PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Grundriß der Allgemeinen Volkswirtſchaftslehre.
Erſter, größerer Teil. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Land, Leute und Technik. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Erſte bis dritte Auflage.
[figure]
Leipzig,Verlag von Duncker & Humblot.1900.
[II]

Motto:

Wer nicht von dreitauſend Jahren
Sich weiß Rechenſchaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.
Weſt-öſtlicher Divan.
[III]

Meiner teuren Frau Lucie, dem Stolze und dem Glücke meines Lebens, der treuen Gefährtin meiner Arbeiten, der Enkelin B. G. Qiebuhrs, der würdigen Tochter der edlen Mutter Cornelie Rathgen.

[IV][V]

Vorrede.

Im folgenden übergebe ich der Öffentlichkeit den Verſuch, in grundrißartiger Form zuſammenzufaſſen, was ich ſeit 36 Jahren in meinen Vorleſungen über allgemeine Volkswirtſchaftslehre vorzutragen pflege; es iſt zunächſt eine erſte größere Hälfte, die zweite iſt auch nahezu fertig; ſie wird, wie ich hoffe, im Umfang von etwa 15 bis 18 Bogen in kurzer Zeit folgen können. Die erſte Hälfte enthält die allgemeinen Grundlagen, dann in zwei Büchern die Lehre von Land, Leuten und Technik, ſowie den wichtigſten Teil der geſellſchaftlichen Verfaſſung der Volkswirtſchaft; die zweite wird in zwei Büchern den geſellſchaftlichen Prozeß des Güterumlaufs und der Einkommens - verteilung, ſowie die entwickelungsgeſchichtlichen Geſamtreſultate enthalten.

Da ich bei den Vorleſungen nie den Zweck verfolge, den Studierenden ein Hand - buch zu erſetzen, auch mich ſeit Jahren auf 4 Wochenſtunden des Sommers beſchränke, ſo muß ich ſtets eine engere Auswahl in dem Vorzutragenden treffen, wobei ich von Jahr zu Jahr wechſele. Alle meine Vorleſungshefte enthalten den doppelten oder drei - fachen Umfang deſſen, was ich vortragen kann. Hier in dem gedruckten Grundriſſe mußte ich natürlich eine gewiſſe Vollſtändigkeit anſtreben.

Ich habe mich zu dieſer Veröffentlichung nicht leicht entſchloſſen, bin faſt durch äußere Nötigungen zu ihr gedrängt worden. In meinen jüngeren Jahren beſeelte mich die Überzeugung, daß die erſte Aufgabe der heutigen Nationalökonomen ſei, durch gelehrte ſpecialiſierte Forſcherarbeit unſere Wiſſenſchaft den übrigen ebenbürtig zu machen, daß erſt nach einem Menſchenalter ſolcher Arbeiten wieder die encyklopädiſche Zuſammen - faſſung ſich lohnen werde. Längſt ehe Schönbergs Handbuch der politiſchen Ökonomie erſchien, hatte mich mein verehrter Freund und Verleger, Carl Geibel, aufgefordert, an die Spitze eines ſolchen Unternehmens zu treten. Ich hatte es damals rundweg ab - gelehnt, weil erſt in 10 20 Jahren, nach einer intenſiven Gelehrtenarbeit, wie die von 1860 80 in Deutſchland auf den Plan tretenden meiſten wiſſenſchaftlichen National - ökonomen ſie erſtrebten, etwas Derartiges nach meiner Meinung angezeigt ſei.

Als dann aber 1887 Duncker & Humblot einen kürzeren Grundriß aus der Feder mehrerer planten und die Leitung einem meiner Schüler übergeben hatten, da entſchloß ich mich wenigſtens, einige Kapitel, die mir beſonders am Herzen lagen, zu übernehmen, und begann mit ihrer Ausarbeitung. Die Schwierigkeiten, einem ſolchen Werke die nötige Einheit zu geben, zeigten ſich auch hier; Verzögerungen verſchiedener Art kamen dazwiſchen. Die Mitarbeiter einigten ſich zuletzt, die Geſamtunternehmung fallen zu laſſen, und ich entſchloß mich, meine Bruchſtücke zu einem Ganzen zu vervollſtändigen. Der größere Teil meiner freien Zeit war in den letzten 13 Jahren ſo dieſer Arbeit gewidmet. Viele Kapitel haben eine zwei - und mehrfache Umarbeitung erfahren. Einzelne derſelben habe ich in ihrer erſten Faſſung in meinem Jahrbuch veröffentlicht, ebenſo die umfaſſenderen Vorarbeiten über die ältere Geſchichte der Unternehmungen.

Mein inneres Verhältnis zu der mir anfangs viel zu groß und zu ſchwierig, ja unmöglich erſcheinenden Arbeit wurde mehr und mehr doch das der höchſten Befriedigung. Ich blieb mir zwar ſtets klar, daß eine vollendete ſolche Zuſammenfaſſung die denkbar ſchwierigſte Aufgabe ſei, daß mein Verſuch nach den verſchiedenſten Seiten hinter dem Ideal, das mir vorgeſchwebt hatte, zurückbleiben müſſe, daß er in vielen ſeiner Er - gebniſſe nie die Sicherheit empiriſcher Detailforſchung erreichen, daß der einzelne nie alle die Gebiete, über die er ſpreche, gleichmäßig beherrſchen könne. Aber ich war 1887 doch ſchon an die paar übernommenen, principiell wichtigen Kapitel deshalb gern gegangen, weil mich nach 17 Jahren, die ich überwiegend angeſtrengter archivaliſcher Arbeit gewidmet hatte, eine gewiſſe Übermüdung in Bezug auf dieſe Thätigkeit und eine Sehnſucht nach der Beſchäftigung mit den großen allgemeinen Fragen unſererVIVorrede.Wiſſenſchaft überfallen hatte. Ich ſpürte, daß ich mir Klarheit in dieſen verſchaffen mußte, gerade auch um das Detail der archivaliſchen Forſchung zum höchſten Ertrag zu bringen.

Meine alte Liebe zu philoſophiſchen und pſychologiſchen Studien war mit neuer Kraft erwacht. Ich fühlte mehr und mehr, daß die Aufgabe nach Charakter, Studien - gang und Neigungen doch eine mir angemeſſene ſei, daß vor allem meine Vorleſungen dadurch ſehr gewönnen, daß die ſtärkſte Anſpannung der geiſtigen Kräfte doch bei der Vorbereitung auf die Vorleſung ſtattfinde, daß meine beſten allgemeinen Gedanken mir dabei kämen, und daß deshalb auch der Verſuch, das zu fixieren, was ich den Studierenden ſage, berechtigt und heilſam ſei, obwohl er den Autor nötigt, die Bruch - ſtücke ſeines Wiſſens unter dem Geſichtspunkte ſeiner geſchloſſenen Weltanſchauung zu einem Ganzen zu vereinigen. Man könnte ſagen, gerade deswegen ſei der Verſuch berechtigt, denn dieſe Art der Zuſammenfaſſung müſſe ſtets neben der empiriſchen Detail - arbeit ihr Recht behaupten.

Die Geſichtspunkte, welche mich bei meinen Vorleſungen beſeelen, ſind immer die geweſen: 1. ſo anſchaulich zu ſein, daß der, welcher die Dinge noch nicht kennt, ſie einigermaßen ſehen und erfaſſen kann. Die ſogenannte Langeweile der juriſtiſchen und ſtaats - wiſſenſchaftlichen Vorleſungen beruht meiſt darauf, daß eine Unſumme von Scharfſinn, Definitionen, Detailwiſſen auf den Zuhörer eindringt, ohne daß er eine anſchauliche Vor - ſtellung von dem hat, wovon geredet wird. 2. Den Studierenden neben den allgemeinen geſicherten Wahrheiten den Gang beizubringen, auf dem ſie gefunden ſind, die Zweifel darzulegen, welche ſie eingeben, die empiriſchen Grundlagen ſo im Detail darzulegen, daß er ſie ſich ſelbſt ableiten kann. Ich weiß wohl, daß es auch eine andere Methode giebt, daß ſie teilweiſe für den Anfänger vorzuziehen iſt. Auch in der Nationalökonomie, und gerade auch in der hiſtoriſchen, wird eine konſtruierende Methode von mehreren meiner geſchätzteſten Kollegen mit Virtuoſität gehandhabt: man geht von wenigen klaren Sätzen und Formeln, von präciſen Definitionen aus und bringt damit Einfachheit und Klarheit in alles, ich möchte ſagen, zu viel Einfachheit und oft nur eine ſcheinbare Klarheit. Ich fand im Leben immer, daß der Hauptfehler in der praktiſchen Anwendung ſtaatswiſſenſchaftlichen Wiſſens der ſei, daß die der Univerſität Entwachſenen die geſell - ſchaftlichen Erſcheinungen für viel zu einfach halten; ſie glauben, dieſelben mit wenigen Definitionen und Formeln bemeiſtern zu können. Meiner Auffaſſung und Anlage ent - ſpricht es, den Anfänger ſtets auf die Kompliziertheit und Schwierigkeit der Erſcheinungen und Probleme aufmerkſam zu machen, ihm die verſchiedenen Seiten des Gegenſtandes zu zeigen. In den Vorleſungen hat dieſe Eigentümlichkeit mir den Erfolg nicht geraubt. Ich laſſe die folgenden Blätter in die Welt mit der Hoffnung gehen, daß ſie auch den Leſer nicht zu ſehr abſchrecken möge.

Über die äußere Anordnung und den Umfang füge ich nur die Bemerkung bei: Das ganze Buch ſollte etwa 40 Bogen nicht überſteigen; es ſollte ein lesbarer, nicht allzu teurer Grundriß bleiben. Dadurch waren Citate ausgeſchloſſen. Und ebenſo konnte von der Litteratur nur das wichtigſte vor jedes Kapitel geſetzt werden, das, was in erſter Linie dem zu empfehlen iſt, der ſich von dieſer Einführung aus weiter in das Studium der Fragen vertiefen will.

Ich übergebe den Grundriß der Öffentlichkeit mit dem Gefühle glücklicher Dank - barkeit, daß ich den Abſchluß erleben durfte. Denn in gewiſſer Beziehung ziehe ich hier doch die Summe meiner wiſſenſchaftlichen und perſönlichen Überzeugungen. Meinem Aſſiſtenten, Herrn A. Spiethoff, und meiner Frau danke ich für die treue Hülfe bei der Korrektur und ſonſtiger Fertigſtellung; Herr Spiethoff hat das Regiſter gefertigt, das bei Ausgabe der zweiten Hälfte vervollſtändigt fürs ganze Buch erſcheinen wird. Daß ich das Bedürfnis hatte, das Buch meiner Frau zu widmen, wird der wenigſtens verſtehen, der uns beide und unſer Verhältnis zu einander kennt.

Martinsbrunn bei Meran, Oſtern 1900.

Guſtav Schmoller.

[VII]

Inhaltsverzeichnis.

  • Seite
  • Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode1
  • I. Der Begriff der Volkswirtſchaft1
  • 1. Vorbemerkung S. 1. 2. Der Begriff des Wirtſchaftens S. 2. 3. Der Begriff der Wirtſchaften als geſellſchaftlicher Organe und der Volkswirtſchaft S. 3. II. Die pſychiſchen, ſittlichen und rechtlichen Grundlagen der Volkswirtſchaft und der Geſellſchaft überhaupt6
  • 1. Die Zwecke und die Mittel des geſellſchaftlichen Zuſammenſchluſſes6
  • 4. Der Geſchlechtszuſammenhang. Die Friedens - und Kriegsgemeinſchaft. Die Siedlungs - und Wirtſchaftsgemeinſchaft S. 6. 2. Die pſychophyſiſchen Mittel menſchlicher Verſtändigung: Sprache und Schrift10
  • 5. Die Sprache S. 10. 6. Die Schrift S. 11. 7. Die Verbreitung und Vervielfältigung der Schrift S. 13. 8. Die Folgen der heutigen geiſtigen Verſtändigungsmittel, die Öffentlichkeit S. 14. 3. Die geiſtigen Bewutztſeinskreiſe und Kollektivkräfte15
  • 9. Das allgemeine Weſen derſelben S. 15. 10. Die einzelnen Bewußtſeinskreiſe S. 18. 4. Die individuellen Gefühle und die Bedürfniſſe20
  • 11. Die Gefühle S. 20. 12. Die Bedürfniſſe S. 22. 5. Die menſchlichen Triebe26
  • 13. Allgemeines S. 26. 14. Der Selbſterhaltungs - und der Geſchlechtstrieb S. 27. 15. Der Thätigkeitstrieb S. 28. 16. Der Anerkennungs - und Rivalitätstrieb S. 29. 6. Der Erwerbstrieb und die wirtſchaftlichen Tugenden32
  • 17. Dogmengeſchichtliches S. 32. 18. Entſtehung, Entartung, Verbreitung des Erwerbs - triebes S. 33. 19. Würdigung des Erwerbstriebes S. 36. 20. Die Arbeit und die Arbeitſamkeit S. 38. 21. Die anderen wirtſchaftlichen Tugenden S. 39. 7. Das Weſen des Sittlichen41
  • 22. Das ſittliche Urteil und das ſittliche Handeln S. 41. 23. Die hiſtoriſche Entwickelung des Sittlichen und ihre Ziele S. 43. 24. Die ſittlichen Zuchtmittel: geſellſchaftlicher Tadel, ſtaatliche Strafen, religiöſe Vorſtellungen S. 45. 8. Die ſittlichen Ordnungen des geſellſchaftlichen Lebens. Sitte, Recht und Moral48
  • 25. Die Entſtehung und Bedeutung der Sitte S. 49. 26. Die Entſtehung des Rechtes und ſeine ältere Verbindung mit der Sitte S. 51. 27. Die Scheidung des Rechtes von der Sitte S. 53. 28. Die Entſtehung der Moral neben und über Sitte und Recht S. 55. 29. Die Bedeutung der Differenzierung von Sitte, Recht und Moral S. 57. 9. Der allgemeine Zuſammenhang zwiſchen volkswirtſchaftlichem und ſittlichem Leben59
  • 30. Natürliche und ſittliche Kräfte S. 59. 31. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe S. 61. 32. Der Kampf ums Daſein S. 64. 33. Die religiöſen und philo - ſophiſchen Moralſyſteme S. 69. III. Die geſchichtliche Entwickelung der Litteratur und die Methode der Volkswirtſchaftslehre75
  • 1. Die Anfänge volkswirtſchaftlicher Lehren bis ins 16. Jahrhundert75
  • 34. Einleitung. Definition der Volkswirtſchaftslehre S. 76. 35. Die griechiſch-römiſchen Lehren S. 77. 36. Das Chriſtentum S. 79.
  • 2. Das Wiedererwachen der Wiſſenſchaft und das Naturrecht des 17. Jahrhunderts80
  • 37. Die Anfänge der neueren Wiſſenſchaft überhaupt S. 81. 38. Das Naturrecht S. 82.
  • VIII
  • Seite
  • 3. Die vorherrſchenden Syſteme des 18. und 19. Jahrhunderts84
  • 39. Die merkantiliſtiſchen Schriften S. 84. 40. Die individualiſtiſche Naturlehre der Volkswirtſchaft S. 88. 41. Die ſocialiſtiſche Litteratur S. 93. 4. Die Methode der Volkswirtſchaftslehre99
  • 42. Einleitung S. 100. 43. Beobachtung und Beſchreibung S. 100. 44. Die Begriffs - bildung S. 103. 45. Die typiſchen Reihen und Formen, ihre Erklärung, die Urſachen S. 105. 46. Geſetze, induktive und deduktive Methode S. 108. 5. Die Ausreifung der Volkswirtſchaftslehre zur Wiſſenſchaft im 19. Jahrhundert111
  • 47. Die älteren Anfänge einer empiriſchen Wiſſenſchaft und die Reaktion gegen die Natur - lehre der Volkswirtſchaft S. 112. 48. Die Statiſtik S. 114. 49. Die hiſtoriſche und ſonſtige realiſtiſche Forſchung S. 116. 50. Das Ergebnis der neueren Forſchung, der heutige Standpunkt der Wiſſenſchaft S. 122. Erſtes Buch. Land, Leute und Technik als Maſſenerſcheinungen und Elemente der Volkswirtſchaft125
  • 51. Die Stoffeinteilung des Ganzen in vier Bücher, des erſten Buches in vier Abſchnitte S. 125. 1. Die Volkswirtſchaft in ihrer Abhängigkeit von den äußeren Naturverhältniſſen126
  • 52. Der Gegenſatz von Natur - und Völkerleben. Blick auf die Litteratur S. 126. 53. Die Erdoberfläche, die Kontinente und Länder S. 128. 54. Das Klima S. 130. 55. Die geologiſchen und Bodenverhältniſſe ſowie die Waſſerverteilung S. 132. 56. Die Pflanzen - und Tierwelt in ihrer Verteilung S. 135. 57. Allgemeine Ergebniſſe S. 137. 2. Die Raſſen und Völker139
  • 58. Überblick über den Gegenſtand und die zu Grunde liegenden Wiſſensgebiete S. 139. 59. Die verſchiedenen Raſſen und Völker und das Princip der Vererbung S. 140. 60. Die einzelnen Urſachen der Raſſen - und Völkerbildung. Klima, Lebensweiſe, Erziehung, Raſſenmiſchung S. 144. 61. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die niedrigſten Raſſen S. 148. 62. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Neger und verwandten Stämme S. 149. 63. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Mongolen S. 150. 64. Ethno - graphiſche Einzelbeſchreibung: die mittelländiſchen Raſſen; die Semiten S. 151. 65. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Indogermanen; die Ruſſen, Italiener, Fran - zoſen S. 152. 66. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die germaniſchen Völker, die Deutſchen S. 154. 67. Ethnographiſche Einzelbeſchreibung: die Engländer und Nord - amerikaner. Schlußergebnis S. 156. 3. Die Bevölkerung, ihre natürliche Gliederung und Bewegung158
  • 68. Vorbemerkung S. 159. 69. Die Altersverhältniſſe S. 159. 70. Das Geſchlechts - verhältnis und die Verehelichung S. 162. 71. Die Geburten und die Todesfälle S. 165. 72. Die Zunahme und Abnahme der Bevölkerung, ihre abſolute Größe S. 168. 73. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung: a) die Hemmungen S. 171. 74. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung: b) die Ausbreitung nach außen, Eroberungen, Koloniſationen, Wanderungen S. 176. 75. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung: c) die Verdichtung. Schluß S. 182. 4. Die Entwickelung der Technik in ihrer volkswirtſchaftlichen Bedeutung187
  • 76. Aufgabe des Abſchnittes. Einteilung und allgemeinſte Urſachen der techniſchen Ent - wickelung S. 189. 77. Die erſten techniſchen Fortſchritte; die älteſten Waffen und Werkzeuge, das Feuer und die Töpferei S. 192. 78. Die älteſten Fortſchritte der Ernährung bis zum Hackbau und der Viehzucht S. 194. 79. Die mongoliſche Nomadenwirtſchaft S. 197. 80. Der Ackerbau S. 198. 81. Die Waffen und Werkzeuge aus Metall S. 201. 82. Die Technik der alten, weſtaſiatiſchen Völker S. 203. 83. Die griechiſch-römiſche, die arabiſche und die mittelalterlich-abendländiſche Technik bis in die letzten Jahrhunderte S. 205. 84. Das moderne weſteuropäiſch - amerikaniſche Maſchinenzeitalter: Beſchreibung S. 211. 85. Würdigung des Maſchinen - zeitalters S. 218. 86. Schlußergebniſſe S. 225. Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft, ihre wichtigſten Organe und deren Haupturſachen229
  • 1. Die Familienwirtſchaft229
  • 87. Vorbemerkung. Litteratur. Definitionen S. 230. 88. Die älteſte Familien - verfaſſung bis zum Mutterrecht S. 232. 89. Die Sippen - oder Gentilverfaſſung S. 236. 90. Die ältere patriarchaliſche Großfamilie S. 239. 91. Die neuere ver - kleinerte Familie, ihre Wirtſchaft und deren Urſachen S. 244. 92. Gegenwart und Zukunft der Familie. Frauenfrage S. 250.
  • IX
  • Seite
  • 2. Die Siedlungs - und Wohnweiſe der geſellſchaftlichen Gruppen; Stadt und Land254
  • 93. Vorbemerkung. Definitionen S. 254. 94. Die älteſten Siedlungen, die der heutigen Barbaren - und aſiatiſchen Halbkulturvölker S. 255. 95. Die antike Städtebildung S. 257. 96. Die mitteleuropäiſche Siedlungsweiſe der neueren Völker auf dem platten Lande S. 259. 97. Die Entwickelung des Städteweſens vom Mittelalter bis gegen 1800 S. 263. 98. Stadt und Land im 19. Jahrhundert S. 267. 99. Zuſammenfaſſung der Ergebniſſe S. 272. 100. Die Folgen der verſchiedenen Siedlung S. 275. 3. Die Wirtſchaft der Gebietskörperſchaften: Staat und Gemeinde277
  • 101. Vorbemerkung. Entſtehung und Weſen der Gebietskörperſchaft und ihrer Wirtſchaft S. 278. 102. Die Größe und die finanzielle Kraft der Gebietskörperſchaften S. 281. 103. Die ältere Dorfwirtſchaft S. 287. 104. Die Grundherrſchaft und ihre Wirtſchafts - organiſation S. 290. 105. Die ältere Stadtwirtſchaft S. 293. 106. Die Ausbildung der Territorial - und Volkswirtſchaft und des Staatshaushaltes S. 298. 107. Die Naturalabgaben - und Naturaldienſtverfaſſung und die Domänenwirtſchaft S. 303. 108. Die Steuern und das Geldſteuerſyſtem S. 306. 109. Der Staatsſchatz und der Staatskredit S. 309. 110. Die Finanzbehörden und die Schwierigkeit aller Finanz - verwaltung und ſtaatlichen Wirtſchaft S. 310. 111. Die heutige Einwohnergemeinde und ihre Wirtſchaft S. 314. 112. Geſamtergebniſſe. Das neuere Anwachſen der wirt - ſchaftlichen Staats - und Gemeindethätigkeit, ihre Grenze und Verſchiedenheit S. 317. 4. Die geſellſchaftliche und wirtſchaftliche Arbeitsteilung324
  • 113. Dogmengeſchichte. Weſen und Entſtehung der Arbeitsteilung. Stoffeinteilung S. 325. 114. Das Prieſter - und Kriegertum S. 329. 115. Die Händler S. 333. 116. Die Entſtehung eines Arbeiterſtandes. Sklaverei, Leibeigenſchaft S. 337. 117. Die Entſtehung des neueren freien Arbeiterſtandes S. 342. 118. Die Scheidung von Landbau und Gewerbe. Die landwirtſchaftliche und gewerbliche Arbeitsteilung S. 346. 119. Die Arbeitsteilung der liberalen Berufe; die räumliche Arbeitsteilung S. 353. 120. Die älteren Verſuche der Beurteilung und die neuere zahlenmäßige Erfaſſung der Arbeitsteilung S. 356. 121. Die Urſachen und Bedingungen der Arbeitsteilung S. 359. 122. Die geſellſchaftlichen und individuellen Folgen der Arbeitsteilung S. 364. 5. Das Weſen des Eigentums und die Grundzüge ſeiner Verteilung367
  • 123. Begriff und Bedeutung. Das Eigentum primitiver Jäger - und Hackbauſtämme S. 367. 124. Das Sklaven - und Vieheigentum der älteren Ackerbauer und Hirten S. 369. 125. Die ältere Grundeigentumsverfaſſung der Ackerbau - und Hirtenvölker, einſchließlich der antiken S. 371. 126. Die Ausbildung des neuen kleinen und großen Grundeigentums S. 373. 127. Das heutige Grundeigentumsrecht und die Richtungen der heutigen Landpolitik S. 377. 128. Das ſtädtiſche Grund - und Hauseigentum S. 379. 129. Das bewegliche Eigentum der Kulturvölker S. 380. 130. Das Erb - recht S. 383. 131. Die Ergebniſſe der geſchichtlichen Betrachtung S. 385. 132. Eigentumsdefinitionen und Eigentumstheorien S. 388. 6. Die geſellſchaftliche Klaſſenbildung391
  • 133. Begriff, Weſen und pſychologiſche Begründung der Klaſſenbildung S. 392. 134. Die Haupturſachen der Klaſſenbildung: Raſſe, Berufs - und Arbeitsteilung, Ver - mögens - und Einkommensverteilung S. 395. 135. Die Kaſten - und Ständebildung älterer Zeiten S. 399. 136. Die neuere ſociale Gliederung nach Aufhebung der Erb - lichkeit und der ſtändiſchen Rechtsſchranken der Berufe. Das Recht der Vereinsbildung S. 404. 137. Schlußbetrachtung über die ſociale Klaſſenbildung S. 409. 7. Die Unternehmung. Die Entwickelung der Geſchäfts - und Betriebsformen411
  • 138. Begriff der Unternehmung. Ihre Ausgangspunkte: Handel, Arbeitsgenoſſenſchaft, Familie. Die Ausbildung der landwirtſchaftlichen Unternehmung S. 413. 139. Das Handwerk S. 418. 140. Die Anſätze zu größeren Betrieben und Organiſationen in genoſſenſchaftlicher und korporativer Form bis gegen 1800 S. 421. 141. Die Haus - induſtrie (das Verlagsſyſtem) S. 424. 142. Die moderne Unternehmung, hauptſächlich der Großbetrieb. Die Fabrik S. 428. 143. Das geſellſchaftliche Problem des Groß - betriebes S. 434. 144. Die offenen Handels - und die Aktiengeſellſchaften S. 440. 145. Die neueren wirtſchaftlichen Genoſſenſchaften S. 444. 146. Die Verbände der Händler und Unternehmer, die Kartelle, Ringe und Truſts S. 448. 147. Schluß - ergebnis. Geſamtbild der geſellſchaftlichen Verfaſſung der Volkswirtſchaft, ſpeciell des Unternehmungsweſens S. 453. Regiſter458
[X]

Verzeichnis der gebrauchten Abkürzungen.

  • A. f. ſoc. G. = Archiv für ſociale Geſetzgebung und Statiſtik. Herausgegeben von Dr. Heinrich Braun. 1888 ff.
  • Bluntſchli, St. W. = J. C. Bluntſchli und K. Brater, Deutſches Staatswörterbuch. 11 Bde. 1856 bis 1870.
  • D. Z. f. Geſch. W. = Deutſche Zeitſchrift für Geſchichtswiſſenſchaft. Herausgegeben von L. Quidde. 1889 ff.
  • Hiſt. Zeitſch. = Hiſtoriſche Zeitſchrift. Begründet von H. von Sybel, herausgegeben von F. Meinecke. 1859 ff.
  • H.W. 1 ff. u. Sup. 1, 2 = Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften. Herausgegeben von J. Conrad, L. Elſter, W. Lexis, Ed. Loening. 6 Bde. 1890 1894. 2 Supplemente, 1895 u. 1897.
  • J. f. G.V. 1877 ff. = Jahrbuch für Geſetzgebung, Verwaltung und Volkswirtſchaft im deutſchen Reiche. Jahrgang 1 4, 1877 1880. Herausgegeben von F. von Holtzendorff und L. Brentano, Jahrgang 5 ff. von 1881 an herausgegeben von G. Schmoller.
  • J. f. N. 1. F. 1, 1863 ff. ; 2. F. 1, 1880 ff. ; 3. F. 1, 1891 ff. = Jahrbücher für Nationalökonomie und Statiſtik. 1. Folge, Bd. 1 34, 1863 1879; 2. Folge, Bd. 1 21, 1880 1890; 3. Folge, Bd. 1, 1891 ff. Begründet von Bruno Hildebrand. Herausgegeben von J. Conrad, L. Elſter, Ed. Loening, W. Lexis.
  • Roſcher, Anſichten d. V.W. = Wilhelm Roſcher, Anſichten der Volkswirtſchaft aus dem geſchichtlichen Standpunkte. 3 Auflagen, 1861 und 1878.
  • Rümelin, R. A. 1, 2 u. 3 = Guſtav Rümelin, Reden und Aufſätze. 3 Bde. 1875, 1881, 1894.
  • Schmoller, Grundfr. = Guſtav Schmoller, Über einige Grundfragen der Socialpolitik und der Volks - wirtſchaftslehre. 1898.
  • Schmoller, Litt. Geſch. = Guſtav Schmoller, Zur Litteraturgeſchichte der Staats - und Socialwiſſen - ſchaften. 1888.
  • Schmoller, U. U. = Guſtav Schmoller, Umriſſe und Unterſuchungen zur Verfaſſungs -, Verwaltungs - und Wirtſchaftsgeſchichte beſonders des preußiſchen Staates im 17. und 18. Jahrhundert. 1898.
  • Schmoller, Soc. u. Gew. P. = Guſtav Schmoller, Zur Social - und Gewerbepolitik der Gegenwart. 1890.
  • Schönberg, H. d. p. Ö. = Handbuch der politiſchen Ökonomie. Herausgegeben von G. v. Schönberg. 3 Bde. 4. Auflage, 1896 1898.
  • Stat. Monatsſchr. = Statiſtiſche Monatsſchrift. Herausgegeben von der k. k. ſtatiſtiſchen Central - kommiſſion, Wien. 1875 ff.
  • S. V. f. S. = Schriften des Vereins für Socialpolitik. 88 Bde. 1873 1900.
  • V. J.Sch. f. V.W. u. K.G. = Vierteljahrsſchrift für Volkswirtſchaft und Kulturgeſchichte. Heraus - gegeben von Jul. Faucher u. a. 1866 1893.
  • W.V. 1 u. 2 = Wörterbuch der Volkswirtſchaft. Herausgegeben von L. Elſter. 2 Bde. 1898.
  • Z. d. pr. ſt. B. = Zeitſchrift des königlich preußiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus. 1861 ff.
  • Z. f. d. g. H. = Zeitſchrift für das geſamte Handelsrecht. Herausgegeben von L. Goldſchmidt u. a. 1858 ff.
  • Z. f. St. W. 1844 ff. = Zeitſchrift für die geſamte Staatswiſſenſchaft. Herausgegeben von Dr. A. Schäffle. 1844 ff.
  • Z. f. Völkerpſych. = Zeitſchrift für Völkerpſychologie und Sprachwiſſenſchaft. Herausgegeben von M. Lazarus und H. Steinthal. 20 Bde. 1860 1890.
[1]

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

I. Der Begriff der Volkswirtſchaft.

  1. v. Hermann, Staatswirtſchaftliche Unterſuchungen. 1832. 1870.
  2. v. Mangoldt, Volks - wirtſchaft, in Bluntſchli, St. W.
  3. Knies, Die politiſche Ökonomie vom Standpunkt der geſchichtlichen Methode. 1853 u. 1883.
  4. Adolf Wagner, Grundlegung der allg. oder theor. Volkswirtſchafts - lehre. 1876. 3. Aufl. 1892 94.
  5. Schäffle, Das geſellſchaftliche Syſtem der menſchlichen Wirt - ſchaft. 1873.
  6. v. Schönberg, Handbuch der politiſchen Ökonomie. 1882 1896 (hauptſächlich die einleitenden und allgemeinen Abſchnitte von v. Schönberg, v. Scheel und Neumann).
  7. Schmoller, Städtiſche, territoriale und ſtaatliche Wirtſchaftspolitik. J. f. G.V. 1884 und Schmoller U. U.
  8. Bücher, Entſtehung der Volkswirtſchaft. 1893 u. 1898.
  9. v. Philippovich, Grundriß der politiſchen Ökonomie. 1893 u. 1898. Gerber, Grundzüge eines Syſtems des deutſchen Staatsrechts. 1865 u. 1869.
  10. van Krieken, Über die ſog. organiſche Staatslehre. 1873.
  11. Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neueſten Staatsrechtstheorien. Z. f. St. W. 1874.

1. Vorbemerkung. Die Volkswirtſchaft, deren allgemeine wiſſenſchaftliche Lehre in dem folgenden Grundriß dargelegt werden ſoll, iſt ein ſtaatswiſſenſchaftlicher Kollektivbegriff, ähnlich wie Staat, Volk, Geſellſchaft, Kirche, ſocialer Körper. Solche Begriffe haben wohl, ſeit es ein Stammes - und Staatsleben gab, nie ganz gefehlt. Aber erſt mit der höheren Ausbildung des geſellſchaftlichen Lebens, mit dem ſelbſtändigen Hervortreten einzelner Seiten und beſonderer Organe desſelben einerſeits, mit der Ent - ſtehung einer nachdenkenden Beobachtung und wiſſenſchaftlichen Beſchreibung der ſocialen Erſcheinungen andererſeits haben ſie eine feſte Umgrenzung und größere Deutlichkeit erhalten. Die Begriffe der πολιτεία, der res publica, des Staates ſind ſchon alt, ſie haben ſich mit der wiſſenſchaftlichen Erörterung der Griechen und Römer gebildet und ſeither erhalten; freilich hat der moderne Staatsbegriff auch erſt ſeit dem 18. Jahrhundert das heutige Gepräge erhalten; der Begriff der Volkswirtſchaft hat ſich erſt im Laufe des 17. 18. Jahrhunderts gebildet.

Wir haben unſere Erörterungen mit einer vorläufigen Analyſe dieſes Begriffes zu beginnen, um damit den Gegenſtand, der uns beſchäftigt, im allgemeinen feſtzuſtellen und bei dem, der ihn noch nicht kennt, zunächſt ein ſummariſches Bild deſſen hervor - zurufen, was wir dann im einzelnen unterſuchen.

Das, was der Engländer political economy, der Franzoſe économie politique nennt, der Deutſche erſt Staatswirtſchaft, dann richtiger Volkswirtſchaft nannte, um - ſchließt jedenfalls zwei Grundvorſtellungen. Es handelt ſich um eine Geſamterſcheinung, die auf der menſchlichen wirtſchaftlichen Thätigkeit beruht und die zugleich von den menſchlichen Gemeinſchaften ihren Stempel empfängt.

Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 12Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

2. Der Begriff des Wirtſchaftens. Das Wort Ökonomie ſtammt von οἶκος, Haus, her und bedeutet die Hauswirtſchaft. Der deutſche Wirt beſagt ähnliches, wie wir aus ſeinen Zuſammenſetzungen, Hauswirt, Landwirt, Gaſtwirt, ſehen. Wir denken bei dem Worte Wirtſchaften zuerſt an die Thätigkeit für die äußeren körper - lichen Bedürfniſſe, deren Befriedigung die Bedingung unſerer Exiſtenz iſt. Der Mutter Natur durch Jagd und Viehzucht, durch Hacke und Pflug die Nahrung abringen, gegen Kälte und Feinde uns in einer Wohnung von Holz und Stein ſchützen, aus Baſt, Lein und Wolle uns Kleider herrichten, Geräte und Werkzeuge für all das ſchaffen, das iſt Wirtſchaften. Aber auch das Sammeln der Vorräte für die Zukunft, das Waſchen und Reinigen, die Ordnung im Hauſe, die Schaffung der Güter an den Ort, wo ſie gebraucht werden, die letzte Herrichtung derſelben für den Verbrauch gehört dazu; und bald ſucht der Wirt dieſes und jenes auf den Markt zu bringen, zu ver - kaufen; er will dabei gewinnen, Geld und Vermögen ſammeln; bei vielen rückt ſo das Verdienen, der Verkehr in das Centrum der wirtſchaftlichen Thätigkeit. Und in all dem erſcheint uns als wirtſchaftlich nur die zweckmäßige, von gewiſſen techniſchen Kenntniſſen, von vernünftiger Überlegung und moraliſchen Ideen geleitete Thätigkeit; eine ſolche, welche durch Wertgefühle und Werturteile gelenkt iſt, d. h. durch vernünftige Vorſtellungen über die wirtſchaftlichen Zwecke und Mittel, ihre Beziehungen aufeinander und auf Nutzen und Schaden, auf Luſt und Leid für den Menſchen.

Mag der einzelne all ſolche Thätigkeit zunächſt und in erſter Linie für ſich ſelbſt üben, ſchon in den früheſten Zeiten hat doch die Mutter für ihre Kinder geſorgt. Und wie wir Ähnliches ſchon bei den höheren, klügeren Tieren ſehen, ſo treffen wir auch keine Menſchen, die nicht gruppenweiſe, durch Bluts - oder andere Bande verknüpft, ſich auf den Wanderzügen, bei der Jagd und dem kriegeriſchen Beuteerwerb gegenſeitig wirtſchaftlich helfen. Die Stammes -, Gentil -, Familienverfaſſung wird ſchlechtweg bei allen Menſchen zu einer Organiſation wirtſchaftlichen Zuſammenwirkens. Aus der ge - meinſamen Siedlung entſteht der wirtſchaftliche Verband der Mark und des Dorfes. Aus den Herrſchaftsverhältniſſen, der kriegeriſchen, der kirchlichen Organiſation entſtehen feſte Verpflichtungen zu Dienſt und Arbeit, zu Natural - und Geldlieferungen. Es kann keinen etwas entwickelteren ſocialen Körper geben, in dem nicht ſo ein Teil der wirt - ſchaftlichen Thätigkeit mit den Geſamtzwecken, mit der Regierung, der Gemeinſchaft in dauernde Verbindung gebracht wäre.

Erſcheint uns ſo die wirtſchaftliche Thätigkeit bei allen etwas höher ſtehenden Stämmen und Völkern bereits geſpalten in die individuale und hauswirtſchaftliche einer - ſeits, die geſamtwirtſchaftliche andererſeits, begreifen wir ſo, daß ſchon die Alten alle wirtſchaftliche Erörterung an Haus und Gemeinde anknüpften, ſo kommt nun mit der Raſſenmengung, der Klaſſendifferenzierung, dem Geld - und Kreditverkehr die Arbeits - teilung zwiſchen den einzelnen und den Familien hinzu: neben die Hauswirtſchaft, die nur für den eigenen Bedarf thätig iſt, ſtellt ſich die Tauſchwirtſchaft, die Produktion für andere, für den Abſatz, für den Markt. Es entſteht die wirtſchaftliche Unternehmung, die nicht wie die Familie zugleich für alle Zwecke des Lebens eine Anzahl Individuen zuſammenfaßt, ſondern nur für die Marktproduktion die Kräfte verſchiedener Perſonen vereinigt. Wenn die Familie und die Gemeinde im feſten, gebundenen Rahmen von Sitte und Recht wirtſchaften, das Individuum zu Dienſt und Hülfe zwingen, ihm aber auch ohne Entgelt Dienſte und Güter zukommen laſſen, ſo entſteht der Tauſch - und Geldverkehr mehr als freies Spiel der Intereſſen mit der ſteten Abſicht auf Gegen - leiſtung. Es entſteht an tauſend einzelnen Punkten anſetzend und immer weiter vordringend in der bisher weſentlich für den Eigenbedarf des Hauſes thätigen Geſellſchaft das tauſchwirtſchaftliche Syſtem, das die wirtſchaftliche Thätigkeit in die Güterproduktion, den Verkehr und die Konſumtion als nebeneinander ſtehende Teile oder Stationen zer - legt, das neben Haus, Gemeinde und Staat eine zunehmende Zahl geſellſchaftlicher Organe, Anſtalten, Geſchäfte, die ſog. Unternehmungen ſtellt, welche Güter produzieren und verkaufen, Handel treiben, Gewinn machen wollen. Die höhere, verbeſſerte Technik, die Anwendung erſparter Gütervorräte durch ſie charakteriſiert nun dieſen wichtigſten3Der Begriff des Wirtſchaftens.Teil der wirtſchaftlichen Thätigkeit der Kulturvölker. Erſt wo das wirtſchaftliche Leben dieſe Formen angenommen hatte, entſtand für gewiſſe Gruppen der Geſellſchaft ein ſo großer Wohlſtand, daß der Gegenſatz von Reichen und Armen ſtärker empfunden wurde, bildete ſich auch erſt in ausgeprägterer Weiſe die Unterſcheidung reicher und armer Stämme und Völker.

Im Bereich dieſer rechnenden und auf Gewinn ſpekulierenden Unternehmungen entſtand zuerſt die verſtandes - und zahlenmäßige Erfaſſung aller Vorgänge des Wirt - ſchaftslebens, das Buchen und Rechnen mit Wertgrößen und in Geldpreiſen, die Ver - gleichung von Einnahme und Ausgabe, von Aufwand und Erfolg, die Berechnung des Rohertrages der für eine Produktion aufgewendeten Koſten und des nach Abzug der Produktionskoſten erzielten Reinertrages. Und alle unter die Kontrolle ſolcher Über - legungen und Rechnungen geſtellte menſchliche Thätigkeit wird nun als ſpecifiſch wirt - ſchaftlich bezeichnet; die Tugend der Wirtſchaftlichkeit iſt die planvoll berechnende, klug den höchſten Erfolg mit den kleinſten Mitteln erreichende menſchliche Thätigkeit, ob ſie nun direkt auf Wirtſchafts - oder andere Zwecke gehe. Und jede andere nicht wirt - ſchaftliche Thätigkeit, die im Syſtem der Arbeitsteilung ein Entgelt fordert, wie die des Lehrers, Richters, Künſtlers, erhält durch dieſe Entgeltung, durch die Abſicht, mit ihr ſich einen Lebensunterhalt zu ſchaffen, eine wirtſchaftliche Seite.

So hat das Wort Wirtſchaften neben ſeiner urſprünglich konkreten Bedeutung noch eine Reihe von verwandten Nebenvorſtellungen in ſich aufgenommen; aber der Kern des Begriffs iſt derſelbe geblieben. Er umfaßt nicht alles Arbeiten , denn es giebt ein Arbeiten für höhere, nicht wirtſchaftliche Zwecke; nicht alle Thätigkeit für äußere Bedürfnisbefriedigung, denn dazu gehört auch das Turnen, das Spazierengehen, die Geſundheitspflege. Die Verflechtung der Thätigkeit in einen entgeltlichen Austauſch iſt nur einem freilich wachſenden Teil der wirtſchaftlichen Thätigkeit bei höherer Kultur eigen. Was das Individuum für ſich, für ſeine Familie, für Gemeinde und Staat wirtſchaftlich ſchafft, ohne direkt bezahlt zu werden, gehört dem Kreiſe nicht minder an, als was für den Markt produziert wird. Die wirtſchaftliche Produktion von Gütern, Vorräten, Waren iſt das Hauptgebiet der Wirtſchaftsthätigkeit; aber auch die Leiſtungen von wirtſchaftlichen Dienſten, die Handelsthätigkeit gehören dazu.

Die wirtſchaftliche Produktion beſteht ſtets in einem aktiven Eingreifen des Menſchen in den großen, nie ruhenden Naturprozeß; er ſoll ſo geſtaltet werden, daß die Kräfte der Natur dem Menſchen am wenigſten ſchaden, ihm am meiſten nützen. Die in unbegrenzter Menge von der Natur dem Menſchen ſo gebotenen Güter, daß er ſie ohne weiteres genießen und nützen kann, nennen wir freie, die in begrenzter Menge vorkommenden und daher in das Eigentum von einzelnen oder Korporationen gekomme - nen, vom Menſchen umgeformten nennen wir wirtſchaftliche Güter oder Güter ſchlechtweg. Die möglichſt reiche Verſorgung mit Gütern iſt der Hauptzweck des wirt - ſchaftlichen Schaffens. Je reichlicher dieſe Verſorgung wird, deſto geſicherter iſt unſere Exiſtenz, deſto mehr können Vorräte für die Zukunft zurückgelegt werden, deſto mehr kann ſtatt der direkten Gütererzeugung die indirekte, techniſch und geſellſchaftlich kom - plizierte angeſtrebt werden. Das geſchieht durch Schaffung komplizierterer techniſcher Vorrichtungen, wie z. B. durch Bau einer Waſſerleitung ſtatt des Schöpfens an der Quelle; jeder richtige Fortſchritt nach dieſer Seite ſetzt voraus, daß wir, mit wirtſchaft - lichen Vorräten verſehen, auf den augenblicklichen Erfolg verzichten können, um einen größeren künftigen Erfolg, eine Mehrerzeugung oder Kräfteerſparung in der Zukunft zu erreichen.

3. Der Begriff der Wirtſchaften als geſellſchaftlicher Organe und der Volkswirtſchaft. All das geſchieht nun in der Form von einzelnen Wirtſchaften . Wir verſtehen unter einer Wirtſchaft einen kleineren oder größeren Kreis zuſammengehöriger Perſonen, welche durch irgend welche pſychiſche, ſittliche und rechtliche Bande verbunden, mit und teilweiſe auch für einander oder andere wirt - ſchaften. Auch die einzelne Perſon kann unter Umſtänden eine Wirtſchaft für ſich führen oder bilden; meiſt aber iſt ſie ein Glied innerhalb einer oder mehrerer größerer Wirt -1*4Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ſchaften, wenigſtens einer Familienwirtſchaft. Jede Wirtſchaft hat einen zeitweiligen oder dauernden Standort, verfügt über wirtſchaftliche Mittel, über Güter und Kapi - talien, über die Arbeit ihrer Mitglieder, hat den Zweck, alle oder beſtimmte wirtſchaft - liche Zwecke ihrer Mitglieder zu befriedigen; ſie hat eine beſtimmte innere Organiſation, ſie grenzt ſich nach außen gegen andere Wirtſchaften, deren Standort, Perſonal und wirtſchaftliche Güter ab. Sie iſt ſtets ein Stück techniſch-zweckmäßiger Naturgeſtaltung und ſittlich-rechtlicher ſocialer Ordnung. Alle Wirtſchaftsorganiſation knüpft ſich zunächſt an die ſocialen Organe an, welche das Geſellſchaftsleben überhaupt für alle menſchlichen Zwecke bildet: Familie, Sippe, Gemeinde, Stamm, Staat ſind daher auch die weſent - lichen Wirtſchaftskörper der älteren Zeit; wo und wie überhaupt Herrſchafts - und Genoſſenſchaftsverbände ſich bilden, da fungieren ſie auch mehr oder weniger für die wirtſchaftlichen Zwecke.

Bei primitivſter wirtſchaftlicher Kultur, die noch kaum zur Sippen - oder Stammes - bildung geführt, ſind die erwachſenen Männer und Frauen faſt nur für ſich und ihre unerwachſenen Kinder wirtſchaftlich thätig. Wo etwas höhere wirtſchaftliche und politiſche Kultur Platz gegriffen hat, da greift die Haus - und Familienwirtſchaft und die Stammes - und Gemeindewirtſchaft ineinander. Der Schwerpunkt der wirtſchaftlichen Thätigkeit liegt zunächſt in Haus und Familie, in der auf gemeinſamen Gefühlen und Einrichtungen beruhenden Eigenproduktion für die Familie; der Tauſchverkehr fehlt oder iſt ganz un - erheblich. Nur für gewiſſe Zwecke des Viehtriebs, der Siedlung, Acker -, Wald - und Weidenutzung greift die Gemeinde - und Stammeswirtſchaft Platz. Die begabteren Raſſen und Stämme bringen es freilich frühe zu wichtigen, ihr Wirtſchaftsleben beherrſchenden Einrichtungen der Ackerverteilung und der Kriegs - und Dienſtverfaſſung, zu großen gemeinſamen Schutzbauten und Vorratsſammlungen. Man hat geſchwankt, ob man die Haus - oder die Stammes - und Dorfwirtſchaft als das weſentliche Merkmal dieſer Epoche des Wirtſchaftslebens hervorheben ſoll.

Indem die einzelnen Haus - und Familienwirtſchaften ſich differenzieren, einzelne zu größeren Herrſchaftsverbänden werden, indem ein gewiſſer Tauſchverkehr ſich ausbildet, die ſocialen Körper größer und feſter organiſiert werden, in ihrem Mittelpunkt größere Orte und Märkte ſich bilden, entſtehen wirtſchaftliche Zuſtände, welche ſich dadurch charakteriſieren, daß wohl noch die Mehrzahl der Familien das meiſte ſelbſt produziert, alſo auf dem Boden der Eigenwirtſchaft ſtehen bleibt, aber daneben doch in ſteigendem Umfang am Tauſchverkehr teilnimmt. Dieſer beſchränkt ſich freilich zunächſt haupt - ſächlich auf den ſtädtiſchen Markt, wo die Landleute ihre Rohprodukte, die Handwerker ihre Gewerbsprodukte ohne Handelsvermittelung verkaufen. Die antiken kleinen Stadtſtaaten, die meiſten mittelalterlichen Stadtgebiete und Kleinſtaaten ſind Gebilde dieſer Art. Da eine beherrſchende Stadt meiſt den Mittelpunkt bildet, ihr Markt und deſſen Einrichtungen das Charakteriſtiſche für ſolche Zuſtände ſind, ſo hat man ſie neuerdings durch den Begriff der Stadtwirtſchaft bezeichnet.

Wo größere ſociale Körper ſich bilden mit einer Reihe von Städten und Land - ſchaften, wo mit zunehmendem Tauſch - und Geldverkehr von der Familienwirtſchaft ſich beſondere Unternehmungen, d. h. lokal und organiſatoriſch für ſich beſtehende Wirt - ſchaften mit dem ausſchließlichen Zwecke des Handels und der Güterproduktion loslöſen, der Marktverkehr und der Handel immer mehr alle Einzelwirtſchaften beeinfluſſen und abhängig von ſich machen, wo zugleich die Staatsgewalt durch Münzweſen und Straßen - bau, durch Agrar - und Gewerbegeſetze, durch Verkehrs - und Handelspolitik, durch ein Geldſteuerſyſtem und die Heeresverfaſſung alle Wirtſchaften der Familien, Gemeinden und Korporationen von ſich abhängig macht, da entſteht mit dem modernen Staats - weſen das, was wir heute die Volkswirtſchaft nennen. Sie beruht ebenſo auf der Verflechtung aller Einzelwirtſchaften in einen unlöslichen Zuſammenhang durch den freien Tauſch - und Handelsverkehr, als auf den wachſenden einheitlichen Wirtſchafts - einrichtungen von Gemeinde, Provinz und Staat. Der Begriff der Volkswirtſchaft will eben das Ganze der nebeneinander und übereinander ſich aufbauenden Wirtſchaften eines Landes, eines Volkes, eines Staates umfaſſen. Die Geſamtheit alles wirtſchaftlichen5Der Begriff der Volkswirtſchaft.Lebens der ganzen Erde ſtellen wir uns, nachdem wir dieſen Begriff gebildet, als eine Summe geographiſch nebeneinander ſtehender und hiſtoriſch einander folgender Volks - wirtſchaften vor. Die Summe der heute einander berührenden, in gegenſeitige Abhängig - keit von einander gekommenen Volkswirtſchaften nennen wir die Weltwirtſchaft.

Man hat geſagt, der Begriff der Volkswirtſchaft ſei nur ein Sammelbegriff, eine Abkürzung für eine gewiſſe Summe von Einzelwirtſchaften, es fehle ja die einheitliche, centraliſtiſche Leitung, es ſeien immer die einzelnen Individuen, die wirtſchafteten. Als ob im menſchlichen Körper nicht auch die einzelnen Zellen die aktiv thätigen Elemente wären und unzählige Vorgänge in ihm ſich abſpielten, ohne daß ein Bewußtſein hiervon im Centralorgan vorhanden wäre. Uns iſt die Volkswirtſchaft ein reales Ganzes, d. h. eine verbundene Geſamtheit, in welcher die Teile in lebendiger Wechſelwirkung ſtehen und in welchem das Ganze als ſolches nachweisbare Wirkungen hat; eine Geſamtheit, welche trotz ewigen Wechſels in den Teilen, in ihrer Weſenheit, in ihren individuellen Grundzügen für Jahre und Jahrzehnte dieſelbe bleibt, welche, ſoweit ſie ſich ändert, ſich uns als ein ſich entwickelnder Körper darſtellt. Niemals werden tauſende von Einzelwirtſchaften, die verſchiedenen Staaten angehören, als eine Volkswirtſchaft vor - geſtellt und zuſammengefaßt. Nur wo Menſchen derſelben Raſſe und derſelben Sprache, verbunden durch einheitliche Gefühle und Ideen, Sitten und Rechtsregeln, zugleich ein - heitliche nationale Wirtſchaftsinſtitutionen haben und durch ein einheitliches Verkehrs - ſyſtem und einen lebendigen Tauſchverkehr verknüpft ſind, ſprechen wir von einer Volks - wirtſchaft. Die älteren Zeiten kannten wohl größere Staaten, d. h. politiſch-militäriſche Zuſammenfaſſungen von zahlreichen Stämmen und Stadtbezirken; erſt die neuere Entwickelung hat Volkswirtſchaften in unſerm Sinne erzeugt, und deshalb konnte dieſer Begriff erſt im Laufe der letzten drei Jahrhunderte ſich bilden.

Indem die Volkswirtſchaft ſich als ein relativ ſelbſtändiges Syſtem von Ein - richtungen, Vorgängen und Strebungen entwickelte, indem die wirtſchaftlichen Intereſſen zu ſelbſtändiger Vertretung in gewiſſen beſonderen geſellſchaftlichen Organen gelangten, wurde das volkswirtſchaftliche Leben für die Vorſtellungen der Menſchen ein begrifflich von Staat und Recht, Kirche und Familienleben, Kunſt und Technik getrenntes Gebiet. Freilich vollzog ſich die Trennung mehr in den Gedanken der Menſchen als in der Wirklichkeit. Denn die wirtſchaftenden Perſonen blieben nach wie vor Bürger und Unterthanen des Staates, Glieder der Familien, der Kirchen, der ſocialen Klaſſen, ſie handelten auch wirtſchaftlich nach wie vor in der Regel unter dem Impuls aller der Gefühle und Triebe, der Vorſtellungen und Ideen, welche ihrer Zeit und Raſſe, ihrer Geſittung und Bildung überhaupt entſprachen. Freilich konnte unter der Einwirkung der entwickelteren volkswirtſchaftlichen Intereſſen das ganze Triebleben und die ganze Moral, zumal in beſtimmten Kreiſen, ſich ändern. Aber immer blieben dieſe veränderten pſychiſchen Elemente Teile des einheitlichen Volksgeiſtes, wie ein großer Teil der wirt - ſchaftlichen Organe zugleich ſolche für andere Zwecke blieb, wie der Staat nicht auf - hörte, das Centralorgan für die verſchiedenſten Zwecke zu ſein.

Die Volkswirtſchaft iſt ſo ein Teilinhalt des geſellſchaftlichen Lebens; auf natürlich - techniſchem Boden erwachſen, iſt ihr eigentliches Princip die geſellſchaftliche Geſtaltung der wirtſchaftlichen Vorgänge. Auch das Techniſche, die wirtſchaftlichen Bedürfniſſe, die Gepflogenheiten des Ackerbaues, des Gewerbfleißes, des Handels erſcheinen der volks - wirtſchaftlichen Betrachtung als Züge gewiſſer Klaſſen oder des gemeinſamen Volkstums oder beſtimmter Völkergruppen. Die geſellſchaftlichen Beziehungen und Zuſammenhänge des Wirtſchaftslebens wollen wir erfaſſen, wenn wir die Volkswirtſchaft ſtudieren. Daher konnten zeitweiſe die Wert -, Preis -, Geld -, Kredit - und Handelserſcheinungen als der Kern der volkswirtſchaftlichen Fragen erſcheinen. Daher fragen wir, wenn wir die konkreten Züge einer einzelnen Volkswirtſchaft erkunden wollen, zwar zuerſt nach Größe, Lage und Klima des Landes, nach ſeinen Naturſchätzen und ſeinen natürlichen Verkehrs - mitteln, aber wichtiger iſt uns doch, gleich zu erfahren, wie das Volk dieſe natürlichen Gaben nutze, durch Veranſtaltungen einträglich mache; wir wollen wiſſen, wie groß und dicht die Bevölkerung und die vorhandene Kapitalmenge ſei, noch mehr, wie dieſe6Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Menſchen geiſtig und ſittlich beſchaffen, techniſch geſchult, wie ihre Sitten und Bedürf - niſſe entwickelt, wie ſie in Familien, Höfen, Dörfern und Städten organiſiert ſeien, wie Vermögen und Kapital verteilt, Arbeitsteilung und ſociale Klaſſenbildung geſtaltet, wie das Marktweſen, der Handel, das Geldweſen geordnet ſeien, wie Finanzen und ſtaats - wirtſchaftliche Inſtitutionen die Einzelwirtſchaften und den wirtſchaftlichen Fortſchritt beeinfluſſen. Denn die Volkswirtſchaft iſt das als ein Ganzes gedachte und wirkende, von dem einheitlichen Volksgeiſt und von einheitlichen materiellen Urſachen beherrſchte Syſtem der wirtſchaftlich-geſellſchaftlichen Vorgänge und Veranſtaltungen des Volkes.

Zu dieſen Veranſtaltungen gehört auch der Staat. Ohne eine feſt organiſierte Staatsgewalt mit großen wirtſchaftlichen Funktionen, ohne eine Staatswirtſchaft als Centrum aller übrigen Wirtſchaften kann eine hochentwickelte Volkswirtſchaft nicht gedacht werden. Dieſe Staatswirtſchaft mag, wie die befehlende und eingreifende Staats - gewalt ſelbſt, eine viel größere Rolle in dieſer, eine viel kleinere in jener Volkswirtſchaft ſpielen, vorhanden iſt ſie ſtets. Es war ein ſchiefes Phantaſiebild, ſich eine natürliche Volkswirtſchaft außerhalb und getrennt von allem Staate und aller Staatseinwirkung vorzuſtellen. Es führt auch leicht zu falſchen Schlüſſen, wenn man das ſtaatliche Leben ſich ausſchließlich unter dem Bilde eines Syſtems centraliſierter Kräfte, das volkswirt - ſchaftliche als unter dem eines Syſtems freier, ſich ſelbſt beſtimmender Einzelkräfte vor - ſtellt. Beides ſind die verſchiedenen Seiten eines und desſelben ſocialen Körpers. Im Staat wie in der Volkswirtſchaft iſt eine Einheit pſychiſcher Kräfte vorhanden, die unabhängig von äußerer Organiſation wirken; im Staat und in der Volkswirtſchaft vollziehen ſich zahlreiche Vorgänge auf der Peripherie ohne direkte und bewußte Leitung von einem organiſierten Centralpunkt aus. Auch die Volkswirtſchaft hat centrale Organe, wie z. B. große Banken, centrale Verkehrsinſtitute, Wirtſchaftsvertretungen, Handels - und Ackerbauminiſterien. Nur ſind ſie nicht ſo zahlreich und ſo centraliſiert, wie die Organe des Staates. Die politiſchen Funktionen bedürfen in umfaſſenderem Maße der einheitlichen Zuſammenfaſſung. Die Volkswirtſchaft iſt ein halb natürlich-techniſches, halb geiſtig-ſociales Syſtem von Kräften, welche zunächſt unabhängig vom Staat ihr Daſein haben, verkümmern oder ſich entwickeln, die aber bei aller höheren und kompli - zierteren Geſtaltung doch von Recht und Staat feſte Schranken geſetzt erhalten, nur in Übereinſtimmung mit dieſen Mächten ihre vollendete Form empfangen, in ſteter Wechſelwirkung mit ihnen bald die beſtimmenden, bald die beſtimmten ſind.

Wenn wir ſo die Volkswirtſchaft als einen Teilinhalt des geſellſchaftlichen Lebens, als die eine Seite des ſocialen Körpers bezeichnen, ſo liegt es auch nahe, daß ſie nur im Zuſammenhang mit den übrigen geſellſchaftlichen Erſcheinungen zu verſtehen iſt. Wir verſuchen daher einleitend zu einem Verſtändnis des geſellſchaftlichen Lebens über - haupt und hauptſächlich der pſychiſchen, ſittlichen und rechtlichen Grundlagen desſelben zu kommen. Dieſe Betrachtungen geben uns zugleich Gelegenheit, einige der principiellen Fragen, welche auf dem Grenzgebiete zwiſchen Volkswirtſchaftslehre einerſeits und Staatslehre, Pſychologie, Ethik und Rechtsphiloſophie andererſeits liegen, ſchon hier zu erledigen. Daran knüpfen ſich dann am paſſendſten die nötigen Bemerkungen über die Geſchichte der Litteratur und die Methode unſerer Wiſſenſchaft an.

II. Die pſychiſchen, ſittlichen und rechtlichen Grundlagen der Volkswirtſchaft und der Geſellſchaft überhaupt.

1. Die Zwecke und die Mittel des geſellſchaftlichen Zuſammenſchluſſes.

  1. Herbert Spencer, Die Principien der Sociologie. 4 Bde. Deutſch 1877 97.
  2. Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers. 4 Bde. 1875 78.
  3. Tarde, Les lois de l’imitation. 1895. 2. Aufl.

4. Gehen wir, um zu einem erſten rohen Verſtändnis des geſellſchaftlichen Lebens zu kommen, von der ſicherſten und allgemeinſten ſocialen Erfahrung aus, ſo iſt es7Der Geſchlechtszuſammenhang. Die Kriegs - und Friedensgemeinſchaft.unzweifelhaft die, daß die Menſchen aller Raſſen, aller Zeiten, aller Erdteile, ſofern ſie nur etwas über den roheſten Zuſtand ſich erhoben hatten, ſtets in Gruppen vereinigt gefunden wurden. Die kleineren Gruppen, die Horden oder Stämmchen, beſtehen aus einer Anzahl blutsverwandter Individuen verſchiedenen Alters und Geſchlechts; die größeren, die Stämme und Völker, aus einer Summe zuſammenhaltender Untergruppen, d. h. Familien und Sippen, Gemeinden, Gilden oder ſonſtwie Vereinten. Die kleineren älteren wie die größeren ſpäteren Gemeinſchaften ſtehen ſich teils feindlich, teils freundlich gegenüber; ſtets aber ſind die Mitglieder der Gruppen unter ſich enger verbunden als mit den Gliedern anderer, häufig ihnen feindlicher Gruppen. Nirgends hat man in hiſtoriſcher Zeit anders als ausnahmsweiſe ganz iſoliert lebende Menſchen getroffen, die nachweislich plötzlich angefangen hätten, ſich zuſammen zu thun, ein Gemein - weſen zu gründen. Der Menſch gehörte ſtets zu den Herdentieren. Aber er iſt kein ζῶον πολιτικὸν in dem Sinne, daß ein unterſchiedsloſer Geſelligkeitstrieb ihn veranlaßte, Anſchluß an jedes andere menſchliche Weſen zu ſuchen; er thut dies ſtets nur in der Weiſe, daß der Anſchluß an die einen Abſonderung von den anderen bedeutet.

Was ſind nun aber die äußeren, jedem ſichtbaren Zwecke, wegen deren der Zuſammen - ſchluß ſich vollzieht; erſt wenn wir auf ſie einen Blick geworfen, werden wir uns über die Mittel verſtändigen können, durch welche aller Anſchluß, alle Verſtändigung erfolgt. Hauptſächlich drei Zwecke treten uns da als die wichtigſten entgegen, deren Verfolgung die Menſchen ſtets zur Gemeinſchaft und Gruppenbildung veranlaßt hat, welche ſtarke Gemeingefühle in Zuſammenhang mit den betreffenden Intereſſen und Vorſtellungen bei den Teilnehmenden erzeugen.

Die Geſchlechtsverbindung und der Blutszuſammenhang iſt das ſtärkſte und älteſte Princip geſellſchaftlicher Gruppierung. Lange Zeiträume hindurch haben nur die Blutsverwandten und ihre Nachkommen Stämmchen und Stämme gebildet. Die einheitliche Abſtammung und das Zuſammenaufwachſen ergab ähnliche Eigen - ſchaften und ſtarke ſympathiſche Gefühle; nur wer desſelben Blutes war oder künſtlich als ſolcher durch äußerliche Blutmiſchung fingiert wurde, war Genoſſe, jeder andere war Feind. Wenn im Stamme Untergruppen ſich bildeten, ſo waren ſie ſelbſt wieder durch die Abſtammung beſtimmt, wie die Stellung jedes einzelnen in Untergruppe und Stamm; das Verhältnis zu anderen Stämmen hing weſentlich von der Vorſtellung ab, ob man ſich für verwandt hielt. Auch nachdem längſt andere Bande der Gemeinſam - keit hinzugekommen und die Vorſtellungen über den Blutszuſammenhang gelockert, teil - weiſe erſetzt hatten, blieb das Gefühl gemeinſamer Abſtammung für die Mehrzahl der Menſchen der ſtärkſte Kitt, der die Gruppen, Stämme, Nationen, Völker und Raſſen zuſammenhält, blieben die immer neu ſich knüpfenden Verwandtſchaftsbande in den engeren Kreiſen der Geſellſchaft die ſtärkſte Quelle für ſympathiſche Gefühle und die wichtigſte Veranlaſſung zu gemeinſamer auch wirtſchaftlicher Thätigkeit, zu Verträglich - keit, zu Aufopferung, zur Entſtehung aller möglichen Tugenden. Wir kommen auf dieſe Dinge unten in dem Abſchnitt über Familie und Geſchlechtsverfaſſung zurück.

Die Friedens - und Kriegsgemeinſchaft erwächſt naturgemäß aus dem Blutszuſammenhang. Die Stämme und Völker ſind nach innen durch die ſtarken ſympathiſchen Gefühle und tägliches Zuſammenſein auf den Frieden, nach außen auf die gemeinſame Abwehr aller Gefahren und aller Feinde angewieſen; nur unter der Doppelbedingung des Friedens nach innen, des gemeinſamen Kampfes nach außen können ſie ſich erhalten, können ſie ſich fortpflanzen und können ſie wachſen. Zugleich iſt klar, daß die Veranſtaltungen hiefür eine Menge neuer Vorſtellungen und Intereſſen wecken, und daß hieran einerſeits ſtärkere Gefühle und Triebe des Haſſes, der Kampfluſt gegen - über Außenſtehenden ſich knüpfen, und daß andererſeits damit der innere Zuſammenhalt wächſt; nichts ſtärkt die Gemeingefühle mehr als gemeinſame Kämpfe und die Erinne - rung daran; nichts dämpft innerhalb des Stammes die Ausbrüche der rohen Leidenſchaft mehr als die Friedensveranſtaltungen. Mögen ſie noch ſo langſam erwachſen; ſchon die geordnete Blutrache, dann das Kompoſitionenſyſtem ſind tiefgreifende Verſuche der Streiteinengung, zuletzt ſiegt das Verbot jeder Selbſthülfe und die Erſetzung jeder8Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.privaten Rache durch den Richterſpruch der Älteſten, der Fürſten: das große Princip wird proklamiert, daß im Staate nicht der Fauſtkampf, ſondern die Gerechtigkeit herrſchen ſolle, daß alle Reibungen und Kämpfe im Inneren nur innerhalb enger Schranken ſich be - thätigen dürfen. Und ſolches ſcheint da doppelt nötig, wo man aller Kräfte nach außen bedarf. Die ſociale Zucht, die Unterordnung der einzelnen unter gemeinſame Zwecke, die Zuſammenfaſſung der Kräfte gelingt in erſter Linie durch den Kampf und den Krieg mit anderen Stämmen und Gemeinweſen. Die Stämme, deren Lebensweiſe körperliche Kraft und Ausbildung des Mutes begünſtigte, in denen kühne Kriegshäuptlinge aus den freiwilligen Beutezügen heraus ein allgemeines Zwangsprincip der kriegeriſchen Organiſation herzuſtellen wußten, wurden fähig, die Mittelpunkte von Stammes - bündniſſen zu werden, ſchwächere Nachbarn zu vernichten oder zu unterwerfen, Reſte halb aufgeriebener Stämme ſich in verſchiedener Form einzuverleiben. Solches war nur möglich durch Aufrichtung einer befehlenden Gewalt, durch Gehorſam, Disciplin, kriege - riſche Übung, Vorratsſammlung, Schutzbauten, kurz durch eine geſellſchaftliche Einrichtung, die eine königliche Gewalt überhaupt für alle Lebensgebiete ſchuf, in ihre Hand einen Machtapparat legte, der fähig war, Recht zu ſprechen, Frieden zu ſtiften, gemeinſame Zwecke aller Art zu verfolgen. Daß ſich das politiſche Staatsweſen aus dem Kriegs - weſen entwickelt hat , ſagt Tylor, unterliegt keinem Zweifel. Eine konſtitutionelle Regierung iſt eine Einrichtung, durch welche eine Nation vermittelſt der Maſchinerie eines Militärdespotismus ſich ſelbſt regiert. Jedenfalls iſt durch nichts ſo ſehr als durch die militäriſche Organiſation der Einfluß der Autoritäten in der Geſellſchaft geſteigert, das Princip einer einheitlich-befehlenden Gewalt über gehorchende Maſſen ausgebildet worden, hat durch nichts ſo ſehr die rechtſprechende Gewalt die nötige Macht und Exekutive erhalten, ſo daß wir heute, den Kernpunkt aller ſtaatlichen Organiſation in der Kriegshoheit und Juſtizhoheit ſehend, nicht fehlgehen, wenn wir ſagen: alle höhere Geſellſchaftsentwickelung geht aus von der Friedensgemeinſchaft nach innen und von der Kampfesgemeinſchaft nach außen.

Die Siedlungs - und Wirtſchaftsgemeinſchaft ſchließt ſich direkt an die primitiven Bluts -, Friedens - und Kriegsgemeinſchaften an. Auch ſo lange dieſe noch unſtet von Ort zu Ort zogen, je nachdem die Möglichkeit der Ernährung, der Sieg oder die Niederlage ſie weiter trieb, hatten ſie zeitweiſe gemeinſam beſtimmte Gaue, Thäler, Ebenen inne. Aber die Beziehungen zum Boden wurden erſt dauernd und tiefgreifend, als ſie den Acker -, Garten - und Waſſerbau, als ſie gegen Feinde durch Wall und Graben ſich dauernd zu ſchützen, Häuſer zu bauen, den Boden zu teilen gelernt hatten. Mit der feſten Siedlung, dieſem ſo überaus wichtigen wirtſchaftlichen, ſtets urſprünglich durch die Gemeinſchaft vorgenommenen Akte entſtehen die dauernden Nachbarſchaftsbeziehungen, das Heimatsgefühl, die Vaterlandsliebe. Die geſamten Glieder eines Stammes ſehen ſich nun ſeltener, die am ſelben Orte wohnenden häufiger; neben die Beziehungen der Bluts - treten die der Ortsgemeinſchaft; es bilden ſich für wirtſchaftliche, für Schutz -, für Verkehrs - und andere Zwecke die Orts - und Nachbar - verbände; die Gebietskörperſchaften umfaſſen bald Leute verſchiedenen Blutes; aus dem Stamme wird der mit einem beſtimmten Lande verknüpfte Staat. Wir kommen unten beim Siedlungsweſen und den Gebietskörperſchaften hierauf zurück.

Mit der feſten Siedlung und der erſten Bodenverteilung erwachſen innerhalb des ſocialen Körpers eine Reihe kleinerer feſter gefügter Gemeinſchaften, die Familien mit ihrer Haus - und Hofwirtſchaft, die Sippen, d. h. die Geſchlechtsverbände, die Grund - herrſchaften, die Ortsgemeinden und Gaue, welche alle in ſich nun ſtärkere Gemeingefühle, feſtere Ordnungen der Herrſchaft und Genoſſenſchaft ausbilden, wie umgekehrt beſtimmte Gegenſätze und Spaltungen mit der Berufs - und Arbeitsteilung, mit der verſchiedenen Stellung und dem verſchiedenen Beſitz ſich ergeben. Und wo vollends der Tauſch - und Geldverkehr ſich entwickelt, die Arbeitsteilung weiter voranſchreitet, ſociale Klaſſen ent - ſtehen, da bilden ſich in ſteigendem Umfang eine Menge vielverzweigter wirtſchaftlicher Beziehungen, Abhängigkeits -, Dienſt - und Vertragsverhältniſſe, neue dauernde Gruppie - rungen aller Art neben den tauſendfachen täglich erfolgenden vorübergehenden Geſchäfts -9Siedlungs -, Wirtſchafts - und ſonſtige Gemeinſchaft.berührungen; Staat und Gemeinde fordern Steuern und Dienſte aller Art nach kompli - zierten Maßſtäben: es bildet ſich das unendlich verzweigte Syſtem wirtſchaftlicher Gemeinſchaft, das wir ſchon oben (S. 2 4) kurz zu ſchildern ſuchten, das in ſeinem Schoße aber ebenſo ſehr die Gegenſätze ſteigert, die Individualitäten entwickelt, die einzelnen durch die Luſt an der Herrſchaft, am Beſitz und am Mehrhaben in Gegenſatz bringt, als es immer wieder über die Gegenſätze hinweg durch größere gemeinſame Organiſationen und Schaffung ſtärkerer Gemeingefühle die Elemente wieder zuſammen - faßt.

Sind die Blutsbande, die Kriegs - und Friedensgemeinſchaft und die wirtſchaft - lichen Beziehungen die elementarſten und wichtigſten Veranlaſſungen zu geſellſchaftlicher Organiſation, ſo entſtehen mit der höheren Kultur daneben eine Reihe weiterer Zwecke, wie Gottesdienſt, Erziehung, Kunſt, Geſundheitspflege und Ähnliches, welche ſociale Beziehungen und Gemeinſchaften und damit neue Vorſtellungsreihen, Gefühle und Ziele des Handelns erzeugen. Es bilden ſich jene höheren Funktionen und Formen des geſellſchaftlichen Lebens, wie Sitte, Recht, Moral, Religion, deren Ent - wickelung zuerſt als Mittel für die älteren nächſtliegenden Zwecke, dann aber als Selbſt - zweck und beherrſchender Regulator alles Handelns erſcheint. Ihr eigenartiges Daſein ſchafft wieder neue geſellſchaftliche Beziehungen und Gemeinſchaften, auf die wir weiterhin zu kommen haben werden.

Hier waren ſie nur zu erwähnen, um eine Vorſtellung davon zu erwecken, wie die geſellſchaftlichen Zuſammenhänge ſich anknüpfen an eine Reihe gemeinſam erſtrebter Zwecke und Ziele. Jeder dieſer Zwecke erzeugt eigenartige Zuſammenhänge, Gemein - ſchaften, Vorſtellungen und Gefühle; jeder muß aber dulden, daß die anderen neben ihm verfolgt werden. So entſteht ein Syſtem, eine Hierarchie von ſocialen Zwecken und Zielen, wobei die einen ſich teils als Mittel für die anderen, teils als Hindernis heraus - ſtellen; es muß alſo eine Neben - und Unterordnung der Zwecke, eine Ineinanderfügung und Anpaſſung, ein geordneter Zuſammenhang in den Gefühlen, Vorſtellungen und In - ſtitutionen ſich herſtellen. Hier liegt gleichſam das Geheimnis der ſocialen Organiſation, hier liegt der Punkt, von dem aus es zu verſtehen iſt, daß Familien -, Rechts -, Staats - und Wirtſchaftsverfaſſung ſich ſtets gegenſeitig bedingen, nie getrennt verſtanden werden können.

Mit all dieſen Thatſachen und ihrem Zuſammenhang iſt aber noch keineswegs erklärt, wodurch die Menſchen in Stand geſetzt ſind, für alle möglichen Zwecke Ver - bindungen anzuknüpfen. Man hat darauf hingewieſen, daß auch die höheren Tiere herdenweiſe zu Verteidigungs - und Arbeitsgemeinſchaften zuſammentreten. Man hat geſagt, der Menſch ſei ein kräftigeres und klügeres Raubtier, aber auch ein mit viel ſtärkeren Gemütsimpulſen und Gemeinſchaftsgefühlen ausgeſtattetes Herdentier als die anderen Lebeweſen; darauf beruhe ſeine Herrſchaft über die ganze Natur und die Ausbildung ſeiner ſocialen Fähigkeiten. So viel ſcheint jedenfalls klar, daß die feinere Organiſation unſeres Körpers, unſerer Nerven, unſeres ſeeliſchen Apparates eine leichtere Verſtändigung der Menſchen als der Tiere untereinander herbeiführt. Die höhere Stellung des Menſchen beruht darauf, daß er beſſere, reichere Verſtändigungsmittel für ſociales Zuſammenwirken und damit ſtärkere Gemeingefühle, ein helleres Bewußtſein über Zwecke höherer und fern - liegender Art, ihre Folgen, ihre gemeinſame Verfolgung ſich erwarb. Eine ſtarke Aus - bildung der Mit - und Gleichgefühle ſtand an der Geburtsſtätte alles geſellſchaftlichen Daſeins. Kein anderes Weſen ſteht ſo unter der anſteckenden Herrſchaft der Umgebung von Seinesgleichen, kein anderes kann ſich ſchon durch Geſten ſo verſtändigen, Gefühle und Vorſtellungen austauſchen. Wie der Menſch gähnt und lacht und tanzt, wenn er gähnen, lachen und tanzen ſieht, wie die rauſchende Militärmuſik in hunderten von Gaſſenjungen unwillkürlich Reflexbewegungen und Muskelgefühle erzeugt, die ſie fort - reißt, im Takte mit zu marſchieren, ſo wirkt alles Menſchliche anſteckend. Wie der junge Vogel ſingen lernt durch Nachahmung der alten, ſo und in noch viel höherem Grade ahmt der Menſch nach; alle Erziehung der Kinder beſteht in unzähligen Anläufen und Aufforderungen zur Nachahmung. Und ſo lange der Menſch friſch und bildungsfähig10Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.bleibt, ahmt er bewußt oder unbewußt täglich und ſtündlich Unzähliges nach. Wie der Hypnotiſeur ſein Medium, ſo zwingen überall die führenden Menſchen die Maſſe in ihren Bannkreis, und tauſchen alle ſich Berührenden ihre Gefühle und Gepflogenheiten unwillkürlich aus. So konnte Tarde ſagen: eine Geſellſchaft iſt eine Gruppe von Weſen, die ſich untereinander nachahmen, oder die ähnliche Nachkommen ſolcher Weſen ſind, die ſich früher nachgeahmt haben.

Die ununterbrochene und unwiderſtehliche, pſychiſche Wechſelwirkung und Suggeſtion aller ſich Berührenden ſtellt den verbindenden Strom dar, der gemeinſame Gefühle, Verſtändigung, Ineinanderpaſſung, ſowie Abſchließung gegen außen herbeiführt. Aber dieſer Strom wäre ewig ſchwach geblieben, wenn er nicht durch die Sprache, die Schrift, die Vervielfältigung derſelben, ſowie durch die Methoden ihrer Verbreitung und Benutzung eine Kraft erhalten hätte, welche ſich zu der wortloſen Verſtändigung und Wechſelwirkung verhält, wie die heutigen ſtarken elektriſchen Induktionsſtröme zu den ſchwachen galva - niſchen Strömen.

2. Die pſychophyſiſchen Mittel menſchlicher Verſtändigung: Sprache und Schrift.

  1. Herder, Über den Urſprung der Sprache. 1772.
  2. Jakob Grimm, Über den Urſprung der Sprache, Kleine Schriften 1, 1864.
  3. Lazarus, Geiſt und Sprache, Leben der Seele. 2, 1857.
  4. Steinthal, Der Urſprung der Sprache im Zuſammenhang mit den letzten Fragen alles Wiſſens. 1877. Steinthal, Die Entwickelung der Schrift. 1852.
  5. Wuttke, Geſchichte der Schrift und des Schrifttums. 1872.
  6. Faulmann, Illuſtrierte Geſchichte der Schrift. 1880.
  7. Kirchhoff, Die Handſchriftenhändler des Mittelalters. 1853.
  8. Wattenbach, Das Schriftweſen des Mittel - alters. 1871.
  9. Treutlin, Geſchichte unſerer Zahlzeichen. 1875. Falkenſtein, Geſchichte der Buchdruckerei. 1840.
  10. Kirchhoff, Beiträge zur Geſchichte des deutſchen Buchhandels. 1851 53. Archiv für Geſchichte des deutſchen Buchhandels.
  11. Buchner, Beiträge zur Geſchichte des deutſchen Buchhandels. 1874.
  12. Jul. Duboc, Geſchichte der engliſchen Preſſe. 1873.
  13. Wuttke, Die deutſchen Zeitſchriften und die Entſtehung der öffentlichen Meinung. 1875. Karl v. Raumer, Geſchichte der Pädagogik ſeit dem Wiederaufblühen klaſſ. Studien bis auf unſere Zeit. 5. Aufl. 1877 ff.
  14. Karl Schmidt, Geſchichte der Pädagogik. 3. Aufl. 1873 76.
  15. Sander, Lexikon der Pädagogik. 1883. Edwards, Memoris of libraries. 1859. 2. Bde.
  16. Derſ., Libraries and founders of libraries. 1865.

5. Die Sprache. Die Sprachbildung iſt Geſellſchaftsbildung, die Sprachlaute ſind Verſtändigungslaute. Man hat beobachtet, daß gewiſſe Tiere bis zu 10, 12, ja 20 verſchiedene Töne haben, deren jeder den Genoſſen eine andere Stimmung andeutet. Der gemeine Mann ſoll ſelbſt mitten in der heutigen, aufgeklärten Geſellſchaft nicht über 300 Worte gebrauchen, während der Gebildete es bis zu 100000 und mehr bringt. In dieſen Zahlen drückt ſich wenigſtens einigermaßen die ſteigende Fähigkeit zur Ver - geſellſchaftung aus.

Die Entſtehung der Sprache iſt eine Seite an dem Vernünftigwerden des Menſchen. Die Anſchauungen und Vorſtellungen werden erſt in wenigen, dann in mehreren Lauten und Worten vergegenſtändlicht. Der Menſch will ſich dem Menſchen verſtändlich machen; wie wir ſchon ſahen, wirken Gebärden, Gefühle und Leidenſchaften anſteckend; was den einen erfüllt, klingt ſympathiſch beim anderen an. Das Fühlen, Vorſtellen und Denken kommt durch das Zuſammenſein mit anderen in Fluß, und ſo entſtehen durch die Geſellſchaft und durch die ſympathiſchen Gefühle die Verſtändigungslaute und mit ihr die fixierten Vorſtellungen und Begriffe, das Denken ſelbſt. Alle Erweiterung feſter Beobachtung, alle umfaſſende Klaſſifikation der Erſcheinungen, alle Anhäufung der Erfahrung, alle Entſtehung allgemeiner Urteile und das Weiterſchließen daraus hängt an der Ausbildung feſter Lautzeichen. Die Autorität des Vaters, des Häuptlings wirkt mit, das loſe, eben erſt entſtehende Band, das im verſtandenen Worte liegt, etwas feſter zu ziehen. Es entſteht mit der Sprache und dem Denken das geſellſchaftliche Bewußtſein.

Freilich zunächſt nur in wenig feſter Form. Die Urſprachen umfaſſen kleine Gruppen von Menſchen. Je niedriger die Kultur, deſto zahlreichere verſchiedene Sprachen11Die Sprache als Vergeſellſchaftungsmittel.giebt es, und deſto raſcher bilden ſie ſich ſelbſt um. Die unſtete Lebensweiſe wandernder Jägerſtämme erlaubt nicht das ſtete und ſcharfe Feſthalten derſelben Lautzeichen. Die Urenkel verſtehen die Urgroßväter nicht mehr; jeder ſich abſplitternde Teil hat bald eine eigene Sprache. Wenn es jetzt gegen 3000 Sprachen auf der Erde geben ſoll, ſo kommen davon auf das kultivierte Europa nur 53. Je größer die Gemeinweſen werden, deſto größere Sprachgebiete mit um ſo ausgebildeterer Sprache entſtehen.

Der begabtere Stamm hält das Werkzeug der Gedanken feſter; die komplizierteren Kulturvorgänge, die feſtere Gliederung der Geſellſchaft, die Vergrößerung des Stammes und Staates befeſtigen die Sprache und breiten ſie aus. Das Bedürfnis, durch deut - liche, klare Sprache ſich einem immer größeren Kreis Verſchiedenartiger deutlich zu machen, wird von den Herrſchenden, wie von den Tauſchenden empfunden. Einzelne größere Sprachen ſind weſentlich mit durch den Verkehr in den Grenzgebieten, wo aus - gleichender Güteraustauſch herrſchte, entſtanden. Die Ausbildung der Sprache iſt ein ſtündlich und täglich ſich erneuernder Vertrag aller mit allen, welche ſie reden. Im Sprachſchatz ſammelt ſich das Anſchauen, Vorſtellen und Denken aller vorangegangenen Geſchlechter. Sie iſt die ſymboliſche Kapitaliſierung der geiſtigen Arbeit eines Volkes. Sie iſt das Inſtrument der geiſtigen Erziehung für die heranwachſende Generation.

Die Sprache ſagt Herbart iſt es, welche das eigentliche Band der menſch - lichen Geſellſchaft knüpft. Denn vermittelſt des Wortes, der Rede geht der Gedanke und das Gefühl hinüber in den Geiſt des anderen. Dort wirkt er neue Gefühle und Gedanken, welche ſogleich über die nämliche Brücke wandern, um die Vorſtellungen des erſteren zu bereichern. Auf dieſe Weiſe geſchieht es, daß der allermindeſte Teil unſerer Gedanken aus uns entſpringt, vielmehr wir alle gleichſam aus einem öffentlichen Vorrat ſchöpfen und an einer allgemeinen Gedankenerzeugung teilnehmen, zu welcher jeder einzelne nur einen verhältnismäßig geringen Beitrag liefern kann. Aber nicht bloß die Summe des geiſtigen Lebens, ſofern ſie im Denken beſteht, iſt urſprünglich Gemeingut, ſondern auch der Wille des Menſchen, der ſich nach Gedanken richtet. Die Ent - ſchließungen, die wir faſſen, indem wir auf das, was andere wollen, Rückſicht nehmen, geben deutlich zu erkennen, daß unſere geiſtige Exiſtenz urſprünglich geſellſchaftlicher Natur iſt. Unſer Privatleben iſt nur aus dem allgemeinen Leben abgeſondert, in welchem es ſeine Entſtehung, ſeine Hülfsmittel, ſeine Bedingungen, ſeine Richtſchnur findet und immer wieder finden wird.

Die hiſtoriſche Ausbildung der großen Kulturſprachen, ihre Fixierung durch die Schrift, die ſiegreiche Herrſchaft eines Dialekts über die anderen, die räumliche Aus - breitung der großen Sprachen ſtellt den Prozeß des geiſtigen Werdens der Volksſeele, des Volkscharakters dar. Wie man das germaniſche Accentgeſetz, nach welchem im ein - fachen Wort die Wurzelſilbe den Hauptton trägt, in Zuſammenhang brachte mit den Charakterzügen unſeres Volkes, aus welchen auch ſein Heldengeſang, ſeine Heldenideale, ſein geiſtiges Weſen bis auf unſere Tage entſprang, wie man aus den geſamten Sprach - denkmälern unſeres Volkes ein Syſtem der nationalen Ethik hat aufbauen wollen (W. Scherer), ſo giebt es auch für die anderen Kulturvölker und ihr innerſtes Weſen keine anderen, beſſeren Schlüſſel der Erkenntnis als ihre Sprache und ihre Sprach - denkmäler.

Die Berührung der Stämme und Völker untereinander aber von den erſten An - fängen des Tauſchverkehrs bis zum heutigen Welthandelsſyſtem beruht auf der Mehr - ſprachigkeit der Händler, der Gebildeten, der Regierenden, auf der Herrſchaft von Welt - ſprachen, wie ſie einſt das Griechiſche und Lateiniſche waren, dann das Franzöſiſche und Engliſche wurden. Die Wirkung der nationalen Kulturen aufeinander, die Überlieferung der geiſtigen Schätze vergangener Völker auf die ſpäteren, die zunehmende Übereinſtimmung aller geſellſchaftlichen Einrichtungen der verſchiedenen Völker ruhen auf derſelben Grund - lage. Das Ideal einer letzten fernen Zukunft wäre die einheitliche Weltſprache.

6. Die Schrift iſt es, welche gleichſam als potenzierte Sprache erſt alle die tiefergreifenden Wirkungen derſelben erzeugt hat.

12Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

Um Vorſtellungen und Gedanken zu fixieren, Mitteilungen in die Ferne zu machen und ihnen eine längere Dauer zu ſichern, haben rohe Völker Kerbhölzer, Gürtel mit Schnüren, an denen verſchiedenfarbige Muſcheln befeſtigt ſind, dann die Tätowierung angewandt. Die Inkas in Peru hatten eine Knoten -, die Azteken und Chineſen eine Bilderſchrift. Durch die Verkürzung der Bilder und ihre Verbindung mit Strichen entſtand die Wortſchrift der Chineſen und Altägypter mit ihren Tauſenden von Zeichen. Es war ein ungeheurer Fortſchritt, daß die Zeichen immer mehr den Charakter des Bildlichen abſtreiften, zu Symbolen für Silben und Buchſtaben wurden; den Phönikern gebührt das ungeheure Verdienſt, zuerſt mit 22 Lautzeichen alle Worte geſchrieben zu haben. Alle Kulturvölker, mit Ausnahme der aſiatiſchen, führen den Stammbaum ihrer Schriftzeichen auf das phönikiſche Alphabet zurück.

Dieſelben Alphabetzeichen dienten dann urſprünglich auch zum Schreiben der Zahlen; erſt ſpäter wandelten ſich dieſe Zeichen zu beſonderen abweichenden Zügen um. Unſere heutige Zahlenſchreibweiſe ſtammt aus Indien, iſt durch die Araber im 13. Jahr - hundert nach Italien gekommen, hat von da im 16. Jahrhundert über Europa ſich verbreitet.

Erſt wer leſen kann, iſt ein Menſch, ſagt ein armeniſches Sprichwort. Das ver - nünftige Leben beruht auf dem Verſtändnis der Schrift, meint Diodor. Der Gedanke, der mit dem geſprochenen Worte zündet, aber auch im nächſten Augenblicke verweht, wird in der Schrift in ein totes Zeichen gebannt, das dem Auge für lange Zeiträume, für Jahrhunderte und Jahrtauſende ſichtbar bleibt. Die Zahl der Zuhörer iſt immer beſchränkt, die der Leſer unbeſchränkt. Und ſo ſtellt das geſchriebene Wort gleichſam eine höhere Potenz der ſocialen Berührungsmöglichkeit dar, das Wort hat einen neuen Leib angezogen, durch den es unabhängig von ſeinem Urheber eine lautloſe Sprache in alle Fernen und in alle Zeiten erklingen läßt. Mit der Schrift wird die Sprache ſelbſt erſt feſt und klar, der Gedanke ſchärfer; die Schriftſprache erzeugt erſt im Laufe der Zeit einheitliche Kulturſprachen, welche autoritativ durch die Großthaten der geiſtigen Heroen beherrſcht, gereinigt, gehoben werden; die deutſche Sprache iſt die Sprache Luthers, Goethes und Rankes. Mit der Schrift entſteht erſt eine ſichere Erinnerung und Über - lieferung, eine Verbindung von Ahnen und Enkeln. Schriftloſe Stämme und Völker können nicht leicht voranſchreiten, weil die Thaten ihrer großen Männer nur ſchwer zu dauernden Inſtitutionen führen. Die großen Fortſchritte in Kultus und Gottesverehrung, Sitte, Recht und Verfaſſung knüpfen alle an heilige Bücher, an Geſetzestafeln, an ſchriftliche Aufzeichnungen an. Aus Schrift - und Zahlzeichen heraus erſt konnte Maß und Gewicht, Geld und Marktpreis ſich entwickeln. Dasſelbe Volk, dem wir unſer Alphabet danken, vermittelte dieſe chaldäiſchen und ägyptiſchen Errungenſchaften dem Weſten.

Haben zuerſt nur die Könige und die Prieſter auf Stein und Erz geſchrieben, ſo hat man ſpäter Leder und Pergament, Papyrusrollen und Wachstafeln auch in weiteren Kreiſen benutzt. Das Rechtſprechen und Verwalten, Befehlen und Berichten wurde damit ebenſo ſehr ein anderes als das Kaufen, Tauſchen und Geſchäfte-Abſchließen. Die Benutzung der Schrift durch die einzelnen in Brief - und anderer Form hat dem geſamten individuellen Leben einen anderen höheren Inhalt gegeben. Neben dem Schrift - tum der Prieſter, Richter, Geſetzgeber und Beamten entſtanden die Aufzeichnungen der Denker und Dichter, der Gelehrten und Journaliſten, der Kaufleute und Unternehmer. Aus dem mythiſchen Heldengeſang und den Rhapſodien der fahrenden Sänger entſtand die Litteratur mit all ihren Gattungen und tiefgreifenden Wirkungen.

Herder hat Recht, wenn er ſagt: Die Sprache iſt das unweſenhafteſte, flüchtigſte Gewebe, womit der Schöpfer unſer Geſchlecht verknüpfen wollte. Die Tradition der Schrift iſt als die dauerhafteſte, ſtillſte, wirkſamſte Gottesanſtalt anzuſehen, dadurch Nationen auf Nationen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte wirken, und ſich das ganze Menſchengeſchlecht mit der Zeit an einer Kette brüderlicher Tradition zuſammenfindet. Das Schrifttum iſt das große Behältnis alles geiſtigen Lebens der Menſchheit, ein Schatz, der, ſo lange die Kultur ſteigt, nur zu - nicht abnehmen kann.

13Die Schrift und ihre geſellſchaftliche Wirkung.

7. Die Verbreitung und Vervielfältigung der Schrift bedeutet eines der wichtigſten und tiefgreifendſten Mittel, das geſellſchaftliche Daſein auf höhere Stufen zu erheben.

Während die Schrift zuerſt ein Geheimnis der Prieſter und der Herrſcher darſtellt und ihr einflußreichſtes geiſtiges Machtmittel bildet, gewinnt ſchon das Bürgertum in den Staaten des Orients teil daran. Es wird üblich, daß die Eltern und die Haus - lehrer der Vornehmen den Kindern Unterricht im Leſen und Schreiben erteilen. Und bald ſehen wir beſondere Anſtalten entſtehen, welche den Unterricht ſyſtematiſch für viele erteilen. So hatten die Israeliten Knabenſchulen, um die Kenntnis der heiligen Sprache und die Kunde des Geſetzes zu erhalten, die Athener hatten neben ihren Redner - und Philoſophen - einfache Knabenſchulen; ein Geſetz, das auf Solon zurückgeführt wurde, ge - ſtattete dem Sohne, den Vater zu belangen, der ihn nicht gehörig hatte unterrichten laſſen. Das ältere Mittelalter kam über die Kirchen - und Kloſterſchulen für eine kleine Minderheit nicht hinaus; erſt vom 13. und 14. Jahrhundert an kamen dazu die deutſchen und lateiniſchen Stadtſchulen. Die Reformation erfaßte den Gedanken des allgemeinen Volksunterrichts, aber bis in unſere Tage ſcheiterte er an der Schwierigkeit der Koſten und der Schuleinrichtungen. Erſt die preußiſchen Edikte von 1717 und 1736 ſprachen den ſtaatlichen Schulzwang aus; die Gebildeten zweifelten noch das ganze 18. Jahrhundert, ob den unteren Klaſſen dadurch nicht mehr geſchadet als genützt werde, ob die Mädchen dadurch nicht liederlich würden. Erſt das 19. Jahrhundert hat die Volsſchule allen zugänglich gemacht, die Analphabeten in den meiſten Kulturſtaaten faſt ganz beſeitigt. Und über der Volksſchule ſteht heute, ſeit lange vorbereitet, ein geſchloſſenes Syſtem der mittleren und höheren Schulen, das nun zuſammen mit jener einen der wichtigſten Zweige nationaler Organiſation und Verwaltung in jedem Staate darſtellt. Für die Geſchichte der ſocialen Schichtung der Völker iſt es eines der wich - tigſten Momente, wie die einzelnen Stände und Klaſſen zu jeder Zeit mit Schulen aus - geſtattet waren, an dem Schrifttum teilnahmen oder von ihm ausgeſchloſſen waren.

Die älteſten Schriften - und Bücherſammlungen gehen auf Ägypten und Aſſyrien zurück. In Griechenland hatten die großen Philoſophen ſolche; ſpäter war die Bibliothek in Alexandrien berühmt. Die erſten öffentlichen Bibliotheken in Rom gründeten Aſinius Pollio und Auguſtus. Die Aufgabe ging in chriſtlicher Zeit auf die Klöſter, in neuerer auf die Fürſten über. Umfangreiche und zahlreiche Stadt - und Schulbibliotheken hat erſt das 19. Jahrhundert geſehen, wie es auch erſt die großen Bibliotheken der Haupt - ſtädte und Univerſitäten auf den Rang der Alexandriniſchen wieder erhob, den unteren Klaſſen durch die Volksbibliotheken die entſprechende geiſtige Nahrung zuführte.

In Italien war zur Kaiſerzeit die Kunſt des Leſens und Schreibens wenigſtens in den Großſtädten ſehr verbreitet: es gab ein billiges und bequemes Material, die zubereiteten Blätter einer Pflanze, eine große Klaſſe von Lohn - und Sklavenſchreibern, die von Unternehmern beſchäftigt waren, einen ausgebildeten Buchhandel. In den Schreibſtuben der Unternehmer wurden Bücher abgeſchrieben, Urkunden ausgefertigt, Briefe diktiert. Rom erhielt ſich ſtets als Büchermarkt. Aber im übrigen beſchränkte ſich nach der Völkerwanderung die Schriftkunde während eines Jahrtauſends auf die Kleriker, die eben damit die geiſtige Herrſchaft von Staat und Geſellſchaft in Händen hatten. Erſt mit dem Aufkommen der Städte und des Bürgertums vom 13. Jahr - hundert an entſteht wieder ein weltliches Schrifttum mit Lohnſchreibern, Handſchriften - handel und Vervielfältigung. Die chineſiſche Erfindung der Papierverfertigung aus Baumwolle verbreitete ſich ſeit den Kreuzzügen von den Arabern nach Europa. Die deutſchen Papiermühlen entſtehen von 1347 1500. Mit dem ſteigenden Verkauf der Bücher und Flugblätter auf den Meſſen ſann man auf mechaniſche Mittel der Verviel - fältigung, ſchnitt erſt die gangbarſten Schriften auf Holzplatten; Guttenberg erfand 1440 die einzelnen Holzlettern und damit die Buchdruckerei. Ein leſendes Publikum und billiges Papier kam der großen Erfindung entgegen. Die Buchdruckerei wird der große Hebel einer neuen Epoche des geiſtigen Lebens, einer vertauſendfachten Wirkung des Schrifttums. Es entſteht der moderne Bücherdruck und die Preſſe, eine ſtaatliche14Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Ordnung der Beaufſichtigung und Kontrolle derſelben, die Cenſur, die ſog. Preßfreiheit und alles, was damit zuſammenhängt.

Die gazeta iſt das Leſegeld, für welches man im 16. Jahrhundert die geſchriebenen Nachrichten über Kriegsereigniſſe in Venedig einſehen konnte. In Frankfurt kamen Relationes semestrales halbjährlich deutſch und lateiniſch heraus, denen 1615 die erſte wöchentlich gedruckte Zeitung folgte. In England verwandelte Nathaniel Butter ſeine handſchriftlich verſandten News-Lettres 1622 in gedruckte. Das erſte Tageblatt Eng - lands datiert aber erſt von 1709. In Deutſchland war der Hamburger Korreſpondent im 18. Jahrhundert eigentlich die einzige Zeitung, welche die Weltbegebenheiten mit - teilte. Das ganze heutige Zeitungsweſen entwickelte ſich ſtoßweiſe ſeit den politiſchen Entſcheidungsjahren 1789, 1830, 1848. Die großen deutſchen politiſchen Zeitungen hatten es bis vor kurzem über tägliche Auflagen von 10 70000 Exemplaren nur ausnahms - weiſe gebracht, die engliſchen haben ſolche bis zu 80 und 200000, die amerikaniſchen bis zu 3 und 400000. Die Gartenlaube ſetzte 1868 übrigens auch ſchon 250000 Exemplare ab. Die deutſche amtliche Zeitungsliſte umfaßte Juli 1899 12365 Zeitungen und Zeit - ſchriften, 8683 in deutſcher Sprache. Wenn wir bedenken, daß jedes einzelne Zeitungsblatt in viele, einzelne in hunderte von Händen kommen, ſo können wir uns eine Vorſtellung davon machen, wie dieſelben Nachrichten, Gefühle, Stimmungen heute täglich an Millionen von Menſchen herantreten und einen geiſtig verbindenden Strom herſtellen, der früher faſt gänzlich fehlte, außer für die in den großen Städten täglich auf dem Markte, dem Theater, in den Bädern, in den öffentlichen Verſammlungen ſich Sehenden. Tele - graphen, Poſten, Eiſenbahnen, Briefe, Bücher und Zeitungen vermitteln heute einen Verkehr, der den mündlichen ſo überragt, wie die Zahlungen im Wechſel - und Bank - verkehr den Kleinverkehr mit Scheidemünze.

8. Die Folgen der heutigen geiſtigen Verſtändigungsmittel, die Öffentlichkeit. Unſer geſellſchaftliches und politiſches Leben, wie unſer Marktverkehr, die Preisbildung, die Kursnotierungen, der Welthandel ruhen auf dieſem organiſierten Nachrichtenweſen. Die Epochen der Ausbildung der Sprache, Schrift, Schule und Preſſe ſind zugleich die Epochen des politiſchen und wirtſchaftlichen Fortſchrittes. Es iſt ein langſam in Jahrtauſenden gebildeter großer pſychophyſiſcher Apparat, der in unſeren heutigen Geſellſchaften gleichſam die Stelle der Nerven vertritt; alle geiſtige ſociale Aktion hängt von der Summe, Art und Organiſation der in dieſen Dienſt geſtellten Kräfte ab.

Die öffentliche Meinung iſt die Reaktion der zunächſt mehr paſſiv ſich verhaltenden Teile der Geſellſchaft auf die Wirkungsweiſe des aktiven Teiles. Beſtimmte Nachrichten erwecken beſtimmte Gefühle und Stimmungen. Regierung, Parteiführer, Journaliſten, Kirchen - und andere Lehrer, Geſchäftshäuſer und Börſenleute ſuchen durch dieſen pſycho - phyſiſchen Apparat heute auf das Publikum zu wirken, wie es früher nur Redner konnten. Reklame und Marktſchreierei greifen ein, wie wahre Nachrichten und wirkliche Überzeugungen. Die öffentliche Meinung iſt wie eine große Äolsharfe von Millionen von Saiten, auf die die Winde von allen Richtungen heranſtürmen. Der Klang kann nicht immer ein einfacher und harmoniſcher ſein; die verſchiedenſten Strömungen und Melodien klingen durcheinander. Die öffentliche Meinung ſchlägt jäh um, fordert heute dies und morgen jenes. Sie verzerrt die Nachrichten und bildet Mythen; ſie arbeitet heute mit den Leidenſchaften des Gemütes wie morgen wieder mit ruhiger Überlegung. Man hat geſagt, die Unabhängigkeit von ihr ſei die erſte Bedingung zu allem Großen und Vernünftigen (Hegel). Und doch iſt ſie andererſeits die Trägerin der größten, be - geiſtertſten Thaten und Leiſtungen der Völker und die Vorausſetzung der dauernden Ausſtoßung alles Ungeſunden und Schlechten. Eine richtige Organiſation der Öffentlich - keit, welche die Hervorzerrung des rein Privaten zu perſönlichem Angriff nicht duldet, aber ebenſowenig die Verheimlichung deſſen, was alle oder größere Kreiſe wiſſen müſſen, um nicht getäuſcht und betrogen zu werden, wird mit Recht heute als eine der erſten Vorausſetzungen eines normalen geſellſchaftlichen Zuſtandes angeſehen.

15Die Öffentlichkeit und die geiſtigen Kollektivkräfte.

Und Hartenſtein ſagt: Öffentlichkeit iſt eigentlich nur ein verſchiedener Ausdruck für Geſellung. Der Grad der Öffentlichkeit, der in einer Geſellſchaft herrſcht, iſt ſo ziemlich der direkte Maßſtab für den Grad ihrer innern Verbindung.

3. Die geiſtigen Bewußtſeinskreiſe und Kollektivkräfte.

  1. Herbart, Sämtliche Werke, Ausgabe 1851 (die Schriften fallen in die Zeit von 1806 41), hauptſächlich 4: Bruchſtücke der Statik des Staates, Bruchſtücke der Mechanik des Staates; 9: Über einige Beziehungen zwiſchen Pſychologie und Staatswiſſenſchaft.
  2. Hartenſtein, Grundbegriffe der ethiſchen Wiſſenſchaften. 1844.
  3. Lindner, Ideen zur Pſychologie der Geſellſchaft. 1871.
  4. Lazarus und Steinthal, Zeitſchrift für Völkerpſychologie, daraus hauptſächlich 1: Lazarus, Einleitende Gedanken über Völkerpſychologie; 2: derſ., Über das Verhältnis des Einzelnen zur Ge - ſamtheit; 3: derſ., Einige ſynthetiſche Gedanken zur Völkerpſychologie; Rüdiger, Über Nationali - tät ꝛc.
  5. Bagehot, Der Urſprung der Nationen. Deutſch 1874.
  6. Guſtav Rümelin, Über den Begriff des Volkes. R. A. 1.
  7. Tönnies, Gemeinſchaft und Geſellſchaft. 1887.
  8. F. J. Neu - mann, Volk und Nation. 1888.
  9. Manche der neueſten ſociologiſchen Schriften bewegen ſich in ähnlichen Wegen wie meine Ausführungen, ohne daß ich ſie mehr im einzelnen benutzen konnte, z. B. Novicow, Conscience et volonté sociales. 1897.
  10. Giddings, The principles of sociology. 1896.

9. Das allgemeine Weſen derſelben. Man könnte die Sprache und die Schrift als die Bindemittel der Geſellſchaft bezeichnen, weil durch ſie die Gefühle und Vorſtellungen, die Triebe und Willenskräfte der einzelnen Menſchen in Verbindung und Übereinſtimmung gebracht werden, und ſo die kollektiven geiſtigen Vorgänge und die pſychiſchen Maſſenerſcheinungen entſtehen. Nur mit einer Theorie dieſer Art ge - langen wir zu einer verſtändigen Vorſtellung von dem, was man die geiſtigen Kollektiv - kräfte nennen kann, und damit zu einer richtigen Auffaſſung der Wechſelwirkung von Individuum und Geſellſchaft.

Natürlich entſteht jedes Gefühl, jede Vorſtellung, jeder Willensakt im einzelnen Menſchen; ſeine Sinne, ſein Gehirn, ſein Geiſtesleben ſind das Inſtrument, an das ſie geknüpft ſind. Dieſes Inſtrument hat ſich im Laufe der Kultur ſehr vervollkommnet; es erreicht in einzelnen Individuen jene wunderbare Kraft und Wirkſamkeit, die wir mit dem Namen des Genius bezeichnen. Es war begreiflich, daß mit den großen hiſtoriſchen Tendenzen, welche vor allem ſeit dem 15. Jahrhundert auf größere An - erkennung der einzelnen Individualität hinarbeiteten, in der praktiſchen Behandlung und wiſſenſchaftlichen Betrachtung der einzelne Menſch für ſich als das letzte und höchſte, als iſolierte, ſelbſtändige Kraft erſchien. Heute kommen wir von dieſer Auf - faſſung zurück: wir mögen die Wirkung der großen Männer noch ſo ſehr anerkennen, ſie erſcheinen uns doch nicht mehr als iſolierte Kräfte, die ganz allein von ſich aus Neues ſchaffen; wir ſehen in ihnen nur führende Spitzen, in denen die Gefühle und Willensimpulſe beſtimmter Kreiſe und Zeiten wie in einem Brennpunkt ſich geſammelt haben, und die von dieſem Brennpunkt aus eine ſehr verſtärkte Wirkung ausüben. Wir geben heute zu, daß, um das Seelenleben der Völker zu verſtehen, wir immer wieder von der Unterſuchung des gewöhnlichen, individuellen Seelenlebens ausgehen müſſen, wie wir es in dem folgenden Abſchnitte thun; aber wir betonen zugleich auch, daß das einzelne Individuum ein Lämpchen oder eine Lampe ſei, auf das Familie und Umgebung, Nation und Kirche, Kultur und Wiſſenſchaft das Öl gieße, welches die Leuchtkraft ganz oder teilweiſe beſtimme. Natürlich kann das Lämpchen an ſich vollkommener oder ſchlechter ſein; aber das Wichtigere iſt doch meiſt, in welcher Verbindung es ſtehe mit dem un - geheuren Behältnis der überlieferten geiſtigen Arbeit. Wir ſagen heute, mit dem nicht gerade geſchmackvollen Ausdruck, jeder Menſch ſei beherrſcht und bedingt von ſeinem Milieu, d. h. von den ihn umgebenden Menſchen und Bedingungen der Exiſtenz, unter welchen die geiſtigen Elemente die wichtigſten ſind.

Wenn dem ſo iſt, ſo werden die unter denſelben Bedingungen lebenden, derſelben Raſſe, demſelben Volke, demſelben Orte und damit denſelben Urſachen und Einflüſſen unterliegenden Menſchen, trotz vieler kleiner Abweichungen im einzelnen in den Grund -16Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.zügen ähnliche körperliche und ſeeliſche Eigenſchaften haben. Je niedriger die Kultur eines Stammes und Volkes, je weniger Klaſſen -, Bildungs - und andere Gegenſätze in ihm ſind, je gleichere Lebensbedingungen alle beherrſchen, deſto homogener, unterſchieds - loſer pflegen die Glieder einer Gemeinſchaft in ihren Gefühlen, Intereſſen, Vorſtellungen und Sitten zu ſein. Und wenn mit höherer Kultur, mit Klaſſen - und Bildungsgegen - ſätzen, mit Raſſenunterſchieden im ſelben Staate die perſönliche Verſchiedenheit wächſt, ſo bleiben doch gewiſſe weſentlich beſtimmende Einflüſſe für alle oder die meiſten Menſchen einer ſocialen Gemeinſchaft dieſelben, und es wächſt mit Sprache, Schrift und Litteratur, mit dem ganzen geiſtigen Leben der einheitliche Strom der pſychiſchen Beeinfluſſung, der immer wieder, was ſocial ſo wichtig iſt, die zunehmende pſychologiſche Raſſen - und die wirtſchaftliche Vermögensverſchiedenheit zu überwinden ſucht. Und gerade damit entſtehen die für alles geſellſchaftliche Leben ſo wichtigen einheitlichen Stimmungs - und Bewußtſeinskreiſe, welche wir als geiſtige Kollektivkräfte bezeichnen. Sie reichen ſo weit, als die Einheit der Urſachen und der geiſtigen Strömungen und Kontakte.

Es müſſen ſich in der einfachſten und kleinſten, wie in der größten und kompli - zierteſten Geſellſchaft, je nach der Übereinſtimmung der körperlichen und geiſtigen Eigen - ſchaften, je nach Berührung und Verbindung und je nach der Stärke des pſychophyſiſchen Apparates, der das geiſtige Leben vermittelt, kleinere und größere Kreiſe bilden, welche durch ähnliche oder gleiche Gefühle, Intereſſen, Vorſtellungen und Willensimpulſe ver - einigt ſind, trotz aller Verſchiedenheit im einzelnen. Die Kreiſe liegen teils in konzentriſchen Ringen übereinander, teils in excentriſchen, ſich ſchneidenden und berührenden neben - einander. Sie ſind in ſteter Bewegung und Umbildung begriffen, ſtellen Kollektiv - kräfte dar, welche das ſociale, wirtſchaftliche, politiſche, litterariſche, religiöſe Leben be - herrſchen. Nicht einen objektiven, unabhängig von den einzelnen und über ihnen waltenden, ſie myſtiſch beherrſchenden Volksgeiſt giebt es, wie die hiſtoriſche Rechtsſchule lehrte; ebenſo wenig einen allgemeinen Willen, der in allem übereinſtimmte, wie Rouſſeau träumte. Aber es giebt in jedem Volke eine Reihe zuſammengehöriger, einander bedingender und nach einer gewiſſen Einheit drängender Bewußtſeinskreiſe, die man als Volksgeiſt bezeichnen kann. Auch mit dem Namen des objektiven Geiſtes können wir die Geſamtheit dieſer geiſtigen Maſſenzuſammenhänge, die von den kleinſten Kreiſen der Familie und der Freundſchaft hinaufreicht bis zur Menſchheit, bildlich und im Gegenſatz zur Pſyche der einzelnen benennen. Man muß ihn nur richtig verſtehen, ſich erinnern, daß er nicht außerhalb der Individuen, ſondern in ihnen lebt, daß jedes Individuum mit einem größeren oder kleineren Teil ſeines Selbſt Beſtandteil mehrerer oder vieler ſolcher Kreiſe, ſolcher Teile des objektiven Geiſtes iſt.

Sie äußern ſich nun als Gefühls -, Vorſtellungs - und Willensübereinſtimmung und werden dadurch zu Kräften eigentümlicher Art. Ihre Wirkſamkeit iſt deshalb eine ſo große, weil das Gefühl oder das Bewußtſein der Gemeinſamkeit jeden geiſtigen Vorgang merkwürdig verſtärkt und befeſtigt. Jedes Gefühl wird lebendiger durch das Bewußtſein der Teilnahme anderer; jede Vorſtellung im iſolierten Individuum fühlt ſich ſchwach und kümmerlich; jeder Mut des Willens wächſt durch den Erwerb von einem oder wenigen Genoſſen. Je roher, je weniger kulturell entwickelt ein Menſch noch iſt, deſto weniger kann er ertragen, allein mit einer Idee oder einem Plan zu ſtehen. Was zehn glauben, nehmen leicht weitere hundert an. Was Hunderte glauben, wird leicht ohne Prüfung das Loſungswort für Tauſende und Millionen. Die rechte Autorität und die rechte Empfänglichkeit vorausgeſetzt, ballen ſich die geiſtigen Kollektiv - kräfte lawinenartig zuſammen. Die Übereinſtimmung erzeugt Kräfte, welche die bloße Summierung unendlich übertreffen. Die Mehrzahl der Menſchen ſchließt ſich, ohne im einzelnen prüfen zu können, den Bewußtſeinskreiſen an, die für ſie durch Abſtammung, Eltern, Freunde oder andere Autoritäten die gegebenen ſind. Die Macht der Ideen hängt wohl auf die Dauer von ihrer Wahrheit und Brauchbarkeit, vorübergehend ſtets nur von der Zahl ihrer Bekenner ab.

Man hat den Vorgang auch durch einen Vergleich aus dem individuellen Seelen - leben verdeutlicht. In der Seele jedes Menſchen ſchlummern unzählige Vorſtellungen,17Die Bildung und Wirkung einheitlicher Bewußtſeinskreiſe.nur die jeweilig ſtärkſten erheben ſich aus dieſem pſychiſchen Untergrunde und treten zeitweilig über die Schwelle des Bewußtſeins. So, hat man geſagt, beſitzt auch jede menſchliche Gemeinſchaft eine Bewußtſeinsſchwelle. Nur einzelnes, das Bedeutendere erhebt ſich über dieſe gemeinſame Schwelle und verbindet nun die betreffenden Individuen. Mancherlei, was in den einzelnen vorgeht, ſtrebt nach Erhebung über die gemeinſame Schwelle. Aber nur das Erhebliche vermag, in dem Wettkampf der um die Schwelle ſich drängenden Vorſtellungen, meiſt nach langem Ringen und Streben, emporzukommen, nur das Bedeutſame und Große kann ſich dauernd da erhalten.

Aus dem Kampfe und der Reibung der Geiſter gehen ſo die Bewußtſeinskreiſe und geiſtigen Kollektivkräfte ſtets neu hervor. Es kann keinen ſolchen Kreis geben ohne Autoritäten, ohne einen mehr aktiven, führenden und beſtimmenden Teil und einen mehr paſſiv aufnehmenden, folgenden und geleiteten. Nirgends iſt die demokratiſche Fiktion von der Gleichheit aller unwahrer als in dieſem freieſten Spiel geiſtiger Accomodation. Wenn nichts anderes, beſtimmt in ſtabilen Verhältniſſen das Alter die geiſtige Autorität: die über 40 50 Jahre alten Männer mit ihren nicht mehr ſchwankenden befeſtigten Überzeugungen beherrſchen die Frauen und die jüngeren Männer. So haben ſchon hiedurch in der Regel die geiſtigen Kollektivkräfte ein gewiſſes befeſtigtes, nicht allzu ſchwankendes Daſein. Aber ſtets ſind ſie auch durch den Wechſel der Generationen, durch das Empordringen jüngerer Kräfte und neuer Ideen, einer Umbildung und Regeneration unterworfen. Auf der Wechſelwirkung zwiſchen den Alten und den Jungen, zwiſchen abſterbenden und neu ſich bildenden Bewußtſeinskreiſen, zwiſchen führenden Geiſtern und geführten Maſſen beruht alles geſchichtliche Leben, alle Änderung der Sitten, ſowie der rechtlichen und volkswirtſchaftlichen Inſtitutionen. Nur wenn man ſich über dieſes nie ruhende Spiel der geiſtigen Maſſenbewegungen klar iſt, begreift man, wie die großen Ideen langſam emporkommen, dann aber für Jahre, oft für Jahrhunderte und Jahrtauſende die Herrſchaft behaupten, wie die ſcheinbar vielköpfigen Mengen von Tauſenden und Millionen Menſchen nicht das Schauſpiel eines krauſen Chaos und Wirrwarrs aufführen, ſondern als Glieder großer geiſtiger Einheiten zu Tauſenden geſchart in einheitlichen klar zu überblickenden Richtungen ſich bewegen.

In jedem ſocialen Körper wird man die vorhandenen Elemente zu ſolchen Kollektivkräften geſchart nicht unſchwer erkennen können. Sie erſcheinen als Mittel - urſachen zwiſchen den Individuen und den großen Einrichtungen der Geſellſchaft, wie Staat, Kirche und Volkswirtſchaft. Nur ein Teil dieſer Kräfte kryſtalliſiert ſich in feſten Inſtitutionen, ein anderer behauptet ein gleichſam formloſes Daſein, dokumentiert ſich aber doch in Erſcheinungen, wie die ſociale Klaſſenbildung, die geſelligen Kreiſe, die politiſchen und andere Parteien, die Schulrichtungen in Kunſt und Wiſſenſchaft, die Beziehungen des Marktes, der Kundſchaft, der Klientel. Ein jeder einheitliche Be - wußtſeinskreis wird ſich in übereinſtimmenden Werturteilen äußern, die leicht zu feſt - ſtehenden Wertmaßſtäben ſich verdichten und ſo längere Zeit das Urteil auf dem Markte, in der Politik, in der Geſellſchaft beherrſchen. Dieſer Art iſt vor allem neben dem wirtſchaftlichen das ſociale Werturteil beſtimmter Kreiſe, das ſich in der Ehre ausdrückt. Die Ehre iſt objektiv das ſociale Geſchätztwerden durch größere oder kleinere geſellſchaft - liche Kreiſe; ſie äußert ſich ſubjektiv in dem Bedürfnis des einzelnen, geſchätzt ſein zu wollen; die Ehre wird ſo zu einer der ſtärkſten maſſenpſychologiſchen Kräfte.

Natürlich unterſcheiden ſich diejenigen geiſtigen Kollektivkräfte, die nur einen loſen, unorganiſierten Maſſenzuſammenhang darſtellen, von denen, welche aus ſich heraus eine organiſierte Spitze, eine korporative Verfaſſung erzeugt haben und durch dieſe Ein - richtungen nun Stärkung und Nahrung erhalten. Aber andererſeits darf man auch nicht überſehen, daß die freieſten und loſeſten geſellſchaftlichen Maſſenerſcheinungen und die feſteſten Einrichtungen des Rechtes und des Staates zu ihrer letzten Vorausſetzung dieſelben geiſtigen Maſſenprozeſſe haben. Die freieſte Sekte und die katholiſche Kirche, die freieſte Republik und der centraliſierteſte Despotismus, die Volkswirtſchaft mit freieſtem Tauſchverkehr und die mit ſocialiſtiſcher Leitung und Verteilung, ſie ſetzen alle gleichmäßig geiſtige Kollektivkräfte, einheitliche Bewußtſeinskreiſe, führende Autoritäten,Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 218Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.folgende Maſſen voraus; der Unterſchied liegt nur in der verſchiedenen Art der Be - feſtigung und Stellung der Autoritäten, in der verſchiedenen Kryſtalliſierung und Organi - ſierung der Kräfte, in der loſeren oder gebundeneren Wechſelwirkung zwiſchen Spitze und Peripherie.

10. Die einzelnen Bewußtſeinskreiſe. Haben wir bisher die geiſtigen Kollektivkräfte im allgemeinen kurz zu charakteriſieren geſucht, ſo iſt jetzt noch ein Wort über ihre Erſcheinung im einzelnen beizufügen. Es kann freilich dabei nicht die Abſicht ſein, ſie erſchöpfend aufzählen oder darſtellen zu wollen. Nur das Aller - wichtigſte kann berührt, einiges mit unſerem Zwecke enger Zuſammenhängende er - wähnt werden.

Die Bewußtſeinskreiſe, die auf täglicher oder häufiger perſönlicher Berührung und Ausſprache beruhen, haben eine andere Farbe, erzeugen einen anderen Kitt des Zu - ſammenhangs, als die auf ſchriftlichem Gedankenaustauſch, auf Vermittelung durch zahlreiche perſönliche Mittelglieder beruhenden. Wo aller Zuſammenhang der Menſchen untereinander auf bloßem Sehen und Sprechen beruht, der ſchriftliche Verkehr und die feſte Überlieferung noch fehlt, da werden zwar nur kleine, oft auch wenig feſt gefügte Gemeinweſen entſtehen können, aber es werden doch je nach den Menſchen und ihren Gefühlen zwiſchen den Nächſtſtehenden innerhalb Stamm, Sippe und Familie um ſo feſtere ſympathiſche Bande ſich ſchließen können. Wo das Stammesleben größere Menſchenzahlen umfaßt, ſich ſtärker und feſter entwickelt, müſſen beſtimmte Einrichtungen das tägliche oder öftere Sehen herbeiführen, es müſſen Verſammlungen, Feſte, Kriegs - übungen einen immer ſich erneuernden Kontakt ſchaffen. Die antiken Städteſtaaten und die mittelalterlichen Städte erzeugten ſo in ſich einen Gemeingeiſt, den große Staaten trotz Preſſe und Litteratur niemals haben können. Größere ſociale Gebilde kommen dann durch Stammesbündniſſe oder Unterwerfung zuſtande, welche aber meiſt Sprach - verwandtſchaft oder Sprachverſchmelzung und die Entſtehung gemeinſamer Regierungen, Heiligtümer und Gottesverehrung vorausſetzen oder im Gefolge haben. Im übrigen ſetzt die Entſtehung größerer Bewußtſeinskreiſe von zerſtreut, in weiten Gebieten lebenden Menſchen und damit die Entſtehung größerer Staaten ſtets den ſchriftlichen Verkehr voraus. Derſelbe kann freilich zunächſt auf eine herrſchende Klaſſe beſchränkt ſein, welche in ſich feſt zuſammenhängend weit zerſtreut wohnt, überall mit den lokalen Kreiſen Fühlung hat, ſie zu behandeln verſteht. So hat die römiſche Ariſtokratie den orbis terrarum, ſpäter der katholiſche Klerus halb Europa mit der Lateinſprache umſpannt und regiert. So hat das moderne Beamtentum die meiſten europäiſchen Staaten zu einer Zeit einheitlich zu verwalten angefangen, ehe noch der Lokal - und Provinzial - geiſt vom nationalen beherrſcht war. Doch hat der letztere nach und nach ſich zu einem immer mächtigeren und ſtärkeren Bewußtſeinskreis entwickelt; die großen euro - päiſchen Nationalſprachen und - Litteraturen, das nationale Recht und die nationalen Staatseinrichtungen, eine große gemeinſame Geſchichte knüpften die Bande des Blutes und der Heimat für Millionen ſo feſt, daß das Volkstum als ſolches zum erſten Princip geſellſchaftlicher Gruppierung in der neueren Geſchichte nach und nach werden konnte. Und eben deshalb ſprechen wir heute von einem Volksgeiſt und meinen damit die ſtarken, einheitlichen Gefühle, Vorſtellungen und Willensimpulſe, welche alle anderen im Volke enthaltenen kleineren Kreiſe und Gegenſätze, alle Mitglieder eines Volkes einſchließen und beherrſchen. Wir ſagen, ein Volk ſei geſund, ſo lange dieſe centralen Kräfte ſtärker ſeien als die trennenden Gefühle und Strebungen. Ein Volk in jenem ſtolzen Sinne, in welchem Fichte ſeine Reden an die deutſche Nation hielt, iſt nur ein ſolches, das von der Erinnerung an eine große Vergangenheit beherrſcht iſt, in dem ſehr ſtarke ein - heitliche Gefühle und Geiſtesſtrömungen vom letzten Bauer und Proletarier bis zur Spitze hinaufreichen, in dem alle oder die Mehrzahl bereit iſt, das Äußerſte, ſelbſt das Leben für das Vaterland und ſeine Zukunft zu opfern.

Wenn das deutſche Wort Volk gerade in dieſem Sinne mit Vorliebe gebraucht wird, wenn auch in den Begriff der Volkswirtſchaft davon etwas übergegangen iſt, ſo ſchließt das doch nicht aus, daß im Volke wie in jedem großen Bewußtſeinskreiſe viele19Das Volkstum, die kirchlichen und wirtſchaftlichen Bewußtſeinskreiſe.Individuen mit abweichender Stimmung, viele kleinere Bewußtſeinskreiſe mit unter ſich verſchiedenen und teilweiſe dem einheitlichen Volksgeiſt abgewendeten oder gar feindlichen geiſtigen Strömungen vorhanden ſeien. Jedes Dorf, jede Stadt, jede Provinz hat ihren beſonderen Lokalgeiſt, die ſocialen Klaſſen fühlen ſich bald in ſtärkerem, bald in ſchwächerem Gegenſatz zum nationalen Geiſt; beſtimmte, ſich ausſondernde Bewußtſeins - kreiſe beginnen in der Gegenwart in ſteigendem Maße mit den entſprechenden Kreiſen des Auslandes Fühlung zu ſuchen und zu erhalten: ſo die Ariſtokratie des Grundbeſitzes und des Geldes, die Wiſſenſchaft, die Arbeiterkreiſe. Jeder Verein, jede Genoſſenſchaft wird durch einheitliche Intereſſen und Überzeugungen zuſammengehalten, welche nach innen ſympathiſch, nach außen abgrenzend oder antipathiſch wirken; jede Compagnie Soldaten, jedes Regiment hat durch den Corpsgeiſt einen feſten Kitt und eine beſtimmte pſycho-moraliſche Färbung. Keine Familie, keine Werkſtatt, keine große Unter - nehmung, kein Markt kann exiſtieren, ohne auf einem eigentümlichen, einheitlichen Bewußtſeinskreis, auf gewiſſen Gefühlen der Sympathie, des Gemeinintereſſes, der Ver - träglichkeit und Übereinſtimmung zu ruhen.

Unter den beſonderen Bewußtſeinskreiſen zeichnen ſich die religiös-kirchlichen durch ungewöhnliche Stärke zumal in den älteren Epochen der Geſchichte aus; die religiöſen Gefühle erfaſſen das Gemüt leicht in ſo tiefer Weiſe, weil der einfache, natürliche Menſch gegenüber den unverſtandenen Naturgewalten und dem ſcheinbar blind über ihm waltenden, Schmerz und Tod bringenden Schickſal meiſt nur im Glauben an eine höhere göttliche Macht Ruhe und inneres Glück findet, und ein ſolcher Glaube nur in der Gemeinſamkeit großer Kreiſe ſeine volle Kraft gewinnt. Die älteſte Religion iſt Ahnen - kultus, die ältere Gottesverehrung iſt ſtets an das Stammesleben geknüpft, verſtärkt den Stammesgeiſt, das nationale Sonderdaſein. Nachdem die großen Weltreligionen dieſe Begrenzung beſeitigt, mit ihren Glaubenswahrheiten an alle Menſchen und Raſſen ſich gewandt hatten, wurde die Glaubens - und Religionsgemeinſchaft neben Raſſe, Sprache und Volkstum eines der wichtigſten Bindemittel, um verſchiedene Elemente zuſammen - zufaſſen, große einheitliche Bewußtſeins - und Geſittungskreiſe zu erzeugen. Ganze Staaten und Staatenwelten bauten ſich auf dieſer Grundlage auf, und alle anderen Lebensgebiete wurden von den Gefühlen und Vorſtellungen dieſer Kreiſe mehr oder weniger berührt und beeinflußt. Erſt die neuere Geſchichte hat mit dem Zurücktreten des religiöſen Geiſtes Staaten entſtehen laſſen, die verſchiedene Religionen nebeneinander dulden. Es können in freien Staaten nur ſolche ſein, die in den Grundzügen des Glaubens und der Sittenlehre ſich ſehr nahe ſtehen, ſonſt zerreißt der verſchiedene Glaube die unentbehrliche Einheitlichkeit des Volkstums, ähnlich wie große Raſſen - und Natio - nalitätsgegenſätze, ſowie verſchärfte Klaſſenunterſchiede unter Umſtänden das Leben einer Nation, eines Staates, einer Volkswirtſchaft tödlich bedrohen.

Die wirtſchaftlichen Bewußtſeinskreiſe ſind urſprünglich mit denen der Blutsverwandtſchaft, der Nachbarſchaft, des Stammes identiſch. Die gemeinſamen gleichen Bedürfniſſe, die gleichen techniſchen Kenntniſſe und Fertigkeiten bilden den Grundſtock des Gemeinbewußtſeins; daneben aber auch die auf ſympathiſchen Gefühlen beruhenden Familien -, Sippen - und Stammeseinrichtungen wirtſchaftlicher Art. Alle weitere genoſſenſchaftliche oder herrſchaftliche Ordnung des Wirtſchaftslebens kann nur Hand in Hand mit der Ausbildung ähnlicher Gefühle und Intereſſen Leben und Geſtalt gewinnen, muß ſtets auf gemeinſamen Bewußtſeinskreiſen ſich aufbauen oder ſolche er - zeugen. Im Gegenſatz hiezu entwickelt ſich der Tauſch, der Handel, der Geldverkehr und alles hiemit in der modernen Volkswirtſchaft Zuſammenhängende an der Hand individualiſtiſcher und egoiſtiſcher Triebe, aber doch ſtets ſo, daß die Tauſchenden, ihren Sondergewinn ſuchenden Perſonen in ſtärkerer oder ſchwächerer Weiſe einen Bewußtſeins - kreis bilden. Gewiſſe Vorſtellungen über die Bedürfniſſe, die Brauchbarkeit des zu Tauſchenden, den Wert der Waren und Leiſtungen, gewiſſe Regeln, wie man tauſcht, bezahlt, ſich während der Geſchäfte der Gewaltthaten enthält, müſſen ein gemeinſames Band geſchlungen haben, ehe der Verkehr ſich entwickeln kann. Wir werden öfter darauf zurückzukommen haben, wie in dieſer Weiſe die Tauſchgeſellſchaft zwar die Individuen2*20Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.einander in einer Art gleichgültiger Ferne gegenüberſtellt, manche Rückſichten in den Hintergrund drängt, die man in der Familie, im Stamm bisher gehabt, wie aber in ihr doch weder große und immer größere Bewußtſeinskreiſe und Kollektivkräfte, noch ein gewiſſes Maß ſympathiſcher Gefühle und Gemeinſchaftsordnungen fehlen können.

4. Die individuellen Gefühle und die Bedürfniſſe.

  1. Über Gefühle und Triebe: Lotze, Mediziniſche Pſychologie 1852 u. 1880.
  2. Derſ., Mikro - kosmus. 3 Bde. 1864 69.
  3. Wundt, Grundzüge der phyſiologiſchen Pſychologie. 1874.
  4. Volk - mann, Lehrbuch der Pſychologie vom Standpunkt des Realismus. 1875.
  5. Horwicz, Pſychologiſche Analyſen auf phyſiologiſcher Grundlage, hauptſächl. 2. Abt., 2: Analyſe der qualitativen Gefühle. 1878.
  6. Herbert Spencer, Principien der Pſychologie. Deutſch 1882.
  7. Höffding, Pſychologie in Umriſſen. 1887.
  8. Theobald Ziegler, Das Gefühl. 1893.
  9. Fechner, Über das höchſte Gut. 1846. Über Bedürfniſſe: Miſchler, Grundſätze der Nationalökonomie. 1, 1856.
  10. A. Wagner, Grundlegung der allg. oder theoret. Volkswirtſchaftslehre. 1876. §§ 94 105; 1892. §§ 268 ff.
  11. Cohn, Grundlegung der Nationalökonomie. 1885. §§ 187 212.
  12. Wilhelm Böhmert, Stanley Jevons und ſeine Bedeutung für die Theorie der Volkswirtſchaftsl. J. f. G. V. 1891.
  13. Roſcher, Über den Luxus, Anſichten der[Volkswirtſchaft]. 1, 1878. 3. Aufl.
  14. Baudrillart, Histoire du luxe privé et public. 1880. 4 Bde.

11. Die Gefühle. Die Grundlage alles individuellen Bewußtſeins wie der letzte Ausgangspunkt alles Handelns ſind die Luſt - und die Schmerzgefühle; die neuere Pſychologie hat ihre Bedeutung und ihren innigen Zuſammenhang mit den Vorſtellungen einerſeits, mit den aus ihnen entſtehenden Trieben, Intereſſen, Willensanſtößen und Handlungen andererſeits in ein richtigeres Licht geſetzt, als dies früher üblich war. Lotze ſagt: Fragen wir nicht nach den Idealen, welche das Handeln beſtimmen ſollen, ſondern nach den Kräften, die es allenthalben wirklich in Bewegung ſetzen, ſo können wir nicht leugnen, daß das Trachten nach Feſthaltung und Wiedergewinnung der Luſt und nach Vermeidung des Wehe die einzigen Triebfedern aller praktiſchen Regſamkeit ſind. Zahlreiche Moralſyſteme ſind auf der Luſt aufgebaut, andere haben ſie aus - ſchließen oder in ein Jenſeits verlegen wollen; aber die Lehre von der Glückſeligkeit und vom höchſten Gute hat auch in der ſpiritualiſtiſchen Ethik wieder auf das Glück zurück - geführt. Die Sehnſucht nach dem Glücke, das doch zuletzt aus der Abweſenheit der Unluſt und Anweſenheit der Luſt entſpringt, iſt der unvertilgbarſte Zug des menſchlichen Bewußtſeins. Er iſt identiſch mit dem Leben überhaupt.

Was iſt aber Luſt und Schmerz? Was bedeuten ſie? Sind alle dieſe Gefühle etwas Einheitliches? Können wir die Luſt der Appetitbefriedigung ohne weiteres gleich - ſetzen mit der Freude an einem muſikaliſchen Genuß und der idealen Stimmung, in welche eine heroiſche That oder die Tröſtung der Religion uns verſetzt? Wir können nur ſagen: alle Luſt und alles Glück befriedigt und erhebt uns, aller Schmerz drückt und bekümmert uns. Und der Nervenphyſiologe ſagt uns, daß dieſe Gefühle mit Er - regungen, mit Veränderungen in den Nervenzellen verbunden ſeien. Es finde, lehrt er uns, in jeder Nervenzelle jederzeit ein Umſatz, eine Thätigkeit ſtatt; es werden zeitweiſe, beſonders im Schlafe, kompliziertere Produkte geſchaffen, in denen Kraft ſich anſammelt; bei der Auslöſung der Kraft, bei der Thätigkeit gehen die komplizierteren Produkte wieder in einfachere über. Hiebei, bei jeder Erregung der Nerven, entſtehen Empfindungen, welche bei einer gewiſſen Stärke als Luſt und Schmerz wahrgenommen werden. Die Luſtempfindung iſt bei gewiſſer Thätigkeit ausſchließlich die Folge einer mittelſtarken Erregung, die beim Übermaß und beim Mangel ins Gegenteil ſich verkehrt; bei anderer Thätigkeit wächſt die Freude entſprechend der Steigerung der Reizung.

Die ganzen Vorgänge ſind außerordentlich kompliziert, ſind auch heute noch keines - wegs voll aufgehellt; was wir als Theſe aufſtellen können, iſt von zahlreichen Ausnahmen ſcheinbar durchbrochen. Aber das haben doch alle großen Denker der Vergangenheit und der Gegenwart vermutet und behauptet, daß in den Veränderungen der Nerven und den daran ſich knüpfenden Empfindungen das Bewußtſein von Vorteilen und Nachteilen,21Die Bedeutung der Luſt - und Schmerzgefühle.von Förderung und Schaden erwache, daß im ganzen die Zunahme an Kraft und Leben uns angenehm, die Abnahme unangenehm berühre, daß die Luſt als Wegweiſer des Lebens, der Schmerz als Warner vor Gefahr uns gegeben ſei. Im Gefühl nimmt die Seele das Maß der Übereinſtimmung oder des Streites zwiſchen den Wirkungen der Reize und den Bedingungen des Lebens wahr (Lotze). Eine Welt, in welcher über - wiegend und regelmäßig das, was das Leben zerſtört, Luſt bereitete, in der Schmerz entſtünde durch das, was das Leben fördert, müßte ſich raſch zu Grunde richten. Die poſitiven und negativen Gefühle dienen als elementarer Steuerungsapparat in dem ewigen Kampf der Selbſterhaltung und Erneuerung des Menſchengeſchlechts. Nur aus dem poſitiven und negativen Empfinden kann das richtige ſich Beſtimmen und Handeln hervorgehen.

Man kann hiegegen ſcheinbar nun mancherlei einwenden: beſtimmte Arten über - mäßiger Luſt können leicht Schmerz, Krankheit und Tod bringen; alle Erziehung des Menſchen beruht auf der augenblicklichen Luſtvermeidung; nichts muß der Jugend mehr eingeprägt werden als: lerne Schmerz ertragen und auf Genuß verzichten; das Gift kann zuerſt Luſt bereiten, nachher töten. Es iſt auf ſolche Einwürfe zu antworten: ſchon der einzelne Menſch iſt ein unendlich kompliziertes Weſen, in welchem zahlloſe Nervenzellen in jedem Augenblick poſitiv und negativ angeregt ſein können, in welchem aber jede dauernde Schmerzvermeidung und Luſtbereitung auf einem harmoniſchen Gleich - gewicht aller Nervenzellen beruht. Dieſes Gleichgewicht kann nur erreicht werden durch Erziehung und Lebenserfahrung. Im Kinde, beim Unerfahrenen, beim Menſchen ohne Selbſtbeherrſchung, bei dem mit ungeſunder Gefühlsentwickelung kommen einzelne Gefühle zeitweiſe zu einer falſchen Herrſchaft über die anderen. Ebenſo lernt der Menſch nur langſam die Einfügung und Eingewöhnung in die Geſellſchaft; er ſieht nicht ſofort ein, daß ihm dieſe momentane Luſtverluſte, aber dauernde Glücksgewinne bringe. Die Gefühle des Menſchen ſind in ſteter Entwickelung, die höheren erlangen erſt nach und nach das Übergewicht. Die einzelnen und die Völker haben zunächſt die Gefühls - ausbildung, welche ihrem bisherigen Zuſtand, ihren bisherigen Lebensbedingungen entſprechen. Werden ſie in andere verſetzt, ſo reagieren ihre Gefühle doch zunächſt noch in alter Weiſe, können ſich erſt langſam den anderen Zuſtänden anpaſſen. Aus allen dieſen Gründen müſſen einzelne Gefühle und zumal ſolche von anormaler Entwickelung immer zeitweiſe den Menſchen irreführen, der nicht verſtändig genug iſt, die Zuſammen - hänge zu überſehen, der nicht durch ſociale Zucht und Erziehung, durch Umbildung und Anpaſſung auf den rechten Weg geführt wird. Die Gefühle ſind nicht blinde, ſondern vom Intellekt zu regulierende Wegzeiger. Der Menſch muß erſt lernen, daß Arbeit und Zucht, wenn im erſten Stadium auch unbequem, auf die Dauer glücklich mache, daß die verſchiedenen Gefühle einen verſchiedenen Rang haben, daß die elementarſten ſinnlichen Gefühle zwar die ſtärkſten ſeien, aber auch die kürzeſten Freuden geben, daß ſie ein Übermaß der Reize ſo wenig ertragen wie Unterdrückung, daß hier die regulierte mittlere Reizung allein das Leben fördere, daß ſchon die zu häufige Wiederholung ſchade, daß mehr und mehr für den Kulturmenſchen das dauernde Glück nur durch die Ausbildung und Befriedigung der höheren Gefühle erreichbar ſei.

Die Luſtgefühle des Eſſens und der Begattung ſind die ſtärkſten, elementarſten; durch ſie wird es bewirkt, daß das Individuum und die Gattung ſich erhält. Je niedriger die Kultur ſteht, deſto mehr ſtehen ſie im Vordergrund, beherrſchen überwiegend oder gar allein die Menſchen. Aber auch der rohe Menſch lernt nach und nach daneben die Freuden kennen, die ſich an die höheren Sinne des Auges und des Ohres knüpfen. Es entſtehen die äſthetiſchen Gefühle, das Wohlgefallen an der Harmonie der Töne und der Farben, die Gefühle des Rhythmus, des Taktes, der Symmetrie. Aus ihnen ent - wickeln ſich die intellektuellen Gefühle, die Freude an der Löſung jedes praktiſchen oder theoretiſchen Problems, am Begreifen und Verſtehen irgend einer Erſcheinung. Ebenſo entſtehen aber mit dem Gattungsleben und mit der eigenen Thätigkeit die moraliſchen Gefühle. Der Menſch kann nicht bloß eſſen und lieben, er muß ſeine Zeit und ſeine Seele mit anderem erfüllen. Er nimmt gewahr, daß unterhaltende Geſelligkeit, glück -22Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.liches Familienleben, Erziehung der Kinder, die Übung der eigenen Kraft und Gewandtheit gleichmäßigere und dauerndere Luſt gewährt. So erwachſen das Kraft - und das Selbſt - gefühl, das Mitgefühl und die Liebe, die Verbands - und Gemeinſchaftsgefühle aller Art, zuletzt die moraliſchen und Pflichtgefühle nach und nach unter der Einwirkung der Erfahrung, der Geſellſchaft, der Ideenwelt. Erſt eine pſychologiſche Geſchichte der Menſch - heit, vor allem eine Geſchichte der Entwickelung der Gefühle, wie ſie andeutungsweiſe Horwicz giebt, würde uns eine richtige Grundlage für alle Staats - und Geſellſchafts - wiſſenſchaft bieten.

An alle die einzelnen, nach und nach ſich ausbildenden Gebiete des Empfindungs - lebens knüpfen ſich nun Luſt - und Schmerzgefühle, und dieſelben wirken als Wegweiſer für den menſchlichen Willen und das Handeln. Und wenn wir zweifeln, ob wir das beglückende Gefühl des Heldentodes für das Vaterland mit dem gleichen Namen bezeichnen ſollen wie die Luſt am Becher ſchäumenden Weines, ſo iſt das Gleiche und Verbindende ja nur die Naturſeite des Zuſtandekommens eines Glücks - oder Luſtgefühls. Wie auf den wilden Stamm der Roſe die verſchiedenſten Blütenarten gepfropft werden, ſo ſind unſere Nervenreize der phyſiologiſche Untergrund für das Verſchiedenſte, was Menſchen - ſeelen bewegt. Und alle höheren, reineren Freuden können voll nur aus unſerem geiſtigen und ſocialen Leben erklärt werden, wie die natürlichen aus unſeren animaliſchen Prozeſſen.

Mit der Erfahrung, daß die verſchiedenen Gefühle ſtärkere oder ſchwächere, einfache oder mannigfache, vorübergehende oder dauernde, kurz nach den verſchiedenſten Seiten dem Grad und der Art nach unterſchiedene Freuden gewähren, verbindet ſich die denkende Ordnung, welche alle die verſchiedenen Gefühle nach ihrer Bedeutung für das Leben gliedert und in Reihen bringt. Es entſteht eine Skala der Luſt - und Glücksgefühle. Eine tiefere und edlere Lebensauffaſſung kommt zu dem Ergebnis, daß die Luſtgefühle um ſo höher ſtehen, einem je höheren geiſtigen Gebiete ſie angehören, oder an je höhere Verknüpfungen und Verhältniſſe ſie ſich anheften (Fechner). Das Gefühl ſteht höher, das nicht an einen einzelnen, ſondern an mehrere Sinne ſich anknüpft, das nicht den Körper, ſondern die Seele, nicht die Lage des Moments, ſondern die dauernde des Individuums, nicht das Individuum allein, ſondern die Genoſſen, die Familie, die Mitbürger betrifft oder mitbetrifft. Allen ſittlichen Fortſchritt kann man von dieſem Standpunkt aus betrachten als den zunehmenden Sieg der höheren über die niedrigen Gefühle. Aller Fortſchritt der Intelligenz und der Technik, der Mehrproduktion und der komplizierteren Geſellſchaftseinrichtungen führt nur dann die Völker ſicher und dauernd aufwärts, wenn die Gefühle, welche das Handeln beſtimmen, ſich in dieſer Richtung entwickelt haben.

Es iſt klar, daß bei dem Sieg der höheren über die niedrigen Gefühle die letzteren ſelbſt etwas anderes werden. Auch die elementaren, natürlichen Luſtgefühle verfeinern und veredeln ſich oder verknüpfen ſich immer enger mit höheren Gefühlen. Die Luſt der Sättigung verknüpft ſich beim Kulturmenſchen mit den Freuden des Familien - lebens und der angeregten Geſelligkeit, mit gewiſſen äſthetiſchen Gefühlen. Aus dem Behagen, in Höhle und Hütte ſich gegen Kälte und Wetter zu ſchützen, wird mit der beſſeren Wohnung die Freude am eigenen Herd, an ſeiner Ordnung und anmutenden ſauberen Geſtaltung. So wird die Verknüpfung der verſchiedenen Gefühle miteinander zugleich zu ihrer richtigen Ordnung. Auch die ſinnlichen verſchwinden nicht, aber ſie werden an ihre rechte Stelle geſetzt und durch ihre Einkleidung in höhere gezügelt und reguliert.

Die weſentlichen habituellen Gefühle erſcheinen in ihrer Beziehung zur Außenwelt als Bedürfniſſe, in ihrer aktiven auf beſtimmtes Wollen und Handeln hinzielenden Rolle als Triebe.

12. Die Bedürfniſſe. Die Luſt - und Unluſtgefühle weiſen den Menſchen über ſich hinaus; ſie nötigen ihn, taſtend, ſuchend, überlegend das aufzuſuchen, zu benutzen, ſich zu aſſimilieren, was ihn von Schmerz befreit, was ihm Befriedigung, Luſt und Glück verſchafft. Die ihn umgebende Außenwelt mit ihren Schätzen, die ſie nach Klima und Boden, nach Flora und Fauna bietet, die eigene Arbeit und die der Mitmenſchen, die ganzen geſell -23Die Ordnung der Gefühle. Die Bedürfniſſe.ſchaftlichen Einrichtungen reichen die Mittel dar, die hiſtoriſch, ethnographiſch und individuell verſchieden gearteten Gefühlsreize immer wieder abzuſtumpfen. Als Bedürfnis bezeichnen wir jede mit einer gewiſſen Regelmäßigkeit und Dringlichkeit auftretende gewohnheitsmäßige, aus unſerem Seelen - und Körperleben entſpringende Notwendigkeit, durch irgend eine Berührung mit der Außenwelt unſere Unluſt zu bannen, unſere Luſt zu mehren. Die materiellen oder ideellen Objekte, die wir benützen, ge - oder verbrauchen, die Verhältniſſe, die ein beſtimmtes Verhalten oder Thun ermöglichen, nennen wir ebenfalls Bedürfnis. Der Wein, der Mittagsſchlaf, das Rauchen, der Opernbeſuch ſind mir oder anderen Bedürfnis, heißt ſo viel, wie ich bedarf ihrer, um einem Unbehagen auszuweichen. Der ganze Umkreis menſchlicher Gefühle, der niedrigen wie der höheren, erzeugt ſo Bedürfniſſe. Der Menſch hat ſinnliche, äſthetiſche, intellektuelle, moraliſche Bedürfniſſe. Aber mit Vorliebe gebraucht unſere Sprache das Wort für die Notwendig - keit, durch den wirtſchaftlichen Apparat von Gütern und Dienſten den niedrigen wie den höheren Gefühlen die gewohnte Funktion zu verſchaffen. Die Bedürfnisbefriedigung, hat man darum geſagt, iſt das Ziel aller Wirtſchaft; die Bedürfniſſe hat man als den Ausgangspunkt alles wirtſchaftlichen Handelns und aller wirtſchaftlichen Produktion hingeſtellt, was ganz richtig iſt, wenn man das Wort Bedürfnis in dieſem engeren Sinne nimmt. Denn im weiteren Sinne iſt Bedürfnisbefriedigung der Zweck alles menſchlichen Handelns, nicht bloß des wirtſchaftlichen, denn zu allem Handeln geben Luſt - und Unluſtgefühle und die Erinnerung an ſie den Anſtoß.

Man hat in der bisherigen Nationalökonomie die Bedürfniſſe in leibliche und geiſtige, in Natur -, Anſtands - und Luxusbedürfniſſe, in Exiſtenz - und Kulturbedürfniſſe, in individuelle und Gemein - oder Kollektivbedürfniſſe eingeteilt. Man hat ihre Erörte - rung in der Regel an die Spitze aller theoretiſchen Betrachtung geſtellt, oft auch bei der Erörterung der Nachfrage, der Haushaltungsbudgets, der Konſumtion, der ſocialen Fragen das Weſentliche über ſie geſagt.

Es will mir ſcheinen, daß mit der bloßen Einteilung der Bedürfniſſe in einige Kategorien nicht viel gewonnen geweſen ſei; die Scheidung von individuellen und Gemeinbedürfniſſen, wie ſie Sax und A. Wagner vornahmen, hatte den theoretiſchen Zweck, gleichſam ein Fundament der wirtſchaftlichen Gemeinde - und Staatsthätigkeit zu ſchaffen. Aber es iſt für ſie doch wenig gewonnen und bewieſen, wenn man der Armee oder dem Eiſenbahnbau die Etikette des Gemeinbedürfniſſes aufklebt; es handelt ſich doch um den Nachweis, daß die Tauſende und Millionen das Bedürfnis des militäriſchen Schutzes und des Verkehrs erſt individuell fühlen, daß dann hieraus eine Kollektivſtrömung erwachſe, und die rechten Staatsorgane hiefür vorhanden ſeien, welche die Sache in die Hand nehmen, die Widerſtrebenden überzeugen oder zwingen, daß ſo große hiſtoriſch-politiſche Prozeſſe gewiſſe wirtſchaftliche Funktionen in die Hand öffentlicher Organe legen. Am meiſten ſcheint mir die Lehre von den Bedürfniſſen durch die hiſtoriſche Unterſuchung des Luxus, wie ſie Roſcher und Baudrillart anſtellen, und ähnliche kulturgeſchichtliche Unterſuchungen gefördert worden zu ſein, während die Verſuche von Bentham, Jevons und anderen, von mathematiſch-mechaniſchem Standpunkte aus die Luſt - und Schmerzgefühle einer Meſſung zu unterwerfen, die Bedürfniſſe zu begründen auf ein Rechenexempel des Maxi - mums an Luſt und des Minimums an Unluſt, uns wohl in einzelnen Punkten, ſo weit ſie auf empiriſch-hiſtoriſcher Grundlage, auf Beobachtung des praktiſchen Seelenlebens beruhen, gefördert, aber doch überwiegend zu Gemeinplätzen geführt haben. Nur für die Wertlehre haben ſich die Unterſcheidungen von Jevons und der öſterreichiſchen Schule teilweiſe als fruchtbar erwieſen, weil es ſich nicht ſowohl um die Bemeſſung der Gefühle und Bedürfniſſe, als um die Bemeſſung der Brauchbarkeit der Güter nach verſchiedenen Geſichtspunkten hin in dieſen Unterſuchungen handelte. Wir kommen bei der Wertlehre und der Nachfrage darauf zurück.

Da wir auch auf andere ſpecielle Ergebniſſe der Bedürfnisentwickelung beſſer im Zuſammenhang der einzelnen volkswirtſchaftlichen Fragen eingehen, ſo handelt es ſich hier nur um ein allgemeines Wort der Erklärung der Bedürfniſſe; wir müſſen ver - ſuchen, ſie als pſychologiſche, individuelle und Maſſenerſcheinung, als wirtſchaftliche24Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Urſache, als hiſtoriſche Entwickelungsreiche, als Ergebniſſe unſeres geiſtig-ſittlichen Lebens zu begreifen.

Die Bedürfniſſe ſind ein Reſultat des Aufeinanderwirkens der vorhandenen Nerven - gewohnheiten und ſeeliſchen Eigenſchaften einerſeits, der natürlichen und geſellſchaftlichen Umgebung des Menſchen andererſeits. Sie ſind bei jedem Individuum das Reſultat ſeiner Raſſe, ſeiner Erziehung, ſeiner Lebensſchickſale. Sie zeigen bei höherer Kultur nach Individuum, Klaſſe und Einkommen an jedem Orte und in jedem Volke erhebliche Abweichungen; auch beruht der Ausbreitungsprozeß der höheren Bedürfniſſe natürlich darauf, daß die an einem Punkte von einzelnen gemachten Fortſchritte langſam von Perſon zu Perſon, von Klaſſe zu Klaſſe, von Land zu Land übergehen. Aber wir können davon zunächſt hier abſehen; für alle geſellſchaftliche und volkswirtſchaftliche Betrachtung können wir hier zunächſt davon ausgehen, daß kleine oder größere geſell - ſchaftliche Kreiſe, die unter ähnlichen Lebensbedingungen ſtehen, durchſchnittlich ähnliche Bedürfniſſe haben; wir können daran erinnern, daß nirgends ſo ſehr als bei den Bedürfniſſen der Menſch als Herdentier ſich zeigt und vom Nachahmungstrieb be - herrſcht wird.

Der urſprüngliche Grundſtock der menſchlichen wirtſchaftlichen Bedürfniſſe iſt nun durch die tieriſche Natur des Menſchen gegeben: ein gewiſſes Maß von Nahrung, Wärme, Schutz gegen Feinde muß auch der roheſte Menſch ſich verſchaffen. Man hat häufig dieſes Maß das Naturbedürfnis genannt. Aber es iſt heute nirgends zu finden. Selbſt die wildeſten Stämme ſind darüber hinaus. Und die Frage, wie, warum der Menſch über dieſe roheſten Naturbedürfniſſe hinausgekommen ſei, iſt eben das hier zu erklärende Problem.

Bleibt man beim Äußerlichen ſtehen, ſo wird man ſagen können, die Bedürfniſſe hätten ſich verfeinert und vermehrt in dem Maße, wie der Menſch die Schätze der Natur direkt oder durch den Handel kennen lernte, wie die fortſchreitende Technik, die Bau -, die Kochkunſt, die Kunſt der Weberei und andere Fertigkeiten ihm immer kompliziertere, ſchönere, beſſere Wohnungen, Werkzeuge, Kleider, Geräte, Schmuckmittel zur Verfügung ſtellten. Die Zufälligkeiten der äußeren Kulturgeſchichte und die Geſchichte der Ent - deckungen, des Handels, der Technik, die Berührungen der jüngeren mit den älteren Völkern beſtimmten dieſen ganzen Entwickelungsprozeß, auf deſſen wichtigſten Teil wir bei der Geſchichte der Technik zurückkommen. Natürlich erklären nun aber dieſe äußeren Ereigniſſe entfernt nicht ihren inneren Zuſammenhang; ſie ſind ſelbſt das Produkt der Raſſen - und pſychologiſchen, der geiſtig-moraliſchen, äſthetiſchen und geſellſchaftlichen Entwickelung der Menſchheit, ſo ſehr die einzelnen erwähnten Ereigniſſe von Zufällen mit beſtimmt ſind und ſo da und dort hin Bedürfniſſe bringen, für welche die Betreffenden nicht reif ſind, die ihnen mehr ſchaden als nützen. Dies gilt vor allem von der Ein - führung der verfeinerten Kulturbedürfniſſe in der Sphäre der Naturvölker.

Die innere Erklärung der zunehmenden, höheren, feineren, der ſämtlichen Kultur - bedürfniſſe liegt in der zuſammenhängenden Kette der Ausbildung der Gefühle, des Intellekts, der Moral, der Geſellſchaft. Indem neben die ſinnlichen die höheren Gefühle des Auges, des Ohres, des Intellekts, die Sympathie traten, entſtand das Bedürfnis des Schmuckes, der Kleidung, der Wohnung, entſtanden die ſchönen Formen, die ver - beſſerten Hülfsmittel, die Werkzeuge, entſtanden die Hallen und Kirchen, die Wege und die Schiffe, die Muſik und die Schrift, entſtand jener große, ſtets wachſende äußere wirtſchaftliche Apparat, der ſchon vor Jahrtauſenden dem Kulturmenſchen unentbehrlich wurde, heute für die Mehrzahl aller Menſchen Lebensbedürfnis iſt. Das Unnötige, ſagt der Dichter, wurde der beſte Teil der menſchlichen Freude. Eine Welt der Formen, der Konvention, des ſchönen Scheins umgab alle urſprünglich einfachen Naturbedürfniſſe. Nicht die Stillung des Hungers zu jeder beliebigen Zeit, in jeder Form, an jedem Orte, der Sicherheit vor Raub und Neid gewährte, genügte dem Menſchen mehr; er wollte in Geſellſchaft, zu beſtimmter Stunde, mit beſtimmten Gefäßen und Ceremonien, mit einer gewiſſen Abwechslung und unter Zuſammenſtellung verſchiedener Speiſen eſſen und ſo durch dieſe Ordnung das einzelne Bedürfnis einfügen in den rechten Zuſammenhang25Die hiſtoriſche Entwickelung der Bedürfniſſe.ſeiner Lebensführung. Alles, was geſchah, ſollte durch ſolche verfeinerte Formen als ein Glied in dem Plane des Lebens erkannt und geſtempelt werden. Immer neue Be - dürfniſſe kamen zu den alten, und die alten verfeinerten ſich, komplizierten ſich, wurden vielgeſtaltiger, wechſelvoller, anſpruchsvoller. Und wir können verſtehen, daß dieſer Prozeß, ſo viel er zugleich Falſches, Häßliches, Bizarres erzeugt, doch zugleich das not - wendige Inſtrument iſt, uns auszubilden, unſere innere Kultur zu fördern. Ohne die beſſere Wohnung, ohne die Trennung von Wohn -, Schlaf - und Arbeitszimmer kein edleres, höheres Familienleben, ohne Trennung von Werkſtätte und Wohnung keine große maſchinelle Produktion. Ja wir können ſogar ſagen, ohne eine gewiſſe Verfeine - rung unſerer Tafel kein hochgeſpanntes geiſtiges Leben, keine funkenſprühende Geiſtes - thätigkeit.

Der Stoiker mag klagen, daß wir Sklaven unſerer Bedürfniſſe ſind, der laudator temporis acti, daß wir die alte Einfachheit verloren haben und ein immer ſchwerfälligeres Kulturgepäck mit uns ſchleppen. Wir mögen mit Recht immer wieder bemüht ſein, unſeren Körper ſo zu ſtählen, daß er mal Mangel und Entbehrung erträgt. Im ganzen liegt doch ein Fortſchritt gerade darin, wenn ſelbſt die unteren Klaſſen Fleiſch, gute Kleidung, ſaubere Wohnung und Anteil an der geiſtigen Kultur fordern; wenn alle Klaſſen um jeden Preis an ihrem Bedürfnisniveau feſthalten, es ſteigern wollen. Die dauernde feſte Anpaſſung unſerer Nerven an einen immer komplizierteren Apparat der Bedürfnisbefriedigung iſt der Sperrhaken, der die Menſchen vor dem Zurückſinken in die Barbarei bewahrt. Auch wer an falſche, übermäßige Genüſſe jahrelang gewöhnt iſt, kann ſich ihnen nicht plötzlich entziehen. Die Nerven halten jeden mit ſtarker Feſſel an dem gewohnten Lebensgeleiſe von Bedürfniſſen feſt. Soweit die Bedürfniſſe aber normale ſind, iſt das ein Glück; es entſteht dadurch die Kraft, auf dem erreichten Kulturniveau ſich zu behaupten, wie die Zunahme der Bedürfniſſe den Fleiß, die Thatkraft, die Arbeitſamkeit immer wieder angeſpornt und gefördert hat, die höhere Kultur bedeutet.

Betonen wir ſo die Berechtigung der wirtſchaftlichen Bedürfnisſteigerung im ganzen und ihren Zuſammenhang mit aller höheren Kultur, aus der ſie zuletzt entſpringt, ſehen wir in dem großen wirtſchaftlichen Mechanismus, der unſeren Bedürfniſſen dient, die in die Außenwelt verlegte Projektion innerer Vorgänge, eine komplementäre Er - ſcheinung unſerer höheren Gefühlsentwickelung, ſo ſoll damit doch entfernt nicht geſagt ſein, daß ſchlechthin jede Bedürfnisſteigerung ein Segen ſei, daß keine Gefahren mit ihr ſich verbinden.

Große und lange Epochen der Menſchheit haben einen faſt ſtabilen Zuſtand der Bedürfniſſe gehabt; ſolche wechſeln naturgemäß mit Zeiten, in welchen eine verbeſſerte Technik und wachſender Wohlſtand eine große Bedürfnisſteigerung erzeugten und erlaubten. In den erſtgenannten Epochen wird das Streben, alle Bedürfniſſe mit einander und mit einer guten Geſellſchaftsverfaſſung in Harmonie zu bringen, ſogar leichter gelingen; und deshalb wird eine feſt gewordene, eingewurzelte, von ſittlichen Ideen beherrſchte Geſtaltung der Bedürfniſſe dann von allen konſervativen Elementen und von den Moral - predigern als ein Ideal verteidigt werden, an dem nicht gerüttelt werden dürfe. Neue Bedürfniſſe erſcheinen ſo leicht an ſich als Unrecht, als Überhebung, als Mißbrauch; und ſie führen häufig auch zunächſt zu häßlichen Erſcheinungen, zu unſittlichen Aus - ſchreitungen, die man durch Verbote, Luxusgeſetze, Moralpredigten mit Recht bekämpft.

Jedes Bedürfnis erſcheint als Luxus, ſofern es neu iſt, über das Hergebrachte hinausgeht. Sehr häufig iſt in der Folgezeit berechtigtes Bedürfnis, was zuerſt als verderblicher Luxus erſchien. Aber der ſteigende Luxus kann auch ein Zeichen wirtſchaft - licher und ſittlicher Auflöſung im ganzen oder gewiſſer höherer Kreiſe ſein.

Die Bedürfniſſe jedes Volkes und jedes Standes ſind ein Ganzes, das dem Ein - kommen und Wohlſtand ebenſo entſprechen ſoll, wie der richtigen Wertung der Lebens - zwecke untereinander. Und zumal in einer Zeit großer wirtſchaftlicher Fortſchritte, großer Änderung und Steigerung der Bedürfniſſe wird es immer zuerſt ſehr ſchwer ſein, das richtige Maß im ganzen zu halten und im einzelnen jedem Lebenszwecke ſein gebührendes Maß von Mitteln zuzuführen. Rohe Zeiten haben durch ein Übermaß26Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.von Freſſen und Saufen, civiliſierte durch Kleider - und Feſtluxus gefehlt; verſchwende - riſche Fürſten und Völker haben, ſtatt ſparſam die Mittel zuſammen zu halten, durch Bauten und Vergnügungen ſich erſchöpft; die ſinkende Kultur des Altertums und der Despotismus der neueren Zeit zeigen genug ſolcher Beiſpiele. Die Verbreitung der Trunkenheit und des Alkoholgenuſſes der neueren Zeit beweiſt, wie wenig wir noch über ſolche Irrwege hinaus ſind.

Jede Bedürfnisſteigerung, zumal die raſch möglich werdende und eintretende, iſt für jede Klaſſe und jedes Volk eine Prüfung, die nur beſtanden wird, wenn die ſittlichen Kräfte geſund ſind, wenn Beſonnenheit und richtiges Urteil den Umbildungsprozeß beherrſchen, wenn die Mehrproduktion und die Sparſamkeit gleichen Schritt mit den vermehrten und richtig regulierten Bedürfniſſen hält. Jede ſtarke Bedürfnisſteigerung erzeugt die Gefahr, daß das Genußleben an ſich für einzelne oder weite Kreiſe zu ſehr an Bedeutung gewinne gegenüber der Arbeit und dem Ernſt des Lebens. Es entſteht die Möglichkeit, daß die erſten Schritte auf dieſer Bahn die Thatkraft ſteigern, die ſpäteren ſie lähmen. Vor allem aber handelt es ſich um die Art der Bedürfnisſteigerung und ihre Rückwirkung auf die ſittlichen Eigenſchaften. Es dürfen nicht die gemeinen, ſinnlichen Bedürfniſſe auf Koſten der höheren geſteigert werden. Es dürfen mancherlei zweiſchneidige Genußmittel nicht in die Hände halb kultivierter, ſittlich ſchwacher Ele - mente fallen: ſie werden bei höchſter Selbſtbeherrſchung vielleicht Gutes wirken, wenigſtens nicht ſchaden, ſonſt aber nur zerſtören. Allein die Bedürfnisſteigerung iſt die normale, welche die geiſtigen und körperlichen Kräfte, vor allem die Fähigkeit zur Arbeit erhöht, welche das innere Leben ebenſo bereichert wie das äußere, welche den ſocialen Tugenden keinen Eintrag thut.

Die Gefahr jeder Bedürfnisſteigerung liegt im Egoismus, in der Genußſucht, im ſybaritiſchen Kultus der Eitelkeit, die ſie bei falſcher Geſtaltung herbeiführen kann. Es war kriechende Schmeichelei der früheren Jahrhunderte, jeden Wahnſinn fürſtlicher Ver - ſchwendung zu preiſen; es war knabenhafte Demagogie, dem Arbeiter von der Sparſamkeit abzuraten, weil die Bedürfnisſteigerung ſtets wichtiger ſei. So redete Laſſalle von einer verdammten Bedürfnisloſigkeit der unteren Klaſſen, die ein Hindernis der Kultur und der Entwickelung ſei.

5. Die menſchlichen Triebe.

  1. Über die Litteratur ſiehe den vorigen Abſchnitt.

13. Allgemeines. Die Luſt - und Schmerzgefühle, die zur Bedürfnisbefriedigung Anlaß geben, erſcheinen als Triebe, ſofern ſie bleibende Dispoſitionen des Menſchen zu einem der Art, aber nicht dem Gegenſtande nach beſtimmten Begehren darſtellen. Was der Inſtinkt im Tier, iſt der Trieb im Menſchen. Er giebt die Anſtöße zum Handeln, die immer wieder in gleicher Richtung von der Thätigkeit unſeres Nervenlebens, haupt - ſächlich von den elementaren Gefühlen ausgehen. Aber die heute vorhandenen, in beſtimmter Art auftretenden Triebe dürfen wir deshalb doch nicht als etwas ganz Un - veränderliches, mit der Menſchennatur von jeher an ſich Gegebenes betrachten, ſo wenig wie unſer Gehirn und unſere Nerven ſtets ganz dieſelben waren. Die Natur hat dem Menſchen nicht etwa einen Eſſenstrieb mitgegeben, ſondern Hunger und Durſt haben als qualvolle Gefühle, welche die Nerven aufregen, Menſchen und Tiere veranlaßt, nach dieſem und jenem Gegenſtand zu beißen und ihn zu verſchlingen; und aus den Er - fahrungen, Erinnerungen und Erlebniſſen von Jahrtauſenden, aus den körperlichen und geiſtigen damit verknüpften Umbildungen iſt der heutige Trieb, Nahrung aufzunehmen, entſtanden, der in gewiſſem Sinne freilich als elementare, konſtante Kraft, auf der anderen Seite aber in ſeinen Äußerungen doch als etwas hiſtoriſch Gewordenes erſcheint. Jeder ſo mit der Entwickelungsgeſchichte gewordene, auf beſtimmten Gefühlscentren beruhende Trieb regt den körperlichen Mechanismus wie unſer Seelenleben an, mit einer Art mechaniſcher Abfolge in beſtimmter Weiſe zu handeln. Wir ſprechen wenigſtens mit Vorliebe da von einem Trieb, wo wir glauben, das Handeln auf ein Getriebenſein zurückführen27Das Weſen der Triebe.zu können, wo wir große Menſchengruppen oder alle Menſchen in ähnlicher Weiſe glauben, durch beſtimmte ſeeliſche Grundkräfte in ihren Willensaktionen beherrſcht zu ſehen. Wir bezeichnen die Handlungen als Triebhandlungen, welche uns unter der unmittelbaren Wirkung einer ſolchen Grundkraft zu ſtande zu kommen ſcheinen.

Die Vorſtellung, daß es möglich ſei, eine beſtimmte Anzahl ſich immer gleich bleibender Triebe bei allen Menſchen aller Zeiten nachzuweiſen, müſſen wir dabei freilich fallen laſſen. Das Triebleben iſt, wie wir ſchon bemerkt, ein Ergebnis der hiſtoriſchen Entwickelung unſerer Nerven und unſerer ganzen geiſtig-ſittlichen Natur. Alle ſtarken Gefühle geben Impulſe zum Handeln; je niedriger die menſchliche Kultur, deſto unwillkür - licher folgt dieſes Handeln, deſto näher ſteht es unbewußten Reflexbewegungen, deſto mehr handelt es ſich um ein wirkliches Getriebenſein . Je mehr die Reflexion und das geiſtige Leben ſich ausbilden, deſto mehr ſchieben ſich zwiſchen den Gefühlsimpuls und das Handeln Vorſtellungen über die Folgen, Überlegungen ſittlicher Art, deſto mehr geht das impulſive Handeln in ein überlegtes, durchdachtes, durch die Erziehung modifi - ziertes über. Die Triebe verſchwinden damit nicht, aber die reinen und bloßen Trieb - handlungen. Unſere Handlungen werden etwas anderes, Komplizierteres, den ſittlichen Lebensplänen Angepaßtes; die Triebe ſelbſt ändern ſich in ihren Wirkungen. Der Erwerbstrieb des rohen Indianers, des Bauern, des Gelehrten, des Börſenſpekulanten ſind qualitativ und quantitativ ebenſo verſchieden wie der Geſchlechtstrieb einer Südſee - inſulanerin und einer gut erzogenen engliſchen Lady.

Der Trieb iſt der organiſche, von unſerm Gefühlsleben und beſtimmten Vor - ſtellungen ausgehende Reiz zum Handeln. Er iſt der natürliche Untergrund deſſen, was durch Zucht und Gewöhnung, durch Übung und Zähmung zur civiliſierten Gewohnheit wird. Alle menſchliche Erziehung will die Triebe ethiſieren und in gewiſſem Sinne zu Tugenden erheben; aber die Triebe der heutigen Generation ſind immer ſchon das Er - gebnis einer ſittlichen Erziehungsarbeit von Jahrtauſenden.

Die neuere Pſychologie, weſentlich auf andere Fragen gerichtet, hat in der Trieb - lehre noch keine großen Fortſchritte gemacht; man iſt noch zu keiner einheitlichen Klaſſifi - kation der Phänomene und zu keinen feſten Begriffen gelangt. Nichtsdeſtoweniger drängt ſich das Bedürfnis, eine Reihe von Trieben zu unterſcheiden, immer wieder auf. Und wenn die Verſuche, ganze Wiſſenſchaften aus einem oder ein paar Trieben zu erklären ich erinnere an den geſelligen Trieb des Ariſtoteles und Hugo Grotius, an die Trieb - lehre der Socialiſten, an den Erwerbstrieb der Nationalökonomen, an die Heirats - und Verbrechenstriebe der Statiſtiker , noch unvollkommener ſind als die Trieblehren der Pſychologen, ſo wird eine ſociologiſche Betrachtung, welche nicht um ſyſtematiſcher Ein - heit willen alles aus einer Urſache ableiten will, doch immer am beſten thun, in An - lehnung an die heutige Pſychologie die weſentlichſten der gewöhnlichen Triebe einfach nebeneinander zu ſtellen und auf ihren Zuſammenhang mit den Erſcheinungen des geſellſchaftlichen Lebens zu prüfen, ohne damit die Prätenſion zu erheben, eine neue Trieblehre zu geben oder gar auf ſie ein ganzes Syſtem zu bauen.

Wir kommen dabei freilich auf eine Wiederholung deſſen, was wir über die Ge - fühle geſagt; wir müſſen uns andererſeits mit wenigen aphoriſtiſchen Bemerkungen über den Selbſterhaltungs -, Geſchlechts -, Thätigkeits -, Anerkennungs - und Rivalitätstrieb beſchränken; aber dieſe, ſowie die Hinweiſung auf ihre hiſtoriſche Entwickelungsfähigkeit werden immer nicht wertlos ſein und uns für die Erörterung des Erwerbstriebes vor - bereiten.

14. Der Selbſterhaltungs - und der Geſchlechtstrieb werden in allen Trieblehren vorangeſtellt; ſie entſprechen den ſtärkſten Luſtgefühlen, wie wir bereits erwähnt. Sie können auch, viel eher als der Egoismus oder der Erwerbstrieb, als der pſychologiſche Ausgangspunkt des Wirtſchaftslebens, ja der ganzen geſellſchaftlichen Organiſation angeſehen werden: Durch Hunger und durch Liebe, ſagt ein bekanntes Sprüchlein, erhält ſich das Getriebe. Und Goethe meint in den venetianiſchen Epi - grammen:

28Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Warum treibt ſich das Volk ſo und ſchreit? Es will ſich ernähren, Kinder zeugen und die nähren, ſo gut es vermag. Merke dir, Reiſender, das und thue zu Hauſe desgleichen Weiter bringt es kein Menſch, ſtell er ſich wie er auch will.

Der Selbſterhaltungstrieb umfaßt nicht bloß das Eſſen und Trinken; wir führen auf ihn alle menſchliche Thätigkeit zurück, die auf Erhaltung des eigenen Ich direkt gerichtet iſt; der Mann, der ſich gegen ſeine Feinde oder wilde Tiere verteidigt, der ſich gegen Kälte oder Gefahren ſchützt, wird ebenſo von ihm geleitet wie der, welcher Waffen und Werkzeuge zu künftigem Thun bereitet. Aus dem Selbſterhaltungstrieb entwickeln ſich bei höherer, komplizierterer Kultur alle möglichen Anſtrengungen, die indirekt das Individuum erhalten und fördern wollen; aller Kampf mit der Natur, alle Anſtrengung und Arbeit hängt mit demſelben zuſammen, ſofern ſie das eigene Ich im Auge haben; auch Liſt und Betrug, Gewaltthat und Diebſtahl, Raub und Mord entſpringt aus ihm, wie der heftige, rückſichtsloſe Konkurrenzkampf der Gegenwart. Damit iſt aber ſchon geſagt, daß der Trieb kein einfacher ſei, mit höherer Kultur immer kompliziertere Ge - biete, indirekte Ziele umfaſſe und in ſeiner Bethätigung ſich bei den meiſten Menſchen nur in den Schranken der Sitte und des Rechtes äußere. Die Ziele, die ihm geſteckt ſind, wechſeln ebenſo wie die Kraft und Nachhaltigkeit, mit der er auftritt. Er äußert ſich beim Wilden als Veranlaſſung zur Jagd und Fiſchfang, beim Ackerbauer zur Pflug - führung und Ernte. Faulheit und Arbeitsſcheu, gedankenloſe Verſchwendung ſind hier mit dieſem Triebe verbunden, dort Sparſamkeit und Fleiß. Erſt eine durch die Jahrtauſende fortgeſetzte Zucht und die Inſtitute der ſocialen Ordnung haben ihn zu dem gemacht, was wir heute als Selbſterhaltungstrieb in der civiliſierten Geſellſchaft bezeichnen. Von der Sorge für die eigene Brut und Familie iſt er heute ſchwer zu trennen. Vermöge jenes Princips der Aſſociation der Vorſtellungen, welches zuerſt Hartley in die pſycho - logiſchen Unterſuchungen des Sittlichen eingeführt hat, vereinigen ſich die Vorſtellungen der Menſchen nach beiden Richtungen mehr oder weniger ſtets. Nur bei gänzlich ſchlechten, verwahrloſten Menſchen oder im Moment der Todesgefahr hat der Selbſt - erhaltungstrieb nur das eigene Ich im Auge.

Auch der Geſchlechtstrieb iſt zumal in der civiliſierten Geſellſchaft kein einfaches Phänomen, keine blinde Triebkraft mehr. Gewiß tritt er auch heute noch mit einer gewiſſen elementaren Kraft auf, er kann einzelne im Moment blind beherrſchen, er iſt für die meiſten erwachſenen, noch nicht gealterten Menſchen einer der wichtigſten Faktoren ihres Trieblebens; aber der ſittliche und ſociale Erziehungsprozeß hat ihn bei der Mehrzahl der Menſchen gemildert, geformt, mit Schranken umgeben, ihn mit allen möglichen anderen Zielen in Verbindung gebracht. Er tritt vor allem als Trieb auf, eine Familie zu gründen; er verbindet ſich ſo unauflöslich mit all den Hoffnungen auf Glück und Behagen, welche die Ehe und die Familie bietet. Aus und mit den Luſt - empfindungen der Begattung ſind ſo ſeit Millionen Jahren ſympathiſche Erregungen, Güte, Leutſeligkeit, Aufopferungsfähigkeit erwachſen, die Freude vor allem an dem Daſein der Kinder und Enkel, der Gattin und der Verwandten, ja das ganze Stammesgefühl. Und wenn der Satz wahr iſt, daß für die große Maſſe der Menſchen noch heute nach ſo vielen Jahrtauſenden der Geſchichte der natürliche Zuſammenhang des Blutes immer noch der weitaus wichtigſte, wo nicht der einzige Hebel milderer Sinnesart im Gegenſatz zum rohen Ich ſei (Cohn), daß erſt langſam und nach und nach die Familiengefühle auf weitere Kreiſe ſich ausdehnen, ſo iſt damit zugegeben, daß auf dem natürlichen Boden des Geſchlechtstriebes höhere und reinere geſellige Triebe erwachſen ſind, welche, einmal feſt gewurzelt und zu ſelbſtändigem Streben nach beſtimmten Zielen ausgebildet, ſich dem Geſchlechtstrieb als etwas Eigenartiges und Höheres gegenüberſtellen.

15. Der Thätigkeitstrieb iſt teilweiſe verwandt mit dem Selbſterhaltungs - trieb, aber doch wieder von ihm weſentlich verſchieden. Er geht zunächſt hervor aus einem der allgemeinſten menſchlichen Gefühle, dem Kraftgefühl der Nerven und Muskeln, die ihre überſchüſſige Energie irgendwie verbrauchen müſſen. Alle phyſiognomiſche und mimiſche Bewegung hängt damit zuſammen, wie die Sprache, welche nach ihrer anima -29Der Selbſterhaltungs -, Geſchlechts - und Thätigkeitstrieb.liſchen Seite nichts iſt als die unwillkürliche lautliche Entladung gewiſſer Nerven - und Muskelkräfte. Der Thätigkeitstrieb nötigt uns aber nicht bloß Muskeln und Nerven zu beſchäftigen, unter dem Einfluß ordnender, mit dem Zweckleben ſich ergebender Vor - ſtellungen und Luſtgefühle will er ſie ſachgemäß beſchäftigen, er will die Kräfte üben, die Grenzen der eigenen Macht erproben; er geht ſo dem erwachenden Selbſtgefühl parallel; urſprünglich ein Ergebnis rein animaliſchen Daſeins nimmt er alle höheren menſchlichen Zwecke, ſofern wir unſere Kraft an ihnen verſuchen, in ſich auf; die ihm eigentümlichen Luft - und Schmerzgefühle verbinden ſich auf jeder Kulturſtufe mit Gefühlen höherer Ordnung.

Äußert er ſich beim Kannibalen nur in der Befriedigung, einen Feind getötet oder ſkalpiert zu haben, beim rohen Jäger in der Spannung und dem Genuß, welchen die Erlegung des Elchs und des Hirſches gewähren, ſo werden die Ziele desſelben beim Kulturmenſchen unendlich mannigfaltige, die Luſt aber bleibt immer dieſelbe. Es iſt die Freude, die eigene Kraft richtig eingeſetzt und verwertet zu haben. Wir beobachten den Trieb ſchon beim Kinde, das mit Bauklötzchen ein Haus baut, das ſägen und leimen, pappen und malen will, das in tauſenderlei Formen die kleine Welt der Hauswirtſchaft wie die große der Technik in ſeinen Spielereien nachahmt und entzückt in die Händchen ſchlägt, wenn ihm die kleinen Kraft - und Kunſtproben gelungen ſind. Und was der Jugend das Spiel, iſt dem Alter die Wirklichkeit. Den Schmied, welchem der rechte Schlag mit dem Hammer gelungen iſt, die Köchin, welche den duftenden Sonntagsbraten anrichtet, den Maler, welcher vor dem fertigen Bilde den Pinſel weglegt, den Maſchinen - fabrikanten, der die tauſendſte Lokomotive auf die Ausſtellung ſchickt, durchglüht dasſelbe Innervationsgefühl gelungener eigener Thätigkeit wie den hungernden Prediger, welcher mit dem Bewußtſein von der Kanzel ſteigt, wieder einmal als Wecker der Gewiſſen die Herzen und Nieren ſeiner Gemeindeglieder erſchüttert zu haben. Es giebt keine größere Freude für den Menſchen als die Luſt thätigen Schaffens und Wirkens, und ſie iſt bis auf einen gewiſſen Grad unabhängig von dem ökonomiſchen Erfolg, der Bezahlung des Produktes, dem Lohn oder Gehalt. Millionen von Menſchen arbeiten in der Familie und in Staat und Kirche ohne direkte Bezahlung, bei anderen Millionen iſt Belohnung und Arbeit nicht in ſo nahe Beziehung und oft nicht ſo in Proportion gebracht, daß die Belohnung das allein ausſchlaggebende Motiv wäre. Aber ſie arbeiten um des Erfolges willen. Ihr Vorſtellungsvermögen und ihre Nervenerregung läßt ihnen keine Ruhe, es treibt ſie unwiderſtehlich zur Thätigkeit; die weſentlichſten wirtſchaftlichen Tugenden, die Ausdauer, der Mut des kühnen Unternehmers, die friſche Erfindungsgabe des Zeichners und Modelleurs entſpringen hier. Der reiche Mann will noch mehr gewinnen, nicht ſo ſehr weil ihn der Mehrbeſitz als weil ihn das Kraftgefühl der Erwerbs - fähigkeit erfreut. In dieſem Thätigkeitstrieb hat der ſittliche Segen der Arbeit ſeine natürliche Wurzel. Die Thätigkeit, welche ſich ganz in den Gegenſtand verſenkt, darüber das eigene Ich und ſeine Kümmerniſſe vergißt, iſt das einzige, was auf die Dauer für die Mehrzahl der Menſchen jenes harmoniſche Gleichgewicht zwiſchen Luſt - und Unluſt - gefühlen herſtellt, das wir als dauernde Zufriedenheit bezeichnen.

Aus dieſem Trieb entſpringt nebenbei auch das Selbſtgefühl und Selbſtbewußt - ſein; freilich nicht aus ihm allein; es iſt ein kompliziertes Ergebnis individueller und geſellſchaftlicher Vorgänge; die Anerkennung in der Geſellſchaft ſtärkt es, wie das Bewußtſein des Beſitzes, das die Furcht, von der Gnade anderer leben zu müſſen, ver - bannt. Vor allem aber erzeugt das Bewußtſein, auf beſtimmtem Gebiet etwas Vollendetes leiſten zu können, die beſtimmte Sicherheit des Auftretens, die zu unſerem inneren Glück ebenſo notwendig iſt wie zu jedem äußeren Erfolg. Und das Kolorit des Selbſtgefühls entſteht durch die beſtimmte Art der Arbeit. Der Maſchinenarbeiter ſchlägt mit Leiden - ſchaft auf den Tiſch, der Schneider ſtreichelt ſanft den Freund über Achſel und Arm, zugleich den Stoff befühlend; der Soldat erinnert an die Feldzüge, die er mitgemacht, der Kaufmann erzählt von den Spekulationen, die ihm gelungen.

16. Der Anerkennungs - und der Rivalitätstrieb. Gehen wir nach dieſen elementaren Trieben, die in ihrer Wurzel alle an beſtimmte phyſiſche Luſtgefühle30Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.anknüpfen, zu dem über, was man ſonſt noch als Trieb zu bezeichnen pflegt, ſo wird die Unterſuchung ſehr viel ſchwieriger. In gewiſſem Sinne entſpricht auch allen höheren ausgebildeten Gefühlen ein Triebleben: der Menſch hat äſthetiſche, intellektuelle, moraliſche, geſellige Triebe. Aber es handelt ſich hier um viel kompliziertere Vorgänge, um Nerven - reize, die keineswegs mit gleicher Dringlichkeit den Menſchen zu beſtimmten Richtungen des Handelns antreiben. Es handelt ſich da um ein Handeln, auf das ſittliche und andere Vorſtellungen und Erfahrungen ſoviel ſtärker einwirken als der an ſich vor - handene Nervenreiz, ſodaß wir hier mit der Annahme eines Triebes viel weniger erklärt haben. Ja an einzelnen Stellen erſcheint uns die Annahme eines Triebes nur als Mäntelchen, unſere Unwiſſenheit zu verdecken. So müſſen wir uns entſchieden gegen die Annahme eines allgemeinen ſocialen Triebes erklären, obgleich wir zugeben, daß es auch auf geſellſchaftlichem und geſelligem Boden Triebreize giebt. Aber dieſe Triebreize löſen ſich uns auf in eine Reihe von Gefühlen, die wir wieder unterſcheiden können als Gefühle der Blutsverwandtſchaft, der Sprach -, der Kulturgemeinſchaft, als Freude der Geſelligkeit und was ſonſt noch dazu gehört. Und deshalb möchten wir das ſo klar zu Unterſcheidende nicht mit einem Sammelnamen bezeichnen, der uns die Unter - ſchiede zudeckt.

Dagegen ſcheint es uns viel eher berechtigt, von einem allgemeinen Triebe der Menſchen nach Anerkennung im Kreiſe von ihresgleichen zu ſprechen. Wir haben ſchon oben (S. 9, 15 16) darauf hingewieſen, wie ſehr das geiſtige Leben überall nach Zuſammenſchluß hindrängt. Ad. Smith leitet aus der ſtets und überall wirkſamen Sympathie der Menſchen miteinander alle ſittlichen Urteile und alle geſellſchaftlichen Einrichtungen ab.

Kein Menſch kann ohne die Billigung eines gewiſſen Kreiſes leben; und je niedriger er ſteht, deſto mehr iſt er in jedem Schritt, den er thut, von dem Urteil ſeiner Um - gebung abhängig. Der Menſch ißt und trinkt, er kleidet ſich und richtet ſeine Wohnung ſo ein, wie es ſeine Freunde, ſeine Standesgenoſſen für paſſend halten. Jeder fürchtet ſich in erſter Linie vor dem, was man von ihm ſagen werde; er fürchtet die Sticheleien, er fürchtet, ſich lächerlich zu machen. Viele geben Feſte über ihre Mittel, weil ſie fürchten, ſonſt getadelt zu werden. Die arme Witwe ruiniert ſich und ihre Kinder, um dem Mann ein anſtändiges Begräbnis zu verſchaffen, d. h. ein ſolches, wie ſie glaubt, daß es die Nachbarn erwarten.

Wir beherrſchen unſere Leidenſchaften, weil wir fürchten, ſonſt ungünſtig beurteilt zu werden; die Mäßigung, die Selbſtbeherrſchung entſpringt ſo zuerſt weſentlich aus Rückſicht auf andere. Mag der einzelne Menſch im Herzen ſich noch ſo ſehr allen anderen vorziehen, er darf es, ſagt Ad. Smith in der Theorie der ſittlichen Gefühle, doch nie eingeſtehen, ohne ſich verächtlich zu machen, er muß die Anmaßungen des Egoismus zu dem herabſtimmen, was andere nachempfinden können. Es giebt keine Lage des Lebens, in welcher der Menſch ganz auf Anerkennung der Menſchen verzichten könnte, die er ſelbſt achtet und hoch hält.

Der Kreis derer, auf die man dabei achtet, deren Anerkennung, Billigung oder Liebe man wünſcht, kann je nach der Kultur, der Geſellſchaft, der Lebenslage, der Hand - lung, die in Frage ſteht, ein ſehr verſchiedener ſein. Aber dieſe Anerkennung oder Billigung iſt für die Mehrzahl der Menſchen eine Hauptquelle ihres Glückes, ihrer Zufriedenheit. Selbſt der Auswurf der Menſchheit kann nicht ohne ſolche Billigung leben. Es iſt ohne Zweifel eine der Haupturſachen der größeren Moralität in kleineren Orten, wo jeder jeden kennt, daß hier Nachbarn, Freunde, Verwandte von jedem die gewöhnlichen Tugenden des ehrbaren Mannes, des guten Familienvaters, des ſparſamen Hauswirts fordern. In der großen Stadt, vollends in der Weltſtadt, entzieht ſich das Privatleben der allgemeinen Kenntnis. Der ſchneidige Offizier, der pünktliche Beamte, der gewandte Commis wird von den Perſonen, die ſein Schickſal beſtimmen, nur nach Bruchſtücken ſeines Weſens gekannt und beurteilt. Vollends der betrügeriſche Börſenſpieler, der wucheriſche Kreditgeber, der Hehler und der Dieb wiſſen ihre Thätigkeit vielen, mit denen ſie in Berührung kommen, zu verbergen, ſind anderer -31Der Anerkennungs - und der Rivalitätstrieb.ſeits in den Kreiſen derer, die mit ihnen ein gleiches Gewerbe treiben, vielleicht als die Geriebenſten geachtet und darum ſtolz auf dieſen Ruf. Er erſetzt ihnen, was ſie an Anerkennung im übrigen entbehren.

Die beſtändige Rückſicht, ſagt Lotze, auf das, was andere, für uns die Vertreter des Allgemeinen gegenüber unſerer Individualität, von uns denken werden, vertritt ſowohl in den erſten hiſtoriſchen Zeiten der Menſchheit als in den Anfängen der perſön - lichen Entwickelung, endlich auf jenen niedrigen Bildungsſtufen, auf denen ein Teil unſeres Geſchlechts beſtändig verharrt, mit mehr oder weniger Glück und Vollſtändigkeit das eigene moraliſche Gewiſſen. Lazarus nennt dieſes ſich Fühlen in einem größeren Ganzen eine Erweiterung des Selbſtgefühls. Und unzweifelhaft vertritt für alle weniger entwickelten Individuen dieſes Teilhaben an dem Selbſt - und Ehrgefühl eines geſell - ſchaftlichen Kreiſes das Selbſtgefühl.

In ſeinem älteren Werke führt Ad. Smith ſogar in übertreibender Weiſe alles Streben nach Reichtum auf die Anerkennung durch andere zurück. Dieſes Streben erſcheint ihm nach den idealiſtiſchen Rouſſeauſchen Empfindungen ſeiner Zeit überhaupt ziemlich thöricht. Der Tagelöhner iſt ihm ſo glücklich wie der Millionär; die Bedürfniſſe der Natur könne auch der erſtere befriedigen. Was alſo, ſagt er, treibt uns darüber hinaus? Wir wollen, antwortet er, bemerkt, mit Sympathie, mit Beifall umfangen werden. Der Arme ſchämt ſich ſeiner Armut; der Beſitz wird nur erſtrebt, um bemerkt zu werden. Smith berührt hier denſelben Gedanken, den neuerdings die Kulturhiſtoriker ganz richtig betont haben, welche alle Kleidung aus dem Schmuck und allen Schmuck aus der Abſicht hergeleitet haben, ſich durch die Abzeichen, Federn, Farben, durch die Tätowierung, durch die Gürtel und Ringe auszuzeichnen, von anderen ſofort erkannt und als höher Geſtellte, als Mitglieder einer Sippe, eines Stammes ſich anerkannt zu ſehen.

Wir ſind damit gewiſſermaßen ſchon zu einem anderen menſchlichen Triebe oder zu einer Abart des Anerkennungstriebes gekommen, zu dem Trieb der Rivalität. Beruht auf dem Anerkennungstrieb der Beſtand und die Gruppierung der geſellſchaft - lichen Kreiſe, ſo beruht auf dem Rivalitätstrieb die Bewegung der Geſellſchaft.

Es iſt gewiß das Urſprünglichere, daß der Menſch als Gleicher unter Gleichen, als Glied eines Ganzen, einer Sippe, eines Stammes, eines Standes, einer Körperſchaft ſich fühlen will; alle urſprüngliche Geſellſchaftsverbindung und noch heute alle einfacheren geſellſchaftlichen Beziehungen beruhen darauf. Die feinere Geſelligkeit lebt heute noch von der Fiktion, die ſich in einem Salon Verſammelnden ſeien gleich und erkennten ſich als ſolche an. Aber alle Ausbildung der Individualität wie alle kompliziertere Geſellſchafts - verfaſſung hängt mit dem Triebe, der zunächſt bei den Stärkſten, Begabteſten ſich zeigt, zuſammen, über dieſe Anerkennung als Gleicher unter Gleichen hinauszukommen.

Indem der Menſch ſeine Gefühle und Vorſtellungen zum Selbſtgefühl zuſammen - faßt, ſein eigenes Ich der übrigen Welt, den Gliedern ſeiner Familie, ſeinen Genoſſen entgegenſetzt, entſteht notwendig in ihm die Neigung, dieſen Schnitt zwiſchen ſich und den übrigen zu benutzen zu einer Erhebung über ſie. Es entſtehen die ſelbſtiſchen Ge - fühle, die Eigenliebe, die Schadenfreude, der Hochmut, das Beſſerſein - und Beſſerwiſſen - wollen. Der Knabe freut ſich der ſtärkſte, der Jüngling der tapferſte zu ſein. Die primitivſten Anfänge einer komplizierteren Geſellſchaftsverfaſſung ſchaffen Häuptlings -, Führer -, Richter -, Prieſterſtellen, auf Grund deren ſich einzelne über die anderen erheben; die geſchlechtlichen Beziehungen bringen eine Auswahl der ſchönſten Weiber für die angeſehenen Männer; die wachſende Habe, der Herdenbeſitz, ſpäter das Grundeigentum ſchaffen Abſtufungen in der ſocialen und wirtſchaftlichen Lage, die mit den Abſtufungen der ſocialen Ehre erſt parallel gehen, ſpäter auch getrennt von ihnen als Ziel die Kraftvolleren locken. Kurz es entſteht nach und nach der Kampf um höhere Ehre, größeren Beſitz, ſchönere Weiber, das Ringen um höheres geſellſchaftliches oder irgendwie ſpecialiſiertes Anſehen. Die Rivalitätskämpfe ſowohl der einzelnen als der Gruppen der einzelnen ſpielen bald eine größere, bald eine geringere Rolle; ganz fehlen ſie in keiner menſchlichen Geſellſchaft; ſie ſind das Schwungrad des Fortſchritts, erzeugen den Kampf ums Daſein in ſeinen verſchiedenen Formen.

32Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

Der Erwerbstrieb in den mit ausgebildetem Eigentum wirtſchaftenden Völkern iſt eine Unterart dieſes allgemeinen Rivalitätstriebes. Wir gehen auf ihn nun noch etwas genauer ein.

6. Der Erwerbstrieb und die wirtſchaftlichen Tugenden.

  1. Mandeville, Fable of the bees or private vices public benefits. 1713.
  2. Helvetius, De l’esprit 1758, de l’homme, Oeuvres 1792.
  3. Bentham, Works 1843. Über Bentham und die Benthamiten: Held, Sociale Geſchichte Englands 1881, S. 246 287.
  4. Lotz, Handbuch der Staatswirtſchaftslehre 1, S. 6 7. 1821.
  5. Rau, Grundſätze der Volkswirtſchaftslehre. 6. Aufl. §§ 7 u. 11. 1855.
  6. Derſ., Bemerkungen über die Volkswirtſchaftslehre und ihr Verhältnis zur Sittenlehre. Z. f. St. W. 1870. Schütz, Das ſittliche Moment in der Volkswirtſchaft. Z. f. St. W. 1844.
  7. Knies, Politiſche Ökonomie vom Standpunkt der geſchichtlichen Methode. S. 147 168. 1853. 2. Aufl. S. 227 253. 1883.
  8. Vorländer, Über das ſittliche Princip der Volkswirtſchaft in Rückſicht auf das ſociale Problem. Z. f. St. W. 1857.
  9. Schmoller, Grundfr. S. 50 ff.
  10. H. Dietzel, Selbſtintereſſe. H. W. Riehl, Die deutſche Arbeit. 1861, G. Jäger, Die menſchliche Arbeitskraft. 1878.
  11. Cohn, Grundlegung der Nationalökonomie. 1885. §§ 217 232.
  12. Bücher, Arbeit und Rhyth - mus. 1896.
  13. Smiles, Die Sparſamkeit. 1876.
  14. Über die wirtſchaftlichen Tugenden iſt die ganze ethiſche Litteratur zu vergleichen.

17. Dogmengeſchichtliches. So oft über die Urſachen menſchlichen Handelns ernſthafter nachgedacht worden iſt, haben ſich Denker gefunden, welche alles Handeln, auch die Tugenden der Menſchen auf die Selbſtliebe zurückführten. Die Sophiſten und Epikur gingen voraus; ihnen folgte der engliſche Senſualismus, Hobbes und Mandeville, der mit brutalerer Offenheit als alle anderen die Ableitung des menſchlichen Thuns aus der Selbſtliebe in ſeiner Bienenfabel vornahm, endlich die franzöſiſchen Materialiſten des 18. Jahrhunderts, voran Helvetius, der mit ſeltenem Scharfſinn den Wandlungen des Egoismus im menſchlichen Herzen nachgehend, die Luſt und Unluſt mehr nur in ihren niedrigeren Sphären verfolgend, der glänzendſte Theoretiker des Egoismus geworden iſt und auf die ganze geiſtige Atmoſphäre ſeiner Zeit einen erheblichen Einfluß geübt hat. Die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war an ſich dem Kultus des Individuums gewidmet, das die einen als boshaftes, nur durch die Geſetze in Zaum gehaltenes Tier, die anderen als edles herrliches Weſen ſich konſtruierten, das vom Schutt der Über - lieferung befreit und ſich ſelbſt überlaſſen, nur Gutes vollbringe. Die Beſchäftigung mit den wirtſchaftlichen Fragen legte eine Betonung der Selbſtliebe überdies be - ſonders nahe.

Ein ſo feiner Pſychologe und Ethiker, wie Ad. Smith, der im übrigen ein Gegner dieſer materialiſtiſchen Theorien war, brauchte nun nur in ſeinen volkswirtſchaftlichen Erörterungen von der natürlichen Neigung jedes Menſchen, ſein eigenes Intereſſe zu verfolgen, zu ſprechen und optimiſtiſch die guten durchſchnittlichen Folgen dieſer Neigung zu rühmen, und ein Geſchlecht von Epigonen, voran die engliſchen Empiriſten unter Benthams Leitung und die etwas ſteifleinenen unphiloſophiſchen deutſchen Kameraliſten wie Rau und Lotz kamen nun zu einer allgemeinen Theorie, die dahin lautete, daß der Egoismus, der Eigennutz, das Selbſtintereſſe, der Erwerbstrieb (dieſe keineswegs identiſchen, aber verwandten Begriffe wurden häufig zuſammengeworfen) die ausſchließliche Grund - lage der Volkswirtſchaft ſei, daß wenigſtens in unſerer Wiſſenſchaft nur die Folgen dieſes Triebes zu unterſuchen ſeien. Bentham zieht aus einer Unterſuchung der ver - ſchiedenen Arten des menſchlichen Glückes die Folgerung, daß die Freude am Reichtum eine centrale Stellung einnehme, da er die Mittel für alle anderen Freuden darbiete. Für Senior iſt der Satz, daß jeder Menſch ein Mehr von Wohlſtand mit ſo wenig Opfern als möglich erreichen will, der Eckſtein der politiſchen Ökonomie, die letzte Thatſache, über welche nicht zurückgegangen werden könne. Rau erklärt das Verhältnis der Menſchen zu den ſachlichen Gütern für ein unwandelbares, die Selbſtſucht als fortdauernde Triebkraft iſt ihm die Vorausſetzung, ohne welche kein einziges volkswirt - ſchaftliches Geſetz aufgeſtellt werden könne.

33Der Erwerbstrieb. Dogmengeſchichte. Entſtehung.

Die Tragweite dieſer Sätze iſt teilweiſe von Rau ſelbſt ſchon etwas eingeſchränkt worden; andere haben ſie in anderer Art zu modifizieren geſucht. Man hat die Selbſt - ſucht in die Selbſtliebe oder in das ſog. geläuterte Selbſtintereſſe umgedeutet, das bei edlen Menſchen alle höheren Lebensziele mitumfaſſe. Man hat den Gemeinſinn, das Recht und die Billigkeit oder den ſog. Altruismus (die Liebe zu anderen im Gegenſatz zum Egoismus) als gleichwertige Triebe neben den Erwerbstrieb geſtellt, um alle wirt - ſchaftlichen Handlungen zu erklären (Hermann, Roſcher, Knies, Sax). Man hat aus dem Erwerbstriebe einen allgemeinen wirtſchaftlichen Sinn gemacht, der Kraftaufwand und Erfolg ſtets vergleiche (Dietzel). Oder man hat zugegeben, daß die ſocialen Erſcheinungen von dem Ganzen der Eigenſchaften der menſchlichen Natur beeinflußt werden, aber daneben das Verlangen nach Reichtum als ausſchließliche Urſache der Volkswirtſchaft dadurch zu retten geſucht, daß man die Wiſſenſchaft für eine hypothetiſche erklärt hat (J. St. Mill), die nur die Folgen dieſes Verlangens zu unterſuchen habe und deren Ergebniſſe von der Wirklichkeit ſich ebenſo weit entfernten, wie die hypothetiſche Urſache von der Geſamtheit der Urſachen entfernt ſei.

In all dieſen Abweichungen zeigt ſich die Erſchütterung und Unſicherheit der alten Lehre, ohne daß eine neue, ebenſo anerkannte an die Stelle getreten wäre. Nach wie vor wird hier das ſog. privatwirtſchaftliche Syſtem auf den Erwerbstrieb zurück - geführt, dort die ganze Preisunterſuchung an die Vorausſetzung des Eigennutzes geknüpft. Wir müſſen auch zugeben, daß unſer heutiges und wohl alles Erwerbsleben mit dem Eigennutz in einer innigeren Verbindung ſteht, als etwa unſer Staats - und Kirchen - leben. Es wird ſich alſo, um das Wahre zu finden, darum handeln, einfach noch einen Schritt weiter zurückzugehen, als dies Hermann, Roſcher und Knies gethan, ſich nicht mit zwei Abſtraktionen, Erwerbstrieb und Gemeinſinn, zu begnügen, ſondern, wie wir dies bereits begonnen, pſychologiſch und hiſtoriſch zu unterſuchen, was die Triebfedern des wirtſchaftlichen Handelns überhaupt ſeien, wie der ſog. Erwerbstrieb neben anderen Trieben ſich ausnehme, wie die bloßen wirtſchaftlichen Triebe ſich verhalten zu den Eigenſchaften, die wir als wirtſchaftliche Tugenden bezeichnen, wie neben dem Erwerbs - trieb die Arbeitſamkeit, die Sparſamkeit, der Unternehmungsgeiſt entſtehe.

18. Entſtehung, Entartung, Verbreitung des Erwerbstriebes. Wir beginnen mit der Frage, hat der Menſch von Haus aus einen egoiſtiſchen Erwerbs - trieb in dem Sinne, daß er größere Vorräte ſachlicher Güter für ſich anzuhäufen, zu ſammeln ſtrebt; iſt ein Trieb dieſer Art die primäre Verurſachung alles wirtſchaftlichen Handelns, d. h. des Handelns, das die Unterwerfung der materiellen Außenwelt unter die Zwecke des Menſchen erſtrebt, die wirtſchaftliche Bedürfnisbefriedigung im Auge hat?

Darauf iſt zu antworten, daß die elementaren ſinnlichen Luſt - und Schmerz - gefühle und das an ſie ſich knüpfende Triebleben, daß ferner die Freude am Glanz und Schmuck, an Waffen und Werkzeugen, am Erfolg der eigenen gelungenen Thätigkeit un - zweifelhaft die erſten und dauerhafteſten Veranlaſſungen wirtſchaftlichen Handelns ſind. Miſcht ſich auch in die früheſte Bethätigung dieſer Gefühle ſchon die Neigung, dieſes und jenes ausſchließlich dem eigenen Gebrauch vorzubehalten, wie wir es beim Kind und beim Wilden ſehen, ein eigentlicher Erwerbstrieb iſt weder beim Kind und Jüng - ling, noch bei all den primitiven Stämmen vorhanden, die noch zu keinem größeren Herden - oder ſonſtigen Vermögen, zu keinem Handel gekommen ſind. Die wirtſchaftliche Anſtrengung wird urſprünglich weſentlich durch den Hunger veranlaßt, träge Faulheit und verſchwendender Genuß wechſeln; der unbedeutende Beſitz an Werkzeugen und Waffen wird als Inſtrument der Selbſterhaltung geſchätzt; aber nicht ſowohl der Vorrat an ſich, der Beſitz an ſich erfreut, zumal ein größerer kaum nutzbar zu machen wäre, ſondern der Mann freut ſich ſeines Schmuckes, ſeiner Werkzeuge, ſeiner Waffen, weil ſie ihm Anſehen und Gelegenheit zu gelungeneren Kraftproben und beſſerem Jagderfolg geben. Mit der Zunahme der Bedürfniſſe und des Beſitzes, mit der Ausbildung des Thätigkeits - triebes, mit der wachſenden Geſchicklichkeit fängt eine gewiſſe Gewöhnung an Anſtrengung und Arbeit an. Der Anerkennungs - und Rivalitätstrieb miſcht ſich ein; der MannSchmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 334Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.will nicht als ſchlechter Kämpfer und Jäger verachtet ſein. Die Frauen, die Greife, die Sklaven widmen ſich wirtſchaftlicher Thätigkeit für andere teils aus Sympathie für die Ihrigen, teils aus Furcht vor Mißhandlung, nicht aus Erwerbstrieb. Der natür - liche Trieb jedes rohen Menſchen, die eigenen Intereſſen denen anderer vorzuziehen, zeigt ſich auf dieſer Kulturſtufe, ſoweit er nicht durch geſellſchaftliche Einrichtungen unterdrückt iſt, eher noch in dem Streben nach größeren und beſſeren Portionen der Nahrung und des Trankes, nach ſchöneren Schmuckgegenſtänden, nach dem Ehrenplatz bei Feſten, als in dem nach einem angehäuften Gütervorrat.

Erſt mit dem Herdenbeſitz, dem Beſitz mehrerer Weiber und Sklaven, noch mehr ſpäter mit dem Handel und dem Edelmetallbeſitz, mit dem Leihgeſchäft entſteht eine intenſivere Richtung der menſchlichen Selbſtſucht auf Beſitzanhäufung. Der Vornehme rühmt ſich ſeiner Rinder und ſeiner Goldringe; ein gewaltiges Kämpfen und Ringen um die in den Truhen anzuſammelnden Metallſchätze beginnt; die Poeſie der Germanen iſt nach ihrer Berührung mit der ſüdeuropäiſchen Kultur jahrhundertelang erfüllt von dem Schatze der Nibelungen. Mord und Gewalt, blutige That und verräteriſche Liſt wird geprieſen und geehrt, wenn ſie nur Schätze bringt. Erſt ſehr langſam geht der gewaltthätige Kampf, den der geſteigerte Beſitz unter den einzelnen wie unter den Stämmen anfangs erzeugt, in das über, was dann innerhalb einer gefeſteten Rechts - ordnung und unerbittlich ſtrenger Religionsſatzungen und Sittenregeln eine beruhigtere Zeit als erlaubtes Streben nach Geld und Gut anerkennt. So entſteht der Erwerbs - trieb bei den Kulturvölkern; er geht Hand in Hand mit der Ausbildung des Selbſt - gefühls und des Selbſtbewußtſeins, mit der Entſtehung der modernen Individualität. Die Selbſterhaltung und Selbſtbehauptung, früher viel mehr auf anderes gerichtet, konzentriert ſich jetzt bei vielen Menſchen auf Erwerb, Gewinn, Vermögensbeſitz. Das Emporſteigen über andere, die Thätigkeit für die Familie und die Zukunft, der Ehrgeiz und die Freude an der Macht, der Lebensgenuß und der Kunſtſinn, alle dieſe Ziele fordern nun Vermögenserwerb.

Die Ausbildung des Erwerbstriebes iſt eines der wichtigſten Mittel, welche die Menſchen nach und nach der Barbarei, der Faulheit, dem Leben in den Tag hinein entziehen. Indem der Sinn ſich mehr darauf richtet, ſtatt augenblicklichen Suchens von Genüſſen, ſtatt Eſſens und Spielens, überhaupt wirtſchaftliche Mittel zu ſammeln, wird das Leben zerlegt in die zwei großen einander ſtetig ablöſenden Teile: Arbeit und Genuß. Die erſte Erziehung zum Fleiß mag durch den Stock erfolgen, die dauernde, intenſive, innerlich umwandelnde erfolgt durch den Gewinn, welchen erſt der Raub und die Gewalt, ſpäter aber der Fleiß und die Anſtrengung bringt. Mit der Richtung des Willens auf erlaubten, rechtlichen Gewinn iſt die Unterdrückung der augenblicklichen Luſt, die Überwindung des Unbehagens der Arbeit gegeben; es iſt der Anfang des ſitt - lichen Lebens, den Moment unter die Herrſchaft künftigen Gewinns, künftiger Luſt zu ſtellen. Der Erwerbstrieb wird ſo zur Schule der Arbeit, der Anſtrengung, er erhebt das Individuum auf eine ganz andere Stufe des Daſeins, des Denkens, des Sich-Be - herrſchens; er giebt durch ſeine Erfolge dem Individuum erſt die wahre Selbſtändigkeit und Unabhängigkeit, die Würde und die Freiheit, zeitweiſe Höherem zu leben. Alle Kulturvölker haben ſo einen Erwerbstrieb, der dem Wilden, dem Barbaren fehlt. Der Indianer, welchen ein Rechts - und Ehrgefühl, ein Mut im Ertragen, ein Selbſtgefühl auszeichnet, das jeden Europäer beſchämt, teilt mit jedem Hungrigen ſein Mahl, und verachtet nicht bloß den Beſitz überhaupt, ſondern noch mehr die europäiſche Unruhe und Sorge um den Beſitz: jeder Europäer kommt ihm geizig und habſüchtig vor. Wie könnt ihr, fragt er, ſo große feſte Häuſer bauen, da das Menſchenleben doch ſo kurz iſt? Die vollendete Ausbildung aber erhält der Erwerbstrieb erſt da, wo die wirt - ſchaftliche Eigenproduktion zurücktritt hinter die für den Markt, wo die Mehrzahl der Menſchen aus einem komplizierten Tauſchmechanismus den größeren Teil ihres Einkommens empfangen und wo die Beeinfluſſung dieſer Einkommensverteilung durch den Stärkeren, Klügeren, Fleißigeren dieſem leicht größere Anteile bringt. Es iſt zugleich die Zeit, in welcher viele der alten, kleinen ſocialen Gemeinſchaften mit ihrer Gemütlichkeit, ihrer35Die Ausbildung und Verbreitung des Erwerbstriebes.gegenſeitigen perſönlichen Rückſichtnahme ſich auflöſen; ein ſteigender Teil der Wirt - ſchaftenden ſteht ſich jetzt auf dem Waren - und Arbeitsmarkt in einer gewiſſen abſtrakten Gleichgültigkeit ſchon deshalb gegenüber, weil man ſich, abgeſehen von den Geſchäfts - beziehungen, nicht kennt. Es entſteht in dieſen wirtſchaftlichen Kreiſen die moraliſche, teilweiſe durch das Recht geſchützte Lehre, jeder dürfe ohne Rückſicht auf den Schaden anderer ſein wirtſchaftliches Intereſſe verfolgen. Es entſteht für die an den Konkurrenz - kämpfen Teilnehmenden der Erwerbstrieb, wie er in Handelsſtädten die Kaufleute, Großunternehmer, Spekulanten beherrſcht, wie er auf der Börſe als berechtigt, heilſam und notwendig angeſehen wird.

Der hiſtoriſchen Entwickelung des Erwerbstriebes entſpricht ſeine geographiſche Verbreitung. Die ſüdlichen und öſtlichen Völker Europas kennen ihn nicht ſo wie die nordöſtlichen; am ſtärkſten iſt er in England und Nordfrankreich ausgebildet; in Deutſchland kennt ihn der Norden mehr, als der Süden. Daß er in den Vereinigten Staaten, wie in allen Kolonialländern mit klugen, energiſchen Einwohnern hochentwickelter Raſſe beſonders ſtark zu Hauſe iſt, kommt weſentlich mit daher, daß man dort andere höhere Lebensziele weniger kennt, als in den Ländern alter Kultur.

Nirgends iſt dieſer Erwerbstrieb über alle Klaſſen der Geſellſchaft gleichmäßig verbreitet. Händler, Bankier, Großunternehmer haben ihn mehr als die rationellſten Landwirte; dem Offizier, Geiſtlichen, Beamten fehlt er vielfach nur zu ſehr; der Hand - werker und Kleinbauer hat erſt langſam und ſporadiſch, je nachdem er rechnen, buch - führen, ſpekulieren lernt, Teil daran. Die Arbeiter und die unteren Klaſſen überhaupt haben faſt allerwärts noch eher einen zu geringen Erwerbstrieb. Das ſinnliche Trieb - leben des Augenblickes iſt noch ſtärker als der Sinn für die Zukunft, als die Selbſt - beherrſchung, die ſich für die Kinder, für künftige Genüſſe anſtrengt. Wir hatten bis vor kurzer Zeit ländliche Arbeiter, die nach einer guten Kartoffelernte einige Tage in der Woche faulenzten. Man mag dieſe ſtumpfe Trägheit teilweiſe auf die erſchöpfende mechaniſche Arbeit zurückführen, wie ſie die moderne Volkswirtſchaft geſchaffen, mehr iſt ſie doch bei den ländlichen, als bei den induſtriellen Arbeitern zu Hauſe, die in ihrer oberen Hälfte heute mit höheren Bedürfniſſen, mit ihrem Eintritt in harte Lohnkämpfe auch einen kräftigen Erwerbstrieb zu entwickeln beginnen. So roh er da und dort auftreten mag, ſo liegt darin doch ein unzweifelhafter Fortſchritt.

Der Erwerbstrieb ruht ſo in ſeiner ſucceſſiven Ausbildung 1. auf beſtimmten techniſch - geſellſchaftlichen Vorausſetzungen, 2. auf beſtimmten moraliſchen Anſchauungen, Sitten und Rechtsſchranken, und 3. auf den urſprünglichen Trieben und Luſtgefühlen, die in jedem Individuum thätig, aber bei den verſchiedenen Menſchen einen ſehr verſchiedenen Grad von egoiſtiſcher Leidenſchaft erreichen. Dieſe Luſtgefühle, der Wunſch nach Lebensgenuß, Macht und Anſehen ſtehen ſtets mehr oder weniger im Hintergrund. In Zeiten, wo die Genüſſe des Lebens, der Luxus, der Ehrgeiz wächſt, und an Orten, wo dies geſchieht, wie in den modernen Großſtädten, nimmt auch der Erwerbstrieb ſtark zu. Aber doch ſpielen bei vielen, überwiegend vom Erwerbstrieb Geleiteten dieſe Motive keine ausſchlag - gebende Rolle. Der Reichtum, urſprünglich nur ein Mittel für höhere Lebensgenüſſe, iſt für ſie zum Selbſtzweck geworden; ſie freuen ſich nicht ſowohl des Beſitzes als des guten jährlichen Geſchäftsabſchluſſes, ihrer Fähigkeit, anderen im Beſitz zuvorzukommen und etwa noch der ſocialen Macht, die ihnen der Beſitz giebt, der ſteigenden Abhängigkeit anderer von ihnen, unter Umſtänden der Möglichkeit, Gutes im großen Stil zu thun.

In den Zeiten der höchſten wirtſchaftlichen Blüte der Völker, welche in der Regel mit einem hochentwickelten Waren -, Geld - und Kredithandel zuſammenfallen, in welcher zahlreiche überkommene Schranken der Sitte und des Rechtes fallen, wird leicht der an ſich berechtigte Erwerbstrieb zu jener fieberhaften Sucht des Erwerbes, die nicht ſowohl durch eigene Anſtrengung und tüchtige Leiſtung, als durch Ausnutzung anderer, durch Druck und Überliſtung, durch Schamloſigkeit und Betrug raſch möglichſt viel verdienen will. Es ſind die Zeiten, in welchen die Millionäre ſcherzen, daß ſie mit den Armeln das Zuchthaus geſtreift, und die radikalen Arbeiterführer jeden Unternehmer der3*36Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.räuberiſchen Profitwut anklagen. Da herrſcht jene ruheloſe Habſucht, von der Plinius ſagt, daß ſie alles vernichtet habe, was dem Leben wahren Wert gegeben habe, jene ungerechte Pleonexie, von der Ariſtoteles ſagt, daß ſie keine Grenzen kenne und die größten Ungerechtigkeiten begehe, nur um mehr zu haben als andere. Wenn ein naiver Materialismus in unſeren Tagen jede Art des rückſichtsloſen Erwerbstriebes als das Schwungrad des Fortſchrittes preiſt, ſo iſt zwar zuzugeben, daß die großen wirtſchaft - lichen Anſtrengungen und Leiſtungen unſerer Kulturnationen nicht ohne einen ſtarken, ja rückſichtsloſen Erwerbstrieb möglich wären. Aber ebenſo ſicher ſcheint uns zu ſein, daß die uberſpannung des Erwerbstriebes bis zur Hartherzigkeit die ſocialen Beziehungen vergiften, den Frieden in der Geſellſchaft vernichten und durch die erzeugte Gehäſſigkeit und ſittliche Roheit, durch die entſtehenden Kämpfe den vorhandenen Wohlſtand unter - graben und verſchütten kann. Es iſt daher die große Frage unſerer Zeit, durch welche ſittliche Mittel und durch welche ſociale Einrichtungen einerſeits das Maß geſunden Erwerbstriebes zu erhalten iſt, ohne welches das wirtſchaftliche Streben großer Gemein - ſchaften (die berechtigte Selbſtbehauptung), die Freiheit der Perſon und die Entwickelung der Individualität nicht zu denken iſt, und andererſeits doch jene Habſucht und ſociale Ungerechtigkeit zu bannen wäre, die unſere ſittliche wie unſere wirtſchaftliche Exiſtenz bedrohen. Die Socialdemokratie glaubt, es ſei nur zu helfen durch Ausrottung aller Profitmacherei, ſie hofft auf ein goldenes Zeitalter mit Menſchen ohne Egoismus. Der Hiſtoriker und Geograph wird daran erinnern, daß es mancherlei Volkstypen gebe, wie z. B. die Madagaſſen, bei denen der Erwerbstrieb viel ſchamloſer, ohne die bei uns meiſt damit verbundene Energie und wirtſchaftliche Thatkraft, rein als Geiz, als Habgier, als bloßes Laſter auftrete. Er wird daran erinnern, daß auch der Erwerbs - trieb im ſpäteren Rom und Athen ſchlimmer war, als bei uns, daß der germaniſche Erwerbstrieb in Grenzen bleibt, den andere Raſſen nicht kennen, daß manche Kultur - nationen einen reellen anſtändigen Kaufmannsgeiſt, eine Kaufmannsehre kennen, die in einer eigentümlichen Verknüpfung des Erwerbstriebes mit höheren Eigenſchaften der Seele und mit mancherlei Tugenden beſteht. Er wird es alſo für möglich halten, daß der Erwerbstrieb immer gereinigter auftrete, in einer komplizierteren Weiſe mit anderen ſittlichen Kräften ſich verbinde, durch höhere Formen des geſellſchaftlichen Lebens nicht vernichtet, ſondern richtig reguliert werde.

19. Würdigung des Erwerbstriebes. Wir haben im bisherigen nur vom Erwerbstrieb geſprochen: denn er iſt in der Hauptſache auch von denen gemeint, welche vorgeben, aus dem Egoismus, der Selbſtſucht, dem Selbſtintereſſe die Volks - wirtſchaft abzuleiten. All das ſind weitere Begriffe, die ſich nicht auf das wirtſchaft - liche Leben beſchränken, ſich nicht mit dem Erwerbstrieb decken. Der Egoismus und ſeine Potenzierung, die Selbſtſucht bezieht alles auf das Individuum, hat nur ſich im Auge, vernachläſſigt alles übrige; es giebt Leute mit ſtarkem Erwerbstrieb, die aber keine Egoiſten ſind. Das Selbſtintereſſe des Menſchen ſteht im Gegenſatz zum Intereſſe für andere; das geläuterte Selbſtintereſſe hat aber auch alle höheren Gefühle, beſonders die für naheſtehende Perſonen, das Vaterland und ähnliches in ſich aufgenommen. Wir brauchen dabei nicht zu verweilen. Wir haben nur den wirtſchaftlichen Erwerbs - trieb zu würdigen.

Er iſt, wie wir ſahen, kein urſprünglicher und fundamentaler Trieb, wie etwa der Selbſterhaltungstrieb; er kann nicht mit einigen anderen klar von ihm geſchiedenen Trieben den Anſpruch erheben, die Reihe der menſchlichen Triebe zu erſchöpfen. Er iſt ein ſpätes Ergebnis der höheren Entwickelung des Selbſterhaltungs - und Thätigkeits - triebes ſowie des individuellen Egoismus, die auf gewiſſer wirtſchaftlicher Kulturſtufe ihn erzeugen; er wächſt hervor aus den ſinnlichen Bedürfniſſen und dem rechnenden Sinn für die Zukunft, aus Selbſtbeherrſchung und kluger Anſtrengung. Es hat Jahr - tauſende wirtſchaftlichen Handelns gegeben ohne ihn. Auch wo er heute ausgebildet iſt, erhält er ſeine Färbung bei den einzelnen durch eine verſchiedene Verbindung mit anderen Gefühlen und Trieben; er verknüpft ſich beim einen mit ſtarken ſinnlichen Be - gierden, beim anderen mit aufopferndem Familienſinn, beim dritten mit Ehrgeiz und37Wirtſchaftliche und ſittliche Würdigung des Erwerbstriebes.Machtgelüſten; derſelbe Erwerbstrieb iſt hier mit Verſchwendung, dort mit Geiz, hier mit Energie und Thatkraft, dort nur mit Schlauheit verbunden.

Der Erwerbstrieb iſt keine überall gleiche Naturkraft, er iſt ſtets gebunden und gebändigt durch gewiſſe ſittliche Einflüſſe, Rechtsſatzungen und Inſtitutionen. Aber dieſe können zu einer gewiſſen Zeit, in einem beſtimmten Volke, bei einer ſocialen Klaſſe im Durchſchnitte ſo einheitliche ſein, daß allerdings geſagt werden kann, auf dem Markte und im Geſchäftsleben werden beſtimmte Menſchengruppen regelmäßig durch ihn, durch den Trieb, mit möglichſt wenig Opfern viel zu erwerben, beſtimmt. Und darauf beruht die Möglichkeit, die Preisbildung, die Einkommensverteilung, die Zinsbildung und ähnliche volkswirtſchaftliche Erſcheinungen unſerer Kulturſtaaten auf den vorher beſtimmt geſchilderten oder den allgemein angenommenen Erwerbstrieb zurückzuführen. Man darf nur dabei nie überſehen, daß ſelbſt unter den Kaufleuten derſelben Stadt dieſer Erwerbstrieb nicht ſtets derſelbe iſt; vollends hat der ſchamloſe Wucherer oder der harte Faktor einer Hausinduſtrie nicht denſelben Erwerbstrieb, wie der vornehme reelle Unternehmer, der jeden unrechten und unbilligen Gewinn verſchmäht, ſeinen Kunden ſtets mit kleinen Dienſten und Gefälligkeiten entgegen kommt, ſich mit ihnen auf dem - ſelben ſittlich-ſympathiſchen Boden weiß, ſeine Leute gut behandelt.

Auch wenn heute das Feilſchen, Kaufen und Verkaufen und ähnliche Handlungen auf den Erwerbstrieb zurückgeführt werden können, ſo iſt damit nicht alles wirtſchaft - liche Handeln, ſo ſind damit nicht alle volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen erklärt. Iſt etwa die Haus - und Familienwirtſchaft, ſind die Unternehmungsformen, die ſtaatliche Finanz auf den Erwerbstrieb zurückzuführen? Noch weniger läßt ſich behaupten, daß das Maß des zunehmenden Erwerbstriebes zugleich das Maß des ſteigenden Reichtums der Völker ſei. Nur das iſt richtig, daß die zunehmende Ausbildung der Tauſchwirt - ſchaft und Tauſchgeſellſchaft die ſtärkere Ausbildung des Erwerbstriebes vorausſetzte, und daß die Steigerung individueller wirtſchaftlicher Energie und Thatkraft in den letzten Jahrhunderten ohne ihn nicht denkbar wäre.

Darin liegt auch der Maßſtab für ſeine ſittliche Beurteilung. Der wachſende Erwerbstrieb hat eine ſteigende Zahl von Menſchen erzeugt, die vor allem Vermögen gewinnen wollen: die Leute mit kräftigem Willen, klugem Unternehmungsgeiſt, harter Energie, welche oft von Ehrgeiz und Eitelkeit, oft von ſtarken animaliſchen Trieben beherrſcht, häufig ohne höhere Intereſſen und ohne ſtärkere ſympathiſche Gefühle ſind, ſpielten eine erhebliche Rolle, wurden vor anderen reich. Gewiß ſind das häufig keine anziehenden, edlen Perſönlichkeiten; ebenſowenig iſt zu wünſchen, daß ſie ausſchließlich die Geſellſchaft beherrſchen; aber ſo lange ihre Thatkraft und Energie ſehr viel größer iſt als ihr Erwerbstrieb, ihre Härte gegen ihre Konkurrenten, Kunden und Arbeiter, fragt es ſich ſtets, ob ſie der Wohlfahrt des Ganzen nicht mehr dienen, als wenn an ihrer Stelle edle Schwächlinge und unkluge, geſchäftsunkundige Unternehmer ſtünden. Überhaupt iſt für alle Klaſſen die Ausbildung des Erwerbstriebes ſo lange ein Fort - ſchritt, als er die Thätigkeit im ganzen ſteigert, ohne zur Ungerechtigkeit, zur Herzloſigkeit und Freude an der Mißhandlung der Schwachen zu führen, wie wir ſie als Laſter des Geizhalſes, des Arbeiterſchinders, des Wucherers kennen.

Es gilt ſo vom Erwerbstrieb, was von allen ſelbſtiſchen Neigungen gilt: ſie haben ihr Recht im Syſtem des menſchlichen Handelns, wenn ſie einerſeits die Individuen in ihrer Selbſtbehauptung, in ihrer Geſundheit, ihrer Kraft und Leiſtungsfähigkeit ſtärken und andererſeits die Grenzen inne halten, die durch die Wohlfahrt des Ganzen geſteckt ſind, wenn ſie als Teilinhalte des menſchlichen Willens ſich den höheren Zwecken richtig eingliedern. Der bloße nackte Erwerbstrieb iſt böſe und iſt auch wirtſchaftlich zerſtörend, ſofern alles höhere wirtſchaftliche Leben in Verbänden ſich vollzieht, die nicht ohne ſympathiſche Gefühle und ſittliche Einrichtungen exiſtieren können. Die Familienwirtſchaft, die Unternehmung, das wirtſchaftliche Vereins - und Korporationsweſen, ja ſelbſt der einfache Markt - und Tauſchverkehr ruhen auf dem Gefühl eines gewiſſen Verbundenſeins, eines wechſelſeitigen Vertrauens; ſie ſind ohne eine Summe moraliſcher Eigenſchaften, wie Billigkeit und Gerechtigkeit, nicht möglich. Mindeſtens all das, was man als wirt -38Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ſchaftliche Tugenden bezeichnet, muß ebenſo wie der Erwerbstrieb in einem wirtſchaftlich voranſchreitenden Volke vorhanden ſein. Und man könnte aus dieſen Tugenden viel eher verſuchen, pſychologiſch die ganze Volkswirtſchaft abzuleiten, als aus dem Erwerbs - trieb, zumal aus der centralen und wichtigſten wirtſchaftlichen Tugend, aus der Arbeit - ſamkeit. Wenn wir im folgenden von ihr ſprechen, dürfen wir nicht vergeſſen, daß die Betrachtung dieſer wie der anderen individuellen wirtſchaftlichen Tugenden im ganzen denſelben pſychologiſchen und hiſtoriſchen Prozeß im Auge hat, wie die Unterſuchung des Erwerbstriebes, nur von einem anderen Geſichtspunkte aus. Auf die weſentlich individuellen beſchränken wir uns hier, da wir die ſympathiſchen Gefühle und die an ſie ſich knüpfenden Eigenſchaften teils ſchon erwähnt haben, teils im Zuſammenhange mit den ſocialen Ein - richtungen, an die ſie ſich knüpfen, erörtern werden.

20. Die Arbeit und die Arbeitſamkeit. Wenn wir unter Arbeit jede menſchliche Thätigkeit verſtehen, welche mit dauernder Anſtrengung ſittlich-vernünftige Zwecke verfolgt, ſo können wir zweifeln, ob wir die einzelnen Anläufe des Barbaren, das Wild zu erlegen oder ſonſtwie Nahrung zu ſuchen, ſchon ganz als Arbeit bezeichnen ſollen. Von den Tieren legen wir nur denen Arbeitſamkeit bei, welche, wie die Bienen, ſcheinbar planvoll und andauernd für ihre Lebenszwecke thätig ſind. Der Menſch muß erſt langſam die Arbeit lernen. In geiſtvoller Weiſe hat Bücher nachzuweiſen verſucht, daß hiebei in älteſter Zeit der Rhythmus, Muſik und Geſang, vielfach erziehend ein - gewirkt, dem Menſchen über Ermüdung und Trägheit weggeholfen, ihm die gemeinſame Arbeit mehrerer erleichtert habe. Er hat damit die alte Wahrheit geſtützt, daß die Aus - bildung der äſthetiſchen und der ethiſchen Gefühle und Eigenſchaften aufs engſte zuſammen - hängt. Mit der Seßhaftigkeit, dem Acker - und Gartenbau, welche eben deshalb der Wilde verabſcheut, beginnt jene größere Mühſal, die das deutſche Wort Arbeit bezeichnet, beginnt die Notwendigkeit, in feſt geregelten Perioden thätig zu ſein. Aus ſolcher Zeit ſtammt der Fluch: Im Schweiße deines Angeſichts ſollſt du dein Brot eſſen und die Regel der ſechstägigen Arbeit auf einen Ruhetag, welche ſeitdem die ganze Welt beherrſcht. Lange waren bei vielen Völkern überwiegend die Schwächeren gezwungen, die harte Arbeit des Ackerns, Schleppens, Hüttenbauens zu vollführen: die Weiber und die Knechte. Es iſt ein großer Fortſchritt, wenn auch die freien Männer hinter dem Pfluge zu gehen beginnen. Auch thun es nicht ſofort alle Volksgenoſſen; die eigentlich wirtſchaftliche Arbeit bleibt lange für die Ariſtokraten eine Schande. Und noch heute haben wir thörichte Parvenüs, verzogene Mutterſöhnchen und eitle Weiber genug, die Faulenzen für vornehm halten, die nicht einſehen wollen, daß die Faulheit aller Laſter Anfang und alles Glückes Grab ſei. Die gewöhnliche Ackerbeſtellung in unſeren Klimaten läßt für die Arbeit noch lange Pauſen zu. Der Bauer alten Schlages kann träge einige Monate hinterm Ofen ſitzen, er arbeitet nicht nach der Uhr, ſondern nach der Sonne und der Jahreszeit. Die Hauswirtſchaft aber und das gewöhnliche Gewerbe führen zu einer Thätigkeit, die Tag für Tag, von früh bis ſpät gethan ſein will. Im Hauſe, in der Werkſtatt lernt der Menſch intenſiver, gleichmäßiger arbeiten, weil das eine ſich ſtets an das andere anknüpft, weil Vorräte an künftigen Gebrauchsmitteln hier geſchaffen werden können, die Freude am häuslichen Herd und am techniſchen Erfolg der Arbeit neue Reize giebt. Hauptſächlich aber lockt, wie wir ſahen, die Möglichkeit des Verkaufes zur Arbeit. Die Handelsthätigkeit wird ausſchließlich durch den Gewinn veranlaßt. Die Arbeit des Kriegers, des Prieſters hat zuerſt auch Beute und allerlei Gewinn neben der Ehre und der Macht in Ausſicht. In komplizierter Weiſe verbinden ſich die ver - ſchiedenſten Motive für die Entſtehung und Ausbildung aller höheren Arbeitsthätig - keit, während für die mechaniſchen Arbeiten, wie ſie mit der Arbeitsteilung das Los der unteren Klaſſen bleiben, bisher überwiegend entweder der äußere Zwang oder der Hunger das weſentliche Motiv blieb. Doch darf, wenn man heute ſo vielfach und mit Recht über eintönige mechaniſche Arbeit und Überarbeit klagt, wenn man betont, wie viele Menſchen heute gezwungen ſind, eine ihnen innerlich fremde, un - verſtändliche Arbeit zu verrichten, nicht überſehen werden, daß es ohne ſolche Opfer, ſeit es eine höhere Kultur mit Arbeitsteilung gab, nicht abging. Es muß nur das39Die Arbeitſamkeit, der Fleiß, die Wirtſchaftlichkeit.Ziel ſein, dieſe Opfer zu vermindern, möglichſt alle Arbeit ſo zu geſtalten, daß ſie mit Teilnahme und Verſtändnis, nicht bloß aus Hunger und Not geſchieht.

Der Erziehungsprozeß der einzelnen, der Völker und der ganzen Menſchheit zur Arbeit iſt trotz der modernen Kehrſeiten einer mechaniſchen Überarbeit ein Weg nach oben; alles was zur Arbeit zwingt und veranlaßt, iſt beſſer als das Gegenteil, als Faulheit und Indolenz, enthält Elemente der wirtſchaftlichen und der ſittlichen, der körperlichen und geiſtigen Schulung. Arbeit iſt planvolle Thätigkeit, ſie beſteht in der Beherrſchung der wechſelnden Einfälle und Triebreize; ſie iſt ſtets ein Dienſt für Zwecke, die nicht im ſelben Augenblick, ſondern erſt künftig Gewinn, Lohn, Genuß verheißen. Jede Arbeit ſetzt Überwindung der Trägheit und der Zerſtreutheit voraus. Der Arbeitende muß ſich ſelbſt vergeſſen und ſich verſenken in ſein Objekt; die Natur einer Arbeit, nicht ſeine Luſt ſchreibt ihm Gebote vor. Der Arbeitende muß ſich Zwecken unterordnen, die er in der Schule, in der Werkſtatt, im vielgliedrigen Arbeitsorganismus oft gar nicht, oftmals nicht ſofort als heilſam und notwendig einſieht, er muß zunächſt gehorchen und ſich anſtrengen lernen. Er wird freilich ein um ſo tüchtigerer Arbeiter, je mehr er die Zwecke begreift, billigt, je mehr es direkt oder indirekt durch den Lohn und durch das Gefühl, einem großen Ganzen zu dienen ſeine eigenen Zwecke ſind, je mehr ſein Körper und ſein Geiſt durch Vererbung und Schulung für die beſtimmte Art der Arbeit geſchickt gemacht ſind.

Jede mechaniſche Arbeit hat geiſtige Elemente, kann, wie die des Holzhackers, Mähers, Steinträgers, geſchickt, klug, überlegt gethan werden; je künſtlicher Werkzeuge und Maſchinen werden, deſto mehr Umſicht und Verſtändnis erfordert auch die mechaniſche Lohnarbeit. Auch die rein geiſtige Arbeit hat ihre mechaniſchen Teile, wie der Schrift - ſteller, der Klavierſpieler oft die Muskeln und Nerven der Arme ruiniert. Die einſeitige körperliche wie die einſeitige geiſtige Arbeit darf nicht zu viele Stunden des Tages fort - geſetzt werden, muß mit Erholung, Schlaf und anderer Thätigkeit richtig abwechſeln. Aber im rechten Maße, von den rechten Schutzmitteln gegen Gefahren umgeben, iſt die Arbeit in der Regel eine Stärkung des Körpers und des Geiſtes. Die Arbeit giebt, wie uns die neuere Phyſiologie gezeigt hat, den geübten Körperteilen eine beſſere phyſiſche Zuſammenſetzung, macht ſie feſter, gegen Ermüdung widerſtandsfähiger, in der Bewegung unabhängiger, erregbarer. Der arbeitende Menſch, zumal der ſeit Generationen arbeitende, iſt flinker, rühriger, entſchloſſener, weil er über brauchbarere Knochen, Muskeln und Nerven verfügt als der träge. Die Nervenerregbarkeit iſt die weſentliche Urſache, daß dem Kultur - menſchen die ſtete Arbeit Bedürfnis und Freude iſt. In der Arbeit lernt der Menſch beobachten und gehorchen, er lernt Ordnung und Selbſtbeherrſchung. Nicht umſonſt verknüpft der Volksmund: Beten und Arbeiten. Nur durch die Arbeit giebt der Menſch ſeinem Leben einen Inhalt, der ſonſt bei Hingabe an die elementaren Triebreize fehlt. Nur durch die Arbeit lernt der Menſch ſeine Kräfte kennen, ſeine Zeit einteilen, einen Lebensplan entwerfen. Mit der Übung wachſen die Kräfte, mit den Kräften die Arbeitsfreude und das menſchliche Glück. In der Arbeit wurzelt alle ſittliche Thatkraft. Nur die Individuen, Familien, Klaſſen und Völker, die arbeiten gelernt, erhalten ſich; die, welche ſich der Arbeit entwöhnen, in Arbeitseifer und Geſchicklichkeit zurückgehen, verfallen. Otium et reges et beatas perdidit urbes.

21. Die anderen wirtſchaftlichen Tugenden. Während wir unter dem Fleiß die habituelle Richtung des Willens auf eine emſige Arbeitsthätigkeit verſtehen, bezeichnen wir mit der ſchon oben (S. 3) berührten Wirtſchaftlichkeit jene Eigenſchaft, die ſich zuerſt in der Hauswirtſchaft entwickelt, dann auf alle wirtſchaftliche, ja überhaupt in abgeleitetem Sinne auf alle äußere menſchliche Thätigkeit ausgedehnt hat, jenen Sinn, der ſorgſam die Mittel für einen beſtimmten Zweck zu Rate hält, mit Umſicht an Kräften und Verbrauch ſpart, ſtets daran denkt, mit den kleinſten Mitteln den größten Erfolg zu erzielen. Sie iſt eine Eigenſchaft, welche ebenſo ſehr auf genauer Kenntnis und Be - herrſchung der techniſchen Mittel für einen Erfolg, als auf ſteter Aufmerkſamkeit beruht. Sie iſt ein Ergebnis der Erfahrung, der Nachahmung des guten Beiſpiels, ſie hängt mit der ſittlichen Selbſtbeherrſchung wie mit der Verſtandesausbildung zuſammen. Das40Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Rechnen und Buchführen, die Vergleichung des Aufwandes mit dem Erfolg in Geldwerten, die Aufzeichnung jeder Ausgabe und jeder Einnahme iſt nötig, wo ſie ſich einſtellen und ausbilden ſoll. Die ſittliche Zucht, welche das Leben als ein geordnetes Ganzes auffaßt, niemals aus dem Stegreif, nach Launen handelt, unverhältnismäßigen Genüſſen nach - geht, den Verſuchungen der Verſchwendung, der Putzſucht, der Eitelkeit widerſteht, iſt für die Ausbildung dieſes wirtſchaftlichen Sinnes das wichtigſte. Er iſt die wirtſchaftliche Tugend der großen Maſſe des Volkes, vor allem des Mittelſtandes. Daß die Wirtſchaft - lichkeit in den unterſten Klaſſen noch ſo vielfach fehlt, iſt ein wichtiger Umſtand für ihre wirtſchaftliche Lage. Die Frauen müſſen ſie vor allem haben, weil, mit haushälteriſchem Sinne ausgegeben, der Thaler doppelt und dreifach ſo weit reicht. Mit dem Erwerbs - triebe verwandt, fällt ſie doch nicht ganz mit ihm zuſammen, noch iſt ſie nur eine Folge desſelben. Tauſende, die gar keinen Erwerbsſinn haben, zeichnen ſich durch große Wirt - ſchaftlichkeit aus. Der Erwerbstrieb iſt mehr die Eigenſchaft einzelner, die Wirtſchaft - lichkeit iſt oder ſollte die aller ſein.

Die Wirtſchaftlichkeit ſchließt den Fleiß, die Ordnungsliebe, die Geduld, die Be - harrlichkeit, vor allem aber die Sparſamkeit ein. Die Sparſamkeit beginnt in der Haushaltung, im Verbrauch; ſie iſt dem Wilden fremd; er iſt immer der größte Ver - ſchwender, der den Baum fällt, um eine einzige Frucht zu ergreifen, der an einem Tag verzehrt und verjubelt, was ihn wochenlang ernähren könnte. Die Erziehung zur Mäßigung, die ſteigende Herrſchaft höherer Gefühle über die niedrigen, der Sieg der Vorſtellungen über künftige Genüſſe und Erfolge über die des Momentes ſind not - wendig, damit die Sparſamkeit beginne. Alle Sparſamkeit iſt momentane Selbſt - verleugnung. Wer ſie üben ſoll, muß die Ausſicht auf einen künftigen Vorteil haben. Dieſer künftige Vorteil erſcheint fraglich, wenn das erſparte Gut durch Willkürherrſchaft oder Gewalt bedroht iſt, wenn es dem Sparenden keine anderen Freuden bringt, als ſie der nicht Sparende ebenfalls genießt, wenn erſparte Vorräte, z. B. ſolche von Lebens - mitteln, doch raſch verderben. Die Geldwirtſchaft iſt daher eines der wichtigſten Beförderungs - mittel der Sparſamkeit; die Freude, einen Schatz an Geldſtücken zu ſammeln, wird bald ein Beweggrund für viele; ſolche Schätze ſind am leichteſten zu verbergen, ſie behalten für Jahre und Jahrzehnte ihren Wert. Es kann nun auch der ſparen, der das Er - ſparte nicht in ſeinem Hauſe, im vergrößerten Viehſtand, in Geräten und Linnenzeug anlegen kann. Noch wichtiger aber war die Ausbildung der Kreditwirtſchaft, haupt - ſächlich derjenigen Formen des Kapitalanlegens und Zinſengebens, welche dem kleinen Mann zugänglich ſind, wie die Einrichtung der Sparkaſſen, Genoſſenſchaften, der Ver - ſicherungskaſſen, der Baugeſellſchaften. Wo derartige Inſtitutionen zumal in Ländern mit vollſtändiger Rechtsſicherheit allgemein werden, da kann erſt die Sparſamkeit aus einer Tugend der höheren Klaſſen eine allgemeine Eigenſchaft werden. Immer aber muß ſie wieder jedem einzelnen Kinde anerzogen werden, immer arbeiten Leichtſinn, Gedanken - loſigkeit, Genußſucht ihr entgegen. In dem Alter von 15 30 Jahren, wo unverheiratete Arbeiter am meiſten ſparen könnten, oft das doppelte verdienen, was ſie brauchen, geben ſie für Getränke und Feſte, für Kleider und andere Genüſſe allzuviel aus. Auch ſpäter unterliegen ſie zu leicht der Verſuchung unnützer Ausgaben, wenn ſie nicht von einer tüchtigen Hausfrau beeinflußt werden, wenn ihre Lohnzahlung zu Stunden und an Orten erfolgt, welche Gelegenheit zu unnötigen Ausgaben bieten.

Die Sparſamkeit wächſt mit der Wirtſchaftlichkeit, mit dem guten Familienleben, mit dem Sinn für Beſitz, für Sicherung der Zukunft, mit dem Wunſch des geſellſchaft - lichen Aufſteigens; ſie iſt vor allem aber ein Ergebnis ſittlicher Energie und Spannkraft und intellektueller Weitſichtigkeit.

Wie die Wirtſchaftlichkeit und Sparſamkeit, der Fleiß und die Arbeitſamkeit mit dem Erwerbstriebe zuſammenhängen, ohne ſich mit ihm zu decken, ohne eine bloße Folge desſelben zu ſein, ſo verhält es ſich auch ähnlich mit dem Handels - und Unter - nehmungsgeiſt, auf den wir zuletzt einen Blick werfen.

Er entſpringt mit den Möglichkeiten des Tauſch - und Handelsgewinnes, nimmt in dem Maße zu, als in beſtimmten Klaſſen infolge der Arbeitsteilung und des Markt -41Die Sparſamkeit, der Unternehmungsgeiſt.verkehrs wachſende Chancen ſich bilden, durch kluge Kombinationen einen Erwerb zu gewinnen. Die bisher erörterten wirtſchaftlichen Tugenden ſind zumal für den kleinen Unternehmer weſentliche Stützen des Unternehmungsgeiſtes; aber der pſychologiſche Schwerpunkt liegt anderswo. Der Händler und Unternehmer muß einerſeits eine um - faſſende Kenntnis des Bedarfes, des Geſchmackes, der Abſatzwege und eine techniſche Beherrſchung der möglichen und üblichen Produktionsmethoden, andererſeits Organiſations - talent, Menſchenkenntnis, Kombinationsgabe, eine gewiſſe geſchäftliche Phantaſie, die ſich ein Bild von der Zukunft machen kann, vor allem aber Mut, Energie, Thatkraft und Rückſichtsloſigkeit beſitzen. Es ſind nicht die höchſten ſittlichen Eigenſchaften, aber Quali - täten, welche nur in beſtimmter geſellſchaftlicher Umgebung und Schulung erlernt werden. Es ſind zu einem Teil dieſelben Eigenſchaften, die für einen Truppenführer, einen Bürgermeiſter, einen Landrat oder Miniſter nötig ſind. Die Unternehmer ſind die Offiziere und der Generalſtab der Volkswirtſchaft. Je komplizierter dieſelbe wird, deſto größer ſind die Anforderungen an ſie. Und zwar ſteigen ſie faſt nicht ſo ſehr in Bezug auf Kenntniſſe und Geſchicklichkeit, als auf den Charakter. Und wenn es auch nur beſtimmte Seiten desſelben ſind, die in erſter Linie gefordert werden, wenn andere weiche und edlere Seiten des ſittlichen Charakters in einer Zeit harten Konkurrenzkampfes ſogar dem Unternehmer ſchädlich ſein können, ſo ſind doch der energiſche, wagende Mut, die Fähigkeit, Hunderten zu befehlen und ſie mit Gerechtigkeit in Ordnung zu halten, die findige Entſchloſſenheit, neue Abſatzwege zu eröffnen, ſittliche und männliche Charakterzüge.

Ohne dieſe hat es bis jetzt keine höher entwickelte Volkswirtſchaft gegeben und wird auch in Zukunft die Leitung der wirtſchaftlichen Geſchäfte nicht möglich ſein.

7. Das Weſen des Sittlichen.

  1. Jodl, Geſchichte der Ethik in der neueren Philoſophie. 1, 1882. 2, 1889.
  2. Adam Smith, Theory of moral Sentiments. 1759. Deutſch 1770 u. 1791.
  3. Hegel, Grundlinien der Philoſophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswiſſenſchaft im Grundriß. 1821. 3. Aufl. 1854.
  4. Schleiermacher, Syſtem der Sittenlehre. 1835.
  5. Herbart, Allg. praktiſche Philoſophie, Werke Bd. 8.
  6. Hartenſtein, Die Grundbegriffe der ethiſchen Wiſſenſchaften. 1844.
  7. Herbert Spencer, Die Thatſachen der Ethik. Deutſch von Vetter. 1879.
  8. Steinthal, Allgem. Ethik. 1885.
  9. Wundt, Ethik. 1886.
  10. Paulſen, Syſtem der Ethik. 2. Aufl. 1891. 2 Bde.
  11. G. Simmel, Einleitung in die Moralwiſſenſchaft. 1892 93. Lippert, Die Religionen der europäiſchen Kulturvölker. 1881.
  12. Pfleiderer, Die Religion, ihr Weſen und ihre Geſchichte. 1869.

Wir haben das Weſen des Sittlichen ſchon in unſeren bisherigen Betrachtungen wiederholt berührt. Wir haben die Sprache als das Inſtrument kennen gelernt, das die Menſchen denken lehrte und ſie zu geſellſchaftlichem Daſein erhob. Wir ſahen, daß mit dem unterſcheidenden Denken eine Wertung, Ordnung und Hierarchie der Gefühle und der Triebe entſteht, daß die Triebe, und beſonders die höheren, durch ihre Regu - lierung und richtige Einfügung in das Syſtem des menſchlichen Handelns zu Tugenden werden. Von da iſt es nur ein Schritt bis zur Erkenntnis, daß die Rückwirkung der reflektierenden Werturteile auf unſere Gefühle und Handlungen uns zu ſittlichen Weſen mache, uns jenen Adelsbrief gebe, durch den wir gleichſam zu Gliedern einer höheren Welt werden.

Aber wir haben hier doch noch etwas näher das Weſen des ſittlichen Urteils und des ſittlichen Handelns zu unterſuchen, über die ſittliche Entwickelung und ihre Zucht - mittel uns zu verſtändigen und uns klar zu machen, inwiefern das Sittliche die Grund - lage und die Vorausſetzung aller geſellſchaftlichen Organiſation, alſo auch der volks - wirtſchaftlichen ſei.

22. Das ſittliche Urteil und das ſittliche Handeln. Das ſittliche Denken beſteht ſtets in einem Urteil, daß etwas gut oder böſe ſei; das ſittliche Handeln in einer thatſächlichen Bevorzugung deſſen, was wir für das Gute halten. Die letzte Erklärung des Sittlichen kann immer nur eine pſychologiſche ſein: wie kommen wir zu ſittlichen Urteilen und ſittlichem Handeln? Dabei kann die Rückwirkung anderer Menſchen42Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.und der Welt auf uns eine noch ſo große Rolle ſpielen, verſtanden haben wir das Sittliche nur, wenn wir es als das notwendige Ergebnis unſeres inneren Seelenlebens begreifen.

Die körperliche Ausſtattung des Menſchen, ſeine Hand, ſein Auge, ſeine feineren Muskeln haben ihm ermöglicht, ſein Triebleben zu anderen Ergebniſſen, als das Tier es vermag, zu verwerten. Durch feinere Wahrnehmung und ſehr viel zahlreichere Vor - ſtellungen lenkt er ſeine Thätigkeit auf höhere Ziele; ſchon indem er ſich Nahrung und Kleidung mit weiterem Blick, mit Schonung, mit Selbſtbeherrſchung bereitet, lernt er Beſonnenheit, d. h. er hemmt, auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet, momentane Triebe, er beherrſcht Gefühle, die im Augenblick hinderlich wären. Er lernt ſo durch die Arbeit ſich ſelbſt beherrſchen, er läßt reflektoriſche Bewegungen nicht zum Ausbruch kommen; er ſammelt ſeine Aufmerkſamkeit auf beſtimmte Vorſtellungsreihen, die er zuſammenwirken läßt, und erreicht ſo mit relativ einfachen Mitteln außerordentlich viel. Auf derſelben Leiter ſteigt der Menſch ſo zum Werkzeug, zur Arbeit wie zur Sittlichkeit empor. Alles ſittliche Handeln iſt zweckmäßiges Handeln. Aber ſobald neben die niederen ſinnlichen die höheren und ſocialen Ziele getreten ſind, ſo begreifen wir mehr und mehr nur das Handeln im Sinne der letzteren unter dem Sittlichen und ſetzen das zweckmäßige Handeln auf dem erſteren Gebiete als das Nützliche dem Sittlichen entgegen. Die Zweckmäßigkeit der Natur erhebt ſich ſo im nützlichen und ſittlichen Handeln auf ſeine höheren Stufen. Indem der Menſch die niedrigen Zwecke den höheren unterordnet, die Wohlfahrt in jenem höheren Sinne anſtrebt, die auf das Ganze gerichtet iſt, handelt er gut.

Wie gelingt ihm aber die Unterſcheidung von gut und böſe, wenn er vor der Wahl ſteht, wenn er in jedem Momente von verſchiedenen Möglichkeiten die richtige, von verſchiedenen Zwecken den guten wählen ſoll? Die Erkenntnis, die Weisheit, ſagt Sokrates muß ihm den Weg weiſen. Und gewiß giebt es keinen ſittlichen Fortſchritt, keine Möglichkeit, das Gute zu wählen, ohne zunehmende Erkenntnis der Zuſammen - hänge, der Kauſalverbindungen, der Zwecke und der ihnen dienenden Mittel, ohne Vor - ſtellung von den Folgen des guten Handelns in der Zukunft. Aber die Erkenntnis giebt nicht an ſich die Kraft der richtigen Entſcheidung, des guten Handelns. Das höhere Gefühl, das den Wert des Guten und des Beſſeren findet, mit impulſiver Kraft dafür entſcheidet, giebt den Ausſchlag. Die Freude, unter den möglichen Handlungen nicht die ſchlechte, ſondern die gute zu thun, hebt uns über Zweifel und Verſuchung hinweg, ſie durchglüht und elektriſiert uns, ſie befeſtigt die Kraft, in ähnlichen Fällen wieder gut zu handeln. Aber dieſes Gefühl erwächſt und ſtärkt ſich erſt im Zuſammen - hang mit unſerer Beobachtung der Handlungen dritter Perſonen.

Es wird, je weniger unſer ſittliches Gefühl und Urteil noch entwickelt iſt, uns viel leichter, beim Anblick der Handlungen dritter zu ſagen, das iſt gut, das iſt böſe. Der Menſch fällt bei der Beobachtung der Fehltritte eines anderen viel ſicherer als bei ſeinen eigenen das Urteil: du thuſt Unrecht, verdienſt Strafe. Wir haben bei ſolchem Anblick von der mißbilligten Handlung keinen augenblicklichen Vorteil, wie in dem Fall, in welchem wir ſelbſt der Verſuchung ausgeſetzt ſind. Wir haben von der gebilligten Handlung die reine Freude des Mitempfindens, von der gemißbilligten die volle Unluſt der Entrüſtung. Auf dieſem Mitklingen und Anklingen der Thaten und der Motive dritter in unſerer eigenen Bruſt, auf dieſen ſympathiſchen, zu Freude und Vergeltung anregenden Gefühlen beruht weſentlich die Ausbildung der ſittlichen Gefühle, des ſitt - lichen Urteils und der Fähigkeit, ſittlich zu handeln. Je energiſcher und je regelmäßiger wir die Handlungen anderer der ſittlichen Beurteilung unterwerfen, deſto mehr wird ſich uns durch die notwendige Einheit alles Denkens die Frage aufdrängen: ſollen wir nicht denſelben Maßſtab, wie auf andere, auf uns anwenden? Wir werden uns daran erinnern, daß andere uns ſo meſſen werden, wie wir ſie. Wir werden ſelbſt bei geheimen Handlungen uns fragen, was die Welt, die Freunde, die Nachbarn dazu ſagen würden. Der Menſch lernt ſo im Spiegel der Mitmenſchen ſich ſelbſt erſt richtig beurteilen. Er wendet notwendig die Reflexionen, mit denen er die Handlungen und Motive anderer begleitet, auf ſich an; dieſelben Gefühle der Billigung und Mißbilligung ſtellen ſich43Weſen und hiſtoriſche Bedingtheit des Sittlichen.bezüglich des eigenen Handelns und Empfindens ein. Nur indem der Menſch das Gute, was er von anderen fordert, auch von ſich verlangt, befriedigt er ſein Denken, gewinnt er Achtung vor ſich ſelbſt. So erwächſt nach und nach in der eigenen Bruſt jener unparteiiſche und ſtets völlig unterrichtete Zuſchauer, der auf all unſere Motive, auf all unſer Handeln reagiert, das Gewiſſen, das mit unnachſichtiger Strenge und mit im - perativem Charakter uns ermahnt, nach dem Guten und Edeln, nach Ehre und Würde des Charakters zu ſtreben. Es entſtehen ſo durch den Widerſtreit zwiſchen Gewiſſen und augenblicklichen Triebreizen die zwei Seelen in jeder Bruſt, von denen Plato wie Goethe reden, jene zwei Gruppen von Antrieben, die im ewigen Kampf den Inhalt alles Menſchenlebens und aller Geſchichte ausmachen. Der Kampf kommt niemals ganz zur Ruhe; in ewiger Oscillation bewegen ſich niedrige elementare Vorſtellungen und Impulſe neben den höheren, ſittlich mehr gebilligten auf und ab in unſerer Seele. Aber die höheren werden doch nach und nach in dem Maße zur vorherrſchenden und überwiegenden, ja ausſchließlich bewegenden Kraft in uns, als ſie durch Vererbung und Anlage, durch Erziehung und Übung geſtärkt werden, als der Gedankenzug und die Gedankenverbindungen immer wieder nach dieſer Seite geführt, durch verſtandesmäßige Ausbildung geklärt, zur Gefühlsmacht geworden ſind, als durch Gewohnheit, Fertigkeit und Sicherheit im Wollen ein ſittlicher Charakter ſich gebildet hat.

23. Die hiſtoriſche Entwickelung des Sittlichen und ihre Ziele. Das Sittliche iſt ſo ſtets ein Werdendes; die ſittliche Entwickelung der Individuen, der Völker, der Menſchheit ſteht nie ſtill. Die Wahrnehmung alſo, die ſchon die Sophiſten, dann Hobbes und Locke machten, daß das Sittliche bei verſchiedenen Völkern und zu verſchiedener Zeit ein verſchiedenes geweſen, die Wahrnehmung, welche uns die heutige geographiſche Aufſchließung der Erde noch nachdrücklicher beſtätigt hat, wird uns nicht überraſchen. Nur das wäre auffallend, wenn es, wie Lubbock meint, Stämme ohne ſittliches Urteil gäbe. Das iſt aber nicht der Fall. Denn die Vorſtellungen von gut und böſe, von zu billigenden und zu mißbilligenden Handlungen fehlen nirgends ganz. Sie haben nur notwendig einen verſchiedenen materiellen Inhalt, je nach den geſellſchaft - lichen und kulturellen Vorausſetzungen, unter welchen die Menſchen leben, je nach der Ausbildung der ſittlichen Gefühle und des Denkens. Beim Übergang zu anderen Lebens - bedingungen muß den einen noch für gut gelten, was den anderen ſchlecht und ver - werflich ſcheint. Wer den wahren Kauſalzuſammenhang von Handlung und Wirkung, von komplizierten geſellſchaftlichen Einrichtungen nicht kennt, wird ſittlich anders urteilen, als wer ihn durchſchaut. Das rohe ſittliche Gefühl nimmt keinen Anſtoß an dem, vor was das verfeinerte ſchaudert. So muß das ſittliche Urteil ſtets ſich ändern; aber da immer neben dem Wechſel der äußeren Verhältniſſe die Vervollkommnung unſerer Kennt - niſſe und Vorſtellungen und die Veredelung unſerer Gefühle an der Umbildung arbeitet, ſo werden wir einen Fortſchritt auf dieſer Bahn annehmen können, ſo werden wir hoffen können, daß das ſittliche Urteil die Zwecke immer richtiger werte.

Wenn der Buſchmann es als gute That preiſt, daß er das Weib eines anderen ſich gewaltſam angeeignet, als böſe That verurteilt, wenn ein anderer ihm ſeine Frau raubt, ſo beweiſt das ſo wenig einen gänzlichen Mangel ſittlichen Urteils, als wenn man in Sparta die Jünglinge hungern ließ und ſie zum Stehlen anleitete, das un - beſtraft blieb, wenn ſie ſich nur nicht ertappen ließen. Es hat einſt für berechtigt ja notwendig gegolten, einen erheblichen Teil der neugeborenen Kinder und die Greiſe zu töten, einem Baumfrevler die Gedärme aus dem Leibe zu winden, um den Baum ein - zuwickeln, dem angeſehenen fremden Gaſtfreund Frau und Tochter zum Gebrauch anzu - bieten, Scharen von Sklaven und Weibern beim Tode des Häuptlings zu verbrennen. Heute erſcheint uns dasſelbe unſittlich und barbariſch. Aber die Not des Lebens, der Glaube, nur ſo den Geiſtern und Göttern zu gefallen, ließen meiſt ſolche Bräuche als gut und zweckmäßig erſcheinen. Nur wenn wir die geſamten äußeren Lebensbedingungen und die geſamten Kauſalvorſtellungen und religiöſen Ideen eines Stammes und Volkes kennen, werden wir verſtehen, wie das nie ruhende ſittliche Werturteil beſtimmte Ge -44Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.pflogenheiten und Sitten billigte, für lebensförderlich, zweckmäßig und gut hielt. Auch zur Zeit, als es Sitte war, daß die Mutter einen Teil ihrer Kinder erwürgte, gab es Mutterliebe und Anfänge reinerer Empfindungen; aber ſie waren zunächſt von anderen Gefühlen zurückgedrängt; religiöſe Vorſtellungen von der Notwendigkeit, die Erſtgeburt den Göttern zu opfern, mag da, Hunger und Not, die Lebensfürſorge auf flüchtiger Wanderung, das Intereſſe der Familie und des Stammes mag dort überwogen haben, eine ſolche Sitte zu erzeugen, welche dann als das Gute, das Gebilligte im Stamme galt. Es entſpricht einem rohen Zeitalter, zunächſt nur Tapferkeit, Liſt, Verwegenheit als Tugenden anzuerkennen, ſpätere Epochen ſetzen andere Eigenſchaften daneben. Auch die ſprachliche Thatſache, daß die für gut und böſe gebrauchten Worte bei den meiſten Völkern urſprünglich ſinnliche und phyſiſche Vorzüge, erſt ſpäter moraliſche und geiſtige bezeichneten, daß die virtus des Römers in älteſter Zeit nicht Tugend, ſondern Kriegs - tüchtigkeit bedeutete, beweiſt nur, daß das ſittliche Urteil ein werdendes iſt, nicht daß es irgendwo ganz fehlte.

Jede Zeit und jedes Volk lebt unter beſtimmten äußeren Bedingungen, die eine Reihe von Zwecken und von Handlungen als die für Individuen und Geſamtheit not - wendigſten beſtimmen; ſie müſſen bevorzugt werden, wenn das Individuum und die Gattung beſtehen ſoll; ſie müſſen an andere Stelle rücken, ſobald die äußeren Lebens - bedingungen andere werden. Auch jeder wirtſchaftliche Zuſtand ſteht unter dieſer Voraus - ſetzung: die wirtſchaftlichen Eigenſchaften und Handlungen gelten als gut, welche nach Lage der Dinge die dauernde Wohlfahrt der einzelnen und der Geſellſchaft am meiſten fördern. Dabei mögen Aberglaube, falſche Kauſalitätsvorſtellungen, die Intereſſen der Machthaber in die konventionelle Feſtſtellung deſſen, was für gut gilt, noch ſo ſehr eingreifen, das ſittliche Werturteil im ganzen wird doch ſtets die wichtigeren und höheren Zwecke voranſtellen, es wird fordern, daß die Luſt des Augenblickes dem Glücke des folgenden Tages hintangeſtellt werde, daß das Individuum nie ſich als einzigen Selbſt - zweck, ſondern als Glied der Sippe, der Familie, des Stammes betrachte. Wenn das reflektierende Denken und die höheren Gefühle ſich ſtärker entwickeln, ſo beginnt man das Leben des Individuums als ein Ganzes aufzufaſſen, die Jugend als Vorſchule des Mannesalters zu betrachten, ſie durch ſtrenge Übung und Zucht zu bändigen; was dem Leben im ganzen Bedeutung, Inhalt und Glück verleiht, gilt nun als das Gute. In dem Maße, als etwas größere geſellſchaftliche Verbindungen entſtehen, erſcheint als das ſittlich Gute nunmehr das, was den ſocialen Körper und ſeine Wohlfahrt fördert. Ent - ſteht endlich im Menſchen die Ahnung eines Zuſammenhanges aller menſchlichen Geſchicke mit einer höheren Weltordnung, das demütige Gefühl der Abhängigkeit unſeres armen Menſchenlebens von einer göttlichen Weltregierung, ſo wird dadurch notwendig auch das ſittliche Werturteil wieder ein anderes als früher. Nun erſcheint dem Menſchen als gut, was die Gottheit gebietet, was ihn in das richtige Verhältnis zu ihr bringt. Kurz, jedes Princip ſittlicher Wertſchätzung von Handlungen baut ſich auf beſtimmten materiell - techniſchen, geſellſchaftlichen und pſychologiſch-geſchichtlichen Vorausſetzungen auf. Die ethiſche Vorſtellungswelt erſtreckt ſich von der ſinnlichen Luſt des individuellen Lebens durch zahlloſe Glieder hindurch bis zur Menſchheit, zum Weltganzen, zur Ewigkeit. Das Gute hat kein ruhendes, ſondern ein ſich ſtetig vervollkommnendes Daſein. Der nie ruhende Sieg des Höheren über das Niedrige, des Ganzen über das Partielle macht das Weſen des Guten aus.

Jede Zeit hat ſo ihre Pflichten, ihre Tugenden, ihre ſittlichen Zwecke. Die all - gemein anerkannten ſittlichen Gebote, mit welchen das ſittliche Werturteil einer Zeit dem einzelnen gegenübertritt, ſind die Pflichten; die durch ſittliche Übung erlangten Fertig - keiten, im Sinne der Pflicht zu handeln, ſind die Tugenden; die Zwecke, auf die das ſittliche Streben gerichtet iſt, ſind die ſittlichen Güter. Und jede Zeit und jedes religiöſe und philoſophiſche Moralſyſtem beſtimmt ſie nicht nur an ſich, grenzt ſie vom natür - lichen Handeln und Geſchehen, vom reinen Triebleben, vom ſittlich gleichgültigen Handeln ab, ſondern ſtellt eine Wertordnung der Zwecke, der Tugenden, der Pflichten her. Einem Zeitalter gilt die Tapferkeit, einem anderen die Gerechtigkeit, einem dritten die Abtötung45Die wachſenden Ziele und die Zuchtmittel des Sittlichen.der Sinnenwelt als höchſte Tugend. Dem einen gilt Schmerzloſigkeit, dem anderen Thätigkeit, dem dritten Hingabe an das Gemeinweſen als das höchſte Gut.

Trotz aller dieſer Abweichungen hat die gleiche Menſchennatur, die gleiche geſell - ſchaftliche Entwickelung und die gleiche Ausbildung der Ideenwelt bei allen höher ſtehenden Völkern eine merkwürdige Übereinſtimmung der geforderten Pflichten, Tugenden und Güter erzeugt. Eine Erfahrung von Jahrtauſenden hat immer mehr dieſelben Handlungen, dieſelben Gefühle als die notwendigen Bedingungen des Glückes der ein - zelnen, wie der Wohlfahrt der Geſellſchaft aufgedeckt. Bei allen Völkern arbeiten ſich nach langen Irrwegen dieſelben Ideale durch, die in relativ wenigen und einfachen Sätzen und Ideen ſich zuſammenfaſſen laſſen. Sie ſind ebenſo ſehr ein Ergebnis unſerer ſteigenden Erkenntnis der Welt und der Menſchen, als ein Produkt der ſittlichen Zucht, der Veredelung unſeres Gemütslebens. Behaupte und vervollkommne dich ſelbſt; liebe deinen Nächſten als dich ſelbſt; gebe jedem das Seine; fühle dich als Glied des Ganzen, dem du angehörſt; ſei demütig vor Gott, ſelbſtbewußt aber beſcheiden vor den Menſchen. Derartiges wird heute in allen Weltteilen und von allen Religionen gelehrt. Und überall ruht der Beſtand der Geſellſchaft darauf, daß dieſe ſchlichten und kurzen Sätze zur höchſten geiſtigen Macht auf Erden geworden ſind.

24. Die ſittlichen Zuchtmittel: geſellſchaftlicher Tadel, ſtaatliche Strafen, religiöſe Vorſtellungen. Wie kam es aber, daß dieſe Sätze zur höchſten Macht auf Erden wurden? Die ſittlichen Urteile entſtanden und entſtehen immer wieder auf Grund der geſchilderten pſychiſchen Vorgänge; aber wie wir dabei ſchon der Mitwirkung der Geſellſchaft gedenken mußten, ſo tragen geſellſchaftliche Einrichtungen und pſychiſche Preſſionsmittel, die aus den geſellſchaftlichen Zuſammenhängen ihre Kraft ſchöpfen, dazu bei, die Wirkung dieſer Urteile zu ſtärken, im Gemütsleben der Menſchen jene ſtarken Emotionen hervorzurufen, die zunächſt viel mehr als kluges Überlegen und Einſicht in den geſellſchaftlichen Nutzen oder den künftigen eigenen Vorteil die Menſchen auf der Bahn des Sittlichen vorangebracht haben.

Die ſocialen Preſſions - und Zuchtmittel, die wir meinen, ſind einfach und bekannt: ſie entſpringen der Furcht vor Tadel und Rache der Genoſſen, der Furcht vor der Strafgewalt der Mächtigen und Fürſten, der Furcht vor den Göttern. Es iſt, wie H. Spencer ſagt, eine dreifache Kontrolle, unter welcher die menſchlichen Handlungen ſtehen, ſo weit wir die Geſchichte zurück verfolgen können. Wir haben ſchon im bisherigen Gelegenheit gehabt, ſie teilweiſe zu berühren, hauptſächlich bei Erörterung des An - erkennungstriebes (S. 30) die Furcht vor der tadelnden Umgebung erwähnt.

Lange ehe die Gewalt des Häuptlings oder Königs entſteht, die Führung im Kriege übernimmt, die Feigen beſtraft, die Tapferen belohnt, beſteht in der primitivſten Geſellſchaft die Furcht vor Nichtanerkennung und Ausſchluß aus der Sippe und dem Stamm, die Gefahr der rächenden Nemeſis von Verwandten, wenn ein Frevler einen Stammesgenoſſen aus anderem Geſchlecht erſchlagen hat. Nicht im Widerſpruch mit dem ſittlichen Werturteil, den Gefühlen der Sympathie und Vergeltung, ſondern eben aus ihnen heraus wachſen die entſprechenden Übungen und Gepflogenheiten der Blutrache, der Ausſtoßung, die dann wieder mit großer Macht auf die Einbildung und die Gefühle zurückwirken. Vorſtellungen künftiger Schmerzen und künftiger Freude werden ſo mit größtem Nachdruck vor die Seele geführt, daß ſie dauernd die einzelnen und die Geſellſchaft beherrſchen.

Neben dieſe niemals verſchwindende, nur ſpäter in milderen Formen auftretende Kontrolle der Nachbarn und Genoſſen tritt nun mit der Ausbildung einer öffentlichen Gewalt, eines Häuptlings - und Königtums, eines kriegeriſchen Führertums die Macht der Staatsgewalt. Es iſt zuerſt ein roher Despotismus, zuletzt eine feſt durch das Recht umgrenzte oberſte, vielleicht ganz unperſönliche Befehlsbefugnis, die Vorſchriften erläßt und ſtraft; immer ruht ſie auf Machtmitteln aller Art, kann den Widerſtrebenden zwingen, einſperren, töten; der einzelne muß ſich ihr und ihren Geboten unterwerfen; die ſtaatliche Zwangsgewalt mit ihrem Syſtem von Strafen und Zwangsmitteln, von Auszeichnungen und Ehren wird gleichſam das feſte Rückgrat der Geſellſchaft; die Bürger46Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.wiſſen es nicht anders, als daß ſie unter dieſer zumal in alten Zeiten barbariſch ſtrafenden Gewalt ſtehen, und auch heute iſt die Strafgewalt die ultima ratio, welche das Gute und damit die Geſellſchaft aufrecht erhält.

Der äußere Zwang zu ſittlichem Verhalten, der mit der Rute des Vaters und Lehrers beginnt und durch alle Zwangsveranſtaltungen der Geſellſchaft und des Staates hindurch mit der Zwangspflicht endigt, eventuell ſein Leben fürs Vaterland zu laſſen, bringt zunächſt nur ein äußerlich legales Verhalten in der Mehrzahl der Fälle zuwege, keine innere Sittlichkeit, aber er beſeitigt die direkten Störungen der ſittlichen Ordnung, er gewöhnt die Menge daran, das Unſittliche zu meiden, er erzieht durch Gewöhnung und Vorbild, er bringt einen äußeren Schein der Anſtändigkeit und Tugend hervor, der nicht ohne Rückwirkung auf das Innere bleiben kann, in Verbindung mit der Furcht vor geſellſchaftlichem Tadel auch innerlich die Gefühle veredelt.

Noch mehr aber vollzieht ſich die innerliche ſittliche Umbildung durch die religiöſen Vorſtellungen, ſo grob ſinnlich ſie anfangs ſind, ſo ſehr ſie lange ſich äußerer ſtaatlicher Zwangsmittel bedienen. Das letzte Ziel des religiöſen Kontrollapparates iſt doch, die Menſchen in ihrer innerſten Geſinnung zu ändern. Die Religionsſyſteme waren das wichtigſte Mittel, das ſinnlich-individuelle Triebleben zu bändigen. Die religiöſen Vor - ſtellungen ergriffen das menſchliche Gemüt mit noch ganz anderer Gewalt als die beiden anderen Zuchtmittel. Die zitternde Furcht des naiven Urmenſchen vor dem Überſinnlichen iſt einer der ſtärkſten, wenn nicht der ſtärkſte Hebel zur Befeſtigung der ſittlichen Kräfte und der geſellſchaftlichen Einrichtungen geweſen.

Die älteſten religiöſen Gefühle und Satzungen entſprangen den Vorſtellungen über die Seele, ihre Wanderungen im Traume, ihr Fortleben nach dem Tode; die Seele des Toten könne, ſo glaubte man, ihren Sitz im Stein, im Baum, im Tiere wie im Leichnam ſelbſt nehmen; der Totenkultus, die Sitte des Begrabens, das Opfern für die Toten entſprang aus dieſen Vorſtellungen; die toten Könige und Häuptlinge erſchienen, wie die ganze mit Geiſtern erfüllte Natur, als Mächte der Finſternis oder des Lichtes, denen man dienen, opfern, ſich willenlos unterordnen müſſe, deren Willen die Zauberer und Prieſter erkundeten und mitteilten. So entſtanden prieſterliche, angeblich von den Geiſtern und Göttern diktierte Regeln, meiſt urſprünglich Regeln der geſellſchaftlichen Zucht, der Unterordnung des Individuums unter allgemeine Zwecke, welche Millionen und Milliarden von Menſchen veranlaßten, dem irdiſchen Genuſſe zu entſagen, die unmittelbaren, nächſt - liegenden individuellen Vorteile den Göttern oder einer fernen Zukunft zu opfern. Nicht aus Überlegung des eigenen oder geſellſchaftlichen Nutzens handelten ſie ſo, ſondern weil ein überwältigendes Gefühl der Demut und der Furcht vor der Hölle und ihren Strafen ſie nötigte, die Gebote der Götter höher zu achten als ſinnliche Luſt oder eigenen Willen, weil ſie ſich ſelbſt für beſſer hielten, wenn ſie ſo handelten, wie es die Vorſchriften der Religion forderten.

Die religiöſe Stimmung iſt urſprünglich bei den roheſten Menſchen nichts als ein unausſprechliches Bangen vor körperlichem Leid, ein Gefühl der eigenen Schwäche, eine Furcht vor den unverſtandenen Gewalten, die den Menſchen allmächtig umgeben. Die Phantaſie ſucht nach Kräften, nach Urſachen, die das Geſchehene erklären, die man als handelnde, ſtrafende, zürnende Weſen ſich denkt, die als Kräfte vorgeſtellt werden, welche in das menſchliche Leben eingreifen können, nach deren Wunſch man das häusliche wie das öffentliche Leben einrichten müſſe, deren Zorn man abwenden müſſe durch Gebet, durch Folgſamkeit gegen ihre Diener und Willensüberbringer, durch ſchlechthinige Er - gebung in ihre Befehle. Unendlich lange hat es gedauert, bis die unklaren und rohen Vorſtellungen über böſe Geiſter und ihr vielfach tückiſches Verhalten gegen die Menſchen ſich abklärte zu einem edleren religiöſen Glauben, der in den Göttern Vorbilder und Träger einer idealen, über der ſinnlichen erhabenen Weltordnung ſah. Dieſe ſetzte an die Stelle der Vorſtellungen vom Zorn und der Leidenſchaft der Götter den Glauben an eine alles Gute belohnende, alles Böſe ſtrafende göttliche Gewalt. Die Vergeltung, die den menſchlichen Einrichtungen in der Gegenwart immer nur unvollkommen gelingen konnte, wurde den Göttern zugetraut; man rechnete bald auf eine Vergeltung auf Erden47Geſellſchaftlicher, ſtaatlicher und religiöſer Zwang.wie bei den Semiten, auf Lohn und Heimſuchung am dritten und vierten Gliede des eigenen Geſchlechts; bald, mit dem Erwachen des Unſterblichkeitsgedankens, auf eine Vergeltung in einem anderen Leben. Das irdiſche Leben ſchrumpfte zu einer Vorbereitung für ein jenſeitiges zuſammen; alle Freuden dieſer Welt erſchienen nun vergänglich und nichtsſagend gegen die Hoffnung einer ewigen Seligkeit, die als Lohn guter Thaten und Geſinnungen erwartet wurde. Damit entſtand eine ſociale Zucht und eine ſociale Kraft, eine Fähigkeit der Unterordnung unter, der Hingabe an geſellſchaftliche und ideale Zwecke, welche die betreffenden Völker allen anderen überlegen machte, ihnen die herrſchende, führende Rolle übertrug. Die höchſte Ausbildung des religiöſen Lebens erfolgte unter der Führung von hiſtoriſchen Idealgeſtalten, die durch ihr Beiſpiel und ihre Lehre nicht bloß gute Handlungen, ſondern gute Geſinnung verlangten. Die Furcht vor der Hölle und die Hoffnung auf den Himmel verwandelten ſich in die edelſten Affekte, in die Liebe zu Gott, in die Hingabe an das Ideale. Die ſittliche Geſinnung wurde zur Hauptſache vor dem Herrn, der die Herzen und die Nieren prüft. Es genügte jetzt nicht mehr, um der bloßen Belohnung willen äußerlich gut zu handeln; man kann nicht aus verwerflichen Motiven gut, edel, chriſtlich geſinnt ſein.

Die großen ethiſchen Religionsſyſteme, hauptſächlich das chriſtliche, ſind es ſo, welche die äußere Zwangskontrolle und die rohere innere Kontrolle, die auf Lohn und Strafe rechnet, mehr und mehr in jene höhere innere Kontrolle umwandeln, die mit der vorherrſchenden Vorſtellung eines ſittlichen Lebensideals all unſer Thun beleuchtet und reguliert. Das Gute wird nunmehr als die wahre und innere Natur des Menſchen erklärt und befolgt, es wird um ſeiner ſelbſt willen geliebt, weil es allein dauernde, ungetrübte, über alles menſchliche Leid erhebende Befriedigung, das höchſte Glück, die reinſte und dauerndſte Luſt gewährt. Aber auch wo die innere Umwandlung nicht ſo weit geht, erheben die geläuterten religiöſen Vorſtellungen der ethiſchen Kulturreligionen alles Empfinden und Handeln der Menſchen auf eine andere Stufe. Die Selbſtſucht wird gezähmt, das Mitleid und alle ſympathiſchen Gefühle werden ausgebildet. Die Wahrheit, daß der einzelne nicht für ſich ſelbſt lebt, daß er mit ſeinem Thun und Laſſen großen geiſtigen Gemeinſchaften angehört, daß er mit den endlichen Zwecken, die er verfolgt, unendlichen Zwecken dient, dieſe Wahrheit predigt die Religion jedem, ſelbſt dem einfachſten Gemüt; ſie verknüpft für die große Menge aller Menſchen auf dieſe Weiſe das alltägliche Treiben des beſchränkteſten Geſichtskreiſes mit den höchſten geiſtigen Intereſſen. Durch die Religion bildet ſich jenes abſtrakte Pflichtgefühl aus, das als kräftig wirkender Impuls überall den niedrigen Trieben entgegentritt. Es entſteht durch ſie jene allgemeine ſittliche Lebenshaltung, welche nicht bloß die große Mehrzahl in den Bahnen der Anſtändigkeit und Rechtſchaffenheit, ſondern auch einen erheblichen, und gerade den führenden Teil der Völker in den Bahnen einer bewußten und beabſichtigten Sittlichkeit feſthält.

Zu jener unbedingten ſittlichen Freiheit des Willens allerdings, für welchen die Imperative des Zwanges ganz gleichgültig geworden ſind, für welchen die Vorſtellungen von einer Vergeltung nach dem Tode wegfallen können, ohne zu ſittlichen Gefahren zu führen, haben zu allen Zeiten und auch heute nur wenige der edelſten und beſten Menſchen ſich erhoben. Und wenn dem ſo iſt, ſo dürfte es klar ſein, daß die Auflöſung und Verblaſſung unſerer religiöſen Vorſtellungen in breiten Schichten der Geſellſchaft nicht bloß eine ſittliche, ſondern auch eine geſellſchaftliche und politiſche Bedeutung haben.

Bis ins vorige Jahrhundert hat es kein großes Kulturvolk gegeben, in dem nicht das ganze äußere und innere Leben von der einheitlichen Herrſchaft eines ethiſchen Religionsſyſtems getragen war. Seine Autorität und ſeine Regeln beherrſchten Staat, Volkswirtſchaft, Klaſſenbildung, Recht, Familie, Tauſchverkehr, Geſelligkeit gleichmäßig. Jetzt machen wir nicht bloß Verſuche, in demſelben Staate verſchiedene, allerdings meiſt verwandte, in ihren Grundlehren übereinſtimmende und darum wohl neben einander zu duldende Religionsſyſteme zuzulaſſen. Nein, in breiten Schichten erſt der höheren Geſellſchaft, teilweiſe aber auch ſchon der unteren Klaſſen iſt das religiöſe Empfinden zurückgetreten oder verſchwunden; weltliche Ideale und naturwiſſenſchaftliche Betrachtungen48Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ſind an die Stelle getreten, deren ſittlicher Kern und Wert teilweiſe noch recht zweifelhaft iſt. Es wird die große Frage ſein, ob die Ausbildung philoſophiſcher, ethiſcher Syſteme und das Anwachſen anderer ſittlicher Lebensmächte, des Staates, der Schule, der öffent lichen Meinung heute ſchon, ob ſie jemals ſtark genug iſt und ſein wird, um für die Menge der gewöhnlichen Menſchen die religiöſen Stützen und Normen zu entbehren, ob nicht eine religionsloſe Geſellſchaft einem Schiffchen gleicht, das, in gefährlicher Lage zwiſchen tauſend Klippen, in der Hoffnung auf eine gute Briſe neuen materialiſtiſchen Windes das Ankertau gekappt hat, das es bisher feſthielt, das es bisher im wilden Spiel roher Naturmächte und Leidenſchaften vor dem Zerſchellen an dem Felſen menſch - licher Gemeinheit bewahrte.

Die Läuterung unſerer religiöſen Vorſtellungen bis zu dem Grade, daß ſie mit unſeren wiſſenſchaftlichen und ſittlichen Überzeugungen wieder in Übereinſtimmung kommen und ſo von neuem die volle alte religiöſe Kraft auf unſer Gemütsleben erhalten, ſcheint den Ausweg zu bieten, den in analogen Fällen die Geſchichte ſchon öfters geſucht und gefunden hat.

8. Die ſittlichen Ordnungen des geſellſchaftlichen Lebens. Sitte, Recht und Moral.

  1. Lazarus, Über den Urſprung der Sitten. Berlin 1867.
  2. Schmoller, Grundfragen des Rechts und der Volkswirtſchaft. 1875. S. 31 52: Wirtſchaft, Sitte und Recht; jetzt Grundfr. S. 43 69.
  3. Rümelin, R.A. 2. S. 149 175: Über das Weſen der Gewohnheit. v. Ihering, Geiſt des römiſchen Rechts auf den verſchiedenen Stufen ſeiner Entwickelung 4 Bde. 1852 84.
  4. Derſ., Der Zweck im Recht. 2 Bde. 1877 84.
  5. Maine, Ancient law. 1861. 3. Aufl. 1874.
  6. Derſ., Early history of institutions. 1875.
  7. Arnold, Kultur und Rechtsleben. 1865.
  8. Derſ., Kultur und Recht der Römer. 1868.
  9. Trendelenburg, Naturrecht auf Grund der Ethik. 1868. 2. Aufl.
  10. v. Kirchmann, Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral. 1869.
  11. Jellinek, Die ſocialethiſche Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe. 1878.
  12. Baſtian, Rechtsverhältniſſe bei verſchiedenen Völkern der Erde. 1872.
  13. A. H. Poſt, Bauſteine für eine allgemeine Rechtswiſſenſchaft. 2 Bde. 1880 81.
  14. Schmoller, Die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft. J. f. G.V. 1881, jetzt auch Soc. u. Gew. P.
  15. A. Merkel, Recht und Macht. J. f. G.V. 1881.
  16. Derſ., Juriſtiſche Encyklopädie. 1885.
  17. A. Wagner, Grundlegung. 2. Teil. Volkswirtſchaft und Recht. 1896.
  18. Stammler, Wirtſchaft und Recht nach materialiſtiſcher Geſchichtsauffaſſung. 1896.
  19. Henry C. Adams, Volkswirtſchaft und Rechts - ordnung. J. f. G.V. 1898.

Alles ſittliche Leben einſchließlich des religiöſen iſt ein nie ruhender pſychiſcher Prozeß, eine ſtete Umſetzung von Vorſtellungen und Urteilen in Gefühle, von Gefühlen, die als Impulſe wirken, in Handlungen. Auf Grund der natürlichen und hiſtoriſchen Bedingungen dieſes Prozeſſes muß ſich durch die Wiederholung gleicher Fälle und gleicher Beurteilung immer wieder in beſtimmten Kreiſen ein feſter Maßſtab der Beurteilung bilden, der praktiſch zur Durchſchnittsregel, zur Norm des Handelns wird.

Es hieße Übermenſchliches vom gewöhnlichen Individuum verlangen, wenn es ohne ſolche Durchſchnittsmaßſtäbe und Durchſchnittsregeln, die dem gewöhnlichen Lauf des Lebens und den realen Bedingungen und Thatſachen desſelben einerſeits, den ſittlichen Idealen andererſeits angepaßt ſind, ſich jeden Augenblick zurecht finden ſollte. Dieſe Regeln erhalten durch die oben geſchilderten Kontroll - und Strafapparate ihren autori - tativen Charakter. Sie ſchärfen täglich und ſtündlich das Sittliche ein; ſie ſind gleichſam die geprägte Münze des Sittlichen, die ſtets umlaufend, ſtets gebietend und verbietend jede Handlung, jeden Schritt begleitet. Für die Mehrzahl der gewöhnlichen Menſchen faßt ſich ſo das Sittliche zuſammen in dieſen Normen, die den niedrigen Trieben ent - gegentreten, den Menſchen in genereller und einfacher Weiſe ſagen, welche Handlung die zu billigende, vorzuziehende, ſittliche ſei. Ob ſie im einzelnen immer ganz genau paſſen, iſt nicht ſo wichtig, als daß ſie überhaupt beſtehen, daß ſie als Macht über den einzelnen und ihrem Triebleben anerkannt werden. Sie erſparen dem gewöhnlichen Menſchen Prüfung und Wahl, zu der er bei den ewig ſich wiederholenden inneren Konflikten und ihrer49Die Sitte, ihre Entſtehung, ihr Weſen.ſchwierigen Entſcheidung nicht fähig wäre. Indem die Regel, welche Sitte und Recht, königliche oder prieſterliche Macht aufgeſtellt hat, ſagt, das ſollſt du thun und jenes laſſen, greift in das unfertige Werden und Drängen der Triebe, in den Kampf der Leiden - ſchaften und Inſtinkte doch überhaupt eine ordnende ſittliche Gewalt ein; die Gewöhnung, ihr ſich zu beugen, iſt an ſich eines der weſentlichſten Mittel der Erziehung.

Das Entſtehen dieſer Regeln, welche alles geſellſchaftliche, auch alles wirtſchaftliche Leben beherrſchen, welche in der Art ihrer formalen Geſtaltung zugleich weſentlich die Epochen dieſes Lebens beſtimmen, haben wir nun darzuſtellen. Wir haben zu zeigen, wie ſie in der älteſten Zeit als einheitliche Sitte entſtehen und ſpäter ſich ſpalten in Recht, Sitte und Moral, welche Folgen dieſe Spaltung hat.

25. Die Entſtehung und Bedeutung der Sitte. Es giebt , ſagt Lubbock, keinen größeren Irrtum, als den Wilden den Vorzug einer größeren perſönlichen Freiheit zuzuſchreiben; jede ihrer Lebensäußerungen wird durch zahlloſe Regeln beſchränkt, die freilich ungeſchrieben, aber darum nicht minder bedeutend ſind. Lange ehe es einen eigentlichen Staat, ein Gerichtsverfahren, ein ausgebildetes Recht giebt, beherrſchen feſte Normen, welche vielfach in rhythmiſcher Rede überliefert, durch Ceremonien und Symbole aller Art in ihrer Ausübung geſichert ſind, alles äußere Leben der primitiven Stämme. Es handelt ſich um die Sitte und die Gewohnheiten, die aus den geiſtigen Kollektivkräften hervorgehen. Alles bei einer Geſamtheit von Menſchen Geübte, Gewohnte, Gebräuchliche, das nicht als eine Äußerung der Naturtriebe ſich darſtellt, und andererſeits von der Willkür der einzelnen unabhängig als gut und ſchicklich, als angemeſſen, als würdig angenommen wird, ſagt Lazarus, bezeichnen wir als Sitte. Die Gewohnheit, ſagt Marheineke, iſt eine zweite durch den Geiſt geſetzte Natur. Die gemeinſame Gewohnheit mehrerer, die als Verpflichtung gefühlt wird, die übertreten, verletzt werden kann, wird zur Sitte.

Die Gewohnheit entſteht mit und durch die Geſellſchaft; aber ſie zeigt ſich auch ſchon im Leben des einzelnen, muß ſchon hier ſich bilden. Sie ergiebt ſich aus der Wiederkehr des Gleichen im menſchlichen Leben. Ohne Wiederkehr eines Gleichen gäbe es keine Erinnerung, keine Erkenntnis, kein Vergleichen und Unterſcheiden. Der Kreislauf des tieriſchen Daſeins, Wachen und Schlafen, periodiſches Eſſen, Arbeit und Erholung, dann der Kreislauf der Natur, Sommer und Winter, der Auf - und Niedergang von Sonne, Mond und Sternen prägen allem menſchlichen Leben den Stempel ewiger Wieder - holung des Gleichen auf. Das Kind ſchon, das täglich zu gleicher Zeit ſeine Milch erhält, verlangt ſtürmiſch die Einhaltung der Regel, wie die gemeinſamen Mahlzeiten den Ausgangspunkt für eine regelmäßige Zeiteinteilung des Tages bildeten. Auch die höheren Tiere haben ihre Inſtinkte unter demſelben Drucke der ſich gleichmäßig wieder - holenden Bedürfniſſe zu feſten Gewohnheiten ausgebildet, wie die Bienen im Bienenſtaat. Bei dem Menſchen kommt hinzu, daß es ſein Denkgeſetz und ſeinen Ordnungsſinn befriedigt, wenn im gleichen Falle gleich gehandelt wird. Aus dem Wirrwarr der Reize und Triebe, der Einfälle und Leidenſchaften entwickelt ſo ſtets Erfahrung und Erinnerung gewohnheitsmäßiges gleiches Handeln.

Es wird zur Sitte durch die gemeinſamen Vorſtellungen und Gefühle mehrerer, durch die gemeinſamen ſittlichen Urteile und Erinnerungen; aus gleicher Lage entſpringen gleiche Willensanläufe und Handlungen, gleiche Ceremonien, gleiche Formen des Handelns. Das ſittliche Urteil ſagt, dieſe beſtimmte Form ſei die zu billigende. Es entſteht daraus das Gefühl der Verpflichtung, das ſofort durch Mißachtung der Genoſſen, Strafe, religiöſe Furcht verſtärkt wird. Die Formen des religiöſen Kultus waren überall die wichtigſte Veranlaſſung zur Entſtehung feſter Sitten überhaupt.

Jede Sitte giebt irgend einer ſich wiederholenden Handlung ein beſtimmtes, ſtets wieder erkennbares Gepräge. Von den einfachen Bewegungen des Körpers bis zu den verwickeltſten Lebenseinrichtungen ſucht der Menſch an die Stelle des natürlichen Ablaufes der Ereigniſſe eine ceremoniöſe Ordnung zu ſetzen, mit dem Anſpruch, daß nur das ſo Gethane richtig geſchehen ſei. Alle menſchlichen Handlungen werden ſo geſtempelt, in konventionelle Form umgeprägt. Sie erhalten zu ihrem natürlichen materiellen InhaltSchmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 450Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ein hinzukommendes geiſtig-ſittliches, formendes, auf ihren Zuſammenhang mit dem übrigen Leben hindeutendes Element.

Die Gegenſtände, welche die ältere Sitte formt, umfaſſen das ganze äußere Leben, aber auch nur dieſes, niemals zunächſt die Geſinnung. Die Nahrung, die Kleidung, die Wohnung, das Zuſammenleben und der Verkehr der Menſchen ſind überall die Haupt - objekte der Sitte. Aus Hunger und Inſtinkt frißt das Tier, wann und wo es Nahrung findet; das Eſſen zu feſt beſtimmter Zeit, in beſtimmter Form wird durch die Sitte geſchaffen. Die Eitelkeit und die Neigung zur Auszeichnung veranlaßt den Menſchen, ſich zu bemalen, zu ſchmücken; daraus geht der Kriegsſchmuck, die Kleidung als Sitte hervor. Die Begattung erfolgt aus tieriſchem Antriebe; die Sitte ſchafft feſte Regeln für dieſelbe. Geburt und Tod ſind natürliche Ereigniſſe, die Teilnahme der Familie und Freunde, die Rückſicht auf abgeſchiedene Ahnen und auf die Götter ſchafft feierliche Ceremonien, die Aufhebung des Kindes durch den Vater, die Taufe, die Toten - und Opfermahle, die Leichenbegängniſſe, lauter formale Handlungen, durch welche die Ereigniſſe in ihrer Bedeutung gewürdigt werden ſollen. Aus Bedürfnis tauſcht der eine Stamm einzelne Waffen und Schmuckgegenſtände mit dem anderen; die Sitte regelt das durch die feſte Anordnung einer gefriedeten Malſtatt, wo zu beſtimmter Zeit die Tauſchenden zuſammenkommen.

Mag die religiöſe Färbung der meiſten älteren Sitten, die Verbindung faſt aller regelmäßig wiederkehrenden Handlungen mit Kultceremonien daran ſchuld ſein, oder der Umſtand, daß der Menſch an ſich den geiſtigen Stempel, den er einer Handlung giebt, höher ſtellt als ihren materiellen Inhalt, ſo viel iſt ſicher, daß dieſe Formen, an die ſich eine Geſellſchaft gewöhnt hat, teilweiſe ein zäheres konſervativeres Leben haben als ihr Inhalt ſelbſt. Das heranwachſende Geſchlecht findet die Sitte als ein Überliefertes vor, als eine Lebensform, die es vom Erwachen des Bewußtſeins an als heilig betrachtet. An herkömmlich beſtimmten Worten, Bewegungen, Opfern, Zeichen hängt die Gnade der Götter. Die Sitte wird zur unbeugſamſten, überwältigenden Macht. Mit der zäheſten Ängſtlichkeit hält das Gemüt oft an ihr feſt, auch wenn die materielle Handlung, die in der Sitte ſteckt, keinen rechten Zweck mehr hat. Andere Zwecke ſchieben ſich unter, die Form ſucht ſich zu erhalten. Aus Opfermahlen für Götter und Tote werden Leichen - ſchmäuſe, aus uralten Trankopfern zur Verbrüderung wird die heutige Sitte des Zu - trinkens. In faſt aller Sitte ſtecken ſo Nachklänge von Jahrtauſenden; es ſind oftmals Übungen und Formen, die, unter ganz anderen natürlichen und geſellſchaftlichen Verhält - niſſen entſtanden, doch ihren Wert und ihre Bedeutung behaupten.

Die einzelne Form der Sitte iſt ſo immer ſchwer kulturgeſchichtlich zu erklären; ſie iſt ein kompliziertes Ergebnis, zu dem ſich ſehr verſchiedene Vorſtellungsreihen und Urſachen vereinigt haben. Sittliches Urteil und Gefühl, materielle Bedürfniſſe und Zwecke, uralte Formeln, religiöſer Wahn, ſchiefe Vorſtellungen und richtige Kauſal - erkenntnis in Bezug auf individuellen und ſocialen Nutzen wirken zuſammen. Die Sitte der Kleidung iſt urſprünglich zu einer Zeit, wo der Menſch nicht bemerkte, daß er nackt ſei, und wo die Nacktheit noch keine Summe ſexueller Vorſtellungen und Erinnerungen aufreizen konnte, entſtanden aus der Neigung, ſich zu ſchmücken, ſich durch Schmuck aus - zuzeichnen; der Mann that das früher als die Frau; daher heute noch Stämme, bei welchen es Sitte iſt, daß der Mann ſich bekleidet, die Frau nackt geht. Alle Arbeits - teilung und ſociale Klaſſenbildung haben ſpäter, wie die Kälte und die Bewaffnungs - zwecke, in die Entwickelung dieſer Sitte eingegriffen; in den modernen Zeiten iſt die Bekleidung dann allgemein als ein ſociales Zuchtmittel erkannt worden, als ein Mittel der ſexualen Prophylaxe und der ſocialen Anweiſung, dem Trauernden richtig zu begegnen wie dem Feſtgeſchmückten; es wurde ein Mittel, den Offizier immer an ſeine Stellung zu erinnern, dem Geiſtlichen und Richter ſeine Wirkſamkeit auf andere durch die Amts - tracht zu erleichtern. Nur ein unhiſtoriſcher Rationalismus kann deshalb ausſchließlich alle Sitte auf Überlegungen des geſellſchaftlichen Nutzens zurückführen.

Dieſer hat freilich überall inſtinktiv oder klar erkannt mitgeſpielt. Dasjenige wird Sitte, was den Menſchen irrtümlich oder mit Recht als das der Familie, ſpäter dem51Die Sitte und die Entſtehung des Rechtes.Stamme, zuletzt dem Volke und der Menſchheit Förderliche erſcheint. Aber die erſte Er - faſſung geſchieht unmittelbar mit dem Gefühle und die letzte Urſache der Entſtehung iſt immer das ſittliche Urteil, ein pſychologiſcher, einem gewiſſen Kreiſe gemeinſamer Vorgang.

Die Sitte iſt die grundlegende äußere Lebensordnung der menſchlichen Geſellſchaft, ſie erſtreckt ſich auf alle äußeren Lebensgebiete, vor allem auch auf das wirtſchaft - liche. Es iſt deshalb angezeigt, gleich hier auf die auch für alle ſpätere Zeit ähnlich bleibende volkswirtſchaftliche Bedeutung der Sitte hinzuweiſen. Wir ſahen ſchon bei der Beſprechung der Bedürfniſſe, wie ihre ganze Entwickelung auf der Sitte ruht; dem - entſprechend iſt alle Unterſuchung der Nachfrage eine Unterſuchung von Sitten und Konſumtionsgewohnheiten. Die Geſtaltung der Hauswirtſchaft iſt durch die Sitte beherrſcht; alle Arbeitsteilung kann nur an der Hand beſtimmter Sitten zur Ausführung kommen. Alle Unternehmungsformen vom Handwerk bis zum Großbetrieb, der Aktien - geſellſchaft, dem Kartell ruhen auf Gewohnheiten und Sitten; aller Handel und Markt - verkehr, Geld und Kredit ſind ein Ergebnis langſam ſich bildender Sitten. Jede volks - wirtſchaftliche und ſociale Beſchreibung iſt ein Stück Sittengeſchichte. Die großen Fragen der ſocialen und wirtſchaftlichen Reform hängen mit der Möglichkeit und Schwierigkeit der Umbildung der Sitten zuſammen. Alles neue Recht iſt in ſeinem Erfolge davon abhängig, wie es zu den beſtehenden Sitten, ihrer Zähigkeit oder Bildſamkeit paßt. Wer das wirtſchaftliche Leben ohne die Sitte begreifen, nur materiell, techniſch, zahlen - mäßig faſſen will, wird immer leicht irren, er ergreift von dem wirtſchaftlichen Vorgang eben das nicht, was ihm Farbe und beſtimmtes Geſicht giebt. Wie z. B. beim Arbeits - verhältnis unter Umſtänden eine kleine Erhöhung oder Erniedrigung des Lohnes nicht ſo bedeutſam iſt als die Sitte, wie, wo, wann, mit welchem Gelde gezahlt wird.

Die Sitte iſt nicht das Sittliche, aber ſie iſt der äußere und geſellſchaftliche Anfang desſelben; ſie iſt und bleibt eine Offenbarung deſſen, was den Menſchen über das Tier erhebt; ſie iſt aus dem geiſtig-ſittlichen Schatze des Volkes geboren; ſie ſtellt dem ein - zelnen eine äußere Norm des Guten, des Schicklichen, des Wohlanſtändigen vor Augen, ſie bändigt die Willkür, den Egoismus; ſie ſetzt den ungezügelten Reizen der momentanen Luſt feſte Schranken, ſie ſchlingt ein gemeinſames äußeres Band um die Stammesgenoſſen und um die wechſelnden Geſchlechter, ſie verknüpft die abrollenden Geſchicke des materiellen Lebens durch ihre Formen zu einem höheren geiſtigen Ganzen. Sie baut in die natür - liche Welt die Welt der Konvention, aber auch die der Kultur hinein. Jede Sitte iſt hiſtoriſch geworden, kann zur Unſitte werden; aber ſie iſt in ihren geſamten Äußerungen ein weſentlicher Gradmeſſer der geiſtigen und moraliſchen Kultur. In den Anfängen des geſellſchaftlichen Lebens iſt es die Sitte, die vor Entſtehung einer ſtaatlichen Gewalt und eines geordneten Strafrechts den Frieden aufrecht erhält, die rohen Ausbrüche der Leidenſchaft zurückhält und ſühnt.

26. Die Entſtehung des Rechtes und ſeine ältere Verbindung mit der Sitte. In dem Maße, als die Stämme etwas größer werden, als Ungleichheit des Berufes, des Beſitzes und Ranges eintritt, als eine Häuptlingsariſtokratie ſich bildet, die patriarchaliſche Familienverfaſſung einzelne weit über die anderen emporhebt, fängt die bloße Sitte an, nicht mehr auszureichen, um den Frieden in der Geſellſchaft aufrecht zu erhalten. Die Macht einzelner wird zur Gewalt und Gewaltthat; der Verletzte kann ſich nur helfen, indem er der Macht des Gegners eine größere entgegenſtellt, indem er die Angeſehenen, die Häuptlinge zu Schiedsrichtern, oder indem er den ganzen Stamm zu ſeiner Hülfe herbeiruft. Und indem dieſe beiden Elemente beginnen, die Ausführung der geſellſchaftlichen Regeln in ihre Hand zu nehmen, wird das Recht geboren.

Alles Recht erwächſt aus der Sitte; wo es entſteht, giebt es bereits Regeln und den Glauben an eine ſittliche Regelung; aber ſie iſt vom Streit bedroht; die ver - ſchiedenen Intereſſen ſind aufeinander geplatzt oder drohen, ſich nicht der Regel zu fügen. Die vom Streit Geſchädigten, die Verletzten, oft einzelne, oft wachſende Teile des ganzen Stammes, ſuchen eine überlegene Gewalt zu ſchaffen, eine vorhandene zu veranlaſſen, daß ſie zwangsweiſe ausführe, was den Frieden ſichert, was im Geſamtintereſſe unerläßlich iſt. Vollends dauernde Kämpfe gegen andere Stämme ſind nur durchzuführen, wenn4*52Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.im Inneren der Kampf, der Widerſpruch ruht, wenn alle einzelnen dem Führer gehorchen, wenn jeder Ungehorſam beſtraft wird. Die kriegeriſchen Sitten befeſtigen am meiſten eine königliche Gewalt (ſiehe oben S. 7 8); und einmal aufgerichtet, wird ſie zur rich - tenden und ſtrafenden Gewalt überhaupt, ſucht Selbſthülfe und Eigenmacht zu beſchränken, verlangt, daß der Eigentümer den Dieb, der Gläubiger den Schuldner nur faſſe unter Teilnahme und Kontrolle der neuen, öffentlichen Gewalt. Wenn es dieſer Gewalt, wie in Rom, relativ früh gelingt, jeden Mord aus einer nach der Sitte zu begleichenden Privatſache der Gentes und der einzelnen zu einer Angelegenheit zu machen, die das ganze Gemeinweſen angeht und ſtraft, ſo giebt ſie damit demſelben eine viel höhere Friedensſicherheit, eine viel größere Möglichkeit inneren wirtſchaftlichen Fortſchrittes und größerer Kraftentwickelung gegen andere Stämme. Der Keim zum Rechtsſtaat iſt gelegt.

Wie im Körper des Kindes aus einem Teile der weichen Knorpeln nach und nach feſte und harte Knochen ſich bilden, ſo entſteht alles Recht in der Weiſe, daß ein Teil der althergebrachten Regeln der Sitte zu feſten, durch die Macht geſicherten Ordnungen werden. Was als beſonders wichtig, als beſonders bedeutungsvoll für die Lebens - intereſſen der Geſamtheit, für die Streitbeſeitigung und Friedenserhaltung gilt, das wird aus der übrigen Menge der ſocialen Lebensregeln durch Stammes - und Häuptlings - beſchlüſſe, durch Gebote der Könige und Älteſten oder auch durch bloße ſtrengere Übung als Recht ausgeſondert, mit höherer Kraft und Weihe ausgeſtattet, mit Straf - oder Ächtungsklauſeln verſehen.

So ſehr dieſe im Anfang nicht allzu zahlreichen Rechtsregeln nur unter dem Schutze der Macht, der Gewalt entſtehen und wachſen und durch dieſe größere Sicherung ihrer Ausführung ſich von der Sitte, der Gewohnheit zu unterſcheiden anfangen, ſo ſchwankend bleibt Jahrhunderte lang die Grenze zwiſchen Sitte und Recht; die Brücke des Gewohnheitsrechtes verbindet beide; die Furcht vor der Strafe der Götter wirkt auch beim Recht lange Zeit mehr, als der ſtrafende Arm des Königs. So lange ſo Sitte und Recht ohne ſtrenge Scheidung nebeneinander ſtehen und ineinander übergehen, iſt die ſociale Zucht, die ſie üben, außerordentlich ſtark. Die meiſten älteren eigentlichen Kulturſtaaten zeigen ein ſolches Bild. Die Völker, die unter dem Impulſe ſtarker religiöſer Vorſtellungen die alte Kraft der Sitte auf allen Lebensgebieten noch bewahrt und daneben doch auch ſchon den ſtarken Apparat eines ſtaatlichen Rechtes ausgebildet haben, machten nach allen Seiten, vor allem auch nach der wirtſchaftlichen, größere Fortſchritte als die Stämme, welchen dies weniger gelang.

Kirche und Staat, Recht und Sitte, religiöſer und rechtlicher Zwang fallen auf dieſer Kulturſtufe noch mehr oder weniger zuſammen; Ihering hat in geiſtreicher Weiſe darauf aufmerkſam gemacht, wie das indiſche Wort dharma, das hebräiſche mischpat und das griechiſche δίκη Sitte, Sittlichkeit, Recht und Ritus zugleich bezeichnen. In gleichem Zuſammenhang der Gedanken hat Peſchel daran erinnert, daß eine der reinſten der älteren Religionen, nämlich die eraniſche Lehre Zarathuſtras und ſeiner Nachfolger, jeden Verſtoß gegen ſchamaniſtiſche und Ritualvorſchriften ebenſo als Sünde bezeichne, wie Lüge und Diebſtahl. Die Prieſter und die Richter ſind noch ein und dieſelben Perſonen, wie bei den meiſten indogermaniſchen Völkern, vor allem im älteren Rom. Rechtliche, cenſoriſche und kirchliche Straf - und Zuchtmittel ſind noch nicht recht getrennt. Die Ägypter und die Römer hatten mit am früheſten einen ſtaatlich geordneten Apparat des Rechtes, aber zugleich die unerbittlichſte Herrſchaft einer ſtrengen Sitte auf allen Lebensgebieten. In dem Satz: Moribus plus quam legibus stat res Romana lag eine tiefe Wahrheit. Das geſamte Leben der Ägypter, hat man geſagt, war geordnet wie ein Gottesdienſt. Sie haben, ſagt Herodot, einen harten und ſtrengen Dienſt und viele heilige Gebräuche. Unzählig waren die Vorſchriften über Reinheit des Körpers, über Kleidung und Eſſen, über Klyſtiere und Ceremonien. Hoben ſich dagegen die Geſetze Moſes als einfache ab, ſo gingen doch die ſpäteren Satzungen der israelitiſchen Prieſter auch auf alle Einzelheiten des Lebens ein. Und wenn wir die Bußordnungen der abendländiſchen Kirche aus dem 8. 10. Jahrhundert nachleſen oder die Kapitularien der Karolinger, ſo verſetzen ſie uns auch in eine Zeit, in welcher Sitte und Recht der53Die Scheidung von Sitte und Recht.vordringenden chriſtlichen Kultur die Mahlzeiten ebenſo wie die Ehe, das Faſten und das Beten ebenſo wie den Staat ordnen wollte. Auch in ſpäteren Epochen, im kalvi - niſtiſchen Genf, in manchen lutheriſchen Kleinſtaaten, in dem von einem demokratiſchen Klerus ganz beherrſchten Schottland des 17. Jahrhunderts wiederholen ſich Analogien dieſer älteren Kulturzuſtände; neben einer längſt vorhandenen ſtaatlichen Rechtsordnung hat ſich die unbedingte Herrſchaft einer ſtrengen kirchlichen, alles beherrſchenden ſtarren Sitte erhalten. Das Weſen aller älteren theokratiſchen Geſellſchaftsverfaſſung ſcheint darin zu liegen, daß Recht und Sitte hoch ausgebildet, ungetrennt von einer einheitlichen, halb geiſtlichen, halb weltlichen Gewalt überwacht und ſtreng ausgeführt wird. Das Reſultat kann ein glänzendes in Bezug auf Macht und wirtſchaftliche Erfolge, Zucht und Ordnung ſein, ſo lange Recht und Sitte den realen Menſchen und Verhältniſſen richtig angepaßt ſind. Die Anpaſſungsfähigkeit geht aber durch die Starrheit von Recht und Sitte ſtets mit der Zeit verloren.

Die Vorausſetzungen einer ſolchen Geſellſchaftsverfaſſung waren: kleine, einheitliche Gemeinweſen, unveränderte geiſtige, wirtſchaftliche und ſociale Verhältniſſe, keine großen intellektuellen und wiſſenſchaftlichen Fortſchritte. In größeren Staaten mit verſchiedenen Volkstypen und Lebensbedingungen kann die einheitliche Sitte weder entſtehen, noch erhalten ſich da leicht dieſelben Vorſtellungskreiſe und religiöſen Satzungen durch viele Generationen hindurch. Aus der Wechſelwirkung der verſchiedenen Elemente entſpringt Reibung und Fortſchritt. Auch in den kleinen Gemeinweſen entſteht mit fortſchreitender Technik, mit Verkehr und Handel das wiſſenſchaftliche Denken, die Kritik, der Zweifel. Die veränderte Schichtung der Geſellſchaft verlangt andere Satzungen, erzeugt andere Ideale und Ziele. Die alte Sitte, die alte Kirchenſatzung, das alte Recht kommt da und dort ins Wanken; in den verſchiedenen Schichten der Geſellſchaft, an den verſchiedenen Orten entſtehen verſchiedene Regeln der Sitte. Während aber ſo das ſittliche Urteil und die Sitte ſich differenziert, muß das Recht oder wenigſtens der wichtigſte Teil desſelben in den Händen einer ſtarken Staatsgewalt ein einheitliches bleiben. Es ſcheidet ſich ſo nach und nach Sitte und Recht (mores und jus), prieſterliche und ſtaatliche Satzung (ϑέμις und νόμος, fas und jus). Prieſter und weltliche Richter ſind nicht mehr eins. Neben den alten Lehren und Kosmogonien der überlieferten Religion entſtehen neue religiöſe oder philoſophiſche Theorien und Syſteme. In ſchwerem, erſchütterndem Kampfe ringt das Alte mit dem Neuen. Edle konſervative Charaktere kämpfen, wie Cato, für die Erhaltung des Beſtehenden, weil ſie fürchten, daß mit ſeiner Auflöſung alle ſittliche Zucht und Ordnung verſchwinde; größere Geiſter, wie Sokrates, Chriſtus, Luther, ſtehen auf der Seite der Neuerer und ſchaffen den Boden für eine neue Kulturwelt, wenn ſie mit dem kühnen Mut des Reformators den Adel des ſittlichen Genius verbinden.

Zugleich knüpft an dieſe Epochen der großen Geiſteskämpfe ſich die definitive Scheidung von Sitte, Recht und Moral an.

27. Die Scheidung des Rechtes von der Sitte. In unſeren modernen Kulturſtaaten ſtehen ſich Sitte und Recht als zwei ſcheinbar ganz getrennte Lebens - ordnungen gegenüber. Nur zu oft ſcheint man zu vergeſſen, daß ſie Kinder derſelben Mutter ſind, daß ſie eigentlich mit verſchiedenen Mitteln dasſelbe wollen. Freilich äußern ſie ſich zunächſt recht verſchieden, haben einen verſchieden formalen Charakter.

Dieſer tritt allerdings erſt zu Tage, wenn das Recht aufgezeichnet und beſonderen Organen zur Handhabung übergeben wird. So lange das Recht nicht aufgezeichnet iſt, bleibt die Grenze zwiſchen Sitte und Recht eine fließende. Auch die älteren Aufzeich - nungen, wie z. B. die Weistümer der bäuerlichen Gemeinden, die Zunftſtatute, die Hofordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts enthalten noch neben dem Recht mancherlei Regeln der Sitte. Aber mehr und mehr muß die Trennung Platz greifen. Die ſchriftliche Fixierung der Sitte iſt nicht Bedürfnis, iſt oft ſehr ſchwierig oder gar nicht möglich; ſie muß in freiem Fluſſe ſich überall verſchieden geſtalten können, während das Recht die wichtigſten Regeln für weitere Kreiſe, ganze Städte und Staaten immer mehr klar, genau, für jeden verſtändlich verzeichnen ſoll; es entſtehen die Rechtsbücher und Geſetze, es bildet ſich jenes poſitive Recht, das nach geographiſcher Ausdehnung, nach54Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Einheit im Staate, nach logiſcher Durchbildung, nach der Herrſchaft allgemeiner Ge - danken ſtrebt. Die Entſtehung einer abſichtlichen Geſetzgebung durch Volksbeſchlüſſe, Königsbefehle, zuletzt durch einen beſonderen komplizierten ſtaatlichen Apparat, der auf genau beſtimmtem Zuſammenwirken verſchiedener Organe beruht, iſt der wichtigſte Schritt in der Loslöſung des Rechtes von der Sitte, in der Erhebung beſtimmter Regeln des ſocialen Zuſammenlebens zu einer höheren Würde, Bedeutung und Wirkſamkeit. Mit dem Geſetzesrecht beginnt die abſichtliche Regulierung des ſocialen Lebens durch das ſeiner Kraft und ſeiner ſittlichen Macht bewußt gewordene Recht. Freilich will auch das Geſetz oft nur Beſtehendes genauer fixieren und durchführen, aber ebenſo oft will es Neues anordnen, will es für die Mehrzahl einführen, was nur wenige bisher gethan. Erſt das bewußte Geſetzesrecht kann die reale geſellſchaftliche Welt als Willensmacht nach gewiſſen Idealen geſtalten. Je kühner es freilich vordringt, deſto zweifelhafter iſt es, ob die neue Regel ſich behauptet, in die Sitten übergeht, ob die hinter dem Recht ſtehende Macht allen Widerſtand brechen kann.

Das Recht auf dieſer Kulturſtufe können wir definieren als denjenigen Teil der auf das äußere ſociale Leben gerichteten ſittlichen Lebensordnung, welcher zur Macht geworden, auf die politiſche Gewalt des Staates geſtützt, durch Feſtſtellung der Grenz - verhältniſſe des geſellſchaftlichen Lebens und durch Vorſchriften über das Zuſammen - wirken zu gemeinſamem Zwecke die wichtigſte Vorbedingung für einen friedlichen und geſitteten, fortſchreitenden Kulturzuſtand ſchaffen will. Dieſes Recht muß die älteren Formen, die Symbole, die poetiſche Sprache abgeſtreift haben; ſein Zweck iſt, daß ſtets der gleiche Satz auf den gleichen Fall angewandt werde. Dazu bedarf es der verſtandes - mäßigen, logiſchen Durchbildung, der Ordnung, der ſprachlichen Präciſierung, der geſicherten Überlieferung, der wiſſenſchaftlichen Behandlung, der Zurückführung auf oberſte Principien. Es muß die Anwendung des beſtehenden Rechtes durch Richter und Behörden ſich trennen von der Neuſchaffung des Rechtes durch die Staatsgewalt. Es muß alles Willkürliche aus den Rechtsentſcheidungen weichen. Der Einfluß der Mäch - tigen und der oberen Klaſſen ſoll durch Gerichtsorganiſation und Öffentlichkeit möglichſt beſchränkt werden. Die Sicherheit der gerechten, gleichförmigen Anwendung des Rechtes bleibt das oberſte Ziel. Deshalb ſind für alles feſte, klare, formale Vorſchriften nötig. Feſte Termine über Friſten, Verjährung, Altersgrenzen werden notwendig, auch wenn ſie im einzelnen Fall oft nicht paſſen, weil ſie allein gerechte, immer gleiche Anwendung garantieren. Die feſte Form des Rechtes muß oft über die Sache, über die materielle Gerechtigkeit geſtellt werden, weil ſie allein die gleiche Durchführung garantiert. Und ſo ſehr man ſich bemüht hat, die Maßſtäbe, die das Recht anwendet, zu verfeinern, es Zwecken und Verhältniſſen anzupaſſen, auf die es ſich früher nicht erſtreckte, wie z. B. auf die Gewalthandlungen der Staatsbehörden, es muß ſeiner Natur nach ein ſprödes, ſtarres Syſtem von Lebensregeln bleiben, die, auf den Durchſchnitt gegründet, immer nach rechts und links hin leicht unpaſſend werden; das formale Recht muß dem Leben oft Zwang anthun, es kann nicht alle Forderungen der Sittlichkeit durch - führen, es muß, auf falſche Gebiete angewandt, ein Prokruſtesbett bilden, das Wunden ſchlägt. Der zu komplizierte Rechtsſatz wird leicht, weil er Gefahr leidet, ungleich angewandt zu werden, zur harten Ungerechtigkeit. Auch dadurch, daß das poſitive Recht dem Fluſſe ſteter Umbildung und Anpaſſung an neue reale Verhältniſſe mehr entzogen iſt als Sitte und Moral, muß die Anwendung oft als Härte erſcheinen. Geſchaffen als Grenzwälle, um Streit zu vermeiden, geben die Rechtsſätze Individuen und Gemein - ſchaften hinter ihrem Wall einen freieren Spielraum des Handelns und Wirkens in dem Maße, als ſie die Übergriffe über die Grenze verbieten und hindern; eben dadurch aber liegt es in ihrer Natur, daß ſie einerſeits die individuelle Ausbildung, die perſönliche Freiheit, die freie Bewegung des einzelnen auf dem Boden ſeines Eigentums, ſeiner Sonderrechte fördern, andererſeits aber auch zu moraliſchem Unrecht Anlaß geben; ſie erteilen in der Hauptſache immer mehr Befugniſſe, als daß ſie Pflichten auferlegen. Die Moral betont die Pflicht in erſter Linie, das Recht kann ſeiner Natur nach nur die gröbſten Pflichten erzwingen, im übrigen betont es die freie Thätigkeit des einzelnen,55Die formale Natur des Rechtes und ſeine Grenzen.der Gruppen, der Staaten innerhalb des Rechtes und giebt ſo dem Egoismus und der Gemeinheit, der Korruption und Entartung in Zeiten ſinkender Moral und Sitte freieren Spielraum.

Dem Recht gegenüber bleibt alle Sitte formlos und ſchwankend, ſie iſt unter Umſtänden leicht im Fluß begriffen, oft aber auch äußerſt zähe und konſervativ; ſie iſt leicht an jedem Orte, in jedem Stande wieder eine andere; unaufgezeichnet hat ſie keinen ſtrengen Exekutor hinter ſich, wie das Recht. Die älteren Preſſionsmittel der Sitte, cenſoriſche, kirchliche und ſociale Ächtungen kommen eher ab, werden teilweiſe verboten. Die Sitte verliert ſo an Kraft und Erzwingbarkeit in eben dem Maße, als das Recht dieſe Eigenſchaften immer mehr gewinnt. Aber dafür greift ſie in alle Gebiete ein, wo das Recht mit ſeinem ſchwerfälligen Apparate nicht hindringen kann. Sitte und Recht ſind beide Regeln für das äußere Leben; ſie ſtehen beide als ein Äußerliches der Moral und der Sittlichkeit als einem Inneren gegenüber. Aber beide haben, wie jene, ihre letzten Wurzeln im ſittlichen Urteil und bezwecken beide, wie jene, die gute, die normale Ordnung der Geſellſchaft. Sie können aber beide mit der Moral und unter ſich in Widerſpruch kommen, weil ſie noch am Alten kleben, während das feinere ſittliche Urteil ſchon ein anderes geworden, weil ſie je mit eigenen Organen verſchieden raſch, verſchieden konſequent ſich ausbilden. Daher kann die Sitte und das Recht mit den ſittlichen Gefühlen und Urteilen einzelner Kreiſe, ja der Beſten eines Volkes zeitweiſe in Wider - ſpruch kommen.

Im Verhältnis zum Recht bleibt die Sitte der Untergrund, auf dem jenes erwächſt; oft will die kühnſte Reformgeſetzgebung nur erzwingen, was in den Kreiſen einer Elite ſchon Sitte geworden. Die deutſchen Genoſſenſchaften waren längſt durch Übung und Sitte eingelebt, als ein Geſetz ihnen den Stempel des Rechtes aufdrückte. Aber aus den angeführten formellen Gründen kann doch entfernt nicht alle Sitte in Recht umgewandelt werden. Daher iſt das Gebiet der Sitte ein unendlich viel umfangreicheres als das des Rechtes. Auf die meiſten Gebiete materiellen Handelns erſtreckt ſich ſowohl Sitte als Recht: Ehe, Familienleben, Geſchäftsverkehr, Wirtſchaftsorganiſation, Geſelligkeit, politiſches Leben haben ihre Sitten und ihr Recht. Aber das Recht ordnet dabei nur das Wichtigſte, das für Staat und Geſellſchaft Unentbehrliche, die Sitte erfaßt das Ganze aber in loſerer Weiſe. Die Sitte ordnet z. B. alle unſere Kleidung, die des Richters, des Geiſtlichen, des Offiziers iſt durch rechtliche Vorſchriften beſtimmt. Die Sitte beherrſcht alles Familienleben, aber das Recht beſtimmt, daß der Vater ſeine Kinder zur Schule ſchicke, daß die Frau ihm gehorche, daß die Kinder unter beſtimmten Bedingungen die alten Eltern ernähren müſſen. Die Sitte entſteht überall von ſelbſt, wo eine Regel Bedürfnis iſt, das Recht nur da, wo häufige Streitigkeiten und das ſchwierigere Zuſammenwirken vieler zu höheren ſocialen und ſtaatlichen Zwecken eine feſtere, klare Regel fordern, wo es lohnt, ſeinen viel ſchwerfälligeren Apparat anzuwenden und es iſt daher natürlich, daß alle kleineren, unerheblicheren Vorkommniſſe des indivi - duellen Alltagslebens, des geſellſchaftlichen Verkehrs, die meiſten Teile des gewöhnlichen wirtſchaftlichen Lebens nur von der Sitte geregelt ſind.

Je vollendeter Sitte und Recht ſind, deſto mehr ſtimmen ſie mit den ſittlichen Idealen überein, deſto mehr machen ſie die Forderungen der Gerechtigkeit wahr. Aber nie iſt zu vergeſſen, daß ſeiner Natur nach das poſitive Recht ſich dieſem Ziele nur langſam nähern, daß es auch entartet, veraltet, gefälſcht ſein kann. Dann gilt das Wort des heiligen Auguſtin: quid civitates remota justitia quam magna latrocinia.

28. Die Entſtehung der Moral neben und über Sitte und Recht. Indem man begann, die in Spruch und Lied, in gereimter und ungereimter Form überlieferten ſocialen Normen zu ſammeln, zu vergleichen, zu interpretieren, ergab ſich das Bedürfnis, ſie gewiſſen oberſten Vorſtellungen von der Welt, von den Göttern, vom Menſchenſchickſal unterzuordnen; die Regeln erſchienen nun als Gebote der Gottheit, verbunden durch kosmogoniſche Vorſtellungen, die man erklärte, ausdeutete. Es ergaben ſich ſo einheitliche religiöſe Lehrſyſteme, die die erſten Verſuche rationaler Erklärung alles Seienden ebenſo enthalten, wie ſie die Lenkung alles Handelns zum Guten bezwecken;56Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.es handelt ſich um einen Glauben, der die Zweifel beruhigt, das Gemüt beherrſcht, der das Gute finden lehrt, der ein klares und deutliches Sollen vorſchreibt. Alle ältere Moral wird ſo als das logiſche Reſultat eines religiöſen Glaubensſyſtems erfaßt; ſie fällt mit Sitte und Recht noch ganz oder teilweiſe zuſammen. Man iſt ſich, wie wir oben ſahen, lange über den Gegenſatz von Sünde, Ritualvorſchrift, Sitte und Recht nicht klar. Aber immer zielt die prieſterliche Moral ſchon auf etwas anderes als Sitte und Recht. Die äußeren Satzungen der Prieſter mögen noch auf Befeſtigung der geſell - ſchaftlichen Verfaſſung gerichtet ſein; die Spekulation über den Willen der Gottheit führt zur Erörterung des inneren Seelenlebens der Menſchen. Zumal die höheren Religionsſyſteme erkennen mehr und mehr die Bedeutung der ſittlichen Geſinnung für das Leben und die Handlungen. Das zuſammenhängende einheitliche Nachdenken über die Urſachen, warum wir gut handeln ſollen, über die ſittlichen Gefühle, Urteile, Hand - lungen erzeugt die Moral, d. h. einheitliche Lehrgebäude, welche das Gute begreifen, darſtellen und lehren wollen, welche aus einheitlichen Grundgedanken und Principien die ſittlichen Pflichten, Tugenden und Güter ableiten wollen. Die Moral, das Moral - ſyſtem iſt ſo ſtets im Gegenſatz zu Sitte und Recht ein theoretiſches und praktiſches Ganzes; ſie will Regeln und Gebote für alles Leben geben, aber ſie formuliert ſie nicht feſt und klar, wie Sitte und Recht. Und ſie will nicht bloß das äußere Leben regu - lieren, ſondern auch das innere in die rechte Verfaſſung ſetzen. Sie will das Gute an ſich lehren, ſie will überreden, überzeugen, ſie will die ſittlichen Kräfte ſchaffen, aus denen Sitte und Recht ſelbſt als abgeleitete Erſcheinungen hervorſprießen.

So lange in einem ſocialen Körper Kirche und Staat zuſammenfallen, eine ein - heitliche Kirchenlehre alles innere und äußere Leben beherrſcht, giebt es nur die eine kirchliche Moral, die eventuell mit Zwang und Gewalt ihre Gebote durchſetzt, ihren Glauben und ihre Lehrſätze jedem aufdringt. So iſt es in den muhamedaniſchen Staaten noch heute; wie es dort noch kein weltliches Recht neben dem Koran giebt, ſo giebt es auch noch keine ſelbſtändige weltliche Moral. Das Chriſtentum hat einen fertigen Staat vorgefunden, ihn der Kirche zeitweiſe untergeordnet, ihn mit ſeinen Säften und An - ſchauungen ganz erfüllt, aber die beiden Organiſationen Staat und Kirche blieben doch ſtets getrennt. Neben der kirchlichen erhielt ſich die philoſophiſche Tradition des Alter - tums. Das Recht und die Sitte der germaniſchen Völker waren niemals bloß kirchlich; ein weltliches Recht blieb neben dem kirchlichen beſtehen. Eine philoſophiſche Moral - ſpekulation verknüpfte ſich im Mittelalter mit der kirchlichen, machte ſich aber mit der Renaiſſance der Wiſſenſchaften vom 16. 18. Jahrhundert an von ihr los. Die Kämpfe innerhalb der Kirche erzeugten eine katholiſche, eine proteſtantiſche, eine Sektenmoral. Neben ihnen bildeten ſich ſeit dem 17. Jahrhundert die weltlichen philoſophiſchen Moral - ſyſteme. Und ſo können wir heute ſagen, jede Kirche habe heute ihre Moral, wie jede philoſophiſche Schule; wir können beifügen, die Moral jedes Volkes, jedes Standes habe ihre eigenen Züge. Ein kräftiges, ſelbſtändiges Leben hat jedes Moralſyſtem in dem Maße, als es eine Litteratur und Preſſe erzeugt, in Wiſſenſchaft, Kunſt und Schule beſonderen Ausdruck gewinnt, in Geiſtlichen, Philoſophen, Dichtern und Schriftſtellern beſondere Träger erhält.

Die ſelbſtändige Entwickelung der Moral gegenüber Sitte und Recht hat einerſeits in den verſchiedenen perſönlichen Trägern, in den verſchiedenen Spitzen der betreffenden Bewußtſeinskreiſe, andererſeits in verſchiedener formaler Beſchaffenheit, in den verſchiedenen Zwecken ihren Grund. Sitte und Recht ſind Regeln des äußeren Lebens, die Moral umfaßt äußeres und inneres Leben, alles menſchliche Handeln und alle Geſinnung. Sitte und Recht ſind in beſtimmten Geboten und Verboten fixiert; die Moral wendet ſich ohne feſte Formeln und Sätze an die Wurzel des Handelns, ſie will die Seele zum richtigen Handeln fähig machen, das Gewiſſen ſchärfen. Ihr Höhepunkt iſt die freie Sittlichkeit, die ohne Bindung an ſchablonenhafte Regeln ſicher iſt, aus ſich heraus überall das Gute und Edle zu thun. Die Moral leuchtet als führende Fackel der Sitte und dem Recht, die ihr gar oft nur zögernd folgen, voran; ſie fordert Geſinnungen und Thaten, denen oftmals nur die Sitte der Beſten entſpricht, die zu einem großen57Die Moral im Verhältnis zu Sitte und Recht.Teil vom Rechte nicht verlangt werden können. Die Sitte hat in der öffentlichen Mei - nung, in der Ehre, im Klatſch der Nachbarn, das Recht in der Staatsgewalt, die Moral hauptſächlich im Gewiſſen ihren Exekutor. Die Moral iſt ein unendlich feineres, ver - zweigteres Gewebe als Sitte und Recht; aber ſie hat keine anderen Mittel, zur Geltung zu kommen, als Überredung und Überzeugung.

Die jeweilig in einem Volke herrſchenden und zu Tage tretenden theoretiſchen und praktiſchen Moralſyſteme ſind der prägnanteſte Ausdruck der in ihm herrſchenden ſitt - lichen Kräfte; Sitte und Recht ſind nur ein Ausdruck von Teilen derſelben, und zwar oft mehr ein Ausdruck für die Beſchaffenheit dieſer Kräfte in vergangener Zeit. Niemals aber können Moral, Sitte und Recht eines Volkes in zu ſchroffen, zu weiten Gegenſatz untereinander treten, weil alle drei ein Ergebnis der herrſchenden ſittlichen Gefühle und Urteile ſind. Die Moral beherrſcht Sitte und Recht oder ſucht ſie zu beherrſchen; jene iſt das Allgemeine, dieſe ſind das Beſondere. Wo die Moral des Volkes eine geſunde iſt, da iſt auf eine Beſſerung von Sitte und Recht auch ſtets noch zu hoffen. Wo auch die Moral vergiftet iſt, da ſteht es ſchlimm. Nur darf man nicht verzagen, wenn in ein - zelnen Klaſſen eine einſeitige und falſche Klaſſenmoral ſich breit macht, wenn in einzelnen philoſophiſchen Schriftſtellern und Künſtlern eine verkehrte Moral zu Tage tritt. Die freie geiſtig-ſittliche Entwickelung kann nicht ohne ſolche Symptome, zumal in den Zeiten großer Gärung und Umbildung, ſich vollziehen.

29. Die Bedeutung der Differenzierung von Sitte, Recht und Moral. Indem die höheren Kulturvölker dieſe Scheidung der ſittlichen Lebensordnung in drei Gebiete vollzogen haben, die, unter ſich aufs engſte verwandt, doch ſelbſtändig nebeneinander ſtehen, aufeinander wirken, ſich korrigieren, verſchiedene Teile des geſell - ſchaftlichen Lebens verſchieden binden und ordnen, haben ſie einen der größten Fort - ſchritte der Geſchichte vollzogen. Nur die Trennung der ſittlichen Regeln in Moral, Sitte und Recht erklärt die moderne Freiheit der Individuen einerſeits und die Feſtig - keit unſerer heutigen Kulturſtaaten andererſeits. Es iſt eine Arbeitsteilung, welche den Zweck zu verfolgen ſcheint, einen Teil der ſocialen Lebensordnung immer feſter, härter, unerbittlicher, einen anderen immer elaſtiſcher, freier, entwickelungsfähiger zu machen.

Nur das Recht verbindet ſich mit der Macht und dem ſtaatlichen Zwang; es wird das feſte Rückgrat des ſocialen Körpers; durch die Sicherheit und Kraft ſeiner Wirkung allein werden große Staaten und große Wirkungen in ihnen möglich. Bis zur Härte ſteigert ſich ſeine Kraft; der einzelne wird unbarmherzig von dieſer ſtarren Maſchine auf die Seite geworfen, zermalmt, wenn er widerſtrebt und ſich mit dem Gange derſelben nicht eins weiß oder ſich nicht fügt. Aber dieſer ungeheuere Zuwachs an Kraft und Wirk - ſamkeit, an einheitlichen Reſultaten iſt nur möglich durch Beſchränkung auf das Wichtigſte. Man hat das Recht ein ethiſches Minimum genannt (Jellinek); das iſt es, verglichen mit dem materiellen Umfang der ſittlichen Lebensordnung überhaupt; aber es iſt andererſeits ein ethiſches Maximum, nämlich an Kraft, an Wirkſamkeit, an Reſultaten.

In der Beſchränkung der ſtets ſtarren Rechtsregeln auf das geſellſchaftlich Not - wendigſte liegt die Möglichkeit aller individuellen Entwickelung, aller perſönlichen Frei - heit. Beide fehlen in den älteren Staaten mit ungeſchiedenen, unerbittlichen Sitten und Rechtsregeln. Indem bei höherer Kultur die Sittenregel elaſtiſcher, ihre Exekution ſchwächer wird, die Moralregel nur noch den Exekutor des eigenen Gewiſſens hat, entſteht erſt die Möglichkeit vielgeſtaltiger, eigenartiger Entwickelung, die Möglichkeit, daß neue Ideen raſcher zur Wirkſamkeit gelangen, daß die Kritik das Veraltete tadelt, daß Neues in größerem Umfange verſucht wird. Dem Princip der fortſchreitenden Entwickelung iſt damit die Bahn eröffnet, und doch iſt für die Menge nirgends die Regelloſigkeit und die Willkür ſtatuiert. Es ſind nur gewiſſe Teile der Lebensordnung weicher, bildſamer gemacht, es ſind die Thüren aufgemacht für Ausnahmen und Beſonderheiten. Es iſt durch die höhere und feinere Ausbildung von Sitte und Moral eine unendliche Viel - geſtaltigkeit zugelaſſen, die, für das Recht ſtatuiert, den ſocialen Körper erdrücken würde.

Auf niedriger Kulturſtufe ſtraft und tötet, verbrennt und rädert man die Menſchen wegen verſchiedener Anſichten, man peinigt ſie bis aufs Blut wegen Übertretung kirch -58Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.licher Ritualvorſchriften, man ſtraft den, welcher auf den polyneſiſchen Inſeln die dem Fürſten vorbehaltenen Speiſen berührt, aufs unerbittlichſte. Und derartiges war und iſt notwendig, ſo lange Recht, Moral und Sitte nicht geſchieden ſind. Erſt unſere feſt - gefügte ſtaatliche Juſtiz einerſeits, die große geiſtige Kraft unſerer Sitte wie unſerer ausgebildeten Religions - und Moralſyſteme andererſeits haben es geſtattet, den Rechts - und Strafapparat von Kirche und innerer Überzeugung ſo weit zu entfernen, daß wir uns darauf beſchränken, nur einzelne ganz beſondere Ausſchreitungen auf dieſen Gebieten durch Preß - und Strafrecht zu verbieten. Nur dieſe Entwickelung ermöglicht es uns, eine Freiheit der Wiſſenſchaft, der Preſſe, des häuslichen Lebens, der Geſelligkeit, des Konſums, der Wirtſchaft zu geſtatten, die früher undenkbar war.

Damit iſt eine Reihe ſchiefer Vorſtellungen widerlegt, die bis in die neuere Zeit in den Staatswiſſenſchaften, zumal in der Nationalökonomie, ihr Weſen trieben.

Die ſchiefe Theorie von einer natürlichen Geſellſchaft und einer natürlichen Volks - wirtſchaft, wie ſie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entſtand, beruhte auf einer Verkennung oder Ignorierung der Thatſache, daß alle unſere Handlungen von Moral, Sitte und Recht beeinflußt ſind. Man leitete das geſellſchaftliche und wirtſchaft - liche Leben aus ſog. freien, natürlichen Trieben ab; man nahm an, dieſen ſei nur auf einigen beſtimmten und beſchränkten Punkten durch das Recht ein Zügel angelegt. Im übrigen erſchien das möglichſt freie Spiel dieſer Triebe als das geſellſchaftliche Ideal; ſie ſollten ſich in möglichſt freiem Kampfe bethätigen. Daß ſie doch ein glückliches[Geſamt - ergebnis] herbeiführen, leitete man aus einer präſtabilierten Harmonie ab. Die unbedingte, uneingeſchränkte politiſche, wirtſchaftliche und ſonſtige individuelle Freiheit erſchien als der Ausdruck dieſer Lehre. Je unbeſchränkter der Erwerbstrieb walte, deſto geſünder ſei die Volkswirtſchaft. Die Satire aller Moral, eine brutale Ellbogenmoral der Starken, blieb bei dieſer Auffaſſung vom Sittlichen übrig.

Wir können in einer ſolchen Auffaſſung nur eine Summe von Irrtümern und Übertreibungen ſehen, die freilich wohl hiſtoriſch erklärbar ſind. Man hatte 1750 1850, in einer Zeit der größten techniſchen, wirtſchaftlichen und ſocialen Umbildungen, vor allem das Bedürfnis, veraltete ſittliche Lebensordnungen zu beſeitigen, veraltete Sitten und Rechtsinſtitutionen über Bord zu werfen. Man ſah in dieſem Kampfe eine Rückkehr zum Natürlichen und Gerechten und mußte dabei dem freien Triebleben zeitweiſe ſehr großen Spielraum gönnen. Aber der ganze Umſchwung vollzog ſich doch unter Leitung ſittlicher Ideen, neuer Moralſyſteme, und das letzte Reſultat waren überall neue Sitten und neue Rechtsinſtitutionen. Die Frage der wirtſchaftlichen und politiſchen Freiheit war hier und iſt ſtets nur die Frage der richtigen Grenzregulierung zwiſchen Sitte, Recht und Moral. Wenn ich im Krämerladen zuſehe, wie ein armes, altes Mütterchen durch ſchlechten, gefärbten Kaffee betrogen wird, während vielleicht die vornehme Dame gute Ware zu ſolidem Preiſe erhält, dann frage ich, iſt unſere heutige Moral ſo geſunken? iſt die Sitte der anſtändigen Geſchäftsleute durch eine Übermacht der Konkurrenz ins Wanken geraten? Ich frage weiter, iſt nicht eine Strafklauſel in einem Lebens - mittelfälſchungsgeſetz vorhanden oder zu ſchaffen, die ſolches hindert? iſt es wahr - ſcheinlich, daß ſie Beſſerung ſchafft, daß ſie gerecht und allgemein durchgeführt wird? Der Vernünftige, der heute für freie Konkurrenz, für Beſeitigung dieſer oder jener Rechtsſchranken eintritt, der daraus eine Belebung des Selbſtbewußtſeins, eine Stärkung der Selbſtverantwortlichkeit, ſowie aller individuellen Kräfte ableitet, rechtfertigt dies in der Regel nicht damit, daß die Willkür, der Egoismus, das ſchrankenloſe Triebleben herrſchen ſoll, ſondern damit, daß er nachweiſt, die Moral und die gute Sitte werde von ſelbſt vordringen, die Rechtsregel ſei zu ſchablonenhaft, ſchade da und dort, die freie Umbildung reiche aus, ſei vorzuziehen, weil die inneren ſittlichen Kräfte genügten.

Der hiſtoriſche Entwickelungsprozeß in Bezug auf dieſe Fragen wird ſich weder in dem Schlagwort des älteren Liberalismus zuſammenfaſſen laſſen, die Freiheit erringe ſich notwendig ein ſtets zunehmendes Gebiet, noch in die Formel von Laſſalle und Rodbertus, alle höhere Kultur ſei fortſchreitende Rechtsregulierung und Einſchränkung der perſönlichen Freiheit.

59Das Weſen der wirtſchaftlichen Freiheit.

Die Geſamtheit der Regulative von Moral, Sitte und Recht muß in gewiſſem Sinne zunehmen, ſofern die geſellſchaftlichen Körper komplizierter werden, die Menſchen dichter wohnen, die Intereſſenkonflikte wachſen. Aber je mehr die Menſchen ſich innerlich vervollkommnen, deſto weniger empfinden ſie auch die normalen Regulative als Hemmnis und Schranke. In der großen Scheidung zwiſchen dem harten Zwang des Rechtes und der leiſen Nötigung durch Sitte und Moral liegt der wichtigſte Schlüſſel für das Ver - ſtändnis des Fortſchrittes. Das Recht kann ſich vom inneren geiſtigen Leben, auch von vielen wirtſchaftlichen Vorgängen in dem Maße zurückziehen, als jene kräftiger wirken. Es muß ſich bald ausdehnen, bald wieder einſchränken. Es thut das erſtere aber nicht bloß in Zeiten der ſinkenden Kultur und der Auflöſung, welche die geſetzgeberiſche Maſchinerie übermäßig in Anſpruch zu nehmen pflegen. Auch alle Epochen großer und fortſchreitender Neubildung ſind regelmäßig zugleich Zeiten umfangreicher, ſpecialiſierter Geſetzgebung und Ausdehnung des Rechtes und des ſtaatlichen Zwanges auf mancherlei Gebiete. Oft kann man denſelben freilich nach einigen Jahrzehnten wieder fallen laſſen, weil nun in der Hauptſache von ſelbſt geſchieht, was man früher erzwingen mußte. Diejenigen, welche im zeitweiſen Vordringen oder Zurückweichen des Rechtes und des ſtaatlichen Zwanges das weſentliche Symptom des Auf - und Niederganges der Völker oder ihrer Wirtſchaft ſehen, beweiſen ein geringes Maß hiſtoriſcher Kenntniſſe, ſie haften an formalen Äußerlichkeiten. Der Fortſchritt der Völker liegt darin, daß die Geſamtheit ihrer Regulative ſich formell und materiell beſſere, und daß mit deren Hülfe die Menſchen beſſer erzogen, geiſtig und körperlich auf höhere Stufen gehoben werden. Ob dabei zeitweiſe das poſitive Recht eine größere oder kleinere Rolle ſpiele, ob zeitweiſe die Aktion der ſtaatlichen Zwangsgewalt eine ſtärkere ſei oder die freie Bewegung der Volks - kräfte, das hängt von den jeweilig im Vordergrunde ſtehenden Aufgaben und davon ab, wo im Augenblicke mehr Verſtand, Kenntniſſe und ſittliche Kraft ſei, im Centrum des Staates, in der Regierung, oder in der Peripherie, in den freien geſellſchaftlichen Kräften.

9. Der allgemeine Zuſammenhang zwiſchen volkswirtſchaftlichem und ſittlichem Leben.

  1. Zu 30, 31 u. 33 ſiehe die Litteratur der letzten Abſchnitte. Außerdem: J. St. Mill, Ge - ſammelte Werke. Deutſch 1869 ff. ; hauptſächlich das Nützlichkeitsprincip in Bd. 1. Aug. Comte und der Poſitivismus Bd. 9.
  2. Krohn, Beiträge zur Kenntnis und Würdigung der Sociologie. J. f. St. 1880 u. 81. R. v. Mohl, Die Staatswiſſenſchaften und die Geſellſchaftswiſſenſchaften in: Geſch. u. Litt. der Staatswiſſ. 1, 1855, S. 67 110.
  3. v. Treitſchke, Die Geſellſchaftswiſſenſchaft. 1859. Schmoller, Die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft. J. f. G.V. 1880 u. Soc. - u. Gew. -P.
  4. Rümelin, Über die Idee der Gerechtigkeit. R. A. Bd. 2. 1881. Zu 32: Darwin, Die Abſtammung des Menſchen. Deutſch 1871.
  5. Knapp, Darwin und die Socialwiſſenſchaften. J. f. N. 1. F. 18, 1872.
  6. Fick, Einfluß der Naturwiſſenſchaft auf das Recht. Daſelbſt.
  7. Schäffle, Der kollektive Kampf ums Taſein; zum Darwinismus vom Standpunkt der Geſellſchaftslehre. Z. f. St. W. 1876 u. 79.
  8. Derſ., Bau und Leben des ſocialen Körpers. Bd. 2, 1878.
  9. Haeckel, Freie Wiſſenſchaft und freie Lehre. 1878.
  10. O. Schmidt, Darwinismus und Socialdemokratie. 1878.
  11. Gumplowicz, Der Raſſenkampf. 1883.
  12. Ammon, Der Darwinismus gegen die Socialdemokratie. 1891.
  13. Derſ., Die Geſellſchafts - ordnung und ihre natürlichen Grundlagen. 1895.
  14. H. E. Ziegler, Die Naturwiſſenſchaft und die ſocialdemokratiſche Theorie. 1894.
  15. B. Kidd, Sociale Evolution. Deutſche Überſ. 1895.
  16. Plötz, Die Tüchtigkeit unſerer Raſſe und der Schutz der Schwachen. 1895.
  17. Thomas H. Huxley, Sociale Eſſays. Deutſch 1899.

30. Natürliche und ſittliche Kräfte. Man kann die Volkswirtſchaft als ein Syſtem natürlicher, wie als ein Syſtem ſittlicher Kräfte betrachten; ſie iſt beides zugleich, je nach dem Standpunkte der Betrachtung.

Blicke ich auf die handelnden Menſchen, ihre Triebe, ihre Zahl, auf die Schätze des Bodens, die Kapital - und Warenvorräte, die techniſchen Fertigkeiten, die Wirkung von Angebot und Nachfrage, den Austauſch der in beſtimmter Menge vorhandenen Dienſte und Waren, ſo ſehe ich einen Prozeß ineinander greifender natürlich-techniſcher Kräfte,60Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ich ſehe Kraftwirkungen, die von Größenverhältniſſen abhängig ſind, die ich teilweiſe meſſen kann; ich ſehe Reſultate, die das Ergebnis von Kraftproben und Machtkämpfen ſind, die bis auf einen gewiſſen Grad wenigſtens mechaniſcher Betrachtung unterliegen können. Ich ſehe natürlich-techniſche und phyſiologiſche Vorgänge, die, jeder für ſich iſoliert betrachtet, gar nicht als ſittlich oder unſittlich, ſondern nur als nützlich, geſchickt, zweckmäßig, normal oder als das Gegenteil bezeichnet werden können. Wir werden im folgenden Grundriſſe die natürlichen Kräfte und Größenverhältniſſe der Volkswirtſchaft, den Einfluß von Natur und Technik, das Spiel von Angebot und Nachfrage, die mecha - niſche Wirkſamkeit der Kräfte, ſoweit ſie irgend faßbar iſt, darzuſtellen ſuchen.

Alle oder die meiſten dieſer Kraftäußerungen, ſoweit ſie menſchliches Handeln betreffen, gehen nun aber zurück auf nicht bloß natürliche, ſondern durch die geiſtige und moraliſche Entwickelung umgeſtaltete Gefühle, auf ethiſierte Triebe, auf ein geordnetes Zuſammenwirken natürlicher und höherer, d. h. weſentlich auch ſittlicher Gefühle, auf Tugenden und Gewohnheiten, welche aus dem ſittlichen Gemeinſchaftsleben entſpringen. Alle dieſe Kräfte ſind bedingt durch die pſychiſchen Maſſenzuſammenhänge, durch ſittliche Urteile und ihre Rückwirkung auf alle Vorſtellungen und Willensimpulſe, durch Moral, Sitte und Recht, durch Religion und ſittliche Leitideen oder Ideale. Das wirtſchaftliche Handeln iſt alſo zwar nach ſeiner Naturſeite ein techniſch zweckmäßiges oder unzweck - mäßiges und deshalb ſittlich indifferentes, aber nach ſeinem Zuſammenhang mit den ganzen ſeeliſchen Kräften und der Geſellſchaft ein ſittlich normales oder anormales, d. h. ein dem ſittlichen Urteil unterliegendes und dadurch beeinflußtes. Natürliche techniſche und ſittliche Zweckmäßigkeit können ſich unter Umſtänden in der einzelnen Handlung wohl trennen, im Zuſammenhang des menſchlichen Handelns überhaupt ſind ſie immer in loſerer oder engerer Wechſelwirkung; ſie ſind nur die unteren und oberen Sproſſen derſelben Leiter. Das Weſen des Sittlichen beſteht eben, wie wir ſchon ſahen, in dem nie ruhenden Prozeß, der die niedrigen Gefühle den höheren unterordnet, der die Körper - und Geiſteskräfte in einheitliche Harmonie bringen, die menſchlichen Lebens - zwecke in die richtige Über - und Unterordnung, die einzelnen Menſchen den Zwecken und Einrichtungen der Geſellſchaft einfügen und immer das Niedrige in den Dienſt des Höheren bringen will. In jedem zuſammenhängenden Ganzen (und das iſt jeder Menſch und jede Geſellſchaft) haben die Teile nie ein ganz ſelbſtändiges Leben; jeder hängt vom anderen ab, kann nur richtig funktionieren, wenn die Nachbarn und das Ganze geſund ſind, wenn alle Teile richtig ineinander greifen, in richtiger Neben -, Unter - und Über - ordnung ſind. Das Sittliche will dieſe Ordnung im Individuum und in der Geſellſchaft herbeiführen, die einzelnen erziehen, die ſympathiſchen Gefühle ausbilden, das rechte geſellſchaftliche Zuſammenwirken herbeiführen. Und die Kräfte, welche im Individuum und der Geſellſchaft dahin wirken, nennen wir die ſittlichen, obwohl ſie ihre natürliche Unterlage haben, mit natürlich-techniſchen Mitteln wirken, durch den natürlich-techniſchen Mechanismus der Volkswirtſchaft bedingt ſind. Sie ſind es, welche die Triebe zu Tugenden, die Menſchen zu Charakteren, die Geſellſchaften zu harmoniſch und geordnet wirkenden Geſamtkräften machen. Und die Volkswirtſchaft ſollte dieſer Kräfte entraten können?

Schäffle führt aus, das Ideal ſocialer Mechanik ſei die Zuſammenordnung zahl - reicher menſchlicher Kräfte in der Art, daß die Bewegungen jeder einzelnen mit einem Minimum von Verluſt an eigener Kraft und unter minimaler Störung aller anderen Bewegungen ſtattfinde; es müſſe eben durch Moral, Sitte und Recht eine Koordination der Kräfte eintreten; das Gaußſche Grundprincip der Mechanik gelte ſo auch für die Geſellſchaft. Durch die Sprache, die Nachahmung, die Erziehung, die gegenſeitige An - paſſung, die Herrſchaft der ſittlichen Ideen und Einrichtungen entſteht eben die Möglich - keit geſellſchaftlich-harmoniſchen Zuſammenwirkens; alle ſittlichen Kräfte ſind auf dieſes Ziel hingerichtet; auch das wirtſchaftliche Zuſammenwirken der Menſchen in jeder Familie, jeder Unternehmung, auf jedem Markte, in jeder Gemeinde iſt ſo von dieſer koordi - nierenden ſittlichen Arbeit abhängig. Und ebenſo das Zuſammenwirken von heute auf morgen, von verſchiedenen Generationen, die ſich folgen.

61Natürliche und ſittliche Kräfte; Inſtitutionen und Organe.

Indem der Niederſchlag aller ſittlichen Arbeit vergangener Zeiten durch Gewohn - heit und Erziehung, durch die beſtehenden Inſtitutionen von Generation zu Generation überliefert wird, kommen alle natürlichen Kräfte der Volkswirtſchaft nur innerhalb dieſes Rahmens zur Geltung; beſtimmen ſie die etwaige Umbildung dieſes geſellſchaftlichen Rahmens mit, wirkt z. B. eine neue Technik auch ſicher auf eine neue ſociale und ſittliche Ordnung der Volkswirtſchaft, ſo wirken ebenſo ſicher die allgemeinen gefeſtigten ethiſchen Gedanken und Ideale der Sittlichkeit auf die Art, wie die neue Technik ſich zu Gewohnheiten und Inſtitutionen ausprägt. Jede Generation ruht auf dem geiſtig - ſittlichen Schatze der Vergangenheit. Die Überlieferung dieſes Beſitzes, wie die Erziehung jeder jungen Generation und ihre Einſchulung in die Sitten und Gepflogenheiten der Geſellſchaft bilden eine der wichtigſten Funktionen der ſittlichen Kräfte. Auch die ganze Volkswirtſchaft iſt nicht denkbar ohne dieſen Erziehungs - und Einübungsprozeß. Die Kinder und jungen Leute werden im Intereſſe ihrer Zukunft und der Geſellſchaft durch Vorbild, Unterricht, Gewöhnung, Strafe und Belohnung angeleitet, ihre natürlichen Triebe in geſellſchaftliche umzuwandeln; ſie müſſen das ihnen zunächſt Unangenehme mit Mühe erlernen, ſich ihm durch Wiederholung anpaſſen; ſie müſſen gehorchen und arbeiten lernen, an Verträglichkeit, Zucht und Ordnung ſich gewöhnen, ſie müſſen Kennt - niſſe und Fertigkeiten erwerben; ſie können es, weil die Jugend bildſamer iſt als das Alter, weil jede Handlung Spuren in Geiſt und Körper zurückläßt, welche die Rückkehr ins ſelbe Geleiſe erleichtern. Ohne dieſen Prozeß gäbe es keinen Fortſchritt, auch keinen wirtſchaftlichen. Er macht aus dem rohen Spiele natürlicher Kräfte den geordneten Gang ſittlich harmoniſierter, zu geſellſchaftlichem Zuſammenwirken brauchbarer Kräfte.

Wir verſuchen dieſe Wahrheit noch weiter zu beleuchten, indem wir einige Worte über die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe, über den Kampf ums Daſein, endlich über die Moralſyſteme und die ſittlichen Leitideen ſagen.

31. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe treten uns als das wichtigſte Ergebnis des ſittlichen Lebens entgegen. Es ſind die Kryſtalliſationen desſelben. Aus den oben geſchilderten pſychiſchen Maſſenzuſammenhängen, aus Sitte, Recht und Moral, aus den täglich ſich ergebenden Berührungen, Anziehungen und Ab - ſtoßungen, aus den Verträgen und vorübergehenden Ineinanderpaſſungen ergeben ſich dauernde Formen des geſellſchaftlichen Lebens, welche den verſchiedenen Zwecken der Geſellſchaft, vielleicht am meiſten den wirtſchaftlichen dienen.

Wir verſtehen unter einer politiſchen, rechtlichen, wirtſchaftlichen Inſtitution eine partielle, beſtimmten Zwecken dienende, zu einer ſelbſtändigen Entwickelung gelangte Ordnung des Gemeinſchaftslebens, welche das feſte Gefäß für das Handeln von Gene - rationen, oft von Jahrhunderten und Jahrtauſenden abgiebt: das Eigentum, die Sklaverei, die Leibeigenſchaft, die Ehe, die Vormundſchaft, das Marktweſen, das Münzweſen, die Gewerbefreiheit, das ſind Beiſpiele von Inſtitutionen. Es handelt ſich bei jeder In - ſtitution um eine Summe von Gewohnheiten und Regeln der Moral, der Sitte und des Rechtes, die einen gemeinſamen Mittelpunkt oder Zweck haben, unter ſich zuſammen - hängen, ein Syſtem bilden, eine gemeinſame praktiſche und theoretiſche Ausbildung empfangen haben, feſtgewurzelt im Gemeinſchaftsleben, als typiſche Form die lebendigen Kräfte immer wieder in ihren Bannkreis ziehen. Wir verſtehen unter einer Organbildung die perſönliche Seite der Inſtitution; die Ehe iſt die Inſtitution, die Familie iſt das Organ. Die ſocialen Organe ſind die dauernden Formen der Verknüpfung von Perſonen und Gütern für beſtimmte Zwecke: die Gens, die Familie, die Vereine, die Korporationen, die Genoſſenſchaften, die Gemeinden, die Unternehmungen, der Staat, das ſind die weſent - lichen Organe des ſocialen Lebens.

Alle ältere Organbildung geht aus der Geſchlechts - und Blutsgemeinſchaft hervor: der Stamm, die Sippe, die Familie ſind Organe, die urſprünglich alle Zwecke umfaſſen, aus denen durch Scheidung, Ablöſung und Differenzierung ein großer Teil auch aller ſpäteren Organe hervorgehen. Die dauernden gemeinſamen Zwecke ſchaffen die Organe. Je höher die Kultur ſteigt, deſto mannigfaltiger wird ihre Zahl und ihre Geſtaltung, deſto häufiger treten neben die gewordenen die gewillkürten Organe; aus taſtenden Ver -62Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ſuchen gehen dauernde Bildungen hervor. Zufällige Berührungen und gegenſeitige Hülfeleiſtungen führen zum Gefühl von Vorteil und Nachteil; nach vielen Wandlungen ſtellen ſich haltbare Formen des Zuſammenlebens feſt, in denen, wie in jedem Orga - nismus, die Bedürfniſſe der Teile in Einklang mit den Daſeinsbedingungen des Ganzen geſetzt ſind (Lotze). Je komplizierter die Geſellſchaft wird, deſto mehr kann der Menſch Mitglied einer Reihe der verſchiedenſten ſocialen Organe ſein, denen er teils auf immer, teils vorübergehend, teils mit ganzer Hingabe, teils nur mit kleinen Bruchteilen ſeines Intereſſes angehört. Alle dieſe Organe ſind entweder mehr Herrſchafts - und Abhängigkeits - verhältniſſe, oder mehr genoſſenſchaftliche Bildungen. In jedem Organe oder Verband bleibt jedem Individuum eine gewiſſe Freiheitsſphäre. Es handelt ſich ſtets um eine dauernde, auf einen Zweckzuſammenhang gegründete Willensmehrheit mehrerer Perſonen, die eine gewiſſe Struktur und Verfaſſung hat; die Willen ſind in einer beſtimmten Form zum Zuſammenwirken verbunden (Dilthey), während ſie nach anderer Seite frei ſind; der gemeinſame Zweck beſtimmt dieſe Form, dieſe Struktur, welche in einer beſtimmten hiſtoriſchen Entwickelung nach und nach ihren typiſchen Charakter erhält. Die größeren und feſteren Organe haben durch ihre rechtlich fixierte Verfaſſung, durch die Herſtellung einer ſelbſtändigen, über den einzelnen ſtehenden leitenden Spitze ein dauerndes Leben, wie der Staat und die Korporationen, die Aktiengeſellſchaften; ſie erhalten ſich dadurch, daß ſie die im Laufe des Generationswechſels abſterbenden oder ſonſt ausſcheidenden Glieder durch neue, in der verſchiedenſten Form herangezogene erſetzen. Die heutigen Familien, auch die meiſten Privatunternehmungen, viele Vereine und Geſellſchaften ſind Organbildungen, deren einzelne Exemplare im Laufe des Gene - rationswechſels immer wieder mit Leben und Sterben, mit Ein - und Austritt der Gründer und Mitglieder erlöſchen, um neuen gleichen Bildungen Platz zu machen. Jedes Organ hat ſeine leitenden und ſeine ausführenden Kräfte. Faſt alle Menſchen befriedigen einen erheblichen Teil ihrer Bedürfniſſe und erfüllen ihre meiſten Pflichten nicht als Individuen, ſondern als Glieder beſtimmter ſocialer Organe. Selbſt das kleinſte Geſchäft einer Wäſcherin, eines Packträgers iſt angelehnt an eine Familienwirtſchaft. Selbſt der Haushalt des Junggeſellen iſt an eine Familienwohnung angehängt, hat Hülfskräfte aus einer anderen Familie; ſein Eſſen enthält der Betreffende in einem Gaſthof, ſeine Arbeit verrichtet er in irgend einem Geſchäftsbureau. Für die Geſamtheit, ihre Ord - nungen, ihre Leitung kommen ſo ſtets ebenſo ſehr die ſocialen Organe als die Individuen in Betracht.

Die verſchiedenen Organe unterſcheiden ſich vor allem durch die verſchiedene Art, wie Sitte und Recht die einzelnen Individuen zuſammenbindet und das Vermögen beſchafft, wie das ſociale Organ nach außen als Einheit, nach innen als gegliederte Vielheit, mit beſtimmten Pflichten und Einſätzen, wie mit beſtimmtem Anteil an den Erfolgen der Thätigkeit organiſiert iſt. Auf allen Lebensgebieten zeigt ſich eine unendliche Verſchiedenheit der Organe und ein gegenſeitiges ſich Stützen und Helfen verſchiedenartiger Organe von der loſeſten Privatverbindung bis zum geſchloſſenſten Korporationszwang. Aber allerdings haben die einzelnen Lebensgebiete ihren Schwerpunkt in gewiſſen Arten der Organbildung: das militäriſche Leben iſt heute überwiegend Staatsorganiſation, während daneben einzelne Vereine für Zwecke der Verwundetenpflege und derartigem beſtehen; das wirtſchaftliche Leben iſt heute teils Familien -, teils Unternehmungs - organiſation, reicht aber in wichtigen Punkten in die Korporations - und Staats - organiſation hinein und wird das künftig wahrſcheinlich noch mehr thun. Das kirchliche Leben iſt teils Vereins -, teils Korporationsorganiſation, das wiſſenſchaftliche und künſtleriſche iſt überwiegend individuell perſönlich, an Familie und kleine Unter - nehmungen angelehnt. Jedes Lebensgebiet, das einheitliche Zwecke verfolgt, hat ſo ein Syſtem von Organen, die ein Ganzes bilden, aber in innigſter Verbindung und teilweiſe in Parallelentwickelung mit den Organen anderer Gebiete ſich ausbilden. Wo auf einem Gebiete die Organe fehlen, treten die auf anderen Gebieten entſtandenen ſtellvertretend in die Lücke. Die Sitten - und Rechtsbildung iſt eine einheitliche; dieſelben Perſonen handeln auf den verſchiedenen Gebieten und übertragen die Anſchauungen von einem63Die Inſtitutionen und Organe; ihre Beurteilung.auf das andere. Ein Volk mit ausgebildetem Vereinsleben überträgt ſeine Gewohn - heiten vom politiſchen auf das wirtſchaftliche Gebiet; ein Militärſtaat mit ſchärfſter Centraliſation übernimmt auch auf wirtſchaftlichem Gebiete Funktionen, die anderswo der Aktiengeſellſchaft, dem Vereine, der Kirche anheimfallen.

Es iſt das Verdienſt Schäffles, die Grundlinien einer allgemeinen Lehre von den ſocialen Organen gezeichnet zu haben, nachdem die ganze Entwickelung der Wiſſenſchaften von Staat und Recht, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft ſeit den letzten paar Jahr - hunderten erwachſen war unter einem heftigen Schwanken der Über - und Unterſchätzung der Inſtitutionen und der Organbildung. Die Anſichten in dieſer Beziehung gehen freilich auch heute noch je nach den Partei - und Klaſſenintereſſen, je nach den geſchichts - philoſophiſchen Standpunkten auseinander.

Der Merkantilismus und die Kameraliſtik überſchätzten die Möglichkeit, durch Staat, Geſetz und Fürſtenwillen alles neu zu ordnen und zu ſchaffen; ſelbſt Moral und Recht galten den erſten Denkern von Hobbes bis auf Friedrich den Großen als Produkte ſtaatlicher Anordnung: die Inſtitutionen galten ihnen deshalb alles, das freie Spiel der Individuen wenig. Die Aufklärung kehrte die Sätze um und die liberale Doktrin hält heute noch an dieſem Vorſtellungskreis feſt: die individuellen Gefühle und Hand - lungen, das freie Spiel der Verträge, das freie Vereinsweſen und der Voluntarismus werden gegenüber Staat, ſtaatlichen Inſtitutionen, feſten und dauernden Organiſationen gerühmt; man fürchtet auf dieſem liberalen Standpunkte, wie ihn z. B. Hartenſtein in ſeiner Ethik vertritt, daß bei jeder dauernden, feſten Ausbildung von Inſtitutionen die einſeitigen Intereſſen der Herrſchenden zu ſehr zu Worte kommen, daß jede Inſtitution, auch die zufällig einmal gelungene, raſch veralte, zum Hindernis für weitere Fortſchritte werde. Man beruft ſich (Sir S. Maine) darauf, daß die Entwickelung der Geſellſchaft von Statusverhältniſſen zu Verträgen führe, d. h. daß in älterer Zeit das Individuum allſeitig durch feſte Inſtitutionen gebunden, ſpäter durch ein Syſtem freier Verträge ſeine Beziehungen zu anderen ordne.

Der ältere Socialismus iſt dann wieder zur Überſchätzung der Inſtitutionen und abſichtlicher Organbildung zurückgekehrt; er glaubt durch äußerliche Anordnung des geſellſchaftlichen Lebens ſogar die inneren Motive alles menſchlichen Handelns ändern zu können. Die Hegelſche Philoſophie, die im Staate die höchſte Sittlichkeit ſucht, und andere konſervative Strömungen haben, wie die neueſte europäiſche Staatspraxis, teils alte Inſtitutionen, wie die Zünfte, wieder günſtiger angeſehen und behandelt, teils energiſch für die Neubildung von Inſtitutionen und Organen gekämpft. Die neueſte ſocialdemokratiſche Lehre verwirft ja den beſtehenden Staat mit allen ſeinen Inſtitutionen, träumt entſprechend ihrem radikal-individualiſtiſchen Urſprung von einem freien Spiele aller individuellen Kräfte; aber ſie kommt mit dem ungeheuren Sprung, den auch ſie für das pſychiſch-ſittliche Leben erwartet, doch zur Vorſtellung einer abſorbierenden Herr - ſchaft öffentlicher Inſtitutionen über alle private Willkür.

Der Streit iſt im ganzen derſelbe, wie der im letzten Abſchnitte erörterte über den Fortſchritt von individueller Freiheit und poſitivem Rechte. Die liberalen Individualiſten verwechſelten die Abſchaffung veralteter Inſtitutionen mit der Beſeitigung aller dauernden Einrichtungen. Sie überſchätzten die Gefahr der Erſtarrung in alten Inſtitutionen für unſere Zeit. Die öffentliche Diskuſſion, der Kampf der Parteien und Parlamente, die geſetzgeberiſche Materialſammlung und Vorbereitung der Geſetze in den Miniſterien geben heute wenigſtens eine gewiſſe Garantie für eine flüſſige und gute Neubildung. Und ſo wahr es iſt, daß neuerdings vielfach der Vertrag an Stelle von Inſtitutionen getreten iſt, neue Organbildungen und ſociale Einrichtungen ſehen wir doch in Maſſe daneben entſtehen. Und wir freuen uns, wenn ſie der Entwickelung feſte, ſichere Bahnen weiſen. Es iſt klar, daß die Inſtitutionen, wenn ſie ſegensreich wirken ſollen, eine gewiſſe Starrheit und Feſtigkeit haben müſſen. Ihr Zweck iſt ja, dem Guten, dem Lebens - förderlichen, Zweckmäßigen die feſte Form zu geben, die allein die Anwendung erleichtert, die Erfahrungen der Vergangenheit fixiert, die Millionen abhält, die alten Mißgriffe zu machen, ſich ewig von neuem um dasſelbe Ziel abzumühen. Offenbar liegt der64Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.vollendete ſociale Zuſtand darin, daß die geſunden pſychiſchen Kräfte des Volkslebens durch die Inſtitutionen nicht gehemmt, ſondern gefördert werden, daß die feſten Ein - richtungen und das freie Spiel der individuellen Kräfte in richtiger Wechſelwirkung einander ergänzen, daß die Inſtitutionen die freie Bewegung nicht unnötig hemmen, die erwünſchte Entwickelung aber befördern. Die Inſtitutionen ſind nicht ſubjektive Anläufe, ſondern objektive verkörperte Methoden und Maxime deſſen, was die Erfahrung, die Weisheit der Jahrhunderte in Bezug auf die vernünftige und richtige Behandlung praktiſcher Verhältniſſe gefunden hat.

Das vergleichende Studium der Volkswirtſchaft verſchiedener Zeiten und Länder wird auch die natürlichen und techniſchen Unterſchiede, die der Raſſe, der Kapitalmenge und Ähn - liches in Rechnung ziehen; aber ſie wird vor allem die Inſtitutionen und Organe vergleichen, die wirtſchaftliche, Familien -, Gemeinde - und Staatsverfaſſung, die agrariſchen und gewerb - lichen Betriebs - und Unternehmungsformen, die Inſtitutionen des Markt - und Verkehrs - weſens, des Geld - und Kreditweſens, die Art, wie Arbeitsteilung und Klaſſenbildung ſich in Vereinen und Korporationen, Ständen und Inſtitutionen fixiert haben. Das Studium der Organe und Inſtitutionen iſt für die Erkenntnis des ſocialen Körpers dasſelbe, was die Anatomie für die des phyſiſchen; auch die Phyſiologie der Säfte und ihre Cirkulation kann nur auf einer Kenntnis der Organe ſich aufbauen. Die alte Volkswirtſchaftslehre mit ihrem Untergehen in Preisunterſuchungen und Cirkulationserſcheinungen ſtellte den Ver - ſuch einer volkswirtſchaftlichen Säftephyſiologie ohne Anatomie des ſocialen Körpers dar.

Der hiſtoriſche Fortſchritt des wirtſchaftlichen Lebens wird gewiß zunächſt in beſſerer Produktion und Verſorgung der Menſchen mit wirtſchaftlichen Gütern beſtehen; aber er wird nur gelingen mit beſſeren Inſtitutionen, mit immer komplizierteren Organ - bildungen. Das Gelingen derſelben wird immer ſchwieriger, aber auch immer erfolg - reicher ſein. Wie die wahre Methode über dem wahren Gedanken, ſo ſteht, ſagt Lazarus, die weiſe Konſtitution über dem weiſen Fürſten, die gerechte Geſetzgebung über dem gerechten Richter; wir können hinzufügen, die vollendete Verfaſſung der Volkswirtſchaft über dem wirren Spiele der ſich bekämpfenden wirtſchaftlichen Kräfte. Es ſind die großen Fortſchrittsideen und die ſittlichen Ideale, die in den Inſtitutionen ſich fixieren. Alle großen Epochen des Fortſchrittes, auch die des volkswirtſchaftlichen, knüpfen ſich an die Reform der ſocialen Inſtitutionen, an neue Organbildungen, wie z. B. neuerdings an die Genoſſenſchaften, Gewerkvereine, Aktiengeſellſchaften, Kartelle, an die Fabrik - und Arbeitsgeſetzgebung, an die Verſicherungsorganiſationen an. Die großen Männer und die großen Zeiten ſind die, welche neue ſociale, politiſche, wirtſchaftliche Inſtitutionen geſchaffen haben.

32. Der Kampf ums Daſein. Wenn Sitte, Recht und Moral, wenn alle geſellſchaftlichen Inſtitutionen den Zweck haben, den Frieden in der Geſellſchaft zu ſichern, die widerſtrebenden Kräfte zu verſöhnen und zu bändigen, die ungeſchulten zu erziehen und in übereinſtimmende Bahnen zu führen, die einzelnen Individuen zu gewiſſen Kraftcentren zu vereinigen, ſo könnte es den Anſchein haben, als ob in der menſchlichen Kulturgeſellſchaft kein Platz für den Kampf ums Daſein wäre. Und doch hat man ſeit den tiefgreifenden Forſchungen Darwins wieder einmal, wie ſchon oft ſeit den Tagen der Sophiſten, auch das ganze geſellſchaftliche und hiſtoriſche Leben auf dieſe Formel zurückgeführt und uns mit darwiniſtiſchen Kulturgeſchichten, Sociologien, Volks - wirtſchaftslehren beſchenkt. Was iſt das Richtige an dieſer Auffaſſung? Iſt der Frieden oder iſt der Kampf das Princip der Geſellſchaft? Oder ſind es vielleicht beide, jedes in ſeiner Art und an ſeiner Stelle?

Die Lehre Darwins läßt ſich kurz ſo zuſammenfaſſen: Die Tiere vererben ihre Eigenſchaften einerſeits von Generation zu Generation in ſo ziemlich gleicher Weiſe, aber andererſeits verändern ſich dieſe Eigenſchaften doch in einer gewiſſen beſchränkten Art. Das Paſſendſte überlebt ſich im Kampfe ums Daſein, und die Veränderlichkeit der Eigenſchaften von Generation zu Generation (die Variabilität) hängt hiemit zu - ſammen; die für den Kampf am beſten Ausgeſtatteten erhalten und paaren ſich, ihre Eigenſchaften ſummieren ſich in ihren Nachkommen. So erklärt Darwin die Entſtehung65Der Kampf ums Daſein in Geſellſchaft und Volkswirtſchaft.der Arten aus einer geringeren Zahl von Weſen: das Princip der Zuchtwahl. Daß mit dieſer großen Perſpektive Darwins ein Fortſchritt epochemachender Art erzielt ſei, darüber iſt heute kein Streit, wohl aber darüber, ob dieſe Vorgänge allein die Ent - ſtehung der Arten erklären oder nur in Verbindung mit anderen Thatſachen. Und noch mehr darüber, ob die Schlüſſe generaliſierender heißblütiger Schüler Darwins richtig ſeien, die nun ohne weiteres die geſellſchaftlichen und volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen einſeitig und allein aus dieſen Principien erklären wollen und ſich gar zu dem Ge - danken verſteigen, es gebe keinen anderen Fortſchritt als den durch Kampf bedingten, und jede Hinderung und Abſchwächung irgend eines Kampfes der Individuen und der Völker ſei verfehlt, weil ſie die Unfähigen erhalte und den Fähigen erſchwere, den Erfolg für ſich einzuheimſen, den Unfähigen zu knechten oder zu vernichten. Es wird ſo für die Volkswirtſchaft und für die Geſellſchaft, für das Verhalten der Individuen, der Klaſſen und der Völker das nackte Princip proklamiert, der Stärkere habe das Recht, den Schwächeren niederzuwerfen.

Die mit dieſen Fragen ſich eröffnenden Zweifel und Kontroverſen ſind außer - ordentlich zahlreich und kompliziert; ſie hängen mit den Vererbungsfragen zuſammen, liegen teilweiſe auf mediziniſchem und phyſiologiſchem Gebiete; ſie ſind zu einem guten Teile noch nicht ganz geklärt. Aber ein Gedankengang iſt einfach; er entſpringt den Betrachtungen, die uns hier beſchäftigen, und beſeitigt die ſtärkſte Unklarheit, die in den Übertreibungen der Darwinianer, in der ſummariſchen Zuſammenfaſſung heterogener Verhältniſſe und Urſachen unter dem Schlagwort Kampf ums Daſein liegt. Es iſt der Gedanke, daß jede ſociale Gruppenbildung ſchon eine Negation gewiſſer, vor allem der brutalen, der für unſittlich gehaltenen Reibungen und Kämpfe aller zu einer Gruppe Gehörigen in ſich ſchließe, daß ſympathiſche Gefühle, Sitte, Moral und Recht gewiſſe Kämpfe innerhalb der ſocialen Gruppen ſtets verhindert haben oder zu verhindern ſuchten.

Wir können, indem wir dieſe ethiſche Wahrheit verſuchen hiſtoriſch zu formulieren, ſagen: die Organiſation der Stämme, Völker und Staaten beruhte in älterer Zeit ganz überwiegend nach innen auf ſympathiſchen, nach außen auf antipathiſchen Gefühlen, nach innen auf Frieden, gegenſeitiger Hülfe und Gemeinſchaft, nach außen auf Gegenſatz, Spannung und jedenfalls zeitweiligem, bis zur Vernichtung gehendem Kampfe. Aber es fehlte daneben doch auch nicht der Gegenſatz im Inneren der Stämme, die friedliche Beziehung nach außen. Nur überwog, je roher die Kultur war, das Umgekehrte. Je höher ſie ſtieg, je größer die Gruppen, Stämme und Völker wurden, deſto mehr milderte ſich auch der gemeinſame Kampf nach außen, deſto häufiger trat auch in den Beziehungen der Völker untereinander an die Stelle der Kämpfe und der Vernichtung die friedliche Arbeitsteilung, die Anpaſſung, die gegenſeitige Förderung. Im Inneren aber der gefeſtigten größeren Gemeinſchaften mußte den kleineren Gruppen und Individuen nun ein etwas größerer Spielraum der freien Selbſtbethätigung und damit weiteren Streites eingeräumt werden; es entſtand hier ein gewiſſer Kampf der Gemeinden, der Familien, der Unternehmungen, der Individuen, der aber ſtets in den Grenzen ſich bewegte, welche durch die überlieferten ſympathiſchen Gefühle, durch die gemeinſamen Intereſſen, durch Religion, Sitte, Recht und Moral gezogen wurden. So handelt es ſich um eine fortſchreitende hiſtoriſche Verſchiebung der Gruppierung und der Kampf - und Friedensbeziehungen der einzelnen und der Gruppen untereinander, um eine wechſelnde Normierung und Zulaſſung der Kampfpunkte, der Kampfarten und der Kampfmittel. Niemals hat der Kampf ſchlechtweg geherrſcht; er hätte zum Kriege aller gegen alle, zur auflöſenden Anarchie geführt, er hätte niemals größere ſociale Gemeinſchaften ent - ſtehen laſſen; er hätte durch die Reibung der Elemente untereinander jede große menſch - liche Kraftzuſammenfaſſung und damit die großen Siege über die Natur, die Siege der höheren Raſſe über die niedrigere, der beſſer über die ſchlechter organiſierten Gemein - weſen verhindert. Niemals hat aber auch der Friede allein geherrſcht; ohne Kampf zwiſchen den Stämmen und Staaten wäre keine hiſtoriſche Entwickelung entſtanden, ohne Reibung im Inneren der Staaten und Volkswirtſchaften wäre kein Wettſtreit, kein Eifer, keine große Anſtrengung möglich geweſen.

Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 566Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

Die einzelnen und die ſocialen Gruppen ſtanden ſo ſtets zugleich zueinander in einem Verhältnis der Attraktion und der Repulſion, des Friedens und des Streites. Überall herrſchen zwiſchen denſelben Perſonen und Gruppen heute feindliche, morgen freundliche Beziehungen; man liebt ſich heute, wirkt zuſammen, fördert ſich, und morgen haßt und beneidet, bekämpft und vernichtet man ſich. Die zwei Seiten aller Menſchen - natur konnten nur durch dieſes Doppelſpiel der egoiſtiſchen und der ſympathiſchen Willensanſtöße entwickelt werden: die Thatkraft konnte nur durch die kraftvolle Selbſt - behauptung, die geſellſchaftlichen Inſtinkte konnten nur durch Frieden und Streitvermeidung ausgebildet werden. Und da der Kampf ſelbſt ſtets ein doppelter, ein individueller und ein kollektiver war, ſo iſt es wohl verſtändlich, wie beides in den verſchiedenſten Kombi - nationen nebeneinander ſich ausbildete. Der kollektive Kampf war ſtets nur durch die Gemeinſchaft möglich; innerhalb der Stämme und Völker fanden ſich meiſt und über - wiegend Menſchen ähnlicher Körper - und Geiſteskräfte zuſammen, die auch ohne heftige innere Kämpfe eine tüchtige, unter Umſtänden eine durch Variation ſich vervollkommnende Nachkommenſchaft haben konnten, die jedenfalls nur durch ihr friedliches Zuſammenleben und Zuſammenwirken die großen Fortſchritte der Sprachbildung, der Ausbildung der ſympathiſchen Gefühle, der Religion, des Rechtes vollziehen konnten, die nur unter der Herrſchaft dieſer Friedenseinrichtungen zur Ausbildung der politiſchen Tugenden, des Patriotismus, der Treue, des Gehorſams kommen konnten. Alle ſtaatliche, zumal alle kriegeriſche Organiſation und Disciplin konnte nur durch ſtarke Verbote und Ein - ſchränkungen des individuellen Daſeinskampfes entſtehen, welche gewiß oftmals den Fähigeren und Stärkeren hinderten, den Schwächeren zu vernichten. Aber das that nichts; denn die Kinderſterblichkeit, die Krankheiten, der Kampf mit den Tieren und den fremden Stämmen, die wirtſchaftliche Konkurrenz ſchafften Ausleſe genug. Und nicht aller menſchliche Fortſchritt beruht doch auf der Ausleſe. Darwin ſelbſt muß geſtehen, daß die moraliſchen Eigenſchaften, auf denen die Geſellſchaft beruhe, mehr durch Ge - wohnheit, vernünftige Überlegung, Unterricht und Religion gefördert wurden. Die Lebens - bedingungen der menſchlichen Geſellſchaft laſſen ſich eben mit denen der Tiere und Pflanzen nicht ganz direkt paralleliſieren, weder in Beziehung auf die Fortpflanzung und Ver - erbung, noch in Beziehung auf die Kämpfe der Individuen untereinander, noch in Be - ziehung auf die der Gruppen und Geſellſchaften. Es waren voreilige Analogieſchlüſſe, durch welche man ſich der konkreten Unterſuchung der geſellſchaftlichen Verhältniſſe und der ſpeciellen Natur der in der Geſellſchaft ſich abſpielenden Kämpfe und Kampfſchranken überhoben glaubte.

Wir haben hier nun die einzelnen Anwendungen der Analogieſchlüſſe nicht erſchöpfend zu erörtern, wollen nur noch kurz andeuten, welche Rolle der Kampfgedanke in der Ausbildung der neueren Volkswirtſchaftslehre geſpielt hat, wie er zwar fruchtbar auf der einen Seite wirkte, auf der anderen aber auch Irrtum erzeugte, weil man meiſt die richtige Begrenzung des Gedankens nicht ſofort erkannte.

Die Merkantiliſten ſahen in allem Handel, in allen wirtſchaftlichen Beziehungen der Staaten untereinander weſentlich nur einen Kampf, wobei der eine Teil gewinne, was der andere verliere; ihre wirtſchaftliche Politik war Kampfpolitik in übertriebener Weiſe; die Staaten ſollten ſich möglichſt gegenſeitig wehe thun; die Individuen im Staate ſollten umgekehrt durch alle denkbaren Schranken und polizeilichen Vorſchriften in freundlichen, förderlichen Kontakt und Tauſchverkehr geſetzt werden. Die liberale Naturlehre der Volkswirtſchaft, feſtgefügte, wohlgeordnete Staaten vorfindend und von idealiſtiſchen Harmonievorſtellungen ausgehend, glaubte, die Staaten und Völker könnten ſich kaum wirtſchaftlich ſchaden, nützten ſich durch freien Verkehr immer; aber die Individuen, ihren Erwerb und Gewinn, ihre Bemühung um den Markt und gute Preiſe ſtellte man ſich um ſo mehr als einen Kampf vor, als einen Verdrängungs - prozeß der ſchlechteren Produzenten durch die beſſeren: der rückſichtsloſe, freie, individuelle Konkurrenzkampf erſchien als das einzige Ideal; ſeine Schranken durch Moral, Sitte und Recht, die niemals in der Wirklichkeit verſchwanden, überſah man in der Theorie. Malthus hat dann den Kampf der Individuen um den Nahrungsſpielraum für die67Alle Geſellſchaft ein Kompromiß zwiſchen Frieden und Streit.Erklärung der Bevölkerungserſcheinungen benutzt und aus Erſcheinungen, in denen ſein deutſcher Vorgänger Süßmilch eine göttliche Ordnung ſah, Fauſtkämpfe gemacht, die mit Recht den Armen, deſſen Arbeit die Geſellſchaft nicht bedürfe, wieder durch Hunger und Krankheit entfernen. Die Socialiſten haben nur die Kämpfe der ſocialen Klaſſen geſehen, das Recht der Schwachen auf Organiſation in Anſpruch genommen, um den Mächtigen und den Ariſtokraten entgegen zu treten, während ſie in ähnlichem Optimismus wie A. Smith die Kämpfe der Völker nicht kannten oder als bloßes Unrecht verurteilten. Ihre ariſtokratiſchen Gegner und die Anwälte des Kapitals, die Reichen, die Starken haben ebenſo einſeitig das Herrenrecht dieſer Kreiſe gepredigt und in jeder Armenunter - ſtützung, jeder Arbeiterverſicherung, jedem Kampfe gegen Arbeitsloſigkeit eine falſche Er - haltung der geringeren und ſchlechteren Elemente geſehen, nicht einmal eingedenk des Darwinſchen Wortes, daß die heutigen Sieger im Kampf ums Geld keineswegs ſtets die Beſten und die Tüchtigſten ſeien.

Wir ſehen, wie wechſelvoll der Kampfgedanke verwertet wurde, wie wenig Sicheres dabei bisher herauskam, weil man ein Schlagwort ohne nähere Prüfung der konkreten Verhältniſſe, Menſchen, Inſtitutionen und der Folgen des Kampfes im einzelnen an - wandte. Wir kommen auf dieſe ſpeciellen Verhältniſſe unten. Hier iſt nur zu ſagen: im internationalen Handelskampfe, im individuellen Kampfe auf dem Markte um den Preis und den Abſatz, im ſocialen Kampfe der Klaſſen handelt es ſich um große pſycho - logiſche, geſellſchaftliche und wirtſchaftliche Prozeſſe, wobei ſtets zugleich Gruppen zu friedlichem Zuſammenwirken durch bindende Ordnungen des Rechtes, der Sitte und der Moral zuſammen zu faſſen ſind, wobei dem egoiſtiſchen Intereſſe der einzelnen und der Gruppen ein gewiſſer Spielraum zu gönnen, aber zugleich eine Grenze zu ſetzen iſt. Teilweiſe reguliert der Egoismus ſich ſelbſt und hält durch Druck und Gegendruck den Mißbrauch ab; ebenſo oft aber muß er gebändigt werden.

Man hat Sitte, Moral und Recht Streitordnungen genannt; das iſt bis auf einen gewiſſen Grad richtig, nur muß man hinzufügen, daß die immer feinere und gerechtere Ausbildung der Streitordnungen eine Hauptaufgabe der höheren ſittlichen Kultur ſei, und daß der letzte Zweck der Streiteinengung nicht bloß die Schaffung des Friedens, ſondern die immer größerer, harmoniſierter, komplizierterer und wirkungsvollerer Kollektivkräfte ſei. Concordia parvae res crescunt. Je höher unſere ſittliche und ſtaat - liche Entwickelung geht, deſto mehr müſſen auch die Leute mit ſtarker Fauſt und großem Geldbeutel, mit verſchlagener Pfiffigkeit ſich den ſittlichen Lebensordnungen fügen, deſto weniger werden brutale Vergewaltigungen, Ausbeutungen, harte Herrſchaftsverhältniſſe mehr zugelaſſen. Mehr und mehr läßt man nur beſtimmte Arten des Sieges zu, den Sieg der größeren Intelligenz und Fähigkeit, der ſich im Konkurrenzkampf vor der Öffentlichkeit, im Kampf um die Ämter vor der Prüfungsbehörde ausgewieſen hat. Man muß ſuchen die Siege der Klugen zugleich zu Siegen der Edlen und Guten zu machen. Man wird im Kampfe der ſocialen Klaſſen nicht den unteren Handſchellen anlegen, den oberen freie Bahn geben, aber auch nicht die Ausſchreitungen der unteren Klaſſen, ſoweit ſie zu maßloſer, vergiftender Leidenſchaft, zu Gewaltthätig - keiten, zur Bedrohung des ganzen öffentlichen Friedenszuſtandes und der volkswirtſchaft - lichen Blüte der Nation führen, dulden dürfen. Man wird mit allen Mitteln ſuchen müſſen, an die Stelle roher, mit brutaler Gewalt durchgeführter Kraftproben, an Stelle von Kämpfen mit zufälligem Ergebnis billig vernünftige Entſcheidungen von Schieds - gerichten oder Behörden zu ſetzen. Man wird ſich ſtets erinnern, daß nur ein gewiſſes Maß des Streites und Kampfes die Energie und Thatkraft fördert, ein weiteres dieſe Eigenſchaften auch lähmen kann. Schutzmaßregeln, Erziehung, Wettkämpfe beſchränkter Art können für viele Kreiſe richtiger ſein, auch die Energie mehr fördern als überharte, erſchöpfende und tötende Kämpfe. In jeder civiliſierten Geſellſchaft findet eine fort - währende Ethiſierung aller Kämpfe ſtatt. Selbſt die kriegführenden Truppen unterwerfen ſich den Satzungen des Völkerrechts.

Der Kampf hört damit nicht auf und er ſoll nicht aufhören. Jedes Individuum und jede Gruppe will ſich behaupten, will leben, ſich ausdehnen, an Macht zunehmen. 5*68Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Jede ſtarke, irgendwo ſich ſammelnde Macht kommt in Konflikt mit den überlieferten Ordnungen, will ſie zu ihren Gunſten ändern. Das geht nicht ohne Streit, und inſofern iſt dieſer der Ausdruck des Lebens, der Neubildung, des Fortſchrittes. Es iſt das Recht des Kräftigeren und Beſſeren zu ſiegen; aber jeder ſolche Sieg ſoll nicht bloß das Individuum, ſondern zugleich die Geſamtheit fördern. Iſt es für dieſe beſſer, daß über dem Sieg einzelne zu Grunde gehen, ſo muß das in den Kauf genommen werden. Wie in den großen Kämpfen der Geſchichte ganze Völker und ganze Klaſſen, ſo müſſen zu ſchwache, zurückgebliebene Familien und Perſonen im wirtſchaftlichen und ſocialen Kampfe des Lebens untergehen. Verkommene Ariſtokratien, verkümmerte Mittel - ſtände, tief geſunkene Schichten des Proletariats ſind zeitweiſe ſo wenig zu retten, als an gewiſſen Stellen körperlich und geiſtig ſchwache Individuen. Die Ausſtoßung des Unvollkommenen iſt der Preis des Fortſchrittes in der Entwickelung. Aber ob im ein - zelnen Fall das ſchwächere Volk, die bedrohte Klaſſe, die notleidenden Individuen nicht mehr zu retten ſeien, ob ſie nicht neben Fehlern und Schwächen noch entwickelungs - fähige Kräfte haben, ob ſie nicht durch Erziehung, Unterſtützung, Übergangsmaßregeln zu retten ſeien, ob nicht der jeweilige Druck gerade neue Eigenſchaften zu Tage fördere und ſie ſo wieder emporhebe, das iſt eine offene Frage, über die ſtets nur das Leben entſcheiden kann. Jeder ſolche Kampf iſt ein unendlich komplizierter, von vielen ver - ſchiedenen Eigenſchaften, Konjunkturen und Zufällen abhängiger. Die Regierungen, Parteien und Klaſſen, die führenden Geiſter werden je nach ihrer Kenntnis der perſön - lichen Kräfte und der Geſamtverhältniſſe, je nach ihrer Auffaſſung des Geſamtwohles und der wünſchenswerten Entwickelung bald für Milderung und Einſchränkung des Kampfes, für Unterſtützung der Schwachen, bald für ihre Preisgebung und Geſtattung des Kampfes ſein. Nur darf das Loſungswort freie Bahn für den Starken nicht ſtets als ſelbſtverſtändlich gelten: es kommt unter Umſtänden nicht ſowohl der guten und entwickelungsfähigen, ſondern auch der rohen und der gemeinen Kraft zu gute. Der deutſche Bauernſtand iſt durch eine glückliche Politik vom 17. 19. Jahrhundert gerettet worden, der engliſche iſt zu Grunde gegangen; wollen wir etwa darum England preiſen?

So unzweifelhaft es immer Kämpfe wird geben müſſen, ſo ſicher iſt es oft die Aufgabe der Politik, ſie zu mildern und das Entwickelungsfähige zu retten. Die Hoffnung der Socialdemokratie, daß es je eine Zeit ohne Konkurrenz, ohne Kampf, ohne Kriege geben werde, iſt ſo einſeitig und ſo falſch, als die Freude des cyniſchen Ariſtokraten und Millionärs, der das Elend der Maſſen nur als die notwendige Folge ihrer Schwäche und Fehler, ſeinen Beſitz als die Folge ſeiner Eigenſchaften anſieht. Wir werden die Hoffnung nicht aufgeben, daß im Laufe der Geſchichte auf die Dauer die Stärke ſiegt, die zugleich die ſittlich größere Kraft, die entwickelungsfähigſten Keime in ſich birgt. Aber davon giebt es im einzelnen viele Ausnahmen, beſonders überall da, wo Ehrlichkeit mit Unehrlichkeit, die Kraft der Vergangenheit mit der der Zukunft ringt. Und daher iſt der Schutz hiegegen häufig eine ſittliche Pflicht der Geſellſchaft; ſonſt müßten wir auch die Diebe, Räuber und Mörder walten laſſen.

Die Gefahr, daß wir durch Sitte, Moral und Recht, durch den Schutz der Schwachen eine einſchläfernde Streitloſigkeit erzeugen, iſt zumal in unſerer Zeit ſehr gering. Die heutige wirtſchaftliche Konkurrenz iſt gegen früher ſo enorm gewachſen, daß die weit - gehendſten ſocialen Reformen und Schutzmaßregeln den ſchwächeren Elementen der Ge - ſellſchaft den Schutz und die Hülfe nicht geben, die ſie früher hatten. Auch in der humaniſierteſten Geſellſchaft wird mit immer dichterer Bevölkerung der Kampf um Ehre, Beſitz, Einkommen, Macht nicht aufhören, ſo wenig als der Kampf zwiſchen den ſocialen Gruppen und den Staaten aufhören wird, der in gewiſſem Sinne eben deshalb berechtigter iſt, als er ſtets die einzelnen, die Glieder einer Klaſſe, die Bürger eines Staates zuſammenfaßt, ſie nötigt, ihre kleinlichen egoiſtiſchen Leidenſchaften zurückzudrängen und für Geſamtintereſſen materieller und idealer Art einzutreten. Damit wird der Streit zurückgedrängt, der Patriotismus belebt, die ſittlichen Kräfte geſchult und gefördert. Große Kriege ſolche mit günſtigen und ſolche mit ungünſtigen Erfolgen wurden69Die Ethiſierung der geſellſchaftlichen Kämpfe. Die Moralſyſteme.für die Völker oftmals die Ausgangspunkte innerer Reform und neuen wirtſchaftlichen Aufſchwunges.

33. Die religiöſen und philoſophiſchen Moralſyſteme. Wir haben oben (S. 46 47) die Bedeutung der Religion für die Ausbildung der ſittlichen Urteile und Handlungen zu charakteriſieren verſucht und weiterhin (S. 55 56) auf den hiſtoriſch - pſychologiſchen Zuſammenhang hingewieſen, in welchem aus Sitte und Recht heraus einheitliche Gedankenſyſteme der Moral ſich bildeten. Im Anſchluß an das dort Geſagte haben wir hier auf dieſe Syſteme nochmal zurückzukommen. Wir haben einmal den geiſtig-methodologiſchen Prozeß kurz zu charakteriſieren, die dieſe Syſteme geſchaffen hat; es iſt im ganzen derſelbe, der auch politiſche, ſociale und volkswirtſchaftliche Syſteme ſpäter erzeugt hat und immer wieder erzeugt; die volkswirtſchaftlichen Syſteme ſind Ableger und Ausläufer der Moralſyſteme, hängen mit ihnen zuſammen; Moral - und politiſche Syſteme wirken auf alles praktiſche, alſo auch auf alles volkswirtſchaftliche Leben bei höherer Kultur tiefgreifend ein. Wir haben dann kurz auseinander zu ſetzen, welche Hauptgattungen von Moralſyſtemen das geiſtige Leben der Kulturvölker erzeugte, und wie gewiſſe große praktiſche Lebensideale und Leitideen aus ihnen hervorgingen, welcher Natur dieſe verſchiedenen Ideen und Principien ſind; ſie haben in den letzten Jahrhunderten eine führende, oft aber auch irreführende Rolle im volkswirtſchaftlichen Leben geſpielt.

a) Jede Religion wie jedes Moralſyſtem ruht auf einheitlichen Vorſtellungen über Gott und die Welt, über ihr gegenſeitiges Verhältnis, über Natur und Geiſt, über Leben und Sterben, über die letzten Zwecke der menſchlichen Exiſtenz. Nach den jeweiligen Erkenntniſſen und Kauſalitätsvorſtellungen, nach den pſychologiſchen Anſchauungen und ethiſchen Bedürfniſſen muß jedes Syſtem über dieſe Grundfragen zu einem einheitlichen Ergebnis kommen, das, dem geiſtig-ſittlichen Niveau der betreffenden Menſchen angepaßt, für Tauſende und Millionen überzeugende Kraft hat und oft Jahrhunderte lang behält. Wie alles menſchliche Selbſtbewußtſein nur zu ſtande kommt durch Verbindung und Konzentrierung alles Wahrgenommenen, Erlebten und Erſtrebten in der Syntheſe des einheitlichen Ichs, ſo erzeugt auch in jeder menſchlichen Geſellſchaft der unwiderſtehliche geiſtige Zug zur Einheit ein die beſtimmte Geſellſchaft verbindendes, mehr oder weniger einheitliches Gedankenſyſtem. Die denkenden Menſchen fühlen ſich erſt glücklich, wenn ſie zu einem ſolchen Punkte gekommen ſind, in dem ſie wie in einem Brennpunkte alle theoretiſchen und praktiſchen Vorſtellungen zuſammenfaſſen, der ihr Denken wie ihr Gewiſſen befriedigt, der mit einer plauſibeln Vorſtellung von der Welt zugleich den richtigen Leitſtern für alles Handeln abgiebt. Das geſchieht in den Religions - und Moralſyſtemen, wie ſie die Völker und Zeitalter im ganzen einheitlich beherrſchen.

Die Religionen ſind ſtets zugleich Verſuche einer Kosmogonie, einer rationalen Erklärung des Seienden, wie ſie Syſteme der praktiſchen Lenkung alles Geſchehenden darſtellen. Und wenn die philoſophiſchen Moralſyſteme dann wenigſtens teilweiſe auf die Vorſtellung einer göttlichen Offenbarung und eines ſteten Neueingreifens der Gottheit verzichten, eine beſtimmte Metaphyſik, eine beſtimmte Vorſtellung von der Welt und Weltregierung, vom Leben nach dem Tode, den Zwecken alles Lebens liegt ihnen doch ebenſo zu Grunde; ſie ruht auf fortſchreitender Natur - und Geſchichtserkenntnis; aber ſie reicht nicht aus, ein abgerundetes Bild der Welt zu geben, wie es nötig iſt, um als Hintergrund und Ausgangspunkt eines praktiſch wirkenden einheitlichen Verpflichtungs - grundes und Syſtems zu dienen. Jedes Moralſyſtem repräſentiert eine beſtimmte einheit - liche Weltanſchauung und ſtellt ein einheitliches Lebensideal auf, das auf Erkenntnis und Glauben zugleich beruht; ein Sollen lehrt man, Ideale predigt man wirkſam nur, die Welt und die Menſchen überwindet man nur von einem centralen Punkte aus, der das Ganze aller Zuſammenhänge erfaſſen will. Der dabei ſtattfindende pſychiſche Prozeß iſt immer ein ähnlicher, wie er in Bezug auf alle Religionsbildung und auf alle Herrſchaft religiöſer Gefühle ſtattfindet. Es handelt ſich um eine Ergänzung unſerer wirklichen Erkenntnis durch ein Hoffen und Glauben. Der menſchliche Geiſt ſucht ſich intuitiv, ſynthetiſch, mit der Phantaſie ein Bild von der Welt, von den in ihr herrſchenden70Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Principien und Ideen, von ihrer Entwickelung, vom Zuſammenhang des Einzelſchickſals mit Gott, mit der ganzen Menſchheit, mit Staat und Geſellſchaft, ein Bild von der Zukunft nach dem Tode zu machen. Und von hier aus verſteht er die Welt und ſich ſelbſt, ſeine Aufgaben und ſeine Pflichten. Der Chriſt des älteren Mittelalters, der das baldige Herannahen des jüngſten Tages erwartete, in der Abtötung des Leibes die erſte Pflicht, in dieſer Welt nur das Böſe ſah, mußte ſehr vieles anders beurteilen, ſein Handeln anders einrichten als der Materialiſt, für den es nur ein Diesſeits und ſinn - liche Freuden giebt. Wer die Anfänge des Menſchengeſchlechtes in tierartigen Zuſtänden erblickt und aus ihnen heraus durch die Annahme großer Fortſchritte zum Bilde einer nach und nach wachſenden Vervollkommnung der Individuen und der Geſellſchaft kommt, muß über die meiſten Pflichten und ſocialen Einrichtungen anders denken, als wer, wie die Kirchenväter, an den Beginn der Geſchichte ideale, vollkommene Menſchen ohne Sünde, ohne Staat, ohne Eigentum ſetzt, die nur durch den Sündenfall der Schlechtigkeit ver - fallen ſind. Aber auch wo die Gegenſätze nicht ſo groß ſind, bleibt immer für den Optimismus und für den Peſſimismus, für antike und chriſtliche, idealiſtiſche und materialiſtiſche Auffaſſung die Möglichkeit verſchiedener Weltanſchauung, verſchiedener Lebensideale und Moralſyſteme, die nun bei den höheren Kulturvölkern nebeneinander beſtehen, einander bekämpfen und ablöſen.

Die Syſteme nähern ſich einander, je mehr zu ihrem Aufbau eine ſteigende Summe feſtſtehender Erfahrungserkenntnis verwendet iſt. Aber dieſe iſt ſtets unvollendet, bruch - ſtückartig. Und das Weſen der Weltanſchauung, des Moralſyſtems iſt es, ein Ganzes zu geben. So ſteckt in dieſen Syſtemen ſtets ein Stück Hypotheſe und Glauben; es handelt ſich um ein teleologiſches Verfahren, das, ausgehend von einem Bilde des Ganzen, von ſeinen Zwecken, das einzelne zu begreifen ſucht, durch reflektierende Urteile alles Zuſammengehörige unter einen einheitlichen Geſichtspunkt ordnet. Kant hat in der Kritik der Urteilskraft uns gezeigt, wie der menſchliche Geiſt notwendig auf ein ſolches Verfahren angewieſen ſei, und die Philoſophie hat ſeither anerkannt, daß die Teleologie mit Recht als ſymboliſierende Ergänzung in dieſen letzten Fragen der empi - riſchen Wiſſenſchaft zur Seite trete. Es handelt ſich um die Verſuche der Ausdeutung des Ganzen und ſeiner Zwecke, um ſo die Spannkraft des Willens zu erreichen, ohne die nichts Großes zu leiſten, kein Fortſchritt zu machen iſt. Die Vorſtellung, daß die Welt überhaupt eine einheitliche ſei, daß es ein einheitliches Stufenreich der Natur und der Geſchichte, eine Vervollkommnung gebe, iſt, wie aller Gottesglaube, nur auf dieſem Wege entſtanden. Die neuen, zündenden, praktiſchen Syſteme der Religion, der Moral und der Politik erwachſen nur ſo; ihre Principien ſind ſtets bis auf einen gewiſſen Grad einſeitig, aber ſie wirken weltbewegend; ſie löſen das Alte auf, erſchüttern alles Beſtehende, ſind oft revolutionär; aber ſie bauen auch das Neue auf, beherrſchen mit ihren Principien die Neugeſtaltung, ſo einſeitig dieſe zunächſt ausfallen möge.

Die Religions - und Moralſyſteme und alle an ſie ſich anknüpfenden ähnlichen Syſteme und allgemeinen Theorien des Staates, des Rechtes, der Volkswirtſchaft, der Socialpolitik ſind mehr praktiſche Lebensmächte, als Ergebniſſe der ſtrengen Wiſſenſchaft. Während es ſtets nur ein richtiges, für alle überzeugendes Reſultat im Gebiete empiriſch - methodiſcher Forſchung und Erkenntnis geben kann, wird es über die praktiſchen Ideale, über Pflicht und zukünftige Entwickelung, über Bevorzugung des einen Lebens - und Geſellſchaftszweckes vor dem anderen immer leicht verſchiedene Auffaſſungen und Lehren geben. Auch in jenen älteren Tagen, als einheitliche kirchlich-religiöſe Überzeugungen ganze Stämme und Völker beherrſchten, fehlten die Zweifel und die abweichenden Mei - nungen einzelner nicht. Wo aber die höhere Entwickelung mit ihrer freien Kritik, ihrer Litteratur, ihrem Unterricht ein offenes Feld des geiſtigen Kampfes eröffnet hat, da müſſen noch viel mehr als früher die verſchiedenen möglichen Weltanſchauungen zu entgegengeſetzten, ſich bekämpfenden Syſtemen und Lehrgebäuden führen. Ihr Aufeinander - wirken, gefährlich für niedrig ſtehende Völker, bedingt gerade die Fortſchritte der höher ſtehenden. Mit ihrer Einſeitigkeit werden die verſchiedenen Syſteme, welche die ver - ſchiedenen Seiten des menſchlichen Lebens repräſentieren, periodiſch abwechſelnd die Führer71Der Urſprung der Moralſyſteme, ihre Hauptarten.des Menſchengeſchlechtes auf der nur durch taſtende Verſuche fortgebildeten Bahn beſſerer Organiſation.

b) So ſind ſeit dem fünften Jahrhundert vor Chriſti in Griechenland und dann ſeit dem Wiedererwachen wiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher Studien gegen Ende des Mittelalters hauptſächlich zwei Gruppen von Syſtemen der Moral miteinander im Kampfe, die ſenſualiſtiſch-materialiſtiſchen und die metaphyſiſch-idealiſtiſchen. Die erſteren, mehr von der nächſten Wirklichkeit ausgehend, ohne großen Überblick und tieferen Sinn für das Überirdiſche und Ideale, waren das Ferment der Auflöſung der über - lieferten Religionen, die Totengräber der überlebten Kultur, die Erzieher der Indivi - dualität, die Begründer moderner Einrichtungen, teilweiſe auch die Vernichter der vor - handenen ſittlichen Spannkräfte und der beſtehenden Geſellſchaftsinſtitutionen. Ihnen ſtellten ſich immer wieder die idealiſtiſchen Syſteme gegenüber, teils verſuchend, das Gute der Vergangenheit zu retten, teils Idealbilder einer beſſeren Zukunft vorzuführen.

Zu den erſteren gehören im Altertum die Sophiſten und Epikur, in neuerer Zeit Gaſſendi, Hobbes, Locke, die franzöſiſchen Encyklopädiſten, Bentham, J. St. Mill, Benecke, Feuerbach und ihre modernſten Nachfolger; zu den letzteren Plato, die Stoa, der Neuplatonismus, Auguſtin, Thomas von Aquino, Hugo Grotius und die an die Stoa ſich anſchließenden Naturrechtslehrer, dann Leibniz, Kant, Schelling, Hegel, in gewiſſem Sinne auch Auguſte Comte. Die erſteren Schulen wollen eine Formel für das Gute, für das richtige Handeln finden; ſie ſtellen die Luſt, das Nützliche, die Gemüts - ruhe des Individuums, neuerdings das Glück der einzelnen oder der Geſellſchaft in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Staat, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft laſſen ſie durch äußeres Zuſammentreten der Individuen entſtehen, die ſie bald mehr als im Kampf, bald als von Natur in friedlichen Beziehungen begriffen ſich denken. Das indivi - dualiſtiſche Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts und die neuere Utilitätsethik ſind ihre Höhepunkte; beide weſentlich beeinflußt von den antiken Lehren Epikurs, des flachen Verteidigers der individuellen Glückslehre einer abſterbenden Kulturepoche. Die Syſteme dieſer Richtung haben vieles einzelne richtig beobachtet, ſie haben in richtiger Weiſe ſtets das Sittliche an das Natürliche angeknüpft, ſie haben darin Recht, daß das Streben nach Glück im Centrum aller ethiſchen Betrachtung ſteht. Aber im ganzen iſt ihre Beobachtung des ſittlichen Thatbeſtandes, der ſittlichen Kräfte und Güter doch eine ein - ſeitige, das Leben nicht erſchöpfende; ſie überſchätzen die Reflexion und die Verſtandes - thätigkeit, ſie ſtehen den großen geſellſchaftlichen Erſcheinungen und den großen Epochen ſchöpferiſcher Leiſtungen teilweiſe ohne das rechte innere Verſtändnis gegenüber.

Die idealiſtiſchen Moralſyſteme gewinnen ihre Kraft durch großartige und tief - gedachte Welt - und Geſchichtsbilder, durch religiös empfundene, künſtleriſch abgerundete Vorſtellungsreihen über Gott, die Welt und die Menſchheit. Mit der Wucht idealiſtiſcher Forderungen, mit der Autorität ſchlechthin über das Menſchliche erhabener ſittlicher Gebote treten ſie den Menſchen entgegen, leiten die Pflichten aus angeborenen Vernunftideen oder Erinnerungen der Menſchenſeele an ihren göttlichen Urſprung ab. Sie ſtellen das Gute in ſchroffen Gegenſatz zum Natürlichen, verſchmähen häufig das Glück als Beweg - grund des Sittlichen; ſie ſtellen Staat und Geſellſchaft ſtets als das Ganze, als das Höhere und Gute, als einen Teil der ſittlichen Weltordnung dem Individuum und dem Egoismus gegenüber. Sie haben Großes gewirkt für die Erziehung der ſittlichen Kräfte, für die Heiligung eines ſtrengen Pflichtbegriffes, für das Verſtändnis und die Würde der geſellſchaftlichen Inſtitutionen. Aber ſie ruhten vielfach mehr auf Hypotheſen und idealiſtiſchen Annahmen, überſahen das empiriſche Detail der pſychologiſchen Vorgänge und geſellſchaftlichen Einrichtungen. Sie hielten nicht Stand vor der fortſchreitenden ſtrengeren Wiſſenſchaft.

Dieſe Wiſſenſchaft, welche nicht ſowohl ein Sollen lehren und Ideale aufſtellen, als das ſittliche Leben empiriſch beſchreiben, aus den pſychologiſchen und geſellſchaft - lichen Elementarthatſachen verſtehen und ableiten will, hat ſich ſo naturgemäß ſeit alter Zeit neben beiden Arten von Syſtemen entwickelt. Wir können Ariſtoteles als den großen Ethiker feiern, in dem zuerſt das wiſſenſchaftliche Intereſſe das Übergewicht über72Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.das praktiſche hatte. In der neueren geiſtigen Entwickelung iſt es die ältere pſychologiſch - ethiſche Schule der Engländer Schaftesbury, Hutcheſon, Hume, A. Smith, in Deutſch - land ſind es Herbart, Lotze, Horwicz, Wundt, Paulſen, die überwiegend hieher gerechnet werden müſſen. Dieſe Richtung, welche eine empiriſche Ethik verſucht, ſchließt allgemein an die Spitze des Syſtems geſtellte Konzeptionen über einheitliche Entwickelung und Ver - vollkommnung nicht aus, wie wir an Herbert Spencer ſehen, der alles, auch das ſittliche Leben, aus der Entwickelungstheorie ableitet. Aber das Metaphyſiſch-Idealiſtiſche tritt doch mehr zurück. Und am deutlichſten tritt die Richtung mit ihren Grundtendenzen dadurch hervor, daß man neben den ethiſchen Syſtemen, welche das Ganze der menſch - lichen Handlungen darſtellen und lehren wollen, verſuchte ſog. Sociologien zu ſchreiben.

Dieſe neuere Geſellſchaftslehre will nicht bloß, wie ſeiner Zeit R. Mohl, ein Gefäß ſein, um einige in Staatslehre, Statiſtik und Nationalökonomie nicht recht unter - zubringende Erörterungen über die Geſellſchaft aufzunehmen, nein, ſie will die Geſamtheit der geſellſchaftlichen Erſcheinungen, welche in der Ethik oft überſehen, oft ſtiefmütterlich als ſittliche Güter behandelt, jedenfalls nur vom Standpunkte eines beſtimmten Moral - ſyſtems betrachtet wurden, als ein zuſammenhängendes natürlich-geiſtiges, kauſales Syſtem von Erſcheinungen ſchildern, begreifen und erklären. Gewiß eine Rieſenaufgabe, an die man erſt denken konnte, nachdem in einer Reihe Specialwiſſenſchaften, wie in der Staatslehre, Nationalökonomie, Finanz, Statiſtik wenigſtens für gewiſſe Teile der Anfang einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Einzelerkenntnis begonnen. Es iſt daher auch natürlich, daß die Einzelforſcher den Sociologen zurufen, laßt uns doch bei unſerer Detailarbeit. Aber ebenſo notwendig hat die empiriſche Begründung der Ethik, wie das Bedürfnis, für die geſellſchaftlichen Specialwiſſenſchaften eine allgemeinere Grundlage zu gewinnen, zu jenen erwähnten Verſuchen geführt, deren wichtigſte wir in Aug. Comtes Werken, in Spencers Sociologie, in Schäffles Bau und Leben des ſocialen Körpers vor uns haben. Es ſind gewiß unvollkommene Verſuche, aber doch die wichtigſten Stützen für eine empiriſche Ethik und unentbehrliche Hülfsmittel für die allgemeinen Fragen der ſocialen Specialwiſſenſchaften. Mag man dabei den Nachdruck mehr auf die Zuſammen - faſſung oder auf die Specialunterſuchung der allen dieſen Wiſſenſchaften gemeinſamen Fragen legen, man wird dieſer Sociologie, die freilich nur eine Art ausgebildeter empiriſcher Ethik iſt, ihr Bürgerrecht in dem Reiche der Wiſſenſchaften nicht mehr ab - ſtreiten können.

c) Die praktiſche Wirkſamkeit der Moralſyſteme wie der ſpäter aus ihnen ab - geleiteten Syſteme der Wirtſchafts - und ſonſtigen Politik wurde ſtets in dem Maße erhöht, als es ihnen gelang, für die dauernd oder jeweilig bevorzugten Richtungen des Handelns und der Reform möglichſt einheitliche Schlagworte und packende Gedanken, ſog. ethiſche Principien und Ideale an die Spitze zu ſtellen. Zwar iſt es kaum je gelungen, ein einziges Princip oder eine Formel ſo zu finden, daß mit vollſtändiger logiſcher Folgerichtigkeit daraus alle anderen ſittlichen Ideale und Forderungen ab - geleitet werden könnten; aber es hat doch jedes Syſtem verſuchen müſſen, die ſämtlichen verſchiedenen gepredigten Pflichten, ſittlichen Forderungen und Ideale entweder in eine gewiſſe Beziehung zu einem Grundgedanken zu bringen oder ſie auf eine kleine Anzahl koordinierter Principien zu reduzieren. Dabei mußten dieſe Principien oder der Grund - gedanke, um an die Spitze zu treten, möglichſt generell gefaßt werden; aber es ergab ſich damit die Kehrſeite, daß ſie verſchiedener Anwendung und Deutung unterlagen; auch konnte nie ausbleiben, daß auf die Formulierung die jeweiligen Kultur - und Geſellſchaftsverhältniſſe, die geiſtigen Strömungen der Zeit Einfluß erhielten.

Wir haben nun hier nicht etwa den Verſuch zu machen, den großen Prozeß der Entwickelung dieſer Leitideen, wie die Geſchichte der Religionen, der Moralſyſteme und der ganzen menſchlichen Kultur ihn uns enthüllt, zu ſkizzieren und die einzelnen Syſteme und ihre Ideale zu kritiſieren, ſondern wir haben nur kurz zu reſümieren, wie die wichtigſten neueren dieſer Formeln und leitenden Ideen lauten und welche Bedeutung ſie für das volkswirtſchaftliche Leben gehabt haben und noch haben.

73Die Leitideen und Ziele der verſchiedenen Moralſyſteme.

Die Moralſyſteme, welche den Egoismus überhaupt oder den verfeinerten Egoismus als Grundprincip predigten, haben ſich in neuerer Zeit teils zu einer individuellen Glück - ſeligkeitslehre, teils zu der Theorie erhoben, daß aller ſittliche Fortſchritt in dem Streben beſtehe, die größte Summe von Glück oder Luſt für die größte Menſchenzahl her - zuſtellen; dieſe Utilitätslehre, ſcheinbar von Chriſtentum und idealiſtiſcher Moral ſo weit entfernt, will in den Händen edler und feinfühliger Ethiker und Politiker im ganzen dasſelbe. Sagt doch ſelbſt Lotze: alle moraliſchen Geſetze ſind Maximen der allgemeinen Luſtökonomie . Auch die idealiſtiſchen Syſteme ſchmuggeln indirekt eine Glückslehre ein. Die Wirkſamkeit dieſer realiſtiſchen Schule iſt in der Gegenwart faſt noch im Wachſen; der ganze engliſche Radikalismus mit ſeinen politiſchen und wirtſchaftlichen Idealen iſt auf dieſem Boden erwachſen. Aber freilich kann dieſes Ideal der Glücksſteigerung je nach der Klaſſifikation, nach der Einzeldarſtellung und Ausführung der Luſtarten ſehr verſchieden ſich geſtalten und deshalb ebenſo leicht zu irreführenden ſocialen Ideen, zu einer falſchen Ordnung der menſchlichen Zwecke als zu einer richtigen führen. Auch dem feinſten Theoretiker des Utilitarismus, J. St. Mill, iſt es nicht gelungen zu beweiſen, daß ſeine Behauptung, es ſei vorzuziehen, ein unbefriedigter Menſch, als ein befriedigtes Schwein zu ſein, allgemein geteilt werde und als Princip den ſittlichen Fortſchritt beherrſchen könne.

Die idealiſtiſchen Moralſyſteme haben ihre Formeln und idealiſtiſchen Zweck - gedanken aus der ſittlichen und politiſchen Geſchichte der Menſchheit abſtrahiert; ich nenne nur: die Hingabe des Menſchen an Gott und an die geſellſchaftlichen Gemein - ſchaften ſowie die Ausbildung der Perſönlichkeit (mit der Selbſtbehauptung und Berufs - ausbildung), die fortſchreitende Vervollkommnung des einzelnen und der Geſellſchaft, die Ausbildung des Wohlwollens, des Mitleides, des ſog. Altruismus, die Ideen der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Gleichheit. Es ſind Ideale und Zweckideen, welche ſeit Jahrtauſenden ausgebildet, auch in allen höheren Religionen im Mittelpunkte der ethiſchen Betrachtung ſtehen, ja in allen Kulturmenſchen einen weſentlichen Beſtandteil ihres höheren Gefühlslebens, ihrer Pflichtbegriffe, ihres geſellſchaftlichen Handelns bilden. Ihre jeweilige Geſtaltung in den leitenden Geiſtern, in der herrſchenden Litteratur, in den Strömungen der Zeit drückt dem praktiſchen Leben, vor allem auch dem volks - wirtſchaftlichen und ſocialen, ſeinen Stempel auf; und zwar deshalb mehr als die noch ſo feinen Überlegungen und Vorſtellungen der Luſtvermehrung, weil ſolche Ideale mit dem Siege der höheren Gefühle ſtets an ſich an Kraft gewinnen und zumal in bewegten Zeiten die Herzen der Maſſe ganz anders erfaſſen, elektriſieren können als jene.

Ihre jeweilige praktiſche Einzelgeſtaltung erhalten dieſe Leitideen und Zweckideale durch die natürlichen, techniſchen, wirtſchaftlichen und ſocialen Zuſtände des betreffenden Volkes; ihre innerſte Natur aber liegt im ſittlichen Weſen des Menſchen und ſeiner geſellſchaftlich-hiſtoriſchen Entwickelung überhaupt; es ſind Ideale, die vor Jahrtauſenden ſchon in derſelben Grundrichtung wirkten wie heute und wie ſie in ſpäteren Jahrtauſenden wirken werden. Es wird keine Zeit kommen, in der man nicht Billigkeit und Gerechtig - keit, Wohlwollen und Hingabe an die ſocialen Gemeinſchaften als Ideale anerkennen wird. In ihrer allgemeinen Tendenz und Wirkſamkeit ſind dieſe Ideen das höchſte, was im menſchlichen Geiſte exiſtiert. Sie ſtellen auch die höchſten Kräfte der Geſchichte und der geſellſchaftlichen Entwickelung dar. Sie werden immer als die Führer auf dem Pfade des Fortſchrittes dienen. Die großen Zeiten und Männer ſind es, welche im Kampfe für ſie Reformen durchgeſetzt haben. Das gilt auch für alle wirtſchaftlichen und ſocialen Reformen.

Aber das ſchließt nicht aus, daß daneben in ihrem Namen oft das Thörichtſte gefordert wurde. Jedes einzelne dieſer Ideale drückt eine partielle Richtung der pſychiſch - ſittlichen und geſellſchaftlichen Entwickelung aus, ohne Maß, Grenzen, Geſtaltung derſelben, Möglichkeit der Durchführung anzugeben. Jedes hat ſich im praktiſchen Leben zu paaren mit einem gewiſſermaßen entgegengeſetzten Ideal: die Ausbildung des Individuums muß ſich der der Geſellſchaft anpaſſen und unterordnen; die Selbſtbehauptung muß ſich mit den Forderungen des Staates, die Freiheit mit der Ordnung des Ganzen vertragen. 74Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Der einſeitige, vom Klaſſen - und Parteigeiſt erfüllte Doktrinarismus, welcher ſtets gern im Namen der großen idealen Principien redet und einſeitig nur die Freiheit oder die Gleichheit oder die Gerechtigkeit auf die Fahne ſchreibt und aus einer möglichſt all - gemeinen Formel des einzelnen Princips die weitgehendſten Folgerungen zieht, jeden Verräter nennt, der nicht das Princip bis in ſein Extrem durchführen will, er irrt gar leicht, verlangt Wahres und Falſches nebeneinander, oft Unmögliches. Schlüſſe und Theorien, die ſo einſeitig begründet ſind, werden häufig zu ideologiſchen Kartenhäuſern, zu verheerenden revolutionären Fahnen, wenigſtens wenn ſie in der Hand von Dema - gogen und Schaumgeiſtern liegen. Ich verſuche nur an einigen, in das Wirtſchaftsleben eingreifenden Beiſpielen dies zu zeigen.

Es war ein großer, ſegensreicher Reformgedanke, als gegenüber unerhörtem Klaſſen - mißbrauch und veralteten feudalen Rechtsinſtitutionen der moderne Staat die Rechts - und Steuergleichheit, die Zugänglichkeit aller Berufe und Laufbahnen für alle Staats - bürger proklamierte, als neuerdings die Socialreform gleiches Recht für Arbeitgeber und - nehmer forderte. Aber das waren feſtumgrenzte partielle, den konkreten Zeitverhältniſſen richtig angepaßte Forderungen, während die Fanatiker der Gleichheit alle Unterſchiede der Menſchen leugnen oder mit Gewalt beſeitigen wollen, auch die Verſchiedenheit von Alter und Geſchlecht ignorieren, die von Einkommen und Beſitz aufheben wollen und ſo alle höhere Entwickelung, welche ſtets Differenzierung iſt, bedrohen.

Die Freiheit der Rede, der Wiſſenſchaft und des religiöſen Bekenntniſſes, die politiſche Freiheit in dem feſtumgrenzten Sinne, daß die Regierten auf die Regierung einen geſetzlichen Einfluß haben, und daß es für jede Regierung eine Grenze ihrer Macht gegenüber der Freiheitsſphäre des Individuums gebe, die wirtſchaftliche Freiheit in dem Sinne, daß die mittelalterlichen Zunft -, Markt - und Verkehrsſchranken fallen, das ſind für die Kulturſtaaten der Gegenwart große berechtigte Ideale. Aber wenn man ſchranken - loſe Freiheit im wirtſchaftlichen Kampfe der Starken mit den Schwachen einführt, ſo erzeugt man nur harten Druck und brutale Ausbeutung der unteren Klaſſen; wenn man jeden Betrug und jeden Wucher mit dem Schlagwort der Freiheit verteidigt, ſo verkennt man, wie wir ſchon ſahen, Moral, Sitte und Recht von Grund aus, wie man durch die Lehre von der Volksſouveränität, d. h. die Lehre, daß die Summe der Regierten die Regierung jeden Moment in Frage ſtellen dürfe, die politiſche Freiheit in ihr Gegen - teil, in die Herrſchaft von Demagogen und zufälligen Majoritäten oder gar Minoritäten über die Maſſe der vernünftigen und beſſeren Bürger verwandelt.

Die Idee der Gerechtigkeit, ſchon von den Juden, Griechen und Römern, dann von den neueren Kulturvölkern, von Religion, Philoſophie und poſitivem Rechte in langer Entwickelung ausgebildet, an die edelſten Gefühle anknüpfend, ſpielt in allem geſellſchaft - lichen Leben, vor allem auch in der Volkswirtſchaft eine maßgebende Rolle; ſie giebt für alles geſellſchaftliche Leben die idealen Maßſtäbe, nach denen geprüft wird, wie weit die Wirklichkeit dem Gerechten entſpreche; ſie begleitet unſere wirtſchaftlichen und ſocialen Handlungen und unterwirft ſie einer ſtets erneuten Kritik. Bei jedem Tauſch - geſchäft, bei jedem gezahlten Lohn, bei jeder wirtſchaftlichen Inſtitution wird gefragt, ob ſie gerecht ſeien. Und aus den Antworten entſpringen Gefühle, Urteile, Willens - anläufe, die ſich wenigſtens teilweiſe in Reformtendenzen, Änderungen der Sitte, des Rechtes, der ganzen volkswirtſchaftlichen Verfaſſung umſetzen. Wer weiß nicht, daß die Gewerbefreiheit, die Handelsfreiheit, der freie Arbeitsvertrag im Namen der Gerechtigkeit gefordert wurde und nur unter dieſer Fahne ſiegte? daß aber auch alle Forderungen des Socialismus an Gefühle und Betrachtungen anknüpfen, welche den Betreffenden als Gerechtigkeitsforderungen ſich darſtellen, daß jede Revolution und alle ihre Greuel ſich mit dieſer Fahne decken zu können glaubten.

Daraus ergiebt ſich ſchon, daß das Princip der Gerechtigkeit kein einfaches iſt, aus dem alle ihre Forderungen mit unfehlbarer Sicherheit, mit einer für alle Menſchen gleichen Evidenz abzuleiten wären. Es iſt eine der ſtärkſten idealen Lebensmächte. Mit immer gleicher pſychologiſcher Notwendigkeit vergleicht unſer Inneres ſtets die irgendwie zuſammengehörigen Menſchen und ſtellt ſie in einer Ordnung, die ihren Eigenſchaften75Das Weſen der ſog. ethiſchen Principien; die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft.und Handlungen entſpricht, den Gütern, Ehren, ſocialen Vorzügen, Übeln und Strafen gegenüber, welche zu verteilen in der Macht der Geſellſchaft liegt, findet es gerecht, wenn in dieſen beiden Reihen eine Proportionalität ſtattfindet, ungerecht, wenn ſie fehlt, bezeichnet es als ungerecht, wenn Individuum oder Gruppe gegenüber der Wertung, der ſie unterliegen, zu viel von den Vorteilen, zu wenig von den Nachteilen oder Strafen erhalten.

Ich habe anderweitig verſucht, den hier vorliegenden pſychologiſch-ſocialen Prozeß, ſoweit er das wirtſchaftliche Leben betrifft, genauer zu analyſieren und zu zeigen, wie die ſucceſſive Ausbildung der komplizierteren wirtſchaftlichen Verhältniſſe einerſeits, der feineren Gefühle und der geläuterten Urteile in Bezug auf das Gerechte andererſeits immer wieder zu anderen praktiſchen Reſultaten führt, wie nur feſt kryſtalliſierte, in breiten Schichten zur Herrſchaft gelangende Maßſtäbe des Gerechten nach und nach das poſitive Recht und die Inſtitutionen beherrſchen können, wie die formale Grenze aller Rechts - ſatzungen und das Eingreifen gleichberechtigter anderer oberſter ſittlicher Ideale die Durchführbarkeit des Gerechten immer einengt; ich habe hauptſächlich zu zeigen geſucht, daß die Idee der Gerechtigkeit, indem ſie jedem einzelnen das Seine zuteilen will, ſtets mehr individualiſtiſch iſt, die Forderungen der Geſamtheit und ihrer Zwecke nicht ebenſo in den Vordergrund rückt, daß alſo ſchon deshalb die idealen Forderungen der Gerech - tigkeit nicht ſtets im poſitiven Recht praktiſch durchführbar ſind. Ich kann hier das einzelne dieſer Unterſuchung nicht wiederholen, ebenſowenig den Nachweis, wie es kommt, daß verſchiedene Menſchen, Klaſſen, Parteien das Gerechte immer leicht verſchieden empfinden und beurteilen.

Das Angeführte genügt als Beweis dafür, daß die großen ſittlichen Ideale, ſo berechtigt ſie im ganzen ſind, ſo heilſam ſie als Fermente des Fortſchrittes bei richtiger Begrenzung und bei richtiger Verbindung untereinander wirken, doch vereinzelt leicht zu falſchen Forderungen und zu falſcher Beurteilung des Beſtehenden führen. Sie ſtellen ſtets begrenzte hiſtoriſche Richtungen des Geſchehens, partiell berechtigte Zwecke dar. Sie haben ſich erſt im Leben, in der Ausführung, im Kampfe der Ideen zu bewähren und zu geſtalten. Sie werden in der Theorie und im Kampfe der Parteien ſtets leicht miß - verſtanden und überſpannt, weil die Grenzen nicht mit ihrer allgemeinen Formulierung gegeben ſind. Wenn der Liberale heute ſagt: die moderne Volkswirtſchaft ruht auf perſönlicher Freiheit und freiem Eigentum, ſo iſt das ſo wahr und ſo falſch, als wenn der Socialiſt ſagt, ſie ruht auf zunehmender Vergeſellſchaftung des Produktions - und des Verteilungsprozeſſes; in beiden Fällen iſt eine thatſächliche und berechtigte Bewegungstendenz abſtrakt ohne ihre Grenzen in einem allgemeinen Satze ausgeſprochen und daher leicht zu falſchen Schlüſſen zu brauchen.

Alle die vorſtehenden Ausführungen werden uns nun zugleich erleichtern, die Ge - ſchichte der volkswirtſchaftlichen Theorien und Syſteme zu verſtehen, zu der wir uns jetzt wenden. So weit ſie in älterer Zeit auseinander gehen, liegt es weſentlich daran, daß einſeitig gewiſſe große ſittliche Ideale, die als berechtigte Zeitforderungen natur - gemäß im Vordergrunde ſtanden, als Bewegungen und Forderungen aller Zeiten, als einſeitige Grundlage der Wiſſenſchaft überhaupt hingeſtellt wurden.

III. Die geſchichtliche Entwickelung der Litteratur und die Methode der Volkswirtſchaftslehre.

1. Die Anfänge volkswirtſchaftlicher Lehren bis ins 16. Jahrhundert.

  1. Über Definition der Volkswirtſchaftslehre: Schmoller, Über einige Grundfragen der Socialpolitik und Volkswirtſchaftslehre. 1898.
  2. Derſ., Art. Volkswirtſchaft und Volkswirtſchafts - lehre und - Methode, im H.W. d. St. W.; die erſten Paragraphen der meiſten Lehrbücher. Über die griechiſch-römiſche Litteratur: Bruno Hildebrand, Xenophontis et Aristotelis doctrina de oeconomia publica. 1845.
  3. Stein, Die ſtaatswiſſenſchaftl. Theorie der Griechen von Plato und Ariſtoteles. Z. f. St. W. 1853.
  4. Karl Hildebrand, Geſchichte und Syſteme der Rechts -76Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.und Staatsphiloſ. 1. Altertum. 1860.
  5. L. Schmidt, Ethik der alten Griechen. 2 Bde. 1882.
  6. Zeller, Die Philoſophie der Griechen. Zuerſt 1844, jetzt 6 Bde., 1882 92, und derſ., Grundriß der Geſchichte der griech. Philoſophie. 6. Aufl. 1882 98.
  7. Dümmler, Prolegomena zu Platos Staat. 1891.
  8. Pöhlmann, Geſchichte des antiken Kommunismus und Socialismus. 1893.
  9. Oertmann, Die Volkswirtſchaftslehre des Corpus juris civilis. 1891. Über die chriſtliche Litteratur: v. Eicken, Geſchichte und Syſtem der mittelalterlichen Welt - anſchauung. 1887.
  10. Adolf Harnack, Die evangeliſch-ſociale Aufgabe im Lichte der Geſchichte der Kirche. Preuß. Jahrb. Bd. 76. 1894.
  11. Endemann, Die nationalökonomiſchen Grundſätze der kanoniſtiſchen Lehre. J. f. N. 1. F. 1. 1863.
  12. Funk, Die ökonomiſchen Anſchauungen der mittel - alterlichen Theologen. Z. f. St. W. 1869.
  13. Derſ., Zins und Wucher im chriſtlichen Altertum. 1875.
  14. Schmoller, Zur Geſchichte der nationalökonom. Anſichten in Deutſchland während der Reformationsperiode. Z. f. St. W. 1861.
  15. Dilthey, Auffaſſung und Analyſe des Menſchen im 15. u. 16. Jahrh. Archiv f. Geſch. d. Philoſophie Bd. 4 u. 5. 1891 92.

34. Einleitung. Definition der Volkswirtſchaftslehre. Die Keime aller Wiſſenſchaft liegen in der älteren Volkspoeſie, in welcher Glauben und Ideale der Menſchen ihren erſten Ausdruck fanden, und in den Regelſammlungen, welche Prieſter und Richter veranſtalteten und erklärten. In dieſen Regeln wurde Sitte, Ritual, Recht und Verhalten in allen möglichen Lebenslagen verzeichnet; mit dem erwachenden Nach - denken ſchloſſen ſich daran Überlegungen, Urteile, Änderungsvorſchläge. So wurde auch die wirtſchaftliche Sitte und das wirtſchaftliche Verhalten nach und nach erörtert; zumal als das volkswirtſchaftliche Leben in die neuen, komplizierten Bahnen der Geld - und Kreditwirtſchaft, der Gewerbe - und Handelsentwickelung überging, die Formen der alt - hergebrachten Naturalwirtſchaft ſich löſten, da traten neben die überlieferten Vorſtellungen die Kritik, die neuen Vorſchläge über wirtſchaftliche Moral und wirtſchaftliche Geſetze, über Geldweſen, Handelserwerb, Steuern und Kolonien; es entſtand eine lebendige, praktiſche Erörterung und wir ſehen ihren Reflex in den ethiſchen und politiſchen Schriften der Zeiten, welche volkswirtſchaftliche und ſociale Fragen zum erſtenmale zuſammenhängend beſprachen. So haben zuerſt die Griechen im 5. und 4. Jahrhundert vor Chriſti in ihren philoſophiſchen Schriften wiſſenſchaftlich-volkswirtſchaftliche Probleme erörtert. Und ähnlich begann man ſeit der Renaiſſance den volkswirtſchaftlichen Er - ſcheinungen eine größere Aufmerkſamkeit zu widmen. Die Fragen erlangten raſch in den philoſophiſchen und ethiſchen Syſtemen, in den Staatstheorien des 16. 18. Jahr - hunderts einen breiteren Raum. Im letzteren wurde eine beſondere Unterweiſung der ſtudierenden Jugend in volkswirtſchaftlichen Fragen Bedürfnis. Und nun führte der große Aufſchwung des wiſſenſchaftlichen Denkens überhaupt zu der beſonderen Wiſſen - ſchaft der Nationalökonomie oder Volkswirtſchaftslehre; d. h. die volkswirtſchaftlichen Sätze und Wahrheiten und die als Ideal empfohlenen volkswirtſchaftlichen Maßregeln wurden aus der Moralphiloſophie, dem Naturrecht und der Staatslehre ausgelöſt und zu einem ſelbſtändigen Syſteme durch gewiſſe Grundgedanken, wie ſtaatliche Wirtſchafts - politik, Geldcirkulation, natürlicher Verkehr, Arbeit und Arbeitsteilung verbunden und als ſelbſtändiges Wiſſensgebiet hingeſtellt. Seither giebt es in der Litteratur, im Unterricht, im Volksbewußtſein die beſondere Wiſſenſchaft der Volkswirtſchaftslehre, welche die volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen beſchreiben und definieren, ein zutreffendes Bild von ihnen auf Grund wiſſenſchaftlicher Begriffe im ganzen und einzelnen entwerfen, ſowie dieſe Erſcheinungen als ein zuſammenhängendes Ganzes und als Teil des geſamten Volkslebens begreifen, das einzelne aus ſeinen Urſachen erklären, den volkswirtſchaftlichen Entwickelungsgang verſtehen lehren, die Zukunft womöglich vorausſagen und ihr die rechten Wege bahnen will.

Dieſer letzte praktiſche Geſichtspunkt iſt es, der neben dem erſt nach und nach ſich ausbildenden rein theoretiſchen Intereſſe den Anſtoß zu allem Nachdenken und aller wiſſenſchaftlichen Erörterung gegeben hat. Und daher iſt es begreiflich, daß die älteren Anfänge des volkswirtſchaftlichen Nachdenkens hauptſächlich in den Moralſyſtemen und dem an ſie anſchließenden Naturrecht enthalten ſind. Was wir bis ins 17. Jahr - hundert über volkswirtſchaftliche Lehren berichten können, ſteht in der Hauptſache auf dieſem Boden.

77Antike volkswirtſchaftliche Litteratur.

35. Die griechiſch-römiſchen Lehren von Staat, Geſellſchaft, Moral, Recht und Volkswirtſchaft gehören der Epoche an, in welcher theoretiſch zum erſtenmale ein gedankenmäßiger Zuſammenhang des geſellſchaftlichen Lebens gefunden und in welcher praktiſch die älteren kleinen Städteſtaaten ſich erſt in das makedoniſche, dann in das römiſche Weltreich auflöſten. In Griechenland iſt es das 5. bis 3. Jahrhundert vor Chriſti, in Rom das Ende der Republik, der Anfang des Principats. Dort hatten in raſcher Entwickelung die alten ariſtokratiſchen Verfaſſungen der äußerſten Demokratie Platz gemacht: den doriſchen Ackerbauſtaaten ſtand die Blüte des Seehandels und der Gewerbe bei den Joniern gegenüber; Geldwirtſchaft, Kredit, Spekulation, Luxus, ſcham - loſe Erwerbsſucht hatten hier Platz gegriffen, die alten Zuſtände aufgelöſt; der Mittel - ſtand verſchwand; die wenigen Reichen und die Maſſe der armen Bürger, die nicht arbeiten, ſondern vom Staate leben wollten, ſtanden ſich aufs ſchroffſte gegenüber; ver - nichtende ſociale Kämpfe und kommuniſtiſche Projekte waren an der Tagesordnung. Unter dem Einfluß der großen Verfaſſungs - und Wirtſchaftskämpfe entſtand die uns heute noch, wenigſtens bruchſtückweiſe, erkennbare Litteratur.

Während der Verächter der Demokratie, der große Heraklit ( 475 v. Chr.) noch alle Geſetze und alle Ordnung der Geſellſchaft auf die Gottheit zurückführt und zur Eintracht im Staate mahnt, ſind es die Lehrer und Freunde der ſiegenden Demokratie, die Sophiſten, welche das Individuum, ſeine Luſt und ſeinen Nutzen als Princip ihrer Ethik, Recht und Geſetz als willkürliche Satzungen, als ein Machwerk der Starken hin - ſtellen, die Geſellſchaft unter dem Bilde des Kampfes der Starken mit den Schwachen begreifen, den Staat als durch Vertrag entſtanden betrachten. Ihnen ſtellt Plato ( 347 v. Chr.) ſeine Lehre von der Objektivität des Guten und der Herrſchaft der göttlichen Ideen in der Welt und das Ideal eines ariſtokratiſch-agrariſchen Staates entgegen, in welchem eine philoſophiſche Beamtenklaſſe ohne Privatbeſitz regiert, in dem der Grundbeſitz, der Erwerb, die Aus - und Einfuhr, die Erziehung durch ſtrenge Ordnungen gebunden und reguliert ſind. Seine beiden Werke über den Staat und über die Geſetze ſind die tiefernſten Mahnworte zur Umkehr und Beſſerung an die genuß - und herrſch - ſüchtige Demokratie ſeiner Vaterſtadt Athen, an deren Zukunft er verzweifelt. Er iſt nicht Kommuniſt, ſondern verlangt nur für die kleine herrſchende Ariſtokratie Verzicht auf Sondereigen und Sonderkinder, um deren Egoismus und Habſucht zu bannen.

Dem großen Idealiſten treten teils gleichzeitig, teils direkt folgend die drei Realiſten zur Seite: der Hiſtoriker Thukidides, der ſeine hiſtoriſche Erzählung aufbaut auf die Beobachtung und Würdigung der wichtigſten ſtaatlichen und volkswirtſchaftlichen Er - ſcheinungen ſeiner Zeit; der Feldherr Xenophon, der neben hiſtoriſchen ſtaatswiſſenſchaft - liche und volkswirtſchaftliche Werke und darin über Staatseinnahmen, Hauswirtſchaft, Geldweſen, Arbeitsteilung ſchreibt und den geſunkenen Republiken das Bild eines edlen Königtums vorhält; endlich Ariſtteles (385 322 v. Chr.), dem die vollendetſte Ver - bindung empiriſcher Beobachtung mit generaliſierender wiſſenſchaftlicher Betrachtung im Altertum gelingt, der mit ſeiner Ethik, Politik und Ökonomik auch als der Ahnherr aller eigentlichen Staatswiſſenſchaft gelten kann. Sein Hauptintereſſe iſt den politiſchen Verfaſſungsformen zugewendet; aber auch über das wirtſchaftliche und ſociale Leben hat er bedeutſame Wahrheiten ausgeſprochen.

Überall vom praktiſchen Leben ausgehend, knüpft Ariſtoteles das Gute und Sitt - liche an das Natürliche, die Tugenden an die von der Vernunft regulierten Triebe an. Staat und Geſellſchaft läßt er nicht aus dem Kampfe feindlicher Individuen, aus Not und Vertrag, ſondern aus einem angeborenen geſellig-ſympathiſchen Triebe hervorgehen. Der Staat iſt ihm nicht ein möglichſt einheitlich organiſierter Menſch im großen, wie dem Plato, ſondern eine Vielheit von ſich ergänzenden Individuen, Familien und Gemeinden; er betrachtet ihn als ein in der Natur begründetes Zweckſyſtem, in dem die Teile ſich dem Ganzen unterzuordnen haben, deſſen Selbſtändigkeit und Harmonie den Herrſchenden und Beherrſchten, den Klaſſen und den Individuen ihre Sphäre, ihre Pflichten vorſchreibt. Er ſchildert, wie aus der Arbeitsteilung und Beſitzverteilung die ſocialen Klaſſen und Berufsſtände ſich bilden. Er ſetzt die natürliche alte Haushalts -78Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.kunſt, die in der Urproduktion wurzelt, der neuen Gelderwerbskunſt, die mit dem Handel entſteht, gegenüber; er unterſucht, welche pſychologiſchen und ſittlichen Folgen die ver - ſchiedenen Erwerbsarten und Beſchäftigungen haben. Allen Erwerb, der ohne Schranken gewinnen will, der über das Bedürfnis hinaus und mit dem Schaden anderer gemacht wird, verurteilt er als verderblich. Das Geld betrachtet er als ein notwendiges Tauſchmittel und Wertäquivalent, aber es ſoll keine Zinſen tragen, denn Geld gebiert kein Geld. Auf Grund ſeiner Einſicht in die ſittliche und politiſche Entartung der griechiſchen Demo - kratien und Handelsſtädte verlangt Ariſtoteles, daß die höher gebildeten und beſitzenden Klaſſen im Staate herrſchen, die arme, taglöhnernde Volksklaſſe ohne politiſche Rechte ſei. Doch ſcheint ihm die Geſellſchaft die beſte, wo der Mittelſtand überwiegt. In Bezug auf die ſocialen Pflichten des Staates betont er vor allem ſeine Sorge für Er - ziehung; denn alle Tugend iſt ihm Folge der Gewöhnung. Er giebt auch zu, daß manches im Staate gemeinſam ſein ſoll; im übrigen aber verlangt er getrenntes Eigentum. Als Mittel, den bleibenden Wohlſtand der unteren Klaſſen zu heben, verlangt er Koloni - ſation und Landzuweiſungen. An der von manchen bereits als widernatürlich bezeichneten Sklaverei will er nicht gerüttelt haben; die großen Unterſchiede der Raſſe, der Fähig - keiten erkennend, meint er, wenigſtens die Sklaverei ſei gerechtfertigt, wo der Sklave ſo verſchieden vom Herrn ſei, wie die Seele vom Leib. Die zahlreichen Projekte ſeiner Zeit, die auf Güter - und Weibergemeinſchaft zielen, unterzieht er der ſchärfſten Kritik: was vielen gemeinſam iſt, wird ohne Sorgfalt beſorgt und führt ſtets zu Händeln, wie man bei jeder Reiſegeſellſchaft ſieht; gemeinſame Kinder werden ſchlecht erzogen; die Bande der Liebe werden bis zur Wirkungsloſigkeit verwäſſert, wenn der Bürger tauſend und mehr Söhne hat. Die Revolutionen, die aus den wirtſchaftlichen Mißſtänden und den Fehlern der Regierenden entſpringen, erörtert er eingehend; aber er glaubt nicht, daß hier ſocialiſtiſche Projekte helfen. Eine erzwungene Gleichheit des Beſitzes hält er für weniger durchführbar, als eine ſtaatliche Regelung der Kindererzeugung, welcher er nicht abgeneigt iſt.

Weder die idealiſtiſchen Lehren und Ideale Platos, noch die realiſtiſchen Ariſtoteles konnten die griechiſche Kultur in ihrem Werdegang aufhalten. Und in ähnlicher Weiſe haben ſich einige Menſchenalter ſpäter die Dinge in Rom und Italien entwickelt. Aus dem individualiſtiſchen Egoismus und der cyniſchen Genußſucht der Zeit, aus den Klaſſenkämpfen und Bürgerkriegen, aus den Rivalitäten der Kleinſtaaten gab es keinen anderen Ausweg als die eiſerne Militärdiktatur in geordneten bureaukratiſchen Welt - reichen und den weltflüchtigen Idealismus der Philoſophie und des Chriſtentums, beides eng zuſammengehörige, einander bedingende Erſcheinungen. Das Imperium der Cäſaren war halb demokratiſchen Urſprunges und ſuchte durch ſtaatsſocialiſtiſche Brotſpenden und ähnliche Maßregeln die unteren Klaſſen zu befriedigen; aber vor allem ſtellte es Ruhe, Frieden und Ordnung wieder her. Eine Nachblüte geiſtiger und wirtſchaftlicher Kultur trat ein; Landbauſchriftſteller, Juriſten, Hiſtoriker und Philoſophen erörterten nun im Anſchluß an die griechiſchen Autoren auch mannigfach einzelne volkswirtſchaftliche Fragen. Aber zu einer Wiſſenſchaft der Volkswirtſchaft kam es weder in Alexandria noch in Rom, während eine ſolche des Rechtes, der Phyſik, der Medizin in jenen Tagen entſtand. Die geiſtig vorherrſchenden philoſophiſchen Schulen des Epikur und der Stoa waren nicht darauf gerichtet, ein tieferes Studium der geſellſchaftlichen Einrichtungen herbeizuführen. Epikurs Atomiſtik erklärt, wie die Sophiſten, die Geſellſchaft aus dem Zuſammentreten ſelbſtſüchtiger, ſich bekämpfender Individuen, die einen Staatsvertrag aus Nützlichkeits - erwägungen eingehen; der epikureiſche Weiſe zieht ſich aus der Welt, aus der Ehe, dem Familienleben, dem Staate zurück; ein vernünftiges, ſinnlich-geiſtiges Genußleben, das in Gemütsruhe kulminiert, das Streben nach Ruhm und Reichtum ausſchließt, iſt ſein Lebensideal; ein feſter monarchiſcher Staat, widerſtandsloſer Gehorſam ſind die politiſchen Forderungen der paſſiv müden Lehre. Dieſen Individualiſten der genießenden ſtehen die Stoiker als die Individualiſten der entſagenden Gemütsruhe gegenüber. Sie erheben ſich mit ihrer tiefſinnigen pantheiſtiſchen Weltanſchauung zwar turmhoch über Epikur, aber praktiſch kamen ſie doch zu ähnlichen Ergebniſſen. Die Natur iſt ihnen ein Syſtem79Antike Philoſophie und Chriſtentum.von Kräften, das von der göttlichen Centralkraft, der Vernunft, bewegt wird. Auch im Menſchen lebt das göttliche Geſetz, die naturgeſetzliche Vernunft, die ihn zur Gemeinſchaft führt, die das menſchliche Handeln und die Geſellſchaft regiert. Im Anfange beſtand ein goldenes Zeitalter, das währte, ſo lange das reine Naturgeſetz herrſchte; aber auch ſpäter iſt das Naturrecht neben den falſchen poſitiven Geſetzen vorhanden; die menſchlichen Satzungen müſſen nur wieder in Übereinſtimmung mit dem Naturgeſetz gebracht werden: das wird der Fall ſein, wenn alle Leidenſchaften von der Vernunft gezähmt ſind, wenn alle Menſchen einen Staat ausmachen, in dem die Einzelſtaaten enthalten ſind, wie die Häuſer in einer Stadt. Mag ein ſtoiſcher Kaiſer, wie Mark Aurel, den menſch - lichen Trieb nach Gemeinſchaft und das Vernünftige der Staatseinrichtungen betont haben, mögen die von der Stoa beherrſchten römiſchen Juriſten für das Verſtändnis einer feſtgefügten herrſchaftlichen Staatsordnung energiſch gewirkt haben, das welt - bürgerlich-quietiſtiſch-brüderliche, geſellſchaftliche Ideal der entſagenden, den Selbſtmord verherrlichenden Stoiker blieb jene Weltgemeinſchaft Zenos ohne Ehe, ohne Familie, ohne Tempel, ohne Gerichtshöfe, ohne Gymnaſien, ohne Münze , d. h. ein unrealiſier - barer Traum, aus dem keine praktiſche Kraft des Schaffens und keine lebenskräftige Theorie erwachſen konnte.

36. Das Chriſtentum. Der Neuplatonismus rückte die ſinnliche Welt noch eine Stufe tiefer als die Stoa; er ſah im Körper das Gefängnis der Seele, im Tode die Befreiung von Sünde und Zeitlichkeit. Die chriſtliche Erlöſungslehre liegt in der - ſelben Richtung. Die Wiedervereinigung mit Gott, die Erlöſung von Sünde und Welt iſt das Ziel, das alles irdiſche Thun als eine kurze Vorbereitungszeit fürs Jenſeits erſcheinen läßt; je mehr der Menſch den irdiſchen Genüſſen und Gütern entſagt, deſto beſſer hat er ſeine Tage benützt. Stoa, Neuplatonismus und Chriſtentum ſind Stufen derſelben Leiter, ſind die notwendigen Endergebniſſe eines geiſtig-ſittlichen Prozeſſes, der aus dem Zuſammenbruch der antiken Kultur zum Höhepunkt des religiös-ſittlichen Lebens der Menſchheit führt. Nur aus der Stimmung der Verzweiflung an Welt und irdiſchem Daſein heraus konnte jene chriſtliche Sehnſucht nach Gott und Erlöſung ent - ſtehen, welche eine Anſpannung der ſittlichen Kräfte und ſympathiſchen Gefühle ohne Gleichen für Jahrtauſende und damit für die ganze Zukunft eine neue moraliſche und geſellſchaftliche Welt erzeugte.

Freilich war es nur in den langen Jahrhunderten des Niederganges der alten wirt - ſchaftlichen Kultur und der vorherrſchenden Naturalwirtſchaft des älteren Mittelalters möglich, daß Weltflucht faſt noch mehr als brüderliche Liebe, Ertötung der Sinne und beſchaulicher Quietismus als höchſte Ideale galten, daß man Arbeit und Eigentum weſentlich als Fluch der Sünde betrachtete, daß man den Gelderwerb überwiegend als Wucher brandmarkte, ein Almoſengeben um jeden Preis, ohne Überlegung des Erfolges, empfehlen konnte. Es iſt heute leicht, die Überſpanntheit und Unausführbarkeit vieler praktiſcher Forderungen des mittelalterlich-asketiſchen Chriſtentums nachzuweiſen; noch leichter zu zeigen, daß ein irdiſcher Gottesſtaat im Sinne Auguſtins auch der Welt - herrſchaft und dem Millionenreichtume der römiſchen Kirche durchzuführen unmöglich war. Die vollſtändige Weltflucht und die Indifferenz gegen alles Irdiſche artete in trägen Quietismus, in falſches Urteil über Arbeit und Beſitz, in Zerſtörung der Geſundheit, die Überſpannung der Brüderlichkeit in kommuniſtiſche Lehren, in Verurteilung aller höheren Wirtſchaftsformen und Auflöſung der Geſellſchaft aus. Aber ebenſo ſicher iſt, daß dieſe Einſeitigkeiten notwendige Begleiterſcheinungen jenes moraliſchen Idealismus waren, der wie ein Sauerteig die Völker des Abendlandes ergriff und emporhob. Es entſtand mit dieſer chriſtlichen Hingabe an Gott, mit dieſen Hoffnungen auf Unſterblichkeit und ewige Seligkeit ein Gottvertrauen und eine Selbſtbeherrſchung, die bis zum moraliſchen Heroismus ging; eine Seelenreinheit und Selbſtloſigkeit, ein ſich Opfern für ideale Zwecke wurde möglich, wie man es früher nicht gekannt. Die Idee der brüderlichen Liebe, der Nächſten - und Menſchenliebe begann alle Lebensverhältniſſe zu durchdringen und erzeugte eine Erweichung des harten Eigentumsbegriffes, einen Sieg der geſellſchaftlichen und Gattungsintereſſen über die egoiſtiſchen Individual -, Klaſſen - und Nationalintereſſen,80Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.eine Fürſorge für die Armen und Schwachen, die man im Altertum vergeblich ſucht. Die Idee der Gleichheit vor Gott trat den beſtehenden harten Geſellſchaftsunterſchieden verſöhnend, mildernd zur Seite; in jedem, ſelbſt dem Niedrigſten, wurde die Würde des Menſchen anerkannt, wenn auch die ſpätere ariſtokratiſche Kirchenlehre den Ständeunter - ſchied wieder als eine göttliche Fügung deutete.

Die ethiſche und die praktiſche Einſeitigkeit der mittelalterlich-chriſtlichen Ideale fand ihre Auflöſung in der weltlichen Entartung der romaniſch-regimentalen, hierarchiſchen, nach politiſcher Weltherrſchaft ſtatt nach religiös-ſittlicher Verbeſſerung ſtrebenden Kirche, in den veränderten wirtſchaftlich-ſocialen Lebensbedingungen der abendländiſchen Völker ſeit dem 13. Jahrhundert, in dem Wiederaufleben der antiken Studien und des wiſſen - ſchaftlichen Betriebes. Schon Thomas von Aquino trägt im 13. Jahrhundert in vielem wieder die nationalökonomiſchen Lehren von Ariſtoteles vor; und in der politiſchen und ethiſchen Gedankenbewegung der folgenden Jahrhunderte wächſt der Einfluß des römiſchen Rechtes, der Stoa und Epikurs neben der Macht der neuen wirtſchaftlichen Thatſachen. In der italieniſchen Renaiſſance des 15. Jahrhunderts entdeckt das Individuum gleichſam ſich ſelbſt und ſein Recht an eine lebensvolle Wirklichkeit. In der deutſchen Reformation des 16. Jahrhunderts ſchüttelt die germaniſche Welt das geiſtige Joch der entarteten römiſchen Kirche ab und findet eine neue, höhere Form der Frömmigkeit, welche nicht mehr myſtiſchen Quietismus und Weltflucht fordert, welche jedem einzelnen den freien Zugang zu Gott läßt, dieſen nicht mehr allein durch die Prieſterkirche vermittelt, welche mit dem höchſten Gottvertrauen träftigſtes aktives Handeln in dieſer Welt verbinden will. Eine Lehre, welche in der Arbeit jedes Hauſes, jeder Werkſtatt, jeder Gemeinde ein Werk Gottes ſah, führte erſt recht die chriſtlichen Tugenden in das Leben ein und gab den germaniſch-proteſtantiſchen Staaten jene aktiv ethiſchen Eigenſchaften, jene Ver - tiefung des Volkscharakters, jene Stärkung der Familien - und Gemeingefühle, welche ſie bis heute an die Spitze des geiſtigen, politiſchen und volkswirtſchaftlichen Fortſchrittes ſtellte. Wie großes aber praktiſch ſo die Reformation leiſtete, wie ſehr ſie ſich bemühte, aus ihren dogmatiſchen und philoſophiſchen Prämiſſen und Idealen heraus zu gewiſſen Lehren über Staat, Geſellſchaft und ſociales Leben zu kommen, eine ſelbſtändige und große Leiſtung auf dieſem Gebiete war ihr doch verſagt. Was die Reformatoren über wirtſchaftliche und ſociale Dinge lehrten, knüpft halb an die Kirchenväter und das Ur - chriſtentum, halb an die Stoa an; was ſie praktiſch vorſchlugen, war von den ver - ſchiedenen realen Zuſtänden ihrer Umgebung bedingt und war ſo in Wittenberg etwas anderes als in Zürich oder Genf. Es kam teilweiſe über theoretiſche Anläufe nicht hinaus; die Wirtſchafts - und Socialpolitik Luthers war nicht frei von Fehlgriffen, mißverſtand die Gärung der Bauern, wußte das brüderliche Gemeindeleben nicht zu beleben, wie es den Reformierten gelang. Die Bedeutung der Reformatoren für die Staatswiſſenſchaft liegt ſo nicht ſowohl in dem, was ſie etwa über Wucher, Geld, ſociale Klaſſen, Obrigkeit ſagten, als in dem ſittlichen Ernſt ihrer dem Leben zugewendeten Moral, in dem Hauche geiſtiger Freiheit, der von ihnen ausging, in dem Verſuche, die Überlieferung antiker Wiſſenſchaft mit chriſtlicher Geſittung und Empfindung zu verbinden. Aus dieſen Ten - denzen entſprang dann zu Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts jenes Naturrecht, das zum erſtenmal ſeit den Alten den ſelbſtändigen wiſſenſchaftlichen Verſuch einer Lehre von Staat, Recht, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft enthält.

2. Das Wiedererwachen der Wiſſenſchaft und das Naturrecht des 17. Jahr - hunderts.

  1. Zur Litteraturgeſch. der Volkswirtſchaftslehre überhaupt: Kautz, Die geſchichtl. Entwickelung der Nationalökonomik und ihrer Litteratur. 1860.
  2. Dühring, Kritiſche Geſchichte der National - ökonomie und des Socialismus. 1871. 3. Aufl. 1879.
  3. Roſcher, Geſchichte der Nationalökonomik. 1881. 2. Aufl. 1891.
  4. Eiſenhart, Geſchichte der Nationalökonomik. 1881 u. 91.
  5. Schmoller, Zur Litteraturgeſchichte der Staats - und Socialwiſſenſchaften. 1888.
  6. Ingram, Geſchichte der Volkswirtſchaftslehre. Deutſch 1890. 81Die Reformation und die neueren Wiſſenſchaften.Zum Naturrecht: Stahl, Geſchichte der Rechtsphiloſophie. 1830. 5. Aufl. 1878.
  7. Hinrichs, Geſchichte des Natur - und Völkerrechts. 1 3, 1848 52 (geht von der Reformation bis Wolf).
  8. Vorländer, Geſchichte der philoſophiſchen Moral, Rechts - und Staatslehre der Engländer und Franzoſen. 1855.
  9. Bluntſchli, Geſchichte des allgemeinen Staatsrechts und der Politik. 1864.
  10. Dilthey, Das natürliche Syſtem der Geiſteswiſſenſchaften im 17. Jahrhundert. Archiv f. Geſch. d. Philoſ. 1892 93.
  11. v. Seydel und Rehm, Geſchichte der Staatsrechtswiſſenſchaft. 1896.

37. Die Anfänge der neueren Wiſſenſchaft überhaupt. Aus der Wiederbelebung der antiken Studien, wie ſie ihren Ausdruck im Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts fand, und aus der Reformation entſprang eine geiſtige Bewegung, die mit Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton zur Begründung der Naturwiſſenſchaften, mit Bacon, Descartes, Spinoza und Leibniz zu einer der antiken ebenbürtigen Philo - ſophie und im Zuſammenhange mit den praktiſchen Bedürfniſſen der neuen Staats - und Geſellſchaftsbildung in Bodinus, Hobbes, Hugo Grotius, Pufendorf, Shaftesbury, Adam Smith erſt zu einer allgemeinen Staatslehre (dem ſog. Naturrecht), dann zur Nationalökonomie führte. Alle dieſe wiſſenſchaftlichen Anläufe ſtehen auf demſelben Boden. Über die Kirchen - lehre der Reformation hinausgehend, traut ſich die menſchliche Vernunft direkt die Gott - heit, die Natur und das Menſchenleben zu begreifen; die Wiſſenſchaft ſucht ſich loszulöſen von Offenbarung und kirchlicher Satzung; ſie traut ſich im ſtolzen Gefühle der erreichten Mündigkeit den Flug nach oben, auch auf die Gefahr hin, daß er teilweiſe ein Ikarus - flug werde. Das Bedürfnis, über Natur und Welt, Staat und Geſellſchaft gedanken - mäßig Herr zu werden, iſt ſo groß und ſo dringlich, die Staatsmänner wie die Gelehrten jener Tage haben einen ſo ſtarken poſitiven Zug, haben ſo feſten Glauben an ſich und die Reſultate ihrer Überlegungen, daß Kritik und Zweifel immer wieder raſch in feſt geſchloſſene Syſteme umſchlagen, welche beſtimmte Ideale enthalten, an welchen mit Leidenſchaft gehangen, für welche praktiſch gekämpft wird. Wenigſtens für die wiſſen - ſchaftlichen Verſuche der Ethik, der Staats - und Rechtslehre, der Volkswirtſchafts - lehre gilt dies zunächſt und in abgeſchwächter Weiſe bis auf unſere Tage. Es entſtehen Theorien, die, obwohl teilweiſe auf Erfahrung und Beobachtung ruhend, obwohl auf Erkennen gerichtet, doch in erſter Linie praktiſchen Zwecken dienen. Aus den Bedürfniſſen der Geſellſchaft und ihrer Neugeſtaltung heraus werden Ideale aufgeſtellt, werden Wege gewieſen, Reformen gefordert, und dazu wird eine Lehre, eine Theorie als Stützpunkt auf - geſtellt. Und die Möglichkeiten ſind ſo auseinandergehend, die Auffaſſung und Beurteilung deſſen, was not thut, iſt nach philoſophiſchem und kirchlichem Standpunkte, nach Klaſſen - intereſſe und Parteiloſung, nach Bildung und Weltanſchauung ſo verſchieden, daß in verſtärktem Maße das Schauſpiel des ſpäteren Altertums und des Mittelalters ſich wiederholt: eine Reihe entgegengeſetzter Theorien entwickelt ſich und erhält ſich neben - einander, wie in der Moral, ſo auch in der Staatslehre, der Nationalökonomie, der Socialpolitik. Die letzten Urſachen hievon ſind die von uns ſchon (S. 69 70) beſprochenen. Aus den Bruchſtücken wirklicher Erkenntnis läßt ſich zunächſt nur durch Hypotheſen und teleologiſche Konſtruktionen ein Ganzes machen. Aber ein ſolches iſt nötig, weil der Einheitsdrang unſeres Selbſtbewußtſeins nur ſo zur Ruhe kommt, und weil nur durch geſchloſſene, einheitliche Syſteme der menſchliche Wille praktiſch geleitet werden kann. Der nie ruhende Kampf dieſer Syſteme und Theorien hat eine kaum zu über - ſchätzende praktiſche und theoretiſche Bedeutung; die jeweilig zur Herrſchaft kommenden Theorien übernehmen die Führung in der Politik und die Umgeſtaltung der Geſellſchaft, und aus der immer wiederholten gegenſeitigen Kritik und Reibung entſteht der Anlaß zum wirklichen Fortſchritte im Leben und in der Erkenntnis. Die ſpäteren Syſteme und Theorien enthalten einen ſteigenden Anteil geſicherten Wiſſens neben ihren vergäng - lichen Beſtandteilen.

Wir betrachten nacheinander das ſogenannte Naturrecht, den Kreis der merkantiliſtiſchen Schriften, die Naturlehre der Volkswirtſchaft und die ſocialiſtiſchen Syſteme als die am meiſten hervortretenden ſich folgenden Richtungen des volkswirtſchaftlichen Denkens, ſofern es in beſtimmte Ideale und Syſteme der praktiſchen Politik auslief, um erſtSchmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 682Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.nachher von der Methode der Volkswirtſchaft und den neueren Verſuchen zu reden, auf Grund tieferer Forſchung ein wirklich wiſſenſchaftliches Gebäude derſelben zu errichten.

Es erklärt ſich aus der Natur dieſer Litteratur, daß ihre Träger nur teilweiſe Gelehrte des Faches ſind; man findet unter ihnen Staatsmänner, Ärzte, Naturforſcher, Praktiker aller Art, Tagespolitiker. Die Begründer der neuen Theorien ſind häufig meſſiasartige Perſönlichkeiten, die nach Sektenart Gläubige um ſich ſammeln, die einen halb myſtiſchen Glauben an beſtimmte Formeln und politiſche Rezepte haben. Es fehlen unter ihnen nicht die marktſchreieriſchen und agitatoriſchen Elemente, ebenſowenig aber die edelſten Idealiſten, die mehr intuitiv und mit dem Gemüte die Aufgaben der Zeit erfaſſen als mit umfaſſender Gelehrſamkeit und nüchternem Scharfſinn die Erſcheinungen unterſuchen. Große Kenner des Lebens ſind darunter wie Stubengelehrte, die kühne Gebäude aus den unvollſtändigen Elementen unſeres Wiſſens zimmern. Immer aber ſind die Führer der betreffenden Schulen Pfadfinder geweſen auf dem dornenvollen Wege der Neugeſtaltung; ſie haben der Geſellſchaft eine praktiſche Leuchte vorangetragen, die, wenn ſie nicht die ganze Zukunft, ſo doch partielle Wege derſelben aufhellte.

38. Das Naturrecht. Die ſogenannte natürliche Religionslehre, das Natur - recht oder die natürliche Lehre vom Recht, Staat und Geſellſchaft, ſowie die natürliche Pädagogik ſind Früchte desſelben Baumes, ſie gehören alle derſelben großen geiſtigen Bewegung an, die im 16. Jahrhundert entſprang, im 17. und 18. als Aufklärung vorherrſchte. Aus dem gehäſſigen Kampfe der Konfeſſionen und Sekten, der Religions - kriege entſprang die Sehnſucht nach einem reinen Gottesglauben, der, aus dem Weſen des natürlichen, von Gott mit gewiſſen Gaben ausgeſtatteten Menſchen abgeleitet, alle Völker und Raſſen, alle chriſtlichen Konfeſſionen unter Zurückdrängung der Dogmen und der mit der natürlichen Vernunft im Widerſpruch ſtehenden Glaubenselemente einigen könnte. Geläuterte chriſtliche Empfindungen und ſtoiſche Traditionen verbanden ſich zu jenem univerſal-religiöſen Theismus, zu jener Lehre von der Toleranz, zu jener natürlichen Religion, welche die edelſten Geiſter jener Zeit einte: Erasmus, Sebaſtian Frank, Thomas Morus, Coornhert, Bodinus, Hugo Grotius, Spinoza, Pufendorf, die Socinianer und Arminianer. Auch Zwingli und Melanchthon hatten ſich dieſem Gedankenkreiſe ſtark genähert; letzterer mit ſeiner Theorie, daß dem Menſchen ein natürliches Licht mitgegeben ſei, in dem die wichtigſten theoretiſchen und praktiſchen Wahrheiten enthalten ſeien; gewiſſe notitae, ſagt er, hauptſächlich die Grund - lagen der Ethik, der Staats - und Rechtslehre ſeien dem Menſchen von Gott eingepflanzt, ſtünden mit dem göttlichen Denken in Übereinſtimmung. Von da war es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, die menſchliche Vernunft habe an ſich das Vermögen, die religiös-moraliſchen Wahrheiten zu erkennen, wie ſie Herbert von Cherbury für die Religion, Bacon unter Berufung auf das Naturgeſetz für die ſittlichen Ordnungen an - nahm. In der Übereinſtimmung der Völker und in der Analyſe der menſchlichen Natur findet Hugo Grotius die Wege, zu dieſen Wahrheiten zu kommen. Die Unterordnung der neuen großartigen Naturerkenntnis unter oberſte logiſch-mathematiſche Principien ſteigerte das ſtolze Bewußtſein der Autonomie des menſchlichen Intellektes, und man war raſch bereit, in ähnlicher Weiſe oberſte Sätze als mit dem Weſen Gottes, der Vernunft und der menſchlichen Natur, welche drei Begriffe man in ſtoiſcher Weiſe identifizierte, als gegeben anzunehmen; ſie erſchienen nun tauglich zu einer Konſtruktion der natürlichen Religion, des natürlichen Rechtes, der natürlichen Geſellſchaftsverfaſſung.

Das ſogenannte Naturrecht jener Tage, wie es uns ausgebildet hauptſächlich in Bodinus (De la république 1577), Joh. Althuſius (Politica 1603), Hugo Grotius (De jure belli et pacis 1625), Hobbes (Leviathan 1651), Pufendorf (De jure naturae et gentium 1672), Locke (Two treatises on government 1689), Chriſtian Wolf (Jus naturae 1740) entgegen - tritt, will die geſamte ſtaatswiſſenſchaftliche, rechtliche und volkswirtſchaftliche Erkenntnis der Zeit ſyſtematiſch darſtellen: Völkerrecht, Verfaſſungsformen, Strafrecht, Privatrecht, Finanzen, Eigentum, Geldweſen, Verkehr, Wert, Verträge ſollen als überall wieder - kehrende, gleichmäßige Lebnesformen dargelegt, aus der menſchlichen Natur abgeleitet werden. Ein urſprünglicher Naturzuſtand, ein Übergang desſelben in die ſogenannte bürgerliche83Das Naturrecht, ſeine Stellung und Bedeutung.Geſellſchaft auf Grund beſtimmter Triebe und Verträge, ein geſellſchaftlicher Zuſtand mit Regierung, Finanzen, Arbeitsteilung, Verkehr, Geldwirtſchaft, verſchiedenen ſocialen Klaſſen, wie er dem 17. und 18. Jahrhundert entſprach, wird ohne weiteren Beweis als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Es gilt, dieſen letzteren Zuſtand einerſeits rationa - liſtiſch zu erklären, andererſeits ihn zu prüfen nach dem abſtrakten Ideal des natürlichen Rechtes. Dieſes natürliche Recht wird teils gedacht als die Lebensordnung einer idealen Urzeit, teils als das von Gott dem Menſchen eingepflanzte, beim vollendeten Kulturmenſchen am meiſten ſichtbare Urmaß der ſittlich-rechtlichen Normen, teils als das klug zum Nutzen der Geſellſchaft erſonnene und von der Staatsgewalt durchgeführte Syſtem von Regeln des ſocialen Lebens. Selbſt bei denſelben Autoren ſchwankt das, was als Natur, als natürliche Eigenſchaft, als natürliches Recht bezeichnet wird, ſehr häufig bedeutend. Aber man bemerkt das nicht, im ſicheren Glauben, das Weſen des natürlichen Menſchen durch Vergleichung, durch Beobachtung, auf Grund der Nachrichten der Bibel und der Alten ſicher faſſen zu können. Der Gedanke einer hiſtoriſchen Entwickelung der menſchlichen Eigenſchaften und der Inſtitutionen fehlt noch ganz. Um ſo ſicherer glaubt man, aus der abſtrakten Menſchennatur, ihren Trieben und den ihr von Gott eingepflanzten vernünftigen Eigenſchaften abſolut ſichere Lebensideale für das individuelle und ſociale Leben aufſtellen, aus der Vernunft konſtruieren zu können.

Die praktiſchen Ideale für das geſellſchaftliche Leben gehen nun freilich weit aus - einander: gemäß den zwei ſtets vorhandenen Polen des geſellſchaftlichen Lebens und den verſchiedenen Bedürfniſſen der jeweiligen Politik erſcheint den einen eine kraftvolle, un - beſchränkte ſtaatliche Centralgewalt, den anderen eine Sicherſtellung der ſtändiſchen und individuellen Rechte als das aus dem Naturrechte in erſter Linie Folgende. Dem entſprechend ſind ſchon die Ausgangspunkte ſehr verſchiedene; die einen gehen mit Epikur von den ſelbſtiſchen Trieben, von einem Urzuſtand rohſter Barbarei, vom Kampfe der Individuen untereinander aus; ſo Gaſſendi, Spinoza, Hobbes, bis auf einen gewiſſen Grad Pufen - dorf; die anderen ſchließen ſich mehr der Stoa an und ſehen als die natürliche Eigen - ſchaft des Menſchen, welche die Geſellſchaft erzeugt, die ſympathiſchen Triebe an. So ſagt Bacon, die lex naturalis ſei ein ſocialer, auf das Wohl der Geſamtheit gerichteter Trieb, der ſich mit dem der Selbſterhaltung auseinander zu ſetzen habe. So iſt der ſociale Trieb des Hugo Grotius ein Streben nach einer ruhigen, geordneten Gemeinſchaft des Menſchen mit ſeinesgleichen; Pufendorf ſucht beide Anſichten zu verbinden. Locke leugnet den angeborenen ſocialen Trieb, läßt aber ſeine Menſchen im Naturzuſtande als freie und gleiche, mit Ehe und Eigentum, ohne kriegeriſche Reibungen friedlich leben und die damals ſchon innegehabten Naturrechte in der bürgerlichen Geſellſchaft beibehalten. Dem Shaftesbury ſind die geſelligen Neigungen, Sympathie, Mitleid, Liebe, Wohlwollen die natürlichen, die ſelbſtiſchen und egoiſtiſchen die unnatürlichen, während umgekehrt Spinoza die Selbſtſucht natürlich findet, ſie im status civilis durch die Ordnungen des Staates bändigen läßt, aber der Wirkungsſphäre des Individuums möglichſt breiten, dem Staate möglichſt engen Raum gewähren will.

Das Naturrecht hat in Bodinus, Hobbes, Pufendorf, Wolf der monarchiſchen Staatsallmacht ebenſo gedient, wie in Althuſius, Spinoza, Locke und ſeinen Nachfolgern der freien Bewegung des aufſtrebenden Bürgertums, deren Ideal die Volksſouveränität und der ſchwache Staat war. Die erſteren ſind die rechtsphiloſophiſchen Vorläufer und Begründer der merkantiliſtiſchen Theorien, die letzteren die der individualiſtiſchen, wirt - ſchaftlichen Freiheitslehren. Die ſämtlichen Syſteme der Folgezeit bis zum Socialismus haben ſich methodologiſch an das Naturrecht angelehnt, haben in ihren wichtigſten Ver - tretern Ideale und Argumente der naturrechtlichen Philoſophie entlehnt. Noch heute ſtehen zahlreiche Mancheſterleute und Socialiſten im ganzen auf dieſem Boden.

Zur Zeit ſeiner Entſtehung hatte das Naturrecht ſeine Stärke und ſeine Berechtigung darin, daß es die Wiſſenſchaft von Staat und Geſellſchaft loslöſte von der Methode der Scholaſtik und der Bevormundung durch die Theologie, daß es verſuchte, Staat und Wirtſchaft aus dem Weſen der Menſchen abzuleiten, daß es an der Hand der praktiſchen Bedürfniſſe geſchloſſene Gedankenſyſteme als Ideal des Lebens aufzuſtellen ſuchte. Seine6*84Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Schwäche aber lag von Anfang an darin, daß es auf Grund ganz abſtrakter Sätze und fiktiver Annahmen ſeine Theorien aufbaute, daß es vermeinte, gar zu kurzer Hand das innerſte Weſen der Natur, der Geſellſchaft, die Zwecke der Weltvernunft und der Gottheit erfaſſen und daraus deduktiv ſchließend Staat und Volkswirtſchaft konſtruieren zu können. Das Naturrecht war unhiſtoriſch und rationaliſtiſch. Ein mechaniſches Kräfteſpiel, ein oder mehrere fiktive Staatsverträge ſollten genügen, das komplizierte ſociale Daſein zu erklären. Man vergaß allzu raſch, durch welche Abſtraktionen man die oberſten Grund - lagen gewonnen und wurde ſo im Weiterſchließen hohl, unwahr, teilweiſe phantaſtiſch. Was an beſtimmter Stelle das berechtigtſte Ideal war, die ſtarke Staatsgewalt oder die freie Bewegung der Perſon, wurde ſchablonenhaft generaliſiert; man kam nicht zur Unterſuchung und zum vollen Verſtändnis, warum beſtimmte Urſachen hier das eine, dort das andere als das dringlichere Ziel der Politik erſcheinen ließen.

Aber zunächſt war eine tiefere und beſſere wiſſenſchaftliche Behandlung nicht möglich. Die Bodinus, Hobbes, Pufendorf waren im 16. und 17. Jahrhundert die hellſten Köpfe und die aufgeklärteſten Beobachter, die Hugo Grotius, Locke, A. Smith ſtanden mit gleichem Rechte in der folgenden Epoche an der Spitze des geiſtigen Lebens. Erſt im 19. Jahrhundert wird die Berechtigung derer eine zweifelhafte, die noch nach der alten Art der Naturrechtslehrer die Wiſſenſchaft von Staat und Geſellſchaft betreiben.

3. Die vorherrſchenden Syſteme des 18. und 19. Jahrhunderts.

  1. Zu 39: Roſcher, Zur Geſchichte der engliſchen Volkswirtſchaftslehre im 16. u. 17. Jahrh. Abh. d. ſächſ. Ak. d. W. 3. 1851.
  2. Laspeyres, Geſchichte der volkswirtſchaftlichen Anſchauungen der Nieder - länder und ihrer Litteratur zur Zeit der Republik. 1865.
  3. Bidermann, Über den Merkantilismus. 1871.
  4. Schmoller, Das Merkantilſyſtem in ſeiner hiſt. Bedeutung. J. f. G.V. 1884. u. Schmoller U. U. Zu 40: Daire, Collection des principaux économistes. 3 4, 1844.
  5. Kellner, Zur Geſchichte des Phyſiokratismus. 1847.
  6. v. Sivers, Turgots Stellung in d. Geſch. d. National - ökonomie. J. f. N. 1. F. 22, 1874.
  7. Stephan Bauer, Zur Entſtehung der Phyſiokratie. Daſ. 2. F. 21, 1890.
  8. Oncken, Die Maxime laissez faire et laissez passer. 1886.
  9. Hasbach, Die allgem. philoſ. Grundlage der von F. Quesnay und A. Smith begründeten politiſchen Ökonomie. 1890.
  10. Feilbogen, Smith und Turgot. 1892.
  11. Hasbach, Ünterſuchungen über A. Smith und die Entwickelung der politiſchen Ökonomie. 1891.
  12. Zeyß, Adam Smith und der Eigennutz. 1889.
  13. Knies, Die Wiſſenſchaft der Nationalökonomie ſeit A. Smith bis auf die Gegenwart. 1852. Die übrige große Litteratur über A. Smith ſiehe H.W. 5. Zu 41: Reybaud, Études sur les réformateurs contemporains ou socialistes modernes. 1840.
  14. Stein, Der Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs. 1842. 2. Aufl. 1848.
  15. Mehring, Die deutſche Socialdemokratie, ihre Geſchichte und ihre Lehre. 1877. 3. Aufl. 1879.
  16. Robert Meyer, Der Emancipationskampf des vierten Standes. 2 Bde. 1875 (1.: 2. Aufl. 1885.) Laveleye, Le socialisme contemporain. 1881. 5. Aufl. 1892. (Deutſch 1884: Die ſocialen Parteien der Gegenwart. ) Raye, Contemporary socialism. 1884 u. 1891.
  17. Leroy-Beaulieu, Le collectivisme, examen critique du nouveau socialisme. 1884 u. 1885.
  18. Anton Menger, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag. 1886 u. 1891.
  19. Warſchauer, Geſchichte des Socialismus und Kommunismus (ſeit 1892 im Erſcheinen begriffen).
  20. Malon, Histoire du socialisme depuis ses origines jusqu’à nos jours. 5 vol. 1880 85.
  21. Georg Adler, Socialismus und Kommu - nismus. H.W. 5.
  22. Stammhammer, Bibliographie des Socialismus und Kommunismus. 1893, der Socialpolitik. 1896.
  23. Sombart, Socialismus und ſociale Bewegung im 19. Jahr - hundert. 1896.
  24. Mehring, Geſchichte der deutſchen Socialdemokratie. 2 Bde. 1898. Über die einzelnen Socialiſten: Brandes, Ferd. Laſſalle. 1877.
  25. Plener, Ferd. Laſſalle. 1884.
  26. Groß, Karl Marx. 1885.
  27. v. Wenckſtern, Marx. 1896.
  28. Adler, Rodbertus. 1884.
  29. Dietzel, Karl Rodbertus. 1886 88.
  30. Jentſch, Rodbertus. 1899.

39. Die merkantiliſtiſchen Schriften, welche die Staaten - und Volks - wirtſchaftsbildung im 17. 18. Jahrhundert begleiten und fördern, enthalten zuerſt mehr praktiſch-theoretiſche Erörterungen der einzelnen großen volkswirtſchaftlichen Zeit - fragen, die ſich damals aufdrängten; die Gedanken gelangen erſt im 18. Jahrhundert zu einer Art ſyſtematiſcher Zuſammenfaſſung, getrennt vom Naturrecht. Beherrſcht ſind alle dieſe Schriften von dem Vorſtellungskreis, der mit der ſiegreich aufſtrebenden Staats - gewalt und deren raſch wachſenden Aufgaben und Rechten gegeben war.

85Der Standpunkt des Merkantilismus.

Die Vorſtellung einer beſonderen, ſelbſtändig neben dem Staate ſtehenden Volks - wirtſchaft iſt eigentlich noch nicht vorhanden. Finanzen, Arbeitsteilung, Verkehr ſind den Denkern jener Tage integrierende Teile des angeblich durch den Staatsvertrag ent - ſtandenen Gemeinweſens. Das ganze politiſche und wirtſchaftliche Leben iſt ein Mecha - nismus, der durch klug erſonnene Geſetze und ſtaatliche Organe zu regulieren iſt; die ſcharfſinnigſten Realiſten, von Macchiavelli bis auf James Steuart, ſehen darin in erſter Linie eine Schöpfung des Staatsmannes. Und die meiſten damaligen Staaten waren es auch in ihrer Gründung, wie in ihrer weiteren politiſchen und wirtſchaftlichen Ent - wickelung. Vielfach wenigſtens mit Blut und Eiſen und mit allen Künſten der Diplomatie waren aus den kleinen Gebieten, aus den ſelbſtändigen Städten und Provinzen die größeren Staaten damals hergeſtellt worden. Überall ſtand die Herbei - führung gleicher und einheitlicher wirtſchaftlicher Ordnungen innerhalb dieſer neugebildeten Staaten im Vordergrunde der ſtaatlichen Aufgaben; ſelbſt Colbert hat unendlich mehr für die innere Verwaltungseinheit Frankreichs als für deſſen Abſchluß nach außen gethan. Innerhalb der neugebildeten Staaten mit ihrem vergrößerten inneren Markte gilt es nun für die entſprechende Zahl Menſchen und ihre richtige Verteilung zu ſorgen; das Verhältnis der Ackerbauer zu den Gewerbtreibenden nach Zahl und nach Art des Austauſches beſchäftigt die Aufmerkſamkeit, ebenſo die Frage, ob in jedem einzelnen Erwerbszweige die rechte Zahl von Menſchen ſei; es iſt Sache der Regierung, überall das Zuviel und Zuwenig, das Polypolium und das Monopolium der Produzierenden zu hindern. Die Vorſtellung von Angebot und Nachfrage begegnet uns bereits; als das Mittel, ſie in regelmäßige Berührung zu bringen, erſcheint das Geld, die Münze; die Geldcirkulation wird gefeiert als der große Motor des ſocialen Körpers; ſie ſoll befördert werden; eine zunehmende Geldmenge wird ebenſo geprieſen wie eine raſchere, gleichmäßigere Geldcirkulation. Aber abgeſehen von wenigen Großkaufleuten, die, ſchon damals an den Sitzen des lebendigſten Verkehrs, teils an ſich der Freiheit der Geld - cirkulation und aller Verkehrstransaktionen vertrauen, teils dieſe Freiheit in ihrem Intereſſe finden (wie Pieter de la Court in Holland), erſcheint dieſe Cirkulation des Geldes und der Waren, welche gerade damals ſich außerordentlich vermehrte und ausdehnte, niemandem als ein Strom, der ſich ſelbſt überlaſſen werden könne. Man fürchtete vom Handwerker die Lieferung ſchlechter Waren, von der natürlichen Preisbildung eine Verteuerung, die den Abſatz vernichte; man lebte noch ganz in den überlieferten Zuſtänden, welche mit ihren hergebrachten Stapelrechten, Binnenzöllen, Marktrechten, ihrem Fremdenrechte leicht jede Änderung und Ausdehnung des Verkehrs hemmten. Alles rief nach dem Staatsmanne, der jedem Angebote ſeinen Abſatz verſchaffen, der allen Verkehr von Markt zu Markt, von Stadt zu Land, von Provinz zu Provinz und vollends von Staat zu Staat regulieren, der ordnend, Waren - ſchau haltend, preisſetzend eingreife. Nur ſo fand man könne dieſes künſtliche Gewebe des Verkehrs gedeihen, vor falſcher, dem Staate ungünſtiger Entwickelung bewahrt bleiben. Ein Heißhunger nach wirklicher oder fiktiver Statiſtik, welche als ſtaatlicher Kontrollapparat allen Verkehrsvorgängen dienen ſollte, erfüllt die aufgeklärten, am beſten regierten Staaten von den italieniſchen Tyrannen des Cinque Cento bis zu den großen Regenten des 18. Jahrhunderts.

Nicht ſowohl das Geld als einziger Gegenſtand des Reichtums ſteht ſo im Mittel - punkte der Betrachtung, als die Cirkulation desſelben, das Geld als Schwungrad des Verkehrs. Da dieſes Geld aber obrigkeitliche Münze iſt, vom Fürſten geprägt wird, da die Staatsgewalt für die genügende Menge verantwortlich iſt, ſo erſcheint, zumal in den Staaten ohne Bergwerke, die Pflicht, durch Handelsmaßregeln für die ent - ſprechenden Geldſummen zu ſorgen, als die wichtigſte volkswirtſchaftliche Aufgabe der Regierung. Und da zugleich die neuen Geldſteuern für Heer und Beamtentum nur da reichlich fließen, wo Verkehr und Induſtrie erblüht ſind, da man dieſe überall da ent - ſtehen ſieht, wo der auswärtige Handel, vor allem der nach den Kolonien, und der Handel, der inländiſche Induſtriewaren ausführt, gedeiht, ſo wird die Frage, wie durch Kolonialhandel und Manufaktenausfuhr eine günſtige Handelsbilanz zu erzielen ſei, zum Prüfſtein der richtigen ſtaatlichen Wirtſchaftspolitik.

86Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

Wie die mittelalterlichen Städte ſchon naturgemäß ihre Aus - und Einfuhr als ein Ganzes angeſehen hatten, ſo geſchah dasſelbe nun für die Territorien und Staaten. Es war ein großer Fortſchritt in der praktiſchen Verwaltung und in der theoretiſchen Erkenntnis, daß man verſuchte, ſich ein einheitliches Bild von der Aus - und Einfuhr ganzer Länder zu machen, daß man feſtſtellen wollte, ob man mehr aus - oder einführe, ob man durch Mehrausfuhr ein Plus von Edelmetall gewinne. Und daß man den Staat dabei als in einem feindlichen Spannungsverhältnis zu anderen Ländern begriffen dachte, war natürlich. In dem ſchweren Kampfe um die Kolonien, um die Grenzen, um die Abſatzgebiete ſtanden ſich die neugebildeten Staaten Jahrhunderte lang feindlich gegenüber; die wichtigſten derſelben waren faſt häufiger in Handels - und Kolonialkrieg miteinander begriffen als in Frieden; die kleineren und ſchwächeren wurden unbarmherzig wirtſchaftlich von den größeren und ſtärkeren mißhandelt und ausgebeutet oder fürchteten, es zu werden. Was Wunder, wenn die Frage in den Vordergrund rückte, was gewinnen oder verlieren wir bei der Berührung mit dem anderen Staate? Verri drückt die Wahrheit für einen großen Teil der damaligen internationalen Beziehungen aus, wenn er ſagt: Jeder Vorteil eines Volkes im Handel bringt einem anderen Volke Schaden, das Studium des Handels iſt ein wahrer Krieg . Nur wenn man durch Kriege, Kolonial - erwerbung und beſonders durch kluge Verträge neue Märkte gewonnen, durch Sperren und Schutzmaßregeln den eigenen Abſatz erweitert, durch Berechnung der Bilanz konſtatiert hatte, daß man mehr aus - als einführe, was beſonders in günſtigen Jahren und bei raſch emporblühender Induſtrie zutraf, glaubte man ſich gegen die Gefahr der Übervorteilung, der Verarmung geſichert. Jedenfalls bewies eine wachſende Ausfuhr in der Regel, daß das Ausland der Waren des Inlandes dringender bedürfe als umgekehrt, jedenfalls verband ſich mit der genauen Beobachtung der Aus - und Einfuhr häufig die richtige Pflege des inländiſchen Verkehrs und der inländiſchen Induſtrie. Und wenn alſo nicht alle Sätze richtig waren, die man an die Bilanzlehre anknüpfte, wenn die Erwartungen, durch Zollmaßregeln die Geldmenge im Lande ſteigern zu können, übertrieben waren, die Beobachtung der Aus - und Einfuhr war ein Inſtrument des volkswirtſchaftlichen Fortſchrittes; die durch Zollgrenzen erfolgende Abſchließung des Landes entſprach der Beförderung eines freien inneren Verkehrs. Die Auffaſſung, die Staatsgewalt habe die Pflicht, die Volkswirtſchaft des Landes als ein Ganzes in ihren Intereſſen zu fördern, in den internationalen Rivalitätskämpfen zu ſtützen und zu vertreten, entſprach durchaus den Verhältniſſen. Die Regierungen, welche raſch, ſelbſtbewußt und kühn die Macht ihrer Flotten und Heere, den Apparat ihrer Zoll - und Schiffahrtsgeſetze in den Dienſt der ſtaatlichen Wirtſchaftsintereſſen zu ſtellen verſtanden, erreichten damit den Vor - ſprung im handelspolitiſchen Kampfe, in Reichtum und induſtrieller Blüte; und wenn die Regierungen jener Tage oft zu weit gingen, von halbwahren theoretiſchen Sätzen ſich leiten ließen, wenn Holland, England und Frankreich ebenſo durch Gewalt und Kolonialausbeutung wie durch eigene innere Arbeit Reichtümer ſammelten, ſo gaben ſie doch durch ihre volkswirtſchaftliche Politik dem inneren wirtſchaftlichen Leben der betreffenden Nation die notwendige Unterlage der Macht, der wirtſchaftlichen Bewegung der Zeit den rechten Schwung, dem nationalen Streben große Ziele. Die merkantiliſtiſchen Ideale waren ſo für jene Jahrhunderte ein nicht nur berechtigtes, ſondern das einzig richtige Ziel. Ganz iſt die Berechtigung ſolcher Ziele auch heute noch nicht verſchwunden, obwohl das Völkerrecht und der Welthandel die internationalen Beziehungen ſo viel friedlicher geſtaltet haben.

Die Schriften der verſchiedenen europäiſchen Nationen, welche an dieſer geiſtigen Bewegung teil genommen haben, unterſcheiden ſich hauptſächlich dadurch, daß ſie je nach der Lage und den nationalen Geſamtintereſſen verſchiedene ſtaatliche Verwaltungs - maßregeln empfehlen. In Holland rühmt man ſtaatliche Admiralitäten, große monopo - liſierte Handelsgeſellſchaften und alle die Maßregeln, die Amſterdam zum Mittelpunkte des Welthandels machen. Außerhalb Hollands empfiehlt man allgemein die Nachahmung dieſes kleinen, rührigen Handelsvolkes, aber man dringt in England in erſter Linie auf nationale Schiffahrtsgeſetze, die gegen Holland gerichtet ſind, auf Pflege der Seefiſcherei,87Die merkantiliſtiſche Litteratur der einzelnen Länder.des oſtindiſchen Handels, auf eine ſtaatliche Herabdrückung des Zinsfußes und eine Förderung der heimiſchen Induſtrie; in Deutſchland empfiehlt man vor allem Erſchwe - rung und Verbot der fremden Manufakteneinfuhr, um das gewerbliche Leben der Heimat nicht ganz durch die fremde Konkurrenz erdrücken zu laſſen. Die einzelnen Mittel ſind verſchieden, die Ziele ſind überall dieſelben: die egoiſtiſche Förderung der eigenen Volks - wirtſchaft mit allen Mitteln des Staates.

Während die viel bewunderten Holländer mehr das praktiſche Leben ausbildeten und über wirtſchaftliche Einzelfragen ſchrieben, erzeugten in Italien die alte geiſtige Kultur und die Münzgebrechen der Zeit Schriftſteller, die vom Geldweſen zum Handel und zur allgemeinen Wirtſchaftspolitik vordringen: Antonio Serra (Breve trattato delle cause che possono far abondare li regni d’oro e d’argento, dove non sono miniere, 1613) iſt als einer der erſten und Antonio Genoveſi (Lezione di Commercio, osia di Eco - nomia Civile, 1769, deutſch 1776) als einer der umfaſſendſten und maßvollſten Schrift - ſteller der von uns bezeichneten Gedankenrichtung zu nennen. In England wirkte das freie politiſche Leben, der ſonſtige wiſſenſchaftliche Geiſt, der zur Beobachtung beſonders geſchickte Nationalcharakter und der handelspolitiſche Kampf mit Holland zuſammen, die hervorragendſten Schriften des Merkantilismus ins Leben zu rufen. Thomas Mun (A discourse of trade from England into the East Indies, 1609; Englands treasure by foreign trade ect, 1664) iſt der erſte erhebliche Theoretiker der Handelsbilanz, der Compagniedirektor Sir Joſiah Child (Brief observations concerning trade and the interest of money, 1668; A new discourse of trade, 1690) tritt für Zinsfußerniedrigung, Handelscompagnien, ſtrenge Abhängigkeit und Ausnutzung der Kolonien auf, Sir William Petty, Autodidakt, Arzt, Chemiker, glücklicher Geſchäftsmann und Spekulant (A treatise of taxes ect, 1662; Several essays in political arithmetic, 1682; The political anatomy of Ireland, 1691; 1719), weiß volkswirtſchaftliche Zuſtände zu beobachten und zahlen - mäßig zu ſchildern, ähnlich wie ſein Nachfolger auf dieſem Gebiete, Charles Davenant, deſſen zahlreiche Schriften in die Zeit von 1695 1712 fallen (The political and com - mercial works, 1771); dieſer erörtert in geläuterter Weiſe die Handelsbilanz, die Pro - hibitivmaßregeln, den Kolonialhandel. Faſt alle engliſchen Schriftſteller dieſer Zeit ſchließen ſich den neugebildeten Parteien der Tories und der Whigs an, ſtehen in deren Dienſt, verherrlichen als Whigs die maßloſe Überſpannung des Schutzſyſtems, eifern als Tories dagegen. Den theoretiſchen und ſyſtematiſchen Höhepunkt der engliſchen Merkantiliſten bildet erſt der viel ſpätere, etwas breite und ungelenke James Steuart (Inquiry into the principles of political economy being an essay on the science of domestic policy in free nations, 1767, deutſch 1769), der Adam Smith an Eleganz und Klarheit unzweifelhaft, aber kaum an hiſtoriſchem und pſychologiſchem Verſtändnis, an praktiſcher Lebenskenntnis nachſteht.

Wenn in Deutſchland die erſten kameraliſtiſchen Profeſſuren auf den Univerſitäten errichtet werden, um die Kammerbeamten für ihre Verwaltungsthätigkeit beſſer vor - zubereiten, und wenn ſo in der deutſchen Litteratur jener Tage die landwirtſchaftliche und gewerblich-techniſche Unterweiſung neben Finanz - und volkswirtſchaftlichen Fragen eine beſonders große Rolle ſpielt, den Schriften einen erdig realiſtiſchen Beigeſchmack im ganzen giebt, ſo hat andererſeits doch das deutſche Schulmeiſtertum am früheſten ſyſtematiſche Werke geſchaffen. Wie die Engländer aus Pufendorfs Naturrecht einen erheblichen Teil ihrer ſyſtematiſchen Betrachtungen nahmen, ſo hat Johann Joachim Becher ſchon 1667 eine Art merkantiliſtiſch-kameraliſtiſchen Lehrbuches geſchrieben; er iſt urſprünglich Arzt und Chemiker, ſpäter Kommerzienrat und Projektenmacher; ſein Politiſcher Diskurs von den eigentlichen Urſachen des Auf - und Abnehmens der Städte, Länder und Republiken hat von 1667 1759 ſechs Auflagen erlebt, hat mit ſeiner Lehre von der ſtaatlichen Regulierung alles Verkehrs, mit ſeiner Forderung von Com - pagnien, Werk - und Kaufhäuſern, von Schutzzollmaßregeln gegen Frankreich die deutſche Praxis faſt drei Menſchenalter beherrſcht. An ihn ſchließen ſich die meiſten der folgenden Kameraliſten an: Hörnigk, Schröder, Gaſſer, Zinken bis zu dem glatt ſyſtematiſierenden J. H. G. von Juſti und ſeinen zahlreichen Lehrbüchern (Grundſätze der Staatswirt -88Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ſchaft, 1755; Polizeiwiſſenſchaft, 1756; Syſtem des Finanzweſens 1766 ꝛc.). Neben ihnen vertreten die Staatsrechtslehrer und Philoſophen mit faſt noch größerer Energie die Pflicht der Regierungen zu wirtſchafts-polizeilicher Thätigkeit. Chriſtian Wolf iſt der Lehrer der Generation, die bis zu 1786 regiert hat; er preiſt aus vollſter Überzeugung China mit ſeiner Vielregiererei und ſeinem Mandarinentum als Muſterſtaat. Der Regierung wird in ſchrankenloſer Weiſe die Sorge für die allgemeine Glückſeligkeit zugewieſen; ſie ſoll für richtigen Lohn und Beſchäftigung aller Menſchen, für mittleren Preis, für die rechte Zahl Menſchen im ganzen und in jedem Berufszweige, für die Tugenden und guten Sitten der Kinder, der Hausfrauen, der Bürger und der Beamten ſorgen.

Der Franzoſe Melon (Essai politique sur le commerce, 1734, deutſch 1756) verlangt von der Regierung Sorge für Kornvorräte, Bevölkerungs - und Geldvermehrung. Forbonnais (Éléments du commerce, 1754; Recherches et considérations sur les finances de France, 1758 ꝛc. ) ſteht ungefähr mit Steuart auf demſelben Boden. Die Schriften beider haben die merkantiliſtiſchen Einſeitigkeiten und Übertreibungen ſo abgeſtreift, ſind ſo reich an ſcharfer Beobachtung und guter Schlußfolgerung, daß ſie neben Smith, Hume, Turgot zu den großen Leiſtungen der erſten Glanzzeit nationalökonomiſcher Wiſſenſchaft (1750 90) zu rechnen ſind.

Die ganze hier aufgezählte Litteratur hat überwiegend einen politiſchen und ver - waltungsrechtlichen Charakter; die allgemeine pſychologiſche Vorausſetzung iſt zumal bei den deutſchen Kameraliſten die Dummheit des Pöbels, der Schlendrian ſelbſt der Kauf - leute, die man mit Gewalt zu ihrem Vorteil hinziehen müſſe. Man fürchtet, daß alles ſchlecht gehe, wenn man der Dummheit und Gewinnſucht freie Bahn gebe. Es iſt eher eine peſſimiſtiſche als eine optimiſtiſche Lebensauffaſſung, die vorherrſcht; eine gewiſſe Unbehülflichkeit bei viel praktiſcher Lebenskenntnis. Die volkswirtſchaftliche Theorie iſt noch ganz verknüpft mit der Betrachtung des Staates, der Polizei, der Finanz, weil die Staats - und die Volkswirtſchaftsbildung im 17. und 18. Jahrhundert zuſammenfiel, weil nur in den eben gebildeten größeren Nationalſtaaten mit ſtarker Centralgewalt die neue Volkswirtſchaft hatte entſtehen können. Nicht der Glanz generaliſierender, beſtechender Syſteme wird in dieſer Litteratur erreicht, ſondern eklektiſch ſucht man das Brauchbare, das Nächſtliegende, das Anwendbare. Die platten Köpfe werden dabei banauſiſch, die feineren aber erreichen eine Lebenswahrheit, die von den abſtrakten Syſtemen ihrer Nachfolger im Lager der volkswirtſchaftlichen Individualiſten und der Socialiſten vielfach nicht wieder erreicht wurde.

40. Die individualiſtiſche Naturlehre der Volkswirtſchaft. So ſehr vom 16. 18. Jahrhundert in den ſich konſolidierenden weſteuropäiſchen Staaten das Bedürfnis einer feſten und ſtarken Centralgewalt ſich geltend gemacht hatte, ſo wenig fehlten doch die entgegengeſetzten praktiſchen Tendenzen. Faſt überall dauerten kräftige lokale Bildungen, Korporationen, Stände, ſelbſtändige kirchliche Gruppen fort. Wie die katholiſche Kirche da und dort die Volksſouveränität gelehrt, ſo hatten die bedrängten franzöſiſchen Hugenotten die ſtändiſchen Rechte und das Recht des Wider - ſtandes gegen die Mißbräuche der Regierungsgewalt betont, den ſogenannten Staatsvertrag in individualiſtiſchem Sinne ausgelegt, teilweiſe ſchon die Parole der Gleichheit aller Menſchen ausgegeben. Boisguillebert (Le détail de la France, 1695) erging ſich in hartem Tadel der beſtehenden franzöſiſchen Staats - und Finanzverwaltung, welche die Getreideausfuhr zu Gunſten der ſtädtiſchen Induſtrie erſchwere, den Landbau lähme, und der große franzöſiſche Marſchall Vauban (Dîme royal, 1707) kam auf Grund ſeiner genauen Kenntniſſe der Not der Bauern zu nicht minder ſchweren Anklagen und zur Forderung großer Ämter -, Steuer - und Socialreformen. Mächtig arbeitete der durch die Renaiſſance und die Reformation geweckte, durch die Geldwirtſchaft beförderte Trieb nach individueller Selbſtändigkeit weiter. In Holland und England hatte noch ſtärker als anderwärts das aufkommende Bürgertum und die beginnende Handelsariſtokratie freie Bewegung, für ſich hauptſächlich freien Handel gefordert, die merkantiliſtiſchen Regierungsmaßregeln getadelt (z. B. North, Discourses upon trade, 1691). Der große Philoſoph Locke, obwohl im ganzen noch whigiſtiſcher Merkantiliſt, eifert gegen polizei -89Die individualiſtiſchen Tendenzen; die Phyſiokraten.liche Preisbeſtimmungen, gegen ſtaatliche Zinsfußbeſchränkungen; er ſieht ein, daß der Zinsfuß von der Geld - beziehungsweiſe Kapitalmenge abhänge, er ſucht in der Arbeit die Urſache des Wertes und wird durch ſein individualiſtiſches Naturrecht, durch ſeine aus - ſchließliche Betonung von Freiheit und Eigentum der Vater des modernen Liberalismus .

Die Sorge für Ausbildung größerer Staaten und guter wirtſchaftlicher Polizei lag nunmehr hinter der Generation, welche von 1750 an die Bühne betrat. Sie betrachtete das Erreichte als ſelbſtverſtändlich, fühlte ſich gedrückt durch den träge werdenden Polizeiſtaat und die von ihm noch nicht beſeitigten feudalen Geſellſchafts - einrichtungen. Nach freier Bewegung des Individuums lechzend, konnte auf dieſem Boden nun die Naturlehre der individualiſtiſchen Volkswirtſchaft entſtehen. Die Phyſio - kraten in Frankreich, Hume und Adam Smith in England ſind die Begründer derſelben. Es waren die erſten rein theoretiſchen und äußerlich vom Naturrecht, von den übrigen Staatswiſſenſchaften losgelöſten volkswirtſchaftlichen Syſteme. Innerlich ſind ſie freilich ganz abhängig von der damals vorherrſchenden Anſchauung eines Natur - zuſtandes, aus dem durch Staatsvertrag die bürgerliche Geſellſchaft entſtanden ſei; die Verfaſſer glauben als Theiſten an eine harmoniſche Einrichtung der Welt und der Ge - ſellſchaft, an das Überwiegen guter, geſelliger Triebe, die, ſich ſelbſt überlaſſen, das Richtige finden; die natürliche und die ſittliche Ordnung der Dinge fällt für ſie zuſammen; Rückkehr zur Natur, Waltenlaſſen der Natur iſt ihnen das höchſte Ideal; die meiſten beſtehenden volkswirtſchaftlichen Einrichtungen erſcheinen ihnen als künſtliche und verkehrte Abweichungen von der Naturordnung, die ſie wiederherſtellen wollen. Dabei unterſcheidet ſich freilich die etwas ältere franzöſiſche Schule doch noch weſentlich von der engliſchen.

François Quesnay (1694 1774, Hauptſchriften 1756 58; Œuvres ed. A. Oncken, 1888) war Arzt und Naturforſcher, Autodidakt und Ideologe, ſchwärmte für Naturleben und Landwirtſchaft, glaubte die Quadratur des Cirkels gefunden zu haben; er war wie ſeine Schüler ein treuer Anhänger des abſoluten Königtums, dem er freilich einen ganz anderen Charakter geben wollte; dasſelbe ſollte eine Geſetzgebung und Verwaltung ent - ſprechend der vernünftigen Naturordnung durchführen, die durch Fron und Steuern überlaſteten Bauern erleichtern, in erſter Linie perſönliche Freiheit und freies Eigentum gewährleiſten, freien Verkehr und Handel durchführen. Aus der Vorſtellung, daß phyſiſch alle Menſchen von den Produkten des Landbaues leben, aus der Beobachtung, daß Grundherren und große Pächter erhebliche Überſchüſſe für andere Zwecke haben, und aus der privatwirtſchaftlichen Unterſuchung des landwirtſchaftlichen Roh - und Reinertrages folgerte er, daß alle übrigen Klaſſen der Geſellſchaft ſtets nur in ihren Einnahmen erſetzt erhielten, was ſie verbrauchten, alſo ſteril ſeien, der Landbau allein einen disponibeln Überſchuß gebe, alſo produktiv ſei; da alle Steuern auf dieſen Überſchuß zuletzt fallen, ſoll lieber gleich eine einzige gerechte Grundſteuer alle anderen erſetzen. Alle bisherige Politik war ihm eine falſche Beförderung der Induſtrie, der Städte, des Luxus. Vor allem erſchien ihm die Hemmung der Getreideausfuhr in Frankreich falſch; höhere Getreidepreiſe ſollen durch die Ausfuhrfreiheit geſchaffen werden. Die von Hume bereits bekämpfte Handelsbilanztheorie iſt ihm eine Thorheit, denn , ſagt er, ein gerechter und guter Gott hat gewollt, daß der Handel immer nur die Frucht eines offenbar gegenſeitigen Handelsvorteils ſei . In dem ſogenannten tableau économique werden die wirtſchaftlichen Klaſſen Frankreichs, ihr Einkommen und die Cirkulation der wirtſchaftlichen Güter in einem willkürlichen Zahlenbeiſpiele dargeſtellt mit der faſt kindlichen Hoffnung, damit eine arithmetiſch-geometriſche, feſte Methode in die Wiſſenſchaft eingeführt zu haben. Es bezeichnet den überſpannten Sektenglauben, daß der ältere Mirabeau als Haupt - ſchüler dieſe wunderliche Tafel mit ihren Zahlen, Strichen und Zickzackfiguren für die dritte große Erfindung der Menſchheit nach Schrift und Geld bezeichnete.

Im Anſchluß an Quesnay und ſeine Schüler hat dann Turgot, ein Mann der allgemeinſten philoſophiſchen Bildung, mit Eleganz und Klarheit (Réflexions sur la formation et la distribution des richesses, 1766) das Bild einer Tauſchgeſellſchaft ohne die extremen phyſiokratiſchen Schrullen entwickelt. Tauſch, Verſchiedenheit der Menſchen90Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.und der Bodenverteilung, Eigentum, Geld, Kapital, Zins, Bodenwert ſind die Kategorien, mit Hülfe deren er die wirtſchaftlichen Klaſſen, den Verkehr, die Einkommensverteilung, die Wirkung des Kapitals abſtrakt erklärt und ähnliche liberale Forderungen aufſtellt wie Quesnay. Als Provinzialintendant muſterhaft, hat er als Miniſter den über - ſtürzenden Doktrinär hervorgekehrt. Seine Schriften ſind hingeworfene, geiſt - und geſchmackvolle Skizzen, nicht ohne Übertreibungen und Gemeinplätze, geſchrieben ganz im Fahrwaſſer der individualiſtiſchen Naturrechtsaufklärung und im blinden Glauben an deren erlöſende Formeln; durch ſeine theoretiſierende Zuſammenfaſſung hat er aber auf A. Smith und die Folgezeit wohl mehr gewirkt als die anderen Phyſiokraten. War der Einfluß derſelben im ganzen in anderen Ländern auch entfernt nicht ſo groß wie in Frankreich, ſo bilden ſie doch ein wichtiges Glied in der Geſamtentwickelung unſerer Wiſſenſchaft. Sie ſind die erſten Theoretiker, die ein einfaches Syſtem der wirtſchaft - lichen Geſellſchaftsverfaſſung auf Grund der ſtoiſch-naturrechtlichen Harmonieanſchauungen aufbauten, damit eine Reihe von Begriffen, Kategorien und Anſchauungen ſchufen, die ſeither als Gerüſt der Disciplin dienten, die mit ſchwungvoller Begeiſterung gegen die Mißhandlung der unteren Klaſſen auftraten, damit überall, auch in den Salons der Fürſten und Vornehmen, Beifall fanden. Sie bleiben ideologiſche Doktrinäre, aber ihre Zeit beobachtend und in ihr wurzelnd, haben ſie doch verſtanden, ihr die Wege zu weiſen.

Hatten die Phyſiokraten hauptſächlich die Überſchätzung der Induſtrie bekämpft, ſo ſuchte David Hume, der auch als Moralphiloſoph und Erkenntnistheoretiker eine führende Stellung einnimmt, durch ſcharfſinnige Zergliederung des Handels und des Geldes die naiven Irrtümer älterer Zeit zu widerlegen, und an ihn ſchließt ſich nun ſein etwas jüngerer Schüler A. Smith, der ſchon 1759 in ſeiner feinſinnigen und liebenswürdigen Theorie der moraliſchen Gefühle ſich ebenbürtig in die Reihe der großen pſychologiſchen engliſchen Gefühlsmoraliſten geſtellt hatte. Die Bedeutung ſeines großen Werkes (Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations, 1776) liegt darin, daß er, ähnlich wie James Steuart, aber von ſeinem individualiſtiſchen Stand - punkte aus das Ganze der volks - und ſtaatswirtſchaftlichen Erſcheinungen in einem großen Werke populär und doch mit wiſſenſchaftlichen Exkurſen vorführt und ähnlich wie Turgot dieſes Ganze unter dem Bilde einer vom Staate losgelöſten Tauſchgeſellſchaft von freien Individuen mit freiem Eigentum darſtellt. Aber er übertrifft dabei nun dieſe beiden Vorgänger weit, den erſteren durch die zeitgemäßere liberale Tendenz und die wiſſen - ſchaftliche Eleganz, den letzteren durch die Fülle und Breite der Ausführung und die Freiheit von den phpſiokratiſchen Einſeitigkeiten. Der Standpunkt iſt jedoch im ganzen derſelbe wie bei den Phyſiokraten, bei Locke oder Hume: ein idealer Naturzuſtand iſt gleichſam in dem bürgerlichen enthalten, der Staat hat weſentlich nur die perſönliche Freiheit und das Eigentum zu gewährleiſten; im übrigen ſind ſeine Lenker liſtige, verſchlagene Tiere , deren Thätigkeit ſeit Jahrhunderten nur die natürliche Ordnung geſtört hat. Unbedingt freie wirtſchaftliche Bewegung und freie Konkurrenz erſcheinen als die nützlichen und gerechten Mittel, welche die Individuen am beſten erziehen, die ſocialen Klaſſen verſöhnen, die Geſellſchaft von ſelbſt richtig organiſieren. Den pſycho - logiſch moraliſchen Hintergrund bildet die Analyſe des natürlichen Menſchen, der halb im Sinne von Shaftesbury als gut, tugendhaft, mit ſympathiſchen Gefühlen, halb in dem von Hume und Helvetius als ſelbſtiſch gefaßt wird. Jedenfalls erſcheint das individuelle Selbſtintereſſe, das nach ihm im ganzen in den Schranken der Gerechtigkeit ſich bewegt, als die heilſame und nicht zu beſchränkende Sprungfeder des wirtſchaftlichen Handelns wie des ſocialen Mechanismus. Aus ihm geht die Arbeit, der Tauſchtrieb, der Spartrieb hervor. Die Einzelintereſſen kommen von ſelbſt zur Harmonie, nicht durch Staat und Recht, wie bei den Phyſiokraten, nicht durch Kämpfe und Kompromiſſe, ſondern durch die weiſe Einrichtung der Triebe, die ein allmächtiger, gütiger Gott ſo geſchaffen, daß die geſellſchaftliche Welt wie ein Uhrwerk ſich abſpielt. Es handelt ſich nur darum, die falſchen Eingriffe der Geſetzgeber, der unter ſich verſchworenen Kaufleute und Unternehmer in dieſes Triebwerk zu beſeitigen, alle Privilegien, falſchen bisherigen91Adam Smith.Handels -, Zoll - und Zunfteinrichtungen, die falſche Begünſtigung der Städte aufzuheben, dann kommt die Geſellſchaft zur Natur, zur Gerechtigkeit, zur Gleichheit zurück. Dabei iſt ſehr vieles fein und wahrheitsgetreu beobachtet; in einſchmeichelnder, harmloſer Weiſe werden die radikalen Gedanken vorgetragen; ſympathiſch iſt von den Arbeitern und ihrer Hebung die Rede, während der Egoismus der Unternehmer als Urſache künſtlicher Geſetz - gebung gebrandmarkt wird. Die geſchickte Voranſtellung der Arbeit und Arbeitsteilung, die gleichmäßige Betonung, wie überall die Arbeit den Reichtum erzeuge, aller Tauſch ein Tauſch von Arbeitsprodukten ſei, giebt den Ausführungen über Produktion, Verkehr und Einkommensverteilung eine geſchloſſene Einheit, die gewinnen und beſtechen mußte.

Daher die ungeheure Wirkung des Buches trotz ſeiner Einſeitigkeit. Es gab den liberalen Forderungen des wirtſchaftlichen Individualismus den vollendetſten Ausdruck; es ſprach berechtigte Forderungen der praktiſchen Reform zur rechten Zeit aus. Es ſchloß ſich den großen philoſophiſch-moraliſchen Idealen des Jahrhunderts rückhaltlos an und trug doch den Stempel nüchterner Wiſſenſchaft und empiriſcher Forſchung an ſich. Mochte es alſo fälſchlich an die natürliche Gleichheit der Menſchen glauben, die beſtehenden Macht - und Abhängigkeitsverhältniſſe zwiſchen den Staaten und den ſocialen Klaſſen nicht gehörig würdigen, optimiſtiſch das Individuum und ſeine egoiſtiſchen Triebe überſchätzen, die Bedeutung des Staates und der ſtaatlichen Einrichtungen verkennen, mochte der Rationalismus des Aufklärungseiferers in ihm immer wieder Herr werden über den hiſtoriſchen und pſychologiſchen Forſcher, mochte das ganze Beobachtungsfeld ein recht beſchränktes ſein, das Buch war doch fähig, für hundert Jahre zur ſammelnden Fahne der Staatsmänner und der Klaſſen zu werden, welche die bürgerlich-liberale Tauſchgeſellſchaft mit Freiheit der Perſon und des Eigentums in Weſteuropa voll durch - führen wollten.

Den verbreitetſten Lehrbüchern und Schriften der folgenden Generationen diente A. Smith als Vorbild. In Frankreich haben J. B. Say (Traité d’écon omie politique, 1803 ꝛc. ) und Charles Dunoyer (Liberté du travail, 1845), in Deutſchland Ch. J. Kraus (Staatswirtſchaft, 1808 11), Euſebius Lotz (Reviſion der Grundbegriffe der National - wirtſchaftslehre, 1811 14), Karl H. Rau (Lehrbuch der politiſchen Ökonomie, 1826 37, neue Auflagen bis 1868 / 69), F. B. W. Hermann (Staatswirtſchaftliche Unterſuchungen, 1832 und 1870) die Smithſchen Gedanken populariſiert und ſyſtematiſiert, teilweiſe ſie ſchärfer gefaßt, teilweiſe ſie mit anderen Gedankenrichtungen, wie hauptſächlich Rau mit den realiſtiſchen Überlieferungen der deutſchen Kameraliſtik, geſchickt zu verbinden gewußt. In England hat D. Ricardo (Principles of political economy and taxation, 1817, deutſch 1837) den Verſuch gemacht, aus der Smithſchen, immerhin weitausgreifenden Darſtellung das, was ihm als Bankier und Geldmann geläufig war, auszuſcheiden und daraus ſowie aus den Erfahrungen ſeines Geſchäftslebens eine Einkommens -, Geld - und Wertlehre zu machen, die in der Form allgemeiner Begriffe und abſtrakter Lehrſätze mit einer gewiſſen Schärfe operierte, teils zu einer logiſcheren Formulierung der Smith - ſchen Gedanken, teils zu ſchiefen und falſchen, nicht mehr auf empiriſcher Grundlage ruhenden Schlüſſen führte. Nach ihm hat ſein Schüler und jüngerer Freund, John Stuart Mill, die engliſche Nationalökonomie bis in die Gegenwart beherrſcht; auch er bewegt ſich trotz ſeiner univerſellen Bildung in den Geleiſen des abſtrakt radikalen individualiſtiſchen Naturrechts des 18. Jahrhunderts; er iſt der gläubige Schüler der Benthamſchen Rützlichkeitsmoral, die zwar das größtmögliche Glück der größten Zahl von Menſchen auf ihre Fahne ſchreibt und um eine empiriſch-pſychologiſche Moral - forſchung weſentliche Verdienſte hat, aber zu einer tieferen Auffaſſung von Staat, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft nicht kam. Mill, der mit den Principles of political eco - nomy with some of their applications to social philosophy (1847, deutſch 1852) gleichſam eine neue Auflage Smiths geben will, führt, wie dieſer, eine abſtrakte Theorie ſelbſt - ſüchtiger, tauſchender Individuen vor, in die er einzelne hiſtoriſche, rechtsgeſchichtliche und ſocialpolitiſche Kapitel unvermittelt einſchiebt; beſonders im höheren Alter war ihm die Unfähigkeit ſeiner Grundanſchauungen, die ſocialen Probleme einer neuen Zeit zu löſen, wohl klar geworden. Aber ſo ſehr er ſich nun unter dem Einfluſſe ſeiner gefühl -92Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.vollen Frau ſocialiſtiſchen Anſchauungen näherte, in ſeinem weitverbreiteten Hauptwerke ſind das Gerüſt und die weſentlichen Gedanken die alten an die Aufklärung, an Bentham und Ricardo angelehnten. Die Nachtreter Smiths, Ricardos und Mills, die Macculloch, Senior, Fawcett, Bagehot, Cairnes, Sidgwick haben keine eigentümliche Bedeutung; aber ihr ſtets wiederholter Satz, daß die Nationalökonomie eine fertige Wiſſenſchaft ſei, fand bis vor kurzer Zeit in England in der Maſſe der Bevölkerung Glauben. Die freihändleriſche Agitation von 1840 80 ſtützte ſich recht eigentlich auf ihre Theorien, und auch die engliſche Arbeiter - und Gewerkvereinsbewegung blieb in den entſcheidenden Jahren 1860 80 im Fahrwaſſer derſelben. Immerhin bedeutete es innerlich bereits den Niedergang der individualiſtiſchen Naturlehre der Volkswirtſchaft, daß ſie mit Cobden, Bright und den im Cobdenklub ſich ſammelnden Freihändlern ganz in den Dienſt einer Klaſſen - und Parteiagitation trat; die Theorie erhielt nach dem Sitze dieſer Agitation den Spottnamen der Mancheſterſchule.

In Frankreich war die liberal freihändleriſche Theorie zwar in akademiſchen und Gelehrtenkreiſen vorherrſchend, aber in der Praxis ohne allzu großen Einfluß, bis man ſie als Hülfsmittel gegen den Socialismus glaubte gebrauchen zu können. F. Baſtiat (Harmonies économiques, 1850, deutſch 1850) wurde der ſchwärmeriſche Apoſtel der volkswirtſchaftlichen Harmonie, des radikal freien Verkehrs, der Verteidiger des Privateigentums, das er ausſchließlich auf die Arbeit zurückführte. Napoleon III. näherte ſich der Freihandelslehre. Und in faſt ganz Mitteleuropa, wo man 1850 75 beinahe überall die Schutzzölle ermäßigte, die Gewerbefreiheit einführte, den bürgerlichen Mittel - klaſſen das Übergewicht im Staate zu verſchaffen ſuchte, erlebten die populariſierten Smith-Mill-Baſtiatſchen Ideen eine praktiſche Nachblüte, die in auffallendem Miß - verhältniſſe zum dürren Gedankengehalt der Epigonen ſtand. Geſchickte Agitatoren, wie in Deutſchland die beiden Ausländer Prince Smith und Faucher, traten in den Dienſt der dem engliſchen Induſtrieexport ſo förderlichen Ideen. Der volkswirtſchaftliche Kongreß wurde 1857 als Centrum dieſer Agitation in Deutſchland gegründet und hat, von liberalen Journaliſten, Gegnern der Bureaukratie und Philanthropen mehr als von Männern der Wiſſenſchaft geleitet, bis in die 70er Jahre in dieſem Sinne gewirkt. In Italien und Oeſterreich, in Belgien und Skandinavien kam die liberale Lehre in den Ruf, die Wiſſenſchaft als ſolche zu repräſentieren. In Deutſchland zeigte ſie ihre Kraft noch bis auf unſere Tage dadurch, daß auch noch Lehrbücher, die weſentlich von einem anderen Geiſte erfüllt ſind, wie z. B. das Roſcherſche (1854 94) und das Sammelwerk von Schönberg, das Handbuch der politiſchen Ökonomie (1882), doch in ihrem Aufbau und ihrer Syſtematik an dem von Rau geſchaffenen Rahmen feſthielten.

Man bezeichnet die Schule teilweiſe heute noch als die klaſſiſche. Nicht mit Unrecht inſofern, als ſie eine Reihe formvollendeter Bücher geſchaffen, in denen große wirkliche Fortſchritte der Wiſſenſchaft ſich verbinden mit der glücklichſten Formulierung berechtigter, wenn auch einſeitiger Zeitideale. Aber es war ein kindlicher Glaube, die Theorien Quesnays, Turgots, Smiths, Ricardos und J. St. Mills für mehr zu halten, als für erſte vorläufige Verſuche einer ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft. Die ganze Theorie der natürlichen Volkswirtſchaft ruht auf einer unvollkommenen Analyſe des Menſchen und auf einer einſeitigen, optimiſtiſchen, naturrechtlichen Welt - und Geſellſchafts - anſchauung, die auf Spikur und die Stoa, auf die rationaliſtiſche Aufklärungsphiloſophie zurückgeht, die kindlich an die Identität der Geſellſchafts - und Individualintereſſen glaubt, unhiſtoriſch die Urſachen des engliſchen Reichtums verkennt, ſie bloß im Erwerbs - triebe anſtatt in den engliſchen Inſtitutionen ſieht. Die Volkswirtſchaft wird nur als eine äußerliche Summierung der Privatwirtſchaften, das volkswirtſchaftliche Getriebe als ein mechaniſches Spiel von Güterquantitäten aufgefaßt. Aus bloß natürlich-techniſchen Betrachtungen und aus Wert - und Preisunterſuchungen ſoll die Struktur der Volks - wirtſchaft erklärt werden. Es war gewiß ein Fortſchritt, daß man im Anſchluß an die ſocialen Zuſtände des damaligen Englands die Klaſſen der Grundeigentümer, Kapita - liſten (Unternehmer) und Arbeiter in ihren wirtſchaftlichen Beziehungen unterſuchte; aber man mußte bei dieſem anderwärts nicht der Wirklichkeit entſprechenden Schema93Kritik der individualiſtiſchen Volkswirtſchaftslehre. Der Socialismus.nicht abſtrakt ſtehen bleiben; man mußte zu weiteren Unterſcheidungen, zu tieferen pſychologiſchen Unterſuchungen kommen, Arbeitsteilung, Verkehr und Marktweſen beſſer analyſieren, wieder im Zuſammenhange mit Sitte, Recht, Verwaltung und ſtaatlicher Politik verſtehen lernen. Es fehlte der ganzen Schule die breite Kenntnis anderer Zeiten und Länder, die hiſtoriſche Auffaſſung des ſocialen und volkswirtſchaftlichen Entwickelungsprozeſſes. Je weiter eine hohle Theorie von der Beobachtung und den Bedürfniſſen des praktiſchen Lebens ſich entfernte und in abſtrakten Begriffsſpielereien und dilettantiſchen Konſtruktionen ſich erging, deſto wertloſer wurden die Erzeugniſſe der Schule. Der praktiſche Idealismus war einſt ihr Rechtstitel. Sie endete als eine mammoniſtiſche Klaſſenwaffe der Kapitaliſten und als ein gelehrtes Spielzeug welt - flüchtiger Stubengelehrten. Der Beſtand echter Wiſſenſchaft, den ſie geſchaffen, lebt umgeformt fort in den Schriften anderer Richtungen.

41. Die ſocialiſtiſche Litteratur. Seit in den hochentwickelten griechiſchen Staaten arm und reich ſich ſchroff gegenübergetreten, und man in Theorie und Praxis ſich darüber geſtritten, ob die beſtehende Produktion und Verteilung der Güter, das Privat - eigentum, die Ehe, die Ständeunterſchiede nicht einer beſſeren und gerechteren Ordnung der Dinge weichen könnten, ſind ſocialiſtiſche Gedanken, d. h. Vorſtellungen und Lehren über eine gerechtere Verteilung des Einkommens und eine vollkommenere Organiſation der Produktion und Güterverteilung zu Gunſten der Ärmeren durch Erziehung, Sitte und Recht, durch geſellſchaftliche und ſtaatliche Reformen, nie wieder ganz verſchwunden. Wie die Stoa, ſo lehrten die Kirchenväter, daß urſprünglich alles gemein geweſen; das Eigentum und die Ungleichheit, hieß es, ſei nur durch den Sündenfall entſtanden; ja einzelne Väter verſtiegen ſich zu dem Satze: jeder Reiche ſei ein Dieb oder eines Diebes Erbe. Der Druck auf die unteren Klaſſen hatte auch im Mittelalter die Frage erzeugt: als Adam grub und Eva ſpann, wer war denn da der Edelmann? Die Reformations - zeit ſah in den Wiedertäufern und Sektierern praktiſche, in Thomas Morus (Utopia 1516) einen theoretiſchen Verſuch des Socialismus, der ſich demokratiſierend an Plato anſchloß. Und das im 17. und 18. Jahrhundert aufkommende Naturrecht wie die individualiſtiſche Nationalökonomie waren teilweiſe von ſo allgemeinen Vorſtellungen der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von ſo ſtarken Zweifeln an dem Rechte aller über - lieferten Inſtitutionen beherrſcht, daß dieſe Prämiſſen zu ſocialiſtiſchen Syſtemen führen mußten, ſobald die optimiſtiſchen Harmonievorſtellungen zurücktraten.

Morelly, Mably, Briſſot (1755 80) ſind ſocialiſtiſche Zeitgenoſſen Turgots und A. Smiths; Baboeuf vertritt in der franzöſiſchen Revolution die Idee einer nationalen, von oben geleiteten Produktion, deren Güter allen gleichmäßig zugute kommen. Godwin (Political justice, 1793), ein Schüler Lockes und Humes, ein weltunkundiger Diſſenter - prediger, glaubt die Menſchen durch ſeine Tugendlehren ſo umwandeln zu können, daß alle Staatsgewalt aufhören könne, daß jeder bei extremſter individueller Freiheit ſeinen Überfluß anderen abgebe, und die vollendeten Menſchen Krankheit, Schlaf und Tod los werden. Die deutſche Philoſophie konſtruierte in Fichte ein naturrechtliches Syſtem, worin als Folge des Staatsvertrages für jeden die Garantie der Arbeit und des Unter - haltes gefordert und dem geſchloſſenen Handelsſtaate die Pflicht auferlegt wird, dies durch Regulierung alles Erwerbslebens zu gewährleiſten (Naturrecht 1796, geſchloſſener Handelsſtaat 1800). Während aber derartige Lehren früher doch mehr als wunderliche Einfälle einzelner galten, haben ſie mit der ſteigenden induſtriellen Entwickelung, mit den zunehmenden Klaſſengegenſätzen des 19. Jahrhunderts eine ganz andere Bedeutung und Ausbildung erhalten.

Die optimiſtiſche Verherrlichung des eigennützigen Strebens der Individuen nach Erwerb und Reichtum mußte einer peſſimiſtiſchen Beurteilung weichen, als mit der freien Konkurrenz, mit den Kriſen der modernen Weltwirtſchaft, den Fortſchritten der Technik die Zahl der Armen, der Arbeitsloſen, wenigſtens zeitweiſe ſtark zunahm, die Vermögensungleichheit ſtieg, die Macht der Reichen ſich vielfach von ungünſtiger Seite zeigte. Edle Menſchenfreunde begannen die Nachtſeiten der neuen volkswirtſchaft - lichen Organiſation, zumal der freien Konkurrenz zu ſchildern, wie Sismondi (Nouveaux94Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.principes d’économie politique, 1819). Das Mitgefühl für die Leiden der Schwächeren erwachte in einem Maße, die Preſſe, die Litteratur, die Öffentlichkeit deckte ſie auf wie niemals früher. Mochte das individualiſtiſch-liberale Naturrecht und die romantiſch - dogmatiſche Philoſophie ſich ſonſt noch ſo feindlich gegenüberſtehen, im Zutrauen zur eigenen Kraft, durch abſtrakte Spekulation die Wahrheit und das Ideal zu finden, waren beide in der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts gleich und daher geeignet, zu kühnen ſocialiſtiſchen Ideen hinüberzuführen. Viele der neuen ſocialiſtiſchen Apoſtel waren Autodidakten, Geſchäftsleute, Männer ohne eigentlich wiſſenſchaftliche Bildung, Phantaſten und wirre Ideologen, die urteilslos die Bildungselemente der Zeit in ſich aufnahmen; bei allen überwog das Gemüt und die Phantaſie den nüchternen Ver - ſtand; ſelbſt die philoſophiſch geſchulten unter ihnen ſind eigentlich keine gelehrten Forſcher, ſondern Männer, die in erſter Linie praktiſch agitieren, die ſociale Revolution zu Gunſten der unteren Klaſſen durchführen wollen. Der politiſch abſtrakte Radikalismus der Zeit war bei den meiſten der Ausgangspunkt; das letzte Ziel ihrer Ideale war teils und überwiegend die materialiſtiſche, andere Ideale und ein jenſeitiges Leben ver - neinende Pflege des individuellen Lebensgenuſſes, teils die Herſtellung eines idealen Staates, in dem aller Egoismus und Individualismus verſchwinde, das Individuum ganz ſich dem Allgemeinen opfere.

Robert Owen (1771 1858; The new moral world, 1820) war der praktiſche, William Thompſon (Principles of distribution of wealth, 1824) der theoretiſche Be - gründer des engliſchen Socialismus. Erſterem war es als klugem und edlem Fabrikanten gelungen, für Kindererziehung und Hebung ſeiner Arbeiter Außerordentliches zu erreichen; das erfüllte ihn mit weitgehenden Hoffnungen in Bezug auf die Möglichkeit, durch äußere Bedingungen und Geſellſchaftseinrichtungen ganz andere Menſchen zu erziehen; ohne Gewinnſucht, unter Verzicht auf alles Profitmachen im Verkehr ſollte gerecht getauſcht, durch Aſſociationen, die von genoſſenſchaftlichem, ſympathiſchem Geiſt erfüllt ſind, ſollte produziert, das Konkurrenzſyſtem, der Kapitalgewinn beſeitigt werden. Sein iriſcher Freund Thompſon, zugleich Schüler Benthams und Schwärmer für ſchrankenloſe Freiheit der Arbeit und des Verkehrs, formulierte dann den theoretiſchen Gedanken dahin: der Arbeiter hat allen Tauſchwert geſchaffen und ſollte daher den vollen Arbeitsertrag erhalten, Kapital - und Grundrente ſind Unrecht. Die ſchiefe Idee, als ob die Hand - arbeit allein oder hauptſächlich alle Produkte ſchaffe, die ſchon bei A. Smith und Ricardo angeſetzt hatte, ging von Thompſon dann auf die ſpäteren Socialiſten, haupt - ſächlich auch auf Marx und Rodbertus über.

In Frankreich hatten eine ausgezeichnete Erziehung und die großen Ereigniſſe von 1780 1820 den geiſtreichen und verſchwenderiſchen Abenteurer Grafen H. St. Simon (1760 1825; Système industriel, 1821; Nouveau christianisme, 1825), welcher ſprung - weiſe ſich Reiſen und Kriegsdienſten, Spekulationen und Studien gewidmet hatte, mit philanthropiſch-myſtiſchen und geſchichtsphiloſophiſchen Gedanken erfüllt; ſeine Perſönlichkeit und ſeine Schriften ſammelten eine Schule talentvoller Jünger (1825 31): die zu ſchaffende phyſiko-politiſche Wiſſenſchaft, welche zugleich die neue Religion der brüder - lichen Liebe ſein ſollte, wird die Geſellſchaft umgeſtalten; an Stelle der feudal-kriege - riſchen Elemente und der Juriſten, die bisher die Gewalt beſaßen, ſollen die Induſtriellen, wobei an Unternehmer und Arbeiter zugleich gedacht iſt, zur Herrſchaft gelangen. Die Ideen wurden dann von Bazard (Doctrine de St. Simon. Exposition, 1828 30) weiter ausgebildet. Die Kritik der Konkurrenz als eines Krieges aller gegen alle, die Hebung des beſitzloſen Arbeiterſtandes als der zahlreichſten Klaſſe, die Einſetzung des Staates als Erben des Privatvermögens, die Zuführung der ſo gewonnenen Mittel durch ein Staatsbankſyſtem in Kreditform an alle Fähigen ſind die weſentlichen Beſtand - teile des Syſtems, das ſich an eine glückliche Einteilung der Geſchichte in aufbauende und kritiſch-zerſetzende Perioden anſchließt, das praktiſch eine Verſittlichung der Arbeit mit erhöhten Genüſſen erſtrebt und jedem eine Stellung nach ſeiner Fähigkeit und einen Lohn nach ſeinen Werken verſchaffen will. Erſt Enfantin, der auch die Stellung der Frauen im Sinne freier Liebe ändern will, hat Grundrente und Kapitalgewinn als95Der engliſche und franzöſiſche Socialismus.ungerechte Steuer verurteilt, welche die Arbeiter an die müßigen Rentner zahlen. Die Schule machte in Paris 1828 32 Aufſehen; dann wurde ihr Einfluß durch den der Fourierſchen abgelöſt. Fourier (1772 1837, Traité de l’association domestique agricole, 1822; Œuvres, 1841) war ein von den Mißbräuchen des Handels erfüllter melancholiſcher Handlungsgehülfe, bildete ſich als Autodidakt ein, die Newtonſche Theorie durch ſeine phyſiſch-ſociale Attraktionslehre überholt zu haben. Während ihm in der heutigen Geſellſchaft alles gegen den Willen Gottes und naturwidrig erſcheint, glaubt er den Schlüſſel gefunden zu haben, um ein gänzlich harmoniſches, Wunder wirkendes Spiel der menſchlichen Triebe und der Attraktion der Menſchen untereinander herzu - ſtellen: in Rieſenhotels (Phalanſterien) von je 2000 Seelen ſollen die Menſchen zuſammen wohnen, ſich vergnügen, Landwirtſchaft und Gewerbe treiben; bei vollſter Freiheit des Berufes und der Arbeit ſollen hier die einzelnen von ſelbſt und gelockt durch richtige Bezahlung zu Gruppen und Serien ſich ſtundenweiſe zuſammenfinden und genoſſenſchaftlich produzieren; das Kapital gehört den einzelnen in Aktienform; der Reinertrag wird zu 4 / 12 dem Kapital, zu 5 / 12 der gewöhnlichen Arbeit, zu 3 / 12 den leitenden Talenten zugeführt. Gewählte Vorſtände regieren das Phalanſterium wie die größeren Gemeinſchaften, die in einem Weltregiment zu Konſtantinopel gipfeln. Victor Conſidérant (Destinée sociale, 1834 35) wußte durch Ausſcheidung des Abſurden den Kern der ſocialen Anklagen und Vorſchläge Fouriers bis 1848 im Vordergrunde des Intereſſes der litterariſchen Kreiſe Frankreichs zu halten. Von den mancherlei prak - tiſchen Verſuchen, das Phalanſterium ins Leben zu rufen, blüht heute noch das Haus Godin mit ſeiner Fabrik und ſeinen 2000 Seelen.

Neben ihm machte ſich der Journaliſt Louis Blanc als Hiſtoriker des Bourgois - regiments (Histoire des dix ans, 1841 44) und durch ſeine Vorſchläge, an Stelle der anarchiſchen, Arbeiter wie Bürgertum vernichtenden Konkurrenz Arbeitergenoſſenſchaften mit Staatskredit zu ſetzen (Organisation du travail, 1839), bekannt. Und der Schrift - ſetzer Proudhon kritiſierte ideologiſch das Eigentum (Qu’est-ce que la propriété, 1840) und den Socialismus (Système des contradictions économiques ou philosophie de la misère, 1846); die nach ihm weſentlichen Urſachen der ſocialen Mißſtände, Geld und Zins, wollte er durch ein Bankſyſtem beſeitigen, das für die produzierten Waren Tauſch - bons und allen unentgeltlichen Kredit gäbe; als ein phantaſtiſcher, geiſtreich irrlich - ternder Kopf hoffte er auf eine Erſetzung aller ſtaatlichen Gewalt durch freie Verträge und Gruppenbildungen (Œuvres, 37 Bde.).

Von den erheblicheren deutſchen Socialiſten ſtehen wohl Marx und Engels unter dem Eindrucke der ſich verſchärfenden Klaſſengegenſätze Weſteuropas; beide haben auch Anläufe genommen, dieſe Wirklichkeit darzuſtellen und in parteiiſch gefärbten Bildern zu ſchildern (Engels, Lage der arbeitenden Klaſſen in England, 1845; Marx in ſeinem Kapital ). Aber im ganzen ſind die Schriften von Rodbertus, Laſſalle und Marx ſpekulative Ergebniſſe der Lektüre von Ricardo und den älteren Socialiſten, modifiziert durch die deutſche Philoſophie und die Gedanken des politiſchen Radikalismus der 30er und 40er Jahre. Die abſtrakten Formeln der Tauſch - und Wertlehre Ricardos beherrſchen ſie in erſter Linie. Sie argumentierten ſo: Aller Wert iſt Produkt der Arbeit (der Handarbeit), die Arbeit wird durch die Zeit gemeſſen; das Kapital erhält bei der Teilung zu viel, die Arbeit zu wenig; wie iſt das zu erklären, wie dem abzu - helfen? Rodbertus ſagt: die Inſtitution des Privateigentums iſt ſchuld, ſie muß fallen. Laſſalle: das eherne Lohngeſetz iſt ſchuld, die Produktion muß Arbeitergenoſſenſchaften mit Staatskredit übergeben, ſpäter verſtaatlicht werden. Marx meint, das magiſche, tech - niſche Geheimnis, daß die Arbeit und nur die Arbeit mehr produziert, als ſie koſtet, giebt dem Kapitaliſten die Gelegenheit, die Differenz, den ſogenannten Mehrwert einzuſtecken und ſich ſo zu bereichern; die Kapitalanſammlung in immer weniger Händen wird endlich zu der Expropriierung der Kapitalmagnaten durch das arbeitende Volk führen. Es ſind drei ſchablonenhafte, abſtrakte Formeln, eine rechtsphiloſophiſche, eine politiſche und eine techniſch-volkswirtſchaftliche, in denen Keime von Wahrheiten enthalten ſind; ſie ſind aber auf das Kartenhaus Ricardoſcher falſcher Sätze aufgebaut, ſie werden ohne Unter -96Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ſuchung der pſychologiſchen, organiſatoriſchen, verwaltungsmäßigen Urſachenreichen und Mittelglieder, ohne erhebliche hiſtoriſche und empiriſche Specialunterſuchungen durch einige oberflächliche halb wahre und halb falſche Geſchichtskonſtruktionen nicht haltbarer, ſie ſind nur auf dem Boden einer materialiſtiſchen Weltanſchauung, einer Fiktion der Gleichheit aller Menſchen, einer maßloſen Überſchätzung der mechaniſchen Handarbeit verſtändlich. Die große Differenz der Syſteme unter ſich, die tiefe Verachtung, welche jeder dieſer wiſſenſchaftlichen Socialiſten für die Theorie des anderen hatte, zeigt, wie wenig dieſe Gedankenreihen wirkliche feſtſtehende Wiſſenſchaft bedeuten, wie ſehr ſie ins Gebiet der ideologiſchen Konſtruktionen und der Hypotheſen gehören.

Mögen die Marxianer Laſſalle (1825 64; Schriften ed. Bernſtein 1892 93) nur als großen praktiſchen Agitator gelten laſſen, der wiſſenſchaftlich nicht in Betracht komme: er war ein eitler von prahleriſchem Ehrgeize verzehrter Lebemann, aber dabei ein philoſophiſcher Kopf und ein kenntnisreicher Juriſt; ſein Syſtem der erworbenen Rechte (1861) ſteht mindeſtens ebenbürtig neben den Schriften der anderen, ſeine Reden und Pamphlete ſind Meiſterſtücke ſocialpolitiſch demagogiſcher Beredſamkeit; ſein Blick für das reale Leben, die Macht - und Verfaſſungsfragen, die inneren Triebfedern der geſellſchaftlichen Bewegung war ſchärfer als der von Rodbertus und Marx; wenn er, von L. v. Stein beeinflußt, groß vom Staate und vom ſocialen Königtum dachte, von einem demokratiſchen Cäſarismus tiefgreifende ſociale Umwälzungen erwartete, zeigte er offneren Sinn für die letzten geſchichtlichen Urſachen als die Marxiſchen Schwärmer für die Abſchaffung des Staates. In der Beurteilung des Staates ſteht Rodbertus (1805 75; Sociale Briefe an Kirchmann, 1850 84; Normalarbeitstag, 1871; Briefe und ſocial - politiſche Aufſätze ed. R. Meyer, 2 Bde. 1882), der norddeutſche Gutsbeſitzer und einſame radikale Denker, der Schüler Schellings und Hegels, Laſſalle ſehr nahe; er ſieht, freilich in ſehr übertriebener Weiſe, in aller Geſchichte nur eine Zunahme der Staatsthätigkeit; er haßt das Mancheſtertum wie die ſenſualiſtiſche Genußſucht der franzöſiſchen Socia - liſten; nicht mehr genießen, ſondern der Allgemeinheit ſich opfern ſoll das Individuum. Seine Geſchichtskonſtruktion iſt tiefſinniger als die von Laſſalle und Marx, ſie ruht auf gewiſſen praktiſchen Kenntniſſen (Erklärung und Abhülfe der heutigen Kreditnot des Grundbeſitzes, 1871) und gelehrten Studien (Unterſuchungen auf dem Gebiete der Nationalökonomie des klaſſiſchen Altertums, J. f. N. 1. F. 2 ff. ), ſie macht eine beſſere ſociale Zukunft, in welcher nicht mehr das Menſchen -, das Grund - und das Kapital - eigentum, ſondern das Eigentum des individuellen Verdienſtes vorherrſchen ſoll, in anziehender Weiſe denkbar. Aber ſeine Einkommenslehre iſt ſchablonenhaft, ſeine Erklärung der Kriſen durch zu geringen Konſum der Arbeiter trifft ſo wenig den weſent - lichen Punkt, als Rodbertus ein Recht hat, die infolge techniſcher Fortſchritte zunehmende Produktivität der Arbeit den mechaniſchen Handarbeitern als ihr Verdienſt anzurechnen; ſein roh entworfenes Zukunftsgemälde mit Normalarbeitstag, Arbeitsgeld, Bezahlung nach der Zeit iſt ein utopiſcher Traum ohne jede Begründung ſeiner Realiſierbarkeit.

Karl Marx (1818 83; Manifeſt der kommuniſtiſchen Partei, 1848; Zur Kritik der politiſchen Ökonomie, 1859; Das Kapital, 1. 1867, 4. Aufl. 1890; 2. 1885 ; 3. 1894) übertraf ſeine Geſinnungsgenoſſen an ſtürmiſcher, revolutionärer Willens - kraft, an Ernſt und Tiefe der Gedanken, an dialektiſcher, zerſetzender Schärfe, an Haßgefühl gegen alle beſtehenden Gewalten. Aber es fehlte ſeinem mathematiſch ſpekulativem Kopfe doch ganz der Sinn für die konkrete pſychologiſche und geſellſchaftliche Wirklichkeit und für empiriſches Studium. Auf dem Boden der Hegelſchen Geſchichtskonſtruktion groß geworden, ſuchte er unter Feuerbachs und Proudhons Einfluß dieſe realiſtiſch zu wenden, verfuhr dabei aber nicht minder willkürlich als Hegel und verfügte über viel geringere Geſchichtskenntnis als er. Immer bleibt die im Lapidarſtil des haßerfüllten Anklägers verfaßte Schilderung der techniſch-ſocialen Entwickelung der engliſchen Großinduſtrie von 1750 1850 ein Meiſterſtück trotz all ihrer Einſeitigkeit. Die Begründung des ökonomiſchen Materialismus, d. h. der Lehre, welche den ſocialen, geiſtigen und poli - tiſchen Lebensprozeß der Völker ausſchließlich auf die materielle Güterproduktion und - Verteilung zurückführen will, war ein berechtigter Proteſt gegen die überſpannte97Laſſalle, Rodbertus, Marx.idealiſtiſche Geſchichtsſchreibung und darum ein Verdienſt, ſo ſehr Marx und noch mehr ſeine Nachtreter den richtigen Gedanken übertrieben. Es iſt gegen die übertreibende Formulierung des Gedankens zu bemerken, daß gewiß alle höheren Kulturgebiete durch die materiellen ökonomiſchen Zuſtände bedingt und beeinflußt ſind, daß aber ebenſo ſicher das geiſtig-moraliſche Leben eine ſelbſtändige, für ſich beſtehende Entwickelungsreihe darſtellt und als ſolche das ökonomiſche Getriebe beherrſcht, umformt und geſtaltet. Das überſieht Marx nicht bloß, ſondern er iſt auch infolge ſeiner einſeitig nationalökonomiſchen, ganz an Ricardo angeſchloſſenen Vorſtellungswelt unfähig, eine pſychologiſche Analyſe des wirtſchaftenden Menſchen vorzunehmen, die Bedeutung der ſittlichen, rechtlichen und politiſchen Inſtitutionen zu würdigen. Es war ein Fortſchritt ſeiner Geſchichtsauf - faſſung, daß er auf die Zeichnung utopiſtiſcher Zukunftspläne verzichtete, aber zugleich verzichtete er ganz auf die Erklärung des pſychologiſchen Wunders, das ſeine Geſchichts - und Socialphiloſophie vorausſetzt: die beſtehende von Marx als nichtswürdig geſchilderte Welt ſetzt die ausſchließliche Herrſchaft des gemeinſten Beſitzegoismus und Erwerbs - triebes bei allen Menſchen voraus; die zukünftige von ihm erwartete kennt dieſe Eigen - ſchaft überhaupt nicht mehr, ohne zu erklären, wie ſie plötzlich verſchwinde.

Auch ſein nationalökonomiſches Syſtem, ſeine Mehrwertlehre, die Darſtellung der kapitaliſtiſchen Produktion und ihrer Folgen iſt eine große abſtrakte Denkerleiſtung, voll Scharfſinn und Gedankenreichtum; man kann ſie loslöſen von den überall eingeſtreuten ſocialiſtiſchen Flüchen und pathetiſch-moraliſchen Verurteilungen der Kapitaliſten und Ausbeuter. Aber doch ruht dieſes Syſtem ganz auf den Anſchauungen und Voraus - ſetzungen Ricardos; es iſt in gewiſſem Sinne die letzte Konſequenz der einſeitigen Naturlehre der Volkswirtſchaft. Ja Marx geht mit ſeinen mathematiſch-techniſchen und ſpekulativ-abſtrakten Spitzfindigkeiten in gewiſſem Sinne hinter Ricardo und bis Quesnay zurück, indem er alle Wertbildung einſeitig aus der Produktionsthätigkeit des Arbeiters und alle ſociale Klaſſenbildung aus dem Kapital und ſeiner Verteilung erklärt. Die Volkswirtſchaft iſt ſo nicht mal mehr Tauſchgeſellſchaft, ſondern ein techniſch - natürlicher Vorgang, der an die Produktion, ihre Art und ihre Folgen ſich anſchließt, der immer wieder als eine Art myſtiſchen Geheimniſſes, ſichtbar nur für Denker wie Marx, behandelt wird. Ich komme auf ſeine Mehrwert - und Lohnlehre unten zurück. Hier ſei nur kurz angedeutet, daß Marx das ſociale Grundproblem, wie es komme, daß der Arbeiter bei der Güterverteilung ſo wenig, der Unternehmer ſo viel erhalte, objektiv, durch ganz allgemeine Urſachen erklären will. Dabei geht er von der Fiktion, der Arbeiter ſchaffe allein den Wert, als einem des Beweiſes nicht bedürftigen Axiome aus; dem Arbeiter wird der angeblich nur durch Unrecht und Gewalt zu ſeinem Kapital gekommene, nichtsthuende Kapitaliſt entgegengeſetzt. Und nun wird einfach geſchloſſen: der Arbeiter erhält nach dem Preisgeſetze den niedrigen Lohn, von dem er notdürftig leben kann, der den Produktionskoſten der Arbeit entſpricht; das Plus, was er ent - ſprechend der myſtiſchen Produktivkraft der Arbeit erzeugt, iſt der Mehrwert, den der Kapitaliſt in die Taſche ſteckt. In dieſer ſchablonenhaften Aufſtellung iſt das Eine wahr, daß die Arbeitsteilung und Differenzierung der Geſellſchaft, die Geldwirtſchaft und die komplizierte volkswirtſchaftliche Verfaſſung immer wieder an beſtimmten einzelnen Punkten eine Güterverteilung ſchafft, welche als eine ungerechte zwiſchen leitenden und ausführenden Kräften empfunden wird; ſo entſteht der Begriff der Ausbeutung (des un - billigen Mehrwertes). Aber nicht das Kapital iſt daran ſchuld, ſondern die Differenzierung, ohne die es keinen Fortſchritt gäbe; die techniſchen und kaufmänniſchen Überlegenheiten der wenigen über die vielen, der Vorſprung der geiſtigen gegenüber der mechaniſchen Arbeit und die ethiſch-rechtlichen Unvollkommenheiten unſerer Inſtitutionen ſind die ſpringenden Punkte. Schon das ganze Operieren mit dem Begriff des Kapitaliſten iſt eine Gedankenloſigkeit. Nicht der Kapitaliſt, ſondern der Marktkenner und Markt - beherrſcher iſt der, welcher heute leicht mehr Werte als die übrigen Geſellſchaftsklaſſen erwirbt. Und nicht eine Unterſuchung der Natur der Ware, des Kapitals und ähnliches bringt uns weiter, ſondern eine ſolche der Urſachen menſchlicher Verſchiedenheit und derSchmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 798Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Inſtitutionen, die dieſe ſteigern oder mildern, und die den Güterverteilungsprozeß beherrſchen und beeinfluſſen.

Was der deutſche Socialismus teils ſelbſtändig neben den genannten noch ſchuf (z. B. Marlo [Winkelblech], Organiſation der Arbeit, 1850; Dühring, Kurſus der National - und Socialökonomie, 1873; Hertzka, Geſetze der ſocialen Entwickelung, 1886, Freiland, 1890; Flürſcheim, Der einzige Rettungsweg, 1890), teils im engen Partei - anſchluß an ſie erzeugte (wie die Schriften von Bebel, Liebknecht, Schippel), hat keine ſo ſelbſtändige Bedeutung, daß hier näher darauf einzugehen wäre. Nur Engels verdient als Freund und litterariſcher Genoſſe von Marx beſondere Erwähnung (haupt - ſächlich durch ſein Buch: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wiſſenſchaft, 1877 und 1886). Und unter den Nachfolgern ſind K. Kautsky (Thomas Morus und ſeine Utopie, 1887), F. Mehring (Die Leſſinglegende nebſt Anhang über den hiſtoriſchen Materialismus, 1893; ſeine litterargeſchichtlichen Werke ſind oben genannt), Schönlank (Sociale Kämpfe vor dreihundert Jahren, 1894; Arbeiten über Kartelle, Queckſilber - induſtrie) und E. Bernſtein (Die Vorausſetzungen des Socialismus und die Aufgaben der Socialdemokratie, 1899) wohl als die zu nennen, welche neben der ſocialiſtiſchen Parteileidenſchaft erhebliches wiſſenſchaftliches Talent zeigen, wie ja auch in ihrer Zeit - ſchrift (Neue Zeit ſeit 1882) manche ehrliche wiſſenſchaftliche Arbeit enthalten iſt. Freilich in dem Maße als ſie hervortritt, verlaſſen dieſe Schriften auch den einſeitigen Partei - und Klaſſenſtandpunkt, welcher ja an ſich echte objektive Wiſſenſchaft ausſchließt. In den engliſch redenden Ländern hat der Amerikaner Henry George (Progress and poverty, 1879, deutſch 1881) durch ſeine Agitation gegen das Bodenmonopol, deſſen Rente er durch Steuern einziehen will, Aufſehen gemacht; er iſt ein talentvoller leidenſchaft - licher, aber autodidaktiſcher und phraſenhafter Schriftſteller, wird in ſeinen Grund - gedanken von Ricardo einerſeits, von den Mißbräuchen der amerikaniſchen Boden - ſpekulation andererſeits beherrſcht. In England ſpielt neuerdings eine ſocialiſtiſche Litteratengeſellſchaft (Fabian society, fabian essays in socialism 1890) eine gewiſſe Rolle, die ihr größtes Talent in Frau Sidney Webb zu haben ſcheint. Wenn in den Eſſays noch der alte naturrechtliche Socialismus vorherrſcht, ſo tritt in anderen Erzeug - niſſen der Schule der praktiſch und theoretiſch bedeutſame Gedanke in den Vordergrund, daß ein Sieg ſocialiſtiſcher Geſellſchaftseinrichtungen abhänge von einer vorausgehenden demokratiſchen Schulung, Erziehung und Organiſation der Arbeiter in Vereinen und Genoſſenſchaften, in Gemeinde und Grafſchaft. Als die wichtigſten Erzeugniſſe dieſer Richtung ſind zu nennen: Frau Sidney Webb, Die britiſche Genoſſenſchaftsbewegung, 1891, deutſch herausg. von Brentano 1893; Sidney und Beatrice Webb, The history of trade unionism, 1894; dieſelben, Industrial democracy, 2 Bde., 1897. Das ſind Leiſtungen, welche weit über denen von Marx ſtehen, aber auch nur in beſchränkter Weiſe dem Socialismus zuzuzählen ſind.

Der Socialismus des 19. Jahrhunderts hat eine eminent praktiſche Bedeutung erhalten, weil er zur Glaubenslehre, zum Ideal der zu politiſchen Rechten und zum Selbſtbewußtſein gekommenen Arbeiter der Großinduſtrie wurde. Er wurde es, weil er auf große ſociale und andere Mißſtände und Mißbräuche kühn hinwies und deren Ände - rung forderte, an die radikalen und materialiſtiſchen Tagesſtrömungen ſich anſchloß, den rohen Inſtinkten der Maſſe teils mit verführeriſchen Zukunftsplänen, teils mit blendenden Geſchichtskonſtruktionen und philoſophiſchen Formeln ſchmeichelte. Seine volkswirtſchaft - liche Bedeutung beſteht darin, daß er den unklaren Optimismus der Freihandelsſchule zerſtörte, durch eine Analyſe der Klaſſengegenſätze und - Kämpfe, des politiſchen und wirtſchaftlichen Machtmißbrauches, ſowie der unſicheren und kümmerlichen Lage der Arbeiter wichtige Erſcheinungen und Gebiete der Volkswirtſchaft faſt neu entdeckte. Der Socialis - mus hat ſich mit Energie dem großen Gedanken der Entwickelung zugewandt, hat den Zuſammenhang zwiſchen Recht, Staat und Volkswirtſchaft wieder betont, hat die ganze bisherige Wiſſenſchaft zu neuen Ideen, Frageſtellungen und Unterſuchungen angeregt. Mögen alſo ſeine utopiſchen Ideale von einer Aufhebung aller Klaſſengegenſätze, einer Beſeitigung aller Einkommens - und Vermögensungleichheit, von einem ſinnlichen Genuß -99Würdigung der ſocialiſtiſchen Litteratur.leben aller Individuen noch ſo falſch ſein, mag ſeine letzte Wurzel in einer Überſchätzung des äußeren, irdiſchen Glückes, in einer Verkennung des wahren Weſens der menſchlichen Natur, in einer rohen ſinnlichen Weltanſchauung liegen, es ſind Lehren, die einen natur - gemäßen Rückſchlag gegen die Überſchätzung der freien Konkurrenz darſtellen; ſie haben den Intereſſen des vierten Standes gedient, wie die liberalen Lehren dem Mittelſtande förderlich waren; ſie haben große Bewegungen der Zeit, wie die fortſchreitende Technik, den zunehmenden Großbetrieb, die ſich vervielfältigende wirtſchaftliche Kommunal - und Staatsthätigkeit in ihre Theorie geſchickt aufgenommen, ſie freilich zugleich maßlos über - trieben. In ihrer Ignorierung der Bevölkerungsfrage, in der Gleichgültigkeit gegenüber den letzten pſychologiſchen und ethiſchen Fragen, wie in der Aufſtellung abſurder Trieb - lehren, in ihren Hoffnungen auf eine gänzliche Veränderung des menſchlichen Seelenlebens und der geſamten geſellſchaftlichen Einrichtungen zeigen ſie eine kindliche, von wahrer Wiſſenſchaftlichkeit noch ganz unberührte Naivetät; die entſcheidenden Fragen, wie ein kommuniſtiſcher Rieſenapparat ohne die furchtbarſten Mißbräuche der Verwaltung fun - gieren ſoll, haben ſie ſich noch gar nicht recht vorgelegt; ihre Ignorierung der Not - wendigkeit feſter großer Staatsgewalten läßt ſie auch auf wirtſchaftlich-ſocialem Gebiete Fehlſchluß auf Fehlſchluß häufen; oberflächliche demokratiſche Vorſtellungen über Volks - ſouveränität und ungeſchichtlicher Monarchenhaß täuſcht ſie über die politiſche Schwierigkeit und Unmöglichkeit der Ausführung ihrer Pläne weg. Würden ihre utopiſchen Theorien zur Herrſchaft in irgend einem Staate gelangen, vollends in der Hand von weltunkundigen Schwärmern oder wüſten Demagogen, ſo ſtellten ſie eine unſagbare Gefahr dar; ſie würden wahrſcheinlich mit der Zerſtörung der beſtehenden Geſellſchaftseinrichtungen die Kultur überhaupt auf lange vernichten. Aber als treibende Elemente der ſocialen Entwickelung, beherrſcht von den beſtehenden Gewalten, korrigiert von Wiſſenſchaft, Vernunft und Moral, haben ſie eine nicht zu verkennende, berechtigte Aufgabe in der Entwickelung der Geſchichte und des ſocialen Fortſchrittes. Es ſind Lehren, welche in wiſſenſchaftlichem Gewande die einſeitigen praktiſchen Zeitideale der unteren Klaſſen darſtellen, mit den Idealen der anderen Klaſſen ſich vertragen müſſen. Vom Ziele aller echten Wiſſenſchaft, alle Menſchen gleichmäßig zu überzeugen, ſind ſie noch weiter entfernt als die ihnen gegenüberſtehenden individualiſtiſchen Mancheſterlehren, weil ſie nackter auf einem Klaſſenſtandpunkt ſtehen, mehr von Gefühlen und Intereſſen, als von Verſtand und ruhiger objektiver Überlegung beherrſcht ſind.

4. Die Methode der Volkswirtſchaftslehre.

  1. Allgemeine Werke über Methode: John Stuart Mill, Syſtem der deduktiven und induk - tiven Logik. Erſte engliſche Aufl. 1843, deutſche Überſetzung von J. Schiel nach der 5. Aufl. 2 Bde. 1862.
  2. Lotze, Logik, drei Bücher vom Denken, vom Unterſuchen und Erkennen. 1874.
  3. Sigwart, Logik. 2 Bde. 1873 u. 1878.
  4. Euken, Die Grundbegriffe der Gegenwart. 1878 u. 1893.
  5. Wundt, Erkenntnislehre. 1880; Derſ., Methodenlehre. 1883 (2. Aufl. beider Bände, die zuſ. als Logik bezeichnet ſind, 1893).
  6. Dilthey, Einleitung in die Geiſteswiſſenſchaften 1. 1883. Specielle Litteratur. Engliſche: Jevons, Theory of pol. economy. 1871. The principles of science. 2 Bde. 1874. Studies in deductive logic. 1880 (dazu W. Böhmert, Jevons und ſeine Bedeutung für die Volkswirtſchaftslehre in England. J. f. G.V. 1891.
  7. Caineß, The character and logical method of political economy. 1875 (dazu Weiß, Zur Logik der National - ökonomie. Z. f. St. W. 1875).
  8. David Syme, Outlines of an industrial science. 1876.
  9. John Ingram, The present position and prospects of political economy. 1878 (deutſch von Scheel, Die notwendige Reform der Volkswirtſchaftslehre. 1879).
  10. Cliffe Leslie, Essays in moral and political philosophy. 1879 (neue Aufl. 1888 u. d. T.: Essays on pol. econ.).
  11. Aſhley, What is political science? 1888.
  12. Keynes, The scope and method of political economy. 1891. Deutſche: K. Menger, Unterſuchungen über die Methode der Socialwiſſenſchaften und der politiſchen Ökonomie insbeſondere. 1883.
  13. Schmoller, Zur Methodologie der Staats - und Social - wiſſenſchaften. J. f. G.V. 1883 (wieder abgedr. Litt. -Geſch.).
  14. Heinrich Dietzel, Der Ausgangs - punkt der Socialwiſſenſchaftslehre und ihr Grundbegriff. Z. f. St. W. 1883; Derſ., Beiträge zur Methodik der Wirtſchaftswiſſenſchaft. J. f. N. 2. F. 9, 1884.
  15. Emil Sax, Das Weſen und die Aufgaben der Nationalökonomie. 1884.
  16. Hasbach, Ein Beitrag zur Methodologie der National -7*100Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ökonomie. J. f. G.V. 1885.
  17. Adolf Wagner, Syſtematiſche Nationalökonomie. J. f. N. 2. F. 12, 1886.
  18. v. Philippovich, Über Aufgabe und Methode der politiſchen Ökonomie. 1886 (dazu Hasbach. J. f. G.V. 1886, 990).
  19. Brentano, Die klaſſiſche Nationalökonomie. 1888.
  20. Sax, Die neueſten Fortſchritte der nationalökonomiſchen Theorie. 1889.
  21. Kleinwächter, Weſen, Aufgabe und Syſtem der Nationalökonomie. J. f. N. 2. F. 18, 1889.
  22. K. Menger, Grundzüge einer Klaſſifikation der Wirtſchaftswiſſenſchaften. Daſ. 19, 1889.
  23. Neumann, Naturgeſetz und Wirt - ſchaftsgeſetz. Z. f. St. W. 1892.
  24. A. Wagner, Grundlegung der politiſchen Ökonomie. 3. Aufl. Erſter Teil, erſter Halbbd., §§ 54 107 (1892).
  25. v. Gans-Ludaſſy, Syſtem der ökonomiſtiſchen Methodologie. 1893.
  26. H. Dietzel, Theoretiſche Socialökonomik. 1, 1895.
  27. Hasbach, Zur Geſchichte des Methodenſtreites in der politiſchen Ökonomie. J. f. G.V. 1895.

42. Einleitung. Wir haben die Entwickelung der vorherrſchenden volks - wirtſchaftlichen Syſteme bisher unter dem Geſichtspunkte ihrer Entſtehung aus praktiſchen Zeitſtrömungen heraus betrachtet. Wir geben zu, daß auch die anderen, weiterhin noch zu erörternden Litteraturerſcheinungen nicht frei von ſolchen Tendenzen ſind. Aber im ganzen ſteht doch die ſtrengere Wiſſenſchaft, wie ſie ſich im 19. Jahrhundert mehr und mehr herausbildete, auf einem anderen Boden. Sie will nicht mehr in erſter Linie ein Sollen lehren und Anweiſungen fürs praktiſche Leben geben; ſie will begreifen und zu unumſtößlichen Wahrheiten über den Zuſammenhang der Dinge kommen. Gewiß haben auch die bisher vorgeführten Schriftſteller derartiges erſtrebt und teilweiſe auch erreicht. Aber doch mit beſchränktem Erfolge, teilweiſe weil erſt neuerdings die ſtrengeren Methoden der Erkenntnis ausgebildet wurden, teilweiſe eben deshalb, weil ihnen nicht das Erkennen, ſondern die Aufſtellung von praktiſchen Idealen in erſter Linie ſtand. Dieſe müſſen von heute auf morgen fertig werden, müſſen ſtets auf einem Glauben und Hoffen, teilweiſe auf Hypotheſen und teleologiſchen Bildern ruhen. Und wenn auch die Wiſſenſchaft derartiger Mittel nie ganz entraten kann, ſo muß ſie ſich doch bewußt bleiben, daß ſie hier auf unſicherem Boden ſich bewegt. Sie muß mit viel Reſignation und Beſcheidenheit ihre Lücken eingeſtehen. Sie muß, wenn ſie auch ſtets hofft, mit ihren Ergebniſſen praktiſche Leuchten für die Zukunft aufzuſtellen, ſich doch zunächſt im Sinne einer berechtigten Arbeitsteilung auf das Erkennen beſchränken, aber dieſes um ſo feſter hinzuſtellen ſuchen, weil ſie eingeſehen hat, daß die Hoffnungen der Denker und Gelehrten, durch beſtimmte Theorien irgend eine ſubjektive Auffaſſung des Sollens zu ſtützen, immer wieder die Objektivität des wiſſenſchaftlichen Verfahrens getrübt hat.

Die Fortſchritte des geſamten wiſſenſchaftlichen Verfahrens in den Natur - und Geiſteswiſſenſchaften während der letzten Generationen mußten auch auf dem Gebiete der Staatswiſſenſchaften und der Volkswirtſchaftslehre ihre Wirkung ausüben, zur Verfeine - rung und Verbeſſerung des methodiſchen Verfahrens, zur ſtrengen Einhaltung von Grundſätzen und Regeln bei aller Beobachtung und Erklärung der volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen führen. Die Wiſſenſchaft der Nationalökonomie will von der Volks - wirtſchaft ein vollſtändiges Bild, einen Grundriß der volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen nach Raum und Zeit, nach Maß und hiſtoriſcher Folge entwerfen; ſie thut das, indem ſie die Wahrnehmungen dem vergleichenden und unterſcheidenden Denken unterwirft, das Wahrgenommene auf ſeine Gewißheit prüft, das richtig Beobachtete in ein Syſtem von Begriffen nach Gleichartigkeit und Verſchiedenheit einordnet und endlich das ſo Geordnete in der Form typiſcher Regelmäßigkeiten und eines durchgängigen Kauſalzuſammenhanges zu begreifen ſucht. Die Hauptaufgaben ſtrenger Wiſſenſchaft ſind ſo 1. richtig beob - achten, 2. gut definieren und klaſſifizieren, 3. typiſche Formen finden und kauſal erklären. Je nach dem fortſchreitenden Stande der Wiſſenſchaft tritt dann bald das eine, bald das andere mehr in den Vordergrund. Bald iſt das Zurückgreifen auf die Erfahrung, bald die rationale Bemeiſterung der Erfahrungen durch Begriffe, Reihenbildung, Kauſal - erklärung und Hypotheſen das wichtigere Geſchäft.

43. Beobachtung und Beſchreibung. Wir verſtehen unter der wiſſen - ſchaftlichen Beobachtung einer Erſcheinung eine ſolche, die oftmals von demſelben oder von verſchiedenen Beobachtern wiederholt immer dasſelbe Reſultat ergiebt, aus der die Einflüſſe ſubjektiver Täuſchung und Meinung ſo weit als möglich entfernt ſind. Eine ſolche Beobachtung deutet auf ein objektives Geſchehen. Die Beobachtung ſoll objektive101Die wiſſenſchaftliche Beobachtung.Gültigkeit, erſchöpfende Genauigkeit, extenſive Vollſtändigkeit beſitzen. Das einzelne ſoll für ſich und als Teil des Ganzen in ſeinen wahrnehmbaren Beziehungen zu dieſem, im Vergleich mit Ähnlichem und Verſchiedenem beobachtet werden. Die wiſſenſchaftliche Fixierung der Beobachtung iſt die Beſchreibung; jede halbwegs brauchbare Beſchreibung ſetzt aber ſchon ein geordnetes Syſtem von Begriffen und die Kenntnis der bekannten und feſtgeſtellten Formen und Kauſalverhältniſſe voraus.

Die volkswirtſchaftliche Beobachtung hat es mit Handlungen der einzelnen und der Gemeinſchaften, mit den Motiven dazu, mit den Ergebniſſen dieſer Handlungen, mit den ſocialen Formen und Verknüpfungen, die daraus entſtehen, zu thun. Ihr dient ſtets vereint innere und äußere Wahrnehmung. Die erſtere giebt uns unmittelbare Gewißheit über uns ſelbſt und durch Vergleichung mit den Worten, Mienen und Hand - lungen der anderen auch über dieſe. Die zweite führt uns von dem bunten Weltbilde ein kleines Stückchen direkt vor, das durch die Kraft ſeiner Anſchaulichkeit uns ſo beherrſcht, daß wir in all unſerem Denken davon abhängig bleiben, welches Stück der Welt, hier der volkswirtſchaftlichen Welt, wir ſelbſt geſehen und erlebt. Die weitaus größere Hälfte der Wahrnehmungen empfangen wir indirekt durch Erzählung, Lektüre, Berichte aller Art. Das Maß von Phantaſie und Kraft der Vorſtellung, über welche der einzelne verfügt, bedingt die Wirkſamkeit dieſer verblaßten, ſchemenhaften, indirekten Bilder. Das Maß von Scharfſinn, Kritik, methodiſch hiezu angeleitetem Verſtande, das dem einzelnen eigen iſt, bedingt den richtigen oder falſchen Gebrauch von dieſen ſekun - dären Weltbildern. In der überlieferten Wiſſenſchaft empfängt der einzelne eine ſyſte - matiſch angeordnete, nach gewiſſen richtigen oder ſchiefen Geſichtspunkten zurecht gemachte, teilweiſe zu farbloſen Abſtraktionen verflüchtigte Summe von Beobachtungsreſultaten, welche die große Menge gläubig hinnimmt, welche der Forſcher ſtets von neuem wieder prüft und ordnet.

Alle Beobachtung iſoliert aus dem Chaos der Erſcheinungen einen einzelnen Vor - gang, um ihn für ſich zu betrachten. Sie beruht ſtets auf Abſtraktion; ſie analyſiert einen Teilinhalt. Je kleiner er iſt, je iſolierter er ſich darſtellt, deſto leichter iſt das Geſchäft. Die relative Einfachheit der elementaren Naturvorgänge erleichtert auf dem Gebiete der Naturwiſſenſchaften die Beobachtung ſehr; es kommt dazu, daß der Naturforſcher es in ſeiner Gewalt hat, die Umgebung, die mitwirkenden Urſachen beliebig zu ändern d. h. zu experimentieren und ſo den Gegenſtand von allen Seiten her leichter zu faſſen. Nicht bloß iſt das bei volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen häufig nicht möglich, ſondern dieſe ſind ſtets auch in ihrer einfachſten Form ſehr viel kompliziertere Gegenſtände, abhängig von den verſchiedenſten Urſachen, beeinflußt durch eine Reihe mitwirkender Bedingungen. Nehmen wir eine Steigerung des Getreidepreiſes, des Lohnes, eine Kurs - veränderung oder gar eine Handelskriſis, einen Fortſchritt der Arbeitsteilung; faſt jeder ſolche Vorgang beſteht aus Gefühlen, Motiven und Handlungen gewiſſer Gruppen von Menſchen, dann aus Maſſenthatſachen der Natur (z. B. einer Ernte) oder des techniſchen Lebens (z. B. der Maſchineneinführung), er iſt beeinflußt von Sitten und Einrichtungen, deren Urſachen weit auseinander liegen. Es handelt ſich alſo ſtets oder meiſt um die gleichzeitige Beobachtung von zeitlich und räumlich zerſtreuten, aber in ſich zuſammenhängenden Thatſachen. Und vollends wenn typiſche Formen des volks - wirtſchaftlichen Lebens, wie die Familienwirtſchaft, die Unternehmung oder konkret eine beſtimmte Volkswirtſchaft, ein Induſtriezweig beobachtet werden ſollen, ſo ſteigert ſich die Schwierigkeit des Selbſt - und des Richtigſehens, des Zuſammenordnens von vielen Beobachtungen außerordentlich. Die Möglichkeit von Fehlern liegt um ſo näher, je größer, verzweigter, komplizierter die einzelne Erſcheinung iſt. Die an ſich berechtigte Vorſchrift, einen zu unterſuchenden Vorgang in ſeine kleinſten Teile aufzulöſen, jeden für ſich zu beobachten und aus dieſen Beobachtungen erſt ein Geſamtergebnis zuſammen - zuſetzen, iſt nur unter beſonders günſtigen Umſtänden reſtlos durchzuführen. In der Regel handelt es ſich darum, aus gewiſſen, an einem Vorgang feſtgeſtellten ſicheren Daten die übrigen nicht oder nicht genügend beobachteten ſchließend zu ergänzen und ſo ſich ein Bild von dem Ganzen desſelben zu machen; das geſchieht unter dem Einfluſſe102Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.gewiſſer Geſamteindrücke durch einen produktiven Akt der Phantaſie, der irren kann, wenn nicht reiche Begabung und Schulung den Geiſt auf die rechte Bahn lenken. Die Beſchreibung vollends greift immer gewiſſermaßen über die Beobachtung hinaus, indem ſie feſtſtehende Begriffe gebraucht, an feſtſtehende Wahrheiten anknüpft, Folgerungen aus dem Beobachteten ausſpricht, die einzelnen Beobachtungen zu einem Geſamtbilde vereinigt, Vergleichungen zur Erläuterung heranzieht. Die Zuſammenfaſſung mehrerer Beobachtungen und ihre Vergleichung, der Verſuch, ſo ausprobierend Geſamtvorſtellungen über größere Gebiete des volkswirtſchaftlichen Lebens zu ſchaffen, iſt ein Hauptmittel, in das Chaos zerſtreuter Einzelheiten Einheit zu bringen. Es liegt darin auch der Anſatz zu induktiven Schlüſſen, wie alle Beſchreibung ihren Hauptzweck darin hat, die Induktion, d. h. den Schluß vom einzelnen auf das zu Grunde liegende Geſetz vor - zubereiten; aber ſie iſt an ſich noch nicht Induktion und dient ebenſo der Deduktion und ihrer Verifikation.

Je mehr freilich die größer angelegten Beſchreibungen das analytiſch im einzelnen Feſtgeſtellte zu Syntheſen zuſammenfaſſen, je mehr ſie von der elementaren Teilanalyſe zur kauſalen, verknüpfenden Analyſe vordringen, deſto mehr werden wir vermuten, daß nur der erfahrenſte Sachkenner, der zugleich ein vollendeter Künſtler iſt, der mit kurzen Strichen alles Weſentliche hervorzuheben verſteht, Vollendetes leiſte. Die geiſtigen Ope - rationen dieſer Art verlaſſen auch ſtets den Boden der bloßen Beobachtung und Be - ſchreibung, ſie umfaſſen die ganze Wiſſenſchaft; die vollendete Beſchreibung einer ganzen Volkswirtſchaft, einer volkswirtſchaftlichen Inſtitution, welche zugleich Kauſalerklärung iſt, wird häufig teilweiſe hypothetiſch und teleologiſch verfahren; ſie kann in Meiſterhänden doch ſo ſtreng wiſſenſchaftlich bleiben, daß ſie wahrer Erkenntnis ſehr nahe kommt.

Die vollendete Beſchreibung wird in der Regel nicht vermeiden können, die im Raum nebeneinander auftretenden, in der Zeit ſich folgenden gleichen und ähnlichen Erſcheinungen heranzuziehen. Nur aus ſolcher Vergleichung ergiebt ſich das Charakte - riſtiſche und Eigentümliche deſſen, was man beſchreibend klar machen will. Der Kurs von heute iſt nur verſtändlich neben dem von geſtern, das Handwerk wird als typiſche Erſcheinung viel klarer, wenn ich Haus - und Großinduſtrie daneben ſtelle, die deutſche Arbeiterverſicherung wird erſt recht verſtändlich, wenn ich ſie mit der engliſchen vergleiche. Die Beſchreibung bedient ſich ſo der vergleichenden Methode, welche neuerdings eine ſteigende Bedeutung in den verſchiedenſten Wiſſenſchaften und ſo auch in der unſeren erhalten hat. Das Verfahren führt natürlich in der Regel über die Beſchreibung hinaus zu Schlußfolgerungen allgemeiner Art. Und hier liegen auch weſentlich die Fehler, welche die vergleichende Methode teilweiſe in Verruf gebracht haben. Gar manche Gelehrte waren geneigt, wenn keine guten Beobachtungen vorlagen, unvollkommene zu benutzen. Oftmals wurde nicht das Nächſtliegende, aus nahen Zeiträumen und ähnlichen Kulturverhältniſſen Stammende miteinander verglichen, ſondern Fanatiker der Ver - gleichung ſtellten oberflächliche Notizen über eine ägyptiſche, eine römiſche, eine hotten - tottiſche Einrichtung nebeneinander. Daraus konnten nur falſche Geſamtergebniſſe und ſchiefe Schlußfolgerungen hervorgehen.

Einen je größeren Teil ihres rohen Stoffes die Nationalökonomie anderen metho - diſch durchgebildeten Wiſſenſchaften entnehmen kann, wie z. B. der Pſychologie, Anthro - pologie und Geographie, der Geſchichte und Statiſtik, der Rechtsgeſchichte, in deſto beſſerer Lage iſt ſie. Aber ſo ſehr dies heute der Fall iſt, ſo ſehr damit die einzelnen Methoden dieſer verwandten Wiſſenſchaften, zumal der Hülfswiſſenſchaft der Statiſtik, damit zu Methoden der Nationalökonomie ſelbſt geworden ſind, ſo ſehr ſie in ihrem geſchichtlichen Teile ſich der philologiſch-kritiſchen Methoden bedient, die dort ausgebildet wurden, ſo wenig reicht doch häufig die den Stoff vorbereitende Thätigkeit der Nachbarwiſſenſchaften aus. Die Geſchichte hat uns zahlreiche einzelne zuſammenhangsloſe Zunfturkunden mitgeteilt, erſt der nationalökonomiſche Forſcher ſah, daß es nötig ſei, einmal von einer einzigen Zunft einige hundert Urkunden nebeneinander zu ſtellen; die Geſchichte lieferte uns manches Material über ältere Bevölkerungsbewegung; erſt bevölkerungsſtatiſtiſch und nationalökomiſch geſchulte Leute, wie Hume und Dieterici früher, neuerdings K. Bücher103Beſchreibung; vergleichende Methode; Begriffsbildung.und Beloch, haben Methode und Zuſammenhang in dieſe Unterſuchungen gebracht, eine vergleichende hiſtoriſche Bevölkerungsſtatiſtik geſchaffen. So wirken eben die aneinander grenzenden Wiſſenſchaften immer gegenſeitig befruchtend aufeinander.

Eine einzige Methode nationalökonomiſcher Beobachtung kann es entſprechend der Kompliziertheit des Stoffes natürlich nicht geben. Auf jeden Teil des Stoffes ſind die Mittel zu verwenden, die uns am weiteſten führen, die uns das zutreffendſte, wahrſte, vollſtändigſte Bild der Wirklichkeit, der volkswirtſchaftlichen Thatſachen geben.

Die Thatſachen kennen, ſagt Lotze, iſt nicht alles, aber ein Großes; dies gering zu ſchätzen, weil man mehr verlangt, geziemt nur jenen heſiodiſchen Thoren, die nie verſtehen, daß halb oft beſſer iſt als ganz. Und Laſſalle meint in ähnlichem Zuſammen - hange: Der Stoff hat ohne den Gedanken immer noch einen relativen Wert, der Gedanke ohne den Stoff aber nur die Bedeutung einer Chimäre.

44. Die Begriffsbildung. Richtig beſchreiben, von einem Gegenſtande Merkmale ausſagen, die Urſachen aufdecken, die Folgen feſtſtellen kann nur, wer die Erſcheinungen, ihre Merkmale, ihre Konſequenzen mit Worten feſten Inhalts bezeichnet. Die Begriffsbildung hat die Aufgabe, die in der gewöhnlichen Sprache vorhandenen, von der Wiſſenſchaft benutzten, weiter gebildeten, oft umgedeuteten Worte zu dieſem Zwecke einer Erörterung, Deutung und Fixierung zu unterwerfen. Dieſe Begriffsbildung, für jede Wiſſenſchaft eine ihrer weſentlichen Aufgaben, iſt zunächſt eine Fortſetzung oder Potenzierung der natürlichen Sprachbildung. Jeder Sprachgebrauch geht vom anſchau - lichen, ſinnlichen Bilde einer Erſcheinung aus, in dem eine Summe von Vorſtellungen um eine herrſchende gruppiert iſt; das Wort iſt dieſer herrſchenden Vorſtellung entnommen, bezeichnet das Bild mit allen ſeinen Vorſtellungen; das Wort wird zu einem abſtrakten, konventionellen Zeichen, das bei allen Gebrauchenden die gleichen oder ähnlichen Vor - ſtellungen hervorruft. Dieſe Vorſtellungen ſind aber nicht fixiert, es ſchieben ſich in die Wortbedeutung jeder lebendigen Sprache neue, wechſelnde Vorſtellungen ein; die herrſchende Vorſtellung wird von einer anderen verdrängt. Und je allgemeinere Vor - ſtellungskreiſe ein Wort einheitlich zuſammenfaßt, deſto zweifelhafter iſt in der gewöhn - lichen Sprache der damit verbundene Sinn. Die Wiſſenſchaft hat nun das Bedürfnis, dieſe fließenden und ſchwankenden Vorſtellungskreiſe immer wieder für ihre Zwecke zu fixieren; ſie verlangt möglichſte Konſtanz, durchgängige, feſte Beſtimmtheit, Sicherheit und Allgemeingültigkeit der Wortbezeichnung. Die Definition iſt das wiſſenſchaftlich begründete Urteil über die Bedeutung eines Wortes. Indem wir definieren, wollen wir für alle an der Gedankenarbeit Teilnehmenden eine gleichmäßige Ordnung des Vor - ſtellungsinhaltes und damit zugleich eine einheitliche Klaſſifikation der Erſcheinungen eintreten laſſen. Das iſt aber immer nur bis zu einem gewiſſen Grade möglich. Die Dinge ſelbſt und alle unſere Vorſtellungen über ſie ſind ſtets im Fluſſe begriffen; die vollendete Klaſſifikation der Erſcheinungen iſt niemals ganz vorhanden; die Worte, mit denen wir einen Begriff definieren, ſind ſelbſt nicht abſolut feſtſtehend; ſie wären es nur, wenn es bereits ein vollendetes Begriffsſyſtem gäbe, was nicht der Fall iſt. Wir müſſen uns alſo in allen Wiſſenſchaften mit vorläufigen Definitionen begnügen, dem weiteren Fortſchritte der Wiſſenſchaft und des Lebens ihre weitere Richtigſtellung über - laſſend.

Eine Wiſſenſchaft, die ſchon ein relativ feſtſtehendes Begriffsſyſtem hat, definiert durch Angabe der nächſt höheren Gattung des Begriffes und durch den artbildenden Unterſchied; die Nationalökonomie und das ganze Gebiet der Staatswiſſenſchaft iſt nur an einzelnen Stellen ſo weit, in dieſer Weiſe definieren zu können: z. B. die Haus - induſtrie iſt eine Unternehmungsform, bei welcher der kleine Produzent nicht direkt ans Publikum verkauft, ſondern den Abſatz ſeiner Produkte nur durch anderweite kauf - männiſche Vermittelung erreicht.

In der Regel muß ſie definieren, indem ſie den Begriff in ſeine Merkmale zerlegt, die wichtigſten zur Charakteriſierung benutzt. Artet die Definition dadurch zu einer breiten analytiſchen Beſchreibung aus, ſo hört ſie auf Definition zu ſein, und riskiert, nicht ein - mal die herrſchende Vorſtellung in den Mittelpunkt zu ſtellen. Betont ſie in der Definition104Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ausſchließlich eines von verſchiedenen Merkmalen, ſo kommt die Gefahr, daß jedem für ſeine wiſſenſchaftlichen Zwecke ein anderes Merkmal als das wichtigſte erſcheint. Daher faſt ſtets verſchiedene Definitionen möglich ſind, die nicht durch ihre Richtigkeit, ſondern durch ihre Zweckmäßigkeit für beſtimmte wiſſenſchaftliche Zwecke ſich unterſcheiden. Die Gefahr wächſt, je allgemeiner und abſtrakter die Begriffe ſind. Wie die Rechtswiſſen - ſchaft, welche für die einzelnen konkreten Rechtsinſtitute das vollendetſte Begriffsſyſtem hat, für ihre allgemeinen Begriffe Recht, Staat ꝛc. noch in keiner Weiſe zu allgemein anerkannten Begriffen kommen konnte, ſo iſt es begreiflich, daß auch die Volkswirtſchaft ein ähnliches Schickſal teilt; jeder faſt definiert ihre allgemeinſten Begriffe, wie Wirt - ſchaft oder Arbeit, wieder in anderer Weiſe.

Das hat nun nicht ſo ſehr viel zu ſagen für denjenigen, welcher nur Nominal - definitionen, d. h. Urteile über den Sprachgebrauch geben will, dieſen treu bleibt, mit ihnen vom gewöhnlichen Gebrauche ſich nicht allzuweit entfernt. Von ganz anderer Be - deutung wird es für die, welche Realdefinitionen, d. h. Urteile über das Weſen der Sache abgeben wollen. Der Realdefinition in ihrer älteren, von den Alten wie von Hegel und Lorenz Stein gebrauchten Bedeutung liegt die unhaltbare Vorſtellung zu Grunde, die Worte und Begriffe enthielten, gleichſam wie in einem vollendeten Spiegel, das erſchöpfende Abbild der Welt in ſich. In Wirklichkeit beruhen die Worte oft auf einem unklaren oder falſchen Vorſtellungsinhalt, jedenfalls ſtets auf einem von dem geiſtigen Horizont der Gebraucher abhängigen. Daraus erklärt es ſich, daß die genialſten, mit dem reichſten Vorſtellungsinhalt ausgeſtatteten Menſchen beim Gebrauch der Worte, vor allem der allgemeinen Begriffe, ſich am meiſten denken können und dementſprechend aus dem Begriff, d. h. aus ihrem verhältnismäßig reichen Vorſtellungsinhalt, mehr entwickeln können. Es iſt ferner richtig, daß, je weiter eine Wiſſenſchaft bereits iſt, ſie deſto mehr die von ihr gewonnenen Wahrheiten und Kauſalzuſammenhänge in die Definition ihrer oberſten Begriffe hineinverlegen kann; denn dieſe gehören zu den weſentlichſten Merkmalen, zu den für das Wort weſentlichſten Vorſtellungen. Für die gewöhnlichen Menſchen aber gehören die allgemeinſten Begriffe zu den leerſten; und es iſt daher die Meinung, daß mit dem rechten Begriffe der Wirtſchaft oder der Arbeit, mit der Aus - einanderlegung dieſes Begriffes das Weſen der Volkswirtſchaft gegeben ſei, eine außer - ordentlich gefährliche und irreführende. Sie verbindet ſich überdies häufig mit der ſchiefen myſtiſchen Vorſtellung eines einheitlichen Begriffsſchematismus, der rein logiſch eine Erſcheinung aus der anderen ohne Zuhülfenahme der Erfahrung entſtehen laſſen könne. Nur das iſt richtig, daß alle Begriffe innerlich zuſammenhängen, weil wir jedes Wort wieder mit anderen definieren, weil die Abgrenzung des einen Wortes immer zugleich die der Nachbarbegriffe einſchließt.

Deshalb enthält jede Begriffsbildung zugleich eine Klaſſifikation der Erſcheinungen, die um ſo bedeutungsvoller wird, wenn man eine Summe in Zuſammenhang ſtehender Erſcheinungen nach einem beſtimmten Geſichtspunkte oder Syſteme ſo einteilen will, daß die einzelnen Klaſſen gleiche Glieder einer Reihe bilden und die Geſamtheit planvoll erſchöpfen. Hier wird eine Anordnung und Verteilung erſtrebt, um eine Gruppe von Erſcheinungen in unſerem Geiſte am beſten zu ordnen; es handelt ſich um einen Kunſt - griff, welchen die Gewalt über unſer Wiſſen mehren ſoll, um eine höchſt wichtige wiſſen - ſchaftliche Thätigkeit, die nur auf Grund genaueſter Kenntnis alles einzelnen und auf Grund eines Überblickes über das Ganze, über alle Urſachen und Folgen gut aus - zuführen iſt. Da dieſe Vorausſetzung aber nicht leicht vollſtändig zutrifft, ſo ver - fährt auch die klaſſifikatoriſche Begriffsbildung hypothetiſch und proviſoriſch und iſt immer wieder neuer Verbeſſerungen fähig. Unter den Klaſſifikationen kann man die analytiſchen und genetiſchen unterſcheiden. Wenn A. Wagner die geſamten volkswirt - ſchaftlichen Erſcheinungen in ein privatwirtſchaftliches, gemeinwirtſchaftliches und karita - tives Syſtem einteilt, ſo iſt das eine analytiſche; wenn Hildebrand Natural -, Geld - und Kreditwirtſchaft trennt, wenn ich ſelbſt Dorf -, Stadt -, Territorial -, Volkswirtſchaft als hiſtoriſche Reihenfolge aufſtellte, ſo ſind das genetiſche, die hiſtoriſche Entwickelung andeutende Klaſſifikationen. Die Grenzen bei ſolcher Reihenbildung werden ſtets etwas105Nominal - und Realdefinition. Klaſſifikation. Wert der Begriffsbildung.unſicher ſein, aber der Kern der Erſcheinung, den man in den einzelnen Begriffen zu faſſen ſucht, entſpricht je einem eigenartigen Typus.

Richtige Begriffe und Klaſſifikationen ſind eines der wichtigſten Hülfsmittel der Wiſſenſchaft, aber ſie machen nicht die Wiſſenſchaft als ſolche aus, ſind nicht die erſte oder einzige Aufgabe derſelben. Gute Definitionen könnte man ſcharfen Klingen vergleichen; man muß ſie immer wieder ſchärfen, aus neuem Metall neue Klingen ſchmieden. Aber an alten Klingen immer nur herum zu hämmern, Klingen zu ſchmieden, wo nichts zu ſchneiden und zu ſcheiden iſt, Worte definieren, die man in der Wiſſen - ſchaft nicht weiter gebraucht, hat wenig Sinn. Zeitweiſe Begriffsreviſion iſt nötig, wenn neuer Erfahrungsſtoff ſich angeſammelt hat und zu ordnen iſt, wenn neue große Ge - danken andere Klaſſifikationen bedingen. Als die engliſche Naturlehre der Volkswirtſchaft nach Deutſchland übertragen wurde, waren ſchon wegen der Inkongruenz der deutſchen und engliſchen Worte ſcharfe Begriffsunterſuchungen, wie ſie Hufeland, Lotz und Hermann anſtellten, wünſchenswert. Auch heute wieder haben ſolche Unterſuchungen ihren großen Wert, und ein ſo ſcharfſinniger Gelehrter wie F. J. Neumann (Grundlagen der Volks - wirtſchaftslehre, 1889; Schönbergs Handbuch, Wirtſchaftliche Grundbegriffe; Natur - geſetz und Wirtſchaftsgeſetz. Z. f. St. 1892), der auch durch ausgezeichnete ſtatiſtiſche und methodologiſche Arbeiten ſich auszeichnet, hat dieſe Teile unſerer Wiſſenſchaft erheblich gefördert. Aber eine unheilvolle Verirrung iſt es, wenn man die Nationalökonomie für eine Wiſſenſchaft erklärt, welche nur die Funktion weiterer Scheidung der Begriffe oder des bloßen Schließens aus Axiomen und Begriffen habe. Dieſelbe Bedeutung wie in der Jurisprudenz kann die Begriffsentwickelung in unſerer Wiſſenſchaft nie erhalten; denn jene hat ihren praktiſchen Hauptzweck in der richtigen Anwendung feſt umgrenzter Rechtsbegriffe, dieſe hat ihren weſentlichen Zweck in der Erklärung realer Vorgänge; ſie will deren typiſche Erſcheinung beſchreiben und kauſale Verknüpfung aufhellen.

45. Die typiſchen Reihen und Formen, ihre Erklärung, die Urſachen. Wie es überhaupt keine menſchliche Erkenntnis ohne die Wiederholung des Gleichen oder Ähnlichen gibt, ſo knüpft auch alle eigentliche volkswirtſchaftliche Theorie an die Erfaſſung der typiſchen Vorgänge, der Wiederholung gleicher Einzel - erſcheinungen und Reihen von Erſcheinungen, gleicher oder ähnlicher Formen an.

Die typiſchen Erſcheinungen der Haus - und Gemeindewirtſchaft, der ſocialen Klaſſen und der Arbeitsteilung fielen der denkenden Betrachtung zuerſt in die Augen; dann der Geldverkehr, die Steuern, die ſtaatliche Wirtſchaftspolitik. Es entſtand im 17. und 18. Jahrhundert das Bild einer tauſchenden Geſellſchaft mit Markt und Ver - kehr, mit Stadt und Land, mit Grundbeſitzern, Kapitaliſten und Arbeitern. Dieſe Grundformen wollte man als notwendige, ſtets ſich einſtellende begreifen, ſie aus gewiſſen Prämiſſen ableiten, ihre wirkliche Geſtaltung im Einzelfalle an einem Ideale meſſen. Auch als man begann, die hiſtoriſche und geographiſche Verſchiedenheit der volkswirt - ſchaftlichen Geſtaltungen ins Auge zu faſſen, richtete man ſein Augenmerk zunächſt auf das im Wechſel ſich Gleichbleibende, auf den typiſchen Rhythmus der Änderungen, auf die regelmäßige Koexiſtenz gewiſſer Formen und Erſcheinungen. Und als es der Statiſtik gelungen war, neben die qualitative die quantitative Beobachtung der geſellſchaftlichen und volkswirtſchaftlichen Verhältniſſe zu ſtellen, war die typiſche Regelmäßigkeit der Zahlenergebniſſe von Jahr zu Jahr, wie von Land zu Land ebenfalls das, was zuerſt ins Auge fiel. Auch die Veränderungen, die man beobachten konnte, wieſen teilweiſe auf einen typiſchen Gang hin, der bei verſchiedenen Völkern in verſchiedenen Epochen ſich gleichmäßig wiederholt, wie z. B. die Übervölkerung. Es lag der erſte große Fortſchritt der Wiſſenſchaft in dieſer Erfaſſung qualitativer Formen und quantitativer Maßbeſtimmung derſelben; für einen erheblichen Teil unſeres volkswirtſchaftlichen Wiſſens ſind wir heute noch nicht weiter. Die Vorſtellung ſolch ſchematiſcher Formenbilder und Reihen iſt ſchon an ſich ein Element der Ordnung der Vorſtellungen, ein heuriſtiſches Hülfsmittel, Vergangenheit und Zukunft zu verſtehen.

Aber natürlich weiſen ſolche Typen und Reihen, ſolche Formen und Regelmäßig - keiten auf eine tiefere Erklärung hin. Und ſo ſehr man von Anfang an in ihnen die106Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Geſetzmäßigkeit kauſaler Verknüpfung erkannte oder ahnte, ſo ſehr man auf einzelne Urſachen ſofort verfiel, wie die Naturrechtslehrer die allgemeine Menſchennatur, die Merkantiliſten den Geldverkehr, A. Smith die Arbeit und den Erwerbstrieb in den Vordergrund der Kauſalerklärung rückten, ſo wenig konnte ein ſolches ſummariſches Hinweiſen auf eine Urſache oder Urſachengruppe genügen, noch weniger konnte eine Art rohen Analogieverfahrens als das Hauptprincip der Erklärung befriedigen. So wenn man Bevölkerung, Volkswirtſchaft und Geſellſchaft nach dem Vorbilde der Phyſik als ein mechaniſches Syſtem von Kräften anſah, die ſich im Gleichgewicht halten, oder wenn man glaubte, durch den bei Pflanzen und Tieren beobachteten Kampf ums Daſein den ſocialen Entwickelungsprozeß analog erklären zu können. Gewiß können ſolche Analogien manches anſchaulicher machen, können Zuſammenhänge finden helfen, aber ſie führen ebenſo oft auf Irrwege und können die Erklärung aus den konkreten Einzelurſachen nie erſetzen.

Seit die neuere Wiſſenſchaft zu dem freilich nicht beweisbaren, aber trotzdem unerſchütterlichen Glauben von einem gleichmäßigen, in ſich ſtets lückenlos zuſammen - hängenden, durch beſtimmte Kräfte beherrſchten Entwickelungsprozeß der Natur, der Geſchichte und der menſchlichen Geſellſchaft gekommen iſt, erſcheint die Feſtſtellung der ſpeciellen und zwar der ſämtlichen Urſachen jeder einzelnen Erſcheinung als die wichtigſte Aufgabe des wiſſenſchaftlichen Verfahrens. Nur ſo kommt diejenige Einheit und Ord - nung in die unendliche Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen, welche uns befriedigt. Von den vielen verſchiedenen und nächſtliegenden Urſachen verſuchen wir dann aufzuſteigen zu den wenigen und einfachen. So hoffen wir zu einer erſchöpfenden Erklärung der Welt, der Koexiſtenz und Folge der Dinge zu kommen.

Aber die Aufgabe iſt eine unendlich ſchwierige. Was iſt Urſache? was iſt Folge? Wenn wir antworten, A iſt die Urſache von B, wenn A das unbedingte und notwendige Antecedens von B iſt, ſo fügen wir doch gleich bei, daß B nicht logiſch in A enthalten ſei, daß B nur erfahrungsmäßig als ſtets integrierender Teil eines Ganzen ſich uns darſtelle, in dem A den Vortritt vor B habe. Wir ſehen, daß ſelbſt bei einfachen phyſiſchen oder biologiſchen Vorgängen der Eintritt einer Thatſache meiſt von einer Summe von Zuſtänden und Vorbedingungen abhängt, deren nur eine zu fehlen braucht, um den Eintritt, wenigſtens in dieſer Form, zu hindern. Es iſt nur eine Art ſprach - licher Aushülfe, wenn man den zuletzt hinzutretenden Faktor als Urſache, die vorher vorhandenen als Bedingungen bezeichnet. Vollends alle geſellſchaftlichen und volkswirt - ſchaftlichen Erſcheinungen haben wir regelmäßig auf eine Reihe phyſiſcher und biologiſcher Urſachen einerſeits, auf eine Reihe pſychiſcher und moraliſcher andererſeits zurückzuführen. Und jede dieſer Einzelurſachen weiſt auf zeitlich weiter zurückliegende Urſachenketten und - komplexe hin, die wir niemals ganz erfaſſen können. Das komplizierte Nebeneinander des Seienden geht ſtets auf frühere Kombinationen, auf geſetzlich geordnete aber fern liegende, uns unerforſchliche Zuſtände zurück, über die wir uns nur Vermutungen und Hypotheſen erlauben, die wir nur durch teleologiſche Betrachtungen uns verſtändlich machen können.

Schon die Doppelbedingtheit aller volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen durch ma - terielle und geiſtige Urſachen erzeugt für die Unterſuchung beſondere Schwierigkeiten. Der häufig gemachte Verſuch, die letzteren auf die erſteren zurückzuführen, wie es die Materialiſten und Buckle gethan, der aus Klima, Boden und ähnlichen Faktoren die geiſtige Entwickelung eines Volkes ableiten will, oder wie die Marxianer aus der öko - nomiſchen Produktion alles höhere Kulturleben reſtlos glauben erklären zu können, muß immer wieder ſcheitern. Denn ſo ſehr heute der Zuſammenhang alles geiſtigen Lebens mit dem Nervenleben, der Parallelismus der pſychiſchen und biologiſchen Erſcheinungen erkannt wird, aus rein materiellen Elementen iſt nie und wird wohl nie das Seelen - leben erklärt werden. Gewiß finden heute auch die umgekehrten Sätze der Idealiſten keinen Glauben mehr; ſo z. B. der Ausſpruch des engliſchen Hiſtorikers Froude: Wenn es einem Menſchen frei ſteht zu thun, was er will, ſo giebt es keine genaue Wiſſen - ſchaft von ihm; wenn es eine Wiſſenſchaft von ihm giebt, ſo giebt es keine freie Wahl. 107Weſen von Urſache und Folge. Mechaniſche und pſychiſche Kauſalität.Wir wiſſen heute, daß die pſychiſche Kauſalität eine andere iſt als die mechaniſche, aber wir betrachten ſie als eine gleich notwendige. Wenn wir einen Menſchen ganz durch - ſchauen, wenn wir einen Volkscharakter vollſtändig kennen, ſo deduzieren wir mit voll - ſtändiger Sicherheit aus ihm. Wir glauben nicht mit den materialiſtiſchen Statiſtikern, daß ein blindes Schickſal jährlich ſo vielen Menſchen die Piſtole zum Selbſtmord in die Hand drücke, aber wohl, daß bei der gleichmäßigen Fortdauer beſtimmter moraliſcher und materieller Zuſtände in der gleichen Zahl von Selbſtmorden und Verbrechen ein notwendiges Kauſalergebnis liege. Wir finden die Freiheit des ſittlichen Charakters nicht in der Leugnung der pſychiſchen Kauſalität, ſondern in der Anerkennung der individuellen Energie als des wichtigſten Faktors unſerer Entſchließungen, in der Garantie, die der edle, durchgebildete Charakter giebt, nur gut handeln zu können. Wir finden die Berechtigung der Strafe für den Verbrecher gerade darin, daß die Strafe nicht bloß die Antwort auf eine einzelne That, ſondern auf eine lange innere Geſchichte iſt, die bis zum Verbrechen mit Notwendigkeit führt.

Aber wir fragen, wie iſt es möglich, den Menſchen, die Menſchen und alle Menſchen ſo zu kennen, daß wir Sicheres aus ihrer Pſyche ſchließen können. Die Pſychologie iſt uns der Schlüſſel zu allen Geiſteswiſſenſchaften und alſo auch zur Nationalökonomie. Wir wiſſen, daß das Einfachere in ihr ſeit Jahrtauſenden allen Denkern klar iſt, weil es auf der inneren Wahrnehmung, der ſicherſten Quelle aller Erkenntnis, beruht. Daher iſt es auch erklärlich, daß das Verſtändnis für gewiſſe elementare pſychologiſche Ver - urſachungen ſehr alt iſt; und ſo mußte es auch für die Nationalökonomie, die ſich in der Epoche des Tauſch - und Geldverkehrs ausbildete, nahe liegen, aus dem egoiſtiſchen Erwerbstrieb deduktiv zahlreiche Sätze abzuleiten; jeder Menſchenkenner und jeder Poli - tiker wendet jeden Moment weitere derartige generelle pſychologiſche Wahrheiten an, um deduktiv aus ihnen vieles zu erklären. Aber von einer empiriſchen, wiſſenſchaftlich vollendeten Pſychologie, von einer ausreichenden pſychologiſchen Völker - und Klaſſenkunde können wir leider heute doch noch entfernt nicht reden. Und gerade ſie müßten wir an Stelle der wenigen zu Gemeinplätzen gewordenen pſychologiſchen Wahrheiten, mit denen wir jetzt haushalten, beſitzen, um beſſeren Boden in der Volkswirtſchafts - und Staats - lehre unter den Füßen zu haben. Jeder Forſcher, der uns die Induſtrie eines Volkes, der uns nur die Arbeiter eines Fabrikzweiges vorführt, beginnt mit einer pſychologiſchen Zeichnung; bei jedem allgemeinen Schluß über die Wirkung einer Inſtitution, einer Veränderung von Angebot und Nachfrage auf die Entſchließungen der Menſchen handelt es ſich darum, die pſychologiſchen Zwiſchenglieder der Unterſuchung richtig zu beſtimmen. Aber die Frage iſt immer, ob und in wie weit man dieſe pſychiſchen Faktoren genau genug kenne, in ihrer unendlichen Kompliziertheit beherrſche, ob man ihr Zuſammen - wirken mit den entſprechenden natürlichen Urſachen überhaupt ganz verfolgen könne.

Und es wird kein Zweifel ſein, daß wir in Bezug auf die komplizierteſten Zu - ſammenhänge in den Geiſteswiſſenſchaften überhaupt die Strenge der Naturwiſſenſchaften nicht leicht erreichen können. Zumal das wenige, was wir über die entferntere Ver - gangenheit wiſſen, wird uns nie in den Stand ſetzen, den Gang der Geſchichte als einen abſolut notwendigen zu verſtehen, wir werden zufrieden ſein, wenn wir ihn nur im allgemeinen begreiflich und verſtändlich finden. Das Individuelle, das das Schickſal jedes Volkes hat, liegt eben in der Kompliziertheit der Kauſalitätsbeziehungen. Nirgends wiederholt ſich da ganz dasſelbe Schauſpiel, wie freilich auch kein einziger Baum auf Erden ganz das Abbild eines anderen iſt. Wir werden in Bezug auf das Geſamtſchickſal der Völker, auch in Bezug auf ihr wirtſchaftliches, niemals zu einer ganz ſicheren Vor - ausſagung kommen, weil wir nie die geſamten Urſachen einheitlich überblicken, ſie quan - titativ meſſen können.

Aber trotzdem werden wir uns nicht abſchrecken laſſen, immer wieder die Kauſalitäts - verhältniſſe ſo genau als möglich zu erfaſſen, um ſo viel als möglich zu verſtehen und vorausſagen zu können. Und vieles haben wir ſchon erreicht, noch mehr werden wir erreichen. Wir ſtehen erſt am Anfange einer methodiſchen Erkenntnis der Zuſammen - hänge. Zu ihr gehört es nun vor allem, daß wir uns für jede volkswirtſchaftliche108Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Unterſuchung bewußt ſind, nicht einheitlichen Urſachen, ſondern einer Reihe von Urſachen - komplexen gegenüber zu ſtehen, deren jede ihre eigene Natur hat, beſondere wiſſenſchaft - liche Behandlung verlangt.

Die Thatſachen der äußeren Natur, welche die Volkswirtſchaft beherrſchen und beeinfluſſen, ſind nur durch die Methoden naturwiſſenſchaftlicher Forſchung zugänglich; ſie geben für die Möglichkeiten der volkswirtſchaftlichen Entwickelung gewiſſe Minimal - und Maximalgrenzen, ähnlich wie alle rein äußeren materiellen, wirtſchaftlichen Urſachen, z. B. auch Bevölkerungsdichtigkeit, Kapitalreichtum, Stand der Technik notwendig eine gewiſſe Geſtaltung der ganzen Volkswirtſchaft nach ſich ziehen, die aber in ihrem wich - tigſten Detail doch ganz verſchieden ſein kann, je nach den pſychologiſchen und ſittlichen Eigenſchaften der Menſchen.

Die Thatſachen der menſchlichen Raſſen - und Völkerkunde unterliegen naturwiſſen - ſchaftlicher, hiſtoriſcher und pſychologiſcher Unterſuchung, die in ihrem Geſamtergebnis weſentlich mit die abweichende wirtſchaftliche Kultur der einzelnen Nationen beſtimmen und daher immer ergänzend heranzuziehen ſind zu den generellen pſychologiſchen Schlüſſen aus der allgemeinen Menſchennatur.

Die Thatſachen der elementaren Bevölkerungsbewegung ſind biologiſchen und pſychiſchen Charakters; bei einer gewiſſen Kultur und in beſtimmtem Klima muß ihr gewöhnlicher Gang ein gleichmäßiger ſein; die Erklärung der Elementarerſcheinungen iſt zunächſt phyſiologiſchen Charakters. Die Maſſenerſcheinungen der Bevölkerung wie die Preiserſcheinungen des Marktes in relativ ruhig ſich entwickelnden Gemeinweſen ſind ſtatiſtiſch erfaßt einer Art mechaniſch-mathematiſcher Behandlung zugänglich, wobei dann eine Konſtanz der weſentlichen Urſachen vorausgeſetzt wird. Die Erklärung der Ab - weichungen und Schwankungen der Bevölkerungsſtatiſtik wie der ganzen Moralſtatiſtik erfordert eine pſychologiſche, hiſtoriſche, völkervergleichende und wirtſchaftliche Unter - ſuchung.

Die allgemeinen pſychologiſchen Elemente, welche das volkswirtſchaftliche Leben beeinfluſſen und beherrſchen, äußern ſich teils in elementarer, direkter Weiſe gleichſam als Urſachen erſter Ordnung, wobei von einer pſychiſchen Trieblehre und einer Theorie der ſittlichen Charakterbildung auszugehen iſt, dann aber als komplizierte Ergebniſſe eines höheren Kulturlebens, als Sprache, Sitte, Recht, als Inſtitutionen wirtſchaftlicher und rechtlicher Art. Das ergiebt ein Netz pſychiſcher Verurſachung höherer Ordnung. Für erſteres kommt die individuelle und vergleichende Pſychologie, für dieſe hauptſächlich die hiſtoriſche Unterſuchung, die vergleichende Sitten - und Rechtsgeſchichte in Betracht. Es bildet einen der größten Fortſchritte der neueren Volkswirtſchaftslehre, daß ſie auf die Erkenntnis dieſer geiſtigen Zwiſchenglieder zwiſchen Natur und Pſyche einerſeits und volkswirtſchaftlichen und ſocialen Erſcheinungen andererſeits den rechten Nachdruck gelegt hat, daß ſie nicht mehr verſucht, bloß aus Natur - und Größenverhältniſſen und den rohſten pſychologiſchen Axiomen, ſondern vor allem aus der Geſchichte der volkswirt - ſchaftlichen Inſtitutionen heraus zu argumentieren.

46. Geſetze, induktive und deduktive Methode. Das Ergebnis iſt ſo das allerdings für den Anfänger erſchreckende: zu wiſſenſchaftlich allſeitigen Unterſuchungen auf volkswirtſchaftlichem Gebiete gehören Methoden der verſchiedenſten Art, Kenntniſſe aus den verſchiedenſten Wiſſensgebieten. Die Ergebniſſe ſind nirgends vollſtändige, ſie liegen nach Methode und Gegenſtand oft ſo getrennt nebeneinander, daß ihre ſyn - thetiſche Verbindung die größte Schwierigkeit bereitet und nur auf wenigen Gebieten bis jetzt eine vollendete Erkenntnis gewährt. Und doch iſt ſchon unendlich viel gewonnen gegen früher. Die einfacheren Vorgänge des Markt - und Verkehrsweſens, der Bevölke - rung, den Hauptgang der volkswirtſchaftlichen Entwickelung überſehen wir ziemlich genau; wir wiſſen, daß gewiſſe elementare volkswirtſchaftliche Vorgänge und ſociale Einrichtungen ſo ziemlich überall gleichmäßig bei gewiſſer Kulturhöhe eintreten. Wir haben in den unteren Etagen des Gebäudes die Fähigkeit einer gewiſſen Vorausſage erreicht, die nicht zu verachten iſt. Wir ſprechen, während wir geſtehen, hiſtoriſche Geſetze nicht zu kennen, von volkswirtſchaftlichen und ſtatiſtiſchen Geſetzen. Wir meinen damit freilich teilweiſe109Volkswirtſchaftliche Geſetze. Weſen der Deduktion.nur die regelmäßig und typiſch ſich wiederholenden Erſcheinungsreihen: das ſind die ſo - genannten empiriſchen Geſetze, deren Kauſalverhältniſſe entweder noch gar nicht aufgedeckt oder wenigſtens noch nicht quantitativ gemeſſen ſind. Wirkliche Geſetze, d. h. Kauſalverbin - dungen, deren konſtante Wirkungsweiſe wir nicht bloß kennen, ſondern auch quantitativ beſtimmt haben, kennt auch die Naturwiſſenſchaft erſt wenige. Die Erfaſſung pſychiſcher Kräfte wird ſich quantitativer Meſſung wohl für immer entziehen. Es iſt aber jeden - falls charakteriſtiſch, daß wir auch in der Volkswirtſchaftslehre diejenigen aufgedeckten Kauſalzuſammenhänge mit Vorliebe Geſetze nennen, bei denen wenigſtens Verſuche vor - liegen, die Maſſenwirkung der pſychiſch-ſocialen Kräfte in konſtanten oder in beſtimmter Proportion ſich ändernden Zahlenergebniſſen zu meſſen: ich erinnere an die Ausdrücke Bevölkerungsgeſetz, Lohngeſetz, Preisgeſetz, Geſetz der Grundrente.

Ein letztes einheitliches Geſetz volkswirtſchaftlicher Kräftebethätigung giebt es nicht und kann es nicht geben; das Geſamtergebnis volkswirtſchaftlicher Urſachen einer Zeit und eines Volkes iſt ſtets ein individuelles Bild, das wir aus Volkscharakter und Ge - ſchichte heraus unter Zuhülfenahme allgemeiner volkswirtſchaftlicher, ſocialer und poli - tiſcher Wahrheiten begreiflich machen, aber entfernt nicht reſtlos auf ſeine Urſachen zurückführen können. Über die Geſamtentwickelung der menſchlichen Wirtſchaftsverhältniſſe beſitzen wir nicht mehr als taſtende Verſuche, hypothetiſche Sätze und teleologiſche Be - trachtungen. Aber wir haben feſten Boden unter den Füßen in Bezug auf zahlreiche Elemente, aus denen ſich die Volkswirtſchaften der einzelnen Länder und Zeiten zuſammen - ſetzen. Das Allgemeinſte bleibt als das Komplizierteſte ſtets das Unſicherſte, vom ein - zelnen ausgehend dringen wir vor. Die einfacheren Verbindungen verſtehen wir, die Entwickelung einzelner Seiten können wir kauſal ziemlich vollſtändig erklären, die Ge - ſchichte einzelner Wirtſchaftsinſtitute überblicken wir.

Was wir erreicht haben, iſt ebenſo ſehr Folge deduktiver als induktiver Schlüſſe. Wer ſich überhaupt über die zwei Arten des Schlußverfahrens, die man ſo nennt, ganz klar iſt, wird nie behaupten, es gebe die Wirklichkeit erklärende Wiſſenſchaften, die ausſchließlich auf der einen Art ruhen. Nur zeitweiſe, nach dem jeweiligen Stande der Erkenntnis, kann das eine Verfahren etwas mehr in den Vordergrund der einzelnen Wiſſenſchaft rücken.

Die Deduktion geht von feſtſtehenden analytiſchen oder ſynthetiſchen Wahrheiten aus, ſucht aus ihnen durch Schlüſſe und Kombinationen neue zu gewinnen; verwickelte Erſcheinungen verſucht ſie aus den bekannten Wahrheiten zu erklären; ihre Haupt - bedeutung beſteht darin, daß der Unterſuchende neuen Problemen gegenüber eine möglichſt große Zahl feſtſtehender Sätze in ihren Konſequenzen probierend, ſpielend, taſtend auf die zu löſende Frage anwendet, ſo den Schlüſſel zu ihr ſuchend. Wir machen faſt keinen Schritt unſeres wiſſenſchaftlichen Denkens ohne dieſe Operation. Je einfacheren Problemen wir gegenüberſtehen, je weiter unſer Wiſſen auf einem Gebiete ſchon iſt, deſto mehr werden wir damit ausreichen, deſto häufiger iſt das noch Unaufgeklärte nur ein kom - plizierteres Ergebnis feſtſtehender Sätze. Daher die bekannte Thatſache, daß die einfacheren Wiſſenſchaften ſchon ausſchließlich oder faſt ganz deduktive geworden ſind, wie die Mathematik, die Mechanik, die Aſtronomie, daß die elementarſten Erſcheinungen der Volkswirtſchaft, die Markterſcheinungen, der deduktiven Behandlung am zugänglichſten ſind; daher der Drang aller Wiſſenſchaft, möglichſt deduktiv mit der Zeit zu werden.

Auch wo man noch weniger weit iſt, wo man noch viele Kauſalitätsverhältniſſe gar nicht aufgehellt hat, wo die verwirrte Komplikation der Erſcheinungen gar nicht vermuten läßt, daß man ſchon alle Wahrheiten kenne, die zur vollſtändigen Erklärung nötig wären, wendet man doch, ſo weit es geht, bekannte Wahrheiten deduktiv an. Vor allem die von anderen vorbereitenden Wiſſenſchaften gelieferten und feſtgeſtellten Sätze verwendet man deduktiv, alſo in der Nationalökonomie und in allen Staatswiſſenſchaften die pſychologiſchen Wahrheiten. Man ſchließt aus dem Egoismus, dem Ehrgeiz, dem Triebe der Liebe, kurz aus allen richtig beſtimmten pſychiſchen Sätzen deduktiv weiter. Es iſt nur irreführend, wenn man aus einer Kraft ſchließt, wo mehrere wirken, von einem Triebe eine falſche oder eine immer konſtante Stärke annimmt.

110Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

Stimmt nun das Ergebnis unſerer deduktiven Schlüſſe mit der Wirklichkeit nicht überein, oder ſind die bereits feſtſtehenden Wahrheiten nicht ausreichend, unſeren That - beſtand zu erklären, dann ſchreiten wir zur Induktion; d. h. wir ſuchen aus dem vor - liegenden, genau beobachteten und geprüften Fall auf eine allgemeine Regel, auf ein bisher uns verſchloſſenes Kauſalverhältnis zu kommen. Aber die ſo gefundene neue Wahrheit verwerten wir ſofort wieder deduktiv, wir prüfen, ob ſie auf analoge Fälle paßt.

In der Regel oder ſehr häufig pflegt man nun aber alle empiriſche Beobachtung als Induktionsverfahren zu bezeichnen; alle ſtatiſtiſche und hiſtoriſche Forſchung, alles ſynthetiſche Kombinieren von Reſultaten ſolcher Unterſuchungen gilt als induktiv. Wer ein gegebenes volkswirtſchaftliches Verhältnis nicht aus dem Egoismus erklärt, ſondern aus dem Volkscharakter, den Zeitverhältniſſen, wird als induktiver Nationalökonom bezeichnet, wie der, welcher aus einer Reihe hausinduſtrieller Schilderungen allgemeine Wahrheiten über das Vorkommen dieſer Betriebsform zu gewinnen ſucht. Und trotzdem liegen hier wohl mehr deduktive als induktive Operationen vor.

Das aber iſt richtig, wer in erſter Linie auf dem Boden der Erfahrung ſteht, der traut deduktiven Schlüſſen nie ſo ohne weiteres; er hat mindeſtens das Bedürfnis, ſie ſtets wieder durch die Erfahrung zu verifizieren, durch neue Induktionen die Probe aufs Exempel zu machen. Dieſe Rolle geſteht auch John Stuart Mill der Induktion in der Volkswirtſchaftslehre zu, während er im übrigen ſie auf den deduktiven Weg verweiſt. Die experimentelle Pſychologie und Ethnologie ſoll ihr die Oberſätze liefern, aus denen ſie ſchließen ſoll; ſie ſelbſt könne keine brauchbare Induktion vornehmen, weil ſie kein Experiment vornehmen könne. Erhalte ſie ſo nur annähernde Generaliſationen, ſo genüge das.

Wir geben zu, daß wir uns oft mit ungefähren Generaliſationen genügen laſſen müſſen; aber wir leugneten ſchon oben, daß der Mangel des Experimentes uns jede Induktion aus guten Beobachtungen unmöglich mache. Wenn aus den verſchiedenſten Schilderungen der Arbeits - und Induſtrie -, der Ackerverfaſſung immer wieder allgemeine Reſultate zu ziehen verſucht werden, wenn immer zahlreichere Beobachtungen vergleichend nebeneinander geſtellt werden, ſo mögen die Schlüſſe nicht immer bereits feſtſtehende ſein; ein außerordentlicher Fortſchritt, den wir der Induktion danken, liegt doch darin. Diejenigen, welche in der neueren deutſchen Nationalökonomie als Vertreter induktiver Forſchung gelten, bekämpfen nicht die Deduktion überhaupt, ſondern nur die aus ober - flächlichen, unzureichenden Prämiſſen, welche ſie glauben auf Grund beſſerer Beobachtung durch genauere Oberſätze erſetzen zu können. Sie behaupten, daß die letzten Ausläufer der engliſchen deduktiven Schule wie K. Menger und Dietzel das Gebiet unſerer Wiſſen - ſchaft allzuſehr einengen, wenn ſie nur Deduktionen aus einem oder ein paar pſycho - logiſchen Sätzen oder dem Princip der Wirtſchaftlichkeit als theoretiſche Nationalökonomie anerkennen; ſie glauben, durch zahlreichere Induktionen und Zuhülfenahme anderweiter Deduktion das Gebiet der bloß hypothetiſchen, mit der Wirklichkeit in immer ſtärkeren Konflikt kommenden Schlüſſe mehr einengen zu können. Sie bekämpfen vor allem, wie wir ſchon oben ausführten (S. 73 75), das einſeitige deduktive Schließen aus ſittlichen Principien und ſocialen Idealen, wie z. B. aus dem Princip der Gleichheit, der Frei - heit, der Gerechtigkeit. Sie betonen, man können nur aus feſt umgrenzten Ausſagen über Kauſalverhältniſſe deduktiv ſchließen, nicht aus Poſtulaten und Zweckideen, die nur all - gemeine Richtungen der wünſchenswerten Entwickelung andeuten, die ſtets durch koordinierte andere Ideale begrenzt werden.

Was unſerer Wiſſenſchaft mehr genützt habe, induktives oder deduktives Verfahren, iſt eine überhaupt nicht zu beantwortende Frage, zumal die größten Fortſchritte hier wie überall mehr dem genialen Inſtinkt oder Takt gedankt werden, der blitzartig Zuſammenhänge und Kauſalketten klar vor ſich ſieht, für die erſt langſam nachher die Beweiſe gefunden werden.

Gerade aber um zu ſolchen Lichtblicken zu kommen, iſt in den Geiſteswiſſenſchaften und mit am meiſten in den Staats - und Socialwiſſenſchaften eines nötig, was mehr in das Gebiet des deduktiven Schließens hinüberführt: Überblick über weite Wiſſens -111Das Weſen der Induktion. Die Teleologie als Reflexionsprincip.gebiete, hauptſächlich über wiſſenſchaftliche Nachbargebiete. Die angeblich rein induktive hiſtoriſche Richtung iſt es, die dies ſtets betont, die ſich deduktiv nennende iſt meiſt ängſtlich bemüht, nur fein ſäuberlich die wiſſenſchaftlichen Grenzpfähle zu ſetzen und niemals einen Haſen ins Nachbargebiet zu verfolgen, das ſie weder kennt noch kennen lernen will. Wundt hat es neuerdings als den weſentlichſten Gegenſatz der Geiſtes - zu den Naturwiſſenſchaften bezeichnet, daß bei dieſen eine ſtarke Abſtraktionskraft das mächtigſte Werkzeug ſei, bei jenen der Erfolg vor allem von einem raſchen Überblicke und reicher Kombinationsfähigkeit abhänge. Das iſt teils Sache der individuellen Begabung, ebenſo aber Sache der wiſſenſchaftlichen Vorbildung. Je umfaſſender ſie iſt, deſto größer iſt die Möglichkeit vielgliedriger kombinierter Schlüſſe aus vorher feſtſtehenden Wahrheiten.

Einzelner Hypotheſen und teleologiſcher Sätze zur Unterſtützung kauſaler Schlüſſe bedienen ſich alle Wiſſenſchaften und alle Erkenntnisrichtungen. Wo unſer kauſales Erkennen nicht ausreicht, und wir doch einen Zuſammenhang ſicher annehmen, da führt die ausdeutende reflektierende Auffaſſung, wie wir mehrfach ſchon betont, zur Annahme von Zwecken der Gottheit, der Geſchichte, der ſchaffenden Natur, und von dieſen ein - heitlichen Gedanken aus ſuchen wir das empiriſch nicht zu Erklärende wenigſtens ungefähr zu begreifen. Es iſt ein unentbehrliches Reflexionsprincip. Die Annahme einer Einheit und eines Zuſammenhanges der Welt, die allgemeinen Gründe der Entwickelungstheorie gründen ſich auf ſolche teleologiſche Betrachtungen, ganz ähnlich wie die Harmonielehre der älteren Volkswirtſchaft oder der ſocialiſtiſche Glaube an eine dauernde Hebung der unteren Klaſſen. An ſeiner Grenze mündet unſer ſicheres Wiſſen immer in unſeren Glauben und in unſere Hoffnungen. Das Ganze der letzten und wichtigſten Dinge erfaſſen wir allein ſo. Wir müſſen nur dahin ſtreben, daß dieſer Glaube auf immer beſſerer empiriſcher Erkenntnis ſich aufbaue, immer mehr geſicherte Wiſſenſchaft in ſich ſchließe, niemals mit ihr in Widerſpruch trete, daß er nicht beeinflußt ſei von Partei - und Klaſſenintereſſen, von Vorurteilen und Leidenſchaften. Davon ſich frei zu machen, muß jeder Forſcher ſtreben. Er wird dieſes Ziel ſchwer erreichen, wenn er ſelbſt zu aktiv an den Kämpfen des Tages teilnimmt. Wenn man geglaubt hat, der, welcher das Wohl aller im Auge habe, ſei als Gelehrter gefeit gegen die Täuſchungen des Klaſſenſtandpunktes, die Vor - urteile des Tages, ſo liegt darin doch ein gewiſſer Irrtum. Jeder leidenſchaftliche Tages - politiker glaubt heute das Wohl der Geſamtheit mit ſeinen einſeitigen Anſchauungen und Vorſchlägen zu vertreten. Nicht die Formel des allgemeinen Wohles, ſondern die univerſale Bildung, der geläuterte Charakter, die geiſtige Freiheit von allen Tages - ſtrömungen führt zu jener Höhe, welche neben der geſicherten Einzelerkenntnis die ſtets halb verſchwimmenden Linien der Geſamtentwickelung richtig zu erfaſſen geſtattet.

5. Die Ausreifung der Volkswirtſchaftslehre zur Wiſſenſchaft im 19. Jahr - hundert.

  1. Über die ſtatiſtiſche Methode: Knies, Die Statiſtik als ſelbſtändige Wiſſenſchaft. 1850.
  2. Guſtav Rümelin, Zur Theorie der Statiſtik. Z. f. St. W. 1863; dann in: R. A. 1, 1875, mit einem Zuſatz.
  3. Adolf Wagner, Die Geſetzmäßigkeit in den ſcheinbar willkürlichen Hand - lungen. 1864; Derſ., Statiſtik in Bluntſchli, St. W. 1867.
  4. Drobiſch, Die moraliſche Statiſtik und die Willensfreiheit. 1867.
  5. Knapp, Quetelet als Theoretiker. J. f. N. 1. F. 18, 1872.
  6. Jahn, Geſchichte der Statiſtik. 1, 1884.
  7. Meitzen, Geſchichte, Theorie und Technik der Statiſtik. 1886.
  8. Mayo-Smith, Statistics and economics. Publ. of the Americ. Econ. Assoc. vol. III, no. 4 u. 5. 1888. Über die geſchichtliche Methode: Joh. Guſtav Droyſen, Grundriß der Hiſtorik. 1868. 3. Aufl. 1882.
  9. v. Sybel, Geſetze des hiſtoriſchen Wiſſens. 1864 (jetzt in Vorträge und Aufſätze. 1874).
  10. Guſtav Rümelin, Über Geſetze der Geſchichte. 1878. R. A. 2.
  11. Lord Acton, German schools of history. English hist. review. 1, 1856.
  12. Ottokar Lorenz, Die Geſchichtswiſſenſchaft in Hauptrichtungen und Aufgaben. 1886.
  13. Bernheim, Lehrbuch der hiſtoriſchen Methode. 1889.
  14. Gothein, Die Aufgaben der Kulturgeſchichte. 1889.
  15. Schäfer, Geſchichte und Kulturgeſchichte. 1891. Roſcher, Grundriß zu Vorleſungen über die Staatswirtſchaft nach geſchichtlicher Methode. 1843; Derſ., Der gegenwärtige Zuſtand der wiſſenſchaftlichen Nationalökonomie und die notwendige112Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Reform desſelben. Deutſche Vierteljahrsſchr. 1849, 1. Heft.
  16. Bruno Hildebrand, Die National - ökonomie der Gegenwart und der Zukunft. 1848.
  17. Knies, Die politiſche Ökonomie vom Stand - punkt der geſchichtl. Methode. 1853, 2. Aufl. 1883.
  18. Bruno Hildebrand, Die gegenwärtige Aufgabe der Wiſſenſchaft der Nationalökonomie. J. f. N. 1. F. 1, 1862.
  19. W. J. Aſhley, On the study of economic history. Harvard quarterly Journ. of Econ. vol. VII, 1893.
  20. Simmel, Die Probleme der Geſchichtsphiloſophie, J. f. G.V. 1892. Cohn, Die heutige Nationalökonomie in England und Frankreich. J. f. G.V. 1889.
  21. Charles Gide, The economic schools and the teaching of political economy in France. Pol. Sc. Quart. V, 4. 1890.
  22. Derſ., Quatre écoles d’économie sociale. 1890.
  23. Derſ., Die neuere volkswirtſchaftliche Litteratur Frankreichs. J. f. G.V. 1895.
  24. St. Marc, Étude sur l’enseignement de l’économie politique dans les universités d’Allemagne et d’Autriche. 1892.

47. Die älteren Anfänge einer empiriſchen Wiſſenſchaft und die Reaktion gegen die Naturlehre der Volkswirtſchaft. Wir haben im letzten Abſchnitte erörtert, welche Forderungen die Methode ſtrenger Wiſſenſchaft heute an die Volkswirtſchaftslehre ſtellt; wir haben nun noch kurz zu erzählen, inwieweit die Litteratur dem genügte, wie aus der Kritik der älteren Syſteme heraus und mit der fortſchreitenden Einzelerkenntnis immer mehr eine eigentliche Wiſſenſchaft der National - ökonomie entſtand. Wir werden dabei nicht das aufgeblähte Selbſtlob eines Engländers wiederholen, unſere Wiſſenſchaft ſei eine der jüngſten und doch eine der vollendetſten unter ihren Schweſtern. Wir werden zugeben, daß wir auch heute noch recht vieles nicht wiſſen, und daß jedes abgeſchloſſene Syſtem mit Wahrſcheinlichkeiten und Hypotheſen operiert. Aber andererſeits ſind wir allerdings in die Epoche methodiſch gelehrter Forſchung eingetreten, und das hat ſeine Früchte getragen. Wir glauben nicht mehr, daß jeder Dilettant und jeder Journaliſt ebenſo gut volkswirtſchaftliche Abhandlungen ſchreiben könne, wie der Sachkenner und der geſchulte Gelehrte. Wir haben uns ſeit einigen Menſchenaltern dem großen Ziele, einen ſteigenden Beſtand von Wahrheiten zu beſitzen, die alle anerkennen müſſen, erheblich genähert.

Allerdings in erſter Linie in den Gebieten unſeres Wiſſens, wobei es ſich um Beobachtung, Beſchreibung, Feſtſtellung einfacherer Zuſammenhänge handelt. Und die Anfänge hiefür liegen weit zurück. Schon die Merkantiliſten und Kameraliſten haben eine emſige Thätigkeit in der Sammlung der Thatſachen entwickelt. Gute Schilderungen, wie die Sir William Temples von Holland, Pettys von Irland, Bechers von Deutſch - land entſtanden ſchon im 17. Jahrhundert. In großen Sammelwerken faßte man dann im 18. Jahrhundert die Kenntniſſe zuſammen; es ſei nur an De la Marres Traité de la police (4 Fol. -Bde., 1729), an Savarys Dictionnaire universel de commerce (5 Fol. - Bde., 1759, 2. Aufl. ), an die franzöſiſchen Encyklopädiſten oder an J. G. Krünitz, Ökonomiſche Encyklopädie, erinnert, welche es von 1773 1828 auf 149 Bände kamera - liſtiſcher Vielwiſſerei brachte. Den beſchreibenden Sammlungen von Staatsmerkwürdig - keiten gab Achenwall (1719 72) den Namen Statiſtik. In periodiſch erſcheinenden Sammelwerken faßten Büſching, Schlözer, Arthur Young derartiges Material zuſammen. Letzterer ließ ausgezeichnete wirtſchaftliche Reiſebriefe über England, Frankreich, Spanien und Italien (1768 95) erſcheinen. Ein wahrer Heißhunger nach Thatſachen und Zahlen herrſchte damals; freilich war man noch nicht kritiſch genug, und von der um - fangreichen damaligen Verwaltungsſtatiſtik drang wenig in die Öffentlichkeit. Höchſt bedeutungsvoll aber war es, daß man mit den Reſultaten der kirchlichen Buchung der Geburten, Todesfälle und Ehen ſich zu beſchäftigen begann. John Graunt verwertete ſie zuerſt in ſeinen Observations (1661), Sir William Pettys Buch über die Totenliſten der Stadt London (1702 deutſch, und Several essays on political arithmetic) ſetzte dieſe Unterſuchung fort, ebenſo wie dann Halley (An estimate of the degrees of mortality of mankind, drawn from curious tables of the birthes and funerals at the city of Breslau), Kaspar Neumann, dem Halley ſein Breslauer Material lieferte, und Leibniz, während der von dieſen Vorgängen angeregte preußiſche Feldprediger Johann Peter Süßmilch (Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menſchlichen Geſchlechts, 1741 42, 1761, 1775) dann das ihm erreichbare Material über die Bevölkerungserſcheinungen überſichtlich zuſammenſtellte und in einer Form bearbeitete, welche die Reſultate der113Ältere empiriſche Forſchung. Reaktion gegen das Naturrecht.Geburts -, Sterbe - und Heiratsliſten allgemein verſtändlich machte und in ihrer allgemeinen ſtaats - und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Bedeutung erkennen ließ. Wenn er ſich dabei als Schwärmer für Bevölkerungszunahme und als frommer Chriſt zeigte, der in der Regelmäßigkeit ſeiner Zahlen den Beweis der göttlichen Vorſehung ſah, ſo ſteigerte er damit den Einfluß ſeines zeitgemäßen Buches, ohne den wiſſenſchaftlichen Reſultaten weſentlich Eintrag zu thun. Er bleibt einer der Hauptbegründer empiriſcher Forſchung auf dem Gebiete der Staats - und Geſellſchaftswiſſenſchaften. Die ſpätere Ausbildung der eigentlichen Statiſtik knüpft an ihn und ſeine Vorgänger an.

Unter den Schriftſtellern des 18. Jahrhunderts, die nicht zu den damals herrſchenden Schulen gehörten, die, mehr dem praktiſchen Leben zugewandt, über einzelne Fragen mit vollendeter Sachkenntnis ſchrieben und von den Doktrinären häufig als Eklektiker bezeichnet wurden, können mehrere an Geiſt und Urteil den großen Syſtematikern ebenbürtig zur Seite geſtellt werden und müſſen vom heutigen methodologiſchen Standpunkte als ihnen überlegen, als vorſichtige und zuverläſſige Forſcher bezeichnet werden. So z. B. Galiani mit ſeiner Schrift über den Getreidehandel (1769) und Necker mit ſeinen Arbeiten (Oeuvres, 1820), in Deutſchland J. G. Büſch mit ſeinen Unterſuchungen über Handel und Geldumlauf (Schriften über Staatswirtſchaft und Handlung, 3 Bde., 1780 und 1800; Theoretiſch-praktiſche Darſtellung der Handlung, 2 Bde., 1792, Zuſätze dazu, 3 Bde., 1797; Sämtliche Schriften über Banken und Münzweſen, 1801, ꝛc. ) und Struenſee mit ſeinen Abhandlungen (Über wichtige Gegenſtände der Staatswirtſchaft, 3 Bde., 1800). Juſtus Möſers Proteſt gegen die flache individualiſtiſche Aufklärung, ſein hiſtoriſcher Sinn, ſein Verſtändnis des Volkstümlichen und Praktiſchen, ſowie der älteren wirtſchaftlich-ſtändiſchen Einrichtungen giebt ſeinen Schriften (hauptſächlich 1767 70, Geſ. Werke 1842) die Be - deutung eines ſtarken Gegenſtoßes gegen die damals herrſchenden Schulmeinungen. Und die Göttinger kulturhiſtoriſche Schule (1770 1840) von Spittler, Beckmann, Meiners, Heeren, Hüllmann, Hegewiſch, Anton, Sartorius hat, obwohl ihre Vertreter teilweiſe echte Smithianer waren, doch inſofern eine ähnliche Bedeutung, als ſie eine Reihe wirt - ſchaftsgeſchichtlicher Monographien und Bauſteine für eine ſpätere hiſtoriſche Volks - wirtſchaftslehre lieferten; an ſie knüpfte Roſcher direkt an.

Ebenſo wichtig aber war, daß allerwärts die Reaktion gegen die naturrechtlich - individualiſtiſchen Theorien und den naiven Optimismus der Liberalen zu einer hiſtoriſchen Staats - und Geſellſchaftsauffaſſung führte, welche auch auf alle volkswirtſchaftlichen Er - ſcheinungen ein anderes Licht warf, andere Punkte und Zuſammenhänge in den Vorder - grund rückte. Burkes realiſtiſcher Sinn und ſeine Verurteilung der franzöſiſchen Revolution machte in England ebenſo Eindruck, wie in Frankreich die romantiſch-katholiſierenden Schriften J. de Maiſtres und L. G. de Bonalds; ſie hatten auf den franzöſiſchen Socialismus und A. Comte, ſeine poſitiviſtiſche Sociologie, ſeine Angriffe auf die ſtehen gebliebene abſtrakte Nationalökonomie erheblichen Einfluß; eine Art Nationalökonomie auf chriſtlicher Grundlage entſtand in Frankreich, und ſie fand in den Halbſocialiſten, wie Sismondi, und in den Schutzzöllnern, wie Ganilh, Louis Say, St. Chamans Geſinnungsgenoſſen. In Deutſchland verherrlichte K. L. von Haller (Reſtauration der Staatswiſſenſchaften, 6 Bde., 1816 1834) in ſeiner realiſtiſchen Gewalttheorie mittel - alterliche Zuſtände, griff A. Müller (Elemente der Staatskunſt, 3 Bde., 1809; Theol. Grundlage d. geſ. Staatsw., 1819) die international-kosmopolitiſchen Theorien Smiths vom Standpunkt der Nationalität, der ſittlich-geiſtigen Zuſammenhänge an; die Volks - wirtſchaft iſt ihm ein organiſches, durch Arbeitsteilung getrenntes, durch ſittliche Wechſel - wirkung wieder zu verknüpfendes Ganzes. G. W. F. Hegel, der im Staate die Wirklichkeit der ſittlichen Idee ſah, die bürgerliche Geſellſchaft dem Staate als das Unvollkommenere gegenüberſetzte, mußte die Extreme der Handels - und Gewerbefreiheit bekämpfen. Seine und Schellings Staats - und Geſchichtauffaſſung haben einen Teil der deutſchen Socialiſten beherrſcht, wie die ganze deutſche Geſchichtſchreibung und Staatswiſſenſchaft beeinflußt. Am direkteſten hängt L. v. Stein mit ihm zuſammen. Dieſer geht in allen ſeinen Werken (Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs, 1842; Syſtem der Staatswiſſenſchaft, 1852 54; Verwaltungslehre, 1868 ff. ; Lehrbuch der Finanzwiſſen -Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 8114Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.ſchaft, 1860 ff. ) von dem Verhältnis der Geſellſchaft zum Staate, von der Verſchiedenheit dieſes Verhältniſſes zur Zeit des Geſchlechterſtaates, des Ständeſtaates und des modernen ſtaatsbürgerlichen Staates aus; er ſieht ſein Ideal in einem ſocialen Königtum, das ſeine Macht für Hebung der unteren Klaſſen einſetzt. Er begreift früher und viel richtiger als die ſocialiſtiſchen Materialiſten den Zuſammenhang von Recht, Verfaſſung und Ver - waltung mit den geſellſchaftlichen und wirtſchaftlichen Zuſtänden. Er iſt mehr Staats - gelehrter als Nationalökonom, hat auch auf Laſſalle, Gneiſt, Treitſchke mehr Einfluß geübt als auf die ſpäteren deutſchen Nationalökonomen. Sein encyklopädiſches Wiſſen reicht oft nicht aus für die Größe ſeiner Aufgaben, ſeine Syſtematik und Geſchichts - konſtruktion ſchwebt vielfach mit geiſtreichen und halbwahren Konſtruktionen in der Luft, aber ſein großartiger, hiſtoriſcher Blick ſieht meiſt in die Tiefe der Dinge.

Waren ſo in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts mancherlei theoretiſch-ſtaats - wiſſenſchaftliche und allgemeine Strömungen neben dem Socialismus vorhanden, welche die Smithſche Nationalökonomie zumal in Deutſchland nach und nach überwanden, ſo war doch das Wichtigſte, um ihre epigonenhafte Ausſpinnung zu immer inhalts - loſeren, abſtrakteren Betrachtungen zu bekämpfen, eine energiſche Erfaſſung der empiriſchen Wirklichkeit. Es mußte eine vollkommenere Analyſe der volkswirtſchaftlichen Verhältniſſe in quantitativer und qualitativer Richtung eintreten. Das erſtere geſchah durch die Statiſtik, das letztere durch die rechts - und wirtſchaftshiſtoriſche und ſonſtige realiſtiſche volkswirtſchaftliche Forſchung.

48. Die Statiſtik iſt durch die Gründung der ſtaatlichen ſtatiſtiſchen Ämter 1806 1875 ſowie der ſtädtiſchen von 1860 an, durch die regelmäßige Publi - kation ihrer Ergebniſſe, durch die Ausbildung einer beſonderen Zählungs -, Erhebungs - und Bearbeitungstechnik etwas ganz anderes als im vorigen Jahrhundert geworden. Aus einer beſchreibenden Staatenkunde, die einige notdürftige Notizen der heimlichen, bureaukratiſchen Erhebungen der Verwaltungs - und Finanzbehörden mit Ergebniſſen der Kirchenbücher und privaten Schätzungen verband, iſt ein großartiger, in der Haupt - ſache ſtaatlich geordneter Apparat der Maſſenbeobachtung entſtanden, der mit immer größerer Anforderung an die Sicherheit der Erhebungen über große Gruppen von In - dividuen ein Netz von Obſervatorien ausbreitet, um methodiſch nicht bloß die für die Verwaltung, ſondern mehr und mehr auch die für die wiſſenſchaftliche Erfaſſung des geſellſchaftlichen Lebens wichtigeren gleichartigen Erſcheinungen zu beobachten und zu regiſtrieren. Es werden dabei gewiſſe Gruppen von Menſchen, von Handlungen, von wirtſchaftlichen Gütern, Kapitalien, Grundſtücken ins Auge gefaßt, und die in der Gruppe enthaltenen Einzelfälle nach beſtimmten natürlichen und rechtlichen Eigenſchaften gezählt. Es handelt ſich um die Einführung der Meßkunſt in das Gebiet der Staats - und Social - wiſſenſchaft. Auf Grund genereller, begrifflicher Klaſſifikationen wird innerhalb der Klaſſe nach gewiſſen Merkmalen das Gleichartige oder Ungleichartige größenmäßig feſtgeſtellt. Es werden dieſe Größenfeſtſtellungen periodiſch wiederholt. Aus der Vergleichung der Zählungen, welche zu verſchiedener Zeit auf denſelben Gegenſtand gerichtet ſind oder mit derſelben Frageſtellung in verſchiedenen Ländern die analogen Gruppen faſſen, ergeben ſich Regelmäßigkeiten, Abweichungen und Veränderungen, die zunächſt an ſich ein Intereſſe haben, Fortſchritt oder Rückſchritt andeuten, dann auf gewiſſe, bisher unbekannte Urſachen hinweiſen, bekannte Urſachen in ihrer Wirkungsweiſe zu kontrollieren geſtatten.

So glänzend die Fortſchritte der Statiſtik, ſo groß die Anforderungen der heutigen Statiſtik an die Thätigkeit der Behörden ſind, ſo verfeinert und kompliziert die Methoden der Frageſtellung und Sammlung der Antworten z. B. in Bezug auf Sterblichkeits -, Krankheits -, Handelsſtatiſtik ꝛc. iſt, ſo iſt doch klar, daß es ſich bei aller Statiſtik um die Meſſung von Größenverhältniſſen der Bevölkerung, der Produktion, des Verkehrs handelt, die über die Natur dieſer Dinge ſonſt nichts ausſagt; dieſe Natur muß möglichſt vorher bei der Frageſtellung bekannt, muß durch anderweite Mittel wiſſenſchaftlicher Unterſuchung feſtgeſtellt ſein oder werden. Vor allem auch die geſamten Urſachen werden nicht durch die Statiſtik aufgedeckt, ſondern nur in ihrer Wirkung gemeſſen und kontrolliert; die Statiſtik weiſt an beſtimmter Stelle auf mögliche Urſachen hin, ſie115Die Bedeutung der Statiſtik.erlaubt Hypotheſen, beſtätigt oder beſeitigt ſie. Aber nicht mehr. Und dann: es ſind immer nur wenige äußerliche Fragen, die geſtellt und präcis beantwortet werden können. Man kann das Vieh zählen, aber kaum das Gewicht jedes Ochſen feſtſtellen; man kann die vor Gericht oder Polizei kommenden Verbrechen zählen, aber nicht die begangenen noch weniger ihre innerliche Qualifikation; man kann feſtſtellen, zu welchem Preiſe an einem Tage auf einem Markte nach dem Urteil eines Sachverſtändigen gehandelt wurde, aber nie alle wirklich verabredeten und gezahlten Preiſe und alle zu ſolchen Preiſen geſchloſſenen Verträge feſtſtellen. Jede Zahl ohne Kenntnis ihrer Entſtehungsgeſchichte iſt problematiſch, ſchon weil die Gruppenabgrenzung des Gezählten ſo oft zweifelhaft iſt. Die Statiſtik iſt und bleibt ein roher Apparat, in der Hand des Dilettanten ein Mittel des Mißbrauches und des Irrtums, nur in der Hand des Kenners und Meiſters, des nüchternen, wahrheitſuchenden Gelehrten ein Schlüſſel zu tieferer Erkenntnis.

Und doch, was hat ſie ſchon geleiſtet! Sie hat die Bevölkerungslehre und Moral - ſtatiſtik erſt geſchaffen; ſie hat dem ganzen deſkriptiven Teil der Staats - und Social - wiſſenſchaften erſt Präciſion und wiſſenſchaftlichen Charakter gegeben, ſie hat die abſtrakten Schlüſſe aus den Quantitätsverhältniſſen in der Wert - und Preislehre auf ihr rechtes Maß zurückgeführt, zahlloſe Irrtümer in der Geld - und Kreditlehre, in der Frage der Getreidepreiſe, der Löhne, des Konſums, der Ernteergebniſſe beſeitigt. Sie hat das naturaliſtiſche Wirtſchaften mit Phraſen und halbwahren Hypotheſen auf dem ganzen Wiſſensgebiet eingeſchränkt; die Frageſtellungen überall verſchärft, ein gelehrtes ſyſtema - tiſches Verfahren an die Stelle des Raiſonnierens aus dem Handgelenk geſetzt.

Die Männer, welche ſich um ihre Ausbildung in den ſtatiſtiſchen Ämtern haupt - ſächlich verdient gemacht haben, ſind: J. G. Hoffmann in Preußen, der auch durch ſeine realiſtiſchen Schriften (Lehre vom Geld, 1838; Lehre von den Steuern, 1840; Befugnis zum Gewerbebetrieb, 1841) zu den vorzüglichen Darſtellern konkreter Wirtſchaftsverhält - niſſe gehört; der Aſtronom und Naturforſcher L. A. J. Quetelet, der die belgiſche Statiſtik zeitweiſe zur erſten in Europa machte und durch ſein Buch (Sur l’homme, 2 Bde., 1835, deutſch 1838) mit ſeinen freilich ſchiefen, mechaniſch-naturaliſtiſchen Ten - denzen einen Jahrzehnte dauernden fruchtbaren wiſſenſchaftlichen Streit anregte; Moreau de Jonnès, der von 1833 an die franzöſiſche Statiſtik leitete und eine Reihe wertvoller ſtatiſtiſch-hiſtoriſcher Werke ſchrieb; Ernſt Engel, der mit einer naturwiſſenſchaftlich-techno - logiſchen Bildung den Spuren Quetelets folgte und die ſächſiſche und preußiſche Statiſtik nach dem Vorbilde der belgiſchen mit ſeltener Rührigkeit und Beweglichkeit ausbildete; Georg v. Mayr, der nach dem Vorgang Hermanns die bayriſche Statiſtik für viele Jahre mit zur angeſehenſten in Deutſchland erhob und allgemeine Werke über Statiſtik ſchrieb (Geſetzmäßigkeit im Geſellſchaftsleben, 1877; Statiſtik und Geſellſchaftslehre, 2 Bde., 1894 97), neuerdings ein ſtatiſtiſches Archiv als Zeitſchrift begründete (ſeit 1890); endlich Guſtav Rümelin, der eine Reihe muſterhafter Arbeiten über die württembergiſche Statiſtik und über die Theorie der Statiſtik (in ſeinen Reden und Aufſätzen, 3 Bde. ) lieferte. Neuerdings hat ſich hauptſächlich die italieniſche Statiſtik unter Luigi Bodio durch umfangreiche und tüchtige Leiſtungen ausgezeichnet. Und in Frankreich ſteht jetzt Erneſt Levaſſeur mit ſeinem großen hiſtoriſch-ſtatiſtiſchen Werke La population française (3 Bde., 1889 ff. ) an der Spitze.

Über das Weſen der Statiſtik als Wiſſenſchaft haben außer den Genannten ſich in bemerkenswerter Weiſe ausgeſprochen: Karl Knies (Die Statiſtik als ſelbſtändige Wiſſenſchaft, 1850), G. F. Knapp (Die neueren Anſichten über Moralſtatiſtik, J. f. N. 1. F. 16, 1871; über Quetelet, daſelbſt 18, 1873; Theorie des Bevölkerungswechſels, 1874), W. Lexis (Theorie der Maſſenerſcheinungen in der menſchlichen Geſellſchaft, 1877), Maurice Block (Traité théorique et pratique de la statistique, 1878, deutſch 1879 von v. Scheel), Auguſt Meitzen (Geſchichte, Theorie und Technik der Statiſtik, 1886), W. Weſtergaard (Grundzüge der Theorie der Statiſtik, 1890). Die Bevölkerungslehre haben 1859 Wappäus, die Moralſtatiſtik 1868 von Oettingen, die Verwaltungsſtatiſtik E. Miſchler (1 Bd.), 1892 in ihren weſentlichen Reſultaten zuſammengefaßt.

8*116Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

49. Die hiſtoriſche und ſonſtige realiſtiſche Forſchung hat neben und mit der Statiſtik unſerer Wiſſenſchaft im 19. Jahrhundert einen ganz neuen Boden gegeben. In Deutſchland hatte die Philologie und Altertumswiſſenſchaft in F. A. Wolf, F. G. Welcker, A. Böckh und K. O. Müller, die Geſchichte in B. G. Niebuhr und L. Ranke, die geſchichtliche Rechtswiſſenſchaft und die Verfaſſungsgeſchichte in Eichhorn, Savigny, Waitz, Dahlmann, Mommſen, Gneiſt ihr goldenes Zeitalter erlebt. Nicht bloß Methode, Kritik und Quellenkunde wurden damit für alle Geiſteswiſſenſchaften andere, ſondern auch der allgemeine Sinn für kauſale Zuſammenhänge; wer durch dieſe Schule gegangen war, konnte mit den kahlen und dürren rationaliſtiſchen Erwägungen und Schluß - folgerungen des alten Naturrechts nicht mehr auskommen. Und Werke wie Böckhs Staats - haushalt der Athener (1817; 3. Aufl. ed. Fränkel, 1886) wurden zugleich Perlen der nationalökonomiſchen Litteratur; was Niebuhr, Nitzſch und Mommſen uns über ſociale Klaſſenkämpfe lehrten, ſtand hoch über den luftigen Kartenhäuſern der Socialiſten. Die Erdkunde wurde durch A. v. Humboldt und K. Ritter erſt eine Wiſſenſchaft, die Reiſe - litteratur und Kenntnis der Naturvölker nahm raſch zu und lieferte auch volkswirtſchaftlichen Stoff aller Art. Die anthropologiſche und urgeſchichtliche Forſchung erweiterte unſeren ganzen Horizont unermeßlich. Tylor, Lubbock, H. Spencer, Baſtian, Th. Waitz (An - thropologie der Naturvölker, 1859 72), Lewis H. Morgan (Ancient society, 1875, deutſch Die Urgeſellſchaft, 1891), Pictet (Les origines indoeuropéennes, 1877, 2. Ausg. ), O. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeſchichte, 1883; Zur Handelsgeſchichte und Warenkunde, 1886), Sumner H. Maine (Ancient law, 1861; Early history of institutions, 1875), F. Ratzel (Völkerkunde, 3 Bde., 1885; Anthropogeographie, 2 Bde., 1882 u. 91) ſind heute neben zahlreichen ſpeciellen Reiſewerken und ethnographiſchen Monographien unentbehrliche Hülfsmittel der volkswirtſchaftlichen Forſchung. Daneben konnte die eigentlich nationalökonomiſche Beobachtung nicht zurückbleiben; man drang ganz anders als früher in die Hütte des Arbeiters wie in die Werkſtatt und Fabrik, man ſchilderte den Familienhaushalt und den Bauernhof. Die Vereinigung zahlreicher disciplinierter Einzelkräfte zu wiſſenſchaftlicher Geſamtarbeit auf Kongreſſen, bei Enqueten, in Sammel - werken und Zeitſchriften erlaubte Leiſtungen, wie ſie im Bereiche der Geſchichte früher nur etwa aus den Benediktinerabteien hervorgegangen waren. Die Einſicht, daß A. Smith, Ricardo und Marx doch alle von einem zu kleinen, begrenzten Erfahrungs - feld ausgegangen waren, ſiegte definitiv. Es entſtand eine Richtung der wiſſenſchaftlichen Arbeit, die vielleicht in mancher ihrer Hülfskräfte das Materialſammeln zu hoch, deſſen rationale Bemeiſterung zu niedrig ſchätzte; aber ſie war nötig in einem Zeitalter, in dem ſelbſt die Philoſophie zum Experiment griff, in dem jede Wiſſenſchaft komplizierter Lebensvorgänge einen vollendeten deſkriptiven Teil als Vorarbeit forderte. Und auch die einſeitigen Anhänger der alten Schulen bekundeten die Berechtigung des Umſchwungs, indem ſie ihrerſeits an der realiſtiſchen Arbeit teilnahmen.

Das Ergebnis dieſer neuen Richtung der Studien war natürlich je nach Perſonen, Ländern, Vorbildung und Zwecken ein ſehr verſchiedenes. Hier ſammelte man Material, um die Sätze der alten Schuldogmatik oder die neuen ſocialiſtiſchen Ideale zu beweiſen, dort ſchilderte man objektiv und unparteiiſch; die einen bauten aus einem Überſichts - material raſch große hypothetiſche Gebäude, die anderen blieben bei einer minutiöſen Detailſchilderung und ganz feſt begrenzten Schlüſſen. Der engſte Specialiſt und der univerſalſte Geiſt konnte gleichmäßig in den Dienſt des Realismus treten. Aber die raſch fertigen dogmatiſchen Lehrbücher, die in Rezeptform unterrichteten und raſche prak - tiſche Anweiſung gaben, mußten in Mißkredit kommen. Die Monographie trat mehr und mehr in den Vordergrund des wiſſenſchaftlichen Betriebes.

Der erſte Nationalökonom, der europäiſche mit amerikaniſchen Wirtſchaftserfahrungen, hiſtoriſche Kenntniſſe mit praktiſcher Beobachtung des Lebens in großem Stile verband und daraus eine bedeutſame Theorie der volkswirtſchaftlichen Entwickelung ableitete, war der deutſche Profeſſor Friedrich Liſt (Das nationale Syſtem der politiſchen Ökonomie, 1841; 7. Aufl. ed. Eheberg, 1883; geſ. Werke ed. Häuſſer, 3 Bde., 1850). Hätte er mit ſeiner genialen Begabung die nötige Nüchternheit und die Ruhe eines Gelehrtenlebens verbunden,117Die neuere deutſche realiſtiſche Forſchung.ſo wäre er der Überwinder der Smithſchen Schule geworden. Aber obwohl er mehr ein großer geiſtvoller Agitator blieb, bildet ſein Auftreten doch einen Wendepunkt für unſere Wiſſen - ſchaft. Indem er an die Stelle der Wert - und Quantitätstheorien A. Smiths eine Theorie der produktiven Kräfte, d. h. der individuellen und geſellſchaftlichen Perſönlichkeiten ſetzte, beſeitigte er die materialiſtiſche Vorſtellung eines mechaniſchen Naturverlaufes der Wirt - ſchaftsprozeſſe; indem er für Schutzzölle wie für ein nationales Eiſenbahn - und Kanalſyſtem kämpfte, führte er überhaupt zum richtigen Verſtändnis der ſocialen und politiſchen Organi - ſationen zurück, auf denen das wirtſchaftliche Leben ruht; indem er den hiſtoriſchen Ent - wickelungsgang der Volkswirtſchaft der Kulturvölker wohl einſeitig und umrißartig, aber doch im ganzen richtig zeichnete, begrub er die ſchiefen Vorſtellungen von natürlichen, überall durchzuführenden Wirtſchaftseinrichtungen und Idealen. Zu gleicher Zeit ſchuf A. v. Thünen das Vorbild für ſtreng wiſſenſchaftliche Specialunterſuchungen aus der Gegen - wart. Er verſtand es (Der iſolierte Staat in Beziehung auf Landwirtſchaft und National - ökonomie, 1826 63), die Frage der Abhängigkeit des landwirtſchaftlichen Betriebes vom Markt und den Transportkoſten erſchöpfend in der Wirklichkeit zu beobachten und zu beſchreiben, das Weſentliche dieſes Verhältniſſes glücklich herauszugreifen, von Neben - umſtänden zu ſondern und unter dem gedachten Bild eines einheitlichen, iſolierten Staates mit einem ſtädtiſchen Centralmarkt vorzuführen und zu durchdenken. Er hat ſo einen Kauſalzuſammenhang, auf den ihn die Beobachtung führte, erſt iſoliert, für ſich unter - ſucht und dann wieder mit den realen Zuſtänden verglichen. Die Anwendung ſolch ſchematiſcher, iſolierter Betrachtung iſt eines der wichtigſten Hülfsmittel wiſſenſchaftlichen Fortſchrittes, wenn der dasſelbe anwendende Forſcher die Hauptpunkte richtig von den Nebenpunkten zu trennen vermag.

Und während dann der ausgezeichnete Agrarpolitiker G. Hanſſen (Aufhebung der Leibeigenſchaft in Schleswig und Holſtein, 1861; Agrarhiſtoriſche Abhandlungen, 2 Bde., 1880 geſammelt, ſeit 1832 erſchienen) auf Grund rechts - und wirtſchaftsgeſchichtlicher, wie modernſter Reiſeſtudien die Fragen der hiſtoriſchen Entwickelung der landwirtſchaftlichen Betriebsſyſteme und der Agrarverfaſſung überhaupt meiſterhaft anſchaulich erörterte und in A. Meitzen (Urkunden ſchleſiſcher Dörfer, 1863; Boden und landw. Verhältniſſe des preußiſchen Staates, 4 Bde., 1868; Siedelung und Agrarweſen der Deutſchen, Skandinavier, Kelten ꝛc., 4 Bde., 1895) wie in A. v. Miaskowski (Verfaſſung der Land -, Alpen - und Forſtwirtſchaft der deutſchen Schweiz, 1878; Erbrecht und Grundeigentumsverteilung im Deutſchen Reiche, 2 Bde., 1884), in Conrad, Knapp und anderen würdige Nachfolger der wiſſenſchaftlichen Agrarforſchung erhielt, hatten unterdeſſen Roſcher, Hildebrand und Knies verſucht, ganz principiell der deutſchen Nationalökonomie den Stempel der hiſto - riſchen Methode aufzudrücken.

Geiſtreich und viel beweglich hat Bruno Hildebrand (Die Nationalökonomie der Gegenwart und der Zukunft, 1848; Jahrbücher für Nationalökonomie und Statiſtik, ſeit 1863 ff. ) die hiſtoriſche Entwickelung der Volkswirtſchaft unter die Kategorien der Natural -, Geld - und Kreditwirtſchaft geſtellt und durch ſeine litterargeſchichtlichen und hiſtoriſchen Specialarbeiten außerordentlich anregend gewirkt. Karl Knies (Die politiſche Ökonomie vom Standpunkte der geſchichtlichen Methode, 1853 u. 83) hat in ausgezeichneter Weiſe die propädeutiſchen Fragen der geſchichtlichen Methode behandelt, iſt dann aber ſelbſt mehr zu dogmatiſchen und theoretiſchen Arbeiten übergegangen (Geld und Kredit, 2 Bde., 1873 79), welche ſcharfſinnig und faſt juriſtiſch gehalten die betreffenden Fragen durch begriffliche Unterſuchung wie durch breite Sachkenntnis gefördert haben. Wilhelm Roſcher aber überragt beide an Einfluß, an litterariſcher und akademiſcher Wirkſamkeit, wie er ja auch durch ſeinen Grundriß zu Vorleſungen über die Staatswirtſchaft nach geſchichtlicher Methode (1842) das erſte eigentliche Programm der hiſtoriſchen Schule aufſtellte. Er hat dann in einem langen, ſegensreichen Gelehrtenleben die national - ökonomiſche Litteraturgeſchichte (Zur Geſchichte der engliſchen Volkswirtſchaftslehre im 16. und 17. Jahrhundert, 1854; Geſchichte der Nationalökonomie in Deutſchland, 1874) angebaut, eine Reihe der wichtigſten Specialfragen wirtſchaftsgeſchichtlich unterſucht (Ideen zur Geſchichte und Statiſtik der Feldſyſteme im Archiv von Rau-Hanſſen, 7 u. 8;118Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.Kolonien, 1856; Anſichten der Volkswirtſchaft, 1861 u. 78), endlich ſeine geſamten An - ſchauungen in dem ſchon erwähnten Syſtem der Volkswirtſchaft (5 Bde., 1854 94) zuſammengefaßt, das heute mit ſeinen zahlreichen Auflagen das weitaus verbreitetſte Lehr - buch in Deutſchland iſt. Er hat außerdem in ſeiner geſchichtlichen Naturlehre der Monarchie, Ariſtokratie und Demokratie (1892) ſeinen wirtſchaftsgeſchichtlichen Ideen den allgemeinen politiſchen und geſchichtsphiloſophiſchen Hintergrund gegeben.

Man mag Roſcher vorwerfen, daß er mehr polyhiſtoriſch geſammelt, als das ein - zelne nach ſtrenger hiſtoriſcher Methode unterſucht habe, daß ſein Lehrbuch teilweiſe nur die Gedanken der alten Schule mit hiſtoriſchen Anmerkungen verziere, daß die von ihm beabſichtigte Vergleichung aller Zeiten und Völker heute noch kaum möglich ſei, daß ſeine Paralleliſierung der Lebensſtufen des Individuums mit denen der Völker oft hinke, ſeine Verdienſte bleiben immer groß und epochemachend, er ſchließt ſich würdig an die großen ſonſtigen Hiſtoriker des 19. Jahrhunderts an. Er vor allem hat den Weg gebahnt, auf dem die ganze jüngere deutſche Generation von Gelehrten überwiegend wandelt und methodiſch forſcht. Sein wiſſenſchaftlicher Lebenszweck war, eine Vermittelung zwiſchen der Smithſchen Theorie und den Ergebniſſen hiſtoriſcher Forſchung zu gewinnen, Naturgeſetze des Wirtſchaftslebens zu finden, d. h. Regelmäßigkeiten, die von menſchlicher Abſicht unabhängig ſeien; er geht vergleichend, oft mehr geſchichtsphiloſophiſch ſpekulie - rend, als ſtreng forſchend den Entwickelungsphaſen der Volkswirtſchaft nach; die ältere Methode verwirft er als idealiſtiſch (er hätte beſſer geſagt: rationaliſtiſch), er will eine hiſtoriſch-phyſiologiſche an die Stelle ſetzen. Seine größte Leiſtung liegt in der gene - tiſchen Erklärung der agrariſchen und gewerblichen Inſtitutionen, der Handels - und Verkehrseinrichtungen.

Der Unterſchied der jüngeren hiſtoriſchen Schule von ihm iſt der, daß ſie weniger raſch generaliſieren will, daß ſie ein viel ſtärkeres Bedürfnis empfindet, von der poly - hiſtoriſchen Datenſammlung zur Specialunterſuchung der einzelnen Epochen, Völker und Wirtſchaftszuſtände überzugehen. Sie verlangt zunächſt wirtſchaftsgeſchichtliche Mono - graphien, Verknüpfung jeder modernen Specialunterſuchung mit ihren hiſtoriſchen Wurzeln; ſie will lieber zunächſt den Werdegang der einzelnen Wirtſchaftsinſtitutionen, als den der ganzen Volkswirtſchaft und der univerſellen Weltwirtſchaft erklären. Sie knüpft an die ſtrenge Methode rechtsgeſchichtlicher Forſchung an, ſucht aber ebenſo durch Reiſen und eigenes Befragen das Bücherwiſſen zu ergänzen, die philoſophiſche und pſychologiſche Forſchung heranzuziehen.

Die deutſche Wirtſchaftsgeſchichte erhielt in K. W. Nitzſchs Geſchichte des deutſchen Volkes (3 Bde., 1882), in W. Arnolds Arbeiten (Verfaſſungsgeſchichte der deutſchen Freiſtädte, 1854; Anſiedlungen und Wanderungen der deutſchen Stämme, 1875), in K. Th. v. Inama-Sterneggs deutſcher Wirtſchaftsgeſchichte (3 Bde., 1879 91), in Lamprechts deutſchem Wirtſchaftsleben im Mittelalter (4 Bde., 1886) eine Fundamen - tierung, wie ſie kaum ein anderes Volk beſitzt. Als die Hauptvertreter der mono - graphiſchen deutſchen Wirtſchaftsgeſchichte in Bezug auf Gewerbe und Handel ſind zu nennen: G. Schmoller (Geſchichte der deutſchen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert, 1870; Straßburger Tucher - und Weberzunft, 1879; Wirtſchaftliche Politik Preußens im 18. Jahrhundert, J. f. G.V. 1884 87; Die Thatſachen der Arbeitsteilung, daſ. 1889; Das Weſen der Arbeitsteilung und der ſocialen Klaſſenbildung, daſ. 1889; Die geſchichtliche Entwickelung der Unternehmung, daſ. 1890 93; Zur Social - und Gewerbepolitik der Gegenwart, 1890; Einige Grundfragen der Socialpolitik und Volkswirtſchaftslehre, 1898; Umriſſe und Unterſuchungen zur Verfaſſungs -, Verwaltungs - und Wirtſchaftsgeſchichte, 1898; Acta Borussica, von 1892 an bis jetzt 6 Bde. ; Staats - und ſocialwiſſenſchaftliche Forſchungen, von 1878 an, 75 Hefte), G. v. Schönberg (Basler Finanzverhältniſſe im 14. und 15. Jahrh., 1879), K. Bücher (Aufſtände der unfreien Arbeiter 143 129 v. Chr., 1874; Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im 14. und 15. Jahrh., 1886; Die Ent - ſtehung der Volkswirtſchaft, 1893, 2. Aufl. 1898), W. Stieda (Entſtehung des deutſchen Zunftweſens, 1874, und viele andere gewerbegeſch. Monographien), Tr. Geering (Handel und Induſtrie der Stadt Baſel, 1886). In Bezug auf das Agrarweſen hat G. F. Knapp119Die ältere und die jüngere deutſche hiſtoriſche Schule.(Die Bauernbefreiung und der Urſprung der Landarbeiter, 2 Bde., 1887) mit ſeinen tüchtigen Schülern Grünberg, Fuchs, Wittich eine ganz neue, zuverläſſige Erkenntnis der deutſchen Entwickelung in den letzten Jahrhunderten geſchaffen und M. Sering (Innere Koloniſation im öſtlichen Deutſchland, 1893), M. Weber und andere haben die ſchwebenden Agrarfragen der Gegenwart durchforſcht und gefördert.

Nicht minder bedeutſam iſt, was deutſche Gelehrte in den letzten dreißig Jahren über andere Länder, beſonders über England, wirtſchaftsgeſchichtlich geleiſtet haben. Man könnte faſt ſagen, der Reichtum der engliſchen Archive, Blaubücher und Enqueten ſei in erſter Linie durch deutſche Gelehrte aufgeſchloſſen worden, wozu freilich auch die Socialiſten beigetragen haben. Voran ſteht zugleich als der Führer einer ganzen liberal-demokratiſch ſocialpolitiſchen Schule Lujo Brentano; ſein Werk über die Arbeitergilden der Gegenwart (2 Bde., 1871) iſt auch für die einſchlägige engliſche Gewerkvereinslitteratur der Ausgangspunkt geworden; die Schriften über das Arbeits - verhältnis nach dem heutigen Recht (1877), die Arbeitsverſicherung gemäß der heutigen Wirtſchaftsordnung (1879) ſchließen ſich an ſein Hauptwerk an. Mit ſeinen geſammelten Aufſätzen (1, 1899), und einer Agrarpolitik (1, 1897) hat er das agrariſche Gebiet betreten. Sonſt nenne ich: G. Schanz (Die engliſche Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters, 2 Bde., 1881), A. Held (Die neuere ſociale Geſchichte Englands, 1881), G. Cohn (Über die engliſche Eiſenbahnpolitik, 2 Bde., 1875), W. Hasbach (Über das engliſche Arbeiter - verſicherungsweſen, 1883, und Die engliſchen Landarbeiter in den letzten 100 Jahren und die Einhegungen, 1894). Als Kenner der franzöſiſchen Volkswirtſchaft hat ſich Lexis bewährt (Die franzöſiſchen Ausfuhrprämien, 1870; Gewerkvereine und Unternehmer - verbände in Frankreich, 1870), als ſolche der Vereinigten Staaten Sartorius von Walters - hauſen, Sering, Fuchs, v. Halle, Schumacher.

Auch die längſt in England mit monographiſcher Specialunterſuchung bedachten Gebiete der Preisgeſchichte, des Geld -, Bank - und Börſenweſens fanden in Deutſchland ihre Specialforſcher; die Unterſuchungen J. v. Helferichs und Soetbeers, E. Naſſes und A. Wagners, Lexis und Arendts, Cohns und Strucks ſtehen auf der Höhe der Wiſſen - ſchaft und haben würdig vollendet, was einſt J. G. Büſch begonnen.

Und die ſcheinbar den meiſten deutſchen Forſchern entgegenſtehenden öſterreichiſchen Gelehrten, unter welchen C. Menger (Grundſätze der Volkswirtſchaftslehre, 1871) und E. v. Böhm-Bawerk (Kapital und Kapitalzins, 2 Bde., 1884 89; Theorie des wirt - ſchaftlichen Güterwerts, J. f. N. 2. F. 13, 1886) in erſter Linie zu nennen ſind, haben zwar zunächſt abſtrakt deduktive Erörterungen und Begriffsanalyſen im Anſchluß an die ältere Schule geben wollen, aber zugleich haben ſie mit ihrer neuen Wertlehre, ähnlich wie Jevons in England, gewiſſe pſychologiſche Wert - und Marktvorgänge empiriſch ſchärfer erfaßt, das praktiſche Leben an beſtimmten Punkten richtiger analyſiert.

Das ſchon erwähnte Zuſammenwirken zahlreicher Kräfte fand ſeinen Ausdruck in verſchiedener Form. Der Verein für Socialpolitik hat ſeit 1872 80 90 Bände Schriften publiziert, meiſt Berichte und Gutachten verſchiedener über denſelben Gegenſtand und darunter muſterhafte Sammlungen, wie z. B. die über das deutſche Handwerk, über das Hauſiergewerbe, die ländlichen Arbeiter. Andere Vereine, wie der Armenpflegerkongreß, ſind ebenſo vorgegangen. An die ſtatiſtiſchen Bureaus und an die ſtaatswiſſenſchaftlichen Seminare der Univerſitäten haben ſich eine ganze Reihe von Serien wiſſenſchaftlicher Publikationen angeknüpft, meiſt deſkriptiver Art; darunter vortreffliche Schriften, wie die Induſtrie - und Arbeiterſchilderungen von Thun, Sering, Sax, Schnapper-Arndt, Herkner, Francke. Die ſtattliche Reihe von Zeitſchriften, welche ſtaatswiſſenſchaftlichen Zwecken dienen (Schäffle, Zeitſchrift für die geſamte Staatswiſſenſchaft, ſeit 1844; Hildebrand-Conrad, Jahrbücher für Statiſtik und Nationalökonomie, ſeit 1863; Schmoller, Jahrbuch für Geſetzgebung, Verwaltung und Volkswirtſchaft im Deutſchen Reich, ſeit 1881 beziehungsweiſe ſeit 1872; H. Braun, Archiv für ſociale Geſetzgebung und Statiſtik, ſeit 1888; die öſterreichiſche Zeitſchrift für Volkswirtſchaft, Socialpolitik und Verwaltung, ſeit 1892; Schanz, Finanzarchiv, ſeit 1884; Böhmert, Arbeiterfreund, ſeit 1859 62; Hirth, Annalen120Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.des norddeutſchen Bundes und des deutſchen Reiches, ſeit 1868), die verſchiedenen ſtatiſtiſchen Zeitſchriften, die Specialorgane für auswärtigen Handel, Kolonialpolitik, innere Koloniſation, Arbeiterverhältniſſe, Verſicherungsweſen ꝛc. zeigen den ungeheuren Stoff, den es zu bewältigen gilt. In dem Handbuch der politiſchen Ökonomie von Schönberg, 3, jetzt 5 Bde., 1882 95, 4. Aufl., ſowie in dem Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften von Conrad, Elſter, Lexis und Loening, 5 Bde., 2 Suppl. -Bde., 1890 97, ſowie in L. Elſters Wörterbuch der Volkswirtſchaft, 2 Bde., 1898, hat dieſes Material eine geordnete Zuſammenfaſſung erhalten, wie ſie bisher in gleichem Maße objektiv und vollſtändig nicht exiſtierte.

Die anderen Länder ſind dieſer Bewegung zögernd, aber doch im ganzen auch gefolgt. In England hatten Th. Tooke mit W. Newmarch eine Geſchichte der Preiſe (zuerſt 1838, dann fortgeſetzt bis 1856, deutſch 1858) geliefert, welche in ihren Grundgedanken der alten Schule angehört, aber durch ihre ſorgfältige empiriſche Unter - ſuchung der volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen von 1750 1850 die alten Theorien weſentlich berichtigte. Th. E. Rogers machte dann den Verſuch, eine engliſche Wirt - ſchaftsgeſchichte vom Mittelalter an nur auf Grund von urkundlichen Preisnotizen zu liefern (History of prices and agriculture, 1866, 1882, 1887, 6 Bde., zuſammengefaßt in: Six centuries of work and wages, the history of english labour, 1884; endlich The economic interpretation of history, 1888); aus dieſem Material konnte der man - cheſterliche, aller rechts - und wirtſchaftsgeſchichtlichen Schulung entbehrende Gelehrte freilich nur einzelne Erſcheinungen richtig aufhellen, vieles mußte bei ihm verzerrt und falſch ſich darſtellen (vergl. meine Kritik J. f. G.V. 1888, 203 ff. ), aber es war doch ein großer, epochemachender Anlauf hiſtoriſcher Unterſuchung unternommen. Und wenn nun Th. Carlyle (Socialpolitiſche Schriften, deutſch 1895) mit Keulenſchlägen von ſeinem idealiſtiſch-religiöſen, tief innerlichen Standpunkt aus den materialiſtiſchen und individua - liſtiſchen Mammonismus und harten Konkurrenzkampf ſeiner Zeit angriff, wenn Ruskin ihn dabei mit ſeinem äſthetiſchen Idealismus unterſtützte, wenn die chriſtlichen Socialiſten der vierziger Jahre mit ihrer Verherrlichung der Brüderlichkeit und des Genoſſenſchafts - weſens folgten (Brentano, Chriſtlich-ſociale Bewegung in England, J. f. G.V. 1883), wenn die Lehren A. Comtes eine ganze poſitiviſtiſche Schule in England erzeugten (F. Harriſon, Beesly, H. Crompton, G. Howell, Th. Wright), welche vor allem das Ungenügende der Ricardoſchen Theorie für die großen, immer dringlicher werdenden ſocialen Probleme empfand, ſo waren das lauter Richtungen mit einem höheren Über - blick und einer tieferen Erfaſſung der Probleme; und ſie leiteten alle mehr oder weniger auf eine Rückkehr zur lebensvollen Beobachtung und Schilderung der Arbeiterverhältniſſe hin. Thorntons Buch über die Arbeit (1868, deutſch 1870), J. M. Ludlows und Lloyd Jones Arbeitende Klaſſen Englands (1868, auch deutſch) waren die Vorläufer einer großen derartigen ſocial-empiriſchen Litteratur, als deren Spitze man heute das Werk von Booth über die Armen und die Arbeiter Londons (Labour and life of the people, 1889 ff., vergl. J. f. G.V. 1897, 229) und die ſchon erwähnten Werke der Eheleute Webb bezeichnen könnte. Daneben erörterten Th. E. Cliffe Leslie (Land systems, 1870; Essays in moral and political philosophy, 1879 u. 88), D. Syme (Outlines of an industrial science, 1876) und J. K. Ingram (History of political economy, 1888, deutſch 1890) die principiellen, methodiſchen und litterargeſchichtlichen Fragen in ähnlichem Sinne wie die deutſche hiſtoriſche Schule. Und in dem leider zu früh verſtorbenen A. Toynbee (Lectures on the industrial revolution in England, 1884) tritt uns ein Meiſter realiſtiſcher Analyſe und großen hiſtoriſch-philoſophiſchen Sinnes ent - gegen; ihm ſchließen ſich in W. J. Aſhley, der direkt an die deutſche hiſtoriſche Schule anknüpft (An introduction to economic history and theory, 2 Bde., 1888 und 1893, auch deutſch) und W. Cunningham (The growth of english industry and commerce, 1881, 2. Aufl., 2 Bde., 1890 92) die erſten durchgebildeten Wirtſchaftshiſtoriker an, die, auf das Ganze der volkswirtſchaftlichen und ſocialen Entwickelung gerichtet, entſchloſſen ſind, von ihrem Standpunkt aus das brüchige alte dogmatiſche Lehrgebäude zu ſtürzen oder umzubauen.

121Die neueren Fortſchritte in England und Frankreich.

In Paris und den dortigen akademiſchen Kreiſen, im Journal des Économistes (ſeit 1842) und der Buchhandlung Guillaumin blieb die alte Sayſche Schulweisheit, wie wir ſchon erwähnt, bis in die Gegenwart vorherrſchend. Aber neben ihr wirkten nicht bloß Sismondi, die ſocialiſtiſchen, ſchutzzöllneriſchen und kirchlichen National - ökonomen, ſondern ſtets auch eine Schule praktiſcher Kenner des wirklichen Lebens, wie Léon Fauchen (Études sur l’Angleterre, 2 Bde., 1856) und Léon de la Vergne (Économie rurale de la France depuis 1789, 1860). Die franzöſiſchen Arbeiter - und Induſtrieverhältniſſe fanden eine Reihe von hervorragenden Bearbeitern in Gérando, Villermée, E. Laurent, Audiganne, Reybaud, J. Barbaret. Niemand aber hat die Be - obachtung und Beſchreibung der ſocialen Gegenwart ſo energiſch in die Hand genommen, wie der große Ingenieur Le Play, der erſt auf Jahrzehnte langen Reiſen eine große Zahl zutreffender Beſchreibungen der wirtſchaftlichen Lage der unteren Klaſſen ſammelte (Les ouvriers européens, 6 Bde., 1877 79), ehe er, ähnlich wie der Belgier Ducpétiaux, dieſes Material zu vergleichenden Haushaltungsbudgets zuſammenſtellte, damit einen ganzen eigenen Zweig der Litteratur und Unterſuchung ſchuf; an dieſes Material lehnten ſich auch ſeine konſervativ und chriſtlich gehaltenen Vorſchläge über Wiederherſtellung eines patriarchaliſchen Familienverhältniſſes und patriarchaliſcher Arbeiterverhältniſſe an (La réforme sociale en France, 1864). Er hat Schule gemacht in Frankreich; ſeine Gedanken und Beſtrebungen werden von einer Zeitſchrift (La réforme sociale, ſeit 1881) und einem Verein Gleichgeſinnter fortgeführt. Neuerdings hat Graf Marouſſem vor allem derartige Beſchreibungen in ausgezeichneter Weiſe geliefert.

Die eigentliche Wirtſchaftsgeſchichte hatte in Frankreichs alten gelehrten Tra - ditionen ebenſo einen Boden, wie ſie durch die neue Blüte hiſtoriſcher Studien unter Guizot und Thierry angeregt wurde. Depping ſchrieb ſeine Geſchichte des Levantehandels (1830) und gab das Livre des métiers aus dem 13. Jahrhundert heraus (1837). Guérard veröffentlichte ſeine grundlegenden Unterſuchungen über die Wirtſchaftszuſtände unter Karl dem Großen (Politique de l’abbé Irminon, 2 vol. 1836 u. 1844). Pierre Clément ließ ſeinen beſchreibenden Werken über Colbert (1846, 1854) ſeine großen Archivpublikationen über ihn folgen (1861 73), die bald weitere ähnliche Unternehmungen in Bezug auf Mazarin, Richelieu, Ludwig XIV., ſowie in Bezug auf die Korreſpondenz der Intendanten und Generalkontrolleure des alten Regimes nach ſich zogen. E. Levaſſeur ſchrieb ſeine belehrende franzöſiſche Wirtſchaftsgeſchichte in vier Bänden unter dem Titel Histoire des classes ouvrières en France (1859 67), H. Wallon ſeine Geſchichte der Sklaverei im Altertum (3 Bde., 1847 u. 1879), H. Baudrillart ſeine Geſchichte des Luxus (4 Bde., 1880). Und zahlreiche Monographien über die Agrar -, Handels - und Gewerbegeſchichte einzelner Provinzen und Städte, über die Verwaltung im ganzen, den auswärtigen Handel beſtimmter Epochen, die Geſchichte der Finanzen wie einzelner Verwaltungszweige gehen dieſen umfaſſenderen Arbeiten parallel.

Von 1880 an erhob ſich unter den neuangeſtellten Profeſſoren der National - ökonomie an den franzöſiſchen Rechtsfakultäten, deren Führung Cauwès in Paris und Gide in Montpellier zufiel, ein ganz neuer Geiſt unabhängiger Forſchung, der mit dem deutſchen nahe verwandt iſt, und der dazu führte, daß die betreffenden hauptſächlich in Verbindung mit deutſchen Gelehrten die neue Zeitſchrift Revue d’économie politique von 1887 an gründeten.

Es iſt hier nicht möglich, auch in Bezug auf die Vereinigten Staaten, Italien und andere Länder den Umſchwung im wiſſenſchaftlichen Betriebe der ökonomiſchen und ſocialen Studien zu ſchildern. Wir erwähnen nur noch, daß in Belgien Emil de Laveleye durch eine Reihe von bemerkenswerten Werken, hauptſächlich durch ſeine Geſchichte des älteren Gemeindeeigentums (Ureigentum, deutſch von Bücher, 1879) die Forſchung zur Geſchichte und zur Beobachtung der Wirklichkeit zurückgelenkt hat. Im übrigen mag die Bemerkung genügen, daß die alte abſtrakte, dogmatiſch-naturrechtliche Behandlung überall in dem Maße noch ſtärker vorhält, wie die geiſtige und die ſociale Entwickelung der betreffenden Länder eine langſamer voranſchreitende iſt.

122Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.

50. Das Ergebnis der neueren Forſchung, der heutige Stand - punkt der Wiſſenſchaft. Wenn wir fragen, was mit allen dieſen großen Fort - ſchritten der Einzelerkenntnis im Gebiete der volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen erreicht ſei, ſo können wir auf der einen Seite mit Hutten rufen, es iſt eine Luſt zu leben . Unſer Wiſſen iſt außerordentlich gewachſen, in die Tiefe und in die Breite; wir haben Methode und Sicherheit in unſere Forſchung gebracht. Wir wollen nicht mehr aus wenigen abſtrakten Prämiſſen alle Erſcheinungen erklären und Ideale für alle Zeiten und Völker aus ihnen ableiten. Wir ſind uns der Grenzen unſeres geſicherten Wiſſens, der Kompliziertheit der Erſcheinungen, der Schwierigkeit der Fragen bewußt; wir ſtecken noch vielfach in der Vorbereitung und Materialſammlung; aber trotzdem ſtehen wir mit anderer Klarheit als vor 100 und vor 50 Jahren der Gegenwart und der Zukunft gegenüber, gerade weil wir ſo viel Genaueres über die Vergangenheit heute wiſſen.

Freilich kommt von der anderen Seite der Einwurf: ja, ihr mögt mehr im einzelnen wiſſen; aber es fehlt all dem die Einheit und die Wirkung aufs Leben. Streiten nicht, ſagt man, die Parteien und die Klaſſen heute noch mehr auf wirtſchaft - lichem und ſocialem Gebiete als in den Tagen A. Smiths und Raus? Erheben ſich nicht wieder von vielen Seiten gegen die herrſchenden wiſſenſchaftlichen Autoritäten neue Lehren und die alten Schulen in verjüngter Form: das Mancheſtertum iſt noch lange nicht ausgeſtorben, gegen die Vertreter der ſocialen Reform erheben ſich mit Macht die der Kapital - und Unternehmerintereſſen, wie z. B. Julius Wolf (Socialismus und kapitaliſtiſche Geſellſchaftsordnung, 1892). Der Socialismus ſcheint vielen noch zu wachſen. Unter den führenden Autoritäten der Wiſſenſchaft ſelbſt herrſcht über Methode und Reſultate noch ſo viel Streit, daß es ſcheinen könnte, die Sicherheit unſeres Wiſſens habe ſich kaum verbeſſert.

Wer aber nicht grämlich und verzagend die Dinge betrachtet, der wird hierauf antworten, daß über die praktiſche Politik der Streit immer vorhanden war und nicht aufhören kann, daß aber über eine ſteigende Zahl der wichtigſten Fragen doch zwiſchen den verſchiedenſten Richtungen eine erfreuliche Einigkeit ſich bildet. Man wird daneben zugeben, daß zahlreiche neue Elemente und Teile unſeres Wiſſens noch in Gärung ſich befinden, daß es ſich noch darum handelt, aus der Summe neuer Einzelerkenntniſſe die allgemeinen Reſultate zu ziehen, eine neue, einheitliche Wiſſenſchaft herzuſtellen. Aber wir können behaupten, daß wir doch im ganzen dieſem wiſſenſchaftlichen Ziele uns nähern; wir können hoffen, daß die mächtig fortſchreitende, geſicherte empiriſche Einzel - erkenntnis mehr und mehr von Männern zu einem Ganzen verbunden werde, welche zugleich durch univerſale Bildung, durch Charakter und ſittlichen Adel ſich auszeichnen; geſchieht das, ſo werden auch die heutigen großen Fortſchritte der Volkswirtſchaftslehre gute praktiſch-politiſche Früchte tragen.

Die allgemeinen Gedanken und Ziele aber, welche den beſten neueren volkswirt - ſchaftlichen Werken in ihrer großen Mehrheit an die Stirne geſchrieben ſind, dürften folgende ſein: 1. die Anerkennung des Entwickelungsgedankens, als der beherrſchenden wiſſenſchaftlichen Idee unſeres Zeitalters; 2. eine pſychologiſch-ſittliche Betrachtung, welche realiſtiſch von den Trieben und Gefühlen ausgeht, die ſittlichen Kräfte anerkennt, alle Volkswirtſchaft als geſellſchaftliche Erſcheinung auf Grund von Sitte und Recht, von Inſtitutionen und Organiſationen betrachtet; das wirtſchaftliche Leben wird ſo wieder in Zuſammenhang mit Staat, Religion und Moral unterſucht; aus der Geſchäfts - nationalökonomie iſt wieder eine moral-politiſche Wiſſenſchaft geworden; 3. ein kritiſches Verhalten gegenüber der individualiſtiſchen Naturlehre, wie gegenüber dem Socialismus, aus welchen beiden Schulen das Berechtigte ausgeſondert und anerkannt, das Verfehlte ausgeſchieden wird; ebenſo die Zurückweiſung jedes Klaſſenſtandpunktes; ſtatt deſſen das klare Streben, ſich ſtets auf den Standpunkt des Geſamtwohles und der geſunden Ent - wickelung der Nation und der Menſchheit zu ſtellen; von hier aus Anerkennung a) daß die moderne Freiheit des Individuums und des Eigentums nicht wieder verſchwinden könne, aber doch zugleich eine ſteigende wirtſchaftliche Vergeſellſchaftung und Verknüpfung ſtattfinde, die zu neuen Inſtitutionen und Formen der Einkommensverteilung führen123Der heutige wiſſenſchaftliche Standpunkt der Volkswirtſchaftslehre.müſſe, um die gerechten Anſprüche aller Teilnehmenden zu befriedigen; b) daß die zu große Differenzierung der ſocialen Klaſſen mit ihren ſocialen Kämpfen unſere Gegenwart bedrohe, daß nur große ſociale Reformen uns helfen können; c) daß in dem Verhältnis der Staaten untereinander, ſo ſehr jeder für ſich ſein wirtſchaftliches Leben ausbilden, unter Umſtänden ſeine Sonderintereſſen mit Energie verteidigen müſſe, doch eine ſteigende Annäherung im Sinne der Weltwirtſchaft ſtattzufinden habe.

Bewegen ſich in dieſer Richtung die von uns ſchon charakteriſierten deutſchen Werke von L. v. Stein und von Roſcher, ſo werden wir ſagen können, daß die erſten heutigen franzöſiſchen Autoritäten, Paul Cauwès (Principes d’économie politique, 1884, ſeither viele Auflagen) und Charles Gide (Précis du cours d’économie politique, 1878 und ſeither öfter) ihr ebenfalls nahe ſtehen, und daß auch Marſhall (Principles of economics, 1890, ſeither öfter, auch eine abgekürzte Ausgabe), obwohl mit der J. St. Millſchen Nationalökonomie noch verwandter, als die deutſchen Werke es durchſchnittlich ſind, doch durch pſychologiſch-ſociologiſche Analyſe und durch ideale Geſichtspunkte ſich ihr nähert. Von den deutſchen zuſammenfaſſenden Werken, in welchen ſich der heutige eben im ganzen charakteriſierte Standpunkt unſerer Wiſſenſchaft am deutlichſten ſpiegelt, ſind hauptſächlich folgende zu nennen:

Albert Schäffle (Geſellſch. Syſtem der menſchlichen Wirtſchaft, 1858, 67 u. 73; Kapitalismus und Socialismus, 1870; Bau und Leben des ſocialen Körpers, 4 Bde., 1875) iſt ein philoſophiſcher Politiker, Socialreformer und Tagesſchriftſteller großen Stils, er hat ſich mit einigen Schwankungen dem Socialismus ziemlich ſtark genähert, verbindet umfaſſende ſtaatswiſſenſchaftliche mit naturwiſſenſchaftlicher Bildung; er ver - ſucht die Nationalökonomie auf ſociologiſchen Boden zu ſtellen, entwickelungsgeſchichtlich darzuſtellen; doch haftet ſein Intereſſe an den Fragen der Tagespolitik, und ſeine Bücher ſind mehr geiſt - und ideenreich als durchgearbeitet und zum