - gen, wenigſtens zu erklären(b)Mit beſonderer Vorliebe und Gründlichkeit hat dieſen Ge - genſtand Hugo in folgenden Schriften behandelt: Civ. Maga - zin B. 4. Num. I. und IX. (1812). B. 5. Num. XV. (1825). B. 6. Num. XV. (1832). Encyclopädie 8te Ausg. S. 60 65 (1835). Außer ihm iſt von neueren Schrift - ſtellern beſonders zu bemerken Düroi Archiv für cipiliſt. Praxis B. 6. S. 432 440.. Was wir bis auf die neueſte Zeit als die Juſtinianiſche Anordnung kannten, das kennen wir jetzt genauer als die des Gajus, welche Ju - ſtinian durchaus beybehalten hat, ſoweit nicht eine Abän - derung durch die in dem Rechte ſelbſt eingetretenen Ände -395§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.rungen augenſcheinlich herbeygeführt werden mußte. Dieſe Ordnung des Gajus nun haben wir nach zwey Geſichts - punkten zu prüfen: nach ihrer Entſtehung und Verbrei - tung, und nach dem innern Werthe.

Was den erſten Geſichtspunkt (den hiſtoriſchen) betrifft, ſo hat man nicht ſelten angenommen oder ſtillſchweigend vorausgeſetzt, die Eintheilung in persona, res, actio, als die drey Gegenſtände der Rechtsregeln(c)So iſt dieſe Eintheilung zu verſtehen, indem Gajus I. § 8 ſagt: Omne jus quo utimur vel ad personas pertinet, vel ad res, vel ad actiones, gerade ſo wie er § 1 geſagt hatte: Popu - lus itaque Romanus partim suo proprio, partim communi om - nium hominum jure utitur. Persona, res, actio ſind ihm alſo Gegenſtände der Rechtsregeln, nicht der Befugniſſe, oder (nach einem bekannten Sprachgebrauch) es iſt ihm eine Eintheilung des objectiven Rechts, nicht des ſub - jectiven., ſey eine uralte und allgemein Roͤmiſche, indem ſie in allen oder den mei - ſten Syſtemen Roͤmiſcher Juriſten wirklich befolgt worden ſey(d)Hugo nahm früher eine ſolche Allgemeinheit für die den Namen Institutiones führenden Werke Römiſcher Juriſten an, ſpä - ter erklärte er ſie für zweifelhaft. Civ. Magazin B. 5 S. 403. 404, B. 6 S. 286. 287. 337.. In der That kommen ſolche typiſche Gegenſätze im Roͤmiſchen Recht vor, deren altes und feſt begründe - tes Daſeyn aus dem überall wiederkehrenden, ſtets gleich - foͤrmigen Sprachgebrauch unzweifelhaft wird. Dahin ge - hoͤrt das vi, clam, precario, die drey Arten der Abhän - gigkeit nach potestas, manus, mancipium, die drey capitis deminutiones, die drey Stände der cives, latini, peregrini. Daß ſolche Gegenſätze eine tiefe Wurzel in den Rechtsan - ſichten ſelbſt hatten, und daß ſie wiederum auf die Be -396Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.handlung der Theorie einwirkten, iſt nicht zu bezweifeln. Ein ähnlich altes und verbreitetes Daſeyn ließe ſich aller - dings auch bey der Eintheilung nach persona, res, actio denken, und dann wäre ihre Wichtigkeit im Zuſammen - hang mit dem Inhalt des Roͤmiſchen Rechts nicht zu be - zweifeln; es fragt ſich nur, ob dieſes denkbare auch wahr iſt. Zu dieſer Annahme aber haben wir nicht den gering - ſten hiſtoriſchen Grund, ja ſie wird vielmehr dadurch ſehr unwahrſcheinlich, daß derſelbe Gajus ein verwandtes Werk (die res quotidianae) nach einem andern Plane geſchrie - ben hat, und daß die Inſtitutionen des Florentinus, in welchen man nach dem gleichen Titel dieſelbe Ordnung mit den Inſtitutionen des Gajus erwarten möchte, den - noch eine andere Ordnung befolgen(e)Göſchen in der Zeitſchrift für geſchichtliche Rechtswiſſenſchaft B. 1. S. 74 76.. Wir haben alſo keinen Grund, jener Eintheilung irgend eine allgemeine Verbreitung zuzuſchreiben, vielmehr iſt es eben ſo möglich, daß ſie blos auf einer individuellen, zufälligen Anſicht des Gajus beruhte, der eben damals gerade ſo anzuordnen für gut fand, und damit verſchwindet voͤllig das hiſtori - ſche Gewicht, welches man darauf zu legen verſucht hat(f)Hugo civil. Magaz. B. 5 S. 417. B. 6 S. 284 hat noch ei - nen andern Weg eingeſchlagen, jener Eintheilung einen tiefen hi - ſtoriſchen Grund zu vindiciren. Sie ſoll nämlich gar nicht in der Rechtswiſſenſchaft entſtanden ſeyn, ſondern auf einer allgemeinen Le - bensanſicht beruhen, die ſich die alten Juriſten nur aneigneten, nachdem ſie dieſelbe bey irgend einem nichtjuriſtiſchen Schrift - ſteller gefunden hatten. Wäre dieſe Annahme auch mehr als bloße Hypotheſe, ſo würde ſie doch eher gegen als für den all - gemeinen Gebrauch bey den -.

397§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

Es bleibt nun noch übrig, jene Eintheilung nach dem zweyten Geſichtspunkt, alſo nach ihrem innern Werthe, zu prüfen. Dazu aber iſt vor Allem eine genaue Feſt - ſtellung ihrer wahren Bedeutung noͤthig, worüber die neue - ren Schriftſteller, mehr als man glauben ſollte, ſehr ver - ſchiedene Meynungen haben.

Was iſt zuvörderſt der Inhalt des erſten Theils de personis? Viele haben dieſen Theil von jeher ſo aufge - faßt, als enthalte er die Lehre vom status, d. h. (wie ſie dieſen Ausdruck verſtanden) von den wichtigſten Zuſtän - den oder Eigenſchaften der Perſonen als Rechtsſubjecte, alſo überhaupt die Lehre von den Rechtsſubjecten. Man unterſchied nun weiter natürliche und civile Zuſtände, und zählte unter jene das Alter, die Geſundheit u. ſ. w., un - ter dieſe hauptſächlich die Bedingungen der Rechtsfähig - keit, Freyheit, Civität, Unabhängigkeit, die auch wohl als status principales beſonders ausgezeichnet wurden. Daß nun die status in dieſem Sinn im erſten Buch der Inſti - tutionen von Juſtinian und Gajus großentheils nicht vor - kommen, ergiebt der Augenſchein, man mußte ſich daher mit der Vorausſetzung beruhigen, daß man hierin Juſti - nians unvollſtändige Darſtellung verbeſſert habe, wodurch aber die ganze Annahme dieſes Geſichtspunktes für jenes(f)miſchen Juriſten beweiſen. Denn der Gebrauch einer Form von ſo zufälliger, dem Recht fremdarti - ger Entſtehung ließe ſich etwa als Einfall eines einzelnen Schrift - ſtellers denken, aber es iſt nicht glaublich, daß dieſer Einfall hätte zu allgemeiner Anerkennung kom - men ſollen.398Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.erſte Buch ſehr zweifelhaft wird. Mehr Conſequenz und ein ſchärfer beſtimmter Begriff findet ſich in Hugo’s Be - hauptung, der erſte Theil (de personis) ſey nichts An - deres, als die Lehre von der Rechtsfähigkeit, oder von den drey Eigenſchaften, die der dreyfachen Capitis deminutio entſprechen(g)Civil. Magazin B. 4 S. 20. 21. 235 237. Andere ſuchen zu vermitteln, indem ſie ſagen, das Perſonenrecht ſey die Lehre von dem Status und den Fami - lienverhältniſſen; ſie nehmen alſo einen zweyfachen, durch keinen ge - meinſamen Begriff verbundenen Inhalt an, welche Annahme ſchon an ſich ſehr bedenklich iſt. So Mühlenbruch I. § 78. Düroi Archiv B. 6 S. 437 ſagt, status oder conditio bezeichne gewiſſe wichtige Unterſchiede ohne gemein - ſchaftliche innere Merkmale; mit der Annahme einer ſo gedanken - loſen Willkührlichkeit wird den Römiſchen Juriſten ſchlechte Ehre erwieſen. Daneben behauptet er, es gehöre dahin der Unterſchied der cives, latini, peregrini, der doch als ſolcher im erſten Buch des Gajus und der Inſtitutionen gar nicht vorkommt.. Es widerſpricht aber dieſer An - nahme der wirkliche Inhalt des erſten Buchs von Gajus und Juſtinian. Denn die in der dritten divisio enthal - tene Lehre von der Vormundſchaft hat mit der Rechtsfä - higkeit gar Nichts zu ſchaffen, da ſie weder auf einen Mangel derſelben, noch auf einen Erſatz für dieſen Man - gel ſich bezieht(h)Die Vormundſchaft iſt le - diglich ein Erſatz für die fehlende Handlungsfähigkeit. Das giebt auch Hugo ſelbſt zu, Rechtsge - ſchichte S. 120 der 11ten Ausg.. Dagegen fehlt auf der anderen Seite einer der drey Hauptunterſchiede für die Rechtsfähigkeit, der Unterſchied der Cives, latini, peregrini(i)Über dieſen wichtigen Punkt täuſcht man ſich gewöhnlich durch den Umſtand, daß Gajus gele - gentlich, aus Veranlaſſung an - derer Rechtsinſtitute, dieſe Ein - theilung der Perſonen erwähnt: namentlich bey dem connubium (1 § 56), der causae probatio (1 § 66 fg. ), dem Soldatenteſta - ment (2 § 110), und am ausführ - lichſten bey den drey Klaſſen der. Da nun399§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.alſo das erſte Buch der Inſtitutionen weſentlich Mehr und weſentlich Weniger enthält, als es nach dem von Hugo angenommenen Inhalt deſſelben enthalten müßte, ſo ſcheint mir dadurch dieſe Annahme ſelbſt voͤllig widerlegt. Be - trachten wir aber genauer dasjenige, was in der That im erſten Buch der Inſtitutionen vorgefunden wird, ſo iſt es faſt ganz daſſelbe, was ich oben als Familienrecht bezeichnet habe. Es handelt nämlich in der That von Ehe, väter - licher Gewalt, Manus, Sklaverey, Patronat (nämlich von den Freygelaſſenen nach ihren verſchiedenen Klaſſen), Mancipium, Vormundſchaft(k)Daß Juſtinian von dieſen Rechtsinſtituten die außer Ge - brauch gekommenen weggelaſſen hat, iſt gewiß kein Gegengrund; zugeſetzt hat er keine.. Dagegen kommen nicht vor die Cives, latini, peregrini, ſo wichtig dieſe auch für die Rechtsfähigkeit ſind: denn dieſe gehoͤren an ſich in das oͤffentliche Recht, obgleich eine Einwirkung derſelben auf das Privatrecht (durch die Rechtsfähigkeit) unverkennbar iſt. Nur die Verwandtſchaft, die ich als Zweig der Fa -(i)Freygelaſſenen, alſo bey dem Pa - tronat, womit bey jeder dieſer drey Klaſſen verſchiedene Rechte verbunden ſind (1 § 12 fg.). Die - ſes letzte kann leicht für eine ab - ſichtliche Darſtellung der erwähn - ten Eintheilung angeſehen wer - den, allein es iſt doch auf jeden Fall nur eine ganz einzelne An - wendung jenes ſo allgemeinen Un - terſchieds. Wollte man ſagen, es ſey zur Zeit des Gajus die wich - tigſte Anwendung geweſen, ſo wäre das offenbar falſch. Denn die vielen Millionen freygeborner Peregrinen in den Provinzen wa - ren doch gewiß wichtiger als die dediticii, und auch an freyge - bornen Latinen in ſehr großer Anzahl konnte es nicht fehlen, da die Latinität, welche Veſpaſtan an ganz Spanien gab (Plinius hist. nat. III. 4.), ſo viel wir wiſſen, erſt in der allgemeinen Civität von Caracalla unterge - gangen iſt.400Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.milie darſtellte, hat hier keine Stelle gefunden; allein dieſe Differenz iſt wohl zu gering, als daß ſie die Identität des Hauptgeſichtspunktes zweifelhaft machen koͤnnte: auch muß es jedem Rigoriſten überlaſſen bleiben, die Verwandt - ſchaft aus der Darſtellung des Roͤmiſchen Familienrechts wegzulaſſen, wodurch dann die Übereinſtimmung zwiſchen dem Inhalt des Familienrechts und dem des erſten Buchs der Inſtitutionen vollſtändig werden würde(l)Wenn übrigens die neue - ren Schriftſteller, nach dem un - läugbaren Vorgang von Gajus und Juſtinian, der Verwandt - ſchaft keine eigene Stelle unter den Inſtituten der Familie an - weiſen, ſo iſt dieſes ganz incon - ſequent, da ſie doch der Agnaten - familie in der Lehre von der ca - pitis deminutio eine ganz beſon - dere Wichtigkeit beylegen, wovon weiter unten die Rede ſeyn wird.. Daß Ga - jus in der inneren Anordnung jener Rechtsinſtitute ab - weicht, und daß er den Begriff des Familienrechts nicht mit Namen nennt, wozu ihm ohnehin kein Kunſtausdruck zu Gebote ſtand, wird wohl Niemand als Widerlegung meiner Behauptung anſehen. Einige Hindeutung finde ich jedoch in den hier vorkommenden Ausdrücken. Status und conditio hominum hat nämlich nicht die ganz unbeſtimmte Bedeutung eines Zuſtandes oder einer Eigenſchaft über - haupt, ſondern es bezeichnet ganz beſonders die Stellung, die der einzelne Menſch in den verſchiedenen Familien - verhaͤltniſſen, als Ehegatte, Vater, Vormund u. ſ. w., einnimmt (§ 54 Note e). Auch jus personarum hat, wie ich glaube, voͤllig dieſelbe Bedeutung, da es mit jenen Ausdrücken abwechslend gebraucht wird. Es bezeichnet alſo nicht einen Theil der Rechtstheorie, wie jus publicum401§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.und privatum, ſondern vielmehr die Stellung des Einzel - nen in den zur Familie gehörenden Rechtsverhältniſſen; oder, nach dem Sprachgebrauch mancher Neueren, es be - zieht ſich nicht auf das objective, ſondern auf das ſub - jective Recht (vgl. Beylage VI.).

Noch weit beſtrittener aber iſt der Inhalt des zweyten und dritten Theils, de rebus und de actionibus(m)Die Neueren bezeichnen dieſe zwey Theile größtentheils als Jus rerum und Jus actio - num, nach der Analogie von Jus personarum. Daß nun jene zwey Zuſammenſetzungen bey den al - ten Juriſten nicht gefunden wer - den, könnte an ſich als zufällig und gleichgültig angeſehen wer - den. Allein es entſcheidet gegen jenen Sprachgebrauch der Um - ſtand, daß die erwähnte Analo - gie nur einen täuſchenden Schein hat, indem der Ausdruck Jus personarum nicht einen Theil des Syſtems, ſondern ein beſonderes Rechtsverhältniß der Perſonen be - zeichnet, von einem ähnlichen Ver - hältniß aber unter mehreren res oder mehreren actiones gewiß nicht die Rede ſeyn kann.. Hier liegt der Grund des Zweifels darin, daß der Ab - ſchnitt von den Obligationen nach Einigen den Anfang des dritten Theils bildet, als Einleitung zu den Actionen, weil dieſe aus den Obligationen entſpringen: nach Ande - ren das Ende des zweyten Theils, weil die Obligationen unter die res gehören, als res incorporales(n)Wenigſtens iſt dieſe Geſtalt der zweyten Meynung gewiß dem Sinn des Römiſchen Rechts an - gemeſſener, als wenn man (ſo wie der Code civil) die Obliga - tionen dem Eigenthum deswegen zuordnet, weil ſie oft zur Erwer - bung des Eigenthums Veranlaſ - ſung geben.. Für die erſte dieſer Meynungen hat man beſonders das Zeug - niß des Theophilus geltend gemacht(o)Hugo civ. Magazin B. 4 S. 17. B. 5 S. 399, welcher über -, der in der That26402Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.dieſen Zuſammenhang angiebt. Allein dieſes Zeugniß würde zwar ſehr wichtig ſeyn, als von einem Mitarbei - ter an Juſtinians Inſtitutionen herrührend, wenn die Ein - theilung in dieſen Inſtitutionen zuerſt entſtanden wäre: da ſie aber, wie wir jetzt wiſſen, ſchon von Gajus ange - wendet, und von Juſtinian nur beybehalten worden iſt, ſo hat jenes Zeugniß wenig hiſtoriſches Gewicht, ſo lange man nicht ohne den geringſten Beweis annehmen will, Theophilus habe über die Abſicht des Gajus, die Obli - gationen zum dritten Theil (de actionibus) zu rechnen, bey einem älteren Schriftſteller eine Nachricht gefunden(p)Hugo civ. Magazin B. 5 S. 404. B. 6 S. 337. Er giebt jedoch zu, Theophilus könne wohl die ältere Nachricht, wenigſtens was den Grund der Verbin - dung der Obligationen mit dem dritten Theil betreffe, misverſtan - den und entſtellt haben, auch ſey man wohl bey der Abfaſſung der Ju - ſtinianiſchen Inſtitutionen ſchwan - kend über die Sache geweſen. (En - cyclopädie S. 63).. Giebt man aber das Zeugniß des Theophilus als nicht entſcheidend auf, und ſucht die Streitfrage lediglich aus inneren Gründen zu entſcheiden, ſo ſteht die Sache ſo. Die Vertheidiger der erſten Meynung ſind dann genöthigt, die Gegenſtände der drey Theile alſo anzugeben: Perſo - nen, Sachen und Handlungen oder Forderungen(q)Hugo civil. Magaz. B. 4 S. 49. B. 5 S. 417. Encyclopä - die S. 60. 61.. Dann wäre der eigentliche Inhalt des dritten Theils das Obli -(o)haupt dieſe ganze Frage in den oben (Note b) angeführten Stel - len mit ungemeiner Vollſtändig - keit behandelt, auch ſehr ſchätz - bare literariſche Nachweiſungen dazu gegeben hat.403§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.gationenrecht, zu welchem ſich die actiones blos als An - hang oder Zugabe verhielten: dieſes aber paßt weder zu dem Inhalt und Umfang des mit den actiones anfangen - den großen Abſchnitts, noch zu der urſprünglichen An - gabe des Gajus ſelbſt, worin die actiones, nicht die obli - gationes, als Gegenſtand des dritten Theils angegeben werden, wie es in der That auch Theophilus verſteht, der den Obligationen nur die Stellung einer Vorbereitung zu den Actionen anweiſt. Ich halte daher für wahrſchein - licher die zweyte Meynung, nach welcher der zweyte Theil (de rebus) genau dasjenige enthält, was ich oben als Vermögensrecht bezeichnet habe (Sachenrecht und Obliga - tionenrecht), der dritte Theil aber die gemeinſchaftliche Lehre von der Verfolgung der Rechte. Dieſen drey Thei - len des Syſtems hätten bey Gajus auch drey Bücher des Werks entſprechen können: da aber der zweyte Theil un - gefähr ſo viel Umfang hatte, als die zwey anderen Theile zuſammen, ſo zog er es vor, dem Werk vier Bücher zu geben, und zwey derſelben dem zweyten Theile anzuwei - ſen. Übrigens iſt der hier erwähnte Streit über die wahre Stellung der Obligationen, für die Anordnung des Rechtsſyſtems im Ganzen von geringerer Erheblichkeit, als man gewöhnlich annimmt. Denn daß Gajus das ganze Vermögensrecht in Einer ununterbrochenen Folge abhan - delt, iſt unbeſtritten: eben ſo, daß der dritte Theil die Rechtsverfolgung und Vieles aus dem Prozeßrecht enthält. 26*404Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.Der Streit beſchränkt ſich auf die Frage, ob der zweyte Theil (de rebus) das ganze Vermögensrecht umfaßt, ſo daß die Obligationen das letzte Kapitel deſſelben ausma - chen, oder ob dieſe als ein einleitendes Kapitel dem drit - ten Theil (de actionibus) voran geſtellt ſind.

Prüfen wir nun den inneren Werth der ſo beſtimm - ten Eintheilung, ſo müſſen wir ſie, ihrem Hauptplane nach, dem Gegenſtand angemeſſen, in der genaueren Aus - führung aber unbefriedigend finden. Sie giebt mehreren der wichtigſten Rechtsinſtitute eine viel zu untergeordnete Stellung; ſo der Ehe, welche nur als Entſtehungsgrund der väterlichen Gewalt vorkommt, als ob ſie nicht auch für ſich ſelbſt den gerechteſten Anſpruch auf Anerkennung hätte: ſo das Erbrecht, welches wörtlich nur als Erwer - bungsgrund des Eigenthums erwähnt wird, da es doch völlig auf dieſelbe Weiſe zur Anwendung kommt, es mag in einem Vermögen Eigenthum vorgefunden werden oder nicht. Dieſe unnatürliche Stellung iſt großentheils da - durch herbeygeführt worden, daß in dem ganzen Werk ein übertriebener Gebrauch von der logiſchen Form der divisiones gemacht wird, welche Einſeitigkeit der Behand - lung auch manche andere ſehr gezwungene Übergänge ver - anlaßt hat(r)So z. B. beſteht ſein erſter Theil aus drey divisiones, deren dritte alſo lautet: Alle Menſchen ſtehen entweder unter Vormund - ſchaft oder nicht, demnach wollen wir jetzt von der Vormundſchaft handeln. Auf ähnliche Weiſe könnte man die Darſtellung des Kauf -. Allein dieſe formellen Unvollkommenheiten405§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.ſind weder der Reichhaltigkeit, noch der Klarheit des Werks hinderlich geweſen, deſſen unvergleichlichen Werth gewiß kein Freund unſrer Wiſſenſchaft verkennen wird. Nur zu einer unbedingten Nachahmung ſeiner formellen Einrich - tung, auch wo wir dieſe für unvollkommen erkennen, iſt kein Grund vorhanden, und es darf nicht als Dünkel und Anmaaßung getadelt werden, wenn wir es verſuchen, den hiſtoriſch überlieferten Stoff des Römiſchen Rechts, nach ſeinem eigenthümlichen Bedürfniß, aber in anderer Weiſe, als es von Gajus geſchehen iſt, darzuſtellen. Ohnehin finden ſich die zwey Haupttheile des Syſtems von Gajus, Familienrecht und Vermögensrecht, auch in unſrer Dar - ſtellung als Haupttheile wieder, ſo daß die Abweichung doch nur die genauere Gliederung im Einzelnen betrifft(s)Hugo ſelbſt, bey aller Be -.

(r)contracts ſo einleiten: Alle Men - ſchen haben entweder Kaufcon - tracte geſchloſſen oder nicht (oder auch: alle Rechtsgeſchäfte ſind ent - weder Kaufcontracte oder nicht), demnach wollen wir jetzt von den Kaufcontracten handeln. Eben daraus erklärt ſich auch die Son - derbarkeit, daß die Sklaven zwey - mal vorkommen, in der erſten und in der zweyten divisio, ohne daß eine verſchiedene juriſtiſche Beziehung dieſes Verfahren recht - fertigte. Die erſte Erwähnung iſt nämlich nur ſcheinbar, und dient nur als Übergang zu den verſchiedenen Klaſſen der Freyge - laſſenen (d. h. alſo der Patronats - verhältniſſe), oder mit andern Wor - ten: die divisio der liberi und servi ſteht nur da als Vorwand für die subdivisio der Ingenui und Libertini, auf die es an die - ſer Stelle allein abgeſehen iſt. Es iſt alſo nicht richtig, wenn Manche dieſe doppelte Erwähnung der Sklaven dadurch rechtfertigen wollen, daß Gajus an der einen Stelle von der potestas, an der anderen von dem dominium in servos handele. Denn gerade dieſes iſt augenſcheinlich nicht der Fall; er handelt bey der erſten Erwähnung von dem, was die Sklaven ſelbſt angeht gar nicht.

406Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Insbeſondere aber muß ich mich noch gegen den über - triebenen Werth erklären, welcher oft auf dieſe die Form unſrer wiſſenſchaftlichen Darſtellungen betreffenden Fragen gelegt wird. Nicht als ob dieſer Gegenſtand eben gleich - gültig wäre: nur müſſen wir uns nicht darüber täuſchen, was eigentlich das Weſentliche dabey iſt. Wenn eine dogmatiſche Darſtellung des Rechts ſo beſchaffen iſt, daß die innere Einheit der Rechtsinſtitute zerſtört, das weſent - lich Verſchiedene verbunden, daß das wahre Verhältniß der Wichtigkeit verſchiedener Inſtitute gegen einander ent - ſtellt und verkehrt wird, dann ſind ſolche formelle Män - gel weſentlich, weil ſie den Stoff ſelbſt verdunkeln, und der wahren Einſicht hinderlich werden. Wo aber jener Fall nicht eintritt, da koͤnnen wir uns die Anordnung ei - nes Werks gefallen laſſen, auch wenn wir manche Män - gel derſelben wahrzunehmen glauben. Nach dieſem Princip einer in gewiſſen Gränzen zuläſſigen Duldſamkeit iſt oben(s)wunderung jenes Römiſchen Sy - ſtems, welchem er eine größere Verbreitung zuſchreibt, als ich an - zunehmen hiſtoriſchen Grund finde, räumt doch ein, daß nach allge - meinen Rechtsanſichten, und be - ſonders für das Bedürfniß un - ſres heutigen Rechts, manche an - dere Anordnung zweckmäßiger ſeyn möchte, als die der Inſtitutionen, und er kommt dabey im Ganzen auf die von mir angenommenen Geſichtspunkte. Civ. Mag. B. 5 S. 397. B. 6 S. 284 287. Über - haupt halte ich die Meynungsver - ſchiedenheit, die hierin unter uns beſteht, für weit unweſentlicher, als ſie auf den erſten Blick er - ſcheint, und es macht mir beſon - dere Freude hinzuſetzen zu kön - nen, daß mir die hier dargelegte Anordnung zuerſt durch Hugo’s Inſtitutionen Berlin 1789 zuge - kommen iſt, obgleich ich ſie ſeit - dem auf meine Weiſe zu ent - wickeln und zu begründen ver - ſucht habe.407§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.erklärt worden, daß der Werth des Gajus durch das, was wir an ihm auszuſetzen finden, gar nicht vermindert werde: und nach demſelben Princip können auch in un - ſern Tagen verſchiedene Rechtsſyſteme friedlich neben ein - ander beſtehen, ſo abweichend ihre Einrichtung dem erſten Blick auch erſcheinen mag. Die Duldſamkeit alſo, die hier in Anſpruch genommen wird, darf nicht verſtanden werden als Gleichgültigkeit gegen das Unvollkommene ir - gend einer Art, ſondern als ehrende Anerkennung des freyen Spielraums individueller Auffaſſung, worauf das wahre Leben aller Wiſſenſchaft beruht.

Noch iſt hier eine in unſern Rechtsquellen vorkom - mende allgemeine Anſicht zu erwähnen, die auf den erſten Blick gleichfalls als Grundlage einer Klaſſification ange - ſehen werden könnte, die ich jedoch nur anhangsweiſe be - handle, weil ſie in der That zu jenem Zweck von neueren Schriftſtellern nicht angewendet worden iſt. Ich meyne die drey Juris praecepta, welche Ulpian in folgenden Worten aufſtellt: Juris praecepta sunt haec; honeste vi - vere, neminem laedere, suum cuique tribuere(t)L. 10 § 1 de just. et jure (1. 1. ), § 3 J. eod. (1. 1.).. Ho - neste vivere iſt die Erhaltung der ſittlichen Würde in der eigenen Perſon, ſo weit dieſe Würde äußerlich ſichtbar wird. Neminem laedere iſt die Achtung der fremden Per -408Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.ſönlichkeit als ſolcher, alſo die praktiſche Anerkennung der ſogenannten Urrechte. Suum cuique tribuere endlich iſt die Anerkennung der geſammten erworbenen Rechte ande - rer Menſchen(u)Manche haben geſagt, das zweyte praeceptum betreffe die Perſon, das dritte das Vermö - gen; darin liegt aber nicht die wahre Gränze. Daß Einer die Ehe oder väterliche Gewalt eines Andern nicht verletze, gehört zum dritten praeceptum (obgleich es nicht das Vermögen betrifft), die Vermeidung des Todtſchlags zum zweyten. Burchardi Grund - züge des Rechtsſyſtems § 42 fg. deutet die drey praecepta in ſei - ner Weiſe: das erſte als jus pu - blicum, das zweyte als jus pri - vatum, das dritte als das ge - miſchte Actionenrecht. Vgl. oben § 16. o.. Sind nun dieſes in der That Rechts - regeln, wie man nach Ulpians Ausdruck glauben möchte? Das zweyte und dritte praeceptum ſcheinen ſolche Regeln zu ſeyn, das erſte nicht; in der That aber ſind in allen keine Rechtsregeln zu ſuchen, ſondern vielmehr ſittliche Vorſchriften, worin Rechtsregeln ihre Grundlage haben. Von dem dritten praeceptum iſt dieſes ſogleich einleuch - tend, es iſt das ſittliche Gebot der Gerechtigkeit, welches hier mit dem Syſtem der erworbenen Rechte gleichen In - halt und Umfang hat(v)Daraus erklärt ſich, warum die justitia ausſchließend als vo - luntas jus suum cuique tribu - endi erklärt zu werden pflegt, ohne Erwähnung der beiden er - ſten praecepta. L. 10 pr. de J. et J. (1. 1. ), L. 31 § 1 depos. (16. 3. ), Cicero de invent. II. 53, de finibus V. 23, Auct. ad Herenn. III. 2.. Auch bey dem zweyten iſt es unverkennbar, daß darin viele der wichtigſten Rechtsre - geln ihren Urſprung haben. Aber ſelbſt das erſte prae - ceptum, bey welchem dieſe Beziehung am meiſten zweifel -409§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.haft erſcheint, iſt dennoch der Entſtehungsgrund von Rechts - regeln, und kann deswegen im Sinn Ulpians ein Juris praeceptum genannt werden. Aus ihm entſpringt jede Rechtsanſtalt gegen Verletzung der boni mores, gegen das turpe(w)Dahin gehört die Ungül - tigkeit der Verträge, welche et - was Unſittliches mittelbar oder un - mittelbar befördern: eben ſo die condictio ob turpem causam. . Aber zu ihm gehört zugleich die wichtige, ſo Vieles umfaſſende, Summe von Rechtsregeln, die ſich auf die Forderung der Wahrheit und Redlichkeit gründen, alſo der höchſt mannichfaltige Einfluß des Dolus auf alle Theile des Privatrechts. Von dieſen Rechtsregeln kann man ſagen, daß ſie dem erſten und zweyten praeceptum zugleich angehören, indem ſie in jedem derſelben ihre eigene, von dem andern praeceptum unabhängige, Rechtfertigung finden. Die drey praecepta ſind alſo keine Rechtsregeln, aber ſie begründen eine Klaſſification der Rechtsregeln nach ihren Entſtehungsgründen: nur daß freylich Niemand daran denken wird, das Syſtem der Rechte nach dieſer Ordnung abzuhandeln. Sucht man die Rangordnung der drey praecepta nach ihrem inneren Weſen zu beſtimmen, ſo ſteht das erſte am hoͤchſten, weil es das innerlichſte iſt, und eben deshalb auch den Keim der anderen mit in ſich trägt; das zweyte hat ſchon einen mehr äußerlichen Cha - racter, das dritte noch mehr. Daher koͤnnen auch dieſe beide vollſtändig beobachtet werden, unabhängig von der ſittlichen Geſinnung des rechtlich handelnden Menſchen. 410Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.Sieht man dagegen auf die Wichtigkeit und Fruchtbarkeit der drey praecepta für das Recht, ſo iſt das Verhältniß gerade umgekehrt. Das dritte iſt die ergiebigſte Quelle von Rechtsregeln, das zweyte und erſte ſind ſtufenweiſe weniger ergiebig: ſehr natürlich, weil das Recht, ſeinem Weſen nach, dem Gebiet des äußeren Zuſammenlebens angehoͤrt(x)Im Weſentlichen dieſelbe Anſicht von den drey praeceptis, daß ſie nämlich nicht ſelbſt Rechts - regeln, ſondern Entſtehungsgrün - de der Rechtsregeln ſind, hat ſchon Weber, natürliche Verbindlich - keit § 98, nur führt er dieſelbe nicht durch die einzelnen prae - cepta durch..

[411]

Beylagen. I. II.

[412][413]

Beylage II. Jus naturale, gentium, civile. (Zu § 22 Note s).

Bey den Roͤmiſchen Juriſten finden ſich zwey Einthei - lungen des Rechts in Beziehung auf ſeine allgemeine Ent - ſtehung. Die eine iſt zweygliedrig: Recht das nur bey den Römern gilt (civile), oder aber bey allen Völkern (gen - tium oder naturale). Die andere iſt dreygliedrig: Recht das nur bey den Römern gilt (civile), oder bey allen Völkern (gentium), oder bey Menſchen und Thieren zu - gleich (naturale).

Die erſte dieſer Eintheilungen halte ich nicht blos für allein richtig, ſondern ich behaupte auch, daß ſie bey den Römern ſelbſt als herrſchende Anſicht zu betrachten iſt, während die andere nur als Verſuch einer weiteren Aus - bildung gelten kann, der weder allgemeine Anerkennung, noch Einfluß auf einzelne Rechtslehren erhalten hat.

Die zweygliedrige Eintheilung findet ſich am vollſtän - digſten durchgeführt in vielen Stellen des Gajus. Im Eingang ſeines Werks ſtellt er dieſelbe ausdrücklich auf, ohne Spur eines möglichen drittes Gliedes(a)Gajus I. § 1 (L. 9 de J. et J. 1. 1.).. Das Jus414Beylage I. gentium iſt ihm das ältere, ſo alt als das Menſchengeſchlecht ſelbſt(b)L. 1 pr. de adqu. rer. dom. (41. 1.).. Es entſpringt aus der allen Menſchen inwoh - nenden naturalis ratio(c)Gajus I. § 1. 189. L. 1 pr. de adqu. rer. dom. (41. 1.).. Daher nennt er es anderwärts auch jus naturale, wie er denn die natürlichen Erwerbun - gen des Eigenthums mit willkührlicher Abwechslung bald auf das jus naturale zurückführt(d)Gajus II. § 65. 73., bald auf die natura - lis ratio(e)Gajus II. § 66. 69. 79.. Den Satz, daß dem Eigenthümer des Bo - dens ſtets auch das Haus gehört, gruͤndet er auf Jus ci - vile und naturale zugleich(f)L. 2 de superfic. (43. 18.).. Die Agnationen und Co - gnationen nennt er civilia und naturalia jura(g)Gajus I. § 158.. Offen - bar alſo nimmt er nur zwey Arten an, und Jus naturale iſt ihm mit Jus gentium völlig gleichbedeutend.

Eben ſo kennt Modeſtin nur zweyerley Recht, civile und naturale(h)L. 4 § 2 de grad. (38. 10.).. Daſſelbe findet ſich bey Paulus, der auch die Wirkung der servilis cognatio als eines Ehehin - derniſſes dem naturale jus zuſchreibt(i)L. 11 de J. et J. (1. 1.). L. 14 § 2 de ritu nupt. (23. 2.).. Desgleichen wird naturale jus von Marcian, Florentinus und Lici - nius Rufinus in Fällen gebraucht, in welchen ſie un - zweifelhaft das Jus gentium meynen, ja ſelbſt mit dieſem Ausdruck abwechſeln(k)L. 2. 3. 4. de div. rer. (1. 8.). L. 59 de obl. et act. (44. 7.). L. 32 de R. J. (50. 17.). Auch Cicero ſtellt überall nur natura und lex einander gegenüber, und nimmt natura und Jus gentium als gleichbedeutend an. Cicero de off. III. 15..

415Jus naturale, gentium, civile.

Die dreygliedrige Eintheilung hat am vollſtändigſten Ulpian(l)L. 1 § 2. 3. 4. L. 4. L. 6 pr. de J. et J. (1. 1.).: neben ihm Tryphonin(m)L. 64 de cond. indeb. (12. 6. ), über die Entſtehung der Sklaverey, ganz mit Ulpian übereinſtimmend. Weniger be - ſtimmt iſt L. 31 pr. depos. (16. 3.). Si tantum naturale et gentium jus intuemur, wo das naturale et gentium auch ſo verſtanden werden kann: naturale id est gentium, ja wo ein Unterſchied beider Rechte ſelbſt nach dieſer Anſicht nicht paſſen würde. und Hermo - genian(n)L. 5 de J. et J. (1. 1.). Zwar nennt die hier excerpirte Stelle nur das Jus gentium, aber mit ſo ſichtbarer Rückſicht auf das früher vorhandene Jus naturale (was er ohne Zweifel unmittel - bar vorher genannt hatte), daß wir unbedenklich eine völlige Über - einſtimmung mit Ulpian anneh - men können. Auch habe ich die im Text gegebene Darſtellung der ganzen Anſicht großentheils aus dieſer Stelle geſchöpft.. Sie beruht auf folgender Anſicht. Es gab eine Zeit, worin die Menſchen nur diejenigen Verhält - niſſe unter ſich anerkannten, welche ihnen mit den Thieren gemein ſind: das der Geſchlechter, und das der Fortpflan - zung und Erziehung. Darauf folgte ein zweytes Zeital - ter, welches Staaten gründete, Sklaverey, Privateigen - thum, Obligationen einführte, und zwar unter allen Men - ſchen auf gleiche Weiſe. Zuletzt bildete ſich in jedem ein - zelnen Staate das Recht auf eigenthümliche Weiſe aus, theils durch abweichende Beſtimmung jener allgemeinen In - ſtitute, theils durch neu hinzugefügte Inſtitute.

Das erſte, was an dieſer Eintheilung auffällt, und weshalb man ſie oft hart getadelt hat, iſt das den Thie - ren zugeſchriebene Recht und Rechtsbewußtſeyn(o)L. 1 § 3 de J. et J. (1. 1. ) jus istud omnium anima - lium .. commune est. Und nach - her: videmus etenim cetera quoque animalia, feras etiam, istius juris peritia censeri. . Allein416Beylage I. wenn man nur den allerdings übel gewählten Ausdruck preisgiebt, ſo läßt ſich die Anſicht ſelbſt, von dieſer Seite wohl vertheidigen. Jedes Rechtsverhältniß hat zur Grund - lage irgend einen Stoff, auf welchen die Rechtsform an - gewendet wird, und der alſo auch abſtrahirt von dieſer Form gedacht werden kann. Dieſe Materie iſt in den meiſten Rechtsverhältniſſen inſoferne von willkührlicher Art, daß ein dauerndes Beſtehen des Menſchengeſchlechts auch ohne ſie gedacht werden kann; ſo bey dem Eigenthum und den Obligationen. Nicht ſo bey den zwey oben genann - ten Verhältniſſen, die vielmehr allgemeine Naturverhält - niſſe ſind, den Menſchen mit den Thieren gemein, und ohne welche das Menſchengeſchlecht gar kein dauerndes Daſeyn haben könnte. In der That alſo wird nicht das Recht, ſondern die Materie des Rechts, das demſelben zum Grunde liegende Naturverhältniß, den Thieren zuge - ſchrieben(p)Nicht weſentlich verſchieden iſt die Vertheidigung des Ulpian bey Donellus I. 6: Ulpian ſchreibe nicht das wirkliche Rechtsverhält - niß den Thieren zu, ſondern nur etwas ihm Ähnliches. Jedoch iſt damit die Eintheilung als ſolche noch nicht gerechtfertigt.. Dieſe Anſicht nun iſt nicht nur wahr, ſon - dern auch wichtig und der Beachtung werth; nur eignet ſie ſich nicht zu einer Eintheilung des Rechts, namentlich für das praktiſche Bedürfniß der Römer. Veranlaſſung dazu gab ohne Zweifel die Wahrnehmung, daß die Rechts - inſtitute, auch wenn ſie ſich bey allen fremden Völkern fänden, dennoch in verſchiedenem Grade als natürlich an - geſehen werden müßten. So z. B. konnte man nicht ver -417Jus naturale, gentium, civile. kennen, daß die erſte Entſtehung der Sklaverey aus Ge - walt, alſo aus Zufall und Willkühr, abzuleiten ſey: ja es iſt möglich, daß die Natur dieſes Verhältniſſes zu der ganzen Anſicht den Anſtoß gegeben hat. Allein die ganze hierauf gegründete Eintheilung iſt zu verwerfen. Erſtlich weil an ſich die Unterſcheidung des mehr oder weniger Natürlichen eine willkührliche und ſchwankende iſt: zwey - tens weil die Eintheilung, ſo gefaßt, lediglich das allge - meine, unbeſtimmte Daſeyn der Rechtsinſtitute betraf, und daher unfruchtbar bleiben mußte: die weit wichtigere Aus - führung in einzelnen Rechtsregeln lag ganz außer ihrem Gebiet. Nicht ſo bey der zweygliedrigen Eintheilung, in welcher auch der Gegenſatz der Rechtsregeln ſichtbar wird, und die deswegen für die Anwendung auf das Rechtsſy - ſtem allein Brauchbarkeit hat.

Es läßt ſich aber auch zeigen, daß die zweygliedrige Eintheilung im Römiſchen Recht ſtets die Herrſchaft be - hauptet hat. Dafür könnte man ſchon die groͤßere Zahl der dafür angeführten Zeugniſſe geltend machen. Doch lege ich darauf weniger Gewicht, da die Auswahl der Stellen, die wir darüber beſitzen, ſehr zufällig gemacht ſeyn kann. Dagegen halte ich für ganz entſcheidend den großen Einfluß derſelben, der ſich durch das ganze Rechts - ſyſtem nachweiſen läßt, anſtatt daß die dreygliedrige in keiner einzelnen Anwendung erſcheint. Überall nämlich finden wir in den Rechtsinſtituten und in einzelnen Rechts - ſätzen einen aus zwey, nicht aus drey Gliedern beſtehen -27418Beylage I. den Gegenſatz; das zweyte Glied bezieht ſich ſtets auf das Jus gentium, und wird dennoch (was keinen Zweifel übrig läßt) regelmäßig durch den Ausdruck naturalis bezeichnet. Zwar könnte man auch dieſes nur als eine Vermehrung der Zeugniſſe für die zweygliedrige Eintheilung anſehen, ſo daß auch in ihnen nur der fortdauernde Streit der Meynungen, nicht der reelle Sieg der einen Meynung, ſichtbar wäre. Allein Ulpian ſelbſt hat in ſehr vielen Stellen dieſe Auffaſſung und Bezeichnung, und es iſt alſo klar, daß auch er die dreygliedrige Eintheilung nur als eine unſchuldige Speculation im Allgemeinen aufſtellte, in allen wichtigen Anwendungen aber durch das ganze Rechts - ſyſtem davon keinen Gebrauch zu machen verſuchte. Die - ſer zweygliedrige Gegenſatz, bezeichnet durch civile und na - turale, kommt namentlich in folgenden Anwendungen vor:

  • 1) Die Bedingungen der Ehe beruhen auf civilis oder naturalis ratio
    (q)pr. J. de nupt. (1. 10.).
    (q).
  • 2) Es giebt zweyerley Verwandtſchaft, civilis und na - turalis cognatio, auch nach Ulpian
    (r)L. 4 § 2 de grad. (38. 10.) (Modeſtin), § 1 J. de leg. agn. tut. (1. 15.). L. 17 § 1 de adopt. (1. 7.) (Ulpian).
    (r).
  • 3) Eigenthum und Obligationen koͤnnen bald civiliter, bald naturaliter erworben werden, und darnach richtet ſich die Zuläſſigkeit einer freyen Stellvertretung
    (s)L. 53 de adqu. rer. dom. (41. 1.) (Modeſtin).
    (s).
  • 4) Das Recht des Eigenthümers des Bodens auf das Haus nennt Ulpian naturale jus
    (t)L. 50 ad L. Aquil. (9. 2.).
    (t).
419Jus naturale, gentium, civile.
  • 5) Die possessio iſt entweder civilis oder naturalis, auch bey Ulpian
    (u)L. 3 § 15 ad exhib. (10. 4.). L. 1 § 9. 10 de vi (43. 16. ), beide von Ulpian.
    (u).
  • 6) Beſonders wichtig iſt der Gegenſatz von civilis und naturalis obligatio, den auch Ulpian mit dieſer Bezeich - nung anerkennt
    (v)L. 6 § 2. L. 8 § 3 de fidej. (46. 1.). L. 14 de Obl. et Act. (44. 7.). L. 6 de compens. (16. 2.). L. 10 de V. S. (50. 16.). L. 1 § 7 de pec. const. (13. 5. ), alle von Ulpian.
    (v). Die Bedeutung der naturalis obliga - tio als einer durch das Jus gentium begründeten iſt nicht nur für ſich klar, ſondern wird auch noch in mehreren Stellen ausdrücklich bezeugt
    (w)L. 84 § 1 de R. J. (50. 17.) (Paulus). L. 47 de cond. indeb. (12. 6.) (Celſus).
    (w).

Völlig gedankenlos iſt in dieſer Sache das Verhalten der Juſtinianiſchen Inſtitutionen. Zuerſt nehmen ſie die Stelle des Ulpian über die dreygliedrige Eintheilung auf, und wenden ſie auf den Fall der Sklaverey an(x)§ 4 J. de J. et J. (1. 1. ) pr. J. de j. nat. (1. 2. ) pr. J. de Lib. (1. 5.).. Dann nehmen ſie auch die Stellen des Gajus, des Marcian, und des Florentinus auf, worin die zweygliedrige Ein - theilung theils vorgetragen, theils ganz beſtimmt voraus geſetzt wird(y)§ 1. 11 J. de j. nat. (1. 2. ) pr. § 1. 18 J. de div. rer. (2. 1.).. Beſonders merkwürdig aber iſt eine Stelle, worin ſie die Worte des Gajus aufnehmen, aber mit ei - nem Zuſatz, welcher ausdrücklich ſagt, Jus naturale heiße ſo viel als Jus gentium, und es ſey dieſes ſchon vorher ſo vorgetragen worden(z)§ 11 J. de div. rer. (2. 1.). quarundam enim rerum do -.

27*420Beylage II.

Nach dieſer Erörterung iſt es am gerathenſten, die Vorſtellungsweiſe des Ulpian als eine Curioſität auf ſich beruhen zu laſſen, und dagegen die des Gajus als die im Roͤmiſchen Recht herrſchende zu behandeln.

Beylage II. L. 2 C. quae sit longa consuetudo (8. 53.). (Zu § 25 Note y).

Dieſes Reſcript Conſtantins vom J. 319 lautet alſo: Consuetudinis ususque longaevi non vilis auctoritas est: verum non usque adeo sui valitura momento, ut aut ra - tionem vincat aut legem.

Es iſt unglaublich, wie vielen Anſtoß dieſe Stelle von jeher erregt hat, und wie viele Verſuche gemacht worden ſind, den Anſtoß zu beſeitigen. Der Sinn, der zunächſt daraus hervorzugehen ſcheint, iſt der, daß Gewohnheiten nur gelten ſollen zur Ergänzung der Geſetze, aber nicht zur Abänderung oder Aufhebung derſelben. Gerade dieſer Sinn aber iſt nach vielen Zeugniſſen aus allen Zeitaltern ſo verwerflich (§ 25), daß wir nothwendig einen anderen aufſuchen müſſen.

Zuerſt nun können wir unbedenklich annehmen, daß hier nur von partikulären Gewohnheiten die Rede iſt, und(z)minium nanciscimur jure na - turali, quod, sicut diximus, appellatur jus gentium; qua - rundam jure civili. 421L. 2 C. quae sit longa consuetudo. daß es z. B. dem Kaiſer nicht in den Sinn kam, ſolche allgemeine Gewohnheiten, wie z. B. die, wodurch das zweyte Kapitel der L. Aquilia antiquirt wurde(a)L. 27 § 4 ad L. Aquil. (9. 2.)., zu ent - kräften. Dieſes folgt erſtlich ſchon daraus, daß hier ge - wiß nur über ſolche Gewohnheitsrechte verfügt werden ſollte, welche künftig neu entſtehen oder doch zu Tage kommen würden. Das war aber zu Conſtantins Zeit faſt nur noch von partikulären Gewohnheiten zu erwarten. Zweytens wäre der etwas geringſchätzige Ausdruck non vilis auctoritas für eine allgemeine Nationalſitte ganz un - paſſend geweſen, von dem Gewohnheitsrecht einzelner Orte konnte er wohl gebraucht werden. Ferner iſt unter der lex, die hier erwähnt wird, in dieſer Zeit entſchieden nichts Anderes als ein Kaiſergeſetz zu verſtehen. Und ſo entſteht alſo hier die allgemeine Frage: wie verhält ſich ein partiku - läres Gewohnheitsrecht zu einem kaiſerlichen Landesgeſetz? Dieſes kann nun ſelbſt wieder entweder eine abſolute oder eine vermittelnde Natur haben (§ 16). Iſt es ein abſolu - tes Geſetz, ſo entſteht durch das allgemeine Staatsverhält - niß eine ſehr natürliche Beſchränkung für das partikuläre Gewohnheitsrecht (§ 9). Selbſt ohne Geſetz iſt ein ſol - ches Gewohnheitsrecht unmöglich, wenn dadurch ein all - gemeines Staatsintereſſe verletzt wird(b)L. 1 C. Th. de longa consu. (5. 12. ): Cum nihil per causam publicam intervenit, quae diu servata sunt perma - nebunt. Eben ſo in einem ein - zelnen Fall, aber mit großer Be - ſtimmtheit, Nov. 134 C. 1.. Dieſes wird422Beylage II. alſo nicht weniger gelten, wenn daſſelbe Staatsintereſſe einem abſoluten Geſetz die Entſtehung gegeben hat. Ge - gen ein ſolches Geſetz alſo kann die ſpätere Gewohnheit einer Stadt oder Gegend nicht aufkommen. Eben ſo we - nig aber auch deren früheres Gewohnheitsrecht, das man ſonſt wohl eben als ein partikuläres, von dem allgemei - nen Geſetz nicht ausdrücklich aufgehobenes, zu ſchützen ver - ſuchen könnte. So ſollen z. B. gegen Wuchergeſetze we - der frühere, noch ſpätere partikuläre Gewohnheiten gel - ten(c)L. 26 § 1 C. eod. (4. 32.). L. 1 pr. de usuris (22. 1. ) ſpricht gar nicht von Gewohnheitsrecht, ſondern von dem üblichen Zins - fuß, der vielleicht das geſetzli〈…〉〈…〉 Maaß überſchreiten könnte; ob er nun in dieſem Fall, und un - ter welchen Bedingungen, das Ge - ſetz abändert, ſagt wenigſtens dieſe Stelle nicht. Vgl. Puchta II. S. 77.. Ein ganz ähnliches Verhältniß tritt auch bey Ge - ſetzen für einzelne Orte ein. So z. B. war durch ſolche Geſetze in manchen Städten erlaubt, in der Stadt zu be - graben; als nun ſpäterhin dieſe Art der Beerdigung aus polizeylichen Gründen allgemein verboten wurde, ſo wa - ren damit jene Geſetze, auch ohne beſonders erwähnt zu ſeyn, dennoch aufgehoben(d)L. 3 § 5 de sepulchro viol. (47. 12.).. Anders verhält es ſich bey vermittelnden Geſetzen. So führt Azo das Beyſpiel der Gewohnheiten von Modena und Ravenna an, nach welchen die kirchlichen Emphyteuſen nicht verfallen, wenngleich binnen zwey Jahren kein Canon gezahlt iſt: dieſe Gewohnheiten ſind gültig, weil ja auch durch Verträge jede Abweichung hierüber beſtimmt werden423L. 2 C. quae sit longa consuetudo. könnte(e)Azo Comm. in Cod., in L. 2 cit. . Dieſer Gegenſatz allein aber iſt es, wel - cher über die Kraft des partikulären Gewohnheitsrechts im Verhältniß zu einem allgemeinen Landesgeſetz entſchei - det: nicht der Gegenſatz des öffentlichen und Privatrechts. Denn auch im öffentlichen Recht giebt es Regeln, die zwar zur gewöhnlichen Ordnung gehören, aber im Ein - zelnen ohne Gefahr Ausnahmen erleiden können: bey ſol - chen iſt auch ein partikuläres Gewohnheitsrecht zuläſſig. So z. B. war es Regel, daß die Municipalmagiſtrate keine legis actio, namentlich bey Emancipationen, hätten, Einzelnen war ſie ausnahmsweiſe gegeben: hier nun läßt noch Juſtinian unbedenklich eine Begründung dieſes Vor - rechts durch Gewohnheit zu(f)L. 4 de adopt. (1. 7.). C. de emanc. (8. 49.). Dagegen hatte in Bithy - nien die Lex Pompeja verordnet, in die Stadtſenate ſoll - ten nur Bürger derſelben Stadt, nicht aus anderen Bi - thyniſchen Städten, aufgenommen werden: man hatte dieſe Vorſchrift häufig nicht beachtet, und es entſtand die Frage, ob jenes Geſetz durch die Gewohnheit einzelner Städte aufgehoben ſey. Trajan ließ zwar aus Schonung die jetzt vorhandenen fremden Senatoren gelten, erklärte aber für die Zukunft, daß das Geſetz ungeachtet der Gewohn - heit beobachtet werden müſſe: ohne Zweifel weil das Ge - ſetz einen politiſchen Zweck hatte(g)Plinius epist. X. 115, 116..

Bisher iſt der Theil der Stelle erklärt worden, wel -424Beylage II. cher ſagt: consuetudo non vincit legem. Nun ſagt ſie aber auch noch: consuetudo non vincit rationem, und es fragt ſich, was das hoͤchſt vieldeutige Wort ratio eben hier bedeute. In anderen Stellen über das Gewohnheits - recht heißt ratio die gemeinſame Überzeugung von der Wahrheit und Nothwendigkeit einer Regel, alſo der eigent - liche Entſtehungsgrund dieſes Rechts, zu welchem ſich die Gewohnheit ſelbſt nur als Folge und Kennzeichen ver - hält(h)L. 39 de leg (1. 3.). L. 1. C. quae sit l. c. (8. 53.) S. das Syſtem § 25 Note d. . Das kann es hier nicht heißen, denn wie könnte von einem Conflict der Überzeugung mit der Gewohnheit, in welchem dieſe letzte weichen müßte, die Rede ſeyn? Allein in anderen Stellen kommt neben einer ratio juris auch eine ratio utilitatis vor(i)L. 1 C. de aquir. et retin. poss. (7. 32.). .. tam ratione utilitatis quam juris pridem receptum est. Savigny Be - ſitz S. 363 der 6ten Ausg., und da unter der lex ein im Staatsintereſſe erlaſſenes Landesgeſetz zu verſtehen iſt, ſo bezeichnet die ratio das gerade nicht durch ein Ge - ſetz geſchützte Staatsintereſſe, die ratio publicae utilitatis. Durch dieſe Erklärung erhält der Ausdruck einen beſtimm - teren und mehr praktiſchen Sinn, als wenn man darun - ter die Vernünftigkeit der Gewohnheit überhaupt verſte - hen wollte.

Der ganze Inhalt der Stelle wäre ſonach dieſer: Ört - liche Gewohnheiten ſollen nicht gelten, wenn ſie mit dem Staatsintereſſe im Widerſpruch ſtehen, mag nun dieſes durch ein (früheres oder ſpäteres) Landesgeſetz anerkannt425L. 2 C. quae sit longa consuetudo. ſeyn, oder nicht. Und mit dieſer Vorſchrift iſt zwar etwas nicht Unwichtiges über die örtlichen Gewohnheiten be - ſtimmt, aber etwas das in ihrem natürlichen Verhältniß zum Staatsverband gegründet iſt, nicht etwa eine will - kührliche, poſitive Einſchränkung ihrer Wirkſamkeit. Das Poſitive, was man etwa darin ſuchen koͤnnte, wäre der ganz allgemeine Ausdruck lex, den man ſo verſtehen koͤnnte, daß dieſe Vorſchrift für alle Geſetze, nicht blos für die abſoluten, gelten ſollte. Allein nach der Verbindung in welcher der Ausdruck mit ratio ſteht, noch weit mehr aber nach der Verbindung, worin ſich die Stelle mit den übri - gen Ausſprüchen der Juſtinianiſchen Rechtsbücher findet, ſcheint es mir richtiger, den Ausdruck nur auf abſolute Geſetze zu beziehen, zu welchen ohnehin der groͤßere Theil der Kaiſergeſetze, und beſonders der ſehr eingreifenden Geſetze von Conſtantin, gehörte.

Das Weſentliche dieſer Erklärung, nämlich das Ver - hältniß des örtlichen Gewohnheitsrechts zu allgemeinen Geſetzen, findet ſich ſchon bey Johannes und Azo, ob - gleich ſchwankend und mit Irrigem vermiſcht: beſtimmter und deutlicher bey Donellus(k)Azo comm. in Cod. in h. L. Accursius ibid. Donel - lus Lib. 1. C. 10.. Schon Placentin führt auf den falſchen, ſpäter ſehr oft betretenen Weg, zwiſchen Republiken und Monarchieen zu unterſcheiden: in jenen ſoll das Gewohnheitsrecht gegen ein Geſetz gelten, in dieſen nicht(l)Placentinus in Summa Cod, tit. quae sit longa consu. . Die Neueren haben oft ſehr willkührliche Wege426Beylage II. eingeſchlagen, beſonders indem ſie die Vorſchrift auf ir - gend eine einzelne Anwendung der Gewohnheiten zu be - ſchränken verſuchten; dadurch wurde der Widerſtreit mit anderen Stellen höchſtens quantitativ vermindert, nicht aufgehoben(m)So z. B. Schweitzer de desuetudine Lips. 1801. 8. p. 47 57. (Hübner) Berichtigun - gen und Zuſätze zu Höpfner S. 167. Schweitzer beſchränkt die Stelle ganz willkührlich auf die bloße desuetudo im Gegen - ſatz der ſtets zuläſſigen obrogatio durch Gewohnheit: die desuetudo ſey in der Republik gültig gewe - ſen (darauf gehe L. 32 de leg. ), in der Monarchie nicht (L. 2 C. quae sit l. c.). Hübner ſieht in der Stelle blos das Verbot einer irrigen Uſualinterpretation: aber durch dieſe würde ja nicht die lex überwunden, ſondern nur die abweichende Meynung Desje - nigen, der dieſe Auslegung für irrig hält.. Einige legen alles Gewicht auf das sui momento: die Gewohnheit an ſich ſey nicht beſſer als ein Geſetz, es komme alſo ſtets nur darauf an, welches von beiden das neuere ſey. Dann wäre der praktiſche Sinn nur der, daß jede Gewohnheit durch ein ſpäteres Geſetz ganz gewiß aufgehoben werde, und nicht etwa dagegen durch ihre höhere Natur geſchützt ſey. Etwas ſo Über - flüſſiges hat aber gewiß Conſtantin nicht ausſprechen wol - len(n)Hilliger ad Donellum I. 10, und ausführlicher Avera - nius Interpret. Lib. 2. C. 1.. Endlich deutet Hofacker die Erklärung an, nach welcher die consuetudo hier nicht ein Gewohnheitsrecht, ſondern nur eine factiſche, materielle Gewohnheit (wie z. B. häufige Diebſtähle) bezeichne: dieſe ſolle ein Geſetz nicht aufheben(o)Hofacker I. § 122: .. con - suetudinem h. l. accipi pro con - suetudine agendi civium, quae .. legi prohibitivae obstet. Puchta I. 120. II. 58. 211 215 ſchlägt einen ähnlichen Weg ein, indem er die hier erwähnte con -. Allein dafür würde ſelbſt der beſchei -427L. 2 C. quae sit longa consuetudo. dene Ausdruck non vilis auctoritas noch viel zu gut ſeyn, da eine Gewohnheit in dieſem Sinn auch nicht die ge - ringſte auctoritas haben kann.

Sehr merkwürdig endlich iſt noch die Art, wie das canoniſche Recht dieſe Schwierigkeiten behandelt hat. Un - ſere Stelle findet ſich in dem Decret wörtlich eingerückt(p)c. 4 D. XI. . Allein die Schwierigkeiten in der Erklärung derſelben wa - ren den Canoniſten nicht unbekannt geblieben, und Gre - gor IX. ſuchte dieſe in einer eigenen Decretale durch fol - gende Paraphraſe zu löſen(q)C. 11 X. de consuet. (1. 4.). .. Licet etiam longaevae con - suetudinis non sit vilis aucto - ritas: non tamen est usque adeo valitura, ut vel juri positivo debeat praejudicium generare, nisi fuerit rationabilis, et le - gitime sit praescripta. Der Schluß iſt eigentlich nur eine Wiederholung oder beſtimmtere Einſchärfung des im Anfang ſte - henden longaevae, und es würde dieſes wahrſcheinlich weggelaſſen worden ſeyn, wenn man nicht räthlich gefunden hätte, die Worte der Codexſtelle ſo viel möglich beyzubehalten.. Das naturale jus (d. h. das von Gott dem Menſchen eingepflanzte) kann durch keine Gewohnheit abgeändert werden: auch das poſitive Recht (das Staatsgeſetz) kann es nicht, außer wenn die Gewohnheit vernunftgemäß, und durch hinreichende Dauer(o)suetudo nur von der factiſchen Übung verſteht, welche nicht als Kenntniß der gemeinſamen Über - zeugung (alſo des Gewohnheits - rechts) ſoll gelten können, wo de - ren Exiſtenz juriſtiſch oder geſetz - lich unmöglich ſey. Nun ent - ſteht aber die weitere Frage, woran wir es erkennen ſollen, daß manche Fälle der Übung un - tauglich ſind, das Daſeyn eines Volksrechts zu conſtatiren? durch die Antwort, die er hierauf giebt, (II. S. 214) kommt ſeine Erklä - rung mit der hier gegebenen im letzten Reſultat überein. Nach beiden Meynungen fehlt es an den Bedingungen, unter welchen die factiſche Gewohnheit zu einem wahren Gewohnheitsrecht wer - den, alſo Wirkſamkeit erlangen kann.428Beylage II. befeſtigt iſt. Hier iſt alſo dem Richter die Beurtheilung eines vernunftmäßigen Inhalts der Gewohnheit überlaſſen, jedoch nicht für alle Fälle überhaupt, ſondern nur wenn die Gewohnheit ein Geſetz abändern ſoll. Dieſe vom - miſchen Recht abweichende, auch an ſich bedenkliche Be - ſtimmung iſt offenbar aus dem Beſtreben hervorgegangen, die verſchiedenen Meynungen die ſich aus Veranlaſſung unſrer Stelle unter den Juriſten gebildet hatten, durch eine Art von mittlerem Durchſchnitt zu vereinigen. Hier war die Rede von dem Verhältniß der neuen Ge - wohnheit zu einem älteren Geſetz: ähnlich iſt folgende Vorſchrift über das umgekehrte Verhältniß(r)C. 1 de constitut. in VI. (1. 2. ): .. ipsis, dum tamen sint rationabilia, per consti - tutionem a se noviter editam, nisi expresse caveatur in ipsa, non intelligitur in aliquo de - rogare. . Wenn der Pabſt ein allgemeines Geſetz giebt, ſo ſollen dadurch frü - here örtliche Gewohnheiten oder Statute nicht aufgehoben ſeyn, vorausgeſetzt, daß ſie vernunftmäßig befunden wer - den, und daß ihre Aufhebung in jenem Geſetz nicht beſon - ders ausgeſprochen iſt.

Eben ſo merkwürdig iſt die förmliche Parodie unſrer Stelle, die ſich im Lombardiſchen Lehenrecht findet. Es mag oft geſchehen ſeyn, daß ein Romaniſt irgend eine Stelle des Corpus Juris für ſich anführte, die mit den Lehensgewohnheiten im Widerſpruch ſtand, und dann die Gewohnheit durch Anführung der L. 2 C. quae sit l. c. zu entkräften ſuchte. Dieſem Verfahren widerſpricht nun429L. 2 C. quae sit longa consuetudo. Obertus im Allgemeinen durch folgenden aus unſrer Stelle parodirten Satz: Legum autem Romanarum non est vilis autoritas, sed non adeo vim suam extendunt, ut usum vincant aut mores(s)2 Feud. 1..

Gedruckt bei den Gebr. Unger.

Druckfehler.

  • S. 108 Z. 16 ſt. Togik l. Topik.
  • 268 Note a Z. 4 ſt. aus l. ans.
  • 295 Note c Z. 3 ſt. qnae l. quae.
  • 301 h 4 Imperiali l. Imperatoria.
  • 320 Z. 15 ſt. Überigen l. Übrigen.
  • 320 21 eben l. oben.
  • 322 Note f Z. 4 ſt. Abſicht l. Anſicht.
  • 351 g 11 ſt. conspicabatur l. conspirabatur.

About this transcription

TextSystem des heutigen Römischen Rechts
Author Friedrich Carl von Savigny
Extent489 images; 104015 tokens; 11077 types; 760184 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationSystem des heutigen Römischen Rechts Erster Band Friedrich Carl von Savigny. . L, 429 S. VeitBerlin1840.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Gb 13171-1<b>http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=694059099

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Recht; Wissenschaft; Jura; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:34:24Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, Gb 13171-1<b>
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.